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Full text of "Festschrift zum fünfzigjährigen Doctorjubiläum Ludwig Friedlaender, dargebracht von seinen Schülern"

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FESTSCHRIFT 


ZUM 


FÜNFZiejÄHEIÖEN  DOCTORJUBILÄUM 


LUDWIG  FRIEDLAENDER 

DARGEBRACHT 

VON  SEINEN  SCHÜLERN 


LEIPZIG 

VERLAG  VON   S.   HIRZEL 
1895. 


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InhaltsYerzeiclinis. 


Seite 
H.  Baumgart,   Zur  Lehre  des  Aristoteles  vom  Wesen  der  Kunst  und  der 

Dichtung 1 

0.  Carnuth,  Über  das  Verhältnis  des  etymologicum  gudianum  zu  dem  soge- 
nannten etymologlcum  magnum  genuinum 67 

0.  Eichhorst,  Die  Lehre  des  Apollonius  Dyscolus  vom  Pronomen  possessivum  105 

M.  Hecht,  Zur  homerischen  Beredsamkeit 113 

0.  Hirschfeld,  Zur  Camillus  -  Legende 125 

M.  Jacobson,  Erinnerungen  an  Alt- Königsberg 139 

R.  Jonas,  Über  den  Gebrauch  der  verba  frequentativa  und  intensiva  in  Ciceros 

Briefen 149 

A.  Joost,  Beobachtungen  über  den  Partikelgebrauch  Lucians    ...•••  163 

E.  Kammer,  Zur  Erinnerung  an  K.  Lehrs 183 

E.  Kleb s,  Das  lateinische  Geschichtswerk  über  den  jüdischen  Krieg     .    .    .  210 

E.  Lagenpusch,  Der  Traum 242 

E.  Loch,  Zu  den  griechischen  Grabschriften 275 

A.  Lud  wich.  Die  Homerdeuterin  Demo 296 

R.  Maschke,  Profan-  und  Sakralrecht 322 

F.  Olck,  Der  Akanthus  der  Griechen  und  Römer 337 

J.  Plow,  Über  die  Divination  in  der  Geschichtsschreibung  der  röm.  Kaiserzeit  360 

W.  Prellwitz,  Eine  griechische  und  eine  lateinische  Etymologie 382 

K.  Ed.  Schmidt,  Nachträge  zum  Parallel-Homer 399 

P.  Stengel,  Chthonischer  und  Totenkult 414 

J.  Tolkiehn,  De  primo  artis  amatoriae  Ovidianae  libro 433 

E.  Wagner,  Über  Piatos  Euthyphron,  zur  Frage  seiner  Echtheit  und  zu  seiner 

Erklärung 438 

M.  Wiesenthal,  Quaestio  Thucydidea 456 

E.  Zimmermann,   Bezogener   Gebrauch   scheinbar  selbständig  gebrauchter 

Präterita  im  Lateinischen 467 

G.  Zippel,  Das  Taurobolium 498 

G.  Busolt,  Beiträge  zur  attischen  Geschichte 521 

C.  F.  W.  Müller,  Zu  Caesars  bellum  civile 543 


Zur  Lehre  des  Aristoteles  vom  Wesen  der  Kunst 
und  der  Dichtung. 

(Aristoteles:  „lieber  die  Dichtkunst".  Kapitel  1  —  11). 
Von 

Hermann  Banmgart  (Königsberg  i.  Pr.). 

Ein  langes  und  oft  wiederholtes  Studium  des  aristotelischen  Buches 
„Von  der  Dichtkunst"  kann  leicht  zu  der  Ueberzeugung  fuhren,  dass  das 
Verständnis  dieses  tiefsinnigen  Urevangeliums  aller  ästhetischen  Theorie 
mehr  noch  als  durch  die  Unbilden  der  Ueberlieferung  durch  den  Eifer 
der  Interpreten  und  Konjekturisten  verdunkelt  sein  möchte. 

In  dem  Urteile,  dass  uns  in  der  Schrift  keine  stilistisch  durchge- 
führte und  geglättete  Arbeit  oder  auch  nur  Teile  einer  solchen  vorliegen, 
werden  alle  zusammen  stimmen;  darüber  aber  werden  die  Meinungen 
auseinandergehen,  ob  ihre  lapidaren  Sätze  für  Zusammenziehungen  und 
Verderbungen  aus  einem  systematisch  entwickelten  Texte  zu  halten  seien 
oder  für  das  Material  zur  Herstellung  eines  solchen,  mit  andern  Worten, 
ob  das  Fragment  tieq!  rexvrjg  noLrjTiyirjg  den  Charakter  eines  Auszugs 
oder  eines  Entwurfes  trägt. 

Nicht  aber  eine  Disquisitio  über  diese  grundsätzliche  Frage  soll  hier 
angestellt  werden,  sondern  eine  einfache  Untersuchung,  ob  der  Text  in 
der  Gestalt  seiner  ältesten  Ueberlieferung,  des  Codex  Parisiensis  A  c,  wenn 
man  Aenderungsversuche  nur  in  den  allerdringendsten  Fällen  zulässt,  dem 
Verständnis  einen  Sinn  und  Zusammenhang  eröffnet,  die  für  sich  selbst 
sprechend  die  Sache  ihres  Autors  führen:  eine  Prüfung  des  Textes  also 
auf  die  Voraussetzung  hin,  dass  er  in  der  That  die  Aufzeichnungen  eines 
im  höchsten  Grade  klar  und  scharf  denkenden,  seinen  Gegenstand  nach 
allen  Seiten  völlig  beherrschenden  Kopfes  enthielte,  allerdings  zunächst 
nur  für  seinen  eigenen  Gebrauch,  grade  darum  jedoch  nicht 
minder  streng  geordnet,  nur  im  Ausdruck  durchweg  summarisch,  oft  nur 
andeutend  gefasst. 


2  Hebmann  Baühgabt 

Das  Verhältnis  eines  solchen  Sinnes  und  Zusammenhanges  müsste 
vor  allem  durch  eine  dem  Wortlaute  sich  auf  das  Genaueste  anschlies- 
sende Uebersetzung,  die  dennoch  schon  für  sich  selbst  sich  erläuterte, 
und  sodann  freilich  durch  eine  eingehende  Begründung  aus  dem  Umfange 
der  aristotelischen  Kunstanschauung  nachgewiesen  werden. 

Ein  solches  Verfahren  kann  von  jeder  Polemik,  ja  von  dem  Eingehen 
auf  die  vorhandene  Litteratur  überhaupt  absehen,  sofern  nicht  ein  solches 
darin  zu  finden  wäre,  dass  aufgestellte  Konjekturen  abgelehnt,  oder,  wie 
in  einigen  Fällen  natürlich  unvermeidlich,  angenommen  werden,  was  dem 
Kundigen  ohne  weiteres  sich  darthut. 

Im  Folgenden  sollen  den  einzelnen  Abschnitten  des  Textes  die  An- 
merkungen, durch  kleineren  Druck  unterschieden,  unmittelbar  sich  an- 
schliessen. 

Kapitel  L 

„Ueber  die  Dichtkunst  selbst')  und  über  ihre  Gattungen,  was  für 
eine  Wirkungskraft-)  jede  einzelne  besitzt,  und  wie  die  Fabeln^)  aufge- 
baut werden  müssen,  wenn  die  Dichtung  recht  gedeihen  soll,  femer  aus 
wie  vielen  und  aus  was  für  Teilen  jede  einzelne  Gattung*)  besteht,  in 
gleicher  Weise'^)  auch  über  alles  übrige,  was  auf  dem  Wege  dieser  Unter- 
suchung'') sich  darbietet,  will  ich  sprechen,  indem  ich  naturgemäss  damit 
beginne,  zuerst  die  Grundbegriffe')  zu  behandeln." 

1)  avtrjg.  Das  Wesen  der  Dichtung,  als  Kunst,  soll  erörtert  werden,  sodann 
wie  es  in  den  einzelnen  Gattungen  {sI'ötj),  immer  sich  gleich  bleibend,  sich  differenziert. 

2)  Svvaßiv.  Diese  Differenzierung  tritt  am  stärksten  charakteristisch  in  der 
Verschiedenheit  der  Wirkung  der  einzelnen  Dichtungsgattungen  hervor,  üeber- 
setzt  man  övvafxig  mit  „Wesen",  so  geht  dieser  höchst  wesentliche,  für  den 
Zusammenhang  entscheidende  Gedanke  verloren;  es  ist  daher  genau  anschliessend 
zu  setzen:  „Wirkungskraft".  Gleich  in  der  ersten  Zeile  ist  damit  das  oberste 
und  leitende  Prinzip  der  aristotelischen  Kunstbetrachtung  ausgesprochen :  das  Wesen 
der  Dichtung  erhält  sich  unveränderlich  in  allen  ihren  Gattungen ;  die  Verschieden- 
heit der  in  jeder  einzelnen  zur  Verwendung  gelangenden  Mittel  stellt  jedesmal  die 
Aufgabe,  die  in  diesen  Mitteln  liegende  Möglichkeit  der  Wirkungskraft  zu 
vollem  Ausdruck  gelangen  zu  lassen.  Die  einer  jeden  Gattung  eigentümliche 
Wirkungsfähigkeit  muss  also  untersucht,  dargestellt  und  aus  ihr  müssen  dann  die 
Gesetze  für  sie  abgeleitet  werden.  Das  geschieht,  indem  aus  solcher  Untersuchung 
das  Ziel  (zeXog)  sich  ergiebt,  worauf  eine  jede  Gattung  sich  zu  richten  hat,  und 
durch  die  Richtung  auf  dieses  Ziel  die  Art  der  Verwendung  der  Mittel  in  allem 
WesentKchen  und  bis  ins  kleinste  bestimmt  wird. 

3)  ßvS^ovg.  Unter  den  Mitteln  der  Dichtkunst  betrachtet  Aristoteles  als  das 
vornehmste  die  Darstellung  von  Handlungen,  wie  sich  daraus  ergiebt,  dass  er  dieses 
Satzglied  als  Erläuterung  dem  Vorangehenden  hinzufügt.  Er  fasst  die  Poesie, 
dem  Etymon  der  Bezeichnung  folgend,  in  erster  Linie  als  die  ars  fingendi  auf;  sie 
stellt  sich  ihm  also  zunächst  in  allen  den  Gattungen  dar,  denen  Fabeln  (ßv^oi)  zu 
Grunde  liegen,  in  den  verschiedenen  Arten  des  Dramas  und  des  Epos  und  den 
ihnen  verwandten.    Die  Lyrik  würde  demnach  immer  noch  so  weit  in  Betracht 


Zur  Lehre  des  Aristoteles  vom  Wesen  der  Kunst  und  der  Dichtung.  3 

kommen,  als  sie  zum  Wesen  der  Dichtkunst,  zur  noirjzixrj  avxr]  gehört,  aber  nicht 
als  besondere  Gattung  im  speziellen  Teile  der  Abhandlung. 

4)  jede  einzelne  Gattung.  Der  Satz  ist  als  die  Fortsetzung  des  zweiten  Satzes 
zu  betrachten,  während  die  dazwischenliegenden  beiden  Sätzchen  parenthetisch 
eine  Erläuterung  zu  diesem  geben.  Das  Subjekt  bleibt  also  sxaatov  eUoq.  Das 
unmittelbar  vorangehende  noiTjaig  kann  dem  Sinne  nach  unmöglich  das  Subjekt 
des  darauf  folgenden  Satzes  sein;  denn  die  Poesie  als  solche  besteht  nicht  aus 
einzelnen  Teilen,  sondern  diese  kommen  in  ihren  einzelnen  Gattungen  zur  Er- 
scheinung. Es  erhellt  auch  hier,  dass  wie  zuvor  an  Epos  und  Drama  gedacht  wird, 
von  deren  einzelnen  „Teilen"  die  „Poetik"  ja  ausführlich  handelt. 

5)  6(jiol(j)Q.  Das  Wort  ist  nicht  lediglich  als  verbindende  Partikel ,  sondern  im 
strengen  Sinne  genau  zu  fassen:  die  vielfachen,  im  Laufe  der  Untersuchung  sich 
ergebenden  Fragen  sollen  nach  der  im  Beginn  angegebenen  Disposition  ihrem 
Wesen  nach  theoretisch  und  dann  im  Einzelnen  technisch  erörtert  werden, 
wie  es  auch  geschieht. 

6)  fxe&oöov.  Da  das  Wort  disciplina  und  via  ac  ratio  zugleich  bedeutet,  so 
kann  es  deutsch  nur  durch  die  Zusammensetzung  „Weg  der  Untersuchung"  wieder- 
gegeben werden. 

7)  aQ^dfievoL  xazä  (pvotv  tiqüjzov  dno  zcöv  tiqwtcdv.  Dieser  Ausdruck  ist  bei 
A.  formelhaft;  ra  xaxcx.  (pvoiv  n^cöza  sind  bei  ihm  die  allgemeinen,  einer  Unter- 
suchung zu  Grunde  zu  legenden  Begriffe  (vgl.  160«  22;  655''  28  und  namentlich 
646«  3). 

Der  ganze  Abschnitt  enthält  weder  eine  Ungenauigkeit  noch  eine  Nachlässig- 
keit in  der  Anordnung,  sofern  zuerst  die  ßv&oi  erwähnt  sind,  sodann  die  fjLOQia, 
da  doch  die  „Fabel"  zu  den  „Teilen"  gehöre;  vielmehr  ist  die  strengste  Folge- 
richtigkeit in  dieser  Disposition  vorhanden,  die  auch  thatsächlich  in  der  „Poetik" 
durchgeführt  wird.  Die  Wirkungskraft  bestimmt  den  Charakter  der  poetischen 
Gattung,  wie  umgedreht  jene  durch  diesen  indiciert  ist ;  diese  beiden  Begriffe  stehen 
im  engsten  Wechselverhältnis.  Daraus  gehen  notwendig  die  Regeln  —  also  die 
eigentliche  zeyvi]  —  für  die  avazaaiq  TCQayfiüzmv,  die  Einrichtung  der  Fabel  hervor; 
die  beiden  Sätze  von  der  övvafxig  und  dem  ßv&og  bilden  also  zusammen  ein  Ganzes, 
das  zu  dem  Begriff  der  „Gattung"  in  der  Poesie  sogleich  jene  wesentlichsten 
Hauptmerkmale  hinzufügt,  auf  die  A.  überall  den  höchsten  Wert  legt.  Daran 
schliesst  sich  dann  das  andere,  untergeordnetere,  die  Sonderung  und  Charakterisierung 
der  einzelnen  „Teile"  in  den  poetischen  Hauptgattungen  und  die  Behandlung  der 
übrigen  sich  ergebenden  Fragen. 

„Das  Epos  nun  und  die  Tragödiendichtung,  ferner  die  Komödie  und 
die  Dithyrambenpoesie  und  der  grösste  Teil  der  Auletik  und  Kitharistik*), 
sie  alle  stimmen  darin  überein,  dass  sie  überhaupt  Nachahmungen  sind. 
Doch  unterscheiden  sie  sich  voneinander  in  dreierlei  Dingen:  dass  sie 
entweder  durch  Mittel  verschiedener  Gattung  nachahmen  oder  verschiedene 
Gegenstände  oder  verschiedenartig,  nicht  auf  die  gleiche  Weise."  ^) 

8)  ZTJg  avXrizix^g  tJ  nXelazrj  xal  xi^cc^iozixrjg.  Bei  der  Auletik  denkt  A.  in 
erster  Linie  an  eine  Verbindung  von  Flötenspiel  und  Textgesang.  Das 
geht  mit  Sicherheit  aus  einer  Stelle  der  Eth.  Nik.  (vgl.  10,5:  1175»>i)  hervor:  £tl 
6s  ßäXkov  zovz'  av  (pavELij  ix  zov  zag  d(p  hzeQwv  rjdovccg  ifiTioölovg  zalg  ivsQysiaig 
ilvai.  OL  yccQ  (plkavkoi  dövvcczovai  zolg  loyoig  itQogsxeLV,  idv  xazaxovawaiv  avXovv- 
zog,  (jLÜXlov  /alQOVzeg  avlrizixy  zrjg  naQOvarjg  ivsQyeiag'  rj  xcczd  zrjv  avXrjzixrjv 
ovv  7JÖOV7]  zijv  tceqI  zov  ).6yov  ive^yeiav  (pd^sigei.    Es  ist  anzunehmen,  dass  ebenso 

1* 


4  Hebmann  Baümgabt 

die  KithariBtik  als  eine  solche  Vereinigung  von  Instrumentalmusik  mit  dem  ge- 
sungenen Worte  vorschwebt.  Insofern  nun  beide  Künste  an  und  für  sich  genommen 
bestrebt  sein  müssen,  den  Mitteln,  wodurch  sie  wirken,  dieselbe  Wirkungskraft  zu 
verleihen,  die  dem  poetischen  Text,  dem  sie  die  erhöhende  Begleitung  hinzufügen, 
innewohnt,  sind  sie  auch  als  blosse,  reine  Musik  {fiovaixrj  ipth])  mimetisch,  d.h. 
wie  sich  weiterhin  zeigen  wird ,  zielen  sie  mit  ihren  Mitteln  und  auf  ihre  Weise 
darauf  ab,  dieselben  Empfindungen,  Seelenstimmungen,  Gemütsdispositionen  un- 
mittelbar anregend  in  Bewegung  zu  setzen,  deren  Erregung  der  poetische  Text 
bezweckt  und  deren  gesamte  Reihe  eben  das  gemeinsame  Objekt  der  „Nach- 
ahmung" für  alle  Kunst  bildet.  Da  man  nun  aber  die  blosse  Musik  der  Flöte 
und  der  Kithara  sich  nichtsdestoweniger  auch  ohne  dieses  höhere  Ziel  der  Nach- 
ahmung, also  amimetisch,  vorstellen  kann,  und  sie  erfahr ungsmässig  oft  genug 
nur  als  äusserlich  sinnliche  Unterhaltung  sich  darstellt,  so  sagt  A.  auch  nur  von 
jenem  andern  Teile  dieser  instrumentalen  Künste,  dass  er  Mimesis  zum  Inhalte 
habe  und  damit  den  höheren,  eigentlichen  Charakter  der  Kunst  trage. 

9)  Nach  den  hier  genannten  drei  Einteilungsgründen  gliedert  sich  nun  das 
Folgende,  worin  zunächst  die  allgemeinen  grossen  Gesichtspunkte  erörtert  werden 
und  zwar  für  die  Verschiedenheit  der  Mittel  1447^  19— 144S«  1,  für  die  der  Nach- 
ahmungsobjekte 1448^  1  —  18,  für  das  verschiedene  Verfahren  in  der  Nachahmung 
1448»  18—25.  Schon  aus  der  Reihenfolge  geht  hervor,  dass  A.  den  Hauptnachdruck 
auf  die  Verschiedenheit  der  Mittel  legt,  denn  durch  diese  unterscheiden  sich 
die  Künste  überhaupt  von  einander;  innerhalb  derselben  findet  dann  der 
zweite  Unterschied  statt,  wie  wenn  die  Tragödie  ihre  Nachahmungsobjekte  in  der 
Sphäre  des  Grossen,  Bedeutenden,  Edlen  zu  suchen  hat,  die  Komödie  in  der  des 
Mangelhaften,  Geringen,  Schlechten,  eine  Unterscheidung,  die  A.  ebenso  auf  dem 
Gebiete  der  Orchestik,  Auletik  und  Kitharistik  stattfinden  lässt  (vgl.  1448*  10). 
Für  die  dritte  Verschiedenheit  der  Künste,  die  des  Verfahrens,  ist  hier  nur  wenig 
zu  sagen,  da  sie  recht  eigentlich  den  speziellen  Teil  der  „Techne",  der  Kunstlehre 
zu  bilden  hat. 

„Denn  wie  aucli  mit  Farben  und  Figuren  die  Leute  allerlei  nach- 
ahmen, und  zwar  die  Dinge  abbildend  ^°),  die  einen  kunstgemäss,  die 
andern  handwerksmässig,")  wie  andre  wieder  mit  der  Stimme  *^)  dasselbe 
bewirken,  so  geschieht  es  auch  durch  die  oben  genannten  Künste." '^j 

10)  üjansQ  yaQ  xal  xQtofiaai  xal  axvf^aai  noXXa  ßifjLovvzaL  tlveq  dnsixaL^ovxeq. 
Der  ganze  Rest  des  ersten  Kapitels  von  hier  ab  gehört  nach  den  Kommentationen 
zu  den  am  schlechtesten  überlieferten  Partien;  so  sind  denn  auch  die  Heilungs- 
versuche hier  sehr  zahlreich.  Grade  jedoch,  wenn  man  dem  überlieferten  Texte 
genau  folgt,  entdeckt  sich  der  tiefe  Sinn  dieser  Sätze,  die  freilich  in  äusserster 
Kürze,  wie  zu  Hörern  sprechen,  denen  die  in  Betracht  kommenden  Hauptbegriffe 
nach  dem  Sinne  des  Redenden  völlig  vertraut  sind.  Sollte  man  nicht  auch  durch- 
aus berechtigt  sein  anzunehmen,  dass  die  Hörer,  denen  A.  seine  Poetik  vortrug, 
aus  dem  Dialog  negl  Ttoir^zöjv  hinlänglich  über  seine  allgemeinen  Kunsta.nsichten, 
z.  B.  auch  über  seine  Meinung  von  der  Katharsis  unterrichtet  waren?  und  sollte, 
was  unsre  Stelle  angeht,  dort  nicht  auch  davon  gehandelt  sein,  dass  die  Mimesis 
nicht  mit  Plato  als  die  Nachahmung  der  Naturdinge  selbst  aufzu- 
fassen sei  —  wie,  beiläufig  gesagt,  alle  Welt  sie  bis  auf  den  heutigen  Tag  den- 
noch immer  wieder  auffasst  —  sondern  die  durch  das  den  einzelnen  Künsten 
zu  Gebote  stehende  Material  von  Mitteln,  die  je  nach  Umständen 
frei  erschaffen  oder  auch  der  Natur  entnommen  sein  können,  bewirkte 
Nachbildung  der   höchsten    Wirkungen   im    Gemüt,   die   wir   in    der 


Zur  Lehre  des  Aristoteles  vom  Wesen  der  Kunst  und  der  Dichtung.  5 

Natur  und  im  Leben  erfahren  können,  der  höchsten,  nicht  quantitativ  oder 
dynamisch  verstanden,  sondern  qualitativ,  d.  h.  der  reinsten,  gesundesten,  mit 
einem  Worte  richtigsten  Bewegungen  unsrer  empfindenden  Seele? 
Freilich  gälte  dieses  letztere  nur  von  der  Mimesis,  sofern  sie  in  dem  Dienst  der 
edelsten  Kunst  zugleich  auf  deren  letzten  Zweck,  auf  die  Katharsis,  die  Herstellung 
der  nachahmend  hervorgebrachten  Seelenbewegung  zur  Lauterkeit  und  zum  Eben- 
mass,  gerichtet  wäre.  Es  liegt  aber  auf  der  Hand,  dass  im  aristotelischen  Sinne 
Mimesis  überall  da  vorhanden  ist,  wo  überhaupt  durch  Kunstmittel  die  Nach- 
ahmung von  Natur-  und  Lebenswirkungen  im  Gemüt  bezweckt  und 
erreicht  wird. 

An  unsrer  Stelle,  wo  die  Mittel  der  Malerei,  die  Farben  und  Figuren,  und  die 
Mittel  der  Poesie  und  Musik,  der  Rhythmus,  das  Wort  und  die  Tonfolge  in  Bezug 
auf  ihre  Verwendung  zur  künstlerischen  Mimesis  in  eine  Reihe  gestellt  werden, 
giebt  jenes  kleine  Sätzchen  gradezu  das  Grundthema  an  für  den  ganzen  folgenden 
Abschnitt  bis  zum  Schlüsse  des  Kapitels.  Durch  die  blosse  Gegenüberstellung  der 
Begriffe  des  fzifxslaS^aL  und  aTteixat^eiv,  wobei  das  letztere  durch  die  pointierte  Ver- 
weisung ans  Ende  des  Satzes  noch  einen  besondern  Nachdruck  erhält,  wird  die 
ganze  Reihe  der  Unterscheidungen  zwischen  echter  Poesie  und  fälschlich  sogenannter, 
die  das  folgende  bringt,  typisch  eingeleitet.  Das  blosse  „Abbilden"  ist  nach  A. 
noch  lange  kein  „Nachahmen"  im  künstlerischen  Sinne.  Man  kann  auf  allen  Ge- 
bieten noXXa  dnemät^siv,  vielerlei  abschildern,  so  ist  man  damit  noch  kein  ßLßrftriq 
und  daher  kein  Künstler.  In  diesem  kritischen  Apergu  liegt  die  Anregung  nicht 
nur  zu  einer  Erweiterung,  sondern  sogar  zu  einer  Berichtigung  des  Lessingschen 
Laoküon.  Nicht  nur  die  bloss  abbildende  Schilderung  von  Körpern  ist  unpoetisch, 
sondern  ebenso  die  bloss  abschildernde  Erzählung  von  Begebenheiten  und  Handlungen. 
Auf  das  Wesen  der  „Nachahmung"  selbst,  das  Lessing  zu  untersuchen  versäumte, 
kommt  alles  an.  Worin  liegt  es?  Höchst  lehrreich  dafür  ist  die  Beantwortung 
einer  Frage,  die  sich  A.  selbst  stellt,  vgl.  Probl.  29,10:  „Warum  bewirkt  die  Ge- 
meinschaft mit  einem  Gesunden,  Starken,  Schönen  nicht  ein  Wachstum  der  betreffen- 
den Eigenschaft,  wohl  aber  die  mit  einem  Guten  und  Weisen?"  i]  öiozi  za  fihv 
dßLfiTjza ,  xa  6e  (XLfiriza.  zy  ipvx^>  dya&bg  öh  zy  ipvxfh  vyiijg  6s  z(p  awfiazi- 
e&L^8zai  ovv  xalQSLV  OQS^ojg  xal  AVTtslaS-ai.  Das  ist  bei  der  Gemeinschaft 
mit  einem  Gesunden  nicht  der  Fall :  ov  yaQ  iv  ziö  zial  /a/pf^v  //  fx^  6  vyujq- 
ovölv  ykiJ  zovzojv  noLSl  vyialveiv.  Daraus  ergeben  sich  die  einfachen  Schlüsse: 
das  Organ  für  die  Mimesis  ist  die  Seele;  ihr  Objekt  kann  also  nur  etwas  sein,  das 
mit  ihr  Gemeinschaft  hat,  oder  insofern  es  als  mit  ihr  Gemeinschaft  habend  auf- 
gefasst  wird;  ein  solches  fxifji^zöv  zy  ipvyj]  ist  nur  dasjenige,  was  die  Seele  zum 
XCiLQSLV  oder  IvnEta&at  bringt,  sie  zu  einer  wohlgefälligen  oder  missfalligen  Be- 
wegung veranlasst.  Es  macht  nichts  aus,  dass  in  jenem  Problem  (vgl.  951« -1)  von 
ethischer  Einwirkung  die  Rede  ist;  darin  steht  die  ethische  Wirkung  der  aesthetischen 
vollkommen  gleich,  dass  ihr  Organ  die  Seele  ist,  hier  zumal,  wo  von  einer  Wirkung 
auf  die  empfindende  Seele  die  Rede  ist.  Nur  das  also,  was  einer  psychischen 
Bewegung  homogen  ist,  kann  wieder  psychische  Bewegung  erzeugen,  oder  ganz  all- 
gemein ausgedrückt:  die  psychische  Bewegung  selbst  ist  das  Objekt  der 
Mimesis.  Eine  jede  Kunst  richtet  sich  mit  der  Wahl  ihrer  Mittel  und  der  Art 
ihrer  Verwendung  auf  dies  eine,  aber  in  dem  Reichtum  seiner  Wandlungsfähig- 
keit unendlich  mannigfache  Ziel.  Was  damit  nicht  in  unmittelbarer  Beziehung 
steht  oder  nicht  mittelbar  durch  die  Art  der  Behandlung  damit  in  Beziehung  gesetzt 
wird,  und  was  nicht  gerade  in  eine  Bewegung  der  empfindenden  Seele  sein  Ziel 
setzt,  ist  dfiifxrizov,  kein  Objekt  der  Mimesis,  ist  unkünstlerisch,  und  mag  man  es 
auch  mit  der  äussersten  Sorgfalt  und  Naturtreue  „nachbilden"  ~  ccneixat^ecv. 

Umgekehrt  geht  aus  dem  Gesagten  unmittelbar  und  ohne  Beweis  hervor,  dass 


B  Hermann  Baumgabt 

es  ein  fAifisla^ai  ohne  ansixaC^eiv  sehr  wohl  geben  kann,  dass  das  Wesen  der  Kunst, 
die  Mimesis,  sehr  wohl  erfüllt  werden  kann,  ohne  dass  ein  Naturobjekt  nachge- 
bildet wird,  dneixal^izuL.  So  geschieht  es  in  der  Musik,  in  der  Architektur,  so 
kann  es  im  Tanz  geschehen,  so  verfährt  überhaupt  alle  symbolische  Kunst,  wenn 
sie  unbeseelte  Naturgegenstände  durch  Analogie  und  Supposition  mit  der  Welt 
seelischer  Bewegung  in  sinnlich  wahrnehmbare  Beziehung  setzt. 

Sehr  absichtsvoll  ist  in  zweiter  Linie  unter  den  Mitteln  der  Nachahmung  dann 
die  Stimme  —  txsQoi  6e  öia  rr^?  (pwvriq  —  zum  Vergleich  herangezogen:  denn 
einerseits  steht,  da  man  mit  der  Stimme  ja  auch  Wirklichkeit  nachbilden  kann, 
dieses  Verfahren  dem  „Abbilden"  durch  Figuren  und  Farben  noch  näher;  andrer- 
seits bildet  es  doch  schon  den  Uebergang  zu  der  Mimesis  ohne  dnaixui^siv. 

11)  ol  fjLev  ÖLK  zixvrjg  ol  Ö6  6ta  avvTj^siag.  Hierzu  hat  man  für  das 
folgende  stsqoi  6h  öia  trjq  (pcavrjg  als  drittes  Glied  zu  jener  Alternative  öl'  avztjg 
rriq  (pvosioq  konjiziert,  als  ein  schlagendes  Beispiel  dafür,  wie  der  aristotelische  Text 
nicht  zu  behandeln  ist.  Etwas  Müssigeres  wäre  nicht  zu  denken  als  an  dieser 
Stelle  eine  Belehrung  darüber,  dass  man  die  Kunst  mit  theoretischer  Einsicht,  als 
Routinier  und  mit  blosser  Naturanlage  betreiben  kann.  Darüber  geht  dann  aber 
der  scharf  ausgesprochene  leitende  Gedanke,  der  die  ganze  folgende  Ausführung 
beherrscht,  spurlos  verloren.  Er  ergiebt  sich  aus  dem  genauen  Wortlaut  des  über- 
lieferten Textes  unzweifelhaft  als  der  folgende: 

Alle  echte  Kunst  ist  Nachahmung.  Die  künstlerische  Nachahmung  —  Mimesis 
—  geht  anfänglich  hervor  aus  der  blossen  Nachbildung  (vgl.  dazu  den  Schluss  des 
ersten  Alinea  von  Kap.  4:  1448^  23).  Das  liegt  am  nächsten  und  ist  am  besten  zu 
beobachten  bei  der  Malerei,  da  diese  mit  ihren  Mitteln  auf  das  „Abbilden"  an- 
gewiesen ist.  Sogleich  aber  hier  stellte  sich  der  Unterschied  heraus  zwischen  denen, 
die  dabei  künstlerisch  verfuhren,  d.  i.  mimetisch,  nämlich  die  Mittel  der 
„Nachbildung"  lediglich  als  b(iOL(a[iaxa  seelischer  Bewegungen  verwendend,  und 
denen,  die,  gedankenlos  dem  hergebrachten  Beispiel  folgend,  eben  nur  abbildeten 
um  abzubilden,  wobei  es  dann  lediglich  von  ihren  Mustern  abhängt,  ob  noch  ein 
Rest  wirklicher  Mimesis  in  ihren  Werken  sich  erhält,  oder  ob  sie  völlig  daraus 
verschwindet.  Diese  fundamentale  und  für  jede  aesthetische  Beurteilung  von 
vorneherein  und  vor  allem  anderen  entscheidende  Unterscheidung  ist  für  alle  Kunst 
und  für  alle  Kunstgeschichte  massgebend  und  wird  mit  Recht  von  A.  allem  übrigen 
voran  gestellt 

12)  6 La  rijg  (pwvrjg.  Ueber  die  Meinung  des  A.  von  der  Bedeutung  der 
Stimme  als  eines  Mittels  für  künstlerische  Mimesis  geben  die  folgenden  Stellen 
nähere  Aufklärung:  Psych.  II  8.  42u^  5.  rj  (pcavi]  \p6(pog  xig  iatLV  ifiipvyov.  ibid. 
420''  29 ff.:  ov  yaQ  nüg  t,(DOV  \p6(pog  (fiovr]  .  .  .  dXXa  dal  Sfxxpvxov  elvai  xo  xvnxov 
xal  fiexd  (pavxaaiag  xtvog'  arjfiavxixbg  yccQ  ötj  xig  xpocpog  iaxlv  ^  (ptovri, 
xal  ov  xov  dvaTcvsofiivov  dsQog,  oiansQ  rj  ß^§.  Pol.  I,  2.  1253»  10  ff.  7}  fiev  ovv 
<p(ovi]  xov  XvTtTjQOv  xal  riöeog  iaxl  orjfzslov,  6lo  xal  xolg  d?J.oig  vnaQXSL 
'C,(6oLg'  iih^Qi-  yd-Q  xovxov  ri  cpvOLg  avxcöv  i?.7jkvS-sv,  waxs  alod^dveo^aL  xov  /AmriQOv 
xal  Tjöeog  xal  xavxa  GrjfialvELV  dkX^koig.  Rhet.  III,  1:  1404«  21.  vtctjqce  6e  xal  17 
<p(ov7]  Tidvxcüv  fZLfjL7]XLX(6xaxov  xcöv  ßOQicDv  -^(Xlv.  Die  Stellen  werfen  zugleich 
ein  Licht  auf  die  aristotelische  Auffassung  der  Mimesis  selbst,  indem  sie  bestätigen, 
dass  ihm  die  Mimesis  immer  in  der  Erregung  einer  seelischen  Bewegung  besteht. 
Noch  stärker  beweisen  dies  Nr.  27  und  29  im  18.  Buch  der  Probleme,  die  im  Fol- 
genden näher  zu  erörtern  sind. 

13)  ovxQ)  xal  xalg  elgTjfxevaig  xeyvaLg.  Auch  die  poetischen  und  musi- 
kalischen Kunstgattungen  sind  „Nachahmungen",  und  zwar  sowohl  da,  wo  sie 
sich  Vorbildern  der  Wirklichkeit  anschliessen ,  jedoch  so,    dass   sie  sich  ihrer  als 


Zur  Lehre  des  Aristoteles  vom  Wesen  der  Kunst  und  der  Dichtung.  7 

Mittel  für  ihre  mimetischen  Zwecke  bedienen,  als  da,  wo  sie  durch  frei  erfundene 
Mittel  wirken.  Ebenso  giebt  es  auch  in  diesen  Künsten  eine  gedankenlose  Routine, 
die  durch  amimetisches  Abschildern,  Aufzählen,  Darstellen  irgend  welcher  Art 
Afterbilder  der  Kunst  schafft,  die  mit  ihr  nichts  gemein  haben  als  den  fälschlich 
usurpierten  Namen,  In  den  obigen  Textworten  die  Ankündigung  dieses  im  folgenden 
Texte  entwickelten  Inhaltes. 

„Und  zwar  bewirken  sie  alle  die  Nachahmung  vermittelst  des  Rhyth- 
mus und  der  Rede  und  der  Tonfolge  *'') ,  entweder  derselben  sich  einzeln 
oder  in  Vermischung  bedienend,  wie  z.  B.  nur  der  Tonfolge  und  des 
Rhythmus  das  Flötenlied  und  das  Citherlied'^)  und  was  es  vielleicht  sonst 
noch  für,  der  Wirkungsweise  nach  von  jenen  sich  unterscheidende  Musik- 
arten geben  mag^^),  wie  das  Syringenlied ;  ferner  des  Rhythmus  allein 
ohne  Tonfolge  diejenigen,  die  von  den  Tänzern  hier  in  Betracht  kommen"), 
denn  auch  diese  ahmen  durch  die  in  Gestaltungen  zum  Ausdruck  kom- 
menden Rhythmen  sowohl  Seelenzustände  als  Empfindungen  und  Hand- 
lungen nach."'^) 

14)  ccQfjLovla  „Tonfolge".  Unsere  „Harmonie"  nennt  A.  ovfjLfpojvla 
und  schreibt  ihr  keine  Fähigkeit  zu,  Ethos  nachzuahmen;  dagegen  nennt  er  die 
aQfJLOvla  mimetisch  für  das  TtQaxrixov.  Die  nach  allen  Seiten  viel  aufklärende 
Stelle  steht  Probl.  18,  27  {91^^  26):  z/m  ti  xo  dxovozov  fxovov  rjS^oc  e/ei  xcäv  alo^rj- 
tü)V;  xal  yuQ  iav  y  avsv  köyov  fieXog,  oß(og  exsi  ijS^og'  cc?X  ov  zo  xQ^f^f^  ot'rfe  tj 
oafxt]  ovöh  6  xvßoq  e/ff  ri  ozi  xlvrjGiv  syei  (xövov  ovyj,  rjv  o  \p6(poq  rifxäq  xivsZ ; 
zoiavzfj  ßsv  yccQ  xal  zolq  äkkoig  vnaQyji'  xivel  yaQ  xal  zo  yQÖi^a  zi]V  oipiV  «AAa 
z^g  knoßsvijg  z(ö  zoiovzo)  \p6<fcp  ala^avofjied^a  xiv/jOEcog.  avzrj  6s  eyei  ofioiözijza 
£v  ze  zolg  Qvd-uolg  xal  iv  zy  Z(ov  cpS-oyycov  zd^si  Z(öv  o^scov  xal  ßagsayv,  ovx  iv 
zy  /Äi^€i.  aAA'  ^  avfi<pcDvia  ovx  syst  r/O-og.  iv  6h  zolg  alkotg  alaS-TjzoIg  zovzo  ovx 
sazLV.  ai  6h  xtvrioeig  avzcci  UQaxzLxai  elaiv,  al  6h  ngd^eig  rjd-ovg  aTjfiaala  iazlv. 
„Warum  sind  von  allen  sinnlich  wahrnehmbaren  Eindrücken  {alad-rjzä)  allein  die 
durch  das  Gehör  wahrnehmbaren  (dxovazixä)  fähig,  Ethos  zu  erzeugen?"  {eysi 
Tj&og  ==  sie  haben  Ethos,  sc.  in  sich.  Was  bedeutet  das  anders  als:  sie  haben  es 
als  ein  ßifxrjzöv,  als  ein  Nachahmbares  und  Nachgeahmtes  in  sich,  sind  also  fähig, 
„Ethos",  d.  i.  Stimmung,  Empfindungszustand,  zu  erregen.)  „Und  zwar  hat  das 
Lied,  auch  ohne  Wort,  gleichwohl  diese  Fähigkeit  {syst  ^^og);  aber  die  Farbe  hat 
sie  nicht,  ebensowenig  der  Geschmacks-  oder  Geruchssinn.  Liegt  der  Grund  wohl 
darin,  dass  bei  jenen  allein  die  durch  sie  hervorgebrachte  Bewegung  nicht  lediglich 
die  mit  dem  Schalle  verbundene  ist?  Denn  eine  derartige  Bewegung  findet  auch 
bei  den  übrigen  Sinneswahrnehmungen  statt;  auch  die  Farbe  setzt  den  Gefühlssinn 
so  in  Bewegung.  Es  giebt  aber  eine  Art  des  Schalles,  bei  dem  wir  eine  Bewegung 
empfinden,  die  auf  jene  erst  folgt.  Für  diese  liegt  das  Aehnlichkeitsmoment  sowohl 
in  den  Rhythmen,  als  in  der  Ordnung  der  Klänge  nach  Höhe  und  Tiefe,  nicht  in 
ihrer  Vereinigung.  Vielmehr  hat  der  Akkord  {avßcpajvia)  nicht  die  Fähigkeit, 
Empfindungszustände  zu  erzeugen  {ovx  syst  Tj&og)."  (Also  jene  hnofjtivTj  xirtjaig, 
jene  aus  der  bloss  physikalischen  Schallbewegung  hervorgehende  Bewegung,  die  in 
den  Rhythmen  und  den  qualitativen  Tonunterschieden  liegt,  ist  es,  welche  die  Aehn- 
lichkeit,  Analogie  mit  jener  Bewegung  der  empfindenden  Seele  in  sich  birgt,  die  A. 
das  Ethos  nennt.  In  jener  liegt  also  auch  das  qualitative  Nachahmungsmaterial 
für  diese.    Sehr  sorgfältig  abwägend  schreibt  A.  dem  blossen  Zusammenklang  der 


8  HBRMAmT  Baühgabt 

Töne  im  Akkord  ebensowenig  diese  mächtige  Wirkung  zu  als  der  blossen  Farbe, 
die  beide  nur  einen  hinzukommenden  Schmuck  für  die  Mimesis  bilden,  die  immer 
das  Hauptwerk  der  Kunst  ausmacht.  Er  kennt  den  Reiz  der  „Symphonia"  und 
führt  ihn  Probl.  18,  38  auf  das  Wohlgefallen  zurück,  mit  dem  wir  die  Ordnung  in 
dem  Verhältnis  der  gleichzeitig  erklingenden  Töne  empfinden  und  mit  dem  wir  das 
reicher  Gemischte  dem  Einfacheren  vorziehen.  Wenn  uns  Modernen  diese  geringere 
Schätzung  des  Akkordischen  in  der  Musik  zunächst  befremdet,  so  giebt  eine  ge- 
nauere Betrachtung  dem  Philosophen  umsomehr  Recht.  Wir  denken  gar  zu  leicht 
dabei  an  die  Wirkung  der  Akkord  folge,  während  doch  auch  diese  auf  der  —  im 
aristotelischen  Sinne  —  „harmonischen"  Folge  der  einzelnen  den  Akkord  bil- 
denden Töne  beruht,  vollends  in  der  polyphonen  Musik,  wo  mehrere  solche  Ord- 
nungen gleichzeitig  wirken.)  „Bei  den  übrigen  Sinneseindrücken  findet  das  Verhältnis 
nicht  statt.  Jene  Bewegungen  aber  sind  zum  Handeln  erregende  {nQuxzixal), 
die  Handlungen  wiederum  sind  Kundgebung  von  Ethos  {rjS-ovq  arjfiaala  iatlv).'^ 
Zu  beachten  ist  hierbei  noch  dies  eine,  dass  also  auch  Handlungen,  namentlich 
insofern  sie  aus  Empfindungsbewegungen  entspringen  oder  davon  Zeugnis  geben, 
Gegenstand  der  Mimesis  sein  können,  sogar  für  solche  Künste  wie  Musik,  die 
gar  keine  Mittel  besitzen,  das  äussere  Geschehen  abzuschildern,  die  also  jene  Be- 
wegungen nur  ihrem  innersten  Wesen  nach  erregen  können,  indem  sie  gleichsam 
ihren  Keim  in  der  Seele  erwecken  und  zur  Entwickelung  drängen. 

Die  ganze  Frage  hat  A.  noch  einmal  in  den  Probl.  IS,  29  (920«  3)  etwas  anders 
und  weiter  gehend  beantwortet:  /lia  xL  oi  gvO-fiol  xal  za  ßs?.Tj  <p(ovri  ovaa  rjOsaiv 
eoücev,  OL  ös  XW^^  ov,  «AA*  ovöh  za  /()(Wjaarc:  xal  at  oofiai;  rj  ozi  xivijasig  eialv 
üJOTCSQ  xal  al  ngd^eiq;  ^lörj  rj  fxsv  ive^ysia  i^Q-ixbv  xal  noieZ  7J&og,  ot  ös  yvfiol  xal 
za  /^cy^ara  ov  noiovGiv  oßolcog.  „Wie  kommt  es,  dass  die  Rhythmen  und  Melo- 
dien, die  doch  Klänge  sind,  mit  Empfindungszuständen  Analogie  haben  {soix€v)j  die 
Geschmackseindrücke  aber  nicht,  ebensowenig  aber  auch  Farben-  und  Geruchs- 
eindrücke? Vielleicht  wohl,  weil  sie  Bewegungen  sind  wie  auch  die  Handlungen? 
Denn  schon  die  innere  Bethätigung  (ivsQyeia)  ist  gemütsbewegend  {-q^ixov) 
und  bringt  Empfindungszustände  {tj&oq)  hervor;  Geschmacks-  und  Farbeneindrücke 
wirken  in  solcher  Weise  nicht."  Das  kann  doch  nur  bedeuten:  Rhythmus  und 
Melodie  vermögen  durch  das  in  ihnen  liegende  Bewegungsmoment  eine  Energie 
der  Aisthesis,  eine  Bethätigung  der  Wahrnehmungs-  und  Empfindungskräfte  zu 
bewirken,  die  identisch  ist  mit  der  zu  ethischen,  d.  h.  zu  Gemütszuständen 
und  dadurch  zu  Handlungen  führenden  Bewegung  der  empfindenden  Seele:  sie  ver- 
mögen daher  unmittelbar  Ethos  und  Praxeis  ,,nachzuahmen". 

Eine  fernere  Bekräftigung  dafür,  dass  diese  Anschauungen  und  Gedanken 
aristotelisch  sind,  gewährt  die  Stelle  im  Kap.  5  des  8.  Buchs  der  Politik  (1340*  Uff.): 
stceI  öh  avfißsßrjxsv  slvai  zt]V  f/.ovaixrjV  Z(uv  rjöäcov,  zr^v  d'  aQBzriv  negl  z6  x^dgeiv 
og&(üg  xal  (piXelv  xal  (jllgbIv,  öel  örjlov  ozi  fiavd^äveiv  xal  avveS-l^eaO^ai  firjösv  ovziog 
wg  zb  xqLvslv  og&djg  xal  zb  ;fai()f4V  zoZg  inisixeaiv  rjd^eaiv  xal  zalg  xa/.aig 
ngä^eciv.  sgzl  d'  b fioiw [xaza  fidliaza  naga  zag  dXj]&ivag  (pvoetg  iv 
zolg.  Qvd^fJLOlg  xal  zolg  fiiXsai  ogy^g  xal  ngaozrjzogi  ezi  d'  dvögelag 
xal  a(0(p  Qoavv^g  xal  ndvzmv  zcöv  ivavzlcov  zovzoig  xal  xtöv  äkXmv 
rj&ixcSv.  örilov  6h  ex  ztöv  sgywv'  fjLszaßdkXofiev  ydg  ztjv  ywxrjv  dxpotöfxsvoi 
zoiovrwv.  b  6*  iv  zolg  bfioioig  iS^ia/iibg  xov  Xvnslo&at  xal  ;fa/()6fv  iyyvg  iazi  zä) 
TtQog  zriv  dhjd-siav  zbv  avzbv  exetv  zQonov.  Wie  überall,  so  betont  auch  hier  A., 
dass  eben  nur  den  durch  Rhythmus  und  Melodie  hervorgebrachten  Gehörseindrücken 
diese  grosse  Macht  über  das  Gemüt  beiwohne;  unter  allen  anderen  besässen  nur 
die  Gesichtseindrücke  eine  verwandte  Kraft,  aber  in  geringem  Grade  ^d)X  iv  zolg 
bgazolg  riQSßa).  Zwar  käme  auch  der  Wirkung  der  Gestalten  {oxrif^aza)  auf  unser 
Empfinden   eine   fast   ausnahmslose  Allgemeinheit  zu  [dk'K  inl  (jLixgbv  xal  ndvzsg 


I 


Zur  Lehre  des  Aristoteles  vom  Wesen  der  Kunst  und  der  Dichtung.  9 

trjg  roiavxrig  ccia&rjascüg  xoivcDVOvoiv)*);  dennoch  sei  diese  Wirkung,  wie  gesagt,  eine 
weit  geringere,  weil  die  bei  dem  Vorgange  der  Empfindungen  (iv  zolg  nd^söLv) 
sichtbar  zur  Erscheinung  kommenden  Gestaltungen  des  Körpers  nicht  die  Aehn- 
lichkeit  mit  den  Gemütszuständen  unmittelbar  in  sich  trügen,  sondern  nur 
äussere  Anzeichen  (ffT/^fta)  davon  wären  (fV^  de  ovx  saziravTa  d/uoioj/zata 
T  (öv  ^Q-ojv,  dXXa  afinela  iiäXXov  XU  yiyvöfxeva  ayjifiaxa  xal  ygtüfjiaxa  xcäv  i^^dtv, 
xal  xavx^  iaxlv  inl  xov  awfxaxog  iv  xolg  ndd-eaiv). 

15)  avXriXLicri  y,al  xtd-agiazixrj.  „Flöten-  und  Citherlied",  in  dem  oben 
erörterten  Sinne  einer  auch  ohne  Text  nach  bestimmter  Kichtung  hin  mimetisch 
wirkenden  Instrumentalmusik. 

16)  xäv  SL  xivsg  sxsQat  zvyxccvcDGi  ovoul  xtjv  övvafxiv ,  olov  rj  zcüv 
öVQlyycDv.  Abermals  eine  von  den  Stellen,  wo  die  vielfach  aufgestellten  Konjekturen 
den  guten  Sinn  vernichten,  den  der  Text  ergiebt.  Das  axegui  ist  zu  ovoai  zu  kon- 
struieren, und  zu  verstehen  sind  alle  die  Arten  von  Musik,  die  allenfalls  noch  zur 
Kunst  zu  rechnen  wären  und  in  ihrer  spezifischen  Wirkungsweise  {övvafxig]  von 
den  beiden  Hauptarten  der  griechischen  Instrumentalmusik,  wie  sie  in  den  Schau- 
spielen angewendet  aber  auch  für  sich  allein  betrieben  wurden,  abwichen.  Das 
Beispiel  der  Syringen  ist  sehr  bezeichnend,  wie  wenn  wir  Modernen  neben  unseren 
kultivierteren  Instrumenten  etwa  die  Schalmei  erwähnten. 

17)  avx(p  ÖS  Xiö  gvd-fziö  fiLßOvvxac  ycoglg  a  Qßoviag  ot  x(üv  ogyi]- 
oxüiv.  Auch  hier  ist  der  Text  in  völliger  Ordnung;  aus  dem  Wortlaut  ergänzt  sich 
von  selbst  zu  dem  Genitiv  das  Participium  fAif^ovfxevoi  und  zwar  dem  Sinne  genau 
entsprechend:  „diejenigen  von  den  Tänzern,  die  überhaupt  eine  Mimesis,  d.  i.  eine 
die  Seele  der  Zuschauer  bewegende  Wirkung, 'bezwecken."  Sie  allein  kommen  hier 
in  Betracht,  die  andern  ebensowenig  wie  die  Musiker,  die  nur  auf  Ohrenkitzel 
ausgehen. 

18)  xal  yag  ovxol  öia  xiüv  a/Ty^ccrf^o/zevcy v  gvQ-ßdjv  fiifxovvxai 
xal  ^&rj  xal  ndS-rj  xal  ngd^stg.  Eine  der  wichtigsten  Stellen  des  ganzen  uns 
erhaltenen  Buches!  Wenn  die  wuchtigen  Sätze,  aus  denen  es  besteht,  vermuten 
lassen,  dass  sie  aufgezeichnet  wurden,  um  dem  freien  Vortrage  als  Grundtext  zu 
dienen,  so  hatte  hier  der  Autor  Veranlassung,  den  Kern  seiner  Theorie,  wie  sie  aus 
seinen  exoterischen  Schriften  den  Hörern  in  ihren  Haupteigentümlichkeiten  bekannt 
sein  musste,  in  energischer  Zusammenfassung  zu  entwickeln  und  zwar  im  engsten 
Anschlüsse  an  sein  philosophisches  System,  wie  er  es  namentlich  in  der  Psycho- 
logie und  Ethik  dargestellt  hatte.  Das  für  alle  Kunst  für  alle  Zeit  immer  sich 
gleichbleibende  eine  und  doch  so  unerschöpflich  mannigfaltige  Objekt  der  Mimesis 
wird  hier  geradezu  ausgesprochen,  und  zwar  gerade  hier,  weil  die  ungeschulte  Auf- 
fassung es  hier  am  wenigsten  als  vorhanden  vermuten  möchte  und  dennoch  auch 
die  Tanzkunst,  sofern  sie  eben  eine  Kunst  ist,  den  Kreis  dieses  Objektes  eben- 
sowohl völlig  durchmessen  können  muss,  wie  jede  andere  fortschreitende  Kunst: 
„Ethe  und  Pathe  und  Praxeis!"  Nach  der  aristotelischen  Lehre  erschöpfen 
die  drei  Begriffe  die  ganze  Reihe  der  Veränderungen,  deren  die  empfindende 
Seele  fähig  ist.  Pathe  sind  die  einfachen  Empfindungen,  wie  Liebe,  Hass, 
Zorn,  Eifersucht,  Neid,  Furcht,  Mitleid  u.  s.  w.,  kurz  alle,  die  mit  einem  Lust-  oder 
Unlustgefühl  verbunden  sind  (vgl.  Eth.  Nik.  2,4.  1105'>2lff.).  —  Der  in  der  Kürze 
schwer  zu  definierende  Begriff  des  Ethos  bezeichnet  das  Gesamtverhalten 
des  Einzelnen  gegenüber  den  Empfindungen,  wie  es  unter  den  Einwir- 
kungen der  Vernunft  und  des  Verstandes,  am  meisten  jedoch  durch  die  Gewohnheit 
seines  Handelns  sich  bei  ihm  herausgebildet  hat,  wie  es  also  als  Gesamtheit  am 

*)  Die  Stelle,  an  der  viel  vergeblich  kuriert  ist,  wird  unmittelbar  verständlich, 
wenn  man  die  falsche  Interpunktion  hinter  [xixqov  fortlässt  und  dieses  statt  zum  vor- 
ausgehenden Satze  vielmehr,  wie  oben  geschehen,  zum  folgenden  konstruiert. 


10  Hebmann  Baumoabt 

meisten  von  allem  seiner  Eigenart  das  Gepräge  verleiht,  wie  es  nun  aber  andrerseits 
auch  bei  jeder  einzelnen  Gelegenheit,  in  jeder  seiner  Empfindungsäusserungen,  in 
jeder  seiner  Handlungen,  seiner  Worte  und  Werke  zur  Erscheinung  kommt.  Fftr 
die  Arten  dieses  Gesamtverhaltens  haben  die  Sprachen  auch  Namen  ausgeprägt; 
sie  sind  aber  gegenüber  der  unendlichen  hier  vorhandenen  Wandlungsfähigkeit  nicht 
zahlreich.  Solche  wären  in  unserem  Sprachgebrauche:  Treue,  Achtung,  Verehrung, 
Andacht,  Zartheit,  Menschlichkeit,  Gerechtigkeitsgefühl,  Ehrgefühl,  Schicklichkeits- 
gefühl  u.  s.  w.,  auch  solche  wie  Patriotismus,  Idealismus,  Enthusiasmus  u.  s.  w.  und 
ihre  Gegenteile.  Es  leuchtet  ein,  dass  sie  für  die  Tugenden  eine  der  wesent- 
lichsten Voraussetzungen  bilden,  sofern  sie  positiv  geartet  sind;  wie  denn  auch  A. 
die  Tugenden  als  s^sig  rj&ixal  definiert.  —  Hieraus  geht  von  selbst  hervor,  inwiefern 
auch  die  Praxeis  zu  dem  Objekt  der  künstlerischen  Mimesis  gehören,  was  ja  für 
den  ersten  Blick  etwas  Befremdendes  hat.  Durchaus  fern  zu  halten  ist  dabei  zu- 
nächst der  Gedanke  an  die  äussere  Verwirklichung  der  Handlung,  vielmehr  ins  Auge 
zu  fassen  ihre  innere  mit  dem  Entschluss  (ngoat^eaic)  sich  vollendende  Entstehung 
und  zwar  auch  diese  vornehmlich,  sofern  Pathos  und  Ethos  dazu  mitwirken,  und 
erst  in  zweiter  Linie,  sofern  auch  die  Verstandeserwägung  dabei  mitspricht.  In 
solcher  rein  innerlicher  Weise  können  Musik  und  Orchestik  „praktisch" 
mimetisch  wirken,  d.  h.  jene  zu  Entschlüssen  führenden  pathischen  und  ethischen 
Bewegungen  (nQaxzixöv)  in  der  Seele  hervorbringen.  Etwas  anderes  ist  es,  und 
was  durch  die  technische  Beschaffenheit  ihrer  Mittel  mit  Notwendigkeit  so  geboten 
wird,  dass  in  der  epischen  und  dramatischen  Poesie  jene  „praktischen"  Seelen- 
bewegungen auf  keine  andere  Weise  zur  Erscheinung  gebracht  werden  können  als 
dadurch,  dass  eine  Reihe  äusserer  Geschehnisse,  wie  sie  anheben,  sich  entwickeln 
und  zum  Abschlüsse  gelangen,  dargestellt  werden,  eine  ovozaaig  n^ayficircov  (vgl. 
hierzu:  Eth.  Nik.  1106'*34:  ovz*  avsv  vov  xal  öiavoiaq  ovr*  avev  i^&ucijg  iaziv 
€§6ü)Q  rj  nQoaLQsaig.  1111^6:  ^  nQOalQBüig  fiälkov  zu  7Jd-T]  xqIvel  zcüv  ngd^swv. 
1139"  35:  svnQa^la  %al  zo  ivavziov  iv  ngd^si  avev  öiavoiag  xal  rjS-ovg  ov%  eaziv. 
Khet.  n,  21.  1395^13:  7id-og  s'/ovaiv  ol  Xoyoi,  iv  oooig  örj/.rj  tj  ngoulQeCLg.  III,  16. 
1417"  19:  ovx  S'/ovglv  ol  fjLad-rjiiaziy.ol  löyoi  TJf^rj.  Polit.  8,  5.  1339*21;  rj  /id?J.ov 
otrjzeov  TiQog  dgezriv  zi  zsiveiv  ztjv  /uovaixjjv,  cy?  6vva/z^V7]v,  xa&aTCSQ  tj  yv,uvaazixi] 
zo  0(öfxa  TtOLOv  ZL  TtaQaaxevät.eL ,  xal  ztjv  (lovaix^v  zo  7}S-og  noiov  zi  noietv, 
id-lt,ovaav  övvaaO^ai  /aiQsiv  cgi^wg,  eine  Ausdrucksweise,  die  recht  augen- 
fällig den  rein  ästhetischen  Charakter  der  aristotelischen  Kunstauffassung  zeigt 
und  jeden  Gedanken  an  paränetische  oder  moralisierende  Tendenzen  ausschliesst. 
1340"  39:  iv  zolg  [lileoLV  avzolg  iozt  fiLfjLi]fiaza  züJv  riO^wv.  1340^  8:  zcüv  Qv^iimv 
OL  (ikv  ijd^og  exovoL  azaoLfjLwzegov  ol  öh  xlvtjzlxov.  1340*11:  6  ivd^ovaiaa/jiog  zov 
nsgl  zijv  tpvxrjv  rjd^ovg  ndO^og  iazlv.  1341*>33:  zwv  jbts?.(üv  .  .  .  zä  fzhv  ^&ixd  za  Ss 
ngaxzLxa  za  d'  svd^ovaiaazixd  .  .  .  xal  zwv  agßoviwv  ztjv  (pvoiv  ngög  t'xaaza  zov- 
zcDV  oLxelav  dlXTjv  ngog  aü.o  fikgog  zi^kaoLv.  Es  wären  noch  sehr  viele  Aeusse- 
rungen  des  Philosophen  anzuführen,  doch  wäre  eine  eingehendere  Behandlung  der 
speziell  vorliegenden  Frage  hier  nicht  an  ihrem  Orte,  Der  Verf.  verweist  dafür  auf 
sein  „Handbuch  der  Poetik".  Stuttgart,  Cotta  1S8T,  und  auf  die  Monographien 
„Pathos  und  Pathema  im  arist.  Sprachgebrauche",  Königsberg  1873; 
„Der  Begriff  der  tragischen  Katharsis",  Fleckeisens  Jahrbücher  1875; 
„Aristoteles,  Lessing  und  Goethe",  Leipzig,  Teubner  1877.) 

„Die  Dichtkunst^®)  bewirkt  die  NachahmuDg  durch  die  einfache ^°) 
Rede  oder  durch  die  Verse  und  zwar  nach  dem  Lauf  der  Dinge  bis  jetzt 
durch  diese  letzteren -'),  ob  nun  sie  miteinander  vermischend  oder  unter 
Anwendung   einer   einzigen   Versart,   denn   wir  hätten   kein  Wort,   das 


Zur  Lehre  des  Aristoteles  vom  Wesen  der  Kunst  und  der  Dichtung.        11 

zugleich  auch  die  Mimen  des  Sophron  und  Xenarch  und  die  sokratischen 
Dialoge  mit  einbegriffe,  auch  nicht,  wenn  jemand  etwa  bei  dieser  Art 
von  Nachahmung  den  Trimeter  oder  das  elegische  Mass  oder  irgend 
ein  andres  dafür  geeignetes  Mass  zur  Anwendung  brächte.^-J  Es  sind 
eben  nur  die  Leute,  für  die  mit  den  Versen  auch  die  Vorstellung 
des  Dichtens  verknüpft  ist,  die  hier  von  Elegikem,  dort  von  Epikern 
sprechen  und  nicht  auf  Grund  der  künstlerischen  Nachahmung,  sondern 
ganz  allgemein  nach  dem  Versmass  solche  Dichterbezeichnungen  aus- 
teilen. Denn  sie  haben  sich  gewöhnt  auch  die  so  zu  nennen,  die  etwa 
eine  medizinische  oder  musikalische  Theorie  in  Versen  vorbringen.  Es 
ist  aber  keine  Gemeinschaft  zwischen  Homer  und  Empedokles  ausser  der 
des  Metrums :  deswegen  trägt  doch  jener  seinen  Dichternamen  mit  Recht, 
dieser  ist  vielmehr  ein  Naturphilosoph  als  ein  Dichter  zu  nennen.  Eben- 
so würde  aber,  wenn  jemand  mit  Anwendung  sämtlicher  Metra  durch- 
einander es  erreichte,  die  Nachahmung  zu  schaffen^)  —  wie  eine  solche 
Dichtung  in  dem  Centauren  des  Chäremon  ^^)  vorliegt,  eine  bunte  Ehapsodie 
aus  allen  Versarten  —  der  Name  eines  Dichters  auch  ihm  zu  erteilen 
sein.  Das  sind  die  Bestimmungen  über  diesen  Punkt.  Es  giebt  aber 
einige  Künste,  die  sich  der  sämtlichen  genannten  Mittel  bedienen,  also 
des  Rhythmus,  der  Melodie  und  des  Verses,  wie  die  dithyrambische  und 
nomische  Dichtung  einerseits  und  die  Tragödie  und  Komödie  andrerseits; 
sie  unterscheiden  sich  jedoch  darin,  dass  jene  durchweg  so  verfahren, 
diese  nur  in  einzelnen  Teilen.  Diese  Unterschiede  der  Künste  nenne 
ich  nicht  solche,  worin  sie  die  Nachahmung  vollziehen."^'*) 

19)  snonoda.  Der  Ausdruck  ist  nicht  zu  streichen,  sondern  im  weitesten  Sinne 
zu  nehmen  als  Schöpfung  durch  das  Wort,  Wortdichtung,  in  solchem  Sinne  also 
einfach:  „Dichtung",  noirjatg  konnte  A.  hier  nicht  brauchen,  weil  es  allgemein 
die  „schaffende  Thätigkeit"  bedeutet. 

20)  Xoyoiq  xpikolq.  „Blosse  Rede",  ohne  rhythmischen  oder  irgendwelchen, 
z.  B.  melischen  Schmuck;  also  was  wir  Prosa  nennen,  wofür  A.  kein  besonderes 
Wort  zu  Gebote  steht,  geschweige  denn  für  Prosadichtung,  musische  Rede,  wie 
sie  Plato  mit  seinem  Xöyoq  [xovglx^  xsxQafjthoq  umschreibt. 

2\)ieal  rovroig  si'xe  f.iiyvvaa  ßex'  aXXrjkcov,  el'd-'  kvL  zivi  y^vei  '/qod- 
(jlsvti  x(üv  fjL^xQCDv  xvyx^vovoa  /utxQt  xov  vvv.  Zahlreiche  Konjekturen  ver- 
dunkeln oder  vernichten  den  an  sich  guten  und  klaren  Sinn  der  Stelle,  die  nur 
durch  die  in  ihrer  äussersten  Kürze  gelegene  allerdings  grosse  Härte  Anstoss  giebt. 
Voraus  geht:  ?;  de  Snonoda  ßovov  xolq  Xoyoiq  xpüMqy]  xolq  (xexQoic,  wozu  aus  dem 
früheren  uif^elxai  zu  ergänzen  ist 

In  den  vorausgehenden  parallelen  Satzgefügen  folgt  auf  die  allgemeine  Angabe 
der  Nachahmungsmittel  ein  spezialisierendes  /(jcü^Mf' vt;  ;  da  dieses  nun  hier  ohnehin 
in  der  Alternative  d'xe  fxiyvvaa  .  .  eYxe  hvi  xivi  ysvsc  xQ^f^^vr^  auftritt,  so  schliesst 
sich  an  dieses  letztere  das  Participium  xvyxdvovaa  leicht  an,  während  es,  genau 
konstruiert,  doch  eigentlich  zu  einem  dem  Sinne  nach  vorschwebenden,  nicht  zu 
dem  Zwischensatze,  sondern  zu  xal  xovxoiq  gehörenden  ygoiiiivri  gehören  müsste. 


12  Hebmakn  Baühoabt 

Darin  liegt  die  Harte  und  die  Schwierigkeit  der  Stelle.  Es  ist  also  so  zu  verbinden : 
xal  xovxoiq  (sc.  tolq  (xdtQOLQ)  xvyxuvovaa  ixi'iQi  rov  vvv  xQojfiivri  shs  ßiyvvaa 
ELTS  hl  ZIVI  ybvsi.  Das  entspricht  auf  das  genaueste  dem  geforderten  Sinn.  Wie 
schon  gesagt,  ist  dieser  ganze  Abschnitt  des  ersten  Kapitels,  der  sich  mit  der  Angabe 
der  Mittel  der  fortschreitenden  Ktlnste  befasst,  zugleich  der  Durchführung  jenes 
wichtigsten  Fundamentalsatzes  der  gesamten  Aesthetik  gewidmet,  dessen  Verken- 
nung das  Grundübel  aller  unfertigen  und  aller  sinkenden  Kunst,  nicht  zum  wenigsten 
unsrer  modernen  bildet:  des  Satzes,  dass  der  Zweck  der  künstlerischen  Thätigkeit 
niemals  und  nirgend  in  der,  wie  immer  beschaffenen  Anwendung  der  ihr  zu  Gebote 
stehenden  Mittel  besteht,  sondern  einzig  und  allein  in  der  durch  sie  erreichten 
„Mimesis"  und  den  damit  notwendig  verbundenen  Wirkungen  im  Gemüt  der 
Empfangenden.  So  liegt  denn  auch  hier,  wo  A.  zuerst  über  die  Poesie  zu  handeln 
beginnt,  in  Sätzen ,  von  denen  jedes  Wort  den  Anlass  zu  fruchtbaren  Erörterungen 
liefert,  ausgesprochen :  dass  die  „Epopoiia",  die  dem  Wortlaut  nach  das  künstlerische 
Schaffen  durch  das  Wort  bedeutet,  in  diesem  weitesten  Sinne  über  das  Wort  in 
jeder  Gestalt  als  über  ihr  Darstellungsmittel  gebietet;  dass  aber  eine  unkünstlerische 
Gewöhnung  und  die  Oberflächlichkeit  der  landläufigen  Beurteilungsweise,  die  sogar  im 
Sprachgebrauche  zur  Verlegenheit  des  wahren  Kenners  sich  unüberwindlich  festgesetzt 
haben,  jenen  wahren  Sachverhalt  mit  doppeltem  Irrtum  trüben.  Es  hat  sich  im  Lauf 
der  Dinge  so  gefügt  {eTvyev)^  dass  man  den  Begriff  der  Dichtkunst  nur  auf  die  Nach- 
ahmung der  Verse  beschränkte,  und  der  Sprachgebrauch  ist  dieser  Einschränkung  ge- 
folgt. Indem  man  nun  aber  verkannte,  dass  ihr  Wesen  grade  auf  der  Nachahmung 
beruht,  die  auch  durch  das  Wort  in  halbrhythmischer  Weise,  wie  in  den  Mimen  des 
Sophron  und  Xenarch  und  sogar  in  ganz  unrhythmischen  Darstellungen  wie  den  sokrati- 
schen  Dialogen  erreichbar  ist,  verfiel  man,  das  Wesen  der  Dichtung  mit  der  äusseren 
Gestalt  ihrer  bevorzugten  Mittel  verwechselnd,  in  jenen  noch  schlimmeren  Irrtum, 
nun  jede  versifizierte  Rede  für  Poesie  zu  halten,  ja  nach  der  Form  des  Versmasses 
die  poetische  Geltung  bestimmen  zu  wollen.  —  Dieser  klare  Gedankenzusammenhang 
wird  auch  durch  die  auf  den  ersten  Blick  so  ansprechende  Bemayssche  Konjektur 
dvcavvfjLoq  zvyyävovaa  verwischt,  ganz  abgesehen  von  der  Schiefheit  des  Ausdrucks, 
die  dadurch  geschaffen  wird.  Für  die  Gesamtheit  der  Dichtung  fehlt  die  Bezeich- 
nung der  Sprache  keineswegs;  nolrjaig  und  sKonodu  wären  dafür  vorhanden.  Wo- 
rauf es  ankommt,  ist,  dass  durch  den  mehr  oder  minder  zufälligen  Lauf  der  Dinge 
iz-v'/f])  diese  Bezeichnungen  verengt  sind,  so  dass  der  Sprachgebrauch  sie  nur  noch 
für  Nachahmungen  in  Versen  zulässt  und  es  ihm  nun  an  einem  W^orte  für  die 
Prosadichtung  und  für  die  Nachahmung  in  freien  Rhj'thmen  fehlt.  Daraus  gehen 
nun  die  oben  besprochenen  Verwirrungen  hervor. 

22)  ovöh  ei' zig  öia  z qi^sz qü)V  rj  iXeye icDV  rj  zwv  äk/.cov  zivojv  zcov 
zotovzcov  noiolzo  ztjv  fii^rjaiv.  Auch  hier  ist  nichts  zu  ändern ;  und  dadurch, 
dass  man  im  vorangehenden  Satze  dem  ursprünglichen  Texte  folgt,  erhält  auch 
dieser  Gedanke  —  und  zwar  in  voller  Ueberein Stimmung  mit  dem  diesen  ganzen 
Abschnitt  beherrschenden  Grundgedanken  —  sein  volles  Licht :  in  so  hohem  Masse 
mangelt  das  Verständnis  für  das  Wesen  der  Dichtung,  dass  es  nämlich  ganz  allein 
in  der  Mimesis  liegt,  dass  z.  B.  in  den  sokratischen  Dialogen,  selbst  wenn  sie 
versifiziert  würden,  das  in  ihnen  liegende  mimetische  Element  nicht  anerkannt 
werden  und  durch  die  vorhandenen  Sprachmittel  nicht  kenntlich  zu  machen  sein 
würde.  Mit  solcher  Schärfe  tritt  die  aristotelische  Mimesistheorie  dem  unentwickelten 
ästhetischen  ßewusstsein  gegenüber,  zu  deren  Verständnis  doch  schon  diese  einzelne 
Stelle  den  rechten  Weg  hätte  weisen  müssen.  Was  ist  denn  an  den  „sokratischen 
Dialogen"  mimetisch?  doch  nicht  etwa  die  hier  und  da  eingestreuten  Natur-  und 
Lokalschilderungen  oder  die  mythologisierenden  Fiktionen.  Vielmehr  ist  es  die  per- 
sönliche und  ethische  Gesamtfärbung  der  Darstellung,  oder,  ohne  Umschreibung, 


Zur  Lehre  des  Aristoteles  vom  Wesen  der  Kunst  und  der  Dichtung.         13 

es  ist  die  darin  durchweg  angewandte  Kunst,  der  Gedankenentwickelung  die  un- 
mittelbare Wirkung  auf  das  Gemüt  des  Hörers  zu  verleihen,  d.  h.  die  „Mimesis 
eines  Ethos".  Von  einem  äusseren  Objekte  der  „Nachahmung"  kann  da  keine 
Rede  sein;  eben  deshalb  liegt  eine  so  bedeutsam  aufklärende  Kraft  darin,  wenn  A.  die 
SojxQaxixovg  ?.6yovg  kurzweg  für  /xifirjosig  erklärt,  wie  er  es  in  dem  bei  Athenäus 
aufbewahrten  Fragment  (vgl.  14  86^9.)  gethan  hat:  „ovxovv  ovöh  i/xfxtxQovg  rovg 
xaXovfi^vovg  2J(6(pQovog  fxißovg  /urj  (p(öfxsv  elvai  ?.6yovg  xal  (jn^riaeLg,  7/  xovg 
kks^ccf^Evov  rov  Ttjlov  zovg  ngozfQOvg  ygacphtag  z(öv  Scoxgazixcöv  öiaXoycov  " 
„Soll  man  denn  die  nicht  versifizierten  Mimen  des  Sophron,  die  schon  durch  ihren 
Namen  daraufhinweisen,  zugleich  als  Reden  und  als  künstlerische  Darstel- 
lungen (Mimeseis)  bezeichnen  können  oder  die  Dialoge  des  Alexamenos  von  Teos, 
die  noch  früher  geschrieben  wurden  als  die  sokratischen?"  (vgl.  Bernays,  Tragöd. 
S.  187)  Das  ist  sicherlich  von  A.  in  jenem  Dialog  „über  die  Dichter"  gesagt  worden, 
wo  er  seinen  Hörern  zuerst  seine  Theorie  der  Mimesis  entwickelte ;  ebenso  das  Frag- 
ment bei  Diogenes  Laertius  (p.  1486^16):  zr/v  z(öv  Xoycuv  cöiav  avzov  {IlXdzoivog) 
fXEza^v  noLTjfjiazog  slvat  xal  tze^ov  Xöyov,  „dass  die  Kunstform  seiner  Darstellung  die 
Mitte  halte  zwischen  dem  Gedicht  und  der  Prosa". 

23)  noioLzo  ZTjv  (iL(jirjOLV.  Der  ganze  Nachdruck  des  Satzes  liegt  auf  diesen 
Worten.  Die  geltende  Observanz,  nach  dem  Metrum  der  Dichtungen  die  Dichter 
einzuteilen,  also  in  Epiker,  Elegiker,  Jambendichter  u.  s.  w.,  die  in  die  Brüche 
gerät,  wenn  sie  nur  einmal  alle  möglichen  Metra  durcheinander  angewendet  findet, 
ist  unwissenschaftlich  und  grundverkehrt.  Die  Frage  nach  der  Mimesis  ent- 
scheidet allein  und  alles. 

24)  XcciQrjfÄwv.  A.  erwähnt  ihn  Rhet.  3,  12  (1413^  13).  Es  wird  dort  von  dem 
Stil  der  öffentlichen  Rede  gehandelt  {Xs^ig  dyojviozixTj),  dass  er  der  starken  Ausdrucks- 
mittel der  Bühne  bedarf.  Diese  seien  entweder  ethisch  oder  pathetisch.  Die 
letzteren,  also  die  Stellen  leidenschaftlichen  Empfindungsausdruckes  werden  von  den 
Schauspielern  bevorzugt,  und  auch  die  Dichter  bemühen  sich  um  solche  Darsteller. 
Gepriesen  aber  werden  diejenigen  Dichter,  deren  Dramen  sich  zum  Vorlesen  eignen, 
wie  der  Dithyrambendichter  Chäremon,  der  an  Sorgfalt  und  Klarheit  des  Ausdrucks 
einem  Prosaiker  gleicht:  ßaozät,ovzai  öh  ot  dvayvwazixol,  olov  Xaigjjßcov  (dxQißijg 
yccQ  coGTiEQ  XoyoyQdq)og)  xal  Aixvßviog  zwv  diS^vgafißonoKÖv.  Es  liegt  nach  dem 
Zusammenhange  auf  der  Hand,  dass  im  Gegensatze  zu  den  für  den  Schauspieler  ge- 
arbeiteten pathetisch-leidenschaftlichen  Glanzleistungen  die  Dichtung  des  Chäremon 
als  besonnene,  eine  strengere  Kritik  vertragende  „ethische"  Mimesis  gerühmt  wird. 

25)  zavzag  fxhv  ov  ?Jy(o  zag  öia^OQccg  z(öv  zs/voJv,  iv  alg  notovvzai  zi]V  /xlfXfj- 
GLv.  Wenn  man  hier  das  ov  in  oiv  wandelt,  so  wird  allerdings  der  Satz  in  das  Ge- 
genteil von  dem  verkehrt,  was  A.  gesagt  hat  und  was  der  Sinn  verlangt,  wodurch 
dann  neue  Aenderungen  nötig  werden.  Den  formalen  Abschluss  hat  die  Materie 
schon  sechs  Zeilen  früher  erhalten:  negl  fxsv  ovv  zovzcov  öhüqLgQ^o}  zovzov  zov  zq6- 
nov.  Wie  sollte  man  dem  Autor  zumuten,  dass  er  nun  doch  noch  weiter  von  der 
abgehandelten  Sache  gesprochen  hätte,  um  gleich  darauf  noch  ein  zweites  so  aus- 
drückliches Punktum  zu  setzen!  Die  sechs  Schlusszeilen  enthalten  vielmehr  einen 
neuen  Gedanken  und  zwar  einen  solchen,  der  schlechterdings  seinen  Platz  nur  hinter 
dem  Schluss  des  Kapitels  haben  konnte.  Das  war,  wie  gesagt,  erschöpft  mit  der 
Erwähnung  jener  Dichtungen,  die  sämtliche  Versarten  in  bunter  Mischung  anwen- 
den, für  die  Chäremon  als  Beispiel  angeführt  wurde.  Was  nun  A.  nachträglich  noch 
hinzufügt,  würde,  weiter  ausgeführt,  so  lauten:  „Wenn  nun  eingewendet  werden 
sollte,  dass  in  ähnlicher  Weise  wie  in  den  Dithyramben  und  Nomen  ja  doch  auch 
in  der  Tragödie  und  Komödie  die  verschiedensten  Metra  zur  Anwendung  kommen, 
so  wäre  zu  erwidern,  dass  da  ein  grosser  Unterschied  vorliegt.  Die  letztgenannten 
Kunstgattungen  verfahren  so  xazd  f^tgog,  d.  h.  sie  wenden  in  verschiedenen  Teilen, 


14  Hermann  Baümgabt 

die  ganz  verschieden  geartet  sind,  auch  verschiedene  Metra  an,  wobei  sie  bestimmten, 
allgemein  gültigen  Gesetzen  folgen.  Man  sieht,  wie  notwendig  nun  der  Schlubssatz 
folgt:  die  Besprechung  solcher  Unterschiede  gehört  nicht  hierher;  es  sind  nicht 
solche  Verschiedenheiten,  die  in  der  Betrachtung  über  die  Mittel  der  künstlerischen 
Darstellung  in  Betracht  kommen,  sondern,  wie  auf  der  Hand  liegt,  da,  wo  es  sich 
um  die  Art  und  Weise  derselben  handelt.  Durch  die  Konjekturen  wird  nicht  nur 
der  Sinn  dieses  Satzes,  sondern  der  des  ganzen  Zusanunenhanges  völlig  vernichtet. 


Kapitel  H. 

„Da  man  nun,  indem  man  die  künstlerische  Nachahmung  ausübt, 
handelnde  Personen  nachahmt,^"}  diese  aber  notwendig  entweder  gute 
oder  schlechte  sein  müssen  —  denn  fast  immer '-")  bewegt  sich  die  Ge- 
fühlsweise nur  nach  diesen  beiden  Richtungen;  durch  falsches  oder  rich- 
tiges Empfinden  ^^)  unterscheiden  sich  ja  doch  die  Menschen  in  ihrer 
Gefühlsweise  —  so  stellt  die  Nachahmung  entweder  solche  Menschen 
dar,  die  besser  sind  als  wir  Durchschnittsmenschen  oder  schlechter  oder 
auch  solche  wie  wir.^^)  So  auch  die  Maler:  Polygnot  bildete  Menschen 
höherer  Art  ab,  Pausen  Figuren  niederer  Gattung,  Dionysios  solche  wie 
wir.^")  Es  ist  also  klar,  dass  auch  eine  jede  von  den  oben  genannten 
Arten  der  Nachahmung  diese  Unterscheidungen  in  sich  begreifen  wird, 
dass  also  für  die  Unterscheidung  nach  den  Gegenständen  der  Nach- 
ahmung dieses  der  Einteilungsgrund  sein  wird.^*)  Denn  auch  in  der 
Tanzkunst  und  in  der  Musik  der  Flöte  und  der  Kithara  können  diese 
selben  verschiedenen  Richtungen  sich  entwickelnd^),  und  ganz  dasselbe^) 
findet  statt  auf  dem  Gebiete  der  redenden  Künste  in  Prosa  und  Versen.**) 
So  führt  uns  Homer  Menschen  besserer  Art  vor,  Kleophon^'*)  dagegen 
unsersgleichen,  Hegemon  von  Thasos  endlich,  der  zuerst  Parodien  dichtete, 
und  Nikochares,  der  Dichter  der  Deliade,  niedrige  Charaktere.  In  der 
gleichen  Weise  könnte  man  aber  auch  die  Nachahmung  auf  dem  Gebiete 
des  Dithyrambos  und  des  Nomos  gestalten,  wie  das  ja  Timotheos  und 
Philoxenos  in  ihren^^)  Cyklopen  gethan  haben.^^)  Das  ist  aber  derselbe"*) 
Unterschied,  aus  dem  sich  der  Abstand  ^^)  zwischen  der  Tragödie  und  der 
Komödie  ergeben  hat:  diese  will  Personen  in  ihrer  Nachahmung  dar- 
stellen, die  schlechter  sind  als  die  Umgebung,  in  der  wir  leben ^°),  jene 
solche,  die  sich  darüber  erheben." 

26)  'Enel  6s  fufxovvzai  oc  fxifioviJLSvoL  nQaxxovxctq  . .  Das  Schema  ety- 
mologicum  ist  keineswegs  absichtslos;  wie  tief  aber  der  Sinn  der  wenigen  Worte 
geht,  erkennt  man  am  besten  aus  der  Zusammenhaltung  mit  einer  Stelle  aus  Kapitel  24 
der  Poetik,  die  ihrerseits  freilich  nicht  nur  dem  Sinne,  sondern  auch  dem  Wortlaute 
nach  unverstanden  geblieben  und  dem  tötenden  Konjekturalgeiste  zum  Opfer  ge- 
fallen ist.  1460«  5  heisst  es:  '^'OfirjQog  öh  aXla  re  no/.Xa  a^iog  inatvEla&ai,  xal  örj 
xal  oxL  fxovog  xcHv  7C0t?]X(öv  ovx  dyvosl  8  6si  noistv  avxov.    avxov  yccQ   öel  xov 


Zur  Lehre  des  Aristoteles  vom  Wesen  der  Kunst  und  der  Dichtung.        15 

noiTjTTjV  iXayjaza  XeysiV  ov  yaQ  iarc  xaxä  xavxa  iiuxrizr^q.  o\  /ägv  ovv  ä?.?.oi  avzol 
(JLSV  öl  oXov  dycDvl^oviai,  fzißovvzai  öh  6).iya  xal  oXiyuxig'  6  dh  oXlya  g)QOifuaaa- 
ßevog  evd^vg  eladysi  dvöga  iq  yvvalxa  t\  dlXo  zl  ijS^og,  xal  ovötva  tJS-t],  «AA' 
£'/ovza  r]d-7j.  So  schreibt  die  älteste  Handschrift  und  gerade  so  ist  zu  lesen:  „Wie 
Homer  in  so  vielem  andern  des  Preises  wert  ist ,  so  auch  darin,  dass  er  allein  unter 
den  Dichtern  nirgends  darüber  im  Unklaren  ist,  was  für  eine  Rolle  seiner  eigenen 
Person  im  Gedichte  zusteht  (wörtlich :  „was  er  in  eigener  Person  —  avzöv  —  dichten 
muss").  Denn  der  Dichter  selbst  soll  so  wenig  als  möglich  sprechen ;  ist  er  ja  doch 
in  solchen  Partien  nicht  nachahmender  Künstler.  Die  andern  halten  von  Anfang 
bis  zu  Ende  in  eigener  Person  ihren  Vortrag,  aber  die  Kunst  der  Nachahmung  üben 
sie  nur  an  wenigem  und  an  wenigen  Stellen ;  er  jedoch,  nur  wenige  einleitende  Worte 
vorausschickend,  lässt  sofort  einen  Mann  auftreten  oder  ein  Weib  oder  irgend 
etwas  anderes  Seelisches,  und  nicht  die  Seelenzustände  sind  es,  die 
er  uns  vorführt,  sondern  die  Dinge  zeigt  er  uns,  die  die  Seelenzu- 
stände in  sich  tragen."  Durch  die  beliebte  und  allgemein  angenommene  Kon- 
jektur ical  ovöev  dr]d"r],  dk?J  Sforza  rjd-7]  werden  die  Sätze  zu  flacher  Geschwätzig- 
keit herabgedrückt,  die  in  Wahrheit  zwei  der  wichtigsten  und  feinsten  Beobachtungen 
über  die  dichterische  Kunst  enthalten,  die  erst  nach  mehr  als  zweitausend  Jahren  auf 
anderem  Wege  Lessing  wieder  entdeckte,  und  auch  er  nicht  in  dem  hier  vorliegen- 
den, trotz  aller  Kürze  tief  begründenden  Zusammenhange.  Homers  Kunst  ist  echte 
Mimesis,  d.  h.  psychische  Wirkung;  nur  was  selbst  sich  psychisch  bewegt,  vermag  auch 
uns  —  mimetisch,  die  eigene  Bewegung  nachahmend  in  uns  übertragend  —  in  unserm 
Empfinden  zu  bewegen,  also  der  handelnde  Mensch;  nun  aber  neben  ihm  alles 
andere,  die  ganze  Natur  und  alles  Erdenkbare,  sofern  wir  es  in  dem  ihm  eigenen 
Leben,  nach  den  von  ihm  ausgehenden  Äusserungen  uns  beseelt,  empfindend 
und  aus  solchen  Seelenbeschaffenheiten  handelnd  vorstellen,  d.i.  sofern  wir  ihm 
Ethos  verleihen.  Das  ist  das  Geheimnis  der  homerischen  Kunst,  die  nicht 
Schilderung  ist,  sondern  seelenbewegende  Lebenswirkung  durch  die  Einführung 
{elaccyeiv)  der  Naturdinge  als  ethisch  beseelter  Kräfte,  —  Mimesis!  —  Und  eine 
zweite  Beobachtung  liegt  in  jenen  wenigen  einfachen  Worten:  auch  der  würde  sein 
Ziel  verfehlen ,  der  mit  der  besten  Absicht ,  Ethos ,  d.  i.  also  Gemütsbewegung  her- 
vorzubringen, nun  diese  selbst  schildern  wollte.  Wem  fiele  dabei  nicht  unsere 
eigene  Poesie  aus  der  ersten  Hälfte  des  vorigen  Jahrhunderts  ein!  Wenn  der  tief 
und  stark  fühlende  Haller  etwa  anhebt:  „Soll  ich  von  Deinem  Tode  singen?  0  Ma- 
rianne! welch  ein  Lied,  wann  Seufzer  mit  den  Worten  ringen  und  ein  Begriff  den 
andern  flieht!"  und  mit  minutiöser  Selbstbeobachtung  die  Beschreibung  seiner  Trauer 
durch  mehr  als  hundert  Verse  fortsetzt.  Dagegen  spricht  A.  sein  einfaches:  ovösva 
rj&r]  ttXX^  £;fovTa  ^'^t;!  Dies  ist  der  eigentliche  Grund  des  von  Lessing  wieder 
erneuten  Gesetzes:  die  Poesie  soll  Handlungen  darstellen,  das  doch  durch 
die  richtige  Begründung  zugleich  auch  eingeschränkt  wird.  Wesen  und  Dinge  soll 
der  Dichter  uns  vorführen ,  sofern  sie  von  Ethos  beseelt  sind ;  freilich  zeigt  sich  das 
zumeist  im  Handeln;  vermag  er  jedoch  das  Ethos  der  Dinge  auch  durch  ihre 
blosse  Gegenwart  uns  mimetisch  zum  Gefühl  zu  bringen,  so  wird  er  seine  Auf- 
gabe nicht  minder  erreicht  haben.  Aber  zeigen  können  muss  er  sie  uns,  und  durch 
nichts  wird  er  das  in  dem  Grade  bewirken  können,  als  indem  er  sie  als  rjd-Tj  exovza 
wie  ein  Zauberer  vor  unserm  geistigen  Auge  lebendig  macht.  So  ist  bei  Homer  die 
ganze  Natur  mit  beseeltem  Leben  erfüllt,  Nacht  und  Morgen,  Licht  und  Schatten, 
Wasser,  Wind  und  Himmel,  Gebirge  und  Strom,  und  wie  er  durch  menschliches 
Empfinden  die  Götter  zur  Erde  hinabzieht,  so  hebt  er  ebenso  die  Tiere  zum  Men- 
schen hinauf. 

So  erhält  nun  auch  der  Beginn  des  zweiten  Kapitels,  der  für  sich  allein  hätte 
ausreichen  sollen ,  um  den  bis  heute  noch  immer  auf  dem  Verständnis  der  aristote- 


16  Hbbmann  Baümgaet 

lischen  Mimesis- Theorie  lastenden  Bann  zu  lösen,  sein  rechtes  Licht.  Die  eigent- 
lichen Gegenstände  der  Mimesis:  Empfindungen,  Gemütszustände,  innere  Hand- 
lungen —  Pathe,  Ethe,  Praxeis  — ,  die  der  Maler  durch  die  „Abbildung"  ihrer  äusser- 
lich  erscheinenden  Zeichen  nachahmt,  der  Musiker  unmittelbar  mit  seinen  Rhythmen 
und  Melodien  erweckt,  kann  der  Dichter  nicht  anders  zur  Darstellung  bringen ,  als 
indem  er  sie  erfasst,  wie  sie  im  handelnden  Leben  sich  äussern.  Eben  darum 
„ahmt  er  Handelnde  nach",  insofern  er  tlberhaupt  ein  ßißovfitvog,  d.  h.  insofern  er 
„nachahmender  Künstler"  ist.  Das  eigentliche  Objekt  der  Mimesis  sind  nicht  die 
äusseren  Szenen  und  Begebnisse  der  Wirklichkeit,  es  ist  daher  nicht  ein  man- 
nigfaltiges, immerfort  wechselndes,  sondern  es  ist  das  eine,  immer  gleiche:  die 
bewegte  Seele,  die  das  Abbild  ihrer  Bewegungen  in  den  Gemütern  der  Empfangen- 
den wiederholt. 

27)  dväyxT]  6h  zovzovg  (sc.  TiQäzzovTag)  ij  onovöaLovq  rj  ^av/.ovg 
slvai'  za  yap  rjS^T]  axsöov  ael  zovzoig  dxo?.ov&eZ  fiovoig.  Zwei  bedeu- 
tende Gedanken  liegen  in  diesen  Worten,  die  scharfe  Hervorhebung  verlangen.  Er- 
fahrungsmässig  scheiden  sich  die  Handlungen  nach  den  Kategorien  von  gut  und 
schlecht.  Der  Dichter,  der  uns  Handelnde  vorführt,  muss  sie  also  nach  einer  von 
beiden  darstellen.  Wie  lebendig  aber  A.  von  der  Erkenntnis  durchdrungen  ist, 
dass  die  Kunst  es  nur  mit  dem  empfindenden  Menschen  zu  thun  hat,  nicht  mit  dem 
moralischen  Gesetz  seines  Handelns,  geht  aus  der  höchst  bedeutungsvollen  Erläute- 
rung hervor,  dass  jene  Kategorien  von  gut  und  schlecht  in  den  Handlungen  für  den 
Dichter  nur  deshalb,  also  auch  nur  insofern,  in  Betracht  kommen,  als  sie  von 
der  Gemütsbeschaffenheit  der  Handelnden  Zeugnis  ablegen:  „denn  fast 
immer  bewegt  sich  die  Gefühlsweise  nur  nach  diesen  beiden  Richtungen".  Dieses 
axsöov  dsL,  das  Anstoss  erregt  hat  und  wohl  ganz  eliminiert  ist,  stellt  grade  die  klare 
und  tiefe  Einsicht  des  A.  ins  hellste  Licht.  Das  „Ethos"  ist  die  mehr  oder  minder 
gefestigte  Gewöhnung,  in  seinem  Empfinden  sich  den  Dingen  gegenüber  zu  verhalten. 
Die  Empfindungen  geben  nach  der  sie  begleitenden  Lust  oder  Unlust  ihr  bejahendes 
oder  verneinendes  Urteil  ab  und  beeinflussen  ebenso  den  Willensimpuls  (zum 
ÖKoxeiv  oder  (pevyeLv).  Alles  kommt  darauf  an,  ob  sie  dies  der  unveränderlichen 
Wahrheit  der  Dinge  gegenüber  mit  Recht  oder  Unrecht  thun  (bei  A.  kurz  ausge- 
drückt ob:  (jisza.  löyov  dkrjd-ovg)]  das  Richtige  ist  hier  wie  überall  nur  eins 
{/Liovax(ög),  die  Arten  der  Verfehlung  sind  sehr  vielfach  {no/J.axaig).  Nichtsdesto- 
weniger wird  im  Ganzen  und  Grossen  mit  der  Gesundheit  und  Richtigkeit  des 
gefestigten  Empfindens  auch  die  Trefflichkeit  der  Handlungen  zusammenfallen,  und 
umgekehrt  mit  dieser  jene  in  Uebereinstimmung  stehen.  Dagegen  wird  Fehlerhaftig- 
keit, Verderbtheit  im  Empfinden  auch  schlechtes  Handeln  im  Gefolge  haben  und 
umgekehrt.  Dies  wird  die  Regel  sein,  und  nach  A.*8  Ueberzeugung  hat  die  Kunst 
das  Normale,  Typische  darzustellen.  Nun  ist  aber  A.  sich  dessen  sehr  wohl  be- 
wusst,  dass  im  Leben  sich  dieses  Verhältnis  nicht  immer  so  klar  darstellt,  dass 
also  Ausnahmen  zu  verzeichnen  sind.  Es  wird  damit  aus  der  Zweiteilung  eine 
Dreiteilung,  die  auch  in  den  folgenden  Ausführungen  des  Kapitels  durchweg  zur 
Geltung  kommt  und  die  durch  die  Konjektur  denn  auch  gelegentlich  kurzweg  be- 
seitigt ist.  Die  Dichtung  wählt  die  Fälle,  in  denen  die  Gegensätze  klar  geschieden 
sind;  zwischen  jenen  giebt  es  im  Leben,  bei  der  Masse  der  Durchschnittsmenschen, 
mannigfache  Mischungsverhältnisse,  denen  gegenüber  die  Beurteilung  nach  ver- 
schiedenen Seiten  hin  sehr  leicht  ins  Schwanken  geraten  kann.  So  unterscheidet 
A.  im  Folgenden:  i'izoL  ßsXzlovag  ij  xad^  vf^äg  ij  ysiQOvag  rj  aal  zoiovzovg.  Also 
an  dritter  Stelle  „solche  wie  wir",  „Durchschnittsmenschen".  Nun  ist  es  klar,  dass 
auch  bei  diesen  das  von  A.  aufgestellte  Verhältnis  zwischen  Handeln  und  jenem 
Verhalten  des  Empfindens,  das  wir  mit  „Gesinnungs weise"  zu  bezeichnen  pflegen, 
in  der  Regel  zutreffen  wird,  nur  dass  es  nicht  so  klar  zur  Erscheinung  gelangt; 


Zur  Lehre  des  Aristoteles  vom  Wesen  der  Kunst  und  der  Dichtung.        17 

doch  leuchtet  es  ebenso  ein,  dass  hier  sich  auch  jene  selteneren,  problematischen 
Fälle  finden  werden,  in  denen  die  Kompliziertheit  der  Mischungsverhältnisse  die  feinste 
Unterscheidung  des  Psychologen  herausfordert,  und  denen  die  moderne  Kunst  sich 
mit  Vorliebe  zugewandt  hat.  Die  Alten  lehnten  dergleichen  von  sich  ab;  dass  aber 
A.,  in  seiner  alles  erwägenden  Besonnenheit,  der  Existenz  solcher  Fälle  sich  klar 
bewusst  war,  davon  giebt  die  objektive  Prüfung  unserer  Stelle  ein  unwiderlegliches 
Zeugnis. 

28)  xaxia  yaQ  xccl  d^szy  xa  ri%-ri  öiatpegovaL  navxeq.  Es  geht  aus 
dem  Obigen  ohne  Beweis  hervor,  wie  sinnentstellend  es  an  dieser  Stolle  wirken  muss, 
xaxia  und  dgexri  durch  „Schlechtigkeit  und  Tugend"  oder  etwas  irgendwie  Aehn- 
liches  wiederzugeben.  Es  kann  nur  bedeuten  „Fehlerhaftigkeit  und  treff- 
liche Kichtigkeit";  für  das  Empfinden  kommen  die  moralischen  Kategorien  eben 
nicht  zur  Anwendung,  sondern  die  objektive  üebereinstimmung  mit  dem  ).6yoq  cc^.rjS^g 
oder  die  Abweichung  davon.  Welche  Schwierigkeit,  beiläufig  bemerkt,  die  Wieder- 
gabe des  Wortes  ^9-og  verursacht,  da  wir  nun  einmal  ein  deutsches  Wort  dafür  nicht 
besitzen,  und  wie  hier  die  konsequente  Anwendung  ein  und  derselben  Bezeichnung 
schlechterdings  unthunlich  ist,  sondern  in  jedem  Falle  die  Annäherung  an  die  durch 
den  Sinn  geforderte  Nuance  des  Begriffs  gefordert  wird,  ist  jedem,  der  mit  der  vollen 
Kenntnis  seiner  Bedeutung  den  Versuch  gemacht  hat,  sicherlich  bekannt. 

29)  r/  xal  xoiovxovg:  jene  dritte,  oben  erwähnte  Gattung  handelnder  Men- 
schen, deren  Erwähnung  durch  das  axsäöv  del  des  vorhergehenden  Satzes  vor- 
bereitet ist. 

30)  /JiovvoLog  ÖS  oßolovg  si'xat^sv.  Das  oixoLovg  bezeichnet  hier  auf 
dem  Gebiet  der  Malerei  mit  höchst  präcisem  Ausdruck  jene  dritte  Gattung  von 
Menschen,  die  zuvor  mit  xaS-'  rjfzäg,  xoiovxovg  von  den  beiden  andern  unterschieden 
war.  Sehr  absichtsvoll  und  treffend  ist  auch  das  Verbum  sl'xa^ev  gewählt,  um 
abermals  zu  erinnern,  dass  die  vom  Maler  dargestellten  Figuren  nicht  der  Gegen- 
stand seiner  künstlerischen  Nachahmung  —  der  Mimesis  —  sind,  sondern  nur  das 
Formenmaterial,  das  er  „abzuschildern"  hat,  weil  es  die  Zeichen  {arjßela)  in  sich 
birgt,  durch  deren  Komposition  er  seinen  höheren  Nachahmungszweck  —  xsXog 
fiifxrjaecog  —  allein  erreichen  kann. 

31)  xal  saxai  hxsga.  xw  (allgemein  angenommene  Aenderung  für  x6)  srega 
ßißelad-ai  xovxov  xov  xqotcov.  Die  ausserordentliche  Schärfe  und  Prägnanz 
der  Diktion  geht  verloren,  wenn  nicht  jedes  Wort  und  auch  seine  Stellung  gewogen 
wird.  Der  im  Vorangehenden  erörterte  Unterschied  der  „Ethe**  geht  durch  das 
ganze  Gebiet  aller  Künste,  und  —  so  wunderbar  es  auf  den  ersten  Blick  er- 
scheinen mag  —  in  ihm  erschöpfen  sich  alle  Verschiedenheiten,  die  in 
Bezug  auf  den  Gegenstand  der  künstlerischen  Nachahmung  überhaupt  stattfinden 
können.  Nicht  also  nach  ihren  Gegenständen  unterscheiden  sich  die  Künste, 
sondern  nur  nach  ihren  Mitteln  und  in  Folge  dessen  nach  der  Art  ihrer  Nach- 
ahmung. Abermals  hätte  dieser  Satz  allein  hinreichen  müssen,  um  alle  die  seichten 
Interpretationen  der  aristotelischen  Mimesis  und  alle  die  insipiden  Einwürfe,  die 
Jahrhunderte  hindurch  dagegen  erhoben  sind  und  noch  erhoben  werden,  unmög- 
lich zu  machen.  —  In  dem  obigen  Satze  liegt  der  Nachdruck  auf  dem  xovxov  xov 
XQonov,  das  darum  ans  Ende  gestellt,  aber  mit  saxcci  hxsga  zu  verbinden  ist,  dazu 
dann  der  Instrumentalis  x(5  ^xsga  ßifxsla&ai.  Dieser  im  ersten  Kapitel  an  zweiter 
Stelle  genannte  Einteilungsgrund  erstreckt  sich  also  in  der  Weise  über  alle  Künste, 
dass  er  in  jeder  derselben  für  sich  zwei  Hauptgruppen  schafft. 

32)  So  heisst  es  ausdrücklich  im  folgenden  Satze :  xal  yaQ  iv  oq'/^tigel  xal 
avXi^aei  xal  xiS-aglosi  saxi  ysvsad^ai  xavxag  xag  dvo (JLOiöxrjxag.  ünsre 
moderne  Opernmusik  liefert  uns  zwar  auch  in  ihrem  rein  instrumentalen  Teile  Ana- 
logien für  diesen  aristotelischen  Satz,  aber  nach  dem,  was  wir  in  dem  sogenannten 

2 


18  Hermann  Baümgabt 

achten  Buche  seiner  Politik  über  die  Musik  lesen,  müssen  wir  uns  vorstellen,  dass 
Ohr  und  Sinn  der  Griechen  für  diese  uvofioiozrjrag  der  Musik ,  also  für  ihre  Fähig- 
keit, alle  Arten  von  Ethos,  die  hohen  und  edlen,  wie  die  fehlerhaften  und  gemeinen, 
nachahmend  in  uns  hervorzubringen,  in  ungemein  hohem  Grade  ausgebildet  waren. 
Darauf  freilich,  uns  von  ihrer  Tanzkunst  ein  irgendwie  zutreffendes  Bild  zu  machen, 
müssen  wir  ein  für  allemal  verzichten. 

33)  xal  to  nsQl  xovq  Xoyovq  öe  xal  ttjv  \piXo fiex qLuv.  Für  das  x6 
des  Textes,  das  keinen  Sinn  giebt,  lese  ich  xuvto,  wozu  aus  dem  Vorangehenden 
taxL  ysvia&at  hinzuzudenken  wäre. 

34)  Warum  sagt  A.  nsgl  xovg  Xoyovq  etc.,  während  es  vorher  hiess  iv  oq/i]- 
08L  etc.y  Weil  Tanz  und  Musik  mit  ihren  Mitteln  selbst  es  vermögen,  die  Ethe 
nachzuahmen;  jene  Verschiedenheiten  finden  also  in  ihnen  statt.  Die  Worte  und 
Verse  können  das  nicht;  sie  führen  uns  vielmehr  die  handelnden  Personen  vor, 
in  denen  jene  Unterschiede  der  Ethe  sich  erst  uns  darstellen.  Daher  sagt  A. 
„auf  dem  Gebiete"  „in  dem  Umkreise"  der  redenden  Künste,  was  negl  im 
eigentlichen  Sinne  bedeutet. 

35)  KXeofpöjv  ö'k  dßoiovq.  Kleophon  wird  von  Suidas  als  Tragödiendichter 
genannt;  und  an  dramatische  Dichtung  ist  hier  nach  dem  Zusammenhange  unzweifel- 
haft zu  denken,  durchaus  nicht  jedoch  an  den  Dialog  „Mandrobulos"  desselben 
Autors,  der  von  A.Sophist,  elench.  p.  174'' 27  als  ein  Beispiel  besonders  ausgeprägt 
sophistischen  Streitverfahrens  erwähnt  wird.  Der  Beginn  des  22.  Kapitels  der 
Poetik  (vgl.  14582  18)  widerspricht  dieser  Annahme  nicht  allein  keineswegs,  sondern 
bestätigt  sie  vielmehr.  Dort  heisst  es:  Ae^ecaq  ös  dgexri  aacpri  xal  (jirj  xansivrjv 
elvai.  oa(peaxäzri  /uhv  oiv  iaxiv  ^  ix  xcöv  xvqlcov  ovoßäxwv,  dlXa  xaneLViq.  nagd- 
öeiyfxa  dh  rj  KUocpcüvxoq  nolrjctq.  Die  hier  an  der  Ausdrucksweise  des  Kleophon 
geübte  Kritik  trifft  auf  einen  sophistischen  Dialog  von  der  Art,  wie  A.  den  Man- 
drobulos kennzeichnet,  nicht  zu,  wo  ja  der  deutlichste  Ausdruck  {aa^eaxdxrj)  und 
die  Anwendung  der  Worte  in  ihrem  eigentlichen  Sinne  (xvgia  ovofiaza)  gerade 
gefordert  werden.  Desto  mehr  bedeutet  sie  einen  Tadel  in  der  Poesie.  Das  Prädikat 
aber,  das  dem  poetischen  Ausdruck  Kleophons  im  Kapitel  22  beigelegt  wird,  stimmt 
zu  dem,  was  A.  in  Kap.  2  von  ihm  sagt,  vollkommen;  denn  die  ?Jqiq  xansivri,  der 
zwar  höchste  Deutlichkeit  nachgesagt  wird,  die  aber  eben  in  der  Deutlichkeit,  auf 
alles  Uneigentliche,  Bildliche,  Geschmückte  Verzicht  leistend,  zu  weit  geht,  ist  grade 
die  Stilgattung,  die  wir  bei  einem  Dichter  erwarten,  der  Personen  und  Vorgänge 
des  gewöhnlichen  Lebens  (oßolovq)  darzustellen  sich  erwählt  hat.  Daher  ist  es 
weder  zu  übersetzen  mit  „niedrig,  vulgär,  malt  oder  dürftig",  weil  alles  das  im 
Tadel  zu  weit  geht,  noch  mit  „schlicht  oder  einfach",  weil  damit  ein  Lob  verbunden 
wäre;  das  treffende  möchte  unser  dem  Lateinischen  entlehntes  „plan"  sein. 

36)  ofioicoq  ös  xal  Ttsgl  xovq  öi&vgdßß ovq  xal  negl  xovq  vofLOvq 
(jjaneg  xovq  KvxXcoTtaq  TißöS-soq  xal  ^^iXo^evoq  fjLiixriaaix o  dv  xiq. 
Für  das  im  Text  stehende  sinnlose  eye  negyäq  habe  ich  dyaneg  xovq  geschrieben, 
gewiss  eine  so  einfache  Korrektur,  zumal  sie  mit  den  überlieferten  Thatsachen  zu- 
sammenstimmt, dass  sie  ein  jeder  hätte  machen  müssen,  der  nur  den  Worten  und 
ihrem  Sinne  aufmerksam  folgte.  Das  den  speziellen  Abschnitt  des  Kapitels  be- 
herrschende Thema  ist:  auch  in  der  Poesie  giebt  es  den  einen  Unterscheidungsgrund 
für  die  Gegenstände  der  Nachahmung,  der  sich  über  alle  einzelnen  Gattungen  der 
Dichtung  erstreckt.  Nun  ist  zuletzt  die  Parodie  erwähnt,  die  Personen  niedrigeren 
Charakters  uns  vorführt;  und  A.  fährt  fort:  oßolcoq  sc:  fiifx^aaixo  avT/?„man 
könnte  das  gleiche  Verfahren  der  Nachahmung  ja  auch  einschlagen",  also  doch 
das  parodische,  auf  Gebieten  {negl  vgl.  Anmerk.  34.),  die  das  am  wenigsten  er- 
warten Hessen,  wie  auf  denen  des  Dithyrambos  und  Nomos,  für  welchen  letzteren 
sogar  zwei  Beispiele,  und  zwar  gleich  betitelte,  vorliegen.    So  dass  also  jene  Ein- 


Zur  Lehre  des  Aristoteles  vom  Wesen  der  Kunst  und  der  Dichtung.        19 

teilung  eine  überall  durchgehende  ist;  das  alles  dient  dann  zur  begründenden 
Erklärung  dafür,  wie  die  Tragödie  und  die  Komödie  sich  naturgemäss  entwickelt 
haben.  Die  für  inkurabel  geltende  Stelle  bietet  nicht  die  geringste  Schwierigkeit, 
sobald  man  nur  imiiioaLxo  als  das  Verbum  des  Hauptsatzes  erkennt,  das  gleich- 
bedeutend mit  itOLTjaeie  av  xig  ttjv  fxlfzi]Giv  sein  Objekt  in  sich  selber  trägt. 
Das  Verständnis  der  Stelle  hängt  also  allerdings  an  dem  Verständnis  des  Begriffes 
der  Mimesis. 

37)  Sachlich  sei  noch  bemerkt,  dass  sowohl  Timotheos  als  Philoxenos  in  der 
zweiten  Hälfte  des  fünften  Jahrhunderts  lebten,  und  Athenäus  uns  von  jedem  der 
beiden  berichtet,  dass  er  einen  Nomos,  „der  Cyklop"  betitelt,  verfasst  habe. 

38)  iv  06  T^  ccvz^  6ia(pOQä  xal  rj  tQay(x)6La  itgoq  rrjv  X(OfXü)6lccv 
öieoTijxev.  Der  Text  hat  iv  avt^  6h  zy.  Es  ist  nur  der  Artikel  umzustellen, 
was  schon  Vettori  gethan  hat ;  dagegen  würde  durch  die  Konjektur  xavij^  in  logisch 
störender  Weise  auf  das  zuletzt  Vorangehende  hingewiesen,  während,  wie  im  Obigen 
ausgeführt  ist,  die  letzte  Schlussfolgerung  aus  der  ganzen  vorausgehenden  Erörte- 
rung gezogen  wird,  und  zwar  grade  über  die  zuletzt  eingeschobene  Abschweifung 
hinweg. 

39)  Sehr  plastisch  ist  der  Ausdruck  öiearrjxsv  und  iv  t^  öiatpoga  „sie  traten 
auseinander",  „der  Abstand  zwischen  ihnen  bildete  sich  heraus  in  dem  Punkte  dieser 
Verschiedenheit' ' . 

40)  x(äv  vvv.  Ein  neuer  Ausdruck  für  dasselbe,  wofilr  vorher  ot  xad-'rjfzäg 
oder  xoLOvxoL  oder  ofioioi  gesagt  war;  also  die  Menschen  der  Umgebung,  in  der 
wir  leben,  örtlich,  zeitlich  und  der  Qualität  nach. 

Kapitel  IH. 

„Für  diese  zuletzt  genannten''^)  Kunstgattungen  existiert  nun  noch 
als  dritter  Unterschied  die  Verschiedenheit  der  Art,  wie  ihre  Gegenstände"*^) 
nachgeahmt  werden  können.  Denn  man  kann  innerhalb  desselben  Mate- 
rials von  Mitteln  und  bei  gleichartigen  Gegenständen  einmal  als  Erzäh- 
lender nachahmen  und  zwar  entweder,  indem  man  sich  in  eine  beliebige 
andere  Gestalt ''^)  verwandelt  —  so  dichtete  Homer  ^*)  —  oder,  indem  man 
dieselbe  Gestalt^'),  ohne  sie  zu  verändern''^),  beibehält,  oder,  indem  die 
Nachahmenden^^)  sämtlich  zu  handelnden  Personen  werden  und  in 
Aktion  treten."'^) 

41)  xovxcDv.  Die  Erörterung  engt  sich  nun  auf  die  eigentliche  poetische 
Kunstlehre  ein  und  zieht  bei  der  Betrachtung  der  Mittel  der  Mimesis  also  nur 
noch  die  poetischen  Gattungen  in  Erwägung,  von  denen  zuletzt  die  Rede  war. 

42)  sxaaxcc  xovxiov.  Die  bei  jeder  dieser  —  also  den  loyoi  und  der  \piXo- 
fiBxgia  zugehörigen  —  Gattungen  in  Betracht  kommenden,  dreifach  verschiedenen 
Nachahmungs  Objekte. 

43)  xal  yaQ  iv  xoZq  avrolg  xal  xd  avvd  fiifjiela&aL  Maxiv  oxh  fihv 
dnayyiXXovxa  //  s'xegov  xi  ycyvofievov,  wansg  "Ofirjgog  noisZ,  rj  otg 
xov  avxov  xal  fjtrj  (xexaßdXXovxa,  rj  ndvxag  (hg  ngdxxovxag  xal  ivsQ- 
yovvxaq  xovg  fiißovfisvovg.  Die  Sätze  erhalten  volles  Licht  aus  der  oben 
(vgl.  Anmerk.  24)  behandelten  Stelle  aus  dem  24.  Kapitel  der  Poetik.  Aus  dem  dort 
Gesagten  geht  auch  hervor,  dass  im  Texte  wiederum  das  richtige  steht  rj  hegov  xl, 
während    die  Aenderung  xiva  nicht  allein   einschränkend,    sondern  sogar  völlig 

2* 


20  Hbbmamn  Baümgabt 

sinnzerstörend  wirkt.  Die  Stelle  enthält  allerdings  eine  kleine  Unregelmässigkeit 
im  Ausdruck,  dass  nämlich  dem  ozh  fiev  vor  dnayyiX'/.ovza  nicht  am  Schlüsse  ein 
bze  öe  entspricht  (vgl.  Vahlen,  Beitr.  I.  S.  42).  Andrerseits  erklärt  sich  diese  Ab- 
weichung aus  dem  Sinn  der  ganzen  Stelle.  Sie  unterscheidet  zwischen  der  Nach- 
ahmung durch  £rzählung  und  durch  Handelnde  und  bereitet  die  Nennung  der 
letzteren  dadurch  vor,  dass  innerhalb  der  künstlerischen  Erzählung  zwei  Arten 
unterschieden  werden,  die  eine  Steigerung  der  Entwickelung  zur  dramatischen  Nach- 
ahmung bedeuten.  Hierdurch  erklärt  es  sich  auch,  dass  der  Verfasser,  vielleicht 
mit  voller  Absicht,  bei  dem  r]  im  engsten  Anschluss  an  die  vorangehende  Alternative 
vorblieb,  statt  äusserlich  korrekt  das  Schema  der  Einteilung  festzuhalten.  Das  eine 
hätte  doch  von  vornherein  allen  Interpreten  und  üebersetzern  feststehen  müssen, 
dass  von  einer  Erzählung,  wobei  der  Dichter  in  eigener  Person  vorträgt,  hier  über- 
haupt keine  Rede  sein  kann.  Denn  eine  solche  gilt  dem  Verfasser  der  Poetik  über- 
haupt für  keine  künstlerische,  ftir  keine  Mimesis  und  mit  Recht.  Er  unterscheidet 
also  innerhalb  der  künstlerischen,  mimetischen  Erzählung  zwei  Arten:  entweder  der 
Erzähler  nimmt  in  unaufhörlicher  Wandlung  die  Gestalten  der  Personen  und  Dinge  an, 
mit  jedem  beliebigen  so  sich  identifizierend,  dass  es  selbst  statt  seiner  zu  uns  spricht 

—  also  nicht  als  ein  steqÖv  tiva,  sondern  als  ein  steqov  xl  yiyvofisvov,  — und 

44)  „so  dichtet  Homer",  das  noieZ  emphatisch,  im  eigentlichen  Sinne  ge- 
nommen, er  „schafft"  — 

45)  oder  wg  rov  avxov,  was,  wie  sich  von  selbst  verstehen  sollte,  nimmermehr 
bedeuten  kann:  „in  eigner  Person",  sondern  „ein  und  dieselbe  —  sc.  angenommene 

—  Gestalt  in  seiner  Erzählung  festhaltend". 

46)  xal  (iri  fiszaß dkXovza  „durch  nichts  von  dieser  Fiktion  ab- 
vp^eichend".  Hier  ein  aufklärender  und  verstärkender  Zusatz,  in  dem  anderen, 
freilich  garnicht  zu  statuierenden  Falle  eine  ganz  überflüssige  Floskel.  Das  sinn- 
zerstörende Missverständnis  der  Stelle  rührt  auch  daher,  dass  wg  zov  avzov  und 
ebenso  dann  ß^  fiezaßäXXovza  fälschlich  zu  dnayysXXovza  gezogen  werden,  während 
sie  doch  der  Konstruktion  wie  dem  Sinne  nach  ebenso  wie  das  vorangehende  exs- 
Qov  ZL  als  Prädikate  zu  yiyvöfjLsvov  gehören.  Diese  zweite  Art  des  recitierenden  Vor- 
trages, wobei  der  Dichter  aus  dem  Ethos  einer  bestimmten  Person  heraus  in  un- 
unterbrochener Haltung  die  Dinge  darstellt,  macht  ja  doch  offenbar  den  üebergang 
von  der  epischen  Darstellungsweise  Homers  zu  jener  anderen,  wo  nun  der  Dichter 
alle  Personen  unmittelbar  sich  darstellen  lässt,  so  dass  aus  der  blossen  Darstellung 
ihres  Ethos  nun  auch  notwendig  eine  Darstellung  der  wirklichen  äusseren  Hand- 
lungen werden  muss,  in  denen  es  sich  offenbart.  Daher  die  eigentümliche  Fassung 
des  Schlusssatzes: 

47)  7]  ndvzag  ajg  UQazzovzag  xal  svsgyovvzag  zovq  fiinovfisvovq. 
Auffallend  ist  die  Fassung,  weil  der  ganze  Satz  von  eaziv  fufielad^ai  abhängig  ist. 
Sie  will  eben  betonen,  dass  fufxovfisvoif  d.  i.  in  ihren  inneren  Seelenzuständen  Nach- 
geahmte, die  Personen  überall  in  der  Dichtung  sein  müssen,  dass  hier  aber  der 
Schritt  der  ununterbrochenen  Durchführung  solcher  Nachahmung  bei  einer  Person 
auf  sämtiiche  Personen  ausgedehnt  wird,  und  zwar  so,  dass: 

48)  er  sie  nicht  allein  als  ngazzorzag,  sondern  auch  als  ivsgyovvzag  vor- 
ftlhrt.  Denn  das  ngazzeiv,  das  innere  Handeln,  käme  ihnen  auch  dort  zu,  wo  sie 
von  der  äusseren  Verwirklichung  desselben  uns  in  eigner  Person  berichten,  vde  wenn 
Odysseus  sich  selbst  als  „Handelnden"  darstellt;  hier  muss  nun  aber  die  faktische 
Bethätiguüg,  die  äussere  Ausübung  der  ngä^ig  hinzukommen,  das  ivs^yalv.  Die 
Personen  treten,  da  sie  sämtlich  sich  ihrem  Ethos  nach  unmittelbar  darstellen, 
„in  Aktion".  Hierfür  wird  später  um  des  Etymons  im  Worte  „Drama"  willen 
TiQÖLZZovzag  xal  ÖQcövzag  gesagt. 


Zur  Lehre  des  Aristoteles  vom  Wesen  der  Kunst  und  der  Dichtung.       21 

„In  diesen  drei  Unterschieden  stellt  sich  das  Wesen  der  künstleri- 
schen Nachahmung  dar''),  wie  in  der  prinzipiellen  Einleitung  gesagt 
wurde '^'^),  in  ihrem  Material  an  Mitteln,  ihren  Gegenständen  und  ihrer 
Art  und  Weise.")  Demgemäss  übte  nach  dem  einen  Gesichtspunkte 
Sophokles  dieselbe  nachahmende  Kunst  wie  Homer,  weil  beide  edle 
Charaktere  nachahmen;  nach  dem  andern  wie  Aristophanes,  weil  die 
Nachahmungs weise  beider  uns  die  Personen  in  Handlung  und  in  drasti- 
scher Aktion  Torführt.'^'')  Wie  man  sagt,  soll  auch  die  dafür  übliche  Be- 
zeichnung „Drama"  davon  herkommen,  dass  sie  eben  „drastisch"  Agierende 
darstellen.  Deswegen  betrachten  auch  die  Dorier  die  Tragödie  sowohl 
als  die  Komödie  als  ihr  Eigentum:  die  Komödie  nehmen  die  Megarenser 
in  Anspruch,  und  zwar  ebensowohl  die  einheimischen  —  als  ein  Produkt 
aus  ihrer  demokratischen  Epoche  —  als  auch  die  sicilischen,  weil  Epi- 
charmos  dorther  stammte,  der  lange  vor  Chionides  und  Magnes  dichtete"^) 
— ;  auch  die  Tragödie  beanspruchen  verschiedene  von  den  Peloponnesiem ; 
sie  rufen  die  Benennungen  als  Zeugnis  dafür  an.  Denn  bei  ihnen  ^), 
sagen  sie,  nennt  man  die  Landbezirke  „Komen",  die  Athener  nennen  sie 
„Demen"  —  wobei  sie  die  Bezeichnung  der  „Komöden"^^)  nicht  von  dem 
Umherschwärmen  —  „Komazein'*  —  ableiten,  sondern  von  dem  Umher- 
ziehen in  den  „Komen",  weil  man  sie  in  der  Stadt  gering  schätzte; 
ebenso  hätten  sie  für  „Thun^'  das  Wort  „Dran",  die  Athener  dagegen 
„Prattein".  —  Das  sind  die  Bestimmungen  über  die  Unterschiede  der 
künstlerischen  Nachahmung  ihrer  Zahl  und  Beschaffenheit  nach." 

49)  iv  xqlgI  6ri  xavxaiq  öiatpogalq  rj  fil/iTjoig  saziv.  Prägnant  zu 
fassen:  sie  ist  darin  enthalten,  erschöpft  sich  darin,  „stellt  ihr  Wesen  dar". 

50)  (bg  elnoßsv  xax^  (XQX^<^-  ^gi«  Anmerk.  7.  Auch  hier  bedeuten  die 
Worte  des  Autors  nicht  ein  einfaches  „wie  oben  gesagt",  sondern  einen  Hinweis 
auf  die  „prinzipielle"  Erörterung  seiner  Mimesis-Theorie,  deren  missverständlicher 
Auffassung  als  blosser  Naturnachahmung  er  nicht  müde  wird  vorzubeugen.  Die 
sich  anschliessende  Ausführung  dient  wieder  diesem  Zwecke,  durch  ein  neues 
frappantes  Beispiel  auf  die  Innerlichkeit  des  Wesens  der  Mimesis  hinzuweisen  gegen- 
über den  in  die  Augen  fallenden  äusseren  Verschiedenheiten  der  Kunstformen. 

51)  Im  Texte  steht:  iv  olq  xe  xal  wq,  und  es  fehlt  die  Erwähnung  der 
dritten  öiacpoQa,  wofür  das  mangelnde  xal  a  an  zweiter  Stelle  schon  von  Aldus 
eingeschoben  ist. 

52)  ngdxxovxccq  yccQ  /xtfiovvxai  xal  ÖQüivtaq  afzg)(o.  Vgl.  Anmerk.  48. 
Für  das  frühere  ivsgyovvxaq  lässt  A.  hier  das  ÖQwvxaq  eintreten,  um  den  folgenden 
etymologisch-historischen  Exkurs  daran  zu  knüpfen,  den  er  übrigens  beiläufig  genug 
behandelt  und  darum  als  gelegentlichen  Appendix  hier  seine  Stelle  finden  lässt. 

53)  'EnlxciQfxoq  6  noirjxy'jq,  TtoXXw  ngoxsgoq  (xiv.  Das  Attribut  noi' 
rjxi^q  ist  zugleich  Subjekt  für  das  Participium  tov,  daher  gehört  es  im  Deutschen  als 
Prädikatsverbum  in  den  Nebensatz:  „der  viel  früher  dichtete*'. 

54)  Das  ovxoi  des  Textes,  das  sehr  natürlich  und  nachdrücklich  an  das  yor- 
ausgehende  evwi  xdiv  iv  Ilekonovvriaqt  anknüpft,  ist  durchaus  beizubehalten. 


22  Hebkamm  Bauhoabt 

Was  die  Konstruktion  anbetrifft,   so  ergänzt  sich  das  zu  xalelv  gehörige  Subjekt 
eavxovq  von  selbst. 

55)  x(üfiü)SovQf  die  Wortbildung  „Komöden"  in  Analogie  von  „Tra- 
göden'^, wird  hier  gestattet  sein,  da  es  ja  auf  das  Etymon  des  Wortes  eben  allein 
ankommt. 

Kapitel  IV. 

„Als  die  Ursachen,  die  überhaupt  den  Anlass  für  das  Entstehen  der 
Poesie  gegeben  haben,  erscheinen  zwei,  und  beide  liegen  sie  in  der  Natur 
des  Menschen:  einmal  der  angeborene  Trieb  der  Nachahmung,  der  von 
Kindheit  auf  sich  im  Menschen  zeigt  —  und  durch  den  sich  der  Mensch 
von  den  übrigen  Wesen  unterscheidet;  er  hat  zugleich  die  höchste  Fähig- 
keit und  die  stärkste  Neigung  zur  Nachahmung^),  durch  sie  erwirbt  er 
auch  die  erste  Erkenntnis  —  und  sodann  der  Umstand ,  dass  die  Freude 
an  solchen  Nachahmungen  allen  Menschen  gemeinsam  ist  Ein  Zeichen 
davon  ist  unser  Verhalten  den  Bildwerken  gegenüber.  Wir  betrachten 
Abbilder  von  Gegenständen,  deren  Anblick  uns  in  der  Natur  unangenehm 
ist,  auch  wenn  sie  mit  höchster  Treue  ausgeführt  sind,  mit  Vergnügen, 
wie  z.  B.  die  Gestalten  von  verachteten  Tieren  oder  von  Leichnamen. 
Eine  Ursache  davon  liegt  auch  darin"),  dass  das  Erkennen  nicht  nur 
den  Philosophen,  sondern  ähnlich  auch  allen  andern  etwas  höchst  Er- 
freuliches ist,  nur  dass  sie  ihm  ihre  Teilnahme  auf  kurze  Zeit  zuwen- 
den. Denn  der  Grund,  warum  man  die  Abbildungen  mit  Vergnügen  be- 
trachtet, ist  der,  dass  bei  der  Betrachtung  ein  Erkennen  stattfindet  und 
eine  Schlussfolgerung,  was  ein  jedes  darstelle,  wie  z.  B.  dies  Bild  jene 
Person.^^)  Denn  wenn  jemand  dazuträte,  der  sie  nicht  zuvor  gesehen 
hätte,  so  würde  es  keineswegs  als  Nachahmung  das  Vergnügen  erregen, 
sondern  durch  seine  sorgfältige  Arbeit,  durch  die  Farbe  oder  aus  einem 
anderen  derartigen  Grunde.  Da  nun  also  das  Nachahmen  in  unserer 
Natur  liegt,  und  ebenso  die  Harmonie  ^^)  und  der  Rhythmus  —  denn  das 
Versmass  ist  doch  offenbar  eine  Unterabteilung  des  Rhythmus  —  so  haben 
zunächst  Männer,  die  von  der  Natur  dazu  geschaffen  waren  ^°),  und  dann 
solche,  welche  diese  Anfänge^')  —  meistens  in  allmählicher  Entwicke- 
lung^*)  —  weiter  fortfahrten,  aus  den  Erstlingsversuchen  die  Poesie  her- 
vorgebracht." 

56)  fiifZ7]Tix(6rarov.  Die  prägnante  Bedeutung  des  Ausdruckes  giebt  in 
der  Uebersetzung  weder  „Neigung",  noch  „Fähigkeit  zum  Nachahmen"  vollständig 
-wieder,  sondern  nur  die  Kombination  von  beidem. 

57)  aXxLOv  öh  xal  rovxov,  ort  ßavS-dvsiv  x.  x.  X.  Das  xal  gehört  doch 
unzweifelhaft  zu  acxiov  und  nicht  zu  xovxov:  „Ursache  davon  ist  auch,  dass  das 
Erkennen  .  . .  erfreulich  ist."  Es  muss  dieser  an  sich  klare  Umstand  aber  besonders 
hervorgehoben  werden,  weil  mit  der  vorliegenden  Aeusserung  des  A.  ein  ähnlicher 
Missbrauch  getrieben  ist,  wie,  in  allerdings  noch  höherem  Grade,  mit  dem  Satz  über 


Zur  Lehre  des  Aristoteles  vom  Wesen  der  Kunst  und  der  Dichtung,        23 

die  Schönheit  im  siebenten  Kapitel:  zo  yccQ  xalov  iv  (leye^SL  xal  ra^ei  iatlv,  und 
in  manchen  anderen  Fällen.  Das  Verfahren  dabei  ist  dieses,  dass  ein  von  ihm  bei- 
läufig und  gelegentlich  an  einem  Begriffe  hervorgehobenes  Attribut,  das  demselben 
freilich  seiner  Natur  nach  zukommt  —  A.  nennt  das  ein  avfißsßtjxbg  xad-'  avro  — 
so  aufgefasst  wird,  als  sei  damit  eine  Wesensdefinition  beabsichtigt;  eine  Verwechse- 
lung, die  von  A.  selbst  als  einer  der  schwersten  logischen  Fehler  gekennzeichnet  ist, 
der  man  aber  nichtsdestoweniger  überaus  häufig  begegnet.  Welche  grundfalsche 
Ansicht  von  dem  aristotelischen  BegriflFe  der  Mimesis  muss  entstehen,  wenn  man  er- 
fährt, der  Philosoph  lehre :  das  Wesen  der  künstlerischen  Nachahmung  bestehe  darin, 
dass  sie  uns  durch  die  Abbildung  der  Dinge  dazu  vermöge,  uns  an  ihnen  zu  erfreuen, 
selbst  wenn  sie  an  sich  hässlich  oder  uns  sonst  unangenehm  seien,  und  das  komme 
daher,  dass  das  Wiedererkennen  der  Dinge  im  Bilde  uns  Vergnügen  mache.  Schlimmer 
können  die  Begriffe  nicht  verwirrt  und  auf  den  Kopf  gestellt  werden,  als  es  hiermit 
geschehen  würde  und  gewohnheitsmässig  geschehen  ist.  Das  vierte  Kapitel  enthält 
überhaupt  von  einer  Definition  der  „Mimesis"  kein  Wort;  bei  solchem 
schwierigen  Beginnen  geht  A.  ganz  anders  zu  Werke.  Es  handelt  in  seinem  ersten 
Abschnitte  von  den  natürlichen  Antrieben  des  Menschen,  die  ihn  zur 
Kunstthätigkeit  geführt  haben  und  skizziert  im  Folgenden  die  daran  sich 
knüpfende  früheste  Entwickelung  der  Poesie  in  ihren  historischen  Grundzügen. 
Unter  diesen  Naturtrieben  hebt  er  als  den  mächtigsten  den  dem  Menschen  ange- 
borenen Nachahmungstrieb  hervor.  Mit  wie  gutem  Recht,  das  ersieht  man, 
wenn  man  die  unermessliche  Bedeutung  des  Triebes  ins  Auge  fasst,  an  den  der  Be- 
ginn aller  Erkenntnis  geknüpft  ist.  Es  zeigt  sich  dann,  wie  bei  diesem  heilsamsten 
und  gefährlichsten  der  menschlichen  Triebe  vom  frühesten  Anbeginn  das  äusserliche 
Nachbilden  —  das  cc7t6ixdt,£Lv  —  lediglich  das  tief  untergeordnete  Mittel  ist 
für  die  Reproduktion  der  in  tiefster  Seele  mit  dem  Sinneseindruck 
empfangenen  seelischen  Wirkung,  sei  es  von  der  momentan  erschütternden 
einzelnen  Empfindung,  sei  es  von  der  milden  Kraft  des  nach  aussen  tretenden  Ethos, 
sei  es  von  dem  gebieterisch  in  die  Seele  des  anderen  sich  hinüber  pflanzenden  Im- 
puls zum  Handeln.  Oder  was  wären  es  anders  für  Vorgänge,  die  das  lallende  Kind 
zum  Nachbilden  der  Sprachlaute  bewegen,  die  es  doch  nur  in  der  unablässigen 
engsten  Verbindung  mit  den  Eindrücken  der  rings  umher  sich  darstellenden  und  be- 
wegenden Welt  der  Dinge  und  Vorgänge  verstehen  lernt!  Wenn  es  schon,  ehe 
es  soweit  sich  entwickelt,  auf  die  leisesten  Veränderungen  in  der  Harmonie  und  dem 
Rhythmus  der  an  sein  Ohr  schlagenden  Stimmlaute  nachahmend  reagiert,  und  ganz 
ebenso  auf  die  feinsten  Wandlungen  in  den  Linien  des  Antlitzes,  der  Haltung  der  Ge- 
stalt, den  Zeichen  der  Vorgänge  im  Gemüt!  Hierin,  in  dieser  unendlichen  Fülle 
der  Wirkungen,  liegt  auch  der  eigentliche  Grund  der  unerschöpfKchen  Freude  des 
Menschen  an  der  Nachahmung  als  solcher  —  zo  xa/()av  zoig  fxifii^ßaac  ndvzag  — ; 
und  es  ist  nur  ein  äusserlich  zutreffendes  Anzeichen  davon,  dass  uns  die  getreuen 
Abbilder  der  Dinge,  auch  an  sich  unerfreulicher,  so  anziehen,  weil  in  ihnen  allen  das 
stets  willkommene  Rätsel  jener  Zeichenschrift  sich  uns  zur  fruchtbaren  Lösung 
darbietet.  Dazu,  zu  diesem  letzteren,  also  nun  noch  die  besondere  Freude  am  fiav- 
d-dvBLV  und  av?.koyi^ead^ai  zL  exaazov,  dieses  Herauserkennen  aller  einzelnen  Züge 
in  ihrer  Bedeutung  und  das  Zusammenfassen  derselben  in  ein  Schlussurteil,  das  man 
sich  doch  hüten  muss,  auf  die  Enge  des  zur  Erläuterung  angeführten  Beispieles 
olov  ozL  ovzoq  ixelvog  einzuschränken.  Auch  vergesse  man  nicht,  dass  es  sich  hier 
doch  zunächst  um  die  primitivsten  Regungen  auf  diesem  Gebiete  handelt. 

58)  ozi  ovzog  ixelvog.  Dass  mit  dem  ovzog  die  Person  im  Bilde  gemeint 
ist  und  dass  dieses  „Bild"  nun  für  den  folgenden  Satz  Subjekt  bleibt,  wozu  dann 
das  ovxl  (jLifxrifjLa  (was  nicht  zu  ändern  ist)  als  Attribut  tritt,  ist  eine  natürliche 
und  erlaubte  Freiheit  des  Ausdruckes. 


24  HEBMAim  Baumgabt 

59)  xal  tfjg  uQ/zovlag  xal  zov  ^v^fiov.  Der  Text  ist  richtig:  weder 
ist  einer  falsch  verstandenen  Vollständigkeit  zu  Liebe  als  das  dritte  der  Musik  und 
Dichtung  gemeinsam  angehörende  Mittel  noch  xal  zov  ?.6yov  voranzustellen ,  noch 
ist  die  uQiMovia  als  störend  wegzulassen,  weil  sie  ein  lediglich  musikalisches  Aus- 
drucksmittel sei.  In  einem  Satze,  dessen  Inhalt  die  Entstehung  der  Poesie  aus  dem 
Naturtrieb  des  Menschen,  sagen  wir,  zur  kunstverwandten  Nachahmung  ist, 
wäre  die  nachdrückliche  Erwähnung,  dass  er  dazu  des  Wortes  sich  „naturgemäss" 
bedienen  müsse,  höchst  pedantisch  —  noch  pedantischer  freilich  ist  es,  sie  zu  ver- 
missen; dagegen  wie  völlig  zutreffend  ist,  was  wir  bei  A.  lesen!  „Es  liegt  in  der 
Natur  des  Menschen,  nachzuahmen,  und  zwar  zunächst  gelegentlich  aus  dem  Steg- 
reif —  avtoox£Si(xo(jLaxa  ~,  was  irgendwie  Auffallendes,  d.  h.  doch  nach  der  einen 
oder  andern  Seite  hin  ihn  im  Gemüte  Erregendes  ihn  dazu  hinreisst.  Dazu  gehören 
Körperbewegungen  und  Anwendung  der  Stimmmittel,  die  der  Erwähnung  nicht  weiter 
bedürfen;  der  Anfang  der  Kunst  liegt  vor,  sobald  über  das  naturalistische 
Nachbilden  —  dnsixu^siv  —  hinausgehende  Mittel,  also  Kunstmittel,  dabei  zur 
Anwendung  gelangen.  Auch  der  Zug  zu  diesen  hin  ist  uns  angeboren;  es  sind  die 
beiden  allgewaltigen  Kräfte,  die,  quer  darüber  hinweg  sich  erstreckend,  das  ganze 
Gebiet  der  fortschreitenden  Künste  beherrschen:  die  von  den  höheren  Gesetzen 
ethischer  Mimesis  geheimnisvoll  regierte  Anordnung  der  Klänge  nach  ihrer  Qualität 
und  der  Klänge,  wie  auch  der  Bewegungen  nach  ihrer  Betonung,  Stärke  und  Dauer, 
Harmonie  und  Rhythmus. 

60)  6^dQxV'S^^<P^^ozeg.  Schon  bei  den  Stegreifversuchen  der  Nachahmung, 
die  vielleicht  mit  der  Kopierung  bestimmter  Personen  ihren  Anfang  nehmen,  thun 
sich  die  dafür  besonders  „Beanlagten"  hervor;  den  Grund  für  die  Entwickelung 
der  Kunst  legen  nicht  sowohl  diejenigen,  die  dabei  mit  geschmackvoller  Auswahl 
verfahren,  sondern  die  von  der  Natur  Hochbegabten,  die  durch  die  Anwendung  jener 
höher  gearteten  Mittel  die  Nachahmung  von  der  abbildenden  Wiederholung  des 
Einzelnen  loslösten  und  sie  auf  das  jenen  idealen  Mitteln  homogene  All- 
gemeine lenkten,  d.  i.  auf  die  allen  äusseren  Veränderungen  zu  Grunde  liegenden 
ethischen  Bewegungen  als  auf  ihr  eigentliches  Objekt.  Sie  schufen  die  Kunst- 
formen. 

61)  xal  avza  .  .  .TtQodyovzeq.  Das  avzd  steht  proleptisch  für  jene  von 
dem  Genie  in  und  aus  den  Erstlingsversuchen  geschaffenen  Kunstformen;  sie  werden 
von  den  Nachfolgern  übernommen  und  fortentwickelt,  und  zwar: 

62)  (jidkiaza  xaza  fiixQov,  meistens  in  allmählicher  Entwickelung,  ein,  wie 
die  Geschichte  der  Poesie  beweist,  mit  Recht  so  sorgfältig  limitierter  Ausdruck.  Denn 
wenn  der  Regel  nach  der  Gang  der  Entwickelung  in  der  dichterischen  Kunst  von 
den  einmal  vorhandenen  Mustern  aus  ein  langsamer  ist,  so  fehlt  es  doch  nicht  an 
einzelnen  die  Regel  gewaltig  durchbrechenden  Erscheinungen. 

„Je  nachdem  nun  aber  die  eigene  Sinnesart  derselben  beschaffen  war, 
spaltete  sich  die  Dichtung  nach  zwei  Seiten  hin®^):  die  Höhergesinnten 
ahmten  die  edlen  Handlungen  dichterisch  nach  und  das  Thun  und  Treiben 
von  Menschen  wie  sie  selbst®'),  die  leichter  Gesinnten  das  der  Schlechten, 
indem  sie  ihrerseits  den  Anfang  damit  machten,  Spottverse  zu  dichten,  wie 
andere  mit  Hymnen  und  Lobliedern  begannen.^)  Aus  der  Zeit  vor  Homer 
können  wir  freilich  von  keinem  Verfasser  solcher  Gedichte  reden,  sicher- 
lich hat  es  aber  viele  gegeben;  fangen  wir  indes  von  Homer  an,  so  ist, 
wie  von  ihm  selbst  der  Margites,  auch  diese  Gattung  vorhanden  ^^),  worin 


Zur  Lehre  des  Aristoteles  vom  Wesen  der  Kunst  und  der  Dichtung.        25 

das  mit  dem  Inhalte  zusammenstimmende^'')  jambische  Versmass  aufkam. 
Es  heisst  daher  auch  heute  das  spottende  [laußelov),  weil  man  in  diesem 
Versmass  einander  zu  verspotten  pflegte  (id/xßiKov).  Es  wendeten  also 
von  den  Alten  die  einen  sich  der  heroischen  Dichtung  zu,  die  anderen 
der  Jambendichtung.  Wie  aber  auch  in  der  ernsten  Dichtung  Homer  der 
Hauptdichter  war  —  er  allein,  und  zwar  nicht  insofern  seine  Dichtung  schön 
in  ihrer  Form  ^^),  sondern  weil  sie  auch  künstlerische  Nachahmung  lebendig 
bewegter  Handlung  ist^^)  — ,  so  hat  ebenso  er  zuerst  die  Grundform  der 
Komödie  aufgewiesen,  indem  er  nicht  ein  Spottgedicht  machte,  sondern 
das  Lächerliche  in  lebendiger  Handlung  zur  Darstellung  brachte:  denn 
in  diesem  Punkte '")  ist  Margites  jener  Form  verwandt;  wie  Hias  und  die 
Odyssee  zu  den  Tragödien,  so  verhält  sich  dieser '^  zu  den  Komödien. 
Gegenüber  der  neuen  Erscheinung'^)  der  Tragödie  und  der  Komödie  wur- 
den nun,  je  nach  ihrer  Leidenschaft  für  die  eine  der  beiden  poetischen 
Eichtungen  oder  die  andere,  diese  aus  Jambendichtem  zu  Komödien- 
dichtem, und  jene,  statt  Epen  zu  dichten,  setzten  Tragödien  in  Szene"), 
weil  diese  Formen  höher  stehen  und  angesehener  sind  als  jene." 

63)  öisGTtda&ij  öh  xaxa  zd  olxsXa  rjd-i]  ^  nolrjaig.  Damit  ist  das  Thema 
für  den  folgenden  Abschnitt  angegeben ;  massgebend  für  die  historische  Entwickelung 
der  Poesie  nach  ihren  Hauptrichtungen  ist  nicht  die  äussere  Form  gewesen,  sondern 
das  Objekt  der  Mimesis.  Bei  der  Entscheidung  für  die  eine  oder  die  andere  von 
ihnen  wurde,  wie  natürlich,  jeder  von  den  durch  ihre  Anlage  zu  dichterischer 
Aeusserung  Getriebenen  durch  die  eigene  Gemüts-  und  Sinnesart  bestimmt  (rd 
oly.ela  rjd-T]). 

64)  OL  ßhv  ae[jLv6zeQ0L  zccg  xakag  sfxifxovvzo  ngd^eiq  xal  zag  z(öv 
zoLovziov.  Es  liegt  keine  Nötigung  zu  einer  so  gezwungenen  Konstruktion  vor, 
wie  sie  Bernays  (vgl.  Tragöd.  p.  153)  vorschreibt,  dass  nämlich  „ziäv  zoiovzwv  bloss 
das  vorhergehende  Adjektiv  xaXdg  in  personaler  Modifikation  wieder  aufnimmt". 
Der  volle  Sinn,  dass  nämlich  nicht  „edle  Handlungen"  ausschliesslich  für  die  ideal 
gerichteten  Dichter  das  Nachahmungsobjekt  bilden,  sondern  neben  ihnen  die  ge- 
samte Handlungsweise  ihrer  eigenen  Natur  verwandter  Personen,  ergiebt  sich,  wenn 
man  einfach  zcöv  zoiovzmv  als  zdiv  zolg  osfivozsQOig  bßoicDV  fasst. 

65)  OL  öe  svz sXsazsQOi  zag  ziov  cpavXiov,  nQÖizov  yjoyovg  noiovv- 
Tf g,  ojansQ  €^z€qoi  vfivovg  xal  iyxojßia.  Zu  den  beiden  letzteren  Objekten 
ist  das  7CQ(özov  als  ebenso  zugehörig  zu  betrachten,  wie  zu  xpöyovg. 

66)  eazLv,  olov  ixFivov  6  Magylzrjg,  xal  zd  zoiavza.  Zu  verbinden 
ist  80ZIV  xal  zd  zoiavza,  nicht  6  Magylirig  xal  zd  zoiavza.  Denn  der  klar  hervor- 
tretende Gedanke  des  A.  ist  dieser:  die  Gattung  der  Spottlieder  ist  sicherlich  so 
alt  wie  die  Dichtung  überhaupt;  doch  wissen  wir  von  ihr  aus  der  Zeit  vor  Homer 
nichts,  von  da  ab  ist  sie  vorhanden. 

67)  xazd  zd  aQfxozzov.  Wenn  hier  der  Ausdruck  mit  Beziehung  auf  die 
innere  Zusammengehörigkeit  des  Versmasses  mit  dem  Inhalte  gebraucht  wird,  so 
beweist  das  umsomehr,  ein  wie  wesentliches  Element  die  „Harmonia"  in  diesem 
weiteren  Sinne  nach  des  A.  Meinung  im  Gebiete  der  Poesie  ist  (vgl.  oben  Anmerk.  59). 

68)  ovx  ozL  ev,  dlX*  ozi  xal  (xifiriasig  ÖQaßazixdg  iTtoirjOEv.  In 
dieser  Gegeneinandersetzung  kann  sv  nur  die  Schönheit  der  äusseren  Form  bedeuten, 
während : 


26  Hbbhann  BAtmaABT 

69)  SQafiaxLxaq  nach  dem  Zusammenhange  und  nach  der  früheren  Anwendung 
des  Stammwortes  öqüv  oflfenbar  die  Handlung  mit  dem  NebenbegrifF  bedeutet,  dass 
sie  mit  starker,  lebenerfüUtcr  Bewegung  in  die  Erscheinung  tritt. 

70)  xo  yaQ  MaQylxrjq  dvd^.oyov  t'/ei.  Auch  hier  ^ebt  der  Text  das 
richtige  und  wird  durch  die  Konjektur  6  für  xb  verdorben.  Was  wäre  das  für  eine 
Art  von  Diktion,  wenn  auf  das  o  yccg  M.  dvdloyov  t/^si  in  demselben  Satze  nun 
noch  obendrein  das  ovxcd  xal  ovxog  folgte!  Der  Artikel  x6  ist  emphatisch  betont 
und  bedeutet:  Die  Analogie  des  Margites  mit  der  Komödie  besteht  eben  in  dem- 
jenigen, was  als  die  entscheidende  Neuerung  Homers  berichtet  wurde,  dass  das 
komische  Element  an  sich,  das  in  den  Handlungen  steckt,  darin  zum  Gegenstand 
der  Mimesis  gemacht  wurde.  Dieser  Gedanke  wird  dann  durch  den  folgenden  Satz 
noch  näher  erläutert,  dass  also; 

71)  SaneQ  'ikidg  xal  rj  'Oövaaeia  ngoq  xdg  xgayipdlag,  ovx(o  xal 
ovxog  TCQog  xdg  xcofKpölag,  „ebenso  wie  das  heroische  Epos  für  die  Tragödie, 
auch  dieser  für  die  Komödie  vorbildlich  gewesen  sei".  So  sind  die  Worte  ovxo) 
xal  ovxog  völlig  begründet  und  stehen  ganz  an  ihrem  Platze,  während,  wenn  man 
sie  mit  dem  in  den  Worten  dvdXoyov  axsi  endigenden  Satz  in  eins  zusammenzieht,  sie 
in  jeder  Beziehung  störend  wirken  müssen. 

72)  TcaQacpaveLarjg.  Um  die  in  der  Präposition  liegende  Bedeutung  wieder- 
zugeben, dass  neben  der  alten  epischen  Poesie  nun  die  spezifisch  dramatischen 
Gattungen  hervortreten,  ist  übersetzt:  „Gegenüber  der  neuen  Erscheinung  u.  s.  w  " 

73)  xQayiüöoÖLödoxaloL.  Sehr  passend  ist  durch  den  gewählten  Ausdruck 
zugleich  an  die  szenische  Aufführung  mit  allem,  was  sie  in  ihrem  Gefolge  hatte  und 
haben  musste,  erinnert. 

„Ob^O  ii^ß  die  Tragödie  diesen  Satz  schon  durch  die  Vielartigkeit") 
ihrer  Formen  genugsam  in  die  Augen  springen  lässt,  oder  ob  diese  Frage 
an  und  für  sich  beurteilt  und  verneint  oder  bejaht  wird'^)  im  Hinblick 
auf  die  Theater,  ist  hier  nicht  zu  erörtern.  Zu  Anfang  entstand  auch 
sie^')  aus  Stegreifversuchen  ebenso  wie  die  Komödie,  jene  von  den  Vor- 
sängern des  Dithyrambus  her,  diese  von  denen  der  phallischen  Lieder, 
wie  sie  auch  noch  jetzt  in  vielen  Städten  sich  im  Gebrauch  erhalten 
haben;  sie  wurde  dann  allmählich  zu  höherem  Ansehen  gebracht  durch 
diejenigen,  die  das  jedesmal  erreichte  Stadium  weiter  fortentwickelten, 
und  so  ist  die  Tragödie,  nachdem  sie  viele  Wandlungen  durchgemacht, 
endlich  zum  Stillstand  gekommen,  nachdem  sie  die  ihrer  Natur  gemässe 
Gestaltung  erreicht  hat."^)  TJnd'^)  zwar  war  esAeschylus,  der  zuerst  so- 
wohl die  Anzahl  der  Darsteller  von  einem  auf  zwei  gebracht  als  auch 
die  Beteiligung  des  Chors  vermindert  und  die  Rede  zur  Hauptsache  ge- 
macht hat;  Sophokles  führte  dann  drei  Darsteller  ein  und  die  malerische 
Ausstattung  der  Szene.  Auch  zu  der  Grösse  der  Fabelstoffe  und  der  da- 
mit verbundenen  Würde®")  erhob  sich  die  Tragödie  erst  spät  von  ursprüng- 
lich kleinen  Fabeln  und  von  der  auf  Lächerlichkeit  zielenden  Ausdrucks- 
weise, die  von  ihrer  Entwickelung  aus  dem  Satyrspiel  herstammte®*),  und 
ihr  Versmass  wurde  statt  des  Tetrameters  das  jambische.  Denn  zuerst 
war  der  Tetrameter  im  Gebrauch  gewesen,  weil  die  Dichtung  damals  im 


Zur  Lehre  des  Aristoteles  vom  Wesen  der  Kunst  und  der  Dichtung.        27 

Charakter  des  Satyrspiels  und  tanzmässiger  gehalten  war;  als  sie  aber 
zur  Kede  geworden  war^^),  so  fand  sich  das  ihr  zugehörige  Yersmass 
von  selbst,  denn  von  allen  Massen  ist  der  Jambus  dem  Ton  der  Kede 
am  nächsten  verwandt ;  ein  Zeichen  dafür  ist,  dass  wir  im  Gespräch  mit 
einander  sehr  häufig  in  jambischen  Massen  reden,  in  Hexametern ^^j  da- 
gegen selten  und  nur  wenn  wir  aus  Ton  und  Weise")  der  gewöhnlichen 
Rede  herausgehen.  Was  femer  noch  die  Frage  ^^)  über  die  Menge  der 
Zwischenhandlungen  angeht  und  was  sonst  noch  alles,  was  für  die  ein- 
zelnen Teile  als  Schmuck  angesehen  wird,  so  mag  hier  die  Erwähnung 
genügen,  denn  es  würde  wohl  zu  weit  führen,  das  alles  im  Einzelnen 
durchzugehen." 

74)  zb  (JLSv  ovv  sc  axonsTv  naQS^si  rjöi]  tj  x Qayt^öla  zoZg  ei'öeaiv 
Lxavmq  ij  ov,  avxo  xe  xad-'  avx b  xQtvexairjvalTtQogxaS^iaxQcc,  akXoq 
koyog.  Diesem  ganzen  Abschnitte,  vor  allem  dieser  Stelle,  ist  mit  Emendationen 
dermassen  zugesetzt  worden,  dass,  wenn  man  alles  zusammennimmt,  kaum  ein 
Wort  unverändert  und  an  seiner  Stelle  bleibt;  der  Sinn  ist  dabei  aber  immer  nur 
noch  schiefer  und  lahmer  geworden.  Der  vorangehende  Abschnitt  schliesst  mit  dem 
Satz,  dass  die  dramatischen  Formen  für  höher  stehend  und  angesehener  galten  als 
die  alten  epischen.  Was  sollte  nun  dem  gegenüber  hier  die  Frage,  zu  der  ganz 
allgemein  unsre  Stelle  umgebogen  wird,  ob  die  Tragödie  schon  den  höchsten 
Grad  ihrer  Ausbildung  erreicht  hat?  Und  vollends  wie  käme  die  Unter- 
scheidung xal  TtQbg  xa  d-eccxQa  denn  hierher?  Zu  allem  andern  entstände  durch 
diesen  an  sich  immer  noch  sehr  hinkenden  Satz  ein  flagranter  Widerspruch  gegen 
die  acht  Zeilen  später  folgenden  Worte  rj  xgaycoöla  snavaaxo  (fisxccßa/.ovaa) 
insl  saxs  ttjv  avxrjg  (pvatv.  Deshalb  ist  nichts  zu  ändern,  als  das  eine, 
was  durch  den  Schluss  älXog  Xoyog  und  das  doppelte  rj  erfordert  wird :  die  fehlende 
Fragepartikel  st  muss  in  den  Satz  hineinkommen.  Wo  steckt  sie?  Nicht  in  dem 
TtdQhxsL,  wo  die  Konjekturen  sie  suchen  und  das  keineswegs  im  Satze  zu  entbehren 
ist,  sondern  in  dem  iTtioxoneZv,  das  der  Text  hat,  und  das  oben  in  et  axonslv 
geändert  ist.  So  wäre  auch  der  Schreibfehler  plausibel  erklärt.  Das  xb  fiiv  ovv 
weist  also  auf  das  im  vorangehenden  Schlusssatze  enthaltene  Urteil  zurück  und  ist 
Objekt  zu  axonslv  =  ^ecagelüS^ai.  Für  die  Beantwortung  der  Frage,  ob  jenes 
Urteil  zu  Rechte  besteht,  werden  nun  drei  Eventualitäten  aufgestellt:  1)  Der  Satz 
stellt  sich  als  selbstverständlich  dar;  wörtlich:  die  Tragödie  bietet  es  der  Betrach- 
tung schon  durch  ihre  Gestaltung  (vgl.  die  folgende  Anmerk.)  als  hinlänglich  gewiss 
dar;  2)  das  Urteil  wird  verneint  vom  Standpunkte  der  Theorie  aus,  der  Epos  und 
Dramen  gleichwertige  poetische  Formen  sind,  was  des  A.  eigene  Meinung  ist;  3)  es 
wird  bejaht,  vom  empirischen  Standpunkte  aus,  wie  denn  das  Zuströmen  der  Menge 
zu  den  Aufführungen  in  den  Theatern  im  Vergleich  zu  ihrer  Beteiligung  an  den 
Recitationen  der  Rhapsoden  den  Beweis  dafür  liefert,  ivzifioxsQci  soxlv  xa  oyt]iJLaxu 
xavxa  ixeivcDv.  Mit  dieser  geringfügigsten  aller  Aenderungen  erhält  die  Stelle  nicht 
allein  ihren  guten  Sinn,  sondern  den  einzig  durch  den  Zusammenhang  geforderten 

[und  mit  dem  Folgenden  in  Uebereinstimmung  stehenden. 

75)  xolg  ei'öeaiv.  Es  sind  die  el'ör]  ihrer  ayjiixaxa^  von  denen  ja  das  in  Rede 
[stehende  Urteil  gefällt  ist.    Diese  sind  vielfach  —  daher  der  Plural  — ,  im  Gegensatz 

5U  der  Einförmigkeit  des  Epos,  also:  „durch  ihre  Vielgestaltigkeit". 

76)  71  ov  .  .  .  .  Tj  val.  Hierzu  die  Parallelstellen:  Soph.  elench.  175''  13:  viv 
Uh  öia    xb   ßt]  xaküig  i^ioxäv  xovg  nvvQ^avofievovq  dvdyxTj  TZQoganoxQiveo&al  xi 


28  Hebmann  Baumgabt 

zbv  igcotcofzsvov ,  öioqO^ovvtcc  ti/v  fxoyßrjglav  z^g  nQoxdaetoq,  Inel  öieXofisvov  Ixa- 
vü)g  rj  val  rj  ov  dvdyxt]  X^yeiv  xov  dnoxQivößevov,  und  für  den  Gebrauch  des  val 
nicht  nur  in  direkter  Antwort,  sondern  als  Ausdruck  der  Affirmation  in  der  ge- 
wöhnlichen Rede  vgl.  Met.  VI.  p.  1034"  16:  oocov  ovv  TOiavzij  rj  vXrj,  olov  ol  ?ü&oii 
dövvaxov  (hol  xivjj&rjvai  ei  firj  vn^  ukkovy  dt  dl  fisvzoival.  Dass  aber  das  Yerbom 
xglvBZttL  zu  ov  und  ebenso  zu  vai  hinzuzudenken  ist,  wird  durch  das  zu  avzo  hin- 
zugefügte ze  deutlich  angezeigt. 

77)  yevofxevri  6' ovv:  so  zu  schreiben  für  ysvofxhrjg  ovv,  wie  der  Text  des 
Cod.  Parisiensis  lautet;  nach  einem  Teil  der  Codd.  und  einer  von  Becker  und  fast 
allen  Edd.  angenommenen  Konjektur. 

78)  inel  eax^  '^v'^  avzijg  (pvaiv.  Wie  oben  schon  angedeutet,  ist  damit 
ausgesprochen,  und  zwar  als  eine  historisch  eingetretene  Thatsache,  dass  die  Tragödie 
ihre  Vollendung  erreicht  hat,  denn  etwas  Höheres  als  die  ihr  von  Natur  zukommende 
Gestalt  kann  ihr  doch  nicht  als  Ziel  gesteckt  sein. 

79)  xal  z6  ze  zcöv  vtzoxqlzcüv  x.  z.  X.  Es  ist  nicht  der  kleinste  Grund 
vorhanden,  hier  eine  Lücke  zu  vermuten.  Nach  dem  im  Vorstehenden  nachgewiesenen 
Zusammenhange  ist  nichts  natürlicher,  als  dass  nun  in  einigen  grossen  Zügen  die 
Entwickelung  angegeben  wird,  welche  die  Tragödie  bis  zu  ihrer  Vollendung  durch- 
laufen hat. 

80)  €zi  öh  zb  fzsye&og  .  .  .  dneaeßvvvO^i].  Der  im  Prädikat  steckende 
Begriff  der  aeßvozr^g  musste  durch  ein  zweites  Subjektsnomen  wiedergegeben  werden: 
„sie  erhob  sich  zur  Grösse  und  Würde". 

81)  öicc  zb  ix  aazvQLXov  (MezaßaXeZv.  Diese  historische  Entwicke- 
lung enthält  keinen  Widerspruch  gegen  den  früheren  Satz,  dass  das  „der  Grösse 
und  Würde'*  sich  zuwendende  „tragische"  Spiel  sein  sachliches  Vorbild  im  alten 
heroischen  Epos  fand. 

82)  ;.€|fft>c  ÖS  yevof^BVTjg.  Das  ist  nur  verständlich,  wenn  man  Xs^ewg 
als  das  logische  Prädikat  auffasst  und  die  Tragödie  als  logisches  Subjekt  hinzu- 
denkt, was  Konstruktion  und  Zusammenhang  des  Sinnes  in  gleicher  Weise  nahe 
legen.  Die  Unklarheit  über  die  Auffassung  der  Stelle  ist  wohl  nur  daher  entstanden, 
dass  wir  Neueren  mit  der  Poesie  von  selbst  den  Begriff  verbinden ,  dass  das  Mittel  der 
Rede  in  ihr  das  Wesentliche  sei,  während  bei  dem  alten  Satyrspiel  vielmehr  die 
Gesanges-  und  Tanzaktion  die  Hauptsache  war. 

83)  s^dfiezQa.  Es  handelt  sich  nur  um  den  Gegensatz  des  ?.8xzix6v  (sc.  fis- 
zQov),  des  dem  Gesprächston  angemessenen  Verses  zu  den  weiter  davon  entfernten 
üblichen  Versmassen ;  es  kann  daher  sehr  wohl  statt  des  erwarteten  Tetrameters 
hier  nun  auch  noch  ein  anderes  der  in  der  hochstilisierten  Dichtung  gebräuchlichen 
Metra  genannt  werden. 

84)  z^g  XexzLXTJg  aQßovlag.  vgl.  oben  die  Anmerk.  59  und  67.  Ton  und 
„Weise"  der  Umgangsrede,  in  dem  prägnanten  Sinne,  wie  Herder  in  der  Vorrede 
zu  den  „Stimmen  der  Völker  in  Liedern"  den  Begriff'  für  die  Lyrik  definiert:  „Mo- 
dulation, gehaltener  Gang  und  Fortgang  derselben". 

85)  szi  6s  sneiaoÖLcov  nk7]&7j  xal  zd  dXX'aJg  sxaaza  xoofzrj&ijvai 
ksyezai,  sazw  r^ßZv  elQrjfisva.  Der  Pluralis  nXi^&rj  scheint  auf  die  verschiedenen, 
in  diesem  Punkte  geübten  Verfahrungsweisen  und  die  damit  zusammenhängenden 
Kontroversen  hindeuten  zu  sollen  (vgl.  Kapitel  IX.  1451^  33);  daher  die  Uebersetzung: 
„die  Frage  über  die  Menge  der  Zwischenhandlungen".  Für  das  im  Texte  stehende 
zd  dXkwgi  das  unverständlich  wäre,  ist  zd  all'  d>g  oder  allenfalls  olg  zu.  setzen. 

Doch  ist  im  Folgenden  nun  weder  eine  Umstellung  noch  ein  Zusatz  zu  machen, 
sondern  zu  lesen,  wie  die  älteste  Handschrift  schreibt:  sozo)  ^ficv  ecQtjfisva, 
eine  noch  etwas  schärfer  accentuierte  Variante  der  bei  A.  üblichen  Formel:  negl 
zovzcDV  eiQTja&ü),  womit  er  ein  weiteres  Eingehen  auf  ein  angeschlagenes  Thema 


Zur  Lehre  des  Aristoteles  vom  Wesen  der  Kunst  und  der  Dichtung.        29 

ablehnt.  Vielleicht  ist  in  der  Stelle  noch  die  folgende  Nuance  zu  finden:  die  in- 
eiaoöia,  die  zwischen  den  einzelnen  Chorgesängen  liegenden  Teile  der  Gesamthandlung, 
nehmen  zwar  relativ  für  sich  ein  besonderes  Interesse  in  Anspruch,  stehen  aber 
doch  unter  dem  strengen  Gesetz  der  Einheit  des  Ganzen.  Nun  ist  hier  im  Anschluss 
an  das  kurz  zuvor  erwähnte  fisye^og  von  den  weiteren  „sogenannten"  Verschöne- 
rungen die  Rede ;  es  könnte  also  die  Buntheit  und  der  äusserliche  Reiz  einer  ngä^iq 
insiaoöiojörjg  ins  Auge  gefasst  sein,  wie  sie  später  von  A.  (Cap.  IX)  im  Widerspruch 
zu  solchem  „Isysza"  als  sehr  schlecht  bezeichnet  wird.  Auffallend  bleibt  immer 
sowohl  dieses  Isyszat  als  der  Pluralis  nXrjS-rjy  womit  indess  vielleicht  die  verschie- 
denen Phasen  der  Entwickelung  gemeint  sind. 

Kapitel  Y. 

„Die  Komödie  aber  ist,  wie  schon  gesagt  ^^j,  zwar  eine  Nachahmung 
von  unwürdigeren  Gegenständen,  keineswegs  hinsichtlich  jeder  Art  der 
ihnen  anhaftenden  Schlechtigkeit^^),  sondern  des  Hässlichen^^),  dem  als 
seinem  Gattungshegriff  das  Lächerliche  zugehört.®^)  Denn  das  Lächerliche 
ist  Fehlerhaftigkeit  oder  Hässlichkeit,  die  weder  Schmerz  erregt  noch  Ver- 
derben droht®"),  wie  z.  B.  gleich  die  komische  Maske  etwas  Hässliches  und 
Verzerrtes  ist,  ohne  dass  dabei  ein  Schmerz  wäre.  Die  Entwickelungs- 
stadien  nun  und  die  Namen  derer,  die  sie  herbeiführten,  die  wir  hei  der 
Tragödie  kennen,  sind  hei  der  Komödie,  weil  sie  nicht  von  Anheginn  ernst- 
haft kultiviert  wurde,  im  Dunkel  geblieben.  Ist  doch  auch  ein  Chor  für 
die  Komödie  erst  spät  von  der  Obrigkeit  bewilligt  worden,  er  bestand  zu- 
vor aus  Freiwilligen.  Die  vielgenannten  Dichter  derselben  werden  erst 
erwähnt,  als  sie  schon  gewisse  feste  Formen  angenommen  hatte.  Wer 
die  Masken  eingeführt  hat  oder  die  den  Chören  vorangehenden  Eeden®') 
oder  die  Vermehrungen®^)  in  der  Zahl  der  Schauspieler  und  was  derglei- 
chen mehr  ist,  wissen  wir  nicht;  die  Einführung  erdichteter  Fabeln  stammt 
von  Epicharmos  und  Phormis.®^)  Diese  Neuerung  nämlich  kam  aus  Sici- 
lien;  von  den  athenischen  Dichtern  aber  war  es  Krates,  der  zuerst  damit 
begann,  sich  von  der  Form  des  jambischen  Spottliedes ®^)  loszumachen  und 
Reden  und  Fabeln  von  künstlerischer  Allgemeinheit  zu  dichten.*' 

SQ)  (üGTiSQ  si'nofÄSv.  Der  ganze  Abschnitt  schliesst  sich  dem  Grundgedanken 
nach  an  den  Satz  1448^37  an:  ov  xpoyov  dlka  xo  yeXolov  ÖQafiazonoiriaaq.  Damit 
war  im  vorigen  Kapitel  der  entscheidende  Schritt  bezeichnet,  der  zur  Entwickelung 
der  Komödie  führte.  Es  lag  nun,  um  die  mit  dem  Kapitel  IV  in  grossen  Zügen  be- 
gonnene Darstellung  von  der  Entwickelung  der  beiden  Hauptrichtungen  der  Poesie 
zu  vollenden  (vgl.  1448'^  25:  öteanaaQ-T]  6s  xaza  zcc  olxela.  rjd^  ?]  nolrjoig),  die  Not- 
wendigkeit vor,  auch  von  der  Komödie  einleitend  das  Wesentlichste  zu  sagen  und 
vor  allem,  den  vorher  eingeführten  Begriff  des  „Lächerlichen",  besonders  in 
seinem  Verhältnis  zu  der  die  ganze  Gattung  charakterisierenden  ßif^rjaig  (pavXozsgmv, 
scharf  zu  begrenzen. 

87)  (xifjLijGLg  (pavXoz6Qü)v  fxiv,  ov  /uivzoi  xaza  näaav  xaxiav.  Der 
Sinn  der  Stelle  und  damit  das  Verständnis  des  Folgenden  wird  wieder  völlig  ver- 
fehlt, wenn  man  näaa  xaxla  absolut  als  „völlige  Schlechtigkeit"  oder  in  ähnlicher 


30  Hbbmann  Baumoabt 

Weise  auffasst.  Die  Rede  ist  von  dem  Nachahmungsobjekt,  das  die  „schlechteren 
Charaktere"  darbieten.  In  den  alten  Spottliedem,  die  sich  einzelnen  Personen  an- 
hefteten, da  war  es  wohl  der  Gebrauch,  „alle  Arten  von  Schlechtigkeit", 
die  man  an  ihnen  fand,  zum  Gegenstand  der  spottenden  Nachahmung  zu  machen: 
von  der  höheren  Kunstgattung  der  Komödie  wurde  schon  oben  gesagt  (ojaneQ  eXno- 
fi€v)y  dass  sie  unter  allen  den  niedrigeren  Charakteren  anhaftenden  Arten  von 
Schlechtigkeit  nur  diejenigen  auswählt,  durch  deren  Nachahmung  die  "Wirkung 
des  Lächerlichen  erzielt  werden  kann. 

88)  «AA«  Tov  aiaxQOv.  Damit  ist  das  Wesentlichste,  nämlich  die  Gattung, 
angegeben,  innerhalb  deren  jene  Wahl  zu  treffen  ist.  Diese  Gattung  ist  das 
Hässliche.  Ein  glänzendes  Zeugnis  von  A.*s  Tiefsinn  und  Geistesschärfe  giebt 
ebenso  diese  Bestimmung  als  seine  Definition  des  Begriffes  alaxogy  die  uns  in  einem 
Fragment  aus  seinem  Dialog  „Eudemus"  aufbewahrt  ist  (vgl.  1482"  6):  ry  aQfiovlcf 
tov  acifiatog  ivavtlov  iarlv  rj  dvagnoaxia  zov  aojßcctog,  dvagfioaxLa  Sh  xov 
i/jixpvxov  Oüifiarog  voaog  xal  da&evsLec  xal  alaxog'  wv  to  fiev  davfifxeTgia  X(üv 
axoixsicav  ^  voaog,  xb  6h  xtüv  ofioiofieQÜiv  i]  do&evsia,  xb  de  xcHv  ogy avixcüv 
x6  alaxog.  et  xoivvv  ^  uvaQfxoaxia  voaog  xal  da&aveia  xal  aiaxog,  ^  ÜQßovla 
uQa  vyisia  xal  laxvg  xal  xdlXog.  Hässlichkeit  also  ist:  der  Mangel  der 
gesetzmässigen  Verbindung  (davfifzsxgla)  und  inneren  und  äusseren 
Uebereinstimmung  {dvagiioaxLa)  zwischen  den  zu  einem  lebendigen 
Ganzen  zusammenwirkenden  Teilen  {oQyavixwv).  Nach  seiner  Weise  dehnt 
A.  nun  diesen  Begriff  zugleich  auch  auf  die  Thätigkeit  und  das  Verhalten  der  psy- 
chischen Kräfte  aus :  wo  hier  eine  Fehlerhaftigkeit,  ein  Zuviel  oder  Zuwenig  auftritt, 
eine  Störung  in  dem  richtigen  Zusammenwirken,  da  ist  die  Erscheinung  des  „Häss- 
lichen"  vorhanden.  Wer  sähe  nicht,  dass  damit  ein  rein  objektiver  Massstab 
gegeben  ist,  bei  dessen  Anwendung  die  sittliche  oder  jede  andere  vom  höheren  Ver- 
nunfts  -  Interesse  ausgehende  Wertbestimmung  entweder  von  selbst  fortfällt  oder 
durch  die  Art  der  Beurteilung  doch  ausgeschlossen  wird!  Es  ist  der  Massstab 
der  rein  ästhetischen  Beurteilung.  Das  Fehlerhafte,  das  Schlechte, 
sofern  es  als  hässlich,  als  missfällig  erscheint,  wäre  also  der  Gattung  nach 
das  Objekt  der  Mimesis  für  die  Komödie. 

89)  ov  iaxi  xb  yelolov  (jloqlov.  Im  Texte  fehlt  das  ov,  das  wegen  des 
vorausgehenden  aiaxQov  leicht  ausgefallen  sein  kann.  Die  so  naheliegende  Aende- 
rung,  die  als  sinnwidrig  einmütig  verworfen  wird,  ist  die  einzige,  die  dem  Sinne 
völlig  gerecht  wird.  Im  einfachsten  Ausdruck  und  mit  der  dem  A.  dafür  eigentüm- 
lichen Terminologie  weist  der  Satz  dem  yelolov  als  dem  eigentlichen  Nachahmungs- 
objekt der  Komödie  seinen  Platz  als  einer  Art  in  der  Gattung  des  alaxQOv  an.  Es 
fehlt  nur  noch  die  Angabe  seiner  differentia  specifica,  und  diese  ist  im  Folgenden 
enthalten. 

90)  x6  ydg  yeXolov  saxiv  afJLaQxri^d  xi  xal  alay^og  dvwövvov  xal 
ov  (pS^agxixov.  Es  ist  die  vollkommenste  Definition  des  Lächerlichen.  (Bezüglich 
der  näheren  Ausführungen  über  den  reichen  und  fruchtbaren  Gehalt  dieser  Definition 
verweist  der  Verf.  auf  sein  „Handbuch  der  Poetik",  namentlich  Abschnitts, 
S.  107  ff.,  14.  S.  277  ff.,  und  Abschnitt 30  „lieber  das  aristotelische  Fragment 
negl  xü)/iü)ölag"j  S.  659—700).  Hier  sei  nur  auf  zweierlei  hingewiesen:  dass  die 
Ausschliessung  des  Schmerzerregenden  und  des  Verderbendrohenden 
identisch  ist  mit  dem  Ausschluss  der  spezifisch  tragischen  Affekte  aus  der 
Darstellung  des  Lächerlichen,  des  Mitleids  und  der  Furcht;  und  dass  durch  die 
Vorschriften,  die  sich  unmittelbar  aus  dieser  Muster-Definition  ergeben,  nicht  nur 
die  Auswahl  der  Objekte  für  die  komische  Kunst,  sondern  noch  mehr  die  Art 
ihrer  Behandlung  in  allem  Wesentlichen  und  bis  in  die  kleinsten  Einzelheiten 
geregelt  wird.    Und  noch  eine  weitere  Bemerkung  ist  hier  auszusprechen,  die  noch 


Zur  Lehre  des  Aristoteles  vom  Wesen  der  Kunst  und  der  Dichtung.        31 

mehr  für  den  Anfang  des  sechsten  Kapitels  in  Betracht  kommt:  es  geschieht  mit 
Unrecht,  dass  man  in  dem  uns  überlieferten  Büchlein  tcsqI  T6'/vi]g  noirjzixrjg,  das 
von  der  Theorie  und  den  Regeln  der  Dichtkunst  zu  handeln  verspricht,  die  aus- 
führlichen psychologischen  Erörterungen  über  die  Natur  der  komischen  und  tragischen 
Affekte,  über  das  Wesen  der  Katharsis  und  ähnliches  mehr  vermisst  und  daher 
allenthalben  sich  dazu  genötigt  sieht,  Lücken  zu  vermuten.  Die  diesem  Gebiete 
angehörigen  Definitionen  bedürfen  einer  weitreichenden,  tief  in  die  Gebiete  der 
Psychologie  und  Ethik  eingreifenden  Begründung,  die  in  dem  engen  Rahmen  dieser 
knapp  gefassten  Anleitung  unmöglich  gegeben  werden  konnte.  Aristoteles  setzte 
ihre  Kenntnis,  wie  z.  B.  auch  die  des  Begriffs  der  Mimesis,  bei  seinen  Hörern  vor- 
aus, mag  sie  übrigens  bei  den  Akroasen  oft  genug  mündlich  in  Erinnerung  gebracht 
haben.  Die  Stelle,  wo  er  sie  in  voller  Breite  entwickelte,  wird  der  Dialog  „negl 
7coi7]T(öv"  gewesen  sein.  Damit  steht  die  bekannte  Stelle  der  Politik  nicht  im 
Widerspruch.  Sie  besagt  (vgl.  1341''  38)  rl  6e  Xsyof^sv  trjv  xdS-ccQOiv,  vvv  (xkv  anXioq 
näXiv  ö'tv  xolq  negl  7toi7]Zix^g  igov/asv  aarpsazsQOv.  Das  nsgl  TtoLrjZLxrjq  ist  hier 
im  Gegensatz  zur  fjLovaixri  gesagt,  von  deren  Wirkungskraft  und  Zielen  die  Rede 
ist;  keineswegs  aber  ist  speziell  auf  das  Buch  negl  zs^vtiq  Tcoirjzücrjg  verwiesen, 
sondern  einfach  auf  eine  Schrift  über  die  dichterische  Kunst,  worin  dieses  zugleich 
philosophische,  psychologische  und  ästhetische  Thema  eine  gründliche  Behandlung 
erfahren  sollte.  Dass  für  solche  weitumfassende,  die  höchsten  Fragen  angehende, 
von  Kontroversen  erfüllte  Probleme  die  dialogische  Form  sich  als  ganz  besonders 
geeignet  und  anreizend  darstellen  musste,  liegt  auf  der  Hand. 

9l)7tQO  Xoyovg.  Wenn  hier  wieder  mit  Einmütigkeit  das  Textwort  in  Xoyovg, 
„Dialoge",  geändert  wird,  ausser  von  Vahlen,  der  in  seiner  dritten  Ausgabe  der 
„Poetik"  (Leipzig  1885)  wie  an  vielen  andern  Stellen  so  auch  hier  den  Text  des 
Cod.  Paris,  mit  ebensoviel  Sachkunde  als  Scharfsinn  verteidigt,  so  übersieht  man, 
dass  an  dieser  Stelle  von  einer  gegliederten,  ausgebildeten  dramatischen  Form  noch 
garnicht  geredet  wird,  sondern  im  strikten  Gegensatz  dazu  von  jenen  dunkeln  Vor- 
stadien, in  denen  zuerst  den  bakchischen  Chören  irgend  ein  Einzelner  einen  ver- 
mutlich burlesken,  mit  persönlichem  Spotte  gewürzten  Vortrag  vorausschickte, 
wofür  denn  „Prologus"  im  eigentlichen  Sinne  des  Wortes  der  geforderte  Aus- 
druck wäre. 

92)  rj  nkrid-rj  vTtoxQizwv.  Dieser  Fortgang  bezeugt  umsomehr,  dass  von 
einem  Entwickelungsstadium  die  Rede  war,  wo  zu  dem  einen  nun  erst  der  zweite 
und  dann  der  dritte  Darsteller  hinzukommen  sollte.  Es  war  also,  ehe  das  geschah, 
ein  „Dialog"  —  Xoyoi  —  garnicht  möglich;  jene  angebliche  Emendation  ist 
abermals  eine  Verderbung.  Der  Pluralis  Ttkrj^rj  weist  mit  sachlicher  Genauigkeit 
auf  die  wiederholt  eingetretenen  Vermehrungen  von  eins  auf  zwei  und  drei  hin. 

93)  z6  6h  fxvd-ovg  Ttoietv  ^Enixcx^Q^og  xal  ^^ogfxig.  Der  Text  ist  in 
bester  Ordnung  und  bedarf  weder  der  Emendationen,  noch  der  Umstellungen,  noch 
der  Annahme  von  Lücken.  Für  die  Konstruktion  ist  aus  dem  vorangehenden  Satze 
einfach  dnedwxev  als  Prädikat  hinzuzunehmen.  Dem  Sinn  und  Zusammenhange  ist 
damit  auf  das  klarste  und  schönste  entsprochen:  die  Vorgeschichte  der  Komödie 
liegt  im  Dunkel;  der  entscheidende  Schritt,  durch  den  sie,  wie  wir  sagen  würden, 
litterarhistorische  Existenz  gewann  —  womit  also  der  engste  Anschluss  an  den  vor- 
letzten Satz  genommen  wird  —  geschah  in  Sicilien  durch  Epicharm  und  Phormis, 
indem  sie  das  komische  Spiel  auf  eine  zusammenhängend  erdichtete  Fabel 
gründeten  und  es  dadurch  erst  zu  einem  dramatischen  Spiel,  zu  einer  eigent- 
lichen Kunstgattung  umschufen.  Sie  „verliehen"  ihm,  „fügten  ihm  ein"  zo 
tivd^ovg  Ttoietv. 

94)  Kgdzrjg  ngdüzog  rjg^ev  dcp^fievog  zijg  lafißLx^g  löeag  xad^öXov 
noieZv  Xoyovg  xal  fiv^ovg.   Für  das  Textverständnis  bieten  diese  Worte  keinen 


32  Hebmann  BAüHaABT 

Anstoss,  wohl  aber  vorlangt  ihr  Sinn  eine  scharfe  Beleuchtung.  Denn  wenn  man  in 
diesem  Satz  einen  Beweis  mehr  für  den  angeblichen  Vorzug  finden  will,  den  A.  der 
mittleren  und  neueren  Komödie  zu  Ungunsten  des  Aristophanes  gegeben  habe,  so 
dürfte  das  ein  sehr  starker  Irrtum  sein.  Dieser  Schlusssatz  des  Abschnittes  kehrt 
zu  dem  in  seinem  Beginne  angeschlagenen  Thema  zurück,  indem  er  mit  Beziehung 
auf  das  dort  aus  Kap.  IV  angezogene  Wort  als  die  Vollendung  der  Kunstform  der 
Komödie  den  Schritt  bezeichnet,  den  sie  in  Attika  that:  ov  xpoyov  ciXXa  xo  ysXolov 
6Qafiaxonoir]aaq.  Sie  machte  sich  von  der  »Jambischen  Form"  los,  d.  h.  sie  hörte 
auf,  sich  auf  die  Verspottung  einzelner  Personen  und  Vorkommnisse  einzuschränken  — 
was  auch  in  einer  erdichteten  und  durchweg  festgehaltenen  Handlung  sehr  wohl  noch 
ihr  untergeordnetes  Ziel  bleiben  konnte;  sie  richtete  sich  dagegen  darauf,  das  Ver- 
kehrte in  den  menschlichen  Gesinnungen,  Leidenschaften  und  Handlungsweisen 
überhaupt  dem  Lachen  preiszugeben  —  was  sehr  wohl  auch  so  geschehen  konnte, 
dass  dabei  Namen  lebender  Personen  angewendet,  Anspielungen  auf  wirkliche  Zu- 
stände gemacht  wurden,  nur  dass  in  den  „Reden"  der  Personen  wie  in  der  Kom- 
position der  Handlung  jener  höhere  und  allgemeine  Gesichtspunkt  das  xü,oq  fufitjascai 
bestimmte.  Das  hat  aber  Aristophanes  von  allen  uns  bekannten  Dichtern  der  Ko- 
mödie am  besten  zu  erreichen  gewusst.  Dass  dabei  Xoyovg  also  weder  mit  /iv&og 
gleichbedeutend  ist,  noch  etwa  „Wahrheit"  bedeutet,  im  Gegensatz  zur  „Dichtung*', 
sondern  „Reden",  geht  aus  dem  Obigen  hervor.  — Mit  Unrecht  möchte  Vahlen 
(a.  a.  0.,  S.  113)  für  das,  was  im  Folgenden  ?}  lafxßixrj  Uta  genannt  wird,  die  „Ritter**, 
des  Aristophanes  als  das  „passendste"  Beispiel  anführen.  An  Hinweisen  auf  „ein- 
zelne" Personen  und  „einzelne"  Vorkommnisse  ist  freilich  dieses  Stück  noch  weit 
reicher  als  irgend  eine  andere  Komödie  des  Aristophanes,  aber  es  thut  zugleich  allen 
aristotelischen  Anforderungen  an  eine  gute  Komödie  in  vollem  Masse  Genüge.  Vor 
allem:  eine  frei  und  zwar,  von  aller  Wirklichkeit  entfernt,  höchst  phantastisch  er- 
fundene Handlung  bedingt  das  Stück  xo  yekoZov  ögafiaxonoii^aag,  und  alle  die  zahl- 
reichen Einzelbeziehungen,  die  uns,  die  wir  diese  Art  der  phantastisch  -  politischen 
Komödie  ohne  den  eingehendsten  Kommentar  nicht  verstehen  können,  sofort  und 
fast  als  die  Hauptsache  in  die  Augen  springen,  dienen  in  dem  lebendigen  Körper 
der  drastischen  Handlung  einzig  dem  sQyov  und  xskog  des  Ganzen:  xa&6?.ov  noislv 
yeXcoxa  xal  jjdov^v.  Gerade  aber,  weil  in  diesem  letzteren  Faktor  zu  einem  sehr 
grossen,  ja  völlig  ebenmässigen  Teile  die  Wirkung  der  aristophanischen  Komödie 
beruhte,  ist  es  uns  Neueren  schwer,  ja  fast  unmöglich,  sie  völlig  zu  würdigen.  Wie 
wäre  es  uns  möglich,  von  allen  jenen  Elementen  der  mannichfaltigsten  Kunstmittel, 
die  vor  dem  geübten  und  feinen  Sinn  der  Athener  sich  zu  einer  überwältigenden 
Schönheitswirkung  vereinten,  uns  eine  irgend  annähernde  Vorstellung  zu  bilden? 

„Es  hat  sich  also  das  Epos®'*)  in  der  Tragödie,  soweit**)  es  eben  eine 
in  grossem  Massstab  gehaltene")  Nachahmung  von  edlem  Gehalt  ist, 
fortgesetzt®^);  insofern  es  aber  ein  einheitliches  Versmass  hat  und  eine 
Erzählung  ist®®),  so  ist  dies  der  Punkt ^°*'),  worin  sie  auseinandergehen; 
ebenso  auch  hinsichtlich  ihres  TJmfanges.  Denn  die  Tragödie  hat  das 
Streben,  so  viel  als  möglich  innerhalb  eines  Umlaufs  der  Sonne  sich  ab- 
zuspielen oder  doch  wenig  darüber  hinauszugehen;  dagegen  ist  das  Epos 
der  Zeit  nach  unbeschränkt;  also  auch  hierin  liegt  ein  Unterschied,  ob- 
wohl man  es  zu  Anfang  in  den  Tragödien  ebenso  gemacht  hat  wie  in  den 
Epen.  Was  die  Bestandteile  betrifft,  so  sind  einige  beiden  gemeinsam, 
andere  sind  der  Tragödie  eigentümlich.    Wenn  daher  jemand  weiss,  was 


Zur  Lehre  des  Aristoteles  vom  Wesen  der  Kunst  und  der  Dichtung.       33 

i 


eine  gute  und  was  eine  schlechte  Tragödie  ist,  so  weiss  er  dasselbe  auch 
von  den  Epen ;  denn  alles,  was  das  Epos  ausmacht,  ist  der  Tragödie  eigen, 
was  aber  diese*"')  ausmacht,  ist  keineswegs  alles  im  Epos  vorhanden.** 


95)  Hier  wird  allgemein  eine  grössere  Lücke  angenommen;  mit  Unrecht!  Mit 
diesem  Abschnitt  schliesst  die  ,, prinzipielle"  Einleitung  ab,  um  im  folgenden  sechsten 
Kapitel  der  speziellen  Gesetzgebung  für  die  Tragödie  Platz  zu  machen.  Der  Gang 
der  Darstellung  war  bis  dahin  der  folgende:  nachdem  mit  dem  dritten  Kapitel  die 
Untersuchung  über  die  poetische  Mimesis  nach  ihren  Mitteln ,  Gegenständen  und 
nach  ihrer  Art  und  Weise  abgeschlossen  war,  eröffnete  das  vierte  einen  Blick  auf 
ihren  Ursprung  und  ging  dann  mit  den  Worten  „öisaTtdad-rj  Sh  xaza  z«  oixela  tJStj" 
auf  die  beiden  Hauptrichtungen  der  Dichtung  nach  den  Gegenständen  ihrer  Nach- 
ahmung ein.  Nachdem  auch  diese  Erörterung  nun  zu  Ende  geführt  ist,  bildet  der 
vorliegende  Abschnitt  höchst  konsequent  den  Uebergang  zu  dem  speziellen  Teile. 
Es  war  gezeigt,  wie  aus  der  epischen  sich  die  dramatischen  Gattungen  entwickelt 
hatten  und  besonders,  wie  die  Tragödie  aus  dem  heroischen  Epos  hervorgegangen 
war;  da  nun  die  Absicht  des  A.  dahin  geht,  nichtsdestoweniger  vor  allen  anderen 
Gattungen  zuerst  die  Tragödie  und  zwar  diese  am  ausführlichsten  zu  behandeln,  so 
war  es  erforderlich,  dieses  Verfahren  zu  begründen.  Das  geschieht,  indem  gezeigt 
wird,  was  dem  Epos  mit  der  Tragödie  gemein  ist,  was  sie  unterscheidet,  und  dass 
die  letztere  vermöge  ihrer  reicheren  Entwickelung  die  umfassendere  Gattung  gewor- 
den sei,  so  dass  aus  ihrer  Theorie  und  Gesetzgebung  das  Wesentlichste  über  das 
Epos  auch  gelernt  werden  könne. 

96)  ^  jusv  ovv  iTtonoLLa  ry  zQayipölcc  (JlbxQi-  ßövov  [jlszqov  (xsyoi- 
Xov  fxlfXTjaig  elvat  anovöalojv  rjxokovd-rjasv'  xo  6s  zo  fiszgov  anXovv 
eXELV  xal  aTtayyeXLav  slvcci,  ravzi^  öia<p6Q  ovaiv.  Die  unverstanden  ge- 
bliebene Stelle  ist  einer  Anzahl  von  Verbesserungsversuchen  unterworfen;  ein  klarer 
und  gesunder  Sinn  in  scharf  formuliertem  Ausdruck  ergiebt  sich  nur,  wenn  man  ohne 
die  geringste  Aenderung  dem  überlieferten  Texte  folgt.  Die  Schwierigkeit  liegt  zu- 
nächst in  dem  fi^xQt  und  dem  dazu  gehörigen  Genitiv.  Dies  ist  der  Genitiv  des 
Infinitivs  üvat,  der  als  solcher  statt  durch  den  Artikel  durch  das  hinzutretende  ßovov 
gekennzeichnet  ist.  f^exQt  bedeutet  bei  einem  Verbum  der  Bewegung  den  Weg  der- 
selben bis  zum  Ziel;  wenn  also  gesagt  wird:  Epos  und  Tragödie  haben  denselben 
Weg  gemacht,  so  giebt  die  Präposition  mit  dem  von  ihr  bestimmten  Begriff  an,  wie 
weit  die  beiden  desselben  Weges  gingen.  Die  Antwort  ist:  nur  so  weit  das  Epos 
ßifXTjaig  anovöalcDV  ist  „ßix^t  fiovov  ....  sivai".  Diesem  Infinitiv  entsprechen 
dann  im  zweiten  Teil  der  Periode  die  beiden  Infinitive  zb  öh  .  .  .  sx^t-v  xal  .  .  . 
slvai. 

97)  fxszQOv  fisyä?.ov.  Dieser  Genitiv  dagegen  hat  mit  fxövov  und  fzsxQt 
nichts  zu  thun,  sondern  tritt  attributiv  als  Genit.  qualit.  zu  ßi/xrjaig  hinzu.  Das 
Wort  (jiBZQOv  ist  in  seiner  eigentlichen  Bedeutung  gebraucht:  eine  Grösse,  die  dazu 
dient,  eine  Ausdehnung  als  solche  erkennbar  zu  machen,  also  „Massstab".  Eine 
Mimesis  [xezQov  (xeyäXov  ist  eine  solche,  die  zu  ihrer  Würdigung  „eines  grossen 
Massstabes"  bedarf,  der  das  Attribut  des  (xiye^oq,  das  für  Epos  und  Tragödie 
gleich  wesentlich  ist,  zukommt. 

98)  rjxoXovd-Tjaev.  Auch  dies  Verbum  hat  zu  missverständlicher  Auffassung 
Anlass  gegeben,  ausser  bei  Vahlen  (vgl.  a.  a.  0.,  S.  114);  man  hat  entweder  Tragödie 
|imd  Epos  ihre  Stellung  im  Satze  vertauschen  lassen  oder  doch  wenigstens  den  Aus- 
'druck  für  unzutreffend  und  nachlässig  gehalten,  da  die  Tragödie  später  entstanden 

sei  als  das  Epos,  und  also  nur  von  jener  gesagt  werden  kann,  dass  sie  diesem  folgte. 
dxoXov^elv  bedeutet  die  parallele  Fortbewegung   und  noch  viel  häufiger,  in  einer 

3 


34  Hebmann  Badmgart 

grossen  Menge  von  Stellen  bei  A.,  das  parallele  Verhalten  eines  Dinges  mit 
einem  andern  in  bezog  auf  irgend  eine  bestimmte  Qualität;  dieser  Gebrauch  geht 
so  weit,  dass  dxoXovi}el  zi  zivi  geradezu  gleichbedeutend  wird  mit  v7iug/ti  zl  zivi. 
A.  hat  sich  den  Vorgang  also  gerade  umgekehrt  vorgestellt  wie  seine  Ausleger:  das 
Epos  folgt  der  Tragödie  in  ihrer  Entwickelung,  nicht  so,  dass  es  dieselbe  Ent- 
wickelung  durchmacht,  was  widersinnig  wäre,  sondern  so,  dass  es  sie  dabei  begleitet, 
seinem  wesentlichen  Teile  nach  darin  gegenwärtig  ist.  Sie,  die  ja  aus 
dem  Epos  entstammt,  nimmt  diesen  wesentlichen  Teil  von  ihm  in  ihre  Entwickelung 
mit  hintlber.  Diese  Auffassung  wird  unzweifelhaft,  wenn  in  dem  Satze  auch  die 
Bestimmung,  die  durch  sie  gefordert  wird,  vorhanden  ist:  eine  Begrenzung  für  den 
Wesensinhalt  des  Epos,  bis  wie  weit  er  in  die  Entwickelung  der  Tragödie  hinein 
ihr  „gefolgt"  ist,  „sich  in  ihr  fortgesetzt*'  hat.  Die  oben  gegebene  Erklärung 
des  fie/Qi  (jLovov  ulfxrjaig  elvai  anovöalwv  erhält  dadurch  ihre  volle  Bestätigung,  wie 
sie  umgekehrt  die  Auffassung  des  ^xoXov&rjaev  bekräftigt. 

99)  zo  öh  fiezQOv  anXovv  sx^iv  xal  dnayyeXiav  slvau  Wie  schon 
gesagt,  entsprechen  die  beiden  Infinitive  dem  vorausgegangenen  (jdxQi-  elvai  x.  x.  /. 
und  zwar  so,  dass  sie  als  Accusat.  graec.  in  derselben  Weise  angeben,  in  bezug  auf 
welchen  Teil  des  Subjektsbegriffs  das  Prädikat  Geltung  habe.  Es  ist  also  keineswegs 
das  zö  in  rw  zu  ändern,  das  sich  einerseits  mit  dem  nachfolgenden  zavz^  nicht 
vereinigen  lässt,  andererseits  auch  in  den  Sinn  eine  Schiefheit  bringt.  Wenn  vor- 
ausgeht: „dadurch,  dass  das  Epos  die  und  die  Eigenschaften  hat",  so  müsste 
folgen:  ÖLacpsgei  zf^g  zgaycodiaq  und  nicht,  wie  hier:  zavzi^  6ia(p  i  q  ov  a  lv. 
Geht  aber  voraus:  „insofern  das  Epos  u.  s.  w.",  so  ist: 

100)  auch  der  Nachsatz  in  Ordnung,  dessen  nachdrückliches  zavzy  nun  auch 
verständlich  wird:  hier  hat  das  dxokov&elv,  das  Mitfortexistieren  des  epischen 
Wesens  in  der  Tragödie  sein  Ende,  und  hier  liegen  die  formalen  Gründe, 
um  derentwillen  ein  Auseinandergehen  und  eine  ganz  getrennte  Entwickelung 
stattfinden  musste. 

101)  Für  avzy  wird  von  den  meisten  avz?]  geschrieben;  doch  ist  von  Vahlen 
(a.  a.  0.,  S.  116)  mit  guten  Gründen  avz^  verteidigt  worden,  das  den  völlig  befrie- 
digenden Sinn  ergiebt,  wenn  man  statt  des  früher  vorangehenden  exei  das  unmittel- 
bar voranstehende  vnaQXBi-  hinzunimmt:  d  6s  avz^  (vTtdgxsi),  ov  ndvza  iv  zy  ino- 
Tcoda. 

Kapitel  VI. 
„Von  der  in  Hexametern  nachahmenden  Dichtung  und  von  der  Ko- 
mödie werden  wir  später  sprechen,  jetzt  soll  von  der  Tragödie  die  Rede 
sein  und  die  Definition  ihres  Wesens,  die  sich  aus  dem  bisher  Gesagten  ^^) 
ergiebt,  festgestellt  werden.  Darnach  ist  die  Tragödie  die  Nachahmung 
einer  Handlung  von  edlem  Gehalt  und  in  vollständiger  Durchführung,  und 
zwar  einer  solchen,  der  das  Attribut  der  Grösse  zukommt,  in  künstlerisch 
gehobenem  Ausdruck,  dessen  verschiedene  Arten  in  den  einzelnen'**^) 
Teilen  gesondert  auftreten ,  in  leibhaftiger  Aktion  und  nicht  in  erzählen- 
der Form,  welche  die  Kraft  besitzt,  durch  die  Empfindungen  des  Mitleids 
und  der  Furcht  die  denselben  entsprechenden  Gemütsbewegungen  zur 
völligen  Lauterkeit  gelangen  zu  lassen.*"^)  Unter  dem  künstlerischen  Aus- 
druck verstehe  ich  den  Inbegriff  der  rhythmischen  Gliederung,  der  musi- 
kalischen Begleitung  und  des  Gesanges*^),  und  wenn  ich  von  der  nach 


Zur  Lehre  des  Aristoteles  vom  Wesen  der  Kunst  und  der  Dichtung.       35 

den  Arten  derselben  gesonderten  Anwendung  spreche,  so  ist  damit  darauf 
hingewiesen,  dass  in  manchen  Teilen  die  Wirkung  der  Tragödie ^°^)  ganz 
allein  durch  das  rhythmische  Wort  hervorgebracht  wird,  in  andern  wieder 
durch  den  Gesang.'°')" 

102)  ix  z  (öv  s  LQrj  fx6v  ü)V.  "Wie  oben  (vgl.  Anmerkung  90)  schon  ausgeführt, 
sind  die  eingehenden  Erörterungen  über  die  psychologisch-ästhetische  Wir- 
kung der  Tragödie,  also  über  Mitleid  und  Furcht  und  namentlich  über  die  Katharsis 
nicht  hier,  sondern  in  dem  Dialog  „über  die  Dichter"  zu  vermuten.  Die  wesent- 
lichsten Bestimmungen  über  ihre  formale  Beschaffenheit  sind  aber  „durch  das  bis- 
her Gesagte"  in  der  That  so  vorbereitet,  dass  nur  übrig  bleibt,  sie  im  Einzelnen 
technisch  zu  erläutern,  was  im  Folgenden  geschieht, 

103)  Für  das  kxaoTOv  des  Textes,  das  durch  fälschliche  Beziehung  des  voran- 
gehenden '/cD^lg  verschrieben  sein  mag,  ist  hxäa reo  zu  setzen,  was  fast  allgemein 
angenommen  ist. 

104)  Auf  die  Katharsis-Frage  sachlich  einzugehen  ist  hier  nicht  der  Ort; 
der  Verf.  verweist  dafür  auf  die  oben  citierten  drei  Monographien  und  auf  sein 
mehrfach  angeführtes  „Handbuch  der  Poetik",  worin  die  in  Betracht  kommenden 
Probleme  nach  allen  Richtungen  hin  eingehend  behandelt  sind.  Das  eine  aber  muss 
zur  Bekräftigung  der  eben  ausgesprochenen  Ansicht  bemerkt  werden:  es  wäre  ein 
grosser  Irrtum  anzunehmen  —  was,  wie  es  scheint,  allgemein  geschieht  — ,  dass  nach 
des  A.  Meinung  die  Katharsis  eine  der  Tragödie  allein  zukommende  Wir- 
kung sei,  wodurch  diese  als  Kunstform  charakterisiert  wilrde,  und  nicht  vielmehr 
eine  Wirkung  der  Kaust  überhaupt,  ohne  die  sie  entweder  zum  blossen 
Zeitvertreib  herabsinkt  oder  in  dem  Dienst  einer  irgendwie  beschaf- 
fenen Tendenz  ihre  Freiheit  und  damit  den  Anspruch  auf  höchste 
Vollendung  verliert.  Das  ist  eine  Konsequenz,  die  aus  der  Gesamtheit  der  aristo- 
telischen Philosophie,  seinen  psychologischen,  ethischen  und  ästhetischen  Lehren, 
unwiderleglich  hervorgeht,  die  aber  auch  speziell  durch  die  oben  angezogene  Stelle 
der  Politik  (VIII,  7.  1341  ^  38)  in  betreff  der  Musik  wörtlich  bestätigt  wird.  Sie  kann, 
wie  es  dort  heisst,  der  naiösta  dienstbar  gemacht  werden,  sie  kann  auch  sich  ledig- 
lich auf  die  Zwecke  der  diayojytj  beschränken,  die  als  ävsaig  und  zijg  avvzovlag 
dvdnavaig  definiert  wird,  sonst  ist  ihr  Ziel  die  Wirkung  der  xdd-agaig.  Die 
daran  sich  schliessenden  Ausführungen  beweisen  dasselbe,  was,  wie  gesagt,  durch 
die  gesamte  Philosophie  des  A.  gelehrt  wird:  die  Kunst,  und  zwar  alle  Kunst  in 
jeder  ihrer  Äusserungen,  hat  die  ungeheure  Kraft  (övvafxig)  und  daher  die  hohe  Auf- 
gabe (TeXog)f  alle  die  unmittelbaren  seelischen  Wirkungen,  mit  denen  die  Welt  in 
allen  ihren  Erscheinungen,  das  Leben  mit  allen  seinen  Vorgängen  das  Gemüt  der 
Menschen  bewegt  —  also  Pathe,  Ethe  und  Praxeis,  d.i.  Empfindungen,  Gemütszu- 
stände und  Entschliessungsimpulse  —  e b e n s 0  in  unmittelbarer  Nachahmung 
in  ihren  Gemütern  zu  erzeugen,  in  unmittelbarer,  nicht  durch  Verstandes- 
oder Vernunft-Reflexion  erst  bedingter.  Da  es  nun  ferner  die  unzweifelhaft  richtige 
Überzeugung  des  A  ist,  dass  in  jedem  einzelnen  Falle  jeder  einzelnen  Erschei- 
nung gegenüber  nur  eine  einzige  Art  der  Seelenbewegung  das  Rechte  trifft, 
wie  es  für  jedes  Verstandes-  und  jedes  Vernunft-Problem  nur  eine  einzige  rich- 
tige Lösung  giebt,  während  im  Leben  die  Verfehlungen  dieses  Rechten,  Ge- 
sunden und  Normalen  der  Zahl  und  Art  nach  unendlich  vielfach  sind;  da  ferner 
nach  seiner  einfachen  und  grossartigen  Lehre  an  eine  jede  richtige  auf  ein 
richtiges  Ziel  gestellte  Bethätigung  nach  einem  Naturgesetz  unsrer  Seele 
die  beglückende  Erscheinung  der  Freude  geknüpft  ist:  —  wie  kann  man  da 
nur  einen  Augenblick  darüber  in  Zweifel  bleiben,  dass  die  Kunst  jener  ihrer  hohen 

3* 


36  Hbbmank  Bauhgabt 

Aufgabe  nur  dann  genügt,  wenn  sie  die  ihr  jedesmal  zu  Gebote  stehenden  Mittel 
ausschliesslich  auf  jenes  hohe  Ziel  richtet!  Dass  sie  also  die  Auswahl,  die  Verwen- 
dung, die  Verknüpfung,  den  Aufbau  ihrer  Mittel  allemal  so  einzurichten  hat,  dass 
durch  die  ihnen  naturgemäss  beiwohnende  Wirkung  jedes  Abirren  der  empfindenden 
Seele  von  der  einen,  rechten  Art  der  Bewegung  und  Haltung  verhindert,  und 
dass  die  ßcele  wie  durch  Naturgewalt  in  den  Stand  gesetzt  wird,  dem  gegebenen 
Anlass  in  der  immerhin  nun  doch  frei  und  selbständig  von  ihr  hervorge- 
brachten rechten  und  freadigen  ästhetischen  Bethätigungr  zu  folgen!  Es 
geht  aus  dem  allen  hervor,  dass  A.  seine  Lehre  von  der  Katharsis  mit  der  Ent- 
wickelung  seiner  Theorie  der  Mimesis  aufs  engste  verknüpft  haben  muss,  und  dass 
beide  Begriffe  sicherlich  an  derselben  Stelle  von  ihm  entwickelt  wurden.  Aus  den 
oben  angegebenen  Gründen  ist  als  diese  Stelle  aber  nicht  die  zhxvrj  noir^Tixj],  son- 
dern der  öidXoyoq  tibqI  noirjxwv  anzunehmen ;  wie  denn  auch  die  philosophische  De- 
finition der  Mimesis,  die  doch  der  übergeordnete  und  noch  weit  wichtigere  Begriff 
ist,  von  niemandem  in  der  „Poetik"  vermisst  wurde. 

105)  Xiyü)  6s  riöva (JLSvov  (jlbv  koyov  xov  s^ovra  ^vS-fiov  xal  agfJLO- 
vLav  xal  /ueXog.  Als  drittes  Glied  ist  ßeXog  beizubehalten  und  nicht  etwa  nhgov 
dafür  zu  setzen;  denn  dieses  letztere  ist  schon  durch  das  erste  Glied,  ).6yov  xov 
exovxa  QvQ^ßov,  bezeichnet.  Die  beiden  folgenden  geben  die  Gesamtheit  dessen,  was 
A.  später  ßeXonoäa  nennt,  nach  ihren  beiden  Bestandteilen  an :  nämlich  agfioviu, 
die  rein  musikalische  Tonfolge,  also  was  wir  die  Instrumentalmusik  nennen, 
und  [isXoqy  das  gesungene  Lied,  Gesang. 

106)  xo  ÖLo,  iiixQ(üv  svia  fiovov  negalvsad^ai.  Es  ist  bei  diesem  Ver- 
bum  an  die  gesamte  Wirkung  der  Tragödie  zu  denken,  die  auch  in  den  blossen 
rhythmischen  Worten,  da  eine  gute  Tragödie  auch  beim  Lesen  ihre  Wirkung  doch 
keineswegs  verliert,  zum  wesentlichen  Teile  schon  gelegen  sein  muss. 

107)  xal  TtaXiv  sxsga  öid  fisXovg.  Welche  Mittel  zur  Verstärkung  dieser 
Wirkung  aber  lagen  für  die  Alten  in  dem  Hinzutreten  des  Liedes  und  überhaupt  des 
musikalischen  Elementes :  also  für  die  Verstärkung  der  Affekte  des  Mitleids  und  der 
Furcht  ebensowohl  als  für  ihre  wechselseitige  Herabminderung,  wenn  auf  den  Höhe- 
punkten der  Handlung  der  Dichter  gegen  das  Übermass  des  einen,  gerade  vorwal- 
tenden Affektes  nun  für  den  anderen  die  ganze,  überwältigende  Macht  des  Gesanges 
in  die  Wagschale  warf!  Durch  solche  Betrachtung  tritt  uns  Neueren  erst  die  eigen- 
tümliche Bedeutung  des  Chors,  die  den  Hörern  des  A.  sicherlich  gerade  nach  dieser 
Richtung  hin  als  eine  selbstverständliche  Sache,  als  ein  <pavsQÖv,  galt,  klar  vor  das 
Auge:  seine  nicht  hoch  genug  anzuschlagende  Bedeutung  für  die  Erreichung  des 
Hauptzieles  der  Tragödie,  des  eigentlichen  sgyov  zQaywölag,  der  Katharsis  der 
durch  die  tragische  Handlung  zum  stürmischen  Auf-  und  Abwogen  erregten 
Furcht-  und  Mitleidsaffekte! 

„Da  es  nun  handelnde  Personen  sind,  welche  die  Nachahmung  aus- 
führen, so  möchte  zunächst  ein  notwendiger  Bestandteil  der  Tragödie 
die  künstlerische  Anordnung  der  szenischen  Vorstellung *°*)  sein,  sodann 
die  musikalische  Komposition  und  der  sprachliche  Ausdruck;  denn  dies 
ist  das  Material  an  Darstellungsmitteln,  mit  denen  man  die  Nachahmung 
ausführt.  Und  zwar  verstehe  ich  unter  dem  sprachlichen  Ausdruck  die 
Verse  selbst,  aus  denen  das  Stück  sich  aufbaut  ^°^},  unter  der  musikalischen 
Komposition  alles  das,  was  die  an  sich  ja  offen  zu  Tage  liegende  Wirkung 
in  ihrer  Gesamtheit  ausübt  *°^'.)    Ferner  ist  aber  der  Gegenstand  der  Nach- 


Zur  Lehre  des  Aristoteles  vom  Wesen  der  Kunst  und  der  Dichtung.        37 

ahmung  eine  Handlung,  und  es  sind  handelnde  Personen,  die  sie  aus- 
führen und  die  notwendig  eine  bestimmte  Beschaffenheit  in  Gesinnungs- 
und Denkweise "°)  haben  müssen,  denn  das  sind  ja  die  Elemente,  nach 
denen  wir  den  Handlungen  selbst  eine  bestimmte  Beschaffenheit  beilegen. 
Es  sind  also  diese  beiden  die  innerlich  begründenden  Ursachen  der  Hand- 
lungen ^'0»  die  Denkweise  und  die  Gesinnungsweise  („Reflexion"  und  „Cha- 
rakter")^*'^), und  solche  Handlungen  sind  es*"),  wonach  für  einen  jeden 
Gelingen  und  Fehlschlagen  sich  entscheidet.  Die  Nachahmung  der  Hand- 
lung nun  ist  die  Fabel,  das  Wort  Fabel  ^n  dem  Sinne  genommen '''}»  dass 
es  den  Aufbau  der  Begebnisse  bedeutet.  Unter  „Charakter"  verstehe  ich 
alles  das,  wonach  wir  den  Handelnden  eine  bestimmte  Beschaffenheit  bei- 
legen, unter  „Reflexion"  alles  dasjenige,  worin  die  Sprechenden  etwas  dar- 
legen oder  eine  Meinung  kund  thun."^)  So  muss  also  die  Tragödie  not- 
wendig sechs  Bestandteile  haben,  wonach  sie  ihre  Beschaffenheit  bestimmt; 
es  sind:  Fabel,  Charaktere,  sprachlicher  Ausdruck,  Reflexion,  szenische 
Vorstellung  und  musikalische  Komposition.  Die  Mittel  der  Nachahmung 
nämlich  ergeben  zwei  Teile,  die  Art  der  Nachahmung  einen  und  die  Ge- 
genstände derselben  drei  und  weiter  giebt  es  keinen.  Diese  also  gebraucht 
man,  und  nicht  etwa  eine  kleinere  Zahl  davon  als  eigentümliche  Be- 
standteile für  die  einzelnen  Arten  der  Tragödie"^);  denn  eine  jede  der- 
selben umfasst  sowohl  die  szenische  Vorstelluri^ ,  als  Charakter,  Fabel, 
sprachlichen  Ausdruck  und  Gesang  und  ebenso  auch  Reflexion." 

108)  b  xriq  Öxpswq  xoG/uog,  die  wohlgefällige  Anordnung  alles  dessen,  was 
dem  Auge  sich  darstellt,  am  treffendsten  und  kürzesten  also  wiederzugeben,  da  die 
Kürze  des  griechischen  Ausdrucks  nicht  zu  erreichen  ist ,  durch :  „künstlerische 
Anordnung  der  szenischen  Vorstellung". 

109)  Xsyct)  öh  ke^iv  ^ev  avrijv  xriv  zwv  (xstqcdv  avvd-eaiv.  Sämt- 
liche Konjekturen,  die  zahlreich  an  der  Stelle  versucht  sind,  verderben  ihren  an 
sich  klaren  und  guten  Sinn,  avvd-eaig  bedeutet  nicht  nur  den  Akt  der  Zusammen- 
setzung, sondern,  ganz  wie  bei  uns  das  entsprechende  Wort,  auch  das  Zusamm en- 
ge setzte  selbst,  die,, Kompositio  n",  und  zwar  ganz  speziell  auch  die  stilistische. 
A.  will  also  hervorheben,  dass  er  unter  Xs^ig  nicht  etwa  den  in  den  Trimetern  vor- 
liegenden Text  des  Stückes  verstanden  wissen  will,  sondern  ebenso  auch  den  Text 
der  Chorlieder  und  sonstigen  melischen  Partien,  kurz  „die  textliche  Kompo- 
sition aus  den  verschiedenen  wechselnden  Versen  selbst",  den  gesamten 
Wortlaut  des  Stückes.  Fremdartig  mutet  der  Satz  nur  deshalb  an,  weil  uns  druck- 
und  lesegewohnten  Modernen  sein  Inhalt  allzu  selbstverständlich  erscheint,  während 
es  für  den  griechischen  Hörer  darauf  ankam,  auch  in  den  melischen  Partien  den 
sprachlichen  Ausdruck  von  dem  musikalischen  zu  trennen. 

109*)  fieXoTtoilav  öh  o  ztjv  övvaßiv  (pavEQccv  e/et  Tiäaav.  Die  Kon- 
jektur Tiäaiv  verwischt  den  Sinn,  wie  ihn  die  Uebersetzung  „ist  seinem  ganzen 
Wesen  nach  klar"  gleichfalls  nicht  wiedergiebt.  Auf  dem  Tiäaav  liegt  grade  der 
Nachdruck;  ohne  dies  Wort  wäre  der  Satz  nichtssagend!  Es  soll  in  dem 
zusammenfassenden  Ausdruck  ßeXoitoda  beides  verstanden  werden,  was  oben  ge- 
trennt genannt  wurde  (vgl.  Anmerk.   105  und  107):  „Harmonia"  und  „Melos",  in- 


38  Hbsmanit  Baümgabt 

Strumentale  Musik  und  Gesang.  Korrekter  würde  es  freilich  heissen:  näv  o  ^x^i 
u.  8.  w, ;  A.  Hess  aber  um  des  Nachdruckes  willen  das  wichtigste  Wort  ans  Ende 
treten  und  assimilierte  es  dabei  dem  vorausgehenden  dvvufjLiv  (puvsQÜv,  wozu  es  ja 
mit  geringer  Modifikation  der  Fassung  des  Gedankens  auch  treten  kann,  also:  „die 
offen  zu  Tage  liegende  Wirkung  in  ihrer  Gesamtheit**. 

110)  TÖ  ri^oq  xal  xijv  öiävoiav.  Sehr  scharf  und  treffend  wird  hier  von 
der  Empfindungs-  und  auf  dem  Empfinden  beruhenden  Gesinnungsweise  —  „Ethos"  — 
die  „Denkweise"  unterschieden,  das  Wort  im  strengen  Sinne  genommen:  also 
der  Grad  von  Klarheit  im  logischen  Schlussverfahren  und  der  daraus  und  aus  der 
persönlichen  Erfahrung  hervorgegangene  Vorrat  von  objektiven  Erkenntnissen  und 
von  subjektiven  Meinungen. 

111)  7i^<pvx€v  ai'zia  ovo  xwv  ngd^sojv  slvai.  Wie  sie  beide  unser  Urteil 
über  die  Handlungen  und  über  die  Handelnden  bestimmen,  so  liegen  andrerseits 
in  ihnen  ja  auch  die  natürlichen  Ursachen,  aus  denen  die  Handlungen  entstehen, 
necpvxsv  aizia  slvai,  nach  der  inneren  Natur  der  Dinge  sind  sie  die  Ursachen. 

112)  Wenn  im  Folgenden  nun  für  -^^og  und  öidvoia  unsere  uns  geläufigen  Aus- 
drücke „Charakter"  und  „Ke flexi on"  gesetzt  werden,  so  geschieht  das  nur, 
weil  wir  keine  besseren,  kurz  gefassten,  Ausdrücke  dafür  haben,  und  mit  dem 
"Vorbehalt,  dass  sie  ungeachtet  ihrer  im  gewöhnlichen  Sprachgebrauch  etwas  ab- 
weichenden Bedeutung,  hier  in  dem  oben  (vgl.  Anmerk.  110)  präcisierten  Sinne  ver- 
standen werden. 

113)  xal  xazd  xavraq  xal  zvyydvovac  xal  dnoxvyyävovaL  ndvxeq. 
Wieder  bringt  es  hier  die  Konjektur  xaxd  xavxa  für  xaxd  xavzaq  fertig,  den  Sinn 
völlig  zu  ruinieren.  Es  ist  gamicht  wahr,  dasa  von  „ Gesinnung s-  und  Denk- 
weise" der  Menschen  Gelingen  und  Fehlschlagen,  Glück  und  Unglück  für  sie  ab- 
hängen, sondern  das  entscheidet  sich  durch  ihre  Handlungen.  Auf  die  Behaup- 
tung dieser  an  sich  gewiss  nicht  neuen  These  kam  es  hier  dem  A.  aber  durchaus  nicht 
an,  sondern  auf  einen  Satz,  der  allerdings  für  die  Poetik  von  der  allerhöchsten 
Wichtigkeit  ist.  Für  die  künstlerische  Nachahmung  von  Handlungen,  wobei  Gelingen 
und  Fehlschlagen,  Glück  und  Unglück  der  Menschen,  kurz  ihre  Schicksale  vor  allem 
in  Betracht  kommen,  sind  nur  solche  Handlungen  geeignet,  die  auf  dem  Grunde 
der  ihnen  eigenen  Gesinnungs-  und  Denkweise  naturgemäss  erwachsen  sind,  und 
nur,  insofern  sie  auch  so  dargestellt  werden.  Daher  das  scharf  betonte  xaxd 
xavxaq. 

114)  Xsyo)  ydg  /zvd^ov  zovzov  zrjv  avvd-saiv  zcüv  ngay [xdzoDV.  Was 
für  eine  lahme  und  ungeschickte  Ausdrucksweise  mutet  man  dem  A.  zu,  wenn  er 
hier  zovzo  statt  zovzov  geschrieben  haben  sollte.  Eine  von  den  vielen  Verlegenheits- 
Konjekturen,  wie  die  Verlegenheit  auch  das  gradezu  unglaubliche  Permutationsspiel 
ersonnen  hat,  das  in  diesem  Abschnitt,  wie  in  so  manchen  andern,  mit  der  Stellung 
der  einzelnen  Sätze  getrieben  ist!  Das  zovzov  bedeutet,  nach  dem  allgemein  be- 
kannten Gebrauch  dieses  Pronomens,  so  viel  als  „hier",  ,,an  dieser  Stelle", 
„in  diesem  Sinne";  es  ist  die  Wendung,  durch  die  ein  Wort  abweichend  von 
seiner  weiteren  Bedeutung  im  Sprachgebrauch  zu  einem  terminus  technicus  ge- 
stempelt wird. 

115)  Öidvoiav  öe  iv  oaoiq  Xsyovzeq  dnoöeixvvaai  zi  ij  xal  dno^al- 
vovxaL  yvaifXTjv.  Einer  der  am  schwersten  verdächtigten  und  verfolgten  Sätze, 
während  doch  nichts  einfacher  sein  kann  als  sein  Inhalt !  A.  zeigt  an,  was  er  unter 
„Dianoia"  verstanden  wissen  will,  insofern  er  sie  als  einen  der  Bestandteile  be- 
trachtet, aus  denen  die  Komposition  der  Tragödie  sich  aufbaut  Wie  kann  das 
denn  überhaupt  anders  verstanden  werden,  als  dass  er  dabei  an  diejenigen  Stellen 
des  Dramas  denkt,  in  denen  der  Dichter  es  für  erforderlich  hält  und  halten  muss, 
seine  handelnden  Personen  nach  dieser  Seite  sich  äussern  zu  lassen,  von  dieser 


Zur  Lehre  des  Aristoteles  vom  Wesen  der  Kunst  und  der  Dichtung.       39 

wesentlichen  Seite  her  ihre  Handlungen  zu  begründen  und  zu  beleuchten.  Nur 
so  wird  doch  die  „Reflexion"  ein  Stück  seiner  Komposition,  fz 6 ^lov  r^g  zgaycp- 
dlagl  Und  wie  pflegen  denn  die  Personen  des  Dramas  ihre  Handlungsweise  von 
der  Seite  des  „Denkens"  her  zu  motivieren?  Einmal  indem  sie  sich  auf  all- 
gemeine Gründe  stützen,  wirklich  allgemeine  oder  vermeintliche,  und  dem- 
gemäss  in  Sentenzen  reden,  klar  erkannten  und  Wahrheit  enthaltenden  oder  irr- 
tümlich aufgefassten ,  gefärbten  oder  ganz  usurpierten:  sei  dem  nun,  wie  immer 
Charakter  und  Situation  das  mit  sich  bringen,  immer  wird  dabei  die  Form  des 
Beweis-  und  Schlussverfahrens  zur  Anwendung  kommen  —  dnodsixvvaai  ri.  Oder 
aber  es  handelt  sich  im  einzelnen  Falle  um  die  bestimmten  Gründe,  wodurch 
der  Handelnde  vor  dem  Hörer  sich  offenbart  nach  den  subjektiven  Ansichten, 
Meinungen,  Vorstellungen  über  die  Dinge,  die  ihn  beherrschen:  dnocpaivovrai 
yvojßrjv.  Beides  unterscheidet  scharf  alle  die  Stücke  der  Dichtung,  in  denen,  wie 
wir  zu  sagen  pflegen,  die  „Reflexion"  zur  Erscheinung  kommt  im  Gegensatz  zu 
Empfindung,  Leidenschaft,  Gemüt;  und  die  Einteilung  erschöpft  zugleich  den 
Begriff,  man  könnte  mit  aristotelischen  Worten  hinzufügen:  xal  nagä  zccvza  ovöiv. 

116)  TovTOig  f/.6V  ovv,  ovx  oXlyoig  ccvxwv  cog  olxeioig  xexQrivxat 
roXg  eiöeaiv.  Im  Text  steht  statt  mg  OLXsloig,  das  der  Verf.  zur  Heilung  der  völlig 
unverständlichen  Stelle  vorschlägt,  cog  elnsZv.  Die  Änderung  wäre  nur  eine  leichte, 
oLxeioig  für  dnelv ,  und  der  Schreibfehler  aus  der  Gewöhnlichkeit  der  Verbindung 
zu  erklären,  während  das  otxsloig  sich  dem  Verständnis  entzog.  Für  das  oklyoi 
des  Textes  wäre  ferner  olLyoig  zu  schreiben.  Alle  Heilungsversuche  gingen  darauf 
hin,  den  folgenden  Sinn  zu  konstruieren:  ,,dass  nicht  wenige  Tragödiendichter,  sondern 
alle  die  genannten  sechs  Bestandteile  zur  Anwendung  gebracht  haben".  Es  hat  aber 
erstlich  so  gut  wie  gar  keinen  Sinn,  einen  solchen  Satz  auszusprechen,  sodann  würde 
er  sich  an  das  Folgende  schlecht  oder  garnicht  anschliessen.  Anders,  wenn  man 
dem  obigen  Vorschlage  folgt.  Der  Hauptsatz  lautet:  zovroig  jxhv  ovv  xsxQ^vzai, 
„der  genannten  sechs  Bestandteile  der  Tragödie  bedient  man  sich";  dazu  nun  als 
Gegensatz :  ovx  oUyoi  avzwv  twg  slnelv  .  . .  zolg  EiötOLv.  Es  liegt  nahe,  das  öXlyoi 
als  dem  zovzoig  parallel  gehend  zu  fassen  und  also  oklyoig  zu  setzen:  „nicht  einer 
kleineren  Zahl  von  ihnen  für  die  Arten",  wobei  doch  nur  an  die  „Arten" 
von  Tragödien  gedacht  werden  kann.  Nun  ist  es  aber  bei  A.  stehender  Gebrauch, 
dass  er  das  die  öiacpogä  eiöonoiog,  den  artbildenden  Unterschied  ausmachende 
Attribut  als  zo  oixslov  z(ä  sl'ösl  bezeichnet;  in  dem  cog  sltislv  wäre  also  die  in 
dem  Satze  fehlende  Angabe  „(og  olxeloig^^  zu  finden.  Für  diesen  Gebrauch  von 
OLxelog  vgl.  Kapitel  24.  lAbQ^  26:  iv  6h  zy  inonoila  ötcc  zo  öifjyrjaiv  slvai  sozl  noV^ 
fJLsgri  a(JLa  noitlv  nsQaivofisva,  v(p*  (ov  olxsiwv  ovzcdv  av^szai  6  zov  noi^fxazog 
oyxog,  wo  das  olxeicüv  ovzcdv  ebenso  wie  in  der  Stelle  des  Kap.  6  die  (isqti  be- 
stimmt, als  dem  Gattungscharakter  der  Dichtung  zugehörig.  Der  Sinn  des 
Satzes  läge  dann  klar  zu  Tage,  zumal  für  uns  Neuere,  denen  grade  das  umge- 
kehrte Verhältnis  das  gewohnte  ist.  Denn  für  uns  liegt  doch  die  Sache  grade  so, 
wie  sie  A.  nicht  kannte  und  garnicht  statuiert  wissen  wollte:  dass  schon  das 
Metrum  gegenüber  der  ungebundenen  Rede  eine  besondere  Art  der  Tragödie  bildet, 
ferner  wieder  eine  ganz  andre  die  teilweise  oder  gar  die  durchgehende  Anwendung 
der  Musik,  ganz  zu  geschweigen  davon,  dass  wir  auch  „Buchdramen",  die  ohne 
szenische  Aufführung  gedacht  sind,  haben  und  „tragische  Monodramen"  ohne 
Handlung. 

Ihr  wichtigster  Bestandteil  aber  ist  der  Aufbau  der  Begebnisse ;  denn 
die  Tragödie  ist  die  Nachahmung  nicht  von  Menschen,  sondern  von  Hand- 
lung und  Leben;  auch  hängt  Glück  und  Unglück  vom  Handeln  ab,  und 


40  Hermann  Baumoabt 

das  letzte  Ziel"')  ist  die  That  und  nicht  die  Beschaffenheit  des  Wesens. 
Nun  prägt  sich  in  den  Charakteren''*)  der  Menschen  ihr  Wesen  aus,  aber 
nach  ihren  Handlungen  sind  sie  glücklich  oder  das  Gegenteil  So  lässt 
der  Dichter  sie  also  nicht  handeln,  um  ihre  Charaktere  nachahmend  vor- 
zuführen, sondern  um  ihrer  Handlungen  willen  zieht  er  in  seine  Nach- 
ahmung die  Charakterdarstellung  mit  hinein."")  Der  Endzweck,  auf  den 
die  Tragödie  sich  richtet,  ist  demnach  die  Darstellung  der  Begebnisse  und 
der  Fabel;  der  Endzweck  aber  ist  in  allen  Dingen  das  wichtigste.  Es 
dürfte  auch  eine  Tragödie  ohne  Handlung  nicht  denkbar  sein,  ohne  Cha- 
rakterdarstellung dagegen  ganz  wohl;  die  Tragödien  der  Mehrzahl  unter 
den  neueren  Dichtern  sind  ohne  Charakteristik,  und  überhaupt  giebt  es 
viele  derartige  Dichter,  gerade  wie  unter  den  Malern  Zeuxis  dasselbe  Ver- 
hältnis im  Vergleich  zum  Polygnot  zeigt.  Denn  Polygnot  ist  ein  guter 
Charaktermaler,  die  Malerei  des  Zeuxis  enthält  keinerlei  Charakteristik.**") 
Auch  möchte  jemand,  wenn  er  das  ganze  Stück  aus  einer  Folge  nach  Char 
rakteristik,  Diktion  und  Gedankengehalt  vortrefflich  gearbeiteter  Reden '^') 
bestehen  Hesse,  damit  die  Wirkung  der  Tragödie  wohl  noch*^^)  erreichen 
können,  bei  weitem  eher  aber  würde  eine  Tragödie  wirken,  die  in  allen 
diesen  Stücken  recht  mangelhaft  wäre,  aber  eine  Fabel  enthielte  und 
einen  Aufbau  von  Begebnissen.  Überdies  gehören  ja  auch  die  Partien 
der  Tragödie,  durch  die  sie  am  stärksten  ergreift,  der  Fabel  an:  es  sind 
die  Peripetien  und  Erkennungen.  Ein  weiteres  Zeichen  davon  ist,  dass 
die  Anfänger  in  der  Dichtung  es  eher  erreichen,  im  Ausdruck  und  in  der 
Charakteristik  das  Richtige  zu  treffen  als  in  dem  Aufbau  der  Handlung, 
wie  auch  die  frühesten  Dichter  fast  sämtlich.  Es  ist  also  die  Fabel  die 
Grundlage  und  gleichsam  die  Seele  der  Tragödie;  erst  in  zweiter  Linie 
stehen  die  Charaktere;  ganz  ähnlich'''^)  ist  es  ja  auch  in  der  Malerei: 
denn  wenn  ein  Künstler  unter  den  schönsten  Farben,  mit  denen  er  sein 
Bild'^*)  ausmalte,  die  Umrisse  verschwimmen'^^)  liesse,  so  würde  er  einen 
geringeren  künstlerischen  Genuss  erzielen  als  durch  eine  einfache  Zeich- 
nung; der  Gegenstand  der  Nachahmung  ist  die  Handlung  und  um  ihret- 
willen vornehmlich  sind  es  dann  die  handelnden  Personen." 

117)  rb  T€kog,  emphatisch  für  der  „Endzweck",  „der  letzte  Zweck".  Der 
Ausdruck :  zb  zeXog  n^ä^lg  tig  iatlv,  ov  noLoxTjg  ist  in  seiner  Kürze  und  schlagen- 
den Wahrheit  geradezu  klassisch  zu  nennen.  Goethe  sagt:  „Auch  in  Wissenschaften 
kann  man  eigentlich  nichts  wissen,  es  will  immer  gethan  sein." 

118)  Tcc  7J&r].  Wie  oben  bemerkt  (vgl.  Anmerk.  112)  ist  die  üebersetzung 
„Charaktere"  nur  in  dem  scharf  begrenzten  Sinne  von  „Empfindungs-  und  Ge- 
sinnungsweise" zu  verstehen.  Das  muss  gerade  an  Stellen,  wie  der  vorliegenden,  be- 
sonders betont  werden,  weil  unser  Sprachgebrauch  mit  dem  Worte  gern  die  gerade 
durch  die  Gewohnheit  des  Handelns  bekundete  Willensbeschaffenheit  bezeichnet. 
Freilich  handelt  es  sich  auch  dann  um  eine  noLoirig,  und  ein  anderes  Goethesches 


Zur  Lehre  des  Aristoteles  vom  Wesen  der  Kunst  und  der  Dichtung.       41 

Wort  sagt:  „Es  ist  nicht  genug  zu  wissen,  man  muss  auch  anwenden;  es  ist  nicht 
genug  zu  wollen,  man  muss  auch  thun." 

119)  avßTtsQLlafißccvovaiv.  Es  liegt  kein  Grund  vor,  weder  hier  noch  in 
der  Stelle  Rhet.  ad  AI.  1438*^26,  die  ausdrucksvollere  Komposition  mit  ns^l,  die  ein 
„Mitumfassen",  „Mithineinziehen"  bedeutet,  gegen  die  mit  na^d  zu  vertauschen, 
die  lediglich  ein  „Mithinzunehmen"  besagt. 

120)  Tj  ÖS  Zev^iöoq  yQa(pri  ovöhv  sx^i  ^S-og.  Es  können  nur  Gemälde 
der  Menschengestalt  gemeint  sein,  welche,  die  blossen  sinnlichen  Schönheiten  wieder- 
gebend, nichts  von  den  Anzeichen  (oijf^sloig)  enthalten,  welche  in  Antlitz  und  Körper- 
beschaffenheit und  Haltung  die  momentan  erscheinenden  oder  fest  gewordenen  Züge 
ausmachen,  in  denen  ein  irgendwie  bestimmtes  inneres  seelisches  Leben  erscheint. 
Also  ein  Musterbild  von  Schönheit  {nagdöeiyiÄa) ,  das  uns  aber  nichts  giebt 
als  die  Yereinigung  der  vollendetsten  Körperformen,  die  im  Leben  zu  finden  sind, 
das  aber  eben  durch  ihre  Vereinigung  über  das  Leben  hinausgehend  etwas  Höheres 
darstellt  (ßiXxiov).  Ein  Musterbild  also,  das  uns  von  seinem  Inneren  nichts 
sagt  und  nichts  sagen  kann,  eben  weil  es  ein  naQdöeiyfia  und,  mit  dem  vrirk- 
lichen  Leben  verglichen,  ein  dövvaxov  ist;  denn  das  Leben  müsste  den  Formen, 
indem  es  sie  nach  irgend  einer  Richtung  hin  zu  sprechenden  Zügen  bestimmt,  von 
ihrer  absoluten  Vollendung  und  Mustergiltigkeit  etwas  abgebrochen  haben.  So 
scheinen,  wenn  man  eine  kleine  und  naheliegende  Ergänzung  hinzufügt,  die  Worte 
zu  verstehen  zu  sein,  mit  denen  im  25.  Kapitel  A.  noch  einmal  die  Malerei  des 
Zeuxis  als  Beispiel  anführt.  Zu  dem  Satze :  „In  der  Dichtung  ist  ein  glaubwürdiges 
unmögliches  einem  unglaubwürdigen  Möglichen  vorzuziehen"  (vgl.  1461^11:  uQoq 
xe  yaQ  xrjv  nolrjoiv  olqsxüjxsqov  ni&avbv  dövvaxov  rj  dnt&avov  xal  övvaxov),  inso- 
fern nämlich  dadurch  ein  Höheres  —  ßsXxiov  —  erreicht  wird,  fügt  er  hinzu: 
dövvaxov  (dies  aus  dem  Schluss  des  vorangehenden  Satzes  ergänzt)  xoiovxovg  slvai 
olov  Zsv^ig  eyQa(pev,  dXXd  ßsXxiov  x6  yaQ  na^dösiy^a  öel  vnsQSx^iv.  „Es  ist 
eine  Unmöglichkeit,  dass  es  solche  Menschen  gebe,  wie  Zeuxis  zu  malen  pflegte, 
aber  sie  dient  einem  höheren  Zweck;  denn  das  Vorbildliche  soll  den  Vorrang  haben." 
(Das  olov  ist  nicht  in  o"ovg  zu  verändern,  denn  es  zielt  auf  dövvaxov,  wie  ßikxiov 
auf  beides.)  Aehnlich  also  hätte  man  sich  die  Tragödien  vorzustellen,  die  A.  dri^eig 
nennt;  also  Dichtungen,  in  denen  die  Menschen  paradigmatisch  handeln.  Es  ist 
offenbar,  dass,  was  in  der  Malerei  noch  seinen  grossen  Vorzug  behält,  weil  dort 
eine  vorgestellte  Handlung  und  sogar  innere  Bewegung  fortfallen  kann,  im  Drama 
zu  einem  sehr  schweren  Fehler  werden  muss,  so  dass  also  A.'s  oben  aufgestellter 
Satz,  das  „Ethos"  sei  ein  unentbehrlicher  Teil  einer  guten  Tragödie,  bestehen  bleibt. 
Von  modernen  Beispielen  könnte  man  an  die  sogenannte  klassische  Tragödie  der 
Franzosen,  namentlich  an  Corneilles  Märtyrertragödien,  denken  oder  auch  an  Klop- 
stocks  geistliche  Dramen  und  Bardiete  und  für  die  übrigen  Dichter,  von  denen  A. 
spricht,  z.  B.  an  Gessners  Idyllen  und  überhaupt  an  das  Pseudo-IdylL 

121)  Qriaeig  rj&ixdg  xal  U^eig  xal  öiavolag  sv  TcsTioirjfxivag.  Das  Attribut  ev 
nen.  gehört  zu  jedem  der  drei  Objekte. 

122)  Die  Verneinung  ov  steht  nicht  in  den  Handschriften,  sondern  ist  schon 
von  Aldus  hinzugefügt  und  kann  allerdings,  ohne  dem  Gedanken  eine  höchst  gezwungene 
und  kaum  annehmbare  Wendung  zu  verleihen ,  nicht  aufgegeben  werden,  wenn  der 
Nachsatz  seine  Form  behält.  Hier  aber  gerade  scheint  durch  eine  leichte  Aende- 
rung  sich  ein  Fehler  eingeschlichen  zu  habeo,  der  nicht  nur  in  dieser  Periode,  son- 
dern auch  im  Folgenden  Verwirrung  angerichtet  hat.  Der  Abschreiber  ist  auf  das 
idv  d'y  des  Bedingungssatzes  mit  dem  ihm  geläufigen  Futurum  Ttoiijaei  fortgefahren, 
während  A.  wohl  die  zweifelnde  Form  des  Optativs  gewählt  hatte.  Aus  dem  noi- 
t'josisv  dv  ist  dann  das  noiijaei  o  ^v  des  Textes  geworden.  Wenigstens  ergäbe 
jene  Form  des  Ausdruckes  einen  befriedigenden  Sinn,  ja  der  Gedanke  erhielte  hier 


42  Hbbmann  Baüugabt 

wie  im  Folgenden  dadurch  eine  bedeutende  Vertiefung  und  würde  so  erst  völlig 
verständlich.  Es  wäre  doch  eine  sinnlose  Annahme,  die  A.  gamicht  zum  Vergleich 
herangezogen  haben  kann,  dass  jemand  Reden  voll  feinen  ethischen  Gehaltes,  voll 
vortrefflicher  Gedanken  und  aller  Schönheit  des  Ausdruckes  aneinander  reihte, 
ohne  dass  sie  durch  einen  inneren  Handlungs- Zusammenhang  zu 
einer  Tragödie  verbunden  wären,  ohne  dass  sie  also  eben  durch  die 
rein  ethischen  Wandlungen,  die  sie  vorführten,  Furcht  und  Mitleid 
zu  erregen  geeignet  wären.  Nur  einen  solchen  Fall  kann  er  im  Auge  ge- 
habt haben,  also  eine  rein  ethische  Tragödie,  bei  der  die  äussere  Handlung 
sich  zu  einem  Minimum  verflüchtigt  und  der  Glücks  Wechsel  allein  aus  den  dar- 
gestellten ethischen  Veränderungen  hervorgeht.  Dafür  fehlt  uns  zwar  ein  antikes 
Beispiel,  die  Gattung  aber  wird  von  A.  charakterisiert,  und  uns  Neueren  liegt 
eine  Tragödie  vor,  auf  welche  die  aristotelischen  Sätze  bis  ins  Kleinste  zutreffend 
ihre  volle  Anwendung  finden:  Goethes  „Tasso"!  Von  einer  solchen  sagt  A.: 
„Man  könnte  damit  wohl  auch  noch  die  Aufgabe  der  Tragödie  erfüllen"  noi^aeiev 
av  TTJg  TQayipöiag  egyov.  Wie  sehr  aber  hat  er  recht  zu  behaupten,  dass  eine 
Tragödie,  die  ihre  ergreifende  Kraft  aus  dem  Aufbau  einer  durch  die  Macht  der 
Ereignisse  bewegenden  äusseren  Handlung  schöpft,  auch  wenn  sie  aller  Vorzüge 
entbehrt,  die  jene  auszeichnen,  dennoch  einer  bei  weitem  stärkeren  und  vor  allem 
allgemeineren  Wirkung  sicher  ist!  So  erst  wird  auch  das  Beispiel  aus  der  Malerei 
völlig  deutlich,  bei  dem  doch  ebenfalls  an  ein  Kunstwerk  zu  denken  ist,  nicht 
an  die  in  gleicher  Weise  unmögliche  Annahme  von  „planlos  aufgetragenen  schönen 
Farben"!  Zugleich  zeigt  sich  aber  auch,  dass  das  Beispiel  zu  dieser  Stelle  nicht 
passt,  sondern  im  Texte  an  seiner  rechten  Stelle  steht.  Das  Gleichnis  spricht  von 
einem  Bilde,  das  vorzüglich  durch  Farbenpracht  wirken  will,  bei  dem  daher  der 
durch  die  Zeichnung  bestimmte  Inhalt,  bis  zur  Gleicbgiltigkeit  und  Undeutlichkeit 
herabgedrückt,  vor  dem  koloristischen  Effekt  verschwindet.  Es  passt  daher  nur  zu 
der  Stelle,  wo  der  Text  es  bringt ;  nachdem  die  ganze  Erörterung  in  dem  Satze  zu- 
sammengefasst  ist:  die  Seele  der  Tragödie  ist  der  Mythos,  erst  den  zweiten  Rang 
nimmt  das  Ethos  ein,  heisst  es:  ebenso  steht  in  der  Malerei  die  Farbe  hinter 
der  Zeichnung  zurück. 

123)  Der  willkürliche  Zusatz  des  ov  in  dem  Anmerk.  122  behandelten  Satze 
hat  dann  die  meisten  Herausgeber  veranlasst,  da  das  Gleichnis  von  der  Malerei  dem 
so  gewendeten  Sinne  besser  zu  entsprechen  schien,  es  um  ein  paar  Sätze  weiter 
nach  oben  zu  rücken,  während  es  an  seiner  richtigen  Stelle,  wenn  man  den  voraus- 
gehenden Text  unverändert  lässt,  auf  das  genaueste  passend  sich  anschliesst. 

124)  el  yaQ  tig  ivaXeitpets  zolg  xccXXlaroig  ^aQfiäxoig  xv6riv ,  ovx 
av  ofiOLcog  exxpQavsiev  xal  XevxoyQacpriöag  slxöva.  Es  giebt  keinen  vor- 
stellbaren Sinn  für  das  Gleichnis  ab,  wenn  man,  wie  allgemein  geschieht,  das  Ver- 
bum  ivaXslxpeisv  als  intransitiv  auffasst.  Was  sollte  das  für  eine  Art  von  Malerei 
sein?  Es  hat  mit  Xevxoy^a(pTjaag  das  Objekt  sixova  gemein,  und  der  Nachdruck 
liegt  auf  x^^V^-  I^i®  schönsten  Farben  in  einem  Bilde,  wenn  sie  ineinanderfliessen 
und  nicht  vielmehr  dazu  dienen,  die  Contouren  desto  klarer  und  belebter  hervor- 
treten zu  lassen,  werden  von  der  einfachen  Zeichnung  weit  übertroffen.  Zur  näheren 
Erklärung  und  zur  Bestätigung  dürfte  die  folgende  Stelle  aus  n.  ^.  yev.  II  (vgl.  743*»  24) 
dienen:  anavxa  ös  zalg  n£QiyQa<paLg  ötogi^stcci  tcqoxsqov,  voxeqov  6e  XafjLßdvsi  za 
yQ(ü[xaza  xal  zag  fxakaxozjjzag  xal  zag  axXrjQOTtjzagj  dz£xv(^Q  waneg  av  vno  ?a»- 
yQacpov  zijg  (pvastog  örjfziovgyovfisva '  xal  yd^  ol  y^atpslg  vnoygdrpavzeg  zalgygafJL- 
(xalg  ovzmg  ivaksig}Ovai  zolg  xQ^ßf^^t-  "^o  t^wov. 

125)  Für  x^^^'^f  wörtlich  „im  Gusse  hingeschüttet",  scheint  in  diesem 
Zusammenhange  unser  „verschwommen"  die  treffende  Wiedergabe. 


I 


Zur  Lehre  des  Aristoteles  vom  Wesen  der  Kunst  und  der  Dichtung.       43 

„Der  dritte '^^)  Bestandteil  ist  die  „Reflexion":  sie  besteht  in  der 
Fähigkeit,  das  der  Situation  zu  Grunde  liegende  und  ihr  angemessene 
auszusprechen,  also  was  für  die  Kode  die  politische  Sachkunde  und  die 
Rhetorik  zu  leisten  hat;  denn  die  älteren  Dichter  Hessen  ihre  Personen 
sachlich  (in  der  Weise  des  Staatsmannes)  sprechen,  die  jetzigen  lassen 
sie  rhetorisch  reden.  Es  ist  aber  alles  das  zur  Charakter darstellung  zu 
rechnen,  was  die  Willensentscheidung  des  Redenden  darüber  klar  legt, 
wofür  er  unter  Verhältnissen,  in  denen  das  nicht  von  selbst  zu  Tage 
tritt,  sich  entscheidet  oder  was  er  verwirft^").  Deswegen  enthalten  alle 
diejenigen  Reden  nichts  Charakteristisches,  worin  es  sich  überhaupt  nicht 
um  Willensentscheidung  für  etwas  oder  gegen  etwas  handelt.  „Reflexion" 
aber  ist  die  Darlegung  einer  Sache,  wie  sie  ist  oder  nicht  ist,  und  über- 
haupt die  Äusserung  einer  Meinung.'^®)  Das  vierte  ist  der  Ausdruck  in 
Worten.  Wie  schon  gesagt,  verstehe  ich  darunter  die  Bekundung  mittelst 
der  Sprache,  deren  Wesen  in  der  gebundenen  Rede  dasselbe  ist  wie  in 
der  ungebundenen.  Von  dem  übrigen  ist  fünftens  ^^)  die  musikalische 
Komposition  der  wichtigste  Teil  des  künstlerischen  Schmuckes;  denn 
die  „szenische  Vorstellung"  ist  zwar  ergreifend,  sie  hat  aber  mit  dem 
Wesen  der  Kunst  am  wenigsten  zu  schaffen  und  fällt  garnicht  in  den 
Bereich  der  Poetik.  Denn  die^^°)  Wirkung  der  Tragödie  besteht  ja  doch 
ohne  Aufführung  und  Schauspieler;  auch  ist  für  die  Herstellung  der 
szenischen  Darstellungen  die  Kunst  des  Dekorateurs  wesentlicher  als  die 
des  Dichters." 

126)  TQLTov  6h  rj  öiccvoia.  Im  Vorangehenden  ist  von  den  beiden  wichtigsten 
Bestandteilen  der  Tragödie  zugleich  gehandelt,  von  Mythos  und  Ethos.  Daher 
steht  xQLzov  hier  mit  Recht,  ohne  dass  hier  eine  Lücke  anzunehmen  wäre;  wie 
auch  das  Folgende  ohne  dieses  hier  wieder  vielfach  in  Anwendung  gebrachte  Aus- 
kunftsmittel seinen  völlig  bündigen  Sinn  und  Zusammenhang  hat.  Dass  nun  von 
dem  „Ethos"  dennoch  sogleich  wieder  gesprochen  wird,  hat  seinen  guten  Grund 
darin,  dass  auf  keine  bessere  und  kürzere  Weise  die  klare  Ausscheidung  dessen, 
was  in  den  Reden  der  Handelnden  als  reine  „Reflexion"  zu  betrachten  ist,  be- 
wirkt werden  könnte. 

127)  eaxL  öh  ij&og  (jlbv  z6  xolovzov  o  ötjXoI  xriv  ngoalgeaiv,  bnold 
xiq  iv  olg  ovx  eoxi  öijlov  tJ'  TtQoaiQstxac  i]  (pevysi'  ötÖTisQOvxsxovaiv 
r,d-og  x(üv  X6yü)v  iv  olg  ^^rf'  6X(og  eaxiv  o  xi  ngoaiQslxai  i]  (pevysL 
6  kiycav.  Im  Texte  steht:  TiQoalQsaiv  ojio'la  xtg.  Ferner  fehlt  nach  dem  ersten 
(psvysL  die  Interpunktion,  und  am  Schlüsse  steht  o  xig  statt  o  xi.  Trotzdem  es  sich 
nur  um  die  Änderung  eines  Accentes  und  eines  xig  in  xi  handelte ,  erschien  die 
ganze  Periode  durch  die  falsche  Interpunktion  unverständlich,  so  dass  man,  um  sie 
zu  heilen,  zu  dem  bedenklichen  Mittel  der  Umstellung  geschritten  war,  indem  man 
dem  ersten  mit  iv  olg  beginnenden  Relativsatz  unmittelbar  vor  dem  zweiten  ebenso 
beginnenden  seine  Stelle  anwies  und  ihn  durch  ein  eingeschobenes  tj  mit  diesem 
verband.  Gegen  diese  angebliche  Sanierung  hat  Vahlen  (a.  a.  0.  S.  125)  durch 
die  angegebenen  leichten  Änderungen  mit  unzweifelhaftem  Recht  den  ursprünglichen 
Text  wieder  zu  Ehren  gebracht.    Das  Verhältnis  ist  hier  dasselbe  wie  an  so  vielen 


44  Hbbmann  Baumqabt 

Stellen:  der  möglichst  integer  erhaltene  Text  erschliesst  die  grössere  Feinheit  des 
Gedankens.  Es  handelt  sich  um  die  Definition  der  „Dianoia",  die  ausschliesslich 
in  den  Reden  —  Xöyoig  —  der  Handelnden  zur  Erscheinung  kommt.  Ein  Teil 
von  diesen  jedoch  ist  unter  den  Begriflf  des  „Ethos"  zu  subsumieren;  freilich 
zeigt  sich  das  „Ethos"  vorzüglich  im  Handeln,  in  dem  Entschluss  —  ngoaL- 
Qeaiq  —,  etwas  zu  erwählen  oder  etwas  zu  verwerfen.  Es  giebt  jedoch  in  der 
Tragödie  viele  Fälle,  in  denen  solche  „ethischen  Willensentscheidungen",  ohne  dass 
sie  durch  Handlungen  „an  den  Tag  gelegt  werden"  —  iv  olq  oix  lau  Sf^Xov  —, 
doch  in  solcher  Weise  an  den  Handelnden  herantreten,  dass  eine  Äusserung 
darüber  —  XöyoL  —  seinerseits  für  die  Handlung  höchst  wesentlich  ist.  Solche 
„Reden"  sind  ethisch,  und  nur  diejenigen  fallen  unter  den  Begriff  der  „Dianoia", 
in  denen  eine  Willensäusserung  für  etwas  oder  gegen  etwas  nicht  in  Betracht  kommt. 
—  Wie  scharf  und  klar  aber  A.  nun  von  den  „Ethos"  und  „Dianoia"  enthaltenden 
„Reden"  den  Begriff  der  ke^ig  —  der  „Diktion"  —als  eines  besonderen  Teiles 
der  Dichtung  unterscheidet,  ist  aus  dem  Schluss  des  Kapit.  24  (1460*»  3)  zu  ersehen: 
T^  6h  Xe^ei  ösl  öianoveZv  ^v  zotg  uQyolq  (xiQtaiv  xal  (xrixe  i^^ixolq  /^jjrf 
ÖKxvoTjTixolg'  anoxQvnxei  yaQ  naXiv  rj  liav  ?.af47iQa  ?.i^ig  tu  ze  ^&i] 
xal  rag  öiavo Lag. 

128)  Das  Erschöpfende  dieser  Definition  ist  schon  oben  (vgl.  Anmerk.  110  und 
115)  dargethan. 

129)  Der  Text  hat  nevre,  wofür  nach  vielfach  angenommener,  sicherlich 
richtiger  Vermutung  nsfimov  zu  setzen  ist.  Also:  zwv  öh  Xoitcwv  nifiTttov  jj 
HEkoTtoiLa  fxsyiazov  zmv  Tjövaßdzwv.  „Übrig"  sind  noch  die  beiden  Be- 
standteile: Musik  und  Szenerie,  die  gemeinschaftlich  kurz  abgehandelt  werden, 
so  dass  auch  hier  jede  Veranlassung  zu  Konjekturen  und  Interpolationen  wegfällt. 
Ganz  überflüssig  ist  es,  das  Sätzchen  über  die  Musik  aus  dem  aristotelischen  Frag- 
ment TtsQl  xwnwöiag  hier  einzuschieben.  Wie  er  es  schon  früher  angekündigt  hat, 
enthält  sich  A.  des  Eingehens  auf  diese  ausserhalb  der  eigentlichen  Poetik 
liegenden  Künste  grundsätzlich.  Er  begnügt  sich,  die  ungleich  höhere  Wichtigkeit 
des  musikalischen  Teiles  vor  dem  dekorativen  zu  konstatieren,  wodurch  der  üeber- 
gang  auf  diesen  letzteren  von  selbst  gegeben  ist. 

130)  Für  das  atg  der  Handschrift  Ac  ist  von  den  Herausgebern  mit  einer 
Anzahl  späterer  Hss.  ^  geschrieben,  wogegen  Vahlen  (a.  a.  0.  S.  128  ff.)  das  cJg 
yag  durch  eine  grosse  Zahl  von  Parallelstellen  siegreich  verteidigt. 

Kapitel  Yü. 

„Auf  Grund  dieser  Grenzbestimmungen  soll  nun  also  zunächst 
von  dem  Aufbau  der  Handlung  die  Rede  sein,  da  dies  für  die  Tragödie 
das  Erste  und  Wichtigste  ist.  Unser  Satz  war:  dass  die  Tragödie  die 
Nachahmung  einer  vollständigen  und  ein  Ganzes  bildenden  Handlung  ist, 
welche  ein  gewisses  Mass  von  Grösse  ^^')  besitzt.  Denn  der  Begriff  des 
Ganzen  bleibt  bestehen,  auch  wenn  es  keine  Grösse  hat*^-)  Ein  Ganzes 
nämlich  ist  dasjenige,  welches  einen  Anfang,  eine  Mitte  und  einen  Schluss 
hat.  Ein  Anfang  aber  ist,  was  für  sich  selbst  nicht  notwendig  auf  ein 
andres  folgt,  worauf  aber  ein  weiteres  naturgemäss  eintritt  oder  sich 
entwickelt;  im  Gegensatz  dazu  ist  ein  Schluss,  was  für  sich  selbst  natur- 
gemäss auf  ein  andres  folgt  entweder  mit  Notwendigkeit  oder  nach  der 


Zur  Lehre  des  Aristoteles  vom  Wesen  der  Kunst  und  der  Dichtung.        45 

Wahrscheinlichkeit,  worauf  aber  ein  andres  weiter  nicht  erfolgt;  die  Mitte 
endlich  ist,  was  sowohl  für  sich  selbst  auf  ein  andres  folgt  als  auch  ein 
weiteres  im  Gefolge  hat."^)  Demgemäss  ist  es  keineswegs  in  das  Be- 
lieben gestellt,  wo  eine  gut  eingerichtete  Fabel  zu  beginnen  hat  oder  wo 
sie  ihren  Abschluss  finden  muss,  sondern  es  sind  die  angegebenen  Regeln 
dabei  zu  beobachten." 

„Nun  muss  aber  das  Schöne,  sei  es  ein  Bild'^)  oder  überhaupt  ein 
jedes  Ding,  das  aus  mehreren  Teilen  besteht,  nicht  allein  dieselben  in 
gesetzmässiger  Anordnung  enthalten,  sondern  es  muss  auch  die  Eigenschaft 
der  Grösse  besitzen  und  zwar  keineswegs  in  beliebigem  Grade.  Denn 
zum  Schönen  gehört  Grösse  und  Ordnung  ^^'^) ;  deshalb  würde  weder  ein 
sehr  kleines '^^)  Bild  schön  sein  können  —  denn  die  Betrachtung  fliesst 
in  eins  zusammen,  wenn  sie  sich  der  Grenze  des  Zeitmoments  *^'')  nähert, 
wo  die  bewusste  Wahrnehmung  aufhört;  noch  ein  übergrosses  —  denn 
hier  erfolgt  die  Anschauung  nicht  auf  einmal,  sondern  es  trennt  sich  für 
den  Betrachtenden  das  Einzelne  von  dem  Ganzen  in  seiner  Anschauung, 
wie  wenn  es  ein  Bild  von  zehntausend  Stadien  gäbe.  Wie  man  also  bei 
Körpern  und  ebenso  bei  Bildern ^^^)  Grösse  verlangt,  doch  so,  dass  sie 
völlig  übersichtlich  bleiben,  so  verlangt  man  von  den  tragischen  Fabeln 
ausgedehnten  Umfang *^^),  doch  so,  dass  leichte  Fasslichkeit  damit  ver- 
bunden sei.  Eine  Grenzbestimmung  des  Umfanges  für  die  Beurteilung  *^°) 
bei  den  Wettkämpfen  und  seitens  der  Zuschauer  ^^0  kann  aber  von  der 
Theorie  nicht  gegeben  werden,  denn  sonst  würde  man,  wenn  etwa  ein 
Wettkampf  unter  hundert  Tragödien  nötig  würde,  sie  wohl  nach  der  Wasser- 
uhr um  den  Preis  streiten  lassen  müssen,  wie  das  anderswo  ja  auch  wohl 
geschehen  soll.  Die  in  der  Natur  der  Sache  selbst  liegende  Grenze  ist 
diese:  die  umfangreichere  Fabel  ist  immer,  soweit  sie  deutlich  ist,  hin- 
sichtlich der  Grösse  die  schönere,  und,  um  ein  allgemeines  Gesetz  auf- 
zustellen^"^): bei  welcher  Grösse  der  Fabel  der  Wahrscheinlichkeit  oder 
der  Notwendigkeit  gemäss  in  der  Reihenfolge  der  Begebenheiten  ein  Um- 
schwung zum  Glück  aus  dem  Unglück  oder  aus  dem  Glück  in  Unglück 
zum  Vollzug  gelangt,  da  ist  das  richtige  Mass  der  Grösse  vorhanden."  ^*^) 

131)  SxovoTjg  XL  fxeys&og-  Das  Wort  (dye^oq  bedeutet  Grösse,  und  n 
fiiys^og  „ein  gewisses  Mass  von  Grösse";  es  kann  aber  nun  und  nimmermehr 
bedeuten:  „eine  gewisse  Ausdehnung'^,  wie  seltsamerweise  allgemein  angenommen 
wird.  „Grösse"  ist  ein  relativer  Begriff  und  bezeichnet  zwar  immer  eine  Aus- 
dehnung, aber  im  Griechischen  wie  im  Deutschen  und  überall  immer  nur  diej  enige , 
welche  dem  Gegenstande  innerhalb  seiner  Gattung  den  Anspruch  auf 
[besondere  Bedeutung  und  Beachtung  verleiht.  Sie  erhält  also  ihr  Mass 
[auf  das  bestimmteste  durch  die  Eigenschaften  der  Gattung  und  wird  allemal  von 
ler  durchschnittlichen  Ausdehnung,  welche  diese  vorschreiben,  bis  zu  der  äussersten, 
lie  sie  zulassen,  gefunden  werden.    Der  Satz,  dass  ein  Ding  eine  „gewisse  Aus- 


46  Hebmann  Badugabt 

dehnung"  haben  müsse,  ist  eine  Plattheit,  die  man  niemandem  zutrauen  sollte,  am 
allerwenigsten  aber  einem  A.  1  Was  er  sagt,  ist,  die  Tragödie  müsse  eine  bedeutende 
Ausdehnung  haben;  eine  solche  aber  nennen  wir  „Grösse",  wie  er  sie  (xtyt^oq 
nennt.  Das  Wort,  das  die  Ausdehnung  ohne  jene  Relation  auf  die  Gattungseigen- 
schaften bezeichnet,  ist  im  Griechischen  fxrjxoQ  und  im  Deutschen  „Länge"  oder 
„Umfang".  Die  Argumentation  des  ganzen  Kapitels  geht  darauf  hinaus,  für  die 
Tragödie  denjenigen  Umfang  —  fxr^xog  —  zu  bestimmen,  der  ihr  Anspruch  auf 
Bedeutung  verleiht,  also  dasjenige  /atjxoq,  das  für  sie  ßeys^oq  ist,  welches 
letztere  daher  zu  ihren  wesentlichen  Attributen  gehört.  Höchst  folgerichtig 
entwickelt  er,  dass  eine  allgemeine  Vorschrift  darüber,  welches  dieses  fitixoq  sei, 
von  der  Theorie  nicht  gegeben  werden  könne,  eben  weil  es  in  jedem  Falle  von  der 
inneren  Beschaffenheit  der  tragischen  Fabel  abhängt.  Aber  wer  sähe  nicht, 
dass  grade  hierin  die  Begründung  dafür  liegt,  dass  das  /nsye^og  —  die  „Grösse" 
—  als  eine  Wesenseigenschaft  der  Tragödie  verlangt  wird  I  Der  Inhalt  ihrer  Handlung 
ist,  kurz  gesagt,  ein  Schicksalswechsel;  je  bedeutender,  wichtiger  und  darum 
in  jeder  Hinsicht  ergreifender  ein  solcher  ist,  desto  mehr  Umfang  —  fjtijxog  — 
wird  er  erfordern,  und  die  Tragödie,  die  hierin  bis  an  die  äusserste  Grenze  des  ihr 
Erlaubten  geht,  wird  die  beste  und  schönste  sein. 

132)  sazL  yccQ  SXov  xal  firjöhv  b^ov  /xeye&og.  Zu  welchem  Widersinn 
die  im  Obigen  widerlegte  Auffassung  führt,  zeigt  die  ebenfalls  allgemein  acceptierte 
Übersetzung  dieser  Worte:  „denn  es  giebt  auch  ein  Ganzes  ohne  bestimmte 
Ausdehnung".  Eine  logische  Ungeheuerlichkeit,  wenn  es  je  eine  gegeben  hat. 
Ein  Haufe,  eine  Masse,  eine  Menge  kann  niemals  ein  „Ganzes"  bilden,  und  auch 
bei  Stoff-  und  Sammelnamen,  bei  denen  die  Kategorie  der  Quantität  allerdings  un- 
bestimmt ist,  kann  der  Begriff  des  „Ganzen"  erst  dann  in  Betracht  kommen,  wenn 
im  einzelnen  Falle  die  Quantität  für  sie  eben  schon  genau  bestimmt  ist.  So 
kann  bei  „Wald",  „Heer",  „Volk",  „Stadt"  an  sich  von  einem  „Ganzen"  nicht 
die  Rede  sein,  sondern  nur  bei  „dem"  Walde,  eben  dem  bestimmt  begrenzten, 
bei  dem  Volke,  dem  Heer,  der  Stadt.  So  gefasst  unterliegen  auch  diese  Begriffe 
der  Schätzung  nach  dem  Massstabe  der  „Grösse".  Ein  „Ganzes"  aber  „ohne  be- 
stimmte Ausdehnung"  ist  eine  contradictio  in  adjecto,  ein  logischer  Nonsens. 

133)  Die  hier  gegebenen  Definitionen  des  „Ganzen",  ferner  die  Begriffe  des 
„Anfanges",  „Endes",  der  „Mitte"  könnten  auf  den  ersten  Blick  als  überflüssig  und 
allzu  selbstverständlich  erscheinen.  Der  genaueren  Prüfung  stellen  sie  sich  nicht 
nur  in  ihrer  logischen  Schärfe  dar,  sondern  auch  in  ihrer  überaus  grossen  Frucht- 
barkeit, besonders  für  die  Komposition  der  dramatischen  Fabel,  sowohl  was  die 
Wahl  als  was  die  Behandlung  des  Stoffes  anbetrifft.  Für  die  Auswahl  des  tragischen 
Stoffes  wird  immer  das  Moment  des  Glückswechsels  entscheidend  sein,  sei  es  nun 
ein  als  wirklich  überlieferter  oder  ein  erdichteter.  Für  den  von  diesem  Mittelpunkt 
aus  rückwärts  und  vorwärts  Schauenden  dürfte  es  nun  nur  eines  einzigen  Blickes 
bedürfen,  um  über  die  Brauchbarkeit  eines  Stoffes  für  die  Tragödie  zu  entscheiden, 
wenn  er  sich  dabei  genau  nach  den  obigen  aristotelischen  Distinktionen  orientiert. 
Aus  der  Labdakiden-Sage  lässt  sich  z.  B.  die  zu  dem  Schicksal  Antigenes  gehörende 
Handlung  als  ein  „Ganzes"  leicht  herausschneiden.  Mit  dem  Bestattungsverbot  ist 
ihr  „Anfang"  gegeben,  das  „Ende"  bildet  nicht  Antigenes  Tod,  sondern  der  Tod 
Hämons  und  der  Eurydike,  als  dessen  unmittelbare  Folgen,  und  Kreons  Jammer; 
was  darüber  hinaus  liegt,  also  was  aus  Kreon  fernerhin  wird,  gehört  nicht  zu  dem 
„Ganzen"  dieser  Handlung.  Man  sieht  an  jedem  einzelnen  Beispiele,  dass  jene 
Definitionen  von  Anfang  und  Ende,  da  im  Grunde  doch  alles  mit  allem  zusammen- 
hängt, doch  immer  nur  als  von  dem  Kerne  der  das  „Ganze"  bildenden  Handlung 
aus  bestimmt  ihre  Geltung  haben.  Derselbe  Nachweis  wie  an  der  Antigonesage 
lässt  sich  am  Agamemnon,  an  der  Orestie,  an  der  Iphigeniensage ,  am  Ajas  führen. 


Zur  Lehre  des  Aristoteles  vom  Wesen  der  Kunst  und  der  Dichtung.       47 

Ebenso  springt  es  sofort  ins  Auge,  dass  die  Rüdiger- Episode  aus  den  Nibelungen 
sich  der  dramatischen  Behandlung  durchaus  entzieht;  denn  sie  ist  in  ihrem  Anfang 
und  Ende  so  fest  und  innig  mit  dem  Organismus  des  gesamten  Epos  verwachsen, 
dass  sie  nicht  daraus  abgelöst  werden  kann,  ohne  dass  dessen  Handlung  ihrem 
wesentlichsten  Gehalte  nach  mit  hinüber  genommen  wtlrde.  Umgekehrt  steht  es 
mit  der  Philoktetes-Sage ,  einem  Beispiel,  an  dem  sich  die  Fruchtbarkeit  der  ari- 
stotelischen Definitionen  nach  einer  andern  Seite  erweist.  Diese  Handlung  sondert 
sich  leicht  und  vollständig  aus  dem  epischen  Cyklus  ab ;  aber  bei  aller  ergreifenden 
Kraft  des  darin  enthaltenen  Schicksalswechels  würde  der  Körper  dieser  Handlung 
ausser  in  den  Händen  eines  Genies  sich  für  die  tragische  Gestaltung  als  zu 
schmal  und  dürftig  erweisen.  Sophokles  Hess  den  Kern  der  Handlung,  die 
[xeraßoXri  ix  övoTvyJag  eiq  svtvxiccv ,  sich  in  dem  Innersten  der  Seele  des  Helden 
entwickeln,  er  legte  ihn  in  die  Entscheidung  des  dort  tobenden  Kampfes.  So 
bringt  der  deus  ex  machina  nur  symbolisch  die  Vollendung  der  dort  im  Grunde 
schon  vollzogenen  Umwandlung.  Von  diesem  Gesichtspunkte  aus  sind  „Anfang", 
.jMitte"  und  „Ende"  ermessen  und  erfunden;  denn  es  galt  den  Verlauf  dieses 
Kampfes  zu  exponieren,  durchzuführen  und  zum  Abschluss  zubringen,  was  „gross- 
artiger" nicht  geschehen  konnte  als  durch  die  Neoptolemus-Aktion  und  ihre 
„notwendige"  Wirkung  auf  den  Helden.  Hierdurch  erhält  die  Tragödie  nicht 
allein  den  vollen  Umfang  —  fifjxog  —  eines  rechten  Kunstwerks,  sondern  eben  da- 
mit ihre  „Grösse"  —  fÄsysd-og  —,  Es  zeigt  sich,  wie  eng  die  Begriffe  der  „Ganz- 
heit" und  „Grösse'*  mit  einander  verbunden  sind;  in  diese  engste  Verbindung  treten 
ebenso  noch  die  Begriffe  der  „Einheit"  und  „Vollständigkeit"  ein.  Ein 
modernes  Beispiel,  wie  eine  an  sich  dürftige  Handlung  durch  Erhebung  ihres  inneren 
Gehaltes  zu  einem  „Ganzen",  das  in  seinem  Anfang  und  Ende  und  seiner  mittleren 
dazwischenliegenden  Entwickelung  sich  vor  uns  entrollt,  sogleich  auch  mit  der  da- 
durch gewonnenen  Fülle  die  hohe  Bedeutung,  die  künstlerische  „Grösse"  gewinnt, 
bietet  Goethes  „Tasso".  —  Mit  einem  Worte,  es  liegt  in  jenen  Definitionen  die 
Kraft,  sowohl  der  Überfülle  des  Stoffes  zu  wehren,  mit  untrüglichem  Urteil  die  be- 
lastenden Nebenhandlungen  auszusondern,  die  störenden  Episoden  wegzuschneiden, 
als  auch,  was  Lessing  in  einer  bekannten  Bemerkung  als  das  eigentliche  Werk  des 
Genius  bezeichnet,  das  kahle  Skelett  eines  schicksalentscheidenden  Faktums  durch 
die  Bekleidung  mit  Sehnen  und  Muskeln,  Adern  und  Nerven  zum  blühenden  Körper 
zu  gestalten. 

134)  t,(i)ov.  Das  Wort  ist  hier  und  im  Folgenden,  wie  der  Zusammenhang 
zeigt,  durchaus  in  dem  Sinne  von  „Bild"  zu  verstehen.  Es  scheint  von  A.  des- 
halb gewählt  zu  sein,  weil  es  sich  hier  durchweg  ganz  absolut  um  den  Begriff 
eines  Bildes  handelt,  während  sich  mit  elxcov  notwendig  die  Beziehung  auf  den 
„abgebildeten"  Gegenstand  verbindet,  besonders  die  Vorstellung  einer  dargestellten 
Menschengestalt,  was  hier  grade  vermieden  werden  soll. 

135)  To  yccQ  xaXov  iv  fieys&ei  xal  xd^ei  iaxlv.  Ein  aristotelischer 
Text  kann,  wie  die  Stelle  zeigt,  nicht  genau  genug  übersetzt  werden.  Es  würde 
grundfalsch  sein  hier  zu  sagen:  „Das  Schöne  liegt  in  Grösse  und  Ordnung"  oder 
etwas  dem  Ähnliches,  was  im  Deutschen  gamicht  anders  verstanden  werden  kann, 
als  ob  damit  eine  Wesens-Definition  gegeben  sein  soll.  Eine  solche  —  ogog  rijg 
ovaiag  -  hat  bei  A.  immer  die  strenge  Form,  dass  zu  dem  Subjekt  der  Prädikats- 
nominativ hinzutritt.  Auch  die  obige  Form  —  iaxlv  iv  —  hi  bei  ihm  häufig, 
aber  in  einem  Sinne,  den  man  sich  am  besten  räumlich  vorstellt  und  zwar  so,  dass 
das  Gebiet  des  einen  Begriffs  in  das  des  andern  hineinreicht,  und  sie  also  wechsel- 
seitig an  einander  Anteil  haben.  So  ist  hier  das  Verhältnis  des  xaXov  zu  den 
beiden  Begriffen  des  fiaye&og  und  der  za^ig  also  dieses:  dass  das  Schöne  wesent- 
liche Eigenschaften  besitzt,  die  in  dem  Gebiete  des  einen  und  des  andern  jener 


48  Hebmann  Bäümgabt 

beiden  gelegen  sind,  die  innerhalb  jener  Gebiete  also  zu  ihm  gehören.  Höchst  not- 
wendig, ja  ganz  unumgänglich  ist  es  aber,  dass  der  Anschein  vermieden  wird,  als 
sollte  gesagt  sein,  das  Gebiet  des  Schönen  fällt  mit  jenen  beiden  andern  zu- 
sammen, ist  mit  ihnen  identisch,  was  nur  so  ausgesprochen  werden  darf, 
um  in  seinem  Widersinn  zu  erscheinen.  Das  Geforderte  dürfte  kaum  durch  eine 
andre  Wiedergabe  geleistet  werden,  als  durch  die  oben  vorgeschlagene:  „Zum 
Schönen  gehört  Grösse  und  Ordnung".  —  Sehr  auffallend  wird  das  Gesagte 
durch  Aussprüche  des  A.  an  andern  Stellen  bestätigt,  in  denen  der  Gedanke  in 
ähnlicher  Gestalt  wiederkehrt.  So  in  der  Politik  (VIII,  4),  wo  von  der  Grösse  die 
Rede  ist,  die  für  einen  Staat  das  Maximum  seines  Wachstums  darstellen  solle. 
Ordnung  und  üebersichtlichkeit,  wie  sie  in  einem  gesetzmässig  eingerichteten,  in 
seiner  Kraft  sich  sicher  und  selbständig  und  frei  bewegenden  Organismus  herrschen 
müssten,  seien  mit  allzugrosser  Ausdehnung  der  Volkszahl  nicht  verträglich.  Es 
gebe  auch  für  die  Staaten  daher  ein,  gleichsam  durch  göttliches  Walten  bestimmtes, 
unüberschreitbares  Mass  der  Grösse,  wenn  er  ein  xa?.6v  sein  sollte,  „eine  rechte 
und  gute,  Gott  und  Menschen  wohlgefällige  Institution":  rd  ye  xa).ov  Sv 
nXrjQ-€L  xal  fiey^d-si  eicoB-s  ylveali-ai  (vgl.  1326*33).  Also:  „da,  wo  Fülle 
und  Grösse  ist,  entsteht  das  Kalon",  sie  gehören  zu  seinem  Entstehen,  und  zwar 
in  einem  ganz  bestimmten  Masse,  das  aus  der  Natur  des  Gegenstandes  sich  ergiebt.  — 
Ähnlich  heisst  es  in  der  Nikom.  Ethik  (vgl.  1123'»  6)  zu  dem  Satze:  iv  fieyi^si  yccQ 
1]  fisyaXoipvxlcc  vergleichsweise:  waneg  xal  to  xd'/loq  iv  fisyd?.^  acifiari:  „die 
Schönheit  ist  in  einem  grossen  Körper",  was  wieder  deutsch  nur  so  ausgedrückt 
werden  kann:  „Zur  Schönheit  gehört  ein  grosser  Körper".  —  Die  Ansicht  des  A. 
über  den  Gegenstand  giebt  die  bekannte  Stelle  der  Metaphysik  (vgl.  XII,  3.  1078«  36) 
gradehin,  wo  zum  Erweis  der  Behauptung,  dass  auch  für  die  Erkenntnis  des  Guten 
und  des  Schönen  aus  den  mathematischen  Wissenschaften  sehr  wesentliche  Lehren 
abzuleiten  seien,  der  Satz  steht:  zov  Sh  xaXov  ßkyiora  sl'öij  zd^tg  xal  av/x- 
fjLexQLa  xal  x6  wqlohsvov.  Was  doch  nur  heissen  kann :  „Zu  dem  Gattungs- 
begriff des  Schönen  gehören  als  höchst  wichtige  Artbegriffe  die 
Begriffe  der  Ordnung,  der  Symmetrie  und  des  Masses.  Die  Beweise  für 
diese  Sätze  nimmt  A.  lediglich  aus  der  Erfahrung.  Zum  Gattungsbegriff  des  Schönen 
gehört  zweierlei:  dass  es  erstlich  seinem  Inhalte  nach  gut  und  recht  ^qi  —  uya^6v\ 
und  dass  es  der  sinnlichen  Wahrnehmung  (rj;  alaS-ijaeL)  sich  darbietend  im  Gemüt 
die  Freude  hervorbringe  —  dass  es  rjöv  sei.  Die  Freude  —  rjöovi^  —  aber  entsteht 
in  uns  als  die  Begleiterscheinung  der  auf  richtige  Ziele  gelenkten  Bethätigung; 
sie  ist  um  so  grösser,  je  höher  geartet  diese  Ziele  sind  und  je  mehr  sie  mit  dem 
Gesetz  unserer  Natur  in  Übereinstimmung  stehen.  Alle  Erfahrung  aber  bestätigt, 
dass  das  Geordnete  unsrer  Natur  gemässer  ist  als  das  Ungeordnete;  Gesetz  und 
Regel  selbst  wirken  daher,  sinnlich  wahrgenommen,  schon  erfreulich.  Darin  liegt 
das  Geheimnis  der  mächtigen  Wirkungen  des  „Rhythmus",  der  „Symmetrie",  der 
„Symphonia",  d.  i.  des  „Zusammenklanges  von  Tönen"  (also  was  wir  „akkordische 
Harmonie"  nennen).  Bei  allen  Verrichtungen  lieben  wir  sie,  die  Arbeit  wird  uns 
dadurch  leichter,  die  Kraft  wird  durch  sie  nicht  nur  erhalten,  sondern  sogar  ge- 
mehrt. So  heisst  es  in  den  Probl.  XIX,  38  (vgl.  920^33):  ^v&fx(p  6h  -/(^iQOfiev  öid 
zo  yvioQLfjLOv  xal  zszayfisvov  dgiO-fiöv  ejjffv,  xal  xivslv  ^fiäg  zszayfiivcag'  olxeiozsga 
ydg  Tj  z€zayfi£vr]  xlvrjaig  (pvasL  zfjg  dzdxzov,  aiazs  xal  xazd  (pvaiv  ixäkXov.  atjfislov 
ÖS'  novovvzeg  ydg  xal  nivovzsg  xal  iaS^lovzsg  zezayfieva  aiot^ofiev  xal  av^ofiev  zrjv 
fpvOLV  xal  zr^v  övvafjiiv,  dzaxra  öh  (pS^slQOfiev  xal  i^iazafisv  cruz^v  . .  .  avfiqxovia 
6s  xalgoiisv,  ort  xQaaig  iari  Xoyov  iyovxiov  ngog  aXX?]Xa.  6  fihv  ovv  Xoyog  rd^cg, 
o  i^v  (fvasL  Tj6v.  —  Ebenso  liegt  es  erfahrungsgemäss  in  unsrer  Natur,  dass  ein 
Gegenstand  unser  Wohlgefallen  dadurch  erregt,  dass  er  über  das  seiner  Gattung 
zukommende  Mittelmass  hinausgeht;  ebenso  dass  es  dafür  eine  natürliche  und  not- 


Zur  Lehre  des  Aristoteles  vom  Wesen  der  Kunst  und  der  Dichtung.       49 

wendige  Grenze  —  aj^tafxbvov  —  giebt.  —  „Ordnung"  und  „Grösse"  sind  also 
nach  A.  Artbegriffe,  die  dem  Gattungsbegriff  des  „Schönen"  inhärieren,  ohne 
dass  er  etwa  das  Wesen  desselben  erschöpfend  bezeichnet  zu  haben  meinte. 

136)  Im  Texte  steht  näv  (itxgöv  und  näv  fxsysS-og,  was  wohl  unzweifelhaft 
richtig  in  näixßixQOv  und  naßfxsysS^sg  geändert  ist. 

137)  ovyxslzai  yccQ  ri  &sa)Ql<x  iyyvg  r ov  dvcciad-tjrov  XQOt'ov.  Mit 
Unrecht  wird  hier  xQo^ov  emendiert  oder  gestrichen.  Es  ist  eine  ganz  zutreffende 
Vorstellung,  dass  der  Akt  der  Betrachtung,  obwohl  wir  uns  dessen  umsoweniger  be- 
wusst  werden,  je  mehr  uns  der  Anblick  gefangen  nimmt,  eine  gewisse  Zeit  erfordert, 
und  zwar  um  so  grössere  grade,  je  mehr  wir  uns  gefesselt  fühlen.  Eine  minimale 
Erscheinung  aber  übersehen  wir  in  so  geringer  Zeit,  dass  ein  Unterscheiden  des 
Einzelnen,  worauf  alles  ankommt  und  wodurch  eben  eine  Reihe  von  Zeit- 
momenten erfordert  wird,  aufhören  muss.  Also  wörtlich:  „auf  nahezu  unmerk- 
bare Zeit  eingeschränkt  fliesst  die  Betrachtung  in  eins  zusammen". 

138)  inl  zcöv  aojfjLurcüv  xal  inl  zwv  i^ojcdv.  Dadurch,  dass  (^ißov  in  der 
Bedeutung  „Bild"  genommen  wird,  fällt  der  Anlass  zu  der  Änderung  von  acoßdrcov 
in  ox^ßccTcov  fort.  Es  werden  völlig  konsequent  organische  Körper  mit  Werken  der 
bildenden  Kunst  in  Parallele  gestellt.  — 

139)  fXTJxog.  Es  lässt  sich  in  der  Übersetzung  der  Ausdruck  „Länge"  nicht 
gut  wählen,  da  gerade  in  der  Anwendung  auf  dichterische  Produktionen  der  Sprach- 
gebrauch ihm  die  Nebenbedeutung  des  Tadels  angeheftet  hat.  Daher  ist  die  Um- 
schreibung „ausgedehnter  Umfang"  vorzuziehen. 

140)  TCQog  zovg  dywvag.  Auf  den  Gesichtspunkt  der  „Beurteilung" 
kommt  es  hier  allein  an.  Der  griechische  Ausdruck  enthält  ihn  implicite,  im  Deut- 
schen muss  er  also  entsprechend  ergänzt  werden. 

141)  xal  TtQog  zrjv  ai'ad-rjaiv.  Es  gilt  hier  dasselbe  für  den  Standpunkt  des 
Zuschauers  wie  bei  den  „Agones"  für  den  der  Preisrichter.  Daher  die  im  Aus- 
druck vom  Texte  abweichende  Wiedergabe. 

142)  (og  ÖS  an  1(5 g  ÖLOQiaavzag  einslv.  Das  Verbum  öiOQtt^siv  ist  der 
eigentliche  Ausdruck  für  die  Begriffsbestimmung;  anliäg  bedeutet,  dass  diese  Be- 
stimmung hier  eine  absolute,  allgemein  gültige  sein  soll. 

143)  ^v  oa(p  fieysd^EL .  .  .  .,  Ixavog  ogog  iazl  zov  fieysS^ovg.  Vielleicht 
hat  die  Fassung  dieses  „allgemeinen  Gesetzes"  mit  am  meisten  dazu  beigetragen,  bei 
den  Auslegern  den  inhaltsvollen  Begriff  des  „ßsyed-og"'  zu  dem  nichtssagenden  „eine 
gewisse  Ausdehnung"  zu  verflüchtigen.  Der  beste  Teil  seines  Sinnes  wird  damit  wieder 
erstickt.  „Grösse"  ist  die  unentbehrliche  Wesenseigenschaft  der  Tragödie.  Das 
einfach  für  sich  dastehende  Faktum  des  Glückswechsels  erhält  sie,  indem  der  Dichter 
es  aus  dem  Aufbau  der  i<p8§TJg  yiyvofisvcov  hervorgehen  lässt  [avixßalveiv)  und 
zwar  xaza  zo  elxbg  rj  zo  dvuyxaZov,  also  durch  die  Vollständigkeit  der  äusseren 
und  inneren  Motivierung.  So  erst  gewinnt  es  die  volle  und  ergreifende,  die  allgemeine, 
die  grosse  Bedeutung.  Umgekehrt  setzt  jene  allgemeine  Bestimmung  die  Grenze  den 
an  sich  übergrossen,  allzu  weitgreifend  wichtigen  Stoffen  gegenüber,  z.  B.  bei  den 
historischen  Sujets,  man  denke  an  die  „Perser",  an  „Wallenstein"  und  ähnliches: 
hier  beschränkt  das  aristotelische  Gesetz  den  Tragödienstoff  eben  auf  das  Moment 
des  Glückswechsels,  dem  allein  der  Aufbau  der  Begebenheiten  zu  dienen  hat. 

Kapitel  Vm. 

„Einheitlich  aher  ist  eine  Fabel  nicht,  wie  man  meint,  wenn  sie  von 
einer  Person  handelt;  denn  gross  und  der  Art  nach  unendhch  mannig- 
faltig ist  die  Menge  der  zusammentreffenden  Ereignisse^ ^^),  und  eine  Einzel- 


50  Hbbmamn  Bauhoabt 

gruppe  daraus  ist  keine  Einheit •'").  Ebenso"*')  sind  auch  die  Handlungen 
des  einen  Einzigen  eine  Vielheit,  aus  der  sich  keineswegs  eine  einzige 
Handlung  gestaltet.  Deshalb  sind  augenscheinlich  '*')  alle  die  Dichter,  die 
eine  „Herakleis"  oder  „Theseis"  oder  dergleichen  Gedichte  gemacht  haben, 
in  die  Irre  gegangen :  sie  meinen,  weil  Herakles  ein  einzelner  war,  so  folge 
daraus,  dass  auch  der  Mythos  von  ihm  eine  Einheit  sein  müsse.  Homer 
freilich,  wie  er  ja  auch  im  übrigen  hervorragt,  zeigt  auch  hierin  den 
richtigen  Blick,  mag  nun  seine  Kunst  oder  sein  Genie  ihn  geleitet  haben : 
in  seiner  Odyseedichtung  besang  er  nicht  die  Gesamterlebnisse  seines 
Helden,  wie  die  Verwundung  auf  dem  Pamass  und  den  verstellten  Wahn- 
sinn vor  dem  Zuge  nach  Troja  —  Ereignisse,  von  denen  jedes  geschehen 
konnte  ohne  die  Notwendigkeit  oder"**)  Wahrscheinlichkeit,  dass  das  andere 
sich  daraus  entwickele  — ,  sondern  um  eine  einzige  Handlung,  wofür  wir 
die  Odyssee  erklären  möchten,  baute  er  sie  auf  und  ebenso  seine  Hias.*^ 
Damach  muss,  gerade  wie  in  den  andern  nachahmenden  Künsten  die 
einzelne  Nachahmung  einen  einzelnen  Gegenstand  hat,  so  auch  die  Fabel, 
die  die  Nachahmung  einer  Handlung  ist,  eben  nur  eine  und  zwar  diese 
im  ganzen  Umfang  nachahmen ;  und  die  Teile  der  Begebnisse  müssen  in 
solchem  Aufbau  verbunden  sein,  dass  keiner  umgestellt  oder  entfernt 
werden  könnte,  ohne  dass  dadurch  das  Ganze  verändert  und  erschüttert 
würde;  denn  ein  Umstand,  den  man,  ohne  eine  offenbare  Einwirkung  zu 
veranlassen,  hinzuthun  oder  in  Wegfall  bringen  kann,  ist  kein  Bestandteil 
des  Ganzen." 

144)  noXXa  yccQ  xal  aneiQa  t(p  ysvsi  avfxßcclvsi,  i^  (bv  ivimv  ovösv 
iaziv  €v.  Der  richtige  und  scharfe  Ausdruck  der  Stelle  wird  durch  die  beliebte 
Konjektur  t(Ö  y'  evi  für  rw  ysvei  verdorben.  Hierdurch  soll  in  Verbindung  mit 
dem  Folgenden  der  Sinn  herauskommen:  sowohl  die  Ereignisse,  die  dem  Einzelnen 
zustossen,  als  seine  Thaten  sind  vielfältig,  entbehren  also  der  Einheit.  Es  wird  aber 
damit  das  xal  änsiQu  zu  einem  wenn  nicht  störenden,  so  doch  überflüssigen  Zusatz, 
femer  verlöre  in  dem  folgenden  Relativsatze  das  ivlcuv  seinen  Sinn.  Denn  es  soll 
doch  gerade  bewiesen  werden,  dass  die  Gesamtheit  dessen,  was  dem  Einzelnen — 
man  nehme  das  z(p  svi  nun  als  Masculinum  oder  als  Neutrum  —  widerfährt,  was 
in  ihm  zusammentrifft,  keine  Einheit  bildet,  wohl  aber  eine  bestimmte  Gruppe 
daraus,  also  evia  xwv  t<5  kvl  avßßaivovxcav.  Es  dürfte  aber  schwer  angehen,  dieses 
konjizierte  kvi  als  Neutrum  aufzufassen,  wie  es  Vahlen  (vgl.  Poet.  ^  1885.  S.  135) 
will,  da  nur  um  fünf  Worte  vorher  es  als  Masculinum  gebraucht  ist  und  wenige 
Worte  später  wieder  ebenso.  Vahlen  will  die  Stelle  so  verstanden  wissen:  „ut 
in  unam  rem  innumera  cadunt,  quae  non  omnia  coeunt  inunum";  es  kann  aber 
^^  <Lv  iviwv  doch  unmöglich  durch  quae  omnia  übersetzt  werden!  In  der 
dem  Sprachgebrauch  des  A.  nicht  fremden  Verbindung  nokXa  xal  äitsiga  an 
sich  läge  auch  das  Störende  nicht,  sondern  darin,  dass  dieses  „Viele  und  Un- 
endliche" auf  die  Ereignisse  bezogen  werden  sollte,  die  „einer  einzelnen  Per- 
son" oder  „Sache"  widerfahren,  während  es  doch  gerade  diese  letzteren  sind, 
die  A.  als  eine  Gruppe  —  evia  —  aus  der  unendlichen  Vielheit  und  Vielartigkeit 
der  überhaupt  zusammentreffenden  Ereignisse  aussondern  will,  um  auch 


Zur  Lehre  des  Aristoteles  vom  Wesen  der  Kunst  und  der  Dichtung.        51 

sogar  dieser  Gruppe  die  Eigenschaft  der  Einheit  abzusprechen.  Das  Beispiel, 
das  Vahlen  a.  a.  0.  anführt,  passt  zu  der  vorliegenden  Stelle  nur  scheinbar: 
„sie  avfißalvsiv  cum  saepe  alias  tum  in  compari  enuntiato  phys.  ausc.  2,5,  196 •»  28 
ansLQa  yag  äv  reo  kvl  avfißalrj  ponitur,  quam  sententiam,  ne  de  illa  explicatione 
verborum  noXXa  xal  ccTtsiQa  dubites,  Plutarchus  ibi  ubi  hac  disputatione  physicae 
utitur,  de  fato  7,  572  *»  ita  refert  noXXcc  yccQ  xal  dneiga  xiö  svl  vtcÜqx^i-  navtdnaoLV 
dXX^lo)v  ÖLaipeQOvxa" .  An  dieser  Stelle  ist  die  Bedeutung  von  avßßalveiv  eine  ganz 
andere;  es  besagt:  im  Unterschiede  von  der  das  Wesen  eines  Dinges  ausmachen- 
den Eigenschaft,  die  nur  eine  ist,  können  ihm  andere  Eigenschaften  in  beliebiger, 
unbegrenzter  Zahl  „zukommen".  Hier  ist  also  ausdrücklich  von  genereller 
Verschiedenheit  die  Rede,  was  ja  auch  in  dem  Citat  bei  Plutarch  ausdrücklich  her- 
vorgehoben wird.  In  der  obigen  Stelle  der  Poetik  dagegen,  wo  ovfxßaiveiv  „zu- 
sammentreffendes Ereignen"  bedeutet,  musste  diese  generelle  Verschieden- 
heit ausgesprochen  werden:  änsiga  z(ö  ysvsi.  Das  schlimmste  aber  ist,  dass  durch 
jene  angebliche  Emendation  die  logische  Begründung  des  ausgesprochenen  Gedan- 
kens völlig  unterdrückt  wird,  die  freilich  auch  in  den  Übersetzungen  nirgends  zur 
Erscheinung  gelangt.  A.  begründet  den  das  Kapitel  eröffnenden  Satz,  indem  er  zu- 
nächst hervorhebt,  dass  freilich  im  Leben  alles  mit  allem  verknüpft  sei  (der 
Nachdruck  liegt  dabei  auf  dem  Prädikat  avfißalvet):  die  Dinge  und  Ereignisse, 
die  mit  einander  hergehen,  in  zeitlicher,  örtlicher,  innerer  und  äusserer  Ver- 
bindung miteinander  stehen,  bilden  eine  solche  Vielheit,  ausserdem  wird  diese 
Vielheit  durch  den  Artunterschied  zu  einer  so  grenzenlosen  (änsiQa  x<J5 
yevsL'  dass  A.  den  Dativ  rw  yevsL  in  dieser  Verbindung  ebenso  gebraucht  wie 
xazd  z6  ysvog  wird  durch  Stellen  bezeugt  wie  206  ^  16  und  233 «  19  in  Verbindung 
mit  233  3  24,  wo  cctcsiqov  ÖLaigsast  und  xarä  öialgeaiv  gleichbedeutend  angewendet 
wird.  Für  die  Definition  des  äneiQov  vgl.  978«  17:  äjteiQov  o  äv  firj  s'/V  ^^^ccg 
öexTixov  ov  negatog),  dass  der  obwaltende  Zusammenhang  sich  uns  entziehen  muss. 
In  Lessing'schem  Geiste  wäre  hier  zu  ergänzen,  dass  die  Totalität  der  so  zusammen- 
gehörigen Ereignisse  nur  ein  Schauspiel  für  einen  höheren  Geist  wäre.  Diese  Kon- 
sequenz wird  von  A.  nicht  gezogen ;  er  bleibt  vielmehr  streng  bei  seinem  thema  pro- 
bandum  und  fährt  also  fort,  dass  aus  dieser  miteinander  hergehenden  Vielheit  da- 
durch, dass  man  ein  Stück  daraus  nimmt,  eVi«,  also  doch  dasjenige  Stück,  das 
um  einen  Einzelnen,  nsQc  eVa,  sich  gruppiert,  nimmermehr  eine  Einheit 
werden  könne. 

145)  SV.  Eine  besondere  Schwierigkeit  entsteht  für  die  Wiedergabe  dadurch, 
dass,  während  das  Griechische  immer  bei  der  einen  Bezeichnung  für  den  in  Rede 
stehenden  Begriff  bleiben  kann,  elg^  h'v,  wir  im  Deutschen  gezwungen  sind,  wegen 
des  Gleichklanges  des  unbestimmten  Artikels  bald  „einzeln",  bald  „einzig"  dafür 
zu  setzen,  bald  „Einheit",  bald  „einheitlich".  Doch  empfiehlt  es  sich,  so  viel 
als  möglich  bei  dem  Gebrauch  des  blossen  Zahlwortes  zu  bleiben. 

146)  ovTcog  ÖS  xal  ngd^sig  kvög  noXXai  staiv,  i^  wv  ivlwv  ovöiv 
iariv  SV.  Aus  der  vorangeschickten  Begründung  wird  die  Konsequenz  gezogen. 
Auch  die  Handlungen  des  Einen,  Einzelnen  sind  eine  Vielheit,  und  nach  dem  hier 
wie  zuvor  sich  einstellenden  enthymematischen  Zwischengedanken  könnte  man  sagen, 
dass,  von  einem  höheren  Gesichtspunkte  aus  gesehen,  auch  diese  Vielheit,  wenigstens 
bei  einem  bedeutenden  Menschen,  der  Einheit  nicht  entbehrt.  Diesen  Sinn  kann 
man  auch  in  dem  sogleich  folgenden  insl  elg  ijv  6  '^Hgaxlrjg  nicht  nur  finden,  son- 
dern es  ist  der  einzige,  der  in  den  Worten  liegt,  wenn  man  sie  nicht  als  blosse 
Floskel  auffassen  will.  Aber  diese  höhere  Einheit,  die  der  philosophischen  Betrach- 
tung erscheint,  hilft  der  poetischen  Technik,  und  vollends  der  dramatischen,  nicht 
zu  dem,  was  sie  zu  verlangen  hat:  eine  einzige  Handlung,  die  ein  Ganzes  bildet 
mit  Anfang,   Ende  und  Mitte,   die  den  oben  gegebenen  Definitionen  entsprechen. 

4* 


52  Hebmamn  Baümgabt 

Jene  Vielheit  von  Handlungen  kann  niemals   zu  dieser   einen  Handlung  werden, 
durch  deren  vollständigen  Aufbau  der  Mythos,  die  Fabel,  zu  gestalten  ist. 

147)  iolxaaiv.  Der  Perfektform  dieses  Verbums  entspricht  weit  mehr  als 
unser  zweifelndes  „scheinen"  ein  Ausdruck  starker  Evidenz:  „es  hat  sich  als 
gleich  herausgestellt,  als  zutreffend  erwiesen". 

148)  (Ivuyxalov  ijv  r]  elxoq.  In  Ac  fehlt  das  tJ',  das  nicht  entbehrt  wer- 
den kann. 

149)  dkXd  tceqI  filav  ngä^iv,  o'iav  XlyoifjLev  ttjv  'OSvaasluv,  avv- 
eazriaev.  Das  Xiiyoiixev  der  Handschrift  Ac  ist  richtig  und  keineswegs  in  HyoyLtv 
zu  ändern,  doch  ist  das  Komma  nicht  nach  UyoLixsv ,  sondern  erst  nach  'Oövaaslav 
zu  setzen.  Durch  die  Konjektur  und  ebenso  durch  das  falsche  Komma  wird  der 
Satz  völlig  verändert.  Zu  fiiav  tiqü^lv,  was  eben  noch  aufs  neue  zu  der  Vielheit 
der  Erlebnisse  und  Handlungen  des  Odysseus  in  Kontrast  gesetzt  ist,  wäre  der  Zu- 
satz o'lav  Xeyo(jL£v  „wie  wir  den  Begriff  fassen"  durchaus  überflüssig.  Da- 
gegen sagt  der  Satz :  o^iav  XeyoLfiev  tt}v  ^Oövaoelav  „wofür  wir  die  Odyssee 
erklären  möchten",  etwas  ganz  anderes.  Er  spricht  eine  offenbar  den  bisherigen 
Ansichten  völlig  widersprechende  Behauptung  in  urbaner  Form  aus,  die  von  diesen 
Dingen  eine  so  neue  Anschauung  erweckt,  dass  sie  in  neuerer  Zeit  erst  wieder  aufs 
neue  entdeckt  werden  musste.  —  Dass  zu  avviazTjaev  dann  das  Objekt  aus  dem  Vor- 
angehenden hinzuzunehmen  ist,  dürfte  sich  von  selbst  verstehen,  obgleich  das  Miss- 
verständnis der  Stelle  offenbar  daher  rührt,  dass  man  'Oövaaslav  unmittelbar  zu  avv- 
saxriasv  und  allein  zu  diesem  hinzuzog. 

Kapitel  IX. 

„Aus  dem  Gesagten  ergiebt  es  sich  klar,  dass  nicht***)  die  Darstellung 
des  wirkKch  Geschehenen  die  Aufgabe  des  Dichters  ist,  sondern  dass  er 
die  Dinge  darzustellen  hat,  wie  sie  geschehen  könnten  und  wie  sie  nach 
dem  Gesetz  der  Wahrscheinlichkeit  oder  Notwendigkeit  möglich  sind.  Denn 
der  Geschichtsschreiber  und  der  Dichter  unterscheiden  sich  nicht  durch 
die  gebundene  oder  ungebundene  Rede ;  man  könnte  das  Werk  des  Herodot 
in  Yerse  bringen,  und  es  würde  nichtsdestoweniger  eine  Geschichtserzäh- 
lung bleiben  in  Yersform  wie  ohne  Verse ;  sondern  darin  liegt  das  Unter- 
scheidende *^')>  dass  dieser  wirklich  geschehene  Begebnisse  erzählt,  während 
jener  die  Begebnisse  so  darstellt,  wie  sie  geschehen  könnten.  Deshalb 
ist  auch  an  philosophischem  und  sittlichem  Gehalt  *^^)  die  Poesie  der  Ge- 
schichte überlegen;  denn  die  Poesie  stellt  in  höherem  Masse  das  Allge- 
meine in  dem  Gange  der  Dinge*")  dar,  die  Geschichte  ihren  Verlauf 
im  einzelnen.  Und  das  „Allgemeine"  liegt  darin,  dass  ein  jeder  das  spricht 
und  thut,  was  nach  der  Wahrscheinlichkeit  oder  nach  der  Notwendigkeit 
ihm  zu  sprechen  oder  zu  thun  zukommt;  nach  diesem  Gesichtspunkte 
verfährt  die  Dichtung  bei  der  Benennung  ihrer  Personen  *'").  Das  „Ein- 
zelne" dagegen  ist,  was  ein  Alcibiades  gethan  hat  oder  was  ihm  wider- 
fahren ist.  Für  das  Gebiet  der  Komödie  wurde  das  schon  klar  gelegt: 
denn  die  Dichter,  die  aus  innerlich  übereinstimmenden  Begebnissen  den 
Aufbau  der  Fabel  gestalten  *'^*),  verfahren,  wenn  sie  die  gerade  sich  dar- 


Zur  Lehre  des  Aristoteles  vom  Wesen  der  Kunst  und  der  Dichtung.       53 

bietenden  Namen ^^^)  ihren  Personen  unterlegen,  nach  diesem  Gesetz^"), 
und  sie  knüpfen  ihre  Dichtung  nicht  an  die  einzelne  Person ''^^),  wie  es 
die  Spottdichter  thun.  In  der  Tragödie  aber  hält  man  an  den  mit  den 
wirklichen  Ereignissen  verknüpften  Namen  ^^®)  fest.  Die  Ursache  ist,  dass 
die  Glaubwürdigkeit  von  der  Möglichkeit  abhängt ;  nun  bringt  etwas,  was 
nicht  wirklich  geschehen  ist,  die  Überzeugung  von  seiner  Möglichkeit  noch 
nicht  mit  sich,  bei  dem  wirklich  Geschehenen  liegt  sie  am  Tage,  denn  es 
wäre  nicht  geschehen,  wenn  es  nicht  möglich  wäre.  Nichtsdestoweniger 
kommt  es  auch  in  der  Tragödie  vor,  dass  in  manchen '^°)  ein  oder  zwei 
historisch  bekannte  Namen  sind,  alle  übrigen  jedoch  erdichtet,  in  man- 
chen auch  gar  keiner,  wie  z.B.  in  der  „Blume"  des  Agathon;  hier  sind 
die  Ereignisse  ebenso  wie  die  Namen  erdichtet,  und  der  Genuss,  den  das 
Stück  gewährt,  wird  dadurch  nicht  gemindert.  Man  muss  sich  daher  nicht 
ausschliesslich  darauf  vereifern,  an  den  überlieferten  Fabelstoffen,  in  deren 
Kreise  sich  die  Tragödien'")  bewegen,  festzuhalten.  Das  wäre  ein  lächer- 
liches Bestreben,  denn  auch  die  historisch  bekannten  Stoffe  sind  doch  nur 
wenigen  bekannt  und  gleichwohl  gewähren  sie  den  künstlerischen  Genuss 
Allen.  Hieraus  geht  klar  hervor,  dass  es  vielmehr  die  Fabeln  sind,  an 
denen  der  Dichter  sich  als  Dichter  zu  erweisen  hat,  als  die  Wirklichkeit^*''^), 
sofern  er  Dichter  ist  durch  nachahmende  Kunst  und  es  die  Handlungen 
sind,  die  er  nachahmt.  Dann  wird  er,  wenn  es  sich  nun  doch  einmal  so 
fügt,  dass  er  wirklich  Geschehenes  dichterisch  gestaltet,  um  nichts  weniger 
ein  Dichter  sein;  denn  nichts  hindert,  dass  unter  den  wirklichen  Begeb- 
nissen manche  nicht  auch  einen  solchen  Verlauf  haben,  wie  es  wahrschein- 
lich ist,  dass  sie  geschehen  seien,  und  sogar  wie  sie  notwendig'®^)  ge- 
schehen sein  müssen,  also  nach  den  Gesetzen,  nach  denen  ein  solcher*®^) 
Dichter  sie  gestaltet." 

150)  Dass  hier  in  Ac  ovtü)  zcc  yivofzsva  verschrieben  ist  und  dafür  ov  to 
xä  yev oßsva  zu  setzen,  ist  zweifellos. 

151)  Wenn  Ac  schreibt:  dXXa  xovxo  6ia<p€Q8i,  xm  xov  fxsv  x.z.X.,  so 
ist  der  Sinn  zwar  deutlich,  aber  die  Form  inkorrekt,  und  entweder  das  x(p  in  x6 
zu  ändern  oder  noch  besser  xovxo  in  xo-ixtp,  was  beides  verschiedentlich  vorge- 
schlagen ist. 

152)  öto  xal  (piXoaoqxoxe Qov  xal  anov6ai6x6QOv  x,  x.  X.  Die  Über- 
setzung: „an  philosophischem  und  sittlichem  Gehalt  überlegen"  erschien  als  die 
treffendste,  weil  in  den  Vergleich  mit  der  Geschichte  die  Fassung  von  anovöalov 
als  „bedeutend"  oder  „ernst"  etwas  Schiefes  hineinbringen  würde,  und  weil,  wie  die 
Nikom.  Ethik  erweist,  im  aristotelischen  Sprachgebrauch  dem  Worte  der  Begriff  der 
„ethischen  Tüchtigkeit"  am  meisten  zukommt:  vgl.  111,6  1113"  29.  o  anov- 
öalog  yaQ  sxaaxa  xQivei  oq&üjq,  xal  iv  kxäoxoig  xdXrjd-hg  avxio  (paivExai '  xa&^ 
kxdax7]v  ycLQ  h'^iv  löicc  iaxi  xaXd  xccl  ^öia,  xal  öiacp^gst  nXelaxov  l'awg  6  anovöalog 
Xiö  xdXrjS^hg  iv  exdaxoig  OQäv,  (oansQ  xav(ov  xal  (xsxqov  avxcöv  itiv. 

153)  xd  X ad- 6 Xov.    Der  Artikel  xd  verlangt  die  Hervorhebung  der  Vielheit 


54  Hbbüann  Baümgabt 

der  Erscheinungen,  in  denen  ,tö  xa&6).ov\  „das  Allgemeine"  sich  zeigt,  also: 
„das  Allgemeine  in  dem  Gange  der  Dinge". 

154)  ovo (JL Uta  iniTi&Ef^tvrj.  Hier  schon  hebt  das  Missverstandnis  an, 
das  sich  in  der  Auffassung  der  ganzen  folgenden  Ausführung  festgesetzt  hat.  Jene 
Worte  sagen  ganz  allgemein :  „wenn  sie  Namen  beilegt*';  sie  bedeuten  keines- 
wegs, „wenn  sie  fingierte  Namen  beilegt".  Die  Namen  können  erdichtet  sein, 
aber  ebensowohl  können  es  historisch  bekannte,  yvoiQi/xUf  sein;  was  A.  aber 
behauptet,  ist  dieses :  der  echte  Dichter  wählt  für  seine  Tragödie  die  Personen  und 
ihre  Benennungen  so  aus,  dass  der  allgemeine  Gehalt  der  Handlung  dadurch  um  so 
besser  zur  Darstellung  gelangt.  Sind  beide  historisch  bekannt,  so  erteilt  er  ihnen 
durch  den  Aufbau  und  die  Durchführung  der  Handlung  jenen  allgemeinen  Ge- 
halt, nicht  aber  bindet  er  sich  sklavisch  an  das,  was  die  Geschichte  oder  die  Mei- 
nung als  faktisch  von  ihnen  berichtet,  was  eben  nur  das  Individuum  angeht 
und  „Einzelheit"  ist.  Dahin  zielt  die  unmittelbar  folgende  Definition:  zo  6h 
xa&'  exaaxov,  zl  k?,xißici6i]g  enga^ev  y  zl  tnad^ev  (wobei  statt  des  zov, 
das  Ac  hat,  in  Übereinstimmung  mit  dem  korrespondierend  vorangegangenen  xa^O' 
Xov  sicherlich  rd  zu  setzen  ist). 

155)  ovGzt'jGavzeg  yccQ  zov  ßvO^ov  did  zwv  sixozwv.  Gerade  diese 
Behandlungsweise  hatte  A.  schon  mehrfach  als  das  für  die  Form  der  Komödie 
eigentlich  Entscheidende  bezeichnet:  dass  die  komische  Handlung  nach  innerer 
Wahrscheinlichkeit  und  innerer  Übereinstimmung  —  (Jm  zujv  ebeozwv  — 
selbständig  aufgebaut  würde,  dass  sie  sich  also  von  dem  blossen  Spott  über  aktu- 
elle Ereignisse  losmachte.  Es  dürfte  darnach  klar  sein,  dass  A.  gamicht  daran 
denkt,  der  Komödie  den  Gebrauch  historisch  bekannter  Namen  und  die  Beziehung 
auf  notorische  Zustände  und  sogar  Vorkommnisse  historischer,  politischer,  sozialer 
Art  —  zwv  yvcDQlfiwv  —  zu  verbieten.  Das  steht  ihr  so  gut  frei  wie  der  Tragödie, 
wenn  sie  nur  in  der  Behandlung  der  Dinge  und  Personen  den  Gesichtspunkt  des 
Allgemeinen  nicht  aus  dem  Auge  verliert  —  azoxa^szai  zov  xa&6Xov.  —  Auch 
diese  Stelle  bietet  also  nicht  den  geringsten  Anlass,  auf  eine  missliebige  Beurteilung 
der  aristophanischen  Komödie  durch  A.  zu  schliessen. 

156)  So  bedeutet  za  zvxovza  ovoßaza  auch  nicht  „beliebige,  erdichtete 
Namen",  sondern  die  durch  den  gewählten  Stoff  gegebenen,  nach  dessen  innerer 
Natur  sich  darbietenden,  mochten  das  nun  fingierte  oder  bekannte  Namen  wirk- 
licher Personen  sein. 

157)  ovzoD.  d.  h.  „nach  den  im  obigen  entwickelten  Gesetzen"  und  in  Über- 
einstimmung mit  dem  Aufbau  der  Fabel:  avazriaavzeq  zov  ßv&ov  ölu  sIxozodv 
ovzco  za.  zv^övra  ovöfiaza  vTtozi&saaiv.  Es  Hegt  kein  Grund  vor,  dies  letztere 
Wort  durch  i n izlS-ekoiv  zu  ersetzen;  im  Gegenteil  zeigt  der  Ausdruck  „unter- 
legen" in  noch  höherem  Grade  an,  wie  es  zunächst  auf  die  Fabel  ankommt  und 
dann  erst  die  Wahl  der  Personenbenennung  in  Betracht  kommt. 

158)  Tcsgl  zov  xa&'  sxaazov.  Die  Form  des  Ausdrucks  ist  einwandfrei, 
und  das  Masculinum  hier  ganz  an  seiner  Stelle,  so  dass  eine  Änderung  in  rd,  wie  sie 
zuvor  erfordert  wurde,  hier  störend  wirken  würde. 

159)  z(öv  ysvofisvcDV  ovofjLazcDv.  Die  Übersetzung:  „wirkliche  Namen" 
giebt  die  Kraft  des  griechischen  Partizips  nicht  wieder;  es  muss  zur  Umschreibung 
gegriffen  werden:  „die  in  den  Ereignissen  gegebenen  Namen". 

160)  iv  zalq  zQay(p6laig  iviaiq.  Die  ungewöhnliche  Ausdrucksform,  dass 
trotz  des  nachfolgenden  unbestimmten  Pronomens  der  bestimmte  Artikel  gebraucht 
ist,  dürfte  ihre  Richtigkeit  haben.  Es  wird  damit  der  Beobachtung  zuerst  die  all- 
gemeine Form  gegeben:  Es  kommt  auch  in  den  Tragödien  vor",  und  dann  die 
Spezialisierung  hinzugefügt:  „dass  einige  u.  s.w." 


Zur  Lehre  des  Aristoteles  vom  Wesen  der  Kunst  und  der  Dichtung.       55 

161)  nsQl  ovg  al  rgayojölai  stalv.  Der  Zusatz  die  „berühmten"  ist  gar 
nicht  erforderlich;  denn  dass  nicht  a  1 1  e  Tragödien  „sich  im  Kreise  der  herkömm- 
lichen, überlieferten  Fabelstoffe  bewegen",  ist  selbstverständlich,  das  Gegenteil  wird 
durch  das  präs.  indicat.  sialv  auch  nicht  besagt,  das  hier  die  im  Griechischen  wie  im 
Deutschen  gleich  übliche  Nebenbedeutung  des  „Zutreffens  für  die  Mehrzahl  der 
Fälle" ,   des  „Pflegens"  hat. 

162)  örjlov  ovv  ix  xovttav  ort  xov  tioitjz^v  ficc?.lov  t(öv  fiv&cav 
stvai  Sei  TioiTjZTJv  ij  t(Öv  fisx^wvy  oaa>  Ttoirjr^g  xazd  Tr}v  (ilßriaiv 
iaxLV,  fiLfjLElTaL  6s  xäq  ngd^eiq.  Während  an  so  vielen  Stellen  der  Text  des 
Kodex  Ac  gegen  Emendationen  in  Schutz  zu  nehmen  war,  liegt  hier  einmal  der  um- 
gekehrte Fall  vor.  Hier  ist  ein  höchst  anstössiger  Fehler  allgemein  und  anstandslos 
als  das  Richtige  acceptiert  worden.  Das  Kapitel  ist  für  das  Verständnis  der  künst- 
lerischen Mimesis  von  höchster  Wichtigkeit.  Im  Mittelpunkt  steht  der  das  Ganze 
beherrschende  Gedanke,  dass  das  Drama  die  Ereignisse  xaxd  xo  elxoq  xal  xaxu 
x6  dvayxalov  zu  verknüpfen  habe,  also  wie  sie  verlaufen  sollen  und  müssen,  nicht 
wie  sie  im  einzelnen  Falle  wirklich  verlaufen  sind.  Das  allgemeine  Gesetz  der  Dinge 
soll  daraus  hervorleuchten;  die  ganze  Schärfe  der  Polemik  richtet  sich  gegen  die 
falsche  Auffassung,  dass  die  Kunst  eine  Nachahmung  der  Wirklichkeit  sei,  wie  sie 
im  einzelnen  Falle  sich  darstellt.  Hieraus  wird  in  kurzen,  schlagenden  Sätzen  der 
Unterschied  der  Poesie  von  der  Geschichte  abgeleitet;  dabei  wird  mit  dem  Neben- 
gedanken, dass  eine  versifizierte  Geschichtserzählung  keine  Poesie  abgeben  könne, 
auf  den  schon  im  ersten  Kapitel  abgehandelten  Satz  zurückgegriffen,  dass  das  Me- 
trum eben  das  Wesen  der  Poesie  nicht  ausmache.  Das  Folgende  führt  die  ftlr  die 
Technik  des  Dramas  überaus  wichtigen  Gesetze  näher  aus,  die  für  die  Behandlung 
historischer  Stoffe  in  der  Tragödie  und  in  der  Komödie  zu  gelten  haben,  und  gipfelt 
in  dem  Satze,  dass  auch  durch  die  völlige  Entfernung  von  den  durch  die  Sage  und 
durch  die  Geschichte  gegebenen  Stoffen,  also  durch  die  Behandlung  ganz  frei  er- 
fundener Handlungen  die  Tragödie  von  ihrer  Höhe  keineswegs  herabsteige.  Hier 
aber  musste  es  dem  besonnenen  Gesetzgeber  nun  erforderlich  erscheinen,  sich  gegen 
ein  naheliegendes  Missverständnis  zu  verwahren :  dass  nämlich  die  Verwertung  histo- 
rischer Handlungen  in  der  Poesie  doch  darum  nicht  ausgeschlossen  sein  dürfe,  weil 
sie  wirklich  geschehen  sind,  wenn  sie,  was  ja  durchaus  denkbar  ist,  in  einem  gege- 
benen Falle  schon  an  sich  jene  Beschaffenheit  haben,  die  der  Dichter  ihnen  zu 
geben  hätte.  Hierzu  nun  macht  der  obige  Satz  den  Übergang;  wie  sollte  nun  aber 
in  diesen  Satz  jener  längst  abgethane  Gedanke  kommen,  der  in  dem  Vorangehenden 
nur  zu  beiläufiger  Verwendung  gelangte,  dass  den  Dichter  mehr  die  Fabel -Kompo- 
sition mache  als  das  Metrum?  Und  wie  sollte  obenein  dieser  Gedanke  nun  gar  als 
das  Resultat  der  ganzen  Erörterung  gelten  dürfen?  Kein  Zweifel,  dass  xaiv  fzs- 
xQ(ov  hier  nicht  hingehört!  Vermutlich  ist  es  in  den  Text  gekommen,  weil  dieser 
Gegensatz  dem  Abschreiber  wohl  geläufig  war,  während  er  den  wirklich  von  A.  auf- 
gestellten Gedanken  eben  wegen  seiner  bedeutungsvollen  Tiefe  nicht  verstand:  dass 
das  Wesen  des  Dichters  und  seiner  Kraft  sich  zu  zeigen  hat  an  der  dichterischen 
Gestaltung  der  Fabelwelt  und  nicht  der  Wirklichkeit.  Zu  lesen  wäre  also: 
OXL  xov  TtoiTjXtjv  (jLaXXov  xaiv  [xv^cov  eLvai  öel  7ioi?]xrjv  rj  xcov  yevofzfycuv.  Damit 
wäre  dann  allerdings  die  Ausführung  zu  ihrem  Ausgangspunkt  zurückgekehrt,  wie 
es  durch  das  äTJ/.ov  ovv  ix  xovxwv  angezeigt  wird.  So  bekommt  auch  der  Zusatz 
seine  volle  Bedeutung :  ooco  tioiijxtjq  xaxd  xrjv  filfzrjolv  iaxi,  fxifisZxai  öh  xdg  ngd^sig. 
Auch  diese  Limitierung  ist  sehr  weise  erdacht  und  sehr  genau  formuliert;  denn  in 
der  That  hat  der  Dichter  alles  übrige  gerade  der  Wirklichkeit,  den  Ereignissen,  die 
er  um  sich  her  geschehen  sieht  und  von  denen  er  erfahren  hat,  zu  entnehmen :  nur 
mit  dem  Teile  seiner  Kunst,  auf  den  es  für  den  dramatischen  Dichter  am  meisten 
ankommt,  in  bezug  auf  den  er  „Nachahmer"  ist,  nur  also  insofern  er  „Handlungen" 


56  Hbbmann  Baumgabt 

nachahmt  —  oauj  — ,  soll  er  von  dem  wirklich  Geschehenen  und  Geschehenden  völlig 
unabhängig  und  frei  schaffender  Dichter  sein  —  tcHv  fiv&cuv  noijjrrjg.  —  Wie  treff- 
lich schliesst  sich  nun  das  Folgende  an!  xuv  äga  avfiß^  ysvofievu  noitlv ,  ovSfv 
^txov  TtoiTjtijg  iariv,  denn  Subjekt  ist  hier  der  Dichter,  wie  er  oben  geschildert 
wurde:  „wenn  es  einem  solchen  begegnet"  u.  s.  w. 

163)  oiov  elxog  yevead^ai  xal  dvvuxä  yevda^ai.  Dass  öwatd  hier 
nicht  hinpasst,  kann  nicht  bestritten  werden;  denn  alles,  was  sich  dafür  anführen 
liesse,  wird  dadurch  hinfällig,  dass  mit  elxog  schon  weit  mehr  gesagt  worden  ist. 
Umgekehrt  verlangt  gerade  die  emphatische  Wiederholung  des  yspia^ai  eine  starke 
Steigerung.  Eine  solche  aber  ist  in  dem  formelhaften  und  gleich  im  folgenden  Satze, 
der  an  diesen  Abschluss  anknüpft,  wiederkehrenden  elxog  xal  uväyxr]  gegeben. 
Es  dürfte  also  für  das  falsche  öwatd  wohl  dvdyxrj  zu  schreiben  sein. 

164)  xad-^  0  ixelvog  avzdJiv  noirizrig  iaziv.  Durch  diesen  Relativsatz 
erh&lt  die  obige  Konjektur  ihre  volle  Bestätigung;  denn  xazu  zo  elxog  xal  zb 
dvayxalov  avvlazaoO^ai  zovg  fzv&ovg,  das  ist  es  gerade,  was  als  das  den  echten 
Dichter  charakterisierende  im  vorangehenden  bezeichnet  wurde,  und  dasselbe  muss 
hier  von  der  wirklich  geschehenen  Handlung  als  die  sie  charakterisierende  Eigen- 
schaft verlangt  sein,  wodurch  sie  unmittelbar  für  „einen  solchen  Dichter**  als  sein 
Stoff  geeignet  wird ,   xad-^  o  ixelvog  avzwv  noLrjXTig  iaziv. 

„Unter  den  einfachen  ^°^)  Fabeln  und  Handlungen  sind  die  episoden- 
artigen die  schlechtesten.  Episodenartig  aber  nenne  ich  die  Fabel,  in  der 
die  Episoden  —  d.  h.  die  zwischen  den  grossen  Chorgesängen  liegenden 
einzelnen  Abteilungen  der  Handlung  ^^^)  —  ohne  Wahrscheinlichkeit  und 
Notwendigkeit  auf  einander  folgen.  Solche  Stücke  werden  von  den  schlech- 
ten Dichtern  gemacht,  weil  es  in  ihrer  Art  liegt,  bei  den  guten  geschieht 
es  wegen  der  Schauspieler*");  denn  sobald  sie  für  die  Preisbewerbungen 
dichten,  so  kommen  sie,  wenn  sie  über  die  ihr  eignende  Kraft  hinaus 
die  Fabel  erweitert  haben  *°^),  auch  oft  in  die  Lage,  die  Folge  der  Ereig- 
nisse gewaltsam  verändern  zu  müssen." 

„Nun"^)  verlangt  aber  die  Nachahmung  eine  Handlung,  die  nicht 
allein  vollständig  ist,  sondern  auch  furchtbar  und  mitleiderregend ;  solche 
Ereignisse  aber  entstehen  sowohl  im  höchsten  Grade  als  auch  auf  die 
schönere  Weise  "°)  dann,  wenn  sie  wider  das  Erwarten  sich  aus  sich  selbst 
entwickeln;  denn  so  werden  sie  den  Eindruck  des  Wunderbaren  in  höherem 
Grade  machen,  als  wenn  sie  ohne  inneren  Grund  und  zufällig  eintreten, 
da  ja  auch  unter  den  zufälligen  Ereignissen  diejenigen  am  wunderbarsten 
erscheinen,  die  so  aussehen,  als  ob  eine  Absicht  sie  gelenkt  hat,  wie  z.  B. 
wenn  die  Statue  des  Mitys  in  Argos  auf  denjenigen,  der  der  Urheber 
seines  Todes  war,  während  er  sie  betrachtete,  herabstürzte  und  ihn  tötete; 
denn  so  etwas  hat  das  Ansehen,  nicht  von  ungefähr  geschehen  zu  sein  — 
es  müssen  also  derartige  Fabeln  auch  die  schöneren  sein.** 

165)  z(üv  6  h  anletiv  fzv&iov.  An  dem  Ausdruck  anXdäv  hier  Anstoss  zu 
nehmen,  weil  er  als  technischer  Terminus  erst  im  folgenden  Kapitel  eingeführt  wird, 
ist  unrichtig.    Einer  Definition  bedarf  die  Bezeichnung  „einfache"   Fabel  nicht; 


Zur  Lehre  des  Aristoteles  vom  Wesen  der  Kunst  und  der  Dichtung.       57 

eine  solche  wird  Kap.  1 0  auch  nicht  gegeben,  sondern  nur  eine  negative  Abgrenzung 
des  Begriffs:  „einfach"  ist  die  Fabel  eben,  sofern  sie  nicht  „verwickelt"  ist. 
Es  ist  bis  dahin  überhaupt  nur  von  einfachen  Fabeln  die  Rede  gewesen,  mit  anderen 
Worten,  es  ist  nichts  erörtert  worden,  was  diesen  Begriff  kompliziert.  Eben  dazu 
aber  geht  A.  jetzt  über,  und  die  zweite  Hälfte  des  neunten  Kapitels  ist  diesem  Über- 
gang gewidmet.  Der  erste  Abschnitt  davon  erwähnt  im  engsten  Anschluss  an  den 
zuletzt  vorangegangenen  Satz  den  schlimmsten  Fehler,  der  in  der  Komposition  der 
einfachen  Fabeln  begangen  werden  kann;  der  zweite  bereitet  mit  seinen  Erör- 
terungen die  Definition  der  „verwickelten"  Fabel  vor. 

166)  Dieser  den  Begriff  der  „Episoden"  erklärende  Zusatz,  der  im  12.  Kapitel 
steht,  soll  nicht  etwa  dem  Text  einverleibt  werden.  Er  ist  nur  in  der  Über- 
setzung unentbehrlich,  weil  der  Ausdruck  „Episoden"  in  anderem  Sinne  un- 
serm  Sprachgebrauch  geläufig  geworden  ist.  Die  Wiedergabe  durch  „Akte"  ist  zu 
vermeiden,  weil  sie  schiefe  Vorstellungen  nach  der  andern  Seite  hin  erweckt.  Zu- 
dem ist  es  nicht  möglich,  für  ineiaoöiajörjg  ein  entsprechendes  Eigenschaftswort  von 
„Akt"  abzuleiten.  Es  dürfte  von  A.  damit  eine  Fabel-Komposition  bezeichnet  sein, 
deren  Gesamt-Einheit  dadurch  verloren  gegangen  ist  oder  doch  gestört  wird,  dass  die 
einzelnen,  zwischen  den  grossen  Chorgesängen  von  den  Schauspielern  dargestellten 
Teile  der  Handlung  —  die  „Episoden"  —jeder  für  sich  zwar  eine,  vielleicht  wir- 
kungsvolle, Einheit  bilden,  dass  ihnen  aber  der  Zusammenschluss  zu  einem  „Gan- 
zen" in  dem  streng  definierten  Sinne  fehlt:  „episoden artige"  Fabeln. 

167)  ÖLcc  Tovg  vTCO'AQixaq.  Erwartet  wird  statt  dessen  „wegen  der  Preis- 
richter" oder  doch  „wegen  der  Aufführungen";  beide  Änderungen  sind  vor- 
geschlagen. Dennoch  dürfte  das  Textwort  beizubehalten  sein,  weil  mit  dem  nach 
der  formalen  Logik  inkorrekten  Ausdruck  sich  Nebenbeziehungen  entwickeln,  die 
den  ausgesprochenen  Gedanken  im  Detail  bereichern.  Denn  was  A.  verstanden  wissen 
will,  ist  doch  offenbar  dieses :  wenn  ein  sonst  vortrefflicher  Dichter  sich  zu  dem  ge- 
rügten Fehler  verleiten  lässt,  so  geschieht  es  um  des  äusseren  Erfolges  willen.  Er 
weiss  aus  Erfahrung,  und  auch  wohl  weil  es  in  der  Natur  der  Sache  liegt,  dass  dieser 
mehr  in  den  Händen  der  Schauspieler  liegt  als  in  den  Leistungen  der  Choreuten. 
Er  bemüht  sich  daher,  jenen  möglichst  viel  zu  thun  zu  geben.  Hat  er  aber  einmal 
dieser  falschen  Intention  nachgegeben  und  auch  nur  an  einer  Stelle  seinen  Stoff  über 
die  ihm  innewohnende  Wirkungskraft  —  t^v  övva^iv  —  „erweitert",  sei  es  ex- 
tensiv oder  intensiv,  so  hat  er  die  sichere  Herrschaft  über  die  Disposition  seiner 
Fabel  aufgegeben  und  ist  genötigt  ihr  Gewalt  anzuthun,  vorzugreifen,  nachzuholen, 
überhaupt  Flickarbeit  zu  machen.  Wie  sehr  darunter  auch  die  dem  Chore  zu- 
kommende Bedeutung  leiden  muss,  liegt  auf  der  Hand,  wovon  die  Tragödien  des 
Euripides  zum  Teil  sehr  auffallende  Beispiele  geben. 

168)  TcuQaretvavreq.  Gerade  der  Aorist,  der  von  vielen  in  das  Praesens 
umgewandelt  wird,  ist  die  durch  den  Zusammenhang  geforderte  Form,  wie  aus  der 
Übersetzung  und  der  obigen  Ausführung  hervorgeht. 

169)  in  ei.  Der  Fall,  dass  auf  einen  mit  inel  eingeleiteten  Vordersatz  der 
erwartete  Nachsatz  in  der  gewohnten,  regelmässigen  Form  ausbleibt,  ist  ein  in  den 
aristotelischen  Schriften  häufig  wiederkehrender,  ohne  dass  man  dabei  eine  Anako- 
luthie  im  eigentlichen  Sinne  anzunehmen  hat.  Erschöpfende  Untersuchungen  hat 
darüber  Bonitz  im  zweiten  und  dritten  Hefte  seiner  „Aristotelischen  Studien"  an- 
gestellt. Er  weist  nach,  dass  in  der  grossen  Mehrzahl  dieser  Fälle  dem  Gedanken 
nach  der  entsprechende  Nachsatz  keineswegs  fehlt,  sondern  dass  er  nur  in  anderer 
Form  auftritt,  als  wie  sie  durch  die  grammatische  Konstruktion  geboten  wird.  Durch 
eine  kleinere  oder  grössere  Zahl  von  dem  Sinne  nach  parenthetischen  Zwischen- 
sätzen von  dem  Vordersatz  getrennt,  erhält  der  Nachsatz  äusserlich  die  Form  eines 
selbständig  für  sich  stehenden  Satzes,  dessen  Zusammenhang  mit  dem  Vordersatz 


58  Hbbmann  Baomgabt 

aber  meistens  durch  ein  ßsv  ovv  erkennbar  gemacht  ist,  oder  in  manchen  Fällen 
auch  durch  ciate  (vgl.  dafür  Bonitz  a.  a.  0.  S.  106  ff.  und  speziell  S.  111).  Solche 
Fälle  sind  der  hier  vorliegende  und  ebenso  die  Stelle  im  siebenten  Kapitel  1450^  34 
—  1451'  6.  tri  6'  insl  to  xaXbv  xal  t,(pov  x.r.X.  wäre  dtl  xai^untQ  im  raiv  aca- 
fidzwv  X.  T.  A.  Ebenso  folgt  hier  am  Schlüsse  der  Nachsatz  in  selbständiger  Form: 
wäre  dvdyxrj  xovq  tolovtovq  elvai  xa?Movg  fxvd^ovg. 

170)  xal  f^ccXiata  xal  (jLäXXov  ozav  y^-vrjxai  naQu  xnv  Öo^av  6i^ 
aXXrjXa.  Obwohl  die  Verbindung  eines  Superlativs  mit  einem  darauf  folgenden 
Komparativ,  sofern  diese  Steigerung  durch  ein  nun  hinzutretendes  Argument  nach 
einer  bestimmten  Seite  hin  begrtlndet  wird,  weder  bei  A.  noch  sonst  etwas  Unerhörtes 
ist,  so  ist  dem  obigen  Satze  doch  nur  durch  starken  und  unstatthaften  Zwang  ein 
Sinn  abzugewinnen,  etwa  indem  man  fiühaza  als  „meistens"  und  fxü'/.?.ov  als 
„besonders"  fasste.  Dennoch  würde  eine  derartige  Ausdrucksweise  niemals  glaub- 
haft gemacht  werden.  Man  hat  nun  angenommen,  dass  die  erste  Hälfte  des  Be- 
dingungssatzes schon  bei  fidXioza  gestanden  habe  und  dann  bei  (xüklov  mit  dem 
steigernden  Zusätze  öl'  äXlrika  wiederholt  sei.  Vahlen  fügt  noch  ein  Sätzchen 
hinzu,  um  die  Entstehung  des  Abschreibefehlers  plausibel  zu  machen;  er  schreibt 
also:  zavza  öh  yivezai  xal  fidhaza  (zoiavza,  ozav  nagd  doqav  ytvrjzai,  ix7i?.^zzeL 
yaQ  fidhaza},  xal  (xüXlov  ozav  ybvrizai  nagd  ztjv  öö^av.  Andre  schreiben  xd?Juaza 
für  fxdhaza  und  trennen  den  Nebensatz,  indem  sie  das  erste  Glied  nagd  zrjv  öö^av 
zu  xdlXiaza  nehmen,  das  zweite  d^'  dXKriKa  zu  (läXlov,  oder  vermuten  überhaupt 
eine  grössere  Lücke.  Gegen  die  angenommene  Trennung  jedoch ,  ob  man  nun  bei 
der  Steigerung  den  ganzen  Nebensatz  wiederholt  oder  nur  die  zweite  Hälfte,  und  ob 
man  zuerst  xdXXiaza  schreibt  oder  fidXiaza,  sprechen  die  stärksten  Gründe.  —  Der 
Abschnitt  bereitet,  wie  schon  oben  gesagt,  die  Unterscheidung  der  „verwickelten" 
Fabeln  von  den  „einfachen"  vor  und  soll  zugleich  den  Vorrang  begründen,  den 
die  ersteren  vor  den  letzteren  haben.  Nun  hat  sich  die  ganze  Erörterung  zuletzt 
vorzüglich  um  den  einen  Punkt  gedreht,  dass  die  tragischen,  also  Furcht  und 
Mitleid  erregenden,  Ereignisse  so  in  der  Handlung  verbunden  sein  müssen,  dass 
sie  öi'dXXrjXa  —  auseinander  —  sich  entwickeln  xazd  zb  elxoqxal  z6  dvayxalov. 
Dies  also  ist  die  Grundbedingung,  ohne  die  überhaupt  eine  gute  Tragödie  gar- 
nicht  denkbar  ist,  auch  nicht  eine  mit  einfach  er  Handlung.  Aber  einer  Steigerung 
ist  ihre  Wirkung  noch  fähig,  eben  weil  sie  Ereignisse  darzustellen  hat,  die  furcht- 
bar sind  und  mitleiderregend  —  (poßsQd  xal  iXssivd.  Diese  Steigerung  tritt 
ein,  wenn  die  streng  ursächlich  verbundene  Entwickelung  zu  einem  uner- 
warteten, überraschenden  Resultat  führt,  ozav  ytvrjzac  nagd  zj]v  öogav 
öt'dXXrjXa.  Die  beiden  Bestimmungen  sind  schlechterdings  nicht  zu  trennen; 
denn  eben  durch  die  Verbindung  der  beiden  Beschaffenheiten  erreicht  die  Handlung 
jenen  höchsten  Grad  der  Kraft  zur  Erregung  von  Furcht  und  Mitleid,  der  durch 
den  Superlativ  ausgedrückt  wird,  so  dass  eine  Steigerung  nach  dieser  Seite  durch 
(jiäXXov  nicht  mehr  zu  denken  wäre.  Die  Lösung  aber  der  ganzen  Schwierigkeit 
ist  so  einfach  und  liegt  so  nahe,  dass  es  nur  verwunderlich  ist,  dass  sie  sich  der 
Konjektur  immer  entzogen  hat.  Das  xal  fidXiaza  xal  ßäXXov  ist  sprachlich  an 
dieser  Stelle  und  in  solcher  Verbindung  völlig  undenkbar.  Dass  aber  der  Irrtum 
an  der  zweiten  Stelle  liegt  und  vermutlich  durch  das  sogleich  darauf  folgende 
(xäXXov  erzeugt  ist  —  to  ^avßaazov  ovzcoq  s^el  (xäXXov  — ,  das  geht  aus  dem 
Folgenden  zur  Evidenz  hervor.  Man  kann  hier  einmal  mit  voller  Sicherheit  sagen: 
A.  hat  geschrieben  xal  fidXiaza  xal  xdXXiov  —  „im  höchsten  Masse  und  auf 
die  schönere  Weise".  Zu  sagen  fidXiaza  xal  xdXXiaza  verbot  der  unschöne 
Gleichklang;  dem  Sinne  aber  entspricht  beides  auf  das  genaueste :  jene  Vereinigung 
steigert  die  tragische  Wirkung  zu  ihrem  Maximum  und  sie  bedingt  eine  Ver- 
wickelung der  Ereignisse  —  die  unentbehrlich  ist,  wenn  das  in  streng  ursäch- 


Zur  Lehre  des  Aristoteles  vom  Wesen  der  Kunst  und  der  Dichtung.        59 

lieber  Verkettung  sich  Ereignende  nun  dennoch  zu  völlig  überraschendem  Ausgang 
führen  soll  — welche  die  Schönheit  der  Fabel  notwendig  erhöhen  muss. 
Dies  aber  gerade,  und  zwar  wörtlich  genau  so  ausgedrückt,  sind  die  Konsequenzen, 
die  A.  aus  seinem  Satze  zieht.  Und  zwar  sprachlich  grade  in  derjenigenForm, 
durch  die  der  ganze  Periodenbau  vor  dem  Vorwurf  der  Anakoluthie,  nach  Bonitz*8 
überaus  sorgfältigen  mit  dem  umfänglichsten  Material  geführten  Untersuchungen, 
geschützt  wird.  Denn  auf  jenen  Satz  folgt  zunächst  die  Motivierung  des /waAfcxra : 
das  &av(jLttax6v  —  das  Wunderbare,  Überraschende  —  wird  durch  jene  Bedingungen 
erhöht  —  xo  yaQ  d-av^aarbv  ovtcdq  h'^st  fiälXov.  Daran  knüpft  sich  parenthetisch 
die  Berufung  auf  die  wirklichen  Zufallsfügungen,  die  den  Anschein  der  Planmässig- 
keit,  der  vernünftigen  Veranstaltung  an  sich  tragen,  mit  dem  Beispiel  der  Mitys- 
Statue,  um  endlich  zu  dem  Schlüsse  zu  führen,  der  sich  durch  seine  Form  als  der 
Nachsatz  der  ganzen  Periode  ankündigt:  waxe  dvdyxr]  xohg  xoiovxovg  ehaiica?.- 
ILovq  (jLvS-ovq.  —  Damit  ist  A.  bei  der  Unterscheidung  der  „verwickelten" 
Fabel  von  der  einfachen  angelangt,  die  das  Thema  des  folgenden  Kapitels  bildet.  — 
In  Übereinstinmiung  damit  heisst  es  Kapitel  13  (1452'' 31)  ineidi]  ovv  öel  xrjv  avv- 
^£GLV  slvai  XTJg  xakXiaxTjg  XQaycpöiag  (lii  ccTtXrjv  dX?.d  nsTtXeyfiivijv  x.x.X. 

Kapitel  X. 

„Es  giebt  aber  unter  den  Fabeln  neben  den  einfachen  die  verwickel- 
ten; wie  auch  die  Handlungen,  deren  Nachahmungen  die  Fabeln  sind, 
genau  dasselbe  Verhältnis  aufweisen.  Einfach  nenne  ich  eine  Handlung, 
in  der  durch  eine  nach  den  obigen  Definitionen  zusammenhängend  und 
einheitlich  sich  vollziehende  Entwickelung  der  Glückswechsel  ohne  Peripetie 
und  Erkennung  eintritt;  verwickelt  ist  diejenige,  deren *'0  Glückswechsel 
durch  Erkennung  oder  Peripetie  oder  durch  beide  verwickelt  ist.  Der- 
artige Entwickelungen  aber  müssen  in  der  Fabel  aus  ihrem  Aufbau  selbst 
erwachsen,  so  dass  aus  den  vorgängigen  Ereignissen  es  sich  mit  Not- 
wendigkeit oder  nach  der  Wahrscheinlichkeit  ergiebt,  dass  sie  daraus  er- 
wachsen; denn  es  ist  ein  grosser  Unterschied,  ob  eins  durch  das  andre 
geschieht  oder  nach  dem  andern." 

171)  Für  das  offenbar  verschriebene  nenXsyßevr]  öh  Xi^ig  ist  zu  setzen 
TtenX.  ÖS  iaxiv  ^g,  wie  vielfach  angenommen. 

Kapitel  XL 
„Peripetie  ist  der  Umschlag  dessen,  was  in  der  Handlung  unter- 
nommen wird  ^''^),  in  sein  Gegenteil,  der  in  der  Weise,  wie  es  soeben  be- 
schrieben wurde  *^^),  erfolgt  und  so,  dass  er  den  im  Obigen  ausgesprochenen 
Gesetzen  der  Wahrscheinlichkeit  oder  Notwendigkeit  entspricht.  Wie  im 
Oedipus  der  Bote,  der  kommt '^''),  um  dem  Oedipus  Freude  zu  bringen 
und  ihn  von  der  Furcht  wegen  seiner  Mutter  zu  befreien,  da  er  es  an 

I den  Tag  bringt,  wer  er  ist,  das  Gegenteil  bewirkt;  und  wie  im  Lynkeus 
der  Gang  der  Handlung  es  so  fügt,  dass,  während  dieser  hinausgeführt 
iirird  um  zu  sterben  und  Danaos  ihm  folgt,  um  ihn  zu  töten,  nun  dieser 
I 


60  Hermann  Baumgaet 

stirbt  und  jener  gerettet  wird.  Eine  „Erkennung"  aber  ist,  wie  schon  das 
Wort  es  anzeigt,  ein  Umschlag  von  Unkunde  in  Kenntnis,  der  zu  Freund- 
schaft oder  Feindschaft  führt  bei  Personen,  die  durch  die  Umstände  vor 
die  Entscheidung  von  Glück  oder  Unglück  gestellt  sind  *'').  Am  schönsten 
ist  die  Erkennung,  wenn  zugleich  Peripetie  dabei  stattfindet,  wie  es  im 
Oedipus  der  Fall  ist.  Es  giebt  nun  auch  noch  andere  Arten  von  Er- 
kennungen; denn  es  kann  geschehen,  dass  sie  auch  unbeseelten  Dingen 
und  überhaupt  allem  möglichen  gegenüber  in  der  beschriebenen  Weise "") 
vorkommen"'),  auch  wenn  jemand  eine  That  begangen  hat,  wenn 
einer  eine  That-  nicht  begangen  hat"*),  kann  darüber  eine  Erkennung 
stattfinden.  Jedoch  die  am  meisten  für  den  Fabelstoff  und  am  meisten 
für  die  Handlung  geeignete  ist  die  oben  beschriebene  Art;  denn  eine  solche 
Erkennung  und  ebenso  eine  solche  Peripetie"^)  wird  entweder  die  Er- 
regung von  Mitleid  **'')  oder  von  Furcht  mit  sich  führen,  und  dass  solche 
Handlungen  der  Gegenstand  der  Nachahmung  für  die  Tragödie  sind,  ist 
für  sie  die  oberste  Voraussetzung;  es  wird  femer  in  ihnen  die  Entschei- 
dung über  den  unglücklichen  wie  über  den  glücklichen  Ausgang  unmittel- 
bar gegeben  sein  "0.  Fasst  man  aber  die  Erkennung  als  Personen-Erken- 
nung, so  kann  entweder  die  eine  von  der  andern  erkannt  werden,  wenn 
es  von  dieser  offenkundig  ist,  wer  sie  sei,  oder  es  müssen  beide  sich 
wechselseitig  erkennen,  wie  Iphigenie  von  Orest  durch  den  Brief  erkannt 
wird,  den  sie  absenden  will,  für  Iphigenie  aber  ihm  gegenüber  es  einer 
zweiten  Erkennung  bedurfte." 

„Zwei  von  den  Bestandteilen  des  Fabelstoffes,  wie  sie  aus  dem  letzten 
Gesichtspunkt  sich  darstellen'*^),  sind  also  „Peripetie"  und  „Erken- 
nung", ein  dritter  ist  noch  das  „Leiden"'*^).  Hiervon  sind  die  Begriffs- 
bestimmungen für  Peripetie  und  Erkennung  gegeben ^*^),  für  das  „Leiden" 
ist  es  diese :  es  ist  die  Vollziehung  des  Verderblichen  und  Schmerzlichen 
in  der  Handlung ^*°) ,  wie  Tod  auf  offner  Szene,  heftige  Schmerzanfalle, 
Verwundungen  und  alles  dem  ähnliche." 

172)  7]  slq  xö  ivavTiOv  rtöv  itQaxzo ßsvtov  (JLSxaßoXri.  Das  mit  gutem 
Bedacht  gewählte  Participium  Präsentis  nQaxxo[jLevo)v,  „des  gethan  werdenden", 
kann  weder  mit  „Handlung",  noch  mit  „That"  oder  allgemeiner  mit  „Unternehmungen" 
adäquat  wiedergegeben  werden,  sondern  nur  durch  Umschreibung:  „dessen,  was  in 
der  Handlung  —  nämlich  der  Fabel  —  ins  Werk  gesetzt,  unternommen 
wird." 

173)  xa&ccTtsQ  siQTjxai.  Keineswegs  ist  dies  ein  etwa  eine  Lücke  verratender 
Hinweis  auf  eine  ausdrückliche  Definition,  sondern  die  Berufung  auf  das,  was  am 
Schlüsse  des  neunten  Kapitels  zur  Vorbereitung  des  hier  erst  bestimmt  formulierten 
Begriffs  von  A.  „gesagt  wurde":  dass  nämlich  „in  schönerer  Weise"  —  xdX- 
Xiov  — ,  als  es  durch  die  einfache  Fabel  geschehen  kann,  das  Hauptwerk  der 
Tragödie,  Furcht  und  Mitleid  zu  erwecken,  gethan  wird,  wenn  die  Handlung  :7ra(>a 
x-qv  66§av  öl   ällriXa,  geschieht,  „in  ursächlicher  Verknüpfung,  aber  wider  die 


» 


Zur  Lehre  des  Aristoteles  vom  Wesen  der  Kunst  und  der  Dichtung.        61 

Erwartung",  also  „in  das  Gegenteil  von  dem  umschlagend",  was  nach 
dem,  was  darin  unternommen  wird,  von  den  Handelnden  erwartet  wird.  Denn  um 
die  öo^a,  die  Erwartung  dieser  handelt  es  sich  dabei  nicht  zum  wenigsten.  xa&dnsQ 
sl'QTjxai  heisst  also:  „in  der  Weise  wie  beschrieben  worden  ist".  Die  Übersetzung 
hat  aber  noch  den  besondern  Umstand  zu  berücksichtigen,  dass  diese  Worte  sich 
an  den  Verbalbegriff  von  fjLexaßokri  aufs  engste  anschliessen :  „in  der  Weise  wie 
das  ixExaßdXleLV  beschrieben  worden  ist",  wodurch  sie  also  als  eine  besondere 
Art  der  ^sxdßaoLq  gekennzeichnet  wird,  welches  letztere  das  Wort  für  den  ein- 
fachen Übergang  vom  Glück  zum  Unglück  oder  vom  Unglück  zum  Glück  ist.  Die 
(xeraßolrj  ist  jener  durch  das  Unerwartete  um  so  stärker  bewegende  „Schicksals- 
umschlag", den  Goethe  in  poetischem  Ausdruck  und  doch  mit  völliger  Präzision 
beschreibt:  „von  der  Freude  zu  Schmerzen  und  von  Schmerzen  zur  Freude  tief  er- 
schütternder Übergang".  Noch  ist  zu  bemerken,  dass  xad^dneg  oder  waneg  sl'Qrjtai 
oder  Tcc  elgfjfxsvcc  und  ähnliches  bei  A.  keineswegs  als  ein  blosses  „wie  schon  ge- 
sagt" aufzufassen  ist,  sondern  dass  es  dieselbe  Kraft  hat  wie  wansQ  ägiazai  oder 
zd  wQLafisva,  „wie  definiert  wurde".  Nur  dass  das  letztere  auf  den  sachlichen 
Inhalt  einer  Definition  im  allgemeinen  zurückweist,  das  erstere  auf  ihren  bestimmten 
Wortlaut  im  einzelnen,  also  auf  das  an  einer  füheren  Stelle  in  bestimmter  Form 
Ausgesprochene,  Erklärte,  Beschriebene,  ganz  besonders  auf  die  Art,  wie  A. 
irgend  einem  Begriff  für  die  Bedeutung,  in  der  er  ihn  fortan  gebrauchen 
will,  die  giltige  Prägung  verliehen  hat.  Die  Beispiele  dafür  sind  in  allen 
Schriften  des  A.  so  zahllos,  dass  eine  darauf  angestellte  Prüfung  die  Richtigkeit 
des  Gesagten  sofort  erweist. 

174)  il^üjv  (og  X.  r.  A.  vgl.  Oed.  R.  v.  1002  die  Worte  des  „Boten":  zi  öijz' 
syco  ovxl  zovös  xov  <p6ßov  a\  dva^,  inelTtsg  svvovg  TJkd-ov,  i^skvadßijv ; 

175)  dvayvcoQiaig  .  .  .  e^  dyvoLag  eig  yvcoaiv  /A,€zaßoX^  rj  eig  (pillav 
7]  eig  sxd-Qav  zcöv  ngog  z^v  evzvxLav  rj  övazvxiav  dj Qia fxsvwv.  Daraus 
sind  nicht  zwei  Fälle  zu  machen:  „dass  Unkenntnis  in  Kenntnis  umschlägt  oder 
dass  ein  Freundschafts-  oder  Feindschaftsverhältnis  unvermerkt  zu  Tage  tritt", 
sondern  die  Vereinigung  von  beiden  macht  den  Begriff,  und  auch  diese  noch 
nicht  vollständig.  Denn  es  handelt  sich  hier,  wie  bei  der  „Peripetie"  und  dem 
„Pathos",  um  einen  von  A.  für  seine  Theorie  speziell  präzisierten  Terminus.  Was 
im  gewöhnlichen  Sprachgebrauch  eine  Erkennung  bedeutet,  braucht  A.  nicht  zu 
definieren,  wohl  aber  bedurfte  die  „Erkennung"  als  ein  artbildenderBestand- 
teil  der  tragischen  Fabel  der  genauesten  Bestimmung.  Ausser  der  Bedingung, 
dass  von  ihr  die  unmittelbar  eintretende  Veränderung  von  Feindschaft  in  Freund- 
schaft oder  die  umgekehrte  abhängen  muss,  ist  aber  noch  die  zweite  zu  ihrem  Begriffe 
erforderlich,  dass  diese  doppelte  Wandlung  bei  Personen  vorgeht,  die  sich  in 
einer  ganz  besonders  verhängnisvollen  Schicksalssituation  befinden.  Denn  wenn  solche, 
d.  h.  plötzliche  Verwandlung  von  Feindschaft  und  Freundschaft  verursachende, 
Erkennungen  unter  gewöhnlichen  Umständen  vorkommen,  so  werden  sie  zwar  immer 
etwas  stark  erregendes  an  sich  haben,  aber  nichts  tragisches.  Diese  letztere  Be- 
dingung drückt  A.  80  aus:  zcüv  ngog  evzvxlav  rj  övazvxiccv  (üQiaf/.sv(ov,  Können 
diese  Worte  den  angedeuteten  Sinn  haben?  Einer  der  besten  Kenner  des  Griechischen, 
K.  Lehrs,  schrieb  (vgl.  Königsb.  Wissensch.  Monatsblätter  1875, 10)  über  die  Wieder- 
gabe durch  „bei  zum  Glück  oder  Unglück  bestimmten  Personen"  folgendes:  „Ist 
denn  das  ein  erhörtes  Griechisch,  es  ist  einer  wozu  bestimmt  ojQiazai  ngog  zi'i" 
Auch  bei  ähnlich  lautenden  Übersetzungen  vermisst  er  die  Beachtung  des  Etymons 
OQog  und  hält  die  Stelle  für  verdorben.  Ungewöhnlich  dürfte  an  der  Stelle  die 
Anwendung  des  Participiums  cijQiafztvoL  auf  Personen  sein,  obwohl  d(po)QLafievog  so 
gebraucht  wird.  Es  würde  also  Personen  bedeuten,  die  „durch  Grenzen  bestimmt", 
„eingegrenzt",  „eingeschränkt"  sind.     Nun  ist  zuzugeben,  dass  es  nicht  nur  un- 


62  Hermann  Baumgaet 

griechisch  wäre  zu  sagen,  jemand  wäre  „in  Bezug  auf  Glück"  —  TtQog  —  oder  in 
Bezug  auf  Unglück  eingeschränkt  oder  „zum  Glück  u.  s.  w.",  sondern  auch  unlogisch, 
denn  das  Bild  wäre  ganz  unzutreffend.  Das  Anstössige  verschwindet  aber  völlig, 
wenn  man  die  Worte  uQog  svzvxlccv  rj  övarv/Jav  als  einen  einzigen  Begriff 
auffasst,  als  den  einer  bestimmten  Alternative.  Man  kann  sehr  wohl  sagen, 
dass  jemand  „zu  einem  entweder  oder  eingegrenzt",  „auf  ein  entweder  oder  be- 
schränkt" ist,  zumal  wenn,  wie  hier,  unter  den  „Grenzen"  bestimmende  Umstände 
zu  denken  sind.  Dann  ist  der  Tropus  nicht  allein  zutreffend,  sondern  sogar  sehr 
bezeichnend,  und  für  den  Ausdruck  dieser  Relation  ist  die  Präposition  nQÖg  die 
einzig  anwendbare.  Damit  dürfte  die  obige  Umschreibung  gerechtfertigt  sein:  „bei 
Personen,  die  durch  die  Umstände  vor  die  Entscheidung  von  Glück 
oder  Unglück  gestellt  sind".  Ein  ganz  ähnliches  Bild  ist  uns  sehr  geläufig: 
„auf  die  schmale  Grenze  zwischen  Glück  und  Unglück  gestellt  sein". 

176)  xal  yhg  TCQoq  ätpvxcc  xal  zh  xvxovxa  eaxiv  alaneg  eiQijtai 
cvußaiveLv.  An  dem  wansQ  eiQrjxai  ist  nichts  zu  ändern.  Über  die  Bedeutung 
der  Worte  ist  in  der  Anmerkung  173  gehandelt  worden;  hier  weisen  sie  auf  die 
„Erklärung"  des  Begriffs  der  Erkennung  durch  die  beiden  in  den  Anmerkungen 
174  und  175  besprochenen  Bedingungen  zurück,  besagen  also,  dass  auch  Dingen 
gegenüber  „so  geartete"  Erkennungen  vorkommen  können. 

177)  Im  Texte  steht  avßßalvei,  das  dem  vorangehenden  saxiv  zufolge  in 
avfißaivetv  geändert  werden  muss. 

178)  xal  st  TtsTigays  xig  el  fii]  nsTtQayev  saxiv  dvayvwQtaai.  Durch 
die  allgemein  angenommene  angebliche  Emendation  des  zweiten  el  in  ^  wird  der 
Sinn  des  Satzes  entstellt,  denn  es  sind  zwei  Fälle  darin  angegeben.  Es  handelt  sich 
nicht  um  die  Alternative,  ob  jemand  etwas  gethan  hat  oder  nicht,  sondern  der  eine 
Fall  ist  der,  dass  entdeckt  wird,  jemand  habe  etwas  gethan,  während  man  es  nicht 
wusste;  der  zweite  der,  dass  man  glaubt,  jemand  habe  etwas  gethan,  und  nun  er- 
kennt, er  habe  es  nicht  gethan.  Die  erste  Entdeckung  macht  Brunhild  in  bezug 
auf  Siegfried  im  Nibelungenlied,  die  zweite  Othello  in  bezug  auf  Desdemona,  Post- 
humus in  bezug  auf  Imogen.  —  Daher  auch  das  doppelte  nengaye  im  Text,  während 
sonst  A.  geschrieben  haben  würde  et  nsngays  xig  ?]  fitj. 

179)  ^  yccQ  xotavxrj  dvayvw giotg  xal  nsQtnsxeia.  Man  hat  an  der 
Erwähnung  der  Peripetie  an  dieser  Stelle  Anstoss  genommen  und  sie  für  einge- 
schoben erklärt,  weil  hier  doch  eben  von  der  Erkennung  die  Rede  ist.  Es  ist  dabei 
übersehen,  dass  xotavxrj,  das  eben  so  zu  neQinsxELa  wie  zu  dvayv(oQiGig  gehört, 
auf  das  unmittelbar  vorangehende  stQrjfiEv?]  zurückweist,  und  wiederum  dieses 
auf  die  Definition  der  „Erkennung",  deren  wesentliche  Bestimmung,  dass  sie  unter 
TiQog  svxvxtav  ?/  övcxv^tav  (bgtofisvotg  vor  sich  gehen  müsse,  ganz  ebenso  auf  die 
Peripetie  ihre  Anwendung  findet.  Beide  werden  nur  als  solche  —  xoiavxai  —  Furcht 
und  Mitleid  erwecken,  also  tragisch  wirken  können. 

180)  rj  sXeov  e^st  rj  (poßov.  Trotz  Lessings  bekannter  und  stark  er- 
zwungener Beweisführung  für  die  Untrennbarkeit  der  beiden  Affekte  sind  die  Par- 
tikeln jj-rj  dennoch  hier  wie  noch  an  mehreren  späteren  Stellen  als  disjunktiv  zu 
verstehen.  Es  ist  ganz  unrichtig  anzunehmen,  dass  tragische  Stoffe  nur  diejenigen 
seien,  die  beide  Affekte  gleichmässig  hervorbrächten.  Es  genügt  vielmehr,  dass  ein 
Handlungsstoff  einen  von  beiden  stark  errege;  es  wird  dann  die  erste  Hauptaufgabe 
des  Dichters  sein,  an  deren  Gelingen  sich  seine  Befähigung  zu  erweisen  hat,  dass 
er  durch  die  Behandlung  seines  Stoffes  in  ihm  die  Kraft  entwickelt,  den  andern, 
reziproken  Affekt  ebenmässig  zu  erwecken  und  dadurch  zugleich  das  pathematische 
Überwiegen  des  andern  zum  rechten  Ebenmass  herabzumindern  (vgl.  hierüber  die 
ausftüirliche  Erörterung  dieser  Frage  wie  überhaupt  der  ganzen  Furcht-  und  Mit- 


Zur  Lehre  des  Aristoteles  vom  Wesen  der  Kunst  und  der  Dichtung.        63 

leid -Kontroverse  in  des  Verfassers  oben  schon   citierter  Schrift:    „Aristoteles, 
Lessing  und  Goethe"). 

181)  6Zi  ÖS  xal  xb  dxvxslv  xal  xo  svxvxelv  inl  twv  xoiovxcov 
avßßijoexai.  Dieser  Satz,  wie  er  aus  der  oben  (Anmerkung  179)  erörterten  Auf- 
fassung des  xoiavxT]  von  selbst  hervorgeht,  rechtfertigt  zugleich  die  dort  entwickelte 
Ansicht.  Aus  den  Definitionen  von  Erkennung  und  Peripetie  ergiebt  sich  der  Satz 
als  ein  ovfißsßi]%dg  xaO-^  avxo. 

182)  ovo .  ..ßSQTi  nsQl  xavx'  iaxlv.  „Zwei  Bestandteile  beziehen  sich  auf 
dieses",  d.i.  ergeben  sich  aus  dem  Gesichtspunkte  des  Zwecks  der  Tragödie, 
nämlich  in  möglichst  hohem  Grade  und  zugleich  schöner  Weise  die  tragischen  Em- 
pfindungen in  Bethätigung  zu  setzen.  Es  waren  oben,  im  sechsten  Kapitel,  ihre  Be- 
standteile nach  den  Mitteln,  Gegenständen  und  der  Art  der  Nachahmung  angegeben; 
im  folgenden,  zwölften,  Kapitel  ist  ein  neuer  Gesichtspunkt,  die  äussere  Folge  und 
quantitative  Sonderung  massgebend  für  eine  dritte  Unterscheidung  von  „Bestand- 
teilen" der  Tragödie.  Hierauf  bereitet  das  obige  einleitende  Sätzchen  vor,  nachdem 
es  zuvor  noch  einen  Zusatz  zu  jenen  beiden  Bestandteilen  eingeführt  hat. 

183)  Ttd&oQ.  Das  an  sich  so  vieldeutige  Wort  wird  an  dieser  Stelle  für  diese 
spezielle  Sphäre  der  Theorie  der  dramatischen  Dichtung  zu  einem  terminus  technicus 
gestempelt  (vgl.  das  nähere  in  des  Verfassers  „Pathos  und  Pathema  im  aristotel. 
Sprachgebrauch",  S.  29  fi'.). 

184)  eiQrixaiy  vgl.  Anmerkung  173,  176,  179. 

185)  ngä^iq  <pQ-aQxixr]  xal  odvvrjQci.  Unser  Wort  „Handlung"  ist  nicht 
so  leicht  wechselnder  Anwendung  fähig,  dass  es  in  demselben  Zusammenhange  den 
zu  einer  Einheit  verbundenen  Komplex  von  Begebenheiten  und  Einzelhandlungen 
und  sodann  den  blossen  Begriff  des  „Thuns"  bezeichnen  könnte,  wie  an  dieser 
Stelle  7f Qä^iq  nach  den  hinzugefügten  Beispielen  zu  fassen  ist.  So  müsste  auch  die 
wörtliche  Übersetzung  lauten :  „verderbliches  Thun  und  schmerzliches  Be- 
zeigen"; denn  auch  dieses  letztere  liegt  in  dem  Worte  uQÜ^iq.  Daher  die  in  der 
obigen  Übersetzung  gewählte  Umschreibung:  „die  Vollziehung  des  Verderb- 
lichen und  Schmerzlichen  in  der  Handlung".  Solche  Partien  —  (isqtj  — 
der  Gesamthandlung  werden  in  keiner  Tragödie  ganz  fehlen,  wenn  auch  die  moderne 
Tragödie  dergleichen  bisweilen  ganz  auf  das  Gebiet  des  Seelischen  überträgt,  wie  es 
in  Goethes  „Iphigenie"  und  noch  mehr  in  seinem  „Tasso"  der  Fall  ist;  einen  art- 
bildenden Unterschied  wird  es  nur  begründen,  wenn  es  in  dem  Aufbau  der  Hand- 
lung eine  entscheidende  Rolle  spielt,  wie  im  „Ajax"  und  im  „Philoktet"  des 
Sophokles. 

Hier  endet  der  allgemeiner  gehaltene  Teil  der  aristotelischen  Poetik ,  die  sich 
nach  dem  lediglich  die  äussere  Einteilung  der  Tragödie  behandelnden  zwölften  Ka- 
pitel zunächst  der  spezielleren  Untersuchung  über  ihre  qualitativen  Bestandteile  zu- 
wendet, wie  sie  im  sechsten  Kapitel  unterschieden  wurden,  so  weit  diese  in  das  Ge- 
biet der  Theorie  der  Dichtung  fallen.  Der  vorliegenden  Untersuchung  war  es  um 
die  allgemeinen  Grundbegriffe  der  aristotelischen  Lehre  von  der  Dichtung 
zu  thun;  sie  schliesst  daher  hier  ab,  zumal  der  Verfasser  über  das  Sachliche  der 
weiterhin  in  Betracht  kommenden  wichtigsten  Fragen  in  den  oben  mehrfach  citierten 
Schriften  seine  Meinung  gesagt  hat,  vor  allem  in  dem  „Handbuch  der  Poetik", 
wo  auch  das  aristotelische  Fragment  „Über  die  Komödie"  ausführlich  behandelt 
worden  ist  (vgl.  S.  659-700). 

Von  der  weittragenden,  das  gesamte  Kunstgebiet  beherrschenden  Bedeutung 
des  aristotelischen  Begriffs  der  Mimesis,  der  so  gröblich  verkannt  ist  und  noch 
heute  verkannt  wird,  ist  oben  die  Rede  gewesen.  Wie  grundlegend  und  anwendungs- 
fähig aber  auch  die  übrigen  von  A.  in  diesem  allgemeineren  Teile  entwickelten  Be- 


64  Hebmann  Baumgart 

griffe  fttr  die  Theorie  der  Dichtung  sind,  mag  hier  an  dem  Beispiel  der  „Erkennung" 
noch  näher  in  Betracht  gezogen  werden. 

In  ebenderselben  Weise,  wie  der  Begriff  der  Erkennung  in  bezug  auf  Personen 
angegeben  ist,  nämlich  als  eine  durch  plötzlich  erlangte  Kunde  bewirkte  Sinnes- 
wandlung zur  Freundschaft  oder  Feindschaft,  von  welcher  Glück  und  Unglück  ab- 
hängen, ferner  am  besten  so,  dass  damit  ein  plötzlicher  Schicksalsumschwung  ver- 
bunden ist,  können  auch  gegenüber  leblosen  Dingen  oder  überhaupt  allen  Ver- 
hältnissen gegenüber  Erkennungen  stattfinden.  Also  auch  die  plötzlich  eintretende 
Erkennung  obwaltender  wichtiger  Umstände,  z.  B.  in  bezug  auf  Personenstand,  Ge- 
burtsrechte, Stand,  auf  die  Gemütsdisposition  entscheidend  einwirkender  vorgängiger 
Ereignisse,  die  so  lange  verborgen  waren,  ebenso,  was  A.  ausdrücklich  erwähnt,  dass 
jemand  eine  That  begangen  hat,  von  der  man  nichts  wusste,  dass  jemand  eine  That 
nicht  begangen  hat,  die  man  ihm  zuschrieb,  alles  dieses  sind  tragische  Erkennungen, 
wenn  sie  von  den  erwähnten  Umständen  begleitet  sind.  Für  die  beiden  letzteren 
Fälle  sind  die  Beispiele  zahlreich.  Seltener  sind  die  Handlungen,  in  denen  die  Er- 
kennung von  Dingen  und  Verhältnissen  die  von  A.  verlangte  Wirkung  hat.  Es  wird 
auf  einer  Erkennung  dieser  Art  allein  wohl  auch  kaum  eine  gute  tragische  Fabel 
gebaut  werden  können,  wenigstens  wüsste  ich  keine  solche  zu  nennen ;  sondern  diese 
werden  wohl  nur  in  Verbindung  mit  Peripetie  diese  Kraft  haben.  Eine  solche  Er- 
kennung, oder  nennen  wir  es  Erkenntnis,  bedingt  das  tragische  Verhängnis  für 
Deianira  in  den  „Trachinierinnen",  nachdem  die  Peripetie  erfolgt  ist ;  die  Peripetie 
selbst  beruht  hier  auf  einer  ein  bestimmtes  Ding  betreffenden  Unkenntnis,  die  sich, 
das  Unglück  der  Handelnden  entscheidend,  in  Kenntnis  wandelt. 

Und  was  hindert,  diesem  offenbaren  und  klaren  Sinn  der  aristotelischen  Defi- 
nition eine  noch  weitere  Ausdehnung  auch  auf  die  Erkennung  geistiger  Verhältnisse 
zu  geben  und  somit  dem  weiten  Ausdruck  xa  xvyövxa  eine  bestimmtere  Deutung 
zu  verleihen  ?  Es  scheint,  als  ob  von  dieser  Stelle  aus  das  Verhältnis  der  modernen 
Tragödie  zur  antiken  sich  genauer  bestimmen  Hesse. 

Immer  werden  die  Handlungen,  in  denen  die  Personen  durch  die  Schicksals- 
verhältnisse in  die  so  scharf  begrenzte,  unabweisbare  Alternative  zwischen  Glück 
und  Unglück  gestellt  sind,  nur  in  geringer  Zahl  vorhanden  sein.  Ein  Blick  auf  das 
tragische  Repertoir  bestätigt  das:  Sage  und  Überlieferung  fast  aller  Völker  bieten 
eine,  denn  auch  vielfältig  ausgebeutete,  beschränkte  Auswahl  derartiger  erlesener 
tragischer  Sujets  dar.  Die  konzentrierte  Kraft,  die  bei  solchen  Stoffen  in  den  Si- 
tuationen liegt,  gestattet  nicht  nur,  sondern  verlangt,  indem  sie  geringeren 
Raum  für  die  Nachahmung  der  Handlung  selbst  in  Anspruch  nimmt,  als  Gegengewicht 
eine  breitere  Entfaltung  der  öidvoia,  des  Gedankeninhalts,  und  des  durch  die 
Schönheit  versöhnenden  und  individuelle  Zustände  zum  Allgemeinen  erhebenden 
melischen  Schmuckes.  So  ist  die  antike  Tragödie  beschaffen.  Welch  eine  hoch- 
bedeutsame Rolle  dabei  die  „symbolischen  Behelfe"  von  Orakeln,  Träumen  und  un- 
mittelbarer Einwirkung  der  Gottheit  spielen,  davon  war  Schiller  tief  durchdrungen, 
als  er  in  seiner  „Braut  von  Messina"  die  alte  Grundform  wieder  lebendig  machte. 

Wenn  aber  die  moderne  Tragödie  auf  diese  tiefsinnige  Symbolik ,  die ,  richtig 
verwendet,  im  mythischen  Gewände  doch  immer  nur  die  Wahrheit,  den  echten  Rea- 
lismus vertritt,  mehr  und  mehr  verzichten  musste,  auf  die  sie  in  ihren  grössten 
Schöpfungen  dennoch  immer  wieder  zurückzugreifen  sich  gezwungen  sieht,  so 
konnte  sie  nur  selten  in  dem  von  A.  geforderten  Sinne  eines  plötzlichen  Um- 
schwunges die  „Peripetie"  und  ebenso  selten  die  tragische  „Erkennung"  zu  Stande 
bringen.  Dennoch  blieb  ihr  der  Raum,  den  Grundbedingungen  jener  Formen  gerecht 
zu  werden. 

Ein  aus  Irrtum  oder  Leidenschaftlichkeit  oder  —  wie  ja  beides  sich  leicht 
vereinigt  —  aus  beidem  hervorgehender  Fehler  lässt  den  Helden  Handlungen  begehen, 


Zur  Lehre  des  Aristoteles  vom  Wesen  der  Kunst  und  der  Dichtung.       65 

die  zu  seinem  oder  anderer  Unglück  seiner  Absicht  entgegengesetzt  enden  tPeripetie! 
—  Unkenntnis  von  Personen,  Sachen  oder  Verhältnissen  lässt  ihn  Handlungen  be- 
gehen oder  beabsichtigen,  eintretende  Kenntnis  macht  ihn  oder  einen  andern  oder 
beide  unglücklich  oder  löst  das  drohende  Unheil  auf:  Erkennung!  —  Beide, 
Peripetie  und  Erkennung,  können  aber  bei  dem  Mangel  jener  zur  letzten  Entscheidung 
drängenden  Schicksalsverwickelung  sich  nicht  unmittelbar  und  plötzlich  vollziehen: 
sie  müssen  also  in  allmählicher  Entwickelung  herbeigeführt  werden.  Leichter  als 
jene  ausnahmsweisen ,  tragischen  Situationen  sind  solche  aufzufinden  sowohl  als, 
zumal  bei  dem  Verzicht  auf  die  tragische  Symbolik,  zu  ersinnen,  in  denen,  statt 
dass  die  Verwickelung  vorzugsweise  in  den  Verhältnissen  liegt,  und  die  Charaktere 
nur  in  zweiter  Linie  sie  unterstützen,  umgekehrt  die  Verwickelung  vorzugs- 
weise in  den  Charakteren  liegt  und  die  Verhältnisse  nur  in  zweiter 
Linie  sie  unterstützen. 

Jene  haben  eine  grössere  dramatische  Kraft,  diese  ein  höheres  philosophisches 
Interesse;  jene  erfordern  die  höchste  Simplizität  in  der  Darstellung  der  Handlung 
und  der  Charaktere,  diese  vielfache  Erweiterung  der  Haupthandlung  durch  mannig- 
fache Nebenhandlungen  und  die  sorgfältigste  psychologische  Charakteristik;  jene 
bedürfen  des  idealen  Schmuckes,  des  Chores  und  der  Musik,  diese  begnügen  sich, 
was  die  idealisierende  Form  der  Nachahmung  betrifft,  mit  dem  Metrum  und  ver- 
wenden den  Gedankengehalt  als  Mittel  zur  Darstellung  der  Charaktere. 

Deswegen  kann  A.  sagen:  die  Tragödie  ahmt  Handlungennach,  die  Charaktere 
nur  um  der  Handlungen  willen.  Von  der  modernen  Tragödie  kann  man  sagen:  durch 
die  Nachahmung  der  Charaktere  gelangt  sie  zum  Aufbau  von  Hand- 
lungen, und  dieser  ist  überall  durch  jene  bestimmt.  Die  antike  Tragödie 
ist  mehr  drastisch  als  ethisch,  die  moderne  mehr  ethisch  als  drastisch. 
Vorwiegend  auf  ethischem  Wege  also,  vornehmlich  durch  die  Charaktere  bedingt, 
vollzieht  sich  bei  den  Neueren  die  Peripetie  demgemäss  allmählich,  im  Sinne 
eines  Umschwunges  der  Handlung,  der  herbeigeführt  wird  durch  eine  Verdüsterung 
des  Gemütes,  die  Unheil,  oder  eine  Klärung,  welche  glückliche  Lösung  bringt. 
Ebenso  die  Erkennung  als  ein  allmählich  innerhalb  der  Charakterentwickelung 
erfolgender  Übergang  von  der  völligen  Unkenntnis  zur  vollen  Kenntnis:  sie  kann 
folglich  in  diesem  übertrageneu  Sinne  nur  richtig  hergestellte  Kenntnis,  richtige 
Erkenntnis  von  Dingen  und  Verhältnissen  bedeuten.  Zu  bemerken  ist 
übrigens,  dass  in  solchem  Falle,  wo  die  „Erkennung"  nur  in  Bezug  auf  Sachen 
oder  Verhältnisse  stattfindet,  auch  die  antike  Tragödie  sogleich  eine  stärkere  Ent- 
faltung des  Charakteristischen  verlangt;  weil,  um  dem  Zuschauer  einen  derartigen 
entscheidenden  Einfluss  auf  die  handelnden  Personen  verständlich  zu  machen,  es 
notwendig  ist,  sie  von  der  seelischen  Beschaffenheit  derselben  überhaupt  und  von 
ihrer  grade  vorhandenen  Gemütslage  insbesondere  genau  zu  unterrichten.  Des 
Sophokles  „Philoktet"  und  „Trachinierinnen"  bieten  dafür  Beispiele. 

Der  Nachweis  für  das  Gesagte  lässt  sich  an  Shakespeares  dramatischer 
Welt  leicht  führen,  an  seinem  „Othello",  „Romeo"  und  „Cymbeline",  besonders 
aber  an  seinem  „Hamlet",  „Lear"  und  „Macbeth",  nicht  minder  an  unserer  eigenen 
klassischen  Tragödie. 

Einer  je  schärferen  Analyse  man  die  klassischen  Kunstwerke  der  Poesie  in 

Itertum  und  Neuzeit  unterwirft,  desto  stärker  tritt  ihre  innere  Wesensgleichheit 

lervor,  desto  fester  begründet  sich  die  Überzeugung,   dass  die  grossen  Wirkungen 

[der  Kunst  ewig  aus  denselben  Quellen  fliessen  und  dass,  wenn  die  äussere  Gestalt 

irer  Mittel  auch  unaufhörlich  wechselt,  diese  doch  ihrem  innersten  Wesen  nach 

imer  die  gleichen  bleiben,  weil  jene  grossen  Wirkungen  auf  den  unveränderlichen 

Irundfesten  unsrer  Seele  sich  aufbauen,  auf  den  einfachen  Grundempfindungen  von 

i'reude  und  Schmerz. 

5 


66  IIbbmann  Baumgabt,  Zur  Lehre  des  Aristoteles  u  s.  w. 

Gegenüber  der  mattherzigen  und  schwachgeistigen  Irrlehre,  dass  die  Aesthetik 
keine  Wissenschaft  sei,  sondern  nur  registrierend  die  wechselnden  Geschmacks- 
richtungen des  Tages  zu  beobachten  habe,  die,  mit  einem  scheelen  Seitenblick  auf 
den  unerschöpflich  tiefsinnigen  Begriff  der  aristotelischen  Mimesis,  der  Kunst  keine 
höhere  Aufgabe  zuzuweisen  vermag  als  an  der  möglichst  getreuen  Reproduktion 
der  Wirklichkeit  ein  im  besten  Falle  interesseloses  Wohlgefallen  zu  erregen,  und 
über  die  grossartige  Idee  der  kathartischen  Wirkung  aller  Kunst  mit  verständnis- 
loser Überlegenheit  hinwegsieht:  gegenüber  diesem  den  Markt  des  Tages  laut  er- 
füllenden Rufen  gewährt  es  eine  grosse  und  schöne  Gewissheit ,  den  fest  gefügten, 
tief  durchdachten  Regelbau,  den  der  grösste  Weise  des  Altertums,  aus  dessen  edelsten 
Schöpfungen  er  ihn  erkannte,  für  alle  Zeiten  aufgerichtet  hat,  als  das  von  innen 
heraus  bestimmende  Gesetz  in  allem  Grossesten  wiederzufinden,  was  unsere  Zeit 
und  Vorzeit  geschaffen  hat,  im  Volksepos  wie  in  der  Lyrik ,  in  Shakespeares  Dramen 
wie  in  der  Dichtung  unsrer  Lessing,  Schiller  und  Goethe. 


IL 

Über  das  Verhältnis  des  Etymologicum  Gudiannm  zu  dem 
sogenannten  Etymologicum  Magnnm  genninum. 

Von 

Otto  Garnnth. 

In  der  Berliner  philologischen  Wochenschrift  vom  16.  November  1889 
Nr.  46  S.  1461  ff.  und  in  den  Verhandlungen  der  40.  Versammlung 
deutscher  Philologen  und  Schulmänner  in  Görlitz  1890  S.  405  hebt 
ßeitzenstein  hervor,  er  kenne  in  nicht  weniger  als  zwanzig  Handschriften, 
die  von  ihm  an  der  zuerst  genannten  Stelle  auch  aufgezählt  werden,  ein 
Werk,  welches  Wort  für  Wort  den  Text  des  Etymologicum  Gu- 
dianum,  aber  ausserdem  erheblich  mehr  biete.  Das  letztere,  dessen 
etwaige  Neuausgabe  wertlos  sein  würde,  könne  nur  als  ein  Auszug  aus 
einem  uns  auch  vollständiger  und  besser  erhaltenen  Wörterbuche  be- 
zeichnet werden. 

Diese  Behauptung,  welche  Krumbacher  auf  Treu  und  Glauben  in 
seine  Geschichte  der  byzantinischen  Litteratur  S.  272  aufgenommen  hat, 
bedarf  ebensosehr  der  Richtigstellung,  wie  die  S.  406  der  Verhandlungen 
auf  der  Görlitzer  Philologenversammlung  ausgesprochene  Meinung  ßeitzen- 
steins,  dass  das  Verhältnis  des  'ETVfuoXoytyidv  allo  zu  dem  echten  ^Etv 
^oXoyrAov  jnsya  schwer  zu  bestimmen  sei.  „Ein  Teil  der  Quellen 
des  echten  fieya,  sagt  er,  scheint  in  dem  alXo  ebenfalls  und  zwar  selb- 
ständig benutzt  zu  sein.  So  stimmen  z.B.  die  aus  Orion  entlehnten 
Glossen  des  akXo  mehr  mit  der  uns  erhaltenen  Epitome  Orions  überein 
als  die  entsprechenden  Glossen  des  echten  f^eya.  Ein  anderer  Teil  der 
JJuellen  des  aXXo  ist  im  fieya  nicht  benutzt.  Doch  bleibt  nach  Abzug 
lieser  Bestandteile  ein  Rest  von  Glossen,  welche  dem  'ErvinoXoyiyidv  akko 
id  (.uya  gemeinsam  sind,  und  welche  der  Verfasser  des  ersteren  aus 
lem  letzteren  entnommen  haben  kann." 

Seltsamerweise  hat  Reitzenstein  nicht  gemerkt,  dass  das  so  genannte 


68  Otto  Cabnuth 

echte  'ETvfiokoyixdv  fifya,  welches  uns  in  dem  von  ihm  aufgefundenen 
Vaticanus  Gr.  1818  (saec.  X)  und  in  dem  von  Miller  herausgegebenen 
Florentinus  *j  S.  Marci  304  {saecX)^  ausserdem  in  mehreren  Auszügen 
und  Überarbeitungen  erhalten  ist,  dem  Gudianum  ebenso  zu  Grunde  liegt 
wie  dem  Magnum,  nur  dass  jenes  seine  Quelle  weniger  oft  benutzt,  dafür 
aber  um  so  getreuer  überliefert  hat  als  dieses. 

Zum  Erweise  dieser  Thatsache  wird  es  genügen,  wenn  sämtliche  unter 
einen  Buchstaben  gehörigen  Artikel  des  Flor,  mit  denen  der  beiden  ge- 
nannten Wörterbücher  einmal  verglichen  und  die  allen  drei  gemeinsamen 
einander  gegenübergestellt  werden.  Ich  habe  zu  diesem  Zwecke  den  Buch- 
staben K  gewählt,  weil  er  einer  der  reichsten  ist,  und  dann  auch,  um 
bei  dieser  Gelegenheit  den  cod.  Hauniensis  und  den  Parisinus  2636  mit 
heranziehen  zu  können,  die  beide  eine  Überarbeitung  des  echten  'Etv- 
fioXoyLyiov  (xsya  bieten.  Reitzenstein  ist  dies  bei  der  zuletzt  genannten  Hand- 
schrift merkwürdigerweise  nicht  aufgefallen,  obgleich  sie  für  viel  wichtiger 
als  der  Hauniensis  angesehen  werden  muss,  schon  deshalb,  weil  sie  uns  ganz 
erhalten  ist.  Wenn  er  und  Gramer  **)  Recht  haben,  gehört  auch  der  Ambros. 
L.  sup.  107  {saec,  XV)  hierher,  aus  welchem  Paris.  2638  abgeschrieben 
sein  soll,  so  dass  also  zu  den  bis  jetzt  bekannten  Auszügen  und  Überar- 
beitungen des  %Q]iiQTi^ETvixoXoyLy.bv  (xeya  auf  Grund  meiner  Beobachtungen 
drei  neue  hinzukommen  würden. 

Zum  Verständnisse  der  nachfolgenden  Tabelle  bemerke  ich,  dass  F 
den  Florentinus  {ed.  Miller)^  M  das  Etymol.  Magnum  {ed.  Gaisford),  G 
das  Etymol.  Gudianum  {ed.  Sturz),  S  den  von  mir  vollständig  verglichenen 
Sorbonicus  {supj)L  gr.  172),  welcher  bis  jetzt  als  die  beste  Handschrift  des 
''ETVfzokoyiyiov  allo  gilt,  H  den  Hauniensis,  P  den  Parisinus  2636  {cf. 
Cramer  I.e.  S.  59  bis  81)  und  Z  das  dem  Zonaras  (Antonios  Monachos?) 
zugeschriebene  Lexikon  {ed.  Tittmann)  bedeuten.  Die  blossen  Hinweisungen 
in  F  auf  andere  Stellen  sind  klein  gedruckt ;  ein  Sternchen  bei  den  Zahlen 
in  G  sagt,  dass  der  Artikel  hier  in  ursprünglicherer  Fassung  geboten  wird 
als  in  M,  dessen  Verfasser  den  Florentinus  oft  gekürzt  und  mit  anderen 
Zuthaten  versetzt  hat.  Ein  Kreuz  bei  den  noch  nicht  herausgegebenen 
Handschriften  zeigt  an,  dass  die  Glosse  sich  auch  in  ihnen  findet,  eine 
Null,  dass  sie  fehlt. 

*)  Bemerkt  sei  hier,  dass  H.  Keil  bereits  im  Jahre  1846,  also  22  Jahre  vor 
Miller,  im  Philol.  I  S.  182  in  seinem  Aufsatze:  Die  Marcusbibliothek  in  Florenz  den 
Florentinus  erwähnt  („304.  Etymologicum  magnum  saec.  X.  cf.  Mehus ,  ep.  Travers. 
p.  70^%  und  dass  F.  W.  S.  in  der  Rezension  des  Gaisford'schen  Etym.  M.  (Göttingische 
gelehrte  Anzeigen  178.  St.  1848  S.  1782)  ausdrücklich  darauf  aufmerksam  macht. 

**)  CAP  d.  i.  Anecdota  Graeca  e  codd.  manuscriptis  hihliothecae  Regiae 
Parisiensis  ed.  Cramer  IV  S.  59. 


Das  Verhältnis  des  Etym 

Gud.  zum  Etym.  Magnum  genuinum. 

69 

F 

M 

G 

S 

p 

H 

z 

KdßeiqoL      .     .     . 

482,  27 

289,  20 

0 

+ 

0 

1145 

KaßaUrjg     . 

„     18 

„     28 

+ 

0 

0 

0 

KdßaiGOog  . 

„     21 

0 

0 

+ 

0 

1141 

KdßrjGog .     . 

„     25 

0 

0 

+ 

0 

1154 

Kdyxava .     . 

„     34 

289,39*) 

0 

+ 

0 

1161 

Kayxccldv     . 

,,     41 

,,     47 

0 

+ 

0 

1177 

Kdöog      .     . 

„     54 

„     52 

4- 

0 

0 

1145 

KataövöaL  . 

0 

0 

0 

0 

0 

0 

KaöÖQa&hrjv 

0 

293,  16 

0 

0 

0 

0 

KasiQa 

483,  10 

0 

0 

0 

0 

0 

Kddrjg      .     . 

482,  57 

290,  20 

0 

+ 

0 

1150 

Kdd-aQfia     . 

483,  11 

0 

0 

0 

0 

0 

Kad-eÖQct      . 

0 

0 

0 

0 

0 

0 

Kd^T]  .      .      . 

484,  18 

290,40*) 

0 

+ 

0 

0 

Kad-ifiat, .     . 

483,  18 

0 

0 

4- 

0 

0 

Kad-^  rjßcov . 

„     24 

291,  43 

0 

4- 

0 

1177 

Ka^ioxa     . 

0 

0 

0 

+ 

0 

0 

Kad-rjOTO 

483,  49 

291,49*) 

+ 

0 

0 

1177 

Kaivevg  .     .     . 

497,  46 

292, 12 

0 

0 

0 

0 

Kaivog    .     .     . 

„     43 

„    13 

0 

-H 

0 

1145 

KaiQiov  .     .     . 

„     56 

„    15 

0 

0 

0 

1161 

KctLQog    .     .     . 

„     52 

„    18 

0 

0 

0 

0 

KaiQoaicüv  .     . 

498,    7 

„   20 

0 

4- 

0 

0 

Kai  öq)eag  .     . 

„     15 

„    25 

0 

4- 

0 

0 

KuKri        .     .     . 

484,  52 

„    59 

0 

0 

0 

0 

Kaytdßr]  .     .     . 

485,    1 

293,   1*) 

0 

+ 

0 

1154 

Kaxxslovtsg    . 

0 

„      7 

0 

0 

0 

0 

Kdyci^og .     .     . 

484,  55 

„      9 

+ 

0 

0 

1145 

Kazog      .     .     . 

„     37 

„    12 

0 

0 

0 

1145 

Kdvxave .     .     . 

0 

„    16 

0 

4- 

0 

0 

KaytoxccQTog 

484,  47 

„   23*) 

0 

+ 

0 

1155 

KaKOGxokog , 

„     45 

„    42*) 

4- 

0 

0 

1146 

KaxXsvocci  . 

0 

0 

0 

0 

0 

0 

Kdlad^og 

485,  22 

294,  33*) 

0 

0 

0 

1446 

KaXafiioylvcpelv 

„'    33 

0 

0 

4- 

0 

0 

KaXij^co  .     .     . 

„     41 

„  37*) 

0 

4- 

0 

0 

KaXavQOTta 

„     36 

„  50*) 

0 

4- 

0 

0 

Kalrif-ievaL  .     . 

„     50 

0 

0 

4- 

0 

0 

KaXid      ,     .     . 

„     51 

295,  3 

0 

4- 

0 

1155 

Kala,     .     .     . 

486,  38 

0 

0 

4- 

0 

0 

KaXXarig 

,,    41 

296,  1 

0 

0 

0 

0 

70 

Otto  Caenuth 

F 

M 

G 

S 

1  p 

H 

z 

KakXaia .     .     .     . 

486,  45 

294, 28 

-h 

0 

0 

0 

KdX?.ri      .     . 

„     43 

296,    4 

0 

0 

0 

1161 

KaXkiyvvaiTia 

487,11 

„      6*) 

+ 

0 

0 

0 

KaXhfiog     . 

„     26 

„    11 

0 

0 

0 

1146 

KctXXLJcaQjiov 

0 

„    16 

-H 

0 

0 

1155 

KaXXiocpvQOv 

487,    7 

0 

0 

+ 

0 

0 

KaXkvvTQOV 

486,  53 

0 

0 

4- 

0 

0 

KaXoy.(xyad^L 

a 

„       3 

296,  22 

0 

+ 

0 

0 

KaloTtovg 

„       6 

295,  23 

4- 

0 

0 

1146 

KaXog     . 

485,  55 

„    18 

-h 

0 

0 

1146 

KdlTtig   . 

0 

296,  25 

0 

4- 

0 

1155 

Kakvßrj    . 

486,21 

0 

0 

4- 

0 

1156 

KdXvf.ivoQ 

„     25 

296,  31 

H- 

0 

0 

0 

KaXvdwv 

40,32 

0 

0 

0 

0 

0 

KaXvipüJ 

486,  23 

296,  35*) 

-h 

0 

0 

0 

Kdkxag   . 

„     29 

„   38 

0 

0 

0 

0 

KaXxV^^'^'^ 

„     35 

„   42*) 

0 

4- 

0 

0 

KdXwag  . 

„     14 

0 

0 

+ 

0 

0 

KaXcoöiov 

„     15 

296,45 

0 

4- 

0 

0 

KaXXwTcL^u) 

„     54 

„  53 

0 

0 

0 

0 

Ka^(xovLr]v 

488,  44 

0 

0 

4- 

0 

1151 

Kdfxa^     . 

487,  38 

296,55 

0 

4- 

0 

0 

KafieXavxcov 

„     49 

297,  3u. 
308,38 

0 

0 

0 

1159 

KdfÄTjXog 

„     56 

295, 41  u.  44 

+ 

0 

0 

0 

Kafj,fivco 

488,  43 

0 

0 

0 

0 

0 

KdfXLVog  . 

„       3 

0 

0 

0 

0 

1156 

KdjUfxoQog 

„     42 

297,   6 

0 

0 

0 

1143 

KafiTtavol 

„     39 

„     8 

0 

4- 

0 

1147 

Kafj,7trj    . 

„     33 

„    14*) 

+ 

0 

0 

1156 

Kavövlrj 

„     53 

„    22 

4- 

0 

0 

0 

Kavd-og  . 

„     55 

„   24*) 

+ 

0 

0 

1147 

KavdxiK€ 

»     49 

0 

0 

4- 

0 

0 

KdvaatQa 

»     52 

297,  28 

0 

4- 

0 

0 

Kdvvad'Qov 

489,    5 

0 

0 

4- 

0 

0 

Kavovag . 

„     35 

297,41*) 

0 

4- 

0 

0 

Kavovv    . 

„       9 

„    45 

0 

0 

0 

0 

Kdvwßog 

0 

,,    49 

0 

4- 

0 

0 

Kavaxi]öd 

488,  51 

0 

0 

0 

0 

1179 

Kavcov     . 

489,  31 

0 

0 

4- 

0 

1143 

Kdnr) 

„     40 

297,  55 

+ 

0 

0 

1154 

Das  Verhältnis  des  Etym 

.  Gud.  zum  Etym.  Magnum  genuinum. 

71 

F 

M 

G 

s 

p 

H 

z 

Kd7crjkog      .     .     . 

490,    4 

298,    1*) 

4- 

0 

0 

,   1147 

KuTtTteae     .     .     . 

0 

„     21 

0 

4- 

0 

:    0 

KaTtETog      .     .     . 

489,  56 

„     32 

0 

4- 

0 

i   1147 

KccTtTtagig    .     .     . 

490,  14 

„     24 

+ 

0 

0 

1   1156 

KaTtvrj     .... 

„       1 

0 

0 

4- 

0 

1156 

Kancpäkaga    .      . 

0 

0 

0 

0 

0 

0 

KctQa 

490,  24 

298, 40*) 

0 

4- 

0 

1156 

Kdqaßog       .     .     . 

„     29 

„     46 

+ 

0 

0 

1147 

KagaöoKSiv       .     . 

„     33 

„     52 

4- 

0 

0 

1177 

KaQafißtg     .     .     . 

„     41 

„     57*) 

0 

4- 

0 

0 

KaqßavoL     .     .     . 

„     47 

299,   3*) 

0 

4- 

0 

0 

KoLQÖOTtog    .     .     . 

V     48 

„       6*) 

0 

4- 

0 

0 

Kagrjarog    .     .     . 

0 

0 

0 

4- 

0 

0 

Kagr] 

490,  56 

299,19 

+ 

4- 

0 

0 

KccQtjva   .... 

491,16 

„     32 

0 

4- 

0 

1162 

KaQTjTog .... 

„     19 

0 

0 

0 

0 

1162 

Kaglg      .... 

„     40 

300,    1 

0 

4- 

0 

1156 

KaQYlvog      .     .     . 

„     52 

„     19*) 

+ 

0 

0 

1147 

Kaqog      .... 

0 

„     30 

0 

4- 

0 

1156 

KccQog      .... 

492,    3 

0 

+ 

0 

0 

1147 

KaQTtaXLixcog    .     . 

„     27 

„     37*) 

0 

4- 

0 

1180 

KaQTiog  .... 

492,  15 

„     54*) 

4- 

4- 

0 

1144 
U.1147 

KaQQLOV   .... 

„     37 

301,    6 

0 

4- 

0 

0 

Kagta      .... 

„     44 

„     35 

0 

0 

0 

0 

KaQvy.T]    .... 

„     51 

„     37*) 

0 

4- 

0 

0 

KaQxccQoöovg    .     . 

493,    2 

„     44 

0 

4- 

0 

1148 

Kaooaßdg    .     .     . 

„     28 

f  301,  55 
1 302,  35 

0 

0 

0 

1157 

KaaiyvrjTog 

„     14 

301,57 

+ 

4- 

0 

1148 

Kdoaa     .... 

«     28 

302,  35*) 

0 

4- 

0 

1152 

Kaoravsa    .     .     . 

„     25 

0 

0 

4- 

0 

1157 

KaoowQevovaa 

0 

0 

0 

4- 

0 

0 

KaooojQig    .     .     . 

493,31 

302,45*) 

0 

4- 

0 

0 

KaraßoGTQvxog     . 

494,  43 

„     56 

0 

4- 

0 

0 

Kaxaöcngb^üv  . 

0 

303,    6 

0 

0 

0 

0 

KaTaQXiCio  .     .     . 

0 

»       7 

0 

0 

0 

1178 

Kazelwov    .     .     . 

494,  53 

0 

0 

4- 

0 

0 

Kara&vfxiog     .     . 

0 

303,56 

0 

0 

0 

1160 

KaTaCyöiqv   .     .     . 

494,  48 

„     57*) 

0 

0 

0 

0 

KaraelaaTO      .     . 

495,    1 

0 

0     1 

4- 

0 

0 

72 


Otto  Carnuth 


F 

T  " 

G 

S 

p 

H 

z 

Karayidoa    .     .     . 

494,  38 

304,    1 

0 

0 

0 

0 

KarayiXeig    .     .     . 

495, 19 

„       5 

0 

4- 

0 

0 

KaTa7ciiprj  .     .     . 

666, 10 

0 

0 

+ 

0 

0 

KaTaörjiiioßoQrJGai 

0 

304,11 

0 

+ 

0 

1177 

KardxXcüä^eg     .     . 

495,  23 

„     12 

0 

+ 

0 

0 

KarazTaviead^e     . 

0 

0 

0 

0 

0 

0 

KaralrvS     .     .     . 

494,  28 

304,16 

-h 

4- 

0 

0 

KaTay,Qrjd-BV      .     . 

495,  29 

„     52 

0 

0 

0 

0 

Kaxaxxdq  .      .      . 

0 

0 

0 

+ 

0 

0 

xara  firiQ    hat]     . 

0 

304,  55 

0 

4- 

0 

0 

KazenetpvTi      .     . 

0 

0 

0 

0 

0 

0 

KaTCfiv^aTO      .     . 

0 

305,    1 

0 

0 

0 

0 

KaTaTtQo'Claod^ai . 

495,  32 

„      3*) 

0 

4- 

0 

1178 

Kazanellaq     .      . 

0 

0 

0 

0 

0 

0 

Kardax^oig 

0 

0 

0 

0 

0 

0 

KaTaqQETcig      .     . 

0 

0 

0 

4- 

0 

0 

KaiciüxeOLv       .     . 

0 

305,   9 

0 

0 

0 

0 

KaTax^vrj     .     .     . 

495,  47 

„     11 

+ 

0 

0 

1158 

Kaxaxprixwv      .     . 

„     49 

„     13 

0 

4- 

0 

0 

Ka7;eL(A,evov  vlrjv  . 

0 

0 

0 

4- 

0 

0 

KaT€KTa^€V        .       . 

495,  52 

305,  22 

0 

4- 

0 

1178 

KaTEXTave   .     .     . 

0 

0 

0 

0 

0 

1178 

KaTioxvcod^evza    . 

497,  22 

0 

0 

0 

0 

1178 

Kaz'   svwrca     .     . 

496,    7 

307, 26 

0 

4- 

0 

1157 

KarsTtod-r]    .     .     . 

„     14 

306,  33 

+ 

4- 

0 

1178 

Kareqe^s 

0 

307,  33 

0 

0 

0 

0 

KatSQV'KCü 

0 

0 

0 

0 

0 

0 

KarrjyoQSiv 

497,  17 

307,34*) 

0 

+ 

0 

0 

KaTrjkvGiT} 

„      8 

„     38 

0 

0 

0 

1157 

Kaxfiqee  . 

„     15 

„     42 

0 

4- 

0 

1179 

Katrirprig 

496,  54 

„     45 

0 

0 

0 

1148 

KaTiqcpöveg 

497,    4 

„     52 

0 

0 

0 

0 

Kdr^ave 

0 

0 

0 

+ 

0 

0 

KaxoQeaipi 

0 

0 

0 

0 

0 

0 

Kazovldg 

497,  24 

308, 19 

0 

0 

0 

1157 

KavrjS     . 

493,  48 

0 

+ 

4- 

0 

1148 

KavKCOv  .     . 

0 

308, 26 

0 

4- 

0 

0 

KavXcovla 

494,    8 

0 

0 

0 

0 

0 

KaTco/nadov 

497, 28 

308,22*) 

0 

0 

0 

1180 

KaiOTiLv 

„     27 

„     24 

0 

0 

0 

0 

KavXog    . 

493,  57 

„     29 

0 

4- 

0 

1149 

Das  Verhältnis  des  Etym.  Gud.  zum  Etym.  Magnum  genuinum. 


73 


F 

M 

G 

S 

p 

H 

z 

Kavf.ia     .     .     .     . 

493,  51 

305,  21 

+ 

4- 

0 

1163 

KavGTQog 

„     40 

308,32u. 
306,  20 

0 

0 

0 

0 

KavQog   . 

„     52 

308,  33 

0 

+ 

0 

1149 

Kavola    . 

487, 49 

„     38 

0 

+ 

0 

0 

KavOTBLQog 

493, 44 

0 

0 

+ 

0 

1149 

Ka%la^o) 

494, 10 

308, 44 

0 

+ 

0 

1179 

Kccipa 

„     20 

„     51*) 

0 

+ 

0 

0 

KeaQ  .     . 

511,12 

„     57 

0 

0 

0 

1191 

Kaaq     . 

0 

0 

0 

0 

0 

0 

Keaaev    . 

498,  30 

0 

0 

0 

0 

0 

Kiatai    . 

0 

309,    1 

0 

+ 

0 

1193 

Keßlri      . 

498,  42 

0 

0 

+ 

0 

1189 

KexQivrig 

„     36 

309,    6 

0 

0 

0 

1181 

KeÖQog    . 

„     44 

„     13 

+ 

+ 

0 

1189 

Kedvög    .     . 

„     51 

309, 18 

0 

+ 

0 

1181 

KbWsv    . 

508,  23 

„     23*) 

0 

+ 

0 

1201 

Kel&c.     . 

0 

0 

0 

+ 

0 

1202 

Kel^iat    .     . 

508,  56 

309,  41*) 

0 

+ 

0 

0 

Keiliirjhog    . 

„       7 

310,    5 

0 

+ 

0 

1192 

Kslvog     .     . 

„     40 

„     12*) 

0 

+ 

0 

1183 

Kelog .     .     . 

507,  51 

„     45 

+ 

0 

0 

0 

KeiQia     .     . 

508, 12 

309,  35 

+ 

0 

0 

1189 

KeIcü  .     .     . 

„      3 

0 

0 

+ 

0 

1197 

Keöai^iü   .     . 

498,  55 

311,30 

0 

+ 

0 

1193 

KÜQEiV    .      . 

508,    1 

„     32 

+ 

0 

0 

1196 

Ksliov      .     . 

508,    5 

0 

0 

4- 

0 

1197 

Ke/MÖrjOeL   . 

499,  26 

311,34 

0 

+ 

0 

1195 

Key.aöriGOfxe'y 

d'a 

„     30 

„     41 

0 

0 

0 

1197 

Kexadojv 

„     15 

„     46 

0 

+ 

0 

1197 

Keyidfxtü  .     . 

„       6 

„     49 

0 

4- 

0 

0 

Key.aG^Levs  . 

„     35 

„     53 

0 

0 

0 

1197 

Keuveatm  . 

„     41 

0 

0 

+ 

0 

1197 

Ks'AacprjOTa  . 

„     37 

311,54 

0 

0 

0 

1198 

K€'AXavf.ievrjv    . 

0 

„     57 

0 

+ 

0 

0 

K€xlaf,i€va}v 

500,  27 

312,    1 

0 

+ 

0 

0 

Kevlev^a      .     . 

0 

„       5 

0 

0 

0 

0 

Key,ayttüfj,svoc    . 

0 

0 

0 

0 

0 

0 

KsäIbto  .     .     . 

500,  31 

0 

0 

0 

0 

0 

Kezkfjxa .     .     . 

0 

312,    8 

.  0 

0 

0 

1198 

Ke'Ah]yovTeg 

. 

500,    3 

„     11 

0 

+ 

0 

0 

74 


Otto  Carnuth 


F 

M 

G 

S 

p 

H 

z 

KsTcUatai    .     .     . 

500,    8 

0 

0 

+ 

0 

1198 

KixXixcc 

0 

0 

0 

0 

0 

0 

KeyihfihoL 

500,  25 

312,24*) 

0 

0 

0 

0 

Kexlrjato 

499,  49 

„     34 

0 

0 

0 

0 

Ke}iXo/j,ivoL 

500,  36 

0 

0 

+ 

0 

1198 

Kiytkv^i  . 

520,  48 

312,  36 

0 

4- 

0 

1198 

Kiyclvrai 

„     38 

„     41 

0 

+ 

0 

0 

KeKOQvS^fxevog 

500,  51 

„     49 

0 

0 

+ 

1198 

KenoQvd^ixiva 

„     43 

„51U.55 

4- 

+ 

+ 

1199 

Ki^lo)     .     . 

„     37 

313,    3 

0 

4- 

4- 

1199 

K^TCjurjKa . 

499, 47 

„       9 

4- 

0 

4- 

1199 

KiY,ova    . 

500,  55 

„     14 

0 

0 

+ 

0 

KixQOLxa  . 

0 

0 

0 

0 

0 

0 

mxQayßL  . 

0 

0 

0 

0 

0 

0 

KsKQaf^hag 

0 

0 

0 

0 

0 

0 

Key.OTrjOTa 

0 

0 

0 

0 

0 

0 

KizQLYM    . 

501,12 

313,17 

0 

-f- 

4- 

0 

KexTTjfxac 

„     26 

„     28*) 

0 

+ 

4- 

0 

Kelaöeivog 

„     31 

„     34 

0 

0 

4- 

1182 

KeXaöov  . 

„     32 

0 

0 

+ 

0 

0 

Kelddwv 

„     36 

0 

0 

0 

0 

0 

KelaLvecpeg 

„     48 

313,42 

+ 

0 

0 

0 

Kekatvov 

„     44 

0 

0 

0 

0 

1192 

KeXagv^Siv 

„     37 

0 

0 

0 

0 

1196 

Kelo)  .     . 

502,    5 

313,  36 

-h 

0 

0 

0 

KiXeai    . 

„       5 

„    36 

+ 

0 

4- 

1199 

KeXeog    . 

„     10 

„     56 

+ 

0 

4- 

1184 

Kelevd'og 

„     21 

314,    6 

0 

+ 

4- 

1188 

Kelev^a 

„     23 

„       8 

0 

0 

4- 

1189 

K^kevfia . 

,,     19 

0 

0 

0 

0 

0 
1185 

Kekr^g      .     . 

„     36 

0 

0 

0 

0 

il82 

KelrjTl^Eiv 

„     33 

0 

0 

0 

0 

1199 

KeXevTioo) 

„     16 

0 

0 

0 

0 

0 

KsXXsLv 

0 

0 

0 

0 

0 

0 

KeXriYJi  . 

502,  50 

0 

-H 

0 

0 

0 

Kelioi     . 

„     45 

0 

0 

0 

0 

1185 

Kelvq)ri  . 

„     52 

314,    4 

+ 

0 

0 

1192 

mXwQ     . 

„     54 

„     22*) 

0 

-f- 

+ 

0 

Ke/ndg     . 

503,    1 

»     17 

+ 

0 

4- 

1188 

lUv     .     . 

0 

0 

0 

0 

0 

0 

Das  Verhältnis  des  Etym 

.  Gud.  zum  Etym.  Magnum  genulnum. 

75 

F 

M 

G 

S 

p 

H 

Z 

Kevd-iTtTtri    .     .     . 

503,  34 

0 

0 

0 

0 

0 

Keveog     .     . 

0 

0 

0 

0 

0 

0 

Kev€inßaTa)  . 

503,  32 

314,21 

0 

0 

0 

1196 

Kevecov   .     .     . 

„     28 

0 

4- 

0 

0 

1184 

Kevog      .     . 

„     12 

314,24 

0 

0 

0 

1185 

Ksvoai    .     .     . 

„     35 

0 

0 

0 

0 

0 

KevTai    .     . 

„    48 

314,38*) 

0 

+ 

+ 

0 

KevTavQog   . 

„     50 

„     43*) 

0 

0 

-h 

0 

K€yTQr]V€X€ag 

,,     41 

0 

0 

+ 

+ 

1190 

KivTQLOV 

„     39 

314,  58 

0 

0 

0 

0 

KevTQOv  .     . 

„     39 

j>      ?> 

0 

0 

0 

0 

KeVTQOTVTtOV 

„     47 

„     60 

0 

0 

+ 

0 

Ki{.icpog  .     . 

504,    1 

0 

+ 

0 

4- 

0 

Kegaßazrjg  . 

„       3 

315,11 

0 

+ 

+ 

1185 

KeQccfxog 

„     13 

„     15 

+ 

0 

+ 

1185 

KegaCtsiv     . 

,,      6 

„     26 

0 

0 

4- 

0 

KeQatrrjg 

„      9 

„     28*) 

0 

+ 

4- 

0 

KeQajußrjXog 

0 

„     22 

0 

0 

0 

0 

Ksgaf-ieizog . 

504, 16 

0 

-H 

+ 

4- 

0 

KeQaiQe  ,     .     . 

„     36 

315,31 

0 

-h 

4- 

1197 

Keqavvvg 

„     25 

„     33 

+ 

0 

+ 

1200 

KsQag      .     . 

„     43 

»     40 

0 

+ 

4- 

1192 

Kega^oog     . 

505, 10 

0 

0 

0 

0 

1185 

Keqavvog 

0 

316,10 

4- 

0 

+ 

0 

Kegöaleog  . 

505,  35 

0 

0 

0 

0 

1186 

K€QÖaXE6q)QWv 

„     40 

316,15 

0 

0 

4- 

0 

KeQÖaivstv  . 

„     33 

„     20 

0 

0 

+ 

1197 

KSQÖIOV    .      . 

„     44 

0 

+ 

+ 

+ 

1192 

KigÖLOTog    . 

„     53 

0 

0 

0 

0 

1186 

Keqdog    .     . 

,,    29 

317,    3 

+ 

0 

4- 

0 

KSQÖCÜ      .      . 

„     34 

316,30*) 

+ 

0 

+ 

0 

KeQY.Lg     .     . 

„     57 

„     35 

0 

0 

4- 

1190 

KeQiiolvQa   . 

506, 18 

0 

0 

0 

0 

1190 

K€Qy.ovQog    . 

„     15 

0 

0 

+ 

4- 

1186 

KegKVQ    .     . 

,,     20 

316,  39 

0 

+ 

+ 

0 

KeQxcüTteg    . 

„      8 

0 

0 

4- 

4- 

1186 

Kegu)       .     . 

504,  33 

317,   8 

0 

+ 

4- 

0 

KsQoeig   .     . 

505, 13 

„     10*) 

0 

■+■ 

4- 

1186 

lUgoat    .     . 

506, 19 

0 

0 

+ 

4- 

1200 

KegT6f.iog     . 

,,     33 

317,20 

+ 

0 

4- 

0 

KegrofiLOV   . 

„     35 

»     23 

0 

0 

4- 

0 

76 


Otto  Cabnuth 


F 

M 

G 

8 

p 

H 

z 

KeQTOfiiicüv  ,     .     . 

506,  38 

317,25 

+ 

0 

0 

1200 

Keatog    .     . 

„     46 

»     28 

+ 

4- 

4- 

1187 

Kevd'ilog 

507,    1 

„    38*) 

0 

0 

4- 

1187 

KsfpaXri  .     . 

„       4 

„     47*) 

0 

4- 

4- 

1190 

K€q)aXXrjvla 

„     26 

0 

0 

0 

0 

1191 

KeXccvöoTa  . 

„     33 

318,12 

0 

0 

0 

1200 

KexccQTjora  . 

„     41 

„     15*) 

0 

0 

0 

1201 

Kexaoolaro 

„     35 

„     21 

+ 

4- 

0 

1201 

KexoXojaeraL 

„     46 

„     29 

+ 

0 

0 

1201 

Kewg  .     .     . 

„     51 

0 

4- 

0 

0 

1191 

Kevd^O(.iai    . 

0 

0 

0 

0 

0 

1200 

Krideod^ai    . 

0 

318,34 

0 

0 

0 

0 

Krjöeog    .     . 

509,  46 

0 

0 

4- 

0 

1203 

KvideGtrig     . 

„     50 

318,  56 

+ 

4- 

0 

1203 

KrjöiGTOi 

510,    3 

319,   5 

0 

4- 

0 

0 

Krjdeiv    .     . 

0 

0 

0 

4- 

0 

0 

Kriöea      .     . 

509,  38 

319,    7 

+ 

0 

0 

0  . 

KrjÖLOTog     . 

0 

0 

0 

+ 

0 

1203 

Krjdo)      .     .     . 

509,  22 

318,  36 

+ 

0 

0 

0 

Krjycdg     .     .     . 

510,    8 

319,    9*) 

4- 

4- 

0 

1202 

Krjmecv   .     . 

„     19 

0 

0 

0 

0 

1206 

KrjXevg    .     .     . 

0 

319,  39 

0 

0 

0 

1204 

KrjX€(p     .     .     . 

510,  28 

0 

+ 

0 

0 

1202 

K^Xrj.     .     .     . 

»     41 

0 

0 

0 

0 

1204 

Kr]lr]d^fi6g   .     . 

„     31 

0 

0 

0 

0 

0 

KrjUg      .     .     . 

0 

0 

0 

0 

0 

1204 

KrjXov     .     .     . 

510,45 

319, 18*) 

0 

4- 

0 

1205 

KrjXoveiog    .     . 

„     49 

,,     25*) 

0 

4- 

0 

1205 

KrjkcDavd    .     . 

0 

0 

0 

0 

0 

0 

K7]k(jÜV      .      .      . 

510,51 

319,  32 

+ 

0 

0 

1202 

KrJTtog     .     .     . 

511,    6 

„     53 

0 

0 

0 

1203 

KrjQ    .... 

„     11 
u.  22 

320,    2 

4- 

4- 

0 

1206 

Kr]QafivvTOV      . 

511,28 

0 

0 

0 

0 

0 

KrjQeoGupoQ7]Tovg 

„     31 

0 

0 

0 

0 

0 

Kr^QVKSiov    .     .     . 

„     47 
u.  52 

320, 15 

0 

0 

0 

1206 

KriQovX'Aog  .     .     . 

,,     33 

0 

0 

0 

0 

1205 

KriQv^      .... 

„     40 

320,  42 

0 

4- 

0 

1204 

Kiqcpri'iöa  yctlotv     . 

512, 14 

0 

0 

0 

0 

1205 

Krjq)T^Gcöi     .     . 

. 

„     16 

0 

0 

0 

0 

0 

Das  Verhältnis  des  Etym.  Gud.  zum  Etym.  Magnum  genuinum. 


77 


F 

M 

G 

S 

p 

H 

z 

Krjcprjveg.     .     .     . 

512,18? 

0 

0 

0 

0 

1203? 

KrjQoS'i  . 

0 

0 

0 

0 

0 

1207 

KrjcüCLQ    . 

512,28 

321,    1*) 

+ 

0 

0 

1204 

Krjojörjg  . 

„     34 

0 

0  . 

0 

0 

0 

Kiavlg     . 

«     37 

0 

0 

0 

0 

1207 

Klßörjlov 

„     44 

321,13 

-f- 

0 

0 

1213 

KlßLOig  . 

„     54 

0 

-H 

0 

0 

0 

KißcJTog . 

„     49 

321,    6*) 

+ 

0 

0 

1210 

U.11 

lUßog      . 

„     52 

„       9 

+ 

0 

0 

0 

KiyzUg  . 

513,    4 

0 

-f 

0 

0 

1210 

KiyycXlaai    . 

„       9 

0 

0 

+ 

0 

1215 

KiöaXla  .     , 

„     19 

0 

0 

0 

0 

0 

KlöaQLV  . 

„     17 

321,  30*) 

0 

+ 

0 

1211 

KLe     .     . 

0 

„    .38 

0 

0 

0 

1215 

Kid^aQig  . 

513,23 

„     40 

0 

+ 

0 

1211 

Kid^agog 

„     26 

„     50 

+ 

0 

0 

0 

KiQ^KLQÖivOi 

'  Unaq 

0 

0 

0 

0 

0 

0 

KUig .     . 

513,32 

0 

+ 

0 

0 

0 

KUoveg  .     . 

„     37 

0 

0 

0 

0 

0 

KUvg 

„     33 

0 

+ 

0 

0 

1208 

KlTiVW       . 

0 

321,53 

0 

+ 

0 

1215 

KLAhjGiiw 

513,  38 

322,    8 

0 

0 

0 

1215 

Kikiytla  . 

„    41 

0 

0 

0 

0 

0 

Kifzf^sQLOvg 

„     44 

0 

0 

0 

0 

1208 

Kivadog .     . 

514,    5 

0 

0 

0 

0 

1208 

Klvaiöog 

„     15 

322,11*) 

0 

0 

0 

1208 

Kivd'KTjg  . 

„     27 

0 

0 

0 

0 

0 

KLvöaxpog 

„     34 

0 

0 

0 

0 

1209 

Klvövvog 

„     37 

322, 17 

0 

4- 

0 

0 

Kivr]Oi^  . 

513,56 

„     31 

+ 

0 

0 

0 

Kivdf,i(jü!nov 

514,    2 

„     58 

+ 

0 

0 

0 

Kivvf-ievog 

„     17 

„    56 

0 

0 

0 

0 

KlWQl]  . 

0 

0 

0 

0 

0 

0 

KivtJ  .     . 

513,52 

322,  37 

0 

+ 

0 

1216 

KtvwTceda 

„     57 

0 

+ 

0 

0 

1214 

Kiovlg     . 

514,47 

0 

0 

0 

0 

0 

Ki6y.Q(xva 

„     53 

0 

0 

0 

0 

0 

KiqKaiOv 

515,    9 

0 

0 

0 

0 

0 

KlQKrj 

„       6 

323,   3*) 

+ 

0 

0 

0 

KLQY.og     . 

0 

,,       7 

0 

+ 

0 

1209 

78 

Otto  Cakhuth 

F 

M 

G 

1      B 

p 

1      H 

i  2 

Klgga      .     .     .     . 

515, 18 

0 

0 

0 

0 

0 

KiQQig     . 

„     141 
„     28f 

323,  44*) 

0 

0 

0 

0 

KLorjQig  . 

„     11 

0 

+ 

0 

0 

Kioar]lg  . 

0 

0 

0 

0 

0 

0 

Ktoovßtov 

515,  33 

323, 14*) 

0 

+ 

0 

1214 

Kiarri      . 

0 

324,    5 

+ 

0 

0 

0 

Kiaaw     . 

515,38 

323,  20 

+ 

4- 

0 

1216 

KLtqlov  . 

„     48 

0 

0 

0 

0 

0 

KL%ri(j.evov 

0 

0 

0 

0 

0 

0 

IUX(^  .     . 

515,  58 

323,26 

+ 

+ 

0 

0 

Kix^lw    . 

„     58 

„     27 

+ 

0 

0 

0 

KiXrjlag  . 

516,13 

„     34 

0 

0 

0 

1209 

Klwv  .     . 

514,54 

„     36 

+ 

0 

0 

1209 

Kkalct)     . 

516,  51 

324, 27*) 

+ 

+ 

0 

1221 

Klia  .     . 

517,21 

„     33 

0 

+ 

0 

1220 

ladtco     . 

516,26 

„     36*) 

0 

+ 

0 

0 

Kleagig  . 

0 

0 

0 

0 

0 

0 

KkeiÖLOv 

0 

0 

0 

0 

0 

0 

Klelv      . 

518,    5 

325,  25 

0 

0 

0 

1218 

KXslQ    . 

0 

0 

0 

0 

0 

0 

Kletod-^vrjg 

517,51 

325, 31 

0 

+ 

0 

0 

KlsLTayogag 

,,     50 

„     45 

0 

+ 

0 

0 

KleiTTj    .     . 

„     54 

„     35 

H- 

+ 

0 

0 

KkeiTog  .     . 

„     48 

0 

0 

0 

0 

0 

KXsLTocpwv  . 

„     50 

325, 45 

0 

0 

0 

0 

KleiTvg  .     . 

0 

0 

0 

0 

0 

0 

Kleiu}     .     . 

517,15 

0 

0 

0 

0 

1221 

Kkelcofxev     . 

0 

325, 47 

0 

0 

0 

1221 

KXiog      .     . 

517,18 

326,    5*) 

+ 

0 

0 

1220 

Kkecoval 

„     27 

0 

0 

0 

0 

1218 

KXiTiTTjg 

„     39 

0 

+ 

+ 

0 

1216 

KXeocpcvTTjg 

„     31 

326, 19 

0 

+ 

0 

0 

KXevag    .     . 

498,  31 

„     28*) 

0 

+ 

0 

0 

KXevd'OixaL  . 

517,45 

0 

0 

0 

0 

0 

Klißdiov  .     . 

519,  36 

326,  45*) 

0 

0 

0 

1218 

/a?^Cw   .   . 

0 

0 

0 

-h 

0 

0 

KXfj^Qa  .     . 

518, 10 

326, 48 

0 

0 

0 

1220 

KXr^öriv    .     . 

519,  34 

„     52 

0 

+ 

0 

0 

/a^tg      .     . 

518,20 

„     54 

+ 

+ 

0 

0 

KXritdeg  .     . 

„     27 

327,  28*) 

0 

0 

0 

1218 

KXriQov6(.iog 

519,  21 

„     48 

H- 

0 

0 

1217 

Das  Verhältnis  des  Etym.  Gud.  zum  Etym.  Magaum  genuinum. 


79 


F 

M 

G 

S 

p 

H 

z 

KlrJQog    .     .     .     . 

519,    3 

327,  32*) 

+ 

0 

0 

1217 

Klliiia^   . 

„     55 

328,  47 

+ 

+ 

0 

1219 

laivr]      . 

520,    3 

„     11 

0 

+ 

0 

0 

KUv^rj    . 

0 

0 

0 

0 

0 

0 

Khö^olOL 

520,    6 

328, 14 

0 

+ 

0 

1217 

Khrvg    . 

519,46 

„     16 

0 

+ 

0 

1219 

KkiTOQLa^ei 

V 

„     50 

„     20*) 

+ 

+ 

0 

0 

lOuGiöiov 

520, 15 

„     28 

0 

+ 

0 

0 

Khola    . 

»      8 

0 

0 

+ 

0 

1219 

KXowg    . 

521,    7 

329,3u.8 

+ 

0 

0 

1217 

Kkovlog  . 

„     10 

328,  56 

0 

+ 

0 

0 

KXov^ovTa 

„     22 

0 

0 

0 

0 

0 

KX07ttT€U€lV 

„     23 

0 

0 

0 

0 

0 

Klvd^i     , 

0 

329, 12 

0 

0 

0 

1222 

Klvfxevog 

521,    4 

0 

0 

0 

0 

0 

KXvTog    . 

520,  53 

„     13 

0 

0 

0 

0 

KkvTaifivrjGTQa 

521,17 

„     15 

+ 

0 

0 

0 

KlvxojtoJlog     . 

0 

0 

0 

0 

0 

0 

Klvw .     .     . 

0 

329, 19 

0 

+ 

0 

1222 

KklüOTTJQ 

495,  27 

„     41 

0 

0 

0 

0 

Khüip     . 

521,24 

329,  43 

0 

4- 

0 

1217 

K?^tü7t7]iog 

0 

0 

0 

0 

0 

0 

Kfieled^Qa 

521,    8 

330,    1*) 

0 

+ 

0 

0 

KvaicD  . 

0 

0 

0 

0 

0 

0 

Kvdffog  . 

521,  35 

330, 15 

0 

+ 

4- 

1224 

Kvicpctg   . 

„     52 

.     20 

0 

+ 

4- 

1225 

KvrjfiT} 

«     57 

„     25 

0 

+ 

4- 

1223 

Kvrj    .     . 

522, 14 

„     31*) 

0 

+ 

+ 

0 

Kvioa 

„     21 

„     34 

0 

+ 

4- 

1224 

Kw^wao)     . 

„     47 

„     38 

0 

+ 

4- 

0 

Kvvoao)  .     . 

„     45 

0 

0 

4- 

0 

0 

KvcoöaXa 

,,     38 

331,    4 

0 

+ 

4- 

1225 

KvüJGG€lV      . 

„    42 

0 

0 

0 

4- 

1226 

Koale{.iog     . 

524,  21 

0 

0 

0 

0 

1227 

Koßalog .     . 

„     27 

332,   3 

4- 

0 

4- 

1227 

KoÖQLTrig     . 

„     37 

0 

0 

4- 

4- 

0 

Ko&OQvog    . 

„     39 

332,11 

+ 

0 

4- 

0 

Kod-ovqog    . 

„     41 

„     13 

0 

0 

4- 

1227 

Kodla    .     . 

523, 12 

„     15 

0 

4- 

4- 

1235 

Koi(.i(lJf,iat    . 

»     17 

„     28      1 

-h 

4- 

4- 

1243 

Kocvog     .     . 

„    26    ! 

„     36      i 

+       ! 

4- 

4" 

1228 

80 


Otto  Cabhuth 


F 

L" 

G 

8 

p 

H 

z 

Kolov      .     .     .     . 

523,  49 

0 

0 

0 

0 

0 

Kolog 

„     47 

332,  60 

-f- 

0 

4- 

0 

KoLgavog 

„     54 

333,    1 

0 

+ 

4- 

1228 

KocQavicüv 

524,    3 

„       7 

0 

0 

4- 

1243 

Kohr] 

„     12 

„       9*) 

0 

4- 

4- 

1235 

Koltig     . 

„     15 

„     15 

-1- 

4- 

4- 

0 

Kolq)i 

,,     18 

0 

0 

0 

0 

0 

KOAY.O'VL  . 

„     54 

333, 18 

0 

0 

4- 

1240 

KoY.QvdeQ 

0 

0 

0 

+ 

4- 

0 

KoTivag    . 

524. 53 

333, 20 

+ 

0 

4- 

1228 

KOYXV^     . 

„     50 

„     22*) 

0 

4- 

4- 

0 

Kola^     . 

„     56 

,,     25*) 

0 

4- 

4- 

1228 

KolacpLt^o) 

525,    4 

„     32 

0 

4- 

4- 

1244 

Koleog    . 

„     12 

„     42 

+ 

0 

4- 

1230 

Kololq)Qv^ 

526,    1 

0 

0 

4- 

4- 

0 

Kolov     . 

0 

333,  48 

0 

0 

4- 

1240 

Kolog 

525,    1 

„     49 

0 

0 

4- 

0 

Koloöoog 

„     16 

„     50 

4- 

0 

4- 

0 

KoloGvQTog 

„     12 

»     55*) 

+ 

4- 

4- 

1229 

KollrjevTa 

526,10 

0 

0 

0 

0 

0 

KollrjTOlg    . 

„     15 

0 

0 

0 

0 

0 

Kollaß  OL     . 

„     21 

0 

0 

4- 

0 

1229 

KolloTteg 

»     19 

333,  60 

+ 

4- 

0 

0 

KollovQca  . 

„     27 

334,    6 

+ 

0 

0 

0 

Kolloxp  . 

525, 30 

„       9*) 

■4- 

4- 

0 

0 

KolTzog  .     . 

526,    5 

„     56 

+ 

0 

0 

0 

Kolvfußäv    . 

„       2 

„     14 

+ 

0 

0 

1244 

Koloiog  . 

525,  54 

„     17 

+ 

0 

0 

1229 

Kolcjvsia     . 

„     38 

0 

0 

0 

0 

0 

Kolcovr]  .     . 

„     34 

334,  23*) 

+ 

4- 

0 

0 

Kol(^6g  .     . 

„     53 

„   27*)j 
u.  44  ) 

+ 

4- 

0 

1230 

Kofx^ayrjvi] . 

526,  33 

335,  26 

0 

4- 

0 

0 

KofxelTYjv     . 

„     45 

„     29 

0 

0 

0 

1245 

Koixfxelv .     . 

„     37 

336, 13 

-h 

0 

0 

1245 

Ko^iq ,     .     . 

527, 10 

335,  33 

0 

4- 

0 

1235 

Kofiriq  .      . 

0 

0 

0 

0 

0 

0 

Kofli^OJ    .      . 

0 

0 

0 

4- 

0 

1245 

Kofii/Äog  .     . 

527,  45 

336, 18 

4- 

0 

0 

1231 

Ko^LÖTq    .     . 

„     16 

335,  48 

+ 

0 

0 

1235 

Ko^xpog  .     . 

„     49 

336, 20 

•+• 

0 

0 

1231 

p 


Das  Verhältnis  des  Etym.  Gud.  zum  Etym.  Magnum  genuinum. 


81 


F 

M 

G 

S 

p 

H 

Z 

Kovaßog.     .     .     . 

0 

336,  39 

0 

+ 

0 

1231 

Kovdvlog     . 

528,  21 

„     52 

0 

+ 

4- 

1231 

Kovla      .     . 

„     35 

„     56 
u.  58*) 

0 

4- 

0 

0 

Koviouovg  . 

529,    2 

0 

-f 

0 

0 

0 

KoviOQTÖg    . 

528,  55 

337,   4 

0 

0 

+ 

0 

Kovig      .     . 

„     38 

,,       8 

0 

+ 

+ 

1236 

Kovl^o)    .     . 

„     48 

„     14 

0 

0 

+ 

1245 

Kovlaakog  . 

„     52 

„     18 

0 

0 

+ 

1232 

KovLoovoi    . 

„     45 

0 

0 

+ 

+ 

1246 

Kovlo)     .     . 

0 

0 

+ 

+ 

+ 

1266 

Kovrilog 

529,    8 

0 

0 

+ 

0 

0 

KovTog    .     . 

„       5 

337,  39 

0 

0 

-f- 

1232 

KoTtaev  .     . 

„     13 

0 

0 

0 

0 

0 

KoTtBQQa 

„     22 

337,  44 

+ 

-f- 

0 

0 

KoTtLg     .     . 

„     25 

„     56*) 

0 

+ 

+ 

1232 

KoTtQog  .     . 

„     14 

„     46*) 

+ 

0 

4- 

1236 

KOQQTJ       .      . 

M     32 

338,    3 

0 

-f- 

+ 

1237 

KoQrjaaTe    . 

„     45 

0 

0 

H- 

+ 

0 

KoQLvd-og     . 

«     47 

0 

0 

0 

0 

1236 

KoQd-vsTai  . 

,,     56 

338, 10 

-4- 

0 

+ 

1247 

KoQig      .     .     . 

0 

0 

0 

0 

0 

0 

KoQvd-akr]    . 

531,  53 

338, 13 

-f- 

0 

4- 

0 

KoQOTtkaOTtjg 

530,11 

339, 52 

+ 

0 

0 

0 

KoQog     .     . 

„      8 

0 

0 

0 

0 

0 

KOQQIOV  .      . 

529,  48 

0 

0 

+ 

-h 

0 

KoQvßavteg 

531,    5 

338,  20 

+ 

0 

+ 

1232 

KoQOicpog     . 

,,     23 

0 

0 

0 

0 

0 

KoQOrj     .     . 

530,  48 

338,  26*) 

0 

-f 

4- 

1236 

KoQead-fjvat 

529,  50 

„     32 

0 

+ 

4- 

0 

KoQxacpog    . 

541,23 

„     39*) 

0 

+ 

4- 

1233 

KoQvd-aUL  . 

0 

„     46 

0 

0 

4- 

0 

KoQvd^aLoXog    . 

531,39 

„     49*) 

0 

0 

4- 

1233 

KoQv&ov  q)aX6 

V    . 

787,    5 

„     57 

0 

+ 

4- 

0 

KoQvvrj    .     .     . 

531,31 

339,    1*) 

0 

0 

4- 

1238 

KoQvq      .     .     . 

„     35 

„      6*) 

0 

0 

4- 

1236 

KoQvcpTq  .     .     . 

„     13 

M         10*) 

0 

-t- 

+ 

1237 

KoQOJvr]  .     .     . 

530, 18 

„     23*) 
U.340, 33 

0 

-h 

4- 

1237 

KoQwvog      .     . 

„     27 

339,  30 

0 

-1- 

4- 

0 

Koo^og  .     .     . 

532, 10 

340,37*) 

0 

4- 

4- 

6 

1234 

82 

Otto  Caemuth 

F 

M 

G 

S 

p 

H 

z 

Koreoaafievog  .     . 

0 

0 

0 

0 

0 

0 

KoTTaßl^ü}  . 

533, 13 

340, 51 

0 

0 

+ 

0 

Koxog      .     . 

532,  52 

„     53 

0 

0 

+ 

1234 

Kot V  kr)    .     . 

533,   3 

341, 15 

0 

4- 

-h 

1238 

KoTLvog  .     . 

532,46 

„     29 

0 

+ 

4- 

1234 

KOVQO.       .      . 

534,   4 

„     35 

0 

0 

-r 

0 

KovQlöag     . 

„      8 

0 

0 

0 

0 

0 

KOVQL^     .      . 

533,  57 

0 

0 

0 

0 

0 

KovQeiüTig   . 

„     41 

0 

0 

0 

0 

0 

Kgaöawv     . 

534,  35 

342,32 

0 

0 

0 

0 

KovQoq 

0 

0 

0 

0 

0 

0 

KovaeiQOva 

0 

0 

0 

0 

0 

0 

KovQTJTeg     . 

534, 12 

342,    1 

-h 

0 

0 

0 

KoxUÖlov    . 

„     23 

„     11 

+ 

0 

1  + 

1242 

KoxXcaQLOv  . 

1      „     22 

0 

0 

-1- 

i     0 

1242 

Koxlog    .     . 

j      „    27 

342, 24 

0 

+ 

+ 

0 

KQctjxßri  .     . 

„    45 

.    42 

-\- 

0 

4- 

1252 

Kgä^a     .     . 

„    49 

0 

0 

0 

0 

0 

Kgalvu)    .     . 

i    535,56 

342,  52 

0 

+ 

4- 

1257 

KQavdrjg      .     . 

1    534,50 

„     56*y 

0 

0 

4- 

1252 

KctQTtad^og  . 

1         ^ 

0 

0 

+ 

4- 

0 

KQaTeia  .     . 

i    535,18 

343,    8 

0 

+ 

4- 

0 

KQUTeVTCtWV 

„     20 

„       9 

0 

0 

4- 

0 

Kgata     .     .     . 

»       3 

„     12 

0 

+ 

4- 

0 

Kqaviov  .     .     . 

534,53 

342,  56 

0 

0 

4- 

1252 

KgavieoS^ai 

536,   6 

343,    6 

0 

+ 

+ 

0 

KQaiTtvog     .     . 

„     10 

„    60*; 

0 

+ 

4- 

124S 

KgaOTcedov  .     . 

534,54 

„     55 

+ 

0 

4- 

1255 

K^araLrceöov    . 

535,    1 

„     47 

0 

+ 

0 

0 

KQaTEQOCpQOVOg 

0 

0 

0 

0 

0 

0 

KQccvsQog     .     . 

535, 27 

343,  21 

-i- 

0 

4- 

0 

KQatrJQeg     .     . 

0 

»     49 

+ 

0 

4- 

0 

Kgazug    .     .     . 

535, 41 

„     51 

0 

0 

4- 

0 

KgaTO)     .     .     . 

„     16 

„     52 

0 

0 

4- 

1257 

KgavyiTj    .     .     . 

„     43 

0 

0 

0 

4- 

0 

Kqiag      .     .     . 

536,21 

344,    5 

-f 

0 

4- 

1255 
u.  57 

KqbIov     .     .     . 

„     54 

„     11*) 

+ 

0 

4- 

0 

Kgeiovoa     .     . 

537, 10 

„     19 

0 

-f 

4- 

1253 

Kqelöowv     .     . 

„     16 

„     23*) 

0 

0 

4- 

1249 

Kqeiwv    .     .     . 

„       5 

„     34 

+ 

0 

4- 

1055 

Das  Verhältnis  des  Etym.  Gad.  zum  Etym.  Magnum  genninum. 


85 


F 

M 

G 

S 

p 

H 

z 

Kgeavöeilog     .     . 

1     536, 32 

344,  38 

0 

0 

4- 

0 

Kge^oo)  .     . 

„     35 

„     40 

0 

4- 

4- 

0 

KqeyfK^  .     . 

0 

0 

0 

0 

0 

0 

KQYiyvov .     . 

537,23 

345,  25 

+ 

0 

4- 

1256 

Kgijdefivov  . 

„    28 

„     30*) 

0 

4- 

4- 

1256 

KQTjrjvai  .     . 

0 

„     37 

+ 

0 

0 

1258 

KQTfiviq  .     . 

537,  34 

„     47*) 

0 

0 

4- 

1258 

KQTfjfivog      . 

„     39 

„     43 

+ 

0 

4- 

1249 

KQTjoega 

538,    5 

0 

0 

4- 

4- 

0 

KQiqocpvyeTa 

537, 57 

346, 10 

+ 

0 

4- 

0 

KQfiteg    .     . 

„     54 

„     19 

4- 

0 

4- 

1251 

KQrjTvlg   .     . 

„     50 

„       5 

+ 

0 

4- 

1253 

KqZ     .     .     . 

538, 12 

„     22 

4- 

0 

4- 

1256 

KQtßavog     . 

,,     17 

„     26*J 

+ 

0 

4- 

1249 

Kgl^rj     .     . 

„     20 

„     33 

+ 

0 

4- 

1254 

KqUe      .     . 

„     51 

347,  21 

0 

4- 

4- 

1258 

KgUog    .     . 

„     41 

0 

+ 

0 

4- 

1249 

KqL^va   .     . 

0 

347,  37 

0 

0 

0 

0 

KqLvov    .     . 

0 

„     46 

-h 

0 

0 

0 

Kqlog      .     . 

539,  20 

346,  44*) 

+ 

0 

4- 

0 

Kgiol .     .     . 

„     10 

347,    3*) 

+ 

0 

4- 

1249 

KgiTT^g    .     . 

538,  32 

„     55*) 

+ 

0 

4- 

1250 

Kgoalvü) 

539,  38 

348,    7 

0 

4- 

4- 

1259 

KgoKoöedog 

„     50 

„     10*) 

4- 

0 

4- 

1250 

KgoKog    .     . 

„     48 

„     18 

4- 

0 

4- 

1250 

KooKiKpaXog 

„     45 

„     32 

4- 

0 

4- 

0 

KgoKaka 

„     57 

„    21*) 

0 

0 

4- 

0 

Kqoi^vov 

540,    2 

„     25*) 

4- 

0 

4- 

1257 

KgoyiT]      .     . 

539,42 

„     27 

0 

0 

4- 

1254 

Kgoviog  Xocpog 

0 

0 

0 

4- 

4- 

0 

KQOviörjg 

0 

348,  35 

0 

4- 

4- 

0 

KQOOOag 

540, 40 

„     53*) 

0 

4- 

4- 

1254 

Kqoaog   .     . 

541,    6 

0 

0 

0 

0 

0 

KQ6Taq)0L    . 

„     17 

349, 12 

0 

0 

4- 

1251 

Kqotcüv  .     . 

!       „      9 

„     19 

0 

4- 

+ 

0 

Kqov^ü)  .     . 

„     47 

0 

0 

4- 

4- 

0 

Kgovvwv 

,,     44 

349,  38 

4- 

0 

4- 

1251 

Kqovoj     .     . 

!      „    38 

„     41*) 

0 

0 

0 

1259 

Kgvegog 

i      »     51 

„     47 

0 

0 

4- 

1251 

KQvoeooa    . 

„     54 

0 

0 

4- 

4- 

1255 

Kgv^og  .     . 

1    542,    1 

349, 49 

0 

+ 

4- 

1251 

6* 


84 


Otto  Caenuth 


F 

M 

G 

8 

p 

H 

z 

Kqvoq     .     .     .     . 

541, 49 

349, 52 

+ 

0 

0 

1257 

KqvTtTcidia 

0 

0 

0 

0 

0 

1257 

KQCüßlaXog 

541,34 

0 

0 

0 

0 

0 

KqwßvXog 

,,    33 

0 

0 

.0 

0 

0 

Kgwaoog 

„    30 

349,  57*) 

0 

4- 

4- 

0 

KzedTiaa 

0 

0 

0 

0 

4- 

1262 

KTedreaai 

542,   8 

0 

0 

0 

0 

0 

Ktw   .     . 

„     12 

350, 12 

4- 

0 

0 

0 

Kviqag    . 

„       7 

0 

0 

0 

0 

0 

KtbqlovOl 

0 

0 

0 

0 

0 

1262 

KteLg.    . 

542, 18 

350, 19*) 

0 

+ 

4- 

1260 

KTi]vrj     . 

.     27 

„    25 

0 

4- 

4- 

1261 

Kvrjoiv    . 

0 

„    30 

0 

+ 

4- 

1261 

KtÜ^o)     . 

0 

0 

0 

0 

0 

0 

KTllog    . 

542,  34 

350, 36*) 

0 

+ 

4- 

1260 

KtvTtog  . 

„    44 

351,   5 

+ 

0 

4- 

1261 

KTi^fXTqv  . 

„     49 

0 

0 

0 

0 

0 

Kvavea  . 

„     48 

0 

0 

0 

0 

1268 

Kvdqag  . 

„     51 

0 

0 

0 

0 

0 

Kvßelov  . 

„     54 

0 

0 

0 

0 

0 

KvßiXri    . 

543,   2 

0 

0 

0 

0 

0 

KvßegvT^Trjg 

„      3 

351,   9 

0 

0 

4- 

0 

Kvßrißeiv 

„     11 

„    26 

+ 

0 

0 

1270 

Kvßr]hg  . 

„       1 

0 

0 

4- 

4- 

1262 

Kvßog     . 

„    18 

351,  34 

+ 

0 

4- 

1263 

KvßrjTog . 

„      6 

0 

+ 

0 

4- 

0 

Kvöalvo) 

0 

0 

0 

4- 

4- 

1270 

KvdidveiQav 

0 

351,  38 

0 

0 

4- 

1266 

Kvdiiiog  . 

543,  32 

0 

0 

0 

0 

1262 

Kvöiowv 

0 

351,45 

0 

4- 

4- 

1270 

KvöoLfÄog 

„     34 

„    46 

0 

0 

4- 

1262 

Kvöolfieov  . 

,    33 

0 

0 

0 

0 

1271 

KvÖQog    .     . 

,     30 

0 

0 

4- 

4- 

1262 

KvMqeia     . 

,     40 

351,  57 

+ 

4- 

4- 

1266 

Kv^ga    .     . 

,     36 

352, 21 

-h 

0 

4- 

1266 

Kv^QloaL     . 

,     37 

0 

0 

4- 

4- 

1271 

KvKavdv .     . 

,     53 

0 

0 

0 

0 

0 

KvTiecü     .     . 

,     51 

0 

0 

4- 

4- 

1263 

Kvyiw .     .     . 

'  0 

0 

0 

0 

0 

1271 

Kvyteojv  .     . 

543, 50 

352, 27 

0 

0 

4- 

1263 

Kvw^d-riTriv  . 

0         1 

0 

0 

0 

0      ' 

1271 

Das  Yerhältiiis  des  Etym.  6ud.  zum  Etym.  Magnum  genuinum. 


85 


F 

M 

G 

S 



p 

H 

z 

KvyXcl     .     .     .     . 

544, 12 

352, 29*) 

0 

0 

0 

1268 

Kv^lriooiiev      .     . 

„     23 

0 

0 

0 

0 

1268 

KmXct)     .     .     .     . 

0 

0 

0 

+ 

+ 

1272 

KvTiloTSQeg  .     .     . 

0 

352,  41 

0 

0 

+ 

0 

KvxkwTteg   .     .     . 

544,    6 

„     43*) 

+ 

0 

+ 

1263 

KvyiVLTTjg      .     .     . 

0 

353,    3 

0 

0 

+ 

0 

KvXlotavog      .     . 

544, 30 

0 

0 

0 

0 

0 

KvllaQog     .     .     . 

„     54 

353,  22*) 

+ 

0 

0 

0 

KvUvöei      .     .     . 

0 

0 

0 

0 

0 

0 

KvhvÖTj^Qa     .     . 

544,  34 

0 

0 

0 

0 

0 

KvXlo)     .     .     .     . 

„     27 

353, 19 

0 

0 

+ 

0 

Kvlivöopievog  .     . 

0 

0 

0 

+ 

+ 

0 

KvXXoL    .     .     .     . 

544,  50 

0 

0 

0 

0 

0 

KvlXriVLog    .     .     . 

»     41 

0 

0 

0 

0 

0 

KvXkoTtoölwv  .     . 

„     47 

0 

0 

0 

0 

1263 

Kvfxßaxog    .     .     . 

545,  21 

0 

0 

0 

0 

1263 

Kvfxßaka      .     .     . 

„     33 

353,  27 

0 

0 

+ 

1269 

Kv^ßla   .... 

„     34 

0 

0 

0 

0 

1269 

Kv^ßcii   .     .     .     . 

„     36 

0 

0 

0 

0 

1268 

KvfxaTL  ytwcpcp .     . 

»      9 

353,  44*) 

0 

0 

0 

1269 

Ät;jMi] 

„     13 

0 

0 

0 

0 

0 

KvfXLvdig     .     .     . 

„     17 

353,  52 

0 

+ 

+ 

0 

Kvv<xf.ivia    .     .     . 

„     47 

0 

0 

0 

0 

0 

Kvv^rj      .... 

„     37 

354,    6 

+ 

0 

0 

1267 

Kvviog  TtBQ  eav  . 

0 

353,  56 

0 

0 

+ 

0 

KvvoQaiOTiiüv  .     . 

546, 10 

„     58 

4- 

0 

0 

0 

KVVTEQOV       .      .      . 

„       1 

354,    1 

0 

+ 

+ 

1269 

ÄVTTfiAAov 

„       4 

„     48*) 

0 

0 

+ 

1269 

KvTCQLg     . 

0 

„     51 

0 

0 

4- 

1267 

KvTCQog  . 

546,    9 

355,  24 

0 

0 

-f- 

1267 

KvqßavTeg 

547,  39 

0 

+ 

0 

0 

1264 

Kvqßeig  . 

„     45 

355, 38 

+ 

0 

0 

0 

KvQrjßdoei 

548,    5 

0 

0 

0 

0 

1272 

KvQKav^ 

„     42 

0 

0 

0 

0 

0 

KvQOV 

„     36 

0 

0 

0 

0 

0 

KvQTjTa     . 

„      8 

0 

0 

0 

0 

0 

KvQ(,ia     . 

„     45 

356,   9 

+ 

+ 

0 

1269 

KvQQog    . 

0 

0 

0 

0 

0 

1268 

KvQOag   . 

548, 16 

0 

0 

0 

0 

0 

KvG&ov€q)€krj  .     . 

0 

0 

0 

0 

0 

0 

KvQTOV     . 

.    . 

548, 47 

356, 10 

+ 

0 

+ 

1269 

66 


Otto  Caehuth 


F 

M 

G 

S 

p 

H 

z 

Kvarcg    .... 

548,  55 

356, 18 

0 

4- 

4- 

1268 

KvTcaQoq 

0 

0 

0 

0 

0 

0 

Kviaudog 

548, 57 

0 

0 

0 

0 

0 

KvTatöog 

0 

0 

0 

0 

0 

0 

KvTog 

0 

0 

0 

0 

0 

0 

KxxpeXXa 

0 

356, 22 

4- 

0 

0 

1270 

Kvxpelri  . 

549, 22 

„     25 

+ 

0 

4- 

1268 

Kv(x)v . 

„     27 

.    37 

+ 

4- 

4- 

1265 

Kuag 

550, 16 

„     56 

0 

4- 

4- 

0 

KcüÖlov 

„       6 

„    58 

0 

4- 

4- 

1276 

Kwea . 

549,  53 

0 

0 

0 

0 

1277 

K(x)lrixp 

0 

0 

0 

0 

4- 

0 

Kcohdg 

550,  46 

0 

0 

0 

0 

0 

KMa      . 

„     38 

357, 37 

0 

0 

0 

1277 

K(6Ö€ia 

549,  57 

„     25 

+ 

0 

0 

1275 

Kwd-CDveg     . 

550,  28 

„     30*j 

0 

0 

4- 

0 

KcüTCVfiata 

»     29 

.    33 

0 

0 

4- 

0 

Kd)fj,a 

551,    5 

„     46 

-h 

0 

4- 

1277 

Kwfid^eiv 

550,491 
555,    1) 

„     50 

-h 

4- 

H- 

1278 

Kcofxri 

0 

„     57 

0 

0 

4- 

1276 

Kcjf^og    . 

550,  50 

358,    3 

+ 

0 

4- 

0 

K(jJV€LOV  . 

551, 15 

0 

0 

0 

0 

1277 

Kiavrjaai 

„     22 

358,  22 

+ 

0 

0 

1278 

Ki^vog     . 

„     26 

0 

0 

0 

0 

0 

K(^og .     . 

„     29 

358,27*) 

0 

4- 

4- 

1275 

lixaitt] 

„     36 

„     36 

+ 

0 

4- 

1276 

KoiTfflBVtüL 

„     41 

0 

0 

4- 

4- 

1278 

Ko}Qvy.LOV 

„     55 

0 

0 

0 

0 

0 

K(Zg    .     . 

507,  54 

358, 44 

4- 

4- 

4- 

1276 

KwTUkog 

551,  56 

,;    46 

4- 

0 

4- 

1275 

KwtUXwv 

„     55 

.     48 

0 

0 

4- 

1279 

Ka)q)6g    . 

552,    1 

„     51 

+ 

4- 

4- 

1275 

KgaLTtakr] 

536, 16 

312, 17 

4- 

0 

4- 

1252 

KatagycH 

0 

303, 42 

H- 

0 

4- 

1176 

Kgovog    . 

540,    8 

586, 21 

0 

0 

0 

0 

KsQaoßoXog 

505, 19 

0 

0 

0 

0 

0 

KeQa/Lieiyi 

6g 

' 

504, 16 

0 

0 

0 

0 

^ 

Das  Verhältnis  des  Etym.  Gud.  zum  Etym.  Magnum  genuinum. 


87 


596 
468 

182 
279 
224 

378 


Zieht  man  das  Facit  dieser  Aufstellung,  so  ergiebt  sich  ein  Resultat, 
welches  wohl  jeden  nach  den  Reitzenstein'schen  Äusserungen  überraschen 
wird:  Von  den  722  Artikeln,  welche  der  Florentinus  unter  K  enthält, 
finden  sich 

in  M 

„  0 

(davon  108*)) 
.  S 

„  P 

„H 

„  Z 

wieder.  G  hat  also  von  F  nur  128  Glossen 'weniger  entnommen  als  M, 
übertrifft  aber  S  um  286,  P,  das  nur  die  Überarbeitung  des  echten  'Etv- 
fioloyiyiov  /nsya  bietet,  nichts  weiter,  immerhin  noch  um  189.  Auch 
Parisinus  2631  und  2630  (CAP  IV,  21—52)  bringen  nur  3  Artikel  mehr 
aus  F  als  S,  also  185,  d.i.  283  weniger  als  G.  Durch  diese  Thatsache 
allein  wird  Reitzensteins  Behauptung,  dass  die  von  ihm  genannten  Co- 
dices Wort  für  Wort  den  Text  des  Gudianums,  aber  ausserdem  erheblich 
mehr  bieten,  wenigstens  für  sechs  derselben  schlagend  widerlegt,  und 
diesem  bleibt  sein  Wert  als  selbständige  Redaktion  des  ^ETV(,ioloyLY,6v 
aXlo,  den  es  auch  noch  in  mancher  anderen  Beziehung  verdient,  gewahrt, 
wenn  ich  auch  bereitwilligst  zugebe,  dass  der  Sorbonicus  und  die  beiden 
Parisini  2630  und  2631  sonst  viel  mehr  enthalten  und  viel  höher  stehen 
als  der  Gudianus. 

Ich  habe  ausserdem  sechs  andere  Buchstaben  von  F  verglichen ;  das 
Ergebnis  ist  folgendes: 


unter  /  hat: 

F:    .     .    . 

.    219  Artikel 

davon 

G:    .    .     . 

.     111 

11 

(26  allein) 

S:    .     .     . 

.      91 

» 

(6  allein); 

unter  A  hat: 

F:    .    .    . 

.     155 

»» 

,  davon 

G:    .    .    . 

.       54 

»» 

(9  allein) 

S:    .    .    . 

.      49 

)> 

(4  allein); 

unter  X  hat: 

F:    .     .     . 

.     150 

»» 

,  davon 

G:    .     .     . 

.       47 

»> 

(6  allein) 

S:    .     .     . 

.      41 

V 

(3  allein); 

unter  W  hat: 

F:    .     .     . 

.       26 

» 

,  davon 

G  und  S: 

.       16 

» 

(gemeinsam) ; 

88  Otto  Caenuth 

unter  Q  hat: 

F:    ....    56  Artikel,  davon 
G  und  S:      .25      „        (gemeinsam). 
Nur  unter  B  bietet  S  mehr  als  G; 

F  hat:.     .     .  205      „        ,  davon 
G:  ....     79      „        (2  allein) 
S:  ....    90      „        (13  allein). 
Augenscheinlich  hat  der  Verfasser  von  G  den  Florentinus  sehr  hoch 
geschätzt;  so  hat  er  sich  in  seinem  Lexikon  hinter  "Iwvag  noch  18  Ar- 
tikel nachgetragen,  die  mit  /  beginnend  ebenso  aus  F  stammen,  wie  die- 
jenigen Stellen,  welche  Sturz  am  Schlüsse  des  Werks  S.  585 — 588  unter 
der  Überschrift:    Sequuntur  omissa  quaedam,  eadem,  qua  praecedentia, 
manu  scripta,  suis  locis  inserenda  hat  abdrucken  lassen.    Mit  Ausnahme 
von  TQiaxovTairrjQ,  TtagaGTazai,  und  T^g  yvvaLzog  finden  sie  sich  sämt- 
lich in  F  wieder ;  wahrscheinlich  sind  die  drei  hier  ausgefallen,  denn  das 
Original,  welches  G  benutzt  hat,  war  in  mancher  Beziehung  reichhaltiger 
als  F.   Man  vergleiche  z.  B.  folgende  Glossen  in  den  beiden  Handschriften : 

293,  23  :     KaKoxaQTog  316,  35  :     KcQxlg 

294,  50 :     KalavgoTta  321,     1  :     Krjajsig 

295,  3:     KaXid  322,11:  Klvaiöog 
„     41  u.  44 :  KdfiTjkog  325,  25  :  KXelv 

296,  4:     Kdllrj  „      35:  KXeir^ 
„        6:     KalhyvvacAa  329,  19:  KXvoj 

„      25:  KdkTtig  331,     4:  Kvcoöala 

297,  14:  Ka^jcri  335,  26:  Koinfiayrjvrj 
„  24 :  Kav^og  338,  20 :  KoQvßavTsg 
„      49 :  Kdvcüßog  „      26 :  Kogarj 

299,     6 :     KccQÖOTtog  339,  23 :     KoQwvrj 

301,  6:     KccQQwv       '  343,  60:     Kgainvog 
„      57  :     KaGlyvrjrog                           346,     5 :     KQrjTtig 

302,  45 :     Kaoacoglg  „      22 :     KqI 

304,  1  :     KaTttüdaa  347,  55 :     KgiTi^g 
„      52 :     KaraTiQ^d^sv                          348,  18 :     Kgoxog 

305,  22  :     KaxiviTad^ev  351,  34  :     Kvßog  u.  KvßiovriQ 
309,     6 :     KeyxQlvrjg  353,  22 :     KvUagig 

„      41  :     Keif^ai  358,  36 :     KcjTtrj. 

312,  24  :     KeKlifxivoi 
G  bietet  bei  diesen  allen  mehr  als  F,  sei  es  an  Citaten,  sei  es  an 
Belegstellen,  oder  in  sonstiger  Beziehung,  vorausgesetzt,  dass  Miller  ge- 
nau verglichen  hat. 


Das  Verhältnis  des  Etym.  Gud.  zum  Etym.  Magnum  genuinum.  89 

G  hat  auch  einige  Glossen,  die  sicher  seinem  Original  entnommen 
sind,  aher  in  F  fehlen;  vielleicht  stehen  sie  im  Vaticanus. 

Millers.  175:  ,,KaöÖQa&irr]V  elg  rb  Tidy^rave.  £7^/ mM".  —  G  293,16 
bringt  den  citierten  Artikel. 

Miller  S.  69  ist  unter  Bovgiqiq  aus  Chöroboscus  CAO*)  II  242,  10. 
227,  30  und  228,  8  (Herodian  ^egl  og&oygacpiag  Lentz  II  437,  1  und 
534,  19)  die  Regel  über  die  Schreibung  der  Barytona  auf"^  entnommen, 
und  es  wird  unter  den  Beispielen  auch  KlQig  genannt.  G  allein  (323, 44) 
hat  die  Erklärung  dieses  Wortes  und  dieselbe  Regel. 

Da  der  Hauniensis  und  Parisinus  2636  nur  solche  Artikel  enthalten, 
welche  aus  F  stammen,  so  werden  auch  wohl  diejenigen  wenigen  Glossen, 
welche  in  H  und  P  vorkommen,  aber  bei  Miller  vermisst  werden,  dieser 
Quelle  angehören,  zumal  wenn  sie  in  G  und  M  oder  Z  wiederkehren.  Das 
sind  aber  folgende: 

G  305,  38:  Kar  sfxavrov,  auch  in  MP,  aus  Herodian  negi  ccvtüiw- 
l^uwv  II,  845,  16. 

G  330,  10:  KvacpevQ,  auch  in  MPHZ,  aus  OMlevog  sv  rcp  tvsqI 
(.lovoövXXaßwv  QrjfxaTCüv  (Orion  84,  6). 

G  342,  35:  Kgaörj,  auch  in  MPHZ,  aus  Orus. 

G  350, 10:  KTai^iw,  auch  in  PH.- 

P  hat  ausserdem: 

66,  15:    KaQxaUog,  auch  in  M. 

67,  6:     KaTaTtovrcüd-ijvai,  auch  in  Z. 

68,  12:    KaT7]6vcüv,  auch  in  MZ. 
74,  22:    KoTiQvdeg,  auch  in  H. 
77,  21:    Kgavya,  auch  in  H. 

Zur  YervoUständigung  von  Miller  180  dient  P  (68,  15): 

Käxd-ave:    r]  (f.  add.  xar)  y,aTa  KccTd-avev:  17  xara  ovyTiOTcrj  iav 

ovyxoTtTjv   eav   ex7]   '^^  €7tay6fi€vov      exj]  enayofxevov  daav,  10  x  eavrrjg 

öaav    tb    eavtrjg    r    eig    ib    avrl-      eig  tb  avxioTOLXOv  tov  €7tayofX€vov 

aroLXOV    lov   Ijtayofxivov  ö^.    .  .  .      öaoiog  ipikbv  fxsTaßdXXeCy    öid  tb 

xfjil f^etaßdkXec    y-al    rd     (xi]    dvvaa&ac    ovXXaßrjV    eig    öta 

loiTtd,  i^c)   TCOTaXi^yeiv  j    olov  naTad-avelv 

xaT^avelv,  xard^ave  xdr^ave '  xal 

7ta  ....  Y,aTa(paXaQa  y.a7tq)dXaQa. 

Nachdem  wir  gesehen  haben,  dass  das  Verhältnis  des  'ErvfioXoyixbv 

uXXo  zu  dem  echten  ^Exv^oXoyiyibv  (.ifya  sich  auf  die  denkbar  einfachste 


*)  d.  1.  Anecdota  Graeca  e  codd.  manuscriptis  bibliothecarum  Oxoniensium  ed. 
Cramer, 


90 


Otto  Caentjth 


Form,  Benutzung  desselben  Originals,  zurückführen  lässt,  bleibt  noch 
übrig,  die  letzte  Reitzenstein'sche  Behauptung,  ein  Teil  der  Quellen  des 
echten  fxiya  scheine  in  dem  akXo  ebenfalls  und  zwar  selbständig  benutzt 
zu  sein,  zu  widerlegen.  Die  nachstehende,  der  Reitzenstein'schen  Anord- 
nung von  I— XII"  folgende  Analyse  wird  zeigen,  dass  sämtliche  Quellen 
des  echten  jiifya  auch  im  Gudianum  ausgebeutet  sind;  XII'* — XVI  sind 
von  ihm  nicht  genannt  worden. 

I.  Herodian. 

a.   ^Ey,  TCuv  'Hgcodiarov  tisqI  Ttad-uiv. 


Gudian, 


Lentz*)    Gudian. 


Lentz 


294,  37 
301,  6 
301,35 

308,  26 

309,  23 
312,  1 
312,  24 

312,  41 

313,  3 

313,  28 

314,  38 


KaXrj^w 

KaQQCüv 

KaQxa 

Kav'/,ovTeg    .  .  . 

(1.  Kavy.ojveg) 

Kel&ev 

KeKlLfxivog  .  .  . 

KexlvTS 

KizXü) 

K^yiTTjiiiai  .  .  .  . 
KivTav   


11,331,24  316,30  \KeQ8(o !II,207,   8 

„  383,13  316,35    KegyLlg |  „  385,13 

,.  384,   1  316,39    KeQ%vQ j  „  212,13 

„  218,12  317, 10  \KeQ6eig |     fehlt 

330,25u.i  ^  ,  oiß    - 

,257,23  331,23^^''^^'? -  ^^^  ' 

fehlt  331,    4  I  KvüJÖala  .  .  .  .  j  „  246,   7 

„  224,21  334,17  ^KoloLog I  „  375,21 

„  177,27  337,44    KÖTtegga  .  .  .  .{     fehlt 

„  177,19  345,30    Kg^deof^ov  .  .  .[  „  238,12 
„  187,   8  [l.  KgrjÖ€iiivov)  \ 

„  375,17  350,36   Krllog ;  „  186,   7 

I  TO     flhv    TCgCJTOV 

I  *i}guüv,  TovTO  de 
I  'Hgwöiavog  rtegl 
I  Ttad-wv. 


b.    'Ex  rwj'  '^HgwÖLavov  Tcegl  'Of^rjgixrjg  Ttgoüatölag. 


304,  52 
304,  55 


KaTa  xg^d-ev.  . 
Kaxa  iirig'  eycdr^ 


KaT^  evcjTta  .  .  j  11,  94, 38 
Ke^Xriyovreg   .  .  1  „     81,   6 


n,102,29jj307,26 
„     28,   r'312,11 

c.    jEx  twv  ^Hgvod iavov  Ttegl  y.ad-okiY.ijg  Ttgooroölag. 
330,38:  Klv^wGat  =  l  444,22. 


d.     Ex  T(üv  ^Hgwöcavov  negl  ovvia^ewg  Tiov  OTOix^lfJ^v- 


324,36  KXd^ü) n,  399, 25 

(Gud.  hat  die  Stelle  besser 
überliefert,  als  die  von 
Lentz  abgedruckten  Ep. 
Cr.  I,  236.) 


330,    1 


KfÄsXed^ga 


n,  396, 12 


*)  Herodiani  Technici  reliquiae  ed»  Augustus  Lentz. 


Das  Verhältnis  des  Etym.  Gud.  zum  Etym.  Magnum  genuinum.  91 

e.    ^Ex  TcJr  ^Hgwd Lavov  rtegl  og^oygacp lag. 


Gndian. 

Lentz 

Gudian. 

Lentz 

322,  31 

323,  44 

Kivrjaig 

KiQQig 

11,534,15 
„     .    19 

356,  58 
358,  27 

Kcüöiov in,  540, 22 

Kioog 111,541,11 

f.    ^Ey.  TWv'HQCüdiavov  Ttegl  BTttd-iTuv  eul  kvqlwv  t€&4vt(0v. 

328,  55 :  Klovlog  =  11,  3,  8. 

g.    'jEz  twv  'Hgojd Lavov  7C€qI  avTwvvfxcäiv. 

305,38:  Kut"  «^«ütov  ==  II,  845, 16. 

h.    Ek  twv  ^iXiov  ^HqcüÖ Lavov  axrjfiaTiafiwv  ^OfxrjQmaiv. 


Gudian. 

Egenolff*)  Gudian. 

Egenolff*) 

298,  52 
311,54 

KaQadoY.elv    .  . 

KeKaq)6Ta  .  .  . 

(1.  Ke/,acpri6Ta) 

344,109      318,12 

342,    70      335,48 

357,  55 

KexctvdoTa  . 
Koj,iiöt]  .  .  . 
Kü)^d^€tv .  . 

342,    73 
344,110 
344,111. 

n.  Philoxenos. 

a.  Mit  blosser  Nennung  des  Namens: 


329, 19 
330, 25u. 
331,  23 
330,  38 
334,  44 

349,  42 
356,  25 

308,  51 
339, 23u. 
340,  33 

319,  32 

321,    1 
327,32 

330, 10 

342,  24 


KXvw    .  . 

Kvrifiri  .  . 

Kw^waat 
Kolfpov  . 

Kqovü)  .  . 


(CAP  IV,  185,  4:  ovTwg  Odo^evog,) 

(CAO  n,  88,  16:  ovTcog'HQCüdiavog  xal  OiXo^evog.) 

afisivov  (DiXo^hco  avy^aTaTld^eöd^ai. 

(Gud.  und  cod.  Paris.  2631 :  WiloTtovog,  die  übrigen 

Handschriften:  Odo^svog). 
(Orion  85,  8  und  90,  8)  ovtw  0M^evog. 


KvxpiXrj  .  .  I  (Orion  81,6:  Oilo^evog) 

b.    Iv  T(^  TteQi  (rrjg)  'Pojfj,alcüv  6 iaXiy.TOv: 
Kdxpa  ...  I  ovTCi)  (DlXwv  (sie)  ev  t(^  Ttegl  '^Pcojualwv  diaXdxTOv. 
KoQüJvrj  .  .  (schol  a  441  und  rj  90:  ovtw   Otlo^evog  ev  t(^ 
Tcegi  TTJg  '^PwiiaLvjv  öcaX^Tov. 

c.    ev  T(^  Ttegl  ^ovoavXldßwv  grj^aTwv: 


Krjlwv .  . 

Krjweig    . 
KXiJQog    . 

Kvaq)evg . 

KoxXog.  . 


(Orion  84,24:   ovtw  OM^evog  ev  T(p  jceql  fnovo- 

GvXXdßwV    QT^flCCTWv). 

(Orion  85,35:  ovtw  Odo^evog). 
(Orion  84,9)  Kleist,  de  Philoxeni  Grammatici  Alexan- 
drini studiis  etymologicis  p.  44. 
OVTW   (DiXog  {sie)  ev  Tip  Ttegl  fxovoovXXdßwv  qtj- 

flOCTWV. 

(Orion  88, 2)  Kleist  1.  c. 


*)  Fleckeisen,  neue  Jahrbücher  1894  S.  337  flf.:  Zu  Herodianos  Technikos. 


Otto  Carnuth 
d.    kv  T(^  Ttegl  diaXi^Twv: 


339, 13 


KoQV(pri  .  . 


0  ök  Oilo^evog  kv  Tip  tzbqI  dialhctütv,  Toran  geht 

Soranus  (Orion  82, 1). 
e.    kv  T(^  jcbqI  T/Jg  'laöog  diaXixTOv: 

ovTw  OiXo^evog  {ev  t(^  7C€qI  Trjg  'ladog  diaXixtov 

Orion  87, 1) 
ovro)  Oilo^evog  kv  t(^  tcbqI  Trjg  'idöog  öiakh.tov. 

Wenn  die  von  Kleist  in  der  genannten  Disseri;ation  gemachten  Be- 
obachtungen richtig  sind,  was  ich  noch  nicht  habe  prüfen  können,  ver- 
mehri:  sich  die  Zahl  der  aus  Orion  oder  direkt  entnommenen  Philoxenos- 
Artikel  im  Gudianum  um  ein  Bedeutendes. 
III.  Orion. 


340, 37 
348, 53 


Koofiog  .  . 
KgoGOag.  . 


Gudian. 

Orion*) 

Gudian. 

Orion*) 

289,  39 

Kdyyiava    .     .     . 

87,15 

Ttoaiio ,   Lentz 

„     47 

Kayxf^^^'^  •     •     • 

80,10 

n,  905,  8. 

„     52 

Kdöog   .     .     .     . 

89,23 

300,    1 

Kaglg    .... 

85,18 

293,    1 

Kaxdßrj      .     .     . 

87,26 

(teilweise) 

(Gud.  und  Paris. 

„     19 

KaQTilvog   .     .     . 

85,17 

2636:      ovTwg 

(teilweise) 

'QqIcüv;   Paris. 

305,    3 

KataTtgot^a- 

2638  und  Zona- 

o^ai .... 

82,21 

ras :         ovTwg 

(ovTwg   evQOv  kv 

'QQog  6  mdrj- 

VTCOilVrifACClL 

Oiog.) 

k7t(pöwv  ^Aqxi- 

295, 44 

KdfiTjXog    .     .     . 

83,19 

Xoxov) 

(ovTwg  "^HQdy.lei- 

„     11 

KaTaxrjvrj  .     .     . 

85,   3 

tog) 

308, 33 

KavQog.    .     .     . 

n  23 

296,    6 

KctlXiyvvaiv.a.     . 

88,19 

„    57 

Kiag     .... 

83,14 

„     11 

KdlXifxog  .     .     . 

89,   9 

.  16 

297, 45 

Kavovv      .     .     . 

83,25 

309, 18 

Keövog  .... 

85,15 

„     55 

KcCTtTj     .... 

und  schol.  zu   Q 

79,20 

311,32 

KbLqelv      .     .     . 
[ovTwg     kyw) 

80,24 

434,  ö  40. 

315, 15 

KcQafxog    .     .    . 

„   15 

298, 40 

Kdga     .... 

81,19 

i^TtoXXoöwQog) 

und  Herod.  7t€()l 

316, 10 

Keqavvog  .     .     . 

83,21 

Ttad'wv ; 

„     20 

KeQÖaLveLV     .     . 

79,21 

Lentzü,  215,13. 

317,47 

Kecpalrj      .     .     . 

81,10 

„     46 

Kdqaßog    .     .     . 
(ovTwg  'HgcjÖLa- 

89,   2 

(xaTtt     !djcoXX6- 

ÖlüQOV) 

vbg  kv  Tip  ov(x- 

318,56 

KrjöeGTTjg  (teilw.) 

89,20 

")  Orionis  Thehani  Etymologicon  ed.  Sturz. 


Das  Verhältnis  des  Etym.  Gud.  zum  Etym.  Magnum  genuinum. 


93 


Gudian. 

Orion   | 

Gudian. 

Orion 

319,18 

KrjXov  (ovrco  Ol- 
lo^evog  ev  r<^ 
TtsQi  (xovoavX- 
Xdßwv     qrif.id- 

84,24 

MvÖQOvUov  eig 
t6  öog  1.  !dQL- 
OTOvlxov  eig  ttjv 
'Oövaoelav) 

Twv)  IL  Teil 

334, 14 

Kolvfißdv .     .     . 

83,30 

„     25 

KrjXovLOv  .     .     . 

83,10 

{ovTwg  ^HgoTclei- 

321,    1 

K7]W€ig.     .     .     . 

85,36 

drjg) 

{OVTÜ)  0tl6§€vog 

336,  20 

Ko/^xpog     .     .     . 

90,29 

ev  rcp  Tcegl  fio- 

(ovTwg  EiQTjvalog 

VOGvXldßcüV 

6    !ät;t  LKiOtrig 

qrjfxoLTüJv) 

ev  T(^  ä  (/.  x) 

324,  27 

Klaloj   .... 

86,17 

84,22 

„     52 

GToix^lq}) 
Kovdvloi         (cf. 

fehlt 

327,  28 

KlrjtdeQ      .     .     . 

90,14 

Ritschi  p.   30) 

„    32 

KXrJQog .... 
(Hgcoöiavog      ev 

eTtLiieQLOfiolg; 

Lentz  XXIV, 

13) 

84,   9 

„     56 

Kovig    .... 
('HQCüöiavog     ev 

^ETtifzegiGfif^ ; 

Lentz     XXIV, 

14) 

88,23 

328, 10 

KUvr]    .... 

86,20 

337,    4 

KovLOQTog .     .     . 

86,    8 

329,   3 

Kloiog  .... 

82,19 

„      8 

Kovig    .     .     .     . 

89,29 

„     19 

Klvo)    .... 

85,10 

(Hgcüöiavog) 

{pmwgOiXö^evog 

„     18 

KovlaaaXog    .     . 

79,11 

CAPIV,  185,4) 

„     39 

KovTog  .... 

86,11 

„    41 

KXwaTTjQ  .     .    . 

87,24 

338,    3 

KOQT]        .       .       .       . 

80,24 

„    43 

330, 10 

Klojxp    .... 
Kvacpevg   ((DlKo- 
^evog) 

86,    4 

84,    6 

„    20 

KoQvßavxeg    .     . 
(ovTO)  JLöviiog  ev 

85,29 
90,    5 

333,    1 

KoLqavog  .     .     . 
[qvTwg  "Hgcüöia- 

89,    4 

V7toy,vritiaTL 
MevdvÖQOv) 

vog  y.al  Aitoh- 

„     49 

KoQvd-alokog .     . 

88,16 

Xojviog    ev    ttj 

339,   6 

KoQvg    .     .     .     . 

86,32 

^etoxfj;  Lentz 

„     10 

KoQvcpri      .     .     . 

82,    1 

XXrV,  15) 

(6   Oilö^evog  iv 

„    25 

Kolcc^   .    .    .    . 

86,23 

T(^   Ttegl   öia- 

„     33 

Kolaq)l^o)       (cf. 

fehlt 

A^XTWV) 

Ritschi  p.   30) 

340,  37 

Koa^iog.    .    .     . 

87,    1 

„    42 

Koleog  .... 

83,11 

(ovTO)  OiXo^evog 

334,   9 

KoUoxp     .     .     . 
(ovTwg   evQOv   ev 

VTtO^Vri^CLIL 

80,   5 

ev  Ti[j  Ttegl  (Trjg) 
^Idöog  öcakixT(i) 
l.  diaUycTOv) 

94 


Otto  Cabhuth 


GudUn. 

OrioB 

Ondian. 

Orion 

341, 15 

KoTvXriQQvtov  in 

346,  30 

KQißavog  .     .     . 

82,17 

KoTvlrj  .     .     . 

80,19 

349, 12 

KgoTmpoL       (cf. 

fehlt 

„     35 

KOVQ^    .... 

89,14 

Ritschi   p.   30) 

342,24 

Kox'^og  .... 

88,   2 

„     42 

Kqovü)  .... 

85,    8 

343, 12 

Kgara  .... 

81,20 

{ovT(x)  (Dilo^evog) 

und  Chöroboscus 

„     52 

Kgvog    .... 

83,28 

16,26;  367,21 

„     57 

KgcüTtog  (/.  x^a- 

(Gud. :     dvrwg 

oog)    .... 

84,14 

^ÜQog;    Orion: 

350, 35 

KTlXog  .... 

79,12 

^(jjQavög) 

(tO     fiky    TtQtMOV 

343, 60 

KgaiTCvog  .     . 
(Gud. :    0d6öiü- 

Qog; 
ebenso  der  Haun. 
1971;  Zonaras: 

88,    5 

'QqIcdv  C^Qog  6 
MUrjOtog 
Ritschi  p.  18), 
TOVTO  dk  'Hq(d- 
öiavog       Ttegl 
rta^^LJv;  Lentz 

346,    5 

KQTqnlg.     .     .     . 

89,33 

n,  186,  7) 

(ot;TWg  ^HQCüöta- 

351,    5 

KTVTtog      .     .     . 

85,21 

vog;         Lentz 

„     57 

KvMQBLa  .     .     . 

79,23 

XXV,  16) 

iiyu)  di) 

346,10 

KQTqocpvyera  .     . 

85,32 

353, 27 

Kvfj.ßaXa    .     .     . 

86,27 

346, 19 

KQrjTeg  .... 

(IdTcokXodwQog 

79,    8 

356,  25 

Kvipekri      .     .     . 
(OiLkoSevog) 

81,    6 

ev    hv^oloyi- 

357,  46 

Kcüfia    .... 

84,18 

aig;  Gud.:  !^- 

358,  50 

Ku)(p6g  .... 

85,27 

TCoXkojviog) 

Wie  der  Augenschein  lehrt,  giebt  der  Gudianus  sowohl,  wie  der  Floren- 
tinus  die  bei  Orion  nach  Quellen  geordneten  Artikel  in  streng  alpha- 
betischer Reihenfolge.  Nur  Ka^riXog  in  der  ersten  Handschrift  und 
xQTjTtlg  in  der  zweiten  durchbrechen  dieselbe;  y^gaTu  steht  in  beiden 
an  falscher  Stelle  vor  zgaiTcvog,  wohl  ein  deutlicher  Beweis  für  die  enge 
Zusammengehörigkeit  beider  Codices  in  Bezug  auf  diese  Quelle. 

Von  den  Excerpten  des  Orion  bei  Sturz  S.  611  ff.,  welche  grössten- 
teils im  Gudianus  sich  wiederfinden,  stimmen  6  Stellen  aus  K  auch  mit 
dem  Florentinus  überein: 


332, 15  :  KoiUa 

==         614, 33 

348, 25  :  Kgofivov       =         614, 41 

344,    5  :  Kgiag 

=           „    42 

(ovTiog  'HgoTiXeldi^g) 

347, 55  :  KgiTi^g 

=           „    26 

354, 48  :  Kijiellov     =           „    28 

356, 18  :  KvOTig 

=        614, 33. 

Das  Verhältnis  des  Etym.  Gud.  zum  Etym.  Magnum  genuinum. 


95 


Dagegen  ist  das  in  der  Ausgabe  des  Orion  S.  174  ff.  abgedruckte 
"Werkchen:  Ttegl  hvixoXoytujv  y.ata  OToi^elov  Ix  twv  zara  ^^Quova  tov 
Qrjßalov  zwar  ganz  im  Sorbonicus,  zum  grössten  Teil  auch  im  Gudianus 
enthalten,  aber  der  Florentinus  hat  nichts  davon. 


IV.    'Qqoq  6  Mihfiaiog. 


a.    ovTtjg  ^^QOQ\ 


296,  1 
296, 42 

297,  8 


KctXXaTig 
Kakxiqöov 
KafiTtavol 


297,  49 

298,  24 
301,37 


Kavcüßog 
KaTtrtaQLQ 

KaQVKT] 


307,  34 

308,  38 
322, 11 


KaTrjogeiv 

KavGia 

Klvaiöog 


325,35 
332,    3 


335, 26  :  Kofi^ayj]vrj,  —  342,  35  Kgaörj  (fehlt  im  Flor.) 

b.    Orus  und  Chöroboscus: 
321,6:  KißcoTog.  —  344,34:  Kqelwv, 

c.  Orus  und  Theognostus: 
332,28:  Koifiw^ai. 

d.    Orus  und  andere: 

Klsitri  (schol.  zu  Apoll.  Ehod.  1,976). 

Koßalog.  —  342,56:  Kgavarjg.  —  349,19:  Kqotwv.  - 

e.    Orus  oder  Orion  (c/.  Ritschi  p.  18): 


293,1:  Kayiaßrj. 


343,12:  Kgara.  —  349,12:  Kgoracpoi, 
350,36:  KTlXog. 


f.   Orus  als  Quelle  durch  das  Citat  anderer 
Etymol.  erwiesen: 

300,54:  KaQTtog  {avTcog  Iß^og  b  Mdrjoiog  Zonaras  1148,2) 
315,28:  Kegalotrig  (Qq.  Florentinus) 

336,52:  KovövXot  Cilgog  Etym.  M.  528,28,  was  Gaisford  in:  ovfw  Sw 
gavog  geändert  hat. 

g.    Orus  verschrieben  für  'Hgcjöiavog: 

328,28:  Khoiov  (Herodian  Tiegl  oqd^oyqacplag  II,  415,21) 
344, 11:  Ä^eiov    (  —desgl.—  „    538,    1). 


96 


Otto  Carnüth 


V.  Zenobius. 


Gudian. 

Schoemann*) 

Gudian. 

Scboemann^ 

312,36 
312,41 

Kizlvre 

Nr. 
36 
36 

344,  40 
347,  21 

Kgefiow  (Chö- 

roboscüs) 

KgUe  (Herodi- 

an  7C€qI  QYjfid- 

Twv;  Lentz  II, 

803,  5.) 

Nr. 
24 
27 

Wahrscheinlich  stammt  auch  292,  25 :  Kai  acpeag  {ovtoj  ZrjvodoTog) 
aus  Zenobius.**) 

VI.  Photius. 


Gudian. 

Naber***) 

Gudian. 

Naber*»*) 

292,  59 

KdüT]      .     . 

306 

327, 19 

KXiJQog    (und   CAO 
n,  454,15.)     .     . 

345 

314,21 

Keve^ßarel 

333 

332,13 

Kod-ovQog  .     .     .     . 

j       349 

321,30 

KldttQLV       . 

341 

338,  32 

Koqeod^rjvai     (Ow- 
Tiog) 

;      fehlt 

1 

586,  21 :  Kqovoq  (ovTwg  eycu  OcuTiog  6  Trargtdgxi^g)       fehlt 
vgl.  schol.  zu  Hesiod,  Theog.  459. 

yn.  Schollen  zu  Homer. 


292, 20 

Kaigooiwv    .     . 

schol.  zu  rj  107  (Suidas). 

294,  50 

Kalavgoip 

„    W  845  in  D  und  A. 

296,  55 

Kdfxa^ .     . 

,.    2  563  in  D. 

297,  41 

Kavovag    . 

„    0  193  in  BD. 

297,  55 

KctTtri   .     . 

,       „    0  434  in  AD  u.  ö  40  in  BE  (Orion). 

298,  21 

KaTtTteae  . 

,       „    0  280  in  AD. 

304, 16 

KavalTv^ .     . 

,       ,,    K  258  in  AD. 

308,  22 

KaTCüfiadov 

,       „    ^  500  in  B. 

308,  29 

KavXog     . 

,       ,.    N  162  in  D  und  P  607  in  D. 

311,49 

KsTidfio)     . 

,       „   A  168  in  A. 

313,  34 

KeladsLvog 

,       „   n  183  in  AD. 

314,    6 

Kikevd-og, 

„   A  312  in  A. 

314,    8 

KiXev^a  . 

Xo 

,       „  ^   312  in  A  {ovTcog  evgov  Ttaga  tc^ 
igoßoOTicp  Gud.  —  ovTwg  evgov  oxohov  Flor.) 

*)  Georgii  Schoemann  Commentaiio  de  Zenohii  Commentario  Rhematici  Apollo- 
niani  Danziger  Programm  Ostern  1881. 

**)  Derselbe  de  Zenobii  praeter   commentarium  rhematici  Apolloniani  scriptis 
verisimilia.    Danziger  Programm  Ostern  1887.  S.  5. 
*♦*)  Naber,  Photii  Patriarchae  leoncon. 


Das  Yerhältiiis  des  Etym.  Gud.  zum  Etym.  Magnum  genuinum. 


97 


314,43 

KevTcxvQog     .     . 

schol. 

zu  A    268  in  AD. 

317,    8 

KSQIO     .... 

M 

„0     189  in  ABD. 

317,23 

KeQTOfx^wv    .     . 

»9 

„    A    539  in  D. 

324,    5 

KloTig  .... 

?» 

„    C        76  in  PQV. 

334,  27 

KoXmoq     .     .     . 

11 

„    A    575  in  A.  (CAO  IIL  366,21) 

334,  44 

KoXqjov     .     .     . 

—      ( 

ovrcog  OM^evog;  Gud.  OüoTtovog.  — 

338, 10 

KoQd-vsTaL     .     . 

schol. 

zu  /      7  in  D. 

341,15 

KoTvlrj      .     .     . 

?> 

„  E  306  in  AB  und  ^  34  in  AD. 

343,   9 

KgatevTcicüv  .     . 

, 

„    7  214  in  AD  (Apoll.  Soph.  103,24). 

343,  47 

KqaraiTteöov     . 

,, 

„  \p    46  in  Q  (Hesychius). 

348,    7 

Kgoalveiv .     .     . 

, 

„  Z  507  in  A  (Apollon.  Hes.  Phot.) 

349,  47 

Kgvegov    .     .     . 

» 

„    /      2  in  DV. 

352,  27 

Kvzeojv      .     .     . 

,, 

„    X  290  in  V. 

353,  58 

KwogaCOTfcov    . 

, 

„    Q  300  in  V. 

358,  36 

KwTtri   .... 

> 

„  (p      7  in  V. 

Dem  Didymus  gehört  an 
307,  52    Karrjcpoveg 

Dem  Nicanor: 
348, 53    Kgoooag  . 


schol.  zu  ß  253  in  A. 


„       „  M  258  und  Hesychius  {lyw  de  evqov 
G%6Uov  TtaQa^eLixevov). 
Dem  Aristonicus:  a.  aus  den  orjfxela: 
353,44     Kv^aTL  yiwq)(^  .   schol.  zu  H  16  in  A. 
b.  aus  den  vTtofxvriixaTa', 


234,   9 
348, 18 


KvlXoxp 
KqoKog . 


(Orion  80,  5)    omijog    evgov    ev  vTtofivrjfiari 
'AqiotovUov  eig  'OövGoeiav). 
i;Twg  6VQ0V  ev  v7to(xvr]fiaTc  llidöog  Aqu 


ovTwg  evQOv 
vUov 


ia%o- 


VIII.  Scholien  zu  Hesiod. 
332,  60:  Äorog    =    Theog.  134*)  i  351,57:  Ä:?;i9^%ta  =Theog.  192 flf. 
333,55:  KoXogvqtov       „        880      |  bSQ,  21 :  Kqovog      =      „     459 

{ovTwg  eyw  0WTiog  6  TtaTQiaQxrjg.) 

IX.  Scholien  zu  Apollonius  Rhodius. 


Gudlan. 

Keil**) 

Gudlan. 

Keil**) 

289,  20 

KdßeiQOi  .     .     . 

355,11 

307,  38 

KaTTjAvalr}    .     . 

509, 37 

295,    3 

KaXid  .... 

314,    1 

308, 19 

KaTovXdg .     .     . 

530, 19 

296,  25 

297,  28 

Kdlrttv      .     .     . 
Kdvaorqa      .     . 

424, 18 
336,    6 

314,17 
u.  19 

Kefidg       .     .     . 

485, 18 

298,  57 

K(xQ(xfxßig      .     . 

410, 12 

323,    7 

Klgxog      .     .     . 

365,  23 

303,  57 

KaTatyörjv     .     . 

422, 28 

325,  35 

KXeLTijimitOms) 

361,    5 

334,  23 :  KoXwvt]  ==  424,  6. 


*)  Flach,  Glossen  und  Scholien  zur  Hesiodischen  Theogonie  mit  Prolegomena. 
**)  Scholia  vetera  e  codice  Laurentiano  ed.  Henricus  Keil. 


98 


Otto  Cabnüth 


X.    Schollen  zu  Aristophanes. 

296,  22:     KaloA.(xy(x(>La  =  schol.  zu  Ar.  Ran.     549  unter  avTq^LiJjßoXala. 

332,11:     Ko&oQvog       =    „       „    .,    Eccles.  346 

333,60:     KoXXaßoi  {L-KoXXoTteg)  „    „    Vesp.  574. 

Die  Schollen  zu  Lykophron,  auf  die  299,3:  KagßavoL  —  301,55: 
Kaaaaßag.  —  302,35:  Kdooa.  ~  302,45:  Kaoowglg.  —  304,  12: 
KaraKXwd^eg.  —  314,22:  KUcjq,  —  319,9:  Krjyidg  zurückzugehen 
scheinen,  ebenso  die  zu  Theokrit,  mit  denen  wohl  295,18:  Kdkkog.  — 
323,  14  KiGGvßtov  zusammenhängen,  und  die  zu  Nikander,  auf  welche 
297,  24  Kav^og.  —  299,  6  KdgöoTtog.  —  308,  32  Kavargiog,  —  309,  6 
KsXQlvTjg.  —  330,  31  Kvrj  tvqov.  —  341,  29  Könvog  hinweisen,  habe 
ich  noch  nicht  vergleichen  können. 

XL  Chöroboscus. 
a.   Aus  den  Dictata  in  Theodosii  canones: 


Gud. 

Chörob.*) 

Quelle 

290,  40 

Kd&rj    .  . 

672,  29 

Herodian  Ttegl  nad^wv  bei  Lentz  ü,  298, 1 4 

291,  48 

Ka&rjoTO 

591,    1 

„            „     za^.  TtQoo.    „       1,468,20 
(vgl.  CAO  I,  220,  3  und  CAP  m,  365,  24) 

299,  32 

Kdgrjva   . 

380,  20 

Herodian  negl  ytXlaewg 

6vo(xdTiov           bei  Lentz  IT,  769, 19 

300, 30 

Kagog  .  . 

317,    1  u. 
345,  23 

309,    1 

KeaTttL.  . 

697, 14 

309,  41 

Kelfieva  . 

667, 2  u.  25 

Herodian  Ttegl  grjfidTcov      „      H,  809, 41 
und,,           „      Tca&wv         „        „  325,    4 

312,    5 

KezXstxa . 

685,    2 

313,14 

Key.ova .  . 

552, 15 

313,17 

K^xQiva   . 

540,  35  u. 
542, 17 

322, 17 

Klvövvog . 

282,  23 

Herodian  Tiegl  yillGewgovo^dTwv  IE,  720, 1 9 

324,  33 

KXia  .  .  . 

372,15 

„     Tta&wv                    „  245,11 

325,  25 

Klelv,  .  . 

421,33 

326, 19 

KXeocpöv- 

49, 17u. 

rrig.  .  . 

149,    6 

„       Ttegl  'Älloecjg  orofidrcov  „  686, 12 

326,  28 

Kkevac.  . 

95,    2 

„  649,    8 

329, 12 

Kki^i  .  . 

873,    5 

343, 12 

Kqdra  .  . 

16,26u. 
367, 21 

»  632, 12 

*)  Georgii  Choerohosci  Dictatata  in   Theodos  Canones   necnon  Epimerismi  in 
Psalmos  ed.  Thomas  Gaisford. 


Das  Verhältnis  des  Etym.  Gud.  zum  Etym.  Magnum  genuinum. 


99 


Gud. 

Chörob. 

Quelle 

344,  40 
350, 19 

Kge^oto   . 
Krelg.  .  . 

663, 19 
197,  23 

Herodian  Ttegl  qr^iaxiov  II,  806.  Zenobius. 

b.    Ix    TWr    7C€qI    TtQOOf^ÖLoiv. 

291,42 

Ka^'     ri- 

/ilWV   .   . 

Bekk. 
Anecd. 
704,  28 

Herodian  Tteql  xa&oXtyirjg 

TtQoat^dLag                           I,  547, 10 

c.  Ix  TTJg  oQd-oyQacpLag  bei  CAO  U,  167 ff. 


KafXLVog  . 
KslqLov    . 

Kelvog  .  . 
Kelog.  .  . 
KrjQvyi€LOv 


KißojTog  . 

KiQQig  .  . 
Klwv  .  .  . 

V€L   .  .   . 
KX€LTog)üJv 
KXfjd-Qa  . 
KXiTvg .  . 


KXitOQia- 
KsLV  .  . 
KXifxa^  . 
KoQvd'd'L^ 
KoxXLÖlov 
KgccTCia  . 
Kgelov  .  . 
Kgeiovoa 
Kgelootov 
Kgetiov    . 


229, 

22       1 

230, 14 

230, 

22 

232,  31 

206, 

9  . 

232, 

3 

230,  28  u. 

Theognost 

129, 

8 

230, 

5u. 

Orus 

228, 

8 

230, 

10 

231, 

10  u. 

253, 

7 

231, 

7 

232, 

14 

233, 

5u. 

^poU 

.Soph. 

100,27 

227,  31 

229, 

10 

170, 

10 

230, 

16 

231, 

23 

231, 

17 

231, 

29 

232, 

6 

231, 

33 

Herodian  Tiegl  oQ^oygacpLag  II,  529,  2 
„  „  „    530,    4 

„  „  „    531, 30 

„  „  „    Ool,  25 

„  504,27 
»  „  „    5ol,  27 

jj  „  „    Ooo,  \o 

(und  I  373,  22  rtegl  yca&ohxrjg  7tgoo(pölag) 

Herodian  fcegl  ogd^oygacplag     II,  533,23 

„     534, 19  u.  473,    1 
„  „  „    ooo,    4 

„  „  „    OoO,  14 


Herodian  Tcegl  dgd'oyga(piag    IT,  535, 18 

535,  7  u. 24 
„  „  „    535, 20 


536,  4 
535,  31 
431,20 
537, 13 
537, 26 
538,  1 
538,  8 
538,11 

Tiegl  7ca^(x)v  11,  318, 12;  fehlt  in  der 

Orthogr. 

7* 


100 


Otto  Caenuth 


Gud. 

Chörob.     i 

Quelle 

346, 22 

KqI.  .  .  . 

226,  28  u. 
Dict.375,6 

Herodian 

jcbqI  OQ&oyQacpLag 

II,   538,18 

346,  26 

Kglßavog 

226,  24 

»» 

») 

„    538,21 

346,  33 

KQi&rj  .  . 

226,  32 

« 

M 

„    538,24 

346,  44 

Kglog    .  . 

226, 16 

» 

W 

»    413,    1 

347, 14 

Kgwg    .  . 

226,  21 

?» 

»♦ 

„    412,21 

348,10 

KgoxodeL- 

log.  .  . 

229,17 

»> 

»» 

„    539,   5 

348,  35 

KqovLdrig 

230, 19  u. 
201,    7 

»> 

M 

„   435,   2 

328, 28 

KUotov  . 

? 

« 

» 

,,    415,21 

d.    Ix    T(JJV    STtljtieQLGlilWV    GVV    -3^  €  (^   TOV    'tp  aXt  7]  Q  L  ov. 


292, 18 

KaiQog 

46,32 

322,  37 

Klvw   .... 

134, 13 

293, 12 

Kaxog  .     .     . 

133,13 

323,  20 

Kloow      ,     .     . 

148,25 

295, 18 

Kailog     .     . 

138,23 

327,  48 

KlrjQovofila .     . 

90,30 

300, 54 

KaQTtog    .     . 

46,21 

(^rjrsL    eig  Tovg 

305,    9 

KaraöxsoLV  . 

92,20 

€7rifi€QLafiovg 

306,  33 

KaT€Tc6^rjGav 

174,26 

TOvXoiQoßO' 

309, 13 

KdÖQog     .     . 

168,  25  u. 

oy.ov) 

137,29 

330,  25 

Kvritiri      .     .     . 

187,12 

312, 17 

KeyiQatTtalrj- 

u.  Hesych. 

xwc  .      .      . 

163,    1 

332,  28 

KoLnwfxai    .     . 

100,  20 

315,40 

Kigag  .     .     . 

126, 19 

333,    9 

KoLTTJ          .       .      . 

105,  30 

und  50 

334, 56 

KolTtog   .     .     . 

140, 10 

320,    3 

KiJQ       .      .      . 

3,      3 

347,    3 

KQLog      .     .     . 

137,26 

Reitzenstein  meint  S.  407,  erst  der  Verfasser  des  unechten  E.  M.  habe 
die  Epimerismen  des  Chöroboscus  benutzt;  dass  auch  diese  Ansicht  irrig  ist, 
zeigen  ausser  dem  ausdrücklichen  Citat  bei  KlrjQovofila  in  F  i^rjTei  eig 
Tovg  e7cifi€QiGfiovg  tov  XoigoßoGxov)  die  unter  d  aufgeführten  18  Stellen, 
welche  in  F  ebenfalls  vorkommen.  G  hat  ausserdem  noch  31  Artikel 
allein  in  K  dieser  Quelle  entlehnt,   (vgl.  S.  103  unten.) 

XTT.    ETtC^SQLG (XOl. 

a.    '^OfiTjQOv  ^ETtifieQLGfiol  xar^  alq)aßi]TOv  in  CAO  I. 


Gudian. 

CAO  I 

Quelle  oder  Bemerkungen 

299. 19 
301,57 

306. 20 

KoLQiq    .     .     . 
KaGlyvTjTog  . 
KavGtQiog     . 

226,  26 
238, 12 
235, 25 

ergänzt  durch  Herod.  Tieql  oQ&oyg. 
n,  441, 14. 

l 


Das  Verhältnis  des  Etym.  Gud.  zum  Etym.  Magnam  genuinam. 


101 


Gudian. 


CAO  I 


Quelle  oder  Bemerkungen 


312,55 
313,36 
313,42 
317,25 
317,28 
317,60 


318,15 
318,21 
318,36 

323,  3 
323,  26 
326,  5 
326,  54 
330,  34 

335,  33 

336,13 

336,  58 
342,  52 
343, 21 
345,  25 
345,  37 
350, 12 

351,  5 

352,  29 
352,  43 
354,    6 


Key.oQvd^fxeva 
KeX(xiveq)ig    ' 

KSQTO^W    .      . 

KeoTog .     .     . 


KexccQrjora 
KexccQolaTO 
Krjöw   .     . 


KIqxjj  . 
Kixw 

Kleog  . 
KXrf'Cg  . 
KvLöoa . 
KofiT]    . 

Kofxslv . 

Kovlrjat 

KqciLvo) 

KgaTSQog 

Kgr^yvov 

KQTjrivov 

KTdfA.€Vog 

KTVTtog 

KvxXa  . 

KvxXwTteg 

Kvvir]   . 


355,  39  i  KvQßeig 
356, 14  I  KvQTog. 

356,  45  I  Kvcüv    . 

i 


236. 22 
242, 21 
234,  23 
233,    3 

240. 23 
239,    1 


251,29 

244,    6 

228, 26  u. 

244. 16 

254. 18 
232,  5 
231,10 
229,  20 
219,23 

243. 17 

254, 22 
218,16 
239,12 
228, 10 
242,  33 
241,34 
240,  30 
254,  29 

250. 19 
254,  1 
239, 31 
221,  5 
232,15 
241,12 


Herodian  Ttsgi  Ttad-wv  IE,  377, 13. 

vgl.  CAP  ni,  326,  32. 

Herodian  ^cegl  Tta^cHv  II,  259, 14. 

und  schol.  D  zu  S  214. 

Herod.   ttsq!   Ttad-wv  U,  229,15   und 

Ttegl  TtaQwvvjucjv  11,   861,  6.     Ari- 

stonicus  zu  r  273. 
Herodian  Ttegl  Tta&ajv  IE,  296,22. 


Herodian  Ttegl  ogd-oyQacpLag  11,  462, 22 

und  CAO  n,  383, 23. 

Herodian    Ttegl    ölxqovcov    IT,   18, 14. 

und  Herodian  tcsqI  ^a^oXm^g  7tQoo(pö. 
325,11. 

Herodian  Tiegl  nad-äiv  11,  304,  20 
„         .  232, 12 
,.    Ttegl  ^Ihay,rjg  TcgoGtpö.  ü,  26,  4. 
vgl.  CAP  111,331, 18  und  schol.  zu  ^106. 
vgl.  CAP  in,  318, 18. 


Herodian  kv  eTti^egLOinolg  XXX. 


vgl.  11,455,15  CAO  und  Suidas. 

vgl.  CAP  in,  304, 33.    Herodian  rcegl 
^Uoewg  övo^aTwv  H,  643, 15. 


b.  'EuLixegLOfiol  rrjg  A  'Ofzjjgov  'iXtdöog  aus  dem  Coisl.  387. 

296,16:  KaXXLTtdgrjog        =  CAP  IH,  335,    5 
^00,dl:  KagTcaXliiiwg  =      „       „      351,13 

Z2%\^\  Klvtai^vr^OTga     =      „       „      331,25. 
Andere  Stellen,  die  sich  mit  CAO  I  decken,  habe  ich  hier  nicht  er- 
wähnt. 


102 


Otto  Cabnuth 


C.  'Ek  Tuiv  67tLfj.eQiOf.idjv  xaza  otolx^^ov  CAO  II,  331 — 426: 
294,  33  :  KdXa&og  =  380,  23  u.  456, 10.  —  303,  42 :  Karagyio  =  381,  4.  — 
326,    9:KXiog  (2.  Teil)  =  383,23.  —  332,50:  Koivog  =  380,26.  — 
336, 18 :  Äo/MTTog  =  380,31,  —  350,25:  Kt^vt}  (2.  Teil)  =  381,21. 

d.  'Eü^oyai  ÖLaq)6Qwv  Xi^ewv  avvrjXey fiiviov  ex  re  trjg 
yqacprig  xal  titjv  d-v gad- ev  Tigayfiatetaiv. 
Unter  diesem  Titel  ist  uns  in  CAO  ü,  427-— 469  ein  Werkchen  über- 
liefert, welches  nach  den  Angaben  am  Rande  der  Handschrift  (Baroccia- 
nus  50,  XI  saec.)  li^ecg  rfjg  yQafjfiaTixrjg,  Xi^ecg  tov  ipalr^gog,  '/J^etg 
h  TTJg  loToglag  zov  aylov  NL7crjq)6gov  und  ausserdem  eine  Reihe  von 
Artikeln  ohne  Quellenangaben  enthält.  Von  diesen  und  den  Glossen  aus 
dem  Psalter  findet  sich  eine  grosse  Zahl  bei  Suidas  wieder.  Ob  wir  es 
hier  mit  einer  Quelle  dieses  Lexikons  oder  mit  einem  Auszuge  aus  ihm 
zu  thun  haben,  den  auch  der  Florentinus  und  Gudianus  benutzt  hat, 
vermag  ich  zur  Zeit  noch  nicht  zu  übersehen;  jedenfalls  will  ich  aber 
konstatieren,  dass  die  folgenden  20  Artikel  aus  Ä  in  F  und  G  sich  mit 
den  hloyal  decken,  und  dass  die  unter  XIII  aufgeführten  18  Artikel 
desselben  Buchstabens  auch  bei  Suidas  stehen.  Da  dessen  Werk  im 
Jahre  976  schon  im  Gebrauche  gewesen  sein  muss*),  so  wäre  auch  seine 
direkte  Benutzung  durch  den  Verfasser  des  echten  'ETVfioÄoyr/.dv  fieya, 
dessen  Entstehung  in  die  zweite  Hälfte  des  zehnten  Jahrhunderts  fallt**), 
nicht  geradezu  unmöglich. 


Gudian. 

CAO  II 

Gudian. 

CAO  U 

294,  28 

Kccllri   .... 

455,    4 

327,  39 

Klrjgog  (und 

294,  35 

Kdka^og    .     .     . 

456, 10 

Photius) .     .     . 

454, 15 

296,  35 

KaXvifjüj  (Suidas) 

454,    1 

332,  60 

Koiog     .     .     .     . 

453, 18 

297,  24 

Kav&og.     .     .     . 

453,  11 

333, 15 

KolTtg  .... 

456, 17 

298,    1 

KaTtrjkog    .     .     . 

455,  28 

339,  52 

KogoTtkdaTijg 

454, 10 

305,  21 

Kavfia  .... 

454, 19 

342,  42 

Kgdfißrj  (vgl. 

314,    4 

KeXvq)7i.    .     .     . 

453,  20 

schol.    zu    Ari- 

317,20 

Kegxofiog  .     .     . 

457, 22 

stophanes      Eq. 

319,    7 

Krjöea    .     .     .     . 

456, 15 

539, 12  und 

319,  39 

Krjlevg  .... 

454, 17 

Suidas) 

455,    l 

(Zonaras  1204: 

343,  55 

KgdoTtedov     .     . 

457,  24 

ovTCjg  evgov  ev 

351,  26 

Kvßrjßrj    (Suidas) 

453,  22 

VTtOfivrjfzaTi 

353,  22 

Kvklagog  (desgl.) 

456,11 

^Oövaaelag.Ygl, 

356, 22 

Kvcpella    .     .     . 

453,  28 

schol.  V  zu  y  2). 

358,    7 

K(aq)6g  .... 

454,    7 

*)  Bernhardy  p.  XXIX:   Nee  tarn  dubitari  potest,  quin  Suidae  lexicon  tarn  sub 
a.  976  in  manibus  et  ore  hominum  versari  coeperit. 
**)  Reitzenstein  S.  404. 


Das  Verhältnis  des  Etym.  Gud.  zum  Etym. 

Magnum  genuinum.           103 

Xm.  Suidas. 

Gudian. 

Gudian. 

1  Gudian. 

290, 20 

Kdörjg 

307,  42 

KatiiQee 

322,  58 

KLVCCfXWfXOV 

292,  20 

KaiQOG€(x)V 

308,  38 

Kavola  (Oru 

s)    334,    6 

KoXkovQLa 

296,    4 

KaXXrj 

311,30 

Keöd^w 

335, 29 

KojiielTTjv 

296,  31 

Kdkvj^vog 

314,  56 

KivTQiov 

347,  46 

Kqlvov 

297,  22 

Kdvövkog 

315,31 

IGgaLQe 

348,  32 

KQom)(pavtog 

304,    1 

KaTaxocGa 
YTV    TT  o  a  TT  f 

322,  56 

»  Vi  1  n  Q 

Kivvßcvog 

351,  34 

Kvßog 

Mit  Hesychius  berühren  sich  folgende  Stellen  aus  FG; 


Gudian. 

Gudian. 

Gudian. 

292,  13 

Katvög 

312,49 

Ke'KOQvd^fihog 

349,  38 

Kqovvvjv 

297,    6 

Kd^(AOQog 

318,34 

Ki^öead^at 

351,38 

KvöidveiQa 

299,    6 

KdcQÖOTtog 

333,    7 

Koigavewv 

„     45 

Kvöiocüv 

307,  33 

KaT€Q€^€ 

„     48 

Kolov 

„     46 

Kvöoifiog 

311,53 

KeY.aOfj.ev7i 

„     49 

Kolog 

356,10 

KVQTOV 

312,34 

KeuXriaTO 

348,  53 

KqoöOag   (Ni- 
canorj 

357,30 

Kwd^ijv 

Ich  schliesse  daran  drei  Stellen  aus  dem  Cyrillus-GIossar  Voss.  63 
und  Coisl.  347  (CAP  IV);  beide  sind  vom  Etym.  Gud.  öfter  ausge- 
schrieben worden: 

295,23:  KaloTtovg.  —  315,15:  KeQa(.wg.  —  319,32:  Kriltov 
{ovTiog  OM^evog  Cyrill.  und  Sorbonicus).  — 

XV.  Apollonius  Sophista. 


Gudian. 


Bekker      Gudian. 


Bekker 


298,  30 

303,  56 

304,12 

311,46 

315,26 

319,18 

338,  26 

KdTtexog  .  . 
Karad^vfiLog 
Katay.lcjd^eg 
Kexaöwv  .  . 
Kegat^eiv .  . 
K^Xov  (I.  Teil) 
KoQorj 


95,  8 

97,  1 

96,  3 
97,20 

98,  6 

99,  2 
103,2(?) 


338,  55 

342,  1 

343,  9 
356,    9 

„     37 
357, 25 


102,31 

103, 14 

„     24 

105, 26 

„     29 

Kioöeia 106,    4 


KoQv&aloXog  . 
(letzter  Teil) 
KovQTJTeg  .  .  . 
KgarevTacov  . 
KvQ(xa  .... 
KviüV 


XVI.  Theognostus. 


332,28  Koifiwfjai  ^^  ,,    I4fi  15 
und  333,   9  Kohrj  ^^^  ^'  ^^^»  ^^• 

Zum  Schlüsse  darf  ich  nicht  unerwähnt  lassen,  dass  sich  sowohl  in 
G,  als  auch  in  M  eine  stattliche  Reihe  von  Artikeln  vorfindet,  die  aus 


104    Otto  Cabnuth,  Das  Yerbältnis  des  Etym.  Gud.  zum  Etym.  Magntun  genainum. 


denselben  Quellen  stammen,  wie  die  hier  von  mir  aufgeführten,  die  aber 
in  F  nicht  stehen.  Dasselbe  wiederholt  sich  gegenüber  dem  uilf-noöelv- 
Etymologicum,  dem  von  Ritschi  aufgefundenen  Etymologicum  Angelica- 
num  {saec,  XV)  und  dem  Etymologicum  Florentinum  parvum  isaec.  X, 
bei  Miller  S.  319—340),  die  alle  nach  Reitzensteins  Ansicht  (S.  408) 
für  die  Textkritik  und  mehr  noch  für  die  Sonderung  der  Quellen  in  dem 
echten  Etymologicum  Magnum  von  hoher  Bedeutung  sein  und  unab- 
hängig von  dem  ^eya  wie  dem  aXXo  auf  ältere  Werke  zurückgehen  sollen, 
was  ich  freilich  für  das  Etymologicum  Angelicanum  stark  bezweifle.  Das 
Aifxo)öelv-M,^mo\og\Q,\xm  bringt  unter: 

K   2  Artikel,  von  denen  stehen  in  E  0,  in  M  2,  in  G  0,  in  S  2; 

/    7  -  „  -  -  „  - 

ui     1  —  „—  —    „   — 

^  1  -  „  -        ~  „  - 

ß  4  -  .,  -  -  „  - 

B     4  -  „  —  -  „  - 

Von  den  37  Glossen  des  Etymol.  Angelicanum  unter  K  hat  G  S :  35, 
M:  31,  F:  32,  und  von  den  68  Erklärungen  des  Florentinum  parvum 
aus  demselben  Buchstaben  enthält  GS  alle,  M  52,  F  23!  — 

Darnach  müssten  wir  annehmen,  dass  entweder  diese  sämtlichen 
Artikel  in  F  ausgefallen  sind,  oder  dass  die  Verfasser  von  M  und  GS 
neben  den  aus  F  entnommenen  Glossen  noch  selbständig  dessen  Quellen 
excerpiert  haben.  Da  beides  gleich  unwahrscheinlich  ist,  so  wird  nach 
meiner  Ansicht  durch  diese  Thatsache  neben  den  obenangeführten  die 
ganze  Reitzenstein'sche  Hypothese  vom  echten  ^Exv^oloyiyiov  fieya  und 
dem  akko  stark  ins  Wanken  gebracht,  doch  ist  ein  endgültiges  Urteil 
über  dieselbe  wohl  erst  dann  erlaubt,  wenn  das  von  ihm  angekündigte 
Etymologicum  Magnum  genuinum  erschienen  sein  wird. 


2 

7 

7; 

2 

7 

7; 

0 

1 

1; 

3 

4 

4; 

2 

4 

4. 

Nachtrag  zu  Seite  87. 

Während  des  Druckes  dieser  Abhandlung  habe  ich  noch  die  Buchstaben  Z, 
Hj  0,  W  vergleichen  können ;  das  Kesultat  ist  folgendes : 


unter  Z  hat :    F     . 

63  Artikel,  davon  stehen  in 

G    . 

35 

,^ 

S    . 

37 

.,    (2  allein); 

unter  /f  hat:    F    . 

235 

„     davon  stehen  in 

G    . 

64 

„    (8  allein) 

S    . 

61 

„    (5  allein); 

unter  0  hat:    F    . 

220 

„    davon  stehen  in 

G    . 

86 

„    (14  allein) 

S    . 

77 

„    (5  aUein); 

unter  <?  hat:   F    . 

295 

„    davon  stehen  in 

G    . 

86 

„    (13  allein) 

S    .    .     . 

87 

„    (14  aUein). 

III. 

Die  Lehre  des  ApoUonius  Dyscolns  vom  Pronomen 
possessivum. 

Von 

Otto  Eichhorst  (Wehlau  i.  Ostpr.). 

ApoUonius  Dyscolus  hat  über  das  Possessivpronomen  am  ausführ- 
lichsten in  seiner  Schrift  über  das  Pronomen  gehandelt.  Hier  umfasst 
seine  Darlegung  den  ganzen  letzten  Abschnitt  der  Schrift,  welcher  in  der 
I.  Bekker'schen  Ausgabe  von  Seite  128B  bis  Seite  148  reicht.  Ausserdem 
kommen  an  verschiedenen  Stellen  dieser  Schrift  gelegentliche  Bemerkungen 
über  das  Possessivpronomen  vor.  Ferner  ist  in  seiner  Syntax  ein  grösserer 
Abschnitt  dem  Possessivpronomen  gewidmet,  nämlich  im  zweiten  Buche 
die  Kapitel  21  und  22,  wozu  noch  gelegentliche  Bemerkungen  an  anderen 
Stellen  dieses  Buches  und  in  den  übrigen  Büchern  treten.  Femer  sind 
zur  Beurteilung  von  ApoUonius'  Lehren  auf  diesem  Gebiete  noch  zwei 
andere  Schriftsteller  wichtig,  welche  sich  in  ihrem  Vortrage  fast  durch- 
weg an  ApoUonius  anschliessen ,  nämlich  Planudes^)  am  Schlüsse  seiner 
Abhandlung  Ttegl  ovwd^eiog  und  Priscianus  im  12.,  13.  und  17.  Buche 
nebst  manchen  Stellen  in  anderen  Büchern.  Auch  die  Scholien  zur  Gram- 
matik des  Dionysius  Thrax  gewähren  einige  Ausbeute. 

Die  Definition  des  ApoUonius  Dyscolus  über  das  Pronomen  lautet*): 
'Oqlotsov  ovv  Trjv  avT(x)vvf.iL(xv  wöe'  Äk^LV  clvt'  ovojuaTog  tiqoowtcwv 
tvQLO(.dvix)v  7taQaOTaTL^r]v,  ÖLaq)OQOv  zara  Trjv  TCttoöLV  xa«  agid'^ov,  ote 
xal  yhovg  eotl  kutci  ttjv  g)(ovrjv  ct7t(xQefxq)aiog.  Er  definiert  also  das 
Pronomen  als  ein  Wort,  welches  statt  eines  Nomens  gebraucht  wird  und 
bestimmte  Personen  hinsteUt.    Mit  diesem  ersten  Teil  seiner  Definition 


1)  Einzelne  Partien  dieser  Syntax  führen  allerdings  nicht  auf  ApoUonius  zurück. 
Man  vergl.  z.  B.  S.  138,  22 -p.  139,  1. 

2)  De  Pron.  S.  10  A.  Bekk.    Die  Citate  sind  ilberall  nach  Bekker  gegeben,  wäh- 
rend der  Wortlaut  des  Textes  nach  der  Ausgabe  von  Richard  Schneider  angeführt  ist. 


106  Otto  Eiohhoest 

stimmt  die  von  Dionysius  Thrax  in  §  21  seiner  Grammatik  gegebene 
dem  Inhalte  nach  überein.  Sie  lautet  nämlich:  'Avtwwiiia  di  Iotl 
ki^ig  ccvtI  ovofiaTog  TtaQaXafißavofiivr],  7CQ00W7C0)v  (jjQLO/Äivtov  örjXcJTiy.i], 
Der  zweite  Teil  in  der  Definition  des  Apollonius  ist  eigentlich  entbehrlich, 
weil  sie  sich  nicht  auf  alle  Pronomina,  sondern  nur  auf  das  Personal- 
pronomen bezieht;  denn  nur  auf  dieses  geht  seine  Bemerkung  „abweichend 
in  Casus  und  Numerus,  wenn  es  auch  das  Genus  lautlich  unbezeichnet 
lässt".  Also  ein  Pronomen,  welches  für  die  drei  Geschlechter  nur  eine 
Form  hat,  ist  in  der  Bildung  der  Casus  und  Numeri  anomal.  Diesen 
zweiten  Teil  der  Definition  des  Apollonius  finden  wir  bei  Dionysius  Thrax 
nicht,  sondern  statt  dessen  eine  Aufzählung  der  sechs  Accidenzien  des 
Pronomens.  Dagegen  findet  sich  in  den  Schollen  zum  Dionysius  Thrax 
eine  Definition,  welche  der  des  Apollonius  sehr  ähnlich  ist^j  Dass  Apol- 
lonius unter  itqooMnct  togLO^ha  die  Nomina  propria  versteht,  hebt  er  an 
mehreren  Stellen  hervor,  z.  B.  de  Pron.  S.  32  A  und  B  und  besonders 
Synt.  S.  112,  19  und  20:  Kai  yag  övvdfiet,  zvqiov  ovoina  voelzai  dia 
T^g  avTwvvfilag.*)  Er  begründet  dieses  näher  de  Pron.  S.  lOB.  Diesen 
Gedanken  giebt  auch  Priscian  in  seiner  Definition  wieder:^)  Pronomen  est 
pars  orationis,  quae  pro  nomine  proprio  uniuscuiusque  accipitur  personasque 
finitas  recipit. 

Die  Possessivpronomina  nennt  Apollonius  avTwwinlaL  xriyr^xa/  oder 
Ttagaycoyoi.^)  Er  scheint  die  Benennung,  welche  Draco  ihnen  gegeben 
hatte,  nämlich  öiTtgoGcoTtoi,  nicht  geradezu  abzulehnen,  da  bei  jedem 
Possessivpronomen  zwei  Personen  zu  denken  sind,  nämlich  die  des  Be- 
sitzers und  der  dabei  mitzuverstehende  Besitzgegenstand.  So  ist  also 
£fx6g  zweimal  singularisch,  vcjltsqw  zweimal  dualisch  und  rjucTegot  zwei- 
mal pluralisch  zu  denken.^)  Auf  diesen  Gedanken  kommen  wir  weiter 
unten  ausführlicher  zurück. 

Die  Possessivpronomina  werden  vollständig  nach  Genus,  Numerus  und 
Casus  fiektiert  und  zeigen  am  Ende  die  Abwandlung  nach  Casus  in  regel- 
mässiger Weise  wie  Adjectiva  auf  og,  am  Anfange  die  Reihenfolge  nach 
Personen  in  unregelmässiger  Form  wie  die  Personalpronomina,  von  denen 
sie  gebildet  sind.    Synt.  S.  95,  18  und  S.  96,  1:  T(^  fihv  yag  rilet  drj?,ol 


3)  S.  906,  7— 11. 

4)  Vergl.  Synt.  S.  73,  23--28,  S.  19,  16  und  17,  Planud.  Synt.  S.  120,  8  und  9, 
S.  133,  11-13,  S.  135,  8— 11,  Priscian.  XVII,  S.  149,  8-10,  S.  150,  14—17.  Ausgabe 
von  Hertz. 

5)  Priscian.  XII,  S.  577,  2  und  3. 

6)  De  Pron.  S.  19B.  Vergl.  S.  40  A. 

7)  De  Pron.  S.  20  A  und  B.   Vergl.  Bekk.  Anecd.  S.  921,  5—7. 


Die  Lehre  des  Apollonius  Dyscolus  vom  Pronomen  possessivum.         107 

TTIV    TCTCJTLTiTjV   MgLV,    TC^    Ök    (XQXOVti    TOV   TW^   TlQOOWTtOJV  STtlfZeQLOfXOV.^) 

Ihre  Maskulinform  endigt  deshalb  auf  og,  weil  diese  Endung  die  gene- 
rellste ist.')  Vom  Personalpronomen  werden  die  orthotonierten  Genetive 
zur  Bildung  des  Possessivpronomens  verwandt,  während  von  den  enkli- 
tischen Genetiven  kein  Possessivpronomen  gebildet  wird,  und  jedes  Posses- 
sivpronomen kann  mit  der  enklitischen  Form  des  entsprechenden  Personal- 
pronomens im  Genetiv  vertauscht  werden/")  Die  Possessivpronomina  sind 
wie  die  Personalpronomina  in  der  ersten  und  zweiten  Person  deiktisch, 
aber  in  der  dritten  Person  anaphorisch.")  Sie  bezeichnen  wie  jedes  Pro- 
nomen eine  ovo  La,  d.  h.  eine  Wesenheit,  ein  Seiendes.")  So  gilt  also  von 
dem  Possessivpronomen  folgendes:  To  avc^  ovofxatog  TCCLQaXay.ßaveod-ai, 
t6  re  la.  TcgoowTta  fcdvTore  oQLQeiv  tov  yiTrjaafi^vov,  ro  ovo  lag  rcaga- 
GTartyidv  elvaL.^^)  Mit  jedem  Possessivpronomen  stimmt  der  Besitzgegen- 
stand in  der  Form  überein,  z.  B.  rif^ezegoL  dovXoi.  Wenn  aber  statt  des 
Possessivpronomens  der  Genetiv,  der  ein  Besitzverhältnis  bezeichnet,  ge- 
wählt wird,  so  stimmt  dieser  Genetiv  mit  dem  Besitzgegenstande  nicht 
überein,  z.  B.  avrov  dovXot,  amov  öovlai,  avrov  olY.og.^'^) 

Was  den  Vokativ  der  Possessivpronomina  betrifft,  so  wird  ein  solcher 
nur  von  der  ersten  Person  gebildet.^^)  Aber  von  ey,6g  findet  sich  im 
Vokativ  e^e  nicht,  welches  dem  Accusativ  vom  Personalpronomen  gleich 
lauten  würde,  sondern  der  Nominativ  wird  auch  als  Vokativ  verwandt.'®) 
In  der  dritten  Person  ist  ein  Vokativ  zwar  möglich,  z.  B.  öcpkisQe,  aber 
er  ist  nicht  gebräuchlich/') 


8)  Vergl.  de  Pron.  S.  12C-13A,  S.  20 B  und  C,  S.  132  A.  Synt.  S.  62,  16  und  17. 
Vergl.  Priscian.  XVII,  S.  166,  12  und  13,  XIII,  S.  3,  21  — S.  4,  3,  XVII,  S.  140,  3-9, 
S.  141,  7  und  8. 

9)  Synt.  S.  106,  5  und  6,  9  und  10.  Vergl.  de  Pron.  S.  20  B  und  C. 

10)  De  Pron.  S.  20  C,  S.  11  IC,  128B,  129 B  und  C,  137 B,  19B  und  C,  45 B,  117 C, 
131 B.  Synt.  S.  62,  13  und  14,  S.  158,  15—18,  S.  164,  13  und  14.  Planud.  Synt.  S.  163, 
5-14,  S.  164,  25—29.  Priscian.  XII,  S.  588,  13—15,  XVII,  S.  161,  15—24,  S.  166,  8 
und  9,  S.  169,  12  und  13,  S.  170,  28  und  29,  S.  173,  19  und  20.  Bekk.  Anecd.  S.  915, 
14—27  und  29—33,  S.  921,  10-13. 

11)  De  Pron.  S.  lOB,  S.  129B.    Synt.  S.  60,  4  und  5. 

12)  De  Pron.  S.  9B,  S.  10  A,  S.  33 B,  S.  37  C.  Priscian.  XVII,  S.  131,  8-10,  S.  146, 
18  und  19. 

13)  De  Pron.  S.  9B.    Vergl.  de  Pron.  S.  33  C,  S.  41 B. 

14)  De  Pron.  S.  128C,  S.  87  A.  bis  C. 

15)  De  Pron.  S.  26 A  und  B.  Synt.  S.  219,  16-220,  5.  Planud.  Synt.  S.  162,  36 
bis  S.  163,  4.  Bekk.  Anecd.  S.  917,  21— S.  918,  2  und  4-11.  Priscian.  XII,  S.  582, 
15-20.  XIII,  S.  1,  15- S.  2,  2.  XVII,  S.  166,  6  und  7,  S.  204,  21—24,  S.  205,  14-17, 
S.  207,  17—19. 

16)  De  Pron.  S.  27  A  und  B.    Synt.  S.  221,  21  — S.  222,  9,  S.  214,  1-4. 

17)  De  Pron.  S.  27  A.    Synt.  S.  220,  6-8.    Priscian.  XVII,  S.  205,  17-26. 


108  Otto  Eichhobst 

Mit  besonderer  Ausführlichkeit  bespricht  Apollonius  diejenigen  Casus 
der  Possessivpronomina,  welche  mit  orthotonierten  Formen  der  Personal- 
pronomina lautlich  zusammenfallen,  also  if^ov,  oov,  kfioi,  aoi  oder  mit 
Formen  des  postpositiven  Artikels  wie  f/I,  ^,  ov.  Ueber  tßov  lehrt  er, 
dass  es  der  Genetiv  vom  Personalpronomen  ist,  wenn  es  von  einem  Ver- 
bum  abhängt,  z.  B.  efxov  ct-Kovet  Qiwv.  Dagegen  kann  ifiov  in  possessiver 
Bedeutung  nicht  gebraucht  werden,  sondern  dann  wird  die  einsilbige  en- 
klitische Form  fiov  gewählt.  Wo  e/^ov  in  possessiver  Bedeutung  steht^ 
ist  es  der  Genetiv  des  Possessivpronomens,  aber  nicht  der  Genetiv  des 
Personalpronomens.  Ebenso  sind  die  anderen  vorher  erwähnten  gleich- 
lautenden Pronomina  dann  Possessivpronomina,  wenn  ein  dazu  gehöriger 
Besitzgegenstand  im  gleichen  Casus  gefügt  ist.  Die  lautlich  zusammen- 
fallenden Formen  der  dritten  Person  hingegen  sind  im  Accent  unter- 
schieden; denn  die  personale  singularische  Form  ol  ist  ein  Perispomenon, 
die  Possessivform  ot  aber  ein  Oxytonon.'*) 

Die  Possessivpronomina  im  Pluralis  und  im  Dualis  schliessen  wie  die 
Personalpronomina  im  Pluralis  und  im  Dualis  mehrere  Personen  in  sich; 
darüber  sagt  Apollonius:  ^fthegog  yccQ  6  sfxdg  xat  oog  xal,  ei  tvxoty 
aXkov  rov  y,ai  v(x)lT€(jog  6  kfiog  Kai  Gog,  rj  e^iog  aal  eKslvov.^^)  Die 
possessiven  Pronomina  und  die  possessiven  Nomina  haben  manche  Eigen- 
schaften gemeinsam,  manche  aber  auch  nicht.  Gemeinsam  ist  beiden 
possessiven  Wortarten,  dass  der  Besitzgegenstand  dabei  mitzuverstehen  ist, 
also  die  Person  des  Besitzers  und  des  Besitzgegenstandes  darin  enthalten 
ist  und  dass  für  das  Possessivum  der  Genetiv  des  Besitzers  mit  dem  Be- 
sitzgegenstande gesetzt  werden  kann.  Der  Unterschied  besteht  darin,  dass 
die  Pronomina  jeden  beliebigen  Besitzer,  die  Nomina  nur  einen  bestimmten 
Besitzer  bezeichnen  können,  femer  darin,  dass  in  dem  possessiven  Nomen 
immer  zwei  dritte  Personen  enthalten  sind,  dagegen  in  dem  possessiven 
Pronomen  nicht  immer,  endlich  darin,  dass  in  dem  Pronomen  die  Zahl 
der  Besitzer  bestimmt  ist,  in  dem  Nomen  aber  nicht;  denn  wenn  ich  z.  B. 
sage  avd^QWTteia  ixvTq,  SO  weiss  man  nicht,  ob  dabei  av&QCuTtov  oder  av- 
^QWTzwv  zu  denken  ist.  Diese  Zweideutigkeit  lässt  sich  nur  dadurch  be- 
seitigen, dass  man  statt  des  possessiven  Nomens  den  Genetiv  des  Appel- 
lativums  wählt.  Dagegen  ist  das  von  einem  Eigennamen  abgeleitete 
possessive  Nomen  immer  singularisch  zu  verstehen.'^^)    Apollonius  unter- 


18)  DePron.  S.  81C  — S.  82A.  Synt.  S.  158,  6-S.  162,  24.  S.  163,  5-8,  17-21. 
S.  164,  26  — S.  165,  2.  S.  62,  1—17.  S.  63,  1—16.  S.  222,  10  — S.  223,  19.  Priscian.  XUI, 
S.  4,  4—23.    XVII,  S.  173,  21— S.  175,  11. 

19)  De  Pron.  S.  133  A. 

20)  De  Pron.  S.  133  A  —  S.  134B.    Priscian.  XII,  S.  588,  16  — S.  589,  8. 


Die  Lehre  des  Apollonius  Dyscolus  vom  Pronomen  possessivum  109 

scheidet  bei  dem  Possessivpronomen  ein  zweifaches  Personenverhältnis  und 
spricht  von  rb  kvTog  tvqöowtvov,  d.  h.  der  Person  des  Besitzers,  und  von 
To  eviTog  TCQOGWTtov  oder  t6  b^wS-bv  tcqogwtcov^  d.  h.  der  Person  des 
Besitzgegenstandes.^0  Man  erhält  die  Person  des  Besitzers,  wenn  man 
das  Possessivpronomen  in  den  Genetiv  des  Personalpronomens  verwan- 
delt") So  ist  also  die  Person  des  Besitzers  durch  das  Possessivpronomen 
immer  bekannt  und  zwar  in  der  ersten  und  zweiten  Person  vermöge  der 
Deixis,  in  der  dritten  Person  vermöge  der  Anaphora.") 

Der  Artikel,  welcher  vor  dem  Possessivpronomen  steht,  gehört  zu 
dem  Besitzgegenstande,  nach  dem  er  sich  im  Genus,  Numerus  und  Casus 
richtet,  aber  nicht  zu  dem  Pronomen.  Aus  diesem  Grunde  ist  der  viel 
gebrauchte  Name  ovvaQd-QOL  avTwvv^äai  für  die  Possessivpronomina  ein 
unberechtigter.''^)  Dafür,  dass  der  Artikel  vor  dem  Possessivpronomen 
nicht  zu  diesem,  sondern  zu  dem  Besitzgegenstande  gehört,  wird  der  Be- 
weis an  mehreren  Stellen  in  polemischer  Form  geführt,  und  zwar  in  fol- 
gender Weise.*^)  Ein  Satz  wie  6  TtaTrjQ  6  Ifibg  q)iloöoq)Bl  gab  zu  der 
Annahme  Veranlassung,  dass  der  erste  Artikel  zu  naTriQ^  der  zweite  zu 
Bfxog  gehöre.  Dagegen  weist  Apollonius  darauf  hin,  dass  vielfach  zwei 
Artikel  zu  einem  Casus  gehören,  z.  B.  6  TtarrjQ  6  sxelvov  oder  6  öovkog 
6  Tov  ^QLOTocQxov.^'^)  Dieser  Gebrauch  zweier  Artikel  ist  aber  nicht  zu- 
lässig, wenn  das  Pronomen  dem  Nomen  vorausgeht ;  man  könnte  also  nicht 
sagen  6  B^iog  o  öovXog,  Wenn  aber  das  Nomen  vorangeht,  so  können 
beide  Artikel  gebraucht  werden,  von  denen  jeder  seine  besondere  Ana- 
phora bezeichnet;  denn  wenn  ich  sage  6  öovXog  6  babLvov,  so  bezeichnet 
das  erste  o:  kein  anderer  als  jener,  der  vorher  gedacht  wurde,  während 
das  zweite  6  besagt:  der  Sklave  keines  anderen  als  des  vorher  gedachten 
Herrn.  Ebenso  ist  der  Ausdruck  6  jcatiiQ  6  Bfiog  aufzufassen.")  Endlich 
ist  noch  zu  berücksichtigen,  dass  der  Artikel  auch  deswegen  nicht  zu  dem 
Possessivpronomen  gehören  kann,  weil,  wie  früher  erwähnt,  die  erste  und 
zweite  Person  deiktisch  ist,  also  den  Artikel  ausschliesst,  während  die  dritte 


21)  De  Pron.  S.  12C.  S.  17B.  Planud.  Synt.  S.  162,  16-19,  31-36.  Bekk.  Anecd. 
S.  921,24  — S.  922,  2.  Priscian.  XII,  S.  580,  24-S.  581,  4.  S.  588,  1—8.  S.  597,  13-19. 
XVII,  S.  204,  25-27.    S.  205,  5-9. 

22)  De  Pron.  S.  17  C. 

23)  De  Pron.  S.  19  B.  S.  129  A  und  B.  Synt.  S.  60,  3—5.  Priscian.  XII,  S.  581, 
4—8,  16-21. 

l       24)  De  Pron.  S.  15A.    Bekk.  Anecd.  S.  922,  23-32. 

25)  De  Pron.  S.  86  B.  Synt.  S.  63,  1—16.  Bekk.  Anecd.  S.  913,  10—20.  S.  914, 
17  und  18,  25,  33  — S.  915,  3.  S.  922, 12-17.  S.  923, 15-19.  Priscian.  XII,  S.  582,  4-7. 

26)  Synt.  S.  60  und  61. 

27)  Synt.  S.  80,  7— S.  81,  3. 


110  Otto  Eichhobst 

Person  anaphorisch  ist,  also  den  Artikel  nicht  mehr  nötig  hat**)  Wenn 
der  Artikel  bei  dem  Possessivpronomen  nicht  steht,  z.  B.  Ifxog  oherrjg 
uQoarjXd'e,  so  wird  damit  auf  eine  Mehrheit  von  Besitzgegenständen  ge- 
deutet, während  bei  der  Hinzufugung  des  Artikels,  z.  B.  6  kfxbg  oly.eTr]g 
TtaqeyevETo,  an  einen  Einzelbesitz  gedacht  wird.*")  Femer  fehlt  der  Artikel, 
wenn  das  Possessivpronomen  das  Prädikat  bildet.^) 

In  gleicher  Weise  wie  die  vorangestellten  Artikel  können  auch  die 
nachgestellten  Artikel,  d.  h.  die  Pronomina  relativa,  sich  an  kein  Posses- 
sivpronomen anschliessen.^*) 

Da  die  Possessivpronomina  zwei  Personen  darstellen,  die  des  Besitz- 
gegenstandes und  die  des  Besitzers,  bo  erscheinen  sie  notwendig  in  drei 
syntaktischen  Verbindungen.  Nämlich  die  Verba,  welche  mit  den  posses- 
siven Fürwörtern  verbunden  sind,  stehen  entweder  erstens  in  der  Person 
des  Besitzgegenstandes,  z.  B.  6  e(x6g  Xunog  iq^x^l,  oder  zweitens  in  der 
Person  des  Besitzers,  z.  B.  tov  Ifjibv  aygov  eoxaxpa,  was  man  in  tov  kfiavTov 
ccyQov  %o-/.a\pa  umwandeln  muss,  oder  drittens  in  einer  anderen  von  aussen 
hinzutretenden  Person,  z.  B.  ibv  efxov  vlov  eölöa^e.  In  dem  ersten  Falle 
steht  das  Possessivpronomen  stets  im  Nominativ,  das  Verbum  in  der  dritten 
Person,  und  das  Possessivpronomen  kann  nur  mit  dem  einfachen  Personal- 
pronomen im  Genetiv  vertauscht  werden.  In  dem  zweiten  Falle  muss  das 
zusammengesetzte,  d.  h.  das  reflexive  Pronomen  gewählt  werden.  Der  Be- 
sitzgegenstand steht  nicht  in  den  obliquen  Casus  allein,  sondern  es  kommt 
auch  der  Nominativ  vor,  wenn  das  Verbum  ein  Sein  bezeichnet,  z.  B. 
IfxavTov  eijUL  olyJzi^g.  Hieran  schliesst  Apollonius  die  Bemerkung,  dass, 
wenn  das  Verbum  in  der  zweiten  Person  steht,  zu  dem  Possessivum  das 
Participium  ojv  hinzutreten  muss,  z.  B.  ef^dg  wv  d'SQoiTtMv  rgexeig.  In 
dem  dritten  Falle  stehen  die  possessiven  Bestimmungen  stets  in  einem 
Casus  obliquus.^*) 

Während  Apollonius  bei  dieser  Auseinandersetzung  vom  Verbum  aus- 
geht, macht  er  an  einer  anderen  Stelle  das  Possessivpronomen  zum  Mittel- 
punkte seiner  Darlegung  und  sagt,  dass  das  Possessivpronomen  der  ersten 
Person  auf  eine  dritte  oder  zweite  Person  übergeht,  z.  B.  i/nog  kortv,  ifiog 
el  cpLXog,    Das  Possessivpronomen  der  zweiten  Person  aber  geht  über  auf 


28)  Synt.  S.  57,  25  —  27.    S.  58,  18  —  20.    S.  60,  2  —  10.    De  Fron.  S.  15  A  und 
S.  17A  — S.  19  C. 

29)  Synt.  S.  79,  6—11.    S.  72,  1—10.    S.  26,  22-26. 

30)  Synt.  S.  79,  17- S.  80,  6.    De  Fron.  S.  16  C. 

31)  De  Fron.  S.  15  B  und  C  und  S.  16  C. 

32)  Synt.  S.  149,  ISAF.  De  Fron.  S.  88A— C.  Vergl.  Flanud.  Synt.  S.  162,  19—31. 
Friscian.  XVII,  S.  165,  20—26.    S.  170,  20—22. 


Die  Lehre  des  ApoUonius  Dyscolus  vom  Pronomen  possessivum.  111 

eine  dritte  oder  erste  Person,  z.  B.  oog  sotlv,  aXla  TtarrjQ  xeog  ei^i 
(7t  188).  Das  Possessivpronomen  der  dritten  Person  geht  in  der  Kegel 
auf  eine  dritte  Person  über.  Es  ist  jedoch  auch  möglich,  dass  ein  Pos- 
sessivpronomen der  dritten  Person  auf  eine  erste  Person  übergeht,  z.  B. 
(Ig  ei(XL,  was  gleich  aviov  ei^i  ist.  Wenn  aber  eine  erste  Person  auf 
eine  erste  oder  eine  zweite  Person  auf  eine  zweite  übergeht,  so  tritt  das 
Reflexivpronomen  ein.  Alle  diese  syntaktischen  Verbindungen  erfordern  ein 
Verbum  des  Seins :    r]  Toiavtr}  ouvra^ig  Qi^^iaTa  aTtaiiel  mtagBiv  arjfial- 

Aber  nicht  nur  in  gelegentlichen  Bemerkungen  weist  ApoUonius  dar- 
auf hin,  dass  zum  Ausdruck  possessiver  Verhältnisse  dann  das  reflexive 
Pronomen  gewählt  werden  muss,  wenn  das  Verbum  in  der  Person  des  Be- 
sitzers steht,  sondern  er  spricht  über  diese  sprachliche  Erscheinung  auch 
mit  ausführlicher  Begründung  und  Besprechung  bezüglicher  Homerstellen. 
Hier  lautet  die  Hauptstelle:  ^l  KTtjTixal  öh  ofxoiwg  ^eralricpd^riaov'caL 
eig  ovvd-hovg  rj  eig  ccTtXag ....  ctcccv  fiev  ^  Sidßaoig  tov  gr^fiarog  ccTto 
trjg  yevLY.rig,  rix  Lg  ex  T^g  XTi^rix^g  fxeTaXafxßdveTai,,  Trjv  öidßaoiv  stcI  %o 
avio  TiQOGMTtov  TtoirJTai,  Ttdvtojg  eig  ovvd-eTov  fxeTaXaf.ißdveTaL'  ertav 
öh  t6  Qrj^a  fii]  oltco  lijg  yevixrjg  vorjzac,  ccTto  [alXov)  de  rivog  TtgoGw- 
Ttov,  TÖie  Kai  aTtXrj  ij  dwwvvf.ua.^^)  Hier  weist  ApoUonius  also  deutlich 
darauf  hin,  dass  das  Reflexivpronomen  zu  wählen  ist,  wenn  das  Subjekt 
dieselbe  Person  ist,  wie  die  in  dem  Possessivpronomen  enthaltene  Person, 
während  das  einfache  Possessivpronomen  zu  wählen  ist,  wenn  das  Subjekt 
eine  andere  Person  als  die  in  dem  Possessivpronomen  enthaltene  ist.^*) 

Auch  den  Umstand  lässt  ApoUonius  nicht  unerwähnt,  dass  von  allen 
Fürwörtern  avxog  das  einzige  ist,  welches  Composita  —  er  meint  die 
Reflexivpronomina  —  bUden  kann.^')  In  einer  anderen  gelegentlichen  Be- 
merkung macht  er  darauf  aufmerksam,  dass  diejenigen  Pronomina,  welche 
besondere  Formen  für  alle  drei  Geschlechter  haben,  wie  die  Possessiv- 
pronomina, nur  orthotoniert  werden.^')  An  anderen  SteUen  spricht  er  da- 
von, dass  avTog  im  Genetiv  zum  Possessivpronomen  hinzutritt,  also  in 
diesem  Genetiv  die  Person  des  Besitzers,  ib  evrog  tcqoowtvov  zeigt,  z.  B. 

33)  De  Pron.  S.  130A— C.  S.  88B  und  C.  Priscian.  XII.  S.  582,  9  —  13,  23  bis 
S.  583,  11.    XVII,  S.  166,  13—20.    Planud.  Synt.  S.  163,  18—25. 

34)  De  Pron.  S.  59A  und  B.  Vergl.  Planud.  Synt.  S.  164,  16—18.  Priscian.  XIII, 
S.  18,  9-11.  XVII,  S.  167,  1-7.  S.  168,  18-20.  S.  175,  22  — S.  176,  1.  S.  176, 14—18. 

35)  De  Pron.  S.  82  B.    S.  86A-C. 

36)  De  Pron.  S.  71A. 

37)  De  Pron.  S.  20 B.  S.  77  C.  Er  hätte  hier  auf  den  von  manchen  Erkl&rem 
enklitisch  gebrauchten  Accusativ  avxov  hinweisen  soUen  (de  Pron.  S.  33  A.  S.  41 C. 
S.  45C.    S.  77C.    Synt.  S.  136,  1—11).    S.  78B.    S.  95C. 


112  Otto  Eichhoest,  Die  Lehre  des  Apollonius  Dyscolus  vom  Pronomen  possessivum. 

avTwv  yccQ  acpet^Qrjaiv  (a  7),  rj  eov  avrov  XQelog  (a  409).")  Ganz  kurz 
erwähnt  er  den  Umstand,  dass  das  Possessivpronomen  mit  dem  Verbum 
verbunden  keinen  vollständigen  Satz  giebt.'") 

Die  vorstehende  Abhandlung  enthält  eine  Zusammenstellung  der  Lehren 
des  Apollonius  Dyscolus  vom  Possessivpronomen,  und  zwar  mit  Ausschluss 
von  fast  allem  Dialektischen.  Die  kritische  Würdigung  seiner  Lehren, 
wozu  an  dieser  Stelle  nicht  genügend  Raum  vorhanden  war,  behalte  ich 
mir  für  eine  andere  Gelegenheit  vor. 


38)  De  Pron.  S.  79  B.    S.  131  B  und  C.    8ynt  S.  62,  20-28.  Vergl.  Planud.  Synt. 
S.  164,  30-35. 

39)  De  Pron.  S.  20C. 


IV. 

Zur  homerisclieii  Beredsamkeit 

Von 

Max  Hecht  (Gumbinnen). 

Bekanntlich  verehrte  das  Altertum  in  Homer  nicht  nur  den  grössten 
Dichter,  sondern  es  schrieb  seinem  Universalgenie  auch  die  Urheberschaft 
fast  aller  Wissenschaften  zu.  Auch  die  Rhetorik  führte  man  auf  ihn  zu- 
rück, und  von  ganz  besonderem  Interesse  ist  jenes  begeisterte  Lob,  das 
Quintilian,  dieser  geistvolle  und  berufene  Beurteiler  hellenischer  Geistes- 
werke in  Wissenschaft  und  Kunst,  Homer,  dem  Eedner,  spendet.  Er  ver- 
ehrt in  ihm  das  Urbild  aller  Beredsamkeit.    ^yHic  enim omnibus  elo- 

quentiae  partibus  exemplum  et  ortum  dedit"y  sagt  er  in  seinem  Werke 
(X,  1,  46).  Dann  fährt  er  fort:  „A^ec  po'etica  modot  sed  oratoria  virtute 
eminentissimus.  Nam  ut  de  laudibus^  exhortationibus  taceam:  nonne  vel 
nonus  liber,  quo  missa  ad  Achillem  legatio  continetur,  vel  in  primo  inter 
duces  illa  contentio,  vel  dictae  in  secundo  sententiae,  omnes  litium  ac  con- 
siliorum  explicant  artes?  Affectus  quidem,  vel  illos  mites,  vel  hos  con- 
cilatos,  nemo  erit  tarn  indocttis,  qui  non  in  sua  potestate  hunc  auctorem 
habuisse  fateatur.  Age  vero,  non  utriusque  operis  ingressus  in  paucissimis 
versibus  legem  prooemiorum,  non  dico  sei'vavit,  sed  constituit'^  Nam  bene^ 
volum  auditorem  invocatione  Dearumt  quas  praesidere  vatibus  creditum 
est,  et  intentum  proposita  verum  magnitudine,  et  docilem  summa  celeriter 
comprehensa  facit,  Narrare  vero  quis  brevius,  quam  qui  mortem  nuntiat 
Patrocli,  quis  significantius  potest,  quam  qui  Curetum  Aetolorumque  prae- 
lium  eivponit?  lam  similitudines,  amplificationes,  exempla,  digressus,  signa 
rerum  et  argumenta,  ceteraque,  quae  probandi  ac  refutandi  sunt,  ita  multa, 
ut  etiam,  qui  de  artibus  scripserunt,  plurimi  harum  rerum  testimonium 
ab  hoc  poeta  petant.  Nam  epilogus  quidem  quis  unquam  poterit  Ulis 
Priami  rogantis  Achillem  precibus  aeqari?  .... 

Verum  hie  omnes  sine  dubio,  et  in  omni  genere  eloquentiae  procul 
a  se  reliquit," 

Eine  erschöpfende  Behandlung  der  homerischen  Beredsamkeit  wäre 


114  Max  Hecht 

gewiss  eine  ebenso  lohnende  als  reizvolle  Aufgabe,  sowohl  an  sich  als  auch 
wegen  der  nahe  liegenden  Beziehung  auf  die  rednerischen  Verhältnisse 
im  homerischen  Zeitalter.  Diese  Untersuchung  müsste,  wenn  man  mit 
Quintilian  von  der  Voraussetzung  ausgeht,  dass  „bene  dicendi  seien tia" 
den  Redner  macht  (instit.  II,  15,  38),  streng  genommen,  sämtliche  Reden 
der  Ilias  und  Odyssee  zur  Grundlage  haben,  und  diese  umfassen  nach  Bergk 
(Griechische  Litteraturgeschichte  I  [1872J,  830)  mehr  als  die  Hälfte  der  Ge- 
dichte.') Leider  ist  bei  dem  geringen  Raum,  der  diesem  Versuche  gewährt 
ist,  Beschränkung  des  Stoffs  geboten;  wir  berücksichtigen  daher 
nur  die  Reden  der  Ilias,  und  hier  wiederum  auch  nur  die- 
jenigen, in  welchen  die  Redenden  zur  Erreichung  eines 
Zweckes  auf  andere  bestimmend  einzuwirken  suchen.  Der- 
gleichen Redner  sind  in  der  Ilias  unter  anderen  Nestor  (z.  B.  A  254—284, 
J5  337  — 368,  If  124— 160,  327— 343,  /  53— 78,  96  bis  113,  163  —  172); 
Odysseus  (z.  B.  B  284  —  332,  /  225  —  306,  H  83  — 102,  T  155— 183); 
Diomedes  (/  32  —  49,  H  110—132);  Achilleus  (T  56—73,  Tl  49  —  96, 
200—209);  Agamemnon  {B  370—393,  J  234  ff.,  /  17—28,  T78— lllj; 
Phoinix  (/  434—605);  Aias  (/  624—642,  O  502—513);  Patroklos  (J7  21  — 
45,  269  —  274);  Priamos  (X  38  —  76,  Q.  486  —  506);  Hektor  (F  39—57, 
H  67—91,  0  496—538,  -S  285— 309);  Polydamas  (M61— 79,  216  ff. 
2  254—283);  Sarpedon  (M  310—328);  Andromache  (Z  407— 439). 

Zuerst  wollen  wir  untersuchen,  welcher  besonderen  Mittel  sich  die 
Redner  bedienen,  um  ihre  Absichten  zu  erreichen.  Dieselben  werden 
sich  im  allgemeinen  nach  zwei  Gesichtspunkten  hin  verfolgen  lassen,  je 
nach  dem  sie  die  tractatio  animi  oder  die  tractatio  cogitationis  betreffen. 

Wir  betrachten  zunächst  die  Einwirkung  auf  das  Gemüt 

Hier  muss  der  Redner  es  vor  allem  verstehen,  in  den  Seelen  seiner 
Zuhörer  solche  Empfindungen  und  Leidenschaften  zu  wecken,  welche  ge- 
eignet sind,  dem  Handeln  derselben  die  Richtung  auf  das  von  ihm  erstrebte 
Ziel  zu  geben. 

Welches  sind  nun  die  hauptsächlichsten  Gefühle,  welche  als  derartige 
Triebfedern  in  Bewegung  gesetzt  werden? 

Obenan  steht  das  Ehrgefühl.    Dies  suchen  die  Führer  immer  von 

neuem  in  ihren  Mannen  zu  wecken,  weil  es  am  wirksamsten  zu  mutigem 

Vorgehen  gegen  den  Feind  antreibt.  Der  Ehrtrieb  ist  bei  den  homerischen 

Helden  stark  ausgeprägt;  ihnen  geht  der  Ruhm  über  alles,  Schillers  Worte 

„Von  des  Lebens  Gütern  allen 

Ist  der  Ruhm  das  höchste  doch" 

1)  Ich  zählte  in  17  Gesängen  der  Ilias  unter  11010  Hexametern  5224,  welche 
auf  Reden  fallen. 


Zur  homerischen  Beredsamkeit.  115 

sind  ihnen  recht  aus  der  Seele  gesprochen.  Die  Art  nnd  Weise,  wie  in 
den  einzelnen  Fällen  das  Ehrgefühl  erregt  wird,  ist  durch  die  Beschaffen- 
heit der  zu  beeinflussenden  Naturen  bedingt. 

Wenn  Sarpedon,  von  unwiderstehlichem  Kampfesmute  fortgerissen, 
Glaukos  in  seiner  Rede  (M  310 — 321)  an  die  königlichen  Ehren  und  an  die 
Hochachtung  erinnert,  die  sie  daheim  im  Lykierlande  gemessen,  an  das 
stattliche  Krongut,  das  sie  an  des  Xanthos  Ufer  bebauen,  so  genügt  dies, 
in  dem  ehrliebenden  Herzen  der  verwandten  Heldenseele  den  Drang  nach 
Thaten  zu  wecken,  die  solcher  Auszeichnungen  würdig  sind. 

Gleich  mit  den  ersten  Worten  schlägt  Poseidon  in  der  Brust  der 
beiden  Aias  die  rechte  Saite  an,  wenn  er  sagt:  TV  47 f. 

AXavTE,  ocptj  ^iv  T€  GacüO€T€  Xaov  'Axaiüiv 
aXxrjg  (.ivriGafxhcj,  jLirjöh  -/.Qveqolo  cpoßoLO. 

Agamemnon  versteht  es  wohl,  im  vierten  Gesang  vor  der  Schlacht 
in  militärisch  kurzer  Rede  durch  Lob  und  Tadel  zum  Kampfe  anzufeuern, 
wenn  er  sich  auch  mitunter,  wie  es  z/  338—348  und  370—400  geschieht, 
in  den  Mitteln  vergreift.    Aber  Achill,  dessen  Rede  auch  sonst  an  poe- 
tischer Kraft  und  Schönheit  hervorragt,  ja  in  der  ganzen  Ilias  einzig  da- 
steht, nähert  sich  mit  seiner  kurzen,  kernigen  Ansprache  an  seine  Myrmi- 
donen  (il  200  —  209)  dem  Ideal  einer  Feldherrnrede  weit  mehr  als  der 
Oberkönig  mit  allem,  was  er  in  dieser  Beziehung  vorbringt: 
,jMvQ(.ud6veg,  f.irj  rlg  fxoi  aTtetXacjv  kelad'tö&w, 
ag  €7tl  vTqvol  &ofjoiv  aTtsiXelxe  Tqcüsoglv 
Ttctv-d-    vTtb  ^rjVL^iLwv  xal  (ii*  rjtidaGd-e  exaGTog. 
^Gx^tXlc,  niqXiog  vli,  xÖXm  aga  g^  6TQ€q)€  f^rjTrjQ, 
viqXeig,  og  nctqa  vtjvgIv  e^sig  ccexovrag  eTalQOvg. 
oinaöe  TtSQ  Gvv  vr]VGl  vew/Lced-a  TtovTorcoQOLGLv 
avTig,  kicel  qö.  toi  wöe  Kaycog  %6Xog  s/HTteGs  S-v^i^^ 
Tavrd  ^  ayeiQojLievoL  &djLi  ißd^ere'  vvv  de  7tiq)avzai 
cpvXoTCLÖog  iieya  egyov,  erjg  to  tcqLv  y    kgaaGd-e. 
svd-a  Tig  akY.L(.iov  '^toq  €%wv  Tqcosggi  ^axiod-wJ^ 

Diese  Worte,  mit  denen  die  Myrmidonen  aufgefordert  werden,  ihren 
bis  dahin  in  selbstbewussten  Reden  geäusserten  Heldenmut  nunmehr  durch 
die  That  zu  beweisen,  sind  ein  ebenso  wirksamer  Appell  an  das  Ehrgefühl 
der  Myrmidonen,  als  wenn  II  269  —  274  Patroklos  von  ihrer  Tapferkeit 
den  Triumph  über  Agamemnon  abhängig  macht,  dessen  der  beleidigte 
Achill  zu  seiner  Genugthuung  bedürfe.  Allerdings  werden  hier  ausser  dem 
Ehrgefühl  auch  Liebe  und  Verehrung  für  den  berühmten  Führer  in  den 
Herzen  seiner  Mannen  mit  in  Schwingung  gesetzt. 


116  Max  Hecht 

In  anderen  Fällen  wird  ein  thatkräftiger  Ehrtrieb  durch  mittelbare, 
indirekte  Einwirkung  hervorgerufen.  So  durch  beabsichtigt«  Beschämung 
J  372—400,  wo  Agamemnon  den  Kampfgenossen  Diomed  und  Sthenelos 
die  bewunderungswürdige  Unerschrockenheit  und  Tapferkeit  des  Tydeus, 
die  dieser  beim  Zug  der  Sieben  gegen  Theben  an  den  Tag  gelegt,  als  Muster 
vorhält.  Oder  wenn  Nestor,  als  auf  Hektors  Herausforderung  zum  Zwei- 
kampf keiner  der  griechischen  Helden  hervortritt,  ihnen  als  Beispiel  sein 
ganz  entgegengesetztes  Verhalten  in  ähnlicher  Lage  vorfuhrt  {H 150  —  156). 

Beschämend  wirkt  es  auch,  wenn  man  jemanden  der  Inkonsequenz 
oder  des  Widerspruchs  in  seinem  Handeln  überführen  kann. 

Sonach  müssen  die  auf  Heimfahrt  sinnenden  Griechen  sich  getroffen 
fühlen,  wenn  Odysseus,  dieser  Redner  von  Gottes  Gnaden,  in  seiner  auf 
Wirkung  meisterhaft  berechneten  Rede  (JB  284—332)  ihnen  vorhält,  dass 
sie  ihr  früheres  Versprechen,  erst  nach  Trojas  Zerstörung  heimzukehren, 
nicht  zu  erfüllen  im  Begriffe  wären. 

„ovdi  TOI  (Agamemnon)  eKTeXiovaiv  vTtoaxeatv  7]v  tceq  vTtioxav 
evd^dö^  BTi  OTslxovTeg  an    ^Aqyeog  iuTtoßoTOLO, 

"ihov  exTtdQGavT^  evTslxeov  ccTcoviea^ai." 

Das  Gleiche  erreicht  Nestor,  der  die  kampfesunlustigen  Griechen  an 
ihre  früheren  Drohungen  und  Gelübde  erinnert,  den  Trojanern  den  Unter- 
gang zu  bereiten  {B  339  ff.}. 

Wenn  bei  edleren  Naturen  schon  ein  leiser  Anstoss  genügt,  sie  für 
die  Forderungen  der  Ehre  empfänglich  zu  machen,  so  müssen  bei  dem 
gemeinen  Mann  zu  diesem  Zwecke  stärkere  Hebel,  Spott,  Schmähung  und 
Verachtung  angesetzt  werden. 

Als  die  flüchtigen  Achäer  von  den  Troern  ins  Schiffslager  zurück- 
geworfen sind,  ruft  Agamemnon  ihnen  zu  0  228 ff.: 

„Aidwg,  ^AqyBiOL,  xax    eXeyxsa,  eiöog  dyrjToL 
Ttfj  sßav  €^/wAof/,  6t€  drj  (pafxev  eivat  agtaroi, 
dg  07x6%    kv  ^ri(.ivco,  y.eveavxe€g  v^yogaaGd-e, 
eod'OVTeg  xgia  7toX%d  ßowv  ogS-OTigaLgdcov, 
TcLvovteg  xgrjrrjgag  efciOTecpiag  oUvoio, 
Tgcüwv  dv^"'  exaTov  t€  ÖLTjaoamv  ts  exaOTog 
OTYiOEod^  kv  7voXi(xo}'  vvv  J'  ovö^  svog  d^ioi  d(iev." 

Aehnliche  Beispiele  finden  sich  0  502  —  513,  Tl  422—425,  iV95ff. 

Bei  der  Innigkeit  der  Bande,  welche  die  Glieder  der  Familie  um- 
schlingen, erklärt  sich  das  tief  ausgeprägte  Gefahl  der  Pietät,  die  das 
homerische  Zeitalter  auszeichnet.  Der  grossen  Autorität  des  Vaters  steht  die 
anhängliche  Liebe  und  Verehrung  des  Sohnes  gegenüber.  Wenn  der  Redner 


;  Zur  homerischen  Beredsamkeit.  117 

diese  zarte  Seite  des  Gemüts  geschickt  zu  berühren  weiss,  wird  er  des; 

Eindracks  nicht  verfehlen.    Mit  diesem  wirksamen  Motiv  beginnt  PriamoS' 

sogleich  seine  berühmte  Rede,  in  welcher  er  den  Peliden  zur  Auslieferung 

der  Leiche  Hektors  zu  bewegen  sucht,  ß  486 — 506: 

„Mvrjoat  Ttatqbg  aoio,  ^€oig  eTtieUek  ^xMev, 
TTjXUov  o)g  Tteq  eyojv,  okoip  eul  yi^gaog  ovS(^. 
xal  fiiv  Ttov  nelvov  TceqivaLiTai  aficplg  kovieg 
TslQova ,  ovöe  Tig  eariv  ccqtjv  y,al  Xoiyov  ctfxvvatJ^ 

Ein  anderes  Beispiel  dieser  Art  bietet  die  lange  Rede  Nestors.  Er 
ruft  in  dieser  (A  786  —  789)  dem  Patroklos  seines  Vaters  Menoitios 
Mahnung  ins  Gedächtnis,  welche  dieser  seinem  Sohne  bei  dessen  Auf- 
bruch nach  Troja  ans  Herz  legt: 

jytEKvov  Efxov,  yevefi  ^ev  vrcsQTeQog  Iötiv  l^xMevg, 
7CQ€oßvT€Qog  öh  ov  lüOi'  ßlj]  ö'  0  ys  TtolXov  a^eivwv, 
aAA'   ev  OL  cpao^at   TtvKivov  ercog  rjö^  yTtod-iad-at, 
xal  OL  arji^alveiv'  6  öh  TtelosTat  elg  aya&ov  tisq.'' 

Wenn  nun  der  berühmte  Redner  der  Pylier  fortfährt: 

wg  BTieTeX^  6  yigwv,   ov  de  kij^eai.     aXk    eti  xal  vvv 
TavT^   UTtotg  lÄ%üJrii  öatq)QOvt,  ai  xe  Ttl&rjTai,, 

so  weiss  er  seinen  Auftrag  gleichsam  zu  einer  Herzenssache  des  Menoi- 
tiaden,  zu  einem  Gegenstande  der  Pietät  zu  machen,  den  Patroklos  um 
so  williger  ausführen  wird,  da  er  sich  dessen  bewusst  geworden  ist,  zu- 
gleich im  Sinne  seines  Vaters  zu  handeln. 

Ganz  ähnlich,  wie  hier  Nestor,  verfährt  Odjsseus  in  seiner  Rede  an 
Achül  1 252—258. 

Bei  der  zweckdienlichen  Einwirkung  auf  das  Gemüt  bieten  sich  dem 
Redner  ferner  Furcht  und  Mitleid  als  willkommene  Mittel  dar. 

Nestor  dämpft  den  Griechen  die  Lust,  nach  Hause  zu  fahren,  durch 
die  Drohung:  B  357 ff. 

ei  öi  Tig  kxuayXwg  Id'iXeL  olxovöe  viead-aiy 

aTcxiad^u)  rig  vr]6g  evaoiX(X0L0  (xeXalvrjg, 

ocpga  Tcqöad'    aXXwv  d-avaiov  xal  Ttöxfxov  STclaTtrj, 

Agamemnon  führt  hierauf  aus,  dass  es  in  der  bevorstehenden  Schlacht 
heiss  hergehen  werde,  und  sucht  durch  folgende,  noch  stärkere  Worte 
von  zaghaftem  Fembleiben  abzuschrecken: 

„ov  d^  X    eywv  arcavevd'e  jnaxrjg  e^iXovia  vot^oü) 
(HilLivd^eLv  Ttaga  vijval  xogcüvlaiv,  ov  ol  BTteita 
agxiov  eooeltat  q)vyi€iv  xvyag  rjd    oiwvovg." 


118  Max  Hecht 

Ebenso  empfänglich  wie  für  Furcht  ist  das  menschliche  Gemüt  für 
Mitleid.  In  wie  herzergreifender,  rührender  Weise  versteht  Andromache 
es  in  Hektor  zu  wecken  in  jener  berühmten  Rede  am  skäischen  Thor! 
(Z  407—439.) 

Welche  herzzerreissenden  Worte  spricht  Priamos  X  38—76  von  der 
Mauer  herab,  von  verzweiflungsvoller  Sorge  um  das  Leben  des  teueren 
Sohnes  gefoltert,  zu  Hektor,  der  gerüstet  vor  dem  Thore  steht  und  den 
nahenden  Peliden  erwartet. 

Nie  aber  ist  von  einem  Sterblichen,  worauf  schon  Quintilian  hinweist, 
die  Saite  des  Mitleids  im  Herzen  des  unbarmherzigen  Feindes  voller  und 
mächtiger  angeschlagen  worden  als  in  der  Rede  des  die  Auslieferung  der 
Leiche  seines  Sohnes  von  Achill  erbittenden  Priamos  (ß  486—506). 

Sobald  der  greise  König  die  Seele  des  Peliden  durch  den  Hinweis 
auf  ein  mögliches  Unglück  des  eigenen  hilflosen  Vaters  in  eine  mildere, 
für  seine  Bitte  empfänglichere  Stimmung  versetzt  hat,  leitet  er  das  Mit- 
leid desselben  sogleich  durch  eine  Antithese  auf  sich  über. 

490  aXX  iJTOi  y.€lv6g  ye  Gid^ev  Kojovtog  cckovojv 

Xcclgei  T    ev  ^vfxc^,  ercL  t^   eXrcsTaL  rjfiara  7cdvTa 
oxpeod-ai  q)LXov  vlov  oltco   TgoLri^e  (.lokovTa' 
avTccQ  eyix)  7cava7tOT;fjLog,  ETiei  tskov  vlag  aglaTOvg 
TqoIjj  ev  evQeljj,  tcJv  ö^  ovriva  (prjfiL  XeXelq)S'ai. 

Die  nun  folgende  weitere  Schilderung  seines  namenlos  traurigen  Loses 
muss  auch  ein  hartes  Feindesherz  zum  Mitgefühl  und  zu  inniger  Rührung 
erweichen;  und  doch  versteht  es  der  Dichter,  diese  Wirkung  durch  jene 
unvergleichlich  schönen  Schlussworte  noch  zu  steigern: 

al^   aldelo  d^eovg,  ^Äxilev,  avtov  t    eUrjOOv 
fivrjGafievog  oov  TcaTQog'  eyw  ö"  kkeeivoregog  tveq, 
srkrjv  ö    ol    ov  Ttto  itg  STtix^oviog  ßgoTog  aXXog, 
avÖQog  7iatöoq)6vow  tvotI  oiofxa  x^iQ    ogiyeod^ai. 

Bei  der  Einwirkung  auf  Gemüt  und  Willenskraft  bedienen  sich  die 
Redner  öfters  der  anspornenden  Kraft  des  Beispiels.  Wenn  Nestor  seinen 
Zweikampf  mit  dem  Riesen  Ereuthalion  erzählt,  dem  er,  der  Jüngling, 
allein  unter  allen  Pyliern  entgegenzutreten  wagte  und  den  er  niederstreckte 
{H  150—156);  wenn  Agamemnon  den  bewunderungswürdigen  Mut  und 
die  heroische  Tapferkeit  des  Tydeus  beim  Zuge  der  Sieben  gegen  Theben 
dessen  Sohne  vorstellt,  so  wird  in  den  Helden  zugleich  mit  dem  Ehrtriebe 
der  Drang  zur  Nacheiferung  rege. 

Jedoch  das  Beispiel  wird  auch  von  den  Rednern  angewandt,  imi  den 


Zur  homerischen  Beredsamkeit.  119 

Verstand  des  Zuhörers,  bezw.  der  Zuhörer  zu  bestimmten  Erkenntnissen 
und  Einsichten  zu  veranlassen.  Das  führt  uns  zur  Betrachtung  der  trac- 
tatio  animorum  und  der  dabei  üblichen  logischen  Operationen. 

Wir  behandeln  zuerst  solche  Beispiele,  welche  dem  vorliegen- 
den Falle  ganz  analog  sind,  und  aus  welchen  für  diesen  eine 
Lehre  gezogen  werden  soll. 

Dahin  gehört  des  Phoinix  Erzählung  vom  Zorn  Meleagers  (J  529 — 605), 
der  sich,  ähnlich  wie  Achill,  grollend  des  Kampfes  enthielt  und  den  man 
ebenso  in  höchster  Not  vergeblich  durch  grosse  Geschenke  zur  Ver- 
teidigung seiner  Vaterstadt  zu  bewegen  suchte.  Als  er  dann,  in  seinem 
eigenen  Hause  bedroht,  zu  kämpfen  gezwungen  wurde  und  den  Aitolem 
den  Tag  des  Verderbens  abwehrte,  empfing  er  keine  Geschenke.  Indem 
nun  Phoinix  das  Verhalten  des  kalydonischen  Helden  auf  seinen  grossen 
Zögling  bezieht,  will  er  ihm  zu  verstehen  geben,  dass  es  klug  sei,  wenn 
er  sogleich,  solange  es  noch  Zeit  sei,  „ejtl  öcSqwv''  die  Troer  bekämpfe. 

Achill  fordert  ß  602  den  durch  Hektors  Tod  in  tiefste  Trauer  ver- 
senkten Priamos,  der  sich  der  Nahrung  enthalten  will,  auf,  des  Essens 
zu  gedenken,  indem  er  ihm  Niobe  als  Beweis  dafür  anführt,  dass  auch 
solche,  die  das  Geschick  schwer  heimsuchte,  Speise  zu  sich  genommen 
haben. 

xai  ydg  x^  rjvyiO(xog  Nwßrj  s/^vT^oaro  gItov 
TTJ  71EQ  öwöexa  Ttalöeg  evl  f-ieyccgoioiv  oXovro 
€§  (Äsv  ■9'vyaT€Q€g,  e^  ö'  vleeg  rjßojovreg. 

Anders  sind  die  Beispiele,  welche  durch  einen  Schluss  a  ma- 
iori  ad  minus  auf  den  vorliegenden  Fall  bezogen  werden. 
Phoinix  hält  Achill  /  496—501  vor: 

ovde  iL  as  XQV 
vTjXeeg  tjtoq  ex^iV  otqstctoI  öe  ts  "/.al  ^eol  avTol, 
Twv  u€Q  y.al  f.i€l^a)v  ccQSTr]  Tt^iq  re  ßlrj  t€. 
xal  (.iBv  Tovg  d-veeoGL  Y.al  evxo^^fjg  ayavfJGiv 
Xoißfj  te  xvlar]  t€  jtaQatQWTCujo    avd-qwTCOL 
XtooöfXEvoi,  o%e  'Aev  Tig  v7t€Qßi]7]  xai  ai-idQTr]. 

Der  logische  Gehalt  dieser  Ausführung  ist  folgender: 
Götter   selbst   sind   versöhnlich  und  lassen  sich  durch  Opfer  und 
Gebete  gewinnen.    Die  Menschen,  also  auch  Achill,  haben  noch  weit 
mehr  Ursache  dazu.      Achills  Unversöhnlichkeit  ist  mithin  auch  vom 
logischen  Gesichtspunkt  aus  nicht  zu  rechtfertigen. 

Das  Nämliche  sucht  Aias  ihm  nahe  zu  legen  /  632  ff. 


120  ^^^  Hecht 

Aal  jLiiv  rlg  te  v.aaiyvy]xoio  (povrjog 
Ttoivrjv  T}  ov  jcaiöog  löi^axo  Te&vrjwtog' 
%ai  ^'  0  fxhv  ev  ör)fi({)  fiivec  ovtov  tcoXV  oTtorloag, 
lov  öh  t'  eQTjTVCTaL  XQaölrj  ycai  d-v^og  ayrivcjg 
Tcoivrjv  ÖE^afiivov,    ool  ö^  aXkrj'KTov  t€  xaxov  re 
d'vixov  €vl  OTrjO^eaoL  x^eol  0-ioav  elvEAa  Kovgrjg 
o'lrjg. 
Er  führt  aus :  Mancher  lässt  sich  für  den  Mord  seines  Bruders  oder 
Sohnes   durch   ein   einfaches   Lösegeld   versöhnen.     Damit   ist   zugleich 
ausgesprochen :  Kleinere  Vergehen  sind  noch  leichter  sühnbar.    Angesichts 
dessen  darf  Achill  keinen  unversöhnlichen  Zorn  hegen,  denn  ihm  ist  nur 
ein  Mädchen  genommen  (v.  637)  und  für  dieses  Unrecht  ihm  unendlicher 
Ersatz  geboten  (v.  638). 

Um  die  leidenschaftlich  erregten  Gemüter  Agamemnons  und  Achills 
zu  beschwichtigen,  spricht  Nestor: 

u4  266   yidQTLGTOt  ö^  xelvoL  kTCLx^ovLwv  tqacpev  ccvÖqwv' 

Y.aQTLGvoL  fAEv  EOav  xal  TcagiloTOig  i^axovTO, 

cprjQolv  OQEO'/.c^OLOL,  HOL  EY.7taylo)g  aTto^EOOav. 

xal  fiEv  TolOLV  eycj  fXEd^ofiilEov  Ix  Ilvkov  Ikd-uiv 

'/.ELVOLOi    Ö\v    OV    Tig 

TWV    Ol    VVV    ßgOTOl    eIoLV    ETtlX^OVlOL   (Xa^EOlTO. 
Xat    f-liv   fiEV   ßovXicüV   ^VVIEV,    TCEid-OVTO    TE   fiv-d-qj. 

akXcc  TtLd^EOd'E  xai  v^i^Eg' 

Auch  hier  soll  das  übergeordnete  Beispiel  mit  dem  Nachdruck  der 
Hebelkraft  auf  den  vorliegenden  Fall  wirken.  Ich  verkehrte  einst  mit 
stärkeren  und  tapferem  Menschen  als  die  heutigen  sind,  und  sie  hörten 
auf  meine  Kede  und  folgten  meinem  Rat;  so  folget  auch  ihr. 

Kurz  gesagt  besteht  die  logische  Kraft  des  Beispiels  in  der  Dar- 
bietung eines  thatsächlichen  Verhalts ,  mit  welchem  der  vorliegende  Fall 
zu  seinem  Ungunsten  entweder  im  Widerspruch  steht  oder  übereinstimmt. 

Gebräuchlich  ist  femer  die  disjunktive  Art  des  indirekten 
Beweises  im  alternativen  Falle. 

Handelt  es  sich  darum,  ob  dies  oder  jenes  zu  thun  sei,  und  sind 
die  aus  der  einen  der  beiden  Möglichkeiten  entspringenden  verderblichen 
Folgen  klar  nachgewiesen,  so  muss  man  sich  für  die  andere  entscheiden. 

Die  siegesgewissen  Troer  sind  im  Begriff,  mit  ihren  Streitwagen  durch 
Graben  und  Thor  in  das  Lager  der  Griechen  einzubrechen.  Da  macht 
Polydamas,  dieser  klare  und  besonnene  Kopf,  den  Vorschlag,  die  Gespanne 


Zur  homerischen  Beredsamkeit.  121 

unter  Aufsicht  der  Wagenlenker  vor  dem  Graben  zurückzulassen  und  zu 
Fuss  einzudringen.    (M  61 — 79). 

Er  gewinnt  die  Troer  für  diesen  Rat  dadurch,  dass  er  ihnen  die 
Gefahren  veranschaulicht,  denen  sie  sich  aussetzten,  falls  sie  mit  den 
Wagen  in  das  Lager  hineinfahren  wollten,  und  indem  er  die  Katastrophe 
vergegenwärtigt,  welche  sie  im  Falle  einer  Flucht  infolge  der  unver- 
meidlichen Stopfung  im  Graben  erleiden  würden. 

Agamemnon,  an  dem  glücklichen  Ausgange  des  Kampfes  verzweifelnd, 
macht  Nestor,  Diomed  und  Odysseus  gegenüber  S  75  ff.  den  Vorschlag: 
die  vorderste  Reihe  der  Schiffe  ins  Meer  zu  ziehn  und  in  den  auf  hoher 
See  fest  geankerten  Schiffen  die  Nacht  zu  erwarten;  wenn  dann  die  Troer 
vom  Kampfe  abständen,  die  übrigen  Schiffe  herabzuziehen  und  zu  fliehen. 

Odysseus  beleuchtet  nun  S  96 — 102  diese  Idee  in  ihren  unheilvollen 
Folgen  mit  eben  soviel  sittlicher  Entrüstung  als  überzeugender  Klarheit 
der  Begründung: 

og  Y.ilaai  TtoXifxoio  avveOTaoTog  xal  avTrjg 
vrjag  evoGel(.iovg  aXad    slK^f-iev,  ocpQ     en  /naXXov 
TqcüoI  (,iev  evxTcc  yevrjTai  iTtLXQaxeovoL  tvgq  e/LiTcrig, 
ri(.uv  ö    alrcvg  oXed-Qog  €7tiQQ€7tr]'  ov  yctQ  ^A^CLioi 
oyrriGovüiv  n6lef,iov  vrjwv  dXad^  eXKO^evamv, 
alk^  aTVOTtaTCTaviovGiv,  €qcüi^govgl  öh  xäQfxiqg. 
evd-a  x€  GY]  ßovlrj  ör]Xi]G£Tai,  oQXCCjue  Aorwv." 

Somit  ist  die  Fortsetzung  des  Kampfes  als  notwendig  dargethan. 

Als  Zeus  schwankt,  ob  er  seinen  Sohn  Sarpedon  lebend  aus  der 
Schlacht  nach  Lykien  entführen  oder  dem  Tode  durch  die  Hand  des 
Menoitiaden  anheimgeben  solle,  weiss  Hera  ihn  zu  letzterem  zu  bestimmen 
durch  Betonung  der  bedenklichen  Folgen,  welche  die  Rettung  des  Helden 
nach  sich  ziehen  würde:  denn  diese  Handlung  würde  von  manchen  Göttern 
gemissbilligt  werden  (JT  443),  auch  würden  dann  andere  Götter  ihre  Söhne 
retten  wollen  (v.  445  ff.) 

Der  Redner  erhöhte  die  Überzeugungskraft  seines  Rates,  wenn  er 
nicht  nur  vor  dem  einen  Fall  warnte,  sondern  auch  die  Vorteile  des 
entgegengesetzten  begründete. 

So  verfährt  derselbe  Polydamas  2  254—283,  wo  er  die  ausserhalb 
der  Mauern  befindlichen  Troer  zu  bewegen  sucht,  in  die  Stadt  zu  gehen 
und  im  Schutz  der  Wälle  zu  übernachten.  Er  fordert  zur  doppelseitigen 
Erwägung  auf.  Auf  freiem  Felde  zu  übernachten  sei  jetzt  zu  gefährlich, 
da  Achill  wieder  am  Kampfe  teil  nehme;  augenblicklich  halte  ihn  wohl 
die  Nacht  fern,  am  nächsten  Tage  aber  werde  er  schrecklich  anstürmen, 


122  Max  Hecht 

und  während  die  Griechen  und  Troer  auf  dem  gewohnten  Schlachtfelde 
sich  in  einen  Kampf  verwickelten,  die  Stadt  bestürmen  (257 — 272). 

Dieser  Gefahr  würde  vorgebeugt  werden,  wenn  sie  in  die  Stadt  ein- 
rückten, das  Heer  während  der  Nacht  auf  dem  Marktplatz  zusammen- 
hielten und  in  der  Frühe  des  nächsten  Morgens  die  Türme  besetzten. 

T(jj  6'  a/.yiov,  al  x  ed-ikjjoiv 
Ikd-ihv  Ix  vriwv  Ttegl  Tslxeog  afifit  ^axeoO^cxi. 
aifj  TtaXiv  eio^  stiI  vfjag,  kfcel  x'  IqLavxevag  Iltctvovq 
TtavToLov  ÖQOfiov  qorj  vtco  TtroXiv  rjlaOKa^iov. 
elou)  ö    ov  fiiv  S^vfiog  scpoQ/arjd^^vaL  edaei, 
ovöi  TtoT    iKTtSQoei'   tcqLv  ^lv  'Avveg  agyol  eöovTai  (y,  274: — 283). 

Wir  haben  an  einer  Reihe  von  Beispielen  gesehen,  wie  Homer  seine 
Redner  die  tractatio  animi  et  cogüationis  anwenden  lässt,  wie  die  Helden 
es  verstehen,  bewusst  durch  Erweckung  von  Einsichten  und  Gefühlen  die 
Willensentschliessung  ihrer  Zuhörer  zu  beeinflussen.  Beruht  auch  der 
Erfolg  der  Rede  zumeist  auf  dem  richtigen  Gebrauch  dieser  beiden  Momente, 
insbesondere  auf  ihrer  geschickten  Verbindung  zu  einer  Wirkung,  so 
darf  doch  keineswegs  der  Eindruck  der  von  der  Sache  ganz  erfüllten  und 
durchdrungenen  Persönlichkeit  des  Redners  und  der  ursprünglichen  Kraft 
der  Rede  unterschätzt  werden. 

Was  nach  Goethe  den  Dichter  macht,  ein  Herz,  ganz  voll  von  einer 
Empfindung,  das  gilt  auch  vom  homerischen  Redner. 

Von  liebender  Sorge  um  sein  Leben  erfüllt,  sucht  Andromache  Hektor 
vom  Kampfe  zurückzuhalten  (Z  407 — 439).  Das  geängstete  Gefühl  inniger 
Bruderliebe  veranlasst  Agamemnon  zu  einer  phantasievollen  Ausmalung 
des  Unglücks,  das  der  Tod  des  verwundeten  Menelaos  für  ihn  bedeuten 
würde  {J  155—182).  Verzweifelte  Angst  um  das  durch  den  Peliden  be- 
drohte Leben  Hektors  giebt  der  Rede  des  Priamos  eine  herzzerreissende 
Kraft  {X  38 — 76).  Aus  leidenschaftlicher  schmerzlicher  Sehnsucht  ent- 
springt jene  unwiderstehliche  Rede  des  die  Leiche  seines  gelieb  testen  Sohnes 
losbittenden  Greises  (ß  486 — 506).  Qualvolles  Mitleid  mit  der  Not  der 
Griechen  reisst  Patroklos  zu  scharfen,  vorwurfsvollen  Worten  gegen 
Achilles  hin  {II 21 — 45).  Zorn  und  Entrüstung  sind  Triebfedern  kraftvoller 
Reden,  so  bei  Poseidon,  der  die  mutlosen  Griechen  tadelt  (A^  95— 124), 
bei  Odysseus,  der  Agamemnons  Fluchtplan  zurückweist  (H  83—102),  bei 
Hektor,  der  den  feigen  Paris  schmäht  (F  39 — 57).  Tief  ins  Mark  ge- 
drungene Kränkung  bewirkt  jenen  hinreissenden  Seelenerguss  in  der  herr- 
lichen Rede  des  Thetissohnes. 

Bei  solch  innerem  Drange  und  dem  Vorwalten  bewegender  Gefühle 


Zur  homerischen  Beredsamkeit.  123 

sucht  der  Redner  nicht  viel  nach  einer  seinen  Gegenstand  vorbereiten- 
den Einleitung ;  er  sagt  vielmehr  sogleich  heraus,  worum  es  sich  handelt. 
Der  Vorzug,  den  Horaz  an  der  Darstellung  des  Dichters  überhaupt 
rühmt,  dass  er  gleich  in  medias  res  hineinkomme,  gilt  ganz  besonders 
von  den  Reden.  Aus  der  gefühldurchglühten  Beredsamkeit  der  homeri- 
schen Gedichte  entspringt  der  Reichtum  all  der  Redefiguren  und  Tropen. 
Sie  sind  von  ganz  besonderer  Schönheit.  Was  ihnen  einen  unvergleich- 
lichen Reiz  giebt,  das  ist  ihre  Ursprünglichkeit.  Fem  von  jeder  rheto- 
rischen Absichthchkeit  sind  sie  aus  der  Seele  geboren  und  gleichsam  die 
treuen  Abdrücke  ihrer  mannigfach  gearteten  Regungen  und  Bewegungen. 
Wer  also  ihren  psychologischen  Ursprung  ergründen  will,  wird  in  den 
homerischen  Gedichten  den  besten  Anhalt  finden. 

Die  beiden  grössten  Redner  der  Uias  sind  —  wenn  man  von  Achill 
absieht,  der  für  sich  zu  betrachten  ist,  —  unstreitig  Nestor  und  Odysseus. 
Wir  wollen  mit  einer  kurzen  Charakteristik  derselben  schliessen. 

Nestor  nimmt  unter  den  griechischen  Helden  eine  ganz  einzig  gear- 
tete Stellung  ein.  Die  hohe  Ehrfurcht  vor  seinem  Alter  und  dem  über- 
legenen Reichtum  an  Lebenserfahrungen,  die  Hochachtung  vor  seiner  in 
der  Vergangenheit  weit  zurückliegenden  Heldenlaufbahn,  sein  ideenreicher 
Geist  und  die  Liebenswürdigkeit  seines  Wesens  geben  seiner  Persönlich- 
keit ein  Übergewicht  über  alle  anderen  Helden.  Er  ist  der  Kopf  des 
griechischen  Heeres,  der  in  allen  ernsten  Fragen  und  bei  wichtigen  Ent- 
scheidungen den  rechten  Rat  erteilt;  der  achtsame  Hüter  des  Gemein- 
wohls, der  drohende  Gefahren  voraus  erkennt  und  durch  Empfehlung  ge- 
eigneter Massregeln  ihnen  zu  begegnen  sucht.  Sein  leidenschaftsloser 
Blick  erschaut  klar  das  Ziel,  das  teIoq  /xv^wv,  das  er  auch  in  dem  rei- 
chen, mitunter  zu  breiten  Strom  seiner  Reden  nicht  aus  dem  Auge  ver- 
liert. Wegen  seiner  leichten,  anmutigen  Rednergabe  nennt  Homer  ihn 
rjöv€7trjg,  kiyvg  Ilvklwv  ayoQrjTi^g,  tov  xai  ccTto  ykajoatjg  ^ikitog  y/.vxlwv 
Qtev  avöi]. 

Gleichwohl  können  wir  Agamemnon  nicht  beipflichten,  wenn  er  von 

Nestor  sagt: 

fj  jiiav  avT    ccyoQTj  rix^g,  yiqov,  vlag  ^Axaivjv, 

denn  Odysseus  dürfte  wohl  auch  in  der  Ilias  als  Meister  der  Beredsam- 
keit anzuerkennen  sein. 

Bei  seinem  hellen  Verstand  und  der  unerschöpflichen  Erfindungskraft 
seines  Geistes  besitzt  dieser  feine  Menschenkenner  ein  seltenes  Geschick, 
durch  klug  berechnete  Einwirkung  auf  Verstand  und  Gemüt  seine  Zu- 
hörer für  sich  zu  gewinnen.  Aus  seiner  ungewöhnlichen  Selbstbeherr- 
schung und  Besonnenheit  entspringt  jene  sachliche  Ruhe,  welche  seine 


124  Max  Hecht,  Zur  homerischen  Beredsamkeit 

Reden  auszeichnet,  und  die  Fähigkeit,  seine  Gedanken  in  logischer  Folge 
und  erschöpfend   darzulegen.     T  186    ev  fiolQ/j   ya()  7cdvTa  diUeo  xal 

Wird  gegen  seinen  Vorschlag  Widerspruch  erhoben,  so  weiss  er  mit 
verdoppelter  Energie,  wenns  zum  Guten  dient,  seinen  Willen  durchzu- 
setzen. Von  sittlicher  Entrüstung  getragen  strömt  seine  Rede  unaufhalt- 
sam fort,  trotz  des  Affekts  ungeschwächt  in  der  Klarheit  und  Überzeu- 
gungskraft der  Gründe. 

Seine  Rede  vor  Achill  übertrifft  das  rhetorische  Kunststück  Mark 
Antons  in  Shakespeares  Julius  Caesar  soweit,  als  innere  Wahrheit  dem 
glänzenden  Schein  vorzuziehen  ist.  Dass  dieser  den  erwünschten  Erfolg 
hat,  jener  nicht,  will  wenig  sagen.  Der  Plan  der  Dias  gestattet  es  nicht, 
dass  Odysseus  durch  die  Macht  seiner  Worte  den  Sinn  des  Peliden  wan- 
delt. Andrerseits  konnte  uns  der  Dichter  auf  keine  treffendere  Weise  ver- 
anschaulichen, wie  tief  Achill  die  Kränkung  seiner  Ehre  empfindet,  als 
dadurch,  dass  er  selbst  diese  Beredsamkeit  an  seinem  Groll  scheitern 
lässt. 

In  der  Beredsamkeit  des  Odysseus  der  Ilias  erkennen  wir  jene  Zau- 
berkraft der  Rede  wieder,  mit  welcher  der  Held  der  Odyssee  alle  hin- 
reisst,  die  der  Dichter  in  seiner  naiven  Art  so  einfach  und  doch  so  ein- 
drucksvoll mit  den  Worten  schildert  {v  1  f.) : 

äg  €q)aT\  ol  ö^   aga  TtdvTeg  dmrjv  eyevovxo  Gccü/cf/, 
Tirjlrjd^fK^  ö^  60X0VT0  xard  fiiyaga  oxioevTa. 


V. 

Zur  Camillus- Legende. 

Von 

Otto  Hirschfeld  (Berlin). 

Wenn  wir  die  ersten  120  Jahre  der  römischen  Republik  durch- 
mustern, so  treten  uns  die  Bilder  zweier  Männer  entgegen,  die  mit  reichen 
Farben  ausgemalt  sich  scharf  von  den  übrigen  Schattenrissen  abheben: 
im  dritten  Jahrhundert  Cn.  Marcius  Coriolanus,  im  vierten  M.  Furius  Ca- 
millus. Beide  werden,  nach  grossen  Thaten  von  der  undankbaren  Plebs 
in  die  Verbannung  getrieben,  zu  Rettern  ihres  Vaterlandes,  aber  der  Makel 
des  Landesverrats  haftet  nur  an  dem  Ersteren,  während  Camillus  auch 
im  Exil  sich  rein  und  treu  erhält.  Ob  dieselbe  Hand  in  der  Gestaltung 
unserer  Tradition  beider  Helden  thätig  gewesen,  kann  fraglich  erscheinen, 
denn  die  in  der  Darstellung  verwandten  Mittel  zeigen  mannigfache  Ver- 
schiedenheiten. Aber  wenn  auch  die  Erzählung  von  Camillus  einen  un- 
gleich festeren  historischen  Kern  in  sich  birgt,  als  die  ganz  von  Sage 
umsponnene  und  von  tendenziöser  Fälschung  zurechtgemachte  Episode 
von  Coriolanus  0,  so  wird  man  doch  Niebuhr  kaum  der  Übertreibung 
zeihen  dürfen,  wenn  er  von  dem  ,Lied  oder  der  Sage  von  Camillus,  wie 
jeder  es  nach  seinen  Ansichten  nennen  mag'  spricht  und  sie  als  eine 
epische  Erzählung  bezeichnet,  deren  Züge  mit  der  Geschichte  unvereinbar 
sind.^)  Andererseits  ist  aber  die  Gestalt  des  Helden  so  eng  mit  grossen 
und  sicher  beglaubigten  historischen  Ereignissen:  der  Eroberung  Veji's, 
der  gallischen  Katastrophe  und  schliesslich  dem  Entscheidungskampf  zwi- 
schen Patriciem  und  Plebejern  verknüpft  und  steht  so  unmittelbar  an  dem 
Wendepunkt,  an  dem  sich  Sage  und  Geschichte  in  der  römischen  Über- 
lieferung scheiden,  dass  wir  uns  der  Pflicht  nicht  entziehen  dürfen,  jede 
Nachricht  über  Camillus  nicht  allein  auf  ihren  Wert,   sondern  auch  auf 


1)  Ich  verweise  auf  Mommsen's  Darlegung  in  seinen  Römischen  Forschungen  2 
S.  113  ff. 

2)  Römische  Geschichte  2  S.  534. 


126  Otto  Hirschfbld 

ihre  Entstehung  zu  prüfen.  Wenn  auch  nicht  die  vollständige  Lösung 
dieser  Aufgabe,  so  doch  einen  Beitrag  dazu  zu  geben,  sind  die  folgenden 
Zeilen  bestimmt. 

Über  die  erhaltenen  Quellen  für  die  Zeit  des  Camillus  wird  ein  kurzes 
Wort  genügen.  Sehen  wir  ab  von  dem  kurzen  Abriss  der  Gallierkriege 
bei  Polybius,  der  für  unseren  Zweck  kaum  in  Betracht  kommt,  so  schei- 
den sich  zwei  Gruppen  der  Überlieferung,  deren  eine  von  Diodor  vertreten 
wird,  die  andere  von  der  gesamten  übrigen  Tradition,  in  erster  Linie  von 
Livius,  Dionys  und  von  Plutarch  in  seiner  Camillus-Biographie.  Dass 
Diodors  Bericht,  mag  demselben  nun  Fabius  oder  ein  anderer  Annalist 
zu  Grunde  liegen,  an  Glaubwürdigkeit  weitaus  die  übrigen  übertrifft  und 
von  späten  Verfälschungen  frei  ist,  wird  allgemein  anerkannt;  jedoch 
stimme  ich  den  Ausführungen  Burger's  durchaus  bei,  der  die  nicht  sel- 
tenen Notizen,  die  bei  Diodor  mit  den  Worten  svlol  öe  q)aai  oder  wg  öe 
Tiveg  eingeführt  werden,  nicht  der  Hauptquelle  Diodors,  sondern  einem 
jüngeren  Werke  zuweist.')  Livius  und  Dionys  folgen,  soweit  wir  nach  dem 
sehr  fragmentierten  Zustande  dieses  Teiles  seines  Werkes  schliessen  können, 
im  wesentlichen  derselben  Überlieferung ,  d.  h.  der  Tradition  der  spätesten 
Annahsten,  wenn  auch  einige  ältere  Notizen  von  Dionys  seiner  Darstellung 
eingefügt  worden  sind.  Plutarch's  Biographie  ist,  wie  richtig  erkannt  wor- 
den ist"*),  zum  grossen  Teil  aus  Dionys  geschöpft,  für  dessen  verlorene 
Angaben  sie  daher  einen  gewissen  Ersatz  bietet;  daneben  hat  er  aber 
nach  seiner  eigenen  Angabe  und  zwar  gewiss  in  höherem  Grade,  als 
Peter  anzunehmen  geneigt  ist,  Livius  benutzt,  und  es  liegt  nicht  der  ge- 
ringste Grund  vor,  an  Stelle  direkter  Abhängigkeit  die  beliebte  gemein- 
same Quelle,  die  dann  Beide  wörtlich  wiedergegeben  haben  sollen,  zu 
substituieren.  Derselben  Gruppe  gehören,  abgesehen  von  den  Ausschreibern 
des  Livius:  Valerius  Maximus,  Florus,  Victor,  Eutropius,  auch  das  zum 
Teil  in  Stein  erhaltene  Elogium  des  Camillus  und  die  dürftigen  Fragmente 
des  Appian  und  Dio  an,  aus  dem  mit  Heranziehung  Plutarch's  Zonaras 
geschöpft  hat. 

Bis  auf  die  Eroberung  von  Veji  erfahren  wir  über  CamiUus  so  gut 
wie  nichts;  aus  seiner  Jugendzeit  hat  Plutarch  offenbar  in  seinen  Quellen 


3)  G.  P.  Barger:  Sechzig  Jahre  aus  der  älteren  Geschichte  Roms  (418—358). 
Amsterdam  1891,  Ygl.  besonders  S.  217  ff.  In  wie  weit  seine  Annahme  von  vier  ver- 
schiedenen Annalisten,  die  Diodor  mittelbar  zu  Grunde  liegen  sollen,  das  Richtige 
trifft,  können  wir  füglich  hier  auf  sich  beruhen  lassen.  Dass  Diodor  Zusätze  zu 
seiner  Hauptquelle  und  anderen  Büchern  gemacht  hat,  hält  auch  Wachsmuth; 
über  das  Geschichtswerk  des  Diodor  II  (1892)  S.  8  und  Andere  vor  ihm  für  un- 
zweifelhaft. 

4)  H.  Peter:  Die  Quellen  Plutarchs  in  den  Biographieen  der  Römer  S.  17 ff. 


Zur  Camillus  -  Legende.  127 

nichts  vorgefunden.  Nach  der  Angabe  der  Fasten  hiess  sein  Vater  Lu- 
cius, sein  Grossvater  Spurius,  aber  keiner  von  Beiden,  geschweige  denn 
seine  älteren  Ahnen  werden  genannt,  während  aus  den  übrigen  Zweigen 
des  uralten  Geschlechts  der  Furier  die  Fusi  und  MeduUini  bereits  im 
dritten  Jahrhundert,  die  Pacili  im  Anfang  des  vierten  Jahrhunderts  zum 
Konsulat  gelangt  sind.  ^)  Dass  Plutarchs  Nachricht,  Camillus  sei  in  dem 
Kampfe  gegen  Aequer  und  Volsker  unter  dem  Diktator  Postumius  Tuber- 
tus,  also  im  J.  323  verwundet  worden  und  habe  sich  in  diesem  Kriege 
hohen  Ruhm  erworben,  auf  zuverlässiger  Überlieferung  beruhe,  glaube  ich 
nicht;  denn  erst  dreissig  Jahre  später  hat  er  sein  erstes  konsularisches 
Militärtribunat  bekleidet,  während  allerdings  die  Censur  ihm  bereits,  als 
erstes  höheres  Amt,  im  J.  351  zu  teil  geworden  ist.®)  Erst  mit  seiner 
Diktatur  im  J.  358  tritt  Camillus  in  den  Vordergrund  und  wird  dann 
sofort  durch  die  Einnahme  von  Veji  der  erste  Held  seiner  Zeit 

Ich  übergehe  die  Wunderzeichen,  die  den  Fall  der  Etruskerstadt  ver- 
künden und  begleiten,  die  Eintreibung  des  Weihgeschenks  an  den  del- 
phischen Apollo,  den  angeblichen  Antrag  auf  Übersiedelung  nach  Veji 
und  seine  Hintertreibung  durch  Camillus^),  die  Ausführung  einer  Kolonie 
ins  Volskerland  und  die  Aufteilung  der  vejentischen  Feldmark*),  schliess- 

5)  CIL.  P  p.  349  s,v.  Furii;  Mommsen  R.  F.  1  S.  115.  Wenn  Plutarch  Ca- 
millus c.  2  sagt:  ovnct)  6e  vors  nsQl  zbv  rcöv  <Povqlü)V  olxov  ovarjg  (jisyäkriq  int- 
(pavsiaq,  avxoq  oi(f  havxov  TtQÖixoq  eiq  öo^av  TtQoijk&ev,  80  wird  man  dies  auf  die 
Stirps  der  Camilli  zu  beschränken  haben. 

6)  Vgl.  über  diese  Censur,  in  der  nach  der  Angabe  des  Festus  s.  v.  trihutorum 
conlatio  p.  364  M.  der  letzte  Census  vor  der  gallischen  Katastrophe  abgehalten  sein 
soll:  de  Boor  fasti  censorn  p.  52  ff.  Ich  bemerke  gelegentlich,  dass  meines  Erach- 
tens  in  der  stark  verderbten  Stelle  des  Festus  anstatt  temer arium  zu  lesen  ist:  in 
aerarium,  wie  die  folgenden  Worte:  quom  et  senatus  et  populus  in  aeraiium 
quod  habuit  detulit  zeigen,  und  das  angebliche,  nur  an  dieser  Stelle  erwähnte  iribu- 
tum  temerarium  ganz  zu  streichen  sein  wird. 

7)  Vgl.  Mommsen  R.  F.  2  S.  333 ,  der  mit  Recht  diese  Erzählung  als  späten 
Zusatz  verwirft;  verfehlt  ist  Burgers  Versuch  a.  0.  S.  84 ff.,  die  Tradition  umzu- 
kehren und  auf  eine  gezwungene  Übersiedelung  der  Vejenter  nach  Rom  zu  deuten. 
Der  durch  ein  6jähriges  Intervall  getrennte  Doppelbericht  über  den  Übersiedelungs- 
antrag, wie  auch  über  die  Hingabe  des  Goldschmuckes  seitens  der  römischen  Ma- 
tronen, ist  gewiss  mit  Burger  aus  der  Benutzung  von  in  der  Chronologie  um  diesen 
Zeitraum  abweichenden  Quellen  zu  erklären.  Die  Angabe,  dass  den  Frauen  aus 
diesem  Anlass  ausser  anderen  Ehren  das  Recht  der  laudatio  verliehen  sei,  wie  Plu- 
tarch (nach  der  Eroberung  Veji's)  und  Livius  (nach  der  gallischen  Katastrophe) 
berichten,  halte  ich  für  einen  späten  Zusatz,  gegen  den  sich  vielleicht  Cicero's  Worte 
{de  oratore  II,  11,  44)  betreffs  der  von  dem  Konsul  des  J.  652  Q.  Lutatius  Catulus 
seiner  Mutter  gehaltenen  Laudatio  richten:  cum  a  te  est  Popilia,  mater  vestra,  lau- 
data,  cui  primum  mulieri  hunc  honorem  in  nosira  eivitate  iributum 
puto. 

8)  Die  Grösse  der  Ackerlose  betrug  nach  Livius  (V,  30, 8)  7  iugera  nebst  einem 


128  Otto  Hibschpeld 

lieh  den  Krieg  gegen  Falerii  samt  der  Anekdote  von  dem  verräterischen 
Schulmeister,  um  bei  dem  Prozess  gegen  Camillus  verweilen  zu  kön- 
nen, da  mir  derselbe  für  die  Beurteilung  der  Entstehung  unserer  Tra- 
dition und  zwar  der  altrömischen  Tradition  überhaupt  beachtenswert 
erscheint. 

Dass  Camillus  vor  ein  Volksgericht  gestellt  und  in  demselben  zu  einer 
Geldstrafe  verurteilt  worden  sei,  der  er  sich  durch  freiwillige  Verbannung 
entzogen  habe,  erzählen  unsere  Berichte,  soweit  sie  überhaupt  in  Betracht 
kommen"),  übereinstimmend,  während  sie  über  die  Zeit,  den  Gegenstand 
der  Klage,  die  Person  und  Qualität  der  Ankläger  und  die  Höhe  der  Strafe 
ziemlich  weit  auseinander  gehn.  Ich  stelle  zunächst  die  wesentlichen 
Dififerenzpunkte  hier  kurz  zusammen/") 

Eine  genaue  Angabe  der  Zeit  findet  sich  nur  bei  Diodor  (XIV,  117,  6) : 
evioi  S^  (paoiv  avTOV  cltco  Tovoy,(jov  d-Qlafxßov  ayayeiv  hc\  Xevy.ov  tb- 
-d-qiTtTtov  Y.al  öia  tovto  dvalv  vatSQOv  STsaiv  vtco  tov  Öiq^ov  tio)- 
^olg  xQTifxaai  y.aTaöixaGd^rjvat'  Ttegl  ov  Tiara  Tovg  ol/.elovg  xQovoig 
€7tL!xvrjod^r]o6(.i€d^ay  ein  Versprechen,  das  er  aus  begreiflichen  Gründen  nicht 
eingelöst  hat.  Er  verlegt  also  die  Anklage  zwei  Jahre  nach  dem  Triumph, 
aber  nicht  dem  über  Veji,  sondern  dem  im  J.  365  gefeierten  (oder  nach 
Diodor  a.  a.  0.  von  den  Tribunen  hintertriebenen)  dritten  Triumph  des 
Camillus  über  Etrusker,  Aequer  und  Volsker^^).  Ob  hier  Diodor  seine 
Vorlage  missverstanden  hat   oder  in  der  That  von  dieser  der  Prozess 


Zuschlag  für  jedes  liberum  caput  im  Hause,  nach  Diodor  4  oder  nach  anderer  An- 
gabe {(og  ÖS  tlveq)  28.  Letztere  Zahl  wollte  Niebuhr  (R.  G.  2  S.  562  flf.)  durch  Ver- 
anschlagung der  Familie  auf  4  Köpfe  erklären  (vgl.  auch  Burger  a.  0.  S.  130  ff.). 
Meines  Erachtens  liegt  hier  nur  ein  Missverständnis  eines  späten  Annalisten  zu 
Grunde,  der  aus  den  zwischen  4  und  7  Morgen  schwankenden  Angaben  durch  Mul- 
tiplikation die  für  jene  Zeit  ganz  undenkbare  Zahl  28  herausrechnete. 

9)  Denn  nicht  in  Betracht  kommt  die  Angabe  des  ungenau  nach  Livius  be- 
richtenden Valerius  Maximus  (V  3,  2),  Camillus  sei  duris  atque  ferreis  sententiis  in 
exilium  missusj  umsoweniger  als  er  selbst  unmittelbar  darauf  die  Geldstrafe  angiebt, 
zu  der  er  verurteilt  worden  sei. 

10)  Aufgezählt  sind  die  Stellen  bei  Schwegler  R.  G.  3  S.  174  A.  1,  wozu  Momm- 
sen  noch  Dio  52,  13  gefügt  hat.  Erwähnt  könnte  noch  die  seltsame  Mähr  bei  Suidas 
s.  V.  4>sßQOV(xQiog  werden,  nach  der  er  von  einem  Konsul  Februarius  gallischen  Stam- 
mes des  Strebens  nach  der  Tyrannis  beschuldigt  worden  sei  und  nach  Überführung 
des  falschen  Anklägers  der  nach  jenem  benannte  Monat  Februarius  um  einige  Tage 
verkürzt  worden  sei.  Diese  für  byzantinische  Gelehrsamkeit  charakteristische  Notiz 
wird  von  Cedrenus  und  Malalas  ganz  ähnlich  von  einem  Senator  Februarius,  aber 
von  Manlius  Capitolinus  berichtet.  Sie  knüpft  daran  an,  dass  der  Abzug  der  Gallier 
in  den  Februar  gesetzt  wurde. 

11)  Die  Zeugnisse  in  CIL.  V  S.  170  z.  J.  365. 


Zur  Camillus- Legende.  129 

erst  einige  Jahre  nach  der  gallischen  Katastrophe  angesetzt  worden  ist, 
kann  zweifelhaft  erscheinen,  obschon  mir  eine  einfache  Verwechslung 
des  ersten  und  dritten  etruskischen  Triumphes  die  nächstliegende  An- 
nahme dünkt '^).  Keineswegs  aber  kann  ich  in  dieser  Ansetzung  der  An- 
klage die  älteste  Tradition  sehen,  die  erst  von  den  späteren  Annalisten 
des  grösseren  Effektes  wegen  vor  die  gallische  Katastrophe  gestellt  worden 
sei"),  da  die  Einführung  durch  evioc  ö6  cpaatv  sicherlich  auf  einen 
Zusatz  aus  einer  jüngeren  Quelle  deutet  ^^).  Unsere  gesamte  übrige 
Tradition  setzt  dagegen  die  Anklage  unmittelbar  vor  die  gallische  Kata- 
strophe'^), und  ich  zweifle  nicht,  dass,  mag  der  Prozess  und  das  frei- 
willige Exil  des  Camillus  historisch  sein  oder,  was  mir  wahrschein- 
licher ist,  auf  freier  Erfindung  beruhen,  wir  hierin  die  ursprüngliche 
Tradition  zu  erkennen  haben. 

Betreffs  des  Anklagegrundes  teilt  sich  unsere  Überlieferung  in  zwei 
Gruppen'^):  die  eine  vertreten  durch  Diodor,  d.  h.  durch  seine  Neben- 
quelle, lässt  ihn  wegen  des  Gebrauchs  eines  weissen  Viergespanns,  also 
wohl  wegen  aaißeia  anklagen.  Auch  Livius  hat  offenbar  diese  Version 
gekannt),  wenn  er  auch  nicht  darauf  die  Anklage  gründet,  wie  dies 
ausser  Diodor  nur  noch  Dio  in  der  dem  Agrippa  beigelegten  Kede  thut^*), 


12)  Eine  Fälschung  des  von  ihm  als  C  bezeichneten  Annalisten  nimmt  Burger 
a.  a.  0.  S.  44  an. 

13)  So  Mommsen  KF.  2  S.  337  ff. 

14)  S.  oben  S.  126.  Matzat  Chronologie  2  S.  99  A.  1  sieht  in  dem  vorangehen- 
den Passus  ein  Einschiebsel  Diodors  und  lässt  ihn  dann  mit  den  Worten  svlol  öS 
(paaiv  zu  seiner  ursprünglichen  Vorlage  zurückkehren,  was  das  meines  Erachtens 
richtige  Verhältnis  geradezu  ins  Gegenteil  verkehrt. 

15)  Livius  V,  32;  Plutarch  Camillus  c.  12  (daraus  Zonaras  VII,  22);  gewiss  auch 
Dionys,  denn  wenn  wir  auch  nicht  wissen,  woran  die  Worte  (XIII,  5) :  /zf r'  ov  noXv 
angeknüpft  haben,  so  ist  dafür  doch  das  Fragment  XIII,  7  beweisend:  ini^xovaav  6h 
avzov  taZg  evxcüg  ol  d^eoL    xalvno  KeXxäiv  fiezd  (jllxqov  tj  nöXiq  hdXo). 

16)  Die  alleinstehende  Angabe  Applaus  Italic,  frgm.  8,  es  habe  jemand  den 
Camillus  beschuldigt:  <hq  aiziov  ysyovoza  zy  noXsi  (paaßäz(ov  xal  zegdztov  ;faAf- 
nüjv  beruht  wohl  nur  auf  einem  Missverständnis  seiner  Quelle,  vielleicht  des  Livius  V, 
32:  neque  deorum  modo  monita  ingruente  fato  spreta,  sed  hiwianam  quo- 
que  opem  .  .  .  M.  Furium  ah  urbe  amovere,  woran  sich  dann  sofort  bei  Livius  der 
Bericht  über  das  Exil  und  die  Verurteilung  anschliesst.  Ich  bemerke  gelegentlich, 
dass  bei  Livius  in  §  6  vor  saceUum  (vielleicht  zwischen  via  und  uhi)  der  Name  An 
(vgl.  c.  50)  einzusetzen  sein  wird. 

17)  Livius  V,  23:  maxime  conspectus  ipse  est  curru  equis  albis  iuncto  ur- 
hem  invectus  parumque  id  non  civile  modo  sed  humanum  etiam  visum.  lovis 
Solisque  equis  aequiperalum  dictatorem  in  reliyionem  etiam  trahehant  trium- 
phusque  oh  eam  unam  maxime  rem  clarior  quam  gratior  fuit.  Ähnlich  Plutarch 
Camill.  c.  17. 

18)  Dio  52,  13:  zov  Kdfjiikkov  vnsQioQiaav ,  insiÖTj  Xsvxolq  mnoig  ig  zd  im- 
vixia  ixQr]Oazo. 


130  Otto  Hibschpeld 

während  Aurelius  Victor  diese  Version  mit  der  zweiten  gleich  zu  he- 
sprechenden  verbindet. '°). 

Wie  bedenkhch  diese  Angabe  ist,  hat  bereits  Schwegler ''"j  gebührend 
hervorgehoben  und  darauf  hingewiesen,  dass  ein  Triumph  mit  weissem 
Viergespann  nicht  vor  Caesar,  dem  dies  als  besondere  Ehre  im  J.  708 
vom  Senat  gestattet  wurde  '^'),  abgehalten,  in  der  Kaiserzeit  dann  freilich 
üblich  geworden  ist;  er  sieht  in  dieser  Nachricht 'sicherlich  keine  historische 
Thatsache,  sondern  gewiss  nur  die  Erfindung  eines  späteren  Annalisten, 
der  um  ein  Motiv  verlegen  war,  Camillus'  raschen  und  jähen  Sturz  zu 
erklären.'  Ich  halte  es  sogar  für  wahrscheinlich,  dass  diese  Version  erst 
in  Caesars  Zeit  als  litterarischer  Protest  gegen  die  übermenschlichen  ihm 
zugestandenen  Ehren  in  Kurs  gesetzt  sei,  denn,  soweit  ich  sehe,  steht 
der  Annahme  nichts  im  Wege,  dass  Diodor's  Nebenquelle  ein  erst  während 
der  Ausarbeitung  seines  Geschichtswerkes")  erschienenes  und  nachträglich 
von  ihm  für  einzelne  Zusätze  herangezogenes  Buch  gewesen  sei.^)  Keines- 
wegs aber  kann  ich  mich  entschliessen ,  ihr  mit  Bürger*-^'')  ein  relativ 
hohes  Alter  im  Gegensatz  zu  der  in  der  übrigen  Tradition  vertretenen 
Überlieferung  zuzuerkennen,  in  der  die  Unterschlagung  oder  ungerechte 
Verteilung  der  Beute  den  Anklagegrund  bildet. 

Dieser  Tradition  folgen  Livius  und  die  von  ihm  abhängigen  Schrift- 

19)  Victor  V.  ilL  23,  4:  postmodum  est  crimini  datum  quod  albis  equis  trium- 
phasset  et  praedam  inique  divisisset. 

20)  R  G.  3  S.  228  A.  1. 

21)  Dio  43,  14;  es  übertreibt  also  Plutarch  oder  er  folgt  einer  vorcaesarischen 
Quelle  Camill.  c.  7 :  oväevog  xovxo  noi^aaviog  rjyeßovog  nQoxsQov  ovo'  vazsQov. 
Wenn  Properz  den  Romulus,  Ovid  den  A.  Postumius  Tubertus  im  J.  323  mit  weissen 
Rossen  triumphieren  lassen,  so  wird  man  darin  natürlich  nicht  ein  Zeugnis  sehen  wollen. 

22)  Dass  das  Werk  erst  nach  733  geschrieben  sei,  schliesst  Mommsen  R.  F.  2 
S.  549  A.  1  aus  der  Erwähnung  der  von  Augustus  in  diesem  Jahre  vollzogenen  Grün- 
dung der  Kolonie  Tauromenium,  dem  Wachsmuth:  über  das  Geschichtswerk  des 
Sikelioten  Diodoros  I  (1892)  S.  3  beistimmt;  mir  scheint  die  Ansicht  von  Cuntz:  de 
Augusto  Plinii  geographicorum  aucioi'e  S.  35,  dass  das  Werk  etwa  zwischen  694—724 
geschrieben  und  nur  mit  einigen  Zusätzen  in  späterer  Zeit  versehen  sei,  wahrschein- 
licher. 

23)  Ich  denke  dabei  an  Schriften,  wie  Nepos'  exempla  oder  de  viris  illustribus. 
Dass  Livius  die  Exempla  des  Nepos  bei  seiner  Darstellung  des  Scipionen-Prozesses 
mit  dem  Bericht  des  Antias  verschmolzen  habe,  nimmt  gewiss  mit  Recht  Niese 
de  antialibus  Romanis  ohservationes  aiterae  (Marburg  188S)  an,  vgl.  besonders  p.  X: 
^apparet  Livium  ita  Valerio  Antiate  usum  esse,  ut  eum  ex  exempUs  Cornelianis  exorna- 
ret  et  ampliaret.^  Die  Benutzung  des  geographischen  Werkes  des  Nepos  durch 
Livius  in  der  gallischen  Wandersage  habe  ich  in  den  Sitzungsberichten  der  Berliner 
Akademie  1894  S.  343  ff.  zu  erweisen  versucht.  Wie  ich  nachträglich  sehe,  hat 
bereits  Ettore  Pais  in  den  Sludi  storici  I  (1892)  S.  161  Anm.  1  auf  Nepos  als 
wahrscheinliche  Quelle  kurz  hingewiesen.  Warum  sollte  aber  nicht  auch  Diodor 
solche  Bücher  gekannt  und  für  Einzelheiten  benutzt  haben?         24)  S.  87  ff. 


Zur  Camillus-Legende.  131 

steller  Valerius  Maximus,  Florus,  Eutropius'-'^j,  ferner  Dio-Zonaras,  Servius, 
Suidas  (s.  v.  OovQtog).  Aus  Dionys,  dessen  Bericht  hier  verstümmelt  ist, 
hat  ohne  Zweifel  Plutarch  im  Camillus  c.  12  geschöpft,  der  aber  der 
Anklage  wegen  xAo/r?}  Ttegi  ra  TvQQr]VLxa  xQW^f^^^^)  ^^^^  ^^®  eigen- 
tümliche Notiz  anfügt:  xa«  örjxa  y.al  d-vgat  Tivkg  kXeyovro  xa'kY.ol  7caQ^ 
avTw  cpavrjvaL  twv  atxf^akojTCJv ,  eine  Angabe,  die  sich  ebenfalls  bei 
Plinius  n.  h.  34,  7,  13  wiederfindet:  Camillo  inter  crimina  ohiecil  Spurius 
Cai'vUius  quaestor  ostia  quod  aerata  haberet  in  domo.  Schon  an  und 
für  sich  macht  dieser  Bericht  einen  älteren  Eindruck,  denn  schwerlich 
würde  der  Besitz  gerade  eines  solchen  Beutestückes  von  den  Annalisten 
der  Sullanischen  Zeit  als  Anklagegrund  erdichtet  worden  sein.  Wir  sind 
aber  in  der  Lage,  mit  ziemlicher  Sicherheit  die  Quelle  des  Plinius  (und 
der  damit  übereinstimmenden  dionysisch-plutarchischen  Variante)  nach- 
zuweisen. Zunächst  ist  nicht  zweifelhaft,  dass  die  Notiz  einem  römischen 
Schriftsteller  entnommen  ist,  denn  unter  den  griechischen  Schriftstellern, 
die  Plinius  als  Quellen  für  dieses  Buch  anführt,  ist  kein  einziger,  dem 
man  möglicherweise  die  Autorschaft  zutrauen  könnte.  Als  seine  römischen 
Gewährsmänner  nennt  Plinius  L.  Piso,  Antias,  Verrius,  M.  Varro,  Cornelius 
Nepos  und  nach  ihnen  andere,  die  an  und  für  sich  für  diese  Nachricht 
nicht  in  Betracht  kommen  können  und  zwar  um  so  weniger,  als  sie  sich 
im  Anfang  des  Buches  findet  und  Plinius  nach  dem  von  Brunn  erbrachten 
Nachweis  in  der  Kegel  wenigstens  in  seinem  Autorenverzeichnis  die 
Reihenfolge  einhält,  die  er  in  seinem  Werke  bei  der  Benutzung  seiner 
Quellen  beobachtet  hat.^')  An  der  Spitze  der  diesem  Buche  zu  Grunde 
liegenden  Schriftsteller  wird  nun  von  Plinius  L.  Piso  genannt,  ein  von 
ihm  überhaupt  stark  benutzter  Autor, ^®)  der  auch  der  erste  ist,  der  in 
diesem  Buche  mit  Namen  citiert  wird,  und  zwar  für  eine  unmittelbar 
auf  die  obige  Nachricht  folgende  Angabe  über  den  ältesten  Gebrauch 
von  Triclinien  und  Tischen  aus  Erz  in  Rom,  entnommen  allem  Anschein 
nach  einer  Ausführung  über  die  Zunahme  des  Luxus  in  Rom,  die  in 
dem  moralisierenden  Geschichtswerk  des  Censorius  Frugi  eine  passende 
Stätte  findet.  Zwar  wird  sofort  darauf  auch  Antias  als  Gewährsmann 
für  eine  ähnliche  Notiz  angeführt,  ^^j  aber  einerseits  bezieht  sich  diese 

25)  Auch  Aurelius  Victor,  wenn  er  daneben  auch  die  andere  Überlieferung  be- 
rücksichtigt. 

20)  örifjLoaiaL  xXonal  in  der  Schrift  neQl  tvxv?  ^Pcofjialwv  c.  12. 

27)  H.  Brunn:  de  auctorum  indicibus  Plinianis.    Bonn  1856. 

28)  Er  erscheint  in  dem  Autorenverzeichnis  zu  Buch  2.  3.  8.  12—18.  28.  29.  33. 
34.  36;  im  34.  Buch  wird  er  sogar  an  drei  Stellen  namentlich  citiert.  !Nicht  zum 
geringsten  Teil  sind  die  Fragmente  des  Piso  uns  durch  Plinius  erhalten. 

29)  Plinius  n.  h.  34, 14:  Antias  quidem  (auctor  est)  heredes  L.  Crassi  oratoris 
muUa  etiarn  triclinia  aerata  vendidissc. 

9* 


132  Otto  Hibbchpeld 

auf  die  späte  Zeit  der  Republik,  andererseits  wäre  es  kaum  denkbar, 
dass,  wenn  jene  Nachricht  über  Camillus  aus  Antias  geschöpft  wäre, 
Plinius  vor  Nennung  dieses  Autors  das  Citat  aus  Piso  eingeschoben 
hätte.  Man  muss  nun  zwar  mit  der  Möglichkeit  rechnen,  dass  Plinius 
die  obige  Nachricht  aus  einem  erst  später  citierten  Autor,  z.  B.  Varro, 
entnommen  habe,  aber  man  wird  nicht  in  Abrede  stellen,  dass  alle  Wahr- 
scheinlichkeit hier  für  Piso  spricht,  und  ich  stehe  daher  nicht  an,  diese 
Nachricht  als  die  älteste,  die  uns  über  den  Prozess  des  Camillus  erhalten 
ist,  zu  bezeichnen. 

Ist  sie  nun  ihres  Alters  wegen  für  glaubwürdig  zu  halten?  Es 
wäre  ja  interessant,  wenn  uns  hier  in  der  That  der  wirkliche  Name  des  An- 
klägers erhalten  und  demgemäss  der  Prozess  gegen  Camillus,  da  die  Anklage 
von  dem  Quästor  erhoben  wird,  als  Kapitalprozess  anzusehen  wäre.^) 
Auch  ist  diese  Überlieferung  insofern  der  vulgären  vorzuziehen,  als  Unter- 
schlagung der  Beute  in  der  That  eine  Anklage  auf  Pekulat  oder,  wie 
man  es  in  älterer  Zeit  nannte,  auf  furtum  pecuniae  publicae  rechtfertigte, 
während  ihre  ungleiche  oder  ungerechte  Verteilung  durch  den  Feldherm 
kraft  des  ihm  zustehenden  freien  Verfügungsrechtes  wohl  Missbilligung 
finden,  jedoch  ihn  nicht  auf  die  Anklagebank  bringen  konnte.^')  Aber 
der  Name  des  Anklägers  kann  sicherlich  nicht  als  historisch  beglaubigt 
gelten, ^^)  sondern  ist  mit  einer  für  unsere  Anschauung  verblüffenden 
Ungeniertheit,  für  die  es  aber  in  der  römischen  Geschichtsschreibung 
keineswegs  an  Analogien  mangelt,  ^^)  dem  gleichartigen  Prozess  gegen  den 
betrügerischen  Armeelieferanten  M.  Postumius  Pyrgensis  im  J.  542  ent- 
nommen, in  dem  zwei  Tribunen  mit  Namen  Sp.  und  L.  Carvilius  als 
Ankläger  fungieren. 


30)  Vgl.  Mommsen  St.  R.  IP  S.  539  A.  1:  'womit  wohl  zu  combinieren  ist, 
dass  nach  Cicero  de  domo  32,  86  der  Prozess  vor  den  Centurien  geführt  ward,  also 
capital  war'.  Cicero  nennt  hier  Camillus  zusammen  mit  Kaeso  Quinctius  und 
C.  Servilius  Ahala  als  in  Centuriatcomitien  verurteilt,  mag  dies  auch  in  den  '^annales 
populi  Romani  et  monumenta  vetustatis\  auf  die  er  sich  beruft,  gefunden  haben, 
vielleicht  gerade  bei  Calpurnius  Piso,  dessen  Annalen  er  zwar  nicht  hoch  geschätzt, 
aber  benutzt  hat. 

31)  Ich  verweise  auf  die  lichtvolle  Auseinandersetzung  Mommsens  R.  F.  2  S.  443  ff. 
über  die  Behandlung  der  Beute  und  den  Pekulatsprocess,  insbesondere  auf  S.  448  fg.: 
'Unterschlagung  von  Beutestücken,  einerlei  ob  sie  ein  Anderer  begeht  oder  der 
Feldherr  selbst,  ist  unzweifelhaft  stets  als  Pekulat  betrachtet  worden'  und  die  dort 
angeführten  Worte  Modestins  in  den  Digg.  48,  14,  13:  is  qui  praedam  ab  hostibus 
captam  swiripuit  lege  peculatus  tenetur. 

32)  Herrscht  doch  nicht  einmal  über  den  Ankläger  des  P.  Scipio,  wie  Livius 
28,  56  klagt,  Übereinstimmung  bei  den  Berichterstattern. 

33)  Einige  Fälle  derart  hat  kürzlich  Niese:  de  annalibus  Romanis  observa- 
tiones  1886  p.  VI  ff.,  vgl.  ohservat.  alterae  (1888)  p.  III  fg.  erwiesen. 


Zur  CamiUus  -  Legende.  133 

Und  nicht  anders  ist  das  Verfahren  unserer  ührigen  Gewährsmänner 
gewesen,  die,  um  den  Camillus-Prozess  auszustaffieren,  einfach  die  späteren, 
historisch  beglaubigten  Pekulats-  oder  die  diesen  ähnlichen  Multprozesse 
geplündert  haben.  So  finden  wir  die  Anklage  wegen  ungerechter  Ver- 
teilung der  Beute  wieder  in  dem  Prozess  gegen  M.  Livius  Salinator  im 
J.  535  ;^0  die  Höhe  der  Strafsumme,  die  in  der  vulgären  Tradition  gewiss 
nach  willkürlicher  Schätzung  auf  15  000  As  normiert  wird,'^)  giebt 
Dionys,^^)  wahrscheinlich  im  Anschluss  an  den  gegen  M.'  Acilius  Glabrio 
im  J.  565  erhobenen  Strafantrag  auf  100  000  As  an;^^)  endlich  die 
Nachricht,  dass  die  Klienten  und  Freunde  des  Camillus  die  Strafsumme 
zusammengeschossen  hätten  oder  zusammenschiessen  wollten,^®)  ist  offen- 
bar dem  berühmtesten  dieser  analogen  Fälle:  dem  Scipionenprozess  ent- 
lehnt, in  dem  nach  Livius  oder  richtiger  nach  Valerius  Antias :  ^^)  collata 
ea  pecunia  a  cognatis  amicisque  et  clieniibus  est  L.  Scipioni,  der  aber, 
ebenso  wie  Camillus,  die  Annahme  verweigert. 

Wenn  demnach  die  Details  des  Camillus-Prozesses  sich  unzweideutig 
als  Anleihen  aus  verhältnismässig  später  Zeit  erweisen,  so  wird  man 
sicherlich  den  in  der  jüngeren  Überlieferung  als  Ankläger  auftretenden^") 
L.  Appuleius  nicht  als  historische  Persönlichkeit  gelten  lassen  oder  ihn 
gar  mit  Rudorff"*')  zum  Urheber  eines  alten  Gesetzes  de  sponsu  machen 


34)  Vgl.  Yictor  v.  ilL  c.  50  und  besonders  Frontin  strategem.  4,  1,  45:  damnatus 
est  a  populo ,  quod  praedam  non  aequaliter  diviserat  militibus ,  fast  wörtlich  mit 
Florus,  Victor,  Eutropius,  Servius  stimmend. 

35)  Livius  V.  32,  9  (daraus  Valerius  Maximus  V,  3,  2  undPlutarch  Camillus  13); 
Zonaras  VII,  22.  Die  500  000  As  bei  Appian  Italic,  c.  8  sind  ein  offenbares  Miss- 
verständnis. Diodor  XIV,  117,  6  nennt  keine  Summe,  sondern  spricht  nur  von 
noXXolq  iQyniaGL. 

36)  Dionys  13,  5;  il^rifjiiojoav  avxov  ö^xa  (ivgidoLV  [daaaQiojv]. 

37)  Livius  37,58:  centwn  milium  mulla  irrogata  erat.  Vgl.  über  diesen  Prozess 
Mommsen  R.  F.  2  S.  459  ff. 

38)  Livius  V,  32,  8 :  cwn  accitis  domum  tribulihus  clieniibus  .  .  .  responsum 
tulisset,  se  conlaturos  quanti  damnatus  esset,  absolvere  eum  non  posse  (dieser  letztere 
Zug  ist  wohl  hinzugefügt,  um  den  Entschluss  des  Camillus,  ins  Exil  zu  gehen,  noch 
schärfer  zu  motivieren).  Noch  mehr  stimmt  Dionys  13, 5  (aus  ihm  wohl  Appian 
Ital.  c  8)  mit  dem  scipionischen  Berichte  überein:  zd  fihv  ovv  dgyvgiov  oc  TtsXäzat 
TS  xal  avyyevelq  avxov  avvetcsveyxavxeq  ix  x(ov  löiwv  xQVl^dxiov  dniöoaav.  Aus 
ihnen  schöpfen  dann  Plutarch  Camill.  c.  12;  Dio  fragm.  23,  8  ed.  Melber.  Dass 
Camillus  die  Annahme  verweigert,  wird  sicher  dabei  vorausgesetzt. 

39)  Livius  38,  60,  9;  vgl.  Mommsen  R.  F.  2  S.  498. 

40)  Livius  V,  32,  8  (aus  ihm  Valerius  Maximus  V,  3,  2);  Plutarch  Camill.  12  (aus 
Livius  und  Dionys,  bei  dem  jedoch  der  Name  nicht  erhalten  ist) ;  Victor  v.  ill.  23, 4. 
Diodor  nennt  keinen  Namen. 

41)  Rudorff  R.-R.-G.  I  S.  50:  'lex  Appuleia  de  sponsu,  älter  als  die  lex  Furia, 
die  wieder  älter  als  die  lex  Valeria  (412)  ist,  rührt  vielleicht  vom  Volkstribunen 
Appuleius  364  her.'    Aber  diese  angebliche  lex  Valeria,  die  vermutungsweise  dem 


134  Otto  Hibschpeld 

dürfen.  Entweder  ist  der  Name  ganz  beliebig  als  ein  bekannter  plebe- 
jischer gewählt  oder,  was  ich  für  wahrscheinlicher,  halte,  er  ist  von  dem 
berüchtigten  Tribunen  L.  Appuleius  Satuminus  entlehnt.  Ist  letzteres  der 
Fall,  so  kann  er  erst  im  letzten  Jahrhundert  der  Republik  von  einem  anti- 
demokratischen Schriftsteller  eingesetzt  sein,  und  wir  werden  schwerlich 
fehl  gehen,  wenn  wir  Valerius  Antias  als  denjenigen  bezeichnen,  der  den 
Prozess  des  Camillus  in  diese  Form  gebracht  hat,  wie  er  das  Gleiche  auch 
für  den  Scipionen- Prozess  besorgte."^)  Dass  aber  neben  Licinius  Macer, 
der  hier  keineswegs  in  Frage  kommen  kann,  Antias  im  5.  Buche  des  Livius 
die  Hauptquelle  gebildet  hat,  lässt  sich  mit  Sicherheit  erweisen/^} 

Zu  den  in  neuerer  Zeit  am  eingehendsten  behandelten  Teilen  der 
Camillus -Legende  gehört  sein  Auftreten  bei  der  gallischen  Katastrophe 
und  die  Wiedergewinnung  des  den  Galliern  für  ihren  Abzug  gezahlten 
Goldes.  Nach  der  besten,  d.  h.  der  polybianischen  Überlieferung  gelangen 
die  Gallier  mit  ihrer  Beute  unbehelligt  nach  Hause.  Nach  Diodor  gelingt 
es  dagegen  dem  Diktator  Camillus,  nach  glücklichen  Kämpfen  gegen 
Volsker,  xiequer,  Etrusker,  die  Gallier  bei  Belagerung  einer  mit  Rom  ver- 
bündeten Stadt  Oveaoyitov^^)  zu  überraschen  und  ihnen  das  Gold  und  die 
gesamte  Beute  abzunehmen,  was  dann  in  der  jüngsten,  durch  Livius,  Plu- 
tarch,  Dio-Zonaras  vertretenen  Fassung  zu  der  bekannten  theatralischen 
Szene,  in  der  Camillus  den  Brennus  bei  der  Zuwägung  des  Goldes  in 
Rom  selbst  niederstösst,  dramatisch  gesteigert  worden  ist.  Die  sicher 
lokale,  bei  Strabo  erhaltene  Tradition,  nach  der  die  Caeretaner  die  von 
Rom  zurückkehrenden  Gallier  geschlagen  und  ihnen  die  Beute  abgenom- 
men hätten"^),  schliesst  die  Wiedergewinnung  des  Goldes  durch  Camillus 

Diktator  des  J.  412  M.  Valerius  Corvinus  zugeschrieben  wird,  heisst  im  Veronensis 
vielmehr  lex  Vallia,  ein  Name  der  verdorben  sein  kann,  aber  keineswegs  notwendig 
in  Valeria  zu  restituieren  ist  (vgl.  Krüger  zu  Puchta  Institutionen  P*^  §  162  Anm.  n 
und  s) ;  demnach  ist  die  Datierung  ganz  zweifelhaft  und  alle  drei  Gesetze  sind  gewiss 
weit  später  anzusetzen ;  vgl.  auch  Bruns  -  Pernice  Gesch.  und  Quellen  d.  R.  R. 
(5.  Aufl.)  S.  128:  'die  Gesetze  gehören  in  die  Zeit  nach  dem  zweiten  punischen 
lurieg,  denn  das  älteste  setzt  Provinzen  voraus.' 

42)  Vgl.  Mommsen  R.  F.  2  S.  493  tf. 

43)  Vgl.  Clason  R.  G.  2  S.  73  ff.,  der  aber  Licinius  Macer  gegen  Antias  zu  sehr 
in  den  Vordergrund  stellt.  Auch  die  Angaben  bei  Livius  V,  31  (also  in  dem  un- 
mittelbar vorhergehenden  Kapitel)  über  L.  Valerius  Potitus  und  seinen  Triumph 
über  die  Aequer  dürften  trotz  ihrer  alt-annalistischen  Kürze  auf  Antias  zurückgehen. 

44)  Gegen  die  Annahme  Mommsens  R.  F.  2  S.  335,  dass  für  Veascium  gemäss 
einer  Nachricht  des  Servius  zur  Aeneis  6,826  üioav^ov  einzusetzen  sei,  vgl.  die 
Einwände  Burgers  a.  a.  0.  S.  40  ff.    Niebuhr  wollte  Ovokaiviov  verbessern,  Borger 

45)  Strabo  V,  2,  3;  auch  Diodor  XIV,  117,  7  bringt  die  Nachricht,  anscheinend 
aus  einer  Nebenquelle,  lässt  jedoch  die  Gallier  aus  Apulien  konmien. 


Zur  Camillus  -  Legende.  135 

indirekt  ebenso  aus,  als  die  Erzählung  des  Trogus/^)  nach  der  die  Massa- 
lioten  den  Eömem  Gold  und  Silber  als  Ersatz  für  das  den  Galliern  ge- 
zahlte Lösegeld  gesandt  hätten.  Bedeutungsvoller  für  die  Kritik  der 
Camillus-Erzählung  erscheint  mir  die  Angabe  Suetons^'):  Drusus,  kostium 
duce  Drauso  cominus  trucidaio,  sibi  posterisque  suis  cognomen  invenit; 
traditur  etiam  pro  praetore  ex  provincia  Gallia  retulisse  aurum,  Seno- 
nibus  olim  in  obsidione  Capitolii  datum,  nee,  ut  fama  est,  extortum  a 
Camillo.  Diese  Überlieferung  ''als  Produkt  rationalistischer  Kritik  und 
später,  wahrscheinlich  gentilicischer  Fälschung'  einfach  zu  verwerfen,^®) 
kann  ich  mich  nicht  entschliessen ,  wenn  sie  auch  in  dieser  Form,  d.  h. 
in  Anknüpfung  an  das  einst  gezahlte  Lösegeld,  natürlich  nicht  zu  halten 
ist.  Aber  einerseits  sind  solche  abseits  von  dem  unreinen  Strom  der 
römischen  Annalistik  erhaltenen  Nachrichten  nicht  selten  von  höherem 
Wert,  als  die  durch  den  ganzen  Tross  der  Berichterstatter  anscheinend 
verbürgten  Thatsachen,  andererseits  handelt  es  sich  hier  um  ein  erst  spät 
zu  einiger  Bedeutung  gelangtes  plebejisches  Geschlecht  und  um  einen 
obskuren  Mann,  der  nach  Ausweis  der  Fastenliste  es  nicht  einmal  zum 
Konsulat  gebracht  hat  und  für  die  ja  sonst  recht  thätige  gentilicische 
Fälschung  kein  besonders  geeignetes  Objekt  bilden  konnte.  Gewiss  mit 
Recht  hat  bereits  Pighius  und  nach  ihm  Mommsen  diese  Nachricht  auf  die 
Ausrottung  der  Senonen  durch  Dolabella  im  Jahre  471  bezogen,  und  es 
mag  wohl  sein,  dass  damals  reiche  Beute  an  Gold  von  dem  Sieger  oder 
von  dem  mit  dieser  Mission  betrauten  Drusus  nach  Rom  gebracht  worden 
ist.  Wenn  nun  dieses  Gold  mit  der  Aufschrift  aurum  de  Senonibus  cap- 
tum  oder  receptum  auf  dem  Kapitol  niedergelegt  wurde,  so  lag  die 
Kombination  mit  dem  im  Jahre  365  den  Galliern  gezahlten  Lösegeld 
ausserordentlich  nahe,  wie  auch  wohl  infolge  dessen  erst  die  Über- 
lieferung, dass  gerade  die  Senonen  Rom  erobert  hätten''®),  entstanden 
sein  mag. 

Aber  auch  die  Bildung  der  Tradition,  dass  dieses  Gold  durch  Ca- 
millus selbst  den  Römern  wiedergewonnen  worden  sei,  findet  bei  dieser 
Annahme,  wie  ich  glaube,  eine  einfache  Erklärung.  Denn  das  gallische  Gold 
befand  sich,  wie  wir  wissen,  bis  zum  Jahre  702  unter  dem  Throne  des 
kapitolinischen  Jupiter,  wo  es  angeblich  bereits  von  Camillus  niedergelegt 

46)  Justinus  43,  5. 

47)  Tiberius  c.  3. 

48)  So  Mommsen  R.  F.  2  S.  340;  der  Titel  pro  praetore  und  die  provincia 
Gallia  ist  allerdings  anstössig  und  wird  einer  späten  Fassung  zuzuschreiben  sein. 

49)  Diodor  XIV,  113;  Livius  V,  35,3:  Senones  .  .  .  hanc  gentem  Clusium 
Romamque  inde  venisse  coynperio ;  id  parum  certum  est,  solamne  an  ah  omnibus 
Cisalpinorum  Galloi'um  populis  adiutam.    Polybios  nennt  keinen  bestinuuten  Stamm. 


136  Otto  Hibschfbld 

sein  sollte.  In  der  Cella  des  Gottes  befanden  sich  aber,  wie  Livius  ^)  be- 
richtet, bis  zum  Brande  des  Kapitols  im  Jahre  671  auch  drei  goldene 
Schalen,  die  aus  dem  Erlös  der  etruskischen  Beute  im  Jahre  365  vonCamillus 
geweiht  waren:  quas  cum  titulo  nominis  Camüli  ante  Capitolium  incensum 
in  lovis  cella  constat  ante  pedes  lunonis  posüas  Juisse.  Die  technischen 
Bedenken,  zu  denen  diese  Worte  Veranlassung  gegeben  haben,'^*)  können 
wir  hier  füglich  auf  sich  beruhen  lassen;  jedenfalls  müssen  die  mit  dem 
Namen  des  Camillus  bezeichneten  Weihgeschenke  aus  der  etruskischen  Beute 
sich  in  unmittelbarer  Nähe  des  senonischen  Goldes  befunden  haben.  Dann 
lag  aber  nichts  näher,  als  die  Kückgewinnung  und  Niederlegung  desselben 
dem  Camillus  zuzuweisen  und  so  den  Retter  Roms  auch  zu  seinem  Racher 
für  die  erlittene  Schmach  zu  machen,  ja  sogar,  wie  es  bei  Diodor  geschieht,^*) 
diese  Revanche  unmittelbar  an  jenen  etruskischen  Feldzug  anzuknüpfen. 
Unter  der  Voraussetzung,  dass  das  bis  zum  Jahre  702  im  kapitolinischen 
Tempel  befindliche  Gold  aus  dem  Senonenfeldzug  des  Jahres  471  stamme, 
also  mit  dem  Lösegeld  gar  nichts  zu  schaffen  habe,  würde  sich  endlich  auch 
die  bereits  den  alten  Schriftstellern  recht  unbequeme  und  von  ihnen  in 
verschiedener  Weise  zu  deuten  versuchte")  Thatsache  erklären,  dass,  wäh- 
rend das  nach  der  gewöhnlichen  Tradition,  die  auch  bei  Diodor  sich  findet, 
gezahlte  Lösegeld  1000  Pfund  betragen  hat,  sich  damals  2000  Pfund  Gold 
vorgefunden  haben. 

Schliesslich  noch  ein  Wort  über  die  Tempelbauten  des  Camillus. 
Drei  Tempel  soll  er  teils  erbaut,  teils  wiederhergestellt  haben :  die  Tempel 
der  Juno  Regina  auf  dem  Aventin,  der  Mater  Matuta  auf  dem  Ochsen- 
markt und  der  Concordia  am  Abhänge  des  Kapitels."}  Die  Weihung  des 
ersten  Tempels  nach  Überführung  der  Schutzgöttin  Vejis  nach  Rom  ist 
unzweifelhaft  historisch,  wie  auch  die  Niederlegung  der  oben  erwähnten 
goldenen  Schalen  zu  Püssen  der  Juno  Regina  auf  ein  enges  Verhältnis 
des  Camillus  zu  dieser  Göttin  hinweist.  Auch  an  der  Wiederherstellung 
des  angeblich  von  Servius  Tullius  erbauten  Tempels  der  Mater  Matuta 
durch  Camillus  zu  zweifeln,  liegt  kein  Grund  vor,  wenn  ich  auch  der 
Angabe  des  Livius  und  Plutarch,^^)  dass  derselbe  gleichfalls  im  Vejenter- 


I 


.  50)  Livius  VI,  4. 

51)  Jordan  R.  Topogr.  I,  2  S.  93  A.  91. 

52)  Diodor  XIV,  117. 

53)  Vgl.  Schwegler  R.  G.  3  S.  266 ;  Varro  hat  den  Widerspruch  einfach  da- 
durch zu  heben  versucht,  dass  er  das  Lösegeld  auf  2000  Pfund  erhöhte. 

54)  Der  Tempel  der  Juno  Moneta  (vgl.  Gilbert  Geschichte  und  Topographie  3 
S.  400  A.  3)  wird  von  seinem  Sohne  Lucius  im  Aurunker-E[riege  gelobt  und  im  J.  410 
geweiht. 

55)  Livius  V,  19  und  23;  Plutarch  Camillus  c.  5. 


Zur  Camillus- Legende.  137 

Kriege  gelobt  und  sofort  nach  Beendigung  desselben  geweiht  worden  sei, 
geringes  Vertrauen  schenke.  Denn  der  berühmteste  Tempel  dieser  Göttin 
befand  sich  in  der  Volskerstadt  Satricum,^)  also  gerade  in  der  Stadt, 
die  im  Jahre  368  von  Camillus  erobert  und  im  Jahre  darauf  zur  lati- 
nischen Kolonie  gemacht  wurde.  Daher  möchte  ich  glauben,  dass  so  wie 
der  Tempel  der  Juno,  der  Schutzgöttin  von  Veji,  nach  der  Eroberung 
dieser  Stadt  erbaut  wurde,  der  Tempel  der  Mater  Matuta  erst  nach  dem 
Falle  von  Satricum  durch  Camillus  geweiht  worden  sei. 

Ungleich  schlechter  bezeugt  ist  dagegen  die  Weihung  des  Concordia- 
Tempels  durch  Camillus  aus  Anlass  der  Versöhnung  der  Patricier  und 
Plebejer  im  Jahre  387.  Livius  weiss  von  der  Weihung  überhaupt  nichts;  nur 
Plutarch,  der  hier  wohl  aus  Dionys  schöpft,  und  Ovid")  schreiben  sie  ihm 
zu.  Aber  sowohl  die  fünfte,  wie  die  ein  Jahr  zuvor  von  Camillus  be- 
kleidete vierte  Diktatur  können,  wie  allgemein  anerkannt  ist,  auf  Glaub- 
würdigkeit keinen  Anspruch  machen,  und  die  Vermittlerrolle,  die  Camillus 
nach  dem  dionysisch-plutarchischen  Bericht  bei  dem  Ständekampf  spielt, 
passt  schlecht  zu  dem  Bilde  des  nichts  weniger  als  volksfreundlichen 
Helden,  wie  es  bei  Livius  und  bei  Plutarch  selbst  erscheint.  Dass  Camil- 
lus den  licinisch- sextischen  Verfassungskampf  überhaupt  noch  erlebt  hat, 
kann  keineswegs  als  sicher  bezeugt  gelten,  und  wenn  die  Vertreter  der 
jüngeren  .Tradition:  Livius,  Plutarch,  Zonaras  ihn  unmittelbar  darauf 
von  der  grossen  Pest  des  Jahres  389  hingerafft  werden  lassen ,  so  ist  das 
eigentlich  auch  nur  ein  verhülltes  Eingeständnis,  dass  über  das  Todes- 
jahr und  die  Todesart  des  Helden  keine  Kunde  auf  die  Nachwelt  ge- 
kommen war. 

So  erweist  sich,  abgesehen  von  der  Eroberung  Vejis  und  dem  Feldzug 
gegen  die  Volsker,  Äquer  und  Etrusker,  fast  kein  einziger  Zug  in  dem 
farbenreichen  Bilde  des  Camillus  als  sicher  echt.  Wohl  mag  die  Tradition 
in  ihren  wesentlichen  Punkten  schon  in  der  Entstehungszeit  der  römischen 
Geschichtsschreibung  fixiert  worden  sein,  ohne  dass  sie  jedoch  dadurch 
an  Glaubwürdigkeit  gewinnt.  Denn  überall  verrät  sie  mehr  die  Hand  des 
Dichters,  als  des  Historikers,  und  vielleicht  ist  es  kein  anderer  als  Ennius 
gewesen,  der  in  seinen  Annalen  der  Camillus -Legende  bereits  die  Züge 
verliehen  hat,  die  sie,  mit  mancher  späteren  Ausschmückung  im  Einzelnen, 
dauernd  bewahrt  hat.  Tritt  uns  doch  in  Camillus  unverkennbar  das  Ab- 
bild des  Freundes  und  Gönners  des  Dichters,  des  älteren  Scipio  Africanus 


56)  Vgl.  Preller  R.  Mythol.  P  S.  323. 

57)  Plutarch  Camill.  c.  42;  Ovid  fasti  I  641  fif.,  wo  die  Worte  populi  superator 
Etrusci  die  Beziehung  auf  ihn  unzweifelhaft  machen. 


138  Otto  Hibsohfkld,  Zur  Camillus  -  Legende. 

entgegen:  beide  Retter  des  Staates  aus  schwerer  Kriegsgefahr,**)  beide 
mit  Undank  vom  Volke  gelohnt  und  durch  die  gleiche  schmähliche  Be- 
schuldigung in  ein  freiwilliges  Exil  getrieben.'^')  Ihre  letzte  Form,  in  der 
sie  uns  in  der  Erzählung  des  Livius,  Dionys,  Plutarch  und  der  gesamten 
jüngeren  Überlieferung  vorliegt,  hat  die  Camillus-Legende  freilich  erst 
in  späterer  Zeit,  vorzüglich  wohl  durch  den  grossen  Lügenschmied  Valerius 
Antias  erhalten,  während  die  Hauptquelle  des  Diodor  sich  auch  hier  als 
frei  von  den  Fälschungen  der  sullanischen  Zeit  erweist. 


58)  Fatalis  dux  heisst  mit  einem  vielleicht  ennianischen  Ausdruck  dem  Livius 
sowohl  Camillus  (V,  19,  2),  als  Scipio  (XXII,  53,  6;  XXX,  28, 11).  Interessant  ist 
lerner  die  Verbindung  des  Vorfahren  des  Scipio:  P.  Cornelius  Scipio  mit  Camillus, 
der  an  der  erstgenannten  Stelle  des  Livius  (ebenso  Plutarch  Camill.  5)  durch  Inter- 
polation an  Stelle  des  in  den  kapitolinischen  Fasten  genannten  Maluginensis  zum 
magister  equitum  des  Diktator  Camillus  gemacht  wird  (vgl.  Borghesi  oeuvres  9  S.  209  ff.; 
CIL.  I  p.  13  n.  1).  Auch  auf  die  nur  von  Livius  überlieferten  Interregna  desselben 
Scipio  (V, 31  und  VI,  1),  einmal  als  Nachfolger,  das  andere  Mal  als  Vorgänger  des 
Camillus,  ist  gewiss  nichts  zu  geben;  wahrscheinlich  haben  wir  hier  die  Hand  des 
Antias  zu  erkennen. 

59)  Als  typische  Beispiele  für  die  Undankbarkeit  der  Menge  werden  sie  neben- 
einander noch  in  der  Kaiserzeit  genannt:  Valerius  Maximus  V,  3  (de  ingratis) 
§  2;  Dio  52,  13  §  3-4. 


VI. 

Erinnerungen  an  Alt -Königsberg. 

Von 

Max  Jacobson  (Königsberg  i.  Pr.). 

Karl  Rosenkranz  sagt  in  dem  Vorwort  zu  seinen  „Königsberger  Skizzen" 
(1842)  S.  X,  dass  sich  ihm  das  Material  dazu  ganz  ohne  Absicht  an- 
gesammelt hätte.  „Ich  setze  den  Wert  meiner  Beobachtungen  in  ihre 
Unbefangenheit.  Ich  ging,  während  ich  sie  machte,  nicht  darauf  aus, 
sie  zu  veröffentlichen.  Ich  lebte  nicht,  um  das  Erlebte  zu  beschreiben. 
Ich  beobachtete,  weil,  wenn  man  es  so  nennen  will,  weil  ich  beobachten 
muss,  weil  ich  Natur  und  Kunst,  weil  ich  das  Volk  liebe,  weil  ich  meinem 
Wesen  nach  in  einem  grossen  Menschenverkehr  stehe  und  als  ein  starker 
Eussgänger  weit  umherkomme."  Eosenkranz  lebte  damals  das  neunte 
Jahr  in  Königsberg,  er  fühlte,  dass  er  nun  durch  „tausendfache  Be- 
ziehungen" mehr  und  mehr  mit  diesem  Ort  verwuchs  und  hielt  daher 
diesen  Zeitpunkt  für  den  geeigneten,  seinen  bisherigen  Eindrücken  einen 
gewissen  objektiven  Abschluss  zu  geben,  indem  er  sie  zu  einem  Buche 
zusammenfasste. 

Ein  solches  unbefangenes,  aber  darum  nicht  minder  treues  Beob- 
achten der  Stadt  und  ihres  Lebens  hatte  R.  gleich  nach  seiner  Über- 
siedelung von  Halle  (im  Herbst  1833)  begonnen,  wie  dies  auch  die 
Briefe  darthun,  welche  er  damals  an  Freunde  in  Deutschland  schrieb. 
Die  uns  noch  vorliegenden  sind  an  den  Hegelianer  Hinrichs*)  (seit  1824 
Professor  der  Philosophie  in  Halle)  und  an  Karoline  Pfaff*)  (Witwe  des 
1825  in  Halle  gestorbenen  Professors  der  Mathematik  Job.  Friedr.  Pfaff) 
gerichtet,  und  die  in  denselben  wiedergegebenen  ersten  Eindrücke  und 
Schilderungen  von  Königsberg  sind,  wenn  auch  nur  Fragmente,  doch  in 
verschiedener  Hinsicht  interessant.    Sie  führen  uns  in  die  Stadt,  wie  sie 


1)  Über  die  Beziehungen  von  R.  zu  beiden  vgl.  Rosenkranz,  Von  Magdeburg 
bis  Königsberg  (1873).  Über  Hinrichs  bes.  S.  280  ff.  u.  S.  444  ff.  —  Über  Karoline 
Pfaff  S.  451. 


140  Max  Jacobson 

in  ihrer  ausgeprägten  Eigenart  vor  sechzig  Jahren  war,  als  die  Provinz 
Preussen  noch  nicht  zum  deutschen  Bunde  gehörte.  Königsberg,  die 
Hauptstadt  dieses  „germanisierten  Slaventums",  lag  bei  den  damaligen 
Verkehrsverhältnissen  für  den  im  Binnenlande,  mitten  in  Deutschland 
Aufgewachsenen  in  „nebelgrauer  Ferne",  so  dass  R.,  der  „mit  sehr  schwerem 
Herzen"  von  Halle  geschieden  war  (vgl.  Von  Magdeburg  bis  Königsberg 
S.  484  f.),  hier  eine  Fülle  ganz  neuer  und  fremdartiger  Erscheinungen 
fand.  Diese  Briefe  zeigen  uns  nun  aber  zugleich,  als  ein  Beitrag  zur 
Charakteristik  R.'s,  wie  sein  lebhafter,  für  alles  Konkrete  und  Individuelle 
so  empfänglicher  Geist  die  ihm  entgegen  tretenden  lokalen  Zustände 
nach  allen  Richtungen  hin  zu  erkennen  und  zu  begreifen  suchte,  in  der 
Beschränktheit  derselben  oft  eine  gewisse  Poesie  fand,  und  wie  er  selber 
inmitten  der  dortigen  Verhältnisse  sich  weiter  zu  entwickeln  begann.  — 
So  lassen  sich  diese  freundschaftlichen  Berichte  aus  jener  Anfangszeit 
wohl  mit  Recht  als  erste,  unbewusste  Versuche  zu  den  Königsberger 
Skizzen  bezeichnen.*) 

Am  2.  Oktober  in  Königsberg  angelangt,  schreibt  R.  am  11.  Oktober 
an  Karoline  Pfaff:  „Die  Stadt  liegt  in  einer  absoluten  Ebene,  ist  unend- 
lich gross  und  im  Innern  noch  verwickelter  als  gross.  Ich  hatte  viel 
Mühe  mich  zu  orientieren.  Die  Lage  unseres  Gasthofes,  des  Deutschen 
Hauses,  war  uns  dazu  günstig. . . .  Die  Waarenpreise  finden  wir  nicht  so 
theuer,  als  man  uns  zuerst  glauben  machen  wollte,  und  abermals  sind 
es  nur  die  weiten  Wege  in  den  schlecht  gepflasterten  Strassen,  in  denen 
noch  dazu  mit  grosser  Hast  gefahren  wird,  die  beschwerlich  fallen."  — 
Die  neugemietete  Wohnung  lag  ziemlich  ausserhalb  der  Stadt  auf  der 
sogen.  Klapperwiese,  „idyllisch-ländlich",  wie  R.  im  folgenden  Sommer 
an  Hinrichs  schreibt,  im  Gegensatz  zu  den  übrigen  Häusern  an  den 
Enden  der  Stadt  mit  zwei  Stockwerken  versehen.    Die  Bau-Verhältnisse 

2)  Vor  denselben  gab  R.  in  seiner  Geschichte  der  Eant^schen  Philosophie 
(1840)  S.  99—104,  eine  allgemeine  Schilderung  der  Stadt,  indem  er  ihren  Einfluss 
auf  die  geistige  Entwickelung  des  in  ihr  Aufwachsenden  betrachtete.  Zu  solchen 
Reflexionen  über  die  „Lokalatmosphäre"  fand  er  durch  die  Beschäftigung  mit  Kant 
und  dessen  Zeitgenossen  auch  sonst  öfters  Anlass,  wie  die  in  den  „Studien"  zer- 
streuten Aufsätze  zeigen.  Vgl.  auch  die  Bemerkung  über  Zach.  Werner,  dessen 
Wohnung,  nahe  der  Burgkirche,  R.  eine  Zeit  lang  inne  hatte,  in  den  Studien  I,  311, 
wo  ausgeführt  wird,  wie  die  Umgebung  derselben  als  ein  Bild  des  ganzen  Mannes 
erscheinen  konnte.  —  Als  ein  „Ergänzungsblatt"  zu  den  Königsb.  Skizzen  erschien 
später  (1857)  das  Schriftchen  „Königsberg  und  der  moderne  Stadtbau."  Dasselbe 
geht  auf  die  Fortschritte  in  dem  Leben  der  Stadt  ein  und  trägt  einen  universellen, 
spekulativen  Charakter,  indem  es  Parallelen  mit  anderen  Städten  zieht,  welche  R. 
eingehend  studiert  hatte.  (Vgl.  „Die  Topographie  des  heutigen  Paris  und  Berlin". 
Zwei  Vorträge  von  K.  Rosenkranz.  1850,  auch  die  Schilderung  von  Venedig  1853: 
Neue  Studien  I,  183  ff). 


^ 


Erinnerungen  an  Alt -Königsberg.  141 

werden  als  wenig  günstig  geschildert^):  „Der  feuchte  Grand  schlägt 
überall  durch  die  Mauern  und  verursacht  ein  triefendes,  widerwärtiges 
Ansehen.  Nach  dem  Schlosse  zu,  dem  Mittelpunkt  der  Stadt,  sind  die 
Häuser  drei,  vier  Stock  hoch,  allein,  mit  einzelnen  rühmlichen  Ausnahmen, 
selten  schön  gebauet.  Innere  Bequemlichkeit,  Ineinandergreifen  der  Ge- 
mächer, helle  Küche,  geräumig  etc.  ist  eine  Seltenheit  der  modernen 
Architektur.  Die  Börse  ist  das  geschmackloseste  Gebäude  von  Holz  und 
Blech ;  griechische  Säulen  tragen  in  schlechten  Verhältnissen  ein  hollän- 
disches Mansardendach!  Nur  durch  die  Grösse  wirkt  sie  malerisch."  — 
Ein  ganz  anderes  Interesse,  insbesondere  auch  Anregung  für  seine 
Phantasie,  fand  R.  an  dem  nahen  Flusse  mit  seinem  bunten  Treiben. 
„Was  nun  schön  ist,  das  ist  der  Pregelstrom,  der  gleich  unterhalb  der 
Stadt  in  das  Haff  tritt,  das  am  Horizont  wie  ein  Silberspiegel  glänzt. 
Hier  habe  ich  nun  meine  Freude  an  dem  Schifferleben.  Leider  ist  der 
lahme  Handel  Schuld,  dass  es  diesen  Sommer  (Juli  1834)  etwas  lau  her- 
geht. Um  so  aufmerksamer  bin  ich  auf  alles.  Ich  habe  Nordamerikaner 
aus  Boston,  Engländer  aus  London,  Norweger  aus  Bergen,  Dänen,  Schweden 
(mit  Heringen)  und  Holländer  unterscheiden  gelernt.  Die  Namen  der 
Schiffe,  die  Nationalfarben  der  Flaggen,  die  Sonntags  aufgezogen  werden, 
die  Jacken  der  Matrosen  und  die  Sprache  sind,  logisch  zu  reden,  für  mich 
die  Hauptunterscheidungsmerkmale,  denn  von  dem  Bau  der  Schiffe  ver- 
stehe ich  noch  nichts  und  vergesse  auch  immer  die  Namen  der  verschie- 
denen Masten.  Da  gedenke  ich  denn  Ihrer  so  oft,  wie  Sie  mir  mit  be- 
redten Zügen  das  Meer  und  Ihre  Heimat  schilderten!')  Die  friesischen 
Frauen  sind  immer  recht  schmuck.  Es  sieht  rührend  aus,  eine  solche 
Frau  auf  dem  Deck  zu  sehen,  Küchenarbeit  verrichten,  stricken,  ein  Kind 
abwarten  etc.  Meist  tragen  diese  Frauen  einen  breiten,  stark  vergol- 
deten Reif  um  den  ganzen  Kopf  herum,  was  eine  königliche  Stirn  als 
Diademband  recht  hübsch  kleidet,  sonst  aber  die  Haare  zu  sehr  ver- 
deckt. Ausser  diesen  Nationen  kommen  Pommern,  Danziger,  Elbinger 
und  Polen.  Von  diesen  sind  jetzt  über  140  Schiffe  nach  und  nach  ge- 
kommen, die  man  Vitinnen  nennt ;  die  Leute  selbst,  ein  gutmütiger,  nicht 
hässlicher  Menschenschlag,  heissen  Schimki's  <so).  Sie  führen  unter  der 
Leitung  polnischer  Juden  Hanf,  Flachs,  Matten,  Holz  etc.  Die  Schiffe 
werden  nach  Löschung  der  Fracht  zerlegt  und  als  Nutzholz  verkauft  Sie 
sind  unten  breit;  auf  dieser  Basis  sind  Hütten  gebauet.  Vor  vierzehn  Tagen 
sah  der  Pregel  wie  ein  polnisches  Dorf  aus.  Diese  Leute  tragen  selbst- 
geflochtene Schuhe  von  Bast,  eine  leinene  Hose,  Hemd  und  darüber  einen 

3)  Vgl.  aus  den  Königsb.  Skizzen  hierzu  das  Kapitel:  „Architektur"  (I,  80 ff.). 

4)  Hinrichs  stammte  aus  Ostfriesland. 


142  Max  Jacobson 

langen  Flauschrock  und  einen  kurzkrempigen  Strohhut.  Sie  sind  in  ihrem 
Essen  wie  das  liebe  Vieh;  essen  alle  zusammen  aus  hölzernen  Mulden, 
um  die  sie  herum  liegen  etc.  Sie  sind  aber  musikalisch.  Vor  einiger 
Zeit  habe  ich  fünf  in  meinem  Hausflur  gehabt,  von  denen  zwei  Violine 
spielten ;  einer  schlug  das  Tamburin ;  zwei  tanzten  äusserst  zierlich  gegen 
einander.')  —  Sie  sehen,  ich  studiere  die  Anfänge  der  Kultur,  d.  h.  die 
Barbarei.  An  das  Polnischreden  Hören  (wo  man  denn  einzelne  Worte 
aufschnappt)  und  an  den  Judenjargon  habe  ich  mich  ganz  gewöhnt,  da 
hier  in  meiner  Nähe  eine  Menge  der  grössten  Speicher  sind,  wo  die  Juden 
in  Haufen  von  20—40  sich  zusammenfinden,  oft  sehr  schöne  Leute;  an 
Christus  und  die  Apostel  muss  ich  oft  zurückdenken.  Wenn  sie  in  Schuh 
und  Strümpfen,  im  schwarzseidenen  Kaftan,  weissem  Hemdkragen,  gut 
gestutztem  Bart,  breitkrempigem  Hut  erscheinen,  sind  sie  ein  nobler  An- 
blick. Aber  auch  nichts  Cynischeres,  als  der  gemeine  Jude,  wie  sie  hier 
auf  den  Brücken  liegen,  Nüsse  zu  verkaufen."  —  Von  der  Stadt  selber 
heisst  es  in  demselben  Briefe:  „Jetzt  im  Sommer  sieht  sie  ganz  versüd- 
licht  aus;  überall  wo  ein  Balkon,  ein  Altan,  eine  Treppe  ist,  sind  Lein- 
wandzelte mit  roten  Einfassungen  ausgespannt,  worunter  man  sitzt,  Kaffee 
trinkt,  nähet,  die  Zeitung  liest  u.  s.  w.  Namentlich  die  Kneiphöfische 
Langgasse  sieht  zu  Zeiten  wie  ein  grosses  Gesellschaftszimmer  aus." 

Die  nähere  Umgebung  der  Stadt  lernte  Rosenkranz  bald  nach  allen 
Richtungen  kennen.  „Arnau  ist  darunter  ein  ganz  himmlischer  Punkt, 
wie  ihn  niemand  ahnen  kann.  Ich  war  wie  in  einer  Gegend  des  Jean 
Paul'schen  Titan,  als  ich  von  dem  Berg  des  Dorfes  den  reizenden,  vom 
Pregel  durchschlängelten  Wiesengrund,  links  kleine  Berge,  rechts  in  der 
Ferne  die  Stadt  erblickte."  —  Wie  sehr  ihn  dabei  das  Volksleben  interes- 
sierte, zeigt  ein  eingehender  Bericht  über  ein  grosses  ländliches  Fest^) 
an  Karoline  Pfaff . . .  „Das  meiste  Vergnügen  genoss  ich  aber  in  der  Ge- 
sindestube. Hier  hatte  sich  ein  alter  Invalide  eingefunden,  um  ein  Puppen- 
spiel, unterstützt  von  einigen  Dorfmusikanten,  aufzuführen.  Es  hiess :  4)er 
Fürst  von  Frühlingsfelde  oder  die  verliebte  Heiratschaft.*  Ein  Fürst  kommt 
aus  einem  Feldzug  verschuldet  zurück.  Seine  Frau  empfängt  ihn  mit 
Vorwürfen.  Er  hat  seine  Tochter  Lisettchen  einem  alten  General  ver- 
sprochen, der  ihm  Geld  vorgeschossen.  Sie  hat  aber  einen  Lieutenant 
Klapowsky  zum  Liebhaber,   der  durch  den  verschmitzten  Bedienten  be- 

5)  Aus  den  Königsberger  Skizzen  sind  hierzu  besonders  zu  vergleichen  die 
Abschnitte  „Ein  Morgengang  am  Bohlenwerk"  II,  137  ff.  und  „Die  Dschimken" 
(I,  173 ff);  über  den  Pregel  als  das  belebende  Element  der  Stadt  auch  I,  76  ff. 

6)  In  Rothmannshöfen,  einer  Besitzung  des  Kaufmanns  Toussaint.  —  Über 
das  mitgeteilte  Stück  vgl.  auch  Königsb.  Skizzen  I,  227  f.,  wo  ß.  die  Ansicht  aus- 
spricht, es  sei  eine  eigene  Komposition  des  Invaliden  gewesen. 


Erinnerungen  an  Alt  -  Königsberg.  143 

günstigt  wird.  Der  Fürst  entdeckt  dies  Verhältnis  und  tobt  gewaltig. 
Aber  Klapowsky  ist  ein  wegen  eines  Duells  aus  Belgien  geflüchteter  Prinz, 
der  jedoch  wieder  'pardonniret'  worden ,  und  so  hat  denn  der  Vater  nichts 
dagegen  und  es  endigt  mit  einem  lustigen  Tanz  ä  la  cosaque,  den  die 
blos  von  den  Fingern  regierten  Marionetten  sehr  gut  ausführten.  War' 
es  möglich,  so  würde  ich  Ihnen  nun  die  drolligen  Witze  mitteilen,  die 
sich  besonders  im  Plattdeutschen  sehr  spasshaft  ausnahmen." 

K.  hatte  bei  seinem  lebhaften,  geselligen  Wesen  bald  einen  weit 
ausgebreiteten  Verkehr  gefunden,  worin  ihn  seine  amtliche  Stellung  be- 
günstigte, und  so  die  verschiedenen  Stände  kennen  gelernt.  Als  äusserlich 
an  der  Bevölkerung,  besonders  bei  den  unteren  Klassen,  hervorstechend 
schien  ihm  das  massenhafte  Geniessen.  „An  der  sogenannten  hohen  Brücke 
sind  einige  Buden,  wo  ich  das  Volk  in  seinem  Himmel  beobachte,  wie  es 
gebratene  Fische,  Heringe,  Speck,  Wurst,  Kauchfleisch  etc.  mit  Brod 
und  Semmel  in  riesenhaften  Quantitäten  verzehrt."^)  Aber  auch  auf  den 
Gesellschaften  fiel  ihm  der  materielle  Luxus  auf.  „Diese  sind  hier  äusserst 
glänzend.  Vier  bis  fünf  Zimmer  sind  brillant  erleuchtet;  Lohnbediente 
laufen  umher;  in  besonderen  Garderoben  empfängt  man,  da  oft  andert- 
halb hundert  Menschen  zusammen  sind,  für  Mäntel  etc.  eigene  Marken; 
Thee,  Punsch,  Wein  etc..  Fleisch  werk  aller  Art,  Gelees,  Kuchen  wird 
auf  ungeheuren  Präsentiertellern  umhergetragen,  von  denen  man  kleine 
Tellerchen  herunternimmt."  —  Das  Lokal  der  öffentlichen  Bälle  war  in 
jener  Zeit  der  Kneiphöfische  Junkerhof,  welcher  eingehend  nach  seinen 
Bestandteilen  beschrieben  wird :  „Eine  doppelte  Garderobe,  für  die  Damen 
mit  grossen  Spiegeln  etc.;  zwei  Vorzimmer;  ein  ungeheurer  Saal,  von 
dem  aus  nach  einem  höher  liegenden  Seitenzimmer  Fenster  durchbrochen 
sind,  von  wo  aus  man  bequem  zusehen  kann;  eine  Konditorei  und  ein 
Speisesaal,  der  so  gross  ist,  dass  sechs  Kronleuchter  darin  brennen.  Der 
Tanzsaal  ist  1706  erbaut  und  hat  eine  Decke  mit  grossen  Stukkatur- 
arbeiten ;  die  Figuren  sind  aber  schlecht  und  fallen  sämtlich  in  das  Wul- 
stige; bei  der  Erleuchtung  jedoch,  wo  die  Goldverzierungen  und  grellen 
Farben  hervortreten,  macht  es  einen  zum  Tanzen  ganz  lustigen  Eindruck." 

Über  seinen  Umgangskreis  und  die  sonstigen  Anregungen,  welche 
ihm  die  Stadt  bot,  schrieb  R.  im  Herbst  1835  an  Karoline  Pfaff:  ,Jch 
lebe  hier  in  einer  sehr  weiten  geselligen  Bewegung.  Ich  will  Ihnen  nur 
einen  ungefähren  Umriss  geben.  Mit  dem  Prediger  Detroit,  unserm  Ver- 
wandten, Professor  Voigt,  Dr.  Rosenberger,  Assessor  Wartemberg,  Ober- 

7)  Vgl.  auch  Königsb.  Skizzen  I,  229  ff.  („die  Volksküche")  I,  263  ff.  („der 
Reiz  zu  solchen  Genüssen  muss  hier  wohl  ein  klimatischer  sein")  und  die  dort  ge- 
gebene Beschreibung  des  ersten  in  Königsberg  verlebten  Tages. 


144  Max  Jacobson 

lehrer  Witt  und  Jung  findet  in  der  Weise  ein  Umgang  statt,  dass  auch 
die  Frauen  sich  besuchen.  Ich  verkehre  ausserdem  mit  den  meisten  meiner 
Kollegen,  besonders  mit  Lehnerdt,  Moser,  Jacobi,  Sachs,  v.  Bohlen,  Hagen. 
Ferner  mit  dem  Superintendenten  Wald,  wo  sich  auch  die  Frauen  zu  nähern 
anfangen.  Dann  kommen  eine  Reihe  von  Studenten,  Offizieren,  Referen- 
darien und  Lehrern,  mit  denen  ich  in  Verbindung  bin,  besonders  mit  einem 
Herrn  v.  Lossow,  Sohn  des  Generallieutenants ,  dem  Dr.  Lehrs  und  dem 
Herrn  Lobedan.  Ausserhalb  der  Stadt  haben  wir  im  Sommer  mit  dem 
Kaufmann  Toussaint,  unserm  alten  Wirt,  und  ich  noch  mit  dem  Ober- 
präsidenten V.  Schön  in  Arnau  Umgang,  freilich  sparsam,  weil  es  zu  kost- 
spielig ist.  Dann  habe  ich  auch  eine  Bekanntschaft  mit  dem  Oberlandes- 
gerichtsrat Förster,  der  bei  den  Juristen  das  philosophische  Examen  hat, 
und  mit  dem  Landvogteigerichtsdirektor  Olschewsky  in  Heilsberg,  einem 
sehr  interessanten  Mann,  der  Werner  und  Hoffmann  sehr  gut  gekannt  hat 
und  die  intimste  Freundschaft  des  Fürstbischofs  von  HohenzoUem  besitzt. 
Mehrerß  befreundete  Menschen  sind  schon,  während  ich  hier  bin,  geschieden : 
Professor  v.  Baer  und  Baumeister  Jacobi  nach  Russland,  Olshausen  nach 
Erlangen,  Sietze,  ein  Hegelscher  Jurist,  nach  Treuenbrietzen.  Während 
der  Badezeit  bin  ich  näher  mit  unserm  Arzt,  dem  Dr.  Hirsch,  einem  vor- 
trefflichen, so  geistreichen,  als  gemütvollen  Menschen,  einem  polnischen 
Pfarrer  Gregor  und  einem  Oberlehrer  Muttrich,  einem  Witzbold,  bekannt 
geworden,  habe  auch  endlich  an  der  Bekanntschaft  eines  jungen  Mädchens 
Pauline  Prin,  Tochter  eines  hiesigen  Kaufmanns,  vielen  Genuss  gehabt  — 
Dazu  kommen  noch  entferntere  Verhältnisse,  z.  B.  zu  meinem  jetzigen  Wirt, 
dem  Apotheker  Gamm,  wo  ich  unter  anderem  einem  splendiden  Mittags- 
mahl beiwohnte,  das  mit  allen  Chikanen  dem  Komiker  Gemsohn  zu  Ehren 
gegeben  wurde  und  worin  ich  neben  dem  Theaterdirektor  Hübsch  zu  sitzen 
kam.  Rechnen  Sie  dazu,  dass  ich  als  Mitglied  des  Kantvereins,  der  Deut- 
schen und  Physikalischen  Gesellschaft  von  Zeit  zu  Zeit  in  Anspruch  ge- 
nommen werde,  dass  ich  weder  Kirche,  noch  Theater  und  Konzerte  ver- 
säume, dass  ich  bei  dem  Konditor  Siegel  französische  Zeitungen,  ,Con- 
stitutionel',  ,Charivari',  ,Journal  de  Francfort*  und  ,Messager  des  Chambres* 
lese,  so  werden  Sie  gestehen  müssen,  dass  ich  nicht  isoliert  bin.  Königs- 
berg ist  in  vieler  Hinsicht  unangenehm,  aber  doch  schon  durch  seinen 
Umfang  sehr  beschäftigend.  Es  ist  nichts  Gedrücktes  hier.  Es  kommen 
doch  auch  Künstler  hierher,  und  manches  Sehenswürdige  gestaltet  sich.*) 


8)  Über  Kunstausstellungen,  Theater  etc.  giebt  R.  in  diesen  Briefen  mehrfach 
eingehende  Berichte.  Vgl.  auch  die  Abhandlung  „Zur  Kritik  der  heutigen  Malerei." 
(Studien  II,  251  ff.),  welche  sich  mit  Königsberger  Kunstausstellungen  in  den  Jahren 
1835.  1836.  1837  beschäftigt. 


Erinnerungen  an  Alt  -  Königsberg.  145 

Ich  habe  hier  ein  grosses  Lager  gesehen,  ein  Schiff  vom  Stapel  laufen, 
Illuminationen  und  Feuerwerk,  herrliche  Strassenbekränzungen,  das  Dampf- 
schiff Ischora,  Königs  transparente  Bilder,  zwei  Kunstausstellungen,  zwei 
Weihnachtsausstellungen,  einen  Waffentanz  bei  der  Jubelfeier  eines  Regi- 
ments, Bachs  Passion,  Grauns  Tod  Jesu,  Handels  Samson,  den  Tambour- 
major Kock  (der  auf  14  Trommeln  zugleich,  rückwärts  und  vorwärts  Musik 
macht),  die  Bauchrednerin  Schulz,  Puppentheater  und  soeben  einen  Taschen- 
spieler, Herrn  v.  Olivo,  gesehen  . .  . 

Sie  werden  sich  verwundem,  wie  ich  Ihnen  dies  alles  so  trocken  her- 
schreiben kann.  Der  Grund  ist,  dass  es  vorgestern  schon  zwei  Jahre  sind, 
wo  ich  Halle  verliess  und  dass  mir  in  diesen  Tagen  nun  alles  durch  den 
Kopf  geht,  was  ich  hier  an  geistigem  Besitz  unmittelbar  durch  die  Stadt 
erlangt  habe.  Ich  suche  durch  solche  Betrachtungen  mich  zur  Dankbar- 
keit gegen  meine  Verhältnisse  zu  stimmen,  weil  mir  das  stete  Klagen, 
das  ewige  Unzufriedensein  mit  der  jedesmaligen  Lage,  das  ich  mir  auch 
angewöhnt  hatte,  je  länger  je  mehr  an  mir  selbst  unausstehlich  ist.  Die 
Welt  ist  immer  mehr  als  wir,  und  der  Einzelne  wird  immer  aus  dem 
Allgemeinen  Nahrung  schöpfen  können.  —  Dass  ich  die  See  kennen  ge- 
lernt, auch  einen  furchtbaren  Sturm  erlebt  habe,  gehört  ebenfalls  zu  dem 
dankbar  zu  Erwähnenden."®) 

Was  nun  die  akademische  Thätigkeit  R.'s  in  jenen  ersten  Jahren 
anlangt,  so  machten  die  Studenten  freilich,  im  Gegensatz  zu  Halle,  zu- 


9)  R.  fand  in  dem  von  nun  an  bald  alljährlich  wiederkehrenden  Aufenthalt 
am  Strande  einen  immer  grösseren  Genuss.  Er  schreibt  darüber  etwa  zwanzig 
Jahre  später:  „Das  Baden,  das  Herumlaufen  in  den  Wäldern  und  auf  den  Bergen, 
das  Lungern  am  Strande  beim  Sonnenuntergang,  der  köstliche  Appetit,  die  ün- 
geniertheit  der  geselligen  Verhältnisse,  das  Alles  ist  mir  die  schönste  Erholung 
und  ~  weltmüde,  wie  ich  bin  —  oft  möchte  ich  mich  auf  ein  Bauerngut  des  reizen- 
den Samlandes  zurückziehen.  So  wie  ich  nur  über  das  Wäldchen  des  Eulenkrugs 
hinauskomme  und  dem  Warnicker  Thal  zufahre  und  die  erste  Brise  reiner  Seeluft 
fühle,  kommt  ein  Frieden  über  mich,  als  hörte  alle  meine  Mitverantwortlichkeit  für 
unsere  abscheuliche  Weltgeschichte  auf."  —  Den  Morgenaufenthalt  an  dem  Meere 
bei  Rauschen  schildert  R.  in  einem  Briefe  an  Hinrichs  aus  dem  Jahre  1858  folgender- 
massen:  „Ich  nehme  ein  Buch  und  eine  Cigarre  und  gehe  auf  die  Hochebene,  die 
von  unserem  Berg  aus  zwischen  dem  See  und  Meer  sich  hinzieht,  statte  dem 
heiligen,  himmlischen,  entzückenden  Meer  meinen  Morgenbesuch  ab,  wie  es  von 
Brüsterort,  wo  der  Leuchtturm  steht,  bis  zum  Vorgebirge  von  Wangenkrug  mit  seinen 
malerischen  Buchten  in  bläulichem  Sommerduft  sich  ausbreitet,  mit  seinen  Schaum- 
wellen an  das  Ufer  brandet,  in  das  Ohr  den  tausendstimmigen  Chor  seines  Rauschens 
erschallen  lässt  und  hinten,  als  Erdumgürtender  Okeanos,  den  ernsten,  dunkelblauen 
Reifen  zieht.  Dann  werfe  ich  mich  zwischen  Birken  und  Fichten  auf  das  Moos  oder 
Haidekraut.  beobachte  die  Ameisen,  Käfer,  Bienen,  Möwen,  Spechte,  träume,  lese, 
bete,  wandere  ein  Streckchen,  ruhe  wieder  und  gerathe  nahe  an  die  Neuplatonische 
Ekstase.    Ach,  wer  immer  am  Meer  wohnen  könnte!" 

10 


146  Max  Jacobson 

nächst  keinen  besonders  günstigen  Eindruck  auf  ihn.  „Die  Studenten  sind 
hier  sehr  faul,"  klagt  er  Hinrichs,  „haben  auch  nicht  den  inneren  Trieb 
wie  in  Deutschland.  Wegen  ihrer  geselligen  Fertigkeit,  ihrer  anstandsvoUen 
Aussenseite  überschätzte  ich  sie  anfangs,  bin  aber  sehr  davon  zurück- 
gekommen. Ein  deutscher  abgeschabter  Rock  birgt  mehr  als  ein  schwarzer 
Frack  und  blendend  weisse  Vatermörder.  Dabei  sind  sie  auf  Biertrinken 
und  Vergnügungen  erpicht  und  doch  so  arm,  dass  ich  seit  Michaelis  bis  jetzt 
(Sommer  1834)  20  Rthl.  jedes  Semester  Honorar  eingenommen  habe. . .  . 
An  das  Schreiben  sind  sie  in  den  philosophischen  Vorlesungen  (durch 
Herbart)  gar  nicht  gewöhnt;  in  der  Geschichte  der  Philosophie  habe  ich 
es  mit  Mühe  dahin  gebracht."  —  Die  philosophische  Richtung,  welche  R. 
damals  als  der  einzige  Lehrer  seines  Faches  vertrat,  war  in  Königsberg 
völlig  neu.  „Die  Kantische  und  Herbart'sche  Philosophie  sind  hier  in  der 
ganzen  Gesinnung  Fleisch  und  Blut,  hauptsächlich  der  erstere ;  der  zweite 
nur  in  der  Neigung,  alles  abstrakt  und  mit  eigentümlich  verschlungenen 
Wendungen  zu  behandeln.  Der  erstere  ist  aber  ein  wahrhafter  National- 
philosoph; der  Dualismus  des  Diesseits  und  Jenseits  ist  hier  der  König 
des  Bewusstseins  —  was,  sehen  wir  uns  einmal  wieder,  gehen  wir  wieder 
einmal  auf  der  unvergesslichen  Wiese  (nach  Beuchlitz  bei  Halle)  spa- 
zieren —  durch  hübsche  Anekdoten  erläutert  werden  soll.  Unter  Hege- 
lianismus oder,  wie  Rühl  von  Lilienstem  sagt,  Hegelianik  stellt  man 
sich  entweder  Unsinn,  oder  Katholicismus,  oder  Pietismus  vor;  mein 
Stand  ist  daher  nicht  leicht,  besonders  da  ältere  Leute  meine  Vorlesun- 
gen frequentieren,  die  dann  an  Einzelheiten  haften  bleiben,  z.  B.  letzt- 
hin hatte  ich  einen  Memel'schen  Stadtrath,  der  hier  seine  Pension  ver- 
zehrt, zur  Reflexion  über  Gott  gebracht,  weil  ich  als  Beispiel  einer  guten 
Definition:  Gott  ist  der  absolute  Geist,  aufgestellt  hatte;  dagegen  hatte 
er  nun  die  Definition  gehalten,  die  er  bei  Kant  gehört  hatte  u.  s.  w.  — 
Lehnerdt  ist  es  gelungen,  eine  Menge  Theologen  auf  bessere  Wege  zu 
bringen,  und  ohne  ihn  würde  es  mir  noch  schwerer  werden.  Mit  Natur- 
wissenschaft denke  ich  mich  mehr  abzugeben;  die  empirische  Physik  steht 
hier  in  grossem  Ansehen."  —  Aber  auch  in  der  Gesellschaft  erregten  die 
Ansichten,  welche  R.  mit  Freimütigkeit  in  seiner  lebhaften  Weise  aus- 
sprach, oft  Verwunderung,  selbst  Anstoss.  Er  schreibt  darüber  im  Herbst 
1834  an  Karoline  Pfaff:  „Ich  kam  mit  einem  Kreise  von  gebildeten  Pie- 
tisten in  so  nahe  Berührung  und  verletzte  diese  gutgesinnten  Menschen 
durch  mein  Sprechen  dermassen,  dass  ich  —  es  waren  auch  drei  Damen 
betheiligt  —  momentan  ganz  irr  ward,  ob  sie  nicht  Recht  und  ich  Un- 
recht hätte.*")  Namentlich  bekämpfte  mich  die  Tochter  eines  hiesigen 
10)  Vgl.  hierzu  aus  den  Königsb.  Skizzen  den  Abschnitt:  „Kirchliches  Leben", 


Erinnerungen  an  Alt -Königsberg.  147 

frommen  Superintendenten  so  mit  Bibelsprüchen,  dass  ich,  wollte  ich  nicht 
mephistophelisch  werden,  gar  nicht  dagegen  aufkommen  konnte.  Als  ich 
inne  ward,  welches  Entsetzen  meine  weltliche  Weisheit  erregt  hatte,  bat 
ich,  man  möge  meine  in  dem  Eifer  des  Gesprächs  oft  grellen  Worte 
nicht  in  aller  Strenge  nehmen.  Sogleich  fing  man  nun  an,  mir  Vorsicht 
zu  empfehlen ;  man  schätze  meine  Offenheit,  allein  meine  Ausdrücke  seien 
oft  sehr  anstössig  für  zarte  Gemüter,  die  ganz  im  Heiligen  leben  wollten. 
Ich  hatte  z.  B.  geäussert,  dass  die  Sprachverwirrung  beim  babylonischen 
Thurmbau  eine  rechte  Schalkheit  Gottes  gewesen  sei  —  Gott  und  ein  Schalk ! 
Oder,  sagte  ich  nun,  auch  ein  gespenstischer  Spuk  zur  Strafe  der  Thor- 
heit;  die  Menschen  müssen  wie  aus  einem  Irrenhaus  Entsprungene  durch- 
einander gefaselt  haben.  Etwas  besser  fand  man  das  schon.  Nun,  meinte 
ich,  Gott  sei  doch  unter  anderem  auch  ein  Künstler;  er  habe  viel  Phan- 
tasie ;  wie  er  sich  auf  liebliche  Engelsköpfe  verstehe,  so  auch  auf  Szenen 
des  Grausens,  wie  so  viele  Gegenden  bewiesen.  Aber  das  war  wieder  nicht 
recht.  Gott  als  einen  Poeten  zu  behandeln,  welch'  ein  Frevel!  Wüsten 
aber,  Eisberge,  Tiger  u.  s.  f.  hat  der  Teufel  geschaffen.  Mit  den  Männern 
zerfiel  ich  besonders  deswegen,  dass  ich  auch  Geschichten,  wie  sie  im 
Boccaz  vorkommen,  zu  erzählen  und  darüber  zu  lachen  Miene  machte,  be- 
sonders aber,  dass  ich  für  das  französische  Volk,  ohne  seine  gefährlichen 
Extreme  zu  verleugnen,  Begeisterung  blicken  liess.  Hier,  gestehe  ich,  mag 
ich  nun  zuweilen  wie  ein  Jacobiner  gesprochen  haben. .  . .  Als  ich  einst 
sagte,  die  Ruhe  und  Ordnung  sei  oft  nichts  als  Trägheit  und  diese  sei 
auch  eine  That  des  Satans,  fand  der  Gedanke  wegen  der  Form  Beifall, 
aber  doch  nicht  lange.  Man  gab  mir  zu  verstehen,  ich  sei  wohl  von  der 
Religion  bereits  ergriffen,  aber  die  letzte  Stufe  hätte  ich  lange  noch  nicht 
betreten  und  ,meine  ironische  Witzader*  verführe  mich  noch  oft  zu  un- 
heiligen Ansichten,  Spöttereien  u.  s.  w.  Auch  die  Philosophie  mache  mich 
denkstolz  etc.  —  Soche  Mahnung  liess  ich  denn  nicht  unerhört  verklin- 
gen und  revidirte  mein  Leben,  mein  Inneres,  meine  Philosophie.  Allein 
ich  bin  nach  ernstlichstem  Erwägen  doch  wieder  auf  den  alten  Fleck  an- 
gelangt, nur  mit  höherer  Andacht.  Der  Pietismus  ist  eine  engherzige 
Religion;  für  die  Welt  ist  Christus  gekommen;  damit  aber  die  Pietisten 
Religion  haben,  bleibt  ihnen  die  Welt  notwendig,  sich  von  ihr  im  Selbst- 
gefühl ihrer  göttlichen  Herrlichkeit  auszuscheiden.  Knieen,  Engelglaube, 
ßibellesen,  Tischgebete,  Versuchungsgeschichten,  Fürbitten,  Bitten  um 
Fürbitten  und  wie  der  wohlfeile  Apparat  heisst,  der  dazu  gehört.  Ich  las 
in  diesem  Sommer  Religionsphilosophie,  wodurch  ich  sehr  erregt  ward, 

1,272  ff.,  bes.  309  ff.  auch  den  Aufsatz  aus  dem  Jahre  1837:  Die  Emancipation  des 
Fleisches  (Neue  Studien  I,  1  ff),  worin  eine  Kritik  des  Pietismus. 

10* 


148  Max  Jacobson,  Erinnerungen  an  Alt -Königsberg. 

auf  diese  Materie  einzugehen.  Ich  habe  in  dieser  Zeit  12  Gedichte  ge- 
macht, die  aus  meiner  Seele  gekommen  sind,  und  die  ich  gern  Ihnen 
mitteilte,  wäre  es  nicht  so  weit." 

Doch  lernte  man  sich  in  den  folgenden  Jahren  mehr  und  mehr  kennen 
und  schätzen.  Bald  nach  dem  Erscheinen  der  Königsberger  Skizzen  schreibt 
R.  am  8.  Oktober  1843  an  Hinrichs:  „Die  Kritik  der  reinen  Vernunft 
wird  hier  nie  ganz  ausgehen.  Königsberg  ist  für  den  Fremden  eine 
düstere,  ungeniessbare ,  abschreckende  Stadt,  aber  wenn  man  die  trübe, 
schroffe  Aussenseite  der  Stadt  und  den  Egoismus  der  Königsberger,  Königs- 
berger zu  sein,  überwunden  hat,  so  gewinnt  man  Respekt  vor  so  viel 
Bildung  und  Charakter  in  solcher  ungastlichen  Natur.  Ich  sehne  mich 
oft  weg,  weil  Leben  und  Klima  hart,  rauh,  genusslos,  künstlich  sind,  und 
doch  fürchte  ich,  von  anderwärts  mich  wieder  herzusehnen."  —  So  hatte 
sich  R.  in  dieser  ihm  anfangs  so  fremden  Welt  schon  in  dem  ersten  Jahr- 
zehnt völlig  eingelebt  und  entfaltete,  von  nun  ab  etwa  dreissig  Jahre  lang, 
eine  Wirksamkeit,  die  ihn  bald  auf  das  engste  mit  derselben  verknüpfte. 
Man  sah  in  ihm  den  Lehrer  Altpreussens,  welcher  hier  eine  Kulturmission 
durchführte.  Von  diesem  Verwachsensein  mit  Stadt  und  Provinz  hatte 
er  als  Greis  eine  lebhafte  Empfindung.  Er  sprach  dies  unter  anderem, 
als  er  nach  vierzigjährigem  Aufenthalt  in  Königsberg,  sein  Leben  über- 
schauend, den  ersten  kürzeren  Teil  desselben  in  dem  Buche  „Von  Magde- 
burg bis  Königsberg"  darstellte,  in  dem  Vorwort  aus  (S.  V):  „Diese  Stadt 
ist  so  sehr  meine  zweite  Heimat  geworden,  dass  ich  mich  nach  ihr,  wenn 
ich  einmal  längere  Zeit  von  ihr  entfernt  war,  immer  wieder  zurücksehnte. 
Die  Freude  an  meinem  Lehramt,  die  Anhänglichkeit  meiner  Zuhörer,  die 
Liebe  meiner  Kollegen  und  die  Freundschaft  so  vieler  ausgezeichneter 
Menschen  haben  mich  die  bekannten  Unbilden  der  hiesigen  Lokalität  längst 
vergessen  lassen." 


VII. 

über  den  Gebrauch  der  verba  frequentatiya  und  intensiva 

in  Ciceros  Briefen. 

Von 

R.  Jonas  (Krotoschin). 

In  einigen  früheren  Abhandlungen  habe  ich  den  Gebranch  der  verba 
frequentativa  und  intensiva  in  der  älteren  lateinischen  Sprache  und  bei 
Livius  untersucht  (De  verbis  frequentativis  et  intensivis  apud  comoediae 
latinae  scriptores,  pars  I,  Posen  1871,  pars  11,  Meseritz  1872;  Zum  Ge- 
brauch der  verba  frequentativa  und  intensiva  in  der  älteren  lateinischen 
Prosa  (Cato,  Varro,  Sallust),  Posen  1879;  Über  den  Gebrauch  der  verba 
frequentativa  und  intensiva  bei  Livius,  Posen  1884).  Von  ganz  beson- 
derem Interesse  müsste  es  sein,  zu  sehen,  in  welchem  Umfange  Cicero 
jene  Arten  von  Verben  anwendet.  Vorerst  habe  ich  einen  Teil  der  Schriften 
Ciceros  darauf  geprüft,  und  zwar  schienen  die  Briefe  mit  ihrer  Umgangs- 
sprache ganz  besonders  hierfür  in  Betracht  zu  kommen.  Die  Ergebnisse 
dieser  Untersuchung  sollen  die  folgenden  Blätter  bieten,  die  auch  an 
ihrem  bescheidenen  Teile  etwas  zur  Erkenntnis  des  lateinischen  Sprach- 
gebrauches beitragen  wollen. 

Hinsichtlich  der  Ableitung  der  verba  frequentativa  und  intensiva  be- 
ziehe ich  mich  auf  das,  was  in  meinen  früheren  Untersuchungen  darüber 
ausgeführt  ist.  Wir  sind  jetzt  allgemein  daran  gewöhnt,  nur  solche  Verba 
dazu  zu  rechnen,  welche  der  sog.  ersten  Konjugation  angehören,  während 
ursprünglich  sicherlich  noch  eine  ganze  Zahl  anderer  (wie  flecto,  necto 
u.  s.  w.)  zu  dieser  Gattung  gehörten.  Auch  viele  Verba  der  ersten  Kon- 
jugation mit  der  frequentativen  oder  intensiven  Ableitung  werden  kaum 
noch  dahin  gerechnet,  weil  ihre  Stammverben  nicht  mehr  in  Gebrauch 
sind  und  deshalb  das  Bewusstsein  ihrer  Ableitung  verloren  gegangen  ist 
Dies  gilt  u.  a.  von  specto ,  dessen  Stammwort  specio  nur  in  Zusammen- 
setzungen vorkommt,  auch  von  recito,  mit  dessen  Stammwort  es  ähnlich 
steht.  Frequentative  Bildung  zeigen  auch  mehrere  von  Nominibus  abge- 
leitete Verba;  ich  nenne  debilito,  suppedito. 


150  R.  Jonas 

WeDn  wir  nun  im  Folgenden  nach  den  3  Suffixen,  welche  man  bei 
dieser  Verbalgattung  beobachtet,  — üo,  —to  und  — so,  geordnet,  die 
in  den  Briefen  Ciceros  vorkommenden  verba  frequentativa  und  intensiva 
aufführen  unter  Hinzufügung  dessen,  was  für  den  Sprachgebrauch  zu  be- 
merken ist,  so  beschränken  wir  uns  dabei  auf  die  im  engeren  Sinne  so 
genannten  Verba. 

L  Die  mit  dem  Suffix  —ito  gebildeten  Verba. 

1.  actito:  egi .  .  omnes  illos  adulescentes,  quos  ille  actitat  ad  fam. 

11,  9,  1  mit  zweifellos  frequentativer  Bedeutung,  was  sich  schon  aus  der 
Gegenüberstellung  des  einfachen  agere  ergiebt. 

2.  agito :  agraria  lex  ... .  vehementer  agitabatur  auctore  Pompeio  ad 
Attic.  I,  19,  4  und  saepius  me  iam  agitas  ad  Att.  XIV,  18,  1.  Auch  hier  ist 
der  frequentative ,  bez.  intensive  Sinn  einleuchtend,  wenngleich  dem 
agitare  an  der  ersteren  Stelle  das  auch  in  den  Briefen  nicht  selten  ge- 
brauchte einfache  agere  nahekommt. 

Hierher  gehört  das  Compositum: 

2*.  exagito:  insectandis  ....  exagitandisque  nummariis  iudicibus  ad 
Attic.  I,  16,  8.  exagitatus  senatus  ad  Attic.  I,  19,  3.  acueram  me  ad  exa- 

gitandam  hanc  eins  legationem  ad  Attic.  ü,  7,  2.  ne meum  mae- 

rorem  exagitem  ad  Attic.  III,  7,  2.  Die  Verstärkung  der  Bedeutung  liegt 
auf  der  Hand,  an  der  ersten  Stelle  wird  sie  durch  den  Gebrauch  zweier 
intensiva  noch  deutlicher. 

3.  cenito:  ego  si  foris  cenitarem  ad  fam.  VII,  16,  2.  non  desino  apud 
istos,  qui  nunc  dominantur,  cenitare  ad  fam.  IX,  7,  1.  (puto  te  audisse) 
me  apud  eos  cenitare  ad  fam.  IX,  16,  7.  id  foris  cenitando  facillime 
consequere  ad  fam.  IX,  24,  3.  An  allen  4  Stellen  ist  wohl  der  Begriff 
der  Wiederholung  mit  dem  Verbum  verbunden.  Allerdings  kommt  das 
einfache  cenare  (wie  ad  Quint.  fratr.  III,  1,  10)  dem  ziemlich  nahe. 

4.  clamito :  me  causam  inimicitiarum  quaerere  clamitavit  ad  fam.  Vlll, 

12,  2.  audiebam  enim  nostros  proceres  clamitantes  ad  fam.  Xm,  15, 1. 
Eine  Steigerung  der  Bedeutung  im  Vergleich  zum  einfachen  clamo  (wie 
ad  fam.  XVI,  12,  2)  ist  ziemlich  ersichtlich.  —  Dazu  das  Compositum 
4*  declamito:  puto  te  audisse  illos  apud  me  declamitare  ad  fam.  IX,  16,  7 
mit  der  auch  sonst  bekannten  gesteigerten  Bedeutung. 

5.  cursito  (neben  dem  einfacheren  curso,  s.  weiter  unten):  non  esse 
te,  ad  quem  cursitem  ad  fam.  VIII,  3,  1  mit  zweifellos  frequentativer  Be- 
deutung. 

6.  diclito  (daneben  dicto,  s.  weiter  unten,  in  ganz  anderem  Sinne) 


über  den  Gebrauch  der  verba  frequentativa  und  intensiva  in  Ciceros  Briefen.    151 

an  7  Stellen :  quem  post  reditum  dictitant  fracto  animo  et  demisso  fuisse 
ad  fam.  I,  9,  16.  Appius  in  sermonibus  antea  dictitabat,  postea  dixit  etiam 
in  senatu  palam,  sese  ...  ad  fam.  I,  9,  25.  ut  quidem  ipsi  dictitant  liber- 
tatis  auctores  ad  fam.  XI,  28,  3.  Antonium  porro  in  cogendis  pecuniis  dic- 
tilare  ad  Attic.  I,  1 2,  2.  qui  Romae  tribunatum  plebis  peteret,  cum  in  Si- 
cilia  aedilitatem  saepe  dictitasset  ad  Attic.  ü,  1,  5.  dictitat  se  a  me  apud 
Caesarem  oppugnari  ad  Attic.  XI,  8,  2.  Quintus  certe  ea  dictitat,  quae  scribis 
ad  Attic.  XIV,  2,  2.  Die  frequentative  Bedeutung  scheint  mir  überall  er- 
wiesen, am  klarsten  tritt  sie  vielleicht  ad  fam.  I,  9,  25  durch  die  Gegen- 
überstellung des  einfachen  dicere  hervor. 

7.  dormito:  cenato  mihi  et  iam  dormitanti  ....  epistula  est  illa 
reddita  ad  Attic.  11,  16,  1,  vielleicht  zu  übersetzen:  „als  ich  bereits  in 
tiefem  Schlafe  lag". 

8.  exercito :  in  illis  rebus  exercitatus  animus  ad  fam.  IV,  5,  2.  nostros 
animos  maximis  in  rebus  et  gerendis  et  sustinendis  exercitatos  ad  Quint. 
fratr.  I,  1,  2.  (hominis)  valde  exercitati  et  boni  ad  Quint.  fratr.  III,  3,  4.  in 
arithmeticis  satis  exercitatum  ad  Attic.  XIV,  12,  3.  in  quibus  satis  exerci- 
tati sumus  ad  Attic.  XIV,  20,  2.  Überall  lässt  sich  die  Absicht  der  Stei- 
gerung des  Sinnes  erkennen,  jedoch  ad  Quint.  fratr.  II,  16,  3:  Scauri  iudi- 
cium  statim  exercebitur  ist  vielleicht  in  der  Bedeutung  nicht  viel  davon 
verschieden.  Übrigens  sei  hier  bemerkt,  dass  exercitatus  in  der  Regel 
als  Part.  perf.  pass.  von  exerceo  gebraucht  wird,  während  exercitus  die 
Bedeutung  „gequält"  hat. 

9.  factilo:   atque  hoc  eo  diligentius  factito  ad  fam.  VIII,  3,  1  und 
quod  idem  acceperam  et  cognoveram  a  summis  viris  factitatum  ad  fam. , 
XII,  21  ebenfalls  mit  klar  erkennbarer  intensiver  Bedeutung. 

10.  lectito:  habes  nonnullos  ex  iis,  quos  nunc  lectito,  auctores  ad 
Attic.  XII,  18,  1,  wohl  nicht  viel  von  dem  einfachen  lego  unterschieden. 

11.  minitor:  tibi  paene  minitanti  nobis  per  litteras  hoc  rescribo  atque 
respondeo  ad  fam.  V,  2,  10.  Rosciae  legi,  etiam  frumentariae,  minitabantur 
ad  Attic.  n,  19,  3.  horribile  est,  quae  loquantur,  quae  minitentur  ad  Attic. 
XIV,  4,  1.  qui  quidem  nostris  mortem  minitantur  ad  Attic.  XIV,  12,  2. 
Eine  gewisse  Steigerung  soll  jedenfalls  an  allen  4  Stellen  angedeutet  sein, 
wenngleich  sich  minari  ähnlich  findet  ad  Attic.  IV,  3,  3. 

12.  quirito:  (cum)  ....  illi  misero  quiritanti ....  responderet  ad  fam. 
X,  32,  3,  jedenfalls  mit  verstärkter  Bedeutung. 

13.  sciscitor:  ac  non  desino  per  litteras  sciscitari  ad  Att.  VII,  13%  2. 
quod  ex  ipso  velim  ....  sciscitere  ad  Att.  XII,  7,  1,  an  beiden  Stellen  in- 
tensiven Sinnes. 

14.  scriptito:  et  haec  et  si  quid  aliud,  ad  me  scribas  velim  vel  po- 


152  R.  Jonas 

tius  scriptites  ad  Att.  VIT,  1 2,  6.  Die  Verstärkung  der  Bedeutung  des  Fre- 
quentativs  ist  aus  der  Stelle  ganz  klar  ersichtlich. 

15.  transüo:  is,  ceteroqui  abstinens  sed  lulia  lege,  transitans  ad  Att 
V,  21,  5.    Ob  frequentativ,  ist  aus  der  Stelle  nicht  recht  zu  ersehen. 

16.  vendito:  (Quintus  frater) Tusculanum  venditat  ad  Att.  I,  14, 7. 

in  60  me  etiam  TuUiae  meae  venditabo  ad  Att.  IV,  16*,  4.  hunc  07covdti- 
d^ovta,  si  cui  voles  tcuv  vewreQwv,  pro  tuo  vendita  ad  Att.  VII,  2,  1.  (du- 
bitemus)  an  ei  nos  etiam  cum  periculo  venditemus  ad  Att.  X,  8,  3.  Das 
Verbum  erinnert  nur  an  der  ersten  Stelle  an  die  eigentliche  Bedeutung, 
es  heisst  aber  auch  da  nicht  verkaufen,  sondern  verkaufen  wollen. 
An  den  3  übrigen  Stellen  steht  es  in  übertragenem  Sinne,  etwa:  sich 
hingeben. 

17.  ventito:  ad  quem  ....  frequentes  ....  ventitare  reperies  ad  fam. 
XI,  28,  7.  cum  his  temporibus  non  sane  in  senatum  ventitarem  ad  fam. 
Xin,  77,  1.  dies  fere  nuUus  est,  quin  hie  Satrius  domum  meam  ventitet 
ad  Att.  I,  1,  3.  Zweifellos  liegt  an  allen  drei  Stellen  ein  frequentativer 
Sinn  vor. 

18.  volüo:  volitat,  furit,  nihil  habet  certi  ad  Att.  II,  22,  1,  ebenfalls 
ohne  Zweifel  mit  frequentativer  Bedeutung. 

n.   Die  mit  dem  Suffix  —to  gebildeten  Verben. 

1.  advenio:  nondum  erat  auditum,  te  ad  Italiam  adventare  ad  fam.  II, 
6,  1.  cum  iam  te  adventare  arbitraremur  ad  Attic.  I,  4,  1.  cum  adventare 
milites  dicuntur  ad  Attic.  III,  22,  1.  adventare  et  prope  adesse  iam  debes 
ad  Attic.  IV,  17,  4.  Afranium  cum  magnis  copiis  adventare  ad  Attic.  VIII, 
3,  7.  adventare  videtur  ad  Attic.  XIV,  10,  3.  ego  propero,  ne  ante  Sextus, 
quem  adventare  aiunt  ad  Attic.  XV,  21,  3.  adventabat  autem  ßov/.ioei 
ad  Attic.  XV,  27,  3.  legiones  enim  adventare  dicuntur  ad  Attic.  XVI,  4,  4. 
ille  enim  iam  adventare  potest  ad  Attic.  XVI,  12.  An  allen  Stellen  passt 
die  auch  sonst  diesem  Verbum  eigentümliche  Bedeutung  „im  Anzüge  sein", 
in  der  es  unter  anderem  an  fast  sämtlichen  livianischen  Stellen  zu  ver- 
stehen ist.  Dem  Sinne  nach  ist  das  Wort  weder  frequentativ  noch 
intensiv. 

2.  afflicto:  hie  tu  me  accusas,  quod  me  afflictem  ad  Attic.  III,  12,  1 
und  de  quibus  acerbissime  afflictor  ad  Attic.  XI,  1,  1;  an  beiden  Stellen 
sicherlich  in  intensivem  Sinne  zu  fassen. 

3.  Von  dem  an  einer  ganzen  Anzahl  von  Stellen  (so  ad  fam.  I,  9,  21, 
ad  Attic.  II,  8,  2.  10.  15,  2.  VIII,  2,  4.  7,  1.  16,  1.  IX,  15,  1.  XII,  47,  2. 
XIV,  13,  2.  21,  35.  XV,  4%  1.  18,  2.  20,  4.  26, 1  (zweimal).  XVI,  7,  7)  vor- 
kommenden specto  finden  sich  die  nachstehenden  Ableitungen: 


über  den  Gebrauch  der  verba  frequentativa  und  intensiva  in  Ciceros  Briefen.   153 

a)  aspeclo :  quem  aspectabant  ad  fam.  IX,  26,  2,  eine  Anführung  einer 
Dichterstelle,  vielleicht  in  intensivem  Sinne  zu  verstehen. 

h)  inspecto:  (ut)  me  inspectante  saepe  eum  in  senatu  modo  severe 
seducerent  ad  fam.  I,  9,  19.  inspectante  et  tacente  te  ad  Attic.  III,  15,  7. 
inspectante  Urbe  ad  Attic.  lY,  3,  2.  quod  utinam  inspectare  possis  timorem 
de  illo  meum  ad  Brut.  I,  4,  5.  Die  Bedeutung  ist  wohl  kaum  intensiv 
aufzufassen. 

c)  prospecto:  tanquam  avis  illa,  mare  prospecto  ad  Attic.  IX,  10,  2, 
wahrscheinlich  intensiv  zu  verstehen :  mit  Erwartung  oder  Sehnsucht  hin- 
schauen. 

4.  assentor:  mihi  ipse  assentor  fortasse  ad  fam.  in,  11,  2.  nisi  forte 
te  amant  et  tibi  assentantur  ad  fam.  IX,  12,  1.  non  sum  veritus,  ne 
viderer  assentari  ad  Attic.  VIII,  9,  1.  An  den  beiden  letzten  Stellen  ist 
die  Bedeutung  der  Schmeichelei  ganz  klar  zu  erkennen.  Dies  ist  denn 
wohl  auch  der  Grund,  weshalb  assentari  statt  des  einfachen  assentior  (wie 
es  sich  z.  B.  ad  Attic.  IV,  10,  2  und  XIV,  19,  1  findet)  oder  auch  assentio 
(s.  ad  Quint.  fratr.  II,  1,  2.   13,  1;  ad  Attic.  II,  1,  8)  gebraucht  ist. 

5.  canto:  Pamphilam  cantatum  provocemus  ad  fam.  I,  9,  19  in  einer 
Anführung  aus  dem  Eunuch  des  Terenz,  jedenfalls  in  einer  Art  von  inten- 
sivem Sinne.  —  Davon  findet  sich  das  Compositum 

5*.  decanto:  etenim  haec  decantata  erat  fahula,  ad  Attic.  XIII,  34, 
wo  die  Verstärkung  der  Bedeutung  sogleich  in  die  Augen  springt. 

6.  capto:  (adventu  meo)  quem  non  mediocriter  captahat  ad  fam.  X, 
23,  2  und  nomen  imperatorium  captans  ad  fam.  XI,  4,  1.  Die  Bedeutung 
ist  ohne  Zweifel  „zu  erreichen  suchen,  nach  etwas  haschen".  —  Dazu  ge- 
hört das  Compositum 

6*.  discepto:  postquam  armis  disceptari  coeptum  sit  de  iure  puhlico 
ad  fam.  IV,  4,  3.  (videbam)  quanto  periculo  de  iure  publice  disceptaretur 
armis  ad  fam.  IV,  4,  2.  (dolebam)  pilis  et  gladiis  non  consiliis  neque 
auctoritatibus  nostris  de  iure  publico  disceptari  ad  fam.  VI,  1,  5.  quam- 
quam  in  uno  praelio  omnis  fortuna  reipublicae  disceptat  ad  fam.  X,  10, 1.  (ut) 
Graeci  inter  se  disceptent  suis  legibus  ad  Attic.  VI,  1,  15.  illi  armis  dis- 
ceptari maluerunt  ad  Attic.  VIII,  11,  8.  —  An  allen  6  Stellen  scheint  die 
Bedeutung  genau  die  nämliche  „verhandeln,  betreiben",  mit  zweifellos 
intensivem  Sinne. 

6.  circumgesto  (während  das  einfache  gesto  fehlt) :  eam  quoque  episto- 
lam  T.  Catienus  circumgestat  ad  Quint.  fratr.  I,  2,  6,  sicherlich  in  der 
Bedeutung:  „mit  aller  Absicht  oder  aller  Gewalt  herumtragen". 

8.  Von  cito  finden  sich  folgende  Zusammensetzungen: 

8\  concito:  quam  expectationem  tui  concitasti  ad  fam.  11,  1,  2.    (ne 


154  R.  J0MA8 

populus  quidem  solet)  nisi  concitatus  ad  fam.  IX,  8,  1.  non  modo  nationes 
sed  etiam  servitia  concitaturum  ad  fam.  X,  33,  4.  adeo  esse  militum  con- 
citatos  animos  et  plebis  ad  fam.  XI,  1,  1.  cum  magnum  bellum  in  Cap- 
padocia  concitaretur  ad  fam.  XV,  4,  6.  qui  etiam  privatus  eadem  manu 
potent  conciones  concitare  ad  Quint.  fratr.  I,  4,  3.  Die  Bedeutung  ist,  wie 
auch  sonst:  „in  Erregung  versetzen,  anreizen,  beschleunigen,  zusammen- 
bringen", ein  intensiver  Sinn  ist  kaum  zu  erkennen. 

8^.  excito  findet  sich  29  Mal,  12  Mal  in  den  Briefen  ad  familiäres, 
4  Mal  in  denen  ad  Quintum  fratrem,  10  Mal  in  denen  ad  Atticum,  3  Mal 
ad  Brutum.  —  Hinsichtlich  der  Bedeutung  ist  nichts  zu  bemerken. 

8°.  incito  findet  sich  27  Mal  (10  Mal  in  den  Briefen  ad  familiäres, 
4  Mal  ad  Quintum  fratrem,  10  Mal  in  denen  ad  Atticum,  3  Mal  in  denen 
ad  Brutum).  Auch  die  Bedeutung  dieses  Verbums  zeigt  keine  wesentn 
liehe  Verstärkung. 

8^.  suscito  findet  sich  einmal :  ut  bellum  civile  suscitare  vellemus  ad 
fam.  XI,  3,  3.  Es  bedeutet  „erregen",  ohne  dass  eine  Steigerung  des  Sinnes 
hervorträte. 

9.  commenior:  ut  ante  commentemur  inter  nos  ad  fam.  IV,  6,  3.  qui 
multos  annos  nihil  aliud  commentaris  ad  fam.  VII,  1,  5.  cum  in  villa 
Metelli  complures  dies  commentatus  esset  ad  fam.  XII,  2,  1.  diu  et  multis 
lucubrationibus  commentata  oratione  ad  fam.  XVI,  26,  1.  ^soeig  meas 
commentari  non  desino  ad  Attic.  IX,  9,  1.  Während  an  4  Stellen  das 
Deponens  gebraucht  wird,  steht  an  einer  das  Partizip  commentatus  passivisch 
(commentata  oratione).  Das  Verbum  bedeutet:  mit  Anstrengung  oder  Eifer 
aussinnen,  überdenken,  ist  also  intensiv  gebraucht. 

10.  confiicto:  noli  pati  litigare  fratres  et  iudiciis  turpibus  conflictari 
ad  fam.  IX,  25,  3.  (fortunam)  qua  illi  florentissima,  nos  duriore  conflictati 
videmur  ad  Attic.  X,  4,  4.  ego  huius  miserrimae  fatuitate  confectus  con- 
flictor  ad  Attic.  XI,  25,  3.  Die  Bedeutung  „stark  mitnehmen,  bedrängen, 
in  Gefahr  gebracht  werden"  ist  ohne  Zweifel  verstärkt  dem  einfachen  con- 
fligere  gegenüber. 

11.  Von  sector,  welches  sich  selbst  nicht  findet,  lesen  wir  die  Com- 
posita 

11*.  consector:  (ut)  per  hanc  speciem  simultatis  eum  consectarer  ad 
fam.  VIII,  12,  2.  Fufium  clamoribus  et  conviciis  et  sibilis  consectantur  ad 
Attic.  II,  18,  1.  qui  non  debita  consectari  soleant  ad  Attic.  XIII,  23,  3. 
Die  Bedeutung  „eifrig  verfolgen,  zu  erreichen  streben"  hat  einen  inten- 
siven Anstrich. 

11^  insector:  quo  modo  sum  insectatus  levitatem  senum  ad  Attic.  I, 
16,  1.    insectandis  ....  exagitandisque  nummariis  iudicibus  ad  Attic.  I 


über  den  Gebrauch  der  verba  frequentativa  und  intens! va  in  Ciceros  Briefen.    155 

16,  8.  quam  eius  iniuriam  non  insector  ad  Attic.  V,  17,  6.  audaciam  im- 
proborum  insectemur  ad  Attic.  X,  1,  4.  non  te  insectatum  esse  —  ami- 
cos  paternos  ad  Attic.  XIV,  12,  2.  non  esse  insectandos  inimicorum  amicos 
ad  Attic.  XIV,  13,  3.  ut  insectarer  Antonios  ad  Brut  I,  2,  5.  miseroram 
fortunam  non  insectari  ad  Brut.  I,  4,  2.  desinat  igitur  gloriando  etiam 
insectari  dolores  nostros  ad  Brut.  I,  17,  5.  Auch  dies  Verbum  ist,  wenn 
auch  nicht  überall  in  der  nämlichen  Bedeutung,  so  doch  jedenfalls  immer 
intensiv  gebraucht. 

12.  consulto:  consultabat,  utrum  Romam proficisceretur  an  Ca- 

puam  teneret  ad  Attic.  XVI,  8,  2.  Es  ist  absolut  gebraucht  und  hat  den 
intensiven  Sinn  „genau  überlegen,  mit  sich  zu  Kate  gehen". 

13.  diclo:  parvula  lippitudine  adductus  sum,  ut  dictarem  hanc  epistu- 
lam  ad  Quint.  fratr.  ü,  2,  1.  hoc  inter  cenam  Tironi  dictavi  ad  Quint. 
fratr.  EI,  1,  19.  haec  dictavi  ambulans  ad  Attic.  11,  23,  1.  hanc  epistulam 
dictavi  sedens  in  rheda  ad  Attic.  V,  17,  1.  dictavi  propter  lippitudinem 
ad  Attic.  VII,  13^,  7.  alteram  tibi  eodem  die  hanc  epistulam  dictavi  ad 
Attic.  X,  3\  1.  Tironi  dictare  ad  Attic.  XIII,  9,  1.  at  ego  ne  Tironi  quidem 
dictavi  ad  Attic.  XEI,  25,  3.  haec  scripsi  seu  dictavi  ad  Attic.  XIV,  20,  4. 
Die  Bedeutung  ist  überall  die  nämliche :  „diktieren".  Eine  Art  von  Steige- 
rung des  einfachen  dicere  liegt  wohl  darin,  wenn  auch  das  eigentliche 
intensivum  dazu  das  bereits  oben  genannte  dictare  ist. 

14.  Zu  dem  nicht  vorkommenden  salto  gehört  das  Compositum 
14''.  exsulto:  alacris  exsultat  improbitas  in  victoria  ad  Attic.  I,  16,  7. 

Graeci  vero  exsultant  ad  Attic.  VI,  1,  15.  lepta  tua  epistola  gaudio  exsultat 
ad  Attic.  VI,  1,  22.  quomodo  exsultat  Catonis  in  me  ingratissimi  iniuria 
ad  Attic.  Vn,  2,  7.  exsultant  laetitia  in  municipiis  ad  Attic.  XIV,  6,  2. 
Q.  pater  exsultat  laetitia  ad  Attic.  XV,  21, 1.  Eine  Steigerung  der  Bedeutung 
des  nur  in  übertragenem  Sinne  angewendeten  Verbums  ist  wohl  anzu- 
nehmen. 

15.  iacto:  clamore  convicioque  iactatus  est  ad  fam.  1,5^1.  haec  in- 
certa  . . .  vulgo  iactantur  ad  fam.  VIII,  1,  4.  legem que  viariam  ...  et  ali- 
mentariam  . . .  iactavit  ad  fam.  VIII,  6,  5.  Curionem  video  se  dupliciter 
iactaturum  ad  fam.  VIII,  10,  3.  (nostrum  tempus)  . .  .  forensi  labore  iactari 
ad  Quint.  fratr.  III,  5^  4.  tametsi  iactat  ille  quidem  illud  tuum  arbitri- 
um  ad  Attic.  I,  11,  1.    nunc  vides,  quibus  fluctibus  iactemur  ad  Attic. 

I,  18,  8.  (cum)  in  eoque  se  in  concione  iactasset  ad  Attic.  II,  1,  5.  ne 
de  istis  quidem  piscinarum  Tritonibus  poterit  se  iactare  ad  Attic.  II,  9,  1. 
qui  antea  solitus  esset  iactare  se  magnificentissime  illo  in  loco  ad  Attic. 

II,  21,  3.  Syriam  spernens,  Hispaniam  iactans  ad  Attic.  VI,  11,  1.  sin 
iactor,  eo  minus  ad  Attic.  XI,  16,  3.    quia  non  omnibus  horis  iactamus 


156  R.  Jonas 

Idus  Martias  ad  Brut.  1,17,1.  —  Wir  haben  absichtlich  alle  Stellen 
wörtlich  hierher  gesetzt,  damit  man  die  Bedeutung  klar  erkennen  kann. 
Diese  ist  nun  niemals  die  eigentliche,  sondern  immer  eine  übertragene; 
mehrfach  ist  es  soviel  wie:  „mit  etwas  prahlen,  oft  und  laut  von  etwas 
sprechen,  etwas  im  Munde  führen".  Eine  Steigerung  des  Sinnes  ist  zweifel- 
los. —  Dazu  gehört  das  Compositum 

15*.  coniecto:  mihi  quidem  ex  tuis  litteris  conjectanti  ita  videbatur 
ad  Attic.  XI Y,  10,  2  =  „vermuten,  aus  etwas  entnehmen".  Eine  Ver- 
stärkung des  Sinnes  ist  nicht  recht  zu  erkennen. 

16.  labefacto:  hanc  nostram  tanti  et  tarn  praeclari  muneris  socie- 
tatem  a  tuis  propinquis  labefactatam  ad  fam.  V,  2,  1.  (cogitatio)  . . .  erat 
aliquantum  labefactata  atque  convulsa  ad  fam.  V,  13,  12.  nee  vero  postea 
destiti  labefactare  eum  ad  fam.  XII,  25,  2.  hoc  genere  cognitionum  labe- 
factato  ad  Attic.  XVI,  16^  3.  An  allen  4  Stellen  haben  wir  übertragene 
Bedeutung.    Etwas  Intensives  merkt  man  dem  Verbum  kaum  an. 

17.  nato:  (qui)  neque  in  Oceano  natare  volueris,  studiosissimus  homo 
natandi  ad  fam.  VII,  10,  2.  (erit  honestius)  videri  venisse  in  illa  loca 
ploratum  potius  quam  natatum  ad  fam.  IX,  2,  5.  —  Die  erstere  Stelle 
zeigt  das  Verbum  in  eigentlicher,  die  letztere  in  übertragener  Bedeutung 
(=  wanken,  schwanken?)  Eine  Verstärkung  des  Sinnes  bemerkt  man 
nicht.    Es  ist  wohl  eben  nur  das  einfache  nare  ungewöhnlich. 

18.  obtento:  spes  quaedam  me  obtentabat  ad  Attic.  IX,  10,  3.  Man 
liest  jetzt  allerdings  an  dieser  Stelle  oblectabat  (so  bei  Baiter  und  Kayser) ; 
obtentare  würde  heissen  „aufrecht  erhalten".  —  Hierher  gehören  auch: 

18*.  ostento:  quid  enim  .  . .  me  ostentem  ad  fam.  I,  4,  3.  cuius  exitus 
ex  altera  parte  caedem  ostentat  ex  altera  servitutem  ad  fam.  IV,  14,  1. 
ostentavi  tibi,  me  istis  esse  familiärem  ad  fam.  IX,  6,  2.  (clientelis)  quas 
ostentare  crebro  solebat  ad  fam.  IX,  9,  2.  ut  potius  amorem  tibi  osten- 
derem  meum  quam  ostentarem  prudentiam  ad  fam.  X,  3,  4.  ut  sparte 
iugula  sua  pro  meo  capite  P.  Clodio  ostentarint  ad  Attic.  1, 16,  4.  ceteris 
prae  se  fert  et  ostentat  ad  Attic.  II,  23,  3.  Ganz  deutlich  zu  unterscheiden 
sind  die  beiden  Bedeutungen  „zeigen,  in  Aussicht  stellen"  und  „mit  etwas 
prahlen".    Bisweilen  bemerkt  man  eine  gewisse  Intensität. 

18^  pertento:  perspice  rem  et  pertenta  ad  Quint.  fratr.  I,  4,  5  = 
durchforschen,  gründlich  prüfen  (mit  intensivem  Sinne). 

18^  sustento  findet  sich  im  ganzen  an  27  Stellen  (9  Mal  in  den 
Briefen  ad  fam.,  3  Mal  in  denen  ad  Quint.  fratr.,  15  Mal  in  denen  ad 
Atticum).  Die  (etwas  intensive)  Bedeutung  ist  fast  durchweg  übertragen : 
„aufrecht  erhalten",  wie  z.  B.  sustenta  te,  mea  Terentia,  ut  potes  ad  fam. 


über  den  Gebrauch  der  verba  frequentativa  und  intensiva  in  Ciceros  Briefen.    157 

XIV,  4,  5.  Terentiam  . . .  sustentes  tuis  officiis  ad  Attic.  in,  23,  5.  Das  ein- 
fache sustinebimus  nos  ad  Attic.  III,  9, 2  ist  davon  nicht  viel  verschieden. 

19.  occulto:  sed  haec  occultabis  ad  Quint  fratr.  1,3,8.  (petis,  ut) 
ad  te,  nihil  occultans,  . . .  rescribam  ad  Quint.  fratr.  ü,  15^2.  aculeos 
omnes  et  scrupulos  occultabo  ad  Attic.  I,  18, 2.  in  quo  ipso  multa  oc- 
cultant  tuae  litterae  ad  Attic.  in,  15,  6.  occultatam  putant  quodam  tem- 
pore istam  tabulam  ad  Attic.  VI,  1, 8.  occultandi  sui  causa  ad  Attic. 
Vni,  14,  3.  nihil  occultavit  ad  Attic.  X,  4,  8.  cum  paucissimis  alicubi 
occultabor  ad  Attic.  X,  10,  3.  sed  seponi  et  occultari  possunt  ad  Attic. 
XI,  24,  2.  (rem)  non  divulgandam  potius  quam  occultandam  putaremus 
ad  Brut.  II,  6,  2.  Das  Wort  soll  doch  wohl  heissen :  „geflissentlich  ver- 
bergen". 

20.  tracto  findet  sich  im  ganzen  41  Mal  (23  Mal  in  den  Briefen  ad 
familiäres,  3  Mal  in  denen  ad  Quintum  fratrem,  15  Mal  in  denen  ad 
Atticum).  Das  Bewusstsein,  dass  dies  Verbum  ursprünglich  intensiv  ge- 
wesen ist,  war  wohl  schon  lange  geschwunden.  Die  Bedeutung  ist  die 
bekannte  (behandeln).    Dazu  gehört  nun  das  Compositum 

20*.  retracio:  augemus  enim  dolorem  retractando  ad  Attic.  Vm,  9,  3 
(=  wieder  behandeln,  sich  wieder  damit  beschäftigen). 

21.  tutor:  te  tuamque  causam  tutatus  sum  ad  fam.  V,  17,  2.  Das 
nur  an  dieser  einen  Stelle  vorkommende  Verbum  zeigt  eine  gewisse  Ver- 
stärkung der  Bedeutung. 

22.  voluto:  cum  omnes  in  omni  genere  et  scelerum  et  flagitiorum 
volutentur  ad  fam.  IX,  3,  1.  Itaque  ad  Callisthenem  et  ad  Philistum 
redeo,  in  quibus  te  video  volutatum  ad  Quint.  fratr.  II,  13,  4. 

Ein  intensiver  Sinn  liegt  in  dem  Wort  an  beiden  Stellen.  An  der 
ersteren  heisst  es  (in  übertragener  Bedeutung)  „sich  wälzen  in . . ." 
ähnlich,  wie  wir  es  auch  im  Deutschen  brauchen,  an  der  letzteren  ist 
es  wohl  soviel  wie  „sich  eingehend  mit  etwas  beschäftigen".  Dazu  gehört 
das  Compositum 

22*.  pervoluto:  quoniam  meos  cum  Thallumeto  nostro  pervolutas 
libros  ad  Attic.  V,  12,  2,  ganz  sicher  in  intensivem  Sinne  zu  verstehen 
(==  herumrollen,  aufschlagen;  auch  wir  im  Deutschen  sagen  übrigens 
„Bücher  wälzen**.) 

in.  Die  mit  dem  Suffix  —  so  gebildeten  Verba. 

P  1.  amplexor:  quod  inimicum  meum  ...  sie  amplexabatur  ad  fam. 

I,  9, 10.    (ut . .  .  eum)   familiariter   atque   hilare   amplexarentur  ad  fam. 

I,  9, 19.    quo  genere  commotus   (ut  dixit)  Appius  totum  me  amplexatur 

ad  Quint.  fratr.  11,  12,  3.   quo  magis  amplexetur  et  tueatur  iudicium  suum 


158  R.  Jonas 

ad  Brut.  I,  12,  2.  Das  Verbum  zeigt  (vielleicht  mit  Ausnahme  der  dritten 
Stelle)  übertragene  Bedeutung,  namentlich  an  der  letzten  Stelle.  Eine 
Steigerung  des  Sinnes  ist  nicht  zu  verkennen. 

2.  cesso  findet  sich  an  13  Stellen  (ad  fam.  V,  12,  10.  X,  33,5.  Xu, 
20.  ad  Quint.  fratr.  I,  4.  5.  11,  2,  2.  10,4.  III,  1,  14.  5—6,  1.  ad  Attic. 
II,  6,  1.  7,  1.  V,  15,  1.  X,  11,  2.  Xm,  13,  2).  Die  Bedeutung  ist  überall: 
„weichen,  zögern",  ohne  dass  gerade  eine  besondere  Verstärkung  des 
Sinnes  zu  bemerken  wäre. 

3.  Von  dem  nicht  vorkommenden  })enso  finden  sich  folgende  beiden 
Composita : 

3*.  compenso:  vix  ullo  otio  compensandam  hanc  reipublicae  turpitu- 
dinem  ad  Attic.  VII,  18,  2.  Die  Bedeutung  ist:  „ausgleichen",  ohne  dass 
man  eine  Verstärkung  darin  bemerken  könnte. 

3^  dispenso:  (res)  qui  eas  dispensavit  ad  Attic.  XI,  1,  i.  Das  Ver- 
bum soll  hier  wohl  heissen  „verwalten,  besorgen".  Auch  hier  ist  eine 
intensive  Bedeutung  nicht  zu  bemerken. 

4.  curso :  (ne)  ....  cursem  huc  illuc  via  deterrima  ad  Attic.  IX,  9,  2. 
qui  cum  lictoribus  invitus  cursarem  ad  Attic.  X,  10, 1.  Unzweifelhaft 
soll  es  bedeuten  „hin-  und  herlaufen",  so  dass  man  sehr  wohl  einen 
frequentativen  oder  intensiven  Sinn  darin  findet 

Dazu  gehören  die  Zusammensetzungen: 

4*.  concurso:  (ut)  mecum  simul  lecticula  concursare  possis  ad  fam. 
VII,  1,  5.  concursabant  barbatuli  iuvenes  ad  Attic.  1, 14,5  =  „hierhin  und 
dorthin  laufen"  in  sicherlich  intensivem  Sinne. 

4^  incurso:  incursabit  in  te  dolor  mens  ad  Attic.  11,41,2.  Das 
Wort  steht  hier  in  übertragenem  Sinne,  =  „befallen",  sicherlich  intensiv. 

5.  prenso:  prensat  unus  P.  Galba  ad  Attic.  I,  1,1.  nos  autem  ini- 
tium  prensandi  facere  cogitaramus  eo  ipso  die  ad  Attic.  I,  1,  i.  Es  be- 
deutet „zu  erreichen,  zu  erlangen  streben"  sicherlich  im  Vergleich  zu 
dem  einfachen  prehendere  mit  verstärktem  Sinne. 

6.  pulso  findet  sich  nicht,  hingegen  die  Zusammensetzung 

6*.  propulso:  (civem)  ad  haec,  quae  timentur,  propulsanda  paratissi- 
mum  ad  Attic.  V,  7.  ad  inopiam  propulsandam  ad  Attic.  XI,  23, 3.  Der 
Sirin  des  Wortes  ist,  wie  auch  sonst,  „abwehren";  eine  Verstärkung  ist 
unverkennbar. 

7.  versor  kommt  40  Mal  vor,  von  denen  21  auf  die  Epistulae  ad 
fam.  entfallen,  4  auf  die  ad  Quintum  fratrem,  14  auf  die  ad  Atticum, 
1  auf  die  ad  Brutum.  —  Die  Bedeutung  ist  dieselbe  wie  auch  sonst: 
„sich  aufhalten,  sich  bewegen,  sich  befinden,  sich  mit  einer  Sache  be- 
schäftigen".    Der  intensiven  Bildung  versari  scheint  mir  das  einfache 


über  den  Gebrauch  der  verba  frequentativa  und  intensiva  in  Ciceros  Briefen.    159 

verti  nahe  zu  kommeD,  wie  es  ad  Attic.  YIII,  14, 1  steht:  Bmndisii  autem 
omne  certamen  vertitur  huius  primi  temporis. 

Dazu  gehören  die  Zusammensetzungen 

7*  adversorx  perpaucis  adversantibus  ad  fam.  I,  7, 10.  (Milone)  ad- 
versante  interdum  actionibus  suis  ad  fam.  III,  10, 10  und  ausserdem  noch 
an  7  Stellen,  nämlich  ad  fam.  VI,  1, 5.  ad  Quintum  fratrem  I,  1,  32.  4,  3. 
ad  Attic.  I,  19,  4.  IL  18, 1.  III,  18, 1.  X,  8, 4.  —  Die  Bedeutung  ist  der  auch 
sonst  üblichen  (widerstreben,  sich  widersetzen)  durchaus  gleich,  immer  mit 
einem  intensiven  Anfluge. 

7''.  deversor:  (invito  eum)  .  . . .  ut  apud  me  deversetur  ad  Attic.  XÜI, 
2,  2,  wie  auch  sonst  in  der  Bedeutung  „einkehren,  absteigen"  ohne  merk- 
lich intensiven  Sinn. 

7^  tergiversor:  non  est  locus  ad  tergiversandum  ad  Attic.  VII,  1,  4. 
an  cuncter  et  tergiverser  ad  Attic.  YII,  12,  3.  illum  valde  morari,  non  tergi- 
versantem  sed  exspectantem  ad  Attic.  XVI,  5,  3.  —  Die  Bedeutung  ist 
an  allen  3  Stellen  übertragen  (zögern ,  Ausflüchte  machen).  Ob  sie  in- 
tensiv zu  fassen  ist,  muss  mindestens  zweifelhaft  bleiben. 


Ausser  diesen  frequentativen  und  intensiven  Verben  bieten  Ciceros 
Briefe  auch  eine  Anzahl  Nomina  derselben  Bildung,  die  zu  betrachten 
nicht  ohne  Interesse  ist.  Wir  führen  auch  diese  nach  der  Buchstaben- 
folge auf. 

1.  agitator:  ut  bonu'  saepe  agitator  ad  Attic.  XITT,  21,  3,  findet  sich 
in  einem  daselbst  angeführten  Verse.  =  Treiber,  Lenker.   Zu  agito  gehörig. 

2.  assentatio,  von  assentari:  ea  tu  sine "  assentatione ,  ut  erant,  ad 
me  scripsisti  ad  fam.  XVI,  27, 1.  diuturna  Servitute  ad  nimiam  assenta- 
tionem  eruditi  ad  Quint.  fratrem  1,1,16.  pertaesum  est  levitatis,  assen- 
tationis  ad  Quint.  fratr.  I,  2, 4.  quam  enim  turpis  est  assentatio  ad  Attic. 
XIII,  28, 2.    Es  bedeutet  „Schmeichelei"  mit  entschieden  intensivem  Sinne. 

Dazu  gehört 

3.  assentator:  (qui)  eos,  qui  laudent,  assentatores  arbitrere  ad  fam. 
V,  12,6.  =  der  Schmeichler.  (VergL  auch:  non  assentatorie  sed  fraterne 
Veto  ad  Quint.  fratr.  II,  15^  3). 

4.  cessatio,  zu  cessare:  (ne)  nostra  nobiscum  aut  inter  nos  cessatio 
vituperetur  ad  fam.  IX,  3, 1.  ne  furtum  cessationis  quaesivisse  videaris 
ad  fam.  XVI,  26, 2.  mirificam  mihi  verberationem  cessationis  epistula 
dedisti  ad  fam.  XVI,  27, 1.  Die  Bedeutung  ist :  „Unterlassung,  Zögerung" 
ohne  hervorstechend  intensiven  Sinn.    Dasselbe  ungefähr  gilt  von 

5  cessaior:  non  quo  cessator  esse  solerem  ad  fam.  IX,  17,  3.  cessa- 
tor  esse  noli  ad  Quint.  fratr.  III,  5 — 6,  7. 


160  R.  Jonas 

6.  commentatiOf  von  commentari,  auch  in  der  Bedeutung  aus  dem 
Verbum  heraus  zu  erklären,  findet  sich  zweimal :  commentationem  causarum 
abiecimus  ad  fam.  IX,  20, 1.  quae  autem  in  lustris  et  in  vino  commentatio 
potuit  esse?  ad  fam.  Xu,  2,  1. 

7.  concitatio,  zu  concito:  quae  concitatio  multitudinis  ad  fam.  XTV, 
13.  nullae  tuae  vehementiores  animi  concitationes  ad  Quint.  fratr.  I,  1,39. 
(=  Erregung,  Aufregung,  in  verstärktem  Sinne). 

8.  concursatiOi  von  concurso  abgeleitet:  Libonis  et  Hypsaei  non 
obscura  concursatio  ad  fam.  I,  1,  3.  fratrem  meum  assiduis  laboribus  con- 
cursationibusque  confectum  ad  fam.  X,  1 7,  2,  in  der  Bedeutung  seinem 
Stammwort  entsprechend. 

9.  consultatio  (consulto):  quid  respondeant  consultationi  meae  ad 
Attic.  VIII,  4,  3.  in  his  ego  me  consultationibus  exercens  ad  Attic.  IX,  4,  3. 
venio  nunc  ad  consultationem  tuam  ad  Attic.  IX,  4,  4.  Es  heisst  „Beratung, 
Befragung,  Anfrage",  wobei  ein  intensiver  Sinn  nicht  ausgeschlossen  ist 

10.  disceptatio  (discepto):  neque  disceptatione  sed  vi  atque  impres- 
sione  evertere  ad  fam.  V,  2,  8,  ganz  der  vorhin  besprochenen  Bedeutung 
von  discepto  entsprechend.  —  Dazu  gehört 

11.  disceptator:  (ut  Omnibus  in  rebus)  —  te  disceptatore  uterentur 
ad  fam.  XIII,  26,  2,  wohl  am  besten  mit  „Schiedsrichter"  zu  übersetzen. 

12.  dispensatio  (dispenso):  profectionem  meam Erotis  dispensa- 

tio  impedit  ad  Attic.  XV,  15,  3,  der  Bedeutung  des  Verbums  entsprechend 
etwa  mit  „Verwaltungsamt,  Verwaltung"  wiederzugeben,  ohne  inten- 
siven Sinn. 

13.  ewercitatio  (exercito):  studiis  et  exercitationibus  ad  fam.  I,  9,  24. 
(nullam  artem)  sine  aliqua  exercitatione  percipi  posse  ad  fam.  VH,  19. 
exercitatione  consequere  ad  fam.  VII,  19.  intermissis  exercitationibus  ad 
fam.  IX,  18,  3.  nisi  me  ad  has  exercitationes  retulissem  ad  fam.  IX,  18,  3. 
Die  Bedeutung,  zu  der  von  exercito  stimmend,  ist  wohl  durchweg:  „ein- 
dringliche Übung". 

14.  haesitatio  (während  haesito  nicht  in  Ciceros  Briefen  vorkommt): 
noli  ignoscere  haesitationi  meae  ad  fam.  III,  12,  2  (=  Zaudern,  Schwanken). 

15.  iactatio  (iacto):  nonnullorum  hominum  insolentiam  et  iactationem 
ferre  non  potes  ad  fam.  VIII,  16,  5.  iactatione  verborum  et  denuntiatione 
periculi  ad  fam.  XI,  20,  2.  nonnullorum  hominum  insolentiam  et  iacta- 
tionem ferre  non  potes  ad  Attic.  X,  10,  5.  Die  Bedeutung  ist  an  allen 
3  Stellen  „Prahlerei"  mit  dem  von  dem  Verbum  iactare  bekannten  ver- 
stärkten Sinne. 

16.  insectatio  (insector):  tanta  est  hominum  insolentia  et  nostri  in- 
sectatio  ad  fam.  XI,  1,  2  (=  starke  Verfolgung). 


über  den  Gebrauch  der  verba  frequentativa  und  intensiva  in  Cicero s  Briefen.    161 

17.  ostentatio  (ostento):  multorum  annorum  ostentationes  meas  nunc 
in  discrimen  esse  adduotas  ad  Attic.  V,  13,  %  bedeutet  „Prahlerei,  Gross- 
sprecherei". 

18.  pollicitatio  (von  dem  sich  in  Ciceros  Briefen  nicht  findenden  polli- 

citor) :   cum  ad  se  initio  belli  arcessisset  Antonius  hac  poUicitatione 

ad  fam.  X,  32,  4.  non  destitit  litteris  atque  infinitis  pollicitationibus  instare 
ad  fam.  X,  33,  4,  an  beiden  Stellen  in  zweifellos  intensivem  Sinne. 

19.  prensatio  (prenso):  non  aliena  rationi  nostrae  fuit  illius  haec 
praepropera  prensatio  ad  Attic.  I,  1,  1,  ganz  genau  in  demselben  Sinne  wie 
an  der  nämlichen  Stelle  das  Yerbum  prenso. 

20.  retractatio  (retracto):  sine  ulla  dubitatione  aut  retractatione  ad 
Attic.  Xni,  25,  1,  hier,  nicht  entsprechend  dem  Verbum  rectracto,  etwa 
mit  „Verzögerung,  Weigerung"  zu  übertragen,  ohne  Ausschluss  einer  Ver- 
stärkung des  Sinnes. 

21.  tergiversatio  (tergiversor) :  tergiversationem  istam  probo  ad  Attic.  X, 
7,  1,  in  der  Bedeutung  dem  Vrrbum  durchaus  ähnlich. 

22.  usitatus  (von  dem  in  den  Briefen  Ciceros  nicht  vorkommenden 
usito  abgeleitet) :  genus  litterarum  usitatum  ad  fam.  IV,  13,  1.  non  solum 
enim  usitatum  sed  etiam  cotidianum  est  ad  Brut.  I,  16, 1.  Die  bekannte 
Bedeutung  dieses  Wortes  ist  sicher  intensiv  zu  fassen,  ebenso: 

22*.  inusitatits:  tolle  inusitatas  (litteras)  ad  Quint.  fratr.  I,  2,  8.  tam 
absurde  et  inusitate  scriptarum  (litterarum)  ad  Quint.  fratr.  I,  2,  9.  inu- 
sitata  ac  nova  ad  Attic.  III,  24,  2. 

Von  Hause  aus  frequentativer  Bildung  sind  auch  oblectatio  (oblecto) 
s.  ad  Attic.  IV,  10,  1.  obtrectatio  (obtrecto),  s.  ad  fam.  V,  9,  1.  X,  8,  7. 
ad  Quint.  fratr.  I,  1,  43,  und  obtrectator  (s.  ad  fam.  I,  4,  2.  V,  9,  1.  VHI, 
4,  4.  X,  11,  1.  ad  Quint.  fratr.  I,  4,  3.  II,  2,  3.  3,  4),  aber  bei  diesen  wie 
bei  so  vielen  anderen  Verben  ist  das  Bewusstsein  der  ursprünglichen  Ablei- 
tung ganz  geschwunden.  So  haben  wir  auch  das  Verbum  obtrecto  (s.  ad 
fam.  IX,  11,  2.    ad  Attic.  m,  26)  in  unsere  Reihe  nicht  aufgenommen. 


Fassen  wir  das  Ergebnis  unserer  kleinen  Untersuchung  kurz  zusam- 
men, so  finden  sich  in  den  Briefen  Ciceros  18  Frequentativa  auf  -itOy  28  auf 
-to,  13  auf  'SO  (wenn  man  alle  Composita  besonders  zählt),  demnach  im 
ganzen  59  (unter  Ausschluss  aller  derjenigen  Bildungen,  bei  welchen  uns 
der  frequentative  Charakter  nicht  mehr  so  recht  deutlich  vorschwebt.) 
Eine  besondere  Vorliebe  für  diese  Gattung  von  Verben  zeigt  uns  die  in 
den  Briefen  angewendete  Umgangssprache,  die  ja  sonst  manche  Eigen- 
tümlichkeiten namentlich  hinsichtlich  des  Wortschatzes  hat,  nicht.     Im 

ganzen  hatten  wir  uns  eine  reichere  Ausbeute  versprochen.    Aber  es  ist 

11 


162  R.  Jonas,  Über  d.  Gebrauch  d.  verba  freqnentativa  u.  intens! va  in  Ciceros  Briefen. 

gewiss  auch  das  von  uns  gewonnene  Ergebnis  nicht  ohne  Interesse.  Auch 
die  23  in  den  Briefen  nachgewiesenen  Nomina  frequentativer  Ableitung 
beweisen  durchaus  nicht  eine  Voriiebe  für  diese  Bildungen. 

Was  die  Bedeutung  anlangt,  so  zeigten  unsere  Untersuchungen,  dass 
die  Bezeichnung  frequentativa  eigentlich  nur  in  den  seltensten  Fällen  zu- 
trifft. Bei  einem  Verbum  wie  curso  ist  sie  am  Platze,  denn  wir  haben 
hier  zu  verstehen:  ein  Hin-  und  Herlaufen,  also  ein  häufiges  Laufen. 
Ähnlich  verhält  es  sich  mit  einigen  wenigen  anderen  Verben.  Viel  häu- 
figer ist  die  Bezeichnung  intensiva  anwendbar,  denn  oftmals  soll  diese 
Bildung  eine  Verstärkung  der  Bedeutung  angeben.  In  vielen  Fällen 
tritt  aber  noch  etwas  anderes  ein :  die  Bedeutung  gewinnt  durch  die  inten- 
sive Bildung  eine  gewisse  Prägnanz;  man  erinnere  sich  z.B.  an  iacto, 
ostento,  in  denen  die  Nebenbedeutung  der  Prahlerei  ersichtlich  ist,  u.  a.  m. 


VIII. 
Beobachtungen  über  den  Partikelgebraoch  Lncians. 

Ein  Beitrag  zur  Frage  nach  der  Echtheit  und  Reihenfolge  einiger  seiner  Schriften. 

Von 

Arthur  Joost  (Lötzen). 

Beim  Studium  Lucians  und  der  Litteratur  über  ihn  und  seine  Schriften 
ist  man  zunächst  erstaunt  über  die  auffallend  grosse  Meinungsverschieden- 
heit bezüglich  der  Echtheitsfrage.  „Omnino  hoc  crilicae  genus'%  sagt 
Fritzsche  (Fr.),  wohl  der  beste  Kenner  Lucians,  leider  durch  den  Tod 
an  der  Vollendung  seiner  grossen  Ausgabe  gehindert,  „tatn  difficile  est 
tamque  ambiguumy  ut  non  modo  summi  viri  crebro  inier  se  dissentiant, 
verum  etiam  eidem  interdum  addito  tempore  ab  semet  ipsis  deßciaiit  atque 
desciscantj'  Und  so  hat  von  den  drei  andern  bedeutenderen  Herausgebern 
Lucians  von  82  unter  seinem  Namen  gehenden  Schriften  W.  Dindorf 
(Ddf.)  11,  Imm.  Bekker  (Bkk.)  28,  Sommerbrodt  (Sbrdt.)  22  für 
unecht  erklärt.  Croiset  Essai  sur  la  vie  et  les  oeuvres  de  Lucien 
(Paris  1882)  S.  43  scheidet  13  Schriften  als  unecht  aus:  7  in  Überein- 
stimmung mit  allen  drei  ebengenannten  Herausgebern,  2  CEguneg  und 
"Ovog)  mit  Bkk.  und  Ddf.,  die  'E7ttyQct(.i^(XT(x,  über  die  ein  Urteil  zu  fällen 
aus  naheliegenden  Gründen  am  schwersten  ist,  mit  Bkk.  und  Sbrdt.,  3 
{Ilegl  ^vocüjv,  WevdooocpiaTrjg ,  Kvviycog)  in  Übereinstimmung  mit  Bkk. 
allein.^) 

Dazu  kommen  vereinzelte  Angriffe:  so  erklärt  z.B.  Fr.  Jacobs, 
nach  Fr.'s  Zeugnis  „criticus  diu  et  multum  in  Luciano  versatus'%  die  doch 
sicher  echten  Schriften  Nexvc/navTela,  'laagofA^viTtTtog  und  Qeujv  hcxkrj- 
ala  für  unecht. 

Von  diesen  abgesehen  dürfen  im  ganzen  nur  einige  vierzig,  mithin 
wenig  mehr  als  die  Hälfte  der  im  Corpus  Lucianeum  vereinten  Schriften 
für  unbestritten  echt  gelten,  andererseits  freilich  auch  nur  8  {XaQiörjinoQ, 

1)  Neuerdings  hat  Boldermann  in  einer  dem  Verfasser  eben  erst  zugegangenen 
umfangreichen  (148  pp.!)  DisseTt&tioji  Studia  Lucianea  Lugd.  Bat.  1893  einen  Kanon 
des  Echten  aufgestellt. 


164  Abthdb  Joost 

^lyLvuiVy  JleQi  aOTQokoylrjg,  Jlsgi  %i]g  2vQlrjg  &€ol,  Maxgoßioi,  Jrjfxo- 
a^hovg  eyKO)jLiiov,  WikoTiargig,  Negwv^)  als  zweifellos  unecht,  so  dass 
über  20  bis  30  Meinungsverschiedenheit  besteht 

Bisher  ist  ziemlich  wenig  für  die  ausführliche  Begründung  der  vor- 
gebrachten Ansichten  geschehen,  und  selbst  da,  wo  sie  versucht  oder  nach 
der  Meinung  des  Verfassers  oder  anderer  vielleicht  gar  erfolgt  ist,  gehen 
die  Ansichten  noch  immer  auseinander.  So  meint  Sbrdt.  (Ausgewählte 
Schriften  des  Lucian  I »  S.  XIX),  um  nur  ein  Beispiel  herauszugreifen, 
Guttentag  habe  am  To^agig,  Knaut  und  namentlich  Rohde  am 
uiovy,iog  eine  ins  Einzelne  gehende  Begründung  „mit  Glück"  versucht, 
und  der  also  anerkannte  Guttentag  meint  wiederholt  (De  subdito  qui 
inter  Lucianeos  legi  solet  dialogo  Toxaride.  Berol.  1860  p.  3.  33),  er  werde 
die  Unechtheit  der  Schrift  so  nachweisen,  ut  nemo  bene  sanus  dehinc 
Luciani,  elegantis  scriptoris^  nomine  Toxarim  dialogum  dignum  existimet. 
Da  findet  sich  denn  als  homo  male  sanus  kein  Geringerer  alsFritzsche 
und  urteilt  (III  2  S.  LXXV):  „Guttentagii  opera  ad  summum  rei  nihil 
profectum  esse'%  und  W.  Christ  (Geschichte  der  griechischen  Litteratur 
S.  548)  lehrt:  „Andere  sind  noch  weiter  gegangen  und  haben  auch  den 
Demonax,  Kynikos,  Lukios,  Ikaromenippos  und  selbst  den  Menippos, 
Toxaris,  Peregrinos,  die  Podagratragödie  angezweifelt".  Und  so  hat  denn 
auch  Kretz  (De  Luciani  dialogo  Toxaride.  Progr.  Offenburg  1891)  die 
Echtheit  der  Schrift,  ebenfalls  „mit  Glück",  zu  begründen  versucht 

Diese  Meinungsverschiedenheit  rührt  ohne  Zweifel  daher,  dass  jeder 
zunächst  nach  dem  allgemeinen  Eindruck  urteilt,  den  diese  oder 
jene  Schrift  auf  ihn  gemacht  hat,  dass  die  meisten  Verdikte  Sache  des 
subjektiven  Ermessens  sind,  das  leicht  trügen  kann,  dass  man  sich  begnügt 
zu  sagen:  „Deines  Geistes  hab'  ich  einen  Hauch  verspürt",  statt  den 
schaffenden  Geist  zu  be schleichen.  Bestimmte  Kriterien  fehlen  freilich  in 
den  meisten  Fällen.  Der  Verfasser  dieser  Zeilen  hat  in  einem  Programme 
De  Luciano  (pilo^Yigcj)  (Regim.  1883)  durch  Darlegung  der  Stellung  Lu- 
cians  zu  Homer  ziemlich  schwerwiegende  Verdachtsmomente  gegen  die 
Echtheit  der  Schriften  Ilegl  Ttagaalrov  und  Ilegl  ogxroewg  sowie  gegen 
den  ohnehin  für  unecht  geltenden  (DiloTtaTgig  und  gegen  Ilegi  S-voicov 
ermittelt  und  dadurch  die  Zustimmung  E.  Ziegelers  (Philol.  Rundschau 
V.  Jahrg.  S.  135)  sowie  bezüglich  der  an  erster  Stelle  genannten  Schrift 
in  G.  Brambs  (Über  Citate  und  Reminiscenzen  aus  Dichtern  bei  Lucian 
und  einigen  späteren  Schriftstellern.  Progr.  Eichstätt  1888  S.  10)  und 
J.  Bieler  (Über    die  Echtheit    des  lucianischen   Dialogs  De  Parasito 

2)  Auch  von  Ddf.  dp.  IX)  für  unecht  gehalten,  wonach  Sbrdt. 's  Angabe  (Aua- 
gew.  Schritten  P  S.  XXI)  zu  berichtigen  ist. 


Beobachtungen  über  den  Partikelgebrauch  Lucians.  165 

Progr.  Hildesheim  1890  S.  4)  Anhänger  seiner  Ansicht  gefunden.  Aber 
solche  Kriterien  können  ebenso  trügen  wie  der  sogenannte  allgemeine  Ein- 
druck, wie  denn  Bieler  dem  Verfasser  wohl  in  der  Sache,  aber  nicht  in 
der  Begründung  beistimmt. 

Das  verhältnismässig  sicherste  Kriterium  ist  immer  noch  der  Sprach- 
gebrauch. Freilich  zeigen  sich  hier  neue  Schwierigkeiten.  Man  muss 
Lucian  Jahre,  ja  vielleicht  Jahrzehnte  lang  gelesen  und  immer  wieder  ge- 
lesen haben ;  er  muss  dem  Leser  in  Fleisch  und  Blut  übergegangen  sein, 
wenn  er  über  den  Charakter  einer  Schrift  als  lucianisch  oder  pseudo- 
lucianisch  urteilen  soll.  Dazu  kommt,  dass  echt  lucianische  Ausdrücke, 
in  einer  verdächtigen  Schrift  wiederkehrend,  sowohl  für  als  auch  gegen 
ihre  Integrität  ausgenutzt  werden  können:  im  ersten  Falle  würde  man 
sagen,  der  Ausdruck  ist  lucianisch,  also  auch  die  Schrift,  im  zweiten,  man 
hat  es  mit  einem  im  echten  Lucian  besonders  gut  belesenen  und  ge- 
schickten Nachahmer  zu  thun.  Endlich  ist  abgesehen  von  der  ungemein 
grossen  Modulationsfähigkeit,  die  Lucian  im  Ausdruck  besitzt,  noch  der 
Umstand  von  Wichtigkeit,  dass  wir  es  bei  ihm  mit  verschiedenen  Stil- 
gattungen, rhetorischen  Leistungen,  Abhandlungen,  satirischen  Dialogen 
zu  thun  haben. 

Innerhalb  der  sprachlichen  Betrachtung  werden  wiederum  die  Par- 
tikeln noch  am  meisten  Anhalt  gewähren,  weil  ihr  Gebrauch  für  den 
Schriftsteller  am  meisten  charakteristisch  und  am  schwersten  nachzuahmen 
ist.  Ihnen  ist  denn  auch  ab  und  zu  in  den  Erörterungen  über  die  Echt- 
heit lucianischer  Schriften  ein  kleiner  Abschnitt  gewidmet  worden,  wäh- 
rend z.  B.  die  vorher  erwähnten  Vertreter  der  Unechtheit  bezw.  Echtheit 
des  To^aQig  die  sprachliche  Seite  so  gut  wie  garnicht  berücksichtigt 
haben,  namentlich  nicht  Guttentag. 

Und  so  mögen  denn  hier  einige  Beobachtungen  folgen,  die  vielleicht, 
auch  abgesehen  von  ihrem  Nebenzwecke,  die  Echtheitsfrage  einiger  lu- 
cianischer Schriften  etwas  aufzuklären,  schon  deshalb  nicht  ganz  ohne 
Wert  sind,  weil  sie  auf  vollständigen  Sammlungen  beruhen,  während  das 
Programm  von  A.  du  Mesnil  „Grammatica,  quam  Lucianus  in  scriptis 
suis  secutus  est,  ratio  cum  antiquorum  Atticorum  ratione  comparatur^' 
(Stolp  1867)  auf  erschöpfende  Behandlung  wohl  selbst  keinen  Anspruch 
erhebt.  Freilich  werden  auch  solche  Untersuchungen  wie  die  vorliegende 
immer  nur  vereinzelte  Verdachtsmomente  gegen  eine  Schrift  beziehungs- 
weise vereinzelte  Beweismomente  für  ihre  Echtheit  ergeben,  deren  meh- 
rere sodann  eine  mehr  oder  minder  grosse  Wahrscheinlichkeit  der  Echt- 
heit oder  Unechtheit  hervorzurufen  geeignet  sind. 

Ob  sich  daraus  sichere  Anhaltspunkte  für  die  Gruppierung  oder 


166  Aethue  Joost 

gar  für  die  Reihenfolge  der  Schriften  Lucians  ergeben,  die  herzustellen 
C  hrist  (a.  a.  0.  S.  543)  für  „schier  unmöglich"  erklärt,  muss  zunächst  dahin- 
gestellt bleiben.  Bekanntlich  giebt  es  in  dieser  Beziehung  der  festen 
Punkte  nicht  viele.  Nicht  einmal  von  allen  Redeübungen  Lucians  lässt 
sich  fest  bestimmen,  ob  sie  seiner  frühen  Jugend  oder  seinem  Alter  an- 
gehören, in  dem  er  bekanntlich  seine  Thätigkeit  als  Rhetor  wieder  aufnahm : 
so  rechnet  Sbrdt.  den  Zeitig  zu  seinen  Jugendschriften,  während  Christ 
die  Schrift  in  die  Zeit  seines  Alters  setzt.  Im  übrigen  betrachtet  man 
den  NiyQlvog  als  eine  seiner  ersten  philosophischen  Schriften,  setzt  den 
Mhi7t7toQ  etwa  in  das  Jahr  163,  den  Odoipevörjg  ins  Jahr  164,  zwischen 
162  und  165  den  Jlg  /.axtiyoQov^evog,  bald  nach  165  die  Schrift  Tlüjg 
ösl  loToglav  ovy/Qacpeiv,  um  166  den  JleQeyQlvog,  in  dasselbe  Jahr  oder 

167  die  Totengespräche  (Nissen  Rh.  Mus.  42,  244  nach  Christ  a.  a.  0.), 
bald  nach  TleQeyQlvog  die  jQauiTai,  den  Evvovyog  nach  1 76,  den  ^U- 
^avÖQog  nach  180,  bald  nach  dem  Tode  M.  Aureis.  Dagegen  fallt  der 
^EQfxoTLfiog  —  übrigens  von  Bkk.  als  unecht  bezeichnet  —  in  die  Glanzzeit 
Lucians,  ist  aber  eine  seiner  früheren  philosophischen  Schriften. 

Den  Anfang  möge  eine  nicht  sehr  häufige,  aber  für  Lucian  augen- 
scheinlich charakteristische  Spracherscheinung  machen,  der  Zusatz  von 
fiera^v  beim  Participium  Präsentis.  Sie  findet  sich  etwa  in  der  Hälfte 
der  unbestritten  echten  Schriften,  am  häufigsten  im  (DiXoxpeid7]g  (5.  6. 
22  bis.  29.  32),  nicht  selten  auch  in  den  Kgoviaycd  (8.  23.  24.  29.  33),  im 
NiyQlvog  (13.  30.  37.  38)  und  in  Ilegl  twv  L  fi.  o.  (29.  35.  36  bis),  sonst 
seltener:  ^q^i.  2.  Oal.  1, 11.  ^evdoL  6.  29.  "Evvtcv,  17.  'Pi]t.  öid.  21.  iZcJg 
öel  38.  0.  ÖLal.  5,  3.  7,  3.  'EvaL  ÖLal.  2,  3.  Et.  öidL  5,  3.  15,  1.  Hgofi.  8. 
17.  N.  dtdl.  14,  3.  XaQ.  6.  T/^.  29.  14A.  38.  IIL  11.  2v/ii7t.  14.  Z.  zgay,  17. 
Z.  kleyy.  4.  Wenn  sich  ferner  der  Sprachgebrauch  ebenfalls  im  ^Eq^iotl- 
fxog  (1.  71],  in  den  Ehoveg  (9.  14)  und  in  der  Schrift  'Ytc.  tcjv  eiyiovwv  (12) 
findet,  Schriften,  die  nur  Bkk.  für  unecht  erklärt  hat,  dessen  schnell  fertige 
Art  zu  athetieren  (Nb.  im  Lucian!)  niemand  besser  geschildert  hat  als 
Fritzsche  im  3.  Bande  seiner  Lucianausgabe ;  ferner  auch  im  'ixagoiihiTt- 
7ro(?  (24),  der  für  echt  gelten  muss,  dagegen  nicht  in  allen  übrigen  an- 
gezweifelten Schriften,  und  so  auch  in  Ilegl  TcagaoLrov,  bei  dessen  Ver- 
urteilung Bkk.  einmal  das  Richtige  getroffen  zu  haben  scheint :  so  erweckt 
es  andererseits  ein  günstiges  Urteil  über  To^agig,  dass  darin  (.letaBv 
c.  Part.  5  mal  (28.  38.  43.  50.  52)  begegnet,  sowie  über  die  Schrift  Flegl  tov 
oixov,  die  Sbrdt.  für  unecht  hält,  während  Christ  (S.  544)  nicht  ansteht 
sie  als  geschmackvoll  und  kunstverständig  zu  bezeichnen,  wenn  sich  in  ihr 
die  Spracherscheinung  3  mal  findet  (14.  19.  21),  die  auch  Uegl  oQxrioetog 
(8.  11)  kennt.   Jedenfalls  ist  (.lera^v  c.  Part,  eine  von  Lucian  auf  der  Höhe 


Beobachtungen  über  den  Partikelgebraucb  Lucians.  167 

seines  Schaffens  gern  gebrauchte  Verbindung.  Yergeblich  sucht  man  sie 
in  den  Schriften  seines  Alters  sowie  in  folgenden:  Ae^upavTqg  (unecht 
nach  Bkk.),  ^ovmog  (unecht  nach  Bkk.  und  Ddf.),  ''EQWTeg  (unecht  nach 
Bkk.  und  Ddf.,  von  Sbrdt.  auffallenderweise  für  echt  gehalten,  dagegen 
von  Christ  S.  548,  Anm.  7  unter  dem  Hinweis  darauf,  dass  in  der  Schrift 
wie  in  Jrnxood-hovg  eyy.cufXLOv,  üaTgiöog  eyycojiuiov  und  XaQlörjfj.og  der 
Hiatus  vermieden  ist,  als  „unflätiges  Machwerk",  von  Fr.  m  2  S.  236 
als  certo  aduäerinus  bezeichnet),  ferner  Kwiyiog  (unecht  nach  Bkk.  und 
Fr.  n  2  S.  235  ff.) ,  IIcq!  ^vaiwv  (unecht  nach  Bkk.,  von  dem  Verfasser 
dieser  Zeilen  a.  a.  0.  als  ein  libellus  ex  centonibus  Lucianeis  paene  con" 
sutus  nachgewiesen^),  ^Avd^rjg  (unecht  nach  Sbrdt.),  !^7toxrjQVTt6f^€vog 
(unecht  nach  Bkk.  und  Sbrdt.),  JriJucovaxTog  ßlog  (unecht  nach  Bkk.  und 
Sbrdt.,  der  in  der  kritischen  Textausgabe  II  1  S.  342  das  Ergebnis  des 
Streites  über  die  Schrift  zusammenfassend  sagt :  „  Quäle  nunc  habevius  hoc 
scriptum,  non  est  totum  Lucianeum^^),  Tlegl  7r^v^oi;g  (unecht  nach  Bkk. 
und  Sbrdt.),  ^hcitlag  (unecht  nach  Sbrdt.),  Ilegl  tov  tjIsktqov  (ebenso), 
Ilegl  TOV  (xrj  qaöLwg  TCLOTsveiv  öiaßoli]  (unecht  nach  Bkk.  und  Sbrdt.), 
Uegl  Tijv  öiipdöcüv,  'Höloöog  (beide  unecht  nach  Sbrdt.),  WevöooocpLotrig 
(unecht  nach  Bkk.).  Bezeichnend  ist  es,  dass  sich  (xeta^v  in  dieser  Ver- 
bindung nirgends  in  einer  der  allgemein  für  unecht  erklärten  Schriften 
findet. 

Ferner  ist  eine  für  Lucian  charakteristische  Partikel  das  satzbil- 
dende 7tli!]v,  erweitert  durch  alla,  mit  oder  ohne  yh,  in  ihren  Anfängen, 
wenn  auch  in  etwas  anderer  Bedeutung,  von  du  Mesnil  a.  a.  0.  S.  51 
bei  Aristoteles  (Eth.  Nie.  5,  13)  beobachtet,  dann  häufiger  bei  Polybius. 

Im  Verhältnis  zu  der  Zahl  der  Fälle,  in  denen  tvIijv  adverbiell  ge- 
braucht ist,  erscheint  es  als  Präposition  ziemlich  selten:  mit  dabei- 
stehendem Nomen  oder  Pronomen  an  etwa  15  Stellen,  mit  zu  ergänzen- 
dem in  der  verdächtigen  Schrift  neql  oQXfiaewg  (34  7tl,  oawv  —  stce- 
jiiP7]0^r]v)  und  in  dem  sicher  unechten  Xaglörj/Äog  (7  7tX.  ogol  ^ezsox^Kaai 
yca/.?.ovg),  Stellen,  die  einen  Übergang  bilden  zu  der  Verbindung  ftl^v 
ooov  (of)  =  abgesehen  davon,  dass:  EU,  17  tcL  o.  ixelvrj  fxev  kv 
ILiiy.QOj  TCivaxup  eyeygajCTO,  avTrj  ök  ino^oaoiala  to  fxiysd-og  eorai,  ohne 
Verbum  IIX.  20,  mit  dem  Infinitiv  nur  "Eq.  13  tcX.  ooa  Tfj  st€Q(^  x€t(>t 
Trjv  aiöw  XeXrj&oTwg  67riKQV7tT€Lv,  ein  syntaktisches  Unikum  bei  Lucian. 


3)  Zu  den  von  Lucian,  wenn  er  der  Verfasser  wäre,  vom  eigenen  Kleide  ab- 
gerissenen Fetzen  füge  ich  jetzt  noch  hinzu  77.  ^va.  11.  dyancüvTa  (Zeus)  el  öid 
nhze  o?.ü)v  exwv  ^vaei  zig  avzij)  nuQSQyov  'OXvfinlcüv  verglichen  mit  Tifi.  4 
ovzs  ^vovzog  ezi  aol  zivog  ovzs  aze<pavovvzog,  et  y-ri  zig  ä^a  nage Qyov'OXvfx- 


168  Abthüe  Joost 

Auch  zu  der  Präposition  vclriv  tritt  an  drei  Stellen  il4}..  lor.  1,  29.  2,  14. 
17)  yh  hinzu. 

Nicht  wesentlich  häufiger  ist  /r^jjy  Adverbium  ohne  folgendes 
verbum  finitum:  0dX.  1,  13  /nrjSe  ^eh^drjaag  aXXo  etl  fclriv  /nova  ta 
^vxt]f4aTa,  ebenso  Zev^,  11.  'Evv7cv,  15.  L^Ä.  iot.  36.  ^li^.  13.  B.  tcq.  27. 
nivx^.  2.  'E7VLyQ.  22.  (Z.  iQay.  41  Citat  aus  Euripides).  Auch  zu  diesem 
TtXriv  gesellt  sich  yh:  'Ptjt.  ölö,  22.  ^L  Iot.  1, 16.  25.  Wevdoaoq.  9/)  ver- 
einzelt «AAa:  ^ic;  Kar.  14. 

Noch  seltener  ist  die  Verbindung  tcXyjv  ohl:  Eh.  6.  Qva.  4.  '0^;t-  31. 
T6^.  51,  nicht  sehr  häufig  auch  7tlr]v  ei  (fn^);  Ae^.  21.  N.  ötaL  24,  2. 
TIeqI  tcüv  L  [A.  G.  9.  23.  B.  uq.  7.  Kqov.  13.  iT(>o^.  «Z  1.  Wevöooocp.  7  (als 
Solöcismus  angeführt).    To^.  39.  z/i^^u.  l;/x.  17.  Xaglö.  18. 

Ist  man  berechtigt,  7cXriv  an  der  Spitze  eines  —  kürzeren  oder 
längeren  —  Satzes,  bisweilen  verstärkt  durch  yk  oder  aXXd  oder  durch 
beides,  als  ein  Charakteristikum  für  Lucians  Sprachgebrauch  zu  bezeichnen, 
so  würde  zunächst  das  Fehlen  der  Verbindung  im  ^k-Avatv,  in  JJeQt  rrg 
^vglrjg  d^eov,  in  den  MaxQoßioi,  in  JJaTQldog  lyvM^iov,  in  Jrj^oo&evoig 
eyyiüjfiiov,  im  OiloTtatQig  und  im  Nsqwv  den  Glauben  an  die  Unechtheit 
dieser  Schriften  wesentlich  bestätigen.  Von  den  allgemein  für  unecht  gehal- 
tenen Schriften  weist  nur  der  Xagldtj^og  an  zwei  Stellen  (2  und  4)  7tXi]v 
dXXd  auf,  eine  Thatsache,  durch  die  die  Vermutung  Ziegelers  (Studien  zu 
Lucian.  Progr.  Hameln  1879.  S.  7)  ihre  Bestätigung  finden  wurde,  dass 
der  Verfasser  Lucian  sklavisch  nachgeahmt  hat,  vielleicht  auch  die  von 
demselben  ausgesprochene  Annahme,  dass  der  Verfasser  nicht  lange  nach 
Lucian  gelebt  hat. 

Dass  die  Verbindung  ferner  fehlt  in  den  Schriften  üegl  ^volcjv, 
Jri(X(jJvam:og  ßiog,  ^omiog,  üegl  TtagaGiTOv,  UeqI  Tievd-ovg,  Tlegl  tov 
oXtlovj  Tlegl  twv  ÖL^pctdojv,  TgayipöoTtoödyga ,  das  freilich  wegen  der 
wesentlich  anderen  Stilgattung  aus  dem  Rahmen  der  vorliegenden  Be- 
trachtung herausfällt,  würde  den  Zweifel  an  ihrer  Unechtheit  nicht  un- 
wesentlich vergrössern. 

Im  übrigen  scheint  die  Partikel  bezw.  Partikelverbindung  ebenfalls 
von  Lucian  auf  der  Höhe  seiner  schriftstellerischen  Thätigkeit  gerne  ge- 
braucht worden  zu  sein ;  denn  man  vermisst-  sie  ferner  in  den  rhetorischen 
Produktionen,  die  seiner  Jugend  oder  seinem  Alter  angehören:  JUi]  ^w- 
vrjivTCJVy   ÄTtoXoyLa,  ^Yjthg  tov  TiTalofiaTog,  lägi-iovLdrig,  Tvgavvo-KTovog, 


4)  Es  war  nicht  nötig,  dass  Sbrdt.  Lucianea  (Lpzg.  1872)  S.  109  hier  statt 
TtXrjv  ys  6  Än6kX(i)v  zu  lesen  vorschlug  nX.  o  ys  ÄnoXkwv,  da  seine  Bemerkung  nX. 
und  ys  ständen  bei  Lucian  nie  nebeneinander,  nur  für  die  Fälle  gilt,  in  denen  ein 
verbum  finitum  folgt,  und  in  dieser  Allgemeinheit  durch  kX,  lax.  1,25  widerlegt  wird. 


Beobachtungen  über  den  Partikelgebrauch  Lucians.  169 

Ae^Lcpavrig,  '^iTCTclag,  Jiovvoog,  'HQazXrjg,  Mvlag  iy-AWi^iiov,  Uegl  tov  firj 
QqdUog  TtiOTSVELv  öiaßoli]^  'Holoöog. 

Von  den  zweifellos  echten  Schriften  sind  ohne  rcXrjv  {aXld)  nur 
'UvvuvLov,  NiyQlvog,  die  Meergöttergespräche,  BUov  7CQaaig,  Evvovxog, 
^lKagof.i€vi7VTcog ,  JgaTteTai.  Die  erste  Schrift  gehört  wohl  ohne  Zweifel 
zu  den  früheren.  Den  NtyQlvog  betrachtet  Fr.  im  Gegensatz  zu  A.  Schwarz 
in  seiner  Schrift  über  Lucians  Hermotimos  und  Wichmann  in  den 
Jahresberichten  des  philologischen  Vereins  zu  Berlin  1884  (S.  153),  die 
ihn  etwa  in  das  Jahr  165  setzen,  als  eine  Jugendarbeit,  eine  Ansicht,  die 
durch  die  vorstehende  Beobachtung  wenigstens  insofern  ihre  Bestätigung 
finden  würde,  als  wir  es  in  ihr  mit  einem  der  ersten  Dialoge  Lucians  zu 
thun  hätten.^)  Dagegen  würde  von  den  andern  jQaTterai,  die  Fr.  11  2 
S.  238  in  die  Zeit  von  165  oder  166  setzt,  Evvovxog  (nach  176;  vergl. 
Christ  S.  543  Anm.  4)  und  'lyLctQOfxevLUTtog,  nach  Fr.  11  1  S.  159  im 
Winter  180  geschrieben,  auch  durch  das  Fehlen  von  uXriv  und  7tlr]v  alXa 
ihre  Zugehörigkeit  zu  einer  späteren  Zeit  des  Schriftstellers  nachweisen. 

Von  den  übrigen  kommen  die,  welche  nur  einfaches  tcXtiv  {ye)  auf- 
weisen, weniger  in  Betracht.  Es  sind  dies  die  ^AXrid^elg  loxoQiaL  (nur  2,  44), 
die  somit  Thimme  Quaestionum  Lucianearum  capp.  IV  (Götting.  1884) 
S.  9,  vielleicht  mit  Recht  den  späteren  Schriften  zurechnet,  2vfi7i6oiov 
(11.  45),  WevdokoyiOTtjg  (30),  ÜQog  anaidevTov  (10),  nach  Sbrdt.  (Ausge- 
wählte Schriften  HI  2  S.  118)  in  die  Zeit  nach  165  gehörig,  KaxajtXovg  (27), 
^Xe^avÖQog,  sicher  nach  180  anzusetzen,  endlich  die  Kgoviazd  (3.  7.  8.  30), 
von  Christ  in  die  Zeit  der  „welkenden  Kraft"  des  Schriftstellers  gesetzt. 

Femer  haben  nur  einfaches  tvXyjv  die  sehr  anrüchigen  ''EgatTsg  (51. 
50.  53,  wo  7tX.  einen  Nebensatz  mitten  in  der  Periode  einleitet,  während 
es  sonst  so  zu  sagen  mit  vollem  Atem  einsetzt),  üegl  ogxrjoetug  (4),  'Qxv- 
7covg  (126.  170)  und  Kwi^Sg  (11),  eine  Schrift,  über  die  Fr.  II  2  S.  235  ff. 
sehr  energisch  den  Stab  bricht. 

Unter  die  Schriften,  die  TtXriv  dXXd  allein  oder  7tXriv  und  7tXi]v 
ctXXd  aufweisen,  gehören  aus  Lucians  Jugend  oder  Alter  nur:  Zeitig 
(2  TtX.  £f.dy€,  3  7vX.  dXXd  rrjv  ye  eUova  —  elöov),  'Hgödorog  (6  rcX,  dX)^ 
7]  ye  eizMv  in  ganz  ähnlicher  Verbindung),  WevöoXoyLOTi]g  (3  TtX.  IV  ye 
—  öwGeig ,  20  tcX.  dXXd  XoaoL  ye),  JlQo/irjd^evg  el  L  X,  (7  tcX,  dXXd) 
und  ^^TtoxriQVTToinevog  (2  nur  TtXrjv,  4  mit  ye,  5  tcX.  ctXXd  mit  folgen- 
dem ye).  Auch  Ucug  del  Iot.  a.  mit  je  einem  nXi^v  und  jcXijv  dXXd 
iye)  gehört  der  Zeit  nach  165  an. 

Dagegen  fällt  die  Blütezeit  des  Gebrauchs  der  Partikel  mit  der 

5)  Vergl.  auch  H.  Richard  Über  die  Lykinosdialoge  des  Lukian.  Progr. 
Hamb.  188G.  S.  53. 


\ 


170  Arthue  Joost 

Blütezeit  des  satirischen  Dialogs  zusammen.  Wenn  man  die  Zahl  der 
Seiten  in  der  —  mir  einzig  zu  Gebote  stehenden  vollständigen  —  Ausgabe 
W.  Dindorfs  in  Betracht  zieht,  so  ist  sie  am  beliebtesten  im  Jlg  xaTrp 
yoQov^evog  (nur  cp.  15  fcXijv  mit  folgendem  yk;  dagegen  8.  10. 14.  16. 
25  bis  7tL  akla,  mit  folgendem  ye  11  3  mal,  20  2  mal),  wo  sie  etwa 
alle  1  bis  2  Seiten  auftritt,  ein  Verhältnis,  das  im  Vergleich  mit  dem 
Vorkommen  der  Pari;ikel  in  den  andern  Schriften  durchaus  kein  so  auf- 
fallendes ist,  wie  wir  es  in  einem  andern  Falle  bemerken  werden.  Denn 
etwa  alle  2  Seiten  erscheint  7clijv  und  TtXrjv  aV.a  auch  im  Z.  Ihyyo' 
fxevog  (tcL  6.  15,  rcX.  akkd  11.  14),  etwa  alle  2  bis  3  im  MhiTtnog 
(tcX.  33,  mit  ye  7,  7t L  aXXa  15,  mit  yk  1.  2)  und  im  TLimwv  (tiX.  9. 10. 
45.48.55,  mit  ye  39,  tzL  allct  24.26),  alle  3  Seiten  in  den  Götter- 
gesprächen {rcl.  8.  15,2.  20,8;  mit  yl  1,2.  11,2.  15,1.  3.  16,1.  20,15; 
Ttl.  alla  5,2.  16,2.  26,2),  im  Xäquiv  {tzI.  21.  22,  Ttl.  alU  11.  21.23), 
im  ^PrjTOQCJv  öiddoTialog  (tcX.  mit  ye  7.  8,  7t X.  dXXd  18,  mit  ye  24),  in 
der  Qeojv  eycyiXrjGla  [TtX.  dXXd  2,  mit  ye  7),  alle  3  bis  4  in  den  Toten- 
gesprächen {7tX.  18,1.  20,4,  wo  Q.  TtXrjv  dXX^  hat,  23,1.  28,2,  mit  ye 
27,1;  7t X.  dXXd  7,2.  9,4.  13,2.  3,  mit  ye  13,5.  22,2.  30,3);  aUe  4 
Seiten  im  ""OvecQog  (TtX.  20,  mit  ye  27,  TtX.  dXXd  5.  11.  17),  im  !dvdxaQ- 
oig  (nur  7tX.  dXXd  6.  16.  18.  21.  40)  und  im  Ilgoinrjd'evg  (ebenfalls  nur 
7tX.  ciXXd  5.  20).  Verhältnismässig  weniger  Stellen  weisen  auf  die  Ei- 
xoveg:  7tX.  mit  ye  9,  7tX.  dXXd  2,  alle  5  Seiten,  lÄXievg-.  7tX.  52,  TtX. 
dXXd  13.  20,  mit  ye  8,  IlXolov:  TtX.  dlXd  29.  37.  45  und  ^tc.  twv  eizo- 
viov :  7tl.  dXXd  17,  mit  ye  15,  alle  6  Seiten;  die  Hetären gespräche :  7t X. 
12,5,  mit  ye  2,4,  TtX.  dXXd  4,3,  mit  ye  12,2  und  der  UeqeyQlvog  (166 
geschrieben!):  TtX.  dXXd  13.18,  alle  7;  endlich  "^^^uorz/tiog:  TtX.  19.47, 
mit  ye  59  und  Z.  Tqaytoöog:  TtX.  14,17,  TtX.  dXXd  11,  alle  8  Seiten. 
Auffallend  wenig,  nämlich  nur  ein  Beispiel  [TtX.  dXXd  15),  bietet  der 
(DtXoipevöijg,  was  wohl  damit  zusammenhängt,  dass  die  Schrift  keinen 
ausgesprochen  dialogischen  Charakter  trägt,  sondern  sich  mehr  in  den 
Grenzen  eines  Berichts  über  geführte  Gespräche  hält.  Hierher  gehört 
auch  der  von  Sbrdt.  angefochtene  ^xvd-rjg  {rtX.  mit  ye  2.  5.,  TtX.  dXXd  5), 
in  dem  an  der  zuletzt  erwähnten  Stelle  TtXijv  dXXd  d^d^get  genau  !dvdx. 
6  entspricht,*)  und  der  schnöde  behandelte  To^agig  mit  2  TcXrjv 
(18.  56),  3  TtX.  mit  folgendem  ye  (20.  26.  35),  1  TtX.  dXXd  (8),  was  für 
beide  Schriften  immerhin  eine  der  bedeutenderen  Frequenzen  ergiebt. 

Bekanntlich   hat   Dittenberger   im  Hermes    XVI  S.  321  S.   den 
Versuch  gemacht,  nach  der  Art  und  Frequenz  des  Gebrauchs  von  urjv 

6)  Bold  ermann  a.  a  0.  S.  25  vermutet,  dass  Sxv^g,  To^agignnd  kraxag- 
oig  gleichzeitig  herausgegeben  worden  sind. 


Beobachtungen  über  den  Partikelgebrauch  Lucians.  171 

feste  Punkte  für  die  Gruppierung  der. Dialoge  Piatos  wie  der  Schriften 
Xenophons  zu  ermitteln.  Ein  ähnlicher  Versuch  an  Lucians  Schriften 
dürfte  nicht  uninteressant  sein. 

Betrachten  wir  zunächst  den  Gebrauch  im  einzelnen,  wobei  auch 
hier  wie  bei  Dittenberger  von  der  Schwurformel  rj  ^j]v  abgesehen  wird. 

Die  e  in  fache  Partikel  ist  selten :  in  den  unzweifelhaft  echten  Schriften 
findet  sie  sich  nur  ^Ev.  didX.  1 5, 1  und  B.  tcq.  55  xL  fii^v ;  'Eq^.  48  btl 
{,1.,  ausserdem  üagdo.  3  rlva  ^i]v; 

Sehr  häufig  ist  dagegen  die  Verbindung  xai  iuijv,  ebenso  in  den 
Schriften,  deren  Echtheit  unbestritten  ist,  von  denen  nur  verhältnismässig 
wenige  die  Verbindung  nicht  kennen,  wie  in  den  zweifelhaften  und  in 
den  sicher  unechten.  Die  Zahl  der  Stellen  verteilt  sich  ziemlich  gleich- 
massig  auf  alle  Schriften :  am  häufigsten  erscheint  xat  {.iriv  in  den  Toten- 
gesprächen (2,2.  18,1.  22,1  2  mal.  3.  25,2  =  6  mal),  den  Hetären- 
gesprächen (1,5.  11,1.  2.  13,4),  dem  "Ahevg  (2.3.  5.20)  und  dem  Ka- 
zdrcXovg  (10. 11.  13.  18  =  je  4  mal),  seltener  im  Tiincov  (35.  48.  57)  und 
dem  Z.  TQaycpdog  (10.  25.  44  =  je  3  mal),  je  2  mal  im  Mvlag  eyKoj- 
(uiov  (1.2),  den  Göttergesprächen  (1,1.  7,2),  den  Meergöttergesprächen 
(1,3.  15,3),  im  Jig  xar.  (7.22),  der  B.  Ttgäoig  (24.27),  dem  Vveigog 
(6.18)  und  den  JqaTteTai  (12.23),  vereinzelt  0äL  2,12.  WevöoL  11, 
^vdX'  14,  HQog  an.  1,  Xciq.  1,  ^v^Tt.  16,  0.  IxxA.  6,  III.  44,  Evv.  10. 
In  den  ziemlich  allgemein  verworfenen  Schriften  erscheint  die  Verbindung 
nicht.  Auch  in  den  zweifelhaften  findet  sie  sich  nicht  allzuhäufig :  5  mal 
im  ^l'/.aqo\ihi7CTcog  (2.  6.  14.  17.  18),  eine  Erscheinung,  die,  wenn  es 
dessen  bedürfen  sollte,  ein  Kriterium  für  die  Echtheit  der  Schrift  bildet; 
je  3  mal  im  'EQf^6Ti(.wg  (15.  42.  63),  den  nur  Bkk.  für  unecht  erklärt, 
im  JrjfxcüvayiTog  ßlog  (20.  29.  66)  und  in  den  Eiyioveg  (1.  3.  6);  vereinzelt 
endlich  IleQl  oq%.  85.  Aovy..  19.  'Ytv.  %wv  eiy..  16.  'Auoy..  21.  To^.  63. 
HavQ,  lyx.  1  und  'Eq.  5  x.  ^u.  sycjye  eTtavaGTag  xtA.,  eine  Stelle,  die 
ich  nicht  zu  xai  firjv  mit  folgendem  yh  rechne. 

Um  so  auffallender  ist  es,  dass  gegenüber  dieser  für  Lucian 
charakteristischen  massvollen  Anwendung  der  Partikelverbindung  die 
Schrift  IleQl  jtagaalTov  nicht  weniger  als  12  mal  xal  ^rjv  hat:  1.  2  2 
mal.  8.  12.  13.  14.  22.  28.  44.  51.  58,*)  ein  Zahlen  Verhältnis ,  das  um  so 
mehr  ins  Gewicht  fällt,  da  der  Parasit  etwa  die  Hälfte  der  Seitenzahl 
füllt,  die  die  Totengespräche  in  Anspruch  nehmen,  diejenige  Schrift,  die 
sonst  am  meisten  /.al  /^ijv  enthält. 


7)  Zu  meiner  Freude  sehe  ich,   dass  auch  Bieler  Progr.  Hildesheim   1890 
S.  20  —  eine  Schrift,  die  erst  nachträglich  zu  meiner  Kenntnis  gekommen  ist  — 
^  dieselbe  Beobachtung  gemacht  hat. 


172  Abthüe  Joost 

Verstärkt  wird  das  einfache  ^?Jv  durch  unmittelbar  vorangehendes 
yk,  selten  freilich  nur  in  den  Schriften  von  unbestrittener  oder  ange- 
zweifelter Echtheit:  2v^7t,  5  outaXt^  y,  fi.  'bti,  48  knelvo  y,  /u.  fiefia&rpca, 
'Eqih.  2  olf^al  y.  fx.  und  25  odog  y.  (x.  ov  jula,  selten  auch  in  den  sicher 
unechten:  Idatg.  14  und  2vq.  ^.  2S  doüiio  y.  fi.  (übereinstimmend!), 
Jiqti.   iyz.   21    Ttgog  y.  fx.   rag  Trjg  xpvxrjg  agerag  und  N^g.  2  tzL  y.  ji. 

Um  so  auffallender  ist  auch  hier  der  gehäufte  Gebrauch  der 
Verbindung  in  der  Schrift  üegl  vtagaoLtov,  wo  sie  10  mal  erscheint: 
6.  7.  11.  23.  26.  45.  52.  53  2  mal.  59,  obwohl  die  Schrift  nur  um  6  Seiten 
länger  ist  als  das  2v^7c6olov.  Ebenso  auffallend  ist  die  Häufung 
von  ye  iiiqv  in  den  von  Sbrdt.  für  echt  gehaltenen  "EgiuTeg,  in  denen 
die  Verbindung  ebenfalls  10  mal  (3.  10  2  mal.  12  2  mal.  13.  16.  21.  48. 
54)  erscheint.  Dazu  kommt,  wenigstens  in  IJegl  Ttagaalrov,  vielleicht 
ein  Unterschied  im  Gebrauch,  der  sich  freilich  nicht  mit  voller  Bestimmt- 
heit feststellen  lässt,  da  die  echten  Schriften  zu  wenig  Beispiele  bieten: 
in  diesen  ist  das  stark  betonte  Uelvo  oder  ein  Adjektivbegriff  kräftig  voran- 
gestellt, was  ja  auch  das  Natürlichste  ist,  während  der  Verfasser  der 
Schrift  Ilegl  fcagaolrov  sich  nur  1  oder  2  mal  dazu  aufschwingt,  ein 
Verbum  (53  XvTteitai  y.  fx.  yjyciOTa  TtavTwv,  wo  man  eher  t]XLOTa  an  erster 
Stelle  erwarten  würde)  oder  ein  Adverbium  (45  ovTto)  y.  f.i.  öo/ao  fxot, 
59  oloyg  y.  fx.)  voranzusetzen,  indem  er  es  sonst  vorzieht,  in  etwas  matter 
Weise  die  ziemlich  tonlose  Konjunktion  otl  (6.  23.  26) ,  besonders  aber 
den  noch  tonloseren  Artikel  den  Reigen  eröffnen  zu  lassen:  7  to  y,  ii. 
sv%grioxov,  11  6  y.  jx.  ^EjcUovgog,  52  o%  y.  f.i.  grjTogeg,  53  6  y.  jx.  naga' 
GLTog,  ein  Sprachgebrauch,  mit  dem  an  einigen  Stellen  auch  die  "EgojTeg 
übereinstimmen :  3  twv  y.  (.i.  kgwTinojv,  48  al  y.  fi.  ^wAgaTixal  ÖLÖaaxa- 
Uai,  54  lovg  y.  (,i.  ovof^ia^ofxevovg.  Wenn  also  Schmid  Atticismus  I 
S.  424,  der  übrigens  im  üagaoiTog  nur  7  Beispiele  gefunden  hat,  meint, 
es  sei  damit  die  sokratische  Dialektik  parodiert  worden,  so  dürfte  dieser 
Erklärungsversuch  zurückzuweisen  sein. 

Kai  [xriv  wird  ebenfalls  durch  ye  verstärkt,  das  natürlich  nach- 
folgt, von  ixTqv  nur  durch  ein  Wort  getrennt,  so  dass  Fr.  auch  Mev.  8 
X.  fx,  Ttgodrjlov  ys  tovto  statt  TtgoörjXov  tovto  ye  mit  Vergleichung  von 
JV^.  öial.  9,  3  nach  einigen  Hss.  edieren  zu  müssen  glaubt.  Warum  jedoch 
Sbrdt.  ^/x.  19  die  handschriftliche  Überlieferung  7ckr]v  ai  ye  nökeig  durch 
%aX  fxriv  at  y.  7t.  ersetzt,  ist  nicht  ersichtlich.  Auffallend  ist  To^.  38 
X.  fx,  ei  öid  ye  tovto,  während  sonst  immer  ye  sich  unmittelbar  an  ei 
anschliesst:  Tlfx.  15  x.  /w.  et  ye  e^eTa^oig,  'Egfx.  8  x.  ^u.  e'l  ye  ixe  del, 
und  so  auch  Jtg  xar.  24  x.  ^i.  rjv  ye  firj  uavörjTai.  Gerne  steht  ye  nach 
einem  Pronomen,  namentlich  ovTog:  Niyg.  6.  x.  fx,  tovto  ye  ov  fxed-veiv, 


Beobachtungen  über  den  Partikelgebrauch  Lucians.  173 

aXla  vriq)eLv  ycal  aucpQOvelv  Iotlv,  O.  didL  18,  1  x.  fx.  ovrog  ye  6  -d-rj- 
XvfilrQTjg,  ^Ev.  didL  8,  2  x.  in.  ovTog  ye  fxovov  ogylCszai,  Kardnl.  9  x. 
II.  tovtÖ  ye  —  evyvwf^ov  ahw ;  in  Usgl  -rcaquo.  (15)  auch  exelvog  wie 
^€^.  10.  In  keiner  der  unter  Lucians  Namen  überlieferten  Schriften 
erscheint  die  Verbindung  auffallend  häufig. 

Kai  firjv  wird  femer  verstärkt  durch  ein  zweites  xa/.  Diese  Er- 
scheinung findet  sich,  bezeichnend  genug,  am  häufigsten  in  den  '^Xrj&elg 
loTOQlat  (9  mal:  1,  8.  23.  26.  34  2  mal:  2,  5.  14.  17.  20;  vergl.  Thimme 
a.  a.  0.)  und  in  dem  von  Bkk.,  Ddf.,  in  neuerer  Zeit  auch  von  C reiset 
für  unecht  gehaltenen  Aovynog  (7  mal :  18.  25.  29.  30.  38. 48.  51),  der  hier- 
durch, wenn  er  echt  ist,  seine  äussere  und  innere  Zusammengehörigkeit 
mit  den  „Wahren  Geschichten"  nachweisen  würde,  nicht  selten  auch  im 
Leben  des  Demonax  (22.  26.  39.  54.  56.  63),  sowie  in  der  unhestritten  echten 
Schrift  nwg  del  l.  o.:  17.  21.  23.  40.  46.  60,  seltener  im  LiväxaQGigi  Tl. 
28  und  in  den  Kgoviaxd:  4.  22,  vereinzelt  MvL  syz.  5,  Otloxp.  19,  ^FqT, 
öid.  23,  NiyQ,  33  u.  a.  Nur  an  einer  Stelle  {Evv.  3)  folgt  noch  ein  ye. 
Ebenso  selten  (0.  ötdl.  6,  1)  treten  andere  Worte  zwischen  (.iriv  und  das 
zweite  xa/. 

Dazu  kommen  die  wenigen  Stellen,  an  denen  sich  an  xai  firiv  die 
Negation  anschUesst:  0.  diäl.  22,  3.  'Ev.  ötdl.  13,  6.  Kardul.  20. 
N.  öidL  7,  2  (mit  folgendem  ye).  Xdg.  11.  Tlfx.  9.  Z.  xgay.  31.  'AI.  1.  20. 
m.  2,  und  so  auch  JT.  tov  oiY.ov  4. 

Noch  seltener  ist  y.al  fir)v  ovo':  lAvdi.  16.  Uüg  öel  18.  Xdg.  17. 
'Egf^.  69  {ovdirto}],  und  auch  Ilagdo.  8.  10,  2  mal  gegenüber  4  Stellen  im 
ganzen  Lucian. 

Die  Verbindung  ov  ^rjv  findet  sich  nur  in  unzweifelhaft  echten 
Schriften:  Hwg  öel  60.  Niyq.  36.  "Yrt.  raiv  ein.  18.  N.  didL  12,  3.  IvfiiTt. 
15.  44.  Z.  TQay.  38,  Y/r.  %.  Ttzalofi.  2  2  mal. 

An  einigen  Stellen  tritt  auch  zu  dieser  Verbindung  ein  ye:  Zev^.  2. 
HQog  «TT.  29.  UX.  Igt.  1,  23.  'Egfi.  41.  Yx.  10.  negeyg.  36.  2vfi7i:,  1. 
Kqov.  8.  Z.  eX.  4.  tgay.  2.  IlQOja.  el  5.  Jr^i.  4.  To^.  1.  11.  11.  tov  lurj 
Q.   7t.    6.   5. 

Auch  an  ov  firjv  schliesst  sich  ovdi  an:  ^Ogx.  35.  'AX.  Igt.  2,  12. 
"Egfi.  66.  "YTt.  Twv  eh.  19.  Regeyg.  26.  11.  rcJ^  L  fi.  g.  26.  'Hg.  7.  Ein 
Citat  aus  Hesiod  liegt  vor  *'Eg.  37. 

Nach  ov  inrjv  folgt  dXXd:  ^^vdx.  12.  Q.  ötdX.  20,  14.  KaxarcX.  26 
(mit  xaO.  '/x.  4.  8  (xa/).  ^A.  20.  Jrnx.  3  (xa/).  To§.  1  (xa/),  und  so  auch 
[^a(>/d.  15. 

Seltener  ist  ovre  fiYjv:  Ugofi.  1.  Tl.  tlov  e.  /n.  g.  4.  Uiv^.  15. 
:aQlö.2b\mddXXdi:ii]v:    Tili.  W,    Z,  rgay,  bi.    WevöoG.  3.   B.7tg.2d 


174  Abthub  Joost 

2  mal,  so  auch  JlaQcia.  10.  ^ovyi.  32  und  Jtjih.  lyx.  9.  Xaglö.  7,  mit 
folgendem  ymI:  Aov-a,  16,  mit  folgendem  ovb^ :  'Eqy..  79.  Kvv.  4  (mit  yl). 

Die  Verbindung  aAA'  ovbl  firjv  endlich  findet  sich  nur  in  dem 
unechten  Xaglörjfiog  (6)  und  dem  anrüchigen  nagaaitog  (12),  ebenso 
wie  val  ^iTjv  Ttal  nur  in  den  unechten  Machwerken  Tlegl  aoTQoXoylrjg 
und  üegl  Trjg  ^vQlrjg  d^eov  je  1  mal. 

In  der  weitaus  grösseren  Zahl  der  ziemlich  allgemein  unbestritten 
echten  Schriften  ist  i.iriv  vertreten.  Eine  ganze  Reihe  wird  man  jedoch 
gesondert  betrachten  müssen,  weil  in  ihnen  das  Vorkommen  der  Partikel 
vereinzelt  ist  (1  bis  2  mal).  Unter  diesen  gehören  (Dakagig  (1  mal  y.al 
fiYjv),  yf^evdokoyiot^g  (ebenso!),  ^HoLodog  (1  mal  ov  jn.  ovöi,  das  in  den 
sicher  echten  Schriften  überhaupt  nur  7  mal  erscheint),  üegl  lov  ^t.  ^. 
7c.  d.  (1  mal  ov  i^rjv  mit  yk),  ngofir^d^eig  d  L  l.  (ebenso!),  Zev^ig  (eben- 
so!) und  'Y7t€Q  Tov  7CTalo^iaTog  (1  mal  ov  /nrjv)  der  rhetorischen  Periode 
Lucians  an.  Von  den  übrigen  rechnet  Sbrdt.  Ae^Lcpctvrig  (1  mal  x.  ^. 
mit  ye,  1  mal  x.  (.i.  Y,aL\  (Diloxpavörig  (l  mal  x.  ^u.  xa/,  1  mal  a/Äa  ^.)  und 
'Pi^ir.  diöaoyiaXog  (genau  ebenso !)  zu  den  Schriften  der  Übergangsperiode. 

Von  der  ersten  Gruppe  sind  0  a  lag  ig,  'HoLodog,  Tlegl  tov  fi.  g.  n.  d. 
und  'YTihg  tov  jiTaio^aTog  auch  von  dem  satzbildenden  Tr/ijy  völlig  frei, 
und  auch  WevöoloyLOTi]g  und  Zev^ig  kennen  nur  je  1  ttI.  bezw.  nX.  ax/.cr, 
ngofurjd^evg  et  I.  l.  nur  1  nL  alla.  Von  der  zweiten  Gruppe  bietet 
A€^tcpdvi]g  zu  dem  satzbildenden  tcXt^v  kein  Beispiel.  Mit  der  massvollen 
Verwendung  von  f.i7^v  stimmt  im  Odoipevdrjg  das  nur  1  malige  Vorkom- 
men von  7tlt]v  auffallend  überein,  so  dass  wir  vielleicht  berechtigt  sind, 
die  Schrift  zu  den  früheren  satirischen  zu  rechnen.  Die  Schrift  'Pr^Togcov 
didccGxalog  bietet  auch  für  TtXi^v  nur  4  Beispiele. 

Es  bleiben  von  den  andern  Schriften  die  Meergöttergespräche,  Xdgojv, 
ngofir]^€vg ,  0.  ex^iXrjoia,  Z.  kXeyxöfxevog,  MevLTtTzog,  JgaTtiTai  und 
Evvovyog,  von  denen  man  die  /IganeTai  in  die  Zeit  von  165 — 166,  den 
Evvovxog  in  die  Zeit  nach  176  setzt.  Damit  würde  zunächst  die  That- 
sache  übereinstimmen,  dass  nicht  nur  die  beiden  zuletzt  genannten 
Schriften,  sondern  auch  die  Meergöttergespräche  von  TtXr^v  völlig  frei 
sind,  mithin,  wenn  wir  ein  Steigen  und  Abnehmen  der  Vorliebe  Lucians 
für  diese  Verbindungen  anzunehmen  berechtigt  sind,  auch  von  diesem 
Gesichtspunkte  aus  die  Meergöttergespräche  zu  den  späteren,  Ausgangs 
der  vierziger  oder  in  den  fünfziger  Jahren  seines  Lebens,  verfassten 
Schriften  gerechnet  werden  dürfen.  Dementsprechend  müssten  die  an- 
dern, wobei  natürlich  von  vollständiger  Genauigkeit  und  Sicherheit  keine 
Rede  sein  kann,  an  den  Anfang  oder  das  Ende  der  satirischen  Schrift- 
stellerei  Lucians  gesetzt  werden,  womit  wieder  die  Beobachtung  im  Ein- 


Beobachtungen  über  den  Partikelgebrauch  Lucians.  175 

klang  steht,  dass  bis  auf  den  Zsvg  eleyxo/nsvog,  der  jedoch  nur  8  Seiten 
lang  ist,  die  anderen  4  höchstens  alle  4  und  mindestens  alle  2  bis  3  Seiten 
7ck7]v  aufweisen,  einander  also  nicht  ferne  stehen. 

Im  übrigen  bieten  unter  den  andern  unbestritten  echten  Schriften 
Lucians  am  wenigsten  Verbindungen  mit  /litjv:  die  Kgovia/M  alle  8  bis 
9  Seiten,  was  vielleicht  ebenso  wie  der  Mangel  von  Ttkrjv  allä  auf  die 
sinkende  Kraft  des  Schriftstellers  hindeutet,  die  Hetärengespräche  und 
IlBql  Tcov  L  (M,  a.,  alle  7  bis  8  Seiten.  Häufiger  sind  sie  im  Tllolov  (alle 
6  Seiten),  im  ^ATtoKriQvrtoy^evog,  'EQ/j^orifxog  und  Jlg  }iaTr]yoQOv/.i€vog  (5), 
im  TleQeyQlvog  und  den  Göttergesprächen  (4  bis  5),  im  ^AvcLxaQOig,  JlQog 
a7t.,  den  Ehoveg  nebst  'Ytc.  twv  bIhovcdv,  in  denen  beiden  das  Verhält- 
nis ebenso  übereinstimmt  wie  im  Z.  eXeyxo^evog  und  Z.  TQayipöog^  in 
den  Totengesprächen  (4),  im  Z.  xQayi^öog^  Ilwg  öel  l.  g.  und  in  den 
^Irj^elg  lOTOQlai  (3  bis  4),  im  l4Xi€vg  und  Ncyglvog  (3),  in  B.  Ttgäaig, 
Tlfxiüv  und  2vfi7c6aiov  (2  bis  3),  endlich  im  KaraTtXovg,  ^Ixago^iviTtTtog 
und  Mvlag  eyxco^iov  (1  bis  2).  Was  die  zuletzt  genannte  Schrift  anbe- 
trifft, so  hat  sie  den  Vorzug  besonders  lebhafter  Darstellung  und  ebenso 
wie  der  !d7to/.rjQVTr6/n€vog  keine  Spur  von  frostiger  Manier.  Auffallend 
ist  endlich  das  häufige  Erscheinen  der  Partikel,  auf  9  Seiten  7  mal,  im 
WevdooocpiOTTig.  Entweder  ist  dies  beabsichtigt,  oder  es  wird  dadurch 
die  von  Bkk.  behauptete,  von  A.  Baar  (Lucians  Dialog  „der  Pseudosophist" 
erklärt  und  beurteilt.  Görz  1883),  freilich  ohne  bestimmte  sprachliche 
Untersuchungen,  bestrittene  Unechtheit®)  der  Schrift  bestätigt,  womit  es 
gut  zu  vereinigen  wäre,  dass  sie  auch  nur  ein  einziges  Tth'iv  aufweist, 
was  zu  den  vielen  ,w^v  bei  der  sonstigen  Art  Lucians  in  einem  auffallen- 
den Verhältnisse  steht. 

Kein  (xriv  haben  von  den  sicher  echten  Schriften  die  Redeübungen 
^HQoöoTog,  läQinovlörjg,  TvQavvoKTovog,  JIkt]  (piovr^ivTCüv,  /JLovvaog,  'Hga- 
y.lfjg,  ^AuoloyLay  die  alle  bis  auf  'HQoöoxog  auch  kein  satzbildendes  Ttlr^v 
haben,  ausserdem  A^i Ale^avögog ^  der,  wie  erwähnt,  in  die  Zeit  nach 
180  fällt  und  dementsprechend  auch  nur  1  TtXr^v,  kein  nL  aXXa  aufweist, 
und  neql  kvvTcvlovy  ebenfalls  ohne  7cXriv  und  tzX.  aXXd. 

Von  den  Schriften,  deren  Echtheit  zweifelhaft  ist,  fallen  zunächst  auf 
IJeQi  Ttagaalrov  und  Jfj^ojvaTizog  ßiog.  In  beiden  ist  die  Partikel  ziem- 
lich ebenso  oft  vertreten  wie  im  ^^evöoGocpLOxrig:  dort  findet  sie  sich  auf 
22  Seiten  29,  hier  auf  10  Seiten  12  mal.    Während  aber  in  den  echten 


8)  Neuerdings  von  Boldermann  a.  a.  0.  aufs  neue  behauptet.  Vergl.  auch 
Roth  st  ein  Quaestiones  Lucianeae  (Berol.  1888)  S.  35:  Omnium  maximas  dubita- 
tiones  movet  Soloecista. 


176  •  Aethue  Joost 

Schriften  aus  der  Blütezeit  Lucians  ziemlich  alle  Erscheinungsformen  so 
gut  wie  gleichmässig  vertreten  sind,  trägt  in  üegl  TtaQaoLrov  den  Lö- 
wenanteil y.al  /urjv  und  /xtjv  mit  vorangehendem  7«,  das  in  allen  echten 
Schriften  nur  etwa  6  mal  erscheint.  Ausserdem  bietet  die  Schrift  ein  ver- 
einzeltes all'  ovöe  jUTjv,  das  nur  noch  1  mal  im  XaolSrjinog  steht,  aber 
in  keiner  echten  Schrift.  Im  Leben  des  Demonax  findet  sich  y.al  iurjv 
xal  6  mal,  in  den  echten  Schriften  dagegen  je  1  bis  2  mal  mit  Ausnahme 
von  Ilwg  Sei  l.  o.  und  den  ^Xrjd-elg  lotoglat.  Doch  verteilen  sich  die 
6  Stellen  in  der  erstgenannten  Schrift  auf  26,  in  den  „Wahren  Geschich- 
ten" 9  Stellen  auf  39  Seiten,  so  dass  hier  auf  4  bis  5,  im  Demonax  auf 
2  Seiten  ein  Beispiel  entfällt.  Femer  sind  die  "Egureg  mit  10  maligem 
yh  ^iqv  belastet,  haben  die  Verbindung  also  alle  2  bis  3  Seiten,  während 
die  2  Beispiele  im  'Eg/noTif^og  sich  auf  48,  im  ^v^rcooiov  auf  16  ver- 
teilen und  ^evöoGocpLGTrjg  sowie  der  'ATtovLriQvrTo^evog  nur  eins,  alle 
andern  keins  enthalten.  Die  einzige  Stelle,  an  der  in  der  Schrift  über- 
haupt eine  andere  Verbindung  steht,  ist  aus  Hesiod  entlehnt.  Eine  solche 
Einseitigkeit  bietet  keine  andere  Schrift.  Der  Aovy.iog  steht  in  Bezug 
auf  y.aL  (iirjv  Y.aL  fast  ebenso  ungünstig  wie  der  Demonax.  Dazu  kommt, 
dass  in  ihm  sich  1  mal  alla  firjv  xal  findet,  das  nur  noch  der  Xagidr}- 
fiog  1  mal  bietet,  dagegen  keine  der  echten  Schriften.  Das  vereinzelte 
Vorkommen  der  Partikel  in  IIsqI  oQiTqaewg,  Tleol  Ttsvd-ovg,  KwiY.ög  und 
üegl  Tov  or/.ov  erlauben  keine  Vermutung.  Dagegen  erwecken  zwei 
Thatsachen  eine  günstige  Stimmung  über  To^agig:  1.  Die  Schrift  bietet 
Beispiele  für  die  meisten  Erscheinungsformen  der  Partikel,  und  zwar 
gerade  für  die  in  den  echten  Schriften  am  meisten  vorkommenden, 
während  sie  für  die  nur  in  unechten  oder  zweifelhaften  belegten  keine 
hat.  2.  Die  Frequenz  ist  dieselbe  wie  in  den  für  Lucian  besonders 
charakteristischen  Schriften,  wie  Anacharsis,  den  Totengesprächen  u.  a. 

Beispiellos  ist  i^rjv  von  angezweifelten  Schriften  in  IIsqI  d^voiwv, 
''iTtTtlag  und  IIsqI  tmv  öixpdöwv ,  die  alle  drei  auch  kein  jclrjv  (akXa) 
kennen,  sowie  im  ^avd-rjg,  der  nur  2  7c?.r]v  und  1  tcX.  aXkd  hat. 

Von  den  sicher  unechten  Schriften  hat  narglöog  kymü^nov, 
Ilegl  doTQokoylrjg ,  Ueq!  2vQlr]g  S-eov  und  Negcov  nur  vereinzelte  Bei- 
spiele, und  zwar  die  zuerst  und  die  zuletzt  genannte  Schrift  nur  yh  firjv 
(in  den  echten  Schriften  6  mal),  etwas  mehr  (3)  JrjinoGd^evovg  kyxw^iiov, 
am  meisten  der  XaQlör]f.iog.  Doch  findet  sich  in  diesem  neben  je  1 
maligem  ov  furjv  (in  den  echten  Schriften  8  mal),  ovre  (.iriv  (in  den 
echten  Schriften  ebenfalls  nur  1  mal)  und  dlld  fujv  (sonst  6  mal)  auch 
dkkd  jLirjv  xa/,  das  nur  der  Aovxiog,  und  dkl'  ovöh  ^rjv,  das  nur  der 
üagdaiTog  kennt. 


Beobachtungen  über  den  Partikelgebrauch  Lucians.  177 

Kein  (xrv  haben  von  den  unechten  Schriften  ^X-avcov ,  MaxQo- 
ßwc  und  OiloTcaTQig, 

Die  weitaus  häufigste  Partikel  bei  Lucian,  abgesehen  natürlich  von 
ycal,  (xh  und  öe^  ist  yh,  das  nur  Jwvvoog  und  TQaywöoTtoöayga  nicht 
kennen.  Daraus  folgt,  dass  hier  massenhafte  Verwendung  weniger  ins 
Gewicht  fällt,  andererseits  sparsamer  Gebrauch  Verdacht  erregt. 

Aber  schon  eine  Durchmusterung  des  Gebrauchs  im  einzelnen  ge- 
stattet einige  vielleicht  nicht  unwichtige  Vermutungen. 

Abgesehen  von  dem  vereinzelten  Falle  Tgay.  297,  wo  die  Partikel 
sich  nach  der  Interjektion  Ttartal  findet,  steht  ye: 

1.  Hinter  dem  Artikel,  besonders  gern  nach  dem  mit  aXlog  ver- 
bundenen: 'Prjr.  Ölö.  13.  ^Eqix.  10  Tovg  ye  alkovg,  Lil.  Igt.  1,  20  rovg  ye 
aXlovg  aGTSQag,  ^Eq{x.  68.  ^Et.  ö.  3,  16.  6,  3.  Z.  TQay.  35.  üegl  tov  fxr] 
^.  7t.  (5.  27  xct  ye  aXla,  O.  diaX.  20,  2  ra  ye  aXXa  näwa,  ^\g  xar.  34 
Toiv  ye  alXcov  evexa,  Heg.  12  tj  ye  aXXr]  d-egaTteia,  während  der  Fall 
NiyQ.  24  mit  der  Stellung  %a  akXa  ye  allein  dasteht.  T/^u.  38  schreibt 
Sbrdt.  statt  to  ye  xeXevxalov  ecpriod-a  mit  grosser  Wahrscheinlichkeit  o 
ye  T.  €.  Nicht  ganz  unauffällig  ist  es,  dass  innerhalb  der  einen  Schrift 
Jr](xcüvaxtog  ßlog  sich  2  mal  (3  und  50)  die  Worte  aXl"  o  ye  Jrjfxwva^ 
wiederholen. 

2.  Nach  einem  Substantivum.  Nexg.  didX.  20,  2  avögoyvvco  ye 
ovTL  lässt  Fr.  die  Partikel  nach  QT  fort  trotz  der  Fülle  von  Stellen  — 
es  sind  etwa  20,  auch  im  To^agigl  — ,  an  denen  ye  beim  Participium 
steht,  um  seinen  kausalen  Sinn  zu  kennzeichnen. 

3.  Nach  einem  Adje et ivum.  Fr.  ediert  N.  diaX.  27  nach  <D  TtoX- 
Xol  örj  trotz  der  häufigen  Verbindung  der  Partikel  mit  Formen  von  TcoXvg. 
Vielleicht  nicht  ganz  unverdächtig  ist  die  wiederholte  (1.  12)  Anwendung 
der  Formel  tvoXv  ye  Ttgoxegov  in  der  Schrift  TIegl  ^vouuv. 

4.  Die  Partikel  schliesst  sich  an  ein  Verbum  an.  Hier  verdient 
die  Thatsache  Erwähnung,  dass  ye  im  Anschluss  an  ein  Verbum  in  dem 
unechten  (DiXoTcargig  besonders  häufig  erscheint,  eine  Zahl,  die  nur  vom 
'Egjj-oTifxog  erreicht  wird ,  der  jedoch  ungefähr  3  mal  so  lang  ist  wie  der 
(DiXoTtargig,  indem  die  Partikel  zu  immer  grösserer  Bedeutungslosigkeit 
herabgesunken  zu  sein  scheint. 

5.  Grösser  ist  die  Zahl  der  Stellen,  an  denen  ein  Adverbium  durch 

ye  verstärkt  wird.    Besonders  häufig  findet  sich  Ttgcüzov  ye,  auch  in  der 

angezweifelten  Schrift  Ilegi  tov  olx.  15,  ebenso  Ttgozegov  ye,  /laXiOTcc  ye. 

Die  Formel  x«<  Ttgoohi  ye  (NB.  immer  mit  x«/)  findet  sich  !dvaX'  37. 

Hdjg  öel  10.  TljLi.  14  und  so  auch  in  den  angezweifelten  Schriften  To^a- 

gig  (62)  und  Uegl  tov  oXy-ov  (2),  während  das  einfache  en  ye  selten  ist 

12 


178  Aethue  Joost 

[UeQeyQ.  15.  'Ho,  8),  sich  aber  in  dem  sicher  unechten  Odojcargig  sogar 
2 mal  (24.  28)  sowie  in  dem  unechten  Nigtov  (2)  mit  ^riv  findet.  Am 
allerhäufigsten  ist  ev  y§,  sowohl  ohne  wie  mit  einem  Yerbum,  besonders 
gern  in  der  Formel  ev  ye  vTtifiviqocxg:  0Uoip.  38.  0.  did'A.  7,  4.  7x.  13. 
nX.  35  (nach  Ddf.s  Vermutung,  während  Fr.  nach  den  Hss.  nur  v7ci^vriaag 
ediert).  Miv,  29.  Kqov.  8,  ferner  mit  Formen  von  7coulv  und  andern 
Verben.  Dagegen  erregt  das  wohl  auch  sonst  Töllig  vereinzelte  hcigev  ye 
im  JlaQaGiTog  (9)  neuen  Verdacht.  Lucian  selbst  gebraucht  ausserdem, 
wenn  auch  selten  ('/x.  11.  Wevöooocp.  11)  ogO^wg  ye,  während  xaXwg  ye 
beispiellos  ist  und  sich  nur  im  unechten  Jrj^oa&evovg  fyxwjULOv  (1.  37) 
findet.  Die  Vorliebe  Lucians  für  vvv  ye  (9  mal)  zeigt  sich  auch  T6^.  56. 
Ebenso  verbindet  Lucian  die  Schwurformel  vr;  Jla  gern  mit  ye,  entweder 
unmittelbar  oder  so,  dass  die  Partikel  wenigstens  in  der  Nähe  steht. 

6.  Unter  den  zahlreichen  Stellen,  an  denen  sich  ye  an  ein  Pro- 
nomen personale,  reflexivum  (vereinzelt !  Xccq.  18  Tcgog  kfxavtov  ye),  de- 
monstrativum ,  relativum,  reciprocum  (vereinzelt!  ^'Eq.  28  rcQog  aXXrikovg 
ye)  oder  indefinitum  (selten !  Wevöoo.  9  und  Regl  tov  fi.  q.  tc.  d.  9  et 
rlg  ye)  anschliesst,  ist  der  Fall  als  ein  für  Lucian  besonders  charakte- 
ristischer zu  bezeichnen,  jedenfalls  oft  bei  ihm  vertreten,  dass  das  Prädi- 
kat des  Satzes,  Substantiv  oder  Adjektiv,  vorangeht  und  dann  das  Sub- 
jekt ovTog  ye,  ovzol  ye,  tovto  ye  u.  ä.  nachdrucksvoll  folgt,  eine  Ge- 
wohnheit, die  sich  sowohl  in  den  rhetorischen  als  auch  in  den  satirischen 
Schriften  beobachten  lässt,  in  jenen  nur  vereinzelt:  lävcix-  36  aliov  eldevai 
TOVTO  ye  (Accusativ?),  fast  ebenso  L^A.  20  a^iov  yag  eTtloTao^ai  tovto 
ye,  ferner  IdX.  48  xvcov  ovTog  ye;  besonders  gern  an  das  Vorangehende 
mit  yccQ  angeknüpft:  'Hqoö.  1  (xetC^ov  yag  evxfjg  tovto  ye,  (DiXoip.  1  ovy- 
yvwoTol  yaQ  ovtoL  ye,  'PrjT.  öiö.  20  eXeyxog  yag  oacprg  TaiToc  ye,  Ilegi 
T(x)v  e.  fi.  o.  1  oixeiot  yccQ  —  ovtoL  ye,  26  ayvwinoavvr}  yag  drj  tovto  ye, 
Tlfi.  6.  aviagÖTaTOv  yccQ  tovto  ye,  u4.X,  41  ol%  ctvayAala  yag  ravTa  ye, 
51  acpwvoTegoL  yag  ovtol  ye,  Ul.  41  aßeßata  yag  TavTct  ye.  Die  Copula 
ist  fortgelassen,  so  auch  an  den  hierhergehörigen  Stellen  !dv.  2  ov/.  h 
TtTjXcii  ouTol  ye,  N.  ö.  6,  2  avw  yag  7ioTa(xiov  tovto  ye,  mit  geteiltem 
Prädikat  Kw.  5  (xavia  rjörj  tovto  ye  aa(pTqg,  was  sonst  unbelegt  ist,  aus- 
gedrückt ist  sie  negl  töjv  e.  fi.  a.  6  evxfj  y^g  ccv  eoixoTa  eXi]  tuvtcc  ye, 
wo  ein  Potentialis  vorliegt.  Ist  dagegen  ein  Prädikatsverbum  vorhanden, 
so  folgt  es  dem  Subjekt:  Ilgdg  an.  10  aA/'  ovTog  ye  eycgaTeL,  ebenso 
Bvv.  3,  wohl  auch  das  Prädikatsnomen :  0.  ö,  6,  3  xai  naw  ovTog  ye  de- 
OTtoTTig  eoTl  oder  von  zweien  das  eine:  OUoip.  3  aoeßrjg  oiTog  ye  xal 
ccv6r]Tog  eöo^ev,  Fälle,  die  jedoch  zu  den  Ausnahmen  gehören.  Den  über- 
wiegenden Sprachgebrauch  weist  auch  der  To^agig  (13  eTcaywyoTaTov 


Beobachtungen  über  den  Partikelgebrauch  Lucians.  179 

yaQ  TovTo  y€)  und  üeQi  tov  ouov  auf,  eine  Thatsache,  die  ohne  Zweifel 
wiederum  ein  günstiges  Vorurteil  für  die  beiden  Schriften  zu  erwecken 
geeignet  ist.  Dagegen  fällt  das  Adverbium  auf  üagaa.  39  Uavwg  ravrd 
ye.  Gern  gebraucht  Lucian  auf  der  Höhe  seines  Schaffens  auch  die  Formel 
rovTov  ye  svexa,  namentlich  mit  ^agget  [TLfx.  36)  und  ^aggelre  (!dX.  9). 
Erwähnt  zu  werden  verdient  auch,  dass  nirgends  ausser  OUdn.  21  Tavxa 
ye  TOL  hvTtvta  ein  Substantiv  folgt. 

Von  Kelativpronomina  schliesst  sich  die  Partikel  in  den  meisten  Fällen 
an  das  einfache  og  an,  vereinzelt  an  Zotig  {(DUoti.  11.  Wevdoo.  10  — 
„dass  ich  dich  in  der  Gesellschaft  seh' !"  — )  und  ooTteg  {^Ttox.  4)  sowie 
an  olog  [Kvv.  1),  ooog  [TifA,.  52.  Kqov.  9.  Z.  xQay.  10)  und  bnooog  {To^.  45). 

7.  Unter  den  Stellen,  die  yh  in  Verbindung  mit  einer  Präposition 
zeigen,  fallen  diejenigen  durch  ihre  verhältnismässig  grosse  Zahl  auf,  an 
denen  cltio  =  „zu  urteilen  nach"  erscheint:  ^Oqx.  80  arto  ye  twv  toiov- 
c(jt)v  oQxrjoecüv ,  '^EQfi.  19  ütco  ye  Trjg  TteQißoXrjg,  47  citco  ye  tovtwv,  58 
ccTco  ye  TOV  yev^axog,  Kar.  22  und  iV.  ö.  18,  8  übereinstimmend  cctvo  ye 
tov  oxrKxatog,  N.  ö.  1,  2  cctvo  ye  tovtmv,  Evv.  10  cctio  ye  tijg  (pavegäg 
oipecog.  Ebenso  wie  die  Worte  ccTto  ye  tovtwv  und  utio  ye  tov  oxrj- 
luatog  je  2 mal  —  in  verschiedenen  Schriften!  —  wiederkehren,  so  auch 
ev  ye  t(i)  cpavegcß  N.  d.  5,  1  und  Jlg  nat.  15.  Sonst  kommen  derartige 
formelhafte  Verbindungen  nicht  vor.  Um  so  mehr  Verdacht  erregt  gegen- 
über der  Modulationsfähigkeit  von  Lucians  Ausdruck  die  Wiederholung 
von  (nexQt  ye  vvv  Ilagao.  27  und  31. 

8.  Vor  Konjunktionen  findet  sich  ye  nur  Imal  in  der  unechten 
Schrift  Jrii^oGd-evovg  iyy.(x)(j,Lov  (5)  in  Verbindung  mit  der  Partikel  htei, 
während  es  sich  sonst  nur  mit  ei  {eXd-e,  rjv,  rjVTteg,  av)  zusammenthut. 
Zwischen  ei  und  ye  drängt  sich  öe  nur  an  zwei  Stellen  (16  und  25)  des  un- 
echten (Ddo^tatQig.  ^vfi7c.  4  ediert  Fr.  nur  ei  und  bemerkt  in  der  kri- 
tischen Note  yj'ortassis  rede".  Ohne  Zweifel  hätte  er  e%  ye  /uiiuvr]fiai 
schreiben  müssen,  da  gerade  diese  Formel,  wie  einige  andere,  nament- 
lich mit  dem  Verbum  xc>^^«^?  ^^^  Lucian  nicht  nur  in  der  von  Fr.  an- 
gezogenen Stelle  'EQfz.  24,  sondern  auch  0.  6.  20,  6.  JgaTc.  2  und  'Hga-A.  4 
angewandt  wird.  Ebenso  muss  0.  <5.  21,  2.  ec  ye  firj  rj  Qirig  xtA.  und  nicht 
ei  fiTj  ye  xtX.  geschrieben  werden,  da  diese  Wortfolge  an  nicht  weniger  als 
25  Stellen,  darunter  21  in  sicher  echten  Schriften,  vorliegt,  die  andere  da- 
gegen nur  'Evak.  öiaL  5,  2  in  einer  von  Fr.  nicht  berücksichtigten  Variante. 
Auch  7V^€x^.  dtdX.  5,  1  verdient  die  handschriftliche  Lesart  et  ye  oiov  re 
rjv  den  Vorzug  vor  ei  öi  xtA.,  da  sie  durchaus  lucianisch  ist. 

9.  Von  anderen  Partikeln  —  über  fxrjv  und  Ttktjv  vergleiche  das 
vorher  Erwähnte  —  verbindet  sich  ye  am  liebsten  mit  /Liiv:  ^Aq^.  3.  üqog 

12* 


180  Aethue  Joost 

ttTt.  15.  ^k  loT.  2, 18.  EIk.  4.  'Ytv.  eh,  25.  Karajch  14.  Uegl  twv  L  /u.  a,  8. 
ITl  39.  Wevdooocp,  5.  'Y^c.  toi;  ytr.  5,  in  keiner  Schrift  mehr  als  1  mal,  wenn 
man  nicht  auch  KataTt.  26  xai  VTteQoxpiag  fiiv  ye  xtX.  mit  Sbrdt  liest, 
wo  Fr.  nach  u4r  ixhtot  ediert,  mit  dem  es  sich  ebenfalls  an  vier  Stellen  — 
Mviag  iyn.  10.  'AI.  loz.  2,  20.  NiyQ.  23.  Vv.  23  —  verbindet,  in  umge- 
kehrter Wortfolge  ^l.  LOT.  1,  5  tovtov  ye  fxivtOL  eVexa.  Dagegen  findet 
eine  verhältnismässig  häufige  Anwendung  der  Partikelverbindung  in  den 
verdächtigen  Schriften  JIsq!  ogxrjOewg  (14.  70.  79),')  IleQl  ^volwv  (4.  13) 
und  IIbqI  Tchx^ovg  (6.  21)  sowie  in  dem  sicher  unechten  Jrjfioa&dvovg 
iyycoJiiiiov  (20. 23.  33)  statt.  Einzig  ist  die  Verbindung  ov  (niv  ye  LioTQoX.  19. 
Mit  -aaLtoL  findet  sich  die  Partikel  Tvq.  13  x.  o  ye  vofxog,  wo  die  beiden 
Partikeln  indessen  wohl  wenig  miteinander  zu  thun  haben,  während  sie 
zu  dem  ein  koncessives  Participium  begleitenden  xaltoi  hinzugesetzt  ist 
Xaglö.  17  KalToi  ye  exovzeg,  in  den  echten  Schriften,  in  denen  ytaltoi 
viel  häufiger  so  angewandt  wird  als  zu  Anfang  eines  Satzes  mit  einem 
Verbum  finitum,  ohne  Beispiel.  Nicht  selten  schliesst  sich  an  ye  auch 
die  Partikel  rol,  nur  Ae^,  12  umgekehrt,  wo  Ddf.  akV  ael  Ttore  ttjv  d^eov, 
erst  Sbrdt  alla  toi  ye  rrjv  d-eov  edierte,  so  'Avax.  33.  '^Egfi.  33.  Jlg 
y,a%,  1.  Tlf^.20.  'HgaxL  4.  Ilagao.  55,  namentlich  in  der  Verbindung  9)  a  ff  / 
ye  roi  Odoxp.  40.  'Egfi.  55  und  mit  Vorliebe  in  der  Formel  iöovyeroi 
Avax.  33.  'Egfi.  51.  63.  Xccq.  11.  Jig  zar.  3.  Häufig  ist  auch  der  Anschluss 
an  ö^j  seltener  an  omoi:  ^Avä-x*  11.  ^Eq^i.  38  und  ov%l\  Hegi  twv  L  fi,  a.  17. 
Jlwg  det  29.  2vfX7t,  4,  mit  öi^  erweitert:  firrL  ye  drj  nur  Arjin.  eyyt,  21,  mit 
dl]  allein  nur  Tvgavv,  15.  Die  Verbindung  mit  dga  endlich  findet  sich 
nur  in  unechten  und  verdächtigen  Schriften:  Ilagao.  61.  Wevöoo.  1.  Kvv.  16. 

ÜlTi.  8. 

Überblickt  man  alle  Schriften  nach  der  Häufigkeit  der  Anwendung 
von  ye,  so  ergiebt  sich,  dass,  abgesehen  von  den  Verbindungen  mit  |U?Jy 
und  Ttkijv,  im  grossen  und  ganzen  in  allen  Schriften  dasselbe 
Frequenzverhältnis  vorliegt.  In  den  meisten  kommt  etwa  auf  eine  Seite 
ein  ye,  so  in  den  Schriften  der  Blütezeit,  dem  (Ddoipevörjg,  den  Ehöveg, 
den  Götter-,  Meergötter-  und  Hetärengesprächen  sowie  in  den  Toten- 
gesprächen, im  ÜQOf^Tj^evg,  Kaxajtlovg ,  Xdgwv,  Tl^wv,  B.  Ttgaoig, 
AXievg,  'Oveigog,  2v(X7t6oLov,  Kgovcayta,  Z.  TQayqjöog  und  eleyxojtievog, 
^^FrjTOQwv  ötödozalog,  Jlgog  aTtctiöevTOv,  'lY.aQo^evL7t7tog,  JleQi  rwv  L  fi.  ff., 
niolov  und  so  auch  in  den  rhetorischen  Erzeugnissen  des  Alters  Mviag 
Byxcofitov,  ATtokoyla,  Ttegl  tov  fx.  g,  tt.  ö.,  'Haiodog,  OdXagig,  '^iTtTclag, 

9)  Vergl.  jetzt  über  diese  Schrift  J.  Bieler,  Progr.  von  Wilhelmshaven  1894 
S.  17,  der  auch  auf  das  sonst  unerhörte  fihv  oiv  ye  cp.  71  hinweist,  und  P.  Schulze 
Jahrb.  f.  Philol.  1891. 


Beobachtungen  über  den  Partikelgebrauch  Lucians.  181 

'HQoöoTog,  in  den  verdächtigen  JIcq!  oQxrjöewg,  To^agig,  IJegl  Tcaqa- 
alfov,  IIsqI  -d-vGicov,  üegl  Ttivd'ovg,  ^iTtrciag,  Tleql  tov  oixov  und  in 
den  unechten  Ilargldog  iyxojf^iov,  ü.  xov  rjXixTQov  und  ^Alyivvjv.  Noch 
etwas  häufiger,  etwa  auf  jeder  Seite  2  mal,  findet  sich  die  Partikel  im 
'EQ^otLfxog  und  den  JqaTtirai,  namentlich  aber  in  den  rhetorischen 
Erzeugnissen  AQf.iovLdiqg,  Zevhg,  'Hgayikfjg  sowie  im  WevdooocpLGTijg, 
'Y7t£Q  1.  7CTaLG{i.,  IlQOfirjd^evg  et  e.  X.,  ^TvoTcrjQVTTOfxevog,  in  dem  wohl 
unechten  Kwixog,  in  den  sicher  unechten  Jrjia.  eyy,(x)fXLov,  (DiloTtatgig, 
Negtov,  MazQoßwt.  Mit  dem  Gros  gehören  zusammen:  'Ytisq  twv  ei- 
Tiovcüv,  AvdxccQOig,  Uwg  öel  l.  o.  und  z/ig  xaTijyoQovfievog ,  in  denen 
yh  etwa  alle  1  bis  2  Seiten  begegnet.  Nicht  viel  seltener,  etwa  alle 
2  Seiten,  findet  sie  sich  im  'EvvTtvtov,  ^Xi^avögog ,  Ae^Lq)avrig,  Niygl- 
vog  sowie  im  WevdokoyLOiiqg  und  TvQavvozTovog  und  dem  unechten 
Xagiörn-iog,  hinter  denen  der  Jrjf,idjva^  nur  wenig  zurücksteht.  Das 
Vorkommen  wird  seltener  (etwa  alle  3  Seiten)  im  MhiJtrcog,  2y,vd-rjg, 
Q.  £y,ytXi]Gla,  TL.  rwv  dixpdöcov ,  'EQwreg  und  ^£2xv7fovg,  noch  seltener 
im  nsQeyglvog  (etwa  alle  4  Seiten)  und  den  ^Irjd^elg  laTogLat  (etwa 
alle  51/2  Seiten).  Doch  das  sind  alles  Zahlen,  die  von  dem  normalen 
Verhältnis  wenig  abweichen.  Dagegen  ist  es  eine  unechte  Schrift,  der 
N^QCüv,  in  dem  yh  nur  alle  6  Seiten  begegnet,  und  ähnlich  arm  an  yh 
ist  Tlegl  doTQoXoylrjg.  Ganz  besonders  dürftig  ausgestattet  ist  JT.  rfjg 
^vQirjg  d^eov ,  wo  auf  19  Seiten  nur  ein  einziges  ye  kommt.  In  diese 
Gruppe  von  Schriften  gehört  auch  der  AovY.iog,  der  die  Partikel  so 
sparsam  verwendet,  dass  in  ihm  auf  31  Seiten  nur  4  Stellen  kommen, 
eine  Enthaltsamkeit,  die  gerade  bei  der  gehäuften  Anwendung  von  xal 
liiiv  vmL  doppelt  auffällt  und  ihrerseits  dazu  beiträgt,  die  Schrift  als  „das 
Entenjunge  unter  den  Schwänen"  erscheinen  zu  lassen,  wie  Kohde  sie 
bezeichnet.  Ob  die  stilistische  Abweichung  der  Schrift  von  Lucians 
Sprachgebrauch  beabsichtigt  ist  und  in  dem  parodischen  Charakter  der 
Schrift  liegt,  etwa  in  der  Art  von  Mauthners  „Nach  berühmten  Mustern", 
mag  hier  unerörtert  bleiben. 

Es  sind,  wie  gesagt,  nur  vereinzelte  Beobachtungen,  die  hier  ge- 
macht worden  sind  und  die  sicher  an  Wert  gewinnen  würden,  wenn  Pa- 
rallelen mit  Schriftstellern  vor  und  nach  Lucian  gezogen  würden,  nament- 
lich, wie  es  Fr.  III  2,  S.  LXXVIII  empfiehlt,  mit  Plutarch,  Dio  Chrysostomus, 
Aelius  Aristides  u.  a.,  die  aber  m.  E.  begründeten  Verdacht  zur  Folge 
haben  müssen  gegen  die  Schriften  Regl  Ttagaolrov,  üegl  oQxrjoeiog, 
Ilegl  -d^vGtwv,  die  ''Egcütegy  den  Aovxiog,  dagegen  zu  gute  kommen  dem 
To^agig  u.  a.  Ebenso  Hessen  sich  Untersuchungen  anstellen  über  toI 
allein  und  in  Verbindung  mit  andern  Partikeln  (xa/Tot,  (.levrot,  loiwv), 


182       Abthüb  Joost,  Beobachtungen  über  den  Partikelgebrauch  Lucians. 

über  VerbinduDgen  mit  ovv,  über  die  Verwendung  von  toofceg  und  xcr- 
x^äneQ  (vgl.  Dittenberger  a.  a.  0.).  So  macht  Schulze  (a.  a.  0.  S.828) 
darauf  aufmerksam,  dass  sich  xalroi  ==  xatVcc^  c.  Part,  mit  jurj  nur  Tlegi 
OQX'  (64)  findet.  Was  den  Wechsel  von  woTreg  und  y.a&aTteQ  betrifft,  so 
scheint  Lucian  in  den  Schriften  der  Zeit  seiner  Thätigkeit  als  Rhetor  Vor- 
liebe für  iuayceQ  zu  zeigen.  Während  diese  Einseitigkeit  in  den  Schriften 
seiner  Blütezeit  so  gut  wie  unerhört  ist,  haftet  sie  dagegen  den  unechten 
Schriften  an,  in  ganz  besonderem  Masse  dem  XaQidrjfiog  und  dem  0d6- 
TtaTQig,  sowie  auch  den  Schriften  AovuoQy  Tlegl  ^voiwv,  JrjfxcjvaKzog 
ßlog  und  IleQi  itov  dtipddwv.  Auch  Ilegl  oQxrioewg  hat  neben  8  vjotciq 
nur  1  Tiad-aTteg, 

Doch  dieses  und  anderes  muss  einer  späteren  Erörterung  vorbehalten 
bleiben. 


IX. 

Zur  Erinnerung  an  K.  Lehrs. 

Von 

E.  Kammer  (Schleswig). 

(Auf  Grund    der  ., ausgewählten  Briefe  und  Schriften  von  und  an  Chr.  A.  Lobeck 
und  K.  Lehrs"  herausgegeben  von  A.  Ludwich.) 

Die  Veröffentlichung  von  Briefen,  deren  Schreiber  nicht  jedes  Wort, 
weil  nicht  für  den  Druck  bestimmt,  sorgfältig  abwägen,  sondern  den 
Freunden  gegenüber  ihren  Empfindungen  unmittelbaren  und  damit  oft  um  so 
kräftigern  Ausdruck  verleihen,  ist  ein  schwieriges  Unternehmen,  da  es 
das  Siegel  eines  dem  vertraulichen  Verkehre  dienenden  Schatzes  löst  und 
diesen  der  rücksichtsloseren  Beurteilung  fremder,  wenig  gestimmter,  oft 
feindlich  gegenüberstehender  Leser  preisgiebt.  Dies  Bedenken  würde  aller- 
dings an  Wert  verlieren,  wenn  wirklich  zuträfe,  was  unlängst  bei  der 
Anzeige  eines  Briefwechsels  behauptet  wurde,  die  Thätigkeit  des  Brief- 
schreibers sei  stets  nicht  ohne  einen  Zusatz  von  Unwahrheit  denkbar, 
insofern  der  Schreibende  seine  Worte  mit  Absicht  wählt  in  Hinblick  auf 
ihre  spätere  Veröffentlichung  durch  den  Druck.  Briefe,  die  so  entstanden 
sind,  entbehren  jedes  fesselnden  Zaubers :  unsere  grossen  Briefsammlungen 
von  ewigbleibendem  Werte  haben  einen  anderen  Ursprung  gehabt.  Den 
Charakter  vollster  Unmittelbarkeit  und  Wahrhaftigkeit  tragen  auch  die 
„Ausgewählten  Briefe  von  und  an  Chr.  A.  Lobeck  und  K.  Lehrs 
nebst  Tagebuchnotizen",  herausgegeben  von  Arthur  Ludwich,  2  Teile. 
Leipzig,  Duncker  und  Humblot  1894:  dass  sie  in  heutiger  Zeit  so  ver- 
öffentlicht werden  konnten,  wie  es  geschehen  ist,  spricht  schon  allein 
für  die  Güte  und  Trefflichkeit  der  Männer,  deren  Briefe  uns  vorgelegt 
werden. 

Ludwich's  Veröffentlichung,  „der  Albertus-Universität  in  Königsberg 
zur  Feier  ihres  350jährigen  Bestehens  gewidmet",  gehört  zu  dem  Bedeut- 
samsten, was  wir  auf  diesem  Gebiete  besitzen,  nicht  allein  dem  Umfange 
nach  —  die  2  Bände  zählen  1050  Seiten  — ,  sondern  vornehmlich  im  Hinblick 
auf  den  geistigen,  wissenschaftlichen  und  menschlichen  Gehalt.    Sie  ist 


184  £.  Kammes 

zunächst  ein  bleibendes  Denkmal  für  die  Blütezeit  der  deutschen  klassischen 
Philologie,  deren  Bannerträger  Gottfried  Hermann  war,  und  dessen  grosser 
Schüler  Christ.  August  Lobeck  zu  einer  Zeit,  in  der  eine  Eeise  von  Berlin 
nach  Königsberg  als  ein  „gleich  nach  der  Reise  zum  grossen  Mogul 
kommendes  Unternehmen"  galt,  Königsberg  zu  einem  Mittelpunkte  philo- 
logischer Studien  weit  über  Deutschlands  Grenzen  hinaus  machte,  dessen 
genialer  Schüler  Lehrs  der  Altertumswissenschaft  neue  geistige  Wege 
eröffnete ;  ein  Denkmal  zur  Erinnerung  an  jene  klassische  Philologie,  die 
noch  in  der  glücklichen  Lage  war,  in  tief  dringender  Durchforschung  des 
klassischen  Altertums  dessen  gesamtes  geistiges  Leben  von  hochstehen- 
der Warte  aus  überblicken  zu  können,  die  zugleich  im  innersten  Zusammen- 
hange mit  dem  Streben  unserer  grossen  Dichter  nach  edler  schöner 
Menschlichkeit  nicht  nur  ihre  unmittelbaren  Jünger,  sondern  auch 
alle  Gebildeten  jener  Zeit  mit  Begeisterung  für  die  dem  Leben  allein 
Wert  gebenden  Ideen  des  Wahren  und  Schönen  erfüllte.  Die  in  dieser 
Briefsammlung  zu  Wort  kommenden  Persönlichkeiten  sind  grosse  ge- 
schlossene Charaktere,  echte  Abbilder  ihrer  Zeit;  somit  bietet  Ludwich's 
Veröffentlichung  ebenso  ein  überreiches  Quellenmaterial  für  die  Geschichte 
der  Blütezeit  der  klassischen  Philologie,  sowie  auch  für  eine  heute  längst 
abgeschlossene  Geistesrichtung  des  deutschen  Volkes  überhaupt:  bleibt 
kein  irgend  wie  bedeutendes  gelehrtes  Werk  aus  den  ersten  6  Decen- 
nien  unseres  Jahrhunderts  unerwähnt  und  unbesprochen,  werden  uns  die 
prachtvollsten  Charakteristiken  aller  grossen  wie  kleineren  Stimmführer 
der  damaligen  Wissenschaft  durch  unmittelbarste  Aussprache  dazu  be- 
rechtigter Männer  geboten,  so  tönt  auch  hinein  in  unser  ganz  anders 
geartetes  Leben  voll  und  rein  der  Nachklang  des  religiösen,  politischen 
und  menschlichen  Lebens,  das  die  hinter  uns  liegende  Zeit  erfüllt  hat. 
Ob  speziell  für  die  Philologie  die  Wendung,  wie  dies  jüngst  geschehen 
ist,  eine  glückliche  genannt  werden  kann,  dass  die  ihr  von  Hermann  ge- 
gebene Richtung  durch  die  von  Otfried  Müller  und  August  Boeckh  aus- 
gehende überwunden  worden  ist,  darüber  müssen  wir  das  Urteil  wohl 
einer  späteren  Zeit  überlassen.  Mehr  noch  als  Lobeck,  dessen  Grösse 
in  ihrer  naiven  Einfachheit  auch  hier  wahrhaft  plastisch  hervortritt,  nimmt 
Lehrs  des  Lesers  volles  Interesse  in  Anspruch.  Schon  äusserlich  weist 
die  Briefsammlung  auf  ihn  dadurch  hin,  dass  sie  mit  dem  Geburtsjahre 
dieses  Gelehrten  (1802)  anhebt  und  mit  seinem  Tode  (1878)  abschliesst. 
In  weit  überwiegenderm  Masse  beschäftigt  sie  sich  auch  inhaltlich  mit 
ihm,  und  reicher,  mannigfaltiger  ist  der  Kreis  von  Persönlichkeiten,  der 
sich  um  ihn  schaart,  der  von  ihm  gefesselt  wird :  von  mehr  als  50,  darunter 
von  den  ersten  Gelehrten,  erhalten  wir  mehr  oder  weniger  eingehende 


Zur  ErinneruDg  an  K.  Lehrs.  185 

Briefwechsel,  die,  namentlich  wenn  man  sie  aus  der  grossen  Sammlung 
herauslöst  und  jeden  einzelnen  für  sich  liest,  von  ihren  Verfassern  ein 
ungemein  lehensvolles  und  menschlich  ansprechendes  Bild  gewähren. 
Aus  dem  reichen  Schatze  sei  einiges  zunächst  herausgehoben. 

Der  älteste  Briefwechsel  ist  der  mit  Karl  Lachmann  geführte. 
Lehrs  hatte  als  Schüler  des  Friedrichs-Kollegiums  zu  Königsberg  in 
Lachmann  einen  verehrten  Lehrer  gefunden :  bald  vereinigte  beide  Männer, 
so  verschieden  sie  auch  in  ihren  Lebensanschauungen  wie  in  ihrer  wissen- 
schaftlichen Arbeit  waren,  treueste  Freundschaft  für  das  Leben,  die  auf 
dem  gemeinsamen  Boden  ernsten  Forschungssinnes  und  sittlicher  Wahr- 
heit begründet  war.  Lehrs  war  gross  genug,  von  sich  stets  sehr  be- 
scheiden zu  denken,  um  so  höher  die  Verdienste  anderer  und  ihre 
Eigenschaften,  besonders  solche,  die  er  selbst  nicht  hatte,  zu  schätzen: 
so  empfand  er  es  auch  als  eine  hohe  Gabe  des  Schicksals,  das  ihn  „in 
die  belebende  Sphäre  eines  so  ausserordentlichen  Mannes"  geführt  hatte : 
„man  muss",  so  fährt  er  fort  (S.  555),  „wenigstens  anders  über  sich  selbst 
denken  als  ich  es  zu  thun  gewöhnt  bin,  um  zu  meinen,  es  sei  irgend 
berechenbar,  wie  viel  des  Lebens,  des  Lichtes,  der  Wärme,  womit  man 
sein  bischen  Leben  noch  durchdrungen  gefühlt,  nur  von  dorther  geflossen." 
Dabei  bewahrte  er  sich  doch  auch  diesem  „ausserordentlichen  Manne"  gegen- 
über die  Selbständigkeit  seines  eigenen  Urteils,  was  Lachmann  bei  der 
Kraft  seines  wissenschaftlichen  und  moralischen  Wesens  nur  um  so  mehr 
wieder  zu  Lehrs  führte:  an  der  leider  uns  verloren  gegangenen  gegen- 
sätzlichen Darlegung  von  Lehrs'  eigenem  Standpunkte  in  der  homerischen 
Frage  hat  Lachmann  erst  seine  Liedertheorie  an  der  Ilias  entwickelt. 
Als  wahrer  Freund  lässt  Lehrs  einmal  ein  über  diesen  gefälltes  Urteil 
nicht  gelten,  gesteht  jedoch  „unter  vier  Augen"  einen  Fehler  Lachmanns 
zu,  „eine  gewisse  tJberhebung  des  Verstandes",  „gegen  die  es  nur  eine 
Kettung  giebt,  wenn  auch  die  verständig  begabtesten  sich  sagen,  dass 
wir  alle  arme  Sünder  sind  und  dass  all  unser  Wissen  Stückwerk  ist,  ja 
vielmehr  auch  im  besten  Falle  ein  Quark"  und  sehr  charakteristisch 
fährt  Lehrs  fort:  „die  Schüler  haben  es  selbst  zu  verantworten. 
Ich  darf  sagen,  von  mir  hat  Lachmann  ein  Schwören  in  verba  magistri 
niemals  verlangt."  (S.  688).  Daselbst  spricht  sich  auch  Lehrs  über  die 
Gefahr  aus,  die  der  methodischen  Kritik  droht;  „das  Verstandesideal  — 
und  allerdings  sind  grosse  Verstände  wohl  dem  sehr  ausgesetzt  —  will  alles 
gerade  haben ;  ja  es  kann  dabei  sogar  die  so  notwendige  feinste  Empfin- 
dung für  die  Grenze  zwischen  dem  Geraden  und  Steifen  verloren  gehen  — 
und  doch  pflegen  die  Formen  alles  Lebenden,  der  Sprache  also  auch 
und  des  Styls  und  was  sonst  bei  Texten  und  Schriftstellern  vorkommt  — 


186  E.  Kammer 

wenn  auch  gesetzmässig,  so  doch  nicht  linealgerade  zu  sein."  Zur  Er- 
gänzung weist  er  noch  an  einer  andern  Stelle  darauf  hin,  wie  auch  den 
ausdauerndsten,  bewunderungswürdigsten  Beobachtern,  wie  auch  Lachmann 
ein  solcher  war,  bei  ihren  Observationen  bald  hier  bald  dort  Beispiele 
entgehen,  ohne  dass  sie  jedoch  davon  eine  richtige  Überzeugung  haben 
und  darum  weniger  bestimmt  auftreten  (S.  708). 

Die  22  uns  vorgelegten  Briefe  Lachmann's  (der  erste  aus  dem  Jahre 
1823,  der  letzte  aus  dem  April  1849,  Lachmann  selbst  starb  1851)  zeigen 
uns  im  Ausdruck  wie  im  Gedanken  sein  ganzes  Wesen:  klar,  kurz,  des 
kraftvollen  Witzes,  auch  des  derben  Wortes  an  rechter  Stelle  nicht  ent- 
behrend, ohne  Phrase,  praktisch  gewandt,  frisch,  allezeit  kämpf-  aber  auch 
hilf  bereit  und  stets  des  guten  Rats  sicher,  seiner  Bedeutung  sich  voll 
bewusst,  aber  von  aufrichtiger  Verehrung  und  Liebe  für  den  Freund, 
ein  kerngesunder,  echt  deutscher  Mann,  so  stellt  er  sich  uns  dar,  und 
doch  —  es  stimmt  gar  trübe,  wenn  man  sieht,  wie  auch  dieser  so  kraft- 
volle und  sicher  gefügte  Geist  durch  die  Zeit  zum  Pessimismus  gedrängt 
wird  und  schon  1842  erklärt,  dass  er  sich  nicht  frisch  und  strebsam 
fühle,  sondern  es  ihm  jetzt  eben  „recht  lieb  wäre,  abzuscheiden  ohne 
Klagen  und  Sehnen"  (S.  320)  und  dass  er  nach  Vollendung  des  Lukrez  „ab- 
sterben kann,  ohne  dass  die  Welt  etwas  an  mir  verliert".  (S.  464). 

Dass  der  Herausgeber  auch  nicht  eines  Briefes  von  Lehrs  an  Lachmann 
hat  habhaft  werden  können,  ist  wohl  sehr  zu  beklagen:  welche  Fülle 
von  Anregung  und  Geist  ist  uns  dadurch  verloren  gegangen!  Sehr  gut 
charakterisiert  Lachmann  selbst  einmal  das  Freundschaftsverhältnis,  wenn 
er  an  Lehrs  schreibt:  „Sie  müssen  zwar  die  Gelehrsamkeit  immer  allein 
liefern:  ich  bin  vielleicht  zuweilen  unbefangener"  (S.  179),  was  die  Kun- 
digen auch  noch  etwas  anders  auslegen  werden. 

Die  6  Briefe  Gottf.  Hermann's  an  Lehrs  und  von  diesem  an  jenen 
knüpfen  vorzugsweise  an  wissenschaftliche  Arbeiten  an,  die  die  beiden 
Gelehrten  mit  einander  austauschen.  Seine  wahre  Verehrung  bringt 
Lehrs  in  männlich  edler  Sprache  dem  bewunderten  Meister  der  Wissen- 
schaft dar:  „Ihnen  ergebe  ich  mich  auf  Gnade  und  Ungnade"  spricht  er 
bei  der  Überreichung  seiner  Quaest.  epicae  (S.  220).  Seine  Recension 
von  Ranke's  hesiodeischen  Studien  bezeichnet  er  als  „Brosamen  von  Ihrem 
Tische  und  quod  spiro  et  placeo,  si  placeo  tuum  est"  (S.  294).  Pracht- 
voll ist  der  Brief,  den  er  „auf  den  Altar  der  Dankbarkeit"  zu  Hermanns 
Jubiläum  legt,  „dem  als  Gelehrten  ebenso  meine  Bewunderung  wie  als 
unerschrockenem  Wahrheitsfreund  meine  Liebe  gewidmet  ist !  Wir  leben 
in  Zeiten,  auf  deren  nächste  Zukunft  der  Nachdenkende  nicht  ohne  Be- 
sorgnis blickt.    Darum  dreimal  Heil  denjenigen  Männern,  die  jene  Wissen- 


Zur  Erinnerung  an  K.  Lehrs.  187 

Schäften,  deren  edelste  und  eigenste  Frucht  Freiheit  des  Geistes  und 
Freiheit  der  Gedanken  sein  soll,  fest  genug  gegründet  haben,  um,  wir 
hoffen  es  sicher,  manchen  Sturm  überdauern  zu  können"  (S.  303).  Charakte- 
ristisch ist  auch  die  Antwort  Hermanns,  dessen  Briefe  trotz  ihrer  Kürze 
den  grossen  Mann  zeigen:  „Ich  kann  an  mir  nichts  entdecken,  dass  ich 
vor  anderen  voraus  hätte  oder  wodurch  ich  auch  nur  mit  so  vielen  weit 
verdienteren  Männern  mich  messen  dürfte.  Daher  muss  ich  diese  Beweise 
von  Achtung  und  Liebe  als  Geschenke  annehmen,  die  ich  nicht  sowohl 
wegen  meiner  etwaigen  Verdienste  als  deswegen  erhalte,  weil  ich  es  immer 
ehrlich  mit  der  Wahrheit  gemeint  und  mich  weder  durch  Lob  oder  Gunst 
noch  durch  Tadel  oder  Feindschaft  bestechen  gelassen  habe.  Aber  das 
ist  doch  nur,  was  jedermann  thun  sollte"  (S.  306).  Dass  neben  dem 
Menschlich -Schönen,  das  diese  Briefe  atmen,  der  Philologe  noch  im 
besonderen  reiche  Anregung  findet,  versteht  sich  von  selbst. 

Die  drei  Briefe,  die  Haupt  und  Lehrs  mit  einander  wechseln,  sind 
für  beide  Männer  ein  gleich  schönes  Denkmal.  Sie  knüpfen  an  Hermann's 
Tod  an  (f  31.  Dez.  1848):  Haupt,  der  Lehrs  auch  persönlich  im  Jahre 
1844  kennen  gelernt  hatte,  bittet  diesen,  falls  Lobeck,  wie  zu  erwarten, 
wegen  seines  Alters  ablehnen  werde,  dem  Rufe,  Hermann's  Nachfolger  zu 
werden,  zu  folgen  (S.  504 f.).  Lehrs  meldet  alsbald,  dass  Lobeck  „mit 
seinem  unbeschreiblich  milden  Lächeln"  abgelehnt  habe  und  fährt  fort: 
„Und  nun  ich?  —  nach  Hermann  und  Lobeck!  —  Nein!  dieses  Nein  hat 
mir  keinen  Augenblick  Bedenkzeit  gekostet,  wie  mangelhaft  auch  hier  der 
Ort  und  die  Verhältnisse  sind.  Ich  aber  sollte  mich  auf  Hermann's 
Katheder  setzen?  Das  heisst  zugleich  TtegiGycsTtTco  hl  y^^gq)?  ich  habe 
dem  Aad^e  ßtwoag  von  jeher  gehuldigt,  und  ich  will  nun  schon  um  so 
mehr  dabei  bleiben  da  auch  ich  nicht  mehr  jung  bin,  und  nach  einer 
zwanzigjährigen  Schulzeit,  an  die  ich  zwar  mit  Freuden  zurückdenke, 
aus  der  man  aber  nicht  ohne  Schlappe  davonkommt,  über  die  Mittags- 
höhe der  Jugendkraft  und  der  Jugendfreudigkeit  hinaus  mich  fühle"  (S.  507). 
Auf  diesen  Brief  ist  Haupt  nur  noch  verlangender,  Lehrs  nach  Leipzig 
zu  ziehen:  „ich  möchte  keinen  als  Hermann's  Nachfolger  sehen,  der  es 
sich  zutraute,  seine  Stelle  ganz  zu  füllen:  es  fehlt  nicht  an  Leuten,  die 
sich  mit  grosser  Naivetät  gemeldet  haben.  Ich  mute  Ihnen  nicht  zu 
und  ich  habe  Ihnen  nie  zugetraut,  so  viel  von  sich  zu  halten  wie  Andere 
von  Ihnen  halten,  aber  wo  so  einstimmig  ihr  Wert  erkannt  wird,  da  sollten 
Sie  Ihrer  Bescheidenheit  misstrauen  . . .  Hermann  würde,  wenn  man  ihn 
fragen  könnte,  Sie  nennen.  Auf  Sie  hat  er  unter  allen  Jüngern  am 
meisten  gehalten  ...  Sie  fühlen  sich  nicht  mehr  jung.  Giebt  es  aber 
ein  wirksameres  Mittel  der  Verjüngung  als  Ortsveränderung  und  Eintritt 


188  E.  Kammer 

in  neue  und  erweiterte  Thätigkeit? . . .  Ich  würde  es  als  ein  grosses 
Missgeschick  betrachten,  wenn  Sie  unerschütterlich  blieben.  Mir  ist  es 
als  Pflicht  erschienen,  dafür  zu  sorgen,  dass  jemand  Hermann  folge,  der 
es  mit  Ehren  könne,  der  nicht  bloss  wissenschaftlich,  sondern  auch  mensch- 
lich als  Charakter  dieser  Ehre  werth  sei"  (S.  507  f.).  Lehrs  stand  vor 
einem  Wendepunkte  seines  Lebens :  trotzalledem  und  obwohl  auch  Männer 
wie  Meineke  und  Lachmann  (vgl.  z.  B.  S.  523)  in  ihn  drangen  und  gerade 
ihn  für  den  geeigneten  hielten,  Lehrs  blieb  in  seiner  Bescheidenheit 
„unerschütterlich",  so  weit  man  schliessen  kann,  wohl  nicht  zu  seinem 
Glück:  in  der  anregenderen  Nähe  mit  den  bedeutendsten  Männern  und 
seinen  Ereunden,  in  der  sicheren  und  ausgedehnteren  Wirksamkeit,  die 
ihm  Leipzig  bieten  konnte,  hätte  er  von  dem  Baume  seiner  tiefsinnigen 
Gelehrsamkeit  und  Weisheit  noch  manche  goldene  Frucht  mehr  schütteln 
können,  die  nun  verdorrt,  an  ihm  vielleicht  verkümmert  ist;  vor  allem 
hätte  er  sich  später  wohl  nicht  so  gar  „einsam"  gefühlt.  Haupt's  dritter 
Brief  (S.  623  f.),  der  in  grösster  „Nervenzerrüttung"  geschrieben  ist,  bringt 
ein  herrliches  Urteil  über  Lehrs'  „populäre  Aufsätze",  dem  er  dann  folgendes 
zufugt;  „Lieber  Freund,  vor  einem  solchen  Buche  wird  mir  wohl  zu  Mute 
und  weh.  Denn  ganz  wird  man  ja  doch  der  Eigensucht  nicht  ledig  und 
ich  habe  es  schmerzlich  gefühlt,  wie  allerhand  Lebenswendungen  und 
auch  eigene  Schuld  mich  nicht  haben  erreichen  lassen,  was  aus  harmonischer 
Ausbildung  beschieden  ist."  —  Lehrs'  zweiter  Brief  ist  ein  Hymnus  auf 
Hermann,  dessen  nachgelassene  Aeschylus- Ausgabe  er  von  Haupt  erhält 
(S.  570  f.),  und  der  dritte  (S.  662)  zeigt,  wie  auch  bei  kleinem  Anlass 
seines  Geistes  Grazie,  sein  Humor  alles  vergoldet. 

Ein  sehr  bedeutsames  Kapitel  bildet  der  Briefwechsel  zwischen 
Kit  sohl  und  Lehrs:  die  beiden  Männer  hatten  sich  1832  in  Halle  zum 
ersten  und  einzigen  Male  gesehen  und  schlössen  für  das  Leben  einen 
Freundschaftsbund:  die  in Ludwich's Quellensammlung  vorgelegten  37 Briefe 
an  Lehrs  und  27  von  ßitschl  umfassen  die  Jahre  von  1837 — 1876,  in 
dem  Ritschi  am  9.  November  starb. 

Ritschi  zeigt  sich  auch  hier  als  den  Meister  des  Wortes,  der  schönen, 
anmutigen,  aber  auch  —  glatten  Rede ;  auch  an  der  schmeichelhaftesten  An- 
erkennung und  Verehrung  von  Lehrs  lässt  Ritschi  es  nicht  fehlen,  und 
doch  glaubt  man  den  natürlichen  Laut  der  Herzenssprache  hier  und  dort 
und  oft  zu  vermissen.  Nicht  selten  hat  Ritschi  auf  die  Briefe  von  Lehrs 
zu  antworten  und  sich  wegen  seiner  „angeborenen  Schreibfaulheit"  zu  ent- 
schuldigen, nicht  selten  schreibt  er  kurz  vor  Reisen  oder  aus  dem  Aufent- 
halt im  Bade  und  beklagt  die  „Sterilität  des  Lihalts"  seiner  Briefe,  fär 
die  der  Mangel  an  Zeit  die  Schuld  trage.    „Wird  es  mir  denn  nun  noch 


Zur  Erinnerung  an  K.  Lehrs.  189 

gelingen,  mich  wieder  in  Ihre  Gnade  einzubitten",  beginnt  ein  Brief  vom 
12.  August  1855  (S.  608).  Für  die  Übersendung  der  Quaest.  epicae  (Juni 
1837,  womit  der  Briefwechsel  anhebt),  dankt  er  Lehrs  erst  ein  Jahr  später 
und  weiss  nur  von  der  „unerschöpflichen  Belehrung,  die  sie  auf  jeder 
Seite  bieten"  und  der  „concentrierten  Bündigkeit  der  Untersuchung"  zu 
sprechen  (S.  252).  Auf  Lehrs'  „Herodiani  tria  scripta  emendatiora"  schreibt 
er,  nachdem  er  sie  kurz  gelesen,  nur :  , Jhr  schönes  Buch  habe  ich  nur  erst 
so  weit  angelesen,  um  mir  dieses  Epitheton  erlauben  zu  dürfen"  (S.  488). 
Lehrs'  populäre  Aufsätze,  die  ihm  mit  Haupt  und  Rosenkranz  gewidmet 
waren,  entlocken  ihm  die  süss -herben  Worte:  „Ihr  ganzes  Buch,  welches 
wie  Milch  und  Honig  hinabgleitet,  so  lind  und  so  lauter  zugleich,  nur  manch- 
mal leise  erinnernd,  dass  der  Honig  von  der  Biene  kommt  und  die  Biene 
einen  Stachel  hat.  Das  ist  aber  freilich  erst  erster  Anschmack ;  der  rechte 
Geschmack  soll  mir  noch  die  nächsten  Wochen  füllen  und  der  Nachschmack 
erst  recht  bleiben"  (S.  618).  Die  2.  Auflage  der  populären  Aufsätze,  die 
Lehrs  dem  Freunde  mit  einem  griechischen  Briefe  übersendet,  traf  Ritschi 
schon  in  der  Krankheit,  die  ihm  „fast  nur  Sonntag  Morgen"  für  Lektüre 
gestattete:  „der  heutige  Tag  hat  mir  z.  B.  als  Ertrag  gebracht  die  hohe 
und  rührende  ,Nichtschuld'  der  Antigene  und  die  prächtige  Auffassung  der 
Götterwelt,  p.  150  u.  235"  (S.  963);  im  übrigen  ist  ihm  „vieles  dort  zu  neu, 
um  gewisse  angewöhnte  ,Philistereien*  sogleich  beim  ersten  Anlauf  rein 
und  voll  zu  überwinden :  es  will  eben  erst  langsam,  aber  desto  dauernder 
assimilirt  werden",  und  er  bittet  sich  vorbehalten  zu  dürfen,  sich  —  „noch 
im  Laufe  dieses,  wenn  nicht  Jahrs,  doch  Semesters  —  im  Zusammenhange 
auszulassen".  Man  bekommt  so  den  Eindruck,  als  wenn  Lehrs'  Geisteswelt 
ihm  doch  fern  lag,  er  mit  ihr  im  Grunde  auch  nicht  übereinstimmte. 
„Ehrlich  heraus",  erklärt  er,  „wenn  ich  mich  auch  Ihnen  gegenüber  bla- 
mire:  ich  bin  mit  Aristarch  nicht  aufs  Reine  gekommen";  in  betreff 
der  Komposition  der  Ilias  „in  grösserem  Masse",  wird  er  je  länger  desto 
mehr  destruktiv  gesinnt,  weiss  sich  „namentlich  gegen  Lachmann  nicht 
zu  wehren".    Auch  im  Metrischen  ging  er  andere  Wege. 

Lehrs'  Bewunderung  für  Ritschl's  wissenschaftliche  Thätigkeit  war 
rein  und  wuchs  immer  mehr.  Bei  seiner  „vielleicht  krankhaften  Aversion" 
gegen  einen  grossen  Teil  der  damaligen  philologisch-archäologischen  Litte- 
ratur  wurde  ihm  an  der  Klarheit  der  Aufgaben,  Kraft  der  Ausführung,  Sicher- 
heit der  Ergebnisse  von  Ritschl's  Arbeiten,  .die  er  nicht  nur,  weil  sie  vom 
Freunde  kamen,  mit  voller  Hingabe  zur  eignen  Belehrung  sich  aneignete, 
„ordentlich  wohl  und  gesund  zu  Mute";  gegenüber  seinem  eignen  zu- 
nehmenden „Hange  zum  Vagieren"  war  ihm  Ritschl's  „wissenschaftliche 
Selbstbeherrschung"  trotz  seiner  sonstigen  mannigfaltigen  geschäftlichen 


190  E.  Kammer 

Wirksamkeit  und  Teilnahme  an  den  Zeitereignissen  ein  Vorbild,  und  rüh- 
rend ist  sein  Versprechen,  versuchen  zu  wollen,  wie  viel  gute  Beispiele 
seine  schlechten  Sitten  noch  bessern  könnten.  In  archäologischen  Dingen 
fand  er  bei  Ritschi  „reines  Maass,  so  gar  kein  unreines  Wasser".  Vor  allen 
zogen  ihn  Ritschl's  Plautina  durch  den  Reichtum  der  Gedanken  und  die 
Fülle  des  Überzeugenden  an,  die  ihm  als  die  „reine  JJXov^yuia''  er- 
schienen. So  hielt  er  allen  Ernstes  nach  Lobeck's  Tode  Ritschi  „für  den 
einzigen  Philologen,  der  übrig  bleibt",  der  „jetzt  die  philologisch-kritisch- 
sprachliche ächte  Fahne  voranträgt"  (S.  656),  „der  das  Panier  der  Bentley- 
Hermannischen  Kritik"  hochhält  (S.  770) :  „Sie  legen  an  nichts  die  Hand, 
ohne  dass  etwas  aufspriesst",  schreibt  Lehrs  ein  andermal.  Von  Ritschl's 
Zustimmung  zu  seinen  Arbeiten  fühlte  sich  Lehrs  dankbar  beglückt  und 
gehoben,  „nun  lass  sie  kommen,  die  mir  gewiss  sind  in  unseren  Recensir- 
anstalten!"  (S.  965).  In  Ritschi  sah  er  aber  auch  den  „aufrichtig  sympathi- 
sierenden Freund",  an  dem  man  „über  vieles  Auswendige  in  der  Stille  des 
Gemüts  hinwegkommt"  (S.  911).  Nur  einmal  flog  über  diese  Freundschaft 
ein  trüber  Schatten;  die  Behandlung,  die  C.  F.  W.  Müller's  plautinische 
Studien  durch  Ritschi  erfuhren,  versetzte  Lehrs  „in  grosse  Betrübnis",  da 
er  sehen  musste,  welche  grosse  Differenz  des  Urteils  zwischen  ihm  und 
Ritschi,  dem  er  sich  „wie  immer  bisher  auch  jetzt  noch  weit,  weit,  weit 
unterordnet"  (S.  840),  plötzlich  sich  aufthat:  der  Brief,  in  dem  Lehrs  diese 
Frage  behandelt,  gehört  hinsichtlich  der  Männlichkeit  der  Gesinnung,  der 
Tiefe  des  Gemüts,  des  Reichtums  der  Gedanken,  zu  den  schönsten  der 
Sammlung.  Ein  Brief  Ritschl's,  der  die  erbetene  Beruhigung  bringen  soUte, 
ist  leider  nicht  vorhanden,  wahrscheinlich  auch  —  nicht  geschrieben.  Trotz- 
dem hielt  Lehrs  an  Ritschi  fest;  in  dem  letzten  an  den  Freund  geschrie- 
benen Briefe  versichert  er  noch  einmal  „welch  ein  grosser  Moment  für 
sein  Leben  ihm  von  Anfang  an  die  Freundschaft  mit  ihm  gewesen  sei", 
und  tief  bewegt  teilt  er  einem  jungen  Freunde  die  eben  erhaltene  Nach- 
richt mit,  „dass  der  grosseste  jetzt  lebende  Philolog  und  der  gesündeste  — 
gestern  gestorben  ist"  (S.  994).  Lehrs'  Briefe  an  Ritschi  sind  alle  von 
graziösester  Zartheit  und  Lieblichkeit,  von  köstlichem  Humor  und  aus  un- 
erschöpflichem Reichtum  des  Herzens  und  des  Geistes  geschrieben,  aber 
auch  aus  einem  nie  versagenden  Füllhorn  der  Gelehrsamkeit,  wenn  er 
auch  in  echt  sokratischer  Ironie  immer  wieder  von  seiner  Unwissenheit 
spricht  und  zufügt :  „ich  weiss  nichts,  ich  weiss  gar  nichts" ;  wo  Lehrs  sich 
geistig  angeregt  fühlte,  wie  dies  Ritschi  gegenüber  stets  der  FaU  war, 
da  strömte  die  unversiegliche  Quelle  seines  inneren  Lebens,  und  neidlos 
spendete  er  aus  dem  Reichtum  seines  Wissens  und  seiner  Erkenntnis. 
Dem   kommenden    Geschichtschreiber    der   Philologie   im    19.  Jahrhun- 


Zur  Erinnerung  an  K.  Lehrs.  191 

dert  wird   der  Lehrs  -  Ritschlsche  Briefwechsel   eine  besonders  wertvolle 
Quelle  sein. 

In  einen  gar  innigen  Freundschaftsbund  lassen  uns  die  Briefe  von 
August  Meine ke  und  Lehrs  blicken.  Dieser  hatte  Meineke  als  Direktor 
des  Danziger  Gymnasiums  im  Jahre  1823,  wo  er  für  ein  halbes  Jahr  eine 
Vertretung  übernommen  hatte,  kennen  gelernt  und  in  ihm  nicht  nur  einen 
Direktor  hochzuschätzen  Gelegenheit  gehabt,  der  „ohne  Maschinerie  allein 
mit  seiner  Charis"  dirigierte,  sondern  auch  einen  neuen  philologischen  Lehrer 
gefunden,  dessen  Wissen  und  Arbeiten  in  seiner  „Raschheit,  Rüstigkeit, 
Pedanterielosigkeit"  seine  höchste  Bewunderung  erregten.  Unvergesslicli 
bleiben  ihm  die  Erinnerungen  an  die  Danziger  Zeit;  mit  seinem  letzten 
uns  erhaltenen  Briefe  (vom  6.  Dezember  1869)  überschickt  er  ihm  seine 
Übersetzung  von  Plato's  Phädrus,  für  den  er  seine  „erste  Begeisterung  in 
Danzig  fasste",  als  Meineke  ihn  „den  adolescentulum,  den  Phädrus  einer 
damals  sehr  empfänglichen  Prima  erklären"  liess.  Zunächst  vereinigte  die 
beiden  Männer  der  gemeinsame  wissenschaftliche  Boden  und  die  Verehrung 
für  Hermann  und  Lobeck:  „es  war  ein  wunderbarer  Mensch,  dieser  Her- 
mann! Seines  Gleichen  wird  nicht  leicht  wiederkehren!"  (S.  526)  und 
„Sieht  man  nun  gar  die  Lobeckschen  Sachen  an,  wie  sinkt  da  einem  der 
Mut !"  (S.  224)  und  „Lobeck,  dächte  ich,  wüsste  über  alles,  wo  uns  andern 
das  Wasser  hängt,  Auskunft  zu  geben"  (S.  448).  Gegenüber  seinen  eignen 
„vagen  Gedanken"  bewunderte  Lehrs  die  aus  geschlossener  Grösse  reich- 
lich strömende  mannigfaltige  Thätigkeit  Meineke's,  mit  der  er  „so  alle 
Augenblicke  einmal  in  die  entlegensten  Winkel  der  philologischen  Litte- 
ratur  hineinfuhr  und  aufräumte";  sie  gab  ihm  immer  wieder  Gelegenheit 
zu  lernen,  und  „das  Lernen,  erhöht  durch  solche  liebe  persönliche  Be- 
ziehungen, ist  für  mich  wohl  der  höchste  Genuss,  den  ich  noch  haben 
kann"  (S.  576).  Dazu  kam  die  naive  Bescheidenheit,  mit  der  Meineke 
über  seine  eigenen  Arbeiten  dachte :  „ich  bin  nun  einmal  für  die  Philologie 
verloren  und  bilde  mir  nicht  ein  etwas  zu  geben,  was  andere  vernünftige 
Leute  unter  günstigeren  Verhältnissen  nicht  zehnmal  besser  zu  machen 
im  Stande  sind"  (S.  158),  die  heitere  Sicherheit,  mit  der  er  mitten  unter 
den  Stürmen  der  Zeit  die  Fäden  ruhiger  Studien  in  der  Hand  behielt,  und 
vor  allem  die  aus  harmonischem  Wesen  und  innerer  Gesundheit  fliessende 
Liebenswürdigkeit  und  Anmut.  So  bildete  sich  zwischen  den  beiden  Män- 
nern eine  gegenseitige  erquickende  Freundschaft  für  das  Leben,  „mein  un- 
wandelbar geliebter  Freund",  so  ruft  Meineke  aus,  und  „mein  herrlicher 
Freund!"  so  Lehrs!  aber  auch  für  uns  sind  diese  Briefe  erquickend  und 
erfrischend  wie  ein  Bad:  wir  verstehen  wohl,  wie  einer  solchen  Persön- 
lichkeit wie  Meineke  gegenüber,  der  sich  dem  Freunde  schildert  als  „merk- 


192  K.  Kammbb 

lieh  gealtert  —  ovyJd^  ofxüg  d^äXXovd-  aitaXC)  XQot,  VMQcperaL  yaQ  ijdi]  — , 
aber  doch  noch  immer  empfanglich  für  alles,  was  das  Herz  erquickt  und 
den  Geist  erhebt"  (S.  624),  Lehrs  diesen  in  dessen  voller  Würdigung  ganz 
antik  in  Worten  und  in  Gedanken  anredet:  „Was  Sie  lehren,  Sie  Graecus 
durch  und  durch ,  Sie  vollkommenster  "ElXrjv,  vor  dessen  Griechheit  ich 
beim  Studium  des  Theokrit  mich  immerfort  schämte  —  i/Mkvxpaixriv,  — 
was  mir  freilich  Ihnen  gegenüber  das  Vergnügen  nur  erhöhte"  (S.  616j. 

Sein  liebenswürdiger  Geist,  sein  reiches  Gemüt  weht  uns  auch  heute 
noch  aus  den  24  Briefen  Meineke's  entgegen,  in  denen  wir  nebenbei  viele 
treffliche  Urteile  über  die  Wissenschaft  und  die  wichtigen  wissenschaft- 
lichen Erscheinungen  jener  Zeit  erfahren.  Leider  sind  von  Lehrs'  Briefen 
hier  nur  sechs  gegeben,  was  wir  um  so  mehr  bedauern,  als  das  Gebotene 
überaus  herzlich  ist.  Meineke  hatte  mit  Horaz  denselben  Geburtstag; 
unter  den  sechs  Briefen  sind  zwei  zu  diesem  Tage  geschrieben  (Brief  471 
und  499),  beide  köstlich,  voll  zartester  Gesinnung  und  sprudelnden  Hu- 
mors. Der  erstere  ist  aus  dem  Jahre  1866,  in  dem  Lehrs'  Horazkritik 
schon  viel  von  sich  reden  machte  und  seine  Stimmung  schon  halb  ver- 
düsterte; mit  Bezug  hierauf  schreibt  Lehrs  dem  Freunde:  „so  war  der- 
jenige 8.  Dezember,  welcher  einst  den  Horatius  gebar,  ein  Tag,  der  viel 
Yerdruss  bereiten  sollte,  ereile.  Aber  das  Schicksal  ist  gerecht  und  gütig. 
Ein  anderer  8.  Dezember  brachte  mir  einen  Freund,  dessen  Andenken  stets 
mich  erheitert  und  beglückt"  (S.  753). 

Ein  gleich  anmutiges  Verhältnis  bestand  auch  zwischen  Rosenkranz 
und  Lehrs,  in  der  Tonart  vielleicht  noch  etwas  zärtlicher ;  Lehrs  ist  Rosen- 
kranz gegenüber,  wie  der  Bräutigam  der  Braut :  was  ihm  fehlte,  die  har- 
monische Anlage  des  Wesens,  sie  besass,  noch  vertieft  durch  seine  philo- 
sophischen Studien,  der  das  Gleichmass  in  sich  tragende,  auch  verhängtes, 
schweres  Leid  in  Fassung  ertragende  und  mit  Anmut  sich  mitteilende 
Freund,  dem  „die  Rede  süsser  als  Honig  vom  Munde  troff"  (S.  512). 
Lehrs  brauchte,  um  sich  zu  entzünden  und  dann  sein  Licht  wärmer 
strahlen  zu  lassen,  anmutige  geistvolle  Persönlichkeiten:  unter  den  Män- 
nern konnte  ihm  wohl  keiner  willkommmener  sein  als  Rosenkranz,  zu  dem 
er  seine  „unglücklichen,  immer  wieder  erwachenden,  kleinen  ästhetischen 
Angelegenheiten  tragen"  konnte.  Der  Briefwechsel  ist  klein,  wie  natür- 
lich, da  die  beiden  Männer  sich  täglich  persönlich  sehen  konnten,  in  den 
letzten  Jahren  wohnten  sie  einander  gegenüber,  so  flogen  kleine  Zettel 
hin  und  her;  nur  aus  den  Jahren  1848  und  1849,  in  denen  Rosenkranz 
in  Berlin  war,  sind  einige  längere  Briefe.  Alles  aber,  was  hier  von  Lehrs 
geboten  ist,  ist  aus  dem  Herzen  wie  einem  Geliebten  geschrieben,  bisweilen 
in  zärtlich  neckender  Rede,  wie  der  Liebende  es  thut.    Wie  dies  Ver- 


Zur  Erinnerung  an  K.  Lehrs.  193 

hältnis  poetisch  anmutig  ist,  so  drängt  sich  in  den  Briefwechsel,  die  Prosa 
verbannend,  die  Poesie  selbst  ein  mit  den  süssesten  Lauten,  deren  das 
Herz  fähig  ist,  z.B.  wenn  Lehrs  einen  Neujahrswunsch  beschliesst:  „nur 
eines  bleibt  mir  wie  zuvor,  Dein  liebes  Herz  und  Dein  geduldig  Ohr!" 
(S.  543).  Das  schönste  Denkmal  für  der  Freunde  Bund  ist  das  tiefsinnige 
Gedicht  (Nr.  540,  S.  873),  mit  dem  Lehrs  einen  poetischen  Geburtstags- 
gruss  von  Rosenkranz  beantwortet: 

„nahte  die  Eris,  so  war's 

Jene  friedliche  nur,  die  in  vielverschlungnen  Gespräches 

Windungen  trennend  uns  nur  fester  und  fester  vereint. 
Aber  du  warst  der  gebende  doch!  auf  den  Wegen  der  Weisheit 

Hatte  dein  forschender  Geist  lösende  Worte  gespäht! 
Darf  ich's  danken  dem  Gott,  dass  er  mich  zum  Empfangenden  stimmte, 

So  verdank'  ich's  mehr,  dass  er  den  gebenden  gab. 
Und  am  innigsten,  dass  er  den  Mann  des  liebenden  Herzens, 

Nicht  den  Lehrenden  nur,  mir  in  die  Nähe  geführt!" 

Die  hier  hervortretende  Bescheidenheit  von  Lehrs  ist  wahrhaft  er- 
greifend, und  doch  war  er  auch  Rosenkranz  gegenüber  der  aus  ursprüng- 
lichem Geiste  und  feurigem  Herzen  spendende!  aber  natürlich!  der  Eros 
lässt  den  Liebenden  immer  als  den  empfangenden  Teil  sich  bezeichnen ! 

Die  6  Briefe  Hermann  Köchly's  sind  recht  breit,  wenig  bedeutend, 
es  fehlt  Geist  und  Gemüt,  nicht  aber  an  —  Eitelkeit :  zu  den  Themen  aus 
dem  Altertum,  die  er  behandelt,  steht  er  in  keinem  wirklich  innerlichen 
Verhältnis.  Lehrs'  schöne  Recension  seiner  „Academischen  Reden"  hat  er 
wohl  nicht  verstanden,  wenn  er  behauptet,  in  den  Hauptpunkten,  auf  die 
sich  Lehrs'  Tadel  bezog  (Prometheus,  Sokrates,  Schuld  der  Athener)  mit 
Lehrs  nicht  so  weit  auseinander  zu  sein,  als  es  wohl  „scheinen  möchte" 
(S.  644).  Seine  Gleichstellung  mit  Lehrs  ist  doch  recht  naiv,  wenn  er  mit 
Bezug  auf  Lobeck  ausruft:  „Was  doch  Unsereins  für  ein  armseliger 
Tropf  gegen  solch'  einen  Heros  ist !"  (S.  656),  woran  gewiss  Lehrs  selbst 
in  seiner  Bescheidenheit  keinen  Anstoss  genommen  haben  wird !  Für  seine 
'iXiag  fiiTiQa  und  seine  Hesiodea  erwartet  K.  in  Königsberg  ein  „allge- 
meines Schütteln  des  Kopfes!"  „Aber",  fährt  er  fort,  „es  giebt  nun  ein- 
mal kritische  Grillen,  die  man  nicht  anders  los  werden  kann,  als  dass  man 
sie  in  Gottes  Namen  ausschwärmen  lässt,  selbst  auf  die  Gefahr  hin,  dass 
allerwärts  mit  Fangnetz  und  Spiess  gegen  sie  ins  Feld  gezogen  wird.  Ein 
gesunder  Mensch  muss  ja  auch  gewisse  Krankheiten  einmal  durchmachen: 
^lolgav  ö'  ovTLva  cprjf.u  Ttecpvyfxevov  %(.i(.ievai  avögcov^^  (S.  695).  Ist  diese 
Stelle  im    ganzen   höchst   charakteristisch   für  Köchly's  Verhältnis  zur 

13 


194  E.  Kahmeb 

Wissenschaft  wie  für  sein  rhetorisches  Talent,  so  ist  schon  allein  die  geist- 
und  gemütlose  Verwertung  des  tiefsinnigen  griechischen  Citats  für  ihn 
recht  bezeichnend:  im  Gegensatze  dazu  wie  sehr  ist  man  überrascht, 
wenn  Männer  wie  Hermann,  Lobeck,  Meineke,  Lehrs  in  der  Verwendung 
von  griechischen  Citaten  an  rechter  Stelle  geradezu  schöpferisch  sindl 
wohl  erklärlich,  da  jenen  die  hellenische  Welt  ein  Stück  ihres  eigenen  besten 
Seins  bildete,  nicht  ein  Gegenstand  zum  Prunken  war! 

Wie  ganz  anders  sind  wieder  die  10  Briefe  von  Lehrs  aus  dem  Vollen 
geschöpft,  reich  an  Geist,  Gemüt  und  liebenswürdigem  Humor.  „Also, 
mein  teuerer  Freund,  eine  kleine  Ilias  und  ein  grosser  Hesiodos  steht  uns 
bevor!  Auch  die  kleine  Ilias  ist  ja  ohne  Zweifel  ein  Werk  von  »grosser 
Arebeit*  und  Sie  fahren  fort  Sich  als  ,Held  lobebär*  zu  erweisen ,  und  ich 
fahre  fort  Ihre  Arbeit  und  Ihre  Arbeiten  zu  bewundem  und  zu  lieben, 
ich  stiller  fieoaiTtohog.  Nein  fast  wie  ein  Nestor,  der  drei  Menschen- 
alter erlebt  —  freilich  ohne  die  Weisheit  davongetragen  zu  haben  — " 
(S.  645  ff.).  Prachtvoll  ist  der  „unwirsche  Brief"  vom  23.  Juni  1 863  (S.  675  ff.), 
wo  schon  Lehrs'  Horaz-Kritik  ihren  Schatten  wirft.  „Was  mögen  Sie  doch 
in  den  Monaten,  dass  ich  von  Ihnen  nichts  weiss,  unterdess  für  Hühner 
gefressen  haben !  während  ich  langsam  und  stumpfzahnig  hin  und  her  an 
einem  Bissen  kaue  ...  An  den  Pisistratus  nicht  zu  glauben  —  das  ist 
doch  wol  nicht  neue  Kriticke,  sondern  alte  Perücke!  Wohlan  hauen  Sie 
mich ! . . .  Was  ist  es  doch  mit  unseren  Wissenschaften ! . .  .  sind  wir 
wirklich  klüger  geworden?  und  wenn  —  sind  wir  gefördert  in  Freiheit 
und  Selbstentwickelung  und  Charakter?  Und  ist  es  etwas  Wahres  an  der 
Philosophie  der  Geschichte  und  ihrem  Nachweis  des  Fortschrittes  in  der 
Weltgeschichte?  . . .  Doch  verzeihen  Sie,  dass  ich  über  diese  Dinge  zweifel- 
haft und  fragend  bin,  die  ja  ein  Professor  wissen  soll!  Sagen  Sie's  nicht 
weiter !  Ich  habe  bereits  meinen  Freund  Rosenkranz,  der  vorigen  Winter 
wieder  Philosophie  der  Geschichte  gelesen,  um  sein  Heft  gebeten,  und 
werde  also  das  nächste  mal  darüber  unterrichtet  sein!" 

Bei  dem  sehr  verschiedenen  Standpunkte,  von  dem  beide  Männer  das 
Altertum  erfassten ,  konnte  der  Briefwechsel  in  keinen  rechten  Gang  kom- 
men und  hörte  frühzeitig  auf. 

Voll  menschlich-persönlichen  Interesses  sind  die  8  Briefe  von  J.  H  o  r  k  e  1 
aus  den  Jahren  1844—51,  sie  zeigen  eine  liebenswürdige,  gemütvolle, 
fein  gebildete,  vornehme,  mehr  zu  einsamem  Innenleben  angelegte,  auch 
anspruchsvolle  Natur,  einen  geistreichen  Mann  mit  grossen  Plänen  und 
Entwürfen,  den  das  Leben  plötzlich  zwingt,  gewaltig  mit  sich  abzurech- 
nen und  sich  mit  sich  selbst  ins  Reine  zu  setzen  und  sich,  „statt  an  die 
Studenten,   an  die  Sextaner  zu  addressiren  und  den  Versuch  darauf  zu 


Zur  Erinnerung  an  K.  Lbhrs.  195 

wagen,  ob  man  innere  Frische  genug  hat,  um  auf  der  Bahn  nicht  so  wie 
mancher  nach  Art  von  weiland  Frau  Lot  zur  Salzsäule  zu  werden"  (S.  452). 
Schön  und  männlich  ist  der  letzte  Brief,  kurz  vor  seiner  Übersiedlung 
nach  Königsberg  geschrieben,  wo  er  das  Direktorat  des  Friedrichs -Kolle- 
giums übernehmen  soll;  wahr  und  fest  vertritt  er  hier  seinen  eigenen 
Standpunkt,  indem  er  seine  politische  und  rehgiöse  Gesinnung  offen  auf- 
deckt, doch  treue  Freundschaft  verspricht,  „sollte  auch  späterhin  einmal 
eine  tiefer  liegende  Verschiedenheit  heraustreten"  (S.  553).  Die  ausführ- 
lichen Briefe  sind  Enthüllungen  von  Stimmungen,  „die  sich  eigentlich  am 
besten  nur  mit  einsamster  Einsamkeit  vertragen"  (S.  451),  von  einem 
Jüngern  Freunde  dem  verehrten  altem  Manne  vertrauensvoll  vorgetragen : 
man  sieht,  wie  Lehrs'  zauberhafte  Persönlichkeit  auch  anders  geartete 
Männer  durch  das  Band  geistigen  Lebens  an  sich  zog!  Sehr  zu  be- 
dauern ist  das  Fehlen  der  Briefe  von  Lehrs,  die  einem  Manne  wie  Horkel 
gegenüber  wieder  ganz  besonders  reizvoll  und  eigenartig  gewesen  sein 
müssen :  wie  zart  und  schön  ist  es,  wenn  er  diesem  bei  herbem  Verluste 
nicht  mit  „Trostgründen"  kommt,  sondern  vielmehr  vertraut,  „dass  ein 
wohlgestimmtes  Gemüt  sich  selbst  am  besten  tröstet",  und  ihm  diese 
„Fülle  des  eigenen  Wohllauts"  wünscht  (S.  454). 

Die  53  Briefe  von  Lehrs  an  C.  F.  W.  Müller  gehören  zu  den  ori- 
ginellsten Stücken  der  ganzen  Sammlung;  mit  dem  eigensten  Herzblut 
geschrieben,  im  Ausdruck  wie  Inhalt  von  dämonischer  Leidenschaft,  ge- 
währen sie  dem  Leser  den  lebendigsten  Einblick  in  das  wissenschaftliche 
und  Geistesleben  des  Mannes  vornehmlich  während  der  sechziger  Jahre, 
denen  auch  der  grösste  Teil  der  Briefe  entstammt:  es  sind  dies  die  Jahre,  in 
denen  er  das  „ich  bin  arm  und  stumm"  der  Iphigenie  für  sich  überträgt  in 
„ich  bin  träge  und  schwerfällig  und  es  schleichen  meine  Tage  oder  ich 
schleiche  in  meinen  Tagen  einsam  und  iners,  ungeschickt  umher",  in  denen 
selbst  die  plastische  Kunst  der  Griechen,  die  ihm  sonst  neben  der  Musik 
nachhaltig  erhebende  Beruhigung  brachte,  nur  kurze  Zeit  wirken  konnte 
„den  viel  kolossaleren  Lebenserfahrungen  gegenüber**.  Was  ihn  in  dieser 
Zeit  mehr  als  früher  innerlich  erregte,  waren  die  mit  seinem  Amte  ver- 
bundenen äusseren  Geschäfte,  die  ihm  seiner  Meinung  nach  viel  erhöhter 
entgegentretende  „Unwissenheit  der  Studierenden**,  die  „a/iievrjva  TcaQrjva 
der  Kandidaten**,  die  „Plage  der  Doktorei",  das  „wahrhaft  tragische  Lei- 
den, die  Energie  dummer  Menschen,  mit  der  sie  Doktoren  werden  wollen 
und  eine  Dissertation  schreiben:  wer  darüber  nicht  zu  Grunde  geht,  der 
ist  bombenfest!'*  (S.  736).  „Der  Fleiss  ruiniert  noch  die  Menschheit**,  rief 
er  in  solchem  Unmut  einmal  aus !  Die  Folge  davon  war  seine  Unzufrie- 
denheit mit  seinen  eigenen  Arbeiten,  dass  er  vollbringt  „pauca  et  paucum** ! 

13* 


196  E.  Kammer 

Dazu  kam  die  tiefgehende  Verstimmung  über  die  Wege,  die  damals  die 
Philologie  zu  nehmen  begann,  die  mehr  und  mehr  ihn  bewegende  Frage 
quantum  est  quod  nescimus!  Die  tiefste  Quelle  seines  Unmuts  floss  je- 
doch aus  seinen  eigenen  Horazarbeiten,  auf  die  er  selbst  —  merkwürdiger- 
weise —  oder  auch  nicht,  insofern  sie  gerade  eine  Geburt  seines  seelischen 
Zustands  in  jenen  Jahren  sind,  —  den  grössten  Wert  legte,  und  dennoch 
wusste,  dass  sie  „vollkommen  ignoriert  würden"  („Haupt  ist  wütend  über 
die  Horazanzweifelungen"  S.  733):  für  die  Jahre  1863,  wo  die  ersten 
Horatiana  ihm  zu  „spuken"  anfangen,  bis  zum  Jahre  1869,  wo  der  Ab- 
schluss  dieser  Arbeiten,  seine  Müller  gewidmete,  in  kaum  5  Monaten 
vollendete  Horazausgabe,  „sein  angestrengter  Kitt  durchs  romantische  Land", 
bilden  diese  Briefe  die  bedeutsamste  Quelle.  Wie  er  in  der  Vorrede  zu 
seiner  Horazausgabe,  für  ihn  so  charakteristisch,  ausspricht,  „dass  wir  zu 
unsem  Büchern  durch  Schicksal  kommen",  so  ruft  er  auch  nach  Been- 
digung seiner  Arbeit  aus :  „wie  ich  dazu  gekommen  bin  Horaz  zu  edieren, 
das  weiss  der  genius,  natale  comes  qui  temperat  astrum!"  (S.  776).  Die 
ihm  vorgehaltene  „Überlieferung"  und  die  „kritische  Methode",  worin  er 
nur  den  „Aberglauben"  an  die  äusseren  Gründe  und  Schematismus  oder 
gar  nur  „Schablone"  sah,  trieb  ihn  nur  immer  weiter  zur  Hochhaltung 
des  „gesunden  Menschenverstandes  und  des  Geschmacks",  und  so  ging 
er,  lediglich  gestützt  auf  den  „gesunden  Menschenverstand"  und  geführt  von 
seinem  an  den  grössten  Dichtem  geläuterten  „Geschmack",  daran,  den 
Bestand  des  horazischen  Textes  zu  untersuchen,  wobei  er,  um  sich  seinen 
Blick  und  seine  Empfindung  unbefangen  zu  erhalten,  die  Frage  nach  der 
Geschichte  des  Textes  bei  Seite  liess:  allerdings  ein  unerhörter  Vorgang 
in  der  Geschichte  der  modernen  Philologie,  dazu  unternommen  von  einem 
Manne,  den  seine  stahlfeste  kritische  Küstung  berühmt  gemacht  hatte, 
und  doch  konnte  ihn  auch  wieder  nur  Lehrs  unternehmen,  an  dem  die 
Genialität  des  Blickes  noch  grösser  war  als  seine  „Gelehrsamkeit":  frei- 
lich musste  auch  er  dabei  zu  Falle  kommen,  was  sein  tragisches  Leiden 
ist.  Eigentümlich  berührt  es,  dass  er  sich  in  seinem  letzten  Briefe  an 
Müller  vom  3.  März  1878  unterschreibt:  „Ihr  bisweilen  schneidiger,  bis- 
weilen in  Rage  auch  schiefschneidiger,  aber  nicht  schief  gewickelter  Freund'' 
(S.  1024):  man  muss  es  aussprechen,  seine  Horazausgabe  zeigt  ihn  als 
einen  „in  Bage  schiefschneidenden"!  trotzdem  ist  sie  ein  geniales  Werk, 
das  die  Horaz-Kritik  und  das  Horaz-Verständnis  aufs  fruchtbarste  geför- 
dert hat.  Dass  man  seinem  Dämon  nicht  entgeht  (rov  iavrov  dai^ova 
■d-eQaTtevBLv !),  zeigt  sich  auch  hier :  die  Frage,  die  er  bei  Ribbeck's  Juvenal 
erhebt,  ob  dieser  nicht  dem  Dichter  eine  grössere  schriftstellerische 
Begabung  zuschreibt,    als  man  berechtigt  ist,  und  er  deshalb  mit  dem 


Zur  Erinnerung  an  K.  Lehrs. 


197 


Schluss  „also  gehört  es  nicht  dem  Juvenal"  zum  wenigsten  zu  rasch  ge- 
wesen ist  (S.  700),  schwieg  merkwürdigerweise  bei  seiner  Horazkritik, 
und  doch  war  ihm  „Horaz  nicht  in  den  Oden"! 

Die  Briefe  machen  uns  femer  mit  seiner  reichen  philologischen  Lek- 
türe, unter  der  er  sitzt  „wie  Ajax  unter  seinem  Schlachtvieh"  (S.  751)  be- 
kannt, sie  zeigen,  wie  er  in  dem  letzten  Jahrzehnt  seines  Lebens  sein 
siegreiches  Schwert  erhebt,  um  schnellfertige  Gelehrte  wie  Madvig  und 
Cobet  in  ihre  Schranken  zu  weisen,  sie  zeigen  aber  auch  die  herzigste 
Teilnahme  für  den  Freund  und  dessen  plautinische  Studien. 

Welch  ein  Freund  und  Berater  Lehrs  seinen  Schülern  war,  bekun- 
den die  16  schönen  Briefe  an  den  Lieblingsschüler  seines  Alters  Eugen 
Plew,  der  leider  durch  frühen  Tod  der  Wissenschaft  entrissen  wurde; 
sie  bewegen  sich  vorzugsweise  auf  dem  Gebiete  der  Archäologie  und  My- 
thologie und  zeigen  Lehrs'  volle  Beherrschung  der  antiken  Litteratur  und 
Würdigung  der  Geister:  aus  strömendem  Keichtum  spendet  er  wahrhaft 
schöpferisch  auf  die  ihm  von  dem  jungen  Gelehrten  vorgelegten  Fragen 
und  dabei  immer  naiv  bescheiden  bleibend  nach  den  geistvollsten,  neues 
Licht  eröffnenden  Einfällen :  „Nun,  ich  habe  Ihnen  jetzt  wie  immer  nicht 
viel  oder  gar  nichts  helfen  können !  Sie  müssen  schon  vorlieb  nehmen"  . . . 
(S.  889)  oder  „Sie  werden  es  besser  wissen !"  oder  „in  gewohnter  Unwissen- 
heit". Lehrs  kannte  die  Quellen,  aus  denen  man  reines  Wasser  schöpft, 
und  solche,  durch  die  man  „sich  besudelt",  er  war  dazu  frei  von  jeder 
Pedanterie,  legte  nie  ein  Schema  an,  sondern  hatte  lebendigsten  Sinn  und 
liebevolles  Auge  für  die  richtige  Gelegenheit,  aus  und  bei  der  Namen  und 
Attribute  der  Götter  und  die  poetischen  Gebilde  auf  dem  religiösen  Gebiete 
entstehen ;  er  erklärte  nie  aus  Äusserlichkeiten,  sondern  aus  dem  innersten 
Wesen  heraus  und  blieb  darum  vor  den  verkehrten  Erklärungen  der  Mytho- 
logen,  wie  sie  nicht  zu  erklären  sind,  verschont :  sein  Grundsatz  war,  nicht 
dogmatisch ,  sondern  poetisch  das  poetische  Walten  der  religiös  gestimmten 
Phantasie  zu  erklären.  Auch  darin  war  er  frei  von  Pedanterie,  dass  er 
sich  nicht  einbildete,  man  könne  heute  in  diesen  Dingen  immer  das  Rich- 
jtige  treffen,  den  Verlauf  im  Einzelnen  verfolgen  und  auseinanderhalten, 
rie  viel  im  Volke  entstanden  ist,  wie  viel  bei  einzelnen  Poeten :  von  sei- 
lem  echt  wissenschaftlichen  Standpunkte  aus  *^est  quaedam  nesciendi  ars' 
jlaubte  er,  dass  man  sich  mit  der  Aufstellung  von  Vermutungen  „auch 
;anz  wahrscheinlichen"  bescheiden  müsse;  was  er  jedoch  so  von  „Ver- 
linutungen"  ausspricht,  das  ist  alles  aus  der  naturwahren,  griechisch-wahren 
Erklärung  der  Erscheinungen  geflossen.  Köstlich  ist  wie  er  z.  B.  die 
[Kentauren,  die  Kyklopen  natur-  und  poetisch  wahr  erklärt,  wie  er  die  ein- 
äame  Gestalt  des  weisen  Cheiron  mitten  in  dem  wüsten  Bergvolk  sich  als 


198  E.  Kammer 

Gegenstück  zum  Ungetümen  Polyphem  inmitten  unter  den  von  Homer 
sonst  gutmütig  gedachten  Kyklopen  deutlich  macht.  Echt  Lehrsisch  hin- 
sichtlich seiner  flammenden  Begeisterung  ist  die  Erklärung  iw  jcvq  Ttve- 
ovTwv  aoTQwv  loqayi  (Ant.  1146)  „der  feuerhauchenden  Sterne  Reigen- 
fuhrer  :  nach  der  herrlichen  Idee :  die  ganze  Natur,  der  ganze  Himmel,  die 
Sterne  namentlich  nehmen  Teil  an  dem  Reigen,  den  er  anleitet  und  dem 
er  voranschreitet.  —  Gewiss  wird  es  Leute  geben,  die  da  sagen:  ja  das 
kommt  einem  Betrunkenen  so  vor.  Ganz  richtig !  Es  kommt  aber  auch 
einem  Begeisterten  so  vor:  und  kurz  —  wer  das  nicht  versteht  und  herr- 
lich und  ganz  in  der  Auffassung  des  (jungen  Blitzknaben)  Dionysos  findet, 
der  versteht  den  Dionysos  nicht"  (S.  889). 

Doch  es  lässt  sich  die  unversiegliche  Tiefe  des  Briefwechsels  nicht 
ausschöpfen;  mögen  nur  noch  nachstehende  Namen  von  Gelehrten,  die 
hier  vertreten  sind,  den  Reichtum  andeuten:  J.  G.  Baiter,  Imm.  Bekker, 
Mich.  Bemays,  W.  Dindorf,  Lud.  Friedlaender,  F.  W.  B.  Giesebrecht, 
Ferd.  Gregorovius,  Alf.  v.  Gutschmid,  K.  B.  Hase,  Fr.  Jacob,  Heinr.  Jacobi, 
K.  G.  J.  Jacobi,  0.  Jahn,  W.  C.  Kayser,  Sam.  Lehrs,  Aug.  Lentz,  Aug. 
Nauck,  G.  W.  Nitzsch,  K.  W.  Nitzsch,  Fr.  Ranke,  F.  W.  Schneidewin, 
Julian  Schmidt,  0.  Stobbe,  Fr.  Zarncke.  — 

Bei  seiner  im  Alter  immer  mehr  zunehmenden  Abneigung  gegen  un- 
frachtbare  Gelehrsamkeit  fühlte  er  sich  um  so  lieber  zu  dem  Umgänge 
mit  der  eigentlichen  „Profession"  femstehenden  gebildeten  Männern,  die 
aus  innerem  Zuge  die  Wissenschaften  trieben,  nicht  um  Examen  zu  ma- 
chen und  angestellt  zu  werden,  und  zu  Frauen  hingezogen.  So  zeigen 
seine  mehr  denn  40  Briefe  an  Dr.  Wilh.  Tobias,  einen  hervorragend 
musikalisch  begabten,  philosophische,  ästhetisch-litterarische  Studien  ernst 
treibenden  Privatgelehrten,  ihn  uns  von  einer  neuen  Seite,  wie  er  neben 
der  strengen  Wissenschaft  sich  mit  den  grossen  allgemeinen  den  Men- 
schensinn erweitenden  Fragen  beschäftigt  und  wie  leidenschaftlich  er  sieh 
darnach  sehnt,  „unter  ideal  gesinnten  und  geist-  und  gemütreichen  Män- 
nern idealer  Zeit  atmen  und  mit  fühlen  und  mit  denken  zu  können"  (S. 
977).  Im  Vordergrunde  stehen  tragische  Fragen,  zu  denen  namentlich 
Shakespeare's  Dramen  Lear,  Macbeth,  Hamlet,  Richard  UL,  Kaufmann  von 
Venedig,  Julius  Cäsar,  Titus  Andronikus  Veranlassung  geben:  die  Briefe 
sind  oft  kleine  Abhandlungen,  für  das  Verständnis  der  Stücke  von  grösster 
Bedeutung.  In  der  Philosophie  wird  eingehend  über  Spinoza,  Kant,  Schopen- 
hauer, Lange,  Lotze  verhandelt,  in  der  Musik  über  Bach,  Händel,  Gluck, 
Mozart,  Beethoven,  Wagner,  den  Lehrs  nicht  hochschätzt.  Dr.  Tobias, 
ein  Mann  von  scharfem  Verstände,  doch  doktrinär,  ist  mit  Lehrs'  grandiosen 
und  tiefsinnigen,  jeder  Schablone  entbehrenden  Ausführungen  oft  nicht 


Zur  Erinnerung  an  K.  Lehrs.  199 

einverstanden,  im  Gegensatze  dazu  ist  die  Liebenswürdigkeit  und  Beschei- 
denheit, mit  der  Lehrs  seine  Ansichten  entwickelt,  geradezu  einzig  und 
bezaubernd.  Da  die  Briefe  im  Kriegsjahr  1870  anheben,  konnte  es  nicht 
ausbleiben,  dass  auch  die  grossen  politischen  Fragen  berührt  wurden.  Auch 
diesen  gegenüber  vertritt  Tobias  den  rein  negativen  doktrinären  Stand- 
punkt des  ostpreussischen  fortgeschrittensten  Fortschritts  jener  Jahre,  sodass 
Lehrs,  der  in  der  Politik  selbst  sonst  einem  sehr  abstrakten  Freiheitssinn 
huldigte,  dem  jungen  Freunde  gegenüber  die  Notwendigkeit  der  Krieg- 
führung, die  Verdienste  Bismarcks  verteidigt  und  dessen  Überzeugung, 
der  deutsche  Geist  gehe  mit  starken  Schritten  seinem  Untergange  ent- 
gegen, gegenübertritt:  von  der  Grossartigkeit,  der  Schnelligkeit  und  Ener- 
gie, mit  der  dieser  Krieg  geführt  wurde,  von  dem  „unglaublichen  Herois- 
mus und  Stoizismus  zum  Teil  auch  ganz  junger  Menschen",  sah  er  sich 
selbst  über  die  politische  Schablone,  in  die  er  hineingewachsen  war,  die 
ihn  politisch  unfruchtbare  Jahre  hatten  festhalten  lassen,  hinausgehoben 
und  erblickte,  wie  alles  Geistige  und  Starke  ihn  mit  Begeisterung  erfüllte, 
„in  den  jetzigen  Vorgängen  eine  Anzahl  sehr  bedeutender  Befriedigung 
wirkender  Positivitäten"  (S.  826):  die  Folge  dieser  Enthüllungen  dem  jungen 
Freunde  gegenüber  war  —  ein  dreijähriges  Stocken  des  Briefwechsels. 

Die  Briefsammlung  enthält  auch  Briefe  an  zwei  Frauen,  die  eine  ist  die 
Schwester  von  Lehrs'  Freunde,  Fritz  von  Farenheid  auf  Schloss  Beynuh- 
nen*),  in  dessen  „antiker  Kunstwelt"  Lehrs  viele  Jahre  hintereinander 
einen  Teil  der  Ferien  verbrachte,  wo  er  auch  für  die  Gestaltung  vieler  sei- 
ner populären  Aufsätze  künstlerische  Anregung  fand,  Frau  Friederike 
vonBujak,  eine  der  edelsten  Frauen  aus  einer  hinter  uns  liegenden  ideal- 
gerichteten Zeit,  die  noch  heute  trotz  ihrer  81  Jahre  durch  Geisteskraft 
und  Geistesanmut  bezeugt,  wie  ein  Leben  in  Ideen  allein  sich  jung  er- 
hält: die  an  sie  von  Lehrs  gerichteten  5  Briefe  gehören  an  Schönheit 
und  Zartheit  in  Sprache  und  Gedanken  zu  den  herrlichsten,  die  er  ge- 
schrieben hat. 

Gegen  40  Briefe  sind  an  Frau  Clara  Naumann  gerichtet,  die  an 
Lehrs'  griechischen,  ästhetischen  und  litterarischen  Studien  mit  voller  Hin- 
gabe teilnahm;  ihr  ist  es  zu  danken,  dass  Lehrs,  dessen  Lebenstage  in 
der  Mitte  seiner  Jahre  gezählt  zu  sein  schienen,  ein  hohes  Alter  in  jugend- 


1)  Fritz  V.  Farenheid  hat  die  an  ihn  gerichteten  schönen  Briefe  seines  Freun- 
des unter  dem  Titel  „Briefe  von  Carl  Lehrs  an  einen  Freund"  (Königsberg  1878)  her- 
ausgegeben. Dem  idealen  Bunde,  der  beide  Männer  vereinte,  wie  der  Schönheitswelt 
Beynuhnens  entsprechend,  in  der  sie  von  Zeit  zu  Zeit  zusammenlebten,  tragen  die 
Briefe  von  Lehrs  einen  vorzugsweise  harmonischen  Charakter  und  zeichnen  sich  durch 
Grazie  des  Ausdrucks  wie  Tiefe  des  Inhalts  aus. 


200  £.  Kammer 

frischer  Geisteskraft  erreichte,  da  sie  ihm  in  ihrem  Hause  einen  Ersatz 
für  sein  sonst  in  einsamer  „Klause"  verbrachtes  Gelehrten-  und  Denkerleben 
gab  und  durch  Anregungen  mannigfachster  Art  die  melancholischen  Schat- 
ten von  ihm  fem  zu  halten  suchte.  Die  Briefe,  die  Lehrs  an  die  Freundin 
schreibt,  wenn  er  oder  sie  nicht  in  Königsberg  weilte,  eröffnen  uns  einen 
Einblick  in  die  geistige  Atmosphäre,  in  die  der  Freund  die  Freundin  ein- 
führt. 

Unter  den  vielen  bedeutenden,  mit  Briefen  in  der  Sammlung  ver- 
tretenen Männern  ist  Lehrs  ohne  Frage  der  bedeutendste,  vielleicht  einer 
der  bedeutendsten  Briefsteller  überhaupt:  in  seinen  mehreren  hundert 
Briefen,  die  uns  von  Lud  wich  mit  eins  geboten  werden,  tritt  uns  eine 
ungewöhnliche  Originalität,  Unmittelbarkeit  und  Kraft  im  Ausdruck  und 
im  Gedanken  entgegen;  keine  Zeile  ist  öde,  jede  mit  innerstem  Leben, 
weil  selbst  aus  innerstem  Leben  geflossen,  durchströmt;  grandios,  dabei 
klar  und  plastisch  in  der  Form  ist  seine  Sprache,  die  für  den  Sprach- 
forscher voll  des  Interesses  ist,  auch  überraschend  an  geistreichsten  Wen- 
dungen, namentlich  in  den  Eingängen  und  zum  Schluss;  zweifellos  sind 
Lehrs'  Briefe  eine  ausserordentliche  Bereicherung  unserer  Litteratur.  Darin 
liegt  schon  ausgesprochen,  dass  die  Briefsammlung  den  hohen  AVert  hat, 
dass  aus  ihr  neben  dem  uns  aus  seinen  Werken  schon  bekannten  Ge- 
lehrten, seine  gewaltige  menschliche  Persönlichkeit  nunmehr  auch  für  die- 
jenigen, welche  ihren  Zauber  im  Leben  nicht  gekannt  haben,  zu  inniger 
Teilnahme  fesselnd  heraustritt:  der  kommende  Biograph,  den  Lehrs  wunder- 
barerweise, von  der  in  der  Allgemeinen  Biographie  veröffentlichten  schönen 
Studie  L.  Friedländer's  abgesehen,')  bisher  noch  nicht  gefunden  hat,  wird 
ein  überreiches  Quellenmaterial  zur  Gestaltung  des  Gelehrten  und  Menschen 
Lehrs  finden. 

Lehrs'  Briefe  scheinen  uns  auch  für  einen  wichtigen  Punkt  volles 
Licht  zu  bringen,  nämlich  für  die  Frage,  warum  die  zweite  Hälfte  von 
Lehrs'  Gelehrtenleben,  etwa  vom  Jahre  1845  ab,  verhältnismässig  so  arm 
an  eigentlich  „gelehrten"  Werken  geblieben  ist  Lehrs  schreibt  einmal, 
dass  auch  er  jugendliche  Zeiten  gehabt  habe,  in  denen  er  „solchen  inneren 
faustischen  Drang  für  solche  philologische  Rätsel  auch  sehr  wohl  kannte 
und  von  ihm  zur  Arbeit  täglich  und  nächtlich  gerissen  wurde"  (S.  748). 
Er  ist  sich  wohl  bewusst,  dass,  wenn  wir  den  aristarchischen  Text  hätten, 
bei  diesem  Texte  nicht  stehen  bleiben  dürften,  dass  wir  auch  im  Homer 
mit  Textesänderungen  weiter  gehen  könnten  als  Aristarch,  der  darin  nicht 
dreist  genug  war,  sondern  sich  mit  Athetesen,  auch  mit  etwas  gewaltsamer 

1)  Vgl.  auch:  Karl  Lehrs.  Ein  Rückblick  auf  seine  wissenschaftlichen  Lei- 
stungen" (Berl.  S.  Calvary  1879)  Yon  dem  Verfasser  dieser  Zeilen. 


Zur  Erinnerung  an  K.  Lehrs.  201 

Erklärung  half:  Lehrs'  Plan  war,  den  aristarchischen  Text  mit  Varianten 
der  Grammatiker  bis  Herodian  zu  geben  und  eine  Grundlage  zu  schaffen 
für  homerische  Forschung  über  Aristarch  hinaus  und  zugleich  für  die 
Geschichte  der  Grammatik  überhaupt  (vgl.  S.  315).  Didot  hatte  ihm  die 
Besorgung  der  homerischen  Scholiensammlung  für  seine  Bibliothek  an- 
getragen ;  Lehrs  selbst  war  zur  Annahme  geneigt,  und  seine  nächststehen- 
den Freunde  drangen  in  ihn,  weil  er  vor  allen  geschaffen  war,  diese  Arbeit 
für  die  philologische  Wissenschaft  musterhaft  zu  leisten.  Warum  ist  Lehrs 
nicht  der  Bentley  des  19.  Jahrhunderts  für  Homer  geworden?  Welcher 
Dämon  hat  ihm  jenen  „faustischen  Drang  für  solche  philologische  Rätsel 
genommen",  seine  Zukunftspläne  „in  den  Schwamm  seiner  Trägheit  oder 
in  das  Schwert  seiner  Zerrissenheit  gestürzt?" 

Will  man  den  roten  Faden  für  das  Verständnis  von  Lehrs'  urinner- 
stem Wesen  herausheben,  so  ist  es  das  Leidenschaftliche,  Stürmische 
seines  geistigen  Empfindens,  mit  dem  sich  die  lauterste  Wahrheit  seines 
Strebens  und  Forschens  vereinigt. 

Die  gewaltigen  gelehrten  Arbeiten,  denen  Lehrs  sich  neben  seiner 
sehr  gewissenhaft  genommenen  Schulthätigkeit  hingab  (vgl.  S.  414:  „schon 
seit  20  Jahren  habe  ich  am  Gymnasium  wahrlich  einen  nicht  kleinen  Teil 
meiner  Kräfte  geopfert"  und  S.  424 ,  nach  seiner  Berufung  an  die  Uni- 
versität :  „wie  weit  sich  die  Schwielen,  die  geistigen,  zwanzigjähriger  An- 
strengung der  Art  noch  ausgleichen !  ?"),  waren  nicht  ungestraft  geblieben ; 
den  Jahren  nach  in  der  Mitte  eines  an  sich  noch  kraftvollen  Alters  stehend, 
war  er  vor  der  Zeit  gealtert,  eine  schwere,  volle  Erschöpfung  bringende 
Krankheit  liess  seine  Tage  gezählt  erscheinen:  wenn  auch  die  im  Jahre 
1844  unternommene  grosse  Reise,  die  bis  nach  Oberitalien  führte,  all- 
mählich kommende  Gesundung  brachte,  so  blieben  doch  Spuren  jener 
Krankheit  mit  düsteren  Verstimmungen  bis  in  die  spätesten  Tage  zurück. 

Die  in  stiller  Zurückgezogenheit  und  in  nächtlich  einsamer  Arbeit  ver- 
brachten 20  Jahre  seines  jungen  Gelehrtenlebens  hatten  sein  ursprünglich 
heiteres  Gemüt  ernst  gestimmt,  sein  für  frohen  Lebensgenuss  schnell 
fliessendes  Blut  schwer  und  stockend  gemacht ;  auch  hier  hat  seine  Reise 
sich  ungemein  wohlthätig  erwiesen,  indem  sie  ihn  ins  volle  reiche  Leben 
einführte:  köstlich  sind  seine  Tagebuchnotizen,  aus  denen  wir  erfahren, 
wie  er  mit  jugendlicher  Lust  unterwegs  alles,  auch  das  Einfachste  beob- 
achtet und  wie  er  sich  auch  mit  dem  wirklichen  Leben,  dem  er  sich  bis 
dahin  mehr  und  mehr  und  zuletzt  ganz  entfremdet  hatte,  bekannt  macht. 
Als  ein  anderer  kehrt  er  zurück:  sein  alt  gewohntes  und  geübtes  Ver- 
langen zu  lernen  nimmt  neue,  erhöhtere  Form  an;  jetzt  ist  er  darauf 
aus,  res  humanas  intelligere  und  die  Welt  in  den  Gedanken  der  grossen 


202  E.  Kammer 

Geister  in  sich  aufzunehmen :  „wie  gern  möchte  man  lernen  !**  ruft  er  wieder 
und  wieder  aus !  Die  nach  der  Loslösung  von  der  Schulthätigkeit  ihm  gewor- 
dene grössere  Müsse  liess  ihn  seine  Sehnsucht  zu  lernen  in  freierer  Weise 
stillen.  Auch  die  Zeit  mit  ihren  Ereignissen  hewegt  ihn  innerlicher, 
hemmt  seine  Koncentrierung  für  gelehrte  Arbeit  und  lässt  ihn  nicht  weit- 
gedachte Fäden  ruhig  hinausspinnen:  im  Jahre  1848  ist  ihm  immer  zu 
Mute,  als  wäre  man  auf  Reisen,  hätte  immer  was  neues,  woran  man  nicht 
vorübergehen,  wovon  man  etwas  für  seine  Einsicht  mitnehmen  möchte, 
immer  in  dieser  Art  der  Spannung!  „Das  alcpa  xai  ßrixa  will  dabei  frei- 
lich wenig  gedeihen,  und  ich  habe  Wissenschaftliches  das  Jahr  über  leider 
zum  Erschrecken  wenig  gethan"  (S.  504).  Die  „Streif-  und  Querzüge", 
das  „Vagieren",  das  „Vagabondieren"  nahm  seinen  Anfang  oder  wohl  tiefer 
ausgedrückt:  die  Umwandlung  des  Gelehrten  in  den  nach  Weisheit  Ver- 
langenden begann  sich  zu  vollziehen.  Schon  im  Jahre  1845  bezweifelt 
Lehrs  gar  sehr  das  beabsichtigte  Unternehmen  auf  dem  Gebiete  der  Scho- 
liensammlung  für  die  Zukunft  hinauszuführen:  „was  für  die  SchoHasten 
geschehen,  ist  geschehen!"  (S.  414).  Wie  sehr  sich  seine  Stellungnahme 
zu  diesen  geändert  hat,  ersieht  man,  wenn  er  es  „rein  lächerlich"  findet, 
dass  Leute,  die  man  auch  Grammatiker  nennt,  ihre  „Menschheit  und 
Menschlichkeit  daran  setzen  sollen,  um  sich  zu  überzeugen  und  andere 
vielleicht  auch,  wie  die  Epitomatoren  der  Grammatiker  fast  immer  der 
eine  das  Gegenteil  vom  anderen  epitomiert  haben!"  (S.  461). 

Der  „faustische  Drang,  philologische  Rätsel  zu  lösen"  trat  somit  immer 
mehr  zurück,  andererseits  gewann  von  seinem  neu  gewonnenen  Standpunkt 
aus  zu  lernen  die  faustische  Erkenntnis,  wie  sehr  unser  Wissen  Stück- 
werk ist,  an  beherrschender  Kraft,  und  damit  auch  das  faustische  Em- 
pfinden, wie  schwer  das  „Lehren"  ist  und  dass  man  „die  Jungen  gar  zu 
greulich  ennuyiere".  Gar  reizvoll,  ganz  in  seiner  Weise,  knüpft  Lehrs  ein- 
mal sein  Unbehagen  gegen  das  „Lehren"  an  Goethe  an :  „was  hatte  Goethe 
im  Winter  zu  thun?  Zu  leben,  lieben,  lernen.  Aber  wenn  dazu  da«  Lehren 
kommt!"  und  nun  noch  gar  das  Lehren  der  Vielen,  die  ohne  inneren  Drang 
zur  Wissenschaft  kommen  und  der  sehr  wenigen,  die  „ins  Amt  gelangt, 
fortstreben,  fortgestrebt  werden  (medium)"  (S.  748) :  bitter  aber  wahr  drückt 
er  in  einem  Briefe  an  Ritschi  diesen  Gedanken  anders  aus,  indem  er  hin- 
weist, wie  viele  von  dessen  Schülern,  von  seinem  Geiste  angehaucht,  eine 
Reihe  von  Jahren  weit  über  ihre  natürliche  Anlage  hinaus  leisten,  wie 
aber  dieser  Spiritus,  der  ganz  allein  das  Wirksame  in  ihnen  war,  mit  den 
Jahren,  wie  die  Pockenimpfung,  bei  solchen  Naturen  an  Kraft  verliert 
und  sie  dann  in  ihrer  sehr  massigen  Beanlagung  erscheinen"  (vgl.  S.  841). 

Dazu  nahm   auch   die   philologische   Gelehrsamkeit  eine  Richtung, 


Zur  Erinnerung  an  K.  Lehrs.  203 

die  ihn  wenig  befriedigte,  indem  sie  die  von  Hermann  und  Lobeck  ge- 
steckten Grenzen  verliess  und  das  Griechentum  nicht  aus  Griechenland, 
sondern  aus  dem  Orient  und  Ägypten  zu  erklären  suchte:  dagegen  legte 
er  seine  Anschauungen  von  dem  wirklichen  Geiste  und  der  Religion  des 
Griechentums,  wie  er  sie  aus  dessen  grossen  Dichtern  und  Denkern  ge- 
wonnen hatte,  in  Aufsätzen  nieder,  die  dann  unter  dem  Namen  der  „popu- 
lären Aufsätze"  vereinigt  erschienen  und  die  schönste  Frucht  seines  „Va- 
gierens",  seiner  „Streif-  und  Querzüge"  bilden.  Mit  dem  Schwinden  des 
spezifischen  Griechentums  unter  den  Gelehrten  schwand  ihm  auch  die 
Anregung  zur  Produktion,  deren  er  gerade  bei  seiner  innerlichen  Teil- 
nahme an  der  Wissenschaft  besonders  bedurfte:  er  musste  sich  bei  der 
Lösung  ihn  „chikanierender  Probleme"  im  freundlichen  Elemente  fühlen, 
d.  h.  der  förderlichen  und  dem  Missmut  der  Einsamkeit  entgegenwirken- 
den Hoffnung  gewiss  sein,  einige  anerkennende  Freunde  zu  wissen,  für 
welche  man  nebenbei  glauben  darf  auch  zu  schreiben,  namentlich  bei  seinen 
poetisch-künstlerischen  Reproduktionen,  wie  sie  seine  populären  Aufsätze 
sind,  bei  denen  zugleich  auch  sein  Herz  in  Mitleidenschaft  gezogen  wurde : 
das  Fehlen  von  gleichgestimmten  Gemütern,  wie  dies  bei  Hermann,  Lobeck 
der  Fall  war,  machte  ihn  immer  einsamer  und  zum  Produzieren  weniger 
geneigt:  er  wies  das  Erhebende  und  Beglückende,  das  solche  fördernde 
Teilnahme  hat,  selbst  bei  Männern  wie  Goethe  und  Beethoven  nach,  die 
doch  als  gestaltende  Künstler  schon  auf  die  amagyisLa  angelegt  sind  und 
eine  Welt  für  sich  bilden:  die  spätere  goethische  Kunstschöpfung  glaubte 
er  sich  unter  dem  Fehlen  des  „warm-poetischen  Schillerzeitlichen  Publi- 
kums" erklären  zu  können. 

Auch  seine  Stellung  zur  Religion  greift  bedeutsam  in  diese  Frage 
ein.  Man  hat  sein  religiöses  Leben  mit  der  Negation  abgethan,  dass  er 
kein  Materialist  gewesen  ist!  Wie  wäre  dies  auch  denkbar,  wenn  man 
nur  seinen  Aufsatz  „Zeus  und  die  Moira*'  gelesen  hat,  der  aus  tiefstem 
religiösen  Bedürfen  geflossen  ist.  Seinen  frühen  Übertritt  zum  Christen- 
tum haben  nicht  äussere  Gründe  veranlasst,  dafür  bürgt  die  Lauterkeit 
seines  Gemütslebens,  wenn  man  auch  nichts  weiteres  wüsste:  er  war 
durch  seine  Studien  über  die  Enge  und  Starrheit  seiner  Stammes-Religion 
hinausgewachsen.  Aus  seinen  bedeutsamen  „Tagebuchnotizen"  erfahren 
wir  nicht  nur,  wie  häufig  er  an  dem  Gottesdienst  teil  nahm,  sondern  sich 
auch  schriftlich  über  die  vernommenen  Predigten  Klarheit  verschaffte. 
Noch  im  Jahre  1843  findet  er  es  schmerzlich,  wenn  „treffliche  und  ein- 
sichtsvolle Männer,  durch  das  jetzige  Christentum  der  Theologen  verleitet 
oder  verstimmt,  seine  spezifischen  Vorzüge  verkennen  und  vergessen"; 
unter  diesen,  die  er  aufzählt,  führt  er  auch  an:  „das  Altertum  kennt 


204  E.  Kahmer 

unter  den  Pflichten  und  Tugenden  nicht  die  Liehe  —  hier  —  d.  h.  im 
Christentum  !  sogar  die  erste  Tugend",  sodann :  —  Ihr  sollt  heilig  sein  — 
wie  ich  heilig  hin.  Läuterung  des  Innern.  Beschneidung  —  nicht  des 
Körpers  —  um  zu  seinem  Volke  zu  gehören,  sondern  des  Herzens  (des 
Innern)  —  um  zu  seinem  Reiche  eingeweiht  zu  sein.  Auch  der  Körper 
rein  —  als  Gefäss  der  Seele"  (S.  330  f).  Später  wurde  allerdings  auch 
er  durch  das  Christentum  mancher  unduldsamen  Theologen  „verstimmt" 
und  mehr  und  mehr  durch  seine  an  Innerlichkeit  wachsenden  Studien 
dem  Griechentum  zugeführt,  in  dessen  durch  die  grossen  Dichter  und 
Künstler  verklärter  Schönheits-  und  religiöser  Freiheitswelt  er  Beschwich- 
tigung gegenüber  herben  Lebenserfahrungen  und  quälenden  Problemen 
suchte,  doch  ist  er  nicht  darin  aufgegangen.  „Die  Bergpredigt  und  das 
ganze  weitere  Kapitel  könnte  man,  so  schreibt  er  Sonntag  den  25.  Aug.  1872, 
als  ein  stets  wahres  und  herrliches  Spruchbuch  stets  bei  sich  tragen" 
(S.  889)  und  wieder  an  einem  Sonntag  (19.  Jan.  73)  tadelt  er  an  Strauss, 
der  „eine  ziemlich  triviale  Natur  ist",  dass  er  für  den  „unvergänglichen 
Wert  in  unvergänglicher  Hoheit  einzelner  Teile  der  Bibel"  gar  keinen  Sinn 
und  kein  Verständnis  habe,  auch  es  ihren  Sprüchen,  Lehren  nicht  anfühle, 
dass  sie  von  einem  in  seiner  Art  einzigen  Genie  und  aus  einem  —  mitten 
in  jenem  Juden-  und  Rabbinertum  — einzigen  Gottes  und  mensch- 
lichen Gemütsboden  entsprossen,  dass  s  i  e  nicht  eben  so  wohl  ein  Apostel 
ersonnen  oder  in  solchen  Ausdrücken  gestaltet  haben  kann,  sondern  dass 
sie  sicher  Zeugnisse  eines  Überragenden  sind,  und  findet  einzig  und  allein 
die  Erklärung  dafür  in  Strauss'  natürlichem  Gemütsmangel  (S.  893  f). 
Freilich  blieb  dem  uns  von  Christus  gelegten  Grund  und  Boden,  der 
Erkenntnis  unserer  Sünde,  und  dass  der  Weg  aus  dieser  zur  Erlösung  durch 
Christus  geht,  und  sie  uns  aus  Gnade  zu  teil  wird,  Lehrs'  faustische  Natur 
fremd,  und  auf  sich  allein  gestellt,  musste  er  auch  unter  den  gewaltigen 
Problemen  des  Lebens  bei  seinem  stürmisch  auf-  und  abwogen  den  Herzen 
sich  allein  und  verlassen  fühlen,  umsomehr  als  er  sich  auch  bewusst  war, 
dass  er  sich  von  seiner  Geburtsreligion  freiwillig  abgelöst  hatte.  Eine  nicht 
ausbleibende  Folge  war  eine  antik  gefärbte  Resignation,  das  Bestreben,  die 
schweren  Schickungen  des  Lebens  mit  möglichst  gedämpfter  Seelenbe- 
wegung zu  tragen,  zu  lernen,  sich  in  das  problematische  Leben  zu  gewöhnen 
und  —  zu  verschmerzen !  — 

Dass  die  Leidenschaftlichkeit,  die  Glut  seiner  Empfindung  zu  Lehrs' 
Wesen  gehört,  ist  oben  gesagt  worden.  So  konnte  er  leicht  erregbar 
und  gereizt  werden  durch  Eindrücke  von  aussen  her,  durch  Zeitereignisse 
oder  auch  durch  das  —  Wetter!  Wie  er  einen  frühen,  warmen,  ja  heissen, 
mit  Blätter-  und  Blütenfülle  überströmenden,  anhaltenden  Frühling  mit 


Zur  Erinnerung  an  K.  Lehks.  205 

Wonne  genoss,  die  wiedergekehrte  Sonne  seine  Lebensgeister  wachrief,  — 
einmal  zeichnet  er  sich  —  für  ihn  recht  bezeichnend !  —  in  einem  Briefe 
an  Haupt  „Ihr  solibus  aptus" !  — ,  so  beugte  wieder  den  für  den  Süden 
Geschaffenen  der  Nebel  und  die  Kälte  des  Nordens,  seiner  Heimat,  ganz 
nieder:  „es  muss  auch  so  gehen  —  so  lange  es  geht:  aber  wenn  ein- 
mal schlimmes  Wetter  von  aussen  und  innen  eintritt,  övoTtvootg  orav 
QQTjooißGLv  eqeßog  vg)alov  eTtiÖQci^ri  jcvoolg  —  dann  rührt  sieh  alles 
auf,  xvklvösL  ßvOGod-ev  ycelaivav  d^lva"  (S.  709).  Bei  den  mit  dämo- 
nischer Gewalt  sich  äussernden  Naturkräften  muss  er  —  für  ihn  höchst 
charakteristisch!  —  an  die  „Schlafmützigkeit  der  Menschen"  ein  Lieb- 
lingswort von  ihm !  —  denken.  Ein  andermal  ruft  er  aus,  dass  der  „Mann, 
der  sich  ärgern  und  sich  grimmen  kann,  dafür  gesegnet  sein  soll",  und 
hält  das  allgemeine  sich  bewegen  unter  Leuten,  die  zwar  vieles  un- 
verantwortlich finden,  jedoch  in  demselben  Tempo  und  in  lauwarmer 
Temperatur  verharren,  für  eine  „grausame  Empfindung"  (S.  692).  Er 
fühlte  sich  wohl  in  dem  heroischen  oder  dämonischen  Element,  in  dem 
kraftvoll  und  lebendig  sprudelnden,  und  widerwärtig  war  ihm  Behaglich- 
keit und  Phlegma.  Wie  die  Gemeinheit  der  Gesinnung,  so  konnten  ihn 
Trivialität,  Philisterei  und  Pedanterie  in  starke  Aufwallung  versetzen,  z.  B. 
wenn  er  ausgeführt  las,  wie  in  dem  horazischen  Liede  „donec  gratus 
eram"  der  Grundgedanke  „alte  Liebe  rostet  nicht"  ausgesprochen  sei  oder 
wenn  Shakespeare's  Drama  „Romeo  und  Julie''  zeige,  wohin  allzu  starke 
Liebe  führe.  Überraschend  ist  sein  Urteil  über  Ovid,  den  er  unter  den 
Alten  als  einen  Mann  ansah,  der  „gar  kein  Philister  sich  in  langweiliger 
Zeit  über  alles  das  weg  hebt",  und  doch  wurde  er  in  der  Verbannung  — 
„ein  Philister  —  er  klagte  und  bat!"  (S.  631).  Besonders  verhasst  war 
ihm  der  „Professoren  Weisheit",  der  Gelehrten  „Rechthaberei"  und  „Eitel- 
keit" (vgl.  die  bedeutsamen  Tagebuchnotizen  S.  327  ff.),  das  „Kultustreiben 
mit  den  Handschriften"  bei  dem  Mangel  an  eigener  Fähigkeit,  aus  sich 
schaffen  und  schöpfen  zu  können,  der  Unverstand  und  die  Überhebung 
des  jungem  Geschlechts,  das  in  den  Zeitschriften  des  „  Aeakosamtes  waltet" : 
solche  Erscheinungen  befestigten  in  ihm  den  Unglauben  an  die  mensch- 
liche Einsicht  oder  überzeugten  ihn,  wie  gar  wenige  Menschen  für  das 
wirklich  Einfache  und  Natürliche  empfänglich  seien.  Diese  unverholen 
ausgesprochenen  Ansichten  erweckten  natürlich  keine  Gegenliebe,  und 
wenn  man  auch  nicht  wagte,  gegen  den  Verfasser  des  „Aristarch"  auf- 
zutreten, so  verhielt  man  sich  doch  gegen  ihn  lau  oder  schwieg  und 
ignorierte,  was  ihn  wieder  vom  Produzieren  zurückhielt 

Aus    solchen  äussern  und  innem  Gründen,  man  wird  es  verstehen, 
flössen  seine  wieder  und  wieder  mit  ergreifender  Wehmut  ausgesprochenen 


206  E.  Kammer 

Klagen  über  Einsamkeit,  Vereinsamung  und  Verkümmerung,  über  Mangel 
an  fördernder  wissenschaftlicher  Arbeit,  über  seine  Arbeitsunfähigkeit:  wie 
er  im  Jahre  1 842  sich  zu  Ritschi  äussert,  „mir  kommt  es  vor  als  könne 
ich  gar  nichts  mehr  machen"  (S.  316),  so  bekennt  er  im  Jahre  1877,  dass 
er  Sachen  betreibe,  deren  „Nullität"  er  begreife,  die  er  aber  nicht  weg- 
werfen könne,  weil  sie  nun  einmal  in  seinem  Lebensfaden  eingewoben 
seien  —  und  „zuletzt  ist  es  Mühe  und  Not  gewesen  und  um  Nichtsnutzig- 
keiten" (S.  1012),  und  kurz  vor  seinem  Tode  schliesst  er  ab:  „ich  lebe  — 
unbefriedigt  jeden  Augenblick:  um  so  mehr  —  da  es  mit  dem  Weiter- 
streben nichts  mehr  ist!"  (S.  1024,  am  3.  Mai  1878). 

Freilich  wünschen  auch  wir,  wir  hätten  von  seinem  „strömend"  reichen 
Genius  mehr  Werke  zu  gemessen,  als  er  uns  wirklich  hinterlassen  hat: 
aber  seine  Klagen  kommen  zum  teil  auch  auf  die  Einsamkeit  seines 
Lebens,  in  dem  ein  mehr  und  mehr  zur  Schwermut  sich  neigendes  Tem- 
perament, seine  Gewohnheit,  das  Leben  schwer  zu  nehmen,  mehr  sich 
geltend  machte ;  persönlich  haben  wir,  die  wir  uns  seiner  Leben  spenden- 
den Nähe  erfreuen  durften,  die  gesunde,  ungebrochene  Kraft  seines  ge- 
waltigen, in  die  Tiefen  und  Höhen  führenden  Geistes  bis  wenige  Tage 
vor  seinem  Tode  bewundern  können. 

Auch  der  Wahrhaftigkeit  und  Reinheit  seines  Strebens  und  Forschens 
ist  oben  gedacht  worden.  Wie  er  nichts  that,  was  seiner  Natur  nicht 
kongenial  war,  so  wählte  er  auch  aus  innerstem  Drange  sein  Studium,  „in 
einer  Zeit,  wo  Philologie  noch  nicht  entdeckt  war":  von  ihm  erstrebt  er 
nicht  Ehren,  die  hinter  ihm  in  wesenlosem  Schein  lagen,  sondern  ledig- 
lich für  sich  selbst  Bildung  und  Erweiterung  seines  eigenen  Ichs:  seine 
Wissenschaft  sollte  ihm  die  edelste  und  eigenste  Frucht,  Freiheit  des 
Geistes  und  Freiheit  der  Gesinnung  spenden!  Ganz  eigenartig  nnd  zart 
vergleicht  er  einmal  die  Wissenschaft  „mit  kunstreichen  Kästchen,  von 
lieben  Händen  geschenkt,  in  denen  man  bei  liebevoller  Beschäftigung  ge- 
heime Fächer  entdeckt"  (S.  338):  der  Wissenschaft  hat  er  sein  Leben 
lang  ein  lauteres  Herz,  einen  ununterbrochenen  Forschungstrieb  entgegen- 
gebracht; das  didicisse  artes  fideliter,  „d.  h.  mit  reinem  Sinn",  findet  auf 
ihn  volle  Anwendung.  Herrschte  er  wie  ein  König  in  dem  Gebiete  des 
gesamten  Altertums,  so  war  ihm  doch  das  Hellenentum  besonders  kon- 
genial, nach  dessen  Schönheitswelt  er  mit  leidenschaftlichem  Verlangen 
sich  sehnte:  er  las  das  Griechentum  nicht  wie  durch  Schleier,  sondern 
unverhüllt  stand  es  ihm  rein  und  klar  vor  seinem  geistigen  Auge,  vor 
seinem  plastischen  Sinne,  wie  sich  die  Geliebte  dem  mit  reinem  Herzen 
um  sie  werbenden  Geliebten  ganz  erschliesst.  Ein  rückwärts  schauender 
Seher  hat  er  uns  das  Hellenentum  in  seiner  Schönheit  offenbart  aus  schön- 


I 


Zur  Erinnerung  an  K.  Lehrs.  207 

heitsdürstendem  Herzen,  wie  kein  Philologe  vor  ihm  noch  nach  ihm :  was 
er  seinen  Schülern  hot,  gab  er  nicht  aus  Büchern,  die  man  nachschlagen 
konnte,  sondern  aus  seinem  ureigensten  geistigen  und  persönlichen  Be- 
sitze, und  die  so  empfangenen  Keime  wirkten  wieder  unvergänglich  nach. 
In  seiner  gewaltigen  Persönlichkeit  lag  der  Schlüssel,  das  Verständnis  des 
Geistes  sich  zu  erschliessen,  im  Altertum  wie  in  der  Gegenwart :  die  grossen 
philologischen  Namen  weckten  in  ihm  erst  wahre  Pietät,  wenn  er  in  ihre 
Leistungen  klare  Einsicht  genommen  hatte,  wenn  sich  mit  ihren  Leistungen 
reiner  Charakter  verband:  die  Selbständigkeit  wahrte  er  sich  auch  den 
grössten  Namen  gegenüber.  Von  den  Gelehrten  waren  ihm  die  Männer 
wohlthuend,  die  in  ruhiger  Sicherheit  sich  auf  eignen  Füssen  sicher 
fühlten  und  nicht  nur  in  der  Sicherheit,  sondern  auch  in  der  —  Unsicher- 
heit, dass  sich  eine  Sache  auch  wohl  anders  verhalten  könnte:  auch 
anders  geartete  Naturen  suchte  er  zu  verstehen  und  nicht  nur  gelten  zu 
lassen,  sondern  auch  anzuerkennen:  „nur  wer  was  gelten  will,  muss  an- 
dere gelten  lassen":  zur  positivsten  Anerkennung  des  „Wahrhaftigen"  und 
Überzeugenden  ward  er  von  Natur  hingezogen,  persönliche  Stellung  zu 
den  Dingen  zu  gewinnen,  war  ihm  Bedürfnis.  Aber  auch  in  ihm  selbst 
war  die  Geneigtheit  auf  das  äusserste  ausgebildet,  alles  Freundliche 
von  aussen  auf  das  dankbarste  anzuerkennen  und  zu  gemessen;  da  er 
von  sich  selbst,  von  seinen  Leistungen,  von  seiner  Wirkung  auf  andere 
so  bescheiden,  ja  bis  zum  Kleinmut  bescheiden  dachte,  in  dem  er  sich 
hüten  musste,  nicht  dem  Unmute  zu  verfallen,  so  bedurfte  er  jedes 
freundlichen  Zuspruchs,  um  das  Gefühl  eines  Bodens  unter  sich  zu  ge- 
winnen :  , jede  menschliche  Teilnahme  ist  doppelt,  dreifach,  zehnfach  wohl- 
thuend" (S.  965).  Seine  Bescheidenheit  floss  wohl  aus  seinem  „eingewöhnten 
Griechentum",  das  ihn  mahnte,  sich  nichts  zu  Schulden  kommen  zu  lassen, 
was  einer  „Überhebung"  ähnlich  sehen  könnte,  und  „die  Nemesis  zu 
scheuen":  ,,/cqoo-kvvcü  tyjv  Nsf.ieoLv^''  entfuhr  ihm  wie  dem  religiös  ge- 
stimmten Griechen  oder  ccTceaTw  cpd-ovog !  wenn  es  ihm  wirklich  sehr  be- 
friedigend war.  Die  ampQoavvrj,  das  Masshalten  beherrschte  ihn  in  allen 
seinen  Handlungen :  „den  menschlichen  Weiheitsspruch  ^irjöh  ayav  muss 
der  Mensch  manchmal  dem  Dämon,  der  eigentlich  so  ein  wildes  Tier  ist, 
das  nicht  menschliche  Weisheit  kennt,  entgegenrufen  und  ihm  in  die  Zü- 
gel fallen"  (S.  605).  Antik  ist  auch  seine  Neigung  zur  Freundschaft  und 
die  Treue,  mit  der  er  in  ihr  beharrte;  er  war  der  Meinung,  die  Natur 
habe  in  dem  Bewusstsein,  dass  sie  uns  misshandelt,  für  unser  „proble- 
matisches Leben"  als  Gegengewichte  die  Fähigkeit  und  das  Bedürfnis  mit- 
gegeben, uns  gegen  teilnehmende  und  mitempfindende  Freunde  erleich- 
ternd auszusprechen  (S.  397).    „Wem  denn  soll  man  Klagen  anthun  als 


208  E.  Kammer 

den  Freunden?",  ruft  er  ein  andermal  aus,  „blos  immer  sein  eigenes 
Herz  fressen,  dazu  ist  der  Mensch  doch  auch  nicht  gemacht!"  (S.  766). 
Wo  er  liebte,  da  liebte  er  mit  ganzem  Herzen  und  mit  der  ganzen  Kraft 
und  mit  der  reinsten  Zartheit,  deren  diese  ebenso  gewaltige  wie  inner- 
lich graziöse  und  in  der  persönlichen  Berührung  zauberhafte  Persönlich- 
keit fähig  war,  auch  ohne  Berücksichtigung  des  eigenen  Interesses;  Ari- 
stoteles' schönes  Wort  to  Ttavtaxov  tßqrElv  ro  xQ^oifiov  rjTiiOTa  agfioTTei 
tolg  fj,€yakoipvxoig  xal  Tolg  iXev^iQotg  war  auch  für  ihn  volle  Wahrheit. 
Die  Geistes-  und  Schönheitswelt  des  Altertums  war  seine  eigentliche 
Heimat,  sie  schaute  er  mit  seiner  blühenden  Phantasie  und  in  innerster 
Herzensteilnahme  wahrhaft  plastisch.  Nur  er  konnte  z.  B.  beim  Anhören 
des  Bacchus-Chores  voll  innern  Humors  ausrufen:  „Ach  was  war  so  ein 
griechischer  Gott  für  ein  glücklicher  Mensch!",  nur  ihn  die  Phantasie 
mächtig  überkommen  „so  überall  dick  unter  Epheu  und  Trauben  zu  sein, 
wo  man  seinen  Fuss  setzt,  sie  um  sich  her  sprossen  zu  sehen,  reichlich 
und  köstlich"  (S.  572).  Vom  Dämonischen  im  Menschen  ward  sein  Dämon 
besonders  angezogen;  in  der  Hochstellung  der  grossen  Geister,  die  mit 
dem  gewöhnlichen  Niveau  menschlicher  Geister  ganz  inkommensurabel 
seien,  kannte  er  keine  Grenzen  und  verachtete  die  philisterhafte  Gesinnung, 
die  solche  überragende  Naturen  zum  besseren  Verständnis  niedriger  stellt 
„etwa  8  Fuss  hoch  gegen  die  gewöhnlichen  5,  5V2  Fuss"  (S.  812).  Am 
meisten  zogen  ihn  die  Künstler  und  Dichter  an,  die  das  „problematische 
Leben"  zu  einer  Schönheitswelt  gestalteten,  Poesie  ist  nicht  „reale  Wirklich- 
keit" :  er  neigte  zu  Schiller's  Auffassung  der  Poesie  „als  der  in  gewissem 
Betracht  höhern  Stufe  gegen  die  Philosophie,  der  Blüte,  die  den  ganzen 
Menschen,  mit  seinem  allseitigen  Gehalte,  Denken  und  Empfinden  repräsen- 
tiert" (S.  973).  So  fasste  er  Homer,  Pindar,  Aeschylus,  Sophokles  auf,  so 
Goethe  „for  ever",  nach  dessen  klarer,  lichter  Welt  seine  faustische  Natur 
von  früh  an  sich  sehnte,  und  sein  Verständnisvermögen  dieser  poetischen 
Welten  wurde  grösser  an  Kraft  von  Jahr  zu  Jahr:  von  der  Tiefe  einer 
Stelle  im  Aeschylus  (Agamemnon  Schluss),  die  er  wohl  „fünfzigmal"  ge- 
lesen hatte,  ward  er  im  Jahre  1874  „in  einer  Weise  wie  vorher  nie  er- 
fasst,  sodass  ich  sagen  muss,  ich  habe  bisher  nur  eine  oberflächliche 
Einsicht  gehabt"  (S.  944).  In  der  Erklärung  der  Dichter  hat  er  wohl 
seinesgleichen  nie  gehabt,  hier  war  sein  Urteil  fast  unfehlbar.  Glücklich 
waren  diejenigen,  die  solche  Offenbarungen  von  dem  enthusiastischen  Manne 
zu  hören  bekamen,  dessen  licht-  und  glanzgefüllte  Augen  dann  noch 
ganz  besonders  leuchteten;  unvergesslich  werden  die  Stunden  seinen 
Schülern  bleiben,  denen  er  seine  geliebten  Griechen  in  Unmittelbarkeit 
und  Schönheit  erklärte!  — 


Zur  Erinnerung  an  K.  Lehrs.  209 

Seinen  Klagen  über  seine  „Unproduktivität"  während  der  letzten 
Jahrzehnte  seines  Lebens  werden  wir  schliesslich  auch  nicht  zustimmen 
können.  Den  „Aristarch"  hätte  auch  ein  andrer  grosser  Gelehrte  her- 
vorbringen können,  seine  „populären  Aufsätze"  sind  seines  Wesens  eigenste 
Frucht,  die  für  alle  Zeiten  Zeugnis  ablegen  werden,  in  welcher  Reinheit, 
Wahrheit  und  Schönheit  der  Geist  des  Altertums  sich  einem  seherischen 
Manne  des  19.  Jahrhunderts  enthüllt  hatte. 

16  Jahre  sind  seit  seinem  Tode  verflossen.  Wie  seine  einsame  Grösse 
schon  im  Leben  nur  wenigen  verständlich  war,  so  scheint  er  heute  auch 
mit  seinen  Schriften  bereits  völlig  vergessen  zu  sein :  wie  selten  trifft  man 
heute  bei  den  Lehrern  auf  Spuren  von  Kenntnis  und  Verständnis  dieses 
einzigen  Genius,  dessen  schöpferische  Begeisterung  für  die  hellenische 
Geistes-  und  Schönheitswelt  heute  in  unserer  dem  Klassischen  abgewandten 
Zeit  für  die  Erziehung  des  heranwachsenden  Geschlechts  besonders  fruchtbar 
wirken  könnte !  —  Und  doch !  wenn  auch  in  der  Wissenschaft  die  Teilung 
der  Arbeit  bis  zum  äussersten  vorgeschritten  ist,  dann  wird  sich  wieder  das 
Bedürfnis  einstellen,  das  Vereinzelte  zu  einem  grossen  Baue  zusammen- 
zutragen, dann  wird  man  sich  wieder  besinnen  auf  die  grossen  Männer 
in  unserer  Wissenschaft,  die  über  sie  ganz  geherrscht  haben,  dann  wird 
unter  den  Grossen  einer  der  Grössten  sein  —  K.  Lehrs! 

Dass  er  schon  heute  der  gegenwärtigen  Welt  so  unverhofft  wieder- 
gegeben ist,  das  ist  der  bedeutsamen  Quellensammlung  zu  danken,  die 
nicht  den  Gelehrten,  sondern  noch  mehr  den  grossen  Menschen  uns  näher 
bringt  und  mit  ihm  alle  diejenigen,  die  er  im  Leben  anzuziehen  verstanden 
hat,  eine  Fülle  herrlicher  Menschen  aus  einer  ideal  gerichteten,  uns 
jetzt  geschichtlich  vorliegenden  Zeit.  Dank,  reichen  Dank  schulden  wir 
darum  dem  Manne,  der  uns  mit  dieser  schönen  Quellensammlung  be- 
schenkt hat:  nur  der  Kundige  weiss,  aus  welcher  selbstlosen,  liebevollen 
Hingabe  heraus  sie  geboren  ist! 


14 


Das  lateinische  GescMchtswerk  über  den  jüdischen  Krieg. 

Von 

Elimar  Klebs  (Berlin). 

Unter  dem  Namen  des  Hegesippus  oder  Egesippus  geht  in  manchen 
mittelalterlichen  Handschriften')  ein  lateinisches  Werk  aus  dem  vierten 
Jahrhundert,  das  den  jüdischen  Krieg  in  den  Jahren  66 — 70  n.  Chr.  be- 
handelt und  den  Stoff  hauptsächlich  aus  Josephus'  Büchern  geschöpft  hat. 
Andere  Handschriften  bezeichnen  die  Schrift  als  Übersetzung  des  Jose- 
phus durch  Ambrosius  von  Mailand.  Von  der  ersten  Angabe  wird  mit 
Kecht  allgemein  angenommen,  dass  (H) Egesippus  lediglich  durch  hand- 
schriftliche Verderbnis  aus  den  Formen  losippus,  loseppus  =  losephus  ent- 
standen ist.^)  Dagegen  hat  die  zweite  trotz  manchem  Widerspruch,  der 
gegen  sie  laut  ward,  bis  in  die  Gegenwart  hinein  eifrige  Verfechter  ge- 
funden. Und  soweit  sich  in  den  letzten  Jahrhunderten  die  Gelehrten 
überhaupt  noch  mit  dem  wenig  beachteten  Buche  beschäftigten,^)  war  es 
gerade  die  behauptete  oder  bestrittene  Urheberschaft  des  Mailänder  Bi- 
schofs, um  die  sich  die  Untersuchungen  vorzugsweise  bewegt  haben. 


1)  Nachweislich  schon  im  neunten  Jahrhundert  in  Spanien,  wie  L.  Traube  im 
Rheinischen  Museum  XXXIX  S.  477  dargelegt  hat. 

2)  Da  dies  allerseits  anerkannt  wird,  erscheint  es  unbedenklich  in  Fällen,  wo 
eine  kurze  Angabe  des  Werkes  erwünscht  oder  erforderlich  ist,  Hegesippus  im  Sinne 
einer  formelhaften  Abkürzung  weiter  zu  gebrauchen. 

3)  unter  den  älteren  Schriften  sind  hervorzuheben  /.  F,  Gronovü,  Observatorum 
in  scriptoribus  ecclesiasticis  monobiblos  1651  und.  Mazocchi^  ßigressio  quod  Egesip- 
pus idein  qui  Ambrosius  in  dessen  Co?nmentarü  in  marmoreum  Neapol.  kalendarium^ 
Neapel  1754  Band  III  S.  780  ff.  (Der  Auszug  davon  bei  Gallafidi,  Bibl.  Patr.  VE  pro- 
leg» p.  XXIX— XXXIII  ist  sehr  stark  verkürzt).  Nach  Mazocchi  hat  die  wissenschaft- 
liche Arbeit  an  Heg.  über  ein  Jahrhundert  geruht,  bis  sie  C.  F.  Weber  in  seiner 
verdienstvollen  Ausgabe  1864  wieder  aufnahm,  die  von  Cäsar  beendet  und  S.  389  ff. 
mit  einer  Abhandlung  über  Heg.  bereichert  ist.  Zuletzt  hat  die  Schrift  von  F  Vogel, 
De  Begesippo  gut  dicitur  loseplii  interprete  1881  trotz  vielem  Unrichtigen ,  das  sie 
enthält,  die  Untersuchung  wesentlich  gefördert.  —  Eingehende  Litteraturangaben  bei 
Schürer,  Geschickte  des  jüdischen  Volkes  II-  S.  74. 


4 


Das  lateinische  Geschichtswerk  über  den  jtldischen  Krieg.  211 

Indes  der  Abglanz  von  dem  Heiligenschein  des  grossen  Kirchen- 
lehrers, der  auf  dieses  bescheidene  Werk  fiel,  gereichte  ihm  zu  geringem 
Segen.  Indem  alle  Untersuchungen  sich  als  letztes  Ziel  die  ntscheidung 
der  Frage  erkoren,  ob  Ambrosius  der  Verfasser  sei  oder  nicht  sei,  ward  jede 
unbefangene  Betrachtung  der  Schrift  unmöglich  gemacht.  Und  doch,  das 
gewichtigste  Zeugnis,  gewichtiger  denn  alle  Auf-  und  Unterschriften  noch 
so  würdiger  Pergamene,  bietet  der  Inhalt  und  die  Form  dieses  lateinischen 
Geschichtswerkes.  Nur  aus  ihm  selber  wollen  wir,  ohne  irgendwie  nach 
dem  Heiligen  hinüber  zu  schielen,  zunächst  die  Fragen  beantworten :  was 
hat  der  Verfasser  mit  seiner  Schrift  gewollt,  was  hat  er  geleistet? 

Auf  die  erste  giebt  er  selbst  ausführliche  Auskunft  im  Vorwort,  das 
(mit  unwesentlicher  Verkürzung  erbaulicher  Betrachtungen)  also  lautet: 

Quattuor  regnorum  libros,  quos  scriptura  complexa  est  sacra,  etiam 
ipse  stilo  persecutus  usque  ad  captivitatem  ludaeorum  murique  excidium 
et  Babylonis  triumphos  historiae  in  morem  composui.  Maccabaeorum  quoque 
res  gestas  propheticus  sermo  paucis  absolvit ;  reliquorum  usque  ad  incen- 
dium  templi  et  manubias  TitiCaesaris  relator  egregius  historico  stilo  losephus 
utinam  tam  religioni  et  veritati  attentus  quam  rerum  indagini  et  sermonum 
sobrietati.  Consortem  se  enim  perfidiae  ludaeorum  etiam  in  ipso  sermone 
exhibuit,  quem  de  eorum  supplicio  manifestavit,  et  quorum  arma  deseruit, 
eorum  tamen  sacrilegia  non  dereliquit.  Deploravit  flebiliter  aerumnam, 
sed  ipsius  causam  aerumnae  non  intellexit.  Vnde  nobis  curae  fuit  non 
ingenii  ope  fretis  sed  fidei  intentione  in  historiam  ludaeorum  ultra  scri- 
pturae  seriem  sacrae  paulisper  introrsum  pergere,  ut  tamquam  in  spinis 
rosam  quaerentes  inter  saeva  impiorum  facinora,  quae  digno  impietatis 
pretio  soluta  sunt,  eruamus  aliqua  vel  de  reverentia  sacrae  legis  vel  de 

sanctae  religionis  constitutionisque  miraculo simul,  quod  est  indi- 

cium  domesticae  improbitatis ,  liqueat  universis,  quod  ipsi  sibi  propriae 
cladis  auctores  fuere,  primum  quod  alia  curantes  Romanos  in  se  conver- 
terint et  ad  cognitionem  regni  sui  invitaverint,  quibus  ignorari  satius  fuit 
Rogaverunt  amicitiam  fidem  non  servaturi,  pacem  violaverunt  virtute  im- 

pares,  postremo  bellum  intulerunt .    Ac  ne  quis  vacuum  fide  et 

superfluum  putet  nos  suscepisse  negotium,  ideo  per  principes  ductum 
Hebraeorum  genus  omne  consideremus,  ut  liquido  clareat  utrum  a  femo- 
ribus  ludae*)  nusquam  generationis  eins  successio  claudicaverit,  an  vero 
offenderit  in  principum  serie,  sed  manserit  in  eo,  cui  reposita  manebant 
omnia  et  ipse  erat  spes  gentium,    Hinc  igitur  sumam  exordium. 

Die  uns  allein  erhaltene  Schrift  über  den  jüdischen  Krieg  ist  dem- 

1)  Genesis  49, 10:  non  auferetur  sceptrum  de  luda  et  dux  de  femore  eins,  donec 
veniat  qui  mittendus  est,  et  ipse  erit  expectatio  gentium. 

14* 


212  Elimas  Klebs 

nach  nur  der  Teil  eines  umfassenden  Werkes,  welches  die  gesamte  Ge- 
schichte des  von  weltlichen  Fürsten*)  geleiteten  jüdischen  Volkes  enthielt 
Der  erste  Teil  behandelte  den  Inhalt  der  „quattuor  libri  regnorum",  nach 
heutiger  Bezeichnungsweise  der  je  zwei  Bücher  Samuelis  und  der  Könige,*)  er 
umfasste  also  die  Geschichte  des  jüdischen  Königtums  von  seinen  Anfängen 
bis  zur  Zerstörung  der  beiden  geteilten  Reiche.  Diesen  Inhalt  hatte  der  Ver- 
fasser „historiae  in  morem"  dargestellt,  d.  h.  in  den  Formen  der  weltlichen, 
der  klassischen  Geschichtschreibung.^)  Über  die  Quellen  für  die  spätere  Ge- 
schichte der  Juden  bemerkt  er  „Maccabaeorum  quoque  res  gestas  propheticus 
sermo  paucis  absolvit" ;  das  Weitere  habe  Josephus  behandelt  Die  ersten 
Worte  sind  etwas  dunkel ;  schwerlich  ist  dabei  an  die  Makkabäer-Bücher  zu 
denken,  meines  Erachtens  vielmehr  an  das  Buch  Daniel/)  Seinen  kurzen, 
prophetischen  Hinweisen  trete  zwar,  heisst  es  weiter  im  Vorwort,  Jose- 
phus' ausführliche,  vom  rein  weltlichen  Standpunkt  aus  vortreffliche  Dar- 
stellung zur  Seite;  aber  ihm  habe  das  Beste,  der  wahre  Glaube,  gemangelt; 
darum  wären  ihm  auch  die  wahren  Gründe  der  Geschicke  des  jüdischen 
Volkes  verborgen  geblieben.  So  hält  der  Verfasser  nicht  für  unnütz  von 
der  späteren  Geschichte  des  jüdischen  Staates  eine  neue  Darstellung  zu 
geben,^)  sie  mit  der  Fackel  des  christlichen  Glaubens  zu  beleuchten  und 

1)  *^Per  principes  ductum  Hebraeorum  genus  omne\  die  Fürsten  stehen  hier  im 
Gegensatz  zu  den  Hohepriestern,  die  Hegesippus  stets  als  'principes  sacerdotum'  oder 
^sacerdotii'  bezeichnet. 

2)  Die  in  der  Septuaginta  und  von  den  griechischen  Kirchenvätern  als  vier 
Bücher  BaatXsiwv  gezählt  wurden,  vgl.  Bleek-Wellhausen,  Einleitung  S.  186. 

3)  Diese  Gegenüberstellung  der  profanen,  in  Sonderheit  der  griechisch-römischen 
Geschichtschreibung  als'historia'  gegen  die  geschichtliche  Überlieferung  der'scriptura 
Sacra'  ist  bei  christlichen  Schriftstellern  nicht  selten ;  Beispiele  aus  Isidor  giebt  Cäsar 
bei  Weber  S.  394  An.  7.  Hegesippus  selbst  spricht  im  gleichen  Sinne  gleich  darauf 
von  Josephus  als  'relator  historico  stilo'  und  schreibt  bei  einer  Angabe  I  6,  25,  die 
er  aus  Joseph,  bell.  I  3,5  entnahm,  'vetus  historia  prodidit',  dagegen  IV  17,7  bei 
einer  Bezugnahme  auf  Reg.  II  2,  21  'sicut  regnorum  vetus  scriptura  edocet'.  Nimmt 
man  dazu  den  Ausdruck  'composui',  so  ist  klar,  dass  Hegesippus  nicht  eine  Über- 
setzung, wie  die  Früheren  behaupten,  der  biblischen  Bücher  gegeben  hatte,  sondern 
eine  freie  geschichtliche  Darstellung  ihres  Inhaltes. 

4)  Das  'quoque'  zeigt,  dass  hiervon  einem  Buche  der  "scriptura  sacra'  die  Rede 
ist.  Auf  die  Makkabäer-Bücher,  die  bekanntlich  zum  alttestamentlichen  Kanon  nicht 
gehört  haben,  passt  weder  'propheticus  sermo',  noch  weniger  das  'paucis  absolvit'. 
Dagegen  beides  vortrefflich  auf  den  Abschnitt  des  Propheten  Daniel,  welcher  sich 
auf  Antiochus  Epiphanes  (11, 21  ff.)  und  die  Anfange  der  makkabäischen  Erhebung 
(11,32—35)  bezieht.  Die  geschichtlich  richtige  Auslegung  dieser  Abschnitte  (vgl. 
Schürer  I  S.  614)  war  auch  dem  vierten  Jahrhundert  nicht  fremd;  Eieronymus  hat 
sie  in  seinem  Kommentar  zu  Daniel  opp.  V  711  ff.  Vall.  zu  11, 21  und  p.  716  zu  11, 32 
in  ebenso  ausführlicher  als  verkehrter  Weise  bekämpft. 

5)  'In  historiam  ludaeorum  ultra  scripturae  seriem  sacrae  pergere',  doch  über- 
geht Hegesippus  die  Geschichte  des  Ejtils  und  der  Rückführung  und  beginnt  c.  1, 
Josephus  folgend,  mit  den  Makkabäern. 


> 


Das  lateinische  Geschichtswerk  über  den  jüdischen  Krieg.  213 


nachzuweisen,  wie  die  Juden  durch  ihre  Gottlosigkeit  ihr  unseliges  Ge- 
schick selber  verschuldet  hätten.  In  der  That  taucht  das  hier  im  Vor- 
spiel angeschlagene  Leitmotiv  aller  Orten  aus  dem  Werke  auf;  immer 
wieder  wird  die  Verstocktheit  der  Juden  gegen  die  Heilsbotschaft  Christi 
als  die  Ursache  des  göttlichen  Strafgerichtes  hervorgehoben  (vgl.  IE  12; 
III  6,  13;  m  13,  12;  IV  5;  V  2;  V  32;  V  44),  das  über  sie  ergangen  ist. 

Eins  geht  aus  diesem  Vorwort  unumstösslich  hervor:  der  Verfasser 
selber  will  seine  Schrift  durchaus  als  selbständiges,  ursprüngliches  Werk 
betrachtet  wissen.  Dies  für  eine  Übersetzung  auszugeben,  liegt  ihm  so 
fern,  dass  er  Josephus  nicht  einmal  als  seine  Hauptquelle  bezeichnet. 
Wäre  dessen  jüdischer  Krieg  gleich  so  vielen  anderen  griechisch  geschrie- 
benen Geschichtswerken  uns  verloren  gegangen,  so  würden  wir  zwar  trotz- 
dem aus  inneren  Gründen  erweisen  können,  dass  der  lateinische  Bericht 
im  wesentlichen  auf  Josephus'  Erzählung  beruhen  müsse,  aber  wir  wären 
ausser  Stande  das  thatsächliche  Verhältnis  beider  Werke  allein  aus  dem 
lateinischen  genauer  zu  bestimmen.  Nirgends  findet  sich  in  ihm  ein  Aus- 
spruch, der  auf  eine  Übersetzung  hinwiese.  Denn  nur  ein  einziges  Mal  (1 1, 
62,  „ut  losephus  auctor  est")  führt  der  Lateiner  für  eine  Angabe  aus  dem 
jüdischen  Kriege  (bell.  I  2,  5)  Josephus  namentlich  als  Gewährsmann  an ; 
ein  anderes  Mal  (I  6,  25,  s.  oben  S.  212,  Anm.  3)  bezeichnet  er  ihn  all- 
gemein als  „vetus  historia".  Sonst  wird  Josephus  als  Schriftsteller  nur 
noch  im  Kapitel  12  des  zweiten  Buches  3  mal  (v.  11.  18.  49)  genannt.  Aber 
hier,  wo  die  bekannten  christlichen  Einschiebsel  aus  den  Altertümern  über 
Johannes  den  Täufer  und  Christus  ^)  wiederholt  werden,  gilt  die  Berufung 
nicht  dem  Geschichtschreiber  des  jüdischen  Krieges,  sondern  dem  un- 
gläubigen Juden,  der  vermeintlich  wider  Willen  ein  Zeugnis  für  die  Wahr- 
heit des  Christentums  abgelegt  hatte.  So  wird  durch  diese  vereinzelten 
Anführungen  ganz  in  der  wohlbekannten  Weise  der  antiken  Geschicht- 
schreiber die  Hauptquelle  mehr  verhüllt  als  offenbart. 

Wie  der  Verfasser  selber  sein  Werk  und  sein  Verhältnis  zu  Josephus 
angesehen  wissen  wollte,  das  liegt  hienach  klar.  Wir  versparen  die  Folge- 
rungen, die  daraus  zu  ziehen  sind,  für  später  und  wenden  uns  zunächst 
der  zweiten  Frage  zu:  welcher  Art  ist  das  thatsächliche  Verhältnis  zwi- 
chen  dem  lateinischen  Werke  und  seiner  Vorlage? 

„Eine  Übersetzung",  so  lautet  darauf  in  den  Handschriften  und  in 
den  neueren  Untersuchungen  die  formelhafte  Antwort,  in  neuerer  Zeit  wohl 

1)  loseph.  ant.  XVIII  3,  3  (über  Christus)  und  ebd.  5,  2  (über  Johannes),  vgl. 
über  die  Litteratur  Schürer  II  S.  364  und  455  ff.  Wer  die  textkritische  Frage  einfach 
als  solche  nach  den  Grundsätzen  der  wissenschaftlichen  Kritik  bebandelt,  wird  über 
die  erste  Stelle  überhaupt  kein  Wort  mehr  verlieren  und  die  zweite  zum  wenigsten 
als  von  einem  Christen  überarbeitet  erklären. 


214  Elimab  Elbbb 

mit  dem  Zusätze  „eine  freie".  Aber  so  weit  und  frei  man  den  Begriff 
der  Übersetzung  fassen  mag:  hier  bleibt  er  unanwendbar.  Vergleichen 
wir  zunächst  rein  äusserlich  beide  Werke,  so  ist  Josephus'  Geschichte  in 
sieben,  die  lateinische  in  fünf  Bücher  gegliedert.  Nur  das  erste  dieser 
entspricht  im  ganzen  und  grossen  dem  ersten  des  Josephus.  Dagegen 
weicht  schon  das  zweite  Buch  bei  Hegesippus  erheblich  von  dem  zweiten 
des  Josephus  ab ;  von  dessen  Erzählung  der  Ereignisse  nach  Herodes'  Tode 
bis  zur  Statthalterschaft  des  Felix  (c.  1  — 12)  wird  bei  Hegesippus  in 
c.  1—3  und  c.  5  §  4 — 5  ein  ganz  kurzer  Auszug  gegeben,*)  der  anderer- 
seits mit  mannigfachen  eigenen  Zuthaten  durchsetzt  ist  Nicht  minder 
stark  ist  die  Abweichung  am  Schlüsse  dieses  Buches.  Hegesippus  c.  16 
bis  17  Anf.  entspricht  dem  Abschnitt  c.  20,  1 — 2  bei  Josephus,  dann 
schliesst  H.  das  Buch  mit  der  Erzählung  über  Kämpfe  vor  Scythopolis, 
über  die  Josephus  an  einer  früheren  Stelle,  c.  18  §  3—4,  berichtet  hat 
Der  Schluss  von  Josephus'  zweitem  Buche  (c.  20,  3 — 22,  10,  über  Josephus' 
Thaten  in  Galiläa)  wird  in  verkürzter  Form  später  im  dritten  Buche  des 
Hegesippus,  c.  3  §  2 — 7,  eingeschoben.  Sonst  geht  im  allgemeinen  das 
dritte  ^)  und  vierte  Buch  bei  H.  den  entsprechenden  des  Josephus  parallel. 
Das  fünfte  und  letzte  des  Hegesippus  umfasst  c.  1 — 25  §  1  den  Inhalt 
des  fünften,  c.  2  5§  2 — 49  §  1  den  des  sechsten  griechischen  Buches; 
aus  Josephus'  siebentem  Buche,  welches  die  Nachspiele  des  Krieges  nach 
Jerusalems  Zerstörung  enthält,  hat  Hegesippus  c.  49  §  2  —  c.  52  nur  we- 
nige thatsächliche  Angaben  entnommen;  er  schliesst  mit  einer  grossen, 
von  ihm  selbst  entworfenen  Eede  in  c.  53.^) 

Vergleicht  man  ferner  die  beiden  gemeinsamen  Stücke,  so  zeigt 
sich  selbst  in  der  geschichtlichen  Erzählung,  dass  kaum  ein  längerer  Satz 
aus  Josephus  von  seinem  lateinischen  Benutzer  genau  wörtlich  übertragen 
ist;  nur  der  Inhalt  wird  frei,  gewöhnlich  verkürzt,  wiedergegeben.  Aber 
noch  weit  freier  steht  Hegesippus  seiner  Vorlage  in  den  eingelegten  Keden 
gegenüber.  Josephus  liefert  ihm  hierfür  neben  einzelnen  Antithesen  nur 
den  Stoff,  den  er   selbständig  gestaltet  und   verwertet.^)    Nicht  selten 

1)  Weggelassen  ist  von  Hegesippus  auch  Josephus'  eingehende  Besprechung 
der  drei  jüdischen  Sekten  bell.  II  8,  2—14, 

2)  Es  ist  sehr  bezeichnend  für  Hegesippus,  der  militärischen  Dingen  ganz  teil- 
nahmlos und  kenntnislos  gegenübersteht,  dass  er  Josephus'  Schilderung  des  römischen 
Kriegswesens  (bell.  III  5)  ganz  übergeht. 

3)  Josephus  (bell.  VII  5,  6  u.  7)  giebt  zwei  Reden  Eleazars,  die  von  Hegesippus 
in  eine  zusammengezogen  und  frei  verwertet  sind. 

4)  Man  vergleiche  z.  B.  die  grosse  Rede  Agrippas,  Joseph,  bell.  II  16,4  (der, 
wie  L.  Friedl&nder  nachgewiesen  hat  vgl.  S.  G.  P  S.  63,  ein  "^  breviarium  toiius  im- 
perii '  zu  Grunde  liegt)  und  Heg.  II  9,  wohl  die  umfangreichste,  die  sich  bei  beiden 
findet. 


Das  lateinische  Geschichtswerk  über  den  jüdischen  Krieg.  215 

hat  er  kurze  Eeden  des  Josephus  zu  umfangreichen  erweitert  ^  oder  solche 
da  eingelegt,  wo  sich  bei  jenem  überhaupt  keine  finden.^) 

Wenn  demnach  von  einer  „Übersetzung"  der  griechischen  Geschichte 
des  Judenkrieges  überhaupt  nicht  geredet  werden  darf,  so  bezeichnet 
doch  auch  der  immerhin  weit  treffendere  Ausdruck  einer  „freien  Bear- 
beitung"^} den  Thatbestand  nur  unvollständig;  es  sind  noch  die  zahlreichen 
Zusätze  des  lateinischen  Werkes  zu  erwägen. 

Unter  ihnen  stehen  voran  die  Stellen,  an  denen  der  Verfasser  seine 
christlichen  Anschauungen  zum  Ausdruck  bringt:  neben  den  häufigen 
Strafpredigten  gegen  die  Juden  (s.  oben  S.  213)  die  etwa  fünfundreissig 
Anführungen  aus  der  heiligen  Schrift  und  in  2  ein  langes  und  wichtiges 
Stück  "*)  über  die  Schicksale  des  Magiers  Simon,  seine  Kämpfe  mit  Petrus, 
sowie  über  den  Märtyrertod  der  Apostel  Paulus  und  Petrus  in  Rom. 

Unter  den  weltlichen  Schriften,  aus  denen  Hegesippus  sein  Werk 
bereicherte,  sind  in  erster  Reihe  zu  nennen  Josephus'  jüdische  Altertümer. 
Kleinere  Zusätze  daraus  finden  sich  durchgehend  im  ganzen  Werke  ^);  von 
den  grösseren  heben  wir  hervor:  114  die  ausführliche  Erzählung  über  die 
Verführung  einer  vornehmen  Römerin  Paullina  aus  Joseph.  ant.XVm  3, 4 ; 
II  12  §  1 — 2  die  schon  früher  erwähnten  angeblichen  Zeugnisse  des 
Josephus  über  Christus  und  Johannes  (vgl.  auch  II  5  §  3,  wo  Johannes' 
Geschichte  nach  ant.  XVIII  5,  2  erzählt  wird);  II  12  §  3— 13  §  8  eine 
zusammenhangende  Geschichte  des  jüdischen  Hohepriestertums  von  Aaron 
bis  zur  Zerstörung  Jerusalems  nach  ant.  XX  10  unter  Mitbenutzung 
einiger  anderer  Stellen  der  Altertümer. 

In  den  landschaftlichen  Schilderungen,  die  Hegesippus  ausführlich 
und  mit  sichtlicher  Vorliebe  wiedergiebt,®)  finden  sich  manche  Zusätze, 
die  er  anderen,  unbekannten  Quellen  entnommen  hat.    So  schiebt  er  in 


I 


1)  So  wird  Heg.  III  16  aus  kurzen  Vorstellungen  der  entrüsteten  Juden  (Joseph. 
bell.  III  8,  4)  eine  längere  Rede;  die  Antwort  (eine  Rede  des  Josephus  selbst)  ist  bei 
Heg.  III  1 7  wenigstens  vier  Mal  so  lang  als  im  Original  (bell.  III  8,  5).  Ein  ähn- 
liches Verhältnis  besteht  zwischen  Heg.  III  24  und  Joseph.  III  10,  2;  aus  wenigen 
Worten  Caecinas  Joseph.  IV  11,2  wird  Heg.  IV  29  §  2  eine  längere  Rede  u.  s.  w. 

2)  So  die  endlose  Rede  des  Matthias  Heg.  V  22. 

3)  Den  z.  B.  Schürer  und  Niese  gebrauchen. 

4)  Vgl.  Lipsius,  Die  apokryphen  Apostelgeschichten  und  AposteUegenden  Bd.  II 
Tl.  1  S.eiff.  und  S.  194flF. 

5)  Sie  sind  bereits  in  Webers  Ausgabe  überall  verzeichnet. 

6)  Vgl.  IV  18,1:  nunc  Asphaltii  lacus  qualitatem  spectemus.  Melius  est  enim 
in  locorum  veterum  descriptionibus  vel  ceterorum  elementorum  miraculo  quam  in 
ludaeorum  seditionibus  Studium  occupare,  siquidem  ista  flagitia  mentem  exasperant, 
illa  demulcent  animum  dum  recensentur  et  ad  veteris  historiae  revocant  cognitionem. 


216  Elivab  Elbbb 

die  Beschreibung  Peräas  (Joseph,  bell.  III  3,3)  die  Bemerkung  ein 
ni  6,  35  'inenarrabile  quanto  decori  sit ,  cum  vento  impulsi  palmarum 
ordines  concrepant  et  suaviores  solito  funduntur  dactylorum  odores*  etc., 
in  die  Samarias  (bell.  III  3, 4)  einen  Zusatz  über  den  dortigen  Getreide- 
bau m  6, 49.  Zu  der  Stelle ,  wo  Josephus  (bell.  IV  8,  3)  der  Balsam- 
bäume  in  der  Landschaft  von  Jericho  gedenkt,  setzt  Hegesippus  eine  Notiz 
über  die  Gewinnung  des  Balsams  und  über  seinen  Namen  IV  17,28.') 
Über  Scythopolis- bemerkt  Hegesippus  III  19,  9  (vgl.  Joseph,  bell.  HI  9, 1) 
""ideoque  memorata  urbs  Dianae  Scythicae  consecrata  tamquam  ab  Scythis 
condita  et  appellata  civitas  Scytharum  ut  Massilia  Graecorum'.  Josephus' 
kurze  Bemerkungen  über  Ägypten  und  Alexandria  (bell.  IV  10, 5)  werden 
von  Hegesippus  IV  27  zu  einer  umfangreichen  Schilderung  erweitert. 
Während  Josephus  (bell.  HI  2, 4)  nur  im  Vorbeigehen  Antiochia  als 
Hauptstadt  Syriens  und  als  dritte  Stadt  der  römischen  Welt  nennt,  han- 
delt Hegesippus  HI  5  §  2  eingehend  über  die  Geschichte,  die  Lage  und 
die  Bauten  der  Stadt  sowie  über  den  berühmten  Lustort  Daphne. 

Wie  sich  hier  eine  geschichtliche  Erzählung  über  einen  Überfall 
der  Stadt  durch  die  Perser  findet,  so  begegnen  auch  sonst  bisweilen 
Erinnerungen  aus  der  Geschichte  der  klassischen  Völker,  die  Hegesippus 
selbständig  vorbringt.  So  hat  er  die  Kede  des  Königs  Agrippa  (11  9), 
welche  auch  bei  Josephus  (bell.  II  16, 4)  die  Entwicklung  der  römischen 
Weltherrschaft  behandelt,  mit  manchem  Zusatz  erweitert^)  und  gedenkt 
in  anderen  Reden  des  Fabius  Cunctator  (IV  11, 14),  der  Cloelia  (V  46, 37) 
und  des  Mucius  Scaevola  (V  46,  40).  Es  wäre  müssig,  nach  den  Quellen 
von  Schulerinnerungen  zu  forschen.  In  einem  Falle  der  Art  weist  aber 
die  wörtliche  Übereinstimmung  auf  Sallust  als  Gewährsmann: 

Heg.  III  24,  66 :  utinam  Manlii  Sali.  Cat.  52,  30 :  apud  maiores 

Torquati  filium   vel   in   solo   mihi     nostros  A.  Manlius  Torquatus  hello 
liceat  imitari  periculo,  quem  securi     Gallico  filium  suum,  quod  is  contra 
pater  iussit  feriri,  quod  contra  im-     imperium    in    hostem    pugnaverat, 
perium  patris  exercitum  in  hostem     necari  iussit. 
produxerat. 

Ein  anderer  sachlicher  Zusatz  aus  Sallust  (lug.  79)  ist  die  Bemerkung 
über  den  Grenzstreit  zwischen  Karthago  und  Kyrene  und  die  Selbst- 
opferung der  Thilaeni  fratres   H  9, 153.    Aus  Curtius  Rufus  (IX  4,27jßF.) 

1)  ^Illic  opobalsamum  gignitur,  quod  ideo  cum  adiectione  significavimus ,  quia 
agricolae  cortice  tenus  virgulas  incidunt  eas,  in  quibus  balsama  generantur,  ut  per 
illas  cavernas  paulatim  destillans  humor  se  colligat.  Caverna  autem  graeco  sermone 
onri  dicitur. 

2)  Z.  B.  160—162  über  Greta,  über  Cyrene  153  flf.,  die  Syrten  ebd.;  Hannibal, 
von  Josephus  nur  genannt,  wird  110—115  ausführlicher  behandelt. 


Das  lateinische  Geschichtswerk  über  den  jüdischen  Krieg.  217 

hat  Hegesippus  V  19  eine  Erzählung  aus  Alexanders  indischem  Feldzuge 
übernommen'),  um  einen  moralischen  Gemeinplatz  zu  beweisen. 

Tacitus'  Benutzung  ist  unzweifelhaft  bei  der  Beschreibung  des  Toten 
Meeres  IV  18  (bell.  IV  8,4).    Man  vergleiche: 

Heg.  IV  18, 12:  aqua ne-  Tac.  h.  V  6:  lacus neque 

que  pisces  neque  assuetas  aquis  et     pisces  aut  suetas  aquis  volucres  pa- 
laetas  mergendi  usu   patitur  aves.     titur. 

Heg.  18, 25:  haerere  sibi  fertur  Nee    abscindere    (sei.   bitumm) 

bitumen,  ut  ferro  haudquaquam  vel     aere  ferrove  possis :  fugit  cruorem 
alia  praeacuta  metalli  specie  reci-     vestemque  infectam  sanguine,  quo 
datur;  sanguinisane  cedit  mulierum,     feminae  per  menses  exsolvuntur. 
quo  menstrua  solventes  levari  ferun- 
tur.^) 

Heg.  18,31: viciniam  So-  Tac.  h.  V7:   haud  procul  inde 

domorum  qui  quondam  uberrimam     campi,    quos    ferunt    olim    uberes 

regionem  inhabitabant magnisque  urbibus  habitatos 

Aus  demselben  Abschnitt  (Tac.  h.  V  6  'nee  lordanes  pelago  aeeipitur, 
sed  unum  atque  alterum  lacum  integer  perfluit,  tertio  retinetur')  hat 
H.  III  26,  34  vermutlich  den  Zusatz  (vgl.  bell.  HI  10,  7)  entnommen 
'duos  lacus  Victor  egressus  in  tertio  haeret'. 

Wahrscheinlich  hat  auch  für  die  Ausführungen  über  Vitellius' 
Schwelgerei  und  Untüchtigkeit  (IV  29,  7  —  9.  17  ff.)  das  dritte  Buch 
von  Tacitus'  Historien  Hegesippus  den  Stoff  geliefert.  Bei  den  Worten 
*  Vitellius  quasi  erapulatus  et  somno  demersus'  schwebten  ihm  wohl 
Tacitus'  Worte  bist.  III  55  *  Vitellius  ut  e  somno  excitus'  vor.  Die  Ver- 
mutung, dass  Hegesippus  IV  20, 13—18  seine  ausführlicheren  Nachrichten^) 
über  Neros  Ende  gleichfalls  aus  Tacitus  entlehnt  habe,  liegt  demnach 
zwar  nahe;  sie  lässt  sich  aber,  da  uns  der  Schluss  der  Annalen  nicht 
mehr  erhalten  ist,  nicht  näher  prüfen. 


1)  Ich  habe  dies  ausführlicher  Philol.  N.  F.  V  S.  151  ff.  nachgewiesen. 

2)  Beide  Angaben  fehlen  bei  Josephus.  —  An  der  ersten  Stelle  ist  Tacitus*  Be- 
nutzung auch  schon  von  Vogel  S.  51  bemerkt. 

3)  Josephus  bell.  IV  9,2  berichtet  nur,  dass  Nero  mit  vier  Freigelassenen  in 
die  Vorstadt  flüchtete  und  sich  dort  entleibte.  —  Die  auffällige  Angabe  bei  H. 
a.  a.  0.  V.  15  'deinde  cum  se  circumsaeptum  intellegeret ,  ne  graves  poenas  exigere- 
tur,  manganum  quoddam  sibi  de  ligno  paravit  et  manibus  composuit  suis  sibi,  quo 
se  necaret'  ist  wahrscheinlich  aus  missverständlicher  und  flüchtiger  Auffassung  der 
hölzernen 'furca'  hervorgegangen,  die  bei  der  über  Nero  verhängten  Hinrichtung 
*more  maiorum'  zur  Anwendung  kommen  sollte,  vgl.  Suet.  Ner.  49.  Grobe  sach- 
liche Missverständnisse  sind  bei  H.  häufig  zu  finden. 


218  Elihab  Elbbb 

Von  besonderer  Wichtigkeit  für  die  Zeitbestimmung  der  Schrift  ist 
die  Frage  nach  Hegesippus'  Verhältnis  zu  Ammian.  Beide  berichten 
übereinstimmend  über  die  Erstürmung  Antiochias  durch  die  Perser  (unter 
Gallienus,  wie  Ammian  hinzufügt): 

Heg.  III  5,11:  ferunt,  cum  lu-  Amm.    XXIII  5,3:   cum   Anti- 

di  scenici  in  ea  urbe  celebraren-  ochiae  in  alto  silentio  scenicislu- 
tur,  quendam  actoremmimorum  dis  mimus  cum  uxore  immissus 
elevatis  oculis  ad  montem  Persas  e  medio  sumpta  quaedam  imitaretur, 
vidisse  advenientes  et  dixisse  con-  populo  venustate  attonito,  coniunx 
tinuo:  aut  somnium  video  aut  'nisi  somnus  est'  inquit  'en 
magnum  periculum,  eoce  Persae.     Persae'. 

Schon  Gronov  (Monobibl.  S.  5)  hat  diese  Stellen  mit  einander  ver- 
glichen und  hielt  dafür,  dass  H.  hier  Ammian  benutzt  habe.  Mit  Unrecht 
haben  die  Neueren*)  widersprochen.    Wer  einige  Erfahrung  in  der  Ver- 

1)  Cäsar  S.  395  Anm.  9  widerspricht  unter  Berufung  auf  Libanius  und  „An- 
dere", welche  dieselbe  Sache  berührt  hätten;  ihm  folgt  Vogel  S.  9.  —  Folgendes  ist 
der  Bestand  der  erhaltenen  Zeugnisse:  1)  Ammian  fährt  nach  den  oben  verzeich- 
neten "Worten  fort  ""et  retortis  plebs  universa  cervicibus  exacervantia  in  se  tela  de- 
clinans  spargitur  passim.  Ita  civitas  incensa  et  obtruncatis  pluribus,  qui  pacis  more 
palabantur  effusius,  incensisque  locis  finitimis  et  vastatis  onusti  praeda  hostes  ad 
sua  remearunt  innoxii  Mareade  vivo  exusto,  qui  eos  ad  suorum  interitum  civium 
duxerat  inconsulte.  Et  haec  quidem  Gallieni  temporibus  evenerunt.*  2)  Libanius  nsgl 
TifKogiaq  'lovXiavov  II  p.  60  Reiske :  ovxs  (jlti  xl  cv[ißy  roiovzov  olov  xal  inl  zcöv 
TtQoyovüiV  ÖLÖäaxoiiev ,  olq  iv  zä)  d^edzQO)  ovyxaQ^rjfisvoiq  i<p€iGz^xeaav  ol  zo^dzai 
z6  ogog  xazeiX7](p6zeg.  3)  loannes  Malalas  XII  p.  295  erwähnt  aus  Donminus  (vgl. 
p.  297,  9)  kurz  den  MaQiaörjg  als  Verräter,  die  Einnahme  der  Stadt  durch  Sapor 
unter  Valerian  und  die  Enthauptung  des  M.  als  Verräter.  4)  Einer  wesentlich  abwei- 
chenden Überlieferung  gehört  das  Bruchstück  Contin.  Dionis  fr.  1  an,  wonach  Sapor 
mit  Mariadnes  zwanzig  Stadien  vor  Antiochia  lagerte,  xal  ol  (jlIv  (pQovifiOL  e^vyov 
ZTJg  noXscDg,  zb  öh  noXi)  nXij&og  sfieivsv  zovzo  (jlsv  (pikovvzeg  zov  MaQcdövrjv  zovzo 
dh  xal  zolg  xaiviafiotg  x(^^QOvzsg.  5)  Vit.  trig.  tyr.  2:  Cyriades,  wie  er  hier  heisst, 
flieht  zu  den  Persern  und  reizt  Sapor  zum  Kriege  gegen  die  Römer;  Antiochia  etiam 
capta  et  Caesarea  Caesareanum  nomen  meruit,  atque  inde  vocatus  Augustus  ipse 
per  insidias  suorum,  cum  Valerianus  iam  ad  bellum  Persicum  veniret,  occisus  est. 
Diese  Überlieferung  ist  völlig  wertlos  in  Anbetracht  ihres  Gewährsmannes  und  seines 
schwindelhaften  Bestrebens,  um  jeden  Preis  30  Usurpatoren  zusammenzubringen. 
6)  Kurze  Erwähnung,  dass  A.  vor  Valerians  Zuge  gegen  die  Perser  von  diesen  ge- 
nommen war,  bei  Zosimus  III  32.  7)  Zonaras  XII  23  p.  141  Dindorf  erwähnt  aus  der- 
selben Quelle  wie  Syncellus  p.  716  die  Einnahme  nach  der  Gefangennahme  Valerians, 

Also  nur  über  die  Thatsache,  dass  Antiochia  in  die  Hände  Sapors  fiel  und  nur 
ungefähr  über  die  Zeit  stimmen  die  Berichte  überein,  wenige  nur  von  ihnen  darüber, 
dass  die  Verräterei  eines  Antio ebener s ,  dessen  Name  verschieden  angegeben  wird, 
dabei  mitspielte.  Über  alle  Einzelheiten  schwanken  die  Überlieferungen.  Es  ist 
also  unmöglich,  dass  Ammian  und  Hegesippus  von  einander  unabhängig  sind.  Die  ge- 
ringfügige Abweichung,  dass  H.  das  Weib  des  Schauspielers  übergeht,  erklärt  sich 
aus  der  freien  und  lässigen  Art,  in  der  er  überhaupt  seine  Vorlagen  behandelt.  Man 
vergleiche  z.B.  S.  216  den  Schluss  der  aus  Sallust  genommenen  Stelle. 


Das  lateinische  Geschichtswerk  über  den  jüdischen  Krieg.  219 

gleichung  geschichtlicher  Berichte  des  Altertums  hat,  wird  darüber  keinen 
Augenblick  im  Zweifel  sein,  dass  jene  beiden  Erzählungen  nicht  von 
einander  unabhängig  sein  können.  Hier  wird  nicht  über  eine  allbekannte 
Thatsache,  wie  etwa  die  Gefangennahme  des  Kaisers  Valerian  durch  die 
Perser  im  Allgemeinen  berichtet,  sondern  ein  anekdotisch  ausgeschmückter 
Vorgang  aus  der  Stadtgeschichte  Antiochias  erzählt,  dessen  Thatsächlich- 
keit  zudem  sehr  fragwürdig  ist,  und  erzählt  obendrein  unter  wörtlichen 
Anklängen.  Nur  ein  einziger  Schriftsteller  gedenkt  —  jedoch  ohne  das 
ausschmückende  Beiwerk  —  jenes  Überfalles  im  Theater,  und  dieser  eine, 
der  Kedner  Libanius,  war  selber  wie  Ammian  ein  Antiochener  und  hat 
also  vermutlich  aus  der  Überlieferung  seiner  Heimat  geschöpft. 

Die  Annahme,  Ammian  habe  hier  Hegesippus  benutzt,  ist  schon 
durch  die  grössere  Genauigkeit  und  Ausführlichkeit  seines  Berichtes  aus- 
geschlossen; die  andere,  beide  hätten  eine  unbekannte  lateinische')  Quelle 
unabhängig  von  einander  ausgeschrieben,  ist  es  nicht  minder.  Es  ist 
zwar  eine  befremdliche  Verirrung,  wenn  neuerdings  behauptet  ward, 
dass  von  der  Mitte  des  dritten  bis  zur  Mitte  des  vierten  Jahrhunderts 
die  geschichtliche  Aufzeichnung  bei  den  Römern  völlig  geruht  habe,  da 
doch  weder  Schule  noch  Litteratur  damals  verschwunden  sind.  Aber 
der  tiefe  politische  Verfall  des  römischen  Reiches  im  dritten  Jahrhundert 
spiegelt  sich  natürlich  im  tiefen  Verfall  der  Geschichtschreibung  wieder. 
Denn  kein  Gebiet  der  Litteratur  ist  derart  von  den  politischen  Zuständen 
der  Nation  abhängig  wie  die  Geschichtschreibung.  So  lassen  die  er- 
haltenen griechischen  und  römischen  Geschichtschreiber  des  vierten  Jahr- 
hunderts deutlich  erkennen,  dass  es  schon  damals  mit  der  ihnen  zu 
Gebote  stehenden  Überlieferung  über  die  wirren  Zeiten  des  ärgsten 
politischen  Niederganges  unter  Valerian  und  Gallienus  sehr  übel  bestellt 
war.  Wer  diesen  Stand  der  Quellen  kennt,  wird  nicht  von  einem  ver- 
schollenen Werke  über  das  dritte  Jahrhundert  träumen,  das  Ammian  und 
Hegesippus  gemeinsam  als  Quelle  für  einen  Vorfall  aus  der  Stadtgeschichte 
Antiochias  benutzt  hätten.  Die  einfachste  und  natürliche  Annahme,  dass 
Hegesippus  hier  eine  Einlage  aus  Ammian  gemacht  hat  wie  andrer  Orten 
aus  Sallust,  Curtius  und  Tacitus,  wäre  vermutlich  längst  allgemein  aner- 
kannt worden,  wenn  nicht  der  Schatten  des  heiligen  Ambrosius  die  Ge- 
lehrten gestört  hätte.*) 


1)  An  eine  solche  müsste  man  bei  den  wörtlichen  Anklängen  denken. 

2)  Denn  mit  der  Annahme  seiner  Verfasserschaft  ist  die  Benutzung  Ammians 
unvereinbar,  was  Gronov  freilich  nicht  erkannt  hat. 


220  Eliuab  Elbb8 

'Historiae  in  morem\  so  sagt  der  Verfasser  im  Vorwort,  hatte  er 
den  ersten  Teil  seines  Geschichtswerkes  geschrieben.  Für  den  zweiten 
hat  er  diese  Versicherung  nicht  ausdrücklich  wiederholt.  In  der  That 
war  sie  überflüssig;  das  Werk  selbst  verrät  auf  jeder  Seite  das  heisse 
Bemühen,  den  Formen  der  klassischen  Geschichtschreibung  nachzustreben. 
Aber  der  Erfolg  war  unvollständig.  Stil  und  Sprache  machen  einen 
zwiespältigen,  unharmonischen  Eindruck  auch  dem,  der,  wie  billig,  nicht 
den  Massstab  Ciceros  und  Cäsars,  sondern  den  des  vierten  Jahrhunderts 
anlegt.  Dieser  Zwiespalt  erklärt  sich  daraus,  dass  Hegesippus  mit  der 
künstlichen  Schriftsprache  des  vierten  Jahrhunderts  unorganisch  Worte 
und  Verbindungen  (wie  z.  B.  cognito  quia  I  43,4  vgl.  I  44, 180  I  45,  18 
n  10,15  V  16,  191  V  40,52  V  41, 14)  aus  dem  Bibellatein  massenhaft 
einmischt.^  Trotzdem  bildet  die  Grundlage  der  sprachlichen  Darstellung 
der  Wortschatz  der  älteren  lateinischen  Geschichtschreiber.  Der  Verfasser 
hat  seine  Vertrautheit  mit  ihnen  durch  zahlreiche  Entlehnungen  und  Nach- 
bildungen einzelner  Stellen  und  Wendungen  bewiesen.  Unter  ihnen  stehen 
an  Zahl  und  Umfang  voran  die  Nachahmungen  Sallusts,  der  ja  im  vierten 
Jahrhundert  besonders  häufig  zum  stilistischen  Vorbild  gedient  hat.^)  Ich 
gebe  im  Folgenden  eine  Übersicht  jener  Stellen  aus  Hegesippus,  an  denen 


1)  Vgl.  Rönsch,  Die  lexikalischen  Eigentümlichkeiten  der  Latinität  des  soge- 
nannten Hegesippus,  Romanische  Forschungen  I  S. 256  — 321  und  dazu  Vogel  ebd. 
S.  415-417. 

2)  Die  Nachahmung  Sallusts  bei  Hegesippus  ist  so  stark  hervortretend,  dass 
sie  seit  Gronov  allgemein  bekannt  ist;  besonders  eifrig  hat  Wasse  in  seiner  Sallust- 
Ausgabe  (vom  J.  1710;  vgl.  seinen  Index  Auctorum  am  Schluss)  Parallelen  gesammelt. 
Zuletzt  hat  Vogel  (Acta  seminarii  phil.  Erlang.  I  S.  350  ff.,  Nachträge  II  S.  409)  eine 
Zusammenstellung  der  Sallustianismen  bei  H.  gegeben.  Einiges  war  hinzuzufügen, 
sehr  vieles  war  wegzuschneiden.  Denn  Vogel  hat  ohne  Kritik  Wendungen  als  Sallustia- 
nismen bezeichnet,  die  vor  und  nach  Sallust  allgemein  üblich  gewesen  sind  wie  regio 
more,  instrumenta  hellt,  instituta  maiorum  (ein  Lieblingsausdruck  Ciceros),  Jiaturam 
vincere,  rebus  diffidere,  rapto  vivere,  ins  fasque  u.  s.  w.  Ebensowenig  sind  sallustisch 
Sinus  urbis  vgl.  Cic.  in  Verr.  V  96,  remotis  procul  arbitris  H.  II  4, 10  vgl.  Cic.  de  off.  III 
112  remotis  arbitris;  H.  II  8,20  et  proeäa  de  proeliis  sei'ens  wird  von  Vogel  I  354 
als  Nachahmung  von  Sali.  bist.  IV  61,  20  bella  ex  bellis  serundo  angeführt,  doch 
braucht  auch  Livius  3  Mal  bella  ex  bellis  serere  II  18, 10  XXI  10, 4  XXXI  6,4;  wenn 
H.  V  49, 4  schreibt  ad  genua  advolvebantur,  so  hat  das  mit  Sali.  bist.  ine.  92  genua 
patrum  advolvebantur  gerade  so  wenig  zu  schaffen  als  Livius  XXVIII  34, 4  advolutus 
genibus  (vgl.  Weissenborn  zu  Liv.  VIII  37,9),  spezifisch  sallustisch  ist  nur  die  von 
Tacitus  (vgl.  Nipperdey  zu  ann.  I  13)  nachgeahmte  Konstruktion  mit  dem  blossen 
Accusativ.  —  Es  versteht  sich  ferner  bei  einer  so  ausgedehnten  Nachahmung,  wie 
sie  bei  H.  vorliegt,  von  selbst,  dass  sich  manche  Stellen  finden,  die  eine  gewisse  ent- 
fernte Ähnlichkeit  mit  sallustischen  aufweisen  und  möglicherweise  unter  Erinnerung 
an  sie  geschrieben  sind.  Aber  es  erscheint  mir  wissenschafüich  wertlos,  solche  blossen 
Möglichkeiten  zu  verzeichnen  in  einem  Falle,  wo  die  ausgedehnte  Benutzung  ohnehin 
zur  Genüge  feststeht. 


Das  lateinische  Geschichtswerk  über  den  jüdischen  Krieg.  221 

eine,  sei  es  bewusste  sei  es  unbewusste,  Nachahmung  Sallusts  sicher 
oder  wahrscheinlich  ist.  Ich  füge  die  mir  bekannten  Parallel-Steilen  aus 
der  römischen  Litteratur  (jedoch  mit  Ausschluss  der  patristischen)  hinzu, 
weil  sich  nur  auf  diese  Weise  einigermassen  erkennen  lässt,  ob  eine 
Wendung  Sallusts  zum  Gemeingut  der  Litteratursprache  geworden  war, 
oder  auf  den  engeren  Kreis  der  eigentlichen  Nachahmer  beschränkt  blieb. 

H.  I  1,  1  hello  Parthico  quod diutumum  ac  frequens  variaque 

Victoria  fuit ;  lug.  5, 1  bellum magnum  et  atrox  variaque  victoria  fuit; 

Yell.  n  96, 2  bellum  magnum  atroxque.  —  H.  I  1, 15  cum  sibi  supremum 
diem  adesse  intellegeret  (V  43,  24  finem  sibi  adfore) ;  lug.  9,  4  cum  sibi 
finem  vitae  adesse  intellegeret;  vit.  Marc.  7,3  cum  sibi  adesse  vitae  finem 
videret,  Sev.  chron.  I  51,3  vitae  eins  finem  adesse  vgl.  auch  Curt.Vn  7, 
19.  —  H.  I  1, 18  hello  strenuus,  consilio  bonus;  lug.  7,  5  proelio  strenuus 
erat  et  bonus  consilio;  Dict.  IE  25  cum  virtute,  tum  consilio  bonus.  — 
H.  I  1,  18  quam  frequenter  innumeras  hostium  copias  parva  manu  fuderit 
(III  24,  45  maiores  nostri  magnas  hostium  copias  parva  manu  frequenter 
fuderunt);  Cat.  7,  7  maxumas  hostium  copias  populus  Eomanus  parva 
manu  fuderit  vgl.  Cat.  53, 3  sciebam  saepe  numero  parva  manu  cum  magnis 
legionibus  hostium  contendisse.  —  H.  I  1 ,  22  quos  adversum  ierat  = 

V  4, 44  =  lug.  101,  8;  Dict.  H  3.  12  IV  3  (quos  adv.  bellabat  III  5).  — 
H.  I  6, 12  in  adversum  mutavit;  lug.  104,2  in  adversa  mutantur.  —  H.I  9,6 
hello  pacem  mutavit;  Cat.  58,  15  pace  bellum  mutavit;  Tac.  ann.  HI  44 
pacem  hello  mutari.  —  H.I  10, 17  more  humani  ingenii  =  I  37,  27,  more 
ing.  h.  I  36, 21  II  17,  6  lY  21, 1 ;  more  ingeni  humani  lug.  93, 3;  lustin.  VI 
1, 1,  Sev.  chron.  I  4, 5  I  16,7  vgl.  dial.  I  4, 2,  Dict.  II  15,  Sjmm.  ep.  VHI 
27, 1,  Veget.  r.  mil.  11  20.  —  H.  I  13, 18  illum  alterum  hello  meliorem  se- 
cuti;  lug.  13,  1  plures  Adherbalem  secuntur,  sed  illum  alterum  hello  me- 
liores  vgl.  lug.  49,  2.  —  H.  I  15,  24  animi  immodicus  ebenso  IV  22,  12 

V  19,  21  =  bist.')  I  114  (I  150  M.);  Tac.  bist.  I  53,  Paneg.  X  24.  —  H.  I 
18,  16  ex  indigentia  gravi  frumenti  satias'^)  facta;  bist.  IE  29  (IE  95  M.) 

frumenti  ex  inopia  gravi  satias  facta.  —  H.  I  22,  9  quos eo  cultu 

quo  liberos  domi  habuit;  lug.  5,  7  eodem  cultu  quo  liberos  suos  domi  ha- 
buit;  vit.  Sev.  9,  2  filios  quos  suorum  liberorum  cultu  habuerat.  —  H.  I 
29,  29  sed  illum  gravis  cura  exercebat ;  bist.  I  54  (I  84  M.)  segnior  neque 
minus  gravis  et  multiplex  cura  patres  exercebat;  Sev.  chron. II  40, 6  segnior 
quidem,  sed  non  minus  gravis  cura  principem  exercebat.  —  H.  I  30,  13 


1)  Die  Anführungen  aus  Sallusts  Historien  gebe  ich  nach  Dietsch,  füge  aber 
für  die  kleineren  Fragmente,  d.  h.  abgesehen  von  den  Reden  und  Briefen,  die  Zahlen 
der  neuen  Ausgabe  Maurenbrechers  in  Klammern  bei. 

2)  So  hat  statt  satietas  richtig  der  cod.  Ambrosianus. 


222  Elimab  Elebs 

fugam  in  noctem  composuerat ;  bist.  I  27  (I  42  M.)  fagam  in  n.  compone- 
rent.  —  H.  I  30,  89  vir  ad  furta  belli  peridoneus  (furta  belli  auch  I  32,  53 
V  15,  25);  bist.  I  86  (I  112  M.)  gentis  ad  f.  b.  peridoneae.  —  IL  I  35,  3 
caelestibus  in  se  supra  modum  fluentibus  beneficiis  vgl.  IV  9,  19  rebas 
adversum  se  fluentibus,  IV  15, 13  rebus  ex  sententia  fluentibus;  bist.  ine.  101 
(V  25  M.)  rebus  supra  vota  fluentibus ;  Tac.  bist.  UI  48  cunctis  super  vota 
fluentibus  (vgl.  dial.  5  ann.XV  5),  lustin. XXIII 3, 12  rebus  supra  vota  fluenti- 
bus, Vict.  Caes.  33,3  bis  prospere  ac  supra  vota  fluentibus,  Sev.  chron.  IE  45, 1 
rebus  nimium  prospere  et  secundum  vota  fluentibus,  umgestaltet  von  Am- 
mian  XVII  9,  1  cunctis  ex  voto  currentibus  und  Symmacbus  ep.  I  20,  2 
cui  supra  votum  fortuna  fluxit.  —  H.  I  35,  26  civitas  fessa  bellis;  bist.  11 
41, 14  regna  —  fessa  bellis;  Tac.  hist.V  16  ann.  Xn  63  f.  belle,  lustin.  VI 
6,  4  f.  bellis.  —  H.  I  36, 25  quod  altius  in  pectus  Herodis  quam  quisquam 
ratus  erat  descendit;  lug.  11,7  quod  verbum  in  pectus  lugurtbae  altius 
quam  quisquam  ratus  erat  descendit;  vit.  Getae  6,7  quod  dictum  altius 
in  pectus  Bassiani  descendit.  —  H.  I  38, 1 1  eruditi  latinis  iuxta  et  graecis 
litteris ;  lug.  95,  3  litteris  graecis  et  latinis  iuxta  (==  gleichmässig)  atque 
doctissume  eruditus.  —  H.  I  40, 35  qui  figuras  maiorum  vitiis  suis  obtentui 
ducunt;  bist.  I  41,24  secundae  res  mire  sunt  vitiis  obtentui;  Vict.  Caes.  2,2 
quaesiverat  flagitiis  obtentui,  auch  Tac.  bist.  I  49  ann.  I  10  bat  obten- 
tui. —  H.  I  41, 4  dono  datur  atque  accipitur  =  bist.  1141, 5.  —  H.  141,110 
volentia  regi  pensantes,  I  44, 42  volentia  magis  quam  necessaria  suaden- 
tibus;  bist.  IV  31  (IV  42  M.)  volentia  plebi  facturus;  Tac.  ann.XV  36 
plebi  volentia  fuere ,  bist.  III  52  Muciano  v.  rescripsere.  —  H.  I  44,  206 
simplice  morte  dignus  putatur;  bist.  III  25  (I  43  M.)  ne  simplici  quidem 
morte  moriebantur;  CurtVIII  7,5  ne  s.  quidem  m.  defunctus,  lustin.  XLIV 
4,  4  s.  m.  interfici,  (Vict.)  Epit.  40,  8  m.  s.  periit,  Sev.  chron.  I  54, 4  ut  ne 
s.  quidem  m.  expiraret  (vgl.  Sali.  bist.  I  30) ;  non  contentus  s.  m.  Seneca 
ben.VII  9, 18,  nee  s.  patris  m.  contentus  Firmic.  Mat.  de  err.  prof.  rel.  16, 2.  — 
H.  I  45,  33  dolis  atque  fallaciis  =  Cat  11, 2. 

H.  n  1, 42  regnum  dare  atque  eripere;  lug.  1,  3  neque  dare  neque  eri- 
pere  potest  (d.  aut  e.  bist,  in  61, 24);  Tac.  bist.  III  55  neque  dari  neque  accipi 
poterant,  nee  dari  nee  eripi  potest  Seneca  dialog.  XII  8, 4,  nee  dare  nee  eri- 
pere ben.V  6, 1  vgl.  ep.  41, 8.  59, 18 ;  Pan.  TV  14  nee  dare  potest  nee  eripere.— 
H.n  9,221  sese  obiectare  periculis  (dagegen  I  44,188  p.  obieoisti);  lug.  7,1 
statuit  eum  obiectare  p.;  Sev.  chron.  I  34,6  obiectare  eum  p.  statuit,  die 
Verbindung  p.  obiectare  auch  Tac.  bist.  11  33  Ammian.XX  7, 12  XXI 13, 2.  — 
H.n  10,63  inulti  obtruncantur;  lug.  67, 2  inulti  obtruncari;  Dict.  V  12 
inultos  obtruncavere.  —  H.  11  11,1  Ardebat  omnis  ludaea;  bist  ine.  7  (vgl. 
M.  I  85)  ardebat  omnis  Hispania  citerior;  Dict.  I  16  Ardebat  omnis  Grae- 

4 


l 


Das  lateinische  Geschichtswerk  über  den  jüdischen  Krieg.  223 


cia.  —  H.  II  13,  66  nee  tarnen  is  vitae  finis  Hyrcano  qui  potestatis  fuit 
(vgl.  I  8,18  finem  imperii  ac  vitae  edidit);  lug.  5,5  sed  imperii  vitaeque 
eins  finis  idem  fuit;  Curt.  V  8, 13  idemque  erit  regni  mei  qui  Spiritus 
finis.  —  H.  n  15,63  oneri  magis  quam  usui  erant,  V  24, 10  coepit  oneri 
esse  cibus  qui  prius  usui  erat,  V  24,76  quibus  o.  quam  u.  forent');  lug.  14,4 

quibus cogor  prius  o.  quam  u.  esse.  —  H.  II  18,  2  passio rei 

novitate  memorabilis;  Cat.  4, 4  facinus  memorabile  sceleris  atque  periculi 
novitate.  — 

H.  in  3,14  ambiendo  singulos  dando  et  largiendo;  zwar  steht  lug.  13,8 
singulos  ex  senatu  ambiendo  und  16,  3  dando  et  pollicendo,  doch  macht 
die  Vergleichung  mit  Sev.  chron.  II  48,  5  largiendo  et  ambiendo  wahrschein- 
lich, dass  von  ihm  wie  von  H.  eine  verlorene  Salluststelle  nachgeahmt 
ist.  —  H.  in  3, 38  plurimum  in  hello  valere  bonam  conscientiam  (vgl.  V 
4,  5  in  beUo  plurimum  audaciam  posse  und  Y  30,  21  sed  plurimum  in 
hello  prudentia  valet) ;  Cat.  2,  2  in  hello  plurimum  Ingenium  posse.  — 
H.  in  8,23  pacem  an  proelium  mallent;  Cat.  17,6  bellum  quam  pacem 
malebant,  lug.  102,  5  pacem  quam  bellum  malles;  Tac.  ann.  n  46  b.  an 
p.  malint,  ann.  XIII  9  p.  quam  b.  mallet,  lustin.  XLIV  2, 2  b.  quam  otium 
malunt.  —  H.  m  9,  21  illis  pro  salute,  istis  pro  triumpho  dimicantibus 
vgl.  V  12, 6  bis  pro  salute,  Romanis  de  victoria  certamen  erat;  lug.  94,5 
pro  gloria  atque  imperio  his,  illis  pro  salute  certantibus  (vgl.  lug.  114,2  cum 
Gallis  pro  salute,  non  pro  gloria  certari);  Curt.  IV  14, 9  iam  non  de  gloria, 
sed  de  salute  et,  quod  saluti  praeponitis,  libertate  pugnandum,  Tac.  Agr.  5 
tum  de  salute,  mox  de  virtute  certavere,  ebd.  26  securi  pro  salute  de  gloria 
certabant,  lustin.  XXVIII  4,  2  cum  hi  pro  gloria,  illi  non  solum  pro  über- 
täte, sed  etiam  pro  salute  certarent.  —  H.  lU  20, 14  res  postulare  vide- 
tur  situm  —  breviter  exponere  (vgl.  IH  26,  1 2  res  exigere  videtur,  ut  — 
aperiamus);  lug.  17, 1  res  postulare  videtur  Africae  situm  paucis  exponere 
(vgl.  Cat.  5, 9  res  ipsa  hortari  videtur,  quoniam  de  moribus  civitatis  tem- 

pus  admonuit,  supra  repetere  ac  paucis disserere) ;  diese  sallustische 

Wendung  ist  zur  Einführung  eingelegter  Schilderungen  sehr  beliebt  ge- 
worden :  Tac.  bist.  IV  5  res  poscere  videtur,  quoniam  in  mentionem  incidi- 
mus  —  ut  paucis  repetam  (ann.  m  25  res  admonuit  ut  —  disseram  vgl.  Sev. 
chron.  II  28, 2  huius  vitia  ut  plenius  exponerem ,  res  admonebat),  Fronto 
p.  211  res  poscere  videtur  —  praefari,  Apul.  met.  IV  6  res  ac  tempus  loco- 
rum  —  descriptionem  exponere  flagitat,  ibd.  IX  32  res  ipsa  mihi  poscere 
videtur,  ut  —  exponam,  Sev.  chron.  n  2, 4  res  postulat,  uti  —  exponamus, 
Dict.  II  35  res  postulare  videtur  —  edicere,  freie  Nachbildungen  bei  Am- 


1)  So  die  Kasseler  Handschrift,  plus  quam  die  Yulgata. 


224  Elimae  Klebs 

mian XVI  7, 4  XXU  1 5, 1  XXIII 4, 1 .  6, 1 .  —  H.  IE  20, 35  (bei  der  Schilderung 
eines  Schiffbruchs)  plerique  cum  ipsis  in  profunde  sidebant  myoparonibus, 

quos  enandi  fiducia  destituerat ceterum  nare  adorsos  convulsa  navium 

fragmenta  crebris  quatiebant  ictibus  lateribusque  inlisa  miseros  artus  foede 
mulcabant;  hier  ist  eine  entsprechende  Schilderung  Sallusts  bist,  in  24 
(ITT  54  M.)  frei  verwertet,  von  der  die  Worte  erhalten  sind  nam  qui  enare 
conati  fuerant,  icti  saepe  fragmentis  navium  aut  adflicti  alvos  undarum 
vi  mulcato  foede  corpore  postremo  interibant  tarnen.  —  H.  III  23,  3  nisi 
qua  pedestribus  invia  Genesari  lacus  fluctibus  alluebatur  (vgl.  V  15,  16 
qui  [=  Romani\  sibi  omnia  subiecerunt,  nisi  quae  nimio  aestu  aut  gelu 
invia  sunt  und  Y  15,  24  Saxonia  inaccessa  paludibus  et  inviis  saepta 
regionibus) ;  bist.  I  8  (vgl.  I  UM.)  omni  Gallia nisi  qua  paludi- 
bus invia  fuit,  perdomita;  Melalll  29  terra  —  silvis  ac  paludibus  invia  (vgl. 
II  86  Hispania  nisi  qua  Gallias  tangit).  —  H.  III  24, 67  Manlii  Torquati 
filium  —  quem  securi  pater  iussit  feriri,  quod  contra  imperium  patris  exer- 
citum  in  bestem  produxerat ;  Cat.  52,  30  A.  Manlius  Torquatus  hello  Gallico 
filium  suum,  quod  is  contra  imperium  in  bestem  pugnaverat,  necari  ius- 
sit —  H.  III  20,  58  praedonum  manus  assueta  latrociniis  (vgl.  IV  4, 12 
assuetus  latrociniis) ;  bist.  II  67  (11  88  M.)  genus  militum  suetum  a  pueri- 
tia  latrociniis;  1.  suetos  Tac.  ann.  II  52, 1.  assuetus  Ammian  XVII  13,27.  — 
H.  III  26,  28  per  cava  terrae  (V  11, 19  per  cava  muri)  =  bist.  11  43  (vgl. 
II  28  M.).  -■ 

H.  IV  2,18  pauci  in  pluribus  minus  frustrentur;  lug,  58,3  pauci  in 
pluribus  minus  frustrari.  —  H.  IV  6,3  eo  quasi  in  sentinam  confluxerant; 
Cat.  37,  5  Romam  sicut  in  sentinam  confluxerant  —  H.  IV  16, 25  nudus 
gignentium  (V  25,22  nudum  gignentium  solum) ;  lug.  79, 6  loca  nuda  gignen- 
tium;  Amm.  XXIII  6, 68  apud  se  gignentia,  XXIII  6, 56  humi  gignentium 
fertiles.  —  H.  IV  16,  41  vitio  nimiae  siccitatis  atque  humi  arido  corruptior 
aer;  lug.  48,  3  quae  humi  arido  atque  harenoso  gignuntur  (vgl  Jordan 
z.  d,  St.),  —  H.  IV  20, 18  dignum  moribus  suis  vitae  exitum  tulit  (vgl.  I 
29,  47  exitum  vitae  invenire) ;  Cat  55,  6  dignum  moribus  factisque  suis 
exitum  vitae  invenit;  häufig  nachgeahmt:  Vell.  II  112,  vit.  Claudii  5,  3, 
Vit  Cari  13,2,  Sev.  chron.  I  51,  2,  Dict  IV  3  (vgl.  lug.  14,  23).  —  H.  IV 
25,  15  viri  muliebria  exercere;  Cat  13,  3  viri  muliebria  pati;  Firmicus 
Mat  4,  2  viros  muliebria  pati  (passus  muliebria  Tac.  ann.  XI  36).  —  H.  IV 
26, 12  ventri  deditos  et  turpitudini;  lug.  85,  41  dediti  ventri  et  turpissimae 
parti  corporis  (Cat.  2, 8  dediti  ventri  atque  somno).  — 

H.  V  4, 2  videns  ferro  iter  aperiundum  (vgl.  EI  9, 19  ferro  sibi  aperire 
viam) ;  Cat  58,  7  ferro  iter  aperiundum  est  —  H.  V  4,  5  in  hello  pluri- 
mum  audaciam  posse  (vgl.  oben  zu  H.  HE  3, 38),  quae  vel  sola  sibi  murus 


Das  lateinische  Geschichtswerk  über  den  jüdischen  Krieg.  225 

est;  Cat  58,  17  audacia  pro  muro  habetur.  —  H.  V  4,  18  fessos  nocturno 
itinere;  lug.  106,  5  nocturno  itinere  fessis.  —  H.  Y  7,  17  nee  dubium, 
quod  saepius  vindicatum  sit  in  eos,  qui  contra  Imperium  in  hostem  pugna- 
verint,  quam  in  eos,  qui  secundum  imperium  progressi  virtuti  cesserint; 
Cat.  9, 4  documenta  haec  habeo,  quod  in  hello  saepius  vindicatum  est  in  eos, 

qui  contra  imperium  in  hostem  pugnaverant quam  qui  signa  relinquere 

aut  pulsi  loco  cedere  ausi  erant.  —  H.  V  9, 8  invidia  ex  magnificentia  orta; 
Cat.  6,  3  invidia  ex  opulentia  orta  est.  —  H.  Y  10,  25  virum  et  manu 
promtum  et  bonum  consilio  (Y  19,  2  manu  promtus,  sed  consilio  parum 
providus);  manu  promptus  steht  bei  Sallust  Cat.  43,4  lug.  7,1  (lingua 
quam  manu  promptior  lug.  44,  1),  doch  weist  H.  Übereinstimmung  mit 
lustin.  XXIII 4, 1 1  et  consilio  cautum  et  manu  promptum  auf  eine  verlorene 
Salluststelle  hin.  —  H.  Y  11,  5  ac  paene  admissum  erat  facinus  misera- 
bile nisi  quod ademerat  (vgl.  I  18, 10  ac  paene  incidisset  faci- 
nus miserabile  nisi ministrasset) ;  lug.  53,  7  et  paene  imprudentia 

admissum  facinus  miserabile,  ni exploravissent.  —  H.  Y  15,70  ad 

mutandum  in  mollius  (so)  servitium;  bist.  iuc.  91  (II  24  M.)  ad  mutandum 
modo  in  melius  servitium;  die  Yerbindung  mutari  in  melius  findet  sich 
Seneca  dial.  YI  25,  3  ep.  47,  21,  Tac.  bist.  I  50  ann.  III  34  (in  m.  mutare 
bist.  Y  8  ann.  III  54),  Amm.  XXIII  6,  2  Paneg.  XII  7  Dict.  HI  24.  — 
H.  Y  24,60  paupertas  probro  habetur ;  Cat.  12,1  paupertas  probro  haberi 
coepit;  Sev.  chron.  n  51, 10  plebs  Dei  probro  atque  ludibrio  habebatur.  — 
H.  Y  26,  1 1  Victoria  de  manibus  deriperetur ;  lug.  82,  3  victoria  ex  mani- 
bus  eriperetur.  —  Y  27,24  dedecores  inultique  (ebenso  dedecores  atque  inulti 
Y  43, 21  richtig  die  Yulgata,  inutiles  Weber  nach  dem  cod.  Cass.) ;  bist.  lU 
74  (III  24  M.)  dedecores  inultique.  —  Y  27,  33  nonne  praestat  mori  per 
virtutem  quam  vivere  ad  ignominiam  (vgl.  lY  7, 48  praestat  enim  pro  patria 
mori,  Y  15,28  mori  praestare  quam  libertatem  amittere);  Cat.  20,9  nonne 

emori  per  virtutem  praestat  quam  vitam  miseram  atque  inhonestam 

per  dedecus  amittere.  —  H.  Y  27, 72  omnibus  positum  finem  vivendi ;  bist.  I 
41,15  omnibus  finem  natura  statuit.  —  H.  Y  46,71  pro  quibus,  o  grati 
socii,  hanc  vicem  nobis  rependistis ;  bist.  11  96, 6  pro  quis,  o  grati  patres, 
egestatem  et  famem  redditis.  — 

Yon  sallustischen  Redewendungen  verzeichnen  wir :  H.  prol.  3  Macca- 
baeorum  res  gestas  paucis  absolvit;  Cat.  38,  3  uti  paucis  verum  absolvam 
(danach  Yict.  Caes.  42,24  uti  verum  absolvam  brevi),  lug.  17,2  cetera 
quam  paucissimis  absolvam ,  Cat.  4,  3  de  coniuratione ,  quam  verissime 
potero,  paucis  absolvam  (danach  Sev.  chron.  11  14, 8  gesta,  ut  potero, 
paucis  absolvam,  lordan.  Get.  10  de  Britannia ut  potuero  p.  absol- 
vam); p.  absolvere  auch  noch  Ammian  XYI  12,10  (vgl.  XXX  4,4  XYII 

15 


226  Elimab  Klebs 

7,1  XXin  6,10),  lordan.  Get.  94.  —  Ostentui  mit  esse  H.  I  6,2  m 
2,  29  (prol.  15  schwankt  die  Überlieferung  zwischen  obtentui  und  oslfm' 
tut);  lug.  24,10;  Tac.  hist.  HI  35  ann.  I  29,  vita  Aureliani  30,3.  — 
H.  I  13,14  und  I  36,17  de  quo  supra  memoravimus ;  sallustisch  ist  in 
dieser  Formel  der  Rückverweisung  memorare  de  —  vgl.  de  quo  m.  Cat 
26, 3  lug.  25,  4,  cuius  de  lug.  28,  4 ;  ebenso  de  quo  oder  cuius  de  m.  Tac. 
ann.  III  75 IV  1  XI  5  vgl.  VI  47,  Vict.  Caes.  39,  30. 35,  3  (commemoravimusj, 
Dict.  I  11  IV  2.21.  —  H.  V  43,21  sicut  pecora  trucidabantur  (I  11,18 
exercitus  eins  quasi  more  pecorum  obtruncaretur);  Cat.  58,  21  sicuti  pecora 
trucidemini  (hist.  n  52  vicem  pecorum  obtruncabantur) ;  die  erste  Stelle 
ist  wegen  der  gleichen  Fassung  mit  sicut  wohl  nach  Sallust  geschrieben, 
sonst  sind  verwandte  Redewendungen  allgemein  verbreitet  (vgl.  Hertz, 
de  Ammiani  Marc,  studiis  Sali.  p.  12  not.  18).  —  H.  V  16,  95  sanctus 
alia ;  sallustisch  ist  die  Bekleidung  des  Adjectivums  mit  einem  Accusativ, 
sanctus  alia  hist.  ine.  113  [I  92]  (vgl.  I  116  M.);  cetera  sanctissimus 
Vell.  n  46,  2,  sanctus  omnia  Vict.  Caes.  9, 1.  —  H.  n  10,  55  immane 
quantum  insoleverat  ebenso  mit  dem  Indikativ  m  20,22  V  28,5;  hist 
II  79  (II  44  M.)  imm.  q.  exarsere;')  ebenso  Tac.  hist.  III  62  IV  34.  — 
H.  I  41,  31  veteris  prosapiae  infulis,  V  22, 150  habeat  sibi  vetus  prosapia 
infulas  (ausserdem  prosapia  häufig  z.  B.  I  40,  4  II  1,  57  11  13,  77  etc.); 
vetus  prosapia  hat  Sallust  lug.  85,  10  aus  Cato  (veteris  prosapiae  Orig.  I 
28  p.  9,6  Jord.)  geholt  und  durch  ihn  ist  das  verschollene^)  Wort  wieder 
in  die  Litteratur  gebracht;  veteris  prosapiae  lustin.  XIV  6,  11,  mea  vetus 
prosapia  Apul.  met.  1,  1,  auffälligerweise  auch  Sueton  Galba  2  magna  et 
vetere  prosapia,  während  Sueton  sonst  Sallustianismen  wie  Archaismen 
meidet.  —  H  III  3,  26  IV  15,  19  militiae  more;  lug.  54,  1,  hist.  III  67 
(in  96  b  M.)  more  militiae ;  die  gleiche  Verbindung  Tac.  hist.  I  68  ann. 
II  52  XII  69  XIII  2,  Dict.  11  36.  —  Sallustischen  Ursprungs  ist  vermutlich 
secundis  rebus  elatus^)  H.  III  3,6,  desgleichen  ima  summis  miscere  H.  I 
20, 3;  allerdings  schreibt  auch  Cicero  leg.  DI  19  omnia  infima  summis  paria 
fecit  turbavit  miscuit,  aber  da  die  Form  imis  (ima)  gleichlautend  wieder- 
kehrt bei  Vell.  II  2,  3  summa  imis  m.,  Vict.  Caes.  33,  4  ima  summis  m., 
Amm.  XXVrn  1, 15  (vgl.  auch  Tac.  hist.  IV  47  fortunae  summaque  et 
ima  miscentis),  so  ist  die  sallustische  Herkunft  der  Phrase  in  dieser  be- 
sonderen Gestalt  sehr  wahrscheinlich.    Endlich  findet  sich  gleichlautend 


1)  Vgl.  Horat.  carm.  I  27,6  immane  quantum  discrepat. 

2)  Ein  Mal  von  Cicero  in  seiner  Übersetzung  des  Timaeus  U  mit  dem  Zusatz 
*ut  utamur  vetere  verbo'  gebraucht,  von  Quintilian  inst.  I  6,40  VIII  3,26  als  ge- 
schmackloser Archaismus  verworfen. 

3)  Ich  habe  darüber  bereits  Rhein.  Mus.  XL VII  S.  539  gehandelt. 


Das  lateinische  Geschichtswerk  über  den  jüdischen  Krieg.  227 

bei  H  I  46,13  magnifice  funus  curatum  und  Sev.  chron.  I  12,  7  funus 
magnifice  curatum  (vgl.  chron.  II  25,2  funus  magnifice  curavit);  auch 
hier  liegt  wahrscheinlich  eine  verlorene  Stelle  aus  Sallust  zu  Grunde,*) 
der  vom  pomphaften  Begräbnis  Sullas  mit  solcher  Wendung  berichtet 
haben  mochte. 

Überblickt  man  diese  Nachweise,  so  zeigt  sich,  dass  H.  neben  einigen 
Wendungen,  die  aus  Sallust  ins  allgemeine  Sprachgut  übergegangen  waren, 
vieles  aufgenommen  hat,  was  auf  den  engeren  Kreis  der  eigentlichen 
Nachahmer  beschränkt  geblieben  ist;  nicht  weniges  findet  sich  überhaupt 
nur  bei  ihm.  Wie  bei  den  anderen  Schriftstellern  der  gleichen  Schule 
erstreckt  sich  der  sprachliche  Einfluss  Sallusts  weiter  dahin,  dass  Wendungen 
und  Konstruktionen,  die  an  sich  Sallust  nicht  eigentümlich,  aber  durch 
ihre  Häufigkeit  für  ihn  charakteristisch  sind,  es  eben  dadurch  auch  für 
seine  Nachahmer  werden,  z.  B.  patrare,  multi  mortales,  queo  und  nequeo, 
simul  quia  etc.  Trotzdem  hat  H.  eine  wirkliche  und  gleichmässige 
sallustische  Färbung,  wie  sie  mit  sprachlichem  Feingefühl  Sulpicius 
Severus  seiner  Chronik  zu  geben  wusste,  nicht  erreicht,  auch  wohl  nicht 
einmal  erstrebt.  Er  schwelgt  viel  zu  sehr  in  der  breiten,  schwülstigen 
Khetorik,  als  dass  ihm  jene  knappe  Gedrungenheit  Sallusts,  die  unauf- 
haltsam vorwärts  dringt,  nur  die  wesentlichen  Momente  berührt  und  das 
übrige  dem  Nachdenken  des  Lesers  überlässt^),  hätte  sympathisch  sein 
können.  Nur  nach  einer  Richtung  hin  hat  H.  seinem  Vorbild  aufs 
eifrigste  nachgestrebt  und,  wenn  es  nur  auf  die  Menge  ankäme,  hätte 
er  es  überboten :  die  kunstvolle  Ausbildung  der  Antithese  in  gleichförmig 
gebauten  Sätzen  mit  bald  paralleler,  bald  chiastischer  Wortstellung  und 
ihre  Verwendung  zu  allgemeinen  Sätzen,  mit  der  Sallust  auf  die  späteren 
Historiker  (abgesehen  von  Sueton  und  seiner  Schule)  so  mächtig  ein- 
gewirkt hat,^)  sie  hat  ihren  Zauber  auch  auf  H.  auszuüben  nicht  verfehlt. 


1)  Zweifelhaft  ist  der  sallustische  Ursprung  H.  IV  1,  50  rem  egregiam  fecit  ac 
memorabilem ;  lug.  79, 1  egregium  ac  mirabile  (so  der  Parisin.,  andere  Hschr.  memo- 
rdbite)  facinus  memorare;  mit  Recht  hat  hier  Jordan  mirabile  beibehalten,  doch 
könnte  die  andere  Lesart  auf  sehr  alter  Verderbnis  beruhen.  —  Densere  aciem  hat 
H.  II  32,  34  der  Cass.  vgl.  densere  frontem  bist.  II  59  (U  103  M.),  doch  steht  H.III 
23,  13  densata  acie. 

2)  Man  denke  z.  B.  an  lug.  12,5:  Hiempsal  reperitur  occultans  se  tugurio  mu- 
lieris  ancillae,  quo  initio  pavidus  et  ignarus  loci  perfugerat.  Numidae  caput  eins, 
uti  iussi  erant,  ad  lugurtham  refenint. 

3)  Von  Sallusts  Eigentümlichkeit  und  seinem  nach  dieser  Richtung  hin  sehr 
kunstvollen  Satzbau,  auf  den  die  herkömmliche  Bezeichnung  des  einfachen  und  kunst- 
losen in  ihrer  Allgemeinheit  durchaus  nicht  zutrifft,  giebt  Marius'  Rede  lug.  85  das 
beste  Bild. 

15* 


228  Elimab  Eleb8 

In  allen  nur  denkbaren  Formen  pflegt  er  die  Antithesen  und  häuft  sie 
in  den  eingelegten  Reden  bis  zum  Überdruss  des  Lesers/) 

Von  den  späteren  Geschichtschreibern,  die  in  Sallusts  Bahnen  wandelten, 
hat  H.  Velleius  vermutlich  gekannt  und  ihm  vielleicht  einige  Wendungen 
entnommen.')  Sicher  ist,  dass  er  mit  Tacitus'  Werken  vertraut  war. 
In  seiner  Schilderung  des  Toten  Meeres  (vgl.  oben  S.  217)  tritt  dies  auch 
sprachlich  hervor.  Offenbar  nach  taciteischem  Muster  ist  das  von  H. 
selbständig')  eingelegte  Stück  II  1  §  1  entworfen;  wie  Tacitus  ann. 
I  9 — 10  von  den  Urteilen  der  Menge  über  den  verstorbenen  Augustus 
berichtet,  so  H.  von  den  'iudicia  populi'  bei  Herodes'  Tode.  Indes  mangelt 
es  hier  an  wörtlichen  Anklängen,  während  an  anderen  Stellen  Tacitus' 
sprachliche  Einwirkungen  in  einzelnen  Wendungen  des  H.  unverkennbar 
sind."')    H.  in  1,  23  ludibrium  rerum  humanarum  (I  23,  11  humanarum 


1)  Aus  einer  Überfülle  von  Beispielen  greife  ich  hier  nur  ein  Paar  zur  Veran- 
schaulichung von  H/  Manier  heraus:  III  17,  109  miles  tesseram  expectat,  servus  im- 
perium,  I  39,  15  aliud  inflat,  aliud  exasperat,  I  40,  33  quod  Ulis  dolori,  sibi  odio  foret, 

II  9, 61  dura  belli  adversum  omnes  condicio,  adversum  Romanos  ultima,  IV  2,  7  pru- 
dentis  est  in  adversis  lapsum  corrigere,  in  prosperis  moderationem  teuere,  V  27,  36 
quibus  non  est  novum  vincere  et  crimen  non  vicisse,  III  17,65  timidus  est  qui  non 
vult  mori  quando  oportet,  et  qui  vult  quando  non  oportet,  IV  29,  34  si  pericula  prae- 
venerint,  frustra  consules;  ubi  consilium  placuerit,  recte  incipias,  I  36,  39  iustius 
Mariamme  amantem  se  virum  oderat  quam  Herodes  Mariammen  non  amantem  amabat, 

III  11,  15  inlisa  solidis  solida  nocent,  solutioribus  evacuantur,  denique  facüius  soli- 
diora  mollioribus  cedunt  quam  molliora  solidioribus. 

2)  Vgl.  meine  Ausführungen  in  dem  Aufsatz  'Entlehnungen  aus  Velleius'  Phi- 
lolog.  N.  F.  III.  S.  300  f. 

3)  loseph.  bell.  I  33,  8  giebt  an  der  entsprechenden  Stelle  nur  eine  kurze  Be- 
merkung. 

4)  Cäsar  S.  399  Anm.  11  bemerkt  Hegesippi  oraiionem  saepius  cum  Tacitea  con- 
venire  exemplis prohat  Wopkens  in  advers.  in  Tacitum  p.  352  sqq.:  Wopkens  hat 
(Band  II  der  von  Frotscher  1835  herausgegebenen  Adversaria  critica)  Stellen  aus  He- 
gesippus  vielfach  und  besonders  bei  Tacitus  zu  Zwecken  der  Textkritik  herangezo- 
gen, aber  eine  Benutzung  des  Tacitus  durch  H.  weder  behauptet,  noch  bewiesen. 
Unter  allen  von  ihm  verglichenen  Stellen  erscheint  mir  einzig  erwähnenswert  H.  HI 
3,  65  discessionem  induissent,  das  möglicherweise  nach  taciteischen  Verbindungen  wie 
seditionem  induere  ann.  II  15,  societatem  XII  13  gebildet  ist.  —  Erst  nachträglich 
sind  mir  die  Vergleichungen  von  H.  und  Tac.  bekannt  geworden,  die  E.  Cornelius 
{Quomodo  Tacitus  historiarum  scriptor  in  hominum  memoria  versatus  sit  etc.  1888 
S,  25— 27)  gegeben  hat.  Ich  trage  daraus  nach:  H.  prol.  3  historiae  in  morem  com- 
ponere;  Tac.  dial.  22  in  morem  annalium  componantur.  — H.  I  32,  38  sternunt  fundunt- 
que,  bist.  III  13  fuderint  straverintque.  —  H.  I  38,  8  ad  praesens  —  in  reliquum; 
bist.  I  44  ad  praesens,  in  posterum.  —  H.  I  44,  50  in  amplexum  rueret  (vgl.  II 4, 14 
in  oscula  ruit);  ann.  XVI  32  in  amplexus  ruebat.  —  H.  III  19,  12  aspero  hiemis; 
ann.  III  5  asperrimo  hiemis.  —  Anderes,  was  Cornelius  vorbringt,  erscheint  als  zwei- 
felhaft oder  zufällig,  wie  das  bei  jeder  solchen  Zusammenstellung  geht;  manches  in- 
des ist  entschieden  unrichtig.  So  dürfen  nicht  als  spezifisch  taciteisch  bezeichnet 
werden  die  Wendungen  proelia  de  proeliis  serens  (vgl.  oben  S.  220  Anm.  2),  ima  sum- 


Das  lateinische  Geschichtswerk  über  den  jüdischen  Krieg.  229 

ludibrium  varietatum) ;  Tac.  ann.  m  18  ludibria  reram  mortalium.  —  H.  II 
11, 13  quae  in  malum  publicum  eruperat;  Tac.  ann.  XII  5  ne  in  malum 
publicum  erumperet  (vgl.  XU  41  eruptura  in  publicam  perniciem).  —  H.  14,  3 
falsa  veris  admiscuere ;  Tac.  bist.  II  70  falsa  vera  aut  maiora  vero  miscebant. 

—  H.  I  27,  4  privati  babitum  supergressus,  11  10,  55  supergrediens  usum 
privatum  (vgl.  I  36,  34  ultra  privatorum  modum  ==  11  2,  13  u.  privatum  m. 
I  6,  2  pompam  celebratiorem  quam  privatis  mos  est) ;  Tac.  bist,  n  5  cuncta 
privatum  modum  supergressa  (vgl.  ann.  XIV  52  privatum  modum  evectas  opcs). 

—  H.  I  15,  44  vir  militiae  vetus  (I  41, 125  veteris  militiae  vir  IV  26,  3  v.  m. 
viri  vgl.  III  13,  26  veteris  vir  disciplinae) ;  Tac.  bist.  IV  20  illi  veteres 
militiae.  —  Das  bei  Tacitus  sebr  beliebte  insitus  (bei  Sallust  nicht  nach- 
weisbar) kehrt  auch  bei  H.  öfter  wieder  (I  3,  4  insita  gratia  I  25, 10  i. 
benivolentia  III  19,  4  i.  odio  HI  17,  78  quibuslibet  insitum  est);  H.  II 
13,  86  more  quodam  insito  mortalibus  ist  wohl  nach  Tac.  bist.  I  55  = 
bist,  n  20  insita  mortalibus  natura  (vgl.  bist,  n  38  insita  mortalibus  cu- 
pido)  geschrieben.  —  Aus  den  Worten  H.  V  46, 62  alterum  orbem  quae- 
rere,  maris  secreta  solis  ortus  oceanique  ultima  et  alterius  orbis  incolas 
nostro  imperio  adiungere  schimmert  die  Erinnerung  an  Tac.  Agr.lO  naturam 
Oceani  atque  aestus  quaerere  und  an  25  aperto  maris  sui  {=  Britannorum) 
secreto  noch  hindurch. 

Wie  von  Ammian  neben  Sallust  und  Tacitus  Cicero  fleissig  ausge- 
beutet ist,  so  begegnen  wir  seinen  Spuren  auch  bei  H.  Er  sucht  zwar 
den  Anschein  tiefer  Gelehrsamkeit  zu  erwecken,  wenn  er  V  27, 64  schreibt 
*^quid  de  Romanorum  integris  legionibus  loquar?  quas  Cato  Romanae 
assertor  facundiae  et  veritatis  sincerus  interpres  asseruit  cum  exultatione 
ad  bellum  prodisse,  de  quo  se  redituros  non  arbitrarentur  universosque 
libenter  procubuisse,  ne  mutarent  sententiam'.  Denn  wer  die  Art  der 
späten  lateinischen  Schriftsteller  nicht  kennt,  der  könnte  hier  an  Benutzung 
der  altersgrauen  Ursprungsgeschichten  denken.')  Thatsächlich  schreibt  H. 
nur  Cicero  aus,  der  in  seiner  Schrift  de  senectute  75  Cato  sagen  lässt 
'legiones  nostras,  quod  scripsi  in  Originibus,  in  eum  locum  saepe  profectas 
alacri  animo  et  erecto,  unde  se  redituras  nunquam  arbitrarentur.'^)  Und 
wenn  H.  IV  12,  14  auf  einen  sehr  bekannten  Vers  aus  Ennius  anspielt 
'denique  noster  Maximus  cunctando  magis  fregit  Hannibalem  quam  proe- 
liando;  etsi  Scipiones  subegerunt  Africam Maximo  soli  datum,  quod 

mis  miscere  (vgl.  S.  226),  bellorum  insolens  H.  IV  4, 12  vgl.  Caes.  b.  c.  II  36  insolens 
belli,  incerta  bellorum  H.  I  1, 4  vgl.  Liv.  XXX  2 ,  6  incerta  belli  und  Weissenborn 
z.  d.  St. 

1)  So  Vogel  S.  50  Anm.  2  und  S.  53. 

2)  Dasselbe  auch  Tuscul.  I  101 ,  bei  Jordan  Orig.  lY  8  ist  die  Stelle  aus  H. 
übersehen. 


230  Elimar  Klebs 

cunctando  restituerit  rem  Romanam',  so  ist  auch  hier  Cicero  de  sen.  10 
(vgl.  de  ofif.  I  84)  seine  Quelle.  Desgleichen  Cic.  Phil,  n  65  für  eine  An- 
spielung auf  ein  Wort  des  Naevius  (Ribb.  I  Naev.  fr.  54)  'male  parta  male 
dilabuntur,  die  sich  H.  IV  7,17  findet  *^male  parta  nequius  dissipant*.  End- 
lich ist  H.  V  24,  72  'inter  arma  quoque  leges  valere'  eine  Abwandlung 
von  Ciceros  (pro  Mil.  11)  Wort  'silent  enim  leges  inter  arma. 

Dichterische  Färbung  der  Prosa  ist  in  der  Kaiserzeit  bekanntlich  weit 
verbreitet;  so  begegnen  denn  auch  bei  H.  sehr  zahlreich  dichterische 
Ausdrücke.  Ich  verzeichne  hier  nur  einige,  für  die  sich  eine  bestimmte 
Quelle  angeben  lässt.  Aus  Virgil  Aen.  V  320  'proximus  huic,  longo  sed 
proximus  Intervalle'  entnahm  H.  HI  26,46  *  licet  longo  intervallo,  sed  tamen 
proximo'  (vgl.  II  8  16  longo  sed  proximo  intervallo),  aus  Aen.  Vin  727 
H.n  9,125  den 'Rhenus  bicornis',  aus  Aen.III  256  H.I  l,69'diramfamem\ 
die  bekannte  'auri  sacra  fames'  Aen.  III  57  wird  H.  V  24,  52  zur  'misera 
fames  auri';  und  Virgil  Aen.  HI  106  ""centum  urbes  habitant  magnas'  ist 
wahrscheinlich  auch  die  Quelle  für  H.  II  9,160  'Greta  centum  urbibus 
nobilis'.  Auf  ein  berühmtes  Wort  des  Horaz  carm.  III  2, 13  'dulce  et  de- 
corum  est  pro  patria  mori'  spielt  an  H.  V  24,  2  'cui  dulce  fuerat  ante 
patriam  mori  et  pro  patria  (vgl.  IH  16,  36  pro  patria  mori);  das  bekannte 
'integer  vitae'  (carm.  I  22, 1)  wird  H.  V  22, 95  zum  'integer  aevi.  Dichte- 
rischen Ursprungs,  aber  unbekannter  Herkunft  (vgl.  Otto,  die  Sprichwörter 
der  Römer  S.  302  unter  rosa)  ist  auch  das  sprichwörtliche  'rosam  in  spinis 
quaerentes'  H.  prol.  12. 

Weitere  Forschungen  werden  vermutlich  noch  manche  Anspielung  der 
Art  auf  ältere  Schriften  bei  H.  zu  Tage  fördern.  Ich  bin,  von  Sallust 
abgesehen,  nicht  um  Vollständigkeit  bemüht  gewesen;  für  die  Zwecke 
unserer  Untersuchung  genügt  es,  H.'  Verhältnis  zur  älteren  Litteratur  im 
allgemeinen  klar  gelegt  zu  haben. 


In  seinem  Vorwort  erregt  der  unbekannte  Verfasser  die  Erwartung 
auf  ein  selbständiges  Werk  über  die  spätere  Geschichte  des  jüdischen 
Staates.  Erfüllt  sein  Werk  diese  Erwartung?  Nach  den  Anschauungen, 
welche  die  antike  Litteratur  wie  die  antike  Kunst  beherrschen,  ist  diese 
Frage  unbedingt  zu  bejahen.  Er  hat  zwar  den  Stoff  in  der  Hauptsache 
einem  einzigen  Werke  entnommen,  aber,  wohlgemerkt!  einem  Werke  in 
anderer  Sprache.  Er  hat  diesen  Stoff  von  einem  eigenen,  dem  christlichen 
Standpunkt  aus  behandelt  und  diesen  unter  zahlreichen  Berufungen  auf 
das  Alte  und  das  Neue  Testament  begründet  Er  hat  seine  Quelle  viel- 
fach verkürzt,   andererseits  erweitert  durch  Einlagen   und  Zusätze  aus 


Das  lateinische  Geschichtswerk  über  den  jüdischen  Krieg.  231 

jüdischen,  christlichen  und  klassischen  Schriften  sowie  durch  von  ihm 
selbst  verfasste  Keden  und  Betrachtungen.  Und  endlich,  er  hat  den  fremd- 
artigen Stoff  selbständig  in  der  Weise  der  klassischen  Geschichtschreibung 
gestaltet.  Und  dies  ist,  wenn  wir  das  Werk  geschichtlich,  d.  h.  nach  dem 
Massstab  des  klassischen  Altertums  beurteilen  wollen,  das  Entscheidende. 

Wenn  ein  Werk  mit  diesen  Eigenschaften  nicht  mehr  als  Original- 
werk im  Sinne  der  antiken  Auffassung  gelten  sollte,  dann  bliebe  von  der 
römischen  Litteratur,  insonderheit  von  der  geschichtlichen,  nicht  eben  viel 
übrig.  Von  Pompeius  Trogus'  Geschichtswerk,  das  uns  in  lustinus'  Auszug 
vorliegt,  wird  mit  Recht  allgemein  angenommen,  dass  es  nichts  weiter  als 
die  Bearbeitung  einer  griechischen  Vorlage  war;  Florus  gar  hat  seinen 
Abriss  im  wesentlichen  einem  einzigen  lateinischen  Werke,  einem  Auszug 
aus  den  Annalen  des  Livius  entnommen.  Und  Livius  selber  gab,  als  er  die 
Verwickelungen  Roms  mit  der  griechisch-macedonischen  Welt  darzustellen 
hatte,  eine  Bearbeitung  des  Polybius. 

Das  alles  sind  wohlbekannte  Thatsachen,  und  die  Schlussfolgerung 
für  unser  Werk  über  den  jüdischen  Krieg  ergiebt  sich  von  selbst.  Es  war, 
nach  den  Anschauungen  seiner  Entstehungszeit  beurteilt,  genau  ebenso  eine 
selbständige  litterarische  Leistung  wie  das  sprachlich  und  stilistisch  nahe 
verwandte  Werk  Ammians,  mit  dem  es  sich  inhaltlich  freilich  nicht  ent- 
fernt messen  darf.  Und  das  gleiche  gilt  von  dem  verlorenen  ersten  Teil, 
der  die  jüdische  Königsgeschichte  behandelte.  Der  uns  erhaltene  zweite 
rechtfertigt  die  Vermutung,  dass  auch  sie  dem  Inhalt  nach  mehr  auf  Jose- 
phus'  Altertümern  als  auf  den  Büchern  der  Könige  beruhte,  und  dass  der 
Inhalt  mit  der  gleichen  Freiheit  dargestellt  war  wie  in  der  noch  vorhan- 
denen Schrift.  Zu  dieser  freien  Gestaltung  gehören  auch  die  vielfachen 
sprachlichen  Entlehnungen  aus  älteren  Werken.  Sie  sind  nicht  Notbehelfe 
eines  Übersetzers,  der  um  Wendungen  verlegen  ist,  sondern  sie  gehören 
im  Geiste  jener  Zeit  zu  der  schriftstellerischen  Arbeit.  Ihre  Muse  war  die 
Mnemosyne ;  ihre  Schriftsteller  ziehen  aus  den  klassischen  Werken  wie  aus 
alten,  kostbaren  Geweben  goldene  und  silberne  Fäden  heraus  und  ver- 
schlingen sie  mit  den  eigenen  zu  einem  wunderlichen  Gespinnst,  das  uns 
zugleich  wie  ein  altes,  zugleich  wie  ein  neues  anmutet. 

Äussere  Zufälligkeiten  haben  der  Erkenntnis  dieses  einfachen  Sach- 
verhaltes bisher  im  Wege  gestanden.  Einerseits  wurde  der  Wert  der 
Arbeit  und  die  Teilnahme  für  sie  dadurch  herabgemindert,  dass  hier  ein- 
mal die  Hauptquelle,  Josephus,  vollständig  erhalten  ist,  deren  Verlust  in 
anderen  Fällen  viel  tiefer  stehenden  Büchern  wie  dem  des  Jordanes  einen 
unschätzbaren  Wert  verliehen  hat.  Sodann  hat  die  verkehrte,  aber  sehr 
früh   aufgekommene  Bezeichnung  unserer  Schrift  als  Übersetzung  des 


232  Elimar  Klebs 

Josephus  und  die  Verbindung,  in  die  sie  mit  Ambrosius  gebracht  wurde, 
das  Urteil  befangen. 

Über  diese  angebliche  Urheberschaft  des  Ambrosius  können  wir  uns  jetzt 
sehr  kurz  fassen.  Bis  zum  zwölften  Jahrhundert  wird  in  den  Handschriften 
das  Werk  im  allgemeinen  als  losephus  (losippus,  loseppus  oder  [H]egesippus) 
bezeichnet.*)  Vor  dieser  Zeit  wird  nur  in  zwei  der  zahlreichen  Handschriften, 
darunter  allerdings  in  der  ältesten,  einer  ambrosianischen,  Ambrosius  als 
Übersetzer  genannt.  Jedoch  in  dieser  nur  in  dem  ersten  jüngeren  Teil,  wo 
sich  am  Schlu&s  des  ersten  Buches  die  Unterschrift  findet  'losippi  (von 
jüngerer  Hand  in  Egesippi  Yeiajudeit)  lib.  primus  expl.  incp.  secd.  Ambrosius 
epi  de  grego  transtulit  in  latinum'.  In  dem  älteren  Teil  dieser  Handschrift 
findet  sich  nur  loseppi  als  regelmässiger  Kolumnentitel.  Sodann  hat  eine 
vatikanische  Handschrift  (Vaticanus  170,  dem  IX/X.  Jahrh.  zugeschrieben) 
die  Aufschrift  *^incipit  tractatus  sei  Ambrosii  epi  de  historia  losippi  captivi 
translata  ab  ipso  ex  greco  in  latinum  liber  primus'.  Irgend  eine  urkund- 
liche Beweiskraft  könnte  man  diesen  Angaben  nur  dann  beilegen,  wenn 
man  annähme,  sie  gingen  auf  den  ursprünglichen  Titel  zurück,  unter  dem 
unsere  Schrift  zuerst  veröffentlicht  worden  ist;  dieser  müsste  dann  dem 
Sinne  nach  gelautet  haben  'losephi  historia  captivitatis  ludaeorum  trans- 
lata e  graeco  in  latinum  ab  Ambrosio'.  Diese  Annahme  aber  ist  unmög- 
lich; denn  ihr  widerstreitet  das  Werk  selber,  das  sich  weder  als  Über- 
setzung giebt  noch  thatsächlich  eine  solche  ist.  Sowohl  diese  scheinbar 
genaue  Angabe  mit  der  Person  des  Übersetzers  als  die  allgemeine  Be- 
zeichnung, die  allen  Handschriften  gemeinsam  ist,^)  unseres  Werkes  als 
losephus  oder  losephi  historia,  sie  alle  beruhen  lediglich  auf  einer  Ver- 
mutung, die  aus  einer  sehr  oberflächlichen  Beurteilung  unseres  Werkes 
hervorgegangen  ist,  und  die  durch  ihr  Alter  um  nichts  besser  wird.  Den 
Anlass,  den  mailändischen  Bischof  zum  Urheber  der  angeblichen  Über- 
setzung zu  stempeln,  gab  vermutlich  ein  Ausspruch  Cassiodors  (de  instit 
div.  lit  17):  Vt  est  losephus  —  —  in  libris  antiquitatum  ludaicarum 
late  diffusus,  quem  pater  Hieronymus  scribens  ad  Lucinum  Baeticum 
propter  magnitudinem  prolixi  operis  a  se  perhibet  non  potuisse  transferri. 
Hunc  tamen  ab  amicis  nostris  —  —  in  libris  viginti  duobus')  converti 
fecimus  in  latinum.    Qui  etiam  et  alios  Septem  libros  captivitatis  ludaicae 


1)  Vgl.  Vogel,  Ztschr.  für  östreichische  Gymnasien  1893  S.  248  und  zum  Folgen- 
den Keiiferscheid,  SB.  Wiener  Akad.  phil.-hist.  Kl.  1867  S.  441;  Caesar,  Observa- 
tiones  etc.  1878  p.  IV;  Niese,  loseph.  opp.  I  praef.  p.  XXVII. 

2)  Aller,  insofern  das  in  manchen  auftretende  (H)egesippus  thatsächlich  gleich 
losephus  ist. 

3)  Nämlich  20  Bücher  Altertümer  and  2  gegen  Apion. 


Das  lateinische  Geschichtswerk  über  den  jüdischen  Krieg.  233 

mirabili  nitore  conscripsit,  quorum  translationem  alii  Hieronymo  alii  Am- 
brosio  alii  deputant  Rufino,  quae  dum  talibus  adscribitur,  omnino  dictio- 
nis  eximiae  merita  declarantur.  Es  ist  jedesfalls  weit  wahrscheinlicher, 
dass  Cassiodor  hier,  wo  er  ausdrücklich  von  sieben  Büchern  des  Josephus 
spricht,  die  alte  lateinische  Übersetzung,  die  unter  Rufinus'  Namen  geht, 
im  Auge  gehabt  hat,  als  die  fünf  Bücher  unseres  Hegesippus ;  aber  nach- 
dem dieses  Werk  einmal  unter  dem  falschen  Titel  eines  ^losephus  transla- 
tus'  umlief,  konnte  auch  jene  Stelle  Cassiodors  fälschlich  auf  diesen 
bezogen  und  daraus  Ambrosius'  Urheberschaft  gefolgert  werden.  Es  ist 
das  eine  wahrscheinliche  Vermutung,  aber  ganz  unberührt  davon,  ob 
man  sie  annimmt  oder  ablehnt,  bleibt  die  Thatsache,  dass  Ambrosius'- 
Name  überhaupt  erst  mit  der  Bezeichnung  der  Schrift  als  Übersetzung 
verbunden  worden  ist,  eine  Bezeichnung,  die  von  dem  wahren  Verfasser 
nimmermehr  gebraucht  sein  kann. 

Wie  dieser  den  zweiten  Teil  seiner  Geschichte  des  jüdischen  Staates 
betitelt  hat,  muss  dahingestellt  bleiben.  Die  Handschriften  versagen  da- 
für sämtlich,  und  auch  die  ältesten,  bisher  festgestellten  Erwähnungen 
oder  Benutzungen  gewähren  keine  Hilfe. 


Es  bleibt  noch  übrig  das  wenige  zu  erörtern,  was  sich  über  die  Zeit 
des  Werkes  ihm  selber  entnehmen  lässt.  Die  untere  Grenze  giebt  IE  5, 24 
die  Erwähnung  von  Constantinopolis ;  eine  ebenso  sichere  obere  ^)  die  häufige 
Erwähnung  Britanniens.  Mit  besonderer  Vorliebe  kommt  die  Schrift,  wo 
die  Allmacht  der  römischen  Waffen  und  die  weltumspannende  Ausdeh- 
nung des  römischen  Reiches  geschildert  werden  soll,  wieder  und  wieder 
(II  9, 102.  174  in  1, 17  V  15, 22  V  46, 20.  62)  darauf  zurück,  dass  selbst 
das  ferne  Britannien, 'quasi  alter  orbis\  den  Römern  unterworfen  und  unter- 
than  sei.  Unter  Honorius  aber  ging  Britannien  im  Jahre  407  für  immer 
dem  römischen  Reiche  verloren.'^) 

Auf  das  vierte  Jahrhundert  weisen  auch  einzelne  Ausdrücke,  die  sich 
auf  die  staatlichen  Einrichtungen  beziehen.  Für  die  Statthalter  der  Pro- 
vinzen braucht  H.  neben  allgemeinen,  schon  früher  üblichen  Ausdrücken 
(praesides,  praesules,  rector  provinciae  11  6,  34)  das  im  vierten  Jahrhundert 
zwar  nicht  amtliche,  aber  allgemein  für  den  Civilstatthalter  verwandte 
'iudex'.    So  werden  die  kaiserlichen  procuratores  ludaeae  von  ihm  aus- 


1)  Ganz  unsicher  ist  die  bisher  als  solche  verwandte  Nichtbenutzung  der  Bibel- 
übersetzung des  Hieronymus  (Caesar  S.399,  Vogel  S.24),  da  noch  lange  nach  Hiero- 
nymus  andere  lateinische  Bibel-Texte  gebraucht  sind. 

2)  Vgl.  Zosimus  VI  5. 


234  £limar  Klebs 

schliesslich*)  als  iudices  bezeichnet  11  8,18  II  9,36.  37.  50  U  12,7  n 
13, 101  V  44, 44.  Legati  und  proconsules^)  als  Statthalter  kennt  die  Schrift 

nicht  mehr;  dagegen  heisst  es  II  9,  160  Greta unum  consularem 

veretur.  Greta  war  bis  auf  Diokletian  mit  Gyrene  vereinigt  und  einem 
proconsul  Gretae  Gyrenarum  unterstellt,  später,  seit  Diokletian,  stand  die 
Provinz  für  sich  unter  einem  consularis  (vgl.  Marquardt,  Staatsverwal- 
tung P  S.  462). 

Bei  den  militärischen  Ausdrücken  tritt  weniger  die  Einwirkung  der 
späteren  Zeit  als  des  Verfassers  gleichmässige  Unkenntnis  der  römischen 
Einrichtungen  und  Bezeichnungen  hervor.  Auf  den  durch  Konstantin  ge- 
schaffenen magister  militum  scheint  zu  weisen  I  41,  79  Volumnio  mili- 
tiae  magistro.  Aber  von  der  Stellung  des  magister  militum  kann  H. 
keine  Ahnung  gehabt  haben,  denn  Volumnius  ist,  wie  aus  dem  Zusammen- 
hange hervorgeht,  ein  untergeordneter  Offizier,  gleich  darauf  I  41,90  wird 
er  sogar  als  procurator  bezeichnet.  Ich  möchte  darum  vermuten,  dass  H. 
sein  magister  militiae  lediglich  aus  einem  Glossar  als  Übersetzung  für 
OTQaTOTieöaQxrjg^)  genommen  hat,  Legiones  (so  immer  im  Plural)  braucht 
H.  bisweilen  (I  33, 20  III  5, 2  V  27,  64)  als  allgemeine  Bezeichnung  für 
Truppen  neben  manus  und  numerus  (z.  B.  I  22, 21  II  1, 28  IV  26, 25). 
Die  technische  Bedeutung  ist  ihm  ganz  fremd.  Denn  einerseits  setzt  er 
da,  wo  Josephus  von  einer  bestimmten  Legion  spricht,  regelmässig  als  rein 

1)  Nicht  hierher  gehört  H.  I  25,  37  (Antipater)  "totius  ludaeae  procurator  factus* 
(inlzQTCog  loseph.  bell.  I  10,3)  von  Cäsar  im  Jahre  47  v.  Chr.,  vgl.  Schürer  I^  S.  278. 

2)  Pompeius  wird  bei  seinem  Auftreten  in  Judäa  im  J.  63  —  er  hatte  damals 
auf  Grund  des  manilischen  Gesetzes  eine  ausserordentliche  Feldherrnstellung  pro 
consule  —  von  H.  I  15,  14.  19.  30  I  16,  3  als  Romanus  consul  bezeichnet!  Die  vier- 
malige Wiederholung  schliesst  jeden  Änderungsversuch  aus.  —  In  der  Rede  Agrippas 
(bell.  II  16,4  vgl.  S.  214  Anm.  4)  sagt  Jos.,  dass  Achaia  u.  Macedonien  gehorchen 
e|  '^PcDfxaicDV  ^dßöoig  {d.  h.  beide  waren  einem  prätorischen  Proconsul  unterstellt, 
der  sechs  Fasces  führte),  aX  nswaxoGiai  z^g  kalag  jtoksig  sva  tcqogxvvovoiv  ^ye- 
(lova  xal  zag  vnazixag  Qaßöovg  (=  die  zwölf  Fasces  des  consularischen  Proconsul 
Asiae)  und  fährt  dann  in  der  Aufzählung  der  unterworfenen  Völkerschaften  fort  zL 
Sei  Xeyeiv  '^Hvioxovg  ze  xal  KöXxovg  xal  zo  z(ov  TavQCDV  <pvkov  xr'/..  H.  II  9, 162 
hat  von  dem  Sinne  dieser  Worte  keine  Ahnung  und  macht  daraus  'plurimi  populi  sex 

fascium  virgulis  metu  inclinantur,  Asia,  Pontus,  Eniochi omnes  Romano  imperio 

subiciuntur. 

3)  So  loseph.  bell.  I  27, 1,  gleich  darauf  27, 3  inizQonog.  Was  Josephus  hier 
mit  dem  ozQazoneöägxrig  gemeint  hat,  ist  unklar  (ebenso  bell.  II  15, 19),  weil  das  Wort 
keinen  technischen  Wert  hat  und  sowohl  einen  praefectus  castrorum  als  einen  Legions- 
ftihrer  bedeuten  kann,  wie  es  Dionys.  Hai.  X  36  für  den  tribunus  militum  der  älteren 
Zeit  gebraucht.  Für  den  Oberbefehlshaber  des  Königs  Agrippa  II.  verwendet  es  los. 
bell.  II  20, 1  =  princeps  militiae  H.  II  16,  4.  Die  Stellung  dieses  Volumnius  wird  bei 
Josephus  dadurch  noch  unklarer,  dass  er  ant.  XVI  9,  1  die  unmögliche  Angabe  hat 
2azovQvlvov  xal  OvoXofivlov  zcäv  Svglag  imazazovvzcDV ,  als  ob  Volumnius  zu- 
sammen mit  (Sentius)  Saturninus  legatus  Syriae  gewesen  wäre. 


Das  lateinische  Geschichtswerk  über  den  jüdischen  Krieg.  235 

äusserliche  Übersetzung  des  griechischen  Wortes  xäy^a  das  lateinische 
ordo  (z.  B.  ni  19,  7  III  22,  8  IV  26, 43  V  7, 24  V  29,  4,  vereinzelt  quin- 
tus  numerus  V  20, 6).  Andererseits  braucht  er  da,  wo  er  die  cohortes 
praetoriae  bezeichnen  will,  den  verkehrten  Ausdruck  IV  26, 4  'praetorianas 
Komae  legiones',')  wie  er  denn  auch  die  cohortes  vigilum  nicht  kennt, 
sondern  loseph.  bell.  IV  11,4  t«  tlov  w^zocfv/MKOJv  rayfiara  übersetzt 
IV  31, 4  mit  'his  ordinibus  qui  Romae  positi  curabant  munia  vigiliarum'. 
Legio  ist  also  für  H.  nur  eine  Vokabel,  die  er  an  einer  Stelle  (V  27, 64) 
nachweislich  aus  Cicero  (s.  oben  S.  229)  abgeschrieben  hat  —  Den  Legatus 
legionis  kennt  H.  nicht  mehr,^)  der  höhere  Offizier  wird  appellativisch,  nicht 
titular  dux  genannt.^)  Centurio  steht  nicht  bloss  als  die  richtige  Über- 
setzung von  sxaTovTaQX^S}  sondern  auch  II  15, 19  für  liTtTzaQxog  (bell.  II 
19,  4).  Ergetzlich  endlich  ist  die  Übersetzung  von  Joseph.  IV  1,  5  ös- 
yiaddQxrjg  bei  H.  IV  1, 48  durch  decem  primus,  hervorgerufen  wohl  durch 
eine  unklare  Erinnerung  an  die  ^  decem  primf  der  muncipalen  Decurionen. 
Die  einzige  Stelle  aus  der  sich  eine  etwas  genauere  Bestimmung  der 

Zeit  ergiebt,  findet  sich  V  15, 23  "^quid  attexam  Britannias a  Romanis 

in  orbem  terrarum  redactas?  Tremit  hos  Scotia,  quae  terris  nihil  debet, 
tremit  Saxonia  inaccessa  paludibus  et  inviis  saepta  regionibus,  quae  licet 
furta  belli  videatur  andere,  et  ipsa  frequenter  captiva  Romanis  accessit 
triumphis.  Validissimum  genus  hominum  perhibetur  et  praestans  ceteris, 
piraticis  tamen  myoparonibus  non  viribus  nititur,  fugae  potius  quam  hello 
paratum'.  Schon  Gronov  (Monob.  S.  5)  erkannte  richtig,  dass  diese  Worte 
auf  die  Kämpfe  anspielen,  welche  Theodosius,  der  Vater  des  späteren 
gleichnamigen  Kaisers ,  unter  Valentinian  in  den  Jahren  367/368  in  Bri- 
tannien gefuhrt  hat.  Aber  aus  dieser  Beobachtung  ist  allgemein'*)  ein 
unrichtiger  Schluss  gezogen  worden.  Jene  Stelle  müsse,  so  hat  man  ge- 
folgert, unmittelbar  nach  Theodosius'  Kämpfen,  wie  die  einen  behaupten, 
oder  wenigstens  bald  nachher,  wie  die  anderen,  geschrieben  sein.  Als 
Beweis  wird  angeführt,  dass  bei  einer  späteren  Abfassung  die  Schrift  auch 

1)  Josephus  bell.  IV  10,3  sagt  nur  ol  inl  z^g  '^Poifztjg  axQaxKDxai. 

2)  Josephus  bezeichnet  die  Führer  der  Legion  ständig  mit  Tjyeficiv.  H.  setzt 
dafür  II  13, 2  qui  praeerat  ordini  quinto  decimo  ductoris  officio  oder  praefectus  ordi- 
uis  III  14,13.  20  IV  29,6  oder  praepositus  ordinis  II  14,16  oder  tribunus  V21,ll. 
(Dagegen  wird  1  28, 17  vgl.  I  28, 11  praepositus  zur  Übersetzung  von  x^^^^QX^'^  ^^' 
wandt.)  Wie  man  sieht,  ist  die  Terminologie  ganz  willkürlich ;  weder  für  die  Erkennt- 
nis der  Schrift  noch  für  den  Sprachgebrauch  des  vierten  Jahrhunderts  lässt  sich  etwas 
aus  ihr  gewinnen.  Es  wäre  darum  zwecklos  hier  bei  den  zeitlichen  und  sachlichen 
Unterschieden  jener  Bezeichnungen  in  der  amtlichen  Sprache  zu  verweilen. 

3)  Einmal  ersetzt  H.  IV  24, 4  im  Geiste  seiner  Zeit  tovg  OvnekXiov  axQaxriyovg 
(bell.  IV  9,  3)  durch  'Valenti  et  Caecinae  Vitellii  comitibus'. 

4)  Vgl.  Mazocchi  lU  S.  785,  Cäsar  S.  397,  Vogel  S.  11. 


236  Elimar  Klbbs 

die  Gothen,  Hunnen  und  etliche  andere  wilde  Völkerschaften  hätte  an- 
führen müssen.  Diese  Berufung  auf  Nichterwähnungen  ist  völlig  nichtig 
bei  einem  Schriftsteller,  der  sonst  niemals  auf  irgend  ein  Ereignis  des 
vierten  Jahrhunderts  anspielt.  Woher  denn  diese  auffällige  Erwähnung? 
Die  Kämpfe,  die  Theodosius  in  Britannien  und  gegen  die  räuberischen 
Flotten  der  Sachsen  führte,  waren  erfolgreich,')  aber  in  der  kampfdurch- 
tobten  Zeit  Valentinians  keineswegs  ein  so  hervorragendes  Ereignis,  dass 
die  Kunde  von  ihnen  das  ganze  Reich  hätte  durchfliegen  müssen.  Den 
besten  Beweis  dafür  liefert  die  Thatsache,  dass  Valentinian  den  Siegestitel 
Britanniens  nicht  angenommen  hat^)  Man  wird  dagegen  vielleicht  ein- 
wenden, dass  jener  Feldzug,  auch  abgesehen  von  den  Geschichtschreibem, 
mehrfach  erwähnt  wird.  Aber  man  beachte  die  näheren  Umstände,  unter 
denen  das  geschieht. 

Symmachus  (X  9  vgl.  X  43)  berichtet  in  einem  amtlichen  Schreiben 
an  die  Kaiser  in  den  Jahren  384/385,  dass  der  Senat  'familiae  vestrae  et 
stirpis  auctorem,  Africanum  quondam  etBritannicum  ducem  statuis  equestri- 
bus  inter  prisca  nomina  consecravit'.  Latinius  Pacatus  behandelt  in  seiner 
Lobrede  auf  Theodosius  (Pan.  XII  5),  die  im  Jahre  389  gehalten  ist,  aus- 
führlich die  Verdienste  seines  Vaters  und  erwähnt  dabei  'attritam  pedestri- 
bus  proeliis  Britanniam  referam?  Saxo  consumptus  bellis  navalibus  ofifere- 
tur.  Redactum  ad  paludes  suas  Scotum  loquar?*  Claudian  widmet  in  seinem 
Panegyricus  in  IV  consulatum  Honorii  v.  24 — 40  dem  Preise  des  "^avus* 
und  verherrlicht  v.  26  ff.  den  Bezwinger  der  Saxones,  Scotti  und  Picti. 

Also  zu  der  Zeit,  da  Theodosius  I.  und  sein  Haus  zur  Herrschaft  ge- 
kommen war,  wurden  die  Thaten  des  Ahnherren  des  herrschenden  Hauses 
gefeiert,  und  dabei  ward  seiner  siegreichen  Feldzüge  gegen  Britten  und 
Sachsen  gedacht.  Solche  Erwähnungen  müssen  in  jener  Zeit  ganz  ge- 
wöhnlich gewesen  sein.  Denn  nach  uraltem  römischen  Herkommen  ge- 
hört zur  Lobrede  auf  den  Lebenden  wie  auf  den  Toten  der  Preis  der 
Vorfahren.  Bei  Männern  wie  Diokletian  und  Maximian,  die  aus  dunkler 
Niedrigkeit  emporgestiegen  nur  die  Söhne  ihrer  eigenen  Thaten  waren, 
musste  dies  Kapitel  freilich  ausfallen.  Aber  im  übrigen  bestätigen  die 
erhaltenen  prosaischen  wie  poetischen  Lobreden  durchgängig  die  unver- 
brüchliche Befolgung  des  Herkommens.  So  musste  denn  auch  bei  jeder 
Rede,  die  irgendwo  im  römischen  Reich  zum  Preise  des  Kaisers  Theodo- 
sius gehalten  wurde,  der  Thaten  seines  Vaters  gedacht  werden,  und  unter 
diesen  wird  der  britannische  Feldzug  selten  unerwähnt  geblieben  sein. 
Darum  erklärt  sich  die  häufige  Erwähnung  Britanniens  und  der  auffällige 

1)  Vgl.  Ammian  XXVII  8  XXVIU  3. 

2)  Wie  z.  B.  die  Inschrift  CLL.  VI  1175  vom  Jahr  370  zeigt. 


Das  lateinische  Geschichtswerk  über  den  jüdischen  Krieg.  237 

Hinweis  auf  Saxonia  und  Scotia  in  unserer  Schrift,  die  in  theologisch- 
rhetorischer Weltentfremdung  an  allen  Ereignissen  der  Zeit  sonst  gleich- 
giltig  vorübergeht,  am  einfachsten  durch  die  Annahme,  dass  ihr  Verfasser 
unter  Theodosius  oder  wenig  später  schrieb.  Ihm,  der  selber  durch  und 
durch  Rhetor  ist,  waren  aus  den  Reden  seiner  Zeit  die  damals  landläufigen 
Wendungen  von  den  Sümpfen  (vgl.  oben  die  Worte  des  Pacatus)  der  Scoti 
und  den  Räuberschiffen  der  Sachsen  vertraut.  Er  hat  sie  zeitwidrig  in 
einer  Rede,  die  er  Josephus  an  die  Juden  halten  lässt,  verwandt,  schwer- 
lich aus  einem  anderen  Grunde  als  dem,  sich  mit  einer  damals  modischen 
Redeblüte  zu  schmücken. 

Mit  diesem  Ergebnis  stimmt  vollkommen  überein,  dass  der  Verfasser, 
wie  ich  vorher  erwiesen  zu  haben  glaube,  Ammians  Werk  benutzt  hat. 
Von  dessen  erhaltenen  Büchern  wissen  wir  (Teuffei- Schwabe,  Rom.  Littg. 
§  429,  3),  dass  sie  ums  Jahr  390  verfasst  sind.  Demnach  ist  unser 
Werk  etwas  später  anzusetzen  und  ist  ungefähr  ums  Jahr  395  geschriehen. 


Über  die  Herkunft  und  die  äusseren  Lebensverhältnisse  des  Verfassers 
lässt  sich  nichts  sicheres  aus  seiner  Arbeit  ermitteln.  Die  zahlreichen  grie- 
chischen Wendungen,  die  sich  in  ihr  finden,  beweisen  wenig  in  Anbetracht 
der  Zeit  und  der  griechischen  Vorlage.  Seine  ausführlichen,  mit  selbständi- 
gen Zusätzen  versehenen  Schilderungen  Palästinas,  Antiochias,  Alexandrias 
rufen  zwar  zunächst  den  Eindruck  hervor,  als  ob  der  Schriftsteller  aus  eige- 
ner Anschauung  schöpfte  und  demnach  im  Osten  des  Reiches  lebte.  Aber 
auch  diese  Vermutung  wird  völlig  zweifelhaft,  wenn  man  in  seiner  Schilde- 
rung Antiochias  liest  (IQ  5, 15),  dass  die  Stadt  vom  Oriens  (statt  Orontes) 
durchflössen  werde,  eine  verkehrte  Angabe,  die  obendrein  ausdrücklich  er- 
läutert wird.')  Nur  soviel  lässt  sich  aus  der  Unkenntnis  der  römischen 
Staatseinrichtungen  und  den  groben  Missverständnissen  ^)  abnehmen,  dass 
er  weder  Rom  noch  Italien  entstammte. 


1)  Doch  scheint  für  den  Orient  als  Heimat  noch  folgende  (nicht  aus  Josephus 
genommene)  Bemerkung  zu  sprechen  V  24,  48  ^divisisque  visceribus  quaestus  suos  Syria 

numerabat,   Arabia  negotiationis  recensebat  emolumenta quod  etiam  nunc  in 

huiusmodi  hominum  genere  reperias  et  nonnullis  Aegyptiorum,  ut  curandis  funeribus 
negotientur  et  officia  humanitatis  vendant  mercaturae  compendiis'. 

2)  Pompeius  als  Konsul  vgl.  S.  234  Anm.  2;  loseph.  bell.  IV  11,4  bezeichnet 
(Flavius)  Sabinus  nicht  ausdrücklich  als  Bruder  Vespasians ,  da  dies  für  seine  Zeit- 
genossen entbehrlich  war,  und  fährt  dann  fort  xal  JofUTiavog  b  xov  döeXipov  nalq. 
Heg.  macht  daraus  IV  31  Domitianus  Vespasiani  germano  editus  und  weiss  nicht, 
dass  Sabinus  Vespasians  Bruder  war.  H.  V  7,  21  cognoscite  vos  milites  esse  Eomani 
imperii  plebis  senatusque,  die  beiden  letzten  Worte  sind  eine  übel  angebrachte  Er- 
innerung aus  einem  Werk  über  ältere  römische  Geschichte,  die  auch  Aurelius  Victor 
mehrfach  vorbringt,  deren  Verkehrtheit  bei  H.  noch  durch  die  Zusammenstellung  mit 


238  Elimab  £leb8 

Aber  wenngleich  Heimat,  Name  und  Stand  im  Dunkeln  bleiben :  die 
schriftstellerische  Persönlichkeit  tritt  uns  klar  entgegen.  Ein  Christ  von 
untadeliger  Rechtgläubigkeit  (vgl.  n  12,25  V  44, 72),  wohl  belesen  in  den 
heiligen  Schriften.  Wir  wollen  an  der  Aufrichtigkeit  seiner  religiösen 
Gesinnungen  nicht  zweifeln,  aber  die  Art,  wie  er  sie  zum  Ausdruck  bringt, 
sticht  unvorteilhaft  ab  von  der  schlichten  Frömmigkeit,  welche  die  dem- 
selben Zeitalter  angehörige  Chronik  des  Severus  herzgewinnend  durchweht 
Die  Erbsünde  der  lateinischen  Geschichtschreibung,  die  Lust  an  der  Rhetorik, 
lastet  auch  auf  diesem  ihrem  Spätling.')  Er  hat  sie  schrankenlos  gebüsst 
Daher  die  ausgedehnten  Reden  ohne  Mass  und  Zahl,  die  poetisch  durch- 
blümten  Schilderungen  wie  die  Peräas  (HE  6, 30)  und  Einlagen  wie  jene 
aus  der  Petrus-Legende  oder  die  Verführungsgeschichte  der  Paullina,  die 
mit  der  eigentlichen  Aufgabe  nichts  zu  schaffen  haben,  sondern  nur  dem 
Bedürfnis  nach  Abwechslung  entsprungen  sind.  Daher  auch  die  Gleich- 
giltigkeit  gegen  die  sachliche  Genauigkeit  und  Richtigkeit,  die  ihm  so 
federleicht  wiegen  wie  den  sophistischen  Redekünstlem  der  Kaiserzeit^) 
Daher  endlich  jener,  freilich  dem  Zeitgeschmack  entsprechende  Stil,  der 
überladen  ist  mit  Anspielungen  und  Antithesen  und  in  den  Reden  und 
Betrachtungen  häufig  zum  schwülstigen  Pathos  ausartet.  Dies  ist  zwar 
eine  allgemeine  Unsitte  jener  Zeit,  die  sich  ebenso  in  den  kaiserlichen  Ver- 
ordnungen wie  in  den  lateinischen  Inschriften  des  vierten  Jahrhunderts 
unerfreulich  breit  macht.  Aber  eigentümlich  ist  unserer  Schrift  die  breite 
und  pathetische  Behandlung  des  ästhetisch  Widerwärtigen.  Wenn  Spiegel- 
berg seinem  Moor  empfiehlt,  den  Josephus  zu  lesen,  so  hat  er  vom  Stand- 
punkt einer  Räuberphantasie  aus  dazu  volles  Recht.  Alle  Gräuel,  welche 
in  einer  eingeschlossenen,  von  Hungersnot  heimgesuchten,  von  zuchtlosen 
Räuberhorden  beherrschten  Stadt  sich  ereignen  konnten  und  ereignet  haben, 
sind  schon  von  Josephus  mit  einer  Ausführlichkeit  geschildert  worden,  zu 
welcher  der  feine  Geschmack  eines  vornehmen  antiken  Geschichtschreibers, 


imperium  gesteigert  wird.  Aus  Joseph.  XVIII  3,  4  Movvöog  tdSv  tots  irniitov  iv 
d^iwfiaxi  /jieydkü)  (==  eques  Romanus  illustris)  macht  H.  II  4,  4  einen  'equestris  militiae 
dux\    Vgl.  über  das  Militärische  oben  S.  235  Anm.  2. 

1)  Es  ist  sehr  bezeichnend,  dass  er  als  Schlussstück  eine  lange  Rede  wählt  und 
diese  mit  den  Worten  einleitet  'hunc  sermonem  adorsus  est,  quem  uos  quasi  epilogum 
quendam  claudendo  operi  deplorabilem  more  rhetorico  non  praetermisimus.' 

2)  Die  Thatsachen,  die  Josephus  berichtet,  werden  von  H.  fast  immer  gekürzt, 
besonders  stark  am  Anfang  des  zweiten  Buches,  dagegen  die  Reden  regelmässig  er- 
weitert. Ausser  den  groben  Missverständnissen,  die  auf  sachlicher  Unkenntnis  beruhen, 
begegnen  wir  auch  Übersetzungsfehlern,  die  aus  Flüchtigkeit  oder  mangelhaftem  sprach- 
lichen Verständnis  entsprungen  sind,  wie  z.  B.  aus  loseph.  ant.  XV  3,  5  fiovcovgyov 
(=  Musiker)  zivog  avxy  avixnQayfjLaxevofievov  H.  I  37,  23  'per  Musurgmn  quendam 
litterarum  sequestrem  petisse'  macht. 


Das  lateinische  Geschichtswerk  üher  den  jüdischen  Krieg.  239 

wie  etwa  des  Tacitus,  sich  nimmer  herabgelassen  hätte.  Aber  der  latei- 
nische Geschichtschreiber  überbietet  noch  seine  griechisch -jüdische  Quelle. 
Auch  Josephus  berichtet,  dass  Araber  und  Syrer,  die  beim  römischen  Be- 
lagerungsheere waren,  die  Leiber  jüdischer  Flüchtlinge  nach  verschluckten 
Goldstücken  durchsuchten ;  der  Lateiner  (V  24, 44  ff.)  wühlt  mit  eklem  Be- 
hagen in  ihrem  aufgeschnittenen  Gedärm.  Den  grauenhaften  Vorfall,  dass 
ein  jüdisches  Weib,  vom  Wahnsinn  des  Hungers  erfasst,  ihr  eigenes  Kind 
schlachtete  und  briet,  hat  Josephus  (VI  3, 4)  mit  geschmackloser  Ausführ- 
lichkeit erzählt.  Unsere  Schrift  (VI  40)  begleitet  das  grässliche  Ereignis  mit 
so  pathetischen  Reden,  dass  sich  das  Pathos  selber  überschlägt,  und  die  be- 
freienden Wirkungen  der  Komik,  hier  allerdings  einer  durchaus  unfreiwilli- 
gen, sich  erlösend  einstellen.  Auch  sonst  zeigt  die  Schrift  eine  gewisse 
Freude  am  Hässlichen  und  Widerwärtigen  ,^)  die  dem  hellenischen  und  rö- 
mischen Wesen  gleich  fremd  ist  und  die  Vermutung  nahe  legt,  dass  die 
Heimat  des  Verfassers  der  Orient  war. 

Trotz  alledem  und  alledem  muss  die  Schrift  als  das  anerkannt  und 
behandelt  werden,  was  sie  ist,  der  Teil  eines  lateinischen  Werkes  über 
die  jüdische  Geschichte.  Das  geschichtlich  Bedeutsame  an  ihr  ist  das 
Streben  ihres  christlichen  Verfassers,  diesen  Stoff  'historiae  in  morem'  zu 
behandeln,  und  der  verlorene  erste  Teil,  von  dem  wir  uns  nach  dem  er- 
haltenen zweiten  doch  eine  ausreichende  Vorstellung  machen  können,  fällt 
dabei  besonders  ins  Gewicht,  weil  er  den  Inhalt  biblischer  Bücher  wieder- 
gab. Durch  diese  allgemeine  Kichtung  ist  das  Werk  aufs  nächste  der 
Chronik  des  Severus  verwandt,  die  ums  Jahr  403  geschrieben  ist  und  in 
sallustisch-taciteischem  Gewände  die  Geschichte  der  jüdisch -christlichen 
Welt  erzählte.  Es  ist  sehr  wahrscheinlich,^)  dass  der  aquitanische  Presbyter 
den  unmittelbaren  Anstoss  zu  seiner  Schriftstellerei  durch  die  in  seiner 
Heimat  bedrohlich  auftretende,  ketzerische  Bewegung  des  Priscillianismus 
erhielt,  deren  Urheber  einer  übermässigen  Vorliebe  für  die  klassische  Lit- 
teratur  bezichtigt  wurde.  Aber  unser  Werk  mit  seiner  gleichartigen  schrift- 
stellerischen Grundrichtung  zeigt,  dass  diese  durch  allgemeine,  tiefer  liegende 
Gründe  bedingt  war.    In  der  That  sind  solche  nicht  schwer  zu  erkennen. 

Wir  täuschen  uns  heut  zu  Tage  leicht  über  die  ungeheure  Tiefe  der 

1)  H.  V  22,  72  lambam  lingua  patria  sanguinem  meorum  pignorum,   V  18,  28 

ne  quis  superveniret,  qui vomitus  alienos  lingua  sua  laraberet,  V  25,  13  fames, 

quae  insidiaretur  iumentis  alvum  purgantibus  acvetusta  rimaretur  boum  stercora,  IV 
7,19  eructuans  crapulam  negotiorum  vgl.  IV  32.  7,  IV  29, 19  inter  convivia  pridianas 
semper  eructuantem  epulas,  IV  8,  16  qui  neminem  vel  ad  purgandum  alvum  egredi 
sinunt.    Alles  dies  kommt  auf  H.'  eigene  Rechnung. 

2)  Wie  Bernays  in  seiner  Abhandlung  *Über  die  Chronik  des  Sulpicius  Severus' 
scharfsinnig  nachgewiesen  hat. 


240  Elimar  Klbbs 

Kluft,  die  uns  von  jenen  Zuständen  und  Anschauungen  scheidet,  welche 
die  geschichtlichen  Bücher  der  althebräischen  Litteratur  schildern.  Denn 
wir  sind  mit  dem  Inhalt  ihrer  Erzählungen  von  Jugend  an  vertraut  aus 
Bearbeitungen,  die  gefällig  manchen  Anstoss  beseitigen  oder  wenigstens 
verhüllen,  und  wir  Deutsche  lernen  diese  Bücher  gemeinhin  aus  einer 
Übersetzung  kennen,  die  in  Wahrheit  keine  ist,  sondern  den  fremden  In- 
halt aus  dem  Geiste  unserer  Sprache,  unseres  Volkes  heraus  nachdichtet 
und  ihn  dadurch  unserem  Empfinden  von  vornherein  näher  bringt.  Wie 
viel  fremdartiger  musste  ein  gebildeter  Römer  im  vierten  Jahrhundert, 
als  die  klassischen  Studien  noch  eifrig  gepflegt  wurden,  von  den  alt- 
testamentlichen  Schriften  berührt  werden.  Schon  die  äussere  sprachliche 
Form  der  umlaufenden  lateinischen ')  Bibelübersetzungen,  die  in  der  Volks- 
sprache gehalten  und  mit  griechischen  und  hebräischen  Wendungen  unschön 
gesprenkelt  waren,  musste  einen  gebildeten  Geschmack  verletzen.^)    Weit 

1)  Mit  der  kirchlich  anerkannten  griechischen  Übersetzung,  der  sogenannten 
Septuaginta,  stand  es  womöglich  noch  schlimmer;  ihr  „Juden- Griechisch"  war  für 
einen  wirklichen  Hellenen  „ganz  ungeniessbar"  (Bleek -Wellhausen  S.  535flF.). 

2)  Ausschliesslich  und  einseitig  führt  Bernays  S.  42  ff.  auf  die  „Solökismen"  der 
Übersetzungen  das  Widerstreben  zurück,  mit  dem  Männer  wie  Augustin  (Confess.  III  5) 
und  Hieronymus  (Ep.  22  I  115  Vall.)  anfänglich  an  die  biblischen  Bücher  gingen. 
Aber  wenn  Hieronymus,  dem  das  tägliche  Lesen  der  Schriften  Ciceros  Bedürfnis  war, 
vom  „sermo  inconditus"  der  Propheten  angewidert  zum  Plautus  griff,  so  werden  wir 
diesen  Ausdruck  nicht  willkürlich  auf  die  grammatischen  und  lexikalischen  Eigen- 
tümlichkeiten der  Itala  beschränken.  Vielmehr  ist  höchst  begreiflich,  dass  ein 
'Ciceronianus*,  wie  Hieronymus  nach  seinem  eigenen  Zeugnis  damals  einer  war,  ein 
Buch  wie  etwa  das  des  Ezechiel  mit  seinen,  nach  ciceronianischem  Massstab  beur- 
teilt, wüsten  Geschmacklosigkeiten  bei  Seite  warf.  —  Die  sonst  vortreffliche  Unter- 
suchung von  Bernays  —  sie  erschien  im  „Jahresbericht  (1861)  des  jüdisch -theologi- 
schen Seminars"  zu  Breslau  —  versagt  da,  wo  die  geschichtliche  Würdigung  der 
Stellung  des  älteren  Christentums  zum  Alten  Testament  in  Frage  kommt.  Darum 
urteilt  er  auch  (S.  45)  ganz  unrichtig  über  „die  auf  den  ersten  Blick  so  sehr  auf- 
fallende Aussonderung  der  neutestamentlichen  Bücher"  in  Severus'  Chronik.  Er 
führt  sie  zurück  auf  das  „Streben  den  bequemen  Ton  des  Lesebuches  festzuhalten" 
und  auf  Severus'  Scheu,  Dogmatisches  zu  berühren.  Aber  für  einen  gläubigen  und 
wahrhaft  frommen  Christen  wie  Severus  bedeutete  die  Geschichte  des  Lebens  und  Lei- 
dens seines  Heilandes  etwas  anderes  als  die  Geschichte  der  jüdischen  Erzväter  und 
die  gräuelreiche  der  jüdischen  Könige.  Nicht  auffällig  ist  es,  sondern  es  entspricht  nur 
dem  religiösen  Feingefühl,  dass  er  das  Leben  Christi  nicht  mit  sallustischen  Wendungen 
beschreiben  mochte.  Es  ist  dieselbe  Empfindung,  aus  der  Ranke  (Weltgeschichte  III 
S.  160)  in  schönen  Worten  begründet,  warum  die  Erzählung  vom  Leben  Christi  nicht  in 
die  Darstellung  der  Weltgeschichte  gehört.  —  Ebenso  verfehlt  ist  Bernays'  Beurteilung 
(S.  64  ff.)  der  allegorischen  Schriftauslegung ,  in  der  er  nur  eine  allgemeine  geistige 
Krankheit  erblickt  (vgl.  namentlich  S.  65  Ende).  Ihm  fehlt  jedes  Verständnis  dafür, 
dass  diese  sachlich  verkehrte  Auslegungsweise  eine  geschichtliche  Notwendigkeit  war. 
Nur  auf  diesem  Wege  konnte  das  ältere  Christentum  den  Widerspruch  zu  lösen  su- 
chen, dass  die  althebräischen  Schriften  eine  ausschliesslich  göttliche  Offenbarung  sein 
sollten ,   da  sie  doch  »Menschliches,  Allzumenschliches'  in  reicher  Fülle  enthalten. 


Das  lateinische  Geschichtswerk  aber  den  jüdischen  Krieg.  241 

schwerer  aber  fiel  ins  Gewicht,  dass  in  allen  diesen  Schriften  von  einer 
künstlerischen  Form,  dem  Rhythmus  und  Wohllaut,  der  wohlgegliederten 
Architektonik  der  antiken  Prosa  keine  Spur  zu  finden  war.  Und  am 
schwersten  endlich  der  teils  unverständliche  und  fremdartige,  teils  an- 
stössige  Inhalt.  Auch  die  glaubenseifrigsten  Kirchenlehrer  waren  weit 
entfernt  davon  zu  leugnen,  dass  das  Alte  Testament  Dinge  erzähle,  die 
nach  dem  Urteil  ihrer  eigenen  Zeit  sittlich  verwerflich  waren.  Augustin 
(doctr.  Christ.  HI  12)  war  auf  dem  richtigen  Wege  der  geschichtlichen 
Erklärung,  wenn  er  die  Vielweiberei  der  Patriarchen  aus  den  Zustän- 
den der  Vorzeit  herzuleiten  suchte.  Aber  mit  diesem  Verfahren  Ernst 
zu  machen,  diese  althebräischen  Schriften  ebenso,  wie  wir  heute  mit  den 
stammverwandten  assyrischen  und  babylonischen  verfahren,  zu  betrachten 
als  geschichtlich  ehrwürdige  Urkunden  der  Urzeiten  des  menschlichen  Ge- 
schlechtes, dazu  bedurfte  es  erst  einer  gewaltigen  Umwälzung  im  Denken 
der  Menschheit ;  zu  den  spätesten  Früchten  der  menschlichen  Erkenntnis, 
deren  wir  uns  auch  heute  noch  nicht  unangefochten  erfreuen,  gehört  die 
geschichtliche  Auffassung.  Das  ältere  Christentum  musste  darum  nach 
anderen  Wegen  des  Verständnisses  suchen.  Der  eine,  auf  dem  man  vor- 
nehmlich das  Anstössige  ^)  meinte  beseitigen  zu  können,  war  seit  Origenes 
die  allegorische  Deutung,  die  immer  vorzugsweise  auf  das  Alte  Testament 
angewandt  ist.'^)  Der  andere,  auf  dem  man  die  Fremd artigkeit  der  jüdischen 
Geschichtsbücher  gebildeten  Lesern  näher  zu  bringen  suchte,  war  neben 
vorsichtiger  Beschränkung  im  Stofflichen  die  Verwendung  der  gewohnten 
litterarischen  Form.  So  hat  Severus  seine  Chronik  geschrieben,  wie  auf 
anderem  Gebiet,  aber  mit  gleich  ausgeprägtem  Streben  nach  klassischer 
Darstellung  Laktanz  den  Inhalt  der  christlichen  Lehre  behandelt  hat. 

In  den  gleichen  Kreis  fallen  auch  die  schriftstellerischen  Arbeiten 
des  Unbekannten,  die  uns  hier  beschäftigen.  Was  er  erreicht  hat,  ist 
wenig  erfreulich;  geschichtliche  Teilnahme  verdient,  was  er  erstrebt  hat. 
Und  wir  werden  vor  einem  allzu  herben  Urteil  behütet  werden,  wenn 
wir  bedenken :  eine  reine  Lösung  der  Aufgabe,  jüdisch-christlichen  Inhalt 
in  die  Formen  des  klassischen  Altertums  zu  giessen,  ist  auf  litterarischem 
Gebiet  überhaupt  nicht  erreicht  worden.  Man  soll  den  neuen  Wein  nicht 
in  alte  Schläuche  füllen,  so  warnt  mit  Fug  das  Evangelium. 

1)  Sehr  lehrreich  für  die  altchristliche  Bibelauslegung  ist  das  dritte  Buch  von 
Augustins  Doctrina  christiana,  das  sich  ausschliesslich  mit  ihren  Grundsätzen  be- 
schäftigt. Augustin  spricht  dort  (III  10)  als  obersten  aus  *^et  iste  omnino  modus  est, 
ut  quidquid  in  sermone  divino  neque  ad  morum  honestatem  neque  ad  fidel 
veritatem  proprie  referri  potest,  figuratum  (==  allegorisch)  esse  cognoscas '. 

2)  Vgl.  Augustin  de  meud.  26  'exceptis  itaque  his  factis,  quae  potest  quisque  ad 
allegoricam  signiticationem  referre,  quamvis  gesta  esse  nemo  ambigat,  sicut  sunt  fere 
omnia  in  libris  Veteris  Testamenti  —  quis  enim  ibi  aliquid  audeat  affirmare 
ad  figuratam  praeuuntiationem  non  pertinere'  etc. 

16 


XI. 
Der  Traum. 

Eine    Studie. 

Von 

Emil  Lagenpusch  (Königsberg  i.  Pr.) 

Einleitung. 
Die  Kulturvölker  aller  Zeiten  haben  den  Träumen  Bedeutung  beige- 
messen.   Die  griechischen  wie  germanischen  Götter-  und  Heldensagen 
sind  Toll  davon: 

„Darüber  berieten  die  himmlischen  Richter, 
„Warum  den  Balder  böse  Träume  schreckten"^) 
lesen  wir  in  der  Edda. 

Im  Nibelungenlied  träumt  Kriemhild,  wie  ihren  Falken  „zwgn  am 
erkrummen"  und  Frau  Ute,  ihre  weise  Mutter,  deutet  den  Traum  auf  das 
kommende  Unheil. 

Aus  zwei  Thoren  lässt  Homer  die  Träume  hervorgehen  (Od.  19,  562) : 
dotal  ydg  re  rcvlai  a/nevrjvcjjv  eloLV  oveiQWV 
al  fiev  yccQ  xeQcxeaoL  TSTevxcczai,  al  ö    eXig)avTL' 
TCüv  OL  fi€V  X*  skd^coai  Ölcc  TtQLOTOv  lXiq)avTog, 
0%  Q^ kXecpaiQOVTCLi,  ene    cf/.qaavTa  q)€Q0VTeg, 
oi  öe  öicc  ^eaTcJv  y,€Qaü)v  sk^woi  ^vQa^s, 
0%  Q^eTVf,ia  KQalvovoi  ßgoiiov  ore  y,€v  Tig  'lörjTai. 
Männer  wie  Wallenstein  und  Napoleon   standen   den  Sternen   und 
Träumen  nicht  teilnamlos  gegenüber.    Shakespeare's  Richard  HE.  ^)  sieht 
im  Traume  noch  einmal  sein  ganzes  aus  Verruchtheiten  zusammengesetztes 
Leben. 

Bekannt  ist  der  Traum  Friedrichs  des  Weisen,  Kurfürsten  von 
Sachsen,  der  im  Traum  einen  Mönch  schreiben  sah:  und  sein  Schreib- 
rohr wuchs  und  wuchs,  bis  es  an  die  dreifache  Krone  Leo's  X.  stiess. 


1)  Edda,  Vegtamskvidha  4  ff.  (Übersetzung  von  Simrock), 

2)  Rieh.  III.  Act.  V.  Sc.  III. 


Der  Traum.  243 

Von  seinem  Nachfolger  Johann  berichtet  Ranke ')  folgendes :  „Was  in 
seiner  Seele  vorging,  zeigt  unter  andern  ein  Tranm,  den  er  in  jener  Zeit  — 
um  1530 —  hatte.  Es  ergriff  ihn  jene  Beklemmung,  in  welcher  der 
Mensch  unter  einer  die  Brust  niederdrückenden  Last  zu  vergehen  meint. 
Er  glaubte,  er  liege  unter  einem  hohen  Berg,  auf  dessen  Spitze  sein  Vetter 
Georg  stehe.  Gegen  Morgen  sank  der  Berg  zusammen  und  der  feind- 
liche Blutsverwandte  fiel  neben  ihm  nieder." 

Endlich  erinnern  wir  an  den  alten  Scrooge  in  Dickens  Weihnachts- 
abend, der  durch  einen  einzigen  Traum  aus  einem  alten  Gauner  und  Geiz- 
hals zu  einem  braven,  ehrenwerten,  menschenfreundlichen  Manne  wird. 

Man  hat  also  zu  allen  Zeiten  den  Träumen  Bedeutung  beigelegt  und 
ihnen  darum  Aufmerksamkeit  geschenkt.^)  Das  Seltsame,  Geheimnisvolle, 
Phantastische  hat  von  jeher  tiefer  angelegte  Gemüter  angezogen  —  frei- 
lich auch  solche,  die  zum  Aberglauben  neigen.  Man  glaubt  in  den 
Träumen  Vorboten  der  Zukunft  sehen  zu  dürfen,  „man  sieht  den  Traum 
gleichsam  als  Brücke  an,  auf  der  die  Gottheit  und  die  Verstorbenen 
aus  ihrer  überirdischen  Welt  in  unsere  hinein  mit  den  Menschen  ver- 
kehren".^) 

Und  in  der  That  sind  die  Träume  der  Beachtung  wert:  der  Einfluss 
des  Traumes  auf  die  Menschen  ist  nicht  zu  unterschätzen :  er  flösst  Ver- 
zagten Mut  ein,  ruft  dem  Verwegnen  ein  donnerndes  Halt  zu:  er  weist 
dem  Gelehrten  den  Weg,  Probleme  zu  lösen:  er  lässt  den  Künstler  im 
Reiche  überirdischer  Schönheit  schwelgen:  er  führt  den  Dichter  in  das 
Reich  der  Ideale.  Ja,  es  ist  die  Frage,  ob  die  Menschen  ohne  Träume 
jemals  auf  den  Gedanken  an  eine  überirdische  Welt,  auf  die  Idee  von 
der  Unsterblichkeit  der  Seele  gekommen  wären. 

Endlich  sind  die  Träume  für  die  menschliche  Natur  sogar  notwendig: 
sie  gewähren  dem  von  den  Tageseindrücken  ermüdeten  Geiste  Erholung :  sie 
führen  ihn  in  das  Reich  der  Phantasie  und  machen  ihn  so  zur  Wiederauf- 
nahme der  Tageseindrücke  fähig. 

Nach  dem  bisher  Gesagten  ist  es  wohl  der  Mühe  wert,  ein  wenig  näher 
auf  das  Wesen  der  Träume  einzugehen. 

I. 

Worin  besteht  das  Wesen  des  Traumes?  Der  Traum  kommt  nur  in 
Verbindung  mit  dem  Schlafe  vor.  Wir  müssen  also  zunächst  auf  das 
Wesen  des  Schlafes  eingehen,  diesen  zu  erklären  suchen. 

1)  Gesch.  i.  ZA.  d.  Ref.  III  188. 

2)  Aus  dem  Altertum  vgl.  'OvEiQoxgixixa  des  Artemidorus,  Zeitgenosse  Hadrian*s. 

3)  Vgl.  Strümpell,  Natur  und  Entstehung  der  Träume.    Leipzig  1874. 

16* 


244  Emil  Lagenpüsch 

Der  BegriflF  des  Schlafes  setzt  aber  stets  den  Begriff  des  Wachens 
voraus,  kann  ohne  diesen  gar  nicht  gedacht  werden.  Wir  gehen  also  vom 
Wachen  aus  und  beginnen  mit  der  Frage:   Worin  besteht  das  Wachen? 

Das  Wachen  besteht  in  der  gegenseitigen  Spannung  zwischen  Sub- 
jekt und  Objekt,  zwischen  dem  Ich  und  der  Aussenwelt 

Fortdauernd  vermag  die  Seele  diese  Spannung  nicht  zu  ertragen :  sie 
bedarf  der  Ruhe  und  Erholung  zur  Wiedersammlung  neuer  Kräfte.  Im 
Nachlassen  jener  Spannung  besteht  der  Schlaf.  Er  ist  also  etwas  Nega- 
tives. Jene  Ruhe  verschafft  sich  die  Seele  dadurch,  dass  sie  uns  nötigt, 
die  Eindrücke  der  Aussenwelt  von  uns  fernzuhalten.  Dies  geschieht  da- 
durch, dass  wir  die  Augen  schliessen. 

Nicht  aber  in  gleichem  Masse  wie  von  den  äussern  Eindrücken  kann 
sich  die  Seele  im  Schlafe  von  den  Eindrücken  befreien,  die  ihr  aus  dem 
innern  Leib-  und  Seelen -Leben  zuströmen:  und  diese  sind  es  hauptsäch- 
lich, die  das  Material  zu  den  Traumbildern  hergeben.*) 

Schlaf  und  Wachen  sind  wie  Gesundheit  und  Krankheit  keineswegs 
so  scharf  zu  trennen  wie  ihre  Begriffe.  Der  Übergang  von  dem  einen 
zum  andern  ist  ein  ganz  allmählicher. 

Wir  wollen  diesen  Übergang  vom  Wachen  zum  Schlaf  und  wiederum 

vom  Schlaf  zum  Wachen  verfolgen. 

*  * 

* 

Yon  dem  Moment  des  Einschlafens  bis  zu  dem  des  Wiedererwachens 
können  wir  fünf  Phasen  unterscheiden. 

Darin,  dass  die  Seele  dem  Anprall  der  Eindrücke  von  aussen  her 
nicht  mehr  genügende  Receptionskraft  entgegenzusetzen  vermag,  besteht 
die  „Schläfrigkeit". 

Das  völlige  Aufhören  der  Receptionsfähigkeit  ruft  das  „Einschlafen" 
hervor. 

Die  Zeit,  in  der  die  Seele  nicht  mehr  Eindrücke  von  aussen  her  auf- 
nimmt, füllt  der  „Tiefschlaf*  aus. 

Nun  tauchen  aber  sehr  bald  die  Eindrücke  der  Innenwelt  der  Seele 
wieder  hervor,  die  bei  dem  gänzlichen  Fortfall  der  Eindrücke  von  der 
Aussenwelt  her  sich  viel  ungehinderter  bethätigen  können.  Diese  Innen- 
eindrücke, welche  die  Seele  aus  dem  innern  Leib-  und  Seelenleben  em- 
pfängt, rufen  den  „Traumschlaf'  hervor. 

Der  Übergang  endlich  vom  Schlaf  zum  Wachen  ist  das  Moment  des 
„Erwachens".') 


1)  Erklärungen  des  Schlafes  giebt  Wundt,  Psychologie  Leipzig  1880.  357  ff. 
Siehe  auch  die  übertriebenen  Lobpreisuogen  des  Schlafes  bei  Volkmann,  Psychologie 
Halle  1875.    I  393.  2)  Vgl.  Volkmann,  Psychologie  I  389. 


Der  Traum.  245 

Das  hauptsächlichste  Moment  des  Schlafes  bildet  der  „Traum". 

Ob  es  überhaupt  traumlosen  Schlaf  giebt,  hängt  mit  der  Frage 
zusammen,  ob  das  Bewusstsein  während  des  Schlafes  zeitweilig  völlig  auf- 
hört oder  nicht.*) 

Eine  genügende  Definition  des  Traumes  ist  bisher  unseres  Erachtens 
noch  nicht  gegeben.  Dass  es  nicht  leicht  ist,  den  Traum  zu  definieren, 
beweisen  schon  die  zahlreichen  —  zum  Teil  recht  weitschweifigen  —  De- 
finitionen, auf  die  wir  der  Kürze  halber  bei  Volkmann''')  und  Wundt  ver- 
weisen. Kant^)  nennt  den  Traum  ein  Mittel  zur  Erhaltung  der  Lebens- 
kraft, erklärt  ihn  aber  nicht  weiter. 

Wir  werden  wohl  —  ohne  darin  eine  völlig  befriedigende  Erklä- 
rung finden  zu  wollen  —  der  Wahrheit  nahe  kommen,  wenn  wir 
sagen:  die  im  Schlafe  fortdauernde  Seelenthätigkeit  äussert  sich  als 
Traum.') 

Darin  dass  wir  im  Schlafe  eine  Fortdauer  der  Seelenthätigkeit  an- 
nehmen, liegt  zugleich,  dass  wir  der  schlafenden  Seele  auch  Bewusstsein 
zugestehen.  Dass  dies  Bewusstsein  jedoch  ein  anderes  ist  als  das  des 
Wachens,  lässt  sich  keinen  Augenblick  bestreiten.^) 


n. 

Die  Frage,  ob  das  Bewusstsein  während  des  Schlafes  zeitweilig 
unterbrochen  werde,  müssen  wir  mit  einem  „non  liquet"  beantworten.  Wir 
sind  ja  gar  nicht  im  stände,  das  Vorhandensein  des  Bewusstseins  während 
des  Schlafes  zu  kontrolieren :  denn  um  diese  Erfahrung  zu  machen,  müssen 
wir  notwendigerweise  Bewusstsein  voraussetzen,  da  eine  Erfahrung  nur 
bei  vollem  Bewusstsein  gemacht  werden  kann.  Dazu  kommt,  dass  wir 
diese  Beobachtung,  ob  das  Bewusstsein  während  des  Schlafes  zeitweilig 
aufhört  oder  nicht,  nur  an  uns  selbst  anstellen  können :  und  das  ist  wieder 
rein  unmöglich,  weil  wir  dazu  des  vollen  Bewusstseins  bedürfen.  Es  ist 
der  analoge  Fall,  als  wollten  wir  bestimmen,  ob  uns  diese  oder  jene  Brille 
passte,  und  wir  setzen  sie  nicht  auf  die  Nase.  Bedenken  wir  aber,  dass 
bei  entwickeltem  Vorstellen  ein  völliger  Mangel  an  wirklichen  Vorstellungen 
nicht  denkbar  ist  °):  dass  eine  Seele,  die  nicht  denkt,  ein  Widerspruch  an 
sich  ist'):  dass  völliges  Aufhören  des  Bewusstseins  ein  Erlöschen  des  Lebens 
zur  Folge  haben  müsste,®)  so  werden  wir  nur  ein  „relatives"  Aufhören  des 

1)  Siehe  unten!  5)  Wundt,  Psychologie  S.  359. 

2)  Volkmann,  Psych.  I  417.  6)  Volkmann,  Psych.  S.  392  Anm.  4. 

3)  Anthr.  §  36.  7)  Descartes! 

4)  Vgl.  Strümpell,  S.  95.  8)  Kant,  Kr.  d.  ü.  WW.  IV  265. 


246  Emil  Lagekpusch 

Bewasstseins  der  Seele  im  Schlafe  annehmen  dürfen,  d.  h.  wir  müssen  an- 
nehmen, dass  —  da  in  der  ersten  Phase  des  Tiefschlafs  keine  Traumbilder 
aufzutreten  scheinen,  —  in  dieser  ersten  Periode  des  Tiefschlafs  ein  starker 
Grad  von  Verdunkelung  der  Vorstellungen,  d.  h.  des  Bewusstseins  ein- 
tritt, indem  die  Thätigkeit  der  Seele  zwar  nicht  aufhört,  aber  gehemmt 
ist:  sie  ist  zwar  ihrem  Wesen  nach  vorhanden,  kann  aber  nicht  in  Er- 
scheinung treten. 

Auch  Leibniz  spricht  davon,  dass  selbst  in  bewusstlosen  Zuständen 
die  Seele  niemals  ohne  Thätigkeit  eines,  wenn  auch  dunkeln,  Vorstellens 
und  Begehrens  ist.  Das  Gefühl  einer  ßewusstlosigkeit  entsteht  dadurch, 
dass  in  der  ersten  Phase  des  Schlafes  die  Vorstellungen  sich  durch  ihre 
Vielheit  neutralisieren  und  daher  nicht  zum  Bewusstsein  kommen.  Darum 
ist  anfangs  der  Schlaf  traumlos. 

Bewusstsein  ist  also  —  mehr  oder  minder  verdunkelt  —  während  des 
ganzen  Schlafes  anzunehmen :  nur  dass  es  hier  ein  völlig  anderes  ist  als 
im  Wachen.  Das  liegt  in  erster  Linie  wohl  wahrscheinlich  daran,  dass 
im  Schlafe  Vernunft  und  Phantasie  —  die  Hauptbethätigungen  der  Seele  — 
sich  gerade  entgegengesetzt  verhalten  wie  im  Wachen. 

Dass  das  Bewusstsein  im  Schlaf  ein  anderes  als  im  Wachen  sein  muss, 
ersehen  wir  schon  daraus,  dass  uns  das  Bewusstsein,  dass  wir  träumen, 
im  Traume  selbst  gänzlich  abgeht. 

Wenn  auch  zugegeben  werden  muss,  dass  im  Traume  eine  Art  Be- 
wusstsein herrscht,  so  fehlt  uns  dennoch  vollständig  das  Bewusstsein, 
„dass  wir  träumen".  Dazu  kommt  noch  die  zweite  Eigentümlichkeit,  dass 
wir  das  Geträumte  für  wirklich  halten.  Diese  Eigentümlichkeit  können 
wir  auf  folgende  Art  erklären.') 

Vergleichen  wir  das  Bewusstsein  des  Traumes  mit  dem  des  Wachens, 
so  gewinnt  im  Wachen  die  Seele  ein  Bewusstsein  äusserer  Realität :  denn 
1)  hat  sie  wirkliche  Empfindungen,  2)  versetzt  sie  die  Bilder  in  den  Raum, 
3)  kann  sie  das  Gesetz  der  Kausalität  auf  den  Inhalt  ihrer  Erscheinungen 
anwenden.'*) 

Im  Traum  kann  sie  das  letztere  nicht.  Dazu  kommt  als  zweites  Mo- 
ment: die  ganze  Traumschöpfung  vollzieht  sich  hinter  dem  Bewusstsein 
des  Träumenden.  Der  Traum  baut  sich  wie  hinter  einem  Vorhang  auf 
und  bietet  sich  erst  als  etwas  Fertiges  dem  Traumbewusstsein  dar. 

Wir  halten  also  —  um  zu  rekapitulieren  —  die  Traumbilder  für  Wirk- 


1)  Vgl.  Volkelt,  Traumphantasie  Stuttgart  1875.  S.  51.  Fr.  Vischer,  Aesthet.  II 
33t,  §  39.  Strümpell,  S.  33ff.  S.  50.  Scherner,  Leben  des  Traumes,  Berlin  1861. 
S.  127.    Wundt,   Psych.  S.  359. 

2)  Strümpell  a.  a.  0.  S.  50. 


Der  Traum.  247 

lichkeiten,  weil  wir  auf  sie  das  Gesetz  der  Kausalität  nicht  anwenden 
können,  ferner  weil  die  Entstehung  des  Traumes  unbewusst  geschieht 
Und  als  drittes  Moment  lässt  sich  anführen:  Wir  sind  im  Traume  ganz 
ausser  stände,  die  Traumbilder  mit  früheren  Erfahrungen  in  Beziehung  zu 
setzen:  wir  können,  da  mit  der  Ich -Spontaneität  die  Funktion  des  Ver- 
standes herabgesetzt  ist,  im  Traume  keine  Kritik  üben/) 

In  dieser  Urteilstäuschung  liegt  die  Verwandtschaft  des  Traumes  mit 
dem  Irrsinn.  Wir  gehen  auf  diesen  in  seinem  Verhältnis  zum  Traume 
mit  ein  paar  Worten  ein. 

m. 

Auch  bei  geistigen  Störungen  treten  subjektive  Wahrnehmungs- 
bilder auf,  welche  von  der  Seele  für  wirkliche  Dinge  gehalten  werden.  Dies 
ist  einzig  und  allein  dem  Mangel  des  Verstandes  zuzuschreiben,  der  an  den 
Erscheinungen  unter  Heranziehung  früherer  Erfahrungen  nicht  Kritik 
üben  kann.^) 

Dazu  kommt  noch,  dass  dem  Irrsinn  wie  dem  Traume  die  gesteigerte 
Keizbarkeit  der  Sinne  gemeinsam  ist.  Wenn  aber  der  Gesunde  solche 
Vorstellungen  zu  unterdrücken  vermag,  so  fehlt  dem  Geisteskranken  dazu 
die  Willenskraft.  Diese  liegt  im  Traume  gänzlich  ausgelöscht  darnieder  — 
wovon  später  mehr!  — ,  so  dass  der  Träumende  ganz  den  Traumvorstel- 
lungen anheimfällt  und  sie  nicht  abschütteln  kann. 

Dagegen  beruht  d^r  Unterschied  zwischen  Traum  und  Irrsinn  darin, 
dass  die  Traumbilder  meistens  in  grösster  Mannigfaltigkeit  und  schein- 
barer Zusammenhangslosigkeit  wechseln,  im  Irrsinn  aber  nur  eine  kleine 
Gruppe  von  Vorstellungen  sich  fortwährend  von  neuem  reproduciert  und 
keine  neuen  Vorstellungen  aufkommen  lässt.^)  Doch  wir  kehren  zum 
Traume  zurück. 

IV. 

Mit  den  Perioden  des  Schlafes  vom  Einschlafen  bis  zum  Erwachen 
halten  gleichen  Schritt  die  Phasen  des  Traumes. 

Wir  gingen  davon  aus :  Schlaf  und  Wachen  sind  nicht  so  scharf  von 
einander  zu  scheiden  wie  ihre  Begriffe. 

Es  giebt  Zeiten,  in  denen  wir  mit  offenen  Augen  träumen.  Die  Seele 
ist  in  solchen  Augenblicken  der  Aussenwelt  völlig  entrückt,  sie  lebt  in 
vergangener  Zeit,  an  einem  anderen  Ort,  den  ihr  die  Phantasie  vorzaubert. 
In  wenigen  Minuten  durchlebt  sie  Ereignisse  ganzer  Tage,  ganzer  Jahre : 

1)  Wundt,  Psych.  359  ff.    Scherner,  S.  127. 

2)  Strümpell  S.  51. 

3)  Wundt,  Psych.  656. 


248  Emil  LAGENPUßcn 

und  es  gehört  ein  nicht  unerheblicher  Anstoss  dazu,  sie  wieder  aus  diesem 
Traume  aufzurütteln. 

Diese  Art  zu  träumen,  zu  der  jede  poetische  Leistung  gehört,  hat 
wohl  jedermann  an  sich  selber  erlebt. 

Es  geht  daraus  hervor,  dass  Schlaf  und  Wachen  allmählich  in  ein- 
ander übergehen,  ihre  scharfe  Grenze  zu  bestimmen  unmöglich  ist,  indem 
der  Übergang  von  dem  einen  in  das  andere  verschwimmt  wie  die  ein- 
zelnen Farben  des  Regenbogens.') 

So  lässt  sich  der  Augenblick,  in  dem  Traumbilder  im  Schlafe  auf- 
treten, ebenfalls  nicht  genau  feststellen. 

Ansätze  zu  Traumbildern  finden  sich  aber  schon  beim  Eintritt  der 
Schläfrigkeit.  Unsere  Seele  nimmt  dann  —  wenn  auch  schon  mit  Wider- 
streben —  immer  noch  äussere  Eindrücke  auf:  aber,  da  ihre  Aufmerksam- 
keit nicht  ganz  und  gar  auf  jene  Eindrücke  von  aussen  her  gerichtet  ist, 
mischen  sich  schon  Vorstellungen  aus  dem  inneren  Leib-  und  Seelenleben 
hinein,  die  bisher  von  dem  Tagesgetriebe  übertönt  wurden. 

Aber  schon  im  ersten  Moment  des  Einschlafens  treten  ganz  zweifel- 
los Träume  auf,  —  di^  „Reflexionsträume".  Es  reihen  sich  in  bestimmter 
Richtung  des  mit  letzter  Kraftanstrengung  gegen  die  Bewusstlosigkeit  an- 
kämpfenden Verstandes  Bilder  an  Bilder :  meistens  aus  dem  verflossenen 
Tagesleben :  in  bestimmter  Richtung  des  Verstandes,  aber  nicht  mehr  vom 
Verstände,  sondern  vielmehr  von  der  Phantasie  gebildet  So  bemühen 
wir  uns  oft  beim  Einschlafen  Probleme  zu  lösen,  über  deren  Lösung  wir 
am  Tage  umsonst  gegrübelt  hatten.  Also  der  Verstand  selbst  ist  nicht 
mehr  thätig,  nur  seine  Formschemen  bleiben  den  Bildern  zurück  und  diese 
zwängen  sich  noch  in  die  Verstandesformen  hinein.  Es  ist  ein  hirnloses 
Herein-  und  Herausstürzen  dieser  Bilder.  Allmählich  beruhigt  sich  dies 
wilde  Kopfüberstürzen  der  Bilder  in  die  Verstandesformen:  die  Denk- 
schablonen fangen  an  zu  verschwinden,  und  die  Bilder  können  sich  un- 
gehemmt bewegen. 

Die  noch  vom  Wachen  her  vorhandenen  Wohl-  und  Misslaute  unserer 
Gemütsstimmungen  blitzen  hin  und  her  und  werden  zur  Grundlage  der 
rastlos  umherschwirrenden  Bilder,  die  jetzt  erst  einen  festen  Charakter 
annehmen  als  Stimmungs-,  Associationsträume  u.  s.  w. 

Damit  beginnt  die  Periode  des  Tiefschlafs,  in  der  der  bewusstlos 
empfindende  Geist  die  Verhältnisse,  die  Harmonien  und  Missstimmungen 
in  sich  aufnimmt  und,  sobald  sich  das  Bewusstsein  wieder  zu  regen  be- 
ginnt, vorstellbar  offenbart.    In  dieser  Epoche  können  wir  gewissermassen 


1)  Scherner  S.  49. 


Der  Traum.  249 

von  dem  Schweigen  des  Geistes  reden;  dies  ist  die  Quelle  jenes  Wohl- 
befindens im  Schlafe,  das  jene  so  beseligenden  Träume  hervorruft.  Mischen 
sich  aber  in  diese  Periode  des  Tiefschlafs  störende  Verhältnisse  irgend 
welcher  Art  ein,  so  entstehen  widerwärtige  Träume.  Im  Tiefschlafe  bilden 
sich  ferner  jene  Empfindungen  der  inneren  Körperzustände',  die  erst  im 
Entstehen  begriffen  und  deshalb  dem  Wachen  nicht  wahrnehmbare  Zu- 
stände des  Lebens  sind.  Krankheitskeime  sind  besonders  hierherzuzählen. 

Wenn  der  Geist  im  Tiefschlaf  ein  bewusstloses  Empfinden  ist,  so  ist 
er  auch  fähig,  Eindrücke  aufzunehmen:  —  in  welcher  Weise,  lässt  sich 
freilich  nicht  sagen !  — :  und  er  nimmt  Reize  aus  der  Sphäre  seines  Lebens 
in  sich  auf  und  es  entstehen  daraus  in  ihm  Empfindungen  der  Lust  und 
Unlust,  welche  dann  in  die  nächste  Traumphase  hineinhallen.  Je  nach- 
dem jene  Empfindungen  mehr  oder  minder  hervortretender  Natur  sind, 
werden  auch  diese  Ahnungsträume  einen  mehr  oder  minder  bestimmten 
Charakter  annehmen. 

Im  Tiefschlaf  sendet  der  Geist  seine  Fühlkraft  in  die  Weite  des 
Raumes  und  der  Zeit,  der  künftigen  wie  vergangenen:  oder  er  sendet 
sie  nach  der  Gemütsstimmung  hin,  und  je  stärker  der  Eindruck  war, 
den  er  von  diesen  empfing,  desto  deutlicher  drückt  sich  der  Traum  aus. 

Nun  ist  es  wahrscheinlich,  dass  der  Geist,  wenn  er  in  die  Weite 
des  Raumes  vor-  und  rückwärts  dringen  kann,  noch  leichter  in  die  Be- 
wegungen seines  eigenen  Wesens  wird  einschauen  können:  daher  rührt 
es,  dass  er  für  alle  im  Tagesleben  übertönten  Disharmonien  im  Schlaf 
ungleich  empfänglicher  ist  als  im  Wachen.  Und  dies  malt  die  Phantasie 
arg  übertreibend  aus. 

Ausser  den  Ahnungen,  welche  die  Periode  des  Tiefschlafs  auszeichnen, 
bringt  diese  noch  aus  sich  selbst  eigene  lebendige  Bewusstseinsgebilde 
hervor,  und  das  Traumleben  nimmt  einen  immer  reichhaltigem,  frischem 
Charakter  an.  Mitten  in  diesem  Strudel  von  Traumbildern  —  durch 
irgend  ein  Motiv  veranlasst  —  fängt  sich  die  Ich-Kraft  wieder  an  zu  regen : 
anfangs  nur  äusserst  schwach,  aufblitzend,  um  sogleich  wieder  zu  ver- 
schwinden :  aber  sie  kämpft  bereits  unablässig  gegen  die  Traumbilder  an : 
immer  heftiger  wird  dieser  Streit:  immer  lebhafter  drängt  sich  das  Ich 
durch  die  Traumbilder  hervor. 

In  diesem  Kampfe  des  Ich  mit  den  Traumbildern,  wo  das  verstärkte 
Bewusstsein  schon  hindurchblitzt,  entsteht  ein  bewusstes  Träumen.  Solche 
Träume  beruhen  auf  Associationen.  Nur  die  intensivem  Traumbilder  reizen 
das  Ich  zur  Bewusstseinsempfindung,  aber  das  wiedererwachende  Leben 
verbreitet  diese  Schwungkraft  auch  über  die  schwachem  Traumbilder,  und 
so  kommt  es,  dass  endlich  ein  ganzes  Heer  von  Träumen  umherschwirrt 


250  Emil  Laoenfüsoh 

Nun  beginnen  die  Associationsträume,  zunächst  nur  abgebrochen, 
dann  aber  verknüpfen  sie  sich  mit  einander:  sie  bilden  eine  Kette,  die 
bald  wieder  zerreisst,  doch  sich  ebenso  rasch  wieder  zu  einer  neuen 
zusammenfügt.  Hierdurch  zum  Bilden  angefeuert,  entsendet  die  Ich-Kraft 
aus  sich  die  bildende  Macht  der  schöpferischen  Phantasie,  welche  wieder 
durch  die  Associationen  angefeuert,  jetzt  ihrem  bildnerischen  Triebe  folgt. 

Durch  diese  reichhaltigen  Wechselgebilde  wird  der  schauende  Geist 
erschüttert:  er  wird  von  Staunen,  von  Lust  oder  Unlust  ergriffen.  Aber 
das  sich  mehr  und  mehr  regende  Ich  greift  in  die  Traumgebilde  ein. 

Diese  Regungen  der  Lust  und  Unlust  lassen  den  Affekttraum  ent- 
stehen: oft  bricht  auch  das  Leibleben  hervor:  ein  Druck,  ein  Schmerz, 
die  Blutzirkulation  rufen  den  Reiztraum  hervor,  in  den  sich  nicht  selten 
Muskelbewegungen  einmischen.  In  ganz  ähnlicher  Weise  greifen  der 
Gesichts-  und  Gehörs-Sinn  ein.  Dazu  gesellen  sich  Traumbilder,  die  die 
kalte  oder  warme  Empfindung  der  Haut  hervorrief.  So  entstehen  die 
verschiedenartigsten  Träume  aus  den  mannigfaltigsten  Gefühlsmomenten. 

Jedoch  das  Ich  drängt  sich  immer  kräftiger  hervor :  es  siegt  über  die 
Phantasieträume:  wir  sind  dem  Erwachen  bereits  ganz  nahe.  Und  nun 
ist  es  ähnlich  wie  beim  Einschlafen:  die  zurückgedrängten  periodischen 
Denkformen  des  wachen  Lebens  beginnen  sich  wieder  in  den  Traum  zu 
mischen.  Während  diese  Reflexions-  und  Phantasieträume  noch  wild 
durch  einander  wogen  und  gegen  einander  ankämpfen:  brechen  sich 
plötzlich  die  Tagesgedanken  des  Geistes  —  durch  irgend  einen  Impuls 
erregt  —  wieder  Bahn  und  mischen  sich  in  die  Traumbilder.  Halb 
leben  wir  noch  im  Traum,  halb  schon  in  Wirklichkeit.  Alles  wogt  in 
wildem  Wirbel  durcheinander:  da  bricht  sich  mit  aller  Gewalt  das  Ich 
Bahn:  wie  mit  einem  Zauberschlage  verschwinden  die  Traumbilder  und 
wir  sind  erwacht.  Daher  ist  das  Erwachen  öfters  mit  einem  gewissen 
Schreck  verbunden. 

So  weit  die  Perioden  des  Traumes.  — 

V. 

Interessant  ist  es  nun  zu  sehen,  wie  sich  die  drei  Hauptkräfte  des 
Geistes  —  Denken,  Fühlen,  Wollen  —  im  Traume  verhalten. 

Wenn  wir  fast  all  unsere  Vorstellungen  des  Wachens  aus  dem  Denken 
herleiten,  so  nehmen  die  Traumbilder  hauptsächlich  ihr  Material  aus  dem 
Gefühlsleben  her. 

Wir  unterscheiden  an  der  Ich -Kraft  die  spontane  und  die  receptive 
Seite :  jene  geht  im  Traume  völlig  verloren  und  allein  die  receptive  bleibt 
zurück.    Indessen  ändert  sich  die  Struktur  des  Denkens,  Fühlens,  Wollens 


Der  Traum.  251 

im  Traume  vollständig:  am  meisten  verliert  das  Wollen,  am  wenigsten 
das  Fühlen  darunter,  während  das  Denken  in  dieser  Hinsicht  in  der 
Mitte  steht. 

Es  scheint  uns  der  Mühe  wert,  auf  diese  drei  Prinzipien  unseres 
Geisteslebens  während  des  Traumes  näher  einzugehen. 

Nicht  ganz  —  um  dies  gleich  vorwegzunehmen  —  entbehrt  das 
Traumleben  der  Denkprozesse.  Wir  müssen  hier  ein  wenig  weiter  ausholen. 

Die  Denkkraft  äussert  sich  im  Wachen  spontan  als  Denken,  receptiv 
als  Schauen :  dem  Traume  bleibt  nur  die  receptive  Seite  —  das  Schauen. 
Wie  die  Schablonenträume  ausserhalb  der  Reflexion  fallen,  vielmehr  als 
Nachhall  des  wachen  Verstandes  anzusehen  sind,  so  gehört  auch,  wenn 
wir  über  ein  auffallendes  Traumbild  mitten  im  Traume  Betrachtungen 
anstellen ,  diese  Erscheinung  dem  wachen  Denken  des  Abends  vorher  an. 

Dasselbe  gilt,  wenn  wir  im  Traum  Probleme  lösen,  mit  denen  wir 
uns  Tags  zuvor  herumtrugen  und  nicht  zum  Ziele  gelangten.  Auch  hier 
ist  der  ganze  Gegenstand  des  Denkens  vom  Wachen  gewirkt  und  in 
Erregung  gehalten. 

Anders  wenn  wir  uns  im  Traume  über  Ungeheuerlichkeiten  von  Er- 
scheinungen z.  B.  geflügelten  Menschen  verwundern:  in  diesem  Falle 
müssen  wir  wirklich  dem  Traume  zugehörige  Reflexionen  annehmen: 
und  dennoch  sind  diese  so  blitzartig,  dass  sie  unter  den  Begriff  des 
wachen  Denkens  kaum  gerechnet  werden  können,  sondern  vielmehr  nur 
den  durch  die  Gewalt  seltsamer  Eindrücke  dem  schlafenden  Verstände 
abgepressten  Reflexionsregungen  zuzuzählen  sind.  — 

Auch  wenn  wir  im  Traume  uns  mit  philosophischen  Problemen  ab- 
mühen und  dieselben  plötzlich  lösen,  ist  dies  wieder  eine  solche  dem 
wachen  Verstände  abgepresste  Reflexionserregung. 

Selbst  im  höchsten  Stadium  der  Traumreflexion  —  unmittelbar  vor 
dem  Erwachen,  wo  die  Phantasie  am  stärksten  mit  der  sich  hervordrängen- 
den Ich -Kraft  zu  kämpfen  hat,  —  verneint  die  Verstandesthätigkeit  noch 
das  spontane  Wesen  des  Wachens :  denn  sie  kann  sich  nicht  einen  Gegen- 
stand zur  Bethätigung  wählen,  sondern  ist  hierin  völlig  der  Laune  der 
Phantasie  überlassen. 

Also  streng  genommen  entbehrt  das  Traumleben  der  Denkprozesse 
überhaupt:  da  Verstand  und  Vernunft  dem  Traumleben  abhanden  ge- 
kommen sind,  giebt  es  auch  im  Traum  kein  eigentliches  Begriffsleben. 
Wenn  das  Ich -Denken  das  erste  Glied  seiner  Periodenbildung  noch  auf 
Geheiss  der  Vernunft  setzte,  so  stellt  dem  gegenüber  das  Traumleben 
dasjenige  Bild  an  die  Spitze  seiner  Kette,  das  durch  einen  zufälligen 
Nervreiz  erweckt  wird. 


252  Emil  Lagenpüsoh 

Die  Vernunft  fehlt  also  im  Traum.  Als  Surrogat  für  die  fehlende 
Vernunft  tritt  im  Traum  der  Affekt  ein.  Die  Schwäche  der  Ich-Spontanei- 
tät im  Traum  zeigt  sich  besonders  darin,  dass  sie  die  vorüberhuschenden 
Gebilde  des  Traumes  gar  nicht  fixieren  und  zur  Betrachtung  still  halten 
kann,  während  sie  im  Wachen  denselben  Gegenstand  Stunden,  ja  Jahre 

lang  vor  sich  zu  fesseln  und  hinzuhalten  vermag. 

*  * 

* 

Aus  dem  Gesagten  ergiebt  sich,  dass  wir  dem  Traume  ihm  völlig 
zugehörige  Reflexionen  nicht  absprechen  können.  Aber  gänzlich  liegt  der 
Wille  im  Traum  darnieder.  Selbstverständlich!  Wie  mit  der  Sonne 
alles  Licht,  so  erlischt  mit  dem  Ich  aller  Wille.  Ist  der  Wille  im  Wachen 
die  stärkste  Seite  unseres  Geisteslebens,  so  wird  er  im  Schlaf  zu  der 
schwächsten  alles  Traumlebens.  Wir  können  kein  Traumbild  festhalten, 
keins  von  uns  weisen :  wir  sind  ganz  und  gar  der  Willkür  der  Phantasie 
verfallen.  Dem  Erkennen  diametral  entgegengesetzt,  das  von  aussen 
nach  innen  strebt,  steht  das  Wollen,  das  sich  gerade  in  entgegengesetzter 
Richtung  bewegt.  Aber  das  Erkennen  ist  bei  weitem  nicht  so  dem  Ich 
unterworfen  als  das  Wollen:  die  Energie  des  Wollens  setzt  zu  ihrer 
Selbstthätigkeit  in  viel  höherm  Masse  die  Energie  des  Ichs  voraus  als 
das  Erkennen.  Dies  ist  receptiv,  das  Wollen  spontan.  Da  nun  im  Schlaf 
die  spontane  Seite  des  Ichs  verloren  geht,  wird  das  Wollen  viel  mehr 
geschwächt  als  das  Denken:  denn  jenes  musste  seine  Energie,  um  sich 
als  Willensgestalt  zu  realisieren,  erst  aus  dem  Ich  holen.  Somit  können 
wir  von  einer  gänzlichen  Aufhebung  des  Wollens  im  Schlaf  sprechen. 

Nach  zwei  Richtungen  hin  macht  sich  diese  Ohnmacht  des 
Willens  im  Traum  ganz  besonders  bemerkbar. 

Erstens  giebt  es  ein  Ich- Wollen  im  Traum  überhaupt  nicht;  femer 
aber  kann  man  ebenso  wenig  von  einem  Willen  in  Beziehung  auf  das 
Muskelgebiet  sprechen.  Muskelbewegungen  im  Traum,  z.  B.  das  Auf- 
schreien, die  Bewegungen  der  Arme  und  Beine,  auch  das  Schlafwandeln, 
rühren  keineswegs  vom  Willen  her,  sondern  von  dem  bewusstlosen  Reiz 
des  Nervensystems^):  das  Traumbild  erregt  den  Geist  dermassen,  dass 
er  dem  Reiz  eine  Gegenäusserung  entgegensetzt.^)  Das  Nachtwandeln 
diktiert  ebenfalls  nicht  der  Wille,  sondern  der  Traum :  der  Nachtwandler 
bewegt  sich  dauernd  in  den  engen  Grenzen  des  Trauminhalts:  daher 
hört  er  auch  nur  diejenigen  Worte,  die  in  den  Zusammenhang  seines 
Trauminhalts  hineingehören :  alles  andere,  was  sich  nicht  auf  den  Traum 
bezieht,  bleibt  ihm  unverständlich.    Jede  Bewegung  im  Nachtwandler- 


1)  Vgl.  Scherner  S.  77  ff.  2)  Ebendas.  S.  50. 


Der  Traum.  253 

träum  ist  aus  der  Erregung  des  Nervensystems  herzuleiten,  und  die 
Phantasie  setzt  den  Traum  in  Thätigkeit  um  und  bringt  das  Muskel- 
system in  Bewegung. 

Die  Willensschwäche  im  Traum  zeigt  sich  auch  darin,  dass  die 
Phantasie  mitten  in  den  grössten  Gefahren  den  Willen  unbeholfen  fest- 
gebannt hinstellt,  ohne  alle  Gegenwehr J) 

Also  die  Sprach-  und  Muskelbewegungen  des  Träumenden  beruhen 
allein  auf  Mechanismus :  der  Wille  selbst  kommt  dabei  gar  nicht  in  Betracht. 

Hatte  das  Denken  und  Wollen  eine  scharf  hervortretende  central- 
peripherische Struktur:  wandte  sich  das  Erkennen  von  der  Peripherie 
nach  dem  Centrum,  das  Wollen  vom  Centrum  nach  der  Peripherie:  so 
steht  das  Fühlen  in  der  Mitte. 

Es  bedarf  im  Wachen  zur  Äusserung  seiner  Lebenskraft  immer  der 
Kräfte  des  Denkens  und  WoUens:  dadurch  wird  es  aber  ungleich  mehr 
in  seiner  Bethätigung  gehemmt  als  die  beiden  andern  Geisteskräfte.  Es 
wird  im  Wachen  von  dem  Getriebe  der  Aussenwelt  und  Tageseindrücke 
sehr  erheblich  beeinträchtigt  und  übertönt. 

Ganz  anders  im  Schlaf: 

Hier  tritt  die  für  das  wache  Bewusstsein  verloren  gegangene  Sphäre 
des  Empfindungslebens  wieder  hervor:  es  wird  nicht  von  den  Kräften 
des  Denkens  und  WoUens,  die  im  Schlafe  deprimiert  sind,  zurückgedrängt, 
sondern  kann  sich  frei  und  ungehindert  entfalten,  in  demselben  Masse 
wie  sich  jene  im  Schlafe  zurückziehen. 

Daher  treten  im  Traum  nicht  nur  Erinnerungen  mit  starken  psychischen 
Werten  ins  Bewusstsein,  sondern  selbst  solche  mit  ganz  schwachen, 
die  eben  darum  dem  Gedächtnis  des  Wachenden  entfallen  waren,  sich 
auch  gar  nicht  demselben  aufdrängen  konnten ,  weil  sie  von  den  beiden 
andern  Geisteskräften  übertönt  wurden.  Daher  entstehen  so  viele  Träume 
aus  Gemütseindrücken,  welche  im  Lärm  des  wachen  Lebens  nicht  auf- 
kommen konnten :  und  daher  treten  gerade  Nachts  so  häufig  Krankheits- 
symptome hervor. 

Im  Schlaf  kann  sich  unser  Gefühlsleben  viel  ungehinderter  geltend 
machen,  weil  die  äussern  Tageseindrücke  nicht  ablenkend  in  den  Weg 
treten. 

Ganz  besonders  wird  sich  im  Schlaf  das  Gefahl  unseres  Leib-  und 
Seelenlebens  geltend  machen.  Im  Schlaf,  wo  die  Eindrücke  der  Aussen- 
welt fortfallen,  hat  die  Seele  am  Leibleben  ein  viel  tieferes,  breiteres 
Empfindungsbewusstsein  als  im  Wachen:   daher  wird  sie  sich  für  jeden 

1)  Vgl.  Scherner  S.  82—83. 


254  Emil  Lagbnpusoh 

leisen  Reiz,  der  sich  an  dem  Körper  kund  thut,  ungleich  empfanglicher 
zeigen  als  im  Tagesleben:  viele  Leibreize  werden  der  schlafenden  Seele 
zum  Bewusstsein  kommen,  die  ihr  während  des  Wachens  verloren  gingen. 

Und  weil  sich  das  Empfindungsleben  während  des  Schlafes  so  viel 
deutlicher  regt  als  während  des  Wachens,  so  bedarf  die  Seele  auch  nicht 
des  Anstosses  der  Aussenwelt,  um  zum  Empfindungs-  und  Wahmehmungs- 
bewusstsein  zu  gelangen.  Im  Wachen  stellte  die  Seele  vor  und  dachte 
in  Wortbildern:  im  Schlaf  kann  sie  dies  nur  in  Empfindungsbildem. 

Im  Traum  tritt  übrigens  das  geistige  Gefühlsleben  vor  dem 
sinnlichen  entschieden  zurück:  war  das  sinnliche  Gefühlsleben  im 
Wachen  auf  sehr  bestimmt  ausgeprägte  Lust-  und  Unlust-Empfindungen 
beschränkt,  so  verschärft  sich  die  Empfindungskraft  im  Traume  noch  ganz 
erheblich:  sie  wird  selbst  für  die  leisesten  Bewegungen  des  Leiborganis- 
mus empfänglich,  weshalb  sonst  unbemerkbare,  leichte  Missstimmungen 
im  Schlafe  gefühlt  werden,  die  dem  wachen  Bewusstsein  gänzlich  verloren 
gingen. 

Mit  einem  Wort:  das  Gefühlsleben  ist  der  eigentliche  Herd,  von 
dem  das  ganze  Traumleben  ausgeht.  Das  Gefühlsleben  und  zwar  das 
Leib-  und  Seelenleben  geben  die  Impulse  für  die  Traumbilder  her. 

Die  Traumbilder  schafft  aber  die  Phantasie  und  zwar  ungehindert 
von  den  Schranken,  die  ihr  im  Wachen  die  Vernunft  gesetzt  hatte. 


VI. 

Wenn  nun  der  Phantasie  im  Traume  ein  so  weites  Feld  eingeräumt 
wird,  so  liegt  die  Frage  nahe,  ob  dann  die  Vernunft  dem  Traume 
völlig  abhanden  gekommen  ist? 

Hierauf  ist  mit  „Nein"  zu  antworten:  die  Vernunft  ist  dem  Traum- 
leben nicht  völlig  abhanden  gekommen. 

Im  Geiste  ist  —  wie  wir  sahen  —  alles  flüssig.  Schlaf  und  Wachen, 
Bewusstes  und  Unbewusstes,  Lust  und  Unlust  dürfen  wir  nicht  so  scharf 
voneinander  sondern  wie  ihre  Begriffe.  So  dürfen  wir  wohl  auch  anneh- 
men, dass  sich  im  Traumleben  Spuren  von  Vernunft  zeigen  werden. 

Und  in  der  That  —  trotz  des  Vorhandenseins  jener  Abgeschieden- 
heit der  Traumbilder  vom  wachen  Leben  —  zeigen  sich  im  Traume  doch 
Spuren  der  wachen  Vernunft.  Freilich  ist  die  im  Traume  wieder  auf- 
tauchende Vernunft  —  wie  aus  dem  Vorigen  hervorgeht  —  nur  receptive 
Vernunft:  die  spontane  Seite  ist  ihr  abhanden  gekommen:  sie  selbst  ist 
bestimmungs-  und  willenlos.  In  dieser  ihrer  receptiven  Bildung  wird  die 
Vernunft  dem  passiven  Fühlen  sehr  ähnlich. 


Der  Traum.  255 

Der  Vernunft  im  Traume  fehlt  also  alle  Spontaneität.  Die  Folge  da- 
von ist,  dass  sie  nicht  in  das  Innere  der  Dinge  zu  dringen  vermag,  son- 
dern sich  nur  an  dem  nach  aussen  hervortretenden  Wesen  derselben  gel- 
tend machen  kann.  Da  sich  diese  aber  nur  in  Raum  und  Zeit  ausdrücken, 
muss  die  receptive  Vernunft  sich  auch  nach  Raum  und  Zeit  hinschauend 
erstrecken. 

Femer  kann  sich  die  receptive  Vernunft  auch  nicht  ihr  Ziel  selber 
stecken,  sondern  sie  bedarf  dazu  eines  tragenden  Moments. 

Solch  ein  tragendes  Moment  bildet  in  erster  Linie  das  Leibleben, 
ferner  das  Seelenleben,  dann  die  Lebensbewegung  ihrer  Subjektivität.  Je 
nachdem  sich  die  Vernunft  in  eine  oder  die  andere  Richtung  versenkt, 
werden  die  Träume  verschiedene  Gestaltung  annehmen.^) 

Bezeichnen  wir  diesen  Mangel  an  Vernunft  im  Traumleben  als  die 
negative  Seite  des  Traumlebens,  so  können  wir  in  der  Phantasie  seine 
positive  Seite  sehen. 

Die  negative  Seite  tritt  noch  in  folgenden  Momenten  hervor:  Im 
Traumleben  treten  alle  logischen  Operationen  der  Seele  zurück :  den  Wahr- 
nehmungsbildern fehlen  ihre  psychischen  Werte. 

Also  zerstört  die  Seele  im  Schlaf  die  im  Wachen  mühsam  aufgebauten 
Zusammenhänge  ihres  eigenen  inneren  Lebens.^) 

Welche  Ursache  hat  sie  dazu?  Wahrscheinlich  ist  sie  im  Schlaf  zu 
suchen:  denn  im  Schlafzustand  des  Geistes  herrscht  nur  ein  hin-  und 
herflatterndes  Bewusstsein.  Daher  wird  von  dem  Traum  in  den  häufigsten 
Fällen  der  logische  Wert,  der  Zweck,  die  Bedeutung  der  Dinge  verkannt : 
nur  obenhin  malt  der  Traum  die  Dinge,  unbekümmert  um  ihre  innere 
Seele.  So  entsteht  völlig  Zweckwidriges,  sich  in  Wirklichkeit  Aufheben- 
des: und  doch  stellt  der  Traum  es  arglos  zusammen,  wie  etwas  ganz 
Selbstverständliches.^) 

Dazu  kommt,  dass  der  Traum  sich  nicht  im  mindesten  an  den  Cha- 
rakter der  Traumpersonen  kehrt:  diese  befinden  sich  oft  in  den  wider- 
sinnigsten Situationen:  der  Philosoph  glaubt  sich  als  Tierbändiger, 
der  Greis  sieht  sich  auf  der  Schulbank  vor  dem  Lehrer,  der  ihn  wegen 
der  schlecht  gelernten  Lektion  ins  Verhör  nimmt ;  wir  treffen  längst  Ver- 
storbene auf  der  Strasse  und  sprechen  mit  ihnen  von  ganz  vorweltlichen 
Begebenheiten.  Es  ist  geradezu  unbegreiflich,  wie  Schopenhauer  behaupten 
kann:  jeder  rede  und  handle  im  Traum  „in  vollster  Gemässheit  seines 
Charakters".    Li  diesem  Falle  müssten  wir  uns  für  höchst  bedenkliche 


1)  Scherner  S.  91—97. 

2)  Strümpell  S.  28. 

3)  Volkelt  S.  21, 


256  Emil  Lagenpüsch 

Individuen  halten.  Den  oft  so  veränderten  Charakter  unseres  Ich  können 
wir  wohl  aus  dem  Unvermögen  des  Verstandes  erklären,  die  Traumerleb- 
nisse mit  dem  Inhalt  früherer  Erlebnisse  in  Beziehung  zu  setzen. 

Aber  sogar  gegen  die  Naturgesetze  verstösst  der  Traum:  es  macht 
ihm  keine  Skrupel,  sich  über  das  Gesetz  der  Schwere  hinwegzusetzen: 
wir  schweben  im  Traum  hoch  über  den  Wipfeln  der  Bäume :  die  steilsten 
Mauern  klettern  wir  hinan  ohne  jede  Beschwerde:  verwegen  beschreiten 
wir  die  spiegelnde  Fläche  des  Sees,  und  es  kommt  uns  nicht  im  mindesten 
naturwidrig  vor,  dass  wir  nicht  in  die  Tiefe  stürzen. 

Ebenso  setzt  sich  der  Traum  über  Raum  und  Zeit  hinfort:  die  Schau- 
plätze und  Zeitpunkte  wechseln  oft  überraschend  schnell.  Während  wir 
noch  soeben  an  unserm  Schreibtische  den  Zug  Napoleons  nach  Ägypten 
lasen,  befinden  wir  uns  im  nächsten  Augenblicke  am  Nil  und  erklimmen 
unter  den  heissen  Strahlen  der  Sonne  die  Cheopspyramide :  das  geht  auch 
seltsam  rasch :  und  wie  wir  oben  angekommen  sind,  befinden  wir  uns  in 
der  Gesellschaft  Napoleons  I.  und  seiner  Generale:  er  bietet  uns  selbst 
sein  Fernrohr  an,  weil  wir  das  unsere  zu  Hause  liegen  liessen :  er  spricht 
mit  uns  über  Staatsverfassung  und  den  Zug  des  grossen  Alexander,  alles 
in  seiner  bekannten  philosophisch -theatralischen  Weise:  und  wir  finden 
in  all  diesem  nichts  Ungewöhnliches  —  weder  dass  wir  zur  Zeit  des  grossen 
Kaisers  leben,  noch  dass  wir  es  wagen,  in  Schlafschuhen  vor  dem  Kaiser 
zu  erscheinen. 

Nichts  bleibt,  nichts  beharrt  im  Traume:  alles  fliesst  in  ihm:  dies 
Fliessen  ist  aber  nicht  einmal  gleichmässig,  sondern  sprunghaft:  daher 
diese  unerhörte  Zusammenhangslosigkeit :  der  rasche,  unvermutete  Wechsel 
der  Scenerie,  der  Mangel  an  Urteil  und  Besinnung. 

Aber  noch  weiter  geht  die  Sorglosigkeit  des  Traumes.  Selbst  das 
Gesetz  der  Identität  ist  ihr  nicht  heilig.  Oft  bedeutet  uns  ein  und  die- 
selbe Traumgestalt  zwei  Personen :  wir  sehen  uns  selbst  tot  im  Sarge :  wir 
weinen  um  unsern  eigenen  Tod.  Wir  sehen  uns  im  Zimmer  auf  und  nieder 
gehen,  hören  uns  sprechen,  stellen  Fragen  an  uns  und  beantworten  dieselben. 

Hierher  sind  auch  die  Objektivierungen  zu  zählen:  über  die  Zahn- 
schmerzen, die  uns  plagen,  sehen  wir  andere  klagen  und  sprechen  ihnen 
Trost  ein. 

Wo  aber  gegen  das  Gesetz  der  Identität  Verstössen  ist,  da  muss  die 
Verstandesthätigkeit  aufs  äusserste  gelähmt  sein.  Das  zeigt  sich  auch  noch 
darin,  dass  dem  Verstände  im  Traum  jede  Initiative  fehlt:  die  Urteile  und 
Schlüsse,  in  welchen  er  sich  bewegt,  sind  nur  tote  Geleise,  die  gleich- 
gültig für  jeden  Inhalt  offen  stehen.*) 


1)  Volkeit  S.  26. 


1 


Der  Traum.  257 

Auch  die  Vorstellungsmasse  des  Ich  leidet  unter  der  tumultuarischen 
Bewegung  des  Traumes.  Häufig  kommt  das  Ich  gar  nicht  zur  Entwickelung 
oder  aber,  geschieht  dies  teilweise,  so  wandeln  wir  neben  andern  Personen 
im  Traume,  und  die  Gedanken  des  einen  werden  zu  Handlungen  des  andern.') 

Ferner  macht  sich  die  negative  Seite  des  Traumlebens  bemerkbar  in 
der  unsichern  Abschätzung  der  Wert-  und  Grössenmasse.  So  erscheinen 
uns  Trivialitäten  als  hohe  Weisheit :  irgend  ein  unsinniger  Keim  erscheint 
uns  eines  Goethe  würdig:  bei  Tage  besehen,  ist  es  heller  Unsinn.  Un- 
bedeutende Gefühle,  wie  Wärme  und  Kühle,  werden  im  Traum  leicht  zu 
tropischer  Hitze  und  sibirischer  Kälte :  der  Riss  mit  einer  Nadel  an  der 
Hand  wird  im  Traum  zur  klaffenden  Schwertwunde.^) 

Uns  fehlt  im  Traum  zum  grössten  Tßil  Urteil  und  Besinnung.  Wir 
staunen  oft  im  Traum  nicht  im  entferntesten  über  Dinge,  die  uns  im 
Wachen  höchst  sonderbar  erscheinen  würden;  übergrosse  Früchte,  hohe 
Engelgestalten  mit  goldnen  Flügeln  und  andererseits  fürchterliche  Zerr- 
bilder, besonders  hässliche  alte  Weiber,  wie  sie  die  Wirklichkeit  nicht 
kennt,  bietet  uns  der  Traum:  und  das  alles  hindert  uns  infolge  des  Ur- 
teilsmangels nicht,  die  Traumbilder  für  wirklich  zu  halten. 

Dazu  kommt  noch  die  Zusammenhangslosigkeit  in  den  Traumbildern. 
Ganz  Unvereinbares  fasst  der  Traum  in  ein  Moment  zusammen.  Unzu- 
sammenhängendes in  eine  Kausalreihe.  Daraus  erklärt  sich  auch  das 
leichte  Vergessen  der  Traumbilder:  den  einzelnen  Teilen  des  Traumes 
fehlt  der  innere  Zusammenhang:  darum  ist  die  Erinnerung  an  sie  so 
schwer  und  darum  fallen  sie  so  leicht  der  Vergessenheit  anheim. 

Zu  der  negativen  Seite  des  Traumlebens  dürfen  wir  auch  die  „Ab- 
geschiedenheit des  Traumes  vom  wachen  Bewusstsein"')  rechnen. 

Die  Ordnung  und  Regelmässigkeit  des  Wachens  reicht  in  den  Traum 
nicht  hinein.  Der  Traum  bietet  uns  nur  Bruchstücke  aus  dem  wachen 
Leben:  niemals  wiederholt  sich  im  Traum  das  Tagesleben,  seien  es  freu- 
dige, seien  es  traurige  Ereignisse.  Auch  wenn  die  Seele  Tags  über  von 
einem  Gegenstande  ganz  und  gar  erfüllt  war,  kehrt  dieser  im  Traum  sehr 
selten  ganz  so  wieder,  wie  er  in  der  Wirklichkeit  war:  meistenteils  giebt 
der  Traum  Fremdartiges  oder  greift  einzelne  Momente  aus  dem  verflos- 
senen Tagesleben  auf  und  kombiniert  sie  mit  Fremdartigem.'') 

Aber  es  ist  nicht  zu  leugnen,  dass  der  Traum  Ansätze  zu  Wieder- 
holungen des  Tageslebens  nimmt;  allein  schon  das  folgende  Glied  bleibt 
aus.  Es  ist  ja  aber  Aufgabe  des  Schlafes,  die  Seele  zeitweilig  von  den 
Anstrengungen  des  Tageslebens  zu  erlösen,  er  muss  also  auch  die  Erin- 

1)  Volkmanu,  Psych.  I.  407.  3)  Ebendas. 

2)  Strümpell  S.  16  ff.  4)  Vgl.  Burdach. 

17 


268  Emil  LagenpüSch 

nerung  an  sie  auslöschen.  Im  Schlafe,  von  den  Alltäglichkeiten,  den 
Mühen  und  Sorgen  des  Lehens  hefreit,  tritt  die  Seele  wieder  auf  die  Stufe 
ihres  früheren  Daseins  zurück,  in  der  die  Wirklichkeit  ihr  Recht  verliert. 

Und  nun  kommen  wir  wieder  zu  dem  Satze  zurück :  Der  Traum  ist 
„die  im  Schlafe  fortdauernde  Seelenthätigkeit",  die,  von  der  Aussenwelt 
in  nur  geringem  Masse  heeinträchtigt,  uns  in  andere  dem  Tagesleben 
femliegende  oder  gar  entgegengesetzte  Gebiete  führt 

Und  zwar  wendet  sich  die  Thätigkeit  der  Seele  im  Traum  dem  in- 
nem  Leib-  und  Seelenleben  zu. 

Als  Erklärung  möge  folgendes  dienen,  wobei  wir  uns  an  die  Erläu- 
terungen von  Strümpell  auschliessen. 

Wir  stehen  im  Wachen  einer  grossen  Anzahl  von  erlebten  Eindrücken 
ebenso  unwissend  gegenüber  wie  die  Seele  im  Traum  den  Begebenheiten 
des  Wachens.  Während  die  meisten  unserer  Erlebnisse  der  Vergessenheit 
anheimfallen,  bleibt  nur  eine  bestimmte  Reihe  von  Erlebnissen  in  unserm 
Gedächtnisse  haften. 

Ursache  hierfür  dürfte  folgendes  sein: 

Jedem  Erlebnis  haftet  eine  „geistige  Umhüllung"  an,  die  zur  Erin- 
nerung des  Erlebnisses  beiträgt:  diese  geistige  Umhüllung  nennen  wir  „psy- 
chischen Wert".  Nur  Ereignisse  mit  solchen  psychischen  Werten  bleiben 
in  unserm  Gedächtnis  haften.  Bei  der  Erinnerung  eines  frühern  Erleb- 
nisses wird  sich  sogleich  dieser  psychische  Wert  geltend  machen :  es  kann 
aber  auch  der  umgekehrte  Fall  eintreten,  so  dass  die  Erinnerung  an  den 
psychischen  Wert  erst  die  Erinnerung  an  das  frühere  Erlebnis  wach  ruft. 

Wo  nun  die  Erinnerung  durch  Begriffsreihen  zu  stände  kommt,  hilft 
uns  das  Ins-Gedächtnis-Rufen  eines  psychischen  Wertes  oder  Einzelgliedes 
gar  nichts:  sondern  in  solchem  Falle  hilft  uns  nur  Nachdenken. 

Im  Traume  ist  die  Seele  auf  den  Standpunkt  der  Sensation  zurück- 
geführt; daher  reproduciert  der  Traum  wohl  Begebenheiten  des  wachen 
Lebens,  aber  „ohne  psychische  W^erte". 

Und  weil  nun  diese  fehlen,  haben  die  Traumbilder  im  Vergleich  mit 
den  Vorstellungen  des  Wachens  etwas  Totes,  Schattenhaftes  an  sich. 

Ferner  kommt  dazu:  Da  wir  den  Traum  beim  Erwachen  nicht  in 
die  Geschichte  unserer  Vergangenheit  noch  Gegenwart  einordnen  können, 
und  das  Erwachen  stets  mit  einem  gewissen  Schreck  verbunden  ist,  er- 
scheint er  uns  wie  aus  einer  andern  Welt. 

Daher  können  wir  von  einer  „Abgeschiedenheit  des  Traumes  vom 
wachen  Bewusstsein"  sprechen.^) 


1)  Strümpell  S.  16-32. 


Der  Traum.  259 

Kechnen  wir  demnach  zu  der  negativen  Seite  des  Traumlebens  das 
Für-Wirklich-Halten  der  Traumbilder,  ihre  innere  Zusammenhangslosigkeit, 
ihren  phantastischen,  sprunghaften  Wechsel,  den  teilweisen  Mangel  an  Be- 
sinnung und  Urteil,  der  sich  darin  ausspricht,  die  Gleichgiltigkeit  des 
Traumes  gegen  das  Gesetz  der  Identität,  die  Objektivierungen  von  sub- 
jektiven Empfindungen,  Verdoppelung  der  Persönlichkeit :  so  ist  demnach 
das  logische  Denken  im  Traume  nicht  völlig  erloschen. 

Vor  allem  sind  wir  uns  im  Traume  sehr  oft  unserer  eigenen  Persön- 
lichkeit bewusst:  wir  stellen  Überlegungen,  Berechnungen  an:  wir  beur- 
teilen Eeden  und  Handlungen  anderer:  wir  wissen  Rot  von  Blau,  Gut 
von  Böse  zu  unterscheiden:  auch  zeigen  sich  erhöhte  Grade  geistiger  An- 
strengungen neben  dem  Gefühl  derselben:  wir  fühlen  uns  beim  Berg- 
steigen ermüdet,  der  Schweiss  perlt  uns  von  der  Stime :  kurz,  wir  sehen : 
trotzdem  die  Vernunft-  und  Verstandesthätigkeit  sehr  deprimiert  sind, 
lassen  sich  dennoch  Spuren  von  ihnen  im  Traume  nicht  leugnen.  Das 
Selbstbewusstsein  im  Traume  ist  nur  insofern  verändert,  als  die  Bezie- 
hung auf  frühere  Erlebnisse  mangelhaft  ist.  Freilich  wird  es  sich  nicht 
immer  leicht  entscheiden  lassen,  wie  weit  diese  Spuren  der  Vernunft-  und 
Verstandesthätigkeit  als  „Residuen  aus  dem  wachen  Bewusstsein"  anzu- 
sehen sind. 

vn. 

Wir  hatten  unter  der  negativen  Seite  des  Traumlebens  den  Mangel 
an  vernünftigem  Weltbewusstsein  begriffen:  zur  positiven  ist  dann  der 
Zusammenhang  des  Traumlebens  mit  der  Phantasie  zu  rechnen. 

Was  der  träumenden  Seele  auf  dem  Gebiete  der  Vernunft  verloren 
ging,  wird  ihr  reichlich  ersetzt  auf  dem  der  Phantasie.  Diese  nimmt  im 
Traumleben  etwa  dieselbe  Stellung  ein,  welche  im  Wachen  die  Vernunft 
inne  hatte. 

Wir  gehen  wie  gewöhnlich  vom  Wachen  aus. 
Im  wachen  Seelenleben  führen  Verstand  und  Vernunft  die  Herrschaft: 
nur  nebenher  macht  sich  auch  die  Phantasie  geltend :  denn  sie  ist  zum  Zu- 
standekommen jeder  Vorstellung  notwendig.  Lesen  wir  eine  Reisebeschreibung, 
hören  wir  Märchen  und  Sagen:  sogleich  malt  die  Phantasie  in  anschaulichster 
Weise  die  Länder  aus,  die  Ungeheuer  und  auch  die  Helden,  welche  sie  zu  be- 
stehen haben.    Je  nachdem  uns  mehr  oder  minder  Einbildungskraft  eigen 
I  ist,  wird  die  Phantasie  jenen  Gebilden  kräftigere  oder  blassere  Farben 
I  verleihen:  diese  Gebilde  werden  wohl  meistenteils  idealisierter,  üppiger, 
i  farbenprächtiger  erscheinen  als  in  Wirklichkeit.    Dass  aber  unsere  Phan- 
I  tasiegebilde  des  Wachens  sich  nicht  ins  Ungeheure,  Ungemessene  ver- 

!  17* 


260  Emil  Lägbnpüsch 

lieren,  dafür  sorgen  Verstand  und  Vernunft,  die  jeden  Augenblick  da- 
zwischentreten und  der  Phantasiethätigkeit  ein  Ziel  setzen. 

Verglichen  mit  den  Traumbildern  haben  jene  Phantasiegebilde  des 
Wachens  entschieden  etwas  Blasses,  Mattes,  Farbloses:  und  trotz  aller 
Mühe  wird  es  uns  nicht  gelingen,  so  hohe  Grade  von  Klarheit  im  Wachen 
uns  vorzustellen,  wie  sie  der  Traum  uns  bietet. 

Wenn  nun  die  Phantasie  schon  im  Wachen  eine  so  hervorragende 
Rolle  spielt :  wie  viel  freier  wird  sie  während  des  Schlafens  walten  können ! 

Im  Schlaf  verliert  das  Ich  seine  Spontaneität:  nur  die  Recep- 
tivität  bleibt  ihm  zurück.   Folglich  wird  sich  die  Phantasie  im  Traume 

—  befreit  von  den  Schranken,  die  ihr  Verstand  und  Vernunft  steckten  — 
viel  ungehemmter  entfalten  können. 

Ferner  sinken  Denken  und  Wollen  im  Schlaf  zu  völliger  Ohnmacht 
herab:  also,  gleichwie  von  der  Ich- Spontaneität,  ist  auch  von  diesen  die 
Phantasiethätigkeit  im  Traume  nicht  behindert.  Dagegen  tritt  aber  das 
Gefühlsleben  um  so  reicher  hervor:  die  zurückbleibende  Ich-Receptivität 
wird  sich  nun  an  den  im  Schlaf  hervortretenden  Gefühlsregungen  geltend 
machen:  die  Traumphantasie  wird,  da  im  Traume  mit  der  Ich-Kraft 
auch  die  Denkkategorien  fielen,  nicht  in  Begriffen,  sondern  in  Bildern 
sprechen. 

Dazu  kommt:  Für  die  schlafende  Seele  fallen  zum  grossen  Teil  die 
Eindrücke  der  sie  umgebenden  Aussenwelt  fort,  welche  der  Phantasie 
im  Wachen  eine  gewisse  Richtung  gaben  und  das  Gefühlsleben  am  Tage 
übertönten  und  nicht  aufkommen  Hessen.  Dagegen  in  der  Nacht,  den 
Eindrücken  der  Aussenwelt  entrückt,  macht  sich  das  Gefühlsleben  in  sei- 
ner ganzen  Breite  bemerkbar :  jeder  Reiz  aus  dem  Leib-  und  Seelenleben 
wird  von  der  Ich-Receptivität  aufgefangen,  und  hieraus  —  aus  den 
Regungen  des  Leib-  und  Seelenlebens  —  nimmt  die  Phantasie 
das  Material  zu  den  Traumbildern  her. 

Wie  die  Phantasie  die  Traumbilder  zu  stände  bringt,  setzt  Volkelt 
in  seinem  Buche  „Die  Traumphantasie"  ')  in  sehr  anschaulicher  Weise  aus- 
einander. Mit  Recht  nennt  er  die  „unbewusst  schaffende  Phantasie"  die 
„Grund-  und  Hauptkraft  des  Traumes".  Unbewusst  schafft  die  Phantasie 
im  Traume :  ihr  giebt  das  Denken  keine  bestimmte  Richtung,  sondern  nur 
das  Gefühlsleben.  —  Auch  Scherner  2)  sieht  in  der  Traumphantasie  die 
„Centralkraft  des  Traumes" :  allerdings  geht  er  entschieden  zu  weit,  wenn 
er  von  einer  Symbolik  der  einzelnen  Körperteile  im  Traume  spricht.   Beide 

—  Volkelt  und  Scherner  —  unterscheiden  sich  aber  insofern  von  Strümpell  ^), 

1)  Stuttgart  1875.  2)  Das  Leben  des  Traumes.  Berlin  1861.  3)  Über  die 

Natur  und  Entstehung  der  Träume.   Leipzig  1874. 


Der  Traum.  261 

Wundt  1) ,  Volkmann 2),  Krauss 3),  als  sie  zwischen  reproduktiver  und 
produktiver  Phantasie  im  Traume  unterscheiden. 

Strümpell  lässt  nämlich  nur  reproduktive  Phantasie  im  Traume 
gelten :  und  da  er  in  seinen  Untersuchungen  stets  vom  Wachen  ausgeht, 
ist  dies  nur  konsequent.  Allein  unseres  Erachtens  geht  man  doch  zu 
weit,  wenn  man  die  Nervreizträume  aus  blosser  Reproduktion  herleiten  will. 

Wundt  teilt  die  Träume  in  solche,  die  auf  Sinnesreizen  und 
solche,  die  auf  Reproduktion  beruhen:  bei  ihm  geht  also  ebenfalls  die 
produktive  Phantasie  leer  aus. 

Wir  sind  aber  entschieden  berechtigt,  produktive  Phantasie  im 
Traume  anzunehmen. 

Es  scheint,  dass  Strümpell  und  Wundt  nur  darum  allein  repro- 
duktive Phantasie  gelten  lassen  wollen,  weil  sie  der  Ansicht  sind,  die 
Traumphantasie  schöpfe  nur  aus  dem  Gedächtnis  des  wachen 
Lebens,  alle  Träume  stammen  nur  aus  dem  Gedächtnis  des  wachen 
Lebens :  und  insofern  haben  allerdings  alle  Traumgebilde  „reproduktiven" 
Charakter. 

Die  Traumphantasie  schöpft  aus  dem  Gedächtnis  des  wachen  Lebens, 
wie  auch  der  Maler  und  der  Dichter  nur  aus  schon  „Dagewesenem"  schö- 
pfen können :  absolut  Neues  können  auch  sie  nicht  erfinden.  Gedacht  sind 
grossartige  Ideen  gewiss  von  vielen:  ausgeführt  nur  von  Auserwählten! 
Jedes  Gedicht  von  Goethe  —  wir  denken  gerade  an  „Das  Veilchen"  — 
wird,  während  wir  es  lesen,  unwillkürlich  zu  unserer  eigenen  Empfindung; 
es  kommen  da  Gedanken  zur  Sprache,  die  wir  unzähligemal  gedacht,  Ge- 
fühle, die  wir  unzähligemal  empfunden:  aber  sie  in  jene  poetische  Form 
zu  giessen  —  dazu  bedurfte  es  eines  Meisters  wie  Goethe. 

Also  insofern  alle  Träume  aus  dem  Gedächtnis  des  wachen  Lebens 
herstammen,  sind  sie  reproduktiver  Natur. 

Dennoch  sind  wir  berechtigt,  auch  produktive  Phantasie  im 
Traume  anzunehmen,  vorzüglich  aus  zwei  Gründen,  die  jeder,  der  auf  seine 
Träume  achtet,  bestätigen  wird.  Wir  sehen  im  Traume  Gebilde  von  ausser- 
ordentlicher Klarheit  und  Schärfe  und  ferner  solche,  die  wir  im 
wachen  Leben  niemals  wahrgenommen.  Also  wir  werden  uns  darauf 
beschränken  müssen  zu  sagen:  nur  in  Bezug  auf  die  letzten  Elemente 
des  Traumstoffes  ist  die  Traumphantasie  stets  reproduktiv:  nur  die 
„letzten  Bausteine"  nimmt  sie  unverändert  aus  dem  wachen  Bewusstsein 
herüber:  alles  übrige  im  Traum  gehört  in  das  Gebiet  der  produktiven 
Phantasie.   Und  diese  produktive  Phantasie  ergreift  nun  die  sich  ihr  dar- 

1)  Psychologie.    Leipzig  1880.  2)  Psychologie.    Halle  1856.  3)  Siehe 

Volkelt,  S.  39. 


262  Emil  Lagbnpusch 

bietenden  Reize  aus  dem  Gefühlsleben  und  wandelt  sie  in  Vorstellungen 
oder  vielmehr  in  Traumbilder  um.  Insofern  ist  die  Hauptthätigkeit  der 
Traumphantasie  die  „Symbolisierung",  d.  h.  die  die  anpochenden  Gefühls- 
reize zu  Bildern  umschaffende  Thätigkeit  der  Phantasie :  also  insofern  dürfen 
wir  von  einer  Symbolik  der  Traumphantasie  sprechen. 

Die  Traumphantasie  wird  sich  nun  in  doppelter  Weise  bethätigen. 
Einmal  giebt  ein  Leib-  oder  Seelenreiz  der  Phantasie  die  Richtung  des 
Umschaffens:  so  teilen  wir  —  mit  Volkelt  —  die  Träume  in  Leib-  und 
Seelenträume.  In  diesen  beiden  Traumgruppen  wirken  die  Phantasie, 
Association  und  der  betreffende  Leib-  oder  Seelenreiz  mit  Diesen  beiden 
Gruppen  ist  dann  als  dritte  gegenüberzustellen  die  der  blossen  Associa- 
tionsträume,  in  denen  jener  Leib-  und  Seelenreiz  sich  nicht  wirksam  er- 
weist, sondern  allein  Association  und  Phantasie  thätig  sind.  Als  vierte 
Gruppe  sind  dann  noch  die  Phantasie  träume  zu  nennen,  welche  des  die 
Richtung  gebenden  Anstosses  entbehren.  Die  Phantasieträume  dürfen  wir 
eigentlich  jenen  drei  genannten  Gruppen  nicht  beiordnen,  da  sie  in  allen 
übrigen  Traumgruppen  zerstreut  vorkommen. 

Wir  müssen  noch  einmal  zu  der  Frage  zurückkehren:  produktive 
oder  reproduktive  Phantasie? 

Alle  jene  Philosophen,  die  nur  reproduktive  Phantasie  im  Traume 
annehmen,  scheinen  sich  einer  offenbaren  Täuschung  hinzugeben.  Wir 
werden  dies  sofort  nachzuweisen  suchen. 

Überhaupt  scheint  der  ganze  Streit,  ob  neben  reproduktiver  auch 
produktive  Phantasie  im  Traume  anzunehmen  ist,  auf  einer  Täuschung 
zu  beruhen. 

Strümpell  behandelt  nur  die  Nervreizträume  und  lässt  auch 
diese  durch  blosse  Reproduktion  der  Phantasie  entstehen. 

Wenn  wir  aber  im  Traume  bunte  Blumen  und  Schmetterlinge  sehen, 
die  durch  Lichtreize  hervorgerufen  werden,  so  ist  es  geradezu  erforderlich, 
diese  Symbolisierung  der  Lichtstreifen  der  produktiven  Phantasie 
zuzuschreiben.  Es  handelt  sich  also  nur  darum,  was  man  unter  produk- 
tiver Phantasie  verstehen  will. 

Wundt  nimmt  zwei  Gruppen  an:  Träume,  die  auf  Sinnesreizen  be- 
ruhen, und  solche,  die  durch  Reproduktion  allein  zu  Stande  kommen.  Die 
erste  Gruppe  teilt  er  wieder  in  zwei  Klassen:  Fälle,  wo  die  Nervenreize 
unmittelbar  zu  phantastischen  Vorstellungen  verarbeitet  werden  und  solche, 
in  denen  zuerst  die  Nervreize  eine  dunkle  Vorstellung  des  damit  verbun- 
denen Körperzustandes  hervorrufen  und  dann  infolgedessen  Phantasmen 
entstehen,  die  sich  entweder  direkt  oder  durch  Association  auf  den  Körper- 
zustand beziehen. 


Der  Traum.  263 

Wir  seheD,  Wandt  kann  auch  nicht  ohne  produktive  Phantasie 
auskommen.  In  noch  höherem  Masse  zeigt  sich  dies  bei  Kraus s,  wie 
Volkelt^)  auseinandersetzt.  Krauss  lässt  die  Träume  ebenfalls  nur  aus 
Associationen  entstehen :  und  dennoch  zeigen  sich  bei  ihm  Spuren  von  etwas, 
das  über  die  Association  hinaus  liegt  und  allein  aus  der  pro- 
duktiven Traumphantasie  herstammen  kann.  Nach  Krauss'  mehr- 
facher Äusserung  sind  die  Traumbilder  der  „sinnliche  Ausdruck  der  physio- 
logischen Vorgänge  in  den  Traumherden".  2) 

Auch  die  Wahnsinnsgebilde  des  Irrsinnigen  sind  nach  Krauss  „phy- 
siologische Symbole".  3)  So  kommt  die  Angst,  die  durch  krampfhafte  Zu- 
sammenziehung der  Lungen  und  des  Herzens  entsteht,  nicht  unmittelbar 
als  Empfindung,  sondern  durch  eine  angemessene  Vorstellung  „versinn- 
bildlicht" zum  Bewusstsein;  und  im  Dämonenwahn  findet  er  das  dem 
intensivsten  Grade  der  leiblichen  Angst  „kongruenteste  Sinnbild". 

Wie  Krauss  trotzdem  von  produktiver  Phantasie  im  Traume  nichts 
wissen  will,  bleibt  unerklärlich:  er  spricht  doch  selbst  von  Versinnbild- 
lichung der  Empfindungen  im  Traum,  die  man  doch  nun  und 
nimmer  unter  die  reproduktive  Phantasie  rechnen  kann,  sondern  bei  der 
die  produktive  Phantasie  thätig  ist. 

*        .  * 

Wir  gehen  auf  die  reproduktive  und  produktive  Phantasie 
näher  ein. 

Bevor  die  Traumphantasie  produktiv  wird,  ist  sie  reproduktiv. 
Sie  nimmt  die  letzten  Tageseindrücke  mit  hinüber  in  den  Traum.  Sie 
produciert  freier  als  die  des  Wachens:  denn  mit  der  spontanen  Seite  des 
Ichs  erloschen  auch  Verstand  und  Vernunft.  So  zieht  das  Associations- 
gesetz,  ungehindert  von  beiden,  im  Traume  Vorstellungsobjekte  heran,  die 
für  das  Tages-Denken  miteinander  unvereinbar  waren  oder  wenigstens  in 
keiner  Beziehung  zu  einander  standen.  Daher  zeigt  der  Traum  die  un- 
vereinbarsten Bilderphantome,  die  im  wachen  Leben  ganz  undenkbar  waren : 
z.  B.  eine  auf  den  Telegraphendrähten  spazierende  Rinderherde :  der  Traum 
setzt  sie  dorthin,  ohne  viel  zu  fragen,  wie  sie  dorthin  kommt.  Mithin, 
die  widersprechendsten  Situationen  stellt  der  Traum  dar.  Aber  auch  „nach 
der  inneren  Ähnlichkeit"  —  wie  der  Verstand  nach  dem  Begriff  —  bringt 
der  Traum  Bilder  hervor:  jedoch  hält  er  nicht  die  Kategorien  fest,  son- 
dern zieht  die  Bilder  in  freier  Weise  nach  der  Innenähnlichkeit  heran. 
Wir  träumen  von  einem  Garten :  und  wir  erfreuen  uns  —  infolge  des  Ge- 
setzes der  Innenähnlichkeit  —  an  dem  Duft  der  Rosen  und  Lilien,  an 


1)  S.  39 f.  2)  Volkelt  a.  a.  0.  S.  40.  3)  Ebendas. 


264  f^MiL  Lagekpusch 

dem  Gesang  der  VögeL  Überall  steht  dem  Traume  die  bildnerische  Macht 
der  Phantasie  zur  Seite. 

Zu  den  Associationsgesetzen  nach  der  Art  des  wesentlichen  und  zu- 
fälligen Moments  treten  die  nach  der  Richtschnur  der  Gleichräum- 
lichkeit und  Gleichzeitigkeit  Was  wir  zufällig  einmal  gehört  oder 
gesehen,  das  reproduciert  sich  schon  am  Tage  wieder.  Da  aber  am  Tage  der 
Wille  vorherrscht,  bleibt  kein  Raum  für  den  höheren  Aufschwung  dieses  Ge- 
setzes :  den  Traum  erfüllt  es  dagegen  in  seiner  ganzen  Weite :  ganze  Gruppen 
von  Traumbildern  reproducieren  sich,  sobald  auch  nur  ein  einziges  im 
Traumbewusstsein  in  den  Vordergrund  tritt.  Dies  eine  in  den  Vordergrund 
getretene  Bild  zieht  verwandte  Bilder  heran,  und  so  entstehen  ganze  Bilder- 
komplexe. 

Soviel  über  das  Gesetz  des  Gleichräumlichen. 

Nun  tritt  das  Gesetz  des  Gleichzeitigen  im  Traume  noch  viel  kühner 
hervor.  Was  in  Wirklichkeit  weit  voneinander  der  Zeit  nach  getrennt  war, 
das  hindert  der  Verstand  nicht  nahe  zusammenzufassen:  denn  der  im 
Wachen  geltende  Begriff  der  Gleichzeitigkeit  fällt  im  Traume  fort  Sehen 
wir  im  Traume  einen  Priester  zechen,  so  hören  wir  gleich  den  Becher- 
klang sich  mit  den  Klängen  der  Orgel  mischen.  Der  Traum  bleibt  aber 
nicht  bloss  bei  „einem"  Zeitmoment  stehen:  er  durcheilt  Länder  und 
Meere,  er  durcheilt  all  unsere  Erlebnisse  von  Jugend  an  bis  ins  hohe  Alter. 

Mit  den  Bildern  des  Tages  bleibt  gleichzeitig  ihre  wechselseitige  Ver- 
knüpfung nach  Ursache  und  Wirkung,  Mittel  und  Zweck  im  Gedächtnis 
haften. 

So  zieht  denn  ohne  alle  Hilfe  der  Geistes-Spontaneität  ein  Glied  das 
andere  an.  Ganz  besonders  kräftig  erweist  sich  aber  die  reproduktive 
Gewalt  des  Affekts  im  Traum.  Am  Tage  erleben  wir  selten  die  volle 
Gewalt  des  Affekts,  die,  von  Denken  und  Wollen  behindert,  unterdrückt  wird. 
Dagegen  in  der  Nacht,  wo  Denken  und  Wollen  ruhen,  kennt  der  Affekt  keine 
Schranken:  aus  ihm  stammen  die  weichen  Stimmungsregungen  des  Ge- 
müts, aus  ihm  werden  erzeugt  Angst  und  Schrecken.^) 

Es  lassen  sich  nach  Strümpell  sechs  Reproduktionsgesetze  des 
Traumes,  d.  h.  Regeln  aufstellen,  nach  denen  ein  geistiger  Zustand  einen 
anderen  nach  sich  zieht  Diese  sechs  Gesetze  sind  folgende :  das  Gesetz 
der  Ähnlichkeit,  des  Gegensatzes,  der  Koexistenz,  der  Succession,  der  Be- 
ziehung zwischen  Mittel  und  Zweck,  und  das  Gesetz  des  Zusammenhanges 
zwischen  Ursache  und  Wirkimg.^) 


1)  Scherner  S.  29—38. 

2)  Strümpell  S.  111. 


Der  Traum. 

Wir  kommen  zur  produktiven  Phantasie. 

Die  Phantasie  des  Traumes  ist  in  viel  höherem  Grade 
Phantasie  als  die  des  Wachens.  Sie  ist  frei  von  den  Schränkender 
Vernunft  und  des  Verstandes :  sie  spricht  nicht  in  Begriffen,  sondern 
in  Bildern.  Ihre  Gebilde  haben  etwas  Gigantisches:  sie  übertreffen  an 
Klarheit  und  Schärfe  bei  weitem  die  Vorstellungen  unseres  wachen  Lebens. 
Die  Phantasie  des  Traumes  schafft  Gebilde,  die  wir  im  wachen  Leben 
niemals  gesehen  —  nach  der  Seite  des  Schönen  hin  wie  nach  der  des 
Hässlichen ! 

Während  die  Traumbilder  der  ersten  Schlafperiode,  welche  die  Phan- 
tasie aus  dem  Gedächtnis  des  verflossenen  Tageslebens  schafft,  noch  ver- 
hältnismässig der  Wirklichkeit  nahe  kommen,  entfernen  sich  die  Traum- 
bilder alsbald  von  der  Wirklichkeit  immer  mehr  und  nehmen  die  dem 
wachen  Leben  widersprechendsten  Formen  an.  Hier  schafft  bereits  die 
produktive  Phantasie. 

Es  fragt  sich  nun:  Wie  geschieht  der  Übergang  aus  der  reproduk- 
tiven in  die  produktive  Phantasie?  und  femer:  Was  gewinnen  —  denn 
was  sie  verlieren,  ist  im  Vorigen  gesagt!  —  die  Phantasiegebilde  durch 
den  Fortfall  von  Verstand  und  Vernunft,  von  Denken  und  Wollen:  end- 
lich durch  den  teilweisen  Fortfall  der  Aussenwelt? 

Woher  erhält  also  die  Phantasie  ihre  Nahrung  im  Traum,  ihre  Ge- 
bilde zu  formen?  Da  ist  es  in  erster  Linie  der  Affekt,  der  zum  Impuls  für 
die  Traumbilder  wird.  Schon  im  Wachen  sind  Staunen  und  Verwunde- 
rung, Freude  und  Trauer  von  grossem  Einfluss  auf  unsere  Phantasie. 
Freude  lässt  die  regnerischen  Novembertage  sonnig  erscheinen :  der  Schmerz 
schaut  in  den  klarsten  Sommermorgen  trübe  Wehmut  hinein.  Anders 
erscheint  uns  ein  liebgewordener  Ort,  wenn  wir  ihn  nach  langer  Abwesen- 
heit wiedersehen:  anders  wenn  wir  von  ihm  scheiden  müssen.  Staunen, 
Verwunderung  und  mehr  noch  Schreck  heben  für  Augenblicke  alle  Be- 
sinnung auf. 

Hierbei  wird  aber  im  Wachen  wieder  das  vernünftige  Weltbewusst- 
sein  dazwischentreten  und  die  Phantasie  beengen :  die  Aussenwelt  wird  mit 
ihrer  Realität  dazwischentreten. 

Im  Traume  dagegen  wogt  das  Gefühlsleben;  ungehindert  von  dem 
vernünftigen  Weltbewusstsein  ergreift  die  Phantasie  den  sich  ihr  dar- 
bietenden Reiz  aus  dem  Leib-  oder  Seelenleben  und  drückt  ihn 
symbolisch  aus. 

Ein  Beispiel:  Wir  befinden  uns  im  Traume  an  einem  See,  malerisch  von 
Tannen  und  Felsen  eingefasst:  majestätisch  gleiten  Schwäne  über  die  Fläche 
dahin.    Nun  tritt  ein  Affekt  hinzu  —  der  Verwunderung  über  die 


266  Emil  Lagenpüsch 

majestätischen  Bewegungen  der  stolzen  Vögel :  und  schon  windet  der  Schwan 
den  Hals  zu  einem  Knoten  zusammen :  wir  staunen  wiederum,  diesmal 
unangenehm  berührt  und  infolge  dieses  Affekts  hat  sich  der  Schwan  in 
ein  drachenartiges  Scheusal  verwandelt,  das  uns  zu  verschlingen  droht. 
Da  tritt  der  Affekt  des  Schreckens  hinzu:  wir  fühlen  uns  von  feuer- 
speienden Drachen  verfolgt  und  verteidigen  uns,  so  gut  es  gehen  will :  da 
gähnt  hinter  uns  ein  Abgrund,  „wohl  hundert  Klafter  tief".  Noch  ein 
Schritt  und  —  wir  stürzen  in  die  Tiefe  hinab.  Das  Herabstürzen  ruft 
unser  Erwachen  herbei. 

In  ähnlicher  Weise  wird  der  Traumphantasie  durch  das  Sprechen 
Material  zu  Traumbildern  zugeführt:  Wir  sind  im  Wachen  gewöhnt,  all 
unser  Thun  mit  leisem,  unhörbarem  Sprechen  zu  begleiten.  So  begleiten 
wir  aus  Gewohnheit  auch  öfters  im  Traume  die  Traumbilder  mit  solchen 
Worten.  Nun  geschieht  es,  dass  diese  Sprechbewegungenim  Traume, 
weil  Denken  und  Wollen  so  gut  wie  abhanden  gekommen  sind,  zu  lautem 
Sprechen  übergehn:  das  Wort  schlägt  an  unser  Ohr:  oft  ist  es  infolge 
von  Mangel  an  Denkvermögen  ein  gar  nicht  in  den  Zusammenhang  des 
Traumes  gehörendes  Wort :  und  solch  ein  Wort  ruft  einen  Affekt  hervor, 
und  dieser  Affekt  giebt  dem  Traumbilde  eine  ganz  andere  Richtung  als 
dieses  bisher  genommen. 

Ebenso  werden  aber  auch  die  Vorgänge  unseres  Leibinnern  solch 
ein  Traum-Material  liefern.  Die  Herzbeklemmungen,  Magenbeschwerung, 
ganz  besonders  aber  die  für  Wärme  und  Kälte  höchst  empfangliche  Haut 
des  Körpers.  Der  kalt  gewordene  Fuss  ruft  einen  Traum  hervor,  in  dem 
wir  über  Eisfelder  zu  gehn  glauben:  wir  waten  durch  den  Schnee  mit 
blossen  Füssen.  Die  Zimmerwärme  ruft  den  Traum  hervor,  als  befänden 
wir  uns  im  feurigen  Ofen. 

Dann  kommen  dazu  die  Sinnesreize:  Trotzdem  die  Aussenwelt  für 
die  träumende  Seele  fortfällt,  sind  wir  doch  nicht  ganz  von  ihr  getrennt : 
der  Gesichtsinn,  Gehör-  und  Geruchsinn  sind  zweifellos  Traum- 
bilder verursachende  Elemente.  Fallen  Lichtstrahlen  in  unser  geschlossenes 
Auge,  so  pflegt  uns  der  Traum  bunte  Blumen  oder  flatternde  Vögel  zu 
zeigen;  Blumenduft  versetzt  uns  in  einen  Parfümerieladen;  das  Tröpfeln 
des  Regens  ruft  den  Traum  von  einer  Wassermühle  hervor;  das  Ticken 
der  Uhr  an  unserm  Bett  wird  zum  Hämmern  einer  Schmiede. 

Und  endlich  sind  auch  die  Seelenreize  solche  Traumelemente.  Am 
Tage  zurückgedrängt,  tritt  die  Trauer  um  den  Tod  eines  lieben  Freundes, 
der  Schmerz  und  die  Sehnsucht  nach  der  fernen  Heimat,  nach  der  Mutter 
im  Traume  wieder  hervor :  und  desgleichen  die  bei  Tage  zurückgedrängte 


■IAti 


Der  Traum.  267 


eude  äussert  sich  im  Traume  wieder  heftiger.  So  bieten  die  Seelemreize 
lÄ-ülass  zu  heitern  und  trüben  Traumbildern. 

Was  gewinnt  nun  die  Phantasie  bei  ihren  Traumbildern  durch  das 
Fortfallen  von  Vernunft  und  Verstand,  Denken,  Wollen  und  Aussenwelt? 

Das  wollen  wir  jetzt  untersuchen. 

In  erster  Linie  müssen  wir  in  dieser  Hinsicht  auf  die  aus  sergewöhn- 
liche Klarheit  der  Traumbilder  hinweisen.  Die  Gebilde  der  Traum- 
phantasie übertreffen  hierin  oft  unendlich  diejenigen  des  wachen  Lebens.  Der 
Grund  hiervon  ist  darin  zu  suchen,  dass  die  träumende  Seele  in  Ermangelung 
der  Begriffsvorstellungen  zu  Bildern  greifen  muss,  um  in  uns  Vorstellungen 
zu  erzeugen:  und  dass  wirkliche  Bilder  klarer  sind  als  noch  so  deutliche 
Vorstellungen,  liegt  auf  der  Hand.  Die  träumende  Seele  stellt  sich  den 
Baum  nicht  nur  vor:  sie  sieht  ihn  wirklich:  sie  hört  die  Kirchen- 
glocken wirklich  läuten,  sie  nimmt  den  Duft  der  Rosen  wirk- 
lich wahr.^) 

Nun  unterscheiden  sich  allerdings  diese  Bilder,  welche  die  träumende 
Seele  sieht,  sehr  von  denen  des  Wachens,  insofern  als  die  Traumphantasie 
nur  die  Umrisse  deutlich  hervor-  und  alles  Übrige  zurücktreten  lässt. 
Schattenhaft  bleiben  allerdings  die  Traumbilder  infolgedessen,  aber  sie 
gewinnen  in  einer  Beziehung:  nämlich  insofern  die  Traumphantasie  mit 
den  Umrissen  das  Charakteristische  hervorhebt.  Handelt  es  sich  im 
Traume  um  eine  Blumenaue,  so  werden  wir  uns  der  Blumen  selbst  genau 
beim  Erwachen  erinnern:  ob  aber  die  Wiese  durch  einen  Wald,  durch 
ein  Gebirge  oder  einen  See  abgegrenzt  war,  werden  wir  beim  besten 
Willen  nicht  sagen  können.  Das  für  den  Traum-Inhalt  Nebensächliche, 
die  im  Wachen  die  Aufmerksamkeit  so  beengende  Scenerie  fällt  im  Traume 
fort.  Das  Charakteristische  des  Traumes  waren  in  diesem  Falle  die 
Blumen:  diese  allein  fielen  der  träumenden  Seele  auf,  alles  andere  ver- 
schwamm ins  Unbestimmte.  So  kann  man  den  Schöpfungen  des  Traumes 
etwas  genial  Hingeworfenes  nicht  absprechen,  das  der  Ausführung 
im  Besondem  entbehrt! 

War  im  Wachen  die  Aufeinanderfolge  der  Vorstellungen  grossenteils 
zufällig,  so  reproducieren  im  Traum,  wo  der  Zusammenhang  mit  der 
Aussenwelt  fehlt,  die  Vorstellungen  einander  nach  der  Ähnlichkeit,  dem 
Kontraste  u.  s.  w. 

Der  Traum  kombiniert,  weil  unbefangen,  merkwürdig  treffend:  denn 
er  befreit  von  tausend  Rücksichten  des  Tages. 

Ferner  bleiben  die  geträumten  Bewegungen  frei  von  der  „lästigen 


1)  Strümpell  35. 


268  Emil  Lagenpüsch 

Resonanz"  (Volkmann),  die^darin  besteht,  dass  sie,  in  wirkliche  Bewegungen 
umgesetzt,  auf  den  Verlauf  der  Vorstellungen  störend  zurückwirken.  Auch 
der  schnellere  Rhythmus  der  Traumvorstellungen  darf  hier 
hervorgehoben  werden. 

Sehr  wesentlich  ist  es  für  die  Traumphantasie,  dass  für  sie  mit  dem 
Fallen  der  Denk-Kategorien  alle  Wert-  und  Grössenschätzungen  sehr  un- 
gewiss werden.  Das  hat  aber  zur  Folge,  dass  die  träumende  Seele  nicht 
mehr  an  diese  Wert-  und  Grössenschätzungen  gebunden  ist,  dass  sie  mit 
geringen  Mitteln  Grosses  leisten  kann. 

Im  Traume  herrscht  keine  Vernunft:  wir  sehen  ein  haushohes  Pferd, 
eine  grasende  Kuh  auf  dem  Kirchturm :  geflügelte  Pferde,  Engel,  Dämonen : 
aber  nur  eines  geringen  Anstosses  bedarf  die  Traumphantasie,  ein  Traum- 
bild daraus  zu  schaffen.  Die  Traumphantasie  malt  ins  Ungemessene, 
Unendliche:  ihr  gebietet  keine  Vernunft  Stillstand:  ein  kleiner  Mücken- 
stich wird  zur  klaffenden  Wunde:  aus  massiger  Kühle  wird  im  Traum 
eisige  Kälte;  massige  Wärme  zu  tropischer  Hitze:  eine  Albernheit  zu 
geistreichem  Witz. 

Daher  kommt  es,  dass  uns  der  Traum  so  idealisierte  Gestalten 
zeigt,  wie  sie  die  Wirklichkeit  nicht  kennt:  so  wundervoll  ideale 
Wesen  und  Gegenden  —  wie  der  Traum  —  bietet  das  wirkliche  Leben 
gar  nicht  oder  höchst  selten. 

Aber  andererseits  zeigt  der  Traum  auch  ganz  hervorragend  häss- 
liche  Schreckpuppen. 

Beides  hat  seine  Ursache  in  dem  Fehlen  des  Verstandes  und 
der  hervortretenden  Bethätigung  der  Traumphantasie. 

So  weit  von  der  Traumphantasie.  — 

vm. 

Die  Ansicht,  dass  der  Traum  über  Raum-  und  Zeitverhältnisse 
erhaben  ist,  beruht  auf  einer  Täuschung. 

Wir  schliessen  uns  im  folgenden  an  Strümpell  (S.  78). 

Die  Raum-  und  Zeitvorstellung  der  träumenden  Seele  ist  un- 
gleich enger  als  im  Wachen,  ihre  Umgrenzung  dunkler,  das  Bewusstsein 
für  Entfernungsverhältnisse  äusserst  schwach  vorhanden. 

Indem  die  Traumbilder  meistens  aus  dem  nebelhaften  Hinter- 
grunde gespensterartig  hervortauchen,  bleibt  der  Hintergrund  selbst 
immer  undeutlich:  sie  heben  sich  von  diesem  so  ab,  wie  die  Bilder 
der  Laterna  magica. 

Trotzdem  scheint  es,  dass  die  Traumbilder  die  Vorstellungen  unseres 
wachen  Lebens  an  Klarheit  übertreffen:  dies  liegt  hauptsächlich  an  dem 


Der  Traum.  269 

Unerwarteten,  Ungewöhnlichen,  Wunderbaren,  das  sich  in  die  täglichen 
Erscheinungen  nicht  einordnen  lässt:  ferner  an  dem  Staunen  über  die 
Zusammenwürfel ung  verschiedener  Räumlichkeiten,  wie  sie  im  Wachen 
nicht  vorkommen.  Endlich  gewinnen  die  Traumbilder  jene  übernatürliche 
Klarheit  wohl  deshalb,  weil  die  träumende  Seele  nicht  durch  die  äussern 
Eindrücke  abgelenkt  wird. 

Auch  die  Meinung,  die  träumende  Seele  sei  nicht  an  die  Zeit  ge- 
bunden, ist  irrig.  Im  Wachen  hängt  die  Geschwindigkeit  unseres  Yor- 
stellens  davon  ab,  ob  die  Successionen  mehr  oder  minder  klare  Bilder 
geben  sollen.  Natürlich  wird  die  Zahl  der  klaren  Bilder  innerhalb  der- 
selben Zeiteinheit  kleiner  sein  als  die  der  dunkleren.  Dabei  kommt  aber 
noch  die  Individualität  und  das  Temperament  des  Träumenden  in  Betracht, 
so  wie  die  augenblickliche  Gemütsverfassung. 

Im  Traume  ergeben  die  Successionen  der  Vorstellungen  jedenfalls 
eine  geringere  Geschwindigkeit  als  im  Wachen:  denn  im  Traume  fallen 
die  von  der  Aussenwelt  stammenden  Successionen  der  Eindrücke  fort,  wie 
sie  das  wache  Leben  giebt;  es  fehlen  ferner  die  in  Form  von  Gefühlen  und 
Affekten,  Wollungen  und  Interessen  eintretenden  Antriebe,  welche  den 
Vorstellungslauf  beschleunigen:  ferner  fehlt  dem  Traume  jede  Absicht: 
in  ihm  herrschen  nur  die  Gesetze  der  Associationen  nackter  Vorstellungen 
oder  organischer  Reize  mit  solchen  Vorstellungen :  d.  h.  ohne  dass  Reflexion 
und  Verstand,  ästhetischer  Geschmack  und  sittliches  Urteil  sich  irgend 
wie  dabei  geltend  machen  können. 

Tritt  aber  ein  Ansatz  zur  Wirkung  der  Reflexion  oder  des  Willens 
dabei  ein,  so  kommt  die  beabsichtigte  Wirkung  doch  nicht  zu  Stande, 
sondern  die  entsprechenden  Traum- Vorstellungen ,  die  fortrücken  sollten, 
bleiben  stehen,  ähnlich  wie  wenn  uns  ein  Gedanke  im  Wachen  wider 
Willen  verfolgt  oder  ein  Trieb  zur  Bewegung  ohne  Erfolg  bleibt,  weil 
die  organische  Fortleitung  fehlt. 

Endlich  besteht  der  Traum  niemals  aus  langen  Vorstellungsreihen: 
denn  wenn  wir  einen  Traum  erzählen  wollen,  bedürfen  wir  dazu  einer 
grössern  Zahl  von  Vorstellungen,  als  Traumbilder  vorhanden  waren. 

Reisen  wir  im  Traume  in  fünf  Minuten  von  Königsberg  bis  zum 
Kap  der  guten  Hoffnung,  so  dauerte  der  Traum  nur  fünf  Minuten :  aber 
zu  einer  wirklichen  Reise  —  das  sagt  uns  der  Verstand !  —  reichen  fünf 
Minuten  nicht  aus:  wohl  aber  reichten  sie  aus  zu  der  Succession  jener 
Vorstellungen  und  Bilder.  Diese  Bilder  und  Vorstellungen  waren  so  be- 
schaffen, dass  sie  ihrem  Inhalte  und  ihren  Bewusstseinsgraden  nach  nahezu 
oder  ganz  den  wirklichen  Erlebnissen,  welche  sie  vorstellten,  gleich  kamen. 

Wer  aber  den  Unterschied  zwischen  successiven  Anschauungen  und 


270  Emil  Lagenpüsch 

Erlebnissen  bei  wirklich  fortschreitender  Bewegung  und  andererseits  blossen 
Vorstellungs-  und  Erinnerungsbildern  vergisst,  indem  ihm  beide  dem 
Inhalte  nach  und  in  ihrer  Bewusstseinsform  gleich  erscheinen :  der  über- 
trägt die  Zeitbestimmung  der  Succession  der  erstem  auf  die  letztem  und 
wundert  sich  über  die  Schnelligkeit  im  Traum. 

Will  man  aber  sagen,  die  Seele  habe  jene  Reize  im  Traume  ohne 
den  Körper  gemacht,  so  bedenkt  man  nicht,  dass  der  Traum  nicht  Be- 
gebenheiten, sondern  nur  Bilder  derselben  darbietet.  Und  diese  Bilder 
verliefen  allerdings  schneller  als  jene  Begebenheiten. 

Zweifellos  begleitet  die  Träume  das  allgemeine  Bewusstsein  der 
Zeitlichkeit  überhaupt:  in  den  Träumen  werden  sogar  gewisse  Unterschiede 
der  Zeitlichkeit  deutlich  bewusst:  es  tritt  ein  reflektierendes  Zeitbewusst- 
sein  auf,  d.  h.  ein  Wissen  von  der  Succession  unserer  Vorstellungen. 

Dies  begleitet  uns  bei  allen  Handlungen  des  Tages:  wenn  wir  auch 
nicht  das  Quantum  Zeit  während  einer  Handlung  genau  angeben  können, 
so  haben  wir  immerhin  das  Bewusstsein,  dass  Zeit  verflossen  ist. 

Dass  Zeitbewusstsein  auch  im  Traume  vorhanden,  ersehen  wir  daraus, 
dass,  wenn  wir  uns  beim  Erwachen  der  Traumbilder  erinnern,  diese  sich 
sofort  in  eine  Reihe  successiver  Vorstellungen  auflösen.  Femer  erinnern 
wir  uns  selbst  während  des  Traumes  an  die  einzelnen  Vorstellungen:  es 
giebt  sogar  ein  reflektierendes  Zeitbewusstsein :  einen  Vorstellungszustand, 
in  dem  das  allgemeine  Zeitbewusstsein  die  Unterschiede  des  Früher  und 
Später  zur  Vorstellung  bringt. 

Freilich  kommt  eine  ganz  bestimmt  abgemessene  Zeitgrösse  im  Traume 
kaum  vor. 

Dies  Zeitbewusstsein  im  Traume  trägt  besonders  zu  der  Klarheit 
bei,  die  die  Traumbilder  der  Wirklichkeit  so  nahe  bringt  und  sie  als 
wirkliche  Erlebnisse  erscheinen  lässt. 

Wie  also  die  träumende  Seele  das  Raumbewusstsein  in  den  Traum 
hinübernimmt  und  in  entfernten  Gegenden  zu  weilen  glaubt,  so  hat  sie 
*  auch  die  Empfindung  infolge  des  Fortbestehens  des  Zeitbewusstseins,  als 
erlebe  sie  die  zeitlichen  Begebenheiten. 

Zeit-  und  Raumbewusstsein  bleiben  also  für  die  träumende  Seele 
bestehen :  nur  kann  dieselbe  den  Gebrauch  dieser  Vorstellungsformen  nicht 
kontrolieren.  ^) 

IX. 

Eigentümlich  ist  es,  dass  Träume  so  schnell  vergessen  werden. 

Die  Erinnerung  an  Träume  ist  viel  unbestimmter,  als  man  gewöhnlich 
annimmt.    Das  liegt  zum  grössten  Teile  an  der  Umgestaltung  des  Ge- 

1)  Strümpell  S.  78. 


Der  Traum.  271 

träumten,  die  wir  beim  Erzählen  unserer  Träume  notwendig  vornehmen 
müssen:  wir  müssen  nämlich,  wenn  wir  unsere  Träume  erzählen  wollen, 
diese  in  die  Vorstellungsweise  und  Sprache  des  Wachens  übertragen. 
Wollen  wir  aber  unsere  Träume  ganz  genau  erzählen,  so  müssen  wir 
uns  eigentlich  einer  ganz  andern  Sprache  und  Kategorientafel  bedienen, 
als  im  Wachen.  Jeder,  der  seinen  Traum  erzählt,  setzt  unwillkürlich 
vieles  hinzu,  weil  die  Lücken,  welche  der  Traum  bekanntlich  aufweist, 
sowie  das  Sprunghafte  desselben  sich  in  das  wache  Bewusstsein  nicht 
einordnen  lassen.') 

Wir  können  eine  doppelte  Art  des  Traum-Yergessens  unterscheiden. 

Erstens.  Wir  erinnern  uns  überhaupt  nur  „geträumt  zu  haben", 
können  uns  aber  auf  den  Inhalt  des  Traumes  gar  nicht  besinnen:  es 
scheint  der  Traum  gar  nicht  in  das  wache  Bewusstsein  eingegangen 
zu  sein. 

Zweitens  kann  der  Traum  vollständig  oder  teilweise  in  das  wache 
Bewusstsein  eintreten,  wird  aber  sehr  rasch  und  für  immer  vergessen 
werden,  so  dass  wir  selbst  bei  der  grössten  Anstrengung  ihn  nicht  ins 
Gedächtnis  zurückrufen  können. 

Die  Ursache  ist  in  folgendem  zu  suchen. 

Schon  im  Wachen  fallen  viele  Erlebnisse  der  Vergessenheit  anheim, 
wenn  die  Kraft  der  Seelenthätigkeit  dabei  einen  zu  geringen  Grad  hatte. 

Ferner.  Die  Traumbilder  treten  mehr  oder  minder  lebhaft  hervor: 
auch  kommt  es  auf  die  Dauer  der  Wahrnehmung  an,  und  endlich  ist  in 
Betracht  zu  ziehen,  dass  die  Traumbilder  nur  ein  einziges  Mal  erscheinen 
und  sich  als  ebendieselben  niemals  wiederholen. 

Die  Erinnerung  an  die  Traumbilder  wird  leichter  oder  schwerer  sein, 
je  nachdem  sie  länger  oder  kürzer  währen. 

Mit  den  Träumen  geht  es,  wie  mit  einer  Melodie.  Was  wir  von 
dieser  nach  einmaligem  Hören  im  Gedächtnis  behalten,  ist  nur  Bruch- 
stück: und  wenn  wir  die  Melodie  nicht  öfter  hören,  werden  wir  sie  im 
Laufe  der  Zeit  doch  vergessen. 

Aber  nicht  nur  die  minder  klaren  Traumbilder  fallen  der  Vergessen- 
heit anheim.  Eine  Hauptbedingung  dafür,  dass  Empfindungen  und  Wahr- 
nehmungen eine  hinreichende  Erinnerungsstärke  erhalten  und  nicht  schnell 
vergessen  werden,  ist  die,  dass  sie  nicht  isoliert  bleiben,  sondern  Ver- 
bindungen passender  Art  eingehen.  Ein  einzelner  Mensch  vermag  nichts 
gegenüber  einer  grossen  Last,  wohl  aber  in  Gemeinschaft  mit  andern.  Ebenso 
verhält  es  sich  mit  den  Empfindungen,  Wahrnehmungen,  Vorstellungen 
hinsichtlich  ihrer  Leistungen  für  das  Bewusstsein  und  die  Erinnerung. 

1)  Volkelt,  S.  40  fg. 


272  Emil  Lagbnpüsch 

Aber  die  Verbindung  jener  Glieder  muss  eine  naturgemässe,  freiwillige, 
nicht  erzwungene  sein:  denn  zur  Erinnerung  hilft  nur  planmässig  Zu- 
sammengesetztes, nicht  das  Einzelne  ausserhalb  jeder  Verbindung  mit 
dem  Ganzen. 

Nun  giebt  es  aber  Träume,  bei  denen  jeder  innere  Zusammenhang, 
alle  Ordnung  fehlt :  denn  nicht  immer  ist  die  Seele  ordnendes  und  logisches 
Prinzip  im  Traume,  sondern  oft  kommen  ihr  die  Träume  unwillkürlich: 
und  da  die  Traumbilder  meistens  schon  in  den  nächsten  Zeitmomenten 
auseinanderfallen,  werden  sie  so  leicht  vergessen,  und  es  ist  schwer,  sich 
ihrer  wieder  zu  erinnern. 

Ferner,  wie  es  nicht  möglich  ist,  aus  dem  Wachen  Vorstellungsbilder 
in  den  Traum  hinüberzunehmen,  so  ist  gleichfalls  die  Erinnerung  an  die 
Traumbilder  im  Wachen  nur  in  geringem  Masse  möglich. 

Dann :  Alle  Erlebnisse  des  wachen  Bewusstseins  lassen  sich  in  früher 
Erlebtes  einordnen:  diese  Verbindung  des  Einzelnen  mit  Früherem  oder 
Gleichzeitigem  ist  der  Gradmesser  für  die  Erinnerungsstärke  im  Wachen. 
Das  neue  Erlebnis  wird  durch  das  Hinzukommen  des  Früheren  oder  Gleich- 
zeitigen mit  einer  Bewusstseinssphäre  umgeben,  die  ihm  als  Erinnerungs- 
hilfe dient. 

Im  Traume  fällt  aber  diese  Erinnerungshilfe  fort;  darum  kann  durch 
die  Traumbilder  und  unter  ihnen  keine  Erinnerung  aus  dem  wachen 
Bewusstsein  im  Traume  zu  Stande  kommen. 

Das  Traumbild  weicht  zu  sehr  ab  von  dem,  was  sich  von  unserer 
Lebenserfahrung  für  das  wache  Bewusstsein  angesammelt  hat.  Selbst 
bei  ganz  geordneten  Träumen  können  wir,  besonders  während  ihrer  Dauer, 
nicht  aus  ihnen  heraustreten  und  nach  dem  Erwachen  wissen  wir  nicht 
den  Eingang  zu  ihnen  wiederzufinden. 

Bleiben  beim  Erwachen  noch  Traumelemente  zurück,  so  muss  man 
eilen,  die  zugehörigen  Glieder  rasch  zu  erfassen,  indem  man  sich  gänzlich 
der  unwillkürlichen  Reproduktion  hingiebt.  Jedoch  selbst  solche  Träume 
werden  vergessen,  wenn  nicht  ein  anderweitiges  Interesse  oder  eine  künst- 
lich erzeugte  Verknüpfung  mit  dem  wachen  Bewusstsein  den  Traum  be- 
festigt. 

Fehlen  aber  Momente,  die  dem  Traum  eine  längere  Dauer  sichern, 
so  wird  selbst  ein  bis  ins  kleinste  Detail  aufgeschriebener  Traum  sehr 
bald  für  uns  etwas  ganz  Fremdartiges  haben,  als  wenn  wir  ihn  niemals 
geträumt  hätten. 

Erinnerungsfähiger  werden  Träume  sein,  die  dem  Erwachen  nahe 
liegen  oder  in  den  halbwachen  Schlummer  fallen.  Ferner  solche,  die 
mit  starken  Affekten  verbunden  sind. 


Der  Traum.  273 

Alsdann  müssen  wir  folgendes  in  Betracht  ziehen. 

Im  Wachen  wird  der  Wechsel  von  Bewusstem  und  Unbewusstem 
häufig  dadurch  hervorgerufen,  dass  eine  Empfindung  durch  eine  andere 
infolge  der  Stärke  ihres  Eindrucks  ganz  oder  zum  Teil  vernichtet  wird: 
wie  etwa  das  Licht  einer  Lampe  durch  das  der  Sonne  gewissermassen 
aufgehoben  wird. 

Ebenso  im  Traum. 

Beim  Erwachen  strömen  die  Bilder  der  Aussenwelt  sehr  schnell  ins 
Bewusstsein  zurück:  und  vor  dieser  Gewalt  halten  nur  Traumbilder  mit 
ganz  besonders  starken  Affekten  Stand. 

Also  die  Ursache,  dass  die  Träume  schnell  vergessen  oder  vom  er- 
wachenden Ich  gar  nicht  wahr  genommen  werden,  liegt  im  Verhältnis 
zwischen  dem  Inhalt  des  Traumbewusstseins  und  dem  des  wachen  Lebens. 

Da  im  Traume  nur  die  Ich-Keceptivität  zurückbleibt,  so  fehlt  der 
Seele  die  Kraft,  sich  nach  den  Objekten  hinzuspannen:  kann  sie  ihnen 
nicht  die  Aufmerksamkeit  des  Wachens  entgegenbringen  und  nicht  so 
scharf  beobachten  wie  im  Wachen. 

Endlich  liegt  der  Grund,  warum  viele  Träume  keine  hinreichende 
Erinnerungsstärke  erlangen,  in  der  nicht  genügenden  Aufmerksamkeit, 
die  den  Träumen  entgegengebracht  wird.  Aus  diesem  Grunde  werden  viele 
von  ihren  Träumen  wenig  oder  nichts  zu  erzählen  wissen.  Wer  aber  dem 
Traum  Wert  beilegt,  wird  ihn  weniger  leicht  vergessen  als  der,  welcher 
ihn  für  wertlos  hält. 

Aus  diesen  angeführten  Gründen')  für  das  Traumvergessen  ergiebt 
sich,  dass  eigentlich  nicht  in  dem  Vergessen  der  Traumbilder  das  Be- 
merkenswerte liegt,  sondern  vielmehr  in  der  Fähigkeit,  sie  in  der  Er- 
innerung behalten  zu  können. 

Schluss. 

Gingen  wir  in  unsern  Untersuchungen  von  dem  Geheimnisvollen 
des  Traumes  aus,  das  uns  unwiderstehlich  lockt,  seinem  Wesen  nachzu- 
gehen, so  wollen  wir  zum  Schluss  nicht  unterlassen,  auf  die  heilende 
Kraft  des  Traumes  hinzuweisen.  Er  ist  Leib-  und  Seelenarzt,  er  ist 
Gewissensrat  zugleich. 

Der  Traum  ist  eine  weise  Einrichtung  der  Natur.  Er  soll  die  Seele 
von  den  Anstrengungen  des  Tageslebens  zeitweilig  erlösen:  er  soll  ihr 
Kraft  geben,  beim  Erwachen  sich  wieder  nach  den  Objekten  hinzuspannen : 
der  Traum  löscht  daher  für  einige  Zeit  die  Erinnerung  an  das  wache 
Leben  aus,  er  greift  in  vergangene  Zeiten  zurück  und  ruft  Erinnerungen 

1)  Strümpell  S.  79-94. 

18 


274  Emil  Lagenpüsch,  Der  Traum. 

vergangener  Tage  wach :  er  versenkt  die  Seele  in  eine  andere  Vorstellungs- 
welt, als  die  des  Wachens  war:  wir  durchleben  früher  erlebte  Stunden 
und  erfrischen  uns  daran:  Wünsche  und  Hoffnungen,  die  wir  längst  be- 
graben, regen  sich  wieder  im  Traum:  sie  geben  sich  oft  als  erfüllt,  und 
beim  Erwachen  schöpfen  wir  von  neuem  Mut 

Aber  auch  die  Stimme  des  Gewissens,  welches  das  Tagesleben  über- 
tönt hat,  regt  sich  Nachts  wieder.  Der  Meineid,  den  der  Bösewicht  kalt- 
blütig geschworen:  der  Ermordete,  den  er  sorgfältig  verscharrt  hat,  lassen 
ihm  Nachts  keine  Ruhe :  —  vielen  hat  der  Traum  entlockt,  was  sie  Jahre 
hindurch  mit  grösster  Vorsicht  in  sich  verschlossen  hielten:  der  Traum 
hält  ihnen  ein  „yvwd-i  asavTov'^  vor!  —  Jedoch  auch  in  sanfter  Weise 
tadelt  der  Traum:  wie  eine  liebende  Mutter  stellt  er  dem  Kinde  sein 
Unrecht  vor:  und  es  mag  wahr  sein,  dass  viele  durch  den  Traum  besser 
erzogen  sind,  als  alle  Pädagogik  vermochte. 

Den  Fröhlichen  mahnt  der  Traum  an  die  Vergänglichkeit  alles  irdischen 
Glücks;  den  Betrübten  tröstet  er,  dass  er  nicht  mehr  verzagt,  er  giebt 
ihm  „cornua"  —  wie  Horaz  0  sagt.  — 

Und  was  keiner  vermag,  leistet  der  Traum:  er  zeigt  uns  oft  in 
unserer  wahren  Gesinnung,  die  wir  so  sorgsam  verbergen:  vor  dem 
Traume  haben  wir  keine  Geheimnisse.  — 

War  der  Traum  unser  Gewissensrat,  so  ist  er  zugleich  unser  Arzt: 
es  machen  sich  Modifikationen  unserer  Gemeinempfindungen  im  Traume 
bemerkbar,  die  im  Wachen  ihrer  Unbestimmtheit  wegen  nicht  zum  klaren 
Bewusstsein  kommen  konnten.  — 

Und  wenn  schliesslich  die  Träume  unserm  Gedächtnis  so  rasch  ent- 
fliehen, wenn  unsere  Erinnerung  an  sie  so  ungewiss  ist,  weim  sie  uns 
wie  aus  einer  andern  Welt  anmuten,  wenn  wir  sie  in  die  Erlebnisse  des 
wachen  Lebens  nicht  einordnen,  sie  zu  jenen  nicht  in  Beziehung  setzen 
können:  so  ist  dies  zweifellos  ein  grosses  Glück!  Wären  die  Träume 
von  den  Vorstellungen  des  Wachens  gar  nicht  zu  unterscheiden,  so  würde 
eine  nicht  geringe  Verwirrung  entstehen :  wir  könnten  niemals  mit  völliger 
Sicherheit  Wirklichkeit  und  Geträumtes  unterscheiden :  ein  klares,  sicheres 
Urteil  wäre  unmöglich. 


1)  Hör.  Od.  III  21,  17—18:  tu  spem  reducis  mentibus  anxiis  viresque  et  addis 
cornua  pauperi. 


XII. 


Zu  den  griechischen  Grahschriften. 

Von 

Ednard  Loch  (Königsberg  i.  Pr.). 
I. 

Eine  Geschichte  der  griechischen  Grabschriften  ist  noch  nicht  ge- 
schrieben. In  den  Gesamtdarstellungen  der  griechischen  Epigraphik  (Franz 
Elementa,  Keinach  Traite,  G.  Hinrichs  in  I.  v.  Müllers  Handbuch  I^  und 
auch  in  der  vortrefflichen  Bearbeitung  von  Larfeld,  Handbuch  I*  haben 
gerade  die  Grabschriften  wegen  ihrer  verhältnismässig  geringeren  Bedeu- 
tung gegenüber  den  historisch  und  antiquarisch  wichtigeren  Urkunden 
zurücktreten  müssen.  Es  konnten  da  immer  nur  verschiedene  Gebräuche 
und  Formen,  wie  sie  in  der  langen  Zeit  vom  YIE.  Jahrh.  v.  Chr.  bis  zum 
V.  Jahrh.  n.  Chr.  in  den  verschiedensten  Gegenden  vorkommen,  ohne  Kück- 
sicht  auf  ihre  allmähliche  Entwickelung  zusammengestellt  werden.  Nur 
einzelne  Gruppen,  wie  die  attischen,  die  christlichen,  die  Inschriften  mit 


Abkürzungen: 

Am.  Journ.  =  American  Journal  of  archaeology. 

Archiv.  ==  Archives  des  missions  scientifiques  et  litt^raires. 

Ath.  Mitt.  =  Athenische  Mitteilungen. 

Bull.  =  Bulletin  de  correspondance  hellönique. 

C.  =  CIG.  =  Corpus  inscriptionum  Graecarum. 

Dittenb.  C.  =  CIG.  Graeciae  septentrionalis  ed.  Dittenberger. 

CIA.  u.  CIL.  =  Corpus  inscriptionum  Atticarum  u.  Latinarum. 

IBM.  =  Collection  of  ancient  greek  inscriptions  in  the  British  Museum. 

lOP.  =  Latyschew,  Inscriptiones  antiquaeorae  septentrionalis  Ponti  Euxini. 

ISI.  =  Kaibel,  Inscriptiones  Graecae  Siciliae  et  Italiae. 

Journ.  =  Journal  of  hellenic  studies. 

Kaib.  =  Kaibel,  epigrammata  Graeca  ex  lapidibus  collecta. 

LeB.  ==  Le  Bas,  voyage  arch^ologique. 

Mova.  =  Movaelov  xal  ßißktoS-ijxr]  Trjq  iv  2JfivQvy  evayyekix^g  axo^g. 

Ost.  Mitt.  =  Archaeologisch  -  epigraphische  Mitteilungen  aus  Österreich. 

Kev.  arch.  =  Revue  archöologique. 

Sterrett  II.  III.  ==  Papers  of  the  American  school  at  Athens  IL  III. 

SvkL  =  '0  iv  Kü)vaz.\7iöXei  '^EkXtjVixbg  (piXoXoyixoq  ^vXXoyoq,  nagdQxrifjLu. 

18* 


276  Edoaed  Loch 

Strafsummen  und  zum  Teil  die  metrischen  Grabschriften  sind  bisher  ein- 
gehender behandelt  worden.  Eine  zeitliche  Ordnung  aber  der  gesamten, 
in  ihrer  Mannigfaltigkeit  beinahe  unerschöpflichen  Formen  ist  noch  nicht 
unternommen  worden.  Sie  wird  allerdings  durch  die  zur  Genüge  bekannte 
und  beklagte  Zerstreutheit  des  sehr  grossen  Materials')  und  durch  den 
Mangel  an  genauen  epigraphischen  Kennzeichen  für  das  Alter  dieser  mehr 
wie  andere  von  privater  Willkür  und  dem  Bildungsgrad  des  Schreibers 
abhängigen  Texte  ganz  besonders  erschwert.  Abhilfe  darin  wird  erst  sehr 
allmählich  die  neue  Ausgabe  des  GIG.  und  das  Wiener  Corpus  der  Grab- 
reliefs schafiFen.  Dennoch,  glaube  ich,  kann  man  auch  schon  aus  dem  bis- 
her zu  Gebote  stehenden  Material  eine  Übersicht  über  die  historische  Ent- 
wickelung  der  hauptsächlichsten  Formen  gewinnen,  und  eine  solche  dürfte 
auch  vor  der  Neubearbeitung  der  Grabschriften  der  einzelnen  Landschaften 
von  gewissem  Nutzen  sein.  Einige  Bemerkungen  darüber,  die  ich  mir  in 
grösserem  Zusammenhange  vor  längerer  Zeit  gemacht  und  durch  fünf- 
jährige Beobachtungen  an  den  neu  hinzukommenden  Inschriften  bestätigt 
gefunden  habe,  mögen  an  dieser  Stelle  ihren  Platz  finden. 

Was  die  Namensformen  anbetrifft,  so  haben  wir  vom  VIL  bis 
V.  Jahrh.  in  den  nicht-metrischen  Grabschriften  fast  nur  den  Namen  des 
Toten  im  Nominativ  (ganz  selten  mit  kvd-äöe  xelTat)  oder  im  Genetiv, 
bisweilen  mit  orj^ia  {(.ivfuia,  GT7]Xr])  elinl;  in  Böotien,  Phokis,  Lokris  (neu 
Bull.  XVni,  1894,  S.  63),  Äolis  auch  mit  Itt/  und  dem  Dativ;  der  Va- 
tersname wird  noch  selten  zugefügt.  Im  V.  und  IV.  Jahrh.  bildeten  sich  dann 
die  festen  Formen  der  attischen  Grabschriften  aus,  iV^^,  N^^y  N^  u.  a.,^) 
die  in  Attika  selbst  bis  in  die  späteste  Kaiserzeit  stets  in  Geltung  blieben. 
Im  IV.  und  III.  Jahrh.  war  diese  „attische"  Form  iV^^  in  ganz  Griechen- 
land, auf  den  Inseln,  an  der  Nordküste  des  Schwarzen  Meeres,^)  in  Klein- 
asien wie  in  Alexandria  "*)  die  herrschende  und  hat  sich  auch  in  viel  späterer 
Zeit  neben  jüngeren  Formen  erhalten;  wie  sie  sich  in  einzelnen  Land- 
schaften lokalen  Eigenheiten  anpasste  (in  Thessalien  adjektivisches  Pa- 
tronymikon,  im  Südosten  des  ägäischen  Meeres  und  Lykien  N^^^-^),  habe 
ich  an  anderer  Stelle^)  ausgeführt;  in  Böotien  verschwindet  sogar  die  dort 


1)  Die  Zahl  der  mir  bekannt  gewordenen  Grabschriften  beträgt  ausser  den  christ- 
lichen etwa  17  500.  Die  in  den  beiden  letzten  Jahren  publizierten  sind  mir  nur  z.T. 
zugänglich  gewesen. 

2)  Chiffern  nach  Larfeld  S.  558  u.  589  ff.  Vgl.  Verf.  De  titulis  Graecis  sepul- 
cralibus,  Königsberger  Diss.  1890,  17 — 42. 

3)  Latyschew,  lOP.  Hier  auch  alte  Inschriften  NiPielfü  fJLvrjfjLo)  I,  120,  173. 
II,  154'  Add. 

4)  Grabschriften  aus  der  Ptolemäerzeit  Rev.  arch.  1887,  IX,  199.  293  ff.  X,  61  ff. 

5)  De  tit.  Graec.  sepulcr.  57—62.    Zu  den  wenigen  dort  S.  60  erwähnten  Namen 


Zu  den  griechischen  Grabschriften.  277 

einheimische  Form  ml  N^  vom  IV.  bis  11.  Jahrh.  gänzlich  zu  gunsten  des 
Nominativs.*) 

Und  nicht  nur  in  Form  und  Inhalt  der  Inschriften,  sondern  auch  in 
der  bildlichen  Ausstattung  der  Grabsteine  und  der  darin  ausgedrückten 
Auffassung  von  Leben  und  Sterben  und  dem  Verhältnis  der  überlebenden 
Angehörigen  zu  ihren  lieben  Verstorbenen  ist  Attika  in  dieser  Zeit  vor- 
bildlich und  tonangebend  für  ganz  Griechenland.  Es  ist  gerade  in  neuester 
Zeit  mit  Recht  vielfach  hervorgehoben  worden,  wie  —  entsprechend  dem 
Inhalt  der  älteren  Grabinschriften  —  auf  den  Grabreliefs,  nament- 
lich in  Attika,  „in  der  klassischen  Zeit  der  Gedanke  an  das  vorherrscht, 
was  der  Verstorbene  in  seinem  Leben  seinen  Angehörigen  und  Freunden 
warV)  Der  Erinnerung  dienen  alle  Grabsteine  dieser  Pe- 
riode: sie  wollen  uns  die  Gestalt  des  Toten  noch  einmal  vor  Augen 
führen  in  seiner  einstigen  Thätigkeit  und  Umgebung,  aus  der  er  abberufen 
wurde,  mit  seinem  Arbeitsgerät,  mit  seinem  Pferde  und  den  Waffen,  oder 
im  Kreise  seiner  liebenden  Angehörigen,  und  ihn  auf  diese  Weise  in 
der  Erinnerung  der  Späteren  erhalten,  wie  er  im  Leben  auf  der  Erde  ge- 
wirkt hatte;  an  ein  Fortleben  im  Grabe  wird  kaum  gedacht.  Dies  gilt 
zunächst  für  Attika ;  aber  alle  Grabschriften  und  die  wenigen  vorhandenen 
Grabreliefs  älterer  Zeit  z.  B.  in  Thessalien,^)  Makedonien,^)  Akamanien,') 
Faros*)  bestätigen  es  auch  für  andere  Teile  Griechenlands.  Im  IV.  Jahrh. 
vollends  beherrschte  Attika  durch  die  auf  den  Grabreliefs  angewandten  Typen 
die  meisten  übrigen  Landschaften,')  aus  denen  wir  derartige  Skulpturen 
kennen,  so  sehr,  dass  wir  dieselben  Anschauungen  in  jener  älteren  Zeit 
als  ziemlich  allgemein  verbreitet  ansehen  dürfen.*)   Demselben  Zwecke  der 


im  Dativ  iVa^^s  und  Ns^'  aus  dem  IV./III.  Jahrh.  vgl.  jetzt  Hermes  1891,  148  f.  und  die 
ähnlichen  Inschriften  aus  Thasos  Journ.  VIII  (1887),  429  n.  38  a  KqI^i  Kaöiiov  und 
Chalkis  Bull.  XVI  (1892)  117  n.  31  Ascovl  Kk^wvog. 

1)  Dittenherger  CIG.  zu  n.  589. 

2)  I.  V.  Müller  in  s.  Handbuch  IV,  1,  4641)  f.  (2.  Aufl.  S.  226).  A.  Brückner,  Or- 
nament u.  Form  etc.  S.  86  f.  Wiener  Sitzungsberichte  1888  S.  509  flF.  Gutscher,  Die 
attischen  Grabschriften  I,  5 :  „sie  blicken  nur  zurück  in  die  glückliche  Vergangen- 
heit, nicht  voraus  in  die  dunkle  Zukunft".  II,  38  f.  Wolters,  Ath.  Mitt.  XVI  (1891), 
394.  400.  404  f. 

3)  Ath.  Mitt.  Vni,  81  ff.  XII,  73  ff.  XV,  199  ff.  Taf.  IV- VH.  Bull.  XII,  179  ff. 
273.  Taf.  VI.  XVI. 

4)  Stele  aus  Pella  Ath.  Mitt.  VIII  Taf.  IV. 

5)  Ath.  Mitt.  XVI,  433  ff.  Taf.  XI. 

6)  Ant.  Denkm.  I,  Taf.  54  vgl.  Taf.  33. 

7)  Vgl.  Körte,  antike  Skulpturen  aus  Böotien  Ath.  Mitt.  III,  322 ff.  n.  10—25. 
Brückner  ibid.  XIII,  371  u.  A.  4  (Epirus). 

8)  Eine  Ausnahme  machen  die  archaischen  „Kantharosreliefs"  mit  den  thronen- 
den Heroen  aus  dem  Peloponnes  (vgl.  bes.  Ath.  Mitt.  II,  III,  IV,   VII,  VIII;   Arch. 


278  Edüabd  Loch 

Erinnerung  genügte  es  eben  auch,  wenn  einfach  der  Name  des  Toten  auf 
dem  Steine  zu  lesen  war. 

Mit  dem  IIL  Jahrh.  schwindet  aber  diese  Gleichmässig- 
keit  der  Grabinschriften  völlig.  Andere  Vorstellungen  von  dem 
Verhältnis  der  Toten  zu  den  Lebenden,  die  schon  lange  in  den  Geistern 
der  Menschen  Verbreitung  gefunden  hatten,  sowie  auswärtige  Einflüsse 
rufen  auf  dem  Gebiet  der  sepulkralen  Epigraphik  die  grössten  Umwäl- 
zungen hervor.  Neue  Formen  treten  auf,  allmählich  die  älteren  ver- 
drängend und  zum  Teil  auch  an  frühere  Gebräuche,  namentlich  der 
metrischen  Grabschriften  anknüpfend. 

Da  ist  zuerst  die  bekannte  und  in  allen  Teilen  der  alten  Welt  ver- 
breitete Sitte,  da.8  W öTtchen  xcclQs,  den  letzten  Abschiedsgruss,  den 
man  dem  Toten  nachrief,  neben  den  Namen  auf  den  Stein  zu 
setzen.  Nicht  nur  ein  einmaliges  „Lebewohl"  der  Angehörigen  am  Tage 
der  Bestattung  sollte  es  sein,  sondern  auch  ein  für  die  Dauer  berechneter 
Segenswunsch,  dass  es  dem  Toten  gewissermassen  auch  im  Grabe  wohl- 
gehen möge;0  denn  hier  wurde  er  jetzt  zwar  ruhend  gedacht,  verfolgte 
aber  doch  mit  lebhafter  Teilnahme^)  die  Vorgänge  an  seinem  Grabe  auf 
der  Oberwelt.  Daher  war  es  Pflicht  der  an  dem  Grabe  Vorübergehenden,  dies 
XcclQs  zu  lesen  und  es  dem  Toten  als  Gruss  zuzurufen,  wie  wenn  sie  ihm 
im  Leben  begegneten,  und  er  erwidert  es  in  derselben  Form  x««^?«  ^«^ 
av  {uollcL,  rlg  7t ox^  el  und  ähnlich),  vgl.Eurip.  Med.  663.  665  K.  Orest  476/7 
xal  av  xalQB,  Xen.  Mem.III,  13, 1.  Vielfach  fordert  er  geradezu  auf,  dieses 
XalQE  zu  sagen,  sei  es  indem  er  den  Wanderer  anredet  xalqe,  TtaQodelxa, 
XalQCTe  TtccQOÖOi,  zolg  Ttaqdyovotv  X(xIq€iv,  x^^Q^^  ogtlq  6  avayiyvojO'/.iov 
XL.  a.,  wobei  oft  die  Erwiderung  (xcüqc)  xai  ov  gleich  auf  dem  Stein  einge- 
schrieben ist,  sei  es  indem  er  den  Gruss  mit  deutlichen  Worten  verlangt 
XcclQs  TtQooelfcate  fie  oder  TtctQLd-i.  ^eve,  x^^Q^  ugoaetTtaQ  und  ähnlich,  oft 


Zeitg.  1881,  293  ff.  u.  Furtwängler,  Samml.  Saburoff  zu  I,  1;  Am.  Journ.  V  pl.  XIII, 
S.  468).  Sie  kommen  nur  auf  einem  räumlich  eng  begrenzten  Gebiet  vor  und  sind 
sepulkrale  Anatheme  an  die  nach  dortiger  Sitte  heroisierten  Toten,  die  vielleicht  die 
Ahnen  alter  Geschlechter  darstellen.  Anatheme  sind  auch  die  ältesten  Heroenmahl- 
reliefs  mit  Adoranten  (Milchhöfer,  Jahrbuch  II,  25  ff.),  sowie  die  böotischen  Spende- 
reliefs mit  dem  Reiterheros  vor  einem  Altar  (Ath.  Mitt.  III,  360  ff.  n.  138,  141  ff.).  Das 
älteste  böotische  Grabrelief  mit  Reiter  (ibid.  n.  10  =  IV  Tafel  14,  1)  zeigt  den  rein 
attischen  Typus  (s.  Deneken  bei  Röscher  Sp.  2562).  Über  den  thrakischen  Herosgott 
8.  Rev.  arch.  1878,  294  f.  Ost.  Mitt.  VIII,  208. 

1)  Daher  auch  die  Zurufe  ^«^pf  ^«^  ^»^  (p^iixhoiq  Ath.  Mitt.  XII,  246  n.  2; 
XalQOire  xal  eiv  jiiöao  öofjtoiaiv  Mova.  1885,  61  n.  vfiQ-''^  elv  ^Aiöoq  nsQ  icav  x^^Q^ 
Aeovxiavs  Sterrett  III  n.  427,  nach  dem  Vorbild  von  II.  23,  19  u.  179  und  Eurip.  Alk. 
626  f.  K.  x^'^Q^  ^«*'  ^'Alöov  öofioiq  €v  aoi  yevoizo. 

2)  Rohde,  Psyche  634  f. 


Zu  den  griechischen  Grabschriften.  279 

bei  Kaibel,  Epigrammata.  Nicht  selten  ist  ein  Segenswunsch  zugefügt,  wenn 
der  Bitte  willfahrt  wird  xalqe  yial  ov  xal  evoöec  C.  1956;  ooa  ?Jyig  z«/  oot 
Tcc  öiTtlä  LeB.  in,  2702;  2704  in  Syrien;  Ath.  Mitt.  XVI,  174  n.  3  Amor- 
gos:  aXXa  to  xaLqeLv  aq)d'Ovov  cItccüv  (äol  xalQ*  an  kfxov  Tcaqoöe  und 
oft  bei  Kaibel,  z.  B.  190.  205.  236.  237.  Auch  an  die  überlebenden  Ange- 
hörigen richtet  er  oft  ein  /«/(»«r«  als  Abschiedsgruss.  So  entwickeln  sich 
jene  poetischen,  ins  einzelne  ausgeführten  Zwiegespräche,  die  in  späterer 
Zeit  sehr  beliebt  waren  und  in  denen  wir  durch  Fragen  und  Antworten 
(xazra  TtevOLv  xal  ccvocaqlolv  ,  Lemma  zu  Anth.  Pal.  VII,  163)  Auskunft 
über  Namen,  Alter  und  persönliche  Verhältnisse  des  Toten  erhalten.  Dass 
der  Verstorbene  selbst  über  sich  berichtet  oder  auch  die  Vorübergehenden 
begrüsst,  xccigeTe  ol  TtaQiövreg,^)  finden  wir  schon  im  V.  und  Anfang  des 
IV.  Jahrb.  auf  attischen  Grabsteinen  gemäss  dem  alten  Brauch,  nach  dem 
Steine  und  Statuen  zu  dem  Beschauer  sprechend  eingeführt  werden,  wie  in 
dem  Epigramme  der  Erinna  (Bergk,  poet.  lyr.  Gr.  III,  Erinna  n.  5) : 
^Tcckat  Kai  2€CQrjv€g  efxal  xal  Ttevd^Lfxe  TcgiooGi., 

doTtg  exscg  ^töa  tav  oXLyav  OTtodiav, 
Tolg  eixov  IgxofxevoLOi  Ttag   tjqIov  E%uaTB  /a/^€tv. 

Das  älteste  Beispiel  eines  Zwiegesprächs  aber  und  zugleich  eine  der 
frühesten  Anwendungen  des  ;cal(>6  als  Lebewohl  bietet  jene  attische  Grab- 
schrift der  Melite  aus  dem  Piräeus  (Kaib.  79  =  CIA.  11,  1687,  Conze 
Grabreliefs  162,  Taf.  LI,  wohl  um  300),  in  der  auf  die  Anrede  des  Gatten 

XalQB,  %aq)og  MeklTrjg,  XQV^'^'V  y^'^V  ^vd-äde  Tcelrai  etc. 
die  verstorbene  Gattin  antwortet: 

xal  ov  xalqe,  cplXtaT'  avdgaiv,  aXka  rovg  e/novg  (plXsi. 

Wo  und  wann  zuerst  das  ^a^^e  auf  einen  Grabstein  gesetzt  ist,  lässt 
sich  nicht  genau  angeben,  aber  über  das  HI.  Jahrh.  hinauf  kann  man 
es  nirgends  datieren.  Aus  dem  III.  Jahrhundert  stammen  die  ältesten 
annähernd  datierbaren  Inschriften  mit  x^^^i  so  Kaib.  79  aus  dem 
Piräeus  (vielleicht  noch  Ende  des  IV.  Jahrb.),  Kaib.  235  aus  Smyma, 
CIA.  n,  2831  ein  Argiver  und  2844  ein  Böotier,  Rev.  arch.  1887,  IX,  199, 1 
(Zeit  der  ersten  Ptolemäer)  aus  Alexandria.  Zu  den  älteren  gehören 
wohl  auch  wegen  des  Dialekts  UeTallg  nerahala  xal^e  aus  Larissa^) 
und  NeiKaotg  QsocpvXw,  yvva  dh  7x«(7/w,  x«^?«  ^^s  Myrina^).  In  Ditten- 
bergers  Corpus  unter  den  böotischen  und  in  Latyschews  lOP.  findet  sich 


1)  In  Attika  CIA.  II,  3385;  3820  =  Kaib.  23;   'Eg)Tifi.  dgxaioh  1885  8.  92  ein 

Tegeate;  in  Agina  Kaib.  22;  in  Euboea  Bull.  1891,  406  n.  4.   Mit  der  Anwendung  des 
X«-Iqs  =  „lebewohl"  hängt  dies  gar  nicht  zusammen. 

2)  Ath.  Mitt.  VIII,  121  n.  41  =  Collitz  355. 

3)  Bull.  X  S.  91  f.,  vgl.  Anm.  4  (Zeitangabe  unsicher;  Buchstaben  scheinen  jung). 


280  Eduard  Loch 

ebenfalls  keine  Grabschrift  mit  x^^Q^,  die  früher  als  das  III.  Jahrh.  wäre. 
Auf  allen  diesen  ältesten  Inschriften  ist  das  x^lge  einfach  neben  die  bis- 
her gebräuchliche  attische  Namensform  im  Nominativ  gesetzt,  also  N^X' 
oder  N^^X''^  erst  allmählich  wird  der  Name  selbst  in  die  Anrede  hinein- 
gezogen und  in  den  Vokativ  gesetzt  N^^^^,,  besonders  mit  xQ^jOtl  x^^^* 
so  im  eigentlichen  Griechenland,  an  der  Nordküste  des  Pontus  und  auf  den 
Inseln.  Auf  Rhenea  z.  B.  sind  aus  der  Zeit  von  168—88  v.  Chr.  über  100 
Namen  mit  XQ^I^'^^K-^)  X^^Q^f  meist  im  Vokativ,  erhalten.')  Gewöhnlich 
aber  findet  sich  Nominativ  und  Vokativ  abwechselnd,  ja  sogar  neben  die  in 
römischer  Zeit  wieder  auflebende  böotische  Form  cTtl  N^  (/^^(tto)  *  x^iQ^ 
Dittenb.  C.  1583),  zu  dem  Genetiv  in  Kos  (Paton  &  Hicks,  Inscr.  n.  286 
N^  XQrjGTrj  X'  n.  333  JV»  x.  N^^  %a/(>€T6)  und  zu  mancher  jüngeren  Form 
in  Kleinasien  tritt  %at^£  selbständig  hinzu.  Ausser  x^^iQ^  finden  sich  in 
später  Römerzeit  namentlich  in  Syrien,  Kypros,  Afrika,  Italien  und  ver- 
einzelt auch  sonst  die  Grussformeln  ev\pvx(,^)h  ^agoei,  evaeßei,  vylaive, 
eQQCüoo,  evTvxelte  u.  a.^),  deren  Vorkommen  in  rein  griechischen  Ländern 
meist  auf  Einwanderung  Fremder  schliessen  lässt.^) 

Ungefähr  gleichzeitig  mit  ;c«t^€  beginnt  die  Verbreitung  der  loben- 
den und  vertraulichen  Adjektive,  die  attributiv  dem  Namen  des 
Toten  auf  der  Grabschrift  beigefügt  werden,  namentlich  des  schon  vorher 
erwähnten  xQV^^^^  ('V*  -«)>das  freilich  einzeln  auch  im  IV.  Jahrh.  schon 
vorkommt.  In  Attika  findet  es  sich,  wie  ^ai^e,  nur  bei  Fremden,  besonders 
bei  Sklaven")  oft,  und  soll  da  wohl  lobende  Anerkennung  persönlicher 
Tüchtigkeit  sein,  wie  auch  z.  B.  bei  dem  2vQog  xQ^^^'^^ög  in  Thespiä 
(Dittenb.  C.  2085  wohl  noch  IV.  Jahrb.).  In  ganz  Böotien  ist  es  sehr 
verbreitet,  dann  in  der  Verbindung  xQV^'^og  (-i},  -k)  %ai^£  ganz  besonders 
auf  den  Inseln  und  an  der  kleinasiatischen  Küste,  und  rJQcog  xQf]<J^'£ 
XctlQ€  ebenda  und  in  Thessalien.  Dagegen  fehlt  xQV^'^^  X^'^Q^  f^st  gänz- 
lich in  Makedonien,  Thrakien  und  den  nördlichen  Inseln  Thasos,  Imbros, 
Lemnos,  desgl.  in  Thera  und  an  der  Nordküste  des  Pontus  (ausser  Olbia 
lOP.  I,  123.  124).  Auch  unter  etwa  400  Inschriften  aus  Smyma  habe 
ich  es  nur  10  mal  gefunden.  Xalqe  allein  kommt  in  Makedonien  und 
Thrakien  sowie  im  ganzen  Innern  und  Süden  Kleinasiens  als  Zuruf  an 
den  Toten  nur  ausnahmsweise  vor;  wo  es  sich  da  findet,  steht  es  meist 


1)  C.  2317— 2322  b«»  Add.  Michaelis  Arch.  Zeitg.  1871,  146. 

2)  Evxvxei,  yerjY09ie)i  Sterrett  III,  280  vgl.  ISI.  2381  und  E.  Thost,  Griech.  Stud. 
für  H.  Lipsius  (1894)  S.  164. 

3)  Z.  B.  Dyrrhacbium  Heuzey,   Mac^doine  II,  380  n.  155  (römischer  Soldat) 
und  Lesbos  C.  2204  svywxi  (ein  Ägypter). 

4)  Rohde,  Psyche  635  A.  6. 


Zu  den  griechischen  Grabschriften.  281 

in  metrisclien  Grabschriften  und  als  Anrede  an  den  Wanderer  %a^(>€ 
TtaqoöelTa  u.  ähnl. 

Das  Fehlen  dieser  Ausdrücke  in  gewissen  Gegenden  ist  auffallend 
und  lehrreich:  man  erkennt  daraus,  dass  alle  diese  scheinbar  so  gleich- 
gültigen und  allgemeinen  Formeln  doch  ihre  bestimmten  Verbreitungs- 
gebiete haben,  dass  sie  stellenweise  Terrain  erobern,  an  anderen  Orten 
aber  durch  einheimische,  festgewurzelte  Gebräuche  fern  gehalten  werden. 
Dazu  gehört  in  den  nördlichen  Küstenländern  des  ägäischen  Meeres  und 
in  dem  grössten  Teil  von  Kleinasien  die  später  zu  besprechende  „asiatische" 
Form  der  Grabschrift,  in  Thasos  das  Ttgoocpdrjg  xalge,  in  Thera  die 
Heroisierung  durch  den  öaixog  oder  durch  einzelne  Familien,  in  Smyrna 
die  Sitte,  dem  Toten  einen  Kranz  auf  dem  Grabstein  anzubringen  (Cic. 
pro  Flacco  31,75)  mit  der  Inschrift  6  di](.wg  {orecpavol)  N"^;  dies  kann 
man  vielleicht  als  ein  Gegenstück  zur  Bezeichnung  des  Toten  als  xqtiotoq 
ansehen,  nach  den  Worten  der  Inschrift  aus  Kyme  2vlX.  XV  (1884),  55 
n.  2  (V.  7.)  öijfÄOv  öh  oi€(pavog  TtLvvTrjv  cpgeva  fXTqvvei  avöoog. 

Denn  dass  dies  in  der  allgemeinen  Anschauung  der  Sinn  der  Beischrift 
XQTjGTog  war  und  nicht,  oder  höchstens  in  einzelnen  Fällen,  die  höhere 
Macht  und  Würde  der  Toten ^)  dadurch  ausgedrückt  werden  sollte,  geht 
aus  der  (u.  a.  von  Becker-GöU  in,  148  citierten)  Stelle  in  Theophr. 
Char.  13  hervor,  wonach  jemand  auf  den  Grabstein  einer  Frau  aufgeschrieben 
hätte  den  Namen  des  Mannes,  des  Vaters,  der  Mutter,  ihren  eigenen 
mit  Ethnikon,  xai  TtQOGeTtiygdilJat,  ort  ovtol  jcavteg  %qriOTol  rjaav '  das 
Imperfekt  i^oav  weist  deutlich  darauf  hin,  dass  es  sich  um  eine  Eigen- 
schaft der  Lebenden,  nicht  der  Toten,  handelt.  Überhaupt  sind  solche 
Andeutungen  einer  überirdischen  Macht  der  Toten  in  den  Grab  Schriften, 
wenigstens  den  prosaischen,  sehr  viel  später  und  seltener,  als  man  es 
nach  der  grossen  Verbreitung  dieser  Anschauungen,  die  E.  Rohde  nach- 
gewiesen hat,  erwarten  könnte.  Auch  sprechen  gegen  jene  Erklärung 
des  xQTiOTÖg  die  zahlreichen  anderen  Attribute,  die  z.  T.  mit  XQV^'^^S 
zusammen  in  späterer  Zeit  dem  Toten  beigelegt  werden  und  die  sich 
alle  nur  auf  seine  menschlichen  Eigenschaften  beziehen,  wie  xaXe,  XQ^' 
GTE  X'  Dittenb.  C.  3050,  agiGiCf  ai.ie(.ucTe,  acoge  (Syrien),  Tcoteid-e  =  Ttod-rjTi 
(Ath.  Mitt.  XI,  129  n.  81)  wie  ito&etvog  in  Attika,  cpiXavÖQe,  tpvxri  xaA?} 
X.  (Messenien  LeB.  II  p.  527  n.  321  a,  vgl.  C.  3025,  Movg.  1875,  116  n.  ly), 
ael(ÄvrjGT€  x-  (Dittenb.  C.  3129,  Kypros  LeB.  III,  2750),  TtqoGcpdr^g  xcüqs 
regelmässig  auf  Thasos;  auch  das  im  Peloponnes,  auf  vielen  Inseln  und 
besonders  in  Syrien  verbreitete  aXvfce  xctlQs  soll  wohl  nur  den  schmerz- 


1)  Gutscher,  Die  att.  Grabschr.  11,  39,  E.  Rohde,  Psyche  635. 


282  Eduard  Loch 

losen  Zustand  des  Toten  im  Gegensatz  zu  dem  mühseligen  Leben  aus- 
drücken, auf  das  die  Worte  XQV^'^^  '^"^  'keXoucrjfxhaL  (=  laXvjcruxive)  xo^lQ^ 
in  der  Grabschrift  eines  81jährigen  Mannes  aus  Smyraa  hindeuten  (Mova. 
1875  I,  70  n.  19). 

Von  nicht  ganz  so  ausgedehntem  Einfluss  auf  die  äussere  Fassung 
der  Grabschriften,  aber  ungleich  grösserer  Bedeutung  für  die  Kenntnis 
der  Grabgebräuche  und  des  Seelenkultus  jener  Zeit  ist  nun  femer  die 
gerade  in  der  hellenistisch-römischen  Periode  immer  mehr  um  sich  greifende 
Heroisierung  der  Toten  und  die  Ausbildung  eines  regulären  Heroen- 
kultus an  ihren  Gräbern,  eine  Idee,  die  in  dem  tief  im  hellenischen 
Geiste  liegenden  Glauben  an  die  Unsterblichkeit  der  Seele  sowie  an 
Dämonen  und  mythische  Heroen  ihren  innersten  Keim,  in  dem  stets  mit 
grosser  Pietät  gepflegten  Gräberkultus  ihren  unmittelbarsten  äusseren 
Anlass  hatte.  Auf  den  Inschriften  findet  diese  Vorstellung  durch  den 
Zusatz  von  rJQcog  {rjQCjlg,  rjQwlvr],  ^QOJiGoa)  zum  Namen  des  Toten  ihren 
häufigsten  Ausdruck,  nicht  selten  auch  durch  die  Angabe,  dass  der  Tote 
oder  das  Grab  heroisiert  worden  sei  (o  öä^og  oder  6  öelva  acprigwi^e 
N*^  Thera^),  aq)r]Qü)tod^ai  rb  ^vYiy,elov  Aphrodisias  C.  2834  u.  ähnl.),  sowie 
teilweise  auch  durch  die  Bezeichnung  des  Grabmals  als  tjqojov,  ein  Wort, 
das  ich  ebenfalls  vor  dem  III.  Jahrh.  auf  Grabschriften  nicht  nachweisen 
kann.  Bisweilen  werden  der  Inschrift  besondere  Bestimmungen  hinzu- 
gefügt, die  eine  regelmässige  Fürsorge  für  das  Grab  und  die  Abhaltung 
gewisser  Feste  und  Opfer  zu  Ehren  des  Verstorbenen  anordnen*). 

Dieses  ganze  Gebiet  mit  allen  auf  den  ünsterblichkeitsglauben  be- 
züglichen Fragen  hat  unlängst  durch  E.  Rohde  eine  so  umfassende,  licht- 
volle Darstellung  gefunden,  dass  ich  mich  in  dieser  Übersicht  eines  näheren 
Eingehens  darauf  wohl  enthalten  kann,  zumal  seine  Resultate  auf  einem 
so  umfangreichen  Material  beruhen,  dass  sie  durch  die  Betrachtung  der 
Grabschriften  allein  keinerlei  Erweiterungen,  sondern  eher  Einschrän- 
kungen erfahren  könnten.  Daher  will  ich  es  hier  bei  ein  paar  statistischen 
Bemerkungen  bewenden  lassen. 

Zunächst  ist  hervorzuheben,   dass  das  Gros  der  Grab  Schriften,   die 


1)  Die  Form  N^dq)7]Q(6i^e  iV*^  habe  ich  ausser  Thera  nur  noch  auf  dem  benach- 
barten Anaphe  (C.  2480  eAdd.p.  1095)  und  auf  drei  Inschriften  von  Fremden  inAttika 
gefunden  Ca&tjv.  VII,  212  n.  6;  Annales  de  la  facult^  d.  lett.  d.  Bordeaux  II,  1880, 
S.  152  citiert  von  Röhl  inBursians  Jahresb.  X,  1882,  S.  53 ;  Ath.  MitLXII,  299  n.  270)  und 
in  Thrakien  ganz  spät  sogar  N^äiv  xal  (pQoväiv  dcprjQmiaev  ^avro'v  Archiv.  1876,  134 
n.  47  und  Ost.  Mitt.  X,  206,  wo  natürlich  die  eigentliche  Bedeutung  ganz  verblasst  ist 
(vgl.  loannides  im  'A^vaiov  IX,  1880,  309  Q^anxeiv  fisyaXonQEnöJq). 

2)  Vgl  bes.  d.  wichtige  Testament  der  Epikteta  C.  2448,  das  jetzt  von  Homolle 
zwischen  210  und  195  datiert  ist'Etprjfi.  dQx«iok.  1894,  141  ff.  vgl.  Bull.  XVm(1894),  161. 


Zu  den  griechischen  Grabschriften.  283 

eine  Heroisierung  des  Toten  enthalten,  aus  römischer  Zeit  stammt  und 
dass  nur  sehr  wenige  mit  einiger  Sicherheit  ins  in.  Jahrh.  hinaufdatiert 
werden  können.  Ich  sehe  als  die  ältesten  an  die  Inschriften  auf  zwei 
Heroenmahbreliefs  aus  Thessalonike  Ti^o^rjlcüi  JacpvaLov  tJqwl  und  Kas- 
sandreia  ^ÜQUi  'HgoTtvd-cjL,^)  die  allerdings  noch  ganz  den  Charakter  von 
Weihinschriften  tragen.  Sonst  kann  ich  aus  rein  epigraphischen  Indizien 
keine  in  ältere  Zeit  datieren ;  genaue  Beobachtungen  der  Schriftzüge  und 
der  Dekoration  der  Steine  können  allein  darüber  Auskunft  geben.  Für 
Böotien,  wo  die  Bezeichnung  des  Toten  als  iqQwg  litterarisch  so  früh  be- 
zeugt ist,  hebt  Dittenberger  an  mehreren  Stellen  des  neuen  Corpus  (S.  367 
zu  n.  2110 ;  n.  2628/9.  vgl.  zu  n.  1713)  hervor,  wie  spät  diese  Benennung  auf 
den  Grabsteinen  ist ,  meist  in  der  erst  seit  dem  I.  Jahrh.  v.  Chr.  wieder 
aufkommenden  Form  Irtl  N^  rJQOJL.  Überhaupt  findet  sich  7]Qwg  in  allen 
Kasus,  ganz  nach  der  Namensform,  die  in  der  betreffenden  Gegend  üblich 
ist,  z.  B.  in  Knidos  6  da^og  N^^  7]Qwog,^)  in  Makedonien  und  Thrakien 
]\[iN^p  rJQCüi  oder  N^N*^  TJQwa,  am  häufigsten  aber,  bes.  in  Thessalien,  im  Vo- 
kativ in  der  Form  ijgwg  (xQrjoTh)  xalge,  die  auch  zu  allen  anderen  Namens- 
formen hinzugefügt  werden  kann.  Für  die  Zeit,  aus  der  die  thessalischen 
Inschriften  mit  riQoyg  xQ^jore  xcdge  stammen,  ist  es  vielleicht  nicht  unwichtig, 
dass  sich  diese  Formel  niemals  mit  dem  patronymischen  Adjektiv  und  nie- 
mals mit  der  Weihung  ''EQfxaov  xd-ovLov^)  im  thessalischen  Dialekt  zu- 
sammen findet,  also  wohl  jünger  ist  als  die  späteste  Anwendung  desselben. 
Für  die  Verbreitung  der  Inschriften  mit  riQMg  verweise  ich  auf  Rohde, 
Psyche,  S.  647 — 649,  und  Denekens  Zusammenstellung  in  Roschers  Lexikon, 
Sp.  2549 — 2554,  der  mit  Recht  überall  hervorhebt,  wie  gerade  die  äolischen 
und  dorischen  Stämme  diese  Sitte  besonders  ausgebildet  haben.  Charakte- 
ristisch dafür  sind  die  Inschriften  aus  Thera,  wo  die  öffentliche  Heroisie- 
rung durch  das  Volk  ein  Vorrecht  der  alten  dorischen  Adelsgeschlechter, 
namentlich  der  Ägiden,  gewesen  zu  sein  scheint."}  Eine  andere  Bedeu- 
tung hat  das  acpj]Q(x)t^€iv  oder  ccTtocEQoüv  des  Grabes  in  Aphrodisias; 
hier  soll  durch  diese  Massregel  die  Unverletzlichkeit  des  Grabes  stärker 
betont  werden.   Dasselbe  ist  der  Fall,  wenn  in  Knidos  zu  der  Grabschrift 


1)  Archiv.  1876,  246  n.  77  und  270  n.  115. 

2)  LeB.  III,  1575  ff.  Öster.  Mitt.  1891,  46  n.  1.  G.  Hirschfeld,  IBM.  IV.  S.  34  n. 
833  ff. 

3)  Vgl.  m.  Dissert.  S.  60.  Auf  dem  Hermenpfeiler  Ath.  Mitt.  VHI,  116  n.  17  ist 
die  Inschrift  mit  tjq.  x-  X-  1^  ^1^1  späterer  Zeit  eingetragen  und  ^EQ/xdov  x^ovlov  von 
der  ersten  Benutzung  stehen  geblieben. 

4)  Böckh  C.  2467  ff.  und  Abhdl.  d.  Berl.  Akad.  1836,  41  ff.  Boss,  inscr.  Gr.  ined. 
II,  206  ff.  Arch.  Aufs.  I.  VIII.  Mortillet,  Rev.  arch.  1870/1  t.  22  S.  284  ff.  Rohde,  Psyche 
156  u.  A. 1. 


284  Eduard  Loch 

6  öäinog  N^^  noch  rjQwog  zugefügt  wird  (G.  Hirschfeld  IBM.  IV.  S.  34),  oder 
wenn  das  Grab  selbst  ein  rigotov  genannt  wird,  was  ich  zum  erstenmal  auf 
einer  lykischen  Inschrift  des  III.  Jahrh.  aus  Pinara  finde  (C.  4259  =  Reisen  I, 
56  n.  3):  TUeoiag  Tcko/iia  JteXvtwv  yivovg  to  riQt^Lov  vLaTeay.evcr/Av 
avTwi  Tial  liJL  yvvanu  y.al  tolg  Tixvoig  xal  lyyovoig  avxov'  alkwi  öe 
/utjöevl  k^ioTU)  €7tavol^ai  to  tjqioiov  /Lirjök  jtQOOTa^ai  Itsqojl'  ztA.  Im 
IV.  Jahrh.  ist  /nv^/^a  in  Lykien  der  älteste  Ausdruck  für  das  Grabmonu- 
ment. Die  Bezeichnung  rjQf^ov  verlor  bald  ihre  eigentliche  Bedeutung 
und  wurde  dann  an  vielen  Orten  Griechenlands  und  Asiens  überhaupt 
für  jiivrjfielov  angewendet,  wie  ja  auch  z.  B.  in  Thessalien  jeder  Verstorbene 
ob  alt  oder  jung,  Freier  oder  Sklave,  7]Qwg  genannt  wurde. 

Zu  den  bisher  besprochenen  Erscheinungen  tritt  noch  ein  neues  Mo- 
ment hinzu,  das  uns  das  DI.  Jahrh.  als  ganz  besonders  umgestaltend  in 
Bezug  auf  die  Form  der  Grabschriften  erscheinen  lässt.  Es  greift  näm- 
lich von  Lykien  her,  wo  die  alte,  einheimische  Kultur  und  die  Gebräuche 
der  an  der  Küste  angesiedelten  Griechen  sich  gegenseitig  beeinflussen,^} 
auch  bei  den  Griechen  allmählich  die  dortige  Sitte  um  sich,  schon  bei 
Lebzeiten  sein  Grab  sich  selbst  zu  errichten,  und  zwar  nicht 
nur  für  sich  allein,  sondern  auch  für  seine  ganze  Familie,  Frau,  Kinder, 
andere  Verwandte,  selbst  Freigelassene  und  Sklaven.  Es  liegt  im  Wesen 
und  in  der  Eigenart  des  lykischen  Volkes  begründet,  dass  gerade  von  hier 
aus  diese  Sitte  ihren  Ursprung  nahm.  Denn  die  erhaltenen  Monumente 
lehren  uns,  wie  die  Lykier  vor  allen  Völkern  den  Gräberbau  und  das  Grab- 
recht ausgebildet  haben,  und  wie  in  ihrem  ganzen  Leben  die  Sorge  um  die 
Bestattung  und  die  ungestörte  Ruhe  nach  dem  Tode  eine  bedeutende 
Rolle  spielte,  da  es  ihnen  „als  das  allein  Begehrenswerte  erschien,  in  Stein 
beigesetzt  zu  werden"  (Benndorf).  Daher  jene  stattlichen  Felsengräber  im 
Stil  vollständiger  Häuser  und  Tempel,  daher  jene  gewaltigen  Steinsarko- 
phage mit  den  Inschriften,  die  noch  heute  von  der  umsichtigen,  fast  ängst- 
lichen Fürsorge  ihrer  Gründer  Zeugnis  ablegen.  Denn  auf  den  Gräbern 
wurden,  zunächst  in  lykischer  Schrift  und  Sprache,  genaue  Angaben  über 
den  Erbauer  und  Besitzer,  sowie  Bestimmungen  über  die  Benutzung  und 
Erhaltung  der  Grabmäler  aufgeschrieben;^)  und  die  Form  dieser  Inschriften 

1)  Dies  erweist  für  den  Gräberbau  Benndorf,  Reisen  I,  bes.  Cap.  IX.  Die  ältesten 
griechischen  Grabschriften  Lykiens  zeigen,  wie  überall  an  der  benachbarten  Küste 
Kariens  und  auf  den  umliegenden  Inseln,  den  Namen  im  Genetiv,  z.  T.  abhängig  von 
TO  fivijfia,  C.  2300  u,  4202.  Reisen  I  S.  40.  Benndorf  Giölbaschi  S.  227,  vgl.  oben  S.  276. 
Die  Sonderstellung  und  den  bestimmenden  Einfluss  Lykiens  auf  die  Entwickelung  der 
griechischen  Grabschriften  hat  für  die  besonders  charakteristischen  Gräberbussen 
G.  Hirschfeld  nachgewiesen  Königsberger  Studien  1887;,  S.  93  ff.  und  Treuber,  Pro- 
gramm Tübingen  1888. 

2)  Vgl.  Deecke,  Bezzenbergers  Beiträge  XIV  (1889),  181  ff. 


Zu  den  griechischen  Grabschriften.  285 

ist  dann  seit  dem  III.  Jahrh.  immer  häufiger  aucli  von  den  Griechen  im 
Lande  nachgeahmt  worden  und  hat  sich  allmählich  über  das  ganze  grie- 
chische Asien  und  Griechenland  selbst  verbreitet,  so  dass  sie  in  der  Kaiser- 
zeit, aus  der  unsere  meisten  Inschriften  des  Ostens  stammen,  in  mehr 
oder  weniger  veränderter  Fassung  namentlich  in  ganz  Kleinasien  die  herr- 
schende geworden  ist.  Ich  möchte  sie  daher  kurz  als  die  asiatische  Form 
bezeichnen. 

Das  älteste  Beispiel  für  ihre  Anwendung  in  griechischer  Sprache  ist 
wohl  die  sicher  aus  der  Mitte  des  IV.  Jahrh.  stammende  bilingue  Inschrift 
aus  Limyra  C.  4306  (Facsimile  bei  Petersen,  Reisen  II  n.  124):  To  ^vijfxa 
t6Ö€  €7toirjOaTo  ^löccQwg  üaQjuevovTog  vlog  eavTwt  xal  ttji  yvvaiyu  xat 
vlwi  nvßcdXrji,  wie  es  scheint  eine  wortgetreue  Wiedergabe  des  lykischen 
Textes,  die  in  Wortfolge  und  -Auswahl  genau  die  von  Hirschfeld  a.  a.  0. 
S.  Ulf.,  als  die  ältesten  bezeichneten  Formen  aufweist.*)  Sonst  ist  der 
gewöhnlichste  Anfang  dieser  Inschriften  *^0  delva  {^wv  xai  cpqovuiv)  Y,a- 
Teo'/,evaGe  xo  /j,vrj(j,€lov  kavT(^  y.al  . . .  oder  To  ixvr]fxelov  [IotI)  tov  öelvog, 
0  KarsGxsvaoev  eavTcp  u.  s.  w.;  doch  haben  alle  Landschaften  und  grösseren 
Orte  ihre  besonderen  Eigentümlichkeiten  in  der  Form,  wobei  namentlich 
die  Ausdrücke  für  „erbauen"  und  die  Substantiva,  die  das  Grabmal  be- 
zeichnen, je  nach  der  Form  der  Monumente,  Särge,  Stelen,  Platten  u.  dgl. 
eine  grosse  Anzahl  lokaler  Verschiedenheiten  und  Gebräuche  aufweisen. 

Da  diese  Familiengräber,  die  zu  einem  langjährigen  Gebrauch,  oft  für 
mehrere  Generationen  dienen  sollten,  meist  ganz  frei  an  leicht  zugäng- 
lichen.  Orten ,  Strassen  oder  auf  dem  Felde  angelegt  waren,  stellte  sich 
auch  ausserhalb  Lykiens  bald  die  Notwendigkeit  heraus,  dieselben  gegen 
Benutzung  durch  Unberechtigte  und  gegen  jede  Art  von  Beschädigung 
zu  schützen.  Daher  in  der  Kaiserzeit  diese  Verbreitung  der  Verbote  des 
öffnens,  des  Begrabens  Fremder  und  im  Fall  der  Übertretung  {eav  öi  reg 
7taQa  ravTa  tl  Ttoirjorj,  ToXfxrjoj]  und  ähnlich)  die  Androhung  einer  Strafe, 
sei  es  in  Form  schrecklicher  Flüche  oder  einer  an  eine  öffentliche  Kasse 
zu  zahlenden  Geldsumme :  auch  dies  ein  ursprünglich  lykischer  Brauch,  der 
schliesslich,  im  Zusammentreffen  mit  römischer  Sitte,  allgemeine  Verbrei- 
tung fand.  Hirschfeld  (Königsb.  Stud.,  S.  107)  erkannte  die  oben  S.  284 
angeführte  Inschrift,  die  das  Grab  rigcpov  nennt,  als  die  älteste  dieser  Art. 
Die  Zahl  solcher  Grabschriften  mit  Strafsummen  hat  sich  seit  seiner  Be- 
arbeitung mehr  als  verdoppelt ;  für  die  Vergleichung  ihrer  Formen  müssen 
auch  die  Grabschriften,  die  nur  Verbote  oder  Flüche  enthalten,  zugezogen 
werden.    Bei  aller  Ähnlichkeit  in  den  Hauptpunkten  zeigen  die  äusserst 

1)  Auch  das  ungriechische,  erst  in  später  Zeit  nach  lateinischen  Vorbildern  öfter 
zum  Vatersnamen  zugefügte  vlog  stammt  wohl  aus  lykischem  Brauch. 


286  Eduard  Loch 

zahlreichen  Inschriften  so  viel  Verschiedenheit  im  Einzelnen  und  eine 
solche  fast  unübersehbare  Mannigfaltigkeit  in  den  Ausdrücken  für  die  Grab- 
mäler  und  das  Errichten,  öffnen  und  Verkaufen,  Begraben  und  Heraus- 
nehmen der  Leichen,  für  das  Zahlen  der  Strafe  und  die  Verwünschungen, 
dass  man  einen  vollständigen  Wortindex  anfertigen  und  das  Zusammen- 
gehörige nach  lokalen  Gruppen  ordnen  muss,  um  eine  gewisse  Übersicht 
darüber  zu  gewinnen.  Einen  kleinen  Begriff  davon  kann  schon  der  An- 
hang I  bei  Hirschfeld  geben,  der  zahlreiche,  nur  aus  den  Inschriften  mit 
Geldstrafen  ausgezogene,  lateinische  und  griechische  Ausdrücke  gegenüber- 
stellt, und  die  Aufzählung  von  Varianten  für  xaT£ax€i;a(7€  und  %d  /uvrj' 
fieiov  bei  Keinach,  Trait^,  427—429. 

Vielfache  Ähnlichkeit  mit  diesen  Inschriften  bietet  eine  ebenfalls 
seit  dem  Ende  des  III.  Jahrh.  besonders  in  Thessalien,  Makedonien  und 
Asien  neu  auftretende  Gruppe  von  Inschriften  auf  Grabsteinen,  die  zwar, 
wie  früher,  dem  Verstorbenen  erst  nach  seinem  Tode  von  den  Angehörigen 
gesetzt  sind,  auf  denen  aber,  was  in  älterer  Zeit  nur  in  Grabgedichten 
vorkam 0,  der  Stifter  des  Grabes  sich  selbst  nennt,  etwa  mit  den  Worten: 
„N.  errichtete  dies  Grab  seinem  Vater  N.  zum  Andenken"  oder  „N.  begrub 
seine  liebe  Gattin  N."  u.  dgl.,  sodass  der  Name  des  Toten  im  Dativ, 
seltener  im  Accusativ  steht,  ähnlich  wie  bei  den  Weih-  und  Ehren- 
inschriften :  N^  yiaTeGxevaoe  t6  ^vri(xelov  N^^  jtaTQi  oder  N^^  N^  aviorr^- 
öe  TTjv  GTTiXrjv  oder  ohne  sachliches  Objekt  N^  e/tolrjOE  N^,  N^  sd-axpe, 
hlfir]G€  iV*  (besonders  in  Kula  Maeon.,  Kotiaion  Phryg.  und  Galatien), 
auch  ohne  Verb  N^  m^,  N^  N^^  und  N^  N\  IS*  N\  mit  Verwandtschafts- 
bezeichnung, Stand  und  Lebensalter,  sehr  oft  mit  dem  Schluss  fxvelag 
XCLQiv,  besonders  in  Nordgriechenland  und  der  Westküste  Kleinasiens,  oder 
(xvriiiriq  %a^iy  (seltener  eveyiev)  im  inneren  und  östlichen  Kleinasien. 

Auch  diese  Form  ist  in  ihrer  Anwendung  vielen  lokalen  Schwankungen 
unterworfen  und  verschmilzt  sehr  oft  mit  der  soeben  besprochenen. 
Während  sie  im  eigentlichen  Griechenland  und  auf  den  Inseln  (ausser 
Kreta)  sehr  selten  ist,  in  Aphrodisias  in  Karlen  gar  nicht,  in  ganz  Lykien 
nur  ausnahmsweise  vorkommt,  ist  sie  in  Makedonien  und  vielen  Städten 
Phrygiens  (Aizanoi  c.  120  mal  N^  N^^fxvTq.  %.),  in  Galatien,  Lykaonien, 
Isäurien  und  anderen  zentralen  Landschaften  geradezu  die  Regel.  Während 
femer  im  ganzen  Norden  und  an  der  Westküste  Kleinasiens  der  Dativ 
des  Namens  fast  ausschliesslich  gebraucht  wird  [N^  N^''  avsarrjae,  mit  und 
ohne  fÄV.  X'),  sodass  regelmässig  der  Dativ  die  Grabschrift,  der  Accusativ 
die  Ehreninschrift  bezeichnet  (vgl.  z.  B.  Böckh  zu  C.  2771),  wird,  je  mehr 
man  nach  Süden  und  Osten  kommt,  der  Accusativ  immer  häufiger.    Dieser 

1)  Vgl.  auch  die  alten  Inschriften  von  Amorgos  m.  Dissert.  S.  10. 


Zu  den  griechischen  Grabschriften.  287 

Übergang  ist  besonders  im  südlichen  Galatien,  Pisidien  und  Lykaonien 
ZQ  bemerken  (nach  Sterretts  Inschriften  in  den  Am.  Pap.  II  und  HI). 
Dort  herrscht  z.  B.  noch  in  Laodicea  combusta  und  Iconium  der  Dativ, 
wie  in  Phrygien,  in  den  Ortschaften  wenig  südlicher  überwiegt  schon 
der  Accusativ,  und  in  Isaurien  zeigen  fast  alle  Grabschriften  die  Form 
N^^  N"^  {d'vyaxiqa  u.  a.)  av4GTi]oe  (oder  eKooiiirjae  u.  dgl.)  ^ur/J.  Xv  was 
auch  in  Kilikien  häufig  ist.  Ganz  ausnahmsweise  findet  sich  der  Genetiv 
N^  N^  f^v.  X'  z.  B.  in  Larissa  in  Thessalien^),  Knidos ^},  Stratonicea^)  und 
vTtsQ  N^  ebenda  ").  Statt  fivi^jurjg  iclqiv  haben  wir  in  späterer  Zeit  auch 
andere  Motive,  wie  (piXoaTOQyLag,  ayvoLag,  evoeßeiag,  evxccQLOzlag,  ja 
sogar  T€ii^rjg  %aQtv% 

Eine  besondere  Stellung  unter  den  Grabschriften  dieser  Art  nehmen 
diejenigen  ein,  deren  Stifter  nicht  einer  der  Angehörigen  des  Toten,  sondern 
irgend  eine  öffentliche  Vereinigung  ist,  die  den  Verstorbenen  durch  einen 
Kranz  ehrt  oder  auf  gemeinsame  Kosten  bestattet.  Und  zwar  geschieht 
das  an  vielen  Orten  durch  die  Stadt  {ri  Ttolug  eTlfxrjoev  iV^)  oder  durch 
Eat  und  Volk  {rj  ßovXrj  Kai  6  dr]^og,  oft  allein  6  drjfiog  OTecpavol,  acprj- 
QCüi^ev  u.  ähnl.),  sonst  auch  durch  verschiedene  politische  oder  religiöse 
Vereine  {ovvoöog,  d-iaoog,  owrj^eia  u.  a.),  zu  deren  Zwecken  auch  die 
Bestattung  ihrer  Mitglieder  gehörte.  Ausser  der  Inschrift  zeigt  oft  auch 
nur  ein  am  Grabstein  befestigter  oder  im  Relief  dargestellter  Kranz  die 
öffentliche  Ehrung  des  Verstorbenen  an.  Ein  solches  funus  publicum 
oder  eine  Bekränzung  finden  wir  auf  Grabsteinen  belegt  z.B.  in 
Platää  (Am.  Journ.  VI,  1890, 108  n.  III  =  Dittenb.  C.  3750,  Grabstatue: 
Ath.  Mitt.  III,  346  n.  61),  Ägina  (LeB.  II,  1705.  1706),  Imbros  (Conze, 
Reise  a.  d.  Ins.  d.  thrak.  M.  S.  93ff.),  Lesbos  (C.  2197  b— h  Add.  Ath. 
Mitt.  Xni,  74),  Amorgos  (Ross,  inscr.  Gr.  ined.  II,  115.  122),  Andres 
(LeB.  II,  1815),  Paros  (C.  2380—82;  Movo.  1880,  p.  150  =  Bull.  IV,  285  = 
Ost.  Mitt.  XI,  179,  ein  13jähr.  Knabe),  Thera  (Heroisierung  C.  2467  ff., 
Ross,  inscr.  ined.  11, 206  ff.  Rev.  arch.  1870/71,  284  ff.  Li^vaLov  IX,  1880, 
309),  Anaphe  (C.  2478—80;  Ath.  Mitt.  I,  251  f.),  Kos  (Paton  &  Hicks  327, 
328  lg  (.iva(.iav  fihv  avrov,  7t agafiv&lav  öe  tov  Ttargog  auTOv,  374, 
416),  Knidos  (LeB.  IE,  1575  ff.  IBM.  IV,  n.  833-847),  Stratonicea  (C. 
2724—2726),  Kig  (Bull.  XI,  310  n.  4),  Alabanda  (Bull.  V,  180),  Aphrodisias 
(C.  2836  cfr.  2776  Trostdekret),  ferner  in  fast  allen  Städten  Lydiens,  be- 
sonders Smyrna  (über  lOOmal  6  ö^i^og  im  Kranz,  siehe  die  Inschriften 


1)  LeB.  II,  1293.  Ath.  Mitt.  XII,  350  ff.  n.  115.  121.  129.        2)  IBM.  IV.  n.  848  ff. 

3)  C.  2732/3.  Bull.  XIV,  624  n.  25.  XV,  427  f.  n.  14.  16. 

4)  Bull.  XV,  426  f.  n.  11.  15.  XV1II(1894)  42  n.  8. 

5)  C.  4078.  Sterr.  III,  22.  25.  26.  40.  90  (TKMX  =  xsifi^g  xal  ßv^fxrjg xa^iv?),  177. 


i 


288  Eduard  Loch 

im  CIG.  und  Movaelov),  bisweilen  in  Mysien  (z.  B.  Kaib.  335),  Mileto- 
polis  Bithyn.  (Bull.  XII,  193),  Laodicea  ad  Lycum  (Kaib.  385,  Am.  Joum. 
111,346),  Telmessus  Lyc.  (C. 4199  —  Bull.  XIV,  172),  Anazarba  Cilic. 
(Journ.  XI,  248  n.  19),  Syrien  (C.  4602  =  LeB.  III,  2077). 

Auch  die  Vereine,  welche  ihre  Toten  ehren  oder  bestatten,  sind  weit 
verbreitet').  So  haben  wir  Igavioxal  in  Athen  (CIA.  11  3308)  und 
Khodus  (Ost.  Mitt.  VE,  133  n.  64.  Bull.  XIII,  363  vgl.  tb  nocvbv  to  Mri- 
viaoTav  u.  a.  Ost.  Mitt. X,  219  n.  23.  25),  eine  ovvoöog  twv  rjQipaaTaiv 
für  einen  verstorbenen  Jüngling  in  Akraiphia  (Ath.  Mitt.  III,  299  =  Dittenb. 
C. 2725);  inTanagra  im  IL  Jahrh.  v. Chr.  die^■^^avaLGT1^,  JKjDVLovoia- 
aTrjxind  (TV r ^ VT at  (Dittenb.  C.  685— 689),  in  Thessalonike  drei  avvrj' 
d'SLai  (Archiv.  1876,  246  ff.  n.  83.  84,  cfr.  Foucart  a.  a.  0.  114;  Bull.  Vm, 
462  f.  n.  2  vom  Jahre  155  n.  Chr.),  von  denen  die  erste  avvTJ^sia  tcjv 
TcoQcpvQoßacpcüv  heisst,  wie  in Tr alles  (Bull. X,  519  n.  1 6)  und  Hierapolis 
(C.  3924  b)  ^  egyaGia  t;(J)v  ßag)6(x)v  und  ebenda  (LeB.  III,  1687  vgl. 
Rev.  arch.  1887  II,  354)  ein  ovveöqlov  Tijg  TtgosÖQlag  tüjv  TtoQcpvQoßa- 
q)o)v;  eine  awegyaola  auch  in  Smyrna  C.  3304.  In  Olynth  (C.  2007  f.) 
wird  emxoklrjyiovd^eovrjgcüOQ  (des oben S.  277  A.  8  erwähnten  thraki- 
schen  Herosgottes)  genannt,  in  Panticapäum  in  6  Inschriften  eine  avvo- 
(5 0 e  (lOP.  II, 60 — 65),  in  Teos  zahlreiche  i^/a (7  0t,  oQyewveg,  fivoTai 
u.  a.  (C.3098,  Bull.  IV,  164 ff.  Foucart  S.  39),  ov^^voTai  auch  in 
Smyrna  {Movo,  V,  1885,  14  n.  228),  Kyzikos  (Ath.  Mitt.  IX,  35),  Thyatira 
(Bull.  XI,  483  n.  70,  dem  aQXLfivotrjg  gewidmet  vom  d^Laoog),  ov^iß  lvj- 
rai  Smyrna  (C.  3304),  Philadelphia  (Movo.  1885,  67  n.  v^y),  Kula  Maeon. 
{MovG.  1885,  57  n.  vfia),  Trajanopolis  (C.  3865  o),  Apameia  (Bull.  VII,  307 
n.  29),  in  Thyatira  auch  (pQaTOQsg  (Bull.  XI,  453  n.  15). 

Dies  sind  die  hauptsächlichsten  Elemente,  welche  seit  dem  HI.  Jahrh. 
auf  dem  Gebiet  der  Grabinschriften  die  wichtigsten  und  für  die  Folgezeit 
nachhaltigsten  Veränderungen  hervorgerufen  haben.  Doch  ist  damit  der 
Formenreichtum  dieser  eigenartigen  Denkmälerklasse  noch  nicht  im  ent- 
ferntesten erschöpft.  Zahlreiche  Einzelheiten,  namentlich  aus  der  Kaiser- 
zeit, mussten  in  dieser  Skizze  übergangen,  vieles  konnte  nur  angedeutet 
werden.  Fast  alles,  was  früher  nur  in  Grabgedichten  seinen  Ausdruck 
fand,  in  Bezug  auf  des  Verstorbenen  frühere  Thaten,  sein  Lebensalter,  die 
Todesart  und  sein  Verhältnis  zu  den  Angehörigen,  das  enthalten  jetzt  auch 
die  prosaischen  Inschriften,  man  findet  in  ihnen  oft  die  Elemente  nicht  nur 
unserer  Aufschriften  auf  Gräbern,  sondern  auch  unserer  Todesanzeigen  und 
Nachrufe. 


1)  Vgl.  Foucart,  des  associations  religieuses  chez  les  Grecs.  Paris  1873. 


Zu  den  griechischen  Grab  Schriften.  289 


n. 


Auf  mehreren  Grabschriften  des  lateinischen  Sprachgebiets  (Italien, 
Gallien,  Spanien,  Pannonien)  findet  sich  ohne  Zusammenhang  mit  dem 
Text  der  Inschrift  der  Zusatz  ravTa,  dessen  Erklärung  noch  nicht  voll- 
ständig gesichert  zu  sein  scheint.    Es  sind  folgende  Inschriften: 

1.  Rom.  ISI.  1413  =  GIG.  6341. 

J.  M.  I  M.  ^Qyevalaj  \  EvraTizci)  ^eißelgaXig  6  Xöiog  aldeXcpog 
Ttjv  'Aaindlgav  (xveiag  %aQiv  \  '/.al  eveqyeoiwv  y,a\  \  evvoLag  Ttaorjg. 
f.is\)^Qig  ^avocTOv  evvoiqoavTa,  sTeloLV  e'  ow^eveiTsvoavta  \  ed^iq- 
yia  Tov  aöel(pdv  stcüv  lö'.  \  Tav[Ta. 

2.  Rom.  ISI.  1479  =  CIL.  VI,  13236. 

M.  Aurelius  Sostrjatianus  Stratoni(cea?)  |  fecit  Fabiae  Laetae  | 
coiugi,  sanctissimae  |  feminae,  cupulam  |  structilem;  qua|e  vixit 
annis  |  XXX IUI.  1  XaLqeT ai{=-Te)'  Tavra. 

3.  Rom.  ISI.  1824  =  CIL.  VI,  21812. 

Memoriae  |  M.  Maetiliani  |  Zosimi,  qui  |  vixit  ann(is)  XXVIIII  | 
mensibus  X,  diebus  |  viginti  Septem  |  Seius  Alexander  |  fratri  ra- 
rissimo.  |  ngoxoTVi  Tavra, 

4.  Rom.  CIL.  VI,  8925. 

D(is)  M(anibus).  |  Cointo  Aug(usti)  lib(erto)  a  |  frum(ento)  mini- 
strat(ori)  qui  |  vixit  ann(os)  LXX,  m(enses)  V,  d(ies)  XV  |  Alexander 
Aug(usti)  lib(ertus)  |  nutritori  suo  bene  |  merenti  posuit.  | 
Palladi  tauta  (i.  e.  Tavra), 

5.  Mutina.  Muratori  1399,8  (citiert  von  0.  Hirschfeld  zu  CIL.  XII,  874.) 

Salustiae  |  Aphrodite  |  Congidius    L.   f.  |  coniugi    bene  |  merenti 
cum  qua  |  vixit  annis  XXVII,  |  mensibus  VIII,  diebus  VI. 
Dazu  4  Distichen  und  zavTa,  das  nach  Bormann  zu  CIL.  XII, 
874  von  Muratori  nur  ausgelassen  ist.    . 

6.  Arelate  (Gall.)  ISI.  2475  =  CIL.  XH,  874. 

lacet  sub  hoc  signino  dulcissima  Secundilla,  |  qu(a)e  rapta  paren- 
tibus  reliquit  dolorem,  |  ut  tan  dulcis  erat  tanquam  aromata;  | 
desiderando  semper  mellea  vita.  |  qu(a)e  vixit  annis  III,  men- 
(sibus)  VI ,   die(bus)  XVI.  l'^QwinciTi  Tavra. 

7.  Nemausus  (Gall.).  ISL  2505  =  CIL.  XU,  4123. 

D.  M.  I  L.  Gratius  Eutyches  |  domum  aeternam  vivus  sibi  curavit, 
I  ne  heredem  rogaret.  |  Tavra. 

8.  Balsa  (Lusit.)  ISL  2542  =  CIL.  II,  5171  (Suppl.  ed.  Hübner). 

19 


290  Eduard  Loch 

XiQttB.  I  EvTjvog  I  Ttal  '^vrioxelg  \  iöloj  %h,vii)  |  TaTiavfft  |  yXv- 
yLvtatt^  I  t,rioavtL  \  kviavtov  \  'Aal   rn-iigag  x'  |  fiVTJ/urjg  %aquv,  \ 
Xigete'  \  ravTa. 
9.  Petovia  (Pannon.)  CIL.  IH,  4075  =  CIG.  6811. 

Evora^c  Tatra  qui|  vixit  ann(os)  II,  mCenses)  VIII,  dCies)  ] 
Vni,  ^vqyjXlol  ^Jr]f4rjT\Qig  xal  (DrjXUiTag  yo\veig  vUo  yvrjolq), 
Franz  C.  6811  hat  nach  einer  anderen  Abschrift  qui  vixit  ann.  II 
m.  Vin  d.  VIII  hinter  vu^  yvrjoUp. 
In  n.  1,  5,  7  steht  Tavra  allein  am  Ende  in  einer  besonderen  Zeile, 
in  n.  2  und  8  zusammen  mit  ;fa/()€T«,  in  n.  3,  4,  6,  9  mit  den  Namen 
ÜgoTiOTct,  Palladi,  L^Qw^mt,,  Evaid^c  in  der  Form  des  lateinischen 
Vokativs.  Früher  hat  man  dies  wohl  auch  für  den  Genetiv  halten  wollen, 
und  noch  Hirschfeld  zu  XII.  874  schwankt,  ob  man  ravta  erklären  solle 
als  „hoc  est  monumentum  {rov  SeivogY^  oder  ob  es  als  acclamatio  auf- 
zufassen sei.  Diese  letztere  Erklärung  ist  inzwischen  mit  Recht  wohl 
allgemein  angenommen  (Hirschfeld  zu  XII,  4123,  Kaibel  im  Index  zu  ISI., 
Hübner  zu  11.  Suppl.  n.  5171),  da  ravTa  niemals  auf  Grabschriften  für 
rovTo  t6  i^ivrjfia  (sc.  rov  delvog  eonv)  steht  und  auch  die  Namen  bei 
Tavta  mit  keinem  Namen  in  den  Inschriften  übereinstimmen.  Zwar 
!dQv)(xaT:L{pv)  in  n.  6  wird  als  Beiname  der  Secundilla  schon  durch 
die  Worte  der  Inschrift  selbst  erläutert,  aber  die  übrigen  bedürfen  noch 
einer  besonderen  Erklärung.  Und  diese  hat,  wie  es  mir  scheint,  zu- 
erst T.  Schiess  gegeben  in  seiner  Dissertation  „Die  römischen  collegia 
funeraticia  nach  den  Inschriften"  (München  1888,  S.  30 — 33)  im  Anschluss 
an  De  Rossi's  Behandlung  der  „coUegii  funeraticii  famigliari."  Er  erklärt 
nämlich  den  Namen  Procopius  in  n.  3  für  den  Beinamen,  den  der  Ver- 
storbene als  Mitglied  eines  jener  Familienkollegien  gehabt  habe,  deren  Namen 
„nicht  immer  von  einem  persönlichen  cognomen  ihres  Gründers  abgeleitet, 
sondern  häufig  ohne  irgend  welche  Beziehung  darauf  mit  Rücksicht  auf 
die  Andeutung  eines  guten  Omens  aus  dem  Griechischen  genommen" 
wurden,  wie  Pelagii,  Pancratii,  Eusebii,  Eugenii,  Eutropii  u.  a.  Da  diese 
Namen  sich  öfters  in  lateinischen  Inschriften  mit  kurzen  Anreden  an 
den  Toten  finden,  wie  Petrei  vivas  VI,  9477,  Argenti  have  VT  10268,  und 
auch  die  Bildung  des  Namens  Palladius  (n.  4)  den  obigen  völlig  entspricht, 
so  glaube  ich  mit  Recht  auch  Palladius  als  einen  solchen  Beinamen 
ansehen  zu  dürfen.  Auch  ein  Name  Eustathius  könnte  zwar  in  diesen 
Zusammenhang  gehören,  doch  ist  die  Form  Evord&i  in  n.  9  wohl  besser 
anders  zu  erklären.  Am  Ende  der  griechischen  Inschrift  aus  Rom  ISI.  1464 
finden  wir  nämlich  evotä^i  offenbar  als  Zuruf  an  den  Toten  angewendet, 
wie  sonst  die  Imperative  ^aQo{€)iy  evxpvxißjt  u.  dgl,  mit  denen  es  auch 


Zu  den  griechischen  Grabschriften.  291 

gut  in  der  Bedeutung  übereinstimmt/)  Daher  ist  es  hier  wohl  ebenso 
aufzufassen,  jedenfalls  darf  man  nicht  den  Anfang  der  Inschrift  Evara- 
d^L  xavta  qui  vixit  als  zusammengehörig  ansehen,  so  dass  sich  qui  auf 
EuoTccx^i  als  Namen  beziehen  soll.  Die  Anordnung  der  Zeilen  der  Inschrift 
ist  nicht  sicher  und  wohl  nur  durch  erneute  Yergleichung  des  im  CIG. 
6811  beschriebenen  Steines  festzustellen.  Auffallend  ist,  dass  hier  allein 
das  ravra  vor  der  Inschrift  steht,  in  den  anderen  Fällen  am  Ende. 

Wie  ist  nun  aber  die  Ellipse  bei  javTa  selbst  zu  erklären?  Das  kann 
uns  die  Yergleichung  einer  Anzahl  anderer,  griechischer  Inschriften,  zu- 
meist aus  Griechenland  und  dem  Osten,  lehren,  die  das  Wort  in  ähn- 
licher Anwendung  allein,  oder  in  der  Formel  6  ßlog  ravia  oder  in  grösserem 
Satzzusammenhange  aufweisen.    Ich  rechne  hierher  folgende  Inschriften: 

10.  Messana.  ISI.  419  —  420.     Grabschrift  des  OvXniog  Nr/,ricpoQog  !dv- 

tioxevg  aus  KoUrj  ^vgla: 

—  TOVTO  avd-Qw\7tivov ,  ict  ^€(Jüv  ivd-dö^  £/i€ '  €vipvxt' ,  ovölg 
ad-avarog'  Tavia'^)  OväXrig  (^vrjf.irjg  xaQtv  av^drjxa'  syco  oi, 
eine  rig;  evxpvxi^  Nixrjcpoge,  ovölg  ad^avarog, 

11.  Rom.  ISI.  1201  (Büste)  =  Kaib.  1117. 

OvY,  rjfiTjv,  yevofirjv   rjfirjv ,  ovx  elfXL'  roGavT a' 
et  di  Tig  alXo  eghi,  xpevoei:aL'  ovx.  eaofiai. 
XalQe  ömaiog  wv. 

12.  Rom.  ISI.  2130. 

(Dqovtl^  ewg  tijg,  Ttwg  xalcjg  raq)i^oee 
%a\  Xi^Gov  wg  ^rjGoig'  x«tw  yag  ovx,  e^tg 
ov  7CVQ  avdipe  ovöe  öeiTtv^Ge  yiaXwg, 
eyd  leyw  goi  ravra  Tcctvxa  TCigaGag' 
evievd'ev  ov^lg  aTtod-avtüv  eylg€[Tai. 

13.  Aquileia.  ISI.  2342  unter  dem  Epigramm  Kaib.  609. 

TavTa  ol  GvG}ir]vol  oov  keyovG iv' 
'^  evxpvxei,  BaGGMa,  ovöelg  d^dvarog . 

14.  Mantinea.  Kaib.  480',  p.  XIII. 

Angabe  Ton  Name,  Herkunft,  Alter;  dann  V.  7  f : 


1)  Das  Verbum  Evcxa^slv  gehörte  nach  Schol.  H.  E  1  Sägaoq  xaxa  tovg 
KvQTjva'Cxovg xccl  'Emxovgslovg  evaxad-elv  xaxa  ötävoiav  xal  köyov  iv  Seivaiv  ino' 
fiovalq  zur  Terminologie  der  Epikureer,  oflFenbar  im  Sinne  von  aequam  mentem  rebus 
in  arduis  servare;  dasselbe  gilt  auch  von  dem  Adj.  evaxa^qy  vgl.  Lobeck  ad  Phryn. 
p.  282/3. 

2)  So  ist  zu  interpungieren,  da  xavxa  nicht  Objekt  zu  dvi&rjxa  sein  und  „das  Grab" 
bedeuten  kann,  vgl.  zu  n.  6  u.  9,  oben  S.  290.  dvd^Q(o]mvov  von  Hirschfeld  ergänzt 
nach  dv&Qomva  CIL.  VI  ,9240,  citiert  zu  CIL.  XII,  4123. 

19* 


292  Eduard  Loch 

Tavra  fia&ajv,    ^he,  rcelve,  y\^la,  xw/i^]cr^€,  fitgl^ov 
ytOLVa  yag  Igtl  ßgorolg  ravTa  ta  avv&einaTa. 

15.  Tanagra.  Dittenberger  C.  582—584. 

Drei  Epigramme  zu  fönf  Versen,  aus  dem  V.  Jahrh.  n.  Chr., 
darunter  TAYTA.  Dazu  der  Hgb.  „subscriptum  litteris  maioribus 
Tavra  idem  sibi  velle  ac  rama  yivoizo  probabiliter  coniecerunt 
editores". 

16.  Larissa  Thess.  Ath.  Mitt.  XI,  56  n.  35: 

NN*  luvelag  xciqlv.    Tavta  ovrojg  b^bl  6  ßlog. 

17.  Larissa,  ebenda,  S.  58  n.  45: 

NN  ev&ade  y.eLfied'a.    Tavra  ovrwg  exi^ 
'EQfiij  x^ovicp  (gehört  zu  einer  älteren  Inschrift). 
17".  Zwischen  Neapolis  u.  Philippi  Maced.  Heuzey,  Mac^doine  11,39  n.  14. 
^'EveOTiv   wde  2vv€Qy\og?  . . .  \  Bv^dvTiog  etiJüv  fie'  Tai;t:[a?  . .  .| 
^EvKolTtiog  aneXevd-eQog  t^rj  Y,a\i  vylaive. 

Ergänzung  des  Hgb.:  ravTa  "'Ev'/.olTtcog  (leyet)'  T^  x.  (vylaive). 
Der  freie  Raum  am  rechten  Ende  ist  nicht  bestimmt;  man  er- 
gänzt wohl  besser:  2vv€Qy[og  tov  öelvog  \  Bv^dvTcog  haiv  fie' 
TavT[rjv  Tr]v   krjvov  \  Ev^oXTtiog  aneXevd'eQog  C^  (==  vivus)  xa- 

[T£OK€VaG€v]. 

18.  Ainos  Thrac.  Kev.  arch.  1873,  t  26,  84  ff.  (Miller)  =  Archiv.  1876, 

165  n.  103. 

^VQTjhog    NavxXrjQog,    d-egaTtevTrjg    tov    q)iXav^QOJ7Cov    S-sov 
ÜGxkrjTtiov.     Td    Goi    Xeyo fieva    TavT[a'    0T]av   ccTCod-dvrjgy 
ovK  ccTteS-aveg,  rj  ök  xpvxrj  gov  [x.tL 

19.  Kotiaion  Phryg.  CIG.  IH,  Add.  p.  1054  n.  3827  s  =  Kaib.  362. 

^_w-w  Tovra  Toig   q)Lkoig  Xiyw 
7talGov,   TQvq)rjGOVf   ^rJGOv,  auod-avelv  Ge  del. 

20.  Bei  Eumeneia  Phryg.  Bull.  VI,  515  n.  H  =  Ost  Mitt  VH,  149. 

NN  10   fxvrjfxelov  xaTSGxevaGav  tctL     (Verbot  der  Entweihung; 

am  Schluss:) 

OVK  tjl^rjlv,  (6)y€v6\fir]v'  ovy,  \  €GO(,i(ai)'  \  ov  (.UXl  \  fiOL'\ 

6  ßlog  I  TavTa.  \  xalQ6T€  fcagodeiTat. 

Vgl.  Kaib.  2190  (Rom): 

OVY,  rjfj.rjv  {k)yev6f.criv'  ovx.  {e)i^i'  ov  (.UXl  fnoi' 

21.  Eumeneia.  Bull.  VHI,  233  n.  1. 

N  y,aT6GA€vaG€v  To  (.ivrifjLelov  htL  (Verfluchung  des  Grab- 
schänders, am  Schluss):  '0  ßlog  TavTa. 

22.  Eumeneia.    Ebenda,  S.  240. 

V.  16  27t€vÖ€Te,  Trjv  ipvx'^v  evq)Qalvete  7cdvTOT€[laol? 


Zu  den  griechischen  Grabschriften.  293 

(jü]g  Tjdvg  ßlotog  ytai  ^ixQov  eoil  ^orjg. 

Tavra,  kaol,  y,Bxa  Tama  rl  yag  TtXiov;  ovTiiT i  TavT a. 

ovYjXXrj  ravTa  kakel  Kai  Xid^og,  ov  yctg  eyw, 

23.  Hierapolis  Phryg.  LeB.  m,  1687  =  Rev.  arch.  1887,  ü,  354,  1. 

^i?  GOQog   xal   6    7t€Qi    avTTjv   toTtog   xrA.     (Strafsumme ,    am 

Schluss:)    'Ooov   av  TtoQiarjg  ßiov,   w  q)ile  Ttagoöelra,  eiöcog, 

OTi  t6  xiXog  v/iiwv  tov  ßiov  ravTa. 

Vgl.  Bull.  ViJi,   447  n.  11,  Amorgos  /a^(>'    w   Ttagodelta  v.al 

oiiOTtBL  (jjg  eidcug,  otl  aal  ooi  xo  avto  h.Tto'KUxaL, 

Kalb.  416,  V.  5/6  ^omov  vvv,  nagoöelxa,  q)iXov  yeverrjv  öh  eXeeQB, 

(hg  eidiog,  otl  TtäoL  ßqoTolg  to  d-avelv  aTtöyLBiiai. 

ISI.  937  aiiEqii.Lv El'  tcccvtwv  yag  ßgoTwv  odog  avrrj  (oder  avTiij), 

24.  Pessinus  Galat.  CIG.  4097  mit  Add.  p.  Uli. 

XalQB  TtaQodelTa'  6  ß Log  i: av[c a. 

Auf  der  anderen  Seite  des  Steines  die  Grabschrift 

25.  Zela,  südlich  von  Amaseia  Pont.  Perrot,  Exploration  379  n.  163. 

Hqvjl  ovvßlqf  ^EqcjvIÖl  BrjqaTwg'  og  ö^  av  7ii.vrjGr]  ttjv  gti^Xt^v 
TavTfjVj  dtoaet  t(ü  legcoTaTq)  Tafilw  OTqOTSQTioyg  öov\ 
'O  ßlog  Tavra, 

26.  Berytus  Syr.  Rev.  arch.  33  (1877),  58  n.  6  (Perrot). 

QaqoL,  ^QTBfiLÖwQa,  ovdlg  ad-avaxog'  Tavra'  ^rjaaoa  erri  x^'. 
Von  diesen  18  Inschriften  ist  nur  n.  11  keine  Grabschrift;  in  n.  17* 
ist  die  Ergänzung  ravra  u.  s.  w.  so  unwahrscheinlich,  dass  ich  sie  ausser- 
halb der  Betrachtung  lasse.  Von  den  übrigen  hat  in  12  Inschriften  ravra 
ähnlich  wie  in  den  neun  ersten  keinen  grammatischen  oder  inhaltlichen 
Zusammenhang  mit  der  Hauptinschrift,  nur  in  vier  metrischen  n.  12,  14,  19, 
22  und  in  n.  18  bezieht  es  sich  unmittelbar  auf  den  Inhalt  der  eigent- 
lichen Grabschrift.  Die  ersteren  vier  lassen  den  Toten  über  die  Kürze 
des  Lebens  und  das  Elend  nach  dem  Tode  klagen  und  schliessen:  „darum 
sage  ich  euch  dies  (n.  12.  14.  19),  geniesset  euer  Leben;  denn  dies 
ist  das  einzige,  was  es  euch  zu  bieten  vermag  (n.  22),  und  nach  dem 
Tode  ists  nicht  mehr  möglich"  (n.  12.  22).  Auch  in  n.  18  gehört  ravra 
zu  dem  Verbum  „sagen":  rä  oot  Xeyofxeva  ravra,  leitet  aber  hier  eine 
an  den  Toten  gerichtete  Trostrede  ein,  die  den  festesten  Unsterblichkeits- 
glauben ausspricht.  Von  den  12  anderen  Inschriften  steht  dieser  An- 
wendung des  ravra  am  nächsten  n.  13,  wo  nach  dem  Grabgedicht  der 
Bassilla  der  an  die  Tote  gerichtete  Zusatz  steht  ravra  oi  ovoxrjvol  aov 
leyovGiV  evxpvxsL  BaoailXa,  ovdelg  ad'dvarog.  Ganz  selbständig  wie 
oben  n.  1.  3 — 7  findet  sich  ravra  hier  nur  n.  15;  ohne  grammatischen 
Zusammenhang  steht  es  n.  10  u.  26  nach  evxpvxei  [d-ägoei)'  ovöelg  ad-d- 


I 


294  Eduard  Loch 

vatog,  ähnlich  wie  n.  2  u.  8  nach  xai^€te,  n.  9  nach  evotd^cL ;  auch  n.  1 1 
gehört  dazu,  wo  es  sich  auf  die  epikureische  Sentenz  bezieht,  die  sich 
n.  20  wiederfindet.  'O  ßlog  lavra  steht  n.  21  u.  25  allein  am  Ende  von 
Grabschriften  mit  Fluch  resp.  Strafsumme,  n.  20  (mit  Bezug  auf  die  vor- 
hergehende Sentenz)  u.  24  neben  xa/^t(r6)  TtagoöeVtaii)  und  n.  23  vom 
Toten  an  den  Wanderer  gerichtet  in  der  Form  ro  ri'Kog  vjLiüiv  tov  ßlov 
Tama,  n.  16  u.  17  in  vollständigem  Satze  rauta  ovzojg  exi  {6  ßlog).  Diese 
beiden  letzten  Grabschriften  geben  auch  deutlich  die  Ergänzung  des  ellip- 
tischen 0  ßiog  TavTa  zu  dem  trivialen,  melancholischen  „Stossseufzer" : 
„So  geht's  im  Leben"  oder  „das  ist  nun  das  ganze  Leben",  c'est  lä  ce 
qu'est  la  vie  (Perrot  zu  n.  25),  haec  est  vitae  humanae  condicio 
(Hübner  zu  n.  8)  oder  vielleicht  besser  summa,  nämlich  dass  schliess- 
lich doch  jeder  sterben  muss  —  ein  auch  sonst  häufig  wiederkehrender 
locus  communis  vieler  Epigramme. 

Es  ist  nun  die  Frage,  ob  das  ravta  in  den  Inschriften  n.  1 — 9,  10, 
11,  15,  26,  wo  es  ganz  selbständig  steht,  auch  als  eine  Abkürzung  dieser 
Ausdrücke  anzusehen  und  wie  6  ßlog  raÜTa  aufzufassen  ist  —  wozu  uns 
n.  17  TavTa  ovrcog  exet  vollkommen  berechtigen  würde  — ,  oder  ob  wir 
in  einzelnen  Fällen  noch  eine  andere  Erklärung  dafür  geben  können. 

Nach  Analogie  von  n.  20,  23,  24  ist  wohl  auch  in  n.  16,  17,  21,  25  das 
0  ßlog  ravTcc  als  vom  Verstorbenen  gesprochen  zu  denken  und  an  die 
Überlebenden  oder  Vorübergehenden  gerichtet.  Dasselbe  ist  der  Fall  n.  2 
und  8  x^^Q^^'  TavTa  und  vielleicht  auch  n.  1,  5,  7,  15,  wo  sichere  An- 
haltspunkte fehlen.  Dagegen  n.  3,  4,  6  sind,  wie  wir  oben  gesehen  haben, 
an  die  Verstorbenen  gerichtet,  desgleichen  n.  26  und  n.  9  etoTa&i  xavxa, 
da  das  Verbum  im  Singular  steht  und  auf  dem  Stein  nur  ein  Toter  aber 
beide  Eltern  als  Stifter  genannt  sind.  Dass  man  auch  zum  Toten  ^agoei, 
evifjvxec,  evoTäd^ei  („sei  getrost  =  gräme  dich  nicht")  sagt,  ist  zwar  auf- 
fallend, aber  ganz  sicher  und  durch  viele  Inschriften  belegt  (vgl.  Rohde, 
Psyche  682),  wie  z.  B.  Kaib.  595,  wo  der  Verstorbene  selbst  sagt:  evipvxoi 
00% ig  ovx  7]fj,rjv  'Aal  eyevofjnqv ,  ovx  ei/m  xal  ov  kvrtovfiai  (d.  h.  akvTtog 
elfiL,  s.  oben  S.  281  f.).  In  n.  10  endlich  haben  wir  ein  Zwiegespräch  zwischen 
dem  Toten,  Ni7ii](poQog,  der  zuerst  zu  dem,  der  ihn  bestattet,  sagt:  „dies 
ist  das  menschliche  Schicksal;  evxpvxsi,  ovöelg  a&avaTog'  ravra'%  und 
dem  Bestattenden,  Ovdlrjg,  der  am  Schluss  dieselben  Worte  wiederholt: 
svipvx^t,  NiTiTjcpoQS,  ovdeig  a^avarog. 

Hier  könnte  man  die  obige  Bedeutung  des  ravra  nicht  passend 
finden,  weil  derselbe  Sinn  schon  durch  das  ziemlich  sicher  ergänzte 
[av&Q(jü]7tivov  ausgedrückt  ist.  Ausserdem  erinnert  diese  Inschrift  des 
Syrers  so  sehr  an  die  der  Bassilla  (n.  13)  mit  ihrem  Tavra  ooi  kiyovaiv, 


Zu  den  griechischen  Grabschriften.  295 

dass  man  auch  hier  das  ravta  lieber  zu  Tama  aot  Xiyw,  wie  wir  es 
in  n.  12  u.  19  haben,  ergänzen  möchte:  „Gräme  dich  nicht,  niemand  ist 
unsterblich ;  dies  sage  ich  dir  zum  Trost".  Natürlich  müsste  dann  ebenso 
auch  die  verwandte  Inschrift  aus  Syrien  (n.  26)  erklärt  werden,  wo  der 
Zuruf  der  Toten  gilt.  Auch  das  Epigramm  n.  1 1  giebt  besseren  Sinn,  wenn 
man  rooavia  le'y(ß  ergänzt:  „soviel  kann  ich  mit  Sicherheit  behaupten, 
wer  etwas  anderes  sagen  wird,  wird  lügen". 

Kann  man  also  bei  den  beiden  Grabschriften  n.  10  u.  n.  26  zweifeln, 
ob  man  die  erste  Erklärung  annimmt  oder  nach  Analogie  von  n.  12.  13. 
18.  19  ein  Uyo)  als  regierendes  Yerbum  ergänzt,  so  wird  man  doch,  wie 
ich  glaube,  für  die  neun  ersten  oben  genannten  Inschriften  und  n.  15  an 
der  Ergänzung  zu  tavTo,  ovtwq  exsi^  oder  6  ßlog  Tavrd  sotiv  festhalten 
dürfen.  Auffallend  ist  immerhin,  wie  sich  diese  singulare  Anwendung  des 
Wortes  gerade  in  den  westlichen  Ländern  ausgebreitet  hat. 


XIIL 
Die  Homerdeuterin  Demo. 

Von 

Arthur  Lndwich  (Königsberg  i.  Pr.). 

Frauennamen  hat  die  Geschichte  der  griechischen  Litteratur  ungleich 
mehr  aufzuweisen  als  die  der  römischen,  und  durchschnittlich  sind  die 
griechischen  auch  Ton  weit  höherem  Klange.  Zumeist  gehören  diese 
Namen,  wie  erklärlich,  denjenigen  Litteraturgebieten  an,  welche  von  jeher 
entweder  der  dichterischen  Phantasie  oder  der  spekulativen  Geistesthätig- 
keit  den  freiesten,  lockendsten  und  ausgiebigsten  Spielraum  dargeboten 
haben.  Die  übrigen  Litteraturgattungen  gleichfalls  in  den  Bereich  ihres 
Interesses  und  ihrer  schriftstellerischen  Beschäftigung  hineinzuziehen,  haben 
sich  die  Vertreterinnen  des  zarteren  Geschlechts  auch  in  Griechenland 
nur  ausnahmsweise  entschlossen.  Das  wird  niemand  auffällig  finden; 
denn  es  entspricht  der  Natur  der  Dinge,  und  noch  heute  liegen  infolge 
dessen  die  berührten  Verhältnisse  in  allen  Kulturstaaten  ganz  ähnlich. 
Wohl  aber  darf  es  befremden,  dass  die  Altertumsforschung  der  Neuzeit, 
die  ihre  Blicke  doch  ausnahmslos  auf  jede,  selbst  auf  die  unscheinbarste 
Kulturäusserung  Altgriechenlands  zu  richten  strebt,  also  keineswegs  bloss 
von  ästhetischen  Rücksichten  geleitet  sein  will,  jenen  schriftstellemden 
Damen  mit  so  ungleichmässiger  Courtoisie  gegenübertritt.  Um  die 
griechischen  Dichterinnen  nämlich  drängt  sich,  wie  um  ein  ausgesucht 
schönes  Studienobjekt,  ein  dichter  Kranz  prüfender,  bewundernder  und 
über  jedwede  Einzelheit  der  Erscheinung  eifrig  diskutierender  Forscher, 
um  die  griechischen  Denkerinnen  hingegen  herrscht  ringsum  öde  Grabes- 
stille, die  nur  selten  von  dem  flüchtig  vorübereilenden  Fusse  eines  ein- 
samen Touristen  gestört  wird.  Kein  Wunder,  dass  noch  immer  so  manche 
dieser  Denkerinnen  fast  völlig  in  Dunkelheit  gehüllt  erscheint,  obgleich 
es  durchaus  nicht  an  Hilfsmitteln  gebricht,  die  es  ermöglichen,  sie  in 
etwas  hellere  Beleuchtung  zu  rücken.  Ich  rechne  dahin  besonders  die 
philosophische  Homerdeuterin  Demo,  deren  Name  sogar  Fach- 
gelehrten kaum  je  zu  Ohren  gedrungen  zu  sein  scheint  und  deren  natur- 


Die  Homerdeuterin  Demo.  297 

philosophische  Spekulationen  über  den  wahren  Sinn  der  homerischen 
Gesänge  jedenfalls  derartig  verschollen  und  vergessen  sind,  dass  nicht 
einmal  ein  Mann  von  der  bewunderungswürdigen  Umsicht  und  Sorgfalt 
Ed.  Zeller's  sie  einer  Erwähnung  gewürdigt  hat.  Vielleicht  gelingt  es 
mir,  das  Andenken  dieser  Schriftstellerin  aus  den  Trümmern  der  vorhandenen 
Litteratur  zu  neuem  Leben  zu  erwecken.  Liebe  und  Begeisterung  freilich 
wird  sie  auch  so  wohl  kaum  noch  einem  Leser  entlocken ;  aber  das  Fünkchen 
teilnehmender  Erinnerung,  das  sie  verdient,  soll  ihr  ungeschmälert  bleiben. 

Um  sogleich  einen  festen  Boden  unter  den  Füssen  zu  gewinnen, 
stelle  ich  zuerst,  ehe  ich  mich  mit  der  Persönlichkeit  der  Demo  beschäftige, 
die  Fragmente  ihrer  Homerdeutung  zusammen,  soweit  mir  die- 
selben bekannt  geworden  sind.  Sie  lehren,  dass  Demo  sowohl  die 
Ilias  als  auch  die  Odyssee  kommentiert  hatte,  manche  Teile, 
z.  B.  den  Schild  des  Achilleus,  sogar  sehr  eingehend. 

1.  Schol.  Ambros.  (A  181  sup.),  Paris.  (2766)  und  Amstel.  Keg.  zu 
Hom.  ^591  QLipe,  jtodbg  reTayojv,  aito  ßrjlov  d-eaTteaLoLo: 
Kai  6  IlavvaOLog  de  tcc  TtiöiXa  ßioXa  ksysi.  xb  de  oXov  aXXiiyoQia' 
Xvei  de  avrrjv  b  Jrjfxwv,  Es  unterliegt  keinem  Zweifel,  dass,  gleichwie 
hier  Ilavvdoiog  {Tcavictoiog  Amst.)  aus  Uavvaoig^)  und  femer  ßioXa  (das 
im  Amst.  nicht  hinter,  sondern  vor  ta  Tteöda  steht)  aus  ßijXd  ^),  so  auch 
zum  Schlüsse  6  Jrji^wv  aus  rj  Jiq^af  verdorben  ist.  Den  Beweis  für 
die  Kichtigkeit  dieser  letzteren  Behauptung  liefern  die  anderen  Fragmente 
der  Demo  nebst  den  sonstigen  Korruptelen  dieses  Namens;  von  einem 
Demon,  der  homerische  Allegorien  geschrieben  hätte,  verlautet  nichts. 
Übrigens  war  das  Scholion  längst  von  Wassenbergh  aus  dem  Amstel.  Reg. 
bekannt  gemacht  (Horneri  lUadis  Über  I  et  II  p.  190),  aber  bisher 
wenig  beachtet;  Bekker  liess  es  weg.  —  Worin  die  in  meinen  Quellen 
fehlende  Xvoig  der  Demo  bestand,  lässt  sich  mit  Sicherheit  wohl  kaum  mehr 
nachweisen.  Aber  eine  merkliche  Geistesverwandschaft  mit  der  sonstigen 
Manier  der  Interpretin  verrät  Folgendes,  was  Eustathios,  der  sie  in  seinem 
gelehrten  Homerkommentar  mehrfach  anführt,  unter  Anderem  p.  157,  30  zu 
der  fraglichen  Homerstelle  sagt:  6  qiJiTÖfxevog  fxev  '^'Hcpaiatog  ovQavo&ev 


1)  Im  Schol.  Venet.  B  heisst  es:  xal  üavvaaiq  öh  xa  neöiXa  ßriXä  Xsyeu  Vgl. 
Panyassis  Fragm.  23  Kinkel.  —  2)  So  mit  Recht  der  eben  citierte  Venet.  B,  woselbst 
vorangeht:  si'^TjZca  dh  ßrjXbg  dno  tov  ßatveaBai,  wq  xal  oöbg  dno  xov  oöevsa&ai. 
Auf  die  nämliche  Etymologie  (die  im  Etym.  M.  186,  18  na^a  xo  ßdü  xo  ßaivo)  und 
196,21  dno  yuQ  xov  ßeßrixhat  xovq  S^sovg  in'  ccvxd)  xal  xovg  daxsQag  xeWl  ßalveiv 
siQTjxai  lautet  und  noch  öfter  vorkommt)  scheint  sich  Panyassis  gestützt  zu  haben. 
Über  die  falsche  Form  ßloXa,  die  auch  in  das  Wörterbuch  des  Suidas  gedrungen 
ist,  s.  Bernhardy  s.  v.  Noch  fehlerhafter  gaben  die  Notiz  auf  Grund  unzuverlässiger 
Überlieferung  die  bisherigen  Herausgeber  des  Etym.  M.  (196,34). 


298  Arthüe  Lüdwich 

eXrj  av  rj  twv  ava)d-€v  yMTaaKrj7CT6vTO)v  elg  yiiv  ttvqwÖlUv  y.arivey^tg, 
(j)  TLVi  ^HcpaioTii)  "Kai  oXlyog  d-vfxog  evean  ötori  ra  roiavta  hc*  okLyov 
k^agyiel'  tcc  ixbv  yccQ  TtoXXa  iv  t(^  fiiaq)  oßivvvvxai'  ooa  de  TLai  ^^XQt 
yrjg  kvex^^oc,  tct^v  OLcpoLvCQovTcti  v.ai  avra,  ei  firj  rivog  vXrjg  öga^a- 
fieva  ßgccxv  ^^  7caQ(xfieLvu)Ot,.  ycai  ToiavTT]  filv  oXtYxaxeQOv  i}  neQi  tov 
TOiovTOv  '^Hcpaiatov  akkrjyoQlai. 

2.  Schol.  Vulg.  (aus  welcher  Sammlung  die  Notiz  in  den  Venet  A 
und  in  andere  kommentierte  Iliascodices  übergegangen  ist)  zu  B  205 
elg  ßaOiXevg,  (^  öcükb  Kqovov  7calg  ay'/.vAoiU7]Tea):  ayY.vXo^r]- 
TTjg  6  KQovog  hiXrjxhr],  tJtoi^)  ayKvka  TiaV)  oxoliu^)  ßovkevaafj.evog  xatä 
TOV  TtaTQog  Kai  rwv  7talöo)v,  wg  cpr^oiv^)  'Halodog"')'  tov  fikv  yaQ*) 
Tct  aidola  Trj  aQTtjj  aTteTefie^)^  zovg  öe^°)  xarirtiev^^  rj  o")  ira")  ay*- 
XüAa")  yal  övoxeQTJ  7CQayiiaxa^^)  ttj  fi7]TL^^)  TteQLXafxßavtov,  xogovovg") 
Tig^^)  cov  xal  reXetog  vovg^^),  wg  (prjOL^)  xal  r]  z/?y^/w*').  So  geben  das 
Scholion  die  älteren  Ausgaben :  es  in  seiner  ursprünglichen  Gestalt  wieder 
herzustellen,  ist  Sache  desjenigen,  der  uns  einmal  die  Vulgärscholien 
rationell  bearbeiten  wird.  Was  ich  gelegentlich  an  Varianten  gesammelt 
habe,  führe  ich  in  den  Anmerkungen  vollständig  an:  für  meinen  gegen- 
wärtigen Zweck  sind  sie  samt  und  sonders  so  gut  wie  ohne  jeden  Belang, 
und  höchstens  die  Verunstaltungen  des  Namens  der  Schriftstellerin  ver- 


3)  riTOL]  rJTOi  6  G(  =  Ambros.  L  116  sup.)  M  (=  Angelic.  bei  Matranga  Anecd. 
gr.ll  p.  465)  R(=Riccard. 30);  oxt  K (=  Ambros.  L  73  sup.).  —  4)  ayxv?.ofii]T7]g  bis 
xal]  ivzav^a  de  6  Q  (=  Paris.  2766).  —  5)  oxohä  A  (=  Venet.  454).  —  6)  wg  (priolv 
A,  ebenso  T  (=  Laurent.,  olim  Abbat.  Florent.,  48);  wq  (pr^aiv  Z  (=  Vatican.  33);  fehlt 
K,  —  1)  6  rioioöoQ  A;  rjaioöog  (xid^co  Q;  rjGioöov  fivd^og  M  {(xv^og  am  Bande  G); 
fehlt K.  —  ^)nazQog  r,TOi  xov  ovgavov  fügt  zuT.  —  9)  dnhsfisv  TZ;  dazu  otv^v  xij 
S^aXdcarj  QKpevzcov  xal  d(pQov  TtoiTjadwcDV  dvsöo&t]  xöqti  d(pQOÖizri  T.  —  10)  de  mit 
doppeltem  Gravis  KQTZ.  —  11)  xazsTiiev  MTZ  mit  der  Vulgata;  xazsnivsv  AGQR; 
xazs(payev^.  —  12)  o  fehlt  MT.  —13)  r«  fehlt  M.  —  14)  dyxvXa  Q.  Hier  folgt  ;ca2 
axoXid  in  A  und  meinen  übrigen  Handschriften,  ausser  Z.  —  15)  xal  övaxsgij  Ttgay- 
fjiaza]7tQdyfJ.aza  xal  öva/sgr]  M;  xal  66ha  xal  övaxsQrj  Tcgdyfiaza  K.  —  16)  ßi]Zi] 
(iriZLÖL  alle  meine  Handschriften,  nur  T  ^Iziöi.  —  17)  TiQÖvovg  die  in  Amsterdam  1656 
accurante  Com.  Schrevelio  erschienene  Ausgabe,  falsch.  —  18)  t2?  oder  rt?  AMQRZ. 
—  19)  vovg  und  was  folgt  fehlt  Q.  —  20)  wg  (prjol  T;  wg  <priGL  Z;  wg  <pT]alv  A;  fehlt 
in  GKMR  und  in  dem  von  Dindorf  (Bandl  p.  90  seiner  Scholienausgabe)  erwähnten 
Vatic.  915. —  21)  xal  ^  SrifjLw  MTZ  mit  der  Vulgata;  xal  rj  ÖTjfiw  A  (nicht '/%'/Mß>v, 
wie  Bekker  hat);  xal  elörißwv  GR  mit  dem  eben  genannten  Vatic;  fehlt K.  Hierzu 
sagt  Osann  (Z.  Annaei  Cornuti  de  nat.  deor.  p.  23):  in  schol.  in  Iliad.  ß  305  verbis 
ab  editoribus  R,  Steph.  allatis  wg  ipriai  xal  rj  /Jtjfiw,  ubi  legendum  proponilur  xal  6 
J^fiwv,  ego  malim  legi  xal  Evöaifjiwv,  huc  ducente  ipsa  cod.  Ven.  lectione  '^Höjjfiwv. 
Eudaemonem  vero  inielligo  cum  grammaticum  Pelusiotam,  qui  Libanii,  cui  et  scripta 
quaedam  dedicasse  dicitur,  aequalis  quum  alia  tum  etiam  ^Ovofiaazixr^v  OQ^oyga- 
(pLav  scripsit.  Aber  Osann's  eigene  Konjektur  ist  offenbar  ebenso  verfehlt  wie  die 
von  ihm  erwähnte. 


Die  Homerdeuteria  Demo.  299 

dienen  hier  Beachtung  als  Stutze  meiner  Konjektur  in  Frgm.  1.  — Die 
Etymologie  von  KqSvoq  reimte  sich  Demo  vermutlich  in  derselben  Weise 
zusammen  wie  Plotin.  Enn.  V  1,  7  ra  fnvaTrjQia  y.al  ol  jliv^ol  ol  TtsQi 
d-Biav  aivlzrovrat  Kqovov  ^ev  d^eov  Goq)WTaTov  Ttgo  tov  /fwg  yevi- 
ad-ai  [öia  to]  a  yevva  TtaXtv  Iv  eavTco  exeiv,  ^  xai  7tXriQrjg  xal  vovg  Iv 
Kogq),  oder  wie  der  Verfasser  des  Artikels  im  Etym.  M.  540,  4  6  Kgovog 
Trjg  voegag  ^wrjg  eatt  öorrjg,  Kogog  wv  tov  vov.  Eine  andere  (von  xogiu) 
'reinige'),  die  mehr  Beifall  fand,  hat  Plato  im  Kratylos  p.  396^. 

3.  Schol.  V  zu  Lukian.  Ikaromen.  c.  23  tL  av  liyoig,  q)r]oiv, 
'Qtov  Ttigt  -aal  'EcpialTOV ,  otvov  xal  Miv LTtTCog  eto Ifirjaev 
lg  TOV  ovgavov  avekd-elv  (Band  IV  p.  204  Jacobitz) :  'Qiog  xal  ^Eq)Lal- 
TTig  rjd-iXrjoav  eig  tov  ovgavov  aveXd-elv  xccl  örj  ogt]  ejtL&ivTeg  aklo 
STC^  aklo  aveßatvov.  ArtoXhißv  TovTOvg  iTO^evoe.  xal  6  fxhv  fxvd-og 
ovTog'  T}  di  ye  aXkriyogia'  ovtoi  cpvavKoX  cpiXooocpoi  ovTsg  Oeoüakol, 
^^k(x)io}g  Tcaldeg,  TtgwTot  ava(xeTgelv  €7teigdd'rjaav  tcc  twv  ovgaviwv 
oüjfxaTa  ctTto  Trjg  yfjg,  exgoivTO  tb  Tolg  ogeatv  viprjkoTaToig  T-ijg  Qeaaa- 
klag  eig  tovto  'Aal  Ttj  e^  £K€lva)v  ama.  ovveßiq  6e  avTOvg  eycel&ev  Tieaeiv 
y.al  CTCO&avBiv'  od-ev  y.a\  6  ^ivO^og  rc^TcXaöTai,  tog  loTogsi  ^r^fxco^^).  Aller 
Wahrscheinlichkeit  nach  stammt  diese  Notiz  gleichfalls  aus  den  home- 
rischen Allgorien  der  Demo^'^")  und  bezog  sich  ursprünglich  auf  E  385 
tXtj  fxev  ^grjg,  otb  (xtv  'QTog  xgaTsgog  t  ^Eg)iakTr]g,  Ttalöeg  l^Xwrjog,  örjoav 
'AgaTegi^  evl  dsofxcp  (vgl.  k  308).  Die  Deutung,  wonach  Otos  und  Ephialtes 
bei  Lebzeiten  nichts  Anderes  als  ^ ovgavoUG%ai  gewesen  sein  sollen, 
ist  auch  dem  Eustathios  bekannt  (p.  1687,  49).  Nach  ihrem  Tode  erst 
wurden  sie,  wie  das  nächstfolgende  Fragment  vermuten  lässt,  von  Einigen 
als  Krebs  und  Löwe  unter  die  Gestirne  versetzt. 

22)  /iriiiQ)  .  .]  sie  scriptum  est  in  cod.  ms.  An  hie  autem  intelligatur  drifio^ 
ad^ivTjg  Thrax  grammatieus ,  de  quo  Suidas ,  an  alius ,  iuxta  cum  ignarissimis  novi. 
Clericus.  Jacobitz  hat  diese  Note  anstandslos  wieder  abdrucken  lassen,  ohne  sich 
dessen  zu  erinnern,  was  Lobeck  Aglaopham.  p.  987  dagegen  bemerkte:  Demo,  quae 
omnem  mythologiam  ad  mathematicam  retulit,  Otum  et  Ephialtem  Astrologis  ad- 
numerat  Schol  Lucian.  Icarom.  p.  34.  T.  IX.  ubi  pessime  labitur  Clericus, 
Endymionem  Plinius  H.  N.  II.  6.  p.  129.  Bip.  et  alii  v.  Heyn.  Opusc.  Acad.T.  IL  234 
[vielmehr  346  f.],  Atreum  Servius  Aen.  I.  563.  Auch  Theodor  Müller  Hess  sich  diesen 
Wink  entgehen,  Fragm.  histor.  gr.  I  p.  LXXXIII:  Demonem  Atthidis  seriptorem 
Siebeiis  bene  distinxit  a  Demone  Sicyonio ,  philosopho  Pythagorico  feui  vindicanda 
nohis  esse  videntur,  quae  apud  schol.  ad  Lucian.  Icarom.  19  legnntur).  Sein  Bruder 
Karl  berichtigte  dies,  IV  p.  626:  Quibus  verbis  neque  Atthidis  scriptor  JijfKov  lau* 
datur,  neque  philosophus  quem  lamblichus  v.  Pyth.  36  inter  Pythagoreos  recenset, 
nisi  forte  virum  cum  femina  confandi  puiaveris.  —  22  a)  Schon  H.  Usener,  der  Ein- 
zige, der  sich  bisher  etwas  eingehender  über  Demo  ausgesprochen  hat  (Rhein.  Mus. 
N.  F.  XXVIII  1873  S.  414  ff.),  nahm  dies  an,  S.  415.  (In  seiner  daselbst  gemachten 
Zusammenstellung  der  Bruchstücke  fehlen  Frgm.  1.  6.  7.  9,  ebenso  bei  H.  Schrader 
Porphyrii  quaesiionum  Born,  ad  Iliadem  pertinentium  reliqu.  p.  409 J. 


300  Arthur  Ludwich 

4.  Eustathios  zu  E  387  xaAx^^  d^  kv  negd^t^  diöero  TgLOxal- 
dexa  fxrivag  (p.  560,37):  7}  /nivToi,  Jri^u)  /nadirjfxaTixwg  ravta  re&eQa- 
7cevY,e^^),  Xiyovoa  xaXy,eov  (xhv  xegafiov  zov  vtio  tov  ycoirjTov  xa/.x€oy 
xaXovf^evov  ovgavov,  öeofiov  öe  uägeog  T;Qiay,aLdexafir]vov  %b  %ov  ^geog 
Tov  TtXdvrjrog  aotigog  ndd-og  tov  Xeyoiievov  otrjgiyfioVf  ov  7cdax€c  yevo- 
(xevog  TtQog  Kagyclvoj  xai  yliovtL  knl  fxrjvag  otctoj,  eri  de  xai  etzI  kti- 
Qovg  7C€VT€,  ot  Tjj  TtQüJTjj  avTOv  'Attl  öcvT^Qa  avojf.iakla  7iQoa),oyLt,ovTai, 
J^Xwiwg  6k  Ttalöag  öi^oavTag  tov  toiovtov  IkgTjv  Xiyec  %d  dtaXtjcp&ivTa 
ovo  -d-SQLvd  ^(ijöia^^'^),  TOV  Kagmvov  xal  tov  AiovTa,  Ttgog  olg  6  rjliog 
yevo^evog  tov  dXodv  sotiv  aiTiog.    xai  TOLavTa  uev  TavTa, 

5.  Schol.  BT  zu  E  722  (L  zu  E  728)  "Üßri  d'  dfiq)"  (xieaat  &owg 
ßdle  yiaiXTtvla  y,vY.Xa:  tov")  T^g  ^'Hgag  ölq)QOv^)  ovTOjg  r]  ^rjficj 
cpvoioXoyel'  Hgav  ydq  q)r]OLV  elvai  tov  diga'  ttjv  öh  q)vaiv  tov  otoi- 
XeLov  g)rjGV^)  tov  TtoirjTrjv  kxTid'i^evov^'^  tu  ixev  TtegLyeia  avTOv  ^igr^y 
aTteg  IotI  ^oq)wÖ€GT€gd  t€^^)  xal  TtoXv  to^)  yetjöeg  exovTa,  Talg  Tta- 
XVT^gaig  vkaig  eixd^eLV^^),  ;faAx^  t€  xal  OLÖrjga)^^)'  y,al  xQ^^ov  dh^) 
juegixwg  lyviaTe^i^ev,  tatjg  öid  to  Ttoowg  vtto  rjXiov  cpwTiCead^aL'  tu 
bl^^)  fxeTecogoTega,  tov  gv(A,6v^^)  g)rjiLit,  dgyvgeov^)  leyet^),  to  de  TidvTwv 
dvcoTegw  xal  Gvvri^fxhov^'^)  T(p  ald-egt  xQ^^^ov  tvyov^)  —  avvH^evKTai, 
ydg  TOVTCp^^)  — ,  IfxdvTag  de  XQ'^f^ovg*'^)  xai  dgyvgovg*^)  Tovg  e^  ^Xlov 
Kai  oeh']vrjg  cpwTio^ovg,  ovo  öh  dvTvyag^^)  tc  VTtoyeiov  Te  xal  vrtigyeuov 
ri(j,Lö(paLgLov.  Auf  die  nämliche  Homerstelle  bezieht  sich  das  nächst- 
folgende Fragment;  doch  stand  ich  aus  leicht  ersichtlichen  Gründen  da- 
von ab,  beide  mit  einander  zu  vereinigen. 

6.  Eustathios  zu  E  729  tov  6^  e^  dgyvgeog  gv/^iog  TtiXev 
avTag  e7t^  axgo)  örjoe  y^gvoeiov  %aX6v  ^vyov,  ev  de  XeTtadva 
ycdl^  eßale,  %^t;a£^a  (p.  598,41):  aiviTTeTai  dh  TavTa  xara  ttjv 
dXXrjyoglav  Trjg  Jriy.ovg  elg  ttjv  tov  aegog  (pvGLv  6  TtoirjTi^g,  ov  rd  fiev  jcegl 

23)  Über  diesen  technischen  Ausdruck  vgl.  Lobeck  Aglaoph.  p.  156.  —  23  a) 
t,<6öLa  und  nachher  dXioäv  der  Leipziger  Druck. 

24)  xov  öh  B  (nach  Dindorf).  —  25)  öL(pQOv  xijg  "HQtxg  T  (nach  Maass).  L  scheint 
das  Scholion  aus  T  abgeschrieben  zu  haben  und  durfte  deshalb  unberücksichtigt  blei- 
ben. —  26)  (prjal  fehlt  B.  —  27)  ixri&^fxsvov  hat  T  schon  hinter  ttjv  öh  (pvaiv.  — 
28)  ^o<p(oösaTeQa  (ohne  ze)  T.  —  29)  to  fehlt  B.  —  30)  eixa^si  T.  —  31)  ^  723 
Xahcsa  oxrdxvrjfia,  aiörjgeo)  d^ovi  dßcplg.  twv  ^zoi  XQ^^^V  ^'^^?  dq)^ixoq,  avxag 
vTisgS^sv  x^^s^  iTtlaacüzga  nQoaagrjgoza,  d^avfjLa  löead-ai.  —  32)  öh  fehlt  T,  —  33) 
T«  fisvzoL  T.  —  34)  QVfiov  ÖS  T.  —  35)  dgyvgsa  conj.  Maass:  allein  an  Verderbnis 
ist  hier  schwerlich  zu  denken,  sondern  eher  an  Attraktion  (oder  an  den  u.  A.  von 
Kühner  Ausf.  Gramm,  d.  gr.  Spr.  IP  S.  53  besprochenen  Gräcismus).  —  36)  E  729 
TOV  <J*  i^  dgyvgsog  gvfxog  TtiXev.  — 37)  avvatphg  T.  —  38)  E  729  f.  avzdg  iic'  äxgio 
öfjas  X(>^(re40v  xaXov  t,vy6v.  —  39)  zovzto  B;  zip  al&sgi  T.  —  40)  xQ^^^ovg  T.  — 
41)  {dgyvQsovg  conj.  Maass!)  E  727  öi(pQog  öh  XQ^^^^^*^  ^^^  dgyvgioiaiv  Ifiaaiv 
ivzhazai.  —  42)  £  728  öoial  öh  nsgiögofioi  ävzvyig  elaiv. 


Die  Homerdeuterin  Demo.  301 

yrjv  7t€7taxvvtai  xal  ov  TtoXv  fuev  exovoi  lo  )m(X7Cq6v,  wg  ovöe  o  xaXuog 
ovök  6  olörjQog,  exovoi  d^  ofxcog  xaL  tl  cpasLvbv  'aoL  olov  XQyf^sov  IJ  i^liov, 
10  avaTietTOL  6  xQ^^og.  la  de  avcotaTO)  Tcad-aQWTaTa  eiat  ycal  aQQVTcavTo 
öia  To  Tcdvrj]  avecpelov,  Tial  öicc  tovto  olov  agyvQa  xai  /^vaa*  oww 
yccQ  yial  6  XQ^^^S  t^ov  aveTtlöenTog  eoii  -/.al  XafxrcQog.  dio  'Aal  acpd-iTog 
Aal  Aalog  Xeyerac,  xal  tcc  e^  avTOv  egya  xakd. 

7.  Eustathios  zu  Q  383  '^'Hqt]  Tcg^oßa  d-ed^  d-vydxi^g  ^eydXoLO 
Kqovoco  (p. 719,  44) :  i^aXel  de  Tial  rbv Kqovov  ovvr]&a}g  ev  lomoig '^fniyav' 
6  ftoirjTrjg  .  .  .  /al  Zevg  de  ovtw  f^^yag  xara  to  ^^wg  fieydloio  eArjTL 
y.ai  *^t/  vv  f^rjorj,  fxeydle  Zev\  ei  xal  rj  Jrjfxu)  t(^  Kqovco  to  ^eyaXelov 
d7toY.lriQol  did  to  lov  doiiqog  iieyed^og.  Woher  die  beiden  Beweisstellen 
genommen  sein  mögen,  entzieht  sich  meiner  Kenntnis.  Die  erstere,  Jiog 
ueyctXoio  e^rjri,  könnte  daher  entstanden  sein,  dass  Eustathios  das  bei 
Homer  so  häufige  Jiog  fieydXoio  irrtümlich  mit  v  42  Jiog  %e  oe&ev  re 
eynqTi  vermengte  (falls  er  hier  nicht  etwa  wirklich  Jibg  fieydXoio  e>cr}TL  in 
seiner  Handschrift  hatte).  Stammt  die  zweite  Stelle  ebenfalls  aus  einem 
Hexameter,  so  lautete  sie  vielleicht  ursprünglich:  tI  vv  fxrioeai^%  w  ^e- 
yäXe  Zev.  Aber  sicher  ist  das  nicht.  Die  Worte  w  (xeyctXe  Zev  kommen 
unter  Anderen  bei  Äschyl.  Sieb.  804  vor. 

8.  Eustathios  zu  2  481  Ttevre  6*  ccq^  avtov  eoav  od^eog 
Ttrvx^g  (p.  1154,42):  awUa  rj  Jrifiu)  Trjv'OinrjQiyirjv  TavTrjv  oXr^v  ctGJtL- 
SoTtoilav  avdyovoa*^)  TotavTcc  (pr^aiV  ort  QiTtg  fiev  7]  td  TOiavTa  fie- 
ooXaßrjOaoa  ItzI  xrig  twv  ev  Tjj  KOGfj-oyevela  TCQayfxdTwv  d-iaewg  elbkrj- 
Titai  T(^  TtoiriTy,  dcd  de  tov  Ttvqog  xai  Trjg  Ttvo'^g,  rjv  e^avtelatv,  wg 
TtQoedrjXwd-rj ,  al  fpvaai,  rd  7toir]TtKd  xal  ÖQttOTrjQia  twv  orocx^lwv 
aiviiteTai,  aiga  aal  TtvQ,  ov  zag  aTtOTOfidöag  drtOQQoLag  XQvodg  vedvi- 
öag  VTtovqyovg  ^Hg)alGT0v  naXel.  öid  öe  rov  ytvy.XoteQOvg  odxovg  to  xaTor 
Toy  og)aiQoeLÖrj  y.6ofxov  oxf^ia  evöeUvvTai'  oqjalgag  ydg  yeveolg  eoiLV 
ri(XLY.vy.XLov  TteQievex^ivTog  aTtoyiaTdoTaOig.  td  öe  Tiq-Ko^eva,  6  XQ^^og 
6  x«^^og  0  dqyvQog  6  xaoolreQog,  lolg  oxoLxeioig  etzd^ovrai  öid  tjjv 
TtQog  eytelva  twv  tolovtwv  uezdXXcjv  ejiiq)eQeLav.  6  XQ^^bg  fxhv  ydq  y.a\ 
6  dieigrig*''^),  o  Iotl  övoxar^Qyaorog  xccXxog,  eHxaojac  tvvqI  xal  yjjj  6  de 
fxaXav,bg  Y.a,\  olov  QevOTLy.bg  yaoolTegog  vöaTi,  digi  ök  dgyvgog  6  tcqiv 
rj  oi^rjx^vaL  fxiXccg  wv  xai  df^cyi^g,  ov  vozegov  eTCKpalvet  cpWTog.  xai 
TavTa  fiev  ovto)  ov/^ßoXiywg.  fzer^  oXLya  de  g)r}GLV  17  avTrj  q>iX6aog)og, 
OTL  yal  Tolg  yvQwig  twv  otoix^Iojv  ovofiaOL  XQ^'^^c^  0  7C0irjTi]g,  ^  ev  fxlv 
yalixv  eTev^e^  Xiywvy  "^  ev  ö^  ovgavov,   ev  öe  d-dXaooav^  [-5"  483]'  to  ök 

43)  Vgl.  X  474  öxstXls,  tinx*  hi  fiel^ov  ivl  (pQSol  firiaeai  sgyov;  —  44)  Vgl. 
über  den  Ausdruck  Lobeck  Aglaoph.  p.  88.  —  44  a)  Sie  las  2*  485  iv  öe  t'  dzeigsa 


302  Arthur  Ludwioh 

ThaQTOv  OTOixBlov  avTog  ioTLv  6  10  oaKog  tevx(üv  "Hcpaioiog.  trjy  Sk 
'  rQlTtXccyca  /uaQ/nagirjv  [480]  avTvya  rbv  ^ojdiazov  ixelvrj  kiyu  'avtaKov 
aivlTTCO-i^ai,  TQucXaxa  f.dv  dia  to  TtXotTog  avrov,  y.ax^'  o  rj  xixtv  JcXavq- 
i(jjv  xlvTjOig,  inaQf^aQirjv  dk  öia  tov  rjkiov  tov  dia  fiiawv  ovx  e^caza^ 
juevov  nal  to  (pwg  ecp  okov  avtov  Ttifxnowa  (.la^y-aLgeLV  ze  xal  (paeivbv 
elvoL  tov  xvxAov  7toi€lv.  tov  Ö€  '  ccQyvgeov  TeXafiwva  [480],  Öl  ov  ^ 
aöTtlg  ex  ruiv  axgcov  avixBxai,  eig  tov  a^ova  /uejafp^gei  tov  to  tcov 
avixovTa,  e^rjQTrjfxivov  waireg  Toi  ccvwTaTw  aid-igog  xal  öia  fiiöov  f^g 
yijg  TJxovra  xal  btcI  xa  voTia  TtCQaTOv/uevov  xal  TtagixovTa  OTgicpeOx^ai 
TOV  ovgavov  Ttegl  avTov,  vjt  avTov  avexofievov.  Tag  de  nevte  uTvxag 
TOV  odxovg  Tovg  TcagaXXijXovg  xvxXovg  voel,  eig  ovg  diaigelTai  6  xoofiog, 
TJyovv  TOV  agxTtxov,  og  t(^  ßogeUt)  Ttoht)  kyyl^ei,  xal  tov  T(p  Nofq)  ngoO' 
xvgovvTa  avTagxrtxov,  xal  Tovg  ovo  Tgofcixovg ,  iqyovv  tov  ngbg  t(^ 
Bogga  S-egivov  xal  tov  ngbg  TCp  NoTq)  ;f6t^€^tvdy,  xal  nifiTtTOv  tov 
(.leaov  avTwv  iorjinegLvov,  eig  ov  "Hliog  el^wv  iaatei  Tag  '^/uegag  Talg 
vv^iv,  wv  TcevTB  TtTvxcüv  ftear]  fihv  xQt^o^ci  xaS"^  '^'Ofirjgov,  6  iarjfiegivog 
dt]Xaörj,  ei  f-irj  Tig  xal  tyjv  öiaxexav/itevrjv  ^wvrjv  TavTrjv  eS^eXeL  voelv.  ovo 
de  evöov  xaooiTegov  ol  Tgomxol  öta  t6  evTovwg^^)  evxgaTOv,  e^WTctTO) 
de  x^^'^^^h  "^  '^Qog  TOlg  TtoXoig,  xaTeoxXr]xvlal  nojg  dia  ttjv  btcI  tvoXv 
TOV  rjXlov  aitoOTaöLv.  xal  TOiavTa  einovoa  rj  ooq)r]  aOTtidoTtoibg  xoi 
TTjv  TjcpaiavoTevxTov  xal  xaS-^  vXr]v  aOTtida  jueTaaxevdoaoa  voegwTegov 
ov^ßißdtei  xal  Tct  Jtegl  TtZv  jtoXetov  xal  oaa  dXXa  Xeyei  6  TioirjT'^g  er 
TJj  aOTtidoTtoda,  Xeyovaa  oti  Ttgct^eig  dvd'gojTtwv  noXifitp  xal  eigijvrj 
TcgeTcovoag,  vg)'  wv  6  xad-'  rj^ag  dioixelTai  ßiog,  anayyiXXei  di  avTwv 
6  TtOLTjTTjg,  eiGrjyrjTrjg  Trjg  agloTr^g  ytyvofievog  Ttgd^ewg.  tov  (povov  de, 
ov  Ttotvrj,  TOVTeOTi  ngoOTi^ov,  dvo  TaXavTa  Ted-eiTat,  axovöiov  elvai 
voel.  xal  TO  ^  afiq)(x)  de  ieod-riv  enl  YoTogi  [501],  6  Iotlv  fxdgrvgi, 
/LiagTvgwv  Xeyei  dr\Xo\)V  fcagdXrjiptv,  1^'  olg  TtoXXdxig  t6  Ttigag  Trjg  dlxrjgy 
xal  oXwg  aTtodeixvvOi  TtXaTVTaTVjV  ttjv  doTCLdonouav  Tvegl  ^eicov  xal 
avd-gwTcivoiv  elvai  tc^  7toir]Tfj  dtdXe^iv. 

9.  Eustathios  zu  ^  367  vavT'  ag^  doidog  aeide  7tegtxXv%6g 
(p.  1597,59):  xal  ovTOi  fxiv  Tiveg.  exegot  de  fxad^fxaTLXojTegov  eTtißaXov 
Tolg  giqd^elaLV,  wg  xal  rj  ^rjf^cü ,  oxeoeig  Tivdg  g)iXoGoq)ovvTeg  twv  Tolg 
^eoig  o^wvviACJv  doTegwv  ^geog  re  xal  L^q^godiTrjg  xal  HXlov.  ot 
xal  xXifxaxTrigdg  Tivag  l§  ll4geog  eTtixeifjiivovg  dngaxTelv  TtXavaivTat, 
^cpgodlTYjg  djtayovorjg  avTovg,  wg  exeivoi  Teg&gevovTai ,  did  g)iXlav 
TYjv   Ttgog  TOV  ^gr]v.    aXXoi   dk  aTcXovaTegov  eTtißdXXovzeg  ^(pgodlTTjv 

VOOVGL   TTjV  /a^tV    XTB. 


45)  EVTOvog  der  Leipziger  Druck. 


Die  Homerdeuterin  Demo.  303 

Dies  sind  meines  Wissens  die  wenigen  Fragmente  alle,  welche  aus- 
drücklich mit  dem  Namen  der  Demo  gekennzeichnet  erscheinen.  Wer 
indessen  die  Art  des  Eustathios  und  der  übrigen  homerischen  Scholiasten 
näher  kennt,  wird  keinen  Augenblick  daran  zweifeln,  dass  viel  zahlreichere 
anonyme  Stücke  des  nämlichen  Genres,  die  bei  ihnen  verstreut  vor- 
kommen, auf  ebendieselbe  Quelle  zurückgeführt  werden  müssen.  Ja,  ich 
bin  überzeugt,  dass  sogar  noch  eine  zusammenhängende,  recht  um- 
fangreiche und  in  sich  vollständige  Reihe  von  Erläuterungen  aus  dem 
allegorisierenden  Homerkommentare  der  Demo  durch  einen  glücklichen 
Zufall  dem  Untergange  entronnen  ist.  Da  sie  jedes  Titels  sowie  jeder 
Unterschrift  ermangelt,  so  kann  der  Beweis  für  die  Richtigkeit  meiner 
Ansicht  allerdings  nur  durch  innere  Gründe  erbracht  werden.  Ein  wenig 
erschwert  wird  mir  dies  dadurch,  dass  jenes  Schriftstück  bisher  sonder- 
barerweise noch  gar  nicht  publiziert  war,  auch  zu  gross  ist,  als  dass  ich 
es  an  dieser  Stelle  vollständig  mit  aufnehmen  könnte.  Ich  habe  es  in 
dem  füst  gleichzeitig  mit  diesem  Aufsatze  ausgegebenen  Vorlesungsver- 
zeichnisse unserer  Universität  (für  den  Sommer  1895)  abdrucken  lassen, 
darf  mich  also  hier  wohl  auf  solche  Mitteilungen  daraus  beschränken, 
die  mir  besonders  geeignet  erscheinen,  meiner  so  eben  geäusserten  Über- 
zeugung die  notwendige  thatsächliche  Unterlage  zu  geben. 

Das  Schriftstück,  welches  ich  meine,  lernte  ich  erst  im  Jahre  1893 
kennen,  als  mir  die  Wiener  Hofbibliothek  mit  oft  von  mir  erprobter, 
dankenswerter  Bereitwilligkeit  ihren  Iliascodex  Nr.  49  (ol.  188)  hierher 
sandte  ^^).  Dieser  jetzt  aus  80  beschriebenen  Blättern  in  Kleinfolio  be- 
stehende Codex  (bombycinus)  enthält  in  seinem  gegenwärtigen  Zustande 
nur  Fragmente  der  Ilias  und  dazugehöriger  Erläuterungen.  Über  den 
78.  Vers  des  neunten  Buches  gingen  dieselben  eine  Zeit  lang^^)  nicht 
hinaus.  Der  Buchbinder  hat  die  Bruchstücke  nicht  alle  richtig  eingeordnet 
(wodurch  T  227—287  erst  hinter  E  172,  E  630—0  299  hinter  /  78 
geraten  sind).  Nach  Blatt  7,  das  mit  A  Zl^  schliesst,  schob  er  überdies 
4V4  Blätter  (jetzt  Fol.  8 — 12)  eines  von  anderer  Hand  und  auf  festerem 
Papier  geschriebenen  Kommentars  ein,  der  fast  das  ganze  erste  Buch 
der  Blas  behandelt.  Dieser  eben  ist  es,  den  ich  der  Demo  zuweise.  Die 
mit  Abbreviaturen  überladene,  sehr  gut  erhaltene  Schrift  gehört  ins 
13.  Jahrhundert.  Auf  jeder  Seite  stehen  36—38  Zeilen,  ausser  auf  der 
letzten  (jetzt  Fol.  12'),  die  nur  574  Zeilen  hat.  Hier  brach  der  Schreiber 
ab  (mit  einem  Doppelpunkt  :  aufhörend,  wie  er  ihn  gewöhnlich  braucht, 

46)  Er  gehört  zu  der  von  mir  im  Programm  Acad.  Alb.  Kegim.  1892  HI  p.  12 
erwähnten  Handschriftenklasse,  in  welcher  der  Schiffskatalog  fehlt.  —  47)  Eine  späte 
Hand  fügte  auf  Fol.  55v  noch  /  79-90  hinzu. 


304  Arthur  Ludwich 

um  die  einzelnen  Anmerkungen  von  einander  zu  trennen),  indem  er  das 
ganze  übrige  Blatt  leer  liess,  das  später  zum  grossem  Teile  weggeschnitten 
wurde  ^''). 

Der  Anfang  des  Kommentars  lautet:  [f]vTav&a  voritiov  '&€av'  Trjv 
oocpLav  Tov  TiOLrjTOv'  Toiaurrj  yuQ  rj  do^a  twv  'EXXr]vo}v  vTcccQxei'  Ttavra 
Tct  vTtegixovra  avtwv  d-eovg  ovo/xd^ovocv,  olov  Tr)v  x^akaooav,  tov  ov- 
Qavov,  TTjv  yrjv,  rbv  i^hov '  dw  xat  rj  oocpla  wg  VTcegixovoa  avtwv  ytal 
öia  Tijg  eig  lo  ßelriov  aywyrjg  ^eTaßeßXrjytivac  öwa/iivr]  ^ea  tcoq' 
avTCüv  ovoixaKsTai,  Es  könnte  den  Anschein  erwecken,  als  wenn  hier 
nichts  weiter  fehle  als  der  (möglichenfalls  jetzt  bloss  verklebte)  Anfangs- 
buchstabe und  die  (ein-  bis  zweizeilige)  Überschrift'"),  beides  dem  Rubricator 
zur  Ausfüllung  überlassen.  Allein  ich  vermisse  ausserdem  noch  das 
sonst  regelmässig  vorgesetzte  Lemma  (hier  also  (.irjvLv  aeide,  O-ea,  y.zL); 
und  ferner  halte  ich  es  nicht  für  recht  glaublich,  dass,  wer  auch  immer 
diese  allegorische  Homerauslegung  verfasste,  gleich  mit  der  Thüre  ins 
Haus  gefallen  sein  sollte,  ohne  eine,  wenn  auch  noch  so  kurze,  Einleitung 
(gleich  der  des  Herakleitos  etwa)  über  die  Grundsätze  seiner  exegetischen 
Methode  voranzuschicken.  Dies  führt  mich  zu  der  Annahme,  dass  der 
Schreiber  des  Wiener  Fragments  den  Kommentar  bereits  vom  und  hinten 
verstümmelt  (also  anonym  und  titellos)  vorfand. 

Am  Schlüsse  steht  jetzt:  ttjv  ö'  a7taf.i€iß6 fxevog  TtQoaicpii^) 
veq)€kr]y€Q€Ta  Zevg'  daifxov Lr^,  aiel  fikv  oLeai^^),  ovdi  ae 
XriS-o)'  TtQa^aod'^'^^)  sfiTtrig  ov  tl  övvrjoeai  [A  560 — 562]  %al 
Toc  s^fjg:  SeUwOLV  ev  rovrocg  6  TtoirjTrjg  tov  dega  ndvTCJv  twv  gtoix^I- 
(OV  vTteqexovxa  Y.al  ra  öevregela  tov  ai^sgog  cpiQovTa,  öiä  t6  ")  q)dvai 
avTOV  öaLfiiovlrf ,  ov  elGTiviojuev  Kai  exTtviofxev,  Si  ov  -Kivov^e^a  Y,al 
eGfj.ev'  Tial  TtdvTa  ev  avTC^  ttjv  gvotuoiv^)  x^xri^rrat.  6  d'  aidijQ  tag 
v€(psXag  ovvTagdTTCüv  eiQiqTai  ötd  t6  e^  avxov  rag  doTQartdg  y,a.\  ßgov- 
Tag  y,al  Tag  Kivrjoeig  /£A/uwVwj/  ts  xai  evdtwv  xal  dirca^aTtXuig  Ttdvra 
ÖLOLY.elad-aL.  aieV^)  de  Y.al  did  TtdvTwv^^^)  tcov  aid^igog  öioiy.T^aewv 
y.ai  TtÖGa  kv  tüj  aiqi  kr^TCTa  TvyxdvsL,  ovöev  avTwv  öiakav&dvei,  aXX 
ev&ewg  o  arjQ  Tama  ösxofievog  öie^dyei'  avTog  de  xad-'  eavTov  o  a^Q 
TtQa^ai  avxd  ov  övvaxai,  ei  f^iiq  tl  6  ai^ijQ  TtQWTog  öioixrjaei  wg  ßovXe- 

48)  Beiläufig  bemerkt,  folgt  jedoch  auf  dieses  verstümmelte  noch  ein  vollstän- 
diges 12.  Blatt,  das  den  unterbrochenen  Iliastext  mit  A  371  fortsetzt  und  ursprüng- 
lich, wie  schon  das  gleiche  Papier  und  die  gleiche  Schrift  bezeugt,  zu  Blatt  7  gehörte. 
—  49)  Die  erste  Seite  hat  36  Zeilen,  die  nächstfolgende  38 ,  die  dritte  37  u.  s.  w.  — 
50)  Tjjvöanafjisißoßsvog  V(indobonensis).  —  51)  o'il^eac  V,  aber  ^  mit  je  einem  Punkte 
oben  und  unten.  —  52)  nQa^aaS-'  V;  bei  Homer  steht  ngtj^ai  6\  —  53)  zd  scheint 
erst  nachträglich  übergeschrieben  V.  —  54)  avozaaiv  V.  —  55)  dst  zu  korrigieren 
habe  ich  nicht  gewagt,  ebenso  wenig  bald  darauf  onoaa.  —  55a)  ÖLanavzoQi 


Die  Homerdeuterin  Demo.  306 

rai.    TOVTO   dh   öeUwiai,   ovi   eTay.QateOTeQa  tov  d^EQfxov   rj   cpvoig  sv 
TiccOiv   7]^^)   Tov   vyQOv'    dw    Kara^ovag   avTfj    dior/ft").     xal    ovtwg   6 
aijQ^^)  avTct  diadexeTat  öia  lo  xal  wg  eiw^Lav^^)  tov  xsLixcHva  Tvageiaa- 
yeiv  'Aal  tcclXlv  ctvay.<x(XTCTeiv  tbv  aiS-iqa  ev  r^j  iöla  diaraGei,  (ug  to^^) 
''Zeig   wg")  ^Qyteavov    [423]   xal  t6   '^dcjösKarrj    6^    avd-ig^^)   ekevo€Tai^ 
[425].    ei  öh  za/  tl  ßovXrjd-fj  6  arjQ  IvaviLov  rov  aid'igog  Ttoirjoai,  6q- 
yi^ofisvov  avrov  Ttagafcel^eraL'  olov  [el]'^)  rj  xsif^eQtvrj  ata^ia  ttjv  ia- 
QLvijv  iar^fieglav  Ttagevex^rjarj^*),  evd-ewg  o  ai&rjQ,  toOTteg  6QyiC6f.ievog  xai 
cLTto  d-vixov  TCQccTrcov,  cczaQTta  Kai  övOTtQoxTa  TtdvTa^^)  Ttoiei,  voaoi  re 
Y.al  Ta  fii]  xa&rjxovTa  rolg  TOiovroig  zaigolg  Gvußaivovai  öia  Trjv  TcXeo- 
veTiTTjOLV  zov  GTOLX^iov^^).    TOVTO  öc  öTcavitog  yiveod^ai  Tiicpvze  öi'  STtL- 
TaöLV  ipvxovg,  cjg  ev  tco  ''oTCTCOTe  ^uv  ^vvörjoai  OXvfXTttoc  rj^eXov  aXloL 
[399]*    ölo  Kai  j]  ToiavTT]  ejtiTaotg  cpoßega  xal  cpQiTiojörjg  vrtagxei.    tcc 
öe  yivofieva^'')  TtavTa  Ttaqa  tov  ai&eqog  TtooGcpcXeoTaTa  T(p  aigt  eGTiv' 
ev   olg   delKvvTat ,   otl   ovöev  twv   evavTuov  naQ^  avTOv  Tvyxavei,  aXk 
rj    ^eTdlrjipig  rcoi'  XoiTtwv  GTOLxeUov  tcc  evavTca  egyateTai  twv  Xoltvwv 
Ttqay^aTOJV'    avTog  öe  Ta  7tQ0Gq)U^  Tcal  tcc  TtQertovTa  Ttotel'  öiaTOVTO 
y,al  wg  eTtLTifxwv  ttj  ^'Hq(^  cpaLveTai  xal  wg  ttj  avTov^^)  ßovXfj  xad^vTtovQ- 
yelv   avTTjv    TcgoTQefceTai.    ei   öe^^)  y,al   eig   evavTlcjGiv   ßovXrjdij   avTijj 
yeveGd^at,    ovöafxcüg  avTjj''^)  ßori&iqGovGi  tcc  XoiTtd  GTOixela,    orcoTav  o 
ai^ijQ  xar'   avzwv  'Aivovfxevog  euged-fj ,  aXXd  TtdvTa  öiaXv-d^T^GovTac  Kai 
TiaTaKavd'TjGOVTai'   eTCiKgazeGT^gav   ydg  ttjv  tov  S^eg^ov  (pvGiv  eTteöeL- 
^afxev  öiacpogcog. 

Jedem,  der  diese  seltsame  Deutung  der  Scheltrede  des  Zeus  an  seine 
Gattin  Hera  liest,  muss  die  ausserordentlich  nahe  Geistesverwandtschaft 
auffallen,  in  der  sie  zu  den  oben  vorgelegten  Fragmenten  der  Demo  steht 
Auch  Demo  (Fragment  5)  hält  Hera  für  die  Luft  (a?J^),  die  den  Raum 
zwischen  dem  Alles  überragenden  Äther  (nach  Y  =  Zevg)  und  der  den 
Menschen  zugewiesenen  Erde  (nach  V  =  'Pia)  ausfüllt,  deren  dünnere 
Schichten  nach  oben,  dem  Äther  zu,  emporschweben,  während  die  dickeren 
vermöge  des  Gesetzes  der  Schwere  nach  unten,  zur  Erde  hin,  sinken.  Da 
nun  der  ai&rjg  nach  leicht  erklärlicher  Anschauung  {Ttagd  t6  aX^eG&ai 
Et.  Gud.  16,56)  zugleich  die  ev&egtiog  ouGia  (V)  ist  und  das  einzige 
ganz  reine  und  unvermischte  Element,  so  findet  die  Macht,  die  er  über 

■ ■  t  y 

X  ^ 

56)  «  y.  _  57)  dioixslv  V.  —  58)  a^g  V.  —  59)  hat  V.  —  60)  wa,  aber  w 

aus  t,  corr.  V.  —  61)  Zevg  yag  ig  die  homerische  Vulgata.  —  62)  di  rot  avzig  die- 
selbe.  —  63)  [et]  fehlt  V.  —  64)  nagevexxriari  V,  wie  gewöhnlich  mit  fehlendem  Iota 

n  X     X 

subscriptum.    —   65)  axag  xal   övangx  nav  V,  mit  verschobenen  Accenten.   —   66) 

X 
GxoL  V.  —  67)  Mit  Ttavxa  beginnt  Fol.  12r.  — 68)  avroy?  — 69)  öe  V.  —  70)avT^y. 

20 


306  Arthur  Ludwich 

die  mit  Feuchtigkeit  durchschwängerte  Luft  ausübt,  ihre  sehr  natürliche 
Erklärung;  denn  Wärme  ist  mächtiger  als  Feuchtigkeit  (to  yuQ  ^bqixov 
Tov  vygov  yiaTavaXwTiyiov,  heisst  es  in  V  an  einer  anderen  Stelle).  Die 
goldenen  und  silbernen  Riemen,  mit  denen  der  Wagen  der  Hera  bei  Homer 
bespannt  ist  (£"727  öLcpQog  dh  xgvaioLOL  -/.al  aQyvqioLOiv  Ifiaatv  Iv- 
rhaTai),  erklärt  Demo  für  die  Strahlen  der  Sonne  und  des  Mondes  (d.  h. 
des  Apollon  und  der  Artemis,  nach  V) :  sie  mochte  dies  schon  zu  B  781 
yala  ö^  vTteOTevoLXLCe  Ju  wg  teQTCL'AeQavvM  x^ofihoj^  ote  t'  ai.i(p\  Tv- 
cpwh  yalav  Ifxaaor]  des  Näheren  begründet  haben.  Jedenfalls  unter  un- 
zweideutiger Anwendung  derselben  Symbolik  bedient  sich  der  Wiener 
Anonymus,  so  oft  er  sagt,  dass  die  Sonnenstrahlen  Feuchtigkeit  aufziehen, 
des  Ausdruckes  avL^äo^aL.  Die  Sonne  schwebt  im  reinen  Äther:  vom 
Äther  geht  also,  schliesst  der  Anonymus,  Licht  und  Wärme  aus,  von  ihm 
auch  diejenigen  atmosphärischen  Vorgänge,  die  Homer  mit  dem  Beiwort 
v€<p€lrjy€Q6Ta  andeutet,  Ölcc  t6  e^  aviov  rag  aOTQaTCag  ym\  ßgoviag  xai 
tag  KivrjoeLg  %ei(xcüvwv  ts  ytal  evöiwv  y,a\  aTta^aTtlaig  Ttdvta  diot'/.el- 
ad^ai.  Das  letzte  Wort  ist  bei  unserem  Anonymus  ein  stehender  Ter- 
minus ^°*),  wie  schon  die  gleich  darauf  folgenden  Zeilen  beweisen:  wir  trafen 
es  bereits  im  8.  Fragmente  der  Demo  an,  in  welchem  gegen  Ende  von 
den  Tigd^eig  dv-d-QcoTtwv  TtoXe^Cj)  '/.al  eigrivr]  TtgsTtovoag,  vcp  wv  6  /.a&^ 
riiidg  diOi-Asltai  ßiog,  die  Eede  ist.  Der  Anfang  ebendesselben  Frag- 
ments, wo  es  von  dem  Dichter  heisst :  ötd  de  tov  jtvQog  xal  r'^g  Ttvorjg 

Tcc  TtoirjTiyid  %a.l  dqaOTriQia  twv  otolx^Icüv  aivLnieTaL,  asga  aal  Ttig,  er- 
hält nun  erst  durch  die  oben  ausgeschriebene  Schlussnote  des  Wiener 
Anonymus  ihre  rechte  Beleuchtung,  der  uns  belehrt:  avzdg  de  y.ad^  eavTov 
6  cc^Q  TtQa^ai  avTa  ov  dvvatai,  ei  fit]  tl  6  ai^rjQ  TCQwtog  öiOLZTJaet 
cjg  ßovXsTai. 

Die  Übereinstimmung  des  Anonymus  mit  den  dürftigen  Fragmenten 
der  Demo  tritt  aber  nicht  bloss  in  seiner  Schlussnote  klar  zu  Tage,  son- 
dern auch  sonst,  wie  nach  vollständiger  Lektüre  des  Wiener  Bruchstücks 
jeder  von  selbst  empfinden  wird.  Ein  besonders  hervorstechendes  Beispiel 
ist  folgendes:  dass  Gerig  bei  Homer  nichts  anderes  bedeute  als  &£Gig, 
davon  sind  Demo  (Fragm.  8)  und  der  Anonymus  in  gleichem  Masse  durch- 
drungen, und,  was  mehr  sagen  will,  beide  verstehen  darunter  lediglich 
die  kosmische  d^^oug^  die  Zusammensetzung  und  weise  Anordnung  des 


70«)  Ein  anderes  Beispiel  übereinstimmenden  Sprachgebrauchs  ist  in  Demo's 
Fragm.  3  avveßr]  ccvxoig  ixeid^sv  neoelv  und  im  Wiener  Fragment  ^9  avfißaivsi 
danXayxvov  yeveaB^ai  xo  tixvov,  \A  ovfißaivEL  i^sXijkvS^ivai  zag  dxxlvaq,  44  avfi- 
ßalvei  xzvnovq  xal  xaQdxdq  avxov  ifJLnoielv,  55  avfißalvei  ivzixxeo&ai  zä  voij- 
fxaxa  ijfuv  u.  s.  w. 


Die  Homerdeuterin  Demo.  307 

gesamten  in  steter  Bewegung  befindlichen  Weltalls,  Trjv  tov  TtavTog  xa- 
Taoxevijv  ytal  d-eoiv,  wie  Y  sich  zu  A  357  ausdruckt,  t^v  svqcootov  xal 
evod-evri  OTTegya^ofÄivr^v  av^QWTtov  re  zo<  tcc  Xouta,  woavTwg  öh  'Aal 
rrjv  ovgdvLOv  Gvozaolv  t€  xal  xlvr]aiv  f^Erdyovodv  T€  y.al  7teQiq)eQovaav 
v.axd  10  ftQOO^AOV,  Kad-cog  xal  allaxov  '  dXkd  Gv  tov  y'  IXd-ovoa,  d-edy 
VTteXvGao  öeof-iüiv  [401],  eTtel  ovv  y,al  6  ^ÄxiXevg  Tcal  dwarog  vjtrJQxev, 
ov  fiirjv  aXXd  Y.a,\  evq)vr]g  xal  ycard  TtQÖaoxpiv  (Lqalog,  ömaiwg  avTOv  ^ 
QiTLg  fxrjTriQ  (xvayqacpeTaL,  iqyovv  rj  ovvd-eo ig  Tovöe  tov  jtavTog 
Kai  öiaKoG/^iTjocg.  Gleich  den  Stoikern  müssen  unsere  beiden  Autoren 
diesen  Kosmos  für  kugelförmig  gehalten  haben:  Demo  spricht  ausdrück- 
lich von  dem  ocpaiQosLÖr.g  y.6ö(.iog  (Fragm.  8)  sowie  von  dem  vrcöyeiov 
T€  ycal  vTcegysLov  rjfULOcpalQLov  (Fragm.  5),  der  Anonymus  von  den  für  uns 
Erdenbewohner  durch  den  Horizont  geschiedenen  Halbkugeln:  6  oqI^ojv 
öe  EGTL  'AvxXog  oQL^cüv  rjfilv  t6  te  (pavegov  y.al  dcpavhg  (.legog  tov  xo- 
G(.L0V,  toGTS  rn^icGcpalgtov  (.lev  vtceq  yrjv  VTtoXafußdvsG^at,  ^fxt- 
GcpalQLOv  Ö€  VTtb  yrjv  (zu  u4  420). 

Bedenkt  man  nun  einerseits,  dass  die  sämtlichen  so  wunderbar  über- 
einstimmenden Darlegungen  der  Demo  und  des  Anonymus  ausnahms- 
los diesen  rein  kosmischen  Charakter  tragen,  und  anderer- 
seits, dass  sie  denselben  beiden  Autoren  nicht  etwa  Selbstzweck,  sondern 
lediglich  Mittel  zum  Zweck  sind,  um  den  Worten  Homer's  durch- 
weg kosmische  Ideen  unterzulegen,  so  muss  jeder  Zweifel  schwin- 
den, dass  wir  es  hier  in  Wirklichkeit  nur  mit  einem  einzigen  und  nicht 
mit  zwei  verschiedenen  Autoren  zu  thun  haben,  mithin  das  anonym  über- 
lieferte Wiener  Fragment  fortan  den  Namen  Demo  zu  führen  berechtigt 
ist.  Das  Hineinspielen  menschlicher  Verhältnisse  in  die  kosmischen 
(z.  B.  bei  Demo  Fragm.  3  und  in  der  Anfangsnote  von  V)  wird  uns  nun  nicht 
mehr  befremdeo,  nachdem  wir  eben  bei  Gelegenheit  der  Thetis  und  ihres 
Sohnes  Achilleus  belehrt  worden  sind,  dass  auch  der  Mensch  ein  Produkt 
der  kosmischen  d^iGig  sei. 

Wenn,  wie  ich  glaube,  das  gewonnene  Kesultat  richtig  ist,  dann  hört 
Demo  auf,  ein  litterarhistorisches  Gespenst  zu  sein,  zu  welchem  sie  sich 
zu  verflüchtigen  seit  dem  (Anm.  22")  erwähnten  Aufsatze  Usener's  auf  dem 
besten  Wege  war.  Usener  nämlich  sagt  von  dem  Werke,  dessen  Bruchstücke 
uns  unter  dem  Namen  Demo  überliefert  sind,  S.  416:  Der  Verfasser 
jener  allegorisier enden  Mythographie  hatte  sein  Machwerk  durch  die 
Fiktion  interessant  zu  machen  gesucht^  dass  er  ein  Weib  des  höch- 
sten Altertums  Demo  sich  ihrer  freundlichen  Wirtin  Babo  dankbar 
erweisen  und  ihr  als  Gastgeschenk  diese  Offenbarungen  über  den  wahren 
Sinn  der  Mythen  widmen  Hess.    Ein  Artikel  des  (seitdem  zur  Genüge 

20* 


308  Arthüb  Ludwich 

durchschauten)  Violariums  der'Eudokia'  (aus  dem  Kapitel  (pdooocpoi  p.  93: 
rceQi  BaQixt.  Bagu)  y,ai  //ri^iw  ovo^ata  oocpcJv  yvvai'/.oJv.  i^ivLoev  rj 
BaQw  rrjv  Jrjfxio)  und  eine  fast  gleichlautende  Notiz,  die  von  einigen  bei 
Suidas  zwischen  den  Artikeln  ßavvog  und  ßdxpag  eingeschoben,  von  Bern- 
hardy  aber  gestrichen  worden  ist,  bilden  (nebst  Suid.  s.  t\  Jr^/nuj  •  ovo^ia 
y.vQiov.  k^ivLoev  tj  Baßw  ttiv  Jrjfxw.  xtL)  die  Hauptstützen  der  Ansicht 
Usener's.  Ich  will  mich  auf  diese  Babo,  deren  Name  nicht  einmal  fest 
steht '*'^),  nicht  näher  einlassen,  ebenso  wenig  auf  die  mythische  Demo; 
denn  in  welchem  Verhältnisse  auch  immer  sie  zu  einander  sowie  zu  den 
bekannten  Namen  und  allen  sonstigen  Zügen  der  Demetersage  gestanden 
haben  mögen,  so  vermisse  ich  doch  auch  unter  den  günstigsten  Umständen, 
die  meine  Phantasie  sich  auszudenken  vermag,  stets  einen  haltbaren  Faden, 
der  von  der  Homerdeuterin  in  diese  altersgraue  mythische  Region  hinüber- 
leitet. Und  neben  diesem  negativen  habe  ich  nun  noch  einen  sehr  gewichtigen 
positiven  Einwand  gegen  Usener's  Hypothese  zu  erheben.  Das  Wiener 
Fragment,  als  dessen  Verfasserin  wir  Demo  erkannt  haben,  beruft  sich  öfter 
auf  ältere  schriftstellerische  Autoritäten,  namentlich  auf  Philo- 
sophen, deren  dort  eine  ganze  Eeihe  gelegentlich  citiert  wird.  Es  sind 
Thaies,  Anaximander,  Anaximenes,  Parmenides,  Herakleitos,  Anaxagoras, 
Demokritos,  Diogenes  von  Apollonia  und  endlich  Epikuros.  Ein  Autor 
aber,  der  sich  geflissentlich  hinter  einem  mythischen  Namen  verstecken 
will,  kann  nicht  wohl  den  lächerlich  unklugen  Anachronismus  begehen, 
sich  dabei  fortwährend  auf  historische  Gewährsmänner  zu  berufen; 
seine  einzig  zulässigen  Gewährsmänner  würden  Orpheus,  Bakis  und  der- 
gleichen halb  und  halb  wesenlose  litterarhistorische  Schemen  sein. 

Wie  beliebt  und  verbreitet  der  Frauenname  Demo  (Damo)  in  Griechen- 
land war,  kann  man  aus  den  Wörterbüchern,  den  Indices  der  Inschriften- 
werke und  ähnlichen  Hilfsmitteln  leicht  ersehen,  will  man  sich  die  Mühe 
sparen,  die  Originalzeugen  selber  abzuhören.  Keiner  von  den  letzteren 
hat  es  mit  beredteren  Worten  ausgesprochen  als  Philodemos  in  der  lustigen 
Deutung  seines  eigenen  Namens  (Anth.  Pal.  V  114): 

^HQao^TjV  JrjfÄOvg  Ilacplrig  yevog'  ov  fxiya  &avfia' 
xai  2af4,lrig  ^t]fiovg  devTsgov  ov^l  fxiya' 

xa«  TtaXi  NvGtax'^g  Jr](.iotg  tqItov'  ovY,hi  Tavra 
TtaLyvia'  Kai  Jtifiovg  TergaTOv  ^Qyoliöog. 

avzal  Tcov  MolqaL  f.ie  naTcovofiaoav  OLXoörjfjLOVy 
WQ  aiel  ^TjfÄOvg  -S^egfiog  exei  fxe  nod-og. 


70'>)  Vgl.  ausser  den  Herausgebern  des  Suidas  besonders  Lobeck  Aglaoph.  p.  822. 


Die  Homerdeuterin  Demo.  309"' 

Aus  der  blossen  Homonymie  mit  einer  oder  der  anderen  Frau  dieses 
ebenso  reichhaltigen  als  verschiedenartigen  Damenkatalogs,  den  der  Name 
Demo  uns  zur  Auswahl  stellt,  Schlüsse  auf  unsere  Homerdeuterin  zu  ziehen, 
dürfte  folglich  mehr  als  bedenklich  sein. 

Fragt  jemand,  warum  Demo  und  Babo  als  '^gelehrte  Frauenzimmer^ 
bezeichnet  und  von  Eudokia  in  die  Fhilosophcnreihe  gestellt  sind  (Usener 
S.  416),  so  wäre  die  Antwort  vielleicht  unschwer  zu  finden,  wenn  wir 
wüssten,  wer  diese  Babo  war:  so  aber  schwebt  —  trotz  der  Ausdrücke 
oocpol  und  (fUooocpoL  —  jede  Kombination,  die  sich  an  jene  Notiz  des 
Suidas  und  der  sogenannten  'Eudokia'  knüpft,  haltlos  in  der  Luft,  weil 
es  mehrere  'weise  Frauen'*'^«')  Namens  Demo  (Damo),  ja  ver- 
mutlich sogar  mehrere  cpilooocpoi  dieses  Namens  gegeben 
hat,  nämlich,  um  gleich  an  die  bekanntesten  dieser  'Weisen  zu  erinnern, 
die  Sibylle  von  Cumä  und  die  Tochter  des  Pythagoras,  die  Erbin  seines 
geheimen  litterarischen  Nachlasses  (Usener  S.  415),  denen  sich  als  dritte 
unsere  Homerdeuterin  zugesellt.  Wer  kann  wissen,  ob  es  einst  nicht 
noch  mehr  gab?  Auf  das  Epitheton  cpMoog)og  hatten  die  beiden  zu- 
letzt genannten  im  Sinne  der  Alten '°^)  sicherlich  Anspruch,  und  der 
Homerdeuterin  hat  es  Eustathios,  der  sie  am  eifrigsten  studiert  und  am 
häufigsten  citiert  hat,  ohne  weiteres  beigelegt  (Fragm.  8).  Verteidigen 
also  Hesse  sich  im  Hinblick  auf  Demo  die  fragliche  Kapitelüberschrift 

70«)  Oder  'gelehrte  Frauen .  Vgl.  Eust.  p.  280,  19  ^v  6h  xal  yvv'ri  aocpr]  "Aks^av- 
ÖQTjvrj  xata  xov  yeojyQacpov  ttjv  xX^aiv  '^laxiala  ij  ''Eaxiaia.  Das  ist  nur  ein  Beispiel 
von  vielen.  —  70<^)  Der  Begriff  'Philosoph'  ist  bekanntlich  bei  uns  ein  viel  engerer 
als  bei  den  Alten.  Eustathios  z.  H.  nennt  den  Sänger  Pheraios  nicht  allein  einen 
ao(p6g,  sondern  auch  einen  gjiXoao^og  (p.  1404, 15),  weil  er  meint,  ort  ot  doiöol  <pL- 
Xoa6(pü)v  rd^LV  ijielxov  (p.  1421,  35).  Macht  doch  ein  {übrigens  grösstenteils  aus 
Herakleitos'  Allegorien  abgeschriebenes)  Scholion  sogar  den  Herakles  zum  Philosophen 
(B  T  zu  ^  392) :  (pLk6ao(poq  '^HQaxk^g  xal  aocfCaq  ovgaviov  fjLvaxrjq,  oq  cionsQ  elq  xa 
ßcc&Tj  slaöedvxvtav  dx^voq  xtjv  <fiXoao(piav  iipojxias.  Hierher  gehörige  Beispiele  aus 
historischen  Zeiten  stehen  natürlich  in  noch  grösserer  Zahl  zur  Verfügung.  Es  wird 
genügen  eines  herauszugreifen:  Seneca  epist.  88,  5  nisi  forte  tibi  Homer  um  philoso- 
phum  fuisse  persuade[ä\nt,  cum  his  ipsis,  quibus  colli gunt^  negent:  nammodoStoicum 
illum  faciunt,  virtutem  solam  probantem  et  voluptates  refugientem  et  ab  honesta  ne 
immortalitatis  quidem  pretio  recedentem,  modo  Epicureum,  laudantem  statum  quietae 
civitatis  et  inter  convivia  cantusque  vitam  exigentis ,  modo  Peiiputeticnm ,  bonorum 
genera  inducentem,  modo  Academicum,  omnia  incerta  dicentem.  Nach  Suidas  (Hesych. 
Miles.)  schrieb  Cassius  Longinus  eine  Untersuchung  et  (piX6ao(poq  "OfirjQoq,  Maximus 
Tyrius  tisqI  '^0fir]Q0v  xal  xlq  rj  nag '  avx(p  uQxaia  (piXoaotpla,  Oinomaos  von  Gadara 
Ttegl  x^q  xaS^'  "OßrjQov  (piXoaocplaq,  Favorinus  von  Arelate  nsgl  xijq  "^Ofx^QOV  <piXoao- 
(piaq,  u.  s.w.  Herakleitos  Alleg.  Hom.  c.  34  ^QX^yoq  öh  ndarjq  G0<plaq  yevö- 
fxsvoq^OfxrjQoq,  dXXrjyoQixaiq  TtaQSÖcoxs  xoZq  ßex^  avxbv  dgvaaa&ai  xaxa  fiSQTj  7cdv&\ 
oaa  TiQcüxoq  7cs<pikoa6(p7jxs.  Diese  Anschauung  über  Homer  wurde  nachweislich 
im  Altertume  von  sehr  vielen  geteilt.  Es  wird  nicht  nötig  sein,  weitere  Beweise  vor- 
zulegen. 


310  Arthüb  Lud  wich 

der  *^Eudokia*  schon:  nur  nützt  das  leider  der  rätselhaften  Babo  mit 
Allem,  was  an  ihr  hängt,  keinen  Pfifferling.  Wer  wollte  sich  übrigens 
jetzt  noch  ernstlich  zum  Beschützer  einer  jeden  Kapitelüberschrift 
bei  ""Eudokia'  aufwerfen?  wer  aus  einer  solchen  Überschrift  ernsthafte 
Folgerungen  über  den  Inhalt  des  Kapitels  selbst  ziehen?  Wir  müssen 
zufrieden  sein  zu  wissen,  dass  die  Homerdeuterin  Demo  allerdings  eine 
(pMoo(pog  war;  ob  etwa  dieselbe,  die  aus  dem  Lexikon  des  Suidas 
ins  'Violarium'  kam  und  deren  gastliche  Bewirtung  durch  Babo'*)  sich 
einen  Namen  gemacht  hatte,  das  lässt  sich  nicht  einmal  mit  einiger 
Wahrscheinlichkeit,  geschweige  denn  mit  Gewissheit  bejahen. 

Ferner  identifiziert  Usener  (S.  415)  die  Homerdeuterin  mit  derjenigen 
Demo,  welche  tkivai  yquii^axL-^ai  geschrieben  haben  soll.  Auch  dies 
scheint  mir  auf  schwachen  Füssen  zu  stehen.  Der  Einzige,  der  von  diesen 
^grammatischen  Lehrbüchern  etwas  weiss,  ist  der  anonyme  Epistolograph 
bei  Gramer  An.  Ox.  III  189,20.  Er  schreibt  an  einen  Arzt:  oqag^  (piXo- 
oocpioTaTiq  ^)v%ri,  OTCwg  yga^^aTiKevo^iai  Ttgog  ok  tov  yQaiu/LiaTLy.0JTa- 
Tov  .  .  .  "/.al  ei  firj  tlol  fieiQaxLevofxevos  edo^a,  tcc  (Dr]inov6i]g  av  oot 
die^riXd'Ov  v,aL  Jiqiiovg  Trjg  yQafXfxarcKrjg,  Trjg  (xer  ertog  evQovarig, 
tilg  ^^  'cexvag  Gvyyqaxpaiiivrig.  Ausser  der  Homonymie,  über  deren 
Unverlässlichkeit  ich  wohl  kein  Wort  weiter  zu  verlieren  brauche,  enthält 
die  Stelle  nichts,  was  unsere  Homerdeuterin  anginge.  Wenn  die  letztere 
hin  und  her  in  den  erhaltenen  Überresten  die  Etymologie  für  ihre  Deutung 
zu  Hilfe  nimmt  (Fragm.  2  und  8),  so  darf  nicht  vergessen  werden,  dass 
die  Etymologie  jederzeit  mindestens  ebenso  sehr  von  den  griechischen 
Philosophen  als  von  den  griechischen  Grammatikern  gepflegt  worden  ist. 
Andere  Beziehungen  zur  Grammatik  aber  als  diese  vagen  finden  wir 
bei  der  Homerdeuterin  überhaupt  nicht  vor,  auch  nicht  in  dem  langen 
und  stellenweise  sehr  ins  Einzelne  eingehenden  Wiener  Bruchstücke. 
Übrigens  hat  Usener  selbst  schon  darauf  aufmerksam  gemacht,  dass  der 
Cramer'sche  Epistolograph  sich  mit  erborgter  Gelehrsamkeit  brüstet. 
Der  unbekannte  Briefsteller  hat  einfach  das  Inhaltsverzeichnis  zu  Proklos' 
Chrestomathie"^  ^^)  excerpiert.  Er  fängt  mit  der  Fhemonoe  an  und  hört  mit 
den  Oschophorika  auf.  Nur  die  Kunde  über  Demo  hat  er  vermutlich 
aus  eigenstem  Wissen  zugefügt.    Wie  seltsam,  dass  er  keinen  andern, 


1 1)  Eine  wie  grosse  Rolle  solche  Bewirtungen  in  der  griechischen  Sagengeschichte 
Spieleu,  ist  bekannt.  Ich  greife  das  erste  beste  Beispiel  heraus:  Eust.  1351, 29  (pigetai 
Sh  fivd-OQ  xal  OTL  MsQorp  Kcpog  .  .  .  ^evlaaq  ^Peav  fiexeßXij&Tj  eig  aezöv.  Um  so  be- 
denklicher erscheint  es,  die  sagenhafte  Bewirtung  der  Demo  durch  Babo  anstandslos 
dem  Demeter-Sagenkreise  zuzusprechen ;  denn  dazu  fehlt  es,  bei  Lichte  besehen,  doch 
fast  an  jedem  rechten  Anhalte.  —  71«)  Photios  Bibl.  cod.  239. 


Die  Homerdeuterin  Demo.  311 

keinen  berühmteren  Vertreter  der  Grammatik  nennt!  dass  er  offenbar 
nur  ein  Pendant  zur  Phemonoe  beizubringen  trachtete!  dass  er  dabei 
auf  eine  so  gänzlich  obskure  ygaf^i^anyo]  verfiel !  dass  er  ihr  nicht  bloss 
eine  Tsxvrj  beilegt,  sondern  mehrere!  Von  allen  diesen  dunkeln  Rätseln 
wird  kein  einziges  erhellt,  noch  weniger  gelöst,  wenn  wir  diese  Demo 
willkürlich  mit  der  Homerdeuterin  identifizieren;  denn,  wie  gesagt,  ob 
die  letztere  überhaupt  jemals  ein  grammatisches  Werk  oder  gar 
mehrere  Grammatiken  verfasste,  entzieht  sich  für  uns  aller  und 
jeder  Kontrolle,  um  so  mehr  die  Befähigung  der  Frau  für  derartige  Studien 
und  ihr  Erfolg.  Nicht  einmal  die  mutmasslichen  Zeitgenossen  jenes 
anonymen  Epistolographen'^),  Johannes  Tzetzes  und  Eustathios,  melden 
hiervon  das  Geringste.  Tzetzes,  der  seine  eigenen  Allegorien  zur  Hias 
und  Odyssee  auf  Kosten  seiner  Vorgänger  gehörig  herauszustreichen  liebt, 
findet  nicht  ungalante  "Worte  genug,  um  der  Rivalin  den  Text  zu  lesen. 
Er  sagt  im  Prooemium  seiner  allegorisierten  Odyssee  ^^): 


72)  Über  ihn  hat  einer  der  gewiegtesten  Kenner  byzantinischer  Litteratur, 
M.  Treu  in  Potsdam,  die  Güte  gehabt,  mir  auf  Befragen  Folgendes  mitzuteilen: 
Crainer's  Meinung  {Monitum  lectori  p.II),  er  scheine  ein  Grammatiker  unter  Kaiser 
Alexios  Komnenos  gewesen  zu  sein,  ist  nicht  richtig.  Grammatiker  von  Beruf  war 
er  nicht,  sondern  ein  gebildeter  Mann,  der  die  drei  loyinal  zkyivat  der  späteren 
Byzantiner,  die  ^a^-rniaxa,  wie  Gregorios  Kyprios  sagt,  oaa  6ia(p£g6vT(og  /Liezisvai 
xal  elöhai  dvd^Qatnw  tcqogtixh,  Grammatik,  Rhetorik,  Philosophie,  studiert  hatte.  — 
Die  Briefe  sind  aus  dem  zweiten  Viertel  des  12.  Jahrhunderts.  Der 
oft  in  ihnen  erwähnte  KalaaQ  ist  der  hekamite  Nikephoros  Bryennios  {was  Johannes 
Seger  in  seiner  Schrift  über  denselben^  München  1888,  leider  entgangen  ist).  Die 
ösoTtoivri  xvQLTj  ElqtJvt]  {ep.  4)  ist  die  Gemahlin  des  Kaisers  Joannes  II.  Komnenos 
{1118—1143).  Vgl.  Ducange,  Fam.  Aug.  Byz.  p.  179.  Der  früh  verstorbene  ßaaiXsvg 
xvQLOQ  ^AU^iog  {p.  180, 10) ,  der  Sohn  des  Avzoxqcczcoq  {p.  180,  22) ,  kann  nur  der 
älteste  Sohn  desselben  sein,  welcher  1135  starb ;  ebenso  ist  der  fisyag  öoßsatixog  {ep. 
26.  28)  desselben  Kaisers  intimer  Freund  und  Ratgeber  loannes  Axuch.  Vgl.  über  die- 
sen und  über  Alexios  meine  Notiz  zu  Mkeph.  Chrysoberges  p.  43  f.  Brief  12  wird 
an  Kaiser  loannes  sein.  —  Besonders  interessant  aber  ist  es,  dass  unser  Anonymus 
mit  seinem  Zeitgenossen ,  dem  b ekannten  Vielschreiber  Theodoros 
Prodromos  befreundet  war  {ep.  14).  Denn  an  denselben  Al^c^,  an  den  ep.  14 
gerichtet,  schreibt  auch  Prodromos.  Vgl.  Migne,  Patrol.  Gr.  Lat.  tom,  133  p.  1285  ff. ; 
ebenso  an  "E<poQog  {ep.  7)  auch  Prodromos,  ibid.  p.  1239;  endlich  an  den  Logotheten 
MÜTjg  {ep.  9.  10.  29)  Prodromos  p.  1248. 

73)  Matranga  Anecd.  gr.  I  p.  225.  (Vgl.  Tzetzes  Exeg.  II.  p.  3,  17  Herrn. 
exEQOL  ÖS  z^g  akXrjyoQlag  z(öv  d-sixcäv  ovoßazcov  [sc.  insfjisXtjS-Tjaav] ,  aiansQ  xal  6 
KQOvvovzog,  xäviteg  dXlriyog^  davfxßlßaaza  .  . .  KstpaXecDv  ös  xal  naXai(pazog  xal 
/lofMvlvog  xal  szsqol  negl  z(ov  tjqojcdv  xal  zegaazicDV  QTjzogixcijg  aig  inizoTiXelazov, 
xal  ov  (pvOLXwg  t]  fxaO-ijfiazixaig,  i^XXrjyogrjaav.  ''HQaxksLZog  6h  6  östvog  (pvaixcüg 
(xev,  val  fXTjv  xal  ^rjZOQixcäg  xaza  z6  öoxovv  ixelvco,  ztjv  oXrjv  ^Ihäöa  xal  zrjv  ^06va- 
osiav  TilXriyÖQriaEv.  et  6e  zig  i&shjasiev  dxQißdig  iTtE^SQyäaaa&ai  ti]V  dkij^siav, 
0VÖ6  noXXoatrKJLOQLOV  ijkXTjyoQTjxözi  zovzov  svg^asiev,  ccAA'  tJ  navzsXüig  oXlya  ziva 
xal  zavza  dzäXeoza.  xze.   Demo  wird  hier  gar  nicht  erwähnt.) 


312  Arthub  Ludwich 

ovTW  %ay{jj  vvv  xexvvKüig  ttjv  xolrrjv  fierargiTnav, 
7tfi  dk  (A,vQiaig  oQvyalg  Xe7C%0T0(xu}v  la  ßdä-rj 

80  aßqdxijjg  ttccOl  Tid-iqiia  7cavTag  7t€Qav  eig  x^^voüg, 
kv  ki^et  ygacpujv  dcavyei,  yvcJOTJj  ymI  %olg  rvxovacv, 
ov%l  Y.ad'a7tSQ  t]  Jrj^Ljj  fiificj  de  %oig  (pQovovoc, 
yvvaiov  'AOii7toXa.v.vd^ov ,  ipevdvifjrjyoQoyQafpov, 
(XT^dhv  de  7CQbg  tov  "OfirjQov  tüiv  ovviekovvTwv  Xiyov. 

35  exBig  Ji]^ovg  xb  ovyyqafifxa  'Aal  %b  tov  'Hgayüeljov, 
KoQvovTov  "/.al  IIaXaL(paTov  xai  tov  WeXkov  ovv  rovToig 
xat  eX  ttg  aXXog  keyexai  ygaijjag  aXXriyoQlag, 
av€Q£vvrjaag  euQiaxe  Tiai  ra  tov  T^stKov  ßX^Tte, 

In  demselben  Tone,  ja  mit  Wiederholung  desselben  geschmacklosen 
Wortspiels  lässt  er  sich  in  den  Allegorien  zu  Ilias  2  gegen  seine  Vor- 
gängerin aus'"*): 

oTi  ö    ovöslg  €T6kiiir]G€v  aXXrjyoQ^Gai  Taöe, 
OQccTS  TOV  ^IlQaY.XeLT0v  y.al  Trjv  {nificj  ovv  Tovrcp, 
TTjv  aka^ova  2q)lyya  öh  fiäklov  ttjv  €7tr]Qfiivr)v, 
KoQVOVTOvg  IIaXaLq)(XTOvg  ts  7tdvTag  dXkrjyoQOvvTag 
xal  TU  e(xu  ßLßXlöia  xtL 

Der  Tadel  richtet  sich  augenscheinlich  im  Grunde  weniger  gegen  die 
Form  als  gegen  den  Inhalt  der  Homerdeutung  Demo's:  er  wendet  sich 
gegen  den  ganzen  hochprahlerisch  aufgeblasenen,  hohlen  Bombast  und 
die  verlogene  Aufschneiderei  dieser  Art  rätselhaft'^*)  verschrobener  Homer- 
interpretation, die  dem  Dichter  gar  keinen  Nutzen  bringe,  die  in  ihrer 
eitelen  Nachäfferei  unserem  Beurteiler  so  falsch  und  nichtig  vorkam,  dass 
er  ein  gutes  Recht  zu  haben  glaubte,  ihr  Vorhandensein  mit  wegwerfender 
Miene  ganz  zu  ignorieren  und  sich  anzustellen,  als  wäre  er  der  Erste 
und  Einzige,  der  den  Homer  klar  und  deutlich  (ev  ks^ec  öiavyei  -Aal 
yvwoxfi)  zu  allegorisieren  gewagt  habe''^).  Man  wird  bemerken,  dass  der 
wortreiche  und  im  Wesentlichen  gewiss  zutreffende  Tadel,  der  sich  im 
Munde  eines  Tzetzes  freilich  seltsam  genug  ausnimmt,  keinen  Schimmer 

74)  Matranga  I  p.  166  v.  651  ff.  Boissonade  p.  250  v.  655  ff.  Letzterer  (8.  seine 
Note)  verstand  die  Beziehung  des  Wortspiels  nicht;  ersterer  {II  p.  700)  fand  es  schon 
in  seinen  Hss.  richtig  gedeutet:  Mifito  p.  166  v.  652.  Nota  quod  ibi  pro  jTjfzai  poni- 
tur,  ut  notant  Codices,  quorum  aliqui  cetej'oquin  absolute  habent  Jtj/jkö,  wozu  II  p.  738 
zu  vergleichen  ist. 

74»)  Sphinx-Rätseln  vergleichbare  Dunkelheiten,  wie  Tzetzes  sie  an  Demo  tadelt, 
hinterlässt  jede  allegorische  Interpretationsmethode.  Der  Tadler  irrte  sich,  wenn  er 
seinerseits  diese  gefährliche  Klippe  glücklich  umschifft  zu  haben  wähnte. 

75)  So  etwa,  denke  ich,  werden  die  Worte  ozi  6'  ovöeig  hokfiijaEv  a)Jij^0Qrjaai 
zdöe  gemeint  sein.    Usener  S.  416  hat  sie  als  eine  direkte  dreiste  Lüge  verstanden. 


Die  Homerdeuterm  Demo.  313 

von  grammatisclier  Polemik  oder  Andeutung  enthält.  Und  auch 
Eustathios  weiss  nichts  eigentlich  Grammatisches  von  Demo  zu  berichten. 
Wie  wenig  dieses  Schweigen  aber  der  Meinung  zu  Gute  kommt,  dass 
die  Homerdeuterin  und  die  angebliche  Verfasserin  der  Ti%vaL  ygafxfxaTL- 
xal  ein  und  dieselbe  Person  seien,  wird  jedem  einleuchten. 

Warum  nur  mag  sich  Tzetzes  das  einzige  'Frauenzimmer  {yvvaiov) 
herausgesucht  haben,  um  sein  Mütchen  an  ihm  zu  kühlen?  War  das 
wirklich  nur  Mangel  an  Galanterie?  Warum  hat  er  die  Anderen,  die  er 
neben  Demo  nennt,  einen  Herakleitos,  Kornutos,  Palaiphatos  und  Psellos, 
an  beiden  Stellen  so  sehr  viel  glimpflicher  behandelt?  Weil  ihm,  ver- 
mute ich,  nicht  sowohl  die  Philosophie  an  sich  als  vielmehr  die  mono- 
tone kosmische  Ideenrichtung  der  Demo,  das  ewige  Herein- 
ziehen astronomischer  Dinge,  die  starre  Konsequenz  und 
Einseitigkeit  ihr  er 'mathematischen''^*)  Allegorisierungs- 
methode  ein  Gräuel  war  wegen  der  bis  zur  Widerwärtigkeit  gesteigerten 
Übertreibung,  die  er  darin  fand.  Nicht  also  als  ob  er  selber  es  grund- 
sätzlich verschmäht  hätte,  die  j^a&rjfxaTiKij  als  Mittel  allegorischer  Inter- 
pretation bei  passender  Gelegenheit  zu  benutzen'^  ^),  befehdete  er  die  Homer- 
deuterin, sondern  weil  er  sah,  dass  diese  die  fxaO^rj/LtaTixi]  geradezu  als 
•Universalschlüssel,  als  Passe-partout  missbrauchte,  um  j e d e s  home- 
rische Geheimnis  damit  zu  erschliessen.  Das  war,  wie  schon  Lobeck  (a.  a.  0.) 
hervorgehoben  hat,  das  Neue  und  Besondere  an  ihrer  Homerdeu- 
tung ■^^«):  jetzt,  nach  Auffindung  des  Wiener  Fragments,  tritt  es  noch 
viel  greller  und  abschreckender  zu  Tage.  Eustathios  hat  es  natürlich  eben- 
falls bemerkt  und  ausdrücklich  erwähnt  (Fragm.  4  ^viixco  f^a^rj/xaTi- 


75«)  In  einem  längern  Schol.  Vulg.  zu  ^385  heisst  es:  ol  6e  <paaiv  iv  ryde  ry 
LGTOQia  nsQl  Tüjv  [letswQtov  öiccXsyea&ai  xov^OfxrjQov  (xad^rifjiaxixov  ovxa  .  .  . 
ßsXxLOv  Xsyeiv  öe,  oxi  ^iXoaocpelv  ßovXexai  6iä  xrjaös  x^g  Qaxptpöiaq  wq  xal  di* 
oXrjg  xrjg  noirjaeiog.  —  75^)  Vgl.  Lobeck  Aglaoph.  I  p.  160  Anm. 

75*^)  H.  Schrader  Porph.  quacsl.  Hom.  ad  Iliad.  p.  4U9  hat  dies  Besondere, 
das  einseitige  (pvaioXoystv,  den  durchgängigen  kosmischen  Charakter,  den  aus- 
gesprochenen Hang  zur  fiaf^rjincaixtj ,  in  Demo's  Allegorien  verkannt,  wenn  er  sagt: 
Sed  tenendum  est,  aUegorias  et  Stoicorum  ad  instar  instilutas . .  .et  aslrologicas . . . 
ad  eandemreferri,  itaul  compendii  variorum  alleyoretarum  placita  con- 
tinentis  auctor  fuisse  videatur.  Unter  allen  alten  Interpreten,  die  ich  kenne,  er- 
weckt mir  keiner  diesen  Anschein  weniger  als  Demo.  ZvfißoXixwg  (Fragm.  8)  inter- 
pretieren sie  Alle,  aber  nicht  streng  (jLa^rj^axix(üg.  Verborgene  moralische  Ideen 
z.  B.,  wie  die  Stoiker  sie  vielfach  bei  Homer  suchten  und  fanden,  verfolgt  Demo  auf 
direktem  Wege  niemals;  höchstens  wenn  sie  ihr  auf  ihren  kosmischen  Streifzügen 
beiläufig  aufstossen,  nimmt  sie  Notiz  davon,  und  das  geschieht  äusserst  selten.  Vgl. 
unten  S.  318.  Ganz  ähnlich  stellt  sie  sich  zu  den  von  ihr  angenommenen  geschicht- 
lich en  Thatsachen.  Bezeichnend  ist  dafür  besonders  Fragm.  3.  (Über  die  verschie- 
denen Arten  allegorischer  Exegese  s.  Lobeck  Aglaoph.  I  p.  155  ff.) 


314  Abthub  Ludwioh 

xcJg  lavta  Tf^€^aVi;£i;x£  und  9  ttegot  de  fiaS-tj fiarixwTegov  hnißa- 
Xov  Toig  QrjO-eiocv,  wg  Kai  Vj  Jtkxlj,  ox^oeig  Tivag  (piXoaocpoivTeg 
TOßv  toig  -O-eolg  oficovvfxcov  ctoriQwv).  Und  darauf  passen  die  wütigen 
Ausbrüche  des  Tzetzes  ganz  vortrefflich.  Kein  anderer  von  allen  seinen 
Vorgängern  hatte  die  allegorische  Interpretationsmethode  so  unvorsichtig 
durch  einseitige  Übertreibung  kompromittiert  Unbewusst  hatte 
Demo  der  gesamten  Methode  den  schlimmsten  Streich  gespielt.  Fast  wie 
eine  Karikatur  nimmt  sich  ihre  Deutung  aus,  und  zwar  gerade  wegen  des 
bitteren  Ernstes  und  der  tiefen  Durchdrungenheit,  die  sie  fortwährend  zur 
Schau  trägt. 

Es  kommt  für  mich  noch  eins  in  Betracht.  Zwar  gehöre  ich  nicht 
zu  denen,  die  bei  einem  Autor  wie  Tzetzes  jedes  Wort  auf  die  Gold  wage 
legen:  allein  die  Wiederholung  des  unfeinen  Wortspiels  Jr]/iicj  (spr. 
Ji^cci)  —  (XLi-ioj  scheint  mir  doch  nicht  ganz  ohne  substantielle  Bedeu- 
tung '^)  zu  sein.  Ich  möchte  glauben,  Tzetzes  wollte  recht  scharf  betonen, 
dass  Demo's  viprjyoQla  nichts  weniger  als  ein  Beweis  eigenen  hohen  Ge- 
dankenfluges war,  sondern  nur  eine  öde  ipevdviprjyooia,  die  sich  mit 
fremden  Federn  schmückte,  eine  blosse  ins  Possenhafte  ausgear- 
tete Nachäfferei.  Und  in  der  That  —  was  ist  denn  Neues  an  ihren 
kosmischen  Ideen?  an  ihren  'mathematischen  Wort-  und  Namen- 
deutungen? Waren  dieselben  nicht  grösstenteils  bereits  längst  bis  zum 
Überdrusse  breit  getreten'')?  Citiert  die  Interpretin  doch  sogar  selbst  die 
alten  Naturphilosophen  samt  den  übrigen  Quellen,  aus  denen  sich  jeder  so 
wie  sie  die  billige  astronomische  Weisheit  nach  Belieben  holen  konnte !  Von 
dieser  Weisheit  ist  nichts  ihr  Eigentum.  Was  ihr  gehört,  ist  nur  die  mit 
frauenhaftem  Eigensinn  durchgeführte  schematische  Anwendung  auf  die  alle- 
gorische Deutung  Homer's,  deren  erste  Keime  möglichenfalls  erst  selber 

76)  Usener  S.  417 :  Hesychios  konnte  die  Allegorien  der  Demo  kennen  und  aus  guten 
Gründen  von  ihnen  schweigen.  Ob  auch  Tzetzes  den  Betrug  [s.  oben  S.  307]  ahnte 
oder  gar  durchschaute?  Fast  möchte  man  das  aus  seinem  Ausdruck  fiißco  öh  zolg  (pQO- 
vovai  schliessen.  Aber  für  Tzetzes^  der  rvie  seine  modernen  Geistesverwandten  gern 
ins  Blaue  hinein  schmäht,  kann  ''Affe'  ein  Wort  ohne  substantielle  Bedeutung  sein. 

77)  Ein  Blick  in  das  von  0.  F.  Gruppe  {Die  kosmischen  Systeme  der  Griechen, 
Berl.  1851)  oder  M.  Sartorius  (Die  Ent?vicklung  der  Astronomie  bei  den  Griechen, 
Zeitschrift  f.  Philosophie  und  philosophische  Kritik  N.  F.  LXXXII  1882  S.  197  flF.  und 
LXXXIII  S.  1  ff.)  oder  Anderen  gesammelte  reiche  Material  wird  dies  bestätigen. 
Herakleitos  Alleg.  c.  34  behauptet:  näq  yaQ  dvr}Q  (piX6ao<poq  sv  &v7]zuj  xal 
iniy€i(p  Tcö  aiüfjLazL  Tczijvbv  wotcsq  zl  ßeXoq  zbv  vovv  slq  zä  [xszaQaia  öiajis/i-TiS' 
tat  .  .  .  ovöslg  yccQ  aßazoq  <piXoaog)la  x^^Qoq.  dXXa  (iszä  zbv  ovQavbv 
i^^zTjxE  zrjv  xazcDzdz(o  <pvaiVf  %a  (irjöe  z(öv  vsqQ^sv  dßvrjzoq  y.  Zunächst  be- 
zieht sich  diese  Äusserung  zwar  nur  auf  den  angeblich  philosophisch  allegorisieren- 
den  Dichter  (Homer),  aber  sie  gilt,  wie  der  Eingang  lehrt  und  die  Geschichte  bestätigt, 
von  jedem  Philosophen. 


Die  Homerdeuterin  Demo.  315 

durch  das  Studium  der  Philosophen  in  ihr  entwickelt  sein  mochten.  Wir 
werden  gleich  sehen,  dass  der  Vorwurf  unselbständiger  Nachäfferei,  den 
meines  Erachtens  Tzetzes  unverblümt  und  mit  vollem  Recht  gegen  sie  aus- 
spricht, noch  von  einer  anderen  Seite  her  eine  verzweifelt  positive  Stütze  erhält. 
Über  die  Zeit  unserer  Homerdeuterin  ist  bisher  nichts  Bestimmtes 
ermittelt  worden.  Man  sah,  dass  ihr  Buch  von  den  späteren  Homerikem 
fleissig  gelesen  war  und  in  dem  berühmtesten  Homerkommentar,  dem  des 
Ven.  A  (saec,  X—XI),  schon  citiert  wird,  in  den  sie  zweifellos  zugleich 
mit  den  (als  Ganzes)  bedeutend  älteren  Vulgärscholien  hineinkam.  Damit 
ist  der  terminus  ante  quem  gegeben.  Einen  festen  lerminus  post  quem  hat 
erst  mein  Fund  in  der  Wiener  Hiashandschrift  ans  Licht  gebracht.  Durch 
die  dortigen  Citate  nämlich  (s.  oben  S.  308)  wird  festgestellt,  dass  Demo 
erst  nach  Alexander  d.  Gr.  gelebt  haben  kann,  keinesfalls  vor  dem  3.  Jahrh. 
V.  Chr.  So  erhalten  wir  einen  zwar  oben  und  unten  begrenzten,  aber 
allerdings  immer  noch  überaus  weiten  Zeitraum :  es  fragt  sich,  ob  inner- 
halb desselben  nicht  ein  sicherer  Anhaltspunkt  gefunden  werden  kann, 
der  uns  dem  Ziele  näher  bringt.  Usener  (S.  417)  schloss  aus  Suidas 
(und  "^Eudokia'),  dass  Hesychios  lilustris  der  Demo  noch  keine  Stelle  ein- 
geräumt  hatte.  Und  doch  war  ihr  Werk  schon  für  die  Scholiensamm- 
lung  des  Ven,  A  benutzt  worden;  es  gehört  also  schwerlich  einer  späteren 
Zeit  als  Hesychios,  wahrscheinlich  einer  etwas  früheren  an.  Wir  werden 
nicht  weit  abirren,  wenn  wir  das  4,  bis  5.  Jahrh.,  eine  Zeit,  in  welcher 
der  Neuplatonismus  der  Mythenallegorie  neuen  Aufschwung  brachte  und 
auch  der  litterarische  Missbrauch  alter  Namen  an  der  Tagesordnung  war, 
für  jene  Fälschung  annehmen.  Auch  ich  bin  der  Überzeugung,  dass  Demo 
unter  dem  Einflüsse  des  Neuplatonismus  stand.  Zeigten  dies  schon  ihre 
bisher  bekannt  gewordenen  Fragmente,  so  tritt  es  in  meinem  Wiener 
Funde  noch  bedeutend  greller  zu  Tage.  Kein  Gewicht  vermag  ich  aber 
meinerseits  dem  Umstände  beizulegen,  dass  in  den  Überresten,  die  wir 
aus  dem  Onomatologos  des  Milesiers  Hesychios  kennen,  die  Homerdeuterin 
Demo  nicht  vorkommt;  denn  dort  fehlt  eine  Menge  Schriftsteller,  z.  B. 
der  jüngst  aufgefundene  Herondas.  Und  da  bis  jetzt  weder  die  Entstehungs- 
zeit des  gesamten  Scholienkonglomerats  des  Ven.  A  festgestellt")  noch 
Demo's  Werk  als  Fälschung  nachgewiesen  worden  ist,  so  fehlt  es  der 
näheren  Zeitbestimmung  Usener's  immer  noch  an  einem  festen  Halte.  Ein 
solcher  wird  gewonnen,  wenn  es  mir  gelingt  nachzuweisen,  dassDemodes 
Kirchenhistorikers  Theodoretos  (gest.  457  n.  Chr.)  'Ekkr^vLyiiov 
na&Tj^aTwv  'd'egaTtevTix'i]  benutzt  hat.    Meine  Beweisstellen  sind ; 

78)  Nur  der  Grundbestandteil  desselben,  der  Viermännerkommentar,  läset  eine 
annähernde  Zeitbestimmung  zu:  s.  Arist.  Hom.  Textkr.  I  S.  79. 


316 


Arthur  Ludwich 


Theodoretos 

I  97  Liva^l/navÖQog  filv  yag  xal 
^va^ifj-hrig  iTCTayiaurÄOOartXaolo- 
va  '•)  Ttjg  yrJQ  tovtov  ecpaoav  elvai, 
Läva^ayoqag  de  IleloTtovvTJaov  jael- 
^ova,  ^HQccY.XeiTog  6k  6  Ecpiowg 
jtoöialov^^), 

IV  24  xai  TSTQayiOGlag  aQid-ixov- 
Ol  y,al  ixevTOi  ytal  TtleLovg  otaölcüv 
IxvQiaöag,  tag  fiev  mco  yrjg  (.ify^Qi 
oeXi^vrjg,  rag  öh  exeZ&ev  (^exQig 
rjUov. 

IV  17  'Aal  Tovg  aorsgag  öe  Qakrjg 
fxev  yeojöeig  ycal  efiTtvgovg  wvofia- 
aevy  b  öi  ye  ^Äva^ayogag  ly,  r^t; 
Tov  TtavTog  TteQiÖLvrjoecog  TtexQovg 
elTtev  avaGTtao&rjvac  xai  Tovrovg 
€XTCVQü)^€VTag  TB  xal  avü)  nayh- 
rag  aorsgag  ovo/naad^rjvat.  Kai  /lr\- 

fWXQlTOg     Ö€    TOVTOV    TlQaTVVEC    TOV 

koyov.  6  öe  Jioyevrig  TciorjQoeiöelg 
"kiyei  elvai  TOVTOvg,  öiaTCvoag  Ttvag 
exovTag  . . .  ^loyevrjg  de  xat  ejLiTtl- 
JCTBLV  eig  ttjv  yrjv  Tivag  tovtcov  eqjrj- 


Demo 

^14  cpaol  yccQ  avTov  [seil,  tov 
rjhov]  ^va^lfnavÖQog  y.al  Läva- 
^ifihrjg  e7CTaxauty.oaa7tXaoiovtt  ^°) 
^^S  yfjs  dvai  fiel^ova,  6  de  !dva- 
^ayogag  6  FleXoTtowriOog*^)  TtoXXij) 
^el'Cova  TavTTjg  tovtov  elvai,  6  de 
'HgccxleiTogo  'E(pioiog  Ttodialov*^). 
Tiveg  öe  avTov  TeTQayoalag^*)  agid-- 
jLiovOL  xal  fievTOL  yLal^)  nXeiovg 
üTaöLojv^)  ^vgiaöag,  Tag")  fxev 
ano  yrjg  fxixgu  aeXrjvi^g,  Tag"*)  ök 
ixeld-ev  ^^XQ^S  ^Uov. 

A  \%  cpaol  yag,  otl  Qalrjg  Tovg 
aOTegag  yetuöeig  wvojLiaoe  aal  kfi- 
Tivgovg.  6  ö  uäva^ayogag  hi  Tr^g 
TOV  TcavTog  Tcegiöivrjoewg  rciTgovg 
elfcev  avaOTrjvaL^^)  y.al  TOVTOvg  «x- 
Ttvgcü&evTag  y.al  avco  TtayevTag  a- 
OTigag  yeveo&at^^)  . . .  waavTwg  xal 
JijfxoygiTog.    6    öe  ye  JLoyivTqg^) 

eyrciTtTeiv^^)  eig  ttjv  yrjv  Tivag  tov- 
TOJv  ecprjoe  yal  oßevvvfievovg  eley- 


79)  Gaisford's  Varianten  mit  aufzuführen,  dazu  liegt  augenblicklich  für  mich 

o 
keinerlei  Veranlassung  vor.  —  80)  knza  xal  eixoainlaoiova  V.  —  81)  o  neXoTcovria 
V.  Konjekturen,  wie  b  JleXonovvrjGLoq  oder  b  nsloTtovvrjaov,  sind  billig,  bessern  aber 
nichts,  weil  Anaxagoras  kein  Peloponnesier  war.  Der  sinnlose  Fehler  ist  in  erster  In- 
stanz möglicherweise  auf  ein  Abschreiberversehen  zurückzuführen,  vielleicht  aber  auch 
auf  eine  durch  die  beiden  Konjekturen  angedeutete  Unwissenheit  der  Verfasserin.  Das 
Richtige  bietet  Theodoretos  nebst  den  anderen  von  Diels  Doxogr.  gr.  p.  351»  9  und 
562,  20  beigebrachten  Zeugen.  —  82)  Dies  wiederholt  Theodoret  IV  22  (also  kurz  vor 
der  von  mir  ebendemselben  vierten  Buche  entnommenen  Stelle!),  mit  einigen  bemer- 
kenswerten Abweichungen:  xal  'Ava^lfjiavÖQoq  fihv  (Anaximenes  fehlt!)  bixaxaifL- 
xoaankaolü)  xrjq  yrjg  tovtov  e(pi]asv  slvai,  'Et^neöoxXijq  6h  iaov  zy  yv»  b  6h 
'Ava^ayoQag  UeXoTtow^Gov  ßsi^ova,  'HgdxXeiTog  6h  7io6iaiov.  —83)  7is6ialovY?  — 

oig 
84)  TezQaxooiovg  so  V.  —  85)  xal  nachträglich  übergeschrieben  V.  —  86)  aza6L0vg  V.  — 
87)  und  87«)  Tolg  st.  zagY  an  beiden  Stellen.  —  88)  Richtiger,  wie  gewöhnlich,  Theo- 
doretos: s.  Diels  Doxogr.  p.  341.  —  89)  Hier  ist  (vielleicht  ohne  Schuld  der  Verfasserin) 
der  Zusammenhang  gestört  durch  Einschub  einer  Note  negl  zwv  6w6exa  t,(p6iü)Vf  die 
nicht  hierher  passt.  —  90)  Vielleicht  hat  das  Homoioteleuton  (Jwyevrjg)  den  Ausfall 
einiger  Zeilen  verschuldet.  —  91)  Besser  wieder  Theodoret,  wiewohl  schon  hier  der 
Fehler  Eingang  zu  finden  begann:  Diels  p.  342. 


Die  Homerdeuterin  Demo.  317 

OB   y.ou    oßevvvfxevovg    eHyxeod-ai,  x^^^^^f   ort   q)vaiv  exovai  Xid-wv, 

oTi  Xid-wv  exovöL  cpvoiv '  zal  (xaq-  xal   (.iccqtvqi   xQV"^^^   "^^J  ^''  -^^yog 

TVQL  XQ^i'^^^  '^^  ^^'  ^i^yog  Ttorafxolg  Ttova/nolg^^)  TtvQoeiöcjg  Tcazevex^h- 

TzvQoeiöcjg  TiarsvexO-^vTi  rtori.  xi  tcots. 

^  423   waavTwg  xal  6  7toir]trjg 

n  9  Oalijg  (xev  yaq ,  raiv  ETCta  '^  'Qyteavov ,  d-ewv  yiveOLv ,   xal  firj- 

KaXov^hwv  Gocpwv  6  TtQsoßvTaTog,  t^qu    Tr]'9-vv\     aXXa    xal    Qakrjgf 

oQxrjv  Tiavriüv  ro  vöwQ  vTciXaßev,  6  rwv  eitta  TtQeoßvtatog,  rrjv  av- 

^OfiriQi})  ye  oif.iai,  etQrj'Kori  thotsu-  ttjv   exst  öo^av  tu)  '^OfxriQuy   TtQiZ- 

oag  '  QKSavov   re,    -d-saiv  yereaiv,  tov  yaq  Ttavzwv  t6  vÖcüq  7t€q)vx€ 

ycal  f^rjTiga   TqS-vv^   [B  201].  GTOtx^lov  Xfyeiv^^). 

V  22  6g  Ö€  y.a\  tcbql  T^g  tov 
rjy€f.ioviyiov  X^Q^S  dirjV€x^r]Gav 
TtQog  akXrjXovgj  Qaöiov  öiayvwvai, 
^iTCTtOKQaTrjg  lakv  yaq  "/.al  ^rjiJ,6KQi- 
Tog  xal  nXaTCDv  iv  eyxecpdXq)  tov- 

To  iÖQvGd^ai  eiQ7]xaGLv  .  .  .  Ilagfis-  A  495   xal    yaq   6   IlaQfievldrjg 

vlörjg    de    xal   ETtixovQog    ev    oXii)  xal    6  ^Ejtlxovgog    iv   rw    d-wgaxi 

Tfp  d-iüQaxL.  TTjv  tfJvxrjv  So^dKovGtv  elvai. 

Man  beachte  zunächst,  dass  dies  überhaupt  alle  Stellen  sind,  an  denen 
das  Wiener  Fragment  Gelehrtencitate  bringt.  Während  dieselben  nun  bei 
Theodoret  sich  ausnahmslos  in  gutem  Zustande  befinden  und  in  wohl  ge- 
fügtem Zusammenhange  stehen,  unter  einer  reichen  Fülle  von  kosmischen 
Ansichten  anderer  Philosophen,  sind  sie  bei  Demo  kaum  mehr  als  ein  spo- 
radischer, eilig  mit  den  Haaren  herbeigezogener,  nach  und  nach  immer 
ärger  entstellter  Notizenkram,  ohne  eigentliche  innere  Berechtigung.  Dar- 
aus folgt,  dass  Theodoret  als  die  Quelle,  Demo  als  seine  Abschreiberin  an- 


(OV 

92)  noxafKü  V.  —  93)  Xeyov  scheint  V  zu  haben.  Tlecpvxs  zQs<pead-ai,  nscpvxfv 
avLfiäa^ai,  xela^ai  nicpvxsv ,  anavicoq  yivead^ai  nsfpvxs  u.  s.  w.  sind  beliebte  Rede- 
wendungen des  Fragments,  welche  (wie  örjfziovgyog,  öiaxoa/UTjaig  u.  a.)  fleissige  Lektüre 
Plato*8  verraten.  An  dieselbe  Quelle  gemahnen  viele  ebenda  ausgesprochene  kos- 
mische Anschauungen.  Ich  denke  hierbei  an  solche  platonische  Stellen  wie  Phädr. 
p.  246e  o  fisv  örj  (x^yaq  riysfjKov  iv  ovQaviö  Zeig  ilavvcav  nzrjvbv  ag/bta  ngcätog  no- 
gevsraif  öiaxocßdiv  ndvxa  xal  iTtifiEXovfisvog.  Phädon  p.  1091»  slvac  yag  Ttav- 
Tccx^  tcsqI  TTjV  yfjv  noXXa  xoTXa  xal  navTOÖana  xal  rag  iöeag  xal  td  fxsyiB^ij,  sig 
a  §vvsQQVi]X^vai  ro  te  vöojq  xal  rrjv  ofjUxXrjv  xal  xbv  dsga'  avzrjv  dh  zr/v  yfjv  xa- 
Q^agav  iv  xa&aQ(ö  xela^ai  zcö  ovQavai,  iv  arnsQ  sgzl  zd  dazga,  ov  öt]  ald^iga  ovo- 
ßdi^eiv  zovg  noXXovg  zcüv  negl  zd  zoiavza  stcod^ozcav  XiyeiV  ov  ötj  vnoazd^ßrjv 
zavza  8ivai  xal  ^vgQslv  dsl  elg  zd  xolXa  zrjg  y^g.  lila  oneg  rifjuv  zo  vöcog  xal  rj 
&dXazzd  iazi  ngog  zrjv  rjfzez^gav  xgs^ccv,  zovzo  ixsZ  zbv  dsga,  o  6h  Tjfilv  6  dijg, 
ixeivoig  zbv  alS^sga  .  .  .  z^  avz^  dnoczdaei,  i/nsg  d^g  vs  vöazog  dfsazrjxs  xal 
al&Tjg  digog  ngbg  xa&agozrjza. 


318  Arthur  Ludwich 

gesehen  werden  muss,  nicht  umgekehrt.  Dies  schliesst  natürlich  nicht 
aus,  dass,  wie  Herrn.  Diels  {Doxographi  yraeci  p.  10. 45  ff.  170)  schlagend 
nachgewiesen  hat,  Theodoret  selber  ein  arger  Kompilator  war  und  gern 
mit  fremdem  Kalbe  pflügte.  So  plagiatorisch  indessen  wie  Demo,  bei  der 
sich  alles,  was  sie  von  öö^ai  früherer  Philosophen  mit  Namen  citiert, 
wortgetreu  mit  ihrer  einzigen  Quelle  deckt,  ohne  dass  sie  es  der 
Mühe  wert  achtete,  diese  Quelle  offen  zu  nennen,  —  so  krass 
und  versteckt  plagiatorisch  verfährt  Theodoret  meines  Wissens  nirgends. 
Unmöglich  kann  es  Zufall  sein,  dass  Demo  mit  keinem  der  uns  sonst 
bekannten  (bei  Diels  übersichtlich  zusammengestellten)  Kompendien  der 
Placita  phüosophorum  auch  nur  annähernd  so  genau  übereinstimmt  wie 
mit  Theodoret.  Die  Übereinstimmung  ist  von  der  Art,  dass  sie  auch  nicht 
etwa  durch  die  Annahme  eines  verlorenen  Kompendiums,  das  Theo- 
doret und  Demo  gemeinschaftlich  benutzten,  genügend  erklärt  werden  kann, 
weil  Theodoret  im  ganzen  genommen  augenscheinlich  weit  lieber  referiert 
(also  eigene  Worte  gebraucht)  als  wörtlich  abschreibt.  Damit  wird,  da 
Theodoret  im  Jahre  457  starb,  für  seine  Nachtreterin  Demo  der  terminus  post 
quem  sicher  bis  in  die  Mitte  des  5.  Jahrb.  n.  Chr.  herabgerückt.  Ich  wäre 
geneigt,  die  Blütezeit  unserer  Homer deuterin  frühestens  in  den  Ausgang 
dieses  Jahrhunderts  zu  setzen,  bescheide  mich  aber  gern  mit  den  gewon- 
nenen sicheren  Zeitgrenzen. 

Demo's  Vorliebe  für  das  genannte  Werk  Theodoret's  mit  seiner  kos- 
mologischen  Gelehrsamkeit  könnte  einen  tieferen  Grund  haben :  die  Homer- 
deuterin selbst  könnte  Christin  gewesen  sein.  Der  homerische  Zeus  ist 
ihr  die  göttliche  Vorsehung,  die  oben  im  reinen  Äther  thront  und  das 
Weltall  regiert.  Im  Verein  mit  Leto,  der  göttlichen  Menschenliebe,  die 
milde  unserer  Sünden  vergisst,  erschafft  Zeus  den  Apollon,  die  Sonne. 
ApoUon,  von  gleich  liebevoller  Sympathie  wie  seine  Eltern  für  die  Menschen 
beseelt,  für  Gerechte  und  Ungerechte,  lässt  sein  Licht  leuchten  über  Böse 
und  Gute ;  verhängt  er  Pestilenz  und  andere  Schrecken  über  uns  Sünder, 
dann  geschieht  es  nicht  zur  Strafe,  sondern  zur  Warnung,  um  uns  zu 
bessern  und  zur  Tugend  zu  erziehen.  Das  ist  der  kurze  Inhalt  des  Kom- 
mentars, mit  welchem  Demo  die  homerischen  Worte  ^t]Toig  xal  Ji6g 
vlog  A  9  begleitet^O ;  und  von  demselben  achtungswerten  Geiste  christ- 

94)  Ma  ytüQ  6q>cicfisv  zov  al&iga  rj  ttjv  avco  ngovoictv  tt]V  ndvxa  awe^ovoav  *  Aijz(a 
6h  ÖLo,  xriv  nciQOvaav  avry  avfiTidd^eiav  xal  (fiXav&^ionlav  vorjtsov  —  (piXdv&gwTtov 
yccQ  TO  &SLOV  xal  avfzna&sg — ,7]Tig  xal  owSeöszai  avT^  xal  xy  oixeicc  avtijq  ßovk§ 
avveoztv  dsl.  öto  Ttgoarjxovzcog  Atjzo)  izv/noXoyElzat  ix  zov  Xrid-to  zo  Xav&dvo),  ^ 
iniXav&avofzsvi]  zcüv  afiagziojv  ^fxcäv.  ix  zavzrjg  ovv  zrjg  zov  S^slov  ^iXav9^Q(o7tlag, 
^v  TiQog  Tjfiäg  x^xzijzai,  yevvdzai  6  ^AnoXXwv  rjyow  6  ^hog,  oazig,  z^  zoinazgog 
avfina^eia  x()a>iue>'0$  inl  öixalovg  xal  dölxovg,   xal  XdfinEi  inl  novrigovg  xal  dya- 


Die  Homerdeuterin  Demo.  319 

lieber  Liebe  und  Duldsamkeit  finden  wir  sie  aucb  sonst  beseelt.  Viel- 
leicht liegt  gerade  in  diesem  versöhnenden  Zuge  die  beste  Erklärung  für 
ihren  so  gern  fromm  gen  Himmel  gerichteten  Gedankenflug;  vielleicht 
sucht  sie  nur  deshalb  am  liebsten  hoch  oben  in  der  fernen,  unermess- 
lichen  Sternenwelt,  was  sie  auf  Erden  nicht  fand,  um  sich  die  Symbole 
des  gefeierten  Dichters  zu  deuten.  Lautet  doch  ihr  ausdrückliches  Glau- 
bensbekenntnis: T«  TtavTa  £X  Twv  avwd-ev  dioLKOvvTai  rj  ey,  rrjg  avw&ev 
TtQovolag.  Symbolik  hatten  ja  schon  viel  ältere  und  viel  bedeutendere  Denker 
im  Homer  zu  finden  gemeint :  was  hätte  eine  Christin  hindern  sollen,  ihren 
Spuren  nachzugehen  und  unter  der  heidnischen  schönen  Hülle  die  ewigen 
Wunder  des  göttlichen  Weltenschöpfers  zu  erkennen?  Je  fester  Homer 
in  der  Gunst  seines  Volkes  stand,  desto  eifriger  waren  von  früh  an^^) 
denkende  Köpfe  bemüht,  sein  Gold  von  wirklichen  oder  vermeintlichen 
Schlacken  zu  reinigen.  Das  einfachste  Mittel,  die  {in  usum  Delphini) 
kastrierten  Ausgaben,  die  ja  immer  noch  florieren,  kannte  das  Altertum 
nicht;  das  beschwerlichere  Mittel  der  moralischen  Homercentonen  fand 
selbst  bei  den  Christen  keinen  rechten,  allgemein  und  dauernd  einwirken- 
den Anklang:  einzig  und  allein  die  altbewährte  allegorische  Auslegung 
schien  sich  für  den  gewünschten  Zweck  heidnischer  und  christlicher  Mo- 
ralisten vortrefflich  zu  eignen.  Anscheinend  aufs  festeste  begründet  in 
der  bilderreichen  Sprache  °^),  dem  unvertilgbaren  natürlichen  Erbteile  aller 

d-ovq,  tf/  (jltitqI  ofxoiov/uevog,  r}  zw  naxQi  asl  nageaziv  ...  ort  ev  Tovxip  öelxwrai 
rj  zov  B^eov  (pi?.ccv9^Q(07tla  xs  xa.1  avfinaS^eia ,  xaxa  xcSv  äfiagxavovxcov  ^fjuov  ovx 
svO-üwg  (xfJ.sißexaL.,  dXXcc  naiöevei  ^fxäg  €x  xs  xcöv  aq)OQi(öv  xal  övoxQaaimv  (piXav- 
S-gcüTievofjievog  icp^  rjßäg,  (oaavxwg  xal  ev  x(]  vöaco  UQog  naiöevaiv  rißdiv  ndvxcDV 
i^aTiooxsXXcDV  xal  djioxQonrjV  xöjv  dS^ea^cDV  ngd^scov  xd  ydg  nagd  xov  &£lov  inayo- 
fieva  TjfjiüJV  /Lihv  etg  dyavaxxrjalv  iaxi,  nag'  avxov  öh  eig  öloqS^odoiv  ^fiojv  dnoGxsX- 
Xsxat.  —  95)  Wolf  Prolegom.  ad  Hom.  p.  CLXI:  Non  dubito,  quiji  antiquissimi  phi- 
losophi  auctores  inlerpretationis  habendi  sint,  et  initio  quidem  npayßaxix^g.  Nam 
verhorum  obscuritas  Ulis  saecuUs  admodum  nuUa  erat^  quando  eadem  forma  orationis 
usurpari  solebat  ab  opiimo  quoque  poelarum.  Verum  philosophi  quum  viderent, 
Sacra  haberi  carmina  celebrarique  omni  populo  ex  iisque  vitae  rede  instituendae 
praecepta  sumi,  neque  tarnen  in  iis  non  animadverterent  multa  falso,  ridicule  et  in- 
decore  fingi  de  natura  deorum  et  rerum^  interpretatione  sua  corrigere  fabulas  atque 
ad  physicam  et  moralem  doctrinam  suae  aelaüs  accommodare ,  denique  historias  et 
reliqua  fere  omnia  ad  involucra  exquisitae  sapientiae  trahere  coeperunt.  Bald  darauf 
(p.  CLXV) :  Nam  dum  Epicurei  omnem  poesin  et  musicam  7'eiiciebant ,  negabantque 
sub  Bomeri  fabulis  latere  doctrinam,  ceterae  sectae  magno  studio  ad  vetei'es  vno- 
voiag  recurrebant ,  Stoici  in  primis.  Vgl.  dazu  ausser  Lobeck  Aglaoph.  I  p.  155flF., 
Lehrs  Arist.»  p.  198 ff.  und  den  betreffenden  Abschnitten  bei  Ed. Zeller  (z.B.  III  1» 
S.  322)  jetzt  namentlich  die  bereits  citierten  Porphtjriana  von  H.  Schrader.  —  96)  Mit 
dem  bildlichen  Ausdrucke  der  Dichter  sucht  auch  Herakleitos  in  der  Einleitung  zu  sei- 
nen homerischen  Allegorien  (c.  5)  seine  exegetische  Methode  zu  rechtfertigen.  Homer 
selber  bediene  sich  der  Allegorie,  z.  B.  wenn  er,  xd  noUfiov  xal  fxdxrjg  xaxd  öis^imv, 
sage  (T  222) :  rig  xe  nleioxriv  (xkv  xaldfjLTiv  x^ovl  xa^xbg  exsvsv,  dfirjxog  6'  oXiyiaxog 


320  Arthur  Ludwich 

Dichter,  hat  die  allegorische  Homerdeutung  zahllose  gläubige  Anhänger 
gefunden.  Sowie  mancher  Heide  eiferte  zwar  auch  mancher  Christ  da- 
gegen, z.  B.  Theodoretos,  der  sich  rühmt  (IV  4) :  rQig  de  rjdrj  touto  de- 
ÖQücxai-iev,  ycal  OTtcog  avayxalov  Tial  xQ'fj^f'f^ov  ro  rrjg  TcLoTBiog  ccTceSelBa- 
fxsv  q)dQiaayiov,  rtva  re  XQV  ^o^d^en'  Ttjg  ovolag  Tzigv  rrjg  &£lag  y.ai 
oTtola  TtQOOrjycei  cpQovelv  Tteql  raJv  dogocTtov  fxiv  yevvrjTwv  öe  q)V0€wv, 
€7C£Öel^afi€v,  Tial  ib  Trjg  TtoujTi'Krjg  fnvd-oXoylag  dTtoyvfuvwaavTeg  aloxog 
'Aal  Trjv  TegarcoÖTj  twv  q)tXoa6(pa)v  aXlrjyoQlav  kXiy^avTeg. 
Aber  ungehört  verhallten  die  Stimmen  der  Gegner ®0>  und  Demo,  sonst  die 
treueste  Nachtreterin  Theodoret's,  zog  es  vor,  in  diesem  Falle  ihren  eignen 
Weg  zu  gehen. 

Demo's  Homerdeutung  ist  eine  Narrheit  genannt  worden®").  Mir  liegt 
es  fern,  eine  Rettung  der  Deuterin  versuchen  zu  wollen.  Warum  aber 
sollten  wir,  nachdem  wir  die  Frau  nun  ein  wenig  genauer  kennen  gelernt 
haben,  ihr  die  Genugthuung  des  Geständnisses  versagen,  dass  ihre  Narr- 
heit, gross  gezogen  von  zahllosen  vorangegangenen  Denkern,  einstmals 
allen  Ernstes  für  Philosophie  gegolten  hat?  warum  vergessen,  dass  echte 
Nachkommen  des  ehrwürdigen  Melampus^^j,  dem  einstens  dankbare  Schlan- 
gen mit  feinen  Zünglein  die  Ohren  säuberten,  auf  dass  er  fortan  das 
Gräschen  wachsen  hörte,  selbst  in  unserem  aufgeklärten  Zeitalter  noch 
immer  ganz  offen  ihr  Wesen  treiben?  dass  es  mit  Hellhörigkeit  begnadete 


XT6.  (Vgl.  Maxim.  Tyr.  XXIII 4  «AA'  sldivat  fisv,  ozitioitjtixt]  näaa  aivlzTixai, 
xaxafjLavxevead^ai  öe  rwv  alviyfidzcDV  {xeyaXonQsnüiq ,  xata  ttjv  &£(Üv  SIxtiv. 
Die  Theologen  kleiden  gleichfalls  die  Wahrheit  gern  in  die  Hülle  der  Allegorie:  Lo- 
beck Aglaoph.  I  p.  160.)  Ebenso  wie  Herakleitos  pflegen  sich  auch  moderne  Symbo- 
liker mit  Vorliebe  auf  den  Doppelsinn  des  Wortes  zu  berufen,  und  wer  kann  wissen, 
auf  welche  Abwege  uns  noch  die  jetzt  in  Mode  gekommene  Sucht,  bei  Theokrit  und 
ähnlichen  Dichtern  auf  yglcpoi  Jagd  zu  machen,  hinführen  wird !  Es  ist  die  nämliche 
lockende  Strasse,  welche  die  Stoiker  samt  Demo  und  unzähligen  anderen  Verirrten 
gingen.  —  97)  Der  eben  genannte  Herakleitos  schickt  solche  ungebildete  Menschen 
einfach  zum  Henker  (c.  3):  st  d'  dfjiaBelg  zivsg  ävS-^conoi  rrjv  'Ofir]QiXT]v  aklTjyoQiav 
dyvoovaiv  ovö^  elg  za,  iivx^a  zrjg  exeivov  aocpiag  xazaßeßrixaaiv,  a/A'  dßaauviazog 
avzoig  71  ztjg  dXi]0-8iag  XQioig  SQQinzai,  xal  zo  ^lÄo  aoipcog  ^tjO-sv  ovx  elöözeg,  o 
[xvQ^ixwg  öoxsl  nXdoaL  TtQoaaQTtd^ovaiv,  oizoi  [xsv  ^QQFzcDöav.  —  98)  Von  Usener 
S.  415.  —  99)  Zum  Glück  sind  sie  nicht  alle  unter  die  Philologen  gegangen,  sondern 
vielfach  auch  unter  die  Theologen,  Philosophen,  Juristen  u.  s.  w.  Man  denke  beispiels- 
halber nur  an  die  Symboliker  des  Strafrechts.  Einen  solchen  lernte  August  Twesten 
im  J.  1810  in  Berlin  kennen.  Alle  Strafen,  behauptete  er,  sind  ursprünglich  Symbole. 
Der  Strassenräuber  z.B.  werde  gerädert,  um  ajizuzeigen,  ihn  brauche  kein  Fuhr- 
mann überzufahren  sich  in  Acht  zu  nehmen ;  der  Dieb  gehangen,  denn  ind^m  er  An- 
derer Eigentum  nicht  achte,  komme  auch  ihm  kein  Fleck  der  Erde  als  Eigentum 
zu  .  .  .  Das  Vermögen  zu  symbolisieren  wäre,  meinte  er,  eigentlich  Geist  zu  nennen 
und  zugleich  Schöpfer  der  Sprache.  G.  Heinrici  D,  August  Twesten  nach  Tage- 
büchern und  Briefen  (Berlin  1889)  S.  94. 


Die  Homerdeuterin  Demo.  321 

Glückliche  immer  noch  giebt,  denen  der  alte  Homer  in  Weihestunden 
Dinge  zuraunt,  die  kein  anderer  Sterblicher  von  ihm  zu  hören  bekommt? 
Aus  der  Ilias  tönt  ihnen  das  Brausen  der  von  den  Bergen  oder  von  Him- 
melshöhen herabstürzenden  Wassergüsse  zu  Ohren,  aus  der  Odyssee  die 
leid-  und  freudvolle  Mär  von  der  ersten  Umschiffung  Afrikas,  aus  dieser 
oder  jener  Khapsodie  irgend  ein  anderes  geheimnisvolles  Leitmotiv,  gleich 
wunderbar  anzuhören  und  von  gleich  berückendem  Zauber.  Der  gewöhn- 
liche Sterbliche,  wie  gesagt,  hat  dafür  nur  taube  Ohren.  So  darf  ich  mich 
denn  getrost  der  Hoffnung  hingeben,  dass  wenigstens  er  meine  Erinne- 
rungen an  Frau  Demo  und  ihr  kosmisches  Leitmotiv  mit  natürlichem  In- 
stinkt an  den  richtigen  Platz  zu  stellen  wissen  wird^°®). 


100)  Der  vorstehende  Aufsatz  war  bereits  fertig  gesetzt,  als  mir  das  neueste 
Heft  der  Byzantinischen  Zeitschrift  (IV  1)  zuging,  worin  (gleich  vorn)  M.  Treu  den 
überzeugenden  Nachweis  führt,  dass  die  oben  S.  310  f.  erwähnte  Briefsammlung  von 
Michael  Italikos  verfasst  ist,  welcher  in  seinen  späteren  Lebensjahren  (nach  1142) 
Bischof  von  Philippupolis  wurde.  Aus  der  ebenso  interessanten  als  äusserst  dankens- 
werten Untersuchung  ergeben  sich  für  die  genannte  Stelle  meines  Aufsatzes  ein 
Paar  Berichtigungen,  die  meine  Leser  nun  ohne  Mühe  selbst  werden  vornehmen 
können. 


21 


XIV. 

Profan-  und  Sakralrecht. 

Von 

Richard  Maschke  (Königsberg  i.  Pr.). 

Hält  man  das  Studium  und  die  darauf  beruhende  Rekonstruktion  der 
Antike  in  allen  ihren  Erscheinungsformen  für  das  Kennzeichen  derjenigen 
Disziplin,  die  man,  wenn  nur  über  ihr  Wesen  Einigkeit  besteht,  beliebig 
als  Philologie,  Geschichte,  Archäologie,  Altertumskunde,  als  Wissenschaft 
oder  als  Kunst  bezeichnen  mag,  dann  darf  vielleicht  auch  der  juristische  Prak- 
tiker in  diesem  Kreise  bei  einer  festlichen  Gelegenheit  erscheinen,  um  mit 
seinem  geringen  Können  den  warm  empfundenen  Dank  dafür  zu  bethätigen, 
dass  er  die  auch  für  seinen  Beruf  bedeutsame  Lehre  von  der  Einheit  der 
Antike,  von  dem  inneren  Zusammenhange  alles  geistigen  Lebens  schon 
früh  von  dem  Verfasser  der  Sittengeschichte  Roms  empfangen  hat.  Möchte 
die  Geringfügigkeit  dessen,  was  ich  zu  geben  vermag,  mit  dieser  Gesin- 
nung entschuldigt  werden. 

Die  Beziehungen  zwischen  weltlichem  und  Sakralrechte  in  Altrom 
gehören  zu  den  wenigst  erörterten  Gebieten  der  beteiligten  Disziplinen. 
Man  scheut  vor  Fragen  zurück,  deren  Besprechung  zwischen  Skepsis  und 
Phantastik  zu  schwanken  pflegte,  und  vielleicht  hat  gerade  deshalb  sich 
der  Eindruck  gebildet,  dass  in  dieser  Sphäre  für  eine  unbefangene  Er- 
örterung kein  Raum  sei. 

Unter  diesen  Umständen  soll  in  dem  Folgenden  der  Versuch  gemacht 
werden,  das  Material  über  einzelne  Punkte  gesichtet  vorzulegen,  in  denen 
die  Natur  der  Überlieferung  zu  leidlich  gesicherten  Resultaten  vorzudringen 
gestattet.  Dass  dies  zeitlich  zum  ersten  Male  an  der  Stelle  möglich  ist, 
wo  überhaupt  die  rein  geschichtliche  Überlieferung  Roms  einsetzt,  näm- 
lich bei  der  Geschichte  des  jüngeren  Appius,  wird  man  ebenso  natürlich 
wie  bedeutsam  finden  —  bedeutsam  vor  allen  Dingen  für  die  Charakte- 
ristik dieses  Staatsmannes  selber,  dessen  Tragweite  für  die  politische  und 
nationale  Geschichte  Roms  auch  heute  noch  unterschätzt  wird.  Davon 
wird  im  Folgenden   des  Näheren  zu  sprechen  sein:  wir  wenden  uns  zu- 


Profan-  und  Sakralrccht.  323 

nächst  einer  äusserlicli  ziemlich  unscheinbaren  und  doch  vielleicht  folgen- 
schwersten Unternehmung  zu,  welche  die  Überlieferung  ihm  zuschreibt, 
der  Publikation  der  Legisaktionen. 

Die  Frage,  wie  diese  Klagformeln  —  der  Ausgangspunkt  der  gesamten 
römischen  Kechtsbildung  —  dem  rechtsuchenden  Publikum,  dem  sie  für 
die  Einleitung  eines  Prozesses  unerlässlich  waren,  und  weiterhin  dem  in  iure 
fungierenden  Beamten  ursprünglich  zugänglich  gemacht  wurden,  pflegt 
zumal  bei  quellenkritischen  Untersuchungen  ausser  Acht  zu  bleiben.  Irre 
ich  nicht,  so  ist  sie  der  Ausgangspunkt  des  ganzen  Problems.  Dass  die 
Formeln  in  den  XII  Tafeln  nicht  gestanden  haben,  lässt  sich  aus  den  er- 
haltenen Fragmenten  noch  heute  nachweisen  und  wird  auch  allgemein  an- 
anerkannt. Weniger  einhellig  ist  die  Beurteilung  der  Beziehungen  zwischen 
Klagformel  und  Album.^  Es  ist  ein  besonders  günstiger  Zufall,  dass  das, 
worauf  es  hier  ankommt,  von  den  Kontroversen  über  den  Inhalt  des  Album 
nicht  berührt  wird. 

Denn  so  viel  ist  zunächst  klar,  dass  das  prätorische  Edikt  in  der  Zeit, 
von  der  die  Rede  ist,  noch  nicht  existiert  hat.  Das  zeigt  sowohl  die  all- 
gemeine Stellung,  welche  das  Edikt  in  der  Rechtsentwickelung  einnahm, 
als  auch  wird  es  bewiesen  durch  Gaius'  ausdrückliche  Bemerkung:  tunc 
(nämlich  zur  Zeit  der  Legisaktionen)  edicta  . . .  nondum  in  usu  habeban- 
tur.^)  Nun  bliebe  noch  die  Möglichkeit,  eine  durch  den  Prätor  vorgenom- 
mene Aufstellung  der  Formeln  in  albo  vorauszusetzen.  Allein  die  dann 
notwendige  Annahme,  dass  ein  prätorisches  Album  lange  vor  dem  Edikt 
bestanden  hat,  findet  weder  in  der  inneren  Wahrscheinlichkeit  noch  in 
den  Quellen  einen  Anhalt.  Hiernach  entstünde  in  jedem  Falle  die  Frage, 
wo  die  Spruchformeln  ursprünglich  gestanden  haben  und  in  welcher  Weise 
sie  damals  denjenigen  zugänglich  gemacht  wurden,  die  sie  brauchten.  So- 
mit bleibt  gar  nichts  anderes  übrig,  als  von  der  völlig  gesicherten  Über- 
lieferung Gebrauch  zu  machen,  welche  die  Legisaktionen  mit  dem  Ponti- 
fikalkolleg  in  Verbindung  bringt.  Ich  sehe  hier  von  denjenigen  Berichten 
ab,  welche  an  die  flavische  Publikation  anknüpfen,  da  die  letztere  neuer- 
dings beanstandet  ist  ^j :  es  bleibt  in  der  That  auch  ohne  dies  genug  übrig, 
um  die  herrschende  Meinung  in  diesem  Punkte  zu  rechtfertigen. 


1)  Wlassak,  Edikt  und  Klageform  S.  115 f.  a.  M.  Lenel,Edictum  S.  13ff.  lU.  Dazu 
die  einschlägigen  Artikel  Wlassak's  in  der  neuen  Auflage  von  Pauly's  Realencyklo- 
pädie  (deren  Sammlung  und  Sonderausgabe  dringend  zu  wünschen  wäre:  an  der  Stelle, 
au  der  sie  jetzt  stehen,  gehen  sie  dem  Juristen  leicht  verloren). 

2)  Gaius  4,  12;  vgl.  v.  Bethmann-Hollweg,  Civilprozess  II  S.  7  n.  9.  Auch  Krüger, 
Geschichte  der  Rechtsquellen  S.  32  bemerkt:  „Die  Zeugnisse  über  diese  edicta  per- 
petua  reichen  wohl  kaum  bis  zu  Plautus  hinauf". 

3)  Von  Seeck,  Kalendertafel  der  Pontifices  S.  1—57. 

21* 


324  Richard  Maschke 

Valerius  Probus')  bezeichnet  in  der  Vorrede  (§  1)  als  die  Reihen- 
folge seiner  Siglensammlung : 

quod  in 

praenominibus 

legibus  publicis 

pontificumque  monumentis 

et  in  iuris  civilis  libris 

etiamnunc  manet.    Dem  entspricht  im  Text  die  Reihenfolge: 

in  monumentis  publicis  et  historiarum  libris  sacrisque  publicis  (§  2), 

in  iure  civili  de  legibus  et  plebiscitis  (§  3), 

in  legis  actionibus  (§4), 

in  edictis  perpetuis  (§  5). 

Hier  entsprechen  sich  zunächst  vollkommen  die  leges  publicae  §1,2 
und  das  ins  de  legibus  et  plebiscitis  §  3  und  beide  dem  Inhalte  des  dritten 
Paragraphen.  Dasselbe  gilt  von  den  iuris  civilis  libri  §  1,4  und  dem 
edictum  perpetuum  §  5;  mit  vollem  Recht  konnte,  ja  musste  Probus  als 
die  wesentliche  Rechtsquelle  fui  das  Privatrecht  seiner  Zeit  die  Edicta 
angeben.  Schwanken  könnte  man  in  der  Gleichung  praenomina  (§  1,  l) 
und  monumenta  publica  et  historiae  libri  sacraque  publica.  Aber  auch 
hier  zeigt  ein  Blick  auf  den  Inhalt  des  zweiten  Abschnittes,  dass  die 
ersten  zwölf  Siglen  in  der  That  praenomina  behandeln  und  dass  dann 
teils  mit  Angabe  der  Noten,  teils  summarisch  diejenigen  Elemente  folgen, 
welche  die  Aufschrift  monumenta  publica  vollkommen  rechtfertigen.  Also 
in  der  That  korrespondieren  und  ergänzen  sich  die  Inhaltsangaben  der 
Vorrede  und  die  Überschriften  des  Textes  in  genauester  Weise:  für  den 
dritten  Abschnitt  §  1,  3  pontificumque  monumentis  ==  §  4  in  legis  actionibus 
eine  Ausnahme  statuieren  zu  wollen,  ist  nicht  leicht  angänglich  *). 

Dass  das  Pontifikalkolleg  an  der  Entwickelung  des  römischen  Privat- 
rechtes  lange  und  hervorragend  beteiligt  war,  steht  ebenso  sicher  fest,  wie 
die  Annahmen  über  den  Grund  dieser  Thatsache  bei  der  Geringfügigkeit 
des  Materials  wohl  für  immer  auseinander  gehn  werden.')    Dass  aber  das 

1)  Dass  die  Überschriften  bei  Probus  für  die  Trennung  von  Spruchformel  und 
Edikt  im  Album  ohne  Bedeutung  sind,  betont  Wlassak  a.  a.  0.  S.  1 16  mit  Recht:  hier 
werden  sie  —  als  adminikulierendes  Moment  —  für  die  Annahme  verwertet,  dass  die 
Spruchformeln  in  den  monumenta  pontificum  gestanden  haben. 

2)  Mommsen,  Berichte  der  Kgl.  Sachs.  Ges.  1853  S.  131  ff.  und  bei  Keil  Gramm. 
Lat,  IV  S.  267  ff.  Huschke  in  lurisprudentiae  Anteiustin.  quae  sup.  S.  130  f.  liest  in 
praenominibus,  publicis  pontificumque  monumentis  et  in  legibus  iurisque  civihs  libris. 

3)  Vgl.  die  Schilderung  v.  Jhering*s,  Geist  I  S.  295— 30t.  11,2  S.  390  ff.  Momm- 
sen, Staatsrecht  I»  S.  188.  U^  S.  44.  101.  194  ff.  219  ff.  Leist,  Geschichte  der  röm. 
Rechtssysteme  S.  4  ff.  und  Joers,  Geschichte  der  röm.  Rechtswissenschaft 


Profan-  und  Sakralrecht.  325 

Kolleg  sich  in  dem  Besitze  der  Spruchformeln  befunden  hat  —  worauf 
es  hier  zunächst  allein  ankommt  — ,  wird  entschieden  bestätigt  durch 
den  einzigen  juristischen  Bericht,  den  wir  über  diesen  Gegenstand  be- 
sitzen, den  von  Pomponius ') :  his  legibus  latis  (sc.  XII  tabularum),  coepit 
. . .  necessariam  esse  disputationem  fori,  haec  disputatio  et  hoc  ins  quod 
sine  Scripte  venit  compositum  a  prudentibus,  propria  parte  aliqua  non 
appellatur  . . .  sed  communi  nomine  appellatur  ins  civile.  Deinde  ex  his 
legibus  eodem  tempore  fere  actiones  compositae  sunt,  quibus  inter  se 
homines  disceptarent;  quas  actiones  ne  populus  prout  vellet  institueret 
certas  soUemnesque  esse  voluerunt,  et  appellatur  haec  pars  iuris  legis  ac- 
tiones, id  est  legitimae  actiones,  et  ita  eodem  paene  tempore  tria  haec 
iura  nata  sunt:  lege  duodecim  tabularum,  ex  his  fluere  coepit  ins  civile, 
ex  isdem  legis  actiones  compositae  sunt,  Omnium  tarnen  harum  et  inter- 
pretandi  scientia  et  actiones  apud  collegium  pontificum  erant,  ex  quibus 
constituebatur  quis  quoquo  anno  praeesset^)  privatis  et  fere  populus  annis 
prope  centum  hac  consuetudine  usus  est. 

Diese  Darstellung  ist,  wie  man  bemerken  wird,  keineswegs  frei  von 
Irrtümern,  allein  sie  ist  in  sich  geschlossen  und  zusammenhängend  und 
repräsentiert,  wer  auch  immer  Pomponius'  Quelle  gewesen  sein  mag, 
zweifellos  die  juristische  Tradition  gegen  Ende  der  Kepublik.  Dieser 
Umstand  ist  von  fundamentaler  Wichtigkeit:  auch  wer  die  Publikation 
der  Legisaktionen  durch  Flavius  für  eine  Erfindung  von  Licinius  Macer 
hält  und  auf  ihn  und  seinen  Ausschreiber  Livius  alle  uns  erhaltenen 
Erwähnungen  dieser  Publikation  zurückführt,  wird  die  Authentizität  der 
hier  gegebenen  Schilderung  anerkennen:  sie  steht  nicht  bei  Livius  und 
kann  natürlich  auch  bei  Licinius  Macer  nicht  gestanden  haben.  Hiermit 
haben  wir  eine,  von  Irrtümern  im  Detail  abgesehen,  authentische  Be- 
antwortung nicht  bloss  der  Frage,  wer  im  Besitze  der  Legisaktionen  war, 
sondern,  wenn  man  Pomponius  richtig  versteht,  auch  die  Lösung  des 
Problems,  auf  welchem  Wege  die  Prozessparteien  in  den  Besitz  der  Formeln 


\ 


1)  L.  2  §  5  ff.  Dig.  de  origine  iuris  1, 2.  Pomponius'  Bericht  beruht  auf  zwei  Quellen, 
einer  juristischen  und  einer  rein  historischen,  welche  letztere  Ennius  wenigstens  an 
einer  Stelle  wörtlich  benutzt,  freilich  ohne  ihn  zu  nennen,  nämlich  bei  dem  Berichte 
über  Verginia's  Tod:  (L.  2  §  24  D.  a.  a.  0.:  protinus  recens  a  caede  madenteque  adhue 
Verginiae  cruore  ad  commilitones  confugit.  Die  Verstrennung  hinter  madente  ist  noch 
zu  erkennen.  Verginiae  passt  nicht  in  den  Vers.  Ennius  hat  den  Namen  wohl  noch 
nicht  gekannt.  Vielleicht  schrieb  er  virgineo  cruore,  und  es  mag  daraus  der  Name 
gebildet  sein  (Niese). 

2)  So  die  Überlieferung.  Dass  sie  unhaltbar  ist,  wird  allgemein  anerkannt.  Ich 
vermute  praesto  esset  privatis,  übrigens  ohne  diese  Konjektur  für  besonders  sicher 
zu  halten. 


326  Richard  Maschke 

kamen,  welche  sie  zur  Beschreituog  des  Rechtsweges  brauchten :  natürlich 
musste  auf  irgend  einem  Wege  amtlich  dafür  gesorgt  werden,  dass  der 
Privatmann,  welcher  eine  Formel  brauchte,  sie  auch  erhielt.  Es  wäre 
ja  sonst  die  Möglichkeit  eines  Prozesses  vom  Zufall  oder  vom  Belieben 
der  Pontifices  abhängig  gewesen.  Wie  dem  abgeholfen  wurde,  sagt 
Pomponius,  wenn  ich  nicht  irre,  geradezu:  es  hatte  ein  alljährlich  von 
dem  PontifikalkoUeg  delegiertes  Mitglied  die  Formeln  auf  Wunsch  mit- 
zuteilen. Es  liegt  in  der  Natur  der  Sache,  dass  der  Laie  von  selbst  die 
Formel  nicht  oder  nicht  immer  genau  bezeichnen  konnte,  welche  er  gerade 
brauchte :  es  machte  sich  also  ganz  von  selbst,  dass  er  dem  Pontifex  seinen 
Rechtsfall  mitteilte  und  ihn  bat,  ihm  diejenige  Formel  zu  geben,  welche 
nach  seiner,  des  Pontifex,  Überzeugung  dem  eben  vorgetragenen  Falle 
entsprach.  *)  So  bildete  sich  in  der  einfachsten  und  natürlichsten  Weise 
von  der  Welt  das  vielbesprochene  System  der  pontifizischen  Jurisprudenz, 
das  heisst  die  auf  der  Interpretation  beruhende  Fortentwickelung  des 
ältesten  Civilrechtes :  der  erkennende  Laienrichter  konnte  und  sollte  nichts 
thun,  als  den  vom  Prätor  ihm  überwiesenen  Thatbestand  meritorisch 
feststellen.  Das  PontifikalkoUeg  dagegen,  dessen  eines  Mitglied  alljährlich 
in  einer  Stellung,  die  durch  die  Verhältnisse  eine  konsultative  wurde  im 
Sinne  des  späteren  öffentlichen  Respondierens,  juristischen  Anfragen  amtlich 
gegenüberstand,  war  im  Besitze  einer  juristischen  Tradition,  wie  niemand 
sonst  in  dem  gesamten  Staatswesen.  Hatte  der  Pontifex  in  einem  einzelnen 
Falle  aus  Gründen  der  Opportunität  oder  der  juristischen  Konsequenz  eine 
Legis  actio  gegeben  und  damit  ^)  einen  Klaganspruch  für  statthaft  erklärt, 
der  in  dem  strengen  Wortlaut  des  Zwölftafelrechtes  nicht  begründet  war, 
so  war  der  Prätor  natürlich  keineswegs  gesetzlich  gezwungen,  nun  auch 
seinerseits  diesen  Klaganspruch  anzuerkennen  und  ein  iudicium  nieder- 

1)  Analog  also  war  die  Stellung  des  Laien  gegenüber  dem  Prätor  in  der  For- 
mularklage. Nur  dass  hier  der  Prätor  die  Klage  gab  oder  abschlug,  natürlich  ohne 
sich  in  Debatte  einzulassen,  und  dass  jedesmal  eine  schon  bestimmte  Klage  von  ihm 
verlangt  werden. musste.  Den  Pontifex  dagegen  in  der  ersten  Periode  konnte  man 
fragen,  ob  und  welche  Klage  er  anrate.  Eine  zweite  Differenz  behandelt  die  folgende 
Anmerkung. 

2)  Das  zweite  lag  nicht  prinzipiell,  aber  doch  meist  thatsächlich  in  dem  ersten. 
Hielt  der  Pontifex  einen  ihm  vorgetragenen  Fall  nicht  für  geeignet  zur  Klagerhebung, 
so  war  er  doch,  falls  der  Rechtsuchende  sich  dabei  nicht  beruhigen  wollte,  verpflich- 
tet, eine  etwa  verlangte  Formel  mitzuteilen:  amtlich  war  er  nur  als  lebendige  For- 
melsammlung da,  seine  konsultative  Stellung  hatte  sich  erst  ausseramtlich  daraus 
entwickelt.  Aber  war  ein  solcher  Dissens  vorgekommen,  so  wird  der  Pontifex  dies 
schon  im  Interesse  seiner  Autorität  dem  Prätor  mitgeteilt  haben,  und  ein  von  ihm 
nicht  gebilligter  Klagantrag  war  derartig  diskrediert,  dass  er  regelmässig  vom  Prätor 
gewiss  nicht  mehr  berücksichtigt  wurde.  Dies  führte  dann  von  selbst  dazu,  dass  der 
Laie  eine  Klage  unterliess,  welche  der  Pontifex  schon  formell  missbilligte. 


Protan-  und  Sakralrecht.  327 

zusetzen:  es  liegt  aber  in  der  Natur  der  Sache,  dass  er  es  meistens 
gethan  haben  wird,  denn  der  Pontifex  handelte  nicht  willkürlich,  sondern 
auf  Grund  einer  überlegenen  juristischen  Theorie,  wie  sie  ausser  ihm  nie- 
mand in  Rom  besass. 

An  einer  Stelle  enthält  das  hier  geschilderte  System  eine  Lücke. 
Wie  der  Laie  zu  seiner  Formel  kam,  haben  wir  gesehen :  aber  wie  erhielt 
sie  der  Konsul  oder  Prätor  in  iure?  Er  brauchte  sie,  nicht  bloss,  weil 
er  selbst  einige  formulare  Worte  zu  sprechen  hatte,  sondern  auch  um 
die  Richtigkeit  der  von  den  Rechtsuchenden  gesprochenen  zu  kontrollieren. 
Dass  er  als  Beamter  nicht  in  die  Lage  versetzt  werden  durfte,  sich  die 
Formeln  wie  der  Laie  vom  Pontifex  zu  beschaffen,  ist  klar,  und  es  muss 
in  irgend  einer,  uns  unbekannten  Weise  den  in  Frage  kommenden  Beamten 
die  Einsicht  in  die  Formeln  gewährt  worden  sein^). 

Yon  der  citierten  Auslassung  von  Pomponius  ist  der  Schlusssatz 
bisher  unbeachtet  geblieben,  in  welchem  der  Verfasser  dem  von  ihm 
geschilderten  Verfahren  eine  circa  hundertjährige  Dauer  vindiziert.  Um 
seine  Meinung  hier  richtig  zu  verstehn,  muss  man  in  Betracht  ziehn,  dass 
er  die  Legisaktionen  als  etwas  ansieht,  was  sich  erst  allmählich  und 
im  Laufe  der  Zeit  aus  den  XII  Tafeln  entwickelt  habe.  Diese  Auffassung 
ist  nicht  unbedenklich:  die  Formeln  erscheinen  als  Voraussetzung  der 
in  dem  Zwölftafelrechte  enthaltenen  Normen.  Indessen  kommt  es  in 
diesem  Zusammenhange  nicht  auf  den  Thatbestand,  sondern  auf  dessen 
Auffassung  bei  Pomponius  an.  Den  Zeitraum,  in  welchem  nach  seiner 
Meinung  die  Formeln  sich  entwickelt  haben,  giebt  er  nicht  an,  und  in 
der  That  lässt  sich  eine  derartige  allmähliche  Bildung  nicht  nach  einer 
Jahreszahl  datieren.  Von  dem  Abschlüsse  dieser  Entwickelung  rechnet  er 
die  von  ihm  mitgeteilte  und  hier  erörterte  Mitwirkung  an  der  Prozess- 
fuhrung.  Diese  letztere  nun  soll  c.  100  Jahre  gedauert  haben.  Rechnet 
man  in  Pomponius'  Sinne  auf  die  Bildung  der  Formeln  etwa  ein  halbes 
Jahrhundert,  so  würde  die  jährliche  Delegation  aus  dem  gremium  der 
Pontifices  ungefähr  von  400—300  gedauert  haben  ^).  Also  um  300  hörte 
dieser  Zustand  auf;  was  ihm  ein  Ende  machte,  ist  klar:  die  Publikation 
der  Legisaktionen.  Dieser  Vorgang,  und  nur  dieser,  konnte  die  jährliche 
Delegierung  eines  Pontifex  zur  Mitteilung  der  Formeln  zwecklos  machen : 
dieser  musste  es  aber  auch. 

Dass  dies  wirklich  Pomponius'  Meinung  und  nicht  etwa  in  seine  Worte 
hineininterpretiert  ist,  zeigt,  was  in  seiner  Feststellung  unmittelbar  folgt :  et 


1)  Vgl.  Voigt,  Leges  regiae  S.  100  Anm.  227.  S.  104  Anm.  245.  S.  122  Anm.  297. 
Recht  der  XII  Tafeln  I  S.135. 

2)  Dies  ist  bei  Marquardt,  Staatsverwaltung  III  S.  3l7f.  übersehen. 


328  Richard  Masohkb 

fere  populus  annis  prope  centum  hac  consuetudine  usus  est  Postea  cum 
Appius  Claudius  proposuisset  et  ad  formam  redegisset  has  actiones,  Gnaeus 
Flavius,  scriba  eius,  libertini  filius,  subreptum  librum  populo  tradidit  et 
adeo  gratum  fuit  id  munus  populo,  ut  tribunus  plebis  fieret  et  Senator  et 
aedilis  curulis. 

Die  Annahme,  Pomponius  habe  zwar  den  übrigen  Bericht  aus  Varro, 
die  Notiz  von  der  flavischen  Publikation  aber  aus  Livius  entlehnt,  den 
er  als  gebildeter  Mann  gelesen  haben  müsse,  ist,  soweit  Flavius  in  Frage 
kommt,  unhaltbar.  Denn  jene  Mitteilung  steht  in  notwendigem  Zusammen- 
hange mit  der  gesamten  Darstellung:  dass  Pomponius,  um  sie  mit  Livius 
in  Einklang  zu  bringen,  eine  ganze  Reihe  von  Thatsachen  und  An- 
schauungen einfach  aus  der  Luft  gegriffen  habe,  wird  gewiss  niemand 
annehmen  wollen.  Es  ist  auch  sonst  nicht  die  Art  der  römischen  Juristen, 
dass  sie  ihre  Darlegungen  aus  zufälligen  Lesefrüchten  entnehmen  oder  be- 
reichern. Entscheidend  aber  ist  der  Umstand,  dass  Pomponius'  Mitteilung 
der  von  Livius  in  zahlreichen  Punkten  widerspricht,  bei  denen  an  eine 
Änderung  durch  den  Juristen  selbst  gar  nicht  zu  denken  ist.  Bei  Lici- 
nius-Livius  publiziert  Flavius  die  Formeln  nach  seiner  Ernennung  zum  und 
offenbar  als  Ädil,  bei  Pomponius  ist  diese  Ernennung  eine  Folge  seiner 
Publikation  wie  bei  Yalerius-Plinius.  Bei  Licinius  hat  er  das  Tribunat 
vorher  bekleidet,  bei  Pomponius  nachher.  Bei  Licinius  ist  jeder  Zusammen- 
hang von  Flavius  mit  Appius  verwischt*),  bei  Pomponius  ist  dieser  Zu- 
sammenhang da,  Appius  sogar  der  thatsächliche  Urheber  der  Kompilation, 
allein  Flavius  hat  sie  ihm  —  gestohlen ;  anscheinend  ein  misslungener  Ver- 
such, die  feststehende  Überlieferung  von  der  appisch-flavischen  Publikation 
mit  der  landesüblichen  Auffassung  von  Claudius'  angeblich  antidemokra- 
tischen Tendenzen  in  Einklang  zu  bringen. 

So  sind  also  die  Differenzen  zwischen  Licinius-Livius  und  Pomponius 
derart  zahlreich  und  einschneidend,  dass  die  Annahme,  der  letztere  habe 
aus  dem  ersteren  geschöpft,  unmöglich  wird.  Die  Authentizität  von  Pom- 
ponius sowie  des  wesentlichen  Inhaltes  seiner  Darlegung  dürfte  damit 
gerechtfertigt,  die  Frage  nach  der  Publikation  der  Legisaktionen  prinzipiell 
damit  gelöst  sein. 

.   Es  ist  gewiss  kein  Zufall,  dass  Pomponius'  Auffassung  von  der  relativ 
späten  Bildung  der  Formeln  sich,  wenn  auch  zur  Karrikatur  verzerrt, 


1)  Offenbar  weil  Licinius  nicht  zugeben  konnte,  dass  eine  so  eminent  demokra- 
tische Publikation  von  einem  Manne  angeregt  sein  konnte,  den  er  als  konservativen 
Heisssporn  gezeichnet  hatte.  Yalerius,  der  hierin  richtiger  sah,  betonte  den  Zusam- 
menhang sehr  deutlich,  Liv.  9, 46,  10  ff.  Die  Quellentrennung  bei  Livius  hat  Seeck  m. 
E.  im  wesentlichen  zutreffend  erkannt  und  durchgeführt. 


Profan-  und  Sakralrecht.  329 

in  der  bekannten  Parodie  des  römischen  Rechtes  wiederfindet,  welche  Cicero 
in  der  Rede  für  Murena  mit  seinem  Nationalstolze  für  vereinbar  hielt  ^). 
Er  giebt  sich  den  Anschein  zu  glauben,  dass  das  Pontifikalkolleg  aus 
Ärger  über  Flavius'^)  Fastenpublikation  und  um  trotzdem  noch  bei  dem 
Prozesse  die  Hand  im  Spiel  zu  haben,  die  Legisaktionen  erfunden  habe. 
Offenbar  konnte  dieser  Witzversuch  nicht  gemacht  werden,  wenn  Cicero 
nicht  dieselbe  Anschauung  wie  Pomponius  vorschwebte,  dass  die  Legis- 
aktionen erst  nach  der  Zwölftafelgesetzgebung  entstanden  seien.  Diese 
Anschauung  eignete  der  Quelle,  die  Pomponius  wie  Cicero  vorlag.  Aber 
mehr  darf  man  aus  der  Parodie  des  letzteren  nicht  schliessen,  vor  allem 
sie  nicht  ernsthaft  nehmen.  Die  wirkliche  Ansicht  Ciceros  über  die  Sache 
finden  wir,  wie  natürlich,  in  dem  Abrisse  der  römischen  Geschichte,  welche 
einen  Teil  seiner  Bücher  de  re  publica  ausmacht.  Dass  wie  überhaupt 
seine  Nachrichten  über  die  ältere  römische  Geschichte  zu  den  besten 
gehören,  so  insbesondere  seine  Darstellung  in  de  re  publica  nach  einer 
relativ  alten  und  reinen  Quelle  gearbeitet  ist,  gehört  zu  den  feststehen- 
den Thatsachen  unserer  Wissenschaft.  Es  ist  also  von  vorne  herein  recht 
unwahrscheinlich,  dass  gerade  in  diese  Schrift  Interpolationen  der  suUani- 
schen  Annalistik  eingedrungen  sein  sollten.  Seine  Quellen  deutet  der 
Verfasser  selbst  ah:  es  ist  wesentlich  Polybius')  und  Yarro"*),  und  die 
erhaltenen  Fragmente  bestätigen  dies.  Daneben  ist  die  Stadtchronik '^j, 
die  libri  pontificii  augurales  ^)  und  anderes  benutzt.  Hier  also  gab  Cicero 
die  landläufige  Darstellung  von  der  Publikation  der  Fasten  und  Legis- 
aktionen durch  Flavius:  Atticus  machte  ihm  darauf  den  Einwand,  dass 
die  Fasten  ein  Teil  der  XII  Tafeln,  also  ohnedies  bekannt  gewesen  seien, 
ihre  Publikation  durch  Flavius  sei  demnach  unverständlich').  Wenn 
Cicero  darauf  die  Antwort  schuldig  bleibt,  so  mag  es  ihm  einigermassen 
zur  Rechtfertigung  gereichen,  dass  es  uns  Modernen  im  Grunde  nicht 
anders  geht. 

1)  Cicero  pro  Murena  12,  35flf. 

2)  Flavius'  Erwähnung  ist  wohl  eine  Glosse.  Es  kam  Cicero  einerseits  wie  im- 
mer in  seinen  Reden  darauf  an,  möglichst  ungelehrt  zu  scheinen,  andererseits  jenen 
Schreiber  als  ein  so  armseliges  Subjekt  hinzustellen,  dass  man  nicht  einmal  seinen 
Namen  wüsste  oder  doch  behalten  wollte. 

3)  Cic.  de  re  publ.  II,  23  f.  Vgl.  I  cap.  24  mit  Pol.  VI,  5  f.  I  cap.  29.  Pol.  VI,  3 

4)  Epist.  ad  Atic.  4,  1 4  cf .  6,  2.  Er  liess  sich  Varros  Schlitten  von  Atticus 
schicken,  weil  er  sie  für  die  libri  de  republica  braucht. 

5)  a.  a.  0.  II,  28. 1,  25. 

6)  a.  a.  0.  I,  62.  Auch  Ennius  wird  wiederholt  citiert. 

7);^Cic.  ad  Att.  VI,  1,  8  u.  18.  Mommsen,  Chronologie  S.  31.  Cicero  entschuldigt 
sich  mit  der  Berufung  auf  die  Vulgata:  nee  vero  pauci  sunt  auctores.  Eben  dieser 
Umstand  steht  der  Abschwächung  seiner  Worte  bei  Seeck  a.  a.  0.  S.  53  Anm.  53  ent- 
gegen. 


330  Richard  Maschkb 

Ich  versuche  auf  einem  scheiDbaren  Umwege  der  Sache  näher  zu 
kommen. 

Dass  Valerius  bei  Plinius  *)  nur  eine  Publikation  der  Gerichtstage  durch 
Flavius  berichtet,  könnte  auf  eine  Abkürzung  der  Vorlage  durch  Plinius 
oder  seine  Quelle  zurückgeführt  werden.  Allein  wahrscheinlicher  ist  doch, 
dass  die  Erwähnung  der  Legisaktionen  schon  in  der  ursprünglichen  Quelle 
fehlte,  und  die  Möglichkeit  nicht  abzuweisen,  dass  ein  solcher  Bericht  auch 
Cicero  vorlag,  als  er  in  der  Rede  pro  Murena  seinem  Ingenium  freien 
Lauf  liess.  An  sich  wäre  es  das  Natürliche,  dass  jede  rein  historische 
Quelle  von  Flavius'  Publikationen,  wenn  überhaupt  etwas,  doch  nur  den 
Teil  erwähnte,  der  das  grosse  Publikum  interessieren  konnte,  und  das 
waren  einzig  und  allein  die  Spruchtage.  Licinius,  der  für  Flavius  als 
Parteigenossen  eingenommen  war,  zog  die  juristische  Litteratur  zu  Rate, 
um  die  Verdienste  seines  Schützlings  möglichst  in  ihrem  ganzen  Umfange 
darzulegen.  Denn  vergessen  wir  es  nicht :  die  ganze  Frage  gehörte  schon 
für  die  sullanische  Zeit  im  Wesentlichen  der  Rechtsgeschichte  an! 
Nicht  bloss  dass  die  flavische  Sammlung  um  200  durch  das  vollständigere 
ins  Aelianum  ersetzt  war:  das  ganze  System,  dessen  integrierenden  Be- 
standteil diese  Formeln  bildeten,  hatte  einem  völlig  anders  basierten, 
der  Legisaktionsprozess  dem  Formularverfahren  Platz  gemacht,  das  schon 
zu  Ciceros  Zeit  nahezu  souverän  den  Markt  beherrschte.  Wenn  also 
die  Annalisten  der  suUanischen  Epoche  diese  Dinge  meist  nicht  mehr 
erwähnten,  so  hatten  sie,  abgesehen  von  dem  schon  Bemerkten,  den  sehr 
guten  Grund  dazu,  dass  die  ganze  Prozessordnung,  der  jene  Publikation 
diente,  zu  ihrer  Zeit  eine  bereits  auf  wenige  Fälle  beschränkte  Rarität 
war  und  man  in  diesen  wenigen  Fällen  die  älische  Sammlung,  die  voll- 
ständiger war,  zu  Rate  zog.  Dies  auch  der  Grund,  weshalb  ich  eine 
Erfindung  der  flavischen  Publikation  durch  einen  späten  Annalisten  nach 
dem  Zusammenhange  der  Dinge  von  vorne  herein  für  ausgeschlossen  halte : 
Licinius  hatte  von  selbst  schwerlich  das  juristische  Wissen  und  schwer- 
lich diejenige  praktische  Anschauung  von  der  Bedeutung  der  Formeln 
im  Legisaktionsprozess,  welche  auf  eine  derartige  Kombination  hätte  führen 
können.  Wie  das  damalige  Publikum  über  jene  Formeln  dachte,  zeigt 
Cicero,  wo  er  sich  zu  seinem  Sprecher  macht,  in  der  Rede  für  Murena: 
man  sah  darin  nur  noch  einen  lächerlichen  Zopf. 

So  mochte  also  die  rein  geschichtliche  Tradition,  soweit  sie  nicht 
besonders  ausführlich  auf  Flavius  einging,  das  Hauptgewicht  auf  den 
kleineren  und  unwichtigeren  Teil  der  Publikation  legen,  auf  das  Verzeich- 

1)  Die  Quellentrennung  bei  Plinius  H.  N.  33,  6,  17 ff.  ist  im  Philologus  1895 
S.  153  ff.  von  mir  versucht  worden. 


Profan-  und  Sakralrecht.  331 

nis  der  Spruchtage.  Hier  nun  war  Atticus'  Frage,  worin  denn  eigentlich 
Flavius'  Verdienst  bestanden  habe,  ganz  gerechtfertigt.  Denn  die  Spruch- 
tage standen  allerdings  im  Zwölftafelgesetze,  wie  der  Kalender  überhaupt. 
Man  konnte  darauf  antworten,  Flavius  habe  die  inzwischen  eingetretenen 
Veränderungen  berücksichtigt  und  ausser  der  Aufstellung  am  Markte  durch 
buchmässige  Verbreitung  des  korrekten  Exemplars  sich  verdient  gemacht. 
Indessen  war  das  alles  relativ  gering  im  Verhältnis  zu  dem  Aufsehn,  welches 
nach  der  einstimmigen  Überlieferung  jene  Edition  hervorrief.  Das  Wesent- 
liche lag  eben  in  den  Formeln,  nicht  in  dem  angehängten  Fastenver- 
zeichnisse. Wer  das  nicht  erwog,  konnte,  ja  musste  zu  den  Bedenken 
kommen,  die  Atticus  ausspricht'). 

Was  den  Zeitpunkt  der  Publikation  anlangt,  so  wird  man  wohl  als 
sicher  annehmen  dürfen,  dass  ein  Ädil  dazu  nicht  befähigt  und  nicht 
befugt  war.  Die  Formeln  gehörten  nun  einmal  dem  Pontifikalkolleg  und 
standen  in  ihren  Denkschriften :  nur  ein  offizieller  Beschluss  dieser  selben 
Behörde  konnte  sie  freigeben.  Nun  war  gerade  um  das  Jahr  300  die 
folgenschwere  Vermehrung  des  Kollegiums  um  vier  plebeische  Mitglieder 
durchgesetzt  worden:  die  erste  Kraftprobe  dieser  Umgestaltung  war  die 
flavische  Publikation.  Weshalb  man  gerade  ihm  überliess,  sie  zu  redigieren, 
ist  nicht  bekannt^).  Jedenfalls  war  er  der  gegebene  Vermittler  zwischen 
Appius  Claudius  und  den  neu  ernannten  Pontifices.  Dass  Appius  die 
Seele  des  ganzen  Unternehmens  war,  bezeugt  die  Tradition  einstimmig, 
und  wir  erkennen  auch  darin  die  weitblickende  Grösse  des  Mannes,  der 
jede  Chance  für  seine  Pläne  auszunutzen  wusste.  Wahrscheinlich  ist 
auch  das  ogulnische  Gesetz  in  Hinblick  darauf  von  ihm  unterstützt  worden. 
Die  Einführung  des  Plebejats  in  das  Pontifikalkolleg  hat  ausser  der  er- 
wähnten noch  eine  ähnliche  und  gleich  folgenschwere  Konsequenz  gehabt : 
den  Beginn  der  gleichzeitig  mit  den  Ereignissen  geführten  römischen  Stadt- 
chronik, die  damals  und  wahrscheinlich  unter  dem  Einflüsse  der  Umgestal- 
tung des  PontifikalkoUegs  begonnen  hat.  Von  den  der  vnssenschaftlichen 
Detailforschung  angehörigen  Gründen  für  diese  Vermutung  ist  Einzelnes 

1)  Cic.  de  orat.  I,  41  §  185  enthält  neben  den  bereits  behandelten  Stellen  nichts 
Neues.  — 

2)  Flavius  zum  Pontifex  zu  machen  halte  ich  für  unstatthaft,  da  in  diesem  Falle 
neben  seinen  übrigen  Ämtern  auch  dieses  überliefert  sein  müsste.  Man  könnte  an- 
nehmen: die  Weihinschrift  am  Konkordientempel  enthielt  das  Pontifikat  noch  nicht, 
da  sie  304  abgefasst  wurde,  aus  dieser  Inschrift  aber  ist  die  erhaltene  Ämterreihe  ge- 
flossen. Diese  Antwort  würde  für  die  historische  Tradition  zutreffen :  sie  ist  im  höch- 
sten Grade  unwahrscheinlich  für  die  juristische.  Diese  wurzelt  in  der  selbständigen 
und  fortgesetzten  Überlieferung  des  PontifikalkoUegs,  und  so  gut  wie  Coruncanius  hätte 
hier  auch  Flavius  als  einer  der  ersten  plebeischen  Pontifices  und  Juriskonsuiten  er- 
wähnt werden  müssen. 


332  Richard  Maschke 

an  anderer  Stelle  erörtert'):  in  diesem  Zusammenhange  genügt  es,  auf  die 
Thatsache  hinzuweisen,  dass  der  mythische  Charakter  der  römischen  Über- 
lieferung eben  an  dieser  Stelle  aufhört:  mit  der  appisch-pjrrhischen  Zeit 
fängt  die  historische  Epoche  Roms  an.  Was  sollte  diesen  Unterschied  zu 
Wege  gebracht  haben,  wenn  es  nicht  die  Stadtchronik  war?  Etwa  der 
Zufall  der  Überlieferung?  Es  wäre  mehr  als  seltsam,  wenn  unsere  Quellen 
die  echte  Chronik,  falls  sie  schon  für  die  frühere  Zeit  existierte,  ein- 
stimmig ignoriert  hätten.  Halten  wir  damit  zusammen,  dass  Appius' 
Rede  gegen  Pyrrhus  die  erste  war,  welche  buchmässig  herausgegeben  auf 
die  Nachwelt  kam,  dass  seine  Sprüche  die  erste  publizierte  Kunstpoesie 
darstellten,  dass  er  das  erste  juristische  Buch  geschrieben  hat,  welches 
die  römische  Jurisprudenz  kennt,  so  ordnen  sich  all  diese  Detailangaben 
zu  einem  grossen  und  folgenschweren  Resultat:  durch  Appius'  umfassende 
und  für  jene  Zeit  geradezu  universale  Thätigkeit  wurde  die  Schrift  in 
den  Dienst  der  litterarischen  Produktion  gestellt  und  damit  die  römische 
Litteratur  geschaffen :  die  poetische  und  historische  Nationallitteratur,  Rhe- 
torik, Jurisprudenz  sind  alle  gleichmässig  teils  von  ihm  allein,  teils  mit 
seiner  Hilfe  begründet  worden. 

Damit  hängen  offenbar  auch  seine  orthographischen  Reformen  zu- 
sammen: solange  die  Schrift  einen  esoterischen  Charakter  hatte,  wäre 
niemand  darauf  gekommen,  weil  kein  Bedürfnis  dazu  vorlag.  Von  diesem 
Standpunkte  fällt  ein  neues  Licht  auf  die  flavische  Publikation.  Gegen 
ihre  Möglichkeit  hat  unter  dem  Beifalle  Neuerer  Hartmann ^)  eingewendet: 
„Nun  sollte  man  denken,  dass  es  für  die  Plebejer,  um  die  Beschaffenheit 
der  künftigen  Tage  kennen  zu  lernen,  ein  sehr  einfaches  Mittel  gegeben 
habe;  sie  brauchten  nur  an  jedem  gegenwärtigen  Tage  aufzuschreiben, 
ob  an  demselben  Volksversammlung  oder  Gerichtsverhandlung  war;  hatten 
sie  das  einige  Jahre  hindurch  gethan,  so  gelangten  sie  ja  ganz  von  selbst 
zu  einem  Kalender,  welcher  die  Beschaffenheit  aller,  auch  der  künftigen 
Tage  des  Jahres  im  voraus  angab.  Wie  war  es  denn  möglich,  dass  sie, 
statt  zu  diesem  höchst  einfachen  Mittel  zu  greifen,  fort  und  fort  bei  den 
Pontifices  anfragten  und  jahrhundertelang  in  einer  steten,  drückenden  Ab- 
hängigkeit von  denselben  blieben?"  Seeck  fagt  hinzu :  „Dasselbe  gilt  auch 
von  den  Formeln  der  legis  actiones,  die  man  täglich  auf  dem  Markte 
aussprechen  hörte  und  sich  beliebig  notieren  konnte."  Allein  ich  fürchte, 
dass  diese  Deduktionen  auf  einem  Anachronismus  beruhen.  Mit  dem- 
selben Rechte  könnte  man  fragen,  weshalb  die  Zeitgenossen  Homers  oder 

1)  Philologus  a.  a.  0.  S.  159  ff. 

2)  Hartmann,  Der  römische  Kalender  S.  117. 

3)  a.  a.  0.  8.3.  Anm.  1. 


Profan-  und  Sakralrecht.  333 

doch  ihre  nächsten  Nachkommen  nicht  die  Epen  aufgeschrieben  haben. 
Wie  viele  Irrtümer  und  Unbequemlichkeiten  hätten  sie  sich  damit  erspart ! 
Die  Schrift  war  in  Rom  vor  Appius  zwar  bekannt,  aber  ihre  Anwendung 
beschränkte  sich,  abgesehen  von  Testamenten  und  ähnlichen  solennen  Auf- 
zeichnungen, regelmässig  auf  amtliche  und  speziell  sakrale  Vorgänge.  Sie 
für  litterarische  Zwecke  benutzt  oder  eigentlich  eingeführt  zu  haben,  ist 
eines  von  Appius'  unsterblichen  Verdiensten :  es  wird  dadurch  nicht  kleiner, 
dass  uns  seine  Erfindung  wie  alle  grossen,  nachdem  sie  gemacht  sind, 
als  etwas  selbstverständliches  erscheint.  Sie  war,  wie  natürlich,  das  Funda- 
ment für  alles,  was  römische  Poesie  und  Wissenschaft  späterhin  geleistet 
haben.  Speziell  die  Jurisprudenz  datiert  von  dem  Tage  jener  Publikation. 
Es  liegt  auf  der  Hand,  dass  eine  wissenschaftliche  Behandlung  des  Rechtes 
ohne  den  Besitz  der  Formeln  nicht  möglich  war,  denn  diese  enthielten 
die  eigentliche  Ausgestaltung  der  Rechtsidee.  Dem  entspricht  es  voll- 
kommen, dass  unmittelbar  mit  der  Freigabe  der  Formeln  ihre  wissen- 
schaftliche Bearbeitung  wenigstens  anfängt.  Appius  selbst  schrieb  in 
seinem  später  verloren  gegangenen  liber  de  usurpationibus  die  erste  roma- 
nistische Monographie'),  Tib.  Coruncanius,  der  erste  plebeische  Ober- 
pontifex,  war  auch  der  erste,  welcher  öffentlich  juristischen  Unterricht 
erteilte.  Ein  solcher  Vorgang  hat  offenbar  die  Veröffentlichung  der  For- 
meln zur  Voraussetzung:  es  wäre  sonst  dasselbe,  als  wenn  jemand  ein 
romanistisches  Kolleg  resp.  Seminar  abhalten  wollte,  ohne  dass  er  seine 
Zuhörer  im  Besitz  des  Gaius  und  der  Digesten  wüsste. 

Die  Edition  der  Formeln  war  also  ein  wissenschaftliches  Ereignis. 
Ein  politisches  schwerlich  in  dem  Sinne,  wie  es  die  von  Hartmann  und 
anderen  vertretene  Richtung  will.  Man  stellt  sich  das  Verhältnis  des 
Publikums*)  zu  dem  Pontifikalkolleg  als  eine  drückende  Abhängigkeit  des 
ersteren  vor  und  nimmt  an,  dass  dieser  durch  die  flavische  Publikation 
ein  Ende  gemacht  sei,  wobei  es  dann  allerdings  auffällig  bleibt,  dass  nicht 
schon  früher  ein  Retter  aus  der  Not  sich  gefunden  hatte.  Allein  in  Wirk- 
lichkeit ist  der  Sachverhalt  ein  völlig  anderer! 

Wird  denn  heute  ein  Laie  durch  das  Studium  der  Landrechte  bezw. 


1)  Appius'  juristische  Bedeutung  wird  bei  Livius  zuerst  10,  22,  7  zu  296  er- 
wähnt, ohne  dass  in  dem  Vorhergehenden  irgend  eine  Veranlassung  dazu  läge.  Hier 
auch  erfolgt  seine  Wahl  zum  Prätor.  Die  flavische  Publikation  war  damals  wohl 
schon  geschehen.  Sie  dürfte  in  den  Zeitraum  zwischen  300  und  296  fallen.  Weitere 
Gründe  dafür  im  Folgenden. 

2)  Hartmann  sagt  sogar  der  Plebeier.  Aber  haben  denn  nicht  auch  Patrizier 
vor  Gericht  zu  thun  gehabt?  Übrigens  ist,  wie  bekannt,  auch  für  das  künftige  Reichs- 
civilrecht  der  Titel :  Bürgerliches  Gesetzbuch  in  Aussicht  genommen  (sicherlich  faute 

rde  mieux). 


334  Richard  Maschee 

des  gemeinen  Rechtes  und  der  Civilprozessordnung  zur  Anstellung  und 
sachgemässen  Durchführung  einer  Klage  in  den  Stand  gesetzt?  Jeder 
Praktiker  kennt  die  aus  dem  Gegenteile  entspringenden,  abnormen  Schwierig- 
keiten des  Parteiprozesses,  zumal  innerhalb  der  unteren  Stände,  und  diese 
Schwierigkeiten  würden  noch  grösser  sein,  wenn  die  Einzelrichter  nicht 
mit  Recht  bemüht  wären,  den  Parteien  sachgemässe  Ausführungen  und 
sogar  Anträge  zu  suppeditieren  (§  130  C.-P.-O.)0*  ^^^  so  konnte  und 
sollte  auch  in  Rom,  wo  die  Rechtsverfolgung  übrigens  noch  viel  schwieriger 
gewesen  sein  muss,  als  bei  uns,  die  Publikation  der  Formeln  einen 
juristischen  Beirat  nicht  entbehrlich  machen. 

Welches  Recht  haben  wir  denn,  hier  von  einer  Abhängigkeit  zu  reden? 
Soll  es  ein  Vorwurf  für  das  Pontifikalkolleg  sein,  dass  es  an  jedem  Ge- 
richtstage unentgeltlich  aus  dem  reichen  Schatze  des  dort  aufgehäuften 
Wissens  und  der  Erfahrung  juristischen  Rat  erteilte  ?  Wenn  das  Succum- 
benzgeld  der  sachfälligen  Partei  vielleicht  deshalb  in  die  geistliche  Kasse 
floss*):  der  Partei  konnte  es  doch  ganz  gleichgiltig  sein,  ob  ihr  sacra- 
mentum  der  geistlichen  oder  wie  später  der  Staatskasse  zufiel.  Will  man 
die  Notwendigkeit,  einen  Juristen  zu  konsultieren,  eine  Abhängigkeit 
nennen,  so  mag  man  es  thun:  es  ist  dieselbe  Abhängigkeit,  in  der  sich 
noch  heute,  formell  mindestens  vor  dem  Kollegialgerichte  und  sachlich  in 
jedem  halbwegs  verwickelten  Falle  der  prozessierende  Laie  gegenüber  seinem 
Rechtsbeistande  befindet.  Aber  dann  möge  man  nicht  glauben,  dass  dieser 
Abhängigkeit  zu  irgend  einer  Zeit  und  durch  irgend  ein  Mittel  in  Rom 
oder  sonstwo  ein  Ziel  gesetzt  worden  ist  oder  gesetzt  werden  kann.  Die 
Ordnung  der  Dinge  in  dem  damaligen  Rom  drückend  zu  finden,  liegt  auch 
nicht  die  leiseste  Veranlassung  vor:  sie  war  so  liberal,  dass  sie  es  in 
höherem  Masse  nicht  gut  sein  konnte.  Das  Publikum  hatte  gar 
kein  Interesse  daran,  diesem  Zustande  ein  Ende  zu  machen,  und  selbst 
wenn  der  Gebrauch  der  Schrift  damals  so  üblich  gewesen  wäre,  wie  er 
es  nicht  war,  so  wäre  schon  deshalb  kein  Privatmann  auf  den  Gedanken 
gekommen,  sich  durch  tägliches  Aufschreiben  in  den  Besitz  der  Formeln 
zu  setzen,  weil  niemandem  daran  gelegen  war. 

Was  erreicht  wurde  und  erreicht  werden  sollte,  war  etwas  anderes. 
Bis  dahin  musste,  wer  sich  juristisch  bethätigen  wollte,  Mitglied  der 
höchsten  kirchlichen  Behörde  sein.  Es  ist  bekannt,  dass  dieser  Stand  bis 

1)  Abgesehen  davon,  dass  eine  grosse  Anzahl  von  Klagen  zu  Protokoll  des  Ge- 
richtsschreibers erhoben,  d.  h.  thatsächlich  von  diesem  verfasst  wird. 

2)  Wahrscheinlich  ist  das  letztere  nicht  einfache  Wirkung  des  ersteren,  sondern 
Beides  die  Konsequenz  prähistorischer  Verhältnisse,  in  denen  Pontifikat  und  Recht- 
sprechung in  näherer  Verbindung  standen.  In  historischer  Zeit  durfte  der  Zusam- 
menhang, wie  im  Text  augegeben,  sich  gestaltet  haben. 


Profan-  und  Sakralrecht.  335 

in  die  sullanische  Zeit  an  der  AusgestaltuDg  des  Rechtes  den  ehrenvollsten 
Anteil  genommen  hat :  so  gross  war  die  Nachwirkung  der  von  Alters  fest- 
stehenden Tradition.  Allein  diese  Verbindung  war,  wenn  auch  keineswegs 
zufällig,  doch  jetzt  nicht  mehr  notwendig.  Seit  der  Publikation  der  For- 
meln konnte,  wer  immer  Neigung  und  Fähigkeit  zur  Jurisprudenz  hatte, 
sich  diesem  Studium  widmen,  und  das  so  mehr,  da  Coruncanius  eben 
jetzt  in  öffentlicher  Lehre  die  Wissenschaft  des  römischen  Rechtes  be- 
gründete. Das  Pontifikalkolleg  gab  jetzt  seinen  amtlichen  Anteil  an  der 
Justizverwaltung  und  damit  ein  Recht  auf,  das  für  diese  Behörde  nicht 
bloss  einen  hohen  idealen,  sondern  auch  einen  materiellen  Wert  hatte. 
Denn  wenn  die  geistliche  Kasse  früher  das  Succumbenzgeld  der  unter- 
legenen Partei  zugleich  als  Äquivalent  für  die  von  ihr  geleistete  Mühe- 
waltung erhielt*):  unter  welchem  Rechtstitel  hätte  sie  es  jetzt  noch  in 
Anspruch  nehmen  können?  Schon  bei  Varro^)  gehört  das  Succumbenz- 
geld der  Staatskasse,  und  Gaius^)  scheint  es  nicht  für  nötig  gehalten  zu 
haben,  den  abweichenden  Rechtszustand  der  Vorzeit  zu  erwähnen.  Jetzt 
entliess  die  Behörde  das  von  ihr  mit  Liebe  gehegte  Schosskind  der  Rechts- 
pflege aus  ihrer  Obhut  und  sprach  es  mündig:  der  nunmehr  und  gleich- 
zeitig erfolgte  Verzicht  auf  die  Prozessgebühr  ist  das  Symbol  dieser  wahr- 
haft patriotischen  Umsicht  und  gereicht  dem  Kollegium  ebenso  zur  Ehre, 
wie  dem  Manne,  der  die  treibende  Macht  dieser  Bewegung  war. 

Es  ist  ein  seltener  und  glücklicher  Zufall,  dass  wir  die  formale 
Technik,  mit  der  Appius  sein  Ziel  zu  erreichen  wusste,  bei  richtiger 
Deutung  der  Überlieferung  noch  zu  erkennen  vermögen.  Zwar  ob  zur 
Publikation  der  Formeln  ein  vorhergehendes  Gutachten  oder  gar  ein  Be- 
schluss  des  Pontifikalkollegs  eingeholt  wurde,  lässt  sich  nicht  mehr  fest- 
stellen; zweifellos  aber  ist  in  einer  dieser  beiden  Formen  seine  Mitwirkung 
bei  der  nunmehr  neugeregelten  Behandlung  der  Succumbenzgelder  vor 
sich  gegangen.  Mit  dem  formellen  Verzichte  auf  die  Prozessbusse  hörte 
naturgemäss  auch  deren  Hinterlegung  bei  jener  Behörde  auf,  und  es  ent- 
stand in  Bezug  hierauf  ein  Vacuum,  für  dessen  schleunige  Ausfüllung 
gesorgt  wurde.  Es  wurde  damals  durch  ein  tribunizisches  Gesetz,  die 
z.  T.  noch  im  Wortlaute  erhaltene  lex  Papiria^),  eine  neue  Behörde  — 
vielleicht  mit  Benutzung  schon  vorhandener  Einrichtungen  —  geschaffen 


1)  Festus  s.   sacramentum  .  .  .  consumebatur  in  rebus  divinis;  nach  der  unge- 
schickten Motivierung  zu  urteilen,  eine  Kombination,  aber  eine  richtige. 

2)  Varro  de  L  L.  V,  180  M .  . .  victi  ad  aerarium  redibat. 

3)  GaiuslV  §13:  in  publicum  cedebat, 

4)  Festus  sub.  sacr.  S.  344  M.  quicumque  praetor  posthac  factus  erit,  qui  inter 
cives  ins  dicat,  tres  vires  capitales  populum  rogato  hique .  .  .  sacramenta  exigunto  iu- 


336  RlOHABD  Maschke 

und  mit  Einziehung  des  sacramentum  beauftragt,  die  lUviri  capitales 
Diese  Beamten  sind  zum  ersten  Male  um,  bezw.  kurz  nach  300  gewählt 
worden*),  das  Gesetz  selbst  also  fast  wenn  nicht  völlig  gleichzeitig  mit 
der  lex  Ogulnia.  Es  liegt  nahe  anzunehmen,  dass  durch  den  Pairsschub 
der  lex  Ogulnia  eine  im  Schosse  des  Pontifikalkollegs  vorhandene  Oppo- 
sition gebrochen  werden  sollte,  und  es  ist  sicherlich  kein  Zufall,  dass  eines 
der  ersten  Mitglieder  der  neuen  Behörde  Appius'  bei  der  Publikation  der 
Formeln  benutztes  Werkzeug,  Flavius  gewesen  ist') 

Voraussichtlich  war  es  auch  Appius,  der  die  nunmehr  freigewordenen 
Kräfte  im  Schosse  des  Pontifikalkollegs  auf  neue  Bahnen  lenkte :  die  theo- 
retische Kechtskultur  und  die  nationale  Geschichtschreibung.  Um  diese 
Zeit  begann,  wie  schon  erwähnt  worden  ist,  die  offizielle  Stadtchronik. 
Die  Bedeutung  dieser  Thatsache  lässt  sich  wohl  fühlen,  aber  nicht  dar- 
stellen. Appius  selbst  ging,  ohne  je  Mitglied  jener  Behörde  gewesen  zu 
sein,  seinen  Zeitgenossen  mit  einer  juristischen  Monographie  voran.  Damit 
war  auch  praktisch  die  Eechtsforschung  über  den  Kreis  jenes  Kollegiums 
ausgedehnt,  und  eben  darin  lag  die  Bedeutung  der  von  ihm  angeregten 
Neuerung,  dass  er  das  Monopol  der  sakralen  Behörde  zur  theoretischen 
Ausgestaltung  des  Rechtes  durchbrach  und  das  letztere  damit  in  Ver- 
bindung mit  dem  breiten  Strome  des  öffentlichen  Lebens  brachte. 

Die  folgenschwere  Umgestaltung  des  Legisaktions-  zum  Formular- 
verfahren,  die  mit  der  des  Civilrechtes  zum  prätorischen  sich  aufs  Engste 
berührt  und  die  das  römische  Kecht  zu  seiner  weltgeschichtlichen  Mission 
erst  befähigte,  wäre  unmöglich  gewesen,  wenn  nicht  damals  das  kirch- 
liche Aufsichtsrecht  durch  das  weltliche  wäre  ersetzt  worden. 


dicantoque  eodemque  iure  siinto,  uti  ex  legibus  plebeique  scitis  exigere  iudicareque 
esseque  oportet.  Die  Bezeichnung  des  praetor  qui  inter  cives  ius  dicat  mag  auf  einem 
ungenauen  Keferat  von  Festus  bez.  einer  späteren  Modernisierung  des  Gesetzes,  die 
nach  der  Verteilung  der  Kompetenzen  zwischen  den  Prätoren  ja  nötig  war,  beruhen. 
Bekanntlich  werden  übrigens  Urkunden  von  römischen  ebenso  wie  von  griechischen 
Profanschriftstellem  fast  nie  wörtlich  citiert. 

1)  Liv.  epit.  11:  triumvirl  capitales  tunc  primum  creati  sunt  creare  ist  der  tech- 
nische Ausdruck  für  Volkswahl,  und  es  ist  m.  E.  ausgeschlossen,  dass  Livius  den 
Ausdruck  hier  anders  gebraucht  hat. 

2)  Auf  Livius'  oder  gar  Macer's  Chronologie  Liv.  9,  46  wird  man  wohl  keinen 
besonderen  Wert  legen  wollen.   Ygl.  Mommsen,  Staatsrecht  II «,  1  S.  594  f. 


XV. 
Der  Akanthus  der  Griechen  und  Eömer. 

Von 

Franz  Olck  (Königsberg  i.  Pr.). 

Das  Aufkommen  und  die  weitere  Entwickelung  des  wichtigsten  und 
noch  heute  so  vielfach  angewandten  Pflanzenmotivs  in  der  dekorativen 
Kunst,  des  sog.  Akanthusblattes ,  hat  neuerdings  besondere  Beachtung 
gefunden.  So  hat  der  Franzose  Guillaume')  die  Entwickelung  desselben 
besonders  in  der  römischen  Kunst  zu  verfolgen  versucht.  Einige  vor- 
treffliche Beispiele  aus  dem  Altertum  in  Heliographie  giebt  zu  diesem 
Zwecke  Ebe^).  Obwohl  er  (a.  0.  S.  5.)  glaubt,  dass  das  Systematische, 
Unpersönliche  der  Kunstgeschichte  nur  für  die  Anfänge  derselben  be- 
zeichnend sei  und  eine  eindringendere  Forschung  das  geniale  Eingreifen 
des  Einzelnen  dafür  einsetze,  so  will  er  doch  die  Erfindung  des  Akanthus- 
ornaments  nicht  an  den  Namen  des  Kallimachos  knüpfen,  sondern  mit 
einer  späteren  Spezialität  des  korinthischen  Blätterkapitäls  in  Zusammen- 
hang bringen.  Weiter  als  er  war  schon  Bötticher^j  in  der  Verwerfung 
der  Tradition  von  der  Einführung  des  Akanthus  durch  Kallimachos, 
welche  wir  bei  Vitruv  finden,  gegangen,  indem  er  meinte,  dass  es  eine 
vergebliche  Mühe  sei,  überhaupt  das  Akanthusblatt  der  Kunst  auf  das 
natürliche  zurückführen  zu  wollen.  Eingehender  ist  unsere  Frage,  wenigstens 
für  das  klassische  Altertum,  von  Andel"*)  in  einem  kurzen,  aber  sehr  lehr- 
reichen Schriftchen  mit  mehreren  (20)  trefflichen  Abbildungen  in  Holz- 
schnitt behandelt.  Zwar  glaubt  auch  er,  dass  die  Zeit  der  Einführung 
des  Akanthus  uns  unbekannt  sei  (S.  4),  doch  erscheint  ihm  das  Blatt 
auf  den  uns  erhaltenen  ältesten  Denkmalen  nach  dem  Vorbilde  der  wirk- 
lichen Pfianze  umgebildet.  Dagegen  sucht  Riegl  in  seinem  von  der  Kritik 
äusserst  beifällig  aufgenommenen  Werke '^)  unter  Ausschluss  litterarisch- 


1)  E.  Guillaume  s.  Acanthus  bei  Daremberg  et  Saglio,  Dictionnaire  des  ant.  gr. 
et  rom.,  T.I,  1877.  —  2)  G.  Ehe,  Akanthus,  Lief.  I,  1883.  —  3)  K.  Bötticher,  D. 
Tektonik  d.  Hellenen  P  1874,  S.  344.  —  4)  Anton  Andel,  D.  Geschichte  des  Akanthus- 
blattes, Graz  1891,  im  Selbstverläge.  —  5)  Alois  Riegl,  Stilfragen,  1893,  S.  208f. 

22 


338  Feanz  Olck 

historischer  Gesichtspunkte  durch  rein  stilistische  Analyse  den  Nachweis 
zu  erbringen,  dass  das  Akanthusornament  ursprünglich,  bei  seinem  Auf- 
treten zur  Zeit  des  peloponnesischen  Krieges  (S.  177)  oder  etwa  430 — 450 
V.  Chr.  (S.  196),  nichts  anderes  sei  als  eine  ins  plastische  Rundwerk  über- 
tragene Palmette,  so  dass  das  volle  Akanthusblatt  en  face  der  vollen 
Palmette  und  das  den  Stengel  der  sog.  Akanthusranke  in  halber  d.  h. 
in  Profilansicht  umkleidende  Akanthusblatt  der  Halbpalmette  entspreche 
(S.  bes.  S.  240);  später  sei  eine  Rückübertragung  der  plastischen  Palmette 
ins  Flache  unter  malerisch-perspektivischen  Gesichtspunkten,  wie  sie  sich 
auf  den  gemalten  Lekythen  finde,  erfolgt  (S.  221).  Erst  der  Akanthus 
des  bald  nach  334  v.  Chr.  vollendeten  Lysikratesdenkmals  (Abbild,  bei  Ebe) 
und  an  Grabstelen-Akroterien  früherer  Dezennien  des  4.  Jahrh.  v.  Chr. 
zeige  eine  unleugbare  Ähnlichkeit  mit  dem  Blatt  des  Acanthus  spinosus 
(S.  215);  demnach  sei  dieses  Ornament  auch  erst  später  als  Akanthus 
bezeichnet  worden  (S.  XV;  vgl.  231).  So  werde  der  Akanthus  in  einen 
normalen,  ornamentgeschichtlichen  Entwickelungs-Prozess  eingereiht;  denn 
die  Palmette  sei  wiederum  ursprünglich  ein  Ausschnitt  aus  der  Rosette 
oder  halbe  Vollansicht  der  Lotusblüte  (S.  59  f.)  und  die  Rosette  die  Lotus- 
blüte in  der  Vollansicht  (S.  52  f.).  So  berührt  sich  Riegl  vielfach  mit 
Goodyear"),  der  in  jeder  antiken  Ornamentik  Lotusbilder  erkennen  will. 
Was  den  Akanthus  betrifft,  so  giebt  Dümmler^)  Riegl  Recht,  jedenfalls 
seien  dessen  vom  Erechtheion  und  dem  Kapital  von  Phigalia  geschöpften 
Gründe  sehr  beachtenswert;  auch  Karl  Frey*)  hält  den  auf  Grund  der 
Denkmäler  geführten  Beweis,  dass  das  Aufkommen  des  Akanthus  keine 
vorhandene Pflanzenspecies  voraussetze,  für  überzeugend.  Doch  entbehrt 
die  Beweisführung  Riegls  meines  Erachtens  derjenigen 
Sicherheit,  die  uns  bestimmen  könnte,  den  historisch  un- 
verfänglichen Bericht  Vitruvs  zu  verwerfen,  abgesehen  viel- 
leicht von  dem  poetisch  ausgeschmückten  Geschichtchen,  wonach  Kalli- 
machos  durch  den  Anblick  eines  von  Akanthusblättem  überwucherten 
Korbes  auf  dem  Grabe  einer  korinthischen  Jungfrau  zu  seiner  Erfindung 
angeregt  sei.  Daher  denn  auch  Furtwängler,  obwohl  er^)  sich  gegen  die 
Erfindung  des  korinthischen  Kapitals  durch  Kallimachos  erklärt  hatte,  nun- 
mehr^") an  dieser  festhält,  wenn  er  auch  Riegl  darin  beipflichtet,  dass 
das  Akanthusornament  durch  eine  Entwickelung  der  Palmette  entstanden 
sei,  so  dass  —  muss  man  folgern  —  Kallimachos  nicht  den  Akanthus, 


6)  W.  H.  Goodyear,  The  Grammar  of  the  Lotus,  1891.  —  7)  Berl.  Philol.  Wo- 
chenschr.  1894,  Sp.  244.  —  8)  Deutsche  Litteraturzeitung  1894,  Sp.  853.  —  9)  Ad. 
Furtwängler,  D.  Sammlung  Sabouroff,  1883 — 87,  Bd.  I.  Einl.  zu  d.  Skulpturen,  S.  9. — 
10)  Ders.,  Meisterwerke  d.  griech.  Plastik,  1893,  S.  201,  A.  1. 


Der  Akanthus  der  Griechen  und  Römer.  339 

sondern  eine  Art  akanthisierender  Palmette  in  die  Kunst  eingeführt  hätte. 
Wie  aber  dann  schon  Mys,  als  Verfertiger  der  Schildreliefs  an  der  zwischen 
445  und  440  errichteten  Statue  der  Athena  Promachos^')  ein  jüngerer 
Zeitgenosse  des  Pheidias'^),  nach  Propertius  (IV  8,  14)  wegen  seiner  Dar- 
stellung des  Akanthus  habe  berühmt  sein  sollen,  ist  nicht  einzusehen. 
Fast  das  Gleiche  gilt  betreffs  des  Athena-Tempels  zu  Tegea,  von  dem  uns 
Pausanias  (Vm  45,  4  u.  5)  berichtet,  dass  er  nach  dem  Brande  im  J.  395 
von  Skopas  wieder  aufgebaut  sei  und  zwischen  einer  dorischen  und  ionischen 
Säulenordnung  eine  korinthische  gehabt  habe.  Oder  sollte  das  korinthische 
Kapital  an  diesem  schönsten  und  grössten  Tempel  der  Peloponnes  weniger 
ausgebildet  gewesen  sein  als  an  der  Tholos  in  Epidauros''),  welche  nach 
Pausanias  (II  27,  3  u.  5)  ein  Werk  des  Polykleitos  und  zwar  wohl  des 
um  die  hundertste  Olympiade  blühenden  (Brunn  a.  0.  I  148)  jüngeren 
Polykleitos  war? 

Doch  gehen  wir  auf  die  Gründe  Riegls  näher  ein.  Besonders  betont 
er,  dass  unmöglich  ein  Unkraut  in  der  griechischen  Kunst  eine  ähnliche 
Rolle  gespielt  haben  könne  wie  der  Lotus  in  der  ägyptischen  (S.  XV, 
231,  232)  und  ebensowenig  die  italischen  Steinmetzen,  dem  Beispiele  der 
griechischen  folgend,  sich  ihr  heimisches  Unkraut,  den  Acanthus  moUis, 
mit  Lust  und  Sorgfalt  hätten  abkonterfeien  können  (S.  251).  Aber  sollte 
den  Griechen  nicht  die  auffallende  Gestalt  und  Schönheit  dieser  Staude, 
die  auch  heute  deshalb  häufig  in  Gärten  kultiviert  wird,  genügt  haben? 
Selbst  schilfartige  Blätter  sind  früh,  so  an  dem  Lysikratesdenkmal,  zum 
Schmuck  des  korinthischen  Kapitals  verwandt.  Doch  sehen  wir  zu,  was  wir 
aus  den  Schriften  der  Alten  über  die  Wertschätzung  und  Verwendung 
unserer  Pflanze  erfahren. 

Die  älteren  Griechen  müssen  neben  anderen  Distelarten  auch  besonders 
Acanthus  spinosus  L.  axav^a  genannt  haben*''),  ein  Wort,  welches  aus 
der  Wurzel  ^  ==  schärfen  hervorgegangen  ist  und  bei  Theophrastos 
(H.  pl.  I  10,  6)  ohne  nähere  Bezeichnung  nur  den  Dom  oder  Stachel  der 
Pflanzen  bezeichnet.  Besonders  auffallend  ist,  dass  sich  ä/Mvä-og  nicht 
bei  diesem  findet;  doch  unter  den  ca.  500  von  ihm  angeführten  Arten 
findet  sich  auch  eine  aytavd^a  xedvwvog  (H.  pl.  IV.  10,  6),  deren  Wurzel 
gleich  dem  Hundszahn  sowohl  nach  oben  Stengel  als  nach  unten  Wurzeln 
treibe,  aber  weder  schilfartig  noch  gelenkig  sei;  diese  hält  Fraas*^)  für 


11)  Furtwängler  a. 0.  S.  54  u.  55.  —  12)  Heinr.  Brunn,  Gesch.  d.  gr.  Künstler* 
1889,  II  S.  6G  u.  277.  —13)  Abb.  von  Rieh.  Engelmann  bei  Guhl  u.  Koner,  Leben  der 
Gr.  u.  R.,  1893,  Fig.  95  nach  einer  Photogr.  —  14)  Jos.  Murr,  D.  Pflanzenwelt  i.  d. 
griech.  Myth.  1890,  S.  272f.;  Wagler  in  Paulys  Realencykl.,  herausg.  v.  Wissowa,  1893, 
Sp.  1149.  —  15)  C.  Fraas,  Synopsis  plantarum  flor.  class.  ^  1870,  S.  185. 

22* 


340  Franz  Olck 

Acanthus  gpinosus  L.,  andere  allerdings  für  unsere  Ackerdistel,  Cirsium 
arvense  Scop/"),  die  aber  im  eigentlichen  Griechenland  nur  auf  dem 
Berge  Kyllene  in  der  Peloponnes  gefunden  ist"),  während  Ac.  spin.  ein 
sehr  häufiges  Unkraut  an  Flussufern  und  in  Thalsohlen  Attikas  ist'*). 
Der  Stadt-  und  Mannesname  "Ay.av^og  ist  allerdings  uralt  fs.  Paulys 
Realencykl.).  Für  die  Pflanze  findet  sich  der  Name  b  a/.av^og  zuerst 
bei  Theokritos  (I  55),  dann  bei  Nikandros  (Ther.  645).  Doch  Dioskorides 
(EU  17)  sagt  wieder  axavd^a  und  tgnuy.avi^a  dafür.  Wenn  für  Acanthus 
mollis  auch  (A.eXafxcpvX'kov  und  Ttaiölgcog  gesagt  sein  solP*),  so  ist  doch 
das  Kraut  TtaiösQwg  des  Pausanias  (ü  10,  6),  welcher  sein  gänzlich  ver- 
einzeltes Vorkommen  im  Tempelbezirk  der  Aphrodite  bei  Sikyon  hervor- 
hebt, nicht  A.  mollis ;  denn  bei  diesem  ist  das  Blatt  entschieden  grösser, 
nicht  wie  Pausanias  von  dem  Tcaiökgwg  sagt  kleiner  als  das  der  Ziegen- 
barteiche,  Quercus  aegilops  L.  {g)rjy6g)j  und  seine  untere  Fläche  nicht,  wie 
Pausanias  jenen  beschreibt,  so  weiss  wie  bei  der  Silberpappel.  —  Bei  den 
Kömern,  welche  das  Wort  acanthus  aus  dem  Griechischen  entlehnten, 
finden  wir  den  Akanthus  mit  Sicherheit  erst  bei  Yergilius,  doch  versteht 
derselbe  wie  auch  andere  an  einer  Stelle  -°)  darunter  die  Nilakazie,  Acacia 
Vera  Willd."),  welche  von  Theophrastos  (H.  pl.  IV  2,  8)  rj  ^klaiva  axav^a 
und  von  Dioskorides  (I  133)  axaAla  genannt  wird,  während  6  AlytTiriog 
axavd^og  (Ps.-Hipp.  ü  689  ed.  K.)  und  rj  /.svxrj  ay.av^a  (ebd.  746;  Theophr. 
ebd.)  Acacia  Farnesiana  Willd.  gewesen  zu  sein  scheint ^^).  Dioskorides  (HI  1 7 ; 
vgl.  Plin.  XXTT  76),  welcher  nebenbei  bemerkt  ca.  600  Pflanzen  erwähnt 
und  ca.  400  beschrieben  hat,  sagt  von  A.  mollis,  dass  er  in  Gärten  ge- 
zogen werde,  aber  auch  an  felsigen  und  feuchten  Stellen  wachse;  seine 
Blätter  seien  breiter  und  länger  als  die  des  Gartensalats  und  einge- 
schnitten wie  die  (leierförmigen)  Blätter  von  Eruca  sativa  Lam.,  dunkel- 
farbig, glänzend,  glatt;  der  Stengel  glatt,  2  Ellen  hoch,  fingerdick,  oben 
sei  er  in  Zwischenräumen  umgeben  von  bauchförmigen,  etwas  länglichen 
und  stacheligen  Blättchen  (Deckblättern),  aus  welchen  die  weisse  Blüte 
hervorkomme;  der  Same  sei  länglich  und  gelb;  die  Spitze  (des  Stengels) 
laufe  zapfenartig  aus ;  die  Wurzeln  seien  zähe,  schleimig,  rötlich  und  lang. 
Der  wilde  (also  A.  spin.)  werde  von  den  Kömern  auch  spina  agrestis  ge- 
nannt, sei  dem  OY.6lv(.iog  (einer  Distelart)  ähnlich,  stachelig  und  kleiner 
als  der  erstere;   auch  soll  nach  ihm  (IV  82)  die  Frucht  einen  TtänTcog 

16)  K.Sprengel,  Theophrasts  Naturgesch.,  übers,  u.  erläutert,  1822,  II  S.  175. — 
17)  E.  Boissier,  Flora  orientalis,  vol.  III  1875,  p.  552.  —  18)  Aug.  Mommsen,  Griech. 
Jahreszeiten,  Heft  V  1877  S.  529.  -  19)  Diosc.  ebd. ;  Plin.  XXII 76 ;  Galen.  XI 818.  —  20) 
Georg.  II  119.  —  21)  Vgl.  Vell.  II  56,2;  Isid.  XVII  9,20.  —  22)  Vgl.  J.  H.  Dier- 
bach,  D.  Arzneimittel  des  Hippokrates,  1824,S.  65 f.;  Fraas  a.  0.  65  f.;  Wagler  a.  0.  s. 
Akazie. 


Der  Akanthus  der  Griechen  und  Römer.  341 

haben,  womit  er  die  Haken  meint,  an  denen  die  Samen  befestigt  sind. 
Theokritos  (I  55)  giebt  dem  Akanthus  die  Bezeichnung  vyQOQj  d.  h.  weich 
oder  biegsam,  was  von  Riegl  (S.  231)  mit  „feucht"  übersetzt  wird,  so  dass 
er  zweifelt,  ob  jener  ein  Ornament  im  Auge  gehabt  habe,  während  doch 
das  Wort  ebenso  wie  das  lateinische  mollis  öfters  die  Geschmeidigkeit 
von  Körperteilen  bezeichnet.  Biegsam  wird  der  Akanthus  auch  sonst '^j 
oder  weich '^O,  oder  üppig '")  genannt,  seine  Blüte  weiss  (Diosc.  in  17), 
Safranfarben ^")  oder  rötlich^').  A.  mollis  bildete  eine  Zierde  der  Gärten"), 
wurde  auch  wegen  seiner  von  den  Bienen  besuchten  Blüten  kultiviert 
(Col.  IX  4,  4).  Von  beiden  Arten  gebrauchte  man  die  Wurzeln  zu  Salben 
bei  Verbrennungen  und  Verrenkungen  (Diosc.  ebd.),  ein  Absud  davon  gegen 
Schwindsucht  und  Zerreissungen  (Diosc.  ebd.;  Plin.  XXII  76)  und  um 
Urin  zu  treiben  und  den  Leib  zu  stopfen  (Diosc.  ebd.) ;  zerrieben  und  er- 
wärmt legte  man  die  Wurzeln  gegen  das  Podogra  auf  (Plin.  ebd.);  die 
Blätter  sollten  eine  zerteilende  Kraft  haben  (Gal.  XI  818).  Auch  heute 
werden  die  Wurzeln  wegen  ihres  Tanningehaltes  in  Italien  als  Medikament 
verwandt.  —  Nach  Diodors  Bericht  (XVIII  27)  war  ein  goldener  Akanthus- 
schmuck,  xQvoovg  ay.avd-og,  zwischen  den  Säulen  an  dem  Leichenwagen 
Alexanders  d.  Gr.  angebracht.  Nach  den  Dichtem  war  der  Akanthus  in 
Metall  (Prop.  IV  8,  14),  speziell  in  Gold  auf  einem  metallenen  Misch- 
kruge (Ov.  m.  VIII  701)  ausgearbeitet,  an  einem  hölzernen,  aus  dem 
aitolischen  Kalydon  stammenden  (Theoer.  I  55),  speziell  buchenen  Becher 
(Verg.  ecl.  HL  45)  ausgeschnitzt  oder  mit  Goldfäden  in  ein  Kleidungs- 
stück, wohl  einen  Schleier  (Verg.  Aen.  I  649  u.  711)  oder  mit  Purpur- 
fäden in  ein  Polster  (Stat.  silv.  DI  1,  37)  gestickt;  auch  die  vestimenta 
acanthina  waren  nach  dergleichen  Stickereien  benannt  ^^). 

Man  wird  also  kaum  behaupten  können,  dass,  wenn  die  Griechen  das 
Akanthusblatt  mit  Bewusstsein  in  die  Kunst  eingeführt  haben  sollten,  sie 
das  erste  beste  Unkraut  zum  künstlerischen  Motiv  erhoben  hätten,  noch 
verstehen,  warum  sie  zwar  später  dies  gethan  hätten,  aber  nicht  schon 
im  5.  Jahrh. 

Die  Griechen  können  nur  Acanthus  spinosus  L.  nachgeahmt  haben, 
neugr.  (.lovxQovva  und  lakon.  r^ovkaölT^a,  Denn  dieser  kommt  heute 
häufig  in  Griechenland  vor,  in  Italien  nicht,  doch  in  Dalmatien  und  Cor- 
sica;  nur  die  Art  mit  sehr  stachlichen  Blattspitzen,  A.  spinosissimus  Desf., 
findet  sich  in  Apulien  und  Calabrien;  die  unbewehrte  Art,  A.  mollis  L., 

23)  Verg.  ge.  IV  123;  Col.  X  241;  Plin.  ep.  V  6,36.  —  24)  Verg.  ecl.  III  45; 
Nemes.  II  5;  mollis  et  paene  dixerim  liquidus  von  Plin.  ep.  V  6, 16.  —  25)  ridens  bei 
Verg.  ecl.  IV  20.  —  26)  Verg.  Aen.  I  649;  711.— 27)  Calp.  ecl.  IV  68.  —  28)  Diosc. 
ebd.;  Verg.  ge.  IV  123;  Plin. XXII  70;  Plin.  ep.  ebd.  —  29)  Serv.  Aen.  ebd.;  vgl. 
Isid.  XVII  9,  21  u.  Hesych.  s.  ccxavS^og. 


342  Feanz  Olck 

dagegen  in  ganz  Italien  unter  dem  Vulgäraamen  acanto  und  brancorsina, 
im  eigentlichen  Griechenland  wohl  gar  nicht,  aber  in  Thrakien,  Make- 
donien und  Dalmatien.*")  Das  grosse,  über  einen  Fuss  lange,  fiederspaltige 
Blatt  beider  Pflanzen  zeichnet  sich  dadurch  aus,  dass  die  einzelnen  Lappen 
wieder  in  Zacken  zerfallen,  aber  die  Blattspreite  bei  A.  spinosus  weit 
mehr  in  die  Länge  gezogen  ist,  die  einzelnen  Lappen  durch  die  Ein- 
buchtungen weiter  von  einander  getrennt  sind  als  bei  A.  mollis  und  die 
Zacken  in  stachelige  Spitzen  auslaufen.  Kolorierte  Abbildungen  davon 
findet  man  bei  Sibthorp^'),  in  Heliographie  bei  Ehe  (a.  0.),  in  Holzschnitt 
bei  Andel  (Fig.  1.  u.  2);  die  ganzen  Pflanzen  sind  in  Holzschnitt  ab- 
gebildet bei  Vilmorin.^^)  Das  Blatt,  welches  Riegl  (Fig.  112)  nach  Owen 
Jones  als  A.  spinosus  giebt,  ist  A.  mollis.  Dieser  Irrtum  ist  aber  wohl 
von  keinem  Belang,  da  man  zugeben  muss,  dass  gerade  die  ersten  uns 
erhaltenen  Darstellungen  des  Akanthus  geringe  Ähnlichkeit  mit  dem  natür- 
lichen Blatte  haben.  Immerhin  besteht  ein  nicht  unerheblicher  Unter- 
schied zwischen  dem  Profil  oder  Halbblatt  von  beiden  Pflanzen,  so  dass, 
wenn  Riegl  (S.  216)  von  dem  gemalten  Blatte  auf  den  ältesten  Lekythen 
die  Gliederung  der  Konturen  als  gänzlich  abweichend  von  der  des  natür- 
lichen Blattes  findet,  dies  doch  zum  Teil,  d.  h.  was  die  Halbblätter  be- 
trifft, auf  seiner  irrigen  Vorstellung  von  A.  spinosus  beruhen  wird.  Man 
achte  aber  auch  auf  den  grossen  Unterschied  der  Konturen,  der  sich 
zwischen  Voll-  und  Halbblatt  finden  kann,  z.  B.  bei  dem  naturalistisch 
gehaltenen  Blätterschmuck  einer  antiken  Terrakotta,  deren  Abbildung  sich 
in  den  Antiquities  of  Jonia^^)  findet.  Wenn  aber  Riegl  an  anderen  Bei- 
spielen den  abweichenden  Verlauf  der  Rippen  betont,  so  zeigt  sich  auch 
an  allen  späteren,  entschieden  ausgebildeten  Akanthusblättem,  dass  nicht 
wie  beim  natürlichen  Blatte  die  Seitenrippen  von  der  Hauptrippe  aus- 
laufen, sondern  von  der  Basis,  und  zwar  bei  dem  Blatte  in  Vollansicht 
von  einer  künstlich,  gleichsam  durch  Wegschneidung  der  untersten  Partie 
des  Blattes  hergestellten  Basis  desselben.  Und  diese  Rippen  laufen  nicht 
wie  die  radianten  Strahlen  der  Palmette  von  einem  Punkte  aus,  sondern 
von  mehreren  Punkten  der  Basis,  zuerst  mehr  oder  minder  konvergierend 
und  erst  nach  oben  hin  divergierend.  Dieser  unnaturalistische  Verlauf 
der  Rippen  mag  darauf  zurückzuführen  sein,  dass  bei  der  vertikalen  Rich- 
tung der  Säule  oder  Stele  eine  Abweichung  von  derselben  nach  der  hori- 
zontalen für  das  Auge  störend  gewesen  wäre. 


30)  S.  Boissier  a.  0.  IV,  1879,  S.  520 f.;  G.  Arcangeli,  Compendio  della  Flora 
ital.  1882,  p.  562.  —  31)  Job.  Sibthorp,  Flora  graeca,  vol.  VII,  1830,  t  610  u.  611.— 
32)  Vilmorins  illustr.  Blumengärtnerei,  herausg.  v.  Grönland  und  Rümpler,  1873,  I 
S.  27  u.  29.  —  33)  Ant.  of  Jonia,  published  by  the  society  of  Dilettanti  II,  1797,  S.  40. 


Der  Akanthus  der  Griechen  und  Römer.  343 

Ferner  vermisst  Riegl  die  Pfeifen  oder  Ösen,  welche  die  die  Lappen 
trennenden  Einbuchtungen  an  späteren  Denkmalen  markierten  (S.  215); 
doch  findet  er  schon  selbst  den  deutlichen  Übergang,  wenn  auch  nicht 
von  Lappen  zu  Lappen,  doch  von  Blatt  zu  Blatt  mittels  der  rundlichen 
Pfeifen  an  einem  Pilasterkapitäl  der  östlichen  Vorhalle  des  Erechtheion*^) 
und  hierin  auffallender  Weise  eine  Neigung  zu  grösserer  Annäherung 
an  die  natürlichen  Pflanzenformen  im  allgemeinen  (S.  224).  Diese 
Ösen  oder  Pfeifen  finden  wir  aber  auch  später  fast  nur  an  den  Kapitalen, 
an  denen  das  Akanthusblatt  eine  viel  sorgfältigere  Ausarbeitung  als  auf 
den  Grabstelen  und  Lekythen,  weil  bei  diesen  das  Hauptgewicht  auf  die 
figürlichen  Darstellungen  gelegt  wurde,  gefunden  hat.  Von  den  Kapitalen 
sind  uns  aber  doch  schwerlich  die  ältesten  erhalten.  Denn  Tempel 
korinthischen  Stils  gab  es  auf  griechischem  Boden  verhältnismässig 
wenige,  und  Engelmann  (a.  0.  S.  83 f.)  hat  wohl  recht,  wenn  er  den 
Namen  dieses  Stils  von  Korinth  als  seiner  ersten  Heimat  herleitet,  wo- 
mit die  vitruvianische  Tradition,  nach  welcher  Kallimachos  zuerst  in 
Korinth  solche  Säulen  geschaffen  habe,  wiederum  im  Einklang  steht.  Ja 
CoUignon'^)  hält  es  für  möglich,  dass  das  von  Kallimachos  ersonnene 
Kapital  der  korinthischen  Säule  von  Metall  gewesen  sei ;  dies  scheine  die 
Auszahnung  der  Akanthusblätter,  ferner  die  Blumenranken,  welche  die- 
selben an  dem  Kalathos  befestigen  und  die  Köpfe  der  Nägel  verdecken, 
endlich  das  ganze  Heraustreten  des  Kapitals  anzudeuten.  Korinth  war 
auch  wegen  seiner  Erzbildnerei  berühmt.  Wie  leicht  aber  konnten,  wenn 
jene  Annahme  richtig  sein  sollte,  die  von  dem  Künstler  geschaffenen 
Kapitale  durch  den  Brand  Korinths  unter  Mummius  zerstört  sein! 

Riegl  (S.  222 f.,  vgl.  213)  glaubt  dagegen,  weil  die  geschwungene 
Linie  der  Voluten-Kelchblätter  an  der  alten  Palmette  sich  weit  mehr  für 
eine  akanthisierende  Umgestaltung  als  die  volle  Palmette  geeignet  habe, 
so  habe  sich  dieser  Prozess  der  Umwandlung  auch  zuerst  an  den  Akro- 
terien  der  Grabstelen  vollzogen,  sofern  sich  hier  aus  einem  Paar  nach 
rechts  und  links  gegenüber  gestellter  Akanthushalbblätter  zwei  ebenso 
gestellte  Voluten  und  darüber  ein  Palmettenfächer  erhebe.  Dabei  glaubt 
er  sich  in  Übereinstimmung  mit  Furtwängler  (Samml.  Sab.  a.  0.),  der  an- 
nahm, dass  das  korinthische  Kapital  zu  seiner  notwendigen  Voraussetzung 
diejenige  Gestalt  des  Palmetten- Akroterions  habe,  die  wir  an  den  attischen 
Grabstelen  nicht  vor  der  Zeit  des  peloponnesischen  Krieges  fänden,  so 
dass  das  genannte  Kapital  nicht  vor  jener  Zeit  entstanden  sein  könne. 
Daraus   folgerte  Furtwängler  zugleich,   dass   die  erste  Verwendung  des 

34)  Fig.  116  nach  Alex.  Ferd.  v.  Quast,  D.  Erechtheion  zu  Athen,  1840, 1  6,  1. 
—  35)  CoUignon,  Handb.  d.  gr.  Archäol,  deutsch  von  Friesenhahn,  1893,  S.  53. 


844  Franz  Olck 

Akanthus  an  diesem  zwar  zuerst  in  Korinth  stattgefunden  habe,  aber  nicht 
durch  Kallimachos,  da  dieser  nach  Benndorf  ^®)  wahrscheinlich  in  der  ersten 
Hälfte  des  5.  Jahrh.  geblüht  habe.  Jetzt  beruft  er  (Meisterw.  S.  201 
A.  l)  sich  für  seine  Ansicht,  dass  Kallimachos  das  korinthische  Kapital 
nicht  vor  der  Zeit  des  peloponnesischen  Krieges  geschaffen  haben  könne, 
auch  auf  die  Zeit  der  Entwickelung  der  Stelenkrönungen,  scheint  aber  die 
Verwendung  des  Akanthus  an  diesen  für  später  zu  halten  als  am  Kapital. 
In  der  „Sammlung  Sabouroff"  (a.  0.  S.  7)  hatte  er  übrigens  eine  im  Palazzo 
Giustiniani  alle  Zattere  zu  Venedig  befindliche  Grabstele  als  die  älteste 
mit  Akanthusschmuck  versehene  gegen  die  Mitte  des  5.  Jahrh.  angesetzt, 
weil  der  strenge  Stil  des  Reliefs  dem  der  Skulpturen  von  Olympia  nicht 
fern  stehe.  Ein  bis  zwei  Dezennien  später  datierte  er  eine  der  ersteren 
sonst  ganz  ähnliche  Stele  aus  Karystos  (Abb.  Taf.  VI),  weil  sich  an  der 
Relieffigur  bereits  das  Eintreten  des  pheidiasischen  Stils  bekunde  (vgl. 
Bem.  zu  Taf.  VI)  und  der  altherkömmliche  kegelförmige  Ansatz  unter  dem 
Fächer  nicht  mehr  angebracht  sei.  Da  auch  ein  Thonrelief,  Elektra  am 
Grabe  ihres  Vaters  darstellend"),  im  wesentlichen  den  obigen  Denkmalen 
entspreche,  so  setzte  er  (S.  8)  die  in  Frage  stehende  Umbildung  kurz  vor 
die  Mitte  des  5.  Jahrb.,  was  mit  seiner  jetzigen  Stellung  zu  unserer  Frage 
nicht  vereinbar  ist.  Die  Stele  der  Menekrateia  und  des  Meneas,  die  ja 
auch  den  Akanthus  in  der  erwähnten  Gruppierung  und  an  zwei  seitlichen 
Halbpalmetten,  sowie  an  dem  in  zwei  Hälften  gespaltenen  kegelförmigen 
Ansatz  oder  Zapfen  in  sehr  unvollkommener  Darstellung  zeigt,  wird  von 
ihm  (Bem.  zu  Taf.  XX)  —  und  Conze^^)  stimmt  ihm  zu  —  an  das  Ende 
des  5.  Jahrb.  gesetzt,  da  sie  den  Übergang  von  dem  älteren  zu  dem 
jüngeren  Typus  repräsentiere,  von  der  hohen  schlanken  und  schmalen, 
mit  einer  Palmette  gekrönten  zu  dem  breiteren  ädiculaförmigen  mit  einem 
Giebel  versehenen.  Zugleich  macht  er  die  wohl  nicht  unwichtige  Be- 
merkung, dass  sich  diese  Stele  durch  die  Schönheit  und  Frische  der  Arbeit 
an  dem  Ornament  wie  an  den  Figuren  aus  der  Masse  der  gewöhnlichen 
handwerksmässigen  heraushebe.  Daher  denn  auch  unter  den  ca.  22  Bei- 
spielen von  Grabstelen  mit  Akanthusornament  bei  Conze  fast  ebenso  viele 
sich  finden,  bei  denen  der  Akanthus  dem  natürlichen  ganz  unähnlich  sieht, 
als  solche,  wo  das  Gegenteil  der  Fall  ist.  Auch  zeigt  kaum  eine  einzige 
dieser  Stelen  das  Akanthusprofil  in  so  schöner  Ausführung,  wie  die  Blätter 
an  den  Henkeln  der  vor  dem  Dipylon  gefundenen  marmornen  Amphoren 
des  Hegetor  (bei  Conze  Taf.  56,  Fig.  208).    Das  sind  wohl  die  Gründe, 

36)  0.  Benndorf,  Über  d.  Kultbild  der  Atbena  Nike,  S.  40,  in  d.  Festschrift  zur 
Feier  d.  archäol.  Inet,  in  Rom,  1879.  —  37)  Bei  Fröhner,  coli.  Lecuyer,  vente  1883, 
pl.30.  —  38)  M.  Conze,  D.  att.  Grabreliefs,  1893,  Taf.  50,  Fig.  161. 


Der  Akanthus  der  Griechen  und  Römer.  345 

warum  Conze  es  vermeidet,  die  genannten  Stelen  genauer  zu  datieren, 
indem  er  für  seine  Grabreliefs  im  allgemeinen  nur  die  Zeit  vor  den  Perser- 
kriegen und  die  nach  ihnen  bis  zu  Demetrios  von  Phaleron  unterscheidet.  — 
Ein  schön  stilisiertes  Akanthus -Ornament,  bei  dem  sich  sogar  die  er- 
wähnten Ösen  zeigen,  allerdings  aus  dem  4.  Jahrb.,  findet  sich  z.  B.  bei 
Baumeister.^^)  Andererseits  aber  bildet  Engelmann  (a.  0.  Fig.  226)  eine 
in  Athen  vor  dem  Dipylon  gefundene  Stele  mit  ziemlich  ausgebildetem 
Akanthusschmuck  ab,  deren  schlanker  Schaft  und  geschlossener  Palmetten- 
fächer auf  das  5.  Jahrb.  zu  weisen  scheint;  doch  finden  sich  am  Schaft 
zwei  Kosetten,  und  diese,  obwohl  ein  altes  Dekorationsmotiv,  zeigen  sich 
sonst  erst  im  4.  Jahrb.  an  den  attischen  Stelen.  Doch  hat  sie  schon  das 
ebendaselbst  gefundene  Denkmal  der  im  J.  394  im  korinthischen  Kriege 
gefallenen  Keiter,  während  der  Akanthus  an  diesem  nur  spärlich  und 
in  sehr  unvollkommener  Ausführung  verwandt  ist,  obwohl  sich  die  jüngere 
Zeit  schon  durch  die  erstrebte  organische  Verbindung  der  einzelnen  Kom- 
positionsteile des  Akroterions  ankündigt."*")  —  Da  sich  nun  nur  wenige 
attische  Grabstelen  aus  dem  5.  Jahrb.  erhalten  haben,  sondern  bei  weitem  die 
meisten  schon  der  entwickelten  Kunst  angehören""),  was  sich  daraus  er- 
klärt, dass  das  5.  Jahrb.,  die  Blütezeit  der  attischen  Töpferkunst,  die  ärmste 
an  Marmordenkmälern  war  (ebd.  177),  so  ist  es  nicht  zu  verwundern,  wenn 
der  Akanthus  der  für  älter  gehaltenen  Stelen  nur  eine  dürftige  Ausführung 
zeigt,  wie  wir  sie  auch  meist  bei  den  jüngeren  antreffen. 

Grabstelen  mit  Akanthus  an  dem  krönenden  Ornament  finden  sich 
auch  auf  attischen  Lekythen,  welche  den  Toten  mit  ins  Grab  gegeben  und  auf 
einem  Überzug  aus  weissem  Thon  mit  buntfarbiger  Malerei  versehen  sind. 
Die  Zeit  derselben  lässt  sich  nach  0.  Benndorf  *^)  bis  in  die  zweite  Hälfte 
des  5.  Jahrb.  zurückverfolgen;  dies  erschliesst  er  teils  aus  der  strengen 
Komposition  und  Zeichnung  (S.  25),  teils  aus  der  Erwähnung  solcher 
Lekythen  im  J.  392  bei  Aristophanes  (Eccles.  995 f.,  S.  28);  von  dieser 
Zeit  an  habe  sich  jene  Sitte  so  lange  erhalten,  als  die  Verfertigung  be- 
malter Vasen  überhaupt  (S.  25),  also  etwa  bis  ans  Ende  des  3.  Jahrb., 
als  man  in  Athen  aufhörte,  Palmetten  als  Grabesschmuck  zu  verwenden.^^) 
Auf  jenen  ältesten  Beispielen  erscheint  das  profilierte  Akanthusblatt  noch 
ganz  unvermittelt  und  ohne  organische  Verbindung  zwischen  und  zwar 
über  (Bennd.  Taf.  22,  Fig.  1)  oder  unter  (Taf.  16, 1)  die  nach  alter  Weise 
gebildeten  Voluten  gestellt."*)  Wenn  Riegl  (S.  217)  behauptet,  dass  an  diesen 

39)  A.  Baumeister,  Denkmäler  d.  klass.  Altert.  II,  1887,  Fig.  943  auf  Taf.  XIX 
nach  Stackeiberg,  Gräber  d.  Hellenen  Taf.  6.  —  40)  Alfr.  Brückner,  Ornament  u.  Form 
der  att.  Grabstelen,  1886,  S.  24  u.  12,  Taf.  I  4.  —  41)  Arth.  Milchhöfer  in  d.  Mitt. 
des  archäol.  Inst,  zu  Athen,  1880,  S.  166.  —  42)  Griech.  u.  sicilian.  Yasen,  1868.  — 
43)  Brückner  a.  0.  S.  21.  —  44)  Furtw.,  Samml.  Sab.  a.  0.  8. 


346  Franz  Olck 

gemalten  Darstellungen  die  Zacken  des  Akanthus  schärfer  ausgeprägt 
seien,  als  an  den  frühesten  plastischen  Akanthusdarstellungen,  was  er  auf 
die  zeichnerische  Projektion  zurückführt,  so  trifft  dies  weder  für  die  Stelen 
zu  noch  für  den  hernach  zu  besprechenden  Akanthus  an  einer  Thür  des 
Erechtheion,  von  dem  er  selbst  sagt,  dass  er  eine  Rückübertragung  ins 
Flache  sei  (S.  220  f.).  Auch  finden  sich  Beispiele  auf  Lekythen  mit  ge- 
kerbtem Blatt,  wo  also  die  Zacken  abgerundet  erscheinen/^)  Man  kann 
also  daraus  nicht  folgern,  dass  der  Akanthus  mit  runden  Konturen  der 
ursprüngliche  und  eine. Umbildung  der  Palmette  sei.  Nun  finden  sich 
aber  auch  Stelenakroterien  auf  attischen  Lekythen,  wo  neben  gewöhnlichen 
Palmetten  zu  beiden  Seiten  Akanthushalbblätter  angebracht  sind^"),  woraus 
Kiegl  (S.  229)  schliesst,  dass  beide  Darstellungen  ursprünglich  gleichwertig, 
also  auch  der  Akanthus  eine  Palmette  sei.  Dagegen  ist  vornehmlich  ein- 
zuwenden, dass  diese  Beispiele  einer  späteren  Zeit  angehören;  wenigstens 
wird  jene  zweite  Lekythos  von  Duhn"^)  ins  4.  Jahrh.  gesetzt.  Auf  der 
letzteren  und  einer  anderen ''^)  findet  sich  der  profilierte  Akanthus  auch 
am  unteren  Säulenschaft.  Diese  von  Brückner  (a.  0.  S.  82  f.)  ganz  ein- 
leuchtend durch  das  Wuchern  des  Akanthus  an  den  Gräbern,  von  dem 
ja  auch  Vitruv  an  der  citierten  Stelle  spricht,  erklärte  Erscheinung  führt 
R.  auf  einen  anderen  Grund  zurück.  Er  meint,  dass  die  ästhetische 
Empfindung  schon  bei  den  Ägyptern  verlangt  habe,  den  Angriffspunkt 
eines  in  überwiegender  Längsrichtung  verlaufenden  Gegenstandes  zu  mar- 
kieren (S.  232,  vgl.  S.  65),  und  die  Erscheinung  sei  völlig  identisch  mit 
der  Funktion  des  Blattkelches  am  unteren  Ansatz  der  Vasenkörper,  führt 
aber  nur  eine  Vase  an,  auf  welcher  der  Akanthus  eine  gleiche  Funktion 
habe.*^)  Da  ferner  eine  attische  Lekythos  ^°)  in  der  Mitte  zwischen  zwei  Paaren 
spitzzackiger  Akanthushalbblätter  ein  weniger  scharf  gezacktes  Vollblatt 
zeigt,  so  sieht  er  (S.  230)  hierin  einen  Beweis,  dass  jene  spitzen  Zacken 
bloss  durch  die  perspektivische  Nachzeichnung  der  ursprünglichen  Ein- 
kerbungen hervorgebracht  seien  und  ursprünglich  nicht  einen  spitzzackigen 
Blattkontur  hätten  reproduzieren  sollen.  Aber  auf  einem  anderen  Beispiel 
bei  Benndorf  (Taf.  25),  das  er  zum  Vergleich  herbeizieht,  haben  nicht  bloss 
das  mittlere,  sondern  dem  entsprechend  auch  die  Seitenblätter  rundliche 
Konturen,  so  dass  jene  geringe  Abweichung  wohl  auf  die,  wie  er  selbst 
zugiebt,  höchst  skizzenhafte  Zeichnung  des  mittleren  Blattes  zurückzu- 
führen ist  und  das  Blatt  ebenfalls  als  spitzzackig  gedacht  werden  muss. 


45)  Bennd.  a.  0.  Taf.  4  u.  25;  vgl.  auch  das  links  stehende  Blatt  auf  Taf.  22, 1.  — 
46)  Bennd.  a.  0.  XXII  2 ;  Archäol.  Zeitung  1885,  Taf.  3.  —  47)  Arch.  Zeit.  1885.  Sp.  24. 
—  48)  Bei  Bennd.  Taf.  14.  —  49)  Bei  Stephani,  Compte  rendu  de  la  Commission  Ar- 
chäol. de  St  P^ersb.  1880,  Taf.  IV  8.  —  50)  Bei  Bennd.  a.  0.  Taf.  15. 


Der  Akanthus  der  Griechen  und  Römer.  347 

Der  Umstand  endlich,  dass  die  bloss  gemalten  Muster  aller  attischen  Thon- 
vasen,  soweit  sie  erhalten  sind,  also  auch  in  späterer  Zeit,  den  Akanthus 
nur  äusserst  schüchtern  angeben,  weist  doch  darauf  hin,  dass  man  ihm 
an  dieser  Stelle  nicht  die  Bedeutung  beilegte,  um  ihn  den  anderswoher 
gegebenen  Vorbildern  gleich  zu  gestalten. 

Zu  den  ältesten  Beispielen  für  die  Verwendung  des  Akanthus  an 
architektonischen  Baugliedern  gehören  einige  Verzierungen  am  Erechtheion, 
ja  sie  sind  die  ältesten  für  seine  Verwendung  überhaupt,  so  weit  es  sich 
nur  um  Athen  handelt.  Nachdem  dieser  Tempel  im  J.  480  durch  Xerxes 
zerstört  und  vielleicht  bald  darauf  provisorisch  wieder  hergestellt  war, 
begann  man  nach  Michaelis  ^0  und  Furtwängler")  nach  dem  Jahre  421 
einen  Neubau  in  Marmor,  dieser  wurde  aber  wahrscheinlich  um  das  J.  413 
unterbrochen  und  etwa  408  vollendet.  In  dem  Tempel  befand  sich  eine 
von  Kallimachos  gestiftete  goldene  Lampe  mit  ehernem  Kauchfange 
(Paus.  I,  26, 6).  Dass  diese  Lampe  wahrscheinlich  schon  bei  der  ersten 
Einrichtung  des  Baues  gestiftet  sei,  meint  auch  Furtwängler  (a.  0.  S.  200  f.), 
doch  sei  dies  erst  nach  421  geschehen.  Ja,  er  vermutet,  dass  Kallimachos 
überhaupt  an  dem  Bau  beteiligt  gewesen  sei.  Jedoch  hat  namentlich 
Benndorf")  angenommen,  dass  jenes  Anathem  in  einen  provisorischen 
Bau  bald  nach  480  gestiftet  worden  sei.  Dass  Kallimachos  die  erwähnten 
Akanthusornamente  geschaffen  haben  sollte,  da  die  unübertroffene  Sorgfalt 
dieses  Tempels  nach  Furtwänglers  Ansicht  zu  der  elegantia  et  subtilitas 
artis  marmoreae  (Vitr.  IV  1,  10)  passe,  welche  man  an  jenem  rühmte 
und  welche  ihm  den  Beinamen  Katatexitechnos  verschaffte,  dürfte  doch 
ein  sehr  unsicherer  Schluss  sein.  Benndorf  (S.  41)  folgert  gerade  aus 
jenem  Beinamen  eines  Tüftlers^'),  dass  Kallimachos  noch  nicht  jenem 
gewandteren  jüngeren  Geschlechte  angehört  habe.  Doch  die  Hauptsache 
bleibt,  ob  man  an  jenen  Ornamenten  die  Entwickelung  der  Palmette  zum 
Akanthus  wahrnehmen  könne.  Im  voraus  muss  aber  bemerkt  werden,  dass 
es  sich  nicht  um  korinthische  Kapitale  handelt,  sondern  um  verschiedene 
Verzierungen,  die  auch  bei  späteren  Bauwerken  den  Akanthus  öfters  in 
unvollkommener  und  mannigfaltiger  Gestaltung  zeigen,  sowie  auch  bei  den 
Stelen  öfters  der  Zapfen  der  Palmette  mehr  oder  minder  akanthisierende 
Konturen  zeigt"). 

Es  handelt  sich  zunächst  um  das  Anthemion  eines  Kapitals  von  der 
nördlichen  Vorhalle'*),  bei  dem  das  Akanthushalbblatt  an  den  Voluten- 

51)  Mitt.  d.  Athen.  Inst.  1889,  S.  363.  —  52)  Meisterw.  S.  192  f.  —  53)  Über  d. 
Kultbild  der  Athena  Nike  a.  0.  S.40;  vgl.  auch  K.  Bötticher,  D.  Tektonik  d.  Hell.  P 
S.345.  —  54)  Vitr.  IV  1,  10;  Plin.  XXXIV  92;  Paus.I  26,7.  —  55)  Z.B.  bei  Conze. 
a.O.  Taf.  27,60;  42, 122  u.  124;  50,  161;  51, 162;  54, 198  u.  s.  w.  —  56)  Abb.  bei  Quast 
a.  0.  I  7,  2. 


348  Franz  Olck 

» 
keichen  der  Palmetten  und  Lotusblüten  sowie  an  besonderen  Kelchen 

der  letzteren  verwandt  ist.  Was  den  von  dem  natürlichen  Blatt  abweichen- 
den Verlauf  der  Rippen  betrifift,  so  ist  darüber  schon  gesprochen.  Ausser- 
dem zeigt  der  Kelch  der  Palmette  rundliche  Einkerbungen  statt  der  Zacken. 
Dies  ist  aber  an  den  andern  Gliedern  schon  weniger  der  Fall,  besonders 
nicht  an  der  Gabelranke,  während  Eiegl  es  von  allen  behauptet  Ent- 
schieden zackig  sind  denn  auch  schon  die  Konturen  an  den  Kelchblättern 
der  Lotusblüte  von  einem  Pilasterkapitäl  der  östlichen  Vorhalle  (Abb.  a.  0. 
I  6, 1),  ja  an  dem  Anthemion  der  Halbsäulen  des  westlichen  Teils  des 
Tempels  (Abb.  a.  0.  I  7  A,  1)  scheint  zwar  die  Gliederung  der  Lappen 
zu  fehlen,  doch  sind  die  Zacken  ganz  in  der  konventionellen  Form  an 
den  Kapitalen  gehalten.  In  den  beiden  letzteren  Fällen  handelt  es  sich 
freilich  auch  schon  um  en  face  oder  in  perspektivischer  Verkürzung  ge- 
bildete Vollblätter.  Die  rundlichen  Einkerbungen  finden  sich  aber,  wie 
erwähnt,  auch  auf  den  Lekythen,  ferner  auch  auf  mehreren  Grabstelen 
und  gerade  nicht  bei  den  anerkannt  ältesten  ^^).  Fast  genau  dieselbe 
Gestaltung  wie  das  zuerst  erwähnte  Anthemion  zeigt  eine  Goldplatte  des 
4.  Jahrh.^*').  An  architektonischen  Gliedern  finden  sich  die  rundlichen 
Einkerbungen  nur  ausnahmsweise.  Solche  haben  zum  Teil  die  Halb- 
blätter der  Kelche  der  Lotusblüten  auf  einem  Simafragment  des  in  der 
Zeit  Alexanders  d.  Gr.  erbauten  Athenatempels  zu  Priene*^),  während 
andere  zackiger  gehalten  sind,  wie  denn  überhaupt  an  diesem  Tempel 
das  Akanthushalbblatt  in  verschiedener  Verbindung,  aber  zum  Teil  in  sehr 
unvollkommener  Darstellung  auftritt.  Deutlich  zeigen  auch  die  runden  Ein- 
kerbungen das  Vollblatt  der  Kapitale  an  den  korinthischen  Eingangssäulen 
der  aus  makedonischer  Zeit  stammenden  Palaestra  in  Olympia^):  hier 
nähert  sich  das  Blatt  abgesehen  von  der  für  die  Akanthusvollblätter  der 
Kapitale  charakteristischen  überhängenden  Spitze  am  meisten  einer  Pal- 
mette. Ein  gezacktes,  aber  unvollkommenes  Halbblatt  zeigt  der  Lotus- 
kelch an  einer  Soffite  der  Zahnschnitte  an  den  ionischen  Säulen  des 
Tempels  zu  Prione  ^*)»  am  Karnies  der  Thüren  desselben  ^■'')  und  an  einer 
auf  Samos  gefundenen  Thürecke^^j;  ähnlich  sind  die  Kelchblätter  der 
Lotusblüten  und  Palmetten  an  dem  ionischen  Kapital  und  der  Sima  des 
Grossen  Theaters  in  Laodikeia®')  und  an  einem  andern  Theaterkapitäl 
daselbst"),  vielleicht  auch  aus  makedonischer  Zeit.    Etwas  naturalistischer 


57)  z.  B.  bei  Conze  a.  0.  Taf.  42,  122  u.  124;  51,  164  u.  237;  108,454.  —  58)  bei 
Riegl,  Fig.  129  nach  Stephani  a.  0.  Taf.  4.  —  59)  Ant.  of.  Jon.  part.  I,  1821,  eh.  II 
pl.  18  f.  1.  —  60)  D.  Ausgrabungen  zu  Olympia,  vol.  V,  ISSl.  Taf.  39.  —  61)  Ant.  of 
Jon.  a.O.  eh.  II  pl.  9,2.  —  62)  Ebd.  pl.  17,3.  ~  63)  Ebd.  eh.  V  pl.  8.  —  64)  Ebd. 
part.  II,  1797,  pl.  50, 1.  —  65)  Ebd.  pl.  51,  1. 


Der  Akanthus  der  Griechen  und  Römer.  349 

stilisiert  sind  an  dem  Tempel  von  Priene  die  Halbblätter  an  den  Ranken 
der  ionischen  Sima**^)  und  an  den  Seiten  der  ionischen  Säulen^'),  verhältniss- 
mässig  sehr  deutlich  an  dem  Pilasterkapitäl^^)  und  an  dem  Pulvinar  des 
ionischen  Kapitals  °^).  Sehr  primitiv  ohne  organischen  Zusammenhang 
mit  den  Voluten  ist  der  Akanthus  vornehmlich  an  dem  Stirnziegel  des 
grösseren  Tempels  zu  Rhamnus  aus  dem  5.  Jahrh.'") ;  ähnlich  und  wenig 
entwickelt  an  den  Stirnziegeln  der  Tempel  des  Apollon  Epikurios  bei 
Phigalia  aus  den  Jahren  nach  430  oder  420'*)  und  der  Artemis  zu 
Eleusis  aus  dem  4.  Jahrh.'^);  dem  letzteren  sieht  derjenige  über  dem 
Fuss  der  sog.  Nikopolvase  aus  hellenistischer  Zeit'^)  abgesehn  von  der 
überhangenden  Spitze  ganz  ähnlich.  Stark  akanthisiert  ist  der  Zapfen  der 
Halbpalmette  im  Zwickel  der  ionischen  Volute  an  dem  Tempel  des  Apollon 
Didymaios  bei  Milet,  wohl  aus  dem  5.  Jahrh.'^);  als  ganz  ungegliedertes 
Vollblatt  ist  der  Akanthus  zur  gleichen  Zwickelfüllung  an  dem  Dionysos- 
tempel zu  Teos  aus  der  zweiten  Hälfte  des  4.  Jahrh.  verwandt").  Ebenso 
nur  einfach  gezackt  sind  das  Halbblatt  an  einer  Gesimskonsole  des  korinthi- 
schen Tempels  des  Augustus  in  Pola'^)  und  die  einzelnen  Blätter  der  Lotus- 
blüte an  einem  Gesimse  eines  Tempels  zu  Ephesos,  vielleicht  aus  der  Zeit  des 
Kaisers  Claudius,  während  die  Blätter  der  Palmetten  und  die  Ranken 
in  diesem  Lotus-Palmettenbande  stark  akanthisieren '').  Wir  sehen  also 
den  Akanthus  in  mannigfachen  Variationen  auftreten  und  zugleich  sein 
Vorbild  vielfach  auf  die  Gestaltung  anderer  ornamentaler  Motive  einwirken. 
Die  schwungvolle  Ausbiegung  der  Spitzen  an  dem  halben  Akanthus- 
blatt  will  Riegl  (S.  219)  aus  der  Neigung  der  gesprengten  Palmette  zu 
einer  solchen  Ausbiegung  erklären,  während  sie  auf  die  Profilierung  des 
ganzen  Blattes  mit  überhängender  Spitze  zurückzuführen  zu  sein  scheint. 
Die  Erklärung  dafür,  dass  das  Halbblatt  an  der  Ranke  in  der  Gabelung 
erscheint,  sucht  er  in  dem  alten  Prinzip  der  Zwickelfüllung,  giebt  aber 
zu,  dass  sich  jenes  nicht  im  Zwickel,  sondern  vor  der  Gabelungsstelle 
befindet.  Die  eigentliche  Zwickelfüllung  findet  er  -dann  an  dem  ersten 
vom  Erechtheion  genommenen  Beispiel  in  der  sich  zeigenden  Verhülsung 
der  Ranke  wieder,  die  dann  daselbst  auch  auf  Stellen  übertragen  sei, 


66)  Ebd.  p.I  eh.  II  pl.  6.  —  67)  Ebd.  eh.  II  pl.  16.  —  68)  Ebd.  eh.  II  pl.  14.  — 
69)  Ebd.  eh.  II  pl.  17,  2.  —  70)  The  uneditet  antiquities  of  Attica,  deutsche  Ausgabe 
von  H.  W.  Eberhard,  cap.  VI,  Taf.  12.  —  71)  0.  M.  v.  Stackeiberg,  D.  Apollotempel  zu 
Bassae,  1826,  S.  101;  Die  Altert,  von  Athen,  beschr.  von  J.  Stuart  und  N.  Revett,  aus 
d.  Engl,  übers,  nach  der  Londoner  Ausg.  v.  J.  1830 ;  Ergänzungsband,  1833,  Taf.  5, 4.  — 
72)  üned.ant.  c.V,  Taf.  8.  — 73)  bei  Riegl,  Fig.  121  nachStephani  a.  0.  1864,  Taf.  1. 
—  74)  Ant.  of  Jon.  p.  1  eh.  3.  pl.  5.  —  75)  Ebd.  eh.  I,  pl.  2.  -  76)  Stuart  u.  Kevett, 
Altert,  zu  Athen,  herausgeg.  vonH.  W.Eberhard,  1829,  T.  IV,  Kap.  2,  Taf.  6,  1.  — 
77)  Ant.  of  Jon.  p.  II  pl.  44,  5. 


350  Fkanz  Olck 

wo  keine  Gabelung  statt  finde.  In  dieser  hülsenartigen  Anschwellung 
will  er  dann  aber  auch  den  alten  Volutenkelch  der  Palmette  wiederer- 
kennen und  nimmt  an,  dass  diese  Hülsen  —  oder  sagen  wir  lieber  Scheiden 
—  später,  als  ihre  ursprüngliche  Bedeutung  in  Vergessenheit  geraten, 
weggefallen  seien,  was  aber  doch  nicht  ganz  richtig  ist ;  denn  diese  Hülse 
findet  sich  auch  z.  B.  an  dem  Pilasterkapitäl  von  Milet'"),  an  dem  Säulen- 
kapitäl  des  Tempels  zu  Labranda"),  vielleicht  aus  nachchristlicher  Zeit,  und 
an  dem  Pilasterkapitäl  von  dem  Monument  des  Philopappos  zu  Athen  aus 
der  Zeit  Trajans**").  Für  die  akanthisierende  Bildung  des  Kelches  der  Lotus- 
blüten fällt  es  ihm  schwer ,  einen  unmittelbaren  Veranlassungsgrund  an- 
zugeben (S.  222).  Wenn  er  meint,  dass  diejenigen,  welche  an  der  Vor- 
bildlichkeit des  Ac.  spin.  festhalten,  kaum  einen  Beweggrund  anführen 
könnten,  welcher  es  veranlasst  haben  könnte,  den  Rankenkelchen  die  Form 
des  Akanthus  zu  geben,  so  findet  sich  doch  eine  ähnliche  Erscheinung  an 
den  Deckblättern  der  Pflanzen;  freilich  beim  Akanthus  scheinen  hier  mehr 
die  oberen,  ungebuchteten,  nur  stark  gezackten  Stengelblätter  in  Betracht 
zu  kommen,  wie  denn  auch  am  Kapital  die  Voluten  sich  aus  dem  Blätter- 
kranz erheben,  wie  bei  der  natürlichen  Pflanze  der  zu  oberst  die  Blüten 
tragende  Stengel  aus  dem  untern  Blätterbüschel. 

Nun  beruft  sich  Riegl  weiter  auf  ein  Lotuspalmettenband  an  dem 
Karnies  der  grossen  Thür  an  der  nördlichen  Halle  des  Erechtheion  (bei 
Quast  I  9  u.  10).  Hier  haben  wir  einen  Palmettenfacher,  dessen  einzelne 
Blätter  nicht  in  eine  konkave,  sondern  in  eine  konvexe  Endigung  auslaufen. 
Es  ist  dies  eine  fast  ganz  singulare  Erscheinung,  die  auch  hier  nur  an 
einer  untergeordneten  Stelle  sich  findet.  Wie  leicht  solche  Nuancen  vor- 
kommen können,  beweist  die  ebenso  isoliert  stehende  und  ebenso  umge- 
staltete Palmette  auf  einem  mykenischen  Goldplättchen*^).  Ähnlich,  wenn 
auch  etwas  abweichend,  sind  auch  die  Vollblätter  an  der  Seite  eines 
Pilasterkapitäls  von  dem  erwähnten  Tempel  bei  Milet^^),  der  erwähnten 
Nikopolvase  und  in  den  Zwickeln  der  ionischen  Voluten  an  den  Pilaster- 
kapitälen  der  Basilika  in  Pompeji*').  Jedenfalls  kann  man  dieses  Blatt 
ebensogut  für  eine  Umgestaltung  der  Palmette  nach  dem  Vorbilde  des 
Akanthus  ansehen  als  daraus  die  Entstehung  des  letzteren  aus  der  ersteren 
herleiten. 

Dass  der  natürliche  Akanthus  schon  für  die  Ornamentik  des  Erech- 
theion vorbildlich  gewesen,  scheint  mir  deutlich  aus  einer  Stelle  der  In- 


78)  Ant.  of  Jon.  p.I  eh.  3  pl.  7.  —  79)  Ebd.  eh.  4  pl.  5.  —  80)  Stuart  u.  Revett, 
T.I  C.5  T.  6, 1.  —  81)  bei  Riegl,  Fig.  58  nach  Schliemann,  Mykenae,  Fig.  249.  — 
82)  Kunsthistor.  Bilderbogen,  Samml.  I  Bogen  4,  7.  —  83)  Overbeck-Mau,  Pompeji, 
1884,  Fig.  271  c. 


Der  Akanthus  der  Griechen  und  Römer.  361 

Schrift  V.  J.  408  v.  Chr.^^)  hervorzugehen,  enthaltend  Kechnnngen  von 
dem  Bau  des  Tempels.  Es  heisst  da:  KrjQOTtkdoTatg  tcc  Ttagaöely/xaza 
7claTT0vot.  Twv  %al-/.u)v  twv  elg  tcc  '/,aXv(.i(xaT;a'  Nrjoei  l^i  MeklTrji 
oiTiovvri  Phl-f-.  €T€Qov  7caQädeLy(,ia  TcXaoavTi  ttjv  aycav&av  eig  tcc 
xalv/^if-iaTa'  ^^yad-ava)Q  lA?U07C€yifjoi  olxcuv  Phl-h.  y.ecpakaiov  KrjQOTcXd- 
oraig  APH.  Quast  hat  den  zweiten  Satz  übertragen:  Dem,  welcher  ein 
anderes  Vorbild  bildet,  einen  Akanthus  für  die  Kassetten,  Agathanor  in 
Alopeke  8  Drachmen.  Bötticher  (Tekt.  I  97)  hält  a-aav&a  für  einen 
metallenen  Dorn,  an  dem  ein  Stern  aus  vergoldetem")  Erze  schwebend 
aufgehängt  war.  Dagegen  versteht  Michaelis  ^^)  unter  ayiavd^a  einen  Blatt- 
schmuck. Dass  ein  solcher,  nämlich  Akanthus,  gemeint  sei,  geht  doch 
aus  dem  Singular  a/Mv^av  gegenüber  dem  Plural  xalv.iov  hervor;  es 
könnte  doch  auch  die  Modellierung  eines  oder  selbst  mehrerer  Domen 
nicht  ebensoviel  gekostet  haben  als  die  der  sämtlichen  26  Rosetten,  für 
welche  166  Stück  Blattgold  zu  1  Drachme  notwendig  waren. 

Nun  führt  uns  aber  Kiegl  (S.  224  f.)  —  und  dies  ist  wohl  der 
wichtigste  Punkt  —  ein  dem  erwähnten  Beispiel  von  der  Thür  des  Erech- 
theion  sehr  ähnliches  von  einem  korinthischen  Kapital  des  dem  Apollon  Epi- 
kurios im  peloponnesischen  Kriege  geweihten  Tempels  zu  Bassai  bei  Phigalia 
in  Arkadien  vor.  Auch  hier  sollen  sich,  sogar  an  einem  Kapital,  palmetten- 
ähnliche,  aber  gezahnte  Blätter  finden.  Diese  korinthische  Säule  ist  aber 
erstlich  ein  sehr  zweifelhaftes  Ding.  Da  sie  die  einzige  korinthischer 
Ordnung  an  dem  ganzen  Bau  ist  und  für  diesen  keine  ersichtliche  Be- 
deutung hat,  so  kann  sie  zu  einem  schon  früher  dort  befindlichen  Tempel 
gehört  haben  und  nur  bei  dem  Umbau  desselben  stehen  gelassen  sein") 
oder  möglicherweise  auch  einer  späteren  Eestauration  angehören  ^^).  Im 
allgemeinen  wird  freilich  das  Kapital  für  eins  der  ältesten  Beispiele  mit 
Akanthusornament  gehalten  ^^).  Ferner  ist  die  Säule  in  einem  sehr  zer- 
störten Zustande  gefunden,  so  dass  die  von  ihr  entworfenen  Zeichnungen 
sehr  von  einander  abweichen.  Riegl  hält  sich  an  die  Restauration  Stackei- 
bergs °'*)  und  verwirft  die  absichtlich  nur  skizzenhaft  gehaltene  Abbildung 
von  Donaldson®'),  welche  das  Blatt  mit  rundlichen  Konturen  und  wenig 
akanthisierend,  doch  immerhin  in  einer  von  der  Stackelbergschen  Reproduk- 
tion ganz  abweichenden  Bildung  zeigt.  Nun  verdient  aber  Cockerell  mindestens 
dieselbe  Beachtung  wie  Stackeiberg,  da  er  mit  diesem  und  mit  anderen  zu- 

84)  C.  I.  A.  I  324,  frg.  c,  col.  II,  vs.  1—8.  -  85)  Vgl.  d.  Inschr.  frg.  a  col.  I  51  u. 
frg.  c  col.  II  34.  —  86)  Ath.  Mitt.  1889,  S.  361.  —  87)  Vgl.  Baumeister  in  s.  Denk- 
mälern S.  1320  f.  —  88)  H.  Brunn,  Gesch.  d.  gr.  Künstler  2,  1889,  I  177.  —  89)  Furt- 
wängler,  Samml.  Sab.  a.  0.  S.8;  Meisterw.  201  A.  1;  Brückner  a.  0.  S.S.  —  90)  in 
dessen  „Apollotempel  von  Bassae"  S.  44.  —-91)  bei  Stuart  u.  Revett,  Ergänzungsband. 
Taf.  9,  3. 


362  Franz  Olck 

sammen  sich  an  den  Ausgrabungen  des  Tempels  i.  J.  1812  betheiligt  hat'*\ 
Er  bringt °')  angeblich  das  Kapital,  wie  es  in  dem  Tempel  gefunden  sei, 
mit  deutlichen  Akanthusblättern ;  doch  scheinen  die  beiden  seitlichen  Ab- 
bildungen (PI.  XV  3,  a.  u.  b.)  das  eigentliche  Original  wiederzugeben,  aber 
auch  dieses  verträgt  sich  zwar  mit  der  Skizze  Donaldsons,  aber  entschieden 
nicht  mit  der  Restauration  Stackeibergs. 

Zu  den  bereits  vollkommen  ausgebildeten  korinthischen  Kapitalen  gehört 
das  der  Halbsäulen  und  ein  anderes,  wohl  zu  einem  Wandfriese  gehöriges 
von  dem  ionischen  Tempel  des  Apollon  Didymaios  bei  Milet'^).  Dieser 
Tempel  war  i.  J.  494/3  von  den  Persern  zerstört^^)  und  von  Paionios  und 
Daphnis®'),  also  wohl  ca.  im  4.  Dezennium  des  5.  Jahrb.,  in  grossen 
Dimensionen  wieder  aufgebaut  worden ;  doch  steht  es  nicht  fest,  ob  und  wann 
er  ganz  vollendet  worden  sei.  Das  korinthische  Antenkapitäl  der  inneren 
Propyläen  zu  Eleusis^')  zeigt  zwar  ein  gutes  konventionelles  Akanthusblatt, 
ist  aber  in  seinen  oberen  Partieen  sehr  reichlich  geschmückt;  es  mag 
also,  obwohl  der  Bau  in  seiner  Anlage  der  2.  Hälfte  des  4.  Jahrb.  ange- 
hört, doch  der  im  ersten  Jahrh.  durch  Appius  Claudius  Pulcher  erfolgten 
Restauration  zuzuweisen  sein.  —  Gleicher  Zeit  mit  dem  Lysikrates-Denkmal 
ist  dagegen  das  Philippeion  zu  Olympia,  dessen  Inneres  durch  korinthische 
Halbsäulen  mit  schön  gezeichnetem  Kapital  aus  vier  über  einander  ge- 
ordneten Reihen  von  Akanthusblättern  gegliedert  war^*).  Darauf  folgt 
der  Rundbau  der  Arsinoe  zu  Samothrake  wohl  aus  dem  J.  281,  dessen 
Inneres  ebenfalls  korinthischen  Stil  hat.  Fast  ganz  einer  Palmette  ähnlich  ist, 
wie  erwähnt,  das  Blatt  an  den  Kapitalen  der  Eingangssäulen  der  Palaestra 
in  Olympia  aus  der  2.  Hälfte  des  3.  Jahrb.^^),  und  das  der  Antenkapitäle 
daselbst *°°)  ist,  wenn  auch  die  dreizackigen  Lappen  des  konventionellen 
Blattes  sehr  deutlich  hervortreten,  doch  sehr  handwerksmässig  gebildet; 
das  letztere  Kapital  ist  überhaupt  so  eigentümlich,  dass  Graef  (Ausgr. 
a.  0.  S.  41)  es  für  möglich  hielt,  dass  es  das  älteste  sei,  welches  wir  in 
korinthischer  Version  kennten.  Ähnlich  dem  Blatt  dieses  Antenkapitäls  ist 
dasjenige  an  dem  Eingangsthor  zum  Grossen  Gymnasium  (Ausgr.  a.  0. 
Taf.  10),  welches  wohl  einer  wenig  jüngeren  Zeit  angehört.  Der  Zeit 
zwischen  176—164  gehört  wohl  das  Säulenkapitäl  an  der  Vorderseite 
des  Tempels  des  Zeus  Olympios  in  Athen  an  ''*').  Ein  verhältnismässig  ein- 
faches, aber  bezeichnendes  Beispiel  bietet  das  Kapital  der  Porticus  vom 

92)  C.  R.  Cockerell,  The  temples  of  Juppiter  Hellemus  at  Aegina  and  of  Apollo 
Epicurius  at  Bassae  near  Phigalia  in  Arcadia,  1860,  p.  VI.  —  93)  PL  XV,  1 ;  vgl. 
auch  pl.X  u.  pl.  XV  unten.  —  49)  Ant.  of  Jon.  p.  I  eh.  3,8  u.  3,7.  —  95j  Herod. 
VI  19;  Strab.XlVö.  —96)  Vitr.  VII  praef.  16.  —  97)  ün.ant.  c.3,6.  -  98)  Bötticher, 
Olymp.  *^  Fig.  76.  —  99)  Die  Ausgr.  zu  Olymp.  V,  1881,  Taf.  39.  —  100)  Ebd.  u.  bei 
Bötticher,  Fig.  81  u.  82.  —  101)  Stuart  u.  Revett  a.  0.  I  c.  5  Taf.  8, 1. 


Der  Akanthus  der  Griechen  und  Römer.  353 

Turm  der  Winde  zu  Athen  aus  der  Mitte  des  1.  Jahrh.  v.  Chr/"^).  Darauf 
folgen  besonders  das  Pfeilerkapitäi  des  Bogens  zu  Mylasa^"^),  das  der 
Eckpfeiler  eines  Grabdenkmals  daselbst  *°^),  das  einer  Säule  mit  einer 
Statue  daselbst  •°^),  das  der  Säulen  und  Anten  von  dem  Tempel  des 
Augustus  zu  Pola^^^),  das  der  Säulen  von  dem  Bogen  der  Sergier  in 
Pola^")  und  von  dem  Tempel  des  Augustus  zu  Pergamon;  alsdann  die 
Säulenkapitäle  des  Tempels  von  Labranda  *"'),  die  Pfeilerkapitäle  von  dem 
zwischen  114  u.  116  n.  Chr.  errichteten  Monument  des  Philopappos '"*), 
die  Antenkapitäle  an  dem  Hadriansbogen  zu  Athen ""),  die  Kapitale  der 
Halbsäulen  und  Pfeiler  der  oberen  Ordnung  an  demselben*^*),  die  der 
Säulen  der  kurz  vor  161  n.  Chr.  erbauten  Exedra  des  Herodes  Atti- 
cus "-)  u.  s.  w. 

Einige  charakteristische  Merkmale,  wie  sie  dem  stilisierten  Akanthus- 
blatt  in  der  Kunst,  auch  der  römischen,  eigen  sind,  wie  die  breite  Basis, 
der  von  dieser,  statt  der  Hauptrippe,  ausgehende  Verlauf  der  Seitenrippen 
und  die  überhangende  Spitze,  sind  schon  gelegentlich  hervorgehoben; 
speziell  für  das  griechische  ist  noch  Folgendes  hervorzuheben.  Bei  scharfer 
Modellierung  des  Blattes  und  Bildung  der  Umrisse  greifen  die  einzelnen 
Lappen  nie,  wie  wohl  auch  nie  bei  Acanthus  spinosus,  oder  doch  nur  aus- 
nahmsweise sehr  wenig  über  einander,  berühren  sich  aber  an  den  Seiten, 
so  dass  von  der  natürlichen  Buchtung  eine  kreisrunde,  später  auch  ein 
wenig  in  die  Länge  gezogene  Öse  übrig  bleibt ;  jeder  Lappen  ist  nach  dem 
natürlichen  Vorbilde  scharf  in  drei-  oder  auch  mehreckige  Zacken  ge- 
gliedert; von  jeder  Spitze  ziehen  sich,  was  besonders  charakteristisch, 
scharfe  Einschnitte  bis  zur  Basis,  ebenso  von  den  Ösen  bis  zur  Basis 
Falten,  welche  die  Lappen  trennen. 

Schöne  Beispiele  für  die  Akanthus- Ranke  bieten  die  Ornamente  des 
Lysikratesdenkmals  und  des  Tempels  zu  Prione.  Euer  wie  an  anderen 
hellenischen  Ornamenten  ist  der  Rankenstengel  scharf  keilförmig  vertieft 
und  die  strengprofilierten  Akanthusblätter  ebenfalls  scharf  gefurcht;  die 
Ansatzstellen  sind  seltener,  wie  erwähnt,  durch  eine  scheidenartige  Ver- 
dickung, gewöhnlich  gar  nicht  betont,  und  die  Ranke  trägt  selten  an  ihrem 
Ende  eine  Blume  oder  Knospe.  Das  Antenkapitäl  des  Hadrianbogens  zu 
Athen  zeigt  schon  den  Rankencharakter  der  römischen  Zeit."') 

In  Italien,  wo  der  korinthische  Stil  zu  überwiegender  Herrschaft  gelangte. 


354  Franz  Olok 

hat  das  Blatt  sehr  verschiedene  Formen  angenommen.  In  Pompeji  zeigt 
es  an  dem  Pilasterkapitäl  des  Tempels  des  Juppiter,  der  Juno  und  der 
Minerva  aus  Tuff,  der  Zeit  bald  nach  80  v.  Ch.  angehörig  *'^),  eine  der- 
jenigen ähnliche  Form,  wie  wir  sie  schon  an  dem  Antenkapitäl  der  Palaestra 
und  namentlich  dem  Eingangsthor  zum  Grossen  Gymnasium  in  Olympia  ken- 
nen gelernt  haben,  doch  zum  Teil  mit  krausen  Zacken;  Overbeck  glaubte 
daher  früher"')  in  diesem  Blatte  statt  des  Akanthus  eine  Kohlart  zu  erken- 
nen. Während  hier  noch  die  Zacken  der  Lappen  deutlich  hervortreten,  sind 
die  Lappen  ganz  abgerundet  an  einigen  etruskischen  Beispielen,  wie  auch 
von  dem  an  den  Kapitalen  der  Eingangssäulen  der  Palaestra  in  Olympia 
erwähnt  ist.  So  zeigt  sich  nämlich  das  Blatt,  teils  ohne  umgeschlagene 
Spitze  auf  zwei  etruskischen  Urnen  "°),  teils  mit  umgeschlagener  Spitze  "^ 
und  als  profiliertes  Blatt  an  einer  Wellenranke  auf  einer  etruskischen  Vase  "*) 
sowie  als  Volutenscheide  an  dem  Sargdeckel  des  Scipio  Barbatus  aus  der 
ersten  Hälfte  des  3.  Jahrhunderts  v.Chr.''®);  man  vergleiche  auch  damit 
eine  apulische  Vase  bei  Baumeister  (Fig.  2157).  An  einem  isolierten 
Kapital  zu  Cori'^'')  noch  aus  republikanischer  Zeit'*^')  finden  sich  auch 
zwischen  den  Voluten  wellig -buchtige  Vollblätter,  unterhalb  derselben 
jedoch  solche,  deren  übergeschlagene  Spitzen  mit  den  konventionellen 
dreizackigen  Lappen  versehen  sind,  während  die  untere  Partie  aus  oliven- 
blattähnlichen Lappen  mit  abgerundeten  Spitzen,  die  an  der  Mittelrippe 
zu  sitzen  scheinen,  besteht.  Diese  letztere  Form  allein,  die  einer  Palmette 
ähnlich  sieht,  wenn  auch  die  einzelnen  Teile  keine  radiante  Anordnung 
haben,  zeigt  sich  an  zwei  Kapitalen,  dem  des  sog.  Tempels  der  Pax  zu 
Paestum  '^^)  und  einem  zu  Cori  (ebd.  f.  4).  Den  Übergang  von  der  letzteren 
zur  ersteren  Form  zeigen  zwei  einander  gegenüber  gestellte  Blätter  einer 
etruskischen  Aschenurne,  gefunden  in  Volterra'^);  hier  zerfällt  wie  bei 
der  geschlossenen  Palmette  zuerst  das  Blatt  in  einzelne  langgestreckte 
Teile,  die  aber  nach  der  Spitze  zu  immer  kürzer  werden,  bis  diese  selbst 
sich  mit  rundlichen  Konturen  oder  Lappen  überschlägt. 

Ein  anderes  Blatt  zeichnet  sich  dadurch  aus,  dass  die  einzelnen  Lappen, 
welche  wiederum  in  drei  breit  abgestumpfte  Zacken  zerfallen,  wie  die  Spitze 
des  Blattes  nach  der  Oberfläche  des  Blattes  zu  umgeschlagen  sind.  Wir 
finden  es  an  dem  Stuckkapitäl  der  Basilika  zu  Pompeji  wohl  aus  dem 


114)  Overbeck-Mau  a.  0.  Fig.  62  u.  S.  111.  —  115)  Pompeji»,  1866,  I  S.  97.  — 
116)  Franc.  Inghirami,  Monumenti  etruschi  tom.  I,  1821,  tav.  40  u.  t.  VI,  1824,  t.  Y3. 
—  117)  Ebd.  t.I,  tav.  41.  —  118)  Ebd.  Tom.  V,  1824,  tav.  3.  f.  2.  —  119)  bei  Bau- 
meister Fig.  1621  nach  Phot.  —  120)  Luigi  Canina,  Gli  edifizi  di  Roma  antica,  1848—56, 
VI  101, 7.  —  121)  Ebd.  V  84.  —  122)  Monumenti  inediti,  pubbl.  dall'  inst,  di  corr. 
arch.,  vol.  II,  1835,  tav.  20  f  1.  —  123)  Inghirami  a.  0.  I  4. 


Der  Akanthus  der  Griechen  und  Römer.  355. 

2.  Jahrh.  v.  Chr."''),  auf  einem  etruskischen  Kapital  von  Toscanella  "**),  einem 
säulenartigen  Aufsatz  auf  einer  Stele  aus  Vulci  (ebd.  Fig.  9),  dem  Kapital 
eines  Grabmals  an  der  Via  Appia'^*),  dem  des,  wie  man  meist  annimmt  ^^), 
noch  der  republikanischen  Zeit  angehörigen  Rundtempels,  des  sog.  Sibyllen- 
tempels zu  Tivoli"®),  an  den  Rosetten  an  der  Soffite  der  Porticus  des- 
selben (ebd.  Fig.  3)  und  dem  Kapital  des  nach  Canina  (V  97)  schon  aus 
der  Kaiserzeit  herrührenden  Fortunatempels  zu  Praeneste."^)  Nicht  mit 
Unrecht  will  Guillaume  (a.  0.)  dieses  Blatt  auf  etruskischen  Ursprung 
zurückführen,  wobei  er  sich  noch  auf  einige  Terrakotten  der  collectio  Cam- 
pana im  Musee  Napoleon  in.  und  in  dem  Museum  der  Stadt  Perouse 
beruft.  Er  möchte  darin  eine  Nachahmung  des  Blattes  von  derjenigen 
Solanee  sehen,  welche  den  Vulgärnamen  bouillon  blanc  oder  chou  gras 
habe,  also  von  der  Königskerze,  Verbascum  thapsus  L. ;  dieses  sei  gleich- 
sam auf  die  beibehaltene  Masse  des  Akanthusblattes  gepfropft. 

Mit  diesem  Blatte  scheint  denn  auch  dasjenige  verwandt  zu  sein, 
welches  am  häufigsten  an  den  römischen  Säulen-  oder  Pilasterkapitälen 
vertreten  ist.  Hier  zerfällt  jeder  Lappen,  wie  im  Palmettenfächer,  in 
mehrere,  meist  vier  oder  fünf,  einzelne,  aber  aneinander  geschlossene,  den 
Olivenblättern  ähnliche  Teile,  aber  mit  abgerundeten  Spitzen.  Diese  Blatt- 
teile sind  wie  bei  einer  Muschelschale  ausgehöhlt;  die  einzelnen  Lappen 
schlagen  an  den  Seiten  übereinander;  die  Mittelrippe  zeigt  meist  wie  ein 
selbständiges  Blatt  buchtige  Konturen;  die  Ösen  sind  in  die  Länge  ge- 
zogen. Wohl  das  älteste  uns  erhaltene  Kapital  der  Art  zeigt  der  in  der 
Schlacht  bei  Philippi  von  Octavian  gelobte,  aber  erst  im  J.  2  v.  Chr. 
dedizierte  Tempel  des  Mars  Ultor  '^"),  dann  folgt  der  im  J.  6  n.  Chr.  neu- 
erbaute Tempel  des  Castor  und  PoUux  (II  28),  die  Palatinische  Bibliothek 
(VI  296, 1,  mit  einem  Kompositkapitäl  Fig.  3),  das  Hemikyklion  unter  den 
halbkreisförmigen  Treppen  des  Fortunatempels  zu  Praeneste  (VI  116,  2), 
der  Titusbogen  mit  Kompositkapitäl  (IV  246),  der  Tempel  der  Minerva 
auf  dem  Forum  transitorium  und  die  Umfassungsmauern  des  letzteren 
aus  dem  J.  98  (II  107  u.  108),  die  Basilica  Ulpia  (II  118  u.  120  A),  der 
Bogen  des  Constantin,  dessen  Säulen  aus  der  Zeit  Trajans  herrühren 
(IV  249,  1),  das  im  J.  27  v.  Chr.  erbaute,  HO  durch  Blitz  zerstörte  und 
unter  Hadrian  wieder  hergestellte  Pantheon  (II  72;  s.  auch  Ehe),  die  von 
Agrippa  auf  dem  Campus  Martins  erbaute  und  von  Hadrian  erneuerte 
Basilica  Neptuni,  auch  IIooeLÖojviov  genannt  (Can.  H  147),  ein  zur  Villa 


124)  Overbeck-Mau  a  0.  Fig.  273  b  u.  S.  149.—  125)  Mon.  ined.  a.  0.  Fig.  7. — 
126)  Canina  a.  0.  VI  46,8.—  127)  Lübke,  Grundriss  d.  Kunstgescb.  ",  1892,  I  221  f). 
—  128)  Can.  VI  135, 1;  sehr  gut  bei  Ebe.  —  129)  Can.  VI  116,4  u.  117, 1.  —  130)  Can.  II 
100  u.  101. 

23* 


356  Fbanz  Olob: 

Hadriana  in  Tibur  gehöriges  Privathaus  (VI  174),  die  Poriicus  von  dem 
Tempel  Veneris  et  Romae  aus  dem  J.  135  (11  54,  11),  der  Tempel  des 
Antoninus  und  der  Faustinadl  25),  der  der  Juno  (11  139,  Ij  und  die  dazu 
gehörige  Porticus  Octaviae  (ü  138  u.  140,  1  u.  4),  beide  von  Angustus  er- 
baut, im  J.  70  durch  Brand  zerstört  und  203  wieder  aufgebaut;  der  unter 
Severus  und  Caracalla  restaurierte  Tempel  des  Vespasian  (II  34),  der  im 
J.  8  V.  Chr.  erbaute,  aber  wohl  von  Caracalla,  besonders  was  die  hierher 
gehörigen  Kompositsäulen  betrifft,  umgestaltete  Bogen  des  Drusus  (IV  244), 
der  von  Cäsar  in  der  Schlacht  von  Pharsalos  gelobte,  aber  wohl  wie  das 
ganze  Forum  lulium  unter  Diocletian  durch  Brand  beschädigte  und  von 
diesem  wieder  hergestellte  Tempel  der  Venus  Genetrix  (11  94),  die  Thermen 
des  Diocletian  (IV  217,  1  u.  2)  und  die  des  Constantin  (11  48).  —  Selten 
ist  dieses  Blatt  an  andern  Baugliedem  verwandt,  wie  z.  B.  an  den  Krag- 
steinen des  Tempels  der  Venus  Genetrix  (II  94,  1). 

Neben  dieser  Art  ging  eine  mehr  naturalistische  und  lebendigere  Auf- 
fassung her,  welche  teils,  wohl  durch  griechische  Künstler  vertreten,  sich 
an  den  griechischen  Akanthus  hielt,  teils,  wohl  durch  römische  vertreten, 
von  jenem  besonders  dadurch  abwich,  dass  die  Spitzen  der  Zacken  mehr 
abgerundet  wurden.  Die  erstere  ist  nur  an  wenigen  Denkmälern  hin- 
reichend deutlich  zum  Ausdruck  gekommen.  Dahin  gehören  das  Kapital 
des  Bogens  zu  Orange  (Baum.  Fig.  1988)  und  das  Pilasterkapitäl  vor  dem 
Grabmal  des  Cotta  (Can.  VI  41,  2),  sowohl  jenes  als  auch  vielleicht  dieses 
aus  der  Zeit  des  Tiberius,  die  Säulenkapitäle  des  Dioskurentempels  zu 
Cori  (Ebd.  VI  100,  1)  aus  der  Zeit  des  Kaisers  Claudius  (ebd.  V  82),  die- 
jenigen des  der  Vesta  oder  dem  Hercules  Victor  geweihten  Kundtempels 
in  Rom  (II  64 ;  auch  bei  Ehe)  unbestimmter  Zeit ;  Guillaume  führt  noch 
den  Tempel  im  Vemegues  des  Departements  Bouche  du  Rhone  und  das 
Posticum  des  Tempels  Augustae  et  Liviae  zu  Vienne  Dep.  Isere  an.  An  den 
Pilastern  von  dem  Grabmal  des  Cotta  und  den  Säulen  zu  Cori  sind  schon 
die  Lappen  übereinander  geschlagen,  ebenso  nach  der  wohl  nicht  zuver- 
lässigen Abbildung  bei  Canina  auch  am  sog.  Vestatempel  zu  Rom. 
Ganz  naturalistisch  nach  dem  Vorbilde  von  Ac.  spin.  ist  der  Blätterschmuck 
auf  einer  im  Vaticanischen  Museum  befindlichen  römischen  biga  (Abb.  bei 
Ehe).  Auch  in  Pompeji  ist  das  Blatt  an  mehreren  Kapitalen  ziemlich 
spitz  stilisiert ;  an  einigen  derselben,  so  bei  dem  an  den  Säulen  des  Pronaos 
des  Juppitertempels  *^0»  wahrscheinlich  aus  der  2.  Hälfte  des  2.  Jahrh.  v.  Chr. 
(S.  95),  an  den  Pilasterkapitälen  von  Stuck  im  Isistempel  (Fig.  273  d) 
aus  der  Zeit  nach  63  n.  Chr.  (S.  104)  und  zwei  sog.  Phantasiekapitalen 


131)  Overbeck-Mau,  a.O.,  Fig.  27  Id. 


Der  Akanthus  der  Griechen  und  Römer.  357 

(Fig.  274,  4  u.  6)  schlagen  die  Lappen  gar  nicht  oder  doch  fast  gar  nicht 
übereinander,  während  dies  letztere  der  Fall  ist  bei  den  einer  späteren 
Restauration  angehörigen  (S.  504  u.  519)  Säulen  des  Venus-  oder  Apollon- 
tempels  (Fig.  264),  den  Stuckkapitälen  des  Tempels  des  Genius  Augusti 
oder  Quirini  (Fig.  273  c)  aus  dem  Ende  des  1.  Jahrh.  v.  Chr.  (S.  118), 
an  den  Marmorkapitälen  im  Gebäude  der  Eumachia  (Fig.  273  a)  aus  der 
ersten  Hälfte  des  1.  Jahrh.  n.  Chr.  (S.  131)  und  zwei  sog.  Phantasiekapitälen 
(Fig.  274,  2  u.  8). 

Häufig  ist  das  dem  vorigen  sehr  ähnliche  Blatt  mit  sichtlich  weicher 
abgespitzten  Zacken,  welches  daher  dem  Blatte  von  Ac.  mollis  näher 
steht,  an  Kapitalen  vertreten.  Damit  soll  nicht  gerade  gesagt  sein,  dass 
die  Römer  diese  Species  nachgebildet  hätten,  sondern  sie  mögen  schon 
von  den  Etruskern  her  gewohnt  gewesen  sein  an  die  Abrundung  der 
Blattspitzen;  Riegl  (S.  251)  freilich  glaubt,  dass  diese  Stilwandelung  der 
Zeit  des  entstandenen  römischen  Weltreichs  überhaupt  eigen  gewesen 
sei.  Die  Lappen  des  Blattes  sind  stets  an  den  Seiten  übereinander  ge- 
schlagen, die  Ösen  in  die  Länge  gezogen.  Wir  finden  es  an  dem  wahr- 
scheinlich dem  Tempel  des  Liber  und  der  Libera  zugehörigen  Komposit- 
kapitäle  aus  den  Regierungsjahren  des  Tiberius  (Can.  II 43),  an  den  Pilastem 
des  Pantheon  (II  73),  den  Säulen  und  Pilastem  des  Pulvinars  des  zur 
Villa  Hadriana  in  Tibur  gehörigen  griechischen  Theaters  (VI  151)  sowie 
an  den  Kompositsäulen  eines  zu  der  genannten  Villa  gehörigen  Privat- 
hauses (VI  174),  an  den  Säulenkapitälen  in  den  Thermen  des  Caracalla 
(IV  211, 4);  an  den  Kompositkapitälen  derselben  hat  das  Blatt  eine  gesägte 
Mittelrippe  (IV  211, 1  u.  2).  An  einigen  dieser  Kapitale  zerfällt  jeder 
Lappen  wieder  in  3  Lappen  mit  je  2 — 3  Zacken,  an  den  Kompositkapi- 
tälen von  dem  Bogen  des  Septimius  Severus  auf  dem  Forum  Romanum 
(IV  252)  vom  J.  203  mit  je  3—5  Zacken;  an  letzterem  ist  die  Mittelrippe 
teilweise  auch  durch  ein  verschmälertes  Blatt  ersetzt. 

Dieses  Blatt  mit  abgerundeten  Zacken  findet  sich  weiter  an  den 
Pilastem  von  dem  Bogen  des  Septimius  Severus,  des  sog.  Bogens  der 
Goldschmiede  auf  dem  Forum  boarium  (IV  254,  5)  vom  J.  204  und  des 
von  Septimius  Severus  vielfach  umgebauten  Hauses  des  Augustus  (IV  302) 
und  in  den  Thermen  des  Diocletian  an  den  Kompositkapitälen  von  dem 
Vestibül  der  grossen  Cella  (IV  217,  4);  an  letzterem  Beispiel  ist  die 
Mittelrippe  wieder  gesägt  und  die  einzelnen  Zackenspitzen  sind  ein  wenig 
umgebogen. 

Fast  ausnahmslos  ist  es  auch  dieses  Blatt,  mit  welchem  andere  Bau- 
glieder als  Kapitale  oder  mitunter  einzelne  Teile  der  letzteren  selbst  ver- 
ziert sind,  so  z.  B.  der  Echinos  an  den  Säulen  des  Grabmals  des  Caius 


358  Franz  Olck 

Cestius  aus  der  Zeit  des  Augustus  (Can.  IV  280,  4j  und  an  den  ionischen 
Säulen  des  Saturntempels  (II  35,  5)  vielleicht  aus  dem  Anfang  des  3.  Jahrh^ 
die  Säulenbasis  des  Tempels  der  Concordia  aus  der  Zeit  des  Tiberius 
(n  36),  die  Schnecken  an  den  Kompositkapitälen  des  Titusbogens  (IV  246) 
und  der  Palatinischen  Bibliothek,  an  letzterer  auch  das  Gesimse  (IV  296, 
3  u.  1),  Basis  und  Gesimse  von  dem  Piedestal  der  Trajanssäule  (IV  259, 
6  u.  7),  die  Kragsteine  am  Pantheon  (II  72),  die  Hohlkehle  am  Piedestal 
der  Säule  des  Antoninus  Pius  und  der  marmorne  Fuss  des  Umfriedigungs- 
gitters  derselben  (IV  261,  6  u.  5),  ein  Wulst  über  dem  Säulenfriese  vom 
Tempel  des  Vespasian  (11  34,  6),  einige  Stimziegel  von  Terrakotta  zu 
Tusculum  (VI  97,  1  u.  3 ;  98,  2  u.  3).  —  Femer  sind  hier  einige  Marmor- 
Kandelaber  zu  nennen  *^^). 

Wichtig  ist  noch  die  Verbindung,  welche  dieses  weicher  stilisierte 
Blatt  mit  der  Eanke  eingeht.  Während  die  griechische  Akanthusranke, 
wie  wir  sie  z.  B.  noch  an  einem  pompejanischen  Marmortische  sehen"*) 
streng  profiliert  ist,  zeigt  sich  die  römische  in  schräger  Projektion;  sie 
läuft  stets  in  eine  Blume  aus  und,  während  bei  der  griechischen  das 
Akanthusblatt  den  Rankenstengel  nur  vor  der  Gabelung  bekleidet,  zeigt  sich 
bei  den  römischen  der  Akanthus  auch  an  anderen  Stellen,  zunächst  näm- 
lich auch  hinter  der  Gabelung  und  dann  am  ganzen  Stengel,  diesen  mehr 
oder  minder  überwuchernd  oder  ganz  verdeckend.  Die  erstere,  einfachere 
und  gefälligere  Weise,  ist  vertreten  an  dem  Friese  des  Isistempels  zu 
Pompeji  ^^%  der  Wandverzierung  eines  Saales  der  dortigen  Thermen  (ebd. 
III  50,  1),  durch  eine  die  Apotheose  Homers  darstellende  silberne  Vase 
im  Museum  zu  Neapel"^),  durch  die  Verzierungen  einiger  Grabmäler  an 
der  Via  Appia"^),  am  Friese  des  Bogens  des  Septimius  Severus,  des  sog. 
Bogens  der  Goldschmiede  (11  254,  5),  an  den  Soffiten  der  Porticus  vom 
Tempel  der  Venus  Genetrix  (IE  94,  3).  —  Sehr  überladen  ist  dagegen  die 
Ranke  an  einer  Thüreinfassung  aus  dem  Chalcidicum  der  Eumachia  in 
Pompeji*"),  an  dem  Deckel  des  Sarges  an  der  Via  Appia,  welcher  ver- 
mutlich der  Caecilia  Metella,  Schwiegertochter  des  Triumvir  C.  Crassns, 
gehört"^),  an  einigen  Grabmälem  ebenda '^^),  an  den  Hohlkehlen  der  Säulen- 
architrave  des  Vespasiantempels  (11  34,  4  u.  5),  am  Friese  des  Innern 
der  Porticus  im  Norden  der  Basilica  Ulpia  (11  118,  3),  an  dem  Friese 
des  Trajantempels  auf  dem  Forum  Traiani  (II  119,  1),  an  einer  Wand 


132)  VI  172, 2  u.  3;  Baum.  Fig.  896—98  nach  Bouillon,  Mus^e des  antiques,  1810— 
27,111  pl.  lu.  3.  —  133)  Overbeck-Mau,  a.  0.  S.  422.  —  134)  F.  Mazois,  Les  ruines 
dePompöe,  1824—38,  IV  10,3.-135)  Millingen,  Ancient  unedit.  monum..  1826,  ser.II 
pl.  13.  —  136)  Can.  FV  287  oben;  VI  30, 2;  VI 31.  —  137)  Overb.-Mau  Fig.  275.  — 
138)  Can.  IV  290,2.  —  139)  Can.  IV  287. 


Der  Akanthus  der  Griechen  und  Römer.  359 

der  Villa  Hadriana  in  Tibur  (VI  172,  4),  am  inneren  Fries  des  Saturn- 
tempels (II 32, 5),  am  Friese  des  Tempels  der  Venus  Genetrix  (11 94, 1)  u.  s.  w. 
Endlich  ist  zu  erwähnen,  dass,  wie  schon  von  einem  Tempel  zu  Ephesos 
erwähnt  ist,  im  ursprünglichen  Lotus-Palmettenbande  die  einzelnen  Blätter 
des  Lotus  und  der  Palmette  akanthisiert  sind,  so  an  dem  Gesimse  der 
Umfassungsmauer  des  Forum  transitorium  aus  d.  J.  98  (II  107,  1)  und 
des  Bogens  des  Septimius  Severus  auf  dem  Forum  boarium  (II  254,  5j; 
eine  solche  Akanthisierung  zeigt  sich  aber  auch  und  zwar  der  Palmetten- 
und  Kelchblätter  schon  an  dem  Friese  von  dem  Grabmal  des  Cotta  etwa 
aus  der  Zeit  des  Tiberius  (VI  41,  2). 


XVI. 

über  die  Divination  in  der  Geschichtsschreibung  der 
römischen  Kaiserzeit. 

Von 

J.  Plew  (Strassburg  i.  E.) 

Friedländer  hat  in  der  Darstellung  der  religiösen  Zustände  der  Kaiser- 
zeit (Darst.  III  ^  S.  521  ff.)  den  Glauben  an  Vorausverkündigung  der 
Zukunft  unter  Nachweisung  seiner  verschiedenen  Formen  und  seiner  all- 
gemeinen Verbreitung  ausführlich  behandelt  und  daraus  die  notwendige 
Folgerung  gezogen,  dass  auch  in  den  ersten  Jahrhunderten  der  christlichen 
Zeitrechnung  in  der  römischen  Welt  ein  naiver,  reflexionsloser  Götter- 
glaube, als  der  die  notwendige  Voraussetzung  jenes  Glaubens  ist,  bei  der 
ungeheuren  Mehrzahl  der  Bevölkerung  weiterbestand.  Dieser  Glaube  an 
Weissagungen  nun  hat  auch  eine  stark  politisch  gefärbte  Seite,  msofem 
er  die  Politik  ständig  begleitete  und  beeinflusste,  auch  zu  politischen 
Zwecken  stark  benutzt  wurde.  Deshalb  nimmt  auch  der  Bericht  über 
die  prodigia  oder  omina,  d.  h.  über  politische  Prophezeiungen  aller  Art 
einen  erheblichen  Raum  in  der  Geschichtsschreibung  der  Kaiserzeit  ein. 
Ich  glaube,  dass  es  sich  verlohnt,  diese  jedenfalls  wichtigste  Gattung 
der  omina  gesondert  zum  Gegenstande  einer  kurzen  Erörterung  zu  machen. 

Es  ist  bezeichnend  für  römische  Auffassung  und  Denkart,  dass  die 
römische  Geschichte  mit  dem  Romulusomen  beginnt.  Während  die  pro- 
digia von  Polybius  nie  erwähnt  werden,  bilden  sie  einen  stehenden  Be- 
standteil der  gesamten  römischen  Geschichtsschreibung,  und  schon  in  der 
römischen  Stadtchronik  haben  sie  von  Anfang  an  nicht  gefehlt  Denn 
die  prodigia  geben  den  Götterwillen  kund,  und  von  dessen  Erforschung 
hat  nach  römischer  Auffassung  jede  rationelle  Staatsleitung  auszugehen 
und  auf  sie  sich  dauernd  zu  stützen.  Selbstverständlich  sind  zu  allen 
Zeiten  die  Götter  auch  von  Einzelnen  um  Kundgebungen  über  ihr  Wohl 
und  Wehe  angegangen  worden.  In  den  offiziellen  Aufzeichnungen  und 
demnach  auch  in  den  historischen  Darstellungen  der  Republik  handelte 


über  die  Divination  in  der  Geschichtsschreibung  der  römischen  Kaiserzeit.    361 

es  sich  aber  um  die  prodigia,  welche  das  Wohl  und  Wehe  des  Staates  in 
seiner  Gesamtheit  betrafen.  Daneben  treten  in  der  Übergangszeit  von 
der  Republik  zur  Monarchie  in  bestimmten  Darstellungen  prodigia  oder 
omina  auf,  die  sich  auf  das  Schicksal  eines  Einzelnen  beziehen,  und  zwar 
sind  es  die  Staatsmänner  selbst  gewesen,  welche  die  ihnen  gewordenen 
Zeichen  als  für  das  Staatswohl  wichtig  genug  ansahen,  um  sie  in  ihren 
Memoiren  zu  berichten.  Sulla,  der  direkte  Vorläufer  der  kaiserlichen  Ge- 
walt, eröffnet  hier  den  Reigen.  Er  war  persönlich  dem  Glauben  an  Vor- 
zeichen nicht  nur  aufs  eifrigste  ergeben,  wie  er  denn  dem  LucuUus,  dem 
er  seine  Memoiren  widmet,  riet,  nichts  für  so  sicher  zu  halten,  als  was 
ihm  die  Gottheit  im  Traum  verkündige,  sondern  er  hat  auch  Vorzeichen, 
die  in  seinem  Leben  eine  bedeutsame  Rolle  gespielt  hatten,  in  seinen 
Memoiren  aufgezeichnet*).  In  der  Geschichtsschreibung  der  Kaiserzeit 
findet  nun  ein  völliger  Umschwung  statt.  Mehr  und  mehr  treten  die 
Personen  auf  Kosten  der  Massen  in  den  Vordergrund,  vor  allem  die  eine 
Person,  auf  die  aller  Augen  gerichtet  waren,  um  die  sich  alles  drehte 
und  in  der  nun  das  Wohl  und  Wehe  des  Staates  verkörpert  war,  die 
Person  des  Kaisers,  aber  auch  alle  diejenigen  Personen,  welche  als 
Angehörige,  als  Freunde  und  Begleiter,  als  Beamte  des  Kaisers  seine 
Umgebung  bildeten  und  mit  Einsatz  des  Lebens  das  Spiel  um  die 
Herrschaft  der  Welt  wagten.  Da  begreift  es  sich,  wie  leidenschaft- 
licher Ehrgeiz  und  tötliche  Furcht  um  die  Wette  das  Geheimnis  der 
Zukunft  zu  enthüllen  suchten  und  mit  peinlicher  Sorgfalt  auch  auf 
alle  Zeichen  achtete,  die  ungesucht  Antwort  auf  Schicksalsfragen  zu 
geben  schienen.  Dies  spiegelt  sich  in  der  Geschichtsschreibung  deut- 
lich wieder;  die  allgemeinen  prodigia  treten  mehr  und  mehr  zurück, 
und  ihre  Stelle  nehmen  die  auf  Personen  bezüglichen  omina  ein,  unter 
denen  wiederum  die  auf  die  Person  des  Kaisers  bezüglichen  weitaus  die 
wichtigsten  sind.  Dieser  Umschwung  ist  auch  direkt  bezeugt.  Livius 
sagt"),  dass  seine  Zeit  in  Beziehung  auf  Zeichen  und  Wunder  völlig  un- 
gläubig und  ^leichgiltig  sei,  und  dass  daher  prodigia  weder  öffentlich  be- 
kannt gemacht  noch  in  die  Geschichtsbücher  aufgenommen  würden. 
Wenn  nun  die  Geschichte  des  Augustus  im  schärfsten  Gegensatze  dazu 
von  Zeichen  und  Wundern  überfliesst,  so  ist  der  Umschwung  unter 
Augustus  eingetreten,  und  zwar  ist  er  selbst  die  Ursache  desselben. 
Augustus  ist  auf  religiösem  Gebiet  überall  als  Restaurator  aufgetreten, 
und  der  Weissagungsglaube  war  das  wesentlichste  Stück,  auf  das  sich 
diese  Restauration  richtete.    Ausserdem  war  er  für  diesen  Glauben  leiden- 

1)  Plut.  Sulla  6  =  Luculi.  23.  Cic.dediv.I  §72.  Plut.SuU.  17.  ibid.  27. 

2)  XLIII,  13. 


362  J.  Plew 

schaftlich  eingenommen;  in  welchem  Grade  aber  überhaupt  entschieden 
ausgesprochene  Ansichten  und  Grundsätze,  Neigungen  und  Liebhabereien 
der  Kaiser  für  Rom,  ja  für  die  Welt  bestimmend  gewesen  sind,  hat 
Friedländer  (Darst.  I*  S.  71  ff.)  gezeigt.  Endlich  hat  Augustus  die  für 
sein  Leben  wichtigen  omina  auch  in  seine  Autobiographie  aufgenommen*), 
auf  sein  Vorbild  also  ist  die  stehende  Rubrik  der  persönlichen  omina  in 
der  Kaisergeschichtsschreibung  zurückzuführen.  Der  Glaube  an  Astrologie 
kommt  zwar  schon  in  den  letzten  Zeiten  der  Republik  auf,  begegnet  hier 
aber  noch  sehr  geteilter  Aufnahme.  Zwar  hingen  ihm  hochbedeutende 
Männer,  wie  Varro,  an,  im  ganzen  darf  man  aber  nach  den  Urteilen  Ciceros 
und  nach  dem  angeführten  Zeugnis  des  Livius  sagen,  dass  die  Mehrzahl 
sich  dagegen  ablehnend  verhielt.  Das  Beispiel  und  Vorbild  des  Kaisers 
aber,  der  über  den  Kometen  des  Jahres  44  ausführlich  berichtete  und  die 
Verehrung  desselben  anordnete^),  der  ferner  seine  Nativität  öffentlich  be- 
kannt machte  und  durch  Münzen  und  Gemmen  verewigte^),  musste  den 
Sieg  der  Astrologie  mit  Leichtigkeit  entscheiden,  und  allein  die  Art,  wie 
die  augusteischen  Dichter  den  Kometen  des  Jahres  44  behandelt  haben, 
zeigt  deutlich,  wie  eifrig  die  Welt  den  Neigungen  und  Wünschen  des 
Kaisers  entgegenkam. 

Aber  es  musste  noch  ein  Zweites  hinzukommen,  um  dem  von  August 
gegebenen  Anstoss  auch  über  seine  Zeit  hinaus  Wirkung  zu  verleihen. 
Das  war  der  Glaube  an  ein  von  Anfang  an  verhängtes  unwandelbares 
und  unentrinnbares  Schicksal,  das  über  dem  Ganzen  wie  über  dem  Einzelnen 
waltet.  Das  Schicksal  des  Einzelnen  wird  in  der  Stunde  der  Geburt  durch 
die  damals  eingetretene  Konstellation  festgelegt,  von  da  ab  steht  sein 
ganzes  Leben  unter  der  Herrschaft  der  Necessitas,  die  Götter  kümmern  sich 
nicht  mehr  um  ihn,  es  wäre  auch  nutzlos,  da  sie  gegen  das  Schicksal 
ebensowenig  vermögen  als  die  Menschen.  Nur  das  haben  sie  vor  den 
Menschen  voraus,  dass  sie  das  Schicksal  wissen  und  es  dem  Menschen, 
wenn  sie  wollen,  verkündigen  können.  Dieser  Glaube  entwickelte  sich 
als  Folge  der  grossen  politischen  Umwälzung  erst  in  der  Generation  nach 
Augustus,  breitete  sich  dann  aber  reissend  schnell  aus.  Plinius  sagt^): 
sedere  coepit  sententia  haec  (nämlich  der  eben  erwähnte  Glaube),  pariterque 
et  eruditum  vulgus  et  rüde  in  eam  cursu  vadit.  Ecce  fulgurum  monitus, 
oraculorum  praescita,  haruspicum  praedicta  atque  etiam  parva  dictu,  in 


1)  Die  Belege  habe  ich  im  Anhange  zu  meinen  Quellenuntersuchungen  zur  Ge- 
schichte des  Kaisers  Hadrian  S.  112  ff.  gegeben.  S.  114  A.  l  ist  auch  der  scheinbare 
Widerspruch  der  Stelle  Liv.  44, 13  und  der  Thatsache,  dass  Livius  aus  der  Autobio- 
graphie des  Aug.  omina  ausgezogen  hat,  gelöst. 

2)  Plin.  h.  n.  U,  94.  3)  Suet.  Aug.  94.  Dio  56,  25.  4)  h.  n.  II  23  f. 


über  die  Divination  iu  der  Geschichtsschreibung  der  römischen  Eaiserzeit.    363 

auguriis  sternumenta  <it  offensiones  pedum.  Divus  Augustus  prodidit 
laevum  sibi  calceum  praepostere  inductum,  quo  die  seditione  militari  prope 
afflictus  est. 

Coepit  kann  sich  nicht  auf  eine  um  70  Jahre  zurückliegende,  sondern 
nur  auf  die  vom  Verfasser  selbst  erlebte  Zeit  beziehen.  Es  ist  leicht  er- 
klärlich, warum  dem  Plinius  diese  allgemeine  Ursache  als  die  einzige  er- 
schien, da  er  die  Einwirkung  des  Augustus  nicht  erlebt  hatte,  und  da  die 
allgemeine  Ursache  in  der  That  bei  weitem  wichtiger  für  die  immer 
wachsende  Herrschaft  des  Wahrsagerwesens  wurde.  Das  Beispiel  des 
August  führt  Plinius  einmal  deshalb  an,  weil  es  litterarisch  überliefert  war, 
sodann  deshalb,  weil  weiter  als  bei  Augustus  der  Glaube  an  Vorbedeutungen 
nicht  gehen  konnte  und  nie  gegangen  ist. 

Wie  verhielten  sich  nun  die  Geschichtsschreiber  zu  diesem  Glauben? 
Plinius  verwarf  ihn,  wie  wir  eben  gesehen  haben,  da  er  den  Götterglauben 
überhaupt  verwarf,  jedoch  mit  einer  Ausnahme.  Die  Natur  war  ihm  „das, 
was  wir  Gott  nennen",  und  so  erkennt  er  gewisse  Naturerscheinungen  als 
Vorzeichen  an,  vor  allem  Kometen^),  und  er  beruft  sich  darauf,  dass  er 
in  seinem  Geschichtswerk  darüber  berichtet  habe'').  Doch  nicht  nur  über 
diese,  sondern  überhaupt  über  Vorzeichen,  die  auf  politische  Umwälzungen 
hindeuteten,  hat  er  berichtet,  wie  denn  die  omina  des  Vierkaiserjahres, 
die  den  Fall  Othos  und  den  Sieg  Vespasians  ankündigten,  von  Tacitus, 
Plutarch  und  Sueton  aus  Plinius'  Geschichtswerk  entnommen  sind^).  Wir 
sehen  also  bei  Plinius,  wie  eine  übermächtige  Zeitströmung  einen  Schrift- 
steller zwingt,  sich  an  den  Äusserungen  eines  Glaubens  zu  beteiligen,  den 
er  im  Grunde  verwirft. 

Am  wichtigsten  und  interessantesten  ist  die  Stellung,  die  Tacitus  zum 
Weissagungsglauben  einnimmt^).  Tacitus  unterscheidet  sich  dadurch  grund- 
sätzlich von  Plinius,  dass  er  dem  Glauben  an  das  unabänderliche  Fatum, 
den  Plinius  mit  Geringschätzung  verwirft,  unbedingt  huldigt  Danach 
sollte  man  meinen,  dass  er  dem  Glauben  an  Weissagungen  ebenso  un- 
bedingt huldige.  Nach  seinen  Äusserungen  darüber  kann  man  das  aber 
zunächst  nicht  sagen.  Er  hat  sich  mit  der  Frage,  was  von  der  Weissagung 
zu  halten  sei,  viel  beschäftigt,  sie  macht  ihm  ersichtlich  besonderes  Kopf- 
zerbrechen; aber  zu  einem  bestimmten  Ergebnis  ist  er  nicht  gelangt,  ja 


1)  h.n.  II  92,94.  2)  ibid.  II  199,232.  3)  Für  Tac.  bist.  I,  86  und  Plut. 

Otho4  hat  Nissen  dies  erwiesen,  Rhein.  Mus.  XXVI  p.  513.  Tac.  h.  II  78  und  Suet. 
Vesp.  5  stammt  offenbar  aus  derselben  Quelle.   Sueton  ist  wieder  von  Dio  benutzt. 

4)  Nipperdey,  Einl.  S.  XIV  tf.  hat  darüber  gehandelt.  Doch  bedürfen  seine  Aus- 
führungen der  Ergänzung. 


364  J.  Plew 

seine  Äusserungen  darüber  sind  nicht  nur  unbestimmt,  sondern  auch  in- 
konsequent. 

Tacitus  unterscheidet  zwischen  den  gewerbsmässigen  Wahrsagern  und 
der  Wahrsagekunst.  Von  jenen  spricht  er  mit  Verachtung,  ihr  charla- 
tanisches,  betrügerisches  und  dabei  staatsgefährliches  und  hochverräterisches 
Treiben  erfüllt  ihn  mit  Entrüstung.  Er  nennt  sie  eine  Menschenart,  die 
den  Mächtigen  treulos,  für  die  Hoffenden  betrügerisch  und  für  Fürstenehen 
der  schlechteste  Hausrat  ist*),  die  Nichtigkeiten  treibt*)  und  direkt  zum 
Verbrechen  anfeuert').  Doch  giebt  es  auch  Ausnahmen,  und  als  eine 
solche  lässt  er  den  Thrasyllus,  der  den  Tiberius  in  der  Astrologie  unter- 
wiesen hatte,  gelten.  An  die  Probe  nun,  welche  Tiber  mit  ihm  anstellt, 
und  welche  Thrasyllus  besteht,  knüpft  Tacitus  eine  allgemeine  Betrachtung 
über  die  Glaubwürdigkeit  der  gesamten  Wahrsagerei  "^j.  Er  weiss  nicht, 
was  er  urteilen  soll  (mihi  in  incerto  iudicium  est),  weil  die  Ansichten  der 
Philosophen  sich  schroff  entgegenstehen.  Während  die  Epikuräer  den 
Glauben  an  Weissagung  ganz  verwerfen,  weil  die  Götter  sich  um  die 
Menschen  überhaupt  nicht  kümmern  und  die  Welt  unter  der  Herrschaft 
eines  blinden  Ungefähr  stehe,  glaubten  die  Stoiker  an  die  Weissagung, 
weil  die  Zukunft  durch  Schicksal  feststehe,  so  dass  die  Vorherbestimmung 
durch  die  folgenden  Ereignisse  erfüllt  werde.  Aber  nicht  von  den  Planeten 
hänge  alles  Geschehen  ab,  sondern  von  den  ursprünglichen  Bestimmungen 
und  der  sich  daran  knüpfenden  Kausalkette.  „Jedoch",  schliesst  Tacitus, 
„lässt  es  sich  die  Mehrzahl  nicht  ausreden,  dass  gleich  bei  der  Geburt 
eines  jeden  Schicksale  bestimmt  werden  und  dass  die  Betrügereien  un- 
wissender Weissager  der  Grund  sind,  wenn  manches  anders  ausfällt,  als 
sie  gesagt  haben.  Dadurch  verliert  eine  Kunst  den  Kredit,  von  der 
Vergangenheit  und  Gegenwart  einleuchtende  Proben  auf- 
zuweisen haben."  Und  als  Beweis  führt  Tacitus  die  Prophezeiung  des 
Sohnes  des  Thrasyllus  auf  Nero  an^).  Wo  aber  war  das  Mittel,  die  echten 
und  falschen  Propheten  zu  unterscheiden?  Nipperdey  sagt,  „ebensowenig 
wie  den  Astrologen  wird  er  den  Zeichendeutern  vor  dem  Erfolg  geglaubt 
haben*'.  Dass  er  den  Erfolg  zum  Prüfstein  ihrer  Glaubwürdigkeit  macht, 
scheint  nach  folgenden  Stellen  allerdings  richtig.  Ann.  XII  64  heisst  es : 
cfebris  prodigiis  cognitum  est  mutationem  remm  in  deterius  portendi. 
Fahnen  und  Zelte  der  Soldaten  werden  vom  Blitz  getroffen,  ein  Bienen- 
schwarm hängt  sich  ans  Kapitol,  es  erfolgen  menschliche  und  tierische 


1)  bist.  I,  22.  2)  ann.  II 27  ioania. 

3)  bist.  I,  22  fin.  4)  ann.  VI  22. 

5)  ann.  XIV  9  fore  ut  imperaret  matremque  occideret. 


über  die  Divination  in  der  Geschichtsschreibung  der  römischen  Kaiserzeit.    365 

Missgeburten  und  zahlreiche  Todesfälle  von  Beamten.  Die  mutatio  in 
deterius,  der  Tod  des  Claudius,  tritt  ein.  Ann.  XIV  32  führt  er  als  pro- 
digia  an:  das  Herunterfallen  der  Victoria  zu  Camulodunum,  Geheul  von 
unsichtbaren  Stimmen,  in  der  Themse  habe  sich  die  Gestalt  einer  ein- 
geäscherten Kolonie,  im  Meer  Blutfarbe  gezeigt  und  die  Ebbe  habe  Leichen 
zurückgelassen.  —  Die  Römer  erleiden  wirklich  eine  grosse  Niederlage 
gegen  die  Brittannier.  Ann.  XV  7  rückt  der  römische  Feldherr  Paetus 
tristi  omine  in  Armenien  ein.  Sein  Pferd  scheut  ohne  Ursache  und  läuft 
zurück,  ein  Opfertier  bricht  aus  dem  Lager  aus,  endlich  werden  die  pila 
vom  Blitz  getroffen,  was  Tacitus  ein  besonders  bemerkenswertes  Vorzeichen 
nennt,  quia  Parthus  hostis  missilibus  telis  decertat.  Tacitus  deutet  das 
Vorzeichen  also  dahin,  dass  die  unterliegenden  Waffen  durch  den  Blitz 
bezeichnet  seien,  und  er  macht  dem  Paetus  die  Nichtbeachtung  dieser 
Vorzeichen  zum  Vorwurf.  Sie  wurden  durch  einen  durchweg  unglücklichen 
Feldzug  bestätigt.  Ann.  XV  47  werden  als  prodigia  imminentium  malorum 
nuntia  sehr  zahlreiche  Gewitter,  ein  Komet  (von  dem  es  schon  XIV  22 
heisst,  er  bedeute,  nach  der  Meinung  des  Volkes,  mutationem  regis),  Miss- 
geburten von  Menschen  und  Tieren  genannt,  darunter  ein  Kalb,  dessen 
Kopf  an  ein  Hinterbein  angewachsen  war,  und  das  an  der  Strasse  gefunden 
wurde,  was  den  Haruspices  zu  der  Deutung  Anlass  gab,  es  stehe  der  Welt 
ein  neues  Oberhaupt  bevor,  das  aber  weder  Kraft  haben  noch  verborgen 
sein  werde  —  Weissagungen  auf  das  Vierkaiserjahr  und  Galba  besonders. 
Hist.  I  18  heisst  es,  ungewöhnlich  frühe  Gewitter  hätten  Galba  warnen 
sollen,  aber  er  war  ein  Verächter  solcher  Dinge,  sei  es,  dass  er  sie  für 
zufällig  oder  das  vom  Schicksal  Bestimmte  trotz  der  Ankündigung  für  un- 
vermeidlich, d.  h.  Sühngebete  und  Opfer  zur  Abwehr  für  vergeblich  und 
unnütz  ansah.  Hist.  V  13  werden  die  prodigia  für  die  Zerstörung  Jerusalems 
angeführt:  Himmelserscheinung  gegen  einander  kämpfender  Heere,  hell- 
glänzende Waffen,  Erleuchtung  des  Tempels  durch  Feuer  aus  den  Wolken, 
die  Tempelthüren  sprangen  auf,  und  eine  starke  Stimme  rief,  die  Götter 
zögen  aus.  Dass  die  Stimme  excedere  deos,  nicht  deum  rief,  konnten 
die  Juden  ja  eher  als  ein  für  sie  günstiges  Vorzeichen  betrachten.  Tacitus 
aber,  der  daran  nicht  gedacht  zu  haben  scheint,  wirft  ihnen  wieder  vor, 
dass  sie,  die  dem  Aberglauben  so  ergeben  seien,  in  ihrer  Abneigung  gegen 
Zeremonien  (religiones)  es  nicht  versucht  hätten,  diese  unglücklichen  Vor- 
zeichen durch  Gelübde  zu  sühnen,  d.  h.  ihre  Folgen  abzuwenden.  Die 
Juden  vertrauten  vielmehr  auf  die  Weissagungen  ihrer  Propheten,  dass  der 
Orient  emporkommen  und  jüdische  Abkömmlinge  zur  Herrschaft  gelangen 
würden.  Tacitus  nimmt  auch  diese  Weissagung  an  und  deutet  sie,  um 
sie  mit  dem  Frfolg  in  Einklang  zu  bringen,  trotz  des  Ausdruckes  profecti 


366  J.  Plew 

ludaea  auf  Vespasian  und  Titus^).    Besonders  schlagend  erscheint  dem 
Tacitus  das  Vorzeichen  auf  den  Tod  des  Otho^). 

In  allen  diesen  Fällen  scheint  also  bei  Tacitus  der  Erfolg  über  die 
Echtheit  der  Vorzeichen  zu  entscheiden.  Dazu  scheint  auch  die  Stelle 
Ann.  XIV,  12  zu  stimmen.  Hier  werden  prodigia  crebra  et  irrita  er- 
wähnt. Ein  Weib  gebiert  eine  Schlange,  ein  anderes  wird  in  den  Armen 
ihres  Mannes  vom  Blitz  erschlagen,  die  Sonne  wurde  plötzlich  verfinstert 
und  es  schlug  in  sämtlichen  Regionen  der  Stadt  ein.  Diese  Ereignisse 
wurden  als  Vorzeichen  eines  öffentlichen  Unglücks  oder  einer  grossen 
Staatsumwälzung  angesehen.  Da  aber  nichts  dergleichen  erfolgte,  so 
nennt  Tacitus  sie  „erfolglose"  und  fügt  hinzu,  dass  sie  ohne  Mitwirkung 
der  Götter  geschehen  seien,  da  Nero  seine  verbrecherische  Herrschaft 
noch  viele  Jahre  fortsetzte.  Der  Ausdruck  prodigia  irrita  enthält  aber 
eine  contradictio  in  adjecto.  Denn  wenn  die  prodigia  nicht  Zukünftiges 
angekündigt  hatten,  so  waren  es  eben  keine  prodigia.  Nipperdey  meint 
freilich,  dass  Tacitus  sich  hier  gegen  den  gemeinen  Aberglauben  verwahren 
wolle,  der  in  jedem  auffallenden  Ereignisse  ein  Vorzeichen  sieht.  Das 
kann  aber  aus  den  Worten  prodigia  irrita  nebst  quae  adeo  sine  cura  deorum 
eveniebant  nimmermehr  entnommen  werden.  Tacitus  spricht  diese  Ver- 
wahrung allerdings  an  zwei  anderen  Stellen  aus,  da  drückt  er  sich  aber 
ganz  anders  aus.  Hist.  IV,  26  erzählt  er,  dass  der  Rhein  so  niedrigen 
Wasserstand  hatte,  dass  er  unbefahrbar  wurde  und  den  Germanen  be- 
quemsten Übergang  gewährte.  Dazu  setzt  er  hinzu :  Apud  imperitos  pro- 
digii  loco  accipiebatur  ipsa  aquarum  penuria,  tan  quam  nos  amnes  quoque 
et  vetera  imperii  monumenta  desererent.  Quod  in  pace  fors  seu  natura, 
tunc  fatum  et  ira  dei  vocabatur.  Hist.  I,  86  werden  die  Vorzeichen  auf 
Othos  Niederlage  aufgezählt:  die  biga  der  Victoria  auf  dem  Kapitol  habe 
die  Zügel  verloren,  aus  der  cella  des  Junotempels  sei  eine  Person  von 
übermenschlicher  Grösse  herausgekommen,  die  Bildsäule  Cäsars  habe  sich 
an  einem  klaren,  windstillen  Tage  von  Westen  nach  Osten  gewendet,  ein 
Stier  in  Etrurien  habe  geredet,  Tiere  hätten  Missgeburten  geworfen  et  plura 
alia,  rudibus  saeculis  etiam  in  pace  observata,  quae  nunc  tantum  in  metu 
audiuntur.     Sed  praecipuus  et  cum  praesenti  exitio  etiam  futuri  pavor, 


1)  Quae  pauci  (sc.  lodaeorum)  in  metum  trahebant :  pluribus  persuasio  inerat,  an- 
tiquis  litteris  contineri,  eo  ipso  tempore  fore,  ut  valesceret  Oriens  profectique  ludaea 
rerum  potirentur.    Quae  ambages  Vespasianum  et  Titum  praedixerat. 

2)  Hist.  II,  56  Ut  conquirere  fabulosa  ei  fictis  oblectare  legentium  animos  procul 
gravitate  coepti  operis  crediderim:  ita  vulgatis  traditisque  demere  lidem  non  ausim. 
Der  Ausdruck  leisen  Zweifels  bezieht  sich  nicht  auf  das  omen,  sondern  auf  die  Erzäh- 
lung der  Einwohner  von  Bedriacum.  Ist  sie  richtig,  so  enthält  sie  nach  Tacitus  ein 
omen  ersten  Kauges,  wie  der  Erfolg  zeigt. 


über  die  Divination  in  der  Geschichtsschreibung  der  römischen  Kaiserzeit.    367 

subita  inundatione  Tiberis  ....  Utque  primnm  vacuus  a  periculo  animus 
fuit,  id  ipsum,  quod  paranti  expeditionem  Othoni  campus  Martins  et  via 
riaminia,  iter  belli,  esset  obstructum  a  fortuitis  vel  naturalibus 
caussis  in  prodigium  et  omen  imminentium  cladinm  verte- 
batnr.  Diesen  Stellen  gegenüber  ist  die  Behauptung,  dass  Tacitus  die 
Glaubwürdigkeit  der  omina  vom  Erfolge  abhängig  mache,  nicht  mehr  halt- 
bar. Denn  trotz  des  Erfolges  sieht  Tacitus  in  diesen  Ereignissen  keine 
Vorzeichen,  weil  sie  auf  zufälligen  oder  natürlichen  Ursachen  beruhen.  Es 
braucht  nicht  gezeigt  zu  werden,  dass  das  auf  die  von  Tacitus  anerkann- 
ten omina  vielfach  auch  zutrifft.  Man  kann  auch  nicht  sagen,  dass  die 
zuletzt  angeführten  Vorzeichen  auf  unbedeutenderen  Anlässen  beruhten 
als  jene.  Eine  Tiberüberschwemmung  war  für  Kom  jedenfalls  bedeutungs- 
voller als  ein  Gewitter,  das  Tacitus  doch  stets  als  prodigium  gelten  lässt. 
Auch  ist  die  Deutung  des  niedrigen  Wasserstandes  im  Rhein,  als  Hessen 
nun  auch  die  alten  Schutzwehren  des  Reiches  das  römische  Volk  im 
Stiche,  so  ganz  im  Sinne  der  Divination,  dass  man  sie  durch  kein  Bei- 
spiel besser  illustrieren  könnte.  Ann.  XII.  43  lässt  er  dann  wieder  sehr 
viel  gewöhnlichere  Erscheinungen,  denen  die  caussae  fortuitae  vel  natu- 
rales gewiss  nicht  abgesprochen  werden  können,  als  prodigia  gelten^). 

Doch  wenn  man  diesen  Schwankungen  und  Unebenheiten  auch  kein 
besonderes  Gewicht  beimisst,  was  heisst  es  denn,  den  Glauben  an  die 
Weissagung  vom  Erfolge  abhängig  machen  ?  Heisst  das  nicht  der  Weis- 
sagung jeden  Kredit  absprechen?  Was  wurde  denn  aus  dem  Glauben, 
wenn  die  Weissagung  den  Erfolg  von  einer  vorher  zu  erfüllenden  Bedingung 
abhängig  machte,  wie  z.  B.  in  der  Prophezeiung  Diocletiane,  eris  Im- 
perator, cum  Aprum  occideris?^)  Das  kann  die  Meinung  des  Tacitus 
nicht  gewesen  sein.  Vielmehr  hat  er  an  Weissagungen  auch  vor  dem 
Erfolge  geglaubt.  Das  geht  mit  Sicherheit  daraus  hervor,  dass  er  an 
die  Möglichkeit  der  Sühnung  ungünstiger  Vorzeichen,  d.  h.  der  Abwendung 
der  durch  sie  verkündigten  unglücklichen  Ereignisse  glaubt.  Er  tadelt 
den  Paetus  und  Galba,  dass  sie  die  Sühnung  unterlassen,  und  nimmt  dem 
jüdischen  Volk  gegenüber  diesen  Glauben  geradezu  als  höheren  religiösen 
Standpunkt  in  Anspruch.  Eben  deshalb  ist  aber  auch  die  obige  Behaup- 
tung gerechtfertigt,  dass  seine  Stellung  zu  den  Vorzeichen  im  einzelnen 
inkonsequent  ist.  Ein  fester  leitender  Gesichtspunkt  lässt  sich  in  seiner 
Kritik  der  Vorzeichen  nicht  nachweisen,  ein  solcher  ist  freilich  auch  kaum 
denkbar,  denn  Glaube  und  Kritik  vertragen  sich   eben  nicht.    Tacitus 


1)  multa  eo  anno  prodigia  evenere.  Insessum  diris  avibus  Capitolium,  crebris 
terrae  motibus  prorutae  domus  .  .  .  Frugum  quoque  egestas  et  orta  ex  eo  fames  in 
prodigium  accipiebatur.  2)  Vop.  Car.  14,3. 


368  J.  Pr^BW 

wollte  unzweifelhaft  gegen  den  Schwindel,  der  mit  der  Weissagung  ge- 
trieben wurde,  Front  machen.  Deshalb  beurteilt  er  die  Zunft  der  Weis- 
sager so  verächtlich.  Aber  auch  unter  ihnen  erkennt  er  Ausnahmen  an. 
Auch  hier  ist  es  also  unmöglich,  eine  bestimmte  Scheidelinie  zu  ziehen. 
Unerweislich  ist  endlich  auch,  dass  der  Glaube  an  Weissagungen  mit  den 
Jahren  bei  Tacitus  eine  Steigerung  erfahren  habe').  Denn  wenn  er  in 
den  Annalen  die  Vorzeichen  auch  erst  vom  Jahre  51  an  berichtet,  so  hat 
er  sie  in  den  Historien  von  Anfang  an  berücksichtigt,  und  schon  im  Agricola 
(c.  44)  erwähnt  er  mit  gläubiger  Ehrfurcht  ein  augurium  seines  Schwieger- 
vaters auf  das  „glückselige  Zeitalter"  Trajans.  Es  lässt  sich  also  nur  sagen, 
dass  Tacitus  den  Glauben  an  die  Weissagung  unter  einiger  Eeserve,  die 
ihm  kritisch  zu  begründen  nicht  geglückt  ist,  geteilt  hat 

Bei  den  Nachfolgern  des  Tacitus  ist  von  einem  Zweifel  an  Vorzeichen, 
welcher  Art  sie  auch  waren,  nicht  mehr  die  Rede  ^),  vielmehr  der  Bericht 
darüber  eine  wichtige  Angelegenheit.  Aber  wie  neben  dem  Genius  des 
römischen  Volks  der  Genius  des  Kaisers  Gegenstand  des  öffentlichen  Kultus 
geworden  war,  wie  das  öffentliche  Wohl  und  Wehe  durchaus  abhing  und 
ausstrahlte  von  dem  Wohl  und  Wehe  des  Kaisers,  so  erscheinen  den  Ge- 
schichtsschreibern der  späteren  Kaiserzeit  auch  fast  ausschliesslich  solche 
Vorzeichen  berichtenswert ,  welche  das  Wohl  und  Wehe  des  Kaisers  an- 
gingen, und  unter  diesen  wieder  vor  allem  die  omina  futurae  magnitu- 
dinis  und  die  omina  mortis,  d.  h.  die  Vorzeichen,  welche  die  Regierung 
des  Kaisers  schon  vorher  angekündigt  hatten  und  welche  einen  bevor- 
stehenden Thronwechsel  ankündigten.  Wir  haben  beide  Arten  schon  bei 
Tacitus  kennen  gelernt,  und  Tacitus  sagt  auch^),  dass  das  Publikum  an 
nichts  mehr  Interesse  nahm  und  nichts  eifriger  besprach,  als  derartige 
Vorzeichen,  was  bei  dem  allgemeinen  Glauben  daran  sehr  begreiflich  ist 
Als  besondere  Arten  ausgesondert  hat  sie  zuerst  Sueton  in  seiner  rubri- 
zierenden Darstellungsweise,  die  er  in  der  vita  des  Augustus  einführt*), 
und  Sueton  wiederum  ist  durch  Augustus  selbst  darauf  geführt  worden. 


1)  Friedländer,  Darst.IIP  S.  523. 

2)  Die  einzige  Bemerkung ,  welche  kritisch  aussieht,  Herodian  II,  9, 3  dvsnsi&s 
öh  avzbv  ovELQaxa  zoiavzrji'  ziva  iXniöa  vnoatjfiaivovza ,  /p^a/zo/  ze  xal  oaa  ig 
TtQÖyvioOLV  zdiv  /jtsXXovzwv  av[xßoXa  ^alvszai'  ansQ  ndvza  dipevöij  xal  aXfjd-rj 
zozs  niaz8vezai,  ozav  ig  zrjv  dnoßaaiv  svzvxrjS^y ,  richtet  sich  gegen  die  von  Sever 
veröffentlichten  Vorzeichen,  wobei  die  Absicht  doch  gar  zu  deutlich  war. 

3)  Hist.  II78  über  die  omina  auf  Vespasians  Herrschaft:  has  ambages  et  statim 
exceperat  fama  et  tunc  aperiebat,  nee  quicquam  magis  in  ore  vulgi. 

4)  Suet.  Aug.  94.  Et  quoniam  ad  haec  ventum  est,  non  ab  re  fuerit  subtexere, 
quae  ei  priusquam  nasceretur  et  ipso  natali  die  ac  deinceps  evenerint,  quibus  futura 
maguitudo  eius  et  perpetua  felicitas  sperari  animadvertique  posset.  Die  omina  futurae 
magnitudinis  reichen  bis  zum  Jahre  44,   die  om.  perpetaae  felicitatis  beziehen  sich 


über  die  Divination  in  der  Geschichtsschreibung  der  römischen  Kaiserzeit.     369 

Schon  er  hatte  in  seiner  Autobiographie  diese  omina  ausführlich  verzeich- 
net, und  der  politische  Zweck,  den  er  dabei  im  Auge  hatte,  ist  klar :  wie 
er  im  monumentum  Ancyranum  die  staatsrechtliche  Legitimität  seiner 
Herrschaft  darzuthun  bemüht  ist,  so  wollte  er  in  der  Autobiographie  durch 
die  Fülle  der  Zeichen  und  Wunder  ihre  göttliche  Legitimität  eindringlich 
verkündigen*).  Hadrian  und  Septimius  Severus  haben  ihn  darin  nach- 
geahmt, und  ihre  Autobiographien  sind  von  Cassius  Dio  und  Marius 
Maximus  auch  für  diesen  Punkt  benutzt  worden^).  Aber  nicht  nur  die 
Kaiser  selbst,  sondern  auch  andere  Personen  haben  solche  politischen 
omina  gleichzeitig,  d.  h.  noch  zu  Lebzeiten  des  betreffenden  Kaisers  in 
besonderen  Schriften  oder  in  Schriften  über  die  Weissagung  oder  endlich 
in  biographischen  Darstellungen  aufgezeichnet.  Bekanntlich  hat  Dio  seine 
schriftstellerische  Laufbahn  mit  einem  Buch  über  die  Träume  und  Vor- 
zeichen, welche  die  Herrschaft  Severs  voraus  verkündigten,  eröffnet').  Julius 
Marathus,  welcher  von  Sueton  für  ein  omen  auf  August  citiert  wird,  war 
Freigelassener  des  August^).  Aber  auch  die  beiden  anderen,  sonst  un- 
bekannten Schriftsteller,  welche  Sueton  an  derselben  Stelle  anführt,  Ascle- 
piades  aus  Mendes,  Verfasser  von  libri  Theologumenon ,  und  C.  Drusus 
müssen  unter  August  geschrieben  haben;  sie  werden  offenbar  als  gleich- 
zeitige Zeugen  angeführt.  Von  dem  Platoniker  Apollonius  Syrus,  der  ein 
Orakel  auf  Hadrians  Herrschaft  zuerst  aufgezeichnet  hat,  ist  es  so  gut 
wie  sicher,  dass  er  unter  Hadrian  gelebt  haf^). 


auf  die  Erfolge  in  den  Kämpfen  um  die  Herrschaft  bis  zum  Jahre  31,  dienen  also 
zur  Bestätigung  der  früheren  omina.  Deshalb  kommt  diese  Art  von  Vorzeichen  bei 
den  folgenden  Kaisern  nicht  in  Frage. 

1)  Vgl.  meine  Quellenuntersuchungen  zur  Gesch.  d. Kaisers  Hadrian  S.  lllfiF. 

2)  Hadr.  3, 5  in  quo  magistratu  ad  perpetuam  tribuniciam  potestatem  omen  sibi 
factum  adserit,  quod  paenulas  amiserit,  quibus  uti  tribuni  plebis  pluviae  tempore 
solebant,  imperatores  autem  nunquam.  Herodian  H,  9, 4  za  (jlsv  ovv  noXXä  (sc.  Sever 
die  auf  seine  Herrschaft  hindeutenden  Vorzeichen)  laxoQriaev  avzog  te  avyygdyjag 
iv  t(p  xaO-^  havxov  ßiut  xal  drjfioaiaig  dvi&Tjxsv  slxöai. 

3)  Dio  72,  23  ßißXLov  xl  negl  ztüv  ovHQaxtov  xal  xuiv  aijfzslwv  ä  '  wv  6  SsovFjqoq 
rrjv  avTOXQaxoQa  CLQxh'^  rjXniae ,  y^dipag  iÖTjinoolevaa  xal  avtä)  xal  ixstvog  7tsfi<p&£VTi 
TcaQ^  ifiov  ivzvx^v  nokkd  ßot  xal  xakd  avTETiiareiXs. 

4)  Suet.  Aug.  94  Auetor  est  lulius  Marathus,  ante  paucos  quam  nasceretar  menses 
prodigium  Romae  factum  publice,  quo  denuntiabatur,  regem  P.  R.  naturam  paturire; 
cf.  Aug.  78  staturam  brevem  (sc.  Augustus  habuit),  quam  tarnen  lulius  Marathus,  liber- 
tus  et  a  memoria  eins,  quinque  pedum  et  dodrantis  fuisse  tradit.  £r  scheint  danach 
eine  Biographie  des  August  geschrieben  zu  haben. 

5)  Spart.  Hadr.  2,  9  habuit  autem  praesumptionem  imperii  mox  futuri  ex  fano 
quoque  Niceforii  lovis  manante  responso  quod  Apollonius  Syrus  Platonicus  libris  suis 
indidit  vgl.  die  Anm.  von  Casaub.  und  Salm.  Das  Orakel  des  lup.  Niceforius  war 
bei  Edessa.  Der  Ausdruck  libris  suis  indidit  hat  nur  Sinn  von  dem  Ersten,  welcher 
jenes  Orakel  litterarisch  überliefert  hat. 

24 


370  J.  Plbw 

Alle  solche  ersten  Aufzeichnungen  von  Vorzeichen  standen  unter  dem 
Einfluss  der  Tagesereignisse  und  des  Tagesgesprächs.  Welche  Rolle  das 
letztere  bei  der  Überlieferung  der  omina  spielte,  zeigt  Tacitus  an  mehreren 
Stellen.  Vor  allem  lehrreich  ist  die  schon  angeführte  Stelle  Hist.  H  78. 
Die  Freunde  weisen  Vespasian  auf  die  neuen  Prophezeiungen  hin,  und 
er  selbst  erinnert  sich  an  die  alten  Vorzeichen.  „Diese  hatte  das  Tages- 
gespräch damals  gleich  aufgegriffen  und  deutete  sie  jetzt ;  und  nichts  ist 
mehr  im  Munde  des  Volkes."  Aus  dem  Tagesgespräch  also  hat  Plinius, 
den  Tacitus  und  Sueton  für  diese  omina  Vespasians  benutzt  haben,  auf- 
gezeichnet. In  ähnlicher  Spannung,  wie  im  Vierkaiserjahr,  war  Rom  während 
der  Kämpfe,  die  der  Regierung  Severs  vorhergingen.  Mit  Sever  hatte  sich 
die  öffentliche  Meinung  schon  unter  Commodus  beschäftigt,  da  er  schon 
als  Prokonsul  Siciliens  in  einen  Majestätsprozess  wegen  Befragung  der 
Weissager  verwickelt  gewesen  war^);  mit  seinem  steigenden  Ruhm')  wurden 
die  Vorzeichen,  welche  auf  seine  Herrschaft  hindeuteten,  immer  eifriger 
besprochen,  und  sie  waren  so  zahlreich  und  mannigfaltig,  dass  Dio  dadurch 
wie  durch  das  allgemeine  Interesse  des  Publikums  an  diesen  Vorzeichen 
auf  den  Gedanken  gekommen  sein  muss,  die  erwähnte  Schrift  zu  ver- 
fassen und  zu  veröffentlichen.  Jedenfalls  kann  er  sich  dabei  nur  auf  münd- 
liche Berichte  gestützt  haben ^). 

Dass  die  Vorzeichen  immer  der  gleichzeitigen  mündlichen  Tradition 
entstammen,  dafür  spricht  noch  ein  Umstand.  Es  werden  Fälle  berichtet, 
in  denen  die  nächsten  Angehörigen  eine  Prophezeiung,  dass  ein  Nach- 
komme den  Thron  erlangen  werde,  verwerfen.  Der  Grossvater  Galbas  ant- 
wortete auf  eine  solche  Prophezeiung:  Sane  cum  mula  pepererit^).  Die 
Grossmutter  Vespasians  erklärt  dem  Sohne  auf  seine  Versicherung,  dass 
ihr  nach  einem  Vorzeichen  ein  kaiserlicher  Enkel  geboren  sei,  sie  wundere 
sich,  dass,  während  sie  selbst  noch  bei  Verstände  sei,  ihr  Sohn  schon 
kindisch  werde **).  Der  Vater  des  Pertinax  sagte,  als  ein  Astrologe  ihm 
ähnliches  prophezeite,  er  habe  das  Honorar  umsonst  ausgegeben*).  Auf 
solche  Fälle  widerlegten  Unglaubens  konnte  zuerst  nur  die  Zeit  hinweisen, 

1)  Spart.  Sev.  4,  2  in  Sicilia,  quasi  de  imperio  vel  vates  vel  Chaldaeos  consuluisset, 
reus  factus,  sed  a  praef.  praet.,  quibus  audiendus  datus  fuerat,  iam  Commodo  in  odio 
veniente  absolutus  est. 

2)  ibid.  4, 7  ita  se  egit,  ut  famam,  nobilitatam  iam  ante,  camularet. 

3)  Wie  Sever  für  das  Bekanntwerden  seiner  Träume  sorgte,  ist  aus  Herodian  II, 
9, 4—6  ersichtlich.  Severs  Autobiographie  kann  von  Dio  für  jene  Schrift  aber  noch 
nicht  benutzt  sein.  Vielmehr  muss  man  nach  der  Stelle  72,23  annehmen,  dass  Dio 
die  Schrift  spätestens  in  den  ersten  Regierungsjahren  verfasst  hat.  Er  sandte  sie  dem 
Sever,  als  dieser  sich  auswärts  befand,  und  zwar  wahrscheinlich  auf  dem  Feldzuge 
gegen  Pescennius  Niger. 

4)  Sueton  Galba  4.        5)  Sueton  Vesp.  5.        6)  Pertin.  1,  3. 


über  die  Divination  in  der  Geschichtsschreibung  der  römischen  Kaiserzeit.  371 

welche  die  Erfüllung  der  Prophezeiung  erlebte').  Dass  es  sich  dabei  um 
mündliche  Tradition  handelt,  liegt  auf  der  Hand  und  wird  auch  ausdrück- 
lich gesagt  ='). 

Überschauen  wir  nun  die  lange  Reihe  der  omina,  welche  uns  bei  den 
Historikern  vorliegen,  so  drängt  sich  die  Wahrnehmung  auf,  dass  in  ihnen 
auch  Urteile  über  die  Regierung  einzelner  Kaiser  enthalten  sind.  Danach , 
lassen  sich  die  omina  in  zwei  Gruppen  scheiden,  in  solche,  welche  eine 
Thatsache  einfach  vorausverkünden  und  in  solche,  welche  über  diese 
vorausverkündete  Thatsache  noch  ein  Urteil  aussprechen  oder  sie  nach 
irgend  einer  Seite  hin  näher  charakterisieren.  Wenn  z.  B.  dem  Tiberius 
während  seines  Aufenthaltes  in  Rhodus  sich  ein  Adler  aufs  Haus  setzt, 
der  vorher  in  Rhodus  noch  niemals  gesehen  war,  oder  wenn  auf  dem  Land- 
gute von  Vespasians  Grossvater  eine  Cypresse  umstürzte,  jedoch  am  nächsten 
Tage  sich  wieder  erhob  und  kräftig  weiterwuchs,  oder  wenn  den  Antoninus 
Pius  während  seines  Prokonsulats  eine  Priesterin  have  Imperator  statt 
have  proconsul  anredet:  so  sind  das  omina  der  ersten  Gruppe;  denn  sie 
verkündigen,  dass  die  betreffenden  zur  Regierung  gelangen  würden,  sagen 
jedoch  über  ihre  Regierung  nichts  weiter  aus.  Für  Vespasian  enthält  das 
omen  in  dem  Umstürzen  der  Cypresse  noch  den  weiteren  Hinweis  auf  die 
Ungnade  Neros,  die  seine  Entfernung  vom  Hof  veranlasste,  ja  sein  Leben 
bedrohte^).  Auch  dies  ist  eine  äussere  Thatsache,  die  mit  seiner  Regierung 
nichts  zu  thun  hat.  Wenn  aber  Caligula  dem  Vespasian  als  Aedilen 
wegen  mangelhafter  Strassenreinigung  die  Toga  mit  Strassenkoth  voll- 
stopfen lässt,  woraus  geweissagt  wird,  dass  einst  der  in  den  Koth  getretene 
Staat  in  den  Schutz  und  gleichsam  in  den  Schooss  Vespasians  kommen 
werde,  oder  wenn  Nero  träumt,  er  solle  den  Prozessionswagen  Jupiters 
nach  dem  Hause  des  Vespasian  und  dann  in  den  Circus  fahren  lassen, 
wonach  Jupiter  den  Vespasian  als  irdischen  Mitregenten  annimmt,  oder 
wenn  Trajan  träumt,  dass  ihm  ein  Greis  in  senatorischer  Festkleidung 
seinen  Siegelring  erst  auf  die  linke,  dann  auf  die  rechte  Seite  des  Halses 
drücke :  so  sind  das  omina  der  zweiten  Gruppe ;  denn  sie  sagen  ausserdem 

1)  Die  beiden  ersten  Fälle  hat  Plinius,  den  letzten  Marias  Maximus  aufgezeich- 
net. Zu  der  Stelle  Sueton  Galba4  vgl.  Plin.  h.  n.  YIII  173  est  in  annaUbus  nostris 
peperisse  saepe  (sc.  mulas),  verum  prodigii  loco  habitum. 

2)  Die  Äusserung  seines  Grossvaters  hat  Galba  selbst  erzählt  (nach  solus  memor 
dicti  avi).  Die  Geschichte  von  der  Grossmutter  und  dem  Vater  Vespasians  führt 
Sueton  mit  ferunt  ein.  Die  schon  mehrfach  angeführte  Stelle  Tac.  bist.  II  78  wird 
durch  sie  bestätigt. 

3)  Suet.  Vesp.  4.  Er  war  auf  der  griechischen  Kunstreise  bei  den  Musikvorträ- 
gen Neros  öfter  weggegangen  oder  eingeschlafen,  und  ging  wegen  der  Entfernung  vom 
Hofe  in  freiwillige  Verbannung,  bis  ihm  wieder  eine  kaiserliche  Provinz  übertragen 
wurde. 

24* 


372  J.  Plew 

noch  voraus,  dass  Vespasian  unter  dem  Beistande  Jupiters  den  Staat 
wieder  aufrichten,  und  dass  Trajan  unter  Mitwirkung  des  Senats  Kaiser 
werden  und  dauernd  mit  dem  Senat  in  bestem  Einvernehmen  stehen  werde. 

Es  ist  nun  an  sich  natürlich  und  wird  auch  durch  die  Überlieferung 
bestätigt,  dass  auf  diese  zweite  Gruppe  der  Erfolg  einen  wesentlichen 
Einfluss  gehabt  hat,  d.  h.  dass  Vorzeichen  später  hinzuerfunden,  dass  sie 
übergangen  oder  widerlegt,  dass  sie  erweitert,  verkürzt  oder  zeitlich  ver- 
schoben wurden,  um  sie  mit  den  Thatsachen  in  Einklang  zu  bringen  und 
so  das  Ansehen  der  Divination  zu  wahren.  Dies  zeigt  sich  namentlich 
bei  den  Vorzeichen,  die  für  Caligula  und  Nero  angeführt  werden.  In  der 
Untersuchung  über  den  Geburtsort  des  Caligula  erwähnt  Sueton'), 
dass  ein  gewisser  Lentulus  Gaetulicus  Tibur  als  Geburtsort  angab*). 
Plinius  wies  ihm  nach,  dass  er  dies  zum  Zwecke  der  Schmeichelei  erlogen 
habe,  at  ad  laudes  iuvenis  gloriosique  principis  aliquid  etiam  ex  urbe 
Herculi  sacra  sumeret.  Ferner  wurde  unter  Caligulas  Regierung')  ein 
Distichon  verbreitet: 

In  castris  natus,  patriis  nutritus  in  armis 
lam  designati  principis  omen  erat. 

Die  Voraussetzung  dieses  Distichons,  dass  Caligula  im  Lager  geboren 
sei,  widerlegt  Sueton  selbst,  und  dadurch  wird  auch  das  omen  hinfällig. 
Hier  sehen  wir  also,  wie  solche  omina  entstanden,  und  bei  dem  Jubel, 
mit  dem  die  Regierung  Caligulas  begrüsst  wurde,  sind  es  gewiss  nicht  die 
einzigen  gewesen ;  dagegen  ist  es  ganz  undenkbar,  dass  schlimme  Prophe- 
zeiungen des  verhassten  Tiber  auf  Caligulas  Regierung  in  der  ersten  Zeit 
sollten  Glauben  gefunden  haben.  Später  mochte  man  sich  derselben  er- 
innern, und  so  führten  Sueton  und  Dio  als  wahre  omina  solche  Prophe- 
zeiungen Tibers  an.  Nach  Sueton^)  hat  er  vorausgesagt,  dass  er  für 
das  römische  Volk  eine  Giftnatter,  für  die  Welt  einen  Phaethon  erziehe. 
Dio**)  lässt  ihn  in  demselben  Sinne  den  Vers  citieren  kfiov  ^avovTog  yala 
fiiX^rjzo)  tvvqL  und  den  Priamus  glücklich  preisen,  dass  er  mit  seinem 
Vaterlande  und  seiner  Herrschaft  zu  Grunde  gegangen  sei.  — 

Dass  für  Nero  günstige  Vorzeichen  vorhanden  gewesen  sind  und  im 
Munde  des  Volkes  gelebt  haben,  bezeugt  Tacitus").    Schon  die  Volksgunst 


1)  Sneton  Cal.  8. 

2)  Ort  und  Zeit  der  Geburt  spielen  in  der  Divination  durchgehend  eine  grosse  Rolle. 

3)  Sueton  I.  c.  Versiculi  imperante  mox  eo  divulgati. 

4)  Cal.  11.  5)  58,23. 

6)  Tac.  ann.  XI,  11  favor  plebis  acrior  in  Domitium  loco  praesagii  acceptus  est. 
Vulgabaturque  adfuisse  infantiae  eius  dracones  in  modum  custodum,  fabulosa  et  exteniis 
miraculis  assimitata:  nam  ipse,  haudquaquam  sai  detractor,  uuam  omnino  auguem 
in  cubiculo  visam  narrare  solitus  est. 


über  die  Divination  in  der  Geschichtsschreibung  der  römischen  Kaiserzeit.    37b 

selbst,  welche  sich  ihm  mehr  als  dem  Britannicus  zuwandte,  wurde  als 
ein  für  Nero  günstiges  omen  aufgefasst.  Als  Messalina  ihm  deswegen 
nach  dem  Leben  trachtete,  wurde  im  Volke  verbreitet,  dass  zwei  Schlangen 
in  seinem  Zimmer  die  ausgesandten  Mörder  verscheucht  und  ihn  so  be- 
schützt hätten.  Tacitus  bezeichnet  das  als  eine  fremden  Sagen  nachge- 
bildete Erfindung  (es  ist  offenbar  eine  Umkehrung  der  Herculessage) ;  denn 
Nero  selbst,  der  sich  doch  wahrlich  nicht  verkleinert  habe,  habe  immer 
nur  erzählt,  dass  eine  Schlange  in  seinem  Zimmer  gewesen  sei.  Es  ist 
interessant,  wie  Sueton  diese  Erzählung  behandelt.  Das  für  Nero  günstige 
omen  der  Volksgunst  und  die  Fabel  von  den  zwei  Schlangen  erwähnt 
er  gar  nicht,  sondern  nur  die  Erzählung  des  Nero  von  der  einen  Schlange, 
und  auch  diese  erklärt  er  für  eine  Fabel,  daraus  entstanden,  dass  Nero 
eine  Schlangenhaut  in  einem  goldenen  Armbande  nach  dem  Willen  der 
Mutter  als  Amulet  getragen,  dass  er  sie  aus  Abneigung  gegen  das  An- 
denken der  Mutter  fortgeworfen  und  dann  diesen  Talisman  später  ver- 
gebens wiedergesucht  habe').  Er  macht  also  ein  für  Nero  ungünstiges 
Vorzeichen  daraus,  und  das  stimmt  zu  den  Vorzeichen,  die  er  von  ihm 
überhaupt  anführt^).  Gleich  bei  seiner  Geburt  wird  aus  der  Konstellation 
viel  Schreckliches  prophezeit,  und  als  Bestätigung  wurde  die  Äusserung 
seines  Vaters  Domitius  aufgefasst,  mit  der  er  die  Glückwünsche  der  Freunde 
zurückwies,  er  und  Agrippina  hätten  nur  etwas  Abscheuliches  und  für  den 
Staat  Verderbliches  erzeugen  können.  Unter  multa  et  formidolosa  ist  vor 
allem  an  die  Prophezeiung  des  Muttermordes  zu  denken.  Nach  Tacitus ') 
ist  diese  Prophezeiung  keine  spontane  gewesen,  denn  sie  wird  der 
Agrippina  auf  Befragung  des  Astrologen  Thrasyllus^)  zu  Teil,  sie  ist  also 
auch  nicht  gleich  bei  der  Geburt  erfolgt.  Hier  geht  Dio  nun  in  dem 
Bestreben  der  Schwarzmalerei  über  Sueton  noch  hinaus.  Dio  kombiniert 
nämlich  den  Bericht  des  Sueton  mit  dem  des  Tacitus  in  der  Weise,  dass 
er  die  Worte  tantum  quod  exoriente  sole,  paene  ut  radiis  prius  quam 
terra  contingeretur,  die  bei  Sueton  überhaupt  kein  omen  enthalten,  auch 
zum  omen  stempelt  und  sowohl  daraus  wie  aus  der  Konstellation  einen 
Astrologen  unaufgefordert  prophezeien  lässt  otl  le  ßaoilevoei  vcal  otl 
Trjv  firj^ega  (povevaei.    Als  Agrippina  das  gehört  habe,  habe  sie  ausge- 


1)  Dio  (61,  2),  der  für  die  Vorzeichen,  soweit  er  kann,  den  Sueton  benutzt,  er- 
wähnt nur  die  Schlangenhaut,  hat  aber  cervicalia  und  cervicem  verwechselt.  Denn 
aus  depreusis  in  lecto  eius  circum  cervicalia  serpentis  exuviis  macht  er  XeßrjQig 
negl  xov  av/e'va  tov  N^Qwvog  naiöiov  bxl  ovzoq  svQs^elaa  und  lässt  die  Wahr- 
sager daraus  prophezeien,  dass  Nero  von  einem  Greise  grosse  Macht  erhalten  werde, 
mit  Benutzung  des  Doppelsinnes  von  to  yrJQaq. 

2)  Sueton  Nero  6.        3)  Tac.  ann.  XIV,  9.        4)  Dio  61,  2. 


374  J.  Plew 

rufen  ccTtoTiTeivaTCj  ixe,  juovov  ßaaiXevaccTw,  Auch  hier  sehen  wir  das 
Streben,  eine  später  erfolgte  Weissagung  zeitlich  hinaufzurücken. 

Auch  Commodus'  Regierung  wird  gleich  als  unheilvoll  angekündigt, 
Faustina  träumt,  sie  gebäre  zwei  Schlangen,  die  eine  davon  wilder*),  und 
Marc  Aurel  prophezeit,  dass  Commodus  ein  zweiter  Nero,  Caligula  und 
Domitian  werden  werde '^j.  Später  wurde  hinzuerfunden,  dass  Commodus 
gar  nicht  der  Sohn  Marc  Aureis  sei,  sondern  aus  einem  Ehebruch  der 
Faustina  mit  einem  Gladiator  stamme.  Das  darauf  folgende  alberne 
Märchen,  welches  diesen  Ehebruch  variiert,  wird  ausdrücklich  als  Volks- 
tradition bezeichnet,  die  beweisen  wollte,  dass  Commodus  nicht  als  Fürst, 
sondern  als  Gladiator  geboren  war^). 

Wenn  die  omina  imperii  bei  diesen  Kaisem  unheilverkündend  sind, 
so  drücken  die  omina  mortis  oder  vielmehr  caedis  den  Gedanken  aus, 
dass  ihr  Lebensende  eine  ihren  Thaten  entsprechende  Sühne  gewesen 
sei'').  Gegen  Caligula,  der  in  freventlicher  Vermessenheit  den  Jupiter 
spielte  (Dio  59, 28) ,  schreitet  Jupiter  selbst  ein.  Der  Olympische  Zeus, 
der  nach  Rom  transportiert  werden  sollte,  lachte  so  laut,  dass  die  auf- 
gestellten Gerüste  zusammenstürzten  und  die  Arbeiter  erschreckt  flohen. 
Zugleich  erscheint  ein  Cassius  in  Olympia  (es  war  prophezeit  worden, 
dass  ein  Cassius  den  Caligula  ermorden  würde)  und  erklärt,  Zeus  habe 
ihm  im  Traum  befohlen,  ihm  einen  Stier  zu  opfern.  Endlich  träumt 
Caligula  selbst,  am  Tage  vor  der  Ermordung,  dass  er  im  Olymp  neben 
dem  Thron  des  Jupiter  stehe  und  von  diesem  mit  einem  Fusstritt  auf 
die  Erde  herabgestürzt  werde.  —  Am  deutlichsten  zeigt  sich  die  Vor- 
stellung der  Nemesis  in  den  Vorzeichen  der  Ermordung  Neros,  in  einer 
Art,  die  ganz  an  Richard  III.  und  Franz  Moor  erinnert*).  Während 
Nero  früher  nie  geträumt  hatte,  beängstigten  ihn  seit  dem  Muttermorde 

1)  Comm.  1,3.    Der  Zwillingsbruder  Antoninus  starb  in  zartem  Alter. 

2)  Ant.  phil.  28, 10.    Ähnliche  böse  Ahnungen  berichtet  Herodian  1, 3, 4. 

3)  Ant.  phil.  19, 1.  4)  ibid.  19,  2-4. 

5)  Die  omina  mortis  wurden  wohl  meistens  erst  nach  dem  Eintritt  des  Ereig- 
nisses als  solche  gedeutet  und  besprochen.  Bei  solchen,  die  sich  am  Tage  vor  dem 
Tode  oder  am  Tage  des  Todes  selbst  ereigneten  (Suet.  Cal.  57),  versteht  sich  das  von 
selbst.  Aber  überhaupt  ging  es  kaum  an,  solche  omina  zu  erörtern,  so  lange  der 
Kaiser  lebte.  Manche  omina  können  sogar  erst  nach  dem  Eintritt  des  Todes  als 
solche  erkannt  worden  sein.  Dieser  Vorgang  ist  auch  uns  nicht  fremd.  Goethe  er- 
zählt bekanntlich,  dass  er  sich  im  letzten  Neujahrsbrief  an  Schiller  verschrieben  habe ; 
statt  „zum  neuen  Jahre"  habe  er  geschrieben  „zum  letzten  Jahre".  Aber  erst  nach 
Schillers  Tode  fiel  ihm  das  ein,  erst  da  wurde  es  ihm  zur  Vorbedeutung.  Hier  haben 
wir  ein  anschauliches  Beispiel,  wie  es  damit  meist  gegangen  sein  wird.  So  versprach 
sich  Hadrian  in  einer  Senatsrede,  die  er  nach  dem  I.Jan.  138  hielt,  indem  er  statt 
post  filii  mei  mortem'  'post  meam*  sagte.   Hadr.  26, 10. 

6)  Sueton  Nero  46.  Dio  61, 14.  63, 28. 


über  die  Divination  in  der  Geschichtsschreibung  der  römischen  Kaiserzeit.    375 

Träume,  die  gegen  das  Ende  immer  furchtbarer  wurden.  Er  lenkt  ein 
Schiff  und  das  Steuerruder  ist  seinen  Händen  entschwunden,  seine  Gattin 
Octavia  zieht  ihn  in  die  tiefste  Finsternis,  er  wird  von  Scharen  geflügelter 
Ameisen  überfallen,  die  Statuen  der  Nationen  am  Pompeiustheater  um- 
ringen ihn  und  wehren  ihm  den  Zutritt,  durch  ein  Erdbeben  zerreisst  die 
Erde,  und  die  Seelen  aller  von  ihm  Ermordeten  steigen  herauf  und  stürmen 
auf  ihn  los.  Ähnlich  träumt  Domitian,  dass  der  von  ihm  gemordete 
Schriftsteller  Rusticus  mit  dem  Schwerte  auf  ihn  losgeht,  und  dass  seine 
Schutzgöttin  Minerva  ihn  verlässt,  indem  sie  die  Waffen  fortwirft  und 
auf  einem  mit  schwarzen  Rossen  bespannten  Wagen  in  die  Erde  hinab- 
fährt'). Wenn  er  dann  noch  träumt,  dass  ihm  ein  goldener  Höcker  am 
Halse  herauswachse,  und  eine  Krähe  auf  dem  Kapitol  die  Worte  spricht 
eoTat  Ttävxa  y.alws,  SO  deuten  diese  Vorzeichen,  mit  denen  Sueton  seine 
Biographiensammlung  schliesst,  auf  das  Glück  der  folgenden  Zeiten  hin. 
—  Bei  Commodus  endlich  entsprechen  die  omina  caedis  den  schon  an- 
geführten Vorzeichen,  die  ihn  nicht  als  Kaiser,  sondern  als  Gladiator 
hinstellen.  Er  wühlt  in  der  Wunde  eines  gefallenen  Gladiators  und  wischt 
dann  das  Blut  an  seinen  Haaren  ab,  und  sein  Helm  wird  zweimal  durch 
die  porta  Libitina  hinausgetragen^). 

Das  Gegenbild  zu  diesen  Kaisem  bieten  Augustus  Vespasian  und 
Trajan  dar.  Die  Vorzeichen  auf  Vespasian  sind  schon  mehrfach  erwähnt 
Trajan  war  bei  dem  Opfer,  das  er  vor  seinem  Abgange  zur  Rheinarmee 
auf  dem  Kapitol  darbrachte,  ein  Vorzeichen  zu  teil  geworden,  indem  ein 
Huldigungsruf  des  Volks,  der  eigentlich  Jupiter  gegolten  hatte,  auf  ihn 
bezogen  wurde.  Trajan  hatte  dies  Vorzeichen  abgelehnt,  um  so  eifriger 
betont  es  Plinius^).  Er  weist  Trajan  darauf  hin,  dass  der  Erfolg  ihn 
widerlegt  habe  und  stellt  es  so  dar,  dass  eigentlich  Jupiter  selbst  durch 
dies  omen  die  Adoption  schon  vollzogen  und  Nerva  sie  später  nur  ratifi- 
ziert hätte.  Den  übrigen  Kaisern  hätte  auf  ihr  Befragen  das  reichlich 
rinnende  Blut  der  Opfertiere  oder  günstiger  Vögelflug  den  Thron  ver- 
kündigt, den  Trajan  habe  ungesucht  der  Zuruf  seiner  Mitbürger  als  Fürst 
begrüsst;  jene  habe  also  die  dunkle  Macht  des  Schicksals,  diesen  Jupiter 
selbst  „persönlich  und  öffentlich"  zum  Kaiser  gemacht^). 

Am  mannigfaltigsten  und  interessantesten  sind  die  von  Sueton  über- 


1)  Bei  Claudius  und  Domitian  fehlen  die  omina  imperii,  bei  Caracalla  und  Ela- 
gabal  die  omina  überhaupt.  Bei  Tiber  haben  wir  es  (Suet.  Tib.  14)  nicht  mit  Vor- 
zeichen zu  thun,  die  im  Munde  des  Volkes  umgingen,  sondern  mit  solchen,  die  von 
Livia  und  Tiber  selbst  ausgegangen  sind,  also  auch  sicherlich  in  Tibers  Memoiren 
aufgezeichnet  waren. 

2)  Dio  71,  31.  Comm.  16, 6.        3)  Panegyr.  5.         4)  cf.  Panegyr.  1. 


376  J.  Plew 

lieferten  omina  auf  die  Herrschaft  Augusts*),  sie  zeigen  uns  das,  was 
sonst  nur  vereinzelt  auftritt,  im  weitesten  Umfange,  nämlich  einen  be- 
stimmten tendenziösen  Inhalt,  der  sich  nach  bestimmten  Gesichtspunkten 
gliedern  lässt.  Schon  vor  und  bei  seiner  Geburt  wird  Augustus  als  künftiger 
Weltherrscher  angekündigt  und  als  Begründer  eines  Weltreichs  einem 
Cyrus  und  Alexander  dem  Grossen  an  die  Seite  gestellt.  Atia  träumt 
wie  Mandane  vor  ihrer  Niederkunft,  dass  ihre  Leibesfrucht  sich  zum 
Himmel  erhebe  und  über  den  ganzen  Erdkreis  ausbreite.  Nigidius  Pigalus 
sagt  aus  der  Konstellation  am  Tage  der  Geburt  vorher,  dass  ein  Welt- 
herrscher geboren  sei,  und  dem  Vater  Octavius  wird  das  später  von 
einem  Bacchusorakel  in  Thracien  bestätigt  auf  Grund  eines  Vorzeichens, 
welches  an  derselben  Stätte  nur  Alexander  dem  Grossen  zu  teil  geworden 
sei.  Sodann  verkünden  berühmte  Männer  der  Republik  auf  Grund  von 
Träumen,  die  sie  gehabt  haben,  dass  es  mit  der  Republik  zu  Ende  sei. 
Catulus  und  Cicero  träumen,  dass  der  Kapitolinische  Jupiter  einem  Knaben 
die  Herrschaft  der  Welt  übergebe,  und  als  beide  dann  den  Augustus  zum 
ersten  mal  sehen,  erkennen  sie  in  ihm  den  Knaben,  den  sie  im  Traum 
gesehen  haben  ^).  Ein  anderes  omen  verkündigt,  dass  der  Senat  sich  dem 
August  unterwerfen  werde.  Während  des  spanischen  Feldzuges  wird 
Caesar  durch  ein  omen  bewogen,  ihn  zu  seinem  Nachfolger  zu  bestimmen, 
und  das  Romulusomen  bezeichnet  ihn  als  Begründer  einer  neuen  Staats- 
ordnung. Endlich  genügte  es  noch  nicht,  dass  die  Dichter  das  julische 
Geschlecht  auf  die  Venus  zurückführten,  August  musste  unmittelbar  der 
Sohn  eines  Gottes  sein  und  zwar  des  ApolP).  Was  Asclepiades  Mendes 
von  der  Schwängerung  der  Atia  durch  eine  Schlange  in  einem  Apollo- 
tempel berichtet,  war  nicht  vereinzelte  Überlieferung.  Sidonius  Apollinaris 
berichtet  im  panegyricus  des  Anthemius  dasselbe,  und  auch  hier  wird 
Augustus  mit  Alexander  dem  Grossen  zusammengestellt 

Magnus  Alexander  nee  non  Augustus  habentur 
Concepti  serpente  deo  Phoebumque  lovemque 
Divisere  sibi. 
Als  Sohn  des  Apoll  erscheint  er  auch  in  dem  Vorzeichen,  das  Sueton 

1)  Dass  Dio  dieselben  aus  Sueton  entnommen  hat,  ist  deshalb  unzweifelhaft, 
weil  er  sie  unter  Weglassung  der  Quellenangaben  in  derselben  Reihenfolge  wie  Sueton 
aufführt. 

2)  Es  ist  bezeugt,  dass  diese  Erzählung  aus  Augusts  Autobiographie  stammt. 
Dass  sie  eine  Erfindung  Augusts  ist,  liegt  auf  der  Hand.  Wenn  Cicero  das  geträumt 
hätte,  so  hätte  er  es  in  der  dritten  Philippica  erwähnen  müssen.  Ebenso  dreist 
erfunden  ist  die  Geschichte  von  dem  Senatsbeschluss ,  welche  Sueton  aus  Julius 
Marathus  anführt.    Dieser  Senatsbeschluss  müsste  unter  Ciceros  Vorsitz  gefasst  sein. 

3)  Besondere  Pietätsbeweise  gegen  Apollo  führt  August  selbst  im  Mon.  Ancyr. 
c.  24  an. 


über  die  Divination  in  der  Geschichtsschreibung  der  römischen  Kaiserzeit.    377 

aus  C.  Drusus  anführt.  Andrerseits  wurde  Augustus  auch  als  Hercules 
hingestellt.  Denn  auf  diesen  weist  das  lächerliche  omen  von  den  Fröschen 
hin^). 

Damit  sind  die  auf  die  Kaiser  der  ersten  beiden  Jahrhunderte  be- 
züglichen omina  ausreichend  charakterisiert.  Alle  diese  omina  dürfen  als 
solche  für  historisch  gelten,  d.  h.  Tacitus,  Sueton,  Dio  und  Marius  Maximus 
haben  diese  omina  nicht  erfunden,  sondern  entnahmen  sie  Quellen,  in 
denen  sie  als  gleichzeitige  Tradition  überliefert  waren,  oder  sie  zeichneten 
sie  für  die  selbsterlebte  Zeit  selbst  aus  eigener  Kunde  auf.  Man  hat  die 
zu  Grunde  liegende  Thatsache  von  dem  omen,  zu  dem  sie  verwendet 
wurde,  zu  scheiden,  jene  kann  erfunden  und  das  daraus  gemachte  omen 
doch  historisch  sein.  Die  Geschichte  von  den  Schlangen,  die  Nero  be- 
schützten, bezeichnet  Tacitus  selbst  als  Fabel,  dass  aber  das  Volk  daraus 
ein  für  Nero  günstiges  omen  machte,  ist  unzweifelhaft  Thatsache.  Anders 
steht  es  mit  den  Vorzeichen,  die  von  den  Scriptores  Eist.  Aug.  für  die 
Caesares  und  Tyranni  überliefert  werden.  Zwar  ist  es  möglich,  dass  auch 
für  Clodius  Albinus  günstige  omina  vorhanden  waren,  bevor  die  Entschei- 
dung gegen  Sever  fiel.  Wenn  sie  es  aber  auch  waren,  so  mussten  sie 
notwendig  von  dem  Augenblick  an  in  Vergessenheit  geraten,  wo  sie  durch 
den  Sieg  Severs  widerlegt  waren.  Nun  ist  aber  die  ganze  sekundäre  Bio- 
graphienmasse, welche  die  Scriptores  Hist.  Aug.  benutzt  haben,  erst  nach 
Marius  Maximus  aufgekommen,  also  sind  alle  omina,  welche  Cordus  ge- 
dankenlos als  Vorzeichen  der  künftigen  Herrschaft  des  Albinus,  Diadu- 
menus  und  jüngeren  Maximinus  anführte,  ebenso  eine  Fälschung,  wie  die 
Briefe  und  Aktenstücke,  welche  in  den  auf  ihn  zurückgehenden  Biogra- 
phien einen  so  breiten  Raum  einnehmen.  Das  bestätigt  auch  der  Inhalt, 
der  sich  durch  Wiederholung  immer  derselben  Motive  und  Entlehnung 
und  Nachahmung  früherer  omina  als  Erfindung  einer  sehr  dürftigen  Phan- 
tasie verrät.  Dabei  war  die  Weitschweifigkeit  der  Darstellung  noch  grösser 
als  die  Dürftigkeit  der  Erfindung.=^) 

Die  sekundären  Biographien  der  Cordus  und  Konsorten  haben  nun 
für  die  Biographien  der  Kaiser  des  dritten  Jahrhunderts  nicht  nur  im 
allgemeinen  das  Muster  abgegeben,  sondern  auch  speziell  für  die  omina 
noch  eine  Wandlung  bewirkt.    In  den  Biographien  der  Tyranni  oder  Prä- 

1)  cf.  Solin.  II 40  Caussam  Granius  tradit,  cum  obmurmurarent  illic  (bei  Rhegium) 
ranae  Hercule  quiescente,  deum  iussisse  ne  streperent:  itaque  ex  eo  coeptum  eilen- 
tium  permanere. 

2)  Albin  5, 10  haec  et  alia  signa  imperii  futuri  fuere.  quae  qui  Yolet  nosse, 
Helium  Cordum  legat,  qui  frivola  super  huiusmodi  ominibus  cuncta  persequitur. 
Maximin.  31,4  Longum  est  omnia  (sc.  omina)  persequi,  quae  qui  scire  desiderat,  is 
velim,  ut  saepe  dixi,  legat  Cordum,  qui  haec  omnia  usque  ad  fabellam  scripsit. 


378  J.  Plew 

tendenten  treten  nämlich  von  Anfang  an  als  stehendes  Merkmal  iudicia 
der  regierenden  Kaiser  über  die  militärische  Tüchtigkeit  jener  auf.  Sie 
dienen  zunächst  der  Charakteristik,  indem  sie  zeigen,  wie  der  Betreffende 
für  Aufrechterhaltung  der  Disziplin  und  Erweckung  militärischen  Geistes 
erfolgreich  thätig  gewesen  ist.  Dadurch  werden  sie  aber  auch  zugleich 
zu  einer  Rechtfertigung  der  Empörung  des  betreffenden  Generals,  insofern 
der  Kaiser  selbst  dessen  Überlegenheit  in  militärischen  Dingen  anerkennt 
Am  stärksten  tritt  das  hervor  in  dem  Briefe  Marc  Aureis,  mit  dem  er 
die  Mitteilung  des  Verus,  dass  Avidius  Cassius  ihn  ein  philosophierendes 
altes  Weib  nenne,  beantwortet.^)  Der  Sinn  ist  kurz :  „Wenn  dem  Avidius 
Cassius  die  Herrschaft  von  den  Göttern  bestimmt  ist,  so  ist  es  unmög- 
lich, dagegen  anzukämpfen.  Er  ist  ein  ausgezeichneter  Heerführer.  Mögen 
meine  Kinder  also  zu  Grunde  gehen,  wenn  er  dem  Staate  nützlicher  ist, 
als  sie."  Wurde  der  General  wirklich  Kaiser,  so  musste  ein  solches  iudi- 
cium  zum  omen  werden.  Und  so  treten  diese  iudicia  allmählich  wirklich 
den  omina  imperii  nicht  nur  an  die  Seite,  sondern  verdrängen  sie  fast 
ganz.  Schon  bei  Maximinus  ist  dies  der  Fall.^)  Aber  Trebellius  Pollio 
sagt  auch  ausdrücklich,  dass  diese  iudicia  als  omina  imperii  aufzufassen 
sind,  und  er  bedient  sich  ihrer  ausschliesslich.  Wohl  führt  er  Prophe- 
zeiungen auf  die  Nachkommen  des  Claudius  an,  die  dieser  erhält,  als  er 
schon  Kaiser  ist;  diese  gelten  aber  nicht  ihm,  sondern  seinem  Liebling 
Constantius.^)  Von  Claudius  selbst  aber  heisst  es  14,  1 :  Nunc  ad  iudicia 
principum  veniamus,  quae  de  illo  a  diversis  edita  sunt  et  eatenus  qui- 
dem  ut  appareret,  quandocunque  Claudium  imperatorem 
futurum.  Auch  bei  Vopiscus  überwiegen  die  iudicia  durchaus.  Bei  dem 
Senatskaiser  Tacitus  konnte  er  natürlich  keine  bringen,  da  führt  er  pflicht- 
mässig  zum  Schluss  einige  omina  an.  Das  breit  erzählte  omen  auf  Dio- 
cletian  *)  steht,  wie  die  omina  auf  Constantius  bei  Treb.  Pollio,  ausserhalb 
der  Sache.  Yopiscus  giebt  aber  auch  direkt  zu  verstehen,  dass  er  die 
iudicia,  welche  er  praeiudicia  nennt ^),  für  wichtiger  hält,  als  die  omina. 
Er  führt  Aurel.  4,  3ff.  einige  omina  aus  einem  griechischen  Schriftsteller 
an,  bricht  dann  aber  ab  mit  den  Worten  multa  superflua  in  eodem  legisse 
memini.  Jedoch  die  iudicia,  welche  er  über  Aurelian  bringt,  nehmen  fast 
10  Kapitel  ein®),  und  sie  begleiten  den  Aurelian  systematisch  durch  seine 
ganze  Laufbahn.    Ähnlich  ist  es  bei  Probus,  wo  die  iudicia  gar  von  fünf 

1)  Avid.  Cass.  2.  2)  Maxim.  5,  4  ff. 

3)  Claud.  10,1  exprimenda  est  sors  .  .  .  ut  intellegant  omnes,  genus  Glaudii 
ad  felicitatem  reip.  divinitus  constitutam.  10, 7  quae  idcirco  posui  ut  sit  omnibus 
darum  Constantium  divini  generis  virum  sanctissimum  Caesarem  et  Augustae  ipsum 
familiae  esse  et  Augustos  multos  de  se  daturum. 

4)  Car.  14  f.         5)  Aurel.  16,1.         6)  Aurel.  c.  8—17. 


über  die  Divination  in  der  Geschichtsschreibung  der  römischen  Kaiserzeit.    379 

verschiedenen  Kaisern  herrühren.*)  Auf  den  Inhalt  dieser  öden  aus  der 
Rhetorenschule  stammenden  Machwerke  näher  einzugehen,  verlohnt  nicht 
der  Mühe.  Immer  in  denselben  Wendungen  wird  die  sittliche  und  mili- 
tärische Tüchtigkeit  des  Betreffenden,  seine  Verdienste  um  die  Disziplin, 
seine  Kriegsthaten  gegen  die  Barbaren  gepriesen  und  betont,  dass  ein  sol- 
cher Mann  auf  die  höchsten  Ehren  Anspruch  habe  und  nur  durch  sie 
würdig  belohnt  werden  könne.  Wenn  das  Publikum  wirklich  an  der  Form, 
in  der  ein  Cordus,  Trebellius  Pollio  und  Vopiscus  den  Weissagungsglauben 
litter  arisch  ausbeutete,  Geschmack  fand  —  und  die  Scriptores  versichern 
das  wiederholt  — ,  so  zeigt  das  einerseits  die  trostlose  Geistesverfassung 
des  ausgehenden  Römertums,  andererseits  aber  giebt  es  keinen  stärkeren 
Beweis  für  das  unverminderte  Ansehen,  in  dem  die  Divination  auch  da- 
mals noch  stand. 

Auch  mit  Einführung  des  Christentums  hörte  die  Divination  durch- 
aus nicht  sogleich  auf,  sondern  sie  wurde  in  allen  Formen  weiter  aus- 
geübt. Das  zeigt  das  Gesetz  des  Constantius  vom  Jahre  357^):  Impp. 
Constantius  A(ugustus)  et  lulianus  C(aesar)  ad  populum.  Nemo  haruspicem 
consulat  aut  mathematicum ,  nemo  hariolum.  Augurum  et  vatum  prava 
confessio  conticescat.  Sileat  omnibus  perpetuo  divinandi  curiositas.  Etenim 
supplicio  capitis  ferietur  gladio  ultore  prostratus,  quicunque  iussis  nostris 
obsequium  denegaverit.  Ja  derselbe  Julian,  der  als  Cäsar  am  Erlass  dieses 
Gesetzes  beteiligt  war,  führte  als  Augustus  die  ganze  Divination  auch 
offiziell  noch  einmal  wieder  ein.  Und  so  lebte  sie  denn  auch  in  der  Ge- 
schichtsschreibung bei  Ammianus  Marcellinus  noch  einmal  auf.  Ammianus 
giebt  XXI,  1  in  einem  Exkurse  eine  philosophische  Erklärung  und  Be- 
gründung der  Divination.  Dieser  Exkurs  erscheint  beim  ersten  Anblick 
auffallend,  denn  er  klingt  so,  als  käme  Ammianus  bei  dieser  Gelegenheit 
zum  ersten  Mal  auf  die  Divination  zu  sprechen,  während  er  sie  doch  in 
der  Geschichte  des  zweiten  Jahrhunderts  nicht  übergangen  haben  kann, 
und  dass  er  es  nicht  gethan  hat,  geht  daraus  hervor,  dass  er  Julian  be- 
züglich des  Divinationsglaubens  mit  Hadrian  in  Parallele  setzt  ^).  Der 
Exkurs  ist  also  anders  aufzufassen.  Wir  erkennen  daraus,  welch  unge- 
heueren Eindruck  das  Vorgehen  Julians  machte,  wie  sehr  alle  Anhänger 


1)  Prob.  c.  4—7.  Vopiscus  lässt  hier  den  Aurelian  selbst  eins  seiner  iudicia  als 
eine  Prophezeiung  auf  die  Herrschaft  bezeichnen,  6,6:  ut  scis  quanti  te  faciam,  de- 
cimanos  meos  sume ,  quos  Claudius  mihi  dedit.  Isti  enim  sunt  qui  quadam  felicitatis 
praerogativa  praesules  nisi  futuros  principes  habere  non  norunt. 

2)  Cod.  Theod.  9,  16,  4. 

3)  XXV,  4  (lulianus)  praesagiorum  sciscitationi  nimiae  deditus,  ut  aequiperare 
videretur  in  hac  parte  principem  Hadrianum.  Er  hat  danach  über  den  Divinations- 
glauben  Hadrians  unzweifelhaft  berichtet. 


380  J.  Plew 

des  Heidentums  ihm  zustimmten,  und  wie  heftig  die  Christen  ihn  des- 
wegen angriffen.  Dass  die  Christen  über  Julian  empört  waren,  ist  sehr 
begreiflich.  Denn  um  sich  in  der  Volksgunst  zu  befestigen,  nahm  er  am 
christlichen  Gottesdienst  ostentativ  teil,  war  jedoch  zugleich,  wie  man  später 
erfuhr,  der  Auguration,  Haruspicin  und  „allem,  was  die  Verehrer  der 
Götter  immer  gethan  haben",  eifrig  ergeben')  und  suchte  in  Dacien  heim- 
lich immerfort  aus  dem  Vogelfluge  und  den  Eingeweiden  den  Zeitpunkt 
des  ersehnten  Regierungsantritts  zu  erforschen*).  Um  so  grösser  war  nun 
die  Entrüstung  der  Christen,  als  sie  die  Heuchelei  durchschauten.  Sie 
beschuldigten  ihn  deshalb  der  Zauberei,  und  dagegen  sucht  ihn  der  Exkurs 
Ammians  in  Schutz  zu  nehmen').  Derselbe  ist  also  eine  Apologie  des 
Divinationsglaubens,  welche  sich  auf  die  heidnische  Götterlehre,  Aristoteles 
und  die  Stoiker  stützt.  Der  Gedankengang  ist  folgender:  Die  die  Welt 
durchdringende  und  immer  und  überall  wirkende  Weltseele  hat  auch  die 
Fähigkeit  der  Weissagung  und  teilt  sie  dem  Menschen,  dessen  Seele  ein 
Ausfluss  der  Weltseele  ist,  mit.  Die  Göttin  der  Weissagung  ist  Themis, 
deren  Name  auf  die  Schicksalsbestimmung  hinweist  und  die  daher  auch 
als  Gemahlin  und  Mitbeherrscherin  des  Zeus  gilt.  Die  Liebe  der  Gottheit 
ist  es  nun,  welche  dem  Menschen  im  Vogelfluge  und  in  den  Eingeweiden 
der  Opfertiere  die  Zukunft  offenbart  und  ihn  lehrt,  sie  aus  diesen  Zeichen 
zu  erkennen.  Die  Gottheit  redet  auch  selbst  durch  den  Mund  begeisterter 
Menschen.  Denn  als  Ausfluss  der  Weltseele  kann  die  menschliche  Seele, 
in  Begeisterung  versetzt,  die  Zukunft  auch  unmittelbar  erkennen,  wie  dies 
bei  Sibyllen  der  Fall  ist.  Aber  auch  aus  anderen  Dingen,  aus  Zeichen 
aller  Art,  aus  Blitz  und  Donner  und  den  Bahnen  der  Gestirne  vermag 
der  Mensch  die  Zukunft  zu  erkennen ;  am  zuverlässigsten  wären  dazu  die 
Träume,  wenn  ihre  Deutung  nicht  dem  Irrtum  ausgesetzt  wäre.  Doch 
wenn  auch  Grammatiker,  Musiker  und  Ärzte  Fehler  machen,  so  wird 
dadurch  das  Bestehen  der  Grammatik,  Musik  und  Heilkunde  nicht  auf- 
gehoben*). Es  ist  ersichtlich,  dass  Ammianus  seine  Verteidigung  zu  ver- 
stärken sucLt,  indem  er  sie  in  manchen  Punkten  der  christlichen  Lehre 
entsprechend  gestaltet.  Dem  Sohne  Gottes,  der  neben  dem  Vater  auf  dem 
Himmelsthrone  herrscht,  stellt  er  Themis  als  Mitherrscherin  des  Zeus 
gegenüber;  auch  nach  christlicher  Lehre  ist  die  menschliche  Seele  ein 
Teil  der  göttlichen,  die  das  All  durchdringt,  den  Sibyllen  entsprechen  die 
Propheten,  und  ganz  christlich  ist  der  Gedanke,  dass  die  Gottheit  aus 

1)  Ammian  XXI,  2.        2)  XXII,  1. 

3)  XXI,  1  et  quoniam  erudito  et  studioso  cognitionum  omnium  principi  malivoli 
praenoscendi  futura  pravas  artes  assignant. .  .  Malivoli  sind  die  Christen  und  pravae 
artes  Zaubereien  im  christlichen  Sinne. 

4)  Cic.  de  nat.  deor.  U,  12,  welche  Stelle  Ammian  gleich  darauf  citiert. 


über  die  Divination  in  der  Geschichtsschreibung  der  römischen  Kaiserzeit.    381 

Liebe  zu  den  Menschen  ihnen  das  höchste  Gut  schenkt,  nur  dass  dies 
hier  die  Gabe  der  Weissagung  ist.  Mit  diesen  Sätzen  glaubt  nun  Ammianus 
die  Weissagung  verteidigen  zu  können,  und  er  führt  dann  omina  auf  den 
Tod  des  Constantius,  auf  die  Herrschaft  und  den  Tod  Julians,  auf  die 
Niederlage  des  Valens  an^,  omina,  die  denen  der  früheren  Zeit  ganz 
gleichartig  sind.  Aber  wenn  wir  diese  omina  auch  nur  mit  den  Fälschungen 
im  zweiten  Teil  der  Scriptores  Hist.  Aug.  vergleichen,  so  merken  wir 
doch,  dass  sich  die  Zeiten  erheblich  geändert  haben.  Auch  jene  Fälschungen 
setzen  noch  immer  die  allgemeine  Herrschaft  des  Divinationsglaubens 
voraus.  Die  omina,  die  Ammian  anführt,  verlieren  sich  in  seiner  Dar- 
stellung, sie  machen  den  Eindruck  des  Gesuchten,  äusserlich  Herbeige- 
zogenen. Und  in  dem  Exkurse  über  die  Divination  haben  wir  wohl  das 
Glaubensbekenntnis  der  überzeugten  Anhänger  des  Heidentums  vor  uns, 
aber  wir  fühlen,  es  ist  der  Glaube  einer  Minorität,  die  angesichts  der 
sicheren  Niederlage  die  letzte  Schanze  verteidigt.  Interessant  ist  dabei, 
dass  der  Divinationsglaube  diese  letzte  Schanze  war,  und  dass  daher  um 
ihn  das  Heidentum  den  letzten  Kampf  vor  seiner  gewaltsamen  Ausrottung 
unter  Theodosius  gekämpft  hat. 

l)  cf.  XXI,  2. 14.  XXII,  1.  XXV,  2.  XXXI,  1. 


xvn. 

Eine  griechische  und  eine  lateinische  Etymologie. 

Von 

Walther  PreUwitz  (Bartenstein). 

I.   ^AX)^  0T€  drj  €tog  riXd-e  TteQirTtXoixhwv  sviavTwv. 

Zum  fünfzigsten  Male  kehrt  Ihnen,  hoch  verehrter  Herr  Geheimrat, 
der  Tag  wieder,  an  dem  Sie  einst  die  Würde  eines  Doktors  der  Philo- 
sophie erlangt  hahen.  Das  darf  einem  Philologen  gewiss  ein  guter  An- 
knüpfungspunkt für  eine  Untersuchung  scheinen,  die  sich  mit  der  Her- 
kunft einer  der  griechischen  Bezeichnungen  des  „Jahres"  heschäftigt.  Zum 
mindesten  sollen  Sie  dadurch  an  einige  Verse  des  alten  Homeros  erinnert 
werden,  die  den  Wechsel  der  Zeiten  zum  Gegenstand  haben  und  vielleicht 
geeignet  sind,  die  Gefühle  der  Wehmut,  die  bei  dem  Rückblicke  über  ein 
halbes  Jahrhundert  wohl  bei  keinem  ausbleiben,  in  eine  gelassenere  Be- 
trachtung aufzulösen. 

Schon  daraus,  dass  sich  die  beiden  Bezeichnungen  des  Jahres,  hog 
und  eviaviog,  bei  Homer  öfters  unmittelbar  neben  einander  finden,  geht  her- 
vor, dass  sie  nicht  ganz  dasselbe  bedeuten  können.  Man  hat  das  auch 
schon  erkannt ;  eiog,  sagt  z.  B.  Nitzsch  (bei  Ebeling,  Lexicon  Homericum  I, 
495  b  citiert)  bezeichnet  „bestimmter  das  Jahr",  eviavTdg  heisst  „Kreis- 
lauf, obwohl  Homer  auch  durch  letzteres  ein  bestimmtes  Jahr  bezeichnet". 
Indessen  liegt  doch  auch  in  dieser  Erklärung  ein  gewisser  ungeklärter 
Widerspruch  und  der  Ursprung  des  Wortes  kviavTog  ist  noch  völlig 
dunkel.  Auch  findet  es  sich  in  keinem  anderen  Zweige  unseres  indo- 
germanischen Sprachstammes  wieder,  während  sich  in  FiTog  das  alte  indo- 
germanische Wort  für  die  Jahresfrist  auf  das  reinste  erhalten  hat,  reiner 
als  in  ai.  vatsa-y  t;a^*öra-„Jahr,"  lat.  veius,  ksl.  vetüchü  „alt"  und  den 
anderen  Stammverwandten,  die  im  Vergleichenden  Wörterbuch  der  indo- 
germanischen Sprachen  von  Fick  C^I.  •  128,  II  268)  aufgeführt  sind  und 
denen  sich  noch  albanesisch  viet  „Jahr"  und  lettisch  wezs  {*wetsos)  „alt" 
anreihen  lassen. 


Eine  griechische  und  eine  lateinische  Etymologie.  383 

Wiederholt  ist  nun  der  Versuch  gemacht  worden,  von  diesem  alten 
Wort  auch  hiavTOQ  abzuleiten,  und  zum  teil  von  den  bedeutendsten  Ge- 
lehrten. Ebeling  nennt  Benfey,  Düntzer,  Ascoli  und  Christ.  Auch  Fick  hat 
es  noch  in  der  neuesten  Auflage  seines  für  etymologische  Fragen  grund- 
legenden Werkes  (S.  128)  gethan.  Aber  erstens  bleibt  bei  dieser  Her- 
leitung das  a  von  „Ivt-a-vrog"  unklar,  und  dann  erfahren  wir  dabei  nichts 
über  die  spezielle  Bedeutung  dieses  Wortes.  Die  Alten  erklärten  es  seit 
Plato  aus  ev  eavTcoy  gewiss  in  richtigem  Gefühl  für  die  eigentliche  Be- 
deutung, aber  lautlich  ist  das  natürlich  nicht  zu  rechtfertigen,  und  die 
andere  antike  Erklärung  Ttaga  ro  eviavw  könnte  hier  nur  als  Curiosum 
Erwähnung  finden. 

Um  nun  zunächst  die  Bedeutungssphären  der  beiden  Wörter  erog  und 
hiavTcg,  die  in  der  Synonymik  der  griechischen  Sprache  von  J.  H.  Heinrich 
Schmidt  keinen  Platz  gefunden  haben,  genauer  gegen  einander  abzugren- 
zen, untersuchen  wir  einige  Stellen  Homers,  ß  89  f.  erklärt  Antinous 
dem  Telemach,  dass  alle  Schuld  an  seinem  Unglück  allein  auf  seine 
Mutter  falle, 

TJötj  yccQ  tqLtov  sgtIv  €Tog,  rdxcc  6*  eloL  litaQxov, 

„Denn  schon  ist  es  das  dritte  Jahr,  und  bald  wird  das  vierte  vergehen, 
seit  sie  den  Achäern  den  Sinn  in  der  Brust  bethört."    Nachdem  er  die 
List  der  Penelope  erzählt,  fährt  er  fort  (ß  106  fi;,  vgl.  r  151): 
u)g  TQieieg  ^ev  eXiqd^e  öolit)  yial  eTtetd^ev  ^xacovg, 
aXX    OTB  TSTQaiov  rjXd^ev  erog  -/.aX  eTtrilvd-ov  cbqac, 
xal  Tore  örj  Tig  eeiTte  ywaizaiv,  rj  oaipa  f^ärj, 
xal  rrjv  y  aXXvovoav  IcpevQojxev  ayXabv  Iotov. 
„So  trieb  sie  es  drei  Jahre  heimlich  mit  List  und  beredete  die  Achäer. 
Als  aber  das  vierte  kam  und  die  Hören  herauf  kamen"  ....  Zur  Zeit, 
wo  Antinous  spricht,   ist  also  das  vierte  erog  gekommen  und  wird  bald 
vergehen  (vgl.  Lehrs  Aristarch93  [103]);  erog  bedeutet  also  „Jahresfrist,  das 
Jahr  in  seinem  vielfache  Abteilung  zulassenden  Verlaufe".  Das  passt  überall. 
i^AA*  oze  örj  6Tog  rjX^e  7ieQL7tXo(xev(x)v  eviavTcov 
t(^  OL  ETceycXü'aavTO  -d^eol  olxovöe  vieo&at 
elg  'ld'ay.7]Vf  ovd*  ev-^a  TtecpvyfAevog  rjev  aid-Xwv 
%a.l  (.lera  olac  (plXoioi. 
Der  Beginn  des  Jahres,  in  dessen  Verlauf  ihm  die  Heimkehr  be- 
stimmt ist,  findet  den  edlen  Dulder  noch  nicht  der  Gefahr  entronnen  und 
unter  seinen  Lieben. 

Daher  wird  hog  bei  der  Angabe  der  Zahl  verflossener  Jahre  ge- 
braucht.   Ein  Ross  von  sechs  Jahren  heisst  i^sTi^g,  und  von  entsprechen- 


384  Walther  Pbbllwitz 

den  Adjektiven  stammen  die  Accusative  der  Zeit  eiväereg,  iTtraereg,  so- 
wie 7cevraeteg,  e^aeteg,  deren  a  übrigens  nicht  organisch  ist.  Sie  haben 
es  von  den  beiden  ersteren  bezogen,  zu  denen  man  noch  deTcdereg  stellen 
kann,  wenn  es  auch  wegen  seiner  metrischen  ünverwendbarkeit  bei  Homer 
nicht  vorkommt*). 

Neun  Jahre  lang  {eivaeteg),  so  fabelt  Odysseus  dem  Eumäus  vor 
(g  240),  führten  wir  um  Troja  Krieg.  Als  wir  es  aber  im  Laufe  des 
zehnten  {ti))  denaTu))  zerstört  hatten,  blieb  ich  nur  einen  Monat  daheim, 
sondern  zog  nach  Ägypten.  Dort  blieb  ich  sieben  Jahre  [tJCTaeTeg).  Aber 
als  das  achte  herangerollt  kam  {'AX)!  ore  dr]  oyäoatov  /hol  ucLrcXo^evov  erog 
Tjld'e),  erschien  ein  betrügerischer  Phönizier,  dem  ich  in  seine  Heimat  folgte. 

'dvd-a  Tcaq    avT(^  (xeiva  teXeocpoQov  elg  eviavTov, 
aXX    OTS  drj  /nijvig  ie  y,al  rjfiigaL  e^ereXevvTO 
axp  TteQLteXXofxevov  exeog  y,a\  eTcrjkvd-ov  wgac, 
eg  uiißviqv  ^    Ijtl  vrjog  Maoato  ytovTOTtogoio. 

„Ich  blieb  bei  ihm  bis  zu  (eig)  dem  die  Vollendung  bringenden  hiavTog. 
Als  sich  aber  nun  die  Monde  und  die  Tage  vollendeten,  indem  sich  wieder 
ein  Jahr  (eVog)  herumdrehte  und  die  Hören  heraufkamen,  da  .  .  .  ." 

Hier  finden  wir  schon  hiaviog  in  charakteristischem  Gebrauche. 
Man  betrachte  aber  noch  folgende  Stellen:  x  467 

evd-a  fihv  rj^iara  Ttävra  TeXeocpoQov  elg  evtavTov 

rjfxed^Uy  öaivv^evoi  xgea  t    aOTtexa  y,al  (xid-v  r^dv. 

aXX    ore  örj  q    sviavTog  erjVf  tzbqI  (5'  erguTtov  wQai  .  .  . 

„Dort  sassen  wir  alle  Tage  bis  zu  dem  die  Vollendung  bringenden 
hiavTog,  nie  versiegendes  Fleisch  und  süssen  Meth  uns  verteilend.    Als 

aber  der  evtavrog  war,  die  Hören  herumgewandt  hatten" Sehr  richtig 

übersetzte  Lehrs  (Die  Hören,  Populäre  Aufsätze  S.  56) :  „Als  der  Jahres- 
kreis um  war"  aber  das  „um"  liegt  nur  in  dem  evtavzog,  nicht  in  si]v !  Man 
müsste  also  für  eviavTog  „der  vollendete  Jahreskreis"  als  Bedeutung  ansetzen. 
5  134  und  295  meinen  Agamemnon  und  Odysseus  genau  dieselbe 
Zeit,  die  sie  nun  schon  vor  Troja  liegen.    Jener  sagt: 

evvea  ö^  ßeßaaoi  Aiog  /^leyakov  eviavrol, 
dieser  aber: 

rjfilv  ecvaTog  sgtl  TtegirgoTvicov  kvicevrog 

€v^dde  [iL^vovTeaoi, 


1)  Übrigens  schwankten  die  Alten,  ob  h^hriq  (so  o  koxakwvlzTjg)  oder  k^sti^g 
(BD  7/  nagadooig)  zu  accentuieren  sei,  wie  auch  die  Dialekte  die  Composita  ver- 
schieden betouten:  att.  öexaixriq  (über  die  Deklination  vgl.  Herodian  II.  686),  ion. 
ösxasxriq. 


Eine  griechische  und  eine  lateinische  Etymologie.  385 

Übersetzt  man  hier  aber  eviavTog  einfach  im  Sinne  von  hog,  so 
kommt  man  offenbar  auf  einen  Widerspruch.  „Neun  Jahre  des  grossen 
Zeus  sind  vergangen"  und  „das  neunte  Jahr  ist  im  Herumdrehen"  (Part, 
praesentis!)  ergiebt  das  zweite  Mal  eine  kürzere  Zeit,  da  das  Jahr  Chog) 
beim  Herumdrehen  ja  noch  nicht  vollendet  ist. 

Die  Lösung  ergiebt  sich  ganz  klar  aus  dem  vorigen  und  auch  aus  5  551: 
evx^a  öe  (.ilv  tuvqoiol  Y.a\  agveiolg  llaovTai, 
KOVQOL  ^^rjvalcüv  TteQLxeXXofxivuv  eviavzwv 
„Dort  versöhnen  ihn  mit  Stieren  und  Widdern  die  Söhne  der  Athener, 
''so  oft  der  Tag  des  Festes  wiederkehrt'",  so  Seiler  in  seinem  Wörterbuch 
zu  Homer  fS.  500],  und  auch  die  anderen  Erklärer  nehmen  an,  dass  es 
sich  um  ein  jährliches  Fest  (die  kleinen  Panathenäen)  handele.  Also  be- 
zeichnet eviavTog  nicht  die  Jahresfrist,  sondern  den  Jahrestag,  der 
nach  Ablauf  des  Jahres  (erog)  wiederkehrt. 

Vergegenwärtigen  wir  uns  das  Bild :  das  ETog  ist  ein  Kreis  oder  Eing, 
welcher  sich  herumdreht,  der  eviavTÖg  dagegen  nur  ein  fester  Punkt  in 
demselben,  der  sich  natürlich  mit  dreht.  Wenn  sich  die  errj,  die  Jahre 
drehen,  so  drehen  sich  natürlich  auch  die  eviavrol,  die  Jahrestage,  und 
kehren  zu  ihrer  Zeit  immer  wieder.  Sobald  dieser  Punkt,  der  sviavTog, 
da  ist,  bringt  er  die  Vollendung  des  ezog,  weswegen  er  Telsöcpogog  heisst; 
sobald  er  an  der  Wende  ist  {7ceQiTQ07thov),  ist  ein  exog  vergangen  und 
es  dreht  sich  wieder  eins  herum  (axp  TteQLTilleTaL).  So  ist  es  also  das- 
selbe, ob  Agamemnon  sagt,  neun  Jahrestage  seien  dahingegangen,  oder 
Odysseus,  der  neunte  Jahrestag  sei  im  Umwenden.  Beide  bezeichnen, 
dass  sie  im  Verlaufe  des  zehnten  Jahres  ißTog)  sind. 

Wir  haben  oben  zwei  Participia  als  Attribute  sowohl  zu  exog  als 
hiavTog  kennen  gelernt:  7ieQn:elX6(.Levog  und  neQLTtlofxevog,  Beide  er- 
gänzen sich  grammatisch  in  der  merkwürdigsten  Weise.  Sie  zeigen  näm- 
lich zwar  dieselbe  Bedeutung,  das  eine  aber  ist  ein  Präsens  ohne  Aorist, 
das  andere  gehört  zu  einem  Aorist,  von  dem  es  kein  Präsens  giebt.  So 
scheint  es;  denn  das  TtsQiTteXo^iat  der  Wörterbücher  giebt  es  eben  bei 
Homer  nicht.  In  Wirklichkeit  aber  ist  nichts  einleuchtender,  als  dass  eben 
7ceQLTtX6i.ievog  der  Aorist  zu  dem  Präsens  7teQiTeXX6(.ievog  ist.  Man 
muss  nur  die  sprachwissenschaftliche  Lehre  von  dem  y-Laute  kennen,  der 
im  Griechischen  vor  e  lautgesetzlich  als  t,  vor  der  Liquida,  auf  die  ein 
dunkles  o  folgt,  als  7c  erscheint.  Vgl.  Bechtel,  Hauptprobleme  der  indo- 
germanischen Lautlehre  seit  Schleicher  1892,  S.  337.  So  verhält  sich 
7teQL7tl6(.ievog  zu  7C€QiT€XX6f.i£vog  wie  e7teq)vov  zu  d^elvo).  Die  vorgrie- 
chische Form  des  Verbums,  von  welchem  wir  hier  zwei  wundervoll  ge- 
setzmässige  Formen  vor  uns  haben,  die  dem  Systemzwange   glücklich 

25 


386  Walthbb  Pbellwitz 

entgangen  sind,  würde  Praesens  qeliö,  Aorist  e-glo-m  sein.  Ableitungen 
davon  sind  7t 6 log  „Drehpunkt",  '/.vUvdw  wälze,  7tiX(x),  ßov/.olog  „Einder- 
hirf  *,  aiTtolog  „Ziegenhirt",  und  wohl  auch  das  reduplizierte  xtxAog  „Kreis" : 
wir  können  dem  Stammworte  also  die  Bedeutungen  „treiben,  drehen"  geben, 
das  Compositum  peri  qeliomai  mit  „umdrehen"  übersetzen.  Vgl.  Curtius 
Grundz.5  470,  der  freilich  noch  7teQLTilX(x)  zu  ytela  „tragen"  stellte.  Aber 
diese  Wurzel  heisst  im  Griechischen  „ertragen"  im  Sinne  des  stammver- 
wandten lat.  tolerare,  nhd.  dulden,  ahd.  doten.  Auch  rt/Aw  „hebe"  ge- 
hört nicht  zu  ihr,  sondern  ist  gleich  lit.  keliü,  „hebe",  was  ich  in  meinem 
Etymologischen  Wörterbuche  der  griechischen  Sprache  (s.  v.)  ausgesprochen 
habe.  Im  Grunde  ist  es  wohl  nur  eine  Abzweigung  jenes  qeliö  „treibe, 
drehe". 

Aus  dem  obigen  Bilde  wird  auch  der  Sinn  von  xeXeacpoqog  klar,  das 
als  Attribut  nur  bei  Iviavtog,  nie  bei  etog  steht.  Denn  wie  (<Z>  450  f.) 
die  Hören  den  Göttern  Apollon  und  Poseidon  die  Vollendung  der  Miete 
(xslog  i^uod-olo)  erbrachten  {l^ecpegov),  so  bringt  der  Jahrestag  (iviavTog) 
das  Ende  (r^Xog)  des  Jahres,  wenn  es  sich  ganz  umgedreht  hat.  Wir 
verstehen,  dass  auch  zilog  (eigentl.  „das  Ergebnis  des  Treibens",  „der  Höhe- 
oder Wendepunkt")  zu  rtegL-Tello^ai  gehört.  Vgl.  mein  Etymol.  Wörterb. 
s.  V.  riXXo).  Curtius  (und  so  auch  noch  G.  Meyer,  griech.  Gramm.  2  §  6) 
stellte  das  Wort  zwar  zu  ai.  taras.  Dies  bedeutet  aber  1)  „das  schnelle 
Vordringen",  2)  „das  Fahrzeug",  gehört  also  zu  ai.  tärati  „macht  durch", 
„setzt  hinüber"  (re/^w),  hat  demnach  altes  r  und  nicht  /.  Ich  habe  be- 
reits den  zweiten  Bestandteil  von  'AvyikoT€Qr;g  als  seine  griechische  Ent- 
sprechung nachgewiesen.*)  (Wochenschr.  f.  kl.  Philol.  1891.  Nr.  21.  Sp.  566). 

Auch  warum  grade  die  Präposition  eig  mit  kviavrog  verbunden  er- 
scheint, auch  wenn  releacfOQog  nicht  dabei  steht  {d  595,  X  356),  wird  bei 
der  Bedeutung  „Jahrestag"  klar:  eig  lvtai;2:ov  heisst  „bis  zum  Jahrestage, 
Jahresschlüsse".    Indessen  ist  diese  Bedeutung  auch  bei  Homer  manch- 

1)  Eine  Ableitung  von  xeXoq  „Wendepunkt"  ist  xeXaov^  „die  Stelle,  wo  gedreht 
wird",  namentlich  wo  der  Pflug  am  Ende  der  Furche  herumgenommen  wird  und  die 
begrenzende  Seitenfurche  entsteht,  welche  zsXaov  dgovQrjq  heisst.  Ol  {dQoxijQsq) 
ö^  onoTS  axQExpavzeq  Ixoiaxo  xeXaov  dgovQtiq  ^  544.  Bei  Hesych  heisst  xeXoaq' 
oxQO(päq,  xeXri,  7t£Qaxa.  Vgl.  Curtius  Grdz.  H87.  Die  Zusammenstellung  mit  ai. 
kars  „Furchen  ziehen*',  welche  Delbrück  (Kuhn'sTZeitschr.  XVI.  273)  vorgeschlagen 
und  ich  im  Etym.  Wb.  angenommen  habe,  ist  aufzugeben.  Zimmer  (Kuhn's  Zeit- 
schrift XXX,  211,  Strachan  Beitr.  zur  Kunde  der  indog.  Spr.  XX,  37)  vergleicht  mit 
dem  altindischen  Worte  irisch  cir  (für  kers)  „Kamm,  Striegel".  Dann  hat  es  altes 
r,  was  die  von  Curtius  bereits  hervorgehobenen  Bedenken  unterstützt  und  zur  Trennung 
von  ai.  kars  und  xekaov  führt.  Die  Bedeutung  „Grenzfurche",  die  auch  Curtius 
zur  Annahme  dieser  Vergleichung  bewog,  kommt  dem  homerischen  xe'/.oov  gar  nicht 
zu.  Denn  stets  fügt  er  erläuternd  entweder  dgovQTjq  (N  707.  2  544)  oder  veiolo 
ßa^elTjq  (2*  547)  hinzu. 


Eine  griechische  und  eine  lateinische  Etymologie.  387 

mal  schon  verwischt  und  nähert  sich  bereits  der  späteren  „Jahr".  So 
wenn  es  sig  iviavTov  aTtavza  (J  196)  heisst  oder  gar  bloss  htawov 
cLTtavTa  (o  455).  Den  Accusativus  hiavTov  wird  man  jetzt  auch  in  dem 
Sinne  Ton  „ein  Jahr  lang"  auffassen  (a  288:  tj  rav  rgv^o/nsvog  tibq  etc 
Tkalrjg  IviavTÖv),  ursprünglich  aber  kann  es  auch  einfach  der  Accusativus 
des  Ziels  gewesen  sein,  „bis  zur  Jahreswende",  was  ja  der  Sache  nach 
genau  dasselbe  ist. 

Auch  (M  15)  TceQd^eno  de  TlQtafxoLO  Ttoktg  öexdT(^  eviavrqi  be- 
sagt der  Dativ  von  eviavTog  nichts  anderes  als  der  von  ezec  {B  328  f.) 
üjg  ^iLielg  Toooavx  etea  7ttoXs(.iL^oiiev  avd-i,  t(p  öexdTqj  dh  tioXiv  algr]- 
GOfiev  evQvdyvcav,  Aber  Troja  wurde  ja  wirklich  am  Schlüsse  des  zehnten 
Jahres  zerstört,  in  diesem  Falle  ist  also  ein  Unterschied  zwischen  beiden 
Zeitbestimmungen  kaum  vorhanden.  Auch  ist  die  allgemeinere  t^7  öexaTtt) 
hei  ja  in  der  Weissagung  enthalten.  Es  kam  dem  Dichter  eben  oft  auf  eine 
peinliche  Unterscheidung  von  „Jahr"  und  „Jahrestag"  gar  nicht  an.  Z.  B. 
/  391  f.  oUvov  iqövTtorow,  ibv  evdey.dTO)  eviavrc^  weiter  Ta^lrj  xal  duo 
'/,Q7lde(.ivov  eXvoe  oder  jc  17  f.  wg  ös  TtaTrjQ  ov  Ttalöa  q)lXa  q)Qov^tüv  ctya- 
naOfi  eXd^ovT  l|  ciTtb^g  yalr]g  ösTiaTco  eviavrcp  ...  Es  handelt  sich  hier 
um  rein  poetisch  formelhafte  Zahlen.  Ebenso,  wenn  Zeus  seiner  Ge- 
mahlin und  der  Pallas  Athene  androhen  lässt,  dass  sie  die  Wunden,  die 
der  Blitz  schlägt,  auch  in  zehn  Jahren  nicht  ausheilen  würden ;  ovöe  xev 
eg  ösxccTovg  jteQfvelXoixivovg  eviavrovg,  Ameis  erklärt  dies  für  „eine 
Vermischung  der  beiden  möglichen  Ausdrucksweisen"  ig  öixa  htavTovg 
und  eg  öexarov  eviavTov.  Aber  ich  glaube  nicht,  dass  die  erstere  Ver- 
bindung von  evtavTog  mit  einem  Cardinale  und  eg  bei  Homer  überhaupt 
denkbar  wäre,  sondern  halte  das  Ordinale  hier  für  das  einzig  mögliche. 
Aber  da  der  Singular  „bis  zum  zehnten  umrollenden  Jahrestag"  {lg  öeycaTov 
7veQL7tl6(.ievov  eviavTov)  nicht  ins  Metrum  passt,  trat  der  Plural  ein, 
indem  es  mit  der  Bedeutung  von  eviavtog  weniger  genau  genommen  wurde.') 
Nur  einmal  noch  bietet  die  Ilias  in  dem  Gleichnisse  von  dem  eisernen 
oolog  eine  Grundzahl  mit  eviavTovg,  aber  ohne  sig:  e^ei  f.iiv  xal  Ttevre 
TteQLTcXoi-ihovg  eviavrovg  xQei6(.iavog ,  „fünf  sich  herumdrehende  Jahre 
(eigentl.  Jahrestage)  wird  er  ihn  im  Gebrauch  haben". 

So  sehen  wir  bei  Homer  zwar  die  alte  Bedeutung  von  hiavtog  „Jahres- 
tag" im  allgemeinen  noch  wohl  erkennbar  und  seinen  Gebrauch  von  exog 


1)  Ebeling  führt  I  S.  487  b.  einen  Scholiasten  an,  der  neben  diesem,  dass  das 
abgeleitete  ösxdrovg  für  das  einfache  dexa  stehe,  noch  einen  anderen  Weg  der  Er- 
klärung bietet:  »j  xaza  nagaraoiv  eiq  nokXaq  ösxdöaq  und  fügt  hinzu:  „quorum 
posterius  magis  placet:  auf  Jahrzehnte'^   Ich  sehe  keinen  Anhalt,  den  der  Wortlaut 

dieser  Auslegung  bietet. 

25* 


388  Walther  Prellwitz 

verschieden,  aber  doch  auch  bereits  den  Übergang  zu  der  späteren  Be- 
deutung vollzogen.  Aus  der  Sprache  der  Späteren  wäre  nur  der  Ausdruck 
(.leyag  hiavtog  zu  erwähnen,  der  unten  zur  Sprache  kommen  soll.  Aber 
das  muss  hervorgehoben  werden,  dass  auch  später  niemals  eiq  erog  die 
Bedeutung  von  elg  hiavTov  annehmen  konnte  oder  angenommen  hat.  Eig 
hiavtov  heisst  „bis  zum  Jahrestag",  „bis  Jahresschluss",  „bis  zum  Ablauf 
des  vollen  Jahres",  wie  es  sehr  deutlich  auch  im  Hymnus  auf  Demeter 
V.  399  cf.  hervortritt: 

el  ^  ETiaoo),  7caXLv  avxig  iovd  vtzo  'Kev^eai  yairjg 
oiyii^oeig  wqwv  tqLt  arov  {.ligog  eigiv  luvtSv, 
Tag  öh  övw  TcaQ  kjnol  xe  y,ai  aXloig  a^avaroiatv. 
„Wenn  du  gegessen  hast,  wirst  du  den  dritten  Teil  der  Hören  bis  zum 
Jahresschluss  (=  des  vollen  Jahres)  wieder  zurückkehrend  in  den  Tiefen  der 
Erde  wohnen,  zwei  Drittel  (sc.  wgag)  bei  mir  und  den  andern  unsterblichen 
Göttern",  spricht  Demeter  zu  Persephone,  „tertiam  cuiusvis  anni  partem" 
übersetzt  Ebeling  die  fraglichen  Worte  freier.  Wenn  es  dagegen  bei  Sophokles 
(Ant.  340)  heisst  erog  eig  erog  oder  bei  Theokrit  (18.  15)  dg  erog  l^  ereog 
„von  Jahr  zu  Jahr",  so  handelt  es  sich  hier  nur  um  den  Übergang  von  einem 
Jahreslauf  in  den  andern,  nicht  um  die  Erreichung  des  Jahresabschlusses. 
Welches  ist  nun  aber  der  Ursprung  unseres  Wortes?  Um  das^  recht 
deutlich  zu  erkennen,  müssen  wir  uns  die  Art  klar  machen,  wie  die 
homerische  Welt  sich  das  Enteilen  der  Zeiten  und  des  Jahres  veranschau- 
licht. Diese  Anschauung  fusste  aber  ganz  auf  der  Beobachtung  der  Natur. 
„Die  Geschlechter  der  Menschen",  sagt  Glaukos,  „sind  wie  die  der  Blätter. 
Die  einen  wirft  der  Wind  zu  Boden,  und  der  sprossende  Wald  lässt  andere 
wachsen,  wann  die  Frühlingszeit  kommt.  So  wächst  das  eine  Geschlecht 
der  Männer  heran,  das  andere  entschläft."  —  So  kommen  auch  im  Jahres- 
laufe immer  neue  Hören  (Zeitwellen,  wie  Lehrs  schön  übersetzt),  die  des 
Wintersturmes,  des  Lenzes,  die  Sommerhitze  und  der  gesegnete  Nach- 
sommer^), und  auch  in  der  Nacht  erscheinen  immer  neue  Gestirne,  von 

1)  In  Delphi  und  danach  auch  in  Athen  waren  die  Monate  geteilt  zwischen  dem 
Lichtgott  ApoUon  und  dem  winterlichen  Dionysos  (Curtiua,  Gr.  Gesch.  1, 313;  Preller, 
Gr.  Myth.  I,  572),  Dazu  passt  wenig  die  neueste  Erklärung  des  zweiten  Göttemamens 
als  „Himmels-  oder  Lichterguss",  die  Fick  gesucht  hat  (Die  griechischen  Personen- 
namen von  August  Fick,  2.  Aufl.,  bearbeitet  von  Fritz  Bechtel  und  August  Fick, 
Gott.  1894,  S.  439).  Er  sagt,  „ursprünglich  eine  Form  des  Zeus,  dessen  Namen  er  in 
der  ersten  Hälfte  seines  Namens  trägt :  Ji/^o-owaog  aus  -avvrjog.  Das  zweite  Ele- 
ment gehört  zu  va^(o  aus  snavo,  fliesse".  Auch  lautlich  befriedigt  diese  Erklärung 
nicht,  weil  sie  die  attische  Form  Aiowaoq  mit  ihrem  o  (nicht  a>)  nicht  erklärt.  Ich 
habe  (de  dial.  Thess.  31)  zur  Erklärung  der  von  den  Dialekten  gebotenen  Formen  ein 
Nebeneinander  von  /Jioaöorog  neben  /Jioöozog  angenommen.  Wilh.  Schulze  (Quae- 
stiones  ep.  79)  stimmt  mir  darin  bei  und  fördert  unsere  Einsicht,  indem  er  in  dem 
amorginischen  JIENYimS  Jisiviawit)  (Bechtel,  Ion.  Inschr.  31)  eine  andere  alte 


Eine  griechische  und  eine  lateinische  Etymologie.  389 

denen  Homer  den  Hundsstern  als  den  des  Nachsommers  bezeichnet: 
aGtrjQ  OTtwQLvog,  og  re  /.idXiaTa  lafiTtQov  7ta(.i(paiviß0i  Xelov/nevog^ ^xea- 
volo.  {E  5  f.)  Aber  von  einer  genaueren  Beobachtung  des  Sonnenlaufes 
oder  einem  bestimmten  Jahresanfang  findet  sich  bei  Homer  noch  nichts. 
Wenn  es  o  404  heisst  ÖQrvylrjg  xa^v^tegd^ev,  od^i  rgonal  rjelloLo,  so  ist 
hier  bekanntlich  nicht  die  Sonnenwende  in  unserem  Sinne,  sondern  die 
tägliche  Wendung  der  Sonne  gemeint,  welche  sie  machen  muss,  um  von 
Westen  nach  Osten  zu  kommen. 

Die  späteren  Griechen  haben  viel  Mühe  darauf  verwendet,  den  Tag 
der  Sonnenwende  festzustellen.  Pherekydes  scheint  dazu  (nach  E.  Curtius, 
Griech.  Gesch.  II,  280)  eine  Felshöhle  benutzt  zu  haben,  die  Sonnenhöhle 
genannt  wurde.  „An  anderen  Orten  waren  es  Felsberge,  welche  dadurch, 
dass  sie  den  Horizont  mit  scharfen  Linien  schneiden,  die  Beobachtung 
des  nördlichsten  und  südlichsten  Aufgangspunktes  der  Sonne  sehr  erleich- 
tern. So  diente  den  Methjmnäem  auf  Lesbos  der  hohe  Lepetymnos,  den 
Einwohnern  von  Tenedos  der  Ida;  hier  machte  Kleostratos,  dort  Matriketas 
astronomische  Forschungen."  Den  Athenern  leistete  der  schroffe  Lyka- 
bettos  diesen  Dienst.  „Denn  man  sieht  am  längsten  Tage  die  Sonne  ge- 
rade aus  dem  Winkel  aufsteigen,  welchen  die  scharfen  Kanten  des  Lyka- 
bettos  und  die  dahinter  liegenden  Berglinien  des  Brilessos  miteinander 
bilden."  Diesen  Vorzug  erkannte  ein  gewisser  Phaeinos,  und  dann  be- 
stimmte Meton,  ein  Zeitgenosse  des  Perikles,  mittels  eines  von  ihm  er- 
fundenen Instrumentes,  des  Heliotropions,  den  jährlichen  Sonnenlauf 
wissenschaftlich.  Der  Name  des  ^vycaßrjTTog  aber  weist  darauf  hin,  dass 
der  Berg  ähnlichen  Zwecken  schon  lange  vor  Phaeinos  gedient  haben 
muss.  Grasberger  (Griech.  Ortsnam.  169  ff.,  citiert  von  Johansson,  Beitr. 
zur  griechischen  Sprachkunde  1891,  S.  15)  nennt  viele  ähnliche  Namen  aus 
deutschen  Gegenden  wie  Sonnjochj  Sofinenwendstein,  Mittagsjoch,  Aller- 
dings kommt  Johansson's  jüngste  Besprechung  der  Laute  von  ^vxaßr]TT6g 
und  Ivxaßag  noch  zu  keinem  ganz  feststehenden  Ergebnisse,  aber  dass 


Form  des  Genetive,  nämlich  /Jiseg ,  erkennt.  Vgl.  lat.  nominis  und  nominus.  Er  ge- 
steht aber,  dass  er  den  zweiten  Teil  von  Aißo((;)'VVGoq  nicht  erklären  könne.  Den 
Versuch  der  Gebrüder  Baunack,  den  Gott  zum  „zweiklauigen",  öiovvxLoq,  zu  machen 
(Inschrift  von  Gortyn  66.  Stud.  auf  d.  G.  d.  Griech.  I.  71)  erwähnt  er  wohl  mit  Absicht 
tlberhaupt  nicht.  Denn  xj  müsste  aa  oder  tt  ergeben.  Ungezwungen  erklärt  sich 
das  o  aus  ^j  wie  in  (Xbooq  neben  medius.  Da  scheinen  mir  die  Glossen  des  Hesych 
vvd^ov  '  ä<pwvov ,  Gxozeivöv  und  w^wöeq  •  axozetväjösq  sehr  zu  berücksichtigen. 
*  Ji^oq-vvdjoq  wäre  also  „Himmelsdunkel"  und  des  Gottes  Beziehungen  zum  Dunkel 
des  Winters  und  der  Nacht  sind  bekannt  genug.  Er  heisst  z.  B.  NvxttXioq  (von 
vvxTs?Mv' iv  vvxzl  xeXslv ,  das  aus  *vvxTLxeXeiv  zu  erklären,  wie  dficpoQevq  aus 
dß(fi(poQ£vq  und  auch  z.  B.  Scaevola  aus  Scaevovola  „Link-hand") ,  und  in  Delphi 
wurden  ihm  zur  Zeit  des  kürzesten  Tages  Opfer  an  seinem  Grabe  dargebracht. 


890  Walthbe  Prellwitz 

der  Berg  seit  alten  Zeiten  der  Beobachtung,  der  Feststellung  des  Jahres- 
kreiaes  diente,  ist  eine  allgemeine  Annahme.  Curtius  I  671  Anm.  131 
nennt  ihn  den  „Jahresberg".  Merkte  man  sich  auch  nur  den  Punkt  genau, 
wo  die  Sonne  hinter  „der  höchst  wunderlichen,  übermütig  schroffen, 
springenden  Gestalt"  des  Berges  an  einem  bestimmten  Morgen  hervor- 
trat, so  konnte  man  danach  den  hiavTog^  die  Zeit  „über  Jahr  und  Tag** 
erkennen  und  bestimmen,  auch  ohne  ein  bestimmtes  Kalenderjahr  fest- 
gesetzt zu  haben  ^). 

Für  Leute  ohne  Kalender  ist  ein  Jahr  zu  Ende,  wenn  der  Kreis  der 
Erscheinungen  in  der  Natur  und  am  Himmel  abgelaufen  ist,  wenn  man 
wieder  an  demselben  Punkte  angekommen  ist,  d.  h.  auf  griechisch 
Bvl  avTcf)^  oder,  da  die  Präposition  und  ihr  Casus  ja  unter  einem  Ton 
gesprochen  wurden,  zusammengeschrieben  eviavTO)  „am  Jahresschlüsse". 

Nach  dieser  Deutung,  welche  den  Lauten  bis  auf  den  Accent  gerecht 
wird,  bedeutet  hiavxog  demnach  eigentlich  den  Punkt,  wo  der  Kreislauf 
wieder  zu  seinem  Anfange  gelangt,  später  den  Kreislauf  selbst,  aber  nicht 
eigentlich  die  Jahresfrist.  Ein  Gefühl  davon  hat  sich  bis  in  spätere  Zeit 
erhalten,  indem  hiavrog  auch  für  die  achtjährige  Periode,  die  ozTaerrjQlg, 
und  sogar  für  den  neunzehnjährigen  Cyclus  des  Meton  gebraucht  wurde. 
Denn  in  neunzehn  Jahren,  sagt  Diodor  XH  36,  2,  to  aarga  ttjv  arco- 
ytazdaraoiv  TCOLSlTai  xal  '/.ad-aitsq  eviavTOv  Ttvog  /ueydXov  tov  dva- 
Y,vXLG(.ibv  Xaf^ißccvei'  dib  v.ai  xiveg  avTov  Merwvog  ev lavzov  ovo- 
fid^ovGL,  Man  sieht,  auch  hier  liegt  der  Schwerpunkt  auf  der  ccTtoy.a- 
TccGTaGig  T(xJv  aGTQwv,  der  Wiederkehr  der  Gestirne  in  dieselbe  Stellung. 

Nur  drei  Punkte  bedürfen  vielleicht  noch  einer  näheren  Erörterung, 
nämlich  1)  amog  ohne  Artikel  in  der  Bedeutung  „eben  derselbe",  2)  die 
Entstehung  des  selbständigen  Substantivums  eviavTog  aus  dem  präpositio- 
nalen  Ausdruck  evl  avrcp  und  endlich  3)  warum  dasselbe  gerade  ein 
Masculinum  geworden  ist. 

Der  erste  Punkt  ist  sehr  bald  erledigt.  Bei  Homer  ist  der  Gebrauch 
des  Artikels  sehr  beschränkt,  er  hat  noch  hinweisende  Kraft,  fehlt  also 
auch  bei  amog  ohne  weiteres  öfters  z.  B.  M  225  ov  yLOGfitt)  Ttagd  vav- 
g)iy  eXevGOfusd^  avzd  y.eXevd'a  oder  x  159  og  qoc  fxot  vipUsQiov  eXacpov 
fxiyav  eig  oöbv  avTTjv  t^ksv,  -S-  107  t^qxs  öe  t^J  avTrjv  odov,  rjvTteg  ol 
alloLf  cp  366  avTCLQ  6  d^i]'/.e  cpegojv  avTJj  ivl  xwQj}  „er  legte  (den  Bogen) 
an  denselben  Platz". 

Das  Pronomen  avTog  „ipse,  idem"  ist  auch  ein  speziell  griechisches 
"Wort,  das  man  teils  als  eine  Verbindung  zweier  Demonstrativa  {av  in 
avd^L  „dort" :   ai.  ava,  ab.  ava,  ksl.  ovüt  , jener"  und  to-,  tov  u.  s.  w.  — 

1)  Vgl.  Stengel,  Hermes  XVIII.  1883.  305. 


Eine  griechische  und  eine  lateinische  Etymologie.  391 

der  Nominativ  Mac.  und  Fem.  Sing,  ist  nach  der  Analogie  der  übrigen 
Kasus  geformt),  teils  aus  av  „wieder"  und  demselben  Pronomen  lo-  er- 
klärt (z.  B.  Pott,  Etym.  Forsch.  11,  243).  Für  die  Bedeutung  „ipse"  ist 
vielleicht  die  erste,  für  die  Bedeutung  „idem"  gewiss  die  zweite  Annahme 
richtig.  Wenigstens  kann  man  an  mehreren  der  obigen  Stellen  „wieder 
der"  für  „derselbe"  sagen  und  auch  hl  avTci}  lässt  sich  als  evl-av-icp 
„an  wieder  dem  Punkte"  deuten. 

Kehrte  dieser  Punkt  etwa  zum  zehnten  Male  wieder,  so  lag  es  nahe, 
zu  eviavTco  das  Ordinale  mit  gleicher  Endung,  also  öexaro),  hinzuzusetzen. 
So  findet  man  bei  Homer  auch  evöc'/Mzcp  und  ieixooTcp  kvtavTci}.  Hierin 
wurde  eviavTw  als  ein  Nomen  im  Dativus  gefühlt,  und  es  ist  nicht  wunder- 
bar, dass  man  dazu  den  Accusativus  bildete,  sobald  jener  Punkt  als 
Ziel  angenommen  wurde:  eviavrov  oder  eig  evtavTov,  An  diesen  Kern 
schlössen  sich  die  übrigen  Kasus  leicht  an. 

Diese  Erscheinung  nun,  dass  ein  adverbialer  Ausdruck,  besonders 
des  Orts  und  der  Zeit,  bei  der  Bildung  eines  voll  durchflektierten  Nomens 
zu  Grunde  gelegt  wird,  findet  sich  in  allen  Sprachen  häufig.  Wir  sagen 
„der  zufriedene  Mensch",  „das  vorhandene  Material'^  „ein  behender  Junge", 
und  doch  sind  die  hier  als  Attribute  verwendeten  Adjectiva  „zufrieden", 
„vorhanden",  „behende"  eigentlich  präpositionale  Ausdrücke  „zu  Frieden" 
(Dat.  Sg.,  mhd.  mit  friden),  „bi  hende"  (Dat.  Sg.  vgl.  ahd.  zi  henti  „so- 
fort", „zur  Hand"),  „vor  Händen"  (Dat.  Plur.).  Usener  hat  (Fleckeisen's 
Jahrbücher  1878,  71  ff.)  dies  „Hypostase"  oder  „Verselbständigung" 
genannt.  Er  führt  eine  Zahl  ähnlicher  Fälle  aus  mehreren  Sprachen  an, 
z.  B.  avaloyog  aus  ava  Xoyov  y  hciö^^iog  aus  STti  de^ia ,  perfidus  aus 
per  fidem,  und  meridie  aus  dem  Lokativ  meri  die,  womit  sich  unser 
„Mitternacht"  (ahd.  zi  mitteru  naht)  vergleichen  lässt. 

Andere  Beispiele  giebt  Johansson  in  den  Beiträgen  zur  Kunde  der 
indogermanischen  Sprachen  Bd.  XIII,  111  f.  und  XIY,  164  f.  169  ff.,  bei 
dem  man  auch  einige  weitere  Litteratur  findet.  Er  nennt  Ortsnamen 
wie  Amberg,  Amsteg,  Jmhof,  Ähnlich  sind  Freienwalde y  Rotenburg, 
Ilohenstein,  Harten/eis  aus  den  adverbialen  Ortsbezeichnungen  „im  freien 
Walde",  „auf  der  roten  Burg",  „auf  dem  hohen  Stein",  „auf  dem  harten 
Fels"  entstanden,  indem  zwar  die  Präposition  wegblieb,  die  von  ihr 
regierte  Form  des  Attributes  aber  nun  in  allen  Kasus  beibehalten  wurde. 

Zu  allen  Zeiten  kann  man  solche  Hypostasen  beobachten.  In  den 
Worten  des  Achill  (^  88):  tf-iev  ^aivTog  Aal  htl  x^-ovl  dsQxo/xevoLO  und 
den  ähnlichen  des  Eurymachos  (^c  439)  KcüovTÖg  fk/nsd-ev  xal  STtl  x^ovl 
deQxof,ievoio,  zeigt  sich  deutlich  der  Ursprung  des  homerischen  €7tix^6vtog 
„Erdenbewohner".    So  erklären  sich  auch  evöuog,  evöo^og  und  Ttagado^og. 


392  Walthbb  Peellwitz 

iTtLÖri^iog  und  hcldrjf-iog,  fxeiaörifXLoq  und  ^tradrifxog  (Hesych.),  iiena- 
QLd-ixLog,  fietavyjviog,  fi€Taq}Q€vov  „ea  pars  dorsi,  quae  inter  cpgevag  est", 
VTtiqd-vQov  und  vTtegd-vQLOv,  ewofiog,  evonXog  und  kvoTtXiog,  €q)r)fX€Qog, 
lq)ioxiogy  €vaXog  und  BväXiog,  vcpaXog,  e^akog,  'icpaXog, 

Dem  griechischen  evaXog  „im  Meere  befindlich"  ganz  anlog  gebildet 
ist  lat.  insulttj  aus  *in  sah.  Dagegen  bei  dem  litauischen  sala  „Insel" 
ist  die  Präposition  bei  der  Hypostase  nicht  mitgenommen,  wie  bei 
„Freienwalde"  oder  etwa  gr.  ahog,  x^oviog,  femer  auch  öLv.aiog,  axfialog, 
(.lioaiov ,  Qrjßaiogf  TceixTtTalog,  voregalog,  die  durch  Hypostase  der 
Lokative  *öUaL  =  hv  äUj]^  Q)]ßat  in  Qiqßai-yevrigy  * fiioac  (vgl.  fxeoaL- 
yevjg,  gebildet  wie  „Freienwalde"),  *7C€(.i7tTaif  voTigai  [rji^iQai]  am  fünften, 
folgenden  Tage  entstanden  sind,  wie  ich  an  einem  andern  Orte  zeigen  will. 

Warum  hat  aber  das  lateinische  insula  das  weibliche  Geschlecht  an- 
genommen? Weil  man  das  neugeschaffene  Wort  auf  die  Mutter  Erde 
bezog.  Und  welches  männliche  Wort  oder  Wesen  hat  man  zu  eviavTog 
hinzu  zu  denken?  Kein  anderes,  meine  ich,  als  den  Vater  Zeus,  der 
selbst  auch  releocpoqog  heisst,  als  dessen  Eigentum  Homer  ja  die  hviavrol 
ausdrücklich  bezeichnet.  Gewiss  klingt  das  für  den  sonderbar,  der  nur 
an  den  homerischen  Göttervater  in  seiner  ausgeprägten  Persönlichkeit 
denkt.  Aber  man  vergegenwärtige  sich,  was  Lehrs  in  dem  Aufsatze  über 
die  Hören  so  schön  auseinander  setzt,  nämlich,  dass  der  appellative  Ge- 
brauch und  der  personifizierte  oftmals  gar  nicht  zu  scheiden  sind.  Und 
als  Appellativ  hat  Zeus  einmal  „lichter  Himmel,  Tag"  bedeutet.  Diese 
Deutung  verbürgen  uns  nicht  nur  das  Altindische  und  das  Lateinische, 
welches  uns  dies  Tag  =  Zrjg,  Zevg  bietet  und  Diespiter  =  Zeig  TtarriQ 
samt  dem  ursprünglichen  Vokativ  Jttppiter  =  Zev  tccctsq,  sondern  auf 
dem  Boden  des  Griechischen  ein  bisher  noch  nicht  genannter  Fall  von 
Hypostase.  ''Evöiog  heisst  „mittäglich"  und  „unter  freiem  Himmel".  Ist 
das  t  lang,  wie  bei  Homer,  so  steht  es  für  IvöißLog,  kurz,  wie  z.  B.  bei 
ApoUonius  Rhodius,  für  evöi^og,  beide  Formen  aber  erwuchsen  aus  h 
JljtI  „im  Zeus,  im  lichten  Tage",  wie  evakog  und  hahog  aus  hv  aki. 
(Vgl.  Legerlotz  Kuhns  Zeitschr.  VII,  299  und  Schaper,  quae  genera  compo- 
sitorum  apud  Homerum  distinguenda  sint,  Progr.  von  Coeslin  1873  p.  4, 
nach  Schulze  Quaestiones  epicae  253  n.) 

Ich  will  mich  hiemit  keineswegs  in  einen  Gegensatz  zu  Lehrs  setzen, 
der  gezeigt  hat,  wie  falsch  es  ist,  die  griechische  Religion  als  Natur- 
religion zu  betrachten.  Aber  wenn  Lehrs  seinen  populären  Aufsätzen  die 
Erinnerung  voraufschickt,  dass  er  unter  Griechen  dasjenige  Volk  verstehe, 
das  in  Griechenland  gewohnt  und  Griechen  geheissen  habe,  durchaus 
keine  Nation  am  Ganges  oder  Himalaya^  so  muss  ich  hervorheben,  dass 


Eine  griechisclie  und  eine  lateinische  Etymologie.  393 

es  sich  hier  nicht  um  den  Zeus  Homers  handelt,  sondern  um  einen  viel 
älteren.  So  gut  wie  eviavTog  bei  Homer  zwar  noch  Spuren  seines  Ur- 
sprungs, aber  auch  schon  die  spätere  Bedeutung  zeigt,  wie  wir  also  seine 
Entstehung  in  eine  viel  frühere  Zeit  zurückverlegen  müssen,  ebenso  wenig 
dürfen  wir  das  Substantiv,  worauf  es  bezogen  zu  denken  ist,  den  ur- 
griechischen Zsvg,  oder,  wenn  man  lieber  will,  Dieus,  „Himmel,  Tag"  mit 
dem  homerischen  Göttervater  verwechseln.  Gewiss:  wir  können  das 
Griechentum,  also  auch  die  griechische  Sprache  und  Keligion,  nur  aus 
den  Griechen  selbst  verstehen  lernen,  aber  ihren  Ursprung  und  ihre  Vor- 
geschichte erkennen  wir  nur  durch  die  Yergleichung  verwandter  Sprachen. 
Mit  Recht  giesst  der  grosse  Philologe  die  Schale  seines  Spottes  über  den 
aus,  der  divus  Augustus  „sanskritanisch"  erklären  wollte,  nicht  minder 
gerechtem  Spott  aber  verfällt  der  Philologe,  der  sich  jetzt  ohne  Kenntnis 
der  vergleichenden  Sprachwissenschaft  auf  Ursprungserklärungen  alter- 
erbten Sprachgutes  einlässt.  Vermag  er  doch  nicht  einmal  zu  konstatieren, 
dass  7tsQLT;elX6f.iEvog  das  regelrechte  Präsens  zum  Aorist  TteQtTtXofxevos 
ist.  —  Doch  ich  wollte  eigentlich  nur  sagen,  dass  ich  von  dem  richtigen 
Lehrsischen  Standpunkte  nicht  im  mindesten  abzuweichen  glaube,  wenn 
ich  zu  dem  durch  Hypostase  aus  hl  avrc^  neu  entstandenen  Nomen  den 
Vater  Zeus  ergänze.  Denn  auch  „Vater"  heisst  er,  wie  bei  den  Griechen 
so  bei  Indern  und  Eömem.  Und  damit  ist  auch  das  Geschlecht  von 
evLavTog  „Jahrestag"  erklärt. 

n.  Lat.  sospes. 

Früher  pflegte  man  sospes  mit  sänus  und  griechisch  oaog,  owg  zu 
vergleichen.  S.  Vanicek,  Etymologisches  Wörterbuch  der  lateinischen 
Sprache^  145.  Aber  seitdem  das  anlautende  o  in  Gaog  aus  t/  erklärt 
ist  {tvavos,  s.  Fick,  Vgl.  Wörterbuch  der  indogermanischen  Sprachen^  L 
449,  Vf.  Etymologisches  Wörterbuch  der  griechischen  Sprache  279),  ist 
die  zweite  Zusammenstellung  hinfällig  geworden.  Das  lateinische  sänus 
„gesund"  gehört  samt  an.  son,  ahd.  suona  nhd.  Sühne  zu  ]/  sä  „sättigen, 
befriedigen"  (Fick^  I.  557).  Wie  man  aber  aus  dieser  auf  sospes  oder 
gar  sispes  kommen  will,  ist  nicht  abzusehen. 

Neuerdings  hat  A.  Zimmermann  einen  neuen,  interessanten  Versuch 
gemacht,  sospes,  seispes,  sispes  als  „*w/  (com)  pos^^  zu  erklären  (Programm 
des  Gymnasiums  zu  Celle  1893,  11).  Ohne  mich  aber  auf  die  formellen 
Bedenken,  die  dem  entgegenstehen,  einzulassen,  muss  ich  diese  Vermutung 
schon  der  Bedeutung  wegen  abweisen.  Aus  „seiner  mächtig"  kann  man 
vielleicht  zu  „heil"  gelangen,  aber  unmöglich  zu  „heilbringend",  „rettend", 
und  doch  ist  diese  Bedeutung  uralt,  wie  der  Beiname  der  Juno  Sispes 


394  Waltheb  Prellwitz 

oder  Sospita  beweist.  Vanicek  kommt  der  Grundbedeutung  viel  näher, 
wenn  er  das  Wort  mit  „heilschützend"  (zu  „]/  pnt  schützen")  wiedergiebt, 
aber  deutlicher  und  klarer  noch  ergeben  sich  beide  Bedeutungen,  sowohl 
„wohlbehalten"  als  auch  „rettend",  wenn  man  als  Grundbedeutung  „das  Heil 
besitzend",  „Heilsherr"  ansetzt.  Denn  wer  Herr  über  das  Heil  ist,  ist  selbst 
unversehrt,  kann  aber  als  Gott  auch  anderen  rettend  das  Heil  verleihen. 

Dann  kommen  wir  dazu,  im  zweiten  Teile  potis  „Herr"  (vgl  griech. 
Ttooigf  ai.  pdtis,  lit.  pat(})s  „Ehemann")  zu  sehen.  So  hat  man  hospes, 
das  Reimwort  zu  sospes,  schon  längst  aus  hosti-potis  erklärt  S.  Vanicek 
a.  a.  0.,  Brugmann,  Grundriss  der  vergl.  Gramm.  I.  74.  475.  Es  müsste 
dann  „Fremdenschützer"  heissen.  Freilich  macht  den  Auslaut  das  nicht 
ganz  klare  Verhältnis  zu  kirchenslavisch  gospodX  „Herr",  gospoda  „Herr- 
schaft, Bewirtung"  (s.  Fick  a.  a.  0.'*  417)  einigermassen  unsicher.  S.  u.  S.  396. 
Aber  an  der  Möglichkeit,  -pes  aus  -potis  zu  erklären,  lässt  sich  nicht 
zweifeln.  Ebenso  wenig  daran,  dass  die  Schlusssilbe  des  ersten  Gliedes, 
-ti-,  verschwand,  indem  zunächst  das  i  und  dann  natürlich  auch  das 
zwischen  s  und  p  geklemmte  t  in  *host-potis  ausfiel.  Denn  in  drei-  und  mehr- 
silbigen Wörtern  fällt  ein  mittlerer,  von  Natur  kurzer  Vokal  regelmässig 
aus.  Vgl.  reppuli  repperi  aus  *repepuli  u.  s.  w.,  cette  aus  ce-date,  surgo  aus 
subrego,  ergo  und  ergü  aus  *  e  rogö,  *  e  rogä,  qulndecim,  undecim,  praeco 
aus  *praevoco,  aetas  aus  *awoiäs  oder  *aivitüs.  So  steht  auch  salüber, 
Stamm  salübri  für  *salüti-bheri-s.  Denn  ich  meine  [mit  Corssen^  I.  486, 
Vanicek  2  299],  dies  Wort  ist  nicht  suffixal  erweitert,  sondern  ein  verdunkeltes 
Compositum,  zu  vergleichen  ai.-ved.  saho-bhäris  „Kraft  (ÄßÄa*)  bringend". 

Ein  solches  Compositum  ist  auch  sospes.  Im  Altindischen  würde  es, 
wie  ich  glaube,  * suasti-paiis  „Herr  des  Wohlseins"  lauten,  in  der  Laut- 
form der  Ursprache  * suesti-pot(i-)s.  Der  erste  Teil,  das  ai.  suasti-s,  svastis 
„Wohlsein,  Heil,  Segen",  wird  schon  im  Rigveda  gern  zu  ähnlichen  Zu- 
sammensetzungen verwendet,  z.  B.  suasti-väh  „Segen  mit  sich  führend", 
*suasti-dä  „Wohlsein  gebend". 

Aus  *suestipotis  ist  *suespotis  und  dies  regelrecht  zu  sospes  geworden, 
wie  *svesör  „Schwester"  zu  sojwf\  *svecrus  „Schwiegermutter*'  zu  socrm, 
*svepnos  „Schlaf"  zu  somnus,  duenos  zu  bonus.  (Vgl.  Brugmann,  Grundr.  I. 
§172).  Daneben  scheint  es  in  lateinischen  Wörtern  eine  andere  Ent- 
wickelung  von  sve  zu  se  gegeben  zu  haben.  Indessen  sind  die  bei  Brug- 
mann, Grundr.  I.  §  170  angeführten  Beispiele  nicht  sicher  zu  beurteilen. 
Dass  st  „wenn"  mit  osk.  svaiy  svae,  umbr.  sve  „si",  volsk.  se-pis  „si  quis" 
zusammengehört,  ist  ja  wahrscheinlich,  aber  hier  wie  in  altlat.  sis  =  suis 
kann  auch  die  Tonlosigkeit  für  den  Verlust  des  v  verantwortlich  gemacht 
werden,  wofür  wir  weiter  unten  Belege  kennen  lernen  werden.    In  se.v 


I 


Eine  griechische  und  eine  lateinische  Etymologie.  395 


war  der  ursprüngliche  Anlaut  nicht  sv-,  sondern  noch  komplizierter,  viel- 
leicht ksv  (vgl.  griech.  ^saTrig^  Vf.  Etym.  Wörterb.  s.  v.,  ab.  khsvas),  und 
er  zeigt  in  fast  allen  Sprachen  ein  verschiedenes  Aussehen.  Dass  serenus 
zu  ai.  svar  „Glanz,  Sonne"  gehört,  werden  Brugmann  nicht  viele  glauben. 
Man  vergleicht  mit  diesem  altindischen  Wort  vielmehr  r^hog,  und  so  hatte 
wohl  Warton  (Etyma  latina  1890,  S.  94)  Kecht,  wenn  er  serenus  „dry", 
seresco  Lucr.  I.  306  „get  dry"  als  unerklärt  betrachtete.  Gehört  es  zu  ^Tqqog, 
^sQog?  Aber  selbst  zugegeben,  dass  sve-  bald  so-,  bald  se-  geworden  sei,  es 
würde  doch  immer  auffallend  bleiben,  warum  grade  in  sospes-Sispes  beide 
Entwickelungen  neben  einander  liegen.  Diese  Thatsache  verlangt  ihre 
Erklärung.  Vielleicht  lässt  sie  sich  in  Lautverhältnissen  der  indoger- 
manischen Ursprache  finden;  denn  dieser  müssen  wir  das  Wort  su- 
esti'S  „Wohlsein"  schon  zuschreiben.  Das  Praefix  su-  „wohl"  hat  sich 
nämlich  sonst  im  Lateinischen  gar  nicht  erhalten,  nur  der  arische  Sprach- 
stamm und  der  keltische  zeigen  es  in  lebendiger  Verwendbarkeit.  Die 
Zusammensetzung  mit  dem  Abstractum  *es-ti-s  „das  Sein"  kann  also  auf 
dem  Boden  des  Lateinischen,  überhaupt  des  Italischen,  nicht  mehr  voll- 
zogen sein,  muss  vielmehr  in  die  Ursprache  hinaufreichen.  Das  griechische 
deoTOj  „Wohlsein"  ist  zwar  eine  ganz  entsprechende,  aber  unverkennbar 
speziell  griechische  Bildung.  Auch  das  Compositum  sospes,  Sispes  (*suesti- 
potis)  passt  mit  seinem  feierlichen  Klange,  den  es  zweifellos  hat,  zu  der 
Annahme  so  uralten  Ursprunges  auf  das  beste.  Nun  ist  es  weiter  be- 
merkenswert, dass  die  Form  mit  i  nur  als  Beiname  der  Juno  belegt  ist. 
Festus  bezeugt  sie  nur  als  solchen :  „Sispitem  lunonem,  quam  vulgo  Sos- 
pitem  appellant,  antiqui  usurpabant,  cum  ea  vox  ex  Graeco  videatur  sumpta, 
quod  est  owt^eiv^''.  Es  ist  femer  klar,  dass  das  Wort  als  Attribut  einer 
Göttin  oft  im  Anruf  als  Vokativ  gebraucht  wurde,  als  gewöhnliches  Ad- 
jectivum  aber  nicht.  Auf  diese  Verschiedenheit  der  Funktion  ist  mithin 
auch  der  Unterschied  in  den  Lauten  zurückzuführen,  der  das  gewöhnliche 
sospes  von  dem  Götterbeinamen  Sispes  scheidet. 

Dass  die  Form  des  Vokativs  auf  die  Gestaltung  der  Göttomamen  von 
Einfluss  gewesen  sei,  ist  keine  neue  Annahme.  Oben  erwähnten  wir  den 
alten  Vokativ  Juppiter  =  Zev  TtocTeg,  der  im  Lateinischen  den  Nominativ 
Diespiier  ganz  verdrängt  hat.  Das  o  in  dem  Namen  des  ApoUon  und 
des  arkad.  noaocöavog  (vgl.  boöt.  JIoToiödixog)  habe  ich  (Beiträge  zur 
Kunde  der  indogerm.  Spr.  1885,  Bd.  IX,  327)  aus  dem  Vokativ,  in  dem  es 
regelrecht  durch  Ablaut  zu  e  entstanden,  hergeleitet.  Auch  Job.  Schmidt 
erklärt  (K.  Z.  N.  F.  XII  327)  das  o  von  ^TtoUtov  aus  dem  Vokativ.')    Der 

1)  Allerdings  schlägt  dieser  Meister  der  Sprachwissenschaft  einen  andern  Weg 
der  Erklärung  ein  und  hält  den  meinen  nur  unter  den  Voraussetzungen  für  gangbar: 


396  Walther  Prell witz 

Vokativ  unterscheidet  sich  von  allen  übrigen  Kasus  durch  seine  Enklisis, 
die  für  das  Indogermanische  feststeht.  Auch  das  Verbum  finitum  war  in 
Hauptsätzen  enklitisch,  und  daraus  erklärt  sich  bekanntlich  sein  zurück- 
gezogener Accent  im  Griechischen.  So  hat  man  sehr  treffend  das  an 
zweiter  Stelle  stehende  iijitur  „also"  als  eingeschobenes,  enklitisches  agüur 
„es  handelt  sich  darum"  erklärt.    (S.  Hartmann  K.  Z.  XXVII,  550  ff.) 

1.  dass  dieser  Name  fix  und  fertig  aus  der  Ursprache  stammte,  2.  dass  c  hinter  dem 
Hochtone  zu  o  wurde.  Beide  seien  jedoch  unerwiesen,  und  daher  erklärt  er  \no)J.ov 
für  "AneXXov  durch  Vokalassimilation.  Indessen  habe  ich  a.  a.  0.  nachgewiesen,  das^ 
genau  dieselben  Ablautsverhältnisse  wie  in  den  Namensformen  des  Apollo  sich  in 
denen  des  Poseidon  finden.  Es  ist  doch  nur  methodisch,  beide  Reihen  'A7i6)1ü)v, 
AnsXXcDV,  thess.  ^AnXovv  und  Ilozeiödfajv  ^  Uotolöu-  und  Iloaiöa-  auf  die  gleiche 
Art  zu  erklären.  Die  an  sich  bei  Apollo  mögliche  Erklärung  Schmidt's  lässt  sich 
aber  für  UoxoLÖa-  nicht  verwenden.  Denn  Vokalassimilation  kann  hier  vor  dem  l 
und  dem  folgenden  «  schlechterdings  nicht  in  Frage  kommen.  Also  muss  ich  sie 
auch  für  Apollo  abweisen.  Die  Frage,  ob  'Anülojv  aus  der  Ursprache  stamme, 
würde  nwr  durch  Nachweis  einer  genauen  Entsprechung  in  einer  urverwandten  Sprache 
zu  beantworten  sein.  Aber  sie  lässt  sich  auch  keineswegs  verneinen.  Fröhde's  schöne 
Deutung  dieses  Götternamens  (Beiträge  zur  K.  d.  idg.  Spr.  XIX,  230  f.  bes.  240flF.).  als 
des  „Kundthuenden"  hat  eine  recht  genaue  aussergriechische  Entsprechung  des  zweiten 
Teiles  in  got.  spilla  „Verkünder"  nachgewiesen.  Als  urgriechisch  sieht  ja  Schmidt 
selbst  (s.  329)  und  auch  Fröhde  den  Namen  an.  Wie  aber  die  Ablautsverhältnisse 
des  Urgriechischen  von  denen  der  Ursprache  abwichen ,  wer  will  das  sagen  ?  Auch 
das  thessalische  ^Ankovv  zwingt  uns  doch  zur  Annahme  alten  Ablautes  in  diesem  Worte. 

Die  zweite  Voraussetzung,  dass  e  hinter  dem  Hochtone  zu  ö,  e  zu  ö  gewor- 
den sei,  wird  von  vielen  Sprachforschern  als  richtig  anerkannt.  Gewiss  lässt  sie 
noch  viele  Schwierigkeiten  übrig,  und  es  ist  sehr  zu  bedauern,  dass  Bechtel  in  seinen 
„Hauptproblemen"  dieses  Problem  noch  bei  Seite  gelassen  bat.  Das  letzte  Wort  dar- 
über ist  jedesfalls  noch  nicht  gesprochen,  aber  wenn  Schmidt  die  Vokative  aöa).(fe, 
fxox^riQs,  novTjQe  anführt,  um  die  Unrichtigkeit  jener  Theorie  kurz  darzuthun,  kann 
er  mich  nicht  überzeugen.  Er  schliesst,  der  Vokativ  habe  ursprünglich  den  Accent 
durchweg  zurück  gezogen,  er  zeige  aber  allein  von  allen  lebenden  Casus  der  ö-Stämme 
£,  also  sei  er  genügend,  um  zu  versichern,  dass  die  Betonung  von  "AnoU.ov  nicht  die 
einzige  Ursache  des  mittleren  o  sei.  Indessen  kann  ich  die  Richtigkeit  der  ersten 
Prämisse  nicht  zugeben,  also  die  Richtigkeit  des  Schlusses  nicht  anerkennen.  Dass 
a6sX(ps  wie  ömnoxa  auf  alter  Enklise  beruht,  ist  klar.  Aber  kann  oder  muss  denn 
jeder  Vokativ  enklitisch  sein?  Der  alleinstehende  doch  nicht?  Ich  habe  bereits 
(Gott.  gel.  Anz.  1886.  767)  auf  die  Möglichkeit  hingewiesen,  in  ainev  und  Arixol  den 
uralten  Typus  nicht  enklitischer  Vokative  zu  erkennen.  Was  aber  viel  wichtiger 
ist,  Bezzenberger  hat  (1889.  Beitr.  XV,  296  flF.)  aus  dem  Lettischen  und  Altindischen 
Vokative  auf  ö  von  ö- Stämmen  neben  denen  auf  -e  nachgewiesen  und  es  geradezu 
ausgesprochen,  dass  nicht  ai.  deva,  gr.  «rff  A^e,  sondern  das  litauische  diivc  „o  Gott" 
die  grundsprachliche  Betonung   erhalten  habe. 

Man  beachte  auch  folgendes:  Mit  den  Vokativen  sind  von  dem  Gesichtspunkte 
aus,  der  jedem  alten  Stamm  sowohl  nominale  wie  verbale  Verwendbarkeit  zuerkennt, 
die  Imperative  morphologisch  identisch.  Der  Voc.  ovXi  bedeutet  dasselbe  wie  der 
Imperativ  salve\  Auch  der  Imperativ  der  Verba  auf -ö  endigt  auf -t^.  Auch  er  zieht 
den  Accent  zurück  (z.  B.  xvnxt).  Nun  hat  man  erkannt,  dass  die  griechischen  Verbal- 
formen, die  nicht  infolge  früherer  Enklisis  den  Dreisilbenaccent  tragen,  den  ursprach- 


I 


Eine  griechische  und  eine  lateinische  Etymologie.  397 

Durch  Enklise  nun  wurde  im  Indogermanischen  der  Dativ  tvoi  „dir" 
(ai.  tve,  ab.  ihwöi,  gr.  ao/,  ^xfoL)  zu  toi  (ai.  /e,  ab.  te,  töi,  apers.  taii/y 
gr.  TOI,  ksl.  ti),  d.  h.  die  Enclitica  verlor  das  v  hinter  dem  anlautenden 
Konsonanten,  ebenso  wurde  vielleicht  svoi  „sibi"  zu  soL  S.  Wackernagel 
K.  Z.  XXIV  592ff.,  Brugmann  Grdr.  I  §  187.  Bechtel  (Hauptprobleme 
354  f.)  vermutet,  dass  das  verallgemeinernde  -za  im  Westgriechischen  den 
dem  X  folgenden  i^- Nachklang  in  der  Enklisis  verloren  habe.  J.  Strachan 
(Compensatory  lengthening  in  Irish.  Beitr.  zur  Kunde  der  idg.  Spr.  XX 
S.  8  Note)  macht  auf  die  Möglichkeit  aufmerksam,  das  auffallende  Neben- 
einander von  Verben  mit  und  ohne  v  hinter  dem  anlautenden  Konso- 
nanten (zveng-  und  seng,  ivenk-  und  ienk-^  tek  und  tvek)  durch  die 
alte  Enklisis  des  Verbs  zu  erklären. 

So  erklärt  sich  auch  der  Schwund  des  v  in  dem  enklitischen  Vokativ 
Juno  *  Sestipot  und  ausserdem  auch  der  sonst  ebenso  auffällige  Wandel 
des  Vokals.  Das  tonlose  e  ist  zu  i  geschwächt,  wie  das  i  von  igitur  in 
der  Enklise  an  die  Stelle  des  a  getreten  ist. 

Durch  diese  Lautwandlungen  erklärt  sich  also  Sispes  als  eine  Ver- 
selbständigung des  alten  enklitischen  Vokativs.  Das  i  war  etymologisch 
natürlich  kurz,  konnte  aber  im  Lateinischen  wegen  seiner  Stellung  auch  lang 
gesprochen  werden  (vgl.  hesternus  u.  a.),  und  es  darf  deswegen  für  die  Ety- 
mologie aus  der  Schreibung  mit  ei,  welche  eine  alte  Inschrift  (Corpus  inscr. 
lat.  I,  1110)  bietet,  nichts  gefolgert  werden.  Denn  ei  bezeichnet  auch 
sonst  in  derselben  Inschrift  nur  das  lange  I.     Vgl.  Wharton  a.  a.  0.  XVII. 

Die  übrigen,  nicht  enklitischen  Casus  mussten  auch  im  Götterbeinamen 
im  Anlaut  so-  für  sve-  zeigen,  und  so  können  wir  nicht  erstaunt  sein, 

liehen  oder  wenigstens  vorgriechischen  Accent  bewahren.  Vgl.  TQanelv,  xQanea&ai, 
TQanrjvaL,  TQaneiq,  rsT^afZfxsvog,  rganov  aus  ^xQaneao.  Und  diese  Formen  sprechen 
dafür,  dass  e  dem  Hochton  zukam,  o  der  nach  dem  Hochton  stehenden  Silbe!  Die 
Participia  xQanwv  und  elöiöq  können  hiergegen  nicht  aufgeführt  werden,  denn  sie  sind 
Produkte  der  Ausgleichung  von  ^-Formen  mit  Endbetonung  und  ö-Formen  mit  An- 
fangsbetonung. Vgl.  vom  Part.  Aoristi  lat.  parcfiles,  vom  Participium  Perfecti  den 
litauischen  Nom.  Sing,  büvfs  und  den  uralten  Nom.  Plur.  *bhuveses,  der  sich  mir  mit 
Abfall  des  Schluss-^  (vor  su?it)  im  lat.  /'uere  erhalten  zu  haben  scheint.  —  Darnach 
muss  auch  die  Betonung  der  Imperative  evqs,  Idt,  sine,  ik^s,  7.aße,  die  vermöge  ihrer 
Bedeutung  allein  stehen  können,  uralt  sein  (dies  nimmt  auch  Brugmann,  Grundr.  H. 
1319  an)  und  sie  passt  zu  dem  litauischen  Vokativ  Deve.  Also  darf  man  enklitische 
und  nichtenklitische  Vokativformen  für  die  Ursprache  annehmen,  und  es  liegt  kein 
Grund  vor,  Vokative  wie  ßgoxs  für  weniger  ursprünglich  zu  halten,  als  solche  wie 
aÖEX(p£.  Dass  aber  "AnoXkov  immer  enklitisch  gewesen  ist,  diese  Annahme  legt  die 
regelmässige  Verbindung  des  Namens  (der  ursprünglich  gewiss  nur  ein  Beiname  war) 
mit  fPolßog,  Aioq  vloq  u.  s.  w.  sehr  nahe.  Also  möchte  ich  meine  frühere  Erklärung 
auch  gegen  Joh.  Schmidt  aufrecht  erhalten.  Für  den  vorliegenden  Zweck  genügt 
aber  unsere  Übereinstimmung  darin,  dass  ^AnokXwv  aus  ^AniXX(ov  durch  den  Ein- 
fluss  des  Vokativs  "AnoV.ov  hervorgegangen  ist. 


398    Walther  Pbellwitz,  Eine  griechische  und  eine  lateinische  Etymologie. 

neben  dem  archaischen  Sispes  auch  Sospita  als  Beinamen  der  Juno  zu 
finden,  worauf  hospita  ebenso  reimt,  wie  hospes  auf  söspes.  Die  abge- 
leiteten Verba  hospitäri  „als  Gast  einkehren",  sospitäre  „retten"  zeigen  das 
Alter  des  a-Stammes,  der  sich  dem  griechischen  öea-norrjg  „Hausherr** 
vergleicht  und  ursprünglich  dem  Masculinum  ebenso  gut  wie  dem  Femi- 
ninum zukommt.  Über  dieses  -0,  welches  ursprunglich  dem  prädikativ 
gebrauchten  Nominativ  der  Wurzelnomina  (als  Rest  des  Wurzelauslautes?) 
(hier  -pot-)  zukommt,  hat  jüngst  Neisser  interessante  Aufklärungen  ge- 
liefert (vgl.  Beiträge  zur  K.  d.  idg.  Spr.  XX,  S.  40  ff.}.  Jedenfalls  darf 
man  sagen,  sospes,  hospes  verhält  sich  zu  sospita^  hospita,  öeo7i6trig, 
ähnlich  wie  eques  zu  %7C7cota,  iTtTtorrjg.  Wie  für  eques  der  Stamm 
ekvot'  angesetzt  werden  muss,  so  ist  der  jener  Composita  wohl  als 
hos(ti)-pot,  svcs(ii)-pot  (vgl.  compot-)  anzusetzen  Im  idg.  Auslaut  hat 
tenuis  mit  media,  t  mit  d^  gewechselt,  und  so  erklären  sich  wohl  die  oben 
erwähnten  slavischen  Wörter  mit  //,  gospodt  und  gospoda. 

Unsere  Untersuchung  hat  uns  mehrmals  in  die  nebelhaften  Femen 
hypothetischer  Urzeiten  geführt,  über  deren  Geistesleben  uns  gleichwohl 
die  Yergleichung  der  indogermanischen  Sprachen  noch  einigen  Aufschluss 
zu  geben  vermag.  Wieviel  aber  bleibt  hier  der  Wissenschaft  noch  zu 
thun,  um  Vermutungen,  die  wir  jetzt  nur  andeuten  können,  festere  Be- 
gründung zu  geben !  Ein  sicheres  Resultat  aber  hat  sich  hoffentlich  aus 
dem  Obigen  ergeben:  das  urindogermanische  Wort  suestipot  „Herr  des 
Wohlseins". 

Am  Schluss  meiner  Ursprungserklärung  dieser  beiden  den  klassischen 
Sprachen  angehörigen  Wörter  angelangt,  spreche  ich  Ihnen,  verehrter  Herr 
Geheimrat,  den  Wunsch  aus,  der  mich  zu  ihrer  Auswahl  bestimmt  und 
bei  der  Niederschrift  bewegt  hat:  Möge  Ihnen  im  Kreislauf  der  Jahre 
noch  oft  dieser  Jahrestag  wiederkehren  und  Sie  stets  im  vollen  Besitz 
des  Wohlseins  antreffen! 


*-. 


XVIII. 
Nachträge  zum  Parallel -Homer. 

Von 

K.  Ed.  Schmidt  (Lötzen). 

Die  in  der  Vorrede  zu  meinem  „Parallel-Homer"  (Göttingen  1885) 
S.  VII  ausgesprochene  Vermutung,  dass  derselbe  möglichste  Vollständig- 
keit bieten  werde,  habe  ich  bei  einer  neuerlichen  Beschäftigung  mit  dem- 
selben Gegenstande  im  ganzen  bestätigt  gefunden;  nur  ab  und  zu  habe 
ich  einen  Ausdruck  oder  eine  Stelle  nachtragen  dürfen.  Indes  wenn  ich 
den  Begriff  des  Parallelismus  weniger  eng  fasse  (vgl.  S.  VI  der  Vorrede 
meine  Bemerkung  zu  den  Versen  üa'VQOY.log,  fisyaliq  de  rcodi]  JavaolGt 
TsrvxraL  und  uävTiKoxoq,  (,isyah]  de  jtod'r^  HvldoiOLv  etvx^^)  und  den 
Grundsatz,  nur  Ausdrücke  von  mindestens  6  morae  Umfang  aufzunehmen, 
wonach,  wie  bemerkt,  ali^ia  ^lelav^  o^v  ßelog  Aufnahme  finden  mussten, 
l-ieXav  alfxa,  ßekog  o^v  aber  nicht,  weniger  streng  festhalte,  so  würde  der 
Umfang  des  Werkes  nicht  unerheblich  wachsen.  Vielleicht  wird  es  sich 
bei  einer  Neuauflage  des  Parallel-Homer  ermöglichen  lassen,  einen  Homer- 
Text  dazu  zu  drucken,  der  die  sich  wiederholenden  ganzen  Verse,  Halbverse 
und  kleineren  Versteile  in  gesperrter  oder  fetter  Schrift  zeigt,  wodurch  der 
Parallel-Homer  natürlich  an  Brauchbarkeit  gewinnen  würde. 

Eine  Neuauflage  müsste  für  die  kürzeren  Phrasen  und  Formeln, 
woran  ich  damals  schon  dachte,  jedesmal  auch  die  Versstelle  oder  Vers- 
stellen angeben  sowie  Verweisungen  auf  eine  abweichende  Fassung  oder 
abweichende  Fassungen  einer  bekannten  Wendung.  Dass  viele  Formeln 
an  eine  bestimmte  Versstelle  gebunden  erscheinen  und  ausschliesslich 
oder  doch  fast  ausschliesslich  an  dieser  zu  finden  sind,  lehrt  eine  auch 
nur  oberflächliche  Beobachtung.  Ich  habe  besonders  das  Versende  einer 
Betrachtung  unterzogen  und  auf  den  folgenden  Seiten,  so  weit  es  der 
zugemessene  Kaum  gestattete,  eine  Anzahl  von  Formeln  und  Ausdrücken, 
die  vorzugsweise  den  Versschluss  bilden,  daneben  aber  auch  ab  und  zu 
an  anderer  Versstelle  zu  finden  sind,  in  alphabetischer  Folge  zusammen- 
gestellt.   Auch  einzelne  Worte  habe  ich  eingefügt,  die  häufig  das  Vers- 


400  K.  Ed.  Schmidt 

ende  einnehmen,  daneben,  aber  selten,  auch  innerhalb  oder  am  Anfang 
des  Verses  anzutreffen  sind.  Es  ist  beachtenswert  (und  zum  Teil  schon 
wie  auch  für  einzelne  Phrasen  und  Formeln  beobachtet),  wie  manche  Worte 
oder  auch  Wortformen  eine  besondere  Neigung  für  das  Versende  haben. 

50  sind  folgende  nur  hier  zu  finden  (vgl.  Sehers  Index): 

IdyigcjyoQ  (in  verschiedenen  Formen)  8  mal  (davon  1  mal  in  der 
Odyssee),  a/xvAo^jjirew  (\m^-rrig)  9  mal  (1  mal  Od.),  ayogaveiv  (und 
-eig)  47  mal,  ayxtf^axrjTal  7  mal  (nur  IL,  davon  6  mal  in  dem  Verse 
TQweg  ycal  Avy^lol  xal  Jagöavot  a.),  aelgag  2b  mal,  alxfir^Tccojv  10  mal, 
ccfzcpeycdkvipEv  und  sämtliche  anderen  Formen  von  afKpiyMlvTtTco  26  mal, 
afig)iyvrj€ig  11  mal,  a(xcpulLOoa  (in  verschiedenen  Formen)  19  mal, 
a^q)i^ilaivai  {-)Mlvag)  5  mal,  ^'AtioXIov  10  mal,  ccTtovieod-ai  (und  die 
anderen  Formen  des  Verbums)  20  mal,  arcovqag  10  mal  (nur  in  der  Ilias), 
"Agyetcpowrig  (-ttj  ,  -tyjv)  27  mal,  ctQyvQorjXov  {-rj),ov)  19  mal,  avör^  in 
verschiedenen  Kasus  21  mal,  axevcov  11  mal,  J^x^^^«^  22  mal,  (e)ßeß7Jy,€i 
34 mal,  ßvöooö6y.evov  {-fievojv)  7  mal  (nur  Od.),  yeyiovijjg  6  mal,  ditj/Mv 

9  mal  (nur  IL),  eöwöri  in  verschiedenen  Kasus  12  mal,  eeiTieg  38  mal, 
elßsLv  in  verschiedenen  Formen  10  mal,  EüMd-via  in  verschiedenen  Kasus 
5  mal,  Uaiov  (rlalcp)  25  mal,  kUo^ai  23  mal,  kvooly&cov  40  mal,  'doQyag 
(-yevj  -yojg)  10  mal,  egv^Qov  {-O-Qog)  10  mal,  eTvx^rj  17  mal,  evQv^iirwTcog 
in  verschiedenen  Kasus  7  mal  (2  mal  IL),  eorAcog  27  mal,  eorAci  12  mal. 

Von  den  zahlreichen  nur  am  Versende  zu  findenden  Formeln  führe 
ich  folgende  an  (alphabetisch  nach  dem  Schlusswort  geordnet): 

^va^  avÖQwv  !dyaf.ieixvov  11  mal  (davon  10  mal  in  dem  YeTse^Tgeidrj 
yivÖLOre,  a.  a  !ä.),  -/.gekov  "Ayai^iEfxvMv  29  mal  (s.  unten),  evQv/.Qei(ji)v 
^Aya^sfivwv  12  mal  (s.  unten),  iivriOxrQeg  dyavol  (und  acc.)  14  mal, 
d^v(xbg  dyrjvwQ  24  mal,  i^qx  ccyogeveiv  8  mal,  wg  ayogsvw  (sig)  18  mal, 
BTtsa  TtTSQoevT    dycQsvev  (-ov)  10  mal,  yXavvMTtig  LäS^vr^  78  mal  (davon 

51  mal  d^ect  y.  M.)j  Üal/Mg  l^d^rjvrj  41  mal,  Ttoöojzeog  Aiazlöao  10  mal, 
^OUrjog  raxvg  Atag  7  mal,  MeXdvS^Log,  airtoXog  (und  acc.)  aiyüv  9  mal, 
d-EiZv  aieiyevETawv  (und  dat)  12  mal,  Tcatgiöog  air^g  16  mal,  (pvlortig 
alvri  (und  acc.)  12  mal,  d^ovQLÖog  dl/Jrig  22  mal  (1  mal  Od.),  sBqxov  d/./.cov 

10  mal,  ).oiy6v  dfxvvat  (und  andere  Formen  von  d(.ivvw)  13  mal  (nur  II.), 
vebg  cLficpLeUoarig  und  veag  a.  10  mal  (1  mal  II.),  oQxa^og  (-/nov)  dvÖQcov 
15  mal,  Ttvoiijg  dviftoio  6  mal  (im  Parallelhomer  fehlen  Q  342  a  98  £  46)^ 
&vrjTwv  dvd-QWTtcov  (und  1  mal  nom.,  1  mal  acc.)  9  mal,  y.aTa&vrjTCJW 
dv^QWTtiov  7  mal  (1  mal  IL),  f-iegoTtcov  dv&QioTtwv  9  mal  (2  mal  Od.), 
-d-vi-iov  ditijVQa  7  mal  (1  mal  Od.),  ccTcegelai  aTtoiva  11  mal  (nur  IL), 
67tLag)VQloi,g  dgagvlag  5  mal  (nur  II.),  ötdy.TOQog  LiQyeKpovTiqg  13  mal, 
^ifpog  ccQyvQorjlov  11  mal,  dzd/MVTog  {-tov,  -toi)  IkQrji  11  mal  (nur  IL), 


I 


Nachträge  zum  Parallel  -  Homer.  401 

ßgorokoiycu  looq  (-oov)  !kQr]l  5  mal  (1  mal  Od.),  d-egaTtovreg  (-Tag)  ^kQrjog 

7  mal  (nur  IL),  o^og  {-(^ov)  !kQr]og  10  mal  (nur  E.),  oßQifxog  ^kgrjg  6  mal 
(nur  II.),  xah/.eog '^QTqg  5  mal  (nur  H.),  ring  agloTr]  7  mal  (1  mal  II.), 
teiöwQov  ccQovQav  (und  nom.)  12  mal  (3  mal  II.),  ovquvov  aoregoevrog 
(auch  acc.  und  1  mal  dat.)  11  mal,  'Aya^ii^vovog  LiTQsLdao  13  mal,  Jibg 
Te/,og,  '^TQVTwvrj  7  mal  (2  mal  Od.),  Ssvtsqov  avTig  5  mal  (1  mal  H.), 
Jidg  dvyaxriQ  'AcpQodLTr]  9  mal  (1  mal  Od.),  (pdof^^eiörjg  LicpqodLxri 
5  mal  (1  mal  Od.,  s.  unten  df  l4(pQodlTrj),  avTag  ^Axaioi  {-olg,  -ovg) 
21  mal  (nur  IL),  evKvrjjLiideg  Axaiol  (und  acc.)  36  mal  (5  mal  Od.), 
yLaQiqyMiioißvreg  läyaioi  (und  acc.)  29  mal  (3  mal  Od.),  itavT^g  Ayaioi 
(und  acc.)  23  mal  (9  mal  Od.),  riginag  'Axaiovg  (und  nom.)  10  mal  (2  mal 
Od.),  KovQOL  Axaiujv  9  mal  (2  mal  Od.),  yivöog  Ayauov  10  mal  (3  mal  Od.), 
ItzI  vrjvGiv  Axaiwv  10  mal  (1  mal  Od.),  vhg  (-ag)  Axaaov  64  mal 
(11  mal  Od.),  ölog  Axdlevg  55  mal  (davon  21  mal  nodaQxrjg  d.  A.), 
wKvg  AxMevg  36  mal  (davon  30  mal  7c6dag  w.  ^A.),  Ttorafibg  ßad^völvrjg 

5  mal  (nur  IL),  diorgecpeeg  ßaod^eg  (und  andere  Kasus)  12  mal,  öihx 
jLieyaQOLO  ßeßi]X€L  7  mal  (nur  Od.),  od^ivEl  ßXe/xsalvwv  (-vei)  6  mal  (nur 
IL),  agiOTT]  cpaivETO  ßovXr]  9  mal,  Ttarglöa  yalav  62  mal  (davon  50  mal 
eg  7t.  y.),  Ijtl  yalj]  12  mal  (3  mal  Od.),  aXioio  yegoviog  8  mal,  TtTolifioio 
{Ttol)  yscpvgag  5  mal,  öla  yvvaty.cüv  15  mal  (4  mal  IL),  afj,(pi7t6loiGL 
yvvai'^lv  14  mal  (nur  Od.),  egiKvöea  öalza  5  mal  (1  mal  IL),  TtavoavTo 
710V0V  rervxovTO  ts  öalra  5  mal  (3  mal  IL),  €7tag^dfj.€V0L  {-^aad-w)  ösTta- 
eöGLv  7  mal,  h  aivfj  drjiorfjri,  10  mal  (3  mal  Od.),  tcIovl  örjficp  8  mal 
(davon  6  mal  kv  7t.  6.\  "EY.Togi  dlqj  11  mal,  ovöe  öofxovöe  8  mal  (1  mal 
L.),  6^€l  öovgl  11  mal  (nur  IL),  ovraoe  öovgl  12  mal  (nur  IL),  ;(a/xrj(>£i: 
(-a)  öovgl  (öovga)  7  mal  (3  mal  Od.),  Ytccto  öiofxa  8  mal,  /neihvov  eyxog 

6  mal  (nur  IL),  oßgi/xov  eyxog  13  mal  (nur  IL),  ovo'  lövvavxo  7  mal 
(1  mal  Od.),  ywdog  eöw/.ev  {-Kav)  7  mal,   fxvd^ov   ev  AgyeloiGiv  eeL7cev 

8  mal  (nur  in  ^!  s.  Parallelh.  xai  fxvd^ov  ev  A.  «.),  Tiara  fxolgav  eeiTteg 
14  mal  (x.  |U.  eeiTtev  4  mal  nur  Od.),  fxv&ov  esiTtev  {-fceg,  -tvov)  52  mal 
(davon   5  mal  fieta  fiv^ov  eeiTtev  nur  IL,  32  mal  7tgbg  f.ivd^ov  €et7fev, 

7  mal  7volov  tov  (a-vS-ov  eei7ceg  nur  IL),  olov  eei7teg  7  mal  (1  mal  Od., 
7iolov  eeiTteg  3  mal  Od.,  1  mal  H.),  6ay.gvov  eYßeiv  (in  verschiedenen 
Formen)  10  mal,  {ödyigva  leißoyv  8  mal,  dazu  einmal  6.  Xelßov),  ocpg  ev 
eiöcü  8  mal  (1  mal  IL),  ocpg  ev  etörjg  5  mal  (1  mal  Od.),  e/xjteöog  eirj 
7  mal  (davon  6  mal  ßlrj  öi  [ue]  (.iol  [col]  e.  e.),  Y.igdLov  eXr]  9  mal 
(s.  Parallelh.  z«  negdiov  e.  und  Ttolv  x.  e.),  xigöiov  elvat  {riev)  17  mal, 
oTTi  xev  ecTtw  13  mal  (4  mal  H.,  wo  auch  2  mal  o.  v,.  elLTtrj  und  1  mal 
0.  X.  eiTtrjg),  rijag  e'ioag  (und  andere  Kasus)  20  mal,  Alöog  eXow  12  mal 
(davon  9  mal  öofnov  A.  e.),  *'IXlov  eXoto  8  mal,  TekrjeGoag  e/.at6(.ißag  8  mal, 

26 


402  K.  Ed.  Schmidt 

leQTjv  exatoinßrjv  5  mal  (1  mal  Od.),  Klecrriv  eycaTo/iißrjv  5  mal  (nnr  II.,  wo 
auch  2  mal  xXeitag  ey,aT6/nßag)y  aXXa  turjAog  {'?.oi)  9  mal,  q)aLöifj.og 
"Etctwq  29  mal  (nur  II.),  Xlic   ikalo)  8  mal,  xgloav  (-aev,  -oy,  -€v)  klalqj 

9  mal,  xf^^^ov  elaoöBv  {-oav,  -kaoaui)  9  mal  (davon  6  mal  öiaTtgo  dk  %,  €,, 
2  mal  ovde  dia/vgo  öwT^oaro  %.  L),  ac  x*  ller]or^{g)  7  mal  (1  mal  Od.), 
iyyud-ev  eX&ojv  8  mal,  y.lvtbg  evvooiyaiog  (und  acc.)  9  mal  (2  mal  Od.), 
yaiTioiog  hvoalyatog  (und  dat.  und  acc.)  8  mal  (1  mal  Od.),  %qbLu)v 
kvooLx^iov  7  mal,  IIoasLÖdwv  IvooLx^wv  24  mal,  I?  tgov  evto  22  mal 
(s.  unten),  lyyvg  eovra  10  mal  (und  1  mal  i.  lovtag),  ^ouvov  eovza  7  mal, 
d^eoi  aihv  eovreg  8  mal,  tiot/liov  l7cio7cov,  {'OTcev,  hcloTvjjg,  -07crj,  -ajiot, 
-ojtBlv,  €q)iip€iv,  -ipeig)  23  mal,  ovo'  (o^x)  ifCLKSvau)  10  mal  (2  mal  IL), 
7jd^  ETcUovQot  {-yiovQüJv)  10  mal  (s.  unten),  firidero  egya  5  mal  (dazu 
2  mal  f-LTioaio  eqya,  1  mal  f.i,  egyov),  Ttoke^rjia  egya  6  mal  (nur  II.), 
OTtwg  eotai  rade  eqya  7  mal,  ficTaXl^aai  Kai  Igio&uc  5  mal  (nur  Od.), 
aiS^ovorig  Iqcöovtcov  (und  dat.)  8  mal  (1  mal  H.),  olvov  eqv&qov  6  mal 
(dazu  1  mal  nom.),  rtoXla  -/.al  iod-la  7  mal  (1  mal  IL),  TereXeG^ihov  eazai 
14  mal,  a(xg)l  d^  ezalQoi  8  mal,  €Qlr]Q€g  halgoL  (und  acc.)  19  mal  (5  mal 
IL),  eod'lol  STalQoi  7  mal  (dazu  5  mal  eod-kov  STalQov),  tviotov  ETalgov 
(und  nom.)  8  mal  (1  mal  Od.),  TcavTag  sTaiQovg  (und  nom.)  16  mal  (nur 
Od.  im  Parallelh.  fehlt  ß  174),  sd^vog  sTaiQCüv  6  mal  (nur  IL),  avTc^eoig 
sTaQOLOLv  5  mal  (nur  Od.),    ovöe  ng  erkr]  9  mal,   öofxovg  ewaiSTdoviag 

10  mal  (1  mal  auch  gen.),  zQocpog  EvQvytXeia  10  mal  (davon  9  mal  (pü.r) 
T.  E.,  5  mal  acc,  davon  Imal  cpLXriv  t.  £.),  alyi  sxovTa  5  mal  (Imal  IL), 
OXvfXTiLa  öojfxav  exovTcg  {-xovoai,  -xovrwv)  13  mal,  ol  (zol)  "OXv/nTtov 
eXovOLv  10  mal. 

Das  nun  folgende  Verzeichnis  ist  nur  brauchbar  für  den,  der  meinen 
Parallel-Homer  und  Sehers  Index  in  der  Hand  hat,  die  mich  der  Mühe 
überheben,  bei  den  einzelnen  Ausdrücken  und  Worten  sämtliche  Stellen 
angeben  zu  müssen. 

jiocTtTOvg  x^^Qf^Q  s.  ;f6t()ac  adntovg. 

dyaxXeiTTJg  hxarofißrjg  s.  xXsiz^v  sxazoußrjv. 

kydfiSfzvov  12mal  (2  mal  Od.)  Schlusswort  (davon  11  mal  mit  vorausgehendem  dva^ 
dvÖQwv),  Imal  (w  186)  2.  3.  Fuss. 

kyafisfivovt  öiio  3  mal  Versschluss,  1  mal  (2  257)  ^yafiifzvovi  fii^vis  Sltp  Versschluss ; 
kya/xsfivova  ölov  2 mal  Versschluss,  2 mal  (Ä  312  »P  36)  flg  kyccfjtifivova  öiov 
dyov  Versanfang. 

dyXacc  öüjqk  13 mal  Versschluss  (davon  5 mal  ödaav  d.  ö.),  6mal  ( J  97  27  86  A  357 
a  279  T  460  ö>  314)  4.  5.  Fuss,  Imal  (ß  447)  dyXad  öwq   4.  5.  Fuss. 

dyviai  7  mal  in  dem  Verse  övaezo  t'  r^eXiog  oxioouvzo  zs  Tiäaai  d.  (nur  Od.),  2  mal 
dyvidg  (II.),  Imal  dyviy  (Od.)  Schlusswort;  Y254  dyviav  4.  5.  Fuss. 

ai'  x"  i&ikjia&a  6mal  Versschluss,  4mal  (0  471  iV  260  T  147  wöU)  2.3.  Fuss;  at 
x'  i{ysXyai(v)  4mal  Versschluss,  Imal  (2*306)  2.  3.  Fuss,  Imal  (i\' 74: )  Vers- 
anfang; ai'  x'  i&iXtjzs  2 mal  Versschluss;  ai' x^  i^sXofu  Imal  Versschluss;  ai 


Nachträge  zum  Parallel  -  Homer.  403^ 

x'  i^ücDGiiv)  H  375  Versschluss,  /  255  2.  3.  Fuss;  al'  x  iW.^g  u.  atx'  iasXwa* 

je  Imal  Yersanfang;   ai'  x'  ^^f'A^a'  Imal  Versanfang,   Imal  (^  520)  2.  3.  Fuss; 

og  (ov)  x'  id^elyaiv  4mal  Versschluss,   Imal  {a  28t))  2.  3.  Fuss;  ^  x^  ii^eX^aiv 

2 mal  Versschluss,  (o  x'  id-iX^o&a  je  imal  Versschluss  (i2  335)  und  2.  3.  Fuss 

(a  270). 
alfia   fieXav   2 mal  Versanfang  (s.   Parallelh.    cctio    6'  tXxeog  .  .),  2mal  3.4.  Fuss 

(s.  Parallelh.  xelro   xa^elq  .  .) ;  fisXav  alßa  3  mal  Versschluss  (s.  Parallelh.  öid 

x    svTsa   xal  fi.  «.),  3 mal  (J  149  2:583  y  455)  2.  3.  Fuss,   1  mal  (Y  470)  4.5. 

Fuss;  H  262  fzskav  d'  dvexrjxtsv  alfxa  Versschluss. 
alxpa  ö'  eneixa  s.  avzccQ  sneixcc. 
khecvooio  datcpQovoq  2 mal  2.-4.  Fuss,  ^8  öalipQOvoq  jikxivooio  Versschluss;   kk- 

XLVooio   26mal  Schlusswort,   4mal   (7^132  ^13.56.418)   2.  3.  Fuss;    kkxivoov 

3  mal  Versanfang,  1  mal  {t,  139)  2.  3.  Fuss. 
dXk    dye  (jiol  xoös  .  .  .  s.  dxQSXscog  dyoQEvao). 
ttXXog  jix(xt(ov  s.  Xabv  kxcciaiv. 
aXXvöig  dXXog  (u.  a.  Formen)  9  mal  Versschluss,  3  mal  {A  745  ^  138  |  25)  2.  3.  Fuss; 

dXXo&sv  dXXog  9 mal  Versschluss  (2 mal  II.),  2mal(^  75  Z671)  2.  3.  Fuss,  Imal 

{fi  392)  cc.  ccXXov  2.  3.  Fuss. 
dXbg  dxQvyexoio  6mal  Versschluss,  Imal  (a  72)  3.-5.  Fuss,  Imal  (5  226)  aXoq  x'^^ov 

d.  Versschluss ;  1  mal  {Z  204)  dxQvyexoio  &a?.daar]g. 
dfivßwv  16mal  öchlusswort,  2 mal  (Z  190  ^508)  3.4.  Fuss,  Imal  (z-332)  1.2.  Fuss. 
d^cpevsfjLovxo  7 mal  Schlusswort  (in  P),  Imal  (5  655)  2.  3.  Fuss;  dn(pLV£fjLovxaL  2 \%& 

T  132  Schlusswort. 
df^(psnsvovxo  6  mal  Schlusswort,  1  mal  ( J  220)  2.  3.  Fuss ;  dfjKpmhoviai  TI 28  Schluss- 

wort. 
dßcpiyvTjSig  s.  TtSQixXvzog  d. 
dfKfiyvoiaiv  s.  syxeaiv  d. 
d(JL<pixv7t£XXov  s.  ösTtag  dfitp. 
dfKfinoXoLCL  yvvai^iv  s.  avv  d(JL(pin.  y. 
dtJL(pox8Q(jDd^£v  9 mal  Versschluss,   8 mal  2.3.  Fuss;  dfi<pox6Q(oas  2 mal  Versschluss, 

1  mal  2.  3.  Fuss. 
dvd  ö^fxov  s.  xaxcc  öfjfiov. 
dvdyxy  29 mal  Versschluss,  2 mal  (im  gleichen  Verse,  s.  Parallelh.   o(p^a  (xoi  (oi) 

iv  V  .  .  .)  2».  4.  Fuss;  dvdyxrj  6 mal,  stets  Versschluss,  dgl.  dvdyxtjg  3 mal. 
dvaxxa  18 mal  Versschluss,  8 mal  2.  3.  Fuss;  dvaxxsg  3 mal,  stets  Versschluss;  dvaxri 

24 mal  Versschluss,  2 mal  2.3.  Fuss;   dvaxxog  58 mal  Versschluss,  13 mal  2.3. 

Fuss  (davon  IlQidfxoio  dvaxxog  8 mal  Versschluss,  Imal  1. — 3.  Fuss);  dvdxxcav 

4mal  Versschluss,  2  mal  (v  223  q  189)  3.  4.  Fuss. 
aVa|  dvÖQiöv  ÄyafilßViov  35mal  (nur  IL),  Imal  (0^77)  dva^  d'  dvÖQwv  k.  Versschluss. 
dvöga  exaarov  9 mal  Versschluss  (im  Parallelh.  fehlen  AT  68  X415  x  173.  547  ß  207), 

Imal    (i?  127)  2.  3.  Fuss;   dvÖQl   kxdaxtp  3 mal    Versschluss,    Imal   (v  7)   2.3. 

Fuss;  2 mal  (£37  77  351)  dvöga  h'xaaxog  Versschluss;  2mal  exaaxog  dvrjQ  2.  3. 

Fuss. 
dveaxav  5 mal  Versschluss  (vgl.  Parallelh.  ndvxeg  dviaxav),  Imal  {S-  118)  dv  d'  saxav 

Versanfang;  dviaxrj  18 mal  Versschluss,  3 mal  (0  287  2"  305  v  380)  3.4.  Fuss. 
dvrjxev  s.  d-v/aog  dvfjxsv  u.  yXvxvg  vnvog  d. 
dvxeßöXrjaev ,  dvxißoX^aag  u.  a.  Formen  von  dvxsßoXrjca  21  mal  Versschluss,  3mal 

(77  114  jy  19  ;c360)  2.  3.  Fuss. 
dvxriv  16mal  Schlusswort,  4 mal  (M  152  T  15  XiOg  5  221)  Anfangswort. 
dvwya  s.  d-vfiog  dvwysi. 
dneigova  yalav  5 mal  Versschluss,  3 mal  (im  gleichen  Verse  i2  342  «98  f  46)  ;J<J' 

^71 '  dn.y.  Versanfaug;  7 mal  in^  d.  y.,  nur  (>418  xax^  d.  y. 

26* 


404  K.  Ed.  Schmidt 

anrivQa  18 mal,  iknrivQwv  5 mal,  dnrivQaq  Imal  Schlusswort;  1  mal  (d  646)  dnrfüQa, 
Imal  (^430)  dnrivQiüv  (s.  Parallelh.  ßli^  d(:XOvzoq  an.)  3.4.   Fuss;    dnovQaq 

10  mal,  stets  Schlusswort. 

dno  dvßbv  h'Xiüfiai  (-Xolfii]v,  -Xoito,  -Xiai^ai)  8 mal,  Imal  (P  17)  dno  6%  iMehriöta 
BvfjLov  6-^a>^afVer88chlu88,  ix  ^(lov  ^Xrjzai  {-koio,  -Xotzo,  -?Ja»ai)  8mal  Vers- 
schluss. 

dnoiva  23 mal  Schlusswort  (nur  IL),  2 mal  (4» 99  i2  139)  2.3.  Fuss,  Imal  (A20) 
4.  5.  Fuss;  dnolvcjv  A  106  Versschluss,  sonst  das  Wort  nirgend. 

'AnoXXiov  103 mal  Schlusswort,  3 mal  (jB  827  77  845  ^>  596)  3.  4.  Fuss,  5 mal  (Ä  605 
u.  8.  \An.  4>olßoq)  1.  2.  Fuss. 

knokXcDV  <^olßoq  s.  4>olßoq  ÄnoXXoyv. 

dQaQvZa  4 mal,  dQccQvZai  6 mal,  dga^vlav  10 mal,  dgagviaq  13mal  Schlusswort,  Imal 
(r396)  dQagvZav  2.  3.  Fuss. 

aQyaXüov  öe  4  mal  Versschluss,  4  mal  Versanfang. 

dQyvQozo^oq  ÄnoXXcov  8  mal  Versschluss,  1  mal  (o  410)  2.-4.  Fuss. 

dQLOtov  ÄxccKÖv  8.  Xaov  kxccicöv. 

daniöa  ndvroa^  icoTjv  14  mal,  doTtiöi  ndvxoa  icay  1  mal  Versschluss,  2  mal  aa7r/da 
fj,€v  ngöad'^  saxexo  ndvxoa'  i'LOTjv  (sämtl.  17  Stellen  IL);  Saixoq  iiaijq  10  mal 
(davon  nur  2  mal  Od.,  9  mal  mit  vorausgehendem  ^Ssvexo)^  1  mal  auch  {?.  185) 
dalxccq  ^i'aac  Versschluss,  Imal  (7  225)  öaixoq  fxhv  itarjq  2.-4.  Fuss;  v^uqäaaq 
12  mal  (3  mal  Od.),  v?j6q  itatjq  5  mal  (Imal  IL),  vijsq  i'iaai  2 mal  (Od.),  vtjvolv 
ä'ayq  1  mal  {6  578)  Versschluss;  itari  in  verschiedenen  Kasus  52  mal  Schluss- 
wort und  nur  1  mal  (/  225)  3.  4.  Fuss. 

daxv  (isya  Jlgidfioto  {-fzov)  7  mal  3. — 5.  Fuss,  2  mal  (/  136.  278  im  gleichen  Verse) 
Versanfang,  1  mal  {X  251)  2.-4.  Fuss;  ngoxl  daxv  iiiya  2  mal  (P  160  X  21) 
2.-4.  Fuss,  1  mal  (0  681)  ^f'ya  nQOxl  doxv  3.-5.  Fuss;  iieya  daxv  2  mal 
(Z  392  I  589)  Versschluss. 

dxQExecoq  dyoQSvact)  (mit  vorausgehendem  fidk'  s.  Parallelh.  roiyaQ  iyw  xoi . .)  8  mal 
(nur  Od.),  dxQsxecoq  xaxale^o)  4  mal  (3  mal  mit  vorausgehendem  fid)!)  Vers- 
schluss (2  mal  IL) ;  dxpexewq  xaxdke^ov  (in  dem  Verse  dXX'  dys  yLOi  xoöe  sine 
xal  d.  X.)  17  mal  (4  mal  II.). 

dxQvyexoLO  d^aXaaarjq  s.  dXbq  dxQ. 

avxdg  kxiXXevq  17  mal  Versschluss,  5  mal  (7  663  ^203  Si  59.  511.  675)  Versanfang: 
noSaq  wxvq  ÄxiXXevq  30  mal,  noöaQxijq  öZoq  Ä.  2  mal  Versschluss,  1  mal  m  234) 
noöcoxTjq  aYnex'  kxiXXevq  Versschluss.  kxiXXsvq  162  mal  Schlusswort,  10  mal 
(ausser  jenen  5  Stellen  noch  F  26  ^  155.  491.  734.  748)  1.  2.  Fuss;  Jl/^JL^v 
22  mal,  stets  Versschluss.    S.  auch  kxtXfja  n.  r. 

avxdg  sywys  11  mal  Versschluss  (davon  3  mal  IL),  2  mal  (y  182  x  438  X  204  avxaQ 
aycoy)  2.  3.  Fuss. 

avxdg  snsixa  26  mal  Versschluss,  9  mal  Versanfang  (A  422  MlSl.  193  77  497.  534 
T  179  6  457  x  438.  452) ,  3  mal  (im  gleichen  Verse  F  335  77  136  T  373)  2.  3.  Fuss; 
avxdg  sneir'  12  mal  Versanfang;  avxlx'  eneixa  2  mal  Versschluss,  3  mal  Vers- 
anfang, 5  mal  (5  322  F  267  [m  261.  394  q  120)  2.  3.  Fuss;  avxU"  snei^'  (-neu) 

11  mal  Versanfang;  aixpa  ö'  sneixa  2  mal  Versschluss,  1  mal  (.0  783)  2.  3.  Fuss; 
altpa  6'  €nei&'  {-nsix')  6  mal  Versschluss,  1  mal  (o)  466)  2.  3.  Fuss;  sv&a  rf* 
UnsLxa  3  mal  Versschluss,  2  mal  {y  108  v  106)  2.  3.  Fuss;  ol  fxsv  ensixa  6  mal 
Versschluss,  1  mal  (cy  220)  Versanfang,  ol  fihv  snsix'  {-B-')  7  mal  Versanfang. 

avxix   Bneixa  s.  avraQ  snsixa. 

avxsvcc  fiiaaov  ^eXaaaev  2  mal  Versschluss,  1  mal  (a  497)  Versanfang ;  1  mal  {a  96) 

avx^v   eXaaasv  2.  3.  Fuss. 
kcpQOÖLXri  s.  öf  'AcpQOÖixrj. 
kxccioi,  kxccioZq,  kxcciovq,  kxcci(öv  8.  x6g)Qa  6'  kxcciol  u.  Xaov  \4xai(ov. 


Nachträge  zum  Parallel- Homer.  405 

kxLXria  noöaq  xaxvv  3  mal  2.-4.  Fuss,  1  mal  {1  354)  nööaq  ra/hv  d{JL(p  Äxi^a, 
1  mal  {2  69)  bloss  xayyv  d(ji(p  ji.  Versschluss ;  kxi^cc  7  mal  Schlusswort,  15  mal 
2.  3.  Fuss  und  je  1  mal  1.  2.  Fuss  (Z  99)  und  4.  5.  Fuss  {£i  434);  kxi^'t  8  mal 
Schlusswort,  20  mal  (vgl.  Parallelh.  k.  öaiipQovi  u.  ürjkelöy  Ä.)  2.  3.  Fuss,  5  mal 
{/  164  X  36.  55  S2  154.  183  der  gleiche  Vers)  4.  5.  Fuss;  IltjlTjtdöeüt  kxdijog 
8  mal,  stets  Versschluss,  IlrjXelSsa)  kxi^oq  1  mal  (#  75)  Versschluss,  3  mal  Vers- 
anfang; kxi^og  18  mal  Versschluss,  12  mal  (vgl.  noch  Parallelh.  k.  dßvßovog) 
2.  3.  Fuss,  2  mal  (Y  324  i2  510  n^OTtccQoi^e  noöcüv  k.,  was  im  Parallelhomer 
nachzutragen)  4.  5.  Fuss. 

ßdXs  öovqI  8  mal  Versschluss  (J  501.  527  yl  108  iV  186.  387.  518.  567  0  420),  3  mal 
(H  14  M  189  P  15)  2.  3.  Fuss,  1  mal  {E  537)  ÖovqI  ßdXe  3.  4.  Fuss. 

ßaadrjsg  kxcci<öv  8.  kaov  jixcciwv. 

B£XXsQ0(p6vzTig  (-xy,  -zrjv)  6  mal  Versschluss,  1  mal  (Z  220)  Versanfang. 

ßorjv  dya&dg  /liofiijörjg  21  mal  (nur  IL),  1  mal  {K  559)  ohne  ßovv  Versschluss. 

ßovxöXog  dv7]Q  s.  ßocäv  inißovxoXog  d. 

ßocüv  imßovxoXog  dviJQ  5 mal  Versschluss  (nur  Od.),  ^292  ''H  ga  ßocov  kXlxcDv  ini" 
ßovxolog  Versanfang  {^mß.  sonst  nirgend) ;  ßovxokog  dviJQ  W  845,  ßovxoXoi 
dvÖQEg  N  571  Versschluss. 

yXvxvg  vnvog  dvrjxev  3  mal  Versschluss,  1  mal  (t  551)  fieXirjdrjg  v.  d. 

yovva.x  sXvasv  10  mal  (2  mal  Od.),  y.  eXvaa{v)  2  mal  Versschluss  (Od.),  l  mal  (X335) 
y.  eXvaa  2.  3.  Fuss. 

yvZa  Xdßy  xdßaxog  s.  Xvas  öh  yvicc. 

öaifjLcjv  36  mal  Schlusswort,  2  mal  (0  468  6  275)  Anfangswort  und  je  1  mal  1.  2.  Fuss 
{q  444)  und  2.  3.  Fuss  {y  27). 

öaixog  S'l'arjg  s.  danlöa  ndvxoa'  il'arjv. 

öatfQOVog  'AXxLVOoio  s.  kXxivooio  6. 

ösTtdeaaiv  13  mal  Schlusswort,  1  mal  (tj  137)  anivöovxag  6.  Versanfang,  1  mal  (0  86) 
Sinaaaiv  Schlusswort. 

öinccg  d/ucpixvnsXXov  9  mal  Versschluss,  3  mal  xal  6s7ta{g)  dfi^ixvneXXov  (-Xcc)  Vers- 
anfang, 1  mal  (o  102)  öenccg  Xdßev  «.,  1  mal  («F663)  öenag  ol'aexai  d.  Versschluss. 

ÖTjLOxrjxog  {-XL,  -xa)  28 mal  Schlusswort,  öriCoxnxa  Anfangswort  ^  203,  örjiox^xog 
2.  3.  Fuss  M  248. 

ö^fx^  iv{l)  8.  xaxcc  öijfiov. 

öf  'A<pQOÖLxri  5  mal  Versschluss  (1  mal  Od.),  Imal  (v  73)  k<pQo6ix7]  Sia  1. — 3.  Fuss; 
XQvaey  kipQOÖLXT^  6 mal  (2 mal  11,  s.  oben),  xQ^air^g  k.  2 mal,  XQ^^^V  ^-  'V^  ^' 
je  1  mal  Versschluss,  Imal  {I  ^S9)  xQvosl^ k<pQo6ixj^  2.—A.  Fuss.  k<pQo6ixtj  {-xrjg, 
-xy,  -xTjv)  40mal  Schlusswort  und  nur  je  Imal  3. 4.  (1389)  und  1.  2.  Fuss  (v  73). 

zffoe  (xtyioxoto  22 mal  Versschluss,  Imal  {B  787)  naQ  d,  aly.  Versanfang,  Imal  {l  275) 
Aiog  alyioxov  3.-5.  Fuss. 

öodaaaxo  xeQÖiov  e'lvai  lOmal,  1  mal  ielaaxo  x.  e.  {ß  320),  Imal  itpalvexo  x.  €.  (^  365) 
Versschluss. 

öoXixoaxiov  %yxog  24mal  Versschluss  (davon  4 mal  Od.),  Imal  (Z  126)  3.-5.  Fuss, 
Imal  (x  ^^)  ^VvC^S  dveXxöfJLSvov  öoXixoaxLov  Versanfang. 

ÖOVQS   OVO)   S.   ovo   ÖOVQS. 

ovo  ÖOVQS  (s.  Parallelh.  xal  ovo  öovQe)  5  mal  Versschluss  (nur  Od.) ,  davon  a  256 
doniöa  xal  8.  d.,  Imal  (A: 76)  danig  xal  ovo  öovQa  Versanfang,  ausserdem  je 
1  mal  ovo  ÖOVQS  2.  3.  Fuss  {<P  145)  und  4.  5.  Fuss  (M  298);  3 mal  öovqs  övcd 
xsxoQvS-fj.iva  x^^V  Versschluss. 

eyxsaiv  dfzcpiyvoiaLv  8 mal  Versschluss  (s.  Parallelh.  xal  syx^  «.),  Imal  (0  386)  syxsaiv 
dfi^iyvoig  Versanfang. 

BSLJtsv  ('usg,  -nov)  s.  fiv^ov  iv  kQysloiOiv  ssutsv. 

ielaaxo  xsqöiov  slvai  s.  öodaaaxo  x.  ö. 


406  K.  Ed.  Schmidt 

e&r]xev  s.  svtvxtov  h'^xev. 

elXriXov^a  (-f>ag,  -&8v,  -&fzev,  -Xov&si,  -Xov&cig)  30  mal  VersschluBs ;  Imal  etki^Xov&a 

{v  257),  Imal  stXr/Xov^e  (v  191)  4.  5.  Fuss. 
dXinoöaq  eXixag  ßovq  5 mal  Versschluss,  Imal  (*  448)  2.-4.  Fass;  tlXinodaq  ßoiq 

2  mal,  tXixaq  ß.  (ohne  elX.)  3  mal  Versschluss. 
tlv  kläao  öofAOLaiv  8mal  Versschluss,    w  204  bIv  ktöao  So/noiq  2.-4.  Fuss;    slv 

AtSao  X389  Versschluss,  A  211  2.  3.  Fuss;  stq  ktöao  Sofiovq  4 mal  Versanfang, 

ohne  ööfjLOvq  2 mal  (A  164.  425)  Versschluss,  5 mal  2.  3.  Fass;  elq  kiösw  2 mal 

2.  3.  Fuss,  siq  'Ä'iöoq  2  mal  Versanfang. 
eiq  aXa  ölav  1 1  mal  Versschluss,  1  mal  (0  223)  2.  3.  Fuss. 
siq  iviavTov  7 mal  Versschluss  (2mal  IL),  2 mal  (6  595  A  356)  2.  3.  Fugs,  1  mal  (^  196) 

4.  5.  Fuss. 
itajiq,  i'lcfT]  u.  s.  w.  s.  daniöa  ndvxoa   itoTjv. 
^x  dv/Liov  h'Xijzai  s.  dno  S-vfxov  h'Xcof/ai. 
hxdeQyoq  knoXXcov  lOmal  Versschluss  (Imal  Od.),  Imal  (7  564)  ixds^oq  dv^gnaas 

ipolßoq  knoXXcav  Versschluss. 
€xaaroq  dvrjQ  s.  dvöga  e'xaarov, 
hxaTOfißrjq  s,  xXsittjv  hxaxofißi^v. 
"ExtoQa  ölov  19mal  Versschluss  (nur  II.),  2mal  (Z  515  0  15)  Versanfang,  4mal  (X  395 

«F24  ß  22.  50)  2.  3.  Fuss,  2 mal  {N  129  ^  593)  4.  5.  Fuss;  "Exxoql  öl(p   11  mal 

Versschluss. 
'ExxoQoq  dvÖQO<p6voLO  8  mal  Versschluss,  3 mal  (Z  498  P  638  i2  724)  Versanfang. 
iv  naxQLÖL  yaly  6  mal,  l  mal  (co  266)  ivl  n.  y.  Versschluss. 
%va  &vß6v  sxovxeq  s.  &vfibv  exovxsq. 

svaga  ßgoxoevxa  5  mal  Versschluss  (nur  II.),  3  mal  {6  534  £"570  jr245)  3.— 5.Fii88. 
%vöov  eovxa  8 mal  (davon  2 mal  (pLXov  nöaiv  e.  f.),  5 mal  t.  ^ovxwv,  "imBXi.  iövxoq, 

Imal  £.  46vxaq  Versschluss;  Imal  (t/;  71)  ^'  ^roa^v  e.  iövta  Versanfang,    2  mal 

€.  ^ovxsq  2.  3.  Fuss. 
IVö-a  xal  IWa  21  mal  Versschluss,   9  mal  {B  779  j&  223  (9  107  P  394  ^  11  /9  213  u  28 

(p  246.  400)  2.  3.  Fuss,  2mal  {B  462  0  345)  Versanfang,  Imal  (Z  2)  Iv^a  xal  ev»" 

2.  3.  Fuss. 

ivS^dö'  iovxaq  2 mal,  i.  iovxeq  Imal  Versschluss;  2 mal  i.  iovxsq  (iV779  <J  178),  je 
Imal  i.  iovxc  (E  634)  und  i.  iovzoq  {v  232)  2.  3.  Fuss. 

ivl  6ri(ia>  s.  xaxa  örjßov. 

ivvoalyaioq  (auch  dat.  u.  acc.  s.  oben  xXvxbq  ivv.  u.  yair^oxoq  h.)  18 mal  Schluss- 
wort; je  1  mal  evvoaiyaioq  (M 27),  ivvoolyaiov  (A  102),  evvoaiyaie  (Y  20)  2.  3.  Fuss; 
2mal  ivvoalyai'  Versanfang  (Y  310  ^  462),  3 mal  (H 4bb  ß  201  v  140)  2.  3.  Fuss. 

^^  l'()ov  fVTO  21  mal  mit  vorausgehendem  noaioq  xal  iörjxvo^,  1  mal  (od  489)  mit  voraus- 
gehendem öixoLO  fieXicpQOVoq. 

i^QX^  yöoio  6 mal  (nur  IL),  Imal  (i2  723)  ^gx^  y.  Versschluss. 

in    dnsLQOva  yalav  s.  dnelgova  y. 

in'  dxQvyexov  növxov  s.  novxov  in    d- 

inl  v^aq  Äxccicöv  s.  Xabv  k-xaicüv. 

im&ovxo  17  mal  Schlusswort  (im  Seher  fehlt  t,  247),  1  mal  (»P  249)  2.  3.  Fuss. 

imxovQwv  12 mal,  imxovgovq  2 mal,  stets  Versschluss;  inixovQoi  15 mal  Versschluss, 
Imal  iE  477)  4.  5.  Fuss;  inixovQoq  3 mal  (^  431 ,  2 mal  im  gleichen  Halbverse 
r  188  E  478)  2.  3.  Fuss. 

%Qyov  dsixiq  6 mal  Versschluss  (Imal  IL),  Imal  (7133)  Versanfang. 

ia^Xov  iovxtt  4mal  Versschluss  (nur  IL),  Imal  (iV  461)  2.  3.  Fuss. 

£v  SLÖwq  11  mal  Versschluss  (nur  Imal  Od.),  davon  6 mal  mit  Torausgehendem  ro^ov 
{x6^ü)v  £v  SLÖoxsq  B  720  2.-4.  Fuss),  Imal  (A  385)  Versanfang,  2mal  (rf  818  s  250) 

3.  4.  Fuss,  Imal  (iV665)  oq  g'  ev  slöcaq  Versanfang;  s.  auch  o^pp'  sv  sidiö. 


Nachträge  zum  Parallel -Homer.  407 

EvQvxXem  15  mal  Schlusswort,  EvqvxIel  3  mal  Anfangswort  (im  gleichen  Verse), 
ImBXEvQvxXeia^.  3.  Fuss;  EvgvxXsiav  5  mal  Schlusswort,  davon  3  mal  Ttgoaacprj 
XQOcpov  E.j  1  mal  TiQoahme  tplXriv  XQ0(p6v  E.,  1  mal  (v  128)  ngoq  6'  EvQvxkeiav 
IsLTtev. 

svQvxQslcDv  'Ayaf4Sßv(ov  s.  xqeLcdv  ivoalxO^ojv. 

evQvxQsiojv  ivoalyßojv  s.  xQelcDV  i, 

8VZVXT0V  sS-Tjxsv  5  mal  Versschluss,  davon  4  mal  mit  vorausgehendem  xweijv  (s.  Pa- 
rallelh.  xgaxl  6'  in'  L<pd:),  1  mal  (d  123)  mit  vorausgehendem  xXioItjv;  sd^rjxeiv) 
44 mal  Schlusswort,  18  mal  {jB319  E  122  Z139  7483  it/450  iV61  P470  r407 
^  172  «f'332.  568.  772  e  265  v  163  §  312.  448  n  208  a  152)  2.  3.  Fuss,  2  mal 
(^  193  A  546)  3.  4.  Fuss;  e&rjxa  2 mal  Schlusswort,  Imal  (/  481)  2.  3.  Fuss;  e^xaq 
3 mal  Schlusswort,  Imal  (;«  338)  2.  3.  Fuss;  e^;fav  3  mal  Schlusswort,  2 mal 
(Z300  ip  167)  2.  3.  Fuss,    Imal  (o)  528)  4.  5.  Fuss;   sS-rjx'  und   e^z]-/  je  Imal 

2.  3.  Fuss. 

Evxofiai  eivat  14  mal,  sv/sai  sivai  3  mal,  evxsT^cci-  slvai  10  mal,  evxofisd-^  elvai  6  mal 

Versschluss;  Imal  evxoficcL  elvai  ('/•'669),  Imal  svxexat  slvat  (£"  173)  4.  5.  Fuss. 
e<paivexo  xegöiov  elvai  s.  öoäaaaxo  x.  e. 
ri  &ۧig  saxlv  5 mal  Versschluss,  4mal  (Z  33.  276   T 177  ^130)  Versanfang,  Imal 

(y  187)  2.  3.  Fuss;  je   Imal  a  xe  ^elvoiq  &.  i.  (A  779)  und  ijts  ^elvcov  ».  i. 

{i  268)  Versschluss. 
r^eXlü)  dvLOvxL  3 mal  Versschluss  (s.  Parallelh.  afia  ö'  tJ.  «.),  i^e?uov  dviovxog  Imal 

ix  135)  Versschluss,  1  mal  {0  538)  Versanfang. 
'H(ö  ölav  9  mal  Versschluss,  A  375  ^w  ölav  2.  3.  Fuss. 
^sloq  doLÖoq  9 mal,  ^üov  dotöov  3 mal  Versschluss,   Imal  (t;;  133)  &eZoq  doiSoq  2. 

3.  Fuss. 

Ohiq  aQyvQÖnet^a  9 mal,  acc.  Imal  Versschluss;  aQyvQone'C.a  ßsxiq  3 mal  Versanfang. 

&OVQOV  'ÄQ-qa  7 mal  Versschluss  (nur  II.),  2 mal  (^454  ^406)  2.3.  Fuss;  o^vv 
ÄQTia  6mal  Versschluss  (nur  IL),  Imal  (P  721)  2.  3.  Fuss. 

^v(jl6v  exovxeq  (sxovoaq  u.  a.  Formen)  12 mal,  davon  3 mal  sva  ^vfJLOv  sxovxsq, 
Imal  (iV487)  k'va  (pgeal  &v/xov  ex^vxsq  Versschluss;  Imal  (y  128)  «AA'  k'va 
&v[jLov  axovxe  Versanfang,  Imal  (T  229)  S-.  exovxaq  2.  3.  Fuss;  x^Q^^^^  sx^vxeq 
i-xa,  -xaq,  -yovaa)  10  mal  Versschluss,  3  mal  (M422  0  447  Y420)  2.  3.  Fuss. 

Q-vyLoq  dvrjxsiv)  6mal  Versschluss,  Imal  {H  152)  2.  3.  Fuss;  dvrjxsiv)  17 mal  Versschluss, 
4mal  {E  405  H  152  S  362  ü-  73)  2.  3.  Fuss,  Imal  (Y  118)  3.  4.  Fuss;  Imal  dv^- 
xaq  Versschluss. 

&vfzbq  dvüjyei  {-yy,  -yoi  s.  Parallelh.  nisZv,  oxe  &.  d.)  12 mal  Versschluss,  Imal 
(^246)  3.4.  Fuss;  dvfioq  dvcjyev  5mal  Versschluss,  2mal  (Z444  a  409)  2.3. 
Fuss;  (fQa^eo&ai  uvwya  5 mal  Versschluss  (nur  Od.),  Imal  (x  129)  ^.  dvcoysi 
2.-4.  Fuss;  dvmya  12mal  Schlusswort,  Imal  (v  364)  2.3.  Fuss;  dvcoyaq  3mal 
Schlusswort,  3 mal  (2  382  a  262  ()398)  2.3.  Fuss;  dv(oy€{v)  16 mal  Schlusswort, 
9 mal  (Z  444  i2  90  ö  482  e  276  o  97  (>  582  a  409  v  139  %p  368)  2.  3.  Fuss;  dvwyov 
3 mal  Schlusswort,  Imal  (£805)  2.3.  Fuss;  dviox^t  8 mal  Schlusswort,  3 mal 
(0  160  T  160  X  ^83)  2.  3.  Fuss,  Imal  1/9  113)  3.  4.  Fuss;  dvojyeiiv)  36 mal  Schluss- 
wort, 9mal  iE  899  y  141  6  531  ß  158.  227  ^  246  n  339  ^  80  ;c  ^29)  3.  4.  Fuss; 
dvojyy  4 mal  Schlusswort,  Imal  (7  703)  3.4.  Fuss, 

'Iq  dv£fxoio  4 mal  Versschluss,  'Iq  dvtfxov  0  383  Versanfang. 

xaxa  tQya  9  mal  Versschluss,  2  mal  xaxit  öl  <pQeal  fiijöexo  sgya,  lmal(a>  199)  xaxa 
(xrioaxo  egya  Versschluss. 

xakbv  dXsiaov  Imal  {S2  429)  Versschluss,  2mal  2.  3.  Fuss. 

xdfiaxoq  xaxa  yvla  Xdßyoiv  8.  kias  6s  yvla. 

xaxa  ö'  6(pQ^ak[iü)V  xsxvx^  dxXvq  2 mal,  Imal  xaz'  o<p^aXß(ov  rf*  f^vr'  a;ifAv'5  Vers- 
schluss, y421  xdg  Qa  ol  ocpd^aXfHüv  xsyyx'  dxXvq  Versanfang. 


408  K.  Ed.  Schmidt 

naxa  öriiiov  17 mal  (nur  Od.),  davon  9mal  {%  34.  274.  283  v  W  q  227.  558  o  363  ^  331 
l  55)  Versschluss,  8 mal  {ß  101  6  167.  530.  652  ^  36  t  146  tp  258  ^  52)  2.  3.  Fuss; 
ava  öfitJLOv  6mal  (nur  Od.),  davon  4mal  (y  215  tt  96  r  73.  273)  2.  3.  Fuss,  2mal 
(^291  (J  666)  4.  5.  Fuss ;  Tqwwv  ivl  öj^ßo^)  Imal  (a  237)  Versschluss,  drifi(p 
hl  Tqüküv  8 mal  (nur  Od.)  Versanfang;  'lOuxtjg  ivl  ÖrifKp  ft>  284  Versschluss, 
«103  1.— 3.  Fuss;  dkXoöanoj  ivl  Örifit^  T  324  Versschluss,  iy  2\\  dr]fi(t)  iv  dXXo- 
öan(p  Versanfang;  ivl  djjfzip  9 mal  Versschluss  (davon  2 mal  IL),  2 mal  (a  103 
<p  307)  2.  3.  Fuss. 

xXsiTTiv  kxaxotJißriv  5 mal  (nur  IL),  2 mal  (H  450  M  6)  xXeixaq  kxatofxßaq  Versschluss; 
je  t  mal  dyaxXsit^g  kxazofißrjg  (y  59)  und  dyuxXsnag  kxazofxßag  (tj  202)  Vers- 
schluss; exaxöfjißrjg,  -ßrjv,  -ßag  37 mal  Schlusswort,  Imal  (^438)  ix  6*  kxa- 
xofißrjv  ßfiaav  Versanfang. 

xkvxog  dfx<piyvij€ig  s.  nsQLxXvxog  d. 

xoQv^alolog^ExxoiQ  37 mal  Versschluss  (nur  IL,  12 mal  mit  vorausgehendem /tt^yas), 
Imal  (X471)  xoQv^alolog  TJydyeS-'  'Exx<oq  Versschluss. 

XQttXSQog  /iLOtirjörig  19mal  Versschluss  (nur  II.),  Imal  (£^151)  2.-4.  Foss. 

xQslcDV  ivoal'/^cav  7 mal  Versschluss,  Imal  (vi  751)  evQvxgelcov  i.;  xgslmv  kyafie- 
(jLvwv  29 mal,  evQvxQeicjv  Ä.  12 mal  (davon  11  mal  mit  vorausgehendem  ÄxqeI- 
örjg)  Versschluss;  je  Imal  xgslwv  kyamjviog  (ß609),  x/Ekixdwv  (n23),  x. 
'Ekecprjvcog  ( J  463),  x.  Ev/irjkog  (¥^354),  x.  'Exewvevg  (rf  22)  Versschluss;  Imal 
(^  194)  xQeiwv  kx£X(oiog  2.-4.  Fuss  (sonst  xqeIcdv  nirgend). 

Kqovov  Ttaig  dyxvXofx^xeo)  7 mal  (Imal  Od.),  ^j  59  Kgovog  dyxvXofirixrjg  Versschluss. 

xvöog  dgsa&ac  7 mal,  x.  ccqoio  2 mal,  x.  d.QOLXo  2 mal,  x.  dgijai  Imal,  x.  dgrjxai  Imal 
Versschluss,  Imal  (77 88)  xvöog  dgsa&ai  2.  3.  Fuss  (d.  Ausdruck  nur  Imal  Od.). 

xvöog  'Axccköv  s.  kaov  ^/aicüj'. 

kdßs  yovvcjv  (im  Parallelh.  nachzutragen),  7mal  {A  500.  557  ^68  ;f  323  ;c310.  342. 
365),  Imal  (^407)  kaßh  y.  Versschluss. 

Xaov  'AxccKov  20 mal  (nur  IL),  davon  15 mal  Versschluss,  5mal  (jR  163.  179  J  199  ö  76 
0  56)  3.  4.  Fuss,  ?.abg  'A.  4 mal  (nur  11),  stets  Versschluss ;  d?.Xog  {-Xov)'Axai(öv 
6 mal  Versschluss,  3  mal  (a  90  P  586  Y339)  3.  4.  Fuss,  5  mal  {B  80  J  334  I  391 
P  475  ^  493)  'Axcciäiv  dkXog  {-lov)  3.-5.  Fuss;  kxai(öv  öazig  dgiaxog  5  mal 
Versschluss,  ccgiaxov  {-oxog)  'Axcciäiv  2mal(^44  iV  313)  Versschluss,  6  mal  3.4. 
Fuss,  Imal  (^78)  dgioxoL'A.;  ßaaiX^sg'AxaKov  3 mal  Versschluss  (nur  IL),  Imal 
{a  394)  2.— 4.  Fuss;  inl  vrjccg  Äxccköv  23mal  (nur  IL),  davon  18 mal  Versschluss, 
5mal  (A  371  S  354  0  305  ß  203.  519)  2.— 4. Fuss,  ohne  inl  noch  13mal  (nur 
IL),  davon  10 mal  Versschluss,  3mal  mit  folgendem  x^^oxixojvwv  Versschluss, 
Imal  {N  31)  kxccKÖv  vriag  1. — 3. Fuss;  vrivolv  kxccicöv  15mal  (nur  Imal  Od.), 
davon  14mal  Versschluss,  Imal  (i2  225)  mit  folgendem  x^^^oxixojvcav  Vers- 
schluss, Imal  (iV  668)  kxcci(öv  vrjvalv  1. — 3. Fuss;  fisya  xvöog  kxccitöv  9 mal, 
ohne  /xsya  Imal  Versschluss;  voaxov  kxccKov  Imal  {x  15)  Versschluss,  Imal 
(«  326)  kxcctiöv  voaxov  3.— 5. Fuss;  ovxig  ky^aiöJv  ö  106  3.  4.  Fuss,  .^/«^tyv 
ovxig  (p  344  3.-5.  Fuss;  nvgyoc  kxciKÖv  Imal  (z/  347)  Versschluss,  Tivgyog 
i-yov)  k.  J  334  M  333  3.  4.  Fuss;  axgaxbv  evgvv  kxccaöv  8 mal  (nur  IL),  davon 
7 mal  Versschluss,  Imal  (^  384)  2.-4.  Fuss;  xetxog  kxccKÖv  10 mal  (nur  L.), 
davon  7 mal  Versschluss,  3 mal  (M  12.  257.  352)  3.  4.  Fuss;  Tgojcjv  xal  kyaidjv 
<pvXo7tLV  aivriv  2mal,  1  mal  T.  x.  '4.  (pvXonig  alvij,  1  mal  (Z  1)  Tgcocov  rf'  oici&Tj 
xal  kxaiiSv  (pvXonig  alvri\  Tgwcov  xal  kxaicöv  13 mal  (nur  Imal  Od.),  davon 
Imal  (Jf  431)  Versschluss,  12 mal  (ausser  den  im  Parallelh.  angeführten  Stellen 
noch  r  274  J  471  m  38)  2.-4.  Fuss,  5mal  U/a^wv  xs  Tg(6ü)v  Tf  Versschluss ; 
vhg  kxaicSv  40 mal  (stets  Versschluss,  s.  oben),  Imal  (w  38)  kxaiwv  vleg^.—  h. 
Fuss;  kxaicüv  dyyekog  K  286  3.-5.  Fuss,  E  803.  4  Schlusswort  eines  und 
Anfangswort  des  andern  Verses ;   'ixaidiv  TJyegi&ovxo  T  303  Versschluss,  ^303.4 


Nachträge  zum  Parallel  -  Homer.  409 

Schlusswort  eines  und  Anfangswort  des  andern  Verses,  kx^ctwv  275  mal 
Schlusswort,  89  mal  (ausser  den  47  eben  und  den  24  bei  'ix(xi(vv  /aP.Ärox/Tcyvcy»' 
angeführten  SteUen  noch  ^  71  J  156.  333.  417  Z  98  //  289.  406  /  198  A  247 
P  358  ß  87.  128  y  185  d-  489  a  286.  301  r  240  v  160)  3.  4.  Fuss,  5mal  (0  73 
JV  31.  668  P  552  Y  394)  1.  2.  Fuss.    S.  auch  z6g)Qa  d'  kx^ioi, 

Ivae  öh  yvla  8 mal,  2 mal  viteXvce  6h  yvia,  Z  27  vnskvae  fisvoq  xal  <pul6ifia  yvla, 
P  524  Xv6  yvla,  2  mal  (J^  16  0  435)  Xvvxo  rfe  /.,  Jl  341  vnklvvxo  de  y.,  2  mal 
Xv^iv  d'  vnb  yvla  bxaarijg,  11  805  Xv&ev  d*  vTto  (paldifia  yvla,  H  6  xa/xäroj  d' 
vTto  yr?«  keXvvzai,  a  238  AfAvvzro  de  yvla  hxaaxov,  3  mal  ^/P.a  yuta  XeXvvxo 
i-xai,  N  85  mit  vorausgehendem  xafidx(t})  Versschluss;  J  230  yvla  Xaß^  xdfiaxoQ 
Versanfang,  a  192  xdfxaxog  xaxd  yvla  Xdß^aiv  Versschluss,  E  811  xduaxoq 
noXväi^  yvla  ösövxev  Versschluss;  3 mal  vnb  (xs)  xgöfioq  sXXaße  yvla^  Imal 
(ohne  VTto)  xgofioq  sXXaße  yvla,  0  452  xQOfioq  sXXaße  (palöiiia  y.  Versschluss; 
2mal  (//215  Y  44)  Tgöiaq  de  XQO^oq  aivoq  vnijXv&s  yvla  sxaaxov;  K  390  vno 
d'  sxgsfiE  y.,  X  527  xge^ov  Q^  vno  y.  kxdaxov,  K  95  xqo(X£€l  d*  vno  (palöina 
y.  Versschluss. 

ßaxQov  dvaaq  14 mal  Versschluss  (nur  II.),  [laxQov  dvae(v)  5 mal  (nur  II.),  (x.  dvaav 
Imal  {t,  117)  2.3.  Fuss. 

(xsya  öwfxa  8  mal  Versschluss  (s.  Parallelh.  iq  fisya  d.  und  vxpegecplq  fiiya  6.),  3  mal 
ix  434  tp  146.  151)  2.  3.  Fuss. 

fxsya  xvöoq  Äxai(Sv  s.  Xaov   ^4.xai(öv. 

ßiya  nQOxl  daxv  s.  daxv  fisya. 

fjLsXav  aiy-a  s.  aiiia  fxeXav. 

firjQr  sxrja,  fi.  ex7]£v  und  f/.sxTjav  je  2 mal,  ßr^gia  xalov  und  ^.  xalsv  je  Imal  Vers- 
schluss; 3mal  i£i  34  y  273  (>  241)  firjgl'  sx^s,  je  Imal  fxrjgt  8xrf  (x  366),  ^.  exaie 
(A  773)  und  ^a.  exaiov  {i  553)  2.  3.  Fuss. 

ßv&ov  iv  kgysloiaiv  hinev  (s.  Parallelh.  xal  (xv&ov  iv  '4.  e.)  8 mal  (nur  in  ^), 
Imal  (^  781)  laera  d'  Ägysloiciv  hinsv  Versschluss;  [xv^ov  hinsv  (s.  oben) 
ohne  vorausgehendes  ßsxd  oder  ;r()öc  6 mal  {/  173  AT  318  <j  422  /  207  «>  213. 
513);  seinev  77 mal  Schlusswort,  12mal  {N  666  P  410  /?  108  d  349.  677  jr  356. 
412  g  140.  172.  248  xp  273  w  144)  2.  3.  Fuss,  Imal  («P'  617)  4.  5.  Fuss;  ssinsq 
38 mal,  stets  Schlusswort;  hinov  6mal  Schlusswort,  Imal  {x  445)  2.  3.  Fuss. 

v^aq  itaaq  s.  daniöa  ndvxoa   ii'arjv. 

v^aq  und  vrjvalv  Jixcciwv  s.  Accov  ^p^a^cöv. 

VTjfisgxhq  ivianeq  7 mal  (Imal  II.,  5 mal  mit  vorausgehendem  ßoi),  je  Imal  v.  ivl- 
any  (y327)  und  v.  ivltpei  {X  148)  Versschluss;  Imal  (d642)  vrjfisgxiq  tiOL  svians 
Versanfang. 

vöaxov  ÄxccLcüv  s.  Xaov  Äxaiwv. 

vv^  ixdXvyjsv  6 mal  Versschluss,  Imal  {S  439)  Versanfang. 

OL  d*  «V  ^TCOVXO   S.  T02  d'  «V  ^'' 

ot  ^^v  snsixa  s.  avxag  eneixa. 

olöa  xal  avxoq  5 mal,  2 mal  oZd^a  {olda)  xal  avxi]  Versschluss,   Imal  (T421)  olöa 

xal  avxoq  2.  3.  Fuss. 
d^vv  ^'Agria  s.  d^ovgov  'Ägrja. 

onnoxe  xev  6?]  5 mal  Versschluss,  4mal  (X  127  v  155.  394  tp  274)  Versanfang. 
onwq  öx    ägiaxa  ysvoixo  {-vrjxai)  4  mal  Versschluss  (nur  Od.),  Imal  (jTHO)  o.  S.a. 

fzex'  dß(pox£goiai  ysvtjxai  Versschluss. 
dgoq  alnv   4mal  Versschluss  (1?  603.  829  y  287  d514),   Imal  (t  431)  alnv  d'  ogoq 

2.  3.  Fuss. 
oq  x^  i^sX^Giv  s.  ai'  x'  id-^Xj^ad-a. 

oaaoL  dgioxoL  7  mal  Versschluss,  1  mal  (0  296)  2.  3.  Fuss,  1  mal  (P  377)  Versanfang. 
ooxiq  dgiaxoq  6  mal  Versschluss,  1  mal  (v  335)  2-  3.  Fuss. 


410  K.  Ed.  Schmidt 

ovo'  uTtl&Tjasiv)  2  mal  M  220  M329),  ov6'  dm^aei  Imal  («-129)  Versschluss,  23 mal 
ov6'  dnl&Tjasiv)  2.  3.  Fuss  (s.  Parallelh/lßc  t(pat\  ovo*  an.). 

ovo*  ccQ*  pfieXleiv)  4 mal  Versschluss,  Imal  {M  113)  2.  3.  Fuss;  ovo'  «(>'  sfis/lov 
Imal  Versschluss,  1  mal  (P497)  2.  3.  Fuss;  ovx  dg'  e/neXleg  2  mal  Versschluss, 
Imal  ^475)  2.  3.  Fuss. 

ov6^  «()'  sn  öriv  6 mal  (1  mal  auch  ovo''  av  hi  öt^v)  Versschluss,  1  mal  (ß  36)  Versanfang. 

ovo'  dcpdßaQxsv  4  mal  Versschluss,  2mal  xal  ßdXev,  ovo'  d.  Versanfang. 

ovdh  eoixeiv)  lOmal  Versschluss,  2mal  (5212  ^358)  2.  3.  Fuss. 

ovö^  xiq  dkXog  10  mal  Versschluss,  2  mal  (^32  ;tf327)  ovöh  yag  o.  z.  d.  Versanfang. 

ovx  id-eXr/act)  {-asig,  -aei)  4  mal  Versschluss  (s.  Parallelh.  u.  ^  223  a  362);  ovx  i&s- 
Xova^  i-arjg)  3 mal  Versschluss;  ovx  iV-Üovra  5 mal  Versschluss,  4 mal  (J  224  Y87 
^  48  o  72)  4.  5.  Fuss,  1  mal  (iV 572)  2.  3.  Fuss;  ovx  iW.ovai{v)  Imal  (N  109)  Vers- 
schluss, 2  mal  (r241  M171)  2.  3.  Fuss,  1  mal  (^90)  4.  5.  Fuss;  ovx  ^f^ilwaiv 
r289  2.  3.  Fuss;  ov6'  i&Üovaiiv)  2mal  Versschluss,  Imal  (Z51)  Versanfang, 
Imal  (^125)  2.  3.  Fuss. 

ovx  ivdtjGEV i-aav,  -oa)  7 mal  Versschluss,  Imal  (7537)  2.  3.  Fuss. 

ovQavov  ev()vv  7 mal  Versschluss  (r364  ü;867  H  178.201  T257  ^272  f  303),  23mal 
(4 mal  II.)  4.  5.  Fuss  (0  74  ^  522  ^  74  ^  73  t  108  und  s.  Parallelh.  dl  ovq.  tvg.  l- 
xovaiv  und  rol  ovq.  evq.  e.),  1  mal  (0  192)  2.  3.  Fuss  (im  Parallelh.  ist  bei  ov- 
Qavov  £VQvv  ^  267  nachzutragen). 

ocpQ  ev  elöiJH  8 mal  (nur  Imal  IL),  oV(>'  sv  elöyg  5 mal  (nur  Imal  Od.)  Versschluss; 
2 mal  6(pq'  elö^g,  Imal  ocpQ    eiöp.o)  Versanfang. 

nd'Cg  ^Ayxioao  (s.  Parallelh.  ivg  n.  'A.)  3  mal  Versschluss,  Y112  ^Ayxtaao  nd'ig  1.—A. 
Fuss. 

TtdvTsg  dgLCtOL  5 mal  (2 mal  IL),  ndvxag  dgiaTOvg  11  mal  (Imal  Od.)  Versschluss, 
Imal  (iV117)  ndvTsg  aQiaxoL  Versanfang. 

naxQog  ifiolo  3mal  Versschluss,  Imal  (o417)  2.  3.  Fuss,  2mal  n.  i»  nax-qQ  Vers- 
anfang. 

TtaxQog  SOLO  4 mal  Versschluss,  Imal  (5  662)  2.  3.  Fuss,  Imal  (^177)  Versanfang; 
Imal  (6 IIA)  itaxQog  kov  Versanfang. 

nsQLxlvxog  dfi<piyvi]eig  9 mal,  Imal  (^614)  x).vzdg  d/Lig)iyv^sig  Versschluss;  naig  d. 
2*239  Versschluss,  sonst  dfjitp.  nirgend. 

IlTjXsldsü}  u.  IlTjXtjLdösct)  ^AxtXrjog  s.  ^AxiXrja  n.  x. 

noöag  wxvg  u.  TCoöaQxrjg  ötog  ÄxiXXevg  s.  avxccQ  jixtXXsvg. 

Ttokesg  TS  xal  ia&Xol  4 mal,  noXsag  xs  xal  ia&Xovg  4 mal,  noXXol  ts  xal  ia&Xol 
2 mal  Versschluss;  Imal  (£624)  ot  noXXol  xs  xal  ^ad^Xoi  Versanfang. 

TTo'AA'  ^(jLoytiaa  {-Gag,  -asv)  5 mal  Versschluss,   Imal  {A  162)  n.  s^öyrioa  2.  3.  Fuss. 

ttoAA'  ^nhxsXXov  {-Xsv)  6 mal  Versschluss,  davon  4 mal  mit  vorausgehendem  yLdXa\ 
A  229  TW  iidXa  noXX'  inhsXXs,  I  179  rolai  öh  n.  s.  Versanfang. 

noXXov  dfistvcjv  5 mal  Versschluss,  Imal  (ß  180)  3,  4.  Fuss. 

novxov  £71  dxQvysxov  7 mal  (nur  Od.),  Imal  (0  27)  ns(A,xpag  in  dxQvysxov  novxov 
Versanfang. 

7iQoos(pri  xQOipov  EvQvxXsiav  s.  EvQvxXsia. 

TiQOxl  daxv  fJLsya  s.  doxv  (Jieya. 

nvd^fiev   iXairjg  2 mal  Versschluss,  Imal  (vl22)  3.  4.  Fuss. 

nvQyog  kxccicüv  s,  Xabv  kxaKÖv. 

nvQog  ai^ofjLsvoLO  9mal  Versschluss  (Imal  Od.),  3mal  (Z  182  5  396  A  220)  nvgoq 
vom  Schlusswort  ald-.  durch  ein  oder  mehrere  Worte  getrennt;  X135  ^'  nvgog 
ald^Ofisvov  Versanfang. 

axixag  dvögdjv  14mal,  1  mal  arixsg  d.  Versschluss,  2mal  ax.  d.  7isiQT}xit,(ov  Versschluss. 

axQaxov  svqvv  jixatcäv  s.  Xabv  Äxatcüv. 

avv  dixtpmoXoiOL  ywai^iv  13 mal  (nur  Od.),  Imal  (7^300)  /ufr'  a.  y. 


Nachträge  zum  Parallel -Homer.  411 

TStxog  ÄxaicÜv  s.  Xaov  kxcciwv. 

TelaficüVLoq  Aiag  21  mal,  2 mal  (s.  Parallelh.  aXla  neQ  oloq  .  .)  T.  aXxiuoq  Al'aq 
Versschluss,  3  mal  ÄHaq  6s  (pa)  ngdjzoq  TslafjLwvioq  Versanfang. 

Tol  6"  afjL   67COVZO  7  mal,  oi  ö'  «V  6.  Imal  Versschluss,  Imal  (^735)  2.  3.  Fuss. 

TOiyccQ  iy(6  zoi  .  .  .  s.  axpex^wq  dyoQsvao). 

xöcpQa  d'  Äyaioi  Imal  (0  343)  Versschluss,  Imal  (7  42)  Versanfang;  Äxctioi  9X%o 
Imal  1.2.  Fuss,  5 mal  (^70  2' 59  0  235  77  770  T61  vgl.  Parallelh.  Sq  Tgcüsq 
xal  Ä.)  2.  3.  Fuss,  1 1  mal  (ausser  den  4  Stellen  Parallelh.  ^xaioi  xe  Tgoilq  xs 
noch  J  147  E  484  Z229  77  780  T  85  i;  166  ^  418)  3.  4.  Fuss,  ausserdem  182mal 
Schlusswort;  kxcciolq  7 mal  Schlusswort,  2 mal  (K  174  ^'792)  3.4.  Fuss;  kxaiovq 
122 mal  Schlusswort,  Imal  (^862)  Ä.  ts  Tgdidq  xe  Versschluss.  S.  auch  kaov 
kxcciwv. 

xQSfjLov  d^  vTCo  yvta  sxdaxov  s.  kvas  öh  yvla. 

XQOfjLoq  sXXaße  yvla  s.  Xvoe  de  yvla. 

TQQJeq  xal  ky^aioi  s.  x6(pQa  6^   \x^'-^'-' 

Tqwcdv  xal   \x/X'^^^  ^-  ^«ov  kxaicöv. 

xvz&ov  iovxa  7 mal  Versschluss,  2mal  (^85  v  210)  2.  3.  Fuss. 

vieq  kxaiwv  8.  Xabv  kxaicSv, 

VTtskvas  6e  yvla  s.  Xvas  6h  y. 

vnvov  8xsve{v)  7 mal  Versschluss,  Imal  (ß  445)  2.  3.  Fuss. 

V7i6  XQOjbioq  akXaßs  yvla  s.  kvas  6e  yvla. 

v(p  YfzsQov  (oQoe  yooio  "mal,  Imal  {n  215)  v<p  ^Ißsgog  (ogxo  yooio  Versschluss. 

(plXa  yvla  XeXvvxai  s.  Xvae  66  yvla. 

4*olßoq  knoXkwv  34  mal  Versschluss  (2  mal  Od.),  4  mal  'Anölkatv  <Poißoq  1.— 3.  Fuss 
(nur  n.). 

xdXxEov  eyxoq  22 mal  Versschluss  (davon  5 mal  Od.)  und  nur  Imal  (^393)  Vers- 
anfang, 2  mal  (O  126.  27  X285.  86)  syxoq  und  x^Xxsov  in  2  aufeinander  folgen- 
den Versen. 

Xslgaq  ddnxovq  10 mal,  x^f^Q^?  danxot  3  mal  Versschluss,  Imal  (^567)  ddnxovq 
xslgaq  4.  5.  Fuss. 

XSQclv  exovxeq  s.  &vfjidv  sxovxsq, 

XQvasy  'A<pgo6ixy  s.  dt'  ^A(pQo6Lxrj, 

ü>  x^  iS-sX^aiv  8.  ai'  x'  iS-iXTjad-a. 

wq  SxeXsveq  2  mal,  wq  ixeXsvsv  5  mal,  atq  ixsXevov  3 mal,  wq  ixiXsvasv  5mal  Vers- 
schluss; Imal  (;tf  251)  wq  ixsXeveq,  Imal  (a 278)  w^  ^Ar^Aevf,  Imal  (/?415)  wg  ix€- 
Xsvasv  2.  3.  Fuss. 

Die  Zahl  der  von  EUendt  in  seinen  „drei  homerischen  Abhandlungen'*  (Leipzig 
1864)  beigebrachten  Parechesen  vermehre  ich  um  folgende: 

{Jioq  v6ov{-og)  aiyioxoio  6 mal. 
„      66fiov  „  0  375. 

„      xxvnov  „  0  379. 

( {Ugiäfioto)  TtoXiv  6i€nSgaafiev  aimjv  3  mal. 

\  „         X6Qatt,^/Ll€V  „        ^516. 

J  {6id  t')  svxea  xal  fxsXav  alfia  3 mal  Versschluss. 
l  syxaxa  „        „  „     ^583  Versanfang. 

{VTio  x^gaq  dXv^ag  M113. 
„     x^^Qtxg       „       iV395. 
{ot  Sdfjiov  d(i(pev^(iovzo  5634  Versschluss. 
„  ^Pööov  „  7?  655  Versanfang. 


412  K    Ed.  Schmidt 

{vieg  rjyayov  dfnpi^Xiaaai  tj  9. 
„     ^Xv&ov  „  iV174  0  549. 

ffiivs"  dvögwv  J447  0  61  (J363. 
fjihBV     f,       X458. 
fjievog     .,        Ä387. 

f  insQxöfievov  noXvv  dvdgdiv  N  472. 
I  insaavfzevov  noXiv       „       P  737. 

I<PQdt,sa9^ai  dvcuya  5  mal. 

dyeQsa&ai  dvciysi  /9  385. 

dveX^a&ai        „  77  8. 

Xd^sa&ai         „  P357. 

{ßsXoq  *AvTLv6oio  q  464. 
iM^vo?  „  (j  34. 

{«V^vAov  a()^a  Z  39. 
xaymvXov  „      7^231. 

(%aiid6iq  qbb,  ösvs  de  ycäav   i  290. 
„        ;ce't,     „      „      „       ?P220. 

{TtaQi'Qzo  aal  Xaßh  yovvcDV  A  407. 
naQst,eto  „  Xdße  „  „  557. 
xad-siexo  „        „  „        „  500. 

{xXiolrjv  evtvxzov  sd^tjxev  6  123. 
xvv6T]V         „  „        4  mal. 

f  ivl  xlialyoLV  e^xsv  0  478. 

\  negl  xvi^fi^aiv     „       4 mal  (s.  Parallelh.  xvrjfuSaQ  . . .). 

{vtjTov  elvai  iV391  77  484. 
vjJTCiov  „      t  419. 
^£ivi^iov„      2 mal  (s.  Parallelh.  Scäxe  |. .  .)• 

{atpsag  elacc<plxj]Tai  {-xoixo)  5  mal. 
öTTT^Og  „  /U  84. 

f  TToAi;  (pegxeQoL  slaiv  4  mal  (s.  Parallelh   ^Tre^  ^  •  •  •)• 
<  nQO(psQeox€QaL    „      TSC  352. 
l  TtQoyeveaxeQol     „       /9  29. 

{ndxog  slaogdaa&aL   i  324. 
yaog  „  A*  345. 

f  öof^ov  IlriXriCov  el'öü)  S  60.  441. 
t  nvXov  Nr]X7fLOV    „      A  682. 

f  etjuar '  ^sxsixo  (p  52. 
1  xxi]fiax^     „       I  291. 

<oe  t;r7roörvj'j7  ixexaoxo  W  289. 
„    (lavxoovvi^       „  4  509. 

f  og  TiXixLriV  Mxaaxo  11  808. 
\  bfir]Xixl7jV         „         2  mal. 

f  {/xsov      jjd*  ixsXevov  x  17. 

t^TT^Vfov    „  „         4  mal  (8.  ParaUelh.  "ßg  cya^',  ot  d'  a()c  n.  f.). 

f  JlovXvddfiag  d'  sxnayXov  inev^axo  S  453. 
I  rw  d'  kxdfzag  „  „  „  478. 


Nachträge  zum  Parallel  -  Homer.  413 


{7tEQitQon^(ov  iviavTog  B  295. 
7tSQmlo(jLSV(j)v  iviavTcSv  B  bb\. 

{vooq  atkv  iovtcov  y  147. 
XÖXov  „  „        6  583. 

(d^avseiv  xal  noxfiov  imanelv  5  mal. 
[d-dvarov  „  „  „         a>  31. 

f  xal  svQvayvta  Mvx^vrj  d  hl. 
\  „    evQvayvLav  kd-ijvrjv  tj  80. 

l  k^iov  evQVQSovToq  B  849  11  288  *  157. 
\  k^iog  svQv^hS^Qog  ^141. 


XIX. 
Chthonischer  und  Totenkult. 

Von 

Faul  Stengel  (Berlin). 

In  seiner  Psyche  S.  220  sagt  Erwin  Rohde  am  Schluss  der  lehr- 
reichen Untersuchung  über  den  Kult  der  chthonischen  Gottheiten,  der 
Heroen  und  Toten:  „Der  Kult,  den  die  Familie  den  Seelen  ihrer  Vor- 
fahren widmet,  unterscheidet  sich  von  der  Verehrung  der  unterirdischen 
Götter  und  der  Heroen  kaum  durch  etwas  anderes  als  die  viel  engere 
Begrenzung  der  Kultgemeinde."  Ähnlich  äussern  sich,  um  von  Älteren 
abzusehen,  Ed.  Meyer  Gesch.  des  Altt  II  427  und  Deneken  unter  Heros 
in  Roschers  Mythol.  Lex.  2452.  Wenn  ich  hier  versuche  noch  andere 
Unterschiede  darzulegen,  so  kann  dabei  von  einer  Polemik  gegen  Rohde 
nicht  die  Rede  sein,  auch  kaum  von  einer  berichtigenden  Ergänzung 
seiner  Ausführungen,  denn  sie  gehen  überhaupt  nicht  so  ins  Detail,  und 
im  grossen  und  ganzen  werden  auch  meine  Bemerkungen  nur  zu  ihrer 
Bestätigung  beitragen;  ich  lege  sie  hier  vor,  weil  erfahrungsmässig  ge- 
rade die  genaueste  Beobachtung  des  Kultus  und  der  Opfergebräuche  oft 
erhellt  und  erklärt,  was  sonst  unverstanden  bliebe.  Das  hat  ja  Rohdes 
Buch  selbst  am  glänzendsten  gezeigt.  (Vgl.  auch  E.  Curtius  Gesammelte 
Abhandlungen  II  23.) 

A  priori  hat  die  Ähnlichkeit  zwischen  dem  Kult  der  chthonischen 
Gottheiten  und  dem  der  abgeschiedenen  Seelen  gerade  so  viel  Auffallendes 
als  die  Verschiedenheiten.  Beide  sind  dem  Reich  des  Lebens  entrückt 
und  können  aus  der  Tiefe  auf  die  Oberwelt  hin  wirken,  aber  den  Gott 
versöhnt  man  durch  Sühn-  und  Bussopfer  und  erfleht  seine  Gnade  und 
seinen  Segen  durch  demütige  Gaben,  durch  die  man  ihm  seine  Verehrung 
bezeugt,  den  Toten  nährt  man')  mit  Spenden  und  Opfern,  die  man  ihm 

1)  Luk.  nsgl  nivd^.  9  :  al  ipvxccl  XQ^fpovrai  xalq  x^^^^-  "^d»-  Cho.  483  ff.  und 
mehr  bei  Bohde  222  f. 


Chthonischer  und  Totenkult.  415 

an  seinem  Grabe  darbringt,  und  erwartet  erst  in  zweiter  Linie  für  sich 
selbst  davon  Gutes.  Dem  chthonischen  Gott  sollen  die  Gaben  nicht  ein 
Genuss  sein :  der  Tote  würde  darben  und  entbehren,  wollte  man  sie  ihm 
vorenthalten  (Rohde  627,  633  A.  4). 

X^övLog  heisst  „im  Innern  der  Erde  hausend"  (Rohde  190).  Das 
würde  für  die  Seelen  der  Toten  ebenso  gut  passen,  wie  für  die  Unter- 
weltsgottheiten, und  doch  werden  nur  diese  Xd-ovioi  genannt.  Ja  der 
Name  wird  auf  Gottheiten  wie  Dionysos,  Hermes  u.  a.  übertragen,  deren 
Wesen  doch  von  dem  der  Unterirdischen  sehr  verschieden  ist,  aber  nicht 
auf  die  Toten.  Nun  haben  die  chthonischen  Gottheiten  aber  einen  dop- 
pelten Charakter:  sie  sind  einmal  unheimliche  Wesen,  vor  denen  man 
sich  fürchtet  und  denen  man  Gaben  darbringt,  nur  um  ihrem  Zorn  zu 
entgehn,  andrerseits  segnen  sie  den  Ackerbau  und  das  Gedeihen  der 
Feldfrüchte ^).  Der  eine  entwickelt  sich  mehr  nach  dieser,  der  andere 
mehr  nach  jener  Seite  hin.  Hekate,  die  Erinyen,  die  Winde  bleiben 
schreckhaft ;  Persephone  wird,  namentlich  seitdem  sie  in  engste  Beziehung 
zu  Demeter  getreten  ist,  zu  einer  Spenderin  ländlichen  Segens,  selbst 
Hades  wird  als  Pluton  angerufen,  und  der  Kreis  der  in  Eleusis  verehrten 
Götter  ist  nur  durch  Verschmelzung  beider  Eigentümlichkeiten  zu  ver- 
stehn.  Ja  fast  alle  Götter  participieren  an  der  einen  oder  der  andern. 
Zeus  Chthonios  ist  in  vielen  Gegenden  ein  Gott  des  Ackerbaus  (Hes. 
erg.  465,  Dittenberger  Syll.  373,  26),  Dionysos  ist  „Herr  der  Seelen" 
(Rohde  306)  und  zugleich  „Schützer  und  Förderer  alles  Wachstums  und 
Gedeihens  im  Pflanzenreiche"  (Rohde  332) ;  Apollon  und  Artemis  wiederum 
empfangen  Sühnopfer  wie  die  Götter  der  Unterwelt  (Kaibel  epigr.  gr.  1034. 
Paus.  VIII  38,  6.  II  24,  1  u.  s.  w.),  und  dem  Poseidon  versenkt  man  Tiere 
in  die  Fluten  (Arr.  anab.  VI  19,  5.  Cass.  Dio  XLVIII  48.  Paus.  VIII  7,  2. 
Athen.  VI  261  D  u.  s.  w.)  und  spendet  ihm  viqcpalLa  wie  den  Winden  und 
Zeus  Georges  (CIA  III  77). 

Eine  Doppelnatur  haben  auch  die  Heroen.  Ihnen  kann  wg  d^eüi 
d.  h.  wie  einem  himmUschen  Gott  oder  wg  tJqwl  d.  h.  wie  den  Unter- 
irdischen geopfert  werden  (Stengel  Griech.  Kultusaltt.  98).  Das  Letztere 
ist  das  Gewöhnliche. 

Anders  die  Toten.  Auch  sie  können  freundlich  sein  und  zürnen, 
wie  jeder  Gott  und  jeder  Mensch,  aber  die  Auffassung  ihres  Wesens  und 
ihr  Kult  bleiben  trotz  der  Veränderungen,  die  sich  im  Lauf  der  Jahr- 
hunderte vollziehen,  immer  einheitlich  und  schliessen  eine  fierdßaaig  eig 

1)  S.  namentlich  Rohde  190  flF.  Lehrs  Pop.  Aufs.*  298  f.,  auch  Preller-Robert 
Griech.  Myth.  I  130  u.  633.     TöpflFer  Att.  Geneal.  250.     0.  Kern  Arch.  Anz.  IX. 

(1894)  S.  81. 


h 


416  Paul  Stengel 

akko   yhog   (vgl.   Rohde   696)   oder   auch   nur   eine   Vermischung  mit 
Andersartigem  aus. 

Aus  dieser  Vorstellung  von  den  in  der  Tiefe  wohnenden  und  wal- 
tenden Mächten  erklären  sich  denn  auch  die  Unterschiede  in  der  Art 
ihrer  Verehrung.  Die  Opfer  für  chthonische  Gottheiten  haben  durchaus 
den  Charakter  von  Sühnopfem*).  Sie  sind  ein  Zeichen  demütiger 
Unterwerfung  und  angstvollen  Suchens  nach  gnädigem  Erbarmen.  Des- 
halb finden  wir  Menschenopfer,  deshalb  auch  Opfer  nicht  essbarer  Tiere 
im  Kult  der  Unterirdischen.  Denn  chthonisch  ist  der  Kult  des  Zeus 
Lykaios  in  Arkadien,  chthonisch  namentlich  auch  der  Kult  der  Winde. 
ÖQ^  öh  ytal  äkka  ccTCOQQrjTa  eig  ßod-Qovg  riooaQag^),  erzählt  Pausanias 
n  12,  1  von  dem  Priester  in  Titane  bei  Sikyon,  der  dort  alljährlich 
nachts  den  Winden  opfert;  in  Methone  vergräbt  man  ihnen  einen 
Hahn  (Paus.  11  34,  3),  und  auch  sonst  ist  ihr  Kult  durchaus  dem  der 
Unterirdischen  entsprechend.  Unter  ihren  Opfern  aber  finden  wir  Men- 
schen, Pferde,  Esel  (Hermes  XVI  348  ff.).  Bekannt  sind  ferner  die  Hunde- 
opfer für  Hekate.  Solche  Gaben  durfte  man  den  Toten  nicht  bringen*), 
wenigstens  nicht  mehr  in  einer  Zeit,  wo  die  Angst  vor  einer  Wiederkehr 
der  nicht  befriedigten  Seele  und  der  dadurch  bedingte  apotropäische 
Charakter  des  Totenkultus  zurückgetreten  war  hinter  der  Pietät,  die  um- 
gekehrt durch  den  Kult  ein  Band  zwischen  den  Zurückgebliebenen  und 
dem  Geschiedenen  knüpfen  wollte.  Hier  dienen  „Weingüsse  und  Brand- 
opfer der  Nahrung  der  hilflosen  Seele"  (Rohde  627).  Man  kann  ihnen 
also  nur  opfern,  was  man  selber  ass  und  trank.  Dem  scheint  eine 
Stelle  zu  widersprechen:  bei  Euripides  opfert  Neoptolemos  Polyxena  auf 
dem  Grabe  des  Achilleus  und  ruft  seine  Seele  an,  ihr  Blut  zu  trinken 
(Hek.  535  ff.).  Das  ist  in  der  That  sehr  auffallend.  Schon  die  Biupersis 
hat  erzählt,  die  Griechen  hätten  vor  ihrer  Abfahrt  dem  Achill  die  Jung- 
frau an  seinem  Grabe  geopfert  (Mythogr.  gr.  ed.  Wagner  1 245,  vgl.  212).  Hier 
im  Epos  kann  das  Opfer  keinen  andern  Sinn  und  Zweck  gehabt  haben,  als 
die  Psyche  des  Helden  durch  ein  auch  ihm  von  der  Beute  dargebrachtes 
yiQag  zu  befriedigen.  So  verspricht  Achill  selbst  nach  der  Rückgabe  der 
Leiche  Hektors  der  Psyche  des  Patroklos  ihren  Anteil  von  den  Lösegeschen- 
ken, die  er  empfangen  hat,  damit  sie  ihm  nicht  zürne  (ß 592 ff.).  Solche 
Vorstellungen  sind  der  Zeit  des  Euripides  fremd  geworden,  und  dem  auf- 

1)  Rohde  248  ff.    Diels  Sibyll.  Blätter  39.     Stengel  a.  a.  0.  87. 

2)  &eol  fxkv  yccQ  x^oviol  ßöd^QOvq  aancc^ovrai  xal  xuv  xoiXy  zy  y§  ÖQiofisva 
(Philostr.  Vit.  Apoll.  VI  11,  18). 

3)  Toxaris  ist  ein  skythischer  Heros  (Luk.  Skyth.  2),  und  bei  den  Skythen  sind 
Pferdeopfer  gewöhnlich.  (Strab.  IX  8,  p.  513.  Herod.  I  216,  IV  61.  Vgl.  Paus.  I  20,  8 
und  Arr.  anab.  VI  29,  7). 


Chthonischer  und  Totenkult.  417 

geklärten  Sinn  des  Dichters  vollends  mussten  sie  noch  mehr  als  „die 
alten  Sagen,  die  in  dem  Blutrecht  der  Seelen  wurzeln,  ein  Gräuel"  sein 
(Rohde  543).  Aber  die  Sage  fand  er  vor  und  musste  sich  mit  ihr  ab- 
finden. Und  sie  war  ihm  zur  Bühnenwirkung  recht  (vgl.  Rohde  543  ff.). 
Doch  was  ist  bei  ihm  der  Zweck  des  Opfers?  Achill  wird  angefleht, 
günstige  Fahrt  zu  verleihen,  und  nachdem  die  Jungfrau  gesehlachtet  ist, 
treten  wirklich  günstige  Winde  ein  (Hek.  1289  f.  vgl.  900  f.  und  Ovid  met. 
Xni  439  f.).  Wie  völlig  anders  die  Vorstellung  von  der  Macht  eines 
Toten  als  in  homerischer  Zeit,  ja  wohl  auch  in  des  Dichters  eigener  Zeit! 
Aber  ihm  und  seinem  Publikum  ist  Achill  hier  schon  Heros,  und  dass 
man  diesen  Menschenopfer  bringt,  ist  nicht  unerhört  (Flut.  Pelop.  21  f. 
Philop.  21).  Dazu  kommt  ein  Anderes.  Wie  Themistokles  vor  der  Schlacht 
bei  Salamis  Menschen  geopfert  hatte  (Plut.  Them.  13,  Arist.  9),  und  das 
Heer  vor  der  Entscheidung  bei  Leuktra  dasselbe  von  Epameinondas  ver- 
langte (Plut.  Pelop.  21,  vgl.  Rohde  637) ,  so  wusste  man  von  Menschen- 
opfern auch  vor  Antritt  gefährlicher  Seefahrten.  Aischylos  hatte  auch 
Iphigeneia  7cavoctvef.iog  d-voLa  (Ag.  214)  und  ertipöbg  QQrjxlcüv  arj/,iccTwv 
(Ag.  1418)  genannt,  Herodot  erzählt,  dass  Menelaos,  in  Aigypten  durch 
Windstille  festgehalten,  Kinder  geopfert  habe  (IE  119),  und  wenn  dafür 
später  auch  andere  Gq)dyt,a  eintraten  (vgl.  Plut.  Ages.  6),  so  war  man  sich 
doch  auch  damals  sehr  wohl  bewusst,  dass  diese  eigentlich  nur  ein  Er- 
satz waren,  mit  dem  sich  zufrieden  zu  geben  man  die  Götter  anflehte. 
Ob  solche  Opfer  aber  der  Artemis  (s.  d.  angef.  Aischylosstellen)  oder  dem 
Poseidon  (Arr.  anab.  VI  19,  5.  App.  bell.  Mithr.  70  p.  480  u.  s.  w.)  oder  den 
Winden  (Herod.  II  119,  VII 191)  dargebracht  wurden,  war  im  Grunde 
gleichgiltig.  Das  Opfer  der  Polyxena  also,  wie  es  Euripides  schildert, 
ist  in  der  That  mit  den  sonst  üblichen  Totenopfem  nicht  in  eine  Reihe 
zu  stellen.  Viel  eher  ist  es  mit  dem  ocpdyiov  zu  vergleichen,  das 
Epameinondas  statt  des  verlangten  Menschenopfers  den  Heroinen  des  Orts, 
den  Töchtern  des  Skedasos,  thatsächlich  darbringt  (Plut.  Pelop.  21  f.). 
Dass  Euripides  aber  Neoptolemos  den  Schatten  des  Vaters  anrufen  lässt, 
heraufzukommen  und  das  Blut  zu  trinken,  ist  nur  insofern  auffallend, 
als  es  eben  Menschenblut  ist,  denn  dass  die  Toten  sich  am  Blut  von 
Opfertieren  erquicken,  ist  auch  zu  des  Dichters  Zeit  noch  nicht  ver- 
schwundener, wenn  auch  von  ihm  natürlich  nicht  geteilter  Glaube  (vgl. 
z.  B.  Plut.  Arist.  21);  er  folgt  der  Sage  kaum  in  der  Meinung,  die  graue 
Vorzeit  sei  so  roh  gewesen,  dass  ihr  auch  solche  Vorstellungen  zuzutrauen 
gewesen  seien  —  eine  historische  Treue  streben  die  griechischen  Drama- 
tiker nicht  an  — ,  sondern  in  einer  Art  Gleichgiltigkeit  gegenüber  Stoffen, 
die  eine  so  weite  Kluft  von  seinem  Glauben  und  Fühlen  trennte. 

27 


418  Paul  Stekoel 

Auch  die  Spenden  sind  verschieden.  Wein  und  öl  fehlen  im  Kult 
der  chthonischen  Gottheiten'),  während  die  Totenspenden  häufig  OV)  und 
fast  regelmässig  Wein  enthielten^).  Ebenso  finden  wir  bei  Reinigungen 
von  Schuldbefleckten  (Apoll.  Rhod.  IV  702  ff.)  und  Heiligtümern  (Paton 
u.  Hicks  Inscr.  of  Cos  S.  81  ZI.  34  f.)  vrjq)aXia  und  ^ekUgatov  ange- 
wandt, aber  weder  Wein  noch  öl.  Dem  widerspricht  nicht,  dass  Oidipus 
bei  seinem  Opfer  für  die  Eumeniden  (Soph.  0.  K.  483)  27  Ölzweige  auf 
den  Boden  legen  soll,  er  ist  ein  Flehender,  und  der  Ölzweig  geziemt  den 
hetai,  auch  nicht,  dass  überhaupt  bei  Sühnceremonien  der  kathartische 
Ölzweig  eine  Rolle  spielt  (Diels  Sib.  Bl.  120 f.);  ebenso  wenig,  dass  Atossa 
Aisch.  Pers.  617  auch  öl  spendet,  denn  diese  Spende  ist  für  die  Toten 
bestimmt  (609  f.).  Der  Ölzweig  ist  also  keine  Darbringung  an  die  Unter- 
irdischen, sondern  ein  Symbol,  dass  man  sich  ihnen  als  Hilfesuchender 
nahe,  ein  Symbol  wie  der  Kranz,  den  man  bei  Opferfeiem  der  himmlischen 
Gottheiten  trägt,  sich  dadurch  unter  ihren  besondem  Schutz  stellend*). 
Der  Grund  für  das  Fehlen  von  Wein  und  öl  ist  nicht  schwer  zu  finden:  die 
chthonischen  Kulte  reichen  in  eine  Zeit  zurück,  wo  man  beides  noch  nicht 
hatte  (vgl.  E.  Curtius  Gesamm.  Abhandlungen  11 22  ff.) ,  und  später  scheute 
man  sich,  etwas  zu  ändern  (vgl.  Hermes  XXEX  286 f.).  Wahrscheinlich 
stammt  aber  auch  der  Totenkult  aus  so  alter  Zeit  Ist  dies  der  Fall, 
dann  hat  er  sich  eben  ursprünglich  auch  hierin  vom  chthonischen  nicht 
unterschieden.  Interessant  ist  nun,  dass  man  Wein  und  öl  in  den 
Totenkult  sofort  einführte,  nicht  aber  in  den  der  Unterirdischen.  Ja  man 
bettete  die  Toten  auf  Wein-  und  Olivenlaub  (Athen.  Mitt.  XVm  184f. 
vgl.  Artem.  Oneir.  IV  57),  und  verbrannte  die  Opfer  für  chthonische  Gott- 
heiten vr]g)aUoig  ^vXoig  (Hesych.  u.  yiy^aA^a  ^vla  und  aoLva]  vgl.  Band 
die  Epikleidia  Progr.  der  Margarethenschule  Berlin  1887  S.  12  f.).  Und 
das  ist  kein  Zufall.  Ehe  man  selber  Wein  und  öl  anbaute,  importierte 
man  es.  Noch  in  homerischer  Zeit  giebt  es  keine  Ölkultur  in  Griechen- 
land, und  doch  stellt  bereits  Achilleus  dem  Patroklos  Krüge  mit  öl  auf 
den  Scheiterhaufen  (^170.  vgl.  w  67),  den  chthonischen  Gottheiten  aber 
scheute  man  sich  etwas  zu  bieten,  was  sie  selber  nicht  aus  dem  Boden 
hervorwachsen  Hessen,  und  dass  man  an  dem  alten  Brauch  festhielt,  ist 


1)  Aisch.  Eum.  107.  Soph.  Oid.  Kol.  100  u.  481  mit  Schol.  CIA  I  4.  Paus.  VI  20, 
3  u.  s.  w.  Vgl.  Stengel  Jahrb.  f.  Phil.  1887  S.  650  f.,  Hermes  XXIX  287;  Griech.  Kul- 
tusaltt.  81.  V.  Fritze  de  libat.  Graec.  Berl.  Dissert.  1893  S.  77. 

2)  Dittenberger  Syll.  468,  10.  Soph.  Frgm.  366  Nauck''  S.  218.  Plut.  Arist  21. 
Poll.  IX  65.  Hesych.  u.  otcovösTov.    Vgl.  Artemid.  Oneir.  IV  57. 

3)  Stengel  PhUol.  XXXIX  379  ff.,  v.  Fritze  a.  a.  0.  75  f. 

4)  Vgl.  Diels  Sib.  Bl.  120.    Stengel  Kultusaltt.  76  f. 


Chthonischer  und  Totenkult.  419 

gerade  in  diesem  Kult  sehr  erklärlich.  Die  andern  Götter  lud  man  beim 
Opfer  zum  Mahl  oder  fingierte  vielleicht  umgekehrt,  dass  man  bei  ihnen 
zu  Gaste  gehe,  die  chthonischen  versöhnte  man  durch  eine  Abgabe  von 
dem  eigenen  Gewinn;  es  war,  wenn  auch  nicht  bloss  in  der  Not  und 
aus  Furcht  dargebracht,  doch  immer  eine  Art  Sühnopfer,  von  dem  man 
selber  nichts  genoss.  Dies  scheint  nun  freilich  auch  für  die  Totenopfer 
zuzutreffen,  aber  der  wesentliche  Unterschied  ist,  dass  man  den  Toten 
mit  der  Opfergabe  selber  einen  Genuss  bereiten  wollte,  und  einen  solchen 
Zweck  haben  Sühnopfer  niemals  (vgl.  meine  Griech.  Kultaltt.  88,  93). 
Wollte  man  die  Toten  aber  laben,  so  musste  man  ihnen  bieten,  woran 
sie  sich  einst  im  Leben  erfreut  hatten.  So  werden  Wein  und  Ol  gleich- 
zeitig als  Nahrungsmittel  und  als  Totenspende  eingeführt  sein  —  das 
(xslUgarov  allein  ist  verhältnismässig  selten  — ,  die  Xd-ovioi  aber  er- 
halten nach  wie  vor  vricpaha. 

Auch  der  rcelavog,  ein  Mehlbrei,  der  auf  eine  Zeit  zu  weisen  scheint, 
in  der  man  festes  Brot  noch  nicht  zu  backen  verstand,  blieb  im  Kult  der 
Xd^oviOL,  begegnet  aber  nicht  in  dem  der  Toten;  wo  das  Wort  hier  an- 
gewandt wird,  bedeutet  es  einfach  Spende  (Hermes  XXIX  284  ff.).  Höch- 
stens l  28,  wo  Odysseus  ausser  den  Spenden  eul  d^  alcpcra  lev'/,a  Ttalvvev, 
könnte  man  etwa  an  ähnliches  denken,  aber  abgesehen  davon,  dass  Odys- 
seus auch  dem  Hades  und  der  Persephone  Ehren  erweist  {X  45  f.),  würde 
es  sich  hier  immer  nur  um  eine  Vergangenheit  handeln,  die  für  die  spä- 
tere Zeit  nichts  beweisen  und  nur  ein  ferneres  Beispiel  für  Änderungen 
im  Totenkult  und  Entfernung  vom  chthonischen  Kitus  hefern  könnte. 
Aisch.  Pers.  523  f.  aber  ist  der  /dlavog  für  die  Unterirdischen  (vgl.  203  ff.) 
bestimmt,  die  Spenden  dagegen  für  die  Toten  (609  f.). 

Aus  der  Bedeutung  und  Absicht  der  Opfergaben  erklärt  sich  femer, 
dass  —  obwohl  dies  seltene  Ausnahme  ist  —  von  Opfern  für  Heroen  und 
chthonische  Gottheiten  unter  Umständen  gegessen  werden  darf.  Es  kommt 
auf  den  Grad  der  Scheu,  auf  die  Auffassung  des  Charakters  der  chtho- 
nischen Gottheiten  an.  Sieht  man  in  ihnen  nur  die  Förderer  des  Acker- 
baus, so  liegt  kein  Grund  vor,  ihnen  nicht  auch  ein  Speiseopfer  darzu- 
bringen. In  fruchtbaren  Gegenden  mit  ausschUesslich  Ackerbau  treibender 
Bevölkerung  finden  wir  Tempel,  Altäre,  heilige  Bezirke  des  Hades  (in  Elis 
Paus.  YI  25 ,  3.  Strab.  VIII  344) ,  eine  Inschrift  aus  Aphrodisias  nennt 
einen  Priester  des  Pluton  und  der  Köre  (Movo,  Trjg  EvayyeX.  axoX. 
1880  S.  180),  und  auch  far  andere  Städte  Kleinasiens  ist  seine  Verehrung 
bezeugt  (Strab.  XIV  649  XHI  629  und  mehr  bei  Preller-Robert  Griech. 
Myth.  802  A.  1);  attische  Urkunden  erwähnen  einen  ßco/nog  nkovrwvog 

27* 


420  Paul  Stengel 

neben  Altären  für  die  d^eaL  (CIA  834b,  col.  2  ZI.  4 f.)'}  und  eigene  ßw^ol 
vrj(paXioi.  für  Gottheiten,  die  nüchterne  Spenden  verlangen  (CIA  11  1651). 
Das  setzt  eine  Verehrung  voraus,  die  der  der  Himmlischen  näher  steht 
als  der  sonst  in  chthonischen  Kulten  üblichen.^)  Der  Opferkalender  von 
Mykonos  liefert  denn  auch  thatsächlich  Beispiele  von  Speiseopfem,  die 
man  chthonischen  Gottheiten  darbrachte.  Dittenberger  Syll.  373, 25 :  vtcsq 
7ia{Q)7tü}v  JtX  Xd'OvLtJi  Tial  riJL  XO-ovlrjL  degra  (.üKava  tTroia'  ^evwi 
ov  d^B^ig.  ödivvöd-wv  avTov  (vgl.  dazu  Hermes  XXVn  166 ff.).  In 
derselben  Inschrift  heisst  es  ferner  kurz  vorher:  ^e^iXrjL  irrjoLov  tovto 
hatevsTai.  Auch  Semele  wird  man  zu  den  chthonischen  Gottheiten 
rechnen  müssen.^)  Ist  aber  meine  Erklärung  von  LvaxeveTaL  (Berliner 
Philolog.  Wochenschrift  1893  Sp»:1365)  richtig,  so  hat  man  auch  von 
diesem  Opfer  gegessen.  Und  IvaievsTaL  wird  in  der  That  nichts  anderes 
heissen  können  als:  der  neunte  Teil  wird  dargebracht.  Das  übrige  ver- 
zehrte man  also.  de/MTsvetv  ist  ja  bekannt,  hier  ist  gerade  die  Neun- 
zahl charakteristisch,  sie  beweist  auch,  dass  der  Kult  ein  chthonischer 
war  (s.  Diels  Sib.  Bl.  40flF.).  Das  Verfahren  selbst  erinnert  an  Od.  ?  434  ff., 
wo  Eumaios  den  Eber  in  sieben  Stücke  zerlegt,  deren  eines  er  dem  Hermes 
und  den  Nymphen  weiht.  Hierzu  ist  neuerdings  eine  Inschrift  aus  Magnesia 
am  Maiandros  gekommen  (behandelt  von  0.  Kern  Arch.  Anz.  1894  S.  78  ff.), 
die  sich  auf  den  Kult  des  Zeus  Sosipolis  bezieht,  von  dessen  auf  der 
Agora  gelegenem  Tempel  vor  zwei  Jahren  die  Fundamente  blossgelegt 
worden  sind.  Kern  hat  S.  81  die  Gründe  dargelegt,  die  es  unzweifelhaft 
machen,  dass  wir  es  hier  mit  einer  chthonischen  Gottheit  zu  thun  haben/) 


1)  Vgl.  "E(prjfi.  ccQX'  1883  S.  115.  1890  S.  83  nr.  51.  auch  CIA  II  948  ff.  III  145 
und  Foucart  im  Bull,  de  corr.  hell.  VII  387  ff. 

2)  Vgl.  auch  Eur.  Frgm.  912  Nauck^  S.  655: 

aol  T(ö  ndvTOJv  ^eöeovzL  xoj]v 
nsXavov  xe  (pSQO),  Zfvg  si'S-^  \6Tjg 
ovofJLoi^oixEVOs  GTS^ystg.  av  ös  fioi 
d-valav  änvQov  nayxaQneiaq 
öi^ai  nXriQri  TCQOxvd-alaav. 

3)  Vgl.  Rohde  306  A.  Sana  Wide  de  sacr.  Troezen.  42  ff.  PreUer-Robert  Griech. 
Myth.  I  660  A. 

4)  Vgl.  auch  Robert  Athen.  MItt.  XVIII  37  ff.  über  den  elischen  Sosipolis.  — 
Das  Zeuskind  (vgl.  Kern  81)  möchte  ich  für  Magnesia  lieber  aus  dem  Spiel  lassen. 
Auch  würde  ich,  wenn  man  athenische  Kulte  zum  Vergleich  heranziehen  will,  nicht 
mit  Kern  (S.  81)  zuerst  an  den  Meilicbios  und  Eubuleus  denken,  sondern  an  Zeus 
Poheus.  Der  nslavos  und  die  xaQuol  (Porph.  de  abst.  n  10.  Theophr.  ebenda  II 
29.  Vgl.  Paus.  I  24,  4:  xQid'aq  xaxaQ-svteq  inl  xov  ßwfxov  (jLefxiyfxsvaq  nvgolq  und 
dazu  Hesych.  unter  evnXovxov  xavovv\  die  ihm  dargebracht  werden,  sind  Opfer  für 
chthonische  d.  h.  Ackerbaugötter.  Auch  hat  er  sicherlich,  so  lange  man  ihm  noch 
keine  Blutopfer  brachte,  nüchterne  Spenden  empfangen,  wie  sie  im  Kult  des  Zeus 


Chthonischer  und  Totenkult.  421 

Alljährlich  soll  ihm  agxo^ivov  OTtogov  im  Monat  Kronion  ein  Stier  ge- 
weiht und  als  ihm  gehöriges  Opfertier  gezeichnet  werden,  und  gebetet 
VTieg  oItov  cpOQccg  y,al  twv  olXXcov  ymqtccüv  Ttawotv  v-al  tu)v  yiTtjvwv.  Also 
ganz  ähnlich  wie  in  Mykonos.  Wie  dort  Zeus  Chthonios  zusammen  mit 
Ge  Chthonia  seine  Opfer  empfängt,  so  hier  Zeus  Sosipolis  mit  Artemis  Leuko- 
phryene  und  Apollon.  Das  erklärt  sich  daraus,  dass  Artemis  in  Magnesia 
die  Hauptgöttin  ist,  wie  in  Ephesos,  und  dass  Apoll,  wie  andere  Inschriften 
zeigen  (Kern  Arch.  Anz.  1894  S.  124)  hier  besonders  eng  mit  ihrem  Kult 
verbunden  ist/)  Zeus  Sosipolis,  dem  das  am  12.  Artemision  begangene  Fest 
vor  allem  gilt,  erhält  ausser  dem  Stier  einen  Widder,  Artemis  eine  Ziege, 
Apollon  einen  Bock.  Das  Fleisch  aller  Tiere  aber  wird  gegessen.  Nachdem 
die  Priester  die  ihnen  zustehenden  Anteile  empfangen  haben,  sollen  die 
Oikonomoi  das  Fleisch  des  Stieres  unter  die  Teilnehmer  am  Festzuge,  das 
der  drei  kleineren  Tiere  unter  den  Stephanephoros,  die  Priesterin,  die  Pole- 
marchen,  Proedren  u.  s.  w.  verteilen.  Die  heilige  Handlung  soll  von  Flöten-, 
Syringen-  und  Citherspiel  begleitet  sein,  und  die  bei  allen  Speiseopfem 
übliche  Flötenmusik  (Griech.  Kultusaltt.  77)  werden  wir  auch  für  das  Opfer 
in  Mykonos  anzunehmen  haben.  Opfer  aber  für  chthonische  Gottheiten 
mit  unheimlichem  Charakter,  wie  Zeus  Lykaios  oder  die  Eumeniden,  sind 
sicherlich  ohne  Musikbegleitung  vollzogen  worden.  Das  beweist  für  den 
ersteren  der  Umstand,  dass  man  ihm  ev  ccTtoQQTJTcp  opfert  (Paus.  Vm  38, 5), 
für  die  Eumeniden,  dass  man  das  Yoropfer  dem  Daimon  des  Schweigens, 
Hesychos,  darbrachte  (Polemon  im  Schol.  zu  Soph.  0.  K.  100.  Ygl.  Töpffer 
Att.  Geneal.  172).  Auch  würde  Aischylos  (Eum.  332)  sie  sonst  kaum  ihren 
eigenen  Gesang  haben  acpoQjiuyyiTog  nennen  lassen.  Dasselbe  ist  aber  für 
die  Opfer  der  Windgottheiten,  die  Eidopfer  und  alle  ocpayia  vorauszusetzen. 
Dass  man  ebenso  bisweilen  von  Opfern  für  Heroen  zu  essen  wagte, 
auch  wenn  ihnen  nicht  wg  ^eco  geopfert  wurde,  lehren  Pausanias  X  4,  7 
und  V  13,  2  (vgl.  Hermes  XXVII  165  ff.),  wo  der  Ausdruck  d^veiv  für  eva- 
ylL.eiv  keine  Nachlässigkeit  ist.  Aber  es  handelt  sich  in  diesen  Fällen 
nicht  um  heroisierte  historische  Persönlichkeiten,  wie  beispielsweise  Bra- 
sidas  (Thuk.  V  11)  oder  der  Olympionike  Philippos  aus  Kroton  (Herod.  V  47) 
es  wären,  sondern  um  Pelops,  Telephos,  Xanthippos,  die  ihr  eigenes  Heilig- 
tum haben  (Paus.  V  13,  1)  oder  ausdrücklich  als  agxrjyirai  bezeichnet 

Hypatos,  der  auch  später  die  Tieropfer   ausschloss,  immer   beibehalten    wurden 
(Paus.  I  26,  6.    Im  Übrigen  vgl.  Hermes  XXVIII  489  fF.,  auch  XXIX  285  ff.). 

1)  Artemis  mit  Kern  S.  80  für  eine  chthonische  Göttin  zu  erklären,  weil  auch 
ihr  Tempel  nach  Westen  gerichtet  war,  und  der  Name  nach  Roberts  sehr  wahrschein- 
licher Erklärung  (Preller  Griech.  Myth,^  I  296  A.)  „die  Schlächterin"  bedeutet, 
kann  ich  mich  nicht  entschliessen,  aber  sie  wie  Apollon  empfängt  Siihnopfer  ja  sehr 
häufig  (Kaibel  Epigr.  gr.  1034  und  mehr  in  meinen  Kultusaltt.  92  f.). 


422  Paul  Stengel 

werden  (Paus.  X  4,  6),  die  also  den  Göttern  näher  stehen  als  den  gewöhn- 
lichen Toten. 

Bemerkenswert  und  charakteristisch  für  die  Opfer  in  Mykonos,  Mag- 
nesia und  für  die  erwähnten  Heroen  ist  femer,  dass  sie  am  Tage  stattfin- 
den, während  man  sonst  chthonischen  Gottheiten  und  Heroen  nachts  opfert.*) 

Von  Totenopfem  geniesst  man  niemals  etwas,  und  auch  die  Musik 
fehlt  bei  ihnen  selbstverständlich  immer,  aber  man  bringt  sie  —  und  das 
führt  uns  auf  einen  neuen  Unterschied  des  chthonischen  und  des  Toten- 
kultes —  am  Tage  dar.  Wenn  das  bisher  verkannt  worden  ist^),  so 
waren  die  Zeugnisse  der  Alten  daran  eigentlich  nicht  schuld,  denn  aus 
den  Bemerkungen  des  Proculus  zu  Hes.  erg.  763  —  vielleicht  nach  Philo- 
choros,  s.  Lobeck  Agl.  412  A.  a  — ,  des  Scholiasten  zu  Pindar  Isthm.  IV  1 10, 
des  Etym.  M.  468,  34,  des  Scholions  zu  II.  0  66  (auch  Eustath.  zu  der 
Stelle,  vgl.  ferner  zu  ^  84)  und  zu  Apoll.  Rhod.  I  587  war  es  nicht  zu 
entnehmen.  Die  beiden  ersten  Stellen  sagen  nur,  rolg  rJQwoL  habe  man 
im  Gegensatz  zu  rolg  &€olg  am  Abend  geopfert,  das  Etym.  M.  zolg  /.ara- 
X^ovLoLg,  also  X-9-ovloig%  und  nur  das  Ilias-  und  ApoUoniosscholion  haben 
Tolg  KüToixofiivoig,  Da  das  letztere  diese  den  Olgavidaig  gegenüber- 
stellt, ist  klar,  dass  Taarotxof^evoL  hier  auch  nichts  Anderes  bezeichnen 
soll  als  Xd^oviOi,  Auch  in  dem  Iliasscholion  ist  der  Gegensatz  tolg  &eolg. 
Man  würde  also  auch  hier  berechtigt  sein,  y.a%ovi6iiEyoi  nur  auf  die  Heroen 
zu  beziehen  oder  es  einfach  als  „Unterirdische"  zu  erklären  (vgl.  Schol. 
zu  Eur.  Phoin.  274).  Aber  es  bedarf  dessen  vielleicht  nicht  einmal;  denn 
wenn  der  Kommentator,  der  an  ^220 f.  und  Al2f.  gedacht  haben  wird, 
seine  Bemerkung  nur  auf  das  Epos  bezieht  und  allein  für  dieses  gelten 
lassen  will,  so  hat  er  recht.  Doch  später  herrscht  ein  anderer  Brauch. 
Neoptolemos  opfert  Polyxena  am  Morgen  (Eur.  Hek.  521  ff.),  Atossa  bringt 
die  Opfer  am  Grabe  des  Dareios  morgens  dar  (Aisch.  Pers.  609  ff.),  ebenso 
Elektra  und  die  Choephoren  am  Grabe  Agamemnons  (Aisch.  Cho.  Anf.  u.  149), 
Chrysothemis  im  Auftrage  Klytaimestras  (Soph.El.  326ff.,  405, 431, 883 ff.) 
und  Helena  am  Grabe  der  ermordeten  Schwester  (Eur.  Or.  114).  Die  grossen 
Totenopfer,  die  alljährlich  die  Plataier  (Plut.  Arist.  21,  vgl.  Thuk.  m  58) 


1)  Der  Beweisstellen  sind  unzählige.  Eine  kleine  Auswahl  s.  in  meinen  Kultus- 
altt.  102.  Sehr  interessante  Beispiele  haben  auch  die  neuerdings  gefundenen  Akten 
der  römischen  Säkularfeier  unter  Augustus  gebracht  (Ephem.  epigr.  1891  S.  225  ff.). 

2)  So,  um  nur  das  Neueste  zu  nennen,  von  Robert  in  Prellers  Griech.  Myth.* 
I  820  und  von  mir  selbst  Griech.  Kultusaltt.  102.  Wir  haben  nach  dem  Vorgang 
anderer  (vgl.  z.  B.  Schoemann  Griech.  Altt.^  II  242)  Heroen-  und  Totenkultus  zusam- 
mengeworfen. 

3)  Vgl.  Rohde  191  A.  2.  Von  ferneren  Zeugnissen  Diog.  Laert  VIII  33,  Plut. 
Quaest.  rom.  34  p.  332. 


Chthonischer  und  Totenkult.  423 

und  die  Megarer  (Simon,  frgm.  107  Brgk.'  Dittenberger  CIG  I  53)  den 
Helden  der  Perserkriege,  die  Athener  an  dem  Polyandrion  in  Marathon 
(Paus.  I  32, 4.  CIA  II 471),  die  Arkader  in  Phigalia  (Paus.  Vm  41, 1)  bringen, 
finden  natürlich  auch  am  Tage  statt,  und  dass  die  Genesia,  die  jede  Fa- 
milie ihren  Toten,  und  wahrscheinlich  alle  hellenischen  Völker  ausserdem 
von  Staatswegen  an  einem  bestimmten  Jahrestage  feierten  (Rohde  215  f.), 
in  der  Nacht  begangen  sein  sollten,  ist  ja  ganz  undenkbar.  Dem  gegenüber 
darf  man  sich  nicht  auf  Eur.  El.  90  ff.  berufen : 

vvT^xbg  de  rrjoöe  tcqoq  xacpov  ^okwv  Ttazgdg 
TtvQ^  T  67t^G(pa^  al(xa  ^TqXeLov  (povov 
XaMv  TVQavvovg,  ot  xQaTovoi  T^aöe  yrjg. 
Bei  Sophokles  hat  Orestes  seine  Spenden  am  frühen  Morgen  auf  das 
Grab  gegossen  (El.  893  ff.,  vgl.  84),  bei  Euripides  bringt  es  der  Gang  der 
Handlung  mit  sich,  dass  dies  Opfer  bereits  am  frühen  Morgen  vollzogen  ist. 
So  wird  den  Eumeniden  nachts  geopfert,  trotzdem  giesst  Oidipus  in  Soph. 
0.  K.  ihnen  die  Spenden  am  Tage.  Totenspenden  sollen  nur  am  Grabe 
des  Verstorbenen  dargebracht  werden,  trotzdem  giesst  Iphigeneia  in  Taurien 
dem  Orest,  den  sie  tot  wähnt,  dort  die  Spenden,  weil  sie  es  an  seinem 
Grabe  nicht  kann  (Eur.  LT.  170 ff.,  ähnliches  Soph.  El.  932 f.).  Die  Um- 
stände können  natürlich  solche  Abweichungen  von  dem  Gewöhnlichen  recht- 
fertigen, ja  sie  notwendig  machen.  Den  Söhnen  des  Herakles  aber  opfern 
die  Thebaner  als  Heroen  (Pind.  Isthm.  III  79  [IV  61])  und  ebenso  die  Ar- 
gonauten dem  Dolops  (Apoll.  Rhod.  1 587,  vgl.  Deneken  unter  Heros  in  Roschers 
Myth.  Lex.  2512  f.).  Auch  die  Tageszeit  erklärt  sich  durch  den  Charakter  des 
Kultes  und  die  Vorstellung ,  die  man  von  den  Wesen  hatte,  denen  er  ge- 
widmet war.  Wenn  der  Totenkult  ohne  Zweifel  auch  in  späterer  Zeit  bis- 
weilen Züge  apotropäischen  Charakters  zeigt,  so  ist  er  ebenso  unzweifel- 
haft im  Unterschied  vom  chthonischen  ^)  doch  mehr  und  mehr  freundlich 
geworden,  und  hat  einem  frommen  Herzensbedürfiiis  genügt.  Das  be- 
weisen die  Darstellungen  auf  den  Grabreliefs  (Rohde  220  ff.,  Wolters  Athen. 
Mitt.  XVI  404  f.),  das  die  wiederholten  Totenopfer  und  Feiern,  namentlich 
auch  an  den  Geburtstagen  der  Verstorbenen ;  ja  der  Lebende  scheut  sich 
bisweilen  nicht,  auf  der  Grabvase  seinen  Namen  neben  den  des  Toten  zu 
setzen  (Brückner  Sitzungsber.  der  Wiener  Akad.  CXVI  533),  den  man  noch 
so  gern  im  Kreis  der  Familie  sähe  und  denkt  „Man  sieht  wohl,  dass 
zwischen  Leben  und  Tod  keine  unüberschreitbare  Kluft  liegt;  es  ist,  als 
wäre  das  Leben  gar  nicht  unterbrochen  durch  den  Tod"  (Rohde  215). 

Diesen  Wandel  im  Empfinden  zeigt  recht  deutlich  noch  ein  anderes 

1)  Vgl.   auch   aus   späterer  Zeit  Schol.  Lnk.  Ikarom.  24.  Zosimus  bei  Diels 
Sib.  Bl.  134  ZI.  7. 


424  Paul  Stenoel 

unterscheidendes  Merkmal.  Bei  Homer  (x  528)  soll  Odysseus  sich  um- 
wenden, wenn  er  die  Totenopfer  darbringt,  wie  es  bei  Sühn-  und  Rei- 
nigungsopfem  stets  geschah  (Rohde  377.  Apoll.  Rhod.  lU  1029  ff.):  bei 
Aischylos  klagt  Elektra,  als  sie  sich  scheut,  die  von  Klytaimestra  gesandten 
Spenden  auf  das  Grab  des  ermordeten  Vaters  zu  giessen  (Cho.  87ff.): 
Td(p(i)  xeovoa  rdode  xrjdelovc;  xodg 
Ttüjg  evcpQOv    eXticj^  yc(tig  xaTSv^o/nai.  natgi; 


t]  Gly    axiinag,  wa/C€Q  ovv  drcwketo 

TtarriQ,  rdd    eTcxiaaa,  ydnoTov  xvoiv, 

arelxco,  Y,ad^dQ(ia^  ojg  rig  h^Tiifixpag  7cdXiv 

öiTiovaa  T€vxog  ctOTQocpoiöiv  ofi/naOLv; 
Hier  also  ängstlich  schweigendes  Sichabkehren ,  schnelles  Fliehen  des  un- 
heimlichen Orts,  dort  freundliches  Begrüssen  einer  lieben  Stätte.    Und  so 
überall  bei  den  Tragikern  und  später  (z.B.  Plut.  Arist.  21). 

Auch  dass  wir  im  Kult  der  Unterirdischen  die  Farbe  des  Blutes,  den 
Purpur,  finden  (Aisch.  Eum.  1028.  Lys.  g.  Andok.  51  und  mehr  bei  Diels 
Sib.  Bl.  69  f.),  im  Kult  der  Toten  die  Farbe  der  Trauer  (schon  H.  ß  94), 
das  düstere  Schwarz  (z.  B.  Aisch.  Cho.  41,  Eur.  Hei.  1058;  vgl.  Eur.  Alk.  844 
u.  Eohde  142A),  ist  nicht  ohne  Beziehung  auf  die  Eigenart  beider. 

Ein  weiterer  Unterschied  scheint  zu  sein,  dass  man  den  chthonischen 
Gottheiten  vorzugsweise  männliche  Tiere  opferte'),  den  Heroen  wohl  aus- 
schliesslich, den  Toten  dagegen,  wenn  wir  den  Angaben  der  Scholiasten  und 
Lexikographen  trauen  dürfen^),  nur  weibliche  oder  verschnittene  Tiere.  Einen 
Grund  weiss  ich  weder  für  das  eine  noch  für  das  andere  anzuführen.  Für 
Heroenopfer  sind  männliche  Opfertiere  vielfach  bezeugt  (Jahrb.  f.  Phil.  1886 
S.  329),  von  chthonischen  Gottheiten  erhalten  die  weiblichen  oft  auch  weih-, 
liehe  Tiere  zum  Opfer ;  so  die  Eumeniden  (Istros  im  Schol.  zu  Soph.  0.  K.  42), 
Persephone  in  Kyzikos  (Plut.  Luc.  10),  Gaia  (ausser  H.  r  103  Sibyll.  Orakel 
bei  Zosimus  10  f.  Diels  Sibyll.  Bl.  134),  die  Moiren  (ebenda  ZI.  8  f.).  Be- 
merkenswert aber  bleibt,  dass  man  zu  Eidopfern  ausschliesslich  männ- 
liche verwendet^),  und  die  haben  rein  chthonischen  Charakter  (s.  meine 
Kultusaltt.  60  f.  u.  94  f.).  Was  nun  die  Totenopfer  angeht,  so  erleiden  die 
hierauf  bezüglichen  Angaben  der  Scholiasten  zum  mindesten  Einschrän- 
kungen.   Sicher  ist,  dass  man  allen  Toten  Hähne  opferte ;  Stiere,  Widder, 

1)  Dittenberger  Syll.  373,  17.  CIG  1464.  Inschr.  v.  Magnesia  bei  Kern  a.  a.  0. 
ZI.  35,  50  f.  Vgl.  Kaibel  Epigr.  gr.  1034. 

2)  Schol.  zu  Od.  A30  und  ieb22,  zu  Apoll.  Rhod.  I  587.  Suid.  u.  ivrofiiöai. 
Etym.  M.  u.  kvtoßa.  Vgl.  Schoemann  Griech.  Altt.^  II  236). 

3)  Stengel  Jahrb.  f.  Phil.  1S83  S.  376  f.  Griech.  Kultusaltt.  96.  H.  ri03  kann  als 
einzige  Ausnahme  unter  zahllosen  Beispielen  nicht  das  Gegenteil  beweisen.  Vgl. 
darüber  Griech.  Kultusaltt.  104  A.  10. 


Chthonischer  und  Totenkult.  425 

Eber  sind  wenigstens  für  die  ältere  Zeit  bezeugt,  und  auch  später  hat 
man  an  den  Massengräbern  der  im  Kampf  Gebliebenen  Stiere  geopfert, 
wie  dies  am  Grabe  heroisierter  Helden  Sitte  war/)  Da  ist  allerdings  An- 
näherung an  Heroenkultus  unverkennbar  —  wissen  wir  doch  auch,  dass 
die  bei  Marathon  Gefallenen  ausdrücklich  als  Heroen  angerufen  wurden 
(Paus.  I  32,  4)  — ,  aber  es  bleibt  doch  immer  im  Widerspruch  mit  jenen 
Zeugnissen.  Wollen  wir  sie  nicht  ganz  verwerfen,  so  werden  wir  doch 
den  Grund,  den  sie  für  den  angeblichen  Brauch  anführen :  wg  ayova  xolg 
ayovoig,  uns  nicht  aneignen;  man  wäre  wohl  nie  darauf  gekommen,  hätte 
man  sich  nicht  über  die  oielga  ßovg  Od.  k  30  den  gelehrten  Kopf  zer- 
brochen (vgl.  Jahrb.  f.  Phil.  1881  S.  80). 

Wichtiger  als  alle  bisher  berührten  Unterschiede  ist,  dass  der  Toten- 
kult im  Laufe  der  Zeit  Wandlungen  erfuhr,  während  der  chthonische  un- 
verändert blieb.  Er  hat  keine  Geschichte,  in  jenem  können  wir  eine  inter- 
essante und  lehrreiche  Entwicklung  verfolgen. 

Die  älteste  Kunde  verdanken  wir  den  Gräbern,  hauptsächlich  in 
Mykenä  und  Nauplia.  Die  ersteren  sind  senkrecht  in  den  Felsen  getrie- 
bene Schachte,  schon  durch  diese  Anlage  das  höchste  Alter  beweisend. 
Die  Leichen  sind  in  ihnen  beigesetzt,  nicht  verbrannt  (s.  Heibig  Homer. 
Ep.2  52  f.).  Jedes  Grab  enthielt  mehrere  Leichen,  wie  dies  überhaupt  in 
allen  sehr  alten  Gräbern  der  Fall  ist  (s.  U.  Köhler  das  Kuppelgrab  von 
Menidi  1880  S.  53).  Offenbar  sind  die  Angehörigen  einer  Familie  oder 
eines  Geschlechtes  zusammen  bestattet  worden  (vgl.  Köhler  a.  a.  0.  und 
Lolling  ebenda  S.  17  A.).  Den  Toten  sind  kostbare  Schmucksachen,  Waffen 
und  andere  Gegenstände  in  grosser  Menge  mitgegeben,  und  alle  Gräber 
weisen  unzweifelhafte  Spuren  von  Tieropfem  auf,  die  man  vor  und  nach 
der  Bestattung  dargebracht  hat^);  über  dem  vierten  befand  sich  sogar 
eine  Opfergrube  (Schliemann,  Mykenä  246  f.,  vgl.  Plan  F).  Ähnlich  sind  die 
Befunde  aller  anderen  ältesten  Grabanlagen.  Das  Kuppelgrab  zu  Dimini 
enthielt  Kohlen  und  Aschenreste,  „die  nur  von  Totenopfem  herrühren 
können",  da  die  Leichen  auch  hier  nicht  verbrannt  sind  (Lolling  u.  Wolters 
Athen.  Mitt.  XII  138),  und  neben  den  menschlichen  fand  man  Tierknochen 
(Athen.  Mitt.  XI  437).  Auch  in  dem  Kuppelgrab  des  Minyas  in  Orcho- 
menos  entdeckte  man  mehrere  auf  einander  folgende  Aschenschichten,  die 
deutlichen  Spuren  von  Totenopfem  (Schuchhardt  a.  a.  0.  337),  ebenso  in 
dem  Eingang  zu  dem  Grab  in  Yafio  am  Ende  des  Dromos  eine  Grube, 
auf  deren  Grund  eine  zehn  Centimeter  dicke  Aschenschicht  lag  (Ecpiq^,  aqx- 

1)  Paus.  IV  32,3.  Philostr.  Her.  XIX  p.  741.  Paus.  VIII  41,  1  u.  s.  w. 

2)  Heibig  a.  a.  0.  Rohde31ff.  Schuchhardt  Schliemanns  Ausgrabgg.  182,  188f., 
331.   Beiger  die  myken.  Lokalsage  Progr.  des  Friedrichsgymnas.  Berlin  1893  S.  32  f. 


426  Paul  Stengel 

1889  S.  143.  Vgl.  Winter  Arch.  Anz.  V  102).  Wenn  diese,  wie  zu  vennuten 
ist,  von  Opfern  herrührt,  wird  man  anzunehmen  haben,  dass  nur  das  Blut 
der  Tiere,  die  eigentliche  Gabe  für  die  Toten,  an  die  Stelle,  wo  die  Leichen 
ruhten,  hingeschafft  worden  ist,  die  Leiber  aber  hier  verbrannt  wurden.  Nicht 
mehr  zu  bestimmen  waren  die  Knochenfunde  in  dem  Grabe  am  Heraion  bei 
Mykenä,  doch  fand  man  auch  hier  Eberzähne  (Athen.  Mitt.  III  285).  Am 
lehrreichsten  sind  die  Gräber  von  Nauplia  am  Palamidi ') ,  nicht  bloss  des- 
halb, weil  auch  sie  uralt  sind,  sondern  weil  hier  im  Unterschied  von  den  er- 
wähnten arme  Leute  bestattet  sind.*)  Es  sind  kleine  Grabkammern,  in  den 
Felsen  gearbeitet.  Aber  auch  hier  „lagen  zu  Raupten  der  Toten  dünn  gesät 
Knochen,  die  von  Schafen  oder  Ziegen  herrühren;  solche  waren  vereinzelt 
auch  über  die  Stätten  der  Leichname  zerstreut",  und  in  einem  halb  offen 
stehenden  Grabe  fand  man  Ziegenknochen  und  Homer  (Lolling  Athen.  Mitt. 
Y  155).  Auch  die  Gräber  in  Spata  enthielten  zahlreiche  Kohlen,  Eberzähne 
und  Tierknochen  (Athen.  Mitt.  II  84.262).  Konnte  man  hier  den  Toten  nicht 
Schätze  mitgeben,  wie  in  Mykenä,  so  sollten  sie  die  Wohlthat  der  Opfer  we- 
nigstens nicht  entbehren.  Der  Eeichtum  jener  aber  hat  mit  Recht  Staunen 
erregt.  Das  waren  wirkliche  xre^«« !  (s.  Rohde  23  A.,  19A.  1).  Zeigt  sich 
in  diesem  Mitgeben  des  Besitzes  eine  Übereinstimmung  mit  den  Vorstel- 
lungen und  Gebräuchen,  wie  sie  uns  im  Epos  entgegentreten,  so  weicht 
die  Sitte  einer  wiederholten  Darbringung  von  Totenopfern  von  der  home- 
rischen ab.  Denn  niemand  wird  das  Versprechen  Achills,  dem  geschie- 
denen Freunde  seinen  Teil  von  den  Geschenken  für  Hektors  Leiche  zu- 
kommen zu  lassen  (ß  592  ff.),  oder  das  Opfer  der  unfruchtbaren  Kuh,  das 
Odysseus  dem  Teiresias  nach  seiner  Heimkehr  in  Ithaka  bringen  will  (/.  30j, 
für  eine  Fortsetzung  des  Totenkultes  noch  lange  nach  der  Bestattung  er- 
klären wollen.  Zwar  dass  Achill  für  möglich  hält,  die  trotz  aller  ange- 
wandten Mittel  vielleicht  doch  noch  nicht  ganz  von  dem  Reich  des  Lebens 
abgeschnittene  Psyche  des  Patroklos  konnte  ihm  zürnen  und  schaden, 
wenn  er  sich  gerade  dieses  Besitzes  freue,  der  dem  Mörder  die  Wohlthat 
der  Bestattung  erkaufte,  wäre  echt  homerische  Vorstellung,  aber  es  be- 
darf der  Annahme  nicht,  Achill  fürchte  die  Rache  des  Toten.  Er  hat  dem 
Freunde  eigentlich  ein  Versprechen  gebrochen,  indem  er  die  Leiche  des 
Todfeindes  den  Seinigen  zurückgab  (^  182  f.),  da  ist  die  Busse,  die  er  sich 
selbst  auferlegt,  aus  rein  natürlicher  Empfindung  voU  verständlich.  Und 
schliesslich  ist  diese  Gabe  immer  noch  kein  Totenopfer.  Ein  fem  von 
seinem  Grabe  aber  dem  Teiresias  dargebrachtes  Totenopfer  ist  eigentlich 
ein  Unding  und,  wie  Rohde  54  f.  ausgeführt  hat,  nur  aus  einer  gedanken- 

1)  Ausgrabungsberichte  im  k&i^vaiov  VII  183  ff.  VIII  515  ff.  , 

2)  Lolling  Athen.  Mitt.  V  154  f.  Köhler  d.  Kuppelgrab  v.  Menidi  50. 


Chthonischer  und  Totenkult.  427 

losen  Reminiscenz  des  Dichters  an  eine  ihm  fremd  gewordene  Vergangen- 
heit zu  erklären,  vergleichbar  der  merkwürdigen  Anwendung  des  Wortes 
Taqyrvvuv  (H  85,  11 456,  674),  das  auch  übernommen  ist  in  eine  Zeit,  wo 
es  keinen  Sinn  mehr  hatte  (vgl.  Heibig  a.  a.  0.  55  f.).  Aber  auch  an  posi- 
tiven Zeugnissen  für  das  Fehlen  jedes  den  Toten  noch  nach  der  Bestat- 
tung gewidmeten  Kultes  fehlt  es  in  den  Epen  nicht. 

TOVTo  vv  xai  yeqag  oiov  oi^vgoiac  ßgoTOloiv 
■^eLQaod-ai  le  -/.öfxriv  ßaXeeiv  %    anb  ödxQv  Tcageiwv 
sagt  Peisistratos  {d  197  f.  vgl.  W  46  u.  141),  und  das  Errichten  von  tvfißog 
und  OTrjlrj  ist  die  einzige  Ehre,  die  man  ihnen  sonst  noch  zu  erweisen 
weiss  (JT457,  f.i  14  u.  s.  w.). 

Angst  vor  der  Wiederkehr  der  Psyche  des  Verstorbenen  haben  wir 
auch  für  die  vorhomerische  Zeit  vorauszusetzen,  solche  Vorstellungen  sind 
gerade  Naturvölkern  oder  dem  Kindesalter  der  Nationen  eigen*).  Aber 
man  kann  sich  auf  verschiedene  Weise  davor  sichern.  Giebt  man  dem 
Toten  alles  mit,  was  er  bedarf,  baut  man  ihm  eine  Wohnung  und  labt 
ihn  durch  immer  wieder  dargebrachte  Opfer,  so  hat  die  Seele  keine 
Veranlassung,  grollend  und  ihr  Recht  eintreibend  auf  der  Oberwelt  zu 
erscheinen.  Das  ist  das  Mittel,  welches  die  mykenische  Zeit  anwendet. 
Die  gewaltigen  Kuppelbauten  mit  ihrer  Pracht  konnten  den  Fürsten  ein 
Ersatz  sein  für  ihren  Palast,  den  sie  andern  hatten  lassen  müssen^), 


1)  Spuren  von  einer  Furcht  vor  dem  Groll  der  Toten  leugnet  auch  für  die 
homerische  Zeit  Ed.  Meyer  (Gesch.  des  Altt.  II 119  f.,  425),  wie  ich  glaube  mit 
Unrecht.    Vgl.  Kohde  15,  20  ff.  216  und  Diels  Sib.  Bl.  namentlich  S.  72  A. 

2)  Nur  diese  Bedeutung  können  meiner  Ansicht  nach  die  Gewölbe  gehabt 
haben.  Um  einen  Raum  zu  haben,  wo  man  die  Totenopfer  darbringen  d.  h.  Tiere 
schlachten  und  verbrennen  konnte  (so  Rohde  33,  Schuchhardt  a.  a.  0.  175  u.  A.), 
hat  man  sicherlich  solche  Bauten  nicht  aufgeführt.  Zwar  die  Möglichkeit,  dass 
man  hier  auch  Opfer  vollzogen  hat,  ist  zuzugeben,  denn  in  einigen  hat  man  Kohlen- 
reste und  Asche  gefunden,  deren  Vorhandensein  sich  so  am  einfachsten  erklären  würde. 
(Vgl.  Beiger  Berl.  Phil.  Wochenschr.  1891  Sp.  70).  Aber  Kohlen  und  Asche  fanden  sich 
auch  in  gewöhnlichen  Gräbern,  wo  eine  Verbrennung  der  Leiche  selbst  im  Grabe  nicht 
anzunehmen  war.  Da  liegt  der  Schluss  doch  nahe,  dass  die  Tiere  wie  neben  dem  Grabe, 
so  hier  neben  dem  Gewölbe  geschlachtet  und  verbrannt  wurden,  dann  aber  nicht  nur  das 
Blut,  sondern  auch  die  anderen  Teile  und  Überreste  des  Opfers  hineingeschafft  wur- 
den, gerade  so  wie  in  die  nicht  mit  Erde  ausgefüllten  Gräber  von  Mykenä  und  Nauplia 
(Schuchhardt  a.  a.  0.  183  ff.).  Dafür  spricht  auch  der  Umstand,  dass  selbst  im  Atreus- 
grab  Spuren  von  Altären  nicht  entdeckt  sind,  wie  sie  doch  in  dem  Fall,  dass  das  Gewölbe 
zur  Darbringung  von  Totenopfern  bestimmt  war,  vorausgesetzt  werden  sollten;  femer 
auch,  dass  die  Grube  mit  der  Aschenschicht  beim  Grabe  von  Vafio  sich  vor  dem 
Eingang  im  Dromos  befand.  Der  ganze  Kuppelbau  wurde  offenbar  als  ein  Grab 
betrachtet.  Das  Grab  nimmt  die  Opfer  auf,  denn  in  ihm  wohnt  der  Tote,  aber  die 
Opferhandlung  vollzieht  sich  daneben.  Jedenfalls  waren  die  Dome  dazu  nicht  nötig, 
denn  Opfer  konnte  man  an  den  bescheidensten  Grabstätten  ebenso  gut  darbringen 
und  hat  sie  dargebracht,  wie  es  uns  die  Schachtgräber  von  Mykenä  und  die  Felsen- 


428  Paul  Stengel 

Diener  und  Sklaven  schlachtete  man  am  Tage  ihrer  Bestattung,  sie 
sollten  ihnen  folgen  und  weiter  dienen  (Schuchhardt  a.  a.  0.  240,  331. 
Beiger  a.  a.  0.  33),  Gold  und  Juwelen  schmückten  sie  so  reich  wie  kaum 
im  Leben  (Schuchhardt  z.  B.  204),  Waffen  und  Geräte  gab  man  ihnen  in 
überraschender  Fülle  mit  (vgl.  Athen.  Mitt.  IH  9f.),  dann  brachte  man 
die  Opfer  —  was  konnte  der  Tote  da  entbehren,  was  ihn  zum  Lichte 
zurückziehn?  Und  bescheidener,  wie  er  es  vermag,  aber  sonst  ganz  in 
derselben  Weise  sorgt  der  Arme  für  seine  Toten,  wie  die  Grabstätten 
am  Palamidi  es  uns  gezeigt  haben.  —  Ein  anderes  Mittel  wendet  die 
homerische  Zeit  an.  Zwar  ist  nicht  völlig  mit  der  Vergangenheit  ge- 
brochen, auch  an  Patroklos'  Grabe  bluten  Menschen,  Pferde  und  Hunde 
werden  mit  ihm  verbrannt,  und  auch  die  Waffen  dürfen  dem  Krieger 
nicht  fehlen  {l  74),  aber  das  vaegea  xTeget^eiv  ist  doch  schon  formelhaft 
geworden,  ein  Anderes,  als  den  Toten  durch  reichlichste  Gaben  zu  be- 
friedigen, ist  wichtiger  geworden:  man  will  der  Psyche  eine  Rückkehr 
überhaupt  unmöglich  machen.  Darum  begräbt  man  den  Leichnam  nicht 
mehr,  man  verbrennt  ihn ;  denn  bei  völliger  Zerstörung  ihrer  Behausung, 
des  Leibes,   denkt  man  sich  das  Wiedererscheinen  der  Seele  auf  der 

gräber  von  Nauplia  gleicherweise  zeigen.  Denkt  man  sie  sich  aber  etwa  dazu  be- 
stimmt, später  am  Todestage  des  Bestatteten  oder  an  sonstigen  Gedenktagen  eine 
Versammlung  der  Angehörigen  aufzunehmen  —  was  sollen  diese  dort  gethan,  was 
für  eine  Gedächtnisfeier  vorgenommen  haben?  Heute  würde  vielleicht  ein  Gottes- 
dienst stattfinden,  damals  wäre  nur  an  ein  Mahl  zu  denken.  Aber  sollte  das  wirklich 
hier  bereitet  und  genossen  werden?  In  dem  unterirdischen  Raum,  den  geheimnis- 
volles Halbdunkel  und  ewiges  Schweigen  erfüllten,  wie  es  die  Toten  liebten,  die 
Lebenden  flohen,  im  Grabe?  Wahrlich  nicht  bloss  der  Abergläubische  hätte  ein 
Grauen  empfunden.  —  Gewölbe  und  daneben  Thalamos  sind  nur  in  Mykenä  und 
Orchomenos  aufgefunden  worden,  die  meisten  der  aufgedeckten  Kuppelgräber  haben 
keine  besondere  Grabkammer.  Hier  musste  den  Toten  ein  Raum  genügen.  Aber 
„die  räumliche  Disposition  ist  überall  dieselbe",  ja  „auch  unter  den  Gräbern  von 
Nauplia  ahmen  wenigstens  einige  die  Kuppelform  in  roher  Weise  nach"  (Köhler 
a.  a.  0.  52),  und  noch  deutlicher  sieht  man  dies  bei  den  wohl  gleich  alten  und  gleich 
dürftigen  Gräbern  in  Epidauros,  die  auch  des  Dromos  nicht  entbehren  (z/f/r.  d^/. 
1888  S.  156  f.).  Hier  kann  aber  von  einer  Versammlung  der  Familienmitglieder 
nicht  die  Rede  sein.  So  spricht  also  alles  dagegen,  dass  die  grossen  Kuppeldome 
einen  Zweck  gehabt  haben,  den  nicht  auch  jede  andere  Grabanlage  erfüllen  konnte 
und  sollte,  d.  i.  dem  Toten  eine  Stätte  zu  sein,  wo  er  wohnte  und  Opfer  empfing.  — 
Auch  die  Annahme,  dass  etwa  eine  aus  Asien  stammende  Dynastie  zuerst  die  dort 
übliche  Kuppel  mit  dem  griechischen  Thalamos  vereinigt  habe,  würde  an  der  Sache 
nichts  ändern.  Einen  Zweck  muss  man  bei  all  diesen  Bauten  gehabt  haben,  und 
der  kann,  wie  gesagt,  nur  gewesen  sein,  dem  Toten  eine  Wohnung  zu  schafien,  dem 
König,  der  einen  Palast  bewohnt  hat,  eine  prächtigere  als  dem  Armen,  dem  eine 
Hütte  Obdach  gewährte.  Ja  wenn  Adlers  (Einl.  zu  Schliemanns  Tiryns  1 1  f.)  Ver- 
mutung richtig  ist,  dass  die  Bauart  aus  Phrygien  stammt,  wo  nach  Vitruvs  Zeugnis 
(U  1, 4  p.  35  Rose)  die  Thalbewohner  in  ähnlichen  unterirdischen  Räumen  lebten, 
würde  die  Herleitung  von  dort  eine  Stütze  meiner  Ansicht  sein. 


Chthonischer  und  Totenkult.  429 

Oberwelt  noch  schwieriger,  noch  eher  unmöglich  (Rohde  28  ff.).  Vielleicht 
sollten  auch  die  gewaltigen  Erdmassen,  die  man  über  den  Gräbern  türmte, 
neben  dem  Ruhme  der  Toten  noch  diesem  Zwecke  dienen.  Opfer  aber 
bringt  man  ihnen  nach  der  Bestattung  überhaupt  nicht  mehr,  denn  durch 
Blutgüsse  und  Spenden  lockt  man  die  Seelen  der  Toten  herauf,  und 
gerade  das  will  man  vermeiden.  So  schiebt  sich  die  homerische  Zeit  ein 
zwischen  Vergangenheit  und  Folgezeit  als  ein  Besonderes  (vgl.  Rohde  103), 
denn  der  Kultus  der  folgenden  Jahrhunderte  zeigt  weit  mehr  Ähnlichkeit 
mit  dem  in  der  mykenischen  Periode  üblichen.  Wiederum  begräbt  man 
die  Toten.  Unter  neunzehn  aufgedeckten  Dipylongräbern  des  8. — 7.  Jahr- 
hunderts hat  man  nur  ein  jüngeres  gefunden,  wo  die  Leiche  verbrannt 
war  (Brückner  und  Pernice  Athen.  Mitt.  XVIII  104  ff.).  Waffen,  Schmuck, 
Geräte,  wie  man  sie  im  täglichen  Leben  braucht,  eine  förmliche  „Aus- 
stattung" wird  dem  Toten  mitgegeben  (Brückner  Arch.  Anz.  Vn  20, 
Athen.  Mitt.  XVIII 141  f.),  noch  immer  erinnernd  an  die  alten  /.Tsgea, 
ja  Kochtöpfe  und  Speisen  und,  was  das  auffallendste  ist,  in  einer  Anzahl 
von  Gräbern  haben  sich  gewaltige  Lutrophoren  gefunden,  Hydrien,  die 
man  mit  Wasser  gefüllt  ins  Grab  senkte,  damit  der  Tote  auch  des  Bades 
nicht  entbehre*).  Und  wiederum  setzt  man  die  Totenopfer  auch  nach 
der  Bestattung  fort.  Der  obere  Teil  des  Grabes  ist  nicht  zugeschüttet, 
so  dass  eine  Grube  blieb,  wo  man  sie  darbringen  konnte  (Brückner 
Arch.  Anz.  VII  20;  Athen.  Mitt.  XVIII  151,  155  u.  415),  und  es  haben 
sich  auch  Stierknochen  dort  gefunden  (Athen.  Mitt.  XVIII  147).  Ebenso 
weisen  die  sehr  alten  Gräber  von  Eleusis,  die  Philios  aufgedeckt  hat, 
Spuren  von  Brandopfern  auf  (Eq)iq(.i,  agx-  1889  S.  173).  Anders  sieht 
es  bereits  auf  dem  attischen  Friedhof  in  der  Piräusstrasse  aus,  den 
Brückner  und  Pernice  untersucht  und  beschrieben  haben  (Athen.  Mitt. 
XVin  73 ff.).  Neben  Gräbern,  in  denen  die  Leiche  beerdigt  ist,  finden 
sich  viele  „Brandgräber",  d.  h.  solche,  in  denen  sie  „an  Ort  und  Stelle 
verbrannt  worden  ist"  (S.  78).  Die  Gaben,  die  man  den  Toten  mitgiebt, 
werden  spärlicher,  sogar  die  Waffen  fehlen  den  Männern  (S.  147),  zahl- 
reiche Lekythoi  sind  fast  das  einzige,  was  die  Gräber  noch  enthalten. 
Und  wie  der  Glaube  schwand,  dass  der  Tote  den  Besitz,  den  er  hinter- 
lassen hatte,  selber  noch  brauchen  könnte  und  dem  Lebenden,  der  ihn 
zurückhielt,  missgönnte^j,  so  auch  der,  dass  die  Seele  vor  allem  Blut 

1)  Brückner  a.  a.  0.  hält  für  möglich,  dass  nur  Unverheiratete  die  Lutrophoros 
mitbekamen.  (Vgl.  Rohde  292  A.  l  Dieterich  Nekyia  70.  Wolters  Athen.  Mitt.  XVI 
387,  392  ff.)    Sie  fanden  sich  in  fünf  von  neunzehn  Gräbern. 

2)  Ein  Übergangsstadium  zeigen  bereits  die  Dipylongräber,  insofern  sie  weniger 
Kostbarkeiten  enthalten  als  die  Gräber  aus  der  früheren  Periode,  und  der  Zweck 
der  Ausstattung  hier  sichtlich  mehr  der  ist,  „dass  der  Tote  im  Jenseits  seinen  Haus- 
halt weiter  führen  könne"  (Brückner  Arch.  Anz.  VII  20). 


430  Paul  Stengel 

verlange  und  sich  daran  am  meisten  erlabe.  Auf  dem  Friedhof  haben 
sich  Spuren  und  Reste  einer  ausgedehnten  7cv()cc  (vgl.  Eur.  El.  325, 
Plut.  Arist.  21)  aus  dem  Ausgang  des  6.  Jahrhunderts  gefunden  (Athen. 
Mitt.  XVIII  79 f.,  92,  151  ff.),  wo  alle  Tiere,  die  den  dort  ruhenden  Toten 
geopfert  wurden,  verbrannt  zu  sein  scheinen,  nachdem  man  das  Blut 
vorher  in  die  Amphora  gegossen  hatte,  die  in  das  Grab  eingelassen 
war  (vgl.  S.  155).  Und  diese  tvvqcc  ist  nicht  vereinzelt,  „derartige 
Opferschichten  sind  eine  typische  Erscheinung  auf  allen  Grabstätten" 
(S.  90  Anm.).  Eine  solche  gemeinsame  Opfer-  oder  richtiger  Ver- 
brennungsstätte statt  der  alten  Opfergruben  auf  den  einzelnen  Gräbern 
ist  an  sich  nicht  auffallend.  Als  man  tumuli  auf  den  Gräbern  auf- 
schüttete oder  diese  wenigstens  bis  zur  Höhe  des  Erdbodens  schloss, 
war  hier  kein  Platz  mehr  zum  Verbrennen  der  Tierleiber,  und  wäre  er 
vorhanden  gewesen,  so  musste  die  Rücksicht  auf  die  Monumente,  die 
jetzt  die  Gräber  schmückten,  das  Verbrennen  von  Opfern  in  unmittel- 
barster Nähe  verbieten  (vgl.  S.  159).  Aber  merkwürdig  ist,  dass,  wie 
Brückner  mir  mitteilt  (vgl.  Athen.  Mitt.  XVIII  89),  sich  hier  bloss  kleinere 
Knochen  gefunden  haben,  in  denen  er  nur  Überreste  verbrannten  Ge- 
flügels erkennen  könne.  Dass  Hähne  ein  häufiges  Totenopfer  waren,  ist 
auch  sonst  bekannt  (vgl.  Rohde  221),  vor  allem  beweisen  es  auch  die 
zahlreichen  Darstellungen  auf  bakchischen  Sarkophagen,  aber  in  alter 
Zeit  hatten  sich,  wie  die  Funde  von  Nauplia  lehren,  nicht  einmal  die 
Armen  damit  begnügt.  Mit  diesen  Befunden  stimmt  die  Nachricht  über- 
ein, Solon  habe  verboten,  ein  Rind  als  Totenopfer  zu  schlachten  (Plut. 
Sol.  21).  Er  hätte  es  kaum  verbieten  können,  wenn  die  alte  Sitte,  den 
Toten  grössere  blutige  Opfer  darzubringen,  nicht  schon  zu  schwinden 
begann  (vgl.  Rohde  205  A.  4).  Denn  schwerlich  würde  sich  damals ,  wo 
der  Totenkult  heilige  Pflicht  war,  eine  solche  Neuerung  durch  ein  Dekret 
haben  durchsetzen  lassen,  wenn  es  dem  Glauben  und  den  religiösen 
Bräuchen  des  Volkes  wirklich  noch  widersprach  und  sie  verletzte.  Es 
war  etwas  anderes,  wenn  Demetrios  fast  drei  Jahrhunderte  später  die 
Grabstelen  verbot  (Brückner  a.  a.  0.).  Das  war  ein  Schmuck,  der  Tote 
litt  nicht,  wenn  er  ihn  entbehrte ;  es  war  eine  schöne  Sitte,  die  die  Zeit, 
wo  die  Kunst  alles  schmückte  wie  nie  und  nirgends  mehr,  mit  sich  ge- 
bracht hatte,  mit  dem  Kultus  hatte  sie  eigentlich  nichts  zu  thun.  Solon 
wird  nur  dem  Zuge  seiner  Zeit  gefolgt  sein,  wird  vielleicht  durch  sein 
Verbot  bloss  der  Prahlerei  und  Verschwendung  Einzelner  haben  steuern 
wollen.  Denn  im  nächsten  Jahrhundert  schon  unterbleiben  nicht  die 
Rinderopfer  allein.  Das  beweisen  nicht  bloss  die  Gräber.  Wie  die 
gleichzeitige  Litteratur  lehrt,  war  bereits  im  fünften  Jahrhundert  das  bei 


Chthonischer  und  Totenkult.  431 

weitem  gewöhnlichste,  das  eigentliche  Totenopfer  die  xotj,  die  Spende, 
die  durch  den  offenen  Fuss  der  auf  dem  Grabe  stehenden  Amphora  ins 
Erdreich  floss.  Blutige  Opfer  für  gewöhnliche  Tote  werden  sehr  selten 
erwähnt,  nur  an  den  Gräbern  der  fürs  Vaterland  gestorbenen  Helden 
dauern  sie  fort  (vgl.  S.  424  f.).  Erklären  lässt  sich  diese  allmählich  sich 
vollziehende  Änderung  im  Kult  der  Toten  nicht  aus  schwindender  Pietät, 
gerade  das  Gegenteil  scheint  der  Fall  gewesen  zu  sein,  wohl  aber  dadurch, 
dass  der  anfangs  durchaus  apotropäische  Charakter  der  Totenopfer,  wie 
wir  schon  aus  andern  Erscheinungen  schlössen,  einem  traulichen  Kult 
der  Familie,  die  nicht  mehr  mit  Angst,  sondern  mit  Liebe  des  Hin- 
gegangenen dachte,  Platz  machte,  denn  blutige  Opfer,  die  man  ganz  hin- 
giebt,  haben  immer  hilastisch-kathartische  Bedeutung.  Dass  sie  nicht 
ganz  aus  dem  Totenkult  verschwanden,  ist  natürlich,  denn  ganz  hat  auch 
jene  ursprüngliche  Vorstellung  von  der  (.irivig  der  Toten,  die  Versöhnung 
heische,  niemals  aufgehört '),  und  oft  genug  mag  sie  durch  Träume  etwa 
oder  sonstige  beängstigende  Zeichen  geweckt  worden  sein.  Dass  Klytai- 
mestra  zum  Grabe  Agamemnons  nur  Spenden,  nicht  Opfertiere  sendet, 
ist  gewiss  den  Forderungen  der  Bührfe,  nicht  des  v6i.uf.wv  zuzuschreiben. 
Aber  dass  die  Tragiker  sich  selbst  in  solchem  Falle  mit  der  Spende  be- 
gnügen durften,  beweist  auch,  wie  diese  damals  schon  das  Totenopfer 
xöT  e^oxrjv  war.  Umgekehrt  war  bei  Sühnopfern,  wie  man  sie  den 
X^oviot  darbrachte,  das  Blut  des  Tieres  unentbehrlich,  bei  den  eigent- 
lichen oq)ayia  fehlten  die  Spenden  sogar  ganz").  Aber  bei  der  zunehmenden 
Vereinfachung  und  dem  Aufhören  jeder  Extravaganz  im  Totenkultus 
(vgl.  auch  Rohde  204  ff.)  fand  die  Pietät  ein  anderes  Mittel,  die  Verstor- 
benen zu  ehren :  dieser  Zeit  entstammen  die  schönen  Grabreliefs,  die  den 
Abgeschiedenen  und  die  Hinterbliebenen  innig  vereint,  wie  im  Leben, 
darstellen.  Nichts  aber  beweist  mehr  die  Veränderung,  die  sich  in  den 
Anschauungen  vollzogen  hat,  als  die  Sitte  der  TteQldeiTtva,  der  Toten- 
mahle, die  man  zu  Ehren  des  Verstorbenen  veranstaltete.  Hier  denkt 
man  sich  den  Toten  teilnehmend,  ja  als  Gastgeber  (Rohde  2 12  ff.).  Wie 
anders  das  Tacpov  öatvvvat  bei  Homer!  (^  29.  /  309).  Gerade  diese 
Vergleichung  des  scheinbar  Ähnlichen  ist  lehrreich.  Achill  bewirtet  die 
Myrmidonen  vor  der  Bestattung  des  Patroklos  und  nimmt  selber,  wie 
es  scheint,  am  Mahle  gar  nicht  teil  (vgl.  die  ff.  Verse,  namentlich  ^  48, 


1)  Ausser  Hähnen  kommen  als  Opfertiere  noch  am  häufigsten  Widder  und 
Schwein  vor;  das  sind  aber  die  Tiere,  die  man  zu  Sühn-  und  Reinigungsopfem  ver- 
wandte (vgl.  Rohde  221  A.). 

2)  S.  Hermes  XXII  647  ff.  Berl.  PhUol.  Wochenschr.  1893  Nr.  24  Sp.  751  f.  Vgl. 
auch  Hermes  XXI  308  f.  XXV  322.  Jahrb.  f.  Phü.  1891  S.  421. 


432  Paul  Stengel,  Chthonischer  und  Totenkult. 

femer  auch  ß  665),  und  Orestes  wird  die  Psyche  des  Aigisthos  und  der 
Selbstmörderin')  Klytaimestra  naturlich  auch  nicht  zum  Schmause,  den 
er  den  Argivern  giebt,  geladen  haben. 

Die  Unterschiede  zwischen  chthonischem  und  Totenkult  sind  also 
nicht  ursprünglich,  sondern  erst  geworden.  Der  Psyche  des  Patroklos 
werden  Menschen,  Pferde,  Hunde  geopfert,  um  ihre  firjvig  zu  beschwich- 
tigen, Polyxena  aus  demselben  Grunde  dem  Achilleus;  nach  Sonnen- 
untergang opfert  Odysseus  abgewandten  Blicks  den  Toten,  und  die  ganze 
Nacht  hindurch  giesst  Achill  dem  Freunde  die  Spenden  —  das  ist  rein 
chthonischer  Kult.  Anders  wird  die  Verehrung  der  Toten  erst,  als  die  angst- 
Tolle  Scheu  vor  ihnen  schwindet,  und  man  sie  nicht  mehr  aus  dem  Reiche 
des  Lebens  zu  bannen,  sondern  sie  hineinzuziehen  strebt.  Die  7t€Qld€i7cva 
vereinigen  den  Hingegangenen  und  die  Zurückgebliebenen  zu  gemein- 
schaftlichem Mahle  in  den  Räumen,  die  beide  zusammen  bewohnt,  und 
die  Gräber  orientiert  man  nicht  mehr  wie  in  ältester  Zeit  gleich  den 
Heiligtümern  der  chthonischen  Gottheiten^)  ängstlich  „nach  dem  Schatten- 
lande, dem  Westen"  (Beiger  a.  a.  0.  38),  sondern  beliebig,  wie  die  räum- 
lichen Verhältnisse  es  am  zweckmässigsten  erscheinen  Hessen^). 

Es  lässt  sich  aus  diesen  Thatsachen  ein  Schluss  auch  auf  die  Art 
und  Form  der  Seelenverehrung  vor  Homer  ziehn,  wie  Rohde  ihn  auf 
ihre  Stärke  und  Bedeutung  gezogen  hat:  in  den  älteren  Jahrhunderten 
muss  der  Totenkult  noch  viel  finstrer  und  unheimlicher  gewesen  sein, 
wahrscheinlich  bei  allem  Pomp  grauenhaft. 


1)  Vgl.  Robert  Bild  und  Lied  163.    Glaser  Klytaimnestra  in  d.  griech.  Dichtung 
Progr.  von  Büdingen  1890  S.  7. 

2)  Des  Zeus  Sosipolis  in  Magnesia  (Kern  Arch.  Anz.  1894  S.  81),  des  Pelops 
in  Olympia  (Paus.  V  13,  1). 

3)  Vgl.  die  von  Brückner  und  Pernice  ihrer  Abhandlung  in  den  Athen.  Mitt. 
XVIII  beigegebenen  Karten  Taf.  VI  und  VII. 


XX, 

De  prlmo  artis  amatoriae  ovidianae  libro. 

Scripsit 
loannes  Tolkiehn  (Regimontii  Boruss.). 

P.  Ovidium  Nasonem  etsi  sermone  puro  atque  elegant! ,  aequaliter 
constanterque  ingrediente  inter  Latinorum  poetas  maxime  excellere  est 
concedendum,  tarnen  eundem,  cum  ingenio  suo  nimis  indulgeret,  in  carmini- 
bus  componendis  aliquante  minora  quam  par  erat  effecisse  haud  facile 
quisquam  negaverit^).  Sed  haec  non  in  eam  sententiam  dicta  volo,  ut 
fere  omnia,  quaecumque  in  vatis  sulmonensis  operibus  non  satis  perfecta 
esse  videantur,  ipsius  culpae  tribuenda  putes.  Neque  enim  ullo  modo  fieri 
potest,  ut  evolventibus  nobis  artem  amatoriam,  cuius  argumentum  certa 
quadam  ratione  dispositum  esse  ex  verbis,  quae  leguntur  1 35  sqq.  263  sqq. 
771  sqq.  II  337  sqq.  III  381  sqq.,  lucide  appareat,  eos  locos,  ubi  aut 
ordinem  rerum  prooemio  libelli  institutum  non  servari  aut  sententias  plane 
diversas  adiungi  videmus  aut  alia  id  genus  menda  deprehendimus,  ita 
ut  nunc  sunt,  ab  Ovidio  profectas  esse  persuadeamus.  Quodcontra  haud 
scio  an  pristina  illius  carminis  forma  posteriore  demum  aetate  sive  libra- 
riorum  incuria  sive  casu  aliquo  infesto  sit  immutata.  Quae  iam  paullo 
fusius  exponere  non  ieiunum  fore  arbitror. 

Initio  primi  libri  inde  a  versu  tricesimo  quarto  usque  ad  versum 
duodequadragesimum  poeta  ipse  se  omnem  materiam  in  tres  partes  tribu- 
turum  esse  confirmat,  cum  primum,  ubi  quis  amicam  reperire  possit,  deinde 
quibus  artibus  'placita  puella  sit  exoranda',  postremo  quo  modo  recens 
amor  quam  constantissimus  futurus  sit  volle  sese  demonstrare  profitetur. 
Atque  primam  quidem  partem  versibus  41 — 262,  alteram  w.  263-— 772 
primi  libri,  tertiam  libro  secundo  contineri  nemo  non  intelleget,  qui  artem 
amatoriam  diligenter  inspexerit.    Dispositione  tam  perspicua  magnopere 

1)  Cf.  cum  alia  tum  notissimum  de  eo  Quintiliani  iudicium,  quod  exstat  Inst. 
Or.  X  8,  98  et  ea  quae  Alexander  Riese  editionis  Ovidii  praef.  p.  IX  exposuit  et 
quae  ipse  dixl  Quaestion.  ad  heroid.  ovid.  spect.  p.  38  et  Berlin,  philol.  Wochenschr. 
IX  (1889)  p.  147. 

28 


434  lOANMSS   TOLKIEHN 

mirari  debemus,  si  Ovidium  repente  extra  hos  cancellos,  quos  sibi  ipse 
circumdedit,  egressum  in  ea,  quam  primam  esse  modo  diximus,  parte 
vv.  136 — 163  praecipere  animadvertimus,  quomodo  animi  puellarum  idque 
in  Circo  temptari  possint,  cum  constet  ei  propositum  fuisse  posteriore  demum 
loco  (vv.  263—770)  de  excitando  amore  agere.  Unde  effici  mihi  videtur, 
ut  illi  versus  eo,  ubi  hodie  exstant,  minime  quadrent.  Quibus  deletis  versus 
135  et  164  aptissime  inter  se  cohaerere  apparet  Etenim  postquam  poeta 
usque  ad  versum  154  in  theatrum  magnum  undique  bellarum  mulierum 
numerum  concurrere  ostendit,  versu  135  'nee  te  nobilium  fugiat  certamen 
equorum'  circum  neglegi  vetat,  quem  versum  a  centesimo  sexagesimo  quarto 
''sparsaque  sollicito  tristis  harena  foro',  quibus  verbis  amphitheatrum  signi- 
ficare  vult,  optime  excipi  non  est  cur  pluribus  disseramus.  Duobus  igitur 
bis  versibus  inter  se  coUigatis  quin  sententiarum  conexus  quam  rectissime 
procedat,  quis  dubitare  ausus  sit? 

Sed  haec  hactenus.  lam  ad  alteram  partem  carminis  transeamus,  qua 
primum  "^praeceptor  ille  Amoris'  ^)  feminarum  libidinem  tantam  esse  legentes 
docere  conatur,  ut  facile  se  voluptatis  illecebris  irretiri  patiantur  fv.  269  sqq.). 
Ad  quae  illustranda  cum  decem  exempla  ex  historia  Graecorum  fabulari 
ponantur,  in  eo  offendamur  necesse  est,  quod  non  decima  sed  tertia  fabula, 
qua  Pasiphaae  amor  tractatur,  duodequadraginta  versibus  (289  —  326) 
uberius  enarretur,  reliquis  fabulis  unum  vel  duo  disticha  complectentibus. 
Ea  autem  ratio  a  legibus,  quas  Ovidius  in  carminibus  suis  sequi  solet, 
videtur  esse  alienissima.  Verum  ita  se  res  habet,  ut  in  arte  amatoria  una 
fabula  referatur,  si  ornandi  causa  copiose  et  abundanter  peragitur^},  praeter- 
quam  quod  primi  libri  versibus  679—704  tria  obviam  fiunt  exempla,  quo- 
rum  primum  et  secundum  uno  disticho  terminantur,  tertium  numerum 
viginti  quattuor  versuum  explet.  Idem  fere  factum  est  Remed.  vv.  261 — 268, 
ubi  Medeae  breviter  mentio  inicitur,  de  Circe  viginti  sex  versibus  agitur, 
et  vv.  589 — 608,  ubi  amicitia,  quae  erat  inter  Orestem  et  Pjladem,  uno 
disticho  absolvitur,  Phyllidis  exitus  duode viginti  versibus  depingitur.  Ad 
quae  addas,  si  placet,  duo  illa  exempla,  quae  legimus  Trist.  III  11,  39—54, 
quorum  secundum  quindecim  versibus  continetur.  Simillimi  vero  illius 
Artis  amatoriae  loci  a  nobis  addubitati  exstant  versus  Amor.  Hl  6,  25 — 82, 
qtiibus  novem  fabulas  poeta  ita  comprehendit,  ut  sex  singulis,  sexta  atque 
septima  binis  distichis  attingantur,  nona  duodequadraginta  versibus  verbose 
circumscribatur^j.    Omnibus  üs  locis,  quos  attulimus,  quod  certam  quan- 


1)  Cf.  Art.  I  17. 

2)  Esthisce  locis:  1 101-130.  527-564.  647—654.  II 21—96. 123—142.  399—408. 
467—488.  561—592.  III  685 -746. 

'S)  Geteri  Romanorum  Ijrici  historia  fabulari  ad  hunc  modam  non  atnntor. 


De  primo  artis  amatoriae  ovidianae  libro.  435 

dam  legem  in  mythologicis  tractandis  constanter  observari  apparet,  veri 
est  simillimum  etiam  inter  decem,  quae  commemoravimus,  exempla  Artis 
amatoriae  (I  283 — 340)  ejteLOoÖLovj  quod  vocant  Graeci,  novissimam  fuisse, 
ita  ut  versus  289—326,  quibus  Pasiphaae  amorem  describi  diximus,  post 
versum  trecentesimum  quadragesimum,  quo  breviora  exempla  clauduntur, 
quondam  positos  fuisse  existimemus.  Yersibus  igitur  327—340  et  280—326 
inter  se  mutatis  hasce  deinceps  feminas  videmus  enumerari:  Byblida 
(V.  283  sq.),  Myrrham  (v.  285—288),  Aeropam  (v.  327—330),  Scyllam 
(v.  331  sq.),  Clytaemestram  (v.  333  sq.),  Medeam  (v.  335  sq.),  Amyntoris 
paelicem  (v.  337)*),  Phaedram  (v.  338),  Idaeam  (v.  339  sq.),  Pasiphaam 
(v.  289 — 326).  Quarum  varios  casus  si  percensebimus,  in  hanc  facile 
ducemur  sententiam,  ut  etiam  versus  283 — 285  post  versum  340  locandos 
esse  suspicemur.  lis  enim  ita  locatis  habemus  gradationem,  qua  melior 
cogitari  non  possit,  cum  leviora  atque  infirmiora  argumenta  (v.  327 — 340) 
gravioribus  atque  immanioribus ,  quibus  feminas  libidine  ad  incestum 
(v.  283  sq.  et  285—288)  aut  ad  concubitum  cum  bestiis  (v.  289—326) 
interdum  impelli  poeta  demonstrare  studet,  rhetorice  praeponantur.  Itaque 
non  solum  eam,  quae  Ovidii  propria  est,  rerum  componendarum  atque 
digerendarum  accurationem  hoc  quoque  loco  licet  admirari,  sed  etiam 
sententiae  aliquante  melius  videntur  inter  se  necti  atque  coniugari. 

Sed  restant  etiam  graviora,  ad  quae  iam  nos  convertamus. 

Poeta  ubi  in  libidine  feminarum  patefacienda  paullo  uberior  fuit, 
puellae  alicuius  gratiam  sibi  conciliare  cupienti  suadet,  ut  ancilla  eins 
corrupta  (v.  351 — 398)  et  conservatis  temporibus  (v.  399  —  436)  ipsam 
primum  per  epistulam  de  amore  adeat;  quo  facto  eidem  commendat,  ut 
dominae  semper  praesto  sit  et  in  viis  publicis  (v.  487 — 496)  et  in  theatro 
(v.  497—524)  et  in  conviviis  (v.  525  sqq.).  Quas  omnes  res,  quae  insunt 
in  hac  libelli  particula,  primae  partis  versibus  67 — 252  respondere  facile 
perspicitur,  ubi  Ovidius  quibus  locis  cum  puellis  commercia  haberi  possent 
indicavit.  Ibi  enim  nominantur  1.  viae  publicae  atque  communia  spatia 
(v.  67—88)  2.  theatra  (v.  89—134)  3.  circus  (v.  135)  4.  amphitheatrum 
(v.  164—176)  5.  triumphi  (v.  177—228)  6.  convivia  (v.  229—252).  Ex 
quo  quivis  intellegit,  posteriore  loco  circum,  arenam,  triumphos  omitti. 
Minime  autem  mirum  est,  si  arena  et  triumphi  aeque  ac  simillimo  tertii 
libri  loco  —  est  v.  387—396  —  triumphi  non  conmiemorantur,  hoc  loco 
desunt,  cum  naumachiae  spectaculum  ab  Augusto  editum,  cuius  1 171  sqq. 
mentio  fit,  unicum  sit  et  una  cum  triumpho  a  poeta  subinde  descripto. 


1)  Nomen  ei  Phthiae  fuisse  ex  Apollodori  Bibl.  ni  13,  8,  3  accepimus.  Eundem 
auctorem  atque  Apollodorus  Ovidius  hoc  loco  et  Propertius  II  1,  60  videntur  sequi. 
Ceterum  ab  Homero  quoque  H.  IX  447  sqq.  nomen  illud  omittitur. 

28* 


436  lOANNES  TOLKIBHN 

qui  nondum  actus  erat,  sed  quem  Ovidius  e  Parthis  actum  iri  vaticinatur, 
non  nisi  ad  domum  principis  celebrandam  pertineat,  ut  ea  postea  repetere 
opus  non  esset.  De  circo,  de  quo  inter  versum  524  et  525  agendum  erat, 
idem  dici  non  potest.  Forsitan  quispiam  contenderit  v.  487  e  ludis  publicis 
Bcaenicos  solos  commemorari  satis  esse,  quippe  quod  eadem  amatoria 
praecepta  et  ad  circum  et  ad  arenam  valeant.  Quod  quominus  credam, 
cum  ille  tertii  libri  locus,  quem  supra  laudavimus,  tum  ea  maxime  res 
adversatur,  quod  constat  ipsos  ludos  scaenicos  Augusti  aetate  non  promiscue 
spectatos  esse,  sed  feminas  a  viris  secretas  in  superioribus  subselliis  sedisse '), 
ut  hi  cum  illis  colloqui  non  possent,  quare  v.  500  oculorum  vel  digitorum 
notis  uti  iubentur.  Quae  cum  ita  sint,  fieri  non  potest,  quin  inter  v.  524 
et  V.  525,  ut  iam  dixi,  praecepta  vehementer  requiramus,  quibus  de  animis 
puellarum  in  Circo  pertemptandis  legentes  instruantur.  Talia  autem  in- 
sunt  in  eiusdem  libri  versibus  136 — 163,  quos  initio  statim  quaestionis 
nostrae  eo  loco,  quo  traditi  sunt,  movendos  esse  statuimus.  Ibidem  in 
Circo  istis  notis  posse  supersederi  plane  aperteque  poeta  testatur  bis 
versibus  (137  sqq.). 

'nil  opus  est  digitis,  per  quos  arcana  loquaris, 
nee  tibi  per  nutus  accipienda  nota  est: 
proximus  a  domina  nullo  prohibente  sedeto' 

et  iis,  quae  deinceps  sequuntur.  Quae  verba  cum  commodissime  opponantur 
versui  500  iam  laudato:  *^multa  supercilio,  multa  loquare  notis"*  (in  theatro 
videlicet),  spero  fore,  ut  multis  certe  probetur,  versus  136 — 163  antiquitus 
post  versum  524  positos  fuisse,  deinde  cum  nescio  quo  pacto  excidissent, 
in  margine  esse  adscriptos  et  postremo  duobus  versibus,  primo  hexametro 
et  ultimo  pentametro,  sublatis  primae  partis  loco,  quo  item  de  circo  agi- 
tur,  esse  insertos.  Quodsi  igitur  versus  136—163  ad  eam,  quae  decet> 
sedem  transtulerimus,  hae  sententiae  continuatae  erunt:  Quotiens  domina 
tua  se  in  tbeatrum  conferet,  fac  eodem  venias,  ut  multa  cum  ea  clam 
communices  (v.  497 — 504).  Sed  etsi  cavendum  tibi  est,  ne  formam  atque 
habitum  corporis  excolere  neglegas,  tamen  noli  nimis  lecto  amoenoque 
cultu  prodire  (v.  505 — 524).  Etiam  maiora  commoda  quam  tbeatrum  dat 
circus,  quippe  cum  iuxta  puellam,  cuius  amore  teneris,  sedens  permultis 
beneficiis  benevolentiam  eins  possis  allicere  (v.  136—163).  Nee  vero 
in  conviviis  deest  commoda  atque  idonea  occasio  amoris  excitandi,  quod 
Liber  ipse  amantibus  favet  (v.  525  sqq.).    Ita  versus  136 — 163  propter 


1)  Cf.  ea  quae  exposuit  Ludovicus  Friedlaender  praeclari  illius  libri,  qui  inscri- 
bitur  'Darstellungen  aus  der  Sittengeschichte  Roms'  vol.  II*  p.  324  et  in  Marquardt. 
Enchir.  Antiq.  Rom.  IIP  p.  535  n.  3. 


De  primo  artis  amatoriae  ovidianae  libro.  437 

res,  quae  iis  tractantur,  non  solum  ad  hunc  locum  referri  posse,  verum 
etiam  necessitate  quadam  imposita  referendos  esse  videtur  apparere.  Atque 
ut  breviter  complectar,  quae  usque  adhuc  disputavi,  in  primo  Artis  ama- 
toriae libro  hunc  pristinum  fuisseversuum  ordinem  demonstrare  conatussum : 

1  —  135. 

164  —  282. 

327  —  340. 

283  —  326. 

341  —  524. 

136  —  163. 

525  —  772. 
lam  contemplantibus  nobis  summam  versuum,  qui  singulis  illis  carminis 
particulis  continentur,  mira  licet  observare.  Hasce  enim  ratiunculas  sub- 
duci  consentaneum  est:  sunt  v.  1 — 135=9 X 15,  sequuntur  v.  136—163=28, 
adnumeratis  autem  duobus  versibus,  quos  evanuisse  supra  contendimus, 
30  =  2X15;  item  sunt  v.  164—282  =  119  =  7X15  +  1x14,  post  quos 
V.  327—340  =  1X14  excidisse  et  post  v.  283  —  326  =  2x15  +  1x14  lo- 
catos  esse  probare  studuimus;  sunt  etiam  v.  341—524,  post  quos  versus 
136—163  eiectos  esse  puto,  =184  =  2X15+11X14;  v.  164—524  vero, 
quibus  versus  136 — 163  falso  praepositos  esse  mihi  persuasi,  sunt  =361  = 
11X15  +  14X14.  Quae  si  diligenter  perpenderimus,  non  aberit  suspicio, 
quin  Ars  amatoria  quondam  in  codice  quodam  fuerit  exarata,  in  cuius 
singulis  paginis  quaterni  deni  vel  quini  deni  versus  perscripti  essent,  unde 
illam,  quam  detexisse  mihi  videor,  ordinis  immutationem  profectam  esse, 
veri  est  simillimum. 


XXL 

Über  Piatos  Euthyphron,  zur  Frage  seiner  Echtheit 
und  zu  seiner  Erklärung. 

Von 

Ernst  Wagner  (Königsberg  i.  Pr.). 

Verzeichnis  der  benutzten  und  verglichenen  Schriften  in  chrono- 
logischer Reihenfolge. 

I.  Fr.  Fischer,  Piatonis  Euthyphro  etc.  Lipsiae  1783. 
D.  Tiedemann,  Dialogorum  Piatonis  argumenta.   1786. 

D.  Chr.  Grimm,  Platonicae  sapientiae  flores  ex  Euthyphrone.  Annaberg  1786. 

C.  Nürnberger,  De  consilio  Piatonis  in  scribendo  Euthyphrone.  Diss.  inaug. 
Erlangen  1787. 

W.  G.  Tennemann,  System  der  platonischen  Philosophie.   Leipzig  1792—1794. 

Ast,  Piatons  Leben  und  Schriften.   Leipzig  1816. 

Socher,  Über  Piatons  Schriften.   München  1820. 

G.  Stallbaum,  Piatonis  Euthyphro  (Spezialausgabe).   Leipzig  1823. 

A.  Balsam,  De  Euthyphronis  Platonici  consilio  et  auctoritate.  Progr.  Hirschberg  1825. 

A.  Kapp,  Platon's  Erziehungslehre.   Minden  und  Leipzig  1833. 

A.  Arnold ,  Platon's  Werke  einzeln  erklärt  und  in  ihrem  Zusammenhange  dar- 
gestellt.  Berlin,  Posen  und  Bromberg.  1  H.  1835. 

K.  Fr.  Hermann,  Geschichte  und  System  der  Platonischen  Philosophie.  Heidel- 
berg 1839. 

Yxem,  Über  Platon's  Euthyphron.  Progr.  des  Kgl.  Friedrich- Wilhehns-Gymn. 
Berlin  1842. 

Hieron.  Müller,  Platon's  sämmtliche  Werke  mit  Einleitungen  von  K.  Steinhart. 
Leipzig  1851. 

F.  Schleiermacher,  Piatos  Werke.    3  A.  Berlin  1855. 

E.  Struve,  Quid  Socrati  pium  videatur  in  Euthyphrone.    Görlitz  1855. 

Jons  Sommar  Bruzelius,  Euthyphron  Dialog  af  Piaton.  Öfversättning.  Akademisk 
Afhandl.  Lund  1856. 

E.  Munk,  Die  natürliche  Ordnung  der  platonischen  Schriften.   Berlin  1857. 

F.  Susemihl,   Genetische  Entwickelung  der  Platonischen  Philosophie.  2  Bd.  1857. 
W.  Münscher,  Inhalt  und  Erklärung  des  platonischen  Dialogs  Euthyphron.  Progr. 

des  Kurf.  Gymn.  Hersfeld  1859. 
Fr.  Michelis,  Die  Philosophie  Piatons  in  ihrer  inneren  Beziehung  zur  geoffenbarten 

Wahrheit.   Münster  1859. 
F.Überweg,    Untersuchungen    über    die   Echtheit    und    Zeitfolge    Platonischer 

Schriften,  Wien  1861. 


I 


über  Piatos  Euthyphron,  zur  Frage  seiner  Echtheit  und  zu  seiner  Erklärung.  439 

H.  V.  Stein,    Vorgeschichte  und  System  des  Piatonismus  (Bd.  I  der  7  Bücher  zur 

Gesch.  d.  Plat.)  Göttingen  1862. 
G.  Grote,  Plato  and  the  other  companions  of  Socrates.  Vol.  I.   London  1863. 
S.  Ribbing,  Genetische  Darstellung  der  platonischen  Ideenlehre.  Leipzig  1863  u.  64. 
C.  Schaarschmidt,  Die  Sammlung  der  platonischen  Schriften,  zur  Scheidung  der 

echten  von  den  unechten.    Bonn  1866. 
K.  Lehrs,  Piatos  Phädrus  und  Gastmahl.    Übers,  mit  einl.  Vorwort.   Leipzig  1869. 

(pag.  XVI  und  XVII.) 
CoUmann,  Über  den  platonischen  Dialog  Euthyphron.  Progr.    Marburg  1870. 
Kud.  Schnitze,  Über  Piatons  Euthyphron.  Progr.    Wittstock  1870. 
K.  ürban,  Über  Piatos  Verhältnis  zur  griechischen  Volksreligion.  Progr.  Görlitz  1871. 
St.  We^clewski,  De  Piatonis  Euthyphrone.    Progr.    Conitz  1875. 
E.  Zeller,  Die  Philosophie  der  Griechen.    II.  Teil,  1.  Abt.    Leipzig  1875. 
G.  Auermann,  Piatons  Cardinaltugenden  vor  und  nach  Abfassung  des  Euth.   Diss. 

inaug.    Jena  1876. 
Lechthaler,   Die  oaioxrjg  (Frömmigkeit)   bei  Piaton  mit  Rücksicht   auf  Schaar- 

schmidts  Athetese  des  Dialogs  Euthyphron.    Progr.    Meran  1879. 
M.  Wohlrab,  Piatons  Euthyphron.    2.  A.   Leipzig  1880. 
Rieser,  De  Piatonis  Euthyphrone.    Diss.  inaug.    Bern  1880. 
J.  Nusser,  Inhalt  und  Reihenfolge  von  7  platonischen  Dialogen.    Amberg  1882. 

Diss.  inaug.  und  Programm  des  Gymn.  in  "Würzburg. 
Leopold  Schmidt,  Die  Ethik  der  alten  Griechen.    Bd.  I.    Berlin  1882. 
C.  Schmelzer,  Piatos  ausgewählte  Dialoge.    Bd.  6.    Berlin  1883. 
Josef  Wagner,  Zur  Athetese  des  Dialogs  Euthyphron.  Progr.    Brunn  1883. 
H.  Bonitz,  Platonische  Studien.    3.  A.  Berlin,  Vahlen  1886. 
M.  Schanz ,  Sammlung  ausgewählter  Dialoge  Piatos   mit   deutschem  Kommentar. 

Bd.  I.  Euthyphron.    Leipzig  1887. 
Sumann  (Laibach),  Beitrag  zur  Erklärung  des  Platonischen  Dialoges  Euthyphron. 

Zeitschrift  für  die  österr.  Gymnasien.    Jahrg.  1894.    S.  681  if. 

Das  neueste  französische  Werk  von  Chr.  Huit,  La  vie  et  l'oeuvre  de  Piaton. 
2toraes.  Paris  1893  und  drei  ältere  Gymnasialprogramme:  Kapp,  Über  Piatos 
Euthyphro,  Berlin  1842,  Maresch,  Einleitung  zu  Piatons  Euthyphro.  Pressburg  1859 
und  Walser,  Piatons  Euthyphro.  Hermannstadt  1865/66  sind  mir  nicht  zugänglich 
gewesen. 

Es  ist  wohl  kein  Zweifel,  dass  die  von  Ast,  Schaarschmidt  und 
Überweg  gegen  die  Echtheit  einiger  von  den  kleineren  platonischen 
Dialogen  unternommenen  Angriffe  im  ganzen  als  siegreich  abgeschlagen 
zu  betrachten  sind.  Litterarhistoriker,  Erklärer  und  Herausgeber  fahren 
fort,  sie  als  platonisch  zu  behandeln,  und  begnügen  sich  damit,  die  er- 
hobenen Einwendungen  zu  registrieren  mit  dem  Bemerken,  dass  sie  nicht 
überzeugend  oder  durch  Bonitz  und  andere  Verteidiger  geradezu  wider- 
legt seien.  Insbesondere  gilt  dies  auch  von  dem  kleineren  Gespräche 
über  die  Frömmigkeit,  das  den  Namen  des  Euthyphron  trägt,  trotz  der 
leidenschaftlichen  Polemik,  die  Joseph  Wagner  in  dem  Programm  des 
ersten  deutschen  Gymnasiums  zu  Brunn  vom  Jahre  1883  gegen  die 
Echtheit  dieses  Dialoges  voll  heftigen  Kampfeseifers  aufs  neue  be- 
gonnen hat. 


440  Ebnst  Waoneb 

Somit  könnte  es  als  wenig  zeitgemäss  erscheinen,  wenn  in  dem 
Folgenden  die  Frage  noch  einmal  behandelt  werden  soll,  ob  wir  wirklich 
genötigt  sind,  das  Gespräch  über  die  Frömmigkeit  für  ein  unechtes  Mach- 
werk zu  halten,  oder  wenigstens  mit  der  Möglichkeit  zu  rechnen,  dass  es 
untergeschoben  sei.  Das  Unternehmen  einer  erneuten  Untersuchung 
darüber  rechtfertigt  sich  indessen  durch  folgende  Überlegung:  Da  der 
Euthyphron  nicht  zu  der  Zahl  derjenigen  Dialoge  gehört,  die  durch 
unzweifelhafte  Citate  bei  Aristoteles  geschützt  sind,  so  giebt  es  einen 
strikten  Beweis  für  seine  Echtheit  nicht.  Vielmehr  liegt  äusserlich  die 
Möglichkeit  7or,  dass  bald  nach  Piatos  Tode  die  Arbeit  eines  Sokratikers, 
für  den  Überweg  den  Namen  des  Pasiphon  von  Eretria  bereit  hält,  auch 
ohne  die  Absicht  einer  Fälschung  unter  die  Masse  der  echten  Schriften 
geriet  und  bereits  durch  Aristophanes  von  Byzanz  in  seine  Trilogien 
aufgenommen  wurde.  Mag  nun  die  Beweiskraft  der  einzelnen  Gründe, 
durch  die  unser  Glaube  an  Piatos  Urheberschaft  erschüttert  werden  soll, 
noch  so  gering  sein,  so  wird  der  Zweifel  dennoch  sich  immer  wieder  aufs 
neue  regen,  solange  es  nicht  geglückt  ist,  zu  einem  völlig  befriedigenden 
Verständnis  des  Dialoges  zu  gelangen.  In  der  That  herrscht  aber  über 
die  Frage,  was  der  eigentliche  Zweck  des  Gespräches  sei,  und  wieweit  er 
darin  erreicht  werde,  unter  den  zahlreichen  Erklärern  die  grösste  Ver- 
schiedenheit der  Meinungen,  und  wenn  schliesslich  eine  Art  von  Einigung 
darüber  zu  Stande  gekommen  zu  sein  scheint,  so  wird  es  sich  zeigen, 
dass  sie  immer  doch  nur  für  einen  Teil  des  Gespräches  besteht,  und 
dass  es  für  die  letzte  Wendung,  die  es  nimmt,  an  einer  befriedigenden 
Erklärung  überhaupt  noch  fehlt.  Es  erscheint  somit  völlig  begreiflich, 
dass  immer  wieder  die  Meinung  laut  wird,  einem  Meister  wie  Plato  sei 
ein  so  unvollkommenes  Werk  nicht  zuzutrauen.  Gelänge  es  aber,  der 
Absicht  des  Verfassers  von  Anfang  bis  zu  Ende  in  jeder  Hinsicht  zu 
folgen  und  zu  erweisen,  dass  die  begonnene  Untersuchung  über  die 
Frömmigkeit  bis  zum  Schlüsse  des  Dialoges  folgerichtig  weitergeführt 
ist,  so  würde  dem  Zweifel  der  Boden  entzogen  sein. 

Betrachtet  man  die  unternommenen  Erklärungsversuche  historisch 
in  ihrem  allmählichen  Fortschreiten,  so  ist  es  merkwürdig  zu  sehen,  wie 
die  Erklärer  bald  hier,  bald  dort  Halt  machen,  weil  sie  den  eigentlichen 
Kernpunkt  des  scheinbar  resultatlosen  Gespräches  gefunden  zu  haben 
glauben,  und  wie  der  unbefriedigende,  für  rein  negativ  erklärte  Rest 
immer  kleiner  und  kleiner  wird,  ohne  doch  ganz  zu  verschwinden.  Das 
Thema  des  Gespräches  zwischen  Sokrates  und  Euthyphron  ist  unstreitig 
in  der  Frage  des  ersteren:  li  cpfjg  ehat,  t6  oglov  /mI  to  avoaiov;  (p.  5  d) 
enthalten,  und  ebenso  unzweifelhaft  ist  es,  dass  eine  zufriedenstellende 


über  Piatos  Euthyphron,  zur  Frage  seiner  Echtheit  und  zu  seiner  Erklärung.  441 

Beantwortung  dieser  Frage  nicht  erfolgt,  da  Euthyphron  den  unermüd- 
lichen Versuchen  des  Sokrates,  der  Sache  auf  den  Grund  zu  kommen, 
schliesslich  unter  einem  nichtigen  Verwände  sich  entzieht.  Man  suchte 
daher  zunächst  nach  Gründen,  die  den  Verfasser  veranlasst  haben  könnten, 
der  begonnenen  Untersuchung  einen  so  unbefriedigenden  Ausgang  zu 
geben.  Auch  wer  nicht  Plato,  sondern  irgend  einen  Nachahmer  dafür 
verantwortlich  machen  will,  dürfte  sich  der  Beantwortung  dieser  Frage 
nicht  entziehen.  Oder  ist  es  etwa  die  Art  der  Nachahmer  und  Fälscher, 
ihre  Leser  in  dieser  Weise  zum  Besten  zu  halten?  Die  nächstliegende 
Erklärung  ist  offenbar  die,  es  sei  gar  nicht  der  wahre  Endzweck  des 
Verfassers  gewesen,  eine  erschöpfende  Definition  des  Begriffes  der  Fröm- 
migkeit zu  geben,  sondern  das  Gespräch  sei  in  einer  andern  Absicht 
wiedererzählt  oder  erfunden.  Eine  solche  bot  sich  handgreiflich  dar  in 
dem  sichtlichen  Bestreben,  die  gegen  Sokrates  erhobene  Anklage  als  un- 
gerechtfertigt erscheinen  zu  lassen. 

Dass  diese  Absicht  besteht  und  erreicht  wird,  ist  nicht  zu  bestreiten. 
Ein  Mann,  dessen  ßechtgläubigkeit  über  jeden  Zweifel  erhaben  ist,  er- 
scheint als  eng  befreundet  mit  dem  der  Gottlosigkeit  bezichtigten  Sokrates. 
Der  fromme  Gottesgelehrte  ist  unwillig  über  die  Anklage  und  befürchtet 
davon  Unheil  für  den  Staat.  Er  erkennt  das  öaif^oviov  des  Sokrates, 
gegen  das  die  Anklage  vorzugsweise  sich  richtet,  bereitwillig  als  eine 
göttliche  Sehergabe  an  und  stellt  sie  in  Vergleich  zu  seinem  eigenen 
prophetischen  Wissen.  Auch  zweifelt  er  gar  nicht  an  der  Freisprechung 
des  Sokrates.  An  diesem  haftete  aber  nicht  nur  der  Vorwurf  des  Un- 
glaubens, sondern  auch  der,  dass  er  die  Jugend  verderbe,  und  zwar  grün- 
dete sich  dieser  zweite  Klagepunkt  auf  die  Vorstellungen,  die  der  gemeine 
Mann  in  Athen  sich  von  der  Lehre  des  Sokrates  nach  den  Karikaturen 
der  Komiker  machte.  Jeder  kannte  die  Art,  wie  der  brave  Pheidippides 
in  den  Wolken  die  Lehre  des  aristophanischen  Sokrates  gegen  seinen 
Vater  praktisch  verwertet,  und  viele  beurteilten  seine  Thätigkeit  sicher- 
lich danach.  Was  lässt  sich  also  zur  Widerlegung  dieser  Verleumdung 
Wirksameres  denken,  als  wenn  es  sich  zeigt,  dass  gerade  der  fromme 
Euthyphron  aus  seinem  Götterglauben  nicht  nur  das  Kecht,  sondern 
sogar  die  Pflicht  ableitet,  seinen  eigenen  Vater  zu  verklagen,  durch 
Schlussfolgerungen  über  das  Verhältnis  des  Zeus  zu  Kronos  (p.  5e— 6  a), 
die  sich  wirklich  in  den  Wolken  wiederfinden  (Aristoph.  Nubes  v.  904), 
während  Sokrates  sein  Befremden  darüber  äussert  und  die  Unhaltbarkeit 
des  Standpunktes  nachweist,  von  dem  aus  sie  gezogen  werden  konnten! 
Wenn  nun  aber  einige  Erklärer  (Nürnberger,  W^clewski,  Zeller,  schliess- 
lich entscheidet  sich  auch  Schleiermacher   dafür)   geradezu    annehmen. 


442  Ernst  Wagnbb 

das  Gespräch  sei  eine  Flugschrift  und  zur  Zeit  des  Prozesses  selbst  ver- 
fasst,  um  auf  die  öffentliche  Meinung  einzuwirken,  so  ist  von  anderer 
Seite  bereits  zur  Genüge  darauf  hingewiesen,  wie  ungeeignet  es  zu  diesem 
Zwecke  erscheint.  Die  Kühnheit,  mit  der  hier  der  Spiess  umgedreht 
ist,  verfehlt  ihre  Wirkung  auf  das  Urteil  der  Nachwelt  nicht,  für  die 
leidenschaftliche  Erregung  des  Augenblickes  hätte  sie  sicher  einen  Guss 
öl  ins  Feuer  bedeutet. 

Dazu  kommt,  dass  die  erwähnten  Beziehungen  auf  die  ungerechte 
Verurteilung  des  Sokrates  sich  auf  das  erste  Drittel  des  Dialoges  be- 
schränken, und  dass  somit  das  an  diese  Einleitung  sich  anschliessende 
Gespräch  über  die  Frömmigkeit  durch  die  erwähnte  Absicht  noch 
keineswegs  gerechtfertigt  sein  würde.  Man  hat  sich  daher  auf  das  sokra- 
tische  Nichtwissen  berufen  (Grote)  und  den  Zweck,  rein  negativ,  darin 
gesucht,  dass  die  ünhaltbarkeit  des  Volksglaubens  bewiesen  und  die 
landläufigen  Vorstellungen  von  der  Gottheit  ad  absurdum  geführt  werden 
sollten.  Zugleich  werde  gezeigt,  dass  die  Kichter  des  Sokrates  sich  die 
Entscheidung  über  Fragen  angemasst  hätten,  über  die  noch  völlige  Un- 
klarheit herrsche.  Dadurch  würde  es  zwar  begreiflich,  dass  ein  positives 
Kesultat  schliesslich  nicht  gefunden  wird,  aber  es  ist  leider  im  Verlauf 
der  Untersuchung  von  dem  „Volksglauben  und  den  landläufigen  Vor- 
stellungen über  die  Götter"  so  gut  wie  gar  nicht  die  Rede,  und  zudem 
erscheint  der  Sonderling  Euthyphron  als  ein  recht  ungeeigneter  Vertreter 
des  athenischen  Volkes.  Wie  er  durchaus  in  Gegensatz  zu  der  grossen 
Menge  sich  stellt,  so  konnte  kein  Leser  sich  durch  die  Widerlegung  eines 
so  übertriebenen  Standpunktes  selbst  getroffen  fühlen. 

In  der  Untersuchung  über  das  Wesen  der  Frömmigkeit,  die  doch 
nun  einmal  zweifellos  begonnen  ist,  handelt  es  sich  zunächst  um  Logik. 
Euthyphron  giebt  statt  einer  Definition  des  Begriffes  erst  ein  Beispiel 
(p.  5d),  in  dem  er  sein  eigenes  Vorhaben  und  den  Grundsatz,  auf  dem 
es  beruht,  als  fromm  bezeichnet.  Dann  lässt  er  sich  zu  der  Erklärung 
durch  einen  synonymen  Begriff  (d-socfdig)^)  herbei  (p.  7a):  eari  toIvw 
rb  fiev  Tolg  -d^solg  7tgooq)tk6g  ooiov,  lo  de  (xi]  7tQooq)L),eg  avootov ;  allein 
zu  einer  Wesensbestimmung  ist  auch  sie  nicht  zu  verwerten,  weil  sie  sich 
statt  auf  eine  substantielle  (ovo La),  auf  eine  accidentielle  Eigenschaft 
(Ttad-og)  des  Frommen  gründet.  Wie  man  definieren  muss,  zeigt  nun- 
mehr Sokrates  selbst,  indem  er  den  zu  bestimmenden  Begriff  auf  das 
genus  proximum  des  öUaiov  zurückführt  und  als  unterscheidendes  Merk- 
mal, differentia  specifica,  die  Beziehung  auf  die  Götter  anfuhrt  (p.  12e): 

1)  Man  vergleiche  die  Feststellungen  L.  Schmidts  über  die  Begriffe  oatov, 
ölxaiov,  svasßeg,  &€0(piXig  u.  8.  w.  (a.  a.  0.  S.  33S  u.  304  f.) 


r 


über  Piatos  Euthyphron,  zur  Frage  seiner  Echtheit  und  zu  seiner  Erklärung.  443 

TOVTO  ToLvvv  öoKSl  To  (XBQoq  Tov  öiYMiou  elvai  evaeßig  t€  xal  ooiov  to 
Ttegi  TTjv  t(jjv  d-ewv  d^egaTteiav. 

Auch  hierin  hat  man  den  eigentlichen  Zweck  des  ganzen  Dialoges 
erkennen  wollen  (R.  Schnitze,  Auermann),  nachdem  Schleiermacher  darauf 
hingewiesen  hatte,  dass  „der  Begriff  der  Frömmigkeit  aus  der  Reihe  der 
vier  Haupttugenden,  denen  er  im  Protagoras  noch  beigesellt  ist,  in  den 
übrigen  platonischen  Werken  verschwinde"  (S.  38).  Die  Beobachtung  ist 
gewiss  richtig  und  wird  als  Argument  für  die  Echtheit  des  Euthyphron, 
sowie  für  die  Stelle,  die  ihm  unter  Piatos  Gesprächen  anzuweisen  ist, 
verwertet  werden  dürfen,  aber  es  bleibt,  wenn  das  Ziel  hier  bereits  er- 
reicht sein  soll,  immer  noch  ein  beträchtlicher  Teil  des  Dialoges  ohne 
genügende  Erklärung;  denn  die  Untersuchung  schreitet  fort.  Da  Sokrates 
die  Führung  behält,  so  kann  auch  in  dem  Folgenden  nicht  eine  rein 
negative,  polemische  Absicht  zu  Grunde  liegen,  sondern  es  wird  vielmehr 
ernstlich  an  der  völligen  Bestimmung  des  Begriffes  der  Frömmigkeit 
weiter  gearbeitet. 

Sokrates  findet  den  Ausdruck  d^egaTrsLa  noch  nicht  klar  genug,  in 
sofern  als  er  dabei  die  Angabe  ihres  Zweckes  noch  vermisst.  Er  weiss 
das  Gespräch  so  zu  leiten,  dass  sie  in  Parallele  gestellt  wird  zu  der 
Dienstbarkeit,  die  der  Herr  (etwa  ein  Arzt  oder  Schiffszimmermann)  zur 
Ausführung  seines  Werkes  von  seinem  Sklaven  erwartet,  und  richtet  dann 
an  Euthyphron  die  Frage,  welches  Werk  denn  nun  die  Götter  mit  Hilfe 
der  Menschen  zu  vollbringen  gedächten :  tt  7toT  sotIv  helvo  t6  Ttayza- 
Xov  eqyov,  o  ol  d-eol  ccTteQyd^ovTai,  rjfxiv  VTtrjghaig  xQ(x)(.ievoi;  (p.  13  e). 
Eine  genügende  Antwort  erhält  er  nicht,  da  Euthyphron  zunächst  ganz 
allgemein  erwidert:  Ttolla  xal  Y.ala,  und  dann  von  dem  Wege,  den 
Sokrates  ihn  geführt,  abspringend,  die  Frömmigkeit  darin  finden  will, 
dass  man  verstehe,  den  Göttern  wohlgefällig  zu  handeln  und  zu  reden  bei 
Opfer  und  Gebet;  das  diene  dann  zur  Erhaltung  und  zum  Wohle  des 
Einzelnen  wie  des  Staates.  Dass  Sokrates  aber  ein  ganz  bestimmtes  Ziel 
vor  Augen  hat,  offenbart  sich  aufs  deutlichste.  Die  hauptsächlich  von 
Grote  vertretene  Meinung,  der  platonische  Sokrates  fingiere  seine  Un- 
wissenheit gar  nicht,  sondern  suche  wirklich,  was  ihm  selbst  noch  nicht 
klar  sei  (p.  325),  die  Überweg  (S.  103)  mit  dem  Hinweis  auf  „die  Vir- 
tuosität der  Gesprächsleitung"  bekämpft,  findet  hier  ihre  volle  Widerlegung. 

Schon  der  Ausdruck  Iy.eIvo  %o  näyr.aXov  egyov  in  der  Frage  deutet 
darauf  hin,  dass  ihm  etwas  Bestimmtes  vorschwebt,  und  mit  klaren  Worten 
ist  es  gesagt  in  der  Erwiderung  auf  den  Seitensprung,  durch  den  Euthy- 
phron die  Untersuchung  kurz  vor  ihrem  Ziele  unterbricht:  ^H  Ttolv  fxoi 
öia  ßgaxvTigwv,  tu  Evd-.,  el  eßovlov,  elrceq  av  to  x€g)d?Mtov  wv  '^gcoTüiv, 


444  Eenst  Wagnbe 

und  weiter:  rvv  hceiörj  kjt  avT(p  r^ad-a,  aTtergoTtov  o  ei  aTceAQcvo), 
ixavwg  av  rör]  ^taga  oov  trjv  ooiorrjxa  i(.ief.iad-rf/,Yi.  Dass  dieser  ihm  die 
Antwort  schuldig  bleibt,  kann  sich  Sokrates  nur  durch  Mangel  an  gutem 
Willen  erklären:  aXXa  yag  ov  TVQo&v^og  f.ie  et  didd^ai,  öfjXog  d.  Ist  das 
nicht  ein  deutlicher  Hinweis  darauf,  dass  hier  von  dem  denkenden  Leser 
die  Ergänzung  des  Fehlenden  erwartet  wird,  wenigstens  von  einem  Leser, 
dem  es  ernstlich  darum  zu  thun  ist,  zur  Klarheit  zu  kommen?  Schleier- 
macher (I2  S.  285,  Anmerkung  zu  Euth.  S.  55,  Z.  41)  findet  hier  „den  ein- 
zigen Wink  fast,  der  einen  aufmerksamen  Leser  zu  einer  Erklärung  der 
Frömmigkeit  in  dem  Sinne  des  Piaton  hinführen  könnte".  Welche  Fas- 
sung er  derselben  geben  würde,  darüber  äussert  er  sich  nicht.  Eine 
grosse  Zahl  von  Erklärern  erkennt  dagegen  hier  mit  Bestimmtheit  den 
Schlüssel  zu  dem  gesuchten  positiven  Resultat  und  versucht  demgemäss 
die  fehlende  Antwort  zu  geben.  Munk  (S.  455),  dem  sich  Schnitze  und 
Wohlrab  anschliessen ,  begeht  dabei  den  offenbaren  Fehler,  auf  die  aus- 
weichende Antwort  Euthyphrons  zurückzugehen,  und  erkennt  in  dem  Werke, 
für  dessen  Vollendung  die  Götter  den  Dienst  des  Menschen  in  Anspruch 
nehmen,  die  Erhaltung  des  Staates  und  des  Einzelnen :  owtei  ia  joiavTa 
Tovg  T€  iölovg  o%Y.ovg  'Aal  tcc  yioiva  %wv  Ttolecov  (p.  14b).  Es  ist  ihm 
mit  Recht  eingewendet  worden,  dass  Sokrates,  wenn  das  die  richtige  Ant- 
wort wäre,  keinen  Grund  haben  würde,  mit  Euthyphron  unzufrieden  zu  sein. 
Alle  übrigen  Erklärer,  die  hier  einsetzen,  bezeichnen  mit  geringen  Ab- 
weichungen im  Wortlaut  als  das  Werk  der  Götter  „das  vollkommen  Gut«" 
(Socher,  Yxem,  Bonitz,  Münscher,  Collmann,  Steinhart,  Lechthaler,  Schanz, 
Nusser  u.  s.  w. ;  Arnolds  Ergänzung  „das  Vernunftreich  auf  Erden  (Himmel- 
reich)'^ besagt  im  Grunde  dasselbe,  und  etwas  Ähnliches  doch  auch  die 
älteste,  die  überhaupt  versucht  ist,  von  J.  Fr.  Fischer  (1783):  ad  quod  opus 
dei  ministra?  ad  conversionem  animae).  Sollte  diese  Übereinstimmung 
nicht  dafür  sprechen,  dass  hier  in  der  That  die  Absicht  Piatos  richtig  er- 
kannt und  die  Untersuchung  auch  weit  genug  geführt,  der  Weg  deutlich 
genug  gewiesen  sei? 

Freilicli  schliesst  das  Gespräch  auch  hier  noch  nicht.  Da  Euthyphron 
den  letzten  Schritt  nicht  thun  will,  sieht  Sokrates  sich  genötigt,  ihm  auf 
dem  neuen  Wege,  den  er  einschlägt,  zu  folgen.  Er  knüpft  also  an  die 
Worte  seines  Gegners:  kav  xexagiofiiva  rig  €7iiaTrjTai  toIq  &€olg  leyeiv 
T€  xal  Ttgarretv  ev^onevög  re  xat  d^vwv  an  und  schlägt  eine  neue  Defi- 
nition der  Frömmigkeit  vor  mit  den  Worten:  xi  61]  av  Uysig  t6  oolov 
elvai  '/.OL  T^v  6Gi6Ti]Ta;  ovxl  STCtOTi^firjv  tlvcc  rov  d^veiv  t€  xal  evxso&at; 
Da  jener  sie  gelten  lässt,  so  geht  es  sofort  an  die  Prüfung  der  Ausdrücke, 
Opfer  und  Gebet,  wofür  die  allgemeineren,  dooig  und  akr^aig,  eingesetzt 


über  Piatos  Euthyphron,  zur  Frage  seiner  Echtheit  und  zu  seiner  Erklärung.  445 

werden.  Die  Definition  lautet  also  jetzt:  eTviOTrjfxr]  aga  ain^Gecog  zai 
öoaews  d^eolg  ooioTrjg  av  eli].  Weiter  wird  dann  untersucht,  welcher 
Gaben  der  Mensch  von  Seiten  der  Götter  bedürfe,  und  wessen  die  Götter 
wiederum  von  den  Menschen,  und  so  würde  die  Frömmigkeit  also  eine 
Kunst  des  Handelsverkehrs,  efiTtoQcyiij  lix^rj,  zwischen  beiden  Teilen  sein. 
Da  es  nun  klar  sei,  so  schliesst  Sokrates  weiter,  dass  der  Mensch  von 
den  Göttern  alles  Gute  zu  erbitten  habe,  so  bleibe  nur  noch  zu  erforschen, 
welcher  Art  die  Gaben  seien,  die  er  den  Göttern  schulde,  damit  diese  nicht 
im  Nachteil  bei  dem  erwähnten  Handel  bleiben.  Da  Euthyphron  jeden 
materiellen  Nutzen  dabei  ausschliesst  und  die  Opfergaben  der  Menschen 
als  den  Göttern  nicht  nützlich,  sondern  nur  wohlgefällig  bezeichnet,  so 
macht  Sokrates  ihn  darauf  aufmerksam,  dass  er  damit  wiederum  bei  seiner 
zweiten,  anerkanntermassen  verfehlten  Definition  angelangt  sei.  Gegen- 
über der  Aufforderung,  die  Untersuchung  unermüdlich  aufs  neue  zu  be- 
ginnen, schützt  er  eine  dringende  Abhaltung  vor  und  entzieht  sich  wei- 
teren Fragen  durch  eine  förmliche  Flucht. 

Die  meisten  Erklärer  sehen  in  dieser  vierten  Definition  einen  Rück- 
fall des  Euthyphron  in  die  landläufige,  rein  äusserliche  Vorstellung  von 
der  Frömmigkeit.  Sie  meinen,  Sokrates  gehe  darauf  ein,  um  die  einge- 
bildete Weisheit  des  selbstgefälligen  Frömmlers  immer  rettungsloser  zu 
blamieren.  Wenn  das  richtig  wäre,  wenn  der  Dialog,  nachdem  zwei  ver- 
fehlte Versuche  des  Gegners  abgewiesen  und  mit  dem  dritten  Ansatz  die 
Wahrheit  erfasst  ist,  nun  wirklich  wieder  zur  Kritik  des  Unrichtigen  zu- 
rückkehrte, so  würde  er  in  der  That  schon  um  seiner  schlechten  Dispo- 
sition willen  eines  Plato  nicht  würdig  sein.  Dem  ist  aber  durchaus  nicht 
so,  sondern  den  beiden  verfehlten  Definitionen  des  ersten,  negativen  Teiles 
entsprechen  genau  zwei  ernsthaft  gemeinte  und  durchaus  positive  Ansätze 
zur  Bestimmung  des  gesuchten  Begriffes  im  zweiten.  Zuerst  hat  Hermann 
erinnert,  dass  die  Definition  einer  Tugend  als  krcLOTri^r]  doch  zu  echt 
sokratisch  sei,  als  dass  sie  nur  ironisch  gemeint  sein  könne.  Er  bezeichnet 
sie  vielmehr  als  die  endgültig  festgestellte  Begriffsbestimmung.  Ihm  folgen 
darin  nur  Susemihl  und  Rieser.  Die  Frömmigkeit  würde  danach  also  in 
dem  Wissen  bestehen,  was  der  Mensch  von  den  Göttern  erbitten  solle, 
und  was  er  ihnen  seinerseits  darzubringen  habe.  Natürlich  entsteht  auch 
hier  wiederum  die  Frage,  was  denn  dies  nun  sein  kann,  und  wenn  Schanz 
mit  vollem  Rechte  in  den  hier  gesprochenen  Worten:  ovöev  rj^lv  botlv 
ayad-ov,  oTt  av  fj.rj  ty.elvoi  ötoocv  (p.  14e)  einen  Fingerzeig  schon  für 
die  Ergänzung  jener  dritten  Definition  findet,  so  ergiebt  sie  sich  hier,  wo 
sie  stehen,  aus  ihnen  noch  ungezwungener  für  die  vierte.  Gegenstand 
des  rechten  Gebetes,  wie  des  rechten  Opfers  kann  und  darf  nur  das  Gute 


446  Ebkst  Wagnbb 

sein/)  Der  Nachweis,  dass  dieser  Gedanke  durchaus  sokratisch  und  platonisch 
ist,  braucht  hier  nicht  geführt  zu  werden,  er  ergiebt  sich  aus  allen  Äusse- 
rungen des  Sokrates  über  Opfer  und  Gebet,  die  Plato  und  Xenophon  uns 
überliefern  (vgl.  die  bei  Rieser  und  Lechthaler  gesammelten  Stellen). 

Verfehlt  ist  es  nun  freilich,  wenn  Hermann  (S.  640,  Anm.  409)  in  ein- 
seitiger Betonung  seines  Standpunktes  wiederum  die  dritte  Definition  ver- 
werfen will,  weil  ihr  „die  rechte  Reduktion  auf  den  Oberbegriff  der  Ge- 
rechtigkeit" abgehe.  Sie  kann  schon  um  der  erwähnten  Hervorhebung 
willen,  die  Plato  ihr  zu  teil  werden  lässt,  nicht  anders  als  ernstlich  ge- 
meint sein.  Susemihl  lässt  beide  Bestimmungen  des  Begriffes  der  Fröm- 
migkeit gelten  und  findet,  dass  die  vorliegende  letzte  eine  unentbehrliche 
Ergänzung  zu  jener  dritten  enthalte,  insofern  sie  zu  dem  Willen  {öixaio- 
Gvvrj)  das  Wissen  {e7tcGTrif.ir])  füge,  ohne  welches  die  Frömmigkeit  unmög- 
lich sei.  Ob  das  platonisch  ist,  erscheint  zum  mindesten  fraglich,  da 
Plato  dem  Willen  wie  überhaupt,  so  auch  in  der  Gerechtigkeit  neben  dem 
Wissen  keine  Bedeutung  beimisst,  sondern  ihn  als  selbstverständlich  vor- 
aussetzt. 

Lassen  wir  das  Verhältnis  der  beiden  Definitionen  zu  einander  zu- 
nächst einmal  dahingestellt,  so  bleibt,  wenn  sie  als  richtig  ergänzt  und 
positiv  anerkannt  werden,  immer  noch  eine  Schwierigkeit  übrig,  für  die 
auch  die  Erklärer,  denen  wir  so  weit  zustimmten,  Hermann,  Susemihl  und 
Rieser,  keine  Lösung  finden.  Es  scheint  nämlich  bei  der  Prüfung  jener 
letzten  Begriffsbestimmung  zunächst  nicht  Euthyphron  zu  sein,  der  einen 
vollkommen  befriedigenden  Abschluss  der  ganzen  Untersuchung  unmög- 
lich macht,  sondern  Sokrates  selbst.  Hermann  geht  auf  die  Frage,  was 
dieser  denn  nun  weiter  beabsichtige  und  erreiche,  gar  nicht  ein.  Suse- 
mihl und  Rieser  fassen  den  Schluss  des  Gespräches,  ähnlich  wie  ein  grosser 
Teil  der  übrigen  Erklärer,  so  auf,  als  ob  Sokrates  den  Euthyphron  absicht- 
lich auf  eine  falsche  Bahn  leite,  wonach  die  Opfer  den  Göttern  in  gewinn- 
süchtiger Absicht  dargebracht  würden,  so  dass  der  Verkehr  mit  ihnen  als 
eine  Art  von  Handelsgeschäft  oder  sogar  als  ein  Bestechungsversuch  er- 
scheine. Es  ist  wirklich  schwer  zu  sagen,  was  für  einen  Zweck  ein  solches 
Verfahren  am  Schlüsse  einer  Untersuchung  haben  sollte,  die  soeben  bei- 
nahe bis  ans  Ziel  geführt  war.  Sollten  die  unklaren  und  durch  Aber- 
glauben getrübten  Vorstellungen  der  Menge  dadurch  schliesslich  noch 
widerlegt  oder  lächerlich  gemacht  werden,  so  ist  kaum  zu  bestreiten,  dass 
der  Versuch  dazu  als  recht  ungeschickt  und  missglückt  betrachtet  werden 
muss.    Die  Entartungen  des  Volksglaubens  sind  kaum  gestreift,  und  über- 

1)  Fischer  ergänzt  a.  a.  0.  Quid  deo  dat?  se  ipsum  etc.  —  dat  iiaturam  suam 
Ideae  participem. 


über  Piatos  Euthyphron,  zur  Frage  seiner  Echtheit  und  zu  seiner  Erklärung.  447 

dies  erscheint  Euthyphroa,  wie  bereits  bemerkt,  als  ein  sehr  wenig  geeig- 
neter Vertreter  der  Menge,  die  ihn  verlacht,  und  über  die  er  sich  weit 
erhaben  dünkt  Zudem  ist  es  ganz  mit  Recht  unpassend  gefunden  worden 
(Josef  Wagner),  wenn  dem  Sokrates  in  seiner  ernsten  Lage  ein  solches 
Benehmen  angedichtet  werde  gegenüber  einem  Manne,  der  ihm  freund- 
liche Gesinnung  und  warme  Teilnahme  für  sein  Geschick  bewiesen  habe. 
Man  vergleiche  die  Worte,  mit  denen  er  das  Unternehmen  des  Meletos 
verurteilt  (p.  3  a) :  areyvojg  (xol  öoxei  acp  '^Eoriag  aQ^ead-ai  -AcrAOvQyelv 
TTjv  TtolLv,  euiyßiQwv  aSixelv  d^,  und  man  wird  beleidigt  sein  von  der 
Vorstellung,  dass  Sokrates  denselben  Mann,  der  so  gesprochen,  durch  Hohn 
und  Spott  von  sich  treibe. 

Aber  geschieht  denn  das  wirklich?  Anlass  zu  dieser  Auffassung  bieten 
offenbar  nur  zwei  Worte,  die  aber  im  Munde  des  Sokrates  wohl  gar  keinen 
höhnischen  Sinn  haben,  nämlich  die  Bezeichnung  der  Frömmigkeit  als 
einer  IfiTtogr/Jj  Tsxvrj  und  die  Erwähnung  des  Vorteils,  der  in  diesem 
Handel  auf  Seiten  der  Menschen  zu  sein  scheine :  rj  tooovtov  avtwv  Ttkso- 
vs'/,Tov(.iev  xaTo.  trjv  if^iTtoglav  — ;  Es  ist  unzweifelhaft,  dass  das  blosse 
Wort  Handel  bei  uns,  wo  ethische  Begriffe  in  Frage  kommen,  ganz  von 
selbst  einen  sehr  unedlen  Nebensinn  annimmt.  Dürfen  wir  das  aber  ohne 
weiteres  auch  für  das  Griechische  voraussetzen?')  Das  Wort  £f.i7toQla  ver- 
einigt in  seiner  Grundbedeutung  zunächst  nur  die  Begriffe  der  Einfuhr 
und  Ausfuhr  und  bietet  sich  daher  ganz  passend  dar  zur  sinnbildlichen 
Bezeichnung  für  die  Kunst  des  oQd-wg  ahelv  und  oQd-cug  öMvai,  inso- 
fern es  dabei  auf  die  Überlegung  ankommt,  welche  Bedürfnisse  auf  der 
einen,  wie  auf  der  anderen  Seite  vorhanden  sind;  denn  auch  der  Rheder 
muss  für  sein  Schiff  auf  passende  Fracht  zur  Ausfahrt  wie  zur  Heimkehr 
bedacht  sein.  An  der  ganz  ähnlichen  Stelle  Politicus  p.  290  c :  t6  twv 
legcüv  yevog,  wg  tö  vofiijuov  q)r]ol,  7taQa  (.lev  rjftwv  öioQ€ag  &€olg  öia 
■d-vOLüJv  BTCLOtiifÄov  koTL  xttTa  vovv  ezslvoLg  SwQelGd-ai,  TtaQcc  ök  ixelvcjv 
tjfxlv  evxcclg  kt^olv  aya&wv  ahijoaa&ai,  liegt  jene  ironische  Missbilligung 
fern,  und  das  Bild  von  der  ef-mogla  nötigt  uns  noch  nicht,  hier  eine  solche 
anzunehmen.    Natürlich  ist  es  des  hohen  Gegenstandes  nicht  würdig,  weil 


1)  Die  Schwierigkeit,  sich  des  modernen  Standpunktes  zu  entäussern,  führt 
gerkde  bei  religiösen  und  ethischen  Fragen  leicht  auf  Abwege.  So  bemerkt 
A.  Fouill6e  (La  philosophie  de  Piaton.  Tome  IL  Paris  1888  p.  216):  Piaton  dit  dans 
l'Euth. :  il  y  a  une  saintetö  qui  r(5sulte  de  la  nature  essentielle  des  choses,  une  Id^e 
de  la  saintetö  sup^rieure  aux  r^ligions  et  qui  les  juge,  les  condamne  ou  les  absout, 
loin  d'etre  jugee  par  elles.  Der  Gedanke,  dass  von  dem  Begriff  des  Heiligen  aus 
die  Berechtigung  verschiedener  Religionen  zu  beurteilen  sei,  ist  offenbar  ganz 
ungriechisch  und  rein  modern.  Der  Grieche  kennt  eine  Vielheit  von  Göttern,  die 
Vorstellung  einer  Vielheit  von  Religionen  ist  ihm  fremd. 


448  Ebnst  Wagneb 

es  einer  wenn  nicht  niedrigen,  so  doch  allzu  nüchternen  Sphäre  angehört, 
aber  wir  sollten  es  doch  von  Sokrates  gewöhnt  sein,  dass  seine  Reden  so 
„verkleidet"  sind  {toiavTa  y.al  ovoixaxa  zai  grifuara  7teQLay,7tiyovtaL  Symp. 
p.  221  e).  Euthyphron  findet  daher  den  Ausdruck  zwar  wunderlich,  aber 
nicht  anstössig ;  er  will  ihn  zulassen,  wenn  es  denn  dem  Sokrates  so  lieber 
sei.  Die  Antwort,  die  er  erhält:  aX)^  ovöev  rjdiov  t^oiye,  d  firj  Tvyxavei 
aXrj&eg  ov,  beweist  ebenfalls  deutlich,  dass  es  diesem  auf  eine  ernst  ge- 
meinte Untersuchung  ankommt,  nicht  darauf,  seinen  Partner  aufs  Glatteis 
zu  führen.  Yon  unsittlicher  Gewinnsucht  und  Eigennutz  im  Gottesdienst 
ist  dabei  gar  nicht  die  Rede.  Erst  als  Euthyphron  keinen  Nutzen  zu  nennen 
weiss,  der  den  Göttern  aus  den  Gaben  der  Menschen  erwachse,  fragt 
Sokrates  verwundert,  ob  denn  die  Menschheit  bei  diesem  Austausch  so 
weit  im  Vorteil  sei,  dass  sie  von  den  Göttern  alles  Gute  erlange,  jene 
aber  von  ihr  nichts.  Eine  ironische  Absicht  liegt  auch  hier  nicht  vor,  es 
wird  nur  darauf  hingewiesen,  dass  die  Götter  allerdings  eine  (hcpelia  — 
der  Ausdruck  muss  vorläufig  unübersetzt  bleiben  —  von  Seiten  der  Men- 
schen erwarten. 

Welches  ist  denn  nun  aber  der  Zweck  dieser  letzten,  auf  die  vierte 
Definition  noch  folgenden  Erörterung  zwischen  Sokrates  und  Euthyphron?  ^) 
Es  kann  doch  nur  der  sein,  die  Untersuchung  nach  dem  Seitensprunge, 
den  der  letztere  verschuldet,  wieder  auf  den  Punkt  zu  führen,  wo  sie  — 
ihrem  Ziele  schon  ganz  nahe  —  unterbrochen  wurde,  oder  mit  anderen 
Worten,  zwischen  den  beiden  gefundenen  Definitionen  eine  Einheit  her- 
zustellen. Dass  Sokrates  auf  dem  Wege  dazu  ist,  ofi'enbart  sich  ganz 
deutlich  gleich  durch  seine  erste  Frage:  Tig  avzr^  rj  vTtr^qeoia  eorl  tolg 
S^eolg;  alrelv  tb  g)j]g  avzovg  v.al  diöovai  exelvocg;  (p.  14  d).  Der  Aus- 
druck v7irjQ€ola,  Dienstbarkeit,  für  das  Bitten  und  Geben  müsste  aufs 
Höchste  befremden,  wenn  wir  nicht  wüssten,  dass  damit  an  jene  d^ega- 
Tceia  v7vr]Q6Tr/,7],  deren  Zweck  noch  zu  bestimmen  blieb,  unmittelbar  wieder 
angeknüpft  wird.  Zugleich  wird  aber  das  Ziel  der  Untersuchung  hier 
schon  angedeutet;  denn  wenn  Euthyphron  zunächst  gedankenlos  zugiebt, 

1)  Eine  positive  Absicht  darin  zu  erkennen  hat  nur  Sumann  versucht,  dessen 
oben  citierter  „Beitrag  zur  Erklärung  des  Platonischen  Dialogs  Euthyphron*'  erst 
nach  dem  Abschluss  obiger  Untersuchung  veröffentlicht  ist.  Er  glaubt  in  der  letzten 
Frage  des  Sokrates:  xexccQiafievov  äga  eaxiv,  (o  Ev&.,  tb  oaiov,  d)X  ovyl  wife/ui-iov 
ovöh  (plXov  Tolq  ^eolg;  (p.  15  b)  dessen  wahre  Meinung  zu  erkennen  und  will  unter 
XccQig  und  xsxccQiaßsvov  soviel  wie  Huldigung  verstanden  wissen.  Das  Resultat  wird 
(S.  692)  folgendermassen  formuliert:  „Die  Frömmigkeit  ist  die  Huldigungsbezeugung 
gegen  die  Gottheit  als  ein  ethisch  vollkommenes  Wesen."  Daran  knüpft  sich  die 
Begründung :  der  Gedanke  erinnere  an  die  christlichen  Sätze :  Liebe  Gott  über  alles 
und  halte  seine  Gebote,  er  sei  demnach  (sie!)  Piatos  würdig  und  er  liege  in  den 
Worten  xE'/aQioixhov  aga.  zb  oaiov.  Einer  Widerlegung  bedarf  diese  Logik  wohl  nicht. 


über  Piatos  Euthyphron,  zur  Frage  seiner  Echtheit  und  zu  seiner  Erklärung.  449 

dass  der  Dienst,  den  der  Mensch  den  Göttern  schuldet,  ein  Bitten  und 
Geben  sei,  so  wird,  wenn  dieser  Satz  richtig  sein  soll,  doch  wohl  auch 
die  Umkehrung  zutreffen  müssen,  dass  die  rechte  Gabe  in  thätiger 
Dienstleistung  zu  suchen  sei.  Die  folgenden  Fragen  des  Sokrates  be- 
mühen sich  demgemäss  auch  nur  darum,  festzustellen,  was  für  Gaben  die 
Götter  von  den  Menschen  erwarten,  und  führen  mit  Notwendigkeit  dahin, 
dass  aus  denselben  eine  d}q)eUa  hervorgehen  müsse/)  Ganz  ähnlich  wie 
auf  dem  Wege  zur  dritten  Definition  (p.  1 3  b  c  d  e)  festgestellt  wurde,  dass 
die  ^egaTiela  nicht  eine  Pflege  sei,  um  die  Götter  besser  zu  machen,  wie 
die  Rinder  und  Hunde  und  Pferde  durch  Pflege  besser  wurden,  sondern 
dass  sie  der  Dienstleistung  eines  Sklaven  zur  Hervorbringung  eines  Werkes 
gleiche,  so  würde  auch  hier  locpella  nicht  Nutzen  im  gewöhnlichen  Sinne, 
sondern  Beistand  bedeuten.  Der  Tauschverkehr  {kf^mogla)  zwischen  Göttern 
und  Menschen  würde  damit  auf  das  treffendere  Bild  von  der  Dienstleistung 
(vTCTjQeola)  wieder  zurückgeführt  sein.  Was  Euthyphron  in  Übereinstim- 
mung mit  dem  Volksglauben  für  das  eigentliche  Wesen  des  Opfers  an- 
sieht :  TLi^T]  TB  xal  ysQag  xal  /«(Jig,  verwarfen  ja  bekanntlich  auch  Sokrates 
und  Plato  nicht,  allein  es  genügte  ihnen  nicht,  und  darum  ist  Sokrates 
mit  dieser  Antwort  Euthyphrons  nicht  zufrieden.  Sie  vereitelt  die  Mög- 
lichkeit, die  vierte  Definition  mit  der  dritten  in  Übereinstimmung  zu  bringen, 
und  führt  statt  dessen  auf  die  längst  überwundene  zweite  zurück. 

Sehen  wir  also  Sokrates,  ohne  Ironie  und  Polemik,  bis  zum  Schlüsse 
ernstlich  bemüht,  der  aufgeworfenen  Frage  auf  den  Grund  zu  kommen, 
so  bliebe  immer  noch  eine  Erklärung  dafür  zu  suchen,  zu  welchem  Zwecke 
der  Verfasser  unseres  Dialoges,  anstatt  bei  der  einmal  gewonnenen  Defi- 
nition zu  verbleiben,  durch  eine  unvermittelte  Seitenwendung  noch  eine 
weitere  aufstellt,  so  dass  es  erneuter  Bemühungen  bedarf,  um  beide  zu 
vereinen.  Offenbar  ist  sie  überflüssig,  wenn  sie  nicht  etwas  Neues  bringt, 
was  aus  jener  anderen  nicht  ohne  Weiteres  zu  gewinnen  war.  Nun  zeigt 
sich  bei  einem  Vergleiche  zunächst,  was  merkwürdiger  Weise  bisher  nicht 
beachtet  ist,  dass  der  Begriff,  der  bestinomt  werden  soll,  gar  nicht  einmal 
in  beiden  derselbe  ist.  Das  erste  Mal  hiess  es :  jovto  t6  /nigog  lov  örAaiov 
doKel  eivai  euoeßsg  te  Y.al  ooiov  xtL  (p.  12  e),  und  dann:  tjciozriixrj 
a(ja   ahriGBwg   xai   öooewg  ^€oig   oawTYjg   av  €irj  (p.  14  d)^).     Dort  ist 

1)  Auch  die  kurze  Inhaltsangabe  von  Urban  (a.  a.  0.  S.  7),  die  sonst  der  hier 
dargelegten  Auffassung  am  nächsten  kommt,  weicht  hier  ab :  „Gebet  und  Opfer  kann 
nur  ein  Ehrenpreis  sein,  der  den  Göttern  nicht  nützt,  sondern  nur  wohlgefällig  ist.'' 
Das  ist  aber  Euthyphrons  Standpunkt,  nicht  der  des  Sokrates. 

2)  Beide  Definitionen  nebeneinander  finden  wir  übrigens  bei  Cicero  citiert,  de 
nat.  deorum  141,  116:  est  pietas  iustitia  adversum  deos  —  sanctitas  scientia  colen- 
dorum  deorum,  wo  pietas  doch  wohl  das  platonische  evaeßeq  ze  xul  oaiov,  sanctitas 

29 


460  Ebnst  Wagnee 

also  der  objektive  Begriff  des  Frommen  {ooiov)  definiert,  der  auf  ein 
Wissen  zurückgeführt,  aber  unmöglich  selbst  als  ein  solches  bezeichnet 
werden  kann,  während  hier  die  subjektive  Eigenschaft  der  Frömmigkeit 
{oaLOTrjg)  erklärt  wird,  die  wiederum  in  die  erste  Definition  nicht  hinein- 
passt.  Es  kann  wohl  der  Begriff  des  oglov,  der  alle  frommen  Handlungen 
einschliesst,  als  ein  Teil  des  öUaiov  bezeichnet  werden,  nicht  aber  jene 
Beschaffenheit  der  oGioTVjg  als  ein  Teil  der  ör^awovw^,  da  sie  doch  die- 
selbe und  nur  eine  bleibt,  ob  sie  sich  den  Mitmenschen  oder  der  Gott- 
heit gegenüber  äussern  mag.  So  wird  ja  auch  im  Protagoras  festgestellt, 
dass  beide  Tugenden  eins  sind. 

Aber  auch  abgesehen  davon  braucht  man  nur  beide  Definitionen,  in 
einem  Satze  endgültig  formuliert,  nebeneinander  zu  stellen,  um  zu  er- 
kennen, warum  die  neu  gewonnene  neben  der  älteren  nicht  überflüssig  ist : 

I.  Das  Fromme  ist  derjenige  Teil  des  Gerechten,  der  sich  auf  das 
Dienstverhältnis  der  Menschen  zu  den  Göttern  bezieht,  dessen  Zweck  die 
Verwirklichung  des  Guten  ist. 

IL  Die  Frömmigkeit  ist  die  Erkenntnis,  dass  der  Mensch  die  Götter 
[nur]  um  das  Gute  bitten  und  ihnen  das  Gute  darbringen  soll. 

Die  letztere  Fassung  ist  nicht  nur  bei  weitem  klarer,  sondern  sie  ist 
auch  weiter,  denn  sie  schliesst  die  rechte  Art  des  Gebetes,  die  kaum  zu 
entbehren  ist,  mit  ein,  während  dort  dafür  nicht  Raum  bleibt.  Um  die 
Einheit  völlig  herzustellen,  müsste  man  die  Gerechtigkeit  als  eine  Wissen- 
schaft des  Bittens  (Forderns)  und  Gebens  im  weitesten  Sinne,  also  als  Er- 
kenntnis der  Rechte  und  Pflichten  auffassen. 

Allerdings  sind  ja  nun  diese  Gedanken  in  dem  Gespräche  nicht  aus- 
geführt, sei  es  weil  Plato  sie  eben  nur  anregen  wollte,  sei  es  weil  nach 
der  ganzen  Anlage  desselben  die  Unterhaltung  mit  dem  beschränkten 
Euthyphron  zu  einem  positiven  Resultat  nicht  führen  konnte.  Dass  sie 
aber  im  besten  Einklänge  mit  allem  stehen,  was  wir  von  Piatos  Lehre 
über  das  Verhältnis  der  Menschen  zu  den  Göttern  wissen,  ist  von  den 
zahlreichen  Erklärern  des  Dialoges  zur  Genüge  dargethan,  insbesondere 
ist  mit  Recht  darauf  hingewiesen  (vgl.  Lechthaler  S.  31),  dass  die  Thätig- 
keit  des  frommen  Menschen  im  Dienste  der  Gottheit  mit  offenbarer  Be- 
ziehung auf  den  Euthyphron  in  der  Apologie  geschildert  ist.  Man  lese 
doch  nur,  wie  Munk  es  verlangt  —  für  diese  beiden  platonischen  Werke 
gewiss  mit  Recht  — ,  die  Apologie  unmittelbar  nach  dem  Euthyphron,  und 
man  wird  bei  p.  29  und  30  über  den  Gottesdienst,  wie  Plato  ihn  fordert, 
keinen  Zweifel  mehr  hegen. 

das  einfache  oaiovTjg  wiedergeben  soll.  Nach  Cicero  würde  also  die  erste  Definition 
der  evaißeta  gelten. 


über  Piatos  Euthyphron,  zur  Frage  seiner  Echtheit  und  zu  seiner  Erklärung.  451 

Soviel  über  den  Dialog,  als  ein  Ganzes.  Auf  die  Einwände  gegen 
seine  Echtheit,  die  sich  an  Einzelheiten  knüpfen,  einzugehen,  scheint  nach 
allem,  was  von  seinen  Verteidigern  (Stallbaum,  Bonitz,  Lechthaler  u.  a.) 
zu  ihrer  Widerlegung  gesagt  ist,  nicht  erforderlich.  Nur  drei  Punkte 
seien  berührt,  weil  sie  bisher  noch  nicht  in  das  rechte  Licht  gerückt  zu 
sein  scheinen.  Zunächst  hat  Schaarschmidt  ein  Bedenken  an  die  Zeit 
geknüpft,  in  welche  das  Gespräch  verlegt  ist.  Aus  den  Schlussworten  des 
Theätet,  mit  denen  Sokrates  dieses  Gespräch  abbricht:  Nvv  fikv  ovv 
ccTtavTrjTsov  fioi  eig  TrjV  rov  ßaacXicog  oroav  ctcI  Trjv  rov  MeXritov 
ygacpi^v,  'i]v  f.ie  yeygajtTai'  eud^ev  de,  w  Geoöcjqe,  öevqo  7taXiv  ctTtavTcofisv, 
scheint  ihm  hervorzugehen,  dass  das  Gespräch  mit  Euthyphron,  dessen 
Scene  ja  die  Halle  des  Königs  bildet,  unmittelbar  nach  dem  Theätet  ge- 
führt werde,  also  in  der  Zeit  zwischen  diesem  und  den  beiden  Dialogen, 
welche  die  für  den  nächsten  Tag  verabredeten  Fortsetzungen  enthalten, 
Sophistes  und  Politikus.  Aber  nicht  bloss  der  Euthyphron  fällt  nach  seiner 
Ansicht  in  diese  Zwischenzeit,  sondern  auch  der  Kjatylus,  weil  Sokrates 
dort  (p.  396  e)  am  Morgen  desselben  Tages  mit  Euthyphron  zusammen 
gewesen  und  von  seiner  Weisheit  noch  ganz  erfüllt  zu  sein  behauptet. 
Dass  Plato  in  dieser  Weise  fünf  Gespräche  (Theätet,  Euthyphron,  Kratylus, 
Sophistes  und  Politikus)  auf  zwei  Tage  zusammengedrängt  haben  würde, 
an  denen  Sokrates  noch  dazu  durch  seinen  Prozess  ernstlich  in  Anspruch 
genommen  sein  musste,  hält  Schaarschmidt  für  unmöglich.  Zugegeben 
aber,  dass  das  unwahrscheinlich  ist,  so  lässt  sich  doch  zweierlei  gegen 
seine  Beweisführung  einwenden.  Zunächst  deutet  der  Zusammenhang  der 
betreffenden  Stelle  im  Kratylus  auf  alles  andere  eher,  als  gerade  auf  das 
uns  vorliegende  Gespräch  zwischen  Euthyphron  und  Sokrates,  das  diesen 
unmöglich  begeistern  und  zu  tiefsinnigen  Untersuchungen  über  die  Götter- 
namen anregen  konnte.  Dagegen  erscheinen  die  beiden  Männer  hier  als 
alte  Bekannte,  und  so  liegt  kein  Grund  vor,  die  Stelle  im  Kratylus  gerade 
auf  diese  Begegnung,  in  der  Halle  des  Archon  König,  zu  beziehen.  Dazu 
kommt  aber,  dass  wir  durchaus  auch  nicht  einmal  genötigt  sind,  die  un- 
mittelbare Aufeinanderfolge  des  Theätet  und  des  Euthyphron  gelten  zu 
lassen,  denn  die  Voruntersuchung  {avaY.QLOig)^  zu  welcher  Sokrates  hier 
wie  dort  die  Halle  des  Königs  aufsucht,  kann  eine  ganze  Reihe  von 
Terminen  umfasst  haben,  die  auch  gar  nicht  unmittelbar  aufeinander  zu 
folgen  brauchten.  Für  Klagen  wegen  Mordes  waren  gesetzlich  drei  Termine 
in  drei  aufeinander  folgenden  Monaten  vorgeschrieben  (Meier  und  Schömann, 
Der  attische  Prozess.  Neu  bearb.  v.  Lipsius  S.  903),  und  der  Prozess  des 
Sokrates,  zu  dem  die  drei  Kläger  gewiss  ein  umfangreiches  Material  bei- 
I  brachten,  wird  kaum  besonders  schnelle  Erledigung  gefunden  haben.    So 

I  29* 


452    .  Eehst  Wagnbb 

hindert  uns  nichts,  eine  Frist  von  mehreren  Wochen  zwischen  dem  Euthy- 
phron  und  der  Gruppe  jener  drei  Dialoge  anzunehmen,  und  damit  fällt 
jenes  Bedenken  in  sich  zusammen. 

Ein  anderer  Einwand,  den  J.  Wagner  in  leidenschaftlichem  Tone 
geltend  macht,  richtet  sich  gegen  die  Person  des  Euthyphron  und  seinen  I 
wunderlichen  Prozess.  Es  ist  ja  nicht  zu  leugnen,  dass  Steinhart  (S.  191)  * 
und  andere  Erklärer  stark  übertreiben,  wenn  sie  den  Euthyphron  „unter 
den  gelehrten  Mythologen  oder  Theologen  jener  Zeit  wohl  den  bedeutend- 
sten" nennen,  aber  ebenso  übertrieben  ist  es  wiederum,  wenn  man  aus 
seiner  Bemerkung :  Kai  kixov  ydg  tol,  ozav  tl  leyw  iv  rfj  IxKlrjola  7ceQl 
Twv  -d-elwv,  TtQoXfyüJv  avTolg  ra  fi^lkovra,  xaTayelwOLv  wg  fiacvofievov 
(p.  3  c)  herauslesen  will,  dass  wir  einen  ausgemachten  Narren  vor  uns 
haben,  mit  dem  ein  ernsthaftes  Gespräch  zu  führen  unmöglich  und  eines 
Sokrates  unwürdig  sei.  Auch  seine  Anklage  gegen  den  eigenen  Vater  be- 
ruht zwar  auf  einseitig  übertriebenen  religiösen  Vorstellungen,  ist  aber 
darum  noch  nicht  die  That  eines  Wahnsinnigen.  Es  ist  mit  Recht  von 
Wilamowitz  (Philol.  Untersuchungen  I  219  Anm.)  darauf  aufmerksam  ge- 
macht worden,  dass  Euthyphron  genau  so  handelt,  wie  es  Sokrates  selbst 
im  Gorgias  (p.  480)  ironisch^)  empfiehlt.  Dort  wird  nämlich  auseinander- 
gesetzt: Da  eine  gerechte  Strafe  etwas  Gutes  sei,  so  handele  derjenige 
verkehrt,  der  seine  Gewandtheit  im  Reden  dazu  benutze,  sich  selbst  oder 
Angehörige  vor  einer  Strafe  zu  bewahren ;  vielmehr  müsse  man,  falls  ein- 
mal eine  Schuld  begangen  sei,  alles  daran  setzen,  sich  und  seine  Ange- 
hörigen durch  sühnende  Strafe  von  diesem  grössten  aller  Übel  zu  befreien. 
Statt  also  sich  selbst  und  seine  Freunde  mit  Rednerkniffen  vor  Gericht 
zu  verteidigen,  thue  man  besser,  gegen  sich  und  seinen  Nächsten  im  Falle 
der  Schuld  Klage  zu  erheben.  Es  erscheint  ganz  unzweifelhaft,  dass  der 
eigentümliche  Rechtsfall  des  Euthyphron  zu  dem  Zwecke  erfunden  oder 
benutzt  ist,  um  üblen  Deutungen  jener  Auseinandersetzung  vorzubeugen, 


1)  Wilamowitz  geht  zu  weit,  wenn  er  sagt:  „wo  Sokrates  noch  vorschreibt,  man 
müsse  seine  Verwandten  selber  anklagen".  Es  ist  unverkennbar,  dass  Sokr.  an  jener 
Stelle  nur  den  vermeintlichen  Nutzen  der  Redekunst  ironisiert.  Wollte  man  die 
betreffenden  Worte  als  seine  ernste  Meinung  auffassen,  so  müsste  man  ebenso  gut 
auch  ihre  Umkehrung  ernst  nehmen  (p.  481a),  wo  es  heisst,  man  müsse  seine  Feinde 
von  den  Richtern  fern  halten;  wenn  sie  verklagt  würden,  sie  verteidigen;  wenn  sie 
einen  Raub  begangen  hätten,  dafür  sorgen,  dass  sie  sich  seiner  in  Sicherheit  erfreuen 
könnten,  und  wenn  einer  von  ihnen  eines  todeswürdigen  Verbrechens  sich  schuldig 
gemacht  habe,  darauf  bedacht  sein  oncug  fx?]  ano^avelzai ,  ßahaza  fiev  fx^öänoxe, 
dAA'  a^ävazoQ  eavai  novrjQog  (ov.  Allerdings  wiederholt  er  die  erste  Forderung, 
um  die  es  sich  handelt,  noch  einmal  (p.  507 d)  in  ernstem  Tone,  doch  ist  dort  von 
keiner  gerichtlichen  Klage  die  Rede,  sondern  es  heisst  nur  allgemein:  im&ezsop 
lUxrjV  xal  xolaozeov.  .: 

f 


\ 


über  Piatos  Euthyphron,  zur  Frage  seiner  Echtheit  und  zu  seiner  Erklärung.   453 

ja  vielleicht  Angriffen  zu  begegnen,  die  daraufhin  bereits  gemacht  sein 
mochten.  Euthyphron  handelt  also  zwar  verkehrt,  aber  weder  im  Wahn- 
sinn, noch  in  ruchlosem  Fanatismus,  sondern  er  glaubt  seinem  Vater 
einen  Dienst  mit  der  Anklage  zu  erweisen  (vgl.  p.  4  c.  %oov  yctq  t6  (ÄiaG^a 
ylyvsTaL,  sav  ^vvfjg  lo)  roiomq)  xal  f^ij  ag)oaiolg  aeavtov  te  y.al  sxelvov 

Eine  Verurteilung  des  Vaters  war  auf  den  Thatbestand  hin  wohl 
kaum  zu  erwarten  und  am  allerwenigsten,  wie  viele  Erklärer  übertreibend 
annehmen,  eine  Verurteilung  zum  Tode.  Es  ist  durchaus  wahrscheinlich 
(vgl.  Schleiermacher  S.  39  u.  a.),  dass  die  Anklage  einem  wirklich  vorge- 
kommenen Falle  nachgebildet  ist;  wenn  sie  aber  erfunden  sein  sollte,  so 
hat  Plato  den  Vorgang,  auf  den  sie  sich  gründet,  absichtlich  so  kon- 
struiert, dass  die  Schuld  des  Vaters  so  gering  als  möglich  erscheinen 
sollte.  Das  konstatieren  selbst  die  Gegner  unseres  Dialoges,  indem  sie 
auf  die  Stelle  der  „Gesetze"  (Leges  p.  865)  verweisen,  wo  für  unbeab- 
sichtigte Tötung  eine  mildere  Bestrafung  in  Aussicht  genommen  vrird, 
allein  sie  ziehen  daraus  nicht  den  richtigen  Schluss.  Das  Unrecht,  das 
Euthyphron  begeht,  wächst  nämlich  dadurch  nicht,  sondern  es  wird  im 
Gegenteil  verringert.  Es  würde  in  der  That  eine  ungeheuerliche  Ver- 
irrung  sein,  wenn  es  sich  um  „eine  Anklage  auf  den  Tod"  gegen  den 
eigenen  Vater  handelte,  dagegen  wird  die  Handlungsweise  des  Sohnes  um 
so  begreiflicher,  je  leichter  die  Schuld  und  demgemäss  auch  die  zu  er- 
wartende Strafe  erscheint.  Ohne  Zweifel  würde  auch  durch  ein  freisprechen- 
des Urteil  der  Absicht  Euthyphrons,  die  Blutschuld  zu  sühnen.  Genüge 
geschehen,  aber  allerdings  ist  aus  den  Worten :  ov  te  '/.axa  vovv  aywvcel 
Trjv  öUr]v,  ol(X(XL  de  y.al  iyat  tyjv  e(.iriv  (p.  3  e)  wohl  kaum  zu  entnehmen, 
dass  er  selbst  ein  solches  erwartet^).  Wir  müssen  vielmehr  voraussetzen, 
dass  Euthyphron  auf  die  Verurteilung  seines  Vaters  rechnet.  Aber  welche 
Strafe  stand  diesem  denn  nach  attischem  Kechte  bevor?  Es  ist  verwunder- 
lich, dass  noch  niemand  dieser  Frage  nachgegangen  ist.  „Den  unfrei- 
willigen Totschläger  traf  zeitweilige  Verbannung,  in  die  er  innerhalb  be- 
stimmter Frist  und  auf  bestimmtem  Wege  sich  zu  begeben  hatte.  Die 
Dauer  seiner  Verbannung  lag  in  der  Hand  der  Verwandten  des  Getöteten, 
deren  Verzeihung  {aldeoLo)  zur  Rückkehr  erforderlich  war"  (Meier  und 
Schömann  a.  a.  0.  S.  379.  Vgl.  G.  Busolt,  die  griechischen  Staats-  und 
Rechtsaltertümer.  2.  A.  1892,  S.  273).  Es  würde  sich  also,  wie  es  scheint, 
um  eine  kurze  Reise  ins  Ausland  und  etwa  um  ein  kleines  Geldopfer  an 


1)  Es  ist  unverständlich,  wie  R.  Schnitze  daraus  folgern  kann:  „Wie  Euth. 
die  Verurteilung  des  Sokrates  nicht  erwartet,  so  wünscht  er  auch  die  seines  Vaters 
nicht"  (S.  7  Anm.  3).    Eher  beweisen  sie  das  Gegenteil. 


454  Ebnst  Waoneb 

die  Verwandten  des  verstorbenen  Tagelöhners  gehandelt  haben.  Ist  es 
nun  wirklich  eine  so  ungeheuerliche  Ruchlosigkeit,  wenn  Euthyphron  seinen 
Vater  nötigen  will,  zur  Sühne  seiner  Schuld,  was  das  Gesetz  vorschrieb, 
über  sich  ergehen  zu  lassen? 

Man  wende  nicht  ein,  dass  Euthyphrons  Verfahren  von  seinen  Ver- 
wandten als  avoGiov  bezeichnet  wird,  und  dass  auch  Sokrates  diese 
Auffassung  zu  teilen  geneigt  sei.  Es  widerstrebte  ohne  Zweifel  dem  sitt- 
lichen Gefühle  jener  Zeit,  den  Sohn  überhaupt  als  Ankläger  des  Vaters 
auftreten  zu  sehen,  mochten  die  Folgen  seiu,  welche  sie  wollten,  ebenso 
wie  auch  heute  jeder  Unbefangene  seine  Handlungsweise  für  unnatürlich 
und  verkehrt  erklären  würde.  Sokrates  hat  ganz  recht,  wenn  er  meint, 
der  gewöhnlichen  Auffassung  des  Frommen  und  Heiligen  entspreche  sie 
nicht,  und  es  gehöre  wohl  eine  besondere  Weisheit  auf  diesem  Gebiete 
dazu,  um  ihre  Berechtigung  zu  begreifen.  Führen  wir  aber  die  Schwere 
der  Klage  auf  ihr  richtiges  Mass  zurück,  so  fallen  damit  auch  alle  Be- 
denken, die  Schaarschmidt  und  Josef  Wagner  daran  knüpfen.  Wir  brau- 
chen dann  an  dem  heiter  scherzenden  Ton  des  Gespräches  keinen  Anstoss 
zu  nehmen  und  haben  kein  Recht,  ihn  frivol  zu  nennen*).  Es  ist  auch 
durchaus  nicht  so  unbegreiflich,  dass  Sokrates  nicht  ernsthafter  bemüht 
ist,  das  Vorhaben  des  verblendeten  Frömmlers  zu  bekämpfen,  sondern  es 
genügt  vollkommen,  wenn  in  seine  anmassende  Überzeugung,  allein  auf 
dem  rechten  Wege  zu  sein,  Bresche  gelegt  wird.  Sie  ist  das  eigentliche 
Übel,  nicht  die  beabsichtigte  Anklage,  an  die  das  Gespräch  anknüpft. 
Nun  findet  Schaarschmidt,  dass  die  Verletzung  der  Kindespflicht,  die 
Euthyphron  sich  zu  Schulden  kommen  lässt,  mit  dem  Unglauben  oder 
Irrglauben,  dessen  Sokrates  angeklagt  ist,  gar  keine  Beziehung  habe,  und 
dass  künstlich  ein  rein  äusserlicher  und  erzwungener  Zusammenhang 
durch  den  mezzo  termine  des  avöoiov  hergestellt  sei,  der  nun  erst  den 
Übergang  zu  dem  Gespräch  über  die  Frömmigkeit  ermögliche.  Lechthaler 
verweist  demgegenüber  darauf,  dass  beides,  die  Pietätlosigkeit  wie  der 
Unglaube,  in  der  That  unter  den  Begriff  des  avooiov  falle,  allein  das 
hatte  Schaarschmidt  gar  nicht  geleugnet,  und  J.  Wagner  hat  ganz  recht, 
wenn  er  diesen  Einwand  nicht  gelten  lässt.    Dagegen  beachten  beide, 


I 


1)  Ein  eigenes  Missgeschick  ist  hier  J.  Wagner  widerfahren.  Man  vergleiche 
seine  beiden  Anmerkungen  S.  31 :  „Gegen  eine  solche  Ansicht  (Susemihl)  hatte  schon 
Hermann  und  zwar  mit  Recht  eingewendet,  dass  zu  viel  philosophischer  Ernst  und 
Bitterkeit  in  unserem  Gespräche  enthalten  sei",  und  S.  44:  „Wenn  Hermann  seine 
Ansicht  damit  zu  motivieren  sucht ,  dass  das  Gespräch  auf  der  einen  Seite  zu  viel 
Ernst  u.  s.  w.  enthalte  —  ,  so  hat  schon  Steinhart  dagegen  bemerkt,  dass  dies 
Urteil  schwerlich  auf  Zustimmung  rechnen  könne,  da  im  Gegenteil  ein  heiter 
scherzender  Ton  darin  herrsche." 


über  Piatos  Euthyphron,  zur  Frage  seiner  Echtheit  und  zu  seiner  Erklärung.  455 

Schaarschmidt  und  Wagner,  nicht,  dass  es  eben  unrichtig  ist,  Euthyphron 
ohne  weiteres  Mangel  an  Kindesliebe  vorzuwerfen;  er  glaubt  vielmehr 
nur,  dass  sie  vor  seiner  vermeintlichen  religiösen  Pflicht  zurücktreten 
müsse.  Der  bemängelte  Mittelbegriff  ist  also  keineswegs  gewaltsam 
herbeigezogen'),  sondern  auf  ihn  gründet  sich  gerade  das  treibende  Motiv 
für  Euthyphrons  Thun,  und  es  ist  nebensächlich,  dass  seine  Verkehrtheit 
sich  in  dem  vorliegenden  konkreten  Falle  gerade  in  einer  Verletzung  der 
Kindespflicht  und  nicht  irgendwie  anders  äussert. 

Endlich  sei  noch  eine  Bemerkung  über  die  vielbesprochene  Stelle 
(p.  5  d)  gestattet,  wo  die  Ideenlehre  Piatos  gestreift  wird:  ij  ov  tavTov 
eOTLv  Iv  Ttaoiß  Tvgd^ec  to  ooiov  avTo  avTc[i,  /mI  to  ccvoglov  av  tov  [xlv 
oöLov  Tiäv  TovvavTtov,  amo  d\  avTCi)  of-iolov  v.ai  e^ov  julav  Tiva  löiav 
xaTcc  TYjv  avoaiOTTjTa  7vav,  o  tL  tceq  av  fxelXr^  avoaiov  elvai;  Überwegs 
Bedenken  gegen  dieselbe  hat  Bonitz  (S.  227)  mit  Recht  zurückgewiesen 
und  den  Ausdruck  fxlav  e^ov  iösav  auf  Menon  (p.  72  c)  h  yi  ii  slöog 
TttVTov  uTtaGac  e^ovoi  {al  ctgeTaL),  sowie  auf  Politikus  (p.  262  b)  alka  %o 
(.i£Qoq  ccfia  eldog  l/cVw,  gestützt.  Nun  hat  freilich  Überweg  in  der 
That  den  Ausdruck  an  sich  gar  nicht  angegriffen,  sondern  nur  behauptet, 
er  könne  zwar  von  Einzeldingen  ausgesagt  werden,  dagegen  passe  er  nicht 
zu  dem  Subjekt  avoaiov,  das  vielmehr  selbst  eine  Idee  sei.  Da  es  sich 
in  beiden  Belegstellen  um  Einzeldinge  handelt,  so  wurden  sie  also  gegen 
Überwegs  Zweifel  nichts  beweisen,  wenn  jenes  Prädikat  hier  wirklich 
von  dem  Begriffe  selbst  ausgesagt  wäre.  Das  ist  aber  gar  nicht  der  Fall, 
sondern  wenn  es  unzweifelhaft  richtig  ist,  dass  das  erste  Prädikat,  avTo 
autc[)  of-wlovy  von  dem  Begriff  gilt,  so  ist  es  ebensowenig  zu  bestreiten, 
dass  das  zweite,  /ulav  rcva  e^ov  iöeav,  sich  nicht  auf  den  Begriff,  sondern 
auf  die  Gesamtheit  aller  einzelnen  unfrommen  Handlungen  bezieht,  denn 
das  gemeinsame  Subjekt,  ib  avooiov,  das  an  sich  beides  bedeutet,  wird 
ja  für  diese  zweite  Hälfte  des  Satzes  ausdrücklich  noch  erklärt  als  nav 
oTL  av  ^ellj]  avoGiov  elvai.  Dass  Sokrates  sich  genötigt  sieht,  diesen 
Zusatz  zu  machen,  darf  als  ein  hübscher  Beleg  für  die  Beobachtung 
Überwegs  betrachtet  werden,  aber  derselbe  Zusatz  entkräftet  zugleich 
die  daraus  gezogenen  Schlüsse. 

1)  Vgl.  übrigens  die  Beobachtung  von  L.  Schmidt  a.  a.  0.  S.  4üO.  Anm.  61: 
„Bemerkenswert  ist,  wie  Herodot  die  Formel  ovx  oaiov,  ebenso  wie  das  Adjectivum 
dvoaioq  gern  auf  die  Verletzung  der  Päichten  gegen  nahe  Anverwandte  bezieht". 
3,19.  3,65.  4,145. 


XXII. 
ünaestio  Thucydidea. 

Scripsit 

Max  Wiesenthal  (Barmen). 

Thucydidis  historias,  quales  quidem  et  ad  nos  pervenerunt  et  iam 
Xenophonti  notae  fuerunt,  fragmentum  tantum  esse  ingentis,  quod  scriptor 
susceperat,  operis,  vel  inde  intellegitur,  quod  in  extremo  libro  octavo  nuUa 
probabili  causa  narrare  desiit.  Praeterea  Thucydides  ipse  satis  indicat,  se 
historiam  totius  belli  Peloponnesiaci  scripsisse  vel  scribere  voluisse;  nam 
hoc  modo  et  antiqui  viri  docti  et  nostratium  plerique  eins  verba  I,  1 : 
GovKvölörjg  lä&rjvalog  ^vv eyqaipe  tov  Ttoke^ov  rwv  IleXoTCOvvrjaliüv 
y.al  ^d^rjvaUüv  wg  eTtoXefnqaav  Ttqbg  alXTqlovg  atque  V,  26 :  yeygaqe  de 
Kai  TavTa  6  ambg  Qovxvöiörig  lAd^rjvaiog  e^^g,  cug  ezaGTa  eyivero  inter- 
pretari  solebant.  Ab  eorum  sententia  nuper  dissedit  H.  Müller- Strübing 
(Thukyd.  Forschungen,  Wien  1881,  p.  73  sqq.),  cum  ipsius  Thucydidis  verbis 
nisus,  quin  Thucydides  opus  suum  perfecerit,  non  dubitandum  esse  putaret 
Qua  in  re  A.  Ludwigium  Prahensem  (Fleckeisen,  ann.  1867  (95),  p.  152.  cf. 
M.-Str.  1. 1.  p.  259)  secutus  est,  qui  e  perfecto  yey^acpe  collegit,  opus  ad 
finem  perductum  fuisse,  quod  aliter  scriptor  hac  forma  verbi  uti  non  po- 
tuisset.  Eiusmodi  enim  prooemia,  ait,  tum  demum  componi  consentaneum 
esse,  cum  opus  aut  perfectum  sit  aut  in  eo  sit,  ut  perficiatur.  Sed  omnino, 
quaeso,  fieri  non  potest,  ut  scriptor  exordium  scribat,  cum  magna  quidem 
pars  historiae  nondum  satis  eleganter  composita,  sed  silva  rerum  compa- 
rata  dispositaque  finis  operis  quasi  in  conspectu  est?  Nonne  illum  ad  locos 
insignes  perpoliendos  horae  et  Musae  favore  uti  verisimillimum  est?  Cui 
hie  non  in  mentem  veniat  notissimae  tragicorum  nostrorum  rationis,  qua 
eos  fabulas  non  ex  ordine  scenarum,  sed  delectu  habito  conscripsisse  con- 
stat.  Quodsi  simili  ratione  Thucydidem  usum  esse  existimabis,  nonne 
facile  cogitari  potest,  eum  pro  ygaipet  anticipando  dixisse  yiygacpe  vel  '^wi- 
yQaxpe  Qovxvdldr]g?  Nihil  enim  ad  hanc  quaestionem  interest,  utrum  loco 
laudato  perfectum  an  aoristum  habeamus,  quippe  quod  in  aoristo  quoque 
tempore  inest  vis  anticipandi  cf.  Thuc.  biogr.  anon.  §  8,  W.  Röscher,  Leben, 


Quaestio  Thacydidea.  457 

Werk  u.  Zeitalter  des  Thuk.  p.  354, 1.  Rarior  sane  faerit  in  libris  Msto- 
ricis  anticipatio,  quae  eadem  in  epistulis  usitatissima  erat:  num  idcirco 
rerum  scriptor  ea  figura  uti  non  debuit,  quod  propter  rerum  humanarum 
inconstantiam  ei  verendum  erat,  ne  vates  evaderet  falsus?  Quis  vero  contra 
e  Sallustii,  Livii,  al.  verbis:  „bellum  scripturus  sum"  vel  e  nostratium 
praefationibus,  si  invenerit  verba:  „es  soll  dargestellt  werden",  coUigat, 
haec  verba  scripta  esse,  priusquam  auctor  res  gestas  narrare  coeperit? 
E  perfecto  yiyQacpe  igitur  opus  Thucydideum  confectum  et  absolutum  fuisse 
non  colligendum  est;  nam  plane  aliam  vim  habet  ye^Qacpe  de  xal  ravza 
o  avTog  OovyivölÖTjg  i.  e.  huius  quoque  partis  scriptor  idem  est  Thucy- 
dides,  atque  illud  quod  paulo  supra  V,  24  extr.  invenimus  perfectum 
yeygaTtTai  i.  e.  narratio  ad  finem  perducta  est.  yeygaTCTac  enim  partem 
operis  confectam  esse  docet,  yiyQacpe  öe  Y.ai  Tavra  x.  t.  /.  initio  alterius 
partis  auctorem  eundem  atque  prioris  esse  confirmat,  id  quod  recte  mea 
quidem  sententia  Classenus  statuit/)  Ceterum  omnino  cavendum  est,  ne 
prementes  unius  verbi  formam  talia  coniciamus.  Fundamentum  igitur 
sententiae  Ludwigi  et  Mülleri-Str.  minus  firmum  esse  videtur  neque  habe- 
mus,  cur  perfectum  Thucydidis  opus  unquam  exstitisse  credamus.  Quo- 
modo  enim  partem  extremam  annalium  periisse  putemus?  'Casu  quodam 
tristissimo'  inquit  Ludwigius.  Qui  ille  casus  fuerit,  Müller -Str.  unus 
omnium  mortalium  repperit:  de  industria  eos  libros  deletos,  ereptos  esse 
Thucydidi,  quin  etiam  necatum  esse  illum,  ut  auferri  possent,  quod  scelus 
patravissse  socios  triginta  tyrannorum,  quippe  quorum  permultum  inter- 
esset,  ne  novissimorum  belli  Peloponnesiaci  annorum  historia  in  lucem 
ederetur.  Totum  opus  nimirum  eos  delevisse  praeter  libros  iam  prius 
editos,  sed  casu  benigno  factum  esse,  ut  magnae  annalium  partis  exem- 
plar  nescio  quo  loco  servaretur;  quod  fortasse  in  Scaptensula  relictum 
fuisse  apud  illius  filiam  —  sed  quid  multa?   Credat  ludaeus  Apella! 

At  cum  dicit  opus  Thucydidis  deletum  esse  praeter  partem  iam  antea 
editam,  Müller-Strübing  aliam  de  fatis  annalium  sententiam  indicat,  quae 
aliquam  speciem  verisimilitudinis  prae  se  ferro  videtur.  Primum  eam  in 
medium  protulit  quamvis  argumentis  non  additis  in  doctissima  illa  quam 
de  Pseudo-Xenophontis  libello,  qui  inscribitur  de  Atheniensium  re  publica, 
composuit  dissertatione  [Philol.  Suppl.  IV  (1880),  p.  129J.  Priorem  enim 
belli  Archidamici  a  Thucydide  scripti  editionem  a  nostris  libris  admodum 
diversam  exstitisse  sibi  persuasit,  quam  haud  ita  multo  post  Niciae  pacem 
in  lucem  ille  emisisset.    Tribus  autem  rationibus  huius  modi  coniecturae 


1)  In  edit.  1.  1.  Verba  „wie  das  y^yganrai"  perverse  dicta  esse  a  Classeno 
recte  quidem  Müller- Str.  admonuit,  cetera  autem  explicatio  miro  hoc  viri  docti  errore 
non  labefactatur. 


458  Max  Wiesenthal 

fides  addi  potest:  aut  veterum  scriptorum  testimonia  adhibenda  sunt  aut 
demonstrandum  est,  aequales  vel  posteriores  ea  editione  usos  esse  aut 
vestigia  et  indicia  eins  rei  ex  ipsius  scriptoris  verbis  colligenda  sunt.  Atque 
omnes  quidem  veteres,  cum  tacent,  eam  editionem  nunquam  fuisse  con- 
fitentur.  Quamvis  enim  tot  libris  amissis  cavendum  sit,  ne  temere  e  silentio 
eorum,  qui  ad  nostram  aetatem  pervenerunt,  argumentum  sumamus,  tamen 
fieri  potuisse,  ut  nihil  de  ea  re  nobis  traderetur,  quis  est,  qui  credat? 
Herodoto  soli  igitur  contigit,  ut  prima  historiarum  eins  recitatio  viris  doctis 
memoria  digna  esse  videretur?  Perlegas,  quaeso,  quae  ipse  Mueller-Str. 
in  Fleckeiseni  Ann.  131  (1885),  p.  338  uberrime  atque  optime  dixit  de 
ingenti  admiratione,  quae  tali  opere  sub  pacem  Nicianam  in  lucem  edito 
moveri  debebat:  rem  eam  futuram  fuisse,  ait,  in  Graecorum  litterarum 
historia  celeberrimam,  qualis  inde  a  clarissima  illa  Herodoti  recitatione 
accidisset  nuUa.  Recte  quidem  vir  ille  doctus  id  disseruit,  sed  nescio  an 
eo  magis  inde  colligendum  sit,  non  temere  nee  casu  factum  esse,  ut  ex 
antiquis  scriptoribus  ne  unus  quidem  eins  rei  scientiam  habeat  Itaque, 
quoniam  nihil  de  ea  re  traditum  est,  fingamus  casu  quodam  tristissimo 
omnia  veterum  testimonia  extincta  atque  deleta  esse. 

Deinde  igitur  quaerendum  est,  num  concentus  ille,  qui  intercedit  inter 
locos  aliquot  operis  Thucydidei  et  libelli  de  re  publica  Atheniensium  scripti, 
eiusmodi  sit,  ut  satis  explicari  nequeat,  nisi  statuamus  Pseudo-Xenophontem 
usum  esse  Thucydidis  de  hello  Archidamico  historiis.  lam  licet  locos,  de 
quibus  agitur,  in  unum  componere.  cf.  Phil,  suppl.  IV,  p.  129  adn. 

Thuc.  I,  143,  5  in  oratione  Periclis :  tiJv  t€  olocpvQO iv  fxr]  oixLoiv  xal 

yrjg  Tcoielox^ai. 
R.  A.  n,  14:  yLyvojGxovtsg   otl   el   avrr^v   (sc.  Trjv  IAttl-kyiv  yr^v)  eier- 

oovGtVy  eT€Q(jt}v  ayad^wv  (j.€i^6va)v  oxEQiqoovraL. 
Thuc.  I,  143,  5:  el  (xhv  yaq  i^fiiev  vrjOiWTaij  Tiveg  av  a?.rj7tT6T€QOt 

TjGav; 
R.  A.  IL  14:  ei  yag  v^oov  oixovvTeg  ^aXaTTOxgaTOQeg  i^aav u4&i- 

valoi,  VTciJQxev  av  avrolg  TioLelv  fxev  xaxcJg,  .  .  .  Tidaxeiv  de  fir^öci 

cf.  II,  15. 
Thuc.  I,  81,2  in  oratione  Archidami :  Ix  ^akaaarjg  wv  diovrai  eTta- 

^ovTai. 
R.  A.  n,    6    aq){3ovla    wv    Seovrai    aq)}iKvelTai    tolg    arg    ^akaTTTjg 

CCQXOVOIV, 

Thuc.  II,  13, 2  in  oratione  Periclis :  IleQiyiXijg . .  TcaQjjvei . .  tu  twv  ^vfii^dxcjv 
ölcc  x^t^Qog  exeiv,  kiycov  ttjv  iaxvv  avrolg  dito  TOVTtav  eivai 
Twv  x^^^/warwy  zijg  tvqogoÖov. 


Quaestio  Thucydidea.  459 

Thuc.  III,  39,  8  in  oratione  Cleonis:  rijg  STteira  tcqogoöov,   öl    rjv 

ioxvo(j.sv,  To  XoLTtbv  GteQi^Gea&e, 
Thuc.  in,  46,  3  in  oratione  Diodoti:  Ttjg  tvqoooöov  to   Ioltiov  an 

avTtjg  otegeod-ai'  iaxvofiev  de  Ttqbg  rovg  TtoXsfiLovg  Tojde. 
R.  A.  I,  15   laxvg   eoxLV    ovtyi  ^^rjvalwv,   hav  ol   ovfXfiaxoc  övvaroi 

wGL  xQriiiara  elGcpigeiv. 
Thuc.  n,  64,  5  in  oratione  Periclis:   t6   öe  fiiGslGd-ai  .  .  tccIgi  fihv 

vTtfJQ^e  örj  oGOi  etegoL  irsgwv  rj^icoGav  agx^^^'- 
R.  A.  II,  14:    OTC    fitGEcGd-ac    fiev    avdy/.rj    ibv    agy^ovra   vTto    tov 

ccQxofxevov, 
Thuc.  I,  84,  3  in  oratione  Archidami:    af^ad^ioTegov  tcZv  vofxcov  trjg 

v7t€Qoxplag  Ttatöevofxsvoi, 
Thuc.  III,  37,  3  in  oratione  Cleonis:    afxa^la   (xera  Gwq)QoGvvr]g 

(x)cp€?ufj,WT€Qov  .  .  .  T]  öe^iOTrjg  j^iSTa  ccycokaGlag. 
Thuc.  III,  37,  5  in  oratione  Cleonis:  ot .  .  .  ccfia^eGTsgoi  twv  vo^ojv 

a^iovvueg  elvai  .  .  .  oQ^ovvvai  %a  TileLix). 
R.  A.  I,  7    ri   TOVTOv    ctixad-La    Kai    TtovrjQia    y,a}    avoia  [v.    1.    Evvoia\ 

^äXXov  XvGLxeXel  i]  tj  tov  xQ^^^ov  aQSTrj  ymI  GocpLa  y,al  /.anovoLa. 
Thuc.  III,  47,  1  in  oratione  Diodoti:   vvv  fj,ev  yag  vfilv  6  örjfxog  ev 

TcaGaig  zalg  tvöIbglv  evvovg  Icxt/ cf.  VIII,  9,3.  21,1.  48,5. 
R.  A.  m,  10  TO  xa'AtGTOv  ev  eyiaGxiß  sgtI  7c61€l  euvovv  Tcf  örjfxii) 

(jwv   äd-TqvaiijDv). 
Thuc.  n,  38,  2  in  oratione  Periclis :  iTceGeQx^T^oti  <5£  dia  fxiye^og  Tfjg 

Ttolecog  Ix  TCaGrjg  yrjg  %a  itavta. 
R.  A.  n,  7    (cf.  II,  11)    Tama    Tcävxa   elg   ev   rj&QolGd^ai   öia   ttjv 

ccQx^v  rrjg  d-aXccTtrig. 
Quis  est,  cui  mirum  non  esse  videatur,  omnes  sententias  cum  locis 
Jibelli  de  re  publica  Atheniensium  congruentes  apud  Thucydidem  non  in- 
veniri  nisi  in  orationibus?  Licet  igitur  Pseudo-Xenophontis  illa  ad  verbum 
congruant  cum  Thucydide,  tamen  duabus  aliis  atque  MüUer-Strübing 
censuit  de  causis  id  fieri  potuisse  concedendum  erit.  Etenim  aut  communem 
utrumque  fontem  habuisse  —  orationes  a  Pericle,  Cleone,  ceteris  habitas 
dico  —  aut  Thucydidem  potius  libello  de  Atheniensium  republica,  quem 
ante  cladem  in  Sicilia  acceptam  scriptum  esse  constat,  usum  esse,  prae- 
sertim  cum  consensus  ille  tantum  appareat  in  orationibus,  quas  postre- 
mas  ne  dicam  compositas,  at  in  eam  quam  nunc  praebent  formam  redactas 
esse  satis  verisimile  est.  Quodsi  accuratius  eas  similitudines  considera- 
verimus,  duo  earum  esse  genera  confitebimur,  quorum  alterum  continet 
sententias  universales  vel  locos  communes,  alterum  argumentationis  gratia 
versatur  in  iis  rebus,  quae  illis  temporibus  cum  alibi  tum  Athenis  omni- 


460  Mix   WiaSBNTHAL 

bus  notissimae  fuernnt  velut  opes  Atheniensium  niti  vectigalibus  sociorum 
vel  in  Omnibus  oppidis  populäres  rei  publicae  Atheniensium  fayere,  vel 
Athenienses  navibus  praepotentes  minima  urgeri  agris  devastatis.  Recte 
iudicaveris  talia  argumenta  tum  omnium  oratorum  quasi  in  supellectile 
fuisse.  Prava  igitur  opinio  eins  esse  videtur,  qui  ei  illa  sententiarum 
congruentia  colligat  auctori  illius  libelli,  quisquis  fuit,  Thucydidis  historiam 
belli  Archidamici  in  manibus  fuisse.  At  mirum  esse  dixerit  quispiam, 
quod  omnes  illae  similitudines  ad  priores  tres  annalium  libros  pertineant. 
Minime.  Omnibus  enim,  quos  contuli,  locis  id  agitur,  ut  Atheniensium 
opes  illustrentur,  id  quod  optime  in  principio  belli  describendi  locum  habere 
videtur.  E  posterioribus  libris  sola  Alcibiadis  apud  Lacedaemonios  verba 
VI,  89,  3:  fit  Tig,  ölotl  Kai  itj)  örnxo)  Tcgooexelf^rjv  (xaXXov  xeLqu)  fus 
iv6/iu^€  quodammodo  conveniunt  cum  A.  R.  II,  20:  oong  dk  ^rj  wv  rov 
diq^ov  eiXsTO  ev  ör]jLioyiQaTOvfi€vrj  tzoXev  oiycelv  (.laXkov  rj  ev  oXiyagxot— 
(.ihr)  aöixslv  TtageoKevccaaTo,  sed  haud  scio  an  rectius  inde  colligatur, 
Thucydidem  libelli  de  re  publica  Atheniensium  rationem  habuisse*).  Quam- 
quam  longo  abest,  ut  ego  id  credam,  cum  consensum  illum  sententiarum 
atque  verborum  e  similitudine  rerum  natam  esse  mihi  persuaserim.  Itaque 
satis  demonstrasse  mihi  videor  solis  his  locis  coniecturam  Muelleri-Strue- 
bing  de  priore  Thucydidis  editione  confirmari  non  posse. 

Deinde  Aristophanes  in  Avibus  iocatus  esse  in  Thucydidem  Muellero- 
Struebing  videtur  [Fleckeis.  Ann.  131  (1885)  p.  336  sqq.].  Nonnullos  enim 
locos,  quos  ad  id  tempus  interpretes  omnes  ad  Herodoti  historias 
spectare  putaverant,  ad  illum  revocare  conatus  est.  Sed  ea  sententia 
doctorum  virorum  laudem  vix  ferat,  quoniam  Aristophanes  vv.  552 sq.: 
xccTteiTa  Tov  aiqa  Ttävia  kvyXm  xal  7t äv  tovil  t6  (.lera^u 
TceQLTSL%L^eiv  (xeyaXaLg  nlivd-oig  OTtralg  warteg  BaßvXwva. 
verbis  wOTteg  BaßvXwva  additis  tantum  non  nomine  appellat  Herodotum. 
Quos  versus  Mueller-Str.  comparat  cum  Thucydidis  narratione  de  Plataeis 
fossa  et  muro  a  Peloponnesiis  circumdatis  (Thuc.  11,  78,  1  TcegiSTeixi' 
^ov  Ttjv  TtöXiv  y.vY.Xto  .  .  .  TacpQog  dh  kvTog  le  tjv  Kai  s^tj&ev,  i§  r^g 
kTtlivd-evovTo).  Nimis  creduli  esse  dicit  putare,  rem,  quae  revera 
nunquam  acciderit,  iisdem  ab  utroque  verbis  temere  ac  nulla  ratione 
narratam  esse.  Nam  Plataearum  quoque  circumvallationem  non  ita  factam 
esse,  ut  Thucydides  narrat,  sed  cogitatione  a  scriptore  depictam  esse  sibi 
persuasit.  At  sine  ullo  dubio,  quaeso,  verba  TtXLvi^oi  et  kvkXii)  in  de- 
scribenda  moenium  aedificatione  adhibita  tam  insignia  sunt,  ut  sponte 
utrumque  scriptorem  iis   usum  esse  nullo  modo  credi  possit?     Nonne 

1)  Cf.  Thuc.  VIII,  64, 3.  A.  R.III,  11.  Ipse  Müller-Str.  1.  1.  p.  121  non  dubitat, 
quin  Thucydides  exemplar  orationis,  quam  Phrynichi  esse  arbitratur,  sibi  paraverit. 


Quaestio  Thacydidea.  461 

Muelleri  sententiae  assentiri  etiam  magis  creduli  esset?  Quodsi  hos  versus 
ad  Thucjdidem  pertinere  vix  quisquam  arbitrabitur ,  ceteris  quoque  locis 
Aristophaneis,  quibus  nititur  Mueller-Str.,  Herodotum  derideri,  non  belli 
Peloponnesiaci  scriptorem,  manebit  iudicium.  Num  enim  Aristophanes 
incommodius  quidquam  facere  potuit,  si  Av.  v.  1130: 

To  de  fi^Kog  Igtl,  v-al  yaq  efxiTQiqö    auT    eyoj 

eKaTOVTOQoyvLov 
spectatores  admonere  voluisset,   quomodo  Plataeenses  altitudinem  muri 
hostium  mensi  essent,  cum  apud  Herodotum  11,  127  de  pyramide  inveni- 
rentur  verba  Tauza  yag  wv  y,ai  riy,elg  eiieTQiqöaixev^ 

Quod  attinet  ad  Thuc.  I,  93  verba:  y,al  c^xodofxr^aav  ifj  kxelvov 
yvüjfij]  t6  ^axog  tov  Telxovg  otcsq  vvv  en  örjkov  botl  TtCQi  lov  üecgaiä ' 
ovo  yccQ  a/Lia^ac  evavTlai  a^li^Xaig  rovg  XLS-ovg  STtriyov ,  Kruegeri  et 
Herbstii  argumentis  nisus  glossema  ea  esse  iudico  neque  Mueller-Struebing 
mihi  persuasit  ea  satis  defendi  Aristophanis  versibus  Av.  1126 sqq.: 

üJOT    av  ETtavo)  fiev  IlQo^evlörjg  6  KofÄTcaaevg 

xal  Qeoyevrig  evavTlo)  öv'  aQiLiaze 

LTtTtojv  VTtovTCJv  fLieys^og  oaov  6  öovQLog^) 

vTcb  TOV  TtXoLTovg  av  TtaQeXaoalTrjv. 
Etiamsi  enim  cum  poetam  bis  versibus  iocari  concedamus  in  scriptoris 
alicuius  verba,  id  quod  factum  esse  ut  potest  ita  minime  necesse  est, 
tum  putemus  illis  apud  Thucydidem  verbis  eandem  vim  inesse  ac  si 
dixisset  auctor :  TtaQekaaalvrjv  av,  id  quod  intellegi  nequit,  tamen  ut  Thucy- 
didem, non  Herodotum  (I,  179),  id  quod  adhuc  interpretes  opinati  sunt, 
hoc  loco  perstringi  credamus,  certioribus  indiciis  et  testimoniis  opus  est. 
Ceterum  qui  cum  Muellero-Str.  facit,  cogitur  existimare,  Thucydidis  histo- 
rias  tum  non  modo  viris  doctis,  sed  toti  volgo  notissimas  fuisse;  quae 
opinio  nihil  verisimilitudinis  habet,  quandoquidem  posteriore  aetate  Thucy- 
didem ut  auctorem  ad  sensum  populärem  parum  accommodatum  neglectum 
esse  videmus. 

De  altero  vero  epope  Aristophaneo  (cf.  v.  280  sqq.)  Mueller-Str.  quae- 
rere  non  debuit,  num  propter  Thucydidis  dissertationem  de  Tereo  et  Tora 
inventus  sit;  ipse  enim  poeta  proximis  versibus  onmem  dubitationem  amovet: 
all    ovTog  f^iv  kazi  Oikoyiliovg 

€^  ETtOTtog  xtA. 
Deridetur  igitur  hoc  loco  Philoclis,  poetae  tragici,  fabula,  qua  Sophoclis, 
ut  videtur,  exemplum  imitatus  Tereum  in  scenam  produxerat.   cf.  schol. 

1)  Mueller-Str.  hunc  equum  celeberrimum  intellegit  „equum  aeneum  Duridis". 
Sed  cf.  Od.  VIII,  507  xoUov  öoqv,  ib.  VlII,  493.  Eur.  Tr.  14.  Ath.  XIV,  610,  c.  Lucil.  95. 
(Anth,  XI,  259);  Dion.  Hai.  1, 46. 


462  Max  Wiesemthal 

Sed  maioris  momenti  prima  quidem  specie  esse  videtur,  quod  Mueller- 
Str.  in  Aristophanis  verbis,  quibus  lepidissime  narratur,  quomodo  aves 
moenia  aedificaverint ,  7caQojölav,  quae  dicitur,  inesse  suspicatus  est 
celerrimae  illius  munitionis  oppidi  Pyli,  quam  descripsit  Thuc.  IV,  5. 
Immane  absurdum  esse,  alt,  existimare,  Pithetaerum  auctorem  ipsum 
rerum  in  ea  comoedia  gestarum,  in  qua  et  locorum  et  temporum  ratio 
plane  neglecta  sit,  muri  aedificationem,  in  qua  reliqua  fabula  nitatur, 
mendacium  esse  ob  eam  causam  dicere  posse,  quod  opus  tarn  celeriter 
confectum  sit.  cf.  v.  1164  sqq. 

XÖQog:  ouTog  tL  Ttoieig;  a^a  x^avfzaCeig  ott 
ovTw  To  reixog  exretelxcOTaL  raxv; 
Ilei^.:  vri  Tovg  x^eovg  eytjye'    y.a\  yaq  a^cov' 

Xaa  yccQ  akrj^wg  cpaLveTaL  /hol  xpevöeOLv. 

Qua  de  causa  crimen  mendacii  non  pertinere  ad  nuntii  verba,  sed  ad 
narrationem  quandam  de  moenibus  conditis,  quam  eo  loco  poeta  in  risus 
deflexerit.  Exagitari  igitur  Thucydidem,  quippe  qui  in  communienda  Pylo 
milites  opera  alias  fabris  commissa  suis  manibus,  quin  etiam  sine  instru- 
mentis  exstruxisse  auctor  sit;  eodem  enim  modo  aves  urbem  suam  commu- 
nire.  At  suo  iure  quaesiverit  quispiam  quonam  alio  modo  poeta  salva 
comoediae  vi  eas  aedificantes  faceret?  Hie  vereor  ne  vir  ille  elegantissimus 
notitia  sua  salum  Aristophaneorum  fretus  nimium  sub  bis  verbis  inde 
a  versu  1132  latere  coniecerit.  Iterum  atque  iterum  deliberanti  mihi  non 
cavillatio  quaedam  hie  latere  videtur,  quippe  quae  occultior  fuisset,  quam 
nt  ipsi  Athenienses  eam  statim  intellegere  possent,  sed  acumen  illorum 
versuum  11 64  sqq.  genere  quodam  facetiarum  constare  potius  iudicaverim, 
quo  persaepe  comicorum  ille  princeps  usus  est.  Namque  poeta  postquam 
spectatorum  animos  atque  sensus  eo  addoxit,  ut  fabulam  in  scena 
actam  paene  re  vera  accidere  putent,  ipse  praeter  omnium  exspectationem 
repente  eam  animi  affectionem  delet,  cum  talia  per  histrionem  dicenda 
curat,  qualia  ieiuni  et  fastidiosi  spectatores  iudicare  solent.  Praeterea 
autem  is,  quo  maxime  nititur  Mueller-Struebing,  locus  v.  1149  sq.    Mein. 

y.al  vrj  ^l    al  vfjTzal  ye  TCSQie^wGfxivac 
STtXiv^ocpoQovV    avcü  öh  xbv  vjtaywyia 

€7t€T0VT     €XOVOai    Y.aTO'JtiV       .... 

oja7C€Q  Ttaiöia 

tbv  uTjkdv  Iv  Toig  GTOfiaoiv  al  x^^^^oveg 

corruptus  est 

Neque  vox  vTtaywyevg  cum  Muellero  vertenda  esse  alveus  ad  lutum 

portandum  (Lehmmulde),  sed  cum  scholiastis  truUa  (Maurerkelle)  potius 


Quaestio  Thucydidea.  463 

intellegenda  esse  videtur  (cf.  Poll.  YII,  125),  ita  ut  de  militibus  Demo- 
sthenis  lutum  sine  alveis  portantibus  nullo  modo  cogitari  possit.  Qua  de 
causa  similitudo,  quam  vis  exigua,  quae  intercedit  inter  Thucydidem  et 
Aristophanem ,  similitudini  cuidam  argumenti  deberi  mihi  videtur  neque 
coniecturam  illam,  qua  Mueller-Str.  poetam  derisisse  rerum  scriptorem  sibi 
persuasit,  solidum  tantae  hypotheseos  de  priore  annalium  Thucydidearam 
editione  fundamentum  esse  facile  quisquam  arbitretur. 

Alteram  probationis  rationem  secutus  est  Mueller-Str.  in  Quaest.  Thu- 
cydideis  (Thuk.  Forsch,  p.  43  sqq.).  Quae  inde  conclusit  quod  Thucydides 
de  Ehenea  insula  cum  Delo  a  Nicia  ponte  coniuncta  tacet  quaeque  ipsi 
viro  docto  parum  auctoritatis  habere  videntur,  licet  hie  praetermittere, 
si  modo  ceteris  argumentis  inest  vis  probationis.  Mueller-Struebing  igitur 
fieri  potuisse  negat,  ut  Thucydides  post  Niciae  pacem,  quin  etiam  inter 
bellum  decem  annorum  nihil  aliud  faceret  nisi  silvam  rerum  ad  conscri- 
bendas  historias  compararet.  Neque  enim  dubium  esse,  quin  ea  quasi 
materia  plebiscitorum  et  nuntiorum  a  viro  illo  ditissimo  et  amplissimo 
facile  colligi  potuerit,  quare  eum  scribendo  res  gestas  subsequi  potuisse. 
Quodsi  singulas  res  commentariorum  in  modum  composuerit,  pace  a  Nicia 
facta  nihil  reliquum  fuisse  nisi  ut  manus  extrema  operi  accederet.  Con- 
cedendum  nobis  erit,  fieri  potuisse,  ut  Thucydides  haud  multo  post  Niciae 
pacem  commentarios  de  hello  Archidamico  et  conficeret  et  in  lucem  ederet. 
At  Muellero  demonstrandum  est,  re  vera.  Thucydidis  opus  illo  tempore 
foras  datum  esse.  Secundum  humani  ingenii  rationem  aliter  cogitari  non 
posse,  ait  Mueller.  Num  enim  rerum  scriptorem  ullum  historiam  belli 
Germanorum  et  Francogallorum  ob  eam  causam  emittere  dubitaturum  esse, 
quod  duobus  populis  debellatum  non  esse  intellexisset?  Praeterea  pace 
Niciana  historico  finem  operis  aptissimum  arteque  epici  poetae  dignum 
praebitum  esse.  Cui  hominum  his  argumentis  id  persuadere  Mueller  sibi 
videtur?  Prae  humani  animi  ratione  aliüs  aliud  fieri  non  posse  confidit. 
Num  Graecorum,  num  Thucydidis,  quippe  qui  yiTrjf.ia  kg  ael  fiallov  ij 
aycjvLOfxa  eg  to  TcagaxQ^^a  azoveiv  conscribere  in  animo  haberet,  tantum 
intererat  novissima  quaeque  narrando  explicare  quantum  nostrae  aetatis 
hominum  celerrimis  actorum  diurnorum  nuntiis  ut  ita  dicam  corruptorum? 
Nonne  maxime  id  agebant,  ut  opera  quam  maxima  arte  perpolirent?  Nonne 
si  Thucydidem  in  sermone  laborare  videmus,  eum  Horatii  potius  prae- 
ceptum:  „nonum  prematur  in  annum"  secuturum  fuisse  verisimile  est? 
Quis  vero  de  re  tam  obscura  certius  quidquam  iudicare  potest? 

Meliore  ratione  Mueller  priorem  exstitisse  Thucydidis  editionem  ex 
ipsius  scriptoris  verbis,  sed  item  mea  quidem  sententia  frustra  demonstrare 
conatus  est.    Cum  initio  operis  scriptum  legatur:   Qovy.vdldr]g  Lid^r^valog 


I 


464  Max  Wibsenthal 

^wdygaipe  rbv  TtoXefnov  tujv  nelouovvrjoicjv  xal  Ad^rivaiwv  wg  l/io- 
?.i/nrjoav  7cgdg  akkrjkovg  ag^dfievog  ev&vg  y.aS-iaraiLiivoVfThMCj' 
didem  dicere  voluisse  putat,  se  ab  initio  belli  statim  singulas  res  gestas 
referre  coepisse,  non  modo  materiam  comparasse,  ut  reliqui  interpretes  ea 
verba  intellegunt.  Deinde  eum  res  gestas  scribendo  prosecutum  esse, 
Muellero-Str.  apparere  videtur  e  verbis  wg  hco'/Jfxrjoav  7CQdg  a/ÄjJ/ott;, 
quae  ita  vertit  in  nostram  linguam :  Thukydides  hat  den  Krieg  der  Pelo- 
ponnesier  und  Athener  geschrieben,  nicht  auf  einmal,  sondern  wie 
sie  ihn  führten,  Schritt  haltend  mit  den  Ereignissen,  gleich 
beim  Beginn  desselben  anfangend,  ßecte  v.  d.  contendit  verba  wg  e/co- 
lifirjoav  non  TCEQLoaoloyLav  quandam  continere,  sed  comparanda  esse  cum 
locis  similibus:  Y,  26,  1.  reyQa(pe  öe  '/.al  Tavza  6  avTog  GovÄvdidi]g 
\Ad^rjvalog  e^i]g  aig  eyiaota  eyivero  *)  '/mtcc  -S-igirj  y.al  xei(X(Jüvag  et  V,  26,  6 
yLOL  ta  hteiTu  wg  €7tol€/j,i^d'r]  €^rjyt]oo(^ac,  Addere  licet  II,  1  yiyqaTttai 
dl  l^\]g  wg  e^aOTa  eyiyvsro  xaza  d-^gog  'Aal  ;f€«^w>'a.  Etiamsi  vero  par- 
ticulam  wg  bis  locis  eadem  fere  vi  adhibitam  esse  atque  k^rjg  wg  conce- 
damus,  tamen  inde  de  ratione,  qua  Thucydides  in  libris  conscribendis  usus 
sit,  non  ea  concludenda  sunt,  quae  Mueller-Struebing  conclusit.  Quicum- 
que  enim  ipsa  scriptoris  verba  secutus  non  opinionem  praeiudicatam  iis 
probare  studet,  non  eam  sententiam  subesse  reperiet,  Thucydidem  hoc  opus 
non  uno  tenore  scripsisse,  sed  facile  ita  ea  verba  intelleget,  scripsisse  eum 
bellum  quomodo  gestum  sit  vel  eo  ordine  quo  gestum  sit.  Neque  igitur 
coniunguntur  narrando  ea  quae  eodem  loco  gesta  sunt  vel  ea  facinora, 
quae  similitudinem  quandam  praebent,  sed  auctor  in  digestione  rerum 
ordinem  anni  cuiusque  annalium  aut  fastorum  modo  servare  studet.  Quam- 
vis  autem  perspicua  haec  interpretatio  mihi  videatur,  eam  assensu  U.  de 
Wilamowitz-Moellendorff  (Curae  Thucyd.  p.  19)  et  L.  Herbsti  (PhiL  40 
p.  337 — 340),  viri  sermonis  Thucydidei  inter  nostrates  peritissimi,  confir- 
mari  gaudeo.  Denique  ut  verba  eygaipe  tÖv  tiöIsixov  wc;  euolefAriOav 
intellegi  possint,  scripsisse  eum,  ut  Muelleri-Str.  verbis  utar:  „schritthal- 
tend mit  den  Ereignissen",  tamen  ea  re  nuUo  modo  demonstratur  id,  quod 
Mueller-Str.  demonstrare  vult,  Thucydidem  librum  de  hello  Archidamico 
post  Niciae  pacem  etiam  edidisse. 

Illud  quoque,  quod  Thucydides  V,  20  in  prooemio  alterius  partis 
operis  sui  eam  temporum  rationem,  quam  iam  priore  parte  servavit,  pro- 
bare studeat,  alia  causa  illustrari  non  posse  Mueller-Struebing  opinatus 
est,  nisi  ea  ratione  post  priorem  librum  editum  ab  aequalibus  vituperata. 
Qua  in  re  vir  ille  doctus  in  errorem  incidit,  cum  in  prooemio  alterius 


1)  Mueller-Str.  cum  Classeno  iylyvsro. 

f 


Quaestio  Thucydidea.  465 

partis  inesse  eam  digressionem  dicit;  immo  loco  aptissimo,  ubi  prioris 
belli  spatium  computatur,  in  extrema  parte  priore  tradita  est ;  altera  pars 
initium  capit  ab  V,  25.  At  forsitan  quaesiverit  quispiam,  quanam  causa 
adductus  Thucydides  suam  temporum  rationem  defendere  studuerit.  Ea 
videlicet,  quod  Thucydidis  ratio  differebat  ab  aequalium  veliit  Hellanici, 
quem  illo  loco  perstringi  facile  crediderim.  Nullo  vero  argumento  nititur 
ea  opinio,  Pisistratidarum  Mstoriam  bis  enarratam  esse,  quod  prior  illius 
facinoris  descriptio  post  opus  publici  iuris  factum  a  nonnullis  vituperata 
esset  ^).  Quo  verisimilius  sit  Thucydidem  post  Niciae  pacem  historiam 
prioris  belli  ad  finem  perducere  potuisse,  Mueller-Struebing  ea  quoque, 
quae  A.  Schoene  [Bursian,  Jahresb.  III  (1875)  p.  859]  optime  disseruit 
de  difficultatibus,  quae  obstabant  Thucydidi  in  comparanda  materia  histo- 
riarum,  infirmare  studet.  Sed  id  nihil  curat,  Thucydidem,  etsi  coUigendi 
plebiscita,  nuntios  etc.  facultas  ei  esset,  tamen  variis  rebus  impeditum 
fuisse,  ne  tantum  opus  inter  ipsum  bellum  elaboraret  et  tamquam  elu- 
cubraret,  qaoniam  rebus  publicis  interfuit  atque  eum  non  modo  anno  424 
praetorem,  sed  etiam  aliarum  expeditionum  socium  fuisse  ipse  Mueller- 
Struebing  vix  negaverit. 

Cum  autem  ex  illis  quos  supra  commemoravimus  locis  Avium  Aristo- 
phanearum  satis  apparere  sibi  persuaserit,  Thucydidem  historiam  prioris 
belli  initio  anni  415  edidisse,  vestigia  illius  editionis  repperisse  sibi  vide- 
tur  in  Thucydidis  ratione  tractandi  discordias  Corcyraeorum,  quae  narran- 
tur  in  11.  III.  et  IV.  [Fleckeisen.  Ann.  1886  p.  585  sqq.J.  Libro  enim 
de  hello  Archidamico  edito  nonnuUos  —  maxime  de  Cratippo  cogitat 
Mueller-Struebing  p.  613  adn.  —  eam  quoque  narrationem  vituperasse, 
quibus  auditis  Thucydidem  eum  locum  retractavisse  et  correxisse.  Quam  rem 
retractatam  post  Thucydidis  mortem  inter  commentarios  repertam  et  ab 
„editore",  qui  summa  quidem  pietate,  sed  idem  non  minore  stupiditate  id 
studeret,  ne  quid  commentariorum  Thucydidis  periret,  velut  pars  altera 
discordiarum  esset,  libro  IV.  insertam  esse,  cum  eam  particulam  operis 
ab  auctore  retractatam  esse  parum  intellegeret. 

Sed  tota  ea  res  et  quasi  circulus  coniecturarum  vacillat  et  Claudicat 
Vix  enim  quisquam  ex  iis,  quae  supra  disseruimus,  credat,  demonstratum 
esse  a  Muellero-Struebing,  priorem  illam,  quam  statuit,  editionem  annalium 
re  Vera  sub  pacem  Nicianam  publici  iuris  factam  esse.  Igitur  hoc  loco 
retractationis,  quam  factam  esse  Mueller-Struebing  coniecit,  causam  fuisse 
vituperationem  aequalium,  quis  est,  qui  credat?  praesertim  cum  nova  de 


1)  De  dittographiis ,  quas  vocant,  apud  Thuc.  facio  cum  Herbstio  Philol.  40, 

p.  294  sqq. 

30 


466 


Max  Wiesbnthal,  Quaestio  Thucydidea. 


editore  annalium  Thucydideorum  coniectura  opus  sit,  ut  ratione  compre- 
hendere  possimus,  quonam  modo  res  et  tractatae  et  retractatae  operi  Thucy- 
dideo  insertae  sint.  Quibus  rebus  omnibus  perpensis  non  habere  nobis  vide- 
mur,  cur  librum  de  bello  decem  annorum  a  Thucydide  sub  pacem  Nicianam 
separatim  editum  esse  Muellero-Struebiug  credamus,  sed  omnibus  praeser- 
tim  veteribus  scriptoribus  tacentibus  eam  editionem  omnem  in  opinione 
Muelleri-StruebiDg  esse  rectius  nobis  persuaserimus. 


XXIII. 

Bezogener  Gebrauch  scheinbar  selbständig  gebrauchter 
Präterita  im  Lateinischen. 

Von 

Emil  Zimmermann  (Rastenburg). 

A.  Vorbemerkungen. 

Nach  dem  Vorgänge  von  I.  Lattmann  und  H.  D.  Müller  in  ihrer 
lateinischen  Grammatik,  Göttingen  1864,  lehren  jetzt  auch  verschiedene 
andere  Grammatiker,  dass  alle  sechs  Tempora  der  lateinischen  Sprache 
sowohl  in  selbständiger  als  auch  in  bezogener  Anwendung  vor- 
kommen können.  Diese  Lehre  suchen  namentlich  H.  Lattmann  und 
M.  Wetzel  zu  stützen,  so  in  ihren  gleichnamigen  Schriften :  „Selbständiger 
und  bezogener  Gebrauch  der  Tempora  im  Lateinischen",  Göttingen  1890 
und  Paderborn  1890.  Ihren  Ausführungen,  soweit  sie  sich  auf  den  selb- 
ständigen Gebrauch  des  Imperfekts  und  des  Plusquamperfekts 
beziehn,  bin  ich  bereits  in  meinen  Besprechungen  der  genannten  Schriften 
in  der  „Neuen  Philologischen  Rundschau"  1891,  Nr.  12,  S.  177  ff.  und 
1892,  Nr.  20,  S.  312  ff.  entgegengetreten.  Da  das  dort  aber  nur  in  sehr 
knapper  Weise  hat  geschehn  können,  so  will  ich  hier  meine  verschiedenes 
Neue  bietenden  Ansichten  über  den  bezogenen  Gebrauch  mancher  schein- 
bar selbständig  gebrauchten  Imperfekte,  historischen  Infinitive  und  Plus- 
quamperfekte,  namentlich  solcher,  die  von  jenen  Grammatikern  als  selb- 
ständig gebrauchte  betrachtet  werden,  etwas  näher  auseinandersetzen. 

Der  Auseinandersetzung  schicke  ich  einige  allgemeineAngaben 
über  den  selbständigen  Gebrauch  des  Perfekts  und  den  bezoge- 
nen des  Imperfekts,  des  historischen  Infinitivs  und  des  Plus- 
quamperfekts in  der  Zeitsphäre  der  Vergangenheit  sowohl  bei  paratak- 
tischem als  auch  bei  hypotaktischem  Satzbau  voran.  Die  Angaben  stim- 
men mit  solchen  H.  Lattmanns  in  verschiedenen  Punkten  überein. 

Nicht  die  Form  der  Sätze,  sondern  ihr  Inhalt  entscheidet  über 

30* 


468  Emil  Zimmebmann 

den  Gebrauch  der  Tempora.  Daher  kann  zum  Ausdrucke  vergangener 
Handlungen  und  Zustände  sowohl  in  Haupt-  als  auch  in  Nebensätzen 
sowohl  das  Perfekt  als  auch  das  Imperfekt,  der  historische  Infinitiv  und 
das  Plusquamperfekt  stehn.  Es  kommt  für  die  Wahl  der  Tempora  nur 
darauf  an,  ob  Handlungen  oder  Zustände  lediglich  vom  Standpunkte  in 
der  Gegenwart  aus  als  der  Zeitsphäre  der  Vergangenheit  angehörig  oder 
ob  sie  zugleich  andern  Handlungen  oder  Zuständen  jener  Zeitsphäre  als 
gleichzeitig  oder  vorzeitig  hingestellt  werden  sollen.  In  jenem  Falle  tritt 
das  selbständig  gebrauchte  Perfekt,  in  diesem  das  bezogen  gebrauchte 
Imperfekt,  der  bezogen  gebrauchte  historische  Infinitiv  oder  das  bezogen 
gebrauchte  Plusquamperfekt  ein.  Das  Imperfekt  und  der  historische  In- 
finitiv bezeichnet  dabei  die  Gleichzeitigkeit  einer  Handlung  oder  eines 
Zustandes,  das  Plusquamperfekt  die  Vorzeitigkeit  einer  Handlung  oder 
eines  Zustandes  oder  die  Gleichzeitigkeit  eines  Zustandes,  welcher  aus 
einer  Handlung  der  Vergangenheit  hervorgegangen  ist,  im  weitesten 
Sinne.  Der  Inhalt  der  Sätze  ist  entweder  so,  dass  er  gerade  selbständig, 
oder  so,  dass  er  gerade  bezogen  gebrauchte  Tempora  erfordert,  oder  so, 
dass  sowohl  selbständig  als  auch  bezogen  gebrauchte  Tempora  gesetzt 
werden  können.  Diejenigen  Handlungen  oder  Zustände,  auf  welche  sich 
andere  beziehn,  können  selbständig  hingestellt,  aber  auch  ihrerseits  schon 
bezogen  sein,  können  mit  den  auf  sie  bezogenen  denselben,  aber  auch 
verschiedenen  Perioden  angehören,  können  ihnen  vorausgehn  oder  nach- 
folgen, können  von  ihnen  durch  dazwischen  erwähnte  Handlungen  oder 
Zustände  getrennt  sein.  Meistens  sind  diejenigen  Handlungen  oder  Zu- 
stände, auf  welche  sich  andere  beziehn,  deutlich  durch  verba  finita  aus- 
gedrückt; doch  tritt  auch  ziemlich  häufig  der  Fall  ein,  dass  man  sie 
aus  Andeutungen  oder  nur  aus  dem  Zusammenhange  ergänzen  muss, 
da  der  Kedende  oder  Schreibende  entweder  unabsichtlich  einen  Gedanken- 
sprung gemacht  oder  absichtlich  etwas  als  sich  leicht  von  selbst  ergebend 
und  darum  überflüssig  fortgelassen  hat 

Endlich  bemerke  ich  hier  noch,  dass  ich  in  der  folgenden  Darstellung 
die  von  den  genannten  Grammatikern  angeführten  Beispiele,  daneben 
aber  den  reichen  Stoff,  der  in  meinen  vier  Programmen  de  epistulari 
temporum  usu  Ciceroniano,  Rastenberg  1886.  87.  90.  91,  niedergelegt  ist, 
und  meine  sonstigen  nicht  unbedeutenden  Sammlungen  benutze. 

B.  Bezogener  Gebrauch  scheinbar  selbständig  gebrauchter  Im  per- 
fekte, historischer  Infinitive  und  Plusquamperfekte. 

Die  vielen  Fälle,  wo  wir  bei  lateinischen  Schriftstellern  Handlungen 
oder  Zustände  im  Impf.,  im  historischen  Infinitiv  oder  im  Plpf.  in  eigen- 


Bezogener  Gebrauch  scheinbar  selbständig  gebrauchter  Präterita  im  Latein.       469 

tümlicher  Weise  auf  solche  im  Perf.  oder  in  einem  gleichwertigen  Präsens 
oder  auf  solche  im  Impf.,  im  historischen  Infinitiv  oder  im  Plpf.,  die 
ihrerseits  schon  auf  Perfekte  oder  gleichwertige  Präsentia  bezogen  sind, 
bezogen  finden,  lassen  wir  hier  beiseite.  Nun  treffen  wir  aber  nicht 
selten  Imperfekte,  historische  Infinitive  und  Plusquamperfekte  an,  wo 
wir  weder  Handlungen  oder  Zustände  im  Perf.  oder  einem  gleichwertigen 
Präsens  noch  auf  solche  bezogene  im  Imperf.  oder  historischen  Infinitiv 
oder  Plpf.  vorfinden,  auf  welche  die  durch  jene  Tempora  ausgedrückten 
Handlungen  oder  Zustände  bezogen  sein  können.  Dann  scheinen  jene 
Tempora  selbständig  gebraucht  zu  sein;  bei  genauerer  Betrachtung  und 
Vergleichung  derartiger  Stellen  merkt  man  jedoch,  dass  sich  die  Sache 
ganz  anders  verhält. 

I.  Beziehung  auf  vorschwebende  und  in  der  Form  des  Perfekts  oder 
des  Präsens  hinzuzuergänzende  Handlungen   oder  Zustände  der 

Vergangenheit. 

Der  Schreiber  oder  Sprecher  begnügte  sich  zuweilen  in  der  erzählen- 
den Darstellung  damit,  die  wichtigsten  Handlungen  oder  Zustände 
der  Vergangenheit  durch  Perfekte  oder  diesen  gleichwertige  Präsentia 
zum  Ausdrucke  zu  bringen,  und  Hess  die  minder  wichtigen  fort, 
obgleich  der  genaue  Zusammenhang  ihren  Ausdruck  ebenfalls  durch 
Perfekte  oder  diesen  gleichwertige  Präsentia  erfordert  hätte.  An  solchen 
Stellen  aber  finden  wir  zuweilen  auch  Imperfekte,  historische  Infinitive 
und  Plusquamperfekte  vor,  deren  Beziehung  sofort  vollständig  klar  ist, 
wenn  wir  uns  die  fortgelassenen,  aber  vorschwebenden  Handlungen  oder 
Zustände  der  Vergangenheit  in  der  Form  des  Perfekts  oder  des  Prä- 
sens hinzuergänzen,  zumal  sich  diese  Ergänzungen  ausserordentlich 
leicht  aus  Andeutungen  oder  nur  aus  dem  Zusammenhange  ergeben. 

a)  Beziehung  durch  Imperfekte  oder  historische  Infinitive  aus- 
gedrückter Handlungen  und  Zustände  und  durch  Plusquamperfekte 
ausgedrückter  Zustände  der  Gleichzeitigkeit. 

Wir  achten  zunächst  auf  Stellen,  wo  leicht  Handlungen  oder  Zustände 
im  Perfekt  oder  in  einem  gleichwertigen  Präsens  zu  ergänzen  sind, 
auf  welche  die  durch  Imperfekte  oder  historische  Infinitive  aus- 
gedrückten Handlungen  oder  Zustände  oder  die  durch  Plusquamper- 
fekte ausgedrückten  Zustände  der  Gleichzeitigkeit  sich  beziehn. 

So  ist  leicht  zu  ergänzen,  dass,  wenn  ein  Feldherr  einen  Beschluss 
fasste  oder  bewirkte,  er  ihn  auch  ausführte.  Caes.  b.  G.  11,  8,  1 : 
Caesar . . .  proelio  supersedere  statuit  (sc.  et  supersedit) ;  cotidie  tamen 


470  Emil  Zihmbsmihn 

equestribus  proelüs  . . .  penclitabatur.  Vgl.  III,  3,  4.  4,  1  ff.  Und  wenn 
ein  Feldherr  einen  Befehl  gab,  ergänzt  man  ebenfalls  leicht,  dass  dieser 
zur  Ausführung  kam  (vgl.  b.  G.  III,  6,  1).  b.  c.  I,  41 :  Caesar  . . .  fossam 
ßeri  iussit  (sc.  eaque  facta  est).  Prima  et  secunda  acies,  ut  ab  initio 
constituta  erat,  permanebat;  post  hos  opus  in  occulto  a  tertia  acie  ßebat. 
Ebenso  ergiebt  sich  leicht,  dass  die  Befehle  des  Tyrannen  Dionysius 
ausgeführt  wurden.  Tusc.  V,  21,  61  f.:  Tum  ad  mensam  eximia  forma 
pueros  delectos  iussit  consistere  eosque  nutum  illius  intuentes  diligenter 
ministrare  (sc.  qui  constiterunt  et  ministraverunt).  Aderant  unguenta, 
coronae,  incendebantur  odores,  mensae  conquisitissimis  epulis  exstruebantur. 
Fortunatus  sibi  Damocles  videbatur.  In  hoc  medio  apparatu  fulgentem 
gladium  e  lacunari  saeta  equina  aptum  demitti  iussit ,  ut  impenderet  illius 
beati  cervicibus  (sc.  gladiusque  demissus  est  et  impendit).  Itaque  nee 
pulcros  illos  administratores  aspiciebat  nee  plenum  artis  argentum  nee 
manum  porn'gebat  in  mensam;  iam  ipsae  defluebant  coronae.  Etwas 
früher,  wo  gesagt  ist,  dass  Dionysius  seine  Töchter  das  Seheeren 
gelehrt  habe,  ergänzt  man  leicht,  dass  sie  es  lernten  und  anwandten. 
20,  58 :  Quin  etiam  . . .  tondere  filias  suas  docuit  (sc.  eaeque  id  didicerunt 
et  in  usu  habuerunt),  Ita  . . .  regiae  virgines  . . .  tondebant  barbam  et 
eapillum  patris.  Femer  wenn  man  anfing,  den  Hortensius  zu  wichtigeren 
Prozessen  heranzuziehn,  so  denkt  man  sich  leicht,  dass  das  auch 
weiter  geschah.  Brut  88,  301:  Hortensius  ...  ad  maiores  causas  ad- 
hiberi  coeptus  est  (sc.  et  postea  adhibitus) ;  quamquam  inciderat  in  Cottae  et 
Sulpicii  aetatem,  qui  annis  decem  maiores  erant,  excellente  tum  Crasso 
et  Antonio,  dein  Philippe,  post  lulio,  cum  his  ipsis  dicendi  gloria  com- 
parabatur  . . .  Vgl.  Caes.  b.  G.  lü,  3,  1  ff.  b.  c.  11,  9,  41.  SaU.  Cat.  31 ,  1. 
Verr.  II,  2,  37,  90.  ad  Att.  I,  1,3.  Wurde  aber  etwas  im  Senate  vorge- 
bracht, so  lässt  sich  ergänzen,  dass  darüber  verhandelt  wurde  (vgl. 
Cic.  de  prov.  consul.  11,  28:  actum  est  —  dabant  —  quaei^ebant),  ad  Att. 
II,  24,  2 :  Kes  delata  ad  senatum  est  (sc.  et  de  ea  actum).  Introductus 
Vettius  primo  negabat  se  umquam  cum  Curione  constitisse.  IV,  2,  4 :  Ille 
noctem  sibi  postulavit  (sc.  et  de  ea  re  actum  est).  Non  concedebant; 
reminiscebantur  enim  Kai.  lanuar.  Vix  tandem  de  mea  voluntate  con- 
cessum  est.  Der  Catilinarier  Volturcius  will  im  Senate  auf  Ciceros  Frage 
zuerst  nicht  mit  der  Sprache  heraus  (vgl.  Cic.  Cat.  III,  5,  12 j.  Sali. 
Cat.  47,  1 :  Volturcius  interrogatus  de  itinere  . . .  primo  (sc.  non  aperit :) 
Jingere  alia,  dissimulare  de  coniuratione ;  post...  aperit...  Dagegen 
schwebt  vor,  dass  Catilina  in  der  Versammlung  auf  das  Verlangen  der 
Anwesenden  sich  näher  äusserte  (vgl.  Cic.  Cat  III,  4,  9  ff.).  Sali.  Cat. 
24,  1 :  Postulavere  plerique,  ut  proponeret,  quae  eondicio  belli  foret,  quae 


Bezogener  Gebrauch  scheinbar  selbständig  gebrauchter  Präterita  im  Latein.    471 

praemia  armis  peterent,  quid  ubique  opis  aut  spei  haberent.  Tum  Cati- 
lina  (sc.  ea  proposuit-^  polliceri  tabulas  novas  . .  .  Hatte  Catilina  Grund, 
etwas  zu  thun,  so  that  er  es  leicht.  Sali.  Cat.  15,  3:  Quae  quidem  res 
mihi  in  primis  videtur  causa  fuisse  facinus  matvrandi  (sc.  quod  maturavit). 
Namque  animus  impudicus . . .  neque  vigiliis  neque  quietibus  sedari  pote- 
rat...  Schlägt  man  ein  Lager  auf,  so  behält  man  es  in  der  Regel  zu- 
nächst bei.  Caes.  b.  G.n,  7,  3:  Castra  posuerunt  (sc.  et  kabuerunt);  quae 
castra,  ut  fumo  atque  ignibus  significabatur,  amplius  milibus  passuum  VÜI 
in  latitudinem  patebant.  Vgl.  II,  5,  4.  Wenn  Pausanias  Änderungen  in 
seinen  Lebensgewohnheiten  vornahm,  so  ist  es  selbstverständlich,  dass 
diese  anders  wurden.  Nep.  Paus.  3,  1:  Non  enim  mores  patrios  solum, 
sed  etiam  cultum  vestitumque  mutavit  (sc.  iique  alii  ac  patrii  fuerunt). 
Apparatu  regio  utebatur  .  . . 

Hierher  gehören  namentlich  in  Briefen  diejenigen  Stellen,  in  welchen 
aus  einem  selbständigen  scribis  (scribit)  oder  scripsisti  (scripsit)  oder  scrip- 
tum est  oder  einem  ähnlichen  Ausdrucke  ein  bezogenes  scribebas  (scri- 
bebat)  oder  scripseras  (scripserat)  oder  scriptum  erat  oder  ein  ähnlicher 
Ausdruck  geworden  ist  durch  die  Beziehung  auf  die  hinzuzuergänzende 
Handlung  des  Lesens.  Diese  finden  wir  ausgedrückt  an  Stellen  wie 
ad  fam.  I,  7,  1:  Legi  tuas  litteras,  quibus  ad  me  scribis.  ad.  Att.  IX, 
IIA,  1 :  Ut  legi  tuas  litteras,  quibus  mecum  agebas  ...  ad  fam.  X,  26,  1 : 
Lectis  tuis  litteris,  quibus  declai^abas  ...  ad  Att.  H,  16,  4:  nondum  meas 
litteras  legerat,  quibus  ad  eum  rescripseram  .  . .  VI,  9,  3 :  Intellexi  ex  tuis 
litteris  . . .  scribebas  .  . .  monebas  ...  ad  fam.  XIII,  68,  1 :  litterae,  ex  qui- 
bus cognovi . . .  significabas  enim  . . .  D.  Bruti  ep.,  ad  fam.  XI,  11,  1 :  ex 
libellis  eins  aiiimadverti ...  in  quibus  .  . .  scribebat.  Zu  ergänzen  da- 
gegen ist  die  Handlung  des  Lesens  an  Stellen,  wo  nur  gesagt  ist,  dass 
ein  Brief  dem  Adressaten  überbracht  oder  an  ihn  abgeliefert  wurde 
oder  dass  er  ihn  empfing,  ad  Att.  XIII,  45,  1 :  Fuit  apud  me  Lamia  .  . . 
epistolamque  ad  me  attulit . . .  (sc.  eamque  legi\  quae  . . .  declarabat . . . 
in  qua  extrema  scriptum  erat . . .  VHI,  11  D,  3:  At  mihi,  cum  Calibus 
essem,  adfertur  (=  allatum  est)  litterarum  tuarum  exemplum,  quas  tu  ad 
Lentulum  consulem  misisses  (sc.  idque  legi).  Hae  scriptae  sie  erant,  litteras 
tibi  a  L.  Domitio  . . .  allatas  esse,  earumque  exemplum  subscripseras,  magni- 
que  Interesse  rei  publicae  [scripseras]  ...  V,  21,  4:  eas  . . .  Laenius  mihi 
reddidit  (sc.  easque  legi)  . . .  Eae  litterae  cetera  vetera  habebant ...  ad 
fam.  III,  7,  2:  Legati  Appiani  mihi  volumen  a  te  plenum  querelae  ini- 
quissimae  reddideimut . . .  (sc.  idque  legi);  eadem  autem  epistola  petebas . . . 
et  simul  peracute  querebare ...  ad  Att.  XIV,  17,  1 :  Ibi  mihi  cenanti  litterae 
tuae  sunt  redditae , . .  (sc.  easque  legi\  in  quibus  multa  sapienter,  sed  tamen 


472  Emil  Zihmbsmaitn 

ta'ia,  quem  ad  modum  tute  scribebas,  ut . . .  ad  fam.  III,  6,  4 :  Ac  mihi . . . 
redditae  sunt  a  te  litterae  (sc.  easque  legi);  quibus  etsi  te  Tarsum  pro- 
ficisci  demonstrabas,  tamen  mihi  non  dubiam  spem  mei  conveniendi  ad- 
Jerebas,  III,  11,  1:  redditae  mihi  sunt  uno  tempore  a  te  epistolae  duae, 
quas  ad  me  Q.  Servilius  Tarso  miserat  (sc.  easque  legi) ;  earum  in  altera 
dies  erat  adscripta  Nonarum  Aprilium;  in  altera  . . .  dies  non  erat,  ad 
Att  V,  3,  2 :  praeter  quae  mihi  binae  simul  in  Trebulano  redditae  sunt 
(sc.  quasque  legi)^  quarum  alterae  edictum  P.  Licinii  habebant ...  ad  fam. 
Vn,  5,  2 :  litterae  mihi  dantur  (=  datae  sunt)  a  te  (sc.  quas  legi)^  quibus  in 
extremis  scriptum  erat ...  IV,  14,  1 :  Binas  a  te  accepi  litteras  Corcyrae 
datas  (sc.  easque  legi) ;  quarum  alteris  mihi  gratulabare  . . .  alteris  dice- 
bas  . .  .11,  13,  1.  III,  4,  1 :  litteras  tuas  accepi  (sc.  et  %^),  quibus  erat 
scriptum  ...  ad  Att.  VII,  12,  1.  Die  Handlung  des  Lesens  ist  auch  dann 
zu  ergänzen,  wenn  nur  dasteht,  dass  der  Brief  abgesandt  wurde,  ad 
Att.  VI,  1,2:  Sin  Appius,  ut  Bruti  litterae,  quas  ad  te  misit  (sc.  et  quas 
lagisti),  signißcabantj  gratias  nobis  agit,  non  moleste  fero.  XI,  7,  2 :  Nam 
ad  me  misit  Antonius  exemplum  Caesaris  ad  se  litterarum  (sc.  quas  legi), 
in  quibus  erat . . .  deque  eo  vehementius  erat  scriptum  . . .  Itaque  Antonius 
petebat  a  me  per  litteras  (sc.  quas  legi)  ut  . . .  XV,  5,  3 :  Varro  autem  noster 
ad  me  epistolam  misit . . .  (sc.  quam  legi)  ...  in  qua  scriptum  erat . . . 
Nep.  Paus.  3,  4 :  legatos  cum  clava  ad  eum  miserunt  (sc.  isque  eam  legit), 
in  qua  more  illorum  erat  scriptum  . . .  Doch  haben  wir  auch  Stellen,  in 
denen  weder  die  Absendung  noch  die  Ablieferung  oder  der  Empfang  eines 
Briefes  erwähnt  ist,  in  denen  aber  dennoch  die  Handlung  des  Lesens 
im  Perfekt  zu  ergänzen  ist,  auf  welche  die  Beziehung  erfolgt,  ad  Att.  IV, 
16,  1;  De  epistolarum  frequentia  te  nihil  accuso,  sed  pleraeque  (sc.  quas 
legi)  tantum  modo  mihi  nuntiabant,  ubi  esses,  vel  etiam  signißcabant  recte 
esse,  quod  erant  abs  te.  XII,  41,  1 :  Et,  quod  tu  scire  volebas  (sc.  in  üs 
litteris,  quas  legi) . . .  constitui ...  ad  fam.  II,  15,  5:  De  Ocella  parum  ad 
me  plane  scripseras  (sc.  in  iis  litteris,  quas  legi)  et  in  actis  non  erat, 
IX,  12,  2:  Oratiunculam  pro  Deiotaro,  quam  requirebas  (sc.  in  iis  litteris, 
quas  legi),  habebam  mecum,  quod  non  putaram:  itaque  eam  tibi  misi. 
[ad  Brut.  I,  15,  3:  Venio  nunc  longo  sane  intervallo  ad  quandam  epistolam 
(sc.  quam  legi\  qua  mihi  multa  tribuens  umim  reprehendebasy  quod  .  . .] 
Hierher  können  auch  diejenigen  Stellen  gerechnet  werden,  in  welchen 
ein  Perfekt  zu  ergänzen  ist,  das  mit  der  in  Briefen  üblichen  Auffassung 
von  der  Zeit  und  der  Handlung  des  Schreibens  oder  Schickens  ge- 
braucht ist.  Solche  Perfekte  sind  ausgedrückt  Cael.  ep.,  ad  fam.  VIII, 
13,  2:  Hortensius,  cum  has  litteras  scripsi,  animam  agebat,  ad  Att.  IV, 
10, 2:  Ad  eum  postridie  mane  vadebam  (=  vadere  volebam),  cum  haee  scripsi. 


Bezogener  Gebrauch  scheinbar  selbständig  gebrauchter  Präterita  im  Latein.   473 

ad  Q.  fr.  II,  15  (16),  3 :  Quo  die  haec  scripsi,  Drusus  erat .  . .  absolutus  . . . 
Ego  eodem  die  post  meridiem  Vatinium  er  am  defensurus.  ad  Att.  IV,  17,  4 
(16,  7):  Scaurus  . . .  singulis  diebus  usque  ad  pr.  Kai.  Octobr.,  quo  ego 
haec  die  scripsi,  sublatis  populo  tributim  domi  suae  satisfecerat ;  sed  tarnen, 
etsi  uberior  liberalitas  huius,  gratior  esse  videbatnr  eorum,  qui  occuparant. 
IX,  17,  1:  Trebatium  VI.  Kai.,  quo  die  has  litteras  dedi,  exspeclabam, 
VII,  17,  5:  Ego  IV.  Nonas  Febr.,  quo  die  has  litteras  dedi,  in  Formiano, 
quo  Capua  redleram,  mulieres  exspectabam,  quibus  quidem  scripseram  . . . 
Capuae  Nonis  Febr.  esse  volebam,  quia  consules  iusserant.  ad  fam.  II,  8,  3 : 
Ego  cum  Athenis  decem  ipsos  dies  fuissem  . . .  proficiscebar  (=  proficisci 
volebam)  inde  pridie  Nonas  Quinctilis,  cum  hoc  ad  te  litterarum  dedi, 
ad  Att.  V,  21,  9:  Idibus  Februariis,  quo  die  has  «/ec^i  litteras,  forum  insti- 
tueram  agere  Laodiceae.  ad  fam.  II,  6,  1 :  Nondum  erat  auditum  . . .  cum 
Sex.  Villium  . . .  cum  his  ad  te  litteris  misi.  An  solchen  Stellen  finden 
wir  aber  viel  häufiger  ein  cum  scribebam  oder  cum  has  litteras  dabam 
vor  (vgl.  S.  478  ff.).  Da  nun  ein  solches  wohl  leichter  dem  Schreiber  eines 
Briefes  bei  Angabe  von  Handlungen  oder  Zuständen,  die  der  Zeit  des 
Schreibens  oder  Schickens  angehörten,  vorgeschwebt  haben  mag  als  ein 
cum  oder  quo  die  haec  scripsi  oder  dediy  so  führe  ich  Beispiele,  in  denen 
die  Handlung  des  Schreibens  oder  Schickens,  sei  es  im  Perfekt  oder 
sei  es  im  Imperfekt,  zu  ergänzen  ist,  erst  später  an,  wo  von  jenen 
Ausdrücken  mit  dem  Imperfekt  gehandelt  werden  wird  (S.  486  ff".). 

Auch  sonst  treten  uns  Stellen  mit  bezogen  gebrauchten  Imperfekten 
und  Plusquamperfekten  der  Gleichzeitigkeit  entgegen,  in  denen  sich  nicht 
genau  feststellen  lässt,  ob  ein  Perfekt  oder  ein  Imperfekt  zu  ergänzen  ist, 
auf  welches  die  durch  jene  Tempora  ausgedrückten  Handlungen  oder  Zu- 
stände sich  beziehen,  insbesondere,  wo  von  einem  Beisammensein  und 
von  einem  Gespräche  oder  vom  Gegenteil  gehandelt  wird.  Auf 
die  Ergänzung  eines  Perfekts  weisen  Stellen  hin,  in  welchen  ein  solches 
dasteht,  wie  ad  Att.  XIII,  44,  1 :  Brutus  apud  mefuit,  cui  quidem  valde 
placebat  me  aliquid  ad  Caesarem.  XIII,  45,  1 :  Fuit  apud  me  Lamia . . . 
itemque  Balbo  . . .  videri  Lamia  dicebat  und  namenthch  VI,  1,  3:  Quoad 
mecum  rex  fuit,  perbono  loco  res  erat.  VI,  5,  1 :  ünde  quidem  quamdiu 
afuisti,  magis  a  me  abesse  videbare,  quam  si  domi  esses.  de  rep.  III,  42 : 
Quem  tu,  quoad  vta;ü,  omnibus  anteponebas.  Häufiger  aber  stehen  an 
solchen  Stellen  Imperfekte  da  (vgl.  S.  479 ff.),  so  dass  man  diese  an 
ähnlichen  Stellen  wohl  auch  leichter  ergänzt  haben  wird  als  Perfekte. 
Von  Stellen,  in  denen  solche  Perfekte  oder  Imperfekte  zu  ergänzen  sind, 
soll  daher  ebenfalls  erst  später  die  Rede  sein  (S.  487  ff.). 


474  Emil  Zimmermann 

b)  Beziehung  durch  Plusquamperfekte  ausgedrückter  Handlungen  und 
Zustände  der  Vorzeitigkeit. 

Auch  bei  Handlungen  und  Zuständen  der  Vorzeitigkeit,  welche 
durch  Plusquamperfekte  ausgedrückt  sind,  haben  wir  oftmals  die- 
jenigen Handlungen,  auf  welche  sich  jene  beziehen,  als  Perfekte  oder 
den  Inhalt  angebende  Präsentia  zu  ergänzen. 

Wenn  der  Schriftsteller  an  einer  früheren  Stelle  eines  Schriftstückes 
etwas  geschrieben  hat  und  an  einer  späteren  darauf  zurückkommt,  steht 
das  Plpf.  in  Beziehung  auf  den  zu  ergänzenden  Gedanken,  dass  da- 
zwischen etwas  anderes  geschrieben  worden  ist.  Dieser  Gedanke 
ist  ausgedrückt  in  Stellen  wie  ad  fam.  I,  9,  17:  Ego  autem  cum  illa 
sequor,  quae  paulo  ante  proposui  (17),  tum  hoc  non  in  postremis,  de 
quo  coeperam  exponere  (12).  XIII,  63,  2:  Sed  vereor  ne  iam  superesse 
mihi  verba  putes,  quae  dixeram{\.  Anf.)  defutura:  commendo  tibi  hominem 
sie,  ut  intellegis  me,  de  quo  ea  supra  scripserim  (1  Forts.),  debere  com- 
mendare.  Der  angegebene  Gedanke  ist  zu  ergänzen  de  off.  I,  42: 
Deinceps,  ut  erat  propositum  (sc.  ante  quam  ea  supra  diasi),  de  bene- 
ficentia  ac  de  liberalitate  dicetur.  de  or.  II,  58,  237 :  diligenter  videndum 
est,  quod  in  quarto  loco  quaerendi  posueramus  (235).  ad  fam.  XV,  14,  6: 
Extremum  iUud  est  de  iis,  quae  proposueram  (2) . . .  de  imp.  7,  17 :  Ac 
ne  illud  quidem  vobis  negligendum  est,  quod  mihi  ego  extremum  pro- 
posueram (6)...  13,36:  Quid  ceterae,  quas  paulo  ante  commemorare 
coeperam  (28) ...  ad  fam.  11,  3,  2 :  Sed  aliter,  atque  ostenderam  (1),  facio  . . . 
Xni,  16,  4:  Et  tamen,  quod  negaveram  (3),  commendo  tibi  eum.  XV,  4, 14 : 
quod  paulo  ante  me  negaveram  (11)  rogaturum,  vehementer  te  rogo. 
ad  Att.  IV,  13,  6:  Redeo  igitur  ad  id  . .  .  quod  primo  omiseram  (1).  ad 
fam.  IV,  8,  2:  Sed  plura,  quam  statueram  (1);  redeo  ...  ad  Q.  fr.  11,  8,  2: 
Sed  plura,  quam  constitueram  (1):  coram  enim. 

Wenn  der  Schreiber  eines  Briefes  beim  Schreiben  desselben  auf  einen 
früheren  Brief  zurückkommt,  ist  zu  ergänzen,  dass  zwischenein  die 
Antwort  erfolgt  ist,  in  welcher  der  frühere  Brief  oder  eine  Angabe 
desselben  in  irgend  einer  Weise  erwähnt  wurde  oder  erwähnt  wird.  Dieser 
Zwischengedanke  ist  ausgedrückt  ad  Att.  XIH,  32,  3 :  Et,  quod  ad  te 
de  decem  legatis  scripsi,  parum  intellexti^  credo,  quia  öia  atj^eitov  scripse- 
ram,  ad  Q.  fr.  I,  2,  4,  12:  Quod  ad  me  de  Hermia  scribis,  mihi  meher- 
cule  molestum  fuit.  Litteras  ad  te  parum  fraterne  scripseram;  quas 
oratione  Diodoti . . .  commotus  de  pactione  statim  quod  audieram,  iracun- 
dius  scripsera7n.  ad  Q.  fr.  11,  12,  4:  De  Caesarey^^era^  me  ad  te  scribere. 
Video  enim,  quas  tu  litteras  exspectaris.    ad  Att.  XII,  1,  2.  45,  3.     Der 


Bezogener  Gebrauch  scheinbar  selbständig  gebrauchter  Präterita  im  Latein.    475 

Zwischengedanke  ist  zu  ergänzen  ad  Att.  IV,  2,  3:  Quod  autem  ad  te 
scripseram,  obscure  fortasse,  id  eins  modi  est.  Xu,  45,  3:  De  Caesare 
vicino  scripseram  ad  te,  quia  cognoram  ex  tuis  litteris.  Eum  ovvvaov 
Quirini  malo  quam  Salutis.  XV,  25 :  Est  enim  hiberaa  navigatio  odiosa, 
eoque  exte  quaesieram  mysteriorum  diem.  V,  12,  3:  Cui  iQi  fugerat  me 
rescribere  . . .  plane  rogo.  ad  Q.  fr.  III,  9,  3 :  De  motu  temporum  venientis 
anni  nihil  te  intellegere  volueram  domestici  timoris,  sed  de  communi  rei 
publicae  statu,  in  quo  etiam  si  nihil  procuro,  tamen  nihil  curare  vix  possum. 
Zu  ergänzen  ist  auch  zuweilen,  dass  jemand  etwas,  das  schon  vorher 
bekannt  gewesen  war,  mitgeteilt  hat  oder  mitteilt  oder  etwas,  das 
bereits  geschehen  war,  angeregt  hat  oder  anregt  Ein  solcher 
Zwischengedanke  steht  da  ad  Att.  XII,  23,  3 :  De  Drusi  hortis,  quanti 
licuisse  tu  scribis,  id  ego  quoque  audier  am  et . . .  heri  ad  te  scripseram. 

XIV,  19,  1:  quod  id  ipsum,  quod  me  mones,  quadriduo  ante  ad  eum 
scripseram  exemplumque  mearum  litterarum  ad  te  miseram,  ad  fam. 
Vn,  23,  4 :  Quod  ad  me  de  domo  scribis  iterum,  iam  id  ego  proficiscens 
mandaram  meae  TuUiae:  ea  enim  ipsa  hora  acceperam  tuas  litteras; 
egeram  etiam  cum  tuo  Nicia.  ad  Att.  XIII,  25,  1 :  De  Andromene,  ut 
scribis,   ita   putaram.     XII,  23,  1.  45,  3.  XIII,  21,  1.   50,  4.   XIV,  14,  6. 

XV,  12,  1.  27,  1.  ad  fam.  VII,  9,  1.  Ein  solcher  Zwischengedanke  ist  zu 
ergänzen  ad  Att.  VII,  16,3:  De  Terentia  et  TuUia  (sc.  quod  scribis) 
tibi  adsentior,  ad  quas  scripseram,  ad  te  ut  referrent.  XII,  7,  2 :  De  Balbo 
(sc.  quod  scribis)  et  in  codicillis  scripseram  et  ita  cogito,  simul  ac  redierit. 
ad  fam.  IX,  4:  De  Coctio  (sc.  quod  scribis)  mihi  gratum  est;  nam  id 
etiam  Attico  mandaram.  ad  Att.  XIII,  22,  2 :  De  Marcello  (sc.  quod  scribis) 
scripserat  ad  me  Cassius  antea.  ad  fam.  111,41,  2:  De  re  publica  (sc. 
quod  me  mones)  deque  his  negotiis  cogitationibusque  nostris  perscripseram 
ad  te  diligenter  paucis  ante  diebus  easque  litteras  dederam  pueris  tuis. 
ad  Att.  XII,  20,  1 :  De  Terentia  (sc.  quod  me  mones)  scripsi  ad  te  iis 
litteris,  quas  dederam  pridie.  XVI,  1,5:  Pindaro  de  Cumano  (sc.  quod 
scribis)  negaram.  VII,  8,  2 :  Diem  tuum  (sc.  ut  scribis)  ego  quoque  ex 
epistola  quadam  tua,  quam  incipiente  febricula  scripseras,  mihi  notaveram 
et  animadverteram  posse  pro  re  nata  te  non  incommode  ad  me  in  Albanum 
venire  III.  Nonas  lanuar.  XIII,  6,  4 :  Tuditanum  istum  (sc.  de  quo  scribis), 
proavum  Hortensii,  plane  non  noram  et  filium,  qui  tum  non  potuerat  esse 
legatus,  fuisse  putaram.  XVI,  2,  5:  De  Tutia  (sc.  quod  scribis),  ita  puta- 
ram. Xn,  42,  3 :  Venerat  mihi  in  mentem  monere  te,  ut  id  ipsum,  quod 
(sc.  ut  scribis)  facis,  faceres.  ad  Q.  fr.  III,  1,  5,  17:  Oppium  (sc.  quod 
scribis)  miror  quicquam  cum  Public;  mihi  enim  non  placuerat,  ad  Att. 
I,  13,  5.  XV,  21,  2. 


476  Emil  Zimmebhann 

Nicht   selten   fehlt  der  Gedanke,  dass  eine  Änderung  eingetreten 
oder  trotz  anderer  Möglichkeit  nicht  eingetreten  ist.    Diesen  Gedanken 
finden  wir  vor  ad  Att.  VII,  23,  2 :  Ego  tarnen  Philotimi  litteris  lectis 
mutavi  consilium  de  mulieribus,  quas,  ut  scripseram  ad  te,  Romam  re- 
mittebam.    III,  1 3,  1 :  Quod  ad  te  scripseram  me  in  Epiro  futurum,  postea 
quam  extenuari  spem  nostram  et  evanescere  vidi,  mutavi  consilium  nee 
me  Thessalonica  commovi,  ubi  esse  statueram,  quoad  aliquid  ad  me  de 
eo  scriberes,  quod  proximis  litteris  scripseras.   ad  fam.  XIV,  15:  Constitu- 
eramusj  ut  ad  te  antea  scripseram,  obviam  Ciceronem  Caesari  mittere, 
sed  mutavimus  consilium,  quia  de  illius  adventu  nihil  audiebamus.  ÜI,  6,  2. 
ad  Att.  XVI,  10,  1.  Pomp,  ep.,  ad  Att.  Vm,  12  B,  1.  ad  fam.  IV,  4,  4:  Ego 
rogatus  mutavi  meum  consilium ;  nam  statueram  ...  in  perpetuum  tacere. 
Fregit  hoc   meum   consilium   et  Caesaris  magnitudo  animi  et  senatus 
officium,    ad  fam.  V,  4,  1 :  Litterae  Q.  fratris  et  T.  Pomponii . . .  tantum 
spei   dederant,  ut . . .  Postea  mihi  non  tarn  meorum  litterae  quam  ser- 
mones  eorum,  qui  hac  iter  faciebant,  animum  tuum  immutatum  significa- 
bant.    I,  8,  3 :  Quae  enim  proposita  fuerant  nobis  . . .  ea  sublata   tota 
sunt .  .  .  Commutata  tota  ratio  est  senatus,  iudiciorum,  rei  totius  publicae. 
Nep.  Ale.  5,  5 :  Horum  in  imperio  tanta  commutatio  rerum  facta  est ,  ut 
Lacedaemonii,  qui  paulo  ante  victores  viguerant,  perterriti  pacem  peterent. 
Caes.  b.  G.  VI,  12,  6.  ad  Att.  VI,  6,  3:  Tamen,  dum  impendere  Parthi  vide- 
bantur,  statueram  fratrem  relinquere  aut  etiam  rei  publicae  causa  contra 
senatus  consultum  ipse  remanere;   qui  postea  quam  incredibili  celeritate 
discesserunt,  sublata  dubitatio  est.   n,  9,  1 :  Festive,  mihi  crede,  et  minore 
sonitu,  quam  putaram,  orbis  hie  in  re  publica  est  conversus.    de  olBf.  I,  S4. 
ad  Att.  VI,  1,  3:  Nunc  venio  ad  Brutum,  quem  ego  onmi  studio  te  auetore 
sum  complexus,  quem  etiam  amare  coeperam,  sed  ilieo   revocavi  me. 
II,  21,  5:  Putarat  Caesar  oratione  sua  posse  impelli  eontionem,  ut  iret  ad 
Bibulum;  multa  cum  seditiosissime  diceret,  vocem  exprimere  non  potuit. 
Vn,  3,  8:  Et  id,  quod  animum  induxerat,  non  tenuit.   HC,  18,  1 :  Exspecta- 
tionem  nobis  non  parvam  attuleras,  cum  scripseras  . . .  Utrum  id  nihil  yw/V, 
an  adver satae  sunt  Caesaris  litterae?    X,  11,  1:   Obsignata  iam  epistola 
superiore  non  placuit  ei  dari,  cui  constitueram^  quod  erat  alienus;  itaque 
eo  die  data  non  est.   III,  6:  Non  fuerat  mihi  dubium,  quin  te  Tarenti  aut 
Brundisii  visurus  essem  . . .  Quoniam  id  non  contigit,  erit  hoc  quoque  in 
magno  numero  nostrorum  malorum.  ad.  fam.  VII,  5, 1. 2.  IX,  20, 1.  X,  22,  2. 
Caelii  epp.,  ad  fam.  VIII,  9,  2.  11,  2.  Planci  ep.,  ad  fam.  X,  21,  2—5.    Ein 
solcher  Gedanke  ist  zu  ergänzen  ad  fam.  IV,  13,  2 f.:  Obtinemus  ipsius 
Caesaris  summam  erga  nos  humanitatem,  sed  ea  plus  non  potest  quam  vis 
et  mutatio  omnium  rerum  atque  temporum  (sc.  quae  est  facta).    Itaque 


Bezogener  Gebrauch  scheinbar  selbständig  gebrauchter  Präterita  im  Latein.    477 

orbus  iis  rebus  omnibus,  quibus  et  natura  me  et  voluntas  et  consuetudo 
adsuefecerat,  cum  caeteris,  ut  mihi  videor,  tum  mihi  ipse  displiceo.  ad 
Att.  n,  6,  1 :  Quod  tibi  superioribus  litteris  promiseram ,  fore  ut  opus 
exstaret  huius  peregrinationis  (sc.  mutavi  consilium),  nihil  iam  magno 
opere  confirmo.  VII,  16,  3:  De  Terentia  et  Tullia  tibi  adsentior;  ad  quas 
scripseram,  ad  te  ut  referrent;  si  nondum  profectae  sunt,  nihil  est,  quod 
se  moveant,  quoad  perspiciamus ,  quo  loci  sit  res.  11,20,  5:  Quod  scrip- 
seram  ut  Furnio  scripturum,  nihil  necesse  est  tuum  nomen  mutare.  Me 
faciam  Laelium  et  te  Atticum.  XIV,  14,  6:  Quod  me  cogitare  iubes, 
cogitabo  equidem,  etsi  tibi  dederam  superiore  epistola  cogitandum.  I,  11,  2. 
n,  7,  5.  Vm,  5,  1.  XI,  10,  2.  18,  1.  23,  1.  XII,  14,  1.  CaeHi  ep.,  ad  fam. 
Vin,  3,  1.  ad  Att.  II,  6,  1 :  A  scribendo  prorsus  abhorret  animus.  Etenim 
yB(i)yQaq)iY.ä,  quae  constituerami  magnum  opus  est:  ita  valde  Eratosthenes, 
quem  mihi  proposueram^  a  Serapione  et  ab  Hipparcho  reprehenditur. 
IX,  15,  4.  XIV,  13,  4.  XVI,  11,  6.  11,  19,  3:  Equidem  malueram,  quod  erat 
susceptum  ab  illis,  silentio  transiri;  sed  vereor,  ne  non  liceat.  XHI,  21,  3. 
44,  1.  ad  *Q.  fr.  in,  1,  4,  14.  ad  Att.  XIV,  15,  3:  Incipit  res  melius  ire, 
quam  puiaram.  II,  7,  4.  19,  2.  IV,  4b,  1.  VI,  1,  2.  Vn,  3,  5.  XIH,  5,  1. 
ad  fam.  n,  13,  3.  VII,  25,  1.  Metelli  ep.,  ad  fam.  V,  1,  1.  Caelii  ep.,  ad 
fam.  Vin,  6,  1.  ad  Att.  I,  14,  6:  Habes  res  Romanas.  Sed  tamen  illud, 
quod  non  speraram,  audi.  IX,  10,  7:  Si  tum  dubitaras,  nunc  certe  non 
dubitas.  Att.  XII,  13,  2:  Quod  enim  dixerat,  non  facit.  11,  4,  1.  XIV,  9,  3. 
ad  fam.  IX,  6,  6.  XII,  29,  2.  ad  Att.  XIII,  44,  3:  Libonem  mecum  habeo, 
et  habueram  antea  Cascam.  ad  fam.  IX,  18,  3:  Ipse  melior  fio,  primum 
valetudine,  quam  intermissis  exercitationibus  amiseram.  ad  Q.  fr.  I,  2,  5,  16: 
Si  qui  antea  aut  alieniores  fuerani  aut  languidiores,  nunc  horum  regum 
odio  se  cum  bonis  coniungunt.  ad.  Att.  XV,  28 :  Ego,  ut  ad  te  pridie 
scripseram,,  Nonis  constitueram  venire  in  Puteolanum.  Ibi  igitur  cotidie 
tuas  litteras  exspectabo.  XII,  7,  2.  XIII,  22,  3.  ad  fam.  V,  19,  1 :  Exstatque 
id,  quod  mihi  ostenderas  quibusdam  litteris  ...  ad  Q.  fr.  III,  5  und  6,  2 : 
Ego  autem  id  ipsum  tum  er  am  secutus,  ne  in  nostra  tempora  incurrens 
offenderem  quempiam.  Nunc  et  id  vitabo  et  loquar  ipse  tecum,  et  tamen 
illa,  quae  institueram,  ad  te,  si  Romam  venero,  mittam.  ad  fam.  11,  13,  1 : 
Etsi  omnia  sie  constitueram  mihi  agenda,  ut  tu  admonebas,  tamen  con- 
firmantur  nostra  consilia,  cum  sentimus  prudentibus  fideliterque  suaden- 
tibus  idem  videri.  ad  Att.  XV,  13,  4:  Proficiscor,  ut  constitueram^  legatus 
in  Graeciam?  VII,  18,  1:  Responsa  Pompeii  grata  populo  et  probata 
contioni  esse  dicuntur:  ita  putaram,  V,  8,  3:  Philotimus,  ut  ego  ei  coram 
dixeram  mihique  ille  receperat,  ne  sit  invito  Milone  in  bonis.  Nihil  nobis 
fuerat  tanti.    VII,  3,  8 :  Idem  initio  fuerat  et  nunc  est  egregius.    de  fin. 


478  Emil  ZiHMBBMAmf 

V,  14,40:  Ita  similis  erit  ei  finis  boni  atque  an tea  yi/era/,  neque  idem 
tarnen,  ad  fam.  HI,  6,  5 :  In  quo,  tuo  consüio  ut  me  sperarem  esse 
usurum,  et  amicitia  nostra  et  litterae  iuüe  fecerant,  quod  ne  nunc  quidem 
despero. 

IL  Gegenseitige  Beziehung  von  Handlungen  oder  Zuständen  im  Imper- 
fekt, im  historischen  Infinitiv  oder  im  Plusquamperfekt  der  Gleichzeitigkeit. 

Wir  finden  sowohl  bei  hypotaktischem  als  auch  bei  parataktischem  Satz- 
bau oft  Imperfekte,  zuweilen  auch  historische  Infinitive  oder  Plusquamper- 
fekte  der  Gleichzeitigkeit  vor,  ohne  dass  Handlungen  oder  Zustände  im 
Perfekt  oder  einem  gleichwertigen  Präsens  oder  auf  solche  bereits  bezogene 
im  Imperfekt  oder  historischen  Infinitiv  oder  Plusquamperfekt  dastehn  oder 
zu  ergänzen  sind,  auf  welche  sich  die  durch  jene  Tempora  ausgedrückten 
Handlungen  oder  Zustände  beziehn.  Der  Gebrauch  jener  Tempora  ist 
dann  durch  die  gegenseitige  Beziehung  von  Handlungen  oder  Zustän- 
den zu  erklären. 

a)  Ausdruck  zweier  oder  mehrerer  Handlungen  oder  Zustände  durch 
Imperfekte,  historische  Infinitive  oder  Plusquamperfekte  der  Gleichzeitigkeit 

Wir  müssen  hier  zunächst  unser  Augenmerk  auf  solche  Stellen  richten, 
in  welchen  wir  zwei  oder  mehrere  Handlungen  oder  Zustände  haben, 
welche  durch  Imperfekte,  historische  Infinitive  oder  Plusquamperfekte  aus- 
gedrückt sind,  ohne  dass  Beziehung  auf  dastehende  oder  zu  ergänzende 
Handlungen  oder  Zustände  im  Perfekt  oder  einem  gleichwertigen  Präsens 
oder  auf  bereits  auf  solche  bezogene  stattfindet 

Während  z.  B.  bei  hypotaktischem  Satzbau  an  Stellen  wie  Cat  H,  1, 1 : 
Loco  ille  motus  est,  cum  est  ex  urbe  depulsus  selbständig  gebrauchte 
Perfekte,  an  Stellen  wie  de  div.  H,  3 :  Sex  libros  de  re  publica  tum  scrip- 
simus,  cum  gubernacula  rei  publicae  tenebamus  im  Nebensatze  Beziehung 
auf  den  Hauptsatz  und  an  Stellen  wie  ad  Att.  IX,  17, 1 :  Trebatium  VI.  Kai., 
quo  die  has  litteras  dedi,  ewspectabam  im  Hauptsatze  Beziehung  auf  den 
Nebensatz  haben,  erscheint  an  Stellen  wie  ad  Att  Vni,  16,  2:  Cum  haec 
scribebam  IV.  Nonas,  iam  exspectabam  aliquid  a  Brundisio  die  gegen- 
seitige Beziehung;  denn  es  ist  hier  die  im  Imperfekt  stehende  Hand- 
lung des  Nebensatzes  ebenso  auf  die  im  Imperfekt  stehende  des  Haupt- 
satzes wie  die  des  Hauptsatzes  auf  die  des  Nebensatzes  bezogen. 

Bei  dieser  gegenseitigen  Beziehung  können  auch  solche  Plusquam- 
perfekte erscheinen,  welche  die  Gleichzeitigkeit  von  Zuständen  aus- 
drücken und  somit  den  Imperfekten  gleichwertig  geworden  sind,  wie  an 
der  Stelle  ad  fam.  XU,  6,  2 :  Res,  cum  haec  scribebam,  erat  in  extremum 


Bezogener  Gebrauch  scheinbar  selbständig  gebrauchter  Präterita  im  Latein.    479 

adducta  discrimen.  Dagegen  kann  von  gegenseitiger  Beziehung  zwischen 
Handlungen  oder  Zuständen  im  Imperfekt  und  Plusquamperfekt  nicht  mehr 
die  Rede  sein,  wenn  das  Plusquamperfekt  eine  vorzeitige  Handlung 
oder  einen  solchen  Zustand  bezeichnet.  Dann  kann  nur  Beziehung  der 
einen  Handlung  oder  des  einen  Zustandes  auf  die  andere  Handlung 
oder  den  anderen  Zustand  stattfinden,  während  für  diese  andere  Handlung 
oder  den  anderen  Zustand  auch  eine  andere  Art  der  Beziehung  vorhanden 
sein  muss. 

Die  gegenseitige  Beziehung  tritt  uns  besonders  oft  bei  hypotak- 
tischem Satzbau  entgegen,  namentlich  wenn  der  untergeordnete  Satz  ein 
temporaler  ist 

So  haben  wir  diesen  Gebrauch  im  Briefstile,  wie  die  zuletzt  an- 
geführten Beispiele  zeigten.  Ihnen  füge  ich  hier  folgende  hinzu :  ad  fam. 
XVI,  10,  2 :  Pompeius  erat  apud  me,  cum  haec  scribebani,  hilare  et  lubenter. 
in,  1 3,  2 :  Cum  haec  scribebanii  censorem  iam  te  esse  sperabam.  So  weiter 
cum  scribebam  im  Neben-  und  ein  Imperfekt  im  Hauptsatze  V,  12, 2.  20,  5. 
VI,  4, 1.  21, 1.  XII,  10, 1.  24,  2.  ad  Att.  V,  20,  5.  VIII,  9,  4.  15,  3.  XV,  13, 1. 
ad  Q.  fr.  IH,  2,  1.  [ad  Brut.  I,  18,  3.  11,  1,  1].  ad  Att.  XV,  27,  3 :  Cum  haec 
acriberem,  adventabat  (sollte  ankommen)  avurj  ßovlvaei  cenantibus  nobis. 
HI,  21 :  Triginta  dies  erant  ipsi,  cum  has  dabam  litteras,  per  quos  nullas 
a  vobis  acceperam.  V,  2,  1 :  A.  d.  VI.  Idus  Maias,  cum  has  dabam  litteras, 
ex  Pompeiano  proficiscebar  (=  proficisci  cogitabam).  V,  15,  3.  [ad  Brut. 
I,  10,  5].   Planci  ep.,  ad  fam.  VIH,  23, 3. 

Aber  nicht  nur  im  Briefstile,  sondern  auch  in  der  sonstigen  Sprache 
finden  wir  diesen  Gebrauch,  natürlich  ebenfalls  an  solchen  Stellen  von 
Briefen,  in  denen  uns  der  gewöhnliche  Sprachgebrauch  entgegentritt,  ad 
Att.  XIV,  8,  1 :  Tu  me  iam  rebare,  cum  scribebas,  in  actis  esse  nostris,  et 
ego  accepi  XVII.  Kai.  in  deversoriolo  Sinuessano  tuas  litteras.  ad  fam. 
III,  7,  3:  Quid?  Cum  dabas  iis  litteras,  per  quas  mecum  agebas,  ne  eos 
impedirem,  quo  minus  ante  hiemem  aedificarent,  non  eos  ad  me  venturos 
arbitr abare'?  [ad  Brut.  1, 14, 1 :  Sed  videlicet,  cum  illam  pusillam  epistolam 
ad  me  dabas,  nondum  erat  tibi  id  notum].  ad  fam.  I,  1,1:  Res  agitur  per 
eosdem  creditores,  per  quos,  cum  tu  aderas,  agebatur.  ad.  Att.  XII,  39,  2 : 
De  tabellariis  facerem,  quod  suades,  si  essent  uUae  necessariae  litterae, 
ut  erant  olim,  cum  tamen  brevioribus  diebus  cotidie  respondebant  tem- 
pori  tabellarii;  et  erat  aliquid,  Silius,  Drusus,  alia  quaedam;  nunc  nisi 
Otho  exstitisset,  quod  scriberem,  non  erat;  id  ipsum  dilatum  est.  ad  fam. 
VI,  21,  1:  Cum  aliquid  videbatur  caveri  posse,  tum  id  neglegi  do/ebam; 
nunc  vero  eversis  omnibus  rebus,  cum  consilio  profici  nihil  possit,  una 
ratio  videtur,  quicquid  evenerit,  ferre  moderate.    VI,  2,  2:  Sin  omnino 


480  £mil  Zuimbbmann 

interierint  omnia  fueritque  is  exitus,  quem  vir  pradentissimus ,  M.  Anto- 
nius, iam  tum  l/mebat,  cum  tantum  instare  malorum  suspicabatur,  misera 
est  illa  quidem  consolatio.  de  off.  III,  26 :  Itaque  tum,  cum  resectis  pal- 
pebris illigatus  in  machina  vigilando  et  fame  necabatur,  erat  in  meliore 
causa,  quam  si  domi  senex  captivus,  periurus  consularis  remansisset. 
p.  Sest.  21,  47:  Aut  ego  illas  res  tantas  in  tanta  improborum  multitudine 
cum  gerebam,  non  mihi  mors,  non  exilium  ob  oculos  versabaturf  Verr. 
n,  2,  11,  29:  Sed  tu,  cum  et  tuos  amicos  in  provinciam  quasi  in  praedam 
invitabas  et  cum  iis  et  per  eos  praedahare  et  eos  in  contione  anulis  aureis 
donabas,  non  slatuebas  tibi  non  solum  de  tuis,  sed  etiam  de  illorum  factis 
rationem  esse  reddendam?  Tusc.  V,  20, 57 :  Ea  enim  ipsa,  quae  concupierat, 
ne  tum  quidem,  cum  omnia  se  posse  censebat,  consequebatur.  Pis.  26 :  An 
tum  eras  consul,  cum  in  Palatio  domus  mea  ardebatf  Cat.  DI,  2, 4:  Nam 
tum,  cum  ex  urbe  Catilinam  eiciebam  .  .  .  sed  tum,  cum  illum  extermi- 
nari  volebam,  aut  reliquam  coniuratorum  manum  simul  exituram  aut  eos, 
qui  restitissent,  infirmos  sine  illo  ac  debiles  fore  putabam.  Cat  m.  6, 15: 
cum  rem  publicam  consilio  et  auctoritate  defendebant,  nihil  agebant? 
p.  Dei.  1,3:  Fugitivi  autem  dominum  accusantis  .  .  .  cum  eos  videbam, 
cum  verba  audiebam,  non  tam  adflictam  regiam  condicionem  dolebam  quam 
de  fortunis  communibus  extimescebam,  p.  Flacco  1.  Caes.  b.  G.  V,  35,  Iff. 
Cat.  in,  7,  16:  Quem  quidem  ego  cum  ex  uihQ  peliebam,  hoc  providebam 
animo  .  .  .  ille  erat  unus  timendus  ex  istis  omnibus,  sed  tam  diu,  dum 
urbis  moenibus  continebatur.  de  sen.  22,  79 :  Neque  enim,  dum  erain  vobis- 
cum,  animum  meum  videbatis,  sed  eum  esse  in  hoc  corpore  ex  iis  rebus, 
quas  gerebam,  intellegebatis,  ad  Att.  XII,  18,  1 :  Dum  illud  tractabam,  de 
quo  ad  te  ante  scripsi,  quasi  fovebam  dolores  meos ;  nunc  omnia  respuo, 
nee  quicquam  habeo  tolerabilius  quam  solitudinem.  XIII,  18:  Conloqui 
videbamu?^  in  Tusculano  cum  essem ;  tanta  erat  crebritas  litterarum.  1, 1 7, 1 : 
quibus  ego  mederi  cum  cuperem  antea  saepe  et  vehementius  etiam  post 
sortitionem  provinciae,  nee  tantum  intellegebam . . .  nee  tantum  pj^oficiebam  . . . 
Verr.  II,  3,  40,  94 :  Antea  cum  equester  ordo  tudicaret,  improbi  et  rapaces 
magistratus  in  provinciis  inserviebant  publicanis  ...  tu  sie  ordinem  sena- 
torium  despexisti  ...  de  or.  II,  188:  Haee  sunt  illa,  quae  me  ludens 
Crassus  modo  flagüabat,  cum  a  me  divinitus  tractari  solere  diceret  et  in 
causa  M.'  Aquilii,  Gaii  Norbani  nonnuUisque  aliis  quasi  praeclare  acta 
laudaret;  quae  mehercule  ego,  Crasse,  eum  a  te  tractantur  in  causis,  hor- 
rere  soleo.  de  fin.  n,  16,  51.  Caes.  b.  G.  I,  50,  4:  Cum  ex  captivis  quae- 
reret  (bei,  während  seiner  Nachforschung)  Caesar...  hanc  reperiebat 
causam  ...  11,  4,  1 :  Cum  ab  bis  quaereret ...  sie  reperiebat ...  1 5,  3 : 
Caesar  eum  quaereret,  sie  reperiebat . .  . 


Bezogener  Gebrauch  scheinbar  selbständig  gebrauchter  Präterita  im  Latein.  481 

Die  gegenseitige  Beziehung  finden  wir  auch  sonst  bei  hypotak- 
tischem Satzbau. 

Dabei  können  verschiedene  Arten  von  untergeordneten 
Sätzen  erscheinen. 

Der  untergeordnete  Satz  kann  ein  Relativsatz  sein. 

Briefstil:  ad  Att.  VI,  1,2:  Eo  ipso  die,  quo  haec  ante  lucem  ^cW^e- 
bam,  cogUabam  eius  multa  inique  constituta  et  acta  tollere.  XTTT,  15: 
Quo  autem  die  has  Valerio  dabam-,  exspectabam  aliquem  meorum;  qui 
si  venisset  et  a  te  quid  attulisset,  videbam  non  defuturum,  quod  scriberem. 
I,  1,  1 :  Nos  autem  initium  prensandi  facere  cogitaramus  eo  ipso  tempore, 
quo  tuum  puerum  cum  his  litteris  proficisci  Cincius  dicebat. 

Gewöhnücher  Sprachgebrauch :  ad  fam.  XY,  20, 2 :  Quamquam  duae 
causae  sunt,  cur  tu  frequentier  in  isto  officio  esse  debeas  quam  nos : 
primum  quod  olim  solebant,  qui  Romae  erant,  ad  provincialis  amicos  de 
re  publica  scribere,  nunc  tu  nobis  scribas  oportet.  Verr.  n,  1,47,  124: 
Utrum  reprehendis,  quod  patronum  iuvabat  eum,  qui  [tmn]  in  miseriis 
eratj  an  quod  alterius  patroni  mortui  voluntatem  conservabaty  a  quo  sum- 
mum  beneficium  acceperat.  ad  Att.  XV,  29,  3 :  Signata  iam  epistola  For- 
miani,  qui  apud  me  cenabant,  Plancum  se  aiebant  hunc  Buthrotium  pridie, 
quam  hoc  scribebam,  id  est  III.  Nonas,  vidisse  demissum,  sine  phaleris. 
V,  16,  4:  De  Partho  silentium  est,  sed  tamen  concisos  equites  nostros  a 
barbaris  nuntiabant  ii,  qui  veniebanL  V,  4, 1 :  Postea  mihi  non  tam  meorum 
litterae  quam  sermones  eorum,  qui  hac  iter  faciebant,  animum  tuum 
immutatum  s?'gmßcabant;  quae  res  fecit,  ut  tibi  litteris  obstrepere  non 
auderem.  Cat.  II,  6,  14:  In  exsilium  eiciebam,  quem  iam  ingressum  esse 
in  bellum  videbam?  Caes.  b.  G.  IV,  26,  4 :  Quod  cum  animadvertisset 
Caesar,  scaphas  longarum  navium,  item  speculatoria  navigia  militibus  com- 
pleri  iussit  et,  quos  laborantes  conspexerat  (=  videbat),  his  subsidio  sub- 
mittebat.  V,  35, 1  ff.  Phaedr.  I,  17:  Calumniator  ab  ove  cum  peteret  (bei, 
während  der  Anwesenheit  und  Unterredung),  Quem  commodasse  panem 
se  contenderet,  Lupus  citatus  testis  non  unum  modo  Debere  dixit,  verum 
adfirmavit  decem.  ad  Att.  I,  17,1:  Atque  illud  a  me  iam  ante  intellege- 
batur,  quod  te  quoque  ipsum  discedentem  a  nobis  suspicari  videbam 

Der  untergeordnete  Satz  kann  ein  Vergleichungssatz  sein. 

Briefstil:  ad  Att.  IV,  1 5,  8 :  Haec  ego  pridie  scribebam,  quam  comitia 
fore  putabantui'. 

Gewöhnlicher  Sprachgebrauch:  p.  Cael.  31,  75:  Qua  ex  vita  vel  dicam 
quo  ex  sermone — nequaquam  enim  tantum  erat^  quantum  homines  loque- 
bantur—Yeima  ex  eo  quicquid  erat  emersit.  ad.  Att.  1, 17, 1:  quibus  ego 
mederi  cum  cuperem  antea  saepe  et  vehementius  etiam  post  sortitionem 

31 


482  Emil  Zimmebmann 

provinciae,  nee  tantum  intellegebam  ei  esse  offensionis,  quantum  litterae 
tuae  declarant,  nee  tantum  proficiebam^  quantum  votebam,  Tuse.  I,  13,29: 
tantum  sibi  persuaserant ,  quantum  natura  admonente  cognoverant .  . , 
Verr.  V,  90 :  neque  ii  tam  praedonum  impetum  fugiebant^  quam  impera- 
torem  sequebantur,  p.  Dei.  3 :  non  tam  adflietam  regiam  condieionem  Jole- 
bam,  quam  de  fortunis  eommunibus  extimesceham.  b.  Alex.  27 :  Quem  ad 
modum  autem  optabat  eum  vinci,  sie  satis  habebat  interclusum  a  Caesare 
a  se  retineri.  Caes.  b.  G.  VII,  48 :  Interim  ii . . .  magno  eoncursu  eo  eon- 
tenderunt.  Eomm  ut  quisque  primus  vener ai  (=  aderat),  sub  muro  con- 
sistebat  suorumque  pugnantium  numerum  augebat.  p.  dom.  7S :  non  prius 
hanc  civitatem  amütebant,  quam  erant  in  eam  recepii. 

Der  untergeordnete  Satz  ist  ein  Concessivsatz. 

Briefstil:  ad  Att.  IX,  1, 1 :  Etsi,  eum  tu  has  litteras  legeres,  putabam 
fore  ut  scirem  iam,  quid  Brundisii  aetum  esset  —  nam  Canusio  IX. 
Kai.  profeetus  erat  Gnaeus,  haec  autem  seribebam  pridie  Nonas,  XIY. 
die  quam  ille  Canusio  moverat  —  tamen  angebar  singularum  horarum 
exspectatione  mirabar({ue  nihil  allatum  esse  ne  rumoris  quidem;  nam 
erat  mirum  silentium.  ad  fam  VI,  21, 1 :  Etsi,  eum  haee  ad  te  seribebam, 
aut  adpropinquare  exitus  huius  ealamitosissimi  belli  aut  iam  aliquid  aetum 
et  eonfeetum  videbatur,  tamen  eotidie  commemorabam  ^  ,  .  or.  41,140: 
De  quo  cum  mihi  deineeps  viderem  esse  dieendum,  etsi  movebant  iam 
me  illa,  quae  supra  dixeram,  tamen  iis,  quae  sequuntur,  perturbabar  magis. 
ad  Att.  VII,  1,1:  Dederam  equidem  L.  Saufeio  litteras  et  dederam  ad 
te  unum,  quod,  eum  non  esset  temporis  mihi  ad  scribendum  satis,  tamen 
hominem  tibi  tam  familiärem  sine  meis  litteris  ad  te  venire  nolebam, 
[ad  Brut.  I,  15,2:  Quem  eum  a  me  dimittens  graviter  yerr<?wi,  hoc  leva- 
bar  uno,  quod  ad  te  tanquam  ad  alterum  me  proficiseens  et  offieio  funge- 
batur  et  laudem  maximam  sequebatur].  ad  fam.  XII,  7, 2.  ad  Att.  VI,  5,  3. 

Gewöhnlieher  Sprachgebraueh :  de  or.  I,  35, 160:  Sed  quamquam  satis 
iis,  qui  aderant,  ad  id,  quod  erat  propositum,  ^icivim  videbatur,  tamen  sen- 
tiebat .  .  .  Sali.  Cat.  31,  4:  At  Catilinae  erudelis  animus  eadem  illa  move- 
bat,  tametsi  praesidia  parabantur  et  ipse  lege  Plautia  interrogatus  erat 
ab  L.  Paulo,  ad  Q.  fr.  I,  1, 1, 1 :  Nam  superioribus  litteris,  non  unis,  sed 
pluribus,  eum  iam  ab  aliis  desperata  res  esset,  tamen  tibi  ego  spem 
maturae  deeessionis  adferebam.  lEE,  2, 2 :  Cum  Gabinius ,  quaeumque 
veniebat,  triumphum  se  postulare  dixisset  subitoque  bonus  imperator  noetu 
in  urbem,  hostium  plane,  invasisset  (se.  in  eaque  esset),  in  senatum  se 
non  committebat. 

Der  untergeordnete  Satz  ist  ein  Bedingungssatz. 

Briefstil :  ad  fam.  Xm,  7, 3 :  Nisi  magnam  spem  haberem  C.  Caesari 


Bezogener  Gebrauch  scheinbar  selbständig  gebrauchter  Präterita  im  Latein.  483 

HOS  causam  municipii  probaturos,  non  erat  causa,  cur  a  te  hoc  tempore 
aliquid  contenderem. 

Gewöhnlicher  Sprachgebrauch :  Verr.  III,  40,  93 :  Hunc  ordinem  si 
dignitate  antecellere  non  existimabaa  y  ne  hoc  quidem  sciebas,  iudicare? 
Q.  Metelli  ep.,  ad  fam.  V,  1, 1:  Quem  si  parum  pudor  ipsius  def endebat, 
debebat  vel  familiae  nostrae  dignitas  vel  meum  Studium  erga  vos  remque 
publicam  satis  sublevare.  Nunc  video  illum  circumventum,  me  desertum, 
a  quibus  minime  conveniebat.  Caes.  b.  G.  V,  35, 1  ff. 

Der  untergeordnete  Satz  ist  ein  Kausalsatz. 

Briefstil:  ad  Att.  XV,  9,  2:  Hoc  autem  tempore,  quod  scriberem, 
nihil  erat  eoque  minus,  quod  duhitabam,  tu  has  ipsas  litteras  essesne 
accepturus ;  erat  enim  incertum ,  visurusne  te  esset  tabellarius.  ad  Q.  fr. 
111,1,5.15:  Quod  Cato  non  valebat,  adhuc  de  pecuniis  repetundis  non 
et^at  postulatus.  [ad  Brut.  1, 15,2].  ad  fam.  X,  1,  2.  XIII,  10,  1:  Cum  ad 
te  tuus  quaestor,  M.  Yarro,  proficisceretur,  commendatione  egere  eum  non 
putabam;  satis  enim  commendatum  tibi  eum  arbitrabar  ab  ipso  more 
maiorum.  ad  Att.  I,  9, 1 :  Propter  hanc  dubitationem  brevior  haec  ipsa 
epistola  est,  quod,  cum  incertus  essem,  ubi  esses,  nolebam  illum  nostrum 
familiärem  sermonem  in  alienas  manus  devenire. 

Gewöhnlicher  Sprachgebrauch:  ad  Q.  fr.  III,  1,  3,  10:  De  publicis 
negotiis,  quae  vis  ad  te  Tironem  scribere,  neglegentius  ad  te  ante  scribebam^ 
quod  omnia  minima  maxima  ad  Caesarem  mitti  sciebam.  ad  fam.  XU, 
30,  2 :  Nam  cum  antea  distinebar  maximis  occupationibus,  propterea  quod 
Omnibus  curis  rem  publicam  mihi  tuendam  putabam,  tum  hoc  tempore 
multo  distineor  vehementius.  ad  Att.  X,  16,  1 :  Quod  quia  plane,  cum  in 
Formianum  venisset,  praeciderat,  asperius  ad  te  de  eo  scribere  solebam, 
IV,  16,  1 :  De  epistolarum  frequentia  te  nihil  accuso,  sed  pleraeque  tantum 
modo  mihi  nuntiabant,  ubi  esses,  vel  etiam  significabant  recte  esse,  quod 
ej^ant  abs  te.  Caes.  b.  G.  V,  7,  1  ff. :  Qua  re  cognita  Caesar,  quod  tantum 
civitati  Aeduae  dignitatis  tribuebat,  coercendum  atque  deterrendum,  quibus- 
cumque  rebus  posset,  Dumnorigem  statuebat,  quod  longius  eins  amentiam 
progredi  videbat^  prospiciendum,  ne  quid  sibi  ac  rei  publicae  nocere  posset. 
Itaque  dies  circiter  XXV  in  eo  loco  commoratus,  quod  Corus  ventus  navi- 
gationem  impediebat . . .  dabat  operam,  ut .  .  .  tandem  idoneam  nactus 
tempestatem  milites  equitesque  conscendere  in  naves  iubet.  ad  Q.  fr.  I, 
1,  1,  1:  Nam  superioribus  litteris,  non  unis,  sed  pluribus,  cum  iam  ab 
aliis  res  desperata  esset,  tamen  tibi  ego  spem  maturae  decessionis  ad- 
ferebam,  non  solum  ut  quam  diutissime  te  iucunda  opinione  oblectarem, 
sed  etiam  quia  tanta  adhibebatur  et  a  nobis  et  a  praetoribus  contentio, 

31* 


484  £mIL   ZmHERMANN 

ut  rem  posse  confici  non  diffiderem.  ad  Att.  I,  17,  1:  Sed  tarnen  hoc  me 
ipse  consolabar,  quod  non  dubüabam,  quin  . . .  Verr.  II,  1,  17,  46:  Postridie 
cum  fanum  spoliatum  viderent  ii,  qui  Delum  incolebant,  graviter /ere- 
bant  ...  ad  Att  VH,  28,  1.  | 

Die  gegenseitige  Beziehung  zeigt  sich  auch  bei  parataktischem 
Satzbau,  wenn  die  Sätze  ihrem  Inhalte  nach  so  enge  zusammengehören 
wie  in  den  angeführten  Stellen  mit  hypotaktischem  Satzbau. 

Briefstil:  ad  fam.  X,  25,  3 :  Omnino  plura  me  scribere,  cum  tuum 
tantum  consilium  iudiciumque  sit,  non  ita  necesse  arbitrabar;  sed  tamen 
sententiam  meam  tibi  ignotam  esse  nolebam.  VI,  4,  1 :  Novi,  quod  ad  te 
scriberem,  nihil  erat,  et  tamen,  si  quid  esset,  sciebam  te  a  tuis  certiorem 
fieri  solere.  11,12,1:  SoUicitus  equidem  er  am  de  rebus  urbanis;  ita 
tumultuosae  contiones,  ita  molestae  Quinquatrus  adferebantur  —  nam 
citeriora  nondum  audiebamus  —  sed  tamen  nihil  me  magis  soUicüabat 
quam  in  bis  molestiis  non  me,  si  quae  ridenda  essent,  ridere  tecum :  sunt 
enim  multa,  sed  ea  non  audeo  scribere.  ad  Att  XII,  41,  1 :  Nihil  erat 
quod  scriberem;  scire  tamen  volebam,  ubi  esses.  XL17,  1:  Ego  cum 
Sallustio  Ciceronem  mittere  cogüabam;  Tulliam  autem  non  videbam  esse 
causam  cur  diutius  mecum  tanto  in  communi  maerore  retinerem:  itaque 
matri  eam,  cum  primum  per  ipsam  liceret,  eram  remissurus. 

Gewöhnlicher  Sprachgebrauch:  ad  fam.  VI,  11,  1:  Dolabellam  antea 
tantum  modo  dih'gebam;  obligatus  ei  nihil  eram  —  nee  enim  acciderat 
mihi  opus  esse  —  et  ille  mihi  debebai,  quod  non  defiieram  eins  pericur 
lis :  nunc  tanto  sum  devinctus  eins  beneficio,  quod  et  antea  in  re  et  hoc 
tempore  in  salute  tua  cumulatissime  mihi  satis  fecit,  ut  nemini  plus 
debeam.  Liv.  V,  4,  5 :  Moleste  antea  ferebat  miles  se  suo  sumptu  operam 
rei  publicae  praebere ;  gaudebat  idem  partem  anni  se  agrum  suum  colere, 
quaererey  unde  domi  militiaeque  se  ac  suos  tueri  posset:  gaudet  nunc 
fructui  sibi  rem  publicam  esse  et  laetus  Stipendium  accipit  Sali.  Cat. 
23,  5 :  Ea  res  in  primis  studia  hominum  accendit  ad  consulatum  mandan- 
dum  M.  Tullio  Ciceroni.  Namque  antea  pleraque  nobilitas  invidia  aestuabat 
et  quasi  poUui  consulatum  credebant,  si  eum  quamvis  egregius  homo 
novos  adeptus  foret.  Sed  ubi  periculum  advenit,  invidia  atque  superbia 
post  fuere.  ad  Att  II,  7, 2 :  Equidem  ante,  quam  tuas  legi  litteras,  hominem 
Ire  cupiebam,  non  mehercule,  ut  diflPerrem  cum  eo  vadimonium  . . .  sed 
videbatur  mihi,  si  quid  esset  in  eo  populäre,  quod  plebeius  factus  esset, 
id  amissurus.  IV,  5,  1 :  Non  est  credibile,  quae  sit  perfidia  in  istis  prin- 
cipibus,  ut  volunt  esse  et  ut  essent,  si  quicquam  haberent  fidei.  Senseram, 
noram  inductus,  relictus,  proiectus  ab  iis;  tarnen  hoc  eram  animo,  ut 
cum  iis  in  re  publica  consentirem:  idem  erant,  qui  fuerant  Vix  aliquando 


Bezogener  Gebrauch  scheinbar  selbständig  gebrauchter  Präterita  im  Latein.  485 

te  auctore  resipui.  I,  1 7,  1 :  nee  tantum  intelleg eb am  ei  esse  offensionis, 
quantum  litterae  tuae  declarant,  nee  tantum  proficiebam,  quantum  volebam. 
Sed  tarnen  hoc  me  ipse  consolabar,  quod  non  dubitabam,  quin  te  ille 
aut  Dyrrhaehii  aut  in  istis  locis  uspiam  visurus  esset ;  quod  eum  accidisset, 
confidebam  ae  mihi  persuaseram  fore  ut  omnia  plaearentur  inter  vos. 
Verr.  II,  1,  17,  46:  Postridie  eum  fanum  spoliatum  viderent  ii,  qui  Delum 
incolebant,  graviter  ferebant . . .  Verbum  tamen  faeere  non  audebant,  ne 
forte  ea  res  ad  Dolabellam  ipsum  pertineret.  II,  3,  49,  117:  Atqui  tum 
neque  iudicium  de  modo  iugerum  dabatur  neque  erat  Artemidorus  Cor- 
nelius reeuperator  neque  ab  aratore  magistratus  Sieulus  tantum  exigebat, 
quantum  deeumanus  ediderat,  nee  benefieium  petebatur  ab  deeumano,  ut 
in  iugera  singula  temis  medimnis  deeidere  liceret,  nee  nummorum  aeees- 
sionem  cogebatur  arator  dare  nee  temas  quinquagesimas  frumenti  addere, 
et  tamen  populo  Komano  magnus  frumenti  numerus  mitlebatur.  Sali. 
Cat.  24,  1:  Igitur  eomitiis  habitis  eonsules  deelarantur  M.  Tullius  et 
C.  Antonius.  Quod  faetum  primo  popularis  eoniurationis  concusserat, 
Neque  tamen  Catilinae  furor  minuebatur^  sed  in  dies  plura  agitare,  arma 
per  Italiam  loeis  opportunis  parare,  peeuniam  sua  aut  amieorum  fide 
sumptam  mutuam  Faesulas  ad  Manlium  quendam  portare.  Tuse.  I,  13,  29: 
Sed  qui  nondum  ea,  quae  multis  post  annis  traetare  eoepissent,  physiea 
didieissent,  tantum  sibi  persuaserant,  quantum  natura  admonente  eogno- 
verant,  rationes  et  eausas  non  tenebant,  visis  quibusdam  saepe  movebantur 
iisqne  maxime  noeturnis,  ut  viderentur  ei,  qui  vita  exeesserant,  vivere. 
Caes.  b.  G.  V,  35,  1  ff.    Nep.  Ale.  6,  3.  de  fin.  V,  32,  96. 

Endlieh  erwähne  ieh  hier  noeh,  dass  natürlich  verschiedene  der  an- 
geführten Verhältnisse  auch  an  denselben  Stellen  zusammentreffen  können, 
so  dass  an  ihnen  die  gegenseitige  Beziehung  bei  hypotaktischem  und 
parataktischem  Satzbau  uns  mehrfach  entgegentritt. 

Briefstil:  ad  fam.  VI,  21,  1 :  Etsi,  eum  haec  ad  te  scribebam,  aut  adpro- 
pinquare  exitus  huius  ealamitosissimi  belli  aut  iam  aliquid  actum  et  eonfeetum 
videbatur,  tamen  cotidie  commemorabam ...  ad  Att.  XV,  9, 2 :  Hoc  autem  tem- 
pore quod  seriberem  nihil  erat^  eoque  minus,  quod  dubitabam,  tu  has  litteras 
essesne  aeeepturus;  erat  enim  incertum,  visurusne  te  esset  tabellarius.  [ad 
Brut.  I,  15,  2:  Quem  eum  a  me  dimittens  graviter /<?rr(?w,  hoc  levabar  uno, 
quod  ad  te  tanquam  ad  alterum  me  profieiseens  et  ofäcio  Jungebatur  et  laudem 
maximam  sequebatur],  or.  41,  140:  De  quo  eum  mihi  deineeps  viderem 
esse  dicendum,  etsi  movebant  iam  me  illa,  quae  supra  dixeram,  tamen  iis, 
quae  sequuntur,  perturbabar  magis.    Occurrebat  enim..  .  ad  Att.  IX.  1, 1. 

Gewöhnlicher  Sprachgebrauch:  ad  Att.  I,  17,  1 :  Atque  illud  a  me 
iam  ante  intelleg  eb  atur ,  quod  te  quoque  ipsum  diseedentem  a  nobis  sn- 


486  Emil  Zimmbbmann 

spicari  videbam,  subesse  nescio  quid  opinionis  incommodae  sauciumque 
esse  eius  animum  et  insedisse  quasdam  odiosas  suspiciones,  quibus  ego 
mederi  cum  cuperem  antea  saepe  et  vehementius  etiam  post  sortitionem 
provinciae,  nee  tantum  intellegebam  ei  esse  offensionis,  quantum  litterae 
tuae  declarant,  nee  tantum  proßciebam,  quantum  volebam.  Sed  tamen 
hoc  me  ipse  consolabar,  quod  non  dubitabam^  quin  te  ille  aut  Djrrhachii 
aut  in  istis  locis  uspiam  visurus  esset;  quod  cum  accidisset,  conßdebam 
ac  mihi  persuaseram  fore  ut  omnia  placarentur  non  modo  sermone  ac 
disputatione,  sed  conspectu  ipso  congressuque  vestro.  Verr.  ü,  1,  17,  46: 
Postridie  cum  fanum  spoliatum  viderent  ii,  qui  Delum  incolebant,  graviter 
ferebant,, .  Verbum  tamen  facere  non  audebant . . .  p.  Deiot  1,  3:  Fugitivi 
autem  dominum  accusantis  .  . .  cum  os  videbam ,  cum  verba  audiebam, 
non  tam  adflictam  regiam  condicionem  dolebam  quam  de  fortunis  com- 
munibus  extimescebam.  ad  Q.  fr.  I,  1,  1,  1:  Nam  superioribus  litteris, 
non  unis,  sed  pluribus,  cum  iam  ab  aliis  desperata  res  esset,  tamen 
tibi  ego  spem  maturae  decessionis  adferebam,  non  solum,  ut  quam  diu- 
tissime  te  iucunda  opinione  oblectarem,  sed  etiam  quia  tanta  adhibebatur 
et  a  nobis  et  a  praetoribus  contentio,  ut  rem  posse  confici  non  diffiderem. 
ad  Att.  VII,  1,  1.  Xm,  18.  ad  fam.  IE,  7,  3.  VI,  1, 5.  Caes.  b.  G.  V,  35, 1  ff. 

b)  Ausdruck  einzelner  Handlungen  oder  Zustände  durch  Imperfekte, 
historische  Infinitive  oder  Plusquamperfekte  der  Gleichzeitigkeit  und  zu- 
gleich Hinzuergänzung  von  Handlungen  oder  Zuständen  im  Imperfekt, 
im  historischen  Infinitiv  oder  im  Plusquamperfekt  der  Gleichzeitigkeit. 

Oben  habe  ich  eine  grössere  Anzahl  von  Stellen  angefahrt,  in  welchen 
bei  parataktischem  und  hypotaktischem  Satzbau  die  gegenseitige  Beziehung 
von  zwei  oder  mehreren  Handlungen  oder  Zuständen  stattfindet,  welche 
durch  Imperfekte  oder  historische  Infinitive  oder  Plusquamperfekte  der 
Gleichzeitigkeit  ausgedrückt  sind.  Nun  treten  uns  aber  nicht  selten  auch 
solche  einzelne  Handlungen  oder  Zustände  im  Imperfekt,  im  historischen 
Infinitiv  oder  im  Plusquamperfekt  der  Gleichzeitigkeit  entgegen,  bei  wel- 
chen andere  Handlungen  oder  Zustände  im  Imperfekt  oder  im  Plusquam- 
perfekt der  Gleichzeitigkeit  zu  ergänzen  sind,  so  dass  sich  dann  auch 
hier  die  gegenseitige  Beziehung  ergiebt. 

In  den  Nebensätzen  der  oben  S.  478  ff.  angeführten  Stellen  hatten 
wir  mehrfach  Redewendungen  wie  cum  haec  scribebam  oder  scriberem 
oder  cum  has  dabam  litteras  oder  eo  die  quo  oder  quo  die  oder  eo  tem- 
pore quo  haec  scribebam,  deren  Handlungen  auf  Handlungen  oder  Zu- 
stände der  regierenden  Sätze  bezogen  waren,  in  welchen  Imperfekte  oder 
Plusquamperfekte  der  Gleichzeitigkeit  standen,  deren  Handlungen  oder 


Bezogener  Gebrauch  scheinbar  selbständig  gebrauchter  Präterita  im  Latein.  487 

Zustände  sich  auf  die  Handlungen  jener  Nebensätze  bezogen.  loh  erinnere 
auch  an  die  oben  S.  472  f.  angeführten  weniger  zahlreichen  Beispiele,  in 
Vielehen  wir  in  den  Nebensätzen  ein  selbständig  gebrauchtes  quo  die 
haec  scripsi  oder  has  litteras  (hoc  litterarum)  dedi  oder  cum  haec  scripsi 
oder  cum  Yillium  cum  bis  litteris  ad  te  misi  haben  und  in  welchen  die 
im  Imperfekt,  im  historischen  Infinitiv  oder  im  Plusquamperfekt  der 
Gleichzeitigkeit  stehenden  Handlungen  oder  Zustände  der  regierenden 
Sätze  auf  die  Handlungen  jener  Nebensätze  bezogen  sind.  Man  hatte 
sich  nun  an  die  Beziehung  auf  ein  cum  scribebam  oder  auch  auf  ein 
cum  scripsi  oder  auf  einen  ähnlichen  Ausdruck  so  gewöhnt,  dass  sie  auch 
dann  eintrat,  wenn  jene  Redewendungen  nicht  ausdrücklich  gesetzt  wurden, 
sondern  nur  vorschwebten. 

Im  Briefstile  ergänzen  wir  ein  solches  cum  scribebam  etc.  be- 
sonders leicht,  wenn  es  durch  ein  Participium  oder  ein  Gerundium 
mit  in  angedeutet  ist.  ad  Att.  YII,  19:  Capuam  tamen  proficiscebar 
(=  proficisci  volebam)  haec  scribens  (==  cum  haec  scribebam).  ad  fam. 
Xni,  17,  3:  Mihi  certe  gratissimum  feceris,  si  intellexero  has  litteras 
tantum,  quantum  scribens  (-=  cum  scribebam)  confidebam,  apud  te  pondus 
habuisse.  VI,  1,  5:  Atque  haec  mihi  scribenii  veniebat  in  mentem  . .  . 
ad  Att.  I,  12,  4:  Quod  praeterea  ad  te  scribam,  non  habeo,  et  mehercule 
eram  in  scribendo  conturbatior ;  nam  puer  festivus,  anagnostes  noster, 
Sositheus  decesserat  meque  plus,  quam  servi  mors  debere  videbatur,  com- 
moverat.  Dem  Briefstile  gehört  auch  ad  Att.  I,  10,  3 :  Ibi  sedens  (=  cum 
ibi  sedebam)  haec  ad  te  scribebam,  ut  me  locus  ipse  admoneret  an,  wo 
wir  die  Umkehrung  eines  zu  erwartenden  Ibi  sedebam  haec  ad  te  scribens 
(==  cum  haec  ad  te  scribebam)  haben. 

Auch  im  gewöhnlichen  Sprachgebrauch  ergänzt  man  eine  Hand- 
lung oder  einen  Zustand  im  Imperfekt  oder  Plusquamperfekt  der  Gleich- 
zeitigkeit besonders  leicht  hinzu,  wenn  eine  vollständige  oder  unvollständige 
Participialkonstruktion  oder  ein  einer  solchen  gleichkommender 
Ausdruck  darauf  hinweist,  ad  fam.  IV,  13,  1 :  Quaerenti  mihi  (==  cum 
oder  etsi  quaerebam)  iam  diu,  quid  ad  te  potissimum  scriberem,  non 
modo  certa  res  nulla,  sed  ne  genus  quidem  litterarum  usitatum  veniebat 
in  mentem;  unam  enim  partem  et  consuetudinem  earum  epistolarum, 
quibus  secundis  rebus  (==  cum  res  erant  oder  essent  secundae)  uti  sole- 
bamusy  tempus  eripuerat.  de  div.  II,  1,  1 :  Quaerenti  mihi  multumque  et 
diu  cogitajiti,  quanam  re  possem  prodesse  quam  plurimis,  ne  quando 
intermitterem  consulere  rei  publicae,  nulla  maior  occurrebat,  quam  si 
optimarum  artium  vias  traderem  meis  civibus.  Sali.  Cat.  53,  4:  Ac  mihi 
multa   agitanti  constabat   paucorum   civium   egregiam  virtutem   cuncta 


488  Emil  Zimmbbmahk 

patravisae.  fad  Brut.  I,  15,  3:  Venio  nunc  longo  sane  intervallo  ad  quan- 
dam  epistolam,  qua  mihi  multa  tribuens  (=  cum  tribuebas)  unum  re- 
prehendebas ,  quod  in  animadversione  poenaque  durior,  nisi  fortasse  tu]. 
Sali.  Cat.  26,  1 :  His  rebus  comparatis  (==  etsi  hae  res  comparatae  erant) 
Catilina  nihilo  minus  in  proximum  annum  consulatum  petebat  spcrans 
(=  cum  speraret),  si  designatus  foret,  facile  se  ex  voluntate  Antonio 
usurum.  ad  fam.  XITE,  19,  2:  Cuius  dubia  fortuna  (==  cum  dubia  erat 
oder  esset  fortuna)  timidius  tecum  agebamus  verentes  (=  cum  vereremur), 
ne  . . .  explorata  vero  eins  incolumitate  omnia  a  te  studio  summo  cura- 
que  peto.  p.  Plane.  101:  Numquam  obliviscar  noctis  illius,  cum  tibi 
vigilanti,  assidenti,  maerenti  {=  cum  vigilabas,  assidebas,  maerebas)  vana 
quaedam  atque  inania  falsa  spe  inductus  (=  cum  eram  inductus)  pollicebar. 
de  fin.  I,  11,  39:  At  etiam  Athenis,  ut  a  patre  audiebam  facete  et  urbane 
Stoicos  irridente  (=  cum  irrideret),  statua  est  in  Ceramico  Chrysippi .  .  . 
Hoc  ne  statuam  quidem  dicturam  pater  aiebat,  si  loqui  posset.  ad  Att.IV,  5, 1 : 
Non  est  credibile,  quae  sit  perfidia  in  istis  principibus,  ut  volunt  esse 
et  ut  essent,  si  quicquam  haberent  fidei.  Senseram  ^  noram  inductus, 
relictus,  proiectm  (sc.  cum  eram  oder  essem)  ab  iis;  tamen  hoc  eram 
animo,  ut  cum  iis  in  re  publica  consentirem:  idem  erant,  qui  fuerant 
Vix  aliquando  te  auctore  resipui.  Yerg.  Aen.  I,  393 :  Aspice  bis  senos 
laetantis  agmine  cycnos,  Aetheria  quos  lapsa  (sc.  cum  oder  quae  erat) 
plaga  lovis  ales  aperto  Turbabat  caelo;  nunc  terras  ordine  longo  Aut 
capere  aut  captas  iam  despectare  videntur.  Brut.  71,  250:  Vidi  enim 
Mytilenis  nuper  virum  atque,  ut  dixi,  vidi  plane  virum.  Itaque  cum  eum 
antea  tui  similem  in  dicendo  viderim,  tum  yero  nunc  a  doctissimo  viro 
tibique,  ut  intellexi,  amantissimo  Cratippo  instructum  (==  cum  esset  in- 
structus)  omni  copia  multo  videbam  similiorem.  Caes.  b.  c.  II,  41:  Non 
deest  negotio  Curio  suosque  hortatur,  ut  spem  omnem  in  virtute  reponant. 
Ne  militibus  quidem  ut  defessis  (=  etsi  erant  defessi)  neque  equitibus 
ut  paucis  et  labore  confectis  (=  etsi  pauci  erant  et  labore  confecti) 
Studium  ad  pugnandum  virtusque  deerat.  b.  G,  VII,  47 :  Consecutus  id,  quod 
animo  proposuerat  Caesar,  receptui  cani  iussit  legionisque  decimae,  quacum 
erat,  continuo  signa  constituit.  Ac  reliquarum  legionum  milites  non 
exaudito  sono  tubae  (=  etsi  non  auditus  erat  sonus  tubae),  quod  satis 
magna  valles  intercedebat,  tamen  ab  tribunis  militum  legatisque,  ut  erat 
a  Caesare  praeceptum,  retinebantur.  V,  35,  Iff.  Verg.  Aen.  II,  124:  quae 
sint  ea  numina  divom  Flagitat.  Et  mihi  iam  multi  crudele  canebant 
Artificis  scelus  et  taciti  (=  etsi  tacebant)  Ventura  videbant.  Hör.  Sat.  1, 9, 8 : 
Misere  discedere  quaerens  Ire  modo  ocius,  interdum  consistere,  in  aurem 
JDicere  nescio  quid  puero,  cum  sudor  ad  imos  Manaret  talos.    0  te,  Bolane, 


Bezogener  Gebrauch  scheinbar  selbständig  gebrauchter  Präterita  im  Latein.    489 

cerebri  Felicem !  aiebam  tacitns,  cum  quidlibet  ille  Garriret,  vicos,  urbem 
laudaret.  Sali.  Cat.  48,  1 :  Interea  plebs  coniuratione  patefacta,  quae 
primo  cupida  (sc.  cum  esset)  rerum  novarum  nimis  bello  favebat,  mutata 
mente  Catilinae  consilia  exsecrari,  Ciceronem  ad  caelum  tollere.  Verr.  11, 
3,  85,  198:  Haec  deerat  iniuria  et  haec  calamitas  aratoribus  te  praetor e, 
qua  reliquis  fortunis  omnibus  everterentur.  Phaedr.  I,  16:  Ovem  rogabat 
cervus  medium  tritici  Lupo  Sponsore.    At  illa . .  . 

Ziemlich  oft  deutet  auch  ein  Adverbium  oder  ein  adverbialer  oder 
ein  ähnlicher  Ausdruck  der  Zeit  darauf  hin,  dass  die  Beziehung  statt- 
findet, bei  welcher  meist  ein  Imperfekt  oder  ein  Plusquamperfekt  der  Gleich- 
zeitigkeit, vielleicht  auch  ein  selbständig  gebrauchtes  Perfekt  zu  ergänzen 
ist.  Diese  Ergänzungen  müssen  sich  aus  dem  Inhalte  der  Stellen  leicht 
ergeben. 

Im  Briefstile  deuten  so  Adverbia  oder  adverbiale  oder  ähnliche 
Ausdrücke  der  Gegenwart  daraufhin,  dass  wir  ein  cum  scribebam  etc., 
vielleicht  auch  ein  cum  scripsi  etc.  zu  ergänzen  haben,  ad  Att.  V,  20,  7 : 
Habes  omnia.  Nunc  (sc.  cum  haec  scribebam)  publice  litteras  mittere  para- 
bam;  uberiores  erant,  quam  si  ex  Amano  misissem.  3,  1:  Nee  vero  timwc 
(sc.  cum  has  litteras  dabam)  erat  sane  quod  scriberem.  12,  3:  Plura  scri- 
bam  ad  te,  cum  constitero ;  nunc  er  am  plane  in  medio  mari.  I,  4,  3.  6,  2. 
n,  24,  4.    Yin,  13,  1.   X,  17,  3.  XE,  39,  2.   ad  Q.  fr.  HI,  1,  2,  4.    Att.  VI, 

2,  20:  Cupiebam  etiam  nunc  plura  garrire;  sed  lucet.  V,  16,4:  Bibulus  ne 
cogitabat  quidem  etiam  nunc  in  provinciam  suam  accedere.  XVI,  3,  6.  Xm, 

3,  1:  A  te  litteras  exspectabam^  nondum  scilicet;  nam  has  mane  rescribe- 
bam.  IX,  2  a,  3 :  Nos  adhucy  quid  Brundisii  actum  esset,  plane  nesciebamus, 
ad  Q.  fr.  III,  1,  5,  16:  Adhuc  erat  valde  incertum,  et  quando  comitia  et 
qui  consules  futuri  essent.  ad  fam.  XVI,  12,  6:  Adhuc  neminem  videram, 
qui  te  postea  vidisset  quam  M.  Volusius,  a  quo  tuas  litteras  accepi:  quod 
non  mirabar.  ad  Att.  XI,  13,  1 :  A  Murenae  liberto  nihil  adhuc  acceperam 
litterarum.  P.  Siser  reddiderat  eas,  quibus  rescribo.  HI,  11,  1.  V,  8,  1. 
16,  4.  VI,  5,  3.  Vn,  12,  1.  IX,  3,  2.  X,  12, 1.  ad  fam.  XH,  5, 2.  XVI,  11, 1. 
ad  Q.  fr.  m,  5,  5, 15.  8, 1.  [ad  Brut  1, 10,  Ij.  ad  Att.  XHI,  2, 1 :  Tuas  ütteras 
hodie  eoospectabam.  XIII,  21,  2:  Exspectabam  hodie  aut  summum  cras 
ab  eo  tabellarios.  XIV,  2,  4:  In  Tusculanum  hodie,  Lanuvii  cras,  inde 
Asturae  cogitabam.  XIII,  28,  1 :  Hortos  quoniam  hodie  eras  inspecturus, 
quid  Visum  tibi  sit,  cras  scilicet.  IX.  U,  1.  X,  10,  3.  XII,  53.  XV,  13,  6. 
ad  Q.  fr.  III,  8,  4 :  Aliud  hoc  tempore  de  re  publica  nihil  loquebantur; 
agebatur  quidem  certe  nihil,  ad  Att.  XV,  9,  2 :  Sed  plura,  cum  ista  co- 
gnoro.  Hoc  autem  tempore  quod  scriberem  nihil  era/,  eoque  minus,  quod 
dubitabam,  tu  has  litteras  essesne  accepturus;  erat  enim  incertum,  visu- 


490  EUIL  ZlUMEBMANN 

rusne  te  esset  tabellarius.  ad  fam.  XLH,  7,  3 :  Nisi  magnam  spem  haberem 
C.  Caesari  nos  causam  manicipii  probaturos,  non  erat  causa,  cur  a  te 
hoc  tempore  aliquid  contenderem.  11,  11,  2:  Mihi  mehercule  magnae  curae 
est  aedilitas  tua:  ipse  dies  me  admoiiebat;  scripsi  enim  haec  ipsis  Mega- 
lensibus.  ad  Att.  IX,  3,  2 :  A  Brundisio  nulla  adhuc  fama  venerat,  et 
erat  hie  dies  Vll.  Idus,  quo  die  suspicabamur  aut  pridie  Brundisium 
venisse  Caesarem;  nam  Kai.  Arpis  manserat.  ad  fam.  X,  14,  2:  Equidem 
exspectabam  iam  tuas  litteras  idque  cum  multis  sperabamque  ...  ad  Att 
V,  8,  1:  Me  et  incommoda  valetudo,  e  qua  iam  emerseram,  utpote  cum 
sine  febri  laborassem,  et  Pomptini  exspectatio,  de  quo  adhuc  ne  rumor 
quidem  venerat,  tenebat  duodecimum  iam  diem  Bmudisii,  sed  cursum 
exspectabamus.  V,  10,  1:  Ut  Athenas  a.  d.  VII.  Kai.  Quinctilis  vener  am, 
exspectabam  ibi  iam  quartum  diem  Pomptinum,  neque  de  eius  adventu 
certi  quicquam  habebam.  Eram  autem  totus,  crede  mihi,  tecum,  et  quam- 
quam  sine  iis  per  me  ipse,  tamen  acrius  vestigüs  tuis  monitus  de  te  cogi- 
tabam.  ad  fam.  XVI,  7 :  Septimum  iam  diem  Corcyrae  tenebamur ;  Qnintus 
autem  frater  Buthroti.  Solliciti  eramus  de  tua  valetudine  mirum  in  modum 
nee  mirabamur  nihil  a  te  litterarum.  Dem  Briefstile  gehört  auch  an  ad 
Att.  IV,  3,  5 :  Ante  diem  VIII.  Kai.  haec  ego  scribebam  hora  noctis  nona 
(=  cum  hora  erat  noctis  nona),  wo  nach  dem  sonstigen  Sprachgebrauch  der 
Briefe  cum  haec  scribebam,  hora  erat  noctis  nona  zu  erwarten  gewesen 
wäre.    Vgl.  IX,  1,  1. 

Auch  im  gewöhnlichen  Sprachgebrauche  deuten  Adverbia  oder 
adverbiale  oder  ähnliche  Ausdrücke,  hier  aber  der  Vergangen- 
heit, darauf  hin,  dass  eine  Handlung  oder  ein  Zustand  im  Imperfekt  oder 
im  Plusquamperfekt  der  Gleichzeitigkeit,  vielleicht  auch  im  Perfekt  zu  er- 
gänzen ist.  ad  Att.  VI,  20,  1 :  Dederam  triduo  ante  pueris  Cn.  Plancii 
litteras  ad  te;  eo  nunc  ero  brevior  teque,  ut  antea  (sc.  cum  scribebam) 
consolabar,  hoc  tempore  monebo.  I,  10,  2:  Primum  tibi  de  nostro  amico 
placando  aut  etiam  plane  restituendo  polliceor ;  quod  etsi  mea  sponte  antea 
(sc.  cum  ipse  volebam  oder  cum  nondum  tantam  ex  epistola  voluntatem 
eius  rei  tuani  perspicere  videbar)/flc/eÄa?w,  eo  nunc  tamen  agam  studiosius, 
quod  tantam  ex  epistola  voluntatem  eius  rei  tuam  perspicere  videor.  Tusc. 
1, 4,  7 :  Temptavi,  quid  in  eo  genere  possem.  Ut  enim  antea  (sc  cum  eram 
adulescens  et  iuvenis)  declamitabam  causas,  quod  nemo  me  diutius  fecit, 
sie  haec  mihi  nunc  se?iilis  est  declamatio.  ad  fam.  IV,  13,  3:  Itaque  orbus 
iis  rebus  omnibus,  quibus  et  natura  me  et  voluntas  et  consuetudo  adsue- 
fecerat,  cum  ceteris  . . .  tum  mihi  ipse  displiceo :  natus  enim  ad  agendum 
semper  aliquid  dignum  viro,  nunc  non  modo  agendi  rationem  nullam  habeo, 
sed  ne  cogitandi  quidem,  et,  qui  a?itea  (sc.  cum  nondum  eram  orbus  iis 


Bezogener  Gebrauch  scheinbar  selbständig  gebrauchter  Präterita  im  Latein.    491 

rebus  . . .)  aut  obscuris  hominibus  aut  etiam  sontibus  opitulari  poteram, 
nunc  P.  Nigidio  . . .  ne  benigne  quidem  poUiceri  possum.  ad  Att.  XY,  9,  2 : 
Me  quidem  Bruti  litterae,  quas  ostendis  a  te  lectas,  ita  perturbarunt,  ut, 
quamquam  ante  (sc.  cum  eas  nondum  acceperam  oder  habebam  oder 
legeram)  egebam  consilio,  tamen  animi  dolore  sim  tardior.  ad  fam.  XI, 
24,  1  :  Narro  tibi :  anlea  subirascebar  brevitati  tuarum  litterarum  (==  cum 
breves  erant  oder  essent  tuae  litterae) ;  nunc  mihi  loquax  esse  videor ;  te 
igitur  imitabor.  ad  Att.  XIY,  15,  1  (2):  0  mirificum  Dolabellam  meum! 
lam  enim  dico  meum ;  antea  (sc.  cum  nondum  dicebam),  mihi  crede,  sub- 
dubitabam.  ad  fam.  IX,  20,  1:  lila  mea,  quae  solebas  antea  laudare  (sc. 
cum  dicebam  oder  dicere  solebam),  '0  hominem  facilem !  0  hospitem  non 
gravem!'  abierunt.  de  or.  U,  76,  307:  Itaque  nunc  illuc  redeo,  Catule,  in 
quo  tu  me  paullo  ante  laudabas,  ad  ordinem  collocationemque  rerum  ac 
locorum  (sc.  cum  dicebas  in  dispositione  argumentorum  me  tibi  semper 
deum  videri  solere;  vgl.  42,  179:  Qui  ordo  tibi  placeat,  inquit  Catulus, 
et  quae  dispositio  argumentorum,  in  qua  tu  mihi  semper  deus  videri  soles). 
ad  Q.  fr.  11,  8,  4 :  Pompeius  plane  se  negat  velle ;  antea  mihi  ipse  non 
negabat  (sc.  cum  de  hac  re  loquebatur).  de  imp.  5,  13:  Hunc  audiebant 
antea  (sc.  cum  non  aderat),  nunc  praesentem  vident  tanta  temperantia  . . . 
Sali.  Cat.  23,  4 :  Ea  res  in  primis  studia  hominum  accendit  ad  consulatum 
mandandum  M.  TuUio  Ciceroni.  Namque  antea  (sc.  cum  periculum  nondum 
aderat)  nobilitas  invidia  aestuabat  et  quasi  poUui  consulatum  credebant, 
si  eum  quamvis  egregius  homo  novos  adeptus  foret.  Sed  ubi  periculum 
advenit,  invidia  atque  superbia  post  fuere.  Caes.  b.  G.  VII,  48,  3 :  Quorum 
cum  magna  multitudo  convenisset,  matresfamiliae,  quae  paulo  ante  (sc.  cum 
magna  multitudo  nondum  aderat)  Komanis  de  muro  manus  tendebant, 
suos  obtestari . . .  coeperunt.  p.  Sest.  1,1:  Si  quis  antea  (sc.  cum  nequa- 
quam  satis  multi  cives  forti  et  magno  animo  inveniebantur  . . . ),  iudices, 
mirabatur,  quid  esset,  quod  pro  tantis  opibus  rei  publicae  totaque  digni- 
tate  imperii  nequaquam  satis  multi  cives  forti  et  magno  animo  inveni- 
rentur,  qui  auderent  se  et  salutem  suam  in  discrimen  offerre  pro  statu 
civitatis  et  pro  communi  libertate,  is  ex  hoc  tempore  miretur  potius,  si 
quem  bonum  et  fortem  civem  viderit,  quam  si  quem  aut  timidum  aut 
sibi  potius  quam  rei  publicae  consulentem.  55,  118:  et  is,  qui  antea 
cantorum  convicio  contiones  celebrare  suas  (=  quas  habebat:  vgl.  106 :  Habi- 
tae  sunt  multae  [contiones]  de  me  a  gladiatore  sceleratissimo ,  ad  quas 
nemo  adibat  incorruptus,  nemo  integer  . .  .  erant  turbulentae)  solebat^  can- 
torum ipsorum  vocibus  eiiciebatur.  p.  Deiot.  1,1:  tamen  est  ita  inusitatum 
regem  reum  capitis  esse,  ut  ante  hoc  tempus  non  sit  auditum.  Deinde 
eum  regem,  quem  ornare  antea  cuncto  cum  senatu  solebam  pro  perpetuis 


492  Emil  Zimmebmann 

eius  in  nostram  rem  publicam  meritis  (=  cum  perpetua  essent  eius  . . . 
merita),  nunc  contra  atrocissimum  crimen  cogor  defendere.    p.  Caecil.  8: 
Quod  asperius  ante  populo  videri  solebat  (sc.  cum  non  poscebatur),  id  nunc 
poscitur.    de  fin.  V,  14,40:  At  vero  si  ad  vitem  sensus  accesserit,  ut 
appetitum  quendam  habeat  et  per  se  ipsa  moveatur,  quid  facturam  putas? 
An  ea,  quae  per  vinitorem  antea  (sc.  cum  sensum  non  habebat)  conseque^ 
batur,  per  se  ipsa  curabit?  p.  Rose.  Am.  6,  17:  Qui  ernte  hanc  pugnam 
(=  cum  nondum  erat  haec  pugna)  tiro  esset  [quod  sciam],  facile  ipsum 
magistrum  scelere  audaciaque  superavit.    Suet.  Oct.  78:  Post  cibum  meri- 
dianum  (=  cum  cibum  meridianum  sumpserat)  conquiescebat.    ad  Att.  FV 
16,  tO:   Locus  ille  animi  nostri,  stomachus  ubi  habitabat  olim  (sc.  cum 
nondum  concalluerat  locus),  concalluit.    1,19,9:  Conventus,  qui  initio 
(sc.  cum   fiebant)  celebrabantur,  iam   diu  fieri   desierunt.    Liv.  V,  4,  2: 
adversariorum  certe  orationibus  contentus  essem.    Negabant  nuper  (sc.  cum 
orationes  habebant)  danda  esse  aera  militibus,  quia  numquam  data  essent 
Quonam  modo  igitur  nunc  indignari  possunt ...  de  rep.  III,  31,  43:  Ergo 
ubi  tyrannus  est,  ibi  non  vitiosam,  ut  heri  (sc.  cum  de  hac  re  dispu- 
tabam)  dicebam,  sed,  ut  nunc  ratio  cogit,  dicendum  est  plane  nullam  esse 
rem  publicam.    de  fin.  I,  17,  5:   concedo,  quod  modo  (sc.  cum  de  hac  re 
disputabas)   dicebas  ...  de  or.  II,  48,  199:    Tum  illa,  quae  modo  Crassus 
commemorabat,  egi.    ad  fam.  VI,  21,  1:   cotidie  commemorabam  te  unum 
in  tanto  exercitu  mihi  fuisse  adsensorem  et  me  tibi  solosque  nos  vidisse, 
quantum  esset  in  eo  hello  mali . . .  Itaque  ego ,  quem  tum  (sc.  cum  tu 
unus  mihi  eras  adsensor  et  ego  tibi  solique  nos  videbamus  . . . )  fortes 
illi  viri  et  sapientes ,  Domitii  et  Lentuli ,  timidum  esse  dicebant . . .  idem 
nunc  nihil  timeo  et  ad  omnem  eventum  paratus  sum.    Cat  II,  2,  3 :  Inter- 
fectum  esse  L.  Catilinam  et  gravissimo  supplicio  adfectum  iam  pridem 
oportebat  (sc.  cum  non  interfectus  erat  neque  gravissimo  supplicio  ad- 
fectus),  idque  a  me  et  mos  maiorum  et  huius  imperii  severitas  postulabat. 
Caes.  b.  G.  VII,  44, 1 :   animadvertit  collem ,   qui  ab  hostibus  tenebatur, 
nudatum  hominibus,  qui  superioribus  diebus  vix  prae  multitudine  (sc.  cum 
erat  oder  esset  a  multitudine  occupatus)  cemi  poterat.    Nep.  Ham.  1,  2: 
Cum  autem  eius  adventu  (sc.  cum  adveniret)  et  mari  et  terra  male  res 
gererentur  Carthaginiensium,  ipse,  ubi  affuit,  numquam  hosti  cessit. 

Zuweilen  genügt  ein  in  der  Umgebung  stehendes  hinweisendes 
Fürwort,  um  ein  zu  ergänzendes  Imperfekt  oder  Plusquamperfekt  der 
Gleichzeitigkeit  oder  vielleicht  auch  ein  selbständig  gebrauchtes  Perfekt 
anzudeuten,  auf  deren  Handlung  oder  Zustand  eine  im  Imperfekt  stehende 
Handlung  oder  ein  solcher  Zustand  oder  ein  im  Plusquamperfekt  stehen- 
der Zustand  bezogen  ist. 


Bezogener  Gebrauch  scheinbar  selbständig  gebrauchter  Präterita  im  Latein.   493 

Im  Briefstile  erscheint  so  das  Pronomen  der  Gegenwart  hie.  ad 
Att.  I,  6,  2 :  Ilaec  (sc.  quae  scribebam  oder  scripsi)  habebam  fere,  quae  te 
scire  vellem.  ad  fam.  XII,  5,  3 :  Haec  erant  fere,  quae  tibi  nota  esse  vellem 
ad  Att.  VII,  1,  1:  Dederam  equidem  L.  Saufeio  litteras  et  dederam  ad  te 
unum,  quod,  cum  non  esset  temporis  mihi  ad  scribendum  satis,  tarnen 
hominem  tibi  tam  familiärem  sine  meis  litteris  ad  te  venire  nolebam;  sed, 
ut  philosophi  ambulant,  has  (sc.  quas  scribebam)  tibi  redditum  iri  puta- 
bam  prius.  IX,  1,  1 :  Etsi,  cum  tu  has  (sc.  quas  scribebam)  litteras  legeres, 
putabam  fore  ut  scirem  iam,  quid  Brundisii  actum  esset  —  nam  Canusio 
IX.  Kai.  profectus  erat  Gnaeus,  haec  autem  scribebam  pridie  Nonas,  XIV. 
die,  quam  ille  Canusio  moverat  —  tamen  angebar  singularum  horarum 
exspectatione  mirabarque  nihil  allatum  esse  ne  rumoris  quidem;  nam  erat 
mirum  silentium.  ad  fam.  X,  10,  1:  quamquam  in  uno  proelio  omnis  for- 
tuna  rei  publicae  disceptat  —  quod  quidem,  cum  haec  (sc.  quae  scribebam) 
legeres,  iam  decretum  arbitrabar  fore  —  tamen  ipsa  fama,  quae  de  tua 
voluntate  percrebruit,  magnam  es  laudem  consecutus.  V,  16, 6:  Eis  ego  lit- 
teris (sc.  quas  scribebam)  si  quid  profecissem,  existimabam  optandum  quid- 
dam  me  esse  adsecutum.  ad  Att.  I,  9,  1 :  propter  hanc  dubitationem  meam 
brevior  haec  ipsa  epistola  est  (sc.  quam  scribebam),  quod,  cum  incertus 
essem,  ubi  esses,  nolebam  illum  nostrum  familiärem  sermonem  in  alienas 
manus  devenire.  X,  6,  1. 

Im  gewöhnlichen  Sprachgebrauche  erscheint  so  das  hin- 
weisende Pronomen  der  Vergangenheit  ille.  Phil,  n,  45:  Eecordare  tem- 
pus  illud  (sc.  quod  tum  erat),  cum  pater  Curio  iacebat  in  lecto.  p.  Plane.  101 : 
Numquam  obliviscar  noctis  illius  (sc.  quae  tum  erat),  cum  tibi  vigilanti, 
assidenti,  maerenti  vana  quaedam  miser  atque  inania  falsa  spe  inductus 
pollicebar  (vgl.  S.  488).  Pis.  26 :  An  tum  eras  consul,  cum  in  Palatio  domus 
mea  ardebat? ...  An  vero  reliquo  tempore  consulem  te  quisquam  duxit?  . . . 
Numerandus  est  ille  annus  (sc.  quo  tu  eras  consul  oder  qui  tum  erat) 
denique  in  re  publica,  cum  obmutuisset  senatus,  iudicia  conticuissenU  mae- 
rerent  boni,  vis  latrocinii  vestri  tota  urbe  volüaret  neque  civis  unus  ex 
civitate,  sed  ipsa  civitas  tuo  et  Gabinii  sceleri  furorique  cessisset?  ad  Att. 
IV,  16,  10:  Locus  ille  animi  nostri  (sc.  qui  ibi  erat),  stomachus  ubi  habi- 
tabat  olim,  concalluit  (vgl.  S.  492). 

Auch  das  Pronomen  hie,  besitzanzeigende  Pronomina  und 
hinweisende  Adverbia  können  in  dieser  Weise  von  der  Vergangenheit 
gebraucht  erscheinen,  ad  fam.  VI,  2,  3 :  Quae  vis  insit  in  his  paucis  verbis 
(sc.  quae  supra  scripsi)  —  plura  enim  commitienda  epistolae  non  erant  —  si 
attendes,  profecto  etiam  sine  meis  litteris  intelleges ...  de  or.  I,  35,  164: 
Ego  mehercule,  inquit  Mucius,  antea  vestra  magis  hoc  (sc.  quod  petebatis ; 


494  £mil  Zimmbbmann 

Vgl.  163)  causa  volebam  quam  mea.  Neque  enim  tanto  opere  hanc  a  Crasso 
disputationem  desideraham,  quanto  opere  eius  in  causis  oratione  delector ; 
nunc  vero,  Crasse,  mea  quoque  iam  causa  rogo,  ut  .  .  .  Brut.  13,49: 
Nam  ante  quam  delectata  est  Atheniensium  civitas  hac  laude  dicendi, 
multa  iam  memorabilia  et  in  domesticis  et  in  bellicis  rebus  efifecerat 
Hoc  autem  studium  (sc.  quo  delectabatur  oder  delectata  est  Atheniensium 
civitas)  non  erat  commune  Graeciae,  sed  proprium  Athenarum.  p.  Sest. 
55,  118:  is,  qui  antea  cantorum  convicio  contiones  celebrare  suas  (sc.  quas 
habebat;  vgl.  106:  Habitae  sunt  multae  [contiones]  de  me  a  gladiatore 
sceleratissimo,  ad  quas  nemo  adibat  incorruptus,  nemo  integer  . . .  erant 
turbulentae)  solebat,  cantorum  ipsorum  vocibus  eiiciebatur  (vgl.  S.  491). 
ad  Q.  fr.  II,  7  (9),  1 :  Placiturum  tibi  esse  librum  meum  (sc.  quem  oder 
cum  mittebam)  suspicabar;  tam  valde  placuisse,  quam  scribis,  valde  gaudeo. 
Caes.  b.  c.  II,  41:  Cum  cohortes  ex  acie  procucurrissent,  Numidae  integri 
celeritate  impetum  nostrorum  effugiebant,  rursusque  ad  ordines  suos  se 
recipientes  circuibant  et  ab  acie  excludebant.  Sic  (=  quae  cum  ita  essent) 
neque  in  loco  manere  ordinesque  servare  neque  procurrere  et  casum  subire 
tutum  videbatur.  Tusc.  I,  4,  8:  Haec  est  enim,  ut  scis,  vetus  et  Socra- 
tica  ratio  contra  alterius  opinionem  disserendi.  Nam  ita  (sc.  cum  ea  ratione 
utebatur)  facillime,  quid  veri  simillimum  esset,  inveniri  posse  Socrates 
arbitrabatur. 

Nach  dem  Angeführten  ist  es  nicht  wunderbar,  dass  man  schliess- 
lich an  vielen  Stellen  auch  die  erwähnten  Andeutungen  der  zu  ergänzen- 
den Handlungen  oder  Zustände  durch  bestimmte  Wörter  oder  Redewen- 
dungen unterliess  und  dass  trotzdem  aus  dem  Zusammenhange 
Imperfekte  oder  Plusquamperfekte  der  Gleichzeitigkeit  oder  vielleicht  selb- 
ständig gebrauchte  Perfekte  zu  ergänzen  sind,  auf  deren  Handlungen  oder 
Zustände  die  Beziehung  der  durch  Imperfekte  oder  Plusquamperfekte  aus- 
gedrückten stattfindet.  Die  Ergänzung  musste  natürlich  hier  noch  leichter 
sein  als  an  den  Stellen  mit  jenen  Andeutungen. 

Im  Briefstile  ergänzen  wir  so  nach  Analogie  der  Stellen  mit  ge- 
setztem cum  scribebam  etc.  oder  mit  den  Andeutungen  eines  solchen  sehr 
leicht  ein  cum  scribebam  etc.  oder  vielleicht  ein  cum  scripsi  etc.,  welches 
fortgelassen  ist,  um  es  nicht  allzu  häufig  zu  bringen.  An  solchen  Stellen 
finden  wir  zum  Teil  dieselben  Verben  vor  wie  an  denen  mit  gesetztem  oder 
angedeutetem  cum  scribebam  etc.,  und  jene  Stellen  erscheinen  in  denselben 
Teilen  der  Briefe  wie  diese,  so  besonders  am  Anfange,  am  Ende  eines  Briefes 
oder  beim  Übergänge  zu  einem  neuen  Punkte.  Und  wo  die  Zeit  der  Ver- 
gangenheit, um  die  es  sich  handelt,  nicht  ausgedrückt  ist,  erscheint  es  im 
Briefe  am  natürlichsten,  gerade  die  Zeit  und  die  Handlung  des  Schreibens 


Bezogener  Gebrauch  scheinbar  selbständig  gebrauchter  Präterita  im  Latein.    495 

oder  Schickens,  also  ein  cum  scribebam  etc.  zu  ergänzen,  auf  welches  die 
Beziehung  stattfindet,  ad  Att.  XI,  17,  1  :  Ego  cum  Sallustio  Ciceronem  ad 
Caesarem  mittere  cogitabam;  Tulliam  autem  non  videbam  cur  diutius  me- 
cum  tanto  in  communi  maerore  retinerem :  itaque  matri  eam,  cum  primum 
per  ipsam  liceret,  er  am  remissurus.  ad  fam.  XIY,  1 1 :  Nobis  erat  in  animo 
Ciceronem  ad  Caesarem  mittere  et  cum  eo  Cn.  Sallustium :  si  profectus  erit, 
faciam  te  certiorem.  ad  Q.  fr.  II,  12  (14),  1 :  Duas  adhuc  a  te  accepi  epistolas, 
[quarum]  alteram  in  ipso  discessu  nostro,  alteram  Arimino  datam ;  pluris, 
quas  scribis  te  dedisse,  non  acceperam.  Ego  me  in  Cumano  et  Pom- 
peiano,  praeterquam  quod  sine  te,  ceterum  satis  commode  oblectabam  et 
eram  in  isdem  locis  usque  ad  Kai.  lunias  futurus,  Scribebam  illa,  quae 
dixeram,  fcohrixa.  ad  fam.  III,  3,  2 :  Ego  C.  Pomptinum,  legatum  meum, 
Brundisii  ewpectabam  eumque  ante  Kalendas  lunias  venturum  arbitrabar. 
ad  Q.  fr.  II,  15,  5:  Res  Romanae  se  sie  habebant:  erat  nonnulla  spes  comi- 
tiorum,  sed  incerta;  erat  aliqua  suspicio  dictaturae,  ne  ea  quidem  certa. 
ad  Att.  IX,  10,  1 :  Nihil  habebam,  quod  scriberem.  XII,  41,  1 :  Nihil  erat, 
quod  scriberem.    IX,  2 :  Brundisio  nihil  erat  allatum. 

Auch  im  gewöhnlichen  Sprachgebrauche  haben  wir  so  Imper- 
fekte oder  Plusquamperfekte,  vielleicht  auch  Perfekte  nur  aus  dem  Zusam- 
menhange zu  ergänzen,  ad  Att.  III,  4 :  Miseriae  nostrae  velim  quam  incon- 
stantiae  tribuas,  quod  a  Vibone,  quo  te  arcesscbamus  (sc.  cum  scribebamus ; 
vgl.  in,  3 :  Sed  te  oro,  ut  ad  me  Yibonem  statim  venias,  quo  ego  multis  de 
causis  converti  iter  meum),  subito  discessimus.  XU,  42, 1 :  Itaque  accepi  VI. 
Idus  litteras  tuas  inanis ;  quid  enim  habebas,  quod  scriberes  (sc.  cum  scri- 
bebas)?  lY,  17  (18),  1 :  Puto  te  existimare  me  nunc  oblitum  consuetudinis  et 
instituti  mei  rarius  ad  te  scribere,  quam  solebam  (sc.  cum  consuetudinem  et 
institutum  meum  servabam).  ad  fam.  III,  7,  3 :  Quid?  Cum  dabas  iis  litteras, 
per  quas  mecum  agebas,  ne  eos  impedirem,  quo  minus  ante  hiemem 
aedificarent,  non  eos  ad  me  venturos  arbitrabare?  (Ygl.  S.  479.)  Tametsi 
id  quidem  ridicule  fecerunt;  quas  enim  litteras  adferebant  (sc.  cum  venie- 
bant  oder  venerunt),  ut  opus  aestate  facere  possent,  eas  mihi  post  brumam 
reddiderunt.  ad  Att.  Y,  16,  4:  De  Partho  silentium  est;  sed  tamen  con- 
cisos  equites  nostros  a  barbaris  nuntiabant  ii,  qui  veniebant  (vgl.  S.  481). 
Bibulus  ne  cogitabat  quidem  etiam  nunc  in  provinciam  suam  accedere ;  id 
autem  facere  ob  eam  causam  dicebant  (sc.  ii,  qui  veniebant),  quod  tardius 
vellet  decedere.  Nos  in  castra  properabamus,  quae  aberant  bidui.  YIII,  9, 4 : 
YI.  Kai.  vesperi  Baibus  minor  ad  me  venit  occulta  via  currens  ad  Lentulum 
consulem  missu  Caesaris  cum  litteris,  cum  mandatis,  cum  promissis  pro- 
vinciae,  Romam  ut  redeat;  cui  persuaderi  posse  non  arbitror,  nisi  erit 
conventus.     Idem  aiebat  (sc.  cum  erat  mecum)   nihil   malle  Caesarem, 


496  Emil  Zimmeumann 

quam  ut  Pompeium  adsequeretur.  Ter.  Eun.  338 :  Sein,  quid  ego  te  volebam 
(sc.  cum  veniebam  oder  veneram  oder  aderam)?  87:  Quor  non  intro  ibas 
(sc.  cum  veniebas  oder  veneras  oder  aderas  oder  poterasj?  Plaut.  Aul. 
m,  2, 13 :  Sed  in  aedibus  quid  tibi  meis  nam  erat  negotii  (sc.  cum  eo  veneras 
oder  ibi  aderas)  . . .  volo  scire.  Men.  1130:  Mi  hoc  responde:  . . .  quid 
erat  nomen  nostrae  matri  (sc.  cum  eramus  cum  ea)?  Nep.  Ale.  6,  3:  Hie 
ut  e  navi  egressus  est,  quamquam  Theramenes  et  Thrasybulus  eisdem 
rebus  praefuerant  simulque  venerant  in  Piraeum,  tamen  unum  onmes 
illum  (sc.  cum  veniebat  in  astu)  prosequebantur  et,  id  quod  numquam 
antea  usu  venerat  nisi  Olympiae  victoribus,  coronis  laureis  taeniisque 
vulgo  donabatur.  lUe  lacrimans  talem  benevolentiam  civium  suorum 
aceipiebat;  reminisci  pristini  temporis  acerbitatem.  Postquam  in  astu 
venit,  contione  advocata  sie  verba  fecit ...  de  fin.  V,  26,  78 :  Istie  sum, 
inquit,  exspectoque,  quid  ad  id,  quod  quaerebam  (sc.  cum  illa  superiora 
dicebam;  vgl.  77),  respondeas.  p.  Rose.  Am.  30 ,  84 :  Causam  tu  nullam 
reperiebas  in  Sex.  Roscio  (sc.  cum  de  eo  dicebas) :  at  ego  in  T.  Roscio 
reperio.  Yerr.  11,  2,  37,  90:  Itaque  hortari  homines  eoepit,  ut  aliquid 
Sthenio  periculi  crearent  eriminisque  confingerent  Dicebant  (sc.  cum  eos 
hortabatur)  se  illi  nihil  habere  quod  dicerent.  de  fin.  11,16,  53:  Sunt 
enim  levia  et  perinfirma,  quae  dicebantur  a  te  (se.  cum  disputabas)  animi 
conscientia  improbos  exeruciari.  p.  Rose.  Am.  29,  82 :  Si  quid  est,  quod 
ad  testes  reservet,  ibi  quoque  nos  ut  in  ipsa  causa  paratiores  reperiet, 
quam  putabat  (se.  cum  reservabat).  de  fin.  Y,  32,  96 :  Quae  enim  dici 
Latine  posse  non  arbitrabar  (sc.  cum  nondum  erant  oder  essent  dieta),  ea 
dicta  sunt  a  te.  Yerg.  Aen.  II,  126:  Bis  quinos  silet  ille  dies  tectusque 
recusat  Prodere  voce  sua  quemquam  aut  opponere  morti.  Yix  tandem 
magnis  Ithaci  clamoribus  actus  Composito  rumpit  vocem  et  me  destinat 
arae.  Adsensere  omnes  et,  quae  sibi  quisque  timebat  (se.  cum  silebat  ille 
tectusque  recusabat .  .  .  ),  Unius  in  miseri  exitium  con versa  tulere.  de 
sen.  6,  15:  NuUaene  igitur  res  sunt  seniles,  quae  vel  infirmis  corporibus 
animo  tamen  administrentur?  Nihil  ergo  agebat  Q.  Maximus,  nihil  L.  Paul- 
lus  . .  .  (sc.  cum  erant  senes)?  Caeteri  senes  .  . .  cum  rem  publicam  con- 
silio  et  auetoritate  defendebant,  nihil  agebant?  16:  Ad  Appii  Claudii 
seneetutem  (=  cum  Appius  Claudius  erat  senex)  accedebat  etiam,  ut 
caecus  esset,  ad  Att.  I,  5,  1 :  Quantum  dolorem  acceperim  et  quanto 
fruetu  sim  privatus  et  forensi  et  domestico  Lucii  fratris  nostri  morte,  in 
primis  pro  nostra  consuetudine  tu  existimare  potes;  nam  mihi  omnia, 
quae  iueunda  ex  humanitate  alterius  et  moribus  homini  aeeidere  possunt, 
ex  illo  accidebant  (sc.  cum  vivebat).  de  fin.  Y,  14,  40:  nee  eundem  finem 
habebit,  quem  eultor  eins  habebat  (sc.  cum  ad  eam  sensus  nondum  acces- 


Bezogener  Gebrauch  scheinbar  selbständig  gebrauchter  Präterita  im  Latein.   497 

serat;  vgl.  40  Anf.  u.  S.  492),  sed  volet  secundum  eam  naturam,  quae  postea 
ei  adiuncta  est,  vivere.  Cat.  II,  2,  3:  Ac  si  quis  est  talis,  quales  esse 
omnes  oportebat  (sc.  cum  non  erant),  qui  in  hoc  ipso,  in  quo  exsultat  et 
triumpliat  oratio  mea,  me  vehementer  accuset,  quod  tam  capitalem  hostem 
non  comprehenderim  potius  quam  emiserim,  non  est  ista  mea  culpa, 
Quirites,  sed  temporum  (vgl.  d.  Forts,  u.  S.  492).  Q.  Metelli  ep.,  ad  fam. 
V,  1,  1 :  Nunc  video  illum  circumventum,  me  desertum,  a  quibus  minime 
conveniebat  (sc.  cum  fiebat;  vgl.  d.  Vorherg.  u.  S.  483).  2:  Te  tam  mobili 
in  me  meosque  esse  animo  non  sperabam  (sc.  cum  eras).  Caes.  b.  G.  II, 
16,  1 :  Cum  per  eorum  fines  triduum  iter  fecisset,  inveniebat  ex  captivis 
(sc.  cum  quaereret ;  vgl.  S.  480)  Sabim  flumen  ab  castris  suis  non  amplius 
milia  passuum  decem  abesse. 

C.  Schlussbemerkung. 

Im  Obigen  glaube  ich  sichere  Ergebnisse  meiner  Forschungen  über 
den  bezogenen  Gebrauch  mancher  scheinbar  selbständig  gebrauchten 
Imperfekte,  historischen  Infinitive  und  Plusquamperfekte  dargelegt  zu 
haben.  Diese  Darlegungen  dürften,  wie  ich  hoffe,  geeignet  sein,  den  Weg 
zur  richtigen  Beurteilung  nicht  nur  weiterer  Imperfekte,  historischen  In- 
finitive und  Plusquamperfekte,  sondern  auch  anderer  Tempora  sowohl  im 
Lateinischen  als  auch  in  andern  Sprachen  zu  weisen  und  mit  zur  Er- 
hellung des  „Nebellandes"  der  selbständig  und  bezogen  gebrauchten  und 
zu  brauchenden  Tempora  beizutragen. 


32 


XXIV. 
Das  Taurobolium. 

Von 

G.  Zippel  (Königsberg  i.  Pr.). 

Das  Taurobolium,  dieser  eigentümliche  Geheimdienst  der  phrygischen 
Göttermutter,  der  in  den  letzten  Zeiten  des  antiken  Heidentums  und  im 
Kampfe  gegen  das  vordringende  Christentum  eine  hervorragende  Rolle 
spielte,  ist  vielfach,  in  letzter  Zeit  noch  von  Goehler,  De  Matris  Magnae 
apud  Romanos  cultu,  S.  520".,  Cumont,  Le  taurobole  et  le  culte  d'Anahita, 
Revue  archeologique  12,  132fiF.  (1888),  Esperandieu,  Inscriptions  antiques 
de  Lectoure,  S.  94 ff.  besprochen  worden;  doch  ist  in  manchen  wichtigen 
Punkten  weder  Einigung  noch  Klarheit  erzielt.  Die  folgende  Abhandlung 
erhebt  nicht  den  Anspruch,  alle  Zweifel  zu  lösen;  nur  scheint  mir,  als 
wäre  die  uns  zu  Gebote  stehende  Überlieferung,  namentlich  die  Inschriften, 
noch  nicht  hinlänglich  ausgebeutet,  um  uns  eine  Vorstellung  von  den 
Vorgängen  des  Tauroboliums  zu  machen.  Man  hat  sich  dafür  meistens 
bei  der  Schilderung  des  Prudentius  beruhigt  und  höchstens  einzelne  in- 
schriftliche Notizen  in  das  dorther  gewonnene  Bild  einzuzwängen  gesucht, 
so  gut  oder  übel  es  gehen  wollte. 

Prudentius  lässt  den  Romanus  auf  des  Asklepiades  Frage,  ob  denn 
wirklich  sein  eigenes  Blut  herabgeflossen  sei,  erwidern  (peristephanon  10, 
1006—1049):  es  sei  sein  wahres  Blut,  nicht  Blut  eines  heiligen  Stiers, 
mit  dem  die  Heiden  sich  durchfeuchten  Hessen.  Der  oberste  Priester, 
so  schildert  er  den  Vorgang,  steigt  zur  Weihe*)  in  festlicher  Kleidung, 
mit  Binden  an  den  Schläfen,  einen  goldenen  Kranz  auf  dem  Haupt,  im 
cinctus  Gabinus  in  eine  Grube,  über  die  ein  durchlöcherter  Bretterboden  ge- 
legt wird.  Auf  diesem  wird  ein  mit  Blumengewinden  und  Gold  geschmückter 
Stier  durch  einen  Brustschnitt  mit  einem  geweihten  Opfermesser  (sacrato 

1)  Dressel  liest  v.  1011  mit  dem  c.  Alex.  321  „consecrandis"  ]  allein  das  giebt 
keinen  verständlichen  Sinn,  und  auch  v.  1076  steht  „sacrandits" :  so  wird  auch  hier 
mit  den  übrigen  Handschriften  j,consecrandus"  zu  lesen  sein. 


Das  Taurobolium.  499 

venabulo  v.  1026)  geschlachtet.  Der  drunten  Stehende  bemüht  sich  dann, 
seine  Kleider  wie  die  verschiedensten  Teile  des  Körpers  möglichst  voll- 
ständig mit  dem  herabtröpfelnden  Blut  zu  benetzen.  Kommt  er  dann  her- 
vor, so  wird  er  von  allen  begrüsst  und  verehrt. 

Die  Schilderung  findet  ihre  Bestätigung  in  dem  Gedicht  gegen 
Nicomachus  Flavianus,  Anth.  lat.  ed  Riese  4,  v.  57 — 62  (vgl.  Mommsen, 
Hermes  4,  360 f.): 

„Quis  tibi,  taurobolus,  vestem  mutare  suasit, 
inßüius  diveSf  subito  mendicus  ut  esses, 
obsitus  et  pannis,  modica  tepefactus  epeta, 
sub  terram  missus,  pollutus  sanguine  tauri, 
sordidus,  infectus,  vestes  servare  cruentas, 
vivere  cum  speras  viginti  mundus  in  annosf" 

Der  Unterschied,  dass  der  Weihling  bei  Prudentius  in  festlicher  Kleidung, 
bei  dem  Ungenannten  in  Bettlertracht  erscheint,  wiegt  nicht  schwer;  es 
mag  wohl  nur  der  Cinctus  Gabinus  hier  als  Bettlertracht  verspottet  sein. 
Eine  wichtige  Ergänzung  zu  des  Prudentius  Bericht  enthält  nur  die 
Angabe ,  dass  die  Weihe  eine  Reinigung  für  20  Jahre  darstellte ;  ausser- 
dem wird  nur  hier  auf  den  Namen  der  ganzen  Weihehandlung  hinge- 
wiesen. 

Yon  derselben  Handlung  spricht  auch  Eirmicus  Maternus  c.  27: 
„miseri  sunt,  qui  profusione  sacrilegi  sanguinis  cruentantur,  tauribolium 
quid  vel  criobolium  scelerata  te  sanguinis  labe  perfunditP' 

Diese  Darstellungen  finden  auch  in  inschriftlichen  Denkmälern  Be- 
stätigung. So  heisst  es  in  der  jüngsten  Taurobolien-Inschrift  des  Philonius 
Eugenianus  C.  I.  L.  YI  736,  deren  Echtheit  allerdings  stark  angezweifelt 
ist  (Lebegue,  Le  basrelief  de  Pesaro.  Rev.  arch.  13,  64 ff.):  i,qui  et  arcanis 
perfusionibus  in  aetemum  renatus  tauroboliuirn)  crioboliumque  fecit*'. 
An  denselben  Vorgang  ist  auch  überall  zu  denken,  wo  in  den  Taurobolien- 
Inschriften  die  Weihe  betont  wird.  Sextilius  Agesilaus  weihte  i.  J.  376 
der  Göttermutter  und  dem  Attis  den  Altar  „taurobolio  criobolioq(ue)  in 
aeternum  renatus"  C.  I.  L.  VI  510.  In  demselben  Sinne  spricht  wohl 
auch  die  Inschrift  von  Emerita  C.  I.  L.  II  5260 :  „  M(atri)  I){eum)  s{ucrum). 
Val{e?ia)  Avita  aram  tauriboli  sui  natalici  redditi  d(onutn)  d{at)  sacerdote 
Doccyrio  ValeiHano,  arc{h)igallo  Publicio  Mi/stico."  Hier  ist  weder  an 
Avitas  Geburtstag  zu  denken,  noch  an  eine  Wiederholung  des  Tauroboliums, 
sondern  sie  bezeichnet  sich  als  neugeboren  durch  die  Weihe.  Petronius 
ApoUodorus  sagt  von  sich  i.  J.  370,  CLL.  VI  509  =  Inscr.  Graecae  Siciliae 
et  Italiae  n.  1018: 

32* 


500  G.  ZippEL 

KQioßokov  teXetrig  ^[(5*  sti  rjavQoßoXov 
fnvOTiTtoXog  teXeTttJv  \leQOJV  ajve&rjxaro  ßw^ov,   in  der  latei- 
nischen Inschrift:  iMuroholio  crio[bol{\oq{ue)  perccpto". 

Der  letztere  Ausdruck  kehrt  mehrfach  wieder;  so 
i.  J.  305  tttaurobolium  percepi  feliciitery*,  C.  L  L.  VI  497. 
i.  J.  383  „taurobolio  criobolioque  percepto  aram  dicavit"  C.  I.  L.  VI  501. 
i.  J.  390  typercepto  taurobolio  criobolioque  —  aram  dicavit"  CLL. VI 503. 
Auch  griechische  Inschriften  sprechen  von  der  Weihe.    So  heisst  es  von 
Crescens  und  Leontius  in  Rom: 

OQyia  ovvQi^avT€  -d^e^  TtafUfii^TOQL  '^Pelr] 

y.QLoß6Xov  TelexriQ  Y.al  TavQoßölow  cpegLöxrig  Inscr.Gr.Sic.etIt.1020; 
ähnlich  von  Archelaos  in  Athen: 

avTLÖoGcv  TslsT'^g  T[i]]g  xavQoßoXov  /a^tv  eyvo) 
ßiOfÄOv  avaGTrjGag !!4TT€(jüg  rjde  '^Perjg,  und  weiter: 
^Agy^iXecag  TeXsTrjg  ovvS^rjfxaTa  y.QV7tTa  xaga^ag 
TavQoßoXov.  C.  L  A.  in  172. 

Von  Sahina  in  Rom  wird  gesagt: 

avvßolov  evayicjv  Teleiwv  avid-iqyLe  2aßiva  Inscr.  Gr.  Sic.  etit  1019. 

Auf  diese  Weihe  ist  auch  der  Ausdruck  „tauroboliatus"  zu  beziehen. 
Im  J.  377  sagt  Rufus  Caeionius  von  sich:  „tauroboliatus  M{atris)  D{eum) 
M(agnae)  Id{aeae)  et  Attidis  Minoturani  et  aram  —  dedicabit"  und  weiter 
„tauroboliq{ue)  simul  magni  dux  mistice  sacri".  Auch  Agonius  Praetex- 
tatus  wird  i.  J.  387  tauroboliatus  genannt,  ebenso  seine  Frau  tauro- 
boliata  C.  L  L.  VI  1778.  1779.  Der  i.  J.  385  verstorbene  Alfenius  Ceionius 
Duianus  Kamenius  wird  sowohl  in  seiner  Grabschrift  Eph.  ep.  8,  648  als 
in  der  Ehreninschrift  C.  L  L.  VI  1675  als  tauroboliatus  Deum  Matris  be- 
zeichnet. Dieselbe  Weihe  zeigt  sich  auch  C.  I.  L.  VI  499,  wo  Clodius  Her- 
mogenianus  i.  J.  374  den  Altar  der  Göttermutter  und  dem  Attis  weiht: 
ittaurobolio  criobolioque  perfecto  XIIII  kal{endas)  Aug{ustas)  diis  animae 
suae  mentisque  custodibus  aram  dicavit". 

Auch  die  20jährige  Wirkung  der  Weihe  ist  inschriftlich  belegt.  CLL. 
VI  512  i.  J.  390  heisst  es  von  Rufus  Volusianus:  ,titerato  viginti  annis 
ea;p[le]tis  taurobolii  sui  aram  constitu[it]  et  consecravit" ,  wo  allerdings 
dem  Wortlaut  nach  nur  von  der  neuen  Widmung  des  Altars  die  Rede 
ist.  Von  der  Wiederholung  des  Tauroboliums  wird  ausdrücklich  gesprochen 
C.  I.  L.  VI  502  i.  J.  383:  ^taurobolio  criobolioque  repetito  diis  omnipoten- 
tibus  M{atri)  D{eum)  et  Atti  aram  dicavit".  Eine  Wiederholung  nach 
20  Jahren  wird  von  vornherein  versprochen  i.  J.  376 :  „percepto  taurobolio 
criobolioq{ue)  — 


Das  Taurobolium.  501 

Vota  Faventinus  bis  deni  suscipü  orbis, 
ut  mactet  repetens  aurata  fronte  bicornes^y  C.  I.  L.  VI  504. 
Hier  wird  sogar  der  Goldschmuck  am  Haupte  des  Stiers  bestätigt,  von 
dem  Prudentius  spricht.  Bänder-  oder  Blumenschmuck  an  den  Hörnern 
ist  auf  einer  Menge  von  Taurobolien-Altären  zu  sehen.  Insoweit  ist  es 
also  klar,  dass  Prudentius  uns  eine  treffliche  Schilderung  des  Taurobo- 
lium s  liefert. 

Aber  vollständig  ist  ein  danach  ausgemaltes  Bild  des  ganzen  Vor- 
gangs keineswegs.  Dass  damit  noch  manche  andere  Handlungen  ver- 
bunden waren,  zeigen  uns  schon  die  mehrtägigen  Taurobolien,  wie  sie  in 
Gallien  berichtet  werden.  Ein  Taurobolium  in  Tain  an  der  Khone  dauerte 
vom  20.  bis  zum  23.  Mai  184,  CLL.  XH  1782;  in  Lyon  dauerte  eines 
9. — 11.  Mai  194,  Boissieu,  Inscriptions  de  Lyon  n.  22;  ein  anderes  4. — 7.  Mai 
197,  Boiss.  23.  Wichtiger  ist  es,  dass  die  grosse  Mehrzahl  der  Taurobo- 
lien-Inschriften  auf  einen  wesentlich  anderen  Charakter  der  gesamten  Kult- 
handlung schliessen  lassen,  als  die  bisher  besprochenen  Nachrichten. 

Das  Taurobolium  war  immer  eine  ausserordentliche  Handlung,  deren 
Andenken  man  durch  Errichtung  eines  Altars  verewigte,  und  es  ist  selbst- 
verständHch,  dass  nach  der  Weihe  eben  der  Geweihte  den  Altar  widmete. 

Neben  einzelnen  Errichtern  des  Altars  finden  wir  nicht  selten  mehrere 
zusammen,  so  Mann  und  Frau  in  Eeii :  „Matri  Daum  Magnaeq[ue)  Idaeae 
L,Decimius  Pacatus  et  Coelia  Secu?idma  eins  ob  sacrum  tauropo[l\i"  CLL. 
XII  357;  so  wohl  auch  in  Arausio  unter  Commodus:  „ta^ropolium  fecerunt 
Sex.  Fublicius  . . .  anus  . . .  iana"  C I.  L.  XII 1222,  in  Vasio  titaufopo[(\ium 
[et  c\riopolium  fecerunt  Aul{us)  Pompeius  Avitian{us)  et  Claudia  Firmin(ia)" 
CI.  L.  XTT  1311,  in  Dea  ,itaur{obolium)  fec{erunt)  T,  Hel{vms)  Marcellin{us) 
et  Val(eriä)  Decumilla"  C  I.  L.  XII  1 569,  in  Lactora  „Aprilis  Repentim 
fil{ius)  et  Saturnina  Taurini  ßl{ia)"  Esperandieu,  Inscriptions  de  Lectoure 
n.  26,  „C.  Julius  Drutedo  et  Balorice  taur{obolium)  f^ecerunt)"  in  Dea 
unter  Caracalla  Kev.  arch.  1889,  S.  423  n.  83.  In  Dea  tritt  einmal,  im 
J.  245  zu  den  Eltern  eine  Tochter  hinzu:  ,,M{atn)  D{eum)  M{agnae)  I{daeae) 
sacr{um)  trib(us)  taur(is)  fecer{unt)  cum  suis  hostiis  et  apparam{entis)  om," 
nib{us)  L.  Dagid{ius)  Marius  pontif{ex)  perpet(uus)  civit(atis)  Valent{iae) 
et  Verullia  Martina  et  VeruUia  Maria fil{ia)  eorum"  CLL.  XU  1567.  Mehr- 
fach finden  wir  zwei  Frauen  bei  einem  Taurobolium  vereinigt;  so  in  Lyon 
i.  J.  194  iitaur ob olium  fecerunt  Aufidia  Alexandria  et  Sergia  Parthenope" 
Boiss.  22  und  i.  J.  197:  „(t)aurobolium  fecerunt  Septicia  ValerianaT^et 
Optatia  Spora''  Boiss.  23,  in  Lactora  „Iul{ia)  Valentina  [et]  Hygia  Silanae" 
Esp.  9.  Dazu  tritt  noch  ein  Priester  in  Vintium:  „Idaeae  Matri  Valeria 
Marciana,  Valeria  Carmosyne  et  Cassius  Paternus  sacerdos  tauropolium 


502  G.  ZipPEL 

suo  su{m)ptu  celehraverunV*  C.  I.  L.  Xu  1.  Einmal  vereinigen  sich  dazu 
ein  Priester  und  ein  Flötenspieler  in  Valentia:  „taurobolium  et,  c[ri\obo' 
Hum  M{atri)  D{eurn)  M(agnae)  l{daeae)  Ji'[cer(unt)]  C.  Vulerivs  Ur\ban  '?]us 
sacerdos,  C,  [Fl{avius)  Restii\utus  [tibicen]",  wenn  Allmers  Ergänzung  richtig 
ist,  der  den  aus  Boiss.  21—23  bekannten  Flötenspieler  Flavius  Restitutus 
hier  einsetzt.  In  Rom  finden  wir  Crescens  und  Leontius  zusammen  thätig, 
Inscr.  Graecae  Siciliae  et  Italiae  n.  1020. 

Wir  haben  durchaus  kein  Recht  zu  der  Annahme,  dass  da,  wo  mehrere 
Veranstalter  genannt  werden,  auch  verschiedene  Weihehandlungen  vor- 
genommen seien,  im  Gegenteil  erscheint  die  Handlung  stets  einheitlich, 
auch  bei  dem  Taurobolium  von  Dea  am  30.  September  245,  wo  drei  Stiere 
geopfert  wurden:  „sacr{um)  lrib{us)  taur(is)  fecer(unty*  C.  L  L.  XII  1567. 
Das  wird  besonders  klar  durch  den  Gegensatz  der  Gruppen- Taurobolien 
von  Lactora  am  18.  Oktober  176  und  am  8.  Dezember  241,  wo  eine  Reihe 
verschiedener  Taurobolien  durch  selbständige  Altäre  bezeugt  sind.  Esp^- 
randieu  rechnet  an  dem  ersten  Datum  11  Taurobolien,  wovon  allerdings 
nur  3  (n.  7.  8.  9)  sicher  dahin  gehören,  wahrscheinlich  auch  n.  5.  10.  11; 
n.  12.  13  haben  keine  Datierung,  n.  14.  15  tragen  anderen  Charakter,  und 
n.  6  ist  sicher  älter.  Der  zweiten  Gruppe  gehören  sicher  an  n.  17 — 25, 
während  für  n.  26,  wo  ein  anderer  Priester  vorkommt,  nichts  dasselbe 
Datum  anzunehmen  nötigt.  In  beiden  Fällen  stehen  neben  einem  von 
der  Gemeinde  veranstalteten  Taurobolium  eine  Reihe  von  privaten.  In 
Rom  kennen  wir  zwei  Taurobolien  am  5.  April  383,  CLL.  VI  501.  502. 

Eine  Mehrzahl  von  Opfertieren  wird  in  der  Formel  hostiis  suis  bei 
einzelnen  wie  bei  mehreren  Veranstaltern  erwähnt:  Esp.  7. 10 — 13.  18—26. 
Es  ist  darunter  kaum  etwas  anderes  zu  verstehen  als  ein  Stier  und  ein 
Widder.  Betrachten  wir  das  Verhältnis  von  Criobolium  und  Taurobolium, 
so  finden  wir  das  erste  nur  selten  für  sich  allein  bezeugt;  so 
iiCrioholium  factum  M{atri)  D{eum)  Ma{gnae)"  in  Benevent  am  9.  April 

228  CLL.  n:  1538. 
,iCrinobolium  factum[Matri]Deum Magn{ae)  Ideae"  in  Ostia  CLL.  XIV  41. 
„criobolium  fecerunV'  unter  Alexander  Severus  in  Mileu  C I.  L.  Vlii  8203. 
Häufiger  werden  Taurobolium  und  Criobolium  zusammen  genannt :  C I.  L. 
Xn  1311.  VI  508-510.  736,  „taurobolium  sive  criobolium'*  C  L  L.  VI  505. 
506,  und  gleichbedeutend  ist  wohl  auch  „criobolium  et  aemobolium"  in 
Teate  CLL.  IX  3015.  Aber  ebenso  oft  finden  wir,  wo  die  Inschrift  nur 
vom  Taurobolium  spricht,  auf  dem  Altar  neben  dem  Stier  auch  einen 
Widder  oder  gewöhnlich  die  Köpfe  beider  Opfertiere  dargestellt,  so  C I.  L. 
Xn  1568.  1744.  1782.  4323.  4324.  4328.  VI  497.  504.  505.  509.  511.  512. 
Boissieu,  Inscriptions  de  Lyon  n.  19.  21 — 23.    Wir  sehen  daraus,  dass 


Das  Taurobolium.  503 

wenigstens  in  der  Regel  das  Criobolium  mit  zu  einem  vollständigen  Tau- 
robolium gehörte.  Es  kann  nicht  davon  die  Rede  sein,  dass  das  Criobo- 
lium einer  anderen  Gottheit,  etwa  dem  Attis  geweiht  gewesen  wäre  (Sayous, 
Revue  de  l'histoire  des  religions  16,  S.  146);  gerade  wo  ein  solches  allein 
vorkommt,  ist  es  der  Göttermutter  geweiht. 

Göhler  schliesst  S.  56  aus  C.  I.  L.  VI  508,  dass  an  Frauen  das  Tauro- 
bolium nicht  vollzogen  wurde;  wir  werden  jedoch  sehen,  dass  diese  Inschrift 
völlig  anders  zu  verstehen  ist.  Die  Inschriften  behandeln  Frauen  und 
Männer  durchaus  in  gleicher  Weise,  und  Aconia  Fabia  Paulina  wird  aus- 
drücklich als  tauroboliata  bezeichnet  CLL.  YI  1779. 

Dass  die  Taurobolien-Weihe  an  zwei  Personen  zusammen  vollzogen 
wurde,  ist  in  zwei  Fällen  bezeugt,  von  Crescens  und  Leontius  I.  Gr.  Sic. 
et  It.  1020: 

KQLoßokov  'cekeTTJg  v,al  ravgoßoXoio  q)€QlaTr]g 
und  von  Apollodor  und  seiner  Gattin  CLL.  VI  509:  „taurobolio  crio[bO' 
li]oq{ue)  percepto  una  cum  Ru/[ia)  Vo[lus]iana  C,f{iliä)  coniuge*'  i.  J.  370. 
Immerhin  macht  die  Beteiligung  mehrerer  Personen  die  Vorstellung  einer 
solchen  Weihe  nicht  gerade  leichter. 

Unmöglich  wird  sie  aber  da,  wo  eine  ganze  Korporation  das  Tauro- 
bolium darbringt.  Das  thun  z.  B.  die  Dendrophoren  in  Valentia  C  I.  L. 
XII  1794:  „M{citri)  JD{eujn)  M{agnae)  I(daeae)  iaufwbol(ium)  dendrophor(i\ 
Valen{tini)  sua  p{ecunia)  ßjscerunt)";  ebenso  die  von  Lyon  am  17.  Juni 
190,  Boiss.  21 :  ^taurobolium  fecerunt  dendrophori  Luguduni  consistentes", 
wobei  hinzugefügt  wird  „honori  omnium  Cl(audius)  Silvanus  perpetuus 
quinquennalis  inpendium  huius  arae  remisit".  In  Ostia  thun  es  die  Kanno- 
phoren  unter  Commodus  C I.  L.  XIV  40 :  „tauro[boliuvi  factum  Malri  Deum 
Magnae  Idaeae]  —  cannolphoriY'  — ;  vermutlich  von  demselben  Kollegium 
ist  C I.  L.  XIV  42  unter  Gallus  und  Volusianus  errichtet.  Auch  Gemein- 
den veranstalteten  Taurobolien;  so  Narbo  C I.  L.  XII  4321 :  „Matri  Deum 
taurobolium  indictum  iuasu  ipsius  ex  stipe  conlata  celebraverunt  publice 
Narbon{enses)",  die  Stadt  Lactora  Esp.  5:  ,ir{es)p{ublica)  Lactorat(ium) 
tauropol(ium)  fecit"  oder  ihr  Gemeinderat  am  S.Dezember  241  Esp.  18: 
yytauropolium  fecit  ordo  Lact{oratium)  —  cura?itib{us)  AI.  Erotio  Festo  et 
M.  Carinio  Caro",  die  Vocontier  unter  Severus  und  Caracalla,  Allmer 
Revue  epigraphique  du  midi  de  la  France  2,  389 :  „taurobol(iu7n)  fec{it) 
r{es)  piublica)  Vocipntiorumy.  Selbst  die  ganze  Gallia  Narbonensis  ver- 
anstaltete ein  Taurobolium  unter  Severus  und  Caracalla  C I.  L.  XII  4323 : 
filmperio  D{eum)  M{atris)  tauropoliu?n  provinciae  Narbonensis  factum  per 
C.  Batonium  Primum  fiaminem  Augiustorum)" ;  ebenso  CLL.  XII  4329 


504  G.  ZippBL 

„tauropolium  provinciae",  Dass  Einer  im  Namen  der  ganzen  Genossen- 
schaft die  Weihe  empfing,  ist  an  sich  wenig  wahrscheinlich,  und  an  den 
beiden  Stellen,  wo  der  Beauftragte  genannt  wird,  ist  nur  die  Besorgung 
des  Opfers  betont :  ,i factum  per  C.  Batonium  Primum ",  „  curantib{us) 
M,  Erotio  Festo  et  M.  Carinio  Caro^\  Die  jüngste  datierte  Inschrift  der 
Art  gehört  der  Mitte  des  dritten  Jahrhunderts  an  (C.  I.  L.  XIV  42  von 
252/3),  und  wir  haben  keinen  Anlass,  eine  der  anderen  für  jünger  zu 
halten. 

Dazu  kommt  die  bei  vielen  Taurobolien-Inschriften  zugefügte  Zweck- 
bestimmung :  sie  sind  durchweg  in  erster  Linie  für  das  Wohl  des  kaiser- 
lichen Hauses  vollführt.  Wir  finden  Taurobolien  „;?ro  salute  imperh"  in 
Corduba  am  25.  März  238  C.  I.  L.  II  5521,  ähnlich  C.  I.  L.  XÜ  1568.  1569 
in  Dea;  „pro  salute  et  incolumitate  domus  divinae"  in  Lactora  Esp.  5, 
ähnlich  in  Vasio  C.  I.  L.  XH  1311,  in  Valentia  C.  I.  L.  XH  1745;  „pro 
salut(e)  et  redlt{u)  et  victor(ia)  imp{eratoris)"  C.  I.  L.  XIV  43  in  Ostia; 
ferner  für  einzelne  Kaiser:  für  Commodus  in  Arausio  C.  I.  L.  XH  1222, 
für  Severus  und  Caracalla  in  der  freilich  verdächtigen  Inschrift  von  Frejus 
C.  I.  L.  Xn  251 ,  ferner  in  Dea  Kev.  4p.  du  midi  de  la  France  2,  389,  in 
Narbo  C.  I.  L.  XH  4323,  und  in  Lyon,  Allmer,  Musee  de  Lyon  1,  41 ,  in 
Poitou  Rev.  arch.  1889,  S.  423  n.  83;  für  Alexander  in  Mileu  C.  L  L.  Vm 
8203;  für  Maximinus  und  Maximus  in  Teate  C.  I.  L.  IX  3014;  für  Gordian 
das  grosse  Gruppen-Taurobolium  von  Lactora  i.  J.  241 ;  für  Philippus  in 
Dea  CLL.  XII  1567;  endlich  für  Probus  inMactar,  Bulletin  archeologique 
du  Comite  des  travaux  historiques  1891,  p.  529.  Dem  Wohl  des  Kaisers 
werden  Wünsche  für  die  Stadt  zugefügt;  so  in  Lyon  i.  J.  160,  Boiss.  19: 
„pro  salute  Imperatoris  [C^aes{aris)  T.  Äeli  Hadriani  Antonini  Aug{usti) 
Pii  p{atris)  p{atriae)  liberorumque  eius  et  statu  coloniae  Lugudun{iy*, 
ähnlich  i.  J.  190  Boiss.  21,  i.  J.  194  Boiss.  22,  i.  J.  197  Boiss.  36,  ähnlich 
auch  in  Lactora  i.  J.  241  Esp.  17.  Die  wichtigsten  römischen  Staats- 
behörden werden  in  Ostia  in  das  Gebet  eingeschlossen:  „pro  salute Im[p{era' 
toris)  Caes{aris)]  M.  Aurel[i  Antonini  Aug{usti)  et\  L,  Aureli  [Com- 
modi  Caes(aris)  et]  Fanstina[e  Aug{ustae)  matris  caslro^rtim  libe{rorum- 
que  eoruTRy  senatus,  XV  vir{um)  s(acris)  f{aciundis) ,  equestr(is)]  ordi- 
n(is),  e3o\ercituum\,  navigan[tium\^  decurio[num  col(oniae)  Ost{iensis)]*' 
C.  I.  L.  XIV  40,  ähnlich  n.  42  unter  Gallus  und  Volusianus. 

Diese  mit  dem  Taurobolium  verbundenen  Segenswünsche  schliessen 
mit  Probus  (276 — 282),  gehören  also  nur  dem  zweiten  und  dritten  Jahr- 
hundert an;  sie  lassen  das  Taurobolium  durchaus  nicht  als  eine  Weihe, 
sondern  als  ein  Opfer  erscheinen,  mit  dem  man  die  Gottheit  für  Kaiser 
und  Reich  und  die  Gemeinde  günstig  zu  stimmen  suchte.  Die  Inschriften 


Das  Tanrobolium.  505 

sind  durchaus  in  gleichem  Ton  gehalten,  wie  einfache  Weihinschriften; 
man  vergleiche  z.  B.  C.  I.  L.  Ym  2230 :  „\Matr]iDeum  Aug(ustae)  sac{rum) 
[pro']  salute  Imj){eratorum)  L.  Septimi  Severi  Pii  Pertinac{is)  et  M.  Aureli 
Antonini  Aug{ustorum)  et  P.  Septimi  Getae  Caes{aris)  et  Inline  Ang{ustae) 
totiusque  dom{us)  divinae  C.  Sittius  lanuarius  sacerd{os)  dono  dedit",  die 
von  Esperandieu  S.  120  unrichtig  unter  die  Tauroholien- Inschriften  ge- 
stellt ist. 

Sehen  wir  nun,  wie  die  Inschriften  von  der  Handlung  selbst  sprechen. 
Voran  steht  meistens  die  Widmung  an  die  grosse  Mutter,  neben  der 
häufig  Attis  genannt  ist.  Oft  steht  sie  selbständig  als  Überschrift  voran : 
„M{atri)  D{eum)  s{acrum)"  C  I.  L.  n  5260,  ähnlich  C.  I.  L.  VI  511.  IX 
1538,  meistens  in  Lactora  Esp.  n.  6—8.  10. 11. 13. 16.  18— 26,  auch  bei  dem 
Taurobolium  von  Mactar  (Bull.  arch.  1891,  p.  529),  „M{atrt)  D{eum)  M(agnae) 
lidaeae)  sacrum  factum''  C.  I.  L.  VIII  8203.  Dann  wird  es  als  eine  zu 
Ehren  der  Gottheit  vollzogene  Handlung  dargestellt:  ,,Matri  Deum  — 
taurobolium  fecerunf'  CLL.  Xn.2b\,  1222.  1311. 1569.  1744.  1745.  1782. 
VI  505.  Esp.  5.  12.  Kev.  arch.  1889,  S.  423  n.  83,  wohl  auch  Boiss.  n.  20. 

21,  „Matri  Deum  optimae  maxim(ae)  sacra  taurobol[i]  l{ibens)  m{erito) 
f{ecit)"  X  4829,  ähnlich  auch  ,ytaurobolium"  (oder  „criobolium")  ,Jactum 
Matri  Deum"  C.  I.  L.  XIV  40—43;  ,,M{atri)  D{eum)  M{agnae)  J{daeae) 
sacrium)  fecer{ij,ntY  C.  I.  L.  XII  1567.  Mitunter  fehlt  die  Widmung 
C.  I.  L.  VI  507.  X  4726.  XU  1568.  Kevue  epigr.  d.  m.  d.  Fr.  2,  389.  Boiss. 

22.  23.  Esp.  1.  17.  Für  das  einfache  facere  finden  wir  zuweilen  cele- 
brare  gebraucht  C.  I.  L.  XII  1.  1568.  1744.  4321.  Zuweilen  erscheint  es 
jedoch  als  eine  der  Göttin  dargebrachte  Gabe :  „Matri  Deum  tauropolium'' 
C.  I.  L.  Xn  4328  (allerdings  unvollständig),  „Matri  Deum  taurobolium^ 
quod  feciV'  C.  I.  L.  XII  4322,  ähnlich  4326,  VI  508 ;  „taurobol[ium\  Matrü 
Deum''  Boiss.  n.  24 ;  anders  „taurobolio  Matris  D{eum)"  u.  s.  w.,  worauf 
die  Handlung  berichtet  wird,  Boiss.  19.  Zuweilen  erfolgt  die  Widmung 
„ob  taurobolium'*  C.  I.  L.  IX  1538.  1539.  1541.  1542.  XII  357.  358,  ähn- 
lich „tauj^obolio  facto"  C.  I.  L.  VI  506.  Hauptsächlich  in  späteren  In- 
schriften wird  die  Errichtung  des  Altars,  die  von  jeher  üblich  war,  be- 
sonders erwähnt,  zuerst  i.  J.  199  in  Ostia  „taurobolium  fecit  et  aram 
taurobolatam  posuit"  C.  I.  L.  XIV  39 ;  „aram  tauroboli  sui"  C.  I.  L.  11 
5260.  Ganz  überwiegend  geschieht  das  im  vierten  Jahrhundert :  „tauro- 
bolio  confecto  —  aram  feliciter  consecraviV  C.  I.  L.  VI  498  i.  J.  350, 
und  ganz  ähnlich  VI  499  (J.  374).  501.  502  (J.  383).  503  (J.  390).  509 
(J.  370).  510  (J.  376).  511  (J.  377).  512  (J.  390),  ähnlich  auch  in  griechischen 
Inschriften  Inscr.  Gr.  Sic.  et  It.  1020  in  Kom  und  den  athenischen  C.I.  A. 
ni  172,  wahrscheinlich  unter  Julian,  und  n.  173  i.  J.  387.     Ganz   dem 


606  G.  ZippEL 

dritten  Jahrhundert  scheint  die  Wendung  tauroboUum  accipere  anzu- 
gehören C.  I.  L.  XII  4325,  die  namentlich  bei  den  späteren  Taurobolien 
von  Lactora  regelmässig  gebraucht  wird:  Esp.  18—26;  der  Ausdruck 
taurobolium  percipere  kommt  erst  im  vierten  Jahrhundert  vor. 

Ist  aus  solchen  allgemeinen  Worten  wenig  zu  entnehmen,  so  führt 
uns  etwas  weiter  das,  was  von  den  Priestern  gesagt  wird.  Häufig  finden 
wir  sie  nur  wie  zur  Datierung  genannt,  z.  B.  „sacerdole  Aurelio  Stephano'' 
i.  J.  238  in  Cordova  C.  I.  L.  11  5521;  so  11  5260  XII  1569.  4322.  4324. 
4326.  Boiss.  19.  21.  Esp.  7—1 1.  16—26.  Zwischen  einer  solchen  Datie- 
rung und  einem  allgemeinen  Hinweis  auf  die  Thätigkeit  der  Priester 
schwankt  die  Inschrift  von  Ostia  aus  d.  J.  199  C.  I.  L.  XIV  39:  „tauro- 
boUum fecit  et  aram  taurobolatam  posuit  per  sacerdotes  Valerio  Pan- 
carpo".  Auf  die  priesterliche  Thätigkeit  bei  einer  religiösen  Hand- 
lung weist  auch  die  Inschrift  von  Lissabon  vom  J.  108  C.  L  L.  II  179: 
y,per  M,  Iul{ium)  Cass{ianum)  et  Cass(iuin)-  Sev(erum)",  Bestimmter  fuhren 
auf  die  Thätigkeit  des  Priesters  die  Worte  praeire  und  tradere.  Bei 
dem  Taurobolium  von  Tain  am  23.  April  184  lesen  wir  C.  I.  L.  XII  17S2: 
„praeeunte  Aelio  Clastrerilse  sacerdote,  tihicine  Albio  Verino",  Den- 
selben Priester  finden  wir  am  11.  Mai  194  in  Lugdunum  thätig,  Boiss.  22: 
„praeeunte  Aelio  Castrense  sacerdote,  tihicine  Fl{avio)  Restituto",  und  den 
letztgenannten  Flötenspieler  finden  wir  wieder  am  7.  Mai  197,  Boiss.  23: 
„{p)raeeunie  Aelio  Antho  sacerdote,  sacerdotia  Aemilia  Secundilla,  tihi- 
cine Fl(avio)  Restftuto,  apparatore  Vireio  Hermetione",  Ebenso  heisst 
es  in  Yasio  C.  I.  L.  XII  1311:  „praeeunte  Aul{o)  Titio  Fhronimo  sa- 
cerd(ote)".  In  Dea  finden  wir  am  30.  September  245  drei  Priester  von 
drei  Gemeinden  thätig,  C.  I.  L.  XII  1567:  „praeeuntihus  sacerdotihus  Iuni\o] 
Tito  XV vir{ali)  Arausens{ium)  et  Castricio  Zosimione  civitat(is)  Alhens[is) 
et  Blattio  Paterno  civitatis  Voc{ontiorum)  et  Fabricio  Orfito  Liberi 
patris  et  ceteris  adsistentihus  sacerdotihus".  Man  könnte  dieses  praeire 
auf  das  Vorsprechen  bestimmter  Gebetsformeln  oder  Lobpreisungen  der 
grossen  Mutter  und  des  Attis  beziehen,  da  ^qi  „hymnologus  primus  M{atris) 
D{eum)  I{daeae)  e[t\  Atti[n]is  publicus"  (Bull.  inst.  arch.  1884,  S.  155) 
wohl  nicht  zu  dem  Tauroboliendienst  gehört;  allein  da  wir  oft  mehrere 
Personen  dabei  thätig  sehen,  ist  es  näher  liegend,  das  Wort  in  seiner 
nächstliegenden  Bedeutung  zu  fassen  als  Voranschreiten  bei  einer  Pro- 
zession, von  der  wir  auch  sonst  Spuren  finden. 

Das  Wort  tradere  finden  wir  zunächst  in  den  beneventanischen 
Inschriften  vom  Anfang  des  dritten  Jahrhunderts:  „^flwr(o6o//t/w)  trad[it\u(m) 
a  Servilia  Varia  sac{erdote)  pinma''  CLL.  IX  1541;  „[taur]ibol{ium) 
tr[aditu]m  a  Servi[l]ia  [Va]ria  sa[c{erdote)  prima]"  n.  1542;  „criobolium 


Das  Taurobolium.  507 

factum  M{atri)  De{um)  Ma(gnae),  tradentib{us)  Septimio  Primitivo  augure 
et  sac{erdote)  Servilia  Varia  et  Terentia  EUsuiana  sacerd{ote)  XV  vir{ali), 
praeeunte  Mamio  Secundo"  am  9.  April  228  n.  1538.  Bei  dem  Tauro- 
bolium von  Mactar  unter  Probus  heisst  es:  „tradentibus  Rannio  Salvio 
eq{uüe)  R{omand)  pontfßce  et  Claudio  Fausto  sacerdotihus"  (Bull.  arch. 
1891,  p.  531).  Hier  übergeben  die  Priester  das  Taurobolium  dem  Ver- 
anstalter des  Opfers;  in  einem  Falle  erscheint  dieser,  selbst  Priester  der 
Göttermutter,  auch  bei  der  Übergabe  beteiligt,  C.  I.  L.  IX  1540:  „Attini 
sacr{um)  et  Minervae  Parachintiae  L,  Soniius  Pineius  lustianus  eq{iiitis) 
R{omani)  adne{pos),  vir  principalis,  duurmnr  et  r^unerarius  natalis  colo' 
niae,  omnibus  honoribus  perfunct{us)  et  sacerdos  Matri  Deum  M(agnae) 
I{daeae)  in  primordio  suo  taurobolium  a  sefactuMi  tradente  simul  Cosinia 
Celsina  consacerdote  sua,  praeeunte  Flavio  Liberali  har{uspice)  publ{ico) 
primario".  Zuletzt  erscheint  die  Formel  am  19.  April  319,  C.  I.  L.  VI  508: 
f,praesentib(us)  et  tradentib{us)  c{larissimis)  v{iris)  ex  ampliss{i?no)  et  sanc- 
tissiimo)  coll(egio)  XV vir{um)  s(acris)  f(aciundis)".  Offenbar  steht  dies 
tradere  dem  öcc//?ere  gegenüber:  der  Übergebende  ist  stets  der  Priester, 
der  Empfangende  der  Veranstalter  des  Opfers.  Gleichbedeutend  mit 
accipere  wird  einige  Male  suscipere  gebraucht;  so  in  Corduba  i.  J.  238 
C.  I.  L.  n  5521 :  „tauribolium  fecit  Publicius  Valerius  Fortunatus  Tha- 
lam[u\s,  suscepit  crionis  Porcia  Bassemia'',  Wenn  die  seltsame  Form 
crionis  wirklich  mit  Mommsen  als  Genetiv  von  Y,Qi6s  aufzufassen  ist, 
so  hat  Porcia  Bassemia  das  mit  dem  Taurobolium  verbundene  Criobolium 
aufgefangen,  Valerius  Fortunatus  also  das  eigentliche  Taurobolium.  In 
Mileu  unter  Alexander  Severus  heisst  es  C.  I.  L.  Vin  8203 :  ,,criobolium 
fecerunt  et  ipsi  susceperunt  per  Aemili{u)m  Satuminum  sacerdotem*\ 
Der  Ausdruck  ist  hier  insofern  ungenau,  als  von  einer  Vermittelung  bei 
der  Empfangnahme  nicht  die  Rede  sein  konnte,  wenn  die  Veranstalter, 
Basilicus  und  Mnesius,  das  selbst  besorgten;  die  Thätigkeit  des  Priesters 
konnte  nur  in  der  Übergabe  bestehen.  Zuletzt  erscheint  in  demselben 
Sinne  das  sonst  im  vierten  Jahrhundert  für  den  Empfang  der  Bluttaufe 
übliche  percipere  gebraucht,  am  19.  April  319,  C.  I.  L.  VI  508:  „tauro- 
bolium criobol{ium)  caemo  perceptum  per  Fl{avium)  Antonium  Eustochium 
sac{erdotem)  Phryg(ium)  max(imumy\  Die  Inschrift  weicht  von  den 
früheren  nur  darin  ab,  dass  Quindecimvirn  das  Taurobolium  übergeben 
der  Priester  es  empfängt,  während  die  Veranstalterin,  Serapias,  im  Hinter- 
grunde bleibt.  An  eine  Bluttaufe  kann  in  allen  diesen  Fällen  nicht 
gedacht  werden;  sie  konnte  weder  in  einer  Schale  aufgefangen  werden, 
noch  konnte  bei  ihr,  wie  es  in  Benevent  bezeugt  ist,  der  Empfangende 
zugleich  bei  der  Übergabe  beteiligt  sein. 


508  G.  ZipPBL 

Dass  die  geweihte  Schale,  cacrnvs,  hei  dem  Tauroholium  eine  wich- 
tige EoUe  spielte,  heweisen  die  häufigen  Darstellungen  von  Krug  und 
Schale  auf  den  Dentmälern :  C.  I.  L.  VI  502.  509.  IX  1539.  X  4726. 
XII  4325 — 4327.  Eine  cemophora  finden  wir  hereits  i.  J.  108  in  Lissa- 
hon  C.  I.  L.  ni79:  „Matri  Deum  May{nae)  Ideae  Phryg(iae)  Fl{avia) 
Ti/che  cernophor{a)  per  M.  Iul{ium)  C(iss{ianum)  et  Cass{mm)  Sev{erumy'. 
Die  Vermittelung  zweier  Priester  lässt  auf  eine  grössere  Kulthandlung 
schliessen ;  sollte  es  ein  Tauroholium  sein,  so  hätten  wir  hier  das  älteste 
Beispiel  vor  uns.  Eine  weitere  Schalenträgerin  kennen  wir  in  Puteoli, 
CLL.  XI 803:  nDiis)  M(anibus).  Herme  Victorinae  \c\aernophoro  M, 
Eerius  Valerianus  ßliae  dulcissimae'*.  Bei  dem  Tauroholium  von  Mactar 
wird  dieses  Auffangen  mit  der  Schale  geradezu  als  der  wesentlichste  Teil 
des  Tauroholiums  bezeichnet,  Bull.  arch.  1891,  p.  531:  „M{a(ri}  D{eum) 
M{agnae)  I(daeae)  Aug(ustae)  sacrum  pro  salute  Impieratoris)  Caes{aris) 
M.  Aureli  [Probt]  pH  felicü  Aug{usii)  totiusque  divinae  domus  Q,  Arellius 
Optatianus  eq{ues)  R(oinanus)  sacerdos,  perfectis  rite  sacris  cer- 
norum  crioboli  et  tauroboboli,  suffragio  ordinis  col{oniae)  suae 
Mactaritanae  comprobatus  antistes,  sumptibus  suis,  tradeniibus  Rannio 
Salvio  eq{uite)  R{omano)  pontifice  et  Claudio  Fausto  sacerdotibus  vna 
cum  universis  dendroforis  et  sacratis  utriusque  sexus  v{otum)  s{olvit) 
l{ibenti)  a{nimo)".  Die  Handlung  erhielt  hier  eine  grössere  Feierlichkeit 
durch  die  Anwesenheit  zahlreicher  Personen,  die  da  mit  bei  der  Übergabe 
beteiligt  erschienen,  was  C.  I.  L.  VI  508  genauer  ausgedrückt  wird  „arf- 
sistentibus  et  tradentibus" .  Sacrati  ist  natürlich  nicht  gleichbedeutend 
mit  dem  später  üblichen  tauroboliati;  denn  schon  die  Errichtung  eines 
Altars  nach  jedem  Tauroholium  zeigt,  dass  das  immer  eine  ausnahms- 
weise Feier  war ;  es  sind  vielmehr  die  zu  einer  Art  Gemeinde  vereinigten 
regelmässigen  Yerehrer  der  grossen  Mutter,  die  vielleicht  eine  einfachere 
Weihe  durchgemacht  hatten,  etwa  der  Art,  wie  sie  Firmicus  Matemus 
c.  18  für  die  fxvöiai  "Aiiewg  berichtet. 

Auf  Übergabe  und  Empfang  folgte  das  Forttragen  in  feierlicher 
Prozession  unter  Flötenbegleitung.  Darauf  weist  ausser  dem  praeire 
der  Ausdruck  taurobolium  movere.  Wir  hören  in  Teate  unter  Maximin 
C.  I.  L;  IX  3014:  ^^taurobolium  movit  Petronius  Marcellus  sacei'd{os)  de 
suo",  und  in  der  Parallelinschrift  n.  3015:  „criobolium  et  aemobolium 
movit  de  suo  Petronius  Marcellus  sacerdos".  Auf  einem  Taurobolienaltar 
in  Gabii  C.  I.  L.  XIV  2790  steht:  „Matri  Deum  Magnae  Ideae  Pompeius 
Rusonianus  co{n)s{ula?'is)  XV  vir  sacris  faciundis  taurobolium  movit". 
Noch  in  der  letzten  Zeit  finden  wir  den  Ausdruck  bei  dem  Taurobolium 
des  Rufus  Caeionius  Sabinus  am  12.  März  377; 


Das  Taurobolium.  509 

„et  veneranda  movet  Cibeles  Triodeia  signa, 
augentur  meritis  simbola  tauroboli*'    C.  L  L.  VI  511. 
Freilich  ist  es  bei  der  Religionsmengerei  dieser  Zeit  nicht  sicher,  dass 
diese  Zeichen  der  Cybele  gerade  Zeichen  des  Tauroboliums  sind. 

Der  Gegenstand  nun,  der  so  übergeben,  oder  genauer,  wie  der  Name 
Taurobolium  und  Criobolium  und  auf  der  anderen  Seite  das  Wort  susci- 
pere  zeigt,  geworfen,  dann  aufgefangen  und  fortgetragen  wurde,  kann 
nichts  anderes  sein,  als  die  vires,  auf  die  jene  Handlungen  ausdrücklich 
bezogen  werden  in  der  ersten  Taurobolien -Inschrift  von  Lugdunum 
i.  J.  160,  Boiss.  19:  „taurobolio  Matris  D{eum)  M[agnae)  I(daeae)  Diin- 
di/menaef),  quo d  factum  est  ex  imperio  Matris  D{ivae?)  Deum  pro  salute 
Imperatoris  [C\aesaris  T,  Aeli  Hadriani  Antonini  Aug(usti)  Pii  p{atris) 
p(atriae)  liberorumque  eius  et  Status  coloniae  Lugudun{i)  L,  Aemilius 
Carpus  IIIIII  vir  Aug(ustalis) ,  item  dendrophorus  vires  excepit  et 
a  Vaticano  transtulit,  ara(m)  et  bucranium  suo  inpendio  consacravit 
sacerdote  Q.  Sammio  Secundo  ab  XV  viris  occabo  et  corona  exornato, 
cui  sanctissimus  ordo  Lugdunens{ium)  perpetuitatem  sacerdoti  decrevit 
App(io)  Annio  Atilio  Bradua  T.  Clod{iö)  Vibio  Varo  co{n)s{ulibus), 
l(ocus)  d(atus)  d{ecurionum)  d{ecreto)".  Es  handelt  sich  um  die  Ein- 
führung des  Tauroboliums  in  Lugdunum  und  wohl  überhaupt  in  Gallien. 
Es  gab  in  Lugdunum  ein  Heiligtum  der  grossen  Mutter  mit  wenigstens 
einem  Priester  und  einem  Dendrophoren- Kollegium;  aber  den  neuen 
Opferritus  holte  man  sich  von  dem  Vatikan  in  Rom,  wo  dieser  Dienst 
damals  also  schon  in  Blüte  gestanden  haben  muss.  Wollte  man  in  dem 
Vaticanus  hier  eine  Stelle  in  Lugdunum  suchen,  so  müsste  man  den 
Ruhm  des  römischen  Vatikans  nur  noch  höher  hinaufrücken;  denn  der 
Name  kann  doch  nur  von  dort  herstammen.  Auf  eine  weitere  Reise 
deutet  ausserdem  das  Wort  transtulit,  auf  des  Aemilius  Carpus  An- 
wesenheit in  Rom,  dass  die  Quindecimvirn  an  Sammius  Secundus  Arm- 
band und  Kranz  verliehen.  Am  Fusse  des  Vatikans,  da  wo  heute  die 
Peterskirche  steht,  lag  die  Hauptstätte  der  römischen  Taurobolien.  Die 
dort  gefundenen  Inschriften  gehören  allerdings  sämtlich  dem  vierten 
Jahrhundert  an,  und  das  früheste  datierte  römische  Taurobolium  wurde 
am  26.  Februar  295  gefeiert,  CLL.  VI  505,  allein  an  der  Stelle  der 
Peterskirche,  wo  das  Christentum  besonders  augenfällig  über  das  Heiden- 
tum triumphierte,  ist  sicher  vieles  zerstört,  und  von  vielen  Taurobolien- 
altären  ruhen  gewiss  noch  heute  die  Trümmer  unter  den  Mauern  der 
Kirche.  Hier  lag  einst  der  Privat -Circus  des  Caligula,  von  dem  Dio 
59,  14,  6  sagt:  loöTe  xal  vvv  %tl  FaLavdv  Iti  aliov  t6  %w^/ov,  h  ([)  Tct 
ccQi^iaTa  7]GK€L,  '/.alslod^ai.    Auf  denselben  Platz  wurde  Nero  mit  seinen 


610  G.  ZippEL 

"Übmigen  gewiesen,  Tac.  ann.  14, 14:  tMausumque  valle  Vaticana  spatwm, 
in  quo  equos  reger  et,  haud  promhco  spectaculo*'.  Nero  rief  dann  dorthin 
das  Volk  zum  Schauen  und  baute  dahin  eine  neue  Brücke.  Hier,  in  der 
14.  Region,  kennen  die  Regionen- Verzeichnisse  das  „Gaianum  et  Friyianum'' 
(Jordan,  Topographie  2,  563),  und  den  Weihetag  des  Heiligtums  hat  der 
Kalender  des  Philocalus  bewahrt,  C.  I.  L.  P.  p.  200 :  ,Jnitium  Caiani"  am 
28.  März,  im  Anschluss  an  die  grosse  Märzfeier  der  Göttermutter,  die  am 
27.  März  mit  der  Lavatio  endete.  Dass  die  Verehrung  der  grossen  Mutter 
in  Gallien  gerade  an  Rom  anknüpfte,  zeigt  auch  die  Inschrift  von 
Massilia  C.  I.  L.  XII  405  S.  812:  „Matris  Deum  Magnae  Ideae  Palati^ 
nae  eiusque  m{agnae?)  religionis  adpar[a]tor  Navius  lanuarius".  Die 
Inschrift  ist  allerdings  heute  verschollen,  ihre  Erdichtung  aber  ist  schwer 
vorzustellen.  Dass  der  römische  Vatikan  in  Gallien  grosses  Ansehen 
genoss  und  zur  Errichtung  ähnlicher  Heiligtümer  Anlass  gab,  zeigt  die 
Mainzer  Inschrift  bei  Brambach  C.I.Rh.  1366:  ,Jn  h{onorem)  d(omus) 
d{ivi7iae)  Deae  Virtuti  Bellone  montem  Vaticanum  vetustate  conlabsum 
restitiiejmn{t)  hastiferi  civitatis  Mattiacor{umY'  am  23.  August  236. 

Am  Vatikan  also  feierte  Aemilius  Carpus  das  Taurobolium,  fing 
dabei  die  vires  auf,  trug  sie  nach  seiner  Heimat  und  errichtete  dort 
einen  Altar.  Wir  sehen  hier ,  dass  die  vires  nicht  etwa  Schädelknochen 
und  Hörner  sein  können,  denn  das  bucranium  wurde  nur  in  Lugdunum 
geweiht,  nicht  von  Rom  herübergetragen;  es  kann  nichts  anderes  be- 
zeichnen, als  das  Bild  des  Stierkopfes  auf  dem  Altar,  das  für  sich  schon 
dessen  Charakter  kenntlich  machte.  Die  vires  können  auch  nicht  ein- 
fach die  Taurobolien- Sitte  bedeuten  (Göhler,  De  Matris  Magnae  apud 
Romanos  cultu  S.  56)  oder  die  durch  eine  Weihe  verliehene  mystische 
Kraft;  transtulit  verlangt  ein  materielleres  Objekt.  Die  Inschrift  macht 
es  auch  klar,  was  der  Taurobolien-Altar  bedeutete:  er  bezeichnete  die 
Stelle,  wo  unter  religiösen  Zeremonieen  die  vires  geborgen  waren.  Das 
wird  klarer  durch  den  Gegensatz  des  Tauroboliums  in  Dea  vom  30.  Sep- 
tember 245,  C.  I.  L.  XII  1567,  wo  sie  an  der  Stelle  des  Opfers  vergraben 
waren:  Joco  vires  conditae''.  Das  bezeugen  auch  mit  gleichen  Worten 
zwei  Taurobolien -Altäre  von  Lactora,  Esp.  n.  14,  15:  „vires  tauri,  quo 
proprie  per  taurobolium  pub{Uce)  factum  fecerat,  consacravit". 

Die  Bedeutung  der  vires  kann  gar  nicht  zweifelhaft  sein,  wenn  wir 
daran  denken,  dass  der  Stier  vor  allen  Dingen  als  Sinnbild  der  Leben 
schaffenden,  zeugenden  Naturkraft  diente ;  sie  können  nichts  anderes  sein, 
als  die  Zeugungs- Organe.  Das  wird  besonders  deutlich  durch  die  Er- 
zählung des  Arnobius  aus  der  Mythologie  der  grossen  Mutter,  5,  5 — 13: 
Sie  selbst  entstand  danach  aus  einem  Stein  des  Felsen  Agdus;  das  er- 


Das  Taurobolium.  511 

klärt  offenbar  den  i.  J.  204  von  Pessinus  nach  Kom  gebrachten  Stein. 
Jupiter,  der  ihr  selbst  infolge  ihres  Widerstrebens  nicht  nahen  durfte,  be- 
fruchtete den  Fels,  und  es  ging  Agdestis,  ein  Bild  roher  Kraft,  hervor. 
Von  Liber  berauscht  und  gefesselt,  entmannte  er  sich  selbst  bei  der  Be- 
mühung, sich  zu  befreien,  und  aus  seinem  Blut  entspross  der  Granatapfel. 
Von  diesem  wieder  wurde  Nana,  die  Tochter  des  Sangarius,  schwanger 
und  gebar  den  Attis,  der  von  der  grossen  Mutter  wie  von  Agdestis  ge- 
liebt wurde.  Midas,  der  König  von  Pessinus,  wollte  ihn  seiner  Tochter 
la  vermählen,  aber  die  grosse  Mutter  hob  die  Mauern  und  drang  in  die 
Stadt,  und  Agdestis  schlug  die  Feiernden  mit  Wahnsinn.  Attis  ergriff 
die  Flöte,  entmannte  sich  unter  einer  Fichte,  weihte  seine  Mannheit  an 
Agdestis  und  starb.  Die  grosse  Mutter  barg  das  Glied  in  die  Erde,  aus 
dem  Blut  wuchsen  Veilchen  hervor.  Auch  la,  die  sich  selbst  tötete, 
wurde  von  ihr  begraben,  und  es  entspross  der  Mandelbaum.  Die  Fichte 
trug  sie  in  die  Höhle  und  klagte  dort  mit  Agdestis.  Jupiter  gewährte 
die  Unverwesbarkeit  der  Leiche,  Fortwachsen  der  Haare  und  Leben  im 
kleinsten  Finger.  Als  Quelle  wird  Theophilus  genannt.  Unabhängig  von 
dieser  Erzählung  giebt  Arnobius  c.  20  eine  andere,  die  phrygische  Mysterien 
begründen  soll:  Jupiter  habe  einmal  nach  seiner  Mutter,  die  hier  Ceres 
genannt  wird.  Verlangen  getragen  und  sie  überlistet;  „fit  ex  deo  taurus 
et  sub  pecoris  specie  subsessoris  animum  atque  audaciam  celans  in  securam 
et  nesciam  repentina  immiititur  vifurens,  agit  incestus  res  suas  et  prodita 
per  libidinem  fraude  intellectus  et  cognitus  evolat."  Die  Mutter  war 
leidenschaftlich  entrüstet  und  wurde  danach  Brimo  genannt.  Jupiter 
suchte  sie  vergeblich  zu  besänftigen,  „ad  postremum  filius  inas  satis- 
factionis  inquirens  comminiscitur  remediurn  tale:  arietem  nobilem  bene 
grandibus  cum  testiculis  deligit,  exsecat  hos  ipse  et  lanato  exuit  ex  folliculi 
tegmine,  accedens  maerens  et  summissus  ad  matrevi  et  tamquam  ipse 
scntentia  condemnavisset  se  sua,  in  gremium  proicit  hos  eius.  Da- 
durch wird  die  Mutter  besänftigt  und  gebiert  im  10.  Monat  eine  Tochter, 
Libera  oder  Proserpina.  Dieser  naht  dann  Jupiter  als  Schlange ;  fit  ut  et 
ipsa  de  semine  fortissimi  compleatur  levis,  sed  non  eadem  condicione  qua 
mater:  nam  illa  filiam  reddidit  lineamentis  descriptam  suis,  at  ex  partu 
virginis  tauri  specie  fusa  lovialis  monumenta  pe/laciae.**  Als  Beweis 
führt  Arnobius  den  tar entin ischen  Senar  an :  ,ytaui^us  draconem  genuit  et 
taurum  draco.  ipsa  novissime  sacra  et  i'itus  initiationis  ipsius,  quibus 
Sebadiis  nomen  est,  testimonio  esse  potemnt  veritati:  in  quibus  aureus 
coluber  in  sinum  demittitur  consecratis  et  eximitur  rursus  ab  inferioribus 
atque  imis/' 

Nur  der  letzte  Teil  der  Erzählung  dient  zur  Erklärung  der  Sebadia, 


612  G.  ZippEL 

d.  h.  der  2aßd^ia,  der  Mysterienfeier  des  phrygischen  Sabazis.  An  eine 
solche  Feier  denkt  schon  Demostbenes  de  cor.  §  259  f.,  wo  er  den  Aeschines 
wegen  seiner  Thätigkeit  bei  derartigen  Kulten  bei  Nacht  und  bei  Tage 
verspottet:  ev  dh  talg  rjiniQaig  tovq  aakovg  d-iaoovg  aywv  dia  xwv  odwv, 
Toug  eOTecpavwixivovg  loj  /nagad-o)  xal  t?;  kevxi],  tovg  o(petg  rovg  TcaQsLag 
■d-Xlßü)v  Tial  V7t€Q  Tijg  Y.ecpaXrig  aiwQüiv,  Kai  ßoujv  evol  Oaßol,  yiai  ucoQ- 
Xovfievog  vrjg  aTzrjg  aTTr]g  vrjg,  e^agxog  xal  7CQor]y€fj.ütv  Tial  'MaTO(p6Qog 
Y,al  XL'Kvoq)ÖQog  xal  Totavta  vjtb  twv  yQ(^ölwv  TiQooayoQevofievog  u.  8.  w. 
Auf  diese  Stelle  bezieht  sich  Strabo  10,  3,  18,  471  und  fügt  hinzu:  tavta 
yaq  sotl  ^aßatta  xal  MiqTQfocx,  und  in  der  That  weisen  die  Rufe  oaßol 
und  cLTTTig  auf  phrygischen  Kultus,  die  Schlange  auf  die  Erzählung  des 
Arnobius,  wenn  sie  auch  noch  nicht  die  spätere  Rolle  zu  spielen  scheint 
Firmicus  Maternus  spricht  c.  10  ebenso  wie  Arnobius  von  der  Schlange: 
„Sebazium  colenles  lovem  anguem,  cum  initiantj  per  sinum  ducunV ; 
c.  26  führt  er  den  griechischen  Vers  an:  ravgog  ÖQaxovTog  y.al  xavQov 
ÖQccxwv  TtarrjQ.  Die  Grabmalereien  CLL.  VI  142  in  der  Gruft  der  Vibia 
und  des  Vincentius,  von  dem  gesagt  wird:  „numinis  antistes  Sebazis 
Vincentius  hie  e\sl,  q\ui  sacra  sancta  deum  mente  pia  co[lui]t",  stellen 
das  Hinabsteigen  in  die  Unterwelt,  ein  Totengericht  und  die  Einführung 
in  den  Kreis  der  Frommen  dar.  Wir  finden  den  Sabazis  bezeichnet  als 
TtavKOLQavog  C.L  Gr.  3791,  als  d-ebg  STtTJzoog  Inscr.  Gr.  Sic.  et  It.  1022,  als 
„sanctus  deus"  Monum.  Acc.  Line.  1892,  S.  344,  als  „sanctus  invictus"  Bull, 
com.  1889,  p.  437.  Dem  Jupiter  wird  er  gleichgestellt  C.  L  L.  VI  429.  430. 
XI  1323;  spezielle  Verwandtschaft  scheint  er  in  älterer  Zeit  mit  Dionysos, 
später  mit  Mithras  gehabt  zu  haben,  an  den  der  Beiname  invicius  und 
die  Schlange  erinnern,  die  zu  den  regelmässigen  Bestandteilen  der  Mithra- 
Bilder  gehört.  Strabo  nennt  ihn  10,  3,  15,  470:  tqotzov  tiva  Trjg  MrjTQog 
To  Ttaidlov.  Lucian,  deor.  conc.  9  wirft  Attis,  Korybas,  Sabazios  und 
Mithras  zu  dem  fremdländischen  Gesindel,  das  sich  in  den  Olymp  ein- 
geschlichen hat;  Icaromenipp.  27  nennt  er  sie  Tovg  fxerolxovg  rovzovg  xal 
a^cpißoXovg  -S-eovg. 

Neben  dieser  Begründung  der  Sabazis-Feier  finden  wir  bei  Arnobius 
aber  eine  Reihe  von  augenfälligen  Beziehungen  zu  den  dem  Taurobolium 
und  dem  Criobolium  zu  Grunde  liegenden  Anschauungen.  Vor  allem  ge- 
hört dahin  der  Wurf  des  Widdergliedes  in  den  Schoss  der  grossen  Mutter, 
dann,  dass  Jupiter  der  Mutter  in  Stiergestalt  naht,  die  Bedeckung  von 
Attis'  Mannheit  mit  Erde,  die  Befruchtung  des  Felsen  durch  den  Gott 
Von  Jupiters  Vermählung  mit  der  Mutter  spricht  auch  Julian  or.  5,  p.  166 
A.  B.  Spanh.,  von  ihrer  Raserei  Diodor  3,  56,  7.  c.  59,  1,  allerdings  mit  völlig 
abweichender  Begründung.    Dass  die  Göttin  in  der  zweiten  Erzählung 


Das  Taurobolium.  513 

Ceres  genannt  wird,  hat  wenig  zu  bedeuten.  Der  Ceres  war  die  grosse 
Mutter  schon  als  Erdgöttin  nahe  verwandt;  ihr  gleichgesetzt  wird  sie  bei- 
spielsweise in  der  Inschrift  von  Aquileia  C.  I.  L.  V  796 :  ,,M(atri)  D(eum) 
M(agnae)  Cereriae  v{otum)  s(olvit)  Fruticia  Thymele  M,  Statini  Dori" 
Agdistis  ist  nur  ein  anderer  Name  der  phrygischen  Göttin,  wie  Strabo 
10,  3,  12,  469  sagt:  Die  Berekyntier  verehren  die  Rhea  i^irjTSQa  xakovvTsg 
^ewv  Tcal  ZdyÖLöTiv  xal  (Dqvyiav  d-ebv  f,i€yd?.rjv,  anb  Sh  tojv  TOJtwv'ldalav 
yial^LvdvfXTJvYjv  Tial  ^cTCvXrjvrjv  xal IleaaLVOvvTiöa ymI Kvß^Xrjv.  C.I. Gr. 6837 
ist  geweiht  MtjtqI  d^eiov  ^AyyiGxei,  C.  I.  Gr.  3886  können  die  ^eol^vyöiorelg 
nur  die  Göttermutter  und  Attis  sein,  C.  I.  Gr.  3993  t?^V  rs  !kyyöiGTiv  y.al 
T^rjv  fx[rjT€]Qa  Borjd-rjvrjv  ycai  S-eujv  ttjv  f.irjT€Qa  /.al  zbv  [d]ebv  Idrcol'kü)  xai 
Trjv  !kQT€(^iLv  sind  die  drei  ersten  auch  kaum  verschieden  gedacht.  Bei 
Arnobius  ist  Agdistis  ein  Doppelwesen,  halb  zu  Kybele,  halb  zu  Attis.  Die 
Erzählung  stellt  in  verschiedenen  Wendungen  die  Befruchtung  der  Erde  durch 
den  göttlichen  Samen  dar,  und  daran  knüpften  Taurobolium  und  Criobolium 
mit  dem  Wurf  der  Zeugungsglieder  von  Stier  und  Widder,  ihrer  Bergung  in 
der  Erde  und  der  Errichtung  des  Altars  an  der  dadurch  geheiligten  Stätte. 
Eines  vermissen  wir  in  dem  Bericht  des  Arnobius :  Wenn  der  höchste 
Gott  sich  mit  der  Göttermutter  vereinigte,  so  sollte  man  als  Sprössling 
einen  Gott  erwarten;  Libera  aber  gehört  allem  Anschein  nach  nicht  in 
die  Mythologie  des  Tauroboliums.  Strabo  deutet  etwas  Derartiges  an, 
wenn  er  den  Sabazis  tq67Cov  tlvcc  Tfjg  MrjxQbg  ib  Tcaiöiov  nennt.  Eine 
Andeutung  giebt  auch  eine  römische  Taurobolien-Inschrift  vom  16.  Juni  370, 
CLL.  VI  509^Inscr.  Gr.  Sic.  et  It.  1078.  Leider  ist  hier  das  entscheidende 
Wort,  das  den  Sprössling  bezeichnet,  durch  einen  Bruch  zerstört;  vielleicht 
stand  aber  auch  nur:  MrjTsgt,  rfj  tvccvtcüv  'Pelj]  [d-elcp]  xe  yeve&kc^.  Sehen 
wir  aber,  wie  der  öde  Fels  Agdus  von  dem  Gott  befruchtet  wird,  wie  die 
Felshöhle  als  Aufenthaltsort  der  grossen  Mutter,  als  Bergungsstätte  des  Attis 
eine  wichtige  Rolle  spielt,  so  liegt  es  nahe,  an  Mithras,  den  felsgeborenen 
Gott,  den  ^ebg  ex,  Ttergag  des  Firmicus  Maternus  c.  20,  zu  denken,  dessen 
Geburt  mehrfach  in  den  Spelaeen  dargestellt  ist.  Wir  finden  die  Petra 
genetrix  im  Altenburger  Mithreum  C.  I.  L.  III  4424 :  „Petrae  genetrici 
P.  Ae(lius)  Nigrinus  sacerd{os)  v{otum)  s(olvUy%  C.  I.  L.  III  4543 :  „P{etrae) 
g{enetrici)  d{ei)  Aurelius  Statorius  v(otum)  s(olvit)  l(ibens)  m{erüoy*,  und 
darauf  geht  wohl  auch  die  Basis  von  Trient  C.  I.  L.  V  5020 :  ,tgen{etrici) 
pro  ge{nitura)  dei  Q,  Muiel{ius)  lustus  cum  s(uisy*.  Liegt  es  schon  da- 
durch nahe,  eine  Anschauung  zu  vermuten,  die  Mithras  als  den  Sprössling 
der  grossen  Mutter  auffasste,  so  werden  wir  durch  eine  Betrachtung  des 
Kalenders  fast  dazu  gezwungen :  am  22.  März  wurde  die  Fichte  als  Sinn- 
bild des  Attis  in  den  Tempel  der  phrygischen  Mutter  getragen;    am  24. 

33 


514  G.  ZippEL 

folgte  der  Bluttag,  der  Erinnerungstag  an  Attis'  Entmannung;  am  25. 
folgten  die  HUariuy  die  wohl  nicht  allein  einen  fröhlichen  Gegensatz 
gegen  die  Trauerfeier  des  Vortages  bilden,  sondern  zugleich  der  Freude 
Ausdruck  geben  sollten,  dass  der  göttliche  Same  in  die  Erde  aufgenommen 
war.  Der  folgende  Tag,  Requetio,  und  die  Lavatio  am  27.  passen  sehr 
wohl  dazu.  Nun  finden  wir  den  25.  Dezember,  neun  Monate  nach  den 
Ililaria  bei  Philocalus  als  Naialis  Invicii  bezeichnet  C.  I.  L.  I  p.  278.  338, 
wobei  die  Beziehung  auf  Mithras  sich  kaum  abweisen  lässt;  es  ist  das 
Fest,  das  zur  Datierung  des  christlichen  Weihnachtsfestes  den  Anlass  gab. 
Sollte  das  ein  blosser  Zufall  sein? 

Es  könnte  auffallen,  dass  die  vires y  die  in  dem  Taurobolium  eine 
so  wichtige  Eolle  spielten,  in  den  Inschriften  so  selten  genannt  werden. 
Aber  einmal  geht  die  grosse  Mehrzahl  der  Inschriften  auf  die  einzelnen 
Handlungen  überhaupt  nicht  ein,  und  dann  scheint  man,  wenn  auch  ver- 
einzelt öffentliche  Taurobolien  vorkamen,  die  Feier  in  der  Regel  doch  in 
ein  gewisses  Dunkel  gehüllt  zu  haben.  Die  Haupthandlung  scheint  um 
Mitternacht  vollzogen  zu  sein:  Auf  dem  ersten  lugdunensischen  Tauro- 
bolien-Altar  i.  J.  160  lesen  wir  neben  dem  Opfermesser:  ,,cuiua  mesonyctium 
factimi  est  V.  id{us)  dec{embresy*  Boiss.  19.  Auf  dieselbe  Zeit  weist  die 
beneventanische  Inschrift  von  228,  CLL.  IX  1538:  „haec  iussu  Matris 
Deum  in  ai^a  taurobolica  duodena(f)  cum  vituLa  crem(avit)  sub  die  V id(us) 
Aprilis'',  An  das  Criobolium  denkt  wohl  auch  Firmicus  Matemus  c.  27 : 
„arborem  suam  diabolus  consecrans  iniempesta  nocte  arietem  in  caesae 
arboris  facii  radicibus  immolari.^*  Aber  wenn  die  vires  auch  nicht 
allzuhäufig  genannt  werden,  so  finden  wir  sie  anderseits  geradezu  göttlich 
verehrt,  besonders  in  Oberitalien.  Eine  Widmung  an  die  vires  ohne 
weiteren  Zusatz  finden  wir  CLL.  V2479,  Altäre  n.  1964.  8247;  ,,Lymfis 
Virib{us)*'  n.  5648,  »y  Viribus  Augustis"  n.  8248.  Dann  erscheinen  sie  in 
Verbindung  mit  bestimmten  Göttern:  CLL.  V  4285  hat  auf  einer  Seite: 
„Neptuno  v(otum)  s(olvit)  l{ibens)  ?u{erito)" ,  auf  der  anderen:  „Viribiis 
v{otum)  s{olvit)  liibens)  m{erito)";  n.  5798:  „Deo  Magno  Pantheo  ex  voto 
posuit,  qiii  et  sign(avit?)y  Caesius  Vitalio.  l{ocus)  d{atus)  d{ecurionum) 
d(ecretoy%  auf  der  anderen  Seite :  ,yM{itkrae?'')  odei  ,yM{atri?)  Viribus". 
In  enger  Verbindung  mit  dem  Taurobolium  zeigen  sie  die  Turiner  In- 
schriften CLL.  V  6961:  „Viribus  Aetemi taurobolio  Sempronia  Eutocia" 
und  n.  6962:  „F/r/[Z»]M*  Aetemi  taurobolio  P,  ülattius  Priscus''.  Wir 
sehen  hier,  wie  das  Taurobolium  aufgefasst  wurde:  es  war  ein  Sinnbild 
für  die  Zeugungskraft  des  ewigen  Gottes.  Auf  einem  Taurobolien-Altar 
von  Bordeaux  (JuUian,  Inscriptions  romaines  de  Bordeaux  1,  p.  31)  steht 
zu  lesen:  „Natalici   Virib{us)   Valer{ia)  Iuli{a)na  et  Iul{ia)  Sancu",    Man 


Das  Taurobolium.  515 

könnte  an  das  ^taurobolium  natalicium"  C.I.L.  II  5260  denken,  wenn  die 
Verbindung  nicht  hier  einen  Gott  verlangte;  so  müssen  wir  an  einen 
besonderen  Geburts-  oder  Schutzgott  der  Geberinnen  oder  wohl  besser 
allgemein  an  einen  Geburt  d.  h.  Leben  schaffenden  Gott  denken ;  das 
dunkle  Wort  kann  leicht  eine  Folge  mystischer  Ausdrucksweise  sein. 

Welche  Rolle  die  menschlichen  vires  im  Dienste  der  phrygischen 
Göttin  spielten,  ist  bekannt,  und  wir  können  das  Eindringen  dieses  Un- 
wesens in  Rom  stufenweise  verfolgen.  Bei  der  Einführung  der  Magna 
Mater  i.  J.  204  v.  Chr.  war  davon  sicher  nicht  die  Rede,  und  wohl  auch 
im  Hinblick  auf  die  damals  bereits  eindringenden  orientalischen  Sitten 
nennt  Cicero  die  i.  J.  194  v.  Chr.  eingeführten  Megalesien  „more  instUutis^ 
que  maxime  casti"  (sc.  ludi),  de  harusp.  resp.  12, 24.  Als  i.  J.  101  v.  Chr. 
ein  Sklav  zu  Ehren  der  Göttermutter  sich  entmannte,  wurde  er  aus  det 
Stadt  geschafft  und  die  Stadt  gesühnt  (Obs.  c.  44).  Im  J.  77  v.  Chr. 
finden  wir  bereits  einen  Gallus  in  Rom  im  Dienste  der  grossen  Mutter, 
aber  der  Konsul  Mam.  Aemilius  Lepidus  verweigerte  ihm  das  Recht, 
weil  er  weder  Mann  noch  Weib  sei  (Val.  Max.  7,  7,  6).  CatuU  wünscht 
wenigstens  in  seinem  Hause  von  dem  ganzen  Cybeledienst  verschont  zu 
sein  (c.  63, 91  f.);  bei  Ovid  (fast.  4)  sind  die  Galli  eine  ganz  gewöhnliche 
Erscheinung.  Wir  finden  dann  an  den  verschiedensten  Orten  Archigalli, 
die  diesen  Titel  schwerlich  geführt  hätten,  wenn  sie  nicht  selbst  Galli 
gewesen  wären.  Darauf  weist  namentlich  die  Grabschrift  von  Jader, 
C.I.L.  III  2920a:  „L.  Barhunteius  Demetrius,  archig{aUus)  SalonitanuSj 
qui  annis  XVII  usq{ue)  ad  ann{um)  LXXV  integr{e)  sacra  confeciV, 
Genau  würde  das  heissen,  er  habe  17  Jahre  lang  bis  zum  75.  Jahre  sein 
Priesteramt  versehen;  aber  beabsichtigt  war  gewiss,  dem  Schlussjahr 
seines  Dienstes  und  seines  Lebens  das  Anfangsjahr  seines  Dienstes  gegen- 
überzustellen, und  wenn  er  im  17.  Jahre  diesen  Dienst  antrat,  so  dürfte 
das  Übrige  klar  sein.  Der  Akt  selbst  wird  auf  einem  Altar  von  Lactora 
berichtet,  Esp.  16:  ,,S{acrum)  M{atri)  M{agnae).  Val{eria)  Gemina  tires 
e[sc\cepit  Eutychetis  Villi,  Kal{endas)  April{es),  sacerdote  Traiamo  Nun^ 
dinio,  d{omino)  n{ostro)  Gordiano  et  Aviola  co{n)s{uUbus)"  (J.  239). 
Die  Handlung  ist  viel  zu  harmlos  aufgefasst,  wenn  Esperandieu  meint, 
es  handle  sich  um  die  vires  eines  von  Eutyches  geopferten  Stiers.  Dana 
hätte  Eutyches  als  der  Opfernde  voranstehn  müssen.  Jeden  Zweifel  hebt 
der  Tag:  es  ist  der  24.  März,  der  Bluttag,  mit  seinen  Erinnerungen  aü 
Attis.  Prudentius  bespricht  die  Sitte  perist.  10,  1059—1075,  nach  einer 
kurzen  Abschweifung  zu  den  heidnischen  Massenopfern.  Auf  die  Aus- 
breitung der  Tauroboliensitte  scheinen  die  Archigalli,  die  Seher  der  phrygi- 
schen Göttin,  stark   eingewirkt  zu  haben.    Wir  finden  Taurobolien  ver- 

33* 


516  G.  ZipPEL 

anstaltet  „ea:  vaticinatione  archigalW  CIL.  VEI  8203.  Xu  1782.  Boiss.  21. 
Auch  wo  der  Archigallus  nur  als  mitthätig  genannt  wird,  wie  CLL.  II  5260, 
können  wir  in  ihm  den  Urheber  vermuten.  Aber  auch  wo  ein  Befehl 
der  Göttermutter  als  Grund  angegeben  wird,  „ex  iussu"  oder  „imperio 
Matris  Deum"  CLL.  II  5521.  XH  4321.  4323.  4325.  Boiss.  19,  kann  nur 
er  den  Vermittler  gespielt  haben. 

Die  Inschriften  des  zweiten  und  dritten  Jahrhunderts  geben  uns 
in  Verbindung  mit  dem  Bericht  des  Amobius  (Ende  des  3.  Jahrhunderts) 
ein  ganz  anderes  Bild  von  dem  Taurobolium,  als  vrir  es  anfangs  aus 
Prudentius  und  den  Inschriften  des  vierten  Jahrhunderts  gewannen.  Dass 
Prudentius  nur  für  die  Gebräuche  des  vierten  Jahrhunderts  massgebend 
ist,  ergiebt  sich  auch,  wenn  wir  auf  die  Veranstalter  von  Taurobolien 
hinblicken.  Im  vierten  Jahrhundert  überwiegen  vor  allem  die  Quindecim- 
virn,  also  das  Priester-CoUegium,  dem  die  oberste  Aufsicht  über  den 
Dienst  der  grossen  Mutter  zustand  (CLL.  VI  497—499.  501.  509.  1675. 
1778.  1779.  XIV.  2790.  Eph.  ep.  8,  648.  Insc.  Gr.  Sic.  et  It.  1020),  dann 
römische  Pontifices  (CLL.  VI  498.  501.  503.  509.  511.  1788.  Eph.  ep.  8, 
648),  Augurn  (CLL.  VI  503.  504. 1778),  Septemviri  epulonum  (CLL.  VI  501. 
Eph.  ep.  8,  648) ;  viele  haben  hohe  Würden  in  anderen  Götterdiensten, 
so  namentlich  des  Mithras  (CLL.  VI  504.  507.  509— 511.  1778.  Eph.  ep. 
8,  648),  der  Hecate  (CLL.  VI  504.  507. 510.  511. 1778. 1779.  Eph.  ep.  8, 648), 
des  Liber  (CLL.  VI  504.  507.  510.  1778.  Eph.  ep.  8,648).  Archelaos  in 
Athen  rühmt  C LA.  LEI  172:  Kletdovxog  eq)v  ßaOLlri'Cdog^HQTqg,  ev  Aiqvri 
d'elaxev  ^votltioIovs  öatöag.  Ähnlich  ist  es  mit  den  Frauen;  eine 
nennt  sich  „sacerdus  maxima  M{atris)  D{eum)  M{agnae)  I{daeae)"  CLL.  VI 
502),  eine  andere  „sac{e)r{dos)  [Deum]  Matris  et  Proserpinae"  (n.  508), 
und  Sabina  sagt  Inscr.  Gr.  Sic.  et  It.  1019:  ogyia  Jrjovg  y.al  (poßeqag 
'^EKaTrjg  vvKTag  eTtLorafievr].  Schliesslich  feierte  nach  dem  christlichen 
Streitgedicht  Nicomachus  Flavianus,  i.  J.  394  der  eigentliche  Herr  in  Eom, 
ein  Taurobolium.  Die  Verse,  die  von  seiner  vielfachen  priesterlichen  Thätig- 
keit  sprechen,  sind  verstümmelt,  klar  ist  wenigstens  v.  71 :  „Nympharwn 
Bacchique  comes  Triviaeque  sacerdos".  Nur  Eufius  Volusianus  in  Rom 
(CLL.  VI  512)  und  Musonius  in  Athen  (CLA.  III 173),  beides  Männer  des 
höchsten  Ranges,  haben  keine  geistlichen  Würden  aufzuweisen.  Der  erste 
rühmt  wenigstens  die  Isis-Priesterschaft  seiner  Mutter.  Im  ganzen  aber 
rechtfertigt  die  Übersicht  es  durchaus,  dass  Prudentius  v.  1010  den  Weih- 
ling  f,summus  sacerdos"  nennt. 

In  früherer  Zeit  sehen  die  Errichter  der  Tauroboüen-Altäre  doch  etwas 
anders  aus.  Wir  finden  eine  Reihe  von  Priestern  der  grossen  Mutter 
CLL.  LS  1540.  Xn  1.  1567.  1568  (vgl.  1569).  1744.  1782),  ebenso  Prie- 


Das  TauroboKum.  617 

sterinnen  (CLL.  IX  1539.  1541.  X  4726.  6075),  dann  aber  auch  Tempel- 
diener und  Dienerinnen,  eine  Tympanistria  CLL.  IX  1542,  einen  Tibicen 
CLL.  XII  1745;  Aemilius  Carpus  ist  Sevir  Augustalis  Boiss.  19.  Über- 
wiegend sind  aber  die  Privatpersonen,  über  deren  Stellung  wenigstens 
nichts  gesagt  ist,  Männer:  CLL.  VIII  8203.  XII  357.  1222.  1311.  1569. 
Esp.  14.  15.  25.  26,  und  noch  mehr  Frauen:  CLL.  VIII  5524.  X  4829. 
XII  1.  4322.  4324.4326.  XIV  39.  Boiss.  22-24.  Esp.  7— 9.  19—24.  Inscr. 
de  Bordeaux  1,  p.  31.  Dazu  kommt  eine  Freigelassene:  ,,Concordia  col{0' 
norum)  lib{erta)  Ianuari(ay'  in  Benevent  i.  J.  238,  CLL.  IX  1538,  und 
eine  Sklavin:  „Thalame  Hosidiae  Afrae"  in  Puteoli  i.  J.  144,  CLL.  X  1597. 
Erst  gegen  Ende  des  dritten  Jahrhunderts  sehen  wir,  dass  das  Taurobo- 
lium  in  höhere  Kreise  dringt.  Während  noch  Pineius  lustianus  in  Bene- 
vent sich  nur  „eq{mtis)  R{omani)  adne{pos)"  nennen  kann  (CLL.  IX  1540), 
sind  in  Mactar  unter  Probus  sowohl  der  Opferer  als  einer  der  übergeben- 
den Priester  römische  Ritter  (Bull.  arch.  1891,  p.  531),  und  i.  J.  295  sehen 
wir  bereits  einen  Mann  vom  höchsten  römischen  Adel,  den  Augur  Scipio 
Orfitus,  ein  Taurobolium  feiern  (C I.  L.  VI  505.  506). 

Wenn  nun  die  älteren  Taurobolien-Inschriften  die  Weihe  mit  dem 
Stierblut  nicht  kennen,  so  entsteht  die  Frage,  wann  und  wie  sie  dazu  ge- 
kommen ist.  Das  Wort  iauroboliatus  kommt  zuerst  in  der  Geschichte 
Elagabals  vor,  Lampr.  c.  7,  1.  2:  „Matris  etiam  Deum  sacra  accepit  et  iau- 
roboliatus est,  ut  typum  eriperet  et  alia  Sacra,  quae  penitus  habentur  con- 
dita:  iactavit  autem  caput  inter  praecisos  fanaticos  et  genitalia  sibi  de- 
vinxit  et  omnia  fecit,  quae  Galli  facere  solent,  abtatumque  sanctum  in 
penetrale  der  sui  transtulit".  Wir  werden  an  die  Erzählung  von  Agdestis 
erinnert  und  sehen,  dass  das  Taurobolium  den  Zutritt  zum  innersten  Heilig- 
tum eröffnete.  Wenn  aber  Elagabal  ein  Taurobolium  vollführte,  so  folgt 
noch  nicht,  dass  der  Ausdruck  tauroboliaius  bereits  seiner  Zeit  angehörte. 
Der  letzte  Kaiser,  für  dessen  Wohl  ein  Taurobolium  dargebracht  wurde, 
ist  Probus  (Bull.  arch.  1891,  p.  531);  von  einer  Körperschaft  scheint  zum 
letzten  Male  unter  Gallus  ein  Taurobolium  veranstaltet  zu  sein  (CLL. 
XIV  42) ;  das  letzte  Taurobolium,  bei  dem  der  alte  Ritus  deutlich  hervor- 
tritt, ist  i.  J.  319  gefeiert  (C I.  L.  VI  508);  anderseits  tritt  die  jüngere  Form 
zuerst  i.  J.  305  hervor  (C  L  L.  VI  497).  Wir  können  danach  sagen,  dass 
die  neue  Sitte  sich  etwa  seit  der  Mitte  des  dritten  Jahrhunderts  ausge- 
bildet hat  und  im  vierten  herrschend  geworden  ist.  Ihr  Ursprung  ist  wohl 
in  erster  Linie  im  Mithras-Dienst  zu  suchen.  Nach  Prudentius  v.  1026 
liess  man  das  Stierblut  aus  einer  Brustwunde  laufen.  Das  erinnert  an 
die  Hauptdarstellung  der  Mithras-Höhlen,  wo  der  Gott  den  fliehenden  Stier 
ereilt,  auf  seinen  Rücken  springt  und  ihm  das  Messer  in  die  Brust  stösst. 


518  G.  ZippEL 

Ein  starker  Blutstrom  ergiesst  sich  aus  der  Wunde,  und  ein  Hund  springt 
von  vorn  heran  und  leckt  das  Blut.  Hieran  erinnern  die  canes  Mega- 
lesiaci  des  Gedichts  von  394,  v.  65.  Dass  diesem  Blut  eine  besondere 
Bedeutung  beigelegt  wurde,  sehen  wir  aus  der  römischen  Inschrift  C.  I.  L. 
VI  719,  wo  am  Stierhalse  nahe  der  Wunde  die  Worte  stehen  y.Nama 
SebesiQ",  was  kaum  etwas  anderes  bedeuten  kann,  als  „der  heilige  Quell". 
Dieselben  Worte  stehen  C.  I.  L.  XIV  3566  an  derselben  Stelle,  und  ebenda 
stehen  CLL.  XIV  3567  die  Worte  „Nama  cunctis",  d.  h.  „das  für  Alle 
fliessende  Nass".  So  fanden  die  Verehrer  der  grossen  Mutter  in  dem  ohne- 
hin nahestehenden  Mithras- Dienst  das  heilige  Blut  des  auch  ihnen  hei- 
ligen Stiers  und  in  der  immer  weiter  vordringenden  christlichen  Religion 
die  Läuterung  durch  die  Taufe ;  aus  beiden  Elementen  erklärt  sich  völlig 
die  Bluttaufe  der  späteren  TauroboUen. 

Einzelne  Reste  der  früheren  Taurobolien-Gebräuche  haben  sich  auch 
in  späterer  Zeit  erhalten.  Von  einer  Prozession  spricht  auch  Prudentius 
V.  1081—1085: 

fj'unctum  deinde  cum  reliquit  spiritus 
ei  ad  sepulcrum  pompa  fertur  faneris, 
partes  per  ipsas  imprimuniur  bracteae, 
insignis  auri  lammina  obducit  cutem, 
tegitur  metallo,  quod  perustum  est  ignibus^'. 
Die  partes   ipsae  sind  hier  nichts  anderes  als   die   vires-,  sie  wurden 
also  vergoldet  und  mit  dem  Fell  und  der  Asche  des  verbrannten  Stier- 
leibes vergraben.    Eine  Erinnerung  an  die   alte  Bedeutung  des  Tauro- 
boliums  könnte  in  der  jüngsten  Taurobolien-Inschrift  von  391,  CLL.  VI  736 
gefunden   werden:    ,iqui    ei  arcanis  perfvsionibus   in   aetemum  renatus 
tauroboliu{m)  crioboliumque  feciv\  wonach  das  Taurobolium  der  Bluttaufe 
erst  zu  folgen  scheint.    Die  Religionsmengerei  giebt  keinen  Grund,  die 
Echtheit  anzuzweifeln;  auch  nicht,  dass  die  Widmung  an  Mithras  ge- 
richtet ist;  ist  ihm  doch  nicht  eigentlich  das  Taurobolium  dargebracht, 
sondern  nur  in  einer  Widmung  an  ihn  dessen  gedacht.    Die  Echtheit 
kann  nur  durch  Betrachtung  der  Arbeit  entschieden  werden ;  aber  freilich 
ist  auf  die  Genauigkeit  des  Ausdrucks  in  keinem  Fall  viel  zu  geben. 
Von  grösserer  Bedeutung  könnte  die  Inschrift  des  Crescens  und  Leontius 
sein,  Inscr.  Gr.  Sic.  et  It.  1020,  wenn  der  Text  nicht  an  der  entscheidenden 
Stelle  zweifelhaft  wäre.     Den   letzten  Vers  liest  Kaibel  mit  Bianchini 
und  Fabretti:   ai(.iaöL  ftvoziTtokotg  ßwi.idv  vjceQiid^eaav,    Nun  ist  aber 
der  Altar  nicht  über  dem  Blut  errichtet,  das  an  dem  Geweihten  vorbei 
zur  Erde  floss,  sondern  da,  wo  die  Reste  des  Stiers  geborgen  wurden, 
und  das  war  nur  ausnahmsweise  die  Opferstätte;  sonst  hätte  die  auch 


Das  Taurobolium  519 

von  Prudentius  bezeugte  Prozession  keinen  Sinn  gehabt.  Daher  glaube 
ich,  dass  hier  Salmasius  die  richtige  Lesung  bewahrt  hat:  HMA2I,  was 
natürlich  nicht  rjfxaai,  sondern  rjfiaoL  zu  lesen  ist:  über  dem  mystischen 
Wurf,  d.  h.  über  den  geworfenen  Gliedern  wurde  der  Altar  errichtet. 
Sonst  legte  man  aber  in  jener  Zeit  dem  Altar  eine  andere  Bedeutung 
bei:  Archelaos  nennt  ihn  ccvtISoolv  releTrig,  Musonios  Telerrjg  t6  Gvv^r]^a 
(C.  I.  A.  in  172,  173),  Sabina  ovvßolov  svayswv  TsXevwv  (Inscr.  Gr.  Sic. 
et  It.  1020);  das  Wesen  des  Tauroboliums  lag  eben  damals  in  der  Weihe. 

Das  Taurobolium  beruhte  gewiss  in  erster  Linie  auf  kleinasiatischen 
Vorstellungen  und  Gebräuchen;  das  zeigen  schon  die  Gottheiten,  denen 
es  durchaus  gehört,  die  grosse  Mutter  und  Attis.  Davon  machen  nur 
eine  scheinbare  Ausnahme  die  Inschriften  von  Benevent:  „Atlini  sacr(um) 
et  Minervae  Paracentiae"  (C.  I.  L.  IX  1539 — 1542)  oder  „Berecmtiiae)" 
(n.  1538).  „Berecynthia"  ist  selbst  nur  ein  Beiname  der  grossen  Mutter 
(Ov.f.4,181.  Anth.  lat.4,73),  und  dann  enthalten  drei  von  den  vier  Inschrif- 
ten ausserdem  noch  ausdrückliche  Beziehungen  auf  die  Göttermutter;  man 
hat  ihr  in  Benevent  offenbar  nur  einen  italischen  Namen  beigelegt.  Da- 
neben haben  auf  das  Taurobolium  gewiss  auch  persische  Vorstellungen 
(Cumont,  Rev.  arch.  12,  132  ff.),  vielleicht  auch  semitische  eingewirkt.  Aber 
seine  Ausbildung  hat  es  ebenso  gewiss  erst  im  Abendlande,  also  in  Italien, 
erhalten;  das  beweist  namentlich  ein  Blick  auf  seine  geographische  Ver- 
breitung. Seine  Hauptstätte  war  der  Vatikan  in  Rom,  wichtige  Plätze 
waren  dann  besonders  Ostia  und  Benevent.  Von  Rom  kam  es  i.  J.  160 
nach  Lyon,  wahrscheinlich  von  da  noch  vor  176  nach  Lactora,  wo  uns 
die  erste  Taurobolien- Inschrift  aufbewahrt  ist,  Esp.  6:  „Matri  Deum 
Pomp{eia)  Philomenc,  q{uae)  prima  Lactor{ae)  tauropoliumfecit".  Wich- 
tige Kultstätten  in  Gallien  waren  dann  noch  Dea  und  Narbo.  In  Spanien 
und  Afrika  kam  es  anscheinend  mehr  vereinzelt  vor;  nach  Griechenland 
drang  es  erst  im  vierten  Jahrhundert,  wenigstens  wurde  es  in  Athen  erst 
von  Archelaos  eingeführt,  und  in  Kleinasien  blieb  es  überhaupt  unbekannt. 
Es  entstand  in  dem  Wettbewerb  der  verschiedenen  orientalischen  Kulte 
um  die  Gunst  der  Menge  und  aus  dem  Verlangen  nach  immer  neuen 
Mitteln,  um  der  Gottheit  nahe  zu  kommen.  Die  spätere  Umgestaltung 
war  dann  ein  verzweifeltes  Mittel,  um  der  bedrohlich  anwachsenden  neuen 
Religion  mit  von  ihr  selbst  erborgten  Waffen  entgegenzutreten. 

Diese  halb  künstliche  Entstehung  des  Tauroboliums  macht  es  auch 
verständlicher,  dass  das  erste  bestimmt  bezeugte  Opfer  dieses  Namens 
einer  anderen  Gottheit  geweiht  war ;  es  ist  die  Inschrift  von  Puteoli  aus 
d.  J.  134:  yyecilium  tauroboliuirn)  Veneris  Caeleslae  et  panteliu[m  ,  .  .\ 
Herennia  FoiHunata  inperio  Deae  per  Tt  Claudium  Felicem  sacerd{otem) 


520  G.  ZiPPBL,  Das  Taurobolium. 

iterata  est".  Das  Wort  ecitium  ist  bisher  nicht  genügend  erklärt;  auch 
Esp^randieus  (p.  95,  A.  1)  Versuch  (atylnov)  befriedigt  nicht.  Pantelwm 
ist  die  höchste  Weihe  der  punischen  Venus ;  worin  diese  bestand,  zeigen, 
ganz  der  phönizischen  Zucht  entsprechend,  die  folgenden  Worte.  Es 
kann  da  nicht  von  einer  Wiederholung  des  Tauroboliums  nach  20  Jahren 
die  Rede  sein;  das  verlangte  einen  aktivischen  Ausdruck.  Ich  kann  den 
Schluss  der  Inschrift  nicht  anders  verstehen,  als  nach  dem,  was  Lam- 
pridius  von  Elagabal  erzählt,  c.  24,  2 :  „idem  mulleres  numquam  iteravit 
praeter  uxorem".  Das  dabei  genannte  Taurobolium  mag  mit  den  Opfer- 
riten der  phrygischen  Göttin  wenig  mehr  als  den  Namen  gemein  gehabt 
haben. 

Es  sind  wenig  erfreuliche  Bilder,  die  uns  hier  vor  Augen  treten; 
aber  eine  Vertiefung  in  diese  Kulte  macht  uns  die  innere  Haltlosigkeit 
des  spätrömischen  Heidentums  ganz  besonders  anschaulich  und  lässt  uns 
erkennen,  welchen  gewaltigen  geistigen  Fortschritt  trotz  aller  damit  ver- 
bundenen Zerstörung  der  Sieg  des  Christentums  bedeutete. 


XXV. 
Beiträge  zur  attischen  GescMchte. 

Von 

Georg  Busolt  (Kiel). 
I.  Zur  inneren  Entwickelung  des  athenischen  Staates  von  Solen  bis  Kleisthenes. 

Als  Solon  mit  ausserordentlichen  YoUmachten  zur  Herstellung  des 
bürgerlichen  Friedens  und  einer  neuen  Staats-  und  Rechtsordnung  be- 
kleidet wurde,  befand  sich  der  Grund  und  Boden  Attikas  teils  in  den 
Händen  reicher  Grundherren,  teils  im  Besitze  bäuerlicher  Grundeigen- 
tümer/) Die  grossen  Güter  der  Erstem  wurden  von  Pelatai,  die  in  Attika 
Hektemoroi  Messen,  bewirtschaftet.  Um  einen  bestimmten  Lohn,  näm- 
lich um  ein  Sechstel  des  Ernte-Ertrages,  bestellten  sie  den  Grundherren 
das  Feld.  Sie  besassen,  unbeschadet  ihrer  materiellen  Abhängigkeit  und 
gewisser  Dienstleistungen,  persönliche  Freiheit^),  hatten  aber  keine  bürger- 

1 .  Aristot.  kS-Tt.  2,  2  lässt  dieselben  ausser  Acht,  wenn  er  sagt :  tj  öh  naaa  yij 
6l  oklycüv  rjV  (vgl.  4,  5:  ^  yw^a  öl  oUyojv  ^v).  Dass  es  zahlreiche  bäuerliche  Grund- 
eigentümer gab,  folgt  nicht  nur  aus  der  Einteilung  der  Bürgerschaft  in  die  vier 
xsXri  und  aus  der  Bedeutung  des  Standes  der  Agroikoi  oder  Georgoi,  sondern  auch 
aus  den  von  Aristot.  'A^n.  12  selbst  angeführten  Versen  Solons  über  die  Befreiung 
der  Mutter  Erde  durch  die  Beseitigung  der  Hypothekensteine. 

2)  Erst  bei  Nichterfüllung  ihrer  kontraktlichen  Bedingungen,  für  die  sie  selbst 
und  ihre  Kinder  mit  ihrem  Leibe  hafteten,  wurden  sie  dyojyißoi  und  verkaufsfUhige 
Sklaven.  Ihre  persönliche  Freiheit  ergiebt  sich  auch  aus  andern  Angaben  über  die 
nekcczai.  Aristot.  k^n.  2  sagt:  ixaXoivro  neXccxai  xal  kxzrjfioQOi.  vgl.  dazu  PoUux 
VIII  165:  kxxriiJLOQiOL  öe  ol  nslcciai  nagcc  xolq  kxxixolg.  Nun  heisst  es  bei  Plat. 
Euthyphr.  4:  ijiEl  o  ys  dnoi^avwv  nekdxtiq  xig  ?jv  ißog  xal  wq  iyewQyovfjiev  iv 
Nd^o)  i&i]X€vev  naQ  rjfxlv.  Der  Pelates  verrichtete  also  bei  ländlichen  Arbeiten 
Thetendienste.  Schon  im  Epos  erscheinen  als  die  niedrigste  Klasse  unter  den  freien 
Leuten  diejenigen,  welche  um  einen  bestimmten  Lohn  namentlich  bei  Feldarbeiten, 
aber  auch  bei  andern  Verrichtungen  als  Theten  dienten.  II.  XXI,  444.  Od.  XI,  489 ; 
vgl.  XVIII,  357 ;  IV,  644.  vgl.  Pollux.  III  82 :  nekdxai  xal  i^^xeq  ik€v&6Q(ov  iaxl 
ovofxaxa  öid  nsviav  irtl  dgyvglü)  öovXevovxtov.  vgl.  Hesych.  Phot.  s.  v.  nsXdxai ; 
Schol.  Plat.  Euthyphr.  4  C;  Suid.  s.  v.  rteXdxTjq  und  die  auf  die  Theten  bezüglichen 
Glossen.  Plutarchos  identifiziert  sie  wiederholt  mit  den  römischen  Klienten :  Romul.  13 ; 
Poplic.  5;  Coriol.  13  und  21 ;  Mar.  5;  Grass.  21;  Cato  Min.  34;  Tib.  Gracch.  13.  vgl 
Agis  6. 


522  Geobo  Büsolt 

liehen  Rechte  und  waren  also  nicht  7co?.lTai,  sie  gehörten  nicht  zum  öi]- 

Sowohl  die  bäuerlichen  Grundeigentümer  wie  die  Hektemoroi  be- 
fanden sich  beim  Amtsantritt  Solons  in  höchst  gedrückter  Lage.  Veran- 
lasst wurde  dieselbe  namentlich  durch  den  Übergang  der  Naturalwirtschaft 
in  die  Geld  Wirtschaft,  durch  die  Konkurrenz  der  ausgedehnten  Grossgrund- 
wirtschaft, die  auf  einem  für  die  Grundherren  höchst  vorteilhaften  Teilbau 
beruhte,  endlich  durch  die  sich  steigernde  Einfuhr  von  billigem  pontischen, 
italischen  und  sicilischen  Getreide  nach  Griechenland. 

So  bedeckten  sich  denn  die  Grundstücke  der  Bauern  mit  Hypotheken- 
steinen. Wurde  die  Schuld  nicht  eingelöst,  so  fiel  das  für  dieselbe  ver- 
pfändete Grundstück  dem  Gläubiger  zu.  Zahlreiche  Bauernhöfe  gingen 
ein  und  wurden  dem  Grossgrundbesitz  (der  hcL^oQTog  yrj)  einverleibt,  der 
sich  in  bedrohlicher  Weise  ausdehnte.^)  Ebenso  schlimm  stand  es  mit 
den  Hektemoroi.  Nach  Aristoteles  verfielen  sie  selbst  und  ihre  Kinder 
mit  ihrem  Leibe  den  Grundherren  und  wurden  verkaufsfähige  Sklaven,  so- 
fern sie  die  denselben  gebührenden  Anteile  nicht  ablieferten.')  Man  hat  daran 


1)  Ed.  Meyer,  Forsch,  zur  alten  Gesch.  I  (Halle  1892)  305  hat  mit  Recht  darauf 
hingewiesen,  dass  in  der  grossen  vor  dem  Archontat  gedichteten  Elegie  Solons  (Frgm.  4, 
Bergk  IV  35)  die  daroi  mit  den  6i]ßov  riyefxövsg  an  der  Spitze  (v.  5—22)  den  tisvi- 
XQol  auf  dem  Lande  gegenübergestellt  werden.  (23—27):  ravza  fihv  av  ö/jßu)  otqb- 
(pezai  xaxd'  tojv  ös  TtFvixQcöv  |  Ixvovvzai  noXlol  yaZav  ig  dXkoöanrjV  npad^ivte?  xrl. 
Die  nevLXQoi  gehören  also  nicht  zum  ö^fiog,  die  nsvia  war  aber  ein  charakteristisches 
Kennzeichen  der  Theten,  in  diesem  Falle  der  neXäzaL  auf  dem  Lande.  —  Über  die 
Ausschliessung  der  Theten  vom  Bürgerrecht  in  oligarchischen  Staaten,  zu  denen 
vor  Solon  Athen  gehörte,  vgl.  Aristot.  Pol.  III  5.  p.  1275  a  v.  18  ff.  vgl.  auch  'Ad^.  2, 
2—3. 

2)  Das  ergiebt  sich  aus  dem  Gesetze  Solons,  oq  xcdIvsl  xzäod-ai  yijv  öafjv  dv 
ßovXrjzal  zlq.    Aristot.  Pol.  II  7  p.  1266  b.  v.  16. 

3)  ]i^7t.  2,  2.  Plut.  Solon  13,  wo  dieselbe  Atthis  zu  Grunde  liegt,  aus  der  Aristoteles 
schöpft,  unterscheidet  zwischen  den  Hektemoroi  und  denjenigen,  die  ;f()6'a  Xanßdvov- 
zeg  enl  zolg  awiiaatv  dya>yi(jt,oi  zolg  öavslt,ovaiv  i]öav.  Aristoteles  a.  a.  0.  hat 
einseitig  die  agrarischen  Verhältnisse  und  die  Hektemoroi  im  Auge.  Wie  er  den 
Bauernstand  übersieht,  so  berücksichtigt  er  auch  nicht  die  Gewerbetreibenden,  die 
ebenfalls  Schulden  auf  ihren  Leib  aufgenommen  hatten,  weil  sie  kein  anderes  Unter- 
pfand zu  bieten  hatten.  Aber  die  Unterscheidung  Plutarchs,  der  ja  unmittelbar 
den  unzuverlässigen  Hermippos  benutzte,  ist  sicherlich  falsch,  sie  beruht,  wie  der 
ZusatÄ  OL  fihv  avzov  öovlEvovvsg  (die  Hektemoroi),  ol  ö'  inl  zi,v  ^ivrjv  Tiinga- 
axofjLSvoL  (die  /pf«  lafzßdvovvsg  inl  zolg  ocä/naaiv  und  dycayifjLoi  Gewordenen)  zeigt, 
auf  einem  Missverständnisse  der  Verse  Solons,  in  denen  er  sagt:  nolXovg  d'  'A^y]' 
vag,  nazQLö'  eig  O^söxzizov,  |  ccvj^yayov  TiQa^ivzag  xzX  zovg  ö'  iv&dd'  aviov  dovÄlt/v 
deixsa  |  ayovzag,  rj^?]  öbgtiozüjv  zQOfisvßivovg  \  i?.EvO-€QOvg  s&rjxa.  Diese  Verse 
beziehen  sich  dem  Zusammenhange  nach  auf  die  Seisachtheia.  Die  vor  der  Schuld- 
knechtschaft in  die  Fremde  Geflüchteten  oder  dahin  als  Sklaven  Verkauften  durften 
furchtlos  zurückkehren  oder  wurden  losgekauft,  die  im  Lande  selbst  als  Schuld- 
sklaven Dienenden  befreit. 


Beiträge  zur  attischen  Geschichte.  523 

Anstoss  genommen  und  mit  Eecht  bemerkt,  dass  nirgends  weniger  leicht 
Rückstände  vorkommen  können  als  beim  Teilbau.^)  Allein  die  Nichtab- 
lieferung  der  fünf  Sechstel  ist  unter  verschiedenen  Umständen  denkbar. 
Wenn  der  Hektemoros,  etwa  im  Fall  einer  Missernte,  mit  seinem  Sechstel 
den  Lebensunterhalt  seiner  Familie  nicht  bestreiten  konnte,  so  lag  es 
nahe,  dass  er  sich  vom  Grundherrn  eine  Anzahl  von  Massen  bis  zur  näch- 
sten Ernte  stunden  oder  als  Vorschuss  „zumessen"  Hess.*)  Wiederholte  Vor- 
schüsse konnten  die  xiblieferung  des  schliesslich  dem  Grundherrn  Zukom- 
menden unmöglich  machen.  Aber  auch  abgesehen  von  Missernten  standen 
sich  die  Hektemoroi  mit  ihrem  Sechstel  damals  im  Allgemeinen  erheblich 
schlechter  als  früher.  Was  sie  vom  Händler  kauften,  mussten  sie  in  der 
Regel  mit  Geld  bezahlen,  während  die  Erzeugnisse  ihrer  Wirtschaft,  da 
das  Geld  noch  knapp  und  bei  der  Neuheit  übermässig  geschätzt  war,  natur- 
gemäss  nicht  im  Verhältnisse  zu  ihrem  Arbeitswerte  bezahlt  wurden.  End- 
lich war  bei  der  ausgedehnten  Grossgrundwirtschaft  das  Getreide  auf  dem 
attischen  Markte  verhältnismässig  billig.  Das  beweist  Solons  Ausfuhr- 
verbot der  Bodenerzeugnisse  mit  Ausnahme  des  Öles.  Solon  verordnete, 
dass  der  Archen  Flüche  gegen  die  das  Verbot  Übertretenden  aussprechen 
sollte.  Unterliess  er  das,  so  verfiel  er  in  eine  Strafe  von  100  Drachmen.^) 
Es  wurde  also,  wie  das  Gesetz  selbst  andeutet,  nicht  nur  Getreide  aus- 
geführt, sondern  es  war  auch  die  Verlockung  dazu  keine  geringe,  obwohl 
Attika  das  Getreide  selbst  brauchte.  Sonst  wäre  ja  das  Verbot  unver- 
ständlich, öl,  wovon  man  Überfluss  hatte,  war  ausdrücklich  ausgenommen. 
Offenbar  machten  die  Grossgrundbesitzer  gute  Geschäfte,  wenn  sie  ihr 
Getreide  nicht  auf  den  geldarmen  attischen  Markt  brachten,  sondern  es 
verfrachteten  und  in  Aigina  oder  Korinthos  verkauften.')  Ein  solches  Ge- 
schäft konnte  natürlich  nur  mit  grösseren  Quantitäten  gemacht  werden,  der 
Bauer  und  Hektemoros  war  davon  ausgeschlossen. 

Im  Gegensatze  zu  den  agrarischen  Besitz  Verhältnissen  beim  Amts- 
antritte Solons  war  mindestens  bereits  gegen  Ende  des  fünften  Jahrhunderts 
das  Grundeigentum  in  Attika  stark  zersplittert,  und  von  Hektemoroi  findet 
sich  keine  Spur.^    In  der  Zwischenzeit  hatte  sich  also  eine  grosse  agra- 

1)  Rühl,  Jahrb.  f.  kl.  Philol.  Siippbd.  XVIII  (1892)  G84. 

2)  Vgl.  Hesiod.  Erg.  396  ff.  und  dazu  Belocb,  Gr.  Gesch.  I  223  Anm.  2. 

3)  Das  Gesetz  stand  auf  dem  ersten  Axon.  Plut.  Solon  24. 

4)  Megara  deckte  seinen  Bedarf  aus  seinem  pontischen  Handels-  und  Kolonial- 
gebiet. Die  Korinthier  waren  damals  in  Folge  von  Handelsrivalität  mit  den  Megariern 
und  Aigineten  verfeindet  und  bezogen  schwerlich  Getreide  durch  megarische  Ver- 
mittelung.  Für  die  attische  Ausfuhr  kamen  nur  Aigina,  Korinthos  und  andere 
benachbarte  Städte,  wie  etwa  Epidauros  und  Eretria,  in  Betracht,  da  sie  bei  einem 
weitern  Transport  konkurrenzunfähig  wurde. 

5)  Böckb,  Sth.  d.  Ath.  P  80  ff. 


524  Gbobg  Busolt 

rische  Umwälzung  vollzogen,  und  die  Hektemoroi  waren  Bürger  geworden. 
Es  fragtsich,  wann  und  unter  welchen  Umständen  sich  diese 
Umwälzung  vollzogen  hat. 

Man  hat  mehrfach  angenommen,  dass  Solon,  indem  er  den  Theten 
bürgerliche  Rechte  verlieh,  alle  Attiker,  also  auch  die  Hektemoroi,  zu 
Bürgern  von  Athen  machte  und  ihnen  Anteil  an  der  Staatsverwaltung 
gab.  Das  wäre  seine  politisch  bedeutendste  That  gewesen.')  Allein  in 
den  erhaltenen  Bruchstücken  der  Gedichte  Solons  findet  sich  keine  Äusse- 
rung darüber,  dass  er  die  jtevLXQoL,  die  nicht  zum  Demos  gehörten  ^\  zu 
Bürgern  machte.  Da  eine  solche  Massregel  von  ebenso  tief  einschnei- 
dender Bedeutung,  wie  die  Seisachtheia  und  die  Aufhebung  der  Schuld- 
knechtschaft, gewesen  wäre,  so  würde  sich  doch  wohl  Solon  in  seiner  ein- 
drucksvollen Weise  darüber  ausgelassen  haben,  zumal  es  an  heftigem  Wider- 
spruch in  der  Altbürgerschaft  nicht  gefehlt  hätte.  Eine  so  wichtige 
Äusserung  dürfte  aber  schwerlich  unbeachtet  geblieben  sein.  Ferner  steht 
jene  Annahme  im  Widerspruche  mit  den  Angaben  des  Aristoteles*)  über 
die  „Neubürger"  des  Kleisthenes  und  die  damalige  Aufnahme  „Aller"  in 
die  Phylen,  orcwg  ^eTao%o)ai  jtXeLovg  ttjq  TtoXiTsiag.  Die  Verleihung 
bürgerlicher  Kechte  an  die  Klasse  oder  das  T^Xog  der  Theten  kann  also 
nicht  die  Einbürgerung  der  Hektemoroi  bewirkt  haben. 

Stellen  wir  in  Kürze  fest,  was  Solon  zur  Hebung  der  sozialpolitischen 
Krisis  that.  Die  Volkspartei  verlangte  eine  Landaufteilung  und  vollständige 
Umgestaltung  der  Verfassung'').  Diese  Forderung  wurde  natürlich  nicht 
von  den  bäuerlichen  Grundeigentümern  erhoben,  denen  damit  wenig  ge- 
dient gewesen  wäre,  und  die  zufriedengestellt  wurden,  wenn  sie  ihre  Hypo- 
theken los  wurden.  Solon  konnte  auch  nimmermehr  selbständige  Bauern 
als  „schlechte  Leute"  bezeichnen,  die  an  dem  Boden  des  Vaterlandes  den 
gleichen  Anteil  haben  wollten , .  wie  die  Edeln.  Abgesehen  von  allerlei 
mittellosen  und  begehrlichen  Leuten  waren  es  offenbar  die  Hektemoroi, 
welche  die  Aufteilung  der  eTtlfiogtog  yrj  der  grossen  Grundherren  forderten 
und  die  durch  ihre  einheitliche  Masse  der  Forderung  einen  gefährlichen 
Nachdruck  gaben.    Da  der  private  Grundbesitz  des  herrschenden  Standes 

1)  Ed.  Meyer,  Forsch,  zur  alten  Gesch.  I  305;  Gesch.  d.  Alterth.  II 653  flf.  vgl. 
Wilamcrwitz,  Aristoteles  11,63.  Einen  ähnlichen  Gedanken  äussern  auch  Phllippi, 
Beitr.  zur  Gesch.  d.  att.  Bürgerrechts  180;  207;  E.  Curtius,  Gr.  Gesch.  P  312. 

2)  Vgl.  S.  522.  Anm.  2. 

3)  k^7t.21.  4)  Aristot.  'i^n.  11,2:  ö  (lev  yaQ  öi'ifiog  (oszo  nävx'  dvd- 
öaata  noi^aeiv  avzov,  xt?..  Plut.  Solon  13:  zijv  yi'v  dvaddaaa&cu  xai  ol(oq  (xexa- 
ax^oai  trjv  noXiTslav.  Aristot.  ji&n.  12,3:  xal  ndXiv  rf'  {6T^^)ü)f^l  nov  }Jyei  negl 
Xüiv  öiavslfAaad^at  ttjv  yijv  ßovXoßivcaV  oi  rf'  i<p^  dguayaZoiv  rjkd-ov,  iXnL{6  sl)xov 
d(pvedv  xxk.  .  .  .  ovöe  (jloi  xvgavviöoq  |  dvddvei  ßla  xl  [qsQhv,  ovöh  nts{lQa)g  x^ov6g\ 
naxglöog  xaxolaiv  iad^kovg  Laofioigiciv  sx^iv. 


Beiträge  zur  attischen  Geschichte.  525 

höchst  wahrscheinlich  durch  Occupation  und  Aufteilung  von  Gemeinde- 
land entstanden  war^,  so  wird  es  verständlich,  wie  der  Gedanke  an  eine 
Landaufteilung  auftauchen  und  energisch  geltend  gemacht  werden  konnte. 

Solon  handelte  nach  dem  Grundsatze,  dass  der  Mittelweg  der  beste 
wäre,  und  war  nicht  geneigt,  so  weitgehende  Wünsche  zu  erfüllen.  Er 
hob  alle  Schulden  auf,  welche  ein  Grundstück  belasteten,  oder  für  welche 
die  Person  des  Schuldners  zum  Unterpfand  gegeben  war,  femer  befreite 
er  die  bereits  in  Schuldknechtschaft  Geratenen  und  verbot  für  alle  Zeit 
die  Aufnahme  von  Schulden  auf  den  Leib.  Damit  wurden  die  ver- 
schuldeten Bauern  und  auch  die  Hektemoroi,  soweit  sie  für  rückständige 
Ernteanteile  mit  ihrer  Person  hafteten,  entlastet,  ferner  die  in  Knecht- 
schaft verfallenen  Hektemoroi,  Handwerker  und  Gewerbetreibenden  per- 
sönlich frei  gemacht.  Wahrscheinlich  hat  Solon  auch  die  Rechte  und 
Pflichten  der  Hektemoroi  geregelt  und  ihre  Lage  verbessert'^),  aber  die 
erhoffte  Landaufteilung  gewährte  er  nicht.  Die  grossen  Güter  des  Adels, 
auf  denen  seine  soziale  und  politische  Stellung  beruhte,  blieben  unange- 
tastet"^). Es  sollte  sich  aber  auch  der  Grossgrundbesitz  nicht  übermässig 
ausdehnen  und  den  Bestand  des  selbständigen  Bauerntums  in  Frage 
stellen.  Daher  erliess  Solon  das  Gesetz,  welches  dem  Einzelnen  die 
Erwerbung  von  Grundeigentum  über  einen  bestimmten  Umfang  hin- 
aus verbot  "*). 

Es  fragt  sich  nun,  ob  die  Hektemoroi,  deren  wirtschaftliche  Bedin- 
gungen im  wesentlichen  unverändert  blieben,  durch  Solon  bürgerliche  Rechte 
erhielten.  Die  Bürger  waren  in  der  solonischen  Verfassung  nach  ihrem 
durch  Einschätzung  bestimmten  Einkommen  {Tlfirj/^a)  aus  dem  Grund- 
eigentum in  vier  Abteilungen  (Telrj)  eingeteilt').    Es  ist  vielfach  die  An- 


1)  Wilamowitz,  Aristoteles  II 47. 

2)  PoUux  VII  151:  inlfioQToq  öh  yr/  nccQcc  Solwvi  17  inl  fiSQSi  yscapyovfxevTj^  xal 
fxoQxri  x6  (jLegoq  x6  ccTio  rcüv  yecoQywv.  Es  hat  sich  also  die  solonische  Gesetzgebung 
mit  den  Hektemoroi  beschäftigt. 

3)  Solon  bei  Aristot.  Ä^n.  12,  5  sagt  daher  mit  Recht;  oaoi  de  juei^ovg  xal 
ßiav  dfXHvovsQ  \  alvolsv  äv  ße  xal  (plkov  noiolazo.  Für  die  revolutionäre  Masse, 
welche  Landaufteilung  forderte,  hatte  Solon  keine  Sympathie.  Vgl.  S.  524,  Anm.  3. 

4)  Vgl.  S.  522,  Anm.  2. 

5)  Es  braucht  hier  die  Streitfrage  nur  gestreift  zu  werden,  ob  erst  Solon  die 
Censusklassen  einrichtete  oder  ob  er  sie  bereits  vorfand.  Auch  die  neuesten  Be- 
handlungen der  Frage  sind  zu  sehr  verschiedenen  Ergebnissen  gekommen.  Beloch, 
Gr.  Gesch.  I  374  und  Ed.  Meyer,  Gesch.  d.  Altert.  II  §  408  S.  653  ff.  schreiben  sie  dem 
Solon  zu,  ebenso  Ad.  Holm,  Gr.  Gesch.  I^  143.  Eine  vermittelnde  Stelle  nimmt  Gilbert, 
Gr.  Staatsalt.  PI  43  ff.  ein.  Solon  hätte  die  Namen  der  bereits  vor  Drakon  vorhan- 
denen sozialen  Stände  als  Bezeichnung  der  von  ihm  neu  eingerichteten  Schatzungs- 
klassen beuutzt  und  für  letztere  einen  Minimalcensus  festgesetzt.  Nach  V.  Thumser, 
Hermanns  Gr.  Staatsalt.  «^  §  6S  S.  383  soll  Drakon  (was  nirgends  überliefert  ist)    die 


526  Gborg  Busolt 

sieht  ausgesprochen  worden,  dass  für  die  Einschätzung  nicht  hloss  der 
Ertrag  vom  eigenen  Grundbesitz,  sondern  der  Nutzwert  des  ganzen  Ver- 
mögens in  Betracht  gekommen  wäre.  Die  reichen  Kaufleute  und  Fabri- 
kanten, die  kein  Grundeigentum  besessen  hätten,  wären  nach  ihrem 
Einkommen  den  Klassen  zugewiesen  worden,  wobei  man  nach  dem  da- 
maligen Marktpreise  den  Scheffel  zu  einer  Drachme  gerechnet  hätte';. 
Diese  Ansicht  stützt  sich  nur  auf  allgemeine,  durchaus  nicht  zwingende, 


Bürgerschaft  in  vier  Schatz ungsklassen  eingeteilt  und  Selon  diese  Einteilung  zur 
Regelung  der  bürgerlichen  Rechte  und  Leistungen  benutzt  haben.  B.  Keil,  Die  so- 
lonische  Verfassung  (Berlin  1892)  68  if.  meint,  Selon  habe  das  bestehende  Klassen- 
steuersystem zur  Abstulung  der  bürgerlichen  Rechte  benutzt  und  die  früheren  Census- 
beträge  aus  Viktualien  in  Geld  umgerechnet.  B.  Niese,  Eist.  Zeitschr.  Bd.  69  (1892)  61 
hat  sehr  richtig  bemerkt,  dass  die  vier  Klassen  in  den  solonischen  Gesetzen  voraus- 
gesetzt waren,  und  dass  über  ihre  Einführung  keine  bestimmten  Nachrichten  vorla- 
gen. Wilamowitz,  Aristoteles  II 52;  305  setzt  die  Ausbildung  der  xü.r]  vor  650  und 
bemerkt ,  dass  Selon  nach  seinen  eigenen  Äusserungen  die  Plutokratie  perhorresziere. 
—  Die  Überlieferung,  dass  erst  Selon  die  vier  xi:}.ri  schuf,  kann  zunächst  nicht  fest- 
gestanden haben,  als.  die  oligarchische,  von  Aristoteles  benutzte  Parteischrift  ent- 
stand ,  da  dieselbe  sie  schon  zur  Zeit  Drakons  vorhanden  sein  Hess  ('4^7r.  4).  Ver- 
mutlich mit  Rücksicht  auf  die  angebliche  Verfassung  Drakons  bezeichnet  Aristoteles 
^A^n.  7, 3  die  Einteilung  in  die  vier  xkXri  als  vorsolonisch.  Leider  ist  die  Angabe 
der  Plutarchs  Biographie  Solons  zu  Grunde  liegenden  Atthis  (Androtion)  nicht  mit 
Sicherheit  festzustellen.  Wenn  es  Plut.  Selon  18  heisst:  s7.aße  xii  xifjn]fjLaza  xdjv 
noXixaüv  xal  xovg  (jlsv  iv  ^rjQolg  o/uov  xal  vygolg  fiäxQcc  nevxaxooia  noiovvxaq 
TCQotxovQ  £xa^e  xx?.,  so  könnte  die  Quelle  Plutarchs  gesagt  haben,  dass  Selon  die 
Schätzungen  der  Bürger  (die  für  die  Naukrarien  vorbanden  waren)  zur  Hand  nahm 
und  sie  in  die  vier  Stufen  einteilte.  Entscheidend  dürfte  folgender  Umstand  sein. 
Solon  entwarf  keine  systematische  Verfassungsurkunde,  sondern  stellte  die  Gesetze 
nach  den  Behörden  zusammen ,  die  sie  zu  handhaben  hatten.  Staatliche  Einrich- 
tungen, die  er  vorfand  und  unverändert  Hess,  setzte  er  in  seinen  Gesetzen  einfach 
als  bestehend  voraus.  So  hatte  er  den  Areopag  als  bestehende  Einrichtung  voraus- 
gesetzt, denn  man  wusste  nicht,  ob  ihn  Solon  bereits  vorgefunden  oder  neu  geschaffen 
hatte.  Ersteres  schloss  man  aus  seinem  Epitimie-Gesetz.  Nun  stand  in  den  solo- 
nischen Gesetzen  auch  nichts  über  die  Höhe  des  Census  der  einzelnen  xthj.  Denn 
gegen  die  Ansicht,  dass  für  die  Ritter  keine  bestimmte  Anzahl  von  Massen  als  Census 
festgesetzt  gewesen  wäre,  beruft  sich  Arist.  A^tt.  7,4  nicht  auf  ein  solonisches  Ge- 
setz, sondern  er  meint  nur,  es  sei  wahrscheinlicher,  dass  auch  der  Rittercensus  nach 
Massen  des  Jahresertrages  bestimmt  worden  sei.  Ebenso  bezogen  sich  die  Vertreter 
jener  Ansicht  nicht  etwa  auf  ein  Gesetz,  sondern  auf  das  ovoua  xoi-  xü.ovq  und 
auf  dvaO^r'ifjiaxa  rwv  aQxaiwv.  Ein  Schwanken  der  Atthidographen ,  die  sich  mit 
den  Gesetzen  Solons  beschäftigten,  wäre  unmöglich  gewesen,  wenn  sie  Ansätze  der 
Censusklassen  in  einem  Gesetze  gefunden  hätten. 

1)  Zu  den  Vertretern  dieser  Ansicht  gehören :  Grote,  Gesch.  Gr.  II*  93;  H.Land- 
wehr, Phil.  Suppbd.  V  137 ff.;  Pöhimann,  Müllers  Handb.  d.  kl.  Altertumsw.  III  388; 
Ed.  Meyer,  Gesch.  d.  Altert.  II  §  408  S.  655  und  657.  Vgl.  dagegen  F.  Cauer,  Parteien 
und  Politiker  in  Megara  und  Athen  (Stuttgart  1890)  58  f.  Hat  Aristoteles  u.  s.  w. 
(Stuttgart  1891)  68  ff.;  V.  Thumser,  Hermanus  Gr.  Staatsaltert.  ^  §  68  S.  386;  G.  Gübort, 
Gr.  Staatsaltert.  I^  144, 148;  Beloch,  Gr.  Gesch.  I  324. 


Beiträge  zur  attischen  Geschichte.  527 

teilweise  recht  zweifelhafte  Wahrscheinlichkeitsgründe*)  und  steht  im 
Widerspruche  mit  der  atthidographischen  Überlieferung,  also  der  über 
diese  Dinge  am  besten  unterrichteten  Quelle.  Aristoteles,  der  dieser  Quelle 
folgt,  sagt  klar  und  bestimmt,  dass  die  Zugehörigkeit  zu  einem  riXog 
durch  die  Anzahl  von  Massen  bestimmt  war,  die  jemand  vom  eigenen 
Grund  und  Boden,  6x  rrjg  oheiag,  erntete. 

Ed.  Meyer  bemerkt :  „Für  die  Zeugiten  wird  ein  Ertrag  von  200 
Scheffeln  (vielmehr  Massen),  also  ein  Gut  von  70  bis  100  Morgen*),  an- 
gegeben. Ist  diese  Angabe  richtig,  so  waren  alle  Mittel-  und  Klein- 
bauern, selbst  wenn  sie  einen  Hof  von  50  bis  60  Morgen  besassen,  mit 
dor  besitzlosen  Masse  zusammengeworfen  und  zählten  zu  der  Blasse  der 
'Tagelöhner.  Das  erscheint  indessen  kaum  denkbar."  Auf  die  Kriegs- 
dienste der  Mittel-  und  Kleinbauern  hätte  der  Staat  nicht  verzichten 
können,  sonst  wäre  das  Hoplitenheer  auf  eine  winzige  Truppe  zusammen- 
geschmolzen. 

Gewiss  konnte  der  Staat  auf  die  Kriegsdienste  der  Mittelbauern 
nicht  verzichten,  aber  waren  denn  Grundeigentümer,  die  100  bis  200  Mass 
ernteten,  noch  Mittelbauern?  Eine  Choinix  oder  Vjs  Medimnos  (1,09  Liter) 
wurde  als  das  Mass  betrachtet,  das  an  Getreide  ein  Mann  mindestens 
zu  seiner  täglichen  Ernährung  brauchte.')  Demnach  verzehrte  eine  Familie 
von  fünf  Köpfen  jährlich  etwa  45  Medimnen.  Da  durchschnittlich  min- 
destens ein  Drittel  der  Produktion  aus  Flüssigem  (öl  und  Wein)  bestand, 
von  dem  der  Grundeigentümer  mit  seiner  Familie  doch  auch  einen  er- 
heblichen Teil  zu  seiner  Ernährung  verbrauchte,  so  blieb  für  den  Verkauf 
nicht  viel  übrig.    Es  ist  sehr  die  Frage,  ob  ein  solcher  Kleinbauer,  der 

1)  B.  Keil  und  Ed.  Meyer  berufen  sich  auf  den  Umstand,  dass  um  58ü  zwei 
„Fabrikanten"  {örj/xiovQyol)  das  Archontat  erlangten.  Eine  Änderung  der  Verfas- 
sung in  der  kurzen  Zwischenzeit  sei  nicht  nur  nicht  tiberliefert,  sondern  auch  un- 
wahrscheinlich. Allein  die  Wahl  der  beiden  „Fabrikanten"  erfolgte  nach  langem, 
wiederholt  zur  Anarchie  führenden  Parteikämpfen ,  nach  der  Usurpation  des  Dama- 
sias  und  auf  Grund  einer  besondern  Vereinbarung  der  Stände,  die  im  Gegensatze 
zur  solonischen  Verfassung  im  Staatsorganismus  wieder  eine  Rolle  zu  spielen  be- 
gannen. Wenn  Ed.  Meyer  bemerkt:  „Anthemion  (k^7r.  7,4;  Pollux  VIII 137)  ist  ge- 
wiss nicht  durch  Ankauf  eines  Landgutes,  sondern  durch  den  Ertrag  seiner  Arbeit 
vom  Theten  zum  Ritter  avanciert",  so  ist  nicht  abzusehen,  warum  sich  Anthemion 
für  diesen  Ertrag  nicht  ein  Rittergut  gekauft  haben  sollte. 

2)  Die  Abschätzung  nach  der  Grösse  des  Grundstückes  ist  ganz  problematisch 
und  findet  sich  auch  nirgends  in  den  Quellen.  Ein  Grundstück  in  der  „Ebene' 
konnte  einen  sehr  viel  höhern  Ertrag  liefern,  als  ein  gleich  grosses  in  den  magern 
Landesteilen.  Noch  zweifelhafter  wird  diese  Abschätzung  durch  das  Hinzutreten  des 
für  die  Bodenproduktion  so  wichtigen  Ölbaues. 

3)  Od.  XIX  27  ;  Hdt.  VII 187 ;  Bullet  d.  corr.  hell.  XIV  480.  Die  auf  Sphakteria 
eingeschlossenen  Lakedaimonier  erhielten  vertragsmässig  pro  Mann  täglich  2  Choinikes, 
2  Kotylen  Wein  und  ausserdem  Fleisch,  ihre  Waflfenknechte  die  Hälfte  davon. 


628  Georg  Busolt 

von  dem  Ertrage  seiner  Landwirtschaft  nur  gerade  noch  sich  und  seine 
Familie  unterhalten  konnte,  zu  den  oTcka  7caQey6^evoL  gehörte.  Ein 
mittleres  Bauerngrundstück  war  nach  attischer  Auffassung  offenbar  ein 
solches,  das  mit  einem  Gespann  bewirtschaftet  wurde  und  zur  Unterhal- 
tung eines  solchen  ausreichte.')  Nichts  steht  der  Annahme  entgegen, 
dass  die  Hauptmasse  der  attischen  Bauern  damals  noch  aus  Zeugiten 
bestand,  die  ein  solches  Grundstück  besassen  und  durchschnittlich  zwischen 
200  und  300  Mass  ernteten. 

Es  ist  allerdings  schwer  denkbar,  dass  Solon  die  Kleinbauern,  die 
weniger  als  200  Mass  ernteten,  mit  der  besitzlosen  Masse  der  Hektemoroi, 
Tagelöhner  und  gewerblichen  Lohnarbeiter  zusammengeworfen  haben  sollte. 
Aber  die  TteviXQol,  also  namentlich  die  Hektemoroi,  gehörten  bei  seinem 
Amtsantritte  nicht  zum  Demos  und  haben  auch  durch  seine  Gesetzgebung 
bürgerliche  Kechte  nicht  erhalten.-)  Die  tbItj  umfassten  nun  ausschliess- 
lich Bürger,  da  sich  ja  nach  ihnen  die  bürgerlichen  Rechte  und  Pflichten 
abstuften  und  selbst  die  Angehörigen  der  Thetenklasse  das  Recht  hatten, 
an  der  Volksversammlung  und  dem  Volksgericht  teilzunehmen.  Wurden 
die  Hektemoroi  von  Solon  nicht  zu  Bürgern  gemacht,  so  gehörten  sie 
auch  nicht  zum  %elog  der  Theten. 

Bestätigt  wird  dieses  Ergebnis  durch  folgende  Erwägung.  Wenige 
Jahre  nach  der  Gesetzgebung  Solons  treten  neben  dem  Geschlechter-Adel 
der  Eupatriden  die  beiden  Stände  der  Agroikoi  (Georgoi)  und  Demiurgoi 
in  voller  Geschlossenheit  im  Staatsleben  auf.  Diese  beiden  Stände 
kämpfen  mit  den  Eupatriden  um  das  höchste  Staatsamt,  das  Archontat, 
und  erlangen  auch  mindestens  vorübergehend  Anteil  an  demselben,^)  es  setzt 
diese  Thatsache  längere  politische  Kämpfe  zwischen  den  Ständen  voraus ; 
im  Besitze  der  bürgerlichen  Rechte  müssen  die  Agroikoi  und  Demiurgoi 
schon  längst  gewesen  sein.  Wenn  die  Hektemoroi  zu  dem  Stande  der 
Agroikoi  oder  Demiurgoi  gehört  hätten,  so  müssten  sie  als  Mitglieder 
desselben  die  Fähigkeit  zur  Bekleidung  des  Archontats  besessen  haben, 
während  doch  erst  ein  halbes  Jahrhundert  nach  Kleisthenes  den  Zeugiten 
der  Zutritt  zum  höchsten  Amte  eröffnet  wurde. 

Der  Bauernstand  der  Georgoi  umfasste  sicherlich  nur  die  selbstän- 
digen Bauern  und  schloss  die  Hektemoroi  aus.  Ebenso  muss  der  Stand 
der  Demiurgoi  nicht  die  gesamte  gewerbtreibende  Bevölkerung  vereinigt 
haben,  sondern  nur  die  Besitzer  eigener  Werkstätten,  die  Schiffseigen- 
tümer und  Grosshändler  {efXTtoQOi),  während  die  gewerblichen  Lohnarbeiter 

1)  Vgl.  Aristoph.  Vög.  582  ff.  (ra>  ßoLÖagim  tcofico  ngciziaz'  aTtoSiofiai). 

2)  Vgl.  S.  528. 

3)  Aristot.  k&7i.  13,2. 


Beiträge  zur  attischen  Geschichte.  529 

nicht  zum  Gewerbestande  als  solchem  gehörten  und  auch  keine  bürger- 
liche Berechtigung  hatten/)  Waren  die  Hektemoroi,  als  diese  Stände 
sich  bildeten,  was  zweifellos  vor  Selon  geschah,  noch  nicht  !dd^iqvaloi 
oder  Mitglieder  des  in  die  vier  Stammphylen  sich  gliedernden  dri^iog,  so 
gehörten  sie  auch  nicht  zu  den  Ständen,  in  welche  to  tüv  l4^rjvaia)v 
7clrj^og  zerfiel.^) 

Wenden  wir  uns  nun  wieder  zu  den  TeXrj,  so  sind  ihre  Namen,  wie 
zuerst  Gomperz  bemerkt  hat,^)  ohne  Zweifel  entlehnt  den  im  Volksmunde 
gebräuchlichen  Bezeichnungen  für  besonders  reiche  Grossgrundbesitzer 
(Pentakosiomedimnoij^'j,  für  die  Bosse  züchtenden  und  beritten  ins  Feld 
ziehenden  Grundherren  (Hippeis),  die  mit  einem  Bindergespann  ihren  Acker 
bestellenden  Bauern  (Zeugitai)  und  die  ländlichen  und  gewerblichen  Lohn- 
arbeiter (Thetes).  Als  amtliche  Benennungen  der  Schatzungsklassen  er- 
hielten die  populären  Ausdrücke  eine  bestimmte  censuale  Bedeutung,  die 
sich  mit  ihrem  ursprünglichen  Begriffe  nicht  völlig  deckte.  Denn  zu  den 
Pentakosiomedimnoi  gehörten  nicht  diejenigen,  welche  mindestens  500 
Medimnoi  Getreide  ernteten,  sondern  diejenigen,  deren  Ernte  an  Getreide 
und  Flüssigem  (öl  und  Wein)  zusammen  500  Mass  betrug.  Auch  wer 
schon  200  bis  300  Medimnoi  und  ebensoviel  Metretai  erntete,  war  Pen- 
takosiomedimnos.  Während  ferner  die  Mitglieder  der  zweiten  Klasse  Grund- 
eigentümer waren,  deren  Besitz  die  Mitte  zwischen  dem  der  grossen 
Grundherren  und  der  gewöhnlichen  Bauern  hielt,  verstand  man  sonst 
unter  Hippeis   die   sich  über  dem  Bauernstande   überhaupt   erhebende 


1)  Aristot.  Pol.  III.  5  p.  1278  a.  v.  21  sagt:  iv  6s  zalq  oXiyaQyJaiq  S^za  fihv  ovx 
ivöexsTai  elvai  noXixrjv  (dnb  zifXTjfzaxwv  yä^  fzaxQtöv  al  fisO^E^sig  zcöv  d^x^^)  ß<^' 
vavaov  ö'  ivösyszat'  nkovzovat  yag  ol  noXXol  zwv  zeyvLZüiv.  Also  Gewerbetreibende 
konnten  auch  schon  vor  der  demokratischen  Umgestaltung  des  Staatswesens  in  Athen 
politische  Rechte  besitzen,  sofern  sie  Vermögen  hatten,  aber  nicht  unvermögende 
Lohnarbeiter. 

2)  Schol.  Piaton  Axioch.  p.  371  D:  k^iazozeXijQ  (prjol  zov  okov  nkij&ovg  öcjiqt]' 
fievov  ]4d-rjvi]aLV  sl'g  zs  zovg  yscogyovg  xal  zovg  örjfjiiovQyovg ,  <fvXag  avzüiv  elvat 
zbaaagag  xzX.  Lex.  Demosth.  Patm.  Bull.  d.  corr.  hell.  I  p.  152  s.  v.  yevvrjzai'  ncckai 
zb  zü)v  ÄS-T]valü)v  nlrjS-og  tcqIv  ?]  KXetaQ^ev?;  Stoixijaaa&ai  za  negl  zag  (pvkdg,  öi^- 
Qrjzo  slg  (svTtazQLÖag  xal)  yscoQyovg  xal  di^/xiovQyovg'  xal  cpvXal  zovzcdv  ijaav  6',  xzL 

3)  Die  Schrift  vom  Staatswesen  der  Athener  (Wien  1891)  40flF. 

4)  Der  Name  stammt  vermutlich  aus  einer  Zeit,  wo  in  der  Bodenwirtschaft 
Attikas  der  Getreidebau  noch  so  überwog,  dass  der  Ölbau  daneben  wenig  in  Betracht 
kam.  Jedenfalls  ist  er  nicht  erst  für  das  zeXog  gebildet  worden,  denn  sonst  hätte 
man  die  Angehörigen  dieser  Klasse,  da  sie  nicht  mindestens  500  (xeöi^ivoi^  sondern 
mindestens  500  (xizQa  za  Gvvdfx(f(o  ^jgd  xal  vy^d  ernteten^  Pentakosiometroi  genannt. 
Vgl.  Busolt,  Philol.  L  (1891)  396.  B.  Keil,  Die  solonische  Vorfassung  69.  Über  den 
Gebrauch  von  nsvzaxoaioi  in  demselben  allgemeinen  Sinne  wie  bei  uns  100  oder 
1000  vgl.  übrigens  Aristoph.  Ekkl.  1007:  ei  fiij  zcüv  izäiv  {ifAcäv  Hs.)  r^v  nsvzaxo- 
GLOGzriv  xaTbQ-7]xag  zj]  noXst. 

34 


B30  Geoeg  Büsolt 

Ritterschaft.  Unter  diesen  Umständen  ist  die  Annahme  gestattet,  dass 
sich  auch  die  censuale  Bedeutung  von  O^F^rtg  damals  nicht  mit  dem 
gewöhnlichen  Begriffe  von  Lohnarbeitern  deckte.  Der  Handelsherr,  der 
mit  eigenem  Schifife  Seehandel  trieb,  oder  der  Besitzer  einer  grossen  Werk- 
stätte, der,  sofern  er  nicht  Grundeigentum  besass,  nach  der  atthidographi- 
schen  Überlieferung  zum  tiXog  der  Theten  gehörte,  konnte  nicht  als  &ijg 
im  gewöhnlichen  Sinne  dieses  Wortes  gelten.  Aller  Wahrscheinlichkeit 
nach  entstanden  die  tUtj  vor  Selon  und  noch  zur  Zeit  der  Herrschaft  der 
Oligarchie  im  Laufe  des  siebenten  Jahrhunderts ').  Es  würde  dem  Hoch- 
mute des  alten  Grundherrn-Adels,  der  die  durch  den  mächtigen  Aufschwung 
von  Schifffahrt,  Handel  und  Industrie  bedingte  Entwickelung  zur  Pluto- 
kratie  nicht  aufhalten  konnte  und  von  ihr  selbst  ergriffen  wurde,  wohl 
anstehen,  wenn  er  die  reichen  Demiurgoi  Theten  nannte,  als  er  sich  genötigt 
sah,  auf  die  Alleinberechtigung  des  Blutes  zu  verzichten  und  zur  oligar- 
chischen  ccTtd  TL{.crjfxaTa)v  Ttolireia  überzugehen.  Ebenso  wurden  später- 
hin die  verhassten  Yolksführer,  welche  Besitzer  einer  Gerberei  oder  Lampen- 
fabrik waren,  von  den  Gegnern  schlechtweg  Gerber  und  Lampenmacher 
genannt.  Wenn  man  diese  Benennungen  wörtlich  nehmen  wollte,  so 
würden  Kleon  und  Hyperbolos  gewerbliche  Lohnarbeiter,  also  Theten 
gewesen  sein.  Obwohl  die  Klasseneinteilung  an  Stelle  der  vornehmen 
Geburt  das  Vermögen  zum  Massstabe  der  bürgerlichen  Berechtigung 
machte,  so  bringt  sie  doch  den  Einfluss  der  alten  Aristokratie  dadurch 
zum  Ausdruck,  dass  der  Grundbesitz,  auf  dem  wesentlich  die  Begüterung 
und  die  Macht  des  Geschlechteradels  beruhte,  die  Grundlage  des  Census 
blieb. 

In  der  Thetenklasse  war  also  der  ganze  nicht  grundbesitzende  Stand 
der  Demiurgoi  vereinigt,  der  aber  als  geschlossener  Stand  die  freien  ge- 
werblichen Lohnarbeiter  nicht  umfasste.  Ferner  gehörten  dazu  diejenigen 
Angehörigen  des  Bauernstandes  oder  der  Georgoi  (Agroikoi),  die  weniger 
als  die  Zeugiten  ernteten,  aber  noch  eigenen  Grundbesitz  und  eigenes 
Vieh,  mitunter  vielleicht  (in  den  zur  Viehzucht  geeigneten  Landesteilen) 
grössere  Heerden  besassen.  Ausgeschlossen  waren  dagegen  die  Hektemoroi. 

Die  Nichterfüllung  der  Forderungen  und  Hoffnungen  der  Hektemoroi 
bot  ein  gefährliches  Agitationsmittel  gegen  die  solonische  Verfassung. 
Aus  dieser  zahlreichen  Klasse  konnte  sich  ein  Parteiführer  einen  mäch- 
tigen Anhang  bilden. 

Um  581  spielten  in  den  Parteikämpfen  die  ständischen  Gegensätze 
die  massgebende  Rolle,  zwanzig  Jahre  später  hatten  die  Parteien  landschaft- 


1)  Vgl.  S.  525  Anm.  2. 


Beitrage  zur  attischen  Geschichte.  531 

liehe  Namen.  Den  „Männern  aus  der  Ebene"  (dem  Pedion)  standen  die 
aus  dem  Küstenlande  (der  Paralia)  gegenüber,  und  als  dritte  Partei  bildete 
sich  dann  unter  Führung  des  Peisistratos  die  der  Hochländer,  der  Be- 
wohner der  Diakria.  Es  bestand  also  der  Kern  der  Parteien  aus  Leuten, 
die  in  derselben  Landschaft  wohnten.  Aber  daraus  folgt  noch  nicht, 
dass  der  Gegensatz  ein  ausschliesslich  landschaftlicher  war,  und  dass  zu 
jeder  Partei  nur  Bewohner  derselben  Landschaft  oder  letztere  sämtlich 
zu  ein  und  derselben  Partei  gehörten.  Die  ständischen  Gegensätze  können 
nicht  so  rasch  verschwunden  sein;  sie  müssen  sich  mit  den  regionalen 
verschmolzen  haben.  Bei  der  Umgestaltung  der  Parteigruppen  hat  höchst 
wahrscheinlich  der  Einfluss  der  leitenden  ,,^i€yaloL  avögeg^^  in  hervorragen- 
der Weise  mitgewirkt. 

Bei  „den  Männern  aus  der  Ebene",  die  eine  Verfassungsveränderung 
in  oligarchischem  Sinne  und  die  Wiederherstellung  des  Staates  der  Väter 
anstrebten,  deckte  sich  im  Wesentlichen  der  Stand  mit  der  Landschaft, 
denn  sie  bildeten  die  Partei  des  hauptsächUch  im  Pedion  begüterten 
Eupatriden-Adels.  Über  die  Bestandteile,  aus  denen  sich  die  Partei  der 
Paralier  zusammensetzte,  findet  man  sehr  verschiedene  Ansichten.  Ge- 
wöhnlich hält  man  die  Paralier  für  die  Handel,  Seefahrt  und  Fischfang 
treibende  Küstenbevölkerung,  mit  der  die  Angehörigen  des  Gewerbestandes 
in  der  Stadt  und  in  den  andern  Landesteilen  durch  gleiche  Interessen  ver- 
bunden waren.*)  Andere  betrachten  dagegen  die  Paralier  als  eine  rein 
bäuerliche  Partei,  als  die  Partei  der  wieder  verschuldeten  ärmern  Bauern, 
deren  Hauptmasse  in  der  Paralia  gesessen  hätte."^)  Beide  Ansichten  sind 
einseitig.  Die  selbständigen  Bauern  dürfen  aus  der  Partei  der  Paralier 
nicht  ausgeschlossen  werden.  Aristoteles  sagt,  dass  jede  Partei  nach  dem 
Landesteile  benannt  war,  in  dem  ihre  Anhänger  Ackerbau  trieben.^)  Die 
Bewohner  der  Paralia  bestanden  jedenfalls  zum  grösseren  Teile  aus  Bauern. 


1)  Diese  Auffassung  vertreten  Schömann,  Gr.  Altert.  P347.  E.  Curtius,  Gr. 
Gesch.  P  342 ;  Duncker,  Gesch.  d.  Altert.  VP  448 ;  Ed.  Meyer,  Gesch.  des  Altert.  II 
§412  S.  663.  („Die  Küstenbewohner,  die  Schiffer  und  Kaufleute,  die  eine  kräftige 
Förderung  der  von  Solon  inaugurierten  Handelspolitik  und  der  materiellen  Interessen 
des  Mittelstandes  und  daher  die  Ausbildung  einer  städtischen  Demokratie  erstrebten. 
Es  ist  die  Partei,  auf  die  sich  Solon  vor  allem  gestützt  hatte."  E.  M.  unterschätzt 
dabei  doch  die  Beseitigung  der  Hypothekenschulden,  die  wesentlich  den  Bauern  zu 
Gute  kam.  Solon  hat  auch  noch  andere  Gesetze  im  Interesse  der  Bauernschaft 
erlassen.) 

2)  F.  Cauer,  Parteien  und  Politiker  in  Megara  und  Athen  (Stuttgart  1890)  85. 
Ähnlich  urteilt  G.  Gilbert,  Gr.  Staatsaltert.  P  158. 

3)  Aristot.   k&n.  13,5:   elxov  6'  k'xaazoi  zag  incüvvfjiiaq  and   xciv  xotkov  iv 
olg  iyewoyovv. 

34* 


582  Gbobg  Büsolt 

Ihre  Äcker  wurden  i.  J.  430  von  den  Peloponnesiem  verwüstet.')  Da  die 
Ebene  sich  in  den  Händen  der  grossen  Grundherren  befand,  so  muss  ge- 
rade in  der  Landschaft  östlich  vom  Hymettos  der  eigentliche  Bauernstand 
stark  vertreten  gewesen  sein.  Die  meisten  Kaufleute  und  Gewerbetrei- 
benden wohnten  nicht  in  der  Paralia,  sondern  in  der  Stadt  und  in  den 
Handwerkerdörfern  im  oberen  Kephisosthal,  an  den  Abhängen  des  Aigaleos 
und  am  Südabhange  des  Pames. 

Aber  man  darf  andererseits  die  Handel-  und  Gewerbetreibenden  auch 
nicht  aus  der  Partei  der  Paralier  ausschliessen.  Sie  waren  mit  dem  Bauern- 
stände gegenüber  dem  Adel  durch  gleiche  politische  Interessen  verbunden. 
Ferner  lassen  sie  sich  weder  bei  den  Pediakoi,  noch  bei  den  Diakriem 
unterbringen;  mithin  gehörten  sie  zu  den  Paraliem,  da  sie,  wie  die  un- 
mittelbar vorhergehenden  Parteiungen  beweisen,  sich  aktiv  an  den  politi- 
schen Kämpfen  beteiligten. 

Aristoteles  sagt  nach  der  von  ihm  benutzten  Atthis,  dass  das  poli- 
tische Ziel  der  Paralier  die  fzior]  TcoltTela  war,^)  d.  h.  dass  sie  auf  dem 
Boden  der  solonischen  Verfassung  standen.^)  Diese  Partei  umfasste  also 
diejenigen  Klassen,  die  durch  Solons  Werk  am  meisten  befriedigt  waren: 
die  von  ihren  Hypotheken  befreiten,  zur  Bekleidung  der  unteren  Staats- 
ämter befähigten  Bauern  und  die  durch  die  Handelspolitik  Solons  be- 
günstigten Handel-  und  Gewerbetreibenden.  Sie  war  mithin  aus  einer 
Vereinigung  von  Demiurgoi  und  Agroikoi  hervorgegangen,  die  sich  im 
Gegensatze  zu  den  Eupatriden  während  und  in  Folge  der  ständischen 
Kämpfe  vollzogen  haben  wird. 

Was  nun  die  Diakrier  betrifft,  so  ergiebt  sich  aus  dem  Namen,  dass 
der  Kern  dieser  Partei  aus  Bewohnern  des  attischen  Hochlandes  bestand. 
Ed.  Meyer  bezeichnet  die  Diakrier  als  Kleinbauern,  d.  h.  als  Grund- 
eigentümer unter  dem  Zeugitencensus,  die  Landaufteilung  und  volle  bäuer- 
liche Demokratie  verlangt  hätten.^)  Allerdings  werden  die  Bewohner  der 
wenig  fruchtbaren  Diakria  meist  aus  Hirten  und  Kleinbauern  bestanden 
haben.  Indessen  ein  bäuerlicher  Grundeigentümer  pflegt,  sofern  nur  der 
Ertrag  seines  Grundstückes  zum  Unterhalt  seiner  Familie  ausreicht,  eine 

1)  Thuk.  1155,1:  Ol  öh  IIskonovvijaLOi ,  ineiö^  szefiov  zo  nsölov,  nagriXd^ov 
ig  TTjv  TlcLQalov  yTJv  xakovfxevTjv  yL^XQi  AavQÜov  xxX.  xal  ngdÜTov  /xhv  szs/zov  zav- 
ZT]v  y  TtQÖq  IIskoTtovvrjaov  bgä,  eneiza  6h  zt]v  tiqoq  Evßoiav  zs  xal  "Avöqov  zszQafi- 
fiBvqv'  56, 1 :  %ZL  rf'  avzmv  iv  z(5  nsöitp  ovzwv,  n^lv  ig  zrjv  nagallav  yrjv  iX^siv  xz).. 

2)  Aristot.  jid-n.  13,4:  olneg  iöoxovv  [idXioza  öicoxsiv  zrjv  (leaijv  noXizeiav, 
Vgl.  Plut.  Solon  13. 

3)  Aristot.  Pol.  IV.  11  p.  1296  a.  vgl.  über  die  aristotelische  Beurteilung  Solons 
und  seines  Werkes  unter  dem  Gesichtspunkte  der  ßtjuozijg  B.  Keil,  Die  solonische 
Verfassung  204  ff. 

4)  Gesch.  des  Altert.  II.  §  412  S.  663.  vgl.  §  408  S.  654. 


Beiträge  zur  attischen  Geschichte.  53S 

Landaufteilung  nicht  zu  wünschen.  Ausserdem  hätten  die  Kleinbauern 
bei  einer  Landaufteilung  eine  Yergrösserung  ihres  Grundbesitzes  kaum 
erwarten  dürfen,  da  doch  bei  einer  solchen  radikalen  agrarischen  Um- 
wälzung die  zahlreichen  Hektemoroi  und  alle  mittellosen  Leute  einen 
Anteil  beansprucht  hätten. 

Peisistratos  fand  jedenfalls  in  der  Diakria  ein  freies  Feld  zur  Partei- 
bildung, denn  die  Hauptmasse  der  Bevölkerung  gehörte  weder  zu  der 
Partei  des  Adels,  noch  zu  der  des  Mittelstandes.  Er  brauchte  den  Klein- 
bauern und  Hirten  keine  Landaufteilung  zu  versprechen,  sondern  konnte 
sie  durch  die  Aussicht  auf  billige  Geldvorschüsse'),  Erleichterung  der 
Konkurrenz  mit  der  Grossgrundwirtschaft,  Erweiterung  ihrer  politischen 
Rechte  und  andere  schöne  Dinge  anlocken. 

Nun  sagt  Plutarchos  Selon  24,  dass  sich  unter  den  Diakriern  6  d^rjTi- 
7.dg  oxlog  xai  ixaXcoza  rolg  TtXovoloig  a^S^of-ievog  befand.  Auch  in 
Cap.  30  erscheinen  als  Anhänger  des  Peisistratos  die  nevr^Teg,  als  Gegner 
die  icXouGLOL,  Ebenso  heisst  es  bei  Aristot.  Pol.  V  5  p.  1305  a,  dass  der 
Hass  gegen  die  nlovoioi  dem  Peisistratos  das  Vertrauen  des  Volkes 
verschaffte,  als  er  die  „Männer  der  Ebene"  bekämpfte.  Nach  diesen 
offenbar  aus  der  attischen  Chronik  stammenden  Angaben  erscheint  also 
Peisistratos  wesentlich  als  Vorkämpfer  gegen  die  Pediakoi,  d.  h.  gegen 
die  grossen  Grundherren,  deren  Begüterungen  die  Hektemoroi  bewirt- 
schafteten. Seinen  Anhang  bildete  eine  Volksmasse,  die  Thetendienste 
verrichtete,  arm  war  und  die  Reichen,  insbesondere  „die  Männer  der 
Ebene",  am  meisten  hasste.  Diese  Merkmale  treffen  bei  den  Hektemoroi, 
den  Landaufteilung  fordernden  /cevtxQol  Solons,  zu.  Daher  hat  Fr.  Cauer^) 
nicht  ganz  mit  Unrecht  die  Diakrier  als  die  Partei  der  Lohnarbeiter  be- 
zeichnet, obwohl  seine  Ansicht,  dass  die  Diakria  überwiegend  von  Lohn- 
arbeitern bestellt  wurde,  also  in  den  Händen  von  Grossgrundbesitzem 
war,  schwerlich  zutreffend  ist.  Freilich  wird  es  auch  in  der  Diakria 
Hektemoroi  gegeben  haben,  da  dort  eine  Anzahl  von  Adelsgeschlechtern 
heimisch  war.^)  Daraus  ergiebt  sich,  dass  die  Partei  des  Peisistratos 
einerseits  aus  den  Kleinbauern  der  Diakria,  andrerseits  aus  den  Hektemoroi 
bestand.  Es  war  also  im  Wesentlichen  eine  agrarische  Volkspartei,  deren 
revolutionärer  Charakter  naturgemäss  alle  diejenigen  anzog,  die  von  der 
bestehenden  Staatsordnung  etwas  zu  befürchten  oder,  wie  die  durch  die 
Seisachtheia  Verarmten,  von  einer  Staatsumwälzung  etwas  zu  hoffen  hatten. 

Im  Jahre  561/0  gelang  es  dem  Peisistratos,  sich  der  Alleinherrschaft 

1)  Vgl.  Aristot.    'A^.  XVI  2,  9. 

2)  Parteien  und  Politiker  in  Megara  und  Athen.  S.  85. 

3)  Toepffer,  Attische  Genealogie  S.  293;  298;  316. 


534  Georg  Büsolt 

ZU  bemächtigen,  er  vermochte  sich  jedoch  erst  dauernd  zu  behaupten 
und  seine  Stellung  zu  befestigen,  als  er  um  539  an  der  Spitze  einer 
bewaffneten  Macht  aus  der  Verbannung  zurückkehrte  und  seine  Gegner 
bei  Pallene  geschlagen  hatte.  Herodotos  sagt:  „Von  den  Athenern  waren 
die  einen  gefallen,  die  andern  mit  den  Alkmeouiden  aus  der  Heimat  in 
die  Verbannung  gegangen."  •)  Dadurch  erhielt  Peisistratos  die  Verfügung 
über  umfassende  Landkomplexe.  Was  geschah  damit?  Fr.  Cauer^)  nimmt 
an,  dass  Peisistratos  diese  Landkomplexe  benutzt  hätte,  um  der  bäuer- 
lichen Bevölkerung  ein  besseres  Los  zu  verschaffen,  und  dass  die  Inhaber 
der  Parzellen  durch  grössere  Intensität  der  Bewirtschaftung  und  hohem 
Gewinn  aus  den  Erträgen  sich  in  den  Stand  gesetzt  hätten,  die  Grund- 
stücke allmählich  als  Eigentum  zu  erwerben.  Die  Frage  ist  jedoch  weit 
einfacher  zu  beantworten. 

Es  erscheint  zunächst  auffällig,  dass  Peisistratos,  dessen  Partei 
hauptsächlich  aus  der  ärmeren  Landbevölkerung  bestand,  und  der  gerade 
das  Landvolk  begünstigte,  als  regelmässige  Steuer  nur  einen  Zwanzigsten 
von  den  Bodenerzeugnissen  erhob,  mithin  eine  den  Grundbesitz  dauernd 
belastende  Steuer  einführte.^)  Eine  befriedigende  Erklärung  erhält  diese 
Thatsache  dadurch,  dass  Peisistratos  die  durch  den  Tod  oder  die  Ver- 
bannung ihrer  Eigentümer  herrenlos  gewordenen  Ländereien,  soweit  sie 
zum  Grossgrundbesitz  gehörten,  den  sie  parzellenweise  bewirtschaftenden 

1)  Hdt.  I  64 :  xal  JleLaiaxQaxoq  ßhv  irvQavvevs  ÄSTjvalcDV,  ÄS-rjvalwv  de  oi  fiev 
iv  tf]  /Jccx^  67tS7iz(6x£aav,  ol  de  avzdiv  ßfr  k?j<fiewvi66(ov  6(f)Svyov  ix  zfjQ  OLXi]i?]g. 
Vgl.  Andok.  II.  26;  Isokr.  XVI  25.  26;  XII  148:  zovg  ßeXxLaxovq  xwv  noXirwv  wg 
o?uyaQX'^xovg  ovrag  ixßaXiöv. 

2)  Parteien  und  Politiker  in  Megara  und  Athen  95  ff.,  Hat  Aristoteles  u.  s.  w. 
(Stuttgart  1891)  64. 

3)  Thuk.  VI  54,  5:  kS^rjvaiovg  slxogttjv  fiovov  TtQaoaoßSvoi  x(öv  yiyvofievcav  xzX. 
Ein  Zweifel  daran,  dass  zcc  yiyvofieva  ausschliesslich  die  Bodenerträge  sind,  ist 
völlig  ausgeschlossen.  Vgl.  z.  B.  das  solonische  Gesetz  bei  Plut.  Selon  24 :  Tcöv  dh 
yLvoßsviüv  öidd-eaiv  nQog  ^svovg  ikaiov  ^jlovov  sdcoxev  xzh  So  fasste  die  Steuer 
auch  Aristoteles  und  die  von  ihm  neben  Thukydides  benutzte  Atthis  auf.  liS^n.  16, 4  : 
a^a  ÖS  avveßaivev  avz<p  xal  zag  UQOOoSovg  ylyveaB^ai  fiieLt,o)vg  s^SQya^ofxevrjg  zijg 
yiüQag'  ingazzexo  yag  ccTto  x(öv  yiyvoßsvcov  öexäxrjv.  Von  einer  ösxdxrj  ist  auch 
die  Rede  in  der  antiquarischen  Anekdote  von  Peisistratos  und  dem  Bauer.  (Aristot. 
kd^n.  16,  5;  Zenob.  Proverb.  IV  76;  Mantissa,  Proverb.  I  76;  Prokop.  v.  Gaza,  Paneg. 
in  Anast.  b.  Villoison,  Anecd.  gr.  II40;  ausgezogen  von  Wilamowitz,  Aristoteles  I 
292  Anm.  6.  Eine  Mischung  aus  der  Erzählung  der  li^n.  und  der  Paroimiographen); 
Suid.  8.  V.  ocpaxehofjLog.  Man  hat  beide  Angaben  durch  die  Annahme  zu  vereinigen 
gesucht,  dass  Hippias  und  Hipparchos  die  ösxäzTj  in  eine  tlxooxi]  verwandelten. 
Allein  der  betreffende  Satz  des  Thuk.  bezieht  sich  auf  die  Peisistratiden  überhaupt, 
und  der  fast  gleiche  Wortlaut  bei  Thuk.  und  Aristot  weist  darauf  hin,  dass  Letzterer 
in  bewusstem  Gegensatze  zu  Ersterem  die  Steuer  als  ösxdxrj  bezeichnete.  Thuk. 
verdient  als  der  über  die  Peisistratiden  besonders  gut  unterrichtete  Gewährsmann 
den  Vorzug. 


Beiträge  zur  attischen  Geschichte.  535 

Hektemoroi  überliess.  Andere  Grundstücke  und  Brachland  benutzte  er 
dazu,  um  mittellose  Leute  zu  Bauern  zu  machen.  Bisher  hatten  die 
Hektemoroi  fünf  Sechstel  der  Ernte  an  die  Grundherren  abführen  müssen, 
dem  Peisistratos  brauchten  sie  bloss  den  Zwanzigsten  zu  entrichten. 
Ferner  wurden  sie  thatsächlich  aus  Arbeitern  auf  Teilbau  materiell  selb- 
ständige Bauern,  mochte  auch  immerhin  der  Herrscher,  schon  mit  Rück- 
sicht auf  den  ihm  zufallenden  Teil  des  Ertrages  sie  beaufsichtigen  und 
zur  fleissigen  Bestellung  des  Ackers  anhalten/) 

Auf  diese  Weise  erfüllte  Peisistratos  im  Wesentlichen  die  agrar- 
demokratische  Forderung  der  Landaufteilung  und  befriedigte  die  Wünsche 
derjenigen,  die  sich  ihm  in  der  Erwartung  einer  solchen  Massregel  an- 
geschlossen hatten.  Seitdem  besass  er  im  Landvolke  einen  starken,  an 
dem  Bestände  der  Tyrannis  unmittelbar  interessierten  Anhang.^} 

Die  alte  Bauernschaft,  die  zur  konstitutionellen  Partei  der  Paraler 
gehörte,  nahm  sicherlich  die  Aufrichtung  der  Alleinherrschaft  ebenso 
widerwillig  auf,  wie  die  Einführung  der  Zwanzigsten.  Allein  sie  wird  sich 
mit  der  neuen  Regierung  bald  ausgesöhnt  haben,  da  dieselbe  nicht  nur 
die  langen,  heftigen  Parteikämpfe  beendigte  und  unter  Wahrung  der 
bestehenden  Yerfassungsformen  Ruhe  und  Ordnung  aufrecht  erhielt,  son- 
dern sich  auch  die  Hebung  der  Landwirtschaft  und  die  Verbesserung  der 
Rechtspflege  auf  dem  Lande  angelegen  sein  Hess.  Der  Bauer  litt  nicht 
mehr  unter  den  tPb ergriffen  der  „mächtigen  Männer",  die  erdrückende 
Konkurrenz  der  Grossgrundwirtschaft  war  beseitigt  und  sein  Hof  gegen 
ein  Aufgehen  in  den  Grossgrundbesitz  geschützt. 

1)  Vgl.  Aristot.  Jl^;r.  16,  5-6. 

2)  Im  Gegensatze  zu  dieser  Auffassung  bemerkt  Ed.  Meyer,  Gesch.  d.  Altert.  II 
§  475  S.  773:  „Die  alte  Forderung  der  Landaufteilung  hat  Peisistratos  so  wenig  erfüllt 
wie  Solon".  Wann  soll  sich  dann  aber  die  agrarische  Umwälzung  vollzogen  haben,  die 
zwischen  dem  Amtsantritte  Solons  und  dem  peloponnesischen  Kriege  doch  stattge- 
funden hat?  Was  that  denn  Peisistratos  mit  den  Gütern  der  Adeligen,  die  gefallen 
oder  in  die  Verbannung  gegangen  waren?  Es  war  doch  ein  Ausnahmefall,  dass  er 
dem  Philaiden  Kimon,  der  mit  Rücksicht  auf  die  Anwartschaft  seiner  Söhne  auf  das 
cherronesitische  Fürstentum  die  Gunst  des  Tyrannen  gesucht  hatte,  gestattete  inl 
za  kcDVtov  vnoanovöoQ  zurückzukehren  (Hdt.  VI  103).  Die  Hauptmasse  des  Adels, 
von  dem  ein  Teil  bei  Pallene  gefallen  war,  blieb  in  der  Verbannung.  Viele  kamen 
dann  bei  dem  Versuche,  mit  Waffengewalt  ihre  Rückkehr  zu  erzwingen,  in  Leipsy- 
drion  um.  Kimon  selbst  durfte  auch  nicht  bedingungslos  inl  xa.  kojvxov  zurück- 
kehren. Vielleicht  enthielten  die  onovöal  mit  dem  Tyrannen  auch  Bestimmungen, 
welche  die  selbständige  Existenz  der  Hektemoroi  auf  den  Gütern  Kimons  sicherten. 
Ed.  Meyer  sagt  selbst  im  §412,  dass  die  Diakrier,  also  die  Parteigänger  des  Pei- 
sistratos, eine  Landaufteilung  gefordert  hätten.  Nach  E.  M.  müsste  also  Peisistratos 
nicht  nur  die  Hauptforderung  seiner  Partei  unbefriedigt  gelassen,  sondern  sogar  noch 
einen  Zwanzigsten  auferlegt  haben.  Dann  würde  sich  aber  seine  Popularität  und  der 
starke  Anhang  der  Tyrannis  im  Landvolke  nicht  genügend  erklären  lassen. 


536  Geobg  Busolt 

Die  Tyrannis  hatte  in  der  breiten  Masse  des  Landvolkes  eine  so 
feste  Stütze,  dass  die  Alkmeoniden,  als  sie  im  Verein  mit  den  übrigen 
Verbannten  etwa  im  Frühjahre  513  in  Attika  einbrachen,  nur  aus  der 
Stadt  einigen  Zuzug  erhielten.*)  Das  Landvolk  rührte  sich  nicht  und  zog 
die  Tyrannis,  der  es  viel  zu  verdanken  hatte,  einer  Restauration  des  Adels 
vor,  von  der  die  ehemaligen  Hektemoroi  eine  Zurückversetzung  in  ihre 
frühere  Lage  zu  befürchten  hatten. 

Nur  mit  Hilfe  der  Lakedaimonier  vermochten  die  Alkmeoniden  und 
ihre  Parteigenossen  endlich  die  Peisistratiden  zu  vertreiben.  Dabei  wagten 
sie  gewiss  um  so  weniger,  die  agrarische  Umwälzung  rückgängig  zu 
machen,  als  ihre  Stellung  durch  den  bedeutenden  Anhang  der  Peisistra- 
tiden und  Spaltungen  in  dem  Adel  selbst  stark  gefährdet  war. 

Bei  dem  Parteikampfe,  der  gleich  nach  dem  Sturze  der  Peisistratiden 
zwischen  Kleisthenes  und  Isagoras  ausbrach,  mögen  die  alten  Gegensätze 
zwischen  den  Paraliern  und  Pediakoi  mitgewirkt  haben.  Die  „Freunde 
der  Tyrannen"  hielten  es  natürlich  schon  deshalb  mit  Isagoras,  weil  er 
ein  Gegner  des  Kleisthenes  war.  Letzterer  spielte  zunächst  keineswegs 
den  Demokraten.  Erst  als  er  im  Parteikampfe  den  Kürzeren  zog  und 
Isagoras  für  das  Jahr  508/7  zum  Archen  erwählt  wurde,  wandte  er  sich 
dem  Volke  zu  und  zog  es  durch  ein  demokratisches  Programm  auf  seine 
Seite.^)  Wahrscheinlich  sicherte  er  den  von  Peisistratos  zu  freien  Bauern 
gemachten  ehemaligen  Hektemoroi  nicht  nur  ihren  durch  den  Sturz  der 
Tyrannis  abgabenfrei  gewordenen  Grundbesitz  zu,  sondern  versprach  ihnen 
auch  bürgerliche  Rechte. 

Aristoteles  sagt  in  den  Politika^),  dass  Kleisthenes  Ttollovq  ecpvliy 
iBvae  ^avovg  zal  öovlovg  /iisToUovg.  Gewöhnlich  hat  man  in  Folge 
davon  angenommen,  dass  er  Metoiken  und  Freigelassene  einbürgerte.^ 


1)  Arist.  k&Ti.  19, 3. 

2)  Hdt.  V66:  kaaovfzsvog  6  KXsiaS^svrjQ  xbv  ö^fiov  TtQoaezacQi^srai  %t?..  V  69; 
Aristot.  ÄSn.  20. 

3)  Pol.  III  2  p.  1275  b. 

4)  Philippi,  Beitr.  zur  Gesch.  d.  att.  Bürgerrechts  (Berlin  1870)  160;  Szanto, 
Unters,  über  d.  att.  Bürgerrecht  (Wien  1881)  1  ff.;  Buermann,  Jahrb.  f.  kl.  Philo!. 
Suppbd.S.  349 ff.;  E.  Curtius,  Gr. Gesch.  P  378;  Duncker,  Gesch.  d.  Altert.  VP  592; 
Hohn,  Gr.  Gesch.  I  5Ü6;  Beloch,  Gr.  Gesch.  I  334;  Hermanns  Gr.  Staatsalt. «  bearb.  v. 
V.  Thumser  §71  S.404;  G.Gilbert,  Gr.  Staatsalt.  I-  166;  Wilamowitz,  Aristoteles  II 
169.  Ed.  Meyer,  Gesch.  d.  Altert.  II  §  493  S  802  sagt,  Kleisthenes  hätte  den  zahl- 
reichen ,  seit  Jahrhunderten  in  Attika  ansessigen  Bewohnern ,  die  den  alten  Bluts- 
verbänden nicht  angehörten,  Nachkommen  von  Zuwanderen!  und  Sklaven,  das  Bürger- 
recht verliehen.  Alle  Wahrscheinlichkeit  spricht  aber  dafür,  dass  die  den  alten 
Blutsverbänden  nicht  angehörenden  Leute  die  ehemaligen  Hektemoroi  und  gewerb- 
lichen Lohnarbeiter  waren. 


Beiträge  zur  attischen  Geschichte.  537 

Nun  findet  sich  aber  in  der  Schrift  vom  Staatswesen  der  Athener  die 
Angabe,  dass  „nach  dem  Sturze  der  Tyrannen"  eine  allgemeine  Kevision 
der  Bürgerliste  vorgenommen  wurde,  weil  viele,  die  nicht  reinbürgerlicher 
Abkunft  waren,  unbefugt  bürgerliche  Rechte  ausübten/)  Diese  Leute 
müssen  unter  der  Herrschaft  der  Peisistratiden  in  die  Bürgerschaft  ein- 
gedrungen sein,  denn  seit  dem  Staatsstreiche  des  Peisistratos  waren  über 
fünfzig  Jahre  verflossen,  und  Tyrannen  pflegten  weniger  auf  die  Rein- 
haltung der  Bürgerschaft,  als  auf  die  Verstärkung  ihres  Anhanges  be- 
dacht zu  sein.  Man  säuberte  also  bei  der  wahrscheinlich  im  Zusammen- 
hange mit  der  Organisation  der  Demen  vorgenommenen  Revision  die 
Bürgerschaft  von  gewiss  vielfach  zweifelhaften,  jedenfalls  an  der  Wieder- 
herstellung der  Tyrannis  interessierten  Elementen.  Es  ist  höchst  un- 
wahrscheinlich, dass  Kleisthenes  Leute  von  nicht  reinbürgerlicher  Herkunft 
aus  der  Bürgerschaft  ausgestossen  und  zugleich  fremdbürtige  Metoiken 
und  Freigelassene  aufgenommen  haben  sollte.  Aristoteles  äussert  sich  in 
der  Schrift  vom  Staatswesen  der  Athener  über  die  Vermehrung  der 
Bürgerschaft  durch  Aufnahme  von  Neubürgem  in  einer  Weise,  die  kaum 
eine  andere  Auslegung  zulässt,  als  dass  Kleisthenes  alle  diejenigen  Attiker, 
die  bisher  ausserhalb  der  bürgerlichen  Verbände  standen,  zu  Bürgern 
machte.'"')  Es  waren  das  die  ehemaligen  Hektemoroi  und  gewerblichen 
Lohnarbeiter.    Erst  die  kleisthenische  Gesetzgebung  schuf  also  den  die 


1)  Nach  Aristot.  kd^n.  13,5  schlössen  sich  dem  Peisistratos  an  xal  ol  toi  ysvsi 
fXT]  xa&ccQol  ÖLU  Tov  (poßov  ori(jLElov  d'  OTL  fj.szu  Z7]V  (züjv)  TVQuvvcDV  xatdXvaiv 
i7toii]oav  öiarprjcpiafxbv  cog  noXXwv  xoivcdvovvxcdv  rijg  noXivstag  ov  TtQoaijxov. 
Wilamowitz,  Aristoteles  I  31  identifiziert  diesen  6iarpTj(fia/x6g  (der  in  späterer  Zeit 
wenigstens  aus  einer  Abstimmung  der  Demoten  eines  jeden  Demos  über  das  Bürger- 
recht eines  jeden  Gemeindemitgliedes  bestand)  mit  der  von  Isagoras  veranlassten 
Vertreibung  von  700  athenischen  Familien.  Allein  an  diese  Vertreibung  kann 
Aristoteles,  der  darüber  20,3  nach  Hdt  V  72  berichtet  {jjyTjkazsi  zcäv  Äi^rjvaiwv 
snzaxoaiag  oixLag)j  unmöglich  gedacht  haben.  Der  6iaipi]<fiaß6g  war  auch  nach 
der  Auffassung  des  Aristoteles  eine  korrekte  Verwaltungsmassregel,  die  gegen  Leute 
von  zweifelhafter  bürgerlicher  Geburt  gerichtet  war,  die  Austreibung  der  700  Familien 
dagegen  ein  Gewaltakt,  der  vom  spartanischen  Könige  Kleomenes  im  Einvernehmen 
mit  Isagoras  gegen  die  Anhänger  der  Alkmeoniden  angeblich  wegen  des  ihnen  an- 
haftenden kylonischen  Frevels  verübt  wurde.  Wilamowitz  ist  zu  seiner  Ansicht 
wesentlich  dadurch  gekommen,  dass  er  den  öiaxprjcpiafiog  als  eine  „reaktionäre 
Massregel"  betrachtet,  deren  Urheber  nicht  Kleisthenes  gewesen  sein  könnte.  Indessen, 
abgesehen  davon,  dass  die  Massregel  Anhänger  der  Tyrannen  treffen  sollte,  hat 
gerade  die  Demokratie  um  so  strenger  auf  Reinhaltung  der  Bürgerliste  gehalten,  je 
mehr  Rechte  sie  an  den  blossen  Besitz  des  Bürgerrechtes  knüpfte. 

2)  Aristot.  Jl^TT.  21,1:  nQwzov  fihv  avvBveifJis  ndvzag  slg  Sixa  (pvXag  dvzl 
zwv  zezzcc^wv  dva^xel^ai  ßovXofievog  önwg  fiezdaxcaoc  nkelovg  zijg  noXi- 
zelccg.  21,4:  xal  örjfxozag  inoiijaev  dXX^k<ov  zovg  olxovvzag  iv  kxdazu)  zwv  ö^/xatv, 
"va  [XI]  TtazQO&sv  i^sXiyxoxJiv  zovg  vsoTCoXlzag,  dXXa  zwv  öt'iuwv  dvayoQevwair. 


538  Obobo  Busolt 

Gesamtheit  der  Attiker  umfassenden,  demokratischen  Einheitsstaat,  für 
den  die  Tyrannis  durch  die  Nivellierung  der  ständischen  und  regionalen 
Gegensätze,  namentlich  auch  durch  die  Umwandelung  der  Hektemoroi  in 
selbständige  Bauern,  den  Boden  vorbereitet  hatte. 

II.  Zum  Kriegsplane  des  Perikles. 

Der  strategische  Plan  des  Perikles  für  die  Führung  des  Krieges  gegen 
die  Peloponnesier  ist  sehr  verschieden  beurteilt  worden.  Er  bestand  im 
"Wesentlichen  darin,  dass  sich  die  Athener  zu  Lande  mit  den  numerisch 
weit  überlegenen  Peloponnesiern  in  keine  Schlacht  einlassen,  das  platte 
Land  von  Attika  nicht  verteidigen  und  sich  auf  die  Behauptung  der  Stadt 
beschränken  sollten.  Das  Bundesgebiet  sollten  sie  fest  in  der  Hand  be- 
halten, aber  auf  keine  neuen  Erwerbungen  ausgehen.  Offensiv  sollten  sie 
den  Krieg  mit  der  Flotte  führen  und  die  Verheerungen  Attikas  durch 
Verwüstung  der  peloponnesischen  Küsten  vergelten.  Perikles  war  über- 
zeugt, dass  die  Athener  bei  dieser  Strategie  mit  der  Zeit  durch  Er- 
mattung der  Gegner  sogar  leicht  die  Oberhand  gewinnen  würden.  Der- 
selben Ansicht  war  auch  Thukydides  ^). 

In  neuerer  Zeit  haben  diesen  Kriegsplan  Pflugk-Hartung,  Beloch  und 
namentlich  Duncker  scharf  verurteilt,  Pöhlmann,  Egelhaaf,  Ad.  Bauer  und 
in  eingehender  Untersuchung  Delbrück  mit  Erfolg  verteidigt^). 

Delbrück  hat  ohne  Zweifel  nachgewiesen,  dass  die  Athener  bei  dem 
grossen  Übergewicht  der  Landmacht  des  Gegners  nur  die  Erhaltung  ihrer 
Seeherrschaft  als  Ziel  des  Krieges  ins  Auge  fassen  konnten,  und  dass 
Perikles,  da  ihm  nur  eine  der  des  Feindes  überlegene  Flotte  zur  Verfügung 
stand,  nach  den  Grundsätzen  der  „Ermattungsstrategie",  aber  nicht  nach 
denen  der  „Niederwerfungsstrategie"  handeln  konnte.  Ferner  hat  Delbrück 
gezeigt,  dass  Dunckers  Vorschläge  zu  einer  raschen  und  kräftigen  Offen- 
sive gegen  Megara  und  zur  Besetzung  der  Pässe  des  Geraneia-Gebirges  oder 
zu  einem  wuchtigen  Angriffe  gegen  Boiotien  ebenso  schwer  wiegenden  Be- 
denken unterliegen,  wie  seine  Forderung  einer  auf  die  Kastelle  gestützten 
Verteidigung  der  Grenzen  Attikas. 

Duncker  verlangt  sodann  eine  kräftigere  Offensive  zur  See.  Nament- 
lich denkt  er  an  die  Landung  eines  stärkeren  attischen  Heeres  in  Messenien, 


1)  Thuk.  I  144;  II  65. 

2)  Pflugk-Hartung,  Perikles  als  Feldherr,  Stuttgart  1884.,  Zeitschr.  f.  österr. 
Gymn.  1888  S.  241  ff.  J.  Beloch,  Die  attische  Politik  seit  Perikles,  Leipzig  1884; 
Gr.  Gesch.  I  519;  Duncker,  Gesch.  d.  Altert.  IX  415  ff.  —  Pöhlmann,  Hist.  Zeitschr.  LV. 
(1886)  267  ;  Egelhaaf,  Analekten  zur  Geschichte,  Stuttgart  1887;  Ad.  Bauer,  Bursians 
Jahresber.  1889  III 123  ff;  Delbrück,  Die  Strategie  des  Perikles,  Berlin  1890  (Preuss. 
Jahrb.  LXIV,  1889) 


Beiträge  zur  attischen  Geschichte.  539 

das  dort  nach  Einnahme  eines  Hafenplatzes  die  Heloten  zur  Freiheit  auf- 
rufen sollte.  Das  würde  die  wahre  Antwort  auf  die  Invasion  Attikas  und 
ein  Gegenstoss  in  das  Herz  Spartas  gewesen  sein.  Freilich  hat  Duncker 
die  Schwierigkeiten  einer  solchen  Expedition  nicht  in  Erwägung  gezogen 
und  ihre  Ergebnisse  im  Falle  des  Gelingens  überschätzt,  aber  man  ge- 
winnt doch  den  Eindruck,  dass  die  Athener  diese  leicht  verwundbare, 
mindestens  höchst  empfindliche  Stelle  des  lakedaimonischen  Staates  ener- 
gischer als  es  in  den  ersten  Jahren  des  Krieges  geschah,  hätten  angreifen 
können.  Delbrück  rechtfertigt  die  See-Strategie,  die  sich  auf  Schädigung 
des  feindlichen  Handels  und  Angriffe  auf  Küstengebiete  beschränkte.  Da- 
gegen sagt  Duncker  IX  418:  „Der  Peloponnes  war  gross,  viel  grösser  als 
Attika,  und  was  bedeutete  flüchtige  Verwüstung  eines  Küstenstriches  im 
Peloponnes  gegen  gründliche  Vernichtung  des  ganzen  attischen  Anbaues ! 
Auch  zugegeben,  dass  diese  Verwüstungen  den  Peloponnesiem  und  Athenern 
gleichen  Schaden  brachten,  war  damit  eine  für  die  Athener  günstige  Ent- 
scheidung des  Krieges  zu  erzielen?'*  Dieser  Einwand  ist  von  Delbrück 
nicht  genügend  berücksichtigt  und  widerlegt  worden.  Auch  Beloch  (Gr. 
Gesch.  I  519)  bemerkt:  „Der  Schaden,  den  die  Verheerungen  einiger 
Küstenstriche  des  Peloponnes  durch  die  attische  Flotte  verursachten,  kam 
gar  nicht  in  Betracht  gegen  den  Ruin  der  gesamten  Landbevölkerung 
Attikas;  der  Kern  der  feindlichen  Macht  blieb  für  Athen  unverwundbar. 
Das  Höchste,  was  sich  bei  dem  perikleischen  Kriegsplane  erzielen  Hess, 
war  ein  fauler  Friede  auf  Grund  des  bisherigen  Besitzstandes." 

Bei  der  Beurteilung  der  Wirksamkeit  der  athenischen  See- Opera- 
tionen hat  man  zwei  wesentliche  Punkte  übersehen  oder  nur  gestreift. 

Thukydides  sagt  I  125,  dass  eine  Minorität  unter  den  Peloponnesiem 
gegen  den  Krieg  stimmte.  Diese  Minorität  bestand,  wie  sich  aus  I  120 
ergiebt,  aus  Arkadern.  Die  Korinthier  sagen  nämlich :  „Ihr,  die  ihr  mehr 
im  Binnenlande  (ti^v  /neGoyeiav),  als  an  der  Küste  wohnt,  müsst  wissen, 
dass,  wenn  ihr  den  Seeanwohnern  nicht  beisteht,  euch  die  KaTaxofudTJ  der 
Landeserzeugnisse  erschwert  werden  wird  und  wiederum  der  Eintausch 
der  Dinge  ,•  welche  die  Seeeinfuhr  dem  Festlande  giebt.  Ihr  sollt  euch 
nicht  als  schlechte  Beurteiler  zeigen  und  sagen,  dass  euch  nichts  angeht, 
was  wir  hier  vorbringen,  ihr  möget  euch  vielmehr  darauf  gefasst  machen, 
dass,  wenn  ihr  die  Seeanwohner  im  Stiche  lasst,  das  Übel  auch  bis  zu 
euch  vordringen  wird."  Die  See- Operationen  der  Athener  schädigten  nun 
gerade  unmittelbar  die  Küstenstädte  und  ihre  Gebiete  d.  h.  die  Kriegs- 
partei unter  den  Peloponnesiem.  War  der  Kriegseifer  derselben  erlahmt, 
so  Hess  sich  ein  günstiger  Friede  leicht  erreichen. 

Was  den  zweiten  Punkt  betrifft,  so  bezeugt  Hdt.  VII 147,  dass  pon- 


640  Georg  Busolt 

tisches  Getreide  nach  Aigina  und  der  Peloponnesos  eingeführt  wurde. 
Ferner  sagt  Thuk.  III  86,  dass  die  Athener  bei  ihrer  Expedition  nach 
Sicilien  auch  die  Gedreidezufuhr  von  dort  nach  der  Peloponnesos  ab- 
zuschneiden beabsichtigten.  Daraus  ergiebt  sich,  dass  die  Peloponnesos 
damals  nicht  genügend  Getreide  erzeugte,  um  namentlich  die  starke  Be- 
völkerung der  Industrie-  und  Handelsstadt  Korinthos  mit  ihrer  Sklaven- 
masse, die  mindestens  auf  60—80,000  Köpfe  zu  schätzen  ist,  ausreichend 
zu  ernähren.  Auch  andere  Küstenstädte  deckten  gewiss  nicht  den  Bedarf 
an  Getreide  aus  der  Produktion  des  eigenen  Gebietes.  Andrerseits  beruhte 
der  Wohlstand  der  Korinthier  auf  der  Ausfuhr  ihrer  Erzarbeiten,  Thon- 
gefässe,  Webstoffe  und  sonstiger  Industrie-Erzeugnisse.  Ebenso  gab  es  in 
Sikyon  und  in  den  lakonischen  Perioiken-Städten  eine  erhebliche  für  die 
Ausfuhr  arbeitende  Industrie.  Gelang  es  den  Athenern,  diese  Ein-  und 
Ausfuhr  in  grösserem  Umfange  zu  unterbrechen,  so  musste  allmählich  be- 
sonders Korinthos,  das  Haupt  der  Kriegspartei,  wirtschaftlich  ruiniert 
werden.  Die  Wirksamkeit  einer  Seeblockade  hat  sich  in  neuerer  Zeit  im 
amerikanischen  Bürgerkriege  glänzend  gezeigt.  Sie  hat  wesentlich  zum 
Falle  der  Konföderierten  Staaten  beigetragen,  die  auf  die  Ausfuhr  von 
Rohprodukten  und  die  Einfuhr  von  Industrie-Erzeugnissen  angewiesen 
waren. 

Nun  hatten  die  Athener  durch  die  hellespontische  Getreidesperre') 
die  Zufuhr  aus  dem  Pontes  in  ihren  Händen,  und  ihre  Flottenstation  in 
Naupaktos  störte  auch  die  sicilische  Einfuhr  nach  dem  inneren  Busen 
des  korinthischen  Golfes  und  überhaupt  den  direkten  Schiffsverkehr  zwischen 
Korinthos  und  dem  Westen.  Nur  auf  Umwegen  konnten  die  Korinthier 
die  für  ihr  wirtschaftliches  Gedeihen  so  wichtigen,  merkantilen  Verbindungen 
mit  dem  Westen  unterhalten.  Es  kam  also  darauf  an,  die  Ein-  und  Aus- 
fuhr, soweit  sie  noch  auf  Umwegen  und  durch  andere  peloponnesische 
Häfen  vermittelt  wurde,  möglichst  abzuschneiden.  Daran  hat  auch  Perikles 
gedacht.  Die  Peloponnesos  sollte  mit  vielen  Schiffen  immer  blockiert  und 
eingeschlossen  werden^).  Die  Verwüstungen  der  Küstengebiete,  die  mit 
der  Blockade  verbunden  waren,  konnten  ebenfalls  nicht  ohne  Wirkung 
bleiben.  Abgesehen  davon,  dass  sie,  wie  oben  bemerkt  wurde,  gerade  die 
zur  Kriegspartei  gehörenden  Städte  schädigten,  musste  die  Verheerung 
der  ertragsreicheren  Küstenebenen,  wie  der  eleischen,  das  Bedürfnis  nach 
fremdem  Getreide  steigern.    Mit  Recht  lässt  Thukydides  die  Korinthier 

1)  A.  KirchhoflF,  Ber.  d.  Berlin.  Akad.  1888  S.  1179  ff. 

2)  Thuk.  1142,  7:  ölu  xo  v<p  ^fjKov  noXXalg  vaval  dsii^OQfisZaO^aL  xzL 
nokXcüg  6h  el^yö/aevoi  xzX.  I  141,4:  dnb  zwv  avtcüv  öanavöivxeq  xai  ngoaexi  xal 
d^akäaarjg  dgyoßsvoL.  Vgl.  übrigens  in  Bezug  auf  den  Schmuggel  nach  der  Pelopon- 
nesos: Aristoph.  Kitt.  278  ff. 


Beiträge  zur  attischen  Geschichte.  541 

sagen,  dass  auch  die  binnenländischen  Staaten  der  Peloponnesos  durch 
die  Schädigung  der  Seeanwohner  in  Mitleidenschaft  gezogen  werden  würden. 
Wenn  die  Industrie  der  Korinthier  stockte  und  bei  ihnen  Geldmangel  ein- 
trat, so  konnten  sie  die  ländlichen  Produkte  der  Arkader,  besonders 
Wolle  und  Getreide,  nicht  brauchen  oder  bezahlen.  Dann  half  auch  den 
Arkadem  nichts  die  unausbleibliche  Steigerung  der  Getreidepreise. 

Eine  Blockade  war  freilich  insofern  noch  weit  schwieriger  als  in  der 
Gegenwart,  als  die  Trieren  nicht  wie  Dampfschiffe  Tag  und  Nacht  auf  der 
Lauer  liegen  konnten.  Daher  gelang  es  leicht,  der  Aufmerksamkeit  der 
Blockadeschijffe  zu  entgehen*).  Andrerseits  war  eine  Blockade  dadurch 
erleichtert,  dass  sich  die  Schiffe  auf  ihrer  Fahrt  möglichst  in  der  Nähe 
der  Küste  hielten  und  weitere  Seefahrten  gewöhnlich  nur  in  der  guten 
Jahreszeit  unternommen  wurden.  Da  ein  ununterbrochenes  Kreuzen  vor 
den  zu  blockierenden  Küsten  nicht  ausführbar  war,  so  musste  man  zur 
dauernden  Überwachung  des  Seeverkehrs  und  zugleich  zur  beständigen 
Beunruhigung  des  Küstengebietes  günstig  gelegene  Küstenplätze  oder 
Inseln  besetzen.  Das  haben  denn  auch  die  Athener  mit  gutem  Erfolge 
gethan,  allein  erst  allmählich.  Zu  Lebzeiten  des  Perikles  ist  in  dieser 
Hinsicht  wenig  geschehen.  Im  ersten  Kriegsjahre  wurde  die  Bürgerschaft 
von  Aigina  vertrieben  und  die  Insel  nicht  lange  darauf  von  attischen 
Kolonisten  besetzt.  Dann  versahen  sie  das  Eiland  Atalante  an  der  lo- 
krischen  Küste  mit  einer  Besatzung,  „damit  nicht  von  Opus  und  der  übrigen 
Lokris  ausfahrende  Seeräuber  Euboia  schädigen  möchten"  (IE  32).  Auch 
auf  Salamis  wurde  gegenüber  Megara  das  Kastell  Budoron  und  eine  kleine 
Flottenstation  errichtet,  um  den  megarischen  Seeverkehr  abzuschneiden 
(II  13).  Zugleich  war  im  Frühsommer  eine  Flotte  von  100  Trieren  mit 
1000  Hopliten  und  400  Bogenschützen  an  Bord  nach  den  peloponnesischen 
Gewässern  in  See  gegangen,  wo  sich  mit  ihnen  noch  50  korkyraeische 
Trieren  vereinigten.  Bei  der  Umfahrt  um  die  Peloponnesos  wurden  Küsten- 
striche, namentlich  von  Elis,  verwüstet,  ein  Angriff  auf  Methone  schlug 
fehl,  der  eleische  Hafen  Pheia  wurde  genommen,  aber  wieder  geräumt. 
Der  Hauptgewinn  dieses  Seezuges  war  die  Insel  Kephallene.  Im  zweiten 
Kriegsjahre  wurde  eine  ebenso  starke  Flotte  nach  der  Peloponnesos  ab- 
gesandt; sie  führte  jedoch  nicht  weniger  als  4000  Hopliten  und  ausser- 
dem 300  Reiter  an  Bord.  Zunächst  verwüstete  man  weithin  das  Ge- 
biet von  Epidauros,  jedoch  ein  mit  Aussichten  unternommener  Angriff  auf 
die  Stadt  selbst  hatte  schliesslich  keinen  Erfolg.  Dann  verheerten  die 
Athener  die  Gebiete  von  Troizen,  Halieis  und  Hermione  und  die  Ostküste 


1)  Vgl.  Thuk.  VII  1;  2;  7;  25;  Xen.  Hell.  I  6,  19. 


542  Geobq  Büsolt,  Beiträge  zur  attischen  Geschichte. 

Lakoniens,  wobei  sie  das  Küstenstädtchen  Prasiai  nahmen  und  zerstörten. 
Damit  endigte  die  Flotten-Expedition;  sie  hatte  nur  etwa  6  Wochen  ge- 
dauert. Zu  Beginn  des  Winters  schickten  dann  die  Athener  20  Trieren 
unter  Phormion  nach  Naupaktos,  um  dort  ständig  Wache  zu  halten,  „da- 
mit niemand  aus  Korinthos  und  dem  krisaeischen  Golfe  ausfahre  oder 
dahin  einfahre"  (II  69).  In  der  Erzählung  des  nächsten  Kriegsjahres  be- 
richtet Thukydides  nichts  von  einer  grösseren  Expedition  nach  den  pelo- 
ponnesischen  Küsten. 

Gegen  den  Vorwurf,  dass  Perikles  in  den  ersten  beiden  Kriegsjahren 
eine  dauernde  Besetzung  peloponnesischer  Küstenplätze  unterliess,  macht 
Delbrück  geltend,  dass  im  Hinblicke  auf  die  lange  Dauer  des  Krieges 
die  Kräfte  Athens  hätten  gespart  werden  müssen.  Allein  ein  energisches 
Einsetzen  der  Kräfte  im  Kahmen  des  Kriegsplanes  konnte  unzweifelhaft 
die  Dauer  des  Krieges  verkürzen  und  rascher  zur  Ermattung  des  Gegners 
führen.  Es  ist  nicht  abzusehen,  warum  die  grosse  Elotte,  die  im  Jahre 
430  an  den  peloponnesischen  Küsten  operierte  und  4000  Hopliten  an  Bord 
hatte,  keinen  Versuch  machte,  Kythera  in  Besitz  zu  nehmen.  Als  das 
im  Jahre  424  geschah,  erwies  sich  die  Operation  als  höchst  wirksam. 
Auch  Pylos  ist  erst  im  Jahre  425  besetzt  worden.  Thukydides  sagt 
darüber  IV  41 :  „Nach  Pylos  aber  legten  sie  eine  Besatzung,  und  die 
Messenier  aus  Naupaktos  schickten  dahin  die  tüchtigsten  Leute  aus  ihrer 
Mitte,  welche  Kaubzüge  im  lakonischen  Gebiet  unternahmen  und  sehr 
vielen  Schaden  anrichteten.  Die  Lakedaimonier  aber,  die  in  früherer  Zeit 
solche  Raubzüge  und  ^inen  derartigen  Krieg  nicht  erfahren  hatten,  nahmen 
die  Sache  keineswegs  leicht,  zumal  ihnen  auch  die  Heloten  überliefen 
und  sie  fürchteten,  dass  ein  ausgedehnterer  Aufstand  ausbrechen  könnte." 
Die  Verwüstung  des  Landes  von  Pylos  und  Kythera  aus,  das  Überlaufen 
der  Heloten  und  die  Besorgnis  vor  einem  Heloten- Aufstande  führt  dann 
Thuk.  IV  15  unter  den  Gründen  an,  welche  die  Lakedaimonier  zum  Frieden 
geneigt  machten.  Warum,  muss  man  fragen,  setzten  sich  die  Athener 
nicht  schon  im  ersten  oder  zweiten  Kriegsjahre  an  einem  geeigneten 
Küstenpunkte  Messeniens  fest?  Der  Misserfolg  bei  Methone  durfte  doch 
von  weitern  Versuchen  nicht  abschrecken.  Soweit  wir  es  zu  beurteilen 
vermögen,  war  der  Kriegsplan  des  Perikles  grundsätzlich  richtig,  aber  es 
mangelte  bei  seiner  Durchführung  an  thatkräftigem  Vorgehen  und  Unter- 
nehmungsgeist. 


XXVI. 
Zu  Caesars  bellum  ciyile. 

Yon 

C.  F.  W.  Müller  (Breslau). 

Zu  den  Worten  Caes.  b.  civ.  I  53.  3  Quibus  lüteris  nuntiisque  Romam 
perlatis  magni  domum  concursus  ad  Afranium  magnaeque  gratulaiiones 
fiebant  bemerken  die  Herausgeber,  dass  die  Ausdrucksweise  domum  ad 
üliquem  aucb  sonst  vorkomme,  auch  bei  Cäsar  selbst  civ.  11  20.  5,  ja  sie 
wissen  sogar  anzugeben,  warum  Cäsar  nicht  {in)  domum  Afranii  wie 
n  18.  2  ex.  in  domum  Gallonii  oder  bloss  ad  Afranium  gesagt  hat.  Ich 
vermisse  daran  das  Wesentlichste,  erstlich  die  Bemerkung,  dass  domum 
ad  aliquem  so  gewöhnlich  ist,  dass  es  keiner  besonderen  Erklärung  bedarf, 
warum  an  einer  bestimmten  Stelle  so  gesagt  ist.  Ad  me  domum  steht 
Ter.  Eun.  205  (Euhnk.  I  2.  125),  Hec.  822,  Cic.  Cluent.  17.  29,  ad  te  Plaut. 
Amph.  759,  Mil.  790,  Truc.  206,  Fronte  ep.  M.  Caes.  V  10  p.  80  Nab., 
ad  se  Cic.  Att.  XII 11,  Cluent.  25.  69,  Phil.  V  8.  22,  Nep.  XX  1.  5  (s.  Bremi), 
Dict.  I  6  ex.,  ad  eum  Cic.  Verr.  I  48.  126,  Dei.  11.  31,  ad  illum  Cic.  Verr. 
act.  I  9.  25,  ad  istum  Verr.  III  23.  56,  ad  Caelium  Cael.  25.  61.  Ebenso 
in  aedis  me  ad  te  adduxisti  Plaut.  Kud.  497,  wo  der  fehlende  Schluss- 
jambus vielleicht  aus  Mil.  121  zu  ergänzen  ist:  in  aedis  me  ad  se  deduxit 
domum.  Vgl.  Caes.  civ.  1  2\,  \  ad  se  in  castra  traducere,  Varr.  sat. 
Man.  p.  159.  10  Riese,  261  Buech.  ad  quem  veniunt  in  hospitium^  Liv. 
VIII  7.  12  inde  ad  praetorium  ad  patrom  tendit.  Dem  entsprechend  auf 
die  Frage  wo?  domi  apud  aliquam  Plaut.  Mil.  593,  Cic.  Verr.  V  29.  73  ex., 
Sest.  18.  41,  apud  Heium  in  aedibus  Verr.  IV  2.  4  (s.  Eberhard);  ab  aliquo 
domo  Plaut.  Merc.  357,  Cist.  658,  ab  Heio  e  sacratno  Cic.  Verr.  IV  3.  7. 

Wie  üblich  diese  Ausdrucksweise  gewesen  sein  muss,  sieht  man 
weniger  aus  den  doch  immer  nur  vereinzelten  Beispielen  in  der  uns  er- 
haltenen Litteratur  als  daraus,  und  dies  ist  der  wichtigste  Punkt,  der 
an  der  Stelle,  von  der  wir  ausgingen,  hervorzuheben  war,  dass  sie  formel- 
haft selbst  da  angewendet  wurde,  wo  sie  buchstäblich  genommen  sinnlos 


644  C.  F.  W.  MüLLBE 

ist.  Es  verlohnt  sich  auf  die  Sache  näher  einzugehen,  weil  diese  Be- 
merkung rucksichtlich  unserer  Stelle  kürzlich  gemacht,  aber  dazu  benutzt 
ist,  letztere  zu  ändern,  nämlich  in  magni  concursus  ad  domum  Afranii 
ßebant,  statt  den  Sprachgebrauch  zu  erläutern.  Wie  können,  sagt  man 
(H.  J.  Müller  Zeitschr.  f.  d.  G.-W.  1894  p.  732),  in  Rom  concursus  ad  Afra- 
nium  fierii  da  ja  Afranius  in  Spanien  sich  befindet?  Ist  dieser  Einwand 
beweiskräftig,  so  müssen  auch  Stellen  geändert  werden  wie  Plaut.  Merc. 
558  huc  ad  me  intervisam  domum,  Mil.  121  Hie  postquam  in  aedis  me  ad 
se  deduxit  domum,  525  Transcurrite  ad  vos  rursum  curriculo  domum, 
535  Abi  intro  ad  vos  domum,  Ter.  Eun.  576  me  laela  ad  se  abducit 
domum,  Cic.  fam.  III  8.  10  neque  domum  umquam  ad  me  litter as  mittam, 
Att.  IV  14.  1  Velim  domum  ad  te  scribas,  XVI  10  veni  ad  me  in  Sinnes- 
Sanum,  rep.  III  28.  40  ex.  venerat  ad  se  in  Sabinos,  „auf  sein  Sabinum"; 
denn  vernünftiger  Weise  kann  niemand  an  sich  schreiben  oder  zu  sich 
kommen.  Trotzdem  wird  schwerlich  jemand  den  Mut  haben,  diese  Stellen 
zu  korrigieren,  man  wird  sich  vielmehr  entschliessen  anzuerkennen,  dass 
hier  eine  Gewohnheitsnachlässigkeit  vorliegt  (vielleicht  damit  zusammen- 
hängend, dass  man  sonst  auch  menschliche  und  göttliche  Personennamen 
statt  ihrer  Wohnungen,  Tempel,  Bildsäulen  gebrauchte),  und  wird  sich  darüber 
um  so  weniger  wundern,  je  klarer  man  überblickt,  in  wie  ungeheuerem  Um- 
fange im  Lateinischen  die  Vorliebe  für  örtliche  und  zeitliche  Beiordnung 
statt  Unterordnung  sich  geltend  gemacht  hat.  Allerdings  ist  dies  nur  ein 
einzelner  Punkt  des  ganzen  grossen  Kapitels  von  der  Koordination  statt 
Subordination,  zu  welchem  u.  a.  die  o^iq^aTa  y.ad^  olov  ymI  y^ata  (xegog ') 
und  €v  ÖLcc  övolv  gehören,  er  verträgt  aber  eine  gesonderte  Behandlung, 
und  diese  scheint  um  so  weniger  überflüssig,  weil  nicht  nur  an  der  einen 
Stelle  des  Cäsar  Unkenntnis  dieses  Sprachgebrauches  selbst  solchen  Kennern 
der  lateinischen  Sprache  wie  J.  Fr.  Gronov  zu  Textverderbnissen  und  Miss- 
verständnissen Anlass  gegeben  hat.  Vergl.  Norden  Rhein.  Mus.  1893  p.  547ff. 
Es  wird  bekanntlich  im  Lateinischen  im  Allgemeinen,  wenn  auch 
mit  vielen  Ausnahmen,  vermieden,  Präpositionen  mit  ihrem  Kasus  attributiv 
zu  Substantiven  oder  von  ihnen  abhängig  zu  setzen.  Demgemäss  sagt 
man  in  der  Regel  so  wenig  wie  für  „die  Taube  auf  dem  Dache'*  columba 
in  tecto  für  „Karthago  in  Afrika"  Carthago  in  Africa,    Steht  der  Städte- 

1)  In  meinen  'Nachträgen  zur  Plautinischen  Prosodie'  p.  38  m.  habe  ich  einige 
Beispiele  mit  mihi  animo  u.  ähnl.  gegeben.  Vergl.  auch  Cic.  Verr.  V  63.  163  Stattä 
egomet  mihi  tum  modum  oraüo7ii  meae  (adn.  crit.  p.  489.  30),  carm.  de  fig.  185 
mihi  non  placet  hoc  animo,  Val.  M.  III  2.  7  Gallo  scipioncm  capiti  inflixit,  Hyg.  fab. 
95  ex.  Telemachum  cunis  suhlatum  aratro  ei  subiecit,  wo  Schmidt  mit  Anderen  eins 
schreibt,  Cass.  Fei.  p.  6.  3  sedenti  naribus  infundes,  62,  2  nescienli  narihus  inice, 
72.  17  ori  patenti  et  ?ia?ibiis  penicillos  congruit  laborantibiis  applicare. 


Zu  Caesars  bellum  civile.  545 

oder  sonstige  Ortsname  auf  die  Frage  wohin?  oder  woher?,  so  pflegt  das 
Land  in  gleicher  Weise  mit  in  und  dem  Accusativ  oder  ex-  gesetzt  zu  werden.^) 
Cic.  Att.  V  15.  3  iter  Laodicea  faciebam  in  castra  in  Lypaoniam,  wo  Hoff- 
mann ep.  sei.  II  9  in  der  ersten  Aufl.  S.  117  falsch  schrieb  in  Lycaonia, 
Caes.  b.  G.  I  54.  2  in  hiberna  in  Sequanos,  YH  34.  2  in  Arvemos  ad  oppi- 
dum  Gergoviam,  b.  Air.  98.  1  Caralis  in  Sardtniam,  Nep.  VII  4.  4  Thurios 
in  Italiam,  Liv.  X  1.  1  Albam  in  Aequos,  XXI  6.  4  Carthaginem  in  Africam, 
XXX  45.  1  in  Siciliam  Lilybaeum,  XXXII  4.  7  in  Macedoniam  in  hiberna, 
XLn  18.  3  Apollomam  in  Epirum,  Vell.  I  15.  3  Auximum  in  Picenum, 
Sen.  suas.  6.  1 1  ex.  illum  in  Asiam  et  in  Macedoniam  hortatus  est  in  Cassi 
et  in  Bruti  castra,  scr.  hist.  Aug.  III  7.  1 1  ad  agros  ad  Campaniam  (ad 
==  in),  wenn  hier  richtig  et  vor  ad  Camp,  getilgt  ist,  was  ich  allerdings 
glaube,  Vin  3.  3  in  Liguriam  in  villam  patemam,  schol.  Germ.  p.  393.  22 
Eyssenh.  in  terram  Arcadiam  in  regionem  Nemeae,  405.  10  in  terram 
Atticam  Ekamnunta.  So  schreiben  denn  auch  die  meisten  Herausgeber 
Liv.  XXni  48.  3  a  Cumis  Luceriam  in  Apuliam  legiones  cum  duxisset 
ohne  Zweifel  richtig,  obwohl  der  Put.  Apidia  hat.  —  Plauens  in  Cic.  fam.  X 
23  ex.  bei  Datierung  VIII  Id.  lun.  Cularone  exßnibus  Allobrogum,  Cassius 
ib.  XII  13  ex.  Data  Id.  lun.  Cypro  a  Crommyu  acride  (var.).  Das  Komma, 
das  die  alten  und  die  neuen  Ausgaben  zwischen  die  beiden  Ortsbestim- 
mungen setzen,  ist  hier  ebensowenig  an  seiner  Stelle,  wie  es  bei  Cartha- 
ginem in  Afjncam  oder  bei  domum  ad  me  sein  würde.  Liv.  XLII  51.  7 
ab  Heraclea  ex  Sintis,  XLII  56.  6  duae  ab  Heraclea  ex  Ponto  triremes, 
lust.  XLII  3.  4  Herculem  ex  Italia  ab  Albano  monte  secuti  dicuntur,  lul, 
Par.  I  1  ext.  2  e  templo  lunonis  ex  insula  Melita ,  scr.  hist.  Aug.  IV  l .  4 
ex  Succiibitano  municipio  ex  Hispania^  „abstammend  aus  — ",  ebenso  mit 
dem  üblichen  domo  CIL  IH  3680.  3  domo  Africa  Sufetla,  vielleicht  auch 
2019.  2  dom(o)  Augusta  Troade^),  VII  341.  6  d(omo)  Mursa  ex  Pannonia, 
317.  7  ex  prov.  Narbon.  domo  Nemauso,  373.  7  domu  Sicca  ex  Africa, 
704.  \0  ex  Italia  domo  Brixia,  IX  4684.  4  domo  Voltinia  PhiUppis  Ma- 
cedonia,   IH  p.  893.  18   colonia  Maluese  ex  Dada,  VI  1636.  6  oriundo*) 


2)  Val.  M.  I  5.  5  in  domum  Fanniae  Minturnis  deductus  est  h&tte  nur  dann 
Minturnas  heissen  können,  wenn  er  nicht  in  Minturnae  gewesen  wÄre.  Ebenso  VIII 
2.  3  g.  E.  in  domum  suam  Minturnis  deductum.  Plin.  X  79  Romae  in  aedem  Heiculis 
in  foro  boario  nee  muscae  nee  canes  inirant,  Suet.  Aug.  94  p.  80. 9  Roth  repositus 
in  cunas  loco  piano.  Aber  Nep.  XXIII  8.  1  Africam  accessit  in  finibus  Cyrenaeorum 
sollte  wohl  die  Koordination  zweier  blossen  Accusative  vermieden  werden. 

3)  Im  Index  p.  1178  wird  angenommen,  dass  die  Stadt,  die  n.  391  Augusta 
Troadensis  heisst,  hier  den  Namen  Augusta  Troas  hat. 

4)  D.  h.  ön^md  =  natione,  domo.  Die  Lexica  kennen  diese  Ausdrucksweise 
nicht.     Sie   findet   sich  auch  Script  hist..  Aug.  XII  4.  1,  XXIX  7.  1,  Firm.  Mat. 

35 


548  C.  F.  W.  MüLLEB 

ea?  Ital(iu)  lul  Dertona.  Vergl.  Cael.  Aur.  ac.  11  1  p.  83  in.  Haller  Alexan- 
der Laodicensis  ex  Asia  statt  Laodicea  ex  Asia.  Ähnlich  ist  der  Fall, 
dass  eine  Stadt  durch  Zusatz  eines  Fluss-  oder  Bergnamens,  an  dem  sie 
liegt,  kenntlich  gemacht  wird.  Dass  auch  die  Eömer  z.  B.  sagen  Ma- 
gnesia ad  Sipylum,  ist  bekannt  (Li?.  XXXVII  56.  3,  aber  XXXVI  43.  9, 
XXXVn  37.  9  quae  ad  Sipylum  est).  Wenn  aber  die  Handschriften  XXXVII 
44.  4  haben  legati  ab  Thyatira  et  Magnesia  ab  Sipylo  venerunt,  so 
ist  es  eine  Verkennung  des  Sprachgebrauchs,  dies  in  ad  Sipylum  zu  ändern 
(s.  Madv.  emend.*  431  n.). 

Zur  Bezeichnung  der  Ruhe  sagt  man  natürlich  wie  im  Deutschen 
z.  B.  Syracusis  in  Sicilia  Plaut.  Men.  409,  Antiochiae  in  Syria  Caes.  civ. 
m  105.  3,  Argis  in  terra  Graecia  Gell.  HI  9.  2,  in  agro  Uritano  in  Gallia 
Front,  grom.  p.  29.  IP).  Aber  wer  daran  zweifeln  sollte,  dass  dies  anders 
gemeint  ist  als  im  Deutschen,  und  wen  auch  der  Umstand  nicht  über- 
zeugen sollte,  dass  häufiger  noch  das  Land  voransteht,  wie  Plaut.  Men. 
1096,  CIL  XI  915.  6  in  Sicilia  Syracusis,  Varr.  r.  r.  H  4.  11  in  Hispania 
ulteriore  in  Lusitania,  I  44.  1  ex.  in  Etruria  locis  aliquot,  ib.  2  in  Italia 
in  Subaintano,  Caes.  VI  11.  2  in  Gallia  in  omnibus  civitatibus,  ÜI  ex.  in 
Aulercis  in  hibernis,  VI  13.  10  in  finibus  Camutum  in  loco  consecrato, 
YI  44.  3  in  Senonum  finibus  Agedi?ici,  noch  mit  dem  Zusätze  in  hibernis, 
Sen.  nat.  q.  HI  20.  4  in  Italia  quibusdam  in  locis,  Gell.  H  20.  5  ex.  in  Italia 
locis  plerisque,  Plin.  XXXT  73  in  Sicilia  in  lacu,  Suet.  vit.  Tr.  p.  294.  10 
Roth  in  Arcadia  Stymphali  unsicher,  300.  15  in  Sabinis  Amitemi,  CIL 
I  198.  31  p.  60  in  terra  Italia  in  oppedeis,  foreisy  lul.  Obs.  51  in  Vestinis 
in  villa  (Cic.  Verr.  IV  22.  48  apud  villam  (d.  h.  in  der  Villa)  in  Tynda- 
ritano),  scr.  bist.  Aug.  XVHI  59.  6  in  Gallia  in  vico,  cui  Sicilia  nomen 
est,  XXX  14.2  in  Gallia  in  quadam  caupona,  XIX  4.  4  in  Thracia  in 
vico,  ubi  genitus  fuerat,  Front,  grom.  p.  21.  3  in  Sabinis  in  monte  Mutela, 
48.  16  in  Campania  in  Suessano,  123.  9  in  Germania  in  Tungi'is,  Hyg.  fab. 
274  in  Panchaia  in  monte  Taso,  Lact.  I  11.  46  und  epit.  13.  4  aus  Ennius 
in  Greta  in  oppido  Gnosso,  wo  die  Ausgaben  des  Ennius  thörichterweise 
in  Greta  et  in  opp,  Gn.  haben  —  wer,  sage  ich,  auch  dieser  Thatsache 
gegenüber  dabei  beharren  sollte,  dass  der  Ländername  attributiv  zu  dem 
Städtenamen  oder  der  sonstigen  spezielleren  Ortsbezeichnung  hinzugesetzt 
sei,  den  müssten  doch  die  sonstigen  vielen  Analogien  davon  überzeugen, 
dass   auch  hier  die  weitere   und  engere  Ortsbestimmung  parallel  in  die 


math.  II.  4  p.  1.  19  unde  oriundo  sunt,   Ennod.  opusc.  III  7  f.  332.  18  Hartel,  dict. 
XXIV  5  p.  499.  5  splendor  oriundi\  Paneg.  VI  4.  3  oriendo. 

5)  Auch  in  Adriatico  mari  in  Histna  Hyg.  fab.  23  gehört  hierher,  'in  dem 
Teile  des  Adriatischen  Meeres,  der  Istrien  bespült'. 


Zu  Caesars  belliim  civile.  547 

Satzkonstruktion  gefügt  sind.  Denn  wie  Länder-  oder  Volksnamen  und 
Städte  oder  sonstige  Landesteile  oder  Zubehöre  koordiniert  werden,  ebenso 
alle  möglichen  Ortsbezeichnungen  mit  ihren  Teilen.  Zunächst  Städte- 
namen. Soviel  ich  weiss,  findet  sich  nirgends  inforo  Romano,  sondern 
Romas  in  foro  wie  Varr.  sat.  p.  207.  1  Riese,  456  Buech.,  Halm  Cic.  Verr. 

IV  29.  67  in  foro  Syracusis,  V  54.  140  in  foro  Lilybaei,  Mur.  39.  84  in 
urbe  inforo,  nicht  in  urbe ,  inforo,  wie  alle,  auch  die  neuesten  Aus- 
gaben ausser  der  Teubnerschen  haben  und  damit  zeigen,  dass  sie  den 
Ausdruck  nicht  richtig  verstehen,  Verr.  II  70.  171  in  portu  Syracusis, 
Vitr.  VII  p.  12  Piraei  in  portu,  Plin.  II  230  ex.  Brundisi  in  portu^)  Cic. 
Att.  VI  9.  5  ex.  in  arce  Atkenis,  Vitr.  IV  8.  4  Athenis  in  arce,  Liv.  XLIII 
13.  4  Cumis  in  arce,  Varr.  1.  Lat.  VII  17  g.  E.  Delphis  in  aede,  Cic.  Verr. 

V  31.  80  g.  E.  in  Insula  Syracusis,  Caes.  civ.  III  105.  2  Elide  in  templo, 
ib.  5  Trallibus  in  templo,  Cic.  Verr.  II  21.  50  in  curia  Syracusis,  V  62. 
160  g.  E.  Syracusis  in  lautumiis,  CIL  XIV  2795.  5  Gabis  in  municipio  in 
curia  Aelia  Augusta,  Cic.  fin.  V  2.  4  in  omni  parte  Athenarum  in  ipsis 
locis,  Caes.  VI  44.  3  in  Senonum  ßnibus  Agedinci  in  hibemis  mit  3  Orts- 
bestimmungen, Cic.  Verr.  II  35.  86  Thermis  (im  Gebiet  von  Th.)  in  isdem 
agri  finibus.  Just.  XI  7.  4  in  ea  urbe  in  templo  lovis,  XI  10.  11  Tyro 
V  eiere  in  antiquiore  templo. 

Wohin?  Fabri  citiert  zu  Liv.  XXI  49.  3  Messanam  in  portum  Stellen 
mit  Teanum  in  hiberna,  Ardedm  in  castra,  in  Hispaniam  ad  exercitum, 
in  aedem  Bellonae  in  senatum,  S.  noch  Caes.  civ.  U.  25.  5  in  castra  ad 
oppidum,  m  11.  2  in  hiberna  Apolloniam,  III  31.  4  in  urbes  in  hiberna, 
Liv.  XXI  5.  4  ex.  und  15.  3  Carthaginem  novam  in  hiberna,  XXIII  18.  9  ex. 
in  hiberna  Capuam,  XXXVII  45.  19  Magnesium,  XXI  22.  5  Carthaginem 
ad  hiberna,  Tac.  Hist.  III  1  Poetovionem  in  hiberna.  Und  so  wird  denn 
wohl  auch  IV  25  zu  schreiben  sein  Bonnam  in  hiberna,  sowie  I  64.  17 
Luguduni  solitis  sibi  hibemis  ohne  das  Komma,  das  die  Ausgaben  haben. 
Liv.  XXIV  36.  3  in  magnum  portum  Syracusas,  Vitr.  X  2.  1 1  wurde  früher 
gelesen  scapos  cum  deportare  vellet  Ephesum  ad  Dianae  fanum ;  die  Hand- 
schriften haben  Ephesi,  was  kaum  richtig  sein  kann,  b.  Afr.  34.  5  in 
portum  ad  Ruspinam,  CIL.  1 199.  25, 27,  35  p.  72  in  poplicum  Genuam  dare. 

Woher?  Cic.  Verr.  IV  59.  131  ex.  vim  maximam  vasorum  ex  Omni- 
bus aedibus  sacris  abstulit  Syracusis,  Vatinius  fam.  V  9  ex.  ear  castris 
Narona,  Lepidus  X  34  ex.  ex  castris  ex  Ponte  Argenteo,  Brutus  XI  10  ex. 
ex  castris  Dertoiia,  ebenfalls  wie  oben  ohne  Komma  zu  schreiben,  Halm 
Cic.  Verr.  IV  43.  93  Agrigento  —  ex  fanOy  V  51.  133  Pachyno  e  terrestri 


6)  ^v  Qdao)  iv  zäi  hfzivi  Dem.  50.  38. 

35» 


548  C.  F.  W.  MüLLEE 

praesidiOi  TI  74.  182  ex.  ex  portu  Syracusisy  Caes.  civ.  III  105.  1  Epheso 
ex  fano  Dianae  (aber  III  33.  1  Ephesi  a  fano  Dianae  deposUas  pecunias 
Scipio  tollt  iiibebatj  weil  vom  Aufenthalte  des  Scipio  in  Ephesus  die 
Rede  ist.  Ebenso  Val.  M.  VIII  7  ext.  3  p.  m.  ut  ab  Archyta  Tarenti,  a 
Timaeo  Locris  Pythagorae  praecepta  acciperet)^  Vell.  II  30.  5  e  ludo 
(jladiatorio  Capua,  Gell.  VII  10.  4  c  domo  sua  Merjaris. 

Bei  anderen  örtlichkeiten  wie  Bergen,  Flüssen  u.  s.  w.  Pac.  trag. 
252  p.  108  Aetnam  montem  advenio  in  scruposam  specum,  Caes.  civ.  II  26. 1 
se  in  castra  ad  Bagradam  recepit,  II  38.  3  equitatum  ad  castra  hostium 
mittit  ad  flumen  Bagradam,  Hyg.  fab.  165  in  Idam  siluam  ad  fontem, 
CIL.  I  199.  12  p.  72  in  fontem  in  Macelum  {montem),  Inl.  Par.  11  1.  6 
in  sacellum  in  Palatium  (Val.  Max.  quod  est  in  Palatio),  —  Cass.  Hern.  frgm. 
bei  Non.  346.  24  in  area  in  Capitotio,  von  L.  Müller  verdorben  in  Capitoli, 
Varr.  1.  L.  VI  27  ex.  in  Capitolio  in  curia  Calabra,  Plin.  VIII  225  in  Mesia 
Silva  non  nisi  in  parte,  IX  167  in  ea  (villa)  in  Caesaris  piscinis^  XXXV 
108  Ä2  Capitolio  in  Minervae  delubro,  Vell.  II  14.  3  in  Palatio  in  eo  loco.  — 
Caes.  civ.  III  30.  2  Ex  castris  stativis  a  flumine  Apso. 

Wenn  bei  Personen  zu  'bei,  zu,  von'  der  Aufenthaltsort,  deutsch 
mit  'in,  bei',  hinzugefügt  wird,  so  drückt  sich  der  Lateiner  oft  in  derselben 
parataktischen  Weise  aus.  Plaut. Truc.  497  ad  amicam  Athenas  Alticas  viso 
nach  Nonius,  Mil.  116  Naupactum  ad  erum  nuntiem,  (Cic.)  fam.  VIII  4.  4 
Ariminum  ad  exercitum,  Caes.  G.  I  31.  9  Romam  ad  senatum,  Eutr.  III 
21.  1  ad  senatum  Romam,  Etwas  anderer  Art  in  senatum  venire  in 
Capitolium  Cic.  dom.  3.  5  ex. ,  in  aedem  Bellonae  in  senatum  introducti 
Liv.  XLII  36.  2,  wo  merkwürdiger  Weise  J.  Fr.  Gronov  in  aede  schreiben 
wollte;  ib.  8  Brundisium  ad  classem  et  ad  exercitum^  XXIII  19.  8  ad 
magistratum  Casilinum  (s.  Fabri),  Caes.  civ.  II  20.  8  Cordubam  ad  Cae- 
Sorem,  Gron.  Liv.  IX  5.  9  in  patriam  ad  parentes.  Wie  m  senatum 
so  in  contionem  neben  Zmyrnam  Tac.  ann.  IV  56.  10;  arf  (gegen)  aliam 
manum  Tuscorum  ad  salinas  profecti  Liv.  V  45.  8.  Wenn  die  Person 
bei  einer  anderen  Person  sich  befindet:  abi  huc  ad  meam  sororem  ad 
Calliclem  Plaut.  Trin.  579,  ad  fratrem  (jady  captivos  Capt.  458,  wo  hoffent- 
lich niemand  Scholl  folgen  wird.  Auch  dreierlei  Bestimmungen  neben- 
einander Liv.  XXIII  24.  5  Teanum  in  hiberna  ad  exercitum,  Gell.  XX 
10.  9  ex.  in  ius  in  urbem  ad  praetor em,  wo  in  ius  den  Zweck  bezeichnet. 
Ähnlich  Plaut.  Bacch.  1008  ad  te  in  conspectum,  Trin.  673  i?i  hospitium 
devorti  ad  Cupidinetn  nach  Eitschls  früherer  und  Fleckeisens  Schreib- 
weise. Comm.  cons.  bei  Varr.  1.  L.  VI  88  voca  ad  conventionem  Quirites 
huc  ad  me  —  ite  ad  conventionem  huc  ad  iudices,  wo  auch  drei  Ortsbe- 
stimmungen  nebeneinander   stehen  wie   in   huc   ad  meam  sororem  ad 


Zu  Caesars  bellum  civile.  54-9 

öalliclem,  denn  Tiuc  ist  gleich  in  hunc  locum  und  keineswegs  überflüssig, 
wie  allerdings  solche  Ortsadverbien  öfters  gefasst  werden  können ,  z.  B. 
Enn.  Euhem.  8  p.  80  Müller  ibi  eo  in  monte,  Plaut.  Cure.  527  hie  infanoy 
Epid.  602  hinc  Athenis,  Cic.  leg.  agr.  II  34.  94  hinc  Roma^  Plaut.  Trin. 
67  huc  ad  te  u.  s.  w.  (Brix  Capt.  327),  hinc  ex  proximo  Fleckeisen  Philol. 
II  p.  88  n.  33.  Aber  z.  B.  Piso  bei  Gell.  VII  9.  5  eo  in  conclave  introivit 
steht  ohne  Zweifel  in  conclave  nicht  als  eine  erklärende  Apposition  zu 
eo,  sondern  es  ist  gemeint  ad  eum  in  conclave'^).  Ferner  besonders  häufig 
ad  cenam  ad  aliquem  wie  vocare  Plaut.  Capt.  175,  Mil.  712,  Lorenz  Most. 
1134,  ire  Sen.  dial.  IX  7.  %ferre  Plaut.  Stich.  433,  redire  Capt.  497  wieder 
mit  der  dritten  Ortsbezeichnung  huc  rediho  huc  ad  senem  ad  cenam 
asperam. 

Auf  die  Frage  wo?  stehen  3  Ortsangaben  nebeneinander  CIL.  XI 
1420.  1  Pisis  in  foro  in  Augusteo,  '^in  dem  auf  dem  Forum  von  Pisa 
gelegenen  Augusteum\  Yarr.  r.  r.  11  11.  10  in  publica  Ardeae  in  litteris, 
""in  den  Akten  des  Archivs  von  Ardea\ 

Am  allergewöhnlichsten  und  teilweise  zugleich  vom  deutschen  Sprach- 
gebrauche abweichendsten  werden  Ganze  und  Teile  aller  möglichen 
Gegenstände  neben  einander  gestellt,  wenn  angegeben  werden  soll,  an 
welchem  Teile  des  Ganzen  etwas  geschieht.  Plaut.  Stich.  413  in  cercuro 
in  stega  (s.  die  Anm.  7) ,  wo  die  Herausgeber  falsch  ein  Komma  setzen. 
Desgleichen  Varr.  r.  r.  III  5.  11  mit  drei  Ortsbestimmungen  in  limine  in 
lateribus  dextra  et  sinistra,  9.  2  rure  in  villisy  14.  4  in  his  regionibus 
quibusdam  locis,  12.  A  ex.  in  oceano  in  ea  parte,  Cic.  Q.  fr.  IH.  1.  2  quo 
loco  in  porticu,  divin.  I  34.  75  in  statua  in  capite  (11  32.  68  in  statuae 
capite),  Phil.  Y  15.  41  m.  (sen.  cons.)  aut  quo  alio  loco  in  foro  vellet, 
Plin.  XYI  91  in  ipso  pomo  mali  quodam  in  gener e,  XXXV  27  in  foro 
celeberrima  in  parte,  ib.  IIA  in  schola  in  Octaviae  porticibus,  XXXVI  13 
in  Palatina  aede  Apollinis  in  fastigio,  Quint.  VI  3.  72  in  sipario  Omni- 
bus locis,  Apul.  de.  Soor.  prol.  p.  3.  13  Goldb.  in  quadam  quercu  in  summo 
eins  cacumine,  scr.  bist.  Aug.  XI  6.  8  in  Commodianis  hortis  in  porticu, 
XX Vn  8.  1  in  bibliotheca  Ulpia  in  armario  sexto,  lul.  Obs.  17  in  pluri- 

7)  Auch  indidem  Thebis  Nep.  XY  5.  2  u.  ähnl.  (s.  Nipperdey  z.  St)  heiast  gewiss 
nicht 'ebendaher,  nämlich  aus  Theben',  sondern  =  ^o:  isdem  Thebis,  'ebenfalls  aus 
Theben*,  und  so  unde  domo,  'von  wo  zu  Hause',  Plaut.  Poen.  1376,  Sen.  dial.  XII 
6.  3,  hinc  domo  Solin.  p.  55.  13,  aliguo  ad  piscinam  aut  ad  lacum  Plaut.  Poen.  293, 
quo  ad  coUoquium  Cic.  Phil.  XII 11.  27,  in  consilium  huc  Plaut.  Trin.  709,  eodem  in 
dolium  Cato  r.  r.  105.2  zweimal.  Ebenso  fasse  ich  Liv.  XXI  17.  9  ex.  eodem  in 
Punicum  bellum  und  die  dort  von  Fabri  citierten  Stellen  und  nicht  schlechthin 
in  Pun.  bellum  als  'Exegese  zu  eode7ti\  Drei  Ortsbestimmungen  Plaut,  Merc.  357 
hinc  domo  ab  se,  Stich.  413  ibidem  in  cercuro  in  stega,  CIL.  I  1027.  1  p.  224  (Anthol. 
epigr.  1.  74)  hoc  {=  huc)  ad  grumum  ad  laevam  aspice. 


560  C.  F.  W.  Müller 

mis  victimis  in  iocinere,  Veg.  vet.  HI  22  in.  in  oculo  in  osse,  Cass.  Fei. 
p.  33.  21  in  inferiori  parte  in  ventre,  109.  13  in  bracchio  dextro  in  vena, 
128.  19  in  manu  dewtra  in  vena  media,  Marc.  Emp.  p.  176.  7  in  sinistra 
manu  in  medio  digito,  253.  1  in  balineo  in  solio,  CIL.  I  hll,%  13  p.  163 
=  X  1781  introitu  in  area,  198.  14  p.  58  und  206.  18  p.  120  in  tabula 
in  alba,  Ampel.  8.  12  introitu  dextra  ac  sinistra^  Hyg.  fab.  274  in  lectis 
tricliniaribus  in  fulcris,  astr.  III  9  ex.  in  quadrato  in  angutis.  Auch  per- 
noclant  venatores  in  nive  in  montibus  Cic  Tusc.  11  17.  40  ex.  rechne  ich 
hierher,  obwohl  der  Schnee  kein  Teil  der  Berge  ist.  Besonders  gangbar 
ist  diese  Ausdrucksweise  bei  Citaten  aus  Schriftstücken:  Cic.  Att.  YIII  1. 1 
in  ea  Pompei  epistula  in  extremo,  fam.  VII  16.  1  in  'Equo  Troiano  in 
extremo,  Varr.  1.  L.  VII  109  in  Ulis  (libris)  in  primo  volumine,  ApuL  de. 
Soor.  24  p.  26.  16  in  Philocieta  in  eins  tragoediae  principio.  Bei  den 
eigentlichen  Grammatikern  ist  diese  Citiermethode  nicht  sehr  üblich.  Sie 
sagen  gewöhnlich  Cicero  in  III  Thilippicarum  etc.,  wohl  auch  apud 
Naevium  in  Dementibus  (Diomed.  p.  344.  34),  apud  Vergilium  in  undeciwo 
libro  (349.  30),  apud  Terentium  in  prologo  Eunuchi  (350.  11)  u.  s.  w.,  hin 
und  wieder  auch  in  Coelii  historia  libro  I  Charis.  p.  143.  9,  in  commen- 
tariis  libro  X  202.  28,  in  epodo  hoc  versu  Prise.  I  p.  16.  9,  öfter  Mar. 
Plot.  libro  IV  ode  VII  wie  VI  p.  169.  17,  24,  170.  7, 14, 28,  171. 8, 34  etc. 
neben  libri  wie  p.  176.  15,  181. 12  etc.  Aber  Gellius  citiert  häufig  so  wie 
I  22.  16  in  tertio  Enni  annali  in  hoc  versu,  22  in  Plauti  Asinaria  in  his 
versibus,  III  14.  15,  IV  5.  6  in  annalibus  maximis  libro  undecimo,  ohne 
Komma  zu  schreiben,  6.  4,  17. 4  apud  Plautum  in  Epidico,  VI  7.  4,  apud 
Terentium  in  his  versibus^  ib.  II,  17.  10  und  13,  VII  6.  5,  IX  14.  5,  XIII 
23.  18,  XV  6  cap.  in  libro  Ciceronis  'de  gloria  secundo  erratum  in  ea 
parte  — ,  20.  7,  XVII  6.  7,  9.  2  in  his  epistulis  quibusdam  in  locis,  XVO 
2.  16,  XX  6.  9  u.  12.  Dies  hat  der  neueste  Herausgeber  des  Nonius  nicht 
gewusst,  wenn  er  z.  B.  p.  52.  6  Macer  annalibus  Hb.  II,  122.  13  Claudius 
annalibus  Hb.  XVI,  129.21  Caelius  annalibus  Hb.  I,  282.27  M.  Tullius 
in  Philippicis  Hb,  XII,  287.  14,  290.  8  M.  Tullius  in  Philippicis  üb.  II 
in  a?malium  und  Philippicarum  geändert  hat.  Nonius  hat  auch  u.  a.  59. 1 1 
apud  Terentium  in  Adelphis,  ib.  14  apud  eundem  Terentium  in  prologo 
Andriae. 

*Im  Vokativ  von  Valerius^  heisst  in  nomine  Valeri  in  casu  vocandi 
Gell.  XIII  26  cap.,  'beim  Vortrage  einer  Rede'  in  oratione  in  pronuntiando 
Varr.  1.  L.  IX  9,  worin  'alterutrum  abundat ,  nisi  malis :  in  oratione  pro^ 
nuntianda    nach  L.  Spengel. 

Wohin?  sehr  viel  seltener.  CIL.  I  206.  15  p.  120  in  tabulam  in 
album  wie  in  tabula  in  albo,  551.  6  p.  154  adfretum  ad  statuam,  1027.  1 


Zu  Caesars  bellum  civile.  551 

p.  224  hoc  ad  grumum  ad  laevam  aspice  (s.  Anm.  7),  Plin.  X  421  in  rostra 
in  forum  versus^  Veg.  vet.  Y  14.  5  in  anum  in  partem  dextram,  Drac. 
10.  362  ad  nemus  ad  pellem  vel  f  und')  templum  Martis  abire,  wo  gewiss 
ebensowenig  mit  Bährens  PLM.  Y  p.  205  in  nemus  wie  mit  Bücheler  ac 
pellem  zu  korrigieren  ist.  So  ist  ohne  Zweifel  Liv.  XXII  57.  6  längst  richtig 
korrigiert  in  foro  boario  sub  terram  demissi  sunt  in  locum  saxo  consaep- 
tum  statt  terra» 

Woher?  Yarr.  r.  r.  III  13.  1  ex.  ex  superiore  loco  e palaestra,  1.  L. 
X  57  ex  his  verbis  de  extrema  syllaba  e  litter  am  exclusam,  Yitr.  IX  9 
(8)  8  g.  E.  p.  239.  13  ex  qua  (catena)  pendet  ex  una  parte  pkellos,  altera 
sacoma,  Plin.  XYIII  86  e  grano  Campanae  (siliginis)  e  modio  redire  sex- 
tarios  IV  siliginis ,  XXYIII  86  ex  homine  resegmina  unguium  e  pedibus 
manibusque,  CIL  II  5439  III  1.  5  (p.  855  XCI)  nomen  de  decurionibus 
sacerdotibusque  de  tabulis  publicis  eximendum  curanto,  scr.  hist.  Aug.  Y 
8.  2  de  templo  Äpollinis  ex  arcula  aurea. 

Dabei  die  Präposition  nur  einmal  gesetzt  Brutus  in  Cic.  fam.  XI  11  ex. 
ex  castris  finibus  Statiellensium  ohne  Komma,  das  die  Ausgaben  haben, 
Yitr.  lY  6.  4  ex.  ex  latitudine  luminis  totius  XII parte ^  ib.  5  m.  de  inpage 
dimidia  et  sexta  parte,  wenn  ich  die  Stellen  richtig  verstehe ,  YIII  2.  1 
eligitur  (aqua)  ex  omnibus  fontibus  levissimis  subtilibusque  tenuitatibus, 
wofür  Nohl  Progr.  des  Berl.  Gr.  Klost.  1882  p.  16  schreiben  will  omnium 
fontium,  Plin.  XXXIII  118  necfere  aliunde  (invehitur)  quam  ex  Hlspania 
celeberrimo  Sisaponensi  regione  in  Baetica  miniario  metallo,  scr.  hist. 
Aug.  XXYIII  3.  1  oriundus  e  Pannonia  civiiate  Sirmiensi  ohne  Komma, 
Hyg.  fab.  li  ex  Thessalia  monte  Chalcodonio,  CIL  III  3490.  3  ex  regione 
Dolica  vico  Arfuaris,  11701.  3  civis  Surus  ex  regione  Zeugma  vico 
Hennia,  Y  7923.  1  ex  pago  Licirro  vico  Navelis,  YI  27198.  3  ex  Hl- 
spania citeriore  Aesonensi,  X  8261.  2  ex  civitate  Coropisso  vico  Asser idi. 

Sehr  viel  gewöhnlicher  ist  dies  bei  in  mit  dem  Ablativ,  namentlich 
beim  älteren  Plinius,  vereinzelt  aber  auch  bei  anderen:  Yarr. r. r.  II 1.  5  ex. 
in  Ilispania  citeriore  regionibus  aliquot ^  Yitr.  lY  8.  4  in  Attica  Sunio 
(vulg.  Sunii\  YII  1.2  m.  in  singulis  tignis  extremis  partibus,  YIII  3,  20 
in  Alpibus  nalione  Medullorum,  Quint.  IX  4,  77  in  Timaeo  prima  statim 
parte,  XU  5.  6  in  basilica  lulia  primo  tribunali,  Suet  Caes.  46  Habiiavit 
in  Subura  modicis  aedibus  —  in  Sacra  via  domo  publica,  Flor.  lY  2.  7 
in  ipsa  urbe  medto  senatu,  (Gell.  lY  5.  6  in  annalibus  maximis  libro  un- 
decimo,)  Frontin.  grom.  p.  51.  21  in,  Lusitania  finibus  Emeritensium,  Hyg. 
p.  179.  9  in  Umbria  finibus  Spellatium,  (Veg,  r.  mil.  YI  15  ex.  in  secunda 
acie  dextro  cornu,)  Ammian.  XXYII  4.  5  cuius  (theatri)  in  summitate  occi- 
dentali  montibus  praeruptis,  Anon.  Yales.  6.  35  ex.  in  suburbano  Constan- 


652  C.  F.  W.  MüLLEE 

tinopolitano  villa  publica,  Firm.  Mat.  math.  III  4.  19  ex.  p.  104.  14  Sittl 
in  carcere  vinculis  constitulus,  d.  h.  'befindlich',  Lact.  I  6.  12  in  ayro 
Troiano  vico  Marmcsso ,  Prise,  de  fig.  num.  2.  10  Gramm.  III  p.  408.  17 
«=  Metrol.  n  p.  83.  7  Hultsch  in  Verrinis  Ciceronis  aniiquissimis  codicibus 
(die  Herausgeber  setzen  ein  zweites  in  hinzu) ,  schol.  luv.  6.  529  in  Mar- 
tio  campo  templo  Isidis,  Fest.  p.  273*.  24  in  secunda  tabula  secunda  lege, 
worüber  irrt  Schoell  XII  tab.  p.  68,  CIL.  n  5042  =  5406.  1  in  agro,  qui 
Veneriensis  vocatur,  pago  Olbensi,  III  p.  855.  31  tabula,  quae  fixa  est 
Romae  in  Capitolio  in  hast  columnae  parte  posteriore,  V  898.  6  in  Dar- 
dan(ia)  vico  Zaiidis,  VI  17524.  5  in  introiiu  parte  sinisleriori,  25192.  7 
in  monumento  pariet{e)  sinisleriori,  ¥111270=  11451.  13  u.  18  in  provinda 
Africa  regione  Beguensi  territorio  Musulamiorum ,  X  867".  24  u.  b  23 
Romae  in  Capitolio  in  podio  arae  parte  exteriore,  Plin.  IE  183  m.  in 
eadem  gente  Ptolemaide  oppido,  184  ex.  in  eadem  India  Patalis,  cele- 
berrimo  portu,  199  ex.  in  agro  Marrucino  praediis  Vecti  Marcelli,  231 
Andro  in  insula  templo  Liberi  patris,  237  in  Cissia  gente  conßnio  Per- 
sidis,  X  78  m.  in  Ponto  insula,  qua  ~,  XIV  49  in  Campania  rure  Liter- 
nino,  ib.  ex.  in  eodem  Nomentano  decimi  lapidis  ab  urbe  deverliculo,  60 
in  sinu  Hadriatici  maris  saxoso  colle,  61  in  palustribus  populetis  sinu 
Amynclano,  XVI  HO  ex.,  111,  235,  X VIT  250,  XIX  9  in  Italia  regione 
Aliana,  Andere  Italiae,  63,  XXI  77,  XXIV  160,  XXV  63,  76  ex.  in  Thessa- 
lia  amne  Peneo,  XXXI  14  ex.,  Sillig  XXXH  7,  XXXIV  2,  10  var.,  164, 
165,  XXXV  19,  171  ex.,  174  ex.,  179,  XXXVI  17  ex.,  18  m.,  32,  76  m.,  83, 
84,  137,  168,  XXXVn  23  ex.,  61,  66,  156,  177  ex.  XXXVI  58  in  Thebis 
delubro  Serapis,  XXXVII  75  u.  161  in  Tyro  Herculis  templo  heisst  in 
dem  Tempel  bei  Theben,  resp.  Tyrus',  wenn  die  von  mir  'Krit.  Bemer- 
kungen zu  Plin.  nat.  hist.'  p.  23 f.  aufgestellte  Ansicht  richtig  ist,  dass 
bei  Plin.  in  bei  Städtenamen  die  Umgebung  bezeichnet.  In  vielen  der 
oben  citierten  Stellen  ebenso  wie  in  einigen  des  Gellius  setzen  die  Heraus- 
geber das  von  uns  mehrfach  verworfene  Komma. 

'In  der  Stadt  Rom'  heisst  bekanntlich  in  urbe  Roma,  und  so 
öfter  CIL.  I  198.  Wenn  aber  ib.  17  p.  59  steht  in  urbe  Romae  sowie 
Liv.  XXIV  10.  11  Romae  in  ipsa  urbe.  Gell.  IV  5  cap.  Romae  urbe  tota, 
so  ist  dies  gewiss  nicht  mit  dem  auch  in  das  Lateinische  eingedrungenen 
Gräcismus  (TQolrjg  jitoUe^Qov)  gesagt  wie  Plin.  XIX  41  oppidum  Cijre- 
narum,  XXV  86  vicus  Narvesiae,  Grom.  p.  308.  18  circa  urbem  Baby- 
lonis,  Aur.  Vict.  Caes.  33.  32  Mediolani  urbs  etc.  (Landgraf  Untersuch,  zu 
Caes.  p.  42,  b.  Afr.  87.  1,  91.2,  Haase  Vorles.  II  41),  sondern  nicht  anders, 
als  auch  wir  sagen  können:  'hier'  oder  'in  Rom  in  der  ganzen  Stadt', 
so  dass  der  Name  oder  das  Appellativum  appositional  hinzugesetzt  ist. 


Zu  Caesars  bellum  civile.  553 

Dasselbe  wie  bei  Ortsbestimmungen  auf  die  Frage  .wo?  findet  bei 
Zeitbestimmungen  auf  die  Frage  wann?  statt.  'Am  Morgen  des 
folgenden  Tages'  beisst  postero  die  mane  z.  B.  Caes.  civ.  HE  37.  1,  ib.  tertio 
die  prima  luce,  Gall.  V  49.  5  postero  die  luce  prima  und  VI  7.  6  prima  luce, 
lul.  Obs.  56  postero  die  hora  tertia,  b.  AI.  52.  2  eo  ipso  die  tempore  post- 
meridiano,  Cic.  dom.  16.  41  m.  hora  nona  illo  ipso  die,  Yarro  bei  Gell. 
III  2.  6  qui  Kalendis  hora  sea^ta  natus  est,  Plin.  VI  171  ipso  die  solstitii 
sexta  hora,  Yarr.  r.  r.  IE  7.  7  X^Il  mense  die  decimo,  Lact.  lY  5.  8  secundo 
anno  octavo  mense,  b.  Gall.  YIII  22.  1  eodem  tempore  superiore  anno, 
Plin.  XXXni  32  Tiberi  principatu  nono  anno,  CIL.  III  32.  5  (ähnlich  33.  5 
u.  35.  ^)  XV  K.  Apriles  her.  II  anno  IV  imp.  n,  Vespasiani,  hingegen 
34.  8  u.  9  anni,  Marc.  Emp.  p.  257.  26  mense  Novembri  ante  Idus  easdem. 
Aber  Amm.  XX  7.  6  adpetente  postridie  luce  ist  offenbar  postridie  Zeit- 
bestimmung zu  adpetens.  Script,  bist.  A.  XYIII 13.  5  die  prima  natalis^)  toto 
die  ist  ähnlich  gesagt  wie  bei  Gellius  Romae  urbe  tota. 

Aber  wie  bei  Ortsbezeichnungen  nicht  nur  Ganzes  und  Teil  koordiniert 
werden,  sondern  auch  Personen  auf  die  Frage  wo  ?  mit  ihrem  Aufenthalts- 
orte, auf  die  Frage  wohin?  mit  dem  Zwecke  u.  s.  w.,  ähnlich  werden, 
wenn  auch  sehr  selten,  auf  die  Frage  wann?  natürlich  nicht  Personen, 
aber  z.  B.  Ereignisse  und  Zustände  mit  Zeitbestimmungen  verbunden 
wie  Yarr.  r.  r.  I  51  ex.  in  aestu  tempore  meridiano,  Liv.  X  19.  7  prior e  con- 
sulatu  primis  mensibus.  In  dem,  wie  es  scheint,  formelhaft  nur  mit 
dictatorem  dicere  vorkommenden  consul  (oriens)  nocte  silentio  Liv.  VILL 
23.  15  u.  IX  38.  14  ist  schwerlich  gemeint  ""schweigend  bei  Nacht\  sondern 
dasselbe,  was  Liv.  in  seiner  Sprache  X  12.  6  silentio  noctis,  andere  nocte 
silenti  ausdrücken.  Hierher  gehört  auch  Yarr.  sat.  bei  Apic.  p.  194.  16 
Riese  in  legitimis  nuptiis  in  cena  ponuntur.  Es  ist  Unkenntnis  dieses 
Sprachgebrauches,  wenn  man  Cic.  fam.  YII 1.  4  His  diebus  ludis  scaenicis, 
'bei  den  an  diesen  Tagen  stattfindenden  Spielen',  die  letzten  zwei  Wörter 
hat  streichen  wollen;  aber  auch  das  Komma,  durch  das  die  Ausgaben 
beide  Bestimmungen  trennen,  ist  unrichtig.  Dagegen  ib.  VILL  1 2.  3  sum- 
mis  Circensibiis  ludis  meis  ist  allerdings  gewiss  die  Interpunktion  Mendels- 


8)  Die  nataiis  {sui),  *an  seinem  Geburtstage',  das  Peter  in  der  ersten  Ausg.  der 
Script,  bist.  A.  Carac.  6.  6  geändert  hatte,  steht  nicht  bloss  an  mehreren  Stellen  der 
Script,  bist.  A.,  im  Bibellatein  und  bei  Juristen  (Rönsch,  It.  u.  Vulg.  p.  104),  son- 
dern auch  in  Inschriften,  VI  9626.  10,  10248.  9,  29700.  7,  29702.  2,  VIII  1845.  7,  IX 
3160.  12,  XI  379.  14,  XIV  2112  I  5,  Paneg.  IX  16.  2  p.  205.  7,  Firm.  math.  I  9.  8  in., 
IV  1. 10  zu  schreiben  primo  nataiis  die,  Sittl  dies  mit  der  Bemerkung;  '^dies  genetivus 
est',  8.  2  p.  181.  10;  19.  5  primanatalis  hora,  lust.  XXXVIII  8.  13.  Das  von  Georges 
gegen  Rönsch  verworfene  nalale  steht  CILX  107.  8  natale  filiae  meae  epulantes  con- 
frequentetis,  wenn  man  nicht  annehmen  will,  dass  dies  naialem  heissen  soll. 


554  G.  F.  W.  MüLLSB,  Zu  Caesars  bellum  civile. 

sohns,  durch  die  ei  ludis  meis  zur  Apposition  macht,  nicht  richtig,  aber 
auch  sonst  nichts  bemerkenswertes,  sondern  es  heisst  einfach:  'am  Schluss 
meiner  circensischen  Spiele'  oder,  wie  Manutius  sagt,  'extremis  diebus 
(d.h.  summis)  Circensium  ludorum  meorum'. 


Andere  Verteidigungen  der  Überlieferung  gegen  Änderungsvorschläge 
wie  civ.  in  94.  6  Tuemini,  inquit  (Pompeius),  castra  et  defendite  düi- 
genter,  si  quid  durius  acciderit,  du  m  ego  reliquds  partes  cirumeo  et  castro- 
rum  praesidia  confirmo  statt  —  acciderit.  Ego  —  müssen,  da  sie  ähnlich 
umfangreich  zu  werden  drohten,  zurückgelegt  werden.  Ich  will  nur  das 
eine  dazu  bemerken,  dass,  wenn  auch  die  starke  Übertreibung,  die  aller- 
dings im  deutschen  Gebrauch  des  Präsens  bei  Ausdrücken  wie  ''ich  komme 
gleich,  ich  komme  morgen'  vorliegt,  dem  Lateinischen  fremd  wäre,  was 
durchaus  nicht  der  Fall  ist,  doch  circumeo  buchstäblich  richtig  ist,  sobald 
der  Redende  einen  Fuss  zu  der  Handlung  erhoben  hat,  und  dass  das  eine 
merkwürdige  Sprache  wäre,  die  imstande  wäre  den  Unterschied  zweier 
Handlungen  zum  Ausdruck  zu  bringen,  die  um  einen  halben  Schritt  aus- 
einander liegen,  und  vor  allen  Dingen  die  unfähig  wäre,  unter  Umständen 
absichtlich  die  Grenzen  zwischen  Gegenwart  und  Zukunft  zu  verwischen. 


Druck  von  J.  B.  Hirsch feld  in  Leipäg. 


PA  Festschrift  zian 

26  fünfzigjährigen  Doctor- 

^  (^  Jubiläum  Ludwig 

Friedlaender,   dargebracht 
von  seinen  Schülern 


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