Skip to main content

Full text of "Führer durch den Concertsaal"

See other formats


Google 


This  is  a  digital  copy  of  a  book  that  was  prcscrvod  for  gcncrations  on  library  shclvcs  bcforc  it  was  carcfully  scannod  by  Google  as  pari  of  a  projcct 

to  make  the  world's  books  discoverablc  online. 

It  has  survived  long  enough  for  the  Copyright  to  expire  and  the  book  to  enter  the  public  domain.  A  public  domain  book  is  one  that  was  never  subject 

to  Copyright  or  whose  legal  Copyright  term  has  expired.  Whether  a  book  is  in  the  public  domain  may  vary  country  to  country.  Public  domain  books 

are  our  gateways  to  the  past,  representing  a  wealth  of  history,  cultuie  and  knowledge  that's  often  difficult  to  discover. 

Marks,  notations  and  other  maiginalia  present  in  the  original  volume  will  appear  in  this  flle  -  a  reminder  of  this  book's  long  journcy  from  the 

publisher  to  a  library  and  finally  to  you. 

Usage  guidelines 

Google  is  proud  to  partner  with  libraries  to  digitize  public  domain  materials  and  make  them  widely  accessible.  Public  domain  books  belong  to  the 
public  and  we  are  merely  their  custodians.  Nevertheless,  this  work  is  expensive,  so  in  order  to  keep  providing  this  resource,  we  have  taken  Steps  to 
prcvcnt  abuse  by  commercial  parties,  including  placing  lechnical  restrictions  on  automated  querying. 
We  also  ask  that  you: 

+  Make  non-commercial  use  ofthefiles  We  designed  Google  Book  Search  for  use  by  individuals,  and  we  request  that  you  use  these  files  for 
personal,  non-commercial  purposes. 

+  Refrain  fivm  automated  querying  Do  not  send  automated  queries  of  any  sort  to  Google's  System:  If  you  are  conducting  research  on  machinc 
translation,  optical  character  recognition  or  other  areas  where  access  to  a  laige  amount  of  text  is  helpful,  please  contact  us.  We  encouragc  the 
use  of  public  domain  materials  for  these  purposes  and  may  be  able  to  help. 

+  Maintain  attributionTht  GoogXt  "watermark"  you  see  on  each  flle  is essential  for  informingpcoplcabout  this  projcct  and  hclping  them  lind 
additional  materials  through  Google  Book  Search.  Please  do  not  remove  it. 

+  Keep  it  legal  Whatever  your  use,  remember  that  you  are  lesponsible  for  ensuring  that  what  you  are  doing  is  legal.  Do  not  assume  that  just 
because  we  believe  a  book  is  in  the  public  domain  for  users  in  the  United  States,  that  the  work  is  also  in  the  public  domain  for  users  in  other 
countries.  Whether  a  book  is  still  in  Copyright  varies  from  country  to  country,  and  we  can'l  offer  guidance  on  whether  any  speciflc  use  of 
any  speciflc  book  is  allowed.  Please  do  not  assume  that  a  book's  appearance  in  Google  Book  Search  mcans  it  can  bc  used  in  any  manner 
anywhere  in  the  world.  Copyright  infringement  liabili^  can  be  quite  severe. 

Äbout  Google  Book  Search 

Google's  mission  is  to  organizc  the  world's  Information  and  to  make  it  univcrsally  accessible  and  uscful.   Google  Book  Search  hclps  rcadcrs 
discover  the  world's  books  while  hclping  authors  and  publishers  rcach  ncw  audicnccs.  You  can  search  through  the  füll  icxi  of  ihis  book  on  the  web 

at|http: //books.  google  .com/l 


Google 


IJber  dieses  Buch 

Dies  ist  ein  digitales  Exemplar  eines  Buches,  das  seit  Generationen  in  den  Realen  der  Bibliotheken  aufbewahrt  wurde,  bevor  es  von  Google  im 
Rahmen  eines  Projekts,  mit  dem  die  Bücher  dieser  Welt  online  verfugbar  gemacht  werden  sollen,  sorgfältig  gescannt  wurde. 
Das  Buch  hat  das  Uiheberrecht  überdauert  und  kann  nun  öffentlich  zugänglich  gemacht  werden.  Ein  öffentlich  zugängliches  Buch  ist  ein  Buch, 
das  niemals  Urheberrechten  unterlag  oder  bei  dem  die  Schutzfrist  des  Urheberrechts  abgelaufen  ist.  Ob  ein  Buch  öffentlich  zugänglich  ist,  kann 
von  Land  zu  Land  unterschiedlich  sein.  Öffentlich  zugängliche  Bücher  sind  unser  Tor  zur  Vergangenheit  und  stellen  ein  geschichtliches,  kulturelles 
und  wissenschaftliches  Vermögen  dar,  das  häufig  nur  schwierig  zu  entdecken  ist. 

Gebrauchsspuren,  Anmerkungen  und  andere  Randbemerkungen,  die  im  Originalband  enthalten  sind,  finden  sich  auch  in  dieser  Datei  -  eine  Erin- 
nerung an  die  lange  Reise,  die  das  Buch  vom  Verleger  zu  einer  Bibliothek  und  weiter  zu  Ihnen  hinter  sich  gebracht  hat. 

Nu  tzungsrichtlinien 

Google  ist  stolz,  mit  Bibliotheken  in  Partnerschaft  lieber  Zusammenarbeit  öffentlich  zugängliches  Material  zu  digitalisieren  und  einer  breiten  Masse 
zugänglich  zu  machen.     Öffentlich  zugängliche  Bücher  gehören  der  Öffentlichkeit,  und  wir  sind  nur  ihre  Hüter.     Nie htsdesto trotz  ist  diese 
Arbeit  kostspielig.  Um  diese  Ressource  weiterhin  zur  Verfügung  stellen  zu  können,  haben  wir  Schritte  unternommen,  um  den  Missbrauch  durch 
kommerzielle  Parteien  zu  veihindem.  Dazu  gehören  technische  Einschränkungen  für  automatisierte  Abfragen. 
Wir  bitten  Sie  um  Einhaltung  folgender  Richtlinien: 

+  Nutzung  der  Dateien  zu  nichtkommerziellen  Zwecken  Wir  haben  Google  Buchsuche  Tür  Endanwender  konzipiert  und  möchten,  dass  Sie  diese 
Dateien  nur  für  persönliche,  nichtkommerzielle  Zwecke  verwenden. 

+  Keine  automatisierten  Abfragen  Senden  Sie  keine  automatisierten  Abfragen  irgendwelcher  Art  an  das  Google-System.  Wenn  Sie  Recherchen 
über  maschinelle  Übersetzung,  optische  Zeichenerkennung  oder  andere  Bereiche  durchführen,  in  denen  der  Zugang  zu  Text  in  großen  Mengen 
nützlich  ist,  wenden  Sie  sich  bitte  an  uns.  Wir  fördern  die  Nutzung  des  öffentlich  zugänglichen  Materials  fürdieseZwecke  und  können  Ihnen 
unter  Umständen  helfen. 

+  Beibehaltung  von  Google-MarkenelementenDas  "Wasserzeichen"  von  Google,  das  Sie  in  jeder  Datei  finden,  ist  wichtig  zur  Information  über 
dieses  Projekt  und  hilft  den  Anwendern  weiteres  Material  über  Google  Buchsuche  zu  finden.  Bitte  entfernen  Sie  das  Wasserzeichen  nicht. 

+  Bewegen  Sie  sich  innerhalb  der  Legalität  Unabhängig  von  Ihrem  Verwendungszweck  müssen  Sie  sich  Ihrer  Verantwortung  bewusst  sein, 
sicherzustellen,  dass  Ihre  Nutzung  legal  ist.  Gehen  Sie  nicht  davon  aus,  dass  ein  Buch,  das  nach  unserem  Dafürhalten  für  Nutzer  in  den  USA 
öffentlich  zugänglich  ist,  auch  für  Nutzer  in  anderen  Ländern  öffentlich  zugänglich  ist.  Ob  ein  Buch  noch  dem  Urheberrecht  unterliegt,  ist 
von  Land  zu  Land  verschieden.  Wir  können  keine  Beratung  leisten,  ob  eine  bestimmte  Nutzung  eines  bestimmten  Buches  gesetzlich  zulässig 
ist.  Gehen  Sie  nicht  davon  aus,  dass  das  Erscheinen  eines  Buchs  in  Google  Buchsuche  bedeutet,  dass  es  in  jeder  Form  und  überall  auf  der 
Welt  verwendet  werden  kann.  Eine  Urheberrechtsverletzung  kann  schwerwiegende  Folgen  haben. 

Über  Google  Buchsuche 

Das  Ziel  von  Google  besteht  darin,  die  weltweiten  Informationen  zu  organisieren  und  allgemein  nutzbar  und  zugänglich  zu  machen.  Google 
Buchsuche  hilft  Lesern  dabei,  die  Bücher  dieser  Welt  zu  entdecken,  und  unterstützt  Autoren  und  Verleger  dabei,  neue  Zielgruppcn  zu  erreichen. 
Den  gesamten  Buchtext  können  Sie  im  Internet  unter|http:  //books  .  google  .coiril  durchsuchen. 


N; 


-<^ 


^Ci/- 


'^^. 


^^-^(^K- 


9:Ä^e'■^:G- 


FÜHRER 

DURCH  DEN  CONCERTS^AL 


TON 


HEBMANN  EBETZSOHMAB. 


I.  ABTHEILÜNG: 
SINFONIE  UND  SUITE. 

I.  BAND. 

DRITTE  AUFLAGE. 


HIEBENTKS   TAUSEND. 


LEIPZIG 

VERLAG  VON  BREITKOPF  &  HÄRTEL 

1898. 


v.l 


^W«  Rechte,  atAch  das  der  Ubersetzungy  vorbehalten. 


Das  Recht  des  Einzelabdrucks  und  dessen  H'eitervergebung 
steht  ausscMiesslich  den  Verlegern  Breitkopf  dt  Härtel 

in  Leipzig  zu. 


fv^ 


T> 


VORWORT 

zur  ersten  Auflage. 

Der  vorliegende  „Führer  durch  den  Concert- 
saal^  ging  aus  einzelnen  Aufeatzen  hervor,  welche 
ich  im  Laufe  der  Jahre  fb  die  von  mir  geleiteten 
Concert«  geschrieben  habe,  um  die  Zuhörer  auf 
die  AufflQirungen  unbekannter  oder  schwierig  zu 
verstehender  Compositionen  vorzubereiten. 

Für  die  Buchform  sind  diese  Artikel  umge- 
arbeitet und  dahin  vervollständigt  worden,  dass 
die  erläuterten  Werke  in  geschichtlicher  Folge 
erscheinen.  Da  Historie  und  Kritik  unzertrenn- 
lich sind,  wird  man  entschuldigen,  dass  die  Com- 
positionen und  die  Componisten  auch  beurtheilt 
werden.  Ich  hoflFe  jedoch  mich  in  dieser  Be- 
ziehung durchschnittlich  in  den  gebotnen  Grenzen 
gehalten  zu  haben.  Den  ersten  Gesichtspunkt 
flir  Aufiiahme  oder  Weglassung,  kürzere  oder  aus- 
^^  ftthrlichere   Behandlung   der   Werke   und  Künstler 

bildete  ihre  Stellung  im  heutigen  Repertoir,  den 
/  zweiten   ihre  kunstgeschichtliche  Bedeutung.     Aus 

ersterem    Grunde    mussten    unter    anderen    einige 


% 
-> 
^ 


■j 


«0'     IV*    ^ 

Compositionen    aus   der  jüngsten    Gegenwart   zur 
Zeit  noch  unberücksichtigt  bleiben. 

Rostock,  26.  September  1886. 

Dr.  Hermann  Kretzschmar, 

Acftdemisoher  Lehrer  der  Matik  ma  der  LandetuniTenit&t, 
OroMhersogl.  u.  itädt.  MoBlkdireotor  xu  Boatook. 


Zur  zweiten  Auflage. 

Das  Erscheinen  einer  zweiten  Auflage  bietet 
mir  wiUkommene  Gel^enheit  für  die  freundliche 
Aufnahme,  die  mein  „Führer*  gefunden  hat,  herz- 
lich zu  danken. 

Im  Wesentlichen  ist  das  Buch  geblieben,  wie 
es  war.  Ich  konnte  mich  darauf  beschränken, 
einzelne  Irrthümer  zu  berichtigen  und  da  und  dort 
das  geschichtliche  Bild  zu  ergänzen. 

Leipzig,  September  1890. 

Dr.  Hermann  Kretzschmar, 

AoMerordentlicher  Professor  au  der  Universität  Leipzig 
and  UniverBitätamusikdireotor. 


Zur  dritten  Auflage. 

Wegen  Ueberbürdung  und  Krankheit  des 
Verfassers  hat  diese  Abtheilung  des  „Führers"  seit 
Jahren  im  Handel  fehlen  müssen.  Jetzt  erscheint 
sie  beträchtlich  verändert.  Die  Händerschen  Con- 
certi  grossi,  S.  Bach's  Brandenburger  Concerte,  die 


* 


e©        V        «o 


sinfonischen  Dichtungen  Liszt's  und  seiner  Nach- 
folger sind  weggelassen  und  flir  den  in  Vorberei- 
tung begriffnen  Schlusstheil  des  Werks  (Concerte, 
Ouvertüren  u.  s.  w.)  zurückgestellt  worden.  Trotz- 
dem ist  die  neue  Auflage  doppelt  so  stark  wie 
die  Yorhergehende  und  der  besseren  Handlichkeit 
wegen  in  zwei  Bände  zerlegt  worden.  Die 
Vermehrung  kommt  eines  Theils  auf  die  ältre  Ge- 
schichte Yon  Suite  und  Sinfonie ;  zum  andren  waren 
eine  grosse  Anzahl  von  .Werken  aus  jüngster  Zeit 
ganz  neu  au&unehmen.  Wenn  die  meisten  Yon 
diesen  sehr  ausführlich  behandelt  worden  sind,  so 
zwangen  dazu  äussre,  praktische  Gründe.  Grund- 
satzlich bin  ich  nach  wie  vor  der  Meinung:  dass  der 
Erklärer  sich  vor  Allem  der  Kürze  befleissigen  und 
bei  Denen,  welche  sich  mit  Sinfonien  beschäftigen, 
einige  Kenntniss  in  der  musikalischen  Formenlehre, 
mindestens  die  Fähigkeit,  Thüren  und  Fenster  zu 
unterscheiden,  voraussetzen  soll.  Ich  habe  es  des- 
halb trotz  gütiger  Aufforderungen  abermals  ver- 
mieden immer  wieder  zu  sagen,  aus  wieviel  Takten 
die  und  die  Melodien  bestehen,  in  welchen 
Tonarten  sie  beginnen  und  schliessen,  und  mich 
darauf  beschränkt  den  Leser  mit  Dingen  des  äussren 
Mechanismus  nur  soweit  zu  behelligen,  als  sie  be- 
sondre Wichtigkeit  haben.  Mein  Bestreben  ging  da- 
hin :  anzuregen,  ins  Innre  und  Intime  der  Werke  und 
der  Künstlerseele  zu  flihren  und  womöglich  den  Zu- 
sammenhang mit  der  Zeit,    mit  ihren  besondren 


/olt  uooh  unluMii 

Dr 


Uu 


Zur 


w 


X^'- 


i 


t 


musikalischen  Verhältnissen,  mit  ihren  geistigen 
Strömungen  au&udecken. 

Dass  mein  ,, Führer^  auch  Andere  zu  gleichen 
Versuchen  yeranlasst  hat,  ist  mir  sehr  schmeichel- 
haft;  dass  er  zuweilen  ohne  Weitres  benutzt  wird, 
noch  mehr.  Doch  erlaube  ich  mir  darauf  auf- 
merksam machen,  dass  in  Fallen  wortlicher  Ent- 
lehnung schweigende  Dankbarkeit  oder  Verlane 
Gäusefiisschen  nicht  genügen,  sondern  dass  dann 
der  literarische  Anstand  vollständige  Quellenangabe 
verlangt. 

Dem  Publikum  und  meinen  Kritikern  bin  ich 
für  die  freundliche  Auihahme  auch  der  zweiten  Auf- 
lage verbunden. 

Zum  Schlüsse  spreche  ich  den  Vorstanden  von 
Bibliotheken  und  Archiven,  sowie  den  Herren  Ver- 
legern —  insbesondre  den  Herren  Breitkopf  &  Härtel 
—  die  auch  die  Arbeit  an  dieser  Auflage  bereit- 
willigst durch  Ueberlassung  von  Materialien  unter- 
stützt haben,  herzlichsten  Dank  aus. 

Leipzig,  October  1898. 

Dr.  Hermann  Kretzschmar, 

Ausserordentlicher  Professor  an  der  Universii&t  Leipxig. 


INHALT. 


I.  Band. 

Seite 
Von  Oabrieli  bis  Bacb.    Blütbezeit  der  Orcbestersonate 

und  der  Saite,  Entwickelnng  der  Sinfonie      .     .       1 — 50 

J.  Haydn,  Mozart,  Beetboven 51 — 187 

Nebenm&nner   and  Gefolge   der  Classiker.     Vorifiofer 

and  Haaptvertreter  der  Romantik 188 — 264 

n.  Band. 
Die  Programmmosik   and    die  nationale  Riebtang  in 

der  Sinfonie 265—554 

Die    moderne   Saite    und    die    neueste   Entwickelang 

der  dassiscben  Sinfonie 555 — 697 


mtlsikalischen  Yerhaltnifisen,  mit  ihren  geistigen 
Strömungen  ao&adecken. 

Dass  mein  „Führer^  auch  Andere  zu  gleichen 
Versuchen  yeranlasst  hat,  ist  mir  sehr  schmeichel- 
haft;  dass  er  zuweilen  ohneWeitres  benutzt  wird, 
noch  mehr.  Doch  erlaube  ich  mir  darauf  auf- 
merksam machen,  dass  in  Fallen  wortlicher  Ent- 
lehnung schweigende  Dankbarkeit  oder  verlegne 
GäusefÜsschen  nicht  genügen,  sondern  dass  dann 
der  literarische  Anstand  vollständige  Quellenangabe 
verlangt. 

Dem  Publikum  und  meinen  Kritikern  bin  ich 
für  die  freundliche  Aufnahme  auch  der  zweiten  Auf- 
lage verbunden. 

Zum  Schlüsse  spreche  ich  den  Vorstanden  von 
Bibliotheken  und  Archiven,  sowie  den  Herren  Ver- 
legern —  insbesondre  den  Herren  Breitkopf  &  Härtel 
—  die  auch  die  Arbeit  an  dieser  Auflage  bereit- 
willigst durch  Ueberlassung  von  Materialien  unter- 
stützt haben,  herzlichsten  Dank  aus. 

Leipzig,  October  1898. 

Dr.  Hermann  Kretzschmar, 

Aassorordentlicher  Professor  an  der  Universität  Leipzig. 


INHALT. 


I.  Band. 

Seite 
Von  Gabriel!  bis  Bacb.    Blfitbezeit  der  Orcbestersonate 

and  der  Suite,  Entwiekelong  der  Sinfonie      .     .  1 — 50 

J.  Haydn,  Mozart,  Beethoven 51 — 187 

Nebenm&nner   and  Gefolge   der  Classiker.     Vorläufer 

and  Haaptvertreter  der  Romantik 188 — 264 

n.  Band. 
Die  Programmmosik   and   die  nationale  Richtung  in 

der  Sinfonie 265—554 

Die    moderne    Saite    und    die    neueste   Entwickelang 

der  dassischen  Sinfonie 555 — 697 


I. 
Von  Gabrieli  bis  Bach. 

Blüthezeit  der  Orcliestersonate   und   der  Suite, 
Entwickelung  der  Sinfonie. 


pCDii  wir  nach  den  Anfängen  unsrer  heutigen  Concert- 
•i-/  musik  für  Orchester  suchen,  so  müssen  wir  eine 
beträchtliche  Strecke  zurückwandern.  Nachdem  die  besseren 
Elemente  unter  den  Spielleuten  durch  eigene  Verbände. 
wie  die  Wiener  Nicolaibrüderschaft,  die  Brüderschaft  der 
Pfeifer  im  Elsasss  sich  aus  der  Masse  des  fahrenden 
Volkes  gelöst  hatten,  kamen  ihnen  auch  Höfe  und  Städte 
"ZU  Hülfe.  Die  Fürsten  gründeten  zunächst  für  Kriegs- 
und Repräsentationszwecke  im  15.  Jahrhundert  die  vor- 
nehmen , Trompeterzünfte*,  deren  Mitglieder  Offiziers- 
rang hatten.*)  Noch  weiter  reichen  in  den  grossen  deutschen 
Städten  die  Versuche  zurück,  das  Musikgewerbe  ehrbar 
und  zunftmässig  zu  machen.  Bestimmte  Nachrichten  aus  " 
Wismar-),  Basel*),  Lübeck*)  und  anderen  bedeutenden 
Handelsplätzen  *)  zeigen  die  Anfänge  der  spätem  „Stadt- 
pfeifereien*  bereits  im  14.  Jahrhundert. 

')  J.  S.  Altenburg,  Vorsach  oiner  Anleitung  zur  heroisch- 
masikalischen  Trompeter-  und  Paukenkunst.    1795. 

^)  W.  Crull,  Mecklonburgischod  Urknndenbuch.     1879. 

3)  A.  Reissmann,  Allgemeine  Geschichte  der  Musik. 

4)  Carl  Stiehl,  Musikgoscliichte  der  SUdt  Lübeck.    1891. 

5)  Wilb.  Bttumcker,    Zur   Geschichte   der   Tonkunst   in 
Deutschland.     1881. 

KretSBchmar,  FUhrer.  I.  1 


eine  Octav  tiefer  ein  als  der  erste.  Dadurch  klingen  seine 
Wiederholungen  immer  viel  ernster,  dunkler,  geheimniss- 
voller. Um  so  mehr,  als  die  heiden  Chöre  im  Freien  weit 
von  einander,  in  der  Kirche  auf  verschiedenen  Emporen 
aufgestellt  waren.  Den  grosst^n  Raum  setzen  auch  die 
Tuttis  voraus ;  in  unsere  heutigen  Concertsäle  passen  darum 
diese  Kirchen-  und  Festsinfonien  nicht  gut.  Sie  haben 
noch,  eine  grosse  Anzahl  wenigstens,  eine  andere  Schwierig- 
keit für  den  modernen  Hörer:  Sie  entwickeln  nicht,  wie 
die  neuere  Instrumentalmusik  vorzugsweise  thut,  ihre 
Perioden  und  Sätze  mit  Wiederholungen  und  Verwand- 
lungen eines  Themas  oder  eines  Motivs,  sondern  die 
Musik  strömt  daher  in  der  Form  , unendlicher  Melodie", 
um  einen  Wagner'schen  Ausdruck  zu  gebrauchen.  Auch 
in  den  einchörigen  Compositionen  dieser  Gattung  mochte 
man  auf  den  Reiz  des  Chorwechsels  nicht  ganz  ver- 
zichten. Man  ersetzte  und  deutete  ihn  hier  gern  durch 
ein  sogenanntes  ,Echo*  an.  Eine  kleine  Gruppe  von 
Spielern  in  einem  Nebenraum,  jedenfalls  entfernt  und 
möglichst  verdeckt  aufgestellt,  wiederholt  sparsam  oder 
reichlicher  kleinere  und  grössere  Abschnitte  der  Musik 
Bianchcri.  ^*'^  Hauptchors.  Unter  den  Zeitgenossen  Gabrieli's  macht 
Baisani .  B  i  a  n  c  h  e  r  i  unter  den  Nachfolgern  B  a  s  s  a  n  i  viel  G  ebrauch 
vom  Echo  im  Orchester.  Eine  viel  grössere  Bedeutung  hat 
es  aber  in  der  mehrstimmigen  Gesangmusik  des  16.  Jahr- 
hunderts. Viele  Wiederholungen  in  den  Chören  jener 
Zeit,  die  uns  befremden,  sind  sofort  verständlich  und 
schön,  wenn  man  sie  dem  Echo  giebt.  Ein  naheliegendes 
Beispiel  bietet  das  weltbekannte  „Ecce  quomodo*  von  Jacob 
Handl  (Gallus"!  mit  der  Refrainstelle:  ,Et  erit  in  pace*. 
Die  einchörigen  Orcbestercompositionen  des  G.  Gabrieli 
haben  offenbar  eine  andere  Bestimmung  als  seine  doppel- 
chörigen;  sie  setzen  andere  Räume  und  andere  Stimmung 
voraus.  Die  Violinen  konunen  jetzt  mehr  zur  Geltungj 
die  Musik  klingt  zur  Hälfte  gut  weltlich.  Man  kann  an 
Vermählungsfeiern  und  andere  Familienfeste  in  hohen 
Patrizierhäusern  denken.  Ein  Glanzstück  dieser  Art  ist 
die   als    Nr.   VIU    in    der    Wasielewski'schen     Sammlung 


cc      7      '«>" 

mitgotheilte   6  stimmige  Canzone  für  zwei  Violinen,  zwei 
Cornetten  und  zwei  Posaunen,  eine  Composition,  interessant 
durch   den  Wechsel    fröhlicher  und   frommer  Stimmung. 
Ein  heiteres,  munter  bewegtes  Thema: 
A]l«gro  nuMtoso.    Cornett.^ 

^-, setzt    ein  und   läuft 

rUUU  TT  f       T 

TeaorpoMnne. 

durch  die  Stimmen ;  ein  breiter,  ernster  Gesang  des  vollen 
Orchesters,  durch   den    Rhytmus    allein  schon   scharf  ge- 

(Ylolloen  and  volles  Orchester.) 
schieden:  tf  " '^^  1  "'  1  "  ^  j^  1  "'  |  ^^ilt  ihm  ent- 
gegen. Dieser  Wechsel  wiederholt  sich  fUnfmal  und 
so,  dass  die  Gruppen  immer  breiter,  und  namentlich  die 
Abschnitte  im  Tripel  Takt  immer  majestätischer  werden. 
Dann  krönt  ein  freier  Schluss,  die  Freudigkeit  des  Stücks 
zur  Ausgelassenheit  steigernd  —  im  Kleinen  ein  Vorläufer 
Beethoven'scher  Finalausgänge,  —  das  Ganze.  Will  Jemand 
—  und  unsere  Musikschulen  mlissten  das  wollen  —  die 
Gegenwart  wieder  mit  G.  Gabrieli*s  Orchestercompositionen 
bekannt  machen,  so  eignen  sich  die  beiden  näher  geschil- 
derten Stücke  ganz  besonders  dazu.  Auch  wohl  deshalb 
noch,  weil  ihre  Besetzung  mit  den  modernen  Mitteln,  sonst 
so  häufig  ein  Stein  des  Anstos.ses  für  die  Wiederbelebung 
alter  Tonkunst,  keine  Schwierigkeiten  macht.  Vergleicht 
man  Compositionen,  wie  diese  Canzone,  mit  gleichartigen  Mascher». 
seiner  italienischen  Mitarbeiter,  Mascheras  in  Brescia  z.  B., 
so  überragt  Gabriel!  die  anderen  unverkennbar  an  innerer 
Lebendigkeit  und  feinem  Geschmack.  Der  letztere  zeigt 
sich  namentlich  in  seiner  Behandlung  der  contrapunktischen 
Formen.  Die  Nachahmungen  werden,  auch  wenn  sie  sich 
mit  Leichtigkeit  viel  weiter  führen  Hessen,  immer  bei 
Zeiten  abgebrochen.  Andere  thun  es  in  gleicher  Lage 
nicht  unter  einer  regelrecht  durchgeführten  Fuge. 

Die  Orchestermusik  G.  Gabrieli's  hat  auf  einen  weiten 
Umkreis  in  der  ferneren  Geschichte  der  instrumentalen 
Composition  nachgewirkt.     In  ihrer  Form   lag  schon  der 


Kt'im  za   dem   n<'ueren    Schema   der   Sonate    und  seiner 
Nachkommenschaft.    Den  Ton  und  Geist  der  Gahrielischen 
Sonate  finden  wir  noch  lange  in    den  kurzen  einsätzigen 
Instrumentalsinfonien,     die     in    den    geistlichen     Vocal- 
concerten  und  Cantaten  des  17.  Jahrhunderts  vorkommen^ 
'^****''       u.  a.  auch  in  den  Compositionen  Kaiser  Leopolds  I.*) 
U«p«l4  1.     gjp    kamen    durch   Monteverdi   und  seinen  ,Orfeo*   auch 
eine  Zeitlang  in  die  Oper  hinein.    Sie  bildeten  endlich  den 
direkten  Anfang  einer  ganz  besonderen  Gattung  einsätziger 
Festsonaten  für  Bläserorchester,  die  in  den  Musikschränken 
aller  Instrumentalcapellen  ausreichend  vertreteu  war.   Den 
ganzen  Umfang  dieses  Kunstgebietes  festzustellen,   bedarf 
es  noch    besonderer  Untersuchung.      Gepflegt    wurde    es 
von   hervorragenden   und   von   unbekannten  Componisten; 
denn  es  war  in  der  Sitte  der  Zeit  begründet.    Wir  können 
es  auch  heute  nicht  ganz  entbehren,  obwohl  unser  öffent- 
liches Leben  auf  musikalischen  Schmuck  und  musikalische 
Weihe  bis  zu  einem  bedenklichen  Grade  verzichtet  hat. 
Fast  will  es  scheinen,  als  sollte  die  Tonkunst  ins  Concert 
gesperrt  und  da  strangulirt  werden!     Thatsache  ist,  dass 
die  heutigen  Componisten  für  Feierlichkeiten,  wie  sie  sich 
bei   Einweihungsakten,  bei  solennen  Empfängen  und  Be- 
grUssungen  vollziehen,  wenig  componiren  und   wenn    sie 
es  thun,  treffen  sie  nur  selten  den  richtigen  Stil.   Beethoven's 
Ouvertüre  ,Zur  Weihe  des  Hauses*    in  allen  Ehren,  aber 
man  hört  sie  jetzt  an  Stellen  und  bei  Gelegenheiten,  wo 
sie  keinesfalls    hinpasst!      So    empfehlen    wir    denn    den 
Dirigenten,  die  um  ein  feierliches  Stück  in  Verlegenheit 
sind,  einen  Griff  in  die  alte  Zeit  der  einsätzigen  Gabrieli'schen 
Sonate.     Unter  dreierlei  Titeln    bergen    die  Archive  die 
Reste  dieser  Tonfamilie:   als   Sonaten,  Sinfonien  und  als 
geistliche  Concerte  (Sacri  concerti).     Bei    dieser   dritten 
Gruppe  tritt  zuweilen  zu  den  Orchesterinstrumenten  noch 
Begleitung    der   Orgel    oder    eines    anderen    Harmonie- 
instruments.    Sie  lassen   sich    daher  in  der  Regel  nur  in 


*)  Musikalische  Werke  der  Kaiser  Ferdinnnd  III.,  Leopold  I. 
und  Joseph  I.    Herausgegeben  von  Guido  Adler.    Bd.  I. 


ob"      9      '^ 

Kirchen  oder  grossen  Sälen  verwenden.  Die  Mehrzahl 
aller  hierhergehörigen  Compositionen  ist,  ganz  ähnlich  wie 
hei  der  älteren  Suite,  für  Bläserchöre  bestimmt  und  alle 
sind  nur  in  Stimmdrucken  vorhanden;  zu  einer  neuen 
Ausgabe  in  Partitur  haben  es  bisher  nur  die  von  Wasie- 
t^^vski  mitgetheilten  Stücke  gebracht.  So  finden  sich  z.  B. 
aus  ur.i^erer  Klasse  in  der  königlichen  Bibliothek  zu  Berlin 
folgendeNuiT.memiD.Castelli:  Sonate  concertante  (Venedig 
1621);  F.  S.  Ertt*Uu8,  Symphoniae  sacrae  (München  1611); 
Gabr.  Fattorini,  Sacri  concerti  (Venedig  1615) ;  Fr.  Giuliani, 
Sacri  concerti  (Venedig  1619);  G.  Piccbi,  Canzoni  da  sonare 
(Venedig  1625). 

In  Deutschland  finden  wir  den  letzten  Vertreter  dieser         ttfHÄd 
Gabrieli'schen  Orchestersonate  in  Gottfried  Reiche,  jenem      ßeiohe 
Leipziger  Stadtmusikus,  für  den  Seh.  Bach  seine  gefürch- 
teten  Trompetenpartien    geschrieben    hat      Aus    seinem 
Hauptwerk:  ,24  neue  Quatrocinia*^  (Leipzig  1696)  empfehlen 
wir    zur    Einführung    namentlich    das    B  durstück    über 


das  Thema     mr  i  ^  Jlp'frp"  f  I       Damit    beginnt    in 

markiger  Harmonie  der  erste  Theil.    Ein  mittlerer  wendet 

die  Melodie  in   geraden  Takt:     £y'4i  |t  j  ^m*\^^eic, 

und  führt  sie  in  Fugenform  durch  die  Instrumente,  hier, 
wie  überall  ein  Bläserquartett  von  Comott  und  drei 
Posaunen.  Jedermann  kann  nur  über  die  formelle  Tüchtig- 
keit und  die  wirklich  hohen  Gedanken  in  dieser  und  in 
ähnlichen  Arbeiten  des  schlichten  Mannes  erfreut  sein. 
Sie  zeigen,  wie  sich  auch  bescheidene  Kräfte  auf  einen 
Kunstzweig  verstanden,  der  uns  heute  wieder  ganz  fehlt. 
Er  verschwand  im  18.  Jahrhundert  unter  der  Herrschaft 
der  Neapolitanischen  Schule,  der  der  feierlich  gehaltene 
Ton  fast  ganz  fremd  war;  selbst  in  der  eigentlichen 
Kirchenmusik  gelang  es  ihr  ihn  völlig  zu  verlernen.  Wie 
schnell  aber  die  alte  Orchestersonate  in  jener  über- 
productiven  Zeit  vergessen  wurde,  das  kann  man  daraus 


CO- 


10        o- 


ersehen,  dass  Gerber  in  seinem  so  vortreflFlicheu  Lexikon 
die  grossen  Gabrieli^s  gar  nicht  erwähnt. 

Der  Gabrieli'schen  Sonate  folgte  bald  eine  zweite 
Gattung  selbständiger  Orchest^rcomposition:  die  Suite. 
Unter  diesem  Namen,  der  sich  im  18.  Jahrhundert  mehr 
und  mehr  verbreitete ,  verstehen  wir  heute  eine  Folge  von 
mehreren  in  sich  abgeschlossenen  Stücken,  in  deren  Inhalt 
und  Form  die  Tanz-  und  Liedmusik  überwiegt.  Die  Sonate 
war  eine  freie  und  neue  Schöpfung  der  höchsten  und  ge- 
bildetsten Künstlerkreise;  die  Heimath  der  Suite  ist  die 
Volksmusik.  Wahrscheinlich  ist  sie  so  alt,  wie  das 
Instrumentenspiel  überhaupt.  Denn  wenn  Spielleute  zwei 
im  Charakter  verschiedene  Stücke  —  einen  Choral  und 
gleich  darauf  einen  Tanz  z.  B. ,  wie  wir  das  in  Deutsch- 
land bei  Umzügen  und  Morgenständchen  noch  tagtäglich 
hören  können  -r-  unmittelbar,  ohne  längere  Pause,  hinter- 
einander spielen,  so  ist  die  Suite  fertig.  Geschrieben  und 
gedruckt  zeigt  sie  sich  zuerst  [in  der  Lautenlitteratur  des 
16.  Jahrhunderts.*)  Dann  kommt  sie  bei  den  Engländern 
als  Ensemblemusik  für  mehrere  Instrumente.  ^)  In  Deutsch- 
land bürgert  sich  die  Orchestersuite  nach  1600  rasch  ein 
und  durchläuft  in  vier,  chronologisch  nicht  streng  ge- 
schiedenen Stufen  ihre  erste  bedeutende  Entwickeluug. 
Nürnberg  ist,  sowie  für  das  deutsche  Chorlied  des  16.»  so 
auch  für  diese  alte  deutsche  Orc beste rsuito  des  17.  Jahr- 
hunderts der  Hauptdruckort. 

Auf  der  ersten  jener  vier  Stufen  begegnen  wir  Suiten 
als  Sammlungen  von  Tänzen  ein  und  derselben  Sorte, 
V.  HaMmanD.  wie  z.  B.  in  Valentin  Hausmanns  24  , Neuen  Intraden'' 
von  1604  oder  in  Benedict  Widman's  , Neuer  musikalischer 
Kurzweil"  von  1608.  Wie  bei  diesem  letztgenannten  Autor,  so 
finden   sich  auf  dieser  ersten   Stufe  überhaupt   häufig  den 

^)  Wolf  Heckeis  Lautenbuch  15G2,  Matthias  Reymann's: 
,,Noctös  musicae'*   1598  z.  B. 

*;  Th.  Morley's  Consort  lessons,  made  by  divers  exquisite 
authors  for  sex  different  instniments  to  jplay  together,  vizi:  the 
treble  lote,  pandora,  citterne,  base  violi,  flute  and  treble  violi. 
Londres  1599;  zweit©  Auflage  1611. 


c<? 


11 


^ 


Melodien  Texte  beigegeben.  Hier  lebt  also  noch  entschieden 
die  Zeit,  in  der  beim  Tanzen  auch  gesungen  wurde ;  in  der 
späteren  Suite  macht  sie  sich  durch  Verwendung  alter 
Liedmelodien  noch  bemerklich. 

Dann   kommen  Hefte  mit  zweierlei  Tänzen;    in    der 
Regel  erst    eine  Anzahl    gravitätischer    Paduanen,   dann 
genau    oder   annnähemd    ebensoviele    neckische,   muntere 
Galliarden.    Beispiel:  L.   Hassler 's  ,  Neuer  Lustgarten*    L.  Hattler. 
von  160L 

Auf  der  dritten  Stufe  gesellen  sich  zu  den  Paduanen 
und    Galliarden    noch .  Intraden.     Das   sind    marschartige 
Stücke,     die     den    Paduanen    nahe     stehen.       Beispiel: 
Melchior  Frankes  Pavanen,  Galliarden  und     Intraden.     M.  Framk. 
Coburgk  1603. 

Den  Abschluss  jener  ersten  Entwickelung  der  deutschen 
Orchestersuite  bilden  Werke  in  vier  Sätzen.  Die  Wahl 
und  Folge  der  Sätze  ist  bei  dieser  Stufe  verschieden ;  doch 
haben  die  meisten  zu  ihr  gehörigen  Suiten  Paduanen  und 
Galliarden  behalten.  Valentin  Hausmann  z.  B.  ordnet  so 
an:  Intraden,  Passamezzen,  Paduanen,  Gaillarden.  160*), 
Paul  Bäwerl  (Peurl)  bringt  Paduanen,  Intraden,  Dantz  P.Pearl. 
und  Galliarden  (1611)  hintereinander. 

Erst  hier  an  dieser  vierten  Stufe,  stehen  wir  vor  der 
Suite  im  modernen  Sinn.  Dort,  an  den  vorhergehenden 
Stufen ,  schüttet  der  Componist  gewissermassen  jede  Sorte 
massenweiss  vor  uns  hin,  zur  beliebigen  Auswahl.  Hier 
überreicht  er  uns  fertige  [Sträusschen.  Die  Wahl  und 
Zusammenstellung  der  Blumen  ist  das  Werk  des  Geistes 
und  des  Geschmacks  eines  bestimmten  Künstlers  und  es 
kann  nicht  fehlen,  dass  sich  das  Walten  einer  höheren 
Kunst  in  dieser  neuen  Suite  noch  in  weiteren  Merkmalen 
äussert.  Am  meisten  in's  Auge  fallt  unter  ihnen  der 
Gebrauch  der  Variationenform.  Sie  findet  sich  bereits  bei 
Hausmann.  Der  Passamezzo  wird  als  Thema  aufgestellt 
und  dann  noch  in  fünf  bis  sechs  namentlich  rhythmisch 
bedeutend   und  sinnvoll   erfundenen    Verwandlungen    vor- 


*;  Gaillarde*  siohe  S.   15. 


gi'führt.  Mit  der  Variation  gewann  die  Suite  breite 
Formen  and  die  Möglichkeit,  einen  bedeutenden  Gedanken 
näher  auszulegen.  Sie  hat  aber  davon  immer  nur  be- 
scheidenen Gebrauch  gemacht ;  in  der  Regel  nur  für  einen 
Satz.  Man  überliess  solche  Kunst  der  Orgelcomposition 
und  blieb  mit  der  Suite  in  den  Grenzen  der  Volksmusik 
und  in  erster  Linie  immer  darauf  bedacht,  kleine  aber 
sinnfällige  Tonbilder  zu  erfinden. 

Ziemlich  häufig  bilden  auch  die  einzt»lnen  Stücke  der 
Suite  zu  einander  Variationen.  Die  Musik  des  einen  kehrt 
im  nächsten  ganz  oder  theilweis<»  wieder;  natürlich  nicht 
wörtlich,  sondern  rhythmisch  und  metrisch  umgebildet  und 
mit  neuen  Melismen  behangen.  Der  Vorgang  ist  ein  ähn- 
licher, wie  in  der  Vocalmessi'  des  16.  Jahrhunderts,  durch 
deren  Sätze  sich  bekanntlich  leitende  Themen  ziehen.  Die 
Paduane  ist  nur  selten  in  diese  thematische  Verwandt- 
schaft der  Suitensätze  einbegriffen ;  oft  beschränkt  sie  sich 
auf  die  beiden  Blittelstücke.  Bei  Peurl,  dem  Hauptver- 
treter dieser  zweiten  Variirungsart  finden  wir  die  thematische 
£inheit  der  vier  StUcke  verhältnissmässig  am  häufigsten, 
zuweilen  allerdings  nur  in  sehr  zarten  Andeutungen  er- 
kennbar.   Die  zweite  seiner  Suiten  beginnt 

in  der  Paduane: 


in  der  Intrade:    ^»ii   p  11"  f   (Mp  ')  j^J  I  "*  1"^ 

im  Dantz:    y*   f   I  ff}  ^  J  Ifjjijb^ 

in  der  Galliarde:    ^  ffili  p   |  ['  f  f  p   |  Jj  J   |  J. 


Die  3.  Paduane:    i  Vi  {JJ^f  Uf    T 
Intrade:    ^^»1  ['   NdJ^'  T  f  I 


cG"       13       '«>^ 


Dantz:    ^P$  ^   |  Jj  f  f  ^^ 
Galliarde:    ^^n?l  (M  Jj^j  H'rnC^J 


Die  5.  Paduane : 


crir'rfMrr  ir 


InlrsMle:    <^><lll  f  T   T     (^-Tf    I  ["7^^ 


Dantz : 


Galliarde:  ^tW  f   irrfrlf|-|-  1 1^ 

Die  7.  Paduane:    jfc^i  fff  f  p  |jj^   ] 
Intrade:   ihfii  K^  |f^  |"  |>  fgE 


Dantz:  ^  ^>  f   ""ff  f  [^^ 


Galliarde : 


Die  10.  PaduaDe:    il\  f  f  f  f  ^^ 
Intrade:    i  <H  f  f  T  f  ^^ 


Dantz: 


Galliarde:     ^»11  J   If"  f  T  f  iT  f  V  j 


Die  Einheit  der  Suite  als  Ganzes,  die  Zusammen- 
gehörigkeit der  vier  Theile  ist  von  den  Künstlern  der 
vierten  Stufe  starker  hetont,  schärfer  zum  Ausdruck  ge- 
hracht  worden.  Es  waren  aber  Ziele,  denen  man  von 
jeher  zugestrebt  hatt«;  allerdings  mit  einem  viel  be- 
scheideneren Mittel:  Man  hielt  die  Sätze  in  derselben 
Tonart  und  bei  dieser  Gleichheit  der  Tonart  ist  die  Suite 
bekanntlich  inmier  geblieben.  Das  ist  nach  modernen 
Anschauungen  fast  ein  Fehler.  Denn  wir  können  in  der 
Kunst  von  Abwechselung,  Gegensätzlichkeit,  Steigerung 
und  dramatisch  anregenden  Elementen  aller  Art  kaum 
genug  haben.  Das  geht  in  unserer  Tanzmusik  bisweilen 
bis  an  die  Carricatur.  Ganz  anders  die  ältere  Zeit.  Die 
suchte,  wenn  es  sich  nicht  gerade  um  Heiligen-  und 
Märtyrerbilder  handelte,  in  der  Kunst  ruhige  Sammlung 
und  Erhebung,  reihte  gern  Verwandtes  aneinander  und 
verweilte,  den  Standpunkt  immer  nur  schrittweise  verschie- 
bend, gerne  lang  in  Betrachtung  desselben  Themas.  Diesem 
Zuge  ruhigen  Eindringens  kam  die  Fuge  besonders  ent- 
gegen; er  kommt  aber  auch  in  dem  Tonartenverhältniss 
der  Suitensätze  zum  Ausdruck.  Die  Tonart  bleibt  immer 
dieselbe;  sie  weist  gewissermassen  dem  Zuhörer  die 
Stellung  an,  die  er  dieser  Kunst  gegenüber  einnehmen  soll : 
wie  vor  der  laterna  magica  leidenschaftslos  geniessend,  er- 
freut, erwärmt,  aber  nie  hingerissen  und  im  seelischen 
Gleichgewicht  gestört. 

Noch  in  einem  anderen  Punkte  stand  die  Orchoster- 
suite,  vom  ersten  Auftreten  an,  künstlerisch  bis  zur  Muster- 
haftigkeit fertig  da.  Das  ist  die  sogenannte  Stimmführung. 
Ob  man  die  Suite  für  4,  5,  6  oder  7  Instrumentalstinamen 
schrieb,  diese  Stimmen  waren  alle  als  lebendige  Individuen 
gedacht,  an  den  Motiven,  Themen,  Melodien  der  Musik- 
stücke ziemlich  gleichmässig  betheiligt,  die  Hauptgedanken 
in  freien,  leichten  Nachahmungen  aufnehmend  oder  mit 
eignen,  zierlichen,  anfeuernden  Erfindungen  umspielend. 
Von  den  Klangeffecten  ihres  Orchestersatzes  verwendet  auch 
die  alte  Suite  mit  ebensoviel  Vorliebe  als  Geschick  das  Echo, 
ohne  das  ja  —  es  sei  nochmals  bemerkt  —  weder  die  Gesaug- 


co      15      'y^ 

uoch  die  InstrumcDtalcomposition  des  17.  Jahrhunderts  zu 
denken  ist.  Ihm  am  nächsten  kommt  der  Wechsel  von  Solo 
und  Chor.  Mit  diesem  Mittel  geht  sie  unvergleichlich  weitüher 
das  in  der  mehrstimmigen  Gesangcomposition  der  früheren 
Zeit  übliche  Maass  hinaus  und  giebt  dem  geistlichen  Vocal- 
concert  ihres  Jahrhunderts  unverkennbar  Anregungen  und 
Vorbilder.  Diese  innere  Einrichtung,  dieses  innere  Leben 
innerhalb  der  Stinmien  ist  eine  der  bedeutendsten  Züge 
der  alten  Orchestersuite :  er  setzt  die  Phantasie  des  Hörers 
fortwährend  in  Bewegung,  stellt  sie  vor  Scenen,  als  wenn 
die  Menge  dem  voranschreitenden  Helden  zustürmte,  in 
seinen  Ruf  einstimmte. 

Die  oben  aus  Peurl  beigebrachten  Citate  vermögen 
vielleicht  einen  kleinen  Begriff  vom  Geist  und  vom 
Charakter  der  Orchestersuite  in  ihrer  ersten  Periode  zu 
geben.  Es  ist  eine  Kunst  nach  dem  Motto:  fromm  und 
fröhlich.  Der  Fröhlichkeit  dienen  die  drei  letzten  Stücke 
mit  sich  steigerndem  Eifer.  Aber  auch  die  Galliarde  geht 
nie  bis  zur  Ausgelassenheit;  sinnige  Anmuth  bleibt  das 
Gebiet,  auf  dem  die  einzelnen  Sätze  einander  zu  über« 
bieten  suchen.  So,  wie  wir  es  aus  diesen  Tönen  hören,  so 
fühlten  und  so  gaben  sich  die  deutschen  Bürgerkreise  am 
Anfang  des  17.  Jahrhunderts  in  ihren  frohen  Stunden: 
sittig  und  liebenswürdig.  Als  das  eigenthümlichste  Stück 
dieser  alten  Orchestersuite  darf  man  diePaduane  bezeichnen. 
Auch  sie  ist  dem  Humor  nicht  unzugänglich ;  ihren  Haupt- 
zug bildet  aber  der  Ernst  und  die  feierliche  Sonntags- 
stimmung. Sie  hat,  wie  die  Gabrieli'sche  Orchestersonate 
von  Haus  aus  kirchlichen  Geist.  Einzelne  Tonsetzer,  wie 
der  süddeutsch-gemüthliche  Peurl,  setzen  sich  über  ihn 
hinweg,  ja,  es  giebt  sogar  „lustige  Paduanen** ;  aber  bei  der 
Mehrzahl  der  Suitencomponisten  unserer  Periode  bleibt 
doch  der  gehobene  Feiertagston  das  wesentlichste  Merkmal 
der  Paduane.  Ihr  äusserer  Aufbau  vollzieht  sich  in  drei 
scharf  und  klar  geschiedenen  Theilen.  (Die  Dreitheilung 
bildete  auch  bei  den  übrigen  Sätzen  der  Suite  die  Regel, 
Zwei-  und  Viertheilung  sind  Ausnahmen.)  Der  Umfang 
des  ersten  Theils  wechselt  von  8  oder  9  bis  zu  20  Takten, 


oC? 


IG 


-CK. 


dtT  zweite  ist  häufig  »ehr  kurz  (4  Takte),  der  dritte  wieder 
ausgedehnter.  Die  Paduane  setzt  immer  ruhig,  breit  und 
gehalten  ein,  in  einem  Ton,  der  im  Anfang  von  Wagnen* 
Meistersinger- Vorspiel  merkwürdig  getn»u  auflebt.  Dann 
regt  es  sich  in  Figuren,  Sequenzen  bescheiden  aber  plan- 
voll und  fest,  zuweilen  in  einer  etwas  steifen  Anmuth. 
Der  zweite  Theil  schliesst  entweder  an  den  Anfang  an  oder 
stellt  sich  mit  Motiven  der  Energie  und  Kraft  in  Geg(»n- 
satz  zu  ihm.  Der  letzte,  der  dritte  Theil,  bringt  neue 
überraschende  Einfälle  in  schnellen  Noten,  die  aus  allen 
Ecken  wiederklingen.  Mit  diesem  Ende  reicht  die  Paduane 
der  Weltlust  und  der  Fröhlichkeit  die  Hand.  Die  ur- 
sprüngliche und  alleinige  Vertreterin  dieser  Empfindungs- 
elemente in  der  Suite  ist  die  Galliarda  (Gagliarda  italienisch, 
Gaillarde  französisch).  Sie  steht  immer  im  ungeradem 
Takt  und  hat  in  der  Regel  drei  gleich  grosse  Theile,  deren 
Umfang  von  4  bis  zu  16  Takten  steigt.  Der  äusseren 
Form  nach  ist  die  Galliarda  der  modernste  unter  den 
Sätzen  der  alten  viersätzigen  Suite.  Sie  liebt  die  Symetrie 
wie  die  Wiederholung  im  Satzbau  und  sie  zeichnet 
zweitens  die  Oberstimme  vor  den  andern  durch  reichere 
Beweglichkeit  aus.  Zwei  reizende  Beispiele  für  diesen 
ersten  Zug  finden  sich  bei  M.  Frank: 
Orazloso. 


tif  txr 


(Nr.  27  in  den  Pavanen  etc.  von  1603)  und  bei  Hausmann 


^l||  liMi  II  MJ'J  II  Hl  II  I    \\[\\  1|  I  I 

•^  0_  ahn  R  -  R 'n       p   ^^ '       '    p 


*)  Der  Takt  ist  hier  in  moderner  Form  tibersetzt. 


^ 


Zugleich  auch  gehen  diese  beiden  Bruchstücke  ein 
Bild  von  dem  Durchschnittscharakter  der  Galliarde.  Ihn 
beherrschen  sichtlich  noch  dieselben  mittelalterlichen  An- 
schauungen über  die  Grenzen  weltlicher  Kunst,  denen  sich 
auch  Dichtung  und  Malerei  lange  genug  zu  beugen  hatten. 
Der  Ausdruck  aller  Empfindungen,  auch  der  der  Freude, 
stand  unter  dem  Gesetz  der  gesellschaftlichen  Ehrbarkeit. 
Im  Madrigal  noch  schüchtern,  entschiedener  in  der  Oper 
ging  die  Musik  eben  erst  daran,  diese  Fesseln  der  Sitte  zu 
durchbrechen  und  sich  in  der  naturtreuen  Darstellung 
mächtiger  Leidenschaften  zu  versuchen.  Die  Instrumental- 
musik, die  bei  dieser  Aufgabe  bald  die  wichtigsten  Dienste 
leistete,  blieb  in  der  Suite  durchaus  noch  zurückhaltend.  Es 
sind  nur  einzelne  Stellen  in  den  alten  Orchestergalliarden, 
bei  denen  der  Ton  einer  neuen  Zeit  sich  vernehmlich 
macht,  hauptsächlich  in  der  Form  erregter  Rhythmen,  die, 
als  sie  neu  waren,  ausserordentlich  übermüthig  und  komisch 
gewirkt  haben  müssen.  So  fahrt  z.  B.  die  Frank'sche 
Galliarde,    deren    erster    Theil    eben    angegeben    wurde, 

folgendermassen  fort:  _|     ^  " 

Der  Galliardengeist  lebt  auch  in  der  späteren  Suite 
unter  anderen  Formen  und  Namen,  unter  denen  namentlich 
Gigue  und  Menuett  hervorzuheben  sind,  fort  und  noch  die 
neueste  Instrumentalmusik  sucht  ihn  festzuhalten,  z.  B.  die 
Brahms'sche  Sinfonie  in  ihren,  das  Scherzo  ersetzenden 
Allegrettis.  Aber  am  mächtigsten  wirkt  er  doch  da,  wo 
er  zu  Hause  ist,  nämlich  in  der  Orchestersuite  aus  dem 
Anfang  des  17.  Jahrhunderts.  Sie  verkörpert  altdeutsches 
Leben  und  Empfinden  von  einer  Seite,  mit  der  die  Gegen- 
wart jeden  Augenblick  wieder  eine  unmittelbare  und 
segensreiche  Verbindung  anknüpfen  kann.  Es  sind  deshalb 
nicht  blos  kulturgeschichtliche,  sondern  auch  künstlerisch 
menschliche  Gründe,  die  die  Wiederbelebung  und  "Wieder- 
benutzung dieser  alten  Orchestersuite  empfehlen.  Mindestens 
ebenso   schnell,   wie  die  alten  Armeemärsche    es    gethan 

Kretisobmar,  Führer.  I.  8 


^.^      18     '> 

haben,  würde  sie  sich  heute  wieder  einbürgeni  und  wenn 
sie  in  unst^ren  Volksconcerten  der  vielfach  kÖKtlichen  aber 
ebenso  vielfach  überreifen  Walzer-  und  OpereltenmuHik 
von  Joh.  Strauss  und  seiner  Schule  den  Platz  etwas 
streitig  machte  ^  so  würden  tiefer  blickende  Kunstfreunde 
damit  nur  zufrieden  sein  dürfen.  Bisher  ist  von  dem  un- 
gt^heuren  Vorrath  von  Stimmendrucken  alter  Orchester- 
suiten noch  nichts  in  Partitur  vorgelegt  worden.  Da 
bietet  sich  also  dem  deutschen  Musikerverlag  eine  Aufgab«». 

Unter  den  übrigen  Stücken,  die  in  der  viersätzigen 
Suite  zwischen  Paduane  und  Galliarde  entweder  vermittehi 
oder  den  zwischen  diesen  beiden  Hauptstücken  bestehfliiden 
Gegensatz,  bald  abgeschwächt,  bald  gi^steigert,  wieder- 
holen, kommt  die  Intrade  am  häufigsten  vor;  man  kann 
sagen ,  sie  bildet  die  Regel.  Das  ist  deswegen  auffall  ig, 
weil  sie  der  Paduane  so  sehr  gleicht,  das»  man  sie  fast 
für  einen  Concurrenten  von  anderer  geographischer  Her- 
kunft halten  kann.  Auch  sie  hat  von  Haus  aus  einen 
feierlichen  Ouvertürencharakter.  Deshalb  wird  sie  von 
vielen  Componisten  und  zwar  bis  ans  PInde  des  17.  Jahr- 
hunderts an  die  Spitze  der  Suiten  gestellt.  Doch  hat  sie 
sich  im  Laufe  der  Zeit  als  ganz  bi'sonders  verwandlungs- 
fähig und  für  kurzgefasste,  eindeutige  Definitionen,  wie  sit' 
nach  dem  Vorbilde  Matthesons  noch  heute  in  musikalischen 
Wörterbüchern  beliebt  sind,  schlecht  geeignet  erwiesen. 
Wir  haben  ebensoviel  Intraden  im  geraden,  wie  im  un- 
geraden Takt;  ja  es  kommt  häufig  bei  den  in  Allabrevt' 
geschriebenen  vor,  dass  der  dritte  Theil  in  %  umsetzt. 
Die  Freiheit  und  Mannigfaltigkeit  des  Charakters,  in  der 
sie  auftritt,  hängt  sicherlich  damit  zusammen,  dass  dit* 
Componisten  an  die  Gelegenheit  und  den  Zweck  dachten, 
für  den  sie  diese  Eröffnungsmusiken  schrieben.  So  sind 
die  Intraden  von  M.  Franck  alle  ganz  besonders  lebhaft 
und  glänzend:  sie  waren  für  die  Hochzeit  des  Landgrafen 
Moritz  von  Hessen  bestimmt. 

Nach  dem  Jahre  1620  ungefähr  tritt  die  Orchester- 
suite eine  neue  Entwickelung  an.  Sie  wird  fünfsätzig  und 
sechssätzig,  es  bilden   sich  neue  Gruppierungen ,  die  alten 


cC?       19       'ö^ 

Paduanen  und  Galliarden  schwinden,  dafür  treten  Ballets, 
Correnten,  Sarabanden,  Giguen  in  den  Vordergrund.  Der 
dreissigjährige  Krieg  hat  die  reichen  Vorräthe  an  Charakter- 
tänzen, über  welche  die  europäischen  Culturvölker  am 
Ausgang  des  Mittelalters  verfugten,  tüchtig  durcheinander 
geschüttelt.  Die  Suite  bekommt  scheinbar  ein  inter- 
nationales Aussehen,  hinter  dem  sich  aber  doch  der  Anfang 
einer  französischep  Vorherschaft  verbirgt. 

Der  letzte  namhafte  Vertreter  der  deutschen  Orchester- 
suite in  dieser,  mit  dem  Jahrhundert  endenden  Periode  ist 
Joh.  Petzel,  ein  Tonsetzer,  dessen  Leben  sehr  bewegt  J.  Petiel. 
verlaufen  zu  sein  scheint.  Er  war  in  Prag  Augustiner- 
mönch, ehe  er  ab  Stadtpfeifer  erst  in  Bautzen,  dann  in 
Leipzig  zur  Musik  kam.  Seine  Suiten  waren  neben  denen 
von  Peurl  und  dem  Hamburger  A.  Schop  bis  ins  18.  Jahr- 
hundert hinein  die  beliebtesten  und  verbreitetsten. 
Wenigstens  für  die  deutsche  Schweiz  ist  das  jüngst  durch 
Nef  nachgewiesen  worden.  *)  Es  sind  frische  und  anmuthige 
Compositionen ,  die  sich  besonders  durch  Schlichheit  des 
Ausdrucks  empfehlen;  sie  halten  am  Variiren  der  alten 
viersätzigen  Suite  noch  soweit  fest,  dass  sie  gern  je  zwei 
benachbarte  Sätze  verbinden,  z.  B. 

Allemande. 


f.rtirifdifrf  \nt9r  IT 


Coonnte. 


ifiiMr^rViri'  I 


oder 

Ballet. 


^"rrru'iLL^^ 


Sanbande 


jlll    I  I  IM|I  iTl  I   II 


^)  Carl  Nef,  Die  Collegia  musica  in  der  reformirten  deutschen 
Schweiz  ...  St.  Gallen   1897. 


2* 


c/?     20     '^ 

Ebensoviel  IntcresBC  wie  die  Musik  verdienen  die  Titel 
von  Petzold*8  Hauptwerken:  , Leipziger  Abendmusik* 
(1669)  und  .Fünfstimmige  blasende  Musik»  (1686  , 
Denn  sie  zeigen  uns  den  gesellschaftlichen  Boden,  auf  den 
die  Suite  zur  BlUthe  kam  und  zugleich  das  musikalische 
Kleid,  in  dem  sie  am  liebsten  einherging.  Die  ältere 
Zeit  verbrauchte  viel  mehr  Musik  unter  freiem  Hinunel. 
als  unsere  Gegenwart,  die  sich  nervenmörderischen  Maschinen- 
und  Wagenlärm  ruhig  gefallen  lässt,  aber  jede  Art  von 
Musik,  von  Kunst  überhaupt,  prinzipiell  in  die  Häuser 
sperrt.  Wo  es  in  früheren  Jahrhunderten  in  der  Gemeinde 
oder  in  der  Familie  etwas  zu  feiern  gab,  den  Einzug,  den 
Aufenthalt  von  Standespersonen,  bei  Umzügen,  Volksfesten, 
Kindtaufen,  Hochzeiten,  Geburtstagen,  Jubiläen,  da  schickte 
man  nach  den  Stadtmusikanten,  den  Pfeifern,  nach  dem 
«Hausmann*^  und  seinen  Leuten,  die  von  den  »Aufwartungen* 
auf  Plätzen,  Strassen  und  Gärten,  bei  Festen  und  Schmausen 
ihre  Haupteinnahmen  hatten  und  Hess  Suiten  spielen. 
Die  Orchestersuite  war  in  erster  Linie  Platz-  und  Strassen- 
musik,  erst  in  zweiter,  wie  Riemann  will*),  Kammermusik. 
Darum  blieb  sie  im  Gegensatz  zur  Ciaviersuite  bei  den 
volksthümlichen  Satzformen,  deshalb  setzte  man  sie  auch 
vorzugsweise  für  Blasinstrumente,  am  liebsten  Cornetten 
und  Posaunen.  Peurl ,  Haussmann  und  andere  Vertreter 
der  viersätzigen  Suite  bemerken  allerdings  auf  den  Titeln 
gern  ,|8onderlich  auf  Violen  zu  gebrauchen».  Aber  diese 
Bemerkung  ist  wohl  meistens  nur  eine  captatio  benevolen- 
tiae,  ein  frommer  Wunsch,  vom  Ehrgeiz  eingegeben.  Denn 
die  Streichmusik  war  am  Anfang  des  17.  Jahrhunderts  das 
Neueste  und  galt  für  etwas  Besonderes.  Der  Stil,  in  dem 
sie  ihre  Stimmen  schrieben,  zeigt  nur  selten  eine  ausge- 
sprochene Violinennatur. 

Die  ersten  Orchestersuiten,  die  wir  ganz  ohne  Zweifel 

^)  Hugo  Riemann,  Die  Variationenform  in  der  alten  deutschen 
Tanssuite  (Moiikaliscbes  Wochenblatt  1895).  Derselbe:  Die 
deuttohe  Kammermusik  zu  Anfang  des  17.  Jahrhunderts  (Sänger- 
hain   1895). 


c<?     21     "^ 

als  Kammer-  und  Violinenmusik  zu  betrachten  haben, 
sind  die  von  Georg  Muffat.  Sie  füllen  zwei  Samm  Oeory  MvUkt. 
lungen,  von  denen  die  erste  als  ^Florilegium  primum'^  in 
Augsburg  1695,  die  zweite  als  ,Florilegium  secundum*  in 
Passau,  wo  der  Componist  am  bischöflichen  Hofe  als 
Kapellmeister  und  Pagenhofmeister  angestellt  war,  1698 
erschien.  Der  erste  Band  enthält  7,  der  zweite  8  Suiten 
oder  wie  sich  Muffat,  als  Sohn  seiner  Zeit  auch  hier 
poetisch  ausdrückt:  Fasciculi,  d.  i.  Bündel.  Der  Name, 
den  die  deutschen  Musiker  am  liebsten  für  die  Orchester- 
suite  brauchten  war:  Parthey  oder  Partie.  Die  15  Suiten 
umfassen  112  Sätze,  in  der  Regel  bilden  7  einen  Fascikel. 
Die  Besetzung  ist  für  alle  fUnfstinmiiges  Streichorchester: 
Violine,  Viola,  Bass,  dazu  Violetta  und  Quinta  Parte, 
jenes  eine  kleinere,  dieses  eine  grössere  Sorte  Bratsche  als 
die  heute  gebräuchliche.  Zu  diesen  Streichinstrumenten 
kommt  noch  der  bezifferte  Basso  continuo,  d.  h.  also  die 
Begleitung  des  Cembalo.  Es  ist  bis  auf  eine  oder  zwei 
Stellen  thatsächlich  entbehrlich,  da  die  Streichinstrumente 
allein  immer  vollständige  Harmonien  ergeben ;  aber  es  sagt 
deutlich,  dass  die  Suite  jetzt  ernstlich  zu  den  Kennern 
und  in  die  höhere  Kunst  übersiedeln  will.  Das  zeigt  sich 
auch  noch  in  dem  neuen  vornehmen  Kopfputz,  in  dem  sie 
bei  Muffat  auftritt.  Mit  Ausnahme  von  zweien  steht  an 
der  Spitze  aller  dieser  Fasciculi  eine  regelmässige  fran- 
zösische Quvertüre,  dreisätzig,  wie  sie  Lully  einge- 
führt hatte :  Anfang  und  Ende  langsam,  in  der  Mitte  eine 
bewegte  Fuge.  Einmal  ist  dieser  Typus  der  französischen 
Ouvertüre  durch  einen  Rivalen,  eine  italienische  Sinfonie 
ersetzt.  In  den  Tänzen  selbst  zeigt  die  Muffat'sche  gegen 
die  alte  deutsche  Orchestersiüte  der  ersten  Periode  einen 
künstlerischen  Rückgang:  Von  thematischer  Verbindung 
sich  folgender  Sätze,  vom  Varüren  ist  keine  Rede 
mehr;  nicht  um  Einheit  handelt  es  sich,  sondern  um 
«•ine  Vielheit  scharf  gesonderter  Gestalten.  Mit  einigem 
Rechte  darf  man  die  Suite  Georg  Muffat^s  Renaissance- 
Kiute  nennen.  Eines  der  Hauptziele  aller  Renaissance,  die 
Steigerung    des    individuellen     Gehalts     im     Kunstwerk, 


erHchcint  als  ihr  Hauptziel.  DoHhalb  Vwf^i  ea  MufFat  fem, 
wie  Boine  Vorgänger  eine  beschränkte  Anzahl  von 
Tanzarten  immer  zu  wiederholen:  Er  hat  die  gebrauch 
liebsten  Arten  »einer  Zeit,  Gaillarde,  Courante,  Sarabande, 
Gavotte,  Passacaille,  Bourc^e,  Menuett,  Gigue  —  die  zweite 
Suite  de»  zweiten  Florilegium  bringt  sie  in  der  angegebenen 
Reihenfolge  zusammen  — ;  es  treten  zu  ihnen  noch  Alle- 
mande,  Canaries,  Chaconne,  Conlredan»«»,  Rigaudon,  Ron- 
deau,  Traquouard,  Entrt^e,  Ballet,  Air.  A))er  in  der  Mehr- 
zahl von  Muffats  Suitensätzen  winl  atif  jedes  bekannte 
Schema  verziehtet ,  der  Componist  geht  neuen ,  oft  ver- 
wegenen Aufgaben  nach  und  sucht  sie  mit  den  besten 
Mitteln  zu  lösen.  Besonders  das  zweite  Florilegium  ent- 
rollt ein  äusserst  bunt«'s  Stück  Programmmusik,  einen 
Ausschnitt  aus  den  Flegeljahren  dieser  Richtung,  der  alles 
überbietet,  was  sonst  aus  Froberger's  und  Couperin's  Zeit 
bekannt  ist.  Spanier,  Holländer,  Engländer,  Italiener, 
Franzosen,  Cavaliere,  Bauern,  Dichter,  Tänzer,  Fechtmeister, 
(iendarmen,  Köche,  Schornsteinfeger,  Genien  und  Ge- 
spenster. —  Alles  will  diese  Musik  malen  können ,  auch 
kr»rperliche  Gebrechen ,  die  dem  Ton  und  dem  Rhythmus 
«THichtlich  keinen  Anknüpfungspunkt  bieten:  Einen  Lahmen 
kann  der  Componist  andeuten,  aber  einen  Bucklichten? 

An  solchen  Missgriffen  hat  die  Renaissance  weniger 
Schuld,  als  die  franz^Jsische  Oper.  Durch  die  Bedeutung, 
die  in  ihr  die  BalbMs  hatten ,  kam  die  chon'ographiscln' 
Kunst  auf  den  geschichtlichen  (iripfel  ihrer  Leistungsfahig- 
kt'it  und  ihres  Selbstvertrauens  und  muthete  folgerecht  auch 
ihrer  Gehilfin,  der  Musik,  gelegentlich  unmr»gliche  Dienste 
zu.  Den  Zusammenhang  mit  Ballet  und  Tanz  kekennt 
Muffat  in  den  —  in  lateinischer,  deutscher,  italienischer 
und  franzr»sischer  Sprache  geschriebenen  —  Vorreden  seines 
Florilegiums.  Die  Fasciculi  seien,  sagt  er,  bei  den  Festen 
des  Passaiu^r  Hofs,  beim  Concert  (,|Instrumenten-Zusammen- 
stimmung*  üln^rsetzt  er  das},  beim  glänzenden  Empfang 
hoher  Gäste,  vornemlich  aber  auch  bei  den  Tanz- 
übungen der  adligen  Jugend  aufgeführt  worden. 
Die   Stücke   des   zweiten   Florilegiums   nennt    er   geradezu 


o9     23     '^>^ 

Ballets  und  man  sieht  ihnen  in  der  Mehrzahl  die  Herkunft 
vom  Theater,  von  der  Pantomime  nicht  blos  an  einem 
Punkte  an.  Hier  verrät hs  die  Ueberschrift  der  ganzen 
Suite,  sie  ist  der  Titel  eines  Schauspiels  oder  eines  Ballets 
dort  wird  an  einer  Stelle  gesungen,  dort  gar  mit  Pistolen 
geschossen. 

Wir  haben  es  also  bei  diesen  Suitenwerk  Muffats  mit 
Balletmusik  nach  französischem  Muster  zu  thun.  Wieder- 
holt nennt  er  Lully  als  sein  besonderes  Vorbild.  Ihn  er- 
reicht er  auch  ziemlich,  übertrifft  ihn  in  der  Arbeit,  aber 
mit  Händel  und  Gluck  darf  man,  ihn  nicht  vergleichen, 
wie  das  neuerdings  geschehen  ist  *) ;  am  allerwenigsten  mit 
Rameau.  Das  deutsche  Element  überwiegt  in  seiner  Musik 
mit  seinen  Vortheilen  und  Nachtheilen.  Seine  Kunst 
braucht  etwas  Platz.  Darum  sind  die  längeren  Sätze  die 
besten,  wie  die  vereinzelte  Passacaille  in  der  3.  Suite  des 
zweiten,  der  Rigaudon  in  der  nächsten  Suit«  desselben 
Bandes.  Desgleichen  zeichnen  sich  auch,  wie  man  es  von 
dem  Verfasser  des  Apparatus  musico-organisticus  erwarten 
darf,  die  Fugen  in  den  Ouvertüren  durch  eine  vollendete 
Natürlichkeit  und  Leichtigkeit  aus.  Muffats  Talente  liegen 
auf  der  Seite  des  Gemüths  und  der  anmuthigen  Heiterkeit. 
Als  einer  der  vorzüglichsten  Melodiker  des  mclodienreichen 
17.  Jahrhunderts,  Lully  an  diesem  Punkt  weit  überragend, 
schreibt  er  in  den  Einleitungen  der  Ouvertüren,  in  der 
Form  von  Sarabanden  und  Airs  langsame  Sätze,  die  sich 
in  die  Seele  des  Hörers  auf  lauge  hineinsingen.  In  den 
Giguen,  Menuetts  und  den  ihnen  verwandten  Satzarten 
hat  er  wenig  Nebenbuhler;  in  den  Giguen  namentlich  ist 
er  oft  völlig  neu,  erinnert  an  das  19.  Jahrhundert  mit  der 
phantastischen  Beweglichkeit  und  der  ungewöhnlichen  Metrik 

Pr«sto. 

seiner   Weisen:      j  |, II  ^f\i!^r^r\fTll  ^^ 

Aber  die  Kunst  des  Pointireus,  der  frappanten  Erfindung, 

')  L.  S  toll  brock:  Georg  und  Gottlieb  Muffat.    Rostocker 
Dissertation  1888. 


uQ     24     '«>^ 

in  der  die  Grösse  und  die  Eigenthümlichkeit  der  Franzosen 
ruht,  ist  Muffats  Sache  nicht.  Kleine  Malereien  gelingen 
ihm  manchmal:  Ganz  ergötzlich  giebt  er  z.  B.  einmal  das 
Lärmen  der  Messer  wieder,  mit  denen  Fleisch  geklopft  und 
gehackt  wird,  trefflich  ist  an  derselben  Stelle  —  zweite 
Suite  des  zweiten  Florilegiums  —  die  Lustigkeit  der  Küchen- 
jungen gezeichnet.  Aber  viel,  viel  häufiger  sind  die 
Beispiele  verfehlter  Aehnlichkeit :  Die  Bauern  haben  die- 
selben Züge  wie  die  Cavaliere  und  Gespenster.  Um  unter 
die  Grössen  der  Tonmalerei  sich  zu  erheben,  ist  die 
Rhetorik  des  Componisten  zu  bescheiden  und  zu  sehr  auf 
Wiederholungen  in  allen  drei  Elementarreichen  der  Musik 
angewiesen. 

Noch  weniger,  wie  zwischen  den  Titeln  der  Einzeln- 
sätze und  ihrer  Musik,  lässt  sich  eine  üebereinstimmung 
zwischen  den  üeberschriften  der  ganzen  Suiten  und  ihrem 
musikalischen  Charakter  feststellen.  Es  ist  schon  erwähnt 
worden,  das  diese  Üeberschriften  im  zweiten  Florilegium 
oft  Namen  von  Theaterstücken  sind;  im  ersten  sind  sie  in 
der  Mehrzahl  reine  Räthsel.  Nur  bei  dem  vierten  und 
dem  sechsten  Stücke,  die  Impatientia  und  Blanditiae 
heissen,  lassen  sich  ohne  Gewalt  einige  Beziehungen 
zwischen  den  Werken  und  den  Namen  nachweisen. 

Auf  die  Enttäuschungen,  denen  der  moderne  Hörer 
der  Muffat*schen  Suiten  entgegengeht,  hinzuweisen,  ist  des- 
halb zeitgemäss,  weil  die  beiden  Florilegien  unlängst  in 
Partiturform  neugedruckt  worden  sind.  *)  Schon  vorher 
sind  in  den  Leipziger  Akademischen  Orchesterconcerten 
die  Blanditiae  aufgeführt  worden  und  nach  andern  Stelleu 
weiter  gedrungen.  Die  Muffat'sche  Musik  ist  trotz  der 
nöthigeu  Einschränkungen  geschichtlich  und  künstlerisch 
werth  gekannt  zu  sein.  Wer  sie  auffuhrt,  muss  aber 
wissen,  wie  weit  die  Noten  wörtlich  bindend  sind  und  wo 
sie  der  Ergänzung  bedürfen.  Von  sonstigen  Freiheiten 
des  Vortrags  alter  Musik  abgesehen,  arbeiten   die   Suiten 

')  Denkmäler  der  Tonkunst  in  Oesterreicb,  Band  I,  2  und 
II,  2.     Wien   1894  und   1895. 


u?     25     "ö^ 

Muffats,  wie  die  Instrumentalmusik  und  der  Sologesang 
ihrer  Zeit  im  Allgemeinen  mit  einem  sehr  grossen  Apparat 
von  Verzierungen  und  Spielmanieren ,  die  nicht  gedruckt 
wurden  und  die  die  heutige  Musik  nicht  mehr  kennt.  In 
der  Vorrede  des  zweiten  Florilegiums  giebt  Muffat  darüber 
den  deutschen  Musikern,  denen  dieser  Zierrath  noch  etwas 
fremd  und  neu  war,  genaue  Anweisungen.  Nach  ihnen 
muss  der  Dirigent  die  Stimmen  erst  ausarbeiten.  Der  ganze 
Charakter  dieser  Musik  wird  durch  diese  , Agrements*  und 
Ornamente  mit  bestimmt.  Aus  ihnen  spricht  der  an  Klein - 
leben  unerschöpflich  reiche,  vermittelnde,  glättende,  alle- 
zeit graziöse  Geist  des  Roccoco.  Der  heute  so  beliebte, 
grosse  Ton ,  die  langen  Noten,  die  weiten  Intervalle  waren 
ihm  rauhe  und  rohe  Erscheinungen;  durch  eingelegte 
Gänge,  durch  ein  beständiges  Gleiten,  Schleifen  und 
Trillern  setzte  er  ihre  Wirkungen  ausser  Kraft.  Auch 
ein  guter  Ciavierauszug  der  Florilegien  müsstc  mit  dieser 
Stileigenthümlichkeit  rechnen. 

Muffat  verfolgte  mit  der  Veröffentlichung  seines 
Florilegiums  noch  höhere,  kunstgeschichtliche  Zwecke. 
Es  sollte  in  Deutschland  der  französischen  Schule  die  Herr- 
schaft über  die  italienische  gewinnen.  Die  Italiener 
pflegten  seit  dem  Anfang  des  Jahrhunderts  mit  grossem 
Eifer  das  Concert.  Von  ihm,  namentlich  von  dem  ihm 
innewohnenden  Hang  zu  ^unmässigen  Läufen  und  Sprüngen**, 
zu  virtuosen  Aeusserliehkeiten  und  zu  allerhand  Blendwerk, 
fürchtete  Muffat  für  den  musikalischen  Geist  der  Zukunft 
mit  Recht  ernste  Gefahren  und  suchte  ihm,  allerdings  viel 
zu  spät,  durch  die  nach  seiner  Meinung  viel  solidere  und 
gesündere  Kunst  der  französischen  Charakterballets  den 
Weg  nach  Deutschland  zu  versperren.  Das  gelang  nicht; 
bereits  1701  hat  Muffat  selbst  zwölf  Instrumentalconcerte 
nach  italienischem  Muster  drucken  lassen.  Wir  haben 
bis  heute  auch  noch  keine  zureichenden  Nachrichten  über 
die  Verbreitung  von  Muffats  Florilegien.  Nur  das  wissen 
wir,  dass  sie  nach  Schweden  kamen.  Aber  es  unterliegt 
keinem  Zweifel ,  dass  sie ,  soweit  es  sich  um  Violinen, 
Cembalo    und  französische   Ouvertüre,    also    um  die  An- 


o?     26     -ö-- 

näherung  an  die  höhere  Kunst,  an  Coneert  und  Kammer- 
musik handelt,  für  die  Orchestersuite  in  Deutschland  vor- 
bildlich geworden  sind. 

Während  die  Italiener  nach  wie  vor  sich  an  der  Pflege 
der  Orchestersuite,  unmittelbar  wenigstens,  nur  schwach 
betheiligten,  behielten  die  Franzosen  noch  lange  das 
Uebergewicht  auf  diesem  Gebiete.  Nur  darf  man  ihre 
Leistungen  nicht  unter  der  Rubrik  , Orchestersuite*  suchen. 
Den  Rahmen,  in  dem  sie  enthalten  sind,  bilden  die  Ballet- 
scenen  der  französischen  Opern  des  17,  und  18.  Jahr- 
hunderts. Da  braucht  man  sie  nur  herauszunehmen  und 
zusammenzustellen.  Oft  bietet  eine  einzige  Scene  das  ge- 
sammte  Material  zu  einer  vollständigen  Suite ;  denn  Charakter- 
länze  und  Ballets  bilden  den  Grundstock  und  oft  die  reich- 
liche Hälfte  der  Musik  in  der  älteren  franz()sischen  Oper.  So 
sind  denn  früher  schon  einzelne  Sätze  aus  Lully's  und  Rameau's 
Opern  mit  Erfolg  in 's  Coneert  gebracht  worden.^)  Neuerding« 
J.  P.  Ramean.  ermöglicht  die  Ausgabe  von  drei  „Balletsuiten*  *)  Rameau^s 
ein  bequemes  Studium  dieses  Meisters.  Sie  sind  dazu  bisher 
noch  wenig  benutzt  worden,  wahrscheinlich  deshalb  nicht, 
weil  nur  sehr  wenige  Musiker  und  Musikfreunde  eine 
Ahnung  von  der  Bedeutung  Rameau's  haben.  Wie  er  im 
Allgemeinen  ohne  jedes  Bedenken  der  gWisste  Tonsetzer 
Frankreichs  und  ein  ebenbürdiger  Zeitgenosse  von  Händel 
und  Bach  genannt  werden  darf,  so  ist  er  auf  dem  be- 
sonderen Gebiet  der  Suite,  des  poetischen  Charakterstücks, 
der  geschmackvollen  Programmmusik  geradezu  unvergleich- 
lich. Er  vertritt,  gegen  Lully  und  Muffat  gehalten,  eine 
neue  Zeit  und  eine  Kunst,  die  die  SehtJnheitsideale  der 
Claude    Lorrain    und    Poussin     mit     dem    Realismus    der 


*)  Lully:  „Celebre  Gavotte"  und  Monuet  de  Bourgeois 
Gentilhomine;  Rameau:  Musette  et  Tambourin  des  „Fetes 
d'Hebe*,  Rigaudon  de  „Dardanus"  fragments  de  „Castor  et 
Pollux**  in  Gevaert's  Kepertoire  des  Societöa  philharrooniques. 

*)  Drei  Balletäuiten  aus  Acante ,  Zoroaster  und  Piatee. 
Leipzig,  Kieter-Biedermann.  Den  hier  versuchten  Titel  „Ballet- 
suite"  hat  sich  inzwischen  auch  Felix  Mottl    zu    eigen  gemacht. 


«/?     27     "o^ 

Niederländer  zu  verbinden  weiss.  Gross  und  vielseitig  im 
Erfinden,  besonders  originell  im  Humoristiscben ,  im  An- 
muthigen  und  Innigen,  ist  er  im  Gestalten  ein  echter 
Virtuos.  Er  spielt  mit  der  Form  und  gewinnt  ihr  nach 
allen  Seiten  vollendete,  hier  durch  Breite  und  Umfang, 
da  durch  Feinheit  der  Verschlingungen  überraschende 
Neubildungen  ab.  In  seiner  Melodik,  in  seiner  Rhythmik, 
überall  wimmelt  es  von  ganz  eigenen,  schönen  und  fesselnden 
Einfällen;  nicht  am  wenigsten  in  seiner  Instrumentation, 
in  der  wir  Klangwirkungen  begegnen,  die  vor  ihm  Niemand 
gehabt  hat  und  die  heute,  nach  hundertundfunfzig  Jahren, 
von  ihrer  Frische  nicht  das  Geringste  eingebüsst  haben. 
Hier  kommt  er  in  der  Zeit  und  im  Rang  unmittelbar  nach  t 

Monteverdi.  Wenn  die  Franzosen  noch  heute  in  ihrer 
Oper  der  Balletmusik  eine  Stellung  einräumen,  die  die 
Deutscheu  nicht  begreifen,  so  ist  das  die  Nachwirkung 
Rameau^s.  Wagner's  Balletmusik  zum  Pariser  Tannhäuser 
war  ein  Opfer,  nicht  dem  Jokeyklub,  sondern  einer  grosse« 
historischen  Tradition  dargebracht.  Auch  Gluck  hat  C.W.  TonG lock, 
sich  ihr  beugen  müssen  und  er  hat  sie  lieb  gewonnen. 
Waren  lange  Zeit  der  „Furientanz*  und  der  „Reigen  seliger 
Geister*  aus  Orpheus  die  einzigen  Beiträge  zur  Suite ,  die 
man  von  ihm  kannte,  so  ist  das  neuerdings  anders  geworden. 
Wir  haben  da  u.  a.  die  Balletmusik  aus  „Paris  und 
Helena*  von  ihm  vorliegen,  Mottl  hat  als  „Balletsuite* 
Stücke  aus  verschiedenen  Opern  Gluck's  zusammen- 
gestellt; auch  der  grtisste  Theil  seines  1761  geschriebenen 
Ballets  „Don  Juan*  ist  vor  einigen  Jahren  in  Form 
einer  viersätzigen  Orchestersuite  dem  Concert  zugeführt 
worden.*)  Dieses  Ballet  brachte  pantomimisch  dieselbe 
Handlung  mit  denselben  Personen  und  in  derselben  Scenenfolge 
zur  Darstellung,  die  später  Mozart  als  Oper  componiert  hat. 
Gluck  hat  viele  Sätze  aus  diesem  Ballet  für  nachfolgende 
Opern  benutzt,  die  Höllenfahrtmusik  z.B.  i«t  der  „Furientanz* 
geworden.    Mehrere,   namentlich    unter    den   kleinen   und 


*>  Leipzig',  Droitkopf  &  Härtel. 


28 


Öo 


Hiadel 

Fetiennasik. 


kleinsten   Stücken   haben  einen   hohen  Klangreiz,  so  da» 
Pizzicatoständchen   der  Bauern. 

Neben  der  neuen  Muffat'schen  Violinensuite,  bestand 
natürlich  die  alte  Bläsersuite  noch  weiter  und  so  lange 
fort,  als  es  noch  Ständchen  und  allerhand  .Aufwartungen* 
im  Freien  gab.  Sie  begegnet  uns  noch  in  den  Divertisse- 
ments, Cassationen  und  ähnlichen  Compositionen  Haydn's 
und  Mozarts.  Auch  G.  F.  Händers  Feuer-  und 
Wassermusik  gehörten  ursprünglicher  zu  dieser  Classe 
von  Suite.  Die  Violinen  und  die  Ouvertüren  sind  ihnen  erst 
später  zugesetzt ;  die  Feuermusik  hat  heute  noch  kein  Cembalo 
Die  Feuermusik  kam  bei  einem  Hoffest,  da«  sich 
durch  ein  brillantes  Feuerwerk  auszeichnete,  am  27.April  1749, 
zur  ersten  Auffiihrung.  Was  den  Londonern  an  der  Musik 
gefiel,  war  die  ausserordentlich  starke  Besetzung  der  Blas- 
instrumente, welche  die  Feuerwerks-Musik  auszuführen 
hatten.  Nur  selten  mochte  bis  dahin  eine  solche  Harmonie- 
musik aufgestellt  worden  sein:  9  Homer,  9  Trompeten, 
24  Oboen,  12  Fagotte,  3  Pauken.  Das  Hauptstück  der 
Suite  ist  jetzt  die  glänzende»  Ouvertüre,  mit  ihrem  freude- 
hichenden,  farbenprächtigen  Allegro,  welches  überraschender 
Weise  nach  dem  zweiten  Lento  nochmals  einsetzt.  Die 
übrigen  Sätze  haben  einfachen  Tanz-  und  Liedstil:  Im 
Anschluss  an  die  entsprechenden  Bilder  des  Feuerwerks 
tragen  einzelne  Ueberschriften :  der  schöne,  weiche  Siciliano 
heisst  ,1a  paix* ,  der  drauf  folgende  schnelle  Marsch,  in 
dem  die  Trompeten  wieder  an  die  Spitze  treten  ,1a  n'jouLs- 
sance*.  Die  Wassermusik,  eine  Suite  von  nicht  weniger 
WasBermosik.  alg  20  kleinen  Stücken,  ist  mit  einer  Anecdote  verknüpft: 
Freunde  Händeis,  der  bei  Georg  I.  in  Ungnade  gefallen 
war,  veranlassten,  dass  der  König  bei  einer  abendlichen 
Vergnügungsfahrt  auf  der  Themse  mit  dieser  Musik  über- 
rascht wurde.  Der  König  errieth  den  Verfasser  der 
vielstimmigen  Ovation  und  wendete  dem  Componisten  seine 
Huld  von  Neuem  zu.  Noch  weniger  als  die  Feuermusik 
darf  man  die  Wassermusik  so  ohne  Weiteres  in  unsem 
heutigen,  an  philosophische  Offenbarungen  gewöhnten 
Concertsaal    verpflanzen.      Das    sind    durchweg    leichtere 


Häadel 


Unterhaltungsstückchen  heiterer  oder  anmuthiger  Natur, 
aber  durchaus  für  den  Zweck  entworfen,  einer  fröhlichen 
Gesellschaft,  die  Abends  auf  der  breiten  Themse  fuhr,  in 
gehörigen  Zwischenpausen  zum  Besten  gegeben  zu  werden ; 
bei  gehöriger  Kürzung  und  Einrichtung  wird  jedoch  die  Suite 
mit  dem  Reize  ihrer  Hom-  und  Trompetenklänge  ein  einsich- 
tiges Publikum  auch  heute  noch  staunen  machen  und  erfreuen. 

Wir  kannten  bisher  Feuer-  und  Wassermusik  nur  aus 
alten,  unglaublich  verstümmelten,  englischen  Ausgaben. 
Der  47.  Band  der  Händelausgabe  Chrjsanders  bringt  die 
Werke  zum  ersten  Male  in  reiner  Form. 

Wenn  Einer  von  den  vielen  Eunstmusikem,  die  sich 
von  der  Mitte  des  17.  Jahrhunderts  ab  der  Suite  zuwendeten, 
berufen  war,  in  dieser  von  Hause  aus  so  volksmässigen 
Gattung  etwas  Ausgezeichnetes  zu  leisten,  so  war  es  sicher- 
lich S  e  b.  B  a  c  h ,  dessen  Familie,  durch  die  vielen  tüchtigen 
Raths-  und  Stadtmusikanten,  die  sie  den  thüringischen 
Ländern  Geuerationen  hindurch  stellte,  mit  dem  alten  an- 
heimelnden Pfeiferthum  verwachsen  erscheint  —  Bach,  der 
selbst  in  seinen  verschlungensten  Kunstwerken  die  Neigung 
zum  Volksthümlichen  bald  mit  grandiosem  Humor,  bald  in 
kindlicher  Naivität  durchblicken  lässt.  Bach  hat  bekannt- 
lich sehr  viele  Ciaviersuiten  geschrieben,  Orchesterpartien 
leider  nur  vier,*)  was  wir  um  so  mehr  bedauern  müssen, 
ab  in  der  Mehrzahl  derselben  der  alte  einfache  Suitengeist 
in  einer  Reinheit  und  Stärke  zum  Ausdruck  kommt,  die 
andern  Tonsetzem  nicht  erreichbar  war. 

Entschieden  lehnt  sich  Bach  in  seinen  Orchestersuiten 
an  die  Tanzformen :  Nur  der  erste  Satz  —  eine  regelrechte 
französische  Ouvertüre  von  3  Sätzen  mit  der  Fuge  in  der 
Mitte  —  gehört,  wie  bei  Muffat,  der  Kunstmusik  an.  Dann 
kommen  Gavotten,  Menuetten,  Bour^es,  Giguen,  Tanzweisen  J.  8.  Bark 
aus  aller  Herren  Ländern  in  voller  Naturtreue,  kaum   ein      Soiten. 


^)  Sie  sind  im  31.  Jahrgang  der  Gesammtausgabe  von 
Bach's  Werken  (durch  die  Bacbgesellschaft)  unter  dem  Titel 
«.Onvertttren",  veröffentlicht.  Nach  alter  Regel  gab  der  erste 
Sati  der  Suite  den  Gesammtnamen. 


«?     30     «» 

wenig    ideaKsirt:    üppige    Melodien     und    gebieteriBche, 
markante  Rhythmen. 
J.  S.  Bmeh  Die    erste    dieser    Suiten    in    C  dur    hat    ausser    der 

c  dor-Soite    Ouvertüre  eine  Courante,  Garotte  I  und  TI,  Forlane,  Menuett 
(Nr.  1).       j  yjj^  jj^  Bour^e  1  und  11  und  2  Passepieds. 

Die  Forlane  ist  ein  venetianischer  Tanz  in  gleich- 
massig  ruhiger,  breiter  Bewegung.  Hier  wird  die  führende 
Melodiestimme : 


von  einem  Perpetuum  mobile  der  zweiten  Violinen  und 
Bratschen    begleitet;    die    Bässe    stehen    wie    Zuschauer 
daneben  und  thun   nur  das  Nöthigste  um  Harmonie  und 
Rhythmus  zu  skizziren.     Die   Besetzung  der  Suite    geht 
über  Muffat   hinaus,    sie  besteht  aus  Streichquartett   und 
dem  bekannten  Bläsertrio:  2  Oboen  und  Fagott.    Letzeres 
ist  in  alter  Weise  häufig    solistisch  und  concertirend  ver- 
wendet.   In  Bezug  auf  die  Erfindung  gehört  diese  C  dur- 
Suite  nicht  zu  den  hervorragenden  Werken  Baches.    Sie 
charakterisirt    mehr    die  Zeit  als  den  speciellen   Meister. 
Die  Biographen  setzen    sie   in  Bach*8  Cöthener  Periode. 
J.  S.  Baeh    Dieser  gehört  auch  die  Hmoll-Suite  an,  deren  eigenthüm- 
HmoU-Suite   lieber  Zug  in  der  Verwendupg  der  Flöte  besteht,  welche 
^''  ^^'       als  einziger  Vertreter  der  Bläserfamilie  dem  Streichorchester 
gegenüber    gestellt    ist.     Doch  hat  man  sich  nach  alter 
Praxis,  mit  Ausnahme    der  speciell   als  Solo  bezeichneten 
concertirenden  Stellen,  eine  chorweise,  jedenfalls  mehrfache 
Besetzung  dieses  Instruments  zu   denken  oder  aber,  man 
fuhrt  die   Suite   als  Kammermusik   auf,  nimmt    nur  eine 
Flöte    und    doppeltes    Streichquartett.*)      In   der  Hmoll- 
Suite  lebt  sehr  viel  Grazie.     Das  Thema  ihrer  Fuge   ist: 
Allegro. 

^i-'  I  ^  ^  r  I  r :  -^f^  r  r  r  tr^Frr 


^)  Es  giebt  von  diesem  Werk  eine  Ausgabe  von  H.  v.  Bülow, 
die  aber  der  Bach'schen  Musik  durch  uunatürliche  Phrasirung 
Gewalt  anthut. 


^     31     '^ 

Dem  ersten  Satze  folgt  ein  Rondeau,  das  einigermassen 
kunstmässig  durchgeführt  ist  und  die  einfachen  Suiten- 
maasse  überschreitet.  Seine  Gnindmelodie  uialt  aber  das 
bestimmte  Tanzbild  handgreiflich  genug: 

ii*^f}  1 1  fr  ii  r^r^'^^''^^^^'''rrrr^ 


In  der  darauf  folgenden  Sarabande  führen  die  Oberstim- 
men mit  dem  Basse  einen  Canon  in  der  Unterquinte  durch. 
Die  weitem  Sätze  sind  2  Bour^es,  eine  Polonaise,  bei  der 
Bach  ausnahmsweise  eine  Tempobezeichnung  angiebt: 
«Moderato*  ein  sicheres  Zeichen,  dass  er  darauf  besonderen 
Werth  legte;  ein  Menuett  und  eine  keck  dabin  flatternde 
Badinerie.  Die  H  moll-Suite  hat  als  künstlerischer  Beitrag 
zur  Culturgeschichte  noch  ihren  Nebenwerth.  Das  ge- 
schniegelte, fein  abgezirkelte  Wesen  der  eigentlichen 
, Gesellschaft*  in  der  Zeit  des  Reifrocks  und  der  Perrücke 
mit  Zöpfchen  ist  hier  so  fein  und  mit  einem  so  behaglichen 
Humor  gezeichnet,  als  es  nur  jemals  ein  Chodowiecki  ge- 
konnt hätte.  Den  Verfasser  der  Matthäuspassion,  den 
Schöpfer  der  protestantischen  Kirchencantate  zeigt  die 
H  moll-Suite  von  einer  seltneren  Seite,  als  einen  vollendeten 
Kenner  und  Darsteller  höfischen  Geistes  und  höfischer 
Künste,  als  einen  Weltkundigcn,  der  die  Etiquette  bis  auf 
den  unscheinbarsten  pas  beherrschte. 

Die  beiden  andren  Suiten  Bach's  stehen  in  D  dur  und 
sind  beide  in  Leipzig  geschrieben,  mciglicherweise  für  den 
Telemann'scben  Musikverein,  einen  der  Vorläufer  des 
jetzigen  Gewandhausconcerts ,  den  Bach  von  1729—36 
dirigirte.  Es  sind  sogenannte  Trompetensuiten,  Suiten, 
mit  dem  vollen  Orchester  der  Bach'schen  Zeit.  Sie  waren 
eine  Zeit  lang  das  Neueste  und  Vornehmste,  was  in  dieser 
Art  Musik  zu  haben  war.  Wie  das  grosse  Geläute,  mussten 
sie  besonders  bestellt,  bewilligt  und  bezahlt  werden.  Dass 
Bach  in  Leipzig  als  Suitencomponist  volksthümlich  ge- 
worden war,  beweist  die  von  Spitta  dem  ,Tableau  von 
Leipzig  im  Jahre  1783*  entnommene  Mittheilung,  in  der 
es  bei  der  Schilderung  der  Kirmess  zu  Eutritzsch  heisst: 
»Das  Chor  Musikanten  streicht  wacker  zu;  debütirt  mit 


Sonaten  von  Bach  und  schliesst  mit  Gassenhauern*. 

Diese  Sonaten  können  nur  die  Orchestersuiten  oder  Theile 

daraus  gewesen  sein.     Bei    den  Laien,  und  auch  bei  den 

gewöhnlichen  Orchestermusikem  war  und  blieb  , Sonate**  der 

UniTersalname  für  mehrsätzigc  Compositionen  jedweder  Art. 

J.  8.  Baeh  Die  erste  dieser  beiden  D  dur-Suiten  ist  auch  heute 

D  dnr-Soite    wieder  populär.     Wir  wollen  nur  die  Anfangstakte  ihrer 

(Nr.  8).       Ouvertüre  hersetzen : 

Orave.  -v 

Das  Weitere,  die  in  heiterster  Kraft  dahin  schäumende  Fuge, 

Allef^ro.  • 

A  ip  »  ^^TET  [fT  LLT  I  ^  ^^  tf^  die  entzückende,  in  selige 

Abendstimmung  getauchte  Air  JL  '<    ^^^^ 

die  energischen  Gavotten  und  was  noch  dazu  gehört: 
Bour^e  und  Gigue,  das  Alles  steht  jedem  Musikfreund  mit 
der  losen  Skizze  vollständig  vor  der  Erinnerung.  Es  ist 
fast  unvermeidlich,  diese  Musik,  die  aus  dem  frischsten 
Quell  entsprungen  ist,  sich  zu  merken.  Ein  äusserst  glück- 
licher GriflP  war  es,  dass  Mendelssohn  (im  Jahr  1838)  gerade 
mit  diesem  Werke  den  als  Orchestercompouisten  ganz  ver- 
gessenen Grossmeister  in  den  Gewandhaussaal  und  damit 
in  das  Concertleben  der  Gegenwart  zurückführte.  ,Er 
wiegt  uns  sammt  und  sonders  auf  dem  kleinen  Finger* 
schrieb  Schumann  unter  dem  frischen  Eindruck  der  Auf- 
führung dieser  Suite. 
J.  8.  BMh  Die  andre  Suite  in  D  dur  hat  entweder  unter  der  Be- 

D  dur-Snite    rühmtheit  ihrer  Schwester  oder  aber  unter  der  Bequemlich- 
(Nr.  4).       ^q[i  (j^r  Dirigenten  bisher  zu  leiden  gehabt.    Noch  ehe  sie 
in  der  Bachausgabe  erschien,  hat  sie  (1881)  Roitzsch  bei 


^)  Sie  wird  in  der  bekannten  Wilhelmi'schen  Bearbeitung 
für  Solovioline  durch  die  Transposition  auf  die  tiefen  Saiten  im 
Charakter  entstellt. 


cc?     33     's>^ 

Petcre  in  Partitur  herausgegeben.  TrotzdeiA  ist  sie  so 
gut  wie  unbekannt  geblieben.  Brcnet,  der  französische 
Geschichtsschreiber  der  Sinfonie  nennt  sie  gar  nicht.  Und 
doch  ist  sie  in  doppelter  Beziehung  sehr  interessant: 
einmal  durch  ihren  Eigenwerth,  zweitens  durch  den  Ver- 
gleich mit  der  andern  Ddur-Suite,  der  in  der  Ouvertüre 
wenigstens  sich  aufzwingt.  Hier  ist  die  Verwandt- 
schaft der  beiden  Werke  eine  eminent  nahe;  im  lang- 
samen Satze  sind  die  Motive  nahezu  identisch,  nur  in 
der  Behandlung  unterscheiden  sie  sich.  Wie  die  erste 
D  dur-Suite  in  ihrer  Air,  so  hat  diese  zweite  in  der  zweiten 
Bouröe  einen  Treffer,  der  nie  versagen  wird.  Das  ist  ein 
ganz  eigenes  Stückchen  Bach'scher  Melancholie ;  in  heiterer, 
anmuthiger  Form   die  Klage  der  Oboe: 

Allegramoderato.  k 

u^j-  L-j--r  ir.^-   I    i-r^^^  irfflff       "™  *^*^  herum 

der  beunruhigte  Solofagott   und   der  lauschende   und  auf- 
munternde Chor! 

Die  Fuge  in  der  Ouvertüre  mit  diesem  Thema: 


f  11^  »  P  ^77r7-rlr7Tr^rr?>lr■rrrr^r^^?V|g+F 


ist  von  Bach  in  der  Weihnachts-Cantate  , Unser  Mund  sei 
voll  Lachen**  zum  Chore  umgebildet.  Bach  Hess  die 
Instrumente  wie  sie  waren  und  componierte  Singstimmen 
darüber  hinzu.  Die  weiteren  Sätze  dieser  zweiten  D  dur- 
Suite  sind,  soweit  sie  nicht  schon  erwähnt  wurden :  Bour^e  I, 
Oavotte,  Menuetto  con  Trio  und  ein  „R(?jouissance*  be- 
nannter Finalsatz.  Die  Instrumentirung  in  dieser  ganzen 
Suite  ist  mit  besonderem  Bedacht  ausgeführt;  ein  Theil 
der  Wirkung  der  Composition  fallt  in  ihren  Bereich  allein. 
Für  die  moderne  Praxis  macht  allerdings,  abgesehen  von 
der  Nothwendigkeit ,  die  drei  Oboen  jede  mehrfach  zu 
besetzen,  der  Trompetenchor  grosse  Schwierigkeiten, 
Schwierigkeiten,  die  noch  bedeutender  sind,  als  die  (in  den 
Originalstimmen  wenigstens)  gefürchteten  der  bekannten 
D  dur-Suite  Nr.  3. 

Trotz  des  starken  Verbrauchs  an  Orchestersuiten  sind 
Kretzichmar,  Führer,  I.  8 


oo     34     "ö^ 

im  18.  Jahrhundert  keine  mehr  gedruckt  worden.  Auch 
die  Bach'schen  lagen  bis  auf  unsere  Zeit  nur  handschrift- 
lich vor.  Unter  den  Zeitgenossen  von  ihm,  die  sich  der 
Suite  widmeten,  verdient  der  als  kirchlicher  Tonset^r  wohl 
J.  D.  Zelenka.  heute  noch  bekannte  Joh.  Dismas  Z  e  1  e  n  k  a ,  ein  geborener 
Böhme  und  mit  S.  Bach  zugleich  Hof-  und  Kirchen- 
componist  der  Kapelle  in  Dresden  Beachtung.  Die  vor- 
malige musikalische  Privatsammlung  Sr.  Majestät  des 
Königs  von  Sachsen  besitzt  von  Zelenka  eine  Trompeten- 
suite in  F,  *)  über  deren  Humor  wohl  schon  das  Fugenthema 
der  Ouvertüre: 


unterrichtet.  Was  ist  das  für  ein  drolliger  Einfall,  sich  auf  dem 
Sechzehntel-Motiv  festzurennen  und  was  giebt  das  für  einen 
grotesken  Scherz,  wenn  die  Oboen  in  Terzen  sich  um  die 
Stelle  abmühen!  Tn  dem  guten  Blick  und  der  Vorliebe 
für  lustige  Nebenmotive  haben  wir  einen  Zug,  an  dem  die 
slavische  Musik  noch  heute  zu  erkennen  ist.  Mit  der 
Ouvertüre  theilt  ihn  auch  der  Schlusssatz  von  Zelenka'» 
Suite,  eine  , Folie*,  mit  folgendem  Hauptthema: 

z^:^ XJJIP  \^fj[\  fJrJ^IjLfc  aus  dem  im  Verlauf 

das  Motiv  vom  Anfang  des  dritten  Taktes  bevorzugt  wird. 
Diese  Folie  ist  sehr  lang  und  eifrig  durchgearbeitet,  ein 
Zeichen,  dass  die  höhere  Kunst  in  der  Suite  sich  nicht  mehr 
mit  der  Ouvertüre  begnügen  wollte,  dass  man  das  Wesen  der 
Suite  nicht  mehr  recht  verstand.  Für  Norddeutschland  ist 
ihre  Geschichte  mit  Bach  und  Zelenka  zunächst  zu  Ende.  In 
Süddeutschland  und  Oesterreich  hielt  sie  sich,  wie  aus  den 
Werken  der  Wiener  Klassiker  bekannt,  noch  länger,  aber 
nicht,   ohne    auch   hier  eine   kleine  Wendung    nach    der 


*)    Ihre   Veröffentlichung   durch    nroitkopf   &    Hftrtol    steht 
nächstens  bevor. 


«e     35     "^ 

gelehrten  Kunst  zu  machen.  Seit  jener  Zeit  hat  sich 
iswischen  der  Tonkunst  der  höheren  und  der  niederen 
Stände  ein  Riss  gebildet  und  fast  zu  einer  Kluft  erweitert, 
deren  Beseitigung  wir  nur  aufs  lebhafteste  wünschen  können. 
Neben  die  Ga|)rieli'8che  Orchestersonate  und  neben  die 
Suite  tritt  schon  bald  im  17.  Jahrhundert  als  eine  dritte 
Gattung  selbständiger  Orchestermusik  die  Sinfonie. 

Das    Wort    Sinfonie    fuhrt    uns   einige    Jahrtausende 
zurück :  Die  griechischen  Theoretiker  gebrauchen  es  zuerst 
in  dem  Sinne  eines  melodischen  Intervalls;   bei  den  mittel- 
alterlichen Musikschriftstellem  erhält  es,  von  Hucbald,  von 
Guido    von  Arezzo    ab,    die  Bedeutung    des    Zusammen- 
klangs, des  Accords.    Im  16.  Jahrhundert  endlich  erscheint 
das  WoH    auf   den  Titeln    von    Compositionen  allgemein 
poetisirend:  Waelraut  1594:  Symphonia  angelica,  Engels- 
klängc,  G.   Gabrieli   1597:    Sacrae  symphoniae,    fromme 
Klänge,    Adr.    Bianchieri    1607:    Ecciesiastiche    Sinfonie, 
geistliche  Klänge.     Es  bergen  sich  zunächst  unter  diesen 
Sinfonien  Sätze  von  ganz  verschiedener  Form,  vokale  und 
instrumentale.     Erst    in  der  Oper  wird  die  Sinfonie  aus- 
schliesslich Orchestermusik.    In  Monteverdi's  Orfeo  werden  MoBt«f«rdi*s 
Scenen    und   Akte    durch    Orchestersätze     von    massiger     SImfiml«. 
Länge  (6,  10,  12  Doppeltakte)  eingeleitet  und  abgeschlossen, 
die  als  S  in  f  o  n  i  e  n  bezeichnet  sind  im  Gegensatz  von  andern, 
die   Strophen  eines  Gesangs  vorbereitenden  Instrumental- 
sätzchen,  die  Ritornelle  heissen.    Wir  haben  also  hier 
Sinfonien  zum  ersten  Male  im  Sinne  kurzer,  instru.nentaler 
Einleitungen.     So  wird  das  Wort  bekanntlich  noch  lange, 
bis    in    die    Zeiten    der    Bach'schen   Cantaten  gebraucht. 
Matheson  kennt  es  fast  nur  von  dieser  Seite.    Diese  Monte- 
verdi'schen  Sinfonien  die  in  ihrem  feierlichen  und  erhabenen 
Charakter  noch  einen   deutlichen  Zusammenhang  mit   der 
Kirche  und  mit  Gabrieli  haben,   gehören  mit  zu  den  be- 
deutendsten    Höhepunkten    in     der    Kunst    des     grossen 
italienischen   Meisters.     Ein  solches  Mittel  zur  Beseelung 
der  Handlung  hatte  bis  dahin  keine  Art  von  Drama  besessen. 
Auch  der  Chor  der  griechischen  Tragödie  bleibt  dahinter 
zurück.     Denn    diese   Monteverdi*schen    Sinfonien    gaben 

8» 


^     36     'c>^ 

nicht  blo8  der  Stimmung  an  wichtigen  Stellen  mächtigen 
Ausdruck,  sondern  sie  verknüpften  auch  entfernte  Scenen 
in  einer  innigen  poetischen  Weise,  die  neu  war,  die  später 
vergessen  und  erst  durch  ComponLsten  unserer  Zeit,  ins- 
besondere durch  R.  Wagner  wieder  entdeckt  wurde.  Eins 
der  schönsten  Beispiele  für  diese  Verwerthung  der  Instru- 
mentalmusik bietet  Monteverdi's  Orfeo*)  im  dritten  Akt: 
Die  Sinfonie,  unter  deren  schauerlichen  Posaunen  klängen 
hier  Orfeo  zum  Hades  hinabsteigt,  hören  wir  in  dem 
Augenblick,  wo  Charon  den  Bitten  des  Sängers  weicht 
zum  zweiten  Mal:  jetzt  aber  gedämpften  Tons  im 
Bratschenkolorit.  Unter  den  nächsten  Nachfolgern  Mon- 
te verdi's  ist  Giulia  Caccini  als  Vertreterin  dieser  kleinen 
scenischen  Sinfonien  zu  bemerken;  in  der  Venetianischen 
CftTAlll's  Schule  zeichnet  sich  Cavalli  darin  besonders  aus.  Ihm 
SUfOBieB.  gelingen  namentlich  malerische  Aufgaben,  die  Schilderung 
eines  Sonnenaufgangs,  einer  Fahrt  auf  ruhigem  Meer 
(Sinfonia  navale  in  „Didone*)  ganz  herrlich. 

Eine  Hauptbedeutung  gewann  die  Oper  für  die 
Sinfonie  von  dem  Augenblick  ab,  wo  die  Sinfonie  zur 
Eröffnung  der  Musikdramen  verwendet  wurde.  Schon 
Monteverdi  hat  diesen  Versuch  gemacht.  Doch  blieb 
man  noch  lange  dabei,  die  Handlungen  mit  einem  ge- 
sungenen Prolog  einzuleiten.  Erst  in  der  Venetianischen 
Schule,  etwa  von  1650  ab,  haben  alle  Opera  Instrumental- 
prologe und  zwar  mit  dem  Titel  Sinfonie.  Mit  diesen 
VeMtUniiohe  Venetianischen  Opernsinfonien  —  auf  sie  wird  bei  Behand- 
Sinfonie.  l\mg  der  Ouvertüre  näher  einzugehen  sein  —  beginntdie 
Greschichte  der  modernen  Sinfonie  und  zwar  ist 
diese  Jugendzeit  einer  ihrer  rühmlichsten  und  gehaltvollsten 
Abschnitte.  Es  sind  Compositionen  von  massigen  Umfang 
—  von  35  bis  zu  70  Takten  —  und  nur  einsätzig;  aber, 
durch  Wechsel  von  Takt  und  Tonart  scharf  und  reich - 
gegliedert,  bergen  sie  innerhalb  dieses  einen  Satzes  einen 
mannigfaltigen  Inhalt,  eine  verhältnissmässig  grosse  Reihe 

')  Der  Orfeo  Monteverdi  s  ist  theUweise  im  10.  Bande  der 
„Publikationen  der  Gesellschaft  für  Musikforscbung"  verüffent- 
licht  worden. 


--^     37     'Q^ 

von  Bildern,  die  in  der  Regel  ebenso  wirkungsvoll 
wie  natürlich  aneinanderschliessen.  Im  Vergleich  zur 
Gabrieli*8chen  Sonate  fuhren  sie  in  eine  viel  buntere  und 
gestaltenreichere    Welt     und     schildern     neue    Aufgaben 

mit  neuen  Mitteln.    Die  gebrochenen  Rhythmen:     JTJXl 

mit  denen  noch  Händel  und  das  18.  Jahrhundert  Er- 
regung und  Unruhe  wirkungsvoll  zeichnen,  die  General- 
pausen und  Fermaten  sind  hier  heimisch.  Denn  wie 
sie  anekdotenhaft  und  unruhig  waren,  so  waren  diese 
Venetianischen  Opern  auch  an  Wundem  und  Schrecken, 
an  Spannung,  Entsetzen  und  Ueberraschungen  aller  Art 
mehr  als  reich.  Allen  diesen  EröfiPhungssinfonien  war  auch 
ein  feierlicher,  langsamer,  breiter  Anfang  gemeinsam,  der 
zuweilen  in  der  Mitte  und  sehr  häufig  am  Ende  wieder- 
kehrt, ein  Tribut  von  dem  Componisten  der  Verwandtschaft 
zwischen  Musikdrama  und  griechischer  Tragödie  gezollt! 
Aber  viel  stärker  als  die  typischen  treten  an  diesen 
Venetianischen  Sinfonien  die  individuellen  Züge  hervor. 
Gerade  darin  liegt  ihr  Hauptwerth,  dass  sie  immer  ein 
Bild  von  dem  Drama  geben,  dem  sie  vorangestellt  sind; 
das  macht  sie  unter  einander  so  verschieden,  giebt  den 
einzelnen  ihr  scharfes  charaktervolles  Gesicht.  Man  weiss 
aus  diesen  Sinfonien  ohne  Weiteres,  was  im  Drama  zu 
erwarten  ist :  ob  Krieg  und  Kampf,  Schauer  und  Unglück 
oder  ob  heitre  und  elegische  Elemente  die  Oberhand  haben. 
In  knapper  Form  entwickeln  sie  einen  reichen  Inhalt,  aus 
dem  deutlich  und  beherrschend,  wie  der  Berg  aus  der 
Ebene,  ein  Hauptstück  hervortritt.  Diesen  Mittelpunkt 
bildet  in  der  Sinfonie  von  Luzzo's  ,Medoro*  z.  B.  die  wilde 
und  allarmirende  Episode,  die  gleich  nach  den  Einleitungs- 
takten einsetzt,  in  der  von  Cavalli^s  ^Ercole''  der  Abschnitt, 
wo  die  Sextaccorde  in  ungestümer  Hast  und  Kraft  dahin- 
jagen,  eine  kühne  Anwendung  der  alten  Fauxbourdon- 
Harmonie;  in  der  Sinfonie  von  Sartorio's  ,Seleuco*  prägt 
sich  die  heimliche,  zarte  Melodie  ein,  die  auf  das  Traum- 
bild in  der  Oper  deutet;  aus  der  von  Cestis  „Pomo  d'oro* 
begleiten  uns  lange  die  freudigen  Lieder  die  das  Orchester 


cc?     38     -e^^ 

dem  Eingaugschor  ,di  feste  di  giubili*  entnimmt.  In  der  Regel 
sind  die  wichtigsten  Themen  in  den  Venetianischen  Sinfonien 
ganz  so  wie  heute  in  der  Freischütz-,  in  der  Oberon-,  in 
der  Tannhäuserouvertüre  den  Hauptscenen  der  Oper  ent- 
nommen. Die  wahre  Heimath  der  modernen  Pro- 
grammouyertüre,  die  einzelne  Schriftsteller  mit  Gluck, 
andere  mit  Händel  und  Rameau  einsetzen  lassen,  liegt  also 
inderVenetianischenOper.*)  Sie  ist  bis  heute  spur- 
los vergessen  gewesen,  nur  ihre  Orchesterbesetzung  lebte 
in  der  Sinfonie  der  folgenden  Zeit  weiter.  Diese  Besetzung 
besteht  aus  Streichinstrumenten  und  Cembalo;  von  Blas- 
instrumenten kommt  fast  nur  die  kriegerische  Trompete  vor. 

Die  Neapolitanische  Schule,  die  am  Ende  des  17.  Jahr- 
hunderts die  Führung  in  der  Oper  übernimmt,  stellt  eine 
neue  Sinfonieart  auf.  Die  Sinfonie  erscheint  bei  ihr  zum 
ersten  Male  in  der  modernen  Form  und  Bedeutung  einer 
mehrsätzigen  Composition,  eines  höheren  Gegenstücks 
Itaii«nisob«  zur  Suite.  Diese  Neapolitanische  oder  italienische 
Sixifonie.  Sinfonie  besteht  aus  drei  Sätzen  in  der  Folge :  Allegro, 
Largo,  Presto  oder  einer  ähnlichen.  Immer  bildet  ein 
langsamer  Satz  die  Mitte  zwischen  zwei  bewegten.  Kurze, 
häufig  taktmässig  ausgezählte  Pausen  trennen  ihn  in  der 
Regel  vom  vorhergehenden  und  dem  folgenden  Allegro; 
zuweilen  wird  er  an  den  ersten  Satz  durch  einen  Trugschluss 
näher  herangezogen.  Das  erste  Allegro  steht  im  geraden, 
das  zweite  im  ungeraden  oder  in  ®/g  und  **/g  Takt.  Beide 
sind  in  der  ersten  Zeit  verhältnissmässig  knapp  gehalten, 
zwischen  15  und  30  Takten  schwankt  ihr  Umfang.  Der 
langsame  ist  meistens  der  kürzeste  von  den  drei  Sätzen, 
zugleich  aber  der  stattlichste  im  Klang:  in  der  Regel 
zeichnet  ihn  ein  schönes  Solo  der  Oboe  oder  der  Flöte  aus. 

Die  Gesammtform  dieser  italienischen  Sinfonie  ist  ein 
sehr  glückliches  Stück  bester  Renaissancekunst.     Die  drei 

')  Das  Material  der  Venetianischen  Oper  ist  nur  handschrift- 
lich vorhanden,  in  der  Hauptmasse  in  italienischen  Bibliotheken. 
Einige  aus  der  Schule  stammende  Sinfonien  werden  jedoch  (in 
Partitur  und  Stimmen)  nächstens  in  Breitkopf  &  Härtels 
,, Akademischer  Orchesterbibliothek**  erscheinen. 


c<?     39     ^ 

Sätze  bilden  ein  leicht  übersichtliches,  scharf  gegliedertes 
und  durch  den  einfachen,  klaren  Gegensatz  zwischen  Be- 
wegung und  Ruhe  ästhetisch  voll  befriedigendes  und  wirk- 
sames Ganze.  Muster  für  diesen  Typus  bot  bereits  die 
Yokalcomposition  z.  B.  im  Kyrie  der  Messe ;  auch  in  dem 
grossen  Wirrwarr  verschiedenster  Sonaten-  und  Canzonen- 
formen,  den  die  £ntwickelung  der  jungen  Instrumental- 
musik im  17.  Jahrhundert  bildet,  taucht  er  mit  auf.  Es 
ist  das  Verdienst  des  grossen  Alessandro  Scarlatti  A.  ScarUtti. 
ihn  gewissermassen  zum  zweitenmale  erfunden  zu  haben. 
Soweit  es  sich  übersehen  lässt,  hat  dieser  Meister  in  seinen 
Opern  die  italienische  Sinfonie  ausschliesslich  verwendet 
und  sie  damit  und  mit  der  Wucht  seines  Namens  für  den 
ganzen  Bereich  der  italienischen  Schule  durchgesetzt.  Sie 
hat  sich  bis  heute  behauptet  —  denn  streichen  wir  aus 
unserer  modernen  Sinfonie  das  Scherzo,  so  steht  der  Grund- 
riss  der  alten  italienischen  Sinfonie  vor  uns;  ausnahmsweise 
haben  einzelne  neue  Sinfoniker,  Liszt,  Raff,  Tschaikowsky 
für  bestimmte  Werke  auf  die  unverfälschte  Dreisätzigkeit 
zurückgegriffen.  Sie  ist  aus  der  italienischen  Sinfonie  in 
das  virtuose  Concert  hinübergegangen  und  hat  sich  da 
bekanntlich  bis  auf  die  Gegenwart  rein  erhalten. 

Durch  die  innere  Einrichtung  steht  uns  unter  den  drei 
Sätzen  der  italienischen  Sinfonie  der  erste  am  nächsten, 
weil  er  sich  zwar  nicht  immer  aber  doch  meistens  in  drei 
Theilen  ausspricht.  Nehmen  wir  z.  B.  das  erste  Allegro 
von  Scarlati's  Sinfonie  zu  „H  trionfo  del  'Onore*.*)  Es 
ist  ein  Satz  von  17  Takten.  Die  ersten  Violinen  leiten 
ihn  mit  folgendem  Thema  ein : 


'rrii  innriii 


r^^'^^tJr^tei 


*)  Bis  ist  die  140.  Oper  des  Componisten,  ihr  Entstehungs- 
r  1718. 


c<?     40     '£>* 

Daran  sohliesst  sich  oin  zweiter  Abschnitt,  in  dem  die 
Bässe  und  nach  ihnen  die  Violinen  nur  das  Motiv: 

üw   1^^=^    durch   die   Tonarten  tragen.      Er  geht   von 

C  dur  über  D  dur ,  E  moll ,  G  dur  nach  C  zurück  und 
schliest  mit  dem  12.  Takte,  der  uns  wieder  vor  den  Anfang 
des  Satzes  führt.  Wir  haben  also  in  diesem  Miniatursatz 
doch  schon  ganz  deutlich  das  Gerippe  des  ersten  Satzes 
der  Haydn-BeethovenVhen  Sinfonie,  oder  wie  man  gewöhn- 
lichsagt, da-s  Sonatenschema  vor  uns:  a)  Themengruppe, 
b)  Durchführung,  c)  Wiederholung  und  was  das 
wichtigste  ist,  den  Durchfuhrungstheil  nach  den  Principien 
gestaltet,  die  noch  heute  gelten. 

Der  langsame  Satz  hat  häufig  die  einfache  zweitheilige 
Liedform;  zuweilen  bringt  er  gar  kein  Thema,  sondern 
markirt  nur,  präludienartig  modulirend,  die  Stelle,  wo  das 
Gemüth  ruhen  und  träumen  will  und  darf.  Der  schliessende 
schnelle  Satz  zerfällt  in  der  Regel  in  zwei  Theile,  die 
thematisch  verwandt  sind  und  beide  wiederholt  werden. 
Im  letzten  Drittel  des  17.  Jahrhunderts  war  zu  der 
italienischen  eine  französische  Oper  gekommen  und  auch 
die    Franzosen    entschieden     sich    für    eine   Instrumental- 

FnnxösiBche    sinfonie  als  Einleitungsstück  der  Oper.   Diese  französische 
Sinfonie.       Sinfonie  oder  Ouvertüre,  die  sehr  häufig  die  Lully'sche 

J.  B.  LoUjr.  genannt  wird,  obschon  sie  bereits  bei  Cambert  vorkommt, 
besteht  ebenfalls  aus  drei  Sätzen,  aber  in  der  Anordnung 
Grave,  Allegro,  Grave.  Auch  darin  unterscheidet  sich  die 
Form  dieser  französischen  Sinfonie,  der  wir  in  der  Suite 
der  Mufi'at,  Händel,  Bach,  Zelenka  bereits  begegnet  sind, 
von  der  der  italienischen,  dass  der  erste  Satz  in  der  Regel 
ohne  Pause  in  den  zweiten  und  ebenso  dieser  in  den  dritten 
übergeht.  Nimmt  man  noch  hinzu ,  dass  der  dritte  Satz 
(das  zweite  Grave)  meist<»ns  eine  wörtliche  und  vollständige, 
oder  aber  abgekürzte  Wiederholung  des  ersten  langsamen 
Satzes  ist,  so  ergiebt  sich  für  die  französische  Sinfonie  eine 
grtissere  Abrundung  und  Geschlossenheit.  Sie  neigt  zur 
Einsätzigkt'it ;    das    in    der  Mitte   steh<'nde,   in   der   Regel 


(-e     41      "ö^ 

fugirte  Allegro  ist  nicht  blos  örtlich  der  Mittelpunkt  des 
Ganzen,  sondern  auch  dem  Umfang  und  dem  Geist  nach. 
In  der  That  ist  auch  aus  jener  französischen  Sinfonie  des 
17.  und  18.  Jahrhunderts  die  einsätzige,  langsam  einge- 
leitete Ouvertüre  der  Cherubini  und  Beethoven  hervor- 
gegangen; ja  selbst  die  langsamen,  so  beliebten  und  so 
dummen  Einleitungen  des  modernen  Walzers  stammen  aus 
dieser  Quelle. 

Sowohl  die  italienische,  wie  die  französische  Sinfonie 
stellen  sich  eine  ganz  andere  Aufgabe,  als  die  Venetianische. 
Diese  sucht  möglichst  viele  und  möglichst  getreue  Miniatur- 
bildchen aus  dem  folgenden  Musikdrama  vorauszuwerfen. 
Jene  beiden  wollen  weniger  ein  bestinmites  Theaterstück, 
als  vielmehr  ein  Fest  einleiten.  In  Venedig  waren  die 
Opembühnen  Volkstheater,  in  Neapel  und  Paris  Hof- 
institute. Diesem  Charakter  der  Opemaufführung  tragen 
die  neuen  Sinfonietypen  Rechnung;  die  italienische  betont 
dabei  die  heiteren  und  glänzenden  Seiten  des  Festes,  die 
französische  die  feierlichen  und  majestätischen.  Fehlte  doch 
der  Roi  Soleil  bei  keiner  wichtigen  Vorstellung  seiner 
Academie  Royale  de  musique! 

Musikalisch  haben  die  italienische  und  die  französische 
Sinfonie  vor  der  Venetianischen  die  stattlichere  Form  und 
die  Möglichkeit  voraus,  eine  gewählte  Idee  eingehender  zu 
verfolgen.  Aber  der  Verzicht  auf  die  Anregungen,  die  der 
Phantasie  des  Componisten  aus  dem  Drama  zuströmten, 
ist  der  Entwickelung  der  beiden  Typen  unheilvoll  geworden. 
Die  französische  Sinfonie  hat  dabei  weniger  gelitten.  Dank 
Lully,  der  sich  darauf  verstand,  in  seinen  AUcgris  trotz 
des  steifen  Einerleis  der  ewigen  Fugen,  doch  einigermassen 
dem  Charakter  des  kommenden  Dramas  anzukünden  und 
klar  zu  machen,  ob  die  Oper  heroisch  oder  pastoral  sein 
werde ,  waren  in  der  französischen  Sinfonie  Charakter- 
gemäldc  ersten  Ranges  möglich,  wie  sie  Jedermann 
in  Gluck's  Iphigenienouvertüre  kennt,  und  in  C.  W.  t.  Gliek. 
H  ä  n  d  e  Ts  herrlicher  Ouvertüre  zu  „Agrippina**^)  kennen  0.  F.  Hindel. 


^)  57.  Lieferung  der  deutschen  Händelausgabe. 


sollte.  Seitenstücke  zu  diesen  Meisterwerken  wolle  man 
J.  P.  BMieftm.in  den  Opern  Rameaus  aufsuchen,  von  denen  auch  jede 
bescheidenere  Musikbibliothek  einige  Exemplare  zu  besitzen 
pflegt.  Rameau  war  es,  der  den  Uebergang  aus  der  drei- 
satzigen Sinfonie  zur  einsätzigen  Ouvertüre  mit  langsamer 
Einleitung  anbahnte.  Freilich  scheinen  die  bedeutendsten 
Sinfonien  nicht  immer  die  beliebtesten  gewesen  zu  sein. 
Das  zeigt  jene  Anekdote  von  Friedrich  dem  Grossen,  der 
es  Graun  sehr  verdachte,  dass  er  in  der  Ouvertüre  zu 
.Papirio*  die  Fuge  durch  ein  charaktervolles,  frei  geformtes 
Allegro  ersetzt  hatte.*) 

Die  Vorlagen,  die  Scarlatti  den  Italienern  gab,  waren 
geringer.  Die  Musik  seiner  Sinfonien  ist  sinnig,  anmuthig, 
munter  und  geistvoll,  aber  ohne  Grösse  und  Tiefe  billigeren 
Zielen  zugerichtet.  Das  Beste,  was  seine  Sinfonien  bieten, 
liegt  auf  der  sinnlichen  Seite  in  einem  glänzenden,  geist- 
reichen Concertiren,  in  einer  sinnigen  Figurenbildung,  im 
blendenden  Colorit,  Eigenschaften,  die  z.  B.  die  Ouvertüre 
zu  ,11  prigionero  fort  Unat  o*  (1709)*)  aufs  Schönste 
vereint.  Was  Hohes  in  der  italienischen  Sinfonie  möglich 
L.  Leo.  war,  das  zeigen  die  Oratorieneinleitungen  LeonardoLeos, 
von  denen  die  zu  ,St.  ElenaalCalvario**')  seit  etlichen 
Jahren  in  Partiturdruck  vorliegt.  Das  ist  grosse  und  edle 
Trauer  in  unvergänglichem,  für  alle  Zeiten  musterhaften 
Ton!  Solche  Werke  sind  aber  leider  in  der  italienischen 
Schule  die  Ausnahme.  Mit  L.  d  a  V  i  n  c  i  beginnt  in  ihrer 
Sinfonie  ein  Verfall ,  der  die  Mehrzahl  ergriff  und  dem 
die  Versuche  einzelner  ernster  Tonsetzer,  wie  Ad.  Hasse 
und  N.  Pji  c  c  i  n  i  dauernd  Einhalt  zu  thun  nicht  vermochten. 
Aeusserlich  wuchs  sie.  Die  Sätze  wurden  alle  drei  länger 
und  reicher  im  Ausbau.  Der  erste  fügte  —  das  Beispiel 
gab  auch  für  die  französische  Sinfonie  das  virtuose  Concert  — 


*)  L.  Schneider,  Geschichte  der  Oper  in  BerUn  (1852), 
S.   111  stellt  den  Sachverhalt  verkehrt  dar. 

°)  Diese  Sinfonie  erscheint  demnächst  in  Breitkopf  & 
Härtel's  ,.Acadeini5cher  Orchesterbibliothek". 

3)  Bei  Breitkopf  &  Härtel. 


ein  zweites  Thema  eio,  der  dritte  wendete  sich  der  viel- 
gliederigen  und  die  Erfindung  reizenden  Rondoform  zu. 
Aber  das  innere  Wesen  der  italienischen  Sinfonie  ward 
immer  leerer  und  läppischer. 

Den  erfreulichsteu  Theil  bilden  die  langsamen  Sätze. 
Sie  haben  um  die  Mitte  des  18.  Jahrhunderts  in  der  Regel 
die  grosse  dreitheilige  Liedform  —  a)  Hauptthema  als 
Doppelperiode  zweimal,  zwischen  dem  ersten  und  zweiten 
Mal  ein  mit  Figuren  ausgestattetes  Seitenthema ;  b)  zweites 
Thema  zum  Hauptthema  in  Tongeschlecht  und  Charakter 
in  Gegensatz  gebracht ;  c)  Wiederholung  von  a  in  gekürzter 
Form  —  und  bringen  in  ihr  die  eigenthümliche ,  weiche, 
edle  Empfindsamkeit  des  18.  Jahrhunderts  in  freundlich- 
wehmUthigen  Melodien  und  in  einer  Reinheit  zur  Anschauung, 
die  den  andern  Künsten  jener  Zeit  nicht  erreichbar  war, 
am  wenigsten  der  durch  moralische  und  mythologische 
Zöpfe  gefesselten  Dichtkunst.  Zuweilen  waren  die  Com- 
ponisten  hier  noch  zu  süssen  Erfindungen  durch  die  Liebes- 
scenen  angeregt,  die  in  der  Oper  und  dem  Oratorium  des 
18.  Jahrhunderts  einen  sehr  breiten  Raum  einnehmen. 
Um  so  schlimmer  stand  es  in  der  Regel  um  den  ersten, 
den  Hauptsatz  der  Sinfonie.  Einige  Citate  werden  genügen, 
einen  Begriff  von  der  hier    üblichen  Thematik  zu  geben : 

"^      rrrrr  '        — ' 


M 


etc. 


(Rückkehr  zum  Anfang  in  einer  ein  Takt  langen  Figur) 


^ 


•tc. 


(ähnlich  wie  bei  a) 

AUe^ro 


«)  jl|,]injjjjijijijjjJii.TOrTr^«.c. 


^)  j"f  r  r  c£[fij^^  cETT'''^ ^^^- 

Beispiel  a  ist  der  Anfang  zu  der  Sinfonie,  mit  der  L. 
L.  dft  Tiiel.  da  Vinci  seine  „Semiramis*  einleitet,  b  und  c  sind  von 
G,B-P«rgolesl.Pergolesi,  das  eine  ist  der  Anfang  zur  Sinfonie  der  Oper 
,Sallustia*,  das  andere  vom  Oratorium  «San  Guglielmo*. 
Diese  Sinfonie  hat  der  Componist  nochmals  für  seine  letzte 
K.  JoHelll.  Oper  , Olympia*  verwendet.  Mit  d  beginnt  Jomelli  die 
Sinfonie  seines  Oratoriums  ,Abramo*.  Wir  haben  also  hier 
grosse  Namen  und  ernste  Werke  vor  uns.  Wie  wenig  lassen 
das  die  Noten  ahnen,  wie  tief  ist  der  Begriff  vom  Wesen  und 
Zweck  der  Sinfonie  gesunken !  Diese  Umständlichkeit  um 
I^appalien,  diese  gespreizte  Trivialität  sind  der  wahre  Hohn 
auf  echte  Kunst,  man  kann  solche  Leistungen  nicht  mehr 
zur  Musik  rechnen ;  leider  haben  sie  eine  gewisse  Bedeutung 
fiir  die  Geschichte  Italiens,  das  heute  glücklicherweise  der- 
artige Instrumentalcompositionen  nicht  mehr  duldet. 

Vom  Anfang  des  18.  Jahrhunderts  ab  mehren  sich  in 
Deutschland  die  Orchester  schnell  und  beträchtlich.  Der 
hohe  und  niedere  Adel  thut  es  den  Fiirsteuhöfen  nach; 
gut  oder  schlecht,  aber  so  ziemlich  jedes  Sc  bloss  hat  seine 
Hauscapelle.  Schüler  und  Studenten,  dem  Beispiel  der 
italienischen  Akademien  folgend,  gründen  freiwillige  collegia 
musica,  die  Bürgerkreise  ihnen  nach.  Um  die  Mitte  des 
Jahrhunderts  ist  das  ganze  Land  mit  einem  dichten  Netz 
von  Musikvereinen  überzogen,  die  alle  in  „wöchentlichen 
Concerten*,  einmaligen  und  doppelten,  ungemein  viel 
Instrumental-  und  Orchestermusik  verbrauchen.  Comödien 
und  Concerte  sind  die  Haupthindernisse  der  Gelehrsamkeit, 
klagt  1763  der  musikfeindliche  Ernesti.  *)  Es  ist  niemals 
vorher  und  nachher  wieder  soviel  Instrumentalmusik  com- 
ponirt,  gespielt  und  angehört  worden,  als  in  jenen  Tagen. 
Die  Zeugnisse  dafür  liegen  in  den  Briefen  Mozart's  und 
in    den    Lebensbeschreibungen    von    Quantz,    Ditter^dorf, 

M  G.  Wustmann,  „Aus  Leipzigs  Vergangenheit**  (Leipzig  188.5) 
S.  289. 


«G*     45     ^ 

Gyrowetz  und  anderen  namhaften  Musikern  jener  Zeit  vor, 
in  den  Archivresten  der  Bibliotheken  und  in  den  Verlagsver- 
zeichnissen. Sinfonien,  Concerte  werden  immer  bündelweise 
angeführt.  Im  quantitativen  Sinn  ist  die  Mitte  desl8.  Jahr- 
hunderts die  Glanzzeit  der  Instrumentalmusik  in  Deutschland ; 
dort  liegen  die  Anfänge  und  Ursachen  ihrer  Vorherrschaft. 
Dass  in  der  ersten  Hälfte  jener  Periode  die  Sinfonie 
zurücktritt,  könnte  nicht  Wunder  nehmen,  auch  wenn  sie 
besser  gewesen  wäre.  Denn  sie  hatte  an  dem  neuen 
Virtuosenconcert  einen  übermächtigen  Nebenbuhler.  Wie 
hundert  Jahre  früher  Monodie,  Solo-  und  Bühnengesang 
die  eigentliche  „nuove  musiche*  der  Generation  waren,  die 
den  dreissigjährigen  Krieg  erlebte,  so  schienen  für  die, 
welche  mit  Friedrich  dem  Grossen  jung  waren,  die  Wunder 
des  Orpheus  in  den  Violinconcerten  der  Torelli,  Vivaldi, 
Corelli  wieder  aufzuleben.  Unter  allen  Erwerbungen,  die 
die  Musik  in  den  letzten  Jahrhunderten  gemacht  hat,  war 
die  des  virtuosen  Concerts  die  bedeutendste;  keine  andere 
hat  den  inneren  und  äusseren  Wirkungskreis  der  Tonkunst 
so  gewaltig  erweitert.  Indess  den  Dilettantenkräften  der 
neuen  CoUegia  musica  musste  den  virtuosen  Anforderungen 
des  Concerts  gegenüber  ein  Erdenrest  von  Technik  zu 
tragen  peinlich  bleiben  und  den  Wunsch  nach  einer  andren 
Gattung  von  instrumentaler  Ensemblemusik  nahe  legen. 
Da  fiel  denn  der  Blick  naturgemäss  auf  die  im  Aufbau 
mit  dem  Concert  ganz  identische  italienische  Sinfonie  und 
sie  begann  alimählich  jenem  zur  Seite  zu  treten,  es  zu  er- 
setzen. Wir  können  diesen  Prozess  mit  einer  interessanten 
Arbeit  S.  Baches  belegen.  Derselbe  Band  der  Bach-  g.  Baeh 
ausgäbe,  *)  der  die  Orchestersuiten  enthält ,  bringt  als  Sinfonie  in  F. 
Anhang  eine  Sinfonie  in  F  aus  drei  Sätzen  bestehend, 
Allegro,  Adagio,  als  Schlusssatz  ein  Menuett  (mit  2  Trios). 
Diese  Sinfonie  ist  aber  nichts  als  eine  Umarbeitung  von 
Bach*8  erstem  brandenburgischen  Concert;  der  */g  Takt, 
der  dort  (ad  libitum)   dem  Menuett   vorausgeht,  ist  weg- 


';  31.  Jnlirgaiig,  £r&to  Lieferung. 


gelassen  und  der  nur  spärlich  concertirende  Violino  piccolo, 
das  Soloinstrument  des  Concerts,  ist  einfach  gestrichen. 
Sonst  stimmt  Alles  wörtlich.  Auch  wenn  Bach  selbst 
nicht  der  Bearbeiter  dieser  Sinfonie  sein  sollte,  bleibt 
sie  ein  wichtiges  Document  für  einen  geschichtlichen 
Hergang:  die  Entstehung  und  das  Empordringen  einer 
selbstständigen  Concertsinfonie.  Sie  verdankt  ihre 
Existenz  der  Einrichtung  regelmässiger  Concerte,  ins- 
besondere den  collegiis  musicis  der  Studenten  und  anderer 
Dilettanten  und  befestigt  sich  ausserordentlich  schnell  in 
ihrer  Stellung. 

Schon   um   die  Mitte  des  18.  Jahrhunderts  sehen  wir 
die   Sinfonie    unabhängig,   das  alte  Verhältnis    zur  Oper 
gelöst;  es  wird  allmählig  möglich,  dass  sich  begabte  Ton- 
setzer vorwiegend  oder  ausschliesslich  der  Composition  fürs 
Concert,  für  die  Instrumente  widmen,  die  Orchestersinfonie 
wird  jetzt  in  Stimmen  gedruckt  und  schnell  ein  ganz  be- 
deutender Handelsartikel.    In  dem  Breit  köpf  sehen  Katalog 
von  1762  finden  wir  fünfzig  Sinfoniekoraponiston,  bekannte 
Meister  wie  Gluck,  Hasse,  Galuppi,  Jomelli,  Graun,  Hiller 
und  heute  vergessene  Lokalgrössen  durcheinander:  keiner 
hat  es  unter  einem  halben  Dutzend  gethan.    Als  Beweise 
höchster  Fruchtbarkeit   finden   sich    in  den  Bibliotheken 
aus  jener  Zeit  auch  Sinfonien  von  Dilettanten  componirt: 
Friedrich  der  Grosse,  Max  Joseph  von  Bayern,  der  Baron 
von  Münchhausen   erscheinen  unter   dieser  Autorengruppe. 
Das  Ausland    tritt   mehr   und  mehr   zurück    und    kommt 
qualitativ    bald    ganz    ausser    Betracht.      Die    deutsche 
Produktion  aber  vertheilt  sich  auf  folgende  drei  Bezirke: 
die  Mannheimer,  die  Wiener  und  die  Norddeutsche  Schule. 
lABBlieiiBer  Die  Mannheimer  Schule  lebt  heute  noch  in  vieler 

Seliile.  Munde  durch  W.  A.  Mozart,  der  in  den  Briefen  an  seinen 
Vater  wiederholt  ihre  Sinfonien  und  die  Leistungen  des 
Orchesters  rühmlich  hervorhebt.  Der  sonst  so  strenge 
Kritiker  hat  in  Mannheim  manches  in  einem  allzu  rosigen 
Licht  gesehen,  sicherlich  die  Sinfonien.  Einzelne  Vertreter 
J.  Holsbaier.  dieser  Schule  setzen  durch  ihre  Fruchtbarkeit  in  Erstaunen. 
Chr.CMiBabieh.HoItzbauer  schrieb  205  Sinfonien,   Cannabich   unge- 


o(?     47     ^ 

lähr  150*);  auch  die  Fielitz, Tosca,  Stamitz  schrieben 
fleissig.  Aber  eine  besondere  Art  haben  die  Mannheimer 
Sinfonien  nicht;  sie  sind  von  geringem  geistigen  Gehalt 
und  kennzeichnen  sich  gleich  mit  ihren  theatralisch  weit- 
schweifigen aber  unbedeutenden  Themen  als  Kinder  der 
italienischen  Familie.  Nur  sind  sie  lebendiger  instrumentirt 
und  concertiren  ungewöhnlich  eifrig  und  wirksam  mit  den 
Orchesterstimmen,  insbesondere  den  Bläsern.  Mozart  spricht 
mit  besonderer  Bewunderung  von  dem  crescendo  des 
Mannheimer  Orchesters.  Daraus  haben  Nohl  und  ähnliche 
Gelehrte  den  für  Kenner  alter  Musik  ganz  unmöglichen 
Schluss  gezogen:  die  Mannheimer  Capelle  sei  die  erste 
und  einzige  gewesen,  welche  sich  darauf  verstanden, 
die  Uebergänge  zwischen  piano  und  forte  zu  geben.  Das 
von  Mozart  gemeinte  crescendo  der  Mannheimer  Sinfonien 
ist  aber  etwas  anders,  nämlich  in  erster  Linie  ein  Compositions- 
effekt :  Es  wird  ein  kurzes  Motiv  in  einer  langen  Sequenzen - 
periode  aus  der  Tiefe  in  die  Höhe  getragen,  ähnlich  wie 
das  in  den  Strettis  der  Rossini'schen  Opern  so  häufig  vor- 
kommt. Mit  dem  Aufschreiten  zur  Höhe  wächst  immer  auch 
die  Tonstärke.    Namentlich  Cannabich  liebt  diese  Crescendi. 

Ueber  die  Vorgeschichte  der  Wiener  Schule,  die  Wiener  Sehvle. 
die  Hauptquelle  des  deutschen  Instruraentalruhms  wurde, 
weil  Oesterreich  fleissiger  als  andere  Länder  musicirte, 
sind  wir  bisher  schlecht  unterrichtet.  Niemand  hat  die 
Sinfonien  der  Starzer,  Aspelberger,  Kohaut  und  der 
andren  Vorgänger  Joseph  Haydn*s  untersucht.  Wahrschein- 
lich haben  sie  bereits  die  Dreisätzigkeit  der  italienischen 
Sinfonie  durchbrochen  und  den  Menuett  eingefügt. 

In     der    Norddeutschen    Schule    ist    neben    dem  Morddevtiehe 
Berliner  Friedrich  B  e  n  d  a  das  bedeutendste  Sinfonietalent       Schmle. 
der  Zeit  überhaupt,  Philipp  Emanuel  Bach,  der  so-    Fr.  Beadm. 
genannte  Hamburger  Bach.   Ph.  Em.  Bach  ist  weder  durch 
Grösse,  noch  durch  Menge  der  Gedanken  ausgezeichnet; 
er  hat   aber  nichts   destoweniger  für  die  Geschichte  der 

^)    70    davon    liegen    in    geschriebenen    Stimmen    aaf   der 
Münchner  Staatsbibliothek. 


-^      4^;      'cx 

Musik  als  Stylist  eine  Bcdvutuug  ersten  Ranges.  Er  erfand 
eine  neue  Art  der  thematischen  Durchfuhrung,  die  hinter 
der  Fuge  und  den  andern  strengen  Formen  der  Nach- 
ahmung an  Gründlichkeit  zurückstand,  sie  aher  an 
Schmiegsarakeit  und  Beweglichkeit  bei  weitem  übertraf 
und  dem  Spiele  der  Laune  und  des  Augenblicks  auch  in 
den  grösseren  Formen  einen  bequemen  und  allezeit  offnen 
Zutritt  gestattete,  ohne  dass  dabei  die  Darstellung  —  wie 
dies  in  der  nordisch  niederländischen  Instrumentalschule 
früherer  Zeit  der  Fall  war  —  der  Gefahr  phantastischer 
Willkür  veriiel.  Bach  ist  in  dieser  seiner  Art  einer  der 
ersten  und  bemerkenswerthesten  Vertreter  französischer 
Bildungsideale  in  der  deutschen  Instrumentalmusik. 
Richteten  doch  in  der  zweiten  Hälfte  des  vorigen  Jahr- 
hunderts selbst  die  Liedercomponisten  (der  Berliner  Schule) 
ihre  Augen  auf  die  in  Frankreich  gebotenen  Muster. 
Neben  seinem  Lehrbuch  ,  Versuch  über  die  wahre  Art 
das  Ciavier  zu  spielen*  hat  Bach  am  nachhaltigsten  durch 
die  Pianofortecompositionen  gewirkt ,  die  in  grossen  und 
kleinen,  schweren  und  leichten  Formen  seiner  fleissigen 
Feder  in  Menge  entflossen.  Aber  System  und  Geist  seiner 
Kirnst  kommen  in  den  Sinfonien,  die  er  schrieb,  immer 
noch  fühlbar  zum  Ausdruck.  Ueberdies  enthalten  sie  in 
der  Orchesterbehandlung  Elemente,  die  für  die  weitere  Ent- 
wickelung  der  Gattung  von  Wichtigkeit  wurden. 

Gerber  schreibt  in  seinem  Lexicon  dem  Ph.  E.  Bach 
^ein  paar  Dutzend  Sinfonien*  zu.  Davon  sind  zu  Bach's 
Ph.  E.  Bftch  Zeiten  ungefähr  nur  10  in  Stimmen  gedruckt  worden,  vier 
Sinfonien,  davon  im  Jahre  1780  (bei  Schwickert  in  Leipzig).  Diese 
sind  es,  welche  Espagnc  im  Jahre  1860  bei  Peters  in  Leipzig 
neu  herausgab.  Die  erste  derselben  ist  heute  wieder  be- 
kannter: Das  Hauptthema  ihres  ersten  Satzes  ist  dieses 
Allerfb  di  molto. ,        ,  ,  ^ ^ ,        , 


Es  wird,  flnnkirt 


von  einigen  ziemlicli  unbedeutenden  Seitenmotiven,  zu 
einem  Satze  von  ungefähr  200  Tacten  Länge  ausgeführt, 
in  welchem  man  die  drei  Theile  des  Sonatensatzes: 
Themengruppe ,  Durchführung ,  Repetition ,  klar  unter- 
scheiden kann.  Dieser  erste  Satz  modulirt  in  den  Schluss- 
takten nach  Esdur,  der  Tonart  des  zweiten  Satzes,  einem 
Larghetto  in  dem  weichen,  zu  Thränen  bereiten  Stile  des 
18.  Jahrhunderts.  Mit  dem  Klange  der  geliebten  Flöten 
tritt  das  Thema  des  Satzes  ein: 

^^!l'r}r-|pl|j|"ni|l^nn|  l  l  E«  Presto 
in  '/i  Takt 

et«. 

sausenden  Laufs,  nur  selten  durch  einen  ernsteren  Einfall 
gehemmt,  führt  die  Sinfonie  zu  Ende.  Diese  Scarlattische 
Grundform  und  auch  der  seelische  Typus  der  D-dur- 
Sinfonie  kehrt  in  den  anderen  wieder:  geistreiches, 
lebendiges  und  sprühendes  Finale,  anziehendes  oder  er- 
trägliches Larghetto  und  ein  verwunderlicher  Hauptsatz. 
Denn  es  ist  verwunderlich,  wie  diese  Hauptsätze  der  Sin- 
fonien des  Hamburger  Bach  im  letzten  Grunde  doch  ziem- 
lich inhaltlos  verlaufen.  Sie  setzen  alle  mit  einem  wunder- 
baren Schwung  ein;  mit  gewaltiger  Kraftanstrengung 
stürmen  sie  von  Anlauf  zu  Anlauf,  geberden  sich  in  Trillern 
und  allerhand  ungewöhnlicher  Melodik  nicht  selten  ganz 
apart  und  absonderlich.  Aber  sie  zerplatzen  wie  Seifen- 
blasen ohne  Spur  und  Resultate.  Es  stellt  sich  diesen 
heroischen  Versuchen  nichts  Wichtiges  entgegen,  der  Zug 
geräth  in  Tändeleien  und  streift  am  Bedeutenden  flüchtig 
vorüber;  das  Ganze  kommt  nicht  über  das  Phantastische 
hinaus  und  bleibt  ein  brillantes  Feuilleton.  Nur  die  ge- 
danklich bedeutendste  der  vier  Sinfonien,  die  zweite  in  F  dur, 
erhebt  sich  über  diese  Stufe.  Beim  unmittelbaren  Hören 
der  Bach^schen  Sinfonie  findet  jedoch  die  Kritik  keine 
Zeit  zu  ihren  Bedenken;   die  Sätze  gehen  unmittelbar  in- 

Kretitchmar,  Führer,  I.  4 


einaDder  über  und  das  Ganze  rauscht,  angeregt  und  anregend, 
verhältnissmässig  schnell  vorüber. 

Die  Besetzung  der  vier  Sinfonien  ist  die  gleiche :  Streich- 
orchester, 2  Flöten,  2  Oboen,  2  Homer,  2  Fagotts  und 
Flügel.  Sie  weist  auf  specifisch  hamburgische  Ver- 
hältnisse jener  Zeit  hin :  ein  starkes,  mit  virtuosen  Kräften 
ausgestattetes  Violinenensemble  und  ziemlich  massige 
Bläser.  Der  Flügel  ist  in  jener  Zeit  bereits  eine  entbehr- 
liche Zuthat.  Interessant  und  Schule  machend  wirkte  Bach 
durch  die  Behandlung  der  Instrumente.  Unter  ihnen 
herrscht  im  Vergleich  zur  älteren  Weise  volle  Freizügig- 
keit, und  sein  Orchester  formirt  sich  fortwährend  anders 
und  vollzieht  die  Evolutionen  der  neuen  Aufstellung  mit 
einer  Leichtigkeit,  die  der  älteren  Praxis  fremd  war.  Auch 
Bach  kennt  das  „Concertino*  des  Concertorchesters  noch, 
er  giebt  dem  bekannten  Bläsertrio  gern  die  zweiten 
Themen  im  Hauptsatz.  Aber  auch  jedes  andere  Instrument 
besitzt  bei  ihm  die  Solistenqualification  und  ist  jeden  Augen- 
blick bereit,  von  ihr  Gebrauch  zu  machen.  Die  solistische 
Führung  geht  taktweise  von  der  Oboe  zur  Flöte,  von  einem 
Chor  zum  andern,  während  man  früher  bei  solchem 
Wechsel  etwas  umständlicher  war. 


II. 


J.  Haydn,  Mozart,  Beethoven. 


^er  grosse  Aufschwung,  den  die  Pflege   der  Sinfonie  in 

Deutschland  um  die  Mitte  des  18.  Jahrhunderts  nahm, 
übte  auf  ihre  innere  Entwickelung  nur  geringen  Einfluss; 
im  Wesentlichen  blieb  sie  nach  Form  und  Geist  auf  dem 
alten  italienischen  Standpunkt.  Erst  Josef  Haydn 
wandelte  sie  um  und  zwar  so  gründlich  und  gewaltig,  dass 
diese  Reform  der  Sinfonie  eine  der  bedeutendsten  Thaten 
der  gesammten  Kunstgeschichte  genannt  werden  darf. 

Wenn  wir  auf  die  Frage,  worin  bestand  Haydn's 
Reform  der  Sinfonie,  mit  unseren  Handbüchern  der  Musik- 
geschichte und  mit  den  musikalischen  Lexicis  antworten : 
in  der  Einführung  des  Menuetts,  so  bleiben  wir  allerdings 
den  Thatsachen  das  Meiste  und  das  Beste  schuldig. 

Haydn  hat  deri  Menuett  nicht  in  die  Sinfonie  einge- 
fiihrt.  Die  Sinfonie  mit  Menuett  war  eine  Eigenthümlich- 
keit  der  Wiener  Schule.  Von  dort  eignete  sie  sich  auch 
Mozart  zu  einer  Zeit  an,  wo  die  Haydn'schen  Sinfonien 
ausserhalb  ihres  Entstehungsorts  noch  unbekannt  waren. 
Haydn  verschaflfte  ihr  nur  in  der  internationalen  Sinfonie 
allgemeines  Bürgerrecht.    Es  handelt  sich  dabei  im  Menuett 


e<3'         52         "Ö' 

um  ein  Stück  voIksthUmlicher  Musik  im  Allgemeinen.  Die 
Wiener  Schule  näherte  sich  mit  der  Aufnahme  dieses 
Tanzsatzes  in  die  Sinfonie  der  Suite  und  Haydn  war  es, 
der  die  von  andern  grossen  Meistern,  von  Corelli  und 
namentlich  von  Händel  auf  dem  Gebiete  des  Concerts  ver- 
suchte Aussöhnung  der  höheren  Tonkunst  mit  der  einfachen 
gesunden  und  reichen  Volksmusik  auf  dem  Gebiete  der 
Sinfonie  zu  einem  in  seiner  Art  ganz  vollendeten  und 
wundervollen  Abschluss  brachte.  Ihm  gelang  es,  in  den 
Formen  der  italienischen  Sinfonie  den  Suitengeist  heimisch 
zu  machen;  für  diejenigen  —  kann  man  sagen  —  die 
diesen  neuen  Geist  im  alten  Hause  nicht  merkten, 
wurde  der  Menuett,  der  modernisirte ,  ländlerartige,  öster- 
reichische Menuett,  noch  besonders  drein  gegeben.  Im 
letzten  Allegro,  im  Schlusssatz,  hielt  auch  die  italienische 
Sinfonie  auf  eine  gemeinverständliche,  ungesuchte,  an  Tanz 
anklingende  Fröhlichkeit.  Aber  in  den  andern  Sätzen 
ist  zwischen  ihr  und  Haydn  ein  elementarer  Unterschied : 
Der  erste  Satz  hat  bei  den  Italienern  weit  ausholende, 
umständliche,  bei  aller  Trivialität  auf  Theaterfüssen  ein- 
herstolzirende  Themen;  bei  Haydn,  bei  dem  späteren 
Haydn  wenigstens,  dem  Haydn,  den  heute  alle  Leute 
meinen,  wenn  sie  seinen  Namen  nennen  —  knappe,  sofort 
fertige,  ungekünstelte,  lustige,  gemüthlich  beschauliche 
Weisen,  die  wie  aus  dem  Yolksmund  genonmien  klingen, 
sicher  für  ihn  wie  geschaffen  und  doch  dabei  immer  so 
edel  sind,  dass  sie  auch  die  vornehmen  und  hohen  Geister 
erfreuen,  erwärmen  und  fesseln.  Seine  langsamen  Sätze, 
seine  Adagios,  Andantes,  Larghettos  entwickeln  oft  den 
Tiefsiun  S.  Bach's,  die  Empfiudungsgrösse  HändePs,  sind 
erregt  ohnegleichen;  aber  ihren  Ausgang  nehmen  sie 
meistens  von  dem  Boden  des  Kinderliedes.  Wer  denkt  da 
nicht  an  das  Andante  mit  dem  Paukenschlag  ?  Es  führen 
gerade  von  diesen  Sätzen  goldne  Faden  nach  dem  Rohr- 
auer  Elternhaus  Haydn^s,  zu  den  Abendstunden,  da  der 
Vater  die  Harfe  schlug  und  die  Kinder  sangen.  Familien- 
abkunft und  Heimath  haben  einen  grossen  Autheil  an  der 
Sinfonie  Haydn*s ;  sie  haben  zum  Theil  ihre  Richtung  auf 


cc?     53     '^ 

den  Gedankenkreis  der  Suite  bestimmt,  ihre  schnelle  und 
weite  Verbreitung,  ihre  ungeheure,  bis  heute  bewährte 
Popularität  begründet. 

Aber  der  volksthümliche  Charakter  der  Haydn^schen 
Sinfonie  ist  nur  der  eine  Theil  ihrer  Neuerung.  Er  ruht 
auf  der  Erfindung  der  Gedanken.  Wichtiger  noch  ist  der 
andere:  die  Auslegung,  Verwendung  des  thematischen 
Materials,  das,  was  Theologen  und  Philologen  die  Exegese 
nennen.  HierfUr  standen  der  älteren  Zeit  in  der  Instru- 
mentalmusik vor  allem  Fuge  und  Variation  zur  Verfügung. 
Beide  Formen  arbeiteten  fast  ausschliesslich  mit  dem  Thema 
in  seiner  ganzen  Ausdehnung  und  Länge.  In  zweiter  Linie 
erst  kam,  namentlich  durch  das  Concert,  die  Entwickelung 
eines  Tonsatzes  auf  Grund  von  Bruchstücken  des  Themas, 
auf  Grund  sogenannter  Motive  in  Brauch.  Haydn  machte 
nun  diese  motivische  Entwickelung  zum  Prinzip  des  Satz- 
baues und  eine  besondere  Eigenheit  von  ihm  war  es,  dass 
er  solche  Theile  des  Themas,  solche  Motive  zu  dem  Zweck 
gern  heranzog,  die  im  Zusammenhang  der  thematischen 
Periode  zurücktreten,  denen  man  nichts  bemerkenswerthes 
ansieht.  Ein  Hauptbeispiel  für  dieses  Haydn*8che  Ver- 
fahren bietet  die  D  dur-Sinfonie  Nr.  2  (der  neuesten 
Partiturausgabe  von  Breitkopf  &  Härtel),  die  zweite  der 
Londoner  Sinfonien  in  ihrem  ersten  Satz.  Da  ist  der 
ganze,  grosse  Durchführungstheil  und  auch  ein  gutes 
Stück  der  Uebergangpartien  in  der  Themengruppe  aus 
dem  3.  und  4.  Takte  des  Hauptthemas,  aus  dem  zweiten 
Abschnitt  des  Vordersatzes  hergestellt  der  also  lautet: 

ffwf  ^    ^   ^   ^    I  (^    -'    1     Nun   vergleiche  man  einmal, 

wie  unbedeutend  diese  beiden  Takte  im  Thema  selbst 
bleiben,  andrerseits  was  für  eine  Skala  von  Empfindungen 
Haydn  mit  ihnen  durchspielt.  Das  geht  von  der  ent- 
zückten Träumerei  bis  zum  entsetzten,  verzweifelten  Toben. 
Dieses  neue  Haydn'sche  Verfahren  Hess  die  Grund- 
linien der  in  der  italienischen  Sinfonie  herrschenden 
Formen  im  Anfangs-  und  Schlusssatz  unberührt.  Wir  haben 
im  ersten  Sinfoniesatz  bei  Haydn    nach    wie  vor    die  drei 


Haupttheile:  Thomengruppe,  Durchführung,  Reprise:  das 
Schema  also  des  sogenannten  Sonatensatzes.  Seine  Schluss- 
sätze bleiben  bei  der  bisher  üblichen  Rondoform  —  eine 
Art  InstrumentalUbertragung  des  Ruudgesangs  —  oder  sie 
verwenden,  wie  der  erste  Satz,  ebenfalls  das  Sonatenschema. 
Aber  die  Theile  selbst  sind  beträchtlich  erweitert.  Ganz 
besonders  gilt  das  von  der  Durchfuhrung  des  ersten  Satzes, 
die  dessen  wichtigsten  und  spannendsten,  in  der  Regel  auch 
längsten ,  umfangreichsten  Theil  bildet.  Gleicht  die 
Themengruppe  der  Exposition  im  Drama,  so  bringt  die 
Durchführung  die  Katastrophe,  enthält  das  bewegteste 
Stück  aus  dem  in  der  Composition  vorgeführten  Lebens- 
bild. Dem  langsamen  Satz  gab  Haydn  eine  ganz  neue, 
dem  Sonatencharakter  de«  ersten  Satzes  nachgebildete ,  in 
der  Durchführung  kürzer  gehaltene,  oder  aber  aus  Variationen 
herauHge wachse ne  Gestalt.  Die  Variationenform  verdankt 
die  Stellung,  die  sie  in  der  modernen  Sinfonie,  im  Quartett 
und  in  allen  Zweigen  des  Sonatengebietes  einnimmt,  dem 
Meister  Haydn.  Zwischen  ihm  und  der  alten  Orchester- 
suite der  Hausmann  und  Genossen  liegt  eine  Zeit,  da  sie 
ihr  Dasein  bescheidentlich  auf  dem  Klavier  und  im  Schul- 
dienst fristete.  Der  Menuett  allein  bewahrt  den  Charakter 
der  Volksmusik,  den  die  andern  Sätze  der  Haydn'schen 
Sinfonie  im  Anfang,  in  den  Themen,  zeigen,  auch  im 
weitern  Verlauf.  Er  besteht  aus  einem  in  zwei  Clausein 
getheilten  Hauptsatz,  einem  Trio  als  Gegensatz  und  der 
Wiederholung  des  Hauptsatzes.  Im  Huss<»ren  Gefüge  wie 
im  Inhalt,  verliert  er  die  praktischen  Zwecke  des  Tanzes 
nie  ganz  aus  den  Augen  und  verzichtet  deshalb  auf  Durch- 
führung, thematische  Arbeit  und  alle  Künste  der  Auslegung. 
Eine  erstaunlich  grosse  Anzahl  von  Musikfreunden 
und  Musikern  —  unter  diesen  Namen  von  gewichtigstem 
Klang  —  glaubt  den  ,Papa  Haydn",  den  ^gemüthlichen*, 
den  , kindlichen*  Haydn,  mit  einem  üblen  Beisatz  von 
Herablassung  verehren  zu  dürfen,  weil  er  in  den  Themen 
seiner  bekannten  Sinfonien  sich  sehr  ungeniert  als  Bruder 
Lustig  gicbt  und  in  demselben  Kreise  harmloser,  von  der 
Oberfläche  geistigen  Lebens  geschöpften  Ideen  dreht.    Sie 


c<?     55     'c>^ 

übersehen  ganz  den  inneren  Zusammenhang,  der  zwischen 
der  Thematik  der  Haydn'schen  Sinfonie  und  ihrer  Methodik 
besteht.  Die  Methode,  in  der  Haydn  seine  Gedanken 
entwickelt,  ausnutzt,  zum  grossen  Tonsatz  ausführt  und 
erweitert,  liebt  bedeutende,  durch  eigne  Wendungen  aus- 
gezeichnete Themen  nicht ;  sie  kann  sie  nur  selten  gebrauchen. 
Auch  die  Macht  und  Unmittelbarkeit  der  ersten  Erfindung, 
der  immer  von  Neuem,  frisch  einsetzenden  Inspiration  hat 
für  sie  wenig  Werth.  Tongedanken,  die  sich  für  die 
Haydn'sche  Methode  eignen  sollen ,  müssen  klar  und  reich 
gegliedert  sein,  vor  allem  unbeschränkte  Verwandlungs- 
fahigkeit  besitzen.  Das  Wesen  der  Haydn'schen  Sinfonie, 
ihre  Eigenthümlichkeit  beruht  nicht  auf  den  Themen  und 
Ideen,  ihrem  Eigenwerth  und  ihrem  ersten  Eindruck, 
sondern  auf  dem  Grad  von  Kunst,  mit  dem  der  Componist 
sie  behandelt,  darauf,  was  er  aus  ihnen  zu  machen  weiss. 
Haydn  schuf  seine  Sinfonien  aus  einem  ähnlichen  Glauben, 
aus  dem  heraus  Aeschylus  und  Sophocles  ihren  Tragödien 
Yolkssagen  zu  Grunde  legten.  Schütz  und  Händel,  AUer- 
weltsmotive  und  nachweislich  fremde  Erfindungen  für  ihre 
Compositionen  benutzten:  aus  dem  Glauben  und  der  An- 
schauung: die  Originalität  und  der  Gehalt  der  Grund- 
ideen ist  für  grosse  Kunstwerke  weniger  wichtig,  als  die 
Begabung  des  Künstlers.  Ein  Sinfoniker,  der  in  der 
Methode  Haydn's  etwas  lebten  will,  muss  einen  ausser- 
ordentlich reichen,  beweglichen  Geist,  er  muss  die  Fähig- 
keit besitzen,  ein  und  dasselbe  Thema  mit  tausend  ver- 
schiedenen Lichtem  zu  beleuchten,  mit  ihm  in  alleThüren  und 
Thore  seines  Phantasie-  und  Gemüthslebens  einzudringen. 
Er  muss  eine  Persönlichkeit  sein,  die  sich  ihrer  Fülle  und 
Eigenart  freuen  darf  und  daraus  mit  vollendeter  Freiheit 
mitzutheilen  weiss  was  am  Platz  ist.  War  die  Sinfonie 
vor  Haydn  eine  Festmusik,  so  wurde  sie  durch  ihn  eine 
Tondichtung  intimster  Art :  der  Subjectivität  des  Compouisten 
wurde  ein  grösserer  Antheil  angewiesen,  als  ihn  bisher  die 
Orchestermusik  gekannt  hatte.  Es  war  fortan  —  um 
mit  Brahms  zu  sprechen  —  „kein  Spass*  mehr  Sinfonien 
zu  schreiben. 


c<y     56     ^ 

Zu  dem  Soitengeist^  zu  der  durch  die  Betonung  thema- 
tischer Arbeit  erweiterten  Satzform  der  Haydn'schen  Sinfonie 
tritt  als  eine  dritte  Neuerung  die  Beseitigung  des  Cembalo 
aus  dem  Orchester.  Man  kann  diese  Massregel  auf  die  An- 
regung der  Gluck'schen  Oper,  oder,  was  wohl  das  Richtigere 
ist,  auf  das  Beispiel  der  alten  Orchestersuite  und  ihrer  süd- 
deutschen Rechtsnachfolger  der  Cassationen,  Serenaden, 
zurückfuhren.  Im  letzteren  Falle  bedeutet  sie,  wie  die  Ein- 
führung des  Menuett,  wie  die  Thematik  der  Haydn'schen  Sin- 
fonie ebenfalls  eine  Annäherung  an  die  Bräuche  der  gleichzei- 
tigen Volksmusik.  In  dem  Augenblick,  wo  die  Instrumente  des 
Haydn'schen  Orchesters  von  dem  Cembalo  Abschied  nehmen, 
richten  sie  unter  einander  eine,  über  alle  bbherige  C-onvention 
hiuschreitende  Freiheit  des  Verkehrs  ein.  Das  Concertiren 
und  das  Solospiel  wechselt  in  einer  Beweglichkeit,  die 
wohl  von  Händel  z.  B.  in  den  Oboenconcerten,  von  Ph.  F.  Bach, 
von  den  Mannheimern  vorbereitet,  aber  in  der  Haydn'schen 
Weise  bisher  noch  von  Niemandem  durchgeführt  war. 
Indem  das  Solorecht  von  jetzt  ab  allen  Instrumenten  ohne 
Ausnahme  verliehen  und  in  buntester  Reihe,  unter  Um- 
ständen taktweise  von  einem  zimi  andern  wandernd,  aus- 
geübt wurde,  gewann  das  Orchester  mit  Haydn  einen 
Reichthum  und  einen  Reiz  des  Colorits,  der  die  Wirkungen 
seiner  Sinfonien  auf  die  Zeitgenossen  mächtig  förderte. 
Wir  allerdings  haben  von  der  Schönheit  und  Eigenheit 
des  Haydn'schen  Orchesterklanges  in  vielen  Fällen  gar 
keine  Ahnung,  weil  wir  sie  durch  das  Missverhältniss 
zwischen  der  Besetzung  der  Geigen  und  der  der  Holzbläser 
gründlich  verderben.  Das  vernichtet  namentlich  die 
Haydn'sche  Kunst  der  Farbenmischung.  Ein  Beispiel:  In 
der  hübschen  G  dur-Sinfonie  No.  13  (Partiturausgabe  von 
Breitkopf  &  Härtel)  kommt  im  ersten  Satz  mehrmals  eine 
Stelle  vor,  an  der  zu  den  von  den  Bässen  gebrauchten 
Variante  des  Hauptthemas: 

■Ml   f   r    \n  r  r    \f^'^^   I^^Q-F^  die  hohen 

V         V         V 

Instrumente  mit  der  Figur: 


e<?        57        ^ 


contrapunktieren. 

Diese  Figur  klingt  ausserordentlich  schelmisch,  weil  die 
Oboen  mitspielen  und  in  den  Geigenton  eine  drollige 
Färbung  hineintragen.  Diese  Nuance  muss  aber  verloren 
gehen,  wenn,  wie  das  bei  unseren  Orchesteraufführungen 
anstandslos  passirt,  die  ersten  Geigen  zehn-  bis  zwanzigfach, 
die  Oboen  aber  einzeln  besetzt  sind.  Der  Dirigent  muss 
nothwendigerweise  die  Besetzung  des  Orchesters  kennen, 
die  zur  Zeit  Haydn^s  üblich  war  und  danach  seine  Ein- 
richtungen treffen.  Ohne  etwas  historisches  Wissen  geht*s 
eben  auch  den  sogenannten  Classikern  gegenüber  nicht! 

Nur  wenige  Musiker  sind  sich  darüber  klar,  dass  die 
Beseitigung  des  Cembalo  aus  dem  Sinfonieorchester  auch 
mit  einem  künstlerischen  Nachtheil  verbunden  war.  Er 
liegt  darin,  dass  wir  jetzt  zur  Füllung  der  Harmonie, 
Angabe  des  Rhythmus  imd  anderer  elementarer  und 
mechanischer  Aufgaben,  für  die  vor  Haydn  das  Accord- 
instrument  da  war,  eine  Anzahl  von  Künstlern  in  Betrieb 
setzen  müssen.  Wie  sehen  die  Stinunen  der  Bläser,  der 
zweiten  besonders,  in  modernen  Orchesterwerken  oft  aus! 
Zwei,  drei  Fülltöne,  dann  wieder  zehn,  oder  auch  zehnmal 
zehn  Takte  Pausen,  selten  eine  melodische,  thematische, 
für  sich  sinnvolle  Stelle.  —  Es  ist  ein  geradezu  demorali- 
sirender  Färberdienst ,  der  trefflichen  Künstlern  zugemuthet 
wird  und  über  kurz  oder  lang  wird  es  dahin  kommen, 
dass  wir  das  Cembalo  oder  einen  Ersatz  dafür  wieder 
zurückholen.  In  London  musste  übrigens  Haydn  wohl 
oder  übel  bei  Aufführungen  eigener  oder  fremder  Sinfonien 
sich  das  Ciavier  gefallen  lassen,  wohl  auch  selbst  spielen.^) 

Unter  den  Neuenmgen  der  Haydn'schen  Sinfonie  ist 
das  Prinzip  der  motivischen  Entwickelung,  der  thematischen 
Arbeit  die  wichtigste.  Sie  hat  die  Zukunft  der  Sinfonie 
bis  heute  beherrscht.     Ihr  Geist,  ihr  Charakter  war  mit 


^)  Griesinger,  G.  A. :  Biographische  Notizen  Ober  J.  Haydn 
(1810)  S.  50. 


co     58     "s^^ 

der  Individualität  Haydn's  aufs  eagste  verbunden.  Haydn 
war  nüt  seinem  Scharfsinn,  seiner  Schlagrfertigkeit,  seinem 
Witz  für  diese  Methode  geschaffen.  Und  doch  hat  er 
sieh  ihr  erst  zugewendet,  nachdem  er  die  Mitte  seines 
Lebens  längst  überschritten,  —  ähnlich  wie  im  Oratorium, 
auch  beim  Betreten  dieses  seines  eigensten  und  glänzendsten 
Gebietes  ein  Cunctatorl 

Von  den  mindestens  150  Sinfonien,  die  Haydn  com- 
ponirt  hat,  ist  die  gute  Hälfte  unveröffentlicht  geblieben, 
nicht  einmal  in  Stinmienausgaben  gedruckt  worden. 
Namentlich  die  Arbeiten  aus  den  ersten  beiden  Jahrzehnten 
seiner  Thätigkeit  als  Sinfoniker  sind  schwer  zugänglich. 
Der  weite  Kreis  der  Musikfreunde  kann  sich  darüber  nur 
aus  den  Mittheilungen  der  vorzüglichen,  aber  unvollendeten 
Haydnbiographie  C.  F.  PohPs  und  aus  der  Partituraus- 
gabe unterrichten,  in  der  Carl  Bank  vor  einigen  Jahren 
sechs  der  schönsten  Erstlinge  des  Tonsetzers  vorgelegt  hat. 
Es  scheint  aber  festzustehen,  dass  Haydn  in  dieser  früheren 
Zeit  bis  auf  eine  Anzahl  Arbeiten,  die  in  ihrer  Dreisätzig- 
keit  seinen  Ausgang  aus  der  italienischen  Schule  zeigen, 
mit  seinen  Sinfonien  Beiträge  zur  Programmmusik  gab. 
Die  Richtung  war  zu  Haydn's  Zeit  unter  den  Instrumental- 
componisten  noch  von  Muffat's  Suiten,  Frohberger's  und 
Kühnaus^  Ciavierstücken  her  beliebt  und  in  der  Sinfonie 
durch  Männer  wie  Dittersdorf  (Sinfonien  zu  Ovid's  Meta- 
morphosen) Mysliwsczek  (6  Sinfonien  über  die  Monate 
Januar  bis  Juni),  C.  Stamiz  (la  chaHne),  Tessarini  (la 
stravaganza),  Rosetti  (Sinfonien :  ^Calypso  und  Telemach*, 
,Der  Sturz  Phaetons"),  Pichel  (neun  Sinfonien  über  die 
neun  Musen)  vertreten.  Er  selbst  hat  8<»ine  Neigung  zu  ihr 
noch  in  späteren  Jahren  bekannt,  als  er  dem  Hofrath 
Griesinger  bemerkte,  dass  er  in  seinen  Sinfonien  gern 
einen  „moralischen  Charakter*  geschildert  habe.*)  Wie  sehr 
das  Publikum  Haydn's,  nam<*ntlich  das  französische,  einen 
poetischen  Anhalt  in  den  Sinfonien  liebte,  das  sagen  uns 
die  Beinamen,  mit  denen   es  die  Werke  Haydn's   belegte: 

')  Griwingor.     8.  117. 


c^     59     '^ 


Wir  haben  da  einen  Torso  der  Tageszeiten  in  den  drei 
Sinfonien:  le  midi,  le  raatin,  le  soir,  wir  haben  einen 
Philosoph,  einen  ,  Zerstreuten  * ,  (il  distratto)  einen  Schul- 
meister, eine  Lamentation,  eine  Passion,  eine  Maria 
Theresia,  einen  Laudon,  eine  la  Reine,  la  chasse,  la 
poule,  einen  Tours,  eine  Feuersinfonie,  eine  Militärsinfonie, 
eine  Eandersinfonie  und  noch  eine  ganze  Reihe  merk- 
würdiger Namen.  Carpani,  der  italienische  Biograph 
Haydn*s,  der  Librettist  der  italienischen  , Schöpfung"  irrt, 
wenn  er  —  wahrscheinlich  gestützt  auf  die  Bemerkung 
Haydn's  (bei  Griesinger  a.  a.  O.),  dass  er  in  einer  seiner 
ältesten  Sinfonien  sich  einen  Dialog  zwischen  Gott  und 
einen  verstockten  Sünder  gedacht  habe  —  behauptet,  dass 
Haydn  diesen  Sinfonien  allen  ausgeführte  Novellen  und  Ge- 
schichten untergelegt  habe.*)  Soweit  es  sich  um  Com- 
positionen  aus  späterer  Zeit  handelt,  stehen  diese  Titel  dem 
Wesen  der  Kunstwerke  meistens  sehr  fern  und  heften  sich  nur 
an  Kleinigkeiten  und  Aeusserlichkeiten  der  im  übrigen  voll- 
kommen normalen  und  formgerechten  Sinfonien.  Die  bis  zum 
Anfang  der  siebenziger  Jahre  geschriebenen  Sinfonien 
Haydn's  tragen  aber  meistens  schon  im  Aeusseren  die 
Merkmale  des  Ausserordentlichen.  So  z.  B.  die  (von  Bank 
mitgetheilte)  Sinfonie  „le  midi"  das  zweite  Werk  der 
Gattung,  das  er  überhaupt  und  zwar  1761  in  Eisenstadt 
compouirt  hat.  Sie  ist  funfsätzig,  bringt  ein  Adagio  in 
Form  eines  Recitativs  der  Solovioline  und  hat  im  Schluss- 
satz dem  concertirenden  Dialog  zwischen  dieser  und  dem 
Solocello  einen  breiten  Raum  angewiesen.  Die  bekannteste 
aus  dieser  ersten  Periode  Haydn's  ist  die  sogenannte 
Abschiedssinfonie  geworden,  vermuthlich  ihrer  Ent- 
stehungsgeschichte wegen.  Dem  Fürsten  Esterhazy  fiel  es 
im  Jahre  1772  plötzlich  ein,  die  Capelle  zwei  Monate 
länger  als  gewöhnlich  auf  seinem  Sommerschloss  behalten 
zu  wollen.  Da  entschloss  sich  Haydn,  für  seine  Musiker 
eine  Bittschrift  einzureichen,  und  zwar  eine  musikalische. 
Eines  Abends  wurde  der  Fürst  damit  überrascht.    Es  war 


J.  Haydii 

Abschieds- 
Sinfonie. 


*)  Carpani,  Giuseppe:  Le  Haydine  (MÜano  1812),  8.  69. 


CG'       60       'ö^ 

die  Abschiedssinfouie,  ein  Werk  in  fünf  Sätzen,  das  in  den 
ersten  drei  ebenso  verläuft,  wie  die  viersätzigen  Sinfonien 
Haydn*s  aus  späterer  Zeit.  Mit  dem  vierten  beginnt  die 
Pantonume.     Er  ist  ein  rasches  Finale,  in  dessen  Thema 

JJJJI|jjJ|Jj^|jlJI  -  wenn  der  Satz 

sich  schon  auf  die  Affaire  mit  bezieht  —  man  vielleicht 
die  beiden  Parteien  der  geschädigten  Capelle,  die  klagen- 
den und  die  wüthenden,  räsonnirenden ,  erblicken  kann. 
Die  Musik  wickelt  sich  sehr  hastig  hin;  zu  einem  zweiten 
Thema  kommt  es  nicht  und  ehe  man  es  vermuthen  und  für 
gut  finden  kann,  wird  abgebrochen :  Ein  Adagio  von  mildem 
Tone,  bittenden  oder  begütigenden  Charakters,  —  äusser- 
lich  den  zweiten  Satz  der  Sinfonie  gleichend  —  setzt  ein 

Es  kommt  zu  sehr  freundlichen  Tönen.  Nach  30  Takten 
steht  in  der  Partitur  beim  zweiten  Hörn:  „si  parte".  In 
Esterhäz  legte  der  Spieler  hier  seine  Noten  zusammen, 
löschte  die  Lichter  am  Pulte  aus  und  ging  weg.  Bald 
darauf  verschwand  in  derselben  Weise  der  Flötist;  ihm 
nach  der  erste  Hornist,  die  Oboebläser  u.  s.  f.  Das  Or- 
chester ward  dunkler  und  leerer.  Zuletzt  blieben  nur  noch 
2  Geiger  übrig,  die  den  Satz  mühsam  zu  Ende  bringen 
und  durch  schläfrige  Wiederholungen  zu  erkennen  geben: 
„Wir  können  auch  nicht  mehr".  Der  Fürst  verstand  die 
originelle  Adresse,  ging  ins  Vorzimmer,  wo  sich  die  Musiker 
inzwischen  versammelt  hatten,  und  sagte  lächelnd:  „Haydn, 
morgen  können  die  Herren  reisen".  Der  originelle  Künstler- 
streich sprach  sich  bald  herum  und  kam  von  den  achtziger 
Jahren  ab  wiederholt  in  Zeitungen  und  Bücher.  Haydn 
soll  später  auch  eine  Einzugssinfonie   geschrieben   haben, 


eG»        61        "^ 

in  der  die  Musiker  nach  einander  eintreten,  Lichter  an- 
brennen und  zu  spielen  anfangen.  Nachweislich  ist  die 
Idee  der  Abschiedssinfonie  —  englisch  heisst  sie  candle 
overture  —  in  dieser  umgekehrten  Richtung  von  Ditters- 
dorf  und  Plejel  ausgenützt  worden.  Mendelssohn,  der  sie 
im  Februar  1838  ins  Gewandhaus  zu  Leipzig  brachte  (in 
einem  historischen  Concerte),  nennt  sie  in  einem  Briefe  an 
die  Schwester  Rebecca  „ein  curios  melancholisches  Stück''. 
Aehnlich  schildert  Schumann  und  vor  ihm  Rochlitz  den 
Eindruck  von  Hören  und  Zusehen.  Griesinger  nennt  sie 
einen  , durchgeführten  musikalischen  Scherz*  und  sieht  in  ihr 
ein  Hauptbebpiel  fUrHaydn'sSchalkheit.  Heute  pflegt  man 
die  Sinfonie  in  der  Regel  nach  der  Andr^'schen  Ausgabe  aus- 
zuführen, die  nur  die  zwei  letzten  Sätze  enthält,  und  zwar  nach 
Emoll  transponirt.  Das  Original  steht  in  Fis  moll,  einer  für 
Orchestercompositionen  sehr  wenig  gebrauchten  Tonart,  die 
hier  aber  ihre  grosse  Bedeutung  hat.  Denn  die  Instrumente 
klingen  wie  belegt,  wie  heiser,  wie  schlecht  aufgelegt 
und  missgestinmit,  das  A  dur  des  letzten  Adagio  dann  aber 
um  so  unwiederstehlicher! 

Schon  dieser  eine  Fall  beweist,  wie  raffinirt  Haydn 
sich  auf  das  Charakterisiren  verstand.  Die  Wiedergabe 
absonderlicher  Zustände,  Stimmungen  und  Gestalten  musste 
ihn  deshalb  mächtig  reizen.  Sein  Talent  führte  ihn  un- 
willkürlich zur  Programnmiusik  und  wie  dem  jungen 
Schiller,  dem  jungen  Berlioz,  dem  jungen  Schumann  scheinen 
ihm  das  Phantastische,  das  Problematische,  das  Seltne 
die  eigentlich  bedeutenden  Aufgaben  der  Kunst  zu  um- 
grenzen. Haydn  schwamm  in  jener  Strömung  der 
Romantik,  die  dem  späteren  Goethe  so  entsetzlich  war;  was 
ihn  hinein  getrieben  hatte,  ob  Wieland,  ob  die  französische 
Oper,  lässt  sich  nicht  sagen.  Musikalisch  ist  allen  den 
Sinfonien,  die  dieser  Periode  Haydn*s  angehören,  ein 
Streben  nach  Originalität  und  Individualität  eigen,  das  zu- 
weilen zu  bedeutenden  und  merkwürdigen  Themen  fuhrt, 
im  Ganzen  jedoch  sich  nur  selten  neu  und  kühn  äussert. 
Die  Themengruppe,  der  Haydn  in  späterer  Zeit  sehr  oft 
nicht  einmal  ein  zweites  Thema  gönnt,  ist  in  diesen  Werken 


der  bedeutendste  unter  den  drei  Theilen  des  ersten  Satze». 
Dagegen  ist  die  Durchführung  in  der  Regel  nur  sehr 
obenhin  in  einem  gewissen  al  freso  Stil  behandelt.  Sie 
zeigt  Charakter,  aber  keinen  eigentlichen  geistigen  Inhalt. 
Alles  in  Allem  ist  dieser  frühere  Haydn  das  reine  Gegen- 
theil  von  dem,  den  seine  späteren,  die  noch  heute  weltbe- 
kannten Sinfonien  zeigen. 

Weil   sie   in   Olavierauszügen    vorliegen,    geben    auch 

J.  H»7dB      ,der  Schulmeister*  und  „Maria  Theresia*,  die  der  Periode 

Sinfonie  „Maria  der  Abschiedssinfonie  angehören,  bequeme  Gelegenheit,  einen 

TherMia*'.      Blick  auf  Haydn  in  der  Zeit  seines  ersten  Stils  zu  werfen. 

Die  Sinfonie  „Maria  Theresia*  wurde  bei  einem  Besuch, 
den  die  Kaiserin  im  September  1773  in  Esterhäz  abstattete, 
aufgeführt  und  erhielt  daher  ihn»n  Namen.  Haydn  wird 
das  Werk  aus  dem  Vorrath  fertiger  Sinfonien  in  der  Er- 
wartung hervorgeholt  haben ,  damit  Ehre  einlegen  zu 
können.  Sie  ist  so  freigebig  erfunden,  dass  man  aus  dem 
mitgetheilten  Material  gut  zwei  Sinfonien  herstellen  könnte, 
die  selbständige  und  eigne  thematische  Ausstattung  der 
Uebergaugsgruppen  erinnert  mehr  an  den  jungen  Beethoven 
als  an  den  fertigen  Haydn.  Die  plcUzliche  Ausweichung 
nach  Cmoll  im  13.  Takte  des  ersten  Satzes  z.  B.  ruft  un- 
willkürlich eine  frappante  Stelle  in  Beethoven's  erster 
Sinfonie  (Themengruppe :  das  plötzliche  pp.  nach  derGdur- 
Cadenz)  vor  die  Phantasie. 

Der  Ton,  in  dem  sonst  Majestäten  begrüsst  zu  werden 
pflegen,  kommt  in  dieser  Sinfonie  der  Kaiserin  nicht  vor, 
aber  das  „Willkommen*,  das  sie  bietet,  kann  an  Herzlich- 
keit, an  Frische  und  Kindlichkeit  nicht  übertrofFen  werden. 
Ein  so  begrüsster  Gast  kann  nicht  zweifeln,  dass  er  unter 
liebenswürdige,  glückliche  und  auch  interessante  Menschen 
gekommen  ist.  Wer  die  Sinfonie,  ohne  den  Namen  des 
Autors  zu  wissen,  hört,  wird  hie  und  da  auf  Mozart  rathen 
wollen,  namentlich  wenn  das  Hauptthema  des  ersten  Satzes 

^  Obo«m 
Cornl  in  0^  sab. 


Stellen    kommen    wie    der   Abschluss   der   ersten    grossen 
Periode,  in  der  die  Violinen: 


» 


Vtollaoi. 


J.  hJ^  /  J  J  J  l    fc  '■  i   trillern.     Beide,  Haydn  wie 


Mozart,  hatten  für  solche  Fälle  eine  gemeinsame  Quelle: 
die  italienische  Schule.  Den  flotten,  temperamentvollen 
Zug,  der  sich  in  den  guten  Opernsinfonien  der  Italiener 
findet,  hat  diese  .Maria  Theresia*  sich  wohl  zu  eigen  ge- 
macht: das  wird  der  Monarchin  nach  der  musikalischen 
Erziehung,  die  ihr  zu  theil  geworden  war,  sehr  wohl 
gefallen  und  sie  empfänglich  und  freundlich  für  die  Menge 
neuer  Humore  gestimmt  haben,  die  Haydn  aus  seinem 
eigensten  Inneren  dreingab.  Sie  finden  sich  in  allen  Sätzen : 
Die  hervorragendsten  sind  im  ersten  die  polternde  und 
bärbeissige  Unisono-Figur : 

Klänge  des  zweiten  Themas  verjagt.  Im  zweiten  Satze  liegen 
sie  im  Anfang  des  Hauptthemas  selbst,  in  dem  Wieder- 
spruch zwischen  dem  leichten  Charakter  der  Verzierungsfigur: 

etwas  schweren  Klang  der  tiefen  Violinsaiten:  noch  mehr 
in  den  Stellen,  die  die  Uebergänge  vom  ersten  zum  zweiten 
Thema,  von  der  Durchführung  zur  Wiederholung  bilden. 
Es  ist,  als  wenn  diese  paar  Takte  mit  dem  plötzlichen 
Hörnerklang,  mit  dem  Vogclzwitscher,  das  aus  den  Violinen 
tönt,  in  die  philosophischen  Träumereien  des  Satzes  hinein- 
mahnten: Siehst  du  nicht,  wie  schön  die  Welt  ist!  Der 
Träumer  aber  fällt  wieder  in  Tiefsinn  und  Grübelei  und 
stellt  in  dem  Trugschluss  bei  der  Fermate  —  hier  darf 
man  an  den  Hamburger  Bach  denken  —  eine  Frage  an 
das  Schicksal.  Wie  seltsam  verläuft  sich  der  Menuett  in 
der  zweiten  Clausel  aus  der  Klarheit  und  Sicherheit  des 


e<?        64        ^ 


Tanzliedes,  von  dem  Motiv :  AI  ^    1***^'    I     1  gelockt  und 

gebannt  ins  Dunkel,  ins  Dickicht!     Und  als  kaum  wieder 
alles  in  Ordnung  —  was  für  eine  neue  Ueberraschung: 

Kriegsvolk  in  Sicht  ?  Wahrscheinlich.  Es  wird  ja  im  Menuett 
so  ernst  und  ungewöhnlich :  Moll  und  der  schwere  Ausdruck : 

»iii^jjjini  ni...,^iiJi^aiXij 

Wenn  die  Kaiserin  überhaupt  schon  je  etwas  so 
originell  und  doch  einfach  Lustiges  gehört  hatte ,  wie  das 
Thema  des  letzten  Satzes,  der  überhaupt  nur  das  eine  hat 
—  so  war  das  wohl  kaum  in  einer  Sinfonie  der  Fall  gewesen. 

Allegro. 


So  etwas  kann  doch  nur  die  Musik,  und  unter  den  Musikern 
kann  es  so  nur  J.  Haydn! 

Die  Durchführungen  dieser  hübschen  und  eignen  Ge- 
danken sind  allerdings  nach  dem  späteren  Haydn'schen 
Massstab  gar  nicht  als  solche  zu  bezeichnen ;  es  sind  mehr 
freie  und  kurze  Phantasien,  die  mit  den  Themen  und  den 
Ausgangspunkten  der  Sätze  keinen  oder  nur  geringen 
Zusammenhang  haben.  Ein  Spass,  den  sich  Haydn  an 
dieser  Stelle  in  der  Periode  der  Absehiedssinfonie  gern 
erlaubte,  fehlt  auch  in  „Maria  Theresia*  nicht:  Das 
Hauptthema  kehrt  im  ersten,  wie  im  letzten  Satz  in  der 
ursprünglichen  Tonart,  bald  nachdem  die  Durchführung 
eben  erst  begonnen,  zurück.  Jedermann  glaubt  und  be- 
dauert, dass  die  Wiederholung  schon  einsetzt  und  dass 
sich  darin  eben  jedermann  verrechnet,  ist  der  Humor  an 
der  Sache. 


e<?        65        '^ 


Auch  im  ersten  Satz  der  Sinfonie  ,Der  Schulmeister*,     J.  Rmjim 
bringt  Haydn  diesen  witzigen  Treflfer  an,  hier  aber  wesent-         ^^ 
lieh    verschärft.      Das    Orchester    holt    sehr    entschieden,  8chulmei«t6r. 

immer  wieder  mit  dem  klopfenden  Rhythmus  ™  |  J  nach 
Adur  aus,  die  Harmonie  liegt  auf:  b-d-f-gis.  Aber  im 
entscheidenden  Moment  hat  Haydn  sich  das  gis  als  as 
gedacht  und  da  sind  wir  wieder  in  Esdur  am  Anfang  der 
Sinfonie : 

AIIegTo  di  jDoItü. 


der    Nachsatz 


So    lautet    der    Vordersatz    des    Themas: 
folgendermassen : 

jii'i.f^i^^rrrirf^|fiLjii  i^i 


W 

Das  ist  jedenfalls  ein  merkwürdiges  Thema,  ganz  und 
gar  nicht  von  der  Art,  die  Haydn  in  den  Londoner 
Sinfonien  bevorzugt.  Es  hat  Programmblut  und  verfuhrt, 
an  bestimmte  Vorgänge  zu  denken,  auf  die  es  gemünzt 
sein  könnte.  Die  freundliche,  sanfte  Ansprache  der  vier 
piano-Takte,  das  plötzliche  Dreinwettern,  das  Nachzucken 

des  JTjJ,  die  gewaltsame  Rückkehr  in  den  leisen,  zarten 

Ton  —  das  liesse  sich  ohne  zu  grosse  Kühnheit  in  das 
Bild  einer  Schulstunde  zusammenbringen,  wo  die  Unter- 
weisung häufig  genug  durch  Schelten  unterbrochen  werden 
muss.  Wir  hätten  dann  eine  Erklänmg  für  den  Titel 
der  Sinfonie  „Der  Schulmeister*,  die  mit  dem  weiteren 
Verlauf  des  Satzes  ganz  gut  zusanunenpasst.  Denn  Unter- 
brechungen, Ueberraschungen,  halb  übers  Knie  gebrochene 
Schlüsse  —  Symptone  des  Zornes  —  geben  ihm  sein  be- 
sonderes Gepräge.    Pohl  (II,  262)  fuhrt  den  Beinamen  der 

Kretzsohmar,  Führer,  I.  6 


c<?     66     ^ 


Composition  auf  den  zweiten  Satz,  da»  Adagio  zurück,  auf 
den  .abgemessenen  Gang*  seines  Themas: 


p  Memplice 

I  1 1  I  in>  Hl  rm  I  I 

•       •       •       •  •       « 

Das  würde  der  ersten  Annahme  nicht  widersprechen;  im 
Gegentheil :  wir  erwarten  bei  einem  Programm,  dass  alle 
Sätze   der  Sinfonie   an   seiner  Durchführung  theilnehmen. 

Die  hier  mitgetheilte  achttaktige  Periode  wird  sofort 
in  variirter  Form  wiederholt  und  nochmals  im  Halbschluss 
beendet;  dann  erst  kommt  der  Nachsatz,  der  das  Thema 
in  die  Haupttonart  B  dur  zurückführt.  Auch  diesem  gleich- 
falls achttaktigen  Nachsatz  folgt  seine  Variation  auf 
dem  Fusse. 

Wir  haben  also  ein  Thema,  das  in  breiter  Anlage 
32  Takte  umspannt.  Diese  Aeusserlichkeit  ist  zu  beachten, 
weil  in  den  folgenden  Variationen  über  dieses  Thema,  aus 
denen  sich  das  Adagio  bildet,  die  zweiten  Perioden  —  als 
wörtliche  Wiederholungen  der  ersten  —  nicht  ausgeschrieben, 
sondern  nur  durch  Wiederholungszeichen  angegeben  sind. 
Es  wäre  in  diesem  Falle  ein  Verstoss  gegen  die  Metrik 
und  das  Ebenmass  der  Composition,  wenn  man,  was  sonst 
ja  zuweilen  statthaft  oder  geboten  ist,  diese  Wiederholungs- 
zeichen ignoriren  wollte. 

Auch  das  Finale  der  Sinfonie  ist  ein  Variationensatz 
und  zwar  über  das  Thema: 

Presto 


Ji'nj  I  M  I  1 1  LI  I  '  I IJ  'iil'li  I 


Zwar  liegt  dem  Ganzen  das  Rondoschema  zu  Grunde;  doch 
treten  die  Zwischensätze  ganz  zurück.  —  In  die  sorgenfreie  Ge- 
müthlichkeit  dieses  Schlusssatzes  platzt  (hinter  dem  siebenten 
Theilstrich)  nach  dem  Dialog,  den  die  hohen  und  die  tiefen 


Instrumente  über  das  Motiv: 


führen,  eine  sehr  aufgeregte  Scene  herein.  Wieder  einer 
jener  Zwischenfälle,  an  denen  diese  Schulmeistersinfonie 
80  reich  ist !  Diesmal  scheint  er  erfreulicher  Natur  gewesen 
zu  sein,  denn  das  Sätzchen  schliesst  ganz  still  entzückt  auf 
einer  Fermate  auf  dem  unerwarteten  f-as-ces-des.  Wie  alle 
Sätze  des  , Schulmeister*  ungewöhnlich  mit  einem  kleinen 
Stich  ins  Carrikirte  ausklingen,  so  auch  das  Finale.  Aber 
das  Kindliche  und  Rührende,  der  milde  Glanz  des  Abend- 
roths überwiegt  doch  ganz  entschieden.  Es  ist  eine  Stelle 
von  jener  Poesie  und  Schönheit,  mit  der  uns  eine  andere 
Perle  der  Schulmeister-Litteratur,  Jean  Paul's  Schulmeister 
Wuz,  entzückt. 

Was  bei  Haydn  zu  dem  schroffen  Wechsel  der  künst- 
lerischen Anschauungen  geführt  hat,  lässt  sich  nur  ver- 
muthen.  Zum  Theil  scheinen  ihn  die  Werke  Ph.  Em.  Baches 
beeinflusst  zu  haben.  Als  ihm  einmal  ^)  von  der  Verwandt- 
schaft seiner  Musik  mit  der  des  Mailänder  Tonsetzers 
Sanunartini  gesprochen  wurde,  wies  er  diesen  vielcitirten 
Lehrer  Gluck's  als  einen  „Schmierer"  heftig  zurück  und 
nannte  ausdrücklich  den  Hamburger  Bach  sein  Vorbild. 
Wohl  konnte  er  sich  von  diesem  Tonsetzer  angezogen 
fühlen :  denn  er  glich  ihm  an  Temperament,  an  Munterkeit 
und  Heiterkeit  des  Geistes.  Dann  mussten  ihn  aber  auch 
die  modernen  Elemente  in  Bach's  Musik  mächtig  erregen. 
Die  neue  Zeit,  die  Zeit  der  Roussoau'schen  Natürlichkeit 
und  des  französischen  Esprit,  sprach  aus  keines  Zweiten 
Tönen  so  deutlich,  wie  aus  den  Ciaviersonaten  Bach's  mit 
ihrer  Freiheit  des  Ausdrucks,  der  Beweglichkeit  und 
Zwanglosigkeit ,  mit  der  sie  den  Satzbau  betrieben  und 
allerhand  bis  dahin  streng  getrennte  Stile  durch  einander 
mischten.  Man  kann  schon  in  den  ersten  Sinfonien 
Haydn's  vereinzelte  Anregungen  Ph.  Em.  Bach's  an- 
nehmen. Näher  kennen  gelernt  und  eingestanden  studirt 
hat  er  ihn  aber  wahrscheinlich  erst  in  späteren  Jahren, 
wo  er  reif  genug  war,  sich  vor  den  Ausschreitungen  Bach'« 
zu  hüten. 


^)  Griesinger.    S.   15. 

5* 


c<?     68     ^ 

Auch  an  die  äussere  Lebensgeschichte  Haydn's  knüpff 
sein  neuer  Sinfoniestil  merkbar  an.  Im  Jahre  1778  hatte 
sein  ^Stabat  Mater*  den  Beifall  Hasses  und  der  italienischen 
Schule  gefunden.  Haydn  war  mit  einem  Schlag  ein  be- 
rühmter Mann  geworden  und  schrieb  nun  auch  seine 
Sinfonien  nicht  mehr  für  den  kleinen  Eisenstadter  Kreis, 
sondern  für  das  ganze  musikalische  Europa.  Mit  der  Welt- 
klugheit, die  schon  aus  Haydn's  Bildern  spricht,  trug  er 
dieser  Thatsache  Rechnung,  verzichtete  auf  die  melan- 
cholischen und  schwer  verständlichen  Sonderliebhabereien 
seiner  Phantasie,  wenn  er  fortan  an  Sinfonien  ging  und 
suchte  statt  dessen  dem  Geschmack  der  tonangebenden 
Gesellschaft  seiner  Zeit  Rechnung  zu  tragen.  Hierbei  war 
es  von  entschiedener  Bedeutung,  dass  die  ersten  und  dann 
die  meisten  auswärtigen  Bestellungen  auf  Haydn'sche 
Sinfonien  von  Paris  einliefen.  Von  1779  ab,  wo  das 
Concert  de  la  Loge  Olympique,  die  Nachfolgerin  der 
alten  Concerts  spirituels  von  1724,  die  heute  noch  in  den 
Concerts  du  Conservatoire  fortleben,  Haydn  einführte ,  war 
er  der  populärste  Instrumentalcomponist  der  französischen 
Hauptstadt.  Der  Verleger  Sieber  in  Paris  gab  nach  und 
nach  63  Haydn'sche  Sinfonien  in  Auflagestimmen  heraus, 
man  handelte  mit  gefälschten  Haydn ^),  1810  veröflPentlichte 
Leduc  sogar  Partituren  von  26  Haydn'schen  Sinfonien. 
Leider  ist  diese  Ausgabe  nicht  zu  brauchen  und  bis  heute 
sind  die  6  von  F.  Wüllner  herausgegebenen  Sinfonien,  nebst 
den  Nummern  10  und  13  der  Breitkoprschen  Ausgabe  das 
Einzige,  was  wir  aus  der  grossen  Masse  von  Haydn's 
Pariser  Sinfonien  in  Partitur  halien.  Von  Paris  aus 
drang  dann  der  Ruf  der  Haydn'schen  Sinfonie  nach  Wien, 
nach  Deutschland  und  England  und  erzeugte  jenen  Haydn- 
kultus,der  bis  ins  19.  Jahrhundert  hinein  durch  Anlegen  von 
Sammlungen,  Errichtung  von  Concertsälen ,  Gründung  von 
Vereinsverbänden  das  allgemeine  Musikwesen  mannigfach 
förderte.  Die  Vergleiche  Haydn's  gingen  vom  „Geliert  der 
Musik*  vom  musikalischen  Ariost  bis  zum  Phöbus  Apollo 

*)  Siehe  Gyrowetz  Selbstbiographie  8.  45, 


c<?     69     ^ 

und  entsprangen  einer  völlig  ungekünstelten  Begeisterung, 
die  nicht  zum  kleinsten  Theil  mit  darauf  beruhte,  dass 
die  Zeit  Haydn*s  den  besten  Theil  ihrer  Bildung,  ihres 
geistigen  Wesens  in  den  Sinfonien  dieses  Meisters  wieder- 
fand. Sie  waren  in  vollendeter  Weise  auf  den  Ton  jener 
Klasse  gestinunt,  die  vor  der  französischen  Revolution, 
unter  dem  sogenannten  ancien  regime,  an  der  Spitze  der 
europäischen  Menschheit  stand.  Darum  klingt  aus  den 
Themen  dieser  Sinfonien  des  zweiten  Stils  immer  wieder 
derselbe  anacreontische  Grundton  heraus,  der  Ton  der 
Anmuth,  Heiterkeit  und  Sorglosigkeit,  der  Denen  ein  für 
allemal  vorgeschrieben  war,  die  auf  den  Adelsschlössem 
und  in  den  Salons  der  höheren  Bürgerschaft  verkehrten. 
Jener  Ton,  in  dem  die  Frivolität  des  „Morgen  wieder 
lustik*,  die  überschäumende  Lebenskraft  des  „Carpe  diem* 
mit  den  Gefühlen  edelster  Humanität,  des  „Seid  umschlungen 
Millionen*  zusanmicntraf. 

Nicht  minder  finden  wir  aber  in  den  HaydnVhen 
Sinfonien  jene  Kunst  der  Conversation,  jene  Virtuosität  im 
geistreichen  Gedankenaustausch  wieder,  die  während  des 
18.  Jahrhunderts,  soweit  französische  Bildung  reichte,  also 
innerhalb  des  ganzen  civilisirten  Europa  unter  den  höchsten 
innem  Gütern  obenanstand.  Man  lese  nur  die  unüber- 
treffliche Schilderung,  die  Frau  von  Stael  in  ihrem  be- 
kannten Buche  flDell'  Allemagne*  von  dieser  französischen 
Conversation  entwirft  und  suche  dann  die  hervorragendsten 
ihrer  Merkmale  in  der  Haydn'schen  Musik.  Wer  die 
Cultur  des  vergangenen  Jahrhunderts  getreu  und  voll- 
ständig übersehen  will,  darf  an  den  Haydn'schen  Sinfonien 
ebensowenig  vorbeigehen,  als  an  den  französischen  Encyclo- 
pädisten.  Sie  fuhren  die  Gegenwart  vor  das  Bild  eines 
gesellschaftlichen  Geistes,  der  dem  heutigen  in  mancher 
Hinsicht  überlegen  ist  und  zum  Muster  dienen  kann. 

Es  ist  nicht  zu  leugnen,  dass  unser  Publikum  dem 
vielfachen  Gehalt  der  Haydn'schen  Sinfonien  und  der 
grossen  Bedeutung  Haydn's  volle  Gerechtigkeit  nicht 
wiederfahren  lässt.  Zum  Theil  aus  Unfähigkeit.  Denn 
die  Haydn'sche  Sinfonie  verlangt  eine  grössere  Kunst  im 


eO         70         'Ö^ 

Folgen  und  Hören,  als  die  alte  italienische  und  der  grosste 
Theil  der  modernen  Werke.  Mit  der  unvergleichlichen 
Beweglichkeit  ihrer  Gedanken  setzt  sie  die  Fähigkeit 
schnellen  Veretehens  und  des  scharfen  £rfassens  auch  der 
kleinsten  und  feinsten  Wendungen  voraus.  Weil  sie  diese 
nicht  besitzen,  kommen  soviele  Dilettanten,  Kritiker,  Spieler, 
Dirigenten  über  die  Bewunderung  des  Haydn'schen  Humors 
nicht  hinaus.  Dass  Haydn  auch  tief,  leidenschaftlich  und 
dämonisch  angelegt  ist,  entgeht  ihnen,  weil  er  diese  Gebiete 
ausser  in  den  langsamen  Sätzen,  inmier  nur  kurz  —  in 
Einleitungen,  in  den  Generalpausen,  Fermaten  seiner 
Allegrosätze,  an  den  Schlüssen  der  Durchführungen  —  streift. 

Das  Jahr  1780  darf  man  als  die  Zeitgrenze  hinstellen, 
in  der  der  neue  Sinfoniestil  •  Haydn *8  seine  Ausbildung 
abgeschlossen  hat.  Von  den  Pariser  und  den  in  ihre 
Nähe  gehörigen  Sinfonien,  in  denen  er  sich  zunächst  zeigt, 
sind  La  Chasse,  L*ours,  La  Poule,  La  Reine  und  die 
Oxfordsinfonie  wenigstens  dem  Namen  nach  allgemein  be- 
kannt. Keine  von  ihnen  gehört  zur  eigentlichen  Prognunm- 
musik  und  Haydn  ist  an  den  Titeln,  die  sie  tragen,  mit 
Ausnahme  der  ersten  vollständig  unschuldig.  Es  sind 
Kosenamen,  die  mehr  an  zufällige  Einzelheiten,  als  an  das 
Wesen  der  Werke  anknüpfen,  mehr  die  musikalischen 
Liebhabereien  des  französischen  Volks,  das  diese  Beinamen 
erfand,  beleuchten,  als  den  Inhalt  der  Sinfonien.  Sie  ent- 
standen in  den  Jahren  1781 — 1788  und  zeigen  so,  wie  sie 
hinter  einander  folgen,  dass  auch  Haydn  auf  dem  Weg 
zur  vollen  Meisterschaft,  gelegentlich  gestrauchelt  und 
rückwärts  geglitten  ist.  Nach  ihren  Werth  aufgestellt, 
würden  die  genannten  Sinfonien  die  Reihe  geben:  La  Poule, 
Pours,  la  Reine,  la  chasse,  Oxford-Sinfonie. 

In  der  Zeit  der  Pariser  Sinfonien  bewegt  sich  Haydn 
noch  in  dem  reicheren  und  weiteren  Stimmungskreise  seines 
ersten  Stils  und  nimmt  wohl  in  der  Ausführung  seiner 
Themen,  aber  nicht  bei  ihrer  Erfindung  auf  den  Geschmack 
der  grossen  Welt  Rücksicht.  Wenn  die  Compositionen 
dieser  Periode  im  Allg(»meinen  den  Charakter  von  Gelegen- 
heitsdichtungen,    Herzensergiessungen    und     Augenblicks- 


e^ 


71     '^ 


bildern  aus  dem  Leben  ihres  Schöpfers  haben,  so  ist  das 
bei  La  Poule  ganz  besonders  der  Fall.  Diese  Sinfonie 
erzählt  von  unruhigen,  trüben  und  ernsten  Stunden.  Ein 
Rest  von  Sorge  und  Furcht  wohnt  auch  in  ihrem  Menuett  und 
ihrem  Finale,  wfichst  in  diesem  sogar  zur  Leidenschaft  und 
Erregung  an.  So  hat  sie  denn  den  Vorzug  der  geistigen 
Einheit  und  Zusanmiengehörigkeit  sämmtlicher  Sätze,  die 
ja  so  häufig  in  der  neueren  Sinfonie  fehlt ;  auf  der  andern 
Seite  lässt  sie,  namentlich  in  den  fk;ksätzen,  nicht  verkennen, 
dass  der  Componist  seinem  Stoff  noch  nicht  mit  der  mensch- 
lichen Freiheit  gegenüberstand,  die  das  Kunstwerk  nicht 
entbehren  kann. 

Der  erste  Satz  ruht  auf  einem  Hauptthema  von  16  Takten, 
von  denen  drei  Viertel  durch  freie  Wiederholung  der  Periode 

AUegro  coD  splrlto 


^^ 


1  splrlto. 

¥Tff,f 


I  r  Ur  f^  I  p     gebUdet sind. 


Sie  spricht  Schmerz  und  Unwillen  aus;  bei  der  nächsten 
Weiterfuhrung  des  Themas  bleibt  kein  Zweifel,  dass  die 
Elemente  des  zweiten  Abschnitts,  die  der  Kraft  und  Energie, 
Anstalt  machen  das  Feld  zu  behaupten.  Beim  33.  Takt, 
nachdem  das  Thema,  variirt,  zum  zweiten  male  vorbei  ge- 
zogen, tritt  ein  munteres,  lebensfreudiges  Motiv: 


in  seine  Fusstapfen.  Nach  einigen  Gängen,  die  es  thut,  ver- 
liert es  sich  aber  unerwartet  ins  piano  und  pianissimo,  tritt 

wie  auf  den  Fussspitzen  (nämlich  ^^j^y^^^^i^f) 

bei  Seite  um  einer  wichtigen  Erscheinung  Platz  zu  machen. 
Das  sogenannte  zweite  Thema  ists,  das  als  höherer  Ver- 
bündeter gegen  die  dunkle  Macht  des  Hauptthemas  eintritt : 


Der  Dichter  ist  an  den  Busen  der  Natur  geflüchtet.  Wenigstens 


La  Poole. 


ce     72     f>> 

baben  die  FraiuBoeen  nach  diesem  Tbema  und  einer  gleich 
darauffolgenden  Stelle,  wo  die  Oboe  ziemlich  lange  auf  dem- 
selben Ton  den  Rhythmus  J.  ^  J.  J  J)  angiebt,  die  Sin- 
fonie als  La  Poule  getauft.  Auf  die  Dauer  vermag  jedoch 
dieser  naive  Freund  nichts  gegen  die  Noth  der  Situation. 
Vergebens  erhebt  er  seine  Stinmie  noch  einmal  am  Anfang 
der  Durchführung.  Diese  selbst  gehört  ganz  den  bedroh- 
lichen Tönen,  mit  denen  das  Hauptthema  beginnt.  Sie 
suchen  mit  besonderm  Eifer  aus  den  tiefen  Regionen  her,  in 
den  Bassinstrumenten  zu  schrecken.  Doch  ist  ihre  ge- 
spenstische Kraft  geringer  alsder  Componist  beabsichtigt  hat. 
Sie  verstehen  sich  sowenig  zu  verwandeln  und  zu  entwickeln, 
dass  wir  den  ganzen  ersten  Satz  unserer  Sinfonie  trotz  der 
ansehnlichen  und  klaren  Intentionen,  die  ihm  zu  Grunde 
liegen,  zu  den  schwächsten  Leistungen  Haydn*s  rechnen 
müssen.  Mit  L'ours,  la  Reine  steht  La  Poule  in  Bezug 
auf  die  Durchführung  auf  der  Stufe  von  Versuchsarbeiten ; 
nur  das  Prinzip  erhebt  sie  über  die  Sinfonien  des  ersten  Stils. 
Ein  schöner,  reicher  und  interessanter  Satz  ist  das 
Andante.  Was  er  will,  sagt  das  Hauptthema  schon  ge- 
nügend in  seiner  ersten  Hälfte: 


i^^\irTn\r^. 


Nämlich  beruhigen.  Wie  es  aber  in  der  Lösung  d  ieser  Aufgabe 
nach  den  besten  Wegen  suchend  die  Richtung  ändert,  wie 
es  dabei  erschreckt,  gehindert  und  gestört  wird,  das  hat 
Haydn  in  einem  Tonbilde  ausgeführt,  welches  wir  unter 
die  unmittelbarsten,  dramatisch  bedeutendsten  Leistungen 
der  Instrumentalmusik  überhaupt  zählen  müssen.  Wenn  wir 
uns  die  vier  Sätze  unserer  Sinfonie  als  die  Haupttheile 
einer  spannenden  Geschichte  denken  wollen,  so  enthält  das 
Andante  das  Kapitel  der  Entscheidung.  Ganz  überwältigend 
hat  darin  Haydn  den  Zustand  der  äussersten  Seelenspannung 
geschildert:    wie    die  Erwartung,    die    das  Schlagen    des 


ce     73     ^ 

Herzens  unterdrücken  möchte,  dem  lauten  Aufschrei  «reicht 
und  ein  Gefühl  ins  andere  stürzt,  das  ist  mit  einem  wunder- 
baren Realismus  dargestellt. 

Die  fieberhafte  Stelle  beginnt  mit  einer  abwärts 
sausenden  Scala  in  Zweiunddreissigsteln  im  forte,  darauf 
folgen  zwei  Takte,  wo  nur  in  den  Violinen  noch  ein 
Schatten  von  Ton  sich  regt  —  fast   wie  im  1.  Satz  der 

Eroica  beim  .Cumulus'  —      ^^  ä   ^    j    ^     *"*^   dann 

durchs  ganze  Tutti  ein  fortissimo! 

Der  Menuett  giebt  der  Freude  in  ziemlich  eigen- 
sinnigen, Zwei  und  Dreiviertel  unter  einander  werfenden 
Rhythmen  Ausdruck  wie  schon  der  Anfang  zeigt: 

rü  11    I  I     I  LJ^^^^^^     Es  klingt  fa<rt 

slavisch,  deutet  in  der  massigen  Besetzung  und  den  statt- 
lichen Unisono-Figuren  auf  Volksmengen  und  Feste  im 
Freien.  Von  diesem  Grunde  hebt  sich  dann  das  Trio  mit 
dem  anmuthigen  Flötensolo: 


pn  n  }  uirm  inin  fft 


als  reizende  Idylle  ab.    Das  Finale  ruht  auf  dem  Thema: 

Einige  Ausgaben  schreiben  für  das  Tempo  Presto, 
andere  Vivace  vor.  Es  ist  wieder  einer  von  den  Fällen, 
der  uns  den  Mangel  einer  kritischen  Gesanuntausgabe  der 
Haydn*schen  Sinfonien  fühlbar  macht.  Presto  geht  ganz 
und  gar  nicht.  Vivace  allenfalls !  Die  Melodie  nähert  sich 
nach  Taktart  und  Charakter  den  Sicilianos  des  18.  Jahr- 
hunderts. Es  handelt  sich  in  ihr  nicht  um  stürmische 
Freude,   sondern  um  ein  besonnenes,  wonniges  Geniessen 


cc?     74     ^ 

eines  schwer  erruDgenen  Glücks.  In  der  DurchfUhning 
leben  die  Stürme,  die  dem  frohen  Ende  vorausgingen  noch 
einmal  aaf.  Sie  setzt  mit  dem  Thema  in  Dmoll  ein  und 
geht  dann  in  heftiges  Toben  und  Lärmen  über.  Glücklicher- 
weise ist  sie  nur  kurz. 
J.  Haydn  Die  mit  dem  Beinamen  Pours  belegte  C dur-Sinfonie 

^*oun,  stanmit  mit  la  Poule  aus  demselben  Jahre  1786  und  ähnelt 
ihr  darin,  dass  auch  bei  ihr  der  erste  Satz  am  wenigsten  ge- 
lungen ist.  Auch  er  hat  ein  inhaltreiches  und  ergiebiges 
Hauptthema : 

Jii|.i  rir"i  if'i  II  n  ij^  \ 

in  das  sich,  wie  in  die  Seele  eines  rechten  Jünglings, 
Feuer,  Kraft  und  Anmuth  theilen.  Haydn  stellt  ihm  ein 
zartes,  zweites  Thema  entgegen: 


f'ffffiirrrii^'f^^^i^^r^ 


etc. 


Das  Eigenthümliche  an  dem  Satze  ist  aber,  dass  der  Uebergang 
von  dem  ersten  zum  zweiten  Gedanken  nicht  blos  sehr  lang 
ist,  sondern  auch  sehr  viel  Leidenschaft  und  Erregung  ver- 
braucht. Es  kommt  namentlich  an  der  Stelle,  wo  in  der 
Mitte  der  Instrumente  das  g  als  liegende  Stimme  fortdröhnt, 
zu  einer  Wirkung,  die  sich  für  den  Verlauf  des  Satzes  als 
furchtbar  einprägt  und  Schluss  und  Ausgleich  verlangt. 
Damit  ist  dem  Durchführungstheile  die  Spitze  abgebrochen 
und  in  der  That  bringt  er,  mit  Ausnahme  des  Eingangs, 
an  dem  das  Motiv  c  des  Hauptthemas  wieder  auftaucht, 
nicht  viel  anderes  als  Wiederholung  der  Themengruppe  in 
andern  Tonarten. 

Was  dieser  erste  Satz  etwa  schuldig  bleibt,  das 
bringen  die  andern  reichlich  wieder  ein.  Das  Andante  hat 
ein  Thema  von   ganz   volksthümlicher  Natur;   es  ist  auch 


ee        75        ^ 


in  der  einfachsten  Art,   die  sieh  denken  lässt,  aufgebaut. 
Der  Hauptsatz  beginnt  mit: 


ein  Nachsatz  von  ebenfalls  vier  Takten  schliesst  in  Fdur 
ab.  Nun  kommt  ein  Mitteltheil  —  16  Takte  lang  —  der 
mit  der  echt  Haydn'schen  Wendung: 


*p^p'"ip^*"P 


in  den  ersten  Theil  zurücklenkt:  Wir  haben  es  also  mit 
einem  dreitheiligen  Lied  als  Hauptsatz  zu  thun.  Das  wird 
dreimal  in  veränderter  Instrumentation  angestimmt;  vor 
die  erste  und  zweite  Wiederholung  treten  Zwischensätze 
in  Moll,  gehamischt  wie  Riesen,  die  Alles  zerschmettern 
wollen.  Aber,  wie  es  mit  Goliath  und  David  erging,  so 
auch  hier:  die  kleine  Unschuld  wird  uns  durch  diesen 
Gegensatz  nur  immer  lieber,  behält  das  letzte  Wort  und 
benutzt  die  Gelegenheit  zu  einer  Coda,  in  der  sich  noch- 
pials  ihr  Humor,  ihre  Kraft  und  ihre  Anmuth  regen. 

Die  Glanzpartie  der  Sinfonie  ist  ihr  Finale,  dem  nicht 
die  Rondo  — ,  sondern  die  Sonatenform  gegeben  ist.  Sein 
Hauptthema: 

^«r    ^     ^    ^    W 

dreht  sich  lustig  und  ausgelassen  im  engen  Kreise.  Seine 
besondere  Färbung  erhält  es  durch  den  begleitenden  Bass, 
der  den  Satz  ganz  allein  beginnt  und  hartnäckig  auf  dem- 
selben Ton  fortbrummt.  Zuweilen  unterstützt  ihn  als 
zweite  Stimme  seine  Quinte  —  das  giebt  dann  einen 
Pastoralklang,  der  uns  mittlerweile  sehr  geläufig  geworden 
ist,  denn  neuere  Componisten  können  ohne  ihn  kaum  noch 
die  einfachste  Tanzscene  schreiben.     Zu  Haydn's  Zeiten 


war  es  eine  ganz  unerhörte  Keckheit  in  eine  Sinfonie  der- 
artige Sorten  von  Volksmusik  hineinzuziehen.  Wie  mögen 
die  ersten  Zuhörer  gestutzt  haben  als  ihnen  diese  Jahr- 
marktskunst, diese  lebensgetreue  Nachahmung  des  Dudel- 
sacks entgegentrat  I  Der  übermüthige  Streich  ist  aber  so 
frisch,  so  geistvoll  und  hinreisend  durchgeführt,  dass  er 
Haydn  zum  höchsten  Ruhm  ausschlug.  Die  Pariser  fanden 
ungeheuren  Gefallen  an  dem  Brununbass ;  nach  ihm  tauften 
sie  die  Sinfonie  mit  dem  Namen  Tours  und  reihten  sie 
unter  ihre  erklärten  Lieblinge.  Die  Wirkung  eines  solchen 
realistischen  Einfalls,  wie  er  diesem  Finale  zu  Grunde  liegt, 
wird  immer  kurz  sein,  wenn  ihn  nicht  die  Kunst,  mit  der 
er  verwendet  wird,  nachträglich  adelt.  Und  dieses  Glück 
ist  unserm  Bärenbass  in  vollstem  Maass  zu  Theil  geworden. 
Die  Idee  des  fortklingenden  Basses  wandelt  Haydn  sofort 
in  die  der  liegenden  Stimme  um.  Wenn  die  langen  Töne 
dann  in  den  Violinen  anschlagen,  dreht  sich  in  den  Bässen 
die  drollige  Figur  des  bewegten  Motivs  wie  ein  Wirbel- 
wind.    Dann  schwingt  sich  der  Componist  auf  dem  Motiv 

J)  I  J>TT^    ini  fröhlichen  Sturm  und  mit  der  Sicherheit  des 

Virtuosen  nach  einer  Stelle,  wo  ausgeniht  werden  kann. 
Gdur  ist  erreicht  und  fest  ergriffen.  Da  setzt  ein  zartes, 
behagliches,  zweites  Thema  ein  in  den  Oboen: 


P-rfU 


In  dieser  Gesellschaft  darf  es  nicht  zu 


ff   r'  '«pr 

viel  Ansprüche  machen,  den  Schlusstakt  der  auf  8  Takte  an- 
gelegten Periode  schlägt  der  Brummbass  nieder.  Noch  ein- 
mal versucht  eine  zarte  Stimme  sich  Gehör  zu  verschaffen 
—  auch  sie  verschlingt  der  Sturm;  mit  einem  wilden,  chro- 
matischen Zug  setzt  die  letzte  Periode  der  Themengruppe 
ein.  Die  Durchfuhrung,  die  im  Ganzen  nur  kurz  ist, 
überbietet  die  Ausgelassenheit   des  vorhergehenden  Theils 


oo*     77     'c>s 

dadurch;  dass  sie  das  närrische  Treiben  in  ganz  entlegenen 
Tonarten  fortsetzt.  Wir  sind  aus  Gdur  plötzlich  nach  F, 
von  da  nach  E  dur  gestossen.  Von  da  geht  es  nach  D  dur 
zurUck  und  von  diesem  Punkt  aus  wird  das  Thema  als 
neckischer  Contrapunkt  vorwiegend  in  den  Bässen  gebracht 
und  bald  die  Reprise  erreicht.  An  Munterkeit  und  Witz 
ist  dieser  Schlusssatz  von  Tours  eine  von  Haydn*8  höchsten 
Leistungen. 

Die  Sinfonie  ,1a  Reine**  soll  der  Königin  Maria  '•  ^Jf*" 
Antoinette  besonders  gefallen  und  daher  ihren  Beinamen 
erhalten  haben.  Sie  ist  eine  Altersgenossin  von  Tours  und 
la  Poule  und  steht  mit  ihnen  auch  in  Bezug  auf  den 
Werth  des  ersten  Satzes  auf  derselben  Stufe.  Das  Inter- 
essanteste an  ihm  sind  die  Mozart*schen  Züge  in  der  kurzen, 
sehr  majestätisch  einsetzenden  Einleitung  und  im  Thema 
des  Allegros: 


^i'»^?-;7^,r^.^;.|||jii    |i 


r 

Das  ist  das  Sinnen  und  Träumen,  das  romantische  Zögern, 
dem  sich  der  Meister  von  Salzburg  gern  überlässt  wenn 
das  Spiel  beginnen  soll.  Es  ist  auch  der  flotte,  ritterliche 
Schritt,   mit  dem  er  dann  doch  sich  erhebt,  wenn  Haydn 


nun  fortfährt:    ^^   m^^^    \\     V  _f_4_^.    Selten  ist 

f 

bei  einer  Sinfoniecomposition  Haydn  von  dem  Ausgangs- 
gedanken eines  Allegro  so  gefesselt  worden,  wie  dieses  Mal. 
Er  wiederholt  es  zunächst  in  B  dur  noch  einmal,  dann  kommt 
es  in  Fdur,  dann  in  der  Durchfuhrung  in  As  dur  und  zwar 
inuner  mit  Ausnahme  der  Tonart  vollständig  wörtlich. 
Auch  die  Zwischensätze,  die  diese  Wiederholungen  unter- 
brechen, haben  immer  denselben  Charakter:  Es  sind  Scenen 
der  Aufregung  und  zwar  fast  alle  in  der  primitiven  Weise 


La  Beine. 


o(?     78     ^ 

von  Haydn's  erstem  Stil  aus  dem  zuletzt  angeführten 
Viertelmotiv  gebildet.  Ein  zweites  Thema  ist  im  Satze 
nicht  da  und  erst  am  Schlüsse  der  Durchfuhrung  gewinnt 
derComponist  dem  ersten  einige  neue  und  tiefere  Wendungen 
ab  durch  Nachahmungen  und  Anwendung  weiterer  contra- 
punktischer  Kunst. 

Der  zweite  Satz  von  ,La  Reine*  ist  ein  Allegretto, 
das  aus  einem  Variationencyclus  über  ein  Thema  mit 
folgendem  Anfang: 


^^'1■''  J  J  N  j! 


^j_^  I  ^t^  I  j  J  J  U  1 1'  (Tf^^m 


besteht.  Es  ist,  zu  einem  dreitheiligen  Lied  vervollständigt, 
die  Melodie  einer  französischen  Romanze  von  ,1a  gentille  et 
jeune  Lisette  * .  Dieser  Herkunft  des  Themas  wegen  hat  Haydn 
dem  ganzen  Satz  die  Ueberschrift  , Romanze*  gegeben. 
Pohl  findet  in  ihr  nahe  Verwandtschaft  mit  der  Romanze 
der  Militärsinfonie.     Sie  beschränkt  sich  aber  darauf,  dass 

beide  Stücke  den  Rhythmus  J    J  J  J  J   |  J  benutzen.    In 

unsrer  Romanze  liegen  die  Reize  der  Variationen  in  der 
Instrumentirung ,  in  der  Färbung,  in  der  Geschicklichkeit 
mit  der  Haydn  das  Thema,  das  inuner  wörtlich  wiederkehrt, 
mit  anmuthigen  Contrapunkten  verdeckt.  Neue  Gestalten 
führt  nicht  einmal  der  Mollsatz  ins  Bild  ein. 

Der  Menuett  der  Sinfonie  hält  sich  ungewöhnlich  straff 
und  bestimmt.  Wenn  er  nicht  im  Dreivierteltakt  stände, 
könnte  er  marschirende  Soldaten  begleiten.  Um  so  loser 
tändelt  das  Trio;  fast  scheint  es,  als  sollten  hier  die 
Instrumente  nur  an-  und  eingespielt  werden  —  so  sehr  ent- 
schlägt sich  die  Compositiou  jeder  Gedankenlast.  Das 
Finale  hat  wieder  die  Form  des  Sonatensatzes  und  singt 
einen  Hynmus  auf  Behaglichkeit  und  Zufriedenheit.  Die 
Themen  sind: 


cG*     79     ®^ 

Presto. 


pii\^is\ürr\\ii.\\\r\\nfii  \f 


und 


ii"i'n'ri"'"ri  1^1 


rrrii i'i'^if  i^^rrnr  ifi^ 

Es  ist  das  einer  der  seltenen  Fälle,  wo  Haydn  sich  dem 
etwas  trocknen  Geiste  der  deutschen  Moraldichter  seiner 
Zeit  nähert.  In  der  Durchführung,  die  mit  dem  ersten 
Thema  in  den  Bässen  einsetzt,  erhebt  er  sich  aber  mächtig. 
Sie  ist  so  bewegt  und  an  den  Stellen,  wo  sie  von  Dmoll 
aus  eine  Reihe  von  verminderten  Septaccorden  in  gewaltigen  . 
Absätzen  anläuft,  so  gewaltig,  dass  man  den  Satz  unter  den 
merkwürdigsten  Stücken  in  der  Haydn'schenJ  Sinfonie- 
composition in  Ehren  halten  muss. 

Die  Sinfonie  ,1a  chasse"  ist  diejenige  in  unserer  Reihe,  4.  HAjdn 
die  wenigstens  für  einen  Theil  ihren  Namen  von  Haydn  i^*  Ohasse. 
selbst  erhalten  hat.  Dieser  Theil  ist  das  Finale.  Er  ist 
im  Jahre  1781  als  Einleitung  zum  dritten  Akt  der  Oper 
,1a  fedelta  premiata*  componirt.  In  diesem,  nach  der 
italienischen  Intriguenschablone  verfertigten  Stücke  führt 
Diana  die  heillos  verfizte  Handlung  zu  einem  gedeihlichen 
Ende  und  dies  Auftreten  der  Jagdgöttin  hat  Haydn  benutzt, 
seine  sonst  durch  den  Dichter  unendlich  gehemmte  Phantasie 
in  erwünschte  Bewegung  zu  setzen.  Für  die  musikalische 
Schilderung  von  Jagd  und  Jagen  hatte  sich  in  Cantate, 
Oper,  Sonate  und  Sinfonie  lange  vor  Haydn  ein  förmlicher 
Canon  ausgebildet.  Es  war  ein  Lieblingsgegenstand  der 
Tonsetzer.  So  dürfen  wir  auch  von  Haydn,  obwohl  er  be- 
kanntlich Jäger  von  Fach  war,  für  die  Orchesterphantasie 
in  der  er  die  Jagd  und  ihre  Göttin  feierte,  keine  neuen 
Motive  erwarten,  sondern  wir  wollen  uns  freuen,  dass  er 


cc?     80     ®* 

alte,  zweckentsprechende  Weisen  im  lebensvollen  Bilde  auf 
uns  wirken  lässt. 

Der  Satz  beginnt  natürlich  mit  Hörnern.  Sie  tragen 
ein  Fanfarenmotiv  vor,  in  das  aber  auch  Oboen,  Fagotte, 
sämmtliche  Streichinstrumente  mit  einstimmen: 

ro^H  P  I  f  P  r  p  I  r   f         Dieses    gesammte    Orchester 
setzt  unmittelbar  daran  das  Motiv: 

welches   für  den   Durch- 

führungstheil  des  Satzes  grosse  Wichtigkeit  erlangt.  Es 
bildet  dort  den  Träger  der  Bewegung,  der  Jagdfreude 
und  wechselt  von  zwei  zu  zwei  Takten  mit  den  Motiven 
der  Ruhe  und  des  Waldfriedens  als: 

.    Aehnlich  wie  in  der 

Jagdßcene  der  ,  Jahreszeiten*  kommt  am  Schluss  der  Durch- 
führung eine  Minute  gewaltiger  Aufregung:  Es  sind  die 
Augenblicke  wo  es  sich  entscheidet  ob  der  Jäger  oder  ob 
das  Wild  Glück  haben  soll.  Die  letzten  Kräfte  werden  an- 
gesetzt, der  Schuss  fällt:  Dominantseptaccord  und  Fermate! 
Wir  vermissen  —  die  Stelle  der  Jahreszeiten  im  Kopf  —  hier 
die  Pauke.  Aber  sie  ist  nicht  nöthig.  Haydn  versteht  es, 
mit  seinen  Violinen,  Bratschen,  Cellis,  Bässen,  mit  Flöte, 
Oboen,  Fagotts  und  zwei  Hörnern  „grosses  Orchester*  zu 
spielen.  Galt  ja  doch  diese  Besetzung  für  Sinfonien  eine  Zeit- 
lang, in  Norddeutschland  wenigstens,  für  bedeutend.  Benda 
nannte  sie  ausdrücklich  in  den  Ueberschriften :  grosses 
Orchester. 

Zu  einer  ganzen,  viersätzigen  Sinfonie  wurde  la  Chasse 
im  nächsten  Jahre  vervollständigt;  als  der  Fürst  von 
Esterhazy  von  einer  längeren  Reise  zurückkehrte,  führte 
ihm  Haydn  das  Werk  vor.  Man  würde  nach  unseren 
heutigen  Begriffen  erwarten,  dass  die  Vordersätze  mit  dem 
Schlusssatz  in  geistiger  Verwandtschaft  stehen  und  der 
Jagd  vielleicht  eine  Reihe  von  Waldbildern  vorausschicken, 


ce     81     'S«» 

etwa  in  der  Weise  der  RaflTschen  Waldsinfonie.  Anders 
das  18.  Jahrhundert,  dem  Wald  und  Gebirge  nur  be- 
schränkt als  poetische  Gegenstände  galten.  Jedenfalls  waren 
dem  Naturfreunde  jener  Zeit  Ebenen  mit  Canälen  und 
Pappelalleen  lieber.  Wir  müssen  auf  ein  solches  Progranun- 
band  zwischen  den  Sätzen  von  ,La  Chasse**  verzichten 
und  darauf:  die  Beziehungen,  die  zwischen  ihnen  zweifellos 
bestanden,  die  Gründe,  weshalb  die  Sätze  so  sind,  wie  sie 
sind,  angeben  zu  können.  Der  Fürst  hat  den  Sinn  der 
Ovation  und  der  Composition  jedenfalls  verstanden  und  wir 
fühlen  ohne  Weiteres,  dass  die  Sinfonie  einen  stark  per- 
sönlichen Zug  zeigt ,  den  Charakter  von  tiefen  Lebensein- 
drücken trägt.  Sie  gehört  mit  der  Oxfordsinfonie  zu  denjenigen 
Werken  der  in  Betracht  kommenden  Periode,  die  eine  viel 
grössere  Menge  Herzenswärme  ausstrahlen,  als  das  bei  Haydn 
durchschnittlich  der  Fall  ist.  Am  stärksten  trägt  diesen 
Charakter  der  erste  Satz  der  Sinfonie.  Eine  herrliche 
Einleitung  empfangt  uns  mit  ernst  sinnenden  Tönen  und 
zeigt  in  der  Feme  auf  freundliche,  liebliche  Bilder.  In 
ihrer  Kürze,  ihrem  Reichthum  ist  sie  eins  der  schönsten 
Beispiele  dafür,  was  Haydn  auf  diesem  Gebiete  der  An- 
deutungen zu  bieten  vermag.  Sie  schliesst  in  Adur,  der 
Oberdominant  von  D,  der  Tonart  der  Sinfonie.  Und  nun 
setzt  das  Allegro  ein: 

Allegro.  ^^ 

I  n     f        lautet  die   erste  Hälfte 

des  Themas. 

Ißt  das  aber  nicht  seltsam,  ein  D  dur- Allegro  und  der  An- 
fang in  G,  in  der  ünterdominant?  Ja,  aussergewöhnlich  ists, 
aber  auch  sehr  bedeutungsvoll.     Die  Phantasie  des  Ton- 
dichters weilt  nicht  in  der  Gegenwart.    Die  Noten  sagen  uns, 
was  ein  anderer  Poet  jener  Zeit  in  die  Worte  gefasst  hat : 
loh  denk'  an  eucb,  ihr  himmlisch  schönen  Tage 
Der  seligen  Vergangenheit. 
Glückliche  Stunden  und  Tage  sind   es,  die  vor  die 

Kretsichmar,  Führer,  I.  6 


1 


ee        82        -^ 

Erinnerung  des  Meistere  treten ;  vielleicht  hat  sie  sein  Herr 
mit  ihm  getheilt.  Später  wird  das  trauliche  Bild  au»  der 
Vergangenheit  noch  mit  einer  breiten  Melodie  weiter  geführt, 
die  folgcndermassen  Mozartisch  beginnt: 


und    über 


Beulende  Achtelketten,  über  dunkle  Modulationen  zum  A  dur- 
schluss  geht.  Sie  vertritt  in  der  Themengruppe  die  SteUe  eines 
zweiten  Themas.  Die  DurchfUhnmg  ist  getheilt  zwischen 
eine  Hälfte  des  freudigen  Schwärmens  über  das  verkürzte 
Anfangsmotiv  des  Hauptthemas,  das  in  der  Form: 


in      Nach- 


ahmungen und  £ngführungen  von  allen  Stimmen  tüchtig 
durchgearbeitet  wird.  Noch  einmal,  glänzend  imd  golden, 
drängen  sich  die  , himmlisch  schönen  Tage*  vor  die  Seele: 
In  der  zweiten  Hälfte  der  Durchführung  kommt  Erkennt- 
niss  und  die  Klage  zum  Durchbruch :  dass  es  sich  um  Ver- 
gangenes handelt.    Die  Sätze  sind  hier  über  das  elegische 

Motiv  J  J  J  J  J  gebildet,    das    einigemal    sehr  rührend, 

traurig  und  schmerzlich  zu  uns  spricht. 
Der  zweite  Satz  ist  in  seinem  Anfang: 

eine  leibliche  Schwester  des  weltbekannten  Andante 
mit  dem  Paukenschlag.  Es  theilt  mit  ihm  Rhythmus, 
Metrum  und  den  Charakter  der  Kinderscene.  Auch 
in  den  Liedern  der  ,  Zauberflöte  * ,  im  ,  Donauweib- 
chen*, in  den  Singspielen  Wenzel  Müller's  hat  es  zahl- 
reiche Verwandte  aus  dem  ereten  Grade;  in  jeder 
Faser  bekundet  es  die  Zugehörigkeit  zur  niederöster- 
reichischen  Volksmusik.     Ja,  wenn  man  will,   kann  man 


CO     SS     ^ 

aus  den  Noten,  die  die  Viertel  anfangen,  das  Kaiserlied 
,Gott  erhalte  Franz  etc.*  heraushören.  Freilich  endet  die 
Melodie  nicht  so  einfach.  Im  9.  und  10.  Takte,  die  den 
Schluss  bilden,  wendet  sie  sich  deutlich  genug  ins  Weh- 
müthige  und  fügt  mit  Halbcadenz  und  Fermate  dem 
reizenden  Bildchen  ein  ,Ach  dahin!*  an.  Es  wiegt  aber 
für  den  Kunstwerth  dieses  Andante  sehr  schwer,  dass  es 
sich  dem  ersten  Satz  innerlich  so  eng  anschliesst,  so  eng, 
dass  Niemand  den  Sinn  und  das  Yerhältniss  missverstehen 
kann.  Es  ist,  als  wollte  es  aus  dem  Schatz  alter  schöner 
Erinnerungen  der  vorhin  so  obenhin  erschlossen  wurde, 
ein  besonders  anheimelndes,  specielles  Stück  hervorholen, 
ein  Stück  aus  der  Kinderzeit  meinen  wir.  In  der  Compo- 
sition  kämpft  die  Freude  mit  der  Trauer.  Der  Trauer  ist 
aber  ein  Ausdruck  gegeben,  eben  so  schlicht  und  einfach, 
wie  es  das  Volkslied  ist,  von  dem  der  Satz  ausgeht.  Kurze 
Generalpausen  und  Fermaten  vermitteln  ihn.  Und  dieselben 
Eigenschaften  hat  der  Aufbau  dieses  vollendeten  Kunst- 
werkchens: a)  Thema,  24  Takte,  b)  erste  Durchführung 
hauptsächlich  in  Moll  etwas  erregt  und  pathetisch,  mit 
wunderschönen  Anklängen  der  Hauptmelodie  aus  der  Tiefe, 
26  Takte,  c)  Thema  wie  a;  d)  zweite  Durchfuhrung  mit 
innigen  Klagen  auf  es — eis — d  und  kleinen,  erregteren 
Nachahmungen,  20  Takte,  e)  Thema  zum  dritten  Male 
mit  kurzem,  sanftem  Nachgesang. 

Auch  im  Menuett  finden  wir  die  Merkmale  der 
Erinnerungsfeier:  frohe  Bilder  und  der  Schatten  der  Ver- 
gänglichkeit darüber.  Diese  letzten  sind  der  Grund  der 
chromatisch  romantischen  Motivführung,  die  diesem  Satz 
eigenthümlich  ist,  sowie  der  ins  Klagende  und  Schwer- 
müthige  übergreifenden  Haltung  der  zweiten  Klausel: 

Allegro. 


^^ 


P 

Wir  haben  in  La  Chasse  eine  Sinfonie  von  höchster 

Vollendung.  Eigene  Grundideen  verbinden  sich  mit  einer 
Ausführung,  bei  der  alle  Theile,  gleich  gelungen  in  sich, 
«ich  als  Glieder  desselben  Ganzen  erweisen.    Kein  Wunder 

6» 


•<?     84     ^ 

darum,  dass  diese  Sinfonie  sich  besondere  schnell  und  weit 
verbreitete.     Sie  wurde,   was  viel  sagen  wollte,   auch  in 
Italien  bald  bekannt.    Pohl's  Biographie  giebt  die  näheren 
Daten. 
J.  HAyd>  Die  O  x  fo  r  d  -  Sinfonie,  die  Haydn  im  Jahre  1788  für 

Oxford-  Paris  schrieb,  ist  im  Zusammenhang  mit  ,La  Chasse*  ge- 
Binfonie.  uannt  worden.  Sie  haben  beide  den  persönlichen  Bezug 
auf  Haydn*s  eigenes  Leben,  gehen  von  einem  elegischen 
Rückblick  aus,  den  der  gereift*»,  alternde  Mann  auf  die 
dahingegangene  Jugend  wirft.  Die  Verwandtschaft  eretreckt 
sich  aber  auch  auf  die  formelle  Vollendung  der  ewei 
Sinfonien.  Haydn  vertritt  nicht  blos  das  Prinzip  der  thema- 
tischen Arbeit,  der  motivischen  Entwickelung,  der  gründ- 
lichen Auslegung  der  Gedanken,  sondern  er  handhabt  es 
auch  als  Meister.  Ohne  Bedenken  darf  man  in  dieser 
Beziehung  die  Oxford-Sinfonie  einige  Stufen  höher  als  die 
um  sechs  Jahre  ältere  Jagdsinfonie  und  auf  eine  Linie  mit 
den  besten  Londoner  Sinfonien  stellen.  Haydn  hat  auf 
seinem  Weg  zur  Oxfordsinfonie  sich  in  einem  früher  nicht 
vorhandenem  Grade  der  Kunst  bemächtigt,  den  Inhalt  eines 
Themas  mittels  kontrapunktischen  Feinheiten  zu  erschöpfen 
und  im  spannendsten  Ton  dem  Zuhörer  vorzufuhren.  Er 
nähert  sich  in  der  Behandlung  von  Engfuhrungen ,  im 
Reichthumvon  schwierigen  und  aufregenden  Nachahmungen 
der  Weise,  die  mit  Mozart  gleich  geboren  war.  Mit  dieser 
sorgfaltigen  Ausarbeitung  der  Form,  mit  diesem  liebevolleren 
Eingehen  ins  Kleinleben  der  Stimmen  ist  aber  sichtlich 
auch  die  Beweglichkeit  und  Leichtigkeit  von  Haydn's 
Geist  im  Allgemeinen  gewachsen.  Wir  bemerken  das  an 
der  spielenden  Sicherheit,  mit  der  er  jetzt  kleine,  contra- 
punktische  Nebenmotive  aufzunehmen  und  zur  Gedanken- 
verbindung zu  benutzen  pflegt,  die  er  früher  nach  ein- 
maligem Gebrauch  würde  haben  fallen  lassen.  Das  zeigt 
uns  namentlich  der  erste  Satz  der  Oxfordsinfonie.  Er  scheint 
keine  Nebenpartien,  keine  Verbindungsabschnitte,  keine 
Uebergänge  zu  haben.  Alle  Fugen,  wo  die  Glieder  an* 
einanderetossen,  sind  mit  organischen  Motiven  überwachsen, 
alles   schliesst  eng   und  natürlich   zusammen.     Ja,  es  ist 


eC       85       '0* 

Erklären!  dieses  ersten  Satzes  begegnet,  dass  sie  eine 
begleitende  Geigenfigur  für  die  Hauptstimme  gehalten 
haben.  Dem  Lernenden  kann  nur  ernstlich  gerathen 
werden,  alle  die  Stellen  aufzusuchen,  an  denen  Haydn  einen 
nebensächlichen  Melodieschluss ,  ein  Füllmotiv  aufnimmt 
und  zum  Träger  des  Gedankenbaues  macht  Man  kann 
mit  einem  gewissen  Recht  die  Oxfordsinfonie  Haydn's 
Eroica  nennen.    Der  neue  Stil  ist  in  ihr  fertig. 

Wenn  der  erste  Satz  in  ihr  und  in  der  Jagdsinfonie 
dieselbe  poetische  Idee  haben,  ein  elegisches  Erinnerungs- 
bild vorftihren  wollen,  so  thun  sie  das  doch  verschieden. 
Die  Oxfordsinfonie  zeigt  den  Componisten  in  einer  viel 
stärkeren  Weise  erregt  und  ergriffen.  Das  sieht  man  schon 
an  der  Einleitung,  man  sieht  es  dann  besonders  daran, 
dass  er  im  Allegro  gar  nicht  von  dem  ersten  Abschnitt 
seines  Hauptthemas 

lassen  kann.  Das  Thema  erstreckt  sich,  ins  Starke  und 
Zarte  greifend,  noch  lang  hin,  bis  die  16taktige  Periode 
fertig  ist.  Aber  Haydn  kommt  immer  wieder  auf  die 
ersten  fiinf  Noten  zurück.  Bald  liegen  sie  oben,  bald  in 
der  Mitte,  bald  unten,  bald  offen,  bald  überdeckt  da.  Er 
kann  sich  nicht  beruhigen.  Das  zweite  Thema  konmit 
darum  erst  ganz  am  Schlüsse  der  Themengruppe.  Es  ist 
eine  Buffogestalt,  aus  vielen  komischen  Opern,  zuletzt 
noch  aus  Rossini's  ^Barbier**  bekannt.  Hier  wirkt  es  aber 
doch  wie  eine  freundliche,  heimliche  Vision :  es  spricht  wie 
ein  guter  Freund,  wie  ein  liebes  Rind: 


Durch  die  Wogen  der  Durchfuhrung  dient  es  mehrmals  als 
helfender  Lootse  und  hilft  den  verlorenen  Weg  wieder  finden. 
So  häufig  im  ersten  Satz  gefragt  wurde: 

ij'  p^F  f  r  m  I  J=    ebenso    beständig    kommt    nun    im 


Co     86     ^ 


Adagio  die  Antwort: 
Adagio  caot&biltt. 


Das  Thema  wird  zur  8taktigen  Periode  vervollständigt, 
dann  wiederholt.  Hierauf  folgen  6  Takte  Mittelsatz,  dann 
unser  Thema  schon  wieder  und  mit  dieser  Entschiedenheit 
bleibt  es  auch  für  die  Folge  an  der  Spitze  des  Formen - 
baus.  In  die  Mitte  des  Satzes  stellt  Haydn  ein  mildes 
MollstUck  aus  dem  Dämonen  ihre  Fäuste  vorstrecken.  Aber 
der  kleine  Engel  aus  D  dur  lässt  sich  nicht  bange  machen, 
nur  eine  kleine  Weile  kommt  er  ins  Stocken.  Es  ist  das 
eine  sehr  interessante  Stelle,  die  die  Fermaten  und 
Septimenaccorde  genügend  kenntlich  machen. 

Die  Erregung,  die  wir  im  ersten  Satz  der  Oxford- 
sinfonie bemerken,  dauert  auch  in  dem  Menuett  noch  an. 
Syncopen  und  Generalpausen  sind  seinem  Hauptsatz  eigen. 
Erst  im  Trio  bringt  der  Gesang  den  Hörern  den  Frieden, 
dessen  wir  sonst  an  dieser  Stelle  von  Anfang  an  sicher  zu 
sein  pflegen.  Selbst  im  Finale  dürfen  wir  dem  frohen 
Ausgang  noch  nicht  ganz  unbedingt  trauen.  Das  erste 
Thema  hat  in  seinem  Gesicht  bei  aller  Regsamkeit  einen 
launischen  Zug 

^^  Presto.  I  -1       :>-^  x^-^ 


J    J  J  I  Ji  ■!    JH  J  y  J     und  benimmt  sich  insofern  höchst 


eigenthümlich,  als  es  nach  Art  der  unbändigen  Tarantella 
unmittelbar  hintereinander  viermal  wiederkehrt.  Im  weiteren 
Verlauf  verschwindet  es  einige  Male  ohne  alle  Ursache,  bricht 
ab,  setzt  uns  vor  sehr  verlegne  Pausen  und  springt  wie 
ein  Kobold  der  nicht  zu  fassen  ist  aus  den  hohen  Bläsern  in 
die  Bassinstrumente.  In  der  Durchführung  entfaltet  Haydn 
sehr  wirksam  schwierige  Künste  des  doppelten  Contra- 
punktes. So  bleibt  die  Oxford-Sinfonie  von  Anfang  bis 
zu  Ende  originell.     Haydn   hat    das  Werk    selbst  hoch- 


eC*       87        '&» 

gestellt.  Als  er  im  Juli  1791  nach  Oxford  zur  Promotion 
reiste,  legte  er  für  alle  Fälle  diese  Pariser  Sinfonie  in 
seinen  Koffer.  Sie  trat  scbliesslich  auch  wirklich  an  die 
Stelle  der  ursprünglich  für  die  Feierlichkeit  bestimmten 
Composition  und  wurde  seitdem  unter  den  Namen  Oxford- 
Sinfonie  ein  Liebling  der  englischen  Concerte.  Später  hat 
Haydn  ihrem  Orchester  noch  Trompeten  und  Pauken 
hinzugefügt. 

Kurze  Zeit  vor  die  sogenannte  Oxforder  fällt  eine  andere 
bedeutende  G  dur-Sinfonie  die  ebenfalls  der  Pariser  Gruppe 
angehört.    Die  bekannte  Partiturausgabe  der  Haydn'schen     J.  Et^jdm 
Sinfonien  von  Breitkopf  &  Härtel  bringt  sie  als  Nr.  18.      Odnr-Sliifonle 

Sie  beginnt  mit  einem  kurzen  Adagio,  das  wie  eine  Nr.i8(B.4H,). 
Morgenandacht  die  lustige  Ausfahrt  einleitet,  die  im  AUegro 
sich  vollzieht.    Dieser  Allegrosatz  hat  schon  im  Thema: 


|^»J^l?^J^J^^  ^\^n\i  fnfrtt\T  ^i 


f  fj  jjj^^  unerkennbare  Verwandtschaft  mit  dem  Haupt- 
thema im  Finale  von  Beethoven's  achter  Sinfonie.  Man 
weiss  ja  dass  Beethoven  weil  ihm  die  Aufgabe  reizte 
oder  auch  aus  Uebermuth  die  Arbeiten  andrer  Tonsetzer 
zuweilen  zum  Ausgangspunkt  eigner  grosser  Compositionen 
nahm.  So  hat  er  sich  mit  voller  Absicht  nachweisbar  an 
Händel,  an  Mozart,  am  häufigsten  aber  an  unsem  Haydn 
angelehnt.  An  ihn  gerade  weil  er  sich  von  diesem  Ton- 
setzer mehr  als  von  einem  andern  beeinflusst,  geschult  und 
gefördert  wusste.  Ihn  direkt  zu  überbieten,  reizte  ganz 
besonders.  Noch  tiberzeugender  als  beim  blossen  Vergleich 
der  Themen  drängt  sich  die  Verwandtschaft  des  Haydn'schen 
Allegros  und  des  Beethoven^schen  Finales  auf,  wenn  man 
CJharakter  und  Durchfuhrung  der  beiden  Sätze  prüft. 
Hier  wie  dort:  der  unaufhaltsame,  stürmische  Zug,  die 
plötzlichen  verblüffenden  Stockungen  der  Modulation,  die 
polaren  Gegensätze  in  der  Dynamik!  Bei  Beethoven  ist 
der  Schwank  nur  noch  um  einige  Grade  toller  gehalten. 
Mit    der    ihr   in    der    Stinamung    ganz   fremden   Oxford- 


«^     88     ^ 

Sinfonie  hat  die  unsre  im  ersten  Satze  einige  formelle 
Züge  gemein:  Auch  bei  ihr  tritt  das  zweite  Thema  sehr 
zurück,  beschwichtigt  für  den  Augenblick  ohne  Spuren  zu 
hinterlassen.    Auch  bei  ihr  sind  Motive  des  Hauptthemas, 

besonders   f  ^    |  f  f  virtuos  zum  Aufbau  der  Uebergangs- 

partien  verwendet.  Auch  bei  ihr  ganz  nebensfichliche, 
zufällige  Melodiewendungen  zum  Träger  der  Weiterentwick- 
lung aufgegriffen.  £in  schönes  Beispiel  hierfür  ist  derSchluss 


der  Themengruppe:     ft  ff  f  0  \  p        lautet   das   letzte 


Wort  der  Violinen  und  daran  knüpft  der  Anfang  der 
Durchfuhrung  an,  trägt  die  Figur  im  diminaendo  nach  es 
wo  heimlich  das  Hauptthema  anknüpft.  Die  Durchführung 
ist  besonders  meisterlich  in  der  Grösse  der  Gruppirung. 

Der   zweite    Satz    ist    ein    Meisterstück    Haydn'scher 
Variirungskunst.    Er  beginnt  mit  dem  Gesang  (Oboe,  Cello 
dazu  in  8va  sub.) 
L&rgo. 


fiiTiLi^Trii  iwirrti  unn 


^m 


f-l  p    »■  Pp   *»    I  p  V  i^=    Diese  8  Takte  ent- 


P 

halten  das  vollständige  Thema.  Wir  hören  es  siebenmal  ohne 
Aenderung  in  seinen  Motiven  nur  einmal  nach  Adur  und 
einmal  nach  Fdur  transponirt.  Auch  keinen  eigentlichen 
Gegensatz  hat  ihm  Haydn  gegenübergestellt.  Die  Wieder- 
holungen werden  nur  durch  Zwischensätze  unterbrochen,  die 
sich  mit  Ausnahme  einer  einzigen  —  es  ist  die  von  der 
Adur- Variation,  sie  umfasst  16  Takte  —  auf  vier  und  acht 
Takte  beschränken  und  in  die  Stimmung  des  Hauptthemas 
einlenken,  bis  auf  einige  ff.  Takte  nicht  einmal  aus  seinem 
piano  heraustreten.  In  den  Variationen  selbst  herrscht 
mit  Ausnahme  der  ersten  und  dritten  wo  die  ersten  Geigen, 
und  der  fünften  wo  die  zweiten  Geigen  in  Zweiunddreissigsteln 
contrapunktiren  und  begleiten  durchaus  der  ruhige  Bhyth- 


e<?        89        "ö* 

mu8  der  Hauptmelodie.  Und  doch  würden  wir  nicht  müde 
wenn  der  Satz  in  ähnlicher  Weise  noch  einige  Minuten 
fortdauerte.  Das  macht  seine  schöne  wundervolle  Stimmung, 
die  an  Sonntage,  an  Kirchenstunden  in  der  ELinderzeit,  an 
Träume  vom  Paradies  und  ewigen  Frieden  erinnert.  In 
England  wird  die  Melodie  wirklich  in  den  Kirchen  zu 
der  Hymne:  »Praise  God,  from  whom  all  hlessings  flow* 
gesungen.  Dass  Beethoven  das  Thema  wiederholt  benutzt 
hat,  ist  bekannt.  Das  macht  der  unübertreffliche  Wohl- 
klang, der  Reichthum  von  Farben,  den  Haydn  seinem  doch 
bescheidnen  Orchester  hier  abgewinnt.  Auch  seine  Leistung 
in  der  Bomanze  von  „La  Reine*  reicht  noch  nicht  an  das 
in  diesem  Variationensatz  Gebotne  heran. 

Im  Hauptsatz  des  Menuett  geht  Haydn  mit  der  zweiten 
Klausel  tiefer  in  die  Auslegung  des  thematischen  Gehalts 
hinein,  als  es  sonst  bei  ihn^  an  dieser  Stelle  üblich  ist. 
Der  originellste  Einfall  im  Satze  ist  der,  dass  an  den  leisen 
Schlüssen  der  beiden  Theile  die  Pauke  sich  wie  von  fern 
bemerklich  macht.  Auch  diese  Idee  ist  bei  Beethoven  — 
in  seiner  ersten  Sinfonie  —  auf  fruchtbaren  Boden  gefallen. 
Jener  unvermuthete  Eintritt  der  Pauke  hat  für  das  Trio 
des  Menuetts  seine  Folgen  gehabt:  Bratschen  und  Fagotte 
bereiten  den  richtigen  Boden  zum  ländlichen  Tanz  durch 
immerwährendes  Anschlagen  der  Bassquinten:  aber  die 
Melodieinstrumente,  Geigen,  Flöten  und  Oboen  kommen  bei 
allem  eifrigen  Drehen  nicht  recht  von  der  Stelle. 

Erster  Satz  und  Finale  scheinen  in  dieser  Sinfonie  die 
Rollen  tauschen  zu  wollen.  Der  Schlusssatz  bleibt  mit 
seinem  Thema: 


^AUegro  con  spirlto. 


zunächst  hinter  der  Flottheit  des  Sinfonieanfangs  zurück. 
Aber  je  weiter  wir  in  dem  Rondo,  das  Haydn  über  diesen 
Hauptgedanken  aufbaut,  vordringen,  desto  grösser  wird 
unser  Erstaunen,  unser  Vergnügen  über  die  Fülle  von  guter 
Laune,  von  Witz,  die  uns  auf  Schritt  und  Tritt  entgegen- 
sprüht.    Eine  Wendung  immer  kecker  und  drolliger  als 


•<?     90     ^ 

die  andere )  jeder  Themeneintritt  eine  Ueberraschung  und 
eine  Lust!  Nach  dem  dritten  Einsatz  des  Hauptthemas 
kommt  im  ff.  ein  Canon,  in  welchem  sich  über  20  Takte 
lang  Violinen  und  Bässe  in  Entfernung  eines  Viertels  um 
das  Thema  streiten,  erst  die  einen  dann  die  andern  an  der 
Spitze.  Nach  dieser  tollen  Hetzpartie  folgt  ein  um  so 
decenterer  üebergang:  die  Instrumente  tröpfeln  die  Töne 
nur  noch  leicht  hin.  Dann  das  Thema  zum  letzten  Male : 
Generalpause  mit  Fermate  und  ein  freier  Schluss  im 
dithyrambischen  Stil! 

Als  die  classischen  Vertreter  des  Haydn'schen  Stils 
gelten  die  sogenannten  12  englischen  Sinfonien, 
welche  Haydn  für  die  von  ihm  selbst  geleiteten  Concert« 
in  Hannover  Square  Boom  zu  London  in  den  Jahren  1791 
und  1794  —  jeden  Monat  eine^)  —  componirte.  Die  be- 
reits angeführte  Partitur- Ausgabe  von  Breitkopf  &  Härtel 
bringt  sie  in  den  Nummern  1 — 9,  11,  12  und  14. 

Bilden  sie  an  und  für  sich  schon  eine  Elite,  so  thun 
wir  doch  gut  auch  noch  unter  ihnen  eine  engere  Wahl 
zu  treffen.  , Echter  Haydn*  sind  sie  wohl  Alle;  aber  um 
sich  den  richtigen  Begriff  auch  vom  , ganzen  Haydn*  zu 
bilden,  muss  man  unter  ihnen  unterscheiden.  Da  sind 
denn  die  Nummern  1,  2,  6,  11  und  12  den  übrigen  be- 
deutend voranzustellen.  Sie  sind  die  inhaltlich  reicheren, 
diejenigen,  in  welchen  der  Tonpoet  den  Weg  zum  Para- 
diese sich  weniger  leicht  macht,  wo  er  kämpft  und  zweifelt 
und  wo  der  heitere  Grundton  seiner  lebensvollen  Bilder 
durch  tiefe  und  bedeutende  Schatten  die  vollere  und  nach- 
haltigere Resonanz  erhält.  Sie  sind  mit  einem  kurzen 
Wort  —  das  man  nicht  missverstehen  wolle  —  moderner 
als  die  andern,  in  welchen  die  Scala  der  Freude  virtuos 
und  mit  immer  neuen  Nuancen  aber  doch  so  abgespielt 
wird,  dass  wir  uns  ab  und  zu  nach  einem  Gegenmotiv 
sehnen.  Letztere  sind  —  und  wie  wir  glauben  mit  Un- 
recht —  in  der  Kunstgeschichte  zum  Träger  der  Haydn- 
schen  Kunst  gemacht  worden  und  haben  zu  dem  schon 


*)  Griesinger,  a.  a.  O.  S.  116. 


tc^     91     '<>> 


berührten  MissverständDiss  vom  «Papa  Haydn'^  geführt. 
Hajdn,  der  immer  die  Frische  des  Jünglings  bewahrt  and 
von  Schwächen  in  seinen  Werken  nur  die  der  Jugend 
zeigt!  Formell  stehen  sich  die  beiden  Gruppen,  in  welche 
wir  seine  Elitesinfonien  theilen,  ungefähr  ebenbürtig  gegen- 
über. Namentlich  auf  dem  Gebiete,  welches  Haydn  der 
Instrumentalmusik  entdeckt,  erobert  und  ausgebildet  hat: 
der  Kunst  der  motivischen  Arbeit,  der  Auflösung  der 
ganzen  Gedanken  in  ihre  kleinsten  selbständigen  Bestand- 
theile  und  der  Entwickelung  neuer  grosser  Bilder  aus 
diesen  Fragmenten  —  hier  zeigen  jene  volleren  und  die 
leichteren  Sinfonien,  als  ganze  Gruppen  verglichen,  keine 
wesentlichen  Unterschiede. 

An  der  Hand  jener  Breitkopf  sehen  Partitur- Ausgabe, 
und  ihrer  Reihenfolge  nachgehend,  durchschreiten  wir 
kurz  die  erste  Gruppe: 

Die  erste  Sinfonie  in  ihr  ist  eine  von  mehreren  in  Es. 
Ihr  Hauptsatz  hat  eine  Einleitung,  ein  Adagio  mit  folgen- 
dem Thema: 


Adagio. 


Die   Mehrzahl    der   Haydn'schen    Sinfonien    der    späteren     J.  Raydn 
Zeit  hat  vor   dem  ersten  AUegro  eine    solche  feierliche,  Sinfonie  Nr.  i 
gedankenvolle,    sinnende,    träumende,    romantische    Ein- t^'®**^* * ^•)- 
leitung.    Das  Tiefste,  was  an  seiner  Fantasie  vorbeizog, 
wenn  er  das  ihm  vorschwebende  oder  schon  fertige  Werk 
mit  einem  eindringenden  Seherblick  mass,   das  fasstc  er 
in  den  Klängen  solcher  Einleitungen  zusammen.    Sie  sind 
meist  nach  dem  Charakter  der  Sinfonie,  welche  sie  eröffnen, 
verschieden  —  sie  haben  sich  auch  von  ihren  eigentlichen 
Vorbildern,  den  immer  im  gleichen  Typus  auftretenden  Ein- 
leitungslargis  der  französischen  Ouvertüre  weit  entfernt.  Auf 
Cherubini  namentlich  haben  sie  tief  eingewirkt.  Unter  vielen 
solchen  schönen  Einleitungssätzen  hat  aber  der  hier  in  Be- 
tracht kommende  zur  Esdur-Sinfonie  noch  seine  besondere 
Bedeutung.    Haydn  kommt  auf  ihn  im  ersten  Allegro  zwei- 


«<?     92     '0* 

mal  zarück.  Das  erste  Mal  erscheineD  die  ernsten  Züge 
des  Themas  nach  der  ersten  Fermate  in  der  Durch- 
fuhrung  im  schnellen  Tempo  und  nur  für  einen  flüch- 
tigen Augenblick;  nach  der  Reprise  führt  es  aber  der 
Componist  noch  einmal  in  seiner  Originalgestalt  vor. 
Solches  Zurückgreifen  ist  bei  Haydn  äusserst  selten:  es 
beweist  in  diesem  Falle,  wie  wichtig  das  Thema  an  sich 
ist.  Der  Componist  stand  unter  dem  Banne  desselben  und 
gab  sich  in  Folge  dessen  den  heiteren  Ideen,  welche  die 
eigentlichen  Themen  des  Allegro  anschlagen,  erstlich: 

ff , 

E^  und  zweitens: 


^i\r  fif  i'.^tri'i  I  i|  |i  r|  III  i^^i^t;-!  I  i 


nur  bis  zu  einem  gewissen  Grade  hin.  Der  Satz  bleibt 
viel  stärker  auf  das  Ernste  und  Grosse  gerichtet,  ah  man 
nach  der  ausgesprochen  leichten  und  launigen  Natur 
dieser  beiden  Führer  erwarten  sollte.  In  formeller  Be- 
ziehung ist  dieses  Allegro  der  Normaltypus  eines  Sonaten- 
satzes, wie  er  in  dieser  Regelmässigkeit  bei  Haydn  nicht 
oft  vorkommt.  Da  haben  wir  ein  vollkommen  ausgebil- 
dete« zweites  Thema:  auch  das  obligatorische  Tonalitäts- 
verhältniss  der  beiden  Themen  —  Tonica:  Dominant  — 
ist  genau  eingehalten.  Im  zweiten  Theile,  dem  soge- 
nannten Durchführungstheil  des  ersten  Satzes,  neckt  sonst 
Haydn  die  Zuhörer  gern,  bringt  das  Hauptthema  z.  B.  so, 
als  wollte  er  die  sogenannte  Reprise  beginnen,  während 
es  damit  noch  gute  Weile  hat.  Hier  aber  hält  er  sich, 
unbeschadet  aller  Tiefe  und  Genialität,  vollkommen  schul- 
gerecht. Ebenso  normal  verläuft  der  dritte  Theil :  die  so- 
genannte Reprise  dieses  ersten  Satzes.  Es  ist  einfache 
Wiederholung  des  ersten  Theils  mit  der  üblichen  Aenderung, 
dass  das  zweite  Thema  nun  ebenfalls  in  die  Haupttonart 
tritt,  und  sogar  eine  gekürzte  Wiederholung.  Nur  die 
Einführung  der  Coda,  der  Moment,  wo  das  Einleitungs- 
thema wie  ein  Geist  in  die  heitere  Gesellschaft  eintritt, 
steht  ausserhalb  und  über  jedem  Usus  und  lehrt  uns  die 


c<?     93     ^ 

Freiheit  des  Genies  bewundem  und  respectiren.  Eine 
EigenthUmlichkeit  von  Haydn*s  Gedankenbau  —  das  plötz- 
liche Absetzen  —  die  pointenreiche  eindringliche,  oft  ver- 
blüffende Rhetorik,  eine  Frucht  französischer  Musikstudien 
—  zeigt  dieser  Satz  in  besonderer  Stärke:  £r  hat  nicht 
weniger  als  sechs  beredte  Fermaten!  In  der  Instrumen- 
tirong  sind  die  Clarinetten  zu  bemerken,  mit  welchen  sich 
Haydn  erst  in  England  näher  befreundete. 

Der  zweite  Satz  ist  ein  Andante.  Es  beginnt  mit 
folgendem  Gedanken  von  dunkler '  Schönheit  und  einem 
im  übermässigen  Secundenschritte  liegenden  aparten  Zug: 

^    ^     Aadante. 

Aus  ihm  entwickelt  sich  ein  längerer  Gesang  in  der  zwei- 
theiligen Liedform,  dem  hierauf  ein  Alternativ  mit  marsch- 
artigem Charakter  folgt.  Durch  Versetzung  der  obigen 
Melodie  ins  Dur  und  durch  kleine  rhythmische  Varianten 
hat  hier  Haydn  dem  eben  angeführten  Thema  ein  voll- 
ständig anderes  Bild  abgewonnen. 

Hauptsatz  und  Alternativ  werden  hierauf  zweimal  variirt. 
In  der  ersten  Variation  des  Altemativs  macht  sich  ein 
Violinsolo  sehr  bemerklich.  Die  zweite  Variation  imponirt 
durch  einen  gewaltigen  Einsatz;  zum  ersten  Male  tritt 
hier  in  diesem  Andante  die  gesaromte  Blasmusik,  von 
Pauken  begleitet,  im  kräftigsten  Ton  auf  den  Platz.  Nach 
dem  leise  verhauchenden  Ausgang  des  Violinsolos  von 
doppelter  Wirkung!  Der  Satz  belegt  wieder,  dass  die 
Kunst  der  Variation,  mit  Haydn^s  Sinfonien  in  ein  neues 
Stadium  tritt.  Ganz  genial  ist  an  dem  Andante  unsrer 
Sinfonie  der  Abschluss,  die  sogenannte  Coda,  welche  nach 
der  Fermate  beginnt.  Sie  bildet  ein  fteies  Nachspiel  zu 
den  Variationen;  ein  poetisches  Abschiedswort  an  die 
vorausgehenden  Scenen,   in  welchem  Alles,   was  an  Ge- 


eO         94         'ÖJ 


danken  und  Empfindungen  vorübergezogen  ist,  noch  ein- 
mal kurz  zusammen gefasst  und  potenzirt  erscheint.  Die 
16  Takte  von  der  überraschend  einsetzenden  Dominanthar- 
monie auf  A  bis  zum  Wiedereintritt  des  Altemativs  dürfen 
wir  zu  dem  Genialsten  und  Eigenartigsten  rechnen,  was 
in  der  musikalischen  Composition  jemals  erdacht  worden 
ist.  Nicht  mit  Unrecht  haben  Andere  darauf  hingewiesen, 
dass  dieses  Andante,  und  namentlich  die  hier  erwähnte 
Episode  der  Coda,  Beethoven  beim  Entwurf  vom  Trauer- 
marsch seiner  Eroica  höchst  wahrscheinlich  als  Muster 
vorgeschwebt  hat. 

Der  dritte  Satz  dieser  Sinfonie  ist  der  Menuett:   Sein 
erstes  Thema 


lässt  schon  in  ungewöhnlichen  Wendungen  der  Melodik 
und  Rhythmik  ahnen,  dass  dieser  Satz  über  den  ein- 
fachen Tanzcharakter  hinausgehen  wird;  thatsächlich 
ist  er  ein  Charakterstück  höheren  Schlags  und  macht 
bei  allem  Fluss  und  aller  Einfachheit  der  Form  eindring- 
liche Abstecher  in  das  Gebiet  des  Tiefsinnigen  und  Pathe- 
tischen, sich  ungewöhnlicher  Modulationsmittel  bedienend. 
Die  ausserordentliche  Freiheit  der  Erfindung  ist  noch 
mehr  als  im  Hauptsatze  in  dem  Trio  zu  bemerken,  hier 
namentlich  an  der  Stelle,  wo  die  Violinen,  sehr  launig 
aufgelegt,  das  Wort  der  HÖrner  weiterfuhren. 

Das     Finale     ruht     auf     einem     einzigen     Thema: 
Presto. 


k 


i 


m  m  m 


1 


Ganz    erstaunlich. 


welche  Menge  wechselnder  und  schön  aneinander  schlies- 
sender  Bilder  aus  diesen  wenigen  Noten  entwickelt  werden ! 
Es  ist  eine  der  grÖssten  Leistungen  contrapunktischer 
Kunst !  Im  Geist  dieses  Satzes  sind  entschieden  Mozart*sche 
Züge  bemerkbar.  Wir  begegnen  solchen  auch  noch  in 
andern  von  Haydn*s  englischen  Sinfonien.  Sie  legen  in 
einer  rührenden  Weise   von  der  Tiefe  und  Echtheit  der 


c<?     95     '^ 

edelsten  HerzensfreuDdschaft  und  Liebe  Zeugniss  ab, 
welche  der  alte  Meister  zu  dem  jungen  gefasst  hatte. 
Der  Tod  Mozart's  scheint  sie  nur  noch  inniger  zu  machen. 

Besonders  in  der  Sinfonie  Nr.  2  (D  dur)  scheint  Hajdn     J.  üayta 
bei   Mozart's   Andenken    zu    verweilen.     Er    beginnt   mit  8*«>'oni«  Nr.  a 
Don  Juan  und  schliesst  mit  Figaro*8  Hochzeit  seinen  ersten  (^'•**^-  *  ^)- 
Satz.    £s  sind  flüchtige  sinnige  Anklänge,  wörtlich  kaum 
nachweisbar,  aber  für  das  GefUhl  nicht  misszuverstehen. 

Die  Einleitung  des  ersten  Satzes  ist  diesmal  nur  kurz, 
hat  aber  einen  wunderbaren,  plötzlich  verschleierten  Schluss. 
Darauf  Generalpause,  Verstummen  und  Schweigen  als 
müsste  der  Dichter  schwere  Gefühle  niederkämpfen.  War 
es  die  frische  Nachricht  vom  Tode  Mozart's?  Der  Anfang 
des  Allegros  lässt  diese  Annahme  zu,  denn  es  setzt  aus- 
gesprochen elegisch,  leicht  klagend  ein,  tritt  aufföllig  aus 
dem  Phantasiekreis  der  englischen  Sinfonien  heraus.  Das 
Hauptthema  dieses  Allegro  ist  folgendes: 

Allegrp. 


i{iMi,r;'jij  jjjJi^  j  ^  ^if  ■'  nn  if  ^Li 


j  J  l^-J^J^-  Erst  mit  dem  Zutritt  der  Bläser  kommt 

eine  fröhlich  kräftige  Gegenstrophe.  Das  endlich  folgende 
zweite  Thema  (Adur)  scheint  nur  pro  forma  da  zu  sein 
und  kehrt  im  ganzen  Satze  ein  einziges  Mal,  an  der  ge- 
hörigen Stelle  in  der  Reprise,  wieder.  Die  Durchführung 
zum  grössten  Theil  von  dem  oben  eingeklammerten  Motive 
des  Hauptthemas  getragen  ist  schon  früher  als  Muster- 
beispiel Haydn*8cher  Art  erwähnt  worden.  Sie  erhält  durch 
die  entschiedenen  Rhythmen  des  zu  Grunde  liegenden 
Motivs  einen  ziemlich  streitbaren  Charakter. 

Das  Andante  dieser  Sinfonie  ist  eins  der  interessan- 
testen und  für  die  Auffassung  von  Haydn's  geistiger  Per- 
sönlichkeit, für  das  Yerständniss  seines  Kunstglaubens  ein 
wichtiger  Beitrag.  Zu  Grunde  liegt  dieser  Composition 
ein  etwas  erweiterter  Liedsatz  mit  folgendem  Hauptvers: 
Andante. 


of?     96     '^ 

Er  wird  verschiedentlich  variirt.  Doch  nicht  diese 
Yariationspartien  sind  das  Haupt«lement  der  Composition, 
sondern  die  freien  Zwischensätze,  in  denen  sich  ein  Fond 
Yon  Leidenschaft  auslebt,  welcher  die  Bekenner  des  ^ge- 
müthlichen  Vater  Haydn*  einigermassen  erschrecken  muss. 
Immer  wieder  werden  diese  stürmischen  Ausbrüche  einer 
heftigen  trüben  Empfindung  unterdrückt,  zurückgedrängt 
und  abgebrochen.  Beschwichtigend,  zuweilen  gewaltsam 
und  halb  ironisch,  kehrt  der  Componist  zu  dem  oben 
citirten  Friedensmotiv  zurück.  War  es  Furcht  vor  dem 
Dämonischen,  Respect  vor  der  künstlerischen  Etiquette, 
die  Haydn  zu  dieser  Führung  dieses  Satzes  bestimmten, 
oder  war  sie  durch  einen  besonderen  Progranamvorwurf 
bedingt,  der  verschwiegen  blieb?  Es  liegen  Räthsel  in 
diesem  Satze,  die  aber  glücklicherweise  die  rein  mensch- 
liche und  künstlerische  Wirkung  des  lebensvollen,  erregten 
Seelengemäldes  nicht  beeinträchtigen. 

Der  Menuett  dieser  Sinfonie  ist  einer  der  wuchtigsten 
die  vorkommen  und  sehr  mannigfaltig  in  seinen  Bildungen : 
grotesk  und  intim,  drohend  und  neckisch  zugleich;  reich 
an  formell  ungewöhnlichen  Erscheinungen:  Rieseninter- 
vallen, Paukenwirbeln  mit  Crescendo,  Generalpausen  und 
Generaltrillem.  Das  Trio  bleibt  durchaus  zart,  mädchen- 
haft im  Blick  und  ft-öhlich  einfach  geschmückt. 

Das  Finale  beginnt  k  la  Musette  wie  die  Bärensinfonie 


A.  Kuhacz  weist  nach,  dass  dieses,  sowie  das  Thema  vom 
Andante  und  vom  Finale  der  vorhergehenden  Esdur-Sin- 
fonie  in  kroatischen  Volksliedern  vorkommen.*)  Obwohl 
die  Prioritätsfrage  nicht  entschieden  ist,  spricht  Vieles 
dafUr,  dass  sie  Haydn  daher  entnommen  hat.  Gegen  das 
sehr  fröhliche  Treiben,  welches  sich  auf  Grund  dieses 
Themas  im  Finale  entwickelt,  bildet  das  bedeutsam  aus- 
gestaltete zweite  Thema  einen  herrlichen  Contrast. 

*)  Siehe  darüber  H.  Beimann  m  Allg.  Mosik-Zeitang  1898, 
S.  625  u.  ff. 


ee     97     '^ 


^^<, »»r^Tr  |[7T?^  i.i,j  ir  r  \fTTf»i  i,^i 


Es  wirkt,  als  wenn  ein  glücklicher  Mensch,  mitten  in  der 
rauschenden  Festesfreude,*  einen  frommen  und  dank- 
baren Blick  nach  dem  Stemenhinmiel  würfe,  imd  erscheint 
uns  als  die  Perle  in  der  durch  und  durch  genialen  Sinfonie ! 

Die  Sinfonie  Nr.  6  (Gdur)  wird  mit  einer  Einleitung     J.  Hajto 
eröffnet,    in   welcher    die    «Jahreszeiten*    ihren   Schatten  Sinfonie  Nr.  6 
vorauswerfen.    Das  erste  Allegro  dieser  Sinfonie  ist  knapp  (B»«**^  *  H«)« 
und  gedrungen.    Sein  erstes  Thema 


läuft  schon  nach  vier  Takten  aus  dem  üblichen  leisen 
Anfang  in  den  sausenden  und  brausenden  Chor  ein ,  der 
in  den  meisten  Fällen  das  zweite  Glied  oder  die  Reserve 
de^  Hauptthemas  zu  bilden  pflegt.  Das  zweite  Thema, 
im  Satz  zu  keiner  Bedeutung  gelangend,  wird  wieder, 
wie  so  oft  bei  Haydn,  mit  einigen  Geigenaccorden  prälu- 
dirt,  die  uns  in  die  idyllische  Sphäre  der  Harfen-  und 
Guitarrenmusik  versetzen.  Die  Durchführung  ist  knapp 
gehalten;  das  oben  eingeklammerte  Achtelmotiv  liefert  ihr 
den  grössten  Theil  des  Materials.  Der  berühmteste  Satz 
dieser  Sinfonie  ist  das  Andante.  Sie  heisst  nach  ihm  die  Sin- 
fonie mit  dem  Paukenschlag  bei  den  Engländern  „the  sur- 
priil*.  Hajdn  schliesst  hier  eine  sanfte,  erst  p,  dann  pp  gehal- 


^m 


einem  kräftigen  Accord  des  vollen  Orchesters  wie 
Gyrowetz*)  behauptet  aus  Schelmerei,  wie  Haydn  selbst 
sagte')    um   das   Publikum   mit   etwas   Neuem   zu   über- 


^)  Gyrowetz,  Selbstbiographie  S.  59. 
^  Grieshiger  8.  65. 
Kratischmftr,  Führer,  I. 


•c     98     «^ 

raschen.  Der  an  und  für  sich  sehr  billige  Scherz  gefiel 
ganz  ungemein  und  ist  wiederholt  nachgebildet  worden 
u.  a.  von  Carl  M.  v.  Weber  in  der  Ouvertüre  seines  eben- 
falls für  London  bestimmten  ,Oberon*.  Das  Thema  wird 
dann  in  vier  Variationen  durchgeführt,  die  ausgezeichnet 
unter  einander  verbunden  sind.  Besondere  Aufmerksam- 
keit verdient  der  unvermuthete  Uebergang  nach  Esdur 
in  der  zweiten  und  der  schöne  Gesang,  welchen  in  der 
dritten  Oboen  und  Flöten  dem  in  den  Geigen  herschreiten- 
den Hauptthema  entgegenstellen.  Die  Coda  hat  wieder 
einschlummernden  Charakter. 

In  dem  sehr  gestalten  reichen  Menuett  ist  das  Trio 
diesmal  nicht  als  Gegensatz,  sondern  als  Ergänzung  be- 
handelt. Die  anmuthig  hintlattemde  Hauptmelodie  des 
letzteren  tragen  Violine  und  Fagott  zusammen  vor,  eine 
Octavverdoppelung,  die  Haydn  namentlich  in  dem  Menuett 
und  in  den  zweiten  Themen  der  Ecksätze  auch  in  andern 
Formen  gern  anwendet.  Die  Heimath  dieser  Instrumen- 
tationsweise ist  eine  entschieden  volksthiimliche. 

Das  Finale  giebt  sich  der  fröhlichen  Laune  anfangs 
nur  mit  Vorbehalt  hin:  sein  Hauptthema 

Alle^o  di  molto. 


hat  einige  sentimentale  Elemente.  In  der  Führung  des  Satzes 

ist   die    üeberleitung    zur    Reprise   bemerkenswerth ;    das 

Hauptthema  kommt  einigermassen  unvermuthet,  aber  als 

willkommener  Retter  aus  Irrfahrt  und  Oede. 

J.  Hftjda  ^^^  1^-  Sinfonie  (Gdur)  ist  die  sogenannte  Militär- 

Süifonie  Nr.  11  Sinfonie.      Sie  verdankt  diesen  Beinamen    ihrem  zwei- 

(Breitk.  A  H.).  ten   Satze :    einem  Allegretto ,  das  auf  Grund  einer  (von 

Haydn      bearbeiteten)      französischen      Romanzenmelodie 


E^^-t^^r^^^^^^^^^^l^.aq     ein     Inhalt- 

reiches  Tonbild  entrollt,  dem  man  kriegerische  Unter- 
lagen wohl  ansehen  kann.  Es  ist  eine  Art  Abschieds- 
stimmung in  der  freundlich  sinnigen  Marschweise,  welche 
die   Chöre   des   Orchesters   nicht   müde    werden   einander 


e<? 


99 


'0* 


znzusingen.  Dann  kommt  plötzlich  das  Thema  in  Moll; 
der  Satz  erhält  einen  Mitteltheil,  durch  welchen  grosse 
Schatten  ziehen,  der  ernst  stinmit  und  die  Trauer  streift: 
„Heute  roth  —  morgen  todt!*  Unverkennbar  ausgeprägt 
tritt  der  militärische  Charakter  des  Satzes  gegen  den 
Schluss  Yor:  Abendstimmung:  die  Romanze  verklingt: 
Da  ein  Trompetensignal ,  das  im  Orchester  augenschein- 
lich grosses  Aufsehen  und  Alarm  erregt.  In  der  Instru- 
mentirung  dieses  Andante  ist  der  grosse  Apparat  von 
Schlaginstrumenten  für  die  besondern  Tendenzen  Hajdn's 
an  dieser  Stelle  bezeichnend:  Ausser  den  Pauken: 
Triangel,  Becken  und  grosse  Trommel!  Einen  eigentlichen 
langsamen  Satz  enthält  diese  Sinfonie  nicht;  ähnlich 
wie  Beethoven*s  achte. 

Der  Hauptsatz  beginnt  nach  einer  prächtigen  Einlei- 
tung, die  auch  eine  Stelle  pathetischer  Erregung  hat,  mit 
folgendem  Thema  von  Oboen  und  Flöte  allein  vorgetragen : 


^^K^^^^^S^^^S 


j  j  J|.|r7rrrr^ 


Ehe  es  noch  zu  einem  zweiten  Thema  kommt 
passiren  wir  bereits  Partien  eigenartigster  Erfindung.  Die 
Stelle,  wo  nach  der  Reprise  des  Themas  in  der  Domi- 
nant, Geiger  und  Bläser  echt  träumerisch  unschlüssig 
mit  den  zwei  Noten  spielen  und  sich  dann  im  Forte 
heroisch  aufraffen,  gehört  dahin.  Darauf  unmittelbar  setzt 
das  zweite  Thema,  wieder  wie  von  Guitarrenklängen  prä- 
ludirt,  ein.  Es  ist  eine  Melodie  von  echtem  Wiener  Blut,  die 
zum  flotten  Marsch  einer  Infanteriekolonne  ganz  gut  passt : 


Dieses  bis  auf  den  Radetzkymarsch  in  der  östreichischen 
Kunst-  und  Volksmusik  immer  wiederkehrende  Thema 
lässt  aber  den  Schwung  nicht  ahnen,   der   im   Orchester 


c<?     100     ^ 


losbricht,  nachdem  sich  die  Bfisse  der  tändelnden  Weise 

bemächtigt  haben.     Die   Durchführung   des  Hauptsatzes 

ruht   wesentlich  auf  diesem   zweiten  Thema   und  erhebt 

sich  mit  ihm  ins  Grossartige.    Der  Menuett  dieser  Sin- 

;•*  fonie    nähert  sich    dem    alten    Stile    und   wiegt   sich   in 

'-'*  schwerfälliger  Grazie.    Hajdn  schreibt  ausdrücklich  «Ho- 

. ;  derato'  vor.    Im  Trio  scheint  sich  ein  Solopaar  zu  produ- 

'.*•%  ciren.    Das  Finale  hat  ein  Hauptthema, 

••••  Pratto. 

^jHjUjJh'nuji  I  iiIlulü  iu 

welches  auf  leichten  Scherz  und  Tändelei  hinzudeuten 
scheint.  Haydn  giebt  ihm  aber  durch  Modulationen 
und  contrapunktische  Umarbeitungen  einen  schwereren, 
energischen  Charakter  und  flicht  erregtere  Scenen  und 
Momente  dunkler  Spannung  ein;  Alles  mit  wenigen  No- 
ten und  in  einer  Kürze,  die  eine  Meisterleistung  an  sich 
bildet. 
j.  HsydB  Die  letzte  Sinfonie  in  imserer  ersten  Gruppe  Nr.  12 

Shifonia  Nr.  i2(Bdur)    beginnt  ebenfalls    mit   langsamer  Einleitung  vor 
(Breitk.  «  H.).  ^^m  AUegro :    Die  beiden  Themen  des  letzteren  sind  fol- 
gende : 

a)  Allegro. 


irrrrpT^ririiltx^iriir 


<>'%.!    1^.  iJ.jiJJiJ,jJji"J<j-i;j'  iiu  I 


j  J)J  j  i^j  j  j  jp  ^ 


Das  erste  setzt  ausnahmsweise  gleich  stark  und  mit 
dem  vollen  Orchester  ein  und  lässt  dann  das  Piano 
nachfolgen.  Das  zweite  Thema  hat  in  dem  Satze  grössere 
Bedeutung,  als  es  durchschnittlich  bei  Haydn  der  Fall  ist. 
Gleich  sein  erster  Eintritt  ist  ungewöhnlich:  es  steht  mit 
einem  gewaltigen  Schlage  da,  fertig  wie  aus  der  Erde 
emporgezaubert.  An  der  Durchführung  ninmit  es  einen 
wichtigen  Antheil.    Doch  stehen  ihm  andere  Motive  hier 


eO        101        ^ 

ebenbürtig    zur    Seite;    neben    dem    Achtelrhythmus    des 
Hauptthemas  noch  das  diesem  folgende  kurze  SeitenmoÜT: 


jii'  f  i'in-  r  1^ 


An  Reichthum  und  Mannigfaltigkeit  des  Materials 
zeichnet  sich  somit  die  Durchführung  dieses  Satzes  aus 
und  gestaltet  ihn  zu  einem  der  imposantesten  in  Bezug 
auf  den  Aufbau.  Dem  entspricht  eine  Fülle  innerer  Bewe- 
gung und  Energie.  Unter  den  Allegrosätzen  Haydn's, 
welche  Beethoven  zum  Anknüpfen  dienen  konnten,  muss 
dieser  an  erster  Stelle  genannt  werden. 

Der  zweite  Satz,  von  Haydn  auch  in  einem  Clavier- 
trio  verwendet,  mit  folgendem  Hauptthema 


j^m-rpcj-ci' 


ist  auffallend  kurz.  Mehrmals  streift  er  das  leidenschaft- 
lichere und  schwennüthige  Gebiet,  zieht  sich  aber  immer 
mit  absichtlicher  Eile  und  in  genialen  Wendungen  auf  das 
Ausgangsterrain  der  elegischen  Träumerei  zurück.  Er 
gleicht  einer  Skizze. 

In  dem  Menuett  treten  dem  behäbigen  Tanzcharakter  des 

Hauptthemas    ^^''tjlft«|j  ,.  f  iffi,.  f  f  |g  f  T '-^^ 


mehrfach  beunruhigende  Elemente  gegenüber;  namentlich 
ein  pochendes  Unisonomotiv  J  |  J  J  bringt  eine  fast 
dramatische  Bewegung  in  der  Scene  hervor.  Das  Trio 
sucht   mit  einer    unwiderstehlichen    Herzlichkeit    zu    be- 


schwichtigen: ^  »^  a  J    I   f  I  J  ^p  llffO  1 1*  .     Die  Me- 


lodie, welche  durch  die  chromatische  Stelle  ihre  Signatur 
erhält,  wird  wieder  in  der  Octave  von  Oboe  und  Fagott 
zusammen  gespielt. 

Das  Finale  ist  auf  das  Material  eines  sehr  possirlichen, 
augenscheinlich  der  Volksmusik  entnonmienen  Trällerlied- 


che»,  gebaut:  f}^  Tj^rj  J  J  I J?^  fl^L  J^  ^^. 

In  seinem  Anfangsmotiv  bietet  es  Haydn  Gelegenheit  su 
humoristischen  Episoden,  denen  er  freie  Zwischensätze 
von  zuweilen  trotdger  Kraft  gegenüberstellt.  Im  Ganzen 
ist  dieses  Finale  eins  der  wechselvollsten  und  inhaltlich 
mannigfaltigsten. 

Von   den  Sinfonien   der  zweiten  Gruppe   gehört  die 

J.  HaydB     Nr.  3  (Esdur)  zu  den  schwächeren.    Der  erste  Satz  ent- 

Sinfonia  Nr.  8  behrt  der  bei  Hajdn    gewöhnlichen  Inspiration  und  er- 

(Breitk.  ä  H.)  g^heint  vorwiegend  als  ein   Product  der  Arbeit.     Seinen 

vergnüglichsten  Theil  bildet  das  zweite  Thema 

Alle  pro.  ^  ,,«.,^^^^ 

^^iTr^^t'irirrpf'rir'i  |i  rii]i  rT|i  \^  . 


Im  zweiten  Satze,  Adagio  (Gdur),  wird  ebenfalls  das 

zweite  Thema,  mit  folgendem  Grundmotiv  ^j^   ^      F    I  f 

zum  Hauptgedanken  und  giebt  der  Composition  einen 
hymnenartigen  Ausdruck.  Wenn  bei  Haydn  die  zweiten 
Themen  hervortreten,  so  ist  dies  in  den  meisten  Fällen 
eine  nicht  unbedenkliche  Erscheinung.  Seine  besten  Sätze 
sind  vorwiegend  diejenigen,  wo  er  ein  zweites  Thema  gar 
nicht  braucht 

Der  Menuett  der  Sinfonie  erhebt  sich  in  der  Erfin- 
dung über  die  vorhergehenden  Sätze.  Er  gehört  zu  der 
Gattung  Haydn'scher  Menuette,  welche  den  üebergang 
zum  Scherzo  Beethoven's  bilden.  Noch  höher  steht  das 
Finale,  in  welchem  die  gute  Laune  Haydn's  an  dem  fol- 
genden kurzbeinigen  Thema 

^^^P I  r  r  r  r7 1  rlJLfi'J'  I  r  r  r  Lr  I  r7r>  ^ 

sich  wieder  in  ihrer  ganzen  Frische   aufrichtet.    Nament- 

J.  HftjdB     lieh  an  kostbaren  Instrumentaleffecten  ist  der  Satz  reich. 

Sinfonie  Nr.  4         In  der  Sinfonie  Nr.  4  (D  dur)  macht  sich  eine  gewisse 

(Breitk.  4  H.).  Gleichförmigkeit  sowohl  innerhalb  der  einzelnen  Sätze  als 


•o     103     «• 

auch  im  Verhältnisse  der  Sätze  anter   einander  geltend. 
Hier  sind  ihre  Hauptthemen. 

0  ü  *  Presto. 


I.8«U. 


ILSiilt. 


■eniietto 
Aliei 


egretto 


m.8ats. 


Fliule.  ^^i  «  ,r^ 


Den  interessantesten  Einfall  der  ganzen  Sinfonie  bildet 
der  im  Andante  die  zahlreichen  Wiederholungen  des  Haupt- 
thema einleitende,  eingeschobene  Takt. 

Die  Sinfonie  Nr.  5  (D  dur)  hat  ebenso  wie  die  vor-      J.  Kayd« 
letzte  ihren  schönsten  Theil  in  der  zweiten  Hälfte.    Mit  Si«^oni«  Nr.  6 
dem  Einsatz  des  Trio  in  dem  Menuett ,  da  wo  die  Bläser  (^^^^'  *  H-)- 
alle    zusammen    die    allarmirenden    Triolen    anstimmen, 
verlässt  der  Tondichter  endlich  die  Idylle,  in  der  er  uns 
etwas    lange    festgehalten    hat.      Der   bedeutendste    Satz 

Presto  Dui  non  troppo. 

"         u iiU^i'  - 


ist  das  Finale    ^  |li  I  j^ 


dessen  Thema  schon  unverkennbar  romantisch  anklingt. 
Seine  ersten  3  Noten  —  bald  wie  ritterlicher  Weckruf 
Alles  allarmirend,  bald  wie  geheimnissvolle  Stimmen  aus 
Waldesdunkel  erschallend,  jetzt  näher,  jetzt  femer  klin- 
gend —  haben  im  Bau  dieses  Finale  besondere  Bedeu- 
tung. Es  ist  reich  an  Bildern;  die  Gruppe  vor  der  Ein- 
führung des  zweiten  Thema  in  der  Reprise  gehört  zu 
den  phantastischsten  Eingebungen.  Ihre  Pausen,  Ferma- 
ten, ihre  schnell  abbrechenden  Schlüsse  geben  der  Erklä- 
rungskunst voll    zu  thun.     Vor  anderen  trägt  die  Fröh- 


^)    In    der    Vorzeicbnung    dieses    Notenbeispiels    fehlt    ein 
Kreuz  (Br  eis. 


c<?     104     ^ 

lichkeit    dieses    Satees    ein    männlich    schönes    Geprfige. 

Ganz  am  Schloss  taucht  Don  Juan^s  Bild  auf:    «Viva  la 

liberta!* 

J.  Hsyds  Die  Sinfonie  Nr.  14  (D  dar)  gehört  der  zweiten  Gruppe 

.  Sinfonie  Nr.  14  vollständig  an.    Der  erste  Satz,  dem  ein  leichtes  Thema  zu 

(»^**  =  >-  .       AU.C,»  _  ^      _      ^  . 

Grunde  Uegt:    ji  ,f  1  I^H^a^b^^^fS^ 


contrapunktirt  einigemale  strenger  und  verausgabt  einen 
grossen  Vorrath  gewaltig  ausholender  Gänge;  er  bleibt 
aber  in  seiner  Fröhlichkeit  etwas  äusserlich  und  theatra- 
lisch.    Das  Andante: 


f^ 


schwärmt  dahin  wie  vom  Glück  beflügelt; 


zuweilen  bricht  der  Jubel  mit  Elementargewalt  heraus, 
dann  wieder  zittert  es  in  allen  Gliedern  wie  von  heimlicher 
Freude.  Auch  in  dem  dunkleren  Mittelsatz,  der  ein  MoU- 
thema  fugonartig  durchführt,  lebt  ein  schwelgender  Klang. 
Der  Schlusstheil  des  Andante  wird  zum  Concert,  wo  den 
beiden  Soloviolinen  alle  anderen  Instrumente  lauschen. 
Der  Menuett  ist  von  der  aristokratischen  Familie  und  neigt 
dem  Zarten  zu.  Das  Trio  bringt  reizende  Soli  der  Flöte  und 
des  Fagotts,  letzteres  von  der  ersten  Violine  unterstützt. 
Das  Finale    ist    ein  Rondo    mit  folgendem   kurzgeschürz- 

teD  Hauptthema :  ^  ^n  JJ  \  }_i  ij  \  JjV  \  T^  Rl  fß- 


Namentlich  die  Solostellen  der  Violine,  welche  die  Rück- 
kehr in  dieses  Thema  einleiten ,  sind  von  eigenartiger 
Wirkung. 

Die  drei  übrigen  Sinfonien  (Nr.  7,  8,  9)  nehmen  eine 
Art  Mittelstellung  zwischen  beiden  Gruppen  ein.  In  der 
Tendenz  ihrer  Hauptsätze,  die  dem  Heroischen  und  Pa- 
thetischen zuneigen,   haben  sie   etwas  Gemeinsames  und 


oG* 


105 


-Oj 


würden  ohne  Weiteres  den   Sinfonien  der  ersten  Gruppe 
anzureihen   sein,   wenn   sie   sich   mit   diesen  an   musika- 
lischem Reich thum  der  Ausführung  messen  könnten.    Die 
bedeutendste    unter  ihnen   ist    die   Nr.  9    (Cmoll),   wohl     J.  Haj^b 
auch  die  bekannteste.     Sie  beginnt  ohne  Einleitung  mit  Sinfonie  Nr.  9 
einem  Thema ,  dessen  Doppelnatur  weniger  auf  eine  So-  (ß'«^**^-  *  ^•>' 
nate  als  auf  die  freiere  Form  der  Fantasie  hinzuweisen 
scheint : 


fr    *-r \\  r 


jj  ;»TT3ir  \uj_nt 


In  der  weitern  Folge  beschäftigt  sich  Haydn  vorwie- 
gend mit  der  erregten  Hälfte  desselben,  beginnt  aber,  wie 
zur  Entschädigung,  die  Reprise  ohne  diese.  Eine  grosse  Be- 
deutung hat  für  diesen  Satz  das  volksthümliche  freundliche 


zweite    Thema:     ^^'l,   PlT    [)  |  |l  Q  i  ^.  I  .[Tn  3 


Es  beschwichtigt  die  Stürme  und  herrscht  in  dem  Wieder- 
holungstheil  des  Allegro  fast  allein.  Nach  der  ganzen 
Anlage  weist  der  Satz  auf  eine  frühere  Periode  von 
Haydn*s  Sinfoniebehandlung  hin,  in  die  Zeit,  wo  Mozart's 
Einfluss  zuerst  zur  Geltung  kam.  In  einzelnen  Stellen 
z.  B.  dem  oben  angeführten  Hauptthema  des  ersten  Satzes, 
erinnert  er  ganz  direct  an  ein  bestimmtes  Werk  des  jungem 
Meisters:  an  dessen  C moU-Fantasie.  Mozart'sche  Spuren 
zeigen  auch  das  Andante  cantabile  und  das  Finale. 
Ersteres  hat  folgendes  Thema: 


welches    in    einer 


Reihe  von  Variationen  ausgeführt  wird,  von  welchen 
namentlich  die  düstere  in  EsmoU  hervorzuheben  ist.  Im 
Finale  empfiehlt  es  sich  für  den  Zuhörer  die  ersten  beiden 
Takte  des  Themas  fest  zu  halten 


oj     106     ^ 


-f  f  ^  *Jj  I  p'  .     Auf   ihnen    beruhen    die    lahlreichen 

Fugenbildungen  des  Satzes;  die  Melodie  in  ihrem  vollen 
Umfange  erscheint  nur  beim  Abschluss  grösserer  Gruppen. 
Der  durch  selbständige  Aufführungen  verbreitete  Menuett 
ist  in  seiner  Verbindung  von  Grandezza  und  Schalkheit 
ein  Muster: 


ji  ^\  it  j  1  j  i-^i  r  i  r  f-f  f^ 


-• — i- — * — 


i"i    r  hr^^^^" -^H^F^^  •       Ein     ebenso     anmuthiges    als 


schwieriges  Solo  des  Violoncello  bildet  das  Trio. 

J.  H«ydB  Die  Sinfonie  Nr.  8  (Bdur)  hat  ihren  hervorragendsten 

Sinfonie  Nr.  8  gatz  an  zweiter  Stelle:  Es  ist  das  Adagio  cantabile,  einer 

(Brdtk.  ä  H.).  ^g,.  wenigen  langsamen  Sätze  in   Haydn'schen  Sinfonien, 

der  sich  die  idyllischen,  an  die  Schäferpoesie  anklingenden 

Elemente  ziemlich  fem  hält.    Wie  das  Largo  der  Gdur- 

Sinfonie   Nr.    13    hat   er   entschiednen   Hymnencharacter, 

folgendes  Motiv  'w^X'^^^^^^^  ist  der  Hauptträger 

der  andächtig  gehobenen  frommen  Stimmung.  Die  Neben- 
gedanken sind  weniger  bedeutend,  ohne  die  Totalwirkung 
aber  zu  stören.     Das  Finale,    dem  folgendes  Thema  zu 

Presto. 
Grunde  liegt     ^  >^'  l  [j  \  ^p-^jFty^    ist    durchweg 

leicht  gehalten.  Nur  ganz  vorübergehend  treten  kräftigere 
Gestalten  hinein.  Im  Hauptsatz,  dem  ersten  Allegro,  ist 
ausser  dem  Hauptthema: 

AUegro. 

^  "    I    1  TTTTV  I  J  J  j  J  I  ^^  noch  ein  an  und  für  sich 
unscheinbarer  Zwischen gedanke : 


i 


CO     107     «« 

A^^    "Hl"    I  ^ni*    I  "    I  zu  beachten,  der  beim  ersten 

Male  im  AnBchloss  an  das  zweite  Thema  als  Oboensolo 
auftritt.  Das  Mozart*sche  Gepräge,  welches  die  Haltung 
des  AUegro  zeigt,  ist  ihm  besonders  aufgedrückt. 

In  der  Sinfonie  Nr.  7  (Cdur)  bestehen  wieder,  ahn-     J-  Omyd« 
lieh  wie  in  Nr.   1    engere   Beziehungen  zwischen  Einlei-  Sinfonie  Nr.  7 
tung  und    erstem  AUegro :    das  erstere  eröffnende  Motiv  (^'®^*^-  *  ^•)- 

JL  J.  ffp  J~J  ^  I  j  =   kehrt   mit   der    schönen    Harmonie, 

auf  welcher  es  ruht,  in  letzterem  wiederholt  wieder,  noch 
zuletzt  in  der  Coda  des  AUegro,  wo  es  zu  einer  selb- 
ständigen längeren  Episode  Veranlassung  giebt.  Das 
Hauptthema  des  ersten  Satzes  ist  folgendes: 

ViTÄce. 


ljjlrrri^|[>pi»|p;.     Der  Satz  interessirt 


durch  sehr  interessante  Einzelheiten,  er  nimmt  aber  im 
Ganzen  nicht  den  hohen  Flug,  den  man  nach  einem  sol- 
chen Anfang  erwarten  könnte,  und  erregt  die  Vermu- 
thung,  dass  Haydn  für  ihn  wie  auch  fUr  den  Menuett 
dieser  Sinfonie  eine  alte  Mappe  aus  der  Zeit  aufgeschlossen 
habe,  da  er  noch  unter  dem  Einffuss  der  italienischen 
Schule  stand.  Denn  in  deren  Stil  gehört  vor  AUem  das 
Hauptthema.  Bedeutender  sind  der  zweite  Satz,  ein 
Variationenwerk  mit  folgendem  Grundthema: 


in  dem  die  stereotype  Wiederholung  der  Schlussformel: 
Xi.j  ^JHJ'^  IJ  ganz  eigenthümlich  wirkt,  und  das  Fi- 
nale, einer  der  gelungendsten  Rondosätze,  die  wir  von  Hajdn 
besitzen.  Das  Hauptthema,  welches  immer,  so  oft  es  wieder- 
kehrt, vom  Frischen  überrascht  und  ergötzt,  ist  folgendes : 


c<?     108     ^ 


Pntto  Mtai.  ^.^  ± 


Namentlich  am  Schlosse  dieses  Finales  zeigt  Hajdn  noch 
einmal  die  ganze  Grösse  seiner  Gestaltungskraft  and 
leitet  das  harmlose  Motiv  flogschnell  aus  dem  Anmuthigen 
ins  Neckische  und  ins  Erhabene  und  durch  eine  Fülle  von 
Regionen,  wie  sie  nur  ein  grosser  Humorist  zugleich  beherrscht. 

In  neuerer  Zeit  sind  .Beethovenabende*,  Orchester- 
concerte  in  denen  lediglich  Beethoven'sche  Sinfonien  ge- 
spielt werden,  in  Aufnahme  gekommen.  Niemand  braucht 
zu  fHirchten,  dass  diese  Mode  nächstens  auf  Haydn  über- 
tragen wird.  Denn  so  sehr  seine  Musik  anregt,  sie  füllt 
die  Seele  nicht,  sie  bedarf  einer  Ergänzung.  Dem  18.  Jahr- 
hundert brachte  diese  Ergänzung  W.  A.  Mozart:  Haydn 
hat  der  Sinfonie  ihr  neues  Gebäude  errichtet;  aber  von 
Moisrt's  dem  Geiste,  der  hineinzog,  ist  ein  wichtiges  Stück  Mozart's 
Sinfonien.  Eigenthum.  Es  sind  die  Ecksätze  der  Sinfonie,  die  Allegri, 
an  denen  Mozart  eine  Reform  vollzog.  Sie  erstreckte  sich 
nicht  wie  die  Haydn*8  auf  die  Entwickelung ,  Durch- 
fuhrung und  Ausnützung  der  Themen,  sondern  sie  betraf 
die  Themen  selbst.  In  sie  führte  er  ein  Element  ein, 
welches  die  Zeitgenossen  als  ein  ,cantabile«'  bezeichnen. 
Was  das  heissen  soll,  versteht  man  sehr  leicht,  wenn  man 
das  Hauptthema  im  ersten  Satz  der  bekannten  D  dur-Sinfonie 
Mozart's  (Nr.  38  der  neuen  Gesammtausgabe  von  Breitkopf 
&  Härtel)  oder  das  entsprechende  in  seiner  Es  dur-Sinfonie 
(Nr.  39  ebendaselbst)  mit  irgend  einem  ersten  AUegrothema 
des  letzten  Haydn's  vergleicht.  Hier  immer  rasche,  vor- 
wärts eilende  Rhythmen,  muntere,  zuweilen  leidenschaft- 
liche Themen ;  immer  bestimmte  und  fertige  Aeusserungen 
einer  activen,  positiv  kräftigen  Stimmung.  Dort,  bei 
Mozart :  verweilende ,  sich  ausbreitende  Motive ,  in  denen 
eine  schwere  Empfindung  nach  Ausdruck  ringt,  das  Pathos 
eines  vollen  Herzens,  welches  die  Formen  des  menschlichen 
Gesangs  bald  fest  ergreift,  bald  nur  für  einen  kurzen 
Moment    zu    streifen    scheint.      Diese,    im    höheren,    im 


e<?        109        '<>' 

SchiUer'sclieii  Sinne,  sentimentalen  Elemente  des  Seelen- 
lebens waren  der  altem  Instramentalmosik  selbstrerständ- 
lieb  nicbt  fremd;  aber  sie  wurden  dort  in  der  Regel  für 
sieb  gebegt  und  blieben  vorzugsweise  auf  die  langsamen 
Sätze  bescbränkt;  in  den  lebbafteren  erbielten  sie  böchstens 
Nebenplätze.  Nacb  der  Meinung  Vieler  macbte  sieb  daber 
Mozart  einer  Stylvermiscbung  scbuldig,  indem  er  jene 
sentimentalen  Elemente  in  die  Haupttbemen  und  an  andere 
wiebtige  Stellen  der  Allegri  bineinzog,  und  nocb  der  ver- 
diente Nägeli  nannte  den  Meister  wegen  jener  Cantabilität, 
durcb  die  ein  Beetboven  mit  vorbereitet  wurde,  einen  , un- 
reinen Instrumentalcomponisten*^.  Die  zweite  Hälfte  des 
18.  Jabrbunderts  war  jedocb  aucb  in  der  Musik  die  Zeit 
mancber  woblgeglückten  und  beilsamen  Stylvermiscbung. 
In  der  ernsten  Oper  Gluck,  in  der  komiseben  Piccini, 
Galuppi,  Guglielmi,  in  der  Instrumentalmusik  Pb.  E.  Bacb 
und  in  einem  bestimmten  Umkreise  aucb  J.  Haydn! 
Mozart's  Cantabilität  entspracb  aber  aucb  einer  geistigen 
Strömung  des  18.  Jabrbunderts,  die  dem  Optimi<«mus  des 
spätem  Hajdn  mindestens  die  Waage  bielt.  Auf  Haydn^s 
Seite:  der  Adel  und  ein  absterbendes  Gescblecbt,  auf  der 
Mozart's  das  junge  aufstrebende  Bürgertbum,  die  FUbrer 
der  Litteratur,  Kunstwerke  wie  Clavigo,  Räuber,  Cabale 
und  Liebe,  wie  Hogartb's  Bildercyclen.  In  der  Sebnsucbt 
nacb  einer  gerecbteren  und  voUkommneren  Welt  kam  der 
Pessimismus  der  Aufklärung  mit  dem  gläubigen  Cbristen- 
tbum  zusammen,  beriibrte  sieb  —  obne  es  zu  wissen  — 
Mozart  mit  dem  ibm  verbassten  Voltaire.  Mozart  stebt  als 
Vertreter  der  cantabilen  Ricbtung  bereits  in  seiner  ersten 
Sinfonie  vor  uns,  die  er  als  acbtjäbriger  Knabe  scbrieb. 
Das  Haupttbema  ibres  ersten  Satzes  ist  so  eine  ^Miscbung* 
von  Ritterlicbkeit  in  den  ersten  Takten  und  frommen 
Kircbenklang  im  Nacbsatz: 

Ane|7o  molio. 


I  ■■  I  ■■  I J  t  -  I  \^'^ 


cG*        110       ^ 

Die  ,Cantabilität*  seiner  InstnimentalmuBik  berahte  dem- 
nach in  allererster  Linie  auf  individuellen,  angebomen  und 
ererbten  Anlagen.     Zeigt   sie  sich  ja   doch  auch,    wenn 
schon  viel  schwächer  in  den   Compositionen  des  Vaters: 
Leopold  Mozart,  den  wir  überdies  aus  den  Briefen  als  einen 
bigotten  Mann  und  argen  Pessimisten  kennen.    Glücklicher- 
weise hält  jedoch  bei  Wolfgang  Mozart  den  weltflüchtigen 
Elementen  eine  starke   , Frohnatur*   köstlichster  Art  und 
eine   unversiegliche  lebensfrohe  Jugendfrische   immer  die 
Waage.    Der  Priester,  der  Weltweise  in  ihm  wird  stets 
von  dem  Cavalier  begleitet;  wie  ein  neuer  Minnesänger 
repräsentirt  Mozart  auch  die  besten  Adelselemente  seiner 
Zeit.  Daher  die  unübertreflfliche,  die  unerreichte  harmonische, 
die  hellenische  Wirkung  seiner  Kunst.    Freilich  in  seinen 
Sinfonien  ist  sie  nicht  überall  zu  flnden,  sie  zeigen  zum 
grossen  Theil,  dass  Mozart's  Herz  für  die  Instrumental- 
musik   nur    schwächer    schlug.      Von    den    49    Sinfonien 
Mozart's,  die  KöcheFs  Verzeich niss  nachweist,  besassen  wir 
bis  vor  Kurzem  nur  11   im  Druck  und  zwar  in  der  soge- 
nannten   alten  Partiturausgabe    von   Breitkopf  &  Härtel, 
die  zu  diejien  noch  eine  zwölfte,  aber  unechte  hinzufugte. 
Diese   Zahl   ist    durch  die  neue    monumentale  Gesammt- 
ausgabe^)    der    Werke    Mozart's    jetzt    auf   47    vermehrt 
worden.    Der  Zuwachs  besteht  grösstentheils  aus  Jugend- 
arbeiten, unter  denen  allerdings  mehrere:  z.  B.  die  G  moU- 
Sinfonie  aus  dem  Jahre  1772,  die  in  Adur  von  1773,  die 
3  Ddur-Sinfonien  Nr.  4,  17,  20,  die  Bdur-Sinfonie  Nr.  24, 
die   C  dur- Sinfonie  Nr.  28  der  Gesammtausgabe  mehr  als 
blos  biographisches  Interesse  haben.    Aber  es  dauert  ver- 
hältnissmässig  lang,   es  kommt  die  Zeit  der  „Entführung 
aus  dem  Serail*  heran,  ehe  Mozart  als  Sinfoniker  gleich- 
massig   bedeutend    und   eigenthümlich    wird.     Die    Mehr- 
zahl seiner   früheren  Sinfonien  sind  Durchschnittsarbeiten 
mit  interessanten  Einzelzügen  und  hübschen  Einfallen ;  am 
reizendsten    äussert   sich    sein    kindliches  Wesen   in   den 
Andantes    und  Schlusssätzen.     Ein  Theil  dieser  Jugend- 


^)  Leipzig,  Breitkopf  &  Härtel. 


ce        111 


o» 


arbeiten  zeigt  in  der  Aufnahme  des  Menuett  und  in  der 
Themenbildung  den  Einfluss  der  Wiener  Schule,  die  Mehr- 
zahl aber  folgt  dem  Vorbild  der  italienischen  Theater- 
sinfonie, wie  sie  ungefähr  Hasse  behandelte.  In  den  weit- 
ausholenden Einsätzen,  in  der  Allgemeinheit  der  Ge- 
danken, in  der  dahinrauschendcn,  an  Figuren  und  glänzenden 
Gängen  reichen  Rhetorik  gleichen  sie  Festreden.  Manche 
haben  aber  von  dieser  Abkunft  auch  einen  Vorzug.  Das 
ist  ein  hoher,  weihevoller  Grundton.  Jedermann  kennt 
ihn  aus  der  Majestät  der  Jupitersinfonie,  die  in  Bezug 
auf  diese  Eigenschaft  keineswegs  allein  steht,  sondern 
gerade  darin  in  den  Jugendsinfonien  Mozart's  zahlreiche 
Vorläufer  hat. 

Es  giebt  noch  unter  den  seit  langer  Zeit  bekannten 
Sinfonien    Mozart^s   solche,    die    gar    nichts  Individuelles       Hosart 
haben.     Dabin    rechnen    wir    die  D  dur-Sinfouie    Nr.  31^  Ddur-Sinfonie 
welche  in  der   äussern  Geschichte  Mozart's  eine  gewisse  "^"^®'"'^'''* 
Bedeutung  hat.    Mit  ihr  glaubte  Mozart  in  Paris  Position      »us^'ftb'™ 
fassen  zu  können.    Er  schrieb  sie  für  die   dortigen  Con- 
certs  spirituels  des  Dircctor  le  Gros  (im  J.  1778)  und  fand 
damit  grossen  Beifall.    Sie  beginnt: 


AllegTo 


ersten 


He. 


drei  Takte  bilden  den  berühmten  ,premier  coup  d'archet", 
auf  welchen  die  Franzosen  so  stolz  waren.  Das  war 
nichts  weiter  als  der  gemeinsame  Einsatz  des  gesammten 
Orchesters,  der  allerdings  bei  der  ausserordentlich  vollen 
Besetzung  des  Streicherchors  einen  Effect  machte,  dessen 
Natur  die  Pariser  Dilettanten  einer  besondem  Ueber- 
legenheit  in  der  Präcision  zuschreiben  wollten.  Diesen 
coup  d'archet  hat  Mozart  im  ersten  Satze  weidlich  aus- 
genutzt und  ihm  noch  eine  Reihe  ähnlicher  dynamischer 
Raritäten  beigesellt,  wie  er  sie  selbst  nagelneu  aus  der 
Mannheimer  Capelle  mitgebracht  hatte.     Das  aUgemeine 


co     112     ^ 

Crescendo  auf  einem  einzigen  Aecord  spielt  darunter  eine 
grosse  Rolle.  In  der  Entwickelung  des  Stioimungs-  und 
Gedankenmaterials  herrscht,  obwohl  Mozart  in  dieser  Sin- 
fonie dem  «langen  Geschmack*^  ausweichen  wollte,  eine 
grosse  Umständlichkeit.    Das  Andante 

*  vIoUm  ^  ^ 

zehntes  Jahrhundert;  nur  eine  stolze  Unisonfigur  der 
Streichinstrumente  unterbricht  die  Ruhe  dieser  Gessner^- 
sehen  Idylle.  Das  Finale  fängt  ausnahmsweise  einmal  so 
an,  wie  Haydn  in  der  Regel  seine  schnellen  Sätze  einzu- 
setzen pflegt:  die  erste  Periode  leise  und  dann  ein  tüch- 
tiges Forte.  ,Weil  ich  hörte'  —  schreibt  Mozart  an  seinen 
Vater  —  „dass  sie  alle  letzte  Allegro's,  wie  die  ersten, 
mit  allen  Instrumenten  zugleich,  und  meistens  unisono 
anfangen,  so  fing  ichs  mit  den  zwey  Violinen  piano  nur 
acht  Takte  an  —  darauf  kam  gleich  ein  Forte,  mithin 
machten  die  Zuhörer  (wie  ich  es  erwartete)  beim  Piano 
geh!  —  dann  kam  gleich  das  Forte.  —  Sie  das  Forte 
hören  und  in  die  Hände  zu  klatschen  war  Eins.  Ich  ging 
also  gleich  vor  Freude  nach  der  Sinfonie  ins  Palais 
Royal,  nahm  ein  gutes  Gefrornes,  betete  den  Rosenkranz, 
den  ich  versprochen  hatte,  und  ging  nach  Haus.* 

Man  kann  die   Sinfonien  Mozart's    in   solche  theilen, 
bei  denen  der  Ouvertürencharakter  vorwiegt,   und  in  eine 
andere   Classe,    welche   sinfonisch    in   der  modernen   Be- 
deutung des  Wortes    genannt  werden  können.     Daneben 
giebt  es  noch  eine  kleinere  Gruppe,  welche  den  Cassa- 
tionen und  andern  suitenartigen  Gelegcnheitsmusiken  nahe- 
Moiut       steht.    Zu  letzterer  gehört  die  Sinfonie  (in  D)  Nr.  8  der 
Ddor-Sinfonie  jjten  Ausgabe  von  Breitkopf  &  Härtel.    Sie  hat  5  Sätze, 
Nr.  8  (B.  A  H.).  iinter  ihnen  zwei  Menuetts,  die  durch  ein  sehr  langes  Andante 
getrennt  sind.    Es  ist  eine  Composition,  die  ganz  und  gar 
nichts  Mozart^sches    hat  und    durch  ihren    altvaterischen 
Charakter  Zweifel  erregt  bezüglich  der  Echtheit. 

Es  giebt  dann  noch  eine  Uebergangsklasse,  bei  der  die 
Hauptthemen  des  ersten  Satzes  beide  festlich  decorativ  und 


o(?     113     o» 


ouvertUrenmässig  gehalten,  aber  durch  gesangvolle  und  oft 

breit  ausgeführte  Nebenmotive  in  der  Wirkung  beschränkt 

sind.    Unter  den  bekannteren  Werken  Mozart's  gehört  zu       Hoiart 

dieser  Classe  die  Salzburger  C  dur- Sinfonie  von  1780,  Nr.  34  Ddur-Siufoni© 

der  Gesammt-Ausgabe.     Allerdings  verlässt    bei    ihr    das  ^''  ^  i^'-^')- 

Hauptthema  das  Ouvertürengebiet: 


<"^'i)'j-  'jfjijJ^  ihn^fyr''^ 


f  ifrryrr  ifVlpTpv'-p.pTl^i^q  seine  elegische 


Schlusswendung  in  das  Moll  weist  über  die  Mozart'sche 
Zeit  sogar  hinaus.  Das  zweite  Thema  aber  trägt  das  Ge- 
präge der  der  Ouvertüre  unbekannten  Cantabilität  ganz 
besonders  stark. 


fil  |ii|~'  I     rii  I  j  II  ly  II  n 


Nur  die  Durchfuhrung  widerstrebt  in  ihrer  Ungebunden- 
heit  und  •  in  ihrem  starken  Verbrauch  neuen  und  ver- 
schiedenen Ideenmaterials  den  neuen  sinfonischen  Be- 
dingungen. Interessant  ist  im  Bau  dieses  ersten  Satzes  die 
doppelte  Reprise  des  Hauptthemas.     Das  Andante  ist  ein 


echter   Mozart : 


Mf^M/-,  f  ,-£1-^ 


Die  resolute  Schlusswendung  zum  Männlichen  kennzeichnet 
ihn.    Im  Finale,  einem  rauschenden  Allegro  im  **/»  Takt 

mit    folgendem    Anfang:     1^^  r  fjl  '^'^  jT3  i  f  ^ 

herrscht  die  energische,  dramatische  Bewegtheit  der  Jupiter- 
sinfonie:  Stellen,  wie  die  folgende,  geben  einen  Begriff  von 

Kretsschmar,  Führer,  I.  8 


ce     114     ©» 


der    Deutlichkeit    des   instrumentalen   Dialogs    and    dem 
bilderreichen  Charakter  dieses  Finale: 


■til/tiJ'llQ^^^ 


r  Taill 


Noch  entschiedeneren  Sinfoniencharakter  als  in   der 

Torhergenannten  haben  die  Themen  im  ersten  Satie  der 

Bdur-Sinfonie  Nr.  33,  die  im  Jahre  1778  zu  Salzburg  ge- 

Bdvr-SiBfoiil«  schrieben  ist.    In  dem  Hauptthema  ist  keine  Spur  mehr 

Hr.  88  (O.-A.).  yo^  ^ler  Ouvertürenfeierlichkeit  früherer  Sinfonien,  es  zieht 

YoU  Haydn 'sehen  Geistes  daher,  zum  Malen  deutlich  eine 

Originalfigur  aus  einem  lustigen  Genrestück: 

AUerro  «M&i. 


Ganz  Zärtlichkeit  und   muntere  Anmuth  tritt  ihm  dann 

seine  Gefährtin  entgegen :  X  '  T  | '  T  T  |  |^.  Die  Durch- 
führung kümmert  sich  um  das  liebenswürdige  Paar  leider 
nicht.      Sie  bringt   ein   anderes   Lieblingsthema   Mozart's 

mf  J,  I    J'   I    [**T^"I-   I ,  welches  ihm  zum  ersten  Male 

in  seiner  Fdur-Messe  vom  Jahre  1774  erschienen  ist  und 
dem  er  später  in  der  Jupitersinfonie  einen  weit  sichtbaren 
Ehrenplatz  zuwies.  Eine  andere  Vorausnahme  der  Zu- 
kunft bietet  dieselbe  Durchführung  in  einer  Uebergangs- 
episode,  welche  in  Melodie  und  Harmonie  auf  einer  Wendung 
ruht,  die  mit  der  Zauberflöte  und  dem  Terzett  der  drei 
Damen  weltbekannt  wurde.  Nach  einem  weichen  Andante 
folgt  ein  Menuett,  der  schärfer  als  die  vorhergehenden  in 
grossen  Intervallen  und  festen  Rhythmen  die  Züge  zum 
Ausdruck  bringt,  welche  Mozart  für  diese  Tonstücke  mit 
Vorliebe  einhält.  Mozart's  Menuetts  lehnen  sich  durch- 
schnittlich mehr  an  die  alte  Schule  an  als  die  Haydn's. 
Sie  sind  nicht  so  witzig  und  nicht  so  beweglich,  als  die 


te     115     -ö» 

letzteren,  ihr  Humor  ist  schwerer,  zuweilen  finster,  streift 
auch  wohl  ans  Groteske.  Immer  aber  trägt  ihn  ein  kraft- 
volles Element.  Das  Finale  ist  die  Krone  des  Ganzen: 
ein  Erguss  bacchantisch  dahinstürmender,  aber  gutmüthiger 
Heiterkeit.  Jugendliche,  ritterliche  Männergestalten  sind 
die  Führer  dieses  fröhlichen  Schwanns,  dem  Alles  zu- 
zuströmen scheint  vom  Adel  und  vom  Volk,  was  Fröhlich- 
keit im  Blute  fühlt.  Bleibt  der  Zug  einen  Augenblick  bei 
einem  schönen  Auge  stehen,  so  braust  er  dann  nur  um  so 
flotter  weiter.    Im  Hauptthema: 

Presto  assai. 


erkennt  man  unschwer  Fleisch  und  Blut  aus  dem  Er- 
öfihungssatz  der  Sinfonie.  Unter  den  zahlreichen  Seiten- 
themen verdient  namentlich  die  drollige  volksthümliche 
Gruppe  hervorgehoben  zu  werden,  welche  die  Bläser 
(Oboen  und  Fagott  als  Anklang  an  das  alte  Trio),  bald 
nachdem  das  zweite  Thema  passirt  ist,  aufstellen: 


f^Vjl^l^^|^^■|ff^|^cJ^l^L;N^l^f^^^^ 


Aeussere  Veranlassungen  haben  wahrscheinlich  sehr 
stark  auf  die  Haltung  eingewirkt,  welche  Mozart  den  Haupt- 
sätzen seiner  Sinfonien  gab.  Wie  die  Haydn'sche  Sinfonie 
aus  einer  Kreuzung  mit  der  Suite  hervorging,  so  scheint 
man  am  Ausgang  des  18.  Jahrhunderts  in  Oestreich  über- 
haupt den  Begriff  der  Sinfonie  nicht  so  streng  genommen 
und  ihn  auf  mehrsätzige  Orchestermusik  jeglichen  Cha- 
rakters angewendet  zu  haben.  So  erklärt  sich  bei  Mozart 
das  scheinbare  Schwanken  in  den  Grundsätzen  und  in  seiner 
Entwickelung  als  Sinfoniecomponist.  Der  eben  betrachteten 
B  dur-Sinfonie  folgt  eine  Arbeit,  die  D  dur-Sinfonie  Nr.  35,  Xoiart 
die  zum  Theil  wie  eine  Art  Rückfall  in  den  Serenadenstil  Ddur-sinfonie 
aussieht.  Sie  ging  auch  aus  einer  Serenade ,  einer  Fest-  ^'-  ^ (G-A.)- 
musik  hervor,  die  eine  freudige  Feierlichkeit  in  der  mit 
Mozart  in  freundschaftlichen  und  musikalischen  Beziehungen 
stehenden    Familie  Hafner  in  Salzburg  schmücken    half. 

8* 


cG'      116      ^ 

Als  Serenade  begann  sie  mit  einem  Marsch  und  hatte 
zwei  Menuetts.  Als  sie  nun  Mozart  in  ein  Wiener  Con- 
cert  als  Sinfonie  brachte,  strich  er  den  Marsch  und  den  einen 
Menuett.  Aber  ihrem  jetzigen  ersten  Satz  ist  die  pathetisch 
gehobene  Allgemeinheit  geblieben,  welche  solche  musi- 
kalische Gelegenheits-  und  Festdichtungen  in  der  älteren 
Zeit  einzuhalten  pflegten.  Dieser  erste  Satz  hat  nur  das  eine 
erstaunlich  gross  ausholende  Thema: 

AUegro  eon  «pirito. 


fi^-^T^f^^^^.TiTjlT:T^ 


welches  mit  einer  aussergewöhnlichen  contrapunktischen 
Consequenz  durchgeführt  wird.  Gewiss  wusste  Mozart, 
dass  die  Arbeit  vor  Kenner  kam.  Das  Andante  gleicht 
einem    dramatisirten    Liede,    seine    simple    Grundgestalt: 


-j^^(JU-£/4y^Ej^^^^^^^^     wird     bald     durch 


Zwischensätze,  in  denen  es  sich  wunderbar  und  heim- 
lich regt,  verdrängt,  bald  durch  Zuthaten  der  Dynamik 
und  Harmonie,  durch  Accompagnement  und  wechselnde 
Seitenglicder  mächtig  gehoben.  Menuett  und  Trio  sind 
einfach,  aber  wirksam  contrastirend.    Das  Finale  zeigt  in 


seinem 


Hauptthema     ^  ^i  h  fTl^J^  r'i^j^l^ 


eine  starke  Verwandtschaft  mit  Osmin's  „Ha  wie  will  ich 
triumphiren*.  In  der  That  schrieb  auch  Mozart  diese 
Sinfonie  i.  J.  1782  mitten  unter  den  drängenden  Nach- 
arbeiten der  , Entführung". 

Zeigt    sie     schon    in    den    Allegrosätzen    Haydn'sche 

Elemente,  in  dem  ersten  bezüglich  der  Durchführung,  im 

letzten  in  der  thematischen  Erfindung  selbst,   so  trägt  die 

XoEArt       nächste  Sinfonie   (Nr.  36  Cdur)   den  Haydn'schen  Einfluss 

Cdnr-Sinfonie,  noch  offener  zuT  Schau.     Unter  den  Musikern   ist  dieses 

^Linaer-,  Nr.  86  Werk  als  »Linzer*  Sinfonie  bekannt.     Wahrscheinlich  ist 

(G.-A.).       ßg  diejenige  Sinfonie,   welche  Mozart  i.  J.  1783,   auf  der 


e<?        117        ^ 

Durchreise  durch  Linz  begriffen,  in  kurzer  Zeit  für  den 
dortigen  Musikvcrein  componirte.  Nicht  eben  tief,  aber 
ein  liebenswürdiges  frisches  Werk,  erfreut  sie  den  Musik- 
freund durch  vielfache  Vorklänge  der  grössten  Zeit  des 
Meisters  und  deren  Hauptschöpfungen:  Don  Juan  und 
Jupitersinfonie,  und  durch  Klangwirkungen,  welche  ebenso 
durch  ihre  Eigenart  wie  durch  ihre  Einfachheit  frappiren. 
Wir  machen  in  letzterer  Beziehung  namentlich  auf  die 
Bläserharmonien  im  ersten  Satze  aufoierksam.  Die  Haupt- 
themen der  Sinfonie  sind: 

Allegro  .piritoBO.    ^  fl   ^     |      ..      |  Ji     J^   f    J     MJ     J 


fiiiuj^B^'iLjjtiV^^t-y^'^^ 


Ma^iatto.  ^  !  r   I  n  I  I  r|l   I  I  |Tr^ 


Presto. 
Flaale. 

Haydn  merkt  man  im  ersten  Satz:  ausser  in  der 
langsamen,  träumerisch  gedankenvollen  Einleitung,  nament- 
lich in  der  Durchführung,  die  hier  in  Haydn's  Weise 
eingehender  bei  demselben  Motive  bleibt  und  aus  ihm 
entwickelt.  Dieselbe  Methode  finden  wir  im  Andante. 
Dann  sind  auch  noch  kleinere  Züge  Haydn  nachgebildet: 
die  Einsätze  der  AUegri  von  p  zum  forte  schreitend:  kecke, 
überraschend  in  der  Modulation  wechselnde  Periodenan- 
fänge: Haydn'sche  Lieblingswendungen  der  Melodie,  wie 
der  Schluss  des  Themas  im  Andante :  Eigenheiten  der  In- 
strumentirung,  wie  im  Trio  die  Verdoppelung  der  Melodie- 
stimme: in  der  Dynamik  unerwartete  Accente  und  Gegen- 
sätze. Es  ist  aber  noch  genug  von  Mozart^s  be^sonderem 
Wesen  in  dieser  Sinfonie.  Nicht  blos  in  der  Gesammthal- 
tung,  in  dem  ihm  eigenen  raschen,  kräftig  elastischen 
Schritt  kommt  es  zum  Ausdruck;  wir  können  es  bis  in 
seine  kleinen  charakteristischen  Geberden  und  Angewohn- 


<o     118     ^ 

heiten  hinein  verfolgen.  Sein  beliebtes  chromatisches 
Ueberleitnngsmotiy :  ft  .  |  ■  ■  ■  ■  |  j^^  kommt  wieder- 
holt vor:  Zwischen  dieser  C  dar -Sinfonie  und  der  ihr 
folgenden  Nr.  38  (D  dur)  liegt  ein  Zeitraum  von  drei  Jahren 
nnd  eine  künstlerische  Entwickelung  Mozart's,  die  wir  in 
das  eine  Wort  , Figaros  Hochzeit**  fassen  wollen.  Mit 
dieser  Sinfonie  ist  Mozart  als  Sinfoniker  eine  fertige 
Grösse.  In  ihr  und  den  ihr  folgenden  Schwestern  —  es 
sind  leider  nur  drei  —  steht  er  in  bestimmter  und  ab- 
geschlossener Individualität  vor  uns:  in  der  ihm  ganz 
eigenen  Mischung  von  Kindlichkeit  und  Ernst,  ein  Meister, 
dessen  Geiste  sich ,  die  Form  gebeugt  hat ,  ein  Mensch, 
dessen  Anmuth  und  Liebenswürdigkeit  die  Tiefe  und  den 
Beichthum  seines  Seelenlebens  mehr  zu  verhüllen  als  zu 
offenbaren  suchen.  In  der  Form  zeigen  die  vier  letzten 
Sinfonien  eine  Wandlung  vollbracht,  die  sich  in  etlichen 
früheren  Werken  bereits  vorbereitete.  Sie  betrifft  die 
Methode  in  dem  Durchfuhrungstheil  des  ersten  und  letzten 
Satzes.  Wenn  hier  Mozart  in  den  früheren  Sinfonien 
vorwiegend  ganz  neues  Gedankenmaterial  aufwarf,  so 
nähert  er  sich  jetzt  dem  Haydn'scben  Weg  und  ninmit 
Themen  und  Motive  aus  dem  ersten  Theile  des  Satzes. 
Eigen  ist  ihm  dabei,  dass  er  nicht  die  eigentlichen  Haupt- 
themen, sondern  Nebenmotive  aus  Seiten-  und  üeber- 
gangsgruppen  benutzt  und  sich  bei  secundären  Ideen  aus- 
ruht und  sammelt.  Diesen  ausserordentlich  merkwür- 
digen, man  kann  sagen  scheuen  Zug,  hat  er  einzig  bei 
der  subjectivsten  seiner  Sinfonien,  der  berühmten  Gmoll- 
Sinfonie,  aufgegeben. 
HoMTt  Die  D  dur  -Sinfonie  Nr.  38  (geschrieben  fUr  die  Wiener 

Ddar-Sinfoni«  Winterconcerte  im  December  1786)  hat  eine  bedeutende 
Nr. 88 (O.-A.).  Einleitung:  im  Tone  freundlicher  Ahnung  beginnend,  in 
der  Mitte  düster,  zum  Schlüsse  über  Seufzer  und  Bitten 
in  demüthige  Resignation  einlenkend:  Der  Allegrosatz 
ist  zwischen  eine  fragend  bange  Stimmung  und  die 
Regungen    eines   ringenden   Kraftgefuhls  getheilt.     Diese 


c<?     119     ^ 


Momente  treten  schon  im  Hanptthema  direkt  neben  ein- 
ander: 

ff  I'  '^^J  J  J>I1>J  J  J  Jilj  J,^J   J  ,JJ  I  Ji  Jyl  J  _Ji  I 


T 


iiwj.nH 


J  j  j  J  ij 


Das  zweite  Thema 


flüchtigen  Lichtblick:  es  repetirt  sofort  in  Moll  und  ver- 
schwindet dann  auf  lange.  In  der  Durchführung  er- 
scheint aus  den  Themen  allein  das  oben  eingehakte 
Motiv,  dem  noch  zwei  andere  heftig  angelegte  Figuren, 
den   Uebergangsperioden   der   Themagruppe    entnonmien: 


U\  nrlirrluhji'^'^^'rfrr^^r 


zur  Seite  treten.  Es  herrscht  unter  ihnen  die  engste 
Reibung:  das  eine  kommt  nie  ohne  das  andere  und  wie 
in  der  Mehrzahl  der  spätem  Instrumentalwerke  Mozart*s 
geschieht  die  ganze  Ideen-  und  Formenentwickelung 
nach  den  Principien  des  doppelten  Contrapunkts.  Ein 
Höhepunkt  oder  ein  Resultat  dieser  Ideengährung  ist 
nicht  zu  bemerken,  der  Schluss  zieht  sich  wie  tastend 
und  suchend  nach  dem  Hauptthema  zurück,  welches  vor 
der  eigentlichen  Reprise  in  harmonischen  und  melodi- 
schen Umstellungen  erscheint,  die  einen  feinen  poetischen 
Zug  bedeuten.  Ein  Merkmal  der  letzten  Sinfonien  Mozart's 
ist  der  engere  Anschluss  in  den  Charakteren  der  ein- 
zelnen Sätze.  Diesen  Zusammenhang  zeigt  unsere  Ddur- 
Sinfonie  besonders  stark.  Wie  er  innerhalb  des  ersten 
Satzes  die  Gestaltung  und  das  Wesen  von  Einleitung  und 


wc?     120     ^ 

AUegro  beeinflusstf  so  bestimmt  er  auch  das  Yerhältniss 
dieses  ersten  Satzes  zum  Andant«.    Schon  im  Hauptthema 

▲ndaai«. 

dieses  Andante    jfi  j  ^-r-^^^-/Hf^^# 

ist  die  Verwandtschaft  zu  erkennen.  In  ihm  liegt  noch 
etwas  von  der  gedrückten  Stinunung,  mit  welcher  der 
erste  Satz  begann;  nur  die  Nuance  ist  eine  mildere.    Mit 


dem  Seitenmotive     Ä—  -/^  -^^\  JF-^  >   ^**  ^°  ^^^  ^"*" 


Wickelung  de«  Satzes  eine  bedeutende  Stelle  einnimmt 
und  gern  in  canonischer  Stimmführung  erscheint,  strebt  das 
Andante  freundlichen  Regionen  entschiedener  zu.  Durch  das 


energische  und  finstere  Gegen thema  ff,  ,   '    ^^^TX^^^^ 


kommt  der  energische  und  dramatische  Charakter  der  dem 
ganzen  Satz  eigenthümllch  ist,  äusserlich  am  deutlichsten 
zum  Ausdruck.  Er  beherrscht  den  Geist  des  ganzen 
Satzes  in  dem  Grade,  dass  alle  die  Stimmung  aufklären- 
den und  freundlichen  Abschnitte  nur  Versuche  bleiben. 
Daraus  erklärt  es  sich,  dass  das  süsse  zweite  Thema  des 
Andante  (in  Ddur)  auf  dessen  Verlauf  nicht  die  geringste 
Wirkung  übt.  Ihre  grösste  Macht  enthalten  die  dunklen 
Seelenmächt^  in  der  Durchführung,  wo  sie  selbst  das 
Hauptthema  ins  Trübe  und  Bange  (Dmoll,  EmoU)  wenden. 
Der  Schluss  ist  überraschend  in  seiner  sich  still  ver- 
lierenden Form  sowohl  als  in  dem  halb  humoristischen 
Ausdruck.  Dass  diese  D  dur-Sinfouie  auf  die  alte  drei- 
sätzige italienische  Form  zurückgreift,  scheint  kein  Zufall 
zu  sein,  sondern  das  ist  ein  Ergebniss  der  Innerlichkeit 
dieser  Musik,  der  Stärke  und  Echtheit  mit  der  sie  die 
Spannung  des  Gemüths  wiederspiegelt  in  der  sich  Mozart 
zur  Zeit  dieser  Composition  befand.  Ein  Menuett,  der 
Tanzsatz  des  äusserlichen  Herkommens  wegen,  wäre  Mozart 
in  jenen  Stunden  mehr  als  blosse  Verirrung  des  Stils,  wäre 
ihm  eine  Lüge  gewesen.    Eine  Scene  der  Gemüthlichkeit 


e<?         121         «^ 


passt  in  das  Seelenbild,  das  diese  Sinfonie  giebt,   nicht; 

eber  geht  es  mit  einem  gewaltsamen  Humor.    Ihm  wendet 

sich  der  Schlusssatz  zu.    Sein  Hauptthema  soll  und  will 

Fröhlichkeit  bringen,  zum  Aufraffen  helfen: 
Presto. 


r  r  ri|^  I  r  r  r  r  I  j  .  Ueber  Abschnitte  der  Nachdenklich- 
keit und  stürmischen  Erregung  gelangt  die  Darstellung  zu 
dem  zweiten  Thema  (in  Adur)  das  mit  einem  Anflug  von 
Resignation  ein  fröhliches  Behagen,  eine  Art  Glück  in 
der  Beschränkung  ausspricht.  Die  Kämpfe  die  der  Ideen- 
gang der  Sinfonie  erwarten  lässt,  sind  in  der  Durch- 
führung und  im  ersten  Theil  der  Reprise  enthalten,  in- 
dessen mehr  nur  angedeutet  als  vorgeführt.  Schon  hieraus 
ergiebt  sich,  dass  das  Finale  an  Ursprünglichkeit  und 
seelischer  Macht  die  beiden  ersten  Sätze  nicht  erreicht. 

Die  drei  letzten  und  berühmtesten  Mozart'schen 
Sinfonien  entstanden  anderthalb  Jahre  nach  dieser  Ddur- 
Sinfonie  und  zwar  in  der  Reihenfolge:  Esdur  (26.  Juni), 
Gmoll  (25.  JuH)  und  Cdur  (10.  August  1788). 

Die  Esdur- Sinfonie   (Nr.   39),   welche,   wir   wissen       Moiart 
nicht  von  wem,   den  Beititel    ,  Schwanengesang  *  erhalten^  ^"'-Sinfonie 
hat,  ist  unter  den   letzten   Sinfonien  Mozart's,  vielleicht  ("^^^"'^«'^«•* 
unter    seinen    sämmtlichen     Sinfonien,    die    Haydn    am 
nächsten  stehende.    Sie  ruft  das  Bild  dieses  Vormeisters 
nicht    blos    in    formalen    Nachbildungen    wach,    sondern 
namentlich  durch  das  geistige  Lebenselement,  welches  sie 
bewegt.    Sie  ist  entschieden  dem  Frohsinn  gewidmet,  und 
wenn    wir    sie    als   Ausdruck    von    Mozart's    persönlicher 
Stimmung  betrachten  dürften,    so  war    die   Zeit,    wo  er 
diese  Sinfonie  schrieb,  eine  sehr  glückliche. 

Die  Einleitung  des  ersten   Satzes  beginnt  in  Pracht 

und    Spannung.      Ganz    am    Schlüsse    nur    kommt    ein 

Bchwermüthiger  Don  Juan- Klang: 
Adagio. 


sang") 
Nr.  39  (G.-A.). 


^  i\  11       ^  j-  I  l'  ^'p    I  p^J  1  Jl  M  J^  y  M.     Das   Allegro 


> 


co     122     ^ 


stellt  ihm  ein  beruhigendes  Bild  entgegen 


\\  ijjii  i'^'in  ji^rir 


Der   Wiederholung   dieses    freundlich    susprechenden 
Gesangs  folgt  das  Hajdn^sche  Forte: 

^T= .    Es  ist  der  Ausdruck  stolzen 


KraftgefUhls,  welches  von  nun  an  im  Satze  herrscht. 
Er  ist  eine  Art  Mozart'scher  Eroica,  zwar  ohne  Kampf 
und  Sturm;  aber  in  dem  knappen,  energischen,  wuch- 
tigen, bis  zimi  Herausfordernden  hingehenden  und  doch 
immer  der  Selbstbeherrschung  sichern,  männlichen  Aus- 
druck der  Freude  liegt  etwas  entschieden  Heldenmässiges. 
Was  Haydn'sch  ist  im  Satze,  das  erscheint  aus  dem 
Ellangregister  des  Jünglings  auf  die  Stimme  des  Mannes 
tibertragen.  Die  tändelnd  anmuthigen  Elemente  sind  fem- 
gehalten. Der  in  glücklicher  Erinnerung  schwelgenden 
Schwärmerei  ist  ein  dunkler  Ton  beigemischt: 


r^^-rrp.i  ^.Tp.  I ^  r  nf]  |7  g  1 1  i|ir,i 


so  lautet  das  zweite  Thema  in   bedeutsamer  Cantabilität. 
Für  die  Durchfuhrung,  welche  sehr  kurz  ist,  hat  folgendes 


Nebenmotiv  Wichtigkeit 


Mit 


einer  Generalpause  wird  sie  abgebrochen,  und  in  der 
genialen  Kürze,  mit  welcher  Mozart  an  diesem  Punkte 
häufig  verfahrt,  leiten  3  Takte  der  Bläser  in  die  Reprise 
über.  Dem  zweiten  Satze  der  Sinfonie,  dem  Andante, 
liegt  folgendes  Hauptthema  zu  Grunde 


eO        123        ^ 

AaduUe. 


(fmij  jmij.Ti^l^^^S^E.      in      seiner 

marschartigen  Natur  an  Haydn'sche  Vorbilder  erinnernd. 
Im  zweiten  Theile  stellt  ibm  Mozart  zunächst  ein  heftiges 
Motiy  entgegen,  das  den  Frieden  des  Satzes  wiederholt 
in  Frage  stellt.  Nach  Abschluss  dieser  F  moU-Episode 
beginnen  die  Bläser  ein  beschwichtigendes  Sätzchen, 
das  in  seiner  harmonischen  Einfuhrung  und  in  seinem 
imitatorischen  Stile  sich  ausserordentlich  eindrucksvoll 
bemerklich   macht.    Der  Menuett   setzt   sehr  kräftig   ein 


p\l    r  IjjJJjjljP'       Li— i     mit     prächtiger 


Ausnutzung  der  Natur  der  untern  Yiolinsaiten.  Das  Trio, 
von  der  Clarinette  gesungen  und  geschwärmt,  ist  eine 
der  lieblichsten  Idyllen,  die  musikalisch  gedichtet  worden 
sind.    Das  Finale,  über  folgendes  Thema  gebaut: 

ist-Hajdn'sch  im  Material  und  im  Geist,  neckisch,  leicht, 
scherzend  und  tändelnd.  Auch  die  üeberraschungen 
mit  Generalpausen ,  dynamischen  Contrasten ,  plötz- 
licher Rückkehr  des  Themas  fehlen  nicht.  An  einzelnen 
Stellen  klingen  uns  specifisch  Mozart'sche  Töne  ent- 
gegen; aber  es  sind  nur  kurz  eingeworfene  Motive.  Zur 
Ausgestaltung  eines  zweiten  Themas  kommt  es  nicht; 
vielmehr  wird  der  ganze  Satz  mit  jenen  wenigen  Grund- 
takten bestritten,  welche  oben  citirt  sind.  Es  ist  nicht 
genug  zu  bewimdem,  welches  bunte  Leben  Mozart's  Kunst 
und  dramatische  Phantasie  ihnen  abgewinnt.  Es  tummelt 
sich  in  diesem  Finale  wie  auf  den  Marktbildem  der 
niederländischen  Schule:  die  komischen  Gruppen  umsteht 
und  belohnt  eine  lebendige,  froh  erregte  Menge  mit 
fortreissendem  Gelächter;  die  Komik  ist  von  der  feinsten 
Art  bis  zur  unfreiwilligen  vertreten,  und  auch  der  der- 
beren Lustigkeit   der  Yolksmasse   ist   ein   Plätzchen   mit 


ce     124     "<>» 

eingeräumt.     Siehe   im  ersten   Forte   die    plump    drollige 

FröhUchkeit    der    Bässe:     yl^  J^  \^^-      Wie    mit 

einem  plötzlichen  Windstoss  ist  der  ganze  Cameval  ver- 
schwunden. 

Im  direktesten  Gegensat«  zu  dieser  Es  dur-Sinfonie  steht 
MoHtft       die  in  G  moll  in  Bezug  auf  Inhalt.   Man  kann  nur  wünschen, 
Gmoli-Sinfoniedass   Mozart   einen    solchen    seelischen   Contrast,    wie   er 
Nr.  40  (O.-A.).  iiin  in  diesen  beiden  Werken  innerhalb  Monatsfrist  dar- 
stellte, nicht  auch  persönlich  an  seinem  eignen  Schicksal 
hat  durchleben  müssen.    Gmoll  ist  eine  Tonart,  die  bei 
Mozart  immer  etwas  Besonderes  zu  bedeuten  hat.     Wir 
denken  an  das  Klavierquartett  und  an  das  Quintett.    Aber 
hier  in  dieser  Gmoll- Sinfonie  vom  Jahre  1788  ist  er  doch 
noch  anders,  als  er  jemals  vorher  gewesen.     Eine  derglei- 
chen leidenschaftliche  Hingabe    an   eine  einseitige   Stim- 
mung und  noch   dazu  an  eine  so  düstere,   kommt  in  der 
ganzen  Kunst  überhaupt  nur  selten,  sie  kommt  bei  Mozart 
nicht  wieder  vor.    Vielen  erscheint  allerdings  heute  die- 
ses Werk  in  Bezug  auf  seinen  Ausdruck  gar  nicht  wei- 
ter   der   Rede    werth,    denn    es    ist    Jahrzehnte    lang    in 
Zwischenaktsmusiken    geschmacklos    verbraucht    worden. 
Aber  noch  im  Jahre  1802  wird  diese  Sinfonie  von  Leipzig 
aus    eine     „schauerliche*     genannt.      Diese    Bezeichnung 
kommt   der  eigentlichen   Natur    der  Gmoll- Sinfonie  viel- 
leicht doch  näher  als  die  imitirte  Begeisterung,  mit  wel- 
cher neuere  Mozart  Verehrer  uns  immer  wieder  und  immer 
wieder  nur  auf  die  Anmuth  des  Werkes  aufmerksam  machen. 
Es    ist   wohl    nicht    blos    zufallig,    dass    die   GmoU- 
Sinfonie   keine   Einleitung  hat.     Mozart  steht  hier  sofort 
mitten  in  der  Sache  drin: 

^^^  r? ir  r f r  ff  ir  M ^fir  er r  r7 1 r  r  *  • 


Das  ist  allerdings  anmuthig  in  der  Form,  aber  in  ihrem  Ver- 
hältnisse zum  Inhalt  erinnert  diese  Form  an  das  bekannte 
Wort  von  der  , guten  Miene  zum  bösen  Spiele».    Der  tiefere 


ce     125     ^ 


Zug  des  Leidens,  welcher  sich  schon  in  dem  Sexten- 
schluss  des  ersten  Abschnitts  vom  Thema  verräth,  kommt 
in   der  Nachsatzperiode   noch  deutlicher   zum  Ausdruck: 


ji>>  triff'rr  ir  r  >  crifNf  r  irf  fg)  i "  \*"  \*= 


und  in  dem  unmittelbar  zugefügten  Schlussmotiv 

1^  A      $4  J       bricht    die    innerliche    Er- 

/  ^1»  "  I  "    f    "         I  "=    regung     dämonisch     durch. 


*  f^  r  ^  ^  r  r  p  Das  zweite  Thema  bringt 
keinen  Gegensatz  zum  ersten,  sondern  es  erweitert  und 
begründet  den  erregten  und  düstem  Charakter  der  dort 
ausgesprochenen  Stinmiung  durch  Töne  der  Wehmuth  und 

Sehnsucht    ^  ^''  r>  l''f"'  f  L&  I  r  r  fr  I  ^^-     Trotzige 


Kraft  lehnt  sich  dann  auf,  sie  wechselt  aber  sofort  mit 
rührender  Klage.  In  der  Durchführung  werden  die  Ver- 
suche den  Bann  drückender  Ideen  zu  durchbrechen  mit 
grosser  Kühnheit,  aber  erfolglos  erneuert.  Nach  schnei- 
denden Dissonanzen,  nach  gewaltigen  Ausbrüchen  der 
Heftigkeit  endet  der  Kampf  mit  einem  von  den  Holzblä- 
sern gedeckten  kleinlauten  Bückzug  in  die  Reprise.  Be- 
merkenswerth  ist,  dass  in  dieser  Durchfuhrung  Alles  the- 
mathisch  ist,  ein  bei  Mozart  ganz  seltner  Fall.  Er  greift 
weder  zu  neuen  Motiven,  noch  zu  Gängen  und  Passagen, 
die  Phantasie  bleibt  an  das  erste  Thema  gefesselt.  Das 
Andante  hat  zum  Hauptthema  folgendes  Sätzchen: 


»)  Für  fes  Ues:  fis. 


•<?     126     ^ 


Sein  zögernder,  immer  wieder  ansetzender  Aofbau  kün- 
det den  suchenden  und  fragenden  Grundcharakter  des 
ganzen  Satzes  an.  Das  nächste  Gegenmotiv,  welches 
ihm  Mozart  zuschickt,  stellt  sich  kraftvoll  einsetzend  in 
den   Weg  und   verflattert    ebenfalls   bei    seinem  zweiten 

Schritt  4  >''  '    I*   fr  Tp  Srr^jl^tl  ^^  ^-  ^^^^  Zweiund- 

dreissigstel-Figur  bildet  mit  dem  Achtelmotiv  des  ersten 
Thema  im  Satze  zahlreiche  sinnvolle  Combinationen.  Ein 
kurzes  drittes  Thema  dieses  Andante,  beginnend: 

*^£ri.l     ß^>    p      ist  ausserordentlich  inniger  Natur. 


Der  Menuett 


nimmt  den  Kampf  wieder  entschieden  auf;  er  ist  mit  den 
harten  Dissonanzen  seines  zweiten  Theils  einer  der  streit- 
barsten Sätze,  die  auf  Grund  jener  alten  zierlichen  Tanz- 
form jemals  gebildet  wurden.    Das  Trio  klingt  süss  und 

in  kindlicher  Unschuld  dazwischen.    J^yi  j  I  j    ^  P  I  j  = 

Seine  zweite  Clausel  enthält  eine  der  gefürchtetsten 
Homstellen. 

Im  Finale  herrscht  eine  einigermassen  unheimliche 
Lustigkeit.  In  Unruhe  und  Aufregung  stürmt  es  dahin  mit 
seinem  Hauptthema: 


ir  tf\f  tr-ffm 


unvorbereitete  Septimen  und  anderlei  bösartige  Elemente 
ergreifend.  Mit  verzweifelten  Humor  jagen  die  Stimmen 
in  der  Durchführung  emsig  contrapunktirend  das  ver- 
wegene Thema  durch  die  Tonarten  —  das  zweite  Thema 


e<?        127        ^ 

bietet  kaum  einen  Rahepankt  in  der  Hast  des  Satzes. 
Seiner  Natur  getreu  gebt  er  ungestüm  und  ungeklärt  zu  Ende. 

Mozart*s  letzte  Sinfonie,  die  Cdur-Sinfonie  Nr.  41       Momt 
fUbrt  den  Beinamen    der  »Jupitersinfonie*.     Sie    darf  in  Cdnr-atnfonie 
mancber   Beziebung    für   Mozart's    grösste    Leistung    im  ^'-  *^  (Ö--A..). 
Sinfonienfacbe  gelten  und  bildet  eins  der  scbönsten  Denk- 
mäler seines  freien,  starken  und  reicben  Geistes.    Keine 
andere  der  Sinfonien  Mozart*s  hat  diesen  breiten  Wurf  der 
Tbemen,  keine  andere  verbindet  mit  dem  gleichen  Beich- 
tbum  wahrhaft  goldener  Ideen  die  Einheit  im  Charakter 
und  die  Harmonie  der  Darstellung.    Es  lebt  etwas  Antikes 
in  ihr:  eine  erhabene  Heiterkeit  und  ein  Schönheitsgefiihl, 
das  auch  ihre  vollsten  Lustausbrüche  adelt.     Ihr  erster 
Satz  klingt   mit    seinem   Eingangsthema  wieder   an   den 
festlichen  Ouvertürenton  der  früheren  Sinfonien  Mozart^s 
an ;  aber  schon  nach  dem  ersten  Komma  wird  der  Charakter 
innerlich 

und  so  bildet  nicht  blos  dieses  Thema  —  es  hat  bis  zu 
seinem  vollständigen  Abschluss  die  beträchtliche  Länge 
von  23  Takten  —  sondern  der  ganze  Allegrosatz  eine 
meisterhafte  und  erquickende  Verbindung  von  äusserer 
glänzender  Schilderei  und  edlem  Seelenausdruck.  Es  ist 
im  Allgemeinen  nicht  so  schwer  Programme  zu  den 
Meisterwerken  unserer  classischen  Instrumentalmusik  zu 
schreiben;  bei  der  Jupitersinfonie  kann  man  der  Ver- 
lockung kaum  widerstehen.  Man  sieht  die  Einzelnen  in 
ihren  stillen  Gedanken  dahingehen,  die  Massen  in  lauter 
Freude  außschäumen;  es  wechseln  Bilder  und  Scenen  in 
ruhiger  Steigerung  und  Folgerichtigkeit,  aber  auch  mit 
erschreckenden  Zwischenfallen.  Merkwürdig  wie  trotz  des 
festlichen   Grundtons    die    Motive   des   intimen   Gemüths- 


lebens        y  '     I    I  '    i  -  1*  '  ^  "^P  T  j.'  1 1 1   'U^^    und    der 
naiven  volksthümlichen  Fröhlichkeit: 


'U? 


128 


©j 


den  Gesammt- 


ausdruck  des  Satzes  bestimmen! 

Im  Andante  stellt  Mozart  drei  Führer  auf.    Sein  erstes 
Thema  lautet: 


Ihm  tritt  in  gewohnter  Weise  ein  zweiter  Satz  entgegen 
von  drohender,  gegensätzlicher  Haltung.  Er  ist  diesmal 
nur  kurz  skizzirt  und  geht  in  einen  erhaben  friedevollen 
Gesang  über  * 

ffi'  jj  iii  I  j,iii  ii^^'irl  li  lyrrrrrf 


rte. 


dessen  bewegliches  Nachspiel  (siehe  *)  im  weiteren  Ver* 
lauf  Anlass  zu  Combinationen  und  Wendungen  giebt,  die 
in  ihrer  genialen  Mischung  von  Tiefsinn  und  leichtem 
Spiel  ganz  einzig  sind.  Der  Menuett  dieser  Sinfonie  ruht 
auf  sinnig  beschaulichem  Boden 


^.    Sein  Trio  hat  in  der 


Acht^lmelodie  und  in  der  Instrumentirung  Haydn'sche 
Elemente.  Der  berühmteste  Satz  der  Sinfonie  ist  das 
Finale.  Man  nennt  das  ganze  Werk  zuweilen  mit  Bezug 
auf  diesen  letzten  Satz  die  C  dur-Sinfonie  mit  der  Schluss- 
fuge  und  noch  neulich  hat  ein  Musikschriftsteller,  der  sich 
in  Speculationen  gefallt,  nachzuweisen  gesucht,  wie  sich 
in  diesem  Finale  Faust  und  Helena  vermählen,  wie  hier 
die  vermeintlich  ganz  conträren  Stilarten  der  Fuge  und 
Sonate  ihre  erstmalige  Verbindung  eingehen.  Von  alle- 
dem ist  wenig  wahr.  Um  diese  Sinfonie  von  andern  C  dur- 
Sinfonien  Mozart's  zu  unterscheiden,  mag  man  sie  die 
Sinfonie   mit    der   Schlussfuge    nennen.     In  Wirklichkeit 


e<?        129        '^ 

aber  spielt  die  Fagenfonn  darin  eine  untergeordnete  Rolle. 
Das  Hanptthema  des  Satzes,  dem  wir  schon  früher  be- 
gegneten, wird  nach  dem  ersten  Halb- 
schluss,  den  der  Satz  macht,  in  einer 
einfachen  Fuge  durchgeführt,  die 
nach  21  Takten  zu  Ende  ist.  Nach  der  Reprise  des  Satzes 
schliettt  Moeart  nicht  einfach,  sondern  setzt  noch  eine 
Coda  an,  die  ebenfalls  wieder  mit  einer  Fuge  beginnt  imdzwar 
mit  einer  sogenannten  Tripelfoge,  bei  welcher  zu  dem  schon 
angegebenen  Hauptthema  noch  folgende  2  Sujets  hinzutreten 

ifi  iiii  ^imi;i,ijii|i  h  I  iiiu*^i<.i  ri- 

Nach  34  Takten  ist  auch  diese  Fuge  wieder  zu  Ende. 
Das  an  letzter  Stelle  angeführte  Motiv  fungirt  im  Satze 
Y(m  Yom  herein  als  sogenanntes  zweites  Thema.  Dass  es 
wie  auch  die  übrigen  Motive  und  Themen  in  diesem 
Finale  mit  Rücksicht  auf  contrapunktische  Brauchbarkeit 
erfunden  ist  und  dass  der  Ausdrucksgehalt  dieser  Rück- 
sicht nachgesetzt  worden  ist,  braucht  nicht  erst  nach- 
gewiesen zu  werden.  Der  Schlusssatz  der  Jupitersinfonie 
ist  und  bleibt  ein  Meisterstück  der  contrapunktischen  Kunst, 
die  sich  namentlich  in  Engfilhrungen  und  canonischen  Nach- 
ahmungen im  vollen  Glänze  zeigt  aber,  wie  sich  im  folgen- 
den Capitel  zeigen  wird,  ist  er  darin  in  der  Periode  der 
Classiker  kein  Unicum.  Jedoch  in  der  Hauptsache  erhebt 
er  sich  über  alle  verwandten  Arbeiten  in  der  gleichzeitigen 
Sinfonik:  nämlich  unser  Finale  ist  auch  im  Charakter,  im 
Ausdruck  eines  kraftbewegten  festlichen  Lebens  ein  Meister- 
sttlek,  würdig  eines  Jupiter,  eines  Olympiers  der  Kunst. 


Mozart  und  Haydn  waren  persönlich  befreundet,  liebten 
einander  als  Künstler ;  aber  wie  das  bei  starken  Individuali- 
täten natürlich  ist,  keiner  wirkte  auf  den  andern  künstlerisch 
wesentlich  ein.  Haydn  bringt  zuweilen  einige  cantabile 
Wendungen,  Mozart  eignet  sich  bei  guter  Laune  humoristische 
Effecte  Haydn's  an  aber  im  Wichtigsten,  in  dem  neuen 
Princip  der    motivischen  Gedankenentwickelung  folgt  er 

Kretzfohmar,  Führer,  I.  9 


ce     130     ©» 

ihm  nur  ausnahmsweise.  Wie  Jahrzehnte  lang  italienische 
und  französische  Sinfonien  neben  einander  hergegangen 
waren,  so  liess  sich  die  weitere  Geschichte  der  Sinfonie 
bereits  auf  eine  neue  und  feindselige  Theilung  in  eine 
Haydn'sche  und  eine  Mozart^sche  Schule  an.  Da  ereignete 
sich  eine  jener  glücklichen  Fügungen,  wie  sie  die  Kunst- 
geschichte in  ihren  grössten  Zeiten  mehrfach  zeigt  Es 
kam  ein  Dritter,  der  die  Lebensthaten  seiner  beiden  grossen 
L.T*Bettho?eByormännerzusammenfasste.  Ludwig  vonBeethoven  er- 
Odor-Sinfonie  gchien  und  gab  mit  neun  Sinfonien  einem  vollen  Jahrhundert 
^'*  ^'  zu  thun !  Und  noch  inmier  nicht  können  wir  sagen,  dass  das 
richtige  Yerhältniss  zu  diesen  Ausnahmswerken  gefanden  sei. 
An  die  Sinfoniecomposition,  den  Haupttheil  seiner 
Unsterblichkeit,  trat  Beethoven  yerhältnissmässig  spät  und 
bescheiden  heran.  Seiner  ersten  Sinfonie  gehen  in  den 
Klaviersonaten  des  op.  2,  in  der  Trauercantate  auf  Joseph  II. 
viel  bedeutendere  und  ältere  Werke  voraus.  Jedoch  leicht 
hat  er  das  neue  Gebiet  nicht  genommen.  Wir  können  bei 
ihm  nicht  nur  die  fertigen  Compositionen ,  sondern  auch 
die  Entwürfe  und  Vorarbeiten  dazu  studiren.  üeberall 
und  jederzeit  begleiteten  ihn  schmale  blaue  Notenhefte,  in 
die  er  alle  Einfalle  und  Versuche  eintrug.  Sie  sind  uns 
als  die  sogenannten  ,  Skizzenbücher  *  Beethoven'szum  grössten 
Theil  erhalten  geblieben  —  die  Kgl.  Bibliothek  in  Berlin  be- 
sitzt die  meisten  —  und  Gustav  Nottebohm  hat  eine  Aus- 
wahl ihres  Inhalts  in  den  Druck  gebracht.  *)  Nach  diesen 
Documenten  hat  Beethoven  an  seiner  ersten  Sinfonie  schon 
i.  J.  1791  angefangen,  aber  erst  im  April  1800  kam  sie  als 
Op.  26  zur  Aufführung.*)  Man  sieht  mit  der  heutigen 
Beethovenbrille  dem  Werke  die  zehn  Jahre  Arbeit  nicht 


^)  G.  Nottebobm:  1)  Ein  Skizzenbach  von  Beethoven  (1862). 
2)  Ein  Skizzenbach  B.*b  vom  Jahre  1803  (1880).  3)  Beet- 
hoveniana  (1872).  4)  Zweite  Beethoveniana  (1887).  Alle  Leipzig: 
Rieter- Biedermann . 

^  Die  genaaesten  Angaben  Über  Vollendung  and  erste  Aaf- 
f&hnmgen,  Stimmen-  und  Partitarverlag  der  Beethoven'schen  Sin- 
fonien bietet:  Georg  Grove:  Beethoven  and  bis  Kine  Symphonies. 
London  1896. 


•G»      131      ^ 

an,  man  that  ihm  aber  Unrecht,  wenn  man  es  schlecht- 
hin, wie  das  zuweilen  geschieht,  für  eine  Copie  im 
Mozart*schen  Stil  und  im  Allgemeinen  für  unbedeutend 
erklärt.  Kraft  und  Lust,  Fröhlichkeit,  leichter  Scherz, 
sprühende  Heiterkeit,  ja  auch  ein  wenig  Schwärmerei,  an- 
muthiges  Träumen  —  aber  nur  Empfindungen  freundlicher 
Natur  bilden  den  Ideenkreis,  den  Beethoven  in  seiner  ersten 
Sinfonie  durchschreitet.  Es  sind  die  Stinmiungen,  an 
welche  sich  die  Orchestermusik  des  Südens  in  ihren 
Durchschnittsleistungen  bis  auf  Beethoven  hin  fast  aus- 
schliesslich hielt.  Nichts  von  dem  tiefen  Ernst  des 
nordischen  Bach,  nicht  eine  Spur  von  dem  Pathos,  welches 
manche  der  Hajdn'schen  Adagios  kennzeichnet,  nichts  von 
der  Mozart*8chen  Melancholie  —  nichts  vor  Allem  von 
dem  Beethoven,  welcher  die  Eroica  schrieb,  die  5.,  die 
9.  Sinfonie,  die  spätem  Quartette,  die  grossen  Klavier- 
sonaten, eben  jener  Beethoven,  den  wir  meinen,  wenn  wir 
seinen  Namen  nennen !  Und  doch  ist  er  schon  in  der  ersten 
Sinfonie  als  ein  Eigner  zu  erkennen,  in  erster  Linie  im 
Ausdruck  einzelner  Stellen,  im  kühnen  Vortrag  und 
Wechsel  der  Gedanken.  Diese  Eigenschaft  war  es,  die 
C.  M.  V.  Weber  im  Auge  haben  mochte,  als  er  die  erste 
Sinfonie  Beethoven*s  eine  «feurig-strömende"  nannte. 

Im  ersten  Satze  der  C  dur-Sinfonie  (Op.  21)  schliesst 
sich  Beethoven  in  der  Erfindung  der  Themen  an  Mozart 
an.    Das  Hauptthema: 

mit  welchem,  nach  einem  sehr  eigenwillig  auf  dem  Sep- 
timenaccord  einsetzenden  Adagio  von  kurzem  Umfang,  das 
Allegro  beginnt,  hat  nicht  blos  den  allgemeinen,  spannen- 
den Charakter,  welchen  Mozart  für  seine  Ouvertüren- 
sinfonien  gern  einhält,  es  ist  geradezu  eine  Variante  zum 
Hauptthema  des  ersten  Satzes  der  Jupitersinfonie.  Es 
wird  in  zweimaliger  Sequenz  weiter  getragen :  ein  kräftiges 
Forte  krönt  den  breiten  Aufbau,  ganz  so  wie  wir  das  bei 
Mozart  oft  gesehen  haben.    Auch  das  zweite  Thema 

9* 


*&     132     ^ 


I  I  =   ist  gan«  MoEart^sch.    Der  jubelnde 

Nachgesang  ^  IfcFrf  1  TiLH^^.  welcher  ihm  folgt,  kommt 

wörtlich  so  in  der  Jupitersinfonie  und  in  andern  Sinfonien 
des  Salzburger  Meisters  vor.  Gleich  danach  tritt  aber 
Beethoven  selbst  in  das  Orchester.  Es  ist  an  der  Stelle, 
wo  die  brausende  Gdur-Cadenz  so  ganz  plötzlich  von 
einem  pp.  abgelöst  wird,  wo  die  Bässe  still  über  das 
erste  Motiv  des  zweiten  Themas  sinnen  und  die  andern 
Instrumente  in  dunklen  und  unruhigen  Harmonien  fest- 
liegen. Die  Oboe  findet  den  Ausgang  aus  der  unheim- 
lichen Verzauberung.  Das  ist  zum  ersten  Male  das 
dämonische  Element  Beethoven*s  in  der  Sinfonie  I  In 
der  Durchführung  dieser  Gedanken  folgt  Beethoven  der 
Hajdn'schen  Methode  der  motivischen  Arbeit.  Er  geht 
aber  schon  hier  im  Herausgreifen  und  Bevorzugen  der 
kleinen  und  unscheinbaren  Motive  und  in  den  kühnen 
modulatorischen  Umbildungen,  denen  er  sie  unterzieht, 
über  seinen  Meister  hinaus.  Es  sind  besonders  das  Motiv 
aus  dem  vierten  Takt  des  ersten  und  aus  dem  fünften 
Takt  des  zweiten  Themas. 

Das  Andante  hat  zum  Hauptthema  eine  Melodie: 


deren  Metnun  ungewöhnlich  ist :  7  Takte.  Sie  wird  fugen- 
massig  kurz  durchgeführt,  dann  bewegt  sich  der  Satz  in 
Haydn'scher  Weise  weiter:  auch  die  concertirenden  Triolen- 
stellen  fehlen  nicht  und  nicht  die  leise  Begleitung  der 
Pauken.^)  Den  Charakter  behaglich  anmuthiger  Schwärmerei, 


^)  Siehe  S.  89  dieses  Bachs. 


ee        133        ^ 

welchen  der  Satz  trägt ,  unterbricht  nur  der  Anfang  der 
Durchführung.  Aber  hier  ist  er  auch  schon  der  ganze, 
der  einzige,  der  erschreckend  grosse  Beethoven,  den  man 
aus  Tausenden  heraus  erkennt.  Mit  den  blossen  zwei 
ersten  Noten  des  Hauptthemas  schwingt  er  sich  da 
in  Hohen,  taucht  in  Tiefen,  die  Niemand  erwartet  hat 
Alles  geht  blitzschnell,  aphoristisch  andeutend  vor  sich. 
Es  sind  mehr  Ahnungen  als  Bilder,  Blicke  mit  dem  Schein- 
werfer in  weite  Femen  gethan.  Aber  wer  die  Stelle  über- 
haupt versteht,  wird  sie  zu  den  ungeheuersten  Eingebungen 
vonBeethoven*s  wunderbarem  und  furchtbaren  Genie  rechnen. 
Den  dritten  Satz  benennt  hier  Beethoven  noch  Me- 
nuetto.    Die  Melodie: 


AUeg^  motte  «  viTaee 


hat  in  ihrem  Rhythmus  einen  Rest  von  Tanzcharakter, 
in  ihrem  rastlosen,  stürmischen,  feurigen  Wesen  geht  sie 
aber  über  die  Natur  der  alten  und  auch  der  Hajdn'schen 
Menuetts  weit  hinaus.  In  ihrem  zweiten  Satze  steht  in 
der  Kette  trotziger  Sforzati,  in  dem  plötzlichen  Piano  mit 
seinen  modulatorischen  Irrlichtem,  in  den  eigensinnig 
humoristischen  Bildungen  um  die  drei  Noten  J  |  J  J  der 
spätere  Scherzomeister  in  voller  Originalität  vor  uns.  Das 
Trio  ist  einer  jener  Sätze,  in  denen  der  Componist  eine 
grosse  Wirkung  durch  elementare  Einfachheit  erreicht. 
Auf  melodische  Gedanken  und  Themata  ist  hier  so  gut 
wie  verzichtet;  der  feierliche  Klang  der  ruhigen  Bläser- 
harmonien genügt.  Als  Spohr  bei  dem  ersten  deutschen 
Musikfest  zu  Frankenhausen  die  erste  Sinfonie  Beethoven's 
in  den  grossen  Räumen  der  Kirche  auHuhrte,  machte 
nichts  solchen  Eindmck,  als  dieses  Trio.  ^)  Das  Finale  ist 
ein  Rondo   im  Haydn^schen  Stil,  leichtMn  scherzend  und 


^)  (Leipziger)  Allgemeine  Musikalische  Zeitang,  Jahrgang  12, 
8.  745  Q.  ff.:  „Nachricht  von  einem  in  Thüringen  seltnen  Mnsik- 
feste"  (verfasst  vom  Lezicog^aphen  Gerber). 


CO     184     z^ 

tändelnd,  aossergewöhnlich  kurz.  Das  Witzigste  daran 
sind  die  Stellen,  wo  das  erste  Thema 

AllegTo  molto  «  TiTao«. 

üUin 

repetirt.  Beethoven  ISsst  ihnen  Momente  pathetischer 
Spannung  vorausgehen.  Unter  den  vier  Sätzen  der  Sin- 
fonie ist  dieses  Finale  der  am  wenigsten  eigenthümliche 
und  ohne  Zweifel  hat  Beethoven  in  den  Klaviersonaten, 
welche  in  der  Opuszahl  und  der  Entstehungszeit  unserer 
Cdur-Sinfonie  vorausgehen  —  ganz  andere  Endsätze  hin- 
gestellt. Aber  harmlos  hingenommen,  wie  es  gemeint  ist, 
kann  auch  dieses  Finale  nur  erfreuen  und  erheitern;  es 
gehört  die  ganze  graue,  in  Programmmusiktendenzen  blind 
gewordene  Rigorosität  eines  Berlioz  dazu,  um  ein  so  lebens- 
frohes und  vergnügtes  Kunstwerkchen  einfach  als  «kin- 
dische Musik*  abzuthun.  ^) 

Wir  können  es  nur  dem  Himmel  danken,  dass  Beet- 
hoven nicht  mit  der  neunten  Sinfonie,  mit  der  grossen  Messe 
L.?.Be«thoTeBin  Ddur  debütirte,  sondern  mit  Werken  die,  wie  das  erste 
Ddnr-Sinfonie  Klavierconcert,  wie  die  Cdur-Messe  und  wie  diese  Cdur- 
(Nr.  2).  Sinfonie,  an  die  bisherige  Schule  anknüpften.  Das  Publi- 
kum seiner  Zeit  war  entschieden  dem  heutigen  an  naiver 
Empfänglichkeit  überlegen;  aber  bei  der  D dur-Sinfonie 
stutzte  es  doch  schon.  Die  Referenten  der  Allgemeinen 
Musikalischen  Zeitung  hielten  sich  nach  der  ersten  Leip- 
ziger Auffuhrung  dieses  Werkes  (im  Jahre  1803)  an  die 
nicht  ganz  gelungene  Wiedergabe,  die  Berliner  sprechen 
nur  (im  Jahre  1804)  von  ,den  dreiviertel  Stunden  lang 
ausgeführten  Schwierigkeiten"*,  so  dass  sich  Rochlitz,  der 
erste  Kritiker  seiner  Zeit  und  einer  der  ersten  Verehrer 
und  Pioniere  Beethoven'scher  Kunst,  veranlasst  sah,  bei 
der  nächsten  Gelegenheit  selbst  das  Wort  zu  ergreifen 
und  zu  versichern,   dass  diese  zweite  Sinfonie  ,das  Werk 

^)  EL  Berlioz:  A  travers  chauts  I  (Uebersetstmg  von 
R.  Pohl):  Kritische  Studie  über  die  Symphonien  von  Beet- 
hoven. 


^     135     '^ 


eines  Feuergeistes  bleiben  werde,  wenn  tausend  jetzt  ge- 
feierte Modesachen  Ifingst  zu  Grabe  getragen  sind*.  Aber 
von  der  ersten  Sinfonie  liest  man  nur,  dass  sie  ein  Lieb- 
lingsstUck  des  C!oncertpublikums  sei. 

Die  zweite  Sinfonie  Beethoven's  (Ddur  op.  36,  zu- 
erst aufgeführt  L  J.  1803)  geht  einen  bei  weitem  beträcht- 
licheren Schritt  über  den  Stil  und  die  Sphäre  der  Hajdn- 
Mozart^schen  Sinfonie  hinaus.  Der  erste  Satz  zeigt  dies 
namentlich  an  der  Einleitung  und  der  Coda,  die  beide 
in  Umfang  und  Inhalt  alles  bisher  an  dieser  Stelle  Ge- 
wohnte überragen.  Nur  die  siebente  Sinfonie  Beethoven's 
hat  einen  noch  bedeutenderen  Einleitungssatz.  Der  der 
zweiten  ist  ausgezeichnet  durch  den  herrlichen  Gesang, 
mit  dem  er  beginnt.  Wie  ein  Bild  aus  der  Stemenwelt 
wirkt  diese  ebenso  erhabene  als  innige  Melodie.  Darauf 
wird  es  wolkig  und  sehr  ernst:  es  kommt  zu  einem 
drohenden  Unisono  von  unheimlicher  Gewalt,  das  uns 
später  fast  wörtlich  in  der  neunten  Sinfonie  wieder  begegnet : 

Muntere  Triolen  vertreiben  das  Unwetter 
;.  und    hellen   den   Horizont   auf  für  das 


ff     freundlich    schwungvolle    Allegro.      In 


ihm  ist  das  Verhältniss  der  beiden  Themen  merkwürdig: 
das  zweite  erscheint  als  die  Hauptgestalt  des  Satzes.  Das 
erste  Thema  hat  einen  gemüthlich  humorvollen  Ton,  er 
erklingt  aber  vorerst  nur  leise,  heimlich  und  erwartungsvoll 

y^  H  I».    rrfj\r    [j£J''^^''r'fE '  •***  zweite  aber  er- 
hebt  sich  triumphirend : 

BllMI 


^  ii  H  j  j..  J^i  [■b=a'+r  r  r  r  if^  H^  r"tM 


In  der  Durchführung  und 
der  Verbindung  der  Satz- 
gruppen  ist  die  Doppelschlagfigur  aus  dem  ersten  Thema 
von  grosser  Bedeutung.    Neben  ihr  sind  aber  in  Mozart- 


*c     136     «* 


•eher   Weise    der   Ideenentwickelung    much   Moüre    mus 
Tkemen    ku   Ghrnnde    gelegt,    welche   nur    eine   Neben- 


stellung haben,  z.  B.: 


,  und 


Das  erste  dieser  beiden  das  erregte,  drohende  Dmoll- 
Motiv  verknüpft  Einleitung  und  Hauptsatz  in  ähnlicher 
Weise,  wie  das  in  der  HaydnVhen  Esdur-Sinfbnie  Nr.  1 
der  Fall  ist.  Es  ist  der  erste  Versuch  Beethoven's  in  seinen 
Sinfonien  das  Sonatenschema  weiter  zu  bilden,  seine  Form 
dem  Charakter  und  Inhalt  der  Ideen  des  Satzes  anzupassen. 
Die  Neigung  Beethoven's,  die  Zahl  der  Themen  zu 
vermehren,  sogenannte  Nebenmotive  in  wichtiger  Weise 
zu  verwenden  und  mit  den  hergebrachten  Formen  freier 
zu  schalten,  tritt  mehr  noch,  als  im  ersten  Satze  der 
D  dur- Sinfonie ,  in  ihrem  Larghetto  hervor.  Die  Stellen 
des  grössten  Ausdrucks  sind  hier  geradezu  diejenigen,  an 
welchen  die  Darstellung  an  winzigen  Motiven  haftet,  wie: 


Das  Hauptthema  des  Satzes: 


fll  I  rlflliLj^ 


tr«»«. 


ein  von  Sehnsucht  und  Wehmuth  leise  berührter  Hinweis 
auf  Glück  und  Frieden,  wirkt  doppelt  poetisch  durch  die 
Elemente,  die  es  begleiten  und  bestreiten.  Es  dauert  ziem- 
lich lange  und  der  Weg  geht  nicht  in  einfach  gerader 
Linie,  ehe  der  kindlich  trauliche  und  einfache  Spielplatz  von 

ifjj1Tri[^rnTiriiirmiii»rfi.r'Llr. 

erreicht  wird.  Diese  schalkhafte  Weise,  die  den  Himmels- 
tönen des  Hauptthemas  die  behaglichen  Klänge  irdischen 
Glücks  gegenüberstellt,  aus  den  weiten  Weltenräumen  die 
Phantasie    heimfuhrt    in    den    Abendfrieden    von    Haus, 


e<?        137        ^ 


Familie    und    Freunden,    bildet    nur    den    Anhang    des 
zweiten  Themas: 


verdunkelt  es  aber. 

Der  dritte  Satz  ist  als  Scherzo  bezeichnet.  Mit  diesem 
Namen  war  der  Begriff  einer  bestimmten  Form  bis  sn 
Beethoren  nicht  verbimden.  In  der  grossen  Revolutions- 
zeit der  Musik,  im  17.  Jahrhundert,  taucht  auch  er  zum 
ersten  Male  auf  und  zwar  für  kleine,  in  der  Form  freie 
und  im  Inhalt  etwas  ausgelassene  und  Ubermüthige  Liebes- 
gesänge (fUr  eine  Stimme  oder  mehrere,  meistens  mit  Be- 
gleitung). Von  da  wurde  er  auf  das  Instrumentalgebiet 
übertragen,  aber  nicht  häufig  angewendet.  Beethoven 
griff  ihn  zunächst  für  seine  Klaviersonaten  auf  und  machte 
ihn  classisch.  Das  Scherzo  der  D  dur-Sinfonie  ist  eins  der 
drastischsten.    Wie  die  Motive  des  Hauptthemas 


gleichsam  flüchtig  und  verirrt  im  Orchester  hin  und  her- 
flattem,  jeder  Takt  eine  andere  Instrumentirung!  Wie  toll 
es  der  lustige  Kobold,  der  sie  jagt  und  schreckt,  treibt, 
wie  übermüthig  er  mit  der  musikalischen  Grammatik  spielt : 
Immer  das  ff  auf  dem  von  Natur  unbetonten  Takte !  Diese 
Art  Humor  ist  noch  in  keiner  Sinfonie  zum  Vorschein  ge- 
kommen. Das  ist  der  grandios  barocke  Beethoven!  Und 
bald  darauf  wieder  etwas  Neues:  Unerhört  ausgelassen 
brüllen  sämmtliche  Instrumente  14  Takte  lang  nur  den 
einen  Ton,  fis,  am  Anfang  des  zweiten  Theils  vom  Trio. 
Das  iBt  der  naturalistische  Beethoven,  derselbe  Beethoven, 
der  vor  den  Häusern  vermeintlicher  und  wirklicher  Wider- 
sacher die  wildesten  Injurien  in  die  stille  Nacht  hinaus- 
tobte! Das  Thema  des  Trios  selbst  steht  der  Berserker- 
scene  wie  ein  bittendes,  zartes  Weib  gegenüber.  Seine 
Töne  bilden  dieselbe  Folge  wie  im  Trio  der  9.  Sinfonie, 
nur  die  Rhythmik  ist  anders: 


oe     188     ^ 


irT^'i^ii  rir"TriiT|  n  i 


Das  Finale  erscheint  im  Anfang  mit  seinem  komisch 
polternden  und  bärbeissigen  Eingangsmotiv  zum  Haupt- 
thema: 


GÜir^^rrif7f  I  lL^j  1 1.  m  ipi 


•te. 


wie   eine  Fortsetzung  des  Scherzo.     Es  hat  Haydn^sches 
Blut  in  den  Adern.    Das  zweite  Thema: 


■X3C. 


1 


ere4C. 


ereae.  < 


aber  lenkt  in  die  Bahnen  jener  Cantabilität  ein^  welche 
Mozart  in  das  AUegro  einführte.  Mit  welcher  Entschieden- 
heit Beethoven  diesen  neuen  Weg  weiter  schritt  und  wie 
sehr  er  den  frisch  eröflFheten  Ideenkreis  zu  erweitem  be- 
rufen war,  ist  an  diesem  Thema  schon  fühlbar.  Noch 
mehr  setzt  die  Durchfuhrung  in  Erstaunen,  die  die  heitren 
oder  innigen  Gedanken  dieser  Themen  ins  Majestätische 
und  Gewaltige  wendet.  Wenn  schon  das  ganze  Finale 
sich  mit  dem  der  8.  Sinfonie  mehrfach  berührt,  so  thut 
dies  namentlich  der  Schluss.  Auch  da  wirds  vor  dem 
jubelnden  Ende  noch  einmal  abendlich  still  und  gesammelt. 
L.T.BeetlioTeB  Die  dritte  Sinfonie  Beethoven's  (Esdur,  Eroica) 
Eodiir-Sinfonie  wurde  im  Jahre  1804  vollendet  und  im  nächsten  Januar 
(Nr.  3.  Eroic»).  2Ußrgt  in  dem  Würth'schen  Concert  in  Wien  aufge- 
führt. Nach  dem  Bericht,  welchen  die  Allgemeine  Musika- 
lische Zeitung  darüber  brachte,  nicht  mit  unbezweifeltem 
Erfolge.     „Frappante  und  schöne  Stellen*  heisst's  von  ihr, 


te     139     f>» 

«energischer,  talentvoller  Geist*  von  ihrem  Schöpfer. 
Aher  diese  Zugeständnisse  werden  so  gut  wie  aufgehoben 
durch  £pitheta  wie  «äusserst  lange  und  schwierige  Com- 
Position*,  «wilde  Phantasie,  die  sich  ins  Regellose  verliert* 
und  mehr  noch  durch  das  demonstrative  Lob  einer  an- 
deren Es dur- Sinfonie,  die  in  demselben  Concert  vorkam. 
Diese  andere  war  von  Anton  Eberl,  den  heute,  vielleicht 
mit  Unrecht,  Niemand  mehr  kennt.  Die  Schwierigkeit 
der  Eroica  lag  für  die  Ausführenden  so  gut  vor  wie  für 
die  Zuhörer.  Auf  letztem  Umstand  Gewicht  legend  ver- 
langte Beethoven  (in  einer  Bemerkung  die  auf  den  Stimmen 
der  ersten  Auflage  steht)  dass  die  Sinfonie  möglichst  an 
den  Anfang  des  Concerts  gestellt  werde.  Sie  wurde  bei 
der  ersten  Probe  in  Wien,  der  Prinz  Louis  Ferdinand  von 
Preussen  beiwohnte,  umgeworfen;  in  Leipzig  und  wo  sie 
sonst  in  die  Hände  eines  gewissenhaften  Dirigenten  kam, 
veranlasste  sie  Extraproben.  Habeneck  in  Paris  Hess  sie 
sich  sogar  ein  grosses  Frühstück  kosten.  Noch  heute  ist 
sie  eine  der  schwierigsten  Vorlagen,  wenn  ein  intelligentes 
Orchester  seine  Meisterschaft  zeigen  soll;  namentlich  im 
ersten  Satze,  dem  die  mechanische  Präcision  allein  nicht 
beizukommen  vermag.  Bei  der  ersten  Auffuhrung  des 
Werks  im  Leipziger  Gewandhause  war  die  Direction  so 
vorsichtig  und  verständig,  ihre  Abonnenten  durch  gedruckte 
Charakteristiken  der  einzelnen  Sätze  vorzubereiten.  Im 
Ganzen  aber  kann  man  sich  nur  wundem,  dass  die  Musik- 
welt jener  Tage  sich  nicht  mehr  und  länger  über  die  Eroica 
wunderte,  sondern  sie  ziemlich  bald  und  allgemein  unter 
die  immer  und  regelmässig  wiederkehrenden  Repertoir- 
werke  aufnahm.  Denn  dieses  Werk  war  den  Zeitgenossen 
über  Nacht  gekommen :  in  seiner  exotischen  Pracht  musste 
es  zunächst  ebenso  befremden  als  entzücken.  Von  den 
vorausgehenden  Werken  zur  Eroica  fehlt  die  hinreichende 
Brücke.  Soviel  die  ersteren,  in  erster  Linie  die  Klavier- 
sonaten, bieten  und  versprechen:  dem  Ideenreichthum 
dieser  Sinfonie  gegenüber,  dem  VoUgehalt,  der  Kraft  und 
Gediegenheit,  der  ebenso  kühnen,  ja  übermässigen,  als 
festgefugten  Anlage  dieses  Werkes  gegenüber  erscheinen 


=<?     140     ^ 

sie  nur  als  kleine  Vettern  aus  einer  entfernten  Seitenlinie. 
Es  ist  ein  unbegreiflicher  Rest  um  die  Stellang  dieses 
Werkes  in  der  Greschichte  ihres  Schöpfers.  Denn  Beet- 
hoven hat  diesen  monumentalen  Eingangsbau  zu  einer 
neuen  Orchesterkunst  auch  nicht  überboten.  Er  setzte 
ihm  Werke  zur  Seite,  welche  die  einen  intimer,  die  anderen 
populärer  sein  mögen,  aber  nur  wenige,  in  denen  jedes 
Glied  so  wie  in  dieser  Eroica  in  Geist,  Charakter  und 
Poesie  getaucht  ist,  wo  die  Kunst  so  sehr  wie  hier  auf 
Figuren,  auf  Passagen,  auf  Putz  und  Ornament,  auf  allen 
jenen  ELitt  und  Mörtel  Tcrzichtet  hat,  dessen  sich  die 
Musik  zur  Verbindung  ihrer  Hauptglieder  gebräuchlicher- 
und  erlaubtermassen  bedient.  Die  Eroica  bleibt  für  die 
Macht  Ton  BeethoTen*s  Schöpfergeist  das  stärkste  Zeugmss, 
und  er  selbst  erklärte  sie  bis  zur  Zeit,  wo  ,die  Neunte* 
erschien,  für  seine  beste  Sinfonie. 

Man  weiss,  dass  Beethoven  seine  Eroica  , Bonaparte* 
überschrieben  hatte.  Als  aber  der  Consul  sich  zum 
Kaiser  gemacht  hatte,  riss  der  republikanische  Tonsetzer 
den  Umschlag  weg  und  widmete  das  Werk  nur  im  All- 
gemeinen dem  «Andenken  eines  Helden*.  Mit  diesem  Titel 
ist  weniger  ein  eingehendes  Programm  gegeben,  als  viel- 
mehr nur  eine  allgemeine  Directive.  Man  hat  bekannt- 
lich den  Mittelsätzen  bestimmte  Bilder  aus  dem  Krieger- 
leben unterzulegen  versucht;  dem  Trauermarsch  eine 
feierliche  Bestattungsscene  der  Gefallenen,  dem  Scherzo 
das  geschäftige  Treiben  des  Lagers  und  der  Beiwacht. 
Das  mag  gestattet  sein  und  jedenfalls  nichts  schaden.  In 
den  anderen  Sätzen  ist  aber  dieser  Versuch  nicht  durch- 
führbar ;  namentlich  dem  ersten  gegenüber  erscheint  er  un- 
bedingt kleinlich!  Das  ist  nicht  das  Bild  einer  Schlacht, 
wie  Ausleger  behauptet  haben,  sondern  das  einer  Helden- 
natur, deren  Hauptzüge  Beethoven  mit  einer  eignen  Tiefe 
des  Blicks  erfasst  hat  und  in  gegenseitige  Action  bringt. 
Das  Eigenthümliche  an  dieser  Beethoven^schen  Auffassung 
des  Heroischen  ist,  dass  er  den  Elementen  der  Kraft  und 
des  frohen  Thatendranges  einen  stark  elegischen  und 
pathetischen   Gegensatz   beimischt.     Es    geht   durch    den 


ce»     141     ^ 


ganzen  Satz  ein  Zog  der  Trauer,  über  die  Wunden,  welche 
der  Held  schlagen  muss;  vor  und  nach  den  gewaltigen 
Streichen,  die  er  führt,  erhebt  sich  die  Stimme  des  Mit- 
leids, und  seine  grossen  Entschlüsse  umringt  die  Wehmuth. 
Dieser  weiche  menschliche  Zug  begleitet  schon  das  Haupt- 
thema, das  in  seiner  ersten,  vielleicht  aus  Mozart's  Ouvertüre 
zu  .Bastien  et  Bastienne*  entnommenen  Hälfte  den  Haupt- 
träger des  kräftigen,  fröhlichen  Heroenthums  bildet. 


Bereits  aber  im  fünften  Takte  mit  dem  langen  verminderten 
Septaccord  kommt  die  schmerzliche  Wendung.  Noch 
stärker  ist  sie  im  zweiten  Thema  ausgebildet: 

^      mit  dem  übermässigen 
A^  Dreiklang;     femer    in 


iLi'JJiJililiil  l4      ff  L,   -  I  I^reiklang;     femer    in 

*      i  i  *l  H  'i  vi  '    4~frK  ^®'    wehklagenden   E- 

p  ^7j  T  r    moU-Episode  derDurch- 


Episod( 

führung    ^\\  r^ir^rr  l'r  ^^  l^=.    Diese  Epi- 

sode  machte  Beethoven,  wenn  wir  die  durch  Nottebohm 
veröffentlichten  Skizzen  zu  dieser  Sinfonie  recht  verstehen, 
geradezu  zum  Mittelpunkte  des  ersten  Satzes.  Sie  war 
von  vornherein  fertig  und  fest  beschlossen,  und  um  sie  in 
die  rechte  Wirkung  zu  setzen,  änderte  er  die  Entwürfe 
zu  der  ihr  vorhergehenden  Partie  immer  wieder,  bis  die 
Rhythmen  so  trotzig,  die  Dissonanzen  so  beängstigend, 
so  realistisch  schneidend  wurden,  wie  sie  jetzt  dastehen. 
Von  ähnlicher  Tendenz  ist  auch  das  Nachspielmotiv, 
welches  den  wuchtigen  Schlägen  des  empörten  Orchesters 
am  Schlüsse  des  ersten  Theils  folgt: 


to     142     ^ 

Es  sind  die  reinen  Klagen  und  Seufeer;  ähnlich  auch  die 
hinsterbenden  Anklänge  an  das  erste  Motiv  des  Haupt- 
themas, mit  denen  der  Durchfuhrungstheil  beginnt.  Für 
die  formelle  Bildung  des  Satzes  hat  ausser  den  angefUhrt«n 
thematischen  Elementen  noch  das  kurze  Motiv  grosse 
Wichtigkeit,  welches  die  Ueberleitungsgruppe  zwischen 
dem  ersten  und  zweiten  Thema  eröflPhet 

F^^^^^^.    Es  kUngt  wie  Fragen 
ßf  I»  I»  p 

und  Bedenken.    Deshalb  folgt  ihm  gleich  die  Beschwich- 

tigung   in    jb'iaj    t^\^^\  If    ffirrr  Ip  und 

V 
diesem  ein  Motiv  des  erneuten  Aufschwungs  nach: 


ete« 


Der  Durchfuhrungstheil  dieses  ersten  Satzes  der  Eroica 
stellt  an  das  Zuhören  und  Verstehen  ganz  neue  bis  dahin 
noch  nie  erhobne  Anforderungen  wegen  der  ausserordent- 
lichen Beweglichkeit,  mit  welcher  der  Componist  Ideen 
und  Empfindungen  wechselt,  wegen  der  Breite,  mit  welcher 
er  sie  ausführt  und  drittens  weil  er  zur  Themengruppe 
ein  ganz  ungewohntes  Verhältniss  einnimmt.  Er  ist  dies- 
mal keine  Exegese,  sondern  er  hat  unverkennbar  prag- 
matische Bedeutung  er  bringt  die  Hauptsache:  die  Schil- 
derung des  Kampfes,  den  der  Held  leitet.  Diese  durchaus 
dramatisch  gehaltne,  aufregende  Schilderung  gipfelt  in 
der  Scene  wo  sich  Bläser  und  Geigen  gewissermassen  in 

einander  festrennen,  wo  die  Secunde  t  so  grässlich  durch 
die  Harmonien  schreit.  Das  ist  Schlag  und  Schmerz  und 
darauf  kommt  naturgetreu  und  lebenswahr  die  E  moll-Klage. 
Sie  ist  das  eigentliche  2.  Thema  des  Satzes  und  wir  stehen 
vor  ihr  wieder  bei  einem  gewaltigen  Versuch  Beethoven*8 
die  Sonatenform  frei  zu  beleben.    Nachdem  dieser  Gipfel 


c6*     143     ^ 

passirt  ist,  setzt  Beethoyen  ein  zweites  Mal  an :  Der  Feind 
ist  getroffen,  aber  nicht  vernichtet.  So  beginnt  der  Kampf 
zum  zweitenmal  und  diesmal  endet  er  bei  der  fanatischen 
Cesdur-Stelle,  die  allmählich  in  Todtenstille  übergeht  und 
mit  einer  Wendung  schliesst,  deren  eigenthümliche  Schön- 
heit lange  Zeit  über  ihrer  absonderlichen  Form  verkannt 
worden  ist.  Wir  meinen  jene  Stelle  —  man  nennt  sie 
wenig  geschmackvoll  den  Cumulus  —  wo  über  der  tremo- 

b 
lirenden  Secunde  as  der  beiden  Geigen  das  Solohom  leise 

den  Zauberruf  intonirt,  der  Alle  wieder  aus  der  unheim- 
lichen Erstarrung  ruft :  das  Heldenmotiv  es  g  \  es^  In  der 
ersten  Wiener  Probe  hatte  Beethoven  dieses  as  gegen  die 
Musiker  zu  schützen,  welche  meinten,  es  sei  ein  Fehler 
vorgekommen;  die  Herausgeber  der  ersten  französischen 
Partitur  corrigirten  es  als  Druckfehler  in  ^;  auch  noch 
B.  Wagner  war  dieser  Meinung.  Seit  das  Skizzenbuch 
Beethoven*s  aus  dem  Jahre  1803  bekannt  ist,  darf  nicht 
der  leiseste  Zweifel  mehr  gehegt  werden,  dass  Beethoven 
kaum  etwas  Anderes  in  seiner  Eroica  so  bestimmt  und  klar 
gewollt  hat,  als  diese  vom  mechanischen  Hannoniestand- 
punkte aus  befremdende  und  unter  allen  Umständen  ge- 
wagte ,  aber  jedenfalls  mit  tondichterischer  Kühnheit  und 
Feinheit  ersonnene  Wendung.  Mit  Gewalt  rafft  sich  der 
Sieger.  Die  Reprise  beginnt  und  verläuft  in  herrlichen 
Varianten.  Da  ist  gleich  das  Thema  in  Fdur  vom  Hom, 
dann  in  Des  von  der  Flöte  gebracht.  Es  ist  als  wenn 
nach  gefallner  Entscheidung  sich  Alles  freier  und  grösser 
regte.  Auch  die  Coda  ist  ungewöhnlich,  am  meisten 
dadurch,  dass  der  Componist  hier  nochmals  auf  die  Durch- 
führung zurückgreift,  wiederum  nämlich  auf  die  bereits 
berührte  Episode  in  Emoll;  ein  Beweis,  wie  wichtig  sie 
für  die  Eigenart  des  Helden  ist,  wie  ihn  sich  Beethoven 
dachte. 

Der  zweite  Satz  der  Eroica,  Marcia  fiinebre  über- 
schrieben, die  Grenzen  eines  einfachen  Trauermarsches 
aber  in  jeder  Beziehung  überschreitend,  besteht  aus  fünf 
Theilen.    Der  erste  Theil  stellt  zunächst  das  Hauptthema 


cG» 


144     ^ 


I  im  Streichquartett  auf.    Die 


Bläser  wiederholen  dasselbe,  ron  den  Violinen  in  zittern- 
den Rhythmen  begleitet  aus  denen  es  wie  ferner  Tronunel- 
schlag  klingt.  Dann  folgt  ein  Gegenmotiv  in  Esdur,  das 
nach  dem  Hauptthema  EurUckkehrt.  Auch  diese  Grruppe, 
Tom  Streichquartett  zuerst  gebracht,  wiederholt  der  Bläser- 
chor, und  mit  einem  kurzen  freien  Nachspiel  in  CmoU 
schliesst  dieser  erste  Theil.  Inhaltlich  verbildlicht  er  jenen 
furchtbaren,  fassungslosen  Zustand  der  trauernden  Seele, 
wo  das  Gefühl  nach  Ausdruck  ringt,  wo  die  Klage  mit 
der  Resignation  kämpft,  wo  die  Sprache  erstarrt,  versagt 
und  bricht,  wo  die  freundlichen  Bilder  der  Erinnerung 
nur  auftauchen,  um  von  den  Ausbrüchen  des  heftigsten 
Schmerzes  verjagt  zu  werden.  Der  zweite  Theil  ruft  das 
glänzende  Bild  des  Helden  zurück.  Er  erscheint  wie  eine 
Art  Apotheose.    Das  Thema,  welches  ihn  fUhrt,  in  hellem 


Dtir  gehalten 


t»  Ub. 


I  nimmt  schon  beim 


ersten  Halbschluss  (in  Gdur)  einen  ganz  triumphirenden 
Ton  an.  Am  Schluss  dieses  Theiles  ist  die  Rückkehr  ins 
Hauptthema,  der  stets  im  Laufe  des  Satzes  ein  leiden- 
schaftlicher Accent  vorausgeht,  von  einem  ganz  besonders 
tiefen  und  gewaltigen  Ausdruck  des  Schmerzes  begleitet. 
Der  dritte  Theil,  welcher  mit  dem  Hauptthema  (in  Cmoll) 
beginnt,  ruht  im  Wesentlichen  auf  folgendem  Thema: 

^^^^-i^-^^  ^^^S^f^E:j^-^ .  In  der  ersten  Hälfte 
erscheint  es  durch  die  Verkettung  mit  dem  Motiv 


gl  Tb   ,J    i  J-f^.  ;)^l-ft  ia  der  Form  einer  Doppclfugc 


•      5~i/ 


e<?        145        '^ 


Sein  Ausdruck  ist  klagend,  aber  die  Klage  hat  ihre  Herb- 
heit verloren  und  fliesst  nun  stetig  dahin.  Die  Wendungen 
werden  mild,  fast  freudig.  Wieder  steigt  das  Bild  des 
lebenden  Helden  auf:  ein  leidenschaftlicher,  begeisterter 
Aufschwung  in  der  Musik:  Da  plötzlich: 


t*   j>-     das    schreck- 


liche Besinnen:  ,Er  ist  nicht  mehr!*  Ein  Aufschrei  in  den 
entlegensten  Regionen  des  Orchesters,  ein  wilder,  fast 
wüster  Ausbruch  des  Schmerzes  auf  dem  Asdur-Accord, 
ein  Chaos,  aus  dem  die  schmetternden  Trompeten  den  Aus- 
weg suchen.  Dann  lenkt  es  mit  mühsamer  Beruhigung 
über  in  den  vierten  Theil,  welcher  im  Wesentlichen  eine 
Repetition  des  ersten  Theiles  aber  mit  einem  grossen  Zu- 
satz von  Leidenschaftlichkeit  und  Aufregung  bildet.  Es 
wird  der  letzte  Abschied  genommen!  Der  fUnfte  Theil, 
die  Coda,  schliesst  das  ergreifende  Bild  versöhnend  ab. 
Wie  Glockengeläute,  das  Beethoven  ähnlich  auch  in  seiner 
Trauercantate  auf  Joseph  IL  anklingen  lässt,  beginnt  er 
in    den    Violinen,    eine    wehmüthig    freundliche    Melodie 

klingt  wie  aus  der  Feme  herüber, 


dann  geht  die  Musik  für  einen  Augenblick  in  blosse 
rhythmische  Bewegung  auf;  in  den  Violinen  tönt's  wie 
Schluchzen.  Noch  einmal  erscheint  dann  das  Marseh- 
thema,  verflattert  aber  bald  und  zerfallt  in  Stücke.  Als 
es  verschwunden,  stossen  die  Bläser  noch  ein  letztes  leiden- 
schaftlich accentuirtes  Lebewohl  aus,  über  das  sich  sofort 
eine  leise  Fermate  wie  Grabesruhe  legt. 

Das  Scherzo  ist  von  einer  ganz  eigenthümlichen  An- 
lage.   Zum  Hauptthema  hat  es  folgende  Takte: 

Presto  _  _ 


Aber  dieses  theilt  sich  in  die  Darstellung  mit  einem 
Motive,  das  von  Natur  nur  präludirenden   und  anlaufen- 


Kretzfchmar,  Führer,  I. 


10 


eC         146         '^ 


den   Charakters   ist:    1^"^   1  "^ JTf^^^ '     ^*°^^   '^^^' 

pp 
reihen,  aus  diesen  wenigen  Noten  gewoben,  durchziehen 
den  Satz  und  geben  ihm  sein  phantastisches,  heimliches 
Gepräge,  den  merkwürdigen  nächtlichen  Klang,  die  Aehn- 
lichkeit  mit  dem  Gemurmel  einer  entfernten  Menge,  mit 
dem  Getöse  einer  geschäftigen  Stadt,  das  der  Wind  auf 
Meilen  hinausträgt  zum  Wandrer.  Die  Tonart  ist  Esdur, 
aber  es  dauert  92  Takte,  ehe  sie  mit  dem  Fortissimo  des 
zum  ersten  Male  geschlossen  vortretenden  Orchesters  zum 
Ausdruck  kommt.  Es  ist  interessant  zu  wissen,  dass  Beet- 
hoven als  dritten  Satz  seiner  Eroica  einen  einfachen  Menuett 
schreiben  wollte.  Erst  im  Laufe  der  Skizzen  kam  er  auf 
das  eben  angeführte  schwankende  Motiv  und  damit  auf 
die  ganz  neue  Anlage  des  Satzes.  Den  Hömem,  welche 
bekanntlich  im  Trio  des  jetzigen  Scherzo  eine  ziemlich 
gefürchtete  Aufgabe  haben,  war  von  Anfang  an  eine  be- 
sondere Rolle  zugedacht,  aber  im  Hauptsatze  der  Menuett, 
Der  Held  auf  der  Jagd? 

Das  Finale  der  Eroica  ist  in  seiner  ersten  Hälfte  ein 
Variationencyclus ,  dem  folgendes  einfache  Thema  zu 
Grunde  liegt : 


^  yy  \  ;,  >  ripz^^^^4?ja,-t:;r?f^y rr-^ j4^rg| 


dasselbe,  welches  Beethoven  früher  schon  zu  den  Klavier- 
variationen (Op.  35)  und  auch  zur  Musik  des  Ballets:  „Die 
GeHchöpfe  des  Prometheus**  benutzt  hat.  Von  der  dritten 
Variation  ab  baut  der  Componist  über  dieses  Thema  eine 
innige  Gesangmelodie, 


dvlct 


welche  in  dem  Satze  als  zweites  Thema  fungirt.  Nachdem 
sie  durchgeführt,  wird  die  Variationenform  verlassen,  das 
Thema  erscheint  umgestaltet  in  eine  Fuge;  in  andern 
Gruppen  sind  nur  wenige  Noten  benutzt,  auf  Augenblicke 


cG»     147     'ö^ 

yerschwindet  es  ganz.  Mit  dem  G  moll-Satze,  der  marsch- 
artig kräftig  einsetzt,  tritt  die  Variationenform  wieder 
ein;  die  einzelnen  Variationen  haben  freie  Schlüsse;  im 
üebrigen  wiederholt  sich  der  ganze  Prozess  der  ersten 
Hälfte.  Bis  dahin  erscheint  das  Finale  der  £roica,  so  viele 
schöne  Momente  darin  vorkommen,  im  Yerhältniss  zu  den 
andern  Sätzen  etwas  leicht  gefugt:  eine  Reihe  fröhlicher 
Bilder  von  der  Krieger  Heimkehr,  frei  nach  Bürger's 
Versen:  «Und  alles  Volk  mit  Sieg  und  Klang  geschmückt 
mit  grünen  Reisern,  zog  heim  zu  seinen  Häusern*^.  Am 
Ende  jedoch,  mit  der  frommen  Episode,  in  der  das  zweite 
Thema  als  Andante  auftritt,  erhebt  es  sich  und  schliesst 
allerdings  etwas  kurz  abgebrochen,  aber  mit  dithyram- 
bischem Schwünge. 

Beethoven's  vierte  Sinfonie  (Bdur  Op.  60),  welche L.t. Beethoven 
im   Jahre  1806  entstand,    wurde  im  Anfang   des  Jahres  Bdar-Sinfonie 
1807  zuerst  in  Wien ,   kurz  nach  einander  zweimal  auf-        ^'*  *• 
geführt  erst  im  Theater  und  dann  im  adligen  Liebhaber- 
concert,  und  erfreute  sich  sogleich,    wie  berichtet  wird, 
eines  reichen  Beifalls.    Heute  theilt  sie  mit  der  ihr  geistig 
verwandten   achten  Sinfonie  das  Schicksal  einer  gewissen 
Zurücksetzung.    Sie  erreicht  ihre  Nachbarn  zur  Rechten 
und  Linken,  die  Eroica  und  die  C moU-Sinfonie  weder  in 
der  Breite  des  Aufbaues  und  der  äusseren  Dimensionen, 
noch   in   der   Grossartigkeit    der   Combinationen ;    sie   ist 
aber  dennoch    eins    der    eigenartigsten  und  vollendetsten 
Werke  der  Beethoven'schen  Kunst  und  repräsentirt  unter 
den  Sinfonien  eine  Gattung  für  sich.    Was  sie  auszeich- 
net, ist  die  Frische  und  Unmittelbarkeit  der  Gestaltung. 
Sie  gleichtodarin  einigen  der  Klaviersonaten,  dass  sie  mehr 
phantasirt  und  improvisirt,  unter  einem  fortwährenden  Zu- 
fluss  neuer  Gedanken  entstanden,  als  gearbeitet  erscheint. 
Zweitens  zeichnet  sie  sich  aus  durch  eine  andauernd  heitre 
und  glückliche  Grundstimmung,  die  sich  allerdings,  wie 
bei  Beethoven  zu  erwarten,  nicht  völlig  rein,  sondern  in 
romantischer  Färbung  äussert.    Man  bemerkt  diesen  roman- 
tischen Zug  in  dem  zögernden  Aufbau  der  Melodien,  in 
dem  langen  Festhalten  der  Harmonien,  in  der  versteckten 

10» 


«c?     148     ^ 

Einmischung  Ton  Dissonanzen,  in  der  bald  in  scharfen 
Contrasten  springenden,  bald  träumerischen  Dynamik :  Er- 
scheinungen, die  uns  in  keiner  zweiten  Sinfonie  Beethoyen's 
so  systematisch  entgegentreten  wie  in  der  Bdur-Sinfonie. 
Sie  schattirt  auch  die  freudigen  Farben  ein  wenig.  Aber 
die  Stürme  düstrer  Leidenschaft  bleiben  ihr  fem  und  über 
dem  Ganzen  leuchtet  eine  solche  Menge  hellen  und  wärmen- 
den Sonnenscheins,  dass  man  die  Zeit,  wo  diese  Sinfonie 
entstand,  zu  den  am  wenigsten  getrübten,  zu  den  schönsten 
Tagen  aus  Beethoven'«  Leben  rechnen  möchte.  Grove 
setzt  sie  geradezu  mit  einer  Verlobung  Beethoven's  (mit 
Theresa  von  Brunswick)  in  Verbindung. 

Nach  einer  Einleitung  die  ganz  von  geheimnissvoller 
Erwartung  und  Spannung  erfüllt  ist,  bricht  das  Allegro 
des  ersten  Satzes  mit  Schlägen  von  urwüchsiger  Derbheit 
los.  Nach  dem  stürmischen  Einsatz  gelangen  wir  zu  folgen- 
dem Hauptthema: 


Allerro  Ttrace 


n  ^1"  r  r  ir  r  f  P  l  ^^'^    r  i:  das  die  beiden  Elemente 

des  Satzes:  frohes  Ungestüm  und  geheimnissvolles  Sinnen 
verbindet.  Ihm  folgt  ein  selbständiges  Seitenthema,  welches 

über  das  kindlicher  Freude  volle  Motiv : 

zu  einer  Repetition  des  ersten  überleitet.  Diese  Wieder- 
holung schliesst  mit  einer  Synkopenstelle,  die  eine  gewaltige 
Herzenserregung  kündet.  Zauberschnell  bricht  sie  ab: 
Das  zweite  Thema  das  nun  erscheint,  zertällt  in  zwei 
Hauptgruppen,    deren    Grundmotive    die   folgenden    sind: 

y^''Fr£;r  jlfrrfir    ^^^^j^^.    Die  zweite  Gmppe 

tritt  als  Dialog,  als  Canon  (in  der  Octav)  zwischen  Clarinette 
und  Fagott  auf.  Zwischen  ihnen  stehen  noch  weitere 
selbständige  Gedanken  unter  denen   eine  weit  ausholende, 


cG»     149     ^ 

aus  Sequenzen  über  ein  Motiv  in  (staccato  gegebnen) 
Halbennoten  gebildete  Passage,  die  Sammeln  und  Klären 
bedeutet,  der  wichtigste  ist.  Ueppigkeit  der  Phantasie 
zeichnet  diese  Sinfonie  aus.  Auch  die  Durchführung  über- 
rascht durch  eine  ganz  neue  Idee :  eine  herrliche  Melodie : 

li^  *TP^r  I  r  ^r  r  \\ff  \p  »  mit  weicher  eine  Strecke 


lang  die  beiden  Gruppen  des  Orchesters,  Geiger  und  Bläser 
einen  Wechselgesang  vollführen.  Das  ist  für  lange  Zeit 
die  letzte  Aeusserung  fertiger  Gedanken  im  Satze.  Tiefste 
Ruhe,  tieftter  Frieden  breiten  sich  über  eine  glückliche 
Seele.  Lnmer  leiser  huschen  durch  die  Geigen  flüchtige 
Schatten  des  Hauptthemas,  die  Accordnoten  aus  den  ersten 
beiden  Takten.  Diese  lange  Dämmerungsstelle  kenn- 
zeichnet die  vierte  Sinfonie.  Ganz  eigen  ist  der  Schluss 
dieser  Durchführung,  das  Einschlummern  der  Instrumente 
in  entlegener  Tonart,  die  Führerrolle,  welche  die  Pauke 
in  diesem  Momente  übernimmt,  und  der  eilige  Rückzug, 
den  das  verlorene  Gros  unter  ihrem  inuner  lauteren  Com- 
mando  bewerkstelligt.  In  dem  Scherzo  der  C  moll-Sinfonie 
findet  sich  ein  ähnliches  und  doch  wieder  sehr  ver- 
schiedenes Seitenstück  zu  dieser  Stelle. 

Das  Adagio,  ein  wunderbares  Stück  verklärter  Poesie 
und  der  intimste  von  allen  langsamen  Sätzen  der  Beet- 
hoven'schen  Sinfonien  hat  folgenden  Gesang  zum  Haupt- 
thema : 


cretc. 

Die  Form  dieses  Satzes  ist  so  rein  und  einfach,  dass 
er  keiner  Bemerkung  bedarf.  Das  zweite  Thema,  in  dem 
Momente  eingeführt,  wo  die  vom  Anfange  an  im  Satze 
lauernden  Geister  der  Schelmerei  und  des  Humors  über  das 
Maass  zu  gehen  Miene  machen,  wird  von  der  Clarinette 
vorgetragen,  das  Fagott  bringt  einen  Nachgesang  dazu. 


^     150     '^ 


Id  der  Stimmang  knüpft  dieses  zweite  Thema  an  die  leise 
und  edle  Melancholie  des  Hauptthemas  wieder  an. 

Der  dritte  Satz,  welcher  nicht  ausdrücklich  als  Scherzo 
überschrieben  ist,  hat  die  ausgesprochene  Natur  eines 
Capriccio.  Er  läset  eine  etwas  herausfordernde  Lustigkeit 
gegen  einige  bedächtigere  Humore  ankämpfen.  Das 
Anfangsmotiv  seines  Hauptthemas 

^^^i  J3|^^3^^^[:gji  rj  jig  giebt  den  Haupt- 


stofF  zum  Bau  des  Satzes.  Der  in  den  ersten  Takten  dieses 
Themas  schon  gegebene  Gegensatz  von  "/^  und  ^/^  Takt 
geht  durch  das  ganze  Stück  und  verstärkt  den  Eindruck 
einer  bald  übermüthigen ,  bald  eigensinnigen  Natur.  Das 
Trio  ist  eins  der  köstlichsten  Bilder  naiver  und  unschul- 
diger Freude,  eins  jener  Kunstwerke,  die  man  nicht  hören 
kann,  ohne  die  Musiker  zu  beneiden,  welche  sie  auffuhren 
dürfen.    Die  Oboe  führt  das  einfache  Thema: 


^fitbztl^^-f-»-^  I  t  ITTt? 


^^^ 


mE::^^:it^m 


cre»c.  j^     Z  f» 

In  die  Pausen  streuen  die  Violinen  allerhand  kleine  Neckereien 
hinein  —  am  Ende  des  Trios  wächst  die  liebenswürdige  zärt- 
liche Melodie  zu  stohser  Pracht  heran.  Schon  der  erste 
Satz  der  Sinfonie  zeigt  einige  Mozart^sche  Spuren;  sie 
mehren  sich  im  Finale  so  sehr,  dass  man  die  Vermuthung 
kaum  abweisen  kann,  in  den  Hauptgedanken  gehöre  dieser 
Satz  einer  früheren  Entstehungszeit  an.    Seine  Themen  sind 

I.VioI.  .  .  .  i)  y    J^  7  J^  % 


h^  liij 


mit    dem    Nachsatze     A  p'^i;  pJ^S  |  ]\  »  jV  j    J     | 


und 


^UiU^^f^^i^Mä^^ . 


co     151     "^ 

Sie  ergeben  einen  Satz  von  brillantem,  funkelndem 
Effect,  von  dramatischer  Lebendigkeit  und  frappantem 
Humor,  dessen  heitere  Natur  nur  durch  einige  breite,  un- 
barmherzig dissonirende  Accordc,  die  Einfälle  einer  rauhen 
Laune,  gestört  wird. 

Die  fünfte  Sinfonie  (CmoU)  ist  mit  der  Pastoral- L.T.BeethoTen 
Sinfonie  zusammen  veröffentlicht  worden.  Beide  Werke,  Cmoii-Sinfonie 
welche  die  Opuszahlen  67  und  68  tragen ,  wurden  auch  ^'-  ^• 
zusammen  in  demselben  Concert  zuerst  aufgeführt,  wel- 
ches Beethoven  am  22.  December  1808  im  Theater  an  der 
Wien  gab,  einem  Concerte,  das  durch  die  Reichhaltigkeit 
seines  Programms  als  Curiosum  in  der  Concertgeschichte 
dasteht.  Es  umfasste  zwei  grosse  Chorwerke,  die  Chor- 
fantasie, das  Klavierconcert  in  G,  eine  freie  Fantasie,  die 
Pastoralsinfonie  (als  Nr.  5),  die  C  moll-Sinfonie  (als  Nr.  6 
bezeichnet).  Gleichwohl  sind  die  beiden  Sinfonien  zu  ver- 
schiedener Zeit  entstanden.  Die  ersten  Arbeiten  an  der 
C  moll-Sinfonie  reichen  bis  in  die  Jahre  1800  und  1801  zu- 
rück. Das  ausserordentliche,  in  jeder  Faser  Beethoven- 
*sche  Werk  hat  den  Meister  auch  ausserordentlich  intensiv 
beschäftigt  und  ist  unter  denjenigen  Arbeiten,  mit  welchen 
er  sich  aussergewöhnlich  lange  trug  —  vergleichen  wir  nur 
die  Ddur-Messe  und  die  neunte  Sinfonie  —  vielleicht  die- 
jenige, bei  welcher  die  endgültige  Form  alle  Intentionen 
des  Schöpfers  ohne  Rest  aufnahm.  Von  vielen  Beurtheilern 
wird  die  C  moll-Sinfonie  als  der  Höhepunkt  nicht  bios 
der  Beethoven*schen,  sondern  überhaupt  der  Instrumental- 
musik bezeichnet,  jedenfalls  ist  sie  eins  derjenigen  Kunst- 
werke, über  deren  Gewalt  Alle  einig  sind.  Mit  der  C  moll- 
Sinfonie  bekehrte  der  junge  Mendelssohn  den  alten  Goethe 
zu  Beethoven.*)  Selbst  Diejenigen,  welche  amusischen 
Geistes  sind,  pflegen  vor  der  C  moll-Sinfonie  eine  leise  Regimg 
von  Respect  zu  haben.  Jeder  fühlt,  dass  aus  dieser  Sin- 
fonie ein  ungewöhnlicher  Geist  spricht.  Es  liegt  etwas 
Titanisches  in  ihrem  Zorn  und  ihrem  Trotze,  in  ihrem 
Schmerze  und  auch  in  dem  Rausche  der  Begeisterung,  in 

*)  F.  Mendelssohn,  Briefe  (26.  Mai  1830). 


CG*     152     ^ 

welchem  sie  Bchliesslich  ausmündet.  Man  könnte  sich  vor 
diesem  Kunstwerke  an  vielen  Stellen  fürchten,  wenn  nicht 
aus  dem  Hintergrunde  seiner  nächtigen  Phantasien  auch 
freundlichere  Genien  auftauchten;  es  würde  uns  trans- 
cendental  und  nur  ehrwürdig  bleiben,  wenn  es  den  Blick 
nicht  ausser  auf  unendliche  Stemenweiten  auch  auf  trau- 
liches Erdenland  lenkte,  wo  uns  Boten  der  Sehnsucht,  des 
Humors  und  diejenigen  Menschengefühle  begegnen,  welche 
das  Walten  eines  guten  Gemüthes  verkünden.  Die  Dar- 
stellung in  der  CmoU-Sinfonie  ist  heiss  und  ursprünglich, 
wahr,  nothwendig  einheitlich  und  dabei  so  scheinbar  ein- 
fach und  klar,  dass  das  Werk  trotz  der  Grösse  seines 
Inhalts  populär  geworden  ist.  Was  diesen  Inhalt  der 
C moll-Sinfonie  bildet,  wer  getraut  sich  das  ohne  Fehler 
zu  übersetzen?  Beethoven  soll  dem  ersten  Satze  dieses 
Werkes  das  Motto  gegeben  haben:  „So  klopft  das  Schick- 
sal an  die  Pforte*.  Wir  betonen  aber  das  Wort  »soll*. 
Es  ist  das  Charakteristicum  musikalischer  Kunstwerke, 
dass  sie  die  Phantasie  des  Hörers  anregen,  ihn  wohl  auch 
auf  bestimmte  Bilder  führen.  Aber  es  ist  vermessen,  das 
eine  dieser  Bilder  für  das  ausschliesslich  richtige  zu  halten 
und  zu  proclamiren.  Die  Zahl  der  benannten  Grössen, 
welche  derselben  algebraischen  Formel  entsprechen,  ist 
in  der  Regel  nicht  klein:  „Ratio  multiplex,  veritas  una*! 
Aber  der  allgemeine  Gang  der  Phantasie,  nennen  wir  es 
die  Grundidee,  in  der  C moll-Sinfonie  ist  so  klar  ausge- 
prägt, dass  man  sie  nennen  muss:  Es  ist  der  Weg  „aus 
Nacht  zum  Licht* ,  per  aspera  ad  astra ,  jener  in  der  sin- 
fonischen Kunst  so  oft  gesuchte  und  noch  öfters  verfehlte 
Weg! 

Der  erste  Satz  ist  eine  der  glänzendsten  Bestätigungen 
für  einen  in  jeder  Kunst  sattsam  erprobten  Erfahrungs- 
satz: dass  mit  der  Schwierigkeit  der  technischen  Aufgabe 
bei  starken  Geistern  auch  die  Phantasie  wächst,  der  Flug 
der  Gedanken  kühner  wird  und  die  Ideen  an  Macht, 
Kraft  und  Reichthum  zunehmen.  Von  der  technischen 
Seite  aus  betrachtet,  ist  der  erste  Satz  der  C moll-Sin- 
fonie   eins    der    verwegensten    Kunststücke:    Denn    sein 


co     158     '^ 

wesentliclies  Grundmaterial  besteht  aus  den  vier  Noten, 
welche  lapidar  und  erschreckend  den  £ingang  des  Werkes 

^    ^    AUegro  con  brio.    ^ 

bilden :    ft  ^^i.  j   ^  J  J  j-l-   j     |  .    Schindler  behauptet  in 

seiner  Biographie,  dass  Beethoven  sie  und  ihre  gleich 
folgende  Transposition  in  einem  langsameren  Tempo  ge- 
wünscht habe,  wodurch  sie  gewissermassen  als  Motto 
hervorgehoben  wurden.  Wenn  der  Gewährsmann  hier 
zuverlässig  ist,  bleibt  doch  auch  die  andere,  die  leiden- 
schaftlichere Auffassung  der  Stelle  bei  Recht  bestehen. 
Nach  Czernj  soll  ein  Goldammer  Beethoven  im  Walde  dieses 
von  Spohr*)  wegen  Mangel  an  , Würde*  getadelte  Motiv 
zugetragen  haben.    Zwar  hat  der  Satz  ein  zweites  Thema: 


Aber  dasselbe  ist  in  dem  grossen  psychologischen  Process 
nur  ein  momentanes  Beschwichtigungsmittel,  über  welches 
die  Combinationen  jenes  Urmotivs  achtlos  hinwegschreiten. 
Es  wird  bei  seinem  ersten  Erscheinen  schon  von  den 
Bässen  mit  jenen  vier  unruhigen  Grundnoten  drohend 
empfangen,  verfolgt  und  bald  in  den  Strudel  der  wogen- 
den Aufregung  hineingezogen.  Auch  Aeltere,  namentlich 
S.  Bach,  haben  mit  einem  einzigen  kurzen  Motiv  zuweilen 
ausgeführte  Sätze  gebildet.  Aber  dies  sind  Präludien  und 
kleinere  Stücke  —  hier  aber  haben  wir  einen  ganz 
colossalen  Satz  von  gegen  500  Takten!  Dabei  aber  ist 
dieses  Kunststück  zugleich  auch  die  höchste  Leistung  im 
leidenschaftlichen  Stile,  welche  bis  dahin  vielleicht  die 
ganze  Instrumentalcomposition,  ganz  gewiss  aber  die 
Orchestermusik  aufeuweisen  hat  —  als  musica  appas- 
sionata  eine  Leistung,  die  in  der  Folge  fraglich  ob  wieder 
erreicht,  jedenfalls  aber  nicht  überboten  worden  ist.  Den 
Gang  des  Satzes  im  Einzelnen  zu  beschreiben,  ist  nicht 
durchführbar,  wohl  auch  nicht  nöthig.  Nach  so  und  so 
viel  rührenden  und  erschütternden  Versuchen  kommt  das 


^)  L.  Spohr,  Selbstbiographie  I,  S.  229. 


Ende  auf  den  Anfang  zurück.  Es  ist  das  Bild  eines  er- 
greifenden hartnäckigen  und  verzweifelten  Kampfes,  der 
durchgeführt  wird:  Wohin  unsere  Phantasie  den  Schau- 
platz desselben  legen  mag,  in  die  menschliche  Seele  oder 
in  die  Natur:  seine  Phasen  sind  mit  der  schauerlichsten 
Deutlichkeit  wiedergegeben.  Es  ist  ein  Riugen  ohne 
Gnade  und  ohne  Nachgeben,  das  Seitenstück  zum  ersten 
Satz  der  Eroica,  aber  ohne  Klage.  Den  kritischen  Mittel- 
punkt bildet  jene  Partie  im  DurchfUhrungstheile ,  wo  das 
Anfangsmotiv  des  zweiten  Thema 

^J^^=~\     j     t^- j      I     j      I     entscheidend    eingreifen 

will.  Die  Stelle  hat  eine  dramatische  Gewalt,  wie  sie  in 
der  Instrumentalmusik  ganz  selten  vorkommt.  Wirds  ge- 
lingen oder  nicht?  Als  Streicher  und  Bläser  mit  dem 
Halbenmotiv  wechseln,  scheint  volle  Erschöpfung  ein- 
getreten und  das  Ende  nahe  zu  sein.  Aber  der  Held  rafft 
sich  wieder,  weicht  und  bebt  abermals;  doch  schliesslich 
steht  er  wieder  fest  in  alter  Kraft.  Mit  einem  plötzlichen 
Ruck  stehen  wir  vor  dem  Anfang  des  dritten  Theils:  der 
Reprise.  Sie  ist  wie  immer  bei  Beethoven  keine  wört- 
liche Wiederholung.  Unter  den  Wendungen,  die  ihren 
Ausdruck  und  ihre  Wirkung  mächtig  steigern  sind  die  freie 
Cadenz  der  Oboe  und  die  Coda  hervorzuheben.  Die 
Oboe  spricht  wie  eine  Menschen  stimme,  ganz  unbeschreib- 
lich rührend  auch  deshalb,  weil  es  die  einzige  Stelle  in 
dem  durch  und  durch  männlichen  Satz  ist,  wo  das  Herze- 
leid zu  Worte  kommt.  Seit  Haydn's  früheren  Werken 
war  es  das  erste  Mal,  dass  wieder  ein  Componist  in  der 
Sinfonie  Recitativ  verwendete. 

Entschieden  der  Hoffnung  zugewendet,  doch  von  Sorge 
und  Zweifel  noch  leicht  gestreift,  setzt  der  zweite  Satz  (Andante 
con  Moto,  As  dur,  '/g  Takt)  mit  einem  lieblichen  Thema  ein, 
welches  Celli  und  Bratschen  unisono  vortragen: 


«<?     155     '^ 

f 


^f  Li  I  [jji^y-^'rr^.t=^.  Die  hohen  Holzbläser  fahren 


unmittelbar  fort  mit 


jfistrfi  f  \ff\fr  [T  rTr|n    ^^  ^^.^^^ 


führen  dieses  Thema  zu  Ende  und  ihm  folgt  von  Clarinetten 
und  Fagotts  eingeführt  auf  dem  Fusse  die  Marschweise: 

doloe  Violino. 


aoloe  vioiino. 


^     V\m^  f.V    I  p^.   In  diesen  drei  Melodien  liegt  das 


ganze  Material  des  Andante  vor  uns,  in  ihrer  Folge  zu- 
sammengedrängt der  Verlauf  der  Composition.  Das  Thema 
der  Holzbläser  kommt  immer  gleichlautend  wieder,  selbst 
die  Tonart  wird  in  keiner  Wiederholung  verändert.  Es 
ist  der  Leitstern,  det  fest  am  Himmel  steht  und  freund- 
lich blinkt.  Der  Marsch,  der  dreimal  mit  Pauken  und 
Trompeten  in  Cdur  vorüberzieht  bedeutet  Triumph  und 
Sieg  und  wirft  einen  Blick  voraus  in  die  Sphäre  des 
Finales  der  Sinfonie.  Die  Grundform  des  Andante  ist  die 
einfache  eines  Variationengebildes  •  in  Haydn'scher  Art. 
Das  Hauptthema  wird  erst  in  Sechzehntel-  dann  in  Zwei- 
unddreissigstelform  gebracht,  der  leichte  Conflict  der  Ge- 
fühle, der  in  ihm  liegt  also  gesteigert  imd  erregter.  Zu 
dieser  Wendung  tragen  die  übrigen  Factoren  der  Compo- 
sition alle  ihr  Theil  mit  bei.  Auf  der  ganzen  Linie  wird 
die  Farbengebung  leuchtender,  insbesondre  wirkt  die  Sprache 
der  Zwischensätze  immer  dringlicher,  so  sehr:  dass  die 
Nebenthemen,  —  der  Gesang  der  Holzbläser  und  die  Marsch- 
melodie —  den  Gesammteindruck  des  Satzes  fast  mehr  be- 
stimmen als  das  Hauptthema :  Unter  den  Episoden  prägen 
sich  namentlich  zwei  bedeutungsvoll  ein:  Die  eine  ist  der 
Uebergang  aus  dem  ersten  Cdur  des  Marschsatzes.  Die 
Trompeten  klingen    mit    der  Quinte    fast  herausfordernd 


^     156     ^ 


lang  hin    il»[jf  I  f   k^  \  f    j.    Da  mahnt  es  in  den 


Streichern   A  )i]^  g*jTf    f^jT}  -  •  Es  geht  nach  Fmoli, 

es  wird  plötzlich  finster  fürs  Ohr  und  wie  Samiel  im  »Frei- 
schütz" zieht  in  der  Feme,  gespensterhaft  zu  dem  des  der 

Geigen  der  Rhythmus  ^^j   /Tl  *^  *^^™  ^  ^^^  Bässe 

vorüber;  die  Kampfgeister  des  ersten  Satzes  sind  noch  nicht 
todt.  Die  zweite  Episode  tritt  nach  der  Zweiunddreissigstel- 
variation  des  Hauptthemas  mit  dem  interessanten  es  in  der 
Flöte  (von  dem  Berlioz  in  seinen  Memoiren  eine  F^tis  be- 
treffende Anecdote  erzählt,  die  an  den  Cumulus  der  Eroica 
erinnert)  ein.  Die  Geigen  geben  Guitarrenaccorde,  ein 
kleiner  Dialog  zwischen  Clarinette  und  Fagott  variirt  den 
Anfang  des  Hauptthemas  und  nun  beginnt  in  den  obern  Holz- 
bläsern ein  träumerisch  holdes  Spiel  paarweise  in  Terzen, 
die  Paare  in  Gegenbewegung.  Die  Stelle  ist  nur  kurz, 
aber  sie  bildet  einen  der  freundlichsten  und  lieblichsten 
Augenblicke  in  der  ganzen  C  moU-Sinfonie. 

Das    thematische    Material    des    dritten    Satzes:    ist 
folgendes  für  den  Haupttheil 

^KS  y  j  iJ  r .  i^^fefe^j  >r  I  r-  r  ir  r  I 


'^'"'"^'  '        'J  J  .  M.  li-J  Jl  J,  If  JJI, 


für  den  das  Trio  ersetzenden  Mitteltheil: 


V^X  J  [/TTfT^g^^^:^^^.  DieTheUea(fiir 
■">/■'        #--■'- -^^  1   » !   - —  dessen  vier 


erste  Takte  Beethoven,  nach  Ausweis  des  von  Nottebohm 
veröffentlichten  Skizzenbuchs,  den  Anfang  des  Finale  von 
Mozart's  G  moll- Sinfonie  benutzte)  und  b  des  Hauptthema 
folgen  im  Satze  unmittelbar  wie  oben;  für  die  Entwicke- 
lung  des  Satzes  wird  besonders  das  Motiv  b  ausgenutzt. 
Während  in  den  meisten  andern  Sinfonien  Beethoven's  im 


oc     157     "^ 

dritten  Satze  eine  ausgelassene  Fröhlichkeit  ihre  Feste 
feiert,  will  hier  —  wo,  wahrscheinlich  nicht  zufällig,  auch 
die  Bezeichnung  Scherzo  fehlt  —  die  gute  Laune  noch 
nicht  recht  in  Gang  kommen.  Das  nähere  Yerwandt- 
schaftsverhältniss ,  in  dem  bei  Beethoven  sehr  häufig  der 
dritte  Satz  zum  ersten  steht,  kommt  hier  mit  besonderer 
Deutlichkeit  zum  Ausdruck.  Eb  zeigt  sich  äusserlich  in 
der  Aehnlichkeit ,  welche  zwischen  dem  Hommotiv  und 
dem  Hauptrhythmus  des  ersten  Satzes  besteht,  femer  in 
den  vielen  Fermaten,  welche  beiden  Sätzen  gemeinsam 
sind,  und  mehr  noch  innerlich  in  dem  vorwiegend  dUstem 
Charakter  dieses  , Scherzo*.  Heiter  ist  im  Hauptsatze 
desselben  nur  der  Rhythmus,  die  Harmonien  sind  ge- 
drückt, die  Melodien  fragend  und  schwermüthig ,  fremd- 
artig durch  den  Klang  der  Instrumente,  welche  sie  an 
den  wichtigsten  Stellen  vortragen:  das  Motiv  a  die  sonst 
nur  fUr  den  schweren  Dienst  verwendeten  Contrabässe, 
das  Motiv  b  die  Homer.  Auch  der  Mittelsatz,  mit  seinen 
polternden  Figuren  und  seinem  eifrigen  Fugiren,  verwischt  den 
Eindruck  des  Aengstlichen,  halb  Unheimlichen  noch  nicht  : 
Sein  Humor  ist  etwas  forcirt  und  ungeheuerlich,  er  deutet 
eine  gute  Wendung  der  Sache  mehr  an,  als  dass  er  sie 
schon  bringt.  Als  sich  —  wie  Berlioz,  dem  wir  hier  aus- 
nahmsweise das  Wort  geben  wollen,  sagt*)  —  der  Lärm 
seiner  gewaltigen  Läufe  mehr  und  mehr  verloren  hat,  er- 
scheint das  Scherzomotiv  wieder:  diesmal  pizzicato.  Man  hört 
nichts  mehr  als  einige  von  den  Violinen  halb  hingehauchte 
Varianten  des  Motivs  b  und  dazwischen  ein  seltsames, 
halb  unterdrücktes  Schluchzen  der  Fagotte.  Dann  bricht 
der  Gedanke  ganz  ab.  Das  Orchester  macht  Miene  den 
bösen  Traum  zu  verschlafen;  nur  die  Pauke  hält  im  pp 
noch  den  Rhythmus  wach.  Es  folgen  einige  Takte  voll 
mysteriöser  Harmonien  und  einer  Ruhe,  dass  das  Ohr 
zu  hören  zaudert,  bis  die  Paukenschläge  rascher  werden, 
die  Violinen  sich  winden  und  raffen  und  endlich  das 
ganze  Orchester  wahrhaft  fieberisch  sich  auf  den  leuchten - 


1)  H.  Berlioz.    A.  Travers  Chants  (Deutsch  von  R.  Pohl)  S.  89. 


^     158     ^ 


den  Cdur-Accord  stürzt,  mit  dem  der  Triumphmarseh 
des  Finale  beginnt.  Mit  seinem  unbeschreiblichen  Jubel, 
mit  Kraft  und  Schalkheit  erstickt  er  alle  finsteren  Anwand- 
lungen, die  aus  den  früheren  Sätzen  in  den  Schluss  hinein- 
ziehen möchten.  Die  Themen  sind  einfach  bis  zur  Trivialität : 

AUegTO.     ^^     .-^ 


PC^ 


-Ä-e- 


-x--^r=3 


^W^H- 


z=r  etc. 


^^^s^i^r'  ^H^^ 


ifplip^ 


mc 


f-^-Q-h 


•le. 


^^^^^^ 


^>     I^^^^^^P 


^'pif  Hu 


b)  scheint,  wie  Grove  richtig  bemerkt,  von  einem  Neben- 
thema im  Andante  der  Mozart'schen  Jupitersinfonie  ab- 
geleitet zu  sein,  den  Nachsatz  von  c)  begleitet  ein  Bassmotiv 


*i-  r    I  ^    f     I    r  =   das  in  der  Durchfuhrung,  nament- 


lich aus  dem  Munde  der  Posaunen  gewaltig  und  majestätisch 
wirkt  und  fast  ihrer  ganzen  ersten  Hälfte  zu  Grunde  liegt. 
Der  eigenthümliche  Zug  an  dieser  Durchfuhrung  ist,  dass 
sie  beim  kritischen  Punkte  angelangt,  plötzlich  still  ab- 
bricht und  das  Scherzo  zurückkehren  lässt.  Die  Idee  selbst 
ist,  höchstwahrscheinlich,  einer  Cdur-Sinfonie  von  Ditters- 
dorf  entnommen  aber  die  Wirkung  mit  der  sie  Beethoven 
hier  verwerthet  hat,  so  ursprünglich  als  möglich:  Banko's 
Geist  an  der  Festtafel!  Damit  war  auch  Spohr,  der  wie 
C.  M.  V.  Weber,  begreiflicherweise  an  Beethoven's  Sinfonien 
manches  auszusetzen  hatte,  sehr  einverstanden. 

In  der  Instrumentirung  ist  nichts  Ausserordentliches 
als  der  Zusatz  von  drei  Posaunen,  die  hier  zum  ersten 
Male  in  Beethoven's  Sinfonien  erscheinen,  Piccolo  und 
Contrafagott  —  aber  der  innere  Schwung  und  die  Kunst 


cG»     159     ^ 

des  Componisten  erreichen  mit  diesen  gewöhnlichen  Mitteln 
eine  elementare,  donnerähnliche  Wirkung.  Echt  Beet- 
hoven'sch  ist  die  Beharrlichkeit,  mit  welcher  das  endliche 
Ende  immer  wieder  hinausgeschoben  und  umgangen  wird. 
Schliesslich  muss  es  doch  kommen,  aber  nicht  ohne  einen 
letzten  neuen  Trumpf:  ein  freudezitterndes  Presto  über 
das  Thema  d. 

Mit  Recht  ist  die  C  moll-Sinfonie  Beethoven's  seine 
populärste.  Sie  war  das  von  allem  Anfang  ab.  Kaum 
bekannt  geworden,  findet  sie  sich  in  den  Programmen  der 
Virtuosen-Concerte  ebenso  gut  wie  auf  den  eben  ins  Leben 
tretenden  Musikfesten  —  eine  nie  versagende  pi^ce  de 
r^istance ! 

Wie  Beethoven    auf  die    Eroica   die   vierte  Sinfonie 
folgen    Hess,    so   schickte    er   ähnlich    auf  den   schweren 
Kampf  der  C  moll-Sinfonie  sich  und  den  Freunden  seiner  L.T.BMthoTen 
Muse  zur  Erholung  die  Pastorale  nach.  Pdar-Sinfonle 

Die  Biographen  erzählen  uns  von  des  Künstlers  leben-  ^'*  *•  P"*o'»i« 
digem  Gefühle  für  die  Schönheiten  von  Wald  und  Flur, 
von  seinem  unablässigen  Studium  der  Naturphilosophie 
jener  Tage.  Beethoven  hat  seinem  Wohlgefallen  an 
Wachtelschlag  und  Waldesrauschen,  seiner  Freude  und 
innigen  Liebe  zu  Gottes  freier  Schöpfung  in  vielen  Werken 
Ausdruck  gegeben;  in  keinem  glänzender  als  in  seiner 
Pastoralsinfonie. 

Sie  gehört  bekanntlich  der  Programmmusik  an,  sie 
ist  aber  ein  Idealwerk  dieser  Richtung,  welche,  wie  früher 
schon  erwähnt,  um  die  Neige  des  vorigen  Jahrhunderts 
in  Süddeutschland  und  Wien  einen  starken  Anhang  hatte. 
Von  keinem  Lessing  geschreckt,  unbekümmert  um  die 
—  heute  noch  nicht  festgestellten  —  Grenzen  der  Musik 
suchte  ein  grosser  Theil  der  damaligen  Instrumental- 
componisten  die  Stoffe  mit  der  grössten  Ungenirtheit  in 
allen  Gebieten  der  sichtbaren  und  der  gedachten  Welt: 
in  Philosophie  und  Geschichte ,  in  den  Werken  der  Dich- 
ter und  den  Phänomenen  der  Natur.  Jedes  Verlagsver- 
zeichniss  brachte  neue  Beiträge  zur  beschreibenden  Ton- 
kunst: Thayer  citirt  aus  2  Anzeigen  des  Verlegers  Traeg: 


c©     160     ^ 

5  Sinfonien  a)  Belagerung  Wiens,  b)  le  portrait  musical 
de  la  nature,  c)  König  Lear  (im  Jahre  1792),  drei  weitere 
aus  derselben  Zeit,  a)  la  tempesta,  b)  rharmonie  de  la 
-nature,  c)  la  bataille.  ,Le  portrait  musical  de  la  Nature* 
war  eine  5  sätzige  Composition  des  Stuttgarter  J.  H.  Knecht, 
der  als  Tonmaler  grosses  Ansehen  genoss.  Und  noch  grösser  war 
dem  Anschein  nach  die  Zahl  der  ungedruckten  Versuche, 
welche  auf  diesem  Felde  gemacht  wurden.  Noch  bis  in  die 
Zeit  Schumann^s  und  seiner  neuen  Zeitschrift  hinein  lassen 
sich  die  Spuren  der  reisenden  Orgelspieler  verfolgen,  welche 
wie  der  bekannte  L.  Böhner  ständig  auf  ihrem  Progranun  ein 
.Donnerwetter*  mit  sich  fUhrten.  In  einem  Concertzettel  des 
bekannten  Abt  Vogler  findet  sich  eine  solche  Orgelmalerei, 
welche  vor  der  Pastoralsinfonie  bereits  an  diese  erinnert: 
,das  vergnügte  Hirtenleben,  von  einem  Donnerwetter  unter- 
brochen, welches  aber  wegzieht,  und  sodann  die  naive 
und  laute  Freude  deshalb*.  Beethoven  lachte  wohl  Über 
solche  Malereien,  wenn  sie  kindisch  ausfielen,  aber  er  ver- 
schmähte sie  principiell  nicht,  und  es  war  auch  hier,  wie 
Thayer  richtig  sagt,  sein  Ehrgeiz,  die  Zeitgenossen  in 
der  Anwendung  vorhandener  Kunstformen  zu  übertreflfen. 
Doch  hat  es  ihm  wohl  einige  Mühe  gemacht  bei  der 
Pastoralsinfonie  über  die  Angabe  seiner  Programmideen 
ins  Reine  zu  kommen.  Einmal  steht  im  Skizzenbuch:  wer 
einen  Begriff  vom  Landleben  hätte,  müsse  den  Componisten 
ohne  alle  Titelhülfen  verstehen.  Dann  giebt  er  in  der 
Partitur,  in  den  geschriebnen  und  gedruckten  Stimmen  die 
Ueberschriften  mit  seinen  Unterschieden.  Vom  Anfang  bis 
zum  Schluss  bleibt  er  aber  bei  der  Bemerkung,  dass  die  Sin- 
fonie «mehr  Ausdruck  der  Empfindung  als  Malerei*  sein  solle. 
Der  erste  Satz  hat  jetzt  die  Ueberschrift :  .Erwachen  hei- 
terer  Empfindungen  bii  der  Ankunft  auf  dem  Lande'.  Von 
der  ersten  ausfuhrlichen  Recension  ab,  die  über  die  Pastoral- 
sinfonie erschien  ^)  bis  heute  ist  immer  wieder  die  Reserve  ge- 


^)  AUgemeine  Musikalische  Zeitung  1810,  S.  241.  Ebenda 
auch  über  die  C  moll-Sinfonie :  S.  630.  Der  zweite  Aufsats  bt 
von  E.  T.  A.  Hoffmann,  dem  Gespenster-Hoffmann. 


cc     161     t>- 

lobt  worden,  mit  welcher  Beethoven  sich  darauf  beschränkt 
habe  nur  den  Empfindungen,  den  innem  Gefühlen  Aus- 
druck zu  geben,  welche  das  Landleben  erregt.  Nicht  aber 
soll  er  versucht  haben  Aeusserlichkciten  des  Naturbildes 
nachzumalen.  So  ganz  streng  ist  das  nicht  zu  nehmen. 
Trotz  des  Titels  steht  in  dem  ersten  Satze  manches,  was 
in  die  Kategorie  der  Empfindungen  nicht  passt.  Die 
Triolen  der  Clarinetten  und  der  anderen  Bläser  nach  dem 
Abschluss  des  Hauptthemas,  der  lange  Triller  der  Geigen 
vor  der  Reprise  sind  doch  zu  deutliche  Anspielungen  auf 
das  Thun  und  Treiben,  das  Zirpen  und  Zwitschern  der 
Vögel.  Der  feine  Duft  in  der  Instrumentirung,  der  durch- 
klingende Schalmeienton,  der  Bnunmbassklang,  die  genre- 
hafte kurzlebige  Metrik  —  das  Alles  ist  doch  in  diesen 
ersten  Satz  als  der  musikalische  Niederschlag  reeller  Er- 
scheinungen des  Naturlebens  gekommen.  Uns  soll  das 
Werk  darum  nur  um  so  lieber  sein.  Was  die  technische 
Structur  des  Satzes  betrifi^,  so  zeichnet  sie  sich  durch 
ihre  zarte  Beweglichkeit  aus  und  durch  einen  gewissen 
Miniaturencharakter  des  verwendeten  Materials.  Leicht 
tändelnde  Themata  hat  Beethoven  auch  in  der  siebenten 
und  achten  Sinfonie  —  in  keiner  früheren  —  verwendet. 
Aber  sie  sind  da  weder  so  kurz  wie  in  der  sechsten,  noch 
werden  sie  so  naiv  und  zugleich  kühn  hinter  einander  weg 
wiederholt.  BJeine  eintaktige,  einviertelige  Figuren  kommen 
10,  20,  30  mal  hintereinander.  Es  ist  neuerdings  vermuthet 
worden,  dass  Beethoven  bei  der  Pastorale  unter  slavischem 
Einfluss  gearbeitet  habe.*)  Wohl  möglich:  Diese  Sinfonie 
ninmit  thatsächlich  die  ganze  Neurussische  Schule  vorweg. 
Für  Cantabilität  und  grossen  Ausdruck  bietet  nur  die  zweite 
Hälfte  des  ersten  Thema  eine  bescheidene  Unterlage 

Allegro  ma  non  lro£^.  _     _     _     ^ 


creic. 


^)   Vgl.    Kahacz,    X.      Sammlung   Kroatischer   Volkslieder 
(Agram  1878 — 85)   Bd.  III   und  den  Aufsatz:    „Das  Kroatische 
in  der  Pastoralsinfonie"  in  Allg.  Musikzeitung  1893,  S.  638. 
KretzBchmar,  FUhrer,  I.  11 


^     162     ^ 

^^■h  i  f    p   \}\  .    Der  Zusatz  von  DankgefUhl,  welche  der 

Heiterkeit  dieses  Gedankens  schon  mit  beigemischt  ist,  kommt 
in  dem  Zwischenmotiv,  welches  zum  zweiten  Thema  über- 
leitet, noch  be-    p  ■    ß^  i  ■     ■    ^^^•^-  |  t-f-^^m=^:^f^\  \ 
redter     heraus  fr  ^   ^  ^.LJf  *  f  l  'f  f  i  ^  '■J  ■/  I  f  |-j— p-J* 


In  seinen  inmier  neuen  Wiederholungen  kann  es  sich  gar 
nicht  genug  thun:  es  wandert  durch  alle  Instrumente, 
überall  das  Bewusstsein  der  glücklichen  Stunde  weckend, 
zu  ihrem  vollen  Genüsse  ladend.  In  verwandten  Bildungen 
kommt  auch  die  ,Scene  am  Bach*  und  der  , Hirtengesang* 
des  Finale  darauf  zurück.  Das  zweite  Thema  selbst  ist 
nur  der  Abschluss  der  beglückten  Schwärmerei: 


|f^■fLg^l^t-lf^-^^^H 


•f"^  r~L.\  r  In  den  formellen  Elementen  zeigt  es  sich 


dem  ersten  Thema  mehr  verwandt  als  entgegengesetzt.  Für 
die  Durchfuhrung  hat  der  zweite  Takt  des  ersten  Themas 
Hauptbedeutung.  Aus  ihm  entfaltet  Beethoven  breite 
Bilder,  wechselnden  Scenen  der  durchwanderten  Natur 
gleich,  die  zum  Staunen  und  Lauschen  veranlassen.  Dem  An- 
schein nach  sind  sie  alle  ähnlich  leicht  entworfen  wie  die  ent- 
sprechenden Abschnitte  der  4.  Sinfonie.  Beidemale  handelte 
es  sich  um  Ideen,  mit  denen  Beethoven*s  Phantasie  spielen 
konnte,  nicht  zu  ringen  brauchte.  Soll  aus  diesem  Dupch- 
fuhrungstheil  etwas  hervorgehoben  werden,  so  möchte  man 
gleich  beim  Eingang  beginnen.  Hier  sind  die  scharfen 
Biegungen  so  auffällig  und  fesselnd,  die  der  Weg  macht. 
Von  B  nach  Z),  dann  nach  G  und  J'J;  immer  gehts  im 
scharfen  Ruck:  Landschaftliche  Ucberraschungen !  Vom 
Glänzenden  wendet  sichs  nun  zum  Intimen  und  wie  der 
Wechsel  auch  weiter  geht,  der  Genuss  wächst  nur.  Weil 
menschliche  Schwäche  anmuthige  Kunstwerke  hinter  die 
leidenschaftlichen  stellt,  sind  wir  —  England  ausgenonunen 
—  fUr-  den  ersten  Satz  der  Pastoralsinfonie  nicht  so  dank- 


^     163     ^ 

bar,  wie  er's  verdient.  Steht  er  doch,  wie  es  Beethoven 
auch  sichtlich  gewollt  hat,  dem  ersten  Satz  der  Fünften  an 
Kunstwerth  mindestens  gleich.  Moritz  von  Schwind  und 
nach  ihm  neuere  Maler  haben  die  Pastoralsinfonie  zu 
illustriren,  Theaterdirektoren  und  andre  Leute  von  Phan- 
tasie haben  sie  scenisch  und  mit  lebenden  Bildern^)  auf- 
zufuhren versucht.  Für  die  andren  Sätze  mögen  diese 
Versuche  annehmbar  sein ;  von  dem  Inhalt  und  Charakter 
des  ersten  geben  sie  keine  Ahnung. 

Im  zweiten  Satz  hat  Beethoven  die  malende  Ten- 
denz offen  eingestanden:  er  nennt  ihn:  «Scene  am  Bach*. 
Im  Vordergrunde  dieser  entzückenden  Composition  stehen 
als  die  Hauptthemen  zwei  leicht  eingängliche  gesang- 
volle Melodien,  aus  denen  das  ganze  glückliche  Behagen 
einer  von  allem  Tagewerk  befreiten,  der  herrlichsten  Ruhe 
und  den  lieblichsten  Träumereien  hingegebenen  Seele 
spricht,  und  wir  dürfen  Alles  mit  geniessen.  Der  Ton- 
dichter führt  uns  an  den  sonnigen  Waldbach  hin,  wir 
sehen  die  glitzernden  Wellen  dahingleiten  und  hören  ihr 
melodisches,  fleissiges  Gemurmel.  Tausende  von  Lichtem 
blitzen  durch  die  Bäume;  von  ihren  Zweigen,  ihren 
Gipfeln  schallen  kleine  zarte  Stimmen;  es  neckt  sich,  es 
lockt  sich;  es  lebt  im  Laub  und  im  Grase;  der  Kukuk 
ruft,  die  Wachtel,  die  Nachtigall,  der  Goldammer  und  aus 
der  Schaar  der  gefiederten  noch  so  mancher  andre  unge- 
nannte Sänger.  Es  ist  ein  so  lebendiges  Bild  von  dem 
heimlichen  Weben  der  Natur,  so  glücklich  gemischt  mit 
menschlicher  Poesie,  so  natürlich  in  dieser  Mischung  und 
in  seinem  ganzen  Verlaufe.  Die  Musik  des  Satzes  ist  fast 
mehr  klanglich  als  gedanklich.  Es  trillert  fortwährend  in 
Violinen,  Flöten,  Oboen,  die  Bässe  und  Homer  halten, 
durch  Syncopen  doppelt  bemerklich,  lange  Töne,  es 
schwirrt  von  kleinen  Motiven.  Das  erste  Thema  im  Satze 
wächst  sich  aus  solchen  verstreuten  Ansätzen  ziemlich  un- 
merklich   zu    einer   Melodie    aus    (Bdur)    schwärmerisch, 


^)  Vgl.  Jahn,  O.     Gesammelte  Aufsätze:  S.  260  „Beethoven 
im  Malkasten'*. 


11* 


ee     164      -EX. 

träumerisch,  mit  einem  frommen  Anklang.  Das  zweite 
Thema,  das  die  Fagotts  bringen,  spricht  Freude  und  Ent- 
zücken etwas  lebhafter  aus,  aber  doch  immer  noch  zart. 
Die  Durchführung  ist  kurz,  modulirt  aber  viel.  Da  wo 
sie  nach  G  dur  tritt,  lässt  sich  in  einem  Arpeggio  der  Flöte 
—  wie  Beethoven  Schindler  mittheilte,  —  der  Grold- 
ammer  hören.  Der  berühmte  Scherz,  wo  Nachtigall, 
Wachtel  und  Kukuk  zusammenwirken,  befindet,  sich  in 
der  Coda. 

Im  folgenden  Satze  wird  ein  , lustiges  Zusammensein 
der  Landleute*  geschildert.  Man  versammelt  sich,  sehr 
munter  und  leichtfüssig  eilt  das  junge  Volk  herbei: 

Allefro. 

Sofort  wird  auch  der  Vorschlag  zu  einem  Tänzchen  gemacht, 

zunächst  noch  leise :  ^^^ -Jf^r[^r^    f    |  f^^^t^^. 

Als  immer  mehr  kommen,  und  es  lauter  und  lauter  wird, 
da  ist  die  Möglichkeit  eines  Reigens  Thatsache  und  wird 
mit  urkräftiger,  allgemeiner  Zustimmung  begrüsst.  Und 
nun  beginnen  jene  drolligen  Scenen,  in  welchen  Beethoven 
sich  als  Bauemmaler  mit  vollendetem  Humor  und  mit 
weitgehender  Realistik  neben  und  über  die  Teniers,  J. 
von  Ostade,  Adrian  Brouwer  und  die  andern  Grössen  des 
Faches  stellt.  In  der  Form  dieser  Schilderungen  liegt 
ein  zweiter  grosser  Spass,  denn  es  ist  darin  sehr  über- 
müthig  die  saloppe  Art  und  Weise  copirt  und  parodirt,  in 
welcher,  wie  heute  noch,  auch  zur  Zeit  der  Wiener  Meister 
ländliche  Orchester  zuweilen  ihr  Pensum  Tanzmusik  ab- 
solviren.  Das  sind  ganz  die  richtigen,  armen,  müden  und 
schlaftrunkenen  Bierfiedler.  Man  hört  lange  Strecken  nur 
begleitende  Mittelstimmen  und  Rhythmus.  Dann  setzt  eine 
Oboe  ein,  aufs  Gerathewohl.  Sie  scheint  eben  erwacht, 
und  hinkt  ihre  Melodie  ein  Viertel  nach  der  Zeit  hinter- 
her. Ab  und  zu  giebt  auch  ein  anderer  ein  paar  Töne 
drein,  um  gleich  wieder  zu  verschwinden.    Von  besonderer 


uy 


165 


'd^ 


Komik  ist  namentlich  der  stereotype  Einsatz  des  ersten 
Fagott,  der  immer  nur  f  c  bläst.  Dass  Beethoven 
specifisch  österreichische  Vorbilder  für  diesen  ausge- 
lassenen Scherz  im  Auge  hatte,  zeigt  der  zweite  Theil 
dieser  Tanzmusik:  der  Zweivierteltakt,  welcher  den  Drei- 
viertel ablöst.  Die  alte  östreichische  Tanzmusik  ist  suiten- 
mässig  gehalten  und  liebt  den  plötzlichen  Wechsel  der 
Rhythmen.  Nimmt  man  zu  der  Melodie  dieses  neuen 
Satzes 


mit  ihrem  Lärm  und  ihren  gewaltsamen  Accenten  noch 
die  breiten  Rhythmen  und  die  unbewegliche  Harmonie 
der  Begleitung,  so  ist  das  Bild  einer  plumpen  und  schwer- 
fälligen Lustigkeit,  einer  Lustigkeit  in  Holzschuhen  und 
Aufschlagstiefeln,  vollendet.  Ganz  drastisch  ist  der  Schluss 
dieses  Mittelsatzes.  Man  tobt  zuletzt,  dass  der  Athem 
ausgeht:  eine  Fermate  mit  diminuendo  bildet  das  über- 
raschende Ende  dieses  die  Stelle  des  gewöhnlichen  Trio 
vertretenden  Theils.  Die  Repetition  des  Hauptsatzes  be- 
ginnt, sie  wird  aber  schon  bald  durch  eine  Generalpause 
unterbrochen.  Augenscheinlich  macht  sich  etwas  Be- 
denkliches bemerkbar.  Endlich  ist  man  wieder  im  alten 
Geleise;  schon  setzt  die  Dorfmusik  wieder  ein:  Da 
kommt  statt  des  regelrechten  kräftigen  Fdur-Accords  ein 

-CT AI     *5-f ^—    ^^   ^^^  Contrabässen  und   Cellos.     Das   ist 
-  >ii  j^  |:d^    gjji  Donnerschlag  in  der  Ferne.     Man  flüch- 


ßv 


tet,  rettet  sich  und  ruft  ängstlich  und  klagend  durcheinander: 

Das   Grollen 
des   Donners 


Jl.Viol. 


•fc.  und  Jfp  I.Viol. 


wiederholt    sich,    rückt    näher,    und    nun    im   Fortissimo 

t\.    -    .    =    .f  f>.  s  .    .    ^^       bricht dasjWetter 

AV'\>         \         l'     ^-l^ir  r.  j  J  I  I        los.BUtzezucken: 


c<?     166     ^ 


4  .k^ — -:ft^-V-^  ^    I-       f-f-^~^  Windstösse  fahren  ein- 
P  j^^^~^~^'^~~*7j)  ^^^--— >       her,    Regenschauer 


platzen  nieder  in  mächtigen  Unisonos  des  ganzen  Orchesters : 

Auf  Momente   tritt 


-jt-p^j.,  m  II  Äur   iKLomenie   inw 

^--^ i-T-Pf^-T-f  f  i-^'    unheimliche     Ruhe 


ein,  dann  zuckt  es  wieder  auf  und  schlägt  scharf  und 
furchtbar  drein.  Den  Ernst  der  Situation,  den  Höhepunkt 
der  Krisis  bezeichnen  die  Bässe  mit  ihrem  düstern  Scalen- 

gang    und    seinen     er-    ^^y-rH-f^-fH^ri»  hiTl    J    11^ 
schreckenden    Accenten  Jy  ^f         Jf         ^^ 

In  das  furchtbare  Grollen  und  die  Aufregung  der 
Orchestermassen  wirft  jetzt  auch  der  Piccolo  seine 
schrillen  Töne,  die  Pauke  wirbelt  stärker,  und  zum 
ersten  Male  in  der  Sinfonie  stürmen  die  Posaunen  drein. 
Die  Harmonie  ist  auf  einem  vier  Takte  langen  Septimen- 
accord  erstarrt!  Nun  scheint  aber  auch  das  Schlimmste 
vorbei  zu  sein.  Und  so  gewaltig  Beethoven  bis  hierher 
im  Aufthürmen  und  Drohen  war,  so  rührend  theilt  und 
glättet  er  nun  die  Wogen  und  lenkt  zu  dem  letzten  Theil 
der  Sinfonie  über,  dem  „Hirtengesang* ,  der  unmittelbar 
ohne  Pause  an  das  „Gewitter*  anschliesst.  Wenn  wir  an 
diesem  beendeten  Satz  die  Wahrheit ,  die  Macht  und  die 
Naturtreue  der  Darstellung  bewundem,  wollen  wir  nicht 
vergessen  auch  der  noch  schwierigeren  Kunst,  die  er  hier 
voll  bewiesen,  unser  Augenmerk  zu  schenken.  Das  ist  das 
Maass,  welches  Beethoven  bei  der  Ausführung  der  für  die 
Tonkunst  dankbaren  Aufgabe  hielt,  der  souveräne  Ge- 
schmack mit  dem  er  aufhörte ,  nachdem  das  Nöthigste 
aufs  Treffendste  gebracht  war. 

Der  „Hirtengesang*  (AUegretto  ^/b)  soll  „frohe  und 
dankbare  Gefühle  nach  dem  Sturme"  schildern.  Er  thut 
es  mit  Motiven,  welche  von  hier  und  da  erklingen  und 
deren  pastoraler  Charakter  und  deren  Einfachheit  Citate 
unnöthig  machen.  Er  thut  es  mit  frommem  innigem  Ge- 
sang,   mit   Wendungen   in    das   muntere   Gebiet   und  mit 


oG»     167     '^ 

mancher  versteckten  und  sinnigen  Anspielung  an  Motive 
des  ersten  und  zweiten  Satzes.  Aber  er  thut  das  Alles 
in  einer  etwas  sehr  ausführlichen  Weise,  mit  Variationen, 
Fugatos  und  andern  Formen,  die  der  Wirkung  seiner 
schönen  Idee  von  jeher  etwas  Eintrag  gethan  haben.  Zu 
Beethoven's  Zeit  wurde  darauf  hingewiesen,  dass  Haydn 
in  seinen  Jahreszeiten  das  gleiche  Sujet,  weil  kürzer, 
efiFectvoUer  behandelt  habe.  Der  formell  beachtenswertheste 
Zug  an  der  Pastoralsinfonie  ist  ihre  Dreisätzigkeit.  Sie 
zieht  gleich  wie  die  fünfte,  die  mit  ihr  entstand,  Scherzo 
und  Finale  zusammen.  Wir  finden  andere  Merkmale  eines 
solchen  Parallelismus  an  Beethoven*schen  Werken  häufig. 

Die  siebente  und  achte  Sinfonie  sind  wieder  Zwillings- 
werke: beide  wurden  in  demselben  Jahre  1809  skizzirt, 
beide  1812  —  die  achte  in  Linz  —  vollendet,  bald  nach 
einander  im  December  1813  und  Februar  1814  aufgeführt 
und  später  als  op.  92  und  93  veröffentlicht.  Die  Musik 
beider  Werke  trägt  die  Züge  einer  und  derselben  sonnigen 
Heimath,  beide  sind  von  grandioser  Heiterkeit,  die  eine 
mit  einem  starken  Schatten  darin,  die  andere  ganz  un- 
getrübt —  aber  merkwürdiger  Weise  hat  die  achte  nichts 
von  der  überreichen  Popularität  der  siebenten,  der  Adur- 
Sinfonie,  erringen  können.  Zum  Aerger  Beethoven*s, 
welcher  zu  sagen  pflegte:  die  achte  sei  ,viel  besser*  als 
die  siebente.  In  Wien  wurde  Jahre  lang  die  Pastoral- 
sinfonie schlechthin  als  die  Sinfonie  in  Fdur  angezeigt, 
als  ob  die  achte  gar  nicht  existirte.*)  Erst  neuerdings 
zeigen  die  Concertzettel  die  Tendenz,  dieses  Hohelied  des 
Humors  zu  Ehren  zu  bringen. 

Aehnlich   wie  die   zweite  Sinfonie  eröffnet  die    sie-L.T.Beethoren 
beute  eine  lange  ausführliche  Indroduction,  ein  herrliches,  Adur-Sinfonie 
träumerisches  Tongemälde ,  in  dessen  Bann  der  Zuhörer        Nr.  7. 
ganz    vergisst,    dass    es    nur    eine    Einleitung    sein    soll. 
Auch  Beethoven  hat  mit  gleicher  Liebe  kaum  eine  zweite 
Indroduction  behandelt.    Ihre  Hauptmotive  sind 


^)  E.  Hanslick:  Aus  dem  Concertsaal  (1870)  S.  819. 


ce 


168 


-c» 


Foco  sostennto. 


-  fj.'f^'^'rffH^ 


beide  zum  ersten  Male  von  der  Oboe  eingeführt;  gigan- 
tische Scalen  bilden  den  Uebergang.  Aehnlich  wie  in  der 
letzten  Ouvertüre  zu  ^Fidelio',  der  in  E,  benutzt  Beet- 
hoven die  ersten  beiden  Noten  des  Adur-Themas  zu 
romantischen  Bildern,  über  denen  jetzt  Mondschein,  jetzt 
der  Glanz  der  prangenden  Sonne  liegt.  Plötzlich,  wie 
auf  den  Wink  eines  verschwiegenen  Programms  bricht  er 
dann  diese  Scene  erhabner  Schwärmerei  ab  und  lenkt  in 
neckischer  Führung  der  Instrumente  über  ins  Vivace, 
dessen  Hauptthema 


vivace. 


Y''''^'|J7OT|  J  ^  t  J)|  J  i)^  \^^  ä  'r  f  ^^ 


.ly^f 


j J)J^i^j  I     }\f ;iJT3irTpi^ /.JTlirr pi 


zugleich  auch  im  Wesentlichen  das  Einzige  des  Satzes 
ist.  Derselbe  ist  in  dieser  Beziehung,  in  der  Ausbeutung 
eines  beschränkten  Grundmaterials  mit  dem  Eingangs- 
satze der  C moll-Sinfonie  verwandt,  im  Charakter  selbst- 
verständlich ganz  verschieden.  Beethoven  gewinnt  dem 
naiven  pastoralen  Grundgedanken  des  Satzes  der  zuerst 
wie  ein  Nachklang,  ein  Supplement  der  sechsten  Sinfonie 
auftritt,  Wendungen  von  hoher  Pracht  und  Erhabenheit 
ab;  das  Gebiet  des  Leidenschaftlichen  und  des  Dunklen 
wird  nur  gestreift.  Reich  ist  der  Satz  an  langgemessenen 
Perioden,  Producten  einer  ungewöhnlichen  Macht  und 
Grösse  der  Empfindung;  eigenthümlich  sind  ihm  die 
schroffen  Modulationen  und  der  unvermuthete  und  unver- 
mittelte Wechsel  extremer  dynamischer  Nuancen.    In  beiden 


c<?     169     ^ 

Merkmalen  äussert  sich  excentrische  Stimmung.  Auch  das 
kurz  abbrechende  Element,  das  den  Schluss  der  Einleitung 
charakterisirte ,  kehrt  in  diesem  Vivace  wieder:  mit 
Dissonanzlösung,  Modulationssprung  und  Wechsel  von  ff 
und  pp  verbunden  sehr  kühn  und  neu  gegen  den  Schluss  des 
ersten  Theils  wo  dem  lauten  Accord:  a-cis-e-fis  vorüber- 
gehend ein  stilles  —  a  c  f  —  folgt.  Die  Durchführung  be- 
ginnt ähnlich  sprunghaft.  Wir  sind  plötzlich  in  Cdur, 
aus  wildem  Lärm  in  verschwiegner  Idylle:  tief  unten 
flüstern  und  murmeln  die  Bässe  das  Thema.  Bei  der 
Reprise  geht  es  mit  Sturm  und  Scalenanlauf  in  das 
pastorale  Hauptthema;  erst  später  wiederholt  es  die  Oboe 
in  seinem  angestammten  Ton.  Wie  dieses  eine  Beispiel 
so  ist  der  ganze  Verlauf  dieses  Theils  Wiederholung  in 
freister  Art;  in  der  Instrumentirung,  im  ganzen  Charakter 
erscheint  das  alte  Material  neu  und  frisch  belebt.  Die 
Coda  ist  mehr  als  je  Beethovenisch.  Sie  tritt  unter 
seltnen  Zeichen  ein:  mit  Generalpause,  mit  einer  ganz 
imerwartet^n  Ausweichung  der  Harmonie  nach  As  und 
einer  langen  Satzbildung  über  einem  kurzen  Basso  ostinato 

folgenden   Inhalts    .?  *<*  f'^*^  k^j^    '^'   1«     Was    uns 

andere  Stellen  vernehmlich  genug  andeuten,  das  zeigt 
uns  diese  ganz  deutlich  und  unverkennbar,  dass  nämlich 
hinter  der  anscheinend  dominirenden ,  manchmal  grellen 
Heiterkeit  dieses  Satzes  doch  höhere  und  ernstere  Ge- 
danken wachen,  die  sich  nicht  übertäuben  lassen.  Es  be- 
steht ein  Zusammenhang  zwischen  dieser  Stelle  und  dem 
edlen  Pathos  der  Indroduction ,  ein  Zusammenhang,  der 
sich  auch  noch  in  der  Melancholie  des  Allegretto  und  in 
den  feierlichen  Visionen,  welche  dem  Trio  des  Scherzo  zu 
Grunde  liegen,  verfolgen  lässt.  Wie  ein  leitender  Faden 
geht  durch  die  ersten  Sätze  dieser  Sinfonie  der  halbver- 
schwiegene Kampf  zwischen  einer  jetzt  harmlosen,  alltäg- 
lichen, jetzt  wilden  Fröhlichkeit  und  einer  höheren  Sinnes- 
art. Die  Sinfonie  erscheint  unter  diesem  Gesichtspunkt 
als  ein  Lebensbild,  aber  nicht  als  ein  rein  freundliches. 
Das  Ende  deckt  ein  ironischer  Humor. 


^     170     ^ 


Der  zweite  Satz  der  Adur- Sinfonie,  Allegretto  über* 
schrieben,  ist  von  Alters  her  berühmt.  Die  Berichte  aus 
den  Jugendjahren  des  Werkes  theilen  fast  von  jeder  Auf- 
fuhrung mit,  dass  dieser  Theil  zur  Wiederholung  ver- 
langt worden  und  gebracht  sei.  Das  AUegretto  besitzt 
jene  seltne  Art  von  Originalität,  die  sofort  verstanden 
und  sympathisch  aufgenommen  wird.  Am  Eingang  und 
Ausgang  des  Satzes  steht  wie  eine  Erscheinung  aus 
fremdem  Lande  ein  Bläseraccord ,  auf  eine  Quartsext- 
harmonie kühn  und  vielsagend  hingestellt.  Dann  be- 
ginnen die  tiefen  Saiteninstrumente  still  und  leise  das 
merkwürdig  resignirte  Thema: 


mit  dem  gebrochnen  Marschrhythmus  hinzustammeln. 
Erst .  mit  dem  Eintritt  der  Geigen  kommt  Fluss  in  die 
Sprache:  Celli  und  Bratschen  begleiten  mit  einer  Melodie 
von  innig  sehnsüchtigem  Ausdruck 

>M n>  ft"^tf ifrr  ifUffffff^^^\^^^f  I 

Je  mehr  sie  aus  ihrem  anfänglichen  Versteck  heraus- 
tritt, um  so  wärmer  wird  der  Ton  der  Darstellung.  Wie 
einer  Bitte  die  Verheissung,  so  folgt  diesem  edel  weh- 
müthigen  Satze  eine  einfach  sanfte,  freundliche  Melodie, 
die  wie  eine  Mutterstinmie  tröstend  und  zusprechend  aus 
der  Clarinette  weich  herüberklingt: 


r  ifru  i  u  J  iTiTTr  \fTu 


iiT  I  r  TT  lfm 


•te. 


Der  einfache  Contrast  von  Moll  und  Dur  wirkt  hier  mit 
ganz  ursprünglicher  Elementarkraft.  Die  Bässe  klopfen 
unter  diesem  Gesang  den  alten  Marschrhythmus  leise 
weiter,    der  wie  Cerberus  unter  Orpheus'   Saitenspiel  zu 


cc?     171     -0- 

erweichen  scheint.  Mit  einem  Male  aber  fahrt  er  wie 
eine  Tigertatze  hervor;  schrill  und  heftig  durchsausen 
die  trotzigen  Achtel  das  Orchester  von  einem  Ende  zum 
andern.  In  veränderter  und  erweiterter  Form  beginnt  die 
Repetition.  Nachdem  die  zweite  Grruppe  wieder  vorbei- 
gezogen, folgt  das  Ende  sehr  rasch  mit  all'  der  eigen- 
thümlichen  und  schmerzlichen  Schönheit  eines  gewalt- 
samen Abschiedes. 

Mit  derselben  Erscheinung  eines  unbarmherzigen  Los- 
reissens  von  prächtigen  Bildern    endigt    auch  der    dritte 
Satz.     Das  Trio  mit  dem,    nach  Abb^  Stadler*)    einem 
östreichischen  Wallfahrtsgesang  entnonmienen  Thema: 
Aiia!  meno  pretto. 


bildet  den  paradiesischen  Theil  dieses  Satzes.  Es  ist 
nicht  auszusagen,  welch'  ein  zauberhaftes  Tongebilde 
Beethoven  dieser  einfachen  Melodie  entlockt  hat,  wie  er 
hier  das  Schöne  in  immer  neuen  Arten  ausbreitet  von 
der  lieblichen  stillen  Idylle,  mit  welcher  die  Holzbläser 
einsetzen,  bis  zu  den  im  Sonnenglanze  strahlenden,  fest- 
lichen und  feierlichen  Schlüsse,  in  dem  das  Thema  unter 
Pauken  und  Trompetenklang  mit  dem  vollen  Orchester 
wie  auf  dem  stolzen  Siegeswagen  einherzieht.  In  einer 
genial  -  energischen  Weise,  die  ohne  Gleichen  ist,  hat 
Beethoven  in  diesem  Trio  den  Effect  einer  sogenannten 
liegenden  Stimme  angebracht.  Den  ganzen  Triosatz 
durchschinmiert  der  gleiche  Klang  eines  festgehaltenen  a; 
bald  schwebt  dieser  Ton  in  den  Violinen  über  den  Me- 
lodien, bald  leuchtet  er  aus  den  unteren  Instrumenten 
in  den  Gesang  des  Orchesters  hinein;  am  eigenthüm- 
lichsten  an  den  Stellen,  wo  das  zweite  Hörn  ihn  murmelt. 
Schärfer  als  sonst  vielleicht  mit  Ausnahme  seiner  ersten, 
der  C  dur-Sinfonie ,  wollte  Beethoven  hier  das  Trio  gegen 
den  Hauptsatz  contrastiren  lassen.    Die  Tonarten  zeigen 


1)   Vgl.  A.  W.  Thayer:    L.   v.   Beethoven's  Leben   (1879) 
lU.,  191. 


to     172     '^ 

das  schon:   D  za  F,    Der  Hauptsatz  selbst  ist  ein  echter, 
der  Capricen  voller  Schwarmgeist. 

Pretto.  ^) 

iji >  ii j  i^j^jh j  ii|  ii  I  n"  I  I  II  I  I  I,  ,  1 1 


j.ir  r  f  ir  r  M|  I  I  I  I  Ti  I  I  i|~i  I 


Seine  Haupttrümpfe  spielt  er  in  seinem  zweiten  Theile 
aus,  wo  auf  Grund  der  Motive  a  und  c  der  überraschendste 
Schabernack,  namentlich  auch  in  metrischen  Dingen  ge- 
trieben wird.  Der  Bau  des  ganzen  Satzes  ist  abweichend, 
aber  einfach,  nämlich :  Hauptsatz  und  Trio  zweimal.  Der 
Hauptsatz  wird  zum  dritten  Male  durchgespielt,  auch  das 
Trio  setzt  zum  dritten  Male  ein,  gelangt  aber  nicht  über 
den  zweiten  Takt  hinaus;  sondern  Beethoven  schlägt  ein 
Schnippchen  und  „spritzt  die  Feder  aus' ,  wie  Schumann 
sagte. 

Das  Finale  bt  einer  der  ausgelassensten  Sätze  in 
der  ganzen  Musik:  Beethoven  nicht  blos  „aufgeknöpft* 
wie  er  sich  gern  sah  und  nannte,  sondern  Beethoven  in 
einer  demonstrativen,  wilden,  trotzigen  Lustigkeit,  die  zu 
einem  Theil  derselbe  „Galgenhumor*  zu  sein  scheint,  der 
in  seinen  letzten  Kammermusikwerken  öfters  wiederkehrt. 
Dieser  Satz  tollt  daher  wie  von  der  Tarantel  gestochen, 
jauchzt,  schreit  auf 

Allegro  eon  brio.  

pocht  in  überschäumender  ELraft 


^)  Qrove  macht  darauf  aufmerksam,  dass  das  Thema  auch 
in  Beethovens  Accompagnement  zu  dem  Irischen  Lied  „Nora 
Croina"  vorkommt. 


ce     173     -&» 


und  mischt  auch  in  seine  Grazie 
^,^    einen  Zug  des  Grotesken: 


ff  f /f  nfSr  f fr  9  rlir  f f r  f jUr  ^T?  yTir  ^'/f  f /l 


If  f'/T  f/  I  rJT  [   l*[J  r   I  ^^.  Ein  formelles  Element, 

welches  sich  an  diesen  Themen  nicht  einfach  beweisen 
lässt)  aber  in  ihrem  Zusammenhang  ersichtlich  wird,  ist 
die  Hereinziehung  ungarischer  Rhythmen,  Accente  und 
Anklänge.  Unter  den  Combinationen,  in  welchen  Beet- 
hoven das  hier  skizzirte  Ideenmaterial  entwickelt,  sei  die 
Fdur-Stelle  am  Anfang  der  Durchführung  hervorgehoben. 
Da  stösst  der  Fluss  auf  ganz  merkwürdige  Hindemisse, 
zu  deren  Beseitigung  die  Violinen  und  die  Bässe  sich 
grotesk  riesig  anstrengen.  Die  Kühnheit  der  thematischen 
Entwickelung  erreicht  den  Gipfel  mit  dem  colossalen 
Orgelpunkt  der  Coda.  Wir  stehen  hier  ganz  in  der  Nähe 
des  Maasslosen  und  thun  gut  im  Interesse  unsrer  Jugend 
zu  bemerken  und  zu  bekennen,  dass  Beethoven  zuweilen 
geneigt  war  seine  Intentionen  mit  übermüthiger  Hart- 
näckigkeit auf  die  Spitze  zu  treiben.  Eine  »ungebändigte* 
Persönlichkeit  nennt  ihn  Goethe  in  einem  Brief  an  Zelter. 
Es  lässt  sich  nicht  leugnen,  dass  darunter  auch  die  klang- 
liche Klarheit  und  Ausführbarkeit  unsres  Finales  gelitten 
hat.  Wenn  ein  Theil  unsrer  heutigen  ELritik  die  von 
Fach-  und  Zeitgenossen  Beethoven's  gegen  diese  Punkte 
gerichteten  Einwendungen  schnellfertig  auf  Neid  und  Be- 
schränktheit zurückzuführen  beliebt,  giebt  er  sich  selbst  eine 
Blosse.  Unbedingte  Bewunderung  ist  eine  erhebende  Er- 
scheinung, jedoch  nur  wenn  sie  auf  zureichender  Einsicht 
beruht. 

Die  achte  Sinfonie  (Fdur)  beginnt  ohne  Einleitung L.T.BeetboTen 
mit  Themen,   die  eine  laute  Fröhlichkeit,  ein  Behagen,  Fdur-Sinfonie 
aber  noch  nicht  einen  wirklichen  Humor  ausdrücken:  ^'*  *• 


c<?     174     o» 


HauptthemA. 
All«pro  Tirac«. 


Pf  ■  {^  I  M  F^ 


SeitanthemA. 


II  f',\^,fih\m- 


In  dem  Abschnitt  b  des  Hauptthemas  liegt  sogar  ein 
sinnendes,  zögemdes'  Element,  welches  das  zweite  Thema, 


ifi  njjiiJj'  njjj]  ni^jXn  II  1^1 


r  r^r  in7r^i-r^^4g^^^ 


trotz  seines  tändelnden  Eintritts,  theilt  und  in  fast  stär- 
kerem Grade  besitzt.  Der  Schalk  konmit  erst  später  und 
zwar  am  Schlüsse  der  Wiederholung  dieses  zweiten  Themas 
durch  die  Bläser.  Da  machen  die  Bässe  dem  Ritardando 
und  dem  Septimenaccord  ein  rasches  Ende 

y  .J^J  Ji'^i*      I  '     und  wecken  Kraft  und  Leben  in  der 

Versammlung.  Doch  bleibt  dem  ganzen  Satze  ein  elegi- 
scher Rest  —  sehr  schönen  Ausdruck  hat  er  in  dem  zweiten 
Seitenthema  gefunden 


il  i'r  r  i^f  r-|7-|  i^j.'Ti^  r  ir  f  ir  r  ir 

Der  Hauptzweck  der  Durchfuhrung  ist,  ihm  die  weitere 
Ausdehnung  zu  bestreiten,  was  in  einer  launig  barschen 
Art  auch  ausgeführt  wird.  Beethoven  beginnt  diese  Durch- 
führung mit  einer  kleinen  Bosheit  gegen  die  Bratschen; 
sie,  die  sonst  immer  in  Deckung  marschiren,  stellt  er  als 
hätten  sie  den  allgemeinen  Rückzug  versäumt  allein  hinaus 


CO     175     ^^ 

mit  dem  Motiv    V'   |    ^   f    |    J-   =  •    Diese  immer  wieder 

holten  vier  Noten  sind  die  kläglichen  üeberbleibsel  des 
glänzenden  Schlusses,  den  das  Tutti  dem  ersten  Theil  des 
Satzes,  der  Themengruppe  gab.  Sie  sind  zugleich  die 
variirten  Stichworte  für  den  Einsatz  des  zweiten  Themas. 
Doch  dieses  zweite  Thema  kommt  nicht,  sondern  Fagott, 
Clarinette,  Oboe,  Flöte  nach  einander  benutzen  die  Ge- 
legenheit, das  erste  Motiv  des  Hauptthemas  in  sentimentale 
Beleuchtung  zu  bringen.  Das  Tutti  fährt  lärmend  da- 
zwischen und  setzt,  nachdem  die  Versuche  noch  einigemale 
sich  wiederholt  haben,  auch  seine  Auffassung  durch :  Kraft 
ist  Trumpf.  Aus  den  ersten  6  Noten  werden  durch  Se- 
quenzen Perioden  gebildet,  in  denen  erst  die  Bässe  (D  moU), 
dann  die  zweiten  Geigen  (G  moll),  die  ersten  Geigen  (F  moll) 
die  Führung  übernehmen.  Die  Instrumente  reissen  sich 
formlich  um  das  Motiv;  vom  Einsatz  des  Desdur  ab 
stehen  wir  vor  einer  nahezu  beängstigenden  Kampfscene. 
Die  Bässe  bleiben  die  Sieger,  stellen  die  Ordnung  wieder 
her  und  beginnen  in  unbeschreiblich  stolzem  Ton  die 
Reprise  des^  Satzes.  Die  Coda  fängt  nochmals  contra- 
punktiBche   Neckereien   an.     Doch    mit   dem    heimlichen 


Schluss  des  Satzes:    m^  ^  p^ppjj    i  ^  bleibt  das  letzte 


Wort  den  Grazien. 

Es  bt  interessant  aus  den  Skizzenbüchem  Beethoven's 
zu  ersehen,  dass  der  ganze  schöne  Ausgang  des  ersten 
Satzes  (von  der  Fermate  ab)  nachcomponirt  ist. 

Dem  stark  humoristischen  Grundzug  dieser  Sinfonie 
zuliebe  hat  Beethoven  auf  einen  langsamen  Satz  in  ihr 
verzichtet  und  infolge  dessen  den  Mittelsätzen  dieses 
Werkes  einen  von  dem  an  dieser  Stelle  Gebräuchlichen 
ganz  abweichenden  Charakter  gegeben.  Der  zweite  ist 
ein  richtiges  Allegretto;  es  hüpft  auf  Kinderfüssen  dahin, 
jugendlich  durch  und  durch,  unschuldig  und  reizend, 
scheinbar  wie  in  einem  Zuge  hingeschrieben.  Es  ist  eins 
der   genialsten    und    gewinnendsten    Stücke    im    graziösen 


CG'     176     ^ 

Genre.  Ursprünglich  hatte  es  Beethoven  als  einen  Canon 
auf  Mälzel  und  sein  Metronom  entworfen.  Die  Sechzehntel- 
Accorde  mit  denen  die  Bläser  einsetzen,  sollen  also  das 
Klappern  dieses  Instruments  nachahmen.  Der  dritte  Satz 
ist  ein  echter  Menuett  im  alten  Schnitt,  in  halb  liebe- 
voller, halb  humoristischer  Hingabe  an  altvaterisches 
Wesen  und  Brauch  ausgeführt.  Wie  getreu  ist  die  ge- 
müthliche  Gravität  und  die  Innigkeit,  mit  der  vordem  ge- 

Tempo  dl  Mea. 
tanzt  wurde,      tf  ff      i  f       des  Anfangsmotivs,  wie  launig 
in    dem        &  *  die  Umständlichkeit,  mit  dei 

angesetzt,  ausgeholt  und  der  Takt  probirt  wurde,  in  dem 
Tempo  di  Mennetto. 


-li  ^   n  1^   P-.^  I^T^  wiedergegeben!    Das    Trio 
g    yU  '  QJj  ^^  '  V^^  ist    ein   verklärter  Ditters- 


dorf ,  eine  wunderliebliche  Idylle  aus  der  altwienerischen 
Musikantenzeit,  über  dessen  Charakter  der  Ciavierauszug 
keine  genügende  Auskunft  giebt.  Es  stehen  in  dem  Satze 
manche  kleine  Scherze  im  Stile  der  Dorfmusik  in  der 
Pastoralsinfonie.  —  Um  allen  Missverständnissen  in  der 
Behandlung  dieses  dritten  Satzes  vorzubeugen,  hat  ihn 
Beethoven  „Tempo  di  Minuetto*  überschrieben  d.  h.  nicht 
ein  blosser  Titularmenuett ,  wie  ihn  Haydn  oft  schreibt, 
sondern  einen  mit  der  Poesie  und  dem  Tempo  der  Spiess- 
bürgerzeit ! 

Das  Finale,  dessen  schon  früher  erwähntes  Hauptthema : 

Allegro  TiTace. 


rj* 


ü  "•  l'iil^  ^i^^^'i ^i^^^"il^^^ 


ebenso  wie  das  des  ersten  Satzes,  nach  Ausweis  des 
Skizzenbuchs,  zu  den  schwer  gefundnen  gehört,  steht  mit 
seinen  thematischen  Wurzeln,  aber  auch  mit  seiner  Ent- 
wickelung,  seinem  leichten,  schäumenden,  geistsprühenden 
Wesen  auf  dem  Boden  Haydn'scher  Kunst.    Es  ist  ein  ins 


l^*-^  :;->?*•   L:i=:,'ri-rlvLrf.     H:*-r   *^-rr   jv-V^    j^,>  G- jmisäu- 

*  Takt^  W'-irrT  :c  C  ior  :2r.ni<?r  I^i?<?r.  ht^imlicher.    Und  *1I^ 
mai  fillx  in  dirr  I^fizTrn  T"L»f  da  na  ein  Lama  ein.  dt  r  ui>>  aus 


aljrn  Himm- 


ln wL-ft:     4^    n    !      !    I    ; 


I>i *-*♦-«  ci«,  tfin  hTim<^»ri*ti«cht?s  Un^reh'nier.  ein  irä;izl;ob  un- 
ma*ikali«che*  Phän^tmen.  ein  S<*hreck!i<?huss,  ein  Uebererritf 
d*^  äu*s^r!4en  Rt^ali-mus  in  der  Kuü<t  ist  eine  Haiiptquelle 
für  die  originelle  Wirkunir  d»^s  Finalt.-s  der  S.  Sinfoni«'.  Es 
hat  nirgends  wieder  «**int*s  Gkicben;  vielleicht  jrlucklioher- 
wei*e.  Nach  dieser  rerwetrnen  Aurt\:hrunir  des  Haiipt- 
themaS;   setzt  nun  das  zweite  Thema   lieblicher  al>  je  ein 

i   \    f  ^  vf  i  \    i  \   "    |.     Es  schliesst   mit  einem  Anbauir: 


vn  r  J'   CJ"  I  r— >      r.'    I  r    «tc.  der  ganz  wie  leisesKiche 


rn 


PP 

klingt.  Die  Themengruppe  ist  damit  zu  Ende.  Der  Satz, 
einer  der  längsten  Beethovensinfoniesätze,  hat  modificirte 
Rondoform:  es  setzt  die  erste  Durchfuhrung  ein,  ernst 
durch  die  Herrschaft  des  neuen,  sehr  einfachen  Commando- 


motivs    "ffi  ^    I         I   n    I    "^    und    durch   Bildungt^n    aus 


den  Vierteln  vom  6.  bis  8.   Takt  des  Hauptthemas  ent- 

Kretzsohmar,  Führer,  I.  12 


^     180     '^ 

und  die  Skizzenbücher  zeigen  wie  er  wiederholt  dazu  aus- 
holt, es  in  Ouvertüren  —  z.  B.  bei  der  zur  Namensfeier  — 
zu  verwenden.  Aber  noch  im  Jahre  1823,  als  die  ersten 
drei  Sätze  schon  so  gut  wie  abgeschlossen  waren,  sehen 
wir  ihn  zwischen  einem  vocalen  oder  instrumentalen 
Schlusssatz  für  die  neunte  Sinfonie  schwanken.  Wenn 
Beethoven  sich  dann  doch  für  die  Zuziehung  des  Gresangs 
entschied,  so  handelte  es  sich  dabei  um  eine  Massregel, 
die  im  Princip  schon  Haydn  für  zulässig  erklärt  hatte, 
indem  er  Recitativ  in  der  Sinfonie  verwendete.  Beet- 
hoven war  ihm  darin  in  seiner  Fünften  gefolgt  und 
von  da,  zuerst  in  den  Skizze nbüchem,  dann  in  seiner  , Chor- 
fantasie **  zur  Verwendung  wirklicher  Menschenstimmen 
und  ausgeführter  Vocalmusik  weiter  geschritten.  Aus 
dem  17.  Jahrhundert  giebt  es  Cantaten,  von  denen  man 
nicht  weiss,  ob  sie  wohl  zur  Gesang-  oder  zur  Instrumental- 
musik gehören.  Auch  zu  Beethoven's  Zeiten  war  in  der 
Sinfonie  der  Chorschluss  versucht  worden.  So  von  P. 
von  Winter  in  seiner  Schlachtsinfonie,  die  bei  ihrem  Er- 
scheinen (1814),  so  schwer  begreiflich  das  diesem  Product 
aus  Lärm  und  Trivialität  gegenüber  auch  sein  mag,  viel 
Aufsehen  erregte  und  Beethoven's  „Schlacht  bei  Vittoria* 
an  manchen  Orten  aus  dem  Sattel  hob  Auch  eine  Sin- 
fonie „Schlacht  bei  Leipzig*  des  Böhmen  P.  Maschek 
(1814)  gehört  zu  dieser  Mischgattung  von  Sinfonie  und 
Cantate.  Freilich  war  zwischen  den  Formen  der  Sinfonie 
Beethoven's  und  der  anderer  Leute  ein  grosser  Unterschied, 
und  indem  Beethoven  für  die  Sätze,  welche  zur  Vor- 
bereitung, Begründung  und  Einleitung  der  Ode  dienen 
sollten,  seine  gewöhnlichen  Sinfoniemasse  des  AUegro,  des 
Scherzo  und  des  Adagio  nicht  nur  beibehielt,  sondern 
auch  noch  steigerte,  erhielt  Schiller's  Tempel  der  Freude 
einen  so  colossalen  Unterbau,  ein  Fundament  von  solchen 
Dimensionen,  solcher  Selbständigkeit  und  solchem  Reich- 
thum  an  eigner  Schönheit,  dass  das  Hauptwerk,  welchem 
dies  Alles  dienen  soll,  leicht  darüber  vergessen  werden 
kann.  Sei  es  nun  mit  der  formellen  Berechtigung  wie  es 
will;    keinesfalls  würde  Beethoven  die  Ode  ins  Finale  ge- 


c<? 


181 


-Oo 


bracht  haben,  wenn  zwischen  ihr  und  den  drei  ersten 
Sätzen  der  Sinfonie  keine  geistigen  Beziehungen  bestanden 
hätten.    Sie  aber  aufzufinden,  ist  nicht  schwer. 

Die  Schilderung  eines  Zustandes,  dem  die  Freude  fehlt, 
ist  die  wesentliche  Idee  des  ersten  Satzes.  Mit  der  Form- 
freiheit, welche  die  Werke  von  Beethoven 's  letzter  Periode 
auszeichnet,  setzt  er  zunächst  ohne  Thema  ein.  Es  wogt 
und  nebelt  chaotisch  und  unbestimmt  über  den  berühmten 
leeren  Quinten.  Dann,  erst  nach  16  Takten,  steigt  in 
finsterer  Majestät,  voll  Kraft  und  Trotz,  aber  durch  einen 
an  die  gleiche  Stelle  in  der  „Eroica*  erinnernden  Zug 
des  Leidens  gezeichnet,  die  Heldengestalt  dieses  Allegro 
zu  Tage: 

AllegTonon  troppo  an  poco  maestoso. 

i 


ff>FI^^"-f!Q-^lj^^ffff^lp>rTlP>'  I 


Welch'  heroischer  Eintritt,  wie  langgemessen  der  Weg  — 
aber  wie  sonderbar  wirr  das  Ende!  Das  Thema  setzt 
gleich  darauf  zum  zweiten  Male  von  einer  anderen  Seite 
ein,    in   Bdur,    ohne    sich   aber  wieder   so   breit  zu   ent- 


falten:   Ketten,   aus  dem  Motive    a^:^:^^:^   gebildet. 


decken  und  vorbereiten  den  Aufmarsch  seiner  zweiten 
Hälfte.  Es  capitulirt  am  Schluss  und  überlässt  unmittelbar 
das  Terrain   an   das  zweite  Thema    und    seine  Vorläufer 


cur. 


*e     182     ^ 


I  I  fl     p  if  ff  I   _    Auch   hier   das    gewaltige 
"w'^^bü  y*  ß>cre*e.*tc  '  Längenmass,  welches  alles 


y*  ^'  ^''^^i^  y  jtcre»e.tc 

Gedanken-  und  Formenwesen  der  neunten  Sinfonie,  und 
dieses  ersten  Satzes  insbesondere,  charakterisirt.  Dieselbe 
dämonische  Unruhe,  welche  Empfindung  und  Phantasie 
immer  wieder  aufjagt.  Sie  treibt  hier  aus  dem  Reiche 
milder   Wehmuth ,    freundlichen   Sehnens ,    tröstlichen  Er- 

innems  fort  in  das  Un-   ^  f  |;rrfl  -  i^f  f* f  ftrz"      Unmittelbar 

gy  [   bir  "^  I  I   Ld  ^"^  *    daran  reihen 


jcr 


gestüm    des    Kampfes 

sich  wieder  Bilder  des  Friedens  und  des  seligen  Glückes 

E^   i  t=tdlf^"T^r   |etc.  Alle  Qual  schlum- 


mert  einen  Augenblick;  aber  auch  aus  dem  sanft  wiegen- 
den  Traumgebilde   treten    Gegensätze    erkennbar  hervor: 

Im  Nu  ist  ein  neuer  Ausbruch  da,   in  welchem  diesmal 
die  wild   aufschlagenden  Bässe   die  Führung  übernehmen: 


f       if 


Die     Holzbläser     ver- 
suchen   zu    be- 


schwichtigen; sie  bitten  um     c^fff 


einen    freundlicheren    Ton 


fefJlrg--^ 


und  erreichen  es,  dass  der  erste  Theil  des  Satzes  mit 
einer  gewissen  kräftigen  Freudigkeit  geschlossen  wird.  Die 
Durchführung  entrollt  das  Faustische  Bild  weiter:  Suchen 
und  nicht  Erreichen,  rosige  Phantasien  von  Zukunft  und 
Vergangenheit  und  die  Wirklichkeit  von  einem  Schmerz 
erfüllt,  der  seine  Rechte  plötzlich  geltend  macht!  Der 
Durchführungstheil   ist   verhältnissmässig   nur   kurz:    the- 


c<?     183     ^ 


matisch  wird  er  hauptsächlich  getragen  von  Bildungen 
aus  dem  dritten  und  vierten  Takte  des  Hauptthemas. 
Das  trübe  Element  tritt  in  ihm  zurück,  um  mit  vollster 
Kraft  bei  der  Rückkehr  in  den  Hauptsatz  auszubrechen 
an  jener  Stelle,  wo  die  Pauke  38  Takte  lang  ihr  d  wir- 
belt ;  wo  die  beiden  Theile  des  Orchesters  heftig  und  wild 
gegen  einander  angehen  —  eine  Stelle,  an  welcher  die 
Mittel  der  musikalischen  Kunst  den  dämonischen  Inten- 
tionen Beethoven*8  kaum  zu  genügen  scheinen.  Am 
Schlüsse  der  Coda,  in  deren  Mitte  das  Hom  einen  überaus 
freundlichen  und  zuversichtlichen  Lichtblick  fallen  lässt, 
wird  die  freudlose  Grundstimmung  des  Satzes  zu  voll- 
ständiger Gebrochenheit.  Wir  glauben  in  der  Melodie  der 
Oboe  einen  Trauermarsch  intonirt  zu  hören,  bis  die 
Klänge  der  anderen  Instrumente  stärker  und  stärker  wer- 
den und  noch  einmal  kurz,  aber  lapidar,  Schmerz  und 
Trotz  neben  einander  stehen. 

Der  zweite  Satz   nähert  sich   der  Freude  schon  mehr. 


Molto  vivace. 


Er    beginnt    über 
folgendem   Thema 

welches  später  auch  in  der  Verkürzung  von  drei  Takten  ge- 
braucht wird,  ein  Fugato  erst  heimlich  und  leise :  am  Schlüsse 
im  fröhlichsten  und  lautesten  Tumult  der  dahinjagenden 
Instrumente.  Nur  auf  einen  kurzen  Augenblick  wird 
dieses    muntere    Treiben   von    Momenten    müden   Sehnens 


fc** 


abgelöst ,     die 
derb    fidelen 


Tanzweisen  der  Bläser; 


f    t    r   I  r    i-f~ir   r   LI  \t    ^   r    I   denen    die  Streich- 

etc. 

Instrumente  in  kräftigen  Streichen  das  Anfangsmotiv  des 
vorigen  Themas  f  *  ^  f  zujauchzen ,   ersticken  sie  sogleich. 


<o     184     '^ 


Der  Mittelsatz,  welcher  das  Trio  vertritt,  hat  als  Haupt- 
gedanken folgende  möglicher  Weise  Beethoven's  russischen 
Musikstudien  entsprossene  in  der  Tonreihe  mit  dem  Anfang 
des  Trios  der  zweiten  Sinfonie  ganz  übereinstimmende,  nur 
rhythmisch  von  ihm  verschiedne  Melodie 

Presto.  0""^^     -    _  ^_^  ^"'"^TV 

^^rr-tf^E-^-tf  r  r  r  1  r  rT^  r  1  r  c-^i 


r    r    [     r     I  r     -     Er    schlagt    pastorale    Töne    an    und 


spielt  in  seinen  simplen  Hirtenweisen  auf  ländliche  Ver- 
gnügungen an,  aber  auch  in  seinem  zweiten  Theile,  den 
Beethoven  über  eine  Umkehrung  des  Begleitungsbasses  bildet : 

Viol. 


jgii^^  fi  r  r  r  ttr^j  JJ  „J  ^  m  mächtig 


pCeUI 

mystischen    Geigenklängen    auf   Sonnenaufgänge    und    er- 
habene Freuden  der  herrlichen  Natur.*) 

Das  Adagio,  der  dritte  Satz  der  Sinfonie,  hat  eine  ab- 
weichende, nichts  destoweniger  aber  sehr  klare  Disposition. 
Sein  Hauptthema,  der  inbrünstige  Ausdruck  eines  edlen, 
frommen  Sinnes,  der  in  die  andere  Welt  hinüber  Fragen 
zu  richten  scheint, 

^ Bl!.^tr^. ^  Viol. 

^       .''--'::::*->^        _^ . ßiiisrr  vioi. 

., — ^^ i  — I-, 1-, — i.^ — '■      *  t — *^^^*- — * — -^j — ' — ^       f^-^ ^^ — ' — I F — ' '        * 


Adagfio. 


mtssn  vi'ce 


*)  Um  zu  veranschaulichen,  wie  allgemein  verständlich  die 
Schönheit  dieses  Scherzo  sei.  berichtet  der  Franzose  Elwart  in 
seiner  Voyago  musical  (1849),  dass  es  selbst  Rossini's  Deifall 
gefunden  habe,  ähnlich  findet  Lenz  in  seiner  Beethoven- 
biograpbie  das  Entzücken  Glinkas  bemerkenswerth.  Gewiss 
hat  das  Scherzo  der  9.  Sinfonie  ebensowenig  Gegner  wie  ihr 
Adagio.  Aber  Kossini  sollte  man  bei  dem  Beweis  hierfür  ver- 
schonen. Dass  sein  Geschmack  nicht  gewöhnlich  war,  gebt 
aus  seiner  Mitgliedschaft  bei  der  Bachgesellschaft  genügend 
hervor. 


c<?     185     "^ 


hat  die  Länge  des  Periodenbaues,  welche  der  Beethoven 
der  letzten  Periode  liebt.  Es  schliesst  nicht  voll  ab, 
sondern  es  schwebt  unmittelbar  in  den  Schooss  des  zweiten 
Thema  über 

Andante. 

welches  auch  äusserlich ,  nach  Tonart  und  Taktart ,  die 
Kennzeichen  einer  völlig  anderen  Sphäre  trägt.  Nach 
dieser  Themengruppe  beginnen  Variationen,  zuerst  über 
beide  Hauptgedanken,  dann  über  das  erste  Thema  allein. 
Der  ganze  Satz  strebt  einer  höheren  Art  von  Freude  zu; 
Da  scheint  ein  Mensch  zu  träumen  vom  Himmel  und 
vom  Wiedersehen,  von  seinen  Jugend  tagen  und  von  seinen 
Lieben.  Aber  Träume  gehen  zu  Ende.  Am  Schlüsse  der 
ersten  ^^J^  Takt- Variation  verkünden  Trompeten  und  Hörner 
mit  einem  plötzlichen  Signal: 

die  Nähe  des  rauhen  Tages. 

Das  schöne  Bild  verschwindet,  und  nun  kommt  im 
vierten  Satze  das,  was  Faust  meint,  wenn  er  sagt:  ^Des 
Morgens  wach'  ich  mit  Entsetzen  auf*.  Gedacht  ist  wohl 
ohne  Zweifel  der  Anfang  des  Finale  im  unmittelbaren 
Contrast  zu  den  Himmelsklängeu  des  Adagio.  Im  mög- 
lichst schnellen  Anschluss  an  das  Ende  des  letzteren  ver- 
liert die  wirre  Fanfare,  der  Höllenlärm,  mit  welchem  das 
empörte,  heulende  Orchester  einsetzt,  den  Charakter  des 
Unbegreiflichen,  Capriciösen,  am  besten.  Dieser  wüste 
Anfang  bedeutet  den  Rückfall  in  die  chaotische  Stimmung 
des  ersten  Satzes.  Bässe  und  Celli  warnen  in  kühnen, 
heftigen  Recitativen.  Jetzt  suchen  die  Geigen  und  die 
Bläser  nach  rettenden  Ideen.  Die  einen  bringen  eine 
Weise  aus  dem  ersten  Satz,  die  anderen  aus  dem  zwei- 
ten,   dann  kommt  ein  Citat  aus   dem  dritten.     Nichts  ge- 


c(?     186     ^ 


fallt  den  Bässen.  Endlich  intoniren  die  Oboen  etwas 
ganz  Neues.  Das  findet  Gnade  bei  den  Vätern  des 
Orchesters.  Nachdem  sie  ihre  Zustimmung  in  einem  letz- 
ten Recitative  ausgesprochen,  ergreifen  sie  selbst  das 
Motiv  und  führen  es  zu  einer  breiten  Melodie  aus: 


Es  ist  dieselbe,  zu  der  dann  die  Freudenode  angestimmt  wird, 
und  die,  rein  oder  variirt,  den  leitenden  Faden  des  ganzen 
Finale  bildet.  Zunächst  wird  sie  in  einer  Fuge  durch  das 
ganze  Orchester  geführt,  ohne  aber  demselben  auf  die  Dauer 
einen  genügenden  Halt  bieten  zu  können.  Denn  es  taumelt 
nach  einem  Moment  des  Herumirrens  wieder  zu  jener 
Schreckensscene  zurück,  mit  welcher  der  Satz  begann.  Da 
kommt  weitere  Hülfe.  Es  ist  diesmal  der  Sänger  des 
Barytonsolo,  der  mit  den  von  Beethoven  selbst  eingeschobenen 
Worten  „0  Freunde,  nicht  diese  Töne  —  sondern  lasst  uns 
angenehmere  anstimmen  und  freudenvollere*  die  Ordnung 
wiederherstellt.  Und  nun  beginnt  er  den  Hymnus  in  obiger 
volksthündicher  Melodie,  —  einer  der  wenigen,  die  Beet- 
hoven gleich  beim  ersten  Anlauf  fand  —  in  welche  die 
anderen  Solisten  und  der  Chor  dann  einfallen. 

Von  Schiller's  Ode  hat  Beethoven  nur  einige  Strophen 
benutzt  und  aus  ihnen  eine  Reihe  musikalischer  Bilder 
entwickelt.  Er  lässt  die  Creaturen  jauchzen  um  Küsse 
und  um  Reben,  er  tritt  mit  dem  Cherub  vor  Gott,  er 
malt  die  Bahn,  die  der  Held  durchläuft  in  einem  wilden, 
stürmischen  Fugato,  dessen  Kampfgetöse  in  einem  festen, 
sieghaften  Pochen  endigt.  Der  Refrain  aller  Scenen,  die 
Beethoven  ausführt  oder  skizzirt,  ist  das  vom  Chor  wieder 
eingesetzte  „Freude*.    Am  ausführlichsten  hat  Beethoven 


'^     187     "^ 

die  Scene  des  Helden  behandelt;  die  Rücksicht  auf  die 
Dimensionen  des  Satzes  gestatteten  leider  nicht,  mit  allen 
Themen  des  Gredichts  in  gleicher  Weise  zu  verfahren. 
Es  steht  Vollendetes  und  Angefangenes  neben  einander, 
und  bei  aller  Begeisterung  über  die  entzückende  Schön- 
heit des  Einzelnen  empfinden  wir,  bewusst  oder  un- 
bewusst,  in  der  Totalform  des  Finale  einen  Mangel.  Be- 
sonders weihevoll  und  hinreissend  sind  die  Momente,  in 
denen  sich  Beethoven  dem  Sternenzelt  und  dem  himm- 
lischen Vater  nähert,  der  darüber  wohnt.  Die  Worte 
,Seid  umschlungen,  Millionen*  hat  er  in  eine  Art  Cere- 
monie  gefasst,  die  da  oben  am  ewigen  Throne  zu  spielen 
scheint.  Sphärenhaft  sind  ihre  Schlussklänge.  Die  ir- 
dische Musik  vergeht  in  dieser  Nachbarschaft  ganz  ins 
Stille.  Nur  wie  heimlich  setzen  die  Solostimmen  wieder 
mit  ihrem  , Freude,  Tochter  aus  Elysium*  ein;  bald  aber 
gewinnt  das  Ensemble  seinen  Muth  wieder  und  rauscht 
in  einem  Enthusiasmus  einher,  welcher  immer  stärker 
wird  und  schliesslich  in  einen  völligen  Freudentaumel 
übergeht.  Dieses  Schlussbild  hat  Beethoven  in  dem  rea- 
listisch schwungvollen  Stile  ausgeführt,  der  mit  ihm  zu- 
erst in  die  Tonkunst  eintrat. 


m^^i^MSMi 


•'^t-e-^i\*'>X 


"V.  ;■ 


*'>«-    T 


V^/ 


m. 


Nebenmänner  und  Gefolge  der  Ciassiker. 
Vorläufer  und  Hauptvertreter  der  Romantik. 


ie  allgemeine  Musikgeschichte  pflegt  bei  dem  Capitel 
, Sinfonie*  schnellen  Schrittes  von  Beethoven  auf 
Mendelssohn  überzugehen.  Nur  Schubert  und  Spohr 
werden  als  Zwischenglieder  kurz  berührt.  Es  ist  jedoch 
interessant  und  vom  historischen  Standpunkte  aus  sogar 
nothwendig,  etwas  länger  bei  dem  Kreise  schöpferischer 
Talente  zu  verweilen,  deren  Werke  für  die  hervor- 
ragenden Leistungen  der  classischen  Führer  den  Hinter- 
grund bildeten. 

Der  Umbau  der  Sinfonie  aus  einer  einfachen  Ge- 
legenheitsmusik zu  einer  Tondichtung  grüssten  Stils  hatte 
sich  in  dem  verhältnissmässig  kurzen  Zeitraum  von  sechzig 
Jahren  vollzogen.  Das  musikalische  Publikum  lebte  sich 
wunderbar  leicht  in  die  Vcränd<^rung  hinein,  und  geradezu 
erstaunlich  ist  es,  wie  schnell  und  richtig  das  Verhältniss 
zu  Beethoven  festgestellt  wurde.  Wir  hören  und  lesen 
heute  viel  von  dem  unverstandnen  Beethoven,  von  Beet- 
hoven dem  Märtyrer.  Diese  Auffassung  stützt  sich  auf 
kürzere  und  längcjre  Verstimmungen  des  Componisüm  selbst, 
auf  herbe  und  hitzige  Urtheile  der  Gegner  und  Wider- 
sacher, die  seine  Werke  im  Einzelnen  oder  Ganzen  natür- 
lich fanden.  Aber  ihrer  waren  im  Verhältniss  zur  Neuheit 
und  Kühnheit   seiner  Kunst    nur  wenige   und    sie   gaben 


ce     189     o> 

nicht  den  Ausschlag.  Beethoven  lebte  in  einer  Zeit  die 
seiner  würdig^,  seinem  Geiste  verwandt  war.  Man  ehrte  in 
ihm  eine  Aasnahmeerscheinung.  Beethoven's  Sinfonien 
sind  die  ersten  und  noch  fiir  lange  die  einzigen,  von 
welchen  zu  Lebzeiten  des  Verfassers  die  Partitur  geilruckt 
wurde.  Das  Hauptbedenken,  welches  sie  verursachten, 
war  ihre  grosse  Schwierigkeit:  Die  Dilettantenorchester, 
auf  welchen  die  Existenz  der  damaligen  Concertgesell- 
schaften  ruhte,  waren  diesen  Werken  gegi^nüber  quantitativ 
und  qualitativ  zu  schwach.  Der  bekannte  Hofrath  Andre 
gab  diesem  Bedenken  den  stärksten  praktischen  Ausdruck, 
indem  er  eine  kleine  Serie  von  »leichten*  Sinfonien  ver- 
öffentlichte. In  einer  derselben  folgt  in  der  Menuett  auf 
einen  Walzer  als  Hauptsatz  das  Trio  in  Form  eines  figu- 
rirten  Chorals.  Trotz  Andre  und  trotz  der  Schwierigkeit 
blieben  aber  die  Beethoven'schen  Sinfonien  an  der  Spitze 
des  ßepertoirs,  über  Haydn  und  Mozart  sogar,  und  die 
Orchester  wurden  soweit  sie  in  der  Noth  der  Befreiungs- 
kriege Stand  gehalten  hatten,  ihnen  zu  Liebe  mit  grt>ssen 
Kosten  allmählich  umgebildet. 

In  den  Kreisen  der  Componisten  fonlerte  der  Ueber- 
gang  in  die  neue  Periode  seine  Opfer.  Die  Zahl  der 
Stimmen  im  Sängerwalde  minderte  sich  und  ganze  Ge- 
schlechter verschwanden.  Es  war  aus  mit  einer  , Sinfonie 
mit  Guitarre*  und  mit  ähnlichen  Curiositäten :  es  war  aus 
mit  den  alten,  rauschenden  Theatersinfonien,  aus  mit  den 
concertirenden  Sinfonien  und  den  harmlosen  Divertisse- 
ments ,  welchen  bisher  ebenfalls  der  Titel  Sinfonie  erlaubt 
war.  Wenn  jetzt  die  Brandl,  Braune,  Blyraa,  Weyse, 
Kuffner  und  die  andern  Matadoren  des  leichten  Stils  an 
die  Thüren  der  Concertsäle  klopften,  so  scholl  ihnen,  wie 
dem  Tamino  in  der  Zauberflöte  ein  energisches  , Zurück* 
entgegen.  Es  kamen  Zeiten,  wo  es  der  Kritik  gar  nicht 
recht  zu  machen  war,  wo  diejenigen,  welche  sich  in  Beet- 
hoven's  Pathos  versuchen  wollten,  schlechtweg  , schwülstig*, 
die  Anhänger  Haydn*8  als  „kindisch*  gescholten  wunlen, 
wo  man  die  Form  der  Sinfonie  für  erschöpft  erklärte  und 
wo  fast  jede  Recension   eines   neuen  Werkes   den   melan- 


<e     190     ^ 

cholischen  Anfang:  ,Wer  jetzt  noch  mit  einer  neuen  Sin- 
fonie hervortritt,  der  etc.**  trug. 

Diejenigen  Männer,  welche  sich  unter  so  erschweren- 
den Umständen  als  Sinfoniker  zu  behaupten  wussten, 
welche  neben  den  Classikern  auf  dem  Repertoir  standen 
und  nach  Beethoven  einen  Platz  errangen,  verdienen 
nicht  ganz  vergessen  zu  werden.  Ohne  einen  Blick  auf 
das  Wesen  und  die  Menge  dieser  Nebenmänner  versteht 
man  die  Blüthezeit  der  Wiener  Schule  und  die  Indi- 
vidualität ihrer  Classiker  kaum  vollständig.  Die  Grösse 
dieser  classischen  Periode  beruht  nicht  zum  Geringsten  auf 
ihrem  Reichthum  an  wirklichen,  an  bedeutenden  Talenten. 
Süssmayer  hat  bekanntlich  das  Requiem  von  Mozart  so 
vollendet  ergänzt,  dass  noch  bis  heute  Musiker  sich  ver- 
nehmen lassen,  die  angesichts  der  wohlverbürgten  Thatsache 
doch  die  blosse  Möglichkeit  einer  fremden  Hand  glauben 
in  Abrede  stellen  zu  dürfen.  Diese  kühnen  Zweifler  wissen 
nicht,  dass  Süssmayer  keine  vereinzelt«  Erscheinung  ist, 
dass  Haydn,  Mozart,  Beethoven  nicht  von  Zwergen,  sondern 
von  hochgewachsnen  Genossen  umgeben  waren,  von  denen 
einzelne  heute,  in  unsrer  musikalisch  ärmeren  Gegenwart 
vielleicht  als  Grössen  ersten  Ranges  gelten  würden. 

Unter  denjenigen  Nebenmännern  der  Classiker,  welche 
in  der  Sinfonie  diesen  hohen  Massstab  vertragen  ist  der 
C.  T.  Ditters-  älteste  und  bedeutendste  Carl  Ditters  von  Dittersdorf. 
dorf.  Einst  ein  Liebling  der  deutschen  Musikkreise,  ein  wieder- 
holt und  besonders  gern  gesehner  Gast  der  preussischen 
Hauptstadt,  ist  dieser  Tonsetzer  heute  nur  noch  durch  seinen 
,Doctor  und  Apotheker*  bekannt.  Und  auch  da  nur  dem 
Namen  nach.  Denn  obwohl  diese  trauliche  Oper  als  Cultur- 
bild,  als  Supplement  zu  Goethe's  „Hermann  und  Dorothea* 
einen  unverlierbaren  Werth  besitzt,  ist  sie  seit  dreissig 
Jahren  vollständig  von  der  Bühne  verschwunden.  Trotz- 
dem ist  es  möglich,  dass  Dittersdorf  als  Instrumental- 
componist  wieder  Fuss  fasst.  Mit  seinem  Es  dur-Quintett 
hat  er  es  bereits  gethan.  Mit  seinen  Sinfonien  würde  er 
die  Neugier  des  jetzigen  Geschlechts  zunächst  als  Ver- 
treter der  Programmmusik  reizen  —  aber  schwerlich  be- 


cc     191     '^ 

friedigen.  Die  Programmmusik  giebt  in  Haydn's  Werken 
bis  zu  seiner  Jagdsinfonie,  bei  Beethoven  in  der  Pastorale 
Lebenszeichen  stark  und  deutlieh  genug  um  ahnen  zu 
lassen,  dass  sie  in  der  Nähe  der  Classikerperiode  eine  Rolle 
spielte.  Thatsächlich  war  der  Ausgang  des  18.  Jahr- 
hunderts eine  ihrer  günstigsten  Zeiten.  In  Sulzer's  .All- 
gemeiner Theorie  der  schönen  Künste*  wurde  ihr  damals 
sogar  der  wissenschaftliche  Segen  zu  Theil,  unter  den 
Praktikern  aber  die  sich  ihr  in  allen  Ländern  widmeten, 
war  Dittersdorf  der  bedeutendste.  Dittersdorfs  Haupt- 
beitrag zur  Gattung  bestand  in  12*)  charakterisirten  Sin- 
fonien zu  Abschnitten  aus  Ovid's  Metamorphosen.  Im 
Jahre  1785  als  Stimmdruck  veröffentlicht  müssen  sie  einen 
beträchtlichen  Erfolg  gehabt  haben,  denn  im  nächsten 
Jahre  schrieb  der  Probst  Hermes  Analysen  dazu.  In 
Deutschland  scheint  das  interessante  Werk  verschwunden 
zu  sein.  Brenet*)  ohne  die  Bibliotheksstellen  zu  nennen 
an  denen  er  sie  gesehen  hat,  beschreibt  zwei  Stücke  daraus : 
,Die  vier  Zeitalter*  und  „Actaeon*  tadelnd,  dass  sie  ganz 
an  der  viersätzigen  Sinfonieform  festhalten.  Hanslick') 
dem  wohl  auch  Herr  Brenet  seine  Kenntniss  der  Metamor- 
phosencompositioncn  verdankt,  rechnet  unter  die  Dittors- 
dorfschen  Programmsinfonien  auch  ein  ,Combattimento 
deir  umane  Passioni."  Doch  ist  das  eine  Suite,  die  dadurch 
überrascht,  dass  sie  ganz  in  Muffat's  Stil  gehalten  ist.*) 
Sie  besteht  aus  den  sieben  Sätzen:  II  Superbo,  il  Umile, 
il  Matto,  il  Contento,  il  Melancolico,  il  Vivace.  Der 
Schlusssatz  ist  ein  grösseres  Musikstück,  die  andren  haben 
die  kurze  zweitheilige  Form,  die  im  Ballet  und  im  Tanz 
so  gebräuchlich  ist;  nur  ausnahmsweise  sind  geeignete 
Motive  durchgearbeitet.  Die  Erfindung  ist  in  ,11  Vivace* 
am  glücklichsten  gewesen;  hier  das  Hauptthema: 

^)  Diese  Zahl  und  diesen  Titel  giebt  Dittersdorf  (K  v.  Ditters- 
dorfs Lebensbeschreibang  —  Leipzig  1804  —  S.  230)  selbst  an. 

«)  Brenet,  Histoire  de  la  Symphonie,  Färb  1882,  8.  109. 

*)  Hanslick,  Geschichte  des  Wiener  Concertwesens,  Wien 
1869,  S.   114. 

*)  Exemplar  auf  der  Münchner  Hof-  und  Staatsbibliothek. 


«^     192     "^ 

AJle^o  asBai. 


'^^ITT^}  _t-Jr"^JgE*te.     Im  Ganzen  entbehrt  sie  der 


Schärfe.  Von  dem  combattimento ,  dem  Kampf  den  der 
Titel  ankündigt,  enthält  die  Composition  keine  Spur.  Ein- 
mal nur  sprechen  zwei  folgende  Stücke  einen  Gegensatz 
im  Charakter  aus:  il  superbo  und  il  umile.  Den  Aus- 
druck des  Stolzes  hat  aber  Dittersdorf  dabei  nicht  sicher 
gefunden.  Die  Musik  spricht  Freude,  Aufgeregtheit,  ja 
Zorn  aus;  aber  es  fehlt  ihr  die  Ruhe  und  Vornehmheit 
die  zum  rechten  Stolz  gehört.  In  eine  sonderbare  Be- 
ziehung ist  il  Amante  der  Verliebte  zu  II  Matto  dem  Ver- 
rückten gebracht  worden.  Er  tritt  als  Trio  im  Menuett 
auf.  Nach  diesem  Menuett  hat  sich  Dittersdorf  einen 
stillen  Narren  gedacht.  Ob  nun  diese  Sätze  selbständig 
als  „Sinfonie**  componirt  oder,  was  wahrscheinlicher  ist  als 
Einlagen  zu  einem  Schauspiel,  als  Begleitungsmusik  zu 
lebenden  Bildern  entstanden  sind,  eine  angeborne  Begabung 
für  Programmmusik,  Tonmalerei  und  Charakteristik  zeigen 
sie  nicht.  Die  Plastik,  Eindringlichkeit  und  Eigen- 
thümlichkeit  der  Motivbildung,  die  die  Stärke  Rameau's 
und  der  Franzosen  ausmacht,  in  der  auch  Kuhnau  sehr 
gross  ist,  geht  ihnen  ab.  Und  mit  dieser  Eigenschaft  steht 
und  fällt  das  Recht  der  Gattung. 

Ein  ganz  Andrer  aber  ist  Dittersdorf  wenn  ihm  grosse 
Formen  zur  Verfügung  stehen :  da  überrascht  er  durch 
einen  poetischen  und  ungewöhnlich  selbständigen  Geist 
und  lässt  uns  überall  verstehen,  warum  ihn  die  Musikfreunde 
des  ausgehenden  achtzehnten  Jahrhunderts  in  ihren 
Orchesterconcerten  dicht  neben  Havdn  und  Mozart  stellten. 
Er  ist  der  Erste  unter  den  Oestreichern  jener  Zeit,  welcher, 
mit  beiden  Meistern  geistesverwandt,  zwischen  ihnen  in 
bedeutender  Weise  vermittelt.  Mit  Haydn  theilt  er  als 
Naturgeschenk  den  Humor,  lernt  von  ihm  die  Kunst  der 
motivischen  Arbeit  und  fügt  dem  die  Mozart'sche  Canta- 
bilität   bei.     So   betritt  er   mit   grosser   Bestimmtheit  den 


oG'     193     -oo 

Weg,  den  dann  Beethoven  glänzend  weiterschritt.  Wir 
dürfen  Dittersdorf  in  der  Sinfonie  soweit  es  sich  um  die 
Yermittelung  zwischen  Haydn  und  Mozart  und  um  Selb- 
ständigkeit und  Originalität  in  der  musikalischen  Archi- 
tektur, im  eigentlichen  Satzbau  handelt,  einen  Vorläufer 
Beethoven's  nennen.  Nur  Unbekanntschaft  mit  seinen 
Werken  ist  die  Ursache,  dass  die  Biographen  Beethoven^s 
Dittersdorf  als  Vorgänger  und  Lehrer  Beethoven^s  nicht 
anführen.  Denn  dass  der  junge  Rheinländer  die  Sinfonien 
Dittersdorfs  gekannt  und  studirt  hat  geht  daraus  hervor, 
dass  er  sie  in  einzelnen  Zügen  besondrer  Grestaltung  nach- 
gebildet hat.  Der  diplomatische  Beweis  ist  dafür  wohl 
nicht  zu  erbringen  aber  für  Diejenigen,  welche  noch  mit 
Gründen  äusserster  Wahrscheinlichkeit  rechnen,  auch 
entbehrlich. 

Als  die  (programmlosen)  Hauptsinfonien  Dittersdorfs 
darf  man  die  12  Stück  betrachten,  die  im  Jahre  1788  in 
Stimmendruck  erschienen  sind.  Für  diese  Annahme  spricht 
der  Umstand,  dass  sich  von  einzelnen  von  ihnen  wie  von 
der  ganzen  Sammlung  geschriebne  Partituren  vorfinden. 
Eine  daraus  —  sie  geht  aus  C  dur  —  ist  unlängst  in  Parti- 
tur imd  Stinamen  neugedruckt  worden*)  und  könnte  be- 
rechtigte Veranlassung  bieten  Dittersdorf  —  und  zwar 
nicht  blös  aus  historischem  Interesse  —  wieder  in  unsre 
Orchesterconcerte  einzufuhren. 

Sie  hat  das  grosse  Orchester  der  Vor-Beethoven*schen 
Sinfonie  nämlich  2  Oboen,  2  Fagotte,  2  Homer,  2  Trompeten, 
Pauken  und  den  fünfstimmigen  Streicherchor.  Dazu  aber 
—  ohne  dass  es  besonders  angegeben  ist  —  Cembalo,  ein 
Beweis,  dass  die  Haydn'sche  Praxis  nicht  mit  einem  Male 
und  unabänderlich  durchdrang.")  Auf  dem  Titelblatt 
nennt  sich  der  Componist  Carlo  di  Dittersdorf.  Das  ist 
mehr    als    eine    blosse   Aeusserlichkeit ,    denn    die    Musik 


*)  Bei  Breitkopf  &  Härtel,  Leipzig. 

^  Unentbehrlich  ist   das  Cembalo  nur  im  2.  Satz  der  Sin- 
fonie, in  der  Breitkopf'schen  Neuausgabe  übernehmen  die  Streich- 

instmmente  seine  Partie  mit.  | 

Kretitohmar,  Führer,  I.  18  ' 


ee     194     ^ 


mischt  zu  den  Haydn'schen  und  Mozart'schen  Elementen 
drittens  noch  italienische.  Namentlich  der  erste  Satz  hat 
die  Lärm-,  Prunk-  und  Festmotive  der  alten  italienischen 
Sinfonie. 

Mit  einem  solchen  setzt  das  Hanptthema  ein: 

a) 
AlUgro   Bolto. 


l^^^^f  Pf    •  ^- 


klingt  sehr  entschlossen  und 
kräftig,  die  Fortsetzung  schlägt  aber  einen  zögernden  Ton  an : 


jnimi/]  j  yf^nT^JJ  \fiJUM 


^m 


Sie   hat  die  Mozart'sche  Canta- 


bilität  und  das  Thema  als  Ganzes  ist  der  Ausdruck  einer 
noch  ungeklärten  Stimmung.  Es  ruft  uns  das  Bild  eines 
Menschen  vor  die  Phantasie,  der  vor  einem  schweren  Ent- 
schluss  vor  einer  schweren  Aufgabe  steht,  vor  einer  Lage 
die  unerwartet  gekommen  ist  und  deshalb  verwirrend  wirkt. 
Das  scheint  das  Sechzehntelmotiv  b)  auszusprechen.  Es 
hat  nach  einer  wörtlichen  Wiederholung  des  Staktigeu 
Themas  zunächst  die  Oberhand,  füllt  mit  scheinbar  end- 
losen und  rathlosen  Sequenzen  einen  zwölftaktigen  Ab- 
schnitt, der  in  Gdur  endet  und  das  zweite  Thema  bringt 
Mit  der  Freiheit  der  Formbehandlung,  die  DittersdorTs 
lustrumentalcompositionen  auszeichnet  ist  es  zu  einer  ganzen 
Themengruppe  erweitert,  in  der  wir  drei  Glieder  zu  unter- 
scheiden haben:  Das  erste  knüpft  inhaltlich  wieder  an 
Motiv  c)  des  Hauptthemas  an:  aber  steigernd.  Dort  Sinnen, 
hier   dumpfes  Brüten  wie    gelähmt    vom    harten    Schlag. 


VJohne. 


etc. 


^     195     ^ 

Im  weitren  Verlauf  der  zwölftaktigen  Periode  dringen  die 
Achtelnoten  mehr  und  mehr  nach  ohen,  Ermannen ,  Er- 
wachen von  Kraft  verkündend.  Und  da  setzt  dann  als 
zweites  Glied  eine  abermals  tfUs  Motiv  b)  des  Hauptthemas 
gebildete  Periode  an,  jetzt  aber  nicht  im  fassungslosen  Ton, 
in  der  Richtung  schwankend,  sondern  entschieden  nach 
oben  strebend,  von  Hoffnung  erfüllt,  ja  mehr  als  das:  des 
glücklichen  Ausgangs  gewiss.  Von  dem  jubelt  das  dritte 
Glied  halb  und  halb  in  italienischer  Zunge: 

fr  \trr*r  I  r  I  r'ir^r  if  ir7r  I  r 


Das  Verwirrungsmotiv  (Abschnitt  b  des  Hauptthemas) 
spielt  jetzt  in  freudiger  Gestalt  als  Bass  mit.  In  feurigen 
Umbildungen  dieses  dritten  Gliedes  geht  die  Themengruppe 
zu  Ende.  Bevor  aber  ihr  Schlusstheil  einsetzt,  lässt  sich 
episodisch  eine  zarte  Stimme  vernehmen: 

i  J   l^rTr    I  r   ^    J-^yr^H-^  mitten  im  Jubel 


wird  in  glücklicher  Ruhe  der  vorübergezognen  Wolken  ge- 
dacht. Das  ist  einer  der  sinnigen  Züge,  durch  die  Ditters- 
dorf  seine  instrumentalen  Stimmungsbilder  zu  bereichern 
pflegt.  Was  seine  Darstellung  im  ersten  Theile  des  Haupt- 
satzes aber  besonders  auszeichnet  das  ist  die  psychologische 
Folgerichtigkeit  der  Theile,  die  Naturechtheit  der  Ent- 
wickelung  und  die  Kunst  mit  der  er  die  Satzform  dem 
Gang  seiner  Ideen  beugt.  Ist  Dittersdorf  s  Ideenkreis  auch 
abgegrenzt,  so  bewegt  er  sich  doch  in  ihm  wie  es  nur  ein 
grosser  Meister  und  ein  durch  und  durch  klarer  und  auf- 
richtiger Mensch  thun  kann. 

Die  Durchführung  unsres  Hauptsatzes  knüpft  an  das 
eben  vorgeführte  Episodenthema  an.  Es  setzt  in  Gmoll 
ein:  Die  Stimmung  wird  wieder  trüb  und  mehr  und  mehr 
kleinlaut.  Pausen  unterbrechen  die  Darstellung  fortwährend. 

18* 


e<?        196        ^ 


Dann  folgt  als  zweiter  ein  kräftigerer  Abschnitt  innem 
Kämpfens  und  Ringens.  Das  Verwirrungsmotiv  bildet  in 
ihm  fortwährend  den  Bass.  Er  schliesst  ausweichend, 
zagend  in  £  dnr  und  da  setzt  Qas  zweite  Thema  ein.  Aber 
nur  in  seinem  ersten  Grlied  wird  es  verwendet;  im  Gregen- 
satz  zu  der  Richtung  die  es  in  der  Themengruppe  nahm 
verliert  es  sich  nach  unten  wie  in  Träumen  und  Schlummern. 
Wir  hören  zuletzt  nur  immer  leisere  Sextaccorde,  Pausen 
dazwischen.  Endlich  kommt  eine  mit  langer  Fermate,  der 
vorhergehende  Accord  klang  beruhigender:  G  h  d  f .  In 
diesem  Augenblick  setzt  mit  überraschender  Wirkung  der 
dritte  Theil,  die  Reprise  ein.  Wir  treten  an  sie  des  guten 
Endes  gewiss  heran  und  sie  verläuft  in  aller  Regel- 
mässigkeit. 

Der  zweite  Satz,  ein  Larghetto,  besteht  aus  Thema, 
drei  Variationen  darüber  und  Coda.  Das  Thema  selbst, 
ein  dreitheiliges  Lied,  von  dem  der  erste  Theil  folgender- 
massen  lautet: 


Larftbetto. 


z^  I  n ,  j^ 


zeigt  uns  Dittersdorf  von  seiner  bekanntesten  Seite  als 
einen  Hauptvertreter  jener  Poesie  der  Beschaulichkeit,  der 
Zufriedenheit,  der  Zierlichkeit  und  Artigkeit,  die  als  eine 
letzte  Verdünnung  der  Renaissance  übrig  geblieben,  von 
der  Mitte  des  achtzehnten  Jahrhunderts  ab  die  deutschen 
Liedersammlungen  und  Singstuben  beherrschte  und  bald 
dann  in  Gestalt  der  bürgerlichen  Oper  nach  ihrem  Aus- 
gangspunkt: der  Bühne,  und  zwar  auch  der  italienischen 
und  französischen  zurückkehrte.  —  Den  Ansatz  mit  dem 
Doppelsehlag  liebt  Dittersdorf  ausserordentlich;  aber  kaum 
wird  er  dieser  Lieblingswendung  in  einer  zweiten  (Kompo- 
sition so  viel  Raum  zugestanden  haben  wie  hier.  In  den 
89  Takten  aus  denen  ohne  Wiederholungen  das  Larghetto 
besteht,  fehlt  sie  nur  vierundzwanzig  mal.   Etwas  Monotonie, 


e^        197        ^ 

liebenswürdige  EinfÖnnigkeit  gehört  zum  Charakter  einer 
Idylle,  wie  sie  dieser  Satz  im  Gresammtbau  der  Sinfonie 
bilden  soll:  eine  Seene  der  ungetrübtesten  Anmuth, 
schmiegsamster  ZärtUchkeit  nach  der  gelinden  Erregung 
des  Hauptsatzes.  Die  Methode  in  der  die  Variationen  ge- 
arbeitet sind,  ist  die  einfache  der  Vor-Haydn'schen  Zeit. 
In  der  ersten  begleiten  zweite  Violinen  und  Bratschen  das 
Thema  mit  einem  Triolenmotiv,  in  der  zweiten  lösen  es  die 
ersten  Violinen  in  ein  perpetuum  mobile  in  Zweiund- 
dreissigsteln  auf,  das  wohl  fUr  die  Sologeige  gedacht  ist. 
In  der  dritten  treten  die  Bläser  mit  reichen  langen  Klängen 
hinzu    und    die  Bässe  yersuchen    mit  der   Melodiestimme 

einen   rhythmischen  Dialog    j  s  ^^^  ^^^  *    1 .    In 

der  kurzen  Coda  verklingt  das  merkwürdige  Stück  auf 
einer  fremden,  entlegnen  G dur-Harmonie  an  die  sich  un- 
mittelbar der  Menuett  anschliesst.  Er  ist  dadurch  eigen, 
dass  er  uns  in  kurzen  und  in  neuen,  zusanmiengedrängten 
Formen  noch  einmal  das  Wesentliche  des  ersten  Satzes 
der  Sinfonie  vorfuhrt.  Wir  haben  da  das  kräftig  ent- 
schlossene Aufbrechen  J  J  J  |  J  und  die  Töne  der 
Hoffnung  und  des  Jubels 


jfff  if  fifrrJte^F^ 


im    ersten    Theil 


wörtlich  vor  uns.  Der  zweite  Theil  streift  die  Momente 
des  Bangens.  Das  Trio  ist  als  2.  Menuett  bezeichnet,  eine 
reine  Aeusserlichkeit.  Das  Stück  bildet  zum  ersten  Menuett 
weniger  einen  Gegensatz  als  eine  Ergänzung,  bringt  zum 
Aeussren  das  Innre.  Dort  eine  Freudenscene  vor  der 
Oeffentlichkeit,  hier  die  dankbare  und  friedensfrohe  Seele 
mit  sich  allein  im  stillen  Känmierlein:  das  schöne  Thema 

A  ^\^^   ^   J    I  J    ^jry  ^  J        viermal  hintereinander 

und  immer  leiser,  so  schliesst  der  Satz.  Er  klingt  aus- 
gezeichnet.   Den  Haupttheil  kennzeichnen  die  tiefen  Saiten 


ce     198     o» 

der  Geigen,  den  Mittelsatz  ein  mit  Lerchenklang  und 
Naturton  fesselndes  Oboensolo.  Es  kehrt  nach  Wieder- 
holung des  ersten  Menuett  als  Coda  wieder,  mit  einem 
Halbschluss  bricht  der  Satz  ab  und  unmittelbar  darauf 
setzt  das  Finale  ein: 

Erst  mit 

Prestlsslmo 


f|"i^Lf^^^^l^lJ  rTTii^ij  rmi 


Dann 


f  rTr^frT^rfTfrfiffiffTrrni 


Drittens ; 


TT  .,ftfri\rS^  f  |f  r  iriii'rrrrif 


Diese  Themen  konunen  einzeln  hintereinander,  mit  dem 
14.  Takte  aber  stehen  wir,  wie  im  Finale  von  Mozart's  Jupiter- 
sinfonie, in  einer  Tripelfuge.  Alle  Geister  der  Neckerei 
und  Heiterkeit,  feine  und  derbe,  phantastische  und  prosaische 
wirken  zusammen.  Aus  einer  Durchführung  stürmen  die 
Carnevalsgedanken  in  die  nächste,  in  die  dritte  und  vierte 
als  endlich  ein  Orgelpunkt  auf  G  eine  bedeutende  Wendung, 
vielleicht  ein  Ende  des  Treibens  ankündet :  Sie  kommt  zu- 
nächst mit  einem  grotesken  Unisono  in  dem  alle  In- 
strumente, Homer  und  Trompeten  ausgenommen,  auf  dem 
ersten  Thema  fortissimo  vorübersausen.  Als  der  vierte 
Takt  vorbei  und  G  dur  erreicht  ist,  fallen  die  Pauken  ein : 
Halbschluss,  Generalpause  mit  Fermate  und  —  Wieder- 
holung des  Menuetts.  Genau  also  die  Wendung,  die 
das  Finale  von  Beethoven*s  Cmoll- Sinfonie  hat.  Dieser 
Einfall  Dittersdorf  s  hat  an  seiner  Stelle  die  Bedeutung 


oG»     199     '^ 

eines  würdigeren  Schlusses  anstatt  des  tollen  der  von  der 
Tripelfdge  zu  erwarten  wäre  und  zugleich  auch  den  der 
Rückkehr  in  die  Stinunungssphäre  des  Hauptsatzes  der 
Sinfonie,  also  den  einer  wohlthuenden  Abrundung.  Des- 
halb kommen  beide  Menuetts,  nur  ohne  Wiederholungen, 
noch  einmal  vollständig  und  die  Sinfonie  schliesst  auch 
mit  einigen  tumultarischen  Takten  im  Rhythmus  des 
Menuetts. 

Bei  näherer  Prüfung  ergiebt  sich  für  Dittersdorf  ein 
üebergewicht  des  Mozart'schen  Einflusses.  Auf  die  Wiener 
Schule  im  Ganzen  dagegen  übte  naturgemäss  Haydn  die 
stärkere  Anziehung  aus.  Ihre  Sinfonien  vertreten  den 
heiteren  Charakter  der  Musik.  In  ihrem  Rhythmus 
und  in  ihrem  Pigurenwerk  herrscht  ein  rascher  feuriger 
Geist,  die  Melodien  sind  in  der  Mehrzahl  flott  und 
munter  und  geben  dem  Frohsinn  und  der  Lebenslust 
einen  naiven  und  herzlichen  Ausdruck.  Es  lebt  in  der 
Wiener  Schule  ein  starker  volksthümlicher  Zug.  Ein 
gewisser   Localdialect    klingt    durch,    derselbe,    in    wel- 


Allegro 


chem  Haydn  —  z.  B.  in 


3*^1 


AUcgro. 

und    Mozart    —    in    r&^—[^^ 

zuweilen  ebenfalls  sprechen    und  der  noch  heute   unver- 
fälscht in  der  östreichischen  Armeemusik  fortlebt. 

Diese  Stammeseigenschaften  führten  die  Mehrzahl  der 
östreichischen  Sinfoniker  zunächst  auf  die  Seite  Haydn's. 
Die  hervorragendsten  unter  ihnen:  Gyrowetz,  Rosetti, 
Pleyel,  Wranitzky,  Hoffmeister  hat  Riehl  in 
seinem  Capitel  über  ,Die  göttlichen  Philister*  geschildert. 
Ihnen  wäre  vielleicht  noch  Neubauer,  Vanhall,  van  Swieten, 
jedenfalls  aber  Franz  Krommer  anzureihen,  der,  durch 
die  unglaubliche  Popularität  und  Verbreitung  seiner 
Quartette  und  Quintette  mitgetragen,  auch  als  Sinfoniker 
weiter  drang  und  sich  länger  hielt  als  die  genannten 
Schulgenossen.     Seine  Sinfonien   sind    denen   Haydn*s  im 


ce     200     '^ 

AUgemeiDen  sehr  ähnlich ,  aber  von  einer  niedrigeren 
Bildungsstufe  aus  entworfen  und  durchgeführt  Die  Fonn 
hat  grosse  Mängel,  die  Gedanken  verrathen  die  derbe 
Atmosphäre  der  Zauberoper.  Die  Aelteren  unter  uns 
haben  mit  dem  Ton  dieses  Kreises  vielleicht  noch  durch 
die  Diabelli'Hchen  Ciaviersonaten  unerfreuliche  Bekannt- 
schaft gemacht.  Einzelne  von  ihnen,  Pleyel,  Gyrowetz, 
haben  grössere  Ansprüche  auf  Sympathie  und  Achtung. 
Aber  auch  sie  haben  von  dem  Haydn*schen  Erbe  vom 
Geist  der  Zeit  geleitet,  nur  den  Epikuräischen  Theil  an 
sich  genommen:  die  lustige  Thematik  seiner  Londoner 
Zeit.    An  seiner  Kunst  des  Auslegens  gingen  sie  vorbei. 

Nach  dem  Antheil,  den  französischer  Geist  am 
Wesen  von  Haydn's  Sinfonien  hat,  war  zu  erwarten  dass 
sich  in  Frankreich  eine  bedeutende  Gefolgschaft  dieses 
Tonsetzers  gebildet  hätte.  Doch  fehlte  es  hierzu  an  wesent- 
lichen Bedingungen:  an  Concertinstituten  und  Sinfonie- 
componisten.  Von  dem  Reichthum  musikalischer  Collegien 
und  ,  wöchentlicher  Concerte"  dessen  sich  Deutschland  er- 
freute, keine  Spur!  Die  wenigen  Institute  dieser  Art,  die 
sich  in  Paris  und  den  Provinzhauptstädten  aufgethan  hatten, 
konnten  den  Vortheilen  gegenüber,  die  eine  erfolgreiche 
Oper  einbrachte,  nichts  bieten.  Diese  an  und  für  sich  un- 
günstige Lage  wurde  durch  Haydn  noch  verschlimmert. 
Denn,  —  so  sagt  ein  Artikel  des  Moniteur  im  Jahre 
1808*)  — ,  nachdem  Haydn's  Sinfonien  die  erste  Schwierig- 
keit der  Einführung  überwunden  hatten,  konnte  sie  bald 
Jedermann  auswendig  und  wollte  keine  andren  hören.  Be- 
klagenswerther Weise  ist  hierüber  auch  Fr.  J.  Gosse c 
um  die  Anerkennung  gekommen,  die  ihm  die  Musik- 
geschichte Frankreichs  schuldig  ist.  Er  war  der  erste  Ton- 
setzer von  Bedeutung  der  sich  der  neuen  Gattung  der 
Concertsinfonie  nachhaltig  und  mit  voller  Hingabe  widmete. 
Schon  als  Zwanzigjähriger  trat  er  mit  Sinfonien  hervor, 
die  in  italienischer  Folge  dreisätzig  und  vielleicht  die  ersten 


*)  Abgedruckt  in  A.  Pongius  Mehul-Biographio  (Parb  1889) 
S.  301. 


e<?        201         '^ 

überhaupt  Biod,  in  denen  Clarinetten  vorkommen.  Denn 
damals,  Anfang  der  füjifisiger  Jahre,  hatte  diese  neuen 
Instrumente  ausser  Rameau  wohl  noch  Niemand  ins 
Orchester  gebracht;  Haydn  Hess  sich  damit  fast  noch 
vierzig  Jahre  lang  Zeit.  Das  allen  Franzosen  gemeinsame 
Rlangtalent  ist  bei  ihm  überhaupt  noch  besonders  hervor- 
ragend entwickelt.  Deshalb  waren  seine  concertirenden 
Sinfonien  auch  seine  angesehensten.  Doch  auch  durch 
einen  stark  nationalen  Zug  von  Eleganz  und  Anmuth 
fesseln  sein  Werke.  So  war  er  in  den  siebenziger  Jahren 
der  unbestrittene  Herrscher  in  den  von  ihm  gegründeten 
Concerts  des  amateurs  sowohl  wie  in  den  Concerts  spirituels. 
Da  kam  Haydn  und  verdunkelte  auch  Gossec  dermassen, 
dass  das  Ausland  von  ihm  überhaupt  keine  Notiz  nahm. 
Die  wenigen  ^nzösischen  Musiker,  die  in  der  Periode 
der  Wiener  Classiker  Sinfonien  schrieben,  schlössen  sich 
Haydn  an.  Unter  ihnen  ist  Cherubini  zu  nennen  mit 
einer  Ddur-Sinfonie,  die  auch  nach  Deutschland  kam  aber 
bald  vor  den  viel  freieren  und  bedeutenderen  Ouvertüren 
ihres  Verfassers  verschwand.  Obwohl  Haydn  selbst  Cherubini 
als  , seinen  musikalischen  Sohn*^  bezeichnet  hat^),  sind  in 
diesem  Werke,  mit  Ausnahme  des  Larglietto  cantabile,  die 
eigentlichen  Haydn^schen  Künste  nicht  zum  vollen  Recht 
gekommen.  Die  Sinfonie  ist  wieder  wie  fast  jede  Orchester- 
composition Cherubini's  ein  Muster  des  Klangs  und  auch 
in  der  Satztechnik  anziehend  und  belehrend,  unter  anderm 
durch  schöne  Kanons.  Ihr  poetisch  bedeutendstes  und 
eigenthümlichstes  Stück  ist  die  träumerische  Einleitung 
zum  ersten  Satz.  AuchM^huTs  Sinfonien  gehören  ganz 
zur  Haydn'schen  Schule ;  man  kann  Mdhul  den  interessan- 
testen und  selbständigsten  Schüler  Haydn*s  nennen.  Er 
folgt  ihm,  ohne  sein  Vorbild  in  der  Virtuosität  der  thema- 
tischen Arbeit,  der  Beweglichkeit  der  Gedanken  ganz  zu 
erreichen  in  der  Methode;  das  Uebrige  bestreitet  er  aus 
eignem  Vermögen.  Die  ganze  Auffassung  von  Zweck  und 
Wesen  der  Sinfonie  ist  bei  M(5hul  etwas  andres  als  bei 


»)  Oriesinger  8.  104. 


c<?     202     ^ 

Haydn  und  den  Deutschen:  Man  merkt  zuweilen,  dass 
diese  Kunst  sich  an  ein  grosses  Volk  richten  will,  von 
einem  grossen  Volke  kommt:  es  ist  ihr  etwas  Pathos  und 
Stolz  eingemischt  und  auch  eine  Dosis  Glanz  und  Kraft, 
die  mehr  an  Gluck  und  Händel  als  an  Haydn  erinnert 
Anmuth  und  Eleganz  geben  sich  etwas  zugespitzt,  so  wie 
das  die  Franzosen  von  Bameau  ab  und  in  ihrer  Volks- 
musik von  jeher  gern  gehabt  haben.  Von  den  vier  Sin- 
fonien M^hul's,  die  sich  nachweisen  lassen,  sind  nur  die  in 
Gmoll  und  die  in  Ddur  nach  Deutschland  gekommen. 
Die  erstere,  in  der  der  Menuett  wegen  des  Pizzicato  des 
Hauptsatzes  besonders  wirkte,  kehrt  bis  in  die  sechziger 
Jahre,  wenn  auch  nicht  häufig,  wieder.  Mendelssohn,  der 
durch  historischen  Sinn  alle  nachgekommnen  Dirigenten 
unvergleichbar  überragte,  suchte  sie  in  Leipzig  im  Jahre 
1838  wieder  aus  dem  Archiv  hervor:  Schumann,  von  dem 
man  bei  dieser  Gelegenheit  ein  besondres  Wort  erwarten 
durfte,  mengte  sie  —  absichtlich  oder  versehentlich?  — 
unter  die  Werke  , bekannter  Meister*.^)  Bei  ihrer  ersten 
Aufführung  im  Jahre  1810  hatte  sie  ein  Messfremder  in 
der  Allgemeinen  Musikalischen  Zeitung*)  als  eine  Sinfonie 
in  ,  J.  Haydn*s  Weise,  frei  ins  Französische  übersetzt*  be- 
zeichnet. Nach  diesem  richtigen  Anfang  fährt  der  Ver- 
fasser fort:  „So  gut  das  gelingen  kann,  war  es  M^hul 
wirklich  gelungen.  Der  melodische  Theil  war  unstreitig 
der  schwächste:  der  harmonische  aber  auch  nicht  selten 
grell  und  gesucht:  Die  Arbeit  übrigens  sorgsam  und  mit 
Streben  nach  Gründlichkeit;  die  Instrumentirung  sehr  gut 
und  effektvoll*.  Von  der  dreifachen  Befangenheit  die 
dieses  Urtheil  trübt,  kommt  ein  Theil  auf  die  musikalisch 
mechanische  Richtung  des  Schreibers,  die  beiden  andren 
Theile  muss  man  der  Zeit  Napoleon's  und  Beethoven^s  zu 
Gute  halten.  Die  Gegenwart  ist  in  der  Lage  MehuFs 
Sinfonien  ohne  Eingenommenheit  zu  würdigen;  giebt  man 


*)  Neue  Zeitschrift  für  Musik,  8.  Bd.,  8.  107. 
^)  Allg.  Musik-Zeitung,   12.  Jahrgang,  S.  565. 


c<?     203     ^ 

ihr  dazu  Gelegeoheit,  wird  sie  ihn  lieb  gewinnen:  mehr 
noch  als  in  der  Gmoll- Sinfonie  in  der  in  Ddur. 

Die  Italiener  auf  eine  Herrschaft  der  Instrumental- 
musik ebensowenig  yorbereitet  als  die  Franzosen,  streichen 
allmählich  die  Pflege  der  Sinfonie  so  gut  wie  ganz  aus 
ihrem  musikalischen  Pensum.  Unter  den  Gründen,  mit 
denen  sie  diesen  schweren  Fehler  zu  beschönigen  suchten, 
hat  der  bis  auf  den  heutigen  Tag  immer  wiederholte  Vor- 
wurf, dass  die  deutsche  Musik  gelehrt  und  wissenschaft- 
lich geworden  sei,  dass  sie  sich  zu  sehr  an  den  Verstand 
wende,  Gemüth  und  Phantasie  vernachlässige,  deshalb 
für  uns  Interesse,  weil  etwas  wahres  an  diesem  Vor- 
wurf ist.  Mozart,  C.  M.  von  Weber  haben  in  ihren  Sin- 
fonien, Beethoven  hat  mit  seinen  letzten  Quartetten  gezeigt, 
dass  es  neben  der  Haydn'schen  Methode  in  der  sich  Geist 
und  Witz  am  besten  entfalten  können,  andere  giebt,  die 
Erfindung,  Phantasie,  Inspiration  zu  einem  grossem  Recht 
kommen  lassen.  Die  Bevorzugung  des  Haydn'schen  Stils  hat 
uns  eine  grosse  Menge  pedantisch  langweiliger  Instrumental- 
compositionen eingebracht  und  der  spätem  Entwickelung 
der  Sinfonie  geschadet.  Die  wenigen  italienischen  Com- 
ponisten  die  von  jetzt  ab  noch  Sinfonien  versuchten,  schlössen 
sich  Jedoch  ebenfalls  Haydn  an.  Unter  ihnen  ist  L.  B  o  c  • 
cherini  für  lange  Zeit  der  Einzige,  der  in  Deutschland 
und  wohl  auch  in  Frankreich  Beachtung  gefunden  hat. 
Wenigstens  sind  in  Paris  um  1799  zwei  seiner  Sinfonien 
(in  Stimmendrucken)  veröffentlicht  worden.  Beide  haben 
vier  Sätze,  den  Menuett  als  dritten.  Die  erste  (in  D) 
kommt  im  Finale  auf  das  erste  AUegro  zurück  und  er- 
reicht dadurch  eine  Einheit  und  Abrundung  die  dem 
Durchschnitt  der  Sinfonien  jener  Zeit  nicht  eigen  ist.  Die 
zweite  (in  C)  gehört  zur  Gattung  der  concertirenden  Sin- 
fonien, sie  verwendet  das  alte  Corelli'sche  und  HändePsche 
Concertino:  2  Soloviolinen  und  Solocello.  Letzteres  tritt 
im  Andante  sehr  schön  hervor. 

Unter  den  Sinfonikern,  welche  zuerst  auf  Mozart's 
Seite  traten,  gebührt  der  Altersvorrang  Michael  Haydn, 
dem   Salzburger  Bruder   von   Joseph   Haydn.     Von    den 


oc?     204     '^ 

32  SiDfonicD,  die  ihm  F^tis  zuschreibt,  sind  zu  Lebzeiten 
des  Componisten  nur  drei  in  Stimmdrucken  erschienen 
(1793  Wien);  eine  von  diesen,  eine  Cdur-Sinfonie  liegt 
aber  seit  kurzem  in  stattlichem  Partiturdruck*)  vor.  Der 
Herausgeber,  Otto  Schmid,  weist  ihre  Entstehung  in  das 
Jahr  1784,  wo  ihr  Verfasser  im  zweiundfllnfzigsten  Lebens- 
jahre stand.  Die  Musik  würde  jedem  Jüngling  Ehre 
machen;  sie  hat  Frische,  Freudigkeit,  Kraft,  alle  Merk- 
male eines  jugendlichen  gesunden  Geistes  und  zeigt  dabei 
in  jeder  Wendung  der  Form  die  Sicherheit  und  Klarheit 
des  reifen  Meisters,  jene  Mozart'sche  Abgeklärtheit,  die 
auch  in  Vocalwerken  des  Salzburger  Haydn  so  wohlthuend 
berührt. 

Die  Haydn'sche  Sinfonie  fangt  mit  denselben  Noten 
wie  Mozart's  Linzer  Cdur-Sinfonie  aber  sogleich  im  andren 
Charakter  an.  Noch  ehe  der  zweite  Takt  schliesst,  ist 
von  Cantabilität  keine  Rede  mehr,  das  Herz  aus  dem  diese 

Töne  kommen  ist  voll  lauter  Sonnenschein: 

AUegro  splrttuoso. 
VloUoeii. 


itn  tljglJ  feg  I U1s2j  '!^'  ^^ 
P^r  Bif  FJi  f-f  t'f  Q  I  n-rr  i 

ganz  besonderes  Wohlgefallen  hat  der  Componist  an  der 
aufschlagenden  Sext  des  letzten  Taktes  gehabt.  Wer 
noch  nicht  klar  darüber  ist,  mit  wem  er  es  zu  thun  hat, 
dem  müssen  alle  Zweifel  schwinden  wenn  (mit  dem  15.  Takt) 
die  Ergänzung  des  ersten  Themas  kommt: 


f/'  ^  "*  i"  ä^r^iiil^^tisjü^^ 


Das  ist  Musik  vom  Geblüt  des  Don  Giovanni  und  des 
Grafen  im  , Figaro*.  Der  ritterliche,  junge,  ins  Leben 
stürmende,  stolze  Mozart  ist  es  an  den  sich  wie  die  Mehr- 
zahl der  Wiener  Mozartschüler  auch  Michael  Haydn  an- 

1)  Leipzig,  Breitkopf  &  Härtel. 


^     205     "^ 

schlieest.  Zweites  Thema  und  Uebergangspartien  bieten 
geringres  Interesse,  in  letztren  macht  sich  eine  gewisse  Um- 
ständlichkeit bemerkbar.  Sonst  hat  der  Satz  den  grossen 
Vorzug  vollendeter  Natürlichkeit  und  Schlichtheit.  Die 
Durchführung  verarbeitet  das  1.  Motiv  des  Nachsatzes  vom 
Hauptthema,  das  erst  in  Nachahmungen  zwischen  Violinen 
und  Bässen,  dann  in  letztren  aUein  erscheint.  Gefühl  der 
Kraft  äussert  sich  in  kunstvollen  Formen.  Das  Hauptfeld 
seiner  contrapunktischen  Meisterschaft  verlegte  Haydn  in 
das  Finale,  bei  dem  wir  wie  in  Mozart's  Jupitersinfonie, 
in  DittersdorTs  gleichaltriger  Cdur-Sinfonie  wieder  vor 
einer  Tripelfnge  stehen.  Haydn's  Priorität  ist  unbestreitbar. 
Das  erste  Thema: 

vivace  &BBai. 


P 

dem  16  Takte  spannende  Einleitung  vorangehen,  nimmt 
mit  seinen  Durchführungen  den  ersten  Abschnitt  (bis  zum 
67.  Takt)  allein  ein  und  führt  uns  ein  Stimmungsbild  vor 
in  dem  leises  ahnungsvolles  Behagen  sich  bis  zu  lauter 
Fröhlichkeit  steigert.  Da  setzt  auf  dem  Höhepunkt  (Halb- 
schluss  in  G)  eine  neue  beweglichere  Freudenweise  ein, 


das    zweite    Thema: 

oder  vielmehr  sein  Vorläufer.  Denn  der  kurze  Gedanke 
wird  zunächst  mehr  versuchsweise  begleitend  in  den  ersten 
und  zweiten  Violinen  probirt,  das  Commando  bleibt  beim 
ersten  Thema.  Neue  Durchführungen,  Engführungen, 
Zwischensätze  aus  Umbildungen  dieses  ersten  Themas 
oder  ganz  frei  gestaltet  bilden  den  Inhalt  des  zweiten  Ab- 
schnitts des  Finale  (bis  zum  Takt  152)  der  einem  Aus- 
ruhen und  Geniessen  gewidmet  ist.  Seine  schönsten 
lauschigsten  Stellen  sind  die  aus  den  Umbildungen  des 
Themas  gewonnenen: 

K     f  '  f  n  f  '  f     rr    f^^ 


ete. 


ce     206     ^ 

und  namentlich  die  heimlich  humoristische  wo  die  Bässe 

yiermal    *M  ^   f    f — |  geben. 

FP 

Am  Ende  des  Abschnitts  wird  ans  Weitergehen  ge- 
mahnt: Ein  neues,  fortdrängendes  Thema: 

f  I  '  f  I'  I'  '/^  T  '  r  I  r  r  r  r,  I  I  f 


lässt  sich  vernehmen.  Der  dritte  Abschnitt  beginnt.  In 
ihm  zeigt  sich  das  zweite  Thema  in  seiner  Tollen  Grestalt, 
nämlich: 

das  neue  dritte  ist  hierbei  sofort  wie  ein  Nachsatz  ver- 
wendet. Zunächst  ziehen  nun  die  beiden  Hälften  dieses 
combinirten  Themas  Arm  in  Arm  durch  die  Instrumente, 
dann  hat  der  Nachsatz  —  (oder  das  dritte  Thema)  allein 
die  Satzbildung  zu  bestreiten.  Die  Stimmung  die  sich  in 
dem  Abschnitte  ausspricht  ist  im  Yerhältniss  zum  Vorher- 
gehenden die  einer  grössren  Erregung.  Als  er  zum  Schluss 
(Takt  202)  ausholt,  sehen  wir  mit  ungeduldiger  Er- 
wartung nach  der  Fortsetzung  aus.  Sie  tritt  als  Repe- 
tition  des  ersten  Abschnitts  vor  uns  hin.  Aber  es  ist  keine 
wörtliche,  gewohnheitsmässige,  sondern  eine  Wiederholung 
mit  den  stattlichsten  Varianten.  Wir  sind  noch  gar  nicht 
weit  in  dem  neuen  Abschnitt  vorgedrungen,  da  bringt 
Hajdn  zum  ersten  Male  alle  3  Themen  miteinander.  So 
hat  die  Anlage  seines  Finale  Aehnlichkeit  mit  einem 
Spaziergang,  der  uns  immer  höher  hinauf,  von  einem 
schönen  Aussichtspunkt  zum  andern  führt;  der  letzte  ver- 
einigt die  einzelnen  Augenweiden  zu  einem  mächtigen 
Gesammtbild.  Es  ist  in  dem  Finale  dieser  Sinfonie  mit- 
hin gehaltvoller  Plan  und  meisterliche  Formbeherrschung 
nicht  zu  verkennen.  Doch  geht  ihm  die  Fülle  von  sinnigen 
Details,  die  der  mächtigen  Persönlichkeit  entspriessen ,  es 
geht  ihr  auch  der  gewaltige  Zug  ab.    Es  ist  zu  lang  und 


«<?     207     '^ 

zu  reich  an  Formalismen,  an  Wendungen  die  von  Grössren 
geborgt  sind.  Man  wolle  diese  Schwäche  nicht  der  Zeit, 
sondern  nur  der  Individualität  ihres  Schöpfers  zur  Last 
legen  und  ihrer  niederdrückenden  Wirkung  bei  etwaigen 
Aufführungen  durch  gehörige  Striche  vorbeugen.  —  Einen 
Menuett  hat  die  Sinfonie  nicht;  sie  ist  dreisätzig  wie  es 
die  italienischen  Sinfonien  waren.  Der  hier  noch  zu  er- 
wähnende Satz,  der  langsame,  an  der  zweiten  Stelle  im 
Werke  enthalten,  ist  aber  der  eigenste  in  der  ganzen 
Composition.  Er  hat  die  hier  ungewöhnliche  Form  des 
Rondo.  Der  Hauptsatz,  der  dreimal  vorüberzieht  ist  ge- 
müthlich  beschaulicher  Natur,  fast  in  DittersdorTscher 
Art.  Ausserordentlich  schön  und  lebendig  sind  aber  die 
Zwischensätze.  Beim  zweiten  namentlich  wills  Einen  an- 
muthen  als  wenn  die  Fluth  des  grossen  Weltenlaufs  in 
ein  stilles  Gebirgsdorf  hineinwogt.  Im  ersten  ist  eine 
Stelle,  die  sich  klanglich  sehr  hervorthut :  Homer,  Trompeten 
und  Pauken  allein. 

Auch  der  für  die  Ciavierstudien  unsrer  Jugend  noch 
heute  sehr  wichtige  Muzio  Clementi  gehört  unter  die- 
jenigen hervorragenden  Nebenmänner  der  Wiener  Classiker, 
die  sich  an  Mozart  anreiben  und  zwar  an  den  feurigen, 
nicht  an  den  Sänger  der  Schwermuth  und  des  Welt- 
schmerzes. Die  fatale  thematische  Abhängigkeit  von  seinem 
Vorbild,  die  schon  in  Claviercompositionen  Clementi's  vom 
Plagiat  schwer  zu  unterscheiden  ist,  tritt  uns  aber  auch  in 
den  Sinfonien  wieder  entgegen.    Die  in  Bdur  z.  B.  fängt  an 

Allagro  asttal. 

P'^J'  J>nT]  I  JTTlp   r    I  r      •    Nun  vergleiche 

man  damit  das  Presto  der  Mozart'schen  Salzburger  Bdur- 
Sinfonie  von  1778!  Zu  diesem  ersten  Verdruss  tritt  ein 
zweiter  noch  stärkrer  über  die  Affectirtheit  Clementi's. 
Was  einen  so  sichren  und  in  sich  abgeschlossnen  Künstler 
bewogen  haben  kann  den  natürlichen  Gang  seiner  Modu- 
lationen fortwährend  durch  fremde  Harmonieeinschübe  und 
gewaltsame  Quersprünge  zu  unterbrechen  —  wenn  es  nicht 
das  Bestreben  war  sich  neben  den  grossen  Meistern  als  ein 


e^        208        '^ 

noch  grÖBsres  Original  zu  zeigen  —  lässt  sich  schwer  be- 
greifen. Wie  sie  in  Folge  dieser  Gebrechen  zu  ihrer  Ent- 
stehungszeit nicht  fest  einzuwurzeln  yermochten,  so  ist^s 
auch  aussichtslos  mit  den  Clementi*schen  Sinfonien,  obwohl 
sie  durch  das  allgemeine  Können  ihres  Verfassers  ziemlich 
hoch  stehen,  heute  Wiederbelebungsversuche  anzustellen. 
Ehrlich  währt  am  längsten  —  gilt  auch  für  die  Componisten ! 
Weitere  Mozartianer  unter  den  Sinfonikern  der  Wiener 
Schule  sind:  Sterkel,  Witt,  Wölfl,  Wilms.  Das 
Oestreichische  vertritt  unter  ihnen  am  ausgeprägtesten 
Wölfl,  Mozart^s  Salzburger  Landsmann :  anmuthig,  gemUth- 
lich,  zuweilen  intim;  auf  der  Kehrseite  nachlässig  und  un- 
selbständig. Bei  Sterkel  tritt  noch  der  italienische  Bil- 
dungsgang in  Melodien  und  Formen  hervor.  Diesem  Umstand 
verdankt  er  den  Triumph  einmal  Beethoven  geschlagen  zu 
haben.  Das  war  bei  einer  Concurrenz  um  die  Composition 
von  „In  questa  tomba  obscura*^.  Sterkel  erhielt  den 
Preis;  Beethoven*s  Musik  wurde  als  „neudeutsch*  ab- 
gelehnt. Witt  ist  ein  kleiner  Berlioz,  ausgezeichnet  durch 
Experimente  und  Künste  der  Instrumentirung:  ganze 
Adagios  mit  Pizzicato  in  den  Allegros:  grosse  Trommel 
und  türkische  Musik !  Wilm's  überragt  die  Genossen  durch 
seine  leidenschaftlichere  Natur,  welche  sich  musikalisch  in 
grossen,  kühnen  Crescendos  und  breiten  Zwischensätzen 
äussert.  Der  bedeutendste  Wiener  aus  der  Blüthezeit 
der  Classiker  ist  Anton  Eberl.  Ihn  nannte  man  unter 
den  Grössen  der  Gattung  und  verglich  ihn  mit  Beet- 
hoven, mit  dem  er  die  Gewohnheit  theilte,  auf  Spazier- 
gängen zu  componiren.  EberFs  thematische  Erfindung 
ist  wenig  originell,  vielfach  auf  Mozart  direkt  gestützt, 
die  Figurenbildung  altvaterisch  und  schablonenhaft.  Aber 
in  seiner  Harmonik,  in  der  Steigerung  des  Ausdrucks,  im 
gewaltigen  Aufbau  der  Perioden,  in  den  zarten  Einschal- 
tungen der  Schlusstheile ,  in  der  ganzen  Handlung  der 
Form,  lebt  ein  eigenes  und  starkes  poetisches  Talent. 
Eberl  starb  jung;  sein  Ruhm  als  Sinfoniker  ruht  nur  auf 
wenigen  Werken,  von  denen  die  Sinfonie  in  Ddur 
ihren    Schöpfer    lange    überdauerte,    auch    draussen    „im 


o<?     209     ö* 


Reich*.  Tn  ihrer  dreisätzigen  Form,  io  dem  Violiosolo 
des  Adagio  hängt  sie  noch  mit  der  alten  Yor-Haydn^schen 
Periode  zusammen;  originell  ist  sie  in  der  Disposition  des 
ersten  Satzes,  welcher  zwischen  der  langsamen  Einleitung 
und  dem  eigentlichen  Allegro  in  anziehenden  Nuancen 
einen  sehr  hübschen  Marsch  vorüberführt: 


Allegro  moderato. 


Er  zeigt  vor  dem  Eintritt  in  den  Kampf,  dass  Hülfe  naht. 
Das  liebenswürdige  Adagio  weist  in  seinem  Hauptthema 

.Adagio. 


mit  den  schmachtenden  Vorhalten  auf  die  Zeit  Naumann *s 
zurück  und  voraus  auf  die  Bellinische.  Dieser  weichliche 
Schmerz  rührt  uns,  weil  er  erlebt  ist,  —  der  männlichen 
Sprache  der  Classiker  war  er  aber  fremd.  So  bietet  dieses 
Beispiel  und  ebenso  das  vorhergehende  eine  Ergänzung  zu 
dem  Ideenkreis  der  drei  Hauptmeister.  Sie  zeigen  uns 
die  Stellen  der  Wiener  Schule,  aus  denen  Männer  wie 
Franz  Lachner  und  Louis  Spohr  ihren  Ausgang  nahmen. 
Wenn  das  Wiener  Publikum  seiner  Zeit  der  Eberl'schen 
Es  dur-Sinfonie  den  Vorzug  gab  vor  Beethoven's  Eroica, 
so  schenkte  es  wenigstens  seine  Gunst  keinem  gewöhnlichen 
und  unbedeutenden  Werke.  Es  ist  eine  mit  allen  Vor- 
zügen des  Componisten  ausgeführte  sehr  leidenschaftliche 
Composition;  selbst  in  der  Menuett  grollt  es  noch  heftig, 
erst  das  zweite  Trio  bringt  Ruhe  in  die  Stimmung.  Der 
langsame  Satz  hat  mit  dem  Trauermarsch  der  Eroica  in 
der  Vertheilung  auf  eine  CmoU-  und  eine  Cdurhälfte 
und  in  den  kriegerischen  Triolen  einige  zufällige  Aeusserlich- 
keiten  gemeinsam. 


Kretisohmari  Führer,  I. 


U 


c<?     210     ^ 


S.  Keiko 


C.  OBemj. 


F.  Bies. 


Der  geistige  Eiofluss  Beethoven's  lässt  in  der  Wiener 
Schule  sehr  lange  auf  sich  warten.  Nur  Wilms  und 
Eberl  zeigen  unter  den  Genannten  leise  Beziehungen  zu 
ihm.  S.  Neukomm,  ein  direkter  Schüler  J.  Haydn^s,  in 
den  Concertsälen  Deutschlands  bis  in  die  Dreissiger  Jahre 
hinein  eine  gern  gesehene  Erscheinung  —  namentlich  seine 
Orchesterphantasie  in  D,  eine  zweisätzige  Composition,  in 
der  das  concertirende  Element  viel  zur  Geltung  kommt, 
war  sehr  beliebt  —  schrieb  noch  im  Jahre  1818  eine  Sin- 
fonia  eroica.  In  ihren  Schlusssatz  ist  Händers  „Seht  er 
konmit  etc.*  eingearbeitet.  Als  endlich  Beethoven  von 
den  Wienern  eifriger  studirt  wurde,  wirkten  zunächst  die 
Aeusserlichkeiten  des  grossen  Vorbildes.  So  wurden  von 
Wien  aus,  dann  weit  und  breit,  die  Posaunen  in  den  Sin- 
fonien endemisch.  Die  Dotzauer,  Keicha,  Maurer,  Moralt 
—  allerlei  Talente,  voran  die  kleinen,  griffen  zu  den 
grossen  Instrumenten.  Als  typisch  für  die  einreissende  Ton- 
verschwendung können  die  Sinfonien  von  C.  Czerny  be- 
trachtet werden.  Diese  beiden  platt  behaglichen,  lärmen- 
den Werke  tragen  die  Opuszahlen  750  und  781 !  Aus  dem 
grossen  Citatenvorrath  der  ersten  (in  CmoU)  ist  eine 
Reminiscenz  von  Schubert*s  , Erlkönig*  kunstgeschichtlich 
bemerkenswerth !  Ein  andrer  direkter  Schüler  Beethoven 's, 
der  bekannte  Ferdinand  Ries  copirt  stilistische  Eigen- 
thümlichkeiten  des  Meisters,  besonders  seine  Ueber- 
raschungseffekte  und  vermischt  sie  mit  Rossini^schen 
Scherzen :  Plötzliche  Unterbrechungen  der  Fortepartien  — 
die  Geigen  schaukeln  Takte  lang  auf  leisen  Accordnoten, 
italienisches  Guitarrenorchester  —  dann  eine  unvermuthete 
starke  Dissonanz,  aus  der  sich  aber  nichts  Beethoven'sches 
entwickelt:  ,Parturiunt  montes  etc.*!  Trotzdem  feierte  die 
Kritik  in  den  Zwanziger  Jahren  Ries  als  , geistreichen* 
(Komponisten.  Schumann  fand  seine  Eigenthümlichkeit 
„nur  durch  die  Beethoven'sche  verdunkelt*.*) 

Der  erste  Tonsetzer,  welcher,  obwohl  er  auf  einem 


*)  H.   Schumann's   Gesammelte  Schriften   (Aasgabe  Jansen) 
I,  135. 


oc?     211     ^ 

wesentlich  realiatischem  Bildungsboden  steht,  im  höheren 

Sinne  als  Beethoven*s  Schüler  bezeichnet  werden  kann,  und 

welcher  zugleich  die  Wiener  Schule  und  ihren  Localton 

als  einer  der  Letzten  und  als  der  Glänzendste  vertritt,  ist 

Franz  Schubert.    Wiener  und  Oestreicher  ist  er  in  der  F.  Sehikert. 

Erfindung  und  Phantasie  bis  zu  einem  Grad ,  dass  seine 

Compositionen  an  die  Wiener  Landschaft  an  Ländlerton 

und   an    Czardasklang    erinnern,    Beethovenianer   in    der 

breiten,  zuweilen  masslos  breiten  Führung  der  Form. 

Das  Hauptwerk  unter  Franz  Schubert*s  Sinfonien  ist 
die  grosse  Sinfonie  in  Cdur,  welche  in  der  Reihe  der 
übrigen  die  Nummer  7  trägt.  Sie  ist  ein  Ausnahmewerk: 
in  ihrer  colossalen  Anlage,  in  den  unaufhörlichen  Wieder- 
holungen ihres  Periodenbaues,  in  ihrer  , himmlischen 
Länge*,  wie  sich  R.  Schumann  euphemistisch  ausdrückte, 
etwas  monströs;  meisterhaft  und  genial,  wie  keine  andere 
seit  Beethoven,  in  der  musikalischen  Erfindung,  in  der 
Stärke  des  melodischen  Stromes,  in  der  Fülle  schwärme- 
rischer Weisen,  in  der  Ursprünglichkeit  und  dem  Reich- 
thimi  origineller  Tongedanken,  die  auf  Schritt  und  Tritt 
in  diesem  Werke  entgegensprossen:  liebenswürdig  und 
unwiderstehlich  wie  eine  heitere,  herrliche,  grossartige 
Frühlingslandschaft  nach  der  Natur  ihrer  Phantasie  und 
Stimmung.  Alles  in  Allem  kann  man  sie  vielleicht  die 
schönste,  die  musikalisch  reichste  Sinfonie  des  19.  Jahr- 
hunderts nennen;  sicher  hat  sie  in  der  Laienwelt  mehr 
Freunde  als  irgend  eine  andere. 

Die  Sinfonie   beginnt  mit  einer  ausgeführten  Einlei- 
tung, welche  die  Hörner  romantisch  eröflPhen: 

Andante.       r^  v  >  ^^  F.  8eli«bert 


I  dur-Sinfonie 


~^  r^  r^        pp  Nr.  7. 

Die  Holzbläser  nehmen  diese  fragende  Melodie  zunächst 
auf,  die  Celli  setzen  sie  fort.  Dann  beginnt  eine  Durchfüh- 
rung über  die  zwei  ersten  Takte  des  Themas.  Dieser  Discurs, 
von  den  Holzbläsern  schüchtern  und  zagend ,  von  dem  Gros 
des  Orchesters  mit  starker  Entschiedenheit  und  einer  ge- 
wissen robusten  Pracht  geführt,  endigt  mit  einem  Schluss- 


CG'     212     ^ 


resultat,    welches    in    dem    ersten   Satze    zu    grosser  Be- 
deutung gelangt.    Es  ist  das  freudig  zuversichtliche  Motiy 


^y^'^''^^    1^  ^  rHM-r—  ^**  ^^^^  Mozart*scher,  Ditters* 

dorf scher,  wir  können  sagen  nach  Wienerischer  und 
italienischer  Art  der  triumphirende  Refrain  in  der  Dichtung 
des  ersten  Satzes  wird.  Mit  ihm  scheint  der  Berg  über- 
stiegen. Ohne  Aufenthalt,  mit  formlichem  Ungestüm  geht  es 
über  in  das  AUegro,  dass  wie  in  den  Strahlen  der  Morgen- 
sonne Tor  uns  glitzert  und  flimmert.  Ritterlich  stolz  die  Greigen : 
AUegro. 

—/L   ih      ——  ?^  ~^i   I    \    i     rJ   .      vor  freudiger  Erwartung 

g    "  i.  j)i:'y'i.  j)i.  JJ'i     bebend  die  Holzbläser: 

so     bauen     die 
beiden      Theile 


^  rr  rr  rrirrr  rrr  ir  P^ 

des  Orchesters  das  lange  Thema  vor  uns  stückweise  auf. 
In  seiner  zweiten  Hälfte  giebt  es  einer  grossen  Freude 
immer  kühneren  und  rauschenderen  Ausdruck: 


f;'rr'ri^"'""""ir'rr'ri^'^^'Pif  r  ir 


Echt  Schubert'sch  ist  der  Abschluss  dieses  Bildes  und  der 
Uebergang  ins  Nächste.  Zwei  Takte  im  Decrescendo  ge- 
halten —  und  wir  sind  aus  dem  Cdur  und  dem  Sturme 
des  vollen  Orchesters  in  Emoll!  Das  zweite  Thema  setzt 
beschaulich  und  mit  jenem  kleinen  Anflug  von  Melancholie 
und  Sehnsucht  ein,  der  Schubert  gleich  einen  musikalischen 
Lenau  immer  begleitet:  Die  stark  beschäftigten,  in  dieser 
Sinfonie  fast  überbürdeten  Holzbläser  tragen  es 


P,  J    j    J^^fe^ 


^^ 


fi       -   Erst  nach  33  Takten 


rr^^H-f^T   '    I  ^ '  gelangt  es  ans  Ende 


und  in  die  für  diese  Stelle  zu  erwartende  normale  Tonart 


cc     213     ^ 

Gdar.  Eigenthttmlich  ist,  dass  Schubert  schon  hier  eine 
Durchführung,  wenn  auch  nur  eine  kleinere,  einschaltet. 
Darin  zeigt  sich  deutlich  der  Einfluss  Beethoven^s.  In 
dieser  Durchfuhrung  durchstreift  der  Componist  einen 
ausserordentlich  weiten  Ideenkreis.  Die  Holzbläser  und 
das  Streichorchester  bringen  mit  dem  munteren: 


ft  f  I  r  Jir^  oaiv  fröhliche  Klänge;    die  Posaunen  dicht 


daneben    mysteriös    schauerliche      *ji  \irt    [t'  T  | T  ;.    Es 

ist  wie  Yogelzwitschem  und  Waldesrauschen  in  einer 
Stunde,  wo  die  Natur  einschläft  Die  beiden  Motive  sind 
durch  kurz  zugesetzte  Auftakte  aus  früher  aufgestellten 
Themen  gebildet:  das  erste  aus  dem  zweiten  Thema,  das 
Posaunenmotiy  aus  dem  zweiten  Takte  der  Einleitung. 
Es  ist  abo  Alles  höchst  einfach  und  natürlich  zugegangen 
und  doch  stehen  wir  hier  wie  vor  einer  übernatürlichen 
Wirkung,  vor  dem  ganzen  Schubert  in  seiner  fast  er- 
schreckenden Grösse.  Er,  der  aber  noch  wie  ein  Kind 
mit  Kindern  spielte,  pflegt  jetzt  geheimen,  priesterlichen 
Verkehr  mit  der  Geisterwelt.  Der  gewaltige  Eindruck  der 
Stelle  lässt  sich  weit  in  der  modernen  Composition  ver- 
folgen, z.  B.  Schumann's  DmoU-,  Brahmas  D  dur-Sinfonie 
zeigen  die  Spuren.  Ein  ganz  eigner  und  neuer  Zug  an 
diesem  Sinfoniesatze  ist  die  innige  Verbindung  des  Allegro 
mit  der  Einleitung.  Dies  oben  unter  b)  gegebene  Refrain- 
thema aus  der  Einleitung  schliesst  die  kleine  Durchführung, 
von  welcher  hier  die  Rede  ist.  Es  schliesst  auch  die 
grosse,  die  eigentliche  Durchführung,  welche  nach  ihr  be- 
ginnt —  etwas  düster  und  in  Moll  gehalten  —  und  am 
Schlüsse  des  ganzen  ersten  Satzes  steht  herrlich  und  in 
vollem  Glänze  die  Melodie  vor  uns,  mit  welcher  die  Hörner 
die  Sinfonie  begannen.    In  der  grossen  Durchführung  des 

ersten    Satzes    ist    eine      a  mit     einem 

Combination  des  Motivs  wT  f-^T^rT  f"^      andern   aus 


dem  ersten  Thema  des  Allegro 


cG'     214     'ö^ 


pg-fg^^^^^ 


zu    bemerken. 


Nach  der  Reprise  kommt  eine  Coda,  welche  in  gesteigerter 
Empfindung  noch  einmal  auf  den  fremden-  und  erwartungs- 
vollen Eingang  des  Allegro  einen  Blick  wirft. 

Das  Andante  der  Sinfonie,  ihr  zweiter  Satz  (A  moll  */4) 
besteht  aus  zwei  grossen  Gruppen.  In  der  ersten  trägt 
AUes  den  Charakter  von  genial,  frei  und  sicher  zusam- 
mengestellten Impromptus.  Das  führende  Thema  ist 
folgendes: 


^^i 


Es    hat    einen    Ab- 
schluss  in  Dur,  der 

ins  Land  des  Glücks  und  ungetrübten  Friedens  weist; 


Zu  diesem  Hauptthema  tritt  ein  zweites,  in  welchem  die 
Gegensätze  des  erstem   gesteigert  und  näher  an  einander 

gerückt    er-     —4~%~ 
scheinen:       Ffe , 

.//i  Violinen  Jf  BUitt 

Der  zweiten  Gruppe  ist  ein  ruhigerer  Charakter  eigen. 
Aus  ihr  klingen  Töne  der  frommen  Andacht  und  einer 
erhabnen  Feierlichkeit,  und  an  einzelnen  Stellen  herrschen 
ein  Ernst  und  eine  Resignation,  aus  denen  die  Gedanken 
an  das  Jenseits  zu  sprechen  scheinen.  Wir  stehen  wie 
durch  Magie  vor  diesem  neuen  Bilde.  Mit  einem  jener 
kleinen  Harmonie  wunder,  an  denen  Schubert  so  reich  ist, 
führt  er  uns  von  A-  nach  Fdur.  Das  Hauptthema  dieser 
zweiten  Gruppe  ist  das  folgende: 


li.vioi. 


l.Viol. 


cc?     215     ^ 

Es  wird  sofort  Dachdem  es  aufgestellt  ist  in  kleinen 
Sätzchen  motivisch  entwickelt.  Der  Wechsel  zwischen 
den  zwei  Chören  des  Orchesters,  den  Bläsern  und  den 
Geigern,  giebt  diesen  Sätzchen  ihre  charakteristische 
Form.  Von  einer  besonderen  Schönheit  ist  die  Schluss- 
partie dieser  zweiten  Gruppe,  ihr  sanfter  wehmüthiger 
Abschiedscharakter,  das  fast  übersinnliche  Klangbild,  in 
welchem  Schubert  hier  mit  den  immer  leiser,  immer 
stockender  gebrachten  Tönen  des  Hornes  und  des  Streich- 
orchesters das  Verschwinden  der  himmlischen  Vision  ver- 
anschaulicht. 

Die  beiden  Gruppen  des  Andante  werden  nach  diesem 
Momente  ein  zweites  Mal  vorübergeführt.  Bei  dieser 
Repetition  besteht  eine  Hauptveränderung  darin,  dass 
die  wilden  Elemente  des  oben  mit  b)  bezeichneten  The- 
mas der  ersten  Gruppe  einen  breiten  Spielraum  erhalten. 
Sie  treiben  es  bis  zu  einer  sehr  bedenklichen  Spitze.  Von 
ihr  aus  finden  die  Celli  mit  einer  rührenden  Variante  des 
Thema  a)  den  üebergang  nach  der  zweiten  Gruppe, 
welche  diesmal  in  Adur  gehalten  ist.  —  Trotz  der  un- 
endlich vielen  Wiederholungen  im  Kleinen  ist  die  Dispo- 
sition des  Andante  eine  knappe  und  einfache. 

Das  Scherzo,  der  dritte  Satz,  erscheint  bei  Weitem 
complicirter.  Namentlich  der  zweite  Theil  seines  Haupt- 
satzes übertrifft  in  der  Menge  der  hier  zusammentreten- 
den Ideen  und  in  der  Länge  seiner  Ausführung  auch  die 
kühnsten  Beethoven'schen  Vorbilder. 

Den  Anfang  des  Scherzos  macht  ein  Wechselspiel 
zwischen   Bläserchor   und    Streichorchester,    welchem    fol- 

,        ,,  ^.  AUerro  vivace 

gendes   Motiv    j  .|    ^ 
zu  Grunde  liegt 

Die  Violinen,  zuerst  etwas  barsch  und  burschikos,  lenken 
dann  in  den  zärtlicheren  Ton  der  Blasinstrumente  ein 
und  schlagen  schmeichelnd  eine  liebenswürdige  Tanz- 
melodie vor 


te     216     ^ 


^h  1,1  ^j  I  n-  \f^f  irTvT)  1^^  r  ü  I 


/  ^,JrT^'      f— I  etc.,  welche  jene  mit  Achtelgewinden  aus 


dem  Hauptthema  umkränzen. 

Der  zweite  Theil  des  Hauptsatzes  setzt  die  reizenden 
Schelmereien  des  ersten  fort;  neu  hinzugetragen  erscheint 
ein  kurzer  Gedanke  von  grosser  Innigkeit:  ein  veredelter 


Ländler  ^-^  J  f^j^^^^f^-^^^T     7    |. 


Das  bewegte  Treiben  des  Scherzo  erhält  durch  das 
Trio  eine  köstliche  Unterbrechung.  Die  Bläser  tragen 
einen  langen,  gefühlvollen  Gesang  vor,  dessen  Haupttheil 
auf  folgender  Melodie  ruht: 


^f^^^i^^^m 


^m- 


Das  Finale   setzt  mit   einem    humoristischen  Allarm- 

Allegro  vlT&ce. 


f  f.    ^ *    ...    ?T— , 


Signal  folgendermassen   ein   ä  _ 

Von  allen  Seiten  wird  zum  Aufbruch  gerufen  eine  grosse 
glänzende  Menge  ist  in  Bewegung:  ein  herrlicher  Tag, 
eine  herrliche  Landschaft!  Aus  der  zweiten  Hälfte  des 
Hauptthema : 


r>  ■?- 


ter^tiirÄ^^^^ 


»)  Im  2.  Takt  ist  statt  g  „a"  zu  lesen. 


oe     217     ^ 

spricht  vergnügt,  ungeduldig  drängend  die  Freude  über 
ein  grosses  Ereigniss. 

Im  zweiten  Thema  nimmt  die  frohe  Stimmung  des 
Satzes  einen  beruhigten,  festlichen  Ausdruck  an:  es  ist 
als  ob  sie  nun  kämen  die  lang  Erwarteten  im  stolzen 
langen  Zug.  Ein  Siegesfest  Hesse  sich  mit  dieser  herr- 
lichen, reichen  Musik  feiern. 


ji nr  I  M  r  ii  I  ifp I ''i-Li-^ 'Pf' 


Rt  irTlr^^^ 


An  dieser  Melodie  hat  Schubert  ein  ersichtliches  be- 
sondres Wohlgefallen  gehabt;  namentlich  auf  den  breit 
daher  schlendernden  Anfang  in  halben  Noten  greift  er 
immer  wieder  zurück:  Dröhnend  und  mit  mächtigem 
Nachklang  schlagen  sie  uns  aus  den  Bässen  entgegen 
und  führen  die  Gedanken  von  dem  dunkleren  Wege,  den 
sie  in  der  Durchführung  streiften,  wieder  in  heitere  Sphären 
zurück.  Aussergewöhnlich  frei  tritt  die  Reprise  ein:  mit 
dem  ersten  Thema  in  Esdur  anstatt  in  der  Haupttonart 
C,  Namentlich  das  Finale  ist  derjenige  Satz  der  Sinfonie, 
an  welcher  sich  das  Uebermass  breiter  Ausführung, 
welches  dem  Werke  eigen  ist,  empfindlich  macht.  Ohne 
irgend  einen  neuen  Zug  zu  bringen,  setzt  der  Schluss 
dieses  Satzes  immer  wieder  an  und  wiederholt  in  immer 
andern  Tonarten  die  zur  Genüge  oft  vorgetragnen  Ge- 
danken. Es  ist  dies  ein  Mangel,  der  von  der  üeber- 
schwänglichkeit  Schubert's,  die  uns  häufig  genug  selige 
Momente  bereitet,  nicht  zu  trennen  ist.  Die  Cdur-SiÄ- 
fonie  bleibt  trotzdem  eins  der  reichsten  und  beliebtesten 
Kunstwerke.  Aber  man  würde  sie  wahrscheinlich  häufiger 
aufführen,  wenn  sie  kürzer  wäre. 


c<?     218     ^ 

Schubert  schrieb  diese  Sinfonie  im  Jahre  1828,  wenige 
Monate  vor  seinem  Tode ;  aber  erst  10  Jahre  später  wurde 
sie  der  Oeffentlichkeit  bekannt  und  zwar  auf  Schumann*s 
Veranlassung.*)  Eine  noch  viel  längere  Wartezeit  haben 
die  übrigen  Sinfonien  Schubert*s  durchmachen  müssen. 
Erst  im  Jahre  1865  kamen  die  beiden  Sätze  zur  Auf- 
P.  Seknbert  fuhrung,  welche  von  der  H  moU-Sinfonie  vorhanden  sind.  *) 
HmoU-Sinfonia.Dass  das  Werk  nicht  ein  Fragment  bleiben  sollte,  ist 
unzweifelhaft.  Die  Originalpartitur  enthält  noch  9  Takte 
als  Anfang  des  Scherzo.  Der  Entstehungszeit  nach  dem 
Jahre  1822  angehörend,  also  6  Jahre  älter  als  die  grosse 
C  dur-Sinfonie ,  ist  sie  dieser  doch  an  künstlerischer  Voll- 
endung überlegen:  gedrungen  in  der  Darstellung  und  frei 
von  den  formellen  Mängeln  der  berühmten  Schwester. 
Es  ist  eine  Eigenheit  der  künstlerischen  Entwickelung 
Schubert*8,  dass  sie  in  Sprüngen  auf  und  abwärts  ging. 
Dem  Inhalt  nach  ist  die  H  moll-Sinfonie  mit  der  grossen 
in  C  gar  nicht  zu  vergleichen.  Hier  steht  der  schwer- 
müthige  Schubert  vor  uns  und  entrollt  uns  in  kurzen 
und  ergreifenden  Zügen  das  Bild  einer  leidenden  Seele. 
Manche  Stellen  im  ersten  Satze  weisen  direkt  auf  ,Gret- 
chen  am  Spinnrade*  hin,  sogleich  das  erste  Thema,  in 
welchem  unter  dem  sehnsüchtigen  Gesang  von  Clarinette 
und  Oboe  (unisono) 

Allepro  moderato.         ^^^^  ^^ — .„^^ 

die  Geigen  auf  träumerisch  belebtem  Sechzehntelmotiv') 


*)  Die  EntdeckuDgsgescbichte  hat  Scbumann  zuerst  aus» 
fUhrlich  in  der  Neuen  Zeitschr.  f.  Musik,  Bd.  XII,  S.  81  mit- 
getheilt :  von  da  ist  der  Aufsatz  in  seine  „Gesammelten  Schriften" 
übergegangen. 

*)  Ueber  die  Auffindung  durch  J.  Herbeck  siehe:  Ed.  Hans- 
lick.     Aus  dem  Concertsaal.     Wien  1870,  S.  350. 

*)  In  der  Partiturausgabe  sind  an  dieser  Stelle  mit  be- 
merkenswerther  Pietät  auch  einige  offenbare  Schreibfehler 
Scbubert's  conservirt  worden. 


c<?     219     'ö^ 


hin-  und  herschaukeln.  Das  zweite  Thema,  eine  ländler- 
artige Melodie,  setzt  dann  mit  unbeschreiblichem  Wohl- 
klang in  den  Cellis  ein 


j^p 


-^JH5;{^^^.4:^e.a=ti£d^.^ 


^r'/  1*  r  r  tX^V^\-^  r  r_r  l*^^*     ^^    nimmt   die    ganze 


Erinnerung  in  Beschlag:  es  ist  für  seine  Stelle  fast  zu 
schön  und  macht  uns  die  erschütternden  Gemüthsaus- 
brüche  vergessen,    welche  doch  seine  Fortsetzung  bilden: 


|iii  I  ii  II  I  ij  I  Uli  ii|  i'i  r 


Der  zweite  Satz,  Andante  con  moto  (Edur  ^/g)  bringt 
, himmlischen  Balsam*^  in  einfachster  Schale.  Die 
Melodie,    auf    welcher    sein    Hauptthema    im     Wesent- 


Andaüte 


moto. 


liehen  ruht,  ist  ein  schlich-    j  j   n  f '  i  f  i  ff  r  |   f '  rfr" 
ter  frommer  Kindergesang:   &  tt  *  "^^  '        '  ^^  '  - — ^^' 

Das  zweite  Thema  tritt  mit  den  Fragen  eines  beschwerten 
Gemüths  dagegen  hin.  Sie  haben  in  der  harmonischen 
Führung  dieser  Partei  einen  bewunderungswürdigen  Aus- 
druck erhalten.  Der  ganze  Satz  ist  das  glänzendste 
Document  für  die  Tiefe  des  Schubert'schen  Geistes,  für 
den  erstaunlichen  Reichthum  einer  Natur,  in  welcher 
neben  der  vollen  Naivetät  des  Kindes  aus  dem  Volke 
auch  jene  Grösse  der  Empfindung  wohnte,  die  Beethoven's 
Theil  war. 

Seit  kurzer  Zeit  liegen  uns  in  der  verdienstvollen 
Schubert- Ausgabe  ^)  auch  die  Partituren  der  übrigen  sechs 
Sinfonien  vor,  welche  Schubert  ausser  den  beiden  hier 
geschilderten  und  in  der  Praxis  eingebürgerten  geschrie- 
ben hat.    Von  einer:    der  Cdur-Sinfonie  Nr.  6,  welche  in 


^)  Leipzig,  Breitkopf  &  Härte!. 


F.  Sohmbert 

OdoT^infonla 
(Nr.  6). 


«<?     220     '^ 

ihrem  ersten  Satze  Weber'schen  Einfluss,  im  letzten  Ver- 
wandtschaft mit  dem  Finale  der  siebenten  zeigt,  wissen 
wir  das  Entstehungsjahr  nicht  genau,  wir  dürfen  es  aber 
nach  1822  setzen.  Die  andern  fünf  fallen  in  die  Zeit 
von  1813  bis  1816,  ohne  dass  sich  in  der  Keihenfolge, 
in  der  sie  entstanden,  eine  fortschreitende  Entwickelung 
yerfolgen  Hesse.  Dem  grossen  Sinfoniestile  Beethoven^s 
F.  Seknbert  nähert  sich  Schubert  am  meisten  in  der  B  dnr-Sinfonie 
Bdor-Sinfönie  (Nr.  2)  vom  Jahre  1844.  Hier  strebt  er  dem  grossen 
(Nr.  2).  Meister  in  dem  breiten  Entwurf  der  Perioden  nach ;  ja 
das  Hauptthema  des  ersten  Satzes  ist  direkt  aus  einem 
ähnlichen  im  Finale  von  Beethoven *8  vierter  Sinfonie 
hervorgegangen.  Gleichzeitig  zeigt  auch  diese  Sinfonie 
das  Eigene  und  das  Wienerische  in  Schubert  am  stärksten, 
vornehmlich  das  Andante  mit  den  Variationen: 

-  Andajite.  .^-^  und    das    keck 

-^^'  f  l'rrrfmJr''   l^'^Mf/lQ       dahlnsprühende 


$ 


Finale : 
Presto. 

^j^jjijj^icj.rJirnj  jiij  jJirrrrif  i  i. 

Diese  B  dur-Sinfonie   hat   von    allen    den    nachgefun- 
denen die   ersten  Aussichten  im  Concertsaale  heimisch  zu 
werden.     Alle    die   neugefundenen    Sinfonien   haben   ihre 
interessanten    Einzelheiten    in    Beziehungen    auf    andere 
F.  Sehnbert  berühmte  Werke  ihres  Componisten :    die   erste  (D  dur  v. 
Sinfonie  Nr.  1  J.  1813)  in  dem  zweiten  Thema  des  Finale,  das  mit  dem 
^^  3.        Lied  von  der  Forelle  bestimmte  Züge  theilt ,   die  dritte 
(Ddur  V.  J.  1815)   durch   einen  Anklang  an  die  grosse  in 
Cdur.    Gemeinsam  ist  ihnen  die  Meisterschaft  im  Colorit, 
die   angeborene  Genialität  in  der  Mischung  und  Verwen- 
dung   der    Instrumente    und    ein    ausgeprägter    Zug    von 
Lebensfreude.      Eine   Ausnahme   von    der    letzten  Eigen- 
schaft macht  nur  die  vierte  Sinfonie  (Cmoll  v.  J,  1816). 
F.  Sehnbert   Sie   ist    „tragische    Sinfonie**    überschrieben  und   als   ein 
Tragische  Sin-  Versuch  in  diesem  Stile  zu  betrachten ,  wobei  Muster  wie 
fonie.        Beethoven*s  Ouvertüren  zum  Coriolan   und  zum  Egmont 
I  und    die    Cherubini's    zur    Medea    zimi    Grunde    gelegen 


co     221     ^ 

haben.  Vom  eigentlichen  Wesen  tragischer  Musik  ent- 
hält sie  jedoch  weniger  als  die  unvollendete  Sinfonie  in 
Hmoll. 

Die  norddeutsche  Schule  die  noch  zu  den  Zeiten 
des  Hamburger  Bach  der  Wiener  Schule  innerlich  ziem- 
lich nahe  steht,  wird  sich  mit  deren  Erfolgen  eines  Gegen- 
satzes bewusst  und  bemüht  sich  eine  eigene  Art  zu  äussern. 
Sie  giebt  sich  pathetisch,  ruhiger  und  ernster  als  die  Wiener, 
zuweilen  etwas  trocken.  In  Form  und  Stil  übertriflFt  sie 
jene  durch  Grediegenheit  und  Solidität  und  verräth  einen 
Zusammenhang  mit  jener  Berliner  Contrapunktistenpartei, 
welche  unter  der  Führung  Kimberger's  den  ersten  Triumphen 
Haydn's  mit  dem  Feldgeschrei  , Sebastian  Bach*  entgegen- 
trat. Die  Opposition  mag  etwas  lächerliches  gehabt  haben. 
Spottet  doch  Marpurg*)  einmal  über  einen  Philister,  der 
eine  Partitur  ,mit  der  finstren  Miene  eines  Erzdoppel- 
contrapunktisten ,  der  den  galanten  Haydn  zu  Boden 
schlagen  will*  prüft.  Die  norddeutschen  Sinfonien  sind  reich 
an  Imitationen  und  Umkehrungen  und  an  Fugenpartien. 
Fugen  sind  auch  den  Wiener  Sinfonien  nicht  fremd;  aber 
die  Norddeutschen  tragen  die  strenge  Arbeit  gern  zur 
Schau;  ja  es  giebt  Werke,  in  welchen  das  gelehrte  Ele- 
ment sich  ganz  zum  Herrn  macht.  Das  am  meisten 
charakteristische  Produkt  dieser  Richtung  ist  die  Cdur- 
Sinfonie  des  Abt  Vogler,  in  deren  Finale  die  diatonische  Abt  Yogier. 
Scala  als  Thema  durchgeführt  wird.  Das  Werk  genoss 
von  seinem  Entstehungsjahre  1815  bis  nahe  an  die  neueste 
Gegenwart  heran  ein  grosses  Ansehen. 

Mit  dem  Auftreten  Mozart's  nähert  sich  die  Nord- 
deutsche der  Wiener  Schule  wieder.  Mozart  wird  das 
Ideal  ihrer  Tonsetzer.  Um  Beethoven  aber  erwarb  sie  sich 
die  grössten  Verdienste.  Seine  Musik  fand  ihre  Haupt- 
stütze in  Norddeutschland,  namentlich  durch  das  Eintreten 
des  von  Fr.  Bochlitz  wohl  berathnen  Leipziger  Gewand- 

^)  Legende  einiger  Masikheiligen.  (Colin  a/Rh.  1786.) 
8.  200. 


cc     222     'ö^ 

haoses,  eines  der  wenigen  Institute,  die  aus  der  Periode 
der  , wöchentlichen  Concerte*  heil  in  die  neue  Zeit  herüber- 
kamen. An  guten  Grundsätzen  und  Absichten  reiche  blieb 
die  Norddeutsche  Schule  an  überragenden  Talenten  lange 
arm  und  hinter  der  Wiener  beträchtlich  zurück,  bis 
Mendelssohn  und  Schumann  erschienen. 

Die    ersten    namhaften   Vertreter   der    norddeutschen 

A.  Bomber;.  Sinfonie  sind  die  beiden  Romberg  und  Fr.  Schneider. 

Andreas  Romberg,  der  Componist  der  ,  Glocke  * ,  galt  als 
der  anerkannte  Führer.  Von  seinen  Sinfonien,  unter  denen 
sich  auch  eine  mit  Janitscharenmusik  befindet,  ist  die  in 
D,  welche  Jahre  lang  ein  Liebling  der  Orchester  war,  be- 
sonders hervorzuheben.  In  ihrem  ersten  Satze,  welcher 
in  freier  und  selbständiger  Weise  an  die  tragischen  Motive 
des  Don  Juan  anklingt,  zeigt  sie  die  der  Schule  eigen- 
thümlichen  ernsten  Züge   ausserordentlich  deutlich.     Sein 

B.  Bomberg.  Vetter   Bernhard   Romberg,    einer   der   grössten   Cello- 

spieler seiner  Zeit,  heute  noch  durch  seine  Kindersinfonie 
weit  bekannt,  hat  sich  in  der  Gattung  der  höheren  Sin- 
fonie durch  die  , Trauersinfonie  auf  den  Tod  der  Königin 
Louise*  ein  rühmliches  Denkmal  gesetzt.  Ohne  Choräle, 
Begräbnissgesänge  und  äusserliche  Hülfsmittel  wird  hier 
eine  erhebende  Todtenfeier  vollzogen,  der  leidenschaftliche 
Schmerz  und  die  sanfte  Klage  haben  denselben  natürlichen 
schlichten  Ausdruck  gefunden ;  wahres,  echtes  Gefühl  und 
edle  Haltung  machen  diese  Sinfonie  zu  einem  hervor- 
ragenden Kunstwerk.    Nach  Geist  und  Stil  erinnert  es  an 

Fr.  Sehaelder.  Mozart 's ,  Maurerische  Trauermusik  * .  Friedrich  Schneider 
war  einer  der  Ersten ,  welche  in  Beethoven*s  Fussstapfen 
zu  treten  suchten.  Vom  Jahre  1803  ab  hat  er  Über  vier 
Jahrzehnte  lang  das  Gebiet  der  Sinfonie  gepflegt  und  in 
den  Scherzi's  seiner  ungefähr  zwanzig  Sinfonien  oft  eine 
bedeutende  Höhe  erreicht. 

Als  der  letzte  und  bedeutendste  Vertreter  des  ursprüng- 

W.  Kalliwoda.  liehen  Stiles  der  norddeutschen  Schule  ist  W.  Kalliwoda 
zu  betrachten,  der  von  der  Mitte  der  zwanziger  Jahre  ab 
ein  Vierteljahrhundert  hindurch  einen  bedeutenden  Platz 
im    Repertoir    einnahm.      In    ihm    schien    das    Geschick 


ee     223     ^ 

wieder  einen  Meister  ersten  Banges  bescheeren  zu  wollen. 
Vielseitig,  auf  jedem  Gebiete  sicher,  oft  neu,  originell  und 
doch  natürlich  und  einfach,  macht  er  wiederholt  den  Ein- 
druck eines  Auserlesenen  und  nähert  sich  der  letzten  Stufe 
zur  Unsterblichkeit.  Obwohl  das  eminente  Talent  Kalli- 
woda's  nicht  zu  voller  Entfaltung  gelangt  ist  und  in  fast 
jedem  seiner  Werke  ein  unfertiger  Rest  bleibt  —  hier  die 
übermässige  Breite  der  Ausführung,  dort  die  Ungleichheit 
der  Theile  —  ist  doch  das  Studium  seiner  Sinfonien  sehr 
genussreich.  Jede  enthält  Perlen  und  Proben  einer  musi- 
kalischen Urkraft.  In  der  ersten  Sinfonie  Kalliwoda's 
(FmoU)  machen  wir  auf  die  schöne  Einleitung  und  das 
naiv  kräftige  (zweite)  Thema  des  ersten  Satzes: 
AUegro.  ^ ^ 

-j^^VS!  J"^r  Ip  r    ir  {Jjj  I|>"J^  aufinerksam.    Ihr 


Scherzo  hat  in  dem  Hauptthema 

Vivtce.     ^  ♦    f  f.  ..         .       eine  zufällige  Aehnlich- 


tf  .iL  „V*  f*  f  .f  f  r   ■    »•       ^*"*^  zuiaiuge  Aenniicu- 
flin'»  f    \\    \    ^    V    ^    \    \    \     \  keit  mit  dem  entsprechen- 


den  Satze  der  Schumann Vhen  D  moU-Sinfonie.  Die  zweite 
Sinfonie  Kalliwoda's  zeigt  bedeutende  Fortschritte  in  der 
Form.  Die  Verbindungsgruppen  sind  gedankenvoller  ge- 
worden und  können  der  Stütze  durch  Figurenwerk  ent- 
rathen.  Der  poetische  Glanzpunkt  des  Werkes  liegt  in  der 
kleinen  Coda  des  Larghotto,  welche  der  scheinbar  schon 
geschlossenen  Darstellung  noch  einen  ganz  neuen  traulich 
herzlichen  Gedanken  in  Canonform  nachsendet.  Die  dritte 
Sinfonie  Kalliwoda's  darf  im  Allgemeinen  als  ein  Haupt- 
werk aus  der  Periode  ihrer  Entstehung  (1831)  bezeichnet 
werden.  Leider  ist  der  letzte  Satz  den  vorhergehenden 
nicht  ebenbürtig  und  in  allen  wünscht  man  die  Darstel- 
lung etwas  gedrungener.  Ohne  diese  Mängel  würde  sie 
ftir  alle  Zeiten  die  Repertoire  zieren  können.  Viele  Par- 
tien haben  Beethoven's  grossen  und  kühnen  Zug;  im  zwei- 
ten Thema  des  ersten  Satzes  glauben  wir  uns  direkt  in 
die  Sphäre  der  Bassumowsky-Quartette  dieses  Meisters 
versetzt.    Der   erste  Satz   ist   einer  der  charaktervollsten 


c<?     224     ^ 

Sinfonie-Sätze,   die  je  geschrieben  worden  sind;    in  seiner 
blUthenlosen  Starre  und  Strenge  hat  er  kaum  seines  Gleichen. 

Sein  kahles  und  stei-     p       ♦^'  „    i  l.«    i    _     i         i  i 
nemes      Hauptmotiv    ^  ^         J    "    I         I    ^     I    "  J,"  : 

welches  schon  fremdartig  in  die  Einleitung  hineinklingt, 
gehört  zu  jener  Classe  von  Themen,  mit  welchen  es  nur 
ein  Genie  wagen  darf.  Die  vierte  Sinfonie  (C  moll)  zeigt  den 
Componisten  in  Formen  und  Gedanken  wieder  als  einen 
ganz  anderen.  Ihr  erregtes  Wesen  deutet  auf  persönliche 
Erlebnisse;  namentlich  das  Finale,  wo  nach  einem  ausser- 
ordentlich leidenschaftlichen  Eingang  plötzlich  das  sinnende 
Andante  wieder  erscheint ,  legt  diese  Vermuthung  nahe. 
Die  fünfte  Sinfonie  Kalliwoda's  (Hmoll),  welche  im  Ganzen 
etwas  leichter  wiegt,  hielt  sich  durch  das  den  langsamen 
Satz  vertretende  einschmeichelnde  AUegretto 
AUei^retto.  ^ ^^^^ 


lange  in  der  Gunst  des  Publikums.  Die  sechste  und  siebente 
Sinfonie  Kalliwoda's  stehen  gegen  ihre  Vorgängerinnen  zu- 
rück und  erlangten  in  den  Coneertprogrammen  keine  feste 
Position. 

Zur  Bedeutung  gelangte  die  norddeutsche  Schule  mit 
dem  Anwachsen  der  romantischen  Bewegung,  die  sie  in  die 
Sinfonie  hineintrug. 

Jean  Paul  nennt  bekanntlich  die  Musik  die  roman- 
tischste, d.  h.  von  Natur  aus  und  von  jeher  romantische 
unter  den  Künsten.  Und  in  früherer  wie  in  neuerer  Zeit 
ist  mit  Keeht  darauf  auftnerksam  gemacht  worden,  dass 
auch  schon  die  Werke  S.  Bach's  und  anderer  älterer  Meister 
romantische  Züge  tragen.  Geschichtlich  datiert  aber  der 
Begriff  der  musikalischen  Komantik  erst  seit  dem  Anfang 
unsers  Jahrhunderts.  Zwiespältigkeit  und  Mischung  galt 
als  Wesen  der  Romantik.  In  diesem  Sinne  wurden  Mozart 
und  Beethoven  im  Gegensatz  zu  Haydn  als  romantische 
Componisten  bezeichnet:  Mozart,  weil  er  in  seinen  Allegro- 
sätzen   die    Instrumente    ohne    Weiteres    aus    bewegtem 


^     225     ^ 

Figurenspiel  in  ruhigen  Gesang  übergehen  Hess,  Beet- 
hoven, weil  er  Scherzi,  d.  i.  heitere  Sätze  schrieb,  bei 
denen  man  sich  ängstigen  konnte,  und  weil  er  auch  sonst 
in  demselben  Athem  Dinge  verband,  welche  im  schärfsten 
Gegensatze  zu  einander  standen.  Haydn  that  eins  nach 
dem  anderen  und  hielt  seine  Gedanken  und  Stimmungen 
einfach  und  frei  von  Mischungen.  Die  Wiener  Schule, 
die  ihm  vorzugsweise  folgte  versagte  sich  der  Romantik 
nicht  grundsätzlich,  aber  sie  ging,  Franz  Schubert  aus- 
genommen, kaum  über  den  Punkt  hinaus,  bis  zu  dem 
Mozart  vorangeschritten  war.  An  A.  Eberl  lässt  sichs 
wahrnehmen  wie  sie  die  romantischen  Wendungen  auf  die 
eigentlichen  Adagiogefühle  beschränkt.  In  der  nord- 
deutschen Schule  durchdringt  dagegen  der  romantische 
Geist  schon  frühzeitig  auch  das  Allegroleben. 

Wir  begegnen  seinen  Spuren  z.  B.  bei  A.  Romberg  in 
kleinen  chromatischen  Durchgängen  und  Wechselnoten: 
AHegro  modertto.  


Durch  sie  werden  die  im  Grunde  muntren  Weisen  seiner 
Ddur-Sinfonie  sentimental  durchblitzt.  Die  Heimath  dieser 
Art  romantischer  Musikelemente  ist  vornehmlich  die  fran- 
zösische Oper.  In  den  durch  ihre  Herbheit  der  nord- 
deutschen Schule  nahestehenden  Sinfonien  von  Tomaschek, 
dem  böhmischen  , Schüler  der  Musik«,  und  von  Mehul, 
greift  die  Romantik  schon  tiefer  in  den  Satzbau  und  in 
die  Gedankenentwickelung  hinein.  Vom  Jahre  1815  ab 
wird  der  romantische  Stil  der  herrschende,  und  alle 
die  Sinfoniker,  welche  neben  Beethoven  etwas  bedeuten, 
repräsentiren  eine  Seite  des  romantischen  Geistes.  Die 
musikalische  Romantik  hat  mit  der  Romantik  in  Litteratur, 
Poesie  und  bildender  Kunst  fortan  mehrere  Jahrzehnte 
lang  hervorragende  Berührungspunkte.  Auch  die  musi- 
kalischen Romantiker  kennzeichnet  das  Festhalten  an 
Lieblingsstimmungen,  das  Hervortreten  der  Persönlichkeit 
des  Darstellers  in  der  Darstellung,  der  subjective  Ton  und 
die  aus  diesen  Erscheinungen  hervorgehende  Einseitigkeit 

KretEiobmar,  FOhrer,  I.  15 


oc?     226     '^ 

und  Gleichförmigkeit  der  Werke.  Die  musikalischen 
Romantiker  pflegen  Specialitäten  des  Gemüthslebens  und 
der  Phantasie  und  haben  in  der  Form  Manieren,  die 
immer  wiederkehren  und  für  welche  sie  schnell  Nach- 
ahmer und  Schüler  finden.  Wie  die  allgemeine  Romantik 
läuft  auch  die  Geschichte  der  musikalischen  im  Zickzack. 
Sie  springt  von  dem  phantastischen  Gebiete  auf  das  senti- 
mentale über,  von  da  auf  das  naturfrohe  und  naive,  und 
läuft  endlich  von  dieser  letzten  Station,  von  der  Hingabe 
an  das  Genre  und  an  das  Kleinleben,  in  eine  Periode  der 
Realistik  und  des  Naturalismus  aus.  Die  romantische 
Epoche  hat  in  der  Musik  sehr  belebend  und  anregend  ge- 
wirkt, Ideen  einer  früheren  Zeit  vertiefend  ausgeführt, 
neue  Klang-  und  Ausdrucksmittel  zum  Vorschein  gebracht 
und  die  Litteratur  mit  Werken  bereichert,  welche  all- 
gemeinen bleibenden  Kunstwerth  haben.  Sie  bedeutet  eine 
zweite  Blüthezeit  in  der  Geschichte  der  Sinfonie  und 
hat  in  Mendelssohn  und  Schumann  zwei  Meister  hervor- 
gebracht, welche  an  Originalität  und  Reichthum  der 
musikalischen  Erfindung  den  grossen  Classikem  der  Wiener 
Periode  nahestehen. 

Die  phantastische  Richtung  der  Romantik  vertritt  in 
C.  M.  T.  Weber,  der  Sinfonie  zuerst  C.  Maria  von  Weber.  Von  seinen 
zwei  Sinfonien ,  die  beide  in  C  dur  stehen ,  ist  die  erst« 
(i.  J.  1807  für  die  Capelle  des  Herzogs  von  Württemberg 
geschrieben)  die  bedeutendere.  Sie  war  (vom  Jahre  1814 
ab)  längere  Zeit  bei  den  Orchestern  sehr  beliebt  und 
dürfte  auch  heute  noch  einer  freundlichen  Aufnahme  ge- 
wiss sein.  Es  ist  ein  bescheidenes ,  liebenswürdiges  und 
sehr  mannigfaltiges  Werk,  heute  doppelt  interessant  durch 
die  vielen  Einzelheiten,  welche  direkt  auf  den  Schöpfer 
des  Freischütz  hinweisen.  Das  Andante,  das  poetische 
Hauptstück  der  Sinfonie ,  '  hat  Wolfschluchtsbässe  und 
Agathecantilenen.  In  seiner  düster  feierlichen  Pracht,  in 
der  stillen  Schwermuth,  welche  aus  den  schmelzenden 
Klängen  der  Blasinstrumente  spricht,  ist  es  einer  der 
schönsten  langsamen  Sätze,  welche  zur  Zeit  Beethoven*8, 
und   ganz   unabhängig   von   diesem   Meister,    geschriebeu 


e<?      227      ^ 

worden  sind.  Die  freie  Disposition  macht  es  einer  dra- 
matisirten  Erzählung  ähnlich.  Der  Schauplatz  ist  nächt- 
lich, zu  den  handelnden  Personen  stellt  die  Geisterwelt 
Mitwirkende.  Im  ersten  Satze,  welcher  im  Stile  die  con- 
trapunktischen  Merkmale  der  norddeutschen  Schale  trägt, 
üherwiegt  der  muntere  ritterliche  Ton;  die  spannenden 
phantastischen  Momente  liegen  in  den  leisen  Solostellen 
der  Contrahässe.  Malerisch  und  bilderreich  ist  er  im  hohen 
Grade;  der  herrschenden  Haydn'schen  Methode  bleibt  er 
viel  schuldig.  Weber  selbst  war  später  mit  diesem  aller- 
dings etwas  zerfahmen  Satze  am  wenigsten  zufrieden. 
Er  entschuldigt  sich  bei  Gottfr.  Weber,  dem  die  Sinfonie 
gewidmet  ist,  und  bei  Fr.  Rochlitz  damit,  dass  er  hier  mehr 
auf  eine  Ouvertüre  ausgegangen  sei.^)  Dagegen  erkannte 
er  Menuett  und  Adagio  voll  an.  Beim  Publikum  und  bei 
dem  Orchester  war  das  Finale,  in  welchem  immer  die 
Homer  mit  komischer  Beflissenheit  vorausstürmen ,  als 
einer  der  drolligsten  Sätze  seiner  Zeit  besonders  beliebt. 

Ein  späterer  Vertreter  derselben  Richtung  ist  Ons-  ^-  Oaslow. 
low,  ein  geistreicher,  temperamentvoller  Componist,  wel- 
cher unter  die  Ersten  gehört,  deren  Adagios  den  Beet- 
hoven'schen  Massen  nachstreben.  Onslow  ist  apart,  ele- 
gant, reich  an  Ideen,  in  Figuren  und  Rhythmen  vielfach 
neu;  in  den  Durchfdhrungssätzen  verrathen  leider  triviale 
Episoden  den  Mangel  an  musikalischer  Durchbildung, 
welcher  den  Werken  Onslow*s  eine  schnelle  Vergessenheit 
bereitet  hat.  Die  verbreitetste  seiner  Sinfonien  war  die 
in  Adur.    Die  Hauptthemen  ihres  ersten  Satzes 

mögen    den    romantischen    Charakter 

von  Onslow's  musikal.  Erfindung  erläutern.  Wie  die 
Romantiker  der  phantastischen  Richtung  von  der  franzö- 
sischen Oper  im  Allgemeinen  viele  Impulse  empfingen,  so 

*)  F.  W.  Jahns :  C.  M.  v.  Weber  in  seinen  Werken  (187 1)  S.  64. 

15* 


CO     228     "^ 

zeigen  diese    und  andere  Melodien  Onslow^s  speciell  den 
Einfluss  der  Komanzen  Boieldieu*8. 

Die  sentimentale  Richtung  der  Romantiker  ist  durch 
Mozart  und  Cherubini  vorbereitet  und  auch  in  den  Sin- 
fonien der  Wiener  Schule  reichlich  vertreten.  Ihre  eifrigste 
Pflege  findet  sie  in  den  Sinfonien  von  L.  S  p  o  h  r  und 
F.  Mendelssohn-Bartholdy. 

Die  Sinfonien  von  Louis  Spohr  sind  in  ihrer  Mehr- 
zahl der  heutigen  Generation  bereits  wieder  fremd  ge- 
worden. Fast  zwei  Menschenalter  hindurch  war  dieser 
unermüdlich  strebende  Künstler  auf  diesem  Gebiete  thätig 
und  nahm  an  allen  den  Bestrebungen  thätigen  Antheil, 
welche  von  Beethoven  bb  auf  Liszt  der  Weiterentwicke- 
lung des  sinfonischen  Stils  galten.  Die  erste  unter  Spohr*s 
gedruckten  neun  Sinfonien  (in  Es  dur)  wurde  für  das  zweite 
Frankenhauser  Musikfest  (1811)  componirt  und  erfreute  sich 
bald  allgemeiner  Anerkennung.  *)  Sie  zeigt  bereits  die  fertige 
L.  Spohr     Individualität  des  merkwürdigen  Künstlers :  die  Zeitgenossen 

Eadar-Sinfouie.  fanden  in  ihrer  ruhigen  Würde  einen  Gegensatz  zu  dem 
Feuer  Mozart's  und  Beethoven's,  lobten  die  weniger  ge- 
danklich bedeutenden  als  angenehmen  Melodien  und  tadel- 
ten die  allzuhäufige  Wiederkehr  seiner  chromatischen  Gänge 
und  die  unruhige  Modulation.  Bis  gegen  das  Jahr  1830  kehrt 
das  Werk  auf  den  Repertoiren  immer  wieder.  Seine 
zweite  Sinfonie  (D  moll)  schrieb  Spohr  i.  J.  1820  für  die  phil- 
harmonische Gesellschaft  in  London,  die  durch  ihn  kurz  zuvor 
die  erste  Bekanntschaft  mit  dem  Taktstocke  gemacht  hatte. 
Sie  wirkte  besonders  durch  die  virtuosen  Stellen  des  Streich- 
orchesters. *)  Spohr*s  dritte  Sinfonie  (CmoU),  seine  vierte 
(,  Weihe  der  Töne*)  und  seine  fünfte  (C  moll)  bilden  den  Höhe- 
punkt in  der  sinfonischen  Thätigkeit  ihres  Verfassers  und 
sind  bis  heute  noch  in  den  Programmen  zu  finden.  Nament- 
L.  Spohr     lieh  seine  dritte  Sinfonie  (v.  J.  1829)   ist  eins  der  liebens- 

C  moii-Süifonie  würdigsten  Denkmäler  der  ersten,  unschuldigen  Jugendzeit 
Nr.  8.        (jgr   musikalischen   Romantik.     Manche    Zeilen   in   dieser 


^)  L.  Spohr,  Selbstbiographie  I,  161. 
*>  Ebendi  II,  89. 


oc?     229     '^ 

Dichtung  —  wir  denken  an  das  zweite  Thema  des  ersten 
Satzes  —  sind  veraltet,  aber  aus  dem  Ganzen  spricht  der 
überschwän gliche  Geist  milder,  weicher  Schwärmerei,  dem 
Spohr  zuerst  einen  eignen  Ausdruck  verlieh,  noch  in  erster 
Frische.  Die  musikalischen  Wurzeln  dieser  Spohr'schen 
Kunst  reichen  bis  in  die  Opern  Paisiello's,  Piccini's,  Ga- 
lüppi*8  zurück;  in  der  Sinfonie  erstarkte  sie  namentlich 
durch  Eberl  und  jene  Wiener  Rührungsmänner,  deren 
letzte  Spuren  sich  in  den  Liedern  H.  Proch*s  finden. 
Schubert  kannte  Spohr  nicht,  als  er  seine  ersten  Sinfonien 
schrieb,  und  von  Beethoven'schen  Anregungen  macht  er 
nur  einen  sehr  vorsichtigen  Gebrauch;  der  italienischen 
und  ^nzösischen  Oper  seiner  Zeit,  Cherubini  namentlich, 
verdankt  er  Einiges.  Spohr  hat  aber  die  Sprache  der 
Sentimentalität  auch  selbständig  weiter  gebildet,  und  wie 
viel  von  den  verminderten  Schlussintervallcn : 

^  f    h'^     r^r        ^^^  ^^^   anderen    Wendungen    seines 

romantischen  Idioms  in  die  Werke  mitlebender  und  folgen- 
der Künstler  übergegangen  ist,  wird  man  mit  Staunen  bei 
Betrachtung  dieser  C  moll-Sinfonie  gewahr.  Ihr  Larghetto 
namentlich,  der  vollendetste,  gedankenreichste  und  mannig- 
faltigste Satz  des  Werkes,  hat  in  den  Sinfonien  gleich- 
zeitiger und  späterer  Sinfoniker  mächtig  nachgewirkt. 
Am  ersten  Satze  ist  das  Beste  die  Einleitung  mit  dem 

charakteristischen,  suchenden  Quintenmotiv  ft  J     t~\  f   l " 

und  der  Schluss  der  Durchführung,  an  welchem  diese  Ein- 
leitung wieder  erscheint.  Auch  das  erste  Thema  des 
Allegro,  in  seinem  Anfang  nicht  hervorragend,  erhält 
durch  die  poetische  Anknüpfung  an  das  citirte  Motiv  der 
Einleitung  einen  werthvollen  Schluss. 

Das  Larghetto  (F  dur ''/f,)  hat  zum  Hauptthema  eine  lange, 
behaglich  ausgeführte  Melodie,  das  Kind  eines  Herzens,  wel- 

L&rghotto^^ 

ches  seinen  Frieden  gefunden  fc  ^  H  T^^  P  ^  ^  ^'  ***  ' 
Nur  leichte  Schatten  finden  hier  einen  Zutritt: 


«?     230     'ö» 


Der  Glanzpunkt  dieses  Satzes  ist 


das  Cantabile 


KiJA^^ '  ^-^•"  ^-^^  •'  i '  ^-^  *^^'^^  S^ 


bei  dem  Spohr  einen  neuen  Instrumentationseffect  an- 
wendete: Sämmtliche  Geigen,  Bratschen  und  Celli  tragen 
die  Melodie  im  Unisono  vor.  Die  Wirkung  ist  grandios! 
Das  Scherzo  dieser  Sinfonie  ist  in  seiner  Herkunft 
verwandt  mit  dem  in  Beethoven's  fünfter: 

In  der  Ausführung  bleibt  es  etwas  gleichförmig.  In 
lauter  kleinen  Zügen  gepflegt,  eines  lebendigeren  drama- 
tischen Impulses  baar,  bildet  es  für  den  Zuhörer  einen 
einigermassen  mühsamen  Genuss. 

Der  Humor  Spohr^s  vergräbt  sich  mit  Vorliebe  in 
Miniaturen.  So  streiten  auch  im  Finale  gegen  die 
grossem  Intentionen  des  kühn  scherzenden  Hauptthema^s, 
das    an    das    Finale    von    Beethoven's    zweiter    erinnert, 

w  "  Jj  I  ['   J.  J3  I  ■  J  ^  ^  J>l  ^    I  *  ^\^l  J  J    allerhand  kleine 
Arabesken,  unter  denen  namentlich  folgende  Figur 


^  ?  f iir I r^ 


Nr.  6. 


einen  breiteren  Kaum  einnimmt. 
L.  Spokr  Die   andere   Cmoll- Sinfonie    Spohr's    (geschrieben    im 

Cmoli-Sinfonie  Jahre  1838  für  die  Wiener  Concerts  spirituels)  hat  eine 
pathetischere  Tendenz.  Sie  begiebt  sich,  allerdings  nicht 
sehr  weit,  direkt  ins  Gebiet  der  Leidenschaften  hinein. 
Spohr  war  sich  der  Einseitigkeit  seiner  musikalischen 
Natur  bewusst  und  strebte  zeitlebens  ernstlich  darnach 
seine  Phantasie  auch  ausserhalb  der  elegischen  Grenzen 
heimisch  zu  machen.  Es  ist  aber  nicht  zu  verkennen, 
dass  ihm  bei  solchen  Versuchen  die  Originalität  des  Aus- 


^     231     ^ 


drucks  versagt  und  dass  er  sobald  wie  möglich  den  Rück- 
zug auf  vertrautes  Terrain  anzutreten  pflegt.  Für  die 
erstere  Thatsache  bildet  das  Hauptthema  im  ersten  Allegro 
dieser  Sinfonie  eine  genügende  Illustration: 

AIIOJTO.       1)  ^^ 


$m  f      ,1|?^  •       Einen    schönen    poetischen    Zug 
T  I   f  I  '      r  •     theilt  dieser  erste  Satz  der  fünften 

Sinfonie  mit  dem  der  dritten :  das  Thema  der  langsamen  Ein- 
leitung die  wie  eine  Verheissung  in  Dur  steht,  tritt  plötzlich  in 
die  Durchführung  hinein  und  kehrt  dann  bis  zum  Ende  des 
Satzes  mehrmals  wieder.  Der  Schluss  des  Allegro  sticht  durch 
Macht  des  Ausdrucks  hervor  und  schliesst  das  ganze  Bild 
mit  den  Klängen  edler  Trauer  ab.  Man  hat  den  Eindruck, 
dass  das  Werk  einer  Fortsetzung  nicht  bedarf  und  thatsäch- 
lieh  ist  auch  dieser  Satz  selbständig  i.  J.  1836  als  Ouvertüre 
zu  Raupach*s  , Tochter  der  Luft**  entstanden. 

Das  Larghetto  dieser  Sinfonie  kommt  im  Geiste  und 
auch  in  der  thematischen  Erfindung  Beethoven  sehr  nahe ;  es 
ist  einer  der  schönsten  langsamen  Sätze,  die  Spohr  geschrieben 
hat.  Bei  der  ersten  Aufführung  in  Wien  musste  er  wieder- 
holt werden.  Der  Mittelsatz  dieses  Larghetto  contrastirt 
mit  dem  Haupttheile,  führt  aber  seine  Aufgabe,  eine  un- 
ruhige Scene  darzustellen,  in  einer  namentlich  nach  Seite 
der  Instrumentation  hin  bemerkenswerth  originellen  Weise 
aus.    Wir  geben  hier  das  Hauptthema  dieses  Larghetto: 

^  ,i  -T_X^    -^  <^^'     etc. 

Das  Scherzo,  ein  für  Spohr  aussergewöhnlich  kräftiger 
Satz,   stützt   sich  im  Hauptthema  auf  ein  chromatisches 


Motiv  ^-1 


[IIZ  welches,  von  den  Hörnern  aus  durch  die 


Bläser  wandernd,    ein  heitres  Leben  im  Orchester  wach 
*)  Lies  c. 


CO     232     "^ 

hält.  Der  zweite  Tbeil  des  Hauptsatzes  verdankt  dem 
Aennchen  aus  Weber's  Freischütz  (, Grillen  sind  mir  böse 
Gäste*)  Einiges.  Das  graziös  elegische  Trio  ist  den  Holz- 
bläsern in  der  Hauptsache  allein  überwiesen. 

Im  Finale  herrscht  der  Ton  einer  milden  Heiterkeit. 
In  kunstvollen  Formen  fugirend  und  imitirend,  bilden  sich 
fröhliche  Spiele  um  das  dem  Hauptthema  folgende  Seiten- 

Ȋizchen:w^h^tzjL-j^i=^^'^'^^\i    f^^-   Als  zweites 


Thema  des  Finale  erscheint  die  Melodie  der  Einleitung 
zum  ersten  Satz.  Die  Sinfonie  erhält  dadurch  in  Form 
und  Idee  eine  sehr  schöne  Abrundung.  Mehr  als  beachtet 
wird,  sind  die  Sinfonien  Spohr's  reich  an  solchen  geist- 
und  sinnreichen  Wendungen. 
L.  Spokr  Zwischen  den  beiden  Cmoll-Sinfonien  steht  die  , Weihe 

„Die  Weihe  derber  Töne*.  Dieses  , charakteristische  Tongemälde  in  Form 
^'^°®  •  einer  Sinfonie*,  wie  es  der  Componist  nennt,  erschien  im 
Jahre  1834,  fallt  also  in  eine  Periode,  in  welcher  die 
Tendenz,  die  Instrumentalcomposition  an  poetische  Vor- 
würfe zu  binden,  wieder  einmal  energisch  aufgelebt  war. 
Diese  Periode,  welche  zufällig  mit  der  Blüthezeit  der 
Bomantik  in  der  Litteratur  zusammenfällt,  datirt  von  dem 
Franzosen  H.  Berlioz,  dem  sich  Mendelssohn  und  Gade  in 
ihren  poetisirenden  Concertouvertüren  auf  dem  Gebiete 
des  Orchesters  in  besonnener  Distanz  anschlössen ;  Schumann 
vertrat  eine  ähnliche  Tendenz  in  der  Klaviermusik  mit 
seinen  Charakterstücken.  Auch  auf  Spohr  übte  diese 
Richtung  einen  grossen  Reiz,  und  in  seiner  energischen 
Art  ging  er  gliuch  praktisch  und  mit  grossem  äussren 
Erfolg  ans  Werk.  Denn  diese  Composition  wurde  eine 
Lieblingssinfonie  die  man  eine  Zeit  lang  in  den  stehen- 
den Concerten  jedes  Jahr  zu  hören  verlangte.  Der 
, Weihe  der  Töne*  liegt  ein  ziemlich  langes  ursprünglich 
zu  einer  Cantate  bestimmtes  Gedicht  von  Carl  PfeiflFer, 
einem  Casseler  Freunde  des  Componisten,  zu  Grunde, 
welches  bei  der  Aufführung  der  Sinfonie  entweder  ver- 
theilt    oder    laut   vorgetragen  werden   soll.     Die   Concert- 


«<?     233     'o- 

direktionen  begnügen  sich  indessen  mit  einem  kurzen 
Auszug,  einer  Art  Inhaltsangabe,  die  den  Tempis  der 
einzelnen  Sätze  beigeschrieben  wird  und  die  Intentionen 
von  Dichter  und  Componist,  wenn  auch  nicht  immer  ganz, 
so  doch  annähernd  trifft.  Etwas  unglücklich  gewählt  er- 
scheint sofort  die  Bezeichnung  des  ersten  Largo:  , Starres 
Schweigen  der  Natur  vor  dem  Erschaffen  des  Tons*. 
Thatsächlich  will  Spohr  hier  nur  etwas  Aehnliches  schil- 
dern wie  J.  Hajdn  im  Chaos  der  Schöpfung,  wie  Beet- 
hoven im  Anfang  der  neunten  Sinfonie :  eine  Welt,  der  die 
Freude  fehlt,  in  der  das  Leben  noch  nach  Formen  ringt. 
Das  thut  er  in  der  Einleitung  durch  träge,  lastende 
Melodien  in  den  Bässen  und  andern  tiefen  Instrumenten 
und  durch  wühlende  Harmonien.  Der  erlösende  Jubal  ist 
sehr  bald  geboren :  Schon  nach  23  Takten  beginnt  das  Allegro. 
Es  bringt  als  Hauptthema  eine  echt  Spohr*sche  Melodie: 

Ein  zweites  Thema  besitzt  dieser  Satz  nicht:  An  seiner 
Stelle  erscheint  eine  lange  concertirende  Partie,  in  welcher 
die  Holzbläser  das  Vogelgezwitscher  nachzubilden  suchen. 
Dergleichen  Aeusserlichkeiten ,  Künsteleien  und  unreife 
Stellen  sind  in  Programmsinfonien  nichts  Seltenes.  Aber 
in  der  , Weihe  der  Töne*  scheinen  sie  nicht  ausschliess- 
lich aus  dem  Principe  hervorgegangen,  sondern  aus  einer 
augenblicklichen  Schwäche  der  musikalischen  Erfindungs- 
kraft, die  im  Allgemeinen  nöthigt,  das  Werk  —  so  viel 
Liebenswürdiges  es  enthält  —  hinter  die  beiden  Cmoll- 
Sinfonien  zurückzustellen.  Namentlich  die  Uebergangs- 
partien  von  Bild  zu  Bild,  von  einem  Thema  zum  andern, 
entbehren  der  Gedankenkraft  und  behelfen  sich  mit  leerem 
Figurenwerk.  Auch  die  Dichtung  zwang  nicht  zu  den 
kleinlichen  Malereien,  in  welchen  Spohr  die  Stimmen  der 
gefiederten  Sänger  wiederzugeben  glaubte;  sie  bringt  in 
dem  Verse,  welchen  das  Allegro  illustriren  will,  eine 
Reihe  höherer  Momente,  welche  der  Componist  bei  Seite 
liegen    Hess.     Dagegen    hat    Spohr   in    diesen   Satz    eine 


oG"     234     «* 

Scene  hinein  escaraotirt,  von  welcher  der  Dichter  nichts 
weiss:  einen  Aufruhr  der  Elemente.  Mit  seinen  heftigen 
Accenten  bildet  er  zu  der  musikalischen  Idylle  der  Themen- 
gruppe einen  nicht  unwillkommenen  Gegensatz. 

Im  zweiten  Satze  sucht  Spohr  Wiegenlied,  Tanz  und 
Ständchen  zu  vereinigen.  Namentlich  das  Wiegenlied  ist 
mit  einer  sehr  gelungenen  Melodie  wiedergegeben,  von 
der  man  fast  bedauert,  dass  wir  sie  so  wenig  unvermischt 
geniessen  können 

Andantin».         ^,_^  . 


VP 


Der  Tanz,  ein  französischer  Zweivierteltakt ,  vertreibt 
diese  Melodie  schnell,  und  ihn  löst  später  das  Ständchen 
ab.  Merkwürdiger  Weise  ist  seine  Ausführung  dem  Fagott 
übertragen.    Es  steht  im  **/,<,  Takt: 


Diese  drei  Melodien  sind,  ähnlich  wie  in  der  Ballsccne 
des  Don  Juan,  zusammengestellt  und  bilden  in  ihren 
Combinationen  für  den  Vortrag  bedeutende  Schwierig- 
keiten. 

Der  dritte  Satz:  „Kriegsmusik,  Fortziehen  in  die 
Schlacht,  Gefühl  der  Zurückbleibenden,  Rückkehr  der 
Sieger,  Dankgebet*  beginnt  mit  einem  Marsch  (in  D).  Mit 
demselben  kehren  die  Krieger  auch  nach  dem  Siege 
zurück.  In  der  Zwischenzeit  stimmt  die  Clarinette  in  einer 
sehr  sprechenden,  beklommenen  Weise  eine  klagende 
Melodie  an :  in  den  Cellis  banges  Sinnen,  das  volle  Orchester 
bringt  leidenschaftliche  Ausbrüche  des  Schmerzes.  In  der 
Ferne  hört  man  ab  und  zu  abgerissene  Motive  des 
Marsches.  Nach  der  Rückkehr  der  Krieger  wird  als  Dank- 
gebet der  Ambrosianische  Lobgesang:  „Herr  Gott,  Dich 
loben  wir*  geblasen;  die  Violinen  lunspielen  ihn  mit 
jubelnden  Figuren. 

Der  letzte  Satz:  „Begräbnissmusik,  Trost  in  Thränen* 
überschrieben,  wird  durch  ein  Larghetto  (F  moll  C)  einge- 


^     235     '^ 

leitet,  welches  in  seiner  Form  dem  Schlüsse  des  vorher- 
gehenden Satzes,  dem  , Dankgebet*  ähnlich  ist:  Der  Choral 
,iNun  lasset  uns  den  Leib  begraben",  von  den  Cellis  und 
den  beiden  Clarinetten  vorgetragen,  wird  von  den  andern 
Instrumenten  mit  Motiven  begleitet.  Namentlich  die 
Zwischenspiele,  in  dumpfen  Paukenwirbel  gehüllt,  sind 
ausserordentlich  ergreifend  und  eindrucksvoll.  Nach  dieser 
Trauerscene  folgt  der  Trost  in  Thränen  als  AUegretto 
(Fdur  '/i)  mit  folgendem  Hauptthema: 


^ 


i 

^   f   ff^  \  f,    rH^'^J.  J     ^®   schliesst    mit   dem   Quinten- 


p  motiv    d  g,    welches    schon    im 

ersten  Satze  eine  wichtige  Stelle  im  Thema  einnimmt. 
Spohr  hat  diese  ihm  in  allen  Werken  sehr  liebe  Wendung 
in  allen  Sätzen  dieser  Sinfonie  untergebracht:  Hier  er- 
scheint sie  wie  der  bescheidene  Hausgeist  in  einer  Ecke 
versteckt,  dort  offen  im  Vordergrunde;  vielfach  in  folgen- 
der Form:     ft  ^    T   ^^-    Immer  elegisch,  friedvoll  und 


auch  an  den  Stellen  des  Aufschwungs  so  masshaltend, 
wie  es  der  fromme  Grundton  der  Stimmung  verlangt,  ist 
dieser  Schlusssatz  der  ^  Weihe  der  Töne*  nicht  immer 
verstanden  worden.  Von  der  gebräuchlichen  Haltung 
eines  Sinfoniefinales  weicht  er  völlig  ab;  zum  Charakter 
des  Tongemäldes,  welches  mit  dem  Ausblick  auf  das  Jen- 
seits abschliesst,  passt  er  sehr  wohl. 

Spohr  hat  später  nur  noch  eine  rein  musikalische  Sin-      L.  Spohr 
fonie  geschrieben.    Es  ist  die  Nr.  8  (Gdur),  welche  nach  Gdur-Sinfonie 
der  instrumentalen  Seite  manches  Neue  und  Interessante        ^''*  *• 
enthält.    Das  Scherzo,  im  Trio  mit  einem  Violinsolo  aus- 
gestattet, ist  in  der  Erfindung,  welche  sich  ganz  auf  das 
virtuose  Element  lehnt,  der  eigenartigste  ihrer  vier  Sätze. 
In  den  übrigen  Sinfonien  blieb  er  von  der  .Weihe  der  Töne*      |^^  gpohr 
ab  beim  Princip  der  Programmmusik.     Zunächst  kam  im    Historische 
Jahre   1839  seine   , historische  Sinfonie  im  Stile  und  Ge-      Sinfonie. 


c<?     236     '^ 

Bchmack  vier  verschiedener  Zeitalter*.  Der  erste  Satz  soll 
die  Periode  Händel  und  Bach  oder  die  Zeit  um  1720  ver- 
anschaulichen. Er  versucht  das  in  einer  aus  trockenen 
Sequenzen  zusammengebauten  Fuge,  mit  einem  Pastorale  in 
der  Form  des  Siciliano  C^U  Takt)  als  Mittelsatz.  Der  zweite 
Satz  gilt  der  Periode  Haydn-Mozart  (1780).  Dieser  stand 
Spohr  selbst  geistig  am  nächsten  und  darum  ist  wohl 
dieses  Andante  der  gelungenste  Satz  der  Sinfonie.  Auch 
hier  schaut  der  chromatische  Spohr  überall  hervor:  aber 
er  thut  nichts  was  seine  Modelle  entstellt:  Einiger  Spässe 
und  Derbheiten,  welche  Spohr  den  beiden  Wiener  Meistern 
insinuirt,  wären  sie  fähig  gewesen,  wenn  auch  gerade  nicht 
im  Andante.  Die  Beethoven 'sehe  Periode  (1810),  als  die 
dritte,  ist  durch  ein  Scherzo  vertreten,  welches  mit  einem 
Solo  von  drei  Pauken  beginnt.     Sie  geben  das  Motiv 


^sg=^fe^^-^=f^^fpT?r"TT^--^^^ 


Im  Uebrigcn  schiebt  Spohr  dem  Beethoven  einen  Eigen- 
sinn zu,  welcher  selbst  für  diesen  über  alle  Möglichkeit 
hinausgeht:  In  einem  Satze,  der  gegen  400  Takte  um- 
fasst,  ein  einziger  thematischer  Gedanke  von  8  Takten 
Länge !  Wider  allen  Beethoven'schen  Brauch  bleibt  auch  das 
Trio  an  dieser  fixen  Idee  haften!  Noch  schlimmer  kommt 
„die  allerneueste  Periode*  (1840),  welche  den  vierten 
Satz  einnimmt,  weg:  Ein  Hexengebräu  aus  Nonen,  Sep- 
timen und  freien  Dissonanzen,  winselnden  und  schmach- 
tenden Vorhalten!  So  wild  ist  auch  Berlioz  nie  gewesen, 
so  sehr  haben  auch  die  Pacini,  Mercadante  und  Meyer- 
beer nicht  gelärmt,  so  süsslich  und  zerflossen  waren 
Rossini  und  Bellini  niemals!  Und  wer  in  aller  Welt  mag 
zu  den  ewigen  und  tollen  Gedankensprüngen  dieses  Satzes 
gesessen  haben!  Ist  die  Historie  in  den  andern  Sätzen 
dieser  Sinfonie  nur  unzulänglich  —  so  wird  sie  hier  zur 
Parodie  zur  härtesten  Kritik  von  Spohr's  Beobachtungs- 
talent und  seinem  Kunstverstand!  Nur  in  Wien  wo 
man  bei  der  Aufführung  blos  die  Jahreszahlen  angab, 
die    Namen    weg    Hess,    wurde    diese    Sinfonie    beifallig 


c<?     237     "^ 

und   besonders  im   letzten   Satz    aufgenommen.     Ucberall 
sonst  blieben  die  Meinungen  mindestens  getheilt.*) 

Die  nächste  Programmsinfonie  Spohr's  (im  Jahre  1842      L.  Spohr 
veröffentlicht)   heisst   .Irdisches   und  Göttliches   im   Men-  »iidiiches  und 
schenleben*    und   ist   betitelt   als    , Doppelsinfonie* !    Wie  öötuiohe.  im^ 
dies   in    der   altem  Zeit  dann   und  wann   (s.  Cannabich)   "**®  e   e  on  . 
versucht  wurde,  sind  hier  wieder  einmal  zwei  Orchester 
aufgestellt,  die  sich  in   der  Regel  ablösen,    hie  und  da 
auch    vereinen.      Das    erste    Orchester    hat    im    Streich- 
quartett nur  einfache  Besetzung.    Diese  Anordnung  fuhrt 
zu  einer  Reihe  neuer  und  schöner  Klangwirkungen,  deren 
häufige  Wiederkehr  allerdings  den  Endeindruck  schwächt. 
Sie  ist  ein  weiterer  Beweis,   wie  Spohr  sich  immer  etwas 
Neues  ausdachte  und  in  seiner  Art  auch  ins  Werk  setzte. 
Die  Idee  zu  dem  Doppelorchester  erhielt  Spohr  durch  einen 
Scherz  seiner  Frau  auf  der  Rückreise  vom  Musikfest  zu 
Luzem.     Sofort  war  auch    die   Sinfonie  entworfen.     Der 
erste  Satz  gilt  der  Kinderwelt.    Hier  sein  Hauptthema: 
■  AUerretto. 


$ 


»  r^'f  r  I  O  j    r  ^""^^  '  -      -  -    ■     Freilich:  ein 


ungetrübtes 


Glück  schildert  er  nicht;  auch  ihn  drücken  chromatische 
Schmerzen. 

Der  zweite  Satz  schildert  die  Zeit  der  Leidenschaften. 
Diese  nahen  in  chromatischen  Sechzehntelgängen  der 
Bässe,  stören  die  friedvollen  Melodien  der  Holzbläser  und 
schwellen  zu  einem  Sturm  an,  der  sich  in  einem  Allegro 
(C-Takt)  austobt,  dass  in  seinem  Haupttheil  mit  Sechzehntel- 
läufen angefüllt  ist.  Eine  Art  kräftiger  Marschmusik  bildet 
einen  Widerpart  dagegen. 

Der  dritte  Satz  ist  überschrieben:  Endlicher  Sieg  des 
Göttlichen.  Ein  Presto  in  ^/^  Takt  (Cmoll)  beginnt  auf- 
geregt und  lenkt  dann  in  freundlich  muntere  Melodien 
über.  Sie  führen  zu  einem  Adagio,  welches,  pompös  in- 
strumentirt,    mit  einem  feierlich  gehobenen  Gesang  ein- 


*)  L.  Spohr  a.  a.  O.  II,  231. 


«c     238     ^ 


L.  Spohr 

^Bie  Jahres- 

seUen**. 


setzt,    und,    ähnlich  wie  in   der   , Weihe   der  Tone*   der 
Schlusssatz,  mild  und  leise  ausklingt. 

Den  Vorwurf  zu  Spohr's  letzter  Sinfonie  (Nr.  9,  Hmoll) 
bilden  ,Die  Jahreszeiten*.  Dieses  der  musikalischen  Kunst 
viel  bietende  Thema  wird  hier  in  zwei  Abtheilungen  ab- 
gehandelt, deren  erste  den  Winter,  den  Frühling  und  den 
Uebergang  zwischen  beiden  enthält,  die  zweite  den  Som- 
mer und  Herbst.  Das  dichterische,  allgemein  künstlerische 
Talent  Spohr's  und  noch  mehr  sein  musikalisches  —  beide 
haben  sich  der  reizenden  Aufgabe  gegenüber  sehr  kühl 
verhalten.  Nur  der  letzte  Satz  erhebt  sich  an  einzelnen 
Stellen,  mit  einer  Paraphrase  des  Rhein weinliedes ,  über 
eine  mittlere  Temperatur. 

Die  sentimentale  Richtung  der  Romantik  erreicht  in 
Mendelssohn  ihre  Spitze,  kommt  mit  ihm  ungefähr  auf 
die  Stufe,  die  in  der  Dichtkunst  Lord  Byron  einnimmt. 
Der  romantische  Beiklang,  welcher  viele  Compositionen 
Schubert's  wehmüthig  färbt,  welcher  alle  Werke  Spohr's 
wie  mit  einem  Hauche  von  Sehnsucht  überzieht,  nimmt 
bei  Mendelssohn  einen  energischeren  Charakter  an  und 
äussert  sich  schwermüthig  und  klagend.  Mendelssohn  ist 
eine  vielseitigere,  beweglichere  und  reichere  Natur  als 
Spohr  und  wirft  häufig  jede  romantische  Fessel  ab.  Aber 
die  Nachfolger  ergriffen  die  romantische  Sentimentalität 
seiner  Werke  als  Hauptseite  seines  Wesens. 

Mendelssohn's  sinfonisches  Hauptwerk  ist  die  Amoll- 
Sinfonie.  Sie  ist  unter  dem  Beinamen  „die  schottische* 
bekannt;  die  Hauptmelodie  des  munteren  Satzes,  welcher 
in  ihr  die  Stelle  des  Scherzos  einnimmt,  soll  dem  reichen 
Volksliederschatz  Schottlands  entstammen.  Aber  die  Be- 
ziehungen zwischen  dem  Werke  und  seinem  Titel  sind 
tiefer:  Mendelssohn  schreibt,  dass  ihm  die  ersten  Themen 
an  den  Stätten  Maria  Stuart^s  kamen.  *)  Die  Sinfonie  ent- 
stammt der  künstlerisch  reifsten  Periode  des  Componisten, 
einem  Abschnitt  derselben,  wo  auch  die  Frische  und  der 
Reichthum  seiner  Phantasie  die  Höhe  jener  Jugendtage 


*)  S.  Henselt.  Die  Familie  Mendelssohn  (5.  Aufl.)  1886.  I,  225. 


CO     239     '^ 

behaupteten,  in  denen  die  Sommernachtstraum-Ouvertüre 
entstand.  Die  , Walpurgisnacht* ,  die  mit  dieser  Sinfonie 
zugleich  das  Licht  der  Welt  erblickte,  schickt  in  dieselbe 
manche  Grüsse  hinein.  Das  Werk  trägt  in  den  gemischten 
Stimmungen,  welche  es  wiedergiebt,  in  seiner  Hinneigung 
zum  naiv  Volksthümlichen  die  Kennzeichen  der  Früh- 
romantik. Es  ist  unter  den  Werken,  welche  diese  Rich- 
tung in  Poesie  und  Kunst  hervorgebracht  hat,  eins  der 
individuellsten  und  zugleich  abgeklärtesten.  An  neuen, 
melodisch  eindringlichen,  eigenen  Gedanken  reich,  be- 
sitzt die  Sinfonie  in  der  Darstellung  den  zugänglichen 
Charakter,  welcher  den  Werken  Mendelssohn's  gemeinsam  F.  Mendelfioha 
ist,  im  hohen  Grade.  Im  Periodenbau  herrscht  ein  Mass- ^  "o^-Sin'onle 
halten  und  eine  Regelmässigkeit,  die  uns  fast  zu  gross  («chottUche). 
dünkt  und  die  auch  thatsächlich  von  Anfang  an  Wider- 
spruch erregt  hat.  Ein  andrer  Gnmd  dafür,  dass  das 
Werk  bei  seiner  ersten  Aufführung  (im  Jahre  1842)  nur 
einen  massigen  Anklang  fand,  lag  in  der  Neuerung,  dass 
Mendelssohn  die  vier  Sätze  der  Sinfonie  attacca  d.  h.  ohne 
die  gewöhnlichen  Unterbrechungen  aufeinander  folgen  lässt. 
Diese  Anordnung,  welche  auf  einen  engem  poetischen 
Zusammenhang  der  Sätze  hinweist,  schien  die  Zuhörer 
zu  ermüden.  In  der  Folgezeit  hat  sie  ausser  Schumann  in 
seiner  D  moll-Sinfonie  kein  Componist  adoptirt.  In  den 
kleinen  Sinfonien  von  Ph.  E.  Bach  und  der  Vor-Haydn*schen 
Periode  Hessen  sich  die  Pausen  zwischen  den  einzelnen 
Sätzen  leichter  entbehren. 

Das  Thema  der  Introduction  der  A  moll-Sinfonie 


gehört  zu  den  Lieblingsgedanken  Mendelssohn's:  Paulus 
in  der  Stunde  der  Reue,  der  lebensmüde  Elias  intoniren 
diese  schwermüthige  Melodie.  In  der  Schule  des  Meisters 
ist  sie  vielfach  variirt  worden.  Mendelssohn  hat  die 
ausserordentlich  bedeutende  Idee  des  Introductionsthemas 
in  der  Sinfonie  noch  einige  Male  berührt:  im  Adagio 
nimmt  er  einen  flüchtigen   Bezug  darauf  und  im   ersten 


6<3'     240     '^ 

Allegro  knüpft  er  direkt  an  die  vier  ersten  Noten  desselben 
an.    Folgendes  ist  das  Hauptthema  dieses  Allegro: 

A)     Allegro  an  poco  af  itato. 


/»/» 


Die  Erregung,  welche   in  dieser  Wendung  halbverdeckt 
durchscheint,  wird  mit  dem  Schlüsse  des  Hauptgedankens: 


n  p   p  I  r  ä)ä   ft  I  f    r    fl  ^  ^^    zunächst    zu   melancho« 


lischer  Ruhe  gebracht.  Bald  aber  bricht  sie  in  dem  Seiten- 
gedanken : 

''ly^ü ^-^n^r\t'rrftLL 

mit  den  heftigen,  kurzen  Stössen  aus,  durch  welche  sich 
Mendelssohn's  Sprache  der  Leidenschaft  von  denen  an- 
derer Künstler  unterscheidet.  Das  zweite  Thema  geht 
mit  innigen  Tönen 


in  die  klagende  tragische  Sphäre  der  Intro- 

duction  zurück. 

Ein     äusserst     liebenswürdiger     rührender    Nebenge- 
danke   schliesst    die    -f  H  1  j»" 
Themengruppe : 

Besonders  schön  wirkt  er,  als  er  gegen  den  Schluss 
der  Durchführung  hin  sich  unmittelbar  neben  die  wilde 
Gestalt  des  oben  mit  c)  bezeichneten  Themas  stellt.  Diese 
Durchfuhrung  selbst  ist  nicht  nur  musikalisch  formell 
vollendet,  sondern  auch  ein  poetisches  Meisterstück,  genial 
in  Aufbau  und  Ausdruck  der  Stimmung.  Dieser  Ein- 
gang, der  Ruhe  und  Vergessenheit  in  neuen  Träumen 
sucht,  die  allmähliche  Einfuhrung  des  Conflicts,  der  nicht 


l  V 


co     241     '^ 


zu  venneiden  war,  —  die  wiederholten  Versuche  abzu 
brechen  —  der  endliche  Ausgang  mit  der  Trost  und  Re- 
signation predigenden  Melodie  der  Celli  —  das  wirkt 
Alles  mit  einer  Unmittelbarkeit,  wie  sie  an  dieser  Stelle 
in  Sinfonien  nur  selten  erreicht  wird!  Wie  ergreifend 
auch  der  letzte  Abschluss  des  ganzen  Allegro  —  als  nach 
allen  Stürmen  die  Melodie  der  Introduction  ihr  freund- 
lich bleiches  Antlitz  wieder  zeigt!  In  seiner  harmonischen 
Mischung  von  menschlicher  Tiefe  und  Anmuth,  freier 
Dichtersprache  und  vollendeter  Form  würde  der  Satz 
allein  hinreichen  die  Bewunderung  zu  erklären,  welche 
Mendelssohn  bei  seinen  Zeitgenossen  erregte. 

Auf  einem  andern  Grundcharakter  basirt  ist  der  zweite 
Satz  der  A  moll-Sinfonie ,  das  Vivace.  Von  dem  phan- 
tastischen Elemente,  welches  Mendelssohn  für  seine 
Scherzi  bevorzugt,  hat  es  nicht«.  Es  ist  ein  künstlerisch 
vollendetes  Genrebild  pastoraler  Natur,  welches  uns  nur 
bedauern  lässt,  dass  Mendelssohn  dieses  Gebiet  so  selten 
betreten  hat.  Die  Themen,  welche  in  theilweise  strengerer 
Arbeit  durchgeführt  werden,  sind  folgende: 

ViTaee. 


jjL  II  Jj^H-fffli^  i|  j  f,!  ijrj  .j^i  ggJTWi^fJH 


n\Tii\fi  Piniiii 


Einen  das  Trio  vertretenden  Mittelsatz  hat  das  Vivace 
nicht,  aber  eine  kleine  Einleitung  von  wenigen  Takten, 
in  der  fröhliche  Signale  auf  das  bevorstehende  lustige 
Treiben  hinweisen.  Auch  das  Adagio  beginnt  mit  eiijer 
kurzen  Einleitung,  die  den  Zusammenhang  mit  der  Intro- 
duction mit  einigen,  allerdings  sehr  feinen  Strichen  her- 
stellt. Das  Hauptthema  hat  in  seiner  ersten  Hälfte  fol- 
gende Gestalt: 
Adagio. 


Unmittelbar  nachdem  es  abgeschlossen,    tritt  das  zweite 
Thema : 


Kretzsohmar,  Führer,  I. 


16 


to     242     ^ 


^i^ 


ein,  fremdartig  und  feierlich  wie  Hamlet's  Geist  Im  gan- 
zen weitem  Verlauf  des  Satzes  geht  es  mit  dem  andern, 
von  dem  die  Celli  bevorzugten  Besitz  ergreifen,  keine 
nähere  Verbindung  ein,  sondern  stellt  sich  ihm  nur,  immer 
wieder  überraschend ,  wie  mahnend  und  warnend ,  ent- 
gegen. Diese  ungewöhnliche  Disposition  der  Themen  giebt 
dem  Satze  einen  dramatischen  Charakter. 

In   dem   letzten   Satz   verschwindet    das  romantische 
Colorit   einigermassen.     Die   Themen    stürmen    einer    be- 
haglichen Sphäre  zu 
AUegro  con  »pirlto. 


fiPrrrTijjTi  j'f  Cr'r  ^'^r 


erreichen    sie 


^ 


II'  J-  f  I  -i  .J 


und  geben  den  Gefühlen  heroischer  Kraft  freudigen  Ausdruck : 

C  '»"-.  ,v  ,-    .  WsLB  leidende   Miene    trägt, 

'    ''  ^^L  ^"P*r  r  r  r  I  A:-     wie  das  Thema 


jrif  r?piv  rirrrprr  r  ir-r^^^ 


y-r-f^pT^-t'r  \T  'f^^f^  das  rücken  Hegende  Stirn- 

men.  Orgelpunkte  und  andere  Hülfsmittel  der  Instrumen- 
tation und  der  Harmonie  in  eine  verklärende  Feme. 

Die  hier  angeführten  Themen  gehören  dem  ersten, 
dem  Haupttheile  des  Schlusssatzes  zu.  Mendelssohn 
nennt  diesen  ersten  im  C-Takt  geschriebenen  Theil  Alle- 
gro  guerriero  —  und  bietet  damit  der  Erklärongskunst 
einen  verlockenden  Stoff.    Der  zweite,  kürzere  Theil  des 


c<?     243     ^ 


Finale  besteht  aus  einem   Satze  im  •/jj Takte,  in   dessen 


Hauptmotiv:     p  ^ip    J.     J     J)  i^^E    das  schottische  Ele 


ment  der  Sinfonie  noch  einmal  zu  entschiedenster  Geltung 
kommt.  Diese  Wendung  bildet  in  der  Melodik  der  schot- 
tischen Volksmusik  eine  stereotype  Schlussformel.  Be- 
kanntlich fehlt  der  schottischen  Scala  die  Septime. 

Der    schottischen    Sinfonie    steht    unter    den    andern 
Sinfonien  Mendelssohn's  die  vierte  (Op.  90)  an  Werth  und 
Popularität  am  nächsten.    Sie  heisst  die  italienische  und 
gilt  als  die  künstlerische  Frucht  der  längeren  italienischen 
Reise,  welche  der  junge  Mendelssohn  im  Jahre  1830  unter- 
nahm.    Direkt  erkennbare  südliche  Elemente  bringt  die 
Sinfonie  in  ihrem  Schlusssatze:    einer  ausgelassenen,  bac- 
chantisch   lustigen    Scene,    welcher    eine    neapolitanische  F.  Hendeliiohn 
Tanzform,  der  wilde  Saltarello,  zu  Grunde  liegt.    In  den  Adur-Sinfonie 
andern  Sätzen  sind  Beziehungen  zum  Süden    nicht  nach-  (italienische), 
zuweisen.    Der  erste  Satz  mit  seinem  heiteren  Grundton 
hat  gleichwohl  zu  vielen  schwärmerischen  Parallelen  mit 
dem   jiCwig  blauen  Himmel  des  Landes,  wo  die  Citronen 
blühen*  Veranlassung  gegeben.    Es  herrscht  in  ihm  eine 
kräftig  glückliche  Phantasie,   die  wohl  an  die  Stimmung 
eines  Jünglings  denken  lässt,    der  fröhlich   und  jubelnd 
hinauszieht  in  die  schöne  Welt.    Das  erste  Thema,  wel- 
ches ohne  Einleitung  einsetzt: 
Allef  ro  Ttv&ce. 


f-^jtf  ^^-^^ih^^hhi^i^'i^^Pi^^k 


jf —  beginnt  kräftig,  ungeduldig;  das 


zweite : 


^i^^^ 


^#^^ 


U^^^mC !^gi^V^4:fe|r^  }^yi 


ist  ruhiger ,  hat  etwas  vom   sentimental  romantischen  Ele- 
ment; aber  ein  freudiger  Schwung  lebt  auch  in  ihm. 


co     244     '^ 


In  der  Durchführung  tritt  ein  neuer  dritter  Gedanke  auf: 


rEii,  ?^J^Xl"ip>.^  rtf  Vlt£W^^,  welcher  dann 

auch  in  den  Schlusstheil  des   ersten  Satzes  aufgenommen 
wird. 

Der  zweite  Satz  (Andante  con  moto,  Dmoll)  beginnt 
wie  eine  schwermüthige  Ballade  mit  folgendem  Haupt- 
thema, zunächst  von  Bratschen,  Clarinette  und  Fagott 
vorgetragen : 

Andante  con  moto  __ 


■f-*-^^i 


dem  dann  ein  freundlicher  Gesang  entgegentritt: 


Diese  anheimelnde  Begegnungsscene  wiederholt  sich  mit 
kleinen  Intermezzos  einige  Male:  Die  trauernde  Gestalt 
hat  das  letzte  Wort  und  wie  mit  leisen  Seufzern  ver- 
schwindet der  Satz  in  die  umwölkte  Feme.  Sind  in  die- 
sem langsamen  Satze  schon  nordische  Anklänge  nicht 
zu  verkennen,  so  tritt  in  dem  folgenden  Satze,  einem 
^/^Takt  ohne  weitere  Gattungsbezeichnung,  das  deutsche 
Element  mit  der  grössten  Bestimmtheit  vor. 

Der  Hauptsatz  dieses  traulichen   Stückes  knüpft  mit 
seinem  Ländlerthema: 

.     Con  moto  moderato. 


an  die  gemüthlichsten  Bilder  an,  welche  die  Wiener 
Meister  von  deutscher  Fnihlichkeit  und  Geselligkeit  ent- 
worfen haben.  In  dem  Mitteltheil  dieses  Satzes  lebt  die 
Bomantik  unsrer  Wälder  in  der  Seele  des  jungen  Men- 
delssohn auf:  C.  M.  v.  Weber,  die  musikalische  Jugend- 
liebe Mendelssohn's,  scheint  vor  seine  Phantasie  zu 
treten  und  in  dessen  Homklängen  spricht  der  junge  Ton- 
dichter einige  der  herrlichsten  Zeilen  seiner  italienischen 
Sinfonie. 

Der  letzte  Satz,  mit  einem  fanatischen  Unisono  seinen 


co     245     'ö^ 


unbändigen  Charakter  ankündendj  bringt  als  erstes  Thema 
folgendes : 

3 


lijLLfrBt^-tfe. 


g^s^^^:-: 


Es  zieht  in  einer  langen  Entwickelung  auf,  durchstreift 
die  Nuancen  seelischen  Ausdrucks  von  der  zarten  Anmuth 
bis  zum  wilden  Toben  und  bringt  alle  Kräfte  des  Or- 
chesters, die  Solisten  und  die  Massen  in  immer  heftigere 
Action.  Dem  Aufmarsch  dieses  Hauptthema  folgt  eine 
Nachhut  aus  derben  Elementen,  aus  stampfenden  und 
pochenden  Figuren,  wie: 

gebildet.  Die  weicheren  und  feineren  Geister  haben  in 
den  Kreisen  dieses  Satzes  nur  einen  bescheidenen  Platz. 
Das  zweite  Thema,  in  dem  eine  leise  Reminiscenz  an  die 
Durchfuhrung  des  1.  Satzes,  gleichsam  wie  an  den  Anfang 
der  Reise  erinnert,  sucht  sie  einzuführen: 


Ein  erneuter 


und  längerer  Versuch,  die  ins  Bedrohliche  steigenden  Wogen 
der  Fröhlichkeit  zu  glätten,   wird  in    der  Durchführung 


dieses  Satzes  mit  der  Figur 


J3^'^^L&--1^^^^ 


PI* 


unternommen.  Wie  der  erste  Satz  der  Adur- Sinfonie 
manches  aus  der  Nottumosphäre ,  so  bringt  dieser  letz- 
tere wörtliche  Einzelheiten  aus  den  grotesken  Partien 
der  Sommemachtstraunmiusik,  speciell  aus  der  Ouvertüre. 
Die  italienische  Sinfonie  ist  als  Nr.  4  erst  nach  dem 
Tode  des  Componisten  veröflfentlicht  worden;  der  Ent- 
stehungszeit nach  geht  sie  der  schottischen  um  mehrere 
Jahre  voran:  sie  wurde  von  Mendelssohn  zuerst  im  Jahre 
1833  in  der  Philharmonischen  Gesellschaft  zu  London 
au%eführt.       Zwischen     diesen     beiden     Hauptsinfonien 


e<?      246      "^ 

F.  ■•■delMoha  McDdelssohn's  liegt  sein  , Lobgesang* ,  den  er  als  «Sin- 
nLobgesang*"  foniecantate  nach  Worten  der  heiligen  Schrift*  bezeichnet 
Sinfonie-  d[q  Mischung  von  Sinfonie  und  Cantate,  wie  sie  in  diesem 
C»ntate.  Werke  sich  zeigt,  ist  älter  als  Beethoven  und  seine  neunte 
Sinfonie.  Die  eigenthümliche  Anlage  dieses  Lobgesangs 
ist  jedoch  mit  Berufung  auf  ältere  Vorlagen  noch  nicht 
recht  zu  verstehen.  Während  die  schottische  und  die 
italienische  Sinfonie  ziemlich  langsam  reiften ,  entstand 
diese  Sinfoniecantate  als  rasche  Gelegenheitsarbeit  zum 
Leipziger  Gutenbergfest  des  Jahres  1840.  Für  die  In- 
strumentalsätze benutzte  Mendelssohn  eine  seiner  Zeit 
für  London  geschriebene  Jugendsinfonie ,  deren  Charakter 
sich  der  Idee  der  gewünschten  Festmusik  ohne  Gewalt 
anpassen  Hess:  Zu  der  Dankfeier,  welche  einem  der 
wichtigsten  Culturereignisse ,  einem  Wendepunkt  in  der 
Geschichte  der  Menschheit  galt,  soll  die  ganze  Tonkunst 
beisteuern.  Voran  schreiten  die  spielenden  Massen.  Sie 
loben  den  Herrn  (im  ersten  Satze)  mit  Posaunen: 


Dann    lobt    man    ihn   mit 

y 

Psalter  und  Harfen,  in  einem  .feinen  Ton*.  Dieser  feine 
Ton  ist  der  Kern  des  ersten  Theils  des  Allegretto  der 
Sinfonie  (G  moU  */ J ;  seinen  Ausgang  bildet  eine  Choral- 
paraphrase. Dem  dritten  Satze,  dem  Adagio  (Ddur  "/<), 
dem  frommsten  und  ehrfurchtsvollsten  Theile  der  Sin- 
fonie scheint  der  Gedanke  zu  Grunde  zu  liegen:  «Betet 
an  den  Herrn  in  seinem  heiligen  Schmucke*.  Er  bildet 
den  Schluss  des  Sinfonietheils  im  Lobgesang.  Nun  setzt 
die  Cantate  ein.  In  ihrem  ersten  Chor  sucht  sie  die 
Verbindung  mit  dem  Vorausgehenden,  indem  sie  das 
oben  angegebene  Thema  des  ersten  Sinfoniesatzes  zu 
den  Worten  „Alles  was  Odem  hat,  lobet  den  Herrn* 
aufnimmt.  Der  H()hepunkt  dieser  Cantate  ist  das  dra- 
matische ßecitativ  des  Tenors   „Hüter  ist  die  Nacht  bald 

Beformationi-  Weniger  bekannt,    im  Drucke    erst   seit    dem  Jahre 

Sinfonie.      1868  vorliegend,  ist  Mendelssohn's  „Reformationssinfonie*. 


eO      247      ^ 

Das  Werk  ist  interessant  ab  ein  halb  declarirter 
Beitrag  Mendelssohn*s  zur  Programmmusik.  Auf  die 
Reformation  selbst  nimmt  es  den  klarsten  Bezug  im 
letzten  Satz,  dessen  Mittelpunkt  der  Choral  ,£ine  feste 
Burg*  bildet.  Um  ihn  herum  treten  noch  kriegerische 
Liedweisen,  die  den  Charakter  der  Volkslieder  des  Mittel- 
alters tragen.  Der  religiösen,  ernsten  Seite  der  Reformation 
selbst,  ihrer  streitbaren  Natur,  ihrer  Freudigkeit  am  Kampfe, 
ihrer  Festigkeit  im  Glauben  und  im  Gottyertrauen  ist  der 
erste  Satz  gewidmet.  Mit  einer  gewissen  Starrheit  und 
Unbeugsamkeit  hält  diese  Composition  ein  kurzes  Motiv 

fest :  'w  ^  J     J.  _h  I  '^    "  ^*®  ^^^  ^^^  Einleitung  bis  zum 

Schlüsse,  wie  der  feste  Wächterruf  in  der  Nacht,  den 
Satz  durchschallt.  Wie  das  Kleinod,  dem  das  Mühen  gilt, 
ist  die  Melodie  des  Lutherischen  Amen  (das  sogenannte 
«Dresdner  Amen* ,  das  auch  Wagner  in  seinen  Parsifal 


aufgenommen  hat):  ^i|£"^^ — i 


in  die  erste  Abtheilung  der  Sinfonie  hineingestellt.  Der 
Zeit  der  Reformation  gilt  der  zweite  Satz,  ein  Allegro 
vivace,  die  musikalische  Verkörperung  einfachen,  altvate- 
risch schlichten  und  kräftigen  Frohsinns.  Seine  Melodie 
erscheint  als  metrische  Umbildung  des  zweiten  Thema 
im  Vivace  der  schottischen  Sinfonie.  Das  Trio  besitzt 
Weihnachtsklang.  Das  Andante  hat  nach  der  Kürze 
des  Umfangs  und  nach  seiner  erregten  Haltung  Aehnlich- 
keit  mit  einem  Recitativ. 

Im  melodischen  Stile  weicht  die  Heformationssinfonie 
von  den  drei  vorhergenannten  Werken  ab.  Nichts  von 
den  weichen  Sext-  und  Terzvorhalten,  welche  in  den 
Weisen  der  mittleren  Periode  immer  wiederkehren,  und 
wenig  von  der  Rücksicht  auf  das  Violinmässige ,  welche 
in  der  Motivbildung  der  andern  Orchesterwerke  häufig  in 
den  Vordergrund  tritt.  Es  geht  ein  herber,  aber  cha- 
raktervoller Zug  durch  die  Melodik  der  Reformations- 
sinfonie, der  allein  dazu  berechtigen  würde,   diese  Com- 


^     248     ^ 

F.  Xeadeluoha  Position  der  Jugendzeit  Mendelssohn's  zuzuweisen.  Sie 
c moU-Sinfonie. theilt  ihn  mit  seiner  ersten  Sinfonie,  der  in  CmoU. 
Diese  ist  (als  Opus  11)  der  Philharmonischen  Gesellschaft 
in  London  gewidmet,  vor  längerer  Zeit  schon  durch 
Schlesinger  in  einer  gestochenen  Ausgabe  veröffentlicht, 
aber  für  Aufführungen  so  gut  wie  nicht  benutzt  worden. 
Der  Stoff,  welchen  sie  der  Vergleichung  und  der  bio- 
graphischen Betrachtung  bietet,  ist  nicht  unbeträchtlich. 
Im  Stile  steht  sie  auf  dem  Boden  der  , Hochzeit  des 
Camacho*,  der  .Heimkehr  aus  der  Fremde*  und  lässt  gar 
nichts  Yon  der  eigenthümlich  phantastischen  und  reich 
beweglichen  Natur  des  Componisten  der  Sommemachts- 
traummusik  ahnen.  In  den  Gedanken  folgt  sie  nament- 
lich der  Führung  Beethoven's;  der  erste  Satz  knüpft 
direkt  an  Ideen  des  G  dur-Concerts ,  der  Coriolanouver- 
türe  und  der  Waldsteinsonate  dieses  grossen  Vorbildes 
an.  Trotz  dieser  Unselbständigkeit  ist  aber  das  Werk 
wegen  der  Kraft,  Frische,  Knappheit  und  der  Entschie- 
denheit, mit  der  es  sich  auf  gedanklich  Wichtiges  richtet, 
sehr  erfreulich  und  besitzt  Lebensfähigkeit. 

Die  naive  Richtung  der  Romantik  tritt  mit  der  phan- 
tastischen ziemlich  gleichzeitig  in  die  Musik  herein.  Ihre 
ersten  Vertreter,  unter  welchen  wir  den  liebenswürdigen, 
lyrisch  schwungvollen  F.  E.  Fesca  (vier  Sinfonien  1817 
bis  23)  nennen,  gehören  nach  dem  Stilbereiche  der  nord- 
deutschen Schule  an.  Ihr  Hauptmeister  ward  R.  Schu- 
mann. In  der  grossen  Reihe  hoher  Dichtergaben,  deren 
Vereinigung  Schumann^s  Individualität  imposant  macht, 
sticht  sein  naiver  Zug  besonders  hervor.  Mit  ihm  vertritt 
er  in  der  Sinfonie  kräftiger,  als  es  vor  ihm  geschehen, 
jenen  Rousscau'schen  Zug  zur  Natur  und  Einfachheit, 
dessen  Aufleben  den  gesundesten  Theil  der  romantischen 
Bewegung  bildet,  denselben  Zug,  welcher  unsere  Dichter 
ziun  Volkslied  zurückführte  und  unsere  Maler,  Ludwig 
Richter  voran,  den  grossen  Schatz  von  Poesie  neu  ent- 
decken Hess,  der  sich  dem  sinnigen  Auge  in  der  Alltäglich- 
-keit  des  heimischen  Lebens  und  im  eigenen  Lande  auf- 
that.    Der  jugendliche  Ton,  die  grosse  Dosis  ungezwungener 


cc     249     "^ 

Natürlichkeit  ist  es  in  erster  Linie,  durch  welche  Schu- 
mann's  Musik  ihre  erfreuende  und  erfrischende  Macht  übt. 
Diesen  inneren  Eigenschaften  verdankt  sie  auch  viele  von 
ihren  eigenthümlichen  formellen  Elementen:  die  Figuren 
und  Gesang  ineinanderziehende  Themenbildung,  die 
aphoristischen  und  versteckten  Melodien,  die  jetzt  uu- 
genirt  losen,  jetzt  seltsam  verketteten  Rhythmen,  die  Natur- 
lauten gleichenden  Dissonanzen,  und  alle  die  neuen 
Elementarbildungen,  durch  welche  Schumann's  Schöpfungen 
fiir  die  weitere  Entwickelung  der  Tonkunst  von  grosser 
Bedeutung  geworden  sind. 

In  die  Reihe  der  Sinfoniker  trat  Schumann  ungeiähr  ein 
Jahr,  bevor  Mendelssohn's  , schottische  Sinfonie*  erschien. 

Die  echten  Romantiker  pflegen  ihr  Bestes  gleich  beim 
Anfang  zu  geben.  Schumann^s  sinfonischer  Erstling  war 
die  Sinfonie  in  Bdur  (Op.  38),  eine  seiner  schönsten  Ton- 
dichtungen und  dasjenige  Werk,  welches  seinem  Namen 
mit  einem  Schlage  die  historischen  Würden  erwarb.  Die 
Bdur-Sinfonie  hält  sich  an~[die  bekannten  Hauptformen 
der  Gattung  und  bewegt  sich  im  Wesentlichen  in  ver- 
trauten und  jedem  Menschen  naheliegenden  und  lieben 
Ideenkreisen  —  aber  Schumann  behandelt  Idee  wie  Form 
mit  ungewöhnlicher  Freiheit  und  Kühnheit.  Ja  in  der 
kurzen,  ungenirten  Ausdrucksweise,  welche  er  in  einzel- 
nen Sätzen  entwickelt,  liegt  eine  Originalität,  die  nicht 
blos  vor  40  Jahren  neu  war,  die  auch  heute  noch  dis- 
cutabel  sein  würde,  wenn  nicht  der  Grund  einer  fort- 
reissenden  Natürlichkeit  und  einer  mächtigen  Phantasie, 
auf  denen  sie  ruht,  zu  stark  durchleuchtete.  Schumann  B.  Sehamann 
selbst  nennt  in  einem  Briefe  an  Griepenkerl  seine  Bdur-  Bdur-Sinfonie. 
Sinfonie  ,in  feuriger  Stunde  geboren"  und  nahm  es  seinem 
Freunde  Wenzel  sehr  übel,  als  dieser  (in  der  Leipziger 
Zeitung)  bei  Beurtheilung  des  Werkes  von  Hoffnungen  für 
die  Zukunft  gesprochen  hatte.*)  Sie  war  in  der  kurzen 
Zeit  von  vier  Tagen  im  Entwurf  fertig. 


^)    G.    F.    Jansen:    R.    Schamann^s   Biiefe.      Neue   Folge. 
(Leipzig  1886)  S.  175. 


<^     250     ^ 

Die  poetische  Idee  der  Sinfonie  soll*)  mit  dem  Ge- 
dichte ,Du  Geist  der  Wolke  trüb  und  schwer*  von  Adolf 
Böttiger  in  Beziehung  stehen.  Die  Worte  ,Im  Thale  zieht 
der  Frühling  auf*  leiteten  den  Componisten,  der  das 
Werk  mehrmals  seine  , Frühlingssinfonie*  genannt  hat. 

Dunklen  Bildern  und  Ideen  giebt  Schumann  in  ihr, 
die  den  Stempel  einer  glücklichen  Zeit  überall  trägt,  nur 
so  weit  Raum,  als  es  das  Gesetz  des  Gegensatzes,  das 
Lebenselement  der  Sonaten-  und  Sinfonieform,  fordert. 

Die  Einleitung  stellt  zuerst  diesen  Gegensatz  hin. 
Feierlich  und  ernst,   auch  etwas  drohend,  erhebt  sie  sich 

.V  j.        TT  ••IUI.  a\  Aadaate  an  poco  aaefttoft«. 

m  ihrer  ersten  Hälfte.       ^  j  ^^t.  __       ,  i  »^ %.  ß'  m  \  T'^  ?  " 
In  lapidarer  Form  -g-^— "^r^t -y^^^T  T  \ 


bringt  sie  das  Motiv  voraus,  welches  in  dem  Gefüge  des 
ersten  Satzes  die  Hauptstütze  bildet.*)  Klagende  Weisen 
tauchen  in  den  Holzbläsern  auf,  schwer  und  kurz  schlagen 
die  Massen  mit  Accorden  drein.  Da  mit  einem  Male,  mit 
einem  Ruck  in  der  Harmonie,  kommt  Flötenklang:  der 
Horizont  hellt  sich  auf;  in  den  Geigen  beginnt  es  zu 
rauschen  und  in  einem  grossen,  mächtigen  Zug  geht  es 
über  in  das  kräftige,  frische  Leben  des  Allegro: 

.,    AUegro  molto  vtrace.  m"^ 


-UT— ? —    So  lautet  das  Haupt- 


thema —  für  den  ersten  Satz  einer  Sinfonie  eine  unge- 
wöhnlich leicht  gefugte,  fast  wunderliche  Erscheinung, 
die   in   ihrer   Naivetät   dem  Geiste   Haydn^s   und   älterer 


')  Nach  einem  anf  der  Leipziger  Stadtbibliothek  befindlichen 
Widmungsblatt  Schumann's  an  den  Dichter. 

^;  Nach   des  Componisten   erster  Intention  hieas  das  Motiv 


gab   aber  auf  den  damals  nur 
für  Natortdne   eingerichteten   Ilömem   einen  komischeu  Effekt 


e<?        251        "^ 

Meister  nahe  steht.    Auch  das  zweite  Thema  ist  in  seiner 
Bildung  ungewöhnlich: 


p'jiTT  iiTr|ii>p^.jinj) 


Es  gleicht  mehr  einer  Kette  von  Naturlauten  als  einem 
künstlerisch  gestalteten  Gesang.  Was  sonst  noch  an 
Melodie  in  der  Themengruppe  vorkommt,  das  reducirt 
sich  auf  Scalenmotive  und  auf  kurze  und  kecke  Andeu- 
tungen. Neben  diesen  anspruchslosen  und  bagatellartigen 
Ideen  stehen  aber  Perioden,  in  welchen  sich  die  Harmonie 
in  dem  grossen  Stile  Beethoven*s  aufbaut,  kühn,  sicher 
und  leicht  gestaltet.  Alles  ist  vom  Leben  getragen  und 
eine  mächtig  drängende  Stimmung  verräth  die  ungewöhn- 
liche Künstlernatur,  die  auch  aus  Kleinigkeiten  Bedeuten- 
des bildet.  Die  Durchfuhrung  nimmt  einen  doppelten 
Anlauf.  Das  erste  Mal  geht  der  Weg  über  die  beiden 
ersten  Takte  des  Hauptthemas.  Ihren  dunklen  Combi- 
nationen  fügt  der  Componist  noch  eine  neue,  unbestimmt 
suchende  Melodie  bei: 


f^-^^^^^^dziMlJ-  -U-^.^fH^ 


Auf  der  Höhe  angekommen,  erhebt  die  Flöte  ihre  Stimme 
und  jubilirt  wie  eine  Lerche  mit  der  losen  Sechzehntelfigur, 
welche  die  zweite  Hälfte  des  Hauptthemas  bildet.  Das  Tri- 
angel klingt  romantisch  drein.    Beim  zweiten  Male  geht  der 

Weg  über  ein  Nebenmotiv 

und  führt  unmittelbar  in  den  dritten  Theil  des  Satzes 
über.  Die  Stelle,  wo  das  Hauptthema  in  den  breiten 
Rhythmen  der  Einleitung  von  Trompeten  und  Hörnern 
getragen  und  mit  dem  vollsten  Glänze  des  Orchesters 
wieder  eintritt,  ist  eine  der  herrlichsten  in  allen  Sinfonien ! 
Die  Reprise  ist  sehr  kurz  gehalten,  der  zweite  Theil  des 
Hauptthemas  sogar  übergangen.  DafUr  fügt  der  Componist 
eine  breite  Coda  an,  die  sehr  viel  Neues  bringt.  Besonders 
schön  und  innig  berührt  uns  nach  den  stürmischen  und 


cG*     252     "ö» 


hastigen  Anläufen,    mit   denen   sie  beginnt,   der  fromme 
und  ruhige  Gesang 


p'r\n\i^i 


"  /i- 


creac. 


"^^^^^^f^Tf   Ir'yr^ri-    Die  rhjrthmischen  Stockun- 


gen, welche  den  graden  Gang  dieser  Melodie  aufhalten, 
sind  eine  Liebhaberei  Schumann's.  Aus  ihr  entwickelte 
sich  mit  der  Zeit  mehr  und  mehr  eine  erschwerende  und 
störende  Manier. 

Der  zweite  Satz  (Larghetto  Esdur  ^/g)  erscheint  durch 
die  letzt  angeführte  Episode  in  der  Coda  des  ersten  Allegro 
ideell  vorbereitet.  Er  redet  die  Sprache  eines  Herzens,  dad 
leise  zagt,  bittet  und  vertraut.  Ein  tief  religiöser  Zug 
lebt  darin.  In  Geist  und  Form  dieses  Larghetto  ist  viel 
Beethoven'sches ,  namentlich  in  den  üebergangsgruppen. 
Als  Hauptthema  dient  dem  Satze  folgende  Melodie: 

Larghetto. 


trewc. 


z^t^:-^tfi^=mm 


£frr 


m^ 


eresc. 


crttc. 


Die  Ausweichungen  ihrer  ersten  Takte  sind  ganz  Schu- 
mann's  Eigen.  In  der  kurzen  Gruppe,  welche  der  Repe- 
tition  des  Themas  durch  die  Celli  (in  B)  vorausgeht,  tritt 
ein  Beethoven'sches  Motiv  (Andante  der  fünften  Sinifbnie) 


hervor.     Der   Gegensatz    zum 


Hauptthema  besteht  aus  einer  knappen  Partie,  in  welcher 


das  Motiv 


durch    die   Instrumente   wan- 


dert.    Auch   in   diesem    Satze    bringt   der   Schluss   etwas 
ganz  Neues,  wieder  einen  Hinweis  auf  den  folgenden  Satz : 


c<?     253     "0^ 

Wir  hören  ins  Feierliche  übertragen  den  Anfang  des 
Scherzo  von  einem  aus  der  Ferne  herüber  tönenden  Po- 
saunenchor.  Wie  mit  einer  stummen,  tiefeinnigen  Frage 
klingt  das  Larghetto  aus,  und  unmittelbar,  ohne  eigent- 
liche Pause,  schliesst  sich  das  Scherzo  mit  seinem  ener- 
gischen Thema  an: 

Alle^o  Tlvace. 

f    V  *r  V 

Der  zweite  Theil  des  Hauptsatzes  ist  ungewöhnlich  knapp 
gehalten.  Eingeleitet  wird  er  durch  eine  selbständige, 
liebenswürdige  Idee 


ji  j  ir  'T II I J  N^» » ^^±2}^^  I  Jj  N 


cre»c.  dim. 

Dem  finstren  Tone,  der  den  eigentlichen  Scherzosatz  be- 
herrscht, stellt  Schumann  zwei  Trios  gegenüber,  auch 
hierin  ungewöhnlich  und,  für  seine  Zeit  wenigstens, 
neuemd.  Von  beiden  ist  das  erste  namentlich  von 
grosser,  von  unerhörter  Originalität:  ein  Wiegen  auf 
weichem  Rhythmus,  ein  Klingen  und  Grüssen  lieblicher 
Accorde,  das  aus  der  Ferne  näher  und  näher  kommt  und 
wie  die  starke  Melodie  der  Winde  anschwillt!  Für  die 
i'hythmische  Grundidee  dieses  Trio 

'A~|<< — ^i-  'l\J     '     \   ^    ^=  liegen  in  Beethoven's  erster, 

für  die  Mystik  seines  Klanges  in  desselben  Componisten 
neunter  Sinfonie  Vorbilder  vor.    Ein  kleines,  munteres  Motiv 

^l,J  h,,jTr  ü^ip^ypUJi^U  rl    1^    bildet  den  Ab- 


schluss  der  wunderbaren  Partie.  Das  zweite  Trio  ent- 
wickelt eine  harmlose,  jugendliche  Fidelität  auf  Grund 
eines  altbekannten  Allerweltsthema: 

Das    erste    Trio 


•^^j  ij  J  J^  ^  r  Ir 'r  • 

^p  cre0C.  fr 


wird  am  Schlüsse  des  Scherzo  noch  einmal  citirt,  es  er- 
scheint mit  innigen,  sehnenden  Blicken  und  verschwindet 


cc?     254     ^ 


mit  einem  Seufzer.  Dos  Finale  der  Sinfonie  ist  aus 
Heiterkeit  und  Kraft  gemischt.  Es  dreht  sich  in  ver- 
gnügter Stimmung  in  originellen ,  anmuthig  possirlichen 
Wendungen 


AIIefTo  animato 


(erstes  Thema)  und  führt  wunderliche  Dialoge,  in  welchen 
den  ausgezeichnet  gelaunten  Bläsern  von  den  Geigen  un- 
wirsch und  barsch  geantwortet  wird 

Aus  dieser  eigenartig  klingen- 
den Stelle  entwickelt  sich 

dann  das  eigentliche  zweite  Thema  des  Finale,  der  Aus- 
druck eines  in  Ruhe,  Dankbarkeit  und  Festigkeit  ge- 
sammelten Gemüthes: 


~9- 


r  itj-  rm-^tx^-r  it'  r  I  r  r  I  f  r  |f '  f  if  r  r  ^r  I  r . 


Unter  den  vielen  Zügen  des  Humors,  die  sich  in  diesem 
Finale  finden ,  sei  namentlich  auf  die  Stellen  aufmerksam 
gemacht,  wo  sich  die  Bässe  mit  den  Cellis  und  Bratschen 

des  Motivs  "  .V   f]  I  J-j  T  ^  LP^^  bemächtigt  haben. 

Der  Entstehungszeit  nach  liegt  die  vierte  Sinfonie 
Schumann's  (Op.  120)  nicht  weit  von  der  ersten.  Sie 
wurde  im  Jahre  1841  als  Nr.  2  aufgeführt  und  erhielt 
später  im  Wesentlichen  nur  eine  neue,  für  geringe  Or- 
chester berechnete  Instrumentirung ,  einen  viel  dickeren 
und  plumperen  Rock,  der  viel  von  der  Grazie  und  den 
Farbenreizen  des  ursprünglichen  Entwurfs  verdeckt.  Im 
Kunstwerth   der  Bdur- Sinfonie  mindestens  gleich,  wenn 


co     255     ^ 

nicht  überlegen  und  ihr  auch  im  Charakter  nahe  ver- 
wandt, bildet  Schumann's  D  moU-Sinfonie  in  der  Geschichte  B.  SehuiaBB 
der  Sinfonieform  ein  wichtiges  Document.  Wir  denken Dmoll-Sinfoni«. 
hierbei  weniger  daran ,  dass  in  ihr  genau  wie  in  Men- 
delssohn's  Amoll-Sinfonie  die  vier  Sätze  des  Werkes  ohne 
Unterbrechung  auf  einander  folgen,  also  gleichsam  einen 
einzigen  grossen  Satz  bilden  sollen ,  als  yielmehr  an  die 
yon  Schumann  altern  Vorgängern  glücklich  nachgebildeten 
Versuche  die  einzelnen  Sätze  in  einen  engeren  materiellen 
Zusammenhang  zu  bringen  und  dem  ganzen  Werke  eine 
strengere  Einheit  zu  geben:  Die  Introduction  ist  mit  der 
Romanze,  der  letzte  Satz  mit  dem  ersten  durch  Gemein- 
samkeit und  Verwandtschaft  der  Themen  verknüpft.  Aber 
auch  innerhalb  der  einzelnen  Sätze,  namentlich  im  ersten, 
zeigt  der  formelle  Aufbau  gelungene  Neuerungen  von  Be- 
deutung. Angesichts  der  Sicherheit  und  Leichtigkeit, 
mit  welcher  sie  vollzogen  sind,  kann  man  nur  erstaunt 
sein,  dass  vormals  und  neuerdings  wieder  die  Frage  auf- 
geworfen werden  konnte,  ob  Schumann  der  grossen  Form 
völlig  Herr  gewesen  sei. 

Das  Thema,  mit  welchem  nach  einer  etwas  schwer- 
müthigen  Introduction  das  erste  Allegro  einsetzt,  ist 
folgendes : 

L«bh4ft.  ^ 


lOTgyjijjffj?^^^ 


_  ^  „-  ■     '        el«. 

allerdings  formell  eine  blosse  Figur,  aber  eine  Figur  voll 
Charakter,  aus  der  eine  starke  Erregung  spricht.  Es  ist 
höchst  meisterlich,  wie  Schumann  dieses  schwierige  Thema 
handhabt,  jetzt  zum  Ausdruck  trotzig  stürmender  Kraft, 
jetzt  des  Zweifels  gebraucht  und  dann  mit  ihm  in  freu- 
dige Regionen  einlenkt.  In  keinem  Takte  lässt  er  das- 
selbe aus  der  Hand.  Ob  als  Hauptglied,  ob  als  Arabeske, 
immer  ist  es  da  und  beherrscht  die  ganze  Themengruppe, 
so  dass,  obgleich  Alles  singt  und  lebt,  ein  zweiter  eben- 
bürtiger Hauptgedanke  in  dieser  nicht  aufkommt.  Um 
so  üppiger  blühen  die  neuen  Ideen  im  Durchfuhrungs- 
theile.    Da  ist  zunächst,  ähnlich  wie  in  Schubert's  grosser 


<o     256     ^ 
C  dur-Sinfonie ,  ein   geheimnissvolles  Motiv  der  Posaunen 


■_Jg-Jf  MT'^j     I  ^^ »  welches  sich  mit  den  Umbildungen 


der  Hauptfigur  verbindet;  da  ist  ferner  die  feierlich, 
prächtige,  mit  Fermaten  gekrönte  Gruppe,  deren  Thema: 

-fti:  1  ^P-:^5-M-^ü-i=tJ=fij^^^^Jb3  |iiJ)  E   später  die  Spitze 

und  den  Kern  des  Finale  der  Sinfonie  bildet,  da  ist  vor 
Allem  die  schöne,  zarte,  echt  Schumann Whe  Gestalt, 
die,  noch  post  fcstum  eintreflfend,  den  Platz  und  die  Be- 
deutung eines  zweiten  Thema  in  dem  Satze  erhält: 


*^       t»  äulce  *'rete.  P  crete.  / 


In  der  dem  Componisten  eigenen  Weise  ist  auch  diese 
Melodie  an  verschiedene  Instrumente  vertheilt. 

Aus  der  freudigen  Sphäre,  in  welche  der  schwung- 
volle feurige  Schluss  des  ersten  Satzes  versetzt,  ruft  uns 
der  Einsatz  des  folgenden  dämonisch  ab.  Ohne  Zweifel 
hat  dieser  accentuirte  Dmoll-Accord,  den  die  Bläser  wie 
einen  Schmerzensruf  ausstossen,  mit  dem  bekannten 
Quartsextaccord ,  welcher  das  Allegretto  in  Beethoven*8 
siebenter  Sinfonie  einleitet,  eine  geistige  Verwandtschaft. 
Aber  bei  Schumann  wird  die  Wirkung  des  elementaren 
Mittels  dadurch  verschärft,  dass  die  Zwischenpause  der 
beiden  Sätze  wegfällt.  Es  ist  wie  ein  Regenschauer  bei 
blauem  Himmel!  Die  Komanze  mit  ihrem  edel  weh- 
müthigen  Gesang 

Ziemlieh  lanf  sam.  ^.^  ^ 


JTj  j   j_^^  I  J  JrJ  J  j  j  I   j_  (  gehört  zu  dem  Schönsten,  was 


die  Musik  an  Volkspoesie  besitzt.  Mit  der  grössten  Natür- 
lichkeit schliesst  ihr  Schumann  die  nachdenklichen  Ge- 
danken an,  welche  das  thematische  Material  der  Intro- 
duction  der  Sinfonie  bilden: 


cG»     257     '^ 


Die  klagende  Melodie  hat  sie  geweckt.  Eine  ausser- 
ordentlich liebenswürdige  Idee  des  Componisten  aber  ist 
es,  aus  ihndn  den  freundlichen,  sonnigen  Ddur-Satz  zu 
entwickeln,  welcher  die  Mitte  des  kleinen  Tonbildes  ein- 
nimmt. Zu  der  Schönheit  der  Zeichnung  und  der  Intention 
kommt  hier  auch  noch  der  warme  milde  Klang,  den  die 
Celli  der  Melodie  geben,  und  der  Reiz,  den  der  zierliche 
Schmuck  der  Solovioline  darüber  giesst. 

Das  Scherzo  hat  einen  kräftigen  Humor,  am  Schluss 
des  Hauptthemas 

spricht  der  Uebermuth  der  Jugendkraft,  der  Schumann's  beste 
Compositionen   kennzeichnet.     Aus   dem   Grundmotiv   des 


Hauptthemas:  IfcV  'j   \lT~J~i  I  j  J  J  Ij    bildet  der  zweite 


Satz  zärtliche  und  innige  Varianten.    Das  weiche,  träume- 
risch sinnige  Trio,  mit  seiner  sanft  dahingleitenden  Melodie : 
cur. 

P-Hf  rif  ^i7  11,1  ji,i  jij.i  j.M«rif 

kehrt  nach  der  Wiederholung  des  Hauptsatzes  zurück. 
In  seine  einfache  Herzlichkeit  mischen  sich  schmerzliche 
Töne.  Es  nimmt  einen  langen  Abschied  und  klingt  dann 
noch  wie  aus  weiter  Ferne  wie  in  Traumesschatten  an.  Als 
es  ganz  still  geworden,  intoniren  die  ersten  Violinen  wieder 
das  Sechzehntelmotiv  des  ersten  Allegro  in  der  Form  eines 

Langsam.^, ^ 

schüchternen  Vorschlags:  '  j£  ^  _^rTf  ^jy "«  I^ie  Posau- 
nen und  Homer  sind  vor  der  Hand  noch  anderer  Meinung 
und  wollen  bei  der  ernsten  Weise  bleiben.  Die  Mehr- 
heit entscheidet  aber  zu  Gunsten  der  Violinen,  die  Holz- 
bläser gehen  mit  ihrem  Antrag  sogar  noch  weiter  und 
stellen  Motive  auf,    die  dem    freudigen  Gezwitscher  der 

Kretziohmar,  Fährer,  I.  17 


e<?      258      ^ 


•«•. 


Vögel  zu  gleichen  scheinen: 

So  wird  der  heitere  Charakter  des  letzten  Satzes  festgestellt. 
Diese  16  langsamen  Takte ,  welche  den  Uehergang  Tom 
Scherzo  zum  Finale  bilden,  enthalten  einen  Reichthum  von 
Phantasie  und  yon  musikalischen  Ideen,  welcher  fUr  eine 
eigene  neue  Composition  ausreichen  würde.  Das  Haupt- 
thema  des  Finale  ist  uns  aus  der  Durchführung  des  ersten 

Bewegt. 

Satzes   bekannt:     ^^gH^^  »P»P  %i  |f  JT'JJ^^,     Mit 

der  Entschiedenheit,  die  der  Grundstimmung  des  Finale 
entspricht,  rückt  es  sofort  im  dritten  Takte  nach  Cdur. 
Die  Bässe  in  ihrem  schwerflUligen  Greiste  halten  noch 
eine  ganze  Weile  an  der  Sechzehntelfigur  fest.  Das 
Finale    hat   seine    schwülen    Momente:    Sie    finden    sich 

in  dem      t   .   rT"^.  .    welches   oft  durch   das  Orchester 


Motive  ff  t  ■  '  Lf  *  fährt,  namentlich  aber  am  Ein- 
gang der  Durchführung,  wo  dem  über  das  Hauptthema  ge- 
bildeten Fugato  ganz  eigenthümliche  Dissonanzen,  in  ihrem 
besonderen  Klange  eine  eigenste  Erfindung  Schumann^s 
—  vorhergehen.  Aber  immer  folgen  diesen  flüchtigen 
Trübungen  Partien  von  vollendeter  Anmuth.  Das  zweite 
Thema  ist  ihr  Hauptträger: 

lih  n"iTiiiT t:£ErNjl.R!^ui^LiI!rir 

in  seiner  Mischung  von  Grazie,  Caprice  und  jugendlich 
fröhlicher  Naivetät  ein  echter  Schumann.  Es  geht  in 
eine  Periode  von  kühnem  harmonischem  Aufbau  über, 
in  der  die  Kraft  aufbraust.  Der  Posaunenklang  kenn- 
zeichnet sie.  Nach  Beendigung  der  Reprise  lenkt  der 
Satz  noch  einmal  auf  ein  ruhigeres  Gebiet  über,  mit 
einem  unerwarteten  neuen  Thema:    freundlich  fragenden 

Charakters:    rA^^fL^^  \  C_r? [■  f  ■  I.    Um  so  stürmischer 

bricht  dann  der  jubelnde  Schluss  ein.    Er  hat  die  Form 


«<?     259     ^ 


einer  Stretta,  frei  nach  italienischen  Mustern!    Das  letzte 
Presto  hat  noch  nie  seine  Wirkung  yerfehlt. 

Mit  seiner  D  moll-Sinfonie  zugleich  hrachte  Schumann 
eine    zweite    kleine    Sinfonie    in    drei   Sätzen    zur    ersten 
Auffbhmng,  die  unter  dem  Titel  ^OuTertüre,  Scherzo  und  B«  Sek«««» 
Finale*  als  Op.  52  veröflfentlicht  wurde.    Auch  diese  Sin-     Ouvertüre, 
foniette  zählt,  nach  der  Häufigkeit  der  Aufführungen  zvL^ohmo.-FinBlt. 
schliessen,    unter    Schumann*s    heliehteste    Compositionen 
und  hat  den  Schülern  dieses  Meisters    besonders  oft  als 
Modell  gedient.    Was  sie  so  anziehend  und  wirkungsvoll 
macht,   ist    der   stark   ausgeprägte    Ton   ritterlich   phan- 
tastischer Romantik.    Darin  und  in  der  ganzen  Richtung 
der  Phantasie  erscheint    sie  als    das  Seitenstück  zu  den 
vierhändigen  Märchenbildem.    Man  könnte  ihr  eine  neuere 
oder  ältere   ,Aventiure*   unterlegen.     Es   lebt  in  ihr  ein 
welt^hrender,  abenteuerlicher  und  munterer  Sinn, 

AUe^o. 


r 


Sie  erzählt  von  Lieben  und  Sehnen 


iJ  T  r  ir 


^m 


etc.  etc. 

(1.  Sau.) 


9i»0 


Trio  im 
Sckerso 


und  auch  von  Fehden  und  wehrsamen  Streichen: 


Nicht  ohne  Be- 
deutung ist  es, 
^y  f> — -f  f  •«•.  dass  Schumann 

am  Eingang  des  Werkes  so  deutlich  den  Geist  Cherubini's, 
des  Componisteu  der  ,Abenceragen*  vorbeiziehen  lässt. 
Auch  Weber's  romantische  Harmonien  klingen  in  der  Ouver- 
türe durch.  Musikalische  Erfindungen  bietet  die  kleine 
Sinfonie  von  eigenster  und  reizendster  Art;  in  der  Aus- 
führung steht  sie  jedoch  hinter  den  beiden  Sinfonien  in 
B  und  D  beträchtlich  zurück.    Die  Ungezwungenheit  des 


t<?     260     '^ 

Componisten  artet  hier  vielfach  in  Lässigkeit  und  Breite 
aus;  ja  der  letzte  Satz  trägt  in  den  Meodelssohn'scheD 
Citaten  und  in  dem  eigensinnigen  Beharren  an  alltäg- 
lichen Einfällen )  in  der  Monotonie  des  Rhythmus  und 
Metrums  die  unverkennbaren  Spuren  einer  versagenden 
Phantasie. 

Auf  einem  andern  Boden  als  diese  drei  Werke  steht 
R.  SchaMaan  Schumann's  Cdur-Sinfonie,  die  (als  Op.  61)  in  der  Ver- 
Cdur-Sinfonle.  öffentlichung  der  in  Dmoll  vorausging  und  bekanntlich 
die  zweite  genannt  wird,  aber  nach  der  Entstehuogszeit 
und  nach  der  ersten  Aufführung  Schumann's  dritte  Sin- 
fonie ist.  In  dieser  Sinfonie  hat  Schumann  hohe  pa- 
thetische Intentionen  p  ^  ■  ''^"^i  ^  i  f^  ~  "^^Iches 
verfolgt.    Das  Motiv:     fr    *  ^^—\'     LJ"   '  '  =^  dieTrom- 

peten  und  Hörner  an  den  Eingang  der  feierlich  sinnen- 
den Introduction  hinstellen,  durchzieht,  mit  Ausnahme 
des  Adagio,  alle  Sätze  des  Werkes  wie  ein  geheimniss- 
volles Geisterwort  und  bietet  uns  die  Richtschnur  für 
den  aussergewöhnlichen  Flug,  welchen  Schumann's  Phan- 
tasie in  dieser  Tondichtung  zu  nehmen  gedachte.  Es 
handelte  sich  hier  für  den  Componisten  um  die  grossen 
Leidenschaften  und  die  höchsten  Ideen  einer  tiefen 
Menschenseele,  um  Faust 'sehe  Probleme:  um  den  Weiter- 
bau auf  jenem  grausig  schönen  Terrain,  auf  welchem 
die  neunte  Sinfonie  steht.  Es  geschah  auf  Grund  dieser 
zweiten  Sinfonie  namentlich,  dass  Schumann  von  einer 
Anzahl  treu  ergebener  Verehrer  als  der  „Erbe  Beet- 
hoven's*  proclamirt  wurde.  Wir  wissen,  was  Schumann  mit 
diesem  grössten  Tondichter  des  Jahrhunderts  gemeinsam 
hat.  Wir  stellen  die  zweite  Sinfonie  um  ihrer  Intention 
willen  sehr  hoch  —  aber  wir  glauben  doch,  dass  es  eine 
Irrlehre  ist,  sie  als  die  Hauptsinfonie  ihres  Autors  zu  er- 
klären. Sie  ist  sowohl  in  dem  Werthe  der  musikalischen 
Grundideen  selbst  als  in  ihrer  Behandlung  ungleich;  sie 
mischt  Perlen  und  Sand  und  steht  an  Frische  und  Natür- 
lichkeit der  Gestaltungskraft  den  vorausgehenden  Sin- 
fonien   sowohl    in    einzelnen    Satzgruppen,    wie   auch    in 


cc?     261     ^ 


ganzen  Sätzen  nach.  Mit  der  Cdur- Sinfonie  beginnt  ein 
Abschnitt  der  Entwickelung  Schumann's  als  Tnstrumen- 
talcomponist ,  in  welcher  der  naiv  -  romantische ,  volks- 
thümliche  Zug  seiner  Erfindung  die  vornehmere  künst- 
lerische Sphäre  häufig  verlässt.  Namentlich  in  den  Final- 
sätzen der  Cdur-Sinfonie  und  in  dem  der  ihr  folgenden 
Esdur-Sinfonie  tritt  diese  Erscheinung  zu  Tage  und  leider 
gerade  an  ihren  Hauptthemen.  Zu  dem  Besten  der  Cdur- 
Sinfonie  zählt  im  ersten  Satze  der  Abschnitt,  welcher 
das  zweite  Thema  entwickelt,  und  das  Thema  selbst, 
welches  in  der  Introduction  schon  angekündigt  wird: 

Allerro. 


Es  ist  eigentlich  nur  ein  Ab- 


senker vom  Hauptthema  des  Satzes: 


P  «rr«0. 


J.  3  JTT-^ft  I  aij    r"~S  I  r    :.   Dieses  Hauptthema,  in  seinem 

capriciösen  Charakter  allerdings  sehr  wohl  verständlich, 
leidet  schon  an  der  Monotonie  des  Rhythmus,  welche 
die  schwächeren  Werke  Schumann's  kennzeichnet.  In 
der  Durchfuhrung  ist  ein  müder,  stockender  Schritt,  der 
die  Höhe  nur  erstrebt.  Doch  sind  darin  in  der  Gattung 
des  leidenden  Ausdrucks  grosse  Schönheiten.  Die  Glanz- 
nummern  der  Sinfonie   sind  der  zweite    und    dritte   Satz. 

Jener  ist  ein  Scherzo,  welches  in  dem  Hauptsatze  aus  dem 
AUegro  riraco. 

Motive  if  3i   ^  |'-i^^^:rffi?4-irl44-fcr  entwickelt  ist. 


Es  dringt  aus  der  anfangs  bewölkten  Sphäre  zuweilen 
zu  einer  grandios  freien  Stimmung  vor,  namentlich  in 
den  H dur-Schlüssen.  Die  Frühlingsklänge,  die  sich  in 
den  Holzbläsern  vereinzelt  hören  lassen,  erscheinen  im 
ersten  Trio  zu  einem  Gedichte  zusammengereiht.  Das 
«weite  Trio,  welches  nach  der  Repetition  des  Hauptsatzes 


•<?     262     ^ 


einsetzt,  gehört  zu  den  schwächeren  Partien  der  Sinfonie. 
Der  dritte  Satz  ist  ein  Adagio,  das  in  seiner  Anlage  einer 
Phantasie  Über  folgendes  Thema  gleicht: 


Dieser  tiefe,  seelenvolle  Gesang, 


dessen  Heimath  das  Trio  in  S.  Bach's  ,  Musikalischen  Opfer* 
ist,  beherrscht  den  Satz :  ein  selbständiges  Thema  tritt  ihm 
nirgends  auf  die  Dauer  entgegen.  Die  wunderbare  Melodie 
scheint,  der  trauernden  Peri  gleich,  den  Himmel  zu  suchen. 
Und  sie  findet  die  Pforte  offen.  Da:  an  den  Stellen, 
wo  die  Violinen  in  Trillern  von  der  höchsten  Höhe  wieder 
herabschweben,  kann  man  einen  Blick  hineinthun.  Dieses 
Adagio,  eins  von  den  wenigen  neuen,  deren  Kürze  man 
bedauert,  wirft  noch  etwas  von  seinem  Glanz  in  den 
letzten  Satz  der  Sinfonie  hinein.  Kurz  nach  dem  Ab- 
schlüsse des  ersten  Thema,  dessen  Hauptkem  folgender: 
AIlefTo  Bolto. 


4^ 


Hif  "V.  w  I  P    p.  w  I  f    r    in      da  ^o  die  Violinen 
fc^  '^    '     ^'  '  '     '     M  '      '  ^^  ihre  Achtelfiguren 


anfangen  —  ergreifen  im  Finale  die  Olli  den  Gesang  des 
Adagio  und  bilden  aus  ihm  das  zweite  Thema  des  Schluss- 
satzes. Die  spätere  Stelle  —  sie  ist  an  den  General- 
pausen leicht  zu  erkennen  — ,  wo  diese  schöne  Melodie 
gleichsam  unter  allgemeiner  Trauer  ins  Grab  gelegt  wird, 
ist  eine  der  ergreifendsten  im  ganzen  Finale.  An  gross- 
gedachten Combinationen  ist  dieser  Schlusssatz  reich. 
Wir  rechnen  dahin  ausser  der  Einführung  des  zweiten 
Themas  aus  dem  ersten  Satze  auch  die  Aufnahme  eines 
bekannten  Beethoven 'sehen  Gedankens: 

^  fl^f    i  fj    i  .TTJ   I^^.    Was  den  Eindruck  des 

Finale  beeinträchtigt,  das  hängt  mit  dem  Charakter  des 
Hauptthema  und  seiner  mehr  wiederholenden,  als  um- 
bildenden Durchfuhrung  zusammen. 


e<?      263      ^ 

Die  dritte  Sinfonie  Schumann^s  (Esdur  Op.  97)  rückt  B.  SelivMniB 

den  beiden  Vorgängen  in  B-  und  DmoU  wieder  näher.  ^^"-Sinfoiiie. 
Ihr  Grundcharakter  ist  heiter.  Wird  doch  ange- 
nommen, dass  sie  zu  dem  frischen  Leben  des  Rhein- 
landes in  inneren  Beziehungen  steht.  Sie  ist  Schumann^s 
letzte  Sinfonie,  entstand  in  Düsseldorf  und  kam  am  Anfang 
der  fünfziger  Jahre  zur  Veröffentlichung.  In  ihrem  Stile 
unterscheidet  sie  sich  von  den  ersten  Sinfonien  in  Bdur 
und  Dmoll,  obgleich  sie  mit  ihnen  die  Richtung  der 
Phantasie  theilt.  £ine  gewisse  Schwerfälligkeit  hat  Platz 
gegriffen,  die  sich  in  dem  ersten  Entwurf  der  Tonge- 
danken und  in  ihrer  nur  Transpositionen  bietenden  £nt- 
wickelung  äussert.  Ja  sogar  bis  auf  die  Instrumentirung 
erstreckt  sie  sich.  Der  Klang  ist  oft  pomphaft,  aber  in 
seiner  Feierlichkeit  monoton;  vorzugsweise  marschirt  das 
Orchester  in  schwerer  Rüstung  und  breitem  Tritt.  Wo 
sind  die  geistvollen,  lebendigen,  sprühenden  und  charak- 
teristischen Violinfiguren  hingekommen?  Doch  hat  auch 
diese  Sinfonie  noch  sehr  schöne  Partien.  Dahin  zu  rechnen 
ist  im  ersten  Satze  namentlich  das  zweite  Thema: 

Lebb&ft.  . 

|i'  ii^TTjiiifrn  I  i^TTTT  j  I 

vom  zweiten  Satze  der  Haupttheil,  der  in  einer  gewissen 
altvaterischen  Fröhlichkeit  gehalten  ist. 

Der  Mittelsatz  in  diesem  zweiten  Satze,  der  dem 
Trio  des  Scherzo  entspricht,  erhält  eine  eigenthümliche 
Färbung  dadurch,  dass  die  einfache  elegische  Liedweise, 
welche  die  Holzbläser  spielen,  über  einen  grossen,  tremoli- 
renden  Orgelpunkt  gespannt  wird.    Für  den  bescheidnen 

^         ,       ^  Sehr  rnftsttg.  „ .  ^  j-     a 

Glrundstoff  .^rTrTn  P  I  f  r  T^;  - 

des  Satzes :    '^  ^  /' '  T  |,il    ^  r  '    '  L,  T   P  J"  P  ^     führung 

sehr  reichlich  bemessen.  Nach  dem  Andante  (As  dur  C),  in 
welchem  sich  sentimentale  Elemente  mit  tändelnden 
mischen,  kommt  noch  ein  zweiter  langsamer  Satz  (Es 
moU  C)  mit  feierlichem  Posaunenklang,  in  den  seltsam 
aufgeregte    Figuren    hineinspielen.     Man    denkt    an    ein 


c<?     264     '^ 

,Gretchen  im  Dom*.  Eine  kirchliche  Scene  zu  schildern, 
soll  auch  in  diesem  Satze  Schumann's  Absicht  gewesen 
sein.  Er  schrieb  ihn  kurz  nachdem  er  einer  Feierlich- 
keit im  Dome  zu  Köln  beigewohnt  und  gab  ihm  ursprüng- 
lich eine  erklärende  üebcrschrift.  Von  dieser  Domscene 
ist  noch  ein  Nachklang  im  Finale  zu  finden.  In  der  Haupt- 
sache entrollt  dieses  aber  eine  Menge  launige,  anmuthige 
und  frische  Scenen,  in  deren  neckischer  Leichtigkeit  wieder 
der  alte  Schumann  lebt.  Nur  das  Hauptthema  und  die  zu 
ihm  gehörenden  Gruppen  sind  schwächer. 


FUHRER 

DURCH  DEN  CONCERTSAAL 


VON 


HERMABN  ERETZSOHMAB. 


I.  ABTHEILUNG: 
SINFONIE  UND  SUITE. 

IL  BAND. 

DRITTE  AUFLAGE. 


SIEBENTES    TAUSEND. 


LEIPZIG 

VERLAG  VON  BREITKOPF  &  HÄRTEL 

1898. 


AÜ€  Rechte,  auch  das  der  Übersetzung^  vorbeJiaUen. 


Das   Recht  *  des   Einzelahdrucks   und    dessen    Weiterver- 
gebung steht  ausschliesslich  den  Verlegern  Breitkopf  dt  Härtel 

in  Leipzig  zu. 


IV. 

Die  Programmmusik  und  die  nationale 
Richtung  in  der  Sinfonie. 


^ie  Mendelssohn  und  Schumann  beide  verhältniss- 
mässig  nur  wenig  Sinfonien  geschrieben  haben,  so 
war  zu  ihrer  Zeit  die  alte  Fruchtbarkeit  auf  diesem  Ge- 
biete überhaupt  erloschen.  Aeussere  Verhältnisse  und  der 
Gang  des  geistigen  Lebens  hatten  dazu  gleich  stark  bei- 
getragen. Die  Zahl  der  neuen  Concertinstitute  hatte  die 
der  alten  Collegia  musica  nicht  im  Entferntesten  wieder 
erreicht.  Die  neuen  Sinfoniker  standen  unter  den  unend- 
lich gesteigerten  Forderungen  Beethoven's,  aber  nicht  wie 
ihre  Vorfahren  wurden  sie  vom  Ideengehalt  der  Zeit  ge- 
tragen, kaum  unterstützt.  So  waren  die  Werke  der  Ro- 
mantiker ein  letztes  Aufflackern  alten  Glanzes;  die  mageren 
Jahre  der  Sinfonie  begannen  und  die  bestgemeinten  Preis- 
ausschreiben konnten  das  nicht  ändern.  Wenn  in  einem 
Winter  vier  oder  fünf  neue  Sinfonien  vorlagen,  die  halb- 
wegs brauchbar  waren,  so  bedeutete  das  das  Höchste,  was 
sich  erwarten  Hess.  Die  Namen  dieser  Componisten  findet 
man  ziemlich  vollständig  in  Dr.  A.  DörffeFs  Geschichte 
der  Leipziger  Gewandhausconcerte  (1884),  denn  unter  dem 
mit  voller  Bildung  ausgerüsteten  Mendelssohn  machte 
dieses  Institut  erfolgreich  von  der  natürlichen  Ueber- 
legenheit  seiner  aus  dem  18.  Jahrhundert  überkommenen 
Organisation  Gebrauch  und  commandirte  die  deutsche  Musik. 
Die  verschiedenen  und  ehrenwerthen  MüUer's  um  die  es 


ce     266     '^ 

sich  hierbei  handelt,  die  Molique,  Gähring,  Möhring,  Täg- 
lichsbeck,  Markuli,  Lührss,  RoseuhaiD,  Leonhardt,  Helstedt, 
Pape  u.  8.  w.,  die  die  Ehre  einer  Aufführung  in  der  Regel 
nur  einmal  erlebten,  arbeiteten  durchschnittlich  in  den 
Spuren  Mozart's  und  des  jungen  Beethoven.  Etwas  länger 
hielten  sich  die  Sinfoniker  aus  der  Schule  Spohr's.  Der 
fruchtbarste  von  ihnen:  A.  Hesse,  der  Breslauer  Orgel- 
meister, ist  jedoch  heute  im  Concertsaal  gleichfalls  ver- 
schwunden. St.  Bennet,  dessen  G moll-Sinfonie  ebenfalls 
zu  dieser  Gruppe  gehört,  ist  in  England  noch  nicht  ver- 
gessen und  der  poetischste  dieser  Spohrschüler  Norbert 
Burgmüller  bei  uns  auch  noch  nicht. 

Beim  Beginn  dieses  deutschen  Niedergangs  greift  das 
Ausland,  das  seit  Haydn  gar  nicht  mehr  mitgezählt  wor- 
den, plötzlich  und  bedeutsam  in  die  weitere  Entwickelung 
der  Sinfonie  ein.  Der  Franzose  Hector  Berlioz  be- 
gründete eine  neue  Periode  —  vielleicht  nur  eine  Episode 
—  der  Programmmusik,  der  Däne  Niels  Gade  er- 
öffnet eine  Reihe  von  Versuchen  Elemente  der  Volks- 
musik zur  Grundlage  oder  zum  Ornament  der  grossen 
Formen  der  Sinfonie  zu  verwenden. 

Unter  , Programmmusik "  versteht  man  bekanntlich  eine 
Musik,  welche  als  die  Darstellung  bestimmter  innerer  oder 
äusserer  Vorgänge  aufgefasst  sein  will,  welche  Geschichten 
in  Tönen  zu  erzählen  und  nachzumalen  versucht  und  die 
Phantasie  an  gegebene  Objecte  bindet.  Die  Tendenz  dieser 
Kunstrichtung  ist  so  alt  wie  die  Musik  und  hat  ihre  na- 
türliche Stütze  in  der  Thatsache,  dass  Tonverbindungen 
wesentliche  Merkmale  geistiger  Ideen  und  körperlicher  Er- 
scheinungen wiedergeben  können.  In  der  Vocalmusik  bildet 
die  Uebereinstimmung  von  Ton-  und  Textideen  ein  wich- 
tiges Kriterium  für  den  Kunstwerth  der  Compositionen. 
So  lange  es  eine  künstlerische  Instrumentalmusik  giebt, 
sind  auch  in  dieser  zu  allen  Perioden  Versuche  gemacht 
worden,  bestimmte  Programme  durch  die  Tone  zu  über- 
setzen. Diese  Versuche  waren  in  der  Regel  von  neuen, 
aber  auch  von  verwunderlichen  Resultaten  begleitet.  Nicht 
immer,  z.  B.  nicht  in  der  Periode  Dittersdorf  s,  aber  häufig 


cc?     267     ^ 

haben  die  Programmmusiker  eine  poetische  Hinneigung 
zu  Ausnahmezuständen,  zu  aussergewöhnlichen  Ereignbsen 
oder  zu  Gegenständen  gezeigt,  welche  ausserhalb  der  mensch- 
lichen Anschauung  und  Erfahrung  liegen.  So  schildert 
schon  Froberger  einmal  Jacobs  Himmelsleiter,  ein  ander- 
mal einen  Schiffbruch  und  einen  Ueberfall  durch  See- 
räuber, Kuhnau  die  , Unsinnigkeit*  Sauls.  Für  die  neueste 
Epoche  der  Programmmusik  ist  eine  ähnliche  Neigung  ge- 
radezu zum  Merkmale  gemacht  worden.  Ist  von  ihr  die 
Rede,  so  erinnert  man  sich,  mit  Unrecht,  aber  doch  that- 
sächlich,  in  erster  Linie  der  grässlichen  Stoffe,  welche  sie 
zur  Behandlung  gewählt  hat.  Man  denkt  an  die  Hin- 
richtungsscene,  an  den  Höllensatz  in  Berlioz's  Sinfonie  fan- 
tastique,  an  die  Banditenscene  in  seinem  Harold,  an  Liszt^s 
Mephistosatz  im , Faust*,  an  den  Inferno  in  der  Dantesinfonie, 
an  den  Mazeppa,  den  Prometheus  und  die  „Hunnenschlacht* 
des  letztgenannten  Componisten.  Das  sind  Partien,  in 
welchen  die  neue  Programmmusik  zugleich  auch  von  dem 
Stile,  welcher  bis  dahin  in  den  Sinfonien  üblich  war,  sehr 
bemerkbar  abweicht.  Wo  die  Extreme  der  Leidenschaften, 
wo  Zustände  der  grössten  Erregung,  Ereignisse  unerhörten 
Charakters,  wo  die  Superlative  der  Phantasie  berührt 
werden  sollen,  da  bauen  diese  Componisten  wie  die  Cy- 
clopen  mit  unbehauenen  Blöcken.  Da  lassen  sie  die  Ele- 
mentarkraft des  blossen  Klanges  und  des  blossen  Rhythmus 
wirken  und  gewähren  der  Macht  des  musikalischen  Roh- 
materials, dem  physischen  Elemente  der  Musik  einen  weiten 
Spielraum.  Da  stützen  sie  ganze  Perioden  nur  auf  das 
Fundament  dissonanter  Harmonien,  auf  hin-  und  hersausende 
chromatische  Figuren,  auf  das  brutale  Treiben  von  Mo- 
tiven und  Themen,  welche  die  Kunstmusik  als  trivial  ver- 
wirft. Man  vergisst  über  den  Producten  gewaltthätiger 
Charakteristik  und  über  den  Befürchtungen,  welche  ihr 
naturalistischer  Stil  erregen  kann,  sehr  leicht,  dass  die 
Werke  der  Programmmusiker  auch  sehr  reich  sind  an 
eigenartigen  Schönheiten  freundlich  ruhiger  Natur  und 
dass  ihre  Hauptvertreter  durch  Aufstellung  neuer,  zweifel- 
los berechtigter  Principien  und  durch  Ausbildung  neuer 


oG»     268     '^ 

Ausdracksmittel  die  allgemeine  Entwiekelung  der  TonkuBBt 
gefördert  haben.  Die  Geschichte  der  Sinfonie  ist  noch 
jung,  denn  die  Kunst  zählt  nach  Jahrhunderten.  Mag 
die  Programmmusik  noch  so  oft  Fiasko  machen ;  ihr  Princip 
wird  nicht  sterben.  Nach  der  ganzen  Entwiekelung  der 
Instrumentalmusik  kann  in  der  Zukunft  ihr  Boden  nur 
breiter  und  fester  werden.  Schon  heute  liebt  das  Publikum 
einen  poetischen  Anhalt  für  die  sinfonischen  Gebilde  und 
unter  den  Componisten  hat  das  Programm  mehr  Anhänger, 
als  sich  öffentlich  dazu  bekennen.  Es  wäre  ein  Unglück, 
wenn  wir  nur  Programmmusik  hätten ;  aber  es  wäre  kaum 
weniger  zu  bedauern,  wenn  wir  gar  keine  hätten! 

Die  heutige  Programmmusik  ist  zum  grossen  Theil  durch 
Hector  Berlioz  so  geworden,  wie  sie  ist.  Trotz  seiner 
Schwärmerei  für  Virgil  und  für  Gluck  war  Berlioz  ein 
Erzromantiker  und  nicht  umsonst  nannten  ihn  seine  Lands- 
leute schon  bald  den  Victor  Hugo  der  Musik.  *)  Musikalisch 
lässt  er  den  gebornen  Franzosen,  den  Landsmann  Rameau*s 
nur  massig  merken ;  aber  dichterisch  war  er  ganz  von  jener 
französischen  Neuromantik  besessen,  der  Vischer  (in  den 
„Kritischen  Gängen*)  grob  aber  bezeichnend  eine  , Schinder- 
phantasie* vorwirft.  Der  erste,  schwerste,  der  unheilbare 
und  unverzeihliche  Mangel  von  Berlioz's  Programmmusik 
liegt  in  den  Programmen  selbst,  nicht  in  der  Colossalität 
und  Machtlosigkeit  seiner  poetischen  Intentionen,  wie  Am- 
bros  sagt,*)  sondern  in  ihrer  vollständigen  Geschmacklosig- 
keit. Der  Einfall:  die  Geschichte,  die  der  Sinfonie  fan- 
tastique  zu  Grunde  liegt  mit  Hexen  und  Hölle,  die  des 
Harold  mit  einer  Banditenorgie  zu  schliessen  bleibt,  auch 
wenn  man  den  Massstab  nach  den  Verirrungen  der  Schule 
Eugen  Sue's  bildet,  so  vereinzelt  und  ungeheuerlich,  dass 
man  zu  seiner  Erklärung  weitere  Gründe  bedarf.  In  der 
That  wirkten  auch  auf  den  schwachen  Punkt  in  Ber- 
lioz's  Phantasie  neben  den  litterarischen  Einflüssen  noch 
starke    musikalische.     Durch   Simon  Mayr   waren  in  der 

»)  F.  Hiller:  Kfinstlerleben,  1880.  S.  85. 
2)  W.  Ambros:  Bunte  Blätter,  1872.  S.   100. 


US'     269     "^ 

italienischen  Oper  die  Blasinstrumente  zu  einer  neuen  Be- 
deutung gelangt,  bei  Pacini  und  Mercadante  entwickelte 
sich  daraus  ein  förmlicher  Cultus  des  Blechs.  Meyerbeer 
fiihrte  ihn  in  die  französiscbe  Oper  über  und  Berlioz  ward 
der  Meyerbeer  der  Sinfonie.  Er  bereicherte  sie  mit  der 
Harfe  und  dem  englischen  Hom,  aber  auch  mit  den  dritten 
und  vierten  Fagotten  und  Trompeten,  mit  den  Ophicleiden, 
dem  türkischen  Schlagzeug  und  mit  dem  halben  Orchester 
der  Wachparade.  In  den  Schlusssätzen  seiner  Sinfonie 
wird  dieser  neue  akustische  Spuk  prasselnd  losgelassen. 

Nichts  setzt  Berlioz  so  weit  unter  Beethoven  wie  diese 
Abhängigkeit  vom  gemeinen  Effect.  Und  doch  hat  er  sich 
für  einen  Schüler  und  Nachfolger  Beethoven's  gehalten 
und  dieses  Verhältniss  mit  dem  Vergleich  zwischen  Colum- 
bus  und  Ferdinand  Cortez  zu  bestimmen  versucht.^)  In 
der  That  fand  er  für  seinen  Naturalismus  eine  kleine 
Stütze  in  der  Beethoven*schen  Sinfonie  von  der  zweiten 
ab.  Aber  wer  gerecht  sein  will,  kommt  auch  nicht  um 
die  Nothwendigkeit  herum  einzusehen  und  zuzugeben,  dass 
Berlioz  auch  nach  einer  zweifellos  nützlichen  und  zukunfts- 
reichen Richtung  hin  an  Beethoven  anknüpft  und  ihn  fort- 
gesetzt hat:  Er  suchte  und  fand  geeignete  Mittel  den 
breiten  Beethoven^schen  Formen  der  Sinfonie  Verständ- 
lichkeit zu  bewahren.  Diese  Mittel  waren  das  Programm 
und  die  Verbindung  der  einzelnen  Sätze  durch  Wieder- 
kehr desselben  Themas.  So  schlecht  Berlioz^s  Programme 
waren,  die  Berechtigung  und  Wirkung  des  Mittels  an  sich 
haben  sie  festgestellt,  sein  aus  dem  Schlummer  der  Jahr- 
hunderte wiedererwecktes  Princip  des  Leitthemas  ist  aber 
von  der  ganzen  modernen  Musik,  instrumental  und  vocal, 
von  Gegnern  und  Freimden  Berlioz's  ohne  Unterschied 
immer  mehr  aufgenommen  worden. 

Berlioz*s  Debüt  bildet  die  Sinfonie  fantastique,    H.  Berlioz 
op.  U  (1.  Auff.  1830).    In  seinen  Memoiren  (S.  95)  sagt  Süifonie  fwita- 
Berlioz,  dass  die  Bekanntschaft  mit  Goethe's  „Faust*  einen        «tique. 
grossen  Einfluss  auf  diese  Composition  gehabt  habe.     Das 


*}  F.  Hillcr,  A.  a.  O.  127. 


cG^     270     '^ 

mag  sein  mit  Blocksberg  und  Walpurgisnacht,  vielleicht 
auch  mit  dem  Spaziergang  und  mit  den  ,zwei  Seelen  iu 
einer  Brust* ;  die  Idee  zu  der  , Fantast ique*  wäre  für 
Goethe  ein  Greuel  gewesen  und  ist  ganz  Berlioz's  eigene 
Erfindung,  als  solche  für  den  abenteuerlichen  Charakter 
seiner  dichterischen  Neigungen  und  seiner  Ansichten  vom 
Wesen  und  Zweck  der  Kunst  überaupt  sehr  bezeichnend: 
Ein  junger  Künstler,  liebestoll  und  lebenssatt,  nimmt 
Opium.  Die  Dosis  des  Giftes,  zu  schwach  um  zu  tödten, 
bewirkt  nur  einen  tiefen  Rausch  und  eine  Reihe  von 
Träumen,  in  denen  die  Liebesgeschichte  des  Künstlers  repe- 
tirt  und  zu  einem  phantastischen  ungeheuerlichen  Ab- 
schluss  weitergeführt  wird.  Mit  andren  Auslegern  hat 
auch  Schumann^)  angenommen,  dass  der  Composition  und 
ihrem  Programm  ein  Stück  aus  dem  eignen  Leben  von 
Berlioz,  seine  Liebe  zu  der  englischen  Schauspielerin  Miss 
Smithson,  zu  Grunde  liege.  Die  Musik  versucht  die  Traum- 
bilder in  fünf  Sätzen  wiederzugeben. 

Der  erste  ^Reveries  —  Passions*  —  (Träumereien  — 
Leidenschaften)  überschrieben,  schildert  die  Zeit  der  er- 
wachenden Liebe  und  der  ersten  Begegnung  mit  der  Ge 
liebten.  Das  Programm  sagt:  ^»Zuerst  gedenkt  der  junge 
Musiker  des  beängstigenden  Seelenzustaudes ,  der  dunklen 
Sehnsucht,  der  Schwermuth  und  des  freudigen  Aufwallens 
ohne  besondren  Grund,  die  er  empfand,  bevor  ihm  die 
Geliebte  erschienen  war;  sodann  erinnert  er  sich  der  heissen 
Liebe,  die  sie  plötzlich  in  ihm  entzündet,  seiner  fast  wahn- 
sinnigen Herzensangst,  seiner  eifersüchtigen  Wuth,  seiner 
wieder  erwachenden  Liebe,   seiner  religiösen  Tröstungen. 

Die  in  diesen  Worten  gestellte  Aufgabe  sucht  Berlioz 
mit  einem  Satze  zu  lösen,  der  ganz  die  Form  hat,  die  wir 
seit  Haydn  an  dieser  Stelle  gewohnt  sind :  ein  im  Sonaten- 
schema ausgeführtes  Allegro  mit  langsamer  Einleitung. 

Die  Einleitung  (Largo  C,  C  moll)  schildert  den  Seelen- 
zustand,  in  dem  sich  der  Künstler  vor  dem  Erscheinen  der 

*)  R.  Schumann's  Gesammelto  Schriften  (Ausgabe  von  Jansen) 
I,  131. 


c<?     271     "ö* 

Geliebten  befand:  Schon  die  ersten  beiden  Takte  suchen 
das  Bild  einer  klopfenden  und  nagenden  und  im  selben 
Augenblick  vom  schweren  Druck  gehemmten  Empfindung 
zu  zeichnen  :  Die  .Schwermuth*  und  ,die  dunkle  Sehn- 
sucht* des  Programms  drückt  eine  längere  Geigenmelodie 
aus,  die  folgendermassen  einsetzt: 

Largo.  J»  66 


j .    Die  Fermaten  und  der  stockende  Gang 


=F=t 


kennzeichnen  auch  ihren  weiteren  Verlauf.  Im  achten  Takt, 
am  Schluss  der  Periode,  zeigt  ein  Nonenaccord  über  der  Do- 
minante den  Höhepunkt  des  Wehgefiihls.  Von  da  ab  ver- 
sucht die  spröde  Melodik  grössere  Schritte,  überlässt  aber 
sehr  schnell  das  Wort  dem  Rhythmus,  der  in  den  tiefen 

Instrumenten  über  das  Motiv  7   J*     einen    Aufschwung 

der  Stimmung  einleitet.  Aehnlich  wie  an  der  berühmten 
Stelle  im  Trauermarsch  der  Eroica  lassen  die  Bässe  ganz 
allein  ein  mächtiges  As  hören,  das  dröhnend  nach  G  über- 
tritt. Wir  stehen  vor  dem  zweiten  Abschnitt  des  Largo, 
dem  das  Programm  „das  freudige  Aufwecken  ohne  be- 
sonderen Grund*  zuweist.  Er  malt  es  in  losen  Figuren,  die 
als  Sechzehntelsextolen  und  als  Triolen  dahinflattern.  Zu- 
erst in  der  ersten  Violine  allein,  dann  ergreifen  sie  auch 
die  übrigen  Instrumente,  durchschwärmen  rasch  von  Cdur 
aus  einen  Kreis  naher  und  femer  Tonarten,  bis  sie  im 
sechsten  Takt  nach  Cdur  und  gleich  darauf  nach  Cmoll 
zurückkehren.  Es  war  nur  das  Aufglühen  des  Fiebers, 
jetzt  meldet  sich  die  alte  Schwermuth  in  den  Klagen  der 
Bläser  wieder.  Nach  vier  Takten  haben  wir  wieder  die 
oben  angegebene  Geigenmelodie.  Der  dritte  Abschnitt  des 
Largo  beginnt,  verläuft  aber  doch  nicht  ganz  gleichlautend 
wie  der  erste.    Das  heitere  Aufwallen  hat  etwas  gewirkt: 


ee     272     ^ 

in  der  Seele  des  verliebten  Musikers  ist  es  heller  geworden. 
Das  sagt  uns  die  Durtonart  (Es),  in  die  das  Thema  jetzt 
versetzt  ist,  das  sagen  uns  die  Bläser,  die  die  Greigen 
mit  den  muntren  Motiven  des  zweiten  Abschnitts  um- 
spielen. Nachdem  diese  Repetitionsgruppe  geschlossen 
hat,  geht  in  der  Stimmung  eine  noch  viel  entschiedenere 
Wendung  zur  Hoffnung  und  Freude  vor  sich.  Desdur 
setzt  plötzlich  ein,  das  Hom  übernimmt  die  Führung  mit 
Melodien  djje  trösten,  mit  trillernden  Figuren  und  neues 
Leben  weckenden  Motiven.  Die  Violinen  nehmen  die 
Dämpfer  ab  und  stimmen  mit  frohen  und  muthigen  Gängen 
ein.  Es  ist  ein  Zögern  und  Gähren  in  diesem  Schlussab- 
schnitt des  Largo,  das  den  empfänglich  folgenden  Zuhörer 
in  grosse  Spannung  versetzt. 

Das  Allegro  (Allegro  agitato  e  appassionato ,  Cdur), 
welches  im  erregtesten  Zucken  einsetzt,  löst  sie  bald.  Die 
Geliebte  erscheint,  das  folgende  Thema,  von  der  Flöte 
zuerst  eingeführt; 

soll  ihre  Gestalt  bezeichnen.  Schumann  findet  in  ihm  so- 
gar den  Charakter  der  „kühlen  Brittin*,  die  später  Berlioz's 
Gattin  wurde,  ausgedrückt.  £s  fängt  wohl  etwas  glück- 
lich reservirt  an,  wird  aber  in  den  folgenden  Perioden 
der  Klage  ziemlich  warm  und  schliesst  liebenswürdig  zu- 
sprechend. Der  hier  wiedergegebene  Anfang  kehrt,  ge- 
wöhnlich durch  zitternde  Rhythmen  begrüsst,  als  Leit- 
motiv in  allen  Sätzen  der  Sinfonie  wieder,  Berlioz  nennt 
es  ihre  „id^e  fixe".  Das  ist  nicht  in  dem  Sinne  gemeint, 
in  dem  wir  Deutsche  von  der  „fixen  Idee*  gestörter  Geister 
sprechen,  sondern  jene  acht  Takte  bilden  den  „festen  Pol 
in  der  Erscheinungen  Flucht* ,  das  Band  das  den  Inhalt 
der  Sätze  der  Sin^onik  verknüpft,  das  äussere  Zeichen  ihrer 
Zusammengehörigkeit.  Gleichviel  ob  man  in  Berlioz^s  spe- 
cifischer  Musikbegabung  Talent  oder  Talen tlosigkeit  erblickt, 
jedermann  sollte  einsehen,  dass  die  Einführung  und  Durch- 
führung  des  Princips  der   ,idde   fixe*    eine  künstlerische 


ee     273     tx» 

That  von  hoher  Bedeutung  ist.  Es  war  der  erste  und 
einzige  wesentliche  Fortschritt,  den  die  Geschichte  der 
Sinfonie  nach  Beethoven  zu  verzeichnen  hat,  der  Punkt 
von  dem  aus  sich  noch  eine  Zukunft  für  diese  Kunst- 
gattung eröffnete. 

Wie  Haydn,  legt  auch  Berlioz  den  zweiten  Themen 
nicht  viel  Werth  bei  und  zieht  ihnen  eine  freie  aber  logische 
Fortsetzung  des  Hauptgedankens  vor.  So  wird  denn  hier 
in  der  Themengruppe  des  ersten  Satzes  das  Hauptthema 
mit  einem  Jubelausbruch  begrüsst,  der  von  zwei  laut  tre- 
molirenden,  je  einen  Takt  langen  Accorden  aus:  g-b-des-e 
und  g-h'd-f  in  Achtelfiguren  hinab  und  hinaufstUrzt.  Er 
schliesst  zunächst  mit  einem  innigen  Rückblick  auf  den 
Schluss  des  Hauptthemas,  auf  dessen  letzte  Periode: 


Allegro.agltato>-4 


Dann  erneut  er  sich,  aber  mit  Motiven  des  stillen  Entzückens: 

i  f '  y    I  ^  ^,na    i  if  ^f J r^     gemischt,   er- 

weitert  und  in  der  Richtung  bestimmter.  Sie  läuft  gerade- 
wegs wieder  auf  das  Hauptthema  zu,  das  in  Grdur  er- 
reicht, aber  nur  mit  den  ersten  Noten  aufgenommen  wird : 


i  'jX^PfJirrritf^^^^^g 


Die  mit  dem  dritten  Takte  einsetzenden  neuen  Glieder 
fungiren  als  zweites  Thema  im  Satze  und  vertreten  in  der 
Durchfuhrung  die  Stimme  des  Liebesglücks. 

unser  Allegro  ist  in  der  seit  Hajdn  üblichen  Form  in 
den  drei  Haupttheilen :  Themengruppe,  Durchfuhrung,  Re- 
prise aufgebaut.  Die  Themengruppe  schliesst  bald  nach 
dem  Auftreten  des  als  zweites  Thema  geltenden  Gedanken. 
Die  Durchführung  ist  die  Stelle  der  , Erinnerungen*',  auf 
die  das  Programm  zum  ersten  Satz  hinweist.    Nur  sind 

Kretzichmar,  FUhrer,  I.  18 


US'     274     ^ 

sie  in  der  Musik  nicht  so  einfach  abzulesen  wie  dort  im 
Text.  Die  Reihenfolge  der  Empfindungen  ist  anders,  aber 
insofern  wohlgeordnet  und  Übersichtlich  als  den  trüben 
immer  helle  folgen.  Eine  wirkliche  Schwierigkeit  für 
Folgen  und  Verstehen  liegt  darin,  dass  Berlioz  in  der 
Schilderung  der  Affecte  mebt  ohne  Uebergänge  schroff 
abspringt. 

Die  Durchfuhrung  beginnt  mit  einem  kleinen  Dialog 
(von  Gdur  aus).  Die  Bässe  zeigen  wie  aus  der  Feme  im 
Halbdunkel  das  Bild  der  Geliebten  (Anfang  des  Haupt- 
themas), die  Bläser  in  neuen  eignen  Motiven  das  Herz  des 
liebenden  jungen  Künstlers.  Mit  dem  zweiten  Thema  in 
Cdur  schliesst  diese  Gruppe.  Nun  konunt  als  zweite 
Gruppe  die  Darstellung  jener  .Herzensangst*  auf  die  das 
Programm  vorbereitet.  In  den  Saiteninstrumenten  wühlt 
es  mit  chromatischen  Läufen,  die  Bläser  stossen  lange 
Klagetöne  aus.  Die  Scene  endigt  mit  einem  aufregenden 
Sturm  nach  der  Höhe,  wie  ein  Befreiungsversuch  aus 
schwülem  luftlosem  Raum,  und  mit  einer  erlösenden  General- 
pause. Der  dritte  Abschnitt  bringt  das  Bild  der  Geliebten, 
das  Hauptthema  in  voller  Ausdehnung  aber  in  G  dur  wie- 
der. Ihm  folgt  eine  leise  beginnende  Stelle  des  Besinnens 
erst,  dann  des  Jubels,  an  die  sich  als  fünfter  Abschnit  eine 
kurze  Durchführung  des  zweiten  Themas,  die  von  den 
Cellis  aus  nach  oben  angetreten  wird,  schliesst.  Sie  endet 
mit  der  Wiederaufnahme  vom  Ende  des  Hauptthemas,  das 
schliesslich  wie  grollend  in  den  Bässen  verschwindet.  Und 
nun  schliesst  die  Durchfuhrung  mit  einer  Gruppe,  die 
complicirter  und  auch  für  die  Aufführung  schwieriger  ist, 
als  irgend  eine  der  bisherigen  Partien  des  Allegro.  Die 
Celli  nämlich  beginnen  eine  lange  Kette  von  Imitationen 
über  den  Anfang  des  Hauptthemas  erst  mit  den  Bratschen, 
später  mit  den  zweiten  Geigen.  Die  Holzbläser  spielen 
verlegne  oder  brütende  Gegenmotive  dazu,  die  ersten 
Geigen  wirken  nur  rhythmisch  erregt  mit.  Das  ist  wohl  die 
Schilderung  der  ,  eifersüchtigen  Wuth"  und  der  dunklen  Be- 
fürchtungen im  Herzen  des  Liebhabers.  Er  ringt  sich 
durch  imd  wir  gelangen  an  die  Reprise  des  Hauptthemas 


co     275     '^ 

im  ff  (Cdur)  wie  in  der  Apotheose.  In  der  Reprise  hat 
Berlioz  Beethoven'sche  Einschübe  zur  Steigerung  des  Aus- 
drucks des  Liebesglücks  mit  Erfolg  versucht.  Es  ist  die 
H durstelle,  wo  die  Bässe  mit  h  a  fis  dis  beginnen.  Die 
, religiösen  Tröstungen''  des  Programms  kommen  in  den 
letzten  Takten  des  Satzes  im  Anschluss  an  den  leisen  Ab- 
schied des  Hauptthemas. 

Der  zweite  Satz  (Valse  '/„,  Adur)  hat  die  Ueber- 
schrift  ,ün  bal*  ein  Ballfest.  Das  Programm  sagt  zur 
Erläuterung:  ,Auf  einem  Ball  inmitten  des  Geräusches 
«ines  glänzenden  Festes  findet  er  die  Geliebte  wieder*. 
Berlioz  hat  namentlich  durch  den  Ball  in  Romeo  und  Julie 
die  musikalische  Welt  an  efifectvolle  und  lebendige  Fest- 
scenen  gewöhnt  wie  keiner  vor  ihm.  Die  hier  gegebne  ist  be- 
«cheiden  nach  aussen,  aber  durch  innerliche  Wärme,  durch 
Poesie  und  dramatisches  Leben  in  der  Form  sehr  bedeutend. 
Wie  schön  ist  beidemal  die  ,id^e  fixe*  eingeführt,  das  Zu- 
sammentreffen der  Liebenden  in  der  festlichen  Menge  ge- 
zeichnet! Nach  einer  kurzen  Einleitung,  welche  düstre 
Traumfiguren  enthält,  nimmt  die  Musik  den  Charakter 
eines  deutschen  Walzers  an: 

jf^iittuUJiJT^ir^ifTrriOiir  1^  1 


Die  Durchführung  dieses  Hauptsatzes  wird  von  er- 
regteren, tiefere  Saiten  des  Gefühls  anschlagenden,  sce- 
nischen  Charakter  tragenden  Episoden  mehrmals  unter- 
brochen. In  das  rauschende  Ende  des  Satzes  lächelt 
Rossini  herein. 

Der  dritte  Satz  (Adagio,  ^/g,  Fdur)  hat  die  Ueber- 
schrift:  „Sc^ne  aux  champs*  (Auf  dem  Lande)  und  fol- 
gendes Programm:  „An  einem  Sommerabende,  auf  dem 
Lande,  hört  der  Künstler  zwei  Schäfer,  die  abwechselnd 
den  Kuhreigen  blasen.  Dieses  Schäferduett,  der  Schau- 
platz, das  leise  Flüstern  der  sanft  vom  Winde  bewegten 
Bäume,  einige  Gründe  zur  Hofliiung,  die  ihm  erst  kürzlich 

18* 


«6^     276     ^ 


bekanut  geworden,  alles  vereinigt  sich  um  seinem  Herzen 
eine  unendliche  Ruhe  wieder  zu  geben,  seinen  Vorstellungen 
ein  lachendes  Colorit  zu  verleihen.  Da  erscheint  sie  aufs 
Neue;  sein  Herz  stockt,  schmerzliche  Ahnungen  steigen  in 
ihm  auf:  ,Wenn  sie  ihn  hinterginge!*  —  Der  eine  Schäfer 
nimmt  die  Melodie  wieder  auf;  der  Andere  antwortet  nicht 
mehr  .  . .  Sonnenuntergang  .  . .  fernes  Rollen  des  Donners 
.  . .  Einsamkeit  .  .  .  Stille*. 

Die  Musik  beginnt  mit  einem  Dialog  zwischen  Eng- 
lisch Hom  und  Hoboe,  welche  sich  Motive  des  Kuhreigens 
zurufen.  Das  Gesammtorchester  stimmt  bald  in  die  länd- 
lichen Weisen  ein,  bald  vertauscht  es  sie  mit  dramatischen 
Phrasen,  welche  die  Sprache  einer  zwischen  Zweifel  und 
Hoffnung  schwankenden  Seele  reden.  An  den  Stellen, 
wo  die  ,id^e  fixe*  erscheint,  wird  der  Ausdruck  wild  er- 
regt oder  rührend  schmerzlich.  Der  Satz  zeigt  eine  eigen- 
thümliche  Mischung  von  Gemüthsschilderung  und  Land- 
schaftsmalerei. Berlioz  verstand  in  einem  hohen  Grade 
die  Kunst,  die  dramatische  Darstellung  seelischer  Zustände 
mit  einer  anschaulichen,  poetischen  Wiedergabe  der  äusseren 
Scenerie  zu  verbinden.  Sein  Childe  Harold  und  seine 
Romeosinfonie  enthalten  Musterstücke  dieser  Art.  In  letz- 
terem Theile  erinnert  die  ,Sc6ne  aux  champs'  vielfach 
an  das  Andante  von  Beethoven's  Pastoralsinfonie.  Hier 
wie  dort  das  Vogelgczwitscher,  das  Rauschen  des  Windes, 
das  Säuseln  der  Bäume,  der  Reichthum  an  naturalistischen 
Details  in  den  grossen  Fluss  der  musikalischen  Darstellung 
eingezogen,  zuweilen  direkte  Anklänge.  Das  Hauptthema 
der  pastoralen  Partie  der  Scene  ist  eine  gesangvolle  Me- 
lodie, welche  folgendermassen  anfangt: 


Cr€9C, 


Sie  erscheint,  so  oft  sie  wiederkehrt,  darunter  zweimal 
in  Cdur,    in  immer  neuen  Reizen  des  Colorits  und  des 


ce     277     "^ 

Rhythmus.  Von  grossartigem  Eindruck  ist  namentlich 
die  Stelle,  wo  Bässe,  Celli  und  Bratschen,  alle  in  viel- 
stimmigen Griffen  mit  dem  Rhythmus  ■■  .  IM  «  be- 
gleiten. Die  Gabe,  schöne  und  eigenthümliche  Klänge 
zu  finden,  war  Berlioz  angeboren.  Kurze  Zeit,  bevor 
er  seine  Sinfonie  fantastique  schrieb,  studirte  er  noch 
Medicin.  Die  ,Id^e  fixe*  beherrscht  von  der  Mitte  des 
Satzes  an  die  Composition.  Ihr  erstes  Auftreten  bereitet 
ein  in  grösster  Aufregung  einsetzender  Gang  der  Celli  und 
Bässe  vor: 


Die  Geigen  werden  von  seiner  verzweifelten  Energie 
erfasst  und  helfen  das  Bild  des  in  Leidenschaft  schlagen- 
den Herzens  aufs  spannendste  ausfuhren.  Erst  nachdem 
das  rasende  Orchester  sich  in  langen,  auf  verminderte 
Harmonien  gestellten  Tremolos  ausgetobt  hat,  beginnt  das 
«Stocken*  von  dem  das  Programm  spricht.  Die  Clarinette 
beschwichtigt  noch  einmal  mit  einer  neuen  sanften  Melodie 

* ^  F»  f  r  f  I  f^^f  f^r  I  J  "**•  ^^^  folgen  die  zwei- 
ten Geigen  mit  dem  Hauptthema,  dessen  Vortrag  mit  einer 
Wendung  des  Aufschwungs  und  des  Ausdrucks  glück- 
lichster Gefühle  schliesst.  In  Cdur  begann  dieser  Ab- 
schnitt, in  F  geht  er  aus.  Da  setzt  die  ,Id^e  fixe*  noch- 
mals ein,  aber  diesmal  nicht  verwirrend  und  verstörend; 
Hand  in  Hand  mit  ihr,  die  die  Bläser  einführen,  geht  in 
den  Geigen  das  Haupttbema  des  Satzes.  —  Den  ,  Sonnen- 
untergang*, den  das  Programm  verspricht,  aus  der  Musik 
herauszuhören,  wird  nur  Wenigen  gelingen.  Dagegen  ist 
das  .Rollen  des  fernen  Donners*  durch  ein  kleines  Extra- 
concert  auf  vier  Pauken  sehr  deutlich  gemacht. 

In  seinen  Memoiren  (S.  95  und  110)   erzählt  Berlioz, 


c<?     278     ^ 

das«  die  Sc^ne  aux  champs  bei  der  ersten  Aufführung 
keine  Wirkung  auf  das  Publikum  geübt,  dass  er  das  Stück, 
das  ihn  bei  der  ersten  Niederschrift  schon  drei  Wochen 
aufhielt,  im  Laufe  mehrer  Jahre  wiederholt  umgearbeitet 
und  nach  den  Anweisungen  Ferd.  Hiller*s  in  seine  letzte 
Gestalt  gebracht  habe.  Es  war  also  ein  Sorgenkind  und 
lässt  auch  heute  noch  einen  Rest  von  Unfertigkeit  merken, 
der  die  Wirkung  seiner  schönen  Ideen  und  Absichten  etwas 
beeinträchtigt. 

Dagegen  ist  der  folgende  vierte   Satz  der  Sinfonie 

(AUegretto  non  troppo,  (p,  Gmoll)  in  einer  Nacht  ge- 
schrieben, ein  Werk  aus  einem  Guss.  Er  hat  die  üeber- 
schrift:  Marche  au  supplice  (Gang  zum  Hochgericht)  und 
wird  im  Programm  folgendermassen  erläutert:  „Dem  jungen 
Künstler  träumt  er  habe  seine  Geliebte  gemordet,  er  sei 
zum  Tode  verdammt  und  werde  zum  Ricbtplatz  geführt. 
Ein  bald  düsterer  und  wilder,  bald  brillanter  und  feier- 
licher Marsch  begleitet  den  Zug;  den  lärmendsten  Aus- 
brüchen folgen  ohne  Uebergang  dumpfe,  abgemessene 
Schritte.  Zuletzt  erscheint  neuerdings  die  „Td^  fixe",  auf 
einen  Augenblick,  gleichsam  ein  letzter  Liebesgedanke  den 
der  Todesstreich  unterbricht.* 

Mit  diesem  Satze  nehmen  die  Opiumträume  des 
jungen  Künstlers  eine  abenteuerliche  Wendung,  eine  Wen- 
dung, welche  uns  den  eigentlichen  Traumgott  der  Sinfonie 
fantastique,  ihren  Componisten  H.  Berlioz  nämlich,  zum 
ersten  Mal  als  Parteigänger  jener  Blut  und  Gräuel  lieben- 
den französischen  Neuromantik  zeigt,  von  der  bereits  die 
Rede  war.  Die  Musik  zu  einem  solchen  dichterischen  Vor- 
wurf kann  nicht  anders  als  schauerlich  sein.  Dieser  Zweck 
schliesst  Sparsamkeit  in  den  Mitteln  der  Instrumentation 
aus.  Kurz  vor  dem  Momente,  wo  das  Fallbeil  fallt  —  hef- 
tiger Schlag  des  ganzen  Orchesters,  zwei  Pizzicatonoten 
des  Streicherchors,  ungeheurer  Wirbel  sämmtlicher  Pauken 
und  Trommeln  —  taucht  der  Gedanke  an  die  Geliebte 
noch  einmal  auf.  Die  ,idde  üxe'^  erklingt  im  Solo  einer 
schrillen    C  -  Clarinette.      Der    Stelle    geht    ein    schroffer 


e<?      279      ^ 

Harmoniewechsel  von  Bmoll  (Bläser)  und  GmoU  (Geigen) 
Yoraus,  welcher  bei  den  ersten  Aufführungen  der  Sin- 
fonie in  Deutschland  die  Meinungen  besonders  erhitzte. 
Eine  tiefere  Anpassung  der  ganzen  Scene,  das  tragische 
Element  derselben,  kommt  in  der  Melodie: 
Alle^«tto^^ 

Vi^B^    \^     ^  tl  \t    i    t    i    ir        zur    Geltung, 

welche  nach  einigen  einleitenden  Perioden ,  in  der  die 
Contrabässe  einfach  getheilt  pizzicato- Accorde  geben,  die 
Pauken  wirbeln,  die  Homer  einfach  ernste  Marschmotive 
anspielen,  zuerst  dumpf  und  schwer  durch  die  Bässe 
schreitet  Der  rhythmische  Vortrag,  namentlich  die  Be- 
tonung der  einsetzenden  Halben  kann  nicht  entschieden 
genug  sein.  Die  Violinen  nehmen  das  Thema  (in  Es)  auf 
eine  dritte  Clausel  führt  mit  den  Bässen  als  Hauptstinune 
wieder  nach  GmoU  zurück  und  an  den  Schluss  des  ersten 
Theils.  Die  Fortsetzung  des  Marschbildes  ruht  nun  auf 
dem  Bdur-Thema; 

i^l'iTf  r  ir  I  tri  \t  rrnf  K  T   • 

Wie  sie  rhythmisch  belebter  ist,  zieht  sie  die  Aufmerksam- 
keit von  dem  erschütternden  Charakter  des  Vorgangs  mehr 
auf  die  Aeusserlichkeiten  des  Schauspiels,  auf  den  Pöbel, 
dem  jedes  Unglück  zum  Feste  wird.  Es  giebt  Stellen  wo 
man  aus  der  Begleitung  der  Themen  das  Murmeln,  Lärmen 
und  Toben  der  Menge  hört.  Zuweilen  dringen  die  Töne 
des  tragischen  Hauptthemas  wieder  vor.  Schliesslich  setzt 
es,  von  den  Posaunen  durchgedrückt,  im  vollen  Tutti 
wieder  ein,  geht  ins  Wilde  und  zu  dem  schon  geschilderten 
Ende  über. 

Durch  die  Einlage  des  Marsches  überschreitet  die  Sin- 
fonie fantastique  zum  ersten  Male  seit  Haydn  die  her- 
gebrachte Vierzahl  der  Sätze.  Berlioz  mag  daran  gedacht 
haben,  dass  versteckt  wenigstens  ein  ähnliches  Verhältnis» 
in  Beethoven^s  Pastorale  vorliegt  oder  auch  den  Marsch 


«<?     280     ^' 

als  eine  Art  Präludium  zum  Finale  gemeint  haben.  Dieses 
als  fünfte  Nummer  gebrachte  Finale  hat  die  Ueberschrift 
Songe  d*une  nuit  du  Sabbat  (Traum  in  der  Walpurgisnacht) 
und  folgendes  Programm :  „Der  junge  Künstler  glaubt  einem 
Hexentanz  beizuwohnen  inmitten  grausiger  Grespenster, 
unter  Zaubrem  und  vielgestaltigen  Ungeheuern,  die  sich 
zu  seinem  Begräbniss  eingefunden  haben.  Seltsame  Töne, 
Aechzen,  gellendes  Lachen,  fernes  Geschrei,  auf  welches 
andres  Geschrei  zu  antworten  scheint.  Die  geliebte  Melodie 
taucht  wieder  auf,  aber  sie  hat  ihren  edlen  und  schüch- 
ternen Charakter  nicht  mehr;  sie  ist  zu  einer  gemeinen, 
trivialen  und  grotesken  Tanzweise  geworden :  s  i  e  ist's,  die 
zur  Hexenversammlung  kommt.  Freudiges  Gebrüll  be- 
grüsst  ihre  Ankunft ....  Sie  mischt  sich  unter  die  höllische 
Orgie;  Sterbegeläute  .  .  .  burleske  Parodie  des  Dies  irae; 
Hexen-Rundtanz.  Das  Rondo  und  das  Dies  irae  zu  gleicher 
Zeit.« 

Die  Hauptmasse  der  Musik  des  Schlusssatzes  fällt  auf 
dies  ,Ronde  du  Sabbat*^  die  Darstellung  des  Hexenfestes 
in  der  Walpurgisnacht  (Allegro,  ^/g,  Cdur).  Die  voraus- 
gehende Partie  vertheilt  sich  auf  mehrere  durch  Tempo 
und  Charakter  unterschiedene  kürzere  Sätze: 

Ein  Larghetto  in  Cdur  beginnt  gleich  mit  vermin- 
derten Harmonien,  fremdartig  polternden  Bassfiguren,  denen 
die  dreifach  getheilten  Violinen  hohe  Tremolos  und  bac- 
chanalisch schlürfende  und  schleifende  Motive  entgegen- 
stellen. Das  Larghetto  ist  der  Ort  der  im  Programm  ver- 
sprochnen  , seltsamen  Klänge*^,  soweit  sie  ruhiger  Natur 
sind.  Am  bemerkbarsten  macht  sich  unter  ihnen  eine 
Nachahmung  des  Hahnenschreies.  Es  folgt  ihm  ein  nur 
acht  Takte  langes  Allegro  (*/g,  Cdur)  in  dem  die  ,id^e 
fixe*  von  der  Clarinette  |)pp  gebracht,  die  erste  Verzerrung 
erleidet.  So  kurz  die  Stelle  ist,  so  wirkt  sie  doch  sehr 
dämonbch  durch  die  Begleitung  der  beiden  Pauken  und 
der  grossen  Tronmiel.  Schon  hier  zeigt  sich  das  Finale 
der  Fantastique  als  die  Fundgrube  von  Effecten,  die 
Meyerbeer  und  andre  französische  Opemcomponisten  fleissig 
ausgemünzt  haben.   Diesem  ersten  Allegro  folgt  ein  zweites. 


ce     281     ^ 

wild  tobendes  in  Esdur.  Es  leitet  zu  einem  längeren  Satz 
über,  (Allegro  ^/g,  Esdur)  den  das  Programm  eine  «gemeine, 
triviale  und  groteske  Tanzweise*^  nennt.  Die  Melodie  der 
,idde  fixe*  erscheint  in  den  schrillen,  abscheulichen  Tönen 
einer  hohen  Es-Clarinette ,  lächerlich  fratzenhaft  und  von 
Rohheit  umgeben.  Die  Scene  bricht  plötzlich  ab  und 
macht  einem  ernsten  Recitativ  der  Bässe  Platz.  Ihm  folgen 
—  noch  heute  eine  crux  für  die  Auffuhrung  —  Glocken- 
töne CGf  CG,  Es  ist  der  denkbar  schärfste  Contrast  an 
dieser  Stelle:  Aus  dem  Höllenqualm  gehts  unvermittelt  in 
Kirchenluft  und  WeihrauchduÄ.  Das  Dies  irae  setzt  auf 
folgende  Melodie  ein: 

Allegro.  J'S  104 


J.iJ-ii.ij.ij.ij.lj.'li.l4ljj4l- 

Ophicleiden  und  Fagotte  blasen  sie,  die  Glocken  läuten  dazu. 
Sofort  wird  sie  von  Hörnern  und  Posaunen  in  einfacher, 
von  den  Geigen  in  doppelter  Verkürzung  parodirt.  Es  ist 
ein  freches  Stückchen  Kunst.  Das  nun  folgende  «Ronde 
du  Sabbat**  ist  im  Haupttbeil  eine  Fuge  über  das  Thema : 

'^figiiJ.f  iLLji  ht  pr  J'ij.T:irrrir  , 

das  von  den  Cellis  aus  allmählich  über  das  ganze  Orchester 
vordringt.  Es  wird  unterbrochen  von  Zwischensätzen,  in 
denen  f  und  p  diabolisch  wechseln,  von  neuen  Motiven  der 
Klage.  Nach  einem  gravitätisch-burlesken  Zwiegespräch 
von  Bässen  und  Fagotten  meldet  sich  das  Dies  irae  wieder. 
Ein  neuer  Anlauf  zur  Fuge,  —  das  Thema  vom  zweiten  Takt 
an  chromatisch  rieselnd,  —  vertreibt  es,  bald  aber  als  die 
Fuge  am  tollsten  geworden,  setzt  es  dominirend  ein.  Nun 
folgt  ein  Abschnitt  der  als  Composition  eine  Farbenorgie 
ist.  Eine  Klangteufelei  folgt  der  andren.  Auf  einen  Satz 
col  legno  der  Violinen  ein  verworren  elastisches  staccato 
der  Holzbläser,  dann  die  Ophicleiden  im  plumpen  Sturm- 


oc?     282     'S* 

lauf  und  bald  fanatisch  erregt  das  Ende  des  Satzes,  den 
man  nicht  unrecht  eine  musikalische  HöUenbreugheliade 
genannt  hat.  Noch  näher  liegt  der  Vergleich  mit  WUrtz, 
dem  Brüsseler  Maler. 

Aesthetisch  abstossend  ist  er  technisch  eine  compo- 
sitorische  Virtuosenleistung ,  durch  neue  Formprincipien 
auch  historisch  wichtig. 

Berlioz  rühmt  (a.  a.  0.)  die  gute  Aufnahme,  die  in 
Paris  bei  der  ersten  Aufführung  der  Sinfonie  fantastique 
Bai,  Marche  und  Sabbat  fanden.  Börne ')  äussert  sich  be- 
geistert über  das  Ganze:  „Es  steckt  ein  ganzer  Beethoven 
in  diesem  Franzosen  ....  Alles  ist  mit  Händen  zu 
greifen*.  Unter  den  Musikern  bildeten  sich  Parteien  für 
und  wider.  Stinunfiihrer  der  Gegner  war  F^tis,  der  in 
der  Revue  musicale  dem  Componist  Alles  absprach  und 
nur  einen  Instrumentationsinstinkt  gelten  liess.  Mendelssohn 
verwarf  mit  befremdenden  Hass  bekanntlich  sogar  Berlioz*s 
Instrumentirung.  *)  Schumann  dagegen  trat  in  seiner  Neuen 
Zeitschrift  für  Musik  mit  der  bereits  erwähnten  Kritik 
warm  für  die  wunderliche  Sinfonie  ein.  Zwei  sehr  wichtige 
Freunde  fanden  sich  in  F.  Liszt  und  N.  Paganini. 
H.  BerliOB  Nach  einer  sehr  guten  Aufführung  der  Sinfonie  fan- 

Hazoidenitaiie.tastique  am  22.  December  1833  —  schreibt  Berlioz  —  er- 
wartete mich  nachdem  das  Publikum  fort  war,  allein  im 
Saal  ein  Mann  mit  langem  Haar,  durchbohrendem  Auge, 
mit  einer  seltsamen  Figur,  ein  sichtlich  vom  Genie  Be- 
sessener, ein  Coloss  von  einem  Riesen,  den  ich  nie  gesehen 
hatte  und  dessen  erster  Anblick  mich  vollständig  verwirrte. 
Er  hielt  mich  beim  Vorübergehen  an  um  mir  die  Hand 
zu  drücken,  überhäufte  mich  mit  heissen  Lobeserhebungen, 
die  mir  im  Kopf  und  Herzen  brannten.    Es  war  Paganini! 

Einige  Wochen  später  besuchte  er  mich.  ,Ich  habe 
eine  herrliche  Bratsche  —  sagte  er,  —  ein  wundervolles 
Instrument  von  Stradivarius  und  möchte  es  gern  öffentlich 
spielen.    Aber  ich  habe  keine  Musik  dafür.    Wollen  Sie 

^)  Allgemeine  Zeitung  vom  8.  December  1830. 
^)  M.  Briefe  an  Moscheies  (S.  85). 


co     283     'O» 

mir  nicht  ein  Bratschensolo  schreiben?  Für  diese  Arbeit 
habe  ich  Vertrauen  blos  zu  Ihnen*.  —  Gern,  antwortete 
ich,  das  schmeichelt  mir  mehr  als  ich  sagen  kann;  aber 
um  Ihren  Erwartungen  zu  entsprechen  um  in  einer  solchen 
Composition  eine  Gelegenheit  zum  Glänzen  zu  geben,  die 
eines  Virtuosen  wie  Sie  würdig  ist,  muss  man  Bratsche 
spielen  und  das  kann  ich  nicht.  Sie  allein,  scheint  mir, 
könnten  die  Aufgabe  lösen.  Nein,  nein,  ich  bestehe  darauf, 
—  sagte  Paganini,  es  wird  Ihnen  gelingen;  was  mich  be- 
trifft, so  bin  ich  jetzt  zu  leidend  zum  Componiren,  ich 
kann  nicht  daran  denken. 

Ich  versuchte  nun  um  den  berühmten  Virtuosen  ge- 
fällig zu  sein  ein  Bratschensolo  zu  schreiben,  aber  ein 
Solo  das  derartig  mit  dem  Orchester  verbunden  wäre,  dass 
es  die  Instrumentenmasse  in  ihrer  Aeusserung  nicht  beein- 
trächtige, dabei  war  ich  gewiss,  dass  Paganini  durch 
seine  wunderbare  Vortragskunst  dem  Bratschensolo  immer 
die  herrschende  Rolle  behaupten  würde.  Die  Absicht  er- 
schien mir  neu,  bald  bildete  sich  bei  mir  ein  ziemlich  glück- 
licher Plan  und  leidenschaftlich  ging  ich  an  seine  Ausführung. 
Der  erste  Satz  war  kaum  fertig,  als  Paganini  ihn  seheh 
wollte.  Beim  Anblick  der  Pausen,  die  die  Bratsche  im 
AUegro  zu  zählen  hat  rief  er:  Das  ist  nicht  das  Rechte: 
ich  schweige  viel  zu  viel  darin,  ich  muss  immer  spielen. 
Ich  habe  es  gleich  gesagt,  antwortete  ich.  Sie  wollen  ein 
Bratschen concert  haben  und  Sie  sind  augenblicklich  der 
Einzige,  der  das  schreiben  kann.  Paganini  erwiderte  nichts, 
er  schien  enttäuscht  und  verliess  mich  ohne  weiter  von 
meinen  sinfonischen  Skizzen  zu  sprechen.  . . . 

Nachdem  ich  mich  überzeugt  hatte,  dass  mein  Com- 
positionsplan  ihm  nicht  passen  konnte,  entschloss  ich  mich, 
ihn  in  andrer  Richtung  und  ohne  mich  um  die  Dankbar- 
keit der  Bratschenpartie  zu  kümmern,  doch  auszufuhren. 
Ich  nahm  mir  vor  eine  Reihe  von  Scenen  für  Orchester 
zu  schreiben,  in  die  sich  die  Solobratscbe  wie  eine  mehr 
oder  minder  theihiehmende  Figur,  die  jedoch  immer  ihre 
eigene  Art  festhielt,  einmischen  sollte.  Ich  wollte  in  der 
Solobratsche,  indem  ich   sie  in  die  Mitte  der  poetischen 


e<?      284      ^ 

Erinnerungeu  stellte^  die  meine  Wanderungen  in  den 
Abruzzen  bei  mir  hinterlassen  hatten,  eine  Art  melan- 
cholischen Träumer  hinstellen  ungefähr  so  wie  es  Byron^s 
Childe  Harold  isf. 

Soweit  Berlioz  selbst  über  die  Entstehungsgeschichte 
und  den  Charakter  seiner  zweiten  Sinfonie,  die  am  23.  No- 
vember 1834  mit  vollem  Erfolg  zum  ersten  Mal  aufgeführt 
und  dann  als  op.  16  veröffentlicht  wurde.  Sie  dichtet 
einige  der  musikalischen  Behandlung  entgegenkommende 
Nebenscenen  von  Byron*s  „Childe  Harold*  in  freier  Art 
nach  und  ergänzt  und  bcschliesst  dieselben  mit  einem  neu 
erfundenen  Finale  im  Stile  der  französischen  Neuromantik. 
Eigen  ist  in  der  Anlage  dieser  Sinfonie  das  in  allen  Sätzen 
durchgehende  Bratschensolo,  in  welchem  das  concertirende 
Element  der  alten  Vorhaydn*schen  Sinfonie  wieder  einmal 
in  dichterischer  Bedeutsamkeit  auflebt.  In  der  poetischen 
Oekonomie  des  Werkes  repräsentirt  es  die  Partie  Harold*s, 
des  Helden,  ähnlich  wie  in  der  Sinfonie  fantastique  die 
,Td^e  fixe*  die  Geliebte  oder  den  Gedanken  an  sie  vertritt. 
Nur  tritt  diese  vorwiegend  episodisch  auf,  Harold  ist  dagegen 
immer  dabei,  führt  oder  lässt  sich  führen.  Das  Leib- 
und  Leitthema  des  melancholischen  Ritters,  welches  diesen 
bis  zu  seinem  letzten  Athemzuge  begleitet,   ist  folgendes: 

Adagio. 


Der  erste  Satz  zeigt  uns  „Harold  in  den  Bergen*. 
(Harold  aux  Montagnes :  Seines  de  m^lancolie,  de  bonheur 
et  de  joie.)  Er  besteht  aus  einer  langsamen  Einleitung 
(Adagio,  '/4,  Gmoll-Gdur)  und  einem  bewegten  Satz  in 
Sonatenform  (Allegro,  ^/g,  (jrdur). 

Der  langsame  Satz,  der  nicht  weniger  als  94  Takte 
umfasst,  geht  hierdurch  schon  äusserlich  über  den  Charakter 
einer  gewöhnlichen  Einleitung  hinaus.  Er  hat  die  Auf- 
gabe, uns  das  düstre,  blasirte,  aber  durch  edle  und  liebens- 


'<o     285     -^ 

würdige  Züge  Theilnahme  und  Mitleid  weckende  Grund- 
wesen Harold's  zu  schildern  und  beginnt  mit  der  Scene  der 
Melancholie,  auf  die  die  Ueberschrift  des  Satzes  hinweist. 
Sie  hat  die  musikalische  Form  einer  Fuge  erhalten,  der 
das  von  Bässen  und  Cellis  zuerst  aufgestellte  Thema: 

Adagio.  J  :  76 


zu  Grunde  liegt,  ein  treffendes  melodisches  Abbild  düster 
hinbrütender,  schmerzlich  auffahrender  Stimmung.  Die 
Bläser,  Fagotte,  Hoboe,  Clarinette  mit  Hom,  Flöte  geben 
zunächst  nach  einander  einen  chromatisch  jammernden 
Contrapunkt  dazu  und  vereinen  sich  dann  zum  Schluss  der 
ersten  Durchführung  (15.  Takt)  zum  Vortrag  der  Harold- 
melodie.  Aber  sie  steht  hier  in  Moll.  Die  Fuge  hebt  jetzt 
pp  vom  Neuen  an,  aber  schon  mit  der  zweiten  Stimme 
hört  sie  wieder  auf  und  geht  schnell  zu  einem  lauten 
Schluss  in  G  moll.  Bei  diesem  Accord  setzt  die  Harfe  mit 
Arpeggien  ein,  im  zweiten  Takt  bereits  überrascht  sie  mit 
Gdur.  Es  entsteht  eine  plötzliche  Helle  in  der  nun  die 
Solobratsche  mit  Harold  und  seiner  Melodie  in  der  oben 
angegebenen  Originalform  hervortritt.  Sie  wird  ganz  leise 
wiederholt  als  ob  Alles  athemlos  lauschte.  Das  veranlasst 
Harold  sich  zu  zeigen,  sich  freier  zu  geben,  er  schliesst 
virtuosenmässig  keck  und  übermüthig  mit  Passagen  ein- 
fach und  in  Doppelgriffen,  Resten  einer  auf  Paganini  ge- 
münzten Erfindung. 

Nach  dem  Schluss  dieser  brillanten  Solostelle  wird  das 
Haroldthema  vom  vollen  Orchester  aufgenonunen  und  zwar 
in  der  Form  eines  Kanons,  als  wären  Aller  Seelen  von 
dem  schönen  Gesänge  voll.  Die  Trompeten,  die  Harfe, 
Cello,  Fagott  singen  vor,  die  Holzbläser  und  Solobratsche 
singen  in  eines  Viertels  Abstand  als  zartes  Echo  nach;  in 
den  Violinen  und  Tuttibratschen  erheben  sich  Zweiund- 
dreissigstelfiguren  nach  oben  als  wenn  der  Morgenwind  den 
Nebel  theilt.  Mit  dieser  Klärung  und  Aufheiterung 
in    sanften    Tonen     schliesst    der    langsame    Einleitungs- 


Co'     286     ^ 

satz,  eins  der  schönsten  unter  den  vielen  schönen  Ton- 
bildern der  Sinfonie.  —  Das  Allegro,  welches  ihm  folgt, 
ist  ein  breit  ausgeführtes  Pastoralgemälde,  stilistisch  und 
materiell  dem  ersten  Satze  von  Beethoveu*s  siebenter  Sin- 
fonie verwandt.    Seine  beiden  Themen  sind: 

AUegro. 


-f?j-JH^i^i7~~r-f^^=^=^^^^    und   das   Mendelssohn 


Den  Scenen,  welche  auf  Grund  dieser  theilweise  etwas 
spröden  Melodien  entrollt  werden,  mischt  Harold  mit  den 
Tönen  seiner  Bratsche  abwechselnd  Jubel  und  Trauer  ein. 
Der  Anfang  des  Allegro  bringt  das  Hauptthema  noch 
nicht  in  der  hier  mitgetheilten  Form,  sondern  zunächst 
noch  unfertig,  durch  Pausen  und  durch  die  Instrumen- 
tirung  zersprengt.  Harold  erhebt  gegen  den  neuen  Ton 
Einspruch:  höchst  sonderbar  geigt  er  sechs  Takte  lang 
auf  dem  untersten  Ton  seiner  Bratsche,  dem  c,  dagegen 
an.  Dann  aber  ist  er  es,  der  die  vom  Orchester  vertretene 
Menge  in  den  Schwung  und  auf  den  richtigen  Weg  bringt. 
Wie  er  sie  erst  aus  dem  Zögern  fortreisst,  so  beschwich- 
tigt er  nun  bei  seinem  zweiten  Einsatz  ihren  Sturm.  Mit 
einem  langen  Ton  erbittet  er  sich  allgemeine  Aufmerk- 
samkeit und  Stille;  dann  spielt  er  sich  allmählich  in  die 
fliessende  Melodie  hinein.  Das  chromatische  Motiv  in  ihr, 
das  dem  Wesen  Harold's  so  natürlich  entspringt,  scheint 
seinen  jetzigen  Genossen  Schwierigkeiten  zu  machen. 
Augenscheinlich  verstehen  sie  nicht  recht:  woher  und 
warum  der  trübe  Klang  mitten  in  der  Freude?  Es  ent- 
spinnt sich  um  ihn  eine  kurzgegliederte  Auseinandersetzung 
zwischen  Solo  und  Chor.  Sie  schneidet  ganz  unvermuthet, 
wie  mit  einem  väterlichen  Machtspruch  den  Einsatz  des 
zweiten  Themas  ab,  dessen  gemüthlicher  Inhalt  ganz  aus- 
gezeichnet für  den  Mund  des  —  vom  Cello  begleiteten  — 


c<?     287     '^ 

Fagotts  passt.  Auch  Harold  nimmt  es  mit  seiner  Bratsche 
auf  und  bringt  es  aus  fremder  Tonart  (F^  B)  in  das 
normale  Ddur.  Schon  im  ersten  Takt  aber  reisst  er  sich 
unwillig,  nach  höherem  verlangend  los.  Die  Themen- 
gruppe nimmt  ein  plötzliches  Ende  und  die  Durchführung 
beginnt  mit  wilden  Figuren  Harold's,  denen  das  Orchester 
verwirrt  und  erschreckt  gegenübersteht  Nach  16  Takten 
endlich  tritt  wieder  Sanunlung  und  Ordnung  ein.  Harold 
intonirt  das  Hauptthema  erst  in  Desdur,  dann  in  Dmoll. 
Das  Orchester  spielt  es  nun  mit  an,  in  Bdur,  in  Hmoll. 
Endlich  ist  ein  sicherer  Boden  mit  Cdur  erreicht.  Die 
Melodie  kommt  in  ihrer  vollen  Grösse,  es  wird  nach  Gdur 
modulirt,  also  in  den  freundlichen  Stimmungskreis  des 
Anfangs  zurückgekehrt  und  zwar  mit  wörtlichen  Wieder- 
holungen. Auch  das  zweite  Thema  kommt  wieder  und 
wieder  unerwartet,  diesmal  in  Gdur  und  man  verweilt 
etwas  länger,  beschaulicher  und  ruhiger  dabei  als  vorhin 
in  der  Themengruppe.  Die  Bläser  haben  es.  Diesmal 
machen  ihm  aber  die  Violinen  ein  Ende  mit  einer 
Sechzehntelfigur  die  im  energischen  crescendo  nach  oben 

geht  und  auf  dem  Motiv  J    J    J    mit  dem  das  Hauptthema 

beginnt,  wie  in  einem  Rausch  von  Freude  und  Kraftgefühl 
bedrohlich  tobt.  Eine  Generalpause.  Die  Besonnenheit 
kehrt  zurück:  Wir  hören  kurz  aber  viel  bedeutend  einen 
Anklang  an  den  chromatischen  Theil  des  Themas:  im 
sechsten  Takt  setzt  es  selbst  ein,  in  der  Solobratsche  und 
den  vier  Fagotten  unisono  in  Gdur,  der  Haupttonart  ge- 
bracht. Die  übrigen  Bläser  nehmen  es  in  D  auf.  Man 
will  verweilen  aber  die  Perioden  und  Metren  haben  etwas 
Unregelmässiges  das  nicht  viel  verspricht  und  siehe  da: 
bald  stehen  wir  vor  Fermaten  auf  verminderten  Accorden, 
unverkennbaren  Zeichen  der  Verlegenheit!  Dieser  Punkt 
würde  ungefähr  den  Schluss  der  Durchführung  nach  dem 
von  den  Klassikern  beobachteten  Brauch  bilden  müssen. 
Berlioz  hat  in  dem  ersten  Satz  der  Haroldsinfonie  den 
üblichen  Abschluss,  durch  die  erweiterte,  aber  im  Wesen t- 


*<?     288     ^ 

liehen  wörtliche  Wiederholung  der  Themengruppe  ver- 
mieden, ppf  aher  mit  einer  gewaltsamen  Wendung  der 
Phantasie  geht  er  mit  einigen  Orchesterarpeggios  von 
jenem  Verlegenheitspunkt  und  dem  verminderten  c-h-eis-g 
nach  Gdur  herüber  und  bringt  die  Haroldsmelodie ,  die 
wir  seit  der  Einleitung  nicht  gehört  haben ,  in  einem 
Fugato,  —  dem  zweiten  seiner  Art  in  diesem  Satze  —  das 
die  Contrabässe  beginnen.  In  den  Bläsern  tauchen  dazu 
noch  Brocken  des  zweiten  Themas  auf.  Der  beabsichtigte 
Aufschwung  ist  damit  erreicht.  Von  Harold^s  Geist  — 
das  will  wohl  Berlioz  sagen  und  schildern  —  ist  ein  Hauch 
in  die  Masse  gedrungen.  Dithyrambisch  stimmt  sie  mit 
ein  in  den  Hymnus  der  Lebensfreude,  zu  der  den  hinge- 
rissenen Melancholiker  die  Schönheit  der  Natur,  der  An- 
blick und  die  Gesellschaft  einfacher  harmloser  Menschen 
gezwungen  hat.  So  geht  vom  Ritter  zum  Volke  eine  be- 
ständige Wechselwirkung,  beide  Theile  empfangen  von 
einander,  und  heben  sich  gegenseitig.  Die  mächtigste 
Stelle  dieses  Schlussabschnittes  ist  wohl  das  zweimal  vor- 
überrauschende Unisono  des  vollen  Orchesters  mit  seinen 
grandios  humoristischen  Sprüngen  und  dem  Feuer  der  Be- 
geisterung, das  aus  Melodien  und  Harmonien  leuchtet. 

Der  zweite  Satz  der  Sinfonie  (Allegretto,  ^Z^,  Edur) 
heisst  ,Marche  des  P^lerins  chantant  la  pri^re  du  soir* 
(Pilgermarsch  und  Abendgebet).  Sein  Hauptthema  bildet 
ein  frommes  einfaches  Marschlied: 

Alle^atto. 

^,Vif  I  N  ^N,nlU  jljjll.jjlfjJlf  I- 

Alle    acht  Takte  wird    dasselbe   von   einer  Unisono- 
Phrase  der  Bläser 
unterbrochen, 

welche  anschaulich  genug  die  ihre  Litanei  hersagende 
Wallfahrerschaar  vorführt.  Das  Bild  einer  psalmodirenden 
Gemeinde  suchte  Berlioz  auch  in  seinem  Requiem,  das  der 
Haroldsinfonie  zunächst  folgte,  wiederholt  wiederzugeben. 
Die  Mitte  des  Satzes  nimmt  der  Vortrag  eine«  feierlich 


^     289     '^ 

religiösen,  in  den  ruhigen  Rhythmen  der  alten  Zeit  ge- 
führten Hymnus  ein,  dem  Berlioz  die  Ueberschrift  ,Canto 
religioso*  giebt.  Harold,  d^  vorhin,  als  die  Pilger  näher 
kamen,  sie  mit  seinen  Thema  begrUsst  und  dann  ab  und 
zu  seine  Nähe  mit  leisen  Arpeggien  bekundet  hat,  stimmt 
in  das  Pilgerlied  merkbar  ein,  die  Bässe  setzen  in  decenten 
Pizzicato-Tönen  den  Rhythmus  des  Marsches  fort.  Noch 
einige  Mal  hören  wir  wie  vom  Weiten  das  fromme  Wander- 
lied, dann  gehen  die  Töne  schlafen.  Nur  die  Glocken  des 
nahen  Ellost€rs,  die  uns  am  Anfang  des  Satzes  (in  der 
Harfe:  CH)  empfingen,  treten  wieder  vor.  Es  kouunt  die 
Nacht  und  stille  Sterne  blinken.  Die  kleine  Composition 
ist  ein  Meisterstück,  in  welchem  die  Realistik  der  Dar- 
stellung nur  dazu  dient,  die  Poesie  des  Bildes  noch  be- 
redter zu  machen.  Sie  war  die  Frucht  einer  glücklichen 
Eingebung  in  der  Dämmerstunde  am  Kaminfeuer.  In 
2  Stunden  —  erzählt  Berlioz  a.  a.  O.  —  war  der  Marsch 
fertig  und  erntete  gleich  bei  der  ersten  Aufführung  einen 
vollen  Erfolg;  trotzdem  hat  der  Componist  noch  6  Jahre 
lang  daran  gefeilt  und  verbessert.  Er  hat  durch  Einzel- 
aufführungen  den  übrigen  Sätzen  voraus  der  Sinfonie  den 
Boden  und  eine  freundliche  Stimmung  auch  in  gegnerischen 
Lagern  bereitet. 

Der  dritte  Satz:  (Allegretto  assai,  ^/g,  Cdur),  be- 
titelt: , Serenade  d'un  montagnard  des  Abruzzes  k  sa 
maitresse*  —  ,  Ständchen  in  den  Abruzzen**  —  beginnt 
mit  einem  kleinen  Scherzosatze,  welchem  wahrscheinlich 
eine  italienische  Originalmelodie  zu  Grunde  liegt.  Die 
italienischen  Piflferarii,  die  ja  auch  Händel  in  seinem 
„Messias*  verewigt  hat,  waren  seit  alten  Zeiten  an  drolligen, 
schelmischen  Weisen  reich  und  bringen  sie  noch  heute  auf 
die  deutschen  Märkte: 

ÄUegro  assai.  •».  ^ 

^Br_TrrrJiPH  f  irn  in  j_rir  pTirpr 


Piccolo  und  Oboe  blasen  das  zusammen,  und  Bratschen 
mit  Clarinetten  geben  in  ausgehaltenen  Tonen  und  trägen 
Harmonien  das  nöthige  Dudelsackcolorit  dazu.     Nun  tritt 

Kretsschmar,  Führer,  I.  19 


ex?     290     ^ 

der  Liebhaber  auf  und  stimmt  auf  dem  englischen  Hom 
eine  schmachtende,  anmuthige,  gutgemeinte  zuweilen 
stockende,  schüchterne  und  ungeschickte  Melodie  an: 

AUe^retio*. 

in  welche  die  Ge- 


fährten helfend  und  hingerissen  einfallen.  Auch  Harold 
stimmt  mit  ein  und  sinnt  noch  den  rührenden  Tönen  der 
Liebe  nach,  als  die  Dorfmusikanten  schon  längst  nach 
Hause  gezogen  sind.  Seine  breite  Melodie  trägt  in  das 
Stückchen  italienischer  Dorfgeschichte,  das  Berlioz  hier 
mit  einem  virtuosen  Humor  entrollt,  der  wohl  nur  in 
seiner  Ouvertüre  zum  Carneval  Romain  ein  SeitenstUck 
findet,  einen  edlen  und  feierlichen  Zug  hinein. 

Die  Idee  des  Harold-Finale  müssen  wir  ebenso  wie 
die  vom  Schlusssatz  der  Fantastique  ablehnen.  Wie  man 
aus  Liszt's  langem  Aufsatz  über  die  Sinfonie  ersehen 
kann*),  hat  dieses  Finale  in  Frankreich  und  in  früherer 
Zeit  doch  zuweilen  dämonisch  gewirkt.  Heute  —  imd  in 
Deutschland  wohl  von  jeher  —  versetzt  es  auf  den  Boden, 
auf  den  sich  die  Räuber-  und  Rittergeschichten  von  Spies 
und  Gramer  bewegen.  Berlioz*s  Satz  schildert  das  Ende  des  in 
Gesellschaft  von  Banditen  zu  Grunde  gehenden  Harold  in 
Zügen,  die  zum  Theil  rührend  sind.  Er  beginnt  wie  das 
Finale  der  neunten  Sinfonie  mit  Reminiscenzen  an  die 
früheren  Sätze.  Vor  Harold's  Geist  tritt  die  fugirte  Ein- 
leituDg  aus  dem  ersten  Satze,  der  Pilgermarsch  zieht 
vorüber;  als  letzte  Erinnerung  an  reinere  Zeiten  tönen 
Fragmente  aus  dem  Ständchen:  Die  wilde,  wüste  Orgie 
mit  ihrem  brutalen  Hauptthema: 

AUegro  tranquillo. 


:5^    mf  f 


*)  Gesammelte  Schriften  von  Franz  Liszt     1882.    S.  3  u.  ff.. 


eö»        291         ^ 

▼erschlingt  Alles.  Unter  ihren  grausamen  Attacken  zer- 
bricht auch  Harold's  Thema  und  verflattert  in  Brocken. 
Zuweilen  werden  die  wüthenden  Triller,  die  bacchantischen 
Läufe  und  die  grotesken,  nirgends  verführerischen,  frechen 
Tanzweisen  der  Banditenmusik  die  sich  gern  auch  soldatisch 
stolz  giebt: 

durch  unheimliche  Klänge  unterbrochen,  welche  Gewissen, 
Reue  und  Strafgericht  zu  repräsentiren  scheinen.  Die 
weichste  und  ergreifendste  Stelle  des  Satzes  ist  wohl  die, 
wo  nach  dem  dritten  Einsatz  des  eben  angeführten  Themas 
(in  G-dur)  der  Pilgermarsch  —  in  einem  Nebensaal  von 
Solisten  gespielt  —  erklingt.  Die  Wallfahrt  zieht  draussen 
vor  der  Grotte  vorbei.  Tannhäuser  in  ähnlicher  Lage 
flieht;  Harold  stirbt.  Zum  letzten  Mal  sucht  er  stanmielnd 
nach  seinem  Thema;  er  findet  die  Intervalle  nicht  mehr. 
War  Berlioz  in  seiner  «Fantastique*^  und  in  seinem 
«Harold*^  darauf  ausgegangen  unter  Einhaltung  der  Bee- 
thoven'schen  Formen  den  Inhalt  der  Sinfonie  fasslicher  zu 
gestalten,  so  versuchte  er  im  Jahre  1839  mit  einem  dritten 
Werke  eine  Aenderung  dieser  Formen  selbst.  Es  ist  die  Sin- 
fonie yBomeoundJulie*',  (op.  17)  mit  der  der  Componist  H.  Berllos 
eine  neue  Gattung  zu  gründen  gedachte,  die  er  drama-^^™«**  u.  Juiio. 
tische  Sinfonie  nennt.  Sie  vergrössert  die  Zahl  der  Sin- 
foniesätze imd  mischt  in  ihnen  reine  Instrumentalmusik  mit 
einfacher  Gesangmusik  und  Oper.  Einen  Vorläufer  hatte 
Berlioz  diesem  Werk  in  seinem  ,Lelio*  vorausgeschickt. 
Diese  Composition  war  als  Ergänzung  zur  Sinfonie  fan- 
tastique,  mit  der  sie  die  Opuszahl  gemeinsam  hat,  gedacht, 
sollte  schildern  wie  der  junge  Künstler  aus  seinen  schreck- 
lichen Träumen  erwacht  und  zum  Leben  zurückkehrt. 
Daher  ihr  Nebentitel  ,Le  retour  k  la  vie*.  Berlioz  giebt 
ihr  die  Gattungsbezeichnung  Monodrame  und  fügt  dem 
Instrumentenspiel  und  dem  Gesang  als  drittes  Mittel  der 
Darstellung  noch  gesprochnen   Dialog   hinzu.      Doch  ist 

19* 


e<?      292      '^ 

dieser  Lelio  bis  beute  nicbt  zu  praktiscber  Bedeutung 
gelangt. 

Eine  Mischung  der  Kunstmittel,  wie  sie  Berlioz  in  Ro- 
meo und  Julie  versucht,  ist  ungewöhnlich,  unbequem  aber 
an  und  fUr  sich  weder  unsinnig  noch  unmöglich.  Für 
Berlioz  mag  die  nächste  Anregung  aus  dem  Finale  von 
Beethovcn's  neunter  Sinfonie  gekommen  sein ;  das  Verfahren 
in  der  Darstellung  einer  Idee  mit  Vocal-  und  Instrumental- 
sfitzen  abzuwechseln  ist  aber  schon  älter.  Aus  dem  17.  Jahr- 
hundert bieten  die  sogenannten  östreichischen  Kaiserwerke*) 
bequem  erreichbare  Beispiele,  jeder  Musikfreund  weiss  wie 
Bach  und  Händel,  jener  im  „Weihnachtsoratorium',  dieser 
im  „Messias*  die  Schilderung  der  heiligen  Nacht  mit  den 
„Hirten  auf  dem  Felde*  in  Instrumentalsinfonien  geben. 
Das  Wagner'sche  Musikdrama  und  das  neue  Lied  seit 
Schumann  zeigen  ebenfalls  wie  Gesang  und  Instrumente 
sich  ebenbürtig  und  zum  Besten  des  Gesanmiteindrucks  in 
die  Darstellung  theilen  können.  Werden  in  eine  Sinfonie 
Gesangsätze  und  in  ein  Chorwerk  Instrumentalsätze  einge- 
fügt, so  wird  es  immer  darauf  ankommen,  dass  diese  Mi- 
schung so  verschiedner  Elemente  Gründe  der  Nothwendig- 
keit  für  sich  hat,  den  Hauptabsichten  und  den  Grundideen 
des  Kunstwerks  zu  Gute  kommt  und  seine  Wirkung  bis 
zu  einer  Stufe  hebt,  die  ohne  jenes  Mittel  nicht  erreich- 
bar war. 

Von  diesen  Gesichtspunkten  aus  kann  man  sich  nicht 
darüber  täuschen,  dass  auch  „Romeo  und  Julie*  ähnlich 
wie  die  Fantastique  und  flarold  nur  der  Versuch  aber 
nicht  das  Muster  einer  neuen  Gattung  ist.  Die  „Sinfonie 
dramatique*  die  Berlioz  mit  diesem  Werke  in  die  Orchester- 
musik einführen  wollte,  mag  eine  Zukunft  haben  —  aber  nur 
dann  wenn  ihre  Vertreter  kritischer  zu  Werke  gehen  als 
das  Berlioz  gethan  hat.  Ihm  bleibt  wieder  das  Verdienst 
den  Pfad  gewiesen  zu  haben,  ihm  der  Ruhm  in  dem  neuen 
Werke  viel  Schönes  und  Ergreifendes  und  Merkwürdiges, 
zum  Theil  in  ganz  neuer  Art  geboten  zu  haben.    Aber 

*)  Siebe  S.  8. 


ce     293     '^ 

• 

wer  sich  nicht  über  die  Schwächen  und  Missgriflte  in  dieser 
dramatischen  Sinfonie  klar  ist,  bezahlt  seine  unbedingte 
Begeisterung  nrft  einer  etwas  teuern  Verwirrung  seines 
künstlerischen  Urtheilsvermögens. 

Aeussere  Gründe  mögen  Berlioz  abgehalten  haben  Romeo 
und  Julie,  wie  so  viele  Componisten  vor  und  neben  ihm,  ein- 
fach als  Oper  in  Musik  zu  setzen.  An  der  Bühne  gab  es,  wie 
sich  soeben  gelegentlich  des  Benvenuto  Cellini  gezeigt  hatte, 
vielmehr  Verdruss,  Aerger  und  Aufregung  als  im  Concert- 
saal,  wo  Berlioz  bereits  festen  Fuss  gefasst  hatte.  Er  selbst 
sagt  in  seinen  Memoiren  über  die  Entstehung  zu  dem  selt- 
samen Plan  seiner  Sinfonie  dramatique  nichts,  erzählt  uns 
nur  von  dem  Entzücken  in  dem  er  sich  während  der  Arbeit 
befunden,  von  der  Schnelligkeit  mit  der  er  sie  —  inner- 
halb von  7  Monaten  —  vollendet  habe  und  lässt  an  mehr 
als  einer  Stelle  durchblicken,  dass  er  mit  dieser  Compo- 
sition  dem  Geist  Shakespeare's  eine  durchaus  würdige 
Huldigung  gebracht  zu  haben  glaubte.  In  der  Meinung 
etwas  vom  Besten  gegeben  zu  haben,  widmete  er  die  Sin- 
fonie Nicolo  Paganini,  der  ihn  kurz  vorher,  nach  der  letzten 
Aufführung  des  Harold,  grossmüthig  —  die  böse  ^Welt 
meinte  aus  Berechnung*)  —  mit  dem  zeitgemässen  Geschenk 
von  20000  frcs.  überrascht  hatte. 

Auf  dem  Titelblatt  der  Partitur  steht  „composde  d'apr^s 
la  Trag(5die  de  Shakespeare**;  diese  Wendung  lässt  Frei- 
heiten und  Abweichungen  zu.  Im  Ganzen  aber  haben 
wir  keinen  ausreichenden  Grund  daran  zu  zweifeln,  dass 
Berlioz  mit  seiner  Sinfonie  ein  Abbild  der  grossen  eng- 
lischen Liebestragödie  geben  und  ähnlich,  wie  es  Schu- 
mann später  mit  dem  dritten  Theil  seiner  Musik  zu  Goethe's 
Faust  wirklich  gelungen  ist,  die  Wirkung  dieses  Kunst- 
werks vertiefen  wollte.  Die  Aufgabe  dachte  er  sich  wohl 
so,  dass  die  gefühlsreichsten  Situationen  des  Dramas  dem 
Orchester  zugewiesen   würden ,   der  Gesang  sollte  bei  der 


1)  Ad.  Jullien:  Berlioz,  1888,  S.   133.     F.  Hiller:  Künstler- 
leben,   1880,  S.  89. 


ce     294     ^ 

DanteUang  verwickelter,  an  Conflikten  reicher  Scenen  zu 
Hülfe  kommen  und  ausserdem  die  Verbindung  und  Vor- 
bereitung der  musikalischen  HauptbUder  übernehmen.  Im 
grossen  Ganzen  hat  Berlioz  dieses  Programm  auch  einge- 
halten ;  nur  hat  er  es  um  rein  musikalischer  Effekte  willen 
mehrfach  getrübt  und  auch  der  Instrumentalmusik  Leis- 
tungen zugemuthet,  deren  sie  nicht  fähig  ist.  Der  erstere 
Fehler  tritt  in  der  Stellung  des  Prologs  hervor  und  in  der 
ungeheuren  Bedeutung  welche  in  der  Sinfonie  der  im 
Drama  ganz  unwesentlichen  Erzählung  von  der  Fee  Mab 
gegeben  ist;  der  andre  namentlich  am  Eingang  der 
Grabscene. 

Die  Sinfonie  besteht  aus  folgenden  8  Nummern: 
1)  Introduction ,  2)  Prolog,  3)  Ballscene,  4)  Garten- 
scene,  5)  Fee  Mab,  6)  Julieus  Begräbniss,  7)  Grabscene, 
8)  Finale. 

In  der  Natur  des  Prologs  liegt  es,  dass  er  ein  Werk 
eröflFnet.  Wenn  Berlioz  den  von  Romeo  und  Julie  hinter 
die  Instrumentalintroduction  setzt,  so  könnte  er  sich  auf 
altvenetianische  Präcedenzfälle  aus  dem  17.  Jahrhimdert 
berufen,  bei  denen  bekanntlich  dem  gesungnen  Prolog  noch 
eine  gespielte  Ouvertüre  vorausging,  gleichsam  der  Prolog 
doppelt  gegeben  wurde.  Bei  Berlioz  hat  es  aber  eine 
andre  Bewandniss:  Ihm  kam  der  Anfang  des  Werks  mit 
dem  berichtenden  Prolog  zu  ruhig  und  zu  matt  vor.  Er 
wollte  den  Zuhörer  zunächst  erst  einmal  in  Bewegung 
bringen.     Seine   Instrumentalintroduction  (Allegro 

fagato,  (j^j  Hmoll)  ist  gar  keine  Introduction  im  üblichen 
Sinne  des  Wortes,  sondern  sie  versucht  den  Inhalt  der 
ersten  Scenen  Shakespeare's  wiederzugeben,  sie  führt  mitten 
in  die  Handlung  hinein:  in  die  Strassenkämpfe  der  Gre- 
schlechter  der  Montecchi  und  Capulets.  Ein  Zusatz  zur 
Ueberschrift  der  Nummer:  Combats  —  Tumulte  —  Inter- 
vention du  Prince  (Streit  und  Auflauf,  der  Fürst  erscheint) 
spricht  das  noch  ausdrücklich  aus. 

Die  Musik  sucht  jene  Kämpfe,  ihre  Aufregung  und 
ihre  Zwischenfalle  mit  einer  Fuge  zu  veranschaulichen, 
die  die  Bratschen  mit  dem  Thema: 


co     295     ^ 


anfangen;    Celli,    erste, 


zweite  Violinen  folgen  und  nehmen  sich  dabei  mancherlei 
Freiheiten  in  Bezug  auf  Tonart  und  Intervalle  gegenüber 
den  Gesetzen,  die  die  Schule  für  Beantwortung  und  Auf- 
nahme von  Fugenthemen  stellt.  Das  Thema  selbst  hat 
in  dem  mit  scharfem  Triller  einsetzenden  Motiv  seinen 
wichtigsten  Bestandtheil  und  gelangt  auf  seinen  vollen  Um- 
fang durch  sogenannte  Sequenzen,  d.  i.  wörtliche  oder  freie 
Wiederholungen  eines  Grundmotivs.  Hierdurch  erhält  der 
Satz  einen  auffallend  regelmässigen  Charakter.  Berlioz 
scheint  an  den  Anstand  und  das  strenge  Ceremoniell  ge- 
dacht zu  haben,  das  im  Mittelalter  die  Turniere  der  Ritter 
beherrschte.  Aufgeregter  und  eifriger  wie  die  Introduction 
erst  mit  dem  Fismoll  beim  Zutritt  der  Blasinstrumente. 
Das  ist  ungefähr  die  Stelle,  wo  bei  Shakespeare  zu  den 
Dienern  und  Angehörigen  der  Capulets  und  Montecchi  sich 
die  Bürger  von  Verona  mit  Knütteln  gesellen:  ,He!  Spiess' 
und  Stangen  her!  Schlagt  auf  sie  los!*  Als  bald  darauf 
die  Haupttonart  Hmoll  wiederkommt,  dröhnt  in  Hörnern 
und  Contrabässen  der  Grundton  in  halben  Noten:  Es  sind 
dumpfe  Schläge:  die  Glocken  läuten  Sturm,  in  fernen 
Gassen  erwacht  das  Volk  und  sammelt  sich.  Auf  dem 
Platz  sind  die  Parteien  zum  ersten  Male  hart  an  einander 
geraten.  Die  beiden  Geigen  treiben  einander  vom  fis  bis 
zum  ^.  Auf  diesem  Tone  sitzen  sie  fest  acht  Takte  lang; 
bedrohlich  steigen  von  unten  die  Bässe  nach  der  Höhe. 
Da  löst  eine  schnelle  Modulation  nach  Adur  den  Wirr- 
warr, die  Fuge  setzt  vom  Neuen  an:  das  Thema  diesmal 
in  den  ersten  Violinen  in  Ddur  aber  ff  und  von  allen  In- 
strumenten des  Orchesters  im  stärksten  Ton  begleitet,  die 
Homer  kurz  und  entschieden,  die  Posaunen  mit  einer 
wohlgemuth  kampfesfrohen  Melodie.  Das  Thema  gelangt 
an  die  zweiten  Violinen;  noch  ehe  sie  es  an  die  Celli  ab- 


c<?     296     '^ 

gegeben  haben  ist  mit  den  Trompeten  zugleich  der  voll- 
ständige Sturm  da;  keine  Ordnung  mehr,  kein  Sinn  für 
Fuge  und  Vernunft,  sondern  die  vollständigste  Empörung! 
Wie  lange  Alles  vernichtende  Wogen  zischen  die  Accorde 
des  Tutti  hin.  In  diesem  Augenblick  geschieht  etwas 
Ueberraschendes:  Es  wird  still,  die  Rhythmen  kommen  ins 
Schwanken,  das  Fugenthema  nimmt  Reissaus,  wir  hören 
nur  noch  wie  vom  Weiten  Bruchstücke:  eine  spannende 
Fermate  I  Ihr  folgt  von  sämmtlichen  Posaunen  und  der  Ophi- 
cleide  im  Einklang  und  Octave  vorgetragen  eine  seltsame 
Melodie : 

PieremeotfUn  pea  retenu  et  «vec  le  caractere  du  recltatlf. 


Sie  bezeichnet  das  Auftreten  des  Fürsten  von  Verona,  seine 
Anrede  an  die  streitenden  Haufen.  Voll  Hoheit  und  Ver- 
wunderung klingt  sie  in  diesem  Eingang  doch  noch  gütig; 
erst  im  weitern  Verlauf  wird  sie  wetternd  und  donnernd. 
Shakespeare's  Fürst  ist  gleich  von  Anfang  an  ungehalten 
und  aufgeregt:  , Aufrührerische  Vasallen  etc.* 

Die  Annahme  liegt  nahe,  dass  diesem  Recitativ  daa 
Finale  von  Beethoven's  neunter  Sinfonie  zum  Vorbild  ge- 
dient hat.  Der  Prozess  ist  beidemale  derselbe:  dem  Chaos, 
dem  Tumult  gegenüber  die  Bässe  als  Ordner!  Verstehen 
und  richtig  deuten  lässt  sich  die  Stelle  ohne  Schwierigkeit, 
vorausgesetzt  dass  der  Hörer  soviel  guten  Willen  und 
Scharfsinn  mitbringt  als  die  Programmmusik  jederzeit  vor- 
aussetzen darf.  Hat  doch  Berlioz  durch  die  üeberschrifk 
des  Satzes  der  Phantasie  vorgearbeitet!  Berlioz  hat  dann 
wieder  vorbildlich  auf  Liszt  und  den  ersten  Satz  seiner 
Dante-Sinfonie  gewirkt. 

Die  Rede  des  Fürsten  wiederholt  von  höhrer  Stufe 
aus  die  drei  Glieder  in  denen  sie  zuerst  vorgebracht  wurde, 
wird  herrischer  und  strenger.  Am  Schlüsse,  da  wo  die 
Bassinstrumente  vom  vollen  Orchester  abgelöst  werden,  wo 
die  Homer  wie  entsetzt  nachschlagen,  die  Harmonie  immer 
wieder  dasselbe  Fis  anschlägt  und  verklingen  lässt,  da  wo 


cG»     297     'ö^ 

mit  einem  Worte  das  Leben  der  Musik  erstarren  will,  da 
muss  wohl  das  Wort  »Todesstrafe*  gefallen  sein.  Ein 
schnelles  Ende  folgt  dieser  Stelle,  leise  und  kleinlaut  steht 
das  Fugenthema  noch  einmal  auf,  dann  klingt  es  nur  noch 
in  Bruchstucken  an,  zuletzt  bleibt  das  Trillermotiv  ganz 
unsinnig  in  den  Cellis  hängen ;  bald  ist  Alles  verschwunden. 
In  diesem  Schluss  der  Instrumentalintroduction  von  Romeo 
und  Julie  lebt  eine  starke  Poesie.  Auch  im  Ganzen  ist 
der  Satz  einer  der  besten  in  der  Sinfonie,  geeignet  und 
wohl  werth  für  sich  allein  gekannt  und  aufgeführt  zu 
werden,  an  malerischer  Kraft  und  Eigenart  ein  echter 
Berlioz  ersten  Ranges,  durch  den  Inhalt  noch  mit  der 
gleichaltrigen  Ouvertüre  „Carnaval  Romain*  nahe  verwandt. 

Der  aus  angegebenen  Gründen  auf  die  zweite  Nununer 
verschobene  Prolog  der  Sinfonie  ist  für  Solostimmen,  für 
dreistimmigen  Chor  (Contraalt,  Tenor  und  Bass)  und  Or- 
chester componirt.  Wie  bei  allen  Gesangsnummern  von 
Romeo  und  Julie  hat  auch  hier  Berlioz  selbst  den  Text 
entworfen,  Emil  Deschamps  brachte  ihn  in  Reime,  ein  ge- 
wisser Freiberg  hat  ihn  in  oft  holpriges  Deutsch  über- 
setzt. Der  Zweck  des  Prologs  ist  der:  den  Inhalt  des 
Dramas  kurz  zu  erzählen.  Der  Chor  ist  der  Träger  dieser 
Erzählung;  wichtige  Punkte  hebt  Berlioz  durch  Sologesang 
und  durch  kleine  Instrumentalsätze  hervor. 

Der  erste  Abschnitt  beginnt  mit  einem  Harfenakkord 
(fis-aiS'ds).  Dann  fangt  der  Chor  an  eine  Erklärung  zu 
geben  zu  der  Scene,  die  wir  soeben  in  der  Orchesterin- 
troduction  erlebt  haben.  Der  Chor  singt  oder  declamirt 
vorwiegend  im  unisono ;  es  ist  nur  wenig  Harmonie  in  seinen 
Satz  gemischt,  aber  dann  sehr  wirksam.  Der  ganze  Ab- 
schnitt macht  dadurch,  dass  er  an  den  liturgischen  Ton 
erinnert,  einen  sehr  ehrwürdigen  und  alterthümlichen  Ein- 
druck, ganz  besonders  in  der  Schlussmodulation,  die  uns 
bei  den  Worten  ,encore  recours**  (^fortan  erkämpft**)  ausser- 
ordentlich fein  und  Phantasie  bezwingend  nach  DmoU 
führt.  Ein  feierlich  an-  und  abschwellender  Akkord  der 
Messingbläser,  von  der  Pauke  unterstützt,  schliesst  ab. 

Der  zweite  Abschnitt  erzählt  vom  Waffenstillstand  der 


c<?     298     ^ 

Parteien  und  vom  Fest  bei  Capulet.  Hier  ist  das  Er- 
scheinen Romeo^s  ausgezeichnet  durch  einen  unbegleiteten 
Sologesang  des  Alts,  der  mit  einfachen  Mitteln  der  Tempo- 
verzögerung, chromatischer  Melodiefiihrung,  des  Wechsels 
der  Tonstärke  sehr  ausdrucksvoll  und  bewegend  wirkt 
Das  Fest  bei  Capulet  schildert  das  am  Chorschluss  ein- 
setzende Orchester  indem  es  aus  der  dritten  Nummer  der 
Sinfonie  das  Hauptthema  der  Ballmusik  und  deren  am 
Schluss  der  Nummer  eintretende  Umwandlung  (die  Musik 
der  heimkehrenden  Gäste)  vorfuhrt.  Gewiss  üben  der- 
artige Anspielungen  erst  auf  solche  Zuhörer  welche  das 
ganze  Werk  bereits  kennen,  ihre  volle  Wirkung  aus;  aber 
unberührt  lassen  sie  auch  den  Unvorbereiteten  nicht  Dank 
dem  dieser  Musik  innewohnenden  plastischen  Charakter. 
Sie  erzählt  unverkennbar  von  glücklichen  Herzen. 

Der  dritte  Abschnitt  führt  zur  Gartenscene.  Spannend 
ist  die  Stelle  gehalten  wo  berichtet  wird  wie  Romeo  die 
Mauer  übersteigt.  Eine  Generalpause  mit  Fermate  giebt 
dem  Erstaunen  Raum.  Und  nun  markirt  ein  pianissimo, 
ein  heimlisches  Rauschen  der  Chorakkorde  die  neue,  die 
grössere  Ueberraschung :  Julia  auf  dem  Balkon.  Aufregend 
kurz,  aber  meisterhaft  führt  Berlioz  zu  dem  Schluss,  zu  den 
warmen  von  Chor  und  Orchester  gemeinsam  gesungenen 
Melodien  aus  der  Liebesmusik  der  vierten  Nummer. 

Angefugt  ist  diesem  dritten  Abschnitt  eine  lyrische 
Einlage,  ein  Strophenlied  das  das  Glück  der  ersten  Liebe 
preist:  , Premiers  transports  etc."  („0  erste  Schwüre  etc.*). 
Der  Soloalt  singt  es  und  das  Cello  singt  mit  ihm,  so  wird 
es  zum  Dialog,  ein  einfaches  aber  gefühlreiches  prächtiges 
Stück  musikalischer  Poesie.  Die  Harfenbegleitung  giebt 
ihm  einen  gewissen  Troubadourcharakter,  nur  an  wenigen 
Stellen  tritt  der  Klang  von  Flöten,  Clarinetten  und  eng- 
lischem Hörn  weich  umhüllend  noch  hinzu. 

Es  folgen  nun  als  vierter  Abschnitt  die  Erzählung  von 
der  Fee  Mab  und  als  fünfter,  schliessend,  der  Bericht  von 
Juliens  Begräbniss  und  von  der  Versöhnung  der  feindlichen 
Geschlechter  an  der  Gruft. 

Die  Geschichte  von   der  Fee  Mab  ist   nicht  in  dem 


e<3'      299      ^ 

kurzen  Stil  behandelt,  der  sonst  im  Prolog  herrscht,  sondern 
im  Detail  breit,  dramatisch  alle  Einzelheiten  belebend,  vor- 
geführt. Dieselbe  Aufgabe  in  einem  Werke  auf  zwei  ver- 
schiedene Arten  lösen  zu  wollen,  war  eine  Kraftprobe. 
Berlioz  hat  sie  glänzend  bestanden.  Denn  die  Schilderung 
der  Fee  Mab  durch  den  Solotenor  und  den  Chor  ist  ein 
ähnliches  Unicum  und  ein  Meisterstück  wie  das  berühmte 
Orchesterscherzo ,  das  Berlioz  dem  Gegenstand  als  fünfte 
Nummer  der  Sinfonie  gewidmet  hat.  Die  Fee  Mab  oder 
Königin  Mab  zieht  im  Prolog  in  der  Form  eines  ,Scher- 
zetto*  vorüber,  wie  Berlioz  das  Tonbild  nennt;  es  ist  das 
originellste  und  grösste  im  ganzen  Prolog  —  116  Takte 
umfasst  es.  Unter  all  den  Geisterscenen  lustiger  freund- 
licher oder  schreckhafter  Natur,  die  der  Musik  in  der 
grossen  romantischen  Epoche  von  Gretry,  d'Alayrac,  C.  M. 
V.  Weber  bis  auf  Mendelssohn  und  Meyerbeer  zugewachsen 
sind,  ist  mit  dieser  Berlioz'schen  Composition  von  der  Fee 
Mab  Nichts  zu  vergleichen.  Das  ist  ein  Spuk  ganz  für 
sich,  fluchtiger,  leichter,  abwechselungsreicher  als  jeder 
andere  und  auch  da  wo  das  Treiben  verworrener  wird, 
immer  von  grösster  Anmuth.  Das  Hauptelement  dieser 
Musik  bilden  Rhythmus  und  Tempo.  Das  Zeitmass  ver- 
langt von  Instrumenten  und  Singstimmen  das  Aeusserste 
was  sie  an  Schnelligkeit  leisten  können,  die  Bratschen  und 
die  untern  Ollis  haben  mit  ihren  Begleitungsfiguren  ein 
ungestümes  aber  doch  inmier  feines  perpetuum  mobile  zu 
leisten.  Dann  kommen  die  merkwürdigen  schillernden  Har- 
monien hinzu  dem  Satz  einen  fremdartigen  Charakter  zu 
geben:  Jeder  einfache  Dreiklang  wird  durch  einen  hu- 
moristisch berechneten  Misston  gestreift.  Die  Einsätze  der 
dürftigen  Blasinstrumente  wirken  in  gleichen  Graden  ge- 
spenstisch und  komisch.  Instrumentation  und  Nüancirung 
—  fast  immer  p  —  werfen  über  das  Ganze  phantastische 
Schleier.  Es  ist  in  der  Geschäftigkeit  mit  der  eine  Gestalt 
nach  der  andern  vorbeisaust,  etwas  Athem versetzendes. 
Nirgends  kommt  etwas  Fassbares;  höchstens  die  kleine 
Episode  von  dem  Kriegstraum  des  Pagen  mit  den  Kano- 
naden, dem  Tambour  und  der  Trompete  tritt  deutlicher 


^     300     '^ 

heraus  und  macht  Miene  dem  Zuhörer  auf  den  Leib  zu 
rücken.  Im  Gesangtheil  ist  das  Sätzchen,  für  germanische 
Chorzungen  namentlich,  ganz  ausgesucht  schwierig. 

Der  Schluss  des  Prologs,  der  vom  tragischen  Ende  des 
Liebespaares  und  der  Versöhnung  der  Geschlechter  be- 
richtet, ist  äusserst  kurz  gerathen,  fast  als  hätte  Berlioz 
nach  der  Fee  Mab  sich  über  die  Geduld  der  Zuhörer  und 
über  ihre  hohen  Ansprüche  Gedanken  gemacht.  Angespielt 
ist  nur  auf  die  Begräbnissmusik  der  sechsten  Nununer, 
und  zwar  ninmit  das  Orchester  das  charakteristische  Liegen- 
bleiben des  einen  Tons  {e)  von  dort  herüber. 

Zieht  man  die  Summe  des  Gebotnen,  so  kann  kein 
Zweifel  sein,  dass  im  Prolog  von  Romeo  und  Julie,  un- 
scheinbar in  der  Form  und  in  den  Mitteln,  doch  eine 
ausserordentlich  grosse  und  völlig  originelle  Leistung  vor- 
liegt,  die  für  die  Beurtheilung  von  Berlioz  schwer  wiegt. 

Berlioz  wendet  sich  nun  wieder  der  unmittelbaren 
Darstellung  zu  und  giebt  zunächst  ein  Bild  von  dem  Ball- 
fest bei  Juliens  Eltern.  Im  Drama  ist  dieses  Fest  ein  nicht 
unwichtiger  Abschnitt:  er  bringt  zum  ersten  Male  die  Lie- 
benden zusammen.  Dem  Componisten  bietet  er  gleich  gute 
Gelegenheit  zur  Seelenmalerei  wie  zur  Situationsschilderung, 
er  kann  scharf  geprägte  Gestalten  zeichnen,  ihre  Herzens- 
beziehungen bloslt'gen,  kann  einen  Ausschnitt  aus  dem 
Treiben  der  grossen  Welt  versuchen,  sich  im  Intimen, 
ebenso  wie  im  Glänzenden  bewähren.  Als  geborner  Freund 
grosser  Mittel,  mächtiger,  üppiger,  Sinne  berauschender 
Klänge,  als  Meister  in  der  Schilderung  äusseren  Lebens 
hat  Berlioz  den  festliehen  Charakter  der  Scene,  die  Pracht 
und  die  Freude  in  der  sich  die  stolzen  Massen  einherbe- 
wegen,  betont.  Reichlich  zwei  Drittel  der  neuen  Nummer 
sind  mit  rauschender,  pompöser  Ballmusik  ausgefüllt.  Aber 
wie  in  der  Fantastique  und  im  Harold  kommen  auch  hier 
die  eigentlichen  Helden  des  Stücks  nicht  zu  kurz  und  treten 
im  rechten  Augenblick  in  den  Vordergrund. 

Diesem  dritten  Satz,  welchen  das  Orchester  allein 
ausführt,  hat  Berlioz  die  Ueberschrift  gegeben:  Romeo 
seul  -  Tristesse  -  Concert  et  Bai -Grande  Fite  chez  Capulet 


CO     301     ^ 


(Romeo  allein  in  Traurigkeit;  Concert  und  Ball;  grosses 
Fest  bei  Capulet). 

Er  beginnt  mit  einem  Andante  melancolico,  C,  Fdur, 
das  zunächst  die  Worte  Romeo's  (I,  4)  zu  veranschaulichen 
scheint:  «Mich  drUckt  ein  Herz  von  Blei  zu  Boden,  dass 
ich  kaum  mich  regen  kann**.  Die  ersten  Violinen  suchen 
nach  Melodie  und  Ausdruck  und  finden  nur  spärlich; 
namentlich  in  der  Unbestimmtheit  der  Tonart  spricht  diese 
Einleitung  aufs  deutlichste  einen  schwankenden  Zustand 
aus.  Endlich  bietet  sich  ein  Halt.  Die  Oboen  und 
Clarinetten  setzen  (im  23.  Takt)  das  Motiv 

Andante.      ^,«„^ 

Ah»  r    *      I  *     F^    ein  und  klammern  sich  daran  wie 

an  eine  letzte  Rettung.  Sechsmal  hintereinander,  nur  mit 
immer  neu  tastenden  und  wechselnden  Bässen,  hören  wir 
diese  klagende  Stimme ;  dann  erst  entwickelt  sich  eine  lange 
Gesangmelodie,  die  im  Anschluss  an  das  gegebene  Motiv 
folgendermassen  lautet: 


jfi'Mf  irrfiTli 


f  fLuU"^''  nLl^Oq 


Noch  einmal  setzt  sie  zu  einer  viertaktigen  Halbperiode 
an  und  gelangt  mit  ihr  nach  Asdur.  Diese  unerwartete 
Harmoniewendung  bestätigt  nur  was  der  gewissermassen 
irrende  Schritt  des  Themas  schon  verräth:  die  Unruhe  in 
Romeo^s  Seele,  sein  Sehnen  und  Zweifeln:  „Mein  Herz  er- 
bangt und  ahndet  ein  Verhängniss,  welches  noch  verborgen 
in  den  Sternen  . . .  das  Ziel  des  läst'gen  Lebens  . . .  mir 
kürzen  wird  durch  irgend  einen  Frevel  frühen  Todes.* 
(I,  4).  In  der  neuen  Tonart  (Asdur)  schweben  freund- 
liche Motive  in  Triolen  tänzelnd  heran.  Der  kleine 
Zwischensatz  (8  Takte)  hebt  die  Stimmung  etwas  auf. 
Das  Gesangthema  mit  den  ausdrucksvollen  halben  Noten 
setzt  jetzt  in  C  dur  wieder  ein,  aber  des  Zieles  sichrer  und 


^     302     ^ 

hoffbungsToUer  als  beim  ersten  Mal  weiter  geführt. 
Violinen,  Flöten,  Bratschen  bringen  der  Reihe  nach  das 
tröstliche  neue  Schlussmotiv.  Da  kommt  eine  plötzliche 
Unterbrechung:    Allegro    im   Alla    breve:    pp  klingen 

in  den  Greigen  zitternde  Rhythmen    JTTJ  JT^  JT^  J^  ,i 

auch  die  Tonart  Desdur  zeigt  auf  eine  ganz  unvermuthete 
Wendung.  In  Clarinetten  und  Fagotten  taucht  das  Bruch- 
stück eines  Polonaisenthemas  auf.  Dann  folgt  eine  Gruppe 
von  Takten,  wo  die  Geigen  still  auf  gehaltnen  Accorden 
tremoliren,  zuletzt  tritt  aufregender  Paukenwirbel  hinzu. 
Es  ist  eine  ganz  naturalistisch  packende  Stelle,  ein  Bild 
des  kalten  Fiebers  das  Romeo  ergriffen  hat.  Was  Berlioz 
hier  gemeint  hat,  kann  Niemand  ganz  bestimmt  sagen: 
etwas  Ausserordentliches  jedenfalls.  Das  Wahrscheinlichste 
ist:  Romeo  hat  seine  Julie  erblickt.  Sei  es  nun  eine 
äussere  Erscheinung,  sei  es  ein  Entschluss  dem  der  jetzt 
folgende  Abschnitt  in  der  Composition  —  Larghetto  ex- 
pressivo,  ^Z^,  Cdur  —  gilt,  Jedermann  wird  davon  ergriffen 
sein,  wie  fein  erfunden  und  gedacht  er  ist:  Kein  Ausbruch 
des  Jubels,  lauter  Leidenschaft  überhaupt,  sondern  ein 
zarter  Gesang,  fromm  wie  ein  Gebet. 


^St  J  lin*   Ifr    '^   J   I   rTf-     Die    Oboe 


p 

trägt  die  unschuldig  einfache  Melodie  vor,  die  Erregung 
aus  der  sie  emporgewachsen  ist  wird  nur  in  den  Rhythmen 
der  decenten  Begleitung  bemerkbar:  die  Cellis  umspielen 
mit  rastlosen  Sextolen;  an  den  Schlussstellen  werfen  die 
Geigen  mit  den  Pauken  schauernde  Tremolos  hinzu.  Und 
nun  gebt  Romeo  mitten  hinein  ins  Fest  der  Feinde.    Der 

Haupttheil  des  Satzes  —  Allegro  Q/  Fdur  —  beginnt. 
Es  ist  im  Wesentlichen  ein  Tanzsatz,  er  theilt  mit 
andren  Arbeiten  gleicher  Gattung  die  wir  von  Berlioz  be- 
sitzen das  Feuer,  unterscheidet  sich  aber  von  ihnen  allen 
durch  einen  Zug  von  Stolz  und  Pracht.  Dass  es  sich  hier 
um  ein  Fest  bei  Patriziern  handelt,  sagen  uns  schon  die 


c(?     303     ^ 

einleitenden  Takte  mit  den  pompösen  Bassgängen.  Sie  ver- 
setzen die  heutigen  Zuhörer  unwillkürlich  in  den  dritten 
Akt  von  Wagner's  «Lohengrin*,  der  allerdings  1839  noch 
nicht  geschrieben  war.  Das  Hauptthema,  über  dem  sich 
Berlioz^s  Festgemälde  nun  aufbaut,  fangt  folgender- 
massen  an: 

legro.  da  108 


Es  enthält  in  der  Schale  einer  Marschweise  einen  kost- 
baren Inhalt  von  Würde  und  Lebenslust.  Der  letztren 
dient  unter  den  Motiven  die  dem  hier  gegebenen  Anfang 
folgen,  besonders  das  drollig  ausholende: 


/l   iffffffif^ 


Nachdem  die  glänzende  Gesellschaft  ihren  ersten  Rund- 
gang vollendet  —  Ganzschluss  in  P  dur  —  wird  unsre  Auf- 
merksamkeit auf  eine  einzelne  Gruppe  die  etwas  im  Hinter- 
grund steht,  gelenkt.  Celli,  Bratschen  und  Fagotte  sind 
ihre  Sprecher: 


Halblaut  reden  sie  von  den  letzten  Händeln  mit  den  Mon- 
tecchis.  Es  sind  herrische  Leute  und  wehe  dem  armen 
Romeo!  Andere  ziehen  mit  leichtem  Scherz  vorbei.  Dann 
kommt  das  Hauptthema  zum  zweiten  Mal,  diesmal  in  den 
Holzbläsern,  die  Geiger  ziehen  ein  langes  Gewinde  von 
Achteln  darum.  Dann  wird  es  auf  allen  Seiten  lauter,  als 
stritten  sich  die  Streicher  mit  den  Bläsern  um  die  Accorde. 
Und  siehe  da,  in  diesem  Augenblick  des  Lärms  und  der 
Aufregung  erscheint  das  Thema  aus  dem  Larghetto  wieder, 
diesmal  nicht  von  der  Oboe  sondern  von  den  Hörnern  ge- 
führt. Sie  behalten  es  auch  im  weitren  Verlauf  und 
ziehen  noch  Posaunen  und  Fagotte  dazu.  Berlioz  giebt 
uns  jetzt  die  Aufklärung  was  er  mit  der  Larghetto-Melodie 


cG' 


304 


-c^ 


gemeiot  hat:  Es  ist  wirklich  Juliens  Gestalt:  majestätisch 
schreitet  sie  dahin  und  als  der  Hauptsatz,  die  rauschende 
Ballmusik,  jetzt  wieder  wie  beim  Anfang  des  Allegro  Ton  der 
ganzen  grossen  Masse  der  Geigen,  von  Flöten  und  Bratschen 
unterstützt,  von  den  andren  Instrumenten,  unter  ihnen  zwei 
Harfen,  umlärmt  wird  —  strahlt  doch  über  all  den  glän- 
zenden Wirrwarr  hinweg  in  Hoheit  die  Larghettomelodie : 
Das  Stück  könnte  nach  genauer  Wiederholung  des  ersten 
Allegrotheils  —  bis  zu  dem  Punkte  wo  das  Bassthema 
kam  —  beendet  sein.  Berlioz  erweitert  aber  BeethoTCn'sch. 
Statt  eines  F  dur-Schlusses  kommt  eine  Ausbiegung  über 
Adur  nach  Dmoll  und  ins  piano.  Die  Stille  der  Ver- 
legenheit tritt  ein  und  in  ihr  lassen  sich  wieder  Händel- 
süchtige vernehmen,  sie  brüten  neue  Complotte :  Diese  un- 
friedlichen Gedanken  sind  in  zwei  Themen  gegeben 


und  b) 


^w 


die  das  Material  zu  einer  bescheidnen 


Doppelfuge  bilden.  Sie  wird  nicht  durchgeführt,  sondern 
Berlioz  beschränkt  sich  darauf  die  chromatische  Scala  zu 
einem  Basso  ostinato  zu  verwenden,  über  den  in  wachsen- 
der Erregung,  im  langen  crescendo  erst  allein  die  Bläser 
rhythmische  Kampfmotive  hinschmettem.  Bald  stiomien 
die  Geigen  mit  ein ;  es  reizen  die  Schlaginstrumente.  Die 
festliche  Stimmung  ist  in  eine  kriegerische  umgeschlagen. 
In  allen  Gruppen  grösste  Unruhe,  ein  Anlauf  über  den 
andern  auf  das  drängende  Motiv: 


cresc. 


rfj"  If-^^   ^    I  über  D moU  nach  G, 


nach  C,  dann  dieselben  Wege  nochmals  in  bedrohlicherem 
Tone  —  es  schlägt  am  Ende  der  Perioden  bereits  ein  — 
und  dann  bricht  mit  dem  endlich  erreichten  F  dur  das  volle 
Wetter  los:   Eine  wilde  elementare  Musik,  ein  schlimmrer 


<o     805     ^ 

Aufruhr  als  in  dem  Augenblick  der  Orchesterintroduction, 
in  dem  die  Posaunen  des  Fürsten  sich  erhüben.  Noch 
einmal  wird  Ruhe.  Wir  hören  wieder  den  chromatischen 
Bassgang  yon  Pauken  und  Tronmieln  schauerlich  beleuchtet. 
Diesen  letzten  Augenblick  benutzt  Romeo  sich  zu  ent- 
fernen. Die  Oboe  singt  wieder  den  Klagegesang  mit  dem 
sich  im  Andante  melancolico  Romeo  schwermüthig  vor- 
stellte. Im  Toben  der  Massen  —  eine  plötzliche  General- 
pause sagt  uns,  bis  zu  welchem  Grad  die  Wuth  gediehen  — 
geht  der  Satz  schnell  zum  Schluss. 

Die  Italiener  des  17.  Jahrhunderts,  die  venetianischen 
Librettisten  yoran,  die  Spanier,  die  Geschlechter  der  aus- 
gehenden Renaissance  überhaupt  verstanden  sich  auf 
Liebesscenen.  Aber  den  Scenen,  in  denen  Shakespeare  in 
„Romeo  und  Julie*'  das  Liebespaar  zusanunenfiihrt,  konmit 
doch  wenig  gleich.  Dieses  Urtheil  lässt  sich  auch  auf  die 
Gartenscene  der  Berlioz'schen  Sinfonie  übertragen  in  der 
der  Componist  seine  Erinnerungen  an  jenen  schönsten  Theil 
des  Shakespear'schen  Dramas  in  Töne  gebracht  hat.  Man 
kann  es  ruhig  sagen:  Berlioz  hat  die  Liebe  von  Romeo 
und  Julie  schöner  geschildert  als  der  Dichter,  um  so  viel 
inniger  und  ergreifender  als  die  Musik  wenn  es  Gefühle 
darzustellen  gilt,  der  Sprache  überlegen  ist.  In  der  Com- 
position  Berlioz's  steht  auch  das  mit,  was  bei  Shakespeare 
ungesagt  bleibt;  vor  Allem  über  alle  Süssigkeiten  des 
Augenblicks  hinweg  bringt  sie  uns  ins  Bewusstsein,  dass 
diese  Liebe  tragisch  enden  wird.  Ein  Ton  der  Klage  und 
der  Wehmuth  klingt  mit  durch  alle  Seligkeit  hindurch. 

Mit  der  vorhergehenden  Nummer,  der  Ballscene,  ist 
die  Gartenscene,  als  fünfte  Nunmier  des  Werkes,  durch 
eine  dramatische  Einleitung  verbunden.  Die  Ueberschrift 
des  Stückes  —  Nuit  ser^ne  —  le  jardin  de  Capulet  silencieux 
et  decent.  Les  jeunes  Capulets  sortant  de  la  fete,  passent 
en  chantant  des  reminiscences  de  la  musique  du  bal  — 
welche  Berlioz  selbst  gegeben  hat,  enthebt  jeder  weitern 
Beschreibung  des  Verfahrens.  Ein  AUegretto,  ("/g  Adur) 
enthält  diese  Einleitung.  Langgezogne  Geigenaccorde,  die 
nur  schleichend  moduliren,  beginnen.    Berlioz  schreibt  pppp 

Eretsiohmftr,  Führer,  I.  80 


6(?     306     ^ 

vor.  Das  ist  die  Stille  des  Gartens,  von  der  die  üeber^ 
Schrift  sagt.  Nach  dreissig  Takten  erst  klingt  es  im  ersten 
Hom:  als  käme  Jemand.  Und  bald  darauf  beginnen  die 
jungen  Cavaliere  ihr:  ,Oho  Capulets,  bon  soir'  («Capulets, 
schlaft  wohl*).  Gleich  darauf  kommt  auch  die  haupt- 
sächlichste von  den  Ballreminiscenzen ,  auf  die  uns  der 
Componist  selbst  aufmerksam  gemacht  hat: 

wH  r'  »p  "»p   p    I   f     ■>>■!=.    Leicht  wird  man  in  ihr 

*^  0    quell«  DQlt,  qtfel   fostinl 

den  Anfang  vom  Hauptthema  des  Allegro*s  der  Ballscene 
wiedererkennen.  Das  ganze  Stück  Einleitung  ist  von 
Humor,  wie  von  poetisch  höhrer  Empfindung  gleichmässig 
belebt.  In  ihrer  etwas  steifen  Anmuth  erinnert  seine 
Melodik  namentlich  an  Berlioz^s  „Flucht  der  heiligen 
Familie  nach  Egypten*.  Ein  Wunder,  dass  es  sich  unsre 
Männergesangvereine  fortdauernd  entgehen  lassen !  Es  ver- 
klingt und  nun  beginnt  die  eigentliche  Sc^ne  d*Amour,  die 
Liebesscene,  in  Form  eines  mehrmals  von  belebten,  er- 
regten Episoden  durchbrochnen  Adagios.  Der  ®/g  Takt 
und  die  A  dur-Tonart  bleiben.  Das  langsame  Tempo  giebt 
aber  der  Composition  ihren  eigenthUmlichen  Charakter  als 
einer  Liebesscene  von  fast  religiöser  Tiefe. 

Das  Adagio  beginnt  wie  präludireüd  mit  einem  Ab- 
schnitt in  dem  die  Bratschen  mit  den  getheilten  Cellis 
in  bald  ausdrucksvollen,  bald  spielerischen  Motiven  sich 
dem  Gesang  nähern.  Es  ist  ein  eigenthümlich  volles, 
gedämpft  weiches  Colorit  ähnlich  dem  in  der  ,Sccne 
aux  champs'^  von  Berlioz's  Fantastique.  Drunter  klopfen 
die  Bässe  wie  die  Schläge  des  Herzens.  Die  zweiten, 
dann  die  ersten  Geigen  tragen  Verzierungen  und  melo- 
dische Fragmente  herbei;  noch  mehr  aber  erinnern 
Clarinette  und  englisches  Hörn  an  die  Liebesmusik  der 
Vögel,  sie  seufzen  sehnsüchtige  Motive  die  uns  die  Stelle 
des  Dramas  vor  die  Phantasie  bringen  wo  es  heisst: 
„Es  war  die  Nachtigall  und  nicht  die  Lerche".  Dann 
wird  ein  Singen  daraus,  leidenschaftlich  treiben  die  Töne 
nach  oben.    So  setzt  die  Stelle  ein: 


c<?     307     ^ 


^  f   \  ^    ^  i    P    I  r    P  r     I  und  80  schliesst  sie : 


Bald  kehrt  sie  wörtlich  genau  wieder,  sie  umrahmt 
das  vom  Cello  und  vom  Hom  vorgetragne  Liebesthema 
Julien s,  ihr  Geständniss,  den  Lüften  anvertraut: 


^         p  espresstto  er  esc. 


p  espressxno  cresc,  i^ 


Eine  der  schönsten  Melodien  der  ganzen  neueren  Musik, 
muss  dieses  Thema  in  diesem  Werk  und  in  diesem  Satz 
namentlich  mit  seinem  Schluss  fest  gemerkt  werden.  Denn 
er  taucht  wie  ein  Leit-  und  Repräsentirthema  häufiger  in 
unserm  Adagio  wieder  auf.  Die  Musik  wird  von  dem  Ein- 
satz der  Vogelmotive  ab  wiederholt.  Romeo  lauscht  ent- 
zückt und  als  Julia  nun  im  vollsten  Tonglanz  ihr  Liebes- 
geständniss  (jetzt  in  Cdur)  nochmals  ablegt,  bemächtigt 
sich  ein  grosser  Sturm  seiner  Gefühle  (AUegro  agitato). 
Er  dringt  vor,  giebt  sich  zu  erkennen,  das  Cello  hebt  ein 
Recitativ  an  und  leitet  damit  über  zu  der  zweiten  Hälfte 
der  Nummer,  dem  Liebesdialog.  Dieser  Dialog  hat 
wieder  die  Form  eines  Adagio,  das  gegen  das  erste  um 
eine  Kleinigkeit  beschleunigt  ist.  Das  in  ihm  neu  hinzu- 
tretende Hauptthema  ist: 

^.  112 


r^rrfT.TiO'^ 


I 


i .  Von  Flöte  und  eng- 
lischem Hörn  eingeführt,  findet  es  in  einer  zweiten  Periode 
den  seiner  friedlich  geniessenden  Natur  entsprechenden 
Abschluss  in  Adur.  Daran  knüpfen  sich  heitre,  zum 
Tändeln  neigende  Motive  bis  dann  bald  Juliens  Liebes- 

20* 


«e     808     ^ 

gesang  den  Ideenkreis  ins  innig  Pathetische  zurUckleitet. 
Es  wechseln  nun  Augenblicke  der  Ruhe  und  der  Erregung: 
es  kommt  die  Schwere  des  wiederholten  Abschieds,  die 
Wonne  des  Wiedertreffens.  Mehr  als  bei  andren  Sätzen 
der  Sinfonie  bietet  die  Kenntniss  Shakespeare^s  für  diese 
Nummer  eine  weitreichende  Gew&hr  des  Verständnisses. 

Der  fünfte  Satz  der  Sinfonie,  das  Scherzo  (Prestis- 
simo,  ^/g,  Fdur)  trägt  die  Ueberschrift :  ,La  Reine  Mab, 
ou  la  F^e  des  Songcs*  (Königin  Mab,  die  Traumfee).  Er 
bedeutet  einen  Abfall  von  Shakespeare,  eine  üeberläuferei 
zur  selbstherrlichen  Musik,  insbesondere  zu  den  Formen 
der  Beethoven 'sehen  Sinfonie.  Berlioz  mochte  auf  die  be- 
währte Wirkung  eines  Scherzos  auch  in  „Romeo  und  Julie'' 
nicht  verzichten.  Sieht  man  von  der  Entstehungsursache 
ab,  so  bleibt  dieser  Satz  eine  bis  heute  noch  nicht  Uber- 
botne  Glanzleistung  auf  dem  Gebiete  der  Elfenmusik.  Die 
Composition  giebt  den  flüchtigen  Charakter,  den  man  von 
dieser  Gattung  erwartet  nach  einer  Richtung  wenigstens 
vollkommen  wieder,  ganz  besonders  aber  zeichnet  sie  sich 
aus  durch  ihren  Reichthum  neuer  und  ungewohnter  mit 
ebefasoviel  raffinirter  Berechnung  als  mit  poetischem  Genie 
aufgesuchter  und  erfundener  Klänge.  Zwar  für  die  Gre- 
stalt  und  das  Treiben  des  Miniaturelfs,  wie  sie  Shakespeare 
—  vor  Ball-  und  Balconscene  1,4  —  beschreibt  ist  die 
Berlioz^sche  Musik  immer  noch  zu  compakt,  zu  reich  an 
Bassklang;  aber  man  hatte  in  einer  Sinfonie  ein  Scherzo 
wie  dieses  doch  noch  nicht  gehört:  Ein  ganzer  Jahrmarkt 
von  seltnen,  schweren  Trillern,  von  pizzicatos,  Flageolets, 
ausgesuchten  Spielarten  und  Tonlagen  that  sich  hier  auf. 

Dem  Hauptsatz,  den  einige  accordische  durch  Fermaten, 
Modulationen  und  Klangfarbe  ins  Träumerische  erhobne 
Takte  einleiten,  liegt  folgendes  Thema 


fe44EAiJcfiiif?^iii*tr 


ce     309     '^ 

zu  Grunde.  Die  Violinen  durcheilen  mit  ihm  im  schnellsten 
Zeitmass,  in  der  grössten  Leichtigkeit,  die  möglich  ist  einen 
ziemlich  umfangreichen  Elreis  Ton  Tönen  und  Tonarten. 
Fdur  heginnt,  der  Schluss  führt  nach  eis  und  nach  einem 
dissonanten  Accord  des-f-as-hf  denselben  der  den  Satz  über- 
haupt begann.  Es  ist  etwas  koboldartiges  in  dieser  Be- 
weglichkeit und  es  ist  auch  nicht  leicht  für  den  Zuhörer 
genau  zu  folgen.  Um  das  zu  erleichtern  müssen  Spieler 
und  Dirigenten  die  metrisch  betonten  Takte  hervorheben. 
Wird  damit  von  Anfang  an  —  der  mit  *  bezeichnete  ist 
der  erste  —  Klarheit  eingehalten,  so  ist  der  Aufbau  der 
Perioden  leicht  zu  begreifen;  er  vollzieht  sich  vorwiegend 
in  zweitaktigen  Abschnitten. 

Zunächst  stellt  Berlioz  das  angeführte  Hauptthema 
noch  zwischen  das  accordische  Einleitungsmaterial.  Erst 
im  zweiten  Abschnitt,  dessen  Eintritt  sich  scharf  dadurch 
markirt,  dass  wir  8  Takte  lang  nur  (in  Bratschen  und 
zweiten  Violinen)  Accordbegleitung  ohne  Thema  haben, 
erhält  es  das  Feld  für  sich  und  bestellt  es  in  Umbildungen, 
wie  sie  für  Menuetts,  Scherzi  fürs  ganze  Tanzgebiet  von 
jeher  üblich  sind:  Eine  Doppelperiode  in  der  Haupttonart 
Fdur  mit  Schluss  in  0,  eine  zweite  in  G  mit  Modulationen 
nach  verwandten  Harmonien  und  Schluss  in  F.  Es  ist 
ein  leichtes  anmuthiges  Treiben  ohne  wichtigere  Vorfälle. 
An  dem  oben  genannten  Punkte  erst  erscheint  ein  theil- 


weise  neues  Motiv 

in  den  Geigen,  das  Flöte  und  englisches  Hom  mit 

j^^   P   I  f   ?  [f    F   |T  ^^^  beantworten.  Fee  Mab 

wird  ausgelassner:  schärfer  tritt  der  pizzicato-Klang  vor, 
schärfer  wechseln  die  Tonarten,  in  diesem  kleinen  Seiten- 
satz. H  dur  ist  erreicht.  Da  führt  bei  einem  allgemeinen 
temperamentvollen  Crescendo  ein  heftiger  chromatischer 
Lauf  der  Mittelstimmen  nach  der  Haupttonart  zurück  und 


ce     310     ^ 

Id  eine  grosse  Wiederholung  des  Hauptsatzes  mit  einigen 
Erweiterungen.  Motivisch  neu  tritt  eine  zuweilen  auf  vier 
Takte  ausgedehnte  Trillerfigur  ^  aus  der  Schabernack  und 
Uebermuth  herüber  klingen,  vor. 

Die  grössten  Ueberraschungen  fürs  Ohr  hat  Berlioz 
für  die  Mitte  seines  Scherzos  aufgespart,  für  die  Stelle  die 
üblicherweise  das  Trio  einnimmt.  Gedacht  ist  wohl  dieser 
wichtigere  Theil  so :  dass  er  die  Wirkungen  der  Schalkereien 
Mabs  im  Kopf  des  Schläfers  veranschaulichen  soll,  während 
uns  der  bewegtere  Hauptsatz  den  Umzug  der  Fee  schildern 
soll.    Das  Thema  dieses  Trios  heisst: 

AUegro.  J  « 1S8 


Mit  seinen  rufenden  und  ahnenden,  auch  mit  seinen 
gesanglichen  Elementen  ist  es  im  Grunde  höchst  einfach. 
Seine  Wirkung  erhält  es  durch  die  Decoration.  Die  ersten 
Violinen  trillern  dazu  vom  ersten  Ton  der  Flöte  bis  zum 

letzten  pppp  aber  ohne  Unterbrechung  auf  a;  die  Celli 
antworten  auf  das  Quartenmotiv;  die  andern  Saiten- 
instrumente aber  halten  hohe  Flageoletttöne  aus. 
Von  ihnen  kommt  der  Märchenzauber,  das  Feenlicht  das 
über  dem  Abschnitt  liegt;  süss  wie  Liebestraum  und  ganz 
fremdartig  und  neu  erscheint  er.  Zugleich  ist  dieses 
Colorit  zum  ersten  Mal  das,  was  sich  mit  den  von 
Shakespeare  erweckten  Vorstellungen  deckt.  Die  Harfen 
fallen  bald  mit  unerhörten  Klängen  ein,  die  zur  selben 
Familie  wie  die  Flageoletttöne  der  Geigen  gehören.  Die 
Phantasie  des  Hörers  wird  in  demselben  Augenblick  aus 
dem  Elegischen  hinüber  greifen  nach  dem  humoristischen: 
wir  hören  in  den  Bratschen  und  Cellis  Figuren  die  an  den 
Rhythmus  des  galoppirenden  Pferds  erinnern.  Berlioz 
hat  an  die  Stelle  gedacht  wo  bei  Shakespeare  die  Fee  Mab 
den  Soldaten  neckt. 

Noch    breiter    ausgeführt    als    im    Trio    sind    diese 


oc?     311     ^ 

militärischen    Bilder    in    der    Reprise    des    Hauptsatzes. 
Hier  führen  sie  zu  einigen  Episoden  an  deren  Spitzen  die 

Homer  stehen;  ''J'bfl^  |  T  |  C_f_f    |  f     |  T  |.   Auch 
das  englische  Hom  kommt  einmal  mit  einem  Jagdmotir: 


# 


I  r     -^n  J     iiJ^  llJ    i^J)  I  J    IL     Von  einer  ein- 


fachen Wiederholung  ist  diese  Reprise  so  weit  als  möglich 
entfernt;  sie  ist  eine  Steigerung  in  jeder  Beziehung,  in  den 
Formen  nicht  weniger  als  in  den  Farben.  Für  letztre  sind 
auch  die  Schlaginstrumente  meisterhaft  herangezogen. 

Stephen  Heller  lernte  die  neue  Sinfonie  Berlioz's  bald 
nach  ihrer  Entstehung  im  Manuscript  kennen  und  berichtete 
darüber  an  die  Zeitschrift  Robert  Schumann's  *).  Dieser  Be- 
richt ist  noch  heute  wichtig,  weil  er  über  die  erste  Fassung 
der  Sinfonie  Mittheilung  giebt.  Unter  den  Abweichungen, 
die  sie  von  der  veröffentlichten  Form  unterscheiden,  tritt 
als  eine  der  wesentlicheren  der  Umstand  hervor,  dass  zum 
Beginn  der  zweiten  Abtheilung  die  mit  der  Nummer  6  ein- 
setzt, früher  nochmals  ein  Prolog  gesungen  wurde. 

Für  diese  sechste  Nummer,  die  Juliens  Begräb- 
nis s  bringt  —  Convoi  funebre  de  Juliette  —  ist  kein 
Prolog  und  keine   Erläuterung  nöthig.     Denn  es  ist   ein 

einfacher  Satz  (Andante  non  troppo  lento,  C,  Emoll),  ein 
Trauermarsch  wie  wir  ihn  hier  erwarten,  nur  mit  der  Be- 
sonderheit, dass  das  ausdrucksreiche  Hauptthema 


^)  Keue  Zeitschrift  lür  Musik,  XI,  S.  102. 


«o     312     ^ 

in  Fonn  einer  Fuge  durchgeführt  wird.  Die  Singstimmen 
psalmodiren  dazu  auf  einem  und  demselben  Ton  e, 
Berlioz  hat  denselben  und  einen  ähnlichen  Kunstgriff  in 
seinen  Trojanern  und  im  Offertorium  seines  Requiems  mit 
grossem  Glück  zum  Ausdruck  äusserster  Niedergeschlagen- 
heit verwendet.  Besonders  schön  ist  der  zweite  Theil  der 
Nummer,  der  sich  nach  Edur  wendet  und  Chor  und 
Orchester  die  Rollen  tauschen  lässt. 

In  hohem  Grad  einer  Erläuterung  durch  Prolog  oder 
eine  sonstige  authentische  Willensäusserung  des  Componisten 
ist  dagegen  die  folgende  siebente  Nummer  der  Sinfonie, 
dieGrabscene,  bedürftig.  Berlioz  hat  das  selbst  gefühlt. 
Er  schickt  in  der  Partitur  eine  Bemerkung  voraus,  worin 
er  den  Dirigenten  ermächtigt  den  Satz  zu  überspringen. 
Mit  den  Worten:  ,Le  public  n'a  pas  d^imagination*  wälzt 
er  die  Schuld  von  sich  auf  den  unschuldigen  Theil:  Das 
Publikum,  die  Zuhörerschaft  kann  diesen  Satz  nicht  ver- 
stehen und  wenn  neue  Erklärer*)  seinen  Schwierigkeiten 
gegenüber  mahnen  sich  den  fünften  Akt  von  Shakespeare^s 
Drama  lebhaft  zu  vergegenwärtigen,  so  empfehlen  sie  ein 
unzureichendes  Mittel.  Berlioz  giebt  als  Inhalt  imsrer 
siebenten  Nummer  an:  Romeo  au  tombeau  des  Capulets; 
Invocation,  Reveil  de  Juliette,  Joie  delirante,  d^espoir, 
demi^res  angoisses  et  mort  des  deux  amants  (Anrufung  und 
Erwachen  Juliens,  Entzücken  und  Freude,  Verzweiflung, 
letzte  Noth  und  Tod  der  beiden  Liebenden).  Daraus  er- 
giebt  sich  doch  dass  er  die  Ereignisse  vollständig  um- 
gedichtet hat.  Bei  Shakespeare  ist  Romeo  gestorben, 
ehe  Julia  erwacht;  wohl  bei  Bellini,  aber  nicht  bei 
Shakespeare  giebt  es  Wiedersehn,  Anlass  zur  Freude  und 
gemeinsamen  Tod.  Der  Zuhörer  muss  sich  also  in  der 
Composition  durch  Rathen  zurecht  zu  finden  suchen;  sie 
ist  keine  gute  Programnunusik,  sondern  Theatermusik  die 
nur  den  Augen  will  sehen  helfen,  sie  ist  ein  an  dieser 
Stelle  verfehltes  Kunstwerk. 


*)  F.  Weingartner  in  Allgemeine  Musikalische  Zeitung,  Jahrg. 
1893,  S.  123. 


^     313     ^ 

Der  Satz  (Allegro  agitato  e  disperato,  2,  EmoU)  be- 
ginnt mit  hastigen  Figuren 

J  s  144 


^m 


|pp    J^  ir  i  die  in  einem  kurzen  Satz 


das  Bild  geben,  als  wenn  ein  Mensch  athemlos  gerannt 
kommt:  Romeo,  den  die  schlimme  Nachricht  von  Juliens 
Tod  aus  dem  Mantuaner  Exil  vertrieben  hat,  eilt  an  die 
Pforte  des  Grabes.    In  langen  Noten 


4  "     II  '  J^i^^   "^^^^    äusserste   Kraft    ge- 


sammelt.  ,Die  Nacht  und  mein  Gemüth  sind  wüthend  wild, 
viel  grimm'ger  und  viel  unerbittlicher  als  durst'ge  Tiger 
und  die  wüste  See*  so  lauten  die  Worte  mit  denen  Romeo 
bei  Shakespeare  (V,  3)  die  Thüre  des  Gewölbes  —  ,die 
morschen  Kiefern  des  Schlundes*  —  erbricht.  Dumpf,  tief 
und  schauerlich  schlagen  die  Posaunen,  ein  Hörn  dazu, 
durch  Fermaten  gefesselte  Accorde  an.  Dann  folgt  die 
Invocation,  ein  längrer  Satz  (Largo,  *^/g,  CismoU)  in 
dem  Romeo  in  feierlichen  und  wehmüthigen  Melodien  zu 
der  todt  geglaubten  Geliebten  spricht.  Als  sie  zum  Schluss 
kommen,  gerathen  sie  ins  Stocken.  Chromatische  Figuren 
in  den  Cellis  deuten  auf  ausserordentliche  Vorgänge.  Die 
Clarinette  setzt  ein: 

i¥l»tf  f\\yi     ■*   I    ^fW^^  r   '^         Wer  kennt 
*r  imnona  !^ 


diese  Motive  nicht  und  denkt  bei  ihnen  nicht  an  den  An- 
fang der  Gartenscene?  Nun  kommt  das  volle  Thema.  Julie 
ist  erwacht,  sie  lebt  und  ihr  erster  Gedanke  ist  wieder: 
ihre  Liebe,  ihr  Romeo!  Das  Orchester  stürmt  voll  wie  in 
der  Ballscene  im  Freudenrausch  dahin  eigentlich  ohne 
Melodie  und  ohne  Rhythmus, 


c<?     314     ^ 

AUerro  TlTace  ed  appas^lonato. 


zügellos,  elementar  in  Empfindung  und  Fonn.  Lange  klingt 
die  Stelle  wie  ein  grotesker,  riesiger  Triller.  Dann  ver- 
nehmen wir  in  den  Motiven  Reminiscenzen  an  die  Garten- 
scene,  an  ihre  schönsten  Themen;  aber  in  der  unglaub- 
lichsten Extase  und  Beschleunigung.  Dazu  unheimliche 
Dissonanzen!  Der  überspannte  Bogen  muss  brechen,  das 
Unglück  ist  in  der  Nähe.  In  dem  reissenden  Strom  dieser 
Musiklava  entsteht  Stockung,  Verwirrung:  Romeo^s  Reci- 
tativ  aus  der  Gartenscene  klingt  nochmals  krampfhaft  und 
unnatürlich  an,  von  härtesten  Schlägen  des  Orchesters  be- 
gleitet, das  e  aus  dem  Leichenbegängniss  (Nr.  6)  lässt  sich 
hören:  Romeo  stirbt.  Bald,  mitten  heraus  aus  der  Selig- 
keit, in  der  sie  befangen,  folgt  seine  Julie  ihm  im  Tode 
nach.  Innerhalb  einer  Minute  gings  aus  höchstem  Glück 
in  die  Vernichtung.  Nur  eine  einzige  Oboe  hält  an  der 
verödeten  Stelle  noch  Stand,  wo  eben  noch  das  volle  Or- 
chester wie  für  eine  Ewigkeit  aufspielte. 

Die  achte  Nummer,  das  Finale  der  Sinfonie,  hat  die 
Ueberschrift :  La  foule  accourt  au  cimetiere,  Rixe  des 
Capulets  et  Montagus,  Recitatif  et  air  du  P^re  Laurence, 
serment  de  reconciliation  (Die  Menge  eilt  zum  Kirchhof, 
Streit  der  Capulets  und  Montechi,  Recitativ  und  Gesang 
des  Pater  Lorenzo,  Versöhnungsschwur).    Sie  beginnt  mit 

einem  AUegro  vivace,  C,  A  moll,  das  dramatisch  lebendig 
die  Erregung  der  herbeieilenden  Volksmassen  schildert  und 
viel  Natur-  und  Herzenaton  enthält.  Besonders  der  Schluss, 
wo  das  Tempo  doppelt  so  langsam  wird  als  es  war,  er- 
greift mächtig.  Dann  tritt  der  Pater  Lorenzo  auf  und  be- 
mächtigt sich  mit  Erklärungen  und  Ermahnungen  des 
Worts,  für  seine  salbungsvolle  Weise  immer  noch  etwas 
allzu  lange.*)    Als  die  Parteien  wieder  an  einander  gerathen, 


^)  Berlioz   bat   die  Reden  des  Paters,   laut  Memoiren,   be- 
deutend gekürzt. 


wiederholt  Berlio2  die  Fugenmusik  aus  der  Introduction 
der  Sinfonie,  diesmal  mit  Text  ^Mais  notre  sang  rougit 
etc.*  (.Doch  unser  Blut  etc.").  Dem  Pater  gelingt  es  zu 
beruhigen,  zu  rühren.  So  gelangen  wir  ganz  in  dem  Stil 
der  grossen  fraiizösischen  Oper  und  mit  mancher  hübschen 
auf  Berlioz  persönlich  weisenden  Wendung,  zum  Schluss- 
und  Trumpfetück  dieses  Finale :  dem  S  e  r m  e  n  t ,  der  Schwur- 
scene,  die  ihrer  musikalischen  Natur  nach  ein  Geschenk 
Meyerbeer^s  an  das  Haupt  der  französischen  Instrumental- 
composition sein  könnte.  Wer  mit  Grund  das  Werk  lieben 
gelernt  hat,  bedauert  dass  es  nicht  selbständiger  und  in 
einem  poetischeren  Stile  endet. 

Der  Oomponist  selbst  hat  seiner  dramatischen  Sinfonie 
nur  eine  Ausnahmestellung  im  Concertsaal  zugetraut.  Ihre 
Schwierigkeiten,  sagt  er  in  den  Memoiren  sind  so  gross, 
dass  die  Ausführenden  das  Werk  auswendig  können  müssen. 
Als  sie  in  Petersburg  ausgezeichnet  geht,  trübt  ihm  der 
Gedanke  die  Freude,  dass  sie  für  London  doch  unmöglich 
sei.  Er  hat  sie  aber  schliesslich  auch  in  London  dirigirt 
und  im  Laufe  der  grossen  Berliozbewegung ,  die  sich  in 
den  siebziger  Jahren  erhob,  ist  sie  erst  in  Bruchstücken, 
dann  mehr  und  mehr  in  ihrer  Vollständigkeit  bekannt  ge- 
worden. Damit  im  Einklang  mehren  sich  in  neuester  Zeit 
die  Sinfonien,  die  nach  dem  Vorbild  von  Romeo  und  Julie 
Instrumentalstücke  und  Gesangsnummem  mischen.  Lange 
Zeit  stand  Fei.  Darid  und  seine  „Wüste*  mit  dieser 
Nachfolge  allein.  Heute  sind  noch  Nicodd's  ^Meer", 
A.  SamueTs  „Christus*  und  G.  Mahler*6  Cmoll- 
Sinfoiiie  zu  nennen. 

Es  war  mehr  als  blosser  Zufall,  dass  der  jüngste  Vor- 
stoss  der  Programmmusik  von  Frankreich  ausging.  Die 
Zuthaten  und  Aenderungen  die  das'Gebäude  der  Beethoven*- 
schen  Sinfonie  hierbei  durch  Berlioz  erfuhr,  lassen  im 
letzten  Grunde  den  Einfluss  der  Traditionen  Rameau^s 
doch  deutlich  erkennen.  Indessen  erkannte  ihn  Niemand. 
Berlioz's  Programmsinfonien  trugen  in  ihren  dichterischen 
Wendungen  sehr  stark  in  ihren  musikalischen  Mitteln  immer 
noch  erkennbar  französisch-nationalen  Charakter;  die  Fran- 


c<?     316     "^ 

zosen  wussten  es  ihm  keinen .  Dank.  Auch  im  Ausland 
fanden  sie  mehr  Widerspruch  als  Erfolg.  Vor  Allem  blieb 
die  Schule  und  der  productive  Anhang  aus,  der  jeder  neuen 
Richtung  unentbehrlich  ist.  Spohr  war  für  Jahrzehnte  der 
einzige  europäische  Sinfoniker,  der  mitthat.  Aber  er  ver- 
mied sowohl  die  Stoffe,  wie  die  musikalischen  Mittel,  welche 
für  die  Berlioz^sche  Epoche  die  charakteristischen  sind. 
Da  trat  endlich  in  den  fünfziger  Jahren  Franz  Liszt 
mit  der  grössten  Entschiedenheit  für  die  gefährdete  Sache  ein. 

Liszt  ging  aber  über  seinen  Vorgänger  wesentlich  hinaus 
und  ordnete  dem  Programm  auch  die  Formen  der  Compo- 
sitionen  vollständig  unter.  Seine  Sinfonien  sind  dreisätzig, 
zweisäizig,  einsätzig,  je  nachdem;  die  dichterische  Idee 
bestimmt  den  musikalischen  Plan.  In  dieser  Freiheit,  in 
der  Kühnheit  und  Sicherheit,  mit  welcher  die  Grundlinien 
des  Formenbaues  entworfen  und  durchgeführt  sind,  bilden 
die  Liszt'schen  Sinfonien  Originalleistungen,  und  repräsen- 
tiren  eine  geistige  Kraft  und  ein  künstlerisches  Gestaltungs- 
vermögen von  ausserordentlicher  Stärke.  Nach  diesen  for- 
mellen Seiten  liegt  ihre  geschichtliche  Bedeutung.  Liszt^s 
Sinfonien  führen  die  von  Berlioz  gegebene  Anregung  zu 
einer  vollen  Reform  aus  und  brechen  die  Alleinherrschaft 
des  Haydn-Beethoven'schen  Systems.  Berlioz  trat  für  die 
Deutlichkeit  des  poetischen  Inhalts  und  des  Zusammen- 
hangs der  Sätze  ein;  Liszt  erweiterte  diese  Forderungen 
mit  der  dritten:  Freiheit  des  Formenbaues  1  Wohl  ver- 
standen :  Freiheit,  künstlerische  Freiheit,  nicht  etwa  Anar- 
chie und  Formlosigkeit! 

Auch  den  internen  musikalischen  Stil  der  Liszt^schen 
Musik  hat  vielfach  die  Forderung  bestimmt,  dass  Ausdruck 
und  Darstellung  in  erster  Linie  charakteristisch  und  an- 
schaulich sein  müssen,  und  eine  grosse  Reihe  seiner  Eigen- 
thümlichkeiten  sind  aus  der  Treue  gegen  das  Princip  her- 
vorgegangen. Dahin  gehören  die  bei  ihm  noch  zahlreicher 
als  bei  Berlioz  hervortretenden  Stellen,  wo  blosse  Klang- 
phänomene, rein  accordische,  instrumentale,  dynamische 
und  andere  naturalische  Bildungen  die  Träger  der  musi- 
kalischen Entwickelung  bilden.    Dahin  gehören  specifische 


e<?        317        O' 

Eigenheiten  der  LiszVschen  Rhetorik:  ihr  Reichthum  an 
Interjectionen,  an  Ausrufangszeichen  und  Gedankenstrichen, 
an  pathetisch  fortchreitenden  Sequenzen  und  anderen  pri- 
mitiven Ausdrucksmitteln  der  musikalischen  Deklamation, 
wie  sie  Liszt  namentlich  in  den  Momenten  der  Extase  gern 
verwendet. 

Andere  Erscheinungen  des  Stils  müssen  auf  die  Natur 
und  die  Schranken  der  musikalischen  Begabung  Liszt*» 
zurückgeführt  werden:  der  vorwiegend  eklektische  Cha- 
rakter seiner  Melodik,  seine  Abhängigkeit  von  chromatischen 
Gängen,  melodischen  Ausnahmsintervallen  und  anderen 
Reizmitteln  des  Ausdrucks,  die  zu  stehenden  Formeln  ver- 
braucht werden;  endlich  der  grössere  Theil  jener  Satz- 
bildungen, in  denen  Perioden  und  grössere  Redetheile  durch 
unaufhörliche  Wiederholungen  und  blosse  Transposition 
des  ersten  Gliedes  entwickelt  werden.  Es  konunt  zu  diesen 
Eigenheiten  auch  noch  der  Umstand,  dass  einzelne  Com- 
positionen  LiszVs  augenscheinlich  sehr  flüchtig  hingeworfen 
sind.  Aber  eine  ausserordentliche  Gabe,  mit  wenigen 
Strichen  einen  Charakter  zu  zeichnen,  leuchtet  auch  noch 
aus  den  schwächsten  unter  seinen  Orchesterwerken.  Die 
Mehrzahl  von  allen  fesselt  durch  den  Geist  und  die  Hin- 
gabe, welche  sich  in  der  Haltung  des  Ganzen  aussprechen, 
durch  die  Wärme  des  Ausdrucks,  die  Macht  der  poetischen 
Anschauung,  welche  einzelne  Stellen  belebt,  durch  eine 
Reihe  schöner  Momente,  deren  Genialität  selbst  vom  Stand- 
punkte des  absoluten  Musikgenusses  nicht  geleugnet  werden 
kann.  Dass  aber  Liszt,  ähnlich  wie  dies  Gluck  seiner  Zeit 
bei  der  Opemcomposition  gethan,  auf  diesen  absolut  mu- 
sikalischen Standpunkt  bei  seinen  Programmsinfonien  ver- 
zichtet, soll  der  Zuhörer  nie  vergessen  und  dem  Compo- 
nisten  mit  einiger  Gutwilligkeit  —  den  poetischen  Gegenstand 
der  musikalischen  Schilderung  fest  im  Kopfe !  —  entgegen- 
kommen. In  diesem  Falle  wird  man,  wie  es  beabsichtigt 
ist,  die  Formen  und  den  Ideengang  der  Liszt^schen  Or- 
chestercompositionen leichter  finden,  als  die  anderer  pro- 
grammloser Sinfonien,  und  ihnen  Anregung  und  Genuss 
verdanken. 


ce     318     ^ 

Die  Liszt*8chen  Orcheaterwerke  umfassen  —  ausser 
einigen  Bagatellen  —  2  Sinfonien  und  12  sogenannte  sin- 
fonische Dichtungen.  Unter  den  beiden  Sinfonien  ist  die 
im  Jahre  1855  geschriebene  Faustsinfonie  (nach  Goethe) 
die  durch  die  Menge  der  Ideen  und  durch  die  Kunst,  mit 
welcher  sie  entwickelt  sind,  hervorragendere.  Sie  ist  in 
drei  Sätzen  gehalten,  welche  Liszt  „Charakterbilder'  nennt, 
womit  also  ein  Anschluss  an  den  scenischen  Verlauf  der 
Goethe*8chen  Dichtung  von  vornherein  abgewiesen  wird. 
Hierin  verfahrt  Liszt  ungleich  mehr  musikalisch,  als  Ber- 
lioz  in  „Romeo  und  Julie*^. 

Der  erste  Satz  (Lento  und  Allegro,  C,  (^,  '/4,  C  dur  und 

F.  Liiit      CmoU)  gilt  der  Hauptfigur  des  Gedichtes,  dem  „Faust*. 

Faust-Sinfonie.  Während  die  Normalsinfonie  zwei  Themen  im  ersten  Satz 

aufstellt,  bringt  Liszt  hier  vier,   die  die  hervortretendsten 

Züge  der  Faustnatur  veranschaulichen  wollen:    das   grü.- 

belnde,    melancholisch  -  dämonische  Element,   das  Ringen 

und  Streben,  das  Liebessehnen,  die  heroisch  thatenfrohe 

Seite  seines  Wesens.    Das  erste,  Zweifel,  Gram,  GefUhl  der 

Oede  ausdrückend: 

*  Lento. 

-^'— -r^iit^^-  -  ~i  ^^''"^^  ^^  seiner  vorderen  Hälfte  auf 
-rit— ^'^^y^^^'^  dem  übermässigen  Dreiklang.    Gewiss 

J*  dolente 

ist  dieser  bis  dahin  noch  niemals  in  ähnlicher  Weise  für 
ein  Sinfoniethema  verwendet  worden  und  hat  bei  den  ersten 
Aufführungen  desLiszt'schen  Werkes  ungewöhnlichesStaunen 
erregt.  Aber  um  auf  den  überspannten  Zug  in  Faust's 
Geist  hinzuweisen,  war  das  Mittel  glücklich  gewählt.  Das 
Thema  findet  seine  nächste  Fortsetzung  in  einer  Reihe 
kleiner,  freier  Monologe,  die  zwischen  den  Bläsern  wech- 
selnd, die  äusserste  Niedergeschlagenheit  aussprechen.  Im 
11.  Takte:  Stocken,  Fermate!    Darauf  repetirt  der  Satz 

von  C  aus  und  tritt  dann  in  ein  wildes  Allegro  (C,  ^Z^,  ^j^ 
über,  in  welchem  die  Klagen  des  Hauptmotivs  von  den 


CO     319     "^ 


Flammen  der  Verzweiflung  und  Empörung  umlodert  er- 
scheinen. Bereits  hier  wird  eine  Schwierigkeit  sehr  be- 
merkbar, die  der  Hörer  im  ganzen  Verlauf  der  Sinfonie 
immer  wieder  zu  überwinden  hat.  Das  ist  die  metrische 
Mannigfaltigkeit  der  Musik.  Es  findet  fortwährend  Wechsel 
von  Takt  und  Rhythmus  statt.  Wer  zu  schlafen,  zu 
träumen  und  nur  äusserlich  zu  hören  gewöhnt  ist,  erhält 
harte  Stösse;  nur  mit  lebendiger  Phantasie  und  regem 
Geist  erwirbt  man  sich  den  Genuss  an  diesem  Kunstwerk  I 
Das  zweite  Thema,  das  von  der  ausgeführten  Gruppe  des 
ersten  durch  ein  kurzes  Lento  getrennt  wird,  ist  weniger 
original  als  das  erste,  erinnert  an  Spohr^sche  und  Schu- 
mann^sche  Weisen;  aber  wirkt  an  seiner  Stelle  warm  und 
edel.  Es  repräsentirt  lebenswilligere  Elemente  der  Faust- 
natur: Ringen,  Streben,  Hoffen.  Das  Hauptglied  seines 
technischen  Organismus  bilden  die  folgenden  Takte: 
Allegro  agltato. 


vjoi: 


Am  Schlüsse  des  Satzes,  der  dieses  Thema  entwickelt, 
wird  die  Stimmung  wieder  trostlos:  die  Bläser  klagen 
und  bitten: 


Es  folgt  eine  kurze  Episode  (Meno  mosso,  ''4  und  *l^) 
traumhaft  phantastischen  Charakters,  in  welcher  schatten- 
hafte Figuren  (Violini  con  sordini)  das  erste  Thema  flüchtig 
umschweben.  Wie  eine  freundliche  Vision  erscheint  nun, 
eingeleitet  durch  eine  Art  Recitativ,  in  dem  Cello  und 
Violine  leidenschaftlich  die  Schlussnoten  vom  ersten  Thema 
austauschen  als  drittes  Thema  eine  Melodie,  aus  den  beiden 
letzten  Takten  vom  Thema  a  entwickelt,  welche  dem 
schwärmerischen    Zuge    im    Faust,    seinem    Sehnen    und 

Lieben  gilt: 

AadABte. 

j»^ —  ^ 

BrfttMkta 


co     320     ^ 


Sie  setzt  im  neuen  Tempo  ein ,  wechselt  die  Taktarten, 
schliesst  nicht  streng  ab  und  veranschaulicht  damit  auf 
einmal  die  ganze  Reihe  Freiheiten  der  Gestaltung,  in 
denen  Liszt  zum  Zweck  einer  lebendigen,  dramatischen 
Darstellung  vom  üblichen  Gange  abweicht.  Man  wird 
dieses  Thema  auch  im  zweiten  und  im  dritten  Theile  der 
Sinfonie  wieder  finden.  £s  bildet  eins  der  wichtigsten 
, Leitmotive'  des  Werks,  deren  Princip  Liszt,  wie  schon 
angedeutet,  von  Berlioz  übernommen  hat.  Faust  trennt 
sich  von  dem  beglückenden  Bilde  wie  vom  Freudenrausche 
ergriflfen;  die  Energie  erwacht  wieder  (Allegro  con  fuoco, 
dem  das  Sechzehntelmotiv  vom  Thema  b  zu  Grunde  liegt), 
Thatkraft  und  Stolz  regen  sich  und  finden  ihren  Ausdruck 
in  dem  spannend  eingeleiteten  vierten  Thema: 

Or&ndloso.  #       jT«  ♦^ 


Wer  die  Vorzeichnungen  der  hier  mitgetheilten  Themen 
ansieht,  kann  nicht  im  Zweifel  sein,  dass  Liszt  so  wie  mit 
der  Metrik  auch  mit  der  Harmonik  von  allem  Herkommen 
abweicht.  Es  ist,  wie  z.  B.  am  Anfang  des  Satzes,  zu- 
weilen schwer  zu  sagen  in  welcher  modernen  Tonart  wir 
uns  befinden.  In  C  begann  die  Themengruppe;  mit  dem 
hier  zuletzt  gebrachten  vierten  Glied  schliesst  sie  in  H  dur. 
Wir  treten  nun  in  den  Durchführungstheil  ein.  Denn  der 
erste  Satz  der  Faustsinfonie  hält  an  der  üblichen  Gliederung 
in  Themengruppe,  Durchführung,  Reprise  fest.  Diese 
Durchführung  beginnt  mit  einer  Combination  des  vierten 
und  dritten  Themas,  das  letztre  allerdings  in  Moll  und 
Leidenschaft  verwandelt;  dann  folgt  ein  zweiter  Abschnitt 
der  erstes  und  zweites  Thema  gegen  einander  stellt,  von 
jenem   durch   einen   Uebergangssatz    heftigen   Charakters 


e<?       321       'S- 

getrenDt.  Der  dritte  Abschnitt  der  Durchführung  zeigt 
das  zweite  Thema  allein  zur  Herrschaft  gelangt  aber  mit 
einem  Znsatz  von  Erregung  und  Wildheit  der  die 
Physiognomie  mit  der  es  in  der  Themengruppe  auftritt, 
vollständig  ändert.  Sehr  natürlich  und  folgerichtig  führt 
diese  Wendung  in  die  Reprise  hinüber.  Das  erste  Thema, 
als  höchster  Ausdruck  von  Fausfs  Seelenleid,  kehrt  wieder 
und  mit  ihm  die  ganze  Themengruppe  aber  mit  Modi- 
ficationen,  welche  als  die  moralischen  Wirkungen  des 
Thema  e)  au&ufassen  sind:  Die  Liebe  hat  Faust's  Wesen 
verwandelt. 

Das  Yerhältniss  der  drei  Hauptgruppen  des  ersten 
Satzes  weicht  hiemach  in  Liszt^s  Faustsinfonie  vom  Her- 
kommen namentlich  dadurch  ab:  dass  der  Schwerpunkt 
aus  der  Durchführung  in  die  Reprise  verlegt  ist. 

Jene  ist  sehr  kurz  gehalten,  verfolgt  nur  den  Zweck 
den  Rückfall  von  der  heroischen  Stimmung,  mit  der  die 
Themengruppe  schloss,  in  die  verzweifelte  des  ersten 
Themas,  des  Anfangs  des  Charakterbildes  psychologisch 
zu  motiviren.  Die  Reprise  aber  ist  nichts  weniger  als 
blosse  Wiederholung  der  Themengruppe:  sie  zeigt  uns 
Faust*s  Inneres  noch  einmal,  führt  noch  einmal  die  Elemente 
der  ersten  Hauptgruppe  vorüber  aber  in  andrer  Anordnung, 
in  andrem  Charakter,  andren  Verbindungen,  sie  zeigt  einen 
neuen  Faust.  Mit  dieser  veränderten  Bedeutung  der  Re- 
prise knüpft  Liszt,  durch  ein  musikalisches,  poetisches 
Naturrecht  bereits  genügend  gestützt,  an  Anregungen  an, 
die  Beethoven  namentlich  in  seinen  grossen  Leonoren- 
Ouvertüren  gegeben  hat. 

Noch  in  zwei  andren  Punkten  weicht  die  Form  dieses 
Liszt'schen  Faustsatzes  von  der  Sinfonik  des  19.  Jahr- 
hunderts ab:  in  der  Beschränkung  der  motivischen  Ent- 
wickelung  und  in  der  Aeusserlichkeit  der  Uebergangsideen. 
An  beide  Erscheinungen  haben  seine  Gegner  bis  zu  einem 
gewissen  Grad  mit  vollem  Recht  ihre  Bedenken  und  ihren 
Tadel  geknüpft.  Gegen  eine  sparsamere  Verwendung 
motivischer  und  thematischer  Arbeit  lässt  sich  grundsätz- 
lich  schon   deshalb   wenig   einwenden,   weil,  dieses   Erbe 

Kretssohm»r,  Führer,  I.  21 


c<?     322     "^ 


einer  philosophisch  und  poetisch  sehr  reichen  Zeit  den 
geistig  ärmeren  Sinfoniecomponisten  von  heute  und  ihren 
Zuhörern  in  der  Regel  Verlegenheit  bereitet. 

Der  zweite  Satz  der  Faustsinfonie  ist  .Gretchen» 
Überschrieben.  Dieser  Gretchensatz  ist  durch  Einzelauf- 
fuhrungen  bekannt  geworden  und  hat  auch  in  denjenigen 
Kreisen  Freunde  gefunden  ^  welche  der  Natur  und  der 
Form  der  Faustsinfonie,  wie  überhaupt  der  ganzen  Liszt*- 
schen  Kunst,  apathisch  oder  feindlich  gegenüberstehen. 
Er  verdankt  diesen  Erfolg  der  gleichbleibenden  Freund- 
lichkeit des  Inhalts  und  der  gewinnenden  Einfachheit, 
mit  der  Gretchen^s  holde  Mädchengestalt  gezeichnet  ist. 
Dieser  Gretchensatz  (Andante  soave,  Hauptzeitmass :  '/«^ 
Asdur)  zeigt  die  auch  bei  langsamen  Sätzen  bekannter- 
massen  seit  Hajdn  übliche  Dreitheilung ,  das  Sonaten- 
schema aus  Themengruppe,  Durchführung  und  Reprise 
bestehend.  Ein  kurzes,  träimierisch  und  weich  schwärmen- 
des Präludium  von  Flöten  und  Clarinetten  leitet  den  Satz 
ein,  dessen  erstes,  schlichtes  Thema  einen  lieblichen,  zarten 
Charakter  hat: 


Andante 


^^m 


Beim  ersten  Eintritt  trägt  es  die  Oboe  vor:  nur  von  einer 
Bratsche  begleitet,  ein  Meyerbeer'scher  Instrumentations- 
effekt! Liszt  hat  aber  diese  dürftige  seltsame  Begleitung 
aus  innem  Gründen  gewählt:  Es  kam  ihm  darauf  an  die 
Gestalt  Gretchen*s  zwar  eigen,  aber  ganz  bescheiden  und 
unscheinbar  einzuführen.  Bei  jeder  Wiederkehr  erscheint 
uns  die  zarte  Melodie  stattlicher  und  bedeutender.  Der  Zu- 
hörer hat  sie  zu  merken,  denn  im  Schlusssatz  der  Sinfonie 
übernimmt  sie  die  poetische  Hauptrolle.    Das  zweite  Thema : 


^ocv  cretc 


ee     323      ö- 

das  vom  beruhigten  Gemüth,  vom  heimlichen  sichren 
Liebesglück  zu  erzählen  scheint,  ist  eine  von  Liszt's  ge- 
lungensten Melodien.  Eine  sehr  gewählte  schöne  Harmonie 
erhöht  die  eigenartige  Wirkung.  Zwischen  den  beiden 
Themen  liegen  einzelne  frappante  Momente:  ein  Oboen- 
einsatz auf  einer  jähen  Modulation ,  als  wenn  in  Gretchen 
plötzlich  der  Gedanke  an  Faust  erwachte:  eine  kleine 
Episode,  in  welcher  zuerst  Flöten  und  Clarinetten,  dann  die 
Violinen  mit,  erst  schlichtem  und  leise,  dann  laut  und  stür- 


misch erregt,  um  die  Motive  -m-^h  J^^ 


und 

wie  um  ,Er  liebt  mich*  und  ,er  liebt  mich  nicht*  spielen. 
Bald  nachdem  das  zweite  Thema  verklungen,  setzt  das 
Hom  mit  dem  Liebesgesang  des  ersten  Satzes  ein 
(S.  Thema  c):  Faust  tritt  auf!  Mit  diesem  Momente  be- 
ginnt der  zweite  Theil  des  Andante,  verläuft  aber  sehr 
ungewöhnlich.  An  Stelle  -einer  Durchfuhrung  und  Ver- 
arbeitung der  eben  gehörten  beiden  Themen  bringt  Liszt 
Reminiscenzen  aus  dem  ersten  Satz  der  Faustsinfonie. 
Zu  dem  Liebesthema  treten  die  Klagen  Faust^s  die  Motive 
des  Ringens  und  Hoffens  (Thema  b).  Zum  Theil  erscheint 
die  Musik  als  eine  wunderschöne  Scene  des  Gefühlsaus- 
tausches, über  welche  der  Instrumentenklang  magisches 
Mondlicht  leuchten  lässt.  In  Faust's  Seele  wird  es  ruhiger 
und  milder,  seine  düstren  Gedanken  überkleidet  ein  heller 
Schimmer;  Jubel  und  Jauchzen  klingen  aus  seiner  Brust. 
Dann  wird  schnell  abgebrochen,  als  wenn  eine  Vision  plötz- 
lich schwindet.  Die  Reprise  setzt  ein,  bringt  das  erste 
Thema  mit  4  Soloviolinen,  citirt  nochmals  kurz  das  Liebes- 
thema und  geht  über  das  zweite  Asdur-Thema  schnell 
zum  Schluss. 

Der  dritte  Satz  fuhrt  den  ^Mephistopheles*  ein.  Die 
ersten  Takte  entwerfen  kurz  und  meisterlich  das  Signale- 
ment des  kalten,  frechen,  kecken,  frivolen  Patrons,  geben 
ein  Bild  von  seiner  herausfordernden  Gemeinheit  eben- 
sowohl als  von  der  vollendeten  Sicherheit  und  Leichtigkeit 
seines  Auftretens.    Dann  beginnt  die   , Spottgeburt*   ihre 

21* 


e<?      824      «- 


Arbeit:  spotten,  verneinen  und  verhöhnen.  Die  Themen 
Faust's  aus  dem  ersten  Satx  werden  veraerrt,  verrenkt  und 
mit  burlesken  Schnörkeln  versehen.  Das  erste  Thema  wird 
durch  Tempo  und  angehängte  Figuren  wir  Fratze  gemacht, 
das  zweite    durch  einen    bissigen  Rhythmus   in  folgende 

Alle^ro  vivace. 

Missgestalt  verwandelt:  ^^^^ 


Zur  b<'sonderen  Zielscheibe  seines  malitiösen  Humors  hat 
sich  Mephbto,  ,der  Geist,  der  stets  verneint*,  das  Liebes- 
motiv der  Sinfonie  ausersehen.  Er  eerreisst  es,  wirft  die 
Stucke  hin  und  her,  verfolgt  es  unaufhörlich,  zieht  ihm 
Narrenkleider  an: 


Allrgro. 


rpatJ^JÜ^ 


—  und  auf  dem  Gipfel  des  üebermuthes  angelangt,  jagt 
er  es  endlich  in  einer  regelrechten  Fuge  zu  Tode.  Es 
ist  etwas  dämonisch  Fortreissendes  in  dieser  Schilderung 
der  Mephistofeiischen  Lustigkeit,  und  die  Bewunderung, 
die  wir  der  Virtuosität  zollen  müssen,  mit  welcher  Liszt 
die  Themen  der  frühern  Sätze  umgebildet  hat,  wird  in 
Nichts  dadurch  vermindert,  dass  wir  uns  an  das  Muster 
erinnern,  welches  in  der  Sinfonie  fantastique  von  Berlioz 
hierfür  bereits  vorlag.  Denn  dieses  Muster  hat  Liszt  be- 
trächtlich überboten.  Hier  ist  die  motivische  Arbeit,  auf 
die  im  ersten  Satz  verzichtet  wurde,  glänzend  und  in  neuer 
Weise  geleistet.  Es  kommen  übrigens  in  diesem  Finale 
der  Faustsinfonie  doch  Momente  vor,  welche  über  ein 
Charakterbild  Mephisto^s  im  engeren  Sinne  hinausgehen 
und  an  den  Verlauf  der  GoetheWhen  Dichtung  anknüpfen : 
Mitten  in  den  wildesten  Excessen  der  Höllenmusik  ertönen 
feierliche  und  dumpfe  Klänge,  die  an  Grab  und  Geister- 
weit  erinnern.  Die  erste  Mahnung  dieser  Art  erklingt, 
nachdem   wie  unter  Hohngi^läehter  Faust's  erstes  Thema 


=o     825     ^ 

(mit  dem  übermässigen  Dreiklang)  vorübergezogen  ist,  ernst 
und  schwer  unter  Paukenbegleitung  von  den  Bläsern  her. 
Sie  kehrt  sofort  wieder  als  die  Bratschen  jenes  oben  ge- 
gebne Fugenthema  eingesetzt  haben,  die  warnenden  und 
drohenden  Stimmen  lassen  sich  dann  während  der  Ver- 
spottung von  Faust's  heroischem  Thema  breiter  und  schauer- 
licher vernehmen  (Gestopfte  Homer!).  In  seiner  ,  Hunnen - 
Schlacht**,  wo  ein  ähnlicher  Geisterkampf  geschildert  wird, 
behandelt  Liszt  beide  Parteien  gleichmässig  breit.  Hier 
steht  nur  Mephisto  in  voller  Tageshelle  auf  dem  Bild; 
die  Himmelsmächte  stecken  gewissermassen  in  den  Wolken, 
aber  für  Jeden,  der  den  Componisten  überhaupt  verstehen 
will,  deutlich  sichtbar.  Den  Sieg  entscheidet  schliesslich 
Gretchens  blasses  Bild.  Im  Hauptthema  des  zweiten  Satzes 
schwebt  es  heran  und  wird  nach  einem  langen  letzten  An- 
sturm, in  dem  die  gesammte  Teufelsmusik  noch  einmal 
durchgenommen  wird  zum  Zauberschild,  vor  welchem 
Mephisto  das  Feld  räumt:  Die  Musik  geht  in  ruhigen 
Orgelton  über,  ein  Männerchor  tritt  auf  und  declamirt  in 
der  alten  knappen  Weise  der  frühchristlichen  Psalmodie 
„Alles  Vergängliche  etc.* :  Der  Solotenor  flicht  in  diese 
einfach  weihevollen,  kirchlichen  Klänge  zum  letzten  Male 
Gretchenmotive  hinein,  und  so  klingt  das  Werk  mit  einer 
mystisch  verklärten  Wendung  aus. 

Liszt's  im  Jahre  1856  vollendete  Dante-Sinfonie  F.  LUxt 
hat  nur  zwei  Abtheilungen:  Inferno  und  Purgatorio,  Na- ^»nte-Sinfonie. 
men,  die  uns  in  Phantasiegebiete  führen,  welche  die  Musik, 
in  erster  Linie  die  kirchliche,  seit  alten  Zeiten  oft  genug 
aufgesucht  hat.  Gegen  einen  ursprünglich  geplanten  dritten 
Theil:  , Paradies*  sprach  R.  Wagner  im  Juni  1855  leb- 
hafte Bedenken  aus.')  Dass  Liszt  in  seiner  Schilderung 
von  Hölle  und  Fegfeuer  der  Divina  Comedia  Dantes  folgt, 
wird  aus  einzelnen  Zügen  des  ersten  Satzes  bemerkbar, 
namentlich  durch  die  süsse  Scene,  welche  der  Erscheinung 
des  classischen  Liebespaars,    Francesca    und    Paolo,   ge- 


')  Briefwechsel  zwischen  Wagner  und  Liszt  (1887).   I.  Band. 
8.  78. 


c(?     326     ^ 

widmet  ist.  Keineswegs  aber  versucht  der  Compoiiist  die 
ganze  Pragmatik  der  Dichtung  ins  Musikalische  zu  über- 
tragen und  den  Dichter  auf  allen  Gängen  zu  begleiten, 
sondern  beschränkt  sich,  wie  in  der  Mehrzahl  seiner  Pro- 
grammcompositionen, auch  hier  darauf,  wenige  hervor- 
ragende Ideen,  solche,  die  musikalisch  fassbar  sind,  nach- 
zudichten und  denjenigen  Theil  ihrer  Seele  blosszulegen, 
welchen  die  Töne  voller  und  mächtiger  wiedergeben  können 
als  die  Worte.  Das  Inferno  trägt  eine  Art  musikalische 
Ueberschrift :  eine  wuchtige  Melodie  der  Blasinstrumente, 
die  das  hier  stehende  Thema 


T-^'  Ff^    unter    unheimli- 


cher Begleitung  von  Paukenwirbel  und  Tamtamschlägen 
in  dreimaligem  Anlauf  höher  und  höher  tragen.  Diese 
Melodie  soll  uns  die  Worte  vor  die  Phantasie  rufen,  die 
über  Dante^s  Höllenthor  stehen:  ,Per  me  si  va  nella  citta 
dolente  etc.*  Das  berühmte  ^Lasciate  ogni  speranza  etc.*, 
von  Trompeten  und  Hörnern  in  dem  bekannten  Stile  der 
Opemorakel  und  Geistererscheinungen  hingeschmettert,  bil- 
det ihren  Abschluss: 

Lento. 


Der  nun  folgende  erste  Theil  gilt  der  Schilderung  der 
Hölle,  ihrer  Schrecken  und  Schauer,  und  bestreitet  diese 
Aufgabe  mit  dem  Aufgebot  aller  düstem  und  furchtbaren 
Elemente  der  modernen  Musik :  mit  chromatischen  Figuren 
und  Motiven,  mit  freien  Nonenaccorden  und  zusammenge- 
ketteten Dissonanzharmonien,  mit  einer  bald  zuckenden, 
bald  fieberisch  hastenden  Rhythmik,  mit  Instrumenten- 
combinationen,  die  drohen  und  ängstigen,  mit  allen  Hülfe- 
mittein  der  Tonwelt  in  ihrer  doppelten  Natur,  als  Kunst 
und  als  Naturerscheinung.  Den  Abschluss  dieser  Partie 
bildet  die  erneute  Intonation  des  Themas  des  ^Lasciate*, 
jetzt  noch  von  Posaunen  und  Tuben  verstärkt.    Und  nun 


<^     827     ^ 

erklingen  doppelte  Harfen,  duftig  und  leicht  schweben 
Figuren  in  Flöten  und  Violinen  auf  und  nieder,  die  Bass- 
clarinette  stimmt  ein  Recitativ  an :  Clarinetten  und  englisch 
Hörn  lösen  sich  mit  schmachtenden  und  wehmütigen  Weisen 
ab:  Das  classische  Paar  erscheint  in  der  Hülle  eines  mu- 
sikalischen Dialoges.  l)as  Cello  beginnt  an  einen  kurz  vor- 
her gehörten  Zwiegesang  der  Clarinetten  anlehnend  mit: 

Quasi  Andantf.  _ 

yMlUt    ^^T^^   rrTT'r     iTF     .  DieVioUnen, 

bald  von  den  Bläsern  unterstützt,  antworten: 
Andante  amoroso. 

Material  entwickelt  sich  ein  breiter  Satz,  der  zu  Liszfs 
schönsten  Erfindungen  zählt  und  an  Zärtlichkeit,  Innigkeit 
und  Wärme  an  das  Beste  heranreicht,  was  die  moderne 
Oper  auf  diesem  Gebiete  aufzuweisen  hat.  Das  Thema 
des  „Lasciate'  verscheucht  dieses  liebliche  Bild,  und  die 
Greuel  der  Hölle  vollführen  einen  zweiten  Reigen. 

Wenn  dieser  Satz  im  Totaleindruck  Liszt  vorwiegend 
von  der  Seite  des  unerbittlichen  Charakteristikers  zeigt,  so 
ist  der  Purgatorio  dagegen  eine  Idylle  grössten  Stils,  durch- 
aus anheimelnd  und  mehr  als  das:  auch  erhebend.  Der 
erste  Theil  des  Purgatorio  beginnt  wie  eine  Scene  auf  der 
Bergeshöhe:  Leise  säuselnd  sammeln  sich  helle  Accorde 
und  umwogen  uns  wie  leichte  Wolken,  anmuthig  sanfte 
Melodien,  die  in  Wagner*s  „Charfreitagszauber*  passen 
würden,  wechseln  mit  einer  religiösen  Weise: 
Andante. 

w  ji«  J  j  J  I «   J  J  I  •    I.    Mit  Recitativen  und  einsamen 


Violinfiguren  wird  Umschau  gehalten,  nach  dem  Wege 
zum  Himmel  gesucht  und  leise  der  Erde  gedacht,  die  mit 
ihren  Leidenschaften  unendlich  weit  abliegt  von  diesem 
reinen  Gefilde.  Den  zweiten  Theil  des  Purgatorio  bildet 
ein  Fugensatz  über  folgendes  Thema: 


c<?     328     ^ 

Luientos«. 


'  ^^JI]  S*^  r  "li^  -  •    •^'^  diesem  Fugensatze  klingen  Rc- 

signation  and  BetrUbniss.  Das  oben  angeführte  religiäse 
Thema  schliesst  ihn  ab  und  leitet  zum  letzten  Abschnitte 
des  Purgatorio  über:  einen  Choraatz.  In  ihm  intoniien 
Frauenstimmen  das  Magnificat  und  führen  seine  fromnoen 
Themen  in  einer  einfachen  Weise  durch,  welche  sich  d»m 
Palestrinastil  nähert.  Das  Orchester  geht  in  schimmern- 
den Klängen  mit;  bald  zart  und  mystisch  wie  eine  Aeoli- 
harfe,  bald  mächtig  und  in  ruhiger  Pracht  dahinrauschenc. 
Liszt  hat  für  diesen  Schluss  zwei  Lesarten  gegeben,  voa 
denen  die  erste  leise  ahnungsvoll  verhallt,  die  andere  ex- 
statisch  und  verzückt  im  Forte  abbricht. 

Eis  wird  an  anderer  Stelle^)  auszuführen  sein,  wie  Liszt 
in  seiner  weitem  Entwickelung  dazu  kam  die  mehrsätzige 
Sinfonie  aufzugeben  und  sich  ausschliesslich  dem  neuen 
Typus  der  sogenannten  „sinfonischen  Dichtungen*,  die 
durchaus  einsätzig  sind,  zuzuwenden.  Im  Inland  und  Aus- 
land ist  auf  diesem  Gebiete  Liszt*s  Grefolgschaft  immer 
gewachsen,  die  mehrsätzige  Programmsinfonie  gedeiht  da- 
gegen nur  spärlich. 

Joachim  Raff,  ist  der  Tonsetzer,  welcher  sie  nach 
Berlioz  und  Liszt  am  erfolgreichsten  vertreten  hat.  Es 
kommen  hier  unter  seinen  neun  Sinfonien  die  Sinfonie 
,Im  Walde*  (op.  153)  und  die  .Lenore*  (op.  177)  als  dio 
verbreitetsten  in  Betracht.  Raff  hat  in  beiden  Werken  die 
viersätzige  Gestalt  der  Sinfonie  etwas  unkenntlich  gemacht, 
indem  er  seine  Compositionen  in  drei  Abtheilungen  grup- 
pirt;  aber  wenn  man  die  einzelnen  Abtheilungen  näher 
prüft,  60  findet  sich  der  vermisste  vierte  Satz  irgendwo  als 
blinder  Passagier. 

In  der  Waldsinfonie  führt  der  erste  Satz  den  Titel: 


1)  Im   8.  Band   dieses  Werkes,   der  Concerte,   Ouvertttren, 
Variationen  und  andre  einsätzige  Orchestercompositionen  enthält. 


co     829     -ö» 


,Am  Tage:  Eindrücke  und  EmpfinduDgen'.  Er  ist  origi- 
nell eingeleitet  durch  einige  präludirende  Takte,  in  welchen 
die  beiden  Hauptthemen  des  Satzes  verkürzt  ihre  Schatten 
voraus  werfen.  Das  erste  Thema  setzt  dann  im  munteren 
Wandertone  ein: 


AUegro 


.  Der  Abschluss  desselben  und 


die  Ueberleitung  zum  zweiten  Thema  dauern  etwas  lange, 
dann  aber  kommt  letzteres  als  ein  echter  Raff: 


i'  *>c»  ^u~^^j  \  ^^r^yj,^-^t^ 


J.  Raff 

Jm  W»lde". 


S^j  Tlj^l — j^^ — -.  Die  Terzenbegleitung  der  Melodie,  Nonen- 

akkorde  als  harmonische  Stütze  der  Hauptpunkte  gehören 
zum  Signalement  dieses  Componisten;  wenn  er  zum  Ge- 
müthe  sprechen  will,  kommt  ihm  in  der  Hälfte  aller  Fälle 
diese  volksliedartige  Weise  auf  die  Zunge.  Sie  folgt  ihm 
wie  eine  Erinnerung  aus  Heimath  und  Kinderjahren  und 
fehlt  fast  in  keinem  von  Raff*»  grösseren  Werken.  Die 
Anlage  des  Satzes  ist  die  für  ein  erstes  Allegro  der  Sin- 
fonie übliche.  In  der  Durchführung  treten  zu  den  beiden 
Haupthemen  noch  allerhand  kleine  Waldteufel;  auch  ver- 
schiedene niedliche  Kunststücke  (Canons  etc.)  hat  der  Com- 
ponist  hier  untergebracht,  welche  kaum  Jemand  beachtet. 
Die  schönsten  Stellen  des  Satzes  liegen  abseits  vom  Haupt- 
wege: da  wo  das  Orchester  still  den  einfachen  Rufen  des 


Homs  lauscht:     A  j     |      i     | 


Die  zweite  Abtheilung  betitelt:  „In  der  Dämmerung' 
besteht  aus  zwei  Sätzen:  A.  „Träumerei',  B.  „Tanz  der 
Dryaden*,  welche  dem  Adagio  und  dem  Scherzo  entsprechen, 


c<?     330     ^ 


wie  wir  sie  soDst  in  der  Sinfonie  zu  finden  gewohnt  sind. 
Raff  bat  sie  dadurch  enger  verbunden,  dass  er  ohne  Pause 
in  das  Scherzo  übergebt  und  an  dessen  Schlüsse  das  Haupt- 
thema des  langsamen  Satzes  noch  einmal  anklingen  lässt. 
In  der  .Träumerei*  ist  die  Führung  einer  Melodie  über- 
tragen: 

Adario. 
•ulG 


f— y-  J)  IJ   J  I  J      an  welcher  man  die  Kunst  bewundem 


kann,  mit  welcher  Raff,  ein  Genie  der  Eklektik,  Beet- 
hoven*8che,  Schumann*8che  und  Wagnerische  Elemente  zu- 
sammenzuschmelzen verstand.  Der  in  seiner  Wirkung  edle 
Gesang  entspringt  der  Brust  des  Träumers.  Die  Traum- 
bilder selbst,  welche  sich  diesem  zeigen,  bestehen  aus 
leichten  Gaukeleien:  concertirenden  Figuren  und  Phrasen 
der  Bläser.  Der  „Tanz  der  Dryaden*  —  Hauptsatz  Amoll, 
Trio  A  dur  —  ist  nichts  als  ein  Pflichttanz,  eine  jener  rein 
handwerksmässigen  Leistungen,  die  den  Genuss  der  Raff- 
'schen  Compositionen  immer  wieder  erschweren.  Die  dritte 
Abtheilung  der  Sinfonie  heisst:  „Nachts.  Stilles  Weben 
der  Nacht  im  Walde.  Einzug  und  Auszug  der  wilden  Jagd 
mit  Frau  Holle  und  Wotan.  Anbruch  des  Tages*.  Man 
muss  fragen,  wie  kommt  auf  einmal  die  nordische  Sage 
mit  Frau  Holle  und  Wotan  in  ein  Tonwerk,  welches  sich 
—  unbeschadet  des  Dryadencitats  —  bisher  in  der  Sphäre 
einer  reinen  Naturdichtung  bewegt  hat?  Indess  beginnt 
der  Satz  zwar  gar  nicht  nächtlich,  aber  musikalisch  sehr 
ansprechend  mit  einer  Fuge  über  ein  Thema: 

AUeg^ro. 


^BfULi  \f^rfT[n  r  \r  i  t  r  \r '  r  \r  t  r  \^' 


j'p 


welches  ziemlich  ähnlich  auch  dem  Componisten  C.  Gk)ld- 
mark  bei  seiner  Sinfonie  „Ländliche  Hochzeit*  eingefallen 


ce     331     e» 


ist.  Aber  dann  Überkommt  Berlioz's  böser  Geist  den  Ton- 
setzer und  auf  Conto  der  »Frau  Holle*  entfesselt  er  ein 
SpectakelstUck ,  das  noch  hässlicher,  dabei  aber  viel  ge- 
wöhnlicher und  uninteressanter  ist,  als  die  Höllenscenen 
der  Sinfonie  fantastique  und  die  Orgien  des  Childe  Harold. 
Eine  Coda\  welche  die  Fuge  wieder  aufnimmt  und  leise 
verklingen  lässt,  sucht  den  Endeindruck  zu  retten. 

Die  Sinfonie  «Lenore*^  ist  Raff's  beste  Leistung  auf 
dem  hier  in  Betracht  kommenden  Gebiete:  ein  edel  ge- 
dachtes Werk,  frei  von  den  Auswüchsen  einer  ästhetischen 
Halbbildung,  und  musikalisch  das  Beste  zusammenfassend, 
was  Raff  zu  bieten  hatte.  Eine  volle  Originalität  der  mo- 
tivischen Erfindung,  wie  wir  sie  von  den  Führern  und 
Meistern  unserer  Kunst  verlangen,  ist  auch  in  der  Lenore 
nicht  zu  finden.  Fast  jedes  ihrer  Themen  zeigt  in  einem 
Theile,  zuweilen  in  der  ganzen  ersten  Hälfte  auf  fremdes 
Eigenthum,  hier  sind  Beethoven*s  Quartette  die  Quelle, 
dort  tritt  uns  Schumann*s  Klavierconcert  entgegen.  Aber 
die  einmal  aufgestellten  Gedanken  sind  in  dieser  Sinfonie 
zuweilen  mit  dem  Schwung  und  der  Wärme  behandelt, 
die  den  grossen  Künstler  macht,  und  verfiele  nicht  Raff 
auch  hier  hin  und  wieder  in  bequeme  Breite,  in  das  rein 
formale  , Musikmachen*,  so  würde  die  „Lenore*  geeignet  sein, 
den  Namen  ihres  Schöpfers  bei  der  Nachwelt  zu  verewigen. 

Die  erste  Abtheilung  der  Sinfonie  schildert  das  „Lie- 
besglück*. Sie  besteht  aus  zwei  selbständigen  Sätzen,  die 
dem  gewöhnlichen  ersten  Allegro  und  dem  Adagio  in  der 
Sinfonie  entsprechen.  In  dem  Allegro  herrscht  ein  erregter 
Geist.  Die  Liebe  spricht  in  Tönen  des  Ueberschwangs, 
in  Themen,  die  kein  Ende  finden  wollen: 

,   Allegro. 


J.  Baff 

Lenore. 


!^Oi.'r\r    ■: 


«<?     832     ^ 


j^_^_£^^__^  - .    Dem  Jubel  und  dem  still  glücklichen 

Sinnen  folgen  Scenen,  aus  denen  Sehnsucht  und  Dankbar- 
keit zugleich  sprechen. 


Einen  der  schönsten  Momente  des  Satzes,  einen  Augenblick 
still  süssen  Erinnerns,  zeichnet  Raff  wieder  mit  seinem 
Lieblingsgedanken,  mit  der  Terzenmelodio : 


In    dem    Durch- 


führungstheil  dieses  Allegro  lassen  sich  Klänge  banger 
Ahnung  hören.  Der  zweite,  der  langsame  Satz  der  ersten 
Abtheilung  gleicht  einem  Gespräch  der  Liebenden,  be- 
herrscht von  dem  ruhigen  Tone  der  des  Besitzes  sicheren 
Liebe.  Naive,  trauliche,  herzliche  Gedanken,  von  der  Art 
wie  das  Hauptthema  beginnt: 

Andaat«  larrhetto. 


PP 


^^,     werden     ausgetauscht; 


lächelnd  hält  der  Bursche  dem  Kosen  und  Flüstern  seines 
Mädchens  still,  freundlich  bestimmt  zusprechend  beschwich- 
tigt er  die  Sorgen  Lenores,  die  in  der  recitativartigen 
Gismoll- Episode  des  Satzes  einen  erregten  Ausdruck  finden. 
Die  zweite  Abtheilung,  betitelt  , Trennung*,  besteht  in  der 
Hauptform  aus  einem  Marsch,  der  alten  Zuschnitt  hat  und 
in  manchen  Wendungen  direkt  an  den  ^Hohenfnedberger* 
erinnert.  Der  Krieg  ist  ausgebrochen :  Wilhelm  muss  fort, 
Ein  Mittelsatz  (Agitato  in  Cmoll)  enthält  die  Abschieds- 
scene  der  Liebenden;  ein  Tonbild  aus  leidenschaftlichen, 
wie  rathlos  irrenden  Figuren,  wehmüthig  klagenden  Weisen 
und  schmerzvollen  Accenten  zusanunengesetzt.  Dann  setzt 
der  Marsch  wieder  ein,  am  Schlüsse  hört  man  ihn  wie  aus 


cG*     383     ^ 

der  Feme.  Es  ist  viel  poetische  Kraft  in  dem  einfachen 
Entwurf  dieser  zweiten  Abtheilung.  Die  dritte  Abtheilung 
behandelt  die  , Wiedervereinigung  im  Tode*  mit  Grab- 
und  Choralmusik,  in  welche  sinn-  und  wirkungsvoll  die 
Motive  des  Trennungsmarsches  und  der  langsamen  Liebes- 
scene  hineingezogen  sind.  Am  Anfang  der  Abtheilung 
bringt  Raff  wohl  im  Sinne  eines  Citats  den  Abschnitt: 
,Wenn  alle  Todten  auferstehen*  aus  der  grossen  Scene 
des  , Fliegenden  Holländers**  in  R.  Wagner's  gleichnamiger 
Oper.  Den  schauerlichen  Geistercharakter  der  Situation 
deutet  ein  in  den  tieferen  Instrumenten  unaufhörlich  wüh- 
lendes kurzes  Motiv   J'TS  J)  ***•     -A.m   Schlüsse   lässt   der 

Componist  über  den  Spuck' und  Lärm  der  Gespensterscene 
den  Vorhang  fallen  und  spricht  einen  sanft  wehmüthigen 
und  ergreifenden  Epilog. 

Von  den  übrigen  sieben  Sinfonien  Raff*s  gehören  noch 
mehrere  der  Programmmusik  an:  , In  den  Alpen*,  „Jahres- 
zeiten*, „An  das  Vaterland*.  Wie  die  unbenannten  Werke 
der  Gattung  aus  der  Feder  des  Componisten,  unter  denen 
die  G moll-Sinfonie  die  werthvoUste  ist,  theilen  sie  un- 
leugbare grosse  Schönheiten  mit  unbedeutenden  zierlichen 
Spielereien  und  öden  Partien  der  blossen  Routine.  Die 
Vonsüge  einer  ungewöhnlichen,  starken  Einbildungskraft, 
eines  warmen  Gemüths,  welche  dieser  Tonsetzer  besass, 
wurden  wett  gemacht  durch  den  Mangel  an  jener  Samm- 
lung und  Hingabe,  welche  ein  wesentlicher  Theil  der 
Poesie  selbst  ist,  durch  das  Fehlen  jener  Kritik,  welche 
Büreaudienst  vom  Dienste  der  Kunst  unterscheidet. 

Eine  andere  Sinfonie  „Lenore*,  die  ebenfalls  der  Bai- Aay.  Elayhardt 
lade  Bürger's  folgt,  ist  von  August  Klughardt  veröffent-  nLenoW. 
licht  worden.  Sie  hat  vier  Sätze,  unter  denen  ein  Adagio 
wegen  seines  Reichthums  an  innigem,  ungekünsteltem  Aus- 
druck hervorragt.  Auch  in  den  anderen  Sätzen,  wo  das 
Element  der  Situationsmalerei  überwiegt,  spricht  Gemüth 
und  Herz  in  fesselnden  Partien.  Das  Werk  ist  leider  zu 
wenig  bekannt  geworden. 

Unter  denjenigen  neueren  Sinfonien ,    welche   in   der 


oQ^     334     ^ 

hergebrachten  viersätzigen  Form  ein  Programm  durchzu« 
führen  suchen,  ist  als  eine  der  frühesten  Abert^s  ^Co- 
lumbus'^  zu  nennen.  Eine  der  musikalisch  gehaltvollsten 
Programmsinfonien  der  vermittelnden  Richtung  besitzen 
J.  Bheliib«iv«r wir  in  dem  «Wallenstein**  von  Jos.  Rheinberger. 
w»ilaiutein.  Der  Componist  hat  aus  der  Schiller*8chen  Trilogie  die 
Figur  der  ,Thekla*,  die  Lagerscene  mit  der  Capuziner- 
predigt  und  den  Tod  Wallenstein 's  zur  musikalischen  Illu- 
stration ausgewählt  und  diese  drei  Objecte  an  das  Adagio, 
das  Scherzo  und  das  Finale  der  Sinfonie  vertheilt.  Den 
noch  freien  ersten  Alle  grosatz  benutzt  er  zu  einem  »Vor- 
spiel*'. Das  letztere  fuhrt  uns  am  Anfang  mitten  hinein 
in  das  frische,  kräftige  Lagerleben: 
Allcgro  con  faoco. 


^j^  '  etcT 

Wallenstein  steht  hier  noch  fest  und  herrisch  in  der 
Menge ;  später  zeigt  ihn  der  Componist  in  seinem  Schwan- 
ken zwischen  düsteren  Ahnungen  und  freundlichen  Zu- 
kunftsträumen. Auf  letztere  bezieht  sich  wohl  das  eigen- 
thümliche  Thema  der  Bläser,  welches  mit  dem  langen 
Verweilen  auf  einem  Tone  beginnt  und  dann  so  traulich 
Schubert'sch  schliesst.  Einzelne  Melodien  des  Vorspiels 
sind  von  einer  so  ausgeprägt  weiblichen  Schönheit,  dass 
sie  uns  von  Wallenstein  weg  an  Max  und  Thekla  denken 
lassen.    Dahin  gehört  das  träumerisch  wiegende  Thema: 


.-^1  |,r-!  |-r>v,  ii>^T?%  ,f  f  I      welches  auch  in 

'^  I  [-  ^M  r^-rrrff-^  ^  '    I  ^  ^  dem  Adagio  der 

^'  _    : —     /         etc.  ^ 

Sinfonie  verwendet  ist.  Dahin  wohl  auch  die  italienisch 
anklingende,  direkt  mit  der  (erst  später  erfundenen)  ,Man- 
dolinata''  verwandte  Melodie: 

Piü  moderato. 


welche    die    Durchführung    einleitet    und    einen    grossen 
Theil    derselben   trägt.     Die  Nähe   der  Schicksakmächte 


^     335     '^ 

wird  im  Vorspiel  in  kurzen  schwermUthigen  Motiven,  in 
Fermaten,  welche  den  lebendig  bewegten  Gang  der  Dar- 
stellung bedeutsam  unterbrechen,  angedeutet.  Ihnen 
namentlich  scheint  die  hymnenartige  Melodie  zu  gelten, 
deren  Hauptmotiv  folgendes  ist: 

^»  f  |t'"    l'-"   I   i-T-f-f^yq-^^^   ,    Sie  tritt  immer 

in  dunkler  Instrumentirung  auf,  so  oft  sie  in  dem  Satze 
erscheint.  Beim  letzten  Male  geht  ihr  eine  sehr  eindring- 
liche Klage  aus  dem  Munde  der  Clarinette  voraus.  Auch 
im  zweiten,  im  langsamen  Satze  der  Sinfonie,  kehrt  sie 
wieder. 

Zu  den  leichtverständlichen  Werken  der  Programm- 
musik gehört  Rheinberger's  Tongemälde  nicht ;  am  wenig- 
sten das  , Vorspiel*  mit  seiner  Fülle  von  theil weise  sehr 
vieldeutigen  Themen.  In  der  musikalischen  Behandlung 
des  Materials  macht  sich  der  Einfluss  Beethoven*s  in  einer 
seltenen  Stärke  bemerklich.  Durch  das  , Vorspiel*  blickt 
deutlich  die  zweite  „Lenorenouvertüre*. 

Das  Adagio  der  Sinfonie,  ,Thekla*  überschrieben,  wird 
von  folgender  schönen  Hauptmelodie  getragen: 

^^''inj.ij.jj>jTiri  II  ij  1^ 


Auch  das  zweite  Thema  ist  in  seinem  mädchenhaften 
zarten  Charakter  nicht  misszuverstehen.  Während  es  die 
Bläser  singen,  begleiten  die  Violinen  mit  munteren  Motiven, 
welche  das  träumerisch  schwärmerische  Bild  der  Tochter 
Wallenstein's  mit  einem  anheimelnden  Zusatz  von  Zier- 
lichkeit ergänzen.  Am  Ende  der  Themengruppe  erscheint 
eine  kleine  Episode  erregter  Natur,  welche  der  Blumen- 
scene  Gretchen*s  in  Liszt's  , Faust*  ähnlich  ist.    Sie  stützt 

sich   musikalisch   auf  das  kleine  Motiv:    ,fa  ^   «"  i  J  J    . 

In  der  Schlusshälfte   des  Satzes  wird  Thekla  wiederholt 
von  Gefühlen  stürmischer  Unruhe  ergriffen.    In  einem  der- 


co     336     ^ 


artigen  Momente  ist  es,  wo  das  früher  erwähnte  Hymnen- 
thema  des  ersten  Satzes  beschwichtigend  eintritt. 

Das  Scherzo  ,Wallenstein*s  Lager*  wird  viel  einaeln 
aufgeführt.  Es  verdankt  diese  Bevorzugung  seiner  be- 
stimmten Charakteristik,  der  Einfachheit  seiner  Form  und 
seiner  launigen  Natur.  Die  Stütze  seines  Hauptsatzes 
bildet  das  Thema: 


AllcrreUo. 


■i^Birf^^ff^if        Um    dasselbe    herum    reiht    sich    eine 
_  *  kleine  Suite  lebendiger  Bilder,  welche 

das  Soldatenleben  von  seiner  fröhlichen  Seite  veran- 
schaulichen. Der  Triangel  klingt  mit  den  Becken ;  ab  und 
zu  giebt  auch  die  grosse  Trommel  grotesk  einen  dumpfen 
Schlag  darein.  Man  spielt  und  tändelt  anmuthig  und 
gemUthlich;  zuweilen  werden  auch  die  Scenen  wilder, 
barsch  und  derb.  Unter  den  vielen  Nebenthemen,  welche 
im  Satze  erscheinen,  macht  sich  besonders  das  folgende 
bemerkbar : 


^^ 


rr  r  \r  . 


Es  ist  die  Melodie  zu  ,Wilhelmu8  von  Nassau* ,  einem 
niederländischen  Reiterliede,  welches  in  der  Zeit  der  Re- 
formation sehr  beliebt  war.  In  versteckteren  und  offenen 
Anspielungen  durchzieht  dieser  Yolksgesang  das  ganze 
Scherzo  von  Anfang  an.  Schliesslich  intoniren  es  die 
Bläser  in  seiner  Originalgestalt  zur  Freude  des  Chorus, 
welcher  es  brausend  aufnimmt.  Da  auf  einmal:  General- 
pausen, Dissonanzen  —  ein  Wirrwarr  entsteht.  Der  Ca- 
puziner  ist  da!  Seine  Predigt  vertritt  das  Trio  des  Scherzo. 
Ausserordentlich  gelungen  hat  Rheinberger  den  bald  bis- 
sigen, bald  larmojanten,  bald  salbungsvollen  Ton  nach- 
geahmt, welchen  der  Pater  bei  Schiller  anschlägt,  und 
die  Drastik  der  originellen  Scene  wird  in  der  Musik  noch 
dadurch  erhöht,  dass  hier  auch  die  Reaction  der  unfrei- 


^     837     ^ 

willigen  Zuhörer  zu  einem  treffenden  lebendigen  Aus- 
druck kommt.  Der  Haupttrumpf,  welchen  die  über- 
müthigen  Landsknechte  dem  Strafredner  entgegenstellen, 
ist  das  Reiterlied. 

Der  vierte  Satz  der  Sinfonie,  «Wallenstein's  Tod*  hat 
einen  kurzen  Prolog  (Moderato  DmoU  ®/g),  welcher  den 
tragischen  Inhalt  des  Kommenden  in  schreckenden  und 
klagenden  Tönen  kurz  feststellt  und  dem  unglücklichen 
Helden  einen  edlen  Trauergesang  widmet.  Dann  beginnt 
mit  dem  Allegro  vivace  (Ddur  **/g)  eine  Schilderung  der 
letzten  Stunden  Wallenstein's.  Ein  Tongemurmel,  dem 
im  Scherzo  von  Beethoven's  Eroica  ähnlich,  sagt  uns, 
dass   die   Scene   in   der  Nähe    des   Soldatenlagers   spielt. 


Wir     hören     muntere        /   m  "nT'     -^^^^^?-F^ 
kriegerische     Weisen:        g  (i '  »  T    »^  -M-h- g^fcf-M^^^' 


Auch  Wallenstein  scheint  ihnen  zu  lauschen,  bis  er  all- 
mählich in  Träumereien  versinkt,  drückender  Natur  die 
einen,  liebenswürdig  entzückend  die  anderen: 


Das  Schlussbild  seiner  Visionen  (Allegro  C)  gleicht  einem 
Triumphzuge.  Wallenstein  erwacht.  Wieder  hören  wir 
den  Lärm  des  Lagers.  Der  Fortgang  ist  wie  vorhin.  Nur 
lenkt  die  Traumscene  jetzt  in  eine  wunderschöne  Schlum- 
merscene  (Adagio  ^/g  Hdur)  über.  Zum  dritten  Male  be- 
ginnt darauf  die  Musik  mit  der  Schilderung  des  Treibens  im 
Lager.  Wieder  träumt  Wallenstein.  Jetzt  aber  werden  die 
Motive  von  grellen  Signalen  der  Posaunen  und  Trompeten, 
von  wilden  Figuren,  von  Dissonanzen  und  von  einem 
grässlichen  Aufschrei  des  ganzen  Orchesters  abgelöst.  Die 
Katastrophe  ist  vorbei!  Mit  einem  kurzen  Epiloge,  dessen 
Knappheit  auf  die  Realistik  der  letzten  Scene  sehr  be- 
ruhigend wirkt,  entlässt  uns  der  Componist. 

Schiller    hat    neuerdings    zu    anderen    Programmsin- 
fonien   Veranlassung    gegeben,    die    im    Publikum    noch 

Kretzsohmar,  Führer,  I.  22 


o(?     838     ^ 


H.  HoftiaaB 

„Prithjof*. 


wenig  bekannt  geworden  sind:  M.  Moszcowsky's 
«Jeanne  d*Arc*,  J.  L.  Nicod^*»  .Maria  Stuart*  und  H. 
Huber'8  .Teil*. 

Eins  derjenigen  Werke,  in  welchem  zwischen  Pro- 
gramm und  Musik  nur  ein  lockerer  Zusammenhang  besteht, 
ist  die  früher  vielgespielte  Sinfonie  .Frithjof*  von  Hein- 
rich Hof  mann.  Der  Componist  beschränkt  sich  auf  den 
erotischen  Theil  der  bekannten  Sage  £.  Tegner*s,  und 
entwirft  in  dem  ersten,  zweiten  und  vierten  Satze  seiner 
Sinfonie  von  dem  Glücke  Frithjofs  und  Ingeborg^s,  von 
ihrer  Trennung  und  ihrem  Wiederfinden,  eine  Schilde- 
rung, welche  an  und  für  sich  beredt  ist,  aber  sicher  auch 
auf  jedes  andere  Liebespaar  ebenso  gut  passen  würde. 
Das  Localcolorit,  unter  welchem  wir  die  Bilder  nach  dem 
Titel  des  Werkes  gern  sehen  möchten,  ist  in  einem  ein- 
geschobenen dritten  Satze  .Lichtelfen  und  Reifiriesen* 
extra  beigegeben.  Im  ersten  Allegro  der  Sinfonie,  .Frith- 
jof  und  Ingeborg*  überschrieben,  wechseln,  in  der  Sprache 
der  modernen  Oper  geflüsterte,  zärtliche  Geständnisse, 
schmeichelnde  und  kosende  Reden  und  überschwäng- 
liche,  glühende  Erklärungen.  Die  beiden  Hauptgestalten 
sind  in  ihren  Themen  mit  Motiven  charakterisirt ,  welche 
im  Finale  der  Sinfonie  wiederkehren.    Frithjof  mit 


^=,  Ingeborg  mit: 


^^ 


Der  zweite  Satz  heisst  .Ingeborg's  Klage*.    Das  trauernde 
Mädchen  ist  repräsentirt  durch: 

Adag:to. 


und  durch  das  Schumann'sche  (Cdur- Sinfonie): 
Pi^  animato. 


-f^   r   r  njj'    J  TTZ.  V^^  ^  hoffende  durch: 


«<?     389     ^ 


A  ^g  ^J  ffl  j   J  |.    In  der  selir  kurzen  Durchführung  ist 


eine  Episode  der  Erinnerung  an  Frithjof  gewidmet.    Sie 
steht    auch  motivisch    mit   dessen   Thema   in   einem    er- 


kennbaren Zusammenhang:   ^^HV 


Die    , Lichtelfen*    des    dritten   Satzes    (.Intermezzo*) 
werden  durch  folgendes  Hauptthema  gezeichnet: 

AU«rro  moderato.  ^  i>^^ 


PI»     Yiol.  c.  8ord. 


r ^f r rri r  I' r4XUL££j;j I  f ^1*  . 

Die  »Reifriesen*  fuhren  über: 

h  JU   'jjj'   j^j    '  ^    ^i^   '  ^     j    /    ®">e°    Tanz 


^S 


aus,  dessen  wilder  Charakter  durch  hohe  Triller  und 
durch  compacte  Bläsermassen  noch  verstärkt  wird.  Die 
Erfindung  und  die  Entwickelung  der  Themen  zeigt  den 
Einfluss  von  Mendelssohn  und  Gade.  Das  Eigenste  des 
Componisten  liegt  in  der  lebendigen  Farbenmischung,  zu 
deren  Beizen  ein  Glockenspiel  einen  aussergewöhnlichen 
Beitrag  steuert. 

Der  vierte  Satz,  ^Frithjofs  Rückkehr*,  beginnt  mit 
einer  anschaulichen  Einleitung.  Hornsignale  tönen  von 
allen  Seiten,  allarmirende  Figuren  der  Violinen  rufen  uns, 
einem  festlichen  Ereigniss  zuzuschauen.  Die  heimathlichen 
Helden  kehren  als  Sieger  zurück,  wie  uns  das  aus  Wag- 
nerischen und  Weber'schen  Elementen  zusammengesetzte 
und  mit  einem  frischen  Kopfe  gekrönte  Hauptthema 
sagen  will: 

Alleg^ro  YiYao«. 


j-ii 


;£#. 


Die  Seitengedanken  und  das  zweite  Thema: 


22* 


^     840     '^ 


wenden  sich  intimeren  Herzensangelegenheiten  zu.  Schliess- 
lich erscheint  Ingeborg  mit  ihrem  Thema  aus  dem  ersten 
Satze  der  Sinfonie. 

Eine  kürzlich  veröflFentlichte  Programmsuite  H.  Hof- 
mann*s,  ,Im  Schlosshofe*,  gehört  zu  den  besten  Leistungen 
des  Componisten. 

Ebenso  und  noch  mehr  lose  als  im  ,Frithjof*  sind  die 
Beziehungen  zwischen  Titel  und  Inhalt    in  der  Sinfonie 
€•  doliaark  «Ländliche  Hochzeit*  von  Carl  Goldmark.    Der  Gregen- 
„L&ndliohe    stand  ist  für  ein  bescheideneres  Genrebild,  etwa  im  üm- 
HoobMü*".     fang  und  Stil  der  , Festklänge*  von  Liszt,  sehr  geeignet; 
aber  für  eine  Sinfonie  oder  eine  grosse  Suite  —  das  letztere 
ist    die    Goldmark*sche   Composition    eigentlich   —    nicht 
wichtig  genug.    Auch  ist  der  ländliche  Charakter  des  zur 
Darstellung  gewählten  Ereignisses  nicht  eben  eindringlich 
veranschaulicht;  einzelne  Partien  widersprechen  ihm  ge- 
radezu.   Aber  die  Goldmark'sche  Sinfonie  hat  ihren  mu- 
sikalischen Werth.    Sie  verbindet  Reichthum  der  Phan- 
tasie mit  einem  theilweise  eigenthümlichen ,  immer  aber 
fertigen  und  sicheren  Ausdruck. 

Der  erste  Satz  besteht  aus  einer  Reihe  von  12  Va- 
riationen. P.  Lachner  hat  diese  Form  für  den  Eingangs- 
satz der  Suite  eingeführt.  Von  ihm  unterscheidet  sich 
Goldmark  dadurch,  dass  er  die  Variationen  frei  durch- 
führt. Nur  wenige  bringen  das  ganze  Thema;  in  einzelnen 
finden  wir  nur  kurze  motivische  Fragmente  desselben,  in 
einer  dritten  Gruppe  herrscht  nur  ein  ideelles  Verhältniss 
zum  Modell.  Der  Ueberschrift  nach  bedeutet  dieser  erste 
Satz  den  , Hochzeitsmarsch*.  Im  technischen  Sinne  marsch- 
mässig  sind  nur  der  Anfang  und  der  zu  diesem  zurück- 
kehrende Schluss.  Die  Variationen  haben  wir  uns  als  Fi- 
guren aus  dem  Hochzeitszug  oder  als  Stimmungsbilder  zu 
denken :  einzelne  phantastisch  oder  innig  und  beschaulich : 
die  Mehrzahl  flott,  feurig  und  freudevoll.  Das  Thema 
selbst  beginnt,  in  den  Bässen  allein,  mit  folgender  Periode : 


^     341     ^ 


Moderato 


welcher   der   entsprechende  Nachsatz   folgt.     Es  schliesst 
mit  einem  ^ien  Abgesang: 


'n^\U^w  ir-r/iP^PM^n^T^ttp^t^iaE 


dessen  lange  Noten  sich  sehr  hübsch  in  den  Variationen 
bemerklich  machen.  Von  besonderem  Reize  ist  die  In- 
strumentation des  Satzes. 

Der  zweite  Satz  —  .Brautlied*  überschrieben  —  ist 
eine  knappe  Composition  in  der  Form  der  dreitheiligen 
Arie.  Der  Hauptsatz  hat  reizende  Elemente  Schubert'scher 
Melodik.    Sein  führendes  Thema  ist  das  folgende: 


Allogrotto.  .     ^^ 


P^C\Mt.' 


T 
Oh. 


Dem  Mittelsatz  "^^^Fj.-ft^ 


i^^ 


if^^gJB^  giebt 


die  ungewöhnliche  Wahl  der  Tonart  (Unterdominante)  den 
Charakter  grosser  Wärme. 

Der  dritte  Satz,  , Serenade*,  hält  die  kunstvollere  Form 
der  Sonate  ein.     Seine  Themen: 
Allegro  moderato. 


l»ci^ 


und  das  in  der  Durchfuhrung  bevorzugte: 


jf  Ob 


^^ 


sind  beide  leichter  scherzender  Natur.  In  der  Instrumen- 
tirung,  die  zuweilen  eine  dorfmässige  Einfachheit  besitzt, 
und  in  der  Harmonie,  in  welcher  die  liegenden  Bassquinten 
eine  grosse  Rolle  spielen,  hat  der  Componist  ländliche  Züge 
sehr  launig  eingewebt. 

Der  langsame  Satz  der  Sinfonie  fuhrt  den  Titel  ,Im 


c<?     342     ^ 

Garten*.  Die  Einleitung  dieser  Scene  und  der  mit  ihr 
identische  Ausgang  wird  mit  Recht  als  der  schönste 
Theil  der  ganzen  Sinfonie  angesehen.  Das  Thema,  wel- 
ches demselben  zu  Grunde  liegt: 

^    .  Andante,  ci«-.      i    i    i    j  ,       ^ 

:i^t=cr^^ztiXf^iilh  .1    J    l-'-^^  bUdet  in  dem 


wilden  Finale  der  Sinfonie  dann  nochmals  eine  kurze,  zarte, 
träumerische  Episode.  Den  mittleren  Theil  des  Satzes 
(Ges  dur,  ^*/g  Takt)  bildet  ein  Liebesdialog,  in  der  glühen- 
den Sprache  von  Wagner's  , Tristan  und  Isolde*  geführt. 
Der  Schlusssatz  der  Sinfonie  heisst  Tanz.  Sein  Haupt- 
thema : 

AllcgTo  molto.  >.    .^ 


welches  zunächst  in  der  Form  der  Fuge  ausgeführt  wird, 
bringt  kecke  und  volksthümliche  Elemente  in  die  Compo- 
sition  hinein.  Unter  allen  Theilen  der  Sinfonie  ist  das 
Finale  derjenige,  welcher  den  ländlichen  Charakter  der 
Hochzeit  am  treuest^n  veranschaulicht  und  ein  wirkliches 
Stück  realistischer  Programmmusik  bildet.  Eigenthümlich 
und  mehrdeutig  sind  die  nach  Klang  und  Tonart  so  frem- 
den Harfenaccorde,  welche  an  mehreren  Stellen  des  Satzes 
mitten  in  den  stärksten  Tumult  hineintönen. 

Die  neuesten  und  bedeutendsten  Beiträge  zur  Pro- 
BiehArdSlrAasi.grammmu8ik  hat  Richard  Strauss  geliefert.  Aber  dieser 
Componist  hat  sich  bald  für  die  Form  der  einsätzigen  sin- 
fonischen Dichtungen  entschieden,  Programmcompositionen 
von  cyclischer  Anlage,  die  dem  Bereich  der  Sinfonie  oder 
Suite  zuzuweisen  wären,  giebt  es  von  ihm  nur  eine.  Sie 
heisst  ,Aus  Italien*  und  scheint  jetzt,  nachdem  der 
Componist  in  «Tod  und  Verklärung*,  in  „Till  Eulenspiegel*, 
und  in  .Also  sprach  Zarathustra*  kühnere  die  Aufmerk- 
samkeit erzwingende  Würfe  gethan  hat,  nachträglich  stär- 
kere Beachtung  und  Verwendung  zu  finden.  Mit  diesem 
Werke  vollzog  der  Componist,  der  bis  dahin  mit  einer 
grossen   F  moll  -  Sinfonie   und  andren  Beiträgen  zur  söge- 


cc     343     "^ 

nannten  absoluten  Musik,  sich  als  ein  stark  eklektisches, 
anlehnendes  und  für  äussere  Effecte  begabtes  Talent  ge- 
zeigt hatte,  seinen  Uebergang  in  das  Lager  Liszt's  und 
der  Tonmalerei.  Es  ist  sein  opus  16.  Strauss  nennt  die 
Composition  mit  der  ihm  eignen  Willkür  und  Sondersucht, 
die  sich  auch  in  den  oft  geradezu  verkehrten  Tempobe- 
zeichnungen des  Werkes  äussert,  eine  „Sinfonische  Fantasie*. 
Das  eigentliche  Formgebiet,  dem  sie  von  aussen  und  innen 
zugehört,  ist  aber  das  der  Suite.  Sie  ist  eine  Programm- 
suite von  freundlicherer  Art,  wenn  auch  nicht  immer  ganz 
massvoll,  so  doch  frei  von  eigentlichen  Excessen  der  Phan- 
tasie und  der  musikalischen  Ausführung  und  nach  letzterer 
Richtung  reich  an  Proben  eines  coloristisch ,  in  zweiter 
Linie  auch  melodisch  hervorragenden  Talents. 

Die  Strauss'sche  Fantasie  oder  Suite  hat  vier  Sätze 
und  die  Hauptbilder,  die  er  in  ihnen  vorführen  will,  heissen : 
Auf  der  Campagna,  In  Roms  Ruinen,  Am  Strande  von 
Sorrent  und  Neapolitanisches  Volksleben.  An  Versuchen 
italienische  Eindrücke  wiederzugebeij ,  ist  die  Musik  im 
Allgemeinen  nicht  arm.  Im  Orchester  allerdings  liegen 
sie  von  der  Pifferarisinfonie  des  HändelVhen  „Messias*  an- 
gefangen, nur  spärlich  vor  und  haben  in  Berlioz^s  „Harold* 
und  seinem  „Römischen  Cameval*  die  Hauptstücke  aufzu- 
weisen. Um  so  reicher  ist  die  Kammer-  und  Klaviermusik 
mit  ihnen  ausgestattet.  Die  Beiträge,  die  Strauss  in  seinem 
Programm  zu  diesem  Capitel  zu  geben  verspricht,  haben 
die  musikalische  Möglichkeit  für  sich.  Wer  an  die  Cam- 
pagna, an  Rom,  an  Sorrent,  an  Neapel  denkt,  dem  erweckt 
schon  jedes  dieser  Worte  eine  Stimmung  für  sich,  jede 
gross  und  jede  eigen.  Und  wenn  man  die  ungeheure  Fülle 
landschaftlicher  und  historischer  Charaktere  Italiens  in 
seiner  Phantasie  aufsteigen  lässt,  muss  man  dem  Compo- 
nisten  das  Zeugniss  geben,  dass  er  Hauptpunkte  gewählt  hat. 
Venedig  bei  Seite  zu  lassen,  mag  ihn  vielleicht  Liszt's 
Tasso  bewogen  haben. 

Was  die  „Campagna*  (di  Roma),  die  den  Gegen- 
stand des  ersten  Satzes  (Andante  C,  Gdur)  bildet,  poeti- 


c<?     344     ^ 


sehen  GemUthern  von  Horaz  bis  auf  Molike  und  Gregorovius, 
immer  wieder  eingeprägt  hat,  ist  vornehmlich  ihre 
schwermuthsvolle  Schönheit.  Hier  der  weisse  Soracte  mit 
den  andren  herrlich  ragenden  Bergen  und  das  nahe  Meer, 
dort  die  Lavaströme,  die  die  Fluren  verwüstet,  menschliche 
Ansiedlungen  im  Thale  und  auf  der  Höhe  vernichtet  haben. 
Eine  Natur,  die  gelockt  und  gemordet  hat,  eine  Landschaft, 
deren  Reizen  die  Tücke  der  Malaria  gegenübersteht. 

Strauss  hat  vor  diesen  Gegensätzen  mit  dem  Gefühl 
des  Räthselhaften  und  Geheinmissvollen  gestanden.  Fast 
scheint  es  als  wolle  er  uns  eine  verrufene  Stätte,  ein  ver- 
wunschnes  Land  schildern  wenn  er  einsetzt: 

Andante.   J  =  58 


Der  hervortretende  Bratschenklang,  die  zwischen  Moll  und 
Dur  schillernde  Harmonie,  der  schleichende  Gang  der  Mo- 
tive geben  der  Stelle  etwas  Märchenhaftes,  todt  Gespen- 
stisches, etwas  uralt  Unheimliches.    Das  Leben  der  Gegen- 


wart regt  sich  in  dem  bescheidnen  Motiv 

das  die  Flöten  mehrmals  leise  in  die  Oede  hineinrufen. 

Der  Wandrer  überwindet  durch  diese  Lebenszeichen 
die  Fremdartigkeit  des  ersten  Eindrucks;  die  Starre,  die 
sich  seiner  Empfindung  bemächtigt  hatte,  weicht  einer 
Mischung  von  Neugier  und  Wehmuth,  die  die  Musik  in 
folgender  Weise  ausdrückt: 


Darauf  setzt  das  Octavenmotiv  das  die  Flöten  zuerst 
einführten,  mit  grössrer  Entschiedenheit,  rascher  nachein- 
ander und  in  zahlreichen  Instrumenten  ein;  die  entfachte 
Bewegung  verlischt  aber  sofort  wieder.    Klagend  steigen 


co     345     ^ 


die  Hörner  die  Scala  hinab  und  der  Wandrer  fasst  seine 
Eindrücke  in  eine  Melodie,  die  ebensoviel  von  grossen  wie 
von  traurigen  Erscheinungen  erzählt: 


^^jri 


In  ihrem  weitem  Verlauf  heitert  sie  sich  mehr  und 
mehr  auf  und  als  sie  zum  Es-Durschluss  kommt,  da  setzt 
die  Trompete  mit  dem  lebensfrohen  Motiv  ein,  das  sie  ins 
Thema  2  zuerst  einfugte.  Gleich  einem  Heroldssignale 
locken  diese  wenigen  Trompetentöne  freundliche  Neben- 
melodien herbei,  die  drängend  und  schwungvoll  in  dieses 
zweite  Thema  selbst  auslaufen.  Sein  Endtheil,  der  vorhin 
wehmüthig  klang,  kommt  jetzt  in  den  Hörnern  glänzend 
und  triumphirend.  Es  war  ein  Aufleuchten  der  Stimmung. 
Noch  ist  der  Horizont  mit  Gewölk  bedeckt.  Das  elegische 
Octavenmotiv  und  das  muntre  Eingangsmotiv  des  zweiten 

Themas    Ji  |  jTj  j)    führen  in  den  Bläsern  einen  kurzen 

frischen  Kampf  gegen  einander,  in  der  auch  die  Streich- 
instrumente bald  hineingezogen  werden.  Das  Resultat  ist : 
dass  die  Sonne  und  die  Freude  siegen.  In  einem  gran- 
diosen Fortissimo  kehrt  Gdur  —  zunächst  als  Quartsext- 
accord  —  zurück  und  bringt  eine  neue  Melodie  mit  sich, 
die,  allerdings  an  Elemente  des  zweiten  Themas  anknüp- 
fend, die  erhabene  Schönheit  der  Campagna  hymnenartig 
verherrlicht.    So  beginnt  sie: 


Das   ist  der 


Glanz-  und  der  Mittelpunkt  von  dem  Campagnabild  das 
Strauss  uns  zeigt.  Es  ist  der  musikalische  Niederschlag 
eines  jener  Augenblicke  wo  der  entzückte  Blick  von  den 
blauen  Linien  der  Küste  hinübereilt  nach  der  scheinbar 


c<?     346     '^ 

oben  am  Himmel  wie  eine  Vision  auftauchenden  Peters- 
kuppel, wo  vor  dem  geistigen  Auge  die  Zeiten  und  die  Ge- 
stalten vorüberziehen,  die  über  diese  Landschaft  hinweg- 
geschritten sind.  Da  wogt  es  in  der  Seele  des  Beschauers 
wohlig  und  auch  ernst: 

Thema    3 

kehrt  zunächst  in  den  Cellis  wieder.  Ein  weitres  erregtes 
Thema  tritt  in  den  Violinen  hinzu.  Die  Musik  spricht  in 
doppelten  und  dreifachen  Zungen  in  jener  feurig,  oft  sinn- 
verwirrenden Polyphonie,  die  die  jüngere  CJomponistenge- 
neration  aller  Länder  von  R.  Wagner  gelernt  hat.  Strauss 
lässt  aber  in  dieser  Suite  schon  merken  was  seine  spätem 
sinfonischen  Dichtungen  unwiderleglich  künden,  dass  er  in 
dieser  besondren  Kunst  den  Meister  zu  überbieten  vermag. 
Dieser  Abschnitt  des  ersten  Satzes  seiner  Suite,  der  unge- 
fähr der  Durchführung  im  gewöhnlichen  Sonatensatz  ent- 
spricht, endet  mit  einer  neuen  in  den  grösstmöglichen  Glanz 
gekleideten  Intonation  von  Thema  4,  bricht  aber  mitten 
drin  plötzlich  ab.  Ein  geisterhafter  Bläseraccord,  das  ele- 
gische Octavenmotiv,  ein  kurzer  Außsug  der  Hauptthemen 
zum  Theil  in  umgekehrter  Ordnung  —  Ende!  Die  neuere 
Kunst  überhaupt,  nicht  blos  die  Musik,  scheut  ja  vor  keiner 
Unfreundlichkeit  wenn  sie  die  Naturtreue  und  die  Lebens- 
wahrheit für  sich  hat.  In  diesem  Fall  kommt  aber  auch 
zu  Gunsten  von  Strauss  eine  Schönheit  hinzu  die  ganz  aus 
dem  Charakter  des  Gegenstandes  fliesst:  Die  Campagna 
entlässt  ihre  Freunde  mit  einem  elegischen  und  mysteriösen 
Endeindruck ! 

Der  zweite  Satz  (Allegro  molto  con  brio,  ^/^  '/j,  Cdur) 
fuhrt  die  Ueberschrift  „In  Roms  Ruinen*.  Sie  wird 
durch  den  Zusatz  ergänzt :  .Phantastische  BUder  entschwund- 
ner  Herrlichkeit,  Gefühls  der  Wehmuth  und  des  Schmerzes 
inmitten  sonnigster  Gegenwart*.  Damit  ist  eine  Reihe 
poetischer  Vorstellungen  erweckt,  denen  die  Musik  nicht 
in   dem  erwarteten  Masse  gerecht  wird.    Den  fröhlichen 


eG^      347      ^ 


Bildern  fehlt  der  phantastische  Charakter,  die  Gefühle  der 
Wehmuth  und  des  Schmerzes,  die  grossen  Eindrücke  die 
sich  für  den  gebildeten  Beschauer  an  Colosseum,  Capitol, 
Forum  Maximum,  Pantheon,  Hadriansburg  und  die  andern 
erhabnen  Reste  der  Grösse  des  alten  Roms  knüpfen,  kommen 
in  diesen  Tönen  nicht  zum  Vorschein ;  dazu  fehlt  dem  Satz 
vor  Allem  die  Ruhe  und  die  scharfe  Gliederung.  Er  ist 
ein  sehr  eigensinniges,  theilweise  wildes  Capriccio  nicht 
ganz  ohne  Züge  die  sich  auf  Wesen  und  Charakter  der 
ehemaligen  Römerwelt  deuten  lassen;  aber  viel  mehr  als 
für  das  Programm  für  den  Componisten  charakteristisch, 
der  in  jugendlicher  Rücksichtslosigkeit  in  der  Wahl  und 
Gestaltung  seiner  Ideen  und  Einfälle  nur  seiner  subjectiven, 
augenblicklichen  Disposition  folgt  und  nichts  nach  der  Fas- 
sungskraft einer  unvorbereiteten  Zuhörerschaft  fragt.  Sie 
muss  in  diesem  längsten  der  vier  Sätze  auf  schwierige 
Rhythmen  und  auf  Hartnäckigkeit  im  Arbeiten  und  Ver- 
folgen spröder  Motive  gefasst  sein. 

Der  Satz  hat  wieder  wie  der  vorhergehende  eine  Drei- 
theilung  in   Themengruppe,    Durchführung  und  Wieder- 
holung.   Die  Themengruppe  führt  mit 
Allegro  moltocon  brio.  d«s66 


r-^ — f 

zunächst  vor  die  phantastischen  Bilder  von  denen  das  Pro- 
gramm spricht. 

Es  ist  eine  Weise  mit  der  sich  der  Gedanke  an  fröh- 
liche kräftige  Spiele  verknüpfen  lässt.  Ein  Zug  von  Härte 
liegt  in  ihr,  der  zum  altrömischen  Wesen  gut  passt.  Das 
Thema  wird  sofort  in  einem  selbständigen  Sätzchen  um- 
gebildet und  erweitert,  das  mit  einer  sehr  breiten,  bunten 
Modulation  —  in  Trompeten  und  Posaunenklang  gehüllt  — 
nach  Cdur  zurückkehrt.  Man  erwartet  einfache  Wieder- 
holung, aber  die  Melodie  kommt  grösser  und  kecker 


if.  i  h  Ti 


und  zieht  als- 


^     348     ^ 


bald  ein  Thema  nach  sich,  das  zum  ersten  Bial  auf  die 
Gefühle  der  Wehmuth  anzuspielen  scheint  von  denen  die 
Ueberechiift  redet: 


Es  hat  einen  Hang  sich  ins  Unscheinbare  zu  verlieren  und 
kommt  auch  bald  auf  einem  mit  ungestümer  Energie  er- 
fassten  verminderten  Septaccord  ausser  Sicht,  den  wir  wohl 
als  Accent  des  programmmässigen  Schmerzes  aufizufiassen 
haben.    Erläutert  wird  er  durch  ein  neues  drittes  Thema: 


1. 


iX 


das  auf  die  Kraft  und  die  Grösse  hinweisst,  deren  Zeugen 
diese  Römischen  Kuinen  einst  gewesen  sind.  Nun  zeigt 
der  Tonsetzer  auf  die  sonnige  Gegenwart: 


und  verweilt 


bei  diesem  anmuthig  friedlichen  Thema  mit  träumerischer 
Befriedigung.  Da  kommt  ihn  doch  wieder  der  G^anke 
an  die  Ruinen  und  die  Frage  warum  die  blühende  Welt 
verschwunden,  zu  der  sie  gehört  haben?  Antwort  geben 
die  Motive: 


^i//4/^"i" 


j.  i,  i.n^  rr  r=^ 


Unfriede  wars  und  Kleinlichkeit.  Den  Blick  immer  wieder 
flüchtig  auf  die  sonnige  Gegenwart  gerichtet,  vertieft  sich 
der  Componist  in  das  Treiben  dieser  Mächte.  Seine  Be- 
trachtungen gipfeln  in  lauten  Wehklagen: 


'<!■     849     '^ 


heisst  es  zu- 


erst, beim  zweiten  Mal  durchschneidet  den  Versuch  des 
Stimmungsaufschwungs  ein  furchtbar  grausam  (neben  Grdur) 
hingesetzter  langer  Asdur-Accord! 

Die  Durchfuhrung  verknüpft  zunächst  Motive  aus  dem 
ersten  Thema  mit  solchem  aus  dem  fünften,  als  sollte  ein 
Bild  von  dem  ethischen  Prozess  gegeben  werden,  der  das 
Wesen  der  Römer  verdarb.  Ihren  Hauptinhalt  bilden  Satz- 
gebilde, denen  das  dritte  Thema  und  seine  Vorstellungen 
zu  Grunde  liegen.  Die  Grösse  und  Macht  der  alten  Welt, 
die  Trauer  um  ihren  Untergang  sind  in  einer  noch  viel 
stärkren  und  tiefer  eindringenden  Weise  als  in  der  Themen- 
gruppe die  Gegenstände  der  musikalischen  Darstellung  in 
der  Durchfuhrung.  Einen  kleineren  Antheil  nimmt  an  ihr 
auch  die  wehmüthige  Weise  des  zweiten  Themas. 

Der  Wiederholungstheil  führt  die  Bilder  und  Betrach- 
tungen der  Themengruppe  mit  den  gewohnten,  her- 
gebrachten kleinen  Aenderungen  noch  einmal  vorüber. 
Eine  kurze  angefügte  Coda  stellt  das  Thema  (4)  der 
, sonnigen  Gegenwart*  in  den  Vordergrund  und  kehrt  von 
den  Ruinen  in  das  Leben  der  Zeit  zurück. 

Der  dritte  Satz  (Andantino,  ^/g,  Adur)  ist  der  eigent- 
liche langsame  Satz  der  Suite.  Strauss  bezeichnet  ihn  mit 
Andantino  ziemlich  missverständlich;  ein  sehr  getragnes 
Tempo  ist  gemeint.  Sein  poetischer  Gegenstand  ist  Schil- 
derung von  Eindrücken,  Stimmungen  „am  Strande  von 
Sorrent*,  die  Ausführung  arbeitet  mit  ganz  ausgesucht 
feinen  und  eignen  Farben,  sie  arbeitet  lebendig  und 
elastisch,  aber  vorwiegend  zart. 

Zuerst  lässt  der  Componist  die  Natur  sprechen  in  einem 
auf  wesentliche  Motive  verzichtenden,  fast  rein  in  Accord 
Und  Rhythmus  gehaltnen  Präludium.  Diese  zweiunddreissig 
Takte  überschütten  aber  den  Hörer  mit  einem  üppigen 
Segen  volbinnlicher  Klänge.  Da  huschen  Violinfiguren 
in   höchsten  Lagen  durcheinander,    Spielarten  und  Ton- 


c<?     350     ^ 


regionen,  die  in  der  Regel  unberührt  bleiben,  werden 
lebendig,  die  verschiednen  Rhythmen  kreuzen  sich,  Triller 
und  Verzierungen  aller  Art  klingen  von  oben  und  unt^n, 
in  Ruhe  und  in  Eile.  Das  Sätzchen  wirkt  blendend,  über- 
wältigt wie  eine  Landschaft,  die  den  Sinnen  mehr  bietet 
als  sie  aufnehmen  können. 

Dann  beginnt  eine  Scene  der  Träumerei.    Der  Dichter 
spricht,  die  Seele  voll  Dank  xmd  höhrer  Wonne: 


Den  Ueberschwang  der 


Stimmung  yerrathen  schon  die  verhältnissmässig  zahl- 
reichen Nonenaccorde  auf  denen  die  Melodie  ruht.  Wie 
warm  sie  auch  wird,  die  Aussenwelt  bringt  sie  nicht  zum 
Schweigen,  jeden  Augenblick  contrapunktirt  eine  reizende 
Stimme  aus  der  Natur  anmuthig  hinein.  Und  diese  Partei 
nimmt  in  dem  mit 


eingeleiteten  Seitensatz  das  Wort  ganz  für  sich  in  Beschlag, 
legt  ihren  ganzen  Reichthum  aus  und  freut  sich  ihrer 
Macht  bis  zur  Leidenschaftlichkeit.  Das  ist  wo  die  scharfe 
Dissonanz  cis-dis  im  forte  herausgestossen  wird.  Wie  über 
den  lauten  Ton  beschämt  und  erschreckt,  verschwindet  die 
Sippe  der  Naturgeister  mit  einem  Schlag  und  der  Dichter 
giebt  sich  aufs  Neue  der  Beschaulichkeit  hin 


Eine  auf  einer  liegenden  Stimme  festgehaltne  und  sonst 
mit  Spannungsmitteln  ausgestattete  Begleitung  hebt  diese 


co     351     '^ 


Weise  aus  der  populären  Sphäre,  der  sie  angehört,  etwas 
heraus.  Ohne  Yermessenheit  dürfen  wir  sie  auf  trauliche 
deutsche  Heimathserinnerungen  deuten.  Bald  lässt  sich 
auch  einer  der  eingehomen  Südländer  hören.  Der  Satz 
schlägt  nun  nach  Amoll,  das  Tempo  wird  bewegter,  in 
den  Cellis,  Bratschen  und  Fagotts  treten  raschere  Figuren 
auf.  £s  ist  als  ob  der  Wind  die  See  kräuselt.  Da  kommt 
ein  Boot  und  ein  Sänger  drauf  mit  einer  echten,  aus  dem 
Land  gebomen  Melodie,  einem  Abkömmling  jener  edlen 
Sicilianos,  die  seit  dem  Ende  des  17.  Jahrhunderts  von 
jener  Sorrenter  Gegend  her  über  ganz  Europa  gedrungen 
sind: 

Plü  BOiio.  J  s  60 

'     '  1. 


Gefährten  antworten  bald ;  so  giebt  dieser  nur  kurze  Mittel- 
satz ein  sehr  willkommnes,  belebendes  Intermezzo.  Ein 
dritter  Theil,  mit  dem  Tempo  des  ersten  mischt  dessen 
thematische  Elemente  frei  und  phantastisch;  noch  stärker 
als  der  Anfang  steht  er  unter  dem  Zauber  schwirrender, 
girrender,  sinnverwirrender  Klänge  und  Figuren. 

Der  vierte  Satz  (Allegro  molto,  */4,  Gdur)  führt  uns 
«Neapolitanisches  Volksleben  **  vor.  Was  wir  hier 
zu  erwarten  haben,  lässt  der  tolle  Einsatz  schon  ahnen. 
Das  volle  Orchester  stürzt  auf  einem  freien  Nonenaccord 
herein  und  in  rasendem  Lauf  schwingen  sich  von  ihm  die 
Geigen  und  Bratschen  unisono  dem  Hauptthema  des  Satzes 
entgegen : 

Alleirro  molto.  Js  126 

p 

O 

Wer  einmal  zwischen  Monte  Cassino  und  Capri  gereist 
ist,  wer  in  der  Schweiz  etwa  wandernden  süditalischen 
Sängern  zugehört  hat,  dem  sind  diese  und  ähnliche  Melodien 
geläufig.  Von  den  beiden  Geistern  der  Operette  und  der 
Degeneration    getrieben    improvisiren    die    Kinder    dieses 


«<?     352     ^ 

musikalischen  und  leichtherzigen  Volks  derartige  Weisen 
zu  jedem  Text  und  zu  jeder  Zeit;  der  ganze  ehemals  so 
reiche  Gesangschatz  des  Königsreichs  beider  Sicilien  wird 
heute  fast  ausschliesslich  von  ihnen  vertreten.  Wenn 
Strauss  also  sein  Finale  mit  diesem  Gassenhauer  eröflPnet, 
so  erweckt  er  grosses  Vertrauen  in  Bezug  auf  die  photo- 
graphische Treue  seines  musikalischen  Bildes.  Die  Melodie 
fährt  mit  kräftigem  Gliedern  ihrem  Schlüsse  zu,  der  zu- 
gleich das  Ende  des  ersten  Abschnitts  des  Satzes  ist.  Er 
kommt  rascher  als  man  vermuthet,  kommt  in  HmoU  und 
fuhrt  zu  einem  Seitensatz,  der  über 

U  "^  JiTl^^^^*  P  ^^^  ähnliche  lustige  Mo- 
tive leicht  und  anmuthig  tändelt.  Er  baut  klar  und  emsig 
in  zweitaktigen  Abschnitten  auf,  zum  Schluss  hin  erhält 
er  durch  das  Eingreifen  chromatischer  Bässe: 

einen     Stich    ins   grotesk    Humo- 


ristische.    Die  stürmischen  Einleitungstakte  kehren  wieder 
und  fuhren  zum  zweiten  Hauptthema  des  Satzes: 


j"  ^  Uj  I  jj-'^   I  rt-'''p  iilTI^  t^ 


Es  ist  in  südländischer  Art  innig,  jedenfalls  liebenswürdig 
und  zeigt  durch  die  Vertheilung  auf  zahlreiche  Instrumente 
auf  das  echt  gesellige  Wesen  des  geschilderten  Volks. 
Lange  hält  dieser  ruhigere  Ton  nicht  an.  Themenreich 
wie  Liszt  stellt  Strauss  bald  in  diesen  ersten  Theil  seines  Fi- 
nales noch  einen  vierten  Gedanken,  der  folgendermassen  bei 
den  Flöten  beginnt: 


e©     358     ^ 

Er  bringt  in  die  Musik  eine  ganz  eigne,  halb  komische, 
halb  dämonische  Lustigkeit,  ein  Abbild  jenes  temperament- 
vollen  nervösen  Wesens,  das  dort  unten  die  Revolutionen 
macht  und  auch  dem  Spiel  und  dem  Tanz  sein  Gepräge  giebt. 
Die  Abschnitte  die  der  Componist  ans  diesen  kreiselnden 
Motiven  in  den  nun  folgenden  Durchführungen  gestaltet 
hat,  bestimmen  die  Erinnerung  an  seine  Neapolitanischen 
Schilderungen  am  prächtigsten  und  am  angenehmsten.  Im 
Allgemeinen  wird  man  von  den  Entwickelungen ,  die 
Strauss  giebt,  den  Eindruck  eines  vielfachen  Uebermasses 
haben.  Die  Darstellung  ermangelt  der  Leichtigkeit,  die 
dem  Gegenstand  natürlich  ist;  sie  ist  zu  zäh  im  Festhalten 
der  Motive,  zu  sehr  in  der  Farbengebung  von  Berlioz  be- 
einflusst.  Wozu  hier  überhaupt  Posaunen  ?  Wohl  aus  dem- 
selben Grunde  aus  dem  unsre  modernsten  Maler  für  zwei 
kleine  Gänse  eine  ganze  volle  Stuben  wand  bemalen.  Ein 
sehr  guter  poetischer  Einfall  in  der  Reprise  ist  die  Ein- 
führung von  Motiven  aus  dem  ersten  Satz:  in  dem  Lärm 
und  der  Unruhe  dieses  Neapel  der  Gedanke  an  den  Frieden 
der  Campagna! 

Den  Schluss  der  deutschen  Beiträge  zu  den  mehr- 
sätzigen  Formen  der  Programmmusik  bildet  ein  Werk,  das 
ein  würdiges  und  gehaltvolles  poetisches  Thema  mit  ernster 
Eingebung  und  innerlicher  Wirkung  aber  ganz  mit  den 
sinfonischen  Mitteln  der  classischen  und  romantischen  Schule 
durchfuhrt.  Es  ist  die  viersätzige  Tondichtung  „Traum  PWl»  ScMät- 
und  Wirklichkeit*  von  Philipp  Scharwenka  (op.  ^''***^ 
92),  dem  altern  Bruder  des  bekannten  Pianisten  Xaver  S., 
der  auch  temperamentvolle  Sinfonien  componirt  hat.  Ihr 
Gedankengang  verfolgt  einen  Lebenslauf,  der  freundlich, 
voller  Hoffnungen  und  Ülussionen  beginnt  und  mit  Ent- 
täuschungen und  in  Resignation  endet.  Ein  ausführliches 
Gedicht  aus  der  Feder  des  Componisten  giebt  über  die 
Absichten,  die  die  Composition  im.  Einzelnen  verfolgt  ein- 
gehende Auskunft.  Die  vier  Sätze,  aus  denen  die  Sinfonie 
—  wie  wir  die  Bezeichnung  Tondichtung  ruhig  übersetzen 
dürfen  —  besteht,  gehen  ohne  Pausen  einer  in  den  andern 
über,  stehen   auch  thematisch  in   enger  Verbindung  und 

Kretstohmar,  Filbrer,  I.  23 


„Traum  und 
WirkUchkeit«'. 


CO     354     ^ 

behandeln  das  Schema  der  Sinfonie  ziemlich  freL  Was 
sie  xinter  ihresgleichen  auszeichnet,  ist  der  grosse  Herzens- 
antheil  und  die  Gemüthswärme,  die  aus  der  Musik  Schar- 
wenka^s  spricht,  ünsre  heutige  Oeflfentlichkeit  hat  für 
Spohr^sche  Naturen  nicht  das  volle  Verständniss;  denjenigen 
Kreisen  aber  welche  sich  zu  einem  harmonischen  und  ehr- 
lichen Künstler,  auch  wenn  er  abseits  vom  Wege  steht, 
hingezogen  fühlen,  kann  die  Arbeit  nur  eifrig  empfohlen 
werden. 

Der  erste  Satz  (AUegro  moderato,  C,  Ddur)  führt 
mit  dem  Thema: 

All«f  ro  modtrftto.  J  s  190 

PP 

eine  edle  liebenswürdige  aber  für  die  rauhe  Wirklichkeit 
unsrer  Tage  wohl  etwas  zu  weiche  Jünglingsgestalt  ein. 
Diesem  auffallender  Weise  im  Verlauf  der  Composition 
nur  wenig  benutzten  Thema  folgt  eine  längere  Gruppe 
zierlicher  Nebengedanken,  die  —  zum  Theil  in  Wendungen 
die  an  Hermann  Götz  und  an  die  Meistersinger  erinnern  — 
sich  in  kleinen  Schwärmereien  entgehen.  AllmähHch  kommt 
nach  diesem  weniger  gelungenen  und  zersplitterten  Abschnitt 
wieder  ein  grosser  Ton  in  die  Stimmung  und  bringt  neue 
tiefer  eindringende  Weisen.    Unter  ihnen  ist  die  Melodie: 


ff\i  iP^r}iJLL^U:i^^r^iH:^-^m\ 


jSFr|¥iPcL 

mo/to  creao.      /" 


gjT  V    i    l-L^r     P  I     =  die  wichtigste.  Sie  bedeutet 


das  Herzens-  oder  Geistesideal  unsres  Helden  und  kommt 
am  Schlüsse  der  Sinfonie  zu  rührender  Bedeutung. 

Der  zweite  Satz  (Allegretto  scherzando,  "Z^,  Fdur) 
ist  eine  Art  langsamer  Walzer,  bestinmit  die  glücklichste 
Stunde  dieses  Menschenslebens  einzuleiten.  Mit  rhythmischen 
Motiven  in  den  Hörnern,  melodischen  Bruchstücken  in  Cla- 


«<?     355     ^ 


rinetten,  Flöten,  Geigen  verlockend  präludirend  gelangt 
er  endlich  zu  folgendem  Hauptthema: 

Jsieo 


if'll    J  I  IT^  II  'ÜiTi    fi  1l  i||   I 


^p- 


Der  Jüngling  schwingt  sich  im  Reigen  mit  der  Er- 
wählten ;  heroische  etwas  finstre  Motive  künden  seine  stolzen 
Gefühle,  die  Wonne  in  seiner  Brust  spricht  am  deut- 
lichsten aus  folgender  an  Raff  anklingender  Melodie : 

Dieses  Thema  leitet  über  zu  der  Scene  des  Geständnisses 
und  der  £rhörung  die  den  Inhalt  des  dritten  Satzes 
(Andante  tranquillo,  '/s,  B  dur)  bildet.  Sie  folgt  allerdings 
dem  Eintritt  dieses  innigen  Themas  nicht  unmittelbar, 
sondern  die  Freuden  des  Tanzes  werden  noch  gründlich 
ausgekostet.  Dann  kommt  endlich  langsames  Tempo  und 
wehmuthsvoller  Klang.  Es  wird  Abend,  das  Fest  muss 
schliessen.  Die  Musik  bringt  in  einem  Uebergangssätzchen 
die  Stimmung  einer  gewissen  Müdigkeit  zum  Ausdruck, 
es  wird  stiller  und  stiller  und  als  es  einsam  um  das  liebende 
Paar  geworden  da  setzt  das  schöne  Thema  des  Andante 
zunächst  im  Hom  ein: 


Andante  tranqvlllo.  d)i  68 


^m 


eto. 


Das  ist  die  stille  Seligkeit.  Ein  zweiter  Theil  des  Satzes 
in  Ddur,  zeigt  erregtere  Herzen,  lebhaftes  Zwiegespräch 
von  ewigem  Glück,  zeigt  ungeduldiges  Sehnen.  Dann  kehrt 
der  Bdurtheil  wieder  von  einer  Coda  gefolgt,  in  der  der 
üeberschwang  der  Stimmung  sich  eigens  in  einer  Clarinetten- 
cadenz  Luft  macht.     Unruhige  Trompetensignale   reissen 

28* 


^     356     ^ 

den  Zuhörer  aus  dieser  Idylle  fort.    Das  Leben  mit  seiner 

harten  Prosa  ruft.    Der  vierte  Satz  (AUegro,  G,  Dmoll) 
beginnt. 

In  seinem  ersten  Theil  stellt  er  von  den  Trompeten- 
tönen immer  wieder  unterbrochne  Sätze  unruhigen  Cha- 
rakters auf.  Das  erste  Hauptmotiv  ist  an  ein  verwandte« 
aus  dem  ersten  Satz  angeknüpft: 


yi.  r-  P   C-^g^^p^^if-f^i^^  •     steigend 


und  steigernd  tritt  zu  ihm  das  feste  und  energische: 

men  benutzen  es  zum  Fugiren.  Und  bald  nach  der  ersten 
Durchführung  erscheint  dann  das  (oben  angeführte)  schöne 
zweite  Hauptthema  des  ersten  Satzes,  wie  der  gute  Geist 
der  den  Kämpfer  leitet,  des  Mühens  und  Ringes  Preis  und 
Lohn.  Umsonst,  alles  umsonst!  Noch  einige  verzweifelte  An- 
läufe, äusserster  Kraftaufwand,  Wehrufe  mit  Intonationen, 
Verlängerungen  und  Verkürzungen  des  letztcitirten  Fugen- 
themas gemischt  —  dann  setzen  die  Messingbläser  den 
Choral  , Herzlich  thut  mich  verlangen'  ein.  Der  Com- 
ponist  hat  sich  ihn  mit  dem  Text  „Wenn  ich  einmal  soll 
scheiden'  und  somit  als  Grab-  und  Trauermusik  gedacht 
Diesem  Ende  sendet  er  einen  Epilog  nach,  der  dem  leiden- 
schaftlichen Schmerz,  mehr  noch  aber  der  süss  wehmüthigen 
Erinnerung  an  die  schönsten  Momente  der  vorausgegangnen 
Sätze  gewidmet  ist. 

Von  Berlin  aus  ist  vor  einem  Jahrzehnt  noch  eine 
Programmsinfonie  von  Friedrich  Koch  bekannt  ge- 
worden, die  den  Titel  führt:  ,Von  der  Nordsee' 
(Dmoll,  op.  4).  Unter  den  neueren  Schilderungen  des 
Meers  in  der  Sinfonie  ist  sie  die  bescheidenste.  Nur  im 
letzten  Satz  (Auf  hoher  See)  scheint  die  Phantasie  von 
einem  Hauch  des  unergründlichen  Urelements  und  seiner 


c^     357     «* 

Kraft  belebt.  Die  andren  (Friesenfiahrt,  Abend  am  Strande, 
Spiel  der  Wellen)  sind  im  Cbarakter  der  sanften  Bilder 
Douzettes  aufgefasst:  Mondschein  über  den  glatten  Wellen 
und  Anmuth  ringsum,  Hoffinann*sche  Schale! 

Auch  im  Auslande  tritt  die  Prognunmmusik  in  Sin- 
fonie und  Suite  hinter  den  Werken  zurück  welche  bestimmte 
poetische  Ziele  nicht  angeben  oder  vielleicht  —  was  schlinmi 
ist  —  gar  nicht  einmal  haben.  Nur  Frankreich  macht, 
alten  Traditionen  folgend  eine  Ausnahme.  Die  Programm- 
suite  ist  hier  geradezu  die  Normalform  für  cjclische 
Orchestercompositionen ;  eigentliche  Programmsinfonien  ge- 
hören aber  auch  hier  wie  zu  den  Zeiten  von  Berlioz  zu 
den  Seltenheiten.  Als  eins  der  wenigen  Werke  dieser  Art, 
die  die  Landesgrenze  überschritten  haben  verdient  die  in 
neuerer  Zeit  wiederholt  auch  in  deutschen  Concerten  ge- 
brachte Sinfonie  zu  Schiller*s  «Wallenstein*  von  Vi n-  ThiMBtd'bidy 
cent  d*Indy  (op.  12)  Beachtung.  Der  Componist  nennt  »W^UeMtein«. 
diese  Arbeit,  wohl  an  Schiller*s  Gesammttitel  anknüpfend, 
eine  ,Trilogie*.  Das  ist  für  Form  und  Inhalt  des  Werks 
etwas  zu  volltönend.  Es  sind  nicht  drei  Sinfonien,  die  er 
vorlegt,  sondern  es  ist  eine  Sinfonie,  —  ähnlich  wie  die 
LiBtzt*sche  zu  ,Faust'  —  in  drei  Sätzen.  Der  erste  will  ein 
Bild  des  Lagers,  der  zweite  des  Liebespaars  (Max  und 
Thekla)  geben;  der  dritte  knüpft  an  .Wallenstein's  Tod* 
an.  Ein  enger  Zusammenhang  besteht  nur  zwischen  dem 
ersten  und  dritten  Satz;  der  zweite,  der  auch  den  Unter- 
titel Piccolomini  führt,  eignet  sich  für  eine  Einzelauf- 
fUhrung.  Die  Sinfonie  zeigt  wenn  auch  keine  besonders 
tiefe,  so  doch  eine  im  Ganzen  sehr  lebendige  Auffassung  der 
deutschen  Dichtung,  eine  anschauliche  musikalische  Er- 
findung und  einen  auf  breiter  Bildung  ruhenden,  ge- 
schickten Stil.  Individuelle  Züge  sind  d^Indy  nicht  eigen, 
sondern  er  theilt  mit  der  Mehrzahl  der  neufranzösischen 
und  neurussischen  Orchestercomponisten  die  Vorliebe  für 
Nonen  und  Undecimenaccorde ,  für  Orgelpxinkte  und  ähn- 
liche harmonische  Vergrösserungsmittel,  den  Wagnerischen 
Einfluss  auf  die  Stimmführung,  die  interessante,  dissonanzen- 
reiche Contrapunktik.    Wie  alle  diese  Ausländer  ist  auch 


^     858     ^ 

V.  d^Indy  ein  hervorragender  Colorist,  allerdings  starkem 
Farbenauftrag  etwas  einseitig  zugeneigt. 

Rheinberger  hat  mit  vollem  Becht  dem  Wallen- 
stein  selbst  in  seiner  Sinfonie  einen  vollen  Satz  ge- 
widmet. d^Indy  begnügt  sich  dessen  Gestalt  ab  und  zu 
durch  die  Sätze  schreiten  zu  lassen.  Es  war  ihm  nicht  um 
die  Schilderung  von  Charakteren  zu  thun^  sondern  darum 
die  Eindrücke  der  Schiller^schen  Dramen  ins  Musikalische 
zu  übertragen: 

Bei  dem  ersten  Satz  ,Le  Camp  de  Wallenstein'  (Wallen- 
8tein*B  Lager)  macht  sich  die  französische  Abkunft  der 
Musik  am  deutlichsten  geltend.  Sie  hat  für  die  ernsten 
Figuren  und  Reden  des  Schiller^schen  Lagers  keine  Töne 
und  lässt  nichts  von  der  Zeit  und  dem  Boden  ahnen  die 
dem  Vorspiel  der  Trilogie  seinen  Charakter  und  eine  ge- 
wisse GrrÖsse  geben.  Das  Lager  d*Indy's  ist  ohne  Unter- 
brechung munter,  ausgelassen,  kommt  niemals  zur  Buhe, 
wimmelt  von  Spassmachem  und  Jongleuren,  besteht  aus- 
schliesslich aus  leichten  Truppen  und  leichten  Vögeln. 
Seiner  formellen  Anlage  nach  ist  es  ein  Scherzo  mit  etwas 
buntem  Haupstatz  (Allegro,  Gdur).  Es  setzt  mit  folgen- 
dem Thema  ein 


Allegro  giusto.  «  s  160 


m 


S^TT^'fTi  iill  .  ^"^ 


£ 


^      '     n    '    "p""^      '  P 


etc.     das    uns 


mitten  hinein  in  den  fröhlichen  Lärm  der  Massen  fuhrt, 
fröhlich  und  elementar.  Denn  die  G^ebilde  die  der  Com- 
ponist  aus  seinen  Motiven  entwickelt  sind  unregelmässig. 
Hier  führt  er  uns  vor  eine  fünftaktige  Gruppe,  dort  kommen 
zwei-  xind  dreitaktige,  hier  hält  er  an  einem  Motiv  fest, 
dort  schweisst  er  zwei  oder  mehrere  zu  bald  kürzeren, 
bald  langem  Abschnitten  zusammen.  Unberechenbar  und 
frei  will  er  uns  das  Leben  und  Treiben  des  Lagers  sehen 
lassen.  Der  erste  Abschnitt  über  dieses  Hauptthema 
Bchliesst  in  Hdur.  Der  zweite  setzt  in  Emoll  ein  und 
geht  von  Cdur  aus  ins  Ddur  in  Modulationen  und  mit 


^     859     '^ 

wilden  Trillern  die  den  Walkyrenritt  Wagner*8  für  einen 
Augenblick  vor  die  Phantasie  rufen.  Ein  dritter  Abschnitt 
Über  dasselbe  Hauptthema  beginnt  in  Asdur,  und  geht 
Ton  Bmoll  aus  allmählich  nach  der  Haupttonart  G  zurück 
die  in  Solopassagen  der  Violinen  (einige  Takte  geht  die 
Flöte  mit)  erreicht  wird. 

Da  beginnt  ein  erster  Seitensatz,  dem  das  ruhigere 
Thema 

Js144 

zu  Grunde  liegt.  Es  kommt  nicht  weit  damit.  Den 
Augenblick  wo  die  erste  Violine  sich  ein  Motiv  zum 
Schwärmen  aussucht,  benutzt  die  derber  gesinnte  Masse 
um  mit  einem  Walzer  einzufallen,  dessen  grob  einfache 
Weise 

Allef^ro  moderato.  J.=  76 

durch  die  seltsamen  Humore  der  Begleitung  —  die  Bässe 
bleiben  lange  auf  den  zwei  Tönen  e  und  h  —  bedenklich 
gestört  wird.  Nach  einem  Zwischensätzchen,  in  dem  die 
Flöte  das  Solo  hat,  wird  wohl  die  übliche  Wiederholung 
erreicht,  aber  die  rechte  lustige  Stimmung  bleibt  aus  und 
am  Ende  haben  die  Störenfriede,  die  einen  '/^  Takt  hinein- 
werfen die  Hauptstimme.  Der  Tanz  hört  plötzlich  auf 
und  wie  aus  der  Form  hören  wir  wieder  den  Lärm  des 
Lagers  mit  dem  der  Satz  begann.  Wir  haben  es  mit  der 
üblichen  Wiederholung  des  Hauptsatzes  zu  thun.  Doch 
verschmäht  es  der  Componist  sie  glatt  und  wörtlich  zu 
bringen.  Wie  er  den  Hauptsatz  zunächst  pp  einsetzt,  hat 
er  ihn  auch  in  der  Tonart  verändert,  nämlich  nach  Edur 
gebracht  und  auf  den  Quartsextaccord  gestellt.  Aehnlich 
bringt  er  das  erste  Seitenthema,  das  beim  ersten  Mal  in 
Gdur  auftrat,  jetzt  in  Es  und  vertheilt  seinen  Vortrag 
taktweise  auf  verschiedne  Instrumente.  Auch  jetzt  kommt 
dieses   zum  Schwärmerischen   neigende   Thema   nicht   zu 


e^        360        ^ 

seinem  vollen  Rechte.  Ali  es  sich  ausbreiten  will,  entsteht 
unerwartet  Tumult.  In  den  Bläsern  treten  wieder  Ver- 
treter des  zweitheiligen  Rhythmus  ein.  Ein  Schreck  geht 
von  ihnen  aus:  von  unten  bis  oben  rufts  durch  das 
Orchester:  cis-fis.  Dann  eine  lange  Greneralpause  und 
darauf 

Allefrro  otoderato  e  g1oco80.(Jc86)  ^ 


rs^  M J' I c? a£fej p  J"Q 


ete. 


Zu  dem  einen  Fagott  kommt  ein  zweites,  bald  ein  drittes; 
der  Satz  lässt  sich  zu  einer  Fagottfiige  an  und  versetzt 
uns  in  die  Zeiten  R.  Keisers  der  in  seinen  Opern  Quartette, 
Quintette  und  Sextette  für  Fagotten  schrieb.  Wie  hat  sich 
die  öffentliche  Auffassung  des  Instruments  seitdem  ge- 
ändert! Damals  der  Lyriker  unter  den  Blasinstrumenten, 
ist  es  heute  der  unfreiwillige  Komiker.  Hier  bei  d'Indy 
vertritt  es  den  Kapuziner  mit  seiner  Predigt  und  der  Lohn 
seiner  wohlgesetzten  Reden  ist  ausgelacht  zu  werden.  Das 
thun  zuerst  die  Geigen,  bald  die  Clarinetten  mit,  in  chro- 
matischen Sechszehntelgängen.  Dann  packt  aber  die 
Oboen  und  die  andren  Holzbläser  eine  gewaltigere  Heiter- 
keit ,  sie  platzen  in  kurzen  Zwischenrufen   «  J^^   heraus. 

Das  Piston  setzt  ein  und  parodirt  das  Fugenthema,  das 
die  Clarinette  gar  verzerrt,  während  die  Violinen,  die 
Flöten  dazu,  sich  auf  einem  langen  Triller  vor  Lachen 
schütteln  und  dem  folgt  ein  elementarer  Ausbruch  von 
Ausgelassenheit  in  Motiven  die  auf  den  Walzer  zurUck- 

Allegro  oon  fuooo.  _ 

gehen:     §  \\}    ^    \J    ^f  ^   ''  ^-^.*e.    Ter- 

geblich  versucht  die  Tuba  das  Fugenthema  dem  entgegen- 


c<?     361     ^ 

zustellen,  der  Länn  wächst  nur.  Da  plötzlich  klingt^s  in 
Hörnern,  Trompeten  und  ^Posaunen: 

Largo  e  maestoso,  d  s  66  ^0-  i"^ 

J|H||J.  fil  -UJ  [■  Ff  «r  p  A*^m    Dm  bedeutet: 

der  Feldherr,  Wallenstein  taucht  auf.  Nehmt  Euch  in 
Acht!  Der  unglückliche  Kapuziner  wird  freigelassen, 
Alles  nimmt  wieder  seine  gewöhnliche  Miene  an.  Das 
Trio  das  mit  dem  Thema  des  Fagotts  begann  ist  zu  Ende ; 
der  Hauptsatz  des  Scherzos  kehrt  wieder.  Nicht  ganz 
wörtlich  sondern  mit  mehrfachen  Aenderungen,  deren 
wichtigste  das  Colorit  betreffen.  Im  Walzer  erscheint  eine 
sehr  pikante  Episode  für  drei  Flöten  als  etwas  Neues. 
Am  SchluBs  konunt  das  erste  Thema  des  Hauptsatzes  in 
vergrösserten  Rhythmen  und  erweitert,  als  wollte  es  sich 
zu  einem  Hymnus  ausbreiten,  einem  Preislied  auf  den 
Helden,  den  vergötterten  Wallenstein,  dessen  Thema  als 
einer  der  letzten  Gedanken  der  Composition  auftritt. 

Der  zweite  Satz  der  Sinfonie  (Andante  und  Allegro 

G,  Esdur),  Max  und  The cla  betitelt,  lässt  breite  gefühl- 
volle Melodien  mit  erregten  Themen  wechseln  und  zeichnet 
damit  die  tragische  Lage  des  Schiller'schen  Liebespaares. 
Wie  einst  in  Verona  so  haben  sich  hier  zwei  Herzen  in 
kritischer  Stunde  gefunden;  auch  ihr  Loos  ist  in  die  Händel 
der  Parteien  verflochten.  Der  Componist  hat  der  lieber- 
Schrift  des  Satzes  noch  den  Nebentitel  .Piccolomini*  bei- 
gefügt um  den  Zuhörer  darauf  vorzubereiten,  dass  er  hier 
unbewölkte,  ungestörte  Liebesscenen  nicht  zu  erwarten  hat. 
Die  Musik  lässt  darüber  vom  ersten  Takt  ab  keinen 
Zweifel.    Die  Pauke  zeichnet  mit  dem  im  Satze  oft  und 

bedeutend   wiederkehrenden   Rhythmus:    ^^  Jj   J   den 

kriegerischen  Boden,  der  betreten  werden  soll;  die 
Violinen  machen  uns  mit  dem  ebenfalls  durch  die  meisten 
Abschnitte  der  Situation  klingenden  Motiv 


^     362     ^ 


Aadante. 


y  ^^  1^  f^'    [J*   I    ^    -   auf  Trauer  und  Klage  gefasst 

uod  die  Hörner  die  mit  einigen  Takten  die  Einleitung 
vervollständigen,  spielen  ebenfalls  im  resignirten  Ton. 
Das  erste  Thema,  welches  nun  in  den  Bläsern  (Hörner 
und  Clarinetten)  mit  folgendem  Anfang 

Andante.  J:66 


Fjf   Lj/l?  »  II  einsetzt,  ist  sehr  breit  entwickelt.    Dem 

in  Gesdur  schliessenden  Nachsatz  folgen  zunächst  einige 
Takte  über  das  oben  skizzirte  Paukenmotiv,  dann  beginnt 
die  Wiederholung  des  Themas  in  hellrem  Klang  der 
Violinen.  Sie  wird  aber  sofort  —  vom  zweiten  Takt  ab  — 
zur  Variation,  zwingt  den  Ausdruck  zu  grösserer  Wärme 
und  erreicht  bald  gehoben  und  freudig  das  Ende.  Doch 
gerade  bei  diesem  Ende  lässt  der  Componist  noch  einen 
starken  Schatten  nachkommen.  Es  ist  die  Imitation  die 
die  Hörner  und  Posaunen  tiefen  und  gedämpften  Klangs 
von  dem  letzten  Takt  gaben.  Auch  der  Paukenrhythmus 
tritt  wieder  in  den  Vordergrund.  Die  ganze  Gruppe  mag 
wohl  Max  und  seine  Sehnsucht  schildern  sollen.  Jetzt 
setzt  ein  neues  Tempo:  AUegro  risoluto  mit  folgendem 
Hauptthema 

Alleg ro  risoluto.  J  s|26 


^fes 


eta 


As  l'B 

ein.  Der  Componist  zeichnet  die  Parteien  und  die  Wirren 
die  den  Gegenstand  von  Schiller's  Piccolomini  bilden. 
Dem  einen  Thema  tritt  zunächst  ein  klagendes  zur  Seite 

^^  1*  f^ i't  r^r f-P^ I ^f^-^ ^^'  ^^ ^"* "™ *^ 


^     363     '^ 

mehr  an  das  Liebespaar  erinnern  darf  als  es  theilweise 
mit  Nachahmungen  zwischen  Violine  und  Cello  begleitet 
und  von  langsamen,  gehaltnen  Episoden  unterbrochen  wird, 
in  denen  Bruchstücke  der  später  zu  erwähnenden  Liebes- 
melodie (in  Hdur)  auftauchen.  In  einem  zweiten  Ab- 
schnitt, der  in  C  dur  einsetzt  bringt  das  Allegro  ein  zweites 

Thema       ''ß)^\^  J  ["Dir'  "  '     I     =    das   von   Wagner^s 

Nibelungenmusik  sichtlich  beeinflusst  eine  ähnliche  Rolle 
übernimmt  wie  in  der  Originalquelle :  Es  ordnet,  klärt  und 
führt  einen  Aufschwung  herbei  der  sich  bei  der  Wieder- 
kehr des  Hauptthemas  durch  einen  helleren,  entschiedneren 
Klang  äussert.  Nun  ist  auch  die  Zeit  wo  die  liebenden 
Berzen  sich  öfiFnen  dürfen.  Ein  Andante  tranquillo  bringt 
die  schöne,  etwas  Gounod^sche  Liebesmelodie,  deren  An- 
fang folgendermassen  lautet: 


|.  Die  Clarinette 


führt  sie  ein,  das  Cello  nimmt  sie  ihr  ab.  Noch  ehe  das 
Zwiegespräch  zu  Ende  ist,  hören  wir  versteckt  mehrmals 
die  Triolen  des  Wallensteinthemas.  Dann  tritt  die  Liebes- 
melodie mit  jenem  Thema  des  Andante,  das  den  Satz  be- 
gann, zu  einem  wirklichen  Dialog  zusammen  ( —  jenes  in 
den  Holzbläsern  dieses  in  den  Geigen).  Auch  diese 
schliesst  mit  den  markirt  hervortretenden  Wallenstein- 
triolen  in  beiden  Violinen  und  Bratschen.  Und  nun  setzt 
Maestoso  das  Wallensteinthema  aufregend  in  Posaunen 
und  Trompeten  ein ;  aber  es  endet  in  Dissonanzen  und  das 
Tremolo  der  Bratschen  kündet  nichts  Gutes.  Der  Com- 
ponist  will  unsre  Gedanken  hier  auf  den  Anschlag  gegen 
Wallenstein  lenken.  Desshalb  setzt  er  auch  das  jetzt 
wiederkehrende  Allegro  risoluto  in  Esmoll  und  giebt  ihm 
ein  Ende  in  gedämpftem  Ton.  Die  Liebesmelodie  kommt 
darin  noch  einmal  als  Adagio  und  halb  unterdrückt. 

Der  Intention  nach  ist  dieser  zweite  Satz  von  d'Indy's 


^     864     ^ 

Wallensteinainfonie  der  bedeutendste  des  ganzeD  Werks. 
Leider  hat  den  Componisten  im  Allegro  die  Erfindang 
Dicht  genügend  unterstützt. 

Der  dritte  Sats  der  Sinfonie  (Tres  large,  Allegro, 

Maestoso,  H  moll  (p)  ,  Wallenstein^s  Tod'  betitelt,  beginnt 
mit  einer  langsamen  Einleitung,  die  schauerliche  Absichten 
mit  Berlioz'schen  Mitteln  der  Modulation  (Hmoll  und 
Dmoll  nebeneinander)  und  Instrumentation  (Geigen  in 
den  höchsten  Lagen  getheilt ;  von  Blfisem  nur  Flöten  und 
Posaunen)  verfolgt.  Natürlich  tritt  in  ihr  auch  bald  das 
Wallensteinthema  auf.  Nachdem  so  am  Anfang  ein  Blick  auf 
den  Ausgang  der  Composition  geworfen  worden,  beginnt 
die  eigentliche  Darstellung  mit  einem  Allegro,  das  wohl 
Verschwörung  und  Empörung  zu  zeichnen  bestimmt  ist 
Zunächst  in  den  tiefen  Instrumenten  wühlend  und  stechend, 
erscheint  folgendes  Thema 

Allegro.  J  s  100  V^a 


das  ersichtlich  von  dem  Wallensteinthema  abgeleitet  ist 
Klopfende  Achtelrhythmen  in  Holzbläsern  und  Hörnern 
bilden  die  Begleitung.     Mit  dem  Abschluss   der  Gruppe 

(in  Hmoir  tritt  ein  Seitenthema  ein  J    ■    J   j-i   I    i  ^F^ 

zugleich  aber  setzt  auch  die  Musik  ein  die  im  ersten  Satz 
der  Sinfonie  den  Lärm  und  das  frohe  Treiben  des  Lagers 
schilderte.  Dieses  Lagerthema  nimmt  nun  im  Schlusssati 
der  Sinfonie  einen  sehr  breiten  Raum  ein  und  beherrscht 
den  Satz  allein  oder  mit  andren  Motiven  vereint  oder 
wechselnd  länger  als  es  die  Bedeutung,  des  Gegenstandes 
erfordert.  Vincent  d'Indy  hat  für  die  Darstellung  des  so- 
genannten Milieu  wie  das  —  man  denke  nur  an  Raff*s 
Schlusssätze  von  Lenore  und  von  der  Waldsinfonie  — 
den  Progranunmusikem  sehr  häufig  begegnet,  zuviel  ge- 
than  und  ohne  dadurch  eine  ganz  klare  DarsteUung  der 
äusseren  Hergänge  zu   erreichen.    Niemand  wird  mit  Be- 


cc     365     "^ 

stimmtheit  den  Punkt  bezeichnen  können,  an  dem  Wallen* 
stein  fällt. 

Zu  den  besseren  und  schönen  Theilen  der  Composition 
gehört  der  Anfang  des  Maestoso  mit  dem  an  Schumann^s 
, Manfred*  erinnernden  Thema 

Maestoso.  J  «60  ^ 

^^"1  r  iiniiiih'i  J  UJJi.ni 


Lüyii  ilii  '« 


„L»  MST«. 


eine  Wiederholung  des  Allegro  mit  einigen  Aenderungen: 
es  nimmt  z.  B.  das  Maestosothema  mit  auf.  An  seinem 
Schluss  erscheint  die  Liebesmelodie  des  zweiten  Satzes 
und  ihr  folgt  ein  zweites  Maestoso,  in  das  der  Componist 
aller  Wahrscheinlichkeit  nach  die  Katastrophe  hat  ver- 
legen wollen.  Ein  Largo,  das  in  verklärten  leuchtenden 
Farben,  die  Harmonien  der  Einleitung  wiederholt,  schliesst 
den  Satz  ab. 

Die  zweite  französische  Programmcomposition  auf  die 
hier  wenigstens  ein  kurzer  Blick  geworfen  werden  muss, 
ist  die  Sinfonie  ,La  Mer*  von  Paul  Gilson  (ohne  ''^  ®**^* 
Opusangabe).  Der  Componist  ist  zwar  Belgier,  aber  ähn- 
lich wie  C.  Franck,  Edgar  Tinel  und  die  überwiegende 
Mehrzahl  seiner  Landsleute  in  seiner  Kunst  durch  und 
durch  Franzose.  H.  Berlioz's  Ansprüche  an  die  Orchester- 
besetzung insbesondre  hat  bisher  Niemand  mit  gleicher 
Unbefangenheit  aufgenommen  und  erweitert  wie  dieser 
junge  Belgier.  Im  letzten  Satz  seiner  Sinfonie  verlangt  er 
ausser  dem  schon  starken  Bläserchor  des  gewöhnlichen 
CJoncertorchesters  noch  eine  zweite  Garnitur  Holzbläser 
und  ein  Dutzend  Saxhömer.  Dieser  Aufwand  und  die  be- 
rechtigte Furcht  von  den  akustischen  Wirkungen  dieses 
Finale  mögen  der  Sinfonie  von  Gilson  den  Zugang  zu  dem 
deutschen  Concert  wesentlich  erschweren.  Gekannt  zu 
werden  verdient  sie  weil  sie  als  die  talentvolle  Leistung 
eines  Hauptvertreters  der  extremen  Koloristenpartei  einmal 
ein  Licht  darauf  wirft,  was  den  Formen  der  Sinfonie  unter 


cf?     366     ^ 

4er  Herrschaft  dieser  Richtung  bevorsteht  Das  ist  gerade- 
so  wie  in  der  Malerei  eine  collossale  Verarmung  des  eigent» 
liehen  innren  Lebens  zu  Gunsten  einer  nebensächlichen 
Naturtreue. 

Am  stärksten  ist  dieser  Eindruck  im  ersten  Satz 
(Allegretto,  •/g,  Fdur)  dem  nach  einem  höchst  umständ- 
lichen mit  mythologischen  und  sonstigen  Schemen  arbei- 
tenden Gedicht,  dem  Programme  der  Sinfonie,  die  Aufgabe 
zufallt  den  Sonnenaufgang  zu  schildern.  Man  erwartet 
da  eine  Einleitung,  die  der  Schatten  der  Nacht  und  der 
Dämmerung  gedenkt.  Aber  der  Componist  setzt  sofort  mit 
einem  fertigen  Thema  ein: 

^     Allegretto.  J.=  80. 

jit^u_urjLt^  1 1   j.  I  i-n'  r  f  I  r^r"!;!' ' 


das  wohl  die  Stimme  des  seelenlosen  Meeres  bedeuten  soll. 

Und  diese  sowie  so  schon  an  Sequenzen  d.  h.  an 
Wiederholungen  desselben  Motivs  reiche  Weise  wird  nun 
durch  den  ganzen  Satz  unaufhörlich  wiederholt  meist  wört- 
lich und  vollständig.  Nur  in  der  Mitte  des  Satzes,  da  wo 
sonst  die  ersten  Sätze  der  Sinfonien  die  Durchfuhrungs- 
partie bringen,  begnügt  sich  der  Ck>mponist  mit  Bruch- 
stücken seines  Themas  und  fügt  auch  auf  einige  Abschnitte 
hin  eine  Bildung  aus  auf-  oder  absteigenden  Achtel- 
figuren hinzu,  die  man  für  eine  Art  neuere  Gedanken  an- 
sehen kann.  Sonst  aber  bleibt  er  unerbittlich  bei  seiner 
Melodie  wie  sie  steht.  Keine  wesentliche  Entwickelung, 
keine  Umbildung  giebt  ihr  den  Schein  des  Neuen  und 
wenn  es  des  Componisten  Absicht  war  die  Eintönigkeit 
des  Meeres  vor  die  Stelle  seiner  Zuhörer  zu  bringen,  so 
hat  er  diese  Absicht  bis  zu  einem  Grad  erreicht,  der  ausser- 
halb der  Grenzen  der  Kunst  liegt 

Der  zweite  Satz  (AUegro,  */«  und  "Z^,  Adur)  hat  die 
Ueberschrift  , Matrosen-Lieder  und  -Tänze*  und 
bildet  einen  Reigen  lustiger  Scenen  von  sehr  frischen  und 


c<?     367     -ö"» 

kräftigen  Grundton.  Es  scheint  als  wären  fiir  die  fröh- 
lichen Bilder  Volksweisen  mit  verwendet.  Auch  in  diesem 
Falle  bleibt  dem  Ck>mponisten  das  Verdienst  sichrer,  klarer 
und  wirksamer  Gestaltung.  In  der  Sicherheit  mit  der  eine 
grosse  Menge  bunter  Gestalten  gruppirt  ist  gleicht  der 
Satz  dem  Scherzo  in  Svendsen's  Ddursinfonie  und  in  der 
Lebendigkeit,  Unmittelbarkeit  und  in  der  freudigen  Theil- 
nähme  mit  der  er  das  Glück  und  die  Lust  der  untren 
Schichten  schildert,  zeigt  er  sich  als  echter  Sohn  der 
Niederlande. 

Der  Satz  zerfällt  in  zwei  Haupttheile.     Dem  ersten 
liegt  folgendes  Thema: 

-  AUegro.  J  :  116. 

zu  Grunde,  das,  von  unbedeutenden  Nebenmotiven  gestreift, 
eine  lange  Entwickelung  erfährt  An  dem  Schluss  wird 
der  Ton  wilder:  ein  Presto  tritt  ein: 


i|!''i''  I  M  r7i 


Bald  aber  kommt  eine  ruhigere  Weise  in  ihm: 


p-fTTff  iT^Jr  I  r7>  I  n-^^. 


Trotz  des  Presto  ist  der  zweite  Theil  des  Satzes,  in  den 
wir  jetzt  gelangt  sind  ein  Ersatz  des  alten  Trios.  Es 
schliesst  mit  einem  noch  mehr  gesteigerten  Tempo  (Molto 
presto).    Aber  in  ihm  kommt  äusserlich  fürs  Auge  viel- 

^  u  Molto  presto.  

leicht  etwas  fremd :    Wj  J    Jl-lJ    (    \^   '  ^^  Thema 

des  Hauptsatzes  wieder.  Wir  sind  also  in  der  Wieder- 
holung des  ersten  Theils  eingetreten.  Als  dann  die  Holz- 
bläser im  breiten  Gesang  die  Melodie  aufnehmen,  baut  der 
Componist  seine  Harmonie  auf  einen  langen  basso  ostinato 


^     368     '^ 

auf,   in  deo  scheinbar  leichtesten  Aufgaben   die   grosste 
Kunst  entfaltend. 

Der  dritte  Sat«  (Allegro  moderato,  Vi  und  */4,  Desdur) 
Dämmerung  überschrieben  führt  uns  wieder  nach  der 
See  lurück.  Wir  hören  das  gleichmässige  Plätschern  ihrer 
Wellen  in  Motiven,  die  dem  Hauptthema  des  ersten  Satzes 
entnommen  sind.  Erst  kommen  sie  in  den  Bläsern  muntren 
Schritts,  dann  werden  sie  langsam  und  leise  in  den  Gkigen 
angespielt.  Die  Nacht  kommt,  Licht  und  Bewegung  er- 
lischt. Wie  ein  Abendlied  erklingt  es  aus  dem  englischen 
Hom: 


Ua  f  ooo  a«BO  leato.  J  =  69. 


I>w  I>e8  .  D^, 

eine  Idylle  im  Satz,  Gelegenheit  zum  Träumen !  Dann  wird 
aber  die  Bewegung  lebhafter.  Die  Motive  aus  dem  ersten 
Satz  kommen  wieder;  die  dämonischen  Mächte  der  See 
regen  sich  und  messen  sich  eine  Weile  mit  den  Geistern 
des  Abendfriedens.  Auch  Nachklänge  aus  der  Tanzscene 
durchziehen  den  Satz. 

Der  vierte  Satz  (Allegro  moderato,  •/,,  •/4,  Fdur) 
Sturm  überschrieben,  beschränkt  sich  thematisch  auf  den 
ersten  Takt  des  Hauptthemas  de.s  ersten  Satzes.  Die  vier 
Noten  dieses  Motivs  variirt  Gilson  in  Farben  und  Harmonien 
und  wiederholt  sie  so  unermüdlich,  dass  sie  den  Hörer 
noch  Tage  lang  verfolgen  ähnlich  wie  uns  das  Rauschen 
des  Meeres  noch  lange  auf  dem  Festland  begleitet  Der 
Componist  erreicht  damit  eine  geisterhafte,  gespenstische 
Wirkung,  der  Eindruck  seiner  Meerbilder  wird  ähnlich 
wie  ihn  Haydn  von  seiner  Englandfahrt  gehabt  haben 
muss  als  er  das  Meer  «das  grosse  Thier*  nannte.  Diese 
Frucht  fällt  in  Gilson's  Finale  nebenbei  mit  ab.  Sein 
Hauptziel  ist:  die  See  in  Empörung  zu  zeigen.  Nach 
dem  Programm  geht  das  Schiff,  dem  die  Matrosen  des 
zweiten  Satzes  angehörten,  in  diesem  Schlusssatz  zu  Grunde. 
Das  Heulen   des  Sturmes,   das  Krachen  der  Wasserberge 


c<?     369     '^ 

und  alle  die  Schauer  der  wilden  furchtbaren  Natur  sind 
in  einer  Sinfonie  so  lebensgetreu  wie  hier  in  dem  Werke 
des  Belgiers  noch  nicht  gemalt  worden.  Wenn  es  ein 
Triumph  der  Kunst  ist  das  Heulen  des  Sturmes,  die  schreck- 
lichen Schläge  der  Wellen,  das  Stöhnen  des  Fahrzeugs, 
die  hörbaren  Aeusserungen  seines  Kampfes  mit  den  Ele- 
menten mit  dem  grössten  Grad  von  Täuschung  vorzuführen, 
80  hat  Gilson  hier  eine  Hauptleistung  hinterlegt.  Zum 
Theil  sind  die  Mittel  altbewährt,  namentlich  von  Liszt 
und  Wagner  eingeführt:  die  chromatischen  Scalen,  die 
hohen  Triller,  die  hereinprasselnden  Accorde  der  schweren 
Bläserharmonie;  zum  Theil  sind  es  Combinationen  rhyth- 
mischer Natur  die  Gilson  für  sich  in  Anspruch  nehmen 
kann.  In  den  kritischen  Minuten  ist  auch  ein  Männer- 
chor zugezogen  der  die  Matrosen  darstellt  ihre  ver- 
zweifelte Arbeit  mit  ,hohe*  begleitend.  Nachdem  das  Un- 
glück geschehen,  hören  wir  das  Thema  des  ersten  Satzes 
in  seinem  vollen  Umfang  noch  einmal.  Das  Meer  hat  kein 
Erbarmen  und  kein  Gewissen;  es  giebt  sich  so  unschuldig 
und  gleichgültig  wie  am  Morgen,  da  die  welche  jetzt  in 
der  Tiefe  ruhen,  die  Sonne  aufgehen  sahen. 

Die  Aufgaben,  die  sich  die  französische  Progranim- 
suite  stellt,  laufen  in  der  Regel  auf  Stimmungs-  und 
Situationsbilder  allgemeiner  Natur  hinaus.  Es  sind  im 
Grunde  Charakterstücke  wie  sie  die  französische  Orchester- 
suite seit  Muffat  gehabt  hat,  sie  schildern  Affekte  deren 
musikalische  Natur  ausser  allem  Zweifel  steht  und  ge- 
brauchen den  poetischen  Titelzusatz  nur  als  Sporn  und 
Hülfe  die  Phantasie  zu  beleben  und  vor  dem  Einschlafen 
auf  Gemeinplätzen  zu  schützen.  Der  Zusammenhang  dieser 
Musik  mit  dem  Ballet  offenbart  sich  im  Charakter  der 
Sätze;  ja  ein  Theil  dieser  französischen  Programmsuiten 
bekennt  auch  äusserlich  die  Herkunft  von  der  Bühne. 
Von  L.  Delibes  z.  B.  haben  wir  eine  Balletsuite  aus  ,le  Roi 
s^amuse*^,  von  G.  Bizet  zwei  Suiten  die  aus  der  Musik  zu- 
sammengestellt sind,  die  der  Componist  der  „Carmen*^  i.  J. 
1872  zu  A.  Daudet's  Schauspiel  ,L'Arl^sienne*  ge- 
schrieben hat. 

Kretztclim»r,  Führer,  I.  24 


co     370     ^ 

G.  BiMt  Von   diesen   beiden   Suiten   Bizet's    ist    die    erste    in 

L'Ari^tieime  I.  Deutschland  ausserordentlich  verbreitet,  ist  wohl  mehr  als 
irgend  eine  zweite  neuere  französische  Orchestercomposition 
aus  den  Kreisen  der  Abonnementsconcerte  hinaus  in  die 
Volksmusik  gedrungen.  Das  ist  nur  natürlich,  denn  sie  ist 
eine  so  reizende  Arbeit  wie  wir  nur  wenige  haben  und  bleibt 
—  mannigfach  gehaltvoll  —  leicht,  klar,  liebenswürdig  auch 
da  wo  sie  Ungewöhnliches  und  Ausserordentliches  bietet. 
Eins  wollen  wir  Bizet  nicht  vergessen :  das  ist  die  ELnapp- 
heit  seiner  Entwickelungen  und  Ausführungen. 

Die  erste  Nummer  unserer  viersätzigen  Suite  (Allegro, 

C,  Cmoll)  die  die  Ueberschrift  Pr^lude  hat,  bildet  in  der 
vollständigen  Schauspielmusik  die  Ouvertüre  und  hat  den 
doppelten  Zweck  auf  die  Hauptzüge  und  den  Charakter 
der  Handlung  vorzubereiten  und  uns  mit  T^and  und  Leuten 
etwas  bekannt  zu  machen.  Das  zweite  Ziel  verfolgt  Bizet 
mit  dem  Thema  das  den  Satz  eröffnet: 

AUa^rodeciM.  Jsl04 

I  L'iJi  '  I 


JJJ  j  NJjJjl 


Es  ist  eine  provencaliscbe  Volksmelodie  als  ,Marche  de 
Turenne*  in  Frankreich  bekannt.  Bizet  entwickelt  sie  in 
einer  Reihe  Variationen  ernsten  Charakters  die  die  Phan- 
tasie seiner  französischen  Zuhörer  mit  ganz  bestinmiten 
geographischen  und  culturhistorischen  Bildern  erfüllen 
müssen  wie  wir  ähnlich  bei  ,  Jetzt  gang  ich  ans 
Brünnele*  an  Schwaben  denken.  Zuerst  kommt  die  Melodie 
ohne  Begleitung  aber  in  mächtiger  Besetzung  (alle  Streich- 
instrumente mit  Ausnahme  der  Contrabässe,  Holzbläser, 
Saxophon  und  Homer).  Dann  wird  sie  zart  von  der 
Clarinette  gesungen,  von  der  Flöte,  englischem  Hom  und 
beiden  Fagotten  mit  schmiegsamen  Harmonien  begleitet. 
Die  zweite  Variation  bringt  das  Thema  von  sämmtlichen 
Bläsern  gespielt;  sämmtliche  Streichinstrumente  begleiten 
ebenfalls  unisono   in  Achtelfiguren  die  c  als   Orgelpunkt 


cc     371     ^ 

festhalten  in  den  Nebennoten  aber  die  Scala  empor- 
klimmen. Die  Perioden  setzen  pp  an  und  gelangen  zur 
selben  Zeit  wo  die  Figuren  sich  der  Octav  von  c  nähern 
ins  f  und  /f. 

Die  dritte  Variation  bringt  das  Thema  im  langsamen 
Tempo  in  Cdur  vom  Cello  vorgetragen,  Hom  und  Fagott 
begleiten.  Die  vierte  Variation  hat  es  wieder  in  der  An- 
fangsbewegung und  im  grossen  Glanz  des  vollen  Orchesters. 
Mit  einem  kleinen  Anhang  schliesst  die  Variationengruppe, 
die  dadurch  ungewöhnlich  ist,  dass  sie  auf  die  modernen 
Mittel  des  Variirens,  auf  wesentliche  Veränderungen  des 
Themas  selbst,  verzichtet.  Bizet  wollte  mit  Rücksicht  auf 
den  Zweck  seiner  Musik  so  einfach  und  gemeinverständlich 
als  möglich  bleiben;  er  ist  trotzdem  nicht  in  Monotonie 
verfallen. 

Die  Mitte,  oder  den  zweiten  Theil  des  Prdlude  füllt 

AiMUoiemoUo. 


fast  ganz  das  Motiv   JHn»^  (  _  i     (j  I    p^  •    Jeden  zwei- 


ten Takt  erhebt  es  seinen  Klageruf.  Wie  auch  die  Musik 
ihre  Wege  wählt,  durch  alle  Harmonien  drängt  es  sich. 
Wenn  je  so  darf  hier  an  eine  fixe  Idee  gedacht  werden 
und  thatsächlich  bedeuten  jene  vier  Noten  auch  etwas  dem 
Aehnliches.  Frdderi,  der  Held  des  Daudet^schen  Schau- 
spiels, muss  das  Mädchen  von  Arles  (rArl^ienne)  auf- 
geben weil  sie  eine  Unwürdige  ist.  Aber  er  hört  nicht 
auf  an  sie  zu  denken  sich  nach  ihr  zu  sehnen  und  an  dem 
Abend  wo  seine  Verlobung  mit  einer  Andren  vorbereitet 
wird,  stürzt  er  sich  zum  Fenster  hinaus.  Der  mittlere 
Theil  des  Prelude  malt  nun  mit  der  unaufhörlichen 
Wiederkehr  dieses  einen  Motivs  den  Geisteszustand  des 
armen  Fr^deri,  der  so  ganz  bis  zur  Sinnlosigkeit  von 
dem    Gedanken    an   die   Verlorne    beherrscht    wird.     Ein 

Un  pen  aolas  lento.  J  =  76. 
dritter  Theil,  in  dem  das  Motiv    ^   '      ' -lU  '      '    ^ 

24* 


oT     372     ^ 

die  hauptsächliche  Entwickelung  trägt ,  malt  das  Sorgen, 
das  Hoffen  und  Ringen  der  Umgebung.  Die  letzten  Takte 
des  Satzes  nehmen  Bezug  auf  den  traurigen,  schrecklichen 
Ausgang  des  Stückes. 

Der  zweite  Satz  (Allegro  giocoso,  '/4,  Cmoll)  als 
Minuetto  bezeichnet  ist  als  Zwischenaktsmusik  zur  Eröff- 
nung heitrer  Scenen  componirt.  Er  hat  die  alte,  von 
Haydn  her  bekannte  Anlage.  Der  Hauptsatz  stützt  sich 
auf  ein  Thema  das  bei  aller  Einfachheit  und  Beschränkung 
doch  eine  feine  wählerische  Hand  verrät h.  Die  Bass- 
fuhrung  zeigt  sie: 


giocoso.  J  r  184  ^^  ■  ^-^  ,      r   I  J    | 


Mcmioa        AUocro  giocoso. 


fT^I-^-QU-4-^ 


Mehr  als  vom  Hauptsatz  wird  jedoch  das  Wesen  dieses 
Minuetto  von  dem  andren  Theil,  dem  an  Stelle  des  Trio's 
stehenden  Satz  bestimmt.  Er  steht  in  Asdur  mit  folgen- 
dem Thema: 


^Jgrnrnri'i'i  in  i  htm  h 


Mit  seinem  innigen  elegischen  Ausdruck  fesselt  es  an  sich 
schon  das  Gemüth  des  Hörers;  der  Componist  verstärkt 
aber  seine  Macht  durch  die  sichtliche  Liebe,  mit  der  er 
bei  ihm  weit  über  die  normale  Zeit  hinaus  verweilt 

Der  dritte  Satz  (Adagio,  */4,  Fdur),  Adagietto  be- 
titelt, ist  kaum  mehr  als  ein  Lied  mit  einem  kleinen  selb- 
stäudigen  Mittelsatz,  sonst  von  einfachstem  Bau.  Die 
Hauptstrophe  bildet  Vorder-  und  Nachsatz  und  wird  soviel 
ausgenutzt  als  nur  möglich  ist  und  in  ihr  selbst  sind  die 
melodischen  Verhältnisse  so  leicht  gewählt  als  es  nur  sein 
kann.  Grössere  Schritte  kommen  fast  gar  nicht  vor. 
Diese  äusserste  Einfachheit,    die  das  innige  Stück  noch 


<C'     373     ^ 

rührender  macht  als  es  an  und  für  sich  schon  ist,  dient 
hier  Zwecken  dramatischer  Charakteristik.  Es  begleitet 
den  Dialog  zweier  alten  Leute  im  Stück:  der  Mutter 
Renaud  und  des  Schäfers  Balthasar,  die  sich  um  brav  zu 
bleiben  vor  fünfzig  Jahren  getrennt  haben  und  jetzt  zum 
ersten  Mal  wieder  sehen.  Als  die  Musik  der  alten  Leute 
zeigt  sich  das  Adagietto  auch  in  seiner  bescheidnen  Be- 
setzung (Streichquartett)  und  im  Tempo  das  man  kaum 
zu  ruhig  nehmen  kann. 

Der  Schlusssatz  (Allegretto  moderato,  ^Uj  Cdur) 
»Carillon*  betitelt,  ist  derjenige  welcher  den  Concerterfolg 
der  Suite  unter  allen  Umständen  sichert.  Eine  Harmonie 
gegen  einzelne  liegen  bleibende  Töne  (liegende  Stimme) 
zu  führen  oder  gegen  ein  im  Bass  festgehaltnes  Motiv 
(Basso  ostinato)  das  ist  nichts  Seltnes.  Aber  ein  Motiv  in 
einer  Mittelstimme  ohne  Unterbrechung  sechzig  Takte 
hintereinander  wiederkehren  zu  lassen  und  darüber  und 
darunter  eine  Musik  in  Fhiss  und  Charakter  zu  bieten  — 
wie  das  Bizet  hier  thut,  das  ist  ein  Kunststück.  Dazu 
kommt  aber  noch,  dass  dieses  Kunststück  sich  ganz  natür- 
lich giebt.  Der  Satz  Bizet's  ist  wirklich  ein  Stück  Pro- 
gramnmiusik  im  eigentlichsten  Sinn:  Malerei.  Er  macht 
das  Glockenspiel  nach  aber  Bizet  hebt  den  EflTekt  poetisch 
ähnlich  wie  er  in  seiner  Carmen  die  Aeusserlichkeiten 
des  militärischen  Lebens  getreu  aber  zugleich  auch  in 
poetischer  Verklärung  vorfuhrt.  Im  Schauspiel  setzt  unser 
Finale  in  dem  Augenblick  ein  wo  die  jungen  Leute  nahen 
um  die  bevorstehende  Verlobung  Fr^deri^s  mit  Vivette  zu 
feiern.  Was  das  Dorf  nur  an  Mitteln  besitzt  um  einer 
freudigen  und  hochgehenden  Stimmung  Ausdruck  zu  geben, 
das  wird  in  Thätigkeit  gesetzt.  Natürlich  müssen  da  die 
Glöckchen  auf  dem  Thurm  auch  mitthun.    Sie  spielen : 

Allegr«ito  aotfanto.  J  :  104 

if^^i  J    J   J    I    J    -p  .    Unter  den  Contrapunkten  die 
ihnen  entgegentreten  ist  der  wichtigste  der  folgende: 


cc^     374     '^ 


t 


f!^^-^^-^r-|  n  M  fl  i  I  fi  il  i  II 

als  der  Ausdruck  fröhlicher,  flotter  Feststimmung.  Unter 
den  Klängen  dieses  Themas  stürmt  die  Schaar  der  jugend- 
lichen Gratulanten  heran.  Im  Mittelsatz  der  über  folgen- 
des Thema  entwickelt  ist: 


AnduitlBO. 


tritt  das  Sprecherpaar  hervor  und  stattet  sittig  und  herz- 
lich den  Glückwunsch  ab. 

Der  ausserge wohnliche  Beifall,  mit  dem  Bizet's  1.  Suite 
zu  TArlösienne  in  allen  Ländern  aufgenommen  wurde,  be- 
stimmte seine  Freunde  die  (aus  24  Nummern  bestehende) 
Musik  zu  dem  Schauspiel  Daudet*s  noch  einmal  nach  Sätzen 
durchzusehen,  die  im  Concert  verwendbar  wären.  Seit 
G.  BIset  etlichen  Jahren  hat  uns  Guiraud  eine  zweite  Suite  Bi- 
L'Ariösienne II. zet*8  ZU  l'Arl^sienne  vorgelegt,  die  ebenfalls  aus  vier 
Nummern  besteht,  welche  den  Stücken  der  ersten  Suite 
in  der  Wirkung  nichts  nachgeben. 

Sie  wird  mit  einem  Pastorale  eröffnet,  dessen  Haupt- 
satz auf  folgendem  Thema  ruht: 

Andante  sostenato  ass&l.  J  :  S4.  ^^^^^ 


jr 


f   f|  "^  1  .    In  der  harmonischen  Stellung  der 


Achtelnoten,  in  dem  ländlich  naiven,  freundlich  liebens- 
würdigen Ausdruck  froher  Stimmung  erinnert  es  an  Boiel- 
dieu  s  „Weisse  Dame**.  Ein  Nachsatz  von  h  aus  gebildet, 
vervollständigt  es  zur  achttaktigen  Periode,  die  von  den 
Bläsern  allein,  mit  der  Flöte  als  Soloinstrument  sofort  und 
wörtlich  aber  im  zarten  Ton  wiederholt  wird.  Da  schon 
wird  die  ländliche  Scene  unterbrochen :  die  Holzbläser  rufen 
einander  zu  als  käme  Jemand  der  noch  mit  will:   vom 


^ 


c<?     375     ^ 

Soxophon  und  Hom  her  hören  wir  ein  Motiv,  das  wie  ein 
Hailoh  klingt.  Man  wartet  auf  den  Nachzügler  und  als 
er  da  ist  beginnt  ein  kleines  Pastoralconcert,  eine  echte 


Landmusik  im  ^^/^Takt:    dp  »    Ji  r  *(ri**r !  ^  f  *r  f  FE  etc 

wie  von  Dudelsackharmonien ,  von  den  Quintenbässen  der 
Fagotte  begleitet.  Lange  dauert  sie  nicht,  dasAdurthema 
setzt  wieder  im  ff  ein,  der  Zug  bewegt  sich  weiter.  Bald 
hat  er  aber  sein  Ziel,  den  Spielplatz  im  Schatten  erreicht. 
Noch  einmal  setzt  sich  alles  in  Positur,  das  Messing  (Po- 
saunen mit)  intonirt  mit  äusserster  Kraft  und  Würde  die 
A  durharmonie ,  die  andern  Instrumente  fangen  Nach- 
ahmungen des  Themas  an.  Aber  blitzschnell  wird  das 
aufgegeben,  die  Klänge  verhauchen  und  wir  stehen  vor 
einem  ganz  veränderten  Bild:  vor  dem  zweiten  Theil  des 
Pastorale.  Dieser  zweite  Theil  ist  in  Fismoll  und  im  */4Takt 
gehalten,  scheidet  sich  also  auch  äusserlich  scharf  von  dem 
Hauptsatz.  Dem  Charakter  nach  ist  er  eine  Tanzscene 
und  der  Componist  hat  hier  sichtlich  darauf  gerechnet, 
dass  der  Zuhörer  die  sinnlichen  Haupteindrücke  durch  dan 
Auge  von  der  Bühne  her  empfängt.  Denn  die  Musik  er- 
geht sich  in  blossen  Wiederholungen.  vSie  repräsentirt 
wohl  mit  provencalischen  halb  ehrwürdigen,  halb  drolligen 
Melodien  ein  Päärchen.    Sie  singt  zierlich: 


,fiffffLf|tffrfll 


6t0# 


P 

er  ungestüm: 

Ein  freierer  und  ausdrucksreicher  Abgesang  schliesst  die 
Scene  und  eine  abgekürzte  Wiederholung  des  Hauptsatzes 
den  ganzen  Satz,  der  durch  das  reizende  Adurthema  noch 
lange  nachwirkt.    Im  Schauspiel  contrastirt  sein  Hebens- 


«<?     376     ^ 

wUrdig  freundlicher  Klang  aufs  Schneidendste  mit  der 
augenblicklichen  Situation.  Denn  der  Aufsug  des  Pasto- 
rale erfolgt  unmittelbar,  nachdem  Fr^deri  über  den  ernsten 
Charakter  der  ArWsienne  schmerzlich  aufgeklärt  worden  ist. 

Der  zweite  Satz  der  Suite  (Andante  moderato,  C, 
Esdur;  Intermezzo  überschrieben  ist  Zwischenaktsmusik 
elegischen  Charakters.  In  der  kurzen  Einleitung,  die  am 
Schluss  der  Nummer,  wiederkehrt  wechselt  eine  starke  Uni- 
sonofigur  mit  zarten,  geheimnissvollen  Bläseraccorden.  Der 
Hauptsatz  gleicht  einem  Gesangstück  dessen  gleichmässig 
breiter  Fluss  nur  durch  einige  Takte  der  Erregung  unter- 
brochen, dem  Ende  zu  durch  Hinzutreten  immer  weitrer 
Instrumente  sehr  imposant  anschwillt. 

Auch  der  dritte  Satz  (Andantino  quasi  allegretto, 
^'4,  Esdur;  Menuett  betitelt  ist  ein  Stück  Zwischenakts- 
musik, dem  vorigen  aber  an  Originalität  weit  überlegen. 
In  der  Familie  der  Menuetts  lässt  es  sich  ebensowenig  mit 
einem  zweiten  Stück  verwechseln  oder  auch  nur  vergleichen 
wie  Mozart's  Menuett  seiner  letzten  Es  dursinfonie.  Zu  der 
kecken  Grazie  seiner  Melodie, Mie  von  dem  Thema: 


getragen  wird,  kommt  eine 

ganz  ungewöhnliche  Instnimentirung:  den  grössten  Theil 
des  Hauptsatzes  spielen  Flöte  und  Harfe  allein.  Um  so  ge- 
waltiger klingt  dann  das  volle  Orchester  im  Mittelsatz,  der 

über  das  feste  Motiv    il>k  fff  |FFP|    gebaut  ist.   Die 

Pausen  füllen  Sechzehntelgänge  von  Flöten,  Oboen  und 
Clarinetten,  die  durch  die  Betheiligung  der  Harfe  Härte 
und  Rückgrat  erhalten. 

Aehnlieh  wie  in  der  ersten,  so  ist  auch  in  Bizet's  zweiter 
Suite  zu  l'Arl^sienne  der  Schlusssatz  (Allegro  deciso, 

C,  */4,  Dmoll,  Ddur)  als  die  Krone  des  Ganzen  zu  be- 
zeichnen. 

Bis  zu   den  Entrees  in  den  Ballets  Rameau's  können 


«?     377     ^ 


wir  die  Tbatsache  zurücky erfolgen,  dass  die  französischen 
Componisten  ihre  besten  Stunden  immer  bei  der  Schilderung 
von  besondem  Aufzügen  haben.  So  sind  auch  in  Bizet's 
Suiten  der  Carillon,  das  Pastorale  und  unser  Schlusssatz 
die  bedeutendsten  Treffer.  Denn  auch  dieser  Schlusssatz 
ist  eine  Aufzugsmusik:  Farandole,  wie  er  überschrieben 
ist,  bedeutet  den  Marsch  und  Tanz  mit  dem  die  Theil- 
nehmer  am  Fest  des  heiligen  Eligius  (Eloi)  in  der  Pro- 
vence vor  den  Häusern  und  Höfen  erscheinen,  von  deren 
Besitzern  sie  milde  Beiträge  erbitten  wollen. 

Bizet's  »Farandole*  beginnt  wie  das  Pr^lude  der  ersten 
Suite  mit  dem  Marche  de  Turenne.  Doch  beutet  er  die 
alte  Melodie  nicht  wieder  zu  Variationen  aus,  sondern 
bricht  sie  bald  ab  und  ersetzt  sie  durch  die  eigentliche 
Farandole.  Das  ist  ein  altert hümlicher  provencalischer  Ge- 
sang zu  dem  auch  besondre  Instrumente  gehören:  das 
lange  schmale  Tambourin  und  das  Flageolett :  die  Melodie 
des  Farandole  ist  folgende: 

AIlegTO   TtTO. 


W  f^\rt\f\  (jjj-f.  ^  I 


I  r  f  r  r  l^=  .  Die  Periode  wird  wie- 


derholt und  erhält  dann  einen  Nachgesang: 


der   ebenfalls   zweimal  gegeben 


wird.  Dann  beginnt  der  ganze  Reigen  von  vorn,  zwei-, 
dreimal  erneuert  sich  das  Spiel  aber  immer  lauter.  Wie. 
aus  weitester  Feme  ppp  begann  die  Farandole,  beim 
zweiten  Einsatz  war  sie  schon  im  f  und  fortwährend 
wächst  sie  an  Tonstärke,  zieht  Instrument  um  Instrument 
in  ihre  Kreise  imd  klingt  mit  jeder  Secunde  entschiedener, 
naturmächtiger.  Nimmt  man  noch  hinzu  wie  das  Tam- 
bourin noch  ehe  die  Melodie  eingesetzt  hat,  schon  seinen 
Achtelrhythmus    begann    und   wie  es  seitdem  nicht  auf- 


te     378     ^ 


Roma. 


gehört  hat  die  Achtel  weiter  zu  klopfen,  so  kann  man 
sich  einen  Begriff  von  der  sinnverwirrenden  Wirkung 
dieser  Musik  machen.  Endlich  kommt  eine  Abwechse- 
lung: der  Marche  de  Turenne  tritt  ein.  Aber  nur  für 
kurze  Zeit.  Bald  macht  er  der  Farandole  wieder  Platz, 
die  bis  zum  Ende  des  Satzes  nicht  wieder  verschwindet. 
Wir  stehen  also  dieser  Schlussnummer  der  zweiten  Suite 
gegenüber  vor  einem  ähnlich  behandelten  Variationenge- 
bilde  wie  es  Glincka's  Kamarinskaja  ist.  Die  Bussische 
Kunst  ein  unscheinbares  und  geistig  geringes  Thema  durch 
Zähigkeit  zu  einer  Grösse,  ja  zu  einer  Naturgewalt  zu 
steigern  hat  sich  Bizet  mit  einer  Wirkung  zu  eigen  ge- 
macht, die  nichts  zu  wünschen  lässt. 

Gleichfalls  nach  dem  Tode  des  Componisten  hat  man 
G.  Biiet  eine  dritte  Orchestersuite  von  Bizet  veröffentlicht.  Sie 
führt  den  Titel  Roma  und  gehört  zu  seinen  altem  Ar- 
beiten. Nach  den  Versichrungen  Ch.  Pigot's*)  hat  Bizet 
schon  i.  J.  1863  an  ihr  gearbeitet,  damals  noch  mit  der 
Absicht  eine  Sinfonie  zu  schreiben.  Am  28.  Februar  1869 
wurde  das  Werk  bei  Pasdeloup  aufgeführt  mit  der  Be- 
zeichnung „Fantaisie  Sjmphonique*  und  dem  Nebentitel 
,.  Souvenirs  de  Rome*.  Der  erste  Satz  trug  die  Bemerkung 
,Une  chasse  dans  la  foret  d'Ostie*  —  das  ist  für  eine  Suite 
mit  dem  Titel  Roma  ein  zum  Verwundern  harmloses  Thema 
—  der  dritte  war  als  ,Une  procession*  angegeben,  der  letzte 
wie  noch  heute  Carnaval  benannt. 

Der  erste  Satz  (Andante  tranquillo,  C,  Cdur  und 
Allegro  agitato,  **/^,  Cmoll)  beginnt  mit  einem  Homquartett, 
dem  folgender  an  den  Schlüssen  etwas  Mendelssohnisch  ge- 
färbter Gesang  zu  Grunde  liegt: 

AadMito  t^aaqttlllo.  J  s  66.  

j n 'j-TTTHTfr  jTpT3r  er  |f  r  r  |f  r  T] 


■  r  ffrripJl^r   ^ir^.     in    derselben   Sonn- 


^)  Charles  Pigot:  Georges  Bizet  et  son  oeuyre.     1886. 


c<?     379     ^ 

tagsmorgenstimmung  wie  dieses  Thema,  sind  auch  die 
Strophen  gehalten,  welche  die  Geigen  ihm  entgegen- 
stellen. Dann  geht  die  Erwartung  in  Unruhe  über.  Be- 
wegtere Motive  treten  ein ,  die  Geigen  begleiten  in 
sprühenden  Figuren,  aus  den  Bläsern  tönen  lockende  Rufe. 
Die  ganze  Natur  beginnt  zu  leben,  es  wird  Zeit  zum  Tage- 
werk. Dessen  Schilderung  ist  die  Aufgabe  des  Allegro, 
das  den  zweiten  Theil  dieser  Nummer  bildet.  Es  ist  in- 
sofern ganz  ungewöhnlich  angelegt  als  es  weder  die  übliche 
Eintheiluug  eines  Sonatensatzes  noch  die  eines  Rondo  zeigt. 
Es  hat  kein  bestimmtes  Thema  aus  dem  es  sich  entwickelt, 
sondern  es  sucht  die  augenblickliche  Lage  mit  immer 
neuen  Motiven  zu  zeichnen  und  überlässt  es  dem  Zuhörer 
aus  deren  Charakter  auf  den  Inhalt  der  wechselnden 
Bilder  zu  schliessen.  Die  wichtigsten  dieser  Motive  sind 
folgende  drei  Beispiele: 

Allegro  Agltato.  J.^  104 


p\'\    jMl    ,lf   JilJ  .1',  jr,  J  I  ^  üf^^ 


Der  Satz  hat  einzelne 


wenige  Idyllen,  vorwiegend  malt  er  ein  lautes,  froh  erregtes 
Treiben,  bei  dem  die  Homer  eine  Hauptrolle  haben.  Im 
Augenblick  wo  die  Wogen  am  höchsten  gehen,  geht  auch 
die  Modulation  aus  Rand  und  Band,  nämlich  in  das  ganz  un- 
erwartete E  dur.  Dieser  Abschnitt  hat  auch  ein  hervortreten- 


des   Hauptmotiv    nämlich:     

Als  er  wieder  in  Es  geschlossen,  verklingt  der  Lärm;  mit 
einem  Male  sind  die  Schatten  des  Abends  da.  Noch  einmal 
kommt  ein  Aufschwung  aus  der  sanften  Idylle,  die  das 
Allegro  geworden  ist.  Dann  kommen  die  Motive  der  Ein- 
leitung wieder  und  schliesslich  das  Andante  selbst. 


o(?     380     ^ 


Der  zweite  Satz  (Allegretto  vivace,  ','4,  Asdnr)  ist 
als  das  Scherzo  der  Suite  anzuseheD.  Seinem  Hauptsatz 
liegt  folgendes  flüchtige  phantastische  Thema  zu  Grunde: 


Jriie. 


Zunächst  wird  es  zu  einer  Fuge  benutzt,  dann  aber  zu 
einer  Reihe  freierer  leichter  Satzbildungen ,  begnügt  sich 
später  hie  und  da  wohl  auch  Begleitungsmotive  und  Ver- 
zierungsfiguren zu  liefern,  z.  B.  zu  folgender  Melodie: 


Der  zweite  Theil,  dem  gewöhnlichen  Trio  entsprechend, 
ißt  ähnlich  wie  in  der  ersten  Suite  Bizet's  zu  TArlesienne 
sehr  liebevoll  ausgeführt.  Das  warm  gesangvoUe  Haupt- 
thema, das  dem  zarten  Satz  zu  Grunde  liegt,  ist: 


Der  dritte  Satz  (Andante  molto,  G,  Fdur)  gleicht  mit 
seinem  ruhigen  ein  Gemüth  das  seinen  Frieden  gefunden, 
kündenden  Thema: 

Andante  molto.  J  =  ^^ 


jfn  JT/JfT    JTB-H-i 


mehr  einer  Scene  in  der  Ka- 


pelle   als    einer   Prozession.     Nur   die   häufigen   Wieder- 


«<?     381     ^ 


bolungen  führen  uns  das  Bild  des  Marsches  der  aus- 
ruhenden und  wieder  aufbrechenden  Pilgerschaar  vor  die 
Phantasie.  Bizet  hat  diesen  Wiederholungen  ganz  im 
Gegensatz  zu  den  Verfahren,  das  Berlioz  im  Harald  ein- 
schlug, das  Eintönige  dadurch  zu  nehmen  gesucht,  dass  er  sie 
harmonisch  oder  in  der  Instrumentirung  variirte.  Nament- 
lich die  letzte  Variation  hat  durch  die  lebendigen,  inter- 
essanten Contrapunkte  der  ersten  Violine  einen  grossen 
Reiz.  Ursprünglich  war  dieses  Andante  von  Roma  ein 
Seitenstück  zu  dem  Adagietto  in  der  ersten  Suite  zu  TArle- 
sienne,  einfach  und  knapp.  Der  Componist  hat  dem  Satz 
aber  nachträglich  einen  imposanten  Charakter  dadurch  ge- 
geben, dass  er  das  zweite  Thema  aus  dem  Schlusssatz  der 
Suite  in  ihn  hereinnahm  und  ausführte. 

Dieser  Schlusssatz  (AUegro  vivacissimo,  ^/V  Cmoll)  ist 
ein  Rondo.  Sein  Hauptthema  ist  ein  Bassrhythmus,  der 
durch  die  Dissonanzen  mit  denen  er  begleitet  wird  eine 
wilde  und  ausgelassene  Natur  und  die  Fähigkeit  erhält, 
die  Stütze  einer  tollen  Carnevalsmusik  zu  bilden: 

AUerro  vivmoiMimo^J  r  168. 


^^^. 


^^ 


^^ 


I 


^   .  P  ,  I  1^^ 


S 


^P   ^  p  ^ 


^^ 


Eine  bunte  Schaar  von  Motiven  gesellt  sich  zu  dieser 
Bassfigur;  jedes  Instrument,  das  an  der  Musik  Theil  nimmt, 
hat  ein  anderes.  Der  lustige  Tag  macht  die  Phantasie 
sprühen,  der  melodische  Segen  ist  fast  unerschöpflich. 
Hervorgehoben  seien  unter  ihnen  zwei  die  später  benutzt 

und   bedeutender   werden:     m^^  i      ^  ^  \  p     [}       und 


c<?     382     ^ 


das    von    ihm   abgeleitete: 

Unter  den  Gedanken  der  Zwischensätze  erregt  das  Thema 
des  ersten  Zwischensatzes  Interesse  weil  es  beim  Einsatz 
sehr  an  Nicolai's  Lustige  Weiber  erinnert: 

^  ►'l.  P   I  ^"  P  iTil  I   O  t^  I  ft  .  Dm  eigentliche 

zweite  Hauptthema  des  SchlusssatzeSfdessen  Bekanntschaft  der 
Hörer  schon  im  vorhergehenden  Andante  gemacht  hat  lautet : 


iA-|ij  j  iJ  Ji  j.jii^^.hh^^J  j  I  j  I 


Es  giebt  am  tollen  Tage  edleren  (refiihlen  Ausdruck  und 
wenn  wir  in  Betracht  ziehen  wie  dieses  Thema  im  Satze 
plötzlich  unvorgesehen  vor  uns  steht,  so  liegt  der  Gedanke 
nicht  so  fern,  dass  der  Componist  damit  auf  eine  liebe  Be- 
gegnung hat  hindeuten  wollen.  Die  innige  und  schöne 
Weise,  aus  der  schon  eine  Hauptstelle  von  „Carmen*  heraus- 
blickt, klingt  oft  wieder  und  wirft  in  die  noch  folgenden 
ausgelassenen  Scenen,  von  der  eine  Fuge  über 

f^flU'  '  'nM  lli|ilJ^lLJ!£/''LtJlM 

die  ärgste  ist,  veredelnde  Lichter.  Mehr  und  mehr  dem  Ende 
zu  wird  aber  auch  sie  ihres  Charakters  entkleidet  und  in 
den  Strudel  sinnloser  Lust  hineingezogen. 

In  Frankreich  wird  noch  eine  sogenannte  Kleine 
0.  Bliet  Orchestersuite  (op.  22)  Bizet's  viel  gespielt,  die  den 
dcux  d'enfanu.  Titel  führt  d  e  u  X  d'  e  n  f  a  u  1 8  d.  i.  Kinderscenen.  Diese 
Kinderscenen  entstanden  als  Klaviermusik,  ein  Heft  12 
Nummern  umfassend.  Zur  EröflFhung  der  Concerte  Colonnes 
hat  der  Componist  fünf  davon  instrumentirt  und  als  petite 
Suite  d'orchestre  veröffentlicht.  Die  erste  Nummer  ist  ein 
einfacher  Marsch,  bei  dem  Trompeten,  Hörner,  Pauke  und 
kleine  Trommel,  also  die  Instrumente  die  die  Aufmerksam- 


c<?     383     ^ 


keit  des  Rindes  am  stärksten  erwecken,  sehr  hervortreten. 
Es  ist  nicht  zu  verkennen  dass  der  Humor  der  Composition 
im  Klavier  reiner  wirkt.  Der  zweite  Satz,  eine  Berceuse, 
ist  die  Krone  des  Werkchens  durch  die  Süssigkeit  der 
Cantilene.  Alle  Instrumente  nehmen  die  schöne  Melodie 
für  eine  Weile,  das  Cello  umspielt  mit  wiegenden  Figuren. 
Der  dritte  Satz  «Impromptu'^  ahmt  das  Brummen  des 
Kreisels  mit  einer  Trillerfigur  nach  die  in  den  untern 
Mittelstimmen  durchgeführt  wird.  Die  vierte  Nummer 
Duo  genannt  ist  ein  kurzes  Andantino  in  dem  erste  Violine 
und  Cello  in  zärtlichen  Melodien  das  Bild  zweier  Liebes- 
leute geben  sollen.  Der  Schlusssatz,  Galop  betitelt,  will 
zeigen  wie  die  kleinen  Leute  Gesellschaft  haben  und  einen 
grossen  Ball  geben.  Es  geht  sehr  hoch  her.  Der  Satz 
verarbeitet  das  Thema  nach  verschiedenen  Richtungen, 
stellt  es  sogar  in  den  Bass.  Das  Ganze  ist  ein  liebens- 
würdiges Stück  Kleinkunst. 

Von    Camille  St.   Saens   besitzen    wir   neuerdings  C.  St.  SaSmt 
eine  Programmsuite,   die  den   Titel  Suite  Alg^rienneSuiteAlg^nenne. 
(op.  60)  führt  und  wohl  als  eine  von  mehreren  musikalischen 
Früchten  jener  viel  besprochnen  Reise  zu  betrachten  ist, 
die  vor  einigen  Jahren  das  Haupt  der  heutigen  französischen 
Tonsetzer  seinen  Pariser  Freunden  auf  längere  Zeit  entzog. 

Der  erste  Satz  (Molto  allegro,  */g,  Cdur)  beginnt  ge- 
heimnissvoll mit  einem  leisen  Paukenwirbel.  Dann  setzen 
die  Celli  ein: 


Molto  allegro.  JU  144 


Mit  dem  Eintritt  der  Bratschen  wird  aus  diesen  tastenden 
Motiven  ein  Thema: 


r  f  i^i^rTTin 


«tc. 


cc?     884     ^ 

und  beide,  Motivgruppe  und  Thema,  reichen  sich  die  Hand 
um  vereint  den  Aufmarsch  der  Stimmen  zu  stützen.  Der 
ganze  Abschnitt  hat  den  Charakter  einer  grossen  Spannung: 
Leonorenouverture  und  Rheingoldvorspiel  haben  Theile 
von  gleicher  Anlage:  eine  Entwickelung  die  über  einem 
Orgelpunkt  aufbaut  und  aufthUrmt  und  die  Phantasie  eifrig 
mit  der  Frage  beschäftigt  was  wird  kommen  wenn  die  er- 
strebte Höhe  endlich  erreicht  ist.  Jener  Augenblick  nahet 
sich  als  die  ersten  Geigen  das  Thema  nehmen.  Da  ver- 
lässt  die  Harmonie  den  lang  festgehaltnen  Standort  auf  C 
und  wendet  sich  nach  G.  Das  neue  Bild  aber,  das  sich 
jetzt  bietet,  ist  das  Thema 


das  gehegte  Erwartungennicht  befriedigt  sondern  nur  steigert. 
Was  fremdartig  an  diesen  Tönen  ist,  die  wohl  einen  Gruss, 
die  ersten  Klänge  vom  afrikanischen  Land  bedeuten,  das 
wird  romantisch  gehoben  durch  die  Einkleidung  die  ihnen 
St.  SaSns  giebt.  Ein  Tremolo  der  Geigen  begleitet  sie  und 
ein  Freudenschauer  des  vollen  Streichorchesters  folgt  ihnen. 
Von  nun  ab  kommt  in  die  Musik  viel  grössere  Beweglich- 
keit; nur  der  Schluss  des  Satzes  wendet  sich  wieder  ins 
Zarte  und  erzählt  von  einer  Seele,  die  sich  dankbar  still 
sammelt. 

Der  zweite  Satz  (Allegretto  non  troppo,  •/s,  Ddur) 
bringt  nationale  Musik.  Die  Rhapsodie  mauresque,  wie 
die  Nummer  heisst,  zerfallt  in  zwei  Theile.  Der  erste  ist 
eine  kunstreiche  Phantasie  über  das  Glockenspielthema 

^^   Allegretto  non  troppo.   J*2  64 

II  IUI    I II  Uli     Ml  1 1       I II I II 


das  durch  alle  Instrumente  geht  und  mancherlei  Umbildungen 
erfahrt.    Die  interessanteste  und  wichtigste  bringt  es  in 


ce     885     ^ 

die  Form  einer  Sechzehntelfigur,  wodurch  der  Satz  der  in 
beabsichtigter  Monotonie  gehalten  ist  auf  eine  Weile  be- 
wegter und  spannender  wird.  Unter  den  Contrapunkten 
die  diesem  Hauptthema  entgegengestellt  werden,  machen 
sich  in  den  Holzbläsern  einige  scharf  rhythmisirte  Figuren 
bemerklich,  die  wohl  der  Maurischen  Volksmusik  entnommen 
sind.  Während  dieser  erste  Theil  träumerisch  gestimmt  ist, 
bringt  der  zweite  eine  frohe  und  fröhliche  Musik  auf 
Grund  folgender  Themata: 

Allegro  modecMo.  Js  188 


f nfTTiiniii  |i  ii  r  iiirrifrn  hi 


p 

Yi  r  II  I  I  II  1 1  rfiffiTi  i  i 

Das  erste  ist  in  seiner  Einfalt  und  seinem  Mangel  an  Leit- 
tönen entschieden  barbarisch.  Das  letzte  hat  St.  Saens 
ausserordentlich  wirkungsvoll  eingeführt.  Als  Zweck  dieser 
Rhapsodie  könnte  man  sich  ein  Ständchen  denken. 

Dem  dritten  Satz  (AUegretto  quasi  Andante,  ^^g, 
Adur)  liegt  eine  zwanzig  Takte  lange  Melodie  zu  Grunde, 
deren  Charakter  aus  folgendem  Anfang 

^Andantino.  J)ift4    ^  ^^^^ 

zu  erkennen  ist.  Ihr  gehen  einige  Takte  in  den  Holz- 
bläsern vorher,  die  sich  durch  den  freien  spielfreudigen 
Rhythmus  als  eine  musikalische  Gabe  der  Eingebomen 
kennzeichnen,  während  das  hier  angegebene  Thema  me- 
lodisch und  rhythmisch  die  europäische  Abkunft  zeigt. 
So  haben  wir  in  den  beiden  Melodien  zwei  Culturen  gegen- 
übergestellt,  Stoff  genug  zu  einer  Träumerei.  Denn  der 
Titel  der  Nummer  lautet  Reverie  dusoir(k  Blidah). 

Kretziohmar,  FUhrer,  I.  25 


c<?     886     ^ 

Jene  Maurische  Weise  bedeutet  den  Gebetsruf:  der  Fremd- 
ling der  ihn  hört  fühlt  sieh  fromm  gestimmt  und  gedenkt 
dankbar  der  Herrlichkeit  die  er  am  Tage  in  diesem  ge* 
segneten  Ort  genossen.  Blidah  ist  ja  die  Gartenstadt  von 
Algier  und  auch  durch  geschichtliche  Besiehungen  aus- 
gezeichnet. Dreimal  folgt  den  maurischen  Motiven  die 
lange  abendländische  Melodie,  die  Instrumentirung  wechselt 
und  beim  dritten  Male  treten  weitre  Modifikationen 
ein.  Die  Violinen  kommen  nicht  mit  der  Melodie 
sondern  legen  als  Episode  einen  zweistimmigen  dem  be- 
schaulichen Nachsinnen  gewidmeten  Satz  ein.  Als  nun 
das  Adurthema  eintritt,  bringen  es  die  Blfiser;  erst 
in  der  zweiten  Periode  treten  die  Geigen  hinzu,  die  in 
einem  kurzen  Nachspiel  den  knapp  gehaltnen  Satz  zart 
verklingen  lassen. 

Der  Schlusssatz  (Allegro  giocoso,  (J^,  Cdur)  be- 
titelt Marche  militaire  fran9ai8e  ist  eine  Probe  von 
den  Leistungen  des  Componisten  auf  dem  Gebiete  fran- 
zösischer Volksmusik.  Denn  dazu  gehören  die  Armee- 
märsche; ja  ihre  Musik  pflegt  ganz  besonders  sich  durch 
nationalen  Charakter  auszuzeichnen.  Deshalb  tragen  in 
Frankreich  auch  die  ersten  Tonsetzer  kein  Bedenken  dem 
Marsch,  der  bei  uns  heute  fast  ausschliesslich  den  Musik- 
meistern der  Regimentskapellen  überlassen  wird,  ihre  Kraft 
zu  widmen.  So  hat  auch  St.  Saens  eine  lange  Schule  auf 
diesem  Gebiete  durchgemacht  und  eine  grosse  Anzahl  ein- 
zelner Märsche  componirt.  Von  der  Meisterschaft  die  er 
für  dieses  Fach  erworben,  legt  nun  dieser  Marsch,  der  die 
Algier'sche  Suite  schliesst,  hinlänglich  Zeugniss  ab.  Was 
für  ein  flottes  Wesen  sich  in  dem  Stück  entwickelt,  das 
verräth  schon  das  erste  Thema 

Alle^o  giocoso 


^^T^U^t34JII  JjllOT 


/ 


Ihm  folgen  noch  eine  ganze  Anzahl  kecker  Springinsfelde. 


c<?     387     ^ 

Das   Trio,   das  bei   uns  innig  zu  sein  pflegt,   ist  phan- 
tastisch. 

Während  diese  Werke  von  Bizet  und  St.  Saens  die 
Phantasie  geographisch  in  Beschlag  nehmen,  giebt  es  eine 
Reihe  französischer  Programmsuiten  deren  Vorgänge  und 
Bilder  an  keinen'  bestimmten  Ort  gebunden  sind ,  sondern 
sich  überall  und  nirgends  denken  lassen.  Zu  den  bekann- 
testen Stucken  dieser  Klasse  gehören  vor  Allem  B.  G  o  d  a  r  d  *s  B.  Oodard 
Seines  poötiques,  die  seit  sie  Franz  Wüllner  hier  SoÄnei  po6ti- 
eingeführt  hat,  auch  in  Deutschland  einen  grossen  Freundes-  *"*■' 
kreis  gefunden  haben.  Es  sind  kurze  pastorale  Skizzen: 
Jm  Walde*,  ,Auf  der  Flur*,  Jm  Gebirge*,  Jm  Dorfe*. 
Ein  anmuthiger  kecker  Jugendgeist,  der  in  der  Natur- 
schwärmerei nur  eine  Gastrolle  zu  geben  scheint,  spricht 
daraus.  Thematisch  sind  die  kleinen  Sätze  loser  und  leichter 
als  die  der  Bizet'scheu  Suiten  entworfen  und  durchgeführt. 
Ihr  Hauptreiz  liegt  in  der  Sicherheit  mit  der  die  Form  be- 
handelt ist.  Das  ist  eine  Anmuth  in  jeder  Wendung,  eine 
vollendete  Harmonie  in  den  Maassen  und  eine  Klarheit 
die  den  Genuss  wesentlich  erhöht.  Auch  die  Instrumen- 
tation trägt  zu  dem  Gefühl  dass  man  vor  einem  in  seiner 
Art  vollendeten  Kunstwerk  steht,  viel  mit  bei.  Der  letzte 
Satz  bei  dem  die  grosse  Trommel  bedeutend  mitwirkt,  ist 
der  origineUste  und  zeigt  das  eigentliche  Schelmengesicht 
des  Autors. 

Zu  dieser  Classe  gehören  auch  J.  Massenet 's  Scenes   J.  MMseaet 
pittoresques.    Von   den  vier  Orchestersuiten  die  dieser  als  Seines  pittore»- 
Stütze  der  heutigen  französischen  Oper  bekannte  Componist        **^*"* 
geschrieben    hat,    sind   die    Scenes    pittoresques   der   ver- 
breitetste  Theil;  am  nächsten   steht  ihnen  die  viersätzige 
Suite  Eslairmonde,  die  aus  Stücken  der  Oper  Eslairmonde 
zusammengesetzt  ist. 

Die   Seines    pittoresques    beginnt    ein   Marsch    mit 
folgenden  pikant  nüancirten  Anfang: 

Alleicro  moderato.         ^.„^ 

25* 


c(?     388     ^ 

Der  Autor  zeigt  sich  nicht  als  grosser  Erfinder  und  nicht 
als  grosser  Geist,  aber  als  ein  Künstler  der  den  Effekt  ver- 
steht und  aufsucht.  Die  Perioden  sind  auf  üeberraschungen 
hin  gebildet,  das  Verhältniss  der  Sätze  ist  auf  Contrast 
gestellt  und  um  einen  wirksamen  Gegensatz  zu  bekommen 
wird  such  ein  gewöhnlicher  oder  sehr  gewöhnlicher  Ge- 
danke mit  in  den  Kauf  genommen.  Sehr  hübsch  ist  es, 
wie  Massenet  das  anmuthige  Motiv  mit  dem  der  Marsch 
beginnt,  immer  wieder  in  den  Satz  einzuführen  weiss.  Hierin 
zeigt  sich  eine  sinnige  Seite  seiner  Begabung  und  ein 
hervorragendes  formales  Talent. 

Der  zweite  Satz,  Air  de  Ballet  betitelt,  besteht  aus 
zwei  Theilen:  In  dem  Hauptsatz  (Hmoll,  »/g)  trägt  das 
Cello  ein  Solo  vor,  das  als  Ergänzung  von  Manrico^s  Partie 
dem  ^Troubadour*  als  Ständchen  einverleibt  werden  könnte. 
Der  Mittelsatz  bringt  (in  Gdur)  eine  von  den  bekannten 
Balletscenen,  wo  die  oberen  Holzbläser  eine  einfache  Me- 
lodie in  Staccatonoten  hinstellen.  Man  hört  derartige  Musik 
nicht  ohne  dass  vor  die  Phantasie  die  auf  den  Fussspitzen 
trippelnden  Ballerinen  treten.  Die  künstliche  Zartheit 
dieser  Töne  wird  etwas  grob  an  den  Schlüssen  von  einem 
«tarken  Tuttieinsatz  des  Streichorchesters  unterbrochen.  Im 
Cello  giebt  dann  und  wann  der  Sänger  Zeichen  von  Un- 
geduld. Endlich  ist  das  Ballet  aus  und  der  Hmollsatz 
kommt  wieder. 

Der  dritte  Satz,  ein  Andante  sostenuto,  mit  der  Ueber- 
schrift  Angelus  ist  die  Glanznummer  der  Suite,  ein  Stück 
grosser  Kunst,  einfach  erfunden  und  der  tiefen  Wirkung 
sicher.  Es  gleicht  zur  Hälfte  einer  Kirchensccne  in  der 
fromme  Weisen  vom  Priester  zum  Volke  gehen.  Alles  er- 
innert an  den  Gottesdienst,  der  feierliche  Ton  der  Themen, 
der  Wechsel  schwacher  und  starker  Klanggruppen.  Die 
leicht  präludirendcn  Motive  scheinen  auf  die  Orgel  hinzu- 
weisen. Zur  Hälfte  ist  aber  die  Musik  der  Nummer  Volks- 
musik, 80  vor  allem  die  Motive  im  "/^Takt.  Beide  Bilder 
schliossen  sich  nicht  aus,  sondern  dass  des  Volkes  Stimme 
in  der  heiligen  Ceremonie  hörbar  wird,  hat  der  Componist 
als  den  Gipfelpunkt  der  Scene  gedacht.    Der  Schlusssatc 


^     889     ^ 

,Fete  Boheme*  ist  ein  Balletbild,  wie  es  Jedermann 
kennt.  Eine  grosse  Menge  Volks  stUrzt  herein  mit  wunder- 
lichen Sprüngen,  dann  tritt  ein  Solopaar  heraus  und  ihm 
folgt  der  Chor  wie  zu  Anfang.  Die  Erfindung  zeichnet 
diese  Musik  nicht  aus,  ihre  Wirkung  sucht  sie  in  massigen 
Klängen. 

Von  der  jungrussischen  Schule,  deren  Geist  der 
alten  Kunst  nur  wenig  gewogen  ist,  hätte  sich  eine  be- 
deutendere Förderung  der  Programmmusik  erwarten  lassen, 
als  sie  bisher  von  dort  thatsächlich  erfahren  hat.  Die 
wenigen  russischen  Werke  dieser  Klasse  welche  über  den 
Continent  verbreitet  sind,  rühren  von  Rimsky-Korsakoff 
und  von  P.  Tschaikowsky  her. 

Von  Rimsky-Korsakoff  ist  es  die  symphonische  BI"»sky.Korwi. 
Suite  ,Schehezerade*  (op.  35)  die  in  letzter  Zeit  hau-  ^^^ 
figer  gespielt  worden  ist.  Der  Composition  liegt  als  Pro-  S«»»«»»«««'»^«- 
gramm  ein  Abschnitt  aus  «Tausend  und  eine  Nacht**  zu 
Grunde,  die  Erzählung  von  der  Sultanin  Schehezerade. 
Der  Sultan  Schahriar  hat  bisher  alle  seine  Frauen  nach 
der  ersten  Nacht  ermordet.  Schehezerade  entgeht  diesem 
Loos  durch  ihre  Erzählungskunst.  Tausend  und  einen 
Abend  weiss  sie  den  Sultan  durch  ihre  Geschichten  immer 
wieder  zu  fesseln  und  nach  dieser  Zeit  steht  er  von  seinem 
blutdürstigen  Plan  ab.  Rimsky-Korsakoff  giebt  in  den  vier 
Sätzen  seiner  Suite  vier  solche  Erzählungsabende,  am  ersten 
wird  die  Geschichte  von  Sindbad  und  dem  Meer  vorge- 
tragen, am  zweiten  die  vom  Prinz  Kalender,  am  dritten 
die  vom  jungen  Prinz  und  der  jungen  Prinzessin,  am  vierten 
die  von  dem  Fest  in  Bagdad  und  vom  Schiff  das  an  dem 
Felsen  scheitert.  Aber  man  versteht  seine  Composition 
nur  halb  oder  gar  nicht  wenn  man  ihre  Bedeutung  in  der 
Wiedergabe  dieser  Märchen  sucht.  Das  Hauptziel,  das 
sich  der  Componist  gestellt  hat,  ist  vielmehr:  die  Cha- 
raktere des  Sultans  und  der  Sultanin  zu  zeichnen  und  die 
Wandlung  zu  veranschaulichen  in  der  das  rauhe  Gemüt h 
des  Schahriar  allmählich  der  Grausamkeit  entkleidet  und 
mit  Milde  und  Gesittung  erfüllt  wird.  Rimsky  Korsakoff 
entfaltet  bei    der  Lösung   seiner  Aufgabe  eine  stattliche 


c<J 


390 


-DJ 


ErfinduDgagabe  und  ein  grosses  Farbentalent.  Seine  Arbeit 
hat  aber  zwei  Mängel,  die  Vielen  die  Anerkennung  ihrer 
Vorzüge  erschweren:  Masslosigkeit  der  Formen  und  der 
Farben.  Er  kann  sich  häufig  nicht  entschliessen  aufieu- 
hören  wo  die  Geringfügigkeit  des  Gegenstandes  schon 
längst  das  Ende  erfordert  hätte  und  er  setzt  einen  schweren 
und  lärmenden  Orchesterapparat  in  minutenlange  Thätig- 
keit,  wo  wir  überhaupt  keine  Noth wendigkeit  fUr  das  Auf- 
treten rauher  Stimmen  einsehen  können. 

Der  erste  Satz  hat  eine  kleine  Einleitung,  Largo  maestoso, 
in  der  die  Hauptpersonen  des  Märchens  sich  vorstellen: 
Schahriar  gebieterisch,  stolz  rauh  und  hart: 


L&TfO  • 


J. 


die  Sultanin  behend,   anmuthig,  liebenswürdig  und  auch 
klug  über  lange  Anschläge  verfügend: 


Violine 
solo. 


Lento 


Dann  folgt  ein  AUegro  non  troppo  C*/^,  Edur)  das  das 
Sultansthema  zunächst  durchführt,  p  setzt  es  ein  als  wenn 
Schahriar  durch  Scheherazade's  Erscheinung  betroffen  und 
in  seinem  Wesen  umgewandelt  oder  verwirrt  wäre.  Nur 
mühsam  gewinnt  er  die  Fassung  wieder.  Ein  forte  in  Edur 
bezeichnet  diesen  Augenblick.  Noch  einmal  durchläuft  er 
diesen  Gemüt hsprozess.  Den  zweiten  Abschluss  markirt 
eine  Modulation  in  G  dur.  Jetzt  fangt  die  Sultanin  zu  er- 
zählen an.  Es  ist  die  Geschichte  von  Sindbad.  Dass  sie 
aber  nicht  sonderlich  interessirt,  sehen  wir  an  dem  Thema 


«<?     891     ^ 


das  etwas  trocken 


ist;  wir  sehen  es  noch  deutlicher  daran,  dass  es  nicht  be- 
nutzt, weiter  geführt  und  entwickelt  wird.  Das  Hörn  macht 
einige  Versuche  dem  Sultan  das  Wort  zu  verschafiPen,  bald 
aber  tritt  Scheherazade  in  den  Vordergrund  des  Bildes. 
Ihre  graziösen  Triolen  von  der  Solovioline  eingeführt,  klingen 
schnell  aus  dem  ganzen  Orchester.  Das  scheint  den  Sultan 
zu  reizen.  In  aller  Bedeutung,  Wucht  und  Härte  kommt 
sein  Thema  wieder.  Ein  breiter  im  ff  ausgehaltner  E  dur- 
accord  zeigt  weithin  wer  Herr  ist.  So  wechseln  die  beiden 
Themen  noch  öfter  im  Satz.  Die  Composition  giebt  das 
Bild  eines  Paars,  dessen  beide  Theile  ihre  Kräfte  messen. 
Die  Sultanin  greift  auch  einmal  wieder  zur  Erzählung. 
Der  Schluss  bringt  die  Sultansmelodie  zart  und  leise. 

Den  zweiten  Satz  leitet  in  einem  kurzen  Lento  wieder 
Scheherazade  ein.  Dann  folgt  in  einem  Andantino  (^/g, 
G  dur)  eine  Musik  die  die  Erzählung  vom  Prinzen  Kalender 
bedeuten  soll.    Das  Thema 

Andutino.  Al18 


% 


Tf. 


rfifffif 


I 


frfrfi^ 


etc. 


zeigt  was  für  eine  Art  Held  dieser  Prinz  ist,  eine  komische 
Figur  wie  Eulenspiegel  und  Don  Quixote  und  die  Ge- 
schichten die  ihn  behandeln  müssen  lustig  sein.  Das  Thema 
geht  von  einem  Instrument  zum  andern,  wir  sind  unver- 
sehends  in  einen  jener  bekannten  russischen  Variationen- 
sätze gerathen,  die  durch  die  Eintönigkeit  so  aufregend 
wirken,  als  sich  Schahriar  einmischt :  In  mehrerlei  Gestalt 
legt  er  Machtsprüche  ein 


cc?     392     ^ 

Molto  aodarato. 


Allttgro  molto.  J  s  144 


nicht  sehr  ernst  genommen.  Als  die  Clarinette  in  Form 
eines  Recitativs  die  Melodie  der  Sultanin  gebracht  hat 
wird  der  Ton  ausgelassen.  Ein  Vivace  scherzando  tritt 
ein  und  in  ihm  finden  wir  das  Schahriarthema  in  folgen- 
der Form 

Vivace  ■ch«rzando.  J*s188       ,  ^ ^ 


Eine  Wiederholung  des  Klarinetten-Recitativs  bringt  eine 
neue  Wendung;  Der  '/^Takt  mit  der  Musik  zur  Erzählung 
vom  Prinz  Kalender  kehrt  zurück  und  mit  ihr  schliesst 
die  Nummer.  Kurz  vor  dem  Ende  kommt  noch  ein  sehr 
schön  berechnetes  und  gesetztes  Homsolo. 

Der  dritte  Satz  der  die  Erzählung  von  dem  jungen 
Prinzen  und  der  jungen  Prinzessin  bringt,  ruht  auf  folgen- 
dem Thema 

Aadaotlao  quasi  AUegrotto.  J«:  68  

G 

das  für  die  Gabe  des  Componisten  anschaulich  zu  gestalten 
das  schönste  Zeugniss  ablegt.  Wer  den  Tonfall  genau  an- 
sieht mit  dem  in  den  zweiten  Takt  eingetreten  wird,  kann 
kaum  in  Zweifel  darüber  sein,  dass  es  sich  bei  dem  Prinzen 
und  der  Prinzessin  um  eine  richtige  Kindergeschichte  han- 
deln muss.  Das  angegebne  Thema  ist  das  einzige  und  in- 
folgedessen hören  wir  seine  Motive  sehr  oft.  Der  Componist 
hat  allerdings  viel  aufgeboten  die  Wiederholungen  nicht 


^     393     ^ 

als  solche  erscheinen  zu  lassen.  Die  Farben  wechseln,  die 
Modulationen ;  unter  den  Contrapunkten  mit  denen  er  Neues 
zu  bieten  sucht,  sind  ganz  verwegne.  Die  zweite  Flöte 
bläst  einmal  einen  wahren  Trommelrhythmus.  Auch 
die  Pausen  bei  den  Periodenschlüssen  sind  darauf  ange- 
legt Spannung  zu  erzeugen.  Erfrischend  wirkt  das  Ein- 
greifen der  Scheherazade ,  die  dem  Ende  zu  ihre  Melodie 
bringt  und  dann  die  Prinzenmusik  eine  Strecke  lang  in 
der  Solovioline  mit  Arpeggien  verziert. 

Der  Anfang  des  letzten  Satzes  (Allegro  molto)  zeigt 
den  Sultan  in  heftigster  Erregung.  Er  bietet  seine  ganze 
Kraft  auf  um  sich  Scheherazade  gegenüber  zu  behaupten. 
Diese  schmückt  ihre  Melodie  mit  den  Künsten  des  Vir- 
tuosen :  das  Yiolinsolo  kommt  in  mehrstimmigen  Satz.  Ein 
noch  heftigerer  Ausbruch  des  Sultans  antwortet.  Noch 
einmal  erhebt  die  Sultanin  ihre  liebliche  Stimme  und  be- 
ginnt dann  sofort  zu  erzählen.  Es  ist  diesmal  die  Ge- 
schichte von  dem  Fest  in  Bagdad,  dessen  Bild  die  Musik 
auf  Grund  folgenden  Themas  entrollt; 


das  sehr  oft  hinter  einander  wiederholt  wird.  Dann  setzen 
Trompeten  und  Homer  ein  aufmerksam  zu  machen,  dass 
sich  etwas  Ausserordentliches  begiebt.  Die  neue  Erschei- 
nung stellt  sich  musikalisch  vor  als 

So  gewichtig  sie  ist,  verschwindet  sie  doch  bald  wieder 
und  nun  kommt  eine  sehr  schöne  Stelle:  ein  Abschnitt 
aus  der  vorhergehenden  Nummer.  Sind  der  junge  Prinz 
und  die  junge  Prinzessin  mit  auf  dem  Feste?  Die  Idylle 
entweicht,  der  Festtrubel  wirbelt  weiter  in  Bruchstücken 
und  Umbildungen  aus  dem  ersten  Thema.  Einmal  (der 
Satz  ist  nach  Edur  gegangen)  hören  wir  die  Stimme  des 


c<?     894     tp 

Sultans  wie  im  Unmuth  über  den  Gang  der  Erzählnng. 
Das  ändert  aber  nichts  am  Plan.  Das  Thema  bleibt,  wird 
nur  um  vieles  stärker  vom  vollen  Orchester  gegeben.  Von 
einem  Bdurschluss  ab  beginnt  wieder  eine  Episode  fiir 
die  Messinginstrumente.  Wieder  folgt  das  mächtige  zweite 
Thema,  das  wohl  das  gefährdete  Schiff  bedeutet.  Sind 
der  Prinz  und  die  Prinzessin  darauf?  Ihre  Musik  folgt 
abermals  diesem  zweiten  Thema  und  dass  Gefahr  vorliegt, 
zeigt  die  Trompete  die  ohne  Unterbrechung  hochnothpein- 
liehe  Rhythmen  schmettert.  Noch  einmal  geht  sie  vorüber 
und  das  Fest  beginnt  wieder.  Aber  als  das  Thema  und 
der  Festtumult  am  lautesten  wird,  da  kommt  die  Kata- 
strophe: das  Schiff  scheitert.  Die  Trompete  bläst  wie 
rasend  und  das  Schlagzeug  thut  das  Möglichste.  Gemeint 
ist  die  Stelle  ganz  richtig,  aber  die  Aufnahmefähigkeit 
des  gebildeten  Ohres  ist  vom  Componisten  nicht  richtig  ge- 
schätzt und  der  Märchencharakter  ebenfalls  nicht.  Nach 
jener  entsetzlichen  Stelle  setzt  ein  ^/«Takt  ein,  in  dem 
Schahriar  und  Scbeherazade  einen  Dialog  aufführen.  De^ 
Sultans  Stimme,  die  erst  rauh  einsetzte,  wird  sanfter  und 
und  zarter.  Träumerisch,  mit  Accorden  wie  sie  ähnlich 
Mendelssohn's  Sommemachtstraum  eröffnen,  klingt  die  Ck>m- 
position  so  aus  wie  sie  begonnen  hatte. 

Korsakoff  kommt  die  Ehre  zu  als  der  erste  Russe  eine 
wirkliche  Sinfonie  geschrieben  zu  haben.  Sie  wird  aller- 
dings selbst  von  seinen  Verehrern  abgelehnt.*)  Dagegen 
gelten  in  der  Heimath  des  Componisten  die  beiden  Pro- 
grammsinfonien viel,  welche  jenem  ersten  Versuch  gefolgt 
sind:  Sadko  und  Antar,  jene  dreisätzig,  diese  viersätzig. 
A  n  t  a  r  fängt  in  neuester  Zeit  an  auch  in  Deutschland  be- 
kannt zu  werden,  in  Russland  gehört  das  Werk  zu  den 
allerbeliebtesten  Orchestercompositiouen.  Es  bietet  Pro- 
grammmusik mildester  Art. 

Wieder  führt  uns  Korsakoff  in  die  arabische  Sagen- 
welt, in  den  Kreis  der  Fabeln,  die  sich  im  Volk  um 
Antar  den  Dichter  und  den  geliebten  Helden  der  Wüste 

*)  Cdsar  Cui:  La  Musiqae  en  Kassie.     1880  p.  130. 


e<?     395     o* 

gebildet  haben.    Antar,  einsam  in  den  Ruinen  von  Palmyra 

weilend,   sieht  plötzlich  eine  Gazelle   und  gleich  darauf 

einen  Raubvogel,  der  sie  verfolgt.    Er  tödtet  den  Vogel, 

die  Gazelle  verschwindet.    Antar  schläft  ein  und  wird  nun  Blssky-Korsa- 

im  Traum  nach  einem   prächtigen  Palast  entftlhrt,  wo  er         koff 

seine  Gazelle  wiedertrifift,  die  nichts  Geringeres  war  als        AnUr. 

die  Fee  Gul-Nazar,    die  Herrscherin  von  Paimyra.     Sie 

fordert  Antar  auf  drei  Wünsche  auszusprechen  und  Antar 

wUnscht  sich    1)   den  Genuss  der  Rache,  2)   unbedingte 

Macht,   S)   die   schönsten   Freuden   der   Liebe.     Als   das 

GlUck  der  Liebe  den  guten  Antar  zu  ermüden  beginnt, 

tödtet  ihn  Gul-Nazar  mit  einem  Kuss. 

Es  handelt  sich  also  bei  dieser  Sinfonie  um  poetische 
Vorwürfe,  wie  sie  die  Instrumentalmusik  überall  und  zu 
jeder  Zeit  unbedenklich  in  ihr  Bereich  hat  ziehen  dürfen. 
Nur  wer  der  Musik  überhaupt  das  Recht  und  die  Möglich- 
keit des  Charakterisirens  abstreitet,  wird  sich  diesem 
Programm  entgegenstellen  dürfen.  Denn  es  handelt  sich 
in  dieser  Antarsinfonie  um  weiter  nichts  als  um  den  Ver- 
such durch  Musik- Vorstellungen  vom  Feenleben,  vom 
Wesen  der  Rache,  der  Macht,  der  Liebe  zu  erwecken. 
Korsakoff  hat  sich  diese  vier  Bilder  als  Träume  Antares 
gedacht,  begegnet  sich  demnach  mit  der  Auffassung  in 
der  Berlioz  in  seiner  Sinfonie  fantastique  die  Schilderungen 
aus  dem  Leben  eines  Künstlers  genommen  haben  wollte. 
Korsakoff  folgt  Berlioz  auch  in  der  Verwendung  von  Leit- 
motiven. 

Am  meisten  bietet  die  Sinfonie  von  Korsakoff  den 
Liebhabern  einer  weichen,  in  zarten  Tönen,  süssen  und 
schmiegsamen  Harmonien  schwelgenden  Musik.  Sie  finden 
im  ersten  und  vierten  Satz  Alles  was  sie  erwarten  dürfen 
und  es  zeigt  sich  auch  hier  wieder  dass  Korsakoff's  Musik 
den  schmiegsamen  weiblichen  Zug  des  russischen  National- 
charakters besonders  stark  und  deutlich  ausprägt.  Auch 
der  fast  Blinde  kann  aus  ihr  sehen:  was  asiatischer  Geist 
für  das  Czarenreich  bedeutet.  Die  Schilderung  der  Rache 
interessirt  durch  Beweise  guter,  scharfer  Seelenbeobachtung, 
das  Bild  der  Macht  überzeugt  am  wenigsten. 


u?     396     ^ 

Der  erste  Satz  beginnt  mit  einem  Largo  in  Fismoll 
('/^  Takt)  das  in  schwer  beweglichen  schleichenden  Motiven 
den  ernsten,  der  Einsamkeit  und  Vergangenheit  lebenden , 
die  Menschen  meidenden  Antar  zu  zeichnen  sucht.  Das 
wichtigste  Antarmotiv  ist: 

^>ll||ltn   f|l      f     rr   ll|^^4^-4^  .     Es  kehrt,  den 

schwermUthigen  Grübler  zeichnend,  in  allen  Sätzen 
wieder.  Im  Sinnen  und  Dämmern  scheint  die  Phantasie 
des  Einsiedlers  auf  die  Sage  von  der  Fee  Gul-Nazar  zu 
stossen,  die  Töne  suchen  eine  hoheitsvolle  zarte  Gestalt 
vor  unser  innres  Auge  zu  stellen: 


f ""  j.  I U  ^iji^jj  I  jj^i  J>LJ  jj^Jjj^  • 


Diese  Weise  wird  das  Leitmotiv  der  Königin  in  der  Sin- 
fonie. Mit  dem  Eintritt  des  Allegro  (Dmoll,  ^/4)  erwacht 
um  Antar  Leben:  Von  dem  verzierungsreichen  Thema 

Flöte. 
AU«gro  glocoto.  ^____^ 

fllir      ^ImJTrrTmTH       au.entwickeU 

sich  eine  breite,  in  einer  gewissen  trägen  Munterkeit  fort- 
schreitende Melodie.  Dreissig  Takte  lang  liegen  die  Homer 
dazu  auf  Aj  die  zweite  Violine  giebt  einen  Tambourin- 
rhythmus.  Korsakoff  hat  sich  vielleicht  unter  dieser 
Musik  die  Gazelle  seines  Programms  gedacht,  und  dabei 
die  Gelegenheit  gern  ergriffen  etwas  orientalisch  zu  malen. 
Das  volle  Streichorchester  bringt  Aufregung  in  das  Bild, 
üeber  ein  gewaltiges  anwachsendes  Tremolo  der  untern 
Instrumente  werfen  die  obem  Violinen  das  Motiv 

m  ^     E.a     K  Jiijft  I     L     unruhig  hin  und  her.   Bald  ertönt 
fechrill  in  den  Bläsern  der  Schrei  des  Raubvogels  und  treibt 


cc     397     ^ 

den  ganzen  Geigerchor  in  einem  wUtbenden  Unisono  in 
die  Höhe.  Ein  kurzer  Kampf ,  während  dessen  die  grosse 
Trommel  bebt,  dann  der  entschiedne  Streich  in  den  Violinen : 

Das  ist  der  Tod  des  Räubers,  ein  schwerer 

Seufzer  in  den  Bläsern:  als  wenn  der  Druck  sich  löste 
den  die  Gefahr  in  Antares  Brust  veranlasst  hat.  Bald 
dann  kommt  die  Stimme  der  Gazelle  und  der  Königin, 
wie  sie  ja  zusammengehören,  dicht  hintereinander;  die  Ge- 
stalten scheinen  sich  in  Antares  Phantasie  zu  vermengen. 
Er  schläft  ein  und  nun  tragen  ihn  die  Träume  in  den 
Feenpalast,  wo  Gul-Nazar  weilt  und  seiner  Wünsche 
wartet.  Ein  zweites  AUegro  (Fisdur  ^/j)  beginnt.  Schatten- 
haft huschende  Flötenfiguren,  süss  schneidende  Geigen- 
accorde,  das  Hom  mit  langem  liegenden  Ton  darunter, 
leiten  es  ein.  Dann  fängt  der  zarte  weiche  Reigen  an, 
der  von  dem  Thema 

Altogretto  Tlvace. 


aus 

gebildet,  den  musikalischen  Hauptinhalt  der  Nummer 
ausmacht.  Sein  melodischer  Theil  erinnert  an  das  schöne 
Stück  von  den  Prinzenkindem ,  das  Korsakoff  in  der 
,Schehezerade*  gegeben  hat.  Harmonien,  Begleitungs- 
motive, Klangfarben  —  Alles  strebt  nach  äusserster  Zart- 
heit und  der  Vortrag  soll  noch  das  Uebrige  thun  dieses 
Ziel  zu  sichern.  Ein  gutes  Orchester  kann  sich  hier  im 
Piano  zeigen.  In  der  Periodenbildung  macht  sich  das 
Verfahren  bemerklich  den  thematisch  melodischen  Zu- 
sanunenhang  durch  ruhende  Accorde  zu  unterbrechen. 
Das  hebt  den  phantastischen  Traumcharakter  des  Ton- 
bilds sehr  wirksam.  Die  Wiederholungen,  deren  es  sehr 
viele  sind,  reizender  zu  gestalten,  hat  sich  Korsakoff  kleiner 
Aenderungen  durch  Verzierungen  sehr  wirksam  bedient. 
In  der  Mitte  ungefähr,  gerade  als  das  Hom  wieder  das 


e<?      398      t^ 

Thema  des  Feenreigens  gefUhrt  hat  und  die  Harmonie 
ohne  Weitres  von  Es  nach  E  wechselt,  tritt  das  Motiv 
der  Königin  ein.  Bald  darauf  hören  wir  wieder  die 
Figuren  die  den  Kampf  gegen  den  Raubvogel  veranschau- 
lichten. Das  soll  uns  darauf  fuhren,  dass  Gul-Nazar,  die 
Königin,  jetzt  ihren  Retter  belohnt.  Und  er  bedankt 
sich:  das  Antarmotiv  folgt  unmittelbar  den  Tönen,  die 
die  Königin  bedeuten  und  wird  immer  wiederholt,  während 
der  Reigen  wieder  aufgenommen  ist.  Dann  erzählt  die 
Musik  wieder  nur  vom  Schlafen  und  Träumen  Antares  und 
zeigt  noch  einmal  wie  in  seinen  Gedanken  die  Figuren 
der  Gazelle  und  der  Königin  durcheinander  laufen.  Unsre 
letzten  Blicke  fallen  wieder  auf  die  Ruinen  von  Palm3rra, 
wo  der  einsame  Antar  das  Abenteuer  hatte. 

Der  zweite  Satz  (Allegro,  '/j,  Edur)  giebt  das  Bild 
der  Rache  zuerst  mit  leisen  Motiven: 

"llll  I  IIJ   I  I   I  I  I  II I  I  I 

3   S   S   i^^p^t^ .     So  wühlt  (in  den  Cellis) ,  so 


y|||l*l    /»l||,:^J|ft    I    ygjjj^      ^'"^     d«°     Fagotten, 

Hörnern,  Posaunen):    brütet  der  Dämon.    Dann  heftiges 
Auffahren : 

(PosanBcn.)  ^ 

yM>  ^    V    r"f  i'^'^i  "f    I .     Ist  das  noch  Antar, 

der  Grübler?    Mit  gesteigertem  Tempo    geht  die  Rache 
nun  zum  Handeln  über: 

Die  Energie  steigert  sich  zur  Wuth,  fast  bis  zur  Sinn- 
losigkeit; wild  und  diabolisch  zischen  versprengte  Töne 


e<?      399      ^ 

durch  das  Gewebe  der  Themen.  In  der  Mitte  des  Satzes 
kommt  das  letzte  Thema  in  langsamer  Bewegung,  als  wenn 
Antar,  dessen  Leitmotiv  ihm  angehangen  ist,  nach  Samm- 
lung ränge.  Dann  wiederholt  sich  der  ganze  Process  des 
Anwachsens  der  Leidenschaft  in  verstärkten  Graden;  mit 
Zuthat  von  neuen,  anfeuernden  Motiven  giebt  der  Componist 
ein  schreckliches  Bild  von  den  Qualen  einer  Seele,  die 
die  Herrschaft  verloren  hat.  Der  letzte  Abschnitt  malt 
Erschöpfung  und  Reue. 

Der  dritte  Satz  (Allegro  risoluto  aUa  Marcia,  ^/4, 
Hmoll),  der  Antar  im  Besitz  der  Macht  zeigen  soll,  baut 
seinen  Haupttheil  auf  das  Thema  der  Hörner: 

^M    Allegro  rlsolalo. 

das  die  Holzbläser  mit  leicht  tängelnden  Motiven: 


p-    r    P    I  umspielen.   Kraft 


und  Frohmuth  spricht  aus  diesen  Tönen,  aber  nicht  was 
wir  erwarten :  Grösse.  Das  Thema  macht  sehr  bald  einem 
andren  Platz 

von  dem  es  allmählich  fast  ganz  verdunkelt  wird.  Es 
wird  auf  Individualität  und  Race  ankommen  ob  man  der 
Auffassung  vom  Wesen  der  Macht,  zu  der  sich  Korsakoff 
in  dieser  Composition  bekennt,  beistimmt  oder  wider- 
spricht. Sicher  liegt  nach  dieser  Darstellung  der  Werth 
der  Macht  nicht  in  den  Thaten,  sondern  im  Genuss.  Und 
um  sie  von  dieser  Seite  zu  zeigen  hat  Korsakoff  das  neue 
Thema  mit  Motiven  des  Scherzes  und  der  Heiterkeit  um- 
geben, die  die  Reize  des  Bildes  bedeutend  erhöhen.  Zum 
Theil  muss  sein  Charakter  auch  daraus  erklärt  werden, 
dass  es  sich  um  orientalische  Anschauung  handelt.  Antar 
und  die  Königin  erscheinen  in  einem  Augenblick  besonders 


«<?     400     ^ 


hoher   Lust,   den   mächtige   Trillerwellen,   Violinen    und 
Holzhläsern  entströmend,  bezeichnen. 

Der  vierte  Satz,  der  das  Walten  der  Liebe  zeichnen 
soll,  beginnt  mit  einem  Allegretto  vivace  (•/g,  Ddur)  in 
dem  wieder  die  hinabhUpfenden  Fiötenfiguren  (wie  im 
ersten  Satz)  an  das  Weben  des  Traumgottes  erinnern. 
Dieses  Allegretto  geht  nach  12  Takten  bereits  in  eiu 
Andante  amoroso  über,  das  den  Satz  ausfüllt.  Sein  Haupt- 
thema ist  die  Melodie  eines  arabischen  Lieds  mit  folgen- 
dem  Anfang: 

Anduite. 


(Englisch  Bora.) 


H  II  ul 


Uj  liLÜ  I  ' 


Die  Clariuette  schliesst  mit 


das  ist  also  mit  einem  Anklang  an  das  AUegro  giocoso 
des  ersten  Satzes.  Das  Liebespaar  wird  dann  musikalisch 
vervollständigt  durch  das  zuerst  von  den  Violinen  ge- 
brachte Thema: 


Bald  sagen  uns  auch  die  Leitmotive  der  Königin  und 
Antares  um  wen  es  sich  bei  diesem  Austausch  zarter 
Gefühle  handelt.  Mit  dem  Eintritt  des  Animato  wird  da« 
Spiel  auf  einen  Augenblick  von  Leidenschaft  erwärmt, 
dann  zögernd.  Der  Stimme  der  Königin  gegenüber,  ist 
die  Antar's    kaum    noch    zu    vernehmen.     Ein    Tamtam- 


oG*      401      ^ 

schlag,  ein  glissando  der  Harfe,  das  ungefähr  klingt  als 
wenn  ein  Faden  zerreisst  —  und  mit  einigen  Tönen  wie 
frommer  Grabgesang  aus  hohen  Sphären  herabgehört, 
schliesst  die  Sinfonie! 

Die  neueste  russische  Programmsinfonie,  die  sich  soeben 
in  den  deutschen  Concertsälen    einzubürgern    beginnt  ist 
P.    Tschaikowsky's    .Manfred*     (op.    58).     Diese  P.  Tsch»! 
Composition  will  »vier  Bilder  nach  dem  dramatischen  Ge-    kowsky 
dicht  Byron's»  bieten  wie  auf  dem  Titelblatt  steht  Manfred. 

Im  ersten  Satz  haben  wir  uns  Manfred  zu  denken  wie 
er  im  Gebirge  herumirrt  von  Seelenqualen  gefoltert,  gegen 
die  keine  Wissenschaft,  keine  Höllenkunst,  keine  Er- 
innerung hilft.    Die  Musik  beginnt  mit  einem  Thema: 

Lento  Ingubre.  dz  SO 


vnf'^rfffTf  rupTrJ' 


-FFT"  I  ^  c^'^^r  iH"  I  ^7(jt  I 

in  das  sich  heroischer  Stolz  und  Schwermuth  theilen.  Das 
ist  das  Bild  des  unseligen  Manfred,  der  einst  so  gewaltig, 
nun  gebrochen  dahin  wankt  und  klagt.  Für  dieses  Klagen 
hat  der  Componist  ein  ganz  bestimmtes  Motiv  ins  Thema 
eingesetzt.  Es  erscheint  da  im  siebenten  Takt,  wird  aber 
auch  frei  für  sich  in  dieser  ersten  Form  oder  auch  als: 

oder  ^^  ver-    ]    |„|    |^      1^ 

oder  endlich  in  verkürzten  Rhythmen  verwendet.  Manfred 
mUht  sich  seines  Elends  Herr  zu  werden.    Das  sagt  uns  die 


Fortsetzung  seines  Themas   Ajpriuj-J  aj  ffj~\  4-  \  j  '^ 


die  Kraft  und  ernstes  Bestreben  äussert.  Und  bald  wird 
der  Eifer  mit  dem  Manfred  gegen  die  Dämonen  kämpft 
noch    grösser.     Die    Celli    stellen    mit    dem    Rhythmus 

Kretsichmar,  FOhrer,  I.  26 


c<?     402     "ö* 
•16  ein  Gegengewicht  gegen  Fagotts  and 


Clarinetten  aaf ,  in  denen  das  SeofiEermotiv  haust.  Diese 
Triolen  werden  von  mehr  und  mehr  Instrumenten  des 
Orchesters  aufgenommen,  schliesslich  auch  Ton  ersten  und 
zweiten   Violinen.     Mit  ihnen   kommt  der   Abschnitt  zu 

einem  schroffen  Abschluss  im  ffi  /^  J):   Die   Kraft   in 

Manfred  hat  sich  gegen  sein  Leiden  aufgebäumt.  Kurze 
Generalpause.  Wieder  setzt  das  Manfredthema  ein  aber 
mit  h^  eine  Quint  höher  als  beim  ersten  Male.  Der  ganze 
Vorgang  wiederholt  sich  mit  Steigerung.  Das  Triolen- 
motiv  wandelt  sich  in  eine  Sechzehntelfigur,  eine  be- 
sondre Figur  des  Strebens 

^  ^   J  J   3  ffrT  »{[   r  =d!lh:|  tritt  noch  dazu;  mit  ihr 

wird  die  Erregung  allgemein,  am  Ende  (beim  Animando 
un  poco)  ein  wahrer  Tumult  und  wieder  ist  das  Resultat 
Sisyphusarbeit  gewesen.  Zum  dritten  Male  setzt  das 
Manfredthema  aber  wie  ein  Schrei  der  Verzweifelung  fff 
(beim  Piu  mosso)  ein*.  Die  Trompeten  führen,  die  Bläser 
stehen  an  der  Spitze  des  Orchesters,  die  Violinen  markiren 
mit  dissonanten  Tremolos  einen  Fieberzustand.  Manfred 
sucht  diesmal  die  schlimmen  Geister  in  seiner  Seele  durch 
Kraft  und  Trotz  zu  bannen.  Hart  stossen  die  aus  Liszt's 
, Faust"  undBerlioz's  «Fantastique*  bekannten  Rhythmen  der 

Verwegenheit  durchs  ganze  Orchester.  Drei-,  viermal :  /^    , 


dann  gar  J   j    J. .   Auf  diesen  Triolen  rast  die  Musik  einen 

Takt  lang.  Alle  Instrumente  schlagen  diesen  Rhythmus  mit 
der  äussersten  Kraft  an,  das  Tamtam  flUlt  ein;  dann  zittert 
der  Zorn  sogar  in  einem  allgemeinen  Sechzehnteltakt, 
wohlverstanden :  nur  Rhythmus  in  allen  Instrumenten.  Und 
abermals  umsonst,  Manfred  kann  es  nicht  zwingen.  Da 
ist  es  denn  rührend,  wie  er  nach  diesem  letzten  grossen 


co     403     ^ 

Miaierfblg  (b«im  Moderato  con  moto)  bescheiden  und 
demUthig,  nicht  mit  dem  herauBfordernden  breiten  Thema, 
sondern  mit  der  Fortsetzung,  mit  den  Motiven  des  Strebens 
wieder  anfängt.  Den  Lohn  erhält  er  aus  dem  Munde  des 
Horns : 


pooo  ersgc.       v 

So  ermuntert  nimmt  Manfred  den  Kampf  gegen  die 
innren  Feinde  wieder  auf.  Die  Motive  des  Strebens 
werden  energisch  durchgearbeitet ,  in  Nachahmungen  in 
einander  geflochten  und  zu  einem  lebendigen  Bild  von 
Seelenkampf  entwickelt.  Die  ersten  zwei  Noten  des  Man- 
fredthemas sind  auch  darin  als  leidenschaftlicher  Weh- 
ruf|  das  Seufzermotiv  kommt  in  den  Hörnern  in  der  Form 


m 


r  I  i     f.^^^p^  eto.  Dass  auch  dieses  Kampfes  Ausgang 


nicht  günstig,  sagen  uns  die  Motive  des  Trotzes  und  der 
Verwegenheit,  die  am  Ende  des  Abschnittes  wieder  hart 

als  J^  im  fff  einsetzen. 

Und  nun  kommen  wir  an  die  Mitte  des  Bildes^  an  die 
Stelle  wo  der  Componist  auf  das  Antlitz  und  in  die  Seele 
Manfred's  einige  freundliche  Strahlen  fallen  lässt.  Ein 
Andante  beginnt.    Sein  Hauptthema 

Aodaote.  J  =  69 


^  7  i    f  fp  r   I  r    P  ^  fahrt  die  Gestalt  Astartens  vor 

Manfred*s  inneres  Auge  und  der  Erinnerung  an  die  Heiss- 
geliebte  gilt  der  ganze  Abschnitt.    In  den  Bildungen  um 


^lO 


26* 


cc     404     ^ 

rakter  eines  traulichen  Dialogs  an;  freundlich  erregte 
Klänge  die  von  entzückten  Herzen  erzählen,  tonen  da- 
zwischen. Es  kommt  eine  Stelle  (beim  Poco  piu  ani- 
mato)  die  mit  dem  Anfang 

f'i  i'i  ^^iri  I    Pir  ^Vr^ 

etwas  anGounod  erinnert.  Sie  schliesst  dann  einfach  mitScalen : 

jEif  r    |T  r  V  r  f^  I  /l   J     ;\    etc.     Aber  diesen 

Gängen  hat  der  Componist  durch  Gegenmotive  und  Har- 
monien eine  solche  Wärme  gegeben,  dass  von  dieser  Stelle 
aus  ein  Glanz  auf  die  ganze  Scene  fällt.  Nachdem  das 
Thema  der  Astarte  nochmals,  aber  nicht  innig  und  schüch- 
tern wie  beim  ersten  Mal,  sondern  in  Pracht  und  im  Licht 
der  Begeisterung  vorübergezogen,  schliesst  die  Stunde 
schöner  Erinnerung  mit  einem  letzten  Ausklang  des  Jubels 

Allegro  Bou  tro^o. 

und  der  Freude : 


Mit  dem  letzten  Takte  kommt  der  erste  Bote  von  den 
Qualen  wieder,  die  Manfred's  Gemüth  bedrohen.  Die 
Bratsche  setzt  diesen  chromatischen  Ton  fort  undderSchluss- 
theil  des  Satzes,  ein  Andante  con  duolo,  das  mit  dem  innren 
Gang  der  Musik  das  Tempo  zuweilen  etwas  beschleunigt, 
empfängt  uns  mit  dem  Maufredthema  von  Geigen,  Brat- 
schen und  Cellis  unisono  gespielt.  Es  klingt  aber  hier  zu- 
nächst edel,  gewissermassen  unter  der  Nachwirkung  der 
vorausgegangenen  Scene  verklärt.  Als  es  die  Homer  auf- 
nehmen, Geigen  und  Holzbläser  mit  wilden  Trillern  be- 
gleiten, wird  sein  Charakter  dämonisch  und  so  schliesst 
der  Satz.  Manfred*s  Kämpfen  und  Mühen  war  vergebens. 
Es  ist  dieser  erste  Satz  der  Tschaikowsky^schen  Sinfonie 
der  bedeutendste  unter  allen.  In  Bezug  auf  die  Form  zeigt 
er  wieder  des  Componisten  aussergewöhnliche  Gestaltungs- 
kraft.    Sie  erlaubt  ihm  sich  vom  Schema  zu  entfernen  und 


«<?     405     ^ 

frei  neue  Bildungen  zu  versuchen.  Nichts  von  der  Ein- 
theilung  und  den  Elementen  des  üblichen  Sonatensatzes  in 
diesem  Stück,  keine  Themengruppe,  keine  Durchführung. 
Dafür  eine  schöne  freundliche  Scene  als  Mitte  des  Bildes, 
zu  ihr  hinführend  eine  Reihe  von  Anläufen  eine  dämonisch 
qualvolle  Stimmung  zu  überwinden,  diese  Anläufe  ziemlich 
gleich  in  Material  imd  Führung.  Nachdem  das  Bild  in 
der  Mitte  verhangen  worden  ist,  werden  die  Vorgänge 
des  ersten  Theils  gekürzt  und  gesteigert  noch  einmal 
vorüber  geführt  und  zum  baldigen  Ende  gebracht.  Auch 
was  den  Ausdruck,  den  seelischen  Charakter  betrifft,  muss 
dieser  Satz  hoch  gestellt  werden.  Wenn  es  sich  um  eine 
Manfredcomposition  handelt,  so  kann  keinem  neuen  Ton- 
setzer der  Vergleich  mit  Schumann  erspart  werden.  Denn 
seine  Manfred- Ouvertüre  ist  ein  Charakterbild,  dem  man 
nur  wenig  an  die  Seite  setzen  kann:  Händeis  Agrippina, 
Beethoven^s  Coriolan,  Volkmann's  Richard  III.  allenfalls 
noch.  Schumann*8  Manfred  hat  Züge  die  ihm  ganz 
allein  gehören;  kein  zweiter  Componist  hätte  solche  Töne 
wie  Schumann  für  den  Geisterverkehr  gefunden.  Aber  im 
Allgemeinen  behauptet  sich  Tschaikowsky  neben  seinem 
Vorgänger.  Auch  er  hat  ein  ergreifendes  Bild  bedeutender 
Seelenzustände  gegeben.  Zeichnet  Schumann  die  Leiden- 
schaften, so  enthüllt  der  Russe  die  Leiden  seines  Helden. 
Die  oft  beklagte  Ungleichheit  in  den  Werken  des 
hoch  veranlagten  Russen  zeigt  sich  auch  in  seiner  Manfred- 
sinfonie wieder.  Während  uns  der  erste  Satz  eine  bedeutende 
geistige  Erfassung  der  Aufgabe  bekundet,  ist  der  Com- 
ponist dem  Gegenstand  im  zweiten  Satze  nur  äusserlich 
näher  getreten.  Das  Programm  sagt:  »Die  Alpenfee  er- 
scheint vor  Manfred  unter  dem  Regenbogen  des  Wasser- 
faHs**  und  erregt  damit  die  Erwartung  wunderbarer  und 
in  Anbetracht  der  Gebirgsnatur  jedenfalls  erhabner  Er- 
scheinungen. Sonst  doch  ein  durchaus  modemer  Künstler, 
hat  Tschaikowsky  diesmal  sich  um  das  gegebne  ,milieu'' 
wenig  gekümmert,  sondern,  nur  den  Wasserfall  und  das 
Glitzern  des  Regenbogens  im  Kopf,  im  Hauptsatz  eine 
Springbrunnenmusik  gegeben.    Dieser  Satz  von  der  Alpen- 


^     406     ^ 

fee  ist  eine  Saloncomposition  mit  äusseret  geschickter  Or- 
chestertechnik durchgeführt  und  einigermassen  von  Mendels- 
sohn*8chen  und  Berlioz*schen  Ideen  inspirirt,  aber  keine 
Tondichtung  die  über  das  AlltSgliche  hinaushebt.  Der 
Form  nach  gleicht  er  einem  Scherzo.  Die  Bläser  tragen 
den  Haupttheil  der  Daretellung  mit  sprühenden  und  reg- 
samen Sechzehntelmotiven.  Sie  führen  auch  in  das  Stück 
ein.  Die  zweite  Flöte  bringt  das  von  andren  Stimmen 
ziemlich  verdeckte  Hauptmotiv 

▼iv&ce  con  spirlto.  JslSO  ^^ 

Geigen  seltsam  und  grotesk  mit  einer  metrisch  etwas  ver- 
renkten Octavenfigur  'm'jl  *    [     >   ^  ~t^  ^       begrüsst 

wird.  Das  Bläsertbema  ergänzt  sich  dann  noch  durch  eine 
Figur,  die  das  Phänomen  des  Fliessens  vor  die  Phantasie  ruft 

Den    Bildern    des 

bewegten  Wassere  widmet  sich  dann  der  Ck>mponist,  nach- 
dem die  erste  Themengruppe  zweimal  vorgeführt  worden 
ist,  für  eine  ziemliche  Weile.    Mit  Bildungen  die  auf  dem 


Motiv    A^K  ^  '  ' ''I  I  I     I  ^rij'     ruhen   zeigt   er 


uns  das  Element  im  hüpfenden  Zustand.    Dann  bringen 
die  Celli  vier  Takte  lang  das  Motiv 


J'MffM^^'J  i;jff      ,  ihnen   nach  die  Bratschen   und 

die  andern  Streichinstrumente  ähnliche  Figuren.  Das  ist 
die  musikalische  Zeichnimg  von  den  langhinströmenden 
und  fluthenden  Wellen.  In  der  grössten  Bewegung  hält 
die  Musik  plötzlich  ein,  bricht  auf  einer  Dissonanz  (cis-e-g-h) 


oG*     407     ^' 

ab.  Bratsche  und  englisches  Hörn  halten  allein  eis  aus. 
Dann  setzen  die  Geigen  mit  einer  neuen  weit  ausholenden 
Triolenfigur  ein,  die  wie  Verwunderung  aussieht.  Es  hat 
sich  etwas  ereignet,  was  die  Elemente  stutzen  macht: 
Manfred  ist  am  Wasserfall  erschienen.  Wir  erfahren  das 
nicht  aus  seinem  herrischen  Thema,  das  die  Sinfonie  er- 
öffnete.   Nur  durch  das  Seufeermotiv  wird  er  vertreten.    Es 

durehklingt  in  der  Form     A°|t  p    ifefa   und  immer  auf 

denselben  zwei  Tönen  von  der  Oboe  gebracht  einen 
längren  Abschnitt,  in  dem  es  ziemlich  still  hergeht.  Nur 
ein  leichtes  Tremolo  der  Bratschen  dann  der  zweiten 
Violinen  erinnert  noch  an  das  Wasserrauschen  und  an 
den  Ort,  an  dem  unsre  Phantasie  weilen  soll.  All- 
mählich wird  die  Wassermusik  wieder  deutlich.  Der 
Componist  wiederholt  den  ganzen  Hauptsatz  mit  Aende- 
rungen.  Die  Rollen  sind  vertauscht:  dÜe  Violinen  haben 
die    leichten   Sechzehntel,    die   Bläser   die   Achtelmotive. 


Ein    neues    Motiv    tritt   hinzu 

P 

Es  hat  sich  über  das  muntre  Treiben  durch  die  Seufzer 
des  vorigen  Abschnitts  ein  Schatten  und  eine  Lähmung 
gelegt.  So  hört  es  denn  auch  früher  als  zu  erwarten  auf, 
oben  in  den  Bläsern  mit  schrillen  Tönen,  unten  in  den 
Violinen  vollständig  erstarrt.  Achtundvierzig  Takte  lang 
spielen  erste  und  zweite  Geigen  abwechselnd,  immer  nur 
fis  g;  schliesslich  bleiben  die  ersten  Violinen  mit  ihrem 
fis  allein  übrig.  Die  Stelle  macht  einen  ausserordent- 
lich phantastischen  Eindruck,  der  Einfall  erregt  grosse 
Spannung  zugleich  aber  auch  ein  gewisses  gespenstisches 
Grauen.  Da  setzt  denn  nun  von  zwei  Harfen  rauschend  be- 
gleitet die  erste  Violine  mit  folgender  freundlicher  Melodie 
-  j       doice 


c<?     408     ^ 

ein.  Es  ist  die  Stimme  der  Alpenfee  die  Tschaikowsky 
mit  seiner  Musik  als  eine  Gestalt  zeichnet,  die  ganz  Güte  und 
Liebe  ist.  Das  Lied  hat  einen  zweiten  Theil,  den  ebenso  wie 
den  ersten  die  aufschlagenden  Achtel  als  Gebirgsmusik  kenn- 
zeichnen. Der  Gesang  wird  reichlich  wiederholt  und  dabei 
immer  glänzender  instrumentirt.  Als  ihn  das  Fagott  eben 
durchgeführt  hat,  da  setzt  in  Hom  und  Bratschen  das  Thema 
des  unseligen  Manfred  ein.  Manfred  erzählt  ja  nach  Byron 
der  Alpenfee  seine  unglückliche  Liebe  zu  Astarte.  Mit 
dem  Manfredthema  zusammen  geht  das  Lied  der  Alpenfee 
immer  weiter.  Auch  die  Wassermusik  wird  wieder  lebhafter , 
besonders  an  der  schönen  £  durstelle  wo  die  Saiteninstru- 
mente die  Motive  der  Alpenfeemelodie  in  Gegenbewegung 
durchfuhren.  Die  Homer  haben  einen  weitern  selbständigen 
Contrapunkt  dazu  und  die  Musik  spricht  hier  mit  glühen- 
der Wärme  Mitleid  mit  Manfred  aus.  Die  freundlichen 
Sorgen  der  Alpenfee  schildert  ein  Abschnitt  in  dem  die 
hohen  Bläser  die  Motive  des  Ddurthemas  mit  den  Bässen 
in  Nachahmungen  bringen.  Es  scheint  aber  nichts  zu 
nützen.  Der  Satz  setzt  sich  auf  einen  Asmollaccord  fest, 
fängt  an  rhythmisch  ähnlich  zu  rasen,  wie  wir  es  im  ersten 
Satz  erlebt  und  bricht  wie  dort  im  fff  mit  dem  Rhythmus 

des  Trotzes  ab:    J^,      Darauf  in   grossen  schmerzlichen 

Kegungen  Manfred's  Thema  in  Violinen  und  Holzbläsern 
und  ein  Ende  dieses  Absatzes  in  Dissonanzen  (G-d-e-h)  und 
Verlegenheit.  Aus  dieser  Situation  helfen  Celli  und  Fa- 
gotte mit  einem  neutralen  Einfall  fort 


und  hinein  in  die  Wieder- 
holung des  Hauptsatzes.  Sie  weicht  von  der  ersten  Aus- 
führung am  Ende  ab:  Englisches  Hom  und  Clarinette 
bringen  noch  einmal  im  weichen  Ton  das  Manfredthema 
und  die  letzten  Takte  haben  nur  noch  einen  Schimmer 
von  Klang:  Harfen  und  Violinen  in  hohen  Trillern  sind 
allein  übrig  geblieben.  So  wird  der  Ausgang  des  Satzes 
dem  Wunderbaren  der  Scene  noch  schnell  gerecht. 


c^     409     ^ 

Wie  Tschaikowsky^s  Manfred  im  Allgemeinen  mit 
Berlioz's  ,Harold*  wichtige  Berührungspunkte  gemein  hat, 
60  erinnert  der  dritte  Satz  insbesondre  an  die  Scene  Ha- 
rold's  in  den  Abruzzen,  wo  die  Landsleute  das  drollige 
Ständchen  bringen.  Das  Programm  zu  diesem  Satze  giebt 
an :  «Pastorale.  Einfaches,  freies  und  heitres  Zusammenleben 
der  Gebirgsbewohner*.  Den  Pastoralcharakter  zu  treffen 
brauchts  vor  Allem  einen  ^/gTakt,  als  Nachkömmling  des 
alten  Siciliano.  Auch  Tschaikowsky  hat  sich  dieses  ge- 
gebnen Mittels  bedient  und  in  ihm  folgende  Melodie  an 
die  Spitze  seines  Pastorale  gestellt 

^  Aad>nf  coo  moto.  Jn:48 


Sie  wird  durch  die  begleitende  Harmonie  eingermassen  ge- 
hoben und  sucht  auch  des  Weitren  das  Behagen  an  ihrer 
Sphäre  durch  künstliche  Mittel  zu  steigern.  Die  Oboe 
modulirt  nach  ihrem  zweiten  Einsatz  bereits  nach  Hdur 
und  daran  schliesst  sich  ein  Abschnitt  in  dem  die  Stimmen 
um  das  Thema 


j   *     I   r_  [       kunstvolle 


Spiele  (Canons  und  freiere  Nachahmungen)  führen.  Der 
G  dursatz  wird  darauf  mit  der  Melodie  in  den  Holzbläsern 
wiederholt.  Als  das  Ende  des  Themas  erreicht  ist,  kommt 
keine  Durchführung  sondern  das  Bild  des  Friedens  und 
der  Unschuld  verwandelt  sich.  Eine  neue  ganze  Gesell- 
schaft tritt  auf  bei  der  es  aus  einem  andren  Ton  geht, 
nämlich : 


i*  ÜJl  (7\  SA^^  :?ir]dJ  ^T^^- 


Zu  dieser  Melodie  muss  man  sich  rustikale  Quintenbässe 
(Fagotte)  denken  und  ungenirte  Reibungen  in  den  Begleit- 


eC         410         O» 

stimmen  um  zu  begreifen,  dass  es  sich  jetzt  um  eine  derbre 
Lustigkeit  handelt.  Allenfalls  lässt  das  ja  schon  die  rhyth- 
mische Hast  des  Themas  ahnen.  Es  sind  gewiss  herum- 
ziehende Musikanten,  die  das  kleine  Sätzchen  vortragen. 
Die  Episode  entfesselt  aber  einen  Freudensturm  bei  der 
Hirtengemeinde.  In  einem  Hmollsatz  der  den  Mitteltheil 
des  Pastorale  bildet,  kommt  er  zum  Ausdruck  weniger  in  dem 
in  einem  grandiosen  Unisono  der  Streicher  gebrachten  Thema 

^P   J  i|J<  r'j  r^LF  r  «^-"^^  »»•  in  «»«^ Begleitung, 

in  dem  lauten  Ton,  in  dem  sie  gehalten  ist  und  in  den 
erregten  Rhythmen  die  immer  aus  einzelnen  Stinunen  oder 
ganzen  Orchestergruppen  dazwischenfahren.  Es  schliesst 
sich  daran  eine  Durchführung  des  ersten  Seitenthemas  das 
früher  in  Hdur  erschien  nun  in  der  Haupttonart  Gdur 
gebracht  wird.  Es  verliert  sich  in  einen  Schluss  der  ähn- 
lich gehalten  ist  wie  der  Ausgang  des  zweiten  Satzes ;  die 
ersten  Violinen  haben  einen  Triller  auf  hohem  Ä,  die  drei 
Flöten  umwinden  ihn  mit  hohen  Arpeggien.  Der  imge- 
wöhnliche  Klang  soll  hier  auf  Wunderbares  vorbereiten. 
Das  jetzt  in  den  Cellis  einsetzende  Thema 


'     p^i^^  I  [^J^^^'^  hat  nur  dann  einen  Sinn, 


wenn  es  einigermassen  visionär,  in  einer  entrückten  Stim- 
mung gedacht  wird.  Es  ist  Manfred's  Traum  vom  GlUck, 
ein  Traum  zu  dem  er  sich  an  den  Bildern  des  ländlichen 
Friedens  und  Behagens  berauscht  hat.  Schon  aber  als  die 
Bläser  das  Thema  aufnehmen,  wird  es  getrübt  und  erregt 
und  trotz  gewaltsamer  Anstrengungen  bricht  doch  Manfred*s 
verzweifelte  Stimmung  bald  wieder  und  schauderhaft  durch. 
Die  Hörner  bringen  das  Thema  aber  ohne  den  Anfang, 
gleich  mit  der  resignirt  herabsteigenden  Wendung  und  dann 
stehen  sie  festgebannt  auf  dem  schliessenden  C,  das  23  Takte 


«<?     411     ^ 

hindurch  unter  wechselnden  Harmonien  immer  wieder  an- 
geschlagen wird.  Diese  Beharrlichkeit  wirkt  religiös ;  in  der 
That  stimmt  auch  eine  Glocke  mit  ein  und  dass  der  ganze 
Vorgang  das  Herz  Manfred^s  entlastet,  zeigt  die  Melodie 
die  das  Hom  einsetzt  während  die  Holzbläser  immer  noch 
am  C  und  den  dazu  gehörigen  Harmonien  festhalten: 

fli  I  I  III  I  I  ij^i   II  II  I  I  1 .1  I 
j  /'J-niUJLillü'ILMlT  1.1  ij  . 


Sie  erinnert  an  eine  andre  Hommelodie  die  im  ersten  Satz 
der  Scene  vorhergeht,  in  deren  Mittelpunkt  Astarte  steht. 
Auch  hier  folgt  Sonnenschein.  Die  Pastoralmusik  aus  dem 
ersten  Theil  der  Nummer  kehrt  wieder,  in  der  zweiten 
Periode,  wo  die  Streichinstrumente  das  Thema  nehmen, 
durch  die  Contrapunkte  der  Bläser  in  einen  bachan- 
tischen  Charakter  gewandelt.  Der  hohe  Ton  hält  an. 
Nach  einer  Steigerung  die  von  Gdur  nach  Emoll  geführt 
hat,  tritt  das  Thema  von  Manfred's  GlUckstraum  hinzu 
ohne  sich  jedoch  lange  zu  behaupten.  Es  wird  still,  das 
Homthema  erscheint  wieder  am  Schlüsse  mit  Harmonien, 
die  wie  die  Schatten  des  Abends  wirken.  Noch  einmal 
blasen  die  wandernden  Musikanten  ihr  Stückchen.  Nur 
aus  der  Feme  aber  wird  ihnen  gedankt;  leise  und  immer 
leiser  klingen  froh  bewegte  Figuren  aus  den  Violinen,  aus 
'  den  Holzbläsern  Abschiedsgrüsse  —  ein  letztes  Anspielen 
des  Pastoral themas  wie  im  Einschlafen,  und  Alles  ist  aus ! 
In  seinem  Schlusssatz  hat  sich  Tschaiko  wsky  die  Auf- 
gabe gestellt  den  unterirdischen  Palast  Ariman^s  zu  schildern. 
Manfred  erscheint  inmitten  des  Bacchanals.  Der  Schatten 
der  Astarte  wird  beschworen.  Sie  verkündet  ihm  das  Ende 
seiner  irdischen  Leiden.  Manfred  stirbt.  Durch  dieses 
Progranun  erklärt  sich  der  Compouist  als  einen  Schüler 
Berlioz*8,  der  seinen  Harold  gleichfalls  unterirdisch  und 
bei  einem  Bachanale  zu  Grunde  gehen  lässt.  Und  Tschai- 
kowsky  zeigt  sich  auch  in  der  Ausführung  dieser  Idee  voa 


«<?     412     ^ 

dem  FraDzosen  beciDflusst  namentlich  darin,  dass  er  aas 
seiner  DarsteUung  die  Grazien  ganz  und  gar  verbannt.  Von 
Gluck  und  Wagner  hätten  diese  Programmmusiker  lernen 
können  dass  die  Hölle  durch  ihre  zarten  Künste  am  ver- 
führerischsten  ist  und  die  grösste  Gewalt  über  die  Geister  übt. 
Ein   gewaltsames   heftig   auffahrendes   Thema  kenn- 

Allsgro  coD  fuoco.  J  :  144 

zeichnet   das  Reich  Ariman's    iHw  f    \'    If  F^C/  j  f . 

Es  wird  häufig  von  einem  geisterhaften  Nachgesang  der 
Bläser  begleitet,   dem  folgendes  Motiv  zu  Grunde  liegt: 

ff  ^  P  ^  r^P  ^  P  ^  I  ^  fl^%  •  Wenn  es  in  verkürzter  Ge- 
stalt erscheint:  m^  \  i  .J'IJT  I  J  [  folgen  ihm  in  der 
Regel  lärmende  Contrapunkte,  grösste  Erregung  hervorrufend 

die  grimmige  Bassfigur: 

Für  den  ganzen  Theil  der  der  Schilderung  der  Ariman*- 
Bchen  Herrschaft  gewidmet  ist,  hat  der  Componist  Unge- 
stüm und  Heftigkeit  als  kennzeichnende  Merkmale  gewählt. 
Daher  die  immer  neuen  und  inmier  kurzen  Anläufe  auf  Grund 
des  Themas  grossere  Sätze  zu  bilden.  Bald  geschehen  sie 
in  Fugenform  oder  in  andren  Arten  der  Nachahmung,  bald 
mit  Verlängerung  bald  mit  Verkürzung  der  Anfangsnoten, 
bald  mit  gefassten,  bald  mit  wilden  Contrapunkten.  Dia- 
bolischer wird  die  Scene  mit  dem  Auftreten  der  Trom- 
petenvariante:    ^l^fftfr-i^hf-c  j  nnJ  i  j  i|-L/^'- 

Geigen  und  Flöten  umtrillem  sie  wie  rasend,  brutale  Stösse 
der  Homer  antworten  darauf.  Der  Lärm  wächst  von  allen 
Seiten,  die  Trompete  feuert  in  gemeinen  Rhythmen  an  und 


e<?       413        ^ 

endlich  macht  sich  das  animalische  Behagen  dieser  Ge* 
Seilschaft  in  einem  Reigen  Luft,  zu  dem  Englisch  Hörn, 
Bassclarinette  und  beide  Fagotte  folgende  Weise  aufspielen : 


Sie  wird  sehr  breit  ausgeführt,  mit  Freuden  gehört  und 
begrUsst,  leidenschaftlich  von  den  einzelnen  Gruppen  über- 
nommen imd  mit  Verzierungen  versehen.  Plötzlich  —  die 
Violinen  liegen  auf  g  —  bricht  die  Scene  ab.  In  einer 
Umbildung  lässt  sich  das  Manfredthema  in  den  BSssen 
hören.  Das  Bacchanale  ist  damit  zu  Ende.  Ein  Lento 
setzt  ein.  Geheimnissvoll  beginnt  ein  leiser  Satz  auf  chro- 
matischem Motiv  Itjt"  \t^  l^p  r  "  i »  i^™  folgen  feier- 
lich schrecklich  laute  Blfiseraccorde.  Und  nun  tritt  Man- 
fred wirklich  auf  in  seiner  edlen  Art  mit  den  Motiven  des 
Strebens.  Ihm  stellt  sich  Ariman  entgegen  mit  einer  Fuge 
über  das  erste  Thema  des  Schlusssatzes  dem  aber  ein  et- 
was verworrener  Abschluss  gegeben  ist.  Die  Musik  des 
Bacchanale  tritt  dazu,  bald  werden  beide  Themen  ver- 
bunden. Ariman  zeigt  sich  in  dem  höchsten  Glanz  über 
den  er  verfügt ;  der  Lärm  ist  betäubend  genug.  Da  kommt 
plötzlich  wieder  eine  jener  naturalistischen  Stellen,  wo  das 
voUe  Orchester  nur  Rhythmus  giebt.  Hier  ruht  es  Takte 
lang  auf  Triolen.  Im  ersten  Satz  verwendete  Tschaikowsky 
dieses  Mittel  um  extremste  Gemüthszustände  Manfred's,  die 
Augenblicke  der  tollsten  Verzweifelung  zu  bezeichnen. 
Auch  hier  gilt  es  wieder  Manfred.  Die  Trompete  meldet 
ihn  an  und  bald  erscheint  ein  wenig  beweglicher  gehalten 
als  im  ersten  Satz  sein  Thema  in  einem  Andante,  von  der 
Gesellschaft  Ariman's  mit  Staunen  empfangen.  In  einem 
Adagio,  an  das  wir  kurz  darauf  gelangen,  hören  wir  die 
Klänge  der  Liebe  zart  wieder,  die  dem  Mitteltheil  des 
ersten  Satzes  sein  schönes  inniges  Gepräge  gaben.  Astarte 
wird  angerufen:  sie  kommt  und  mit  ihr  ein  grosser  Theil 


u?     414     ^ 

von  den  besten  Augenblicken  des  Werkes.  Wir  durch- 
leben, nur  gedrängter,  noch  einmal  die  ergreifende  und 
erwärmende  Scene,  die  dem  ersten  Satz  der  Sinfonie  seine 
Herzenstöne  gab.  Auch  das  Andante  con  duolo,  das  dort 
der  Scene  der  Erinnerung  an  Astarte  folgte,  kehrt  wörtlich 
wieder,  bis  beim  Allegro  die  Basse  ein  neues  Motiv  bringen : 

i  f 'uJj  n    '     ^^  ^^  ^^^  rauhe  Hand  des  Todes. 

Noch  ein  kurzer  heftiger  Kampf  dann  fallt  die  Orgel  ein 
wie  in  Liszt's  «Faust**  als  Stimme  des  Himmels:  Manfred  ist 
erlöst.  In  einem  feierlichen,  von  milder  Schönheit  erfülltem 
Largo  wird  ihm  ein  tröstliches  imd  friedevoUes  Requiem 
gesungen.  Einigermassen  stinmit  es  im  Ton  mit  dem  Ende 
von  RafiTs  .Lenore**.  i  Durch  den  schönen  versöhnenden 
Abscbluss  unterscheidet  sich  das  Finale  von  Tschaikowsky^s 
Manfred  vortheilhaft  von  dem  des  Beriioz*schen  Harold. 


Von  dem  Zeitpunkte  ab,  wo  Haydn  ihre  Umgestal- 
lung  begann,  blieb  die  Sinfonie  den  Deutschen  zieodich 
allein  überlassen.  Nur  die  Franzosen  stellten  in  längeren 
Abständen  einzelne  nennenswerthe Mitarbeiter,  wie:  Gossec, 
M^hul,  Berlioz.  Nach  Analogie  der  Entwickelung,  welche 
die  Vocalmusik,  zuletzt  noch  in  der  Oper,  genommen 
hatte,  war  anzunehmen,  dass  eines  Tages  auch  die  Gre- 
schichte  der  Sinfonie  wieder  den  internationalen  Charakter 
tragen  und  dass  der  Wettstreit  der  Nationen  sich  auch 
dieser  Kunstgattung  bemächtigen  werde.  Nach  80  Jahren 
trat  diese  Wendung  endlich  ein.  Doch  erfolgte  sie  mit 
einer  ebenso  wichtigen  als  überraschenden  Nuance.  Die 
neuen  Sinfoniker  kamen  nicht  aus  Italien,  sondern  aus 
Ländern,  welche  sich  an  der  höheren  musikalischen  Kunst- 
arbeit bisher  nicht  betheiligt  hatten.  Sie  brachten  neue 
Weisen,  neue  Klänge,  einen  ganzen  Schatz  von  Natur- 
musik  mit,  für  welchen  die  Stimmung  durch  die  Arbeit 
der  Romantiker  aufs  Günstigste  vorbereitet  war.  Mit  den 
Programmsinfonien  theilen  die  nationalen  das  realistische 


c<?     415     ^ 

Element  in  der  Darstellung;  der  pathetische  und  hoch- 
dramatische Zug  jener  ist  ihnen  bis  auf  einzelne  neueste 
Ausnahmen  russischer  Herkunft  fremd.  Ihr  liebstes  und 
eigenthUmlichstes  Gebiet  ist  das  Genre. 

Das  erste  Interesse  für  die  Musik  der  sogenannten 
Nebennationen  erwachte  schon  am  Ende  des  achtzehnten 
Jahrhunderts.  Noch  ehe  Herder's  ^Stimmen  der  Völker* 
erschienen  waren,  lenkte  Delaborde's  , Essai  sur  la  musi- 
que  etc.*^  die  Au^erksamkeit  der  gebildeten  Musikwelt 
auf  die  Gesänge  und  die  Tanzweisen  der  bisher  musi- 
kalisch unbeachtet  gebliebenen  Nationen.  Die  Allgemeine 
Musikalische  Zeitung  verfolgte  auf  Anregung  des  Abt 
Vogler,  des  Lehrers  von  C.  M.  v.  Weber  und  Meyerbeer, 
vom  Anfang  ihres  Bestehens  (1798)  alle  Erscheinungen 
auf  diesem  Gebiete,  die  Sammlungen  und  die  Berichte. 
Die  wesentlichste  Beachtung  erregten  die  Scandinavier. 
Bei  ihnen  nahm  die  Pflege  der  alten  Nationalweisen  zuerst 
wissenschaftliche  Formen  an ,  und  sie  lenkten  diesen 
Schatz  zuerst  in  das  Gebiet  der  Kunst  hinüber.  Kuntzen, 
Weyse,  P.  E.  Hartmann  schrieben  die  ersten  dänischen 
Opern,  Opern,  in  welchen  der  Stoff  der  Handlung  und  ein 
Theil  der  Melodien  vaterländisches  Gut  waren.  Hierdurch 
angeregt  und  ermuntert,  componirte  der  junge  Däne 
Niels  Gade  seine  berühmte  Ouvertüre  «Nachklänge  aus 
Ossian*^ ,  welcher  i.  J.  1843  schon  seine  Cmoll-Sinfonie 
folgte.  In  dieser  Sinfonie  fanden  die  Renner  und  die 
Freunde  der  nordischen  Poesie  den  Geist  der  Frithjofsage  H.  Gade 
und  der  Edda  wieder.  Sie  erschien  ihnen  wie  ein  C  mou-süifonie. 
nordisches  Musikepos,  welches  von  den  alten,  gewaltigen 
Recken  und  ihren  Kriegen  und  Siegen,  von  schlichten 
Jägern  und  Hirten  und  ihren  naiv  frohen  Festen,  von 
einer  Natur,  welche  unter  unscheinbarer  Hülle  intimen 
"Reiz  barg  und  von  freundlichen  Elementargeistem  belebt 
war,  erzählt.  Wie  der  Stoff  neu  und  poetisch,  so  war  die 
DarsteUung  liebenswürdig.  Das  nordische  Element  drang 
sich  nirgends  äusserlich  auf,  technisch  blieb  es  in  einigen 
düsteren  Balladenmelodien  und  in  kurzen  Dialogen  der 
Bläser  versteckt.     Im   Stile    der  Composition    begegnete 


eO      416      ^ 


man  dem  romantischen  Charakter  der  Zeit.  Es  war 
ein  schöner  menschlicher  Zug  in  ihm,  dass  er  der  be- 
geisterten Schilderung  einen  wehmUthigen  Ton  beimischte, 
einen  Ton,  welcher  der  Trauer  darüber  Ausdruck  eu 
geben  schien,  dass  jene  Welt,  die  in  der  Tondichtung 
mit  ihren  Göttern  und  Helden  auflebte,  in  Wirklichkeit 
längst  dahin  gegangen  war.  In  diesem  Sinne  beginnt  der 
erste  Satz  der  Sinfonie  mit  einem  klagenden  Prolog:  Ein 
melancholischer  Flor  liegt  über  der  liebeTollen  Melodie, 
die  wie  aus  der  Feme  während  der  Einleitung  durch  die 
Instrumente  zieht. 

Moderato.  vtoi. 


Dann  aber  ergreifen  die 


Trompeten  das  Wort  und  leiten  eine  Scene  ein ,  in .  der 
sich  rauhe  Kräfte  machtvoll  regen.    Das  Thema 


T  r-?T  ff  f 


durch  mehrfache  Wiederholungen  ge- 
I  ^  *  I  steigert,  bildet  den  Hintergrund  des 
'     ^  ■  '  Bildes:   Der  Held  tritt  auf  mit  seiner 


t 


g 


C/'   tr  •  Schaar: 

Allegro.  ^^        . — s^ 


xr 


Die   Gestalt 
ist    uns    aus 


der  Einleitung  bekannt;  nur  kräftiger  und  fester  steht  sie 
hier  vor  uns.  Mit  diesem  einen  Thema  hat  Gade  den 
ganzen  Satz  bestritten,  bald  rückt  er  ihn  in  die  Feme, 
bald  in  eine  düstere,  bald  in  eine  freundlichere  Beleuch- 


ce     417     ^ 


tung,  wendet  ihn  hier  ins  Träumerische,  dort  ins  HeroiHche. 
Nur  während  der  kurzen  Durchführung,  in  welcher  der 
"/^Takt  der  Einleitung  wieder  einsetzt,  tritt  ein  freund- 
lich sinnender  Nebengedanke  ein: 


^^ 


p  — 

Als  zweiter  Satz  folgt  ein  Scherzo  (Cdur  ^'jTakt). 
Das  Thema  hat  in  der  ersten  Hälfte  nur  rhythmisches 
Leben:  Melodielos,  fassungslos  vor  freudiger  Aufregung, 
rollt  es  in  schnellen  Achteln  dahin  —  die  zweite  Hälfte 
bildet  ein  keckes  Citat  aus  dem  Hochzeitsmarsch  der 
ySommemachtstraum** -Musik.  Auch  im  Trio  begegnet 
sich  Gade  mit  Mendelssohn.  Seinen  motivischen  Inhalt 
bildet  im  vorwiegenden  Theil  eine  jener  schattenhaft  da- 
hinhuschenden  Figuren,  die  Mendelssohn  in  den  phan- 
tastischen Sätzen  einbürgerte: 

Vlvtce. i         ^^ 

Der  Nachsatz 

treibt  ein  an- 

/..Viol.c.iord.  "** 

muthiges  Spiel  mit  Motiven ,  die  der  Natur  abgelauscht 
zu  sein  scheinen: 

yi  ,     ^'''''''T«'   " 


^^ 


äutc« 


Den  Kern  des  dritten  Satzes  (Andantino  grazioso, 
F  dur  ^j^)  bildet  ein  freundlich  ernster  Gesangssatz,  dessen 
Hauptperiode  folgende  ist. 

Andantino. 


Ob. 


Die  kurzen  Zwischensätze,  welche  die  Wiederholungen 
dieser  Hauptgruppe  auseinanderhalten,  haben  den  oben 
berührten   klagenden    Charakter    und   ruhen    auf  folgen- 

Cor.  _ 

dem  Motive:    -tC-^J"]  I  ^=ii=p^-=ii>  1  ^    J^,^^.    Ein 


M..,..:     if'JjliJjJ^U     • 


Kretzf  chmar,  Führer,  I. 


27 


eO        418        ^ 

Triolenrhythmus,  welcher  zuerst  in  der  Cellofigur 


ij^iiTTr 


des  Satzes  hellere  Lichter  hinein. 

Der  letzte  Satz  beginnt  mit  einem  wahren  Freuden- 
allarm.    Mit  ausgelassenen  Dissonanzen  setzt  das  Tutti  ein : 

MoUo  AUef  ro. 

im  breiten  Behagen  wiegt  es  sich 


j   I  >1   J    I  J   ^   I      schier  endlos,  wenn  die  fröhliche,  in  den 


Eingangstakten  auf  den  Anfang  der  Sinfonie  zurückgrei- 
fende und  ein  Schubert'sches  Gresicht  tragende,  Haupt- 
melodie angestimmt  werden  soll: 


:i    Iri  I  J  ]  I  r  -      Der  Satz  ist  an  selbständigen,  schönen 

Themen   überreich.     Mit   besonderer  Wucht   macht   sich 
folgende  Melodie  der  Bläser  geltend: 


die  das  gesammte  Streichorchester  mit  breit  arpeggirten 
Aecorden,  wie  mit  mächtigem  Harfenklang  umrauscht. 
Die  ausserordentliche  Instrumentirungskunst,  welche  Gade 
in  der  ganzen  Sinfonie  beweist,  feiert  hier  ihre  stärksten 
Triumphe.  Wenn  die  Trompeten  ihre  fröhlichen  Signale 
in  die  glänzend  kräftige  Scene  hineinwerfen,  welche  um 
den  eben  skizzirten  Gesang  sich  bildet,  da  steht  BUrger^s 
^Lenore*  Tor  uns:  ,,Und  jedes  Heer  mit  Sing  und  Sang 
—  Mit  Paukenschlag  und  Kling  und  Klang  —  Geschmückt 
mit  grünen  Reisern  —  Zog  heim  zu  seinen  Häusern!*  Be- 


tc     419     f^ 

sondere  sinnig  empfinden  wir  es,  dass  das  Heldenthema 
aus  dem  ereten  Satze  der  Sinfonie  in  das  Finale  hinein- 
gezogen worden  ist.  Dass  die  Menge  des  poetischen 
Stoffes  in  diesem  Schlusssatze  nicht  ganz  bewältigt  worden 
ist,  lässt  sich  nicht  verkennen.  Auch  die  anderen  Sätze 
kann  man  formell  ToUendet  nicht  nennen,  besonders  das 
Scherzo  ist  unverhältnissmässig  breit.  Doch  aber  bleibt 
der  Sinfonie  ein  mächtiger  Zug  in  der  Gestaltung,  und 
in  ihren  nordischen  Melodien  und  Motiven  ein  originelles 
£lement  von  sicherer  und  grosser  Wirkung. 

Unter  den  übrigen  Sinfonien  Gade*s  —  es  giebt  im      K.  Oade 
Ganzen  acht  —  ist  die  vierte  (in   Bdur,  1851  veröffent-  Bdur-sinfonie. 
licht)    die    verbreitetste.     Ihr  Scherzo    —    es   hat    einen 
Spohr*schen  Zug  im  Hauptsatz  und  zwei  allerliebste  volks- 
massige  Melodien    als  Trios  —  ist  der  beliebteste  unter 
den  vier  Sätzen.    Im  ereten  Allegro  tritt  das  scherzende 


Seitenthema :  .  .  .^   .  _    ,       

und  die  schelmisch  liebenswürdige  Episode 

i^t[t\p\HS\S^t\l^tJit\H^  vor  der  letz- 

ten  Intonation  des  kräftigen  Hauptthema,  im  letzten  Satze 
das  recitativartig ,  zögernd  und  fragend  in  den  Violinen 
beginnende  zweite  Thema  hervor: 

AUvrro. 


\r  r  \f  f  \  ^\  ,.  \  f  \ 


Es  sind  die  wirklich  eigenartig  gedachten  Stellen  der  Sin- 
fonie. Das  ganze  Werk  ist  von  dem  abgeklärten  Geiste 
milder  Anmuth  beherrecht  und  formell  eine  der  reifsten 
Arbeiten  der  neueren  Composition.  Gleichwohl  steht  sie  an 
geschichtlicher  Bedeutung  hinter  der  weniger  abgerundeten 
C  moli-Sinfonie  Gade's  über  allen  Vergleich  weit  zurück. 

27« 


oG*     420     ^ 

Denn  in  der  späteren  Sinfonie  ist  Gade  ein  hervorragen- 
der Vasall  Schumann's  und  Beethoven's,  in  jener  ersten 
aber  erscheint  er  als  die  Spitze  und  der  Führer  einer  neuen 
Epoche.  Jene  Cmoll-Sinfonie  gab  der  höheren  Instrumen- 
talmusik Impulse  von  grösster  Bedeutung.  Sie  lenkte  mit 
frischer  Schärfe  den  Blick  auf  die  nationalen  Lieder  und 
Tänze,  und  bewies,  dass  dieser  Schatz  auch  für  die 
grossen  Formen  der  Composition  nutzbar  gemacht  werden 
könne.  Sie  appellirte  an  die  Heimathsliebe  der  Tonsetzer 
in  allen  Ländern  und  leitete  eine  Bewegung  ein,  die 
jedenfalls  zu  den  wichtigsten  Erscheinungen  der  neueren 
Musikgeschichte  zählt.  War  diese  Bewegung  im  Liede, 
in  der  Klaviermusik  (Field,  Chopin),  in  der  romantischen 
Oper  Weber's,  Boieldieu's,  Auber's  auch  schon  vorbereitet, 
so  gebührt  Gade  doch  das  Verdienst,  sie  auf  das  wichtige 
Feld  der  Sinfonie  gelenkt  und  da  in  Fluss  gebracht  zu 
haben. 

Wir  haben  heute  eine  Reihe  solcher  auf  nationalen 
Elementen  ruhender  Sinfonien  und  sinfonieartiger  Werke, 
von  denen  einige  auch  im  Repertoir  Fuss  gefasst  haben. 
Der  dänischen  Schule  gehört  zunächst  Emil  Hartmann 
an,  dessen  Es dur- Sinfonie  in  Stil  und  Stoff  unmittelbar 
an  Gade  anschlicsst.  In  denselben  Kreis  sind  auch  die 
Nordischen  Suiten  von  A.  Hamerick  zu  stellen ,  welche 
allerdings  mit  Mendelssohn'schen ,  Wagnerischen  und  an- 
deren Elementen  stark  getränkt  erscheinen.  Ein  Posi- 
tives besitzen  sie  in  ihrem  eigenen  Klangleben.  Dem  Ver- 
ständniss  kommen  ihre  Ueberschriften  entgegen.  Nor- 
wegen und  Schweden  sind  in  der  Sinfonie  neuerdings 
durch  S.  Svendsen,  in  der  Klaviermusik,  dem  Liede  und 
der  Orchestersuite  durch  E.  Grieg  speciell  vertreten. 
Diesen  beiden  «Jungscandinaviern*^  wird  zuweilen  be- 
wusste  Opposition  gegen  Gade  und  seine  dänische  Schule 
zugeschrieben.  Nur  bis  zu  einem  beschränkten  Maasa 
geschieht  das  mit  Recht  Die  Verschiedenheit  beider 
Schulen  beruht  auf  den  benutzten  Quellen.  Die  dänischen 
Volksweisen  haben  vorwiegend  einen  ernsten  und  strengen 
Charakter;   in  ihrer  technischen  Structur  sind  sie  jedoch 


cjj     421     tv» 

vorwiegend  abeDdländisch.  Die  scandinaTischen  Melodien 
hingegen,  welche  Grieg  und  Svendsen  benutzen,  weisen 
auf  ein  fremdes  Tonsystem  hin,  das  sich  abseits  des  grossen 
europäischen  Kunststromes  entwickelt  hat.  Stellt  man  sie, 
wie  es  die  genannten  Tonsetzer  thun,  in  unser  bekanntes 
Harmoniegebäude  ein,  so  zwingen  sie  zu  einer  freieren 
Behandlung  der  Dissonanz,  zu  manchem  grellen  Wechsel 
zwischen  Dur  und  Moll  und  zu  Accordfolgen ,  welche  uns 
ungewohnt  berühren.  Sie  repräsentiren  eine  eigenthUm- 
liehe  Empfindungswelt,  in  welcher  das  Träumerische  einen 
breiten  Raum  einnimmt.  Ein  starker  Schatten  von  Me- 
lancholie liegt  in  der  Regel  auch  noch  über  den  kurzen 
Tanzweisen,  an  welchen  der  norwegische  Tonschatz  be- 
sonders reich  ist.  Sie  bilden  Idyllen,  in  welchen  zu  dem 
ergötzlichen  Moment  auch  ein  rührendes  hinzutritt.  Das 
letztere  liegt  in  der  Beschränktheit  der  melodischen  und 
rhythmischen  Kreise,  in  welchen  sich  ihre  Munterkeit  be- 
wegt. In  diesem  Punkte  berühren  sie  sich  mit  der  slavi- 
sehen  Volksmusik. 

Svendsen    giebt    namentlich    in    seiner    Ddur-Sin-J.  8.  Sreadteii 
fonie  bezeichnende  Proben  von  den  Formen  und  auch  Ddur-Sinfonie. 
von    der    Seele    seiner    heimathlichen    Volksmusik.      Das 
Hauptthema  des  ersten  Satzes  ruht  in  seinem  Grundmotiv 
auf  einer  kurzen  scandina vischen  Tanzweise: 

Molto  Älle^o. 

jf^»r   t  r  irP^  r'P^  l^^.    Das  zweite  Thema, 

eine  suchende  und  sehnende  Gestalt,  bildet  gegen  die 
drängenden  und  heftigen  Elemente  dieser  fröhlichen  Melo- 
die einen  sehr  starken  Contrast.  Es  besteht  nicht  aus 
einer  einfachen  Melodie,  sondern  aus  einer  Gruppe  melodi- 
scher Sätzchen,  unter  denen  das  Motiv  p  ^i    ["    T   1  T     ^^ 

für  die  Entwickelung  des  Satzes  die  Hauptrolle  über- 
nimmt. In  dem  Entwurf  dieses  Satzes  liegt  sehr  viel 
Genialität.  Der  Gegensatz  zwischen  froher  Lebenslust  und 
sinniger   Träumerei,    welchen    die  Themen   aussprechen. 


e<?     422     ^ 

tritt  auch  da  auf,  wo  wir  ihn  nicht  erwarten,  z.  B.  in  der 
Entwickelung  des  Hauptthemas  selbst,  und  bewirkt  un- 
aufhörlich ungesuchte  Effekte,  kleine  und  grosse.  Eine 
besondere  Kunst  liegt  in  der  raschen  Modulation  der 
Stimmungen.  Mit  einem  Schlage  versetzt  der  Componist 
uns  aus  der  Majestät  der  Bergwelt  in  die  stiUe  Schönheit 
der  Fjords.  Die  dynamischen  Mittel  namentlich  sind  mit 
frappantem  Erfolge  benutzt.  Das  einzige,  formell  etwas 
unreife  Element  dieses  Allegros  bilden  die  Fugatos,  welche 
über  das  erste  Thema  versucht  werden. 

Die  aus  der  Hingabe  an  das  Wesen  der  Volksmusik 
fiiessende  Neigung  zu  einfacher  Elementarwirkung  zeigt 
sich  auch  in  dem  Andante  der  Sinfonie:  an  der  Stelle 
besonders,  wo  das  zweite  Thema  mit  den  langen,  leisen 
Accorden  der  Streichinstrumente  eingeleitet  wird,  über 
welche  die  Bläser  einander  sanfte  Hirtenmotive  zusingen. 
Das  Hauptthema  dieses  Satzes,  ein  edler  breiter  Gesang, 
welcher  zuerst  auf  den  tiefen  Saiten  der  Violinen  erklingt : 

>M  1        ,  1  ,       Ml     .111    I      dient  im  weiteren  Ver- 

C   *i  ^  IJJ^I^iJ  IJ_^  lauf  des  Satzes  dazu, 

das  glänzende  coloristisohe  Talent  des  Componisten  zu 
entfalten.  Von  besonderer  Schönheit  ist  die  Stelle,  wo 
PS  als  Hommelodie  von  den  Pizzicato  •  Rh jthmen  der 
Geigen  umspielt  wird. 

Den  nordischen  Charakter  der  Sinfonie  bringt  der  dritte 
Satz  derselben,  ein  Allegretto  scherzando  (G  dur  -/4)  am  ent- 
schiedensten zum  Ausdruck.    Zwar  fängt  er  in  deutscher  Ge- 


mUthlichkeit  an : 

Aber  schon  nach  12  Takten  beginnt  der  zweite  Satz  mit 

einem  Motive:       Ji.mt$wr\l  f  ^  r^^i4  J4\l*K^   dessen  scan- 


dinavische  Abkunft  durch  die  untergelegte  Harmonie  noch 
deutlicher  wird.  Von  derselben  Natur  ist  das  Thema  des 
dritten  Abschnitts,  der  in  Bdur  einsetzt: 


cc?     423     ^ 


Ziemlieh  spannend  klingt  er  lange  aus.  Da  setzt  in  den 
Violinen  mit  ganz  wunderbar  zart  belebten  Tonfarben  — 
die  auf  geschickter  Benutzung  einer  seltenen  Spielart  be- 
ruhen —  Adur  ein,  und  darüber  intoniren  die  Hornbläser 

eine  neue  nordi- 
sche Melodie: 

Sie  ist  von  Hause  aus  von  etwas  derberem  Schlage,  ent- 
faltet aber  ihren  ganzen  schwerfallig  drolligen  Charakter 
erst  dort,  wo  sie  Bässe  und  Violinen  im  Canon  durch 
ein  gewaltiges  Forte  führen,  das  Trompeten  und  Homer 
stürmisch  genug  einleiten.  Schnell  wie  es  gekommen,  ist 
es  auch  vorbei.  Der  Componist  zieht  mit  der  ihm  eigenen 
Raschheit  einen  phantastischen  Schleier  über  die  Scene, 
unter  welchem  sich  allmählich  das  erste  Thema  des 
Satzes  wieder  zu  regen  begannt.  Es  folgen  nun  Bepe- 
titionen  in  freier  Folge.  Die  Form,  durch  welche  die 
grosse  bunte  Menge  lustiger  Bilder  in  diesem  Satze  fest 
zusammengehalten  wird,  ist  eine  Modification  des  Rondo- 
satzes. An  der  Wiederkehr  des  gemächlichen  Haupt- 
themas hat  der  Zuhörer  immer  wieder  einen  Anhalt  und 
Sammlungspunkt. 

Das  Finale  beginnt  mit  einer  Einleitung.  Alle  The- 
men sind  nordisch.  In  der  Durchführung  überwiegt  die 
Arbeit  die  Phantasie.  Ein  sehr  schöner  Moment  der  In- 
spiration ist  der  Eintritt  des  zweiten  Themas.  Er  ge- 
bietet den  Wolken,  und  siehe:  es  erscheint  ein  freund- 
licher Stern.  Dass  dieses  zweite  Thema  nichts  anderes 
ist,  als  die  Melodie  der  Einleitung,  nur  in  schnellerem 
Gang,  hebt  nur  die  Wirkung. 

Die   zweite   Sinfonie   Svendsen's    (Bdur)    beruht   auf  J.  8.  STeadse» 
einem  tieferen  Stinunungsgrunde  als  seine  erste.    In  allen  Bdttr-Sü»fom«. 
ihren  Sätzen  lauert  die  Schwermuth,  und  noch  im  Finale 
wechseln   die   Momente   des   gewaltsamen  Aufraffens   der 


«^     424     ^ 

Kraft  mit  Augenblicken  gänzlicher  Verzagtheit.  Am 
freiesten  von  trüben  Anwandlungen  hält  sich  der  dritte 
8atz^  eine  als  Intermezzo  bezeichnete  Pastoraldichtung,  die 
Beethoven'sch  beginnt  und  dann  ganz  in  dem  nordischen, 
neckischen  und  kindlichen  Schalmeienton  aufgeht.  Auch 
der  erste  Satz  hat  eine  ausgeprägt  norwegische  Melodie  in 
seinem  zweiten  Thema,  welches  in  diesem  Satz  die  Rolle 
des  guten,  tröstenden,  mit  Heimaths-  und  Jugendbildern 
zusprechenden  Geistes  übernimmt.  Im  Andante,  das 
manchen  BrahmsWhen  Zug  enthält,  hat  der  freundliche 
Gegensatz  in  einem  kurzen,  immer  repetirenden  —  oft  be- 
scheiden versteckten  —  Achtelmotiv  einen  rührend  naiven, 
unschuldigen  Ausdruck  gefunden.  In  der  Form  reifer 
als  die  Ddur-Sinfonie,  zeiget  sich  Svendsen  in  der  zweiten 
Sinfonie  doch  weniger  originell.  Ausser  den  bereits  an- 
geführten Meistern  gehören  noch  Schumann  (im  ersten 
Satz),  Schubert  (im  dritten)  zu  den  Componisten,  deren 
Einfluss  bemerkbar  wird. 
Ed.  Cirieg*!  Von  den  Orchestersuiten  Ed.  Grieg's  darf  man  die 

'^"■^««JI'ergB  ^tere  ,Aus  Holbergs  Zeit*  (op.  40)  kaum  in  die 
Classe  der  nationalen  Musik  stellen.  Sie  hat  nur  in  der 
Musette  und  im  Rigandon  einige  spärliche  scandinavische 
Töne.  Aber  das  Werk  ist  unter  allen  den  neuen  Suiten, 
welche  den  Geist  des  18.  Jahrhunderts  heraufzubeschwören 
suchen,  eins  der  liebenswürdigsten.  Es  wählt  die  copiren- 
den  Mittel  mit  allzuviel  Beschränkung,  es  entfernt  sich  in 
seiner  Leidenschaftlichkeit  vom  Wesen  der  alten  Kunst; 
aber  es  ersetzt  das  Alles  durch  die  poetische  Kraft,  welche 
die  knappen  Formen  erfüllt. 

Zwei  Suiten  Grieg's  sind  der  Musik  entnommen,  die 
er  für  den  Versuch  einer  Bühnenaufführung  von  Ibsen'» 
Ed.  Orieg's  „Peer  Gynt*  geschrieben  hat.  Diese  beiden  Orchester- 
,reer  Ojnt~  I.  gujten  ZU  Peer  Gvnt  haben  somit  einen  ähnlichen  Ur- 
Sprung  wie  Bizef  s  Suiten  zu  TArl^ienne ;  sie  können  sich 
mit  ihnen  aruch  an  künstlerischer  Bedeutung  sehr  wohl 
messen,  sind  ihnen  an  Stärke  des  Nationalklangs  und  an 
Einfachheit  sichtlich  überlegen.  In  letzter  Beziehung 
darf  man  diese  Grieg'schen  Compositionen  sogar  für  ein 


oc     425     ^ 

Ideal  vornehmer  Orchestermusik  erklären.  Was  das  nor- 
dische Colorit  betrifft,  so  sind  in  diesem  Falle  die  eignen 
starken  Anlagen  und  Neigungen  des  Coroponisten  noch 
durch  die  Dichtung  befruchtet  worden.  Lebt  doch  im 
Peer  Gynt  die  ganze  nordische  Natur;  ja:  in  dem  mit 
überreicher  Phantasie  ausgestatteten  Helden  hat  Ibsen  dem 
norwegischen  Volk  ein  Spiegelbild  vorhalten  wollen. 

Der  e  r  s  t  e  Satz  der  ersten  Suite  (op.  46)  heisst  Morgen- 
stimmung  und  soll  wohl  den  zweiten  Aufzug  des  dra- 
matischen Gedichts  einleiten,  in  dessen  erster  Scene  Peer 
mit  der  geraubten  Ingrid  bei  Tagesanbruch  ins  Gebirge 
schreitet.  Die  Composition  hat  durchaus  Pastoralcharakter. 
Ihr  Haupthema: 

Aüejtwtto  pastoral»,  ^«r  fio. 


P 

wechselt  lange  Zeit  zwischen  Flöte  und  Oboe  mit  ver- 
änderter Harmonie.  Die  beiden  Instrumente  gemahnen  an 
die  Hirten  des  Hochgebirgs  die  von  Höhe  zu  Höhe  sich 
musikalisch  unterhalten.  Mittlerweile  ist  die  Sonne  höher 
gestiegen  und  nun  kommt  die  Melodie  in  dem  vollen 
Glänze,  den  das  Unisono  des  gesammten  Streichorchesters 
(Bässe  ausgenommen)  geben  kann,  wenn  forte  vorge- 
schrieben ist.  Ein  kleiner  Zwischensatz,  der  in  Cismoll 
einsetzt,  lässt  über  das  Cellomotiv 


gewissermassen     die 

Lichter  auf  dem  Morgenbilde  wechseln:  es  dunkelt,  es 
hellt  sich  wieder  auf,  es  herrscht  reges  Leben  am  Himmel 
und  in  den  Farben  der  sonnentrunknen  Flur.  Mit  dem 
Hom,  das  das  Pastoralthema  wieder  intonirt  (in  Fdur) 
kehrt  die  ruhige  Stimmung  des  Anfangs  zurück;  nur  ein 
wenig  reicher  fühlt  sich  das  Herz.  Die  voll  dahiaströmenden 
Contrapunkte  in  Bläsern  und  Geigen  sagen  es.  Knapp  vor 
dem  Schluss  legt  der  Componist  noch  eine  zart  muntre 
Episode  ein.    Die  neuen  Motive   der  Hörner,  die  Triller 


^     426     ^ 

der  Holzbläser  skizziren  eine  intime  Scene  aus  dem  Thier- 
leben. 

Der  zweite  Satz  illostrirt  Ases  Tod.  Die  Mutter 
Peer  Gynt*s  stirbt  einen  schönen  sanften  Tod:  mitten  im 
Aufbau  von  Luftschlössern  schläft  sie  schnell  und  ruhig 
ein.  Da«  deutet  die  Musik  die  nur  für  Streichorchester 
bestimmt  ist  wohl  an.  Der  erste  Theil  bringt  das  freund- 
lich sehnsuchtsvolle  Lied 

in  einem  crescendo  das  über  Fismoll  nach  Hmoll  zurück 
und  ins  fortissimo  führt.  £r  giebt  gewissermassen  ein  Bild 
von  dem  letzten  Glück  der  Todten,  die  in  Träumen  ihre 
schönsten  und  immer  kühneren  Wünsche  befriedigt  sah. 
Der  zweite  Theil  leitet  mit  einer  Umbildung  der  Liedweise 


in  den  Ton  der  Trauer  ein. 

Der  dritte  Satz,  «Anitra^s  Tanz*  betitelt,  bringt  uns 
nach  Marokko,  wo  Peer  Gynt  in  der  Oase,  im  Zelte  eines 
Araberhäuptlings  weilt,  dessen  Tochter  Anitra  mit  andren 
Mädchen  den  für  den  Propheten  gehaltnen  Fremdling  durch 
Tänze  und  Spiele  zu  ehren  und  zu  erheitern  sucht.  Die 
knapp  gehaltne  und  wieder  nur  für  Streichorchester  com- 
ponirte  Nummer  hat  einen  Hauptsatz  über  das  Thema 

Tempo  dl  H>«igka.      _        ^-  ^  ^ 

I  f  I  r/r  r  I  '  '  I 

das  nach  einigen  Takten  Accord  gebender  Einleitung  in 
der  ersten  Violine  zierlich  trippelnd  und  mit  bestrickend 
anmutbiger  Bewegung  einsetzt.  Die  Melodie  geht  schon 
am  Schluss  der  ersten  Periode  in  ein  verwirrendes  Figuren- 
spiel über  und  diesem  Abschnitt  folgt  der  zweite  Theil  mit 

^    f'  Plj}  l^fip/  I    f'  IT     '   Mit  diesen  Schmach- 


eo     427     t>» 

tenden  Motiven  wechseln  prickelnde  pizzicato-Stellen.  Dann 
kommt  der  Hauptsatz  wieder  aber  mit  gesteigerten  Reizen. 
Seine  Melodie  wird  zum  Kanon  zwischen  erster  Violine 
und  Bratsche.  So  giebt  der  Componist  ein  Bild  von  den 
immer  stärker  wirkenden  Künsten  der  raffinirten  Beduinen- 
tochter, an  die  ja  im  Drama  Peer  Gynt  sein  Herz  ernst- 
lich verliert  um  Hohn  und  Spott  zu  ernten. 

Der  vierte  Satz  mit  dem  Titel  ,In  der  Halle  des 
Bergkönigs*  ist  eine  Yariationenreihe  über  das  Thema: 

AU»  BUtfCl»  molto  maroaio.  JsiBB. 

LilJ'lÜjJfil 

Es  kommt  zuerst  ganz  leise  in  den  Contrabässen,  geht  von 
ihnen  an  die  Fagotte,  wechselt  in  veränderter  Tonart 
längre  Zeit  zwischen  beiden  Instrumenten ;  dann  betheiligen 
sich  die  Violinen  und  lösen  sich  mit  den  obern  Holzbläsern  ab. 
Der  Tanz  wird  lauter,  schneller  und  giebt  das  Bild  eines 
Behagens,  das  bis  zum  Fanatismus  anwächst.  Die  Varia- 
tionen entwickeln  sich  mit  einem  Minimum  von  Kunst :  es 
sind  nur  Wiederholungen.  Aber  gerade  dieses  Einerlei  er- 
höht die  Wirkung  der  Dynamik,  die  Beharrlichkeit  rückt 
wie  leibhaftig  und  beängstigend  auf  uns  los  und  schliesslich 
ist  der  Eindruck  elementar  und  beängstigend.  Grade  mit 
dieser  Art  von  Kunst  haben  die  Scandinavier  und  Slaven 
ein  frappantes  neues  Element  in  unsre  europäische  Musik 
eingeführt  und  ihren  Vorrath  an  Naturalismus  gewichtig, 
vielleicht  auch  gefahrlich  vermehrt  Grieg  kann  hier,  wie 
auch  bei  seinen  norwegischen  Tänzen  fürs  Klavier  für  sich 
das  Verdienst  in  Anspruch  nehmen  ein  interessantes,  nicht 
gewöhnliches  Thema  gewählt  zu  haben  und  mit  den  Wieder- 
holungen nicht  übers  Maass  gegangen  zu  sein.  Mit  ge- 
nialem Takt  hört  er  zur  rechten  Zeit  auf. 

Die  zweite  Suite  Grieg's  zu  Peer  Gynt  (op.  55)  bringt     Ed.  Grleg 
als  ersten  Satz  eine  Composition  die   überschrieben  ist  »^««'Gya^'^ii- 
.Der  Brautrau b**.    Peer  Gynt  hat  als  der  Tollkopf, 
der  er  ist,  als  er  das  Elternhaus  verlassen  aus  dem  ersten 
Dorf  in  das  er  kam  bei  einer  Bauernhochzeit  die  Braut 


«^     428     ^ 

geraubt  und  ins  Gebirge  entführt.  Die  Musik  zeigt  uns 
nun  das  Entsetzen,  die  Wuth  der  Hochzeitsgesellscbaft  als 
sie  bemerken  dass  Ingrid  verschwunden  ist  in  einigen 
Takten  wilden  Allegros.  Dann  rufen  sie  wohl  nach  ihr: 
aber  nur  dumpfe  Horntöue,  Laute  unempfindlicher  Natur 
kommen  zurück.  Ein  Andante  doloroso  führt  uns  darauf 
zu  der  Geraubten,  die  eine  lange  Klage  singt.  In  den 
tiefen  Saiten  der  Violinen  gespielt  haben  diese  Klage- 
melodien ein  ausserordentlich  individuelles  Gepräge,  sie 
lassen  an  ein  stolzes  Gesicht  denken  und  zugleich  sind  sie 
in  einzelnen  Wendungen  sehr  rührend. 

Der  zweite  Satz,  Arabischer  Tanz  überschrieben, 
führt  uns  noch  einmal  in  die  Scene,  zu  der  in  der  ersten 
Suite  Anitras  Tanz  gehörte.  Während  sich  aber  in  diesem 
die  Häuptlingstochter  allein  in  den  Künsten  der  Coquetterie 
erging,  haben  wir  hier  eine  ganze  Mädchenschaar  vor  uns 
und  zwar  mit  ausgeprägten  Racenzügen,  die  sich  nament- 
lich in  den  Rhythmen  der  Musik  äussern.  Der  Anfang 
des  Themas  vom  Hauptsatz  giebt  davon  mit  den  Schluss- 
noten eine  kleine  Probe: 


Allagretto  vlT»oa.  d^  188. 


^„ffir7rffrrf 


Zur  Melodie  gehört  in  diesem  Falle  nothwendig  der 
schrille  Klang  des  Piccolo  um  den  anmuthigen  Theil  des 
Bildes  auch  mit  dem  abstossenden  zu  vervollständigen.  Misch- 
charaktcr  ist  dem  ganzen  Satze  eigen :  den  weichen  Tönen 
treten  fortwährend  wilde  auf  den  Fuss.  Sehr  schön  zeichnet 
der  Mittelsatz,  den  d:is  Streichorchester  allein  spielt  (nur 
Triangel  kommt  noch  dazu)  wie  aus  dem  Kreis  der  Mädchen 
eine  Schöne  heraustritt  und  mit  Tönen  des  Gemüths,  mit 
Geberden  der  Innigkeit  den  Helden  lockt.  Diese  Sccne 
wird  auf  einen  Augenblick  durch  den  Chor  unterstützt  der 
sich  in  zierlichen  und  reizenden  Balletweisen  bewegt. 

Um  den  dritten  Satz  zu  verstehen  muss  man  das 
Ibsen'sche  Gedicht  kennen.  Die  Ueberschrift  der  Nummer: 
„Peer  Gynt's  Heimkehr'  erklärt  nicht  den  Charakter 


co     429     ^ 

der  Musik.  Heimkehr  gilt  gewöhnlich  filr  ein  freudiges 
Ereigniss;  Peer  Gynt  wird  aber  hier  schlimmer  empfangen 
als  der  verlorne  Sohn :  mit  einer  düster  erregten,  mit  einer 
tobenden  Musik.  Ibsen  lässt  seinen  Helden  als  Schiff- 
brüchigen heimkehren  und  Grieg  malt  den  Seesturm  dem 
das  Fahrzeug  an  der  heimischen  Küste  zum  Opfer  fällt. 
Der  Composition  liegt  darnach  ein  ganz  ähnliches  Pro- 
gramm zu  Grunde  wie  R.  Wagner^s  Ouvertüre  zum  ^Fliegen- 
den Holländer**.  Mit  ihm  begegnet  sich  Grieg  auch 
thematisch,  namentlich  der  Quintenfall  in  seinem  Haupt- 
motiv bildet  eine  für  Jeden  bemerkbare  Aehnlichkeit : 

Allegpoa«ltato.J=13fiu^      ^  ^ 
^l*ra   i    P  f  lI    [1    V^^  .  Das  kommt  daher,  weil 

der  Gehöreindruck  des  durch  die  Segel  und  Taue  pfeifen- 
den Sturmes  für  alle  Musiker  nahezu  derselbe  ist.  Das 
ist  ein  Klang  der  unten  ansetzt  und  springend  sich  nach 
oben  immer  mehr  zuspitzt.  Dann  grollt  und  wühlt  es  an 
einer  andren  Schiffsseite  wieder,  scheinbar  ruhiger; 


I  i_  n  I  rn  m  I  n  i 


So  spielen  die  Elemente  lange  mit  dem  armen  Fahrzeug 
ihr  grausames  Spiel.  Dann  wird  die  Lage  verschlimmert. 
Das  Wetter  heult  in  langen  Zügen,  in  bösartigem  Zischen : 

Diese  greuliche  Figur  klingt  in  allen  Registern ;  nach  den 
Flöten  durchläuft  sie  die  Coutrabässe.  Erst  dann  und 
wann  auf  eines  Viertels  Pause  absetzend,  nimmt  sie  sich 
im  weitren  Verlaufe  gar  keine  Zeit  mehr,  wüthet  ärger 
und  ärger;  schliesslich  saust  sie  in  ganzen  chromatischen 
Chören  einher.  Einige  starke  (fff)  Accorde  Takte  lang  aus- 
gehalten bedeuten  die  Katastrophe,  den  Untergang  des 
Schiffes.    Noch  eine  Zeit  lang  setzt  sich  das  Toben  fort, 


ec     430      ö- 

dann  wird  es  schwächer  und  schwächer.  Stille  tritt  ein 
und  nachdem  die  Schilderung  beendet  ist  fügt  der  Componist 
als  Dichter  eine  kurze,  aber  ergreifende  Klage  hinzu,  die 
den  Holzbläsern  gegeben  ist.  Was  Realistik  und  Naturtreue 
betrifPt,  so  wird  man  den  Satz  unter  den  neueren  musika- 
lischen Gemälden  rom  Meer  mit  den  Arbeiten  Gilson's  zu- 
sammen die  hervorragendste  Stelle  einräumen  müssen. 

Der  vierte  Satz  der  Suite  heisst  »Solvejg's  Lied*. 
Solvejg^ist  die  Jugendgeliebte  des  Landfahrers  —  als  alter, 
verkommner  Mann  trifft  er  sie  nun  wieder.  Das  Lied,  das 
sie  ihm  singt,  hat  ausgeprägt  norwegischen  Charakter  in 
den  Schlüssen  des  Mollsatzes  und  ist  sehr  ernst.  Soll  es 
doch  nach  des  Dichters  Ansicht  symbolisch  den  Tod  be- 
deuten. Mit  dem  Hauptsatz  (in  Amoll)  wechselt  ein  Neben- 
satz (Adur)  von  freundlich  anmuthigem  Charakter,  an 
Jugend  und  an  Tanz  erinnernd.  Die  Cömposition  hat  auch 
als  Lied  fUr  eine  Singstimme  mit  Klavierbegleitung  weite 
Verbreitung  gefunden. 

Die  nächste  Veröffentlichung  Grieg's  die  dieser  zweiten 
Suite  zu  Peer  Gynt  folgte,  war  wiederum  eine  Orchester- 
suite aus  Stucken  zusammengestellt,  die  ursprünglich  zu 
einer  Schauspielmusik  gehören.     Dieses  opus  56  enthält 
drei  Stücke:  Vorspiel,  Intermezzo,  Huldigungsmarsch  aus 
Ei.  Orleg     einer  Cömposition  zu  BjÖmson's  Schauspiel:  SigurdJör- 
„sigurd  Jönai- salfar.    Das  Vorspiel  und  das  Intermezzo  sind  beide 
^"*''         sehr  kurz  und  einfach.    Jenes,  das  noch  den  Nebentitel 
hat  ,Iu  der  Königshalle**  ruht  im  Hauptsatz  auf  einem  Motiv 
^^  g  Aüs^tto  stpipüea. (J : 84.) 
mH     J    Jj  J^  J   1J)T  j    §     dessen    humoristischer 

Charakter  noch  dadurch  wesentlich  verstärkt  wird,  dass 
an  seinem  Schluss  die  Bässe  wie  verlegen  und  versehentlich 
ins  Leere  nachschlagen.  Mit  dem  Eintritt  der  Violinen 
nimmt  der  Satz  aber  einen  sehr  glänzenden,  ungefähr  den 
Charakter  eines  Hoffestes  an.  Die  Mitte  der  Nummer  füllt 
ein  Dialog  zwischen  Flöte  und  Oboe,  dann  zwischen  Cla- 
rinctte  und  Fagott,  in  dem  mit  elegischen,  sinnigen  Ge- 
danken kunstvoll  gespielt  wird.    Das  Intermezzo  giebt 


Ol?     431     ©- 

Einblick  in  eine  edle  Seele  zu  kritischer  Stunde.  Es  be- 
steht aus  einem  Andante,  das  nachdenklich  über  ernste 
Motive  brütet  und  einem  düster  aufgeregten  Allegro,  in  dem 
der  Schrecken  haust.  In  veränderter  Form  kehrt  nach 
ihm  das  Andante  wieder. 

Der  Huldigungsmarsch  setzt  gleich  ungewöhnlich 
ein :  die  Trompeten  holen  fröhlich  und  munter  das  Orchester 
herbei  und  dies  fiUlt  mit  einer  Dissonanz  ein,  die  sich  natür- 
lich gleich  auflöst,  aber  doch  einen  Augenblick  das  festlich 
gestimmte  Gemüth  in  Verwirrung  bringt.  Als  Hauptthema 
seines  Marsches  giebt  Grieg  folgende  Weise 

f  »fliQf  rrrirl  piO  i  iii  i 

die  zuerst  von  einem  Quartett  von  Cellis  gebracht  und 
dann  mit  manchen  überraschenden  Wendungen  entwickelt 
wird.  Ausserordentlich  belebend  ist  der  Eintritt  des  Zwischen- 
satzes. War  die  Musik  bis  dahin  kräftig,  so  springen  jetzt 
ganz  plötzlich  die  Bässe  wie  Riesen  auf  und  führen  eine 
Weile  das  Orchester,  das  gleich  darauf  von  den  Trompeten 
und  Hörnern  in  einen  ausserordentlich  fröhlichen  und  volks- 
thümlichen  Allarm  gebracht  wird.  Die  Stelle  wirkt  wie 
der  Anblick  einer  unwillkürlich  in  Jubel  ausbrechenden 
Menge.  Und  wie  nun  das  Hauptthema  wieder  aufgenommen 
wird,  hat  Grieg  noch  eine  Ueberraschung :  Es  setzt  als 
Maestoso  mit  verlängerten  Rhythmen  ein,  ähnlich  wie 
Dvofak  zuweilen  seine  Motive  in  Yerg^össerung  bringt. 
Das  Trio  hat  bei  aller  Einfachheit  der  Melodien  durch 
die  Harmonie  viel  Tiefe,  so  dass  der  Marsch  als  Ganzes 
als  eine  der  gehaltvolbten  neueren  Arbeiten  seiner  Gattung 
angesehen  werden  muss. 

Von   den  jUngren   scandinavischen   Componisten   hat 
am   meisten  Christian    Sinding  die  Aufmerksamkeit  Chr.  Sladlag 
auf  sich  gelenkt  mit  einer  D  moll-Sinfonie  (op.  21),  die  an^^cioU-Siiifoni«. 
einigen   der   ersten   deutschen  Concerte  bereits  zur  Auf- 


fUhrang  gelangt  und  vielleicht  zu  noch  grössrer  Verbreitung 
bestimmt  ist.  Der  bisher  namentlich  durch  ein  Quintett 
für  Klavier  und  Streichinstrumente  bekannt  gewordne  Com- 
ponist  legt  mit  dieser  Sinfonie  seine  reifste  und  selb* 
ständigste  Arbeit  vor.  Der  Einfluss  Richard  Wagner's  ist 
an  und  für  sich  in  richtige  Grenzen  zurückgetreten,  wird 
aber  vielen  Hörern  ausserordentlich  stark  erscheinen  weil 
er  sich  durch  markante  Aeusserlichkeiten ,  Harmonieftili- 
rungen  namentlich,  geltend  macht.  Beethoven  wird  insbe- 
sondre mit  seiner  fünften  Sinfonie  bemerklich.  Die  nordische 
Abkunft  zeigt  die  Sinfonie  in  eigenthümlichen  Melodie- 
wenduugen,  denselben  die  auch  Svendsen  liebt,  und  im 
Taktwechsel ;  hauptsächlich  aber  in  dem  Fühlen  und  Den- 
ken des  Componisten,  das  aus  der  Musik  spricht.  Der 
Zeiger  von  Siuding's  Phantasie  und  Empfindung  ist  fast 
zu  fest  auf  Kraft  gestellt  und  ein  hübscher  Zusatz  freund- 
licher Züge  würde  der  Composition  nur  zum  Vortheil  ge- 
reichen. Der  Ideengohalt  einer  Musik  hängt  aber  wie  von 
Phantasie  und  vom  Charakter  des  Componisten  auch  von 
seiner  Methode  und  Schule  ab.  Und  in  diesen  Punkten 
theilt  Sinding  mit  vielen  Musikern  der  Gegenwart  den  Irr- 
thum,  der  die  Entwickelung  über  die  Erfindung,  die  Arbeit 
über  die  Eingebung  stellt.  Dieses  Prinzip  passte  für  die 
philosophische  und  geistreiche  Zeit  Haydn's  und  Beethoven's; 
heute  sind  gute  und  viele  Originalideen  das  Wichtigste. 
Gute  Gedanken  sind  allerdings  Himmelsgaben;  aber  auch 
Himmelsgaben  empfängt  man  nicht  ohne  Wünschen,  Wollen 
und  Bemühen  oder  wie  Hesiod  sagt:  avev  novtov  ovStr 
idamav  oi  &eou  Es  muss  jedoch  dem  Componisten  nach- 
gerühmt werden,  dass  er  in  der  Arbeit  und  in  der  Ent- 
faltung seiner  Künste  Maass  hält.  Auch  an  die  gewohnten 
Sinfonieformen  schliesst  Sinding  an;  nur  durch  harmonische 
Härten  und  verwickelte  rhythmische  Verhältnisse  erschwert  er 
es  seinen  Zuhörern  oftmals.  Den  stärksten  individuellen  Zug 
hat  seine  Musik  in  dem  dramatischen  Ton  des  Vortrags; 
namentlich  wenn  es  gilt  im  Lauf  eines  Satzes  ein  neues 
Bild  einzuführen  wird  sie  schwunghaft  und  setzt  in  un- 
geduldige Spannung.    Auch  in  der  Anlage  der  Sinfonie 


oe     433     ^ 

zeigt  sieb  ein  ernster  und  bedeutender  künstleriscber  Cba- 
rakter.  Die  Sätze  steben  sicbtliob  und  aueb  äusserlicb  er- 
kennbar im  Zusammenbang.  Die  Grundidee  des  Ganzen 
ist  ungefäbr  in  einem  Tonbild  zu  zeigen  wie  eine  gesunde, 
selbst bewusste  Natur  den  Lebenskampf  fUbrt  und  gewinnt. 

Der  erste  Satz  schildert  Kampf.  Sein  Hauptthema, 
dessen  Vordersatz  folgendermassen  lautet: 

Aüegro  moänwJto, 

■^JU  Jji  j^i 

spriebt  reckenhaften  Trotz  aus.  Am  stärksten  äussert  er 
sich  am  Ende,  das  auf  einem  der  von  Sinding  sehr,  nament- 
lich in  der  Gestalt  des  verminderten  Sextaccords,  geliebten 
Trugschlüsse  erfolgt.  In  der  Gruppe  die  um  diesen  Haupt- 
gedanken gebildet  ist,  fällt  namentlich  die  Stelle  auf  in 
der  das  Thema  p  (auf  dem  Undecimenaccord  auf  c)  ein- 
setzt. Sie  wirft  einen  Schatten  ins  Bild,  der  vor  dem 
letzten  gewaltigen  Anlauf  sehr  wohlthut.  Ihm  folgt  ein 
Abschnitt  der  Sammlung.  Die  Streichinstrumente  bringen 
im  grossen  Unisono  das  Zwischenthema 


^^ 


I  j'  3  J  J.  I  lJ.  j    das    darauf   hinweist. 


dass  noch  ein  grosser  Fond  von  Kraft  im  Innren  des  Helden 
dieser  Dichtung  ruht.  Der  Schluss  giebt  in  der  ohne  viel 
Umstände  erzwungnen  Modulation  eine  Probe  seiner  Kühn- 
heit. Die  Holzbläser  nehmen  den  Gedanken  in  zartrem 
Ton  auf,  gewissermassen  vertrauensvoll  und  still  beglückt. 
Und  nun  folgt  das  zweite  Hauptthema  des  Satzes.    Sein 

Anfang    ij  j^  Jjl  |J     kl  jj  ^  genügt  um  zu  sehen 

was  es  ausdrückt:  das  Gefühl  und  die  Gewissheit  glück- 
licher Zukunft.    Die  Stimmung  wird  längre   Zeit  festge 

Kretstchmar,  Führer,  I.  28 


^     434     ^ 

halten,  sie  schäumt,  als  die  Geigen  sich  des  Themas  be- 
mächtigt haben,  brausend  auf.  Wie  im  Schrecken  über 
das  Uebermass  bricht  die  Darstellung  mitten  im  höchsten 
Jubel  (auf  h-d-fgis)  ab.  In  den  Blasern  hört  man  war- 
nende Stimmen  und  es  beginnt  ein  Besinnen  und  die  Durch- 
führung. An  ihrem  Anfang  bringt  Sinding  seine  beiden 
Hauptthemen  zugleich,  das  erste  in  den  Violinen,  das 
zweite  in  den  Bläsern;  beide  leise.  Dann  gewinnt  aber 
die  Kampfesstimmung,  die  im  ersten  Hauptthema  liegt 
die  Oberhand  und  äussert  sich  in  einer  Reihe  äusserst 
energischer  Bildungen ;  schliesslich  arbeitet  sie  fast  nur  noch 
mit  Rhythmus.  Eine  Stelle  an  der  alle  Instrumente  auf 
dem  Ton  f  pochen  und  verschnaufen,  bezeichnet  die  Um- 
kehr. Das  zweite  Thema  lässt  sich  noch  einmal  begütigend 
vernehmen,  hinter  ihm  her  das  Motiv  des  Zwischensatzes 
wie  es  in  der  Themengruppe  die  Bläser  brachten 

J  J  J   I  J.3  J  J«  I  J*  y  dann  tritt  die  sogenannte  Reprise, 

die  Wiederholung  des  ersten  Theils  des  Satzes  ein.  In 
ihr  zeichnet  sich  der  Eintritt  des  zweiten  Themas,  das 
jetzt  in  Ddur  steht,  merkbar  aus.  Sinding  schickt  ihm 
vier  Takte  Einleitung  voraus,  in  der  erst  die  Bläser,  dann 
die  Geigen  gewLssermassen  um  Ruhe  bitten.  Athemlos 
erwartet,  klingt  es  geheimnissvoll  dahin.  Mit  dieser  Wen- 
dung ist  der  Endeindruck  des  Satzes  bestimmt:  er  spricht 
Siegesgewissheit  aus.  Sie  zu  betonen  führt  der  Componist 
in  einem  Schlussanhang  noch  einen  neuen  Gedanken  ein, 


^ 


aus  in  einer  jener  mächtigen  Steigerungen  ergeht,  die  wir 
bei  Sinding  häufig  und  bewundernd  trelfen.  Bezeichnender 
Weise  schliesst  der  Satz  mit  den  Motiven  des  Zwischen- 
satzes der  dem  zweiten  Thema  vorhergeht.  Das  ist  der 
Hinweis  auf  innre  Kraft,  der  stolze  und  ruhige  Ausdruck 
des  Selbstvertrauens. 

Der  zweite  Satz  (Andante,  •/4,  Gmoll)  ist  der  Ruhe, 


co     435     -0» 


dem  Frieden,  dem  behaglichen  Träumen  gewidmet.  Er 
hat  eine  zutrauliche  Weise  als  erstes  Thema,  die  folgender- 

^  ,  Andante.  _ 

masaen  anfängt     |[l    l|    I    p    \  \J  q^\  f^Jj}  \  .1^ 

und  in  der  Fortsetzung  etwas  redselig,  dringlich  aber  auch 
warm  wird.  Schon  bald  wird  sie  durch  einen  (am  Ende) 
weiterblickenden  Gedanken  abgelöst,  der  zuerst  im  Hörn 


auftritt : 


und  vom  Chor 


der  Instrumente  mit  unverkennbarem  Wohlgefallen  be- 
grüsst  wird.  Aber  auch  er  füllt  das  Herz  in  der  Feier- 
stunde noch  nicht  aus,  sondern  das  ist  dem  Thema  vor- 
behalten das  nach  kurzer  Wiederholung  der  Eingangsweise 
durch  hohe  Klänge  in  Geigen  und  Flöten  angekündigt 
von  der  Clarinette  gebracht  wird: 


pp  dolce 


I  ii'iN.  ;7iT|.  I 


Es  ist  als  wäre  mit  dieser  Melodie  der  Ton  der  in  den 
vorhergehenden  beiden  Themen  gesucht  wurde,  wirklich 
gefunden.  Es  ist  aber  diese  Melodie  eine  Volksweise  und 
indem  er  sie  in  den  Mittelpunkt  der  der  Ruhe,  der  Er- 
holung gewidmeten  Scene  seines  Heldengedichts  stellt,  will 
der  Componist  etwas  Aehnliches  sagen  wie  das  was  Scliiller 
mit  den  Worten  ausspricht  «Ans  Vaterland,  ans  theure 
Bchliess'  Dich  an**.  Die  Darstellung  hält  lange  Zeit  an 
diesem  Gedanken  fest.  Sie  giebt  ihm  im  Laufe  der  Ent- 
Wickelung  einen  glühenden  Ausdruck,  einmal  auch  einen 
seltsamen.  Es  handelt  sich  um  die  Stelle  wo,  nach  einer 
langen  Reihe  von  Sequenzen  über  das  von  den  ersten  zwei 
Takten  gebildete  Glied,  der  verminderte  Septimenaccord 
(cis-e-g-b)  dem  Ausbruch  der  Freude  und  Begeisterung  ein 
plötzliches  Ende  macht.  Da  blasen  zunächst  die  beiden 
Fagotte  sehr  gefühlvoll  allein.  Und  dann  folgt  ein  Ab- 
schnitt in  dem  nur  von  der  Pauke  und  den  Contrabässen 

28* 


ce     436     ^ 

begleitet  die  Tuba  und  zwar  pp  das  Thema  vorträgt.  Die 
Steile  hat  etwas  mystisch  Groteskes.  Der  Compontst  bleibt 
aber  nicht  blos  bei  der  Betrachtung  und  Bewunderung 
von  Yolksthum  und  Heimath:  er  steigert  ihren  Ausdruck. 
Es  tritt  zu  der  elegischen  Weise  die  die  Clarinette  brachte 
ein  andres  nordisches  Motiv  stürmisch  fröhlicher  Natur: 


springt  allein  übermüthig  daher 

und  wird  zur  Begleitung  jener  Weise  verwendet.  Auf 
Grund  dieses  Materials  bildet  der  Schluss  des  Tonbilds 
eine  Scene  der  Freude.  Ganz  am  Ende  wird  es  aber 
plötzlich  stille  und  wir  hören  nochmals,  wie  verschleiert, 
jenen  übergreifenden,  in  die  Zukunft,  in  die  Feme  hinaus- 
weisenden Gedanken,  den  das  Hom  zuerst  zwischen  die 
beiden  Hauptthemen  des  Satzes  schob. 

Das  erste  Thema  des  dritten  Satzes  (vivace,  'Z^, 
F  dur)  zeigt  den  jungen  Recken,  dessen  Schicksal  die  Com- 
position  schildert,  nach  der  Idylle  des  vorhergehenden 
Satzes  erfrischt,  erheitert,  ermuthigt  und  ermuntert.  Nach 
acht  Takten  Accordeinleitung  setzt  es  so  ein: 

VlVÄce. 

jn  I  .rJlirj'jjijijjmT  i  i^i  i|  \ 

y         V  ^  •♦^-»      -.,^    — CTesc. 


-,  f    rn^f  I  '      J>J^.  Namentlich  die  letzten  beiden  Takte 

mit  den  punktirten  Rhythmen  äussern  ein  übermüthiges 
Kraftgefiihl  und  sie  sind  es  die  der  Componist  in  den  Aus- 
fuhrungen des  Themas  vor  Allem  benutzt.  Bald  stehen 
wir  vor  wohlbekannten  Klängen:  vor  dem  ersten  Haupt- 
thema des  ersten  Satzes.  Diese  Reminiscenz  bedeutet: 
, wieder  Kampf*.  Aber  es  handelt  sich  nicht  so  um  die 
Noth  des  Kampfes  als  um  die  Lust  und  die  Freude  daran. 
Die  innerlich  zufriedne,  beglückte  Stimmung  zeigen  die 
Themen  des   folgenden  Seitensatzes:  das  von  den  Bässen 


«<?     437     ^ 


eingeführte:      ^Ij  J.  rt  f    I  f    -1  If  Pf   1 1^    I     das    die 


Homer  mit    A  j«    K  J     1    r"1    1      i    1 — i — '■   beantworten 


und  die  erst  von  den  Holzbläsern  etwas  ungeschickt 
und  eigensinnig  probirte,  bald  von  den  Hörnern  in  Ordnung 
gebrachte  Weise: 

^nJiJJiJijUjij^iUJiJjjijJy 

Mit  letztrer  entwirft  Sinding  eine  längre  Reihe  kleiner 
Bildchen :  vom  Sonntag  und  züchtigen  ländlichen  Freuden 
die  einen ,  von  dem  ausgelassnen  Treiben  und  der  lauten 
Lust  der  männlichen  Jugend  die  andren.  Dann  wird  der 
Hauptsatz  noch  einmal  vorübergefuhrt.  Die  Composition 
hat  also  die  einfache  Anlage,  die  wir  schon  vom  Haydn'- 
schen  Menuett  her  kennen;  nur  sind  die  Formen  etwas 
vergrössert.  Auch  das  nach  der  Wiederholung  des  Haupt- 
satzes übliche  Trio  kommt  an  der  erwarteten  Stelle:  Sin- 
ding giebt  ihm  eine  derb  launige  Volksmelodie: 

■•  Vit  moderato.  ^_     » 


jr 

die  sich  besser  lesen  würde,  wenn  sie  im  •/4Takt  notirt 
wäre.  Nach  einer  Weile,  durch  Wiederholungen  ausge- 
füllt, erfährt  sie  eine  Fortsetzung  in  folgender  von  den 
Trompeten  eingeführten  Melodie: 

•f''i  '1'  iiiHfr'Tii  IM  gi i|  I 'i n 
'n iif  gi i^ii  III ^ 'ii  'i'i'i 'i'i 


mit  der  sie  sich  nun  in  den  Platz  zu  theilen  hat.  In  der 
Ausführung  dieser  Motive  ergeht  sich  der  Componist  mit 
breitem  Behagen  wie  denn  alle  die  Vertreter  jener  neu  in 


*o     438     ^ 


die  Kunstmusik  hereingekommnen  Völker  nichts  lieber 
wiedergeben  als  die  Scenen  heimischen  Volkslebens.  Ist 
es  doch  mit  den  Dichtem  und  Malern  der  Scandinavier 
ebenso!  Nach  dem  Trio  wird  der  ganze  erste  Theil  wie 
gebräuchlich  wiederholt.  In  dieser  Wiederholung  hat  Sin- 
ding  eine  Episode  mit  erst  zögernder,  dann  in  verblüffen- 
den Läufen  hinstUrmender  Musik  eingelegt  um  den  Eintritt 
des  zweiten  Seitenthemas  glänzend  zu  gestalten.  Es  er- 
scheint dadurch  als  die  Krone  des  Ganzen;  mit  ihm  geht 
auch  der  Satz  schnell  zu  Ende,  zuletzt  noch  Über  eine  un- 
gewöhnlich drollige  Fagottstelle  geführt.  Mit  dieser  Be- 
tonung der  nordischen  Tauzweise  konmit  der  dritte  Satz 
in  nähere  geistige  Berührung  mit  dem  vorhergehenden. 
Auch  hier  wird  ein  Bekenntuiss  zu  Volk  und  Vaterland 
ausgesprochen. 

Der  letzte  Satz  (Maestoso,  ^j^,  Dmoll)   beginnt  mit 
dem  Thema  in  den  Bässen 


^  j  \     p  \f     etc.  —  die  Violinen  sämmt- 


lieh  immer  d  dazu  als  liegende  Stimme  —  sehr  ernst,  feier- 
lich und  auch  fromm  gestimmt,  wie  Jemandem  zu  Muthe 
ist,  der  vor  einer  wichtigen  Entscheidung  steht.  Nachdem 
das  Thema  —  vor  der  Wiederholung  ist  ein  kurzer  Ab- 
schnitt eingelegt,  der  gespannte,  verlegne  Erwartung  aus- 
spricht —  das  zweite  Mal  verklungen  ist,  künden  heftige 
Geigenfiguren  etwas  Besondres  an:  Es  lässt  sich  der  Ton 
des  Wunderbaren,  Ausserordentlichen  vernehmen  —  leise- 
stes Triolenrauschen  auf  einem  Orgelpunkt  —  und  darüber 
setzt  wieder  eine  Volksweise  eine  Art  Wanderlied  ein: 


Es  erregt  grosse  Freude  und  wirkt  gewaltig  belebend  wie 
gleich  darauf  der  Chor  bekundet: 


to     439     o- 


■El-  r    J7J  fff  fj  I  r    i  tf  IP   ^  i  I  I     etc.   Doch  wird  erst 

noch  einmal  in  eine  gehaltene,  ruhige,  dankbare  Stimmung 
eingelenkt,  der  das  zweite  Thema  gewidmet  ist: 


_  etc. 

Die  bald  darauf  folgende  Durchführung  wirft  sogar  einen 
Rückblick  wie  aus  der  Erinnerung,  aus  der  Ferne  auf 
zurückliegende  trübe  Stunden.  Mit  stechenden  Dissonanzen 
setzt  das  erste  Thema  ein.     Der  Rhythmus  vom  ersten 

Takt  des  zweiten  Themas  j .  J^  J   und  ein  Motiv  aus  dem 

Endtheil  dieses  Themas    ft^  ^  f    C/  I  f    '-    übernehmen 

es  aber  aufzuhellen,  sie  ziehen  vorübergehend  auch  das 
Wanderlied  mit  in  ihre  Kreise  und  bringen  es  bald  zu 
einer  glänzenden  Wendung  nach  Ddur.  Dieser  Durtheil 
beginnt  mit  einem  Hymnus,  der  an  das  zweite  Thema  des 
Satzes  anknüpft  und  dann  zum  ersten  Thema  übergeht, 
das  nun  die  dunkle  Farbe  ablegt.  In  der  sogenannten 
Reprise  wird  besonders  lange  beim  zweiten  Thema  ver- 
weilt, das  eine  der  interessantesten  Bildungen  in  der  Sin- 
fonie bedeutet.  Melodisch  sehr  einfach  erhält  es  seinen 
zwischen  Glück  und  Leid  schillernden  interessanten  Cha- 
rakter durch  Harmonie  und  Contrapunkte.  Hier  nun  im 
Schlusstheil  seines  Finale  zieht  es  der  Componist  ganz  in 
freudige  Sphären,  ihm  nach  am  letzten  Ende  das  Haupt- 
thema das  aus  dem  Munde  der  sämmtlichen  Blechinstru- 
mente Heimkehr  in  Jubel  und  Triumph  meldet. 

Auch  der  Engländer  F.  C  o  w  e  n  hat  vor  einigen  Jahren     F.  Cowea 
eine  „Scandinavische  Sinfonie**   veröflfentlicht,  welche  von  8c»ndm«Tiiche 
der  Mehrzahl  der  deutschen  Concertinstitute   mit  Beifall       Sin^oni». 
aufgeführt  worden  ist.     Diese  Sinfonie  gehört  jedenfalls 
unter  die  bedeutendsten  Instrumentalcompositionen,  welche 


u?     440     ^ 

seit  Jahrzehnten  jenseits  des  Canals  entstanden  sind.   Wäre 
der  erste  Satz,  dessen  melancholisches  Hauptthema 


schliesslich  zum  Quälgeist  wird,  etwas  reicher  an  Ideen, 
und  der  letzte  ein  total  anderer,  so  würde  diese  Sinfonie 
unter  die  hervorragendsten  neueren  Nummern  ihrer  Gattung 
einzureihen  sein.  Die  einfachen  Ideen  des  Andante  mit 
dem  Titel  «Sommernacht  am  Fjord*,  in  welchen  ein  (im 
Nehensaal  zu  versteckendes)  Homquartett  die  Träumerei 
der  Violinen  mit  derben  Tanzweisen  unterbricht,  die  ganz 
wie  aus  der  Feme  herüberklingen,  haben  die  Poesie  und 
den  Effekt  fUr  sich.  Ebenso  ist  das  Scherzo  in  anderer 
Art  wirksam  und  frappant:  ein  freundliches  Gespenster- 
stück, in  welchem  der  flüchtige,  schattenhafte  Charakter* 
mit  einer  genialen  Consequenz  durchgeführt  wird.  Die 
Geigen  hinter  Sordinen  mit  einem  eiligen  Motive  huschend 

Allegro  molto.  

Lfej,  der  Mittelsatz,  ein 


Nebel  aus  zitternden  Rhythmen  und  mysteriösen  Modu- 
lationen, in  den  die  Bläser  nichts  als  Accordnoten  hinein- 
tropfen: das  Ganze  getrieben  vom  hellen  Klang  des  Tri- 
angel. Es  ist  seit  der  „Fee  Mab*  von  Berlioz  in  dieser 
eigenen  Art  von  Phantastik  vielleicht  kein  so  runder  und 
gelungener  Satz  componirt  worden! 

Gade's  Weckruf  fand  aber  auch  weit  über  die  scan- 
dinavischen  Länder  und  Kreise  hinaus  seinen  Wiederhall. 
Verwunderlicher  Weise  ist  das,  was  aus  Ungarns  grossem 
originellen  Musikschatz  für  die  grossen  Formen  der  Or- 
chestercomposition fruchtbar  gemacht  wurde  von  wenig 
Belang.  Wir  registriren  hier  einfach  die  Ungarischen 
Suiten  von  H.  Hoff  mann,  von  Raff  und  verweisen  auf 
die  Rhapsodien  Liszt*s,  auf  die  Versuche  von  J.  Brahms 
und  andren  in  Oestreich  lebenden  Componisten,  hie  und 
da  in  grÖssren  auf  der  Sonatenform  ruhenden  Compositionen 
einen  Satz  auf  ungarisches  Musikmaterial  zu  stützen.    Ge- 


c<?     441     o» 

legentlich  sind  ja  transleithanische  Melodien  bekanntlich 
schon  in  der  Zeit  der  Classiker  verwendet  worden.  • 

Auch  Franzosen^  Engländer  und  Italiener  sind  infolge 
der  dorch  Gade  entfachten  Bewegung  nach  langer  Pause 
an  die  Mitarbeit  in  der  hohem  Instrumentalcomposition 
vom  frischen  herangetreten.  Hier  handelt  es  sich  jedoch 
nur  um  Werke  die  aus  nationalem  Musikbom  schöpfen, 
in  den  Themen  entweder  durchaus  oder  theilweise  Volks- 
lieder oder  Volkstänze  bringen  und  so  der  sinfonischen 
Kunst  durch  neue  und  originelle  Ideen  bisher  ungegangne 
Wege  anweisen,  ihr  Richtungen  erschliessen,  die  die  weitrc 
Entwickelung  bedeutend  bereichem  und  beleben. 

Von  diesem  Gesichtspunkt  aus  kommen  neben  den  Sin- 
fonien und  Suiten  der  Skandinavier  nur  die  Beiträge  in 
Betracht,  welche  auf  diesem  Gebiet  in  neuerer  Zeit  von 
den  Slaven,  insbesondre  von  Böhmen  und  Russen  geliefert 
worden  sind. 

Das  Böhmerland  hat  vom  achtzehnten  Jahrhundert  ab 
Dank  in  erster  Linie  seinem  Adel,  der  das  vom  kaiser- 
lichen Hofe  gegebne  Beispiel  der  Musikliebe  und  Musik- 
pflege mit  Eifer,  Opferfreudigkeit  und  Geschick  aufnahm 
'die  Tonkunst  aller  Staaten  mit  so  zahlreichen  und  vor- 
zuglichen ausübenden  Kräften  versorgt,  dass  man  —  es 
war  wohl  Bumey  der  das  that  —  von  Böhmen  als  dem 
Conservatorium  Europas  sprechen  konnte.  Merkwürdiger 
Weise  steht  aber  der  Antheil  den  das  schöne  Land  an 
der  Composition  nahm,  quantitativ  und  qualitativ  hinter 
der  Bedeutung  sehr  zurück  die  es  als  Bezugsquelle  von  In- 
stmmentalisten  aller  Art,  von  den  einfachen  hausirenden 
Spielbanden  über  die  Kapellmitglieder  hinauf  bis  zu  den 
grossen  Virtuosen  gehabt  hat.  Insonderheit  kommt  die 
böhmische  Ck^mposition  in  der  Sinfonie  und  den  ihr  ver- 
wandten Formen  nur  wenig  in  Betracht.  Mit  F.  B  e  n  d  a , 
L.  Kozeluch,  Mysliweczeck,  Reicha,  V.  Mascheck 
sind  die  Namen  erschöpft,  die  auf  diesem  Gebiete  vor 
hundert  Jahren  ausserhalb  ihrer  Heimath  bekannt  ge- 
worden sind;  zu  ihnen  kommt  noch  der  bereits  erwähnte 
D.    Zelencka    als    Meister    in    der    Orchestersuite    und 


c<?     442     'o^ 


Fr.  Dussek  als  Concertcomponist.  In  einem  längren  Ab- 
stand- folgt  dann  W.  J.  Tomaschek  mit  einer  £sdiir- 
Sinfonie,  die  in  ganz  Deutschland  fast  ein  Jahrzehnt  lang 
gespielt  und  mit  grosser  Achtung  beurtheilt  wurde.  Sie 
hat  im  dritten  Satze,  der  für  jene  Zeit  noch  ausserge- 
wohnlich  als  Scherzo  betitelt  ist  eine  durch  einen  ausge- 
sprochnen  Hang  zum  Trübsinn  ungewöhnliche  Nummer 
und  zeigt  einige  tiefe  Regungen  in  der  Einleitung  des  ersten 
Satzes.  Tm  Allgemeinen  waltet  aber  in  ihr  nur  ein  kleiner 
Geist,  der  von  fremden  Tischen,  insbesondre  von  den  Mo- 
zart'schen  Opern  genährt  wird.  Die  Arbeit  zeigt  Vorliebe 
TomMchek  für  die  kleinen  Künste  der  Kontrapunktik,  wie  denn  Toma- 
Eidur-Sinfonia.  gchek  als  eine  Grösse  in  der  strengen  Form  und  auf  Grund 
seiner  Kirchencompositionen,  namentlich  des  Requiems,  mit 
Recht,  betrachtet  wurde.*)  Das  schliesst  jedoch  ein  grosses 
auf  UngeUbtheit  beruhendes  Ungeschick  im  Orchesterstil 
nicht  aus.  Fast  unablässig  schnörkelt  die  erste  Violine  in 
schematischen  Figuren  dahin,  während  die  andren  Instru- 
mente in  träger  Ruhe  so  lange  daliegen  bis  sie  zu  einer 
Nachahmungsparade  befohlen  werden.  Was  uns  jedoch 
am  meisten  an  dieser  Sinfonie  interet^sirt,  ist  ihr  Verhältniss 
zu  böhmischer  Nationalmusik.  Tomaschek  hat  Lieder 
aus  der  Königinhofer  Handschrift  componirt,  lässt  also 
Liebe  für  die  Stammeskunst  seiner  Heimath  erwarten. 
Doch  bietet  seine  Sinfonie  hierin  nichts  als  eine  Ver- 
muthung,  nämlich  die:  dass  das  erste  Thema  des  Finale 
von  alter  böhmischer  Volksmusik  stammen  könnte.  Wir 
theilen  es  hier  mit: 

Vivace.  r». 

ij^Jni.rJMj)ijj  J  j  J  Ji 


etOo 


und  überlassen  es  Berufenen  den  Sachverhalt  festzustellen. 
Gesetzt:  es  ist  slavisch,  so  würde  doch  in  der  Tomaschek*- 


^)  Rudolph  Freiherr  Prochazka:  Arpeggien  1897.     S.  60. 


ee     443     ^ 


sehen  Sinfonie  das  nationale  Element  einen  immer  noch 
weit  geringeren  Antheil  haben,  als  es  sich  in  der  Suite 
Zelencka's  ergab. 

Auf  Tomaschek  folgt  als  der  nächste  böhmische  Sin- 
foniecomponist  von  Bedeutung  J oh.  Wenzel  Kalliwoda. 
Er  ist  bereits  in  einer  andren  Gruppe  behandelt  worden 
und  kann  unter  die  Vertreter  einer  spezifisch  böhmischen 
Musik  nicht  gerechnet  werden,  da  er  nur  nebenbei  Volks- 
melodien anklingen  lässt. 

Anders  verhält  es  sich  mit  einem  Schüler  Tomaschek^s 
mit  Job.  Friedrich  Kittl,  der  vom  Anfang  der  vier-  '•  F.  KIttl 
ziger  Jahre  ab  auch  mit  mehreren  Sinfonien  hervortrat,  Jagdsinfonie. 
unter  denen  die  , Jagdsinfonie*  besonders  verbreitet  war. 
Es  ist  ein  Beitrag  zur  Programmmusik ;  die  vier  Sätze  heissen : 
1)  , Aufruf  und  Beginn  der  Jagd*,  2)  „Jagdruhe*  (An- 
dante), 3)  „Gelage*  (Scherzo),  4)  „Beschluss  der  Jagd*. 
Als  Jagdmusik  weicht  die  Sinfonie  von  allem  früheren 
Brauch,  wie  er  in  der  Zeit  von  Stamitz,  Haydn  und  M^hul 
und  weiter  zurück  sich  feststellen  lässt  dadurch  ab,  dass 
sie  nicht  in  Ddur  sondern  in  Esdur  steht.  Auch  das  ist 
ungewöhnlich,  dass  sie  nicht  blosHömersignale  und  Fanfaren, 
sondern  im  ersten  Satz  ein  ganzes  Jagdlied  giebt.  Es  er- 
öifnet  die  Sinfonie  in  der  Form  eines  Hornquartetts  und 
hat  folgende  Melodie 

.   „  I    AUegTO.agltato. 


j.j  J'i-l-j  j'ij  ^j  j^ij  ;j  j^ij.  j  JiiJ  :^J  pi 


U   /J  j  jj  JJf  J   JilJ  J^J  .hlJ  J^J  II^J  iilH 


die  ihren  Taktgruppen  nach  wohl  von  slavischer  Abkunft 
sein  könnte.  Jedenfalls  ist  die  ganze  Sinfonie  mit  — 
gleichviel  ob  originaler  oder  nachgebildeter  —  Volksmusik 
durchtränkt  wie  keine  andere  seit  Haydn.   Ueberall  klingen 


ec     444     ■©* 

uns  die  kurz  angebundnen,  heitren  und  frischen  Weisen 
entgegen,  die  der  böhmischen  Musik  eigen  sind.  Auf  ihnen 
beruht  der  lebendige,  temperamentvolle  Charakter  der  Sin- 
fonie, die  mit  Ausnahme  einiger  äusserlichen  Uebergänge 
von  Gruppe  zu  Gruppe  im  ersten  Satz  sehr  sicher  und 
auch  eigen  gestaltet  ist.  Namentlich  im  Kleinverkehr  inner- 
halb der  Perioden  bewegt  sich  der  Componbt  flott,  rasch 
und  reich  in  seinen  Wendungen  und  zeigt  ein  ungewöhn- 
liches Talent.  Mendelssohn  nahm  die  Widmung  der  Sin- 
fonie an,  Schumann  hob  sie  unter  den  Neuerscheinungen 
des  Winters  1840  nachdrücklich  hervor*),  R.Wagner  schätzte 
den  Componisten  hoch  genug  um  ihm  ein  eigenes  Opern- 
gedieht  («Die  Franzosen  vor  Nizza*)  zu  überlassen.  Um 
Kittel's  Sinfonie  aber  in  ihrer  nationalen  Bedeutung,  in 
ihrer  Ideenrichtung  voll  zu  würdigen,  war,  als  sie  entstand, 
die  Zeit  noch  nicht  gekommen.  Weder  bei  Deutschen 
noch  bei  den  Böhmen  selbst.  Denn  diese  hatten  sich 
bisher,  wenn  sie  Sinfonien  schrieben,  um  ihre  Volksmusik 
doch  nur  sehr  wenig  gekümmert  und  auch  Klttl  wird  den 
Weg  seiner  .Jagdsinfonie*  mehr  zufällig  und  instinctiv 
eingeschlagen  haben.  Erst  als  nach  den  achtund vierziger 
Wirren  die  nationalczechischen  Bestrebungen  auf  socialem, 
politischem  und  literarischem  Gebiet  mit  verstärktem 
Eifer  aufgenommen  wurden,  begannen  allmählich  auch 
die  böhmischen  Tonsetzer  über  die  Eigenthümlichkeit 
ihrer  Volksmusik  und  über  ihren  Zusammenhang  mit  dem 
W^esen  und  der  Begabung  des  Stammes  klar  zu  werden. 
Heute  ist  in  dem  Neuhussitenthum ,  das  sich  in  Böhmen 
gesammelt  und  zum  Sturm  bereit  gestellt  hat,  die  musi- 
kalische Gruppe  eine  der  von  Glück,  natürlicher  Kraft 
und  Talent  begünstigsten,  einfiussreichsten,  wohl  auch  der 
Ueberhebung  und  der  Verblendung  am  stärksten  zuge- 
neigten. Ihr  Vater  war  Fr.  Smetana,  ein  Künstler, 
dessen  seelischer  Reichthum,  dessen  klare,  einfache  Ge- 
staltungskraft nationaler  Stützen  und  Hülfen  gar  nicht  be- 


^)  Neue  Zeitschrift  für  Musik.     1840,  S.  139. 


e<?      445      '^ 

dürft  hätten.  Sein  £  moll-Quartett  bezeugt  das.  Smctana 
hat  in  seiner  Jugend  eine  Sinfonie  nach  Beethoven'schem 
und  mehrere  sinfonische  Dichtungen  nach  Liszt^s  Muster 
geschrieben,  dann  aber  seine  volle  Kraft  auf  die  Com- 
position  von  zahlreichen  Opern  gelenkt,  die  alle  keinen 
Zweifel  darüber  lassen,  dass  die  heimische  Volksmusik  mit 
dem  Herzen  dieses  Tonsetzers  verwachsen  war.  Erst  als 
sich  der  Weg  ins  Weite  für  diese  Bühnenwerke  vorläufig 
als  verhauen  erwiesen  hatte,  als  Taubheit  Smetana  zwang  f.  SMeimna 
dem  Taktstock  für  inmier  zu  entsagen ,  wendete  er  sich  „mä  vimi". 
wieder  der  Instrumentalcomposition  zu.  «Um  sich  die 
Mittel  zur  Consultirung  berühmter  ausländischer  Specialisten 
zu  verschaffen*  —  sagt  Wellek*)  —  gab  Smetana  ein  Con- 
cert  am  4.  April  1875,  in  dessen  Programm  zwei  «Sinfonien* : 
—  ,Vysehrad*  und  ,Ultava*  hervorragten.  Das  sind  die  ersten 
beiden  Stücke  eines  Cjklus  von  sechs  sinfonischen  Dich- 
tungen, die  dem  für  die  Schönheit  und  den  Charakter  der 
heimischen  Volksweisen  empfänglichen,  schlicht  gestalten- 
den Künstler  und  dem  für  die  Vergangenheit,  für  die  Ge- 
schichte und  die  Natur  seines  Geburtslands  begeisterten 
Patrioten  gleich  viel  Ehre  machen.  Denn  es  war  Smetana 
bei  seinem  Cjklus  nicht  blos  um  eine  erfreuende,  heimisch 
anklingende,  Phantasie  und  Gemüth  bewegende  Compo- 
sition  zu  thun,  sondern  es  sollte  ein  musikalisches  Epos, 
eine  monumentale  Verherrlichung  von  Böhmens  grössteu 
Helden  und  Zeiten,  ein  Kranz  schwärmerischer  und  inniger 
Gesänge  zum  Preis  von  Land  und  Leuten  werden.  Von 
diesem  Gesichtspunkt  aus  wählte  er  den  Gesammttitel  Mk 
Vlast  d.  i.  Mein  Vaterland  und  den  Inhalt  der  einzelnen 
Stücke.  Der  Form  nach  sind  diese  Stücke  einsätzige  Com- 
positionen.  Smetana  hat  sie  als  symphonische  Dichtungen 
bezeichnet  obwohl  sie  sich  mit  der  Natur  dieser  von  Liszt 
eingeführten  Gattung  nur  theilweise  begegnen.  Sie  sind 
viel  einfacher  angelegt.  Sie  hier  in  den  Verband  von 
Sinfonie  und  Suite  mit  einzureihen  veranlasst  und  berech- 


^)  Bronislaw  Wellek:  Friedrieb  Smetana.     1895. 


cG*     446     ^ 

tigt  der  Umstand  dass  sie  ein  zusammenhängendes,  durch 
gemeinsame  Themen  verbundnes  Ganzes  bilden.  Die  ersten 
vier  sind  1874  und  1875  entstanden,  die  beiden  letzten  erst 
drei  und  vier  Jahre  später  hinzugefugt,  alle  zusammen 
erst  nach  der  Wiener  Theater-  und  Musikausstellung  weiter 
bekannt  geworden.  Wohl  mit  Recht  ist  dieser  Cyklus 
als  Smetana's  Hauptwerk  bezeichnet  worden.  Man  darf 
bei  diesem  Urtheil  die  vaterländischen  Absichten  des  Com- 
ponisten  ganz  bei  Seite  lassen  und  sich  auf  den  musika- 
lischen Werth  beschränken.  Da  bleiben  allerdings,  wie 
überall,  die  von  Polka,  Marsch  und  heimischen  Tanzweisen 
abgeleiteten  Abschnitte  die  anheimelndsten,  vom  stärksten, 
mächtigsten  innem  Strom  getragnen.  Aber  Smetana's  Ta- 
lent wird  hier  doch  auch  in  seinem  weiten  Umfang  offenbar 
und  zeigt  sich  in  dem  weiten  Bereich  von  der  Schilderung 
des  heimlichen  Naturlebens,  phantastisch  luftigen  Elfen- 
treibens bis  zum  Ausdruck  der  feierlichsten  Stimmungen 
und  grosser  Welt  bewegender  Ideen  sicher  und  ergiebig. 
Freilich  bleibt  darum  zwischen  ihm  und  Mozart  immer 
noch  derselbe  Abstand  wie  zwischen  Dvorak  und  Beethoven. 
Der  neuste  Biograph  des  böhmischen  Tonsetzers  hätte  sich 
dieses  Vergleichs  besser  enthalten,  schon  deshalb  weil 
unsre  Zeit  weder  eines  Haydn,  noch  eines  Mozart^s,  noch 
eines  Beethoven 's  fähig  ist. 

Bei  der  Composition  seiner  Tongemälde  hat  sich  Sme- 
tana  in  die  Rolle  eines  Rhapsoden  alter  Zeit  hineingedacht 
der  seineu  Zuhörern  von  grossen  geschichtlichen  Begeben- 
heiten erzählt  und  sie  dazwischen  hinein  vor  liebliche 
Idyllen  fuhrt.  Zu  der  ersten  Classe  gehören  I  Vysehrad, 
III  Sarka,  V  Tabor  und  VI  Blanik;  zur  zweiten:  II  Ultlava 
(Moldau)  und  IV  Z  deskych  luh&v  a  häj&v  d.  i.  Aus  Böhmens 
Hain  und  Flur. 

Zu  dem  Cyklus  giebt  es  kurze  Programme  von  V.  Zelen^, 

die  deshalb  beachtet  werden  müssen,  weil  sie  (nach  Wellek) 

Smetana  selbst  beglaubigt  hat.    Damach  ist  der  Inhalt 

F.  8m6tMia    des  ersten   Stückes:   ,Vysehrad*   folgender:  Der  Dichter 

Vysebrad.     hört  beim  Anblick  des  Vysehrader  Felsens  im  Geiste  die 

Klänge  der  Leier  des  sagenhaften  Sängers  Lumir.    Vor 


c<?     447     f>» 

seinen  Blicken  erhebt  sich  der  Vysehrad  im  Glänze  seiner 
glorreichen  Vergangenheit  wieder.  Auf  dieser  Hochburg, 
wo  der  Thron  der  Herzöge  und  Könige  aus  dem  Geschlechte 
der  Pfemysllden  stand,  versanunelte  sich  die  Ritter- 
schaar  zu  Ding-  und  Heerfahrt.  Die  Feste  dröhnte  in  ihren 
Gründen  vom  Tritt  der  einziehenden  Krieger  und  ihrem 
Triumphgesang.  Bald  sieht  der  Dichter  aber  den  Unter- 
gang der  alten  Glorie.  Wilde  Kämpfe  wüthen  und  die 
herrlichen  Hallen  des  Königssitzes  zerfallen  in  Schutt  und 
Trümmer.  Auch  diese  gewaltigen  Stürme  verstummen,  der 
Vysehrad  steht  öde  und  verlassen  da,  ein  Bild  vergangnen 
Ruhms.  Aus  seinen  Ruinen  hallt  klagend  das  Echo  des 
längst  verstummten  Saitenspiels  Lumir's  nach. 

Nach  dieser  Angabe  haben  wir  in  der  Compositiou 
drei  Haupttheile  zu  erwarten,  die  nach  einander  den  Glanz 
der  Burg,  den  Kampf  der  um  sie  geführt  wird,  und  ihr  Ende, 
ihren  Verfall  schildern.  Sie  finden  wir  auch  in  der  Musik 
und  bemerken  dabei  sofort,  dass  Smetana  seine  Schilderung 
durch  Einfügung  begleitender  und  bereichernder  Züge  sehr 
wirksam  zu  beleben  weiss.  Zu  jenen  drei  Theilen  tritt 
noch  anhangsweise  ein  vierter,  in  dem  aus  den  Augen  des 
heutigen  Geschlechts  noch  einmal  ein  Rückblick  auf  die 
vorgetragnen  Begebenheiten  geworfen  wird.  Dabei  tritt 
naturgemäss  die  Zeit  des  Glanzes  wieder  hervor  und  die 
Perioden  des  Unglücks  bleiben  im  Dunklen.  Die  etwas 
künstliche  Vermittelung  der  Schilderungen  durch  den  alt- 
böhmischen Orpheus,  den  Sänger  Lumir,  hat  Smetana 
wahrscheinlich  nur  der  Harfeneffekte  wegen  ins  Programm 
genonunen.  Bei  den  spätem  Stücken  des  Cyclus  fällt  sie 
weg.  Hier  in  Vysehrad  giebt  sie  Gelegenheit  zu  einem 
romantischen  stimmungsvollen  Eingang:  Von  Harfen  vor- 
getragen hören  wir  den  wichtigsten  Melodiekern  des  Satzes 

:^^^^l  j  i   I    I  J  j  W'  I    J  -    den   Smetana 

in  verschiedener  Weise  zu  Perioden  weiterbildet.  Die 
erste  Harfe  rauscht  in  die  Pausen  des  schrittweise  lang- 


»,  fc   •   ^  *" 


^     448     ^ 

sam  aufsteigenden,  sich  aufbauenden  Themas  Arpeggten 
hinein.  Bei  Harfenklängen  denkt  Jedermann  gern  an  den 
König  David,  an  den  blinden  Homer  und  an  die  von 
Klopstock  geschilderten  Barden.  Sie  führen  die  Phantasie 
unwillkürlich  in  alte  Zeiten  und  der  Balladengeist  des 
Themas  thut  das  Weitere  sie  da  festzuhalten.  Nachdem 
die  Melodie,  die  von  vornherein  schon  elegisch  gestimmt 
ist  und  auf  verschwundne  Herrlichkeiten  hinweist,  zwei- 
mal durch  die  Bläser  gezogen  ist,  spielt  die  Musik  ganz 
kurz  auf  Ritterthum  an  mit 

^^  1'   J^^l  J  J.    J     ^  J^'^  c^^'  ^^"^  ^®  Trompete  noch 

ein  ausdrückliches  Heersignal  beisteuert  und  fügt  diesem 
neuen  aus  der  latema  magica  gcsehnen  Bildchen  gleich 
ein  weit  res,  sofort  breiter  ausgeführtes  Motiv  zu,  das  in 
seiner  Zusammensetzung  aus  einfachen  Dreiklangsnoten 


fcHt  j  ,r^  J  -1  ^    einen  gewissen  Hinweis  auf  Wasser- 


musik bietet.  Es  ist  wohl  kaum  zu  bezweifeln  dass 
Smetana  mit  diesem  Motiv  zunächst  auf  die  Wellen  der 
Moldau  hat  hindeuten  wollen,  die  noch  heute  den  Prager 
Stadttheil  bespülen,  der  an  der  Stelle  entstanden  ist,  wo 
ehemals  die  stolze  böhmische  Fürstenburg  lag.  Doch  hat 
sich  der  Begriff  des  Stroms,  den  diese  Töne  zuerst  trugen, 
unwillkürlich  zu  dem  des  Landes  und  der  Landeskraft 
erweitert.  So  kommt  es  dass  Smetana  wenn  die  Melodie  des 
Vysehrad  im  begeisterten  Ton  erklingt,  in  der  Regel  den 
grössten  Schwung  der  Stimmung  in  Bildungen  überleitet, 
die  aus  diesem  Wassermotiv  hergenommen  sind.  Bald 
kommen  wir  an  eine  solche  Stelle.  Nachdem  das  bisher 
beschriebne  Material  aufgestellt  ist  bringen  die  Streich- 
instrumente den  Gesang  vom  Vysehrad  in  Bdur.  Am 
Schluss  dieser  Periode  fängt  es  an  zu  fluthen  und  nun 
nimmt  das  volle  Orchester  im  glänzendsten  Klang v  die 
Melodie  in  der  Haupttonart  durch.  Die  Melodie  klingt 
jetzt  vollständig  folgendermassen : 


c<?     449     "^ 


vp.     f. 

.^P  £fifff  ffr^frr  n  irTi^Tn  i 

Trompeten  und  Homer  schmettern  darein  —  das  im  vierten 
Takt  zuerst  neu  eintretende  durch  das  Sechzehntelpaar  be- 
merkbare Motiv  drängt  sich  hervor  und  theilt  sich  mit 
dem  Wassermotiv  in  eine  Fortsetzung,  die  bis  zu  Lauten 
höchsten,  trunknen  Jubels  führt.  Als  er  abbricht,  hören 
Wir  still  wie  mahnend  die  Klänge  vom  Vysehrad  und  von 
der  Moldau,  die  eine  lange  Strecke  inmier  leiser  mit  ein* 
ander  wechseln.  Und  als  die  Wellen  kaum  noch  sich  be- 
wegen —  da  setzt  der  zweite  Theil  ein :  die  Schilderung  der 
bösen  Zeit,  der  Zeit  der  Kriege  und  Kämpfe. 

Das  Mittel  um  diesen  Kampf  um  Vysehrad  zu  schildern 
nimmt  Smetana  aus  dem  ersten  Theil  seines  Gemäldes, 
indem  er  das  Burgmotiv  in  der  geistreichen  Weise  Liszt's 

folgendermassen  umbildet: 
AUe^o  viTo. 


etc. 


Diese  verzerrten  Rhythmen  genügen  schon  allein  den  häss- 
lichen  Streit  zu  malen;  den  wachsenden  Kampfeseifer  be- 
zeichnen lange  Figuren,  in  denen  das  Streichorchester  sich 
verworren  windet  um  einstimmig,  athemlos  und  wuchtig 
nach  der  Höhe  zu  stürzen.  Dann  beginnt  ein  contrapunk- 
tisches  Spiel,  das  den  Fortgang  des  Kampfes  sehr  gut  ver- 
anschaulicht. Das  aus  dem  Burgmotiv  abgeleitete  — 
soeben  angegebne  —  Streitmotiv  wird  in  Engführungen 
vorUbergefuhrt  an  denen  alle  Stimmen  so  theilnehmen, 
dass  wir  Viertel  auf  Viertel  die  schneidigen  Accente  hören, 
80  als  ob  Streich  auf  Streich  herniedersauste.  Die  steigende 
Kampfeshitze  malen  Streicherfiguren  wie 


29 


-  y 


KretzBchmftr,  Führer,  I. 


«^     450     ^ 

wieder  die  chromatisch  verwormen  Unisono-Gänge  da- 
zwischen, die  sich  dem  Streitmotiv  gleich  heim  ersten  Er- 
scheinen anschlössen: 


cresc. 
An   einem   Höhepunkt   dieser   Schilderung    erscheint  das 

Burgmotiv  in  folgender  Form :    it»"l.  ^.  LT  f  |  f    1   |fe 

Das  sind  die  frohlockenden  Yertheidiger :  der  Angriff 
scheint  abgeschlagen.  Da  stürmen  —  und  wie  der  Anfang 
des  Themas  zu  schliessen  erlaubt  —  Tom  Moldauthale  her 
frische  Schaaren  an: 

ifi'i"fnjf"iii  i-  ri"°jrhjriii  Ml  I 

jsr 

Wie  das  langsamere  Tempo  zeigt  wird  der  Sturm  jetzt 
besonnener,    kräftiger,    wuchtiger    geführt.     Die    Folge 

glarinetten. 

hören  wir  in:     f '!■  f  »  Q^il    '  f^  \Q\'   V 

Das  ist  das  Burgmotiv  in  die  Form  einer  leisen  Klage, 
einer  Warnung  gebracht.  Es  ist  die  Stimme  des  ahnen- 
den, erschreckten  Hausgeistes.  Sie  spricht  zuweilen  sehr 
dringlich,  aus  offner  Gefahr  heraus;  aber  in  der  Haupt- 
sache so  freundlich  bittend  dass  man  aus  ihr  das  Lied  des 
Herolds,  der  den  Frieden  verkündet,  hören  könnte  wenn 
nicht  die  kriegerischen  Signale  der  Trompete  uns  über- 
zeugten, dass  der  Kampf  fortgeht.  So  treten  denn  auch 
die  neuen  Schaaren  die  sich  unter  dem  Moldanmotiv  ge- 
sammelt haben,  bald  zum  letzten  Sturm  an.  Kurz  darauf 
erscheint  das  Yertheidigermotiv  wie  in  grösster  Noth,  in 
kurzen  Wiederholungen  die  an  Hülfe  und  Angstgeschrei 
gemahnen.  Daran  knüpft  sich  ein  Zurückgreifen  auf  den 
Anfang  des  AUegros !  Die  Motive  ies  Streits  und  der  Ver- 


c©     451     'S" 

wirrung  tauchen  in  potenzirter  Bedeutung  auf  und  im 
selbigen  Augenblick  föllt  die  Entscheidung.  Der  Klage- 
gesang den  wir  vorhin  nur  wie  eine  leise,  vereinzelte 
Stimme  hörten  kommt  (beim  Piu  Mosso  Cdur)  fff  vom 
ganzen  Orchester.  Wir  sind  damit  in  den  dritten  Theil 
des  Stücks  eingetreten.  Er  wird  zu  einer  leidenschaftlichen, 
heissen  Siegeshjmne.  Aber  an  ihr  Ende  reihen  sich  die 
Sturmmotive  noch  einmal;  sie  haben  jetzt  den  Charakter 
von  Verwünschungen,  klingen  äusserst  heftig  und  stechend 
und  fuhren  zu  einer  in  breiten  Noten  und  auf  Tremolos 
aufbauenden  ELlage.  Das  bedeutet  den  Fall  von  Vysehrad 
und  damit  schliesst  der  8.  Theil.  Mit  Piu  lento  setzt  der 
Anhang  ein.  Er  zeigt  in  leisen  Tonfarben  wie  ,in  der 
Feme  längst  vergangner  Zeiten*'  ims  wesentlich  verkürzt 
die  Bilder,  die  eben  lebendig  an  uns  vorübergezogen  sind. 
Zunächst  knüpft  er  an  den  Klagehymnus  an,  dessen 
Motive  er  zwischen  Dur  und  Moll  wechseln  und  schillern 
lässt,  dann  führt  er  das  Burgmotiv  in  der  ernst  elegischen 
Fassung  vor,  in  der  es  die  Composition  eröffnete.  Sehr 
schön  fügt  nun  der  Componist  diesen  ruhigen  Betrach- 
tungen noch  einige  Zeilen  aus  glühenden  Herzen  hinzu. 
Die  Musik  wallt  auf  in  langen  Triolengängen  und  nimmt 
noch  einmal  in  Schwung  und  Begeisterung  die  Burgmelodie 
auf.  So  &eut  sich  das  neue  Geschlecht  der  herrlichen 
Vergangenheit  seines  Volkes  und  hofft.  Drauf  wird  es 
still.  Leise  rauschen  wieder  die  Wellen  der  Moldau,  wie 
im  Traum  klingt  nochmals  Rittermusik  und  Burgmotiv 
an  und  die  Harfe  breitet  einen  Schleier  über  alle  die  Scenen 
aus  Vergangenheit  und  Gegenwart. 

Wie  diese  Untersuchung  ergiebt,  ist  die  ganze  Com- 
position nicht  blos  sehr  klar  sondern  auch  poetisch  reich 
entworfen  und  durchgeführt.  In  ihrem  musikalischen 
Wesen  spiegelt  sich  neben  dem  Einfluss  des  Volkslieds, 
den  der  Klagesang  am  deutlichsten  zeigt,  am  stärksten  der 
von  Beethoven  wieder. 

Das  zweite  Stück  des  Cyclus  .Ultava**  betitelt,  ist   f.  Smetana 
vor  allen  den  andren  am  frühesten  und  weitesten  bekannt       Uitav». 
geworden  obwohl  es  viel  weniger  Geist  enthält  als  z.  B. 

29* 


c<?     452     ^ 

^Vvsehrad*.    Es    verdankt    diesen  Vorzug   seinem  heiter 
romantischen   Charakter  und  der   leichten  verständlichen 
Form  in  der  es  seinen  Inhalt  entrollt.    Dieser  besteht  aus 
einer  Reihe  von  Bildern,  die  einfach  aneinander  gereiht 
sind;  nur  einzelne  sind  durch  ein  gemeinsames  musikalisches 
Motiv  verbunden,  eine  munter  dahin  gleitende  Sechzehntel- 
figur, die  das  Spiel  der  Wellen  in  ähnlicher  Weise  wie 
das  schon  seit  Jahrhunderten  geschehen   ist,  veranschau- 
lichen will.     Denn  der  Gegenstand  des  Programms  dieser 
zweiten  sinfonischen  Dichtung  die  ,ültava*  ist  die  Moldau, 
der  Hauptstrom  des  böhmischen  Landes.     ,Zwei  Quellen 
—  sagt  die  von  der  Yerlagshandlung  veröflfentlichte  Inhalts- 
angabe —  entspringen   im   Schatten   des   Böhmerwaldes; 
die  eine  warm  und  sprudelnd,   die  andre  kühl  und  rubig. 
Die  lustig  in  dem  Gestein  dahin  rauschenden  Wellen  ver- 
einigen sich  und  erglänzen  in  den  Strahlen  der  Morgen- 
sonne.    Der  schnell  dahin   eilende  Waldbach   wird  zum 
Flusse  ültava,  welcher  immer  weiter  durch  Böhmens  Gaue 
dabinfliessend  zu  einem  gewaltigen  Strom   anwächst;    er 
fliesst  durch  dichte   Waldungen,    in  denen  das  fröhliche 
Treiben   einer  Jagd   immer  näher   hörbar  wird   und   das 
Waldhorn  erschallt,   er  fliesst  durch  wiesenreiche  Triften 
und  Niederungen,  wo  unter  lustigen  Klängen  ein  Hochzeits- 
fest mit  Gesang  und  Tanz  gefeiert  wird.    In  der  Nacbt 
belustigen  sich  die  Wald-  und  Wassernymphen  beim  Mond- 
scheine auf  den  glänzenden  Wellen,  in  denen  sich  die  vielen 
Burgfe8t<*n  und  Schlösser  als  Zeugen  vergangner  Herrlich- 
keit des  Ritterthums  und  des  geschwundnen  Kriegsruhms 
vergangner    Zeiten    abspiegeln.     In    den    Johannisstrom- 
schnellen  braust  der  Strom  durch  die  Katarakte  sich  durch- 
windend   und  bahnt  sich   mit  Gewalt,    mit  schäumenden 
Wellen  den   Weg  durch    die  Felsenspalte  in   das  breite 
Flussbett,   in  welchem  er  mit  majestätischer  Ruhe  gegen 
Prag  weiter  dahinfliesst,  bewillkommt  vom  altehrwürfigen 
Vysehrad,    worauf  er   in   weiter   Ferne   den   Augen   des 
Dichters  entschwindet.* 

In  diesem  Programm  ist  zu  dem  was  der  Componist 
wirklich   bietet,  Einiges  hinzugedichtet.    Smetana  hat  in 


^     453     "ö* 

der  Partitur  selbst  über  seine  Absichten  knappe  Auskunft 
gegeben:  sobald  ein  neues  Tonbildchen  eintritt,  wird  es 
durch  eine  Ueberschrift  vorgestellt.  Der  erste  Abschnitt 
heisst  darnach  ,der  erste  Strom*  damit  ist  gemeint:  der 
Anfang  des  Stromes.  Folgendes  Thema 
Allegro  coounodo  noo  a^lt'&to. 


I  J^  II    liegt  ihm  zu  Grunde.    Mit 


spärlichen  und  kurzen  Tönen  der  Harfe  und  der  Violine 
begleitet  tragen  es  zuerst  die  beiden  Flöten  vor,  denen 
sich  von  dem  Trugschluss  auf  Cdur  ab  die  Clarinetten 
gesellen.  Ob  diese  beiden  Instrumente  wirklich  auf  Zwei- 
heit  der  Moldauquellen,  die  in  dem  angeführten  Programm 
betont  wird,  Bezug  haben  sollen,  kann  bezweifelt  werden. 
Die  Tonfarben  der  beiden  Holzbläser  scheiden  sich  doch 
nicht  wie  warm  und  kalt;  ausserdem  hat  der  Componist 
ersichtlich  an  viel  mehr  kleine  Wässerchen  gedacht  die 
zum  Bach  und  zum  Flüsschen  zusammenlaufen.  Es  rauscht 
in  vier  Bläserstimmen,  die  Bratsche  murmelt  ihren  langen 
Triller  dazu,  es  mehrt  sich  unermesslich  als  das  Streich- 
orchester die  Wellenmotive  mit  aufnimmt.  Die  Wasser- 
poesie Smetana's  hat  nicht  den  träumerisch  ruhigen  Cha- 
rakter der  uns  an  M.  v.  Schwind's  Melusinenbilder  fesselt. 
Sie  nähert  sich  dem  musikalischen  Stil  von  Mendelssohn^s 
Hebridenouvertüre ,  unterscheidet  sich  aber  von  ihr  durch 
die  viel  muntrere  Natur  der  Motive.  Sie  stellen  die  junge 
Moldau  als  ein  frisches  Gebirgskind  dar,  das  es  eilig  hat. 
Der  kleine  Fluss  gleitet  allmählich  etwas  gleichmässiger 
dahin  und  dieser  Abschnitt  seiner  Entwickelung  wird  von 
einer  Melodie  dargestellt,  die,  wenn  sie  nicht  Volkslied 
wäre,  zur  Hälfte  von  Mendelssohn  stammen  könnte: 


P    PT   pT^r    r    PI  r    II  .    Holzbläser  führen  diese  Mol- 


^     Abi     ^ 

daamelodie  mit  den  ersten  Violioen  ein,  in  den  andren 
Geigen  rauschen  die  Wellenmotive  stärker  und  mit  kräf- 
tigerem Anlauf.  In  den  Hörnern  klingt  es  frühlings- 
lustig  darein.  Mächtiger  wird  der  Schwung  dieses  Ge- 
sanges als  er  nach  Cdur  tritt:  er  schwillt  zum  ff  an  und 
findet  —  als  träte  er  in  die  volle  Sonne  und  in  das  blühende, 
reiche  Land  hinaus  —  einen  mächtigen,  mit  seiner  Schönheit 
ergreifenden  und  doch  einfachen,  im  volksthümlichen  Stil 
bleibenden  Abschluss  in  Edur.  Merkwürdig  wie  dieses 
Dur  einschlägt,  obwohl  Smetana  das  gis  nur  streift  und  zum 
g  zurückkehrt.  Dem  nächsten  Abschnitt  hat  Smetana  die 
Aufschrift  ,  Waldjagd  *  gegeben.  Dass  er  am  Strom  weiter 
spielt,  hören  wir  aus  den  Geigen,  in  denen  die  Wasser- 
motive fortgeführt  werden.  Die  Bläser  aber,  natürlich  die 
Homer  voran,  entwickeln  eine  neue  Musik  aus  Fanfaren. 
Das  neue  Bild  bringt  in  die  Composition  ein  kräftiges 
Leben,  das  zu  der  vorhergegangnen  Wasserstimmung  an 
sich  schon  eine  Steigerung  bildet,  aber  durch  die  £nt- 
wickelung  der  Jagdthemen,  die  auif  folgendes  Motiv 

jltl  jl ^^^^T j^^j^T^^   zurückgehen,    noch  viel 

mächtigor  wirkt.  Denn  Smetana  fUhrt  sie  in  den  scharfen 
Wendungen  der  Modulation  von  Periode  zu  Periode,  (von 
C  nach  O,  nach  Fj  nach  K),  die  uns  Allen  aus  dem  ersten 
Satz  von  Becthoven^s  Pastorale  in  Erinnerung  sind.  Es 
ist  das  wieder  eine  Stelle  die  den  böhmbchen  Componisten 
in  Beethoven  tief  eingedrungen  und  von  seinem  innren 
Wesen  gofcirdert  und  geleitet  zeigt.  Die  Jagdscene  ver- 
klingt auf  einem  langen  Eduraccord  wie  in  weiter  Feme 
und  nun  kommt  «die  Bauernhochzeit*,  die  vielleicht  unter 
den  kleinen  Bildern  aus  denen  ,Ultava*  besteht,  am  meisten 
bestrickt.   Diese  Musik  deren  Grundstoff  auf  den  vier  Takten 


^ii^^^^^Ä 


U  LS     tj  '-^ 


c<?     455     ^ 

ruht,  könnte  unmittelbar  aus  einer  der  Opern  Smetana^s 
■genommen  sein.  Es  ist  eine  polkaartige  Tanzweise,  ein 
Stück  Volksmusik,  wie  es  in  seiner  naiven  Anmuth  und 
mit  dem  kleinen  Beisatz  von  Derbheit  bei  den  Böhmen 
allein  vorkommt.  Liebenswürdigere  Kunst  als  sie  in  dieser 
kleinen  Dorfscene  vorliegt  giebt  es  nicht;  gern  trägt  man 
80  ein  Stückchen  fUr  afie  Fälle  mit  sich  durchs  Leben. 
Auch  dieser  Satz  verklingt  ganz  leise;  wieder  schiebt  der 
Componist  eine  kleine  Leiste  ein  und  dahinter  zieht  er  das 
nächste  Bild  auf  mit  der  Ueberschrift :  «Mondschein, 
Nymphenreigen*.  Es  ist  mit  der  Wasserscene,  die  die 
Composition  einleitet  nahe  verwandt,  wie  es  denn  auch 
am  Schluss  in  die  Moldaumelodie  ausläuft,  die  die  zweite 
Hälfte  jenes  Abschnitts  bildet.  Bis  dahin  entwickelt  sich 
die  Musik  auf  Grund  eines  Naturmotivs 

das  bald  in  folgender  be- 


8.n. 
stimmteren  thematischen  Form 

^bll>ii  /7T5  iii^  l^f^pj^     von    den    Flöten 

durchgeführt  wird.  Die  Clarinetten  begleiten  in  sanften 
Triolen,  die  Violinen  hauchen  einen  breiten  Gesang  in  die 
zarte  Farbenstudie  hinein,  auch  die  Harfe  macht  sich  mit 
glänzenden  Klangtropfen  bemerklich.  Soviel  das  Mond- 
licht auch  wechselt:  immer  bleibt  das  Spiel  unverändert 
zierlich,  die  Bewegung  der  Nymphen  fein  bis  zum  Uner- 
kennbaren. Die  Dynamik  des  ganzen  Abschnitts  hält  sich 
im  pp ;  nur  an  einer  Stelle,  wo  die  Musik  nach  H  dur  tritt 
kommt  ein  crescendo,  das  decent  nach  einem  p  und  in  die 
Wassermusik  des  ersten  Abschnitts  von  ,Ultava*  zurück- 
führt. Schon  aus  dieser  Wendung  lässt  sich  vermuthen, 
dass  der  Composition  die  Rondoform  zu  Grunde  liegt. 
Das  Moldaulied  ist  ihr  Hauptsatz,  die  andren  Ideen  haben 
die  Bedeutung   von   Episoden,   Zwischensätzen.     An   den 


^     456     ^ 

Abschluss  des  Lieds  reiht  sich  ein  neuer  Abschnitt,  den 
Smetana  «St.  Johann- Stromschnellen''  überschrieben  hat» 
Die  Gewalt  des  Wassers,  das  Toben,  Wüthen  des  Elements 
ist  auf  Grund  folgender  Motive 

und 


veranschaulicht,    die    von 


den  Geigen  bis  zu  den  Cellis  durch  das  Streichorchester 
unaufhörlich  erklingen.  Ruht  die  eine  Stimme  auf  einer 
Achtelpause,  rauscht's  in  einer  andren.  Die  Contrabässe 
spielen  mit  immer  gleichem  Eifer  wieder  und  wieder  die 


wuchtige  Figur    J?'lB)|Jji^j:^^  I  f^p  f^H^^.    Sie 


ist  aus  Motiven  der  Moldaumelodie  gebildet,  die  auch 
während  der  ganzen  wilden,  realistisch  aufregenden  Scene 
in  leibhaftigen  Bruchstücken  in  den  Bläsern  anklingt. 
Auch  in  andren  kurzen  Motiven  und  sprechenden  Klängen 
äussert  sich  Hülfs-  und  Angstgeschrei  und  verzweifelte  Ver- 
legenheit. Endlich  (nach  einem  fff  des  vollen  Orchesters) 
ist  die  böse  Stelle  überwunden.  Ein  decrescendo  und  ein 
crescendo  der  Geigen  —  und  nach  wenigen  Takten  sind 
wir  wieder  beim  Hauptsatz  des  Rondos,  bei  der  Moldau- 
melodie die  im  glänzenden  E  dur  und  mit  der  Ueberschrift : 
,Der  breiteste  Strom*  einsetzt  und  drängend  wie  zum  Aus- 
druck freudigster  Erregung  variirt  wird.  Ihr  folgt  als  der 
letzte  Abschnitt,  als  Schluss  der  Composition  ein  in 
Edur  gehaltner,  zu  zwei  Dritteln  auf  dem  Accord  der 
Tonica  liegender  Satz,  der  das  Vysehradmotiv  in  breiten 
Rhythmen  zum  Thema  nimmt  und  in  der  Art  der 
Weber'schen  Jubelouvertüre  umspielt.  Die  Moldau  fliesst 
ja  an  Prag  und  an  der  alten  Fürstenburg  vorbei. 

Wenn  die  dritte  Nummer  des  Cyclus  ,Sarka*  wenig 
bekannt  geworden  ist,  ja  es  noch  nicht  einmal  zu  einer 


US'     457     t» 

gedruckten  Partitur  gebracht  hat,  so  liegt  der  Grund  in 
der  Composition.  Sie  ist  wohl  dramatisch  geplant,  aber 
sie  bleibt  zu  vorwiegend  hart  und  grausam  und  was  die 
Hauptsache:  in  der  musikalischen  Erfindung  ist  sie  mit 
Ausnahme  von  zwei  Stellen  nur  massig  gut  und  ohne  die 
Reize  der  Volksthümlichkeit.  Das  Programm  —  vielleicht 
aufgedrungen  —  scheint  Smetana  nicht  erwärmt  zu  haben.  F.  Smetana 
Sarka,  nach  deren  Namen  auch  ein  Thal  im  Norden  von  S*rka. 
Prag  benannt  ist,  war  eine  der  Anführerinnen  in  dem 
langen  Krieg,  den  die  böhmischen  Jungfrauen  unter  dem 
Oberbefehl  der  von  Karl  Egon  Ebert  besungnen  Wlasta 
gegen  die  Männer  des  Landes  führten.  Der  Ritter  Ctirad 
findet  sie  im  Walde  an  einen  Baum  gebunden  und  löst, 
die  List  nicht  merkend,  mitleidig  der  Todfeindin  die 
Fesseln,  führt  sie  in  sein  Lager  und  feiert  mit  den  Ge- 
nossen den  Liebesraub.  Als  aber  die  Ritterschaar  trunken 
im  Schlaf  gefallen  ist,  ruft  Sarka  die  Amazonen  herbei 
und  Ctirad  wird  mit  den  Seinen  niedergemacht. 

Der  erste  Abschnitt  der  sinfonischen  Dichtung  schil- 
dert Krieg  und  Kämpfe  auf  Grund  des  Themas: 

Alle^o  con  fQoco. 


eto. 

sehr  energisch,  an  einer  Stelle  dramatisch  aufregend.  Es 
ist  wo  den  Fluss  der  wilden  Triolengänge  plötzlich  die 
stockenden  Rhythmen 

V       ^     if      ^ 

brechen.  Deuten  sie  auf  einen  ungeheuren  Entschluss, 
auf  das  Wagniss  zu  dem  Sarka  bestimmt  wird  ?  Noch  eine 
andre  Stelle  fällt  durch  ihre  Weichheit  aus  dem  Ton  dieser 
Amazonenmusik : 


fC'     458     ^ 

Soll  in  ihr  des  Weibes  eigentliches  Wesen  die  Amazonen- 
maske durchbrechen  ?  Der  zweite  Abschnitt  ist  eine  Marsch- 
musik die   auf  das  folgende   liebenswürdige  Thema   ge- 

.  Pitt  Tnodtrato.       ^ 

•'•'"*"*■•  f'ji  Uli  'u'j^J,(jiUt- 

Mit  ihm  schildert  Smetana  die  Ritter  als  gutmüthige,  sorg- 
lose Leute;  etwas  fester  treten  sie  in  den  Bläsermotiven 
auf,  welche  mit  dieser  Geigenstelle  zusammengehen; 

inrtJMff-l^'    I^iese  Rittermusik,  die  den 

ersten  von  den  musikalisch  glücklicheren  Abschnitten  in 
,Sarka*  bildet,  erhält  plötzlich  durch  eine  klagende  Melodie 
der  Klarinette  einen  Gegensatz.  Wir  haben  uns  darin  die 
Stimme  der  an  den  Baum  hängenden  Sarka  zu  denken. 
Endlich  wird  sie  von  den  Rittern  entdeckt.  Der  Marsch 
pocht  viermal  ff  und  mit  Nonenaccorden  auf  dem  Rhyth- 
mus  J,  3  J.     Dann  folgt  ein  Dialog  zwischen  Clarinette 

(Sarka)  und  Cello  (Ctirad)  in  beweglichen  Recitativen  und 
ihm  der  dritte  Abschnitt.  Er  ist  ein  A  dursatz  über  das  Thema 
^Moderato  ma  coi^calore.     ^  -^^ 

'jl¥nj;Tr    tir\      \   (JJ    iH    '      gebUdet, 

den  wir  als  Liebesscene  zu  denken  haben  und  der  am 
Schluss  grosse  GefUhlswärme  entwickelt.  Das  Gelage  der 
Ritter  löst  ihn  ab.  Diese  Scene,  die  von  Hörnern,  Trom- 
peten und  Posaunen  ziemlich  tumultuarisch  eingeleitet  und 
in  ihrem  Charakter  bezeichnet  wird,  ruht  musikalisch 
wesentlich  auf  rhythmischer  Wirkung  und  erinnert  hierin, 
sowie  in  der  Gestaltung  ihres  Grundmotivs  sehr  lebhaft 
an  eine  der  besten  Scenen  in  Smetana's  ,Kuss*.  Hier  ist 
die  Figur 

Moderato. 


etc.  die   mit 


e<?     459     t>- 

der  Entschiedenheit,  die  die  böhmische  Volksmusik  aus- 
zeichnet, aufpocht  und  aufschlägt.  Der  eindringliche 
Charakter  des  Motivs  an  sich  stellt  diesen  Abschnitt  von 
Sarka  unter  die  eindringlicheren  und  musikalisch  werth- 
volleren.  In  der  Ausführung  bietet  er  nichts  Bemerkens- 
werthes.  Ein  diminuendo  und  ein  pp  veranschaulichen 
wie  die  Ritter  müde  werden  und  schlafen.  Da  klingt  erst 
laut  dann  leise  ein  Hornruf :  die  Geigen  malen  mit  tremo- 
lirenden  und  dissonirenden  Accorden  Erregung.  Wir  sind 
in  den  Schlussabschnitt  eingetreten.  Die  Amazonenmusik 
aus  dem  Anfang  der  Composition  kehrt  wieder,  zunächst 
allerdings  nur  leise  und  zögernd  wie  aus  der  Seele  der 
schwankend  gewordnen  Sarka  heraus;  dann  aber  wilder 
und  wilder,  zuletzt  wie  ein  Siegesrausch.  Als  es  zu  Ende 
geht  versuchen  sich  die  Gestalten  der  Ritter  noch  einmal 
in  recitativartigen  Bassstellen  zu  erheben.  Aber  gnaden- 
los fegt  der  wilde  Sturm  über  sie  dahin. 

Das    vierte    Stück    des    Cyclus    »Aus  Böhmens    F.  SMetwiÄ 
HainundFlur*(Z  Sesk^ch  luhfiv  a  häjÄv)  nähert  sich  ^^  Böhment 
im  Charakter  etwas  der  Dichtung  über  die  Moldau.    Es  ist  ^^  "^""^  ^^'"' 
eine  Naturschilderung,  ein  musikalischer  Spatziergang  durch, 
das  gesegnete  Land  an  einem  schönen  Sommertage.    Die 
Composition,  die  als  frei  variirtes  Rondo  angelegt  ist,  zeigt 
im  Allgemeinen,  und  im  Besondren  in  der  Umbildung  und 
Ausnutzung  der  leitenden  Motive  grosse  Kunst.    Am  glück- 
lichsten ist  sie  in  den  Theilen  wo  ausgesprochnermassen 
Volksmusik  angestimmt  wird. 

üeber  den  Inhalt  der  ersten  Abschnitte  dieser  sin- 
fonischen Dichtung  hat  Smetana  selbst  sich  dem  oben- 
genannten Zelen^  gegenüber  geäussert.^)  Damach  soll  der 
Eingang  den  mächtigen  Eindruck  darstellen  der  den 
Wandrer  beim  Eintritt  in  die  Landschaft  erfasst.  Ohne 
diese  Erklärung  würde  man  die  Musik  dieses  Eingangs 
kaum  im  Sinne  des  Componisten  verstehen.  Sie  be- 
ginnt mit: 


»)  Wellek  a.  a.  O.     8.  CO. 


^     460     ^ 


Molto  iDoderato.  J=  f>3 


JTg 


.      B  - 


^P 


etc.  wie  die  Umdrehungen  eines  grossen 


Es   . 


Mühlrads  von  dem  das  Wasser  schallend  herabrieselt. 
Sämmtliche  Streichinstrumente,  die  Contrabässe  einge- 
schlossen, sind  in  dieser  Sechzehntelbewegung  begriffen, 
ebenso  der  ganze  Chor  der  Holzbläser,  die  Homer,  Posaunen 
und  Trompeten  geben  Glanz  und  Strahlen  drein.  Gedacht 
hat  der  Componist  an  die  berauschende  Wirkung  die  ein 
grosses  Landschaftsbild  von  der  Sonne  beleuchtet,  von 
einem  schönen  Punkte  aus  erblickt,  auf  ein  empfängliches 
Gemüth  üben  kann.  Darum  wühlt  seine  Musik  mit  soviel 
Klang,  so  nachdrücklich  und  mit  der  Beharrlichkeit,  die 
Smetana  bei  Tonmalereien  häufig  liebt,  auf  demselben 
kleinen  kreisenden  Motiv.  Während  in  der  ersten  Hälfte 
der  Satz  doch  noch  mit  den  Harmonien  wechselt,  die 
Lichter  vermindert  und  verstärkt  —  einmal  bis  zu  einem 
Nonenaccord  auf  J.  —  liegt  in  dem  Schlusstheil  der  G  moll  — 
Dreiklang  27  Takte  lang  fest,  vom  fffzxxm  pp  abschwellend. 
Als  es  stille  geworden  ist,  erhebt  sich  endlich  über  diesem 
Farbenrausch  ein  Gedanke.  Die  Clarinetten  haben  ihn 
aus  dem  Sechzehntelmotiv  entwickelt  und  sprechen  in 
dem  Augenblick,  wo  das  Bild  entschwindet,  Behagen  und 
Dankbarkeit  über  die  genossene  Schönheit  aus: 


ifi'h'.l'J  ii^ir' 


^m 


I  L'  I  I  I 


Ueber  den  an  diesen  kurzen  gemUthvollen  Gesang  sich 
unmittelbar  anschliessenden  zweiten  Abschnitt  in  Gdur 
hat  Smetana  bemerkt:  er  gleiche  dem  Spatziergang  eines 
naiven  Dorfmädchens.    Sein  Thema 


.7 


ji'iiil^ii  iii|^i'i|  Lj  inrniiirri  f   i 

löst  den  letzten  Druck,  den  die  pathetische  Pracht  des 
Eingangs  in  der  Seele  des  Hörers  etwa  zurückgelassen  hat. 
Zu  der  kindlichen  Fröhlichkeit,  die  mit  ihm  in  der  Oboe 
laut  wird,  tragen  die  Flöten  Elemente  der  Ausgelassenheit 
hinzu.  Sie  contrapunktiren  das  hübsche  Sommerliedchen 
mit  Figuren  die  aus  den  Motiven  des  ersten  Abschnitts 
geformt  sind.  Da  das  Sommerliedchen  selbst  aus  der 
gleichen  Quelle  hervorgegangen  ist,  stehen  wir  also  an 
dieser  Stelle  vor  einem  Beweis  von  Stoffbeherrschung  und 
einheitlicher  Gedankenkraft,  der  dem  Componisten  Ehre 
genug  macht.  Auch  dieses  zweite  Bild  versinkt  langsam 
und  wird,  wie  es  Smetana  in  diesen  sinfonischen  Dich- 
tungen so  häufig  thut,  durch  eine  Pause,  also  sehr  scharf 
und  mit  deutlichster  Benachrichtigung  des  Zuhörers  von 
dem  folgenden  getrennt.  Dieser  folgende  dritte  Abschnitt 
der  Composition  ist  ein  Fugato  über  das  Thema 

AUe^o  poco  viVD.  J  =  138  ^^        .^-^    /^ 


P  _ 

Es  steigt  von  dem  hier  angegebnen  Ende  immer  noch 
höher,  erinnert  damit  an  eine  Stelle  in  Wagner's  , Siegfried*, 
wo  die  Violine  ebenfalls  in  die  letzten  Lagen  klettert  und 
zwar  in  dem  Augenblick  wo  der  Held  sich  zur  Ausschau 
auf  den  Brünhildenfelsen  begiebt.  Smetana  hat  hier  andre 
malerische  Absichten.  Die  Scene  soll  an  die  Mittagszeit, 
an  die  Stunde  erinnern,  wo  die  Sonne  am  höchsten  steht, 
Wo  Pan  schläft.  Daher  die  hohen  Klänge,  das  Glitzern 
und  Trillern,  die  wirre  Beweglichkeit,  mit  der  ab  und  zu 
eine  Todtenstille  tauscht.  Dass  es  des  Tonsetzers  Absicht 
war  einzelne  Züge  aus  dem  eigenthümlichen  Leben,  das 
die  Natur  um  Sommermittagszeit  führt,  in  das  Bild  hinein- 
zubringen, hat  er  selbst  mitgetheilt:  mit  dem  Motiv 


^  sollte  das  Zwitschern  der  Vögel 


<o     462     ^ 

dargestellt  werden.  Man  kann  sich  dem  Granzen  gegen- 
über nicht  des  Eindrucks  erwehren,  dass  die  Elrfindung  in 
diesem  Abschnitt  auf  scharfer  Naturbeobachtung  mit  be- 
ruht. Aus  dem  Zwitschermotiv  und  seinen  Umbildungen, 
aus  dem  Fugatothema  oder  Bruchstücken  von  ihm  windet 
das  Streichorchester  noch  lange  mannigfache  und  yer- 
schlungne  Gewinde,  während  die  Bläser,  voran  Clarinetten 
und  Homer  längst  zu  einem  neuen  Thema  übergegangen 
sind,  das  nach  Form  und  Charakter  in  den  böhmischen 
Choralschatz  passen  würde  und  unter  dessen  Klängen  man 
sich  gut  eine  fromm  dahinschreitende  Wallfahrerschaar 
denken  kann.  Es  kommt  erst  in  Fdur  dann  in  Desdur. 
Dazwischen  liegt  eine  neue  Schicht  des  Fugato,  das  auch 
weiterhin  fortspielt  während  der  Choral  schweigt,  bis  er 
endlich  vom  vollen  Orchester  in  Adur  aufgenommen  wird 
und  mächtig  und  glänzend  wie  im  Krönungszug  daher- 
braust.  Kaum  lässt  sich  der  Gedanke  abweisen,  dass 
Smetana  mit  diesem  Tonbild  dem  frommen  kirchlichen 
Sinn  seiner  Landsleute  hat  ein  Denkmal  setzen  wollen. 
Dass  das  Thema  auch  im  weitren  Verlauf  der  Composition 
wiederkehrt,  bezeugt  seine  poetische  Bedeutung.  In  dem 
Adursatz  jedoch,  den  es  so  glänzend  beherrscht,  wird  es 
jählings  durch  einen  Ausbruch  unbekümmertster  Lebens- 
lust unterbrochen: 

Allei^oj^sa.!.  Polka. 

Es    setzt    ein- 


jf  ü^LEÜf  L^feyN^^ 


mal,  zweimal  wie  verschüchtert  wieder  ein;  jedes  Mal 
drängt  sich  die  übermüthige  Tanzweise  wieder  dazwischen. 
Sie  behauptet  auch  den  Platz  und  nun  entwirft  Smetana 
auf  Grund  dieses  Themas  und  in  der  Form  einer  wuch- 
tigen und  doch  beweglichen  böhmischen  Polka  eine  jener 
Schilderungen  herzhafter  Weltlust,  die  er  als  Sohn  seiner 
Heimath  stark  liebt  und  mit  grösster  Meisterschaft  be- 
herrscht. So  verwegen  diese  Tanzscene  unmittelbar  in  die 
frommen  und  kirchlichen  Klänge  hereinbricht,  so  schön 
und  sinnig  ist  sie  durchgeführt.    In  der  Mitte  steht  eine 


e<?      468      ^ 


Idylle,    die    von    dem    Thema 

getragen  wird.  Auch  diese  ruhige  Weise  ist  von  dem 
Sechzehntelmotiv  abgeleitet,  das  den  Grundstock  der  Ein- 
gangsmusik der  Nummer  bildet.  Ebenso  ist  aber  mit 
diesem  Motiv  das  Polkathema  verwandt,  das  während  der 
Idylle  immer  leise  weiter  spielt.  Wir  haben  es  hier  also 
mit  demselben  Fall  kunstvoller  Arbeit  zu  thun,  der  uns 
bei  dem  G  durabschnitt  im  ersten  Theil  unsrer  Nummer 
entgegentrat.  Das  Thema  der  Idylle  wird  nun  die  Haupt- 
figur der  Composition,  die  Bilder  die  sich  darum  ent- 
wickeln sind  ihre  Hauptsätze.  In  der  Fortsetzung  der 
Tanzscene  kommt  es  zunächst  noch  in  einem  Gdursatze 
vom  Polkathema  begleitet,  dann  aber  in  einem  zweiten 
G  dursatze  (Piu  mosso)  selbständig  und  im  Charakter  etwas 
verwandelt :  heissblütiger.  Da  unterbricht  der  Wallfahrts- 
gesang noch  einmal  leise  und  in  fremder  Tonart  (Asdur), 
ohne  weitren  Einfiuss.  Eine  rauschende  Coda  bildet  den 
Schluss  und  giebt  Gefühle  der  Freude  kund.  Ihre  Motive 
ninunt  sie  aus  kurzen  Anklängen  an  das  Eingangsmotiv; 
ganz  zuletzt  kommt  es  in  einer  grandiosen  Umbildung 

^  Presto.  ^,^  »      >.      >.  .       >•      >. 

ifv^irTr  iVTr  '1  ■F'V'^f  ^■'"■'"f  'Ü^' 

noch  einmal  gewissermassen  in  eine  lapidere  Formel  die 
Eindrücke  des  Tages  zusammenfassend. 

Die    fünfte    Nummer    von    Smetana's    böhmischen    F.  Saetana 
Nationalfantasien    .Tabor"    ist    wieder    wie    Vysehrad       Tabor. 
und  Sarka  ein  musikalisches  Geschichtsgemälde;  es  hängt 
als  solches  eng  mit  dem  folgenden  Stück,  mit  «Blanick*' 
zusammen.    Beide  sind  sehr  charaktervolle  Compositionen 
und  kehren  den  Ausdruck  der  trotzigen  Kraft  hervor. 

Jedermann  weiss  von  den  Taboriten,  von  Tabor,  von 
ihrem  Ziska  und  von  ihrem  Trutz-  und  Kampflied,  dem 
Choral:  »Die  Ihr  seid  die  Kämpfer  Gottes*  (»Kdoz  jste 
Boie  bojovnici*),  der  für  die  Hussitenkriege  eine  ähnliche 


cc     464     ^ 


;_» 


Bedeutung  hat,  wie  für  die  Reformation  Luther's  .Ein 
feste  Burg  ist  unser  Gott*. 

Smetana  giebt  in  seiner  Composition  ein  Bild  aus  der 
hussitischen  Bewegung  und  er  thut  das  in  der  Form  einer 
Choralbearbeitung,  die  nicht  in  allen  Theilen  gleich  werth- 
voll,  doch  nirgends  die  Würde  und  den  künstlerischen  Ernst 
vermissen  lässt  und  an  einzelnen  Stellen  sich  zu  einer  ausser- 
ordentlichen Höhe  des  Ausdrucks  und  der  Wirkung  er- 
hebt. Die  Choralbearbeitung  hat  nicht  etwa  die  strenge 
Form,  die  wir  von  altem  Orgelmeistern  gewöhnt  sind, 
sondern  sie  ist  mehr  als  eine  freie  und  elastische  Fantasie 
gehalten,  bei  der  der  Choral  nur  an  wichtigen  Punkten  in 
seiner  vollen  Gestalt  erscheint,  an  andren  nur  mit  einzelnen 
Gliedern  benutzt  wird.  Im  ersten  Abschnitt  (Lento,  ^/g, 
Dmoll)  schildert  der  Componist  wie  sich  die  Bewegung 
im  Lande  vorbereitet  und  entwickelt.  Ein  langer  Orgel- 
punkt auf  tiefem  D,  chromatische  Motive  in  tiefen  Bläsern 
deuten  auf  Gähren  und  heimliche  düstre  Unruhe  in  den 
GemUthern.    Drohend  klingt  dazu  aus  den  Hörnern  das 

Anfangssmotiv    des   Chorals     a^  jl    j     j     j      j      \   und 
sein  kraftvollstes  fanatisches  Glied :  ft^B     |     |  J     i 


wandert  durch  das  ganze  Orchester,  wie  ein  Signal  der 
Empörung  das  von  Ort  zu  Ort  durchs  Land  geht,  die 
Geister  in  Bewegung  zu  setzen,  die  Schaaren  zu  sammeln. 
Auch  die  weibliche  Stimme  der  Milde,  des  Gebets,  der 
Glaubenszuversicht  lässt  sich  dazwischen  hinein  vernehmen : 


#^^iU4±iLJjJ^'  1  " 


Aber  sie  entfacht  nur  den  endlichen  Ausbruch  des  Sturms, 
der  sich  in  Scalenfiguren  äussert,  die  hoheitsvoll  durch  zwei 
Octaven  schreiten  und  uns  zu  dem  Punkte  führen,  wo  der 
Bund  der  Genossen  auf  Tod  und  Krieg  geschlossen  und 
zum  ersten  Mal  das  Trutzlied  angestimmt  wird: 


^     465     '^ 


LeBto.  Jr46 


.  Es  ist  nur  die  erste  Hälfte 

^'~~'       '  tl^  '    ^^  ' 

von  ihm  und  auch  in  ihr  sind  Vorder-  und  Nachsatz  dra- 
matisch getrennt.  Abermals  kommt  die  weiche  Gebets- 
melodie —  die  ständig  in  den  Holzbläsern  liegt  —  da- 
zwischen, ihr  folgt  die  Fortsetzung  und  der  Abschluss  des 
Chorals  mit 


IT 1^ 

Nun  giebt  Smetana  in  einer  Reihe  von  lebhaften  Sätzen 
die  alle  ein  Molto  vivace  vorgeschrieben  und  als  thematische 
Hauptunterlage  das  aus  dem  dritten  und  vierten  Takte 
des  letzten  Beispiels  bestehende  Motiv  haben  und  in  ein 
Piü  mosso  auslaufen  das  Bild  eines  im  Kämpfen  aufgehen- 
den starken,  gewaltigen  Geschlechts.  Der  Kampf  wird  in 
vielen  Wendungen  vorgeführt :  etwas  kleinlaut  beginnt  er, 
nimmt  aber  bald  den  Charakter  entschicdner,  rücksichts- 
loser Entschlossenheit  an.  In  den  Bläsern  stehen  gewisser- 
massen  die  Thaten,  in  den  Violinen  die  Stinunungen:  die 
Erregung,  das  Treiben  und  Schüren.  Der  Kampf  hat  seine 
stürmischen  und  hitzigen,  seine  verwickelten,  auch  seine 
müden  und  verlegnen  Augenblicke,  längre  Zeiten  der  Ge- 
fahr und  des  Unterdrücktseins  wo  die  Instrumente  nur  auf 
Rhythmen   leise    stöhnen    und   stammeln.     Der  Wille  ist 

nicht  gebrochen  das  Terzenmotiv:     -fCt»  ^^1    J     J~~r~ 

hört  nicht  auf  anzufeuern  und  im  Piü  mosso  kommt  es  zu 
einem  neuen  und  letzten  Ansturm  von  furchtbarer  Gewalt 
mit  frischen  endlosen  Schaaren.  Seinen  Erfolg  erzählt  das 
Lento  maestoso  (^;.^),  in  dem  der  Choral  als  heisses  Dank- 
gebet im  Jubelrausch  zum  Himmel  klingt.  Ein  schliessen- 
des  Piü  animato  fügt  nochmals  drohend  und  in  finstrer 
Kraft  das  Glaubensbekenntnis«   daran,   wirft  einen  Rück- 


Kretzschmar,  Führer,  I. 


SO 


c<?     466     ^ 

blick  auf  das  Vollbrachte  in  dem  wohl  still  auch  der  ge- 
opferten Genossen  gedacht  ist.  Dann  sprechen  die  Führer 
aus  dem  Munde  der  Bässe  noch  ein  stolzes  und  rühmendes, 
anfeuerndes  Wort  und  herrisch,  zuversichtlich  und  be- 
geistert antworten  die  Schaaren. 

In  ihrer  harten  gedrungenen  Kraft  erinnert  diese  Com- 
position  über  den  Taboritenchoral  an  altes  Römenolk  und 
Nibelungenlied;  aus  der  gleichzeitigen  Musik  wäre  ihr 
ausser  R.  Wagner's  , Walkürenritt*  allenfalls  noch  die  eine 
oder  andre  Stelle  aus  R.  Yolkmann's  D  moll -Sinfonie  an 
die  Seite  zu  stellen.  Unter  den  Dichtem  die  mit  Smetana 
lebten,  findet  sich  eine  verwandte  Natur  in  Fr.  Hebbel, 
unter  den  bildenden  Künstlern  keine. 
F.  SaetABa  ^Blanick*  die  letzte,  sechste  Nummer  des  Cyklus 

BUnick.  verbindet  die  zweite  Folge  der  vaterländischen  Tondich- 
tungen Smetana's  mit  der  ersten  poetisch  und  musikalisch. 
Es  verschmilzt  schliesslich  die  Motive  der  Taboriten  und 
der  alten  böhmischen  Filrstenburg  und  es  ist  auch  in 
seiner  dichterischen  Bedeutung  das  Gegenbild  zu  Vyseh- 
rad :  es  umschliesst  ebenfalls  versunkne  oder  schlummernde 
Herrlichkeit  und  Grösse,  es  ist  die  Stätte  stolzer  nationaler 
Erinnerungen.  Blanick  heisst  ein  bei  Tabor  gelegner  Berg, 
der  dem  Salzburger  Untersberg,  oder  dem  KyflFhäuser  der 
Deutschen  ungefähr  entspricht.  Hierher  zogen  sich  einst 
die  Helden  der  Hussitenkriege  zurück  und  warten  der  Zeit, 
da  die  Träume  von  der  Wenzelskrone  in  Erfüllung  gehen, 
wie  Barbarossa  gewartet  hat. 

Smetana  empfängt  uns  in  seiner  Composition  mit  einem 
Allegro  moderato  (•/»  D  moll)  in  dessen  ersten  Takten  der 
Kampfchoral  in  aller  Herbheit  nochmals  anklingt,  das  aber 
bald  zu  einer  freudigeren  und  heiteren  Schilderung  jener 
kraftvollen  Hussitenzeit  übergeht.  Es  klingt  darin  wie 
von  flotten  Reiterschaaren  und  das  Taboritenmotiv  tönt, 
aller  seiner  Schrecken  entkleidet,  frisch  und  freundlich 
dazwischen.  Nur  am  Ende,  das  Smetana  wie  so  oft, 
etwas  lange  hinausschiebt,  wird  der  Ton  etwas  düster. 
Das  Thema  welches  diesem  ersten  Theil  von  , Blanick* 
zu  Grunde  liegt 


ce     467     ^ 


Allcgro  moderato.  J=72 


steht  mit  der  Originalfassung  der  ersten  Strophe  des  Ta- 
boritenchorais  im  Zusammenhang.  Smetana  liebt  es  die 
einzelnen  Gruppen  in  seinen  Tongemälden  scharf  abzu- 
grenzen und  zu  sondern.  So  lässt  er  auch  das  Bildchen 
das  er  hier  von  dem  Lebensabend  der  alten  Taborhelden 
entworfen  hat  im  Dunkel  verschwinden,  ehe  er  weiter  geht. 
Die  zweite  Scene  beginnt  (Andante  non  troppo)  mit  folgen- 


Audante  non  troppo.  z-^. 


sehnsuchts- 


voll und  elegisch.  Es  ist  als  wenn  ein  Wandrer  an  den 
Berg  herantretend  im  patriotischen  Schmerz  der  alten 
grossen  Zeiten  seines  Landes  und  ihrer  Männer  gedächte. 
Schnell  aber  verscheucht  die  Gegenwart  alle  Beklemmung : 
er  findet  am  Berg  ein  Idyll :  Heerden  und  Hirten  die  sich 
im  Tonspiel  ergötzen :  Smetana  lässt  uns  einen  Kanon  hören 
der  zunächst  zwischen  Oboe  und  Hom,  später  zwischen 
Oboe  und  Clarinette   läuft  und  folgendermassen  beginnt: 


Plü  aHegro. 


Jr 


76 


•fr^^ir_fatgrpirrrn 


Seine  immer 


muntrer  werdenden  Melodien  begleiten  erst  lediglich  Blas- 
instrumente, dann  legen  ihnen  die  Geigen  träumerisch  einen 
langen,  leisen  Fduraccord  unter.  Aus  diesem  Frieden 
reisst  ein  Piü  mosso.  Wir  sind  auf  den  Abschnitt  in  ge- 
wohnter Weise  allerdings  etwas  vorbereitet  worden  durch 
ein  diminuendo.  Nun  fangen  die  Geigen  an  zu  tremoliren, 
dann  heftige  Figuren  auszustossen ;  in  Vorhalten,  in  Disso- 
nanzen, in  fassungslosen  Rhythmen  spricht  sich  höchste 
Aufregung  aus  und  nach  dem  gewaltigen  Anlauf  setzt  nun 
der  neue  Hauptsatz  mit: 

80* 


^     468     ^ 


Meno  mosso.  d  =  6S 


KTjJJJJ-'ig^^ 


1  ILffÜlrj-üi;[iu  iLJj  i| 


ein.  Er  giebt  ein  Bild  des  Irrens  und  der  Rathlosigkeit, 
die  auf  Augenblicke  in  Verzweiflung  übergehen  will.  Schon 
bald  erheben  sich  dagegen  Regungen  der  Zuversicht;  in 
Hörnern  und  Clarinetten  hören  wir 


pp    J^J,   JVpV-.     Endlich   dringt  die 


freundliche  zuversichtliche  Schlusszeile  des  Taboritenchorals 
durch  und  von  seinem  Ende  wird  ein  Marsch 


jjjii  jjlJJJ  J3N  JJ  JJlJfJJ^^ 


abgeleitet  und  mit  ihm  verbunden,  der  die  Erinnerung  zu 
den  alten  Helden  zurückführt  die  im  Berge  schlummern, 
ihr  kräftiges  Wesen  ähnlich  wie  der  Anfang  der  Compo- 
sition,  das  Allegro  moderato,  aufleben  lässt.  Und  bald  ist 
es  auch,  als  wenn  sie  leibhaftig  wieder  da  ständen.  Mit 
dem  Grandioso  (Ddur)  kehren  wir  in  den  glänzendsten 
Theil  der  fünften  Nummer  des  Cyklus,  in  das  Tongemälde 
über  ,Tabor*  zurück.  Noch  einmal  wird  die  Stimmung 
wieder  etwas  trübe :  es  tritt  wieder  D  moll  und  eine  Durch- 
fuhrung des  in  der  Stimmung  etwas  zwiespältigen  Motivs, 


j^PT-t  I    1    I    I   I  J._J    lU^ji^-fli-jr^ 


ein.  Wieder  wird  sie  durch  das  Choralthema  überwunden. 
Das  Grandioso  kehrt  zurück  und  führt  zu  einem  Larga- 
mento  maestoso  (Ddur,  '/g)  und  zum  Burgmotiv  aus 
Vysehrad.  So  reichen  sich  Ende  und  Anfang  des  Cyclus 
die  Hand.  Der  Tondichter  schliesst  mit  der  begeisterten 
Mahnung   an   seine  Landsleute   der   grossen  Zeiten   ihrer 


e<?      469      'S« 

Geschichte  der  Zeiten  von  Yysehrad  und  Tabor  immer  zu 
gedenken! 

Die  vaterländischen  Compositionen  Smetana^s  haben  für 
Anton  Dvorak,  das  reichste  böhmische  Musiktalent,  den 
Weg  gebahnt,  sie  haben  ihm  die  Anregung  zu  seinen 
„Slavischen  Tänzen"  gegeben,  für  seine  «Slavischen  Rhap- 
sodien •  auch  die  Form.  Von  der  internationalen  Strömung 
der  gegenwärtigen  Musik,  oder  besser  gesagt  von  dem 
immer  noch  fortwirkenden  gewaltigen  Geist  des  achtzehnten 
Jahrhunderts  ergriffen,  ist  Dvorak  jedoch  bald  von  den 
Exakten  zu  den  Philosophen  übergelaufen,  ist  unter  die 
Sinfoniker  gegangen,  hat  unter  den  lebenden  Vertretern 
der  Beethoven^schen  Methode  sich  heute  den  ersten  Platz 
errungen  und  dabei  in  seinen  Sinfonien  so  gut  es  ging 
immer  noch  für  böhmisches  Wesen  und  böhmische  Musik 
Zeugniss  abgelegt  und  gewirkt. 

Der  ausgesprochen  nationale  Satz  in  seiner  ersten, 
seiner  D  dur-Sinifönie  (op.  60)  ist  das  Scherzo.  Es  unter-  ^»  D»or«k 
scheidet  sich  in  Form  und  Charakter  kaum  von  den  ^^"'"S^®»*«- 
bekannten  und  bedeutenden  «Slavischen  Tänzen''  dieses 
Componisten  und  soll  wohl  auch  durch  den  überschrie- 
benen  Titel :  »Furianf  dieser  Gattung  zugewiesen  werden. 
Ein  wildes  Blut  wallt  in  diesem  Satze;  zu  der  Frische, 
mit  welcher  sein  Hauptthema  herein  stürzt,  gesellt  sich 
auch  ein  querköpfiges  Element,  eine  eigensinnige  Ausge- 
lassenheit, die  in  einem  aus  Beethoven's  vierter  Sinfonie 
bekannten  Wechsel  von  Zweiviertel-  und  Dreivierteltakt 
imd  in  den  dissonirenden  Vorhaltsnoten  deutlich  zum 
Ausdruck  gelangt: 

Presto.      ^ ^  ^ ^  ^ ^ 


J>    »?^       #  ^^^r^     ^__f3^  ^^^  Hauptsatz  ist  nur 

"^^  '     ^  ?^-t^a— H^^^"""T~:-  8ehr  kurz,  der  Mittelsatz 


if  »tc. 


*)  Statt  d  lies:  c. 


c<?     470     -0» 


dagegen    im  BeethovenVhen  Stile    breit  ausgeführt  und 
mit  einem  neuen  Thema  bereichert.    Es  ist  folgendes: 


a^^^B|^rlr■r|rYrtnpt^^FM^I  l-'?rn"M 


ere»e. 


Das  hier  mit  h)  bezeichnete  Schlussglied  ist  dasjenige, 
welches  in  der  jetzt  beginnenden  Durchführung  beider 
Themen  berorzugt  wird.  Die  im  Anfangstheile  der  neuen 
Melodie  liegenden  weicheren  Elemente  bleiben  im  Hinter- 
gnmde.  Das  Trio  dieses  Scherzo  entwickelt  sich  in  seinem 
ersten  Theile  ziemlich  zögernd :  Sein  Thema  baut  sich  stück- 
weise auf  und  schliesst  fragend  und  unentschieden: 


Ueno  moMO. 
Ob, Fl. 


jjiPj'frrrr-  ' 


J^  ßVCO  §9»UKuflf 


Der  Klang  des  Piccolo  bringt  darin  das  national  slavi- 
sehe  Element  sehr  drastisch  zur  Geltung.  Von  der  zwei- 
ten Hälfte  des  ersten  Theils  und  durch  den  anderen  Theil 
des  Trios  regt  sich's  dann  freundlicher:  durch  die  Bläser 
und  die  Celli  streifen  ruhige  Gänge,  die  nach  Melodie 
zu  suchen  scheinen.  Einen  ausgesprochenen  wirklichen 
G^esangton  vermeidet  der  Componist,  der  in  seinem 
Scherzo  weniger  einen  heiteren  Satz,  als  ein  musikalisches 
Charakterbild  geben  wollte :  das  Gemälde  einer  mit  unwir- 
schen Elementen  kämpfenden  Fröhlichkeit.  Das  Scherzo 
ist  in  der  Form  der  einfachste  und  übersichtlichste  Satz 
der  Dvorak'schen  Sinfonie.  Die  anderen  Sätze  stellen  in 
Betreff  der  Gedankenentwickelung  und  der  durch  sie  be- 
dingten Form  dem  Zuhörer  durchschnittlich  schwere  Auf- 
gaben, und  es  scheint  uns  durchaus  nicht  ein  blosser 
Zufall  zu  sein,  wenn  das  Publikum  dieser  Sinfonie  etwas 
kühl  gegenüber  steht.  Namentlich  durch  den  ersten  Satz 
und  durch  das  Finale  geht  ein  unsteter  Zug.  Die  Phan- 
tasie hat  die  Menge  der  Gesichte  nicht  bewältigt;  die 
Ideen  durchkreuzen  und  verdrängen  einander,  die  Episo- 


eO       471       'S» 


den  vergewaltigen  die  Hauptgedanken,  und  die  ganze 
Darstellung  macht  das  Folgen  und  Verstehen  zu  einer 
harten  Arbeit. 

Der  erste  Satz  hat  in  seiner  Themengruppe  nicht  weniger 
als  sechs  verschiedene  Ideen,  welche  um  die  Führung  ringen. 

Die  wichtigsten  ^  'J  ^T\\^  a  ä   i  äT^f    i  f    f  rT"» — 
davon  sind:     ^  <'  i  ^^A^^^^^^^^^^^^T^' 

Diese  vier  Takte  bilden  die  vordere  Hälfte  des  Hauptthema, 
dessen  erster  Abschluss  bereits  bedeutend  hinausgeschoben 
wird.  Nach  einer  etwas  stürmischen  Unterbrechung  im  be- 
schleunigten Tempo  kehrt  das  Thema  im  glänzenden  Forte- 
Klang,  aber  nur  auf  einen  flüchtigen  Augenblick  zurück.  Vor 
dem  Eintritt  des  zweiten  Thema  passiren  wir  noch  eine 
Reihe  von  Nebenmotiven,  aus  denen  das  folgende  als 
das  für  die  Satzentwickelung  wichtigste  hervorzuheben  ist : 


Das    zweite 
Thema   (in 


Flöt« 


Hdur   gestellt)    gelangt    zu   keiner   Bedeutung,    dagegen 
nimmt  der  ihm  folgende  Nachsatz: 


ßf  etffrr»» 


im  Ideenkreise  des  Allegro  eine  hervorragende  Stellung 
ein.  Der  ganze  Satz  gewährt  das  Bild  einer  um  freund- 
liche Ziele  kämpfenden  Stimmung,  und  enthält  in  seinen 
heiteren  Partien  eine  Menge  liebenswürdiger  Züge, 
blühende  musikalische  Einfälle  pastoralen  und  idyllischen 
Charakters.  In  ihnen  ist  ein  leichter  Einfluss  Schubert's 
zu  bemerken,  während  für  die  pathetischen  Excurse,  die 
den  weniger  gelungenen  Theil  des  Satzes  bilden,  Beet- 
hoven und  noch  mehr  Brahms  augenscheinlich  zum 
Muster  gedient  haben. 

Das  Adagio  (Bdur  '4)  wird  von  folgendem  Hauptge- 
danken beherrscht: 


ce     472     ^ 


Als  zweites  Thema  folgt  ihm  ein  schwärmerisch  zärtlicher 
Gesang : 


Vtul. 


PP 


1^  ^\\  ,  i:^''Tji.r|iii'i;^i 


\       LT"  f^     CT€9C. 

V 


^M    I  j)*~J^|  J  ^J^fcbfei:     dessen    Einführung    durch    eine 

kurze  selbständige  Episode,  von  freudigem  AufBchwung 
beherrscht,  wunderschön  vermittelt  wird.  Der  ganze  Plan 
des  Satzes  ist  noch  leicht  zu  übersehen:  Nach  dem  Ab- 
scbluss  des  Seitenthemas  repetirt  die  Hauptmelodie,  und 
die  eben  erwähnte  Episode  leitet  zu  einer  kurzen  Durch- 
führung über.  Letztere  setzt  mit  leidenschaftlicher 
Bewegung  ein,  geht  aber  sehr  bald  in  den  milden  träume- 
rischen Ton  über,  der  dem  ganzen  Adagio  seinen  Cha- 
rakter giebt.  Auch  durch  seine  melodischen  und  modu- 
latorischen Wendungen  erweist  es  die  Verwandtschaft 
mit  dem  langsamen  Satze  von  Beethoven's  Neunter.  Im 
Finale  seiner  Sinfonie  steht  Dvorak  wieder  auf  dem 
Boden,  auf  welchem  seine  dichterische  Kraft  das  Eigen- 
artigste und  Beste  giebt.  Die  Themen  dieses  Satzes, 
von  denen  wir  als  die  hauptsächlichsten  folgende  zwei 
citiren : 


Alleg^ro  con  spirito^ 


PP 


cic. 


sind  echt  böhmbche  Melodien, 

die  uns  an  die  alte  Wiener  Sinfonie,  an  Wenzel  Müller, 
an  lustige  Sonntags-Nachmittage  und  an  vergnügte  Men- 
schen erinnern.  In  der  Durchführung  verlässt  Dvofak  die 
in  diesen  Weisen  gegebene  Sphäre,  zögert  und  scheint 
über  die  Berechtigung  der  fideleu  Motive  in  Bedenken  zu 


^     473     "^ 

gerathen.  Dieser  Theil  enthält  sehr  viele  humoristische 
Züge  von  grosser  Wirkung.  Ausserordentlich  drastisch  ist 
der  wilde  Einsatz,    mit  welchem    die  Hörner  das  Motiv 

w  'l^^    r     p     r      :  in  das  pp  des  Orchesters  hineinwerfen. 

Jedoch  nimmt  das  capriciöse  Element  das  Interesse  des 
Zuhörers  etwas  zu  lang  und  zu  kühn  in  Anspruch.  Der 
Satz  schliesst  mit  einem  Presto  üher  das  Thema  a). 

Auch  in  der  zweiten  Sinfonie  DvoFak's  (Dmoll,  1.  Drofmk 
op.  70)  wird  man  vergeblich  nach  der  unbedingten  Lebens-  Zweite  Sinfonie, 
freude  suchen,  die  seine  Slavischen  Rhapsodien  zu  einer 
Wohlthat  für  die  neue  Musik  gemacht  haben.  Sie  ist  ein 
Stimmungsbild  fUr  das  die  Ueberschrift  ,Aus  trüber  Zeit'' 
nicht  übel  passen  würde.  Ohne  im  höhren  Sinn  originell 
zu  sein,  fesselt  das  Werk  durch  eine  klare,  planvolle  An- 
lage, durch  ein  reiches,  bewegliches  Empfindungsleben, 
durch  natürliche,  meistens  aus  dem  Vollen  fliessende  musi- 
kalische Durchführung.  Diese  Vorzüge  krönt  Einheit  und 
Strenge  des  Charakters.  Selbst  auf  den  üblichen,  immer 
dankbaren  , glücklichen  Ausgang"  im  Schlusssatz  hat 
Dvofak  diesmal  verzichtet. 

Der  erste  der  vier  Sätze  (Allegro  maestoso,  C,  D  moll) 
beginnt  folgendermassen : 

AUegro  maestoso.  Jm66  ^^^         _  , -- 

ppT  T       r        r        i 


Man  kann  diese  von  Cellis  und  Bratschen 


unisono  vorgetragne  Melodie  in  zwei  Hälften  theilen.  Die 
vordere,  in  gleichen  Achteln  gehalten,  klingt  wie  das  leichte 
Murren  eines  Unwilligen,  die  zweite,  mit  dem  durch  das  ver- 
längerte Viertel  schwer  accentuirten  Motiv,  zeigt  dass  hier 
ein  Gemüth  tiefer  getroffen  worden  ist,  bis  zur  Verwirrung 
getroffen.  Das  sagt  uns  der  an  den  Schluss  gestellte  ver- 
minderte Accord.    Er  kommt  ganz  plötzlich,   bleibt  aber 


für  die  Dauer  einer  achttaktigen  Periode.  Drüber  wieder- 
holen die  Clarinetten  von  d  aus  das  Thema.   Ihr  Schmerzens- 

motiv  JJ    I  J.    J   beantwortet  das  zweite  Hom  gewisser- 

massen  in  vergrössertem  Echo  mit  fis  fis  \  c  und  lockt  damit 
eine  Reihe  von  Stimmungsäusserungen  hervor  die  den 
klagenden  und  vorwurfsvollen  Ton  immer  heftiger  hervor- 
kehren. Technisch  sind  sie  als  Fortsetzungen  des  oben 
angeführten  Themas  zu  betrachten.  Denn  die  neue  und 
neueste  Sinfonie  begnügt  sich  nur  ausnahmsweise  mit 
solchen  knappen  Hauptgedanken  wie  sie  bei  den  Wiener 
Classikern  die  Regel  bilden ;  sondern  sie  arbeitet  am  liebsten 
mit  einer  langen  Themenkette.  Die  erste  dieser  Fort- 
setzungen des  Hauptthemas  knüpft  an  den  Sechzehntel- 
auftakt der  zweiten  Hälfte  des  Eingangsthemas  an  und 
modulirt  im  achten  Takt  nach  AmoU.  Die  zweite  wird 
von  demselben  Sechzehntelmotiv   als  Bass   begleitet   und 

setzt  in  der  Hauptstimme  mit  breiten  Vierteln  a  \  es  \\/b  a 
ein.  Dieses  Viertelmotiv  erlangt  seine  Bedeutung  im  Ver- 
lauf des  Satzes.  Zuerst  von  der  zweiten  Violine,  Oboe  und 
Fagotten  vorgetragen,  wird  es  zwei  Takte  später  von  der 

ersten  Violine  als  </  öf  |  7  e  aufgenommen  und  schnell  zu 
einer  langen  Dmollcadenz  geführt,  die  uns  eine  sehr 
stürmische  Wendung  erwarten  lässt.  Das  Natürlichste 
würde  Wiederholung  des  oben  aufgezeichneten  Themas  im 
Tutti  des  Orchesters  und  im  ff  sein.  Sie  kommt  auch ;  aber 
erst  22  Takte  später.  Vorher  bringt  der  Componist  erst 
noch  einen  jener  erweiternden  und  belebenden  Abstecher 
an  die  namentlich  Liszt  die  modernen  Sinfoniker  gewöhnt 
hat.  Er  legt  eine  Ausweichung  ins  Gebiet  der  Ruhe  und 
des  Seelenfriedens  ein.  Sie  führt  mit  einer  etwas  beabsich- 
tigten Gewaltsamkeit  nach  Esdur  und  vor  eine  sehr  ein- 
dringliche Hornstelle,  die  mit  einer  raschen  Scalenfigur 
beginnt  und  dann  in  die  Rhythmen  des  nachher  folgenden 
zweiten  Themas  des  Satzes  einlenkt.  Bei  dem  nach  dieser 
Verzögerung  doppelt  wirksamen  Eintritt  des  Hauptthemas 


c<?     475     ^ 

ist  es  zu  bedauern  dass  das  Thema,  weil  nur  den  Holz- 
bläsern gegeben,  von  dem  starken  Begleitungsapparat  über- 
tönt wird.  Merkwürdiger  Weise  ist  der  in  der  Instrumen- 
tation so  sicher  und  ausgezeichnete  Componist  hier  in  einen 
Beethoven*8chen  Fehler  verfallen,  den  intelligente  Dirigenten 
wohl  stillschweigend  verbessern  dürfen,  wie  es  DvoFak  beim 
Eintritt  der  Reprise  selbst  gethan  hat.  Hier  spielt  das 
erste  Hörn  das  Thema  mit.  Wie  schon  bei  seinem  ersten 
Eintritt  mit  dem  verminderten  Accord,  so  nimmt  unser 
Hauptthema  jetzt  wieder  ein  seltsames  Ende.  Noch  viel 
verwunderlicher  und  aufregender  als  dort  bricht  es  in  einer 
verzweifelt  wirkenden  Dissonanz  ab :  —  fesbc  ges  —  der 
naturgemäss  eine  Reaction  folgen  muss:  Die  Holzbläser, 
dann  die  Geigen  mit,  führen  ein  zwölf  Takte  langes 
Ueberleitungssätzchen,  auf  weich  gleitende  Motive  gebaut, 
aus:  Nach  seinem  Ende  hin  spielen  die  Mittelstimmen 
kurz  einmal  das  Achtelthema  (der  Celli  und  Bratschen)  an, 
mit  dem  der  Satz  begann. 

So  wird  also  das  zweite  Hauptthema  des  Satzes 

''doice  '  fP 

sehr  schön  und  gewissermassen  dramatisch  eingeführt. 
Seine  poetische  Aufgabe :  sanft  und  freundlich  zuzusprechen, 
erfüllt  es  auf  eigenthümliche  Art.  In  tiefen  Flötenklang 
gehüllt,  leise  vom  Tutti  umschwebt,  hat  es  etwas  Geheimniss- 
volles, wirkt  wie  ein  Bild  im  Zauberspiegel,  wie  ein  Gast 
aus  der  Geisterwelt.  Ganz  besonders  schön  und  rührend 
ist  das  zögernde  Verschwinden  der  Vision:  Volle  acht 
Takte  haftet  die  Melodie  an  dem  verzierten  ««,  ehe  die 
Auflösung  ins  d  fallt.  Dieses  Zögern,  Aufhalten  und 
Schwanken  ist  ein  Zug,  der  in  unserm  Satz  immer  wieder- 
kehrt. Die  Wirkung  dieses  zweiten  Themas  greift  un- 
gewöhnlich tief  in  den  formellen  Plan  und  in  das  Wesen 
des  ersten  Satzes  ein.  Der  nächste  Abschnitt,  den  es  be- 
herrscht, wiederholt  es  wörtlich  in  den  Violinen,  knüpft 
daran  versuchsweise  und  schnell  wieder  abbrechend  Motive 


der  Aufheiterung  und  des  Aufschwungs.  Er  endet  aber 
in  B  moll  und  in  seinen  Schluss  mischen  Oboen,  Clarinetten 
und  Homer  das  Unmuthsmotiv  mit  dem  die  Sinfonie  be- 
gann. Der  ganze  Schluss  der  Themengruppe  wird  zu 
einer  äusserlich  knappen,  aber  innerlich  bedeutenden  Aus- 
einandersetzung zwischen  den  beiden  Hauptthemen.  Das 
zweite  scheint,  in  Bdur,  seiner  Tonart,  fortissimo  vor- 
getragen, die  Oberhand  zu  bekommen  als  sich  wieder  jenes 
schon  berührte,-  dem  Gang  unsres  Satzes  wesentliche 
Element  des  Schwankens  und  Abbrechens  geltend  macht. 
Diesmal  in  der  Form  von  Sequenzen  über  den  Rhyth- 
mus   ^^jj  ,  welcher  aus  einem  der  Nebenmotive  (Motiv 

der  Aufheiterung^  des  zweiten  Themas  stammt. 

Die  sehr  kurz  gehaltne  Durchführung  wendet  den 
Stimmungsprozess  wieder  zu  Gunsten  des  ersten  Haupt- 
themas. Sie  beginnt  in  Hmoll  mit  einer  achttaktigen 
Periode,  die  die  ersten  zwei  Takte  des  zweiten  Haupt- 
themas nacheinander  durch  Geigen,  Celli,  Flöten  und 
Contrabässe  führt.  Ihm  folgt  ein  wilder  Aufzug  seines 
Antipoden,  des  ersten  Hauptthemas.  Trotzig  springt  es 
auf  den  verminderten  Septimen accord  c-dis-fis-a  und  stellt 
sich  in  voller  Breite  hin.  Der  Effekt  dieser  lieber- 
rumpelung  ist  vorerst  Rathlosigkeit  der  Seele.  Nach  dem 
Edurschluss,  mit  dem  sich  das  Hauptthema  verabschiedet, 
wird  es  still ;  kleine  Brocken  des  Gehörten  flattern  herum. 
Das  Wichtigste  an  der  Musik  sind  hier  die  Pausen.  Nur 
leise  ausgehalten  klingt  da  ein  Ton  des  Horns  oder  der 
Bratsche  in  sie  hinein.  Die  Modulation  rückt  plötzlich 
von  E  nach  f-a-c-es  die  Stimmung  sammelt  sich.  Ueber 
einem  ppp  der  in  Bmoll  tremolirenden  Streichinstrumente 
stimmen  die  Clarinetten  leise  das  vollständige  erste  Haupt- 
thema an,  Flöten,  Oboen,  greifen  mit  ein;  mit  einem 
raschen  crescendo  gelangen  wir  vor  einen  Abschnitt  in 
dem  das  Motiv  des  ünmuths,  nun  zur  Wuth  gesteigert 
aus  den  Bässen  dröhnt;  es  kommt  in  die  Geigen  von 
Dissonanzen    der    Bläser    durchschnitten,    holt    mit    dem 


cc     477     's^ 

Rhythmus  Jj    J    J  aus  und  gelangt  nach  Dmoll  zum  fff 

und  zu  einer  Reprise,  die  mit  der  des  1.  Satzes  von  Beet- 
hoYen's  9.  Sinfonie  eine  Charakterähnlichkeit  theilt,  wie 
sie  gleich  stark  sich  ein  zweites  Mal  nur  in  dem  Dmoll- 
concert  von  Brahms  aufdrängt. 

Die  Wiederholung  der  Themengruppe  verläuft  nach 
den  bekannten  Regeln.  Nur  das  ist  besonders  an  ihr,  dass 
das  Gebiet  des  ersten  Hauptthemas  gekürzt  wird.  Durch 
dieses  einfache  Hülfsmittel  übt  die  Musik  eine  unvergleich- 
lich mächtigere  und  leidenschaftlichere  Wirkung  aus  als 
im  ersten  Theil  des  Satzes.  Die  sehr  ausgeführte  Coda, 
die  höchste  Leistung  im  Ausdruck  gewaltiger  und  grosser 
Ideen,  die  bis  dahin  sich  in  Dvofak's  Werken  gezeigt  hat, 
markirt  noch  einmal  unumstösslich  hart  und  mitleidslos 
den  Sieg  des  ersten  Hauptthemas  und  seiner  dämonischen 
Elemente.  In  Resignation  verklingt  sie.  Auch  hier  steht 
Dvorak,  der  früher  sich  gern  von  Brahms'schen  Vorbildern 
leiten  liess,  unter  dem  Einfluss  Beethoven's.  Der  Basso 
ostinato  auf  f  d  es  f  zeigt  nach  dessen  siebenter  Sinfonie. 

Wie  als  wenn  nach  finstrer  stürmischer  Nacht  der  helle 
Morgen  aufzieht,  beginnt  der  zweite  langsame  Satz  (Poco 

Adagio,  C,  Fdur;  folgendermassen : 
Poco  Adagio.  J  :  6« 


Breit  und  feierlich  abschliessend  legt  das  volle  Orchester 
den  F  dur-Accord  über  das  Ende  dieses  kleinen  Präludiums 
und  das  eigentliche  erste  Thema  des  Satzes  tritt,  von 
Flöte  und  Oboe  vorgetragen,  ein 

i  fT^ff  I  [Q  1  fl  \rPll\El\^^'         InSequen- 

zen  über  das  letzte  Motiv  senkt  es  sich  tiefer  und  tiefer 
und  athmet  dann  noch  einmal  gross  auf  um  plötzlich  im 
Halbschluss  zu  verlöschen.    Es  ist  als  flöhe  es  vor  dem  Motiv 


c<?     478     o^ 


jL^  r^^J>  I   J^  ^^  ^^^^    kleine  Scene    der  Unruhe 

einleitet,  die  uns  die  aufregenden  Augenblicke  des  ersten 
Satzes  in  die  Erinnerung  zurUckruft.  Das  Hom  sucht  mit 
kühnen  Figuren  zu  beschwichtigen.  Noch  einmal  schlägt 
Schrecken  in  kurzen  Motiven  dazwischen,  dann  aber  be- 
hält das  Hörn  mit  der  schönen  Melodie 


^^  das  Wort. 


Sie  nimmt  ungefähr  die  Stelle  ein,  die  sonst  das  zweite 
Thema  zu  haben  pflegt.  Aber  wie  Dvorak  sich  im  Allgemeinen 
den  Formen  der  Sinfonie  gegenüber  die  Freiheit  der  Ideen 
und  ihrer  Bewegung  wahrt,  so  hat  er  dieses  zweite  Thema 
hier  ungewöhnlicher  Weise  in  die  Haupttonart  Fdur  ge- 
setzt und  ihm  auch  nur  einen  geringen  Einfluss  auf  Ge- 
stalt und  Wesen  des  Satzes  zugewiesen.  Unser  Adagio 
hat  gar  keine  Durchführung  in  dem  Sinne  einer  Aus- 
legung und  Verarbeitung  bisher  gebrachter  Themen. 
Sondern  nach  dem  Schluss  des  zuletzt  angeführten  Ge- 
dankens setzt  ein  ganz  selbständiger  Mitteltheil  ein  zu- 
nächst in  FmoU  und  von    einem  scharfen  rhythmischen 

Motiv  J^  ^^  j)  geführt.  Mit  ihm  wechselt  ein  Motiv 
des    Schnens    von     folgendem     rhythmischen    Charakter 

J      jTj    J  ^^^  kommt  mit  ihm,  oft  jäh  und  erschreckend 

in  heftige  Conflikte.  Nach  einer  solchen  Stelle,  —  da« 
fortissimo  auf  e-fis-ais-cis  macht  sie  leicht  kenntlich  —  tritt 
die  Reprise,  die  Wiederholung  der  Themengruppe,  ein. 
Das  Hauptthema  kommt  jetzt  in  den  Cellis.  Ihm  folgt 
das  erste  Seitenthema  wie  beim  ersten  Mal  in  den  Violinen, 
aber  jetzt  mit  Contrapunkten  die  bald  beschwichtigen, 
bald  anfeuern,  in  den  Holzbläsern  versehen.  Alle  Elemente 
der  Aufregung  die  in  dem  Abschnitte  vorhin  bereits  vor- 
handen   waren,    erscheinen    ins    Gespenstische    und   be- 


cc?     479     ^ 

drohlich  gewachsen.  Das  Fdurthema  des  Horns  taucht 
jetzt  nur  angedeutet  in  den  Violinen  auf  und  von 
Trompeten  und  Hörnern  merkwürdig  umschmettert.  Ganz 
zuletzt  kommt  auch  die  Melodie  des  kleinen  Prä- 
ludiums des  Satzes  und  zwar  in  der  Oboe  nochmals 
zu  Wort. 

Der  dritte  Satz,  das  Scherzo  (Vivace,  •/4,  D  moll)  zeigt 
den  Zusammenhang  mit  dem  ersten  Satz  der  Sinfonie  nicht 
so  stark  wie  das  Adagio  aber  immer  noch  deutlich  genug. 
Es  erstrebt  die  an  dieser  Stelle  übliche  Fröhlichkeit,  aber 
es  besitzt  sie  nur  im  geringen  Grade.    Das  Hauptthema 

vivace.  J.80 


|etc.  orientiert  in  diesem  Falle  genügend 


über  das  Wesen  des  ganzen  Satzes:  Die  Rhythmen  der 
Violinen  treiben  vorwärts,  aber  hinkend,  als  schleiften  Ketten 
mit.  Die  ,  schlotternden  Lemuren*  Goethe's  treten  vor  das 
geistige  Auge  und  die  in  den  Mittelstimmen  (Cellis  und 
Fagotts)  dazwischen  schluchzende  Melodie  giesst  noch  mehr 
Wehmuth  über  das  an  und  für  sich  schon  grau  gehaltne 
Bildchen.  Mit  dem  achten  Takt,  dem  Abschluss  der  ein- 
fachen Periode  geräth  die  Darstellung  schon  ins  Stocken. 
Wir  stehen  wieder  vor  dem  schwankenden,  unentschlossnen 
Zug  der  auch  in  den  andren  Sätzen  als  wesentlich  sich 

bemerkbar  macht.     Mit  einem  Motiv    J.    J   J   J   J,  das 

bis  dahin  in  der  zweiten  Violine  Begleitungsdienste  ver- 
richtet hat  bildet  der  Componist  einen  10  Takte  langen 
Zwischensatz  und  wiederholt  dann  das  Hauptthema  mit 
der  Aenderung,  dass  die  Holzbläser  die  Hauptstimme,  die 
Violinen  aber  den  Contrapunkt  der  zuerst  in  den  Cellis 
gebrachten  gebundnen  Melodie  übernehmen.  Nach  einem 
breiten  Abschluss  tritt  folgendes  Seitenthema 


cc?     480     ^ 

Jk^r^f^J   r  (     w    |tP        ein,   aus  dem  ein  neuer,  mit 

grossem  Tumult  und  Kraftaufwand  geendeter  Zwischen- 
satz (14  Takte  lang)  gebildet  wird.  Und  nun  wird  vom 
Anfang  des  Satzes  an  wiederholt.  Bei  Haydn  und  Mozart, 
in  den  meisten  Beethoyen'schen  Sinfonien  steht  hier  das 
blosse  Bepetitionszeichen,  die  Musik  kehrt  wörtlich  wieder. 
Bei  Dvo?ak  ist  die  Wiederholung  zugleich  Variation.  Die 
Instrument]  rung  ist  wesentlich  geändert  und  zwar  nach 
einem  Muster,  das  viele  Hörer  angenehm  an  die  Concert- 
Ouvertüre  (in  A)  von  Julius  Rietz  oder  an  A.  Bubinstein*s 
„ Lichtertanz **  aus  ^Feramors"  erinnern  wird:  Von  Ab- 
schnitt zu  Abschnitt  wechseln  die  Streicher  und  die  Bläser 
zwischen  Haupt-  und  Nebenstimme,  lösen  sich  im  Vortrag 
des  von  Pausen  durchsetzten  Themas  und  der  gebundnen 
Melodie  ab. 

Diesem  Hauptsatz  steht  ein  Trio  gegenüber,  das  in 
der  Hauptsache  von  dem  zuerst  in  der  Oboe  gebrachten 

Poco  meoo  mosso.        ^^____^ 

Gedanken  4  jJ  ^f  p  p  ^  f^  f"^p    ^  7  J  :  getragen  wird. 

Den  Schluss  der  zwölftaktigen  Periode,  die  das  voll- 
ständige Thema  bildet,  machen  die  Violinen  mit  Ruhe 
athmenden,  freundlichen  Wendungen.  Das  Bild  des  Friedens, 
welches  das  Trio  entwerfen  will,  wird  etwas  durch  einen 
Seitensatz    gestört,    aus    dessen    spärlichen    Motiven    der 

Rhythmus   J^   J  stechend  hervortritt.     Das  ganze  Trio 

ist  unter  sämmtlichen  Theilen  der  Sinfonie  derjenige,  bei 
dem  die  Erfindung  den  Componisten  am  wenigsten  unter- 
stützt hat.  Gleichwohl  erreicht  es  durch  die  musikalischen 
Elemente,  durch  den  Rhythmus  insbesondre,  doch  die  be- 
absichtigte Wirkung  und  das  Scherzo  als  Ganzes  ist  der 
Satz,  der  in  seiner  eigenthümlichen  Mischung  von  Melan- 
cholie und  Beweglichkeit  auf  viele  Hörer  den  nachhal- 
tigsten Eindruck  ausübt. 


«(?     481     ^ 


Das  Finale  der  Sinfonie  (Allegro,  (fc,  DmoU)  erinnert 
mit  den  ersten  drei  Noten  seines  Hauptthemas 

Allegro.  JrlOO  a-^ 


i  ^U    \$H\\\i\      an    ein  Seitenmotiv,    das  in  trotzigen 


Vierteln  bald  sich  nach  dem  Eingang  der  Sinfonie  zeigte. 
Jedenfalls  weicht  es  dem  gewöhnlichen  Schluss  der  in  Moll  ein- 
setzenden Sinfonien  aufs  entschiedenste  aus  und  hat  mit  dem 
grossen  Kreise  der  sinfonischen  Paradigmen  zu  dem  Motto  ,per 
aspera  ad  astra*  nicht  das  Geringste  gemein.    Am  nächsten 
steht  die  Dvorak'sche  Arbeit  in  diesen  Verzicht  auf  ein 
frohes,  versöhnliches  Finale  der  CmoU-Sinfonie  Draeseke*s. 
Wenn  man  den  Inhalt  von  Dvofak's  Sinfonie  in  die  Form 
einer  Erzählung  fassen  wollte,    würde  das  Ende  lauten: 
,Die  Lage  unsres  Helden  ist  noch  widriger  und  geföhr- 
lieber  geworden,  als  sie  am  Anfang  der  Geschichte  war; 
aber  auch  seine  innre  Kraft  ist  immer  mehr  gewachsen. 
Er  braucht  sich  nicht  zu  beugen*.    Es  geht  ein  starker 
Zug  von  Trotz  durch  dieses  Finale  und  in  ihm  liegt  viel- 
leicht   die   einzige  Spur  fUr   die    nationale  Abkunft   des 
Werkes,  das  sich  motivischer  Anleihen  aus  der  böhmischen 
Volksmusik  vollständig  enthält.    Das  Bild   von  Kraft  und 
Entschlossenheit,  das  unser  Finale  entrollt,  wird  dadurch 
liebenswürdiger  und  reicher,  dass  ihm  weiche  Wendungen, 
die  wie  Sehnsucht  nach  Ruhe,  wie  Neigung  zur  Ergebung, 
wie  leise  Klagen  erscheinen,  eingemischt  sind.    Jedermann 
erkennt  eine  solche  wohl  in  den  drei  letzten  Takten  des 
oben  gebrachten  Notenbeispiels,  als  dem  Schluss  des  von 
Cellis   und   erstem  Hom   gebrachten    Hauptthemas.     Mit 
diesem  Motiv  der  Ergebung  setzen  die  Violinen  zunächst 
leise  ein  Sätzchen  von  14  Takten  ein,  das  in  seinem  jähen, 
aufgeregten  Abbrechen  uns  wieder  lebhaft  an  den  Anfang 
der  Sinfonie,  nämlich  an  jene  Stelle  zurückversetzt,  wo  das 
erste  Thema   des   ersten  Satzes   in   den   plötzlichen   ver- 

Kretzfchmar,  Führer,  I.  81 


«<?     482     ^ 

•  derten  Accord  auslief.     Derartige  Wendungen   gehen 

H* reh  die  gaii«e  Sinfonie  als  Symptome  eines  aufgeregten, 

fieberiscben  Seelenzustandes.    Hier  folgt  dem  Trugscbluss 

«uofichst   eine  Wiederholung    des  Themas   in   den   Holz- 

bifisero,  die  sich  ins  Unhörbare,  ins  Reich  des  Schlummers 

verlieren  wiU.    Vergeblicher  Versuch!   Mit  aller  Leiden- 

Bchaft,    die  ein    modernes    grosses  Orchester    ausdrücken 

kann,  nimmt  es  gleich  drauf  das  Hauptthema  im  stärksten 

forte  auf.    Dazwischen  meldet  sich  in  Flöten  und  Oboen 

der  Anfang  eines  Themas 

marcato  ^ 

fy  \/^j  jjl  M7J[}|.n.7j  J  ^^ 

das  bald  in  seiner  Vollständigkeit  seinen  Platz  als  Fort- 
setzung und  Steigerung  des  Hauptthemas  einnehmen  wird. 
Es  folgt  ihm  eine  einfache  Periode  mit  Verwandlungen 
des  Hauptthemas  gefüllt.  An  sie  knüpft  eine  gleich  kurze 
an,  der  ein  chromatisch  aufsteigendes  Scalenthema  zu 
Grunde  liegt.  Sie  giebt  sich  ziemlich  wild  und  heroisch 
und  vermittelt  technisch  die  Modulation  nach  £dur.  Sie 
thut  das  aber  sehr  ausdrucksvoll,  dringend  und  auf  das 
zweite  Thema  in  der  Stimmung  vorbereitend.  Dieses 
zweite  Thema  steht  regelrecht  inAdur,  der  Oberdominant 
der  Haupttonart  des  Finale  und  bildet  —  ebenso  nach 
bekanntem  Sonatenbrauch  —  einen  innren  Gegensatz  zum 
Hauptthema : 


j¥  \Tu  I rTr-M^7  J  i<Uj  r  r ^^ 


Zuerst  bringen  es  die  Celli,  gleich  drauf  Flöten  und  Oboen 
mit  einem  Abschluss  in  Fisdur.  Ihm  folgt  ein  14  Takte 
langes  Nachspiel  über  das  aus  dem  Anfang  genommene  Motiv 

^     •     Jj    I  J.    Und  darauf  zieht  das  Thema  im  vollen 

Glänze  des  Tutti  fortissimo  noch  einmal  vorbei.  Zu  einer 
Macht  im   geistigen  Getriebe  wird  es  nicht;  die  Durch- 


c(?     483     ^' 

führung  des  in  der  SoDatenform  gehaltDen  Satzes  nimmt 
gar  keine  Notiz  von  seiner  Existenz.  Es  bezeichnet  einen 
flüchtigen  und  trügerischen  Augenblick  des  Hoffens.  Unsern 
Componisten  hat  diese  kurze  Minute  des  Sonnenscheins  in 
die  Sphäre  Franz  Schuberts  geführt ,  mit  dem  er  ja  un- 
verkennbare Verwandtschaft  besitzt.  In  dem  Abschnitt 
der  den  Bereich  des  zweiten  Themas  abschliesst,  spricht 
Dvorak  in  Schubert'scher  Zunge.  Es  sind  Motive  der 
grossen  C  dursinfonie ,  die  uns  in  den  Anfang  der  Durch- 
führung hineingeleiten  und  auch  die  berühmten  Posaunen 
aus  dem  ersten  Satz  dieses  Monumentalwerkes  klingen  in 
Dvorak's  Finale  hinein.  Dieser  Zufall  nimmt  aber  dem 
Werth  der  Durchführung  nichts.  Ihre  bedeutendsten  Theile 
liegen  am  Anfang  und  am  Schluss,  besonders  im  erstem 
an  der  Stelle,  wo  das  Hauptthema  zweimal  staccato  ge- 
wissermassen  versuchsweise  und  ganz  leise  kommt.  Beim 
dritten  Mal  (in  H  moll)  tritt  es  vollständig  auf.  Die  Geigen 
entwickeln  das  schliessende  Ergebungsmotiv  zu  einem 
längren  Sätzchen,  bei  dem  auch  Dvorak  der  modernen  Un- 
sitte des  überflüssigen  Contrapunktirens  durch  fleissige 
aber  mehr  störende  als  unterstützende  Bläsermotive  ge- 
huldigt hat.  Den  Mitteltheil  der  Durchfuhrung  füllen 
Variationen  über  die  Fortsetzung  des  Hauptthemas,  ihr 
still  einsetzendes  Ende  Umwandelungen  des  Hauptthemas 
selbst.  In  der  Reprise  ist  der  Uebergang  zum  zweiten 
Thema  besonders  ergreifend.  Den  im  Grunde  doch 
pessimistischen  letzten  Ausklang  zu  veredeln,  setzt  Dvorak 
die  schliessenden  10  Takte  in  ein  gehaltnes  Tempo :  Molto 
Maestoso. 

Hatte  die  D  dursinfonie  sofort  Dvorak's  grosses  Talent, 
die  zweite  seine  Reife  festgestellt,  so  gab  der  Componist 
nun  in  einer  dritten,  vierten  und  fünften  Sinfonie  auch 
diejenigen  Beweise  von  Fleiss  und  Fruchtbarkeit,  die  von 
jedem  Künstler  verlangt  werden,  der  eine  hervorragende 
Stellung  behaupten  wUl.  Um  den  Umfang  von  Dvofak*s 
Begabung,  seine  ganze  künstlerische  Bedeutung  zu  beur- 
theilen  wird  unter  den  vorhandnen  Sinfonien  später  einmal 
die  zweite  die  wichtigste  sein.    Er  schien  mit  ihr,  ähnlich 


o(?     484     '^ 

wie  früher  Gade,  der  Pflege  nationaler  Musikbestrebongen 
abspenstig  zu  werden.  Diese  Erwartung  ist  jedoch  nicht 
eingetroffen,  seine  dritte  und  vierte  Sinfonie  bringen  wieder 
reichlich  böhmische  Musik. 

In  der Fdursinfonieist  das  nationale  Element  mit  der 
Reserve  benutzt,  die  für  die  Sinfonie  nothwendig  ist,  wenn 
sie  nicht  zu  einer  blossen  Ausstellung  von  lustigen  oder 
phantastischen  Genrebildern  herabsinken,  wenn  sie  auch 
ferner  noch  dem  Componisten  gestatten  soll  seine  Persönlich- 
keit mit  ihren  Lebenserfahrungen  und  ihren  Talenten  zu 
entfalten.  Die  böhmischen  Melodien  sind  in  dieser  Sin- 
fonie nicht  absichtlich  herbeigeholt,  sondern  sie  sind  im 
geeigneten  Augenblick  in  die  Architektur  der  einzelnen 
Sätze  eingestellt  worden  wenn  sie  zufällig  dem  Tonsetzer 
in  die  Hand  liefen. 
A.  DroHk  Diese  dritte  Sinfonie  Dvofak's  (Fdur,  op.  76)  zeigt 

Dritte  Sinfonie,  vielerlei  Verwandtschaft  mit  ihrer  Vorgängerin  in  den  Ein- 
wirkungen Beethoven's  und  Schubert*s;  Schumann  bringt 
sie  neu  hinzu.  Sie  steht  ihr  an  Einheit,  an  Kunstwerth 
überhaupt  sehr  nahe,  hat  vielleicht  durch  die  frappanten 
poetischen  Einfälle,  mit  der  sie  die  Formen  behandelt, 
noch  etwas  vor  ihr  voraus.  Sie  gleicht  ihr  auch  darin, 
dass  sie  als  ein  weitrer  musikalischer  Beitrag  zur  Bio- 
graphie des  Componisten  erscheint.  Sie  erzählt  von  seiner 
Jugendzeit,  von  Idealen,  von  Herzenserlebuissen,  von  wohl- 
bestandnen  Kämpfen,  von  Läuterungen.  Der  Componist 
sucht  in  diesem  Werke  die  Freude: 

„Auf  dem  saatbekrftnzten  HQgel, 
An  des  Teiches  klArcm  Spiegel, 
Auf  der  Au,  im  Buchenwald 
Ist  ihr  liebster  Aufenthalt." 

Dvofak's  Fdursinfonie  ist  zum  guten  Theil  eine  Pas- 
toralsinfonie. Besonders  trägt  ihr  erster  Satz  (Allegro  ma 
non  troppo,  */4>  F  dur)  den  Charakter  einer  derartigen  Ton- 
dichtung. Es  ist  die  Stimmung  eines  Ausmarsches  am 
schönen  Sonntagsmorgen,  mit  dem  sein  erstes  Thema  ein- 
setzt: munter  im  ersten  Theil,  fromm  am  Schluss 


e<?      485      ^ 


Allegro  ma  ooo  (roppo.  J  s  tl3 


^'J'U  NJ'LiI- 


Die  Flöte  singt 


es  der  Clarinette  nach  und  fuhrt  die  Melodie  zu  einem 
Cdurschluss.  Mit  ihm  beginnt  ein  Abschnitt  der  freudigen 
Spannung:  Die  Instrumente  nehmen  einander  Motive  des 
Themas  ab,  bald  dies,  bald  jenes,  bis  sie  sich  in  einer 
mächtigen  Triolenfigur  vereinigen.  Diese  bringt  uns  vor 
das  eigentliche  Hauptthema  des  Satzes: 

graoäloso  .  ^^^"^ 


rff 


F I"  F  I  '  ■■  LT  I  r  eine  jener  zahlreichen  Tanz- 
weisen kraftvoll  freudigen  Ausdrucks  an  denen  die  böh- 
mische Volksmusik  so  reich  ist.  Ihre  Wiederholung  giebt 
Dvorak,  wie  er  das  liebt,  den  Holzbläsern  und  Hörnern 
allein,  —  die  Streichinstrumente  machen  nur  mit  einem  ur- 
wüchsigen Zuruf:   ^^^  Jj  ihr©  Anwesenheit  bemerkbar 

—  und  diese  schliessen  in  A  moll  ab. 

In  dieser  Tonart  beginnt  sofort  eine  Durchführung. 
Sie  heftet  sich  zunächst  —  acht  Takte  lang  —  in  launigem 
Eigensinn  ausschliesslich  an  den  siebenten  Takt  des  soeben 
gegebnen  Themas.  Celli  und  Bratschen  haben  sich  seiner 
bemächtigt,  die  Violinen  möchten  es  gerne  zu  sich  herüber- 
ziehen. Dann  wandelt  sich  die  Scene.  Als  wäre  der  Wald 
dichter  und  der  Schatten  dunkler  geworden,  tritt  Ruhe  im 
Orchester  ein.  Nur  ein  lange  liegender  leiser  Accord 
(AmoU)  tönt  in  Hörnern  und  Fagotten;  über  ihm  flattert 
noch  ein  melodischer  Rest  in  den  ersten  Geigen.  Jetzt 
nehmen  die  Contrabässe  |>p  das  Motiv  des  ersten  Taktes 
in  Fdur,  die  Violinen  antworten  miit  dem  bisherigen  Syn- 


*e     486     ^ 

kopenmotiv.  Wir  denken  uns  hier  unsren  Wandrer 
ruhend,  rastend  und  träumend.  Im  Traum  rückt  das  Ent- 
fernte aneinander.  So  hier  Anfang  und  Ende  des  Themas, 
des  Gedankens  den  er  zuletzt  im  Kopfe  trug.  Die  Musik 
ergänzt  das  Stimmungsbild  an  dieser  Stelle  noch  durch 
Schilderung  der  äussren  Natur:  In  den  Clarinetten  schlagen 
leise  Triolenterzen  an,  leibhaftig  dieselben  wie  im  ersten 
Satz  von  Beethoven's  Pastoralsinfonie.  Es  flüstert  in  den 
Bäumen,  es  zirpt  im  Grase.  Und  weiter  noch :  Genau  wie 
bei  Beethoven  rückt  die  Harmonie  schroff  von  vier  zu  vier 
Takten  von  F  nach  A>,  von  da  nach  Des  um  gewaltige 
Ueberraschungen  anzudeuten.  Von  Ictztrcm  Punkt  ab  dringt 
wieder  Licht  und  Glanz  in  die  Landschaft  und  in  die  Seele 
des  Schwärmers.  Wir  gelangen  rasch  nach  Adur  und  vor 
das  zweite  Thema 

Jo/ce 


Es  verhält  sich  zum  Hauptthema  wie  Dank  zum  Genuss. 
Musikalisch  ist  zu  beachten  dass  es  an  das  Hauptthema 
durch  den  Synkopenrhytbmus  seines  zweiten  Taktes  ge- 
wissermassen  unwillkürlich  anknüpft.  In  seinem  jugend- 
lichen Drang  und  in  dessen  technischen  Ausdruck  trägt 
es  die  Züge  Robert  SchumannV 

Der  ganze  noch  übrige  Theil  der  Themengruppe  wird 
mit  Phantasien  über  dieses  zweite  Thema  ausgefüllt.  Eigen 
ist  ihm  ein  durchgehender  Triolenrhythmus  als  Begleitungs- 
figur, der  zum  Schluss  melodisch  wird  und  motivische  Be- 
deutung erhält.  Zweimal  werden  die  Variationen  über  das 
zweite  Thema  durch  ein  Solo  von  Flöte  und  Clarinette, 
das  freundlich  und  behaglich  in  Sechzehnteln  die  Scala 
hinauf  und  hinab  trällert,  unterbrochen.  Ihm  folgt  beide- 
male  ein  ebenfalls  aus  Beethoven's  Pastorale  bekanntes 
Freudeschütteln  des  ganzen  Orchesters  auf  einen  zwei  Takte 
gehaltnen  Accord  im  ff.  So  giebt  der  Componist  bald  im 
Zarten,  bald  im  Starken  dem  Glücke  das  er  schildern  will, 
reich  aus  Eignem  erfindend  und  geschickt  an  Vorhandnes 
sich  anlehnend,  immer  neue  Wendungen. 


e<?      487      "^ 

Die  Durchführung  beginnt  geheimnissvoll  beschaulich 
mit  dem  Triolenmotiv ,  das  die  Themengruppe  schloss. 
Ihm  gegenüber,  dem  Vertreter  der  einschläfernden  Zauber- 
mächte, stellen  die  Bässe  mit  den  gleichmässig  klopfenden 

Rhythmus  J  Js    1  J  » ^^^  Violinen  mit  einen  in  Accord- 

noten  abwärts  steigenden  neuen  unwesentlichen  Thema  den 
weitren  Thatendrang,  und  die  Lust  zu  neuem  und  meh- 
rerem  Genuss  dar.  Diese  Motive  führen  uns  bald  vor  das 
erste  Thema,  mit  dem  die  Sinfonie  präludirend  begann. 
Die  Flöte  bringt  es  in  G  dur.  Ebenfalls  in  höchster  Ton- 
region  wiederholen  die  Violinen  die  langsamen  Schluss- 
noten mit  Modulation  nach  Hdur.  Und  nun  folgt  eine 
lange  Strecke,  in  der  inmier  wieder  in  sehr  regelmässigen 
Abschnitten  die  erste  Hälfte  dieses  Themas  vorüberzieht. 
Es  hat  gerade  in  dieser  ersten  Hälfte  den  Charakter  ein- 
fachster Signale ,  besteht  hier  nur  aus  Accordnoten ,  ge 
Wissermassen  aus  musikalischen  Naturlauten  und  schlägt 
damit  eigentlich  in  ein  Kunstfach,  das  di^  Russen  und 
solche  Männer  der  äussersten  Linken  in  der  neuesten  Sin- 
foniecomposition für  sich  beanspruchen,  von  denen  Dvorak 
in  Ansprüchen  und  Zielen  weit  entfernt  steht.  Wie  sehr 
er  aber  im  Betrieb  dieser  künstlerischen  Spezialität  seinen 
Mann  stellt,  beweist  dieser  Theil  seiner  Durchführung. 
Wir  haben  da  eine  mit  sichrer,  leichter  Meisterhand  ge- 
bildete Stelle :  ruhig  und  regelmässig  in  gleichen  Abständen 
folgen  die  kleinen  Bilder,  die  sich  gleichen,  denn  sie  sind 
alle  lieblich  und  doch  jedes  anders.  Mühelos  fügen  sie 
sich  zum  Ganzen  und  streben  den  Höhepunkten  zu:  das 
sind  die  Takte,  wo  die  Freude  nach  lauten  Tönen  greift. 
Besonders  treten  die  Messinginstrumente  hervor.  Von  ihnen 
gebracht  wirkt  die  Sechzehntelfigur  aus  dem  Anfang  unseres 
Themas  äusserst  wohlgemuth  und  frisch;  namentlich 
die  Stelle  wo  die  Trompete  —  auf  b-c-e-g  —  damit  ein- 
setzt ist  ein  hinreissendes  Gemisch  von  Stolz  und  Heiter- 
keit. Die  Harmonie  rückt  nun  von  Adur  aus  von  zwei 
zu  zwei  Takten  immer  einen  Schritt  weiter  und  gelangt 


c<?     488     ^ 

allmählich  auf  den  verminderten  Septimenaccord  —  f-as- 
h'd  als  den  Gipfel  in  der  Entwickelung  romantischer  Ge- 
fühle. Denn  darin  ist  der  Satz  sehr  modern,  ganz  und  gar 
ein  Product  des  19.  Jahrhunderts,  dass  er  der  , höchsten 
Lust**  auch  einen  Stich  „hohen  Leids*  beimischt.  Merk- 
würdig :  alle  die  Instrumente,  die  von  Natur  beweglich  sind, 
die  Violinen,  die  Holzbläser  bleiben  an  diesem  Punkt  vier 
Takte  lang  auf  einem  Tone  im  ff  liegen  und  sind  in  der 
Höhe  erstarrt  und  unten  in  der  Tiefe  tummeln  sich  die 
schwenälligen  Bässe  mit  dem  lustigen  raschen  Motiv!  Es 
handelt  sich  hier  aber  um  einen  gewaltigen  AufiMshrei  der 
Freude,  gewaltig  und  von  einer  Leidenschaft  getrieben, 
die  nach  Ordnung  nicht  fragt.  Nach  diesem  Augenblick 
tritt  die  Reaktion  in  ihr  Recht:  Das  zweite  Thema  erscheint: 
die  Oboe  intonirt  es,  die  Clarinette  nimmt  es  auf  und  führt 
es  vollständig  vor.  Damit  ist  es  aber  auch  abgethan.  Das 
Tutti  schiebt  es  demonstrativ  mit  einem  /f  Einsatz  des 
eigentlichen  Hauptthemas,  der  kräftigen  slavischen  Tanz- 
melodie bei  Seite,  die  von  den  Violinen  nach  den  Bässen 
wandert.  Wie  keck  der  Ton  gegen  den  ersten  Eintritt 
in  der  Themengruppe  geworden  ist,  das  lässt  sich  aus  der 
Pauke  ersehen.  Die  schwieg  damals ;  jetzt  stimmt  sie  beim 
Synkopentakt  mit  einem  Sechzehnteltremolo  ein.  Dieser 
mit  dem  Synkopentakt  beginnende  Abschnitt  bleibt  nun 
für  den  Schluss  der  Durchführung ;  sechsmal  kehrt  er  mit 
denselben  Tönen  von  g  b  aus  wieder.  Ein  Ruck  von  Es 
nach  DeSy  eine  Periode  über  dasselbe  Motiv  gebildet  und 
im  pp  gehalten,  dann  der  Quartsextaccord  c-f-a  und  auf 
ihm  im  Hörn  das  präludirende  Thema  mit  dem  die  Sin- 
fonie beginnt  Die  Phantasie  klammerte  sich  an  die  letzten 
schönen  Bildern  der  Durchfuhrung  gewaltig  fest.  Nun  ist 
die  Trennung  doch  geschehen:  unvermerkt  sind  wir  in 
die  Reprise  gelangt,  die  Kunst  des  Componisten  hat  den 
Schritt  der  zum  Rückweg  führte  zu  dem  entzückendsten 
Augenblick  der  bisherigen  Wanderung  gemacht. 

In  dem  Verlauf  der  Reprise  fordert  die  Erweiterung 
des  Umkreises  des  eigentlichen  Hauptthemas  gesteigerte 
Aufmerksamkeit,  noch  mehr  die  schöne  Combination  in 


^     489     'ö* 

der  beim  Beginn  der  kurzen,  feurig  einsetzenden  Coda  die 
Einleitungsmelodie  des  Satzes  und  sein  zweites  Thema  zu- 
sammenklingen. Trompeten,  Violinen,  Flöten,  Clarinetten 
stehen  auf  der  ersten,  Posaunen,  Fagotte,  Celli  und  Contra- 
bässe auf  der  andern  Seite.  In  Abendroth  und  zartem 
Mondenschein  geht  der  schöne  Tag,  in  den  uns  die  Ton- 
dichtung versetzte,  zu  Ende. 

Der  zweite  Satz  (Andante  con  moto,  '/g,  Amoll)  ist 
ein  interessanter  Absenker  des  Allegrettos  in  Beethoven^s 
A  dursinfonie.  Die  Aehnlichkeit  liegt  hauptsächlich  in 
dem  ethischen  und  tonalen  Verhältniss  der  beiden  Theile, 
in  welche  dis  Composition  zerfallt.  Sie  entwickeln  sich 
um  folgende  zwei  Themen: 

Andante  con  moto.  J^sJB 


und 

oo  pocbettino  plö  mosso  . 

Iijliiiiipli 

Die  zweite  Hälfte  des  ersten,  von  den  Cellis  einge- 
führten Themas  modulirt  nach  A  moll  zurück.  Sein  Schluss- 
takt ist  der  Anfang  der  von  den  Violinen  aufgenommenen 
Wiederholung  mit  Schluss  in  D.  Daran  knüpft  sich  ein 
Zwischensatz,  der  das  Sechzehntelmotiv  des  Einsatzes  durch- 
führt und  ihm  folgt  als  Fortsetzung  und  Abschluss  des 
Satzes  die  bisher  gehörte  Musik  mit  den  Bläsern  (zuerst 
Flöte  und  Fagott  gemeinsam  voran)  als  Hauptstimmen. 

Zu  den  schönen  Gedanken  und  Erlebnissen  des  ersten 
Satzes  der  Sinfonie  stellt  sich  dieser  erste  Theil  des  An- 
dante in  einen  gewissen  undankbaren  Widerspruch;  als 
Niederschlag  aus  dem  trüben,  an  seelischen  Kämpfen  reichen 
Stimmungskreis  der  zweiten  Sinfonie  ist  der  ernsten  Zu- 
friedenheit, die  in  seiner  Melodie  sich  ausspricht,  ein  kleiner 
Zusatz  von  Schwermuth  beigemischt.  In  den  Zwischen- 
sätzen, die  aus  dem  Sechzehntelmotiv  herauswachsen,  ringt 


«e     490     '^ 

das  GemUth  nach  Befreiung  von  dem  dunklen  Rest  und 
nach  vollständigem  Licht.  Der  Adursatz  bringt  es.  Eine 
Weile  tragen  die  Bläser  allein  den  xwar  nicht  neuen,  aber 
an  dieser  Stelle  wie  ein  Original  wirkenden,  Himmelsruhe 
athmenden  Gesang  vor.  Mit  dem  Eintritt  von  H  moll  nehmen 
es  die  Violinen  auf  und  zugleich  tritt  an  dieser  Stelle  eine 
gewisse  Stockung  der  Empfindung  ein.  Die  Modulation 
geräth  ins  Schwanken,  es  ist  als  ob  eine  ungesehne  Macht 
den  Weg  versperrte,  es  bedarf  eines  gewaltsamen  Anlaufs. 
Dieser  führt  nach  Cdur.  Von  da  aus  wiederholt  sich  die 
schöne  Scene,  die  mit  Schumann'schen  Material  die  Weihe 
Beethoven'scher  Gebetsmomente  erreicht  Die  dramatische 
Wendung,  die  im  ersten  Theil  dieses  Mittelsatzes  mit  der 
Modulation  nach  HmoU  begann,  setzt  jetzt  mit  dem  Ein- 
tritt des  Themas  in  die  Septimenharmonie  g-h-d-f  ein ,  es 
kommt  zu  einer  gr()ssem  Kraftäusserung  und  zu  einem  ver- 
zweifelten energischen  Abschluss  in  dem  fernen  Edur.  Ihm 
antworten  wie  warnende  Stimmen,  zweimalige  Bläsersignale, 
die  wie  Recitative  wirken.  Kleinlaut  und  resignirt  tritt 
der  vermessne  HimmelsstUrmer  den  RUckzug  an  nach  der 
heimischen  Sphäre  in  die  engre  und  bescheidne  Beschau- 
lichkeit des  Hauptsatzes  in  A  moll,  der  nach  einem  langen 
Nonenaccord  auf  E  in  veränderter  Instrumentation  einsetzt. 
Die  Holzbläser  haben  das  erste  Wort,  die  Celli  erst  das 
zweite.  Nachdem  die  Doppelperiode  harmonisch  genau 
wie  im  ersten  Theil  des  Satzes  verlaufen  ist,  ninmit  die 
Musik  einen  neuen  sehr  erregten  Charakter  an.  Ein  Trug- 
schluss  nach  Bdur  markirt  den  Anfang  der  Stelle.  Sie 
endet  damit,  dass  von  den  ersten  Violinen  tumnltuarisch 
begrUsst,  in  den  Holzbläsern  wie  ganz  von  fem  das  Thema 
des  Mitteltheils  des  Adursatzes  noch  einmal  erscheint. 
Unter  dem  Eindruck  dieser  Vision  endet  der  Satz  ohne 
innerlich  zur  Ruhe  und  zum  Abschluss  gekommen  zu  sein. 
Am  deutlichsten  geht  das  aus  dem  unvermittelten  Neben- 
einander von  pp  und  f  hervor  in  dem  sich  der  Anfang 
des  Amollthemas  verabschiedet.  Es  wäre  denkbar  dass 
der  Satz  und  namentlich  sein  Schluss  auf  abergläubische 
und  hysterische  Zuhörer  beängstigend  wirkt. 


cc     491     f>» 

Dvorak  trägt  dem  ganz  UDgewöhnlichen  Ausgang 
seines  langsamen  Satzes  noch  dadurch  Rechnung^  dass  er 
dem  dritten  Satz  (Allegro  scherzando,  ^'^^  B dur)  eine  Ein- 
leitung vorausschickt,  die  au  die  Recitative  erinnert,  mit 
dem  das  Finale  von  Beethoven's  Neunter  beginnt.  Nur 
eine  ganz  kurze  Pause,  die  Zeit  lässt  einmal  aufeuathmen, 
soll  dem  Andante  folgen.  Dann  setzt  sofort  das  Achtel- 
motiv   y     J*^      I  J  j  das  in  A  moU  schloss,  auf  dem  Do- 

minantsextaccord  F-a-c-es  wieder  ein.  Es  veranschaulicht 
wohl  das  ELlopfen  des  erregten  Herzens.  Und  nun  beginnen 
die  Cellis  eindringlich  zur  Ruhe  und  Besonnenheit  zu  er- 
mahnen. Das  Tutti  giebt  den  Wiederhall  der  Worte  erst 
einsilbig,  immer  noch  zagend  und  erschreckt,  schliesslich, 
als  das  Cello  auf  es  schliesst,  gefasster  in  einem  längren 
Sätzchen  von  vier  leisen  Takten.  Da  schliesst  sich  an  die 
Fermate,  die  hier  einem  Fragezeichen  gleicht,  ganz  un- 
vermuthet  ein  hübscher  —  wohl  böhmischer  —  Walzer, 
von  dessen  Liebenswürdigkeit  der  Anfang 

Allegro  scherzando.  Js76  

•       I  ■■^^•jL"'  I   t    "  eine  genügende  Probe  giebt. 

Diese  humoristische  Ueberrumpelung  führt  glücklich 
über  eine  gespannte  und  peinliche  Situation  hinweg.  Ge- 
wiss bieten  die  Formen  der  Beethoven'schen  Sinfonie  häufig 
Gelegenheit  zu  sinnreicher  Modifikation  und  poetischer  Be- 
lebung. Aber  erst  in  neuester  Zeit  bemühen  sich  die 
Componisten  merkbarer  sie  zu  benützen,  insbesondre  die 
ausländischen.  Das  hier  von  Dvorak  gegebne  Beispiel  ist 
eins  der  auffälligsten  und  wirksamsten.  Die  Weiterfuhrung 
dieses  Themas  ist  zunächst  ganz  regelmässig.  Den  Flöten 
und  Clarinetten  nehmen  es  die  Violinen  ab.  Es  modulirt 
nach  Dmoll  und  geht  mit  den  Bläsern  nach  Bdur  zurück. 
Sofort  nach  diesem  Bdurschluss  nimmt  aber  die  froh  ge- 
müthliche  Tanzweise  einen   schwankenden  Charakter  an: 


^     492     ^ 

der  ganze  Mitteltheil  des  Hauptsatzes  verläuft  stockend: 
durch  Generalpausen,  verlegne  Wiederholungen  versprengter 
Motive  unterbrochen,  in  Fugenansätzen  die  offne  Rath- 
losigkeit  verkündend.  Das  Seitenthema,  das  sonst  üblicher 
Weise  dem  Hauptthema  Gesellschaft  leistet,  bleibt  aus. 
Es  senken  sich  über  die  Scene  die  Schatten  des  Abends 
und  der  Bangigkeit.  Der  lange  Abschnitt  endet  mit  einem 
gewaltsamen,  plötzlichen  Uebergang  der  Harmonie  von 
Dmoll  nach  Bdur,  der  Nüancirung  von  p  zum  ff.  Noch 
einmal  eine  irrende  und  suchende  Geigenfigur  und  dann: 
Wiederholung  des  ersten  Theils  des  Hauptsatzes  im  ff, 
demonstrativ  mit  Kraft  und  Glanz  angethan.  Nach  acht 
Takten  aber  schon  beginnt  das  Abschieduehmen ,  das 
Schliessen  und  Verklingen.  Dann  ein  kurzer  Uebergang 
im  pPj  merkwürdig  durch  die  Entschiedenheit,  mit  der  er 
in  fremde  Tonart  (nach  Desdur)  führt  und  in  dieser:  das 
Trio  auf  Grund  folgenden  Themas 


Es  ist  dieses  Trio  eine  neue  Idylle,  ein  verschwiegenes 
Plätzchen,  das  sich  von  dem  Festplan  des  Hauptsatzes  ab- 
zweigt, in  Park  und  Bäumen  gelegen,  für  die  Zwiesprache 
von  Liebenden  geschaffen.  Die  Musik  ist  in  diesem  Satz 
der  Ausdruck  intimster  Schwärmerei,  freudig  ruhiger  und 
inniger  Gefühle.  Er  verläuft  in  drei  Abtheilungen.  In 
der  ersten  spielen  Bläser  und  Streicher  nur  zart  um  Rhythmen 
wie  das  Schumann  gern  thut.  In  der  zweiten  (mit  dem 
Septimenaccord   des-f-as-ces  setzt   sie   ein)  erweitert  sich 

das  Motiv  durch  Anfügung  des  Rhythmus  J  J  J   i  J    zum 

Gesang.  Mit  dem  Eintritt  in  Adur  und  ins  forte  des 
vollen  Orchesters  nimmt  er  einen  Hymnenton  an,  der  uns 
ganz  an  die  correspondirende  Stelle  in  Schubert's  grosser 
Cdursinfonie  versetzt.  Sehr  schön  ist  es  wie  diese  Ab- 
theilung mit  dem  neuen  Achtelmotiv  von  dieser  Stelle  des 


*c     493     ^ 

glühenden  Ausdrucks  zurücklenkt  in  den  Ton  stiller  Selig- 
keit. Die  dritte  Abtheilung  markirt  mit  ihrem  ersten 
Schmerzensaccord :  des-f-as-ces-d  den  Augenblick  des  Ab- 
schieds, der  Trennung,  die  der  Componist  in  neuen  Tönen 
der  Innigkeit  schildert.  Nach  dem  letzten  leisen  Klopfen 
des  Des-dur-Rhythmus  setzt  sofort  laut  und  mitleidlos  der 
übermässige  Dreiklang  des-f-a  ein  und  treibt  zurück  in 
die  ländliche  Tanzscene. 

Das  Finale  (Allegro  molto,  C,  Fdur)  setzt  in  Amoll 
ein,  so  wie  der  zweite  Satz  der  Sinfonie,  das  Andante. 
Ebenfalls  ähnlich  wie  in  diesem  Andante  hören  wir  zuerst 
nur  Bassinstrumente.  Es  sind  diesmal  Celli  und  Contra- 
bässe, die  —  natürlich  in  tiefer  Lage  —  die  ersten  3  Takte 
des  Themas 

AI  legr^  molto.  Js  126 


ji^r^^^^^"'*^^^ 


:^  G Fl» 

^  '     ^1     M     II  vortragen.    Eine  Wendung  in  schwer 

Pls  G     A    H  B 

accentuirten  Vierteln  führt  nach  G  moll  und  in  dieser  Ton- 
art fällt  das  Tutti  ff  ein  und  erst  über  diesen  Umweg  ge- 
langen wir  zu  der  Lesart  in  der  hier  das  Thema  angeführt 
ist.  Auch  sie  bedeutet  noch  nicht  die  endgültige  Form 
für  den  Hauptgedanken  des  Satzes.  Dem  Componisten 
war  eben  daran  gelegen  auch  hier  Schema  und  Schablone 
zu  vermeiden  und  uns  das  thematische  Material,  mit  dem 
er  arbeitet,  in  seiner  Entstehung  und  als  ein  Produkt  einer 
Stimmungskrise  zu  zeigen.  Aus  diesem  Grunde  beginnt 
er  mit  den  Bassrecitativen ,  mit  Unmuth  und  Empörung 
mit  den  harten  an  Beethoven  erinnernden  Unisonostreichen 

des  gesammten  Orchester  auf  den  Oktaven  von  ^  und  e, 
die  dem  oben  gegebnen  Amolleinsatz  des  Tutti  voraus- 
gehen. Er  bildet  eine  Scene  der  Verwirrung  und  Ver- 
zweifelung,  die  ihren  Charakter  am  bedrohlichsten  in 
einem  hinabstürzenden  Achtelunisono   äussert.     Seinem  ff 


tc     494     "^ 

folgt  ein  piano,  der  Eile  ein  Zögern  und  nun  kommt  eine 
merkwürdige  Stelle,  die  Jedermann  an  Schubert  und  an 
das  Hörn  im  Andante  seiner  grossen  C  dursinfonie  erinnern 
wird.  Auch  hier  bei  Dvorak  liegt  die  Vorstellung  einer 
Wundererscheinung,  eines  ,deus  ex  machina*  zu  Grunde,  der 
die  wilden  Wogen  sanftigt  und  bändigt.  Die  musikalische 
Gestalt,  die  der  Componist  dieser  Vision  giebt  ist  die  einer 
liegende  Stimme  die  zehn  Takte  lang,  —  nach  jedem  Ton 
eine  kurze  Pause  —  immer  wieder  g  angiebt.  Die  Bässe 
steigen  drunter  von  e  bis  ins  grosse  g  und  stützen  eine 
Modulation,  die  von  e-g-h-des  aus  tastend  und  seltsam 
schliesslich  nach  a-cis-c-g  gelangt.  Damach  ein  Sammeln 
und  Ausholen  in  den  Stimmen  und  nun  erst  der  eigent- 
liche, der  formal  richtige  und  nothwendige  Anfang  des 
Satzes:  das  oben  angegebene  Thema  in  Fdur,  natür- 
lich mit  einigen  Aenderungen  in  den  Motiven:  vom  zweiten 
Takt  ab  in  Achteln,  bei  der  Wiederkehr  —  die  sehr 
spannend  eingeleitet  wird  durch  ein  mächtiges  Signal  auf 
h  h  —  in  Vierteln.  So  schliesst  die  Themengruppe,  die 
düster  und  schwer  begann  triumphirend,  freudig  kraftvoll. 
Aber  dieser  Siegeston  wird  schnell  abgedämpft,  der  Platz 
für  das  zweite  Thema 

zurecht  gemacht. 

Dieses  führt  uns  in  die  Sphäre  des  Adursatzes  im 
Andante  zurück  wenn  das  auch  technisch  noch  nicht  so 
gleich  zu  ergehen  ist.  Den  freien  Wiederholungen  der 
hier  mitgetheilten  Periode  folgt  zunächst  ein  sehr  einfacher 
Nachgesang  aus  Accordnoten 


=  txc 


p^k^^=f^^^-^  t  I  Q^X''  ^  '"1    ""'" 


diesem    aber   die    auf  dem  Nonenaccord  ruhende  Musik, 
mit  der   in  jenem  Andante    die  Vision  des  Adurthemas 


e<?      495      «Oo 

verschwand.    Ganz  natürlich  also,  dass  diese  Stelle,  als  sie 
geendet  —  zunächst  einen  Allarm  erregt. 

Die  Durchführung  des  Satzes  beginnt  damit.  Das 
Haupttheroa  tritt  in  C  moU  auf.  Bald  tritt  das  Motiv  mit 
den  punktirten  Achteln  —  siehe  den  zweiten  und  dritten 
Takt  des  Hauptthemas  —  in  den  Vordergrund.  Es  fugt 
sich  —  beim  Eintritt  nach  Asdur  —  zu  einem  Sätzchen, 
das  an  Wiener  Tanzweisen  köstlich  erinnert.  Jener  oben 
angegebene  Nachgesang  des  zweiten  Themas  und  die  weh- 
mUthige  Abschiedsmusik  aus  dem  Andante  treten  an  seine 
Stelle.  Wiederum  grosser  Aufruhr  als  sie  geschlossen, 
das  hüpfende  Motiv  sucht  sich  vergeblich  durch  den 
dramatischen  Lärm  des  vollen  Orchesters  durchzukämpfen. 
Die  Hörner  schleudern  ein  Machtwort  drein  und  durch  die 
erzwungene  Stille  zieht  langsam,  (tempo  Andante),  von  Oboe, 
dann  von  Clarinette  geblasen,  der  Anfang  des  Hauptthemas 
dahin.  Im  Trauergewand  nimmt  der  Dichter  den  letzten 
Abschied  von  seinem  schönsten  Ideal,  von  der  Erinnerung 
an  jene  Himmelsgestalten  des  Andante.  Die  Keprise  be- 
ginnt mit  einer  geistreichen  Variation.  Ein  einfaches  ge- 
stossenes  Achtelmotiv  mit  dem  von  Tonart  zu  Tonart 
rüstig  fortgeschritten  wird,  ist  das  neue  Element.  Dann 
kommt  das  Hauptthema  wieder  wie  im  ersten  Theil  des 
Pinale,  endlich  in  der  Haupttonart :  F  dur.  Die  Gruppe  des 
zweiten  Themas  ist  einigermassen  erweitert,  sie  schliesst 
wieder  mit  Nachgesang  und  mit  der  aus  dem  Andante 
entnommenen  Trennungsmusik.  Aber  diesmal  bricht  kein 
Tumult  aus,  sondern  es  schliesst  sich  das  fronmie  Ende 
des  Einleitungsthemas  des  ersten  Satzes  an.  Immer 
freudiger  wird  nun  der  Ton,  in  dem  das  Hauptthema  (in 
F)  wieder  aufgenommen  wird,  immer  pastoraler  und  in 
den  zwölf  letzten  Takten  stehen  wir  vor  dem  Anfang  der 
Sinfonie.  Glänzend  intonirt  die  Posaune  das  erste  Thema 
des  ersten  Satzes. 

Dvoi'ak's    vierte    Sinfonie    (Gdur   op.   88)    ist   in    A.  Drofak 
England  erschienen  und  vielleicht  schon  aus  diesem  Grunde  Vierte  Sinfonie, 
weniger  bekannt  geworden.    Es  stehen  ihrer  Einbürgerung 
und  Verbreitung  jedoch  auch  innere  Schwierigkeiten  gegen- 


^     496     ^ 

über:  Sie  ist  den  Begriffen  nach,  an  die  die  europäische 
Musikwelt  seit  Haydn  und  Beethoven  gewöhnt  ist,  kaum 
noch  eine  Sinfonie  zu  nennen,  dafür  ist  sie  viel  zu  wenig 
durchgearbeitet  und  in  der  ganzen  Anlage  zu  sehr  auf 
lose  Erfindung  begründet.  Sie  neigt  zu  dem  Wesen  der 
Smetana*schen  Tondichtungen  und  dem  von  Dvofak's  eignen 
slavischen  Rhapsodien.  Die  wahre  Freude  an  dem  Werk 
bleibt  den  Landsleuten  des  Componisten  vorbehalten,  die 
in  dieser  und  jener  an  sich  nur  bescheidnen  Melodie  ein 
Stück  theuerster  Cultur  erleben. 

Der  erste  Satz  (Allegro  con  brio,  C,  Gdur)  wird 
von  einer  elegischen  Weise  in  G  moll  eingeleitet,  die  durch 
den  vollständig  Schubert'schen  Schluss  mit  der  Auflösung 
nach  Dur  am  meisten  fesselt.  In  der  Mitte  drängt  sich 
ein  Marschmotiv: 

J  JJ|J.  /7|JJJJ|eJ.  bervor.  Dieser  Ein- 
leitung, die  sich  hauptsächlich  auf  Cello  und  Hom  stützt, 
folgt  die  Flöte  mit  einem  Thema  in  Gdur 


das  unter  den  zahlreichen  Ideen,  die  dem  Componisten 
während  dieses  Satzes  durch  den  Kopf  ziehen ,  die  erste 
Stelle  einnimmt.  Nächst  ihm  gelangt  das  Marschmotiv 
zur  grössten  Bedeutung.  Nachdem  das  zweite  Thema  mit 
seinem  Gefolge  vorbei  ist,  kehrt  die  Einleitung  in  Moll 
wieder.  Diese  Stelle  ist  die  bemerkenswertheste  im  Satze. 
Ihr  folgen  Durchführung  und  Reprise  ohne  nennenswerthe 
Beweise  von  Inspiration  oder  künstlerischer  Energie. 

Der  zweite  Satz  (Adagio,  "Z^,  CmoU)  ist  der  originellste 
der  Sinfonie  und  einer  der  eigensten  überhaupt,  die  wir 
Auf  diesem  Gebiete  haben.  Feierliche  Kirchenmusik, 
Serenaden,  von  fem  her  kecke  Marschklänge  —  ganz 
disparate  Elemente  schliessen  sich  da  höchst  glücklich  zu- 
sammen. 


co     497     o» 

Der  dritte  Satz  (Allegretto  grazioso,  '/g,  Gmoll)  hat 
zum  Hauptthema  eine  Melodie  von  sehr  breitem  Wurf  und 
einem  Charakter,  der  sich  ganz  für  den  Hausschatz  der 
älteren  Romantik  eignen  würde.  Als  Seitenthema  folgt 
ihr  eine  chromatisch  beginnende  Weise,  die  in  einem  etwas 
halsstarrigen  Canon  durchgeführt  wird.  Der  beste  Theil 
des  Satzes  ist  das  Trio  in  Gdur.  Seine  Melodie  hat 
Kinderaugen.  Das  Finale  (Allegro  ma  non  troppo,  */«  G  dur) 
wird  von  einem  sehr  anspruchsvollen  Trompetensolo  ein- 
geleitet, das  uns  wohl  zu  einem  Nationalfest  ruft.  Volks- 
spiele in  Gestalt  von  Variationen  über  eine  Paraphrase 
des  Hauptthemas  vom  1.  Satze  —  siehe  das  erste  Noten- 
beispiel —  füllen  es  zum  grössten  Theil  aus. 

Eduard  Hanslick  fasst  in  seinem  Neuesten  Buche: 
,Fünf  Jahre  Musik*  einige  Kammercompositionen  Dvoifak^s 
als  des  Componisten  , Amerikanische  Musik"  zusammen. 
Das  HauptstUck  dieser  Abtheilung  zu  sein  darf  Dvorak*s  A.  Drofak 
neueste,  seine  fünfte  Sinfonie  (Emoll,  op.  95)  bean- '*^°'*« Sinfonie, 
spruchen.  Sie  führt  oft'en  den  Titel  »Aus  der  Neuen 
Welt*.  Ein  Programm  will  diese  Bemerkung  wohl  kaum 
bieten,  die  Sinfonie  malt  und  schildert  nur  sehr  bescheiden. 
Sie  sollte  den  Freunden  Dvorak's  ein  Lebenszeichen  bringen, 
die  Fragen  nach  seinem  Thun  und  Ergehen  nach  echter 
KUnstlerart  nicht  mit  Reden  und  Worten,  sondern  mit  einem 
Stück  seines  besten  Lebens  beantworten.  Da  kann  sich 
Jeder  überzeugen  ob  er  noch  der  Alte  im  fremden  Lande 
geblieben.  Spärlich  und  nicht  gerade  imposant  konmien 
einige  neue  Eindrücke  zum  Vorschein,  die  die  New- Yorker 
Zeit  in  Seele  und  Phantasie  verursacht  hat;  mächtiger 
schlägt  aus  dem  originellen  Künstlerbrief  die  Sehnsucht 
nach  der  alten  Heimath,  die  Liebe  die  ihn  an  der  Väter 
Sitte  bindet,  hervor. 

Einen  äusserlich  greifbaren  Niederschlag  des  Ameri- 
kanischen Aufenthalts  bietet  die  Sinfonie  in  einer  Handvoll 
aus  der  Volksmusik  der  Neger  oder  der  Indianer  stammen- 
den Originalmelodien,  die  in  den  einzelnen  Sätzen  des 
Werkes  verstreut  und  versteckt  sind.  Der  amerikanische 
Neger  hängt  mit  der  Musik  fast  ausschliesslich  durch  den 

Kretxschmar,  Führer,  I.  83 


^     498     'o* 

RhythmuB  zusammen ;  bei  weitem  höher  stehen  die  Indianer- 
weisen. Ihnen  begegnen  wir  deshalb  auch  häufiger  in 
Instrumentalcompositionen  der  jungen  amerikanischen 
Schule ;  auch  Heinrich  Zöllner  hat  in  einem  seiner  letzten 
Chöre,  dem  , Indianischen  Liebesgesang*  eine  sehr  hübsche 
Probe  davon  gebracht.  Dass  ein  Vertreter  nationaler 
Elemente  in  der  Kunstmusik  wie  Dvorak  Volksweisen 
überall  wo  er  sie  findet  theünehmend  und  liebevoll  be- 
handelt, versteht  sich  ohne  Weitres.  Wenn  wir  trotzdem 
sehen,  dass  aus  dem  amerikanischen  Material  in  dieser 
Sinfonie  nicht  viel  geworden  ist,  so  führt  diese  Thatsache 
zu  der  Vermuthung:  dass  die  Natur  dieses  Materials  dem 
Wesen  der  Sinfonie  zu  fremd  gegenüber  steht. 

Der  erste  Satz  beginnt  in  einer  langsamen  Einleitung 
(Adagio,  */g,  Emoll)  mit  nachdenklichen  durch  Syncopen- 
rhythmus  gezeichneten  Motiven,  die  leise  von  den  Cellis 
zu  den  Flöten  ziehen.  Plötzlich  setzt  das  Streichorchester, 
an  das  Syncopenmotiv  anknüpfend,  unisono  im  ff  ein ,  die 
Pauke  dröhnt,  scharf  fahren  die  Bläser  auf,  die  Harmonie 
ist  von  Emoll  nach  Bdur  gesprungen.  Es  muss  etwas 
Bedeutendes  vorgefallen,  eine  grosse  Wendung  eingetreten, 
ein  wichtiger  Entschluss  gefasst  sein.  In  der  neuen  Tonart 
treten  neue  Motive  auf:  die  Bedenklichkeit  (in  den  Holz- 
bläsern) wird  vom  Wagemuth  (Celli,  Bratschen,  Homer) 
vertrieben.  Die  aufsteigenden  Töne  dieses  zweiten  Motivs 
künden  das  Hauptthema  des  Allegros  ("^/„  Emoll)  an,  das 
nach  wenigen  Takten  eintritt.     Seine  vollständige  Gestalt 

Allegro  mfilto.  J  =  136 


ruht  in  der  ersten  Hälfte  auf  dem  Klang  des  zweiten  Horns, 
in  der  zweiten  auf  Clarinetten  und  Fagotten,  spricht  in 
jener  grosses  Sehnen  und  Erwarten,  in  dieser  Behagen  und 
Befriedigung  aus.  Die  nächste  Wiederholung,  an  der 
Spitze  die  Oboe,  führt  nach  Gdur,  und  sofort  mit  Trug- 
schluss  nach  H  dur.  Von  da  an  setzt  es  mit  der  ersten 
Hälfte  allein  zu  neuen  Sätzen  an;  die  Stimmung  schwingt 


c<?     499     ^ 

sich  auf  und  es  kommt  zu  einer  neuen  Wiederholung  des 
Hauptthemas  in  seiner  Originaltonart,  im  fff.  Im  Triumphe 
zieht  es  vorüber,  gefolgt  von  einer  Kette  froher  Gefühle 
über  das  leitende  Motiv  der  zweiten  Themenhälfte  gebildet. 
Ehe  man  es  erwartet,  wird  abgebrochen ;  der  freudige  Ton 
wird  schwächer,  zögert  und  schwankt.  Wir  stehen  vor 
einem  psychologischen  Vorgang  wie  ihn  Jeder  jeden  Tag 
erlebt :  Eine  Fülle  innerer  GefUhle  schwindet  plötzlich  vor 
einem  Eindruck  der  das  äussere  Auge  getroffen  hat.  Die 
kleine  Barbarenmelodie 

Fl.a.ob.  ^^  ^^ 

^  i    r      ;     r   r    r      ;   ^  t" 

ist  in  Sicht  gekommen.  Alles  was  Dvorak  bisher  gegeben 
hat,  konnte  in  Europa  heimisch  sein;  diese  Tanzweise 
fuhrt  uns  zum  ersten  Mal  in  die  neue  Welt,  wenigstens 
auf  einen  der  Kultur  entrückten  Boden.  Das  sagt  uns  vor 
Allem  das  f  an  Stelle  des  fis.  Wo  der  Leitton  aufhört, 
da  beginnt  das  Naturvolk  oder  das  Alterthum.  Der  fremd- 
artige Charakter  der  Weise  wird  aber  durch  Nebenum- 
stände noch  unterstützt.  .  Da  ist  das  Hom ,  das  die  ganze 
Zeit  d  in  Vierteln  giebt.  Auch  in  den  Violinen  zittert 
und  schillert  dieses  d.  Als  das  amerikanische  Thema  zum 
ersten  Male  erscheint,  da  hat  der  Componist  noch  nicht  die 
Absicht  sich  ihm  gefangen  zu  geben.  Die  Flöten  und 
Oboen  bringen  es  als  Contrapunkt,  als  Begleitstimme;  die 
geistige  Fuhrung  liegt,  wenn  auch  nur  leise,  noch  in  der 
Clarinette.  Aber  schon  nach  8  Takten  ist  das  anders.  Da 
kommt  die  Melodie  der  Wilden  in  die  zweite  Violine  und 
bringt  ihren  ganzen  aus  der  Heimath  gewohnten  Musik- 
apparat mit :  die  liegenden  Stimmen  und  die  Quintenbässe. 
Und  nun  ist  auch  die  Phantasie  des  Tondichters  auf  eine 
weite  Strecke  ganz  von  diesen  drolligen  Motiven  in  Beschlag 
genommen.  Er  sucht  sich  ihrer  mit  einer  ernsten  Bass- 
weise zu  erwehren  aber  drüber  spielen  die  Sechzehntel 
weiter  und  in  den  Holzbläsern  kommen  gar  neue  Motive 

83* 


cc     500     '^ 

dazu,  die  mit  Pralltrillem  und  kecken  Rhythmen  des  Abend- 
länders zu  spotten  trachten.  Die  lustige  Weise  war  nur 
ein  Vorläufer;  in  das  eigentliche  amerikanische  Musik- 
wasser kommen  wir  erst  mit  dem  zweiten  Thema  das  die 
Flöte  in  Gdur  bringt 


P 

Mit  ihm  schlicsst  auch  der  ganze  erste  Theil  des  Satzes, 

die  Themengruppe  sofort  ab. 

Die  Durchführung  beginnt,  indem  sie  an  das  Ende 
des  zweiten  Themas  anknüpft,  auf  dem  übermässigen  Drei- 
klang g-h-dtSj  der  12  Takte  lang  immer  leiser  gehalten 
wird :  Der  Dichter,  von  den  neuen  Eindrücken  überwältigt 
und  verwirrt,  schlummert  ein.  Wie  im  Traum  tritt  nun 
in  seiner  Seele  das  Entlegenste  zusammen:  der  Anfang  des 
zweiten  Themas  und  der  Schluss  des  ersten.  Dann  kommt 
dieses  zweite  Thema  —  jetzt  in  Adur  und  Amoll  —  in 
einer  närrischen  Verkürzung  und  zerrissen,  die  erste  Hälfte 
in  den  Cellis,  die  zweite  in  den  Holzbläsern,  unaufhörlich  nach 
vom.  Die  Combination  von  erstem  und  zweiten  Thema  kehrt 
wieder.  Dann  stellt  sich  der  Anfang  des  Hauptthemas 
mit  ein  und  sobald  es  sich  gezeigt  ist  der  Traumcharakter 
für  eine  Weile  preisgegeben.  Jedes  der  aus  seinem  Zu- 
sammenhang gerissenen  Elemente  sucht  sich  durchzusetzen 
und  mit  Gewalt  zu  behaupten.  Das  giebt  eine  Art  Rüpel- 
scene  mit  grossem  Lärm.  Erst  am  Schluss  der  im  Ganzen 
knappen  Durchführung  wo  das  Hauptthema  entschieden 
die  Oberhand  gewinnt,  tritt  wieder  Kühe  und  Klar- 
heit ein. 

Die  Reprise  verläuft  regelmässig  bis  auf  den  im- 
wesentlicheu  Umstand,  dass  das  zweite  Thema  in  Asdur 
steht.  In  der  Coda  lässt  Dvorak  zweites  und  Hauptthema 
gleichzeitig  spielen :  jenes  in  den  Trompeten,  dieses  in  der 
Altposaune.  Der  ganze  Schluss  ist  in  Farbe  und  Harmonie- 
haltung sehr  glänzend  und  rühmt  den  Freunden  in  der 
Heimath  die  „Neue  Welt"  im  Superlativ. 

Der  zweite  Satz  (Largo,  C,  Des  dur)  ist  wohl  derjenige, 


^     501     ^ 

der  bei  den  meisten  Zuhörern  der  Sinfonie  einen  dauernden 
Platz  in  ihrer  Erinnerung  erobert.  Er  ist  von  der  eigen- 
thUmlichen,  ruhigen  und  träumerischen  Schönheit,  durch 
die  uns  zuweilen  Bilder  der  Wüste,  der  Steppe,  der  Pussta 
80  mächtig  ergreifen.  Die  Stille  und  die  Grösse  der  Seh- 
fläche und  der  unbestimmte  Glanz  der  drüber  liegt,  wirken 
gemeinsam  Phantasie  und  Sinne  zu  nähren  und  noch  mehr 
zu  reizen.  In  der  Musik  finden  wir  die  Seitenstücke  zu 
dem  Satze  Dvorak's  am  nächsten  bei  Borodin  und  Rimsky 
Korsakoff.  Es  handelt  sich  um  einen  neuen  Ton,  dem  sich 
Ton  den  Aelteren  nur  Liszt  in  seinen  Ungarischen  Rhapso- 
dien nähert.  Dvorak  hat  vielleicht  Eindrücke  der  Prairie 
in  seine  Largo  gemischt. 

Der  Satz  beginnt  ,wie  Orgelton  und  Glockenklang* 
mit  feierlichem,  breiten  Accordenvorspiel  der  Messingbläser. 
Darauf  setzt  das  englische  Hörn  zu  folgendem  Ge- 
sang an: 

Largo.  J  =  62 


Des  Des F Ges.  Ab.Deä 


Das  ist  die  Stimme  des  Gottesfriedens,  der  heitern 
Andacht,  der  kindlichen  Unschuld,  erhebend  und  lieblich 
zugleich.  Der  Satz  wird  unter  Mitwirkung  von  Clarinetten, 
dann  Fagotten  zu  einem  bescheidenen  Lied  von  16  Takten 
erweitert.  Da  kehren  die  einleitenden  Accorde,  jetzt  in 
den  Holzbläsern,  zum  Abschluss  wieder.  Darauf  nehmen 
die  Violinen  das  Thema  zu  einem  kleinen  Satz  der  dem 
Mitteltheil  des  dreitheiligen  Liedes  ungefähr  gleicht  und 
das  Schlusswort  hat  das  englische  Hörn.  Ihm  nach  giebt, 
wie  im  fernsten  Echo,  das  Hom  con  cordini  die  Motive  des 
ersten  Taktes  noch  einmal.  Dieser  bis  hierher  reichende 
erste  Theil  des  Largo  ist  in  Desdur  geblieben.  Der  zweite 
setzt  in  Cismoll  ein.  Sein  thematisches  Material  besteht 
aus  mehreren  Stücken. 

Das  erste  Stück  wird  vom  folgenden  Thema  ge- 
bUdet: 


cG*     502     ^ 


Ud  ppcp  plu  mosso. 


^f^     Es  bringt  von  aussen  her,  ähnlich  wie  die 


E—         eis 

Gmoll-Melodie  des  ersten  Satzes  der  Sinfonie,  Bewegung 
in  die  bis  dahin  feierlich  ruhige  Scene.  Als  zweites  Stück 
folgt  ihr  ein  langsamer  Gesang  in  den  Clarinetten 


Oo  poco  meno  mosso. 


Ersichtlich  ziehen  Schatten  durch  ihn.  Glich  dasDesdur- 
Thema  einem  Dankgebet,  so  dieses  einer  Bitte  um  Schutz 
vor  Gefahren.  Ziehen  wir  aber  die  Erregung  mit  in  Be- 
tracht, die  sich  in  den  Rhythmen  der  begleitenden  Streich- 
instrumente ausspricht,  ferner  den  leisen  Ton  in  dem  der 
Satz  gehalten  ist,  drittens  den  deutlichen  nationalen  An- 
klang in  der  Melodie,  so  dürfen  wir  den  Abschnitt  wohl 
auch  auf  Heimathserinnerungen  des  Componisten  deuten. 
Das  eine  schliesst  in  diesem  Fall  das  andere  nicht  aus. 
Was  der  Poesie  versagt  ist,  verschiedue  Vorstellungen  und 
Empfindungen  mit  einander  in  der  gleichen  Sekunde  zur 
Anschauung  zu  bringen,  —  die  Musik  kann  es. 

Die  von  diesen  beiden  thematischen  Stücken  gebildete 
Gruppe  wird,  und  zwar  in  derselben  Tonart,  wiederholt. 
Der  Hauptunterschied  ist ,  dass  jetzt  die  Violinen  führen. 
Zu  dem  Triolenthema  bringen  die  Holzbläser  nachahmende 
und  verstärkende  Contrapunkte.  Wie  das  bei  Wallfahrten 
häufig  vorkommt,  dass  sich  an  die  religiösen  Ceremonien 
ein  bunter  Jahrmarkt  anschliesst,  so  folgt  jetzt  dem  CismoU- 
Theil  ein  dritter  Abschnitt  unsres  Largo  in  Cisdur,  dessen 
Charakter  durch  das  ihm  zu  Grunde  liegende  Thema 


co     503     '^ 

genügend  gekennzeichnet  wird.  Es  läuft  erst  durch  die 
obern  Holzbläser,  dann  nimmt  es  das  Streichorchester  auf 
und  treibts  mit  ihm  zu  einer  wilden,  bachantischen  Lustig- 
keit, die  sich  mit  der  Schnelligkeit  entwickelt,  in  der  nur 
Naturvölker  ihre  Empfindungen  wechseln.  Die  Trompeten 
setzen  das  Tüpfelchen  auf  das  i  des  tollen  Spucks.  Sie 
sind  es  aber  auch,  die  schon  im  nächsten  Augenblick  der 
aus  Rand  und  Band  gerathnen  Gesellschaft  der  Instrumente 
wieder  den  ernsten  Zweck  der  Versammlung  zu  Gemüthe 
führen.  In  einem  unerwarteten  A  dur  (unmittelbar  auf  die 
Cis  dur-Accorde)  bringen  sie  den  Anfang  des  Hauptthemas 
des  Largos,  des  Des  dur-Themas.  Es  folgt  in  seiner  Ori- 
ginalgestalt und  vom  englischen  Hörn  gesungen  diesem 
Appell  auf  dem  Fusse.  Als  es  die  Geigen  aufnehmen,  macht 
sich  —  in  drei  Fermaten  —  ein  wundersames  Stocken  be- 
merkbar. Der  Satz  verklingt  poetisch  als  wenn  sich  Nacht 
übers  Land  breitet.  Ganz  nahe  am  Schlüsse  hören  wir 
auch  noch  einmal  die  feierlich  langsamen  Bläseraccorde. 
Das  Scherzo  der  Sinfonie  (Molto  vivace,  '/4,  Emoll) 
entfaltet  in  seinem  Hauptsatz  einen  harten  Humor.  Diese 
Härte  beruht  weniger  auf  dem  melodischen   Thema   des 

Molto  vivace.  d<r80 

Satzes  i%t   ^J^-f-r   M^  T  1^4^?)    ^    H  als  auf 


P 

der  Einkleidung,  die  ihm  der  Componist  giebt.  Mit  einigen 
erschreckenden  Schlägen  meldet  es  sich  in  den  einleitenden 
Takten,  lässt  seine  ersten  Achtel  befremdend,  zügellos 
durch  die  Streichinstrumente  sausen,  erscheint  dann  endlich 
vollständig  aber  auf  einem  gänzlich  unbefriedigenden 
Accord,  (auf  der  Dissonanz  h-d-e-g),  so  wie  es  die  russischen 
Melodien  zu  thun  pflegen.  Als  es  zum  zweiten  Male  seinen 
Weg  sucht,  stellt  sich  ihm  die  Clarinette  rechthaberisch 
und  ungeberdig  entgegen.  Dann  hat  sich  wieder  das  Tutti 
des  Streichorchesters  in  einem  übermässigen  Dreiklang 
verfizt  und  als  es  endlich  in  die  richtige  Harmonie  ge- 
kommen ist  und  im  ff  die  Unglücksmelodie  durchdrückt, 
stellen  wieder  die  Hörner  mit  ganz  querköpfigen  Tönen 


e<?      504      ^ 

alles  Erreichte  in  Frage  und  finden  leider  bei  den  sämmt- 
liehen  Hokbläsem  Unterstützung.  Nur  die  Bässe  führen 
unter  diesen  Umständen  die  Absicht  mit  dem  Scherzo- 
thema durch.  Aber  nachdem  der  Form  soweit  genügt  ist, 
lässt  man  es  allgemein  fallen.  Ganz  wieder  allen  Brauch 
tritt  schon  jetzt  das  Trio  ein,  ein  etwas  langsam  ge- 
haltuer  Satz  in  Edur  mit  folgendem  Hauptthema 


Seine  beiden  ersten  Noten  erklären  uns  warum  der 
Satz  bisher  so  wunderlich  verlaufen,  warum  der  Scherz 
in  einen  Streit  ausgeartet  ist.  Der  zweite  Satz,  das  schöne 
Largo  beherrschte  noch  die  Phantasie  und  was  hier  in 
diesem  Trio  in  den  Holzbläsern,  später  im  Cello  gespielt 
wird,  ist  ein  Anklang,  ein  Nachklang  seines  Des  durthemas, 
der  Melodie  des  englischen  Homs.  Doch  lange  dauert 
der  Frieden  dieses  Trios  nicht.  Dem  Cello  wird  die  übliche 
zweite  Periode  gar  nicht  vergönnt.  Das  Thema  des  Haupt- 
satzes setzt  wieder  ein  im  dreifachen  p  und  in  Edur. 
Aber  bald  wird  das  Wetter  schlecht:  ein  verzweifelt  vor- 
wärts schiebender  Uebergangs-  und  Modulationssatz,  bei 
dem  die  Trompete  eine  sehr  wichtige  Rolle  spielt  bringt 
uns  wie  im  Flug  wieder  nach  £  moll  und  gleich  an  die  Stelle 
wo  die  Homer  das  ff  des  Hauptthemas  so  heftig  bestritten. 
Sie  haben  jetzt  auch  die  Bässe  auf  ihrer  Seite  und  es 
kommt  zu  einem  schnellen  Schluss,  oder  vielmehr  einem 
Abbrechen.  Es  ist  still  geworden.  In  den  Bläsern  hören 
wir  wie  einen  Wehruf  wiederholt :  c  Ä,  die  Geigen  intoniren 
dazu  wie  stumpf  und  mechanisch  das  Quintmotiv,  mit  dem 
das  Thema  des  Hauptsatzes  beginnt.  Da  werfen  die  Celli 
und  nach  ihm  die  Bratschen  in  die  allgemeine  Rathlosig- 
keit  das  Hauptthema  des  ersten  Satzes  der  Sinfonie  hinein, 
auf  das  vor  dem  letzten  Sturm,  wohl  unbemerkt,  die  Bässe 
schon  einmal  angespielt  haben.     Jetzt  thut  es  seine  Wir- 


6<?     505     ^ 

kung.     Es  beginnt  ein  friedliches  Spiel  um  folgende  ein- 
fache Tanzweise 

Mdito  vlrace.  J. :  sO 

J'ii  ii  ii'  II I'"  inrnrpf  irTfuTi  ii 


die  uns  wieder  in  die  deutsche  Volksmusik,  wieder  in  die 
Nähe  von  Dvorak's  grossem  Ahnherrn  Franz  Schubert 
führt.  Dem  C  dursatz ,  mit  dem  dieses  neue  Thema  be- 
ginnt folgt  eine  Fortsetzung  in  G  mit  weitem  hübschen 
Motiven  als  zweiter  Theil  und  dann  kommt  der  C  dursatz 
wieder.  £s  handelt  sich  also  in  der  Composition  unseres 
Scherzos  um  die  Einschiebung  eines  dreitheiligen  Lied- 
satzes an  die  Stelle  einer  etwaigen  Durchführung.  Durch 
diese  Einschiebung,  weiter  durch  die  Vorschiebung  des 
Trios,  durch  die  Aufnahme  von  Themen  aus  dem  zweiten 
und  ersten  Satz  hat  aber  Dvorak  seinem  Scherzo  einen 
ganz  ausserordentlich  individuellen  Charakter  gegeben. 
Das  hergebrachte  Formenschema  ist  zwar  benutzt  worden, 
aber  die  Formen  haben  eine  ganz  unerwartete  Bedeutung 
und  Stellung  erhalten.  Der  eigentliche  geistige  Hauptsatz 
ist  der  C  dursatz  geworden,  den  wir  eben  verlassen  haben. 
Dvofak  hat  seine  wiederholt  gerühmte  Kunst  der  poeti- 
schen und  dramatischen  Belebung  Beethoven'scher  Formen 
wiederum  glänzend  bewiesen.  Man  kann  nur  wünschen, 
dass  dieser  Beweis  auch  als  Muster  dienen  möge! 

Die  Coda  des  Satzes  ist  vorzugsweise  dem  Haupt- 
thema aus  dem  ersten  Satz  der  Sinfonie  gewidmet;  ganz 
am  Schlüsse  spielt  die  Trompete  noch  einmal  auf  den 
eingeschobnen  C  dursatz  an  und  bekräftigt  damit  die 
Wichtigkeit  die  er  in  dem  nun  beendeten  Satz  ge- 
habt hat. 

Das  Finale  der  Sinfonie  (Allegro  con  fuoco,  C,  E  moll) 
beginnt  in  einem  ähnlichen  Balladenton  wie  der  Schluss- 
satz von  Gade's  C  moll- Sinfonie.  Auch  thematisch  fühlt 
man  sich  an  dieses  Werk  erinnert  wenn  das  Hauptthema 
wie  folgt  einsetzt: 


c(?     506     ^ 


Allei^ro  eoo  fuoco.  J  :  tß2 


f>nr  rrir'nr  H-f^f+h^-fK^r  ir'pr  i 

>/^Horoer  a.  Trompeten. 


^ 


1  .    Ueber   den    Charakter   der   in- 


dianischen Kriegsmelodien  wie  sie  etwa  Baker  mittheilt*), 
geht  es  mit  grossem  Schwung  hinaus.  Es  könnte  ein  Kampf- 
lied der  Puritaner  aus  den  Unabhängigkeitskämpfen  sein. 
Nachdem  das  volle  Orchester  die  Melodie  abgeschlossen 
hat,  findet  ihr  Siegesmuth  einen  weitern,  nicht  mehr  feier- 
lichen, sondern  kräftig  weltlichen  Ausdruck  im  folgenden 
Thema,  das  seine  fremdländische  Abstammung  durch  drei- 
taktiges  Metrum  kundgiebt 


'M^^kä^^ 


Zum  zweiten  Male  in  der  Haupttonart,  EmoU,  gebracht 
verliert  es  sich  auffallig  schnell.  Die  Harmonie  sitzt  auf 
dem  verminderten  Septaccord  cis-e-g-b  fest;  zu  den  vielen 
allarmirenden  Elementen  die  an  der  Stelle  zusammen- 
kommen, steuert  auch  das  Schlagzeug  bei.  Wie  geister- 
haft tritt  als  zweites  Thema  des  Finale  der  Gesang  der 
Clarinette  ein 


4^igrgiiij3 


dim. 


^  aim. 


Er  bedeutet  Heimweh,  Sehnsucht  nach  Vaterland  und 
Freunden,  den  Entschluss  zur  Rückkehr  in  die  alte  Welt. 
Wenn  wir  es  aus  dem  Thema  selbst  nicht  verstehen  sollten, 


^)   Th.  Baker.     Ueber   die   Masik   der  nordamerikanischen 
Wilden.     Leipzig  1882. 


<o     507     "^ 

aus  dem  schmerzlichen  Einsatz,  80  sagt  es  uns  das  Motiv  das 
im  6.  Takt  begleitend  einsetzt.  Das  stammt  aus  Dvofak's 
letzter  Sinfonie,  aus  seiner  vierten,  seiner  böhmischen  Sin- 
fonie. Diesem  elegischen  Thema  der  Clarinette,  das  die 
Violinen  bald  aufnehmen,  schickt  Dvorak  einen  fröhlichen 
Nachfolger  hinterdrein 


.jL^J^-f^uHi 


Sein  letzter  Takt  trägt  in  Ubermüthiger  Färbung  langhin 
die  Fortsetzung,  bis  ihn  zuletzt  der  Fagott  mit  dem  Cello 
vereint,  leise  aufnimmt  und  das  Motiv  ins  humoristische 
wendet.  Ein  wenig  klingt  es  ja  auch  an  den  Mitteltheil 
des  Cdursatzes  im  Scherzo  an. 

In  der  Durchfuhrung  wechselt  zunächst  dieses  Motiv 
der  Heimkehr  —  wie  wirs  wohl  nennen  dürfen  —  mit 
Bruchstücken  der  amerikanischen  Themen  des  Finale.  Dann 
setzt  in  F  dur  die  schöne  Hauptmelodie  des  zweiten  Satzes 
der  Sinfonie,  das  Largo  ein,  tritt  glänzend  und  glänzender 
heraus.  Daneben  stellt  sich  dann  der  Anfang  vom  Haupt- 
thema das  Finale,  plötzlich  tritt  das  Homthema  herein 
mit  dem  die  Sinfonie  begann:  das  Motiv  der  Erwartung. 
Jetzt  gilt  es  wohl  der  Heimreise.  Noch  eine  Weile  streiten 
sich  im  Gemüthe  des  Componisten  und  in  der  Durchführung 
Alte  und  Neue  Welt.  Dann  erscheint  im  Meno  mosso  des 
Hauptthema  das  Finale  piano  von  der  Oboe  in  tiefer  Lage 
und  vom  Hom  geblasen,  bald  darauf  das  zweite  Thema, 
das  Thema  des  Heimwehs  in  Edur.  Der  Abschied  ist  ge- 
nommen, der  Entschluss  zur  Rückkehr  gefasst  und  ent- 
schlossen, freudig  wird  er  ausgeführt. 

Unter  den  weitem  böhmischen  Beiträgen  zu  Sinfonie 
und  Suite  erregen  die  Arbeiten  von  ZdenkoFibiöh  des- Zdeako FiblJh 
halb  das  Interesse,  weil  dieser  Componist  durch  Ouvertüren  Sinfonie  in  Et. 
und  ähnliche  einsätzige  Werke  ein  starkes,  in  der  Erfindung 
hervorragendes  Talent  bewiesen  hat.  Von  seinen  zwei 
Sinfonien  ist  nur  die  zweite  (in  Es  dur)  in  Deutschland  be- 
kannt geworden,   hat   sich  jedoch   nur  wenig  verbreitet. 


c<?     508     ^ 

Das  liegt  wesentlich  an  ihrem  ersten  Satz.    Dieser  setzt 
mit  einem  breiten  Thema  ein: 

ADegro  modento. 
Hörn  er. 


Holxbriser. 


^ 


das  den  Ton  einer  erhabnen  Naturode  anschlägt,  an 
Wagner^s  Vorspiel  zum  Rheingold  und  an  ähnliche  Ton- 
oder Wortdichtungen  erinnert,  die  auf  langgeschwung- 
nen schönen  Wegen  zu  einem  mächtigen,  unvergesslichen 
Höhepunkt  fuhren.  Wir  sind  in  einer  Stimmung  wie  in 
der  Morgendänunerung.  Der  Sonnenaufgang  kommt  aber 
nicht  in  dem  Satze.  Es  fehlt  ihm  eine  grosse,  klare  Ent- 
Wickelung,  sogar  in  der  äussren  Gliederung  bleibt  er  etwas 
verwischt  —  hat  nur  präludirenden  Charakter  und  ist  für 
seine  Natur  zu  lang.  Dass  die  Absichten  des  Componisten 
weit  gingen,  ist  daraus  zu  ersehen,  dass  er  nicht  blos  das 
erste  Thema  des  Satzes,  sondern  auch  das  an  und  für  sich 
nicht  bedeutende,  vom  folgenden  Anfang  aus 

"ßy^^    f^*   f   f  ^   I    '  I    sequenzenmässig    weiter    ge- 

führte zweite  Thema  in  die  spätem  Sätze  hineinzieht. 
Diese  enthalten  sehr  viel  Frische,  Kraft,  Poesie  und  Kunst 
und  lassen  es  bedauern  dass  der  Anfangssatz  der  Sinfonie 
nicht  besser  gelungen  ist.  Das  nationale  Element  tritt  bei 
Fibich  in  diesem  Werke  gänzlich  in  den  Hintergrund;  nur 
das  Scherzo  enthält  in  dem  C  moll abschnitt  einen  Theil, 
der  auf  Volksmusik  zurückgeführt  werden  kann.  Deut- 
licher verräth  seine  Sinfonie  die  Einflüsse  Beethoven's, 
Mendelssohn'»  und  Wagner's.  Das  im  Entwurf  hervor- 
ragende Adagio  der  Sinfonie,  das  durch  Einfügung  eines 
mit  der  , Götterdämmerung*  verwandten  Marschmotivs  aus 


e<?       509       '^ 

dem  Elegischen  ins  Grossdramatische  wächst,  stellt  diese 
d^ei  Meister  dicht  zusammen. 

Stärker  als  in  anderen  Ländern  hat  sich  der  Cultus 
nationaler  Musik  in  Kussland  entwickelt.  Es  ist  erst 
durch  die  nationale  Bewegung  an  die  Pflege  der  höhren 
Instrumentalmusik  herangeführt  worden  und  hat  in  wunder- 
bar schneller  Zeit,  obwohl  ihm  Orchester,  Ck)ncerte  und 
eine  Menge  der  wichtigsten  Vorbedingungen  zu  fehlen 
schienen,  in  ihr  sich  eine  hervorragende  Stellung  errungen, 
aus  der  vielleicht  eine  Führerschaft  sich  entwickelt.  An 
Fruchtbarkeit  und  Charakter  ist  die  russische  Schule  schon 
heute  die  erste.  Insbesondre  geht  ihre  Orchestercomposition 
vollständig  in  volksthUmlicher  Arbeit  auf  und  selbst  die- 
jenigen Componisten,  deren  Bildung  eine  entschieden  west- 
liche und  internationale  ist,  können  sich  jener  nationalen 
Strömung  nicht  entziehen.  Der  allgemeine  europäische 
Musikschatz  ist  durch  die  Russen  stark  mit  Temperament 
bereichert  worden;  weniger  mit  Ideen.  Denn  die  Mehr- 
zahl ihrer  Tonsetzer  bewegt  sich  in  den  nationalen 
Extremen  von  "Weichheit  und  Ausgelassenheit.  Für  Contra- 
punkt und  Instrumentation  bringen  sie  eine  ausser- 
ordentliche Bildung  und  Begabung  mit,  die  ihrer  Musik- 
schule grosse  Ehre  macht.  Ihre  Leidenschaft  für  das 
aus  den  Volkstänzen  der  Heimath  gewohnte  naturalistische 
Varüren  muss  jedoch  auf  die  Dauer  die  Form  der  Sin- 
fonie zerstören  und  bedroht  folglich  auch  den  Geist  dieser 
Gattung  wie  kein  zweites  unter  den  neuen  Elementen. 
Das  patriotische  Streben  der  jungen  russischen  Tonsetzer 
wird  durch  den  Keichthum  an  heimischen  Weisen  be- 
günstigt, über  welche  das  vielstämmige  Riesenreich  ver- 
fügt. Augenscheinlich  sind  es  die  der  Cultur  femer 
stehenden  Völkerschaften,  zu  deren  musikalischen  Schätzen 
sich  die  Schule  besonders  hingezogen  fühlt.  An  Ge- 
dankengehalt bieten  die  Weisen  dieser  Naturvölker  durch- 
schnittlich wenig:  zum  kleinen  Theil  sind  es  langsame, 
auch  innerlich  wenig  bewegte  Melodien,  aus  denen  die 
Melancholie  und  die  Unendlichkeitsstimmung  der  Steppe 
spricht,  vorwiegend  aber  kurze  Tanzweisen,  welche  sich 


"^     510     'ö^ 

durch  fortgesetzte  Wiederholungen  desselben  Motivs  weiter 
fristen.  Sie  halten  in  Bezug  auf  melodischen  Werth  keinen 
Vergleich  aus  mit  dem,  was  die  Ungarn  und  Böhmen  auf 
diesem  Gebiete  aufzuweisen  haben,  und  selbst  die  Melodien 
der  Skandinavier  sind  ihnen  an  Reichthum  der  Phantasie, 
an  Freiheit  und  Mannigfaltigkeit  der  Form  überlegen.  In 
dieser  Beziehung  bieten  die  russischen  Allegrothemen  der 
künstlerischen  Behandlung  grosse  Schwierigkeiten.  Aber 
diese  Nomadenmusik  hat  andere  Seiten,  von  welchen  aus 
sie  auf  die  kunstmässige  Ck>mposition  sehr  belebend  ein- 
wirkt. Sie  neigt  zu  dramatischen  Formen  und  bietet  im 
rein  Klanglichen  die  erstaunlichsten  Originalerscheinungen. 
Das  Tonleben  jener  russischen  Stänmie,  welche  an  den 
Cfem  der  Wolga,  an  den  Küsten  des  Schwarzen  Meeres 
und  in  den  Thälem  des  Kaukasus  dem  Krieger-  und  Hirten- 
beruf obliegen,  nährt  sich  von  den  Klängen  der  Natur; 
ihre  Harmonien  bilden  sie  nach  dem  Vermögen  der  am 
liebsten  glissando  ansprechenden  Balalaika  und  nach  der 
Gnade  von  Instrumenten,  welche  der  sanglustige  Reiters- 
mann zu  Pferde  handhaben  kann,  ihre  Accorde  werden 
nicht  von  gebuchten  Künstlergesetzen  geregelt,  sondern 
vom  Zufall,  von  der  praktischen  Bequenüichkeit  und  dem 
Streben,  sich  Gehör  zu  schaffen,  ihre  Rhythmen  und  Metren 
wechseln  wie  die  Launen  des  Naturmenschen.  Von  daher 
kommt  in  den  Orchesterwerken  der  jungrussischen  Schule 
der  bukolische  Grundton,  die  häufige  Verwendung  einfacher 
und  doppelter  liegender  Stimmen,  von  daher  kommen  die 
elementaren  Ausbrüche  ungezügelter  Lust,  von  daher  der 
Eifer  und  auch  das  Glück,  mit  welchem  diese  Tonsetzer 
ungewohnten  instrumentalen  und  harmonischen  Combina- 
tionen  nachgehen,  die  naive  Freude  an  dem  Wechsel  der 
Klangfarben,  das  Behagen,  mit  welchem  sie  lange  Strecken 
ein  unbedeutendes  Motiv  von  einem  Instrumente  zum  an- 
dern wandern  lassen.  Von  der  künstlerischen  Seite,  in 
Bezug  auf  Phantasie  und  Form  geprüft,  sind  diese  national- 
russischen Orchestercompositionen  im  Durchschnitt  erfreu- 
lich, theilweise  im  höchsten  Grad  fesselnd  —  immer  dabei 
vorausgesetzt  dass  hinter  dieser  Russischen  Musik  noch  mehr 


ce     511     t>» 


als  hinter  der  Russischen  Litteratur  eine  von  der  unsren 
wesentlich  verschiednen  Welt  steht.  Wie  jede  in  der  Bil- 
dung hegrifPene  Schule,  hat  auch  die  jungrussische  harocke 
und  unreife  Werke  auf  ihrem  Conto  stehen:  ungeheuer- 
liche Versuche,  Stoffe  aus  der  russischen  Sage  und  Ge- 
schichte musikalisch  zu  bewältigen.  Aber  die  Mehrzahl 
der  Componisten  hält  sich  ungefähr  an  den  Typus,  welchen 
M.  Glinka,  der  Vater  jener  Schule,  in  seiner  Kamarins- 
kaja,  die  Europa  zuerst  mit  russischer  Instrumentalmusik 
bekannt  machte,  aufgestellt  hat :  die  Stimmung  naiv,  heiter, 
drollig,  ausgelassen,  von  grotesker  oder  träumerischer  Poesie, 
die  Form  besonders  gern  durch  wörtliches  Wiederholen 
und  leichtes  Varüren  entwickelt.  In  Deutschland  beginnen 
jetzt  die  Arbeiten  der  nationalen  russischen  Schule  mehr 
und  mehr  Eingang  zu  finden.  Fremd  sind  uns  Dargo- 
mijsky  undBalakireff  geblieben,  dagegen  hat  Rimsky  • 
Korsakoff  neuerdings  Boden  gewonnen;  inunsrerKanmier- 
musik  ist  der  jüngste  Nachschub  der  Schule  bereits  mit 
Arensky  zu  Worte  gekommen.  Am  stärksten  hat  P. 
Tschaikowsky  fUr  die  russische  Orchestermusik  in  den 
deutschen  Concertsälen  gewirkt.  Seine  ersten  hier  in  Betracht 
kommenden  Werke  sind  die  Serenade  für  Streichinstrumente 
(op.  48)  und  zwei  Suiten.  Die  Serenade  enthält  in  ihrem 
einleitenden,  ersten  Satze  eine  interessante  Verbindung  von 
alter  (HändePscher)  und  neuer  (Schumann'scher)  Musik. 
Ihr  zweiter  Satz,  ein  gut  imitirter  deutscher  Walzer,  weist 
namentlich  in  den  zweistimmigen  Solostellen  der  Violinen 
naiv  liebenswürdige  Züge  auf,  und  ihr  dritter,  Elegie  be- 
titelt, zählt  in  seiner  schönen  Abendstimmung  zu  den  po- 
etisch hervorragenden  Stücken  der  Gattung.  Russisch  ist 
nur  das  Finale,  eine  Burleske  über  ein  kurzes  Tanzthema. 
Sie  geht  in  ihren  Scherzen  über  das  Mass  hinaus  und 
streift  die  Trivialität,  ein  Fehler,  in  welchen  der  durch 
Begabung  und  Bildung  übrigens  ausgezeichnete  Compo- 
nist  hin  und  wieder  verfallt.  Die  erste  Suite  bringt  das 
nationale  Element  viel  entschiedener  zur  Geltung.  Der 
erste  Satz  durch  einige  russische  Themen  und  durch 
einen    geistigen    Charakterzug    der    ganzen    Schule:    die 


P.  Tschai- 
kowsky 

Serenade. 


P.  Tsehai- 
kowskj 

1.  Suite. 


c<?     512     ^ 


P.  TsehAl- 
kowMky 
2.  Suite. 


Hartnäckigkeit  im  Verfolgen  kleiner  Einfälle.  Bald  na- 
turalistisch, bald  gelehrt,  versuchen  die  Instrumente,  wie 
weit  sie  es  mit  dem  aufgesetzten  Motive  wohl  treiben 
können.  Der  Walzer  unterbricht  mit  vielen  Stringendos 
und  Kitardandos  die  behagliche  Grundstimmung  seines 
Hauptthemas.  In  der  Mitte  veranlasst  das  Erscheinen 
einer  gewöhnlichen  Achtelfigur  einen  wahren  Tumult. 
Specifische  russische  Melodien  hat  der  Satz  nicht,  aber 
mehrere  der  reinen  Freude  am  Klingen  von  Accord  und 
Ton  gewidmete,  schöne  Stellen.  Namentlich  der  Ausgang 
des  Ganzen  gehört  in  diese  Kategorie.  Der  dritte  Satz 
ist  eine  echt  russische  Burleske,  welcher  fast  von  Anfang 
bis  zum   Ende   ein   und  dasselbe   rhythmische  Motiv  zu 

Grunde  liegt  fTi  J  J^  |  J.  .    Mit  wahrem  Fanatismus  feiern 

es  die  Instrumente.  Der  vierte  Satz  ist  eine  gut  ge- 
dachte Träumerei,  in  der  Form  eines  Altemativs.  Die 
beginnende  Melodie  in  AmoU  ist  national,  der  Gegensatz 
in  A  dur  freie  und  für  die  Länge  nicht  recht  ausreichende 
Erfindung.  An  Klangeffekten,  Solis  von  englischem  Hörn, 
Piccolo,  Harfe,  hohen  Harmonien,  rauschenden  Mischungen 
des  Rhythmus  ist  dieser  Satz  sehr  reich.  Der  letzte 
Satz  mischt  ein  russisches ,  kurzes  rhythmisch  gleich- 
förmiges Tanzthema  mit  freien  Stellen,  deren  musikalischer 
Gehalt  wesentlich  auf  Accord-  und  Instrumentationseffekten 
beruht.  Nicht  blos  dieser  Satz  sondern  die  ganze  Suite 
entfaltet  nach  dieser  Seite  hin  eine  unverkennbare  Ori- 
ginalität und  äussert  eine  nachhaltige  sinnliche  Wirkung. 

Eine  zweite  Suite  Tschaikowsky's  (op.  53)  verfolgt  die 
in  der  ersten  schon  hervortretende  Richtung  aufe  Aeusser- 
liche  noch  bedeutend  weiter,  bis  zu  Punkten,  wo  man 
an  dem  Geschmack  des  Componisten  irre  werden  muss. 
Ein  solcher  Punkt  ist  die  Nr.  4  der  Suite,  ein  ,Marche 
miniature*,  in  dem  mit  den  Mitteln  des  Orchesters  die 
Effekte  einer  Spieldose  nachgeahmt  werden. 

Die  Gegner  des  Componisten  hätten  nach  diesen  Suiten 
sicher  nicht  den  Sinfonien  die  er  hat  folgen  lassen  die 
Wirkung  zugetraut,  die   sie   nach  Ausweis  der  Statistik 


cc     513     oa 

in  den  letzten  Jahren  ausgeübt  haben;  sie  hat  wohl 
auch  die  Erwartungen  seiner  Freunde  übertroflFen.  Erst 
durch  diese  Werke  ist  die  volle  Bedeutung  und  die  Eigen- 
thUmlichkeit  Tschaikowskys  ganz  klar  geworden.  Wenn 
jene  Suiten  Skizzen  und  Studien  auf  dem  Gebiete  der 
Stimmungsmalerei  und  der  Schilderung  heimischen  Volks- 
thums  gleichen,  so  sind  seine  Sinfonien  ausgeführte  Lebens- 
bilder die  sich  um  seelische  Gegensätze  fesselnd,  frei,  zu- 
weilen dramatisch  entwickeln.  Tschaikowsky  ist  diesen 
höheren  Aufgaben  gegenüber  in  den  meisten  Punkten  der 
Alte  geblieben :  ein  Componist  ohne  eigentliche  musikalische 
Originalität  im  strengeren  Sinn,  wenig  wählerisch,  zuweilen 
gewöhnlich,  niemals  neu  in  seinen  Ideen,  aber  eine  immer 
offne  und  ehrliche,  häufig  in  ihrer  Wärme  und  Herzlichkeit 
grosse  Natur.  Was  aber  erst  diese  Sinfonien  an  ihm  zeigten, 
das  ist  die  ausserordentliche  stilistische  Begabung,  die  Fähig- 
keit in  dem  alten  Formenbezirk  der  Sinfonie  sich  ganz  un- 
gezwungen zu  bewegen  und  jederzeit  und  nach  jeder  Richtung 
auch  ungegangne  Wege  zu  finden,  die  den  ins  Auge  ge- 
fassten  poetischen  Absichten  gut  entsprechen.  Die  An- 
regungen, die  auf  diesem  Gebiete  Fr.  Liszt  gegeben  hat, 
sind  von  keinem  Zweiten  so  geschickt,  so  freisinnig  und 
doch  ohne  alles  herausfordernde  Wesen  aufgenommen 
worden.  Zugleich  versteht  sich  Tschaikowsky  in  seinen 
Sinfonien  auf  die  Nietze'sche  Kunst  alten  Gedanken,  auch 
wenn  sie  Gemeinplätze  sind,  durch  den  Ton  des  Vortrags 
und  durch  die  Einstellung  auf  den  günstigsten  Platz 
einen  Schein  von  Eigenthümlichkeit  und  besonderer  Tapfer- 
keit zu  geben.  Auch  die  Reichhaltigkeit  und  die  stets 
überdachte  Regsamkeit  des  Orchesterklangs  trägt  zu  der 
lebendigen  Wirkung  von  Tschaikowsky's  Sinfonien  mit  bei. 
In  der  Gegenwart  waltet  der  Componist  als  unbedingte 
Grösse;  ob  ihm  spätere  Zeiten  diesen  Platz  belassen  oder 
ob  sie  ihn  auf  eine  ähnliche  Stelle  verweisen  werden  wie 
sie  die  Sudermann  und  Raupach  im  Drama  einnehmen,  wird 
wesentlich  davon  abhängen  ob  mehr  die  Freiheit  seines 
Wesens  oder  mehr  dessen  Ungleichmässigkeit,  dessen  Durch- 
setzung mit  vulgären  Elementen  ins  Auge  gefasst  wird. 

Kretstohmar,  Führer,  I.  33 


c<?     514     '^ 

Tschaikowskv's  erste  Sinfonien  scheinen  im  Dunkel 
bleiben  zu  sollen;  zuerst  ist  seine  letzte,  die  sechste  (aus 
dem  Nachlass)  bekannt  geworden  und  hat  rückwirkend  die 
fünfte  und  die  vierte  nach  sich  gezogen.  Von  dieser  vierten, 
der  Manfred-Sinfonie  ist  bei  den  zur  Programmmusik  ge- 
P.  TichAl-  hörigen  Werken  geredet  worden.  Auch  die  fünfte  Sin- 
kowiky  fonie  könnte  mit  einem  gewissen  Recht  in  diese  Abthei- 
Füufte  Sinfonie,  lung  gestellt  werden.  Denn  auch  sie  fuhrt  ein  Programm, 
oder  wie  Haydn  zu  sagen  pflegte? ,  einen  Charakter  durch 
und  bekennt  auch  äusserlich  dass  ihre  Sätze  inhaltlich 
enger  verbunden  sind;  ja  ihr  ästhetischer  Werth  ruht 
hauptsächlich  darauf  dass  diese  Musik  den  Stempel  des 
wirklich  Erlebten  und  Empfundenen  trägt.  Aus  dieser 
Eigenschaft  ist  auch  die  Freiheit  und  theilweise  neue 
Führung  der  Form  entsprungen.  Tschaikowsky  ist  in  der 
Weise  originell  geworden,  wie  Goethe  es  empfohlen  hat. 

Das  Hauptthema  der  Sinfonie  das  wie  ein  getreuer 
Eckart,  wie  ein  Mentor  der  seinen  Telemach  begleitet, 
durch  alle  ihre  Sätze  mitgeht,  trefifen  wir  schon  an  ihrem 
Eingang.    Der  erste  Satz  beginnt  mit: 

wie  mit  einem  Mahnwort,  das  ein  besorgter  Vater  freund- 
lich und  ernst  dem  in  die  Welt  ziehenden  begabten  aber 
leicht  gerichteten  Sohn  zum  Abschied  giebt  Es  klingt 
noch  eine  Weile  in  der  Seele  des  jungen  Wanderers  fort; 
dann  tritt  es  zurück  gegen  neue  und  heitere  Eindrücke, 
die  mit  dem  ersten  Thema  des  der  Einleitung  (Andante) 
sehr  bald  folgenden  Allegro  erscheinen 

Allagro  coD  anim».  m^z  104 


mm 


9 


In  seiner  Vollständigkeit  bildet  dieses  Thema  ein  ganzes 
Lied,  dem  sich   ein  lebenslustiger,  nach  allen  Seiten  ge- 


^     515     '^ 


fassten  Sinn  bekundender  Text  mit  Leichtigkeit  anpassen 
Hess.  An  seinen  Schluss  heften  sich  sogar  einige  Schöss- 
linge  einer  wilden  Stimmung,  die  den  Charakter  des  ganzen 
Allegro  wesentlich  mit  bestimmen.    Es  ist  das  keck,  mit 

rauhem  Humor  hinabschlagende  Motiv: 

und  noch  mehr  sind  es  Figuren,  die  sich  ihm  unmittelbar 


anschliessen 


die  schon  zu- 


erst übermütig  genug  klingen  und  sich  später  immer  stärker 
über  Gleichgewicht  und  Ordnung  hinwegsetzen.  Der  oben 
angegebene  Anfang  des  Wanderliedes  wird  nach  russischer 
Art  zunächst  freigebig  wiederholt,  klingt  stärker  und  stärker 
und  steigert  seinen  fröhlichen  Ausdruck  bald  bis  an  die 
Grenze  der  Ausschreitung,  stockt  da  lange  Zeit  auf  dem 

Rhythmus  JTTD  »  ^^^*  ^°  ^^^^^  fff  '^^  ^^^  höheren 
Grade  der  Ausgelassenheit  über,  würzt  sie  durch  Nach- 
ahmungen zwischen  Hörnern  und  Geigen,  durch  Gegen- 
bewegungen zwischen  letztren  und  Posaunen  und  erreicht 
wie  das  Tschaikowsky's  Musik  gerne  hat  eine  Stufe  des 


so 


unverkennbaren  Naturalismus.  Hinter  ihr  erhebt  sich  aber 
sofort  die  Stimme  der  guten  Sitte,  der  inneren  Einkehr  in 
einem  an  seiner  Stelle  sehr  schön  wirkenden  Gedanken,  der 
noch  das  für  sich  hat,  dass  er  zu  dem  lustigen  munteren 
ersten  Thema  in  einem  formellen  Verwandtschaftsverhält- 
niss  steht,  dass  er  wie  das  Bild  der  Schwester  hereintritt. 


Er  ist  der  Gegensatz  zu 


jenem ;  aber  er  ist  nicht  das  eigentliche  zweite  Thema  des 
Allegro's  im  üblichen  Sinne.  Wir  stehen  hier  vor  Tschai- 
kowsky  als  Meister  der  Form,  der  überkommne  Ordnungen 
nicht  bricht,  aber  weiterbildet.   Der  freundliche  Klang  des 

83* 


«<?     516     ^ 

Deueo  Themas  wird  Bchwächer,  stockt  und  verlischt.  Un- 
gestüm tritt  wieder  die  laute  Lust  hervor,  xu  der  die  Fröh- 
lichkeit des  ersten  Themas  sich  entwickelt  hatte:  Es  ruft 


herausfordernd    £'  \     n  \     n    i.     Des    ersten    Themas 


steigende  Motive  folgen  im  stürmischen  Schritt.  Die  Fort- 
setzung aher  konunt  anders  als  man  erwartet :  eine  lehhaft, 
aber  edel  schwärmerische  Weise 

Sie  zieht  das  vorher  angeführte  Bufmotiv  wieder  an, 
verbindet  sich  mit  ihm  und  verklärt  sein  Ungestüm  zum 
Ausdruck  der  Begeisterung.  So  gleicht  der  Schluss  der 
Themengruppe  gewissermassen  dem  Jubel  mit  dem  der 
Jüngling  seiner  Kraft  und  seines  Glückes  sicher ,  die  Zu- 
kunft begrUsst,  die  er  vor  sich  liegen  zu  sehen  glaubt. 

Die  Durchführung  führt  schnell  aus  dem  hellen  D  dur, 
das  das  Ende  des  vorausgehenden  Abschnitts  beherrschte, 
hinweg.  Das  Bufmotiv  wendet  sich  in  fernere  Tonarten, 
es  klingt  dunkler  und  nimmt  bald  den  Anfang  des  Wandrer- 
lieds, des  Hauptthemas  des  Allegros,  als  Gesellschafter  an 
seine  Seite.  Der  Weg  wird  etwas  dichter  und  einsam. 
Da  kommt  mit  einem  Male  wie  ein  Ueberfall  im  fff  eine 
Beminiscenz  an  die  ausgelassne  Stelle  am  Schlüsse  des 
ersten  Themas,  wo  das  volle  Orchester  auf  dem  Bhjthmus 

J,  3  J  tobte.  Auch  hier  wird  dieser  Ausbruch  unge- 
zügelter Empfindung  wieder  durch  das  schwesterliche  Mittel- 
thema zurückgewiesen,  jedoch  nicht  endgültig.  Zwar  ver- 
suchen die  Instrumente  mit  dem  Anfang  des  Wandrerlieds 
einen  wohlgeordneten  und  in  Nachahmungen  kunstvoll  ge- 
führten Gedankenaufbau.  Aber  in  andrer  Form  schlägt 
eine  elementar  erregte,  bacchantische  Empfindung  immer 
wieder  durch,  nämlich  in  Wiederholungen  des  Zukunfts- 
motivs das  das  eigentliche  zweite  Thema  eroffiiete.  Sie 
werden  reichlich  und  mit   äusserster  Kraft   geboten.     la 


ihren  Sturm  braust  gelegentlich  auch  das  Wanderlied  ein* 
mal  hinein.  Im  ganzen  giebt  die  Durchführung  noch  mehr 
als  die  Themengruppe  das  Bild  einer  durch  eine  Ueber- 
fiille  von  Kraft  gefährdeten,  einer  wenig  gebändigten  Natur. 
Sehr  eigenthUmlich  setzt  der  dritte  Theil  des  Satzes,  die 
sogenannte  Reprise,  nach  dem  schönen,  breiten  diminuendo, 
in  dem  die  Durchführung  zu  Ende  geht,  mit  dem  Wander- 
thema im  Fagott  ein.  Dieses  Instrument  scheint  hier  den 
Philister  zu  verkörpern;  seine  halb  ungeschickte  Munter- 
keit wirkt  wie  ein  Hohn  auf  die  Scene  des  gewaltigen,  er- 
schreckenden Aufschwungs,  die  eben  vorherging.  Dem 
wird  nun  ein  ehrbares  Spässchen,  der  Genialität  wird  die 
Banalität  gegenüber  gestellt.  Klanglich  wirkt  der  Eintritt 
der  Reprise,  weil  eine  Strecke  lang  die  Holzbläser  allein 
musiciren  wie  ein  Gespräch  in  der  Nebenstube.  Im  All- 
gemeinen verläuft  der  dritte  Theil  des  ersten  Satzes  ziem- 
lich gleichlautend  mit  der  Themengruppe.  Das  h-eundlich, 
weiblich  gestinmite  Mittelthema  tritt  diesmal  ein,  ohne 
vorher  vom  Toben  und  Aufschlagen  harter  Eisenfäuste  ge- 
schreckt zu  sein.  An  die  Gruppe  des  zweiten  Thema 
knüpft  sich  eine  kleine  Episode,  die  sich  scheinbar  wie 
eine  nochmalige  Durchführung  anlässt;  sie  dient  aber  nur 
zur  Pause  vor  einen  letzten  glänzenden  Aufzug  des  ersten 
Themas,  das  allmählich  aus  der  höchsten  Extase  in  die 
äusserste  Ruhe  zurückkehrt  und  sich  endlich  ins  Geheim- 
nissvolle, ins  ünhörbare  verflüchtigt.  Wie  hier,  so  fällt 
auch  an  andren  Schlüssen  des  Satzes  und  an  den  Ueber- 
gängen  die  Gelassenheit  und  die  ruhige  Breite  auf,  mit  der 
sie  ausgeführt  sind.  Das  ist  in  dieser  hastigen  Gegenwart  ein 
Zeichen  innrer  Sicherheit  und  Gesundheit  des  Componisten. 
Der  zweite  Satz  der  Sinfonie  (Andante  cantabile,  "/g, 
D  dur)  steht  zum  ersten  in  einem  Verhältniss  wie  die  Rast, 
wie  die  Idylle  zur  Ausfahrt.  Die  schöne  Hommelodie,  die 
nach  einigen  stillen  an  Orgelklang  und  Kirche  erinnernden 
Accorden  einsetzt 

AOfdant«  cantabile.  J«:  64 

II  I  iij  II  LI II 


^     518     "^ 

gehört  zu  jenen  Gesängen,  die  wir  unwillkürlich  auf 
innerstes  Herzensglück,  auf  Jugendzeit  und  Liebe  deuten. 
Sie  paart  die  Zartheit  des  geheimen  Sehnens,  des  ersten 
Ahnens  mit  heisser,  drängender  Leidenschaftlichkeit  und 
ist  in  den  weichen  Vorhalten,  die  den  entscheidenden  Zug 
ihrer  äussren  Erscheinung  bilden,  ein  Abkömmling  von 
Beethoven's  Andante  der  Neunten  Sinfonie,  in  der  Schule 
Schumann^s  erzogen  und  weiter  gebildet.  Die  Dieterich 
und  Raff  waren  lange  die  Meister  in  solchen  Tongedichten. 
Die  Weit^rführung  jener  oben  angegebnen  Periode  dringt 
in     noch     höhere    Wärmegrade    der    Empfindung;     der 

Nachsatz  kehrt  mit  dem  Motiv     £Hv  jjji    |   Ji    i 


zu  einer  beglückten  Verschwiegenheit  und  Selbstbeherrschung 
zurück.  Sehr  bald  folgt  diesem  Hauptthema,  dem  Ausdruck 
des  Sehnens  und  Begehrens  eine  Scene,  die  der  Erfüllung 
gleicht.    Sie  beginnt  wie  ein  Dialog 

Coo  noto.  J  zß9 j 

fh       i«  I  r     *^    ^^  Motiv,  das  hier  zur 


Oboe 


^^ 


Zwiesprache  dient,  finden  wir,  nachdem  das  Hauptthema 
des  Satzes  sich  im  Cello  noch  einmal  fast  ungestüm  hat 
vernehmen  lassen,  erweitert  zu 


crescendo 


f  Fji  JT*]  |i*"J^  I .    Das  ist  also  eine  Melodie ,  die 

beschwichtigt  und  zugleich  verheisst.  Hier  wirkt  sie  wie 
die  Antwort,  die  Erhörung,  die  der  Werbung  folgt;  sie 
wird  bei  jeder  Wiederholung  glühender  im  Ausdruck. 

Dem  eigentlichen  Gegensatz  zum  Hauptthema  begegnen 
wir  in: 

Moderato  con  miid%.  W  «100  ^^^  . 


c^     519     '^ 

In  diesem  Thema  spricht  der  Zweifel,  die  Sorge  vor  der 
Zukunft  and  dem  Schicksal.  Es  wird  mit  diesen  trüben 
und  kleinlauten  Gedanken  sehr  ernst  genonmien,  Stimme 
nach  Stimme  trägt  sie  steigernd  vor.  Als  sie  eine  fast 
drohende  Gestalt  angenommen  haben,  da  erscheint  plötz- 
lich das  Hauptthema  des  ersten  Satzes,  das  ja  wie  schon 
erwähnt,  das  Leitthema  der  ganzen  Sinfonie  ist,  das  die 
Stelle  des  guten  Geistes  im  Hause  einnimmt.  Hier  tröstet 
es,  ermuthigt,  hellt  wundervoll  auf  und  fdhrt  zu  einer 
Wiederholung  der  beiden  Hauptmelodien  des  Andante  im 
glänzenden  und  triumphirenden  Ton,  einem  Ton  der  den 
Charakter  des  Rausches,  des  Selbstvergessens  annehmen  will. 
In  diesem  Augenblick  erscheint  das  Leitthema  der  Sin- 
fonie wieder:  ernst,  auf  einem  Septimenaccord,  mit  einem 
Anflug  von  Unwillen  und  Verwunderung,  als  Warner.  Es 
geht  in  einen  halb  klagenden  Ton  aus,  wie  im  eignen 
Bedauern  über  die  unvermeidliche  Strenge  und  führt  zu 
einem  schnellen,  ganz  in  Abschiedsstimmung  gehaltnen 
Schluss  der  Liebesscene. 

Der  dritte  Satz  (Allegro  moderato,  'Z^,  Adur)  sagt 
uns  durch  seine  üeberschrift :  Valse,  was  er  darstellen 
will.  Tschaikowsky  ist  merkwürdiger  Weise  ein  Freund 
der  Walzer,  ohne  für  diese  Gattung  deutscher  Ver- 
gnügungen eine  besondre,  ohne  auch  nur  die  ausreichende 
Begabung  zu  haben.  Dieser  Walzer  seiner  fünften  Sin- 
fonie tritt  merkwürdig  hinkend  und  stockend  auf,  wie  die 
Metren  des  Hauptthemas 

^  Allegro  moderato.  J  s  188 

allein  schon  zeigen.  In  dem  dichterischen  Plan  der  Sin- 
fonie hat  diese  Tanzscene  wohl  die  Bestimmung  eine 
Stunde  der  Verführung  vor  unsre  Phantasie  zu  rufen.  Der 
Mittelsatz  der  Nummer,  der  über  das  Motiv 

entwickelt   wird,    schildert   die 


c<?     520     "^ 


Verwirrung,  die  sich  der  Seele  des  Jünglings  nähert  ^  ihren 
bedrohlichen  Charakter  markirt  die  Pauke  mit  aufregen- 
den  Schlägen.  Dieser  Mittelsatz  hat  die  Bedeutung  des 
Trio  im  gewöhnlichen  Menuett  und  Scherzo.  Als  der 
Hauptsatz  wiederkehrt,  zieht  er  die  Motive  des  zweiten 
Themas  noch  eine  Weile  mit  sich.  In  einer  F  durstelle, 
die  kurz  gehalten  ist,  aber  sich  durch  den  starken  Klang 
und  den  überraschenden  Eintritt  geltend  macht,  kommt 
Kraft,  Aufschwung,  Befreiung  und  das  Ende  des  Tonbilds. 
Das  Finale  beginnt  mit  demselben  über  das  Leit- 
thema  der  Sinfonie  gebildeten  Andant«,  das  ihren  ersten 
Satz  eröffnete.  Doch  steht  es  jetzt  im  hellen  Edur,  klingt 
glänzend  und  feierlich.  Den  feierlichen  Ton  verstärken 
besonders  einige  Takte  in  breiten  Accorden,  aus  denen 
man  Glockengeläute  zu  hören  glaubt.  Diese  Umbildung 
der  Einleitung  der  Sinfonie  will  sagen,  dass  das  in  Aus- 
sicht gestellte  Ziel  nahezu  erreicht  ist,  dass  das  fUr  die 
Zukunft  gegebne  Versprechen  nun  eingelöst  wird.  Doch 
gilt  es  noch  einen  letzten  Kampf,  den  der  Componist  in 

einem  Allegro  vivace  (Ip,  Emoll)  darstellt,  dessen   erste 
Themengruppe  mit  dem  Motiv 

AUcgro  irlvaeft.  J  <  120 

fftii    r  Hf   r   \f  n  n  J^g^anfängt.    Es  wird 


mit  seiner  Umbildung  ^*  f   '    T   MF  ^T  I  f      ^  ß^** 
ausholenden  Perioden  verbunden,  durch 

f}'\  int  ifi  (Hl  fj 


schattirt    und    durch    den    ruhigeren    und    friedevolleren 
Gedanken  ' 


i*  i  TTi  '  U^  \^'f^r  K'  Pi^^p\ 


if        Af 


ausgelöst,  den  die  Instrumente  zeitweilig  als  Canon  fest- 


c<?     521     ^ 

zuhalten  suchen.  Als  eigentliches  Gegenthema  im  Allegro 
dient  eine  Weise,  deren  Zusammenhang  mit  dem  zweiten 
Satze  der  Sinfonie,  mit  deren  Hauptthema,  nicht  zu  ver- 
kennen ist: 

f  ji  |1C  iiTii  I  irrifi  in  I 

y^"pp"|iiJ  I  ■^'  pg^^geto.     Die  Vorhalte  bezeugen 

die  Verwandtschaft  und  die  Meinung  des  Tondichters  ist, 
dass  die  Liebe  den  Kämpfer  leitet  und  stärkt.  Er  schliesst 
die  um  dieses  Liebesthema  gebildete  Gruppe  damit,  dass 
das  Leitthema  der  Sinfonie  in  triumphirenden  Ton  ein- 
setzt und  knüpft  daran  einige  freie,  ausgeprägt  heroische 
Worte  der  Posaunen  und  Trompeten.  Sie  haben  zur  Folge 
dass  die  Hauptmotive  der  beiden  Allegrothemen  noch  ein- 
mal im  kräftigsten  und  stolzesten  Ausdruck  durchphan- 
tasirt  werden;  dann  folgt  die  sogenannte  Beprise,  die 
Wiederholung  des  Thementheils  des  Allegros,  neu  ein- 
geleitet mit  der  muthig  ausblickenden  Zeile: 

jfi'i  II  'r^^^^''^|^r  ir  rifTir  ■ 

Nach  dem  rein  musikalischen  Werth,  gehört  dieses  Allegro 
im  Schlusssatz  von  Tschaikowsky's  fünfter  Sinfonie  zu  den 
Sätzen,  die  uns  vor  der  üeberschätzung  dieses  Componisten 
behüten  können.  Die  Erfindung  ist  gewöhnlich,  die  Aus- 
führung lässig  breit  und  bequem  nach  der  russischen 
Methode  des  unbeschränkten  Wiederholens  gehandhabt, 
die  bei  Schilderungen  aus  dem  Volksleben,  aber  nicht  hier 
am  Platz  ist.  Doch  muss  man  auch  hier  wieder  die  Klar- 
heit und  wohlberechnete  Wirkung  der  künstlerischen  An- 
lage, des  Formenaufbaus  anerkennen;  die  dichterischen 
Absichten  sind  vortrefflich  und  treten  deutlich  genug  her- 
vor. Der  Endzweck  war  das  gute  Ende  des  Finales  vor- 
zubereiten und  durch  einen  Gegensatz  zu  heben.  Dieses 
Ende  selbst  ist  nichts  andres  als  der  Anfang  des  Finale, 
das  Andante  in  Edur,  hier  als  Maestoso  bezeichnet.    Im 


t^     522     "^ 

Stile  der  Jubelouvertüre  behandelt,  schliesst  es  die  Sin- 
fonie und  erhält  ein  Presto,   in   dem  Themen   aus   dem 
Allegro  noch    einmal  vorüberrauschen,    als  Anhang   und 
Krone. 
P.  Tiehal-  Seine  sechste  Sinfonie   (Hmoll)  hat  Tschaikowsky 

kowiky      pathetisch  genannt.     Sie  ist  das  im  ersten  Satz;   im 
Sechste Sinfonie.y^gj^gjj  und   dritten  ruhen  Leid  und  Leidenschaften,  der 
(Pa   etique.)   g^yugggj^^^   stimmt  wider  Vermuthen  ein  schweres  Weh- 
klagen an. 

Wie  der  erste  Satz  am  meisten  dem  Programm 
getreu  wird,  so  ist  er  auch  der  Arbeit  und  der  Anlage 
nach  der  bedeutendste  und  von  starker  Wirkung  nament- 
lich durch  klare  Gegensätze.  Er  sucht  darzustellen  wie 
sich  eine  edle  Natur  von  schwerem  Gemüthsdruck  durch 
Kämpfen,  durch  Erinnern  und  Hoffen  zu  befreien  sucht 
und  bedient  sich  dazu  einer  Form,  die  im  Wesentlichen 
den  hergebrachten  Verhältnissen  des  Sonatensatzes  ent- 
spricht. Die  Eintheilung  in  Themengruppe,  Durchführung 
und  Reprise  ist  beibehalten,  ein  sehr  geschickter  Tempo- 
wechsel giebt  ihr  jedoch  den  Charakter  der  Ursprünglich- 
keit. Der  Satz  beginnt  mit  einem  kurzen  Adagio  in 
Trauerklang:  Das  Fagott  hält  die  Rede,  und  tiefe  Instru- 
mente umstehen  es  allein;  erst  am  Schluss  hört  man  von 
den  Oboen  einen  kurzen  Seufzer.  Der  Spruch  der  dem 
Satz  zu  Grunde  liegt  ist  das  Motiv: 

Adagio.  Js  64 

vr)tj|n   jm  I  J     I    I  .     Aus   ihm  wird   folgende  Melodie: 


Adagio. 

gestaltet,  sie  wird  wiederholt;  ein  Anhang  von  6  Takten, 
den  die  Bratsche  abschliesst,  folgt  und  damit  ist  die  Ein- 
leitung beendet,  eine  Situation  gegeben,  die  nicht  ohne 
Klärung  bleiben  kann.  Das  Allegro  übernimmt  sie  und 
wendet  sich  ohne  Weiteres  dem  Motiv  zu,  das  den  Gegen- 


c<? 


523 


v^ 


stand  der  Klagen  in  der  Einleitung  bildete, 
ihm  folgendes  Thema: 
AJl9gT0  noa  troppo. 


Es  formt  aus 


jHiin  fj  I  ^-p .  I  ^.1  f-p  '-^^m 


Die  Bratschen  haben  es  aufgestellt,  Flöten  und  Clarinetten 
übernehmen  es:  es  bleibt  ihm  also  zunächst  der  belegte 
Klang,  der  gedrückte,  traurige  Charakter.  Das  wird  mit 
dem  Augenblick  anders  wo  es  in  die  Hände  der  Violinen 
kommt.  Die  tragen  es  im  Nu  nach  Dmoll,  eilen  mit 
ihm  von  Tonart  zu  Tonart  und  ins  Forte  und  zur  Höhe. 
Sie  gehen  dem  Grund  der  Trauer  in  höchster  Erregung 
nach  und  machen  es  jedem  Hörer  schnell  klar:  warum  der 
Componist  seine  Sinfonie  pathetisch  genannt  hat.  Wie 
aber  Tschaikowsky  gern  die  schwere  Rüstung  bei  erster 
Gelegenheit  mit  einem  leichteren  Gewand  vertauscht,  so 
giebt  er  auch  jetzt,  eben  in  dem  Augenblick  wo  seine 
Musik  ernstlich  leidenschaftlich  wurde,  diesen  Ton  zunächst 
wieder  auf.    Mit 


'^^Tm  I J  Ji  i[£c^^ 


beginnen    die    Instru- 


mente für  eine  Weile  zu  scherzen;  die  Wendung 


f'^^'lll  ii  I 


in  den  Vio- 


linen,   die   von   den   Clarinetten  abgekürzt  und  gemildert 


wird  in 


dient  zu  einem 


längeren  Tonspiel,  in  dem  die  heiteren,  neckischen  Grazien 


^     524     '^ 

von  der  ToDdichtung  Besitz  nehmen  und  die  Grenzen 
leidenschaftlicher  Empfindung  nur  ganz  flüchtig  berühren. 
Beim  ,un  poco  animando"  findet  aber  der  Componiat  an  der 

Hand  der  Trompete,  die  mit  J^f  t  (J  'T  ^t  \    \     V    P  " 

zum  Sturm  ruft,  den  Weg  zur  eigentlichen  Aufgabe  des 
Allegros  sehr  schnell  zurück  und  entwirft  ein  kurzes,  aber 
gewaltig  wirksames  Bild  einer  Leidenschaft,  die  den  Gegner 
fest  packt  und  nicht  vom  Platze  weicht.  Die  Harmonie 
lässt  nicht  von  ihrem  Bass;  immer  wiederholen  sich  die 
beiden  Tone  e  und  es,  die  Melodieinstrumente  rütteln  über 
zwölf  Takte  immer  nur  an  demselben  Motiv: 

^hlTl  I  J^^^.    Endlich  bleibt  von  dem  Aufgebot 

an  Kraft,  das  das  ganze  Orchester  in  aufregende  Thätig- 
keit  gesetzt  hatte,  das  Cello  allein  übrig  und  wird  ruhiger 
und  ruhiger.  Die  Bratschen,  die  diesen  Abschnitt  des 
ersten  Satzes  begannen,  schliessen  ihn  mit  einer  leisen 
bangen  Frage;  Die  Antwort  kommt  in  einem  Andante, 
das  in  dem  ersten  Satze  dieser  Sinfonie  die  Bolle  des 
zweiten  Themas  und  seines  Kreises  einnimmt.  Die  Wort- 
führer der  Russischen  Schule  haben  es  Tschaikowsky  übel 
vermerkt,  dass  er  bei  elegischen  Aufgaben  seine  Natio- 
nalität vergisst.  So  spricht  er  auch  hier,  wo  er  trösten, 
erwärmen,  beglücken  will,  ein  unverfälschtes  musikalisches 
Deutsch.  Die  Melodie  die  sein  zweites  Thema  bildet, 
könnte  wie  der  Anfang 

AndMto.  J  s  6»  ^ 

!ftr  r  T^f    I  4  ^  J^  r*   r!    I   "^       •^«*   beweisst ,    ganz 


gut  in  Schumann's  , Paradies  und  Peri*  stehen;  sie  fangt 
so  an  wie  das  Vorspiel  dieses  Werkes.  Auch  ihr  Mittel- 
satz bleibt  in  diesem  Ton: 

Aehnlich  wie 


'^     525     ^ 

es  mit  dem  ersten  Thema  des  Satzes  geschah,  wird  auch 
dieses  zweite  zunächst  unterhrochen  und  durch  einen  Ge- 
danken ersetzt,  der  sich  mit  dem  Programm  an  diesem 
Punkte  ebenfalls  verbinden  und  als  eine  Steigerung  der 
von  dem  zweiten  Thema  eröflfneten  freundlichen  Aus- 
sichten deuten  lässt.  £r  giebt  dem  Componisten  erwünschte 
Gelegenheit  sich  in  dem  geliebten  Gebiete  anmuthigen 
Tonspiels  zu  ergehen.  Wir  hören  das  neue  Thema  viel- 
fach in  nachahmenden  Formen;  zunächst  fuhren  Flöte  und 
Fagott  das  Gespräch.  Der  Zusammenhang  mit  dem  Haupt- 
gegenstand dieses  Theils  wird  dann  bald  dadurch  herge- 
stellt, dass  die  Holzbläser  das  Mittelstück  des  zweiten 
Themas  in  der  Form: 


aufnehmen  und  fleissig  wiederholend  zu  dem  neuen  spie- 
lerischen Seiten thema  in  einen  Gegensatz  bringen.  Sie 
verdrängen  es  und  führen  zu  dem  Trostgesang  der  das 
Andante  eröffnete  zurück.  Er  kommt  jetzt  im  Glanz  des 
vollen  Orchesters  siegessicher  und  schläfert  Sorgen  und 
Leiden  ein.  Der  Componist  theilt  das  in  einem  kleinen  An- 
hang mit,  der  von  dem  Einsatz: 

^    Moderato  astai.  J:88. 

aus  ganz  still  entzückt  verlöscht.  Ganz  zuletzt  stinmit  die 
Clarinette  noch  einmal  die  schöne  Trostmelodie  im  Adagio 
an ;  sie  hört  mit  ppppp  auf.  Das  ist  so,  dass  »ich  der  Spieler 
kaum  selbst  noch  deutlich  hören  darf!  Generalpause.  Und 
darauf  im  ff  ein  Allegro  vivo  das  mit  der  Dissonanz  c-es-g-a 
und  mit  dem  wüthenden  Ausruf: 


hereinstürzt. 


«<?     526     ^ 

Das  ißt  ein  Aufwachen  mit  Entsetzen,  wie  wir  es  ähnlich 
vom  Schlusssatze  der  Neunten  Sinfonie  her  kennen;  nur 
Btossen  Himmel  und  Hölle  hier  bei  Tschaikowsky  ganz 
unvermittelt  und  hart  auf  einander. 

Wir  sind  mit  dieser  Stelle  in  den  Durchführungstheil 
des  ersten  Satzes  eingetreten.  Er  hat  zwei  Abschnitte. 
Der  erste,  dem  Anfang  entsprechend  in  äusserster  Auf- 
regung gehalten,  setzt  zweimal  mit  dem  Hauptthema  des 
Allegro  (von  Dmoll  und  Emoll  aus)  zu  einer  wilden  Fuge 
an,  an  der  sich  jedoch  nur  die  ersten  Violinen  und  die 
Bässe  betheiligen.  Die  zweiten  Violinen  und  Bratschen 
treiben  einander  in  die  Leidenschaft  mit  dem  Thema: 


ijJI.'^U-JüJlLU 


J(f8^ß9ub. 


jjjl  »J   ^^  !P     ^^6  Bläser  rufen  schrill  und 


heftig  in  kurzen  Motiven  und  in  liegenden  Stimmen  da- 
zwischen. Als  die  Erregung  die  Spitze  erreicht  hat, 
bringen  die  Trompeten  die  mittleren  Takte  aus  dem 
zweiten  Thema  jetzt  in  der  Form: 

fjjj*     ^  r   I  r    'T     I'T      f   r   !'■[■    ^p         und   im   ver- 

zweifeltsten  Ton.  Der  Anlauf  endet  erfolglos  und  vergeb- 
lich, die  Posaunen  und  Tuben  stimmen  ein  Sätzchen  au, 
das  einem  Grabgesang  ähnlich  sieht.  Als  sich  Trompeten 
und  Homer  ihnen  anschliessen,  wird  das  Feuer  noch  einmal 
entfacht  und  es  kommt  zu  einem  zweiten  leidenschaftlichen 
Ausbruch.  Auch  dieser  zweite  Abschnitt  der  Durchführung 
erregt  und  ergreift,  aber  in  einem  andern  Sinn  als  der 
erste :  Dort  Ringen,  hier  Klagen.  Er  endet  in  Resignation 
und  führt  so  sehr  natürlich  in  den  Trauerton  zurück  mit 
dem  das  Allegro  und  das  erste  Hauptthema  des  Satzes 
begann.  Die  Reprise  setzt  zunächst  im  regen  Anschluss 
an  das  Ende  der  Durchführung  in  B  moll  ein.  Als  sie  die 
Haupttonart  erreicht,  schlagen  die  Wogen  der  Leidenschaft 


co     527     '^ 

schon  wieder  hoch;  das  Hauptthema  wird  Silbe  für  Silbe 
in  Nachahmungen  wiederholt,  es  klingt  gewissermassen 
mit  solcher  Gewalt  hinaus,  dass  es  die  Wände  widerhallen. 
Die  abschweifende  Episode  die  im  ersten  Theile  dem 
Hauptthema  folgte,  fällt  in  der  Reprise  weg.  Das  zweite 
Hauptthema  (jetzt  in  Hdur)  gelangt  dadurch  zu  grosser 
Bedeutung  und  giebt  dem  Ende  des  Satzes  sein  hoffnungs- 
volles Gepräge.    Ein  kurzer  Anhang  (Andante  mosso)  über 

a     AiuUnt«  mosso.  J  s  86 

das  Thema  itfitf  J  [*■  g^  I  [L_f^^  bildet  den  zar- 
ten Schluss. 

Im  zweiten  Satz  (Allegro  con  grazia,  W^,  Ddur) 
macht  der  Pathetiker  dem  behaglichen  Epikuräer  Platz. 
Wir  haben  es  hier  mit  einem  ähnlichen  Versuch  zu  thun 
einen  heiteren  Satz  an  die  Stelle  des  üblichen  Adagio  zu 
bringen,  wie  ihn  Beethoven  in  seiner  achten  Sinfonie 
unternommen  hat.  Die  Wirkung  hat  auch  hier  dem 
Componisten  Recht  gegeben.  Der  Zuhörer  verzichtet  nach 
dem  durchlebten  Stürmen  des  ersten  Satzes  gern  auf  hohe 
Gedanken  und  tiefste  Gefühle  und  freut  sich  über  das 
trauliche  Stillleben,  das  ihm  hier  geboten  wird.  Es  fügt 
zu  seinem  Werth  als  Erholungsstück  noch  den  Reiz  einer 
musikalischen  Seltenheit :  es  fuhrt  den  sonst  im  Wesentlichen 
nur  für  die  Gelehrten  exbtirenden  ^/^-Rhythmus  praktisch 
durch  und  löst  diese  Aufgabe  ganz  anmuthig.  Die  Anlage 
der  kleinen  zierlichen  Composition  ist  höchst  einfach.  Der 
Hauptsatz  hat  als  erstes  Thema  die  Melodie 


r^iTTTi  Hin  in  am 

Sie  kommt  viermal  hintereinander.  Darauf  folgt  ein  Seiten- 
«atz  mit  dem  von  der  Hauptmelodie  abgeleiteten  Thema; 


c<?     528     ^ 


das  ebenfalls  viermal  durchgespielt  wird.  Darauf  kehrt  die 
Hauptmelodie  zurück  und  erst  als  sie  zum  dritten  Yorbeizug 
ansetzt,  wendet  sie  sich  aus  D  dur  hinweg  und  lässt  in  den 
sittsam  und  artig  gleitenden  Reigen  einige  kräftigere  Töne 
herein : 

t<   _  _  .  _  _     


Die  vielen  Wiederholungen  beruhen  ebenso  wie  der  ^j^  Takt 
dieses  Satzes  auf  EinÜüssen  russischer  Volksmusik.  Es 
muss  dem  Componisten  nachgerühmt  werden,  dass  er  in 
der  Umkleidung  der  einfachen  Figuren  mit  neuen  Klängen 
ausserordentlich  erfinderisch  gewesen  ist.  Die  Wieder- 
holungen sind  ebensoviele  Variationen  in  der  Instmmen- 
tirung.  Ausserdem  liegt  aber  in  der  Einförmigkeit,  in  dem 
Festhalten  an  demselben  Phantasiekreise  in  diesem  Falle 
nicht  blos  ein  gewisser  Balsam,  der  nach  dem  ersten  Satz 
heilend  wirkt;  es  liegt  darin  auch  die  Poesie  des  kleinen 
Tonbildes.  Denn  es  ist  gedacht  als  eine  Musik  aus  Väter- 
zeiten, gewissermassen  als  eine  altrussische  Menuett,  als 
ein  Stück  friedlichster  und  befreiender  Erinnerungen.  Der 
Mittelsatz  hat  einen  absichtlichen  ländlichen  Beiklang: 
Sein  Thema 


pnnn\or^ 


und  die  zu  ihm  gehörenden  Umbildungen  und  Ergänzungen 
ruhen  alle  auf  demselben  Orgelpunkt:  d  im  Bass.  Es 
ist  als  wenn  die  Leute  aus  dem  Dorf  Besuch  auf  dem 
Schlosse  machten.  Zierlich  wie  die  ganze  Nummer  ge- 
dacht, verklingt  sie  in  der  zartesten  Weise. 

Der  dritte  Satz  (AUegro  molto  vivace,  ^^/g,  Gdur) 
hat  die  äusserst  starke  sinnliche  Wirkung  fUr  sich:  Für 
den  Klang  dieser  Composition  sind  alle  Register  gezogen 


^     529     ^ 


vom  leisen  Säuseln,  von  den  niedlichsten  Elfenstimmen  bis 
zum  formlichen  Orchesterorkan;  die  Form  entwickelt  sich 
durch  die  immer  grössere  Anhäufung  gleicher  Glieder 
und  Bestandtheile  nach  dem  Muster  des  Heerwurms 
zu  einem  bedrückenden  Phänomen.  Es  hat  unstreitig 
an  diesem  Satz  ein  gewöhnlicher  Naturalismus  einen 
starken  Antheil;  gleichwohl  ist  er  auch  nicht  ohne  Origi- 
nalität und  diese  liegt  darin  dass  die  Gattungen  des 
Scherzos  und  des  Marsches  in  ihm  sich  verbinden.  Als 
Scherzo  beginnt  er  mit  einem  Thema: 

Alleirro  iDolto  TlTac».  J  s  1S9 


•tc-  das  einem  Mückentanz  oder 


irgend  einem  Freudenfest  flüchtigster  und  heimlichster 
Lebewesen  zur  musikalischen  Unterlage  dienen  könnte. 
Man  hat  seine  Freude  an  diesen  hin  und  herhuschenden 
Tönen  und  merkt  darüber  lange  nicht,  dass  sich  ihrem 
Spiel  bald  nachdem   es   begonnen  hat,   ein   fremder  Gast 


beigesellt  hat :   fc'  /]  t 


Die 


Bässe  fahren  wie  in  Mendelssohn*s  Sommernachtstraum  mit 
langen  Tönen  plump  drollig  dazwischen.  Auch  Berlioz'sche 
Geister  kommen  in  pizzicato- Noten  und  andren  Instru- 
mentenfeinheiten aus  der  «Fee  Mab**  zum  Besuch.  £s  ist 
ein  reizendes  Stück  freundlichster  Gespenstermusik,  für  das 
der  Componist  reiche  und  belebende  Einfälle  jeglicher  Art 
zur  Verfügung  zu  haben  scheint.  Wir  hören  Gemüths- 
klänge  als  es  zur  ersten  Wiederholung  kommt 

gl   W  T   *    ^^V^^\i4    I  ^  ^  wir  hören  immer  neue  Kobold- 


laute namentlich   von   den  Bläsern  her.     Wir  hören  aber 

Kretstchmarf  Führer,  I.  54 


cG^     530     '^ 


auch  wie  das  flotte  MarschmotiT,  das  sieb  zuerst  so  unbe- 
merkt und  klein  bereingestohlen  hatte,  anwächst  und  sich 
nach  vorn  drängt.    Die  Violinen  bringen  es  als: 

Gleich  darauf  antworten  die  Hörner: 


Es  fängt  an  anhaltend  mit  seinem  flotten  Rhythmus  durch 
die  Bläser  zu  ziehen  und  nicht  lauge  dauert  es  nun  mehr 
da  sind  die  Elfen  auf  die  Seite  gedrängt,  müssen  ganz 
fliehen  und  die  Musik  zieht  daher  wie  ein  lustiges  fran- 
zösisches Bataillon:  Ein  unverfälschter  Geschwindmarsch 
ist  in  neuer  Tonart  (Edur)  eingetreten,  dies  ist  sein 
Hauptthema: 


i*^  j/i^j,i j^ilj^i  <f^ip  'jijjj;!-';,^  I  j, 


i 


Er  ist  leichtfüssig  und  leichtherzig,  macht  aber  zur  Ab- 
wechselung auch  grimmige  Geberden  z.  B.: 

und  zeigt  sich  barsch  und  kraftvoll  mit: 


I  J. 


Zunächst  benimmt 


er  sich  aber  im  Ganzen  so  massvoll,  wie  es  dem  Trio  im 
Scherzo  geziemt.  Er  zieht  sich  zur  rechten  Zeit  zurück 
und  die  Elfen  kehren  wieder.  Doch  bleibt  es  nicht  dabei, 
sondern  der  Marsch  drängt  ein  zweites  Mal  auf  den  Haupt- 
platz und  entwickelt  nun  ein  Beharrungsvermögen,  dessen 
Ungebührlichkeit  sich  weder  mit  der  Berufung  auf  die 
russische  Volksmusik,  noch  mit  dem  Hinweis  auf  die 
glänzenden  Toiletten   die  das  Orchester  anlegt  verdecken 


ce     531     ^ 

lässt.  Auch  mit  dem  Programm  der  SinfoDie  lässt  sich 
diese  Marschmusik  nicht  in  Verbindung  bringen.  Sie  ist 
nicht  pathetisch,  und  auch  nicht  heroisch  wie  man  behauptet 
hat,  sondern  in  ihrem  Grundcharakter  einfach  gewöhnlich, 
ungefähr  von  der  Art  die  Raff  einhielt,  wenn  er  reitende 
Hexen  schildern  wollte.  An  Raff  erinnert  der  Satz  that- 
sächlich  wie  Tschaikowskj^s  allgemeine  Verwandtschaft  mit 
diesem  Componisten  eigentlich  Niemandem  entgehen  kann. 
Nur  ist  die  Naturfrische  des  Russen  bedeutender  und  mit 
ihr  hängt  das  Farbentalent  zusammen,  von  dem  er  hier 
eine  Probe  gegeben  hat,  die  die  meisten  Concertbesucher 
zu  berauschen  und  zu  überwältigen  pflegt. 

Mit  einem  ungeheuer  grossen  Gegensatz  der  Stimmung 
setzt  darauf  das  Finale  (Adagio  lamentoso,  ^/4,  HmoU 
ein).  In  den  trauernden  Motiven  des  ersten  Satzes  barg 
sich  Kraft  und  Streben :  hier  aber  erfahren  wir  aus  dem 
Einsatz  der  Geigen: 

Adagio  l^gentoso.  (J  r  ^^)    

Unglück  handelt,  an  dem  nichts  mehr  zu  ändern  ist.  So 
hat  denn  Tschaikowsky  den  ganzen  Satz  dem  Charakter 
einer  Todtenklage,  eines  Requiems  genähert  und  damit 
wieder  einmal  gezeigt,  dass  die  alte  Spohr^sche  Idee  eines 
ernsten,  verhaltnen  Schlusssatzes  in  der  Sinfonie  die  ja 
eigentlich  aus  Beethoven^s  Pastoralsinfonie  stammt,  au  und 
für  sich  sehr  wirksam  sein  kann  und  nicht  einmal  einer 
tieferen  poetischen  Begründung  bedarf.  Es  mag  Zufall 
sein,  das  Tschaikowsky  sich  mit  Spohr  auch  unmittelbar 
in  diesem  Finale  berührt.  Denn  der  schöne  elegische 
Gesang  den  die  Bläser  zum  Mittelpunkt  des  Satzes  machen 

W      J    I  j    J   I    1    ^    I  J    J   I     1    1»^-  wird  von  den  Geigen 

in  einer  Melodie  begleitet,  die  mit  dem  Hauptthema  im 
Finale  der  , Weihe  der  Töne*  nicht  blos  den  Charakter 
sondern  auch  die  Anfangsnoten  gemeinsam  hat. 

84* 


cc?     532     t)» 

Der  Typus  der  Sinfonie  mit  langsamen  Schiasssatz  ist 
an  und  für  sich  ja  älter  als  Spohr  und  Beethoven  und  hat 
ein  Jahrhundert  hindurch,  von  LuUj  his  Gluck,  bei  den 
Franzosen  seine  Brauchbarkeit  und  seine  Bedeutung  be- 
währt. 
A.  Boro4lB  In   neuerer  Zeit  ist  in  Deutschland  mehrfach  die  Es- 

Etdor-Sinfoiiie. dur-Sinfonie  von  A.  Boro d in  aufgeführt  worden  und 
hat  weniger  beim  Publikum,  aber  ganz  entschieden  in  den 
musikalischen  Fachkreisen  grosses  Interesse  erregt.  Diese 
Sinfonie  gehört  nach  ihrem  Stoffe  der  jungrussischen 
Schule  inniger  an,  als  dies  bei  den  Arbeiten  Tschai- 
kowsky's  der  Fall  ist.  Sie  zeichnet  sich  durch  künst- 
lerische Reife  und  Abklärung  aus  und  scheint  deshalb 
besonders  geeignet,  die  Bekanntschaft  mit  dieser  für  die 
Zukunft  vielleicht  nicht  unbedeutenden  Richtung  zu  ver- 
mitteln und  ein  Bild  von  dem  zu  geben,  was  die  Jung- 
russen wollen,  was  sie  heute  schon  leisten  und  was  ihnen 
noch  fehlt.  Diejenigen  Sätze,  welche  den  Nationalcha- 
rakter am  schärfsten  ausprägen,  sind  der  erste  und 
dritte;  der  zweite  ist  zur  Hälfte  russisch  und  der  vierte 
ganz  germanisch. 

Der  erste  Satz  beginnt  mit  einer  schwermüthig  träu- 
merischen   Einleitung.      Die    Bässe    stellen    die    Haupt- 

Adagio. ^^ 

melodie  auf:      '^  J'i>|.l.  il  ^  T  ^   p  I  p  P  J  I  J^  p  r  P  I  T    . 


welche  von  den  Holzbläsern  und  Geigern  mit  auf- 
munternden Motiven  beantwortet  wird.  Die  Harmonie 
deckt  die  Formen  des  Gesanges  mehr  zu,  als  sie  die- 
selben hebt.  Da  wendet  sich  die  Phantasie  mit  einem 
energischen  Rucke  einer  heiteren  Sphäre  zu;  unver- 
muthet  stehen  wir  im  Allegro.  In  den  Hörnern  und  Holz- 
bläsern beginnt  ein  helles,  munteres  Klingen,  das  nur 
auf  Rhythmen  gestützt  ist.  Die  anderen  Instrumente 
probiren  dazu  jetzt  zart,  jetzt  kräftig  brausend,  Motive 
die  zu  dem  neuen  Tone  passen,  und  endlich  ist  Alles  zur 
fröhlichen  Fahrt  bereit.  Die  ersten  26  Takte  des  AUegro, 
welche  der  Feststellung  von  Tonart  und  Thema  vorher- 


eo      533      f>» 

gehen,  sind  fUr  das  Wesen  der  russischen  Kunstmusik 
charakteristisch:  sie  zeigen  uns  ihre  Liebe  zu  den  Ele- 
mentarkräften der  Musik,  ihre  Freude  am  blossen  Rhyth- 
mus und  am  Accord,  ihre  Neigung,  ohne  bestimmten  Ge- 
dankenpfad, ohne  die  Stütze  fest  erkennbarer  Motive 
durch  die  klangliche  Wildniss  zu  streifen,  den  Punkt, 
welcher  sie  mit  der  Natur  verknüpft  und  von  der  ge- 
sitteten älteren  Kunst  des  Abendlandes  unterscheidet, 
den  Punkt,  in  dem  ihre  Stärke  und  zugleich  ihre  Schwäche 
liegt.  Das  Thema,  welches  Borodin  nach  dem  Abschluss 
dieser  tumultuarischen  Scene  aufstellt,  ist  aus  der 
Melodie  der  langsamen  Einleitung  abgeleitet  und  hat  fol- 

a)      Alle  1^0  molto. 
gende  Gestalt;  j|f>^  TP  T  plf  ^J  ["Hpi^^.    Auf  ge- 
wichtige Gegenthemen  hat  der  Componist  fast  ganz  ver- 
zichtet.   Ein  einziges,  das  öfter  erscheint: 

b)  A  Kir  j  ^J  I  J  ^IjiJ  j  J  "  nimmt  seinen  Abschluss 
identisch  mit  dem  des  ersten  Thema's.    Die  anderen  —  unter 

denen  das  Geigenmotiv     £  l>%    ■    \\,  r-r+j—j^ 


5^ 


durch  seinen  festen  Schritt  bemerkbar  —  treten  nur 
episodisch  auf.  Dem  jugendlichen,  treibenden  Elemente 
des  Hauptthema  wird  nur  vorübergehend  durch  eine 
sentimentale  Wendung  Halt  geboten.  Alles  ist  in  diesem 
Satze  Bewegung  und  sprossendes  Leben,  aber  von  einer 
grossen  Gleichförmigkeit  der  Gestaltungen.  Denn  diese 
ruhen  bis  auf  wenige  Ausnahmen  alle  auf  der  kurzen 
Form  jenes  mit  a)  bezeichneten  Thema.  Es  herrscht 
Poesie  in  dem  Satze:  aber  es  ist  die  Poesie  der  Steppe, 
welche  uns  an  den  Wechsel  von  Höhen  und  Thälern 
gewöhnte,  stille  Plätzchen  für's  Gemüth  liebende  Deutsche 
zunächst  etwas  befremdet.  Sehr  anzuerkennen  ist  die 
Kunst,  mit  welcher  Borodin  das  führende  Motiv  immer 
wieder  in  neue  Orchesterfarben  kleidet  und  den  Satz  ohne 


^     534     ^ 

Stockungen  immer  leicht  im  FIuss  erhält.  Besonders 
schön  ist  der  Schluss  des  Satzes,  ein  Andantino  mit  Ab- 
schiedsstimmung, durch  rhythmische  Verlängerungen  der 
beiden  Themen  a  und  b  gebildet. 

Der  zweite  Satz,  ein  Scherzo  (Prestissimo  '/g  Esdur) 
hat  zum  Hauptthema  folgende  Melodie: 

PretttsslBo. 


ijjhMt^^^^^ir'  \r\r  \^-^ 


=f-^  f  i  ^'  i   f '  i  T-iP-l^  die  aber  in  Violinfiguren 


ver- 


steckt und  auch  wegen  ihrer  auf  die  Symmetrie  verzich- 
tenden Periodisirung  schwer  zu  verfolgen  ist.  Als  Trio 
bringt  dieses  Scherzo  eine  Art  Dudelsackmusik ,  in  der 
folgende  drollige  Melodie  durch   die  Instrumente  wandert: 


i  f_r  U  ^  \i  J    J  g.    Der  Satz,  welcher  als  Bild  aus 

dem  musikalischen  Volksleben  verstanden  sein  will,  ist 
mit  viel  Humor  durchgeführt,  namentlich  das  Fagott  trägt 
viel  zu  einem  heiteren  Effekte  bei. 

Der  dritte  Satz  (Andante  •/4  Ddur)  zerfallt  in  drei 
Abschnitte.    Der  erste  beginnt  mit  einem  breiten  Gesang 


Andante. 


■f  Jj  ^f  \f  J  '     den  die  Celli  anstimmen,  englisch  Hom 
=s--ei*.  und  Flöte  fortsetzen.    Er  klingt  eigen- 


thümlich  melancholisch,  und  die  Verzierungen,  die  er  ent- 
hält, deuten  auf  orientalische  Abkunft.  In  der  Harmonie, 
die  in  Dissonanzen  still  Hegt,  herrscht  ein  merkwürdig 
dämmernder    Charakter,    eine    Beklommenheit,    der    am 


c^     535     ^ 

Schlüsse  dieses  Abschnitts  ein  plötzlicher  starker  Aufschrei 
Luft  macht.  Der  zweite  Abschnitt  wird  lebendiger,  die 
Violinen  betheiligen  sich  am  Gesänge,  und  in  den  Blä- 
sern zunächst  erhebt  sich  ein  rhythmisches  Motiv,  das 
bald  näher,  bald  ferner  zu  klingen  scheint.  Es  ver- 
schwindet wieder,  lebt  nur  noch  in  den  Schlägen  der 
Pauken  fort,  tritt  dann  wieder  stärker  auf,  wächst  bis 
zur  Macht  tönender  Glocken  und  erregt  einen  allge- 
meinen Aufschwung.  Das  Tutti  stimmt  —  wir  sind  in  den 
dritten  Abschnitt  eingetreten  —  die  Melodie,  mit  welcher 
der  Satz  begann,  im  Stile  einer  feierlichen  Freuden- 
hymne an,  und  mild  und  sanft  klingt  das  Andante  aus. 
Der  scenische  Charakter  dieses  Satzes  ist  nicht  zu 
verkennen  imd  lässt  verschiedene  Deutungen  zu.  Der 
Schlusssatz  der  Sinfonie,  zu  dessen  Hauptthema 

^ft  r'  p  f  r  '*f  ^  -   1^1"  J'^-f-t^r^— i  SchumanD,  zu 

dessen  Durchfuhrungstheile  Mendelssohn  die  Muster  ge- 
liefert hat,  verlässt  den  heimathlichen  Boden. 

Weil  sie  der  russischen  Nationalität  treuer  bleibt,  haben 
seine  Landsleute  Borodin's  zweite  Sinfonie  (HmoU)  seiner  A.  Borodin 
ersten  vorgezogen ;  vielleicht  ist  ihr  auch  deshalb  die  grössre  Zweite  Sinfonie. 
Liebe  zugefallen,  weil  sie  als  nachgelassnes  Kind  erst  nach 
dem  Tod  ihres  Vaters  (ohne  opus-Zahl)  vor  die  Welt  trat. 
Rimsky  •  Korsakoff  und  Glazunoff  haben  sich  der  Waise 
als  Bedactoren  und  Herausgeber  angenommen. 

Von  einer  bedeutenden  Zwiespältigkeit  ist  jedoch  auch 
diese  Sinfonie  nicht  frei  und  sie  geht  diesmal  tiefer  hin- 
unter in  das  Wesen  des  Kunstwerks.  Waren  in  der  ersten 
Sinfonie  Borodin*s  die  Sätze  nur  nach  den  Bildungs- 
quellen des  Verfassers  verschieden,  so  zeigt  die  zweite 
Sinfonie  einen  Riss  in  ihrer  Seele:  Der  erste  Satz  der 
Sinfonie  stellt  Ideen  und  Ziele  auf,  die  später  unbeachtet 
bleiben  und  höchstens  noch  einmal  äusserlich  berührt 
werden:  Ein  Heros  tritt  auf  und  verschwindet  spurlos  in 
den  Wäldern.  Sie  ahmt  mit  Uebertreibungen  den  ver- 
wunderlichen Gang  von  Freytag*s  , Ahnen*  nach,  beginnt 


^     536     ^ 

mit  Weltbildern  und  Seelenschildenuigeit  gewaltigen 
Charakters  uod  Terläuft  dann  ganz  und  gar  in  Dorfge- 
schichten. 

Der  Anfang  des  ersten  Satzes  ^AUegro^  Hmoll)  be- 
ginnt herculisch  mit  einem  Thema: 


m/^ 


das  mit  dem  Anfangs-  und  Hauptthema  ron  R.  Volks- 
man n'sDmoll- Sinfonie  innre  und  äussre  Aehnlicbkeit  theilt. 
Auch  der  Gedanken^ng  beider  Sätze  ist  rerwandt:  Finstre, 
ernste  Entschlossenheit  soll  milderen  Stimmungen  weichen. 
Bei  Borodin  treten  die  weicheren  freundlicheren  Gedanken 
aber  wie  seine  andre  Hälfte  an  das  Hauptthema  heran: 
buchen  engste  Verbindung  mit  ihm.    Schon  im  elften  Takte 

Aulmato  assal.  JsH6. 


hören  wir:    j^  II  Pwf  f  F  P  \  jj  f  ^f    f    I   ^  •«. 

Das  heroische  Thema  thut  einige  stolze  Gänge  durch  die 
Tonarten,  immer  folgt  ihm  der  freundliche  Berather  auf 
dem  Fuss.  Im  Zögern  und  Drängen  wird  Adur  erreicht 
und  da  setzt  das  eigentliche  zweite  Thema  des  Satzes  in 
Ddur  pastoral  in  seinem  Wesen,  zuerst  vom  Cello  ge- 
bracht, ein: 

poco  meou  mosso.  d  s  66.  _ 

Die  Holzbläser  nehmen  die  sehr  lebendig  metrisirte  Weise  auf, 
Geigen  folgen ;  die  Lustigkeit  wächst,  aber  auch  die  Heftig- 
keit des  Widerspruchs.  Die  Bässe  fuhren  die  Sache  des 
Hauptthemas  ganz  entschieden,  die  ländlichen  Versuchungen 
sind  abgeschlagen.  Mit  einer  gewissen  Feierlichkeit,  in 
breiten  Accorden,  lang  verklingendem  Ton  schliesst  die 
Themengruppe. 


<o     537     ^ 

Die  Durchführung  wird  im  ersten  Theil  vom  Haupt- 
thema ausgefüllt.  Nur  hat  es  seinen  Charakter  verloren: 
Ein  3/j  Takt  hat  sein  Wesen  verwandelt,  ins  Leichtfertige 
und  Wirre  gezogen: 


AnlmatQ  astal 


creso. 


Man  treibt  mit  ihm  entwürdigendes  Spiel,  zwingt  es  den 
lächerlichen  Aufmarsch  zu  wiederholen,  die  Geigen  machen 
seine  Schritte  spottend  nach.  Bald  treten  dann  auch  das 
Freudenthema,  das  Arm  in  Arm  mit  dem  Hauptthema  in 
die  Sinfonie  hereinschritt  und  das  eigentliche  zweite  Thema 
im  Triumph  ff  auf.  Doch  kämpft  sich  endlich  das  Haupt- 
thema im  letzten  Theil  der  Durchführung  von  den  Trom- 
peten, Posaunen,  Hörnern  und  den  Holzbläsern  aus  all- 
mählich wieder  nach  oben.  Die  Durchführung  im  Ganzen 
kommt  zu  keiner  bedeutenden  Entwickelung,  begnügt  sich 
mehr  äusserlich  und  spielerisch  mit  immer  erneuten  An- 
sätzen und  russischen  Wiederholungen.  Doch  ist  sie  in 
den  Absichten  klar.  Die  Reprise  bringt  die  Themengruppe 
verkürzt  wieder  und  mit  stärkerer  Betonung  des  Haupt- 
themas, das  als  Sieger  das  letzte  Wort  breit  und  donnernd 
spricht.  Die  Gegensätze  des  Anfangstheiles  haben  sich  in 
Plänkeleien  verflüchtigt,  deren  Darstellung  den  Ck)mponisten 
zu  Verkürzungen  und  andren  interessanten  Umbildungen 
der  ursprünglichen  Themen  veranlasst  hat. 

Der  zweite  Satz,  ein  Scherzo  in  Fdur,  dessen 
Hauptsatz  im  Prestissimo  (p  =  108)  verläuft,  ist  einfach, 
knapp  und  doch  auch  originell.  Seine  Originalität  liegt 
in  dem  Humor  des  Hauptthemas  der  Spässe  treibt,  wie 
die,  mit  denen  man  Kinder  erst  schreckt  und  dann  ergötzt. 
Es  setzt  auf  einem  freien  Konenaccord  fürchterlich  ein  wie 
das  Finale  der  Neunten  Sinfonie;  dann  regt  es  sich  er- 
wartungsvoll in  den  Hörnern,  aus  der  Tiefe  tappt  ein 
Marsch  heran  als  kämen  Gespenster.  Mit  dem  Eintritt 
der  Holzbläser  löst  sich  die  doppelte  Spannung  in  eitel 
Anmuth,  Zierlichkeit  und  gute  Laune: 


c<? 


588 


■03 


Prftfitissimo.  og  92 


rrrr 


rrrr  rrrr 
jiii  iijj  iiji  jui^  ii 


i 


r    ^ 


r 


j  iiji  jui^  ii.j 


i'l'>'l""'ll'l'lW^i'l"/' 


^^ 


fT»rr 


In  der  Fortsetzung  finden  sich  herumspringende  Modulationen, 
versprengte  und  verirrte  Solostimmen.  Als  dann  Asdur 
erreicht  ist,  kommt  die  phantastische  Bewegung  zum 
Stehen  und  hahnt  einer  Gemüthlichkeit  die  Gasse,  wie  sie 
Schumann  in  seinen  jüngren  Jahren  liebte:  In  Synkopen 
schiebt  sich  das  Thema 


ii-g^!tiJ 


r  f^i    I  ^"1^*1  [,J  l^jl  launig  träge  hin.    Der  Satz  kehrt 


in  beiden  Gruppen  wieder,  das  Seitenthema,  diesmal  in 
der  Haupttonart,  dient  zum  Abschluss  des  ganzen  Haupt- 
satzes und  vermittelt  mit  romantischen,  abendlichen  Ab- 
schiedsklängen den  Cebergang  zum  Trio. 

Dieses  Trio  ein  Allegretto  (**/4,  Ddur)  gleicht  eirfem 
Stück  Erzählung  aus  dem  Orient.  Es  hat  den  bukolischen 
Charakter  den  die  russische  Volksmusik  liebt.  Wie  es 
Hirtenweisen  thun,  gleitet  seine  Hauptmelodie  von  Instru- 
ment zu  Instrument  über  wiegende  Harmonien  und  einen 
Orgelpunkt  den  der  Componist  wunderbar  poetisch  belebt 
hat.  Er  klingt,  in  einzelne  Glöckchentöne  zerlegt,  aus  der 
Harfe  her,  Homer  und  Triangel  fallen  mit  ein.  So  ist  der 
Anfang  dieses  Theüs 

AUegratto.  fi<  72 


e<?      539      ^ 

Er  gebt  dann  aber  ausscbweifend  sofort  nacb  Desdur  und 
—  irren  wir  nicbt  —  begegnet  da  einer  leisen  Warnung 
vom  Haupttbema  des  ersten  Satzes  in  einem  Pizzicato- 
Motiv  der  Contrabässe.  Es  wird  infolgedessen  etwas  dunkel 
über  der  anmutbig  unschuldigen  Pastoralmelodie.  Docb 
bald  kommt  Ddur  und  voller  Sonnenschein  zurück.  Wir 
bedauern  dass  nicht  länger  Weilens  ist.  Mit  einer  gewissen 
Rücksichtslosigkeit  bricht  der  Componist  ab  und  kehrt  zum 
Scherzo  zurück.  Es  verläuft  so  wie  wir  es  aus  dem  ersten 
Theil  kennen ;  nur  wird  dem  Seitenthema,  als  es  zum  zweiten 
Male  erschienen  ist,  der  ganze  Schluss  übertragen,  —  ein 
schwärmerisches  Verklingen ! 

Der  dritte  Satz  (Andante,  C,  Desdur)  bietet  uns 
ein  Stückchen  Kunst,  wie  es  zur  Zeit  nur  in  der  Russischen 
Musik  zu  finden  ist  und  wie  es  von  russischen  Musikern 
wieder  nur  Borodiu  in  der  Gewalt  hat.  Nur  einer  von 
den  Lebenden  hat  sich  ihm  auf  diesem  Gebiet  einmftl  be- 
trächtlich genähert.  Das  ist  Dvorak  im  langsamen  Satz 
seiner  letzten  Sinfonie  „Aus  der  Neuen  Welt*.  Etwas  von 
der  Schwermuth,  der  Traumkunst  und  Resignation,  die  in 
dieser  Musik  liegt  ist  den  Slaven  allen  als  Erbe  aus  der 
gemeinsamen  Heimath  zu  Theil  geworden.  Es  spielt  aber 
auch  in  diese  ethnographisch  und  allgemein  menschlich 
gleich  stark  fesselnde  Musik  der  Orient  stark  hinein  mit 
seinen  schillernden  und  verschleierten  Farben,  mit  der  ver- 
lassnen,  versteckten  Schönheit  und  der  Unendlichkeits- 
stimmung, die  wir  auf  Möckel'schen  Bildern  finden  und 
auch  mit  seiner  heissen  und  doch  züchtigen  Sinnlichkeit. 
Ein  Theil  des  Phantasie-  und  Gemüthsgehalts  dieser  Musik 
kommt  aber  auf  eigenste  russische  Rechnung,  auf  Pusch- 
kin*8che  Landschaft  und  orthodoxe  Religiosität.  Sicher  ist, 
dass  wenn  einst  Herder'sche  und  Rückert'sche  Geister  die 
Summe  Russischer  Poesie  und  Kunst  ziehen,  derartige  Sätze 
wie  dieser  Borodin*sche  die  Hauptwerthe  bilden    werden. 

Wenn  wir  unter  den  dichterischen  Elementen  die  sich 
hier  zu  einem  Ganzen  gruppiren,  nach  dem  bestimmenden 
fragen,  so  wird  kaum  eine  Meinungsverschiedenheit  dar- 


Co     540     ^ 

über  bestehen,  dass  das  religiöse  überwiegt.  Wir  haben 
es  mit  einer  Art  Abendandacht  zu  thhn:  draussen  in  der 
weiten  Natur,  unter  freiem  Hinunel  empfiehlt  sieb,  zur 
Nachtruhe  gerüstet,  die  Karawane  dem  Schutze  Gottes. 
Gleich  die  vier  präludirenden  Takte  (Harfe  und  Clarinette) 
haben  einen  feierlichen  Charakter.  Dann  setzt  das  Hörn 
ein  mit  einer  Melodie: 


P  *9pr.  (Ml 


Dei. 

aus  der  Dank  und  Frieden  nach  des  Tages  Mühen  klingen. 
Die  Clarinette  nimmt  sie  auf.  Wir  erwarten  sie  nun  auch 
im  vollen  Chor  zu  hören.  Doch  dieser  natürliche  Verlauf 
wird  dramatisch  hinausgeschoben.  Die  Geigen  tremoliren : 
ein  beängstigender  Zwischenfall.  Das  Hörn  ruft  das  An- 
fangsmotiv   im    warnenden    Ton: 

wie  aus  der  Feme,  die  Bässe  nehmen  es  ernst  und  ent- 
schieden auf.  Als  würden  Wachen  und  Vorposten  abge- 
hört, melden  sich  aus  allen  Richtungen  Stimmen  mit  dem 

J»72 

beruhigenden  Thema    4  ^^h  fT^r[Z^  [1?    I   *    I  ^  ^^ 

nun  auch  im  Tutti  beschwichtigend  wirkt.  In  breiten,  wie 
Orgel  und  Kirchenmusik  klingenden  Accorden  schliesst 
dieser  erste  Abschnitt  des  Satzes  in  Cdur.    Der  nächste 

Plü  anlmato.  Jz  80. 


setzt  mit  einem  Thema  ein :     'Je  |  fJ  \^f_}^     CJ*  I  ^ 


P 

das  die  Stimmung  wieder  in  das  tägliche  Geleise  fuhren 
will.  Es  begegnet  in  den  Begleitstimmmen  bereits  einer 
Reibung,  in  Gestalt  eines  chromatischen  Motivs 

^äjiJ   J  i^J    I  J  ij  il  I  ^^^  ^^ä  basso  ostinato  die  Har- 


e<?        541        ^ 

monie  beherrscht,  bald  in  der  Mitte,  bald  in  der  Höhe 
durchklingt.  Der  Gedanke  an  die  Gefahr  wacht  noch 
und  lebt  auch  noch  einmal  in  seiner  ursprünglichen  Form 
auf  und  wird  in  ihr,  sogar  erweitert: 

lf^l(-U^"^Jt'    {J^J'fJjl^^^  zum  Trfiger  der  all- 

gemeinen  Empfindung,  die  am  Schluss  mit  dem  chroma- 
tischen Motiv  (in  Adur  ff  und  fff)  wieder  zum  Vertrauen 
und  Gefühl  der  Sicherheit  und  zu  einer  lauten  Anrufung 
der  göttlichen  Gnade  zurückkehrt.  Nach  einigen  in  stiller 
Sammlung  überleitenden  Takten,  in  denen  zuletzt  wieder 
die  Wächterstimmen  erscheinen,  ist  die  Episode  die  am 
Anfang  die  Fortsetzung  der  Des  dur- Melodie  unterbrach, 
zu  Ende  und  der  Chor  fällt  in  sie  ein  und  der  Satz  geht 
mit  leichten  Anspielungen  auf  den  kritischen  Augenblick 
zu  Ende.  Das  Präludium  rundet  die  Scene  als  Nachspiel 
schönstens  ab. 

Das  Finale  (Allegro,  ®/4,  H  dur)  setzt  sehr  überraschend 
ein :  Die  zweiten  Geigen  halten  des-as  von  dem  langsamen 
Satz  herüber  in  den  neuen  als  cis-gis^  drunter  setzen  die 
Bässe  mit  fis  ein.  Wir  haben  also  wieder  eine  der  humo- 
ristischen Dissonanzen  mit  denen  die  Neurussische  Musik 
die  ganze  abendländische  Harmonielehre  aus  dem  Sattel  zu 
werfen  droht.  Auf  diesem  Accorde  probiren  alle  Instru- 
mente erst  den  Rhythmus,  in  den  Violinen  huschen  flüch- 
tige Motive  durch,  dann  stürmen  Figuren  durchs  ganze 
Streichorchester,  wilde  Triller  setzen  in  den  Bläsern  ein. 
Die  lustige  Spannung  dauert  17  Takte;  dann  erst  kommen 
wir  zur  Klarheit,  zum  Hauptthema  des  Finale: 

AUegro.  J  s  126 


t2    \l{j  ^^'     Es    ist    echt 


russisch  naturfrisch  und  ausgelassen,  auch  in  der  Form 
durchaus  nationale  Tanzmusik  mit  gemischtem  Rhythmus 
(•/^  und  */4).  Als  das  Tutti  damit  durch  ist,  macht  es  den 
Platz  für  Solokünste  frei.     Das  Cello  schwingt  sich   mit 


co     542     '^ 


dem  Thema  hin  und  her,  während  die  Oboe  eine  Gegen- 
figur dazu  aufstellt : 


äo/ce 

des  Satzes  mehrmals  unsre  Aufmerksamkeit  in  Anspnich 
nimmt.  Das  eigentliche  zweite  Thema  bringt  die  Clarinette: 


^^^ 


i 


P^-f=j^~'^~   1*"=::  ,     Durch  die  Begleitung  wird  es  als 

ein  Abkömmling  des  Dudelsacks  als  echte  Bauemmusik  ge- 
kennzeichnet. Per  Componist  legt  ihm  die  verschiedensten 
und  sehr  reizende  Frisuren  an  durch  Instrumentirungs-  und 
Harmoniekünste,  er  weiss  es  sogar  majestätisch  kommen  zu 
lassen.  Die  seltsamste  Verwandelung ,  die  im  Finale  vor- 
kommt, erföhrt  aber  das  oben  angegebene  Oboenthema, 
das  beim  Eingang  der  Durchführung  von  den  Posaunen 
im  breiten  ^  ^Takt  und  lento  als  Bussprediger,  wie  Wallen- 
stein's  Kapuziner  auftritt,  natürlich  nur  um  einen  Sturm 
von  Heiterkeit  zu  erregen.  In  vieler  Beziehung,  in  der 
innren  Freiheit  und  Lebendigkeit  sowohl,  wie  in  gleichen 
motivischen  Bildungen  erinnert  dieses  Finale  an  den  ersten 
Satz  von  Borodin's  Es  dur-Sinfonie  und  darf  mit  ihr  als 
ein  Hauptbeispiel  fröhlicher  russischer  Sinfonik  betrachtet 
werden. 
A.' Borodin  Glazunoff  hat  aus  dem  Nachlass  Borodin^s  noch  ein 

Dritte  Sinfonie.  Bruchstück  einer  Amoll- Sinfonie  instrumentirt,  das  aus  zwei 
Sätzen,  einem  Moderato  und  einem  Scherzo  besteht.  Beide 
sind  im  Wesentlichen  Variationsarbeiten  vielleicht  aus  einer 
frühern  Zeit,  in  der  der  Componist  sich  noch  vollständig 
unter  dem  Einfluss  Glincka's  bewegte.  Wenn  sie  ih  Deutsch- 
land unbenutzt  geblieben  sind,  so  liegt  das  in  ihrer  Schwierig- 
keit. Diese  besteht  bei  dem  Moderato  in  den  grellen 
Gegensätzon  der  Stimmung,  zwischen  denen  es  humoristisch 


c^     543     ^ 

schwankt,  bei  dem  Scherzo  im  Rhythmus,  einem  kaum 
verständlichen  ^/jTakt. 

AlexanderGlazunoffist  mit  eignen  Compositionen  A.  Glaivnoff 
bei  uns  bis  jetzt  noch  so  wenig  bekannt,  dass  die  Lexica ^*«rte Sinfonie, 
seinen  Namen  übergehen.  Nachdem  aber  in  letzter  Zeit 
seine  vierte  Sinfonie  (in  Es)  und  nach  ihr  auch  die  fünfte 
(in  B)  mehrmals  aufgeführt  worden  sind,  kann  es  kaum 
ausbleiben,  dass  man  diesem  Tonsetzer  mindestens  eine 
gleiche  Stelle  in  den  deutschen  Concertsälen  einräumt  wie 
seinen  bereits  eingebürgerten  Landsleuten.  Mit  seinem 
sichren  und  gleichmässig  guten  Geschmack  steht  er  auf 
Seiten  Borodin's  und  über  Tschaikowsky  und  Korsakoff; 
doch  ist  er  nicht  ein  so  treuer  Russe  wie  dieser.  Wird 
ihm  elegisch,  so  äussert  er  sich  in  jenem  überschwän glich 
schwärmerischem  und  weichem  Ton,  der  in  die  neuere  Musik 
mit  Schumann  eingedrungen  ist,  stimmt  also  in  diesem 
Fall  mit  Tschaikowsky  überein.  Nur  ist  ihm  niemals  so 
wie  diesem  in  der  Fremde  dauernd  wohl.  Erfassen  ihn 
tiefere  Gefühle,  so  zeigt  er  die  Macht  der  slavischen  Natur, 
die  Lust  am  Wechsel,  den  Segen  einer  optimistischen  Lebens- 
anschauung. Für  sie  hat  kein  Schopenhauer  und  keine 
Griesgrämerei  überhaupt  existirt,  geschweige  dass  sie  gar, 
wie  billiger  Witz  an  der  Neurussischen  Musik  oft  bemerkt 
haben  will,  nihilistischen  Einflüssen  unterstünde.  Diese 
Musik  GlazunofiTs  ist  der  praktischste  Patriotismus,  der 
sich  aufstellen  lässt,  sie  fordert  Heimathsliebe  und  Lebens- 
freude. Diese  Frische,  dieses  naive  Talent  fürs  Geniessen, 
für  die  Freude  am  blossen  Dasein,  an  seinen  einfachsten 
Gütern,  an  Gesundheit  und  Sonnenschein  —  das  sind  Tu- 
genden, auf  denen  die  Mission  der  Russischen  Kunst  und 
ihrer  Sinfoniker  voran,  beruht.  Denn  die  verstehen  sich 
unbefangner  darauf  als  ihre  dichtenden  und  malenden 
Landsleute.  GlazunofiPs  Sinfonien  beweisen  ebenso  wenig 
eigentliche  musikalische  Originalität  wie  die  von  Tschai- 
kowsky, sie  stehen  hinter  dieser  auch  an  künstlerischer 
Originalität  zurück.  Das  Alles  muss  bei  ihm  der  nationale 
Gehalt  seiner  Kunst  ersetzen.  Aber  in  einem  Punkte  über- 
trifft Glazunoff  seine   Collegen.     Ihnen    allen   muss   eiue 


c<?     544     '^ 

Achtung  gebietende  Herrschaft  über  die  Technik  der  Com- 
Position  zugestanden  werden  und  zwar  nach  allen  Rich- 
tungen hin.  Glazunoff  übertrifft  sie  sämtlich  als  Contra- 
punktiker  noch  weit;  es  wlounelt  bei  ihm  nur  so  Ton 
Nachahmungen  und  Engfiihrungen,  angefangnen  und  durch- 
geführten Canons,  Umbildungen  in  der  Verkürzung  und 
Verlängerung,  Verbindungen  von  verschiednen  Themen 
und  andern  die  Form  belebenden,  den  geistigen  Grehalt 
vermehrenden  und  vertiefenden  Künsten.  In  der  Instm- 
mentirung  liebt  er  humoristische  Verwendung  der  Trom- 
pete besonders.  Gute  Laune  und  Munterkeit  scheinen 
überhaupt  die  stärksten  Züge  in  Glazunoff's  sanguinischem 
und  grosser  Weichheit  fähigem  Temperament  zu  bilden. 

Die  vierte  Sinfonie  (op.  48)  hat  die  üblichen  vier 
Sätze,  da  aber  das  Adagio  mit  dem  Finale  zusammenge- 
zogen ist,  erscheinen  äusserlich  nur  drei. 

Sie  beginnt  mit  einem  Andante  in  Esmoll  über  ein 
vom  Englischen  Hom  vorgetragnes  Thema,  das  sich  auf 
Grund  folgenden  Anfangs 

Andant«.  J.r58. 

etwas  bequem  entwickelt.  Als  es  auf  der  Dominante 
schliesst,  stellt  sich  ihm  ein  Gedanke  entgegen,  der  die 
freundlichen,  friedevollen  Zukunftsbilder  dieses  Themas 
mit  leisen  Zweifeln  und  Fragen  beanstandet.  Den  Reden 
und  Gegenreden  wird  ein  rasches  Ende  bereitet  durch  das 
Allegro  das  ohne  alle  Vermittelung  die  Durtonart  durch- 
zwingt. Als  erstem  Hauptthema  begegnen  wir  in  ihm  einer 
Melodie,  die  sich  abermals  etwas  breit,  unterm  Antheil 
verschiedner  Instrumente  entwickelt: 

Violinen. 


'ti  \t  rlPi  \rnrhf  f  ^ . 


c(?     545     ^ 

Sie  spricht  Worte  der  Hoffnung  auß,  in  Reimen  die  der 
Componist  fertig  vorgefunden  hat  und  kommt  in  der  Fort- 
setzung in  einigen  Eifer,  den  sofort  mit  Tönen  der  Ruhe 
ein  Seitengedanke  zu  beschwichtigen  unterninunt: 

Ja  76. 

Tgb'v  f^  fpA  I  r'T^  ^ .    Das  Hauptthema  kehrt 

wieder,  verklingt  aber  als  schliefen  alle  Sorgen  ein  und 
an  seine  Stelle  tritt  ganz  scherzenden  Tons  das  Thema 
der  Einleitung,  bei  der  Yerwandelung  die  es  aus  Moll 
nach  Dur  und  in  ein  fröhlich,  flottes  Tempo  geführt  hat, 
kaum  wiederzuerkennen: 

Damit  sind  wir  ins  Volksthümliche  und  in  die  ländlichen 
Kreise  und  ihre  Freuden  eingetreten.  Die  Melodie  be- 
herrscht diesen  Abschnitt  eine  Zeit  lang,  wörtlich  und 
Übertragen.  Unter  ihren  Variationen  ist  eine  im  ruhigen 
Tempo  für  Hom  hervorzuheben.  Dann  führen  ausge- 
lassnere  Scenen  nach  dem  ersten  Thema  des  AUegro  zurück 
und  der  Schluss  der  Themengruppe  erhält  als  Anhang  noch 
einige  kurze  fröhliche  Motive.  Statt  der  erwarteten  Durch- 
führung folgt  aber  eine  Wiederholung  dieses  ersten  Theils, 
eben  der  Themengruppe,  mit  etwas  verändertem  Modula- 
tionsgang und  auch  mit  verändertem  Charakter.  Es  wird 
etwas  länger  bei  dem  ersten  Thema  verweilt,  es  erhält 
einen  sorgenvollen  Ausdruck,  der  sich  laut  leidenschaftlich 
und  wieder  still  seu&end  äussert.  Diese  Stelle  führt  nach 
der  Einleitung  zurück:  dem  Andante  mit  dem  Pastoral- 
thema in  Es  moU.  Die  Freude  die  vorhin  durch  seine  Um- 
bildung in  die  Gestalt  eines  scherzenden  Durthemas  in  das 
AUegro  hineinkam,  war  verfrüht.  Noch  ists  nur  Zeit  zu 
hoffen.  Dies  spricht  ein  letztes  kurzes  Zurückgreifen  auf 
das  Hauptthema  des  AUegro  aus.  Die  im  ersten  Sinfonie- 
satz übUchen  Wege  des  Sonatenschemas  hat  Glazunoff  zum 
grossen  TheU  umgangen  und  doch  eine  verständliche  Dar- 

Kretzachmar,  Führer,  I.  85 


c(?     546     ^ 


ttelluDg  seelischer  Vorgänge  geboten,  ein  Bild  vom  Kampfe 
edler  Triebe  mit  den  Versuchungen  der  Alltäglichkeit. 

Die  andern  Sätze  fUhren  dieses  Bild  weiter:  der  Schau- 
platz wechselt,  es  wechseln  die  Charactere.  Das  Scherzo 
beginnt  mit  Quinten,  die  ungeduldig  erregt  in  den  Fagotten 

Allegro  Tlvaoe.  J*s  168. 

repetiren :     ^ir^  B    '       P    1     '    J       |    i^^^^  «to.  Das  sagt 

Tanz  an    und  bald  stimmen  auch  die  Clarinetten   einen 
Reigen  an,  dessen  Melodie: 

T 


in  ihrer  Mischung  von  Lustigkeit  und  Demuth  an  Bubin- 
st ein 's  ,  Bräute  von  Kaschmir'  erinnert.  In  der  Durch- 
führung dieses  Themas  tritt  im  Ganzen  sein  lustiger,  mun- 
terer Character  mehr  hervor.  Er  steigert  sich  bei  dem 
ersten  Tutti  zu  Kraft  und  Ausgelassenheit: 


an  andern  Stellen  wird  der  Nachdruck  auf  die  beweglichen  Ele- 
desThemasgelegt:  p^  ^    f^^^Tt^f  1^^^ 


mente 


Der  Hauptsatz  zerfallt  in  zwei  klar  geschiedene  Theile: 
der  erste  bringt  die  angegebnen  Themen  vorwiegend  in  B, 
der  zweite  in  F.  Als  in  diesem  zweiten  Theile  die  aus 
dem  Eingang  des  Scherzos  bekannten  Bassquinten  wieder 
erklingen  kommt  ein  neues  Thema: 


•3'     547     'ö* 


in  den  Hörnern,  das  aber  am  Schluss  die  freundlichen 
Lockrufe  des  alten  Hauptthemas  aufoimmt,  während  die 
Violinen  mit: 


dazu  contrapunctiren.  Es  ist  als  wollte  der  Componist  eine 
andre  Seite  ländlicher  Freuden,  die  Jagd  und  ihr  auf- 
regendes Treiben  im  Schattenriss  wenigstens  vorführen. 
Da  kommt  aber  sehr  bald  das  Trio  mit  seiner*  fast  in  die 
Farben  der  Aeolsharfe  gekleideten  Musik,  deren  Eintritt 
man  zu  den  schönsten  Stellen  der  Sinfonie  rechnen  muss. 
Die  Melodie,  die  an  ihrer  Spitze  steht,  und  zuerst  von  der 
Clarinette  gebracht  wird: 

Poco  meoo  mosBO.  TranqulUo.  J«:  60. 


rJj'  I  ^"t^-t-^"  ■  ^^^ '  r^t  I  r^^ 


ist  zwar  an  und  fdr  sich  einfach,  aber  in  ihrem  Gegensatz 
zum  Wesen  der  vorangehenden  Scenen  wirkt  sie  wie  aus 
höherer  Welt  gekoounen.  Das  bunte  Treiben  des  Tags 
und  seiner  Lust  liegt  weit  hinter  dem  Hörer.  Er  denkt 
an  den  Sternenhimmel  und  an  die  ewigen  Fragen  vom 
Menschlichen  und  Göttlichen.  Im  dritten  Theil  des  Scherzos, 
am  Schluss  der  Reprise  klingt  die  Hinunelsmelodie  des 
Trios  noch  einmal  an. 

Auch  der  dritte  Satz  knüpft  mit  seinem  einleitenden 
Andante  an  die  Stimmung  des  Trios  an.  Es  leuchten  über 
dieser  Einleitung  in  den  tremolirenden  Violinen  zauber- 
hafte Lichter  und  der  Gesang  der  durch  die  Bläser  zieht : 

Andante.  Js69. 

y^  "  1  r    *^J^~f^^^  l^^'p  r     versucht     wenigstens 


PP 


die  Töne  des  Friedens  wiederzufinden,  die  in  jener  Abend- 

35* 


«fl»     548     '^ 
Bccoe  klangen.    Der  Versuch  stösst  auf  zu  grosse  Erregung, 
die  in  dem  plötzlichen  Fortetakt  über :    £n  f^PT    f    I 

gewifisermassen  elementargewaltig  hervorbricht.  Ihr  folgt 
auch  bald  eine  jener  langen,  dem  russischen  Sinfonikern 
eignen  üebergangsstellen ,  in  denen  auf  liegendem  Bass 
kleine  Motive  in  die  Höhe  dringen  und  wie  Wässerchen 
zu  Wässerchen  kommend  zum  Strom  anschwellen,  der 
den  Damm  durchbricht.  Dieser  Wandel  in  der  Stimmung 
tritt  bereits  im  Andante  ein,  den  stürmischen  Charakter 
nimmt  sie  mit  den  ersten  Tönen  des  Allegro  an.  Da  setzen 
die  Trompeten  ein: 

Plü  mosso.  Allei^ro  moderato.  ds  18B.  ^^^^ 

und  allarmiren  das  ganze  Orchester  so,  dass  es  ins  Zittern 
geräth.  Der  ganze  erste  Theil  des  Allegro  äussert  wirk- 
lieh  seine  Energie  und  seine  Freude  vorzugsweise  rhythmisch, 
was  sein  Hauptthema  melodisch  bietet,  das  erscheint  noch 
nicht  geklärt :  die  Violinen  schwingen  sich  mit  dem  Motiv 

AJOir'pn  J   I  J-4^^^  fj^^^^  ^^  Kreise  und  in  die  Höhe, 

in  den  Klarinetten  scheint  die  meiste  Bestimmtheit  zu 
herrschen : 


pK  r  r  r  t^i^^^j^irLiM^r  t^yif 


Das  freudig  verworrene  Treiben  endigt  feierlich  mit  einem 
Desduraccord  und  diese  Stelle  führt  edlere  Geister  herbei. 
Zuerst  hören  wir 


f^*  j  J.  ^'l^^fm^TtirW^^ 


ein  Thema   in   dem  ganz  fremden  Edur.     Wie   sie  ein- 


e<?      549      "Ö» 

geleitet  war  so  schliesst  diese  Episode  auch  wieder  feier- 
lich, geheimnissvoll  mit  langen  Klängen,  lang  liegenden 
Accorden  (As,  Ces)  und  nun  folgt  ein  zweites  Thema  fried- 
licher Natur,  von  der  Oboe  eingeführt: 

^    Meno  mosso.  .  ^ .^ 


dolte 


I  T\  Tij^r  I  r  p-f-p.  r  p  ,  ^. 


Es  beendet  die  Themengruppe  des  in  Sonatenform  ge- 
haltnen  Satzes.  Sein  Einfluss  äussert  sieh  in  der  Durch- 
führung dadurch,  dass  zunächst  die  wilden  Motive  des 
Allegros  ganz  verwandelt  erscheinen.  Das  erste  kurze 
Violinenthema  z.  B.  kommt  in  den  Posaunen  als: 

ybJ     J    l'C       I     ij     bJ     J     I     J.      I.J      UJ  etc. 


Bald  erwacht  ihre  eigentliche  Natur,  sie  ringen  und  kämpfen 
gegen  die  edleren  Regungen,  die  mit  ihnen  den  Weg 
wiederholt  kreuzen.  Ueberraschend  erscheint  am  Ende 
dieser  Durchführung  das  Homthema  aus  dem  Scherzo 
gewissermassen  als  Bundesgenosse  für  die  Geister  der 
äusseren  Fröhlichkeit;  den  milderen  Mächten  kommt 
Hülfe  durch  die  schöne  elegische  Melodie,  die  den  ersten 
Satz  der  Sinfonie  eröffnete.  Dann  folgt  bald  die  Reprise 
die  die  edleren  Themen  in  grössrer  Bedeutung  zeigt,  ausser- 
ordentlich kunstvolle  Arbeit  enthält  und  freudig  rauschend 
schliesst. 

Glazunoff^s  fünfte  Sinfonie  (in  Bdur)  die  die  Opus-  1.  GUs«Boff 
zahl  55  hat,  ist  ein  Werk  der  Heiterkeit  und  Kraft,  das  fünfte  Sinfonie, 
sich  ohne  die  modernen  Hebel  der  Leidenschaft  und  Ro- 
mantik entwickelt,  aber  Phantasie  und  Gemüth  des  Hörers 
festzuhalten  und  zu  beschäftigen  vermag.  Denn  es  verräth 
überall  Geist  und  eine  adlige  Natur.  Der  Verlauf  und 
Charakter  der  beiden  letzten  Sätze  scheint  die  Sinfonie 
der  Programmmusik  zuzuweisen.    Doch  hat  derComponist 


«<?     550     ^ 


nicht  verrathen  was  ihm  vorschwebte  —  vielleicht  ein 
besondrer  Lebenslauf  — ,  da  anorganische  Einzelheiten,  die 
im  Zusammenhang  unerklärlich  wären,  nicht  darin  vor- 
kommen. In  der  Form  zeigt  die  Composition  verschwin- 
dend geringen  russischen  Einfluss,  in  der  Stimmung  äussert 
er  sich  in  wohlthuendster  Art  als  Naturfrische  und 
Lebenslust. 

Der  erste  Satz  beginnt  mit  einer  Einleitung  über  das 
Thema : 

Modento  maestoso.  J  :  92. 


J 


Sie  fUhrt  zu  einem  Allegro,  das  an  diesem  kräftig  fröh- 
lichen Grundgedanken  festhält.  Nur  im  andren  Rhythmus 
tritt  er  hier  auf  und  etwas  erweitert: 


AIl«i:ro.  J*r78. 


j^''«  f  ij  j  I .^^u^^y^^j^ r I n^ I 


jQ  I  r  ,trp  I  rr r4Q4gH-^-^^. 


Gegen&ätze  im  Sinne  eines  Widerspruchs  oder  einer  Ab- 
leitung treten  ihm  nicht  in  den  Weg,  nur  Versuche  den 
frohen  Muth,  der  aus  ihm  spricht,  noch  zu  steigern. 
Darunter  fallt  durch  seine  Entschiedenheit  der  folgende 
am  meisten  auf: 


i"-;^      Auch  das 


eigentliche  zweite  Thema  des  Satzes  bedeutet  Zustimmung, 
Freude  —  nur  im  zartren  Ton: 


Weiter  bemerken  wir  noch  Motive  des  Scherzes,  Motive 


<o     551     ^ 

aufwallenden  Frohsinns.  AUe  diese  grossen  und  kleinen 
Einf&lle  werden  varürt,  umgebildet  und  in  einem  leben- 
digen Spiel  zusammengebracht,  das  Humor  und  Witz 
beherrschen.  Die  Durchführung,  die  nur  kurz  gehalten 
ist,  stellt  sich  auf  einige  Augenblicke  grimmig.  Die  Re- 
prise in  der  das  zweite  Thema  geheinmissvoU  spannend 
vorbereitet  wird,  schiebt  den  Schluss  geflissentlich  und 
fesselnd  weit  hinaus» 

Das  Scherzo  schlägt  mit  seinem  Hauptthema: 

Moderato.  Js96. 

f '  utt'\ tili  lüiji/w;  \u4H-mh^ 

die  fluchtigen  Töne  heimlicher  Beweglichkeit  an,  mit 
denen  wir  seit  Mendelssohn  den  Begriff  von  Elfenmusik 
verbinden.  Das  Stück  gleicht  einer  Stunde  aus  der 
Rinderzeit,  wo  Abends  Märchen  erzählt  werden  von  schönen 
.Feen  und  kleinen  Geistern  der  Luft.     Dann  poltert  ein 


grober Eiese  herein :     Vi|^  ^S^    Pj^^ j  ^    Jj^^^ 

der  nach  den  tollen  Dissonanzen  zu  schliessen,  die  diesem 
Abschnitte  eigen  sind,  Alles  auf  den  Kopf  zu  stellen 
seheint.  Nach  diesem  Zwischenfall,  kehrt  der  Hauptsatz 
wieder.  Der  Mitteltheil,  der  die  Stelle  des  Trios  ein- 
nimmt, führt  mit  einer  hübschen  Volksmelodie  hinaus 
ins  Freie: 

•Prestisslmojgeno  mosso. 


to     552     'S» 
wo  sich  Tfinze  und  Spiele  und  gemUthliche  Zwiesprache: 

in   zum    Theil   sehr 


eigenthUmlich  schönen  Klang  entwickeln.    Vor  dem  Schloss 
wird  dieses  Trio  nochmals  kun  angespielt. 

Der  langsame  Satz  der  Sinfonie,  ihr  dritter,  wird  mit 
einigen  Takten  eingeleitet,  in  denen  die  Acoorde  wie 
schwere,  trübe  Wolken  langsam  hinziehen  und  schleichen. 
Dann  aber  treten  wie  Wandrer,  die  vom  innren  GlUck  er- 
füllt, nicht  auf  Himmel  und  auf  Wetter  achten ,  die  Ge- 
sangsthemen ein,  schwärmerischen  Tons  wie  ein  Liebhaber 
in  seiner  Sehnsucht  das  erste: 

.   I     Andante.  #):  120.  r  ,^  _     _ 


cresc. 


=^=      reinster  wärmster  Zärlichkeit  voll 


da.  andere:  p^^ff^^'}  I  O  CfV^r  I  p 


Das  zweite  insbesondre  breitet  sich  aus,  steigert  seinen 
schönen  warmen  Ton,  wird  hervorgejubelt  und  gelispelt 
und  bildet  die  Grundlage  für  die  Stimmung  des  Satzes. 
Doch  besteht  eben  dieser  Satz  nicht  ausschliesslich  aus 
Stinmiungsschilderung  und  verläuft  nicht  ungetrübt.  Die 
Einleitung  war  eine  Warnung.  Mitten  in  den  schönsten 
Augenblick  der  Composition  föllt  ein  brutales  Stück  Dra- 
matik, ein  vielerlei  Deutung  freistehendes  Elreigniss,  das 
aus  allen  Himmeln  reisst:  Posaunen  und  Trompeten  sind 
die  Vertreter  der  Schicksalswendung  und  dies  das  musi- 
kalische Motiv,  das  sie  veranschaulicht: 

Meno  mosso.  •)=  72. 


jfnV  U|^  1^^' 


to     553     €)» 


Das  Finale  der  Sinfonie  hat  einen  militäriscben  Cha- 
rakter. Sein  Hanptthema  ist  folgendes  und  sein  wichtig- 
ster Theil  der  BerliozVhe  Schloss: 


k 


AUegro  maestoso,  o:  126. 


pii  .1  I  r  cj  r=T^=T=F=3^Fg=^^^g^ 


=  jor 


Es  wird  ergänzt  durch  das  leichtherzigere: 


1 


P  PP 

Unter  den  wesentlichen  Motiven  des  Satzes  darf  besonders 
der  wiederholte  Anklang  an  die  rauhe  Trompetenstelle  des 
dritten  Satzes  nicht  Übersehen  werden.  Allem  Anschein 
nach  giebt  der  Satz  das  Bild  eines  wirklichen  Kampfes. 
Es  koDunen  neue  Hülfstruppen,  originell  in  den  Bässen  an- 
gemeldet 

wi  r  rr  'r  rr  'r  "^r  '"■'  »iJ  '  i  i  i  '■ 

es  giebt  Augenblicke  der  Niedergeschlagenheit,  der  Klage, 
der  Trauer  und  auch  des  Trostes,  die  aus  dem  letzten 
Thema  sich  entwickeln: 


y  ii^^b^    fT^f    f'^-Jß    4—^^  «*c«    Dieses  zeigt  in  weitem 


Umbildungen  seine  immer  grössre  Wichtigkeit  und  seinen 
Zusammenhang  mit  Volksmusik.  Es  wird  allmählich  zu 
einer  Kriegs-  und  Siegeshymne,  die  am  Schlüsse  auch  dem 
ersten  Hauptthema  des  Finale  eine  glänzende  Rückkehr 
vorbereitet. 

Zuweilen  liest  man  von  deutschen  Aufführungen  einer 
Suite  miniature  von  Cösar  Cui  dem  Sprecher  der       G.  C«l 
Neurussen.    Das  ist  ein  halbes  Dutzend  einfachster  Stücke  Saite  minlatora. 


«c     554     ^ 

in  Lied-  und  TanzfonneD,  die  an  Schumann*«  Kindeneenen, 
an  Bizefs  jeux  d^enfants  erinnern.  Die  rossiBche  Herkunft 
verrathen  sie  in  keiner  Zeile,  sondern  gehören  nach  Gkist 
und  Form  zu  den  besten  Früchten  der  französischen 
Schule  und  rerdienen  wegen  der  liebenswürdigen  Phan- 
tasie  und  der  feinen  Züge  in  der  Grestaltung  weiteste 
Verbreitung. 


V. 

Die  moderne  Suite  und  die  neueste  Ent- 
wickelung  der  classischen  Sinfonie. 


[ie  Werke  der  Nationalen  und  der  Programmmusiker 
bilden  einen  wichtigen  Theil  in  der  sinfonischen 
Production  der  letzten  Jahrzehnte  und  werden  vielleich  die 
Zukunft  der  Gattung  bestimmen.  Jedoch  repräsentiren  sie 
heute  noch  nicht  die  Hauptströmung.  Diese  hält  vielmehr 
immer  noch  an  den  Traditionen  fest,  welche  in  den  Werken 
Beethoyen's  und  der  Romantiker  niedergelegt  sind.  Ja, 
mitten  in  der  bewegtesten  Zeit  des  Streites,  welcher  sich 
um  den  Werth  und  Berechtigung  der  neuen  Programüi- 
musik  erhob,  um  das  Jahr  1860,  lebte  plötzlich  eine  Kunst- 
gattung wieder  auf,  deren  Blüthezeit  noch  hinter  den 
Tagen  der  Wiener  Classiker  zurückliegt.  Es  ist  die  schon 
im  vorhergehenden  Capitel  wiederholt  berührte  Suite. 

Die  Wiedereinführung  der  Suite  entsprach  dem  prak- 
tischen Bedürfnisse  nach  einer  einfachen  musikalischen 
Naturkost,  dem  Verlangen  nach  grösseren  Orchester- 
compositionen, welche  sich,  wie  die  Symphonie,  in  gebil- 
deten Formen  bewegen,  den  Geist  aber  mit  schwerer  Ge- 
dankenarbeit und  den  Strapazen  unserer  hohen  Cultur 
verschonen  sollten.  Dass  man  mit  dieser  humanen  Mis- 
sion gerade  die  alte  Suite  betraute,  war  eine  weitere  Wir- 
kung jenes  historischen  Sinnes,  welcher  seit  dem  Vor- 
gehen Mendelssohn^s  die  Musikwelt  stärker  zu  durchdringen 


c^?     556     ^ 

begann  und  welcher  in  den  Gesanimtausgaben  und  Einzel- 
ausgaben von  Werken  älterer  Meister,  in  der  Gründung 
und  Thätigkeit  der  Tonkünstlervereine  immer  mehr  Aus- 
druck und  zugleich  Förderung  fand.  Es  war  ein  Jahr- 
zehnt lang  der  Hauptfehler  der  modernen  Suite,  das« 
man  ihr  das  historische  Studium  und  die  Abhängigkeit  von 
alten  Mustern  zu  deutlich  ansah.  Die  alte  deutsche  Or- 
chestersuite bildete  den  Sammelplatz,  auf  welchem  sich 
die  charakteristischen  Tanz-  und  Liedweisen  aller  Nationen 
zusammenfanden.  Davon  ausgehend  hätten  die  moder- 
nen Suitencomponisten  sich  in  erster  Linie  darnach  um- 
sehen müssen,  was  das  19.  Jahrhundert  an  künstlerisch 
verwendbaren  Elementen  der  Volksmusik  bietet.  Und 
dass  es  solche  bietet,  hatte  Chopin  bewiesen.  Statt  dessen 
copirte  aber  die  Mehrzahl  die  Sarabanden,  Giguen,  Cou- 
ranten,  AUemanden,  der  Bach'schen  Ciaviersuite,  trug  aus 
der  neueren  Zeit  ein  Scherzo,  wenn  es  hoch  kam,  einen 
Marsch  herbei  und  vervollständigte  das  Ganze  mit  Varia- 
tionen und  Fugen.  Der  oft  miss verstandene  contrapunk- 
tische  Stil  der  Alten  wurde  ersichtlich  höher  angeschlagen, 
als  das  volksthümliche  Princip  ihrer  Suite. 

Das  Verdienst,  als  der  Erste  nach  hundert  Jahren 
wieder  Suiten  geschrieben  zu  haben,  hat  Joachim  Raff 
für  sich  in  Anspruch  genommen.^)  Der  Hauptantheil  an 
der  Neubelebung  und  Einführung  der  alten  Kunstfarm 
muss  jedoch  Franz  Lachner  zugeschrieben  werden.  In 
der  Sinfonieperiode  der  dreissiger  Jahre  von  den  Preis- 
richtern, nicht  aber  vom  Publikum  ausgezeichnet,  fand 
dieser  Tonsetzer  noch  spät  in  der  Suite  einen  Wirkungs- 
kreis ,  auf  welchem  er  viele  Freude  bereitet  und  seinem 
Namen  ein  bleibendes  Andenken  erworben  hat.  Auch 
Lachner  gehört  der  contrapunktischen  Richtung  der  mo- 
dernen Suite  an.  Aber  die  wirklich  volksthümliche  Natur 
seines  Talents  äussert  sich  bei  ihm  auch,  gerade  wie  bei 
den  Alten,  in  der  strengen  Form.  Seine  Fugen  sind 
frisch  und  kräftig,  frei  und  effektvoll.    Lachner  hat  sogar 

^)  Siehe  M.  Haaptmann,  Briefe  an  F.  Häuser  II,  249. 


«6»     557     ^ 

für  die  moderne  Weiterbildung  dieses  ebenso  schwierigen 
als  interessanten  Stils  wertbvolle  Fingerzeige  und  An- 
regungen gegeben.  Lachner  spricht  echten  Suitenton: 
auch  wo  er  gelehrt  wird,  bleibt  er  klar  und  verständlich; 
wenn  es  nicht  anders  geht,  ist  er  lieber  trivial  als  gekün- 
stelt, und  der  Undeutlichkeit  geht  er  so  sehr  aus  dem  Wege, 
dass  er  sich  darüber  oft  ins  Redselige  und  Breite  ver- 
liert. Eine  besondere  Specialität  in  seinen  Suiten  bilden 
die  Märsche.  Sie  zeichnen  sich  aus  durch  eine  einfach 
kernige  Rhythmik  und  durch  eindringliche  Melodien,  welche 
oft  mit  aparten ,  blühenden  Figuren  gewürzt  sind.  Oft 
sind  diese  Märsche  gar  nicht  declarirt  und  segeln  unter 
der  flagge  von  Ouvertüren  und  Intermezzos.  Aber  auch 
an  traulichen  Idyllen  sind  die  Lachner'schen  Suiten  reich. 
Eine,  im  besten  Sinne  des  Wortes,  gut  bürgerliche  Poesie 
beherrscht  die  Mehrzahl  seiner  Menuetts  und  Andantes. 
Die  Sprache,  welche  er  in  ihnen  vorzugsweise  spricht, 
erscheint  aus  den  Idiomen  der  alten  Wiener  Schule, 
speciell  dem  F.  Schuberts,  dann  denen  Spohr's  und  Men- 
delssohn^s  als  ein  neues  Viertes  hervorgegangen. 

Unter  den  sieben  Suiten  Lachner*s  ragt  die  erste  V.  Laehner 
(D  moU)  durch  Werth  und  Popularität  hervor.  Ihr  erster  Suite  Nr.  i 
Satz  besonders,  ein  .Präludium«,  in  welchem  das  Thema:      (»°»o"^ 

Alleg^  non  trovpo.     k       i    i    i   j     i  j       K 

mit  Kraft  und  Kunst  durchgeführt  wird,  ist  einer  der 
effektvollsten  Sätze  in  der  neueren  Suitenlitteratur :  natur- 
frisch und  mit  manchem  kecken  Harmoniesprung  dahin- 
fliessend,  originell  und  individuell  in  seiner  Mischung  von 
Derbheit  und  Anmuth.  Der  zweite  Satz,  Menuett,  ist 
eins  der  liebenswürdigsten  Rococcobilder  in  romantischer 
Färbung.   Der  Hauptsatz  tänzelt  auf  folgender  Melodie  hin : 

AUegTo  non  troppo. 


•le. 


Das  Trio  hat  dieselbe  Grazie,  aber  mehr  Chorcharakter: 


^     558     ^ 


als  ob  Massen  anträten.     Sein  Thema  wird  Ton  einer  Art 
von  Basso  ostinato  gravitätisch  begleitet: 


JTli   /^Ti^t 


r 

r  - 


Der   dritte    Satz    besteht    aus 
=  einem  Cyclus  von  Variationen, 
welchen    folgendes   Thema  zu 
Grunde  liegt: 


JJUgTom 


ffCmtü 


rmirrrii7;)Ma 


Die  Bratschen  begleiten  es  in  der  oberen  Octave.  Die 
Variationen  —  23  an  der  Zahl  —  sind  vorwiegend  im 
älteren  Stil  gehalten  und  entfernen  sich  niemals  weit 
vom  Thema,  welches  in  andere  Tempi  und  Taktarten 
gesetzt,  mit  wechselnden  Figuren  umkleidet,  aber  ein- 
schneidenderen Umbildungen  nicht  unterzogen  wird.  Die 
grosse  Hälfte  der  Variationen  übt  trotzdem  die  tiefere 
Wirkung  von  Charakterstücken  aus;  ein  Theil  ist  als 
virtuoses  Spielwerk  zu  betrachten.  Den  Cyclus  beschliesst 
ein  Marsch,  welcher  über  den  Verband  der  Suite,  zu 
welcher  er  gehört,  und  aus  den  Concertsälen  hinaus  in 
die  Volkskapellen  gedrungen  ist.  Sein  direkt  an  A.  EberTs 
D dur- Sinfonie  erinnerndes  Thema,  welches  zuerst  wie 
aus  weiter  Feme  hörbar  wird,  genügt  allein,  um  diese 
Popularität  zu  erklären: 


VI.I. 


t^r 


*)  Lies:  ces. 


ee     559     ^ 


r  JQ  i  J  :.   Luise  von  Kobell 


F.  Lftolwer 

Saite  Nr.  2 
(EmoU). 


bat  neuerdings  erzählt  wie  die  hübsche  Sechzehntelfigur, 
die  dem  Thema  seine  EigenthUmlichkeit  giebt,  yon  einer 
Yogelstimme  stammt,  die  Lachner  einen  Sommer  lang  auf 
seinen  Münchner  Morgenspatziergängen  begrüsste.  Das 
Finale  der  Suite,  ihr  vierter  Satz,  besteht  aus  einem  weh- 
müthigen  Andante  ab  Einleitung  und  einer  sehr  streitbaren 
Fuge  über  folgendes  Thema: 

ADeg^o  moderato.     ^ 

y  CoBtraklM«  CcDi  Faf . 

Die  zweite  Suite  Lachner^s  (Emoll)  hat  unter  ihren 
fünf  Sätzen  zwei  Fugen,  welche  beide  durch  eigenthüm- 
liche  Anlage  interessiren.  Die  eine  in  der  Gigue  durch 
die  eingelegten  homophonen  Partien  und  die  dramatisch 
schwungvollen  Steigerungen  am  Schlüsse;  die  andere,  im 
ersten  Satze  durch  die  poetische  Verbindung,  welche  sie 
mit  der  melancholischen  Introduktion  eingeht:  In  dem 
Moment,  wo  der  Satz  abschliessen  könnte,  taucht  das 
leidenschaftliche  Anfangsmotiv  der  Einleitung 

auf,   setzt  sich   als  zweites 

Thema  fest,  und  die  Fuge  wird  zur  Doppelfuge.  Der  Menuett 
dieser  Suite,  dessen  Trio  ein  graziöser  Canon  zwischen 
Violine  und  Bratsche  ist,  nähert  sich  dem  Charakter  der 
Mazurka,  das  Intermezzo,  namentlich  im  Mittelsatze,  dem 
Marsch. 

Die  dritte  Suite  Lachner's  (Fmoll)  beginnt  mit  einem    F.  Laekaer 
«Präludium*'    im   müden   Ton.     Ihr  zweiter  Satz ,  Inter-    Saite  Nr.  3 
mezzo,  überdeckt  eine  tief  elegische  Stimmung,  aus  wel-      (FmoU). 
eher   zuweilen    pathetische    Klagen    hervorbrechen,    mit 
einem    leicht   tändelnden    Motiv.     Die   Sarabande   bildet 
eine  ähnliche  Verbindung  von  gefühlvoll  weichem  Gesang 
mit  behaglichen  Tanzmotiven.  Zwischen  den  beiden  Sätzen 
steht  wieder  ein  längerer  Variationencyclus,  dessen  Thema 
mit   dem  AUegretto   von   Beethoven's   siebenter    Sinfonie 


«<?     560     ^ 


F.  LMkier 

8oite  Kr.  4 
(Eador), 


F.  Laehaer 

Suite  Nr.  5 
(Cmoll). 


F.  Laelwer 

Bulte  Nr.  6 
(Cdur). 


in  naher  Verwandtschaft  steht.  Auch  dieser  Satz  klingt 
mild  aus.  Unter  seinen  energischeren  Partien  ragt  die- 
jenige Variation  hervor,  in  welcher  die  Holzbläser  uni- 
sono sich  auf  der  chromatischen  Scala  tummeln.  In  den 
Schlusssätzen  der  Suite,  einer  Courante  mit  einem  Schu- 
mann*schen  Violinthema  und  sehr  hübschen  Rlangeffek- 
ten,  und  einer  modemisirten ,  balletmässigen  Gavotte 
wirft  die  Composition  alles  Trübe  ab  und  wendet  sich 
kräftigen  Geistes  dem  Frohsinn  zu. 

In  der  vierten  Suite  Lachner*s  (Esdur)  ist  das  con- 
trapunktische  Element  wieder  stärker  vertreten.  Der  erste 
Satz,  Ouvertüre  benannt,  fugirt  am  Schlüsse,  der  fUnfte, 
eine  sehr  kräftig  einsetzende,  modemisirte  Gigue,  durch- 
aus, und  beide  Male  ist  die  Fugenform  wieder  in  inter- 
essanter, freier  Weise  mit  einfach  melodischen,  anmuthi- 
gen  Episoden  durchzogen.  Der  erste  Satz  ist  nur  dem 
Namen  nach  eine  Ouvertüre,  nach  dem  Charakter  ein 
Marsch  mit  ausserordentlich  populärem  Thema.  Er  gleicht 
einem  Festzug,  der  von  Jungfrauen  eröffnet  und  von  Mili- 
tär geschlossen  wird.  Zwischen  den  beiden  Gruppen 
bildet  ein  energisch  frohes  Thema,  dessen  Heimath  in 
Weber*8  Eurjanthe  liegt,  den  üebergang.  Der  wirkungs- 
vollste Satz  der  Suite  ist  das  Scherzo  pastorale  mit  einem 
reizenden  Cellosolo  im  Trio. 

Die  fünfte  Suite  Lachner's  (Cmoll)  weicht  von  den 
vorausgehenden  wohlthuend  durch  die  Knappheit  der 
Sätze  ab.  Ihre  hervorragendsten  Partien  sind  der  Mittel- 
satz des  Andante,  ein  sehr  klar  wirkender  Canon  zwischen 
Solovioline  und  Bratsche,  und  das  Trio  im  Scherzo,  ein 
edler  Gesang,  auf  welchem  Schubert*s  Geist  ruht.  Im 
Finale,  welches  in  der  Form  des  Sonatensatzes  gehalten 
ist,  taucht  als  zweites  Thema  eine  bekannte  Oberon- 
gestalt  auf. 

Der  poetische  Plan  von  Lachner^s  sechster  Suite 
(Cdur)  steht  mit  dem  deutschen  Kriege  in  den  Jahren 
1870 — 71  im  Zusanmienhang.  Schon  die  Gavotte,  welche 
hereinfahrt  wie  „Zieten  aus  dem  Busch*,  erinnert  an  sol- 
datische Elemente.    Das  Finale  ist  einer  der  bedeutendsten 


c(?     561     ^ 


F.  LMhner 
Suite  Nr.  7 
„BaUtnite''. 


patriotischen  Tribute,  welche  die  Musik  jener  Zeit  dar- 
gebracht hat.  Es  vereinigt  die  Trauerfeier  mit  Sieges- 
jubel und  Dank.  Klagende  Recitative  im  Spohr^schen 
Stile  leiten  eine  mild  und  resignirt  gehaltene  Paraphrase 
des  Heldenchorals  ,Ein'  feste  Burg*  ein.  So  wie  die  Be- 
gleitmannschaft vom  Grabe  des  Kammeraden  mit  fröhlichem 
Spiel  wegzieht,  folgt  dann  auch  hier  der  Trauercere- 
monie  ein  demonstrativ  munterer  und  energischer,  kurz 
und  keck  rhythmisirter  Marsch,  eine  der  flottesten  Compo- 
sitionen,  welche  Lachner  in  dieser  seiner  Specialgattung 
geschrieben  jbat. 

Die  siebente  und  letzte  Suite  Lachner 's,  „Ball- 
suite'' genannt,  macht  mit  der  Modemisirung  der  Gat- 
tung Ernst.  Sie  besteht,  mit  Ausnahme  des  Intermezzo 
und  der  Introduction ,  aus  lauter  Tanzsätzen,  die  heute 
noch  praktisch  leben :  Polonaise,  Mazurka,  Walzer,  Dreher, 
Lance.  Leider  ist  die  vortreffliche  Absicht  von  der 
musikalischen  Erfindung  wenig  unterstützt  worden.  Mit 
erfreuKcherem  Gelingen  hat  einen  ähnUchen  Versuch 
J.  Herbeck  in  seinen  „Tanzmomenten''  durchgeführt. 

Die  Lachner'schen  Suiten  warßn  in  dem  Jahrzehnt 
ihrer  Entstehung  sehr  beliebt  und  haben  die  meisten 
Werke  der  Gattung,  welche  mit  ihnen  gleichzeitig  hervor- 
traten, bis  heute  an  Lebenskraft  weit  übertroffen.  Wenn 
sie  jetzt  anfangen  zu  altem  und  aus  den  Concertsälen 
zu  schwinden,  so  bleibt  ihnen  noch  lange  die  Sympathie 
der  Freunde  des  vierhändigen  Clavierspiels  gewiss. 

Unter  denjenigen  Suiten  Bach'scher  Richtung,  welche 
mit  den  ersten  Arbeiten  Lachner's  bedeutend   concurrir- 
ten,  sind  die  Cdur-Suite  von  J.  Raff  und  die  Amoll- 
SuiteH.  Essers  (die  zweite  dieses  Componisten)  hervor-  8^'«  (Cdur). 
zuheben.      Es   sind   in   erster   Linie   Documente   für  den     H.  Esser 
merkwürdigen  Begriff  von  der  Kunst  der  alten  Meister,  S""«  <^  ™^">- 
wie  er  um  die  Mitte  unseres  Jahrhunderts  noch  bei  selbst 
bedeutenden  Musikern  fest  sass.    Auch  in  den  Charakter- 
etüden des  trefflichen  Moscheies  regnet  es  eitel  .Figural- 
musik''  wenn  die  Alten  geschildert  werden  sollen.     Raff 
contrapunktirt    steif,    gleichförmig    und    so    ruhelos    und 


J.  Herbeek. 


J.  Baff 


Kretstohmar,  Führer,  I. 


86 


co     562     "^ 

bastig,  dass  Einem  der  Athem  vergeht.  Esser  jagt  ba- 
rocke Passagen  mit  unablässigen  Sequenzen  und  Imita- 
tionen im  Kreise  herum.  In  RaflTs  Suite  werden  erst  die 
letzten  Sätze,  das  Adagietto,  Scherzo  und  Finale,  welche 
aus  Mendelssohn^scben  und  Schumann^schen  Quellen 
schöpfen,  natürlicher,  freier  und  phantasievoller.  Esser 
hat  ausser  dem  Ueberfluss  an  Vorhalten  und  archaisti- 
schen Dissonanzen  aus  der  alten  Suite  doch  auch  etwas 
von  ihrer  Kraft  (in  der  Introduzione)  und  von  ihrer  Grazie 
(AUegretto)  in  seine  Copie  gebracht. 

Auch  die  mit  den  genannten  Werken  ziemlich  gleich- 
W.  BArglel  altrige  Cdur-Suite  von  W.  Bargiel  bildet  alte  Formen 
Saite.  nach:  Courante,  Allemande,  Sarabande,  Air  und  Gigue. 
Aber  der  Ck)mponist  erfüllt  sie  frisch  zu  mit  modernem, 
zum  Theil  Schumann'schem,  Geiste.  Dadurch  wird  diese 
Suite  zu  einer  der  interessantesten  Erscheinungen  in  der 
Gattung.  Sie  überragt  die  Sinfonie  BargieFs  an  Natür- 
lichkeit der  Haltung,  an  Beweglichkeit  der  Phantasie 
und  verdient  in's  Repertoir  wieder  aufgenonmien  zu  werden. 

Die  contrapunktische  Tendenz  der  modernen  Suit« 
J.  0.  OrlBM  gipfelt  in  den  beiden  Suiten  Julius  Otto  Grimm 's.  Es 
Suite  in  Canon-  sind  Suiten  in  der  Form  des  Canons  durchgeführt.  Die 
form  Q^^^  (Cdur)  für  Streichorchester  bewegt  sich  in  knappen 
Kr.  1  (Cdur).  Bahnen.  Ihrem  ersten  Satze,  welcher  den  festlichen  Ton 
der  Mozart'schen  Jugendsinfonien  anschlägt,  liegt  das 
Schema  der  Sonatine  zu  Grunde.  Das  Andante  hat  drei- 
theilige  Liedform,  der  dritte  Satz  ist  ein  Menuett  ein- 
fachster Fassung  ohne  Seitensätze,  das  Finale  ein  Minia- 
turrondo. Der  Canon  liegt  immer  sehr  offen  oben  a\if: 
die  Stinmien  folgen  einander  in  der  Octav  und  in  kurzen 
Abständen  ohne  Künstelei.  Nur  im  letzten  Satze  wählt 
Grimm  für  den  zarten  Mittelsatz  (in  As)  die  Distance  acht- 
taktiger  Perioden.  Trotz  der  Fesseln  in  der  Schreibart 
äussert  die  Composition  eine  schöne  geistige  und  sinn- 
liche Wirkung.  Ein  besonderer  Reiz  des  Klanges  liegt 
über  dem  Andante,  welches  vom  Soloquartett  allein  vor- 
getragen wird,  und  über  dem  warm,  gemüthlich  und  innig 
einsetzenden  Trio  des  Menuett. 


^     568     ^ 

Grimmas  zweite  Suite  (Gdur)  erregt  und  befriedigt  J.  0.  Orlmm 
höhere  Ansprüche.  Irren  wir  nicht,  so  war  sie  vor  derSaito  in  Canon- 
Dmcklegung  als  Sinfonie  betitelt.  Sie  ist  fiir  volles  Or-  '*''™ 
ehester  geschrieben:  ihre  Sätze  haben  breite  Formen  mit 
ausgeführten  Durchführungspartien  und  ihre  Gedanken 
durchstreifen  grosse  Kreise  und  berühren  entgegengesetzte 
Regionen.  Der  Zuhörer  vergisst  über  dem  Gang  der 
Leidenschaften  die  kleinen  Reize  des  Canons,  den  der 
Componist  selbst  häufig  auf  die  Nebenplätze  der  Dichtung, 
in  die  Begleitungsmotive  und  in  den  Figurentheil,  zurück 
verwiesen  hat.  Obgleich  der  Canon  hier  bescheidener 
auftritt,  als  in  der  kleinen  ersten  Suite,  ist  er  mit  noch 
grösserer  Kunst,  mannigfaltiger,  freier  und  praktischer 
gehandhabt.  Letzteres  dadurch,  dass  die  Melodien  kürzer 
und  schärfer  gegliedert  sind.  Auch  hier  wiegt  der  Canon 
in  der  Octave  und  mit  schnell  folgenden  Stimmen  vor; 
aber  es  sind,  wie  im  langsamen  Satze  der  Canon  in  der 
Umkehrung,  auch  seltenere  Arten  verwendet.  Auf  Mo- 
mente schweigt  die  canonische  Kunst  und  vor  dem  Einerlei 
bewahrt  ein  häufiger  Wechsel  in  der  Besetzung  der  fuhren- 
den Stimmen.  Den  grössten  poetischen  Werth  hat  unter 
den  vier  Sätzen  der  Gdur-Suite  das  Adagio,  eine  ernste 
Betrachtung  über  das  Thema: 

M^to  Ad&f  lo  6  castaibtt«. 


i^'  MijUW 


Seit  kurzem  ist  eine  dritte  Suite  Grimm's  veröffent-  J.  o.  CirlBim 
licht,  die  in  G  m  o  1 1  steht  und  als  seine  bedeutendste  Arbeit  Suite  in  Canon- 
gelten  darf.    Doch  ist  sie  bis  jetzt  wenig  bekannt  geworden        ^<^"" 
und  wird  mit  ihrer  soliden  Art    der  pikanten  Richtung^'- *  <^°*^">- 
gegenüber,  die  mittlerweile  in  der  Suite  zur  Herrschaft 
gekommen  ist,  auch  einen  schweren  Stand  behalten. 

Einen  Nachfolger  auf  seinen  canonischen  Pfaden  fand 
Grimm  in  S.  Jadassohn,  welcher  in  seiner  ersten  Sere-  J.  JadMtohn 
nade  (Gdur)  den  Canon  als  die  Form  für  leichte  Gedanken i>'ei  Serenaden, 
und  kleine   Scherze    benutzt.    In  seiner  zweiten  Serenade 
(Ddur)  hat  derselbe  Componist  auf  den  Canon  verzichtet, 
in  seiner  dritten  (A  dur)  ihn  auf  einen  heitern  Satz  (Inter- 

86* 


«^     564     ^ 

mezzo)  beschräokt,  dafür  aber  in  beiden  Werken  eine  Ver- 
tiefung des  Inhalts  angestrebt. 

Von  bemerkenswerthen  ausländischen  Suiten  gehört 
dieser  arcbaisirenden  Abtheilung  das  op.  60  von  C.  St.  S ae  n  s 
zu.  Das  yPrelude*^  ist  ein  Canon  mit  wechselnden  Instru- 
menten, der  in  seiner  Stimmung  etwas  an  den  ersten  Satz  vom 
G  moll-Concert  des  Componisten  erinnert.  Der  zweite  Satz, 
Sarabande,  bringt  sehr  anmuthige  Variationen  über  ein 
Thema,  das  dem  von  Händers  «Lascia  ch*  io  piango*  nach- 
gebildet ist.  In  der  charaktervollen ,  Gavotte  '^  zeichnet  sich  das 
Trio  durch  die  liegende  Stimme  der  Violinen  romantisch  aus. 
Der  Schlusssatz,  eine  ,  Romanze  * ,  verlässt  wider  allen 
Suitenbrauch  die  gemeinsame  Tonart  (D)  und  steht  in  G. 
Die  contrapunktische  Gruppe  der  modernen  Suiten- 
componisten  ist  allmählich  durch  eine  andere  Richtung 
verdrängt  worden,  welche  ihren  Ausgang  von  den  Diver- 
tissements Mozart's,  von  den  Gartenmusiken  des  18.  Jahr- 
hunderts nahm  und  den  ganzen  Nachdruck  auf  den  idylli- 
schen und  einfachen  Charakter  der  Gattung  legte.  Der 
nach   Zeit   und   Rang   erste  Repräsentant  dieser    zweiten 

J.  Bnüiiu    Gruppe  der  modernen   Suiten  ist  Johannes   Brahms. 

Serenade  in  Leider  hat  er  nur  zwei  Serenaden  geschrieben.  Sie  stammen 
Ddur.  jedoch  aus  der  besten  Zeit  des  Componisten,  und  sind  mit 
den  „Maggellonenromanzen*  nicht  blos  gleichaltrig  sondern 
auch  innerlich  verwandt.  Der  jugendlich  schwärmerische 
Ton,  der  sie  auszeichnet,  stellt  sie  unter  die  schönsten  und 
liebenswürdigsten  Aeusserungen  des  neuesten  Serenaden- 
geistes, die  Natürlichkeit  der  thematischen  Erfindung  weist 
sie  unter  die  Hauptwerke  des  Componisten.  Eine  gewisse 
Unreife  verrathen  sie  in  der  allzu  breiten  Ausfuhrung  ein- 
zelner Sätze.  Die  erste  Serenade  (Ddur,  op.  11),  welche 
im  Jahre  1862  erschien,  besteht  aus  sechs  Sätzen.  Sie 
beginnt  mit  einem  grossen  Allegro  in  breiter  Sonatenform, 
in  welchem  der  pastorale  Ton  vorherrscht.  Das  Hom,  ein 
Lieblingsinstrument  des  Componisten,  stellt  als  Hauptthema 
eine  naiv  fröhliche  Melodie 
Allegpro  molto. 


6<?     565     ^ 


m 


bin,  welche  von  primitiven  Harmonien  begleitet  und  i„ 
angenirten  Modulationen  weiter  geführt  wird.  Das  sinnige 
zweite  Thema  tritt  in  einer  Fassung  auf,  die  Brahms 
original  zugehört 


f  f  |f  f7f  T  |f.^-ifL^f  y  |,rT^^ 


Celli  und  Bratschen  nehmen  die  zarte  Schwärmerei  sofort 
auf  und  geben  ihr  im  Verein  mit  den  Holzbläsern  den  in- 
timsten Abschluss.  Ein  kurzer  Nachgesang,  aus  welchem 
das  reinste  Glück  des  Herzens  spricht,  geht  in  ein  freudig 
hupfendes  Seitenthema 


if^iii  iiiii  iiiM'iVufrifriiirrgi 


über,  welches  das  Material  für  den  Anfang  der  Durch- 
fuhrung liefert.  Letztere  selbst  trägt  in  einzelnen  gekünstel- 
ten und  gewaltsamen  Stellen  die  Merkmale  der  Entwicke- 
lungszeit  des  Componisten.  Eigenthümlich  schön  ist  der 
Eingang  in  die  Reprise  des  Satzes.  Durch  ein  der  D  dnr- 
Harmonie  eingeschobenes  C  rückt  das  kecke  Homthema 
hier  in  ein  überraschendes  und  das  Ende  der  Scene  kün- 
dendes Dämmerlicht.  Der  Schluss  des  Satzes  ist  ausser- 
ordentlich subtil:  ein  zartes  Solo  der  Flöte,  zu  welchem 
Bratschen  und  Clarinetten  decent  die  Harmonie  hinzu- 
fügen. 

Der  zweite  Satz   (Scherzo  Dmoll  '/<)  hat  in  seinem 
Hauptthema : 

'^    Allegro  Bon  troppo. 


'rTi,iiii-|iirrimiiirrTmii 


L  \f\f  r7Tr  f  f  r  I  r  ^^  Aehnllchkeit   mit   dem    in 


')  Die  4  Aaftaktnoten  sind  Achtel. 


c<r     566     '^ 


Brahms'  zweitem  Klavierconcert.  Die  Stimmung  zeigt  auf 
ein  pochendes  Herz  und  wird  erst  vom  Seitensatze  ab  eine 
ruhig  freudige.  Ihr  thematischer  Ausdruck  zeigt  von  da 
ab  Wiener  Einflüsse,  der  Seitensatz  Schubert'schen : 

^  ^  r^;TJ  I  r  if^J  I  r  ir^r  i  ^'  irTr  \f^^ ' 

"         m  esBrmMM.  cresc.  af 


P  t9fT9$^ 


V^r'i    Iff^r  If'^^,  das  Trio 

Foco  pt4  Bot». 


«te. 


Haydn-Mozart*8chen. 

Der  Werth  des  Adagio  (B  dur  *  4)  ruht  besonders  auf 
dem  Hauptthema,  welches  eine  der  herrlichsten  melodischen 
Erfindungen  von  Brahms  bildet: 

Ad&f  io  non  trpppo. 


M 


^^riffl^igp 


^»hMh?7pWt 


C.U»  M  WJ    U«  '        -^  K        "^  ^—  •  •     '    7" 

Noch  schöner  fast  ist  der  concertirende  Nachsatz: 


'Mii  ^ylliiiiJ^^,^ 


.    Ihm  folgt  eine  Episode 
mit     folgender     Melodie 


^»^'J  Jjl^Jjylj  JJ'^JJJI^-  Auch  ihre  Be- 

•  etc. 


gleitung   mit    murmelnden    Zweiunddreissigstelfiguren    er- 


^)  Im  Hauptthema  des  Adagio   fehlt  im  letzten  Accord  des 
5.  Taktes  £  im  Bass. 


ce     567     "^ 

innert  an  die  „Scene  am  Bach"  in  Beetboven's  Pastoral- 
sinfonie. Das  Adagio  zersplittert  sich  von  da  ab  einiger- 
massen  und  entschädigt  die  Aufmerksamkeit  vorwiegend 
durch  feine  Details. 

Den  vierten  Satz  bilden  zwei  zusanmien gehörige  Me- 
nuetts: (Gdur  der  erste,  Gmoll  das  Alternativ),  welche 
den  Originalcharakter  der  alten  Serenade  aufs  Drastischste 
wiedergeben.  Namentlich  der  G  dur-Satz  ist  ein  originelles, 
kostbar  drolliges  Genrebild,  zu  welchem  die  moderne 
Suitenlitteratur  vielleicht  nur  in  dem  Walzer  von  Volk- 
mann's  F  dur-Serenade  ein  nahestehendes  SeitenstUck  auf- 
zuweisen hat.  Nur  die  beiden  Clarinetten  und  ein  Fagott 
spielen  es:  Jene  geben  die  Anmuth  und  LiebenswUrdlg- 

Modertio. 
keit     in       ff  t  ^  j'  j  j  j  H  j  ^  ^^^'^  ^^  letztere  bringt 


dem   komischen   Murkybass    .V  J  *  J  ^  J  *  I  J  ^  J  ^ 

Jf  «to. 

mit  welchem  es  die  Melodie   begleitet,   das  CostUm  der 
alten  Zeit  hinzu. 

Ein  als  fünfter  Satz  folgendes  Scherzo   (Allegro  ^U) 
beschwört  in  seinem  Hauptthema: 

ijji'lj.'!  J.  IJJ  Jl  .1   I   I  I   I   I  LM  I  J   I 


den  Vergleich  mit  Beethoven's  zweiter  Sinfonie  (Trio  im 
Scherzo)  etwas  zu  keck  herauf  und  wird  bei  Aufführungen 
am  besten  gestrichen. 

Ein  Rondo  beschliesst  als  sechster  Satz  die  Serenade. 
Sein  Hauptthema: 

Allei^o. 


•to. 

welches  einen  leichten  Anflug  von  Schumann^schem  Wesen 
hat,  passt  sehr  gut  zum  Bilde  einer  fröhlich  nach  Hause 
ziehenden  Gesellschaft.  Unter  den  Nebenthemen  des  Satzes 
hat  das  folgende: 


«<?     568     «* 


n» 


fUr  die  Entwickelung    und  Durchfolinuig   hervorragende 
Bedeutung. 
J.  BrftlMu  Die  zweite  Serenade  von  Brahma  (Adur  op.  16),  nur 

8«r«nade  Nr.  2  wenig  jünger  als  die  in  Ddur,  verhIUt  sich  zur  letzteren 
(AdoT).  ^jg  ^ß  Schwester  zum  Bruder.  Sie  ist  noch  zarter,  heim- 
licher, inniger  und  tiefer ;  zu  gelegener  Zeit  kehrt  sie  aber 
auch  den  Wildfang  noch  stärker  heraus.  Ueber  ihrem 
Klang  liegt  ein  mattes  Colorit:  wie  im  ersten  Satze  seines 
Requiem,  wie  Mehul  in  seinem  Uthal,  hat  Brahms  die 
Violinen  weggelassen  und  den  Bratschen  die  Führung  des 
Streichorchesters  übergeben.  An  formeller  Reife  steht  die 
Adur -Serenade  über  der  ersten,  an  äusserer  Wirkung 
unter  ihr. 

Der  erste  Satz  (Allegro  moderado,  (h  A  dur)   hat  zum 

Hauptthema  eine  jener  unscheinbaren,  für  Brahms  be- 
zeichnenden Melodien,  deren  seelischer  Fonds  sich  erst  bei 
näherem  Eindringen  erschliesst: 


Allegro  moderato. 


Das  zweite  Thema,  welches  der  glücklichen  Stimmung 
einen  lebhaften,  aber  immer  noch  reservirten  Ausdruck 
giebt,  hat  Wiener  Localton: 


f 


m 


f  *  - 


Unter  den  Seitengedanken,  welche  zwischen  den  beiden 
Themen  auftreten,  ist  der  folgende  für  die  Durchfuhrung 


^     569     'o» 


von 


Wichtigkeit:^  ^)|^  fJJ^  iff  Jl|J  rp  Ij  '  Ergeht 


in  eine  Episode  über,  deren  Motiv: 

JL  Ji»  f  \f  r  [»  I  r  r  i  i  r  1  =  an  die  Magelone- Romanzen 

des  Componisten  erinnert. 

Der  zweite  Satz,  Scherzo  (Vivace  '/4,  Cdur)  vertritt 
mit  dem  Finale  die  energische  Heiterkeit  in  der  Serenade. 

YiTace.  ± 

Sein  Hauptthema     jf^tll^ffi  IpPPt/ir-*  ^^°  ^^^ 

Bläsern  frisch  herausgeschmettert,  beherrscht  den  Satz 
allein.  Wie  in  ihm  und  in  der  Mehrzahl  der  Themen  der 
A  dur-Serenade,  tritt  auch  in  dem  sanften  Trio  die  Melodie 
Arm  in  Arm  mit  einer  Parallelstimme  auf: 

i{>jijjjijiiijjji^jjijjjijjiirii 


Das  ganze  Scherzo  hält  sich  in  knappen  Dimensionen. 
Der  dritte  Satz:  Adagio  (^-/j^  Amoll)  hat  als  erstes  Thema 

folgendes:  ^^  J,  J.HJ^J  J)^    .|  ,  jl^Jji  ff  [     E« 

wird  von  nachstehender  Bassfigur  begleitet 

'-^  ff  j  -M  -1^^  J  p  r  h  I  «J  ^*-l  |/J-1  p  r    •  Sie  schliesst  sich  den 

Modulationen  der  Melodie  in  Transpositionen  an  und 
bleibt  ihr  immer  zur  Seite,  wodurch  der  Haupttheil  des 
Adagios  sich  der  Form  des  alten  Passacaglio ,  den  Brahms 
ja  bekanntlich  auch  sonst,  zuletzt  noch  in  seiner  vierten 
Sinfonie  verwendet  hat,  nähert.  Der  Charakter  des  Satzes 
ist  ruhig,  sehnend,  sinnend  und  träumerisch.  Die  erregten 
Momente  düstrer  Leidenschaft  in  ihm  kommen  mit  dem 


heftig  einsetzenden  Motiv,    j£  '■^■'Joiizr  zum  Ausdruck  und 


ce 


570 


©j 


gehen  schnell  yorüher.  Brahms  entflieht  ihnen  durch  einen 
Sprung  in  das  ganx  entlegne  Asdur.  Hier  setzen  zunächst 
die  Homer  mit  einer  freundlich  schwärmerischen  Melodie 
ein,  die  in  den  Stimmungskreis  zurückfuhrt,  in  dem  die 
Serenade  begann.  Dann  folgt  ihr  in  den  Holzbläsern  das 
eigentliche  zweite  Thema: 

Mit  der  ihm  zugehörigen  Gruppe  bildet  es  nur  ein  aus- 
drucksvolles Intermezzo.  Weder  die  Durchführung  noch 
die  Reprise  wissen  von  ihm. 

Der  vierte  Satz:  , Quasi  Menuetto*  (Ddur,  ^j^)  ist 
durch  das  zögernde  Element,  welches  seine  freundliche 
Stimmung  und  seinen  schlichten  Melodiebau  beherrscht: 

Uanpttatz. 

^jühTj  jij  .j  .n"f'j'j'  rii"P:i 


^^^1^^ 


Trio.   Ok 


eigenthümlich  charakterisirt. 

Der   Schlusssatz   , Rondo*    (Allegro  V4    Adur)    erhält 
durch  die  Hauptthemen 

AUe^o.  ^.--.^   —         ^         -.         •.      Ofc.        ^Ts    ^^. 


sein  fröhliches  Gepräge.  Die  liebenswürdige  Schüchternheit, 
welche  in  den  Gesichtszügen  dieser  Serenade  einen  her- 
vortretenden  Theil   bildet,    blickt   noch   einmal  aus  dem 


«<?     571     '^ 


kleinen,  dem  zweiten  Thema  vorhergehenden  Seitensatze, 
.in  welchem  sich  Clarinetten  und  Fagotte,  anfangs  in  cano- 
nischem Stile,  über  das  Motiv 

unterhalten. 

Der  von  Brahms  aufgestellten  Ideenrichtung  folgt  auch 
Bobert  Volkmann  in  seinen  drei  Serenaden  für  Streich- 
orchester, hält  sich  aber  in  knappen  Formen.  Das  Schema 
der  ersten  und  der  dritten  Serenade  gleicht  dem  der  klei- 
neren sinfonischen  Dichtungen  Liszt's,  die  zweite  bildet 
eine  Suite  von  vier  selbständigen  und  getrennten,  aber 
kurzen  Sätzen.  Die  Serenaden  von  Brahms  können  eine 
Sinfonie  ersetzen,  die  von  Volkmann  eignen  sich  sehr  gut 
zu  Zwischennummem  im  Concert  und  sind  als  solche  auch 
ausserordentlich  beliebt.  Dem  Inhalt  nach  gehören  sie 
zu  den  gelungensten  und  gehaltreichsten  Leistungen  der 
neueren  musikalischen  Genremalerei.  Die  poetisch  be- 
deutendste unter  ihnen  ist  die  dritte  (Dmoll)  mit  dem  B.  TolkmuiB 
Solocello.  Der  Solist  hat  in  dieser  Serenade  eine  ähnliche  Serenade  Nr.  8 
Bolle  wie  der  Solobratschist  in  Berlioz^s  Haroldsinfonie.  (DmoU). 
Das  Cello  personificirt  einen  Melancholicus ,  der  in  allen 
Lagen  immer  wieder  auf  sein  Leibthema  zurückkommt: 

Largfaetto,  non  troppo 


Ob  der  Chor  zustimmt  oder 
widerspricht,  der  Cellist  bleibt 

bei  diesem  Motiv;  wird  jener  heiter  und  ausgelassen,  so 
sieht  er  einsilbig  zu,  und  das  Freundlichste,  was  sich  ihm 
abgewinnen  lässt,  ist  eine  elegisch  klagende  Melodie: 

Andaate^spreftsiTo.  _  _   

:,  mit  welcher  die 
lebendig  ge- 
haltene Composition  auch  einen  rührenden  und  versöhnen- 
den Abschluss  erhält. 

Die  beliebteste  unter  den  Serenaden  Volkmann's  ist  B.  TolkmaBB 
die  zweite  in  F  dur  und  zwar  wegen  ihrer  zweiten  Nummer,  ^"j^*^'*  * 
eines  Walzers  über  folgendes  Hauptthema: 


(Fdur). 


=^     572     "^ 

Allepretto  moderato. 


ju  Liiiipijj'ii  nnnriiMi^iiiiii^^ 


Es  ist  eigentlich  kein  Walzer,  sondern  ein  Walzerchen^ 
ersichtlich  für  alte  Leute  gedacht  —  ein  Cabinetstück 
liebenswürdig  altfränkischer  Musik.  Von  den  beiden  Theilen, 
aus  welchen  der  erste  Satz  der  Serenade  besteht:  Allegro 
moderat o  (F  dur  ^,'4)  und  Molto  vivace  (D  moU  */4),  ist  der 
zweite  der  originellere:  Mit  imposanter  Consequenz  und 
doch  reich  an  Abwechselung  und  effektvollen  Steigerungen 
ist  er  auf  folgendes  spröde  Motiv  gebaut: 

Molto  TlTtee. 


flS  ^  Sl   J   j^  f  r  f  f  LJ    ).    Besonders  schön  ist  der  Ein- 


tritt seines  Mittelsatzes  in  Ddur.  Die  Serenade  schliesst 
mit  einem  Geschwindmarsch.  Die  dreitaktige  Construction 
seines  Hauptthema, 

AUdCTO  Bod6r&to. 

i;i.irn]r3riQ^[l^i{jnjjj.i  tXI^ 

und  in  dem  ganzen  Satze  verrathen  die  ungarische  At- 
mosphäre, welche  alle  drei  Serenaden  Volkmann's  mehr 
oder  weniger  durchweht,  besonders  deutlich. 

Die  erste  Serenade  Volkmann's  (Cdur)  wird  von  dem- 
selben kräftigen  Maestoso  aUa  Maria,  welches  sie  erÖflFnet, 
auch  beschlossen.  Die  Mitte  der  Composition  nimmt  ein 
längeres  Allegro  vivo  ein,  welches  auf  Grund  des  Thema: 

Allef^ro  tIto. 

jl  II  I  r  f  I  P%  r  I  r  M  P  ^^'^\tn^^    eine    Eeihe 


kecker,  trotziger  Gänge  thut.  Die  schönsten  Partien  der 
Serenade  bilden  die  beiden  langsamen  Sätze,  welche  dieses 
Allegro  vivo  einrahmen.  Der  erste  ist  sehr  kurz  in  der 
Weise  der  überleitenden  Largi  HändeFs,  der  zweite  hat 


c<?     573     '^ 
die  dreitheilige  Liedform,  zum  Hauptthema  folgende  edel 

Andante  sosteniuo. 

sentimentale  Melodie : 


Kurz  vor  seinem  Tode  hat  noch  Niels  Gade  den  Kiels  Onde. 
neuen  Suitenschatz  mit  mehreren  liebenswürdigen  Arbeiten 
bereichert.  Die  erste  davon  sind  die  ^Novelletten*  fUr  N.  Gade 
Streichorchester  (op.  53).  Von  den  vier  Sätzen  dieser  Noreietten. 
kleinen  Suite,  die  sich  auch  als  Sinfonietta  vorführen 
Hesse,  sind  der  erste,  der  zweite  und  vierte  einer  feinen, 
gebildeten  Fröhlichkeit  gewidmet.  Hie  und  da  mischt 
sich  in  das  geistige  Geplänkel  launiger  Beden  ein  recht 
wehmüthiger  Ton,  wie  ein  Rückblick  auf  Jugend  und 
auf  Mendelssohn.  Der  dritte  Satz,  ein  Andante,  spricht 
in  den  kurzen  sinnigen  Fragesätzen  des  Vaters  der  No- 
vellette:  R.  Schumann^s.  Besondere  Bewunderung  ver- 
dient noch  der  Stil  des  reizenden  und  anheimelnden  Kunst- 
werkchens, der  —  ohne  gerade  mit  Schulweisheit  zu  prunken 
—  die  Stimmen  unter  einander  in  die  interessantesten  Ver- 
bindungen bringt  und  jeder  einzelnen  Freiheit  und  eigne 
Bedeutung  sichert. 

Die  zweite  dieser  GadeVhen  Suiten  , Ein  Sommer-  M.  Onde 
tag  auf  dem  Lande*^  (op.  55)  besteht  aus  fünf  Sätzen :  Ein Sommerug. 
1)  Früh.  2)  Stürmisch,  3)  Waldeseinsamkeit,  4)  Humoreske, 
5)  Abends,  Lustiges  Volksleben  —  die  die  versprochnen 
Tonmalereien  in  der  gelassnen  Weise  der  alten  romantischen 
Schule  ausführen.  Die  , Waldeinsamkeit*  und  der  Schluss- 
satz  sind  die  besten  Stücke,  jene  durch  ihren  warmen  Ton, 
dieser  durch  die  sinnige  Andeutung  der  Abendstimmung. 
Die  Nummern,  welche  Kraft  und  Frische  verlangen,  bleiben 
hinter  den  berechtigten  Erwartungen. 

Mit  einer  dritten  Orchestersuite:  Holbergiana  (op.  61)      S.  Onde 
hat  Gade  eine  Aufgabe  durchgeführt,  die  auch  Edv.  Grieg  Holbergiana. 
bei  der  gleichen  Gelegenheit  —  Holberg's  zweihundertstem 
Geburtstag  —  in  ähnlicher  Weise  gelöst  hat.    Auch  diese 
Composition  ist  etwas  umständlich  und  redselig  und  lässt 
die  Knappheit  und  Gewichtigkeit  vermissen,  die  der  Suite 


e<?      574      ^ 

in  der  alten  guten  Zeit  zu  eigen  war.  Aber  sie  steht  über 
dem  Sommertag  Gade's  durch  die  Anschaulichkeit  und  den 
Gehalt  der  Thematik.  Der  Plan  des  (Komponisten  war  wohl 
der  die  verschiednen  Seiten  von  Holberg's  künstlerischen 
Charakter  musikalisch  aufleben  zu  lassen.  Der  erste  Satz 
(Moderato,  Tempo  di  Minuetto,  '/4,  G  dur)  zeichnet  uns  erst  in 
weichen,  sanften  Weisen,  die  aus  Dittersdorf  und  aus  Nau- 
mann genommen  sein  konnten  den  humanen  Philosophen,  den 
Verfasser  der  , Moralischen  Episteln*.  Die  Durchführung 
beginnt  animato  und  in  Moll,  scharfen  erregten  Tons.  Da 
kommt  wohl  der  Satyriker,  der  rücksichtlose  Feind  alles  Un- 
rechtes zu  Wort.  Der  zweite  Satz  (Allegro  scherzando, 
^!^J  Emoll)  bezieht  sich  auf  den  Schöpfer  der  dänischen 
Komödie.  Ein  ausgelassnes,  in  seinen  Rhythmen  sprühen- 
des, in  den  Intervallen  keckes  Thema  wird  fugirt  —  ein 
Bild  von  dem  flotten  Treiben  der  Holberg'schen  Lustspiele 
und  ihren  fröhlichen  Verwickelungen.  Eine  alte  Melodie 
aus  dem  18.  Jahrhundert,  die  in  der  Mitte  des  Satzes  (mit 
Edur)  eintritt,  bezeichnet  das  volksthümliche  Wesen  von 
Holberg's  Kunst.  Von  andrer  Seite  her  knüpft  auch  der 
dritte  Satz  (Andantino,  '/j,  Dmoll)  an  diesen  Punkt  an: 
er  ist  eine  Instrumentalballade  die,  ähnlich  wie  dies  in 
Gade's  C  moll-Sinfonie  geschieht,  von  alter  nordischer  Zeit, 
von  Leiden  und  Freuden  eines  ernsten  kräftigen  Geschlechts 
erzählt.  Mit  dem  zweiten  Satz  der  Suite  theilt  dieser 
dritte  die  Fülle  und  Echtheit  der  Stimmung,  er  übertriflft 
ihn  aber  in  der  Freiheit  und  Mannigfaltigkeit  von  Form 
und  Ausdruck.  Die  Erregtheit  des  Erzählens  äussert  sich 
in  Recitativen  und  dramatischen  Wendungen.  Die  Suite 
schliesst  mit  einem  Allegro  festivo  das  an  die  Entr^es  der 
alten  französischen  Oper  erinnert,  an  Festaufzüge  mit  wech- 
selndem Personal  und  Balletvorstellungen.  Halb  und  halb 
schlägt  dieser  Schlusssatz  auch  den  Ton  wehmüthiger, 
pietätvoller  Erinnerung  an.  Nach  der  Wiederaufnahme 
des  Hauptsatzes  (Gdur  ^/4)  greift  er  auf  die  zweite,  die 
Komödiennummer  der  Suite  zurück  und  ganz  am  Ende 
fallen  wie  im  Kaisermarsch  R.  Wagner's  Singstimmen  ein. 
Sie  rufen  ,Vivat  Holberg* ! 


c<^     575     ^ 

Unter  der  grossen  Zahl  jüngerer  Tonsetzer,  welche 
im  Anschluss  an  Brahms  und  Yolkmann  die  Suite  pflegen 
—  R.  Fuchs,  A.  Klughardt,  J.  Brüll,  H.  Reinhold,  v.  Stan- 
ford, A. Bird  etc.  —  nimmt  nur  RobertFuchs  einen  festen 
und  der  Stellung  jener  Vorbilder  naheliegenden  Platz  im  Re- 
pertoir  ein.  Seine  drei  Serenaden  für  Streichorchester,  oft  ge- 
spielt und  gern  gehört,  sind  das  Produkt  einer  harmonischen 
Künstlernatur  und  jener  feinen  Bildung,  welche  auch  be- 
kannte und  gewöhnliche  Ideen  mit  neuem  Interesse  zu 
umgeben  vermag.  Ein  besonderes  Talent  zeigt  Fuchs  in 
seinen  Serenaden  als  Colorist.  Mit  den  einfachsten  Mitteln, 
Verdoppelung  von  Mittelstimmen,  Theilung  der  einzelnen 
Instrumente,  entwickelt  er  in  seinem  Streichorchester  ein 
Leben,  eine  Abwechslung,  einen  Reiz  im  Klang,  welcher 
die  Wirkung  der  einfachen  Serenadengedanken  wesentlich 
erhöht. 

Die  erste  Serenade  von  R.  Fuchs  (Ddur)  zeigt  viel     B.  Foehs 
durchdachte  Detailarbeit  und  Hinneigung  zu  den  kleineren  Serenade  Nr.  i 
Künsten  der  Contrapunktik.    Die  Themen  lieben  das  inter-       (Ddur). 
essante  Halbdunkel   der  Mittelstimmen,   einzelne  Motive, 
welche  wie  das  die  Serenaden  eröffnende: 

Andante. 

platt    anfangen ,    werden    durch 

Nachahmungen  und  Umbildungen  veredelt.  Durch  Innig- 
keit der  Empfindung  zeichnet  sich  unter  den  Sätzen 
der  Serenade  der  Gesdur-Theil  des  Allegro  scher- 
zando  aus.  Der  breiteste  ist  der  Schlusssatz  (Dmoll  ^/g). 
Sein  Durchführungstheil  verlangt  Aufmerksamkeit  auf  das 
Motiv : 

Allegro. 


II  ^ii  liUiji  liljjj.' 


welches  vom  Hintergrunde  aus  längere  Zeit  neckisch  drohend 
den  Satz  beherrscht.    Das  zweite  Thema  dieses  Finale  lässt     g.  Fachs 
von  Feme  den  traulichen  Wiener  Walzerton  hören.  Serenade  Nr.  2 

Die  zweite  Serenade  von  R.  Fuchs  (Cdur)  ist  leb-       (Odnr). 


«c     576     ^ 

hafter  als  die  erste  and  neigt  dem  Volkston  mehr  su  als 
jene.  Am  kecksten  kommt  er  im  folgenden  Thema  des 
Finale  zum  Ausdruck: 


Pr««to. 


Das  Larghetto  dieser  Serenade  besteht  aus  Thema  und 
vier  Variationen  j  welche ,  zwischen  Dur  und  Moll  wech- 
selnd, vorwiegend  figurativ  gehalten  sind. 
B.  Ficlis  In   die   dritte  Serenade   (Emoll)   klingen,   wie   bei 

Serenade  Nr.  8  Volkmann,  ungarische  Elemente  herein.   Ihr  schönster  Satz 
(Emou>.      £g^  ^j^  zarte  Allegretto  grazioso  mit  dem  in  der  Bratsche 
versteckten  Thema. 

Einen  schnell  vorübergegangnen  grösseren  Erfolg  in  der 
X. Houcowskt  Suite  hat  unter  den  jungem  Tonsetzem  M.  Moszcowski 
Suite.  .  nfiit  zwei  Arbeiten  errungen,  die  von  einem  virtuosen  Or- 
chester vorgetragen  dem  Ohr  manches  Aparte  und  Er- 
staunliche bieten,  hie  und  da  auch  geistige  Bedeutung  er- 
streben. Geschichtlich  sind  sie  bemerkenswerth  als  Bei* 
spiele  für  das  Eandringen  modern  französischen  Balletgeistes 
in  die  deutsche  Composition  und  haben  ersichtlich  mit 
ihren  pikanten  Reizen  in  der  neuesten  Orchestersuite  etwas 
Schule  gemacht. 

Unter  den  jüngsten  Beiträgen  zur  Suite  verdienen  die 
Serenade  von  F.  Draeseke  und  die  Symphonische  Suite 
von  E.  N.  von  Rezni6zek  besondere  Hervorhebung,  jene 
weil  sie  den  richtigen  alten  Suitenton  so  vorzüglich  trifft, 
diese  weil  sie  ihn  gänzlich  verfehlt. 

Die  Serenade  von  Felix  Draeseke  (op.  49,  Ddur) 
ist  eine  der  liebenswürdigsten  Orchestercompositionen  der 
neueren  Zeit.  Sie  bt  ersichtlich  in  glücklichen  Tagen 
entstanden  und  zeigt  uns  den  charaktervollen  und  kunst- 
gewaltigen Tonsetzer,  der  wegen  seiner  schwierigen  Con- 
trapunkte und  wegen  seiner  Herbheit  zuweilen  gefürchtet 
wird,  als  einen  Idyllendichter  von  reinster  Naivetät  und 
köstlichstem  Humor.  Einigermassen  archaisirt  auch  diese 
Serenade  ungefähr  so  wie  es  Vautier  und  Fritz  Raul- 
bach auf  ihren  Bildern  aus  alter  Zeit  gern  thun,  so  wie 


c<?     577     ^ 

es  auch  Brabms  in  seiner  D  durserenade  gehalten  hat. 
Mit  diesem  Werke  berührt  sich  Draeseke's  Serenade  viel- 
fach in  der  Stimmung.  Denn  beiden  hat  das  gleiche  Vor- 
bild vorgeschwebt:  Mozart's  Divertiments ,  beide  (Kompo- 
nisten haben  sich  in  die  entschwundne  Poesie  des  18.  Jahr- 
hunderts mit  seinen  Gartenmusiken,  mit  seiner  engen  Ver- 
bindung zwischen  Leben  und  Kunst  zurückversetzt. 
Draescke  ist  bis  in  die  Instrumentirung  hinein  dem  Ton 
der  alten  Serenade  gerecht  geworden :  er  arbeitet  mit  einem 
sogenannten  kleinen  Orchester  das  die  Streichinstrumente, 
Flöten,  Oboen,  Clarinetten,  Fagotten  und  2  Homer  um- 
fasst.  Die  zwei  Trompeten  und  Pauken,  die  noch  hinzu- 
kommen wirken  mehr  drollig  als  prunkhaft.  Auch  in  der 
Zahl  und  Art  der  Sätze  würde  die  Serenade  von  Draeseke  F.  Draeieke 
den  alten  Bedingungen  praktischer  Verwendung  durchaus  Serenade, 
entsprechen.  Sie  hat  fünf  Sätze ,  die  einfach  und  knapp 
gehalten  sind;  nur  das  Finale  greift  weiter  aus. 

Eine  richtige  Serenade  verlangt  ein  Stück  für  den 
Aufzug  der  Gratulanten.  So  eröffnet  dann  Draeseke  die 
seinige  mit  einem  Marsch  der  folgendermassen  wohlge- 
muth  und  freundlich  anfängt: 

AUegretto  leggiero.  ,^-j ^^ 


'i  ^L'i  ^iii' ^jj,  I  iiijiT^iirj 


Das  in  den  letzten  Takten  dieses  Beispiels  angegebne 
Achtelmotiv,  der  Ausdruck  einer  gewissen  Vorfreude,  trägt 
nicht  blos  die  weitre  Entwickelung  der  ersten  Clausel, 
sondern  liegt  auch  der  ersten  Hälfte  des  Nebensatzes  zu 
Grunde.  Erst  in  dessen  Mitte  setzen  wieder  hüpfende  und 
springende  Marschmotive  ein.  Das  sehr  kurze  Trio  (in 
G  dur)  knüpft  ebenfalls  an  die  erwartungsvolle  Stimmung 
jenes  Achtelmotivs  an  und  geht  in  seiner  zweiten  Clausel 
an  die  Erzählung  stillen  Glücks.  Der  Marschsatz  wird 
dann  mit  erweitertem  Schluss  wiederholt. 

Dem  Aufmarsch  folgt    logisch    als  nächster,  zweiter 

Kretzschmar,  Führer,  I.  37 


«e     578     ^ 

Sats,  ein  «StSndchen*  (Andantino,  «  ,,  Fismoll).  Der 
Liebhaber  spricht  darch  die  Stimme  eines  Solocellos  suerst 
seine  Verehrung  aus: 

Andaotlno.   ^_^  ^ 


etc. 


p  moUö  espr. 

Diesem  ersten  Thema  folgt  ein  Seitenthema  in  dem  die 
Bede  flüssiger,  herzhafter  und  heitrer  wird: 


-*[_  [,  '    Lj"   >-^gto.      Das  eigentliche  zweite  Thema, 

im  Charakter  gemüthlich  und  zutraulich,  wird  von  den 
Bratschen  eingeführt: 

p  espr.  -*=^ 

Ueberhaupt  folgt  in  diesem  zweiten  Theile  das  Solo- 
instrument dem  Chor,  eine  Abwechselung  durch  die  die 
Form  dieses  Ständchens  sehr  hübsch  belebt  wird.  Die 
Rückkehr  zum  ersten  Thema  und  zur  Hauptonart  ver- 
mittelt das  oben  angeführte  Seitenthema  mit  dem  Sech- 
zehntelmotiv. Ehe  ein  Thema  überhaupt  einsetzt,  hören 
wir  immer  acht  Takte  die  ganz  lose  präludiren,  Tonart  und 
Rhjlhmus  festsetzen ;  nur  die  erste  Violine  tritt  ein  wenig 
melodisch  daraus  hervor.  Am  Schluss  dieses  Präludiums 
gleicht  der  Klang  dieses  Orchesters  dem  einer  Guitarre. 
In  seiner  Harmonie  tritt  ein  dissonanter  Accord  stark 
hervor,  den  der  Componist  im  zweiten  TheU  des  Sätcchens 
überraschend  im  Thema  erklingen  lässt  Eigenthündich 
ist  auch  das  Ende  des  Sätzchens,  es  macht  den  Eindruck 
einer  eingetretenen  Störung,  als  sei  der  Künstler  der  die 
Huldigung  bringt  aus  dem  Text  geworfen. 

Denkt   man  hier  schon  an  Berlioz's  Bomeo,  so  noch 
viel    mehr   in   dem   folgenden  dritten   Satz  der  Serenade 


co     579     ^ 


(Andante  ®/s,  Adur)  der  als  Liebe sscene  betitelt  ist  und 
wie  aus  der  Verwandtschaft  in  der  Harmonie  schon  ver- 
muthet  werden  kann,  wohl  als  Fortsetzung  des  Ständchens 
aufgefasst  werden  kann.  Wir  verstehen  jetzt  den  kleinen 
Aufruhr  am  Schluss  der  vorhergehenden  Nummer:  die 
Geliebte  der  das  Ständchen  galt,  ist  gekonunen.  Auch  in 
diesem  Satze  kann  von  einer  Berührung  Draeseke^s  mit 
Berlioz  gesprochen  werden;  sie  äussert  sich  in  einer  ge- 
wissen Geroeinsamkeit  von  Ton  und  Stimmung,  einer 
ausserordentlichen  Zartheit  und  Zurückhaltung  im  Aus- 
druck des  warmen  Gefühls.  Es  ist  eine  Liebesscene  bei 
der  glühende  Sinnlichkeit  ganz  ausgeschlossen  ist,  sie  hat 
einen  Zug  von  Rührung  und  Frömmigkeit;  man  kann  an 
eine  Liebe  denken,  die  durch  schwere  Hindemisse  gegangen, 
die  alt  geworden  ist.  Die  Form  die  Draeseke  hier  wie 
im  vorhergehenden  Satz  für  seine  Darstellung  gewählt  hat 
ist  ungeführ  die  der  Sonatine.    Die  zwei  Themen 

AÜ  i  A.ndant6. 


r  f   fjlif   I  p^    folgen   un- 


mittelbar  auf  einander.  Das  erste  trägt  den  Charakter 
edelster  Heimlichkeit,  das  zweite,  mit  dem  der  Vortrag 
Dialogformen  annimmt,  zeigt  wie  sich  die  Herzen  öffnen. 

87* 


c<3'     580     ^ 
Ihm  folgt  ein  sehr  zärtlicher  Nachsatz,  der  sich  auf  da« 

Motiv:     ^*||      L'iira   f ■  r   P   r ^  stützt  und  namentlich 

in  der  Qnart,  mit  der  es  schliesst  Träger  freundlicher  und 
starker  Hoffnungen  wird.  Die  ganze  Themenreihe  wird 
zweimal  vorUhergeführt,  das  zweite  Mal  mit  Veränderungen 
und  Erweiterungen.  Dann  folgt  ein  freier  Schluss  der 
durch  Recitative  in  Clarinette  und  Cello  eingeleitet,  dra- 
matisch verläuft  und  sowohl  in  Wärme  wie  in  Innigkeit 
des  Ausdrucks  die  Krone  des  ganzen  Tonbildes  bedeutet. 
Mit  dem  folgenden  Satze,  einer  Polonaise  (Allegretto 
con  brio,  •/4,  D  dur)  wird  aus  der  Gartenmusik  ein  Garten- 
fest mit  grosser  Gesellschaft.  Diese  Polonaise  entfaltet 
Prunk  und  Virtuosität  (Clarinette).  Das  Trio  (Gdur,  un 
poco  meno  mosso)  ist  als  eine  Scene  abseits  gedacht,  io 
der  zwei  Liebende  in  innigen  Tönen  Zwiesprache  halten. 
Der  Lärm  des  Festes  klingt  in  versprengten  Rhythmen 
herüber,  die  die  Homer,  die  Celli,  auch  einmal  die  Clari- 
netten  in  die  Ruhepunkte  des  Gesangs  hineinwerfen. 

Das  Finale  (Prestissimo,  C,  Ddur)  ist  ein  Sonaten- 
satz.   Sein  erstes  Thema: 


^ji     Prestissimo.  _  

^j *  .    . 

/> :    . 

'  fTj  I  il,  iTHT^  nTTj  I  jTTtft- 

^^      ^  ^  ^  ^  ^  ^  ^  ^ 

^ :    :   :  / 

aus  dem  Freude  und  Befriedigung  im  langen  Zuge  strömt, 
setzt  nach  einer  kleinen  Einleitung  ein,  in  der  das  Viertel- 
motiv seines  Anfangs  zu  einem  Ausbruch  des  Humors  ver- 
arbeitet wird,  der  durch  die  Trugschlüsse  einen  kecken, 
übermüthigen  Zug  erhält.  Mehifach  begegnen  uns  im 
Satze  solche  freie  Wendungen  guter  Laune,  am  über- 
raschendsten bei  dem  Bdureinsatze  des  zweiten  Themas 


cc?     581     ^ 

in  der  Durchfüliruiig.  Dieses  zweite  Thema  selbst  ist  in 
der  Stimmung  mit  dem  ersten  verwandt,  nur  äussert  es  sie 
ruhiger. 

Auch  an  der  Suite  von  £.  N.  von  Rezniczek,  dem  durchE.K.r.BexmiSiek 
die  Oper  „Donna  Diana*  bekannt  gewordnen  Mannheimer  Sinfoniwhe 
Kapellmeister,  ist  ernstlich  nur  die  missverständliche  und  irre-  S^*®- 
leitende  Benennung  zu  beanstanden.  Denn  die  Suite  war  jeder- 
zeit ausgesprochenste  Gesellschaftsmnsik;  hier  aber  stehen 
wir  vor  ganz  und  gar  subjectiver  Kunst.  Der  Componist 
scheint  diesen  Sachverhalt  gefUhlt  zu  haben,  als  er  seine 
Arbeit  als  symphonische  Suite  bezeichnete.  Die  drei 
Sätze,  aus  denen  sie  besteht,  sind  wohl  ein  Niederschlag 
von  tief  greifenden  persönlichen  Erlebnissen  und  Schick- 
salen ihres  Verfassers ;  ein  Zug  leidenschaftlicher  Erregung 
geht  durch  das  Ganze,  der  alle  diejenigen  Zuhörer,  die 
gewöhnt  sind  in  der  Suite  von  allem  Pathos  und  allen 
seelischen  Strapazen  loszukommen,  befremden  muss.  Die 
kleine  Enttäuschung  wird  hoffentlich  immer  schnell  über- 
wunden. Denn  Rezniczeks  Musik  ist  zwar  nicht  thematisch 
originell,  sie  zeichnet  sich  aber  aus  durch  Klarheit  und 
Knappheit,  durch  eine  unmittelbare,  dramatische  und 
lebenswahre  Empfindung.  Dazu  kommt  noch  eine  sehr 
farbenscharfe,  wirksame  Instrumentirung. 

Der  erste  der  drei  Sätze  (C,  Emoll)  Ouvertüre 
benannt  entwickelt  sich  um  zwei  Themen,  deren  An- 
fänge: 


€ehr  rasch  and  mit  Feuer. 


und 


^.JMiY-njiTijj  ^\ij  I  )fr.i.E  g,„^g,„i  „. 


p  con  wtoito  ßsprtsst'oM 
kennen  lassen  wie  deutlich  der  Componist  den  Gegensatz 
zwischen  dem  Sturm  der  Gefühle  und  der  Sehnsucht  nach 
Frieden   gestaltet   hat.     Das   zweite   muss,   wenn   es   die 


c<?     582     ^ 

höchsten  Wirktmgen  aasUben  soll,  immer  plötzlich  ein- 
treten ;  die  Kunst  des  Componisten  hat  sich  in  den  lieber- 
gangen  zu  zeigen  die  aus  ihm  nach  der  Aufregong  des 
Hauptthemas  zurückführen.  Sie  haben  überall  den  Schein 
grosser  Natürlichkeit.  Der  Aufbau  des  ganzen  Satzes 
vollzieht  sich  im  bekannten  Sonatenschema,  die  Durch- 
führung ist  kurz  gehalteui  der  Schluss  versichert :  dass  für 
weitre  Anfechtungen  und  Prüfungen  noch  ein  grosser  Vor- 
rath  von  männlicher  Kraft  vorhanden  ist. 

Der  zweite  Satz  (Adagio,  'Z«,  Fdur)  thut  einen 
Schritt  weiter  nach  der  Richtung,  aus  der  das  zweite 
Thema  des  ersten  Satzes  entgegenleuchtete.  Er  wendet 
sich  der  Hoffnung  schon  mit  dem  ersten  Thema: 

'iT'  ifiljil_hNpT|il  fl  I  I  p 


QU '  tA 


zu.    Noch  entschiedner,  mit 


mächtigem  Schwung  geschieht  das  aber  im  zweiten  Thema, 
das  sich  vom  folgenden  Anfang  aus: 


zu  einer  zwölf  taktigen,  schön  modulirenden,  auf  energische 
Bässe  gestützten,  in  den  Geigen  hochsteigenden  Melodie 
entwickelt.  Im  Hauptthema  fällt  die  Dissonanz  sehr  auf, 
die  beim  ersten  Eintritt  im  zweiten  und  vierten  Takt  an- 
geschlagen wird.  Bei  der  Weiterführung  des  Themas 
wird  sie  zwar  vermieden,  aber  es  bleibt  an  ihrer  Stelle 
immer  ein  fremder  Ton,  mit  dem  entlegne,  vereinzelte 
Stimmen  in  hohen  Lagen  einsetzen.  Die  Erinnerung  an 
Leid  und  Unglück,  die  in  diesen  seltsamen  Accorden 
stechend  mit  geht,  lebt  in  dem  Adagio  auch  noch  in  einer 
andren  Form  leise  auf:  in  einem  chromatisch  klagenden 


cc?     583     ^ 

Motir,  das  (in  Fagott  und  Bratschen,  dann  aucb  in  den 
Geigen  und  Oboen): 

die     kurze 

Durchführung  eröffnet.  Bald  lassen  sich  auch  die  punk- 
tirten,  heftigen  Rhythmen  vernehmen,  die  die  Hauptträger 
des  Unfriedens  waren,  der  die  Ouvertüre  beherrschte.  Die 
Wiederholung  bringt  das  Hauptthema  in  einer  Achtel- 
Variation ;  eine  längere  Coda  zeigt  nochmals  auf  den  ganzen 
Unfang  seines  beruhigenden  und  verheissenden  Inhalts. 

Den  dritten,  den  Schlusssatz  (Sehr  rasch,  ^/4,  Emoll) 
seiner  symphonischen  Suite  hat  der  Coraponist  Scherzo 
finale  betitelt.  Es  sind  aber  ausschliesslich  bittre  Scherzo, 
zu  denen  sich  der  Componist  versteht  und  der  Humor,  der 
hier  waltet,  ist  der  sogenannte  Galgenhumor.  In  seinem 
pessimistischen,  zuweilen  dämonischen  Charakter,  in  seinem 
trostlosen,  verzweifelten  Ausgang  hat  dieses  Finale  wenig 
Seitenstücke;  als  Suitensatz  ist  es  völlig  unerhört.  Auch 
formell  bietet  es  dem  Zuhörer  Schwierigkeiten.  Eine  der 
ersten  bereitet  schon  das  Hauptthema: 
Sehr-ntscb  und  erregt. 

i'l'JM|lilllJ]J|l    JJllJji^l 

.     .        1    (Ho  rner  gestopft.)  ^*-^ 

^  W'  .T  ^  ^   "    ^  H  JT'^'^T"^     ^*<^'     dessen     verzwickter 


Rhythmus  sich  nur  widerwillig  in  Bewegung  setzt.  Es  zieht 
ein  Gefolge  von  allerhand  elenden  Stimmungen  nach  sich, 
die  sich  in  winselnden  und  sich  krümmenden  Motiven 
äussern,  es  tritt  in  Bettlergestalt  auf  und  im  Ton  der 
Empörung.  Unter  den  Nebenthemen,  die  in  seiner  Gruppe 
auftreten,  tritt  klagend  ein  schwankender  Gesang  hervor, 
der  zuerst  in  Oboe  und  Bratsche  erscheint: 


e<?      584      'ö^ 


Ihm  folgt  dann  das  eigentliche  zweite  Thema  des  Satzes, 
zwar  in  gehaltener  Stimmung  aber  voll  Resignation  und 
Leiden ; 

,        VioUnen  snl  0 


-}-U-^^ 


E^-JU^J  t|J  |il    I  r  r  r   I   ^  etc.     Es  wird  sofort 

fnit  dem  Haupttbema  combinirt ;  neben  dieser  Combination 
gelangt  noch  das  aus  einer  zufälligen  melodischen  Wendung 


hervorgegangne  Klagemotiv:    AK1*    j     i^    I  '^^^i  }   i 


m 


diesem  Abschnitt  zu  wesentlicher  Bedeutung. 

Der  erste  Theil  des  Satzes  schliesst  mit  einer  kurzen 
leidenschaftlichen  Wiederholung  des  Hauptthemas  allein, 
die  sich  aus  dem  lauten  Ton  ausserordentlich  schnell  in 
die  Stille  und  ins  Gespensterhafte  verliert.  Die  Durch- 
führung poltert  mit  den  Rhythmen  des  Hexensabbaths 
herein  und  widmet  sich  dann  bald  der  Durchführung  einer 
Doppelfugc,  die  zum  ersten  Thema  das  Hauptthema  des 
Finale  hat  und  mit  ihm  folgenden  Contrapunkt  verbindet: 


Obgleich  nun  die  Suite  der  Zeit  der  Wiener  Schule 
nahesteht,  gehört  sie  doch  zu  den  Nebenbuhlern  der 
classischen  Sinfonie  und  ihr  Wiederaufleben  ist  eine  von 
den  Erscheinungen,  die  das  Erbe  Beethoven's  bedroht  zeigen. 
Die  Gründe,  weshalb  es  mit  der  sinfonischen  Produktion 
nach  classischem  Muster  mehr  und  mehr  abwärts  geht, 
sind  doppelter  Natur.  Auf  der  einen  Seite  sind  die  An- 
sprüche gewachsen,  auf  der  andren  haben  die  Fähigkeiten 
abgenommen.      Gewachsen    sind    die   Ansprüche    an    den 


^     585     '^ 


organischen  Zusammenhang  der  Theile  cyclischer  Compo- 
sitionen.  Die  Zusammenstellung  ron  vier  einander  nichts 
angehenden  Sätzen  zu  einem  Ganzen  lassen  wir  uns  nur 
dann  noch  gefallen,  wenn  der  Gehalt  dieser  einzelnen  Sätze 
überwältigend  ist.  Vermindert  hat  sich  dagegen  die  Be- 
fähigung unsrer  Componisten  für  die  Haydn-Beethoven*sche 
Kunst  der  Auslegung  und  Durchführung.  Diese  Kunst  war 
nicht  blos  das  Privileg  ganz  ausserordentlicher  Persönlich- 
keiten, sondern  fast  noch  mehr  die  Frucht  einer  ganz 
ungewöhnlich  geistig  reichen  Zeit.  Sie  lässt  sich  deshalb 
mit  allen  musikalischen  Mühen  nicht  zurückgewinnen  und 
der  Versuch  ihre  Formen  und  ihre  Methode  nachzuahmen 
fuhrt  vielfach  zu  Ergebnissen,  bei  denen  wieder  gefragt 
werden  kann:  , Sonate,  que  me  veux  tu?**  Trotz  alledem 
repräsentirt  die  Summe  der  neueren  Sinfoniecomposition 
einen  bedeutenden  Theil  des  besten  Talents  und  des 
ernstesten  Fleisses,  über  welchen  die  dermalige  musikalische 
Generation  verfugt. 

Merkwürdig  bald  ist  die  Herrschaft  der  Mendelssohn'- 
schen  Schule  erloschen.  Mendelssohn  nahm  die  Geister 
seiner  Zeitgenossen  mit  einer  Kraft  in  Beschlag,  der  sich 
selbst  ältere  Tonsetzer  nicht  entziehen  konnten.  Reissi- 
ger's  Esdur-Sinfonie  (1839)  bietet  hierfür  den  Beleg.  Aber 
die  Sinfoniker,  welche  sich  seiner  Richtung  ganz  hingaben, 
hatten  nur  einen  kurz  dauernden  Erfolg.  Nach  einem 
Jahrzehnt  schon  schwanden  die  Sinfonien  von  Taubert, 
die  Esdur-Sinfonie  von  Rietz,  Hiller's  E moll- Sinfonie  (mit 
dem  Motto:  ,Es  muss  doch  Frühling  werden")  vollständig 
vom  Repertoir,  und  die  spätem  Nachzügler  der  Schule 
(Hol:  D moll- Sinfonie,  J.  Zellner  ^Melusina**)  haben  weitere  Hol,  Zellner. 
Beachtung  überhaupt  nicht  mehr  gefunden.  Auch  die- 
jenigen Werke,  welche  mit  ihrer  geistigen  Basis  tiefer  in 
Schumann  hinabtauchen,  sind  schneller  bei  Seite  gelegt 
worden,  als  sie  es  verdienten.  Wir  nennen  die  bereits 
erwähnte  Sinfonie  in  Cdur  von  W.  Bargiel  und  die  Adur- 
Sinfonie  von  C.  Reinecke,  welche  in  ihren  letzten  beiden 
Sätzen  wirklich  originelle  Erfindungen  des  Humors  und  der 
Anmuth  bietet.    Eine  zweite  Sinfonie  Reinecke^s  in  C  moll. 


Kelsslger. 


Taabert. 


Bietx. 


HUler. 


Bargiel. 
Beinecke. 


e<?      586      ^ 

die  i.  J.  1874  erschienen  ist,  interessirt  vornehmlich  darum, 
weil  sie,  ähnlich  wie  die  Arbeiten  Berlioz's  oder  Abert'» 
«Columbos''  in  den  alten  Formen  Programmtendenzen  ver- 
folgt.  Ihre  Sätze  geben  Bilder  aus  dem  Leben  Hakon 
JarFs  wieder,  den  der  Componist  auch  zum  Gegenstand 
einer  sehr  bekannten  und  bedeutenden  Cantate  für  Mämier- 
chor  gewählt  hat.  Vor  kurzem  ist  noch  eine  dritte,  eine 
Sinfonie  in  GmoU  (op.  227)  erschienen,  die  wohl  als 
C.  Reiaeeke  Reinecke^s  Hauptarbeit  auf  diesem  Gebiete  bezeichnet 
Dritt«  Sinfoni«.  werden  darf  und  die  man  mit  ihrem  ersten  Satz  zu  den 
bedeutendsten  neuen  Orchestercompositionen  zu  rechnen 
hat.  £ine  verhältnissmässig  grosse  Anzahl  von  Aufflihrungen, 
die  diese  G moll -  Sinfonie  erfahren  hat,  bestätigen  diese 
Bedeutung  auch  äusserlich. 

Wir  haben  kein  Recht  auch  diese  Sinfonie  Reinecke^s 
mit  der  Schumann'schen  Schule  in  Verbindung  zu  bringen, 
mit  der  schon  die  zweite  kaum  noch  Nennenswerthes  ge- 
mein  hat.  Indem  der  Componist  das  für  die  Musik  und 
für  die  lyrischen  Künste  immer  wieder  neue  Bild  belohn- 
ten Kampfes  in  der  Spiegelung  vorfUhrt,  die  es  in  seiner 
massvollen,  harmonisch  abgeklärten  Natur  erfährt,  tritt 
er  uns  kräftiger  ab  je  entgegen.  Volkmannn,  Spohr  und 
Gade  sind  die  verwandten  Künstler  mit  denen  er  sich  der 
Reihe  nach  hier  berührt. 

Es  ist  der  erste  Satz  (Allegro,  (fe,  Gmoll)  der  die 
geistige  Verwandtschaft  mit  R.  Volkmann,  insbesondere  mit 
dessen  Dmoll-Sinfonie,  aufweist.  Am  stärksten  spricht  sie 
sich  in  dem  Hauptthema  aus,  dessen  Gehalt  wesentlich  in 

^  ;  Allegro.  Js  88. 

dem  Anfangsmotiv    4     ^^  J  J  J   -h^  Jl  J       ^^^ß*'      ^^* 

ausserordentlicher  Energie  ist  die  ernste  Stimmung  und  der 
feste  Wille,  der  sich  in  diesen  wenigen  Noten  kurz  und 
bedeutend  ausspricht,  in  dem  Satz  festgehalten.  Es  fehlt  fast 
in  keinem  Theil  darin,  es  tritt  zurück  wenn  andre  Haupt- 
gedanken den  Platz  beanspruchen;  aber  es  verschwindet 
nicht,  sondern  wird  Begleitungsmotiv.    Auch  hierin  erinnert 


<^     587     "^ 

diese  G  moll- Sinfonie  an  Beethoren's  fünfte,  von  der  sie  im 
Allgemeinen  mehr  als  einen  Hauch  verspüren  lässt.  Auch 
die  Vergrösserungen  und  Verkürzungen  und  die  andern 
zahlreichen,  contrapunktischen  Künste,  die  mit  dem  Motive 
spielend  vorgenonunen  werden,  zeigen  wie  voll  des  Com- 
ponisten  Phantasie  von  ihm  war.  So  ist  denn  eine  Com- 
Position  entstanden,  deren  Einfachheit,  Knappheit  und 
Grösse  einen  classischen  Eindruck  bewirken  und  dem  sich 
nur  die  offenbare  Verblendung  verschliessen  kann.  Das 
zweite  Thema  des  Satzes,  zu  dem  ein  auf  dem  Hauptmotiv 
ruhender,  aber  sich  mit  recitativischer  Freiheit  äussernder 
Uebergangssatz  hinleitet,  zeigt  schon  in  seinem  Anfang : 


S/'\  I  M  M  I  I  H/  I  rTin~rtJ~ 


einen  eigenthümlich  schönen  Ausdruck  von  Resignation, 
gleicht  einem  Wort  in  dem  gereifte  Lebenserfahrung  auf- 
fordert zu  hoffen  und  zugleich  sich  zu  bescheiden.  Die 
Durchführung  bringt  erst  das  Hauptthema  mit  Dissonanzen 
im  Weg,  zeigt  es  gewissermassen  in  seiner  Arbeit,  im 
Kampf  mit  Widerstand  und  Hindernissen.  Im  Augenblick 
der  Rathlosigkeit  tritt  ihm  das  zweite  Thema  wie  helfend 
und  tröstend  entgegen  und  von  da  an  bringt  der  Componist 
eine  Weile  die  unruhigen  Elemente  des  Hauptthemas  (aus 
dem  Achtelschluss)  mit  den  sanften  und  weichen  Klängen 
des  zweiten  Themas  in  Berührung.  Das  Ende  ist  Er- 
mattung, ein  Verklingen  in  Pausen,  aus  dem  auf  einem 
langen  Orgelpunkt  auf  D  ein  neues  Erwachen  der  Kraft 
und  Energie,  die  das  Anfangsmotiv  des  Hauptthemas  ver- 
tritt, zur  Reprise  hinüberleitet. 

Der  zweite  Satz  hat  in  seinem  Hauptthema: 


.^     Andante  sostennto.    ■    i      ■   ^tf^^fl 


I 


"T    f^s  ^^   I    }}=.  einer  schönen  Melodie,  die  an  die 


«e     588     -CK» 

Beethoven'sche  Zeit  erinnert,  sein  Bestes.  Auch  in  den 
weiteren  Sätzen  der  Sinfonie  wird  die  Geschlossenheit  und 
Einheitlichkeit  ihres  ersten  Satzes  nicht  wieder  erreicht, 
der  Zuhörer  muss  sich  an  den  Werth  einzelner  hervor- 
ragender Gedanken  halten. 

In  gleicher  Progression,  wie  der  geistige  Einfluss  der 
Hauptmeister  der  Romantik  verhlasst,  wächst  die  Ein- 
wirkung Beethoven's  in  der  neuen  Sinfonie.  Neben  ihm 
in  zweiter  Linie  tritt  das  Vorbild  Schubert^s  stärker  her- 
vor. Seine  Cdur-Sinfonie,  mit  ihrem  Finale  namentlich, 
und  Beethoven*s  neunte  Sinfonie  sind  diejenigen  Werke, 
durch  welche  die  frühere  Periode  in  die  gegenwärtige  Sin- 
fonielitteratur  am  mächtigsten  hineinklingt. 

Unter  den  namhaften  Sinfonikern  der  Gegenwart  ge- 
A.  Riblatteim  bUhrt  nach  der  Anciennetät  der  Vortritt:  Anton  Rubin- 
Sinfonie  Nr.  2  stein.     Seine   erste  Sinfonie  (Fdur)   im  Jahre  1854  ver- 
(Fdur).       öffentlicht,  heute  nur  wenig  gekannt,  fällt  noch   in  die 
BlUthezeit    der   Mendelssohn'schen   Schule    und    trägt    in 
ihren  ersten    beiden   Sätzen   die  Spuren   derselben.     Ihre 
letzten  Sätze  sind  selbständig  und  lassen  die  Vergessenheit 
bedauern,  welche  sich  über  das  ganze  Werk  gebreitet  hat. 
Von  den  sechs  Sinfonien  des  Componisten  sind  zwei  Gemein- 
gut der  musikalischen  Welt  geworden:  die  Sinfonie  ,Ocean* 
und  die  „dramatische  Sinfonie'  (Nr.  4). 

Obgleich  die  Oceansinfonie  Franz  Lizst  gewidmet  ist, 
steht  sie  doch  mit  der  Programmmusik  nicht  im  engeren 
Zusammenbang.    Ihr  Stil   ist  der  Beethoven'sche  und  ihr 
Titel  giebt  der  Phantasie  nur  einen  leichten  Anhalt.  Dass 
Rubinstein  unter  die  grösstcn  musikalischen  Erfindematuren 
der  neueren  Zeit  gehört,  beweist  namentlich  der  erste  Satz 
A.  RablnstelB  der  Oceansinfonie :    ein    geniales ,   reiches  Tonstück ,   von 
Sinfonie      mächtiger  Stimmung  getragen,  im  grossen  Zuge  entworfen, 
,Oce«n'*.      jjjj^    glücklichen ,    eigenthümlich     anschaulichen    Musik- 
gedanken dargestellt !    Sucht  man  nach  den  näheren  poeti- 
schen Beziehungen  des  Satzes  zum  Titel,  so  stellt  sich  am 
ungezwungensten  das  Bild  der  Ausfahrt  ein.  Dazu  stimmt 
das  erste  Thema: 


ce     589     ^ 

Allei^ro  maestoso. 


1 


jfl^A'd^A     ^ie  es  erst  erwartungsvoll  leise  aufflattert 
]  und  dann   in   der   prangenden  Pracht  des 


f 


vollen  Orchesters  vorüberzieht.    Seinen  Ab- 


schluss  erhält  es  in  einer  breit  ausgreifenden,  vom  warmen, 
innigen  Gefühl  durchwogten  Gesangsmelodie 


ivn:j.^iii^'4üL.i'j^'i  I' ^^^^x 


grosse  Bedeutung  hat.  Zu  der  stillen  Majestät  des  Oceans 
passen  die  lang  und  ruhig  dahinklingenden  Dreiklangs- 
harmonien, an  denen  die  Bewegung  des  Satzes  so  häufig 
Halt  macht.  Den  drohenden  und  beängstigenden  Cha- 
rakter des  Meeres  deutet  das  Trompetenmotiv 

an,   welches  namentlich  dort  an  der 
wo    das   liegende  g   mit   den 


Jy.jjjjlj    si' 


Harmonien  des  Chors  in  Dissonanzen  lange  wechselt,  zu 
sehr  unheimlicher  Wirkung  gelangt.  Das  zweite  Thema 
des  Satzes: 


ri»^ 


j^  j  i  i  ■^^=4h  ^^^'   gi^^*   ^^    anmuthiger  Form   ernst  be- 
C  :=^  schaulichen  Gedanken  Raum.     Die  Durch- 

fuhrung  der  vielseitigen  Ideen  zeichnet  sich  durch  Ruhe 
und  Vornehmheit  aus. 

In  dem  zweiten  Satze  der  Sinfonie:  Adagio  (Emoll  C) 
ist  folgende  Melodie 


^)  Das  10.  und  11.  Achtel  lies:  h  und  c. 


«<y     590     ^ 

Adafio  BOB  taito. 


<|li"J.HJu  ijJVg  II  f  f  ^nui|i,j]j    I 

die  führende.  Das  zweite  Thema,  seiDem  Charakter  nach 
noch  tiefer  fragend,  ffingt  mit  einer  aas  Schumann*8  G  dar- 
Sinfonie  bekannten  Wendung  an: 


j.  In  den  Streich- 

i*  de." 

instrumenten  erhalten  durchgeführte  leichte  Begleitungs- 
figuren die  Gedanken  an  das  Spiel  der  Wellen  wach. 
Die  Ausführung  der  Ideen  ist  knapp;  die  poetische  Haupt- 
stelle des  Satzes  liegt  kurz  vor  der  Reprise:  da,  wo  das 
Hom  seinen  Ruf  in  die  Stille  hinaus  erschallen  lässt, 
wo  die  Pauke  zu  dem  Solo  der  Clarinette  ausdrucksvoll 
wirbelt. 

Der  dritte  Satz  (AUegro,  •/4,  G  dur)  könnte  eine  lustige 
Seemannsscene  bedeuten.    Das  Hauptthema  beginnt  derb 

Mhlich animirt  'A '  I  1^^  1^  f  f  "*  ^ '^ '1  Tf  1^^ 

und  erweckt  bei  den  anderen  Instrumenten  in  einer 
Reihe  wilder  Triller  ein  verstärktes  Echo  seiner  Stim- 
mung. Im  zweiten  Thema  wird  der  Humor  etwas  breit 
und  querköpfig.  Das  an  und  für  sich  treffliche  Material 
des  Satzes  ist  in  der  Verarbeitung  ziemlich  zersplittert 
worden. 

Das  Finale  beginnt  frohbewegt,  als  wenn  es  heimi- 
wärts  ginge. 

Das  Hauptthema  wiegt  sich  lange  auf 

AUef^ro  eon  fieto. 

A  ^  J*n"i  rlfl^U-  ^^    I    ^°^    ^^^    Sequenzen    dieser 


Motive  und  schliesst  dann  kräftig  bestimmt  mit 

{j^^^Ti^i  ririini  I  INJ  j   ab. 


Eine  dank  volle  Stimmung   äussert  sich  in  ruhigerer 
Weise  auch  im  zweiten  Thema: 


«e     591     ^ 


i  "''j.TT^rT  ■'  ■''  '^  "' 


Ihren  feierlichsten  Ausdruck  findet  sie  aber  in  dem  Cho- 
rale, welcher  von  der  langsamen  Einleitung  ab  bis  zum 
Schlüsse  des  Satzes  ein  Hauptglied  desselben  bildet. 
Gross  und  erhaben  gedacht  ist  das  Finale  der  Ocean- 
Sinfonie  —  doch  sind  die  poetischen  Intentionen  musi- 
kalisch nicht  so  gelungen  verkörpert  worden  wie  im  ersten 
Satze. 

In  neuerer  Zeit  hat  Rubinstein  den  vier  Sätzen  seiner 
Oceansinfonie  noch  einen  fünften  und  sechsten  hinzu- 
gefügt: ein  Adagio  in  Ddur,  welches  als  zweite  Nummer 
der  neuen  Ausgabe  an  die  Gedanken  des  zweiten  Themas 
des  ersten  Satzes  leicht  anknüpft,  und  als  vorletzte  Num- 
mer ein  phantastisch  belebtes,  von  innigem  Gesangston 
durchzogenes  Scherzo  in  Fdur. 

Die  «Sinfonie  dramatique*  (Nr.  4,  Dmoll)  ist  Rubin-  A.  BaMotteiB 
stein's  bedeutendste  Leistung  auf  dem  Gebiete  der  hohem  «s*'»'««»*«  dr»- 
Orchestercomposition.     Nach  der  natürlichen   Grösse  von     "*»**^^ö  • 
Empfindung  und  Phantasie,  nach  der  Stärke  der  ange- 
borenen Dichterkraft,  nach  Einfachheit  und  Bestimmtheit 
des    Ausdrucks    gemessen,    bildet    sie    eine    der    hervor- 
ragendsten   Erscheinungen    in    der    ganzen    sinfonischen 
Litteratnr. 

Ihr  erster  Satz  namentlich  ergreift  und  erschüttert 
wie  wenige  Tonstücke.  Dem  Inhalte  nach  tragischer 
Natur,  zeigt  er  manche,  auch  technisch  erkennbare,  Be- 
rührungspunkte mit  den  Eingangssätzen  der  Faustsinfonie 
von  Liszt  und  Beethoven^s  Neunter;  mit  der  letzteren 
in  der  Menge  gewaltiger  Trugschlüsse  und  in  den  ein- 
schneidenden Wirkungen  des  verminderten  Septimenaccords. 
Die  Form  ist  eigenthümlich ,  aber  einheitlich  und  klar 
disponirt.  Eine  Hauptstütze  des  ganzen  Organismus  bildet 
die  murrende  und  suchende  Figur,  mit  welcher  die  Bässe  die 

Einleitung  beginnen:    V^  ||  p^p  f  f  j*  f  llf  T  r  fJTl^. 


c<?     592     ©* 

Sie  geht  im  Laufe  des  Satzes  viele  Verwandlungen  ein; 
erscheint  bald  in  breiten,  bald  in  flüchtig  dahineilenden 
Rhythmen,  stellt  sich  jetzt  an  die  Spitze  des  Orchesters 
und  verbirgt  sich  dann  in  der  Mitte  und  in  der  Tiefe. 
Aber  immer  ist  sie  da,  regulirt  den  dämonischen  Puls 
der  Tondichtung  mit  ihrem  Schlage  und  durchklingt  den 
ganzen  Satz  wie  Windesbrausen  und  Glockengeläute.  Den 
regelmässigen  Begleiter  dieser  Hauptfigur  bildet  von  der 
Einleitung  ab  das  leidenschaftlich  zuckende  Motiv: 

ft  f  J1  jpjx-  welches  sich  mit  schmerzhafter  Dis- 
sonanz häufig  in  die  Klagen  der  Instrumente  hineinbohrt. 
Der  Expositionstheil  des  Allegro  zerfällt  in  fUnf  Scenen. 

Die  erste  breitet  in  einem  langen  Zuge  das  Haupt- 
thema, ein  getreues  Abbild  leidenschaftlicher  Verwir- 
rung, hin: 

Allef  ro  moderato. 

^^^^^^^^^^^^^ 

Seine  Aufregung  bricht  sich  an  einer  Gruppe,  in  welcher 
die  Musik  nicht  in  zusammenhängenden  Gedanken,  son- 
dern in  Interjectionen  und  Naturtönen  spricht:  in  fana- 
tisch herausgestossenen  Trillern,  im  kurzen  schweren 
Aufschrei  der  Bläser  und  in  scharfen  Dissonanzen,  welche 
in  ihrer  Art  und  ihrer  Einführung  an  diejenigen  erinnern, 
welche  im  ersten  Satze  von  Beethoven*s  Eroica  der  E  moll- 
Episode  vorangehen.  Und  nun  beginnt  die  dritte  Scene. 
Von  einem  milden  und  beschwichtigenden  Gesang  der 
Clarinette  präludirt,  tritt  das  zweite  Thema  ein,  eine  der 
schönsten  musikalischen  Darstellungen  vom  Zustande  eines 
Herzens,  in  welchem  die  Hoffnung  mit  der  Furcht  kämpft : 

Cor.       ^^  Cor. 


*e     593     ^ 


In  jedem  Takt  ein  anderer  schöner  Zug:  Wie  die  Violinen 
Trost  zusprechen,  wie  das  Hom  absetzt  und  ansetzt,  höher 
und  höher  geht,  zuletzt  im  langen  Gang  sich  ausspricht, 
selbst  in  der  kleinen  Dissonanz  des  a  im  ersten  Takte 
—  in  Allem  liegt  eine  Wärme,  Anschaulichkeit,  Unmittel- 
barkeit, eine  Naturwahrheit,  wie  sie  nur  die  genialsten 
Künstler  ab  und  zu  erreichen.  Die  Scene  wird  haupt- 
sächlich auf  Grund  der  beiden  eingehakten  Takte  weiter- 
geführt und  endigt  mit  einer  Wendung,  welche  der  eigen- 
thümlichen  Schönheit  des  ganzen  Bildes  würdig  ist:  Kurz 
und  überraschend  moduliren  die  Bläser  in  sanften  Accorden 
Ton  B-  nach  Ddur  und  halten  die  neue  Harmonie  leise 
mit  einer  langen  Fermate  wie  eine  freundliche  Vision  fest. 
Als  sollte  der  Traum  nicht  gestört  werden,  bringen  darauf 
die  tiefen  Streichinstrumente  pp  das  Motiv 

y  1     1    p    \if  y   ^  7    y     i  gehen  aber  bald  mit  ihm  wieder 

ins  Stürmische  und  zur  fünften  Scene  des  Expositionstheils 
über,  deren  Thema  heroischer  Natur  ist: 

fi^r  füll  UM  if'i  I  M  ^. 


Die  Durchführung  beginnt  als  wörtliche  Wiederholung 
der  ersten  Scenen,  setzt  aber  dann  die  Schilderung  des 
Conflicts  zwischen  Muth  und  Zweifel  mit  selbständigen, 
neuen  thematischen  Ideen  fort  und  nimmt  nach  dem 
Schlusstheil  einen  trüben  und  hocherregten  Charakter  an. 
Mit  harten  Dissonanzen  und  chromatischen  Passagen,  welche 
in  Liszt^scher  Weise  stilisirt  sind,  wird  der  Uebergang  zur 
Reprise  bewerkstelligt,  welche  den  Inhalt  des  Expositions- 
theils in  gesteigertem  Ausdruck,  das  Hauptthema  noch 
wilder  und  das  zweite  Thema  noch  rührender  vorüberfUhrt. 


Kretziohmar,  Führer,  I. 


88 


e<? 


594 


f>» 


Der  zweite  Satz,  ein  Presto  (D  moll)  in  drei  Theilen,  be- 


ginnt  mit  einem  ^  ^— * 
kleinen  Schreckfl^3fe 


Erst  nach  diesen  durch  die  Generalpausen  mfichtig  rer- 
stärkten  Allarmsi^nalen  setzt  das  stürmische  Hauptthema, 
in  seiner  Construction  auf  folgendes  kurze  Modell  gestutzt: 

ein.      Durch  das  ganze  Stück 
bleibt  ein  herber,  harter  Zug 

vorherrschend.  Die  freundlichen  Seitenpartien,  welche  in 
mannigfachen  Nebenthemen  betreten  werden,  wie  in  den 
ballet-  und  tanzartigen  Weissen: 


«)( 


i 


«»' 


r  t  i  'r  ^  i  'i  i  r 


viel 


(f  J"J^Q  I J  J^P  \Ii  J  J  J  I  j^^führen  immer  wieder 


in  den  Hauptweg  zurück,  und  selbst  in  dem  Allegretto, 
welches  in  dem  Satze  die  Stelle  des  Trio  vertritt  —  der 

Alle^o  Bon  troppo.  ^^ 
Anfang  lautet :  ^  gj  ^f  ^^  ^  6  I  ^  j'  ^J'^  —  verdrängen 

die  überwiegenden  allarmirenden  Elemente  die  Versuche 
zum  freundlichen  Gesang.  Mit  dem  Finale  der  Sinfonie 
hat  dieser  zweite  Satz  die  reiche  Verwendung  von  Motiven 
aus  der  slavischen  Volksmusik  gemeinsam. 

Das  Adagio  (Fdur,  •/g)  der  Sinfonie  ist  einer  der 
schönsten  melodiereichsten  Sätze  der  neueren  Instru- 
mentalmusik, von  einer  Milde  in  Charakter  und  Stimmung, 
die  seine  Betrachtung  zum  reinsten  Genuss  macht.  Seine 
Hauptmelodie : 


us^     595     ^ 


Adagio. 


in  welcher  die  Beethoven'sclieii  Ele- 
mente reich  vertreten  sind,  wird  durch 

ein  Seitenthema  abgelöst  und  ergänzt,  dessen  Ausdruck 
und  Abschluss  eigenthUmlich  schön  ist: 

CdU  «.  BraUek«n 


«l/M/rw««. 


Auf  diese  Hauptgruppe  felgt  eine  Scene,  die,  melo- 
disch auf  Bagatellen  beruhend,  über  kurze  Motive  schwärmt 
und  in  entlegene  Harmonien  träumt.  In  der  Süssigkeit  der 
Stimmung,  in  der  ungezwungenen  Innigkeit  des  Tons  er- 
innert sie  an  eine  Liebesscene.  Ueber  dem  Ende  des 
Satzes ,  wo  die  Bässe  und  Celli  choralartige  Weisen  an- 
stimmen, liegt  religiöse  Weihe. 

Nach  einer  langsamen  Einleitung  beginnt  das  Finale 
mit  einem  Thema,  das  in  seiner  stürmischen  Natur  und  in 


seinen   An 


Allef^o  eoD  fttoeo. 


wörtlich    mit    einem    sehr 


n   aus 


seinen    An-    ^m    ICTT^^.  i      — -wortucn    mit    einem 
fangsnoten:    y*  y^  f    J)'|J.  —bekannten   Gedanke 

Beethoven*s  Kreuzer- Sonate  übereinstimmt.  Das  Finale 
ist  lebendig  froh  gedacht,  aber  ziemlich  breit  und  mit 
Einmischung  seltsamer  Einfälle  ausgeführt.  Unbedingte 
Schönheit  in  Form  und  Charakter  besitzt  das  zweite  Thema: 


Die  nächste,  die  fünfte  Sinfonie  Rubinstein's  (Gmoll, 
op.  107)  unterscheidet  sich  von  allen  ihren  Geschwistern 
änsserlich  dadurch,  dass  sie,  was  die  dramatische  Sinfonie 
in  den  Schlussätzen  thut,  durchs    ganze  Werk  und  noch 

88* 


^     596     ^ 

reichlicher  als  ihre  Vorgängerin  slavische  Melodien  ver- 
wendet.   Von  Freunden  des  Ck>mponi8ten  ist  sie  deshalb 

A.  BBblMt«bi  zuweilen  Rubinstein's  , Russische  Sinfonie*  genannt  worden. 

Fünfte  Sinfoni«.  Eine  patriotische  Tendenz  spricht  vielleicht  auch  daraus, 
dass  sie  dem  Andenken  der  GrossfUrstin  Helene  Panlowna 
gewidmet  ist,  die  unter  den  Gliedern  des  Herrscherhauses 
sich  als  Förderin  der  musikalischen  Entwickelung  im 
Czarenreich  hervorthat.  Die  jungrussische  Schule  hat  be- 
kanntlich durch  einen  ihrer  Führer,  Cösar  Cui,^)  an  Ru- 
binstein  und  Tschaikowsky  scharfe  Absagen  gerichtet  und 
damit  sichtlich  beide  Künstler  veranlasst  sich  den  national 
russischen  Musikbestrebungen  enger  und  eifriger  anzu- 
schliessen.  Rubinstein  hat  von  seiner  Bekehrung  in  dieser 
G  mollsinfonie  das  ausführlichste  und  eifrigste  Zeugniss 
abgelegt.  Seine  Gegner  wird  er  dadurch  nicht  gewonnen 
haben. 

Als  Abbild  russischer  Musik  wählt  diese  G  mollsinfonie 
ihre  Themen  zu  einseitig;  das  träumerische  Element 
namentlich  fehlt.  Für  die  Aufgabe,  wie  sie  sich  Rubin- 
stein hier  und  in  seinen  letzten  Instrumentalcompositionen 
überhaupt  gestellt  hat,  konnte  ihm  die  Volksmusik  nur 
wenig  nützen.  Sie  verlangt  Naturgemälde,  Rubinstein 
ging  aber  auf  Lebensbilder  Selbstbekenntnisse  aus.  Von 
diesem  Gesichtspunkte  aus  ist  auch  seine  G  moll-Sinfonie 
aufzufassen.  Sie  erscheint  dann  als  eine  Art  SeitenstUck, 
als  eine  Fortsetzung  seiner  Sinfonie  dramatique,  als  ein 
betrübender  Beweis,  dass  das  Loos  dieses  gewaltig  musi- 
kalisch und  menschlich  gewaltig  beanlagten  Künstlers 
unglücklich  war.  Doch  ist  nicht  zu  verkennen,  dass  die 
dramatische  Sinfonie  in  der  Erfindung  und  Ausfuhrung  — 
bis  auf  den  letzten  Satz  —  höher  steht,  gewählter  und  ge- 
drungner ausgefallen  ist,  als  ihre  Nachfolgerin.  Nament- 
lich dem  ersten  Satz  dieser  fünften  Sinfonie  hat  beim 
Entwurf,  bei  der  Aufstellung  der  Themen  und  bei  der  Dis- 
position des  Formplans  die  Gründlichkeit  und  die  Bedacht- 


^)  Cesar  Cui:  La  Mosiqae  en  Kassie.     Paris  1880. 


c<? 


597 


o^j 


samkeit  empfindlich  gefehlt,  die  zur  Darstellung  der  Idee 
die  geeignetsten  Mittel  herbeizieht. 

Dieser  erste  Satz  (Moderato  assai,  C,  Gmoll)  beginnt 
mit  dem  Hauptthema 

Moderato  aasat.  ^— — ^— ^^ 


ernst.  Ihm  folgt  eine  aufgeregte  Episode,  die  uns  in  der 
Art  der  Sinfonien  Karl  Maria  von  Weheres  in  die  Ballet- 
und  Opemsphäre  wirft.  Sie  wtirde  verständlich,  wenn  sie 
mit  der  Rückkehr  nach  dem  Hauptthema  schlösse  und 
sich  zu  ihm  in  einen  durchgeführten  Gegensatz  stellte. 
Diese  logisch  nothwendige  Wendung  hat  dem  Componist 
auch  vorgeschwebt,  doch  begnügt  er  sich  sie  mit  ein  paar 
gehaltnen  Noten,  die  allerdings  Rubinstein's  starke  Musik- 
natur wieder  glänzend  veranschaulichen,  anzudeuten  und 
geht  nach  ihnen  zu  dem  zweiten  Thema 


über.  Es  hat  den  bukolisch  russischen  Charakter  ausge- 
prägt, während  das  erste  die  nationale  Abkunft  durch  den 
Verzicht  auf  den  Leitton  merken  lässt.  Die  Themengruppe 
wird,  nachdem  das  zweite  Thema  in  sehr  überraschender, 
hübscher  Weise  in  Ddur  wiederholt  worden  ist,  durch 
eine  handvoll  weitere  Motive  vervollständigt,  von  denen 
keines  eine  grössre  eigne  Bedeutung  hat  und  keins  mit 
dem  andren  in  Zusammenhang  steht.  Der  Componist 
phantasirt  mit  einer  Ungenirtheit  als  sässe  er  am  Klavier 
und  um  ihm  herum  lauter  gute  Freunde,  die  Werth  darauf 
legen  in  die  Seele  des  grossen  Mannes  auch  zur  un- 
passendsten Stunde  einen  Blick  werfen  zu  dürfen. 

Die  Durchführung  beginnt  mit  dem  Hauptthema  in 
Flöten,  Clarinetten  und  Fagotten,  setzt  es  dann  in  die  Bässe 
in  die  zweiten  Geigen,  verliert  bald  Willen  und  Ziel,  wühlt 


«<?     598     ^ 

in  der  Verlegenheit  über  ein  Viertelmotiv  a  gis  a  gis  a 
und  kehrt  unverrichteter  Sache  nach  dem  Anfang  zurUck. 
Sein  glänzender  kraftvoller  Eintritt  bildet  eine  der  wirk- 
samsten Stellen  des  Satzes.  Die  Bepriae  weicht  von  der 
Themengruppe  zunächst  dadurch  ab,  dass  sie  das  zweite, 
heitre  Thema  dem  nachdenklichen,  die  Schwermuth 
streifenden  Hauptthema  unmittelbar  folgen  läset.  Erst  an 
dritter  Stelle  kommt  die  erregte  Episode ,  die  im  ersten 
Theile  jene  beiden  Gedanken  aus  einander  hielt  Ihr 
folgt  ein  ganz  leiser,  langsamer,  choralartiger  Abschnitt. 
So  gelingt  es  durch  Zuthaten,  Umstellungen  und  Aende- 
rungen  dem  Componisten  die  dem  Satz  zu  Grunde  liegende 
Absicht  der  Darstellung  einer  gährenden  Stimmung  am 
Ende  doch  klarer  und  begreiflicher  zu  verwirklichen. 

Der  zweite  Satz  (Allegro  non  troppo,  */4,  B  dur)  bringt 
wie  Beethoven's  Neunte  Sinfonie  das  Scherzo.  Den  lang- 
samen Satz  hat  Bubinstein  an  die  dritte  Stelle  gerückt, 
weil  der  Inhalt  seines  ersten  Satzes  eine  aufheiternde  Fort- 
setzung verlangt.  Dem  Hauptsatze  dieser  zweiten  Nummer 
liegt  ein  russisches  Thema  zu  Grunde: 


Allegro  non  troppo. 


^^^tf^mi^jj  jiJinjjjijj^ 


das  von  der  Clarinette  zuerst  eingeführt,  von  den  übrigen 
Instrumenten  zu  einer  breiteren  Scene  des  Spielens  und 
Tändeins  ausgeführt  wird.  Auch  hier  werden  wir  wieder 
an  die  Neunte  Sinfonie  erinnert:  Die  fröhlichen  Klänge 
unterbricht  immer  wieder  ein  Augenblick  des  Sehnens, 
Zweifeins,  Klagens  und  Schwankens.  Ansätze  zu  einem 
Seitenthema  tauchen  auf,  der  bedeutendste  eine  Synkopen- 
bildung; keiner  behauptet  sich.  Das  Trio  verdankt  seine 
ganz  ungewöhnliche  Gestalt  dieser  scherzowidrigen  Stim- 
mung. Es  ist  eine  Fuge  in  Esmoll,  ihr  Thema  dem  Haupt- 
thema des  ersten  Satzes  etwas  verwandt. 

Der  dritte  Satz  (Andante,  ^/g,  Es  dur)  hat  ungefähr  den 
Ideengang:  Von  ferne  tritt  das  Glück  in  Sicht  und  ruft 
in  der  Seele  des  Dichters  Erregung  hervor,  die  sich   in 


e<?      599      ^ 

Hoffen  und  in  Zweifeln  theilt.  Das  Bild  des  Glücks  er- 
scheint in  einer  langen,  anmuthigen  und  naiven  Melodie, 
mit  der  der  Satz  beginnt.  Sie  ist  in  Vertretung  auch 
andern  Instrumenten,  in  erster  Linie  aber  dem  Hom  über- 
tragen und  für  gute  Hornisten  wird  dieses  Andante  der 
Rubinstein^schen  G  moU-Sinfonie  ein  Lieblings-  und  Glanz- 
stück sein.  In  dem  Augenblick  des  grössten  Aufschwungs 
hat  allerdings  dem  Componisten  der  Umfang  des  Horns 
(in  F)  nicht  genügt,  die  Trompete  muss  aushelfend  ein- 
treten. Die  Erregung  ruht  auf  einem  Motiv  in  Sechzehntel- 
triolen,  das  den  Violinen  gegeben  ist.  Es  führt  nach  dem 
Abschnitt  seines  ersten  Auftretens  zu  einer  Wiederholung 
der  Glücksmelodie  in  Oboe  und  Hom.  Ihm  folgt  ein  neuer 
Abschnitt  der  Erregung,  der  in  einem  kurzen  folgenden 
Sätzchen  in  Esmoll  seine  Spitze  findet.  Darauf  setzt  die 
Flöte  mit  dem  Haupthema  ein,  nach  ihm  noch  einmal  der 
Abschnitt  über  das  Triolenmotir ;  die  Hauptmelodie  klingt 
mit  dem  Anfang  an  und  das  Ende  ist  da.  Es  ist  —  ge- 
mäss dem  verschwiegnen  Programm  der  Sinfonie  —  ein 
Ende  in  UngewissheitI  Das  Andante  ist  vielleicht  derjenige 
Satz  des  Werkes,  der  die  Seele  des  Zuhörers  am  leb- 
haftesten und  nachhaltigsten  in  Thätigkeit  setzt.  Die  Ur- 
sache liegt  zum  grossen  Theil  an  dem  dramatischen  Cha- 
rakter der  Uebergänge,  die  zwischen  den  Haupttheilen 
vermitteln,  an  der  aufregenden  Art  in  der  die  Leidenschaft 
in  die  Idylle  hereinbricht.  Man  merkt  an  diesem  Stück 
ganz  besonders  wie  in  der  Gegenwart  die  Oper  den  Weg 
zur  Herrschaft  über  die  gesammte  Musik  angetreten  hat! 
Der  Schlusssatz  (Allegro  vivace,  '/4,  Gmoll,  Gdur)  hat 
die  Anlage  des  Sonatensatzes.  Sein  Hauptthema  ist  eine 
von  jenen  russischen  Tanzweisen,  die  in  der  beständigen 
Wiederholung  eines  kurzen  Motivs  den  Stempel  der  Kind- 
lichkeit und  des  Naturvolks  offenbaren.  In  seiner  Moll- 
harmonie hat  die  Lebendigkeit  dieses  Themas  etwas  Ge- 
drücktes und  Gewaltsames,  erscheint  an  dieser  Stelle  als 
Vertreter  eines  .Galgenhumors'^.  Rubinstein  stellt  ihm  (in 
der  Oboe  zunächst  und  in  Bdur)  eine  nach  freundlichem 
Ausweg  nach  Ruhe  und  Glück  suchende  Melodie  entgegen. 


c<?     600     ^ 

die  deutsch  sein  könnte  aber  durch  die  Zahl  und  Art  der 
Repetitionen  russificirt  worden  ist.  Zwischen  diesen  beiden 
Themen  liegen  noch  zwei  selbständige  Motive,  Träger  der 
heissblütigen  und  warmen  Empfindung,  die  Rubinstein's  Musik 
immer  wieder  auszeichnet.  Die  Themengruppe  wird  wieder- 
holt und  diese  Wiederholung  hat  der  Compomst  mit  Rück- 
sicht auf  einige  kleine  Varianten  ausschreiben  lassen.  Die 
Durchfuhrung,  mit  der  Gdur  einsetzt,  versucht  zunächst 
einen  Ausgleich ,  eine  Versöhnung  der  im  ersten  Theil  ent- 
haltnen  Geflihlselemente,  indem  sie  die  beiden  Hauptthemen 
mit  einander  verwebt;  das  zweite  liegt  in  den  untern  In- 
strumenten, das  erste  kommt  als  Contrapunkt  in  den  obem. 
Generalpausen  und  fortwährendes  Abbrechen  zeigen  wie  ver- 
geblich der  Versuch  bleibt.  Da  taucht  aus  dem  ersten 
Satz  der  Sinfonie  pp  das  wühlende  chromatische  Viertel- 
motiv wieder  auf  und  setzt  sich  fest.  Damit  nimmt  Fort- 
setzung und  Schluss  der  Durchfuhrung  einen  verzweifelten 
Charakter  an  und  auch  die  Reprise,  mit  der  Gmoll  zurück- 
kehrt, spricht  nur  von  Pessimismus  und  Resignation. 
A.  RnblBflt«i]i  Während  die  fünfte  Sinfonie  Rubinstein*s  vorzugsweise 
SeohtteSinfonie.ein  Gemüthswerk  ist,  wendet  sich  seine  sechste  und 
letzte  (A  moll)  hauptsächlich  an  die  Phantasie  des  Hörers. 
Sie  entrollt  eine  Reihe  Bilder:  Erinnerungen  des  Compo- 
ponisten  aus  fremden  Landen,  Erinnerungen  an  den  Orient 
vor  Allem.  Das  macht  sie  der  Suite  verwandt  mit  der  sie 
auch    den  Mangel  an   thematischer  Entwickelung   theilt 

Der  erste  Satz  (Moderato  con  moto,  C/,  Amoll)  setzt 
gleich  sehr  fremdartig  ein.  Schrill  schreit  ein  gis-c  auf; 
die  Meisten  werden  es  als  as-c  hören  so  lange  bis  —  im 
dritten  Takt  —  e  dazu  kommt.  Eine  kurze  aber  stechende 
Einleitung!  Nun  beginnt  das  ganze  Orchester  wie  eine 
Bardenharfe  mit  dem  Dreiklang  —  A-c-E  —  in  einem 
Marschrhythmus  zu  präludiren.  An  die  Arpeggien 
schliessen  sich  kleine  Motive  im  knappem,  festen  Balladen- 
ton: es  wird  von  Heroen  erzählt  und  von  Heldenthaten. 
Mit  dem  Fdur  konmien  neue  Motive,  und  weichere  Em- 
pfindungen zu  Worte.    Auf  Augenblicke  fühlen  wir  uns 


c<?     601     ^ 

an  die  schÖDen,  schwärmerischen  Homstellen  im  ersten 
Satze  der  Sinfonie  dramatique  zurückyersetzt.  Dann  nimmt 
die  Erzählung  wieder  die  Richtung  auf  grosse  Ereignisse; 
die  ruhig  in  einem  ^'/^Takt  (Cdur)  an  uns  Yorbeiziehen, 
erst  bestimmt  und  hell  gefärbt,  dann  in  den  Farben  des 
Triumphs.  Mit  diesem  Hymnus  —  g-a-e  ist  beim  zweiten 
Mal  sein  Leitmotiv  —  schliesst  die  Themengruppe.  Die 
Durchführung  beginnt,  als  sollte  repetirt  werden,  indem 
sie  das  Hauptthema  (in  A  moll)  wörtlich  vorführt,  schwenkt 
aber  sehr  bald  ab  und  mischt  in  die  Beminiscenzen  der 
heroischen  Bilder  klagende  Töne,  Motive  des  Erinnems, 
der  Elegie.  Die  Reprise  bringt  den  ersten  Theil  mit  um- 
gekehrter Reihenfolge  der  Themen. 

Der  zweite  Satz  (Andante,  •/g,  Edur)  ist  ein  sehr  ein- 
facher Satz,  ohne  Verwickelungen  im  Charakter  der  Dar- 
stellung freundlicher  Ideen  gewidmet.  Eigen  ist  er  durch 
die  Art,  in  der  das  hübsche  Hauptthema  (Edur)  vorge- 
tr^en  wird,  nämlich  in  lauter  Einschnitten  und  einzelnen 
Absätzen;  nach  jedem  Motiv,  nach  zwei  Achteln,  nach  fünf 
Achteln  immer  eine  Pause.  Das  giebt  einen  Ton,  wie 
Hast,  Staunen,  Athemlosigkeit,  Uebermass  des  Gefühls  und 
des  Behagens.  Den  Augenblick  der  Sammlung  kündet  (im 
17.  Takt)  ein  jauchzendes  Motiv,  das  in  seiner  Ursprüng- 
lichkeit und  Wärme  sich  unter  die  echtesten  Rubinstein- 
erfindungen stellt.  Unter  den  Gegenthemen  der  Nummer, 
die  sammt  und  sonders  nicht  bedeutend  ins  Gewicht  fallen 
und  nur  das  Hauptthema  lebendig  schattiren,  zeichnet  sich 
das  schliesslich  in  H  dur  ausgehende,  dramatisch  eingeführte 
Solo  der  Oboe  aus. 

Der  dritte  Satz  (Allegro  vivace,  */4,  Cdur)  der  Sinfonie 
der  das  Scherzo  vertritt,  ist  einer  der  phantastischsten 
Compositionen  der  neueren  Sinfonielitteratur,  flatternd  und 
zerstiebend,  nirgends  festhaltend,  wie  der  sprühende 
Gischt  des  Wasserfalls.  Kaum  hat  er  im  Hauptsatz  Themen, 
nur  Motive.  Als  es  endlich  zum  singen  kommt,  —  Vio- 
linen: orha-h  I  a-g-c  \  —  klingt  das  mit  der  liegenden 
Stimme  —  ^r  in  den  Bratschen  erst,  dann  in  den  Pauken 
—  so  exotisch  als  möglich.    Das  Trio  (CmoU  und  Es  dur) 


CO     602     ^ 


mischt  Gemüthstone,  AnkläDge  and  Anfänge  eines  deuiscben 
Waisen  mit  ganz  fremden  Tönen,  Gedanken  an  den  Orient ! 
Das  Finale  (Moderato  assai,  ''4,  Amoll)  dessen  stock- 
russsische  Haupthemen 


Moderato  asnai. 


^p^^^^fe 


2^€r^^-U-^-^ 


und 


Alleprro 


in  Variationen  ausgeführt  werden  ist  nach  Form  und  Geist 
zum  grossen  Theil  ein  Absenker  von  Glincka's  Kamarinskaja, 
dem  Ausgangswerk  der  ganzen  Neurussischen  Schule. 

Als  der  junge  Rubinstein  mit  seiner  ersten  Sinfonie 
auftrat,  befand  er  sieb  in  einer  ziemlich  zahlreichen  Ge- 
sellschaft mitstrebender  Talente :  Leonhard,  Heisted,  Pape, 
Goltermann,  Kufferath,  Pott,  Veit,  Wüerst,  Ulrich,  Gouvy, 
Dietrich.  Von  diesen  vielen  neuen  Sinfonikern  der  fünf- 
ziger Jahre,  welche  in  der  Mehrzahl  Mendelssohn'sche 
Ideen  kleiner  münzten,  haben  sich  nur  sehr  wenige  für 
längere  Zeit  behauptet:  Gouvy  und  Ulrich  fanden  mit 
mehreren  Werken  ehrenvolle  Beachtung,  eine  populäre  und 
bedeutende  Position  errang  nur  Albert  Dietrich  mit 
seiner  zweiten  Sinfonie  in  DmoU. 
k,  Dietrich  Diese  D  moU-Sinfonie  Dietriches,  die  vor  20  Jahren  ein 

Sinfouie  DmoU.  Liebling  des  Publikums  war,  ist  eins  der  anziehendsten  Kunst- 
werke der  neueren  Zeit.  Ihr  Schwerpunkt  liegt  in  der 
edel  weichen  Schwärmerei ,  in  der  jugendlich  glücklichen 
Ueberschwänglichkeit ,  welche  alle  Partien  der  Sinfonie 
romansisch  durchdringt.  Sie  hinterlässt,  wie  wenige  Com- 
positionen,  den  starken  Eindruck  einer  eigenen  Individua- 
lität und  den  Wunsch,  dass  sich  die  liebenswürdige,  ge- 
haltvolle Künstlernatur,  der  wir  dieses  Werk  verdanken. 


te     603     -ö» 


Docb  in  einer  grossen  Reihe  so  freundlicher  und  anmuthiger 
Sinfonien  äussern  möge. 

Der  erste  Satz  beginnt  heroisch  mit  folgendem,  von 
sämmtlichen  Streich-Instrumenten  im  Unisono  vorgetragenen 
Hauptthema: 

AllegTo. 


<^*njJpjj>iiJJ'JiJli^i^^rfiJ^^ 


ä 


Schon  im  ersten  Seitensätzchen  aber  nähert  sich  die 
Phantasie  friedlichen  Regionen  und  lenkt  dann  im  zweiten 
Thema 


<JliJ  lliJ^ll7jlL^,JjHj^l(j.jjlJiJ.^'N- 

in  ihr  Lieblingsgebiet,  in  das  der  herzlichen  Idyllen  ein. 
Die  Mittelsätze  der  Sinfonie  bieten  für  solche  das  Terrain 
ohne  Beschränkung  dar.  Wir  suchen  in  dem  Kreise  der 
gleichzeitigen  Dichter  und  bildenden  Künstler  vergeblich 
nach  Parallelen,  wenn  wir  die  gemUthlich  traulichen,  ein- 
fach sinnigen,  und  doch  Tornehmen  Melodien  hören,  welche 
uns  Dietrich  in  dem  Andante  und  in  dem  Scherzo  seiner 
Dmoll-Sinfonie  bietet.  Die  Themen  seines  langsamen  Satzes 
(Andante,  Fdur),  der  zwischen  ^/g-  und  ^/^Takt  wechselt: 
der  träumerisch  freundliche  Gesang  des  Hornes 

„,,i-f^-,fnA^At-r-|ip7r'irPfPirrrrrri 


Cor. 

ri 


r  rfiff.frliffTfjfi  ,.i,"  ^.^-J^a 


-fl'   'i-  X.   I^=     der 


und    die   halbschelmische   Weise 


CeUi 


49lcia$. 


foca  cretc. 


'^lOiMh 


Contrabä**« 


klingen  wie  Volkslieder,  reichen 
aber  über  deren  Form  in  der 


«c?     604     ^ 


kanstvoUeQ    und    gewählten    Anlage    und    DarchfUhrang 
hinaus. 

Das  Scherzo  beginnt  einfach  kräftig: 
All«  pro  «s«rfieo.      vuo. 


y  BiaM 


f    ^^-^J  ^  r  ^^^^^^^^^      In    »einen    Seitensatz 


und   in   sein 


cte> 


erstes    Trio 


fallen  Strahlen  aus  Schumann^schem  Lichte.    Das  zweite 
Trio  ist  eine  echt  Dietrich'sche,  herzlich  liebe  Weise; 


-J»  _f)J  I  r  p  f  I  ^' /^J  I  J- — ;  welche  sich  in  empfanglichen 


Gemüthern  für's  Leben  festsetzt.  Einen  poetischen  Zug 
in  der  Gestaltung  des  Scherzo  bildet  die  Einflechtung 
der  Hauptmelodie  des  Adagio. 

Das  Finale  der  Sinfonie  ähnelt  im  Hauptthema: 


wieder    einem    bekannten    Schumann'schen    Typus.     Das 
zweite  Thema: 


^^^^^^^m 


y  Celli  u.Bratsch.   erene. 


*)  Lies:  fis  statt  g. 


eO 


605 


^ 


(DmoU). 


bringt  Doch  eimiud  den  eigen  schwärmeriscben  Zug 
Dietriches  zu  warmem,  schönem  Ausdmck.  Die  Uebergangs- 
partie  zwischen  den  beiden  Themengruppen  ist  dem  Humor 
gewidmet. 

Noch  einige  Zeit  vor  das  Dietrich'sche  Werk,  in  das 
Jahr  1863,  fallt  die  Entstehung  einer  anderen  berühmten 
D moll-Sinfonie.    Es  ist  die  von  Robert  Volkmann. 

Volkmann^s  D  moll-Sinfonie  ist  die  Schöpfung  eines  *•  ▼•!!«•■■ 
mannlich  kraftigen  Geistes,  ein  fest  und  gedrungen  hin-  ^^^*,^'*  ^ 
gestelltes  Werk,  welches  nach  Wesen  und  Stil  der  Beet- 
hoven'schen  Schule  angehört.  Der  erste  Satz  dieser  Sin> 
fonie  steht  mit  seinem  trotzigen,  entschlossenen  Zuge  in 
direkter  geistiger  Verwandtschaft  zu  der  gewaltigen  Neun- 
ten. Ja,  dort  an  der  Stelle,  wo  am  Schlüsse  der 
Durchführung  die  Bässe  von  den  langen  festgebannten 
Harmonien  sich  trennen  und  ihre  chromatischen  Gänge 
antreten,  da  klingen  auch  die  Beethoven^schen  Themen 
leibhaftig  an!  Gleichwohl  besitzt  die  Volkmann'sche 
Sinfonie,  und  namentlich  ihr  erster  Satz,  geistige  und 
technische  Selbständigkeit  im  hohen  Grade,  eigene  be- 
deutende, in  Ernst  und  Frohsinn  immer  treffende,  aufs 
Ziel  schnell  hingehende  Gedanken  und  eine  eigene  schlicht 
belebte,  auf  jeden  Prunk  und  Reiz  verzichtende  Darstellung. 

An  der  Spitze  des  ersten  Satzes  steht  das  Thema: 

Allei^o  patetico.  B)ift«r 

mit  seinen  drohenden  und  schweren  Gedanken.  Während 
es  noch  leise  in  den  Bässen  fortgrollt,  erheben  die 
Holzbläser   und    Violinen   ihre   tröstenden   und   bittenden 

Viol. 

Stimmen:  ^E 

und  die  erste  Scene  des  Satzes  schliesst  mit  einem  Com- 
promiss,   der  die  düstere   Stimmung  in  einen  heroischen 

Entschluss  r  ji  p   .rrT-rr  .r  nr  n^rrrrrr     »  m 

Überleitet:  3 


^     606     ^ 

Es  ist  eine  besondere  und  sehr  bemerkenswerthe  Idee 
Volkmann^s,  an  Stelle  des  einen  Themas  eine  ganze  drei- 
gliedrige und  vollständig  dramatisch  entwickelte  Themen- 
gruppe zu  setzen.  Der  Satz  bleibt  vorwiegend  streitbarer 
Natur.  Die  Momente  der  Ruhe,  wie  sie  am  entschieden- 
sten das  Fdur- Thema 


den  nur  Episoden.  Die  Durchführung  wiederholt  in  ver- 
grösserten  Verhältnissen  den  Auftritt  zwischen  den  bitten- 
den Bläsern  und  dem  grollenden  Streichorchester,  mit 
welchem  der  Satz  begann,  und  die  gewaltig  eingeleitete 
Reprise  nimmt  den  gewöhnlichen  Verlauf. 

Das  Andante  (Bdur,  ^Z^)  hat  zum  Hauptthema  eine 
hauptsächlich  von  der  Clarinette  getragene  Melodie,  welche 
Frieden  suchend  folgendermassen  beginnt: 

Andante. 

welche  ihr  präludirend  vorangehen,  sind  sehr  wichtig-: 
Sie  bringen  in    A  ^  ^  J  J  I  J»  |tj     ein  Motiv,  welches  für 


die  Entwickelung  des  Satzes  die  treibende  Kraft  bildet 
und  den  kleinen  Variationen,  welche  aus  den  Figuren 
des  Hauptthema  abgeleitet  werden ,  beständig  zur  Seite 
geht.  Der  im  allgemeinen  ruhige  Ton  der  kleinen  Dich- 
tung wird  am  Ende  der  Durchfuhrung  einmal  hoch  leiden- 
schaftlich. Es  ist  eine  ausserordentlich  mysteriöse  Stelle: 
die,  wo  nach  den  gewaltigen  As dur- Accorden  das  Hom 
zu  den  stillen  Modulationen  der  Violinen  30  Takte  lang 
immer  sein  C  anschlägt.  Sie  ruft  auch  klanglich  das  Bild 
aus  Wagner's  Walküre  vor  die  Phantasie,  wa  Siegmund 
in  seiner  Seelennoth,  einsam  vor  dem  Herde  in  der  dunklen 
Hütte  nach  ^Wälse**  ruft. 

Das  Scherzo   stimmt   einen  rüstig   muntern  Ton   an. 


c<?     607     ^ 


Alle^ro  non  troppo. 


In  der  Figur  seines  ■■  j  l  ii   ["i    iil  i", 
Hauptthemas  g^  "^  *  ^  ^"^^Uil 

und  in  der  contrapunktiscben  Form  seiner  Entwickelung 
leben  noch  einmal  Geist  und  Methode  der  alten  nord- 
deutschen Schule  auf.  Das  lieblich  kosende  Trio,  welches 
das  geschäftige  Treiben  des  Hauptsatzes  mit  ländlerartigem 
Tone  unterbricht: 


trägt  die  reizenden  Farben  der  FrUhromantik,  in  der  Volk- 
mann ebenso  wie  Dietrich  mit  einem  Theil  seines  Wesens 
wurzelt. 

Das  Finale  der  Sinfonie,   ein  Tonstück  freudig   ge- 
hobenen Charakters  fällt,  mit  seinem  Hauptthema: 


AUe^ro  molto. 


i^tif.f  \T  ,1  I  ^ 


A 


^ 


e=A 


1 


und  noch  mehr  mit  dem  Nachsatz  des  zweiten  Thema: 


^r  \r  ^  \r  n^ 


ClNr 


in  den  Stilkreis  der  Mendelssohn-Schumann'schen  Periode. 
Das  zweite  Thema  selbst,  eine  rhythmisch  energische 
Bildung 


IJ/LI^'^I'    l|i|,i  1^1     ^  I^V^  1^^ 


TT 

ist  der  Hauptträger  der  zwischen  Pathos  und  Fröhlich- 
keit hinsteuernden  Gedankenentwickelung.  Es  giebt  viel- 
fache Veranlassung  zu  polyphonen  Künsten,  zu  ver- 
wickelten Harmonien  und  zu  seltneren  Klangcombi- 
nationen,  in  welchen  der  Posaunenton  ein  wichtiges 
Element  bildet. 


^)  Lies:  e  statt  d. 


c<?     608     ^ 


B.  YtlkMABB  Volkmann's    zweite    Sinfonie    (B  dar)    gebort    dem 

Sinfonie  Nr.  s  frohen  Und  heitern  Gebiete  an  und  ist  in  ihrer  lebens- 
(Bdnr).  lustigen  Naivetät,  in  ihrer  ungekünstelten,  auf  alle  Um- 
schweife verzichtenden  Schlichtheit  eins  der  liebens- 
würdigsten Meisterwerke  der  neueren  Sinfonik.  Ihr  erster 
Satz  vereinigt  ausgesprochen  volksthümliche  Züge  im  ersten 
Thema 

Alle^ro  Tivaee. 


Viol 


mit  specifisch  Schumann'schen  im  Seitensatz: 

^''''-  ' ' ' —    und    im    zweiten 


j,j^.jN.ji^|My^^ 


Die  Ausführung  dieser   leitenden  Gedanken  ist  sehr 
knapp;  überraschend  schnell  tritt  der  Schluss  ein. 

Der  zweite  Satz:  Allegretto  (Esdur,  *l^)  ist  ein  be- 
hagliches Scherzando  mit  folgendem  Hauptthema: 
AUegTctto. 


^^'^^^  n\^\  ^'\Uj  n\n^h-i  \u 


Sein    Seitensatz    tändelt    anmuthig    auf   dem    Motiv 

4  rj  r  r  r  r  1  p  ^^°-    unter  den  mancherlei 

Aehnlichkeiten ,  welche  der  Satz  mit  dem  berühmten 
Allegretto  in  Beethoven^s  achter  Sinfonie  gemeinsam  hat, 
tritt  als  die  nächste  das  folgende  Motiv: 


^  iK    f     P  I  r  r  r   r   I  hervor.     Die   originellste   Idee 


im  Stücke  bildet  das  Thema  des  Mittelsatzes: 


•<?     609     '^ 


EigeDthümlich  launisch  weicht  es  in  seinen  Schlüssen 
lange  dem  Grundton  aus. 

Der  dritte  Satz  (Andantino,  Gmoll,  %)  ist  nicht  viel 
mehr  als  eine  langsame  Einleitung  zum  Finale.  Das 
Thema  beider  Sätze  ist  dasselbe.  Das  Andantino  bringt 
es  in  ruhiger  Bewegung,  in  melancholischer  Färbung  und 
in  der  eigenthUmlichen  Instrumentirung  der  Steppenmusik : 

Andantino.  . 

jff  ^°;|'  y-'i^^.'  -SJ.  rn,j  jij^ 

«  Viol=  d4  f      '     »imile 

das  Finale  (B  dur,  ^j^)  im  raschen  Tempo,  in  humoristischer 
Haltung  und  mit  all  derjenigen  Munterkeit,  deren  es  fähig 
ist,  am  Anfang  in  folgender  Form: 

A]I«(ro  yivac«. 


Clar.  «to. 

Mit  ihren  beiden  letzten  Sätzen  gehört  Volkmann^s 
B  dur-Sinfonie  eigentlich  in  das  vorhergehende  Capitel: 
Nationalmusik  in  der  Sinfonie.  Sie  ist  der  Kaiserlichen 
Russischen  Musikgesellschaft  in  Moskau  gewidmet  und 
giebt  dieser  Widmung  durch  die  Schlusssätze  einen  ernstlich 
praktischen  Ausdruck.  Tschaikowsky's  Serenade  (op.  48) 
stimmt  in  dem  Thema  ihres  Finale  mit  dem  gleichen  der 
Volkmann^schen  B dur-Sinfonie  fast  wörtlich  überein,  und 
auch  die  Ausführung  in  Variationen,  welche  sich  von 
Nummer  zu  Nummer  mehr  erhitzen  und  bis  zu  dithy- 
.rambischer  Ausgelassenheit  weiter  geführt  werden,  ist  die- 
selbe, wie  sie  die  russischen  Componisten  seit  Glinka  für 
ihre  kleinen  heitern  Pastoralmotive  zu  wählen  pflegen. 

Zu  den  bekanntesten  Sinfonien  der  neuesten  Periode    Max  Bmeh 
zählt  die  in  Esdur  von  Max  Bruch.    Sie  ist  ein  Werk  Sinfonie  Nr.  i 
in   classischer  Richtung,  durch   einen  objektiven  Zug  in      (Eidur). 
der    Darstellung    ausgezeichnet,    im    Inhalt    vorwiegend 

Kretxsohmar,  Flihrer,  I.  89 


c<?     610     ^ 

heroischer  Natur.  In  der  mosikalischen  Faktur  zeigt  sie 
eine  Hinneigung  zum  Einfachen  und  Kernigen,  kräftige 
Harmonik  und  Tolksthiimliche,  liederartige  Melodik. 

Uir  künstlerisch  bedeutendster  und  reichster  Sats  ist 
der  erste  (Allegro  maestoso  C^ ,  eine  ernste  Dichtung,  die 
uns  wie  ein  Stimmungsbild  am  Vorabend  eines  wichtigen 
Tages  anmuthet.  Er  beginnt  ruhig  gedankeuToll  mit  dem 
schönen  Hauptthema: 

ß\         Alle^o  maestoso. 

^  Nora 


Die  hoffenden  Elemente  dieser  Melodie   steigert  der 
Nachsatz  zum  Ausdruck  stolzer  Kraft: 


Der  ideelle  Gegensatz  zu  dieser  Gruppe  ist  wie  diese 
ebenfalls  zweitheilig.    Er  beginnt  mit  einem  Unruhe  und 

c)  ^ -^ 

Zweifel  bergen-  /   y       f  fif  f>  ,  f  ^  fcf  bw  i  *  .  iifftergb 
den  Motive :        ^^'   ^  c.^^  '     ^       9\UU       M' 


und   schliesst   mit   einem   in    freundlicher   Sentimentalität 
beschwichtigenden  Gesangthema: 

d) 


^^ 


-I — i- 


i 


!  !  ■  \nfrfU_^m 


23 


M     i       I 


Die  Durchführung  beschränkt  sich  auf  yerschiedene 
Kreuzungen  der  Themen  a  und  c. 

Als  zweiter  Satz  folgt  ein  Scherzo  (GmoU  •4),  eine 
breit  ausgeführte  und  sehr  populär  wirkende  Composition, 
welche  mit  der  Lagerscene  in  Reinsberger's  .Wallenstein* 


c<?     611     '<>' 


manche    Berührungspunkte    hat.     Das    Hauptthema    des 
Satzes  ruht  auf  einem  äusserlich  malenden  Motiv: 
Prasio. 

i 


Pf 


•(«. 


welches  bald  gewaltig  in  die  Höhe  wirbelt.    Die  Seiten- 
sätze   bringen    frohe    Rufe 


iff  LI  ir"^    T  tf 

und  Scenen,  die  den  harmlos  enthusiastischen  Spielen  der 
Jugend  zu  gleichen  scheinen.     Das  unschuldige  Thema: 


wird  mit  einem  unermüdlichen  Eifer  wiederholt  und  durch- 
geführt. Die  Hauptpartie  in  dem  belebten,  fröhlichen 
Bilde  bt  der  Büttelsatz  mrt  seiner  vom  Unisono  des  Streicher- 
und des  Bläserchors  herüber  und  hinüber  gesungenen  derb 
behaglichen  Melodie: 


I  r  Ir.lf  ■ 


Der   dritte    Satz:    , Quasi   Fantasia*^    betitelt    (Grave, 
Es  moll,  C),  beginnt  in  sehr  schwermüthiger  Stimmung  mit 

einer,  wiefolgt:  ^Wiy  f;  If^  l"|   \Q  f^iHJ.] 

ansetzenden  und  sich  bis  zum  endlichen  Abschluss  lang 
streckenden  Melodie.  Alle  Motive  im  Satze  tragen  den 
Charakter  einer  bangen  Stunde.  In  der  Mitte  taucht  das 
beunruhigende  Thema  c)  des  ersten  Satzes  der  Sinfonie 
wieder  auf.  Ohne  Pause  geht  dieser  langsame  Satz  in  das 
Finale  über,  das  ähnlich  wie  in  Mendelssohn's  Schottischer 
Sinfonie  halb  programmatisch  als  ,Allegro  guerriero*  be- 

89» 


c<?     612     ^ 


zeichoet  ist.  Im  poetischen  Plan  der  SiDfonie  bedeutet 
dieses  Finale  die  von  Aussen  kommende  Rettung^  die 
glückliche  Entscheidung:  Der  musikalischen  Fonn  nach 
ist  es  eine  ausgeführte  und  idealisirte  Marschcomposition, 
in  welcher  ein  flottes  Thema: 

mit     einem 


sentimentalen : 


i 


s 


r  r  r  I  r  f-iifQ 


xr: 


p  I  ["      etwas  einförmig  wechselt. 


Sinfonie. 


Brach  Die  zweite   Sinfonie  von  Bruch  (FmoU)   ist  wenig 

Zweite  u.  dritte  bekannt  geworden.  Dem  düster  und  trüb  beginnenden 
und  froh  endenden  Werke,  welches  nur  aus  drei  Sätzen 
besteht,  liegt  oflfenbar  ein  Programm  zu  Grunde,  welches, 
wie  in  ähnlichen  Fällen  in  der  Regel,  nur  zum  grossen 
Schaden  für  die  Wirkung  und  das  Yerständniss  der  Com- 
Position  verschwiegen  worden  ist.  Nicht  an  Ernst  der 
Anlage  und  Arbeit ,  wohl  aber  an  Frische  der  musika- 
lischen Phantasie  steht  diese  zweite  Sinfonie  Bruches  hinter 
der  älteren  zurück.  Der  hervorragendste  Satz  ist  der 
mittlere,  in  welchem  intime  Gedanken  ihren  eigenen  Aus- 
druck gefunden  haben. 

Noch  weniger  ins  Concert  gedrungen  ist  die  dritte, 
die  Emoll-Siufonie  Bruches. 

Die  nächsten  Componisten,  welche  nach  Bruch  auf 
dem  Gebiete  der  Sinfonie  weitere  und  andauernde  Be- 
achtung gefunden  haben,  sind  Friedrich  Gernsheim, 
Felix  Draeseke  und  Hermann  Götz. 

Die  GmoU-Sinfonie  von  F.  Gernsheim  steht 
auf  classischem  Boden  und  entnimmt  der  Eroica,  der 
Neunten,  dem  Violinconcert  Beethoven'»  und  der  grossen 
C  dur  -  Sinfonie  Schubert's  eine  Reihe  merkbarer  An- 
regungen. Am  selbständigsten  erfindet  der  Componist 
da,   wo   die  Sinfonie  sich  auf  dem  pathetischen  Gebiete 


F.  (temshelH 

J%iDfonie  Nr.  1 
(Gmoll). 


c<?     613     -0» 

bewegt.   Das  in  diese  Kategorie  gehörige  Thema,  welches 

an   der   Spitze    ihres   ersten    Satzes   steht,    ist   unter    die 

stattlichsten    Sinfonie  •  Gedanken     der    neueren    Zeit   zu 

rechnen : 

Allerro  moderato.  ^^    ^j^ 

-     ■  ^^ 

In   allen  ihren  Partien   erfreut  diese  Sinfonie    durch 
edle  Richtung,  durch  Geschmack  und  Masshalten. 

Die   zweite    Sinfonie    Gernsheim    (Esdur)    ist   vor-  **•  Oeraihelm 
wiegend  idyllischer  Natur.     Ihre  hervorragendsten  Sätze  Siufonie  Nr.  2 
sind    die    mittleren:    Nottuma    (in    As)    und    Tarantella      <*^'*^)- 
(in  C). 

Seine   dritte   Sinfonie  (Cmoll,   op.  54)   ist  sogut  wie  *".  Oemsheim 
ganz  unbekannt  geblieben.     Wie  gleich  das  Hauptthema  S*^o»*«  ^r.  8 
des  ersten  Satzes  beweist,   hat  sie  originelle  Stimmungen,      (Cmoll). 
aber  deren  Stärke  reichte  für  die  grossen  Formen  des  Sin- 
foniebaues nicht  aus.    Die  jüngste  vierte  Sinfonie  des  Com-  *"•  Oennhelm 
ponisten  dagegen  (Bdur,  op.  62)  hat  in  den  letzten  Wintern  Sinfonie  Nr.  4 
bei    einigen    hervorragenden    Concertinstituten    Deutsch-       ^  ^^' 
lands  Eingang  gefunden.     Sua  fata  habent  libclli.     Der 
grössre    Erfolg   beweist   in    diesem   Falle    keinesfalls    den 
höheren  Werth.    Diese    neueste   Gernsheim'sche    Sinfonie 
fuhrt  die  Rolle  einer  starken  Natur  mit  tiefsinnigen  Aus- 
weichungen, mit  Aeusserungen  heftiger  und  trotziger  Kraft, 
auffahrend  und  pochend,    mit  Vorliebe  mit  den   Mitteln 
musikalischer  Athletik  durch,    die    neuerdings   durch    die 
Sinfonien  von  Brahms  in  Schwang  gekommen  sind.     Der 
Arbeit  und  Kunst,  die  Gernsheim  hierbei  entfaltet,  werden 
die  Kenner  ihre  Achtung  nicht  versagen ;  an  die  Echtheit 
der  Leidenschaften  und  Empfindungen   zu    glauben,   die 
hier  auf  die  Bildiläche  gesetzt  und  hin  und   her  bewegt 
werden,  verbietet  sich  aus  mehr  als  einem  Grund.     Nach 
dieser  Richtung  ist  dies  Werk  ein  weiterer  Beleg  für  die 
Ansicht,  dass  unsre   Zeit  den   innren  Aufgaben  des  Beet- 
hoven'schen   Sinfoniestils  nicht  mehr  gewachsen  ist.    Ihr 
Besitz  an  Gedanken  und  an   Gemüth   ist  zu  gering;  für 
Haydn'schen    Witz    würde    sie    sich    eher    eignen.      Am 


co     614     ^ 

wahrsten  und  natürlichsten  berührt  der  «weite  Satz  (An- 
dante sostenuto)  mit  seinem  von  BeethoTen'schem  Geiste 
getränkten  Hauptthema.  In  der  Marschepisode,  die  ihm 
mit  etwas  zu  viel  Freude  folgt,  zeigt  sich  jedoch  abermals 
die  Neigung  zu  Theaterwirkungen. 

F.  Dnieieke.  Die  beiden  ersten  Sinfonien  von  F.  Draeseke  zeigen 

in  ihrem  Autor  einen  Cbarakterkopf,  welcher  streng  an 
seinen  Ideen  festhält  und  sie  mit  einer  Consequenz 
durchführt,  die  oft  geistreich  und  genial,  zuweilen  aber 
auch  ermüdend  wirkt.  Die  Elemente  einer  weicheren 
Empfindung  und  einer  schönen  Sinnlichkeit  sind  in  den 
Werken  dos  Componisten  durch  einzelne  Glanzstellen  ver- 

F.  Draeseke  treten.     Daraus   ist    in   der   ersten  Sinfonie  (Gdur)  die 

Erste  u.  «weite  ^       ^^.^i^ 

fclinfonle. 


Clarinettenmelodie         ~Wf 


der  Einleitung,    aus    der    zweiten   (Fdur)    das    zweite 


Thema  im  ersten  Satze  i^?^^~fHl^^i^-^li3^^       I  rj .     E 


c   ------    o 

hervorzuheben.  Im  Allgemeinen  aber  herrscht  in  diesen 
Sinfonien  ein  harter  Zug  vor.  Ihre  Hauptstärke  liegt  in 
den  humoristischen  Sätzen.  Der  drastischen,  auch  in  den 
gn)teskeu  und  burlesken  Excursen  immer  fein  und  witzig 
gehaltenen  Komik  des  Scherzo  in  der  ersten  und  des 
Finale  in  der  zweiten  Sinfonie  Draeseke^s  haben  wir  aus 
der  neueren  Littoratur  wenig  zur  Seite  zu  stellen.  Die 
F.  Draeseke  dritte  Sinfonie  Draeseke's,  seine  Sinfonia  tragica  ist 
hiufoui*tr»g»ca.  mit  «xn>ssem  Keeht  bekannter  geworden  als  ihre  Vor- 
gängerinnen. Sie  gehört  mit  dem  Keijuiem.  der  Fis-moll  Messe, 
dem  .Columlms*  zu  den  bedt*utendsten  Arbeiten  des  Ton- 
setzers und  ist  eins  der  wucbtip^ten  Stücke  in  der  neuesten 
deutschen  Sinfonik.  Diese  muss  auf  Grund  dieser  Leistung 
in  Draeseke  nach  dem  Toil  von  Brahms  und  Brückner 
ihrt»  Spitze  erblicken  und  so  dringlich  der  Beachtung  der 
ausländischen  Sinfoni<.H.*on\ponisten  das  Wort  zu  reden  ist, 


CO*     615     ^ 

so  ungereimt  erscheint  es  wenn  daneben  deutsche  Concert* 
institute  an  einer  einheimischen  Sinfonie  dieser  Art  vorbei- 
gehen. Das  gewaltige  Werk  schildert  einen  tragischen 
Lebenslauf,  den  Kampf  einer  zum  Glück  angelegten  Natur 
mit  dem  harten  Schicksal.  Es  begegnet  sich  in  dieser 
Tendenz  mit  andren  C  moU-Sinfonien,  denen  von  Beethoven 
und  Brahms;  auch  an  die  D  moll-Sinfonie  R.  Volkmann^s 
kann  es  erinnern.  Es  hat  aber  einen  andren  Ausgang: 
ein  Ende  in  Trauer  und  Wehmuth.  Populär  ist  diese 
Sinfonie  noch  nicht  geworden,  wird  es  auch  in  ihrem 
leidensehaftlichen,  in  scharfen  Gegensätzen  gehaltnen  Wesen 
nicht  werden.  Die  complicirte  Technik,  der  auf  Com- 
binationen  und  strenge  Arbeit  versessne  Stil  des  Com- 
ponisten  erschweren  das  V erständniss  noch  obendrein ;  auch 
entbehrt  die  musikalische  Erfindung  des  starken  indivi- 
duellen Gepräges,  der  sinnlichen  Kraft  und  der  Gleich- 
mässigkeit.  Aber  wem  nur  einmal  am  Schluss  des  ersten 
Satzes,  von  dem  mit  echtesten  Herzenstönen  einsetzenden  piu 
largo  ab  und  bei  den  viel  sagenden  Fermaten  eine  Ahnung 
von  den  Absichten  des  Componisten  aufgegangen  ist,  der 
muss  sich  zum  eingehenden  Studium  der  Sinfonie  gedrungen 
fühlen.  Ihr  Hauptwerth  liegt  in  der  Conception,  in  den  dich- 
terischen Ideen,  die  die  Anlage  des  Werks  beherrschen, 
Sie  sprechen  zum  Theil  aus  den  Tönen  und  Themen  selbst, 
zum  Theil  aus  den  architektonischen  Formen  der  Sinfonie. 
Wie  diese  der  Componist  beziehungsreich  und  geistvoll 
gestaltet  hat,  sieht  man  schon  daraus,  dass  die  einzelnen 
Sätze  durch  gemeinsame  Motive  verbunden  und  in  einen 
engeren  inneren  und  äusseren  Zusammenhang  gebracht 
sind  als  das  in  der  Regel  bei  den  neueren  Sinfonien  der 
Beethoven'schen  Schule  der  Fall  ist. 

Der  erste  Satz  wird  von  einem  Andante  eingeleitet, 
das  als  selbständiger  Satz  bedeutend  ist,  aber  seinen  eigent- 
lichen Werth  darin  bat,  dass  es  den  Hauptsatz,  ein  Allegro 
risoluto  (C,  Cdur),  gewissermassen  dramatisch,  als  die 
Frucht  eines  Stimmungskampfes  eintreten  lässt.  Es  setzt 
ein  mit  den  Tönen  des  Büssmuths  und  furchtbarer 
Ahnungen,  mit  Tönen,  die  an  das  Grollen  des  Löwen  er- 


^     616     ^ 

innern.    Zweimal  hören  wir  von  stechenden  Dissonanxen 
begleitet  das  ungeheuerlich  sich  dehnende  Intervall: 


4 


Andaatf. 

n    "^  "^^^  •    ^^^^  crs*  1^8*  sich  die  starre,  chaotische 


Empfindung  in  ein  ernstes  und  schweres  Marschmotiv,  dem 
wir  später  im  zweiten  Satz  der  Sinfonie  noch  näher  treten 
werden.  Damit  ist  das  Gemüth  des  Helden  dieser  Ton- 
dichtung vom  ärgsten  Druck  befreit.  In  einem  Instrument 
nach  dem  andern  beginnen  die  Töne,  noch  suchend  doch 
melodisch  zu  fliessen  und  gelangen  über  hemmende  Mo- 
dulationen allmählich  hinaus  ins  Helle,  zur  Freiheit,  zur 
Hoffnung,  zum  Träumen  von  Idealen:  Eine  der  schönsten 
Erfindungen  der  ganzen  Sinfonie  bezeichnet  diese  Wendung: 


p  moUo  expr.      f  ^  '     •— ^    Uj    1 

Diese  von  Clarinetten  und  Hörnern  vorgetragene  Melodie 
löst  sich  in  lose  Sequenzengänge  auf  und  verzieht  sich. 
Noch  ehe  sie  ganz  das  Feld  geräumt  hat,  tritt  unvermuthet 
und  rücksichtlos  ein  unfreundlicher  Gast  an  ihren  Platz: 

das  Motiv :    -^  <•' '  T     T '   £j"  i^  ■  -^       *    Es  ergreift  von  den 

Contrabässen  aus  schnell  das  ganze  Streichorchester  und 
drängt  zu  dem  Allegro,  das  als  Haupttheil  des  Satzes  das 
Bild  einer  jungen  kräftigen  Natur  zu  zeichnen  scheint,  mit 
der  es  das  Leben  etwas  hart  meint.  Der  Satz  erinnert  an 
das  Dichterwort:  ,Denn  Mensch  sein  heisst  ein  Kämpfer 
sein*  aber  er  führt  uns  keineswegs  vor  erschütternde 
Scenen.  Es  kämpft  hier  eine  Art  junger  Siegfried,  den 
Hindernisse  weniger  schrecken,  als  erfreuen.  Draeseke 
schildert  eine  Jünglingsgestalt,  der  Muth  und  Energie  aus 
jeder  Miene  sprechen,  der  das  Leben  noch  lacht,  die  noch 


c<?     617     "^ 

an  Ideale  glaubt  und  zu  schwärmen  liebt.  Jenes  Motiv, 
das  die  freundlichen  Träume  des  Andante  störte,  wird  von 
dieser  arglosen  Natur  mit  Freundesaugen  angesehen  und 
wie  ein  Führer,  der  nach  des  Lebens  Höhen  zeigt,  begrüsst 
und  verwendet.  Draeseke  stellt  es  an  die  Spitze  des  thaten- 
frohen  Hauptthemas : 

AU«gro  rlsolQto. 


in   dem   es  gemeinsam    mit  dem  Rhythmus     I,    h    I  die 

Elemente  der  Entschiedenheit  und  Festigkeit  vertritt  gegen- 
über den  Regungen  des  jugendlichen  Ungestüms  und 
Schwunges,  die  in  den  Achtelgängen  ausgedrückt  sind. 
Eine  Fortsetzung  findet  dieses  Hauptthema  in  einem  marsch- 
artigen Abschnitt,  der  nach  einigen  sinnenden  und  sammeln- 
den Takten  mit  folgendem  Anfang  einsetzt: 

it^-j^^  ^  I  ^     ^^i4f  ^   Er  endet,  nachdem  er 

den  Umfang  einer  normalen  Periode  erreicht  hat  mit  dem 
Rhythmus  J ,  J^  J    ,    lenkt  also  wieder  auf   das  Haupt- 

tbema  ein,  dessen  freudige  und  lebenskräftige  Geister  sich 
mit  erneutem  Eifer  auf  den  Plan  drängen.  Es  ist  ein 
hitziger  Eifer.  Die  Stimmen  wiederholen  auf  kecker  Dis- 
sonanz —  e-fis  —  ihre  Töne  in  der  heftigen  Form,  die 
die  Alten  Repercassion  nannten  und  starkes  Kraftgefühl 
strömt  von  allen  Seiten  aus  dieser  Musik.  Sie  hat  eben 
das  entlegene  Hdur  erstürmt,  als  sie  plötzlich  abbricht. 
Die  jugendliche  Ueberschwänglichkeit  neigt  zu  eutschiednen 
Gegensätzen.  So  schlägt  die  Stimmung  hier  aus  einem 
heroischen  Rausch  ohne  Weiteres  um  in  eine  Idylle.    An 


c^     618     ^ 

die  Stelle  der  ThatenluBt  treten  die  Gedanken  an  die 
intimen,  zarten  Lebensfreuden,  an  die  friedlichen  Bilder 
von  LiebesglUck  und  vom  Behagen  am  heimischen  Herd, 
im  Kreis  der  Familie.  Das  sind  die  Ideen  aus  denen  das 
zweite  Thema  des  Satzes  entsprungen  ist.  Draeseke  stellt 
allerdings  nicht  ein  einfaches  zweites  Thema  hin,  sondern 
er  giebt,  die  moderne  Art  fast  überbietend,  eine  ganze 
Kette  freundlicher  Gedanken,  deren  Mehrzahl  allerdings 
der  Marschrhythmus  noch  etwas  fest  in  den  Gliedern 
steckt.  Den  Anfang  macht  ein  von  Melancholie  leise  ge- 
streifter Wechselgesang  zwischen  Clarinetten  und  Streich- 
instrumenten, dem  folgende  Periode 

Tlarlnetten.  ^  "Violinen. 


ClurlnetU. 


zu  Grunde  liegt.    Aufmunternd  unterbricht  ihn  das  Tutti 


mit  kräftigem  Zwischenruf  Sr^-^^  P  I  f    f^   und 


nun 


tritt  ein  ganz  ungetrübtes  Zukunftsbild  vor  die  Phantasie : 


^j  das  mit  heimlicher  Freude 


beginnt  und  mit  unverhohlnem  Jubel  schliesst.  Gerade 
dieses  Stück  aus  dem  Kreise  des  zweiten  Themas  hat  der 
Componist  für  den  Durchführungstheil  des  Satzes  besonders 


e<?         619         ^ 

bevorzugt.     Die  Kette    scbliesst    mit   einem   dritten   Ge- 
danken der  innig  in  den  Hörnern  einsetzt: 

—  die  Pauke  begleitet  mit  einem  leise  bebenden  H  —  und 
über  das  Motiv    i^h    f  J' j  "J    |   j    "j^   ij 


zu  emem 


Ende  in  triumpbirenden  Ton  gelangt.    Aus  diesem  Ende 
sind  die  Scblusstakte  der  Melodie 

j^MluT    |0   r^    I  J    |i   J  J    I    j      fUrden weitern 

Verlauf  des  Satzes  wichtig. 

Draeseke  lässt  aber  diesen  ersten  Theil,  die  sogenannte 
Themagruppe,  nicht  stolz  und  glänzend,  sondern  leise  aus- 
klingen. Dies  ist  nicht  blos  poetisch  und  schön,  sondern 
in  diesem  Falle  vor  Allem  logisch.  Denn  es  handelte  sich 
um  Zukunftsbilder,  die  wie  im  Traum  und  wie  in  weiter 
Feme  gesehen  waren.  Die  Hörner  sind  eben  bei  dem 
letzten  Seufzer,  da  treten  die  Celli  mit  dem  Motiv  der 
Unruhe  dazwischen,  das  seiner  Zeit  aus  dem  Andante  ins 
Allegro  hinüberdrängte.  Jetzt  leitet  es  die  Durchführung 
des  Satzes  ein.  Sie  verläuft  als  Auseinandersetzung  zwischen 
den  friedlosen  und  den  friedfertigen  Elementen  der  Themen. 
Jene  sind  vorwiegend  durch  das  eben  erwähnte  Motiv  der 
Unruhe  aus  dem  Hauptthema  vertreten,  diese  durch  das 
erste  und  das  dritte  Glied  aus  der  Gruppe  des  zweiten 
Themas.  Eine  besonders  hervortretende  Stelle  in  der 
Durchführung  bildet  das  piü  largo,  bei  dem  die  schöne 
Melodie  aus  dem  Andante,  die  Melodie  des  Ideals,  und 
auch  hier  wieder  im  visionären  Ton  erscheint.  Nach 
dieser  Stelle  geht  die  Durchführung  über  einige  Muth  und 
Kraft  aussprechende  Perioden,  die  aus  dem  zweiten  Glied 
des  zweiten  Themas   ( —  das   ursprünglich   in  Edur  ein- 


u?     (320     ^ 

setzte  — )  gebildet  sind,  bald  zu  Ende  und  in  die  Beprise 
über.  In  dieser  Wiederholung  der  Themengruppe  über- 
geht Draeseke  das  eigentliche  Hauptthema  und  bringt  an 
erster  Stelle  dessen  marschartige  Fortsetzung.  Sie  tritt  fff 
auf  und  wird  noch  dadurch  zu  höherer  Bedeutung  ge- 
hoben dass  Draeseke  die  Schlüsse  ihrer  zweitaktigen  Ab- 
schnitte durch  Fermaten  verlängert.  Es  giebt  Fälle  wo 
die  Pausen  vernehmlicher  sprechen  als  die  Töne  und  diese 
Draeseke'schen  Fermaten  gehören  in  erster  Linie  zu  diesen 
Fällen.  Sie  lassen  den  Zuhörer  gewissermassen  einen  Blick 
auf  die  Fülle  von  Kraft  und  Ernst  werfen,  die  in  der 
Seele  der  Jünglingsgestalt  aufgespeichert  ist,  die  sich  der 
Componist  als  Helden  dieses  Sinfoniesatzes  gedacht  hat. 
Sicher  spricht  aber  auch  eine  gewisse  Bangigkeit  aus 
diesen  Fremateu,  eine  Ahnung  tragischen  Geschicks.  Wie 
das  erste  Thema  abgekürzt,  so  wird  die  Gruppe  des 
zweiten  Themas  in  der  Reprise  zusammengedrängt.  Da- 
für hat  ihr  Draeseke  eine  breite  Coda  zugefügt  in  der 
neue  Weisen  des  Stolzes,  des  freudigen  Muthes,  der  auf- 
schäumenden Kraft  neben  die  aus  dem  ünruhemotiv 
des  Hauptthemas  gebildeten  Sätze  treten.  Bemerkens- 
werth  ist  darin  eine  Stelle  in  der  der  modulationslustige 
Componist  sich  auf  einen  vermessnen  Augenblick  nach 
Gesdur  wendet. 

Im  zweiten  Satz  der  Sinfonie  (Grave,  '/,,  AmoU) 
entspricht  der  bedeutenden  Stimmung  auch  eine  bedeutende 
und  ziemlich  in  allen  Theilen  auf  gleicher  Höhe  bleibende 
Erfindung.  Er  giebt  dem  Schmerz  über  einen  unersetzlichen 
Verlust  gewaltigen  Ausdruck  und  klagt  über  das  erste 
Eingreifen  tragischer  Umstände  in  einen  hoffnungvollen 
Lebenslauf  in  männliehen  Tonen,  die  im  Gefühlsgehalt 
und  in  ergreifender  Wirkung  den  Segen  HändeFs,  Beet- 
hoven's  und  Wagner's  zusammenfassen. 

Die  Composition  ist  als  Trauermarsch  gedacht.  Ihr 
Hauptthema,  das  die  Form  der  alten  Sarabande  hat,  setzt 
—  von  zwei  zu  zwei  Takten  durch  das  erste  Motiv  in  den 
Posaunen  unterbrochen  —  gedämpften  Tones  folgender- 
massen  ein: 


ce     621     "^ 


Orare. 

Pos.   ,  HoUblaser.  Po»      ,  . 

Vlol-  ^  D«.  Vlol.__ 


i^=:—  "    -^  Pos  'l^i=:,:=i^ 


r  f      r  p 

Wenn  man  den  fünften  Takt  dieses  Trauergesangs  schärfer 
ansieht,  erhält  man  auch  Auskunft  darüber :  wer  ins  Grab 
gesenkt  worden  ist.  Denn  da  stehen  wir  vor  der  schönen 
Melodie,  die  im  Andante  des  ersten  Satzes  das  Ideal  des 
jungen  Helden,  die  die  Gestalt  bezeichnete,  die  als  Lohn  des 
Strebens  und  Ringens  vor  seiner  Seele  schwebte.  Bald 
bricht  der  Schmerz  über  den  Verlust  scharf  und  leiden- 
schaftlich in  Wagner*schen  Zungen  hervor: 


m 


I  'nJijiiJ  '  j-j-^ 


die  Posaunen  decken  Grabesklang  darüber.  Gewaltig  wirkt 
darauf  der  £insatz  des  Marschthemas,  in  einer  Wendung, 
die  an  HändeFs  «Saul*^  und  „Samson**  erinnert:  Es  kommt 
in  Cdur  und  im  mächtigen  fff  des  gesammten  Streich- 
orchesters, von  Posaunen,  Tuba  und  Trompete  unterstützt, 
von  einem  Aufschrei  der  Holzbläser  beantwortet.  Zarte 
Zwischenspiele  aus  dem  Idealmotiv  des  Themas  gebildet, 
suchen  nach  Trost;  ein  kurzer  Mittelsatz ,  der  die  Stelle 
des  sonst  üblichen  Trios  einninunt,  bringt  ihn  auf  Grund 
folgenden  Themas: 

Un  pochettiDo  plli  mosso: 


c<?     622     ^ 

das  von  der  Clarinette  aus  wörtlich  und  variirt  durch  eine 
Reihe  Instrumente  wandert.  Es  ist  theuren  Erinnerungen 
gewidmet  und  befreit  von  dem  harten  Druck  einer  um 
Fassung  k&mpfenden  Stimmung.  Doch  geht  es  bald  in 
einen  erregteren  Ton  über  und  fUhrt  so  zur  Wiederholung 
des  Hauptsatzes.  Die  Erinnerung  an  verlornes  Glück  pflegt 
den  Schmerz  über  den  Verlust  zu  steigern.  Diesem  Natur- 
gesetz Rechnung  tragend,  wiederholt  Draeseke  nicht  ein- 
fach, sondern  führt  mit  dem  Marschthema  die  Motive  der 
heftigen  leidenschaftlichen  Aufregung  zusammen.  Die  Stelle 
packt  mit  physischer  Gewalt.  Die  Stimmung  wird  auf 
Augenblicke  wieder  ruhiger,  schildert  aber  dann  in  neuen 
Formen  den  Aufruhr  schmerzlicher  Gefühle. 

Um  den  dritten  Satz  des  Scherzo  (Allegro,  •/4, 
Cdur)  mit  der  Auffassung  in  Einklang  zu  bringen,  dass 
die  Sinfoüia  tragica  einen  Lebenslauf  vorführen  will,  muss 
man  sich  eine  Ueberschrift  ,Nach  Jahren*  denken.  Der 
furchtbare  Schlag,  von  dessen  unmittelbaren  Folgen  das 
Grave  berichtete,  ist  überwunden,  aber  er  hat  Spuren  ge- 
lassen. Von  einer  Persönlichkeit,  die  über  eine  Kraftfülle 
verfügt,  wie  sie  der  erste  Satz  enthält,  erwarten  wir  einen 
freieren  Humor  als  ihn  dieses  Scherzo  bietet.  Seine  Fröh- 
lichkeit ist  etwas  belegt,  behilft  sich  mit  den  kleinen 
Künsten  der  Caprice,  hat  Schatten  und  vollständig  trübe 
Stellen.  In  dem  Trio  kommt  die  Wehmuth  ganz  oflFen 
zur  Herrschaft.  Die  Form  des  Ganzen  ist  sehr  einfach: 
ein  Hauptsatz  in  zwei  Theilen,  Mittelsatz  (Trio)  und  Wieder- 
holung des  Hauptsatzes. 

Das  erste  Thema  des  Hauptsatzes 
AUeiffo  molto  nvace. 


fc 


^^^ui^-\4^m 


Fis     G . 


erinnert  in  der  melodischen  Richtung  etwas  an  das  Menuett 
von  Beethoven's   erster  Sinfonie ,   unterscheidet  sich    aber 


e<?      623      ^ 

von  ihm  durch  ein  stilleres  Temperament.  Seine  Fortsetzung 
erfolgt  in  sinnverwandten,  metrisch  launischen  Bildungen. 
Das  zweite  Thema,  das  ihm  nach  einer  kurzen  Stimmungs- 
krisis  folgt: 

CeUo.  ^ 


i^iTi  I  »rr^i-^r  I  n^r  ijg 


r  T I  I  iiii3  "fr  \in  fTT^^ 

gehört  zu  den  hesten  Erfindungen  in  der  Sinfonie.  In 
seiner  Mischnatur,  halb  fröhlich,  halb  klagend,  ist  es  ein 
echt  romantischer  Gedanke,  und  bringt  den  Widerstreit 
der  Gefühle,  der  schon  im  Hauptthema  leise  zu  vernehmen 
ist  zu  gesteigertem  Ausdruck.  Die  Violinen  wiederholen 
das  Thema,  schliessen  aber  nicht,  sondern  brechen  ab.  Die 
Pauke  setzt  mit  einem  leisen  Wirbel  auf  g  ein ;  nur  ein 
eis  in  den  Contrabässen  klingt  dazu.  Erst  allmählich  ge- 
sellen sich  die  übrigen  Instrumente  hinzu,  füllen  den  ver- 
minderten Accord  und  versuchen  zaghaft  wieder  die  Me- 
lodie aufzunehmen.  Die  Stelle  macht  sich  sehr  bemerklich. 
Was  sie  bedeutet  ist  dem  veranlagten  Hörer  nicht  zweifel- 
haft: eine  Erinnerung  an  das  Ereigniss,  das  das  Glück 
dieses  Lebens  gebrochen  hat.  Die  Musik  kommt  wieder 
in  Fluss  und  rafft  sich  energisch  auf;  es  bleibt  ihr  aber 
ein  schwerer  harter  Ton. 

Wir  haben  in  diesem  ersten  Theil  des  Hauptsatzes 
seine  Themengruppe.  Der  zweite  Theil  bringt  eine  Durch- 
führung über  die  Motive  des  Hauptthemas  und  in  ihr  den 
Versuch  zu  reiner,  grosser  Freude  durchzudringen.  Den 
Fehlschlag  bezeichnen  Paukensoli.  Dann  setzt  die  Wieder- 
holung des  ersten  Theils  ein  und  verläuft  bis  auf  einige 
unwesentliche  Aenderungen  und  Erweiterungen  in  ge- 
wohnter Weise. 

Das  Trio  (Des  dur)  leitet  Draeseke  mit  einigen  Des  dur- 
accorden  ein,  die  uns  den  Sarabandenrhythmus  des  Grave 


oe     624     ^ 

ins  Gedächtnis  zurückrufen,  der  auch  im  Weitren  noch  in 
andren  Formen  aus  der  Begleitung  erklingt.  Dann  stimmen 
die  Clarinetten  das  Thema  an 

Pia  pochetüno  plä  lento 


pKK  M I  .M  I  ^- 1  ^  J I  N  I  -L^  I  r^"^^ 


\Oir\Ü  \Q\Q-UJ\lJ\jjß 


Gegensätze  stellt  der  Componist  dieser  aus  Schubert'schem 
Geiste  gebomen  Melodie  nicht  zur  Seite.  Sie  entwickelt 
sich  ähnlich  breit  wie  das  entsprechende  Thema  von 
Schubert's  grosser  C  dur-Sinfonie ,  wird  wiederholt  in  die 
Bässe  gelegt  und  erfährt  mit  einfachen  Mitteln  Verwan- 
delungen  die  ihren  ursprünglich  wehmüthigen  Beiklang  in 
reine  Freude  kehren.  Eine  der  glänzendsten  Stellen  dieser 
Art,  eine  wahrhaft  grosse  Wendung  treffen  wir  bei  der 
Rückkehr  nach  Desdur  wo  die  HÖmer  und  Posaunen  das 
Thema  nehmen.  Mit  einem  stillen  Cmoll  wird  aber  aus 
diesem  Rausch  glücklicher  Erinnerungen  schnell  in  die 
Resignation,  in  den  Ton  gebrochnen  Seelenzustands  zurück- 
gelenkt und  das  Trio  geschlossen.  Den  dritten  Theil  des 
Scherzo  bildet  die  wörtliche  Wiederholung  seines  Haupt- 
satzes. 

Wir  hättten  in  diesem  Trio  die  Wiederkehr  der  schönen 
Melodie  aus  dem  Andante  des  ersten  Satzes  natürlich  ge- 
funden. Draeseke  hat  in  vornehmer  Zurückhaltung  davon 
abgesehen  allzu  deutlich  zu  werden  und  sich  diese  Re- 
miniscenz  für  den  Eingang  des  Finale  (Allegro  con  brio,  •/g, 
Cmoll)  aufgespart.  Aus  diesem  Grunde  glauben  wir,  dass 
zwischen  dem  Scherzo  und  dem  Schlusssatz  die  sonst  üb- 
liche Pause  auf  das  kürzeste  Maass  zusanunengedrängt 
werden  muss.  Das  betreffende  Thema,  das  Thema  des 
Ideals,  tritt  hier  ins  Finale  unter  ähnlichen  Verhältnissen 
hinein  wie  in  die  Einleitung  der  Sinfonie,  nämlich  als  ein 
Sonnen  blick  der  dunkles  Gewölk  durchbricht.  Dieses  Ge- 
wölk ist  beim  Beginn  des  Satzes  noch  im  Begriffsich  zu  sam* 


^     625     ^ 

mein:  es  zieht  in  unruhigen  Motiven  und  Gängen  herauf 
und  in  Dissonanzen  die  einen  heklommnen  und  rathlosen 
Seelenzustand  ausdrücken.  Unheimlich  polternd  setzen  die 
Bässe  mit  der  Figur 

AÜejrro  con  brlo. 


'^l^fl  r  Q  r'H^r  ^  rjg  i  r=  e«,  die  durch'» 


ganze  Finale  hindurch  die  Rolle  des  SturmkUnders  durch- 
führt. Im  Ganzen  ist  dieses  Finale  der  Sinfonia  tragica 
eine  der  fürs  Yerständniss  schwierigsten  Instrumentalcom- 
positionen, die  es  giebt.  Die  Schwierigkeiten  liegen  ein- 
mal in  dem  Aufbau,  der  keinem  der  gewohnten  Modelle, 
etwa  dem  der  Sonate  oder  dem  des  Kondo  folgt,  sondern 
seine  Ueberfracht  von  Themen  ohne  Rücksicht  auf  Ueber- 
sichtlichkeit  so  ausladet  wie  es  die  leider  verschwiegnen 
dichterischen  Absichten  mit  sich  brachten.  Zum  andern 
liegen  sie  in  dem  eigenthümlichen  contrapunktischen  Stil 
Draeseke^s,  der  den  Hauptgedanken  in  der  Regel  wenig- 
stens einen  Nebengedanken,  meistens  aber  mehrere,  beizu- 
fügen pflegt.  Was  der  Componist  mit  seinem  Schlusssatz 
will,  ergiebt  sich  aus  dem  Vorhergehenden.  Er  zeigte 
uns  im  ersten  Satz  eine  kräftige  Natur,  der  ein  schwie- 
riges Leben  zugefallen  ist,  im  Grave  den  Schlag,  der  ihre 
schönsten  Hoffnungen  vernichtete ,  im  Scherzo  das  einst 
kühne  und  frische  Wesen  gedämpft.  Nun  kommt  das 
£nde,  —  ein  schwerer  Lebensabend  und  der  Tod  mit 
seiner  Ruhe.  Diesen  letzten  Theil  seiner  dichterischen 
Aufgabe,  seines  in  dem  Titel  der  Sinfonie  angedeuteten 
Programms,  hat  Draeseke  im  Wesentlichen  als  einen  Kampf 
zwischen  den  lebenswilligen  und  lebensmüden  Seelenkräften 
dargestellt.  Die  musikalischen  Hauptvertreter  dieser  beiden 
Parteien  sind  das  weit  gegliederte  Thema  der  Mühsal  und 
Rastlosigkeit,  das  am  Schluss  der  Vorrede,  in  dem  Augen- 
blick einsetzt  wo  die  Melodie  des  Ideals  (aus  dem  Andante 
des  ersten  Satzes)  verschwindet.  Es  besteht  aus  zwei 
Theilen.  Der  erste,  schauerlich  vom  Bassklang  signalisirt 
lautet : 

Kretzsohmar,  Führer,  I.  40 


«<?     626     ty 


AUef^Ti)  con  brio 

Vlollno. 


Die  Bässe  treten  jetzt  wieder  mit  unheimlichem  Achtel- 
motiv dazwischen.  Dann  fahren  die  Geigen  emsig  und 
doch  müde  fort: 

PP 


Wieder  treibt  das  Achtelmotiv  der  Bässe  an,  dann  konmit 
der  oben  in  G  gebrachte  Abschnitt  noch  einmal  in  C  moll 
und  damit  schliesst  das  ganze  Thema.  Seine  Natur  ist 
Hasten  und  Eilen,  Ringen  und  Sorgen;  es  entrollt  ein 
Stück  Lemurenleben ,  ein  Mühen  und  Plagen  mit  bestem 
Willen  aber  Unsegen  darüber.  Manchmal  klingt*s  daraus 
wie  aus  Bürger's  Leonore  oder  wie  in  der  Sinfonie  fan- 
tastique.  Der  Dämon  reitet  immer  nebenher,  wir  hören 
ihn  aus  den  Solostellen  der  Contrabässe,  wir  hören  ihn  aus 
der  Pauke,  die  das  ganze  Thema  mit  leisem  Grollen  be- 
gleitet. Nebenbei  bemerkt  —  wird  sich  keine  zweite 
Orchestercomposition  finden  lassen,  in  der  der  Pauker  so 
viel  zu  thun  hat  wie  in  diesem  Finale,  über  dem  von  A 
bis  Z  ein  Gewitter  steht. 

Das  zweite  Hauptthema  des  Schlusssatzes,  aus  dem 
die  Stimme  der  Todessehnsucht,  der  Bitte  um  Ruhe,  der 
Hoffnung  auf  Frieden  spricht ,  wartet  bis  das  erste  oben 
angeführte  Thema  nach  einem  Abschnitt,  wo  die  Harmo- 
nien unter  einer  liegenden  Stimme  sich  aufrührerisch 
bäumen,  wiederholt  und  zu  einem  lauten,  empörten  Ende 
—  wiederum  liegende  Stimme  /*,  darunter  wilde  Dissonanz- 
bilduug  —  geführt  worden  ist.  Dann  tritt  es  in  Esdur 
ein  und  tröstet  in  Zungen,  die  wie  bekannt  anmuthen: 


c<?     627     '^ 


•^  p  moito  espr.  -^^      ^^-         ^"^ 


Hiermit  ist  der  Zuhörer  von  der  Hauptsache  des  Finale 
unterrichtet.  Die  weitern  Gedanken ,  die  der  Componist 
aufstellt,  können  als  Nebenthemen  betrachtet  werden.  Die 
mit  dem  Ende  des  Esdurthemas  schliessende  Abtheilung 
des  Finale  entspricht  der  Themengruppe  des  Sonatensatzes; 
Durchführung  und  Reprise  kann  Draeseke  nicht  brauchen. 
Denn  er  entwickelt  kein  Stimmungsbild,  sondern  er  giebt 
eine  Erzählung  in  Tönen.  Einzig  das  erinnert  an  den 
Brauch  der  Durchfuhrung,  dass  er  das  erste  Hauptthema, 
—  es  mag  der  KUrze  halber  und  mit  der  Bitte  nicht  miss- 
zuverstehen  das  Lemurenthema  genannt  werden  —  auch 
weiter  verwendet  und  zwar  sowohl  als  Hauptgegenstand 
des  Tongemäldes,  wie  auch  als  Staffage. 

Nachdem  das   Esdurthema  verklungen   ist   setzt   das 
Hauptthema  regsam  ein,  jetzt  in  der  Form : 
Bässe. -,  I  -1        --^       ^'-"•^s 

'>^bh.ll  Jl  I  ^J.J  J7^  I  ftT^^=  ■  Spöttisch  ant- 


einem 


Worten  die  Homer:    ftM»   _h  I  J  J    I  ^  •  Aber  mit  ei 

energischen  Ruck  rafft  sich  der  Held  der  Tondichtung  zu 
alter  Energie  und  Kraft  auf  in  einer  Grösse,  vor  der  man 
sich  fürchten  kann  und  zwingt  dem  Thema  einen  heitern 
Charakter  ab,  der  musikalisch  am  deutlichsten  auf  Grund 
folgender  Umbildung  zum  Ausdruck  kommt: 


j^bM rr r  i^.^^j_j  UnörrJ*^ 


Die  Scene  bleibt  dem  Scherz  zwar  nicht  unbestritten ;  ver- 
minderte Septimenaccorde,  harte  und  trübe  Klänge  drängen 
sich  dazwischen.     Aber  in  der  Hauptsache  scheint  es  doch 

40* 


c<?     628     '^ 

als  wolle  sich  dieses  Leben  noch  zum  Guten  wenden: 
Es  erfolgt  eine  Wiederholung  der  ganzen  Gruppe  des 
ersten  Hauptthemas  aber  jetzt  nicht  im  Lemurenton, 
sondern  im  stolzen  Klang  f  und  /f,  wie  die  Aeusserung 
eines  Riesen,  der  nicht  zu  vernichten  ist.  Diese  Wieder- 
holung endet  mit  einem  neuen  Thema ,  dem  ersten  be- 
deutenderen Nebenthema  des  Satzes: 

tfi'M II  iiTi'i  iTiijii 

das  vielleicht  mit  Absicht  an  Schumann^s  Cdursinfonie 
erinnert.  Aus  ihm  hören  wir,  dass  es  mit  der  Kraft,  die 
sich  eben  noch  geäussert  hat,  doch  nicht  so  sicher  steht, 
denn  es  hat  einen  klagenden  Beiton  und  bringt  uns  das 
tragische  Geschick,  zu  dem  hier  ein  edler  Mensch  ver- 
urtheilt  ist  wieder  ins  Bewusstsein.  Draeseke  führt  es 
sehr  kunstvoll,  in  rhythmischen  Verschiebungen,  Nach- 
ahmungen,  Verkürzungen  und  andren  Formen,  die  vielleicht 
etwas  zu  gelehrt  sind,  durch   und  lässt  es  mit  klagenden 

Wendungen     f)^\^Qjf   l^HJU  J  ^;>  ||,^  enden. 

Das  letzte,  ganz  beiläufig  gefundne  melodische  Motiv 
macht  er  sofort,  seineu  Charakter  ins  Heitre  zwingend,  zum 
Träger  eines  zweiten  Nebenthemas 


g^"t^n  I  I  jij  1 1  ij  ij  ü  I 


*!    jr3  l-J   jg    I  jr3  J -J^^h        das   die    dritte   Ab- 


theilung des  Finales  vorwiegend  beherrscht.  Es  wird  in 
ihr  in  andrer  Form  der  Versuch  wieder  aufgenommen  des 
Lebens  Härte  und  Tragik  mit  Scherz  und  Anmuth  zu 
besiegen  oder  doch  zu  vergessen.  Ganz  wohl  wirds  dem 
Zuhörer  nicht  dabei,  denn  die  dämonischen  Rhythmen  des 
ersten  Hauptthemas  wühlen  in  den  begleitenden  Instru- 
menten immer  weiter.    Zuweilen  nehmen  sie  allerdings  den 


c<?     629     'ö- 

scherzenden  Charakter  wieder  an,  den  wir  aus  der  zweiten 
Abtheilung  des  Satzes  schon  kennen  und  schliesslich  will 
es  zu  einem  grossen  Freudenaufschwung  kommen  den  eine 
durchgeführte  Themawendung: 


I       markirt. 


Aber  kaum  angestimmt  wird  er  unterbrochen.  Aehnlich 
wie  wir  es  im  Scherzo  erleben,  setzt  von  Bässen  und  Pauke 
aus  ein  verminderter  Septimenaccord  ein  (fis-a-c-es)^  an 
den  sich  bald  ein  furchtbares  Reiben  der  Stimmen  über 
einen  Orgelpunkt  (auf  fis)  anschliesst.  Damit  ist  das 
tragische  Schicksal  entschieden.  Weinend  und  zerbrochen 
sucht  sich  wiederholt  das  (frühere)  Es  durthema,  das  Thema 
der  Sehnsucht  nach  Frieden  und  Ruhe ,  durch  die  Massen 
zu  zwingen.  Vergeblich.  Es  geht  entschieden  zu  Ende. 
Und  da  kommt  nun  die  vielleicht  ergreifendste  Stelle  der 
ganzen  Sinfonie:  Angesichts  des  Todes  wirft  der  Held 
einen  Rückblick  auf  sein  unglückliches  Leben :  alle  Themen 
aus  den  vorhergegangnen  3  Sätzen  der  Sinfonie  ziehen  auf, 
'ziehen  wiederholt  vorüber,  am  meisten  bevorzugt  die 
Themen  des  Grave,  die  mit  dem  Hauptereigniss  in  diesem 
Schicksal  verknüpft  waren.  Ein  langer  Orgelpunkt  auf  </, 
eine  grausame  Stelle  im  Klang  und  im  Sinn ,  bezeichnet 
wohl  die  letzte  Noth.  Dann  setzt  die  Einleitung  der 
Sinfonie  nochmals  ein  wie  um  zu  sagen:  die  schlimmen 
Ahnungen  haben  sich  erftillt.  Als  dann  aber  die  Melodie 
des  Ideals  (Andante)  eintritt,  bleibt  Draeseke  in  ihrem 
Ton  und  giebt  mit  einigen  weichen,  sphärisch  verklingenden 
Takten  der  Sinfonie  ein  Ende  in  Verklärung,  ähnlich  wie 
das  neuerdings  auch  Brahms  und  Tschaikowsky  gethan 
haben. 

Grössrer  Popularität  erfreut  sich  die  S  i  n  f  o  n  i  e  (F  d  u  r)      H.  G5t« 
von  Hermann  Götz,  dem  Componisten  der  , Zähmung  der  Sinfonie  Fdur. 
Widerspenstigen*.    Sie  verdankt  diese  ihrem  zweiten  Satze 
,  Intermezzo",    einem    der    reizendsten    Genrebilder    der 
modernen  Musik.    Die  Nummer  wirkt  ebenso  durch  ihren 


cG* 


630 


-EP 


fröhlichen,  populären  und  doch  noblen  Inhalt,  wie  durch 
die  originelle  Anlage.    Das  Hom  beginnt  mit: 


o)Allepretto.  ,    ♦'"Vts 


Die  Holzbläser  antworten    ebenso  naiv    mit  einem    mun- 


_^j 


[zsf^^r,  welches  die  Vio- 


teren  Thema  r^^  Mi4 

linen  aufnehmen  und  weiterführen.  Nach  einer  lustigen 
Cadenz  der  Flöte  setzt  der  Seitensatz  in  gedämpfterer 
Stimmung  ein: 


Colli,  zweite  Violinen  und  Fagotte  legen  eine  sentimental 
sinnende  Melodie  darunter. 

Der  Gedanke  und  seine  Durchführung  erinnern  eine 
Weile  an  das  Scherzo  der  Schumann^schen  C  dur-Sinfonie, 
bis  die  Trompete  mit  dem  Homthema  des  Eingangs  den 
eignen  Phantasiekreis  des  Componisten  wieder  feststellt. 
Das  kindlich  heitere  Treiben  gelangt  in  einer  die  Stelle 
des  Trio  vertretenden  Episode  über  folgendes  Thema: 

Un  poco  mono  moto. 


^^^wTit^ 


■HXL 


i^tgjT^^ij  {?l^§ 


j    n  I  ^ v+J    ri^^^   I  J     *"^  einen  Augenblick  zur  Ruhe. 


Von  diesem  Mittelpunkte  aus  bewegt  sich  dann  der  Satz 
in  freien,  vorwiepjend  durch  ruhigere  Gegenmelodien  ver- 
änderten Wiederholungen  der  ersten  Gruppen  dem  Ende 
zu.  Das  Adagio  (Fmoll,  '^/4)  steht  mit  dem  Intermezzo  in 
näherer  Verbindung.  Das  Thema  d  des  letzteren  bildet 
den  Mittelsatz.     Hauptthema  ist  eine  ernste  Melodie 


CO     631     ^ 


Adagio.  -T-s 

Grund  der  erste  und  dritte  Theil  des  Satzes  in  einfacher 
Sprache  eine  Reihe  von  Betrachtungen  ausführen.  Ihr 
tief  schwermüthiger  Ton  macht  erst  in  der  Coda  (in  F  dur) 
einer  hoffnungsvolleren  Stimmung  Platz. 

Von  den  beiden  Ecksätzen  der  Sinfonie  ist  der  erste 
der  hervorragendere.  Sein  Hauptthema  ist  durchaus  roman- 
tisch, in  seiner  Stimmung  zwischen  sinnig  behaglichem 
Geniessen,  jugendlich  stürmischem  Ueberschwang  und 
leichten  Anwandlungen  von  Melancholie  getheilt: 

Allcero  moderato.  a        l^  ^/"^a. «, 


*^ 


Das  zweite,  freundlich  schwärmend: 

weist  auf  Wag- 
—  ..-^  ner's  Meister- 

"         rioti-  0»». 

Singer  hin.  Ueber  der  Verbindung  der  beiden  Ideen  liegt 
gleichmässig  der  Ton  liebenswürdiger  Anmuth ;  doch  bricht 
an  einigen  Stellen  auch  der  Jubel  kräftig  durch. 

Besonders  hervorzuheben  ist  der  Schluss  der  Durch- 
führung, an  dem  aus  zarten  Träumen  sich  die  Phantasie 
überraschend   energisch   zum   Hauptthema    zurückwendet. 

Der  Schlusssatz  der  Sinfonie  erstrebt  kräftigen  und 
feurigen  Ausdruck.  Hierzu  dient  die  rauschende  Violin- 
figur, welche  das  Hauptthema  eröffnet: 

Allegrro  con  (uoco 


des  Seitensatzes: 


o<?     632     ^ 


'^-frffr^^. 


='^      V 


Der  Gegenpart  ist  durch  eine  Melodie  vertreten,  welche 
nur   durch  kunstvolle  Schlüsse  zu  einem  stärkeren  Gehalt 


erhoben  wird:  -|^rr^J  r  f  lj>  J^TJ^InJ    « 


Lange  erwartet  trat  zu  der  Zeit,  wo  die  Grötz*8che 
Arbeit  erschien,  am  Ende  des  Jahres  1876,  endlich  auch 
Johannes  Brahms  in  die  Reihe   der   Sinfoniker   ein. 

Aus  den  Kreisen  der  Romantiker  hervorgegangen, 
vertritt  Brahms  das  bleibende  Princip  der  romantischen 
Richtung:  das  Princip  der  gemischten  Stimmungen  und 
der  raschen  Bewegung  des  Empfindungslebens.  Aber  alle 
die  früheren  Vertreter  der  musikalischen  Romantik  über- 
triflFt  Brahms  durch  seine  in  wunderbar  zielbewusstcr  und 
energischer  Entwickelung  erworbene  Vielseitigkeit,  und 
durch  die  Objektivität,  die  Strenge  und  Mannigfaltigkeit 
des  Stils.  Brahms  ist  unter  allen  Sinfonikern  unsere  Jahr- 
hunderts der  bedeutendste  Beethovenianer,  soweit  es  sich 
um  Form  und  Stil  handelt.  Geistig  wird  Brahms  heute 
von  denselben  Leuten,  die  ihn  noch  vor  zwanzig  Jahren 
bekämpften  und  verhöhnten,  überschätzt.  Die  blinde  Mode 
beliebt  ihn  neuerdings  über  Schumann  zu  stellen,  der  doch 
in  seinen  Ideen  viel  reicher  und  ursprünglicher  war.  Aber 
das  Eine  ist  richtig;  dass  kein  Zweiter  so  wie  Brahms 
Beethoven  in  der  Logik  und  Oekonomie  des  Satzbaues,  in 
der  ununterbrochenen  Gediegenheit  des  Materials  und  der 
Arbeit,  in  dem  vornehmen  Verzicht  auf  das  Conventionelle 
erreicht.  Seine  Werke,  naturgemäss  die  Sinfonien  voran, 
sind  deshalb  auch  nicht  durchweg  leicht  zu  genießen. 
J.  BrAlimi  ^^^^^''  ^st  v^*"  allen  seine  erste  Sinfonie. 
Sinfonie  Nr.  1  Diese  erste  Sinfonie   (Cmoll)    nähert  sich   im  Cha- 

(Cmoli).       rakter  und  im  Gange  ihrer  Ideen  der  Beethoven'schen  fünf- 


c<?     633     ^ 

ten.  Auch  sie  führt  von  Kämpfen  und  schweren  Stunden 
zur  Klärung  und  zur  freudevollen  Freiheit  der  Seele. 

Der  Satz  beginnt  mit  einer  langsamen  Einleitung  (Un 
poco  sostenuto,  Cmoll,  */»),  welche  das  Bild  des  folgen- 
den grossen  Allegro  in  kurzen  Strichen  vorauszeichnet. 
Sie  braust  leidenschaftlich  auf  —  schöpft  Athem  und 
hoflPt  wie  dieses  —  auch  die  thematischen  Motive  des 
Allegro  klingen  in  ihr  schon  an.  Unter  diesen  ist  das 
chromatische  Thema,  mit  welchem  die  Violine  sich  unter 
den  dröhnenden  Strichen  der  Contrabässe  in  die  Höhe 
quälen,  dasjenige,  welches  für  den  Bau  der  ganzen  Sin- 
fonie hervorragende  Bedeutung  hat: 

£s  steht  an  der  Spitze  der  Sinfonie  und  bietet  für 
den  grössten  Theil  derselben  den  technischen  Stützpunkt. 
Noch  in  ihren  zweiten  und  dritten  Satz  ragt  es  geistig 
und  leibhaftig  hinein;  der  erste  Satz  aber  ist  vollständig 

Allegro 
auf  ihm  fundirt.  In  der  Form:    liK  fl  f^^p'^^f'  I  t'    ^^^^^ 

es  hier  bald  die  Oberstimme,  bald  den  Bass,  fungirt  in  seinem 
contrapunktischen  Gewebe  als  heimlicher  Cantus  firmus, 
und  wirkt  als  treuer,  leitender  Geist  in  guten  wie  in 
bösen  Stunden.  Es  giebt  die  Alarmsignale  und  ruft  be- 
schwichtigend den  Sturm  der  Leidenschaft  zur  Kühe. 
Das  formelle  Hauptthema  des  Allegro  ist  folgendes: 

Alle^o  >— V  -»—     #*^h  '"^      fc* 


9#*      a*  k 


^m 


t 


Es  trägt  die  dämonischen  Scenen  des  Satzes,  welche 
mit  grosser  Energie,  Kraft  und  Schärfe,  aber  verhältniss- 
mässig  knapp    dargestellt  sind.     Eindringlicher,  für  den 


«?     634     ^ 

Gesammteindnick  des  Allegro  fast  entscheideDder ,  wir- 
ken die  Partien  in  welchen  der  verzweifelte  Ton  der 
Kampfesstimmung  leiser  wird  und  den  milderen  Re- 
gungen Platz  macht.  Wunderbar  schön  ist  namentlich 
der  Uebergang  zum  zweiten  Thema :  der  allmähliche  Ein- 
tritt der  ruhigeren  Bewegung,  das  Hervortreten  klagen- 
der Motive,  der  sehnsuchtsvolle  Ton,  in  welchem  das 
erwähnte  chromatische  Thema  an  die  Spitze  der  bitten- 
den Stimmen  tritt.  Dieser  Partie  ist  der  Stempel  der 
Naturwahrheit  aufgedrückt.  Das  zweite  Thema,  dessen 
erste    Periode    zur    Orientirung   über    das    Ganze    dienen 

mag  3^fe^^rfe^'H»p'^E^^^  bUdet     den 


Abschluss  dieser  friedlichen  Wendung.  In  geistiger,  wie 
in  technischer  Natur  stammt  es  ebenfalls  von  dem  chro- 
matischen Leitthema  der  Sinfonie.  Ein  reizender  Dialog, 
von  Hom  und  Clarinette  fast  nur  in  den  einfachsten 
Naturlauten  geführt,  fügt  sich  an ;  leider  ist  er  nur  von 
kurzer  Dauer.    Mit  einem  unwirschen  Rhythmus ; 


^^g^^j^^r^.^Er't  aus  welchem  sich  das  für  die  Entwickelung 


des  Satzes  wichtige  Motiv  ~£  ^^t»  T-^^^  herausbildet,  rufen 

^  ff 
die  Bratschen  den  Chor  der  Instrumente  in  die  leiden- 
schaftliche Action  zurück.  In  der  Durchführung  treten  die 
beiden  grossen  Pianostellen  besonders  hervor:  In  der 
plötzlichen  Todtenstille,  welche  sie  verbreiten,  in  dem 
leisen,  halb  verborgnen  Walten  ernster  Gedanken,  haben 
sie  etwas  Uebersinnliches.  Der  ersten  folgt  eine  Scene 
von  Kraft  und  Frömmigkeit.    Die  alten  Motive  des  Trotzes 

schliessen     sich     wie    zum  _jl^^^  ff  i  T  f  i  f  f  I  ^^p 
Cboralgesang    zusammen ;       &  '  '         '         '  ==^' 

Die  zweite  lenkt   in   eine  Periode  über,  welche  den  auf- 
geregten   Ton    der    Einleitung    verstärkt     und   gesteigert 


«<?     635     ^ 


wieder  anschlägt  und  mit  dem  erschreckendsten  Aus- 
druck innerer  Empörung  in  die  Reprise  überleitet.  Es 
ist  diese  Periode  einer  der  gewaltigsten  Versuche  im 
pathetischen  Stil  und  zugleich  ein  Meisterstück  in  der 
Kunst  Uebergänge  zu  machen.  Die  Reprise  nimmt  den 
gewohnlichen  Verlauf.  Als  sie  aber  am  Schlüsse  der 
ersten  Themengruppe  die  dämonischen  Mächte  des  Satzes 
auf  einen  neuen  höheren  und  unerhörten  Punkt  geführt 
hat,  bricht  die  Musik  wie  in  natürlicher  Erschöpfung  ab. 
Das  chromatische  Thema  wird  zu  rührenden  Klagemelo- 
dien erweitert,  und  wehmuthsvoll  elegisch  klingt  der 
Satz  aus. 

Der  zweite  Satz  der  Sinfonie  (Andante  sostenuto, 
F  dur,  ^|^)  steht  noch  unter  dem  beklemmenden  Einfluss  des 
ersten.  Soweit  er  auch  dem  vorausgehenden  Allegro  in  der 
Tonart  und  in  seinem  Trost  und  Frieden  suchenden  Ab- 
sichten ausweicht  —  einige  von  dessen  furchtbaren  Ele- 
menten erreichen  ihn  doch.  Sie  äussern  sich  in  den 
heftigen  Crescendos,  in  den  schroffen  Modulationen  ein- 
zelner Themen;  ja  das  Allegro  schickt  auch  einige  seiner 
Motive  wörtlich  in  den  langsamen  Satz  hinein:  in  das 
erste  Thema; 


^^^ 


:  ^^    J'"^  lif^ -^^jS^-ii^nCXL     ^^"     chromatischen    Passus 
Ip^ii'P    It    p  ^^iHlptf^    des  fünften   Taktes ,   in  den 


Schluss     der     zweiten     Themengruppe   das   schmerzlich- 


wiederholte 


Tn  einzelnen  Partien  klingt  der  Ton  kindlicher  Zu- 
versicht ausserordentlich  rührend  durch,  so  im  Nachsatz 

Ob. 

des  ersten  Thema: 


noch    freund- 


^^ 


c<?     636     -0- 


licher  belebt  in  dem  Sechzebntelspiel ,  welches  Oboe 
und  Clarinette  als  zweites  Tbema  bringen.  Der  Schluss 
des  Andante,  wo  Hom  und  die  Solivioline  mit  dem 
zuletzt  citirten  tröstlichen  Tbema  concertiren,  wirkt  wie 
eine  wahre  Musica  sacra. 

Der  dritte  Satz  der  Sinfonie  (Un  poco  Allegretto, 
Asdur,  *i^)  liegt  von  dem  Charakter  des  an  dieser  Stelle 
gebräuchlichen  Scherzo  weit  ab.  Es  ist  im  strengen  Zu- 
sammenhang mit  dem  Geist  des  ersten  Satzes  gedacht: 
seine  Heiterkeit  infolgedessen  eine  gedämpfte  wie  in  einer 
fröhlichen  Stunde,  die  als  die  erste  auf  eine  Reihe  trau- 
riger Tage  folgt.    In  seinem  zweiten  Thema  namentlich 

Alleeretto 


m 


P'  cur 


ist  die  BetrUbniss  merkbar,  und  an  der 
Fortestelle  erhebt  sich  der  Accent  des 


Schmerzes.  Der  Grundton  des  Satzes  ist  kindlich  herzlich. 
So  äussert  ihn  das  Hauptthema,  namentlich  in  der  zweiten 
Hälfte : 

cur. 


•t«. 


noch  mehr  das  Trio:  ein  graziöses  Wechselspiel  zwischen 
Holzbläsern  und  Geigen  über  das  Thema: 


««■»*•  viTi 

In  dem  zarten  Glöckchenton  der  Bläser  liegt  viel 
Naturklang  und  ein  ursprüngliches  Instrumentationstalent, 
wie  es  sich  bei  Brahms  häufig  in  Bildungen  von  grösster 
Einfachheit  äussert.  Der  Schluss  des  Satzes,  still  und  halb 
unerwartet,  steht  mit  dem  decenten  Charakter  der  Com- 
position  im  vollen  Einklang. 


c<?     637     ^ 


Das  Finale  (Adagio,  Cmoll  —  Andante  —  Allegro, 

Cdar  Q/)  beginnt  mit  einem  Rückfall  in  die  leidenschaft- 
lich trübe  Stimmung  des  ersten  Satzes  der  Sinfonie. 
Schwermüthig  setzt  das  einleitende  Adagio  ein: 


Die  Violinen  suchen  energisch  und  desperat  in  einem 
durch  das  pizzicato  und  stringendo  sehr  scharf  charak- 
terisirten  Satz,  welcher  auch  an  den  kritischen  Punkten 
des  Allegro  wiederkehrt,  von  dem  melancholischen  Wege 
abzulenken.     Vergeblich!     Die   Phantasie   irrt   aufgeregt 


im  dunklen  Kreise ;  über  das  Motiv 


erete. 


geräth  das  Orchester  in  helle  Empörung.  Die  Pauke 
wirbelt  fürchterlich.  Da  erscheint  wie  ein  friedlicher 
Himmelsbote  das  Hom  mit  folgender  von  Schubert^s  Geist 
berührter  Melodie: 

^    ^      Pitt  Andante. 

L^ii'i  I  ij  I    II  1 1    in  I    I    ii  I  h     I 


Wir  sind  im  Andante,  dem  zweiten  Theile  der  Einleitung. 
Die  Stimmung  sänftigt  sich,  erhebt  sich  und  bereitet  den 
kräftig  freudigen  Hymnus  vor,  mit  welchem  der  Haupt- 
satz des  Finale,  das  Allegro  einsetzt: 

^  Allegro  non  troppo. 

lange  und  volksthümliehe  Melodie,  welch  sich  aus 
dieser  ersten  Periode  gestaltet.  Sie  bildet  den  Haupt- 
träger der  Darstellung  im  Satze.  Unter  den  anderen  Ge- 
danken, welche  ihr  zur  Seite  treten,  ist  der  wichtigste 
der  schwankende: 


«<?     638     ^ 


p  p^i>|-y^j~»>'ffj^'      2u    vorübergehender 


Bedeutung  konunen  noch  die  energisch  heiteren  Motive: 

^ß^^^'\=^^^^^^^^^pX==f=^==\       das  innige 

Thema  iftFr-^rSHJ-T-i'ir-f-~^-4£  und  das  melancholische : 


t»  übor 


^fe^-g^-r:i^A#rif^^^ 


^^^^^Ö- 


Der  Satz  giebt  ein  grossartiges,  dramatisch  schwung- 
volles Bild  einer  Siegesstimmung,  welche  über  alle  Hin- 
dernisse hinwegschreitend  bis  zum  dithyrambischen  Jubel 
anwächst.  In  seinen  heitern  und  seinen  ernsten  Momenten 
wirkt  dieses  Finale  gleicher  Weise  anschaulich  und 
lebendig  und  äussert  einen  mächtigen  Zug.  Die  gewaltigsten 
und  ergreifendsten  Stellen  des  Allegro  sind  wohl  die,  wo 
die  Hornmelodie  des  Andante  wiederkehrt. 
J.  Brahmt  Die  zweite   Sinfonie   von  Brahms  (D  dur,   veröffent- 

Sinfonie  Nr.  2  ücht  Ende  1877)  ist  ihrem  Stil  nach ,  welcher  pastorale 
(Ddiu).  Motive  und  anakreontische  Ideen  mit  geisterhaften  Klän- 
gen nahe  zusammendrängt,  eine  der  romantischsten  Com- 
Positionen  des  Autors.  In  der  musikalischen  Factur  steht 
sie  hinter  der  ersten  Sinfonie  zurück.  Ihr  Entwurf  ist 
bedächtiger  und  lässt  mehrmals  die  Punkte  erkennen,  wo 
durch  Zusätze  und  Einschiebungen  nachgeholfen  worden 
ist.  Ihrem  Inhalt  nach  nähert  sich  die  Sinfonie,  in  vor- 
nehmer moderner  Form,  dem  Phantasiebereich  der  alten 
Wiener  Schule.  Ihr  Grundton  ist  ein  heiterer,  und  selbst 
in  den  schwermüthigen  Theilen  ihres  Adagio  herrscht 
seelische  Anmuth  und  ein  friedevoller  Sinn. 

Der   erste    Satz   dieser  Sinfonie  (Allegro   non  troppo, 
Ddur,     'Z^)    gleicht    einer    freundlichen    Landschaft,    in 


6<?     639     ^ 


welcher  die  untergehende  Scfnne  erhabene  und  ernste 
Lichter  hineinwirft.  An  selbständigen  musikalischen 
Ideen  übersteigt  er  den  Bedarf  des  Schema  bei  Weitem 
und  einzelne  dieser  zahlreichen  Seitengedanken  fesseln 
die  Erinnerung  mit  voller  Stärke  an  sich.  Das  Haupt« 
thema  des  Satzes  besteht  aus  einem  liebenswürdigen  fa* 
miliaren,  gemüthyollen  Dialog  zwischen  Hörn  und  Holz« 
bläsem: 


Allegro  non  troppo,  ,^^ 


^^'tfürrrlf^    1^ 


HoUbl. 


A  j  l 


iMi'rn^'if^ir 


CoBtrab. 


f^'    '  r 


Die  Violinen  schattiren  mit  ruhigen  leichten  Dreiklangs- 
figuren seinen  Abschluss,  die  Posaunen  markiren  ihn 
mit  Accorden  von  dunkler  Feierlichkeit.  Die  Uebergangs- 
partie,  in  der  Mitte  imposant  auf  Fragmente  des  ersten 
Themas   gestützt,   bringt   zwei  neue  Motive,   zu  Anfang 


ein     munteres : 


am 


P  Viol. 


Ende     ein 
neckisches: 


Das    zweite   Thema, 
^^'     welches     in    seinem 

Anfang    einen    leichten   Anflug   Mendelssohn'scher    Senti- 
mentalität aufweist: 


^ 


wird  in  der  Schlussgruppe  des  Expositionstheils  von  kräf- 
tigen Gedanken  abgelöst,  unter  denen  die  beiden  folgen- 
den hervorzuheben  sind: 


und 


i ;  .»r'^i'  f-Tr^'^^^^  ^  I  f ^f'^^f^l=ff-4^=g=i 


co     640     ^ 


Namentlich  dieses  letzte  Thema,  durch  markige  Nach- 
ahmungen verstärkt,  setzt  sich  im  Gesammtelndruck  der 
Sinfonie  mächtig  fest.  Die  Durchführung  der  aufgestellten 
Gedanken  ist  verhältnissmässig  kurz,  im  Charakter  phan- 
tastisch contrastirend.  Die  Reprise  kommt  überraschend 
und  mit  reizenden  Varianten.  Die  Coda  des  Satzes 
gehört  zu  den  schönsten  Partien  der  Sinfonie.  Sie  ist  ein 
Produkt  der  unmittelbaren  Inspiration.  Das  Hom  leitet 
sie  mit  einer  eigenthUmlich  zögernden  und  suchenden 
Melodie  ein,  und  darauf  repetiren  Violinen  und  Bläser, 
die  einen  den  anderen  immer  einhelfend,  nochmals  in 
Kürze  alles  das  Freundlichste  und  Anmuthigste,  was 
ihnen  auf  der  vorhergehenden  langen  Wanderung  be- 
gegnet war. 

Den  zweiten   Satz  der  Sinfonie  (Adagio  non  troppo, 

H  dur,  (p)  beginnen  die  Celli  mit  einer  Melodie  folgenden 
Anfangs : 


•*■  «ab 


») 


JMi^Jir  rrir-^-|r  ^^\tttt^ffff^^ 


^^r^T'nir'    wclc^^  lange  vergeblich  nach  dem  Schlüssel 


zu  suchen  scheint,  der  aus  dem  trübsinnigen  Kreise  heraus- 
führen soll.  Ihren  schwermüthigen  Blicken  begegnet  end- 
lich ein  freundliches  Bild,  welches  die  Phantasie  in  die 
Jugendzeit,  in  die  glücklichen  Tage  von  Spiel  und  an- 
muthigem  Tanz  zurückführen  will: 


y  Juice 

Ein  dritter  Theil,  geführt  von  dem  Thema: 


*)  als  gehört  in  die  Vorzeichnung. 
^)  Das  2.  Achtel  mass  fiS  heissen. 


€c     641     ^ 


steigert  die  trübe  StimmuDg,  von  welcher  der  Satz  aus- 
ging, bis  zu  einem  leidenschaftlichen  Grade.  In  der 
Durchführung,  deren  Grundlage  die  Themen  I  und  III 
bilden,  herrscht  der  aufgeregte  Ton  vor.  Auch  im  Schluss- 
theil  kehrt  die  liebliche  Melodie  des  ^'/gTaktes  nicht  zurück; 
er  lässt  in  einer  träum  artig-freundlichen  Beleuchtung  das 
trauernde  Thema  der  Celli  verschwinden. 

Der  Haupttheil  des  dritten  Satzes  (Allegro  grazioso), 
Gdur,  */4,  Presto  */*,  Presto  */q  hat  mit  dem  originellen 
Menuett  der  Ddur- Serenade  von  Brahms  den  naiven 
Charakter  in  Melodik  und  Instrumentation  gemeinsam. 
Das  Hauptthema  des  Satzes  hat  folgenden  Anfang: 

Alle^retto  (^acioto^ 

tu\h  I  Vih'"rif  ü  Uli  iLLfi^^b^^^^ 


^^m 


Die  schlicht  anmuthige  Melodie  ist  mit  einer  gleichen 
Einfachheit  harmonisirt  und  instrumentirt.  Der  Seitensatz, 
im  Wesentlichen    lediglich  eine   rhythmische  Umbildung 

Presto. 

jenes  Hauptthemas 


wird  noch  durch 


ein  sehr  wuchtiges  Nebenthema  verstärkt  • 


$ 


fffifffi^'^^ 


i 


In  ihm  wie   in  dem  die  Stelle  des  Trio  vertretenden 
«/«Takte 

Presto. 


^     ^         f  Viul. 


U^^ 


BlSft^r 


^^^ 


^ 


S 


ist  der  Humor  in  die  Formen  der  ungarischen  Musik  ge- 
kleidet. 

Das  Finale  der  Sinfonie  (Allegro  con  spirito,  D  dur  (f) 
erinnert  an  die  schillernden  Farben  der  Cherubini'schen 


Kretztchm»r,  Führer,  I. 


41 


co     642     "ö* 


Romantik,  sein  Geist  ist  der  lustige  lebensprüheDde  der 
Haydn^schen  Sinfonie.     Im  Stil  dieses  Meisters  setzt  aach 
das  phantastische  flotte  Hauptthema 
Alleg'ro  coB  *p«ritft  ___^ 


f^E^fP^^'.IyrjKf^^ti^^^^^^ir^m^^ 


im  spannenden  piano  ein,  dem 

dann   nach  einem   frappanten  Uebergang  das  rauschende 
Forte  folgt.     Das  erste  Seitenthema  ist  folgendes: 


^ 


T-J-H 


tz 


i 


-mr: 


-±=± 


»Ct. 


i 


Die  behagliche  Wirkung  des  zweiten  Thema: 


z?^x^^^   erhält   in  einer  Reihe   von   Seitengedanken, 

patriarchalisch  kräftig  die  einen,  in  losen  Achtelfiguren 
tändelnd  die  anderen,  nachdrückliche  Unterstützung.  In 
der  Durchführung  bildet  eine  traulich  schwärmerische 
Episode,  welche  auf  folgendem  Thema  ruht: 

-It^ .  -^^n^-V .       ^I^^!^^:^:^if  m%T  [i^  den  anmuthi- 


m 


Vi^l. 


gen  Mittelpunkt. 
^.  Braluüs  Die   dritte  Sinfonie   von  Brahms  (Fdur),  welche  am 

Siafonie  Nr.  3  2.  December  1883  zum  ersten  Male  in  Wien  aufgeführt, 
(Fdur).  [m  folgenden  Jahre  veröffentlicht  wurde,  zeichnet  das  Bild 
einer  Natur  die  trübe  Gedanken  und  sinnliche  Lockungen 
gleich  kraftvoll  abwehrt.  In  der  Darstellung  dieses  Vor- 
wurfs verfahrt  sie  aber  insofern  ungewöhnlich,  als  die  Stelle 
der  Conflikte  am  Ende  der  Composition  liegt. 

Im   Stil  unterscheidet  sie   sich  von   ihren   Vorgänge- 
rinnen durch  Schärfe  und  äusserste  Klarheit  der  Gliederung 


co     643     ^ 


nnd  dadurch  dass  sie  sieb  von  der  Beethoven'schen  Methode 
der  Satzdisposition  entfernt,  indem  sie  den  Schwerpunkt 
der  Composition  aus  der  Durchfuhrungspartie  in  die  The« 
mengruppe,  aus  der  Ausarbeitung  und  kunstvollen  Weiter- 
fiihrung  in  das  Gebiet  der  ersten  Erfindung  zurücklegt. 
Ein  stattlicher  Gedanke  folgt  dem  andern  direkt  auf  dem 
Fusse,  die  Melodien  sind  in  der  Mehrzahl  allerdings  lang 
gedehnt  und  setzen  eine  geübte  Auffassungskraft  voraus, 
aber  sie  erleichtern  die  Aufgabe  zum  Theil  durch  eine 
ausserordentliche  Prägnanz. 

Den  ersten  Satz,  welcher  den  Grundzug  rüstig  heiteren 
Fromuths  hat,  leitet  ein  kurzes  Präludium  von  zwei  Takten 


Alle^ro  con  brio. 


ein,  dessen  knappes  melodisches  Motiv 


innerlich  und  äusserlich  für  die  Composition  sehr  wichtig 
ist.  Es  ist  der  Kern  ihres  melancholischen  Theils  und  es 
übernimmt  formell  in  der  Entwickelung  des  Satzes  eine 
selbständige  Aufgabe;  Es  trennt  die  Gruppen  und  wird 
zuweilen  zu  grossen,  ausdrucksvollen  Melodien  erweitert. 
Das  Hauptthema  des  Satzes  blitzt  kampflustig  bald  aus 
Dur,  bald  aus  Moll,  und  spiegelt  im  raschen  Wechsel  von 
Ruhe  und  knapper  Bewegung,  in  seinen  grossen  Schritten 
und  seinen  langen  Gang  eine  ungewöhnliche  Energie  vor: 
Allegro  con  brio. 


Das  im  unmittelbaren  Anschluss  folgende  Seitenthema: 

tf 1 f 1 1 — »rim. r--^     i-m- m-r-T'  -r-*  »   -   m,TT  TT^-*   »  ^   ■, 


errac. 


41< 


gebort  zu  jenen  zahlreichen  Episoden  des  Satzes^  die  mit 
zarten  Regungen  die  kräftigen  Elemente  der  Composition 
einzuschlummern  suchen.  Aber  yergebiich :  es  folgen  ihnen 
immer  nur  kühnere  Aeusserungen  des  starken  Muths.  Die 
verführerischste  in  dieser  Gruppe  von  Dalilahgestalten  ist 
das  zweite  Thema: 

Oraztoso        ,    ^  ^_„-^^^      __ 


p  Clar.  rP 

,  welches  sich  ausserordentlich  ver- 


wandlungsfähig erweist.  Von  ihm  abgeleitete  Glieder 
finden  sich  als  die  Chorführer  der  tändelnden,  wie  auch 
der  heroischen  Scenen.  In  der  Durchfuhrung  erscheint 
es  in  Moll  und  stellt  den  ernsten  Charakter  dieses  Theiles 
fest.  Ein  sostenuto  in  Ks^  dem  das  Hauptthema  zu  Grunde 
liegt,  bildet  den  Höhepunkt  und  zugleich  den  Schluss  ihrer 
Entwickelung.  Die  Coda  stellt  die  kräftige  Erscheinung 
des  Hauptthema  noch  einmal  auf  ein  erhöhtes  Podium 
und  lenkt  dann  magisch  schön  zur  Ruhe  über.  Büt  einem 
letzten  leisen  Citat  seiner  ersten  Takte,  ähnlich  wie  der 
Eingangssatz  von  Bcethoven^s  achter  Sinfonie,  klingt  das 
Allegro  elegbch  aus. 

Das  Andante  der  Sinfonie  (C  dur,  (p)  ist  eine  schlichte, 
fromm  gestimmte  Dichtung,  eine  Composition,  welche  in 
ihrem  einfachen  Ausdruck  seelischen  Friedens,  in  ihrer 
in  sich  geschlossenen,  einheitlichen  und  leidenschaftslosen 
Haltung  kaum  einem  Seitenstück  in  der  neueren  Sinfonie 
seit  Beethoven  begegnet.  Der  grösste  Theil  des  Satzes 
ruht  auf  dem  Thema : 


welches   in    einer  Reihe   freier  Variationen   durchgeführt 
wird,   die  an  seinem  Charakter  wenig  ändern,   aber  im 


c<?     645     ^ 


Colorit  den  berrlichsten  Wechsel  bieten.    Nur  auf  einen 
Moment  tritt  ein  klagender  Ton  ein  mit 


^.J  l,l./t]|rL^ 


P  cur.  mit  Fa^ .  in  Bv« 

Diese  Melodie,  welche  formell  die  Stelle  des  zweiten 
Thema  einnimmt,  wird  aber  hier  nicht  weiter  benutzt, 
sondern  kehrt  erst  im  Finale  der  Sinfonie  wieder.  Nur 
ihr  Nachsatz,  der  in  ein  mystisches  Spiel  mit  weichen 
Dissonanzen  ausläuft,  kehrt  am  Ende  des  Satzes  noch 
einmal  zurück. 

Vom  dritten  Satze  an  (Poco  Allegretto,  C  moll,  ^/g)  wird 
der  Charakter  der  Sinfonie  trüber.  Sein  Hauptthema 
welches  ein  wenig  zu  der  Weise  Spohr's  hinneigt 

Poco  Allegretto. 


CrUi 


giebt  das  Bild  eines  anmuthigen  Reigens  wie  aus  dem 
Spiegel  einer  schönen  Vergangenheit,  und  die  Stelle  des 
Hauptsatzes,   wo   die  Musik  ihren  höchsten  Reiz  entfaltet 


das  MotiT 


der  Celli  leitet  sie  ein  — 


ist  in  der  Farbe  der  Erinnerung  und  des  Traumes  ge- 
halten. An  der  Stelle  des  Trio  steht  ein  Mittelsatz  (in  ^Iv), 
welchen    die    Bläser    mit    dem    Ton    der   Bitte    und    der 


Resignation    füllen     j^^^ 


^f^JU 


Er  schliesst  mit  einer  Beethoven'schen  Wendung. 

Dass  der  dritte  Satz  nicht  ein  feuriges  Scherzo  ge- 
worden ist,  hat,  ähnlich  wie  in  der  ersten  Sinfonie  von 
Brahms,  seinen  Grund  in  dem  poetischen  Generalplan 
der  Sinfonie.  Dieser  dritte  Satz  vermittelt  der  Uebergang 
zu   dem   leidenschaftlich  und  oft   finster   erregten  Finale 

(Allegro,  Fmoll,  G).     Letzteres  bildet  den   Schwerpunkt 
des  Werkes.    Das  heroische  Element  der  Sinfonie  hat  hier 


«^     646     ^ 


die  Probe  gegen  harte  uod  unfreundliche  Gegner  zu  be- 
stehen. Düster  phantastisch  beginnt  der  Satz:  huschende 
Figuren,  dann  ein  Anhalten  und  gänzlicher  Stillstand  der 
rhythmischen  Bewegung: 

^\   ,      iUkgro. ^ 


Jim. 


r^.^5^:^^ 


Noch  beklommener  und  unheimlicher  wird  der  Ton  mit 
dem  Eintritt  der  Posaunen  und  dem  verschleierten  Thema, 

das  aus  dem  2.  Satze  :^^.:r^^i_i  a--j 
der  Sinfonie  stammt:  --p— -    g 


Pf,  I  I       t       I  i  t       i 

Gleich  darauf  bricht  der  gespannte  Bogen  und  die 
Situation  nimmt  einen  ausgesprochenen  Kampfescharakter 
an.     Wild  und  trotzig  fahren  die  Violinen  herein  mit: 


r  '  eresc 


die  Celli  singen  siegosfreudig : 


_  f>t^    _•  ^r  f^f 


cte. 


In  der  Durchführung  dieser  Confliktsperiode  finden 
sich  mehrere  Culminationspunkte  —  einer  der  höchsten 
ist  da,  wo  das  Thema  h  im  stärksten  Klange  den  fana- 
tischen Figuren  der  Violinen  entgegengestellt  wird.  Ein 
merkwürdig  bedeutungsvoller  Einspruch  des  Fagotts  be- 
schwichtigt die  brandenden  Wogen.  Die  Composition  lenkt 
in  ein  sostenuto  über,  dem  die  Schönheit  des  Reg^nbogen- 
himmels  eigen  ist.  Die  düsteren  Themen  a  und  h  strahlen 
jetzt  Ruhe  und  Frieden  aus,   und  wie  eine  verklärte  Er- 


eC      647      '^ 


scheinung  zeigt  sich  an  der  Ausgangsschwelle  der  Sinfonie 
noch  einmal  das  heroische  Thema  ihres  ersten  Satzes. 

Wenn  die  im  Jahre  1855  vollendete,  erst  zwei  Jahre 
spater  (nach  den  Aufführungen  in  Meiningen  und  Wien) 
veröffentlichte  vierte  Sinfonie  von  Brahms  (Emoll)  von  J.  Brahat 
vielen  Kennern  als  die  bedeutendste  des  Componisten  be-  Sinfonie  Nr.  4 
zeichnet  worden  ist,  so  gründet  sich  dieses  Urtheil  nament-  (EmoU). 
lieh  auf  den  Ausgang  des  Werkes.  In  ihm  führt  Brahms 
den  eigensten  und  mächtigsten  Theil  seiner  Individualität 
zum  ersten  Male  entschieden  und  bestimmt  erkennbar  in 
das  sinfonische  Gebiet  über:  der  Sänger  der  deutschen 
Todtenmesse  steht  vor  uns!  Im  Stil  geht  diese  Sinfonie 
die  Wege  der  Vorgängerin:  sie  strebt  wie  letztere  nach 
Einfachheit  der  musikalischen  Grundgedanken,  nach 
Uebersichtlichkeit  und  zeigt  eine  auf  wenige  Haupt- 
gruppen beschränkte  Disposition  der  Sätze.  Sie  schlägt 
einen  schlicht  erzählenden  Ton  an,  und  namentlich  ihr 
erster  Satz  gleicht  fast  einem  gross  stilisirten  Liede. 

Ohne  weiteres  setzt  sein  Hatiptthema  ein: 

Alleg^&on  assai^  _,^^ 


km 


^  1^-r»^n^^^H::^^r-^  .1 


^k^MW^ 


eine  wiederum  sehr  lange  Melodie,  deren  bewölkter  Horizont 
sich  zuweilen  etwas  aufhellt,  um  dann  einen  noch  trüberen 
Charakter,  oft  einen  schmerzlichen  Accent  anzunehmen. 
Das  Seitenthema    in  den  Cellos)   und  das  zweite  Thema: 

^^^=Pf^~^-^-[-f-^'^r  iBf  ^^t  r  Ittri-,  welches  von 
hier  aus  in   unscheinbaren  Gängen  dem  zart  verhauchen- 


*)  Beide  Noten  =  J. 


«? 


648     ^ 


den  Ende  zuschreitet,  sind  Bundesgenossen  der  elegischen 
Hauptfigur  des  Satzes.  Sie  leben  mit  ihr  in  leisem  Zagen 
dahin,  werfen  resignirte  Fragen  auf  und  ruhen  in  dunklem 
Sinnen  auf  langen  Accorden  aus.  Den  originellen  Cha- 
rakter des  Satzes  bestimmt  das  ritterlich  fröhliche  Gegen- 
thema, welches  sich  sofort  an  den  Abschluss  der  grossen 
E moU- Melodie  heftet,  und  seine  vielseitige  Verwendung: 


Bli«^ 


m^-i^^'^^^r^ 


^ 


^^m 


Bald  kräftig  und  gebietend,  bald  kosend  und  zärtlich, 
neckisch  und  heimlich,  bald  fern,  bald  nah,  bald  eilig, 
bald  sich  ruhig  ausbreitend,  —  immer  kommt  es  über- 
raschend und  stets  willkommen,  bringt  Freude  mit  und 
giebt  dem  Gang  des  Satzes  einen  dramatischen  Schwung. 
Auch  hier,  wie  im  Eingangssatz  der  dritten  Sinfonie,  ist 
der  Durchführungstheil  sehr  knapp  gehalten  und  bescheidet 
sich  im  Wesentlichen  damit,  die  elegischen  Elemente  der 
Dichtung  etwas  stärker  auszusprechen.  So  einfach  die 
ganze  Anlage  des  Satzes  erscheint,  so  ist  sie  doch  im 
Detail  ausserordentlich  reich  und  kunstvoll.  In  jeder 
Stimme  selbständiges,  melodisches  Leben,  der  führende 
Chor  der  Instrumente  und  der  begleitende  stehen  im  über- 
wiegenden Theil  des  Satzes  zu  einander  in  einem  anti- 
phonischen Verhältniss,  das  die  Wirkung  voller  macht  ohne 
sich  aufdringlich  zu  zeigen. 

Der  zweite  Satz  (Andante  moderato,  E  dur,  ^/g)  knüpft 
an  die  elegischen  Ideen  des  ersten  an.  Er  macht  im  Ver- 
gleich zu  ihm  einen  ähnlichen  Eindruck,  als  wenn  Jemand 
über  ein  aufgeworfenes  Thema  eine  Geschichte  aus  alter 
Zeit  erzählt.    Sein  Hauptthema 

Andante  moderato. 


welches    von    einigen   Takten   unisono 
präludirt    wird,    hat   den   gleichmässigen   Ton    der    alten 


^     649     'ö* 


Romanzen  und  in  seinen  HarmonieschlUssen  die  charak- 
teristischen Wendungen  der  mittelalterlichen  Musik.  In 
der  Mitte  des  Satzes,  da  wo  die  Triolen  einsetzen,  streift 
die  Musik  den  neutralen  Erzählerton  ab,  zeigt  freudigen 
Antheil,  Begeisterung  und  bricht  in  herzenswarme  Weh- 
klagen aus. 

Der  dritte  Satz  (Presto  giocoso,  Cdur,  */4)  theilt  mit 
dem  Andante  das  archaistische  Colorit.  Namentlich  in 
dem  Mollschluss  des  nur  flüchtig  behandelten  Gegenthema 

Presto.     ^ ^ 


kommt    das- 


selbe zu  einem  starken  Ausdruck.  Die  Heiterkeit  dieses 
Presto  ist  keine  unbedingte.  Sie  streift  die  schauerlichen 
Elemente  wiederholt.  In  den  dumpf  und  tief  herein- 
fallenden Accorden  des  Hauptthema 


in  seiner  hitzigen. 


rastlosen  Rhythmik,  in  seiner  plötzlich  aufzuckenden  Energie, 
in  der  vorwiegenden  Härte  des  Charakters  erinnert  der 
Satz  direkt  an  die  dämonischen  Riavierballaden  (op.  10) 
des  Componisten,  welche  unter  die  poetisch  bedeutendsten 
seiner  Jugendwerke  gehören. 

Das  Finale  (AUegro  energico  e  patetico,  Emoll,  '/4) 
ist  durch  die  Menge  des  vorgeführten  Materials  der 
für  das  formelle  Verständniss  schwierigste  Theil  der 
Sinfonie;  seinem  Gedankengehalt  nach  ist  es  einer  der 
ernstesten  und  höchst  gestimmten  Sinfoniesätze,  welche 
existiren. 

Es  beginnt  mit  einer  Reihe  schwerer  Accorde,  zu 
welchen  die  Posaunen  drohende  Farben  und  Accente 
herbeibringen.  Alle  die  Themen,  welche  nach  diesem 
Eingang  zunächst  aufgestellt  sind,  haben  einen  ängstlichen, 
erschreckten  und  suchenden  Charakter.  Unter  ihnen  ist 
das  folgende 


^     650     ^ 


Alleg^ 


mj^  •  cremt;.  / 

als  das  Haupithema  anzusehen.  Dasselbe  kehrt  mehrmals 
im  Satze  wieder,  wird  jedoch  nicht  in  der  üblichen  Weise 
des  Durchführungsschema  ausgenutzt.  Die  Spitze  der 
düsteren  Ideengruppe  bildet  ein  langes  Flötensolo,  welches, 
melodisch  und  rhythmisch  naturgetreu,  das  Bild  eines 
haltlosen  Seelenzustandes  entwirft.  Nach  ihm  tritt  die 
Wendung  ein:  die  Harmonie  wechselt  plötzlich  nach  Edur, 
die  Rhythmik  wird  breit  und  ruhig,  Clarinette  und  Oboe 
beginnen  trostvoll  und  fromm  zu  singen: 


CI»r. 


Ob. 


C\tr. 


Ok. 


?-f^t^^--n^£J4rrr+^^ir^ 


die    Posaunen    sprechen    feierlich    erhabene    Requiemge- 
danken aus: 


^^^^^^rt- 


f 

Die  Composition  lenkt  in  das  Gebiet,  wo  Leid  und 
Freude  schweigt  und  das  Menschliche  sich  vor  dem  beugt, 
was  ewig  ist.  In  dieser  natürlichen  Hoheit  des  Ausgangs 
ist  die  vierte  Sinfonie  von  Brahms  eins  der  grossartigsten 
und  ergreifendsten  Werke  der  sinfonischen  Litteratur,  in 
der  technischen  Anlage  dieses  vierten  Satzes  aber  ein  er- 
staunliches Kunststück:  Denn  seine  ganze  so  feste  und  doch 
mannigfache  Gedaukenkette  bildet  einen  Kreis  von  Varia- 
tionen über  das  8 taktige  Thema: 


das  vorwiegend  als  Bass  geführt  wird.  Auch  Beethoven, 
Vogler  u.  A.  haben  Theile  von  Sinfoniesätzen  auf  einfachen 
Scalen-   und   Accordmelodien    aufgebaut;    aber  in   dieser 


oc?     651     "^ 

Bach^schen  Strenge  und  Freiheit  zugleich  und  noch  dazu 
in  solcher  Ausdehnung  hat  noch  kein  Sinfoniker  vor  Brahms 
die  alte  Form  der  Chiaconna  angewendet. 

In  der  Klaviercomposition  und  im  Liede  bereits  merk- 
bar hervortretend,  hat  die  Schule  Brahms  in  der  Sinfonie 
bisher  nur  schwache  Lebenszeichen  gegeben.  Gernsheim's 
vierte  Sinfonie,  die  Dmoll- Sinfonie  des  Italieners  Martucci 
gehören  darunter.  Der  Erste  aber,  welcher  sowohl  in  der 
architectonischen  Form  seiner  Sinfonien  wie  in  den  innren 
Wendungen  der  Melodie  sich  stärker  beeinflusst  zeigte, 
war  H.  von  Herzogenberg.  Durch  sein  ^DeutschesH. t. Henogen- 
Liederspiel*  und  durch  eine  Reihe  Lieder  als  ausserordent-  *•"* 
lieh  liebenswürdiges,  für  naive  und  volksthümliche  Musik  ^'*^°^*' ^"*'"' 
besonders  begabtes  Talent  bewährt,  hat  sich  dieser  Ton- 
setzer als  Sinfoniker  mit  einer  grossen  C  moll-Stnfonie  ein- 
geführt. Der  erste  Satz  dieser  und  der  C  moU-Sinfonie 
von  Brahms  haben  in  Idee  und  Ausdruck  eine  grosse 
Aehnlichkeit.  Gleichwohl  hat  die  Composition  des  Jüngers 
ihren  selbständigen  Werth  und  ihre  eigene  Schönheit. 
Unter  die  Theile,  welche  in  dieser  Richtung  am  meisten 
hervortreten,  rechnen  wir  die  balladenartige  Einleitung, 
welche  in  der  Weise  Gade's  den  nordischen  Ton  anschlägt, 
und  das  Scherzo.  In  ihm,  das  auch  auf  jene  Einleitung 
poetisch  sinnvoll  zurückgreift,  sind  der  Hauptsatz  und  das 
Trio  in  einer  ganz  neuen  Art  verbunden :  Die  beiden  Theile 
wechseln  gleich  von  Anfang  ab  Clausel  für  Clausel  im 
malerischen  Contrast.  Das  Adagio,  in  der  Anlage  dem  von 
Brahms  zweiter  Sinfonie  entsprechend,  darf  sich  eines  tief 
melodischen  Zuges  rühmen;  der  wie  ein  fremdes  Bild  ein- 
gerückte freundliche  Mittelsatz  verräth  ein  eigenes  Talent 
zu  einem  edel  volksthümlichen  Musikstil. 

Die  zweite  Sinfonie  v.  Herzogenberg's  (B  dur,  op.  70)  H.  t.  Bonogen- 
theilt  mit  der  ersten  die  Vorzüge  einer  durch  und  durch        l>«rff 
edlen  Kunstrichtung.    Sie  übertriflFt  sie  aber  an  originalem  ^^^°''*®  ^^^• 
Farbensinn,  in  der  Freiheit  und  Leichtigkeit  der  Contra- 
punktik  und  an  Selbständigkeit  der  Erfindung.    Die  freund- 
liche Natur  ihres  pastoralen   und  idyllischen  Stimmungs- 
kreises,  ihre    oft   köstliche   Thematik    würden    dazu    be- 


c(?     652     ^ 


rechtigen  dieser  zweiten  Sinfonie  des  Componisten  eine 
grössere  Verbreitung  au  versprechen.  Ihr  dritter  Satz,  in 
der  ein  artiger,  sanfter  Humor  sich  originell  durch  die 
Pauke  äussert,  ist  sogar  eine  Perle  des  neuen  Serenaden- 
stils, eines  R.  Volkmann  würdig.  Leider  aber  fliesst  auch 
hier  der  Strom  der  Töne  zu  ungleich  im  Werth  und  viel 
zu  breit.  Ein  andrer  Vertreter  der  Schule  von  Brahms, 
ist  der  Schweizer  Hans  Huber.  Doch  sind  seine  Sin- 
fonien in  Deutschland  unbekannt. 

Jahrzehnte  lang  wenig  bemerkt,  haben  seit  Anfang 
der  achtziger  Jahre  die  Compositionen  des  Wiener  Ton- 
A.  Bnickaer  setzers  Anton  Brückner  die  Beachtung  der  Musikwelt 
7.  Sinfonie  E dar. auf  sich  gezogen.  Insbesondre  haben  sich  die  Wagnerianer 
ihrer  angenommen  und  sie,  blind  für  die  Menge  gemein- 
samer Züge  der  beiden  Künstler,  den  nach  ihrer  Meinung 
aus  blosser  Kunstfertigkeit  hervorgegangnen  Sinfonien  von 
Brahms  als  die  eigentlichen  instrumentalen  Offenbarungen 
modernen  Geistes  und  grosser  Persönlichkeit  gegenüber- 
gestellt. Bruckner^s  erste  Bekanntschaft  aussen  im  Reiche 
zu  ermitteln  fiel  seiner  siebenten,  seiner  Edur-Sinfonie  zu. 
Sie  ist  wie  die  andren  ohne  Opuszahl  erschienen,  und 
früher  als  manche  der  altern  in  Druck  gekommen.  Das 
Werk  hat  Gedanken  von  grossem  sinfonischen  Charakter: 
das  Hauptthema  des  ersten  Satzes 

AllȤro  moderato. 


und  noch  mehr  das   des  Adagio 


Sehr  feierlich. 
^-  Tuba 


creae. 


dim.'  **    VioL 


*)  Die  ersten  drei  Noten  heissen  e  H  e. 


«?     653     ^ 

legen  dafür  Zeugniss  ab.  Aber  höhere  Originalität  und 
technische  Keife  suche  man  in  dem  Werke  nicht.  Selbst 
der  Contrapunkt  ist  steif,  und  der  Entwickelung  der  Ideen 
fehlt  die  Logik,  der  Zusammenhang  und  das  Mass  in 
einem  Grade,  wie  er  in  gedruckten  Sinfonien  unerhört 
ist.  Ohne  alle  Vermittelung,  ohne  jeglichen  Uebergang 
stehen  im  ersten  Satze  pathetische  Themen  und  Wiener 
Ländlerweisen  neben  einander,  im  letzten  Choralmelodien 
und  infernale  Figuren.  Der  Entwurf  dieser  Hauptsätze 
scheint  vom  Zufall  der  täglichen  Arbeitslaune  bestimmt. 
Aber  trotzdem  hat  die  Sinfonie  ihre  positiven  Seiten. 
Einmal  eine  kunsthistorische:  sie  zeigt  zum  ersten  Male 
den  Einfluss  Wagner's  dem  wir  bei  Raff,  Hofmann,  Sgam- 
bati,  Goetz  und  Draeseke  nur  in  kleineren  Zügen  be- 
gegneten, in  breitesten  Spuren.  Das  Scherzo  ist  fast  nur 
eine  Umschreibung  des  Walkürenritts.  Zweitens  aber 
entwickelt  der  Componist  ein  Talent  der  Nachdichtung, 
das  in  seiner  Art  zu  eigner  Bedeutung  gelangt.  Am  im- 
posantesten im  Adagio.  Auch  hier  sieht  man  die  Quellen 
durch:  Götterdämmerung  und  Neunte  Sinfonie.  Aber 
die  Wagner'schen  Motive  sind  mit  einem  Schwung  und 
einer  Begeisterung  ausgeführt  und  erweitert,  welche  über- 
wältigt. Die  grosse  Stelle  dieses  Satzes,  wo  die  Trompete 
über  dem  Glanz  des  vollen  Orchesters  mit  ihrem  G  fort- 
leuchtet, gehört  zu  den  grossartigsten  Toncombinationen 
der  neueren  Litteratur. 

Es  war  wohl  ein  arger  Missgriff  Brückner,  verfuhrt 
durch  den  Zauber  ihres  Adagios,  mit  seiner  siebenten  Sin- 
fonie einzufuhren.  Denn  sie  zeigt  die  Zusammenhang- 
losigkeit,  das  bunte  Wesen,  die  masslose  Breite  seiner 
Musik,  sie  zeigt  alle  Mängel  seiner  Bildung  und  seines  Ge- 
schmacks bis  zum  Abstossen  stark.  Dagegen  bringen  es 
die  werthvollen  Eigenthümlichkeiten ,  die  sie  enthält,  nur 
bis  zu  einem  massigen  Eindruck.  Brückner  ist,  was  nur 
von  wenigen  der  zeitgenössischen  Sinfoniecomponisten  ge- 
sagt werden  kann,  eine  Natur,  er  ist  ein  Künstler  dessen 
Werke  eine  klare  und  höchst  befriedigende  Auskunft  über 
den  Menschen  geben.     Zwei  Züge   sind  es  die   aus  allen 


e^      654      "ö- 

seinen  Sinfonien,  aus  den  schwächren  nur  weniger  klar, 
hervortreten  und  die  Individualität  Bruckner's  in  erster 
Linie  bestimmen :  Eine  herzliche  naive  Freude  an  der  Natur 
und  zweitens  eine  ausgeprägte  kirchliche  Religiosität. 

Es  wäre  schlimm  wenn  die  Freude  an  der  Natur  Musikern 
fremd  wäre;  sie  muss  das  menschliche  Gemeingut  der 
Grossen  und  der  Kleinen  bleiben.  Aber  die  Meister  unter- 
scheiden sich  in  der  Entschiedenheit  mit  der  sie  ihr  Ausdruck 
geben.  Darin  steht  z.  B.  R.  Wagner  an  der  Spitze  aller 
neueren  Opemcomponisten  und  reicht  direkt  Händel  die 
Hand,  darin  übertreffen  die  Deutschen  von  jeher  die 
Italiener,  und  werden  merkwürdiger  Weise  wieder,  zu  Zeiten 
wenigstens,  von  den  Franzosen  übertroffen.  Schumann  ist  auf 
diesem  Gebiete  ergiebiger  als  Mendelssohn,  Beethoven  der 
Componist  von  Pastoralsinfonien  und  Pastoralsonaten  reicher 
als  Mozart  und  auch  als  Haydn.  Im  Allgemeinen  sind 
in  diesem  Punkt  die  Ostreich ischen  und  süddeutschen  Sin- 
foniker stärker  als  die  norddeutschen;  in  neuerer  Zeit 
haben  dann  wieder  die  scandinavischen  und  namentlich 
die  russischen  Sinfoniecomponisten  auf  diesem  Felde  alle 
Vorgänger  überholt.  Bleibt  man  im  deutschen  Culturge- 
biet,  so  hat  unter  den  Oestreichem  als  Schildrer  von 
Yolksthum  und  Landschaft  Franz  Schubert  den  unbe- 
dingten Preis.  Aber  ihm  wird  man  in  Zukunft  als  den 
Nächsten  Anton  Brückner  an  die  Seite  zu  stellen  haben. 
Bei  keinem  Zweiten  ist  das  Oestreicherthum  in  seiner 
liebenswürdigsten  Art  so  voll  in  die  Musik  übergegangen 
wie  bei  ihm,  bei  keinem  Andren  die  Lust  an  Heimath,  an 
Yolksthum,  an  der  Pracht  und  an  den  Heimlichkeiten 
schöner  Natur  allzeit  so  rege,  wie  bei  Brückner.  In  dem 
schwärmerischen  Behagen  mit  dem  er  sich  ihren  Reizen 
in  jedem  Augenblick  hinzugeben  bereit  ist,  zeigt  er  seine 
Kinderseele;  dass  er  einen  Blick  in  den  grünen  Wald 
sich  nie  versagen,  dass  er  nie  an  dem  Bild  eines  Tanzes 
unter  der  Linde  vorbeigeben  kann,  ist  eine  starke  Quelle 
der  romantischen  Fehler  in  seinen  Sinfonien. 

Aehnlich  verhält  es  sich  mit  dem  Ausdruck  religiösen 
Gefühls  bei  Brückner  und  bei  Andren.     Es   wird  in  der 


<^     655     '^ 

ganzen  Reihe  der  hervorragenden  Sinfoniecomponisten  — 
auch  wenn  wir  von  den  Adagios  abseben  —  bei  keinem 
fehlen ;  aber  es  äussert  sich  verschieden  nach  den  Personen 
und  mehr  noch  nach  den  Zeiten.  Es  bildet  von  Haydn 
bis  Beethoven  ein  crescendo,  bei  Mozart  hat  es  eine  pessi- 
mistische, bei  Beethoven  eine  philosophisch  erhabne  Fär- 
bung. Bei  Schubert  setzen  die  Abschwächungen  der  reli- 
giösen Empfindung,  ihre  Umbildungen  in  die  Formen  von 
Wehmuth,  Sehnsucht,  Melancholie  und  Weltschmerz  ein, 
die  wir  bis  auf  Brahms  bei  allen  bedeutenderen  Sinfonikern 
verfolgen  können.  Meistens  handelt  es  sich  dabei  um 
den  Zusammenhang  der  Instrumentalmusik  mit  der  aUge- 
meinen  geistigen  Entwickelung  unsers  Jahrhunderts,  um 
die  Theilnahme  an  den  Kämpfen  gegen  Oberflächlichkeit, 
Alltäglichkeit  und  Frivolität  der  sittlichen  Anschauungen, 
Theilnahme  an  den  bunten  Bestrebungen  die  Menschheit 
durch  Glauben  und  Aberglauben  durch  Philosophie  und 
Kunst  innerlich  zu  stützen  und  nach  einem  höheren  Dasein 
zu  lenken,  um  Berührungen  mit  Kant  und  Fichte,  mit 
Schopenhauer  und  Nitzsche,  mit  Cornelius,  mit  Böcklin  und 
Thoma,  mit  Parsifal  und  Zarathustra.  Ganz  anders  bei 
Brückner.  Aus  seinen  Sinfonien  spricht  die  Religiosität 
in  ganz  bestimmter,  positiver  Form:  sie  legt  fortwährend 
ein  offnes,  freudiges,  christliches  und  kirchliches  Bekennt- 
niss  ab.  Die  vielen  Choräle  in  seinen  Sinfonien  sind 
dessen  Zeugniss,  sie  erschöpfen  aber  den  Reichthum  und 
die  Festigkeit  seiner  Gottesfurcht  keineswegs.  Ihre  Spuren 
gehen  vielmehr  durch  die  Hälfte  aller  seiner  Themen  und 
Melodien;  in  seinen  Sinfonien  treten  kirchliche  Anklänge 
in  einer  Stärke  hervor  wie  sie  in  Sinfonien  nur  noch  ein- 
mal vorkommen :  bei  Mozart  in  seiner  Knabenzeit.  Brück- 
ner war  Schulmeister  und  Organist,  ehe  er  zur  höhren 
Kunst  kam.  Das  ist  mit  Andern  auch,  z.  B.  mit  J.  Raff 
ähnlich  gewesen.  Es  ehrt  ihn  und  bekundet  die  Wahr- 
haftigkeit seiner  Natur,  dass  er  in  den  neuen  Kreisen  doch 
bei  seiner  alten  Gedankenwelt  blieb.  Eine  spätre  Zeit 
wird  möglicher  Weise  wegen  der  Ehrlichkeit  Bruckner*s 
und  wegen  der  Echtheit  und  Bedeutung  der  Ideen,  die  in 


«<?     656     ^ 


seinen    Sinfonien    niedergelegt    sind,    Vieles    von    seinen 
Schwächen  und  von  seiner  Unfertigkeit  verzeihen. 
A.  Bniekaer  Von  einer  gradlinigen,  steigenden  Entwickelung  ist  bei 

DrtiCmoU-Sin- Brückner  noch  weniger  die  Rede  als  bei  Franz -Schubert, 
fonien.  Jn  allen  seinen  Sinfonien  liegen  Schlacken  und  Gold- 
kömer  beisammen.  Aber  alle  bieten  etwas  Interessantes, 
Züge  die  musikalisch  oder  psychologisch  fesseln.  Seine 
erste  und  zweite  Sinfonie  stehen  beide  in  C  moll  und  auch 
die  achte,  seine  letzte,  ist  eine  C mollsinfonie  geworden. 
Hätte  ein  Weltkundiger  so  etwas  Unpraktisches  gethan? 
So  sind  denn  diese  C  mollsinfonien  auch  alle  drei  ausser- 
halb Wiens  unbekannt  geblieben,  obwohl  sie  schöne  Stellen 
enthalten,  namentlich  wirkliche  naturwüchsige  Sinfonie- 
und  Orchesterthemen  z.  B.  die  zweite  in 


I  '  ir  n^ri 


^ 


cro9c* 


V  r  r  (  letc.  und 

Miflslg  schoall. 


creScT 


Alle  zeigen  den  EinÜuss  von  Wagner,  Schubert  und  Beet- 
hoven. Seine  bedeutenden  grossen  Züge  entfaltet  Brückner 
am  glücklichsten  in  der  dritten  und  vierten  Sinfonie,  die 
auch  in  den  letzten  Jahren  sich  in  den  Concertsälen 
häufiger  und  häufiger  eingefunden  haben. 
A.  Bmckner  Die  dritte  Sinfonie  (D moll)  ist  im  Jahre   1873  ent- 

Dritto  Sinfonie,  standen  und  eine  der  wenigen ,  die  schnell  einen  Verleger 
gefunden  hat.  Richard  Wagner  nahm  die  Widmung  an 
und  soll  wie  Th.  Helm  erzählt*)  wiederholt  ernstlich  eine 


>)  Tb.  Helm:    A.  Brackner  im  Musik.  Wochenblatt   1886, 
8.  35. 


cG*     657     '^ 

Aufführung  beabsichtigt  haben.  Was  zunächst  jeden 
Musiker  für  die  Sinfonie  einnehmen  muss,  ist  ihre  voll- 
endete Orchestematur.  Alle  Instrumente  haben  ihr  eignes 
Leben  und  äussern  es  wenn  nicht  immer  mit  bedeutenden 
selbständigen  Themen  und  Motiven,  so  doch  in  eignen  be- 
sonderen Rhythmen.  Alles  klingt  schön,  neu;  immer  inter- 
essant. Nach  dieser  Seite  bezeichnet  Brückner  einen 
Fortschritt  in  der  Geschichte  der  Sinfonie,  den  Niemand 
bestreiten  kann  und  verhält  sich  dem  Durchschnitt  der 
Beethovenianer  gegenüber  ähnlich  wie  in  der  Malerei  die 
Piloty schule  zu  der  Methode  von  Cornelius.  Nach  ihrem 
Ideengehalt  betrachtet  bietet  uns  Bruckner*s  DmoU-Sin- 
fonie  Einblick  in  das  Innere  einer  Natur,  in  der  sich 
Lebensemst  und  Lebensfreude  gleichmässig  mischen ;  sie 
scheint  die  Stimmungen  von  Beethoven*s  Neunter  und 
Beethoven*s  Pastorale  zu  vereinen.  Der  Componist  hat 
in  diesem  Unternehmen  einen  Vorgänger  und  es  ist  wohl 
nicht  Zufall  und  von  ungefähr,  sondern  bewusste  Absicht, 
dass  er  in  seine  Dichtung  die  Gestalt  Franz  Schubert's 
leibhaftig  hineintreten  lässt.  Dass  Schubert  die  weit 
stärkere  Individualität  war  und  durch  die  Zeitläufte  allein 
schon  glücklicher  gestellt  war,  kann  dabei  Niemandem 
entgehen.  Aber  wir  haben  nach  ihm  in  der  Sinfonie  das 
beschauliche,  sanguinische,  des  Daseins  in  der  schönen, 
mit  landschaftlichen  Reizen  und  liebenswürdigen  Menschen- 
thum  übervoll  gesegneten  Heimath  frohe  Oestereicherthum 
bei  keinem  Zweiten  so  stark  und  deutlich  ausgeprägt  als 
bei  Brückner  und  in  dieser  D  moUsinfonie.  Dem  Lebens- 
emst giebt  der  aus  dem  Kirchendienst  hervorgegangne 
Componist  gern  durch  Choräle  und  choralartige  Themen 
Ausdruck. 

Der  erste  Satz  (Massig  bewegt,  (p,  Dmoll)  empfängt 
uns  mit  einem  der  in  der  neueren  Musik  und  von  Brück- 
ner ganz  besonders  geliebten  Orgelpunkte  —  hier  auf  D. 
Im  Streichorchester  ein  ziemliches  Rauschen  wie  von 
freundlichen  Wässern,  ähnlich  wie  der  Anfang  von  Schu- 
bert's H-mollsinfonie,  aber  jedes  Instrument  seinen  Rhyth- 

KretsBohmar,  Führer,  I.  48 


c<?     658     ^ 


mu«  für  »ich!  Dann  setzt  im  fünften  Takt  die  Trompete 
ein,  d'e  »ich  in  der  Zeit  der  Classiker  ihre  heutigen  Ehren 
nicht  hätte  träumen  lassen.  Doch  ist  die  Thatsache  keines- 
wegs zum  Beweismaterial  für  die  Hypochonder  geeignet, 
welche  unsrer  neueren  Musik  roher  und  roher  werden  sehen. 
Unsre  talentvollen  Componisten  gebrauchen  die  Trompete 
keineswegs  blos  für  starke  Effekte,  sondern  ganz  so  viel- 
seitig wie  dies  in  der  alten  Suite,  in  der  italienischen  Oper 
des  17.  Jahrhunderts,  im  Oratorium  noch  bei  Händel  ge- 
schieht. So  beginnt  Brückner  mit  ihr  hier  leise,  im  Ton 
einer  heroischen  Ahnung  das  Hauptthema  seines  ersten 
Satzes : 


3r 


S^^ 


Dieses  Thema  zieht  sich  lang  hin.    Zunächst  wird  es  vom 
Hom  folgendermassen 


fortgesetzt.  Die  zwei  letzten  Takte  dieser  Fortsetzung 
werden  zunächst  von  den  Holzbläsern  für  Nachahmungen 
und  Wiederholungen  aufgegriffen  und  dienen  dem  vollen 
Chor  des  Orchesters  als  Anhalt  zur  Sammlung  und  zu 
einem  gewaltigen  innren  und  äussren  Crescendo.  Dann 
erst  kommt  im  Unisono  aller  Instrumente  der  dritte  Theil, 
der  Schluss  des  Hauptthemas: 


^^m 


cresc. 


ri^J    TlJ  J  J  J    H  •  Er  bringt  den  höchsten  Aufschwung 


kräftigen  Wollens  und  dicht  daneben  in  den  Zungen  von 
Schubert*schen  Entreaktes  das  Versagen  aller  Hoffnungen, 
somit  die  Gegensätze  des  Satzes  im  schroffen  Widerspruch. 
An   der  Triole  hält  sich   die  Phantasie   des  Componisten 


c<?     659     ^ 

fest,  als  wäre  mit  ihr  der  Ausweg  nach  dem  Licht,  nach 
einem  sichren  Blick  in  die  Zukunft  zu  finden  und  ge- 
langt so  bald  an  eine  Wiederholung  des  vollständigen 
Hauptthemas  von  A,  der  Dominante,  aus.  Der  Schluss 
dieser  Wiederholung  verläuft  in  ein  pjyp  und  in  romantische 
Dissonanzen,  als  schliefen  alle  Sorgen  ein.  Der  Dichter 
überlässt  die  Entscheidung  über  schwierige  und  ungewisse 
Fragen  der  Zeit  und  dem  Schicksal.     Das  zweite  Thema 


setzt  ein  und  führt  uns  ohne  Weitres  in  eine  Scene  des 
Behagens  und  der  beweglichen  Schwärmerei.  Mehr  noch 
als  das  Thema  selbst,  das  zuerst  als  Wechselgesang 
zwischen  Bratsche  und  Hörn  auftritt,  führt  uns  sein  Be- 


gleitungsmotiv   ^^  T  \  ^  r^j^  I  j  r  r  i  r^ 


vor 


ländliche  Bilder.  Denn  es  ist  ein  Bruder  jenes  wichtigen 
Zwischenmotivs,  das  im  ersten  Satz  von  Beethoven's  sechster 
Sinfonie  zum  zweiten  Thema  hinüberleitet.  Bei  Brückner 
sagen  die  Contrapunkte  immer  etwas;  der  hier  erfundne 
erweist  sich  aber  als  ganz  besonders  gehaltvoll  und  er- 
giebig. Ja,  er  wird  nicht  blos  die  Veranlassung  zu  einer 
hübschen  Episode,  sondern  er  trägt  einen  Haupttheil  von 
dem  Glaubensbekenntniss  und  der  Weltanschauung,  die 
in  diesem  Satze  niedergelegt  sind.  Alle  die  zahlreichen 
Partien  die  darin  aus  dieser  muntern  Figur  entwickelt  sind, 
vertrügen  als  Ueberschrift  das  schöne  Wort  Hölderlin*s; 
,Ja  wunderschön  ist  Gottes  Erde  und  werth  auf  ihr  ein 
Mensch  zu  sein!'*.  Das  singt  in  urzufriednen  Melodien, 
das  regt  sich  und  hüpft  in  fröhlichen  Rhythmen,  das  wiegt 
sich  wonnig  träumerisch  auf  weichen  Accorden,  das  ist  ein 
Schwelgen  in  seliger  Sonntagsstimmung.     Zuweilen  bricht 

das  Entzücken  laut  und  wuchtig  durch:  ]feL    '    +-  |    r*  §• 

42« 


o(?     660     '^ 


Zuletzt  findet  es  einen  doppelten  Ausdruck  von  kräftiger 
Zuversicht  in  der  Melodie: 


4^  r  l'     I  7     ['     I   P    r      I  ^f'    r     h^-    die  unter  den 


Nebenthemen  des  Satzes  Bedeutung  hat  und  von  Frömmig- 
keit in  dem  Choral: 


cIa  EF       DlO         € 


mit  dem  die  Trompete,  die  bekanntlich  angefangen  hatte, 
die  Themengruppe  schliesst.  Zu  verkennen  ist  nicht,  dass 
in  der  zweiten  Hälfte  des  um  des  Pastoralmotivs  gebildeten 
Theils  das  Beharrungsvermögen  des  Zuhörers  auf  eine 
Geduldprobe  gestellt  wird.  Je  nachdem  das  Orchester 
besser  oder  schlechter  ist,  wird  sie  erleichtert  oder  er- 
schwert werden. 

Sofort  nachdem  die  Trompete  mit  ihrem  (unbedeuten- 
den) Choral  fertig  ist,  geht  es  aus  Cdur  mit  drei  knappen 
Ueberleitungstakten  in  die  Durchführung. 

Die  Durchführung  beginnt,  nach  einer  kurzen  In- 
tonation des  Hauptthemas,  mit  einem  Satze  suchenden 
Charakters,  dem  das  dem  Choral  vorhergehende  Neben- 
thema, das  vorhin  als  Ausdruck  der  Zuversicht  bezeichnet 
wurde,  zu  Grunde  liegt.  Er  endet  still  und  ergebungsvoli 
in  G  dur.  Damach  setzt  schön  und  scharf  in  der  Wirkung 
Adur  ein,  und  in  schnellen  Modulationen,  ziehen  Um- 
bildungen und  Bruchstücke  aus  dem  ersten  Theil  des 
Hauptthemas  in  Flöte  und  Hörn  vorbei,  geheimnissvoll 
aber  färben  mächtig.  Der  zweite  Theil  der  Durchführung 
verbindet  den  Anfang  und  den  Schluss  des  Hauptthemas 
erst  in  einer  Periode  in  Fmoll,  dann  in  einer  zweiten  in 
G  moll.  Von  deren  Schluss  ab  (As dur)  verschwindet  der 
Anfang  des  Themas,  die  Motive  des  kräftigen  Wollens  aus 

seinem  Schluss :  J.     J^    |  J  ,    J.     ^  j)    ^^d     J.    ^  h 


c<?     661     ^ 

behaupten  das  Feld  und  führen  scheinbar  zur  Reprise:  In 
DmoU  setzt  das  Trompetenthema  fff  im  vollen  Orchester 
ein.  Es  ist  aber  erst  der  dritte  Theil  der  Durchführung, 
den  Brückner  hier  bringt.  Er  giebt  das  Hauptthema,  — 
wohl  angeregt  durch  eine  ähnliche  Stelle  in  Beethoven's 
Neunter  —  noch  einmal  im  Leuchten  der  Wetter,  im 
Donner  und  Blitz,  in  glänzendster  Machtentfaltung  seines 
ersten,  des  heroischen  Theils.  Dieser  wird  wiederholt,  mit 
Dissonanzen  schattirt,  nochmals  wiederholt  und  bricht  in 
Edur  tobend  plötzlich  ab.  Generalpause,  Paukensolo  das 
im  pp  endet!  Und  nun  erst  melden  sich  wie  schüchtern 
die  beiden  andern  Theile  des  Hauptthemaft  —  mehr  um 
der  Form  zu  genügen  als  zu  innerer  Wirkung.  Dieser 
letzte  dritte  Theil  der  Durchführung  hat  Alles  entschieden, 
es  war  ein  Seherblick  weit  hinaus  in  die  Zukunft  ge- 
worfen, der  ein  Ende  in  Herrlichkeit  gesichert  zeigt.  Ganz 
leise  geht  die  Durchführung  zu  Ende  und  ebenso  setzt  die 
Reprise  ein. 

Der  zweite  Satz  (Adagio,  quasi  Andante,  C,  Esdur) 
deutet  mit  dem  Anfang  seines  Hauptthemas: 


A.daglo 


fast  in  der  Sprache  der  Classiker  die  Sehnsucht  nach  Ruhe 
und  höherem  Frieden  an.  Schon  nach  Abschluss  der  ersten 
8  taktigen  Periode  setzen  aber  die  in  der  zweiten  Hälfte 
dieses  Beispiels  enthaltnen  Keime  der  Friedlosigkeit  zu 
einer  Bewegung  an,  die  zu  einem  Aufruhr  der  Gefühle 
führt,  den  die  stumme  resignirte  Klage: 

wie  ein  stilles  Gebet  endet. 


Wie  ein  Bild  aus  einer  besseren  Zukunft  stellt  nun  der 
Dichter  dieser  Gegenwart  einen  formell  scharf  verschiednen 
Satz  gegenüber,  dessen  erstes  Thema: 


^     662     '^ 

Andamte  quasi  AII»gr«tto. 

^ni  ^    j"Jj^--^+jJj2f^^|  lautet.    Um  das,  was 


es  noch  an  Zweifeln  zurücklässt,  völlig  zu  beseitigen,  ge- 
sellt sich  ihr  noch  eine  zweite  Weise  hinzu,  die  ebenfalls 
im  visionären  Ton  eine  Art  Siegesmarsch  anstimmt 

Miatarloso. 


if'''i>rr<'i^^Li'i»f'^>^i>ii"- 


Ihr  gelingt  es  die  Stimmung  zum  Theil  aufzuhellen:  Froh 
fliessen  die  Sechzehntelfiguren  in  einer  Gruppe  der  In- 
strumente dahin,  andere,  die  Homer  z.  B. ,  bleiben  aber 
bei  bangen  Fragen.    Das  fuhrt  dazu  dass  die  verheissungs- 

vollen   Rhythmen   des   letzten   Themas   J  J  •#   in   starkem 

Ton  bekräftigt  und  wiederholt,  dass  die  freundlichen  Zu- 
kunftsvisionen der  schönen  Drei  viertelt  aktmelodie  in  grosser 
Breite  ausgeführt  werden.  Bei  dieser  Ausführung  ist  auch 
die  Mannigfaltigkeit  und  der  Reichthum  der  Farbenreize, 
die  von  zarten  Lohengrinklängen  schnell  zu  einem  wahren 
Rausch  schönen  Orchestertons  anschwellen  nicht  zu  ver- 
gessen. Ueberhaupt  ist  die  Einwirkung  Wagner's  in  diesem 
Satze  unverkennbar.  Sie  äussert  sich  nicht  bloss  im  Colorit, 
sondern  auch  in  Harmonie  und  Melodie. 

Nach  dem  Abschluss  der  Trostscene  wird  der  Haupt- 
satz wiederholt  und  erfährt  dabei  prächtige  Steigerungen, 
aus  denen  die  Stimme  der  Trompete  sich  besonders  ein- 
dringlich und  Ausschlag  gebend  hervorhebt.  Der  ganze 
Satz  zeigt  Brücknern  von  seiner  gewaltigsten  Seite  und  als 
eine  fürs  Drama  gebome  Natur. 

Der  dritte  Satz  (Scherzo,  Ziemlich  schnell, ^Z^,  Dmoll) 
ist  durch  eine  gewisse  Unfertigkeit  originell,  durch  eine 
Laune  die  sich  begnügt  mit  Elementarmitteln  zu  wirken. 
Wir  hören  vorwiegend  rhythmische  Motive,  die  nur  lose 
zu  Themen  entwickelt  sind  und,  wenn  das,  keine  Ent- 
Wickelung  durchgehen. 


oG'     663     ^ 


Im  Hauptsatze   schildert  der  Componist  humoristisch 
eine  Art  grossen  Sturm,  der  wie  von  der  Feme  einsetzt. 

ziemlich  schnell.    • 
Nur  das  Motiv    Av  ^  J  J  J  J  J  ^   rührt  sich  zunächst. 


£s  setzt  sich  als  liegende  Stimme  fest.  Unter  ihr  steigen 
Figuren  stufenweise  die  ganze  Octav  crescendo  und  drohend 
in  die  Höhe.     Dann  bricht  ff  das  Thema 

Ziemlich  schnell. 


ifff  iJjflfr^ 


los.  Es  bildet  mit  Wiederholungen  und  Ableitungen  den 
Inhalt  des  Hauptsatzes.  Einmal  bricht  es  in  eine  der  bei 
Brückner  häufigen  plötzlichen  Generalpausen  ab  und  da 
erscheint  denn  —  die  einzige  im  ganzen  Scherzo  —  eine 
fertige  und  durchgeführte  singende  Melodie. 

h  fj  iH  ir1^r  ir  r  r  ifr>  if7r  i^r  imi 

•?      W  cresc. 

Durch  sie,  der  bald  verstärkend  ein  Sätzchen  über  das 
Motiv     W^lJ~r    I  r  *'p  f    ll    sich    beigesellt,    wird    der 

Seitensatz  im  eigentlichen  Scherzo  zu  einer  hübschen 
Wiener  Tanzidylle. 

Auch  das  Trio  sucht  die  Kunst  darin  die  Musik  in 
eine  Scene  von  Naturlauten,  hier  freundliche  und  zarte, 
aufisulösen.    Eine   Art  Thema  meistens  von  der  Bratsche 


^'i'^r  I  ^    IJJ  J-l  'l -1^  ir   I  angestimmt,  wird 


von 


einer  bunten  Reihe  kosender,  zirpender  und  trillernder 
Motive  umkreist,  so  dass  die  Wirkung  des  Ganzen  an  ein 
Vogelconcert ,  an  eine  schöne  Stunde  bei  Weiher  und 
Wald  nach  Sonnenuntergang  erinnert.     Das  ganze  Stück 


cG*     664     ^ 


(Trio  und  Scherzo)  ist  darnach  wie  ein  Gegensatz  vom 
Lärmen  der  Stadt  oder  der  Bahn  und  der  Stille  ländlicher 
Einsamkeit  gedacht. 

Das  Finale  (Allegro,  (P,  Dmoll)  wird  mit  einer 
Achtelfigur  der  Geigen  eingeleitet,  die  zwar  wesentlich 
zu  Begleitungszwecken  dient,  aber  für  den  Charakter  des 
Satzes  nicht  unbedeutend  ist.  Sie  verkündet  Wirren  und 
Autohr  im  Gemüth  und  dagegen  erhebt  sich  in  stolzer 
Kraft  breit  und  majestätisch  das  den  BlSsem  übertragene 
Hauptthema 


gLtJ- 


.1   .  -h,.! 


i^ttj-trtr  ly.!  '^i-jij^. ''ij^i 


r    »TT 
Ai 


a^^ 


rr 


Aj 


Es  gehört  wieder  zu  den  the- 


matischen Erfindungen  Bruckner*s  in  denen  auf  Melodie 
und  schöne  Form  zu  Gunsten  der  charaktervollen  Wirkung 
verzichtet  wird.  Darin  zeigt  er  sich  als  ein  Schüler  Liszt*s 
und  der  Neudeutschen.  Zweimal  zieht  dieses  Cyclopen- 
thema  vorbei.  Dann  verlaufen  sich  die  wilden  Gänge  im 
Streichorchester.  An  ihre  Stelle  tritt  ein  anmuthiges 
LMigs&nier.  a      ^ 


I,  das  aber  doch  nur 


Motiv 


ein    nebensächlicher    Contrapunkt    ist.      Die    Hauptsache 
kommt  in  den  Hörnern,  nämlich  ein  Choralgesang: 

Langsam. 


der  sich  breit  hin  entfaltet.    Als  er  endlich  still  verklingt, 
setzt  wieder  Sturm  ein,  diesmal  von  dem  harten  Motiv 

Tempo  !_■        

diesen   Abschnitt 


p^'^  fjTT'^iTt  ^    getragen.     An 


^     665     '^ 

knüpft  sofort  die  Durchführung  an.  Sie  bleibt  bei  dem 
Viertelmotiv  und  bekämpft  es  mit  den  herrischen,  stolzen 
Motiven  des  Hauptthemas  und  stellt  das  Bild  einer  Seele 
hin,  die  der  Anfechtung  spottet.  Dieser  DurchfÜhrungs- 
theil  ist  nur  kurz  und  schliesst  (in  F)  mit  Klängen  des 
Friedens,  die  uns  aus  dem  Eingang  von  Schubert's  Cdur- 
sinfonie  geläufig  sind. 

Die  Reprise  bringt  die  dem  Hauptthema  zugehörige 
Gruppe  erweitert  und  im  Ausdruck  der  Energie  durch 
Verküczung  der  Rhythmen,  durch  Nachahmungen  und 
Engfiihrungen  gesteigert.  Die  Folge  ist  dass  des  zweiten 
Themas,  des  Choralgesangs  ruhiges  und  frommes  Wesen 
sich  noch  klarer  und  schöner  als  im  ersten  Theil  des  Satzes 
geltend  macht.  Die  Composition  erhält  damit  einen  aus- 
geprägt christlichen  Zug  und  die  Idee  des  Componisten 
tritt  klar  vor  das  Geraüth  des  Hörers :  ,  Wer  in  des  Lebens 
Wirren  auf  die  doppelte  Stütze  der  eignen  Kraft  und  des 
Glaubens  bauen  kann,  der  siegt*.  Und  diesen  Sieg  spricht 
das  Finale  dann  noch  einmal  mit  schöner  poetischer  Be- 
ziehung und  die  ganze  Sinfonie  abrundend  dadurch  aus, 
dass  das  Heroenthema  des  ersten  Satzes  und  zwar  in  D  dur 
das  Schlusswort  erhält. 

Seine  Vierte  Sinfonie  (Es dur)  hat  Brückner  die  A.  Bmckner 
Romantische  genannt.  Die  Romantik  die  er  meint ,  ist  Vierte  Sinfonie, 
die  des  Waldes.  Das  Werk  ist  eine  Waldsinfonie,  aber 
aus  einem  viel  tieferen  Geiste  als  die  bekannte  von  Raff, 
die  eine  galante  französische  Romantik  entwickelt.  Die 
Bruckner'sche  Sinfonie  hat  durchaus  deutschen  Charakter : 
er  sehnt  sich  nach  dem  Wald,  seiner  Heimlichkeit,  seinem 
tiefen  Frieden  in  Klängen  die  an  Steficn  Heller's  trauliche 
Klaviersceneu  ,Im  Walde**  erinnern.  Mehr  noch,  Brückner 
hält  im  Wald  wie  das  altgermanische  Heidenthum  seinen 
Gottesdienst,  er  geht  durch  die  Reihen  der  erhabnen 
Stämme  mit  den  Versen  des  Dichters  im  Kopf:  ,Du  hast 
Deine  Säulen  Dir  aufgebaut  und  Deine  Tempel  gegründet." 
Ihm  ist  im  Sinne  jener  alten  Zeiten,  wo  wir  Deutschen 
noch  ein  Waldvolk  waren,  der  Wald  das  herrlichste  Gottes- 
haus, der  schönste  Dom,   den  der  Herr  der  Welten  sich 


«c?     666     ^ 

selbst  gebaut.  Der  Wald  stimmt  den  Componist  ernst 
religiös  und  ein  feierlich  erhabner  Grundton,  wie  ihn  ähn- 
lich Bruch  in  seiner  Esdur-Sinfonie  leise  und  flüchtig  ein- 
mal anschlägt,  wie  er  aber  sonst  nur  in  den  langsamen 
Sätzen  aufzutreten  pflegt,  durchzieht  die  ganze  Sinfonie. 
Ihre  Tom  Familientypus  abweichende  geistige  Haltung  wird 
der  eine  Grund  sein,  der  ihre  Verbreitung  erschwert. 
Ein  anderer  liegt  darin,  dass  sie  für  die  reichlichen  Natur- 
schilderungen,  die  sie  enthält,  ein  ganz  ausgezeichnetes 
Orchester  und  ziemlich  genauen  Vortrag  verlangt;  ein 
dritter  in  der  übermässigen  Breite  einzelner  Theile. 

Besonders  ist  es  der  erste  Satz  (Ruhig  bewegt,  v, 
Esdur)  der  durch  tief  religiöse,  ins  Ewige  sieh  ver- 
senkende Stimmung  ergreift.  Sein  Anfang  und  die  um 
das  Hauptthema 

Ruhiir  beweist.  0  :  72  . 

i: — — ^ 


^o    I    -^hi^iL^-|,„;)|    o  i  gebildete 


P 

Gruppe  erweckt  im  Hörer  Schauer  der  Andacht,  umweht 
ihn  mit  Kirchenluft.  An  Liturgie  erinnert  auch  der  Vor- 
trag :  das  Hörn,  das  beginnt,  gleich  dem  Liturgen,  der  kleine 
Chor  der  Holzbläser,  der  die  Melodie  ihm  nachsingt,  der 
respondirenden  Gemeinde.  Für  den  romantischen  Charakter, 
den  Brückner  seiner  Sinfonie  geben  wollte,  ist  dieses  Haupt- 
thema des  ersten  Satzes  das  wichtigste  Stück;  und  das  ces 
mit  dem  der  zweite  Abschnitt  einsetzt,  der  Hauptträger 
des  romantischen,  geheimnissvollen  Elements.  Aus  der  ehr- 
fürchtigen Stimmung  wird  nach  dem  feierlichen  Eingang 
bald  eine  froh  erwartungsvolle;  sie  ist  vertreten  durch  das 


LtLlLiLu. 


Motiv:    -J^g-tt-XZ' — ! — i_ , ^^^ .. J —  1  ^ .    das   als    eine   Er- 


gänzung gewissermassen  mit  zum  ersten  Thema  gehört. 
Der  Anfang  mit  dem  feierlich  breiten  Ton  spricht  die 
Gottesfurcht,  das  neue  Motiv  die  Naturfreude  des  Compo- 
nisten  aus.    So  haben  wir  in  den  beiden  Theilen  des  ersten 


c<?     667     ^ 

Themas  die  beiden  HauptstUcke  der  menschlicben  Grund- 
lage vor  uns,  aus  der  Bruckner's  Kunstwerke  ihren  Ur- 
sprung ziehen.  Mit  dem  Motiv  der  Naturfreude  bildet 
Brückner  die  nächsten  Zeilen  seiner  Dichtung.  Sie  nehmen 
bald  den  Charakter  eines  begeisterten  Hymnus  an.  Der 
Dichter  wird  von  einem  Jubel  über  die  Schönheit  der 
Schöpfung  fortgerissen;  stürmisch  drängt  die  Harmonie  in 
gewaltigen  Modulationen  fort  und  setzt  sich  dann  auf  ein- 
mal, wie  geblendet,  auf  dem  Fduraccord  fest,  alle  Kraft 
der  Empfindung  in  einem  Guss  ausschüttend.  Brückner 
liebt  die  Klangkontraste.  So  folgt  auch  hier  dem  Rauschen 
des  vollen  Instrumentenchors  der  stille  Klang  der  beiden 
Hörner  die  einige  Takte  allein  das  F  halten.  Es  wird 
durch  die  Bässe,  die  des  darunter  anschlagen  zur  Terz 
und  die  Bratsche  setzt  mit  dem  zweiten  Thema,  wie  folgt 


^^ 


J     I     J    '  Ü     II  ^^*    ^  ^^^  wäre  die  nor- 


P 

male  Tonart  gewesen,  Brückner  hat  Des  gewählt.  Die 
Ausweichung  in  eine  entlegnere  Harmonie  ist  in  diesem  FaUe 
ein  Mittel  romantischer  Wirkung,  Brückner  bevorzugt  aber 
auch  im  Allgemeinen  das  Gebiet  der  Unterdominant,  sehr 
zum  Vortheil  des  wannen  Charakters  seiner  Musik.  Der 
Ton  innig  dankbaren  Genicssens,  den  der  Anfang  dieses 
zweiten  Themas  anschlägt,  geht  mit  den  Motiven 

ciHi  LJ — [1.  '  ^.jizE,  die  zuerst  als  begleitende  ein- 
treten, dann  selbständig  werden,  in  einen  heitern  über  und 
läuft  in  dem  Schlussglied  des  Themas: 

'^>K  ^    F^i^J'   \^f  ^^   in  den  Ausdruck  leben- 

digen  Entzückens  über.  Das  äussert  sich  zuerst  laut,  jauchzt 
in  die  Welt  hinaus;  dann  wieder  heimlich  wie  im  tiefsten 
Innern.  Es  ist  ein  ungemein  wandelbares  Motiv,  das  bald 
den  innigen  Elementen  des  zweiten  Themas  die  Hand 
reicht,  bald  wieder  aus  dem  ersten  Thema  die  belebenden 


«c     668     ^ 

Töne  der  Naturfreude  herbeiholt.  Die  letztren  füllen  auf 
längre  Zeit  die  Seene  mit  Spielen  verschiedener  Art,  wie 
Kinder  die  vor  Lust  jetzt  jauchzen,  dann  in  stiller  Anmuth 
ihre  Kreise  ziehen.  Von  einem  stürmischen  Ausbruch  der 
Freude,  in  dem  zuletzt  sämmtliche  Messinginstrumente  mit 
dem  Desduraccord  auf  dem  Rhythmus 

}'-  d^J  J  I  J  J  J  toben,  lenkt  Brückner  noch  ein- 
mal unvermuthet  in  die  ruhigere  Region  des  zweiten  The- 
mas ein,  jetzt  in  dem  normalen  Bdur;  im  pp  und  in  Bruch- 
stücken verklingt  es.  Der  Dichter  schliesst  das  Auge,  die 
Bilder  schwimmen  in  seiner  Seele  in  einander.  Sie  ruht ;  unbe- 
stimmt und  dämmernd  streifen  Empfindungen  und  Ahnungen 
durch  die  Brust.  Das  drückt  die  Musik  nüt  abwärts  ziehen- 
den chromatischen  Gängen  aus,  die  leiser  Paukenwirbel 
begleitet ;  die  feierlichen  Motive  des  Hauptthemas  und  die 
lustig  erregten  des  zweiten  laufen  durch  einander.  So 
schliesst  die  Themengruppe  des  ersten  Satzes. 

Die  Durchführung  beginnt  im  Traumeston  mit  dem 
feierlichen  Anfangsmotiv  des  ersten  Hauptthemas,  das 
durch  kühne  Dissonanzen  merkwürdig  romantisch  gefärbt 
wird.  z.  B.: 


Sie  wendet  sich  dann  zu  breiten  Bildungen  über  das  Motiv 
der  Naturfreude,  die  sich  von  denen  in  der  Themengruppe 
durch  einen  durchschnittlich  ernstren  Ton  unterscheiden. 
Der  christlich  religiöse  Zug  der  die  Sinfonien  Bruckner*s 
unter  Hunderten  kenntlich  macht,  gewinnt  auch  hier 
wieder  die  Herrschaft  über  seine  Phantasie.  Der  Abschnitt 
endet  in  einigen  Strophen  Choralmusik,  in  der  die  Trom- 
peten die  Stimmführer  sind.  Als  sie  leise  ausgeklungen, 
setzt  das  zweite  Thema  des  Satzes  (von  Gdur)  ein,  jedoch 
mit  verlängerten  Rhythmen  und  dadurch  ebenfalls  in  die 
kirchliche,  fromme  Empfindung  übertragen. 


c<?     669     ^ 


Von  diesem  Punkte  vollzieht  sich  der  Uebergang  in 
die  Reprise  ganz  natürlich,  wie  von  selbst.  Sie  verläuft 
ohne  bemerkenswerthe  Ueberraschungen  und  hinterlässt 
wohl  bei  den  meisten  Zuhörern  den  Wunsch  nach  KürzuDg, 
namentlich  in  der  allerletzten  Schlusspartie. 

Den  zweite  Satz  (Andante,  C,  CmoU)  zu  verstehen 
muss  man  bis  in  seine  Mitte  vorgehen.  Denn  zunächst 
fragt  man  sich  erstaunt:  wie  kommt  ein  Trauermarsch  in 
eine  Waldsinfonie?  Die  erklärenden  Worte  stehen  unter 
andren  in  Schumann's  »Pilgerfahrt  der  Rose*  in  dem  schönen 
vom  Hornquartett  begleitenden  Männerchor  ^Bist  Du  im 
Wald  gewandelt,  etc.*.  Brückner  hat  hier  an  den  Wald, 
an  die  Natur  als  Trösterin  im  Leid  gedacht.  So  malt  er 
uns  denn  eine  Scene  des  schwersten  Leids:  ein  Begräbniss. 
Die  Celli  singen  eine  klagende  Melodie, 

Andante.  J  =  66 


einfach  als  ob  sie  aus  dem  Volkslied  stammte  und  doch 
ein  wenig  mit  Chopin'scher  Stimmung  getränkt,  wie  denn 
Brückner  bei  aller  Schlichtheit  im  Grunde  seines  Gemüths 
doch  immer  und  überall  modern  bleibt.    Die  Begleitung 


ein  Schubert'sches  Marschmotiv 


"*^#4 


VP 
zeigt  uns  Ort  und  Veranlassung  der  Klage,   erklärt  und 

malt  die  Situation.     Die  Scenerie  wird  bald  noch  mehr 

verdeutlicht:    Choralgesang,    Trauerchörfe    die    folgender- 


massen    einsetzen 


!^^ 


IbJ  J  lU  II  "••*«•■• 


ij  \\ijj^ 


p  crcsc. 

brechen  auf  längere  Strecken  den  Marschrhythmus.  Dann 
beginnt  der  Marsch  vom  Neuen.  Vom  Neuen  auch  erhebt 
sich  die  klagende  Stimme  aber  viel  gedämpfter,  sie  ist  in 
der  Mitte  des  Streichorchesters,  in  der  Bratsche,  gleichsam 
versteckt 


c<?     670     ^ 


P\.i  J"Ti4^3J)|Jjpi|»  IjJ  ^ 


und  windet  sich,  halb  unterdrückt,  suchend  und  zugleich 
fiiessend  dahin,  bis  der  Marsch  (in  C  dur  und  ppp)  wieder 
schweigt.  In  diesem  Augenblick  lassen  sich  wie  von  fem 
und  von  hoch  oben  Motive  vernehmen 

8^ 


Ä  p 'tr  \.a  1  r   f  J"  I  ^^   die  schon  am  Anfang  des  Andante, 


aber  da  ziemlich  unbemerkt  auftauchten.  Wirkt  diese 
Flötenstelle  nicht  als  riefen  Vogelstimmen  aus  dem  Wald 
und  hin  zu  ihm  ?  Nachträglich  wirds  uns  klar,  dass  schon 
von  Anfang  an  immer  in  den  Marsch  hinein,  kurze  Natur- 
töne erklangen.  Das  Hörn  wars,  manchmal  auch  die  Trom- 
pete, die   ganz  heimlich  bald  mit  einem  einzelnen  Ton, 


bald  mit  einem  Motiv,  am  häufigsten  mit  J .   J  J    lockten. 

Als  die  Bratsche  sang,  gaben  sie  sogar  deren  Wendung 
wie  im  Echo  wieder,  zuweilen  hörten  wir  auch  den  Quinten- 
ruf, der  im  ersten  wie  im  zweiten  Satz  thematisch  so  viel 
bedeutet. 

Nach  dieser  entscheidenden  Stelle,  mit  der  der  erste 
Theil  des  Andante  schliesst  wandelt  sich  der  Charakter 
der  Musik.  Die  Bässe  sinnen  jenem  Flötenmotiv  nach  und 
während  sie  es  wiederholen  und  weiterführen,  erfinden  die 
Violinen  neue  Melodien,  die  trostreich  klingen: 


Ji'i  .1  I  Ti  I  if^  ''LJÜ  1^  ^-^^- 


Dann  nimmt  das  Hörn,  nach  ihm  nehmen  die  Holz- 
bläser das  klagende  Hauptthema  wieder  auf;  aber  der 
Marsch,  der  dazu  gehört,  klingt  nur  noch  eine  Weile  aus 
den  Bässen  an,  dann  verliert  er  sich  ganz  aus  der  Er- 
innerung und  Instrument  nach  Instrument  tragen  die  freu- 
digen  und  lebenskräftigen  Elemente  die  die  Melodie  ent- 


CG*     671     ^ 

hält,  in  immer  hellres  Licht.  Es  vollzieht  sich  ein  grosser 
Aufschwang  der  Stimmung.  Freilich  ist  die  Rückkehr 
zum  Trauerton  jetzt  noch  unvermeidlich.  Der  Mitteltheil 
des  Andante  verklingt  leiser  und  leiser,  verschwindet  wie 
eine  Vision  und  sein  dritter  Theil,  die  Reprise  setzt  ein. 

Jedoch  bleiben  jetzt  die  Anklänge  an  den  Trauer- 
chor weg  und  sehr  bald  kommen  die  Flötenmotive  wieder: 
schon  vor  dem  Einsatz  des  Bratschenabschnittes.  Nach 
ihm  setzt  das  Hauptthema  wieder  ein,  aber  mit  Contra- 
punkten umspielt,  die  den  starren  Trauerton  weit  weg- 
weisen. Mehr  und  mehr  klingt  es  verklärt  und  geht  in 
einen  Triumphgesang  über,  der  mit  allem  Glanz  des 
Bruckner'schen  Orchesters  den  Sieg  über  alles  Leid  ver- 
kündet und  weit  über  Grab  und  Leichenzug  hinaus  weist 
auf  Himmel  und  ewiges  Leben.  Dieser  Schluss  des  An- 
dante ist  seine  Glanzpartie,  poetisch  ergreifend  gedacht 
und  musikalisch  kühn  und  genial  ausgeführt.  Der  Ueber- 
gang  nach  Cdur  und  die  Rückkehr  nach  dieser  Tonart 
—  von  Ces  aus  —  ragen  besonders  hervor. 

Der  dritte  Satz  der  Sinfonie,  ihr  Scherzo  (bewegt, 
*/4,  Bdur)  wirft  auf  den  Waldcharakter  der  Composition 
ein  für  Jedermann  genügendes  Licht.  Schon  im  dritten 
Takt  empfangen  uns  die  Hörner  mit  Jagdsignalen.  Der 
Componist  hat  ihnen  in  dem  Satze  soviel  Platz  eingeräumt, 
wie  das  vor  ihm  in  einer  Sinfonie  noch  nicht  vorgekommen 
ist.  Darin  spricht  sich  sowohl  Bruckner's  künstlerische 
Naivetät  aus,  wie  seine  grosse  Liebe  zu  solchen  Schilde- 
rungen aus  der  äussern  Natur,  die  musikalisch  zu  fassen 
und  zu  bezwingen  sind.  Drittens  aber  spricht  aus  den 
breiten  Bildern,  die  Brückner  aus  den  einfachen  Jagd- 
motiven entwickelt  hat,  aber  auch  eine  ganz  eminente 
Begabung.  Vielleicht  stimmen  die  meisten  Hörer  und 
Kenner  dieses  Satzes  darin  überein,  dass  seine  grossen 
Gruppen  —  namentlich  die  des  Hauptsatzes  —  zu  oft 
wiederholt  werden.  Aber  innerhalb  dieser  einzelnen  grossen 
Gruppen  möchte  man  nichts  gekürzt  und  gestrichen  wissen. 
Das  sind  Meisterstückchen,  unübertrefflich  lebendig,  farben- 
reich   und    wirklich    romantisch.     Was    ist    das    für    ein 


c^     672     ^ 


intressantes  Concertiren  zwischen  Hörnern  und  Trompeten 
und  wie  hat  Brückner  es  verstanden  durch  Harmonien, 
namentlich  durch  den  Gebrauch  von  Dissonanzen,  diese 
Brocken  aus  der  gewöhnlichen  Gewerbe-  und  Bedienten- 
musik zu  künstlerischer  Bedeutung  zu  bringen,  aus  ihnen 
Bilder  von  packender  Naturtreue  zu  gestalten!  Die  Muster 
aus  Berlioz's  , Requiem*  und  aus  Wagner^s  , Tristan* 
haben  hier  ebenbürtige  und  selbständige  Leistungen  erzeugt. 
Neben  dieser  Naturmusik  aus  den  Jagdsignalen  ge- 
zogen, verschwindet  der  melodische  Gehalt  des  Scherzos 
bis  auf  ein  Minimum,  das  sich  auf  das  Motiv 


HiF^F3P^t^-^-V-^+f£^p  r   I   r    H     und    noch 
mehr    auf   das    einer    weichernen    Stimmung    gewidmete 

^^  stützt.    We- 


WW^^ 


nigstens  was  im  Hauptsatz  des  Scherzos  den  ersten  Theil 
betrifft.  Sein  zweiter  Theil  beginnt  mit  einer  Durchführung 
der  im  ersten  aufgestellten  Motive,  bei  der  der  Ausdruck 
innrer  tiefrer  Gefühle  vor  der  Jaglust  den  Vortritt  erhält. 
In  einen  noch  schärferen  Gegensatz  zu  der  Schilderung 
des  aufgeregten  Waidmaunslebens  tritt,  wie  zu  erwarten, 
das  Trio.  Es  klingt  auf  Augenblicke  wie  ein  Tänzchen 
und  wirkt  auf  Grund  seiner  gemächlichen,  auf  niedere 
Volksschichten  und  ihre  Freuden  weisenden  Hauptmelodie 


Oemacblich' 


5  5      §         3         5  5      6 


Ges       G«s         \     Oo8    GesI    Ges       Ges      l     0«b   q^ 

sehr  drollig,  stellenweise  burlesk. 

Das  Finale  (Massig  bewegt,  (P,  Esdur)  beginnt  wie 
in  Nebel  und  Dämmrung  mit  einer  Stimmung  die  noch 
im  Klären  begriffen  ist.  Wir  hören  über  verworrenem 
Kauschen  des  Streichorchesters  ernste  Motive: 


oc?     673     ^ 


MäflBig  bewegt  J  3  TS 


in    Horn    und   Clarinette.     Eine 


rp    y^      = 


Weile  werden  sie  durch  Reminiscenzen  aus  der  Jagdmusik 
des  Scherzos  vertrieben  und  erst  nach  einem  langen, 
mächtig  gährenden  crescendo  schliessen  sie  sich  zu  folgen- 
dem Hauptthema: 


in 


^k^C^i^f^f^U.^ 


1^;^'  |0.»4i 


iL4fJ!^-Uy^ 


=3c 


des  Satzes  zusammen.  Niemandem  wird  es  entgehen,  wie 
sich  diese  stolze  Weise  wieder  der  feierlichen  Stimmung 
des  ersten  Satzes  nähert  und  infolgedessen  auch  Niemanden 
überraschen,  wenn  das  Hauptthema  dieses  ersten  Satzes 
schon  bald,  hier  im  Finale,  vor  uns  hintritt.  Es  muss 
sich  aber  den  Zulass  gewissermassen  erkämpfen  und  er- 
zwingen und  kommt  durch  eine  Krisis  geschritten,  in 
der  drohende  und  freudige  Töne  in  erschreckender  Wild- 
heit zusammentreffen.  Namentlich  eine  rhythmische  Formel 
(Achtelsextolen)  ist's,  die  darin  so  erschreckend  wirkt. 
Wer  bisher  noch  ungewiss  war,  dem  muss  durch  sie  klar 
werden,  dass  der  Componist  in  diesem  Finale  an  die 
Schrecken  des  Waldes,  an  den  Wald  in  Nacht  und  Sturm, 
an  seinen  düstern,  gespenstischen  Charakter  gedacht  hat. 
Dem  Hauptthema  des  ersten  Satzes  folgt  auf  dem  Fuss 
ein  Citat,  oder  besser  gesagt  ein  Anklang  an  das  Andante 
und  seine  charakteristische  Marschbewegung  der  Bässe. 
Die  Klagemelodie  hat  eine  Umwandlung  erlitten 


j. 


72 


§A'frTt  fJrf^i-H. 


Ihr  nach  kommt  sofort 


eine  freundliche  Melodie    ^h^f^^lu    J    I  J^  JTl  J    II 


die  als  zweites  Thema  im  Satz  gelten  kann.    Sie  führt  zu 

Kretsschmar,  Führer,  I.  43 


e<?      674      ^ 

einem  Abschnitt  anmuthiger  Träumereien,  die  aus  der 
Gegenwart  in  ferne  Zeiten,  rielleicht  der  Kindheit  eilen, 
hin.     Sie   setzen    sich    schliesslich    um    das    spielerische, 


tändelnde  Motiv 


iv  ^)r\,  ^  jT^^^^^p  j      ,  das  wieder  einmal 


aus  einer  Begleitungsstelle  hereinkam,  fest.  Als  das  zweite 
Thema  zum  zweiten  Mal  (in  der  Clarinette)  eingesetzt  hat, 
kommt  bald  eine  rauhere  Antwort.  Das  auf  die  vorhin 
erwähnten  Achtelsextolen  gebaut«  Thema 

i^llr^P      [T  r\r  TT  \    r     1     beherrscht    jetzt    auf 

einige  Zeit  beängstigend  die  Scene.  Dann  tritt  aber  das 
zweite  Thema  wieder  beruhigend  ein  und  schliesst  den 
Theil  des  Finales,  der  ungefähr  der  Durchfuhrung  ent- 
spricht. 

Das  Finale  seiner  Romantischen  Sinfonie  gehört  im  All- 
gemeinen zu  Bruckner's  schwierigsten  Sinfoniesätzen.  Die 
Themen  sind  nicht  so  einfach  geformt  und  nicht  so  bestimmt 
im  Ausdruck,  wie  er  sie  sonst  gewöhnlich  giebt;  zum 
Theil  erhalten  sie  ihre  Bedeutung  erst  durch  den  erst 
bei  längrer  Vertrautheit  zu  Tage  tretenden  Zusammenhang 
mit  Melodien  aus  dem  ersten  Satz.  So  soll  z.  B.  das  zweite 
so  wichtige  Thema  des  Finale  auf  das  Sextenmotiv  im 
Hauptthema  des  ersten  Satzes,  auf  das  geheimnissvolle 

^9},  tfi  \ni^  j    --^[^Tlv,^  bezogen  werden.    Besonders 

wird  das  Verständniss  des  Satzes  aber  durch  die  grosse 
Anzahl  der  in  ihr  aufgestellten  Themen  und  Motive  er- 
schwert. Diese  Menge  der  Ideen  ist  hier  nicht  ein  Zeichen 
von  Fruchtbarkeit  und  Keichthum,  sondern  sie  ist  die 
Schwäche  der  Composition,  die  Folge  ungenügender  Durch- 
dringung und  Beherrschung  des  Stoffes. 

Alle  diese  Schwierigkeiten  des  Finale  sind  eben  in 
seiner  Reprise  noch  dadurch  wesentlich  gesteigert,  dass 
die  Themen  hier  bis  zur  Unkenntlichkeit  umgebildet  und 


c<?     675     ^ 

auch  an  ganz  andere  Plätze  gestellt  werden  als  sie  in  der 
Tbemengruppe  des  Satzes  inne  hatten.  Auch  die  Breite 
einzelner  Theile  stört.  Nur  in  eingehender  Beschäftigung 
mit  dem  Satz  lernt  man  desshalb  Inder  Reprise  ihn  begreifen. 
Einen  Fingerzeig  bietet  der  Umstand,  dass  das  oft  erwähnte 
zweite  Thema  in  ihr  die  geistige  Führung  übernimmt. 
Sie  hat  bedeutende  sinnliche  Wirkungen:  eine  der  ge- 
waltigsten da,  wo  das  umgebildete  Hauptthema  so  un- 
vermuthet  hinter  einem  Trugschlüsse  verschwindet.  Das 
ist  zugleich  ein  Beispiel  für  Bruckner*s  Kunst  der  schnellen 
Stimmungsübergänge.  Vor  seiner  Phantasie  wechseln  hier 
majestätische  Bilder  aus  der  Natur  mit  wunderbaren,  über- 
irdischen Erscheinungen.  Vor  ihnen  wird  seine  Tonsprache 
magisch  und  mystisch,  der  Glanz  des  vollen  Orchesters  macht 
der  Leere  Platz,  der  warme  Tonstrom  einem  Tasten  und 
Stammeln  zerstückter  Motive.  Zugleich  tritt  an  dieser 
Stelle  auch  der  Einfluss  sehr  deutlich  hervor,  den  Wagner^s 
Werke  auf  Brückner  auszuüben  pflegen.  Hier  hören  wir 
das  Verwandlungsmotiv  aus  dem  «King  des  Nibelung** 
und  mit  den  Klängen  des  , Feuerzauber*  geht  seine 
Bomantische  Sinfonie  zu  Ende. 

Die  deutsche  Musik  wird  in  der  Sinfonie  mit  einer 
Schule  Bruckner's  zu  rechnen  haben.  Ein  bedeutender 
Ansatz  dazu  liegt  in  der  Cmoll- Sinfonie  von  Gustav  0.  Hahler 
Mahler  bereits  vor.  Sie  ist  die  zweite  Sinfonie  des  Com- Zweit© Sinfonie, 
ponisten.  Seine  erste  (in  D  dur),  die  durch  eine  Aufführung 
auf  dem  Weimar'schen  Tonkünstlerfeste  des  Allgemeinen 
Deutschen  Musikvereins  (i.  J.  1894)  weiter  bekannt  ge- 
worden ist,  war  romantisch  pastoralen  Charakters;  auch 
seine  dritte  scheint^  nach  den  Titeln  der  Sätze  zu  schliessen, 
sich  auf  diesem  Gebiete  zu  bewegen.  Beide  sind  noch 
nicht  veröffentlicht;  nur  die  zweite  liegt  im  stattlichen 
Partiturdruck  und  in  einem  Arrangement  für  zwei  Klaviere 
vor,  das  indessen  besser  gemeint  als  gerathen  ist.  Diese 
Cmoll- Sinfonie  ist  nun  durchaus  ernst  und  pathetisch,  sie 
bekennt  sich  zu  Brückner  aber  nicht  blos  in  der  Richtung 
der  Ideen,  sondern  sie  stellt  diese  zum  Theil  mit  Brückner'- 
sehen  Mitteln,  z.  B.   mit  häufiger  Anlehnung  an  Cboral- 

43* 


CO     676     ^ 

weisen  dar  und  sie  steht  drittens,  und  zwar  noch  mehr 
als  Bruckner^s  eigne  Werke,  unter  dem  starken  Eanfloss 
Richard  Wagner's.  An  keiner  früheren  Sinfonie  kann 
man  so  wie  an  dieser  Mahler'schen  merken,  wie  die  neuere 
Musik  immer  mehr  von  dem  Geist  und  auch  von  der 
Sprache  des  Bayreuther  Meisters  aufnimmt.  Seine  Macht 
ist  schon  jetzt  der,  die  Schiller  in  der  ersten  Hälfte  des 
19.  Jahrhunderts  auf  die  deutsche  Dichtung  ausübte, 
mindestens  gleich. 

In  mancherlei  Aeusserlichkeiten  macht  die  Sinfonie 
Mahler^s  den  Eindruck  eines  ausserordentlich  schwierigen 
Werks.  Sie  mischt,  scheinbar  ohne  einen  Anh^t  dafür 
zu  geben  wie  Berlioz's  „Romeo  und  Julie*  Instrumental- 
musik mit  Solo-  und  mit  Chorgesang,  sie  hat  sechs  Sätze. 
Von  allen  diesen  Schwierigkeiten  bleiben  nur  die,  welche 
ihr  unerhörte  Blechmassen  verbrauchendes  Orchester  und 
die  technische  Natur  des  Werkes  der  Aufführung  bietet. 
Zu  verstehen  ist  sie  ziemlich  einfach,  wenn  man  nur 
darüber  klar  ist,  dass  sie  nicht  eine  Zusammenstellung 
von  allgemeinen  Stimmungsbildern  geben  will,  sondern 
dass  sie  zu  jener  ungeheuren  grossen  Classe  von  Programm- 
sinfonien gehört,  deren  Componisten  eine  Angabe  über  das 
Programm  für  unnöthig  erachtet  haben.  Ihr  Inhalt  berührt 
sich  einigermassen  mit  dem  von  Draeseke's  Cmollsinfonie. 
Sie  schildert  das  Ende  eines  edlen  Menschen,  der  einen 
schweren  Verlust  nicht  verwinden  kann.  Die  Beziehungen 
zu  Draeseke  sind  rein  zufällig;  wesentlichere  dagegen  be- 
stehen zwischen  Mahler's  Composition  und  der  Sinfonie 
fantastique  von  Berlioz.  Auch  Mahler  neigt,  wenn  auch 
durch  bessern  Geschmack  gezügelt  und  gehalten,  ein 
wenig  mit  seinem  Programm  zur  Schauerromantik;  noch 
mehr  gleicht  er  ihm  in  den  Streben  nach  neuen  Orchester- 
wirkungen. Sogar  eine  Besenruthe  nimmt  daran  Theil. 
Sie  sind  im  Ganzen  edler  als  die  der  Sinfonie  fantastique 
und  beruhen  im  Wesentlichen  auf  einer  üebertragung 
der  von  Wagner  für  den  „Ring  des  Nibelung*  ersonnenen 
Farben  in  den  Concertsaal.  Wenn  sie  sich  aber  hier 
einbürgern  sollten,    so    würde    das  eine  ästhetische    und 


c<?     677     '^ 

physische  Umwälzung  der  Concertmusik  bedeuten  bei  der 
die  Bedenken  überwiegen.  Im  Grossen  und  Ganzen  bildet 
diese  C moU-Sinfonie  Mahler's  den  Superlativ  dessen,  was 
die  neue  Zeit  in  der  Kunst  der  Klänge  und  Klang- 
mischungen erreicht  und  vor  sich  gebracht  hat.  In  der 
Menge  imposanter,  mächtiger  Töne  hat  sie  in  der  Sinfonie- 
litteratur  wohl  nicht  ihres  Gleichen.  Sie  ist  aber  auch 
ein  durch  hohe  und  edle  Ideen  ausserordentlich  hervor- 
rageivles  für  die  Zukunft  der  Sinfoniecomposition  vielleicht 
sehr  wichtiges  Werk. 

Da  das  Werk  zur  Zeit  noch  zu  den  wenig  bekannten 
Grössen  gehört,  muss  an  Stelle  einer  eingehenden  Analyse 
eine  kurze  Skizzirung  der  einzelnen  Satze  genügen. 

Der  erste  Satz  (Allegro  maestoso,  C,  Cmoll)  beginnt 
mit  Motiven  des  Schwankens  und  der  Aufregung,  des 
empörten  Gemüths  als  wenn  sich  Einer  sträubt  eine  furcht- 
bare Nachricht  zu  glauben.  Des  Weiteren  entrollen  ihre 
Bilder  den  ungeheuren  Schmerz  einer  grossen  Seele  und 
Begräbnissscenen.  Die  Phantasie  sucht  sich  dem  Kindruck 
des  Verlusts  durch  Flucht  in  ferne,  holde  Zeiten  zu  ent- 
winden. —  Die  Form  in  der  dieser  Inhalt  dargestellt  wird, 
entspricht  in  den  grossen  Zügen  dem  Aufbau  des  Sonaten- 
satzes. Schwierigkeiten  verursacht  vielleicht  das  Ver- 
ständniss  des  ersten  Themas  dadurch,  dass  sein  Contrapunkt 
als  ein  selbständiger  Ideeutheil  vorausgeschickt  wird.  Das 
zweite  Thema  tritt  ungewöhnlich  bald  ein  und  ist  in 
mehrere  Gruppen  zertheilt. 

Der  zweite  Satz  (Andante  con  moto,  ^/g,  Asdur)  zeigt 
den  Helden  des  Tongedichts  bemüht  sich  in  des  Lebens 
Behagen  und  in  seiner  Alltäglichkeit  wieder  zurecht  zu 
finden.  Erregung  klingt  bald  leise  durch  diese  Versuche 
durch,  bald  bricht  sie  leidenschaftlich  aus  und  wirft  die 
Töne  der  Verzweiflung  in  das  Bild,  die  im  ersten  Satz  so 
erschütternd  wirkten. 

Der  Hauptsatz  dieses  Andante  hat  ein  Thema  das  dem 
Walzer  der  Volkmann'schen  F  durserenade  absichtlich  nach- 
gebildet zu  sein  scheint. 


c<?     678     ^ 

Der  dritte  Satz  (ebenfalls  ein  ruhiger  '/sTakt,  in 
Cmoll)  führt  die  Versuche  vom  Schmerz  loszukommen, 
einen  gewaltsamen  Schritt  weiter.  Um  zu  vergessen,  ver- 
liert sich  der  Trauernde  ins  Triviale,  begiebt  sich  mit  den 
besten  Theilen  seines  Wesens  in  unwürdige  Gefahren.  Um- 
sonst! Durch  alle  Lagen,  auch  durch  die  Stunden  neuer 
Hoffnungen,  dringt  der  alte  Schmerz  wieder  durch.  Die 
Wunden  der  Seele  bluten  nur  heftiger. 

An  neuen,  überraschenden  Mitteln  der  musikalischen 
Carrikatur  durch  Klang  und  Melodik  ist  dieser  Satz  sehr 
reich.  Seine  gebrochne  Schlussstimmung  führt  höchst  na- 
türlich hinüber  zum 

Vierten  Satz  einem  feierlichen  CTakt  in  Des dur, 
der  ein  Altsolo  einführt  und  ihm  ein  „  Urlicht "  betiteltes 
Gedicht  aus  ,Dc8  Knaben  Wunderhom*  überträgt.  Wer 
dem  zweiten  und  dritten  Satz  mit  dem  richtigen  innerlichen 
Antheil  gefolgt  ist,  wird  nicht  befremdet  sein,  wenn  hier 
die  sinfonischen  Traditionen  plötzlich  durchbrochen  werden. 
Ihr  Verlauf  Hess  für  den  Helden  nichts  übrig  als  die  Sehn- 
sucht nach  dem  eignen  Tode  und  diese  spricht  das  Altsolo 
—  für  viele  Zuhörer  vielleicht  überflüssiger  Weise  —  er- 
greifend schön,  in  der  Tonsprache  alter  Zeiten  aus. 

Aus  diesem  Verhältniss  folgt,  dass  der  zweite,  dritte 
und  vierte  Satz  eng  zusammengehören  und  dass  vielleicht 
ihre  äussere  Trennung  besser  unterblieben  wäre. 

Der  fünfte  Satz,  kurz  gegliedert,  zerrissen,  im  Tempo 
immer  wechselnd,  führt  die  irreleitende  Ueberschrift  ,Im 
Tempo  des  Scherzos**,  die  wohl  nur  für  den  ersten,  ent- 
setzlich wild  hereinfahrenden  Abschnitt  ('/gTakt)  gelten 
soll.  Jedenfalls  darf  Niemand  den  Charakter  des  gewöhn- 
lichen Scherzos  erwarten.  Der  Componist  schildert  hier 
ein  Gemüth  unter  den  Eindrücken,  die  der  Entschluss  zum 
Sterben  hervorruft.  Er  giebt  uns  Choräle  und  fromme, 
feierliche  Gedanken  der  Ergebung,  des  Hoffens  auf  Grott 
und  Jenseits,  der  Liebenswürdigkeit  im  schroffen  Wechsel 
mit  dem  Ausdruck  der  Klage,  des  Entsetzens,  des  Todes- 
grauens mit  phantastischen  Bildern  geistiger  Umnachtung. 
Sie  treten  ganz  besonders  hervor  in  einem  kurzen  Abschnitt, 


ce     679     ^ 

den  Hörner  —  die  Stelle  hat  die  üeberschrift :  »Der  Rufer 
in  der  Wüste*  —  mit  Signalen  einleiten.  In  der  Mitte 
der  Composition  regt  sich  in  einem  kräftigen  Marschsatz 
(Fdur)  noch  einmal  die  Lebenslust.  Als  Alles  zu  Ende 
ist  und  Stille  eintritt,  spielen  Mittelstimmen  leise  auf  das 
zweite  Thema  des  ersten  Satzes  an. 

Der  Schlusssatz  knüpft  ebenfatls  an  die  sanften  be- 
freienden Ideen  dieses  Themas  in  seinem  Hauptinhalt  an.  Den 
Anfang  macht  ein  romantisches  Concert  zwischen  Trompeten, 
Hörnern  die  aus  der  Feme  spielen  mit  der  Soloflöte  und 
der  grossen  Trommel  des  Orchesters.  Es  hat  wohl  zu  der 
üeberschrift  des  Satzes  ,Der  grosse  Appell  •  Veranlassung 
gegeben  und  will  das  Auferstehen  der  Natur  im  Frühling 
zugleich  mit  der  Auferstehung  der  Todten  vor  die  Phan- 
tasie führen,  Bilder  eines  Michelangelo  und  eines  modernen 
Idyllenmalers  in  einen  Rahmen  drängen.  Bald  darnach 
tritt  der  Gesangchor  ein  und  singt:  „Auferstehn,  ja  auf- 
erstehn*.  Der  zwischen  Solisten  und  Chor  vertheilte  Text 
erklärt  auch  das  Weitre. 

Unter  den  neuesten  Vertretern  der  deutschen  Sinfonie, 
die  sich  keiner  Schule  zuweisen  lassen,  sind  die  Namen 
von  R.  Fuchs,  A.  Klughardt  u.  F.  Thieriot  die 
meist  genannten. 

Robert  Fuchs,  der  als  Componist  anmuthiger  R.  Fieht 
Serenaden  eine  feste  Stellung  in  der  neuern  Musik  einnimmt,  Sinfonie  in  c. 
hat  mit  seinem  op.  37  bewiesen,  dass  er  auch  für  die  Sinfonie 
wohl  berufen  ist.  Freilich  kann  diese  C  dursinfonie  nicht  als 
das  Meisterstück  ersten  Ranges  gelten,  als  welches  es  der 
Ueberschwang  von  Freunden  und  Landsleuten  hingestellt 
hat.  Ihre  zweite  Hälfte  ist  jedenfalls  werth voller  als  die 
erste,  in  der  aus  Stimmung  und  Form  noch  fremde,  nicht 
völlig  bewältigte  Elemente  auftauchen.  Der  erste  Satz 
gleicht  einem  Bild,  das  sich  ein  muntrer  frischer  Jüngling 
von  der  Zukunft  macht.  Sein  Hauptthema  zeigt  den  Muth, 
die  Kraft  und  auch  die  Sorgen.  In  der  Feme  hellt  es 
sich  auf:  ein  reizendes  schlichtes  zweites  Thema,  das  wie 
Kindergesang  klingt,  verkörpert  freundliche  Erinnerungen 
und  trauliche  Hoffnungen.     In   der  Entwickelung   dieser 


CO     680     ^ 

Ideen  reizen  und  erfreuen  in  erster  Linie  die  sinnigen  mu- 
sikalischen Details,  die  Modulationen,  Uebergänge  und 
Zwischengedanken,  in  denen  sich  der  feine,  vornehme,  ge- 
dankenvolle Künstler  zeigt.  Die  Phantasie  war  aber  der 
Aufgabe  nicht  ganz  gewachsen.  Fuchs  hilft  sich  deshalb 
sehr  oft  mit  launischer  und  theatralischer  Aufregung. 
Merkwürdiger  Weise  klingt  auch  das  Orchester  in  den 
zarten  Abschnitten  etwas  stumpf. 

Der  zweite  Satz  ein  Presto  in  Amoll  (^Takt)  das 
den  Titel  Intermezzo  führt  in  einem  halb  nordischen,  halb 
MendelssohnVhen  Ton  vor  eine  Reihe  toller  Abenteuer, 
vor  Irrgänge  des  Herzens  die  in  phantastischer  Beleuch- 
tung jetzt  weit  in  der  Feme  der  Erinnerung  liegen.  Mit 
dem  dritten  Satz  einem  Grazioso  in  ^/^Takt  finden  wir 
den  Serenadeomeister  wieder.  Das  ist  der  liebenswürdige, 
unwiderstehliche  Ländlerton  der  Wiener  Schule,  den  Fuchs 
so  natürlich  durch  Wendungen  ins  leicht  Leidenschaftliche 
in  einen  höheren  Empfindungskreis  zu  heben  weiss.  Das 
Finale  hat  den  öst reichischen  Heimathsklang  noch  viel 
stärker.  Es  erinnert  im  Hauptthema  direkt  an  Schubert^s 
B  dur-Sinfonie.  Mit  ihm  berührt  sich  Fuchs  hier  auch  in 
tiefsinnigen  mystischen  Klängen,  die  in  die  heitre  Welt 
geisterhaft  hineinfallen.  Der  Schluss  der  Durchführung 
zeigt  sie  namentlich ;  der  Satz,  der  bis  dahin  die  Sonaten- 
form eingehalten  hat,  nähert  sich  von  jetzt  ab  dem  Rondo. 
Er  ist  somit  in  architektonischer  Beziehung  der  originellste 
der  Sinfonie,  bietet  aber  auch  im  Allgemeinen  die  glänzend- 
sten Belege  fiir  die  Begabung  des  Componisten.  Nicht  am 
wenigsten  sprechen  sie  aus  dem  Geschick,  mit  dem  er  ge- 
wöhnliche Ideen,  wie  sie  in  der  Natur  des  zweiten 
Themas  liegen,  durch  die  Stellung  die  er  ihnen  giebt,  zu 
heben  weiss. 
A.  Klagkardt  August  Klughard's   beste  Begabung   fUr  Instru- 

Dritte  Siafonie.  mentalcomposition  weist  ihn  auf  die  Programmmusik.  Trotz- 
dem und  trotz  des  starken  Herzenstons,  der  aus  ihnen 
klingt,  haben  seine  ersten  beiden  Sinfonien  nicht  im  ent- 
ferntesten den  äussren  Erfolg  gehabt,  den  seine  dritte,  die 
Ddursinfonie    (op.  37)   gefunden  hat.     Dieses  Werk  der 


«<?     681     ^ 

Lebensfreude,  dem  sich  eine  Zeit  lang  wohl  alle  deutsche 
CoDcertsäle  erschlossen,  hat  eine  deutliche  Familienver- 
wandtschaft  mit  den  Suiten  Franz  Lachner^s.  Seine  Musik 
ist  munter,  flott,  anmuthig  und  kräftig,  liebt  Tonspiel  und 
Concertiren,  steht  den  Instrumenten  gut  und  gleicht  der 
Lachner'schen  auch  in  der  Hinneigung  zu  Franz  Schubert. 
Für  die  letztre  Beziehung  giebt  namentlich  ihr  erster  Satz 
unwidersprechliche  Belege ;  seine  beiden  Hauptthemen  sind 
Nachklänge  aus  des  Wiener  Meisters  grosser  Cdur-Sinfonie. 
Der  langsame,  der  zweite  Satz,  der  dichterisch  vollste  der 
Sinfonie,  beginnt  mit  einem  breiten  Gesang  in  dem  die 
Seele  für  Glück  und  Frieden  zu  danken  scheint  und  flüstert 
dann  schwärmerisch  bewegt  von  zarten  Geheimnissen.  Der 
dritte  Satz  gleicht  einer  lustigen  Ballade  in  der  von 
alten  Zeiten,  von  Rittern  und  Recken  kräftige  Streiche, 
Turniere  und  Minnefahrten,  Schwanke  und  Abenteuer  er- 
zählt werden. 

Das  Finale  ist  ganz  der  Heiterkeit  gewidmet,  giebt 
Proben  eines  eigensinnigen  Humors  und  nähert  sich  in  dem 
köstlich  tändelnden  zweiten  Thema  und  in  seiner  Umgebung 
(*/4Takt)  einer  höhren  musikalischen  Originalität. 

Die  vierte  Sinfonie  Klughardt's  (Cmoll,  op.  57)  ist  A.  Klaghardt 
eine  der  beachtenswerthesten  und  fesselndsten  Stimmungs- ^'^«'*«  Sinfonie. 
Sinfonien,  die  wir  in  der  neuesten  Zeit  erhalten  haben. 
Der  Löwenantheil  ihres  seelischen  Inhalts  und  der  künst- 
lerischen Ausführung  fällt  auf  den  ersten  Satz,  der,  in  ähn- 
licher Weise  wie  das  in  dem  Doppelconcert  und  in  anderen 
Werken  von  Brahms  der  Fall  ist ,  die  übrigen  fast  in  den 
Schatten  stellt.  £r  entrollt  ein  Bild  nach  Klärung  und 
nach  Freiheit  ringender  Gefühle,  ein  Bild  in  dem  harte 
Kämpfe  und  freundliche  Hoffnungen  einander  gegenüber- 
stehen. Die  grösste  musikalische  Macht  offenbart  der  Com- 
ponist  in  der  zweiten  Hälfte  der  Durchführung,  wo  ihm 
erschütternde  und  rührende  Töne  gleich  treffend  im  ersten 
Augenblick  kommen.  Der  vollen  Wirkung  des  Satzes 
steht  die  verwickelte  und  in  Beiwerk  verhüllte  Natur  des 
Hauptthemas  etwas  entgegen.  Einer  der  schönsten  Mo- 
mente bildet  das  muthige,  aufhellende  Homthema. 


co     682     «- 

Der  zweite  Satz  hat  eine  Choral  weise  zur  Grandlage. 
In  ihren  Frieden  bricht  ein  Mittelsatz  hinein,  wild  und 
dämonisch ;  doch  erfolglos.  Die  Freiheit  der  Erfindung  und 
des  Entwürfe,  die  ein  Kennzeichen  dieses  ganzen  Andantes 
ist,  äussert  sich  am  schönsten  am  Schluss  dieser  dramatischen 
Episode  mit  dem  Eintritt  des  Cellothemas. 

Der  dritte  Satz  (Presto)  ist  ein  Scherzo  nach  dem 
Muster  Beethoven*s  und  mit  ungesuchten  Anklängen  an 
ihn.  Aus  dem  von  Hörnern  eingeleiteten  Trio  spricht  die 
vorzügliche  Begabung  für  edle  vorksthUmliche  Weisen,  die 
Klughardt^s  Opern  auszeichnet. 

Dasselbe  Marschner'sche  Talent  äussert  sich  in  dem 
Marschsatz,  der  den  Haupttheil  des  Finales  ausmacht;  in 
höhere  Kreise  hebt  ihn  eine  kunstvolle,  hier  und  da  mit 
der  von  Klughardt  gern  aufgesuchten  Fugenform  arbeitende 
Behandlung.  Die  dämonischen  Geister  der  Dichtung 
sprechen  noch  einmal  herrisch  aus  der  langsamen  Ein- 
leitung des  Satzes,  die  in  seinen  Verlauf  noch  einigemal 
übergreift  und  die  als  der  bedeutendste  Abschnitt  des 
Finales  gelten  muss. 
F.  Thlerlot  Von  den  sinfonischen  Arbeiten  Ferdinand  Thieriot's 

Sinfonietu.  jgt  die  verbreitetste  seine  Sinfonietta  (op.  55).  Diese  Com- 
position  ist  ein  Beitrag  zur  romantischen  Musik  der  sich 
durch  einfache,  natürliche  Erfindung,  durch  liebenswürdige, 
anmuthige  Stimmung  und  namentlich  durch  eine  ganz 
unübertreflFliche  Klarheit  des  Vortrags  und  der  Form  un- 
gewöhnlich auszeichnet.  Die  sinnige,  vornehme  Romanze, 
die  mit  allerlei  Humoren  gesegnete  Tarantella  erklären 
sich  selbst,  auch  der  Eingangssatz,  ein  Allegro  moderato 
das  sich  wie  zu  einem  schönen  Spaziergang  anschickt  uud 
im  Verlauf  seinen  schlichten  Themen  viel  Schwung  und 
auch  geheimnissvolle  Klänge  abgewinnt. 


Wenn  auch  der  Aufschwung  in  der  ausser  deutschen 
Orchestercomposition,  der  während  der  letzten  Jahrzehnte 
Niemanden  entgangen  sein  kann,  hauptsächlich  der  Pro- 
grammmusik und  der  Pflege  und  Weiterbildung  nationaler, 


c(?     683     ^ 

volksthUmlicher  Musikelemente  zu  Gute  gekommen  ist,  so 
ging  dabei  doch  die  Sinfonie  nach  klassischem  Muster,  die 
Sinfonie  welche  subjective  Stimmungen  ihrer  Verfasser  in 
breiten  Bildern  entrollt,  nicht  ganz  leer  aus.  Von  den 
Bussischen  Sinfonien  stehen  schon  mehrere  auf  der  Grenze 
zwischen  nationaler  und  internationaler  oder  deutscher  Art. 
Besonders  aber  ist  es  Frankreich,  das  alte  Land  der  Ballet- 
suite  und  der  Tonmalerei,  wo  der  Schatz  der  classischen 
Sinfonie  in  der  letzten  Zeit  um  einige  bedeutende  StUcke 
vermehrt  worden  ist. 

Als  erstes  derselben  nennen  wir  die  Dmoll-Sinfonie  C.  Fraaek 
von  C^sarFranck.  Franck  ist  zwar  in  Lüttich  geboren  ^  »oU-Sinfonie. 
aber  einer  jener  Belgier,  die  ohne  Abzug  der  französischen 
Schule  zugewiesen  werden  können.  In  Paris  hat  er  gelebt 
und  gelitten.  Erst  jetzt  nach  seinem  Tode  sucht  man  das 
Unrecht  wieder  gut  zu  machen,  das  die  blinde  Mitwelt 
seinem  hervorragenden  Talente  zugefügt  hat.  Namentlich 
seinem  letzten  Oratorium  „Die  Seligkeiten*  kommt  dieser 
Umschwung  zu  Gute ;  im  Gefolge  dieses  Werkes  erscheint 
dann  hie  und  da  wohl  auch  eine  oder  die  andere  seiner 
interessanten  sinfonischen  Dichtungen.  Die  bedeutendste 
seiner  Instrumentalcompositionen  ist  aber  wohl  seine  D  moll- 
Sinfonie,  die,  ebenfalls  aus  dem  Nachlass  und  ohne  Opus- 
Zahl  veröffentlicht,  den  Anspruch  erheben  darf  allgemein 
•gekannt  zu  sein. 

Dem  Inhalt  nach  ist  sie  offenbar  ein  Stück  Selbstbio- 
graphie, eine  jener  gegen  ein  hartes  Schicksal  gerichteten 
Klagen,  wie  wir  sie  in  der  Neuen  Sinfonielitteratur  ziemlich 
häufig  haben.  Dieser  Charakter  allein  würde  seiner  Zeit  für 
einen  französischen  Misserfolg  genügt  haben.  Erschwerend 
kam  aber  hinzu  dass  Francke^s  Stil  von  nationalen  Rück- 
sichten keine  Notiz  nahm  und  Wagnerische  und  LisztVhe 
Ausdrucksmittel  anwandte,  an  die  sich  selbst  Berlioz  nicht 
gewagt  hätte.  Die  Franzosen  sind  besonders  den  Har- 
monien gegenüber  merkwürdig  conservativ  und  empfindlich. 
Franck  aber  fügt  die  Nonenaccorde  kettenweise  hinter- 
einander, wenn  er  so  gestimmt  ist  und  drückt  seinen  Zu- 
hörern die  schönsten  Quintenparallelen  förmlich  ins  Ohr, 


c<?     684     ^ 

wenn  sie   ihm  für  einen   poetischen  Zweck  am  Plate  er- 
scheinen. 

Die  Sinfonie  Franck's  ist  nur  dreisätzig.  Ihr  erster 
Satz  richtet  Fragen  an  den  Himmel,  die  in  dem  einfach 
gehaltvollen  Hauptthema  der  Einleitung 

Lento. 

1^^^^^^     

cresc.  dim. 


W^-Tj^  f^fc4=^^?±zntf ^^^^^_ugu 


f^~f"t~^f~~\  ^^^^    am  entschiedensten  zum  Ausdruck 


P 

kommen.  Auf  diese  Töne  gestützt  hittet  der  Tondichter 
demUthig  und  vertrauensvoll,  blickt  schwermUthig  umher, 
klagt  stürmisch  und  verzweifelt.  Die  schönsten  Stellen 
sind  die,  wo  er  von  den  freundlichen  Hoffnungen,  die  im 
zweiten  Thema  auftreten  den  Blick  abwendend,  Worte  der 
Ergebung  stammelt.  Wie  er  diese  einfachen  Motive  mit 
dem  freundlichen  Gesicht  so  in  die  Pausen  hineinsprechen 
lässt  immer  leiser,  —  das  ist  tief  rührend  und  ausser- 
ordentlich poetisch!  Sieht  man  die  Musik  Franck^s  auf 
Originalität  und  auf  Quellen  hin  an,  so  findet  sich  unter 
den  letzten  Mendelssohn  mit  den  heftigen  Rhythmen  der 
Erregung,  Wagner  mit  der  Tristanchromatik  vertreten. 
Die  Anlehnung  an  Wagner  ist  aber  nicht  blos  äusserlich. 
Kein  andrer  Componist  weiss  uns  mit  kleinsten  und  in- 
timsten Intervallen  so  in  den  Zustand  einer  Seele  zu  ver- 
setzen die  sucht  und  versucht  und  immer  wieder  nach 
einem  Ausweg  sucht. 

Der  zweite  Satz  ist  ein  AUegretto,  wie  wir  keins 
daneben  haben.  Trotz  seines  Dreivierteltakts  hat  es  in 
dem  Begleitungsapparat  —  in  Harmonien  und  Rhythmen 
—  den  Charakter  eines  Trauermarschs.  Dazu  klingen  aber 
Melodien,  als  wenn  der  Componist  bei  den  Erinnerungen 
seiner  Kindheit  weilte  und  das  Bild  der  Mutter  fände,  die 
am  Abend  ihrer  Kleinen  Schlummerlieder  sang. 

Der  Schlusssatz  versucht  munter  und  kräftig  zu 
werden.    Aber  schon  sein  erstes  Thema  fällt  leicht  auf  das 


^     685     '^ 

Fragemotiv  des  ersten  Satzes  zurück.  Des  Weitem  geht  er 
fast  ganz  in  RemiDisceDzen  an  diesen  und  an  das  Allegretto 
auf.  Am  Schluss  hin  sagt  uns  Grabgelfiut  in  den  Bässen : 
was  geworden  ist.  Einige  Takte  im  feierlich  freudigen  Ton 
der  Apotheose  bilden  das  kurze  Ende. 

Während  Aufführungen  dieser  Franck'schen  Sinfonie, 
in  Deutschland  wenigstens,  noch  ganz  selten  sind,  fangen 
die  Sinfonien  von  Camille  St.  Saens  an  sich  einen  C.  St.  Saens 
festen  Platz  zu  erobern.  Auf  länger  behaupten  werden  S"»'onie  in  Bb. 
ihn  allerdings  nur  seine  zweite  und  dritte  Sinfonie.  Denn 
die  erste  (Esdur,  op.  2)  hat  mehr  biographisches  Interesse 
als  eignen  Gehalt.  Indess  ist  die  Form  mit  einer  an- 
gebornen  Sicherheit  und  mit  einem  starken  Sinn  für 
scharfe  Wirkungen  behandelt.  Reminiscenzen  aus  Classikem 
mischen  sich  ungezwungen  mit  eignen  Vorstellungen. 
Unter  ihnen  machen  sich  Marschbilder  und  militärische 
Phantasien  besonders  bemerklich.  Das  Adagio  erhebt  sich 
wie  ein  nachcomponirter  Theil  über  den  kindlichen  Ton  des 
Ganzen  und  bleibt  —  vielleicht  grade  aus  diesem  Grunde  — 
dessen  am  wenigsten  befriedigender  Theil.  Es  geht  ohne 
Pause  in  das  Finale  über  in  dem  der  Componist  seine 
Fertigkeit  im  Fugiren  bioslegt. 

Der  zweiten  Sinfonie  von  St.  Saens  (A  moll,  op.  55)  C.  St.  Saeos 
die  in  der  Schweiz  viel  Freunde  zu  haben  scheint,  wird  Zweite  Sinfonie. 
man  überall  das  Interesse  entgegenbringen,  auf  das  die 
neuen  Kleider  alter  Bekannter  zu  rechnen  haben.  Denn 
wirklich  originell  sind  an  der  ganzen  Sinfonie  wohl  nur 
zwei  Stellen,  die  Einleitung  des  ersten  Satzes  und  die 
feierlichen  Episoden  mit  dem  im  Scherzo  das  Getümmel 
der  Geigen  von  den  Bläsern  unterbrochen  wird. 

Die  eben  erwähnte  Einleitung  des  ersten  Satzes 
ist  ein  Allegro  marcato  im  ^j^  Takt,  eigenthümlich  durch 
die  Ungezwungenheit  und  Natürlichkeit  mit  der  es  die  Un- 
fertigkeit  der  Stimmung  offen  darlegt  und  die  Phantasie 
vor  aller  Welt  Toilette  machen  lässt.  Das  Orchester  klingt 
grade  als  wenn  ein  Pianist  die  Tasten  des  Klaviers  probirt 
und  nach  einem  Einfall  sucht,  hie  und  da  unterbricht  er 
die  Figuren  und  Modulationsstudien  durch  eine  dramatische 


c<?     686     ^ 


Phrase,  und  lenkt  endlich  nach  einem  festern  melodischen 

Allegro  moderato.  J«:  60 

Gedanken:       j  |i  T  |  T  T  T    T   f  »f    I  I"    f'^' 

Der    Haapttheil    des    Satzes   (Allegro    appassionato, 

C/f  Amoll)  bestätigt  wieder  einmal  die  Beobachtung,  dass 
Mendelssobn's  Geist  in  der  neuen  französischen  Instrumental- 
musik noch  frischer  lebt,  als  in  Deutschland,  Das  Haupt- 
thema 

Allegro  appauionato.  J  :  68 


^■"1  iiN'ij.ji^  ^IjisjVuM^^ 


belegt  das  für  sich  allein,  ebenso  wie  die  Ausführung,  die 
immer  geschickt  und  unterhaltend  bleibt.  Grössre  Wir- 
kungen liegen  nicht  in  seinem  Kreise,  auch  Gegensätze 
nicht;  das  zweite  Thema 


sotto  voce 


.       soiio   rvter  1         k I        1 


etc.     ist    aus    der- 


selben Familie  wie  das  erste.  Ein  grosser  Vorzug  des 
ununterbrochen  fliessenden  und  funkelnden  Satzes  ist 
seine  Knappheit. 

Noch  mehr  charakterisirt  diese  Eigenschaft  das  Adagio 
der  Sinfonien.  Es  hat  nur  79  Takte.  Das  Thema  seines 
Hauptsatzes 

Adag^.  i>  s  60  

Atsn  JTT.    1   J) 


ji¥Pi!  fn  I  j^' » H  p^i  ^  jrriji  I  ji  j7i 


TTj  ?  ^flTffJh^^  ^i^^^m 


erinnert  an  Beethoven'sche  Sonaten  und  an  Weihnachts- 
musiken. Man  würde  es  gern  öfter  als  nur  zweimal  hören. 
Von  den  zwei   Seitensätzen   (beide    in  Cismoll)   die   sich 


c<?     687     "^ 

mit    ihm    ablösen    und    ebenfalls    durchaus    volksmässig 
schlicht  gehalten  sind,  kehrt  der  zweite  im  Finale  wieder. 
Das  Scherzo  (Presto,  ^/4,  Amoll)  giebt  sich  in  seinem 
Hauptsatze  auf  Grund  des  Themas 

Scherzo.  Presto.  J- =120 


Beethovenisch,  variirt  aber  diesen  Familienzug  mit  einer 
tiefisinnigen  Falte,  die  durch  die  schon  erwähnten  feier- 
lichen Accorde  der  Bläser  —  später  werden  sie  auch  Tom 
Streichorchester  gegeben  —  variirt  wird.  Der  das  Haupt- 
thema varürende  Seitensatz  wird  durch  eine  Reminiscenz 
an  den  ersten  Satz  der  Sinfonie  eingeleitet  und  in  seinen 
Wesen  durch  das  contrapunktirende  Motiv 


(fc^    t     J    J     I  J     J    [    bestimmt.     Das  Trio  hebt  sich 


sehr  bestimmt  vom  Hauptsatz  ab  und  gewinnt  durch  sein 
reizend  liebenswürdiges  Thema 

^Ud  poco  meno  moMO.  o«=80 


^f¥^nXfjjjjj|j»JrT^rfTCfrirrfrr» 


eis  n  »^  E  Gl8 

schon  allein  zur  Genüge.  Die  Rückkehr  zum  Hauptsatz 
wird  scheinbar  begonnen  und  zwar  sehr  sinnig:  die  Trio- 
melodie erscheint  in  Bruchstücken  und  ganz  in  Pausen 
verloren.  Der  Hauptsatz  selbst  kommt  aber  nicht,  sondern 
der  Componist  bricht  rasch  und  verblüffend  ab. 

Das  Finale  (Prestissimo ,  «^/g,  Adur)  ist  ein  an  Ver- 
wandlungen sehr  reiches,  fantastisch  flottes  Rondo.  Seinem 
Hauptthema  das  flatternd  und  beweglich  anfängt: 

.^  u  Prestissimo.  J:  800  .^fmm  p.,^ 


Gis       E         •     A  Gis   A  ^^       E 

und  stürmisch  kräftig  schliesst,  treten  Nebenthemen  mannig- 
fachsten Charakters,  die  zeitweise  sehr  kunstvoll  zusammen- 
gebracht werden,  zur  Seite.   Die  wichtigsten  von  ihnen  sind: 


e<?      688      ^ 


UDd 


j¥[irfif1^fi^^rf'i»*f#'iff^g|ffl 


C.  St.  8»?M  Mit  der  dritten  Sinfonie  von  C.  St.  Saens  (CmoU, 

Dritte  Sinfonie,  op.  78)  ist  die  deutsche  Musikwelt  zuerst  durch  Franz 
Wüllner,  der  durch  weiten  Gesichtskreis  und  umfassende 
Bildung  zur  Zeit  an  der  Spitze  aller  Dirigenten  steht,  be- 
kannt geworden.  Das  Werk  ist  in  der  äussren  Grestalt 
nach  mehr  als  einer  Richtung  ungewöhnlich.  Zu  dem  an 
und  für  sich  sehr  grossen  Orchester  Berlioz'scher  Abkunft 
zieht  es,  wie  das  die  neueren  Franzosen  häufig  thun  noch 
Klavier  heran  und  ausserdem  Orgel.  Die  Orgel  in  der 
Sinfonie  hat  neuerdings  J.  L.  Nicod^  in  seiner  Sinfonie- 
Ode  ,Das  Meer*  mit  Erfolg  verwendet.  Vor  ihm  hat  u.  a. 
C.  Aug.  Fischer  das  Gleiche  versucht.  Vielleicht  führt 
das  Werk  von  St.  Saens  zur  nachträglichen  Berücksich- 
tigung dieses  Vorgängers.  Es  handelt  sich  aber  bei  St.  Saens 
nicht  um  eine  concertirende  Verwendung  der  „Königin  der 
Instrumente",  die  viel  Bedenkliches  hat,  sondern  nur  darum 
die  Höhepunkte  der  Tondichtung  mit  dem  verklärenden, 
gewissermassen  überirdischen  Klang  der  Orgel  noch  mehr 
hervorzuheben. 

Ausserdem  ist  der  Aufbau  dieser  Sinfonie  ungewöhnlich. 
Sie  besteht  nur  aus  2  Abtheilungen,  doch  findet  man  in 
ihnen  die  gewohnten  Sätze  heraus. 

An  die  Spitze  seines  ersten  Satzes  stellt  St.  Saens  das 

Adagio  V^ :  76.  ''^V"^ 

kurze     Thema     ^^^z^z^fr-f- ^  ^^~^^p^~f '^^^ »    Es  ist 

der  Ausdruck  einer  ungewissen  in  Sorgen  befangnen  Stim- 
mung, e^  ist  der  ernste  Blick  auf  eine  noch  ferne,  dunkel 
drohende  Wolke.  Das  Allegro  moderato  (CmoU,  •/g)  da» 
der  kurzen  Einleitung  folgt,  beginnt  mit  dem  Motiv 


cC 


689 


-0» 


Allegro  modorato.  «U 12 


das  für  den  grössten  Theil  des  Satzes  den  Begleitungs- 
dienst übernimmt,  den  vorherrschenden  Gemüthszustand 
veranschaulicht.  Es  zeigt  in  Schubert*scher  Art  das  zitternde 
Herz,  zunächst  unbestimmt  ob  die  Unruhe  auf  Freude 
oder  auf  Leid  deutet.  Bald  giebt  der  auf  die  Einleitung 
zurückweisende  Gesang  der  Bläser 

die  Gewissheit,  dass  es  sich  um  Klage  handelt.  Sie  wird 
unterbrochen  durch  einen  selbständigen  Satz  über  die 
zitternden  Motive,  dann  aber  vom  englischen  Hom  folgen- 
dermassen  weitergeführt: 


I  TW}  M  pfiii)  I 


^^TT    P   I  i    Jf^p   \^i     und    mit    einem    leiden- 
schaftlichen  Abgesang: 

(ji'i./TLria^|i|il'lTil'Tl^lj;i 


i 


Et. 


'djij  I' gj 'IJ' LU I ^- '  U j I 


ij'  >  t   I  ^^^^^^ 


Es F Flo_ 


etc. 


geschlossen,  der  in  seinen  besten  Wendungen  an  Spohr  er- 
innert. Die  Stimme  des  Trostes  tritt  mit  dem  anmuthig 
ruhigen  Desdurthema 


Kretzschinar,  Führer,  I. 


44 


ce     690     ^ 


^ih  [_)'|i_,F|i77ffirj|i|||i^frp^p|i'^|^ 


De.qC  -  B        BB 

ein.  Sehr  wirksam  hat  ihm  St.  Sa§DB  einige  vorbereitende 
Motive  vorausgeschickt,  denen  es  folgt  wie  die  volle  Sonne 
dem  Morgenschimmer.  Der  Abschluss  (in  Fdiir)  wirkt 
glänzend ;  poetisch  hat  ihn  aber  der  Componist  schliesslich 
ins  Stille  und  Ergebne  gewendet  um  die  Durchfuhrung 
psychologisch  zu  begründen. 

Sie  beginnt  mit  einem  stockenden  und  zagenden  Be- 
gleitungsmotiv, über  das  sich  bald  das  aus  der  Einleitung 
bekannte  Motiv  der  Sorge  erhebt.  Ihm  reicht  das  erste 
Thema  mit  seinem  Endtheil  die  Hand.  In  die  wachsende 
Erregung  spielen  Trompeten  und  Posaunen  zwei  kurze, 
aber  wichtige  Melodiezeilen  hinein.  Sie  weisen  in  ihrem 
frommen  choralartigen  Charakter  auf  die  Lösung  der 
Schwierigkeiten,  mit  denen  die  Seele  des  Tondichters  augen- 
blicklich kämpft,  hin,  die  später  wirklich  eintritt.  Die 
Beprise  ist  heftiger  als  die  Themengruppe  gehalten  und 
läuft  in  das  Einleitungsthema,  in  die  Töne  der  Sorge 
aus.  Da  setzt  die  Orgel  weich  und  leise  ein,  der  Himmel 
spricht : 

,        Poco  Adagio,  äs 60  . 


Des 

So  endet  die  erste  Abtheilung  der  Sinfonie  mit  einem 
grossen,  erhebenden  Eindruck.  Es  kann  Niemanden  ent- 
gehen, dass  dieser  dem  AJlegro  angefügte,  in  frommer 
Harmonie  gegebne  Desdursatz  nichts  ist  als  das  Adagio 
der  Sinfonie,  das  in  der  Regel  als  ein  selbständiger  zweiter 
Satz  erscheint.  In  der  Zusammenziehung  der  beiden 
Sätze  liegt  hier  die  Originalität  und  das  Glück  der  Ck)m- 
Position. 


r" 


c<?     691     'o^ 


Man  würde  Dach  diesem  Adagio  nichts  weiter  hören 
wollen,  wenn  nicht  einige  Takte  mit  übermässigen  Drei- 
klängen ihren  vollen  Frieden  störten  und  auf  eine  Wieder- 
kehr schlimmer  Stunden  gefasst  machten. 

Sie  brechen  in  dem  Allegro  moderato,  das  den  zweiten 
Satz  der  Sinfonie  beginnt,  grausam  genug  herein.  Das 
Hauptthema  dieses  Allegro  moderato 

Allegro  moderftto.  S^  80 


J.  11  J  J  J  J I )  J  J  J  J  j  J  J  J  J I 


ist  eine  Umbildung  der  leitenden  Ideen  des  erten  Satzes, 
eine  Umbildung  theilweise  in  der  carrikirendeu  Art  ge- 
halten, für  die  Berlioz  zuerst  in  seiner  Sinfonie  fantastique 
das  Muster  gegeben  hat.  Diese  Wendung  zur  Verhöhnung 
des  Theuersten  und  Ernstesten  schlägt  bald  in  ofiPenbare 
Frivolität  um.  Es  beginnt  ein  Presto  mit  folgendem  Haupt- 
thema 


Presto.  J.S  138 


das  mit  das  Tollste  enthält,  was  die  neuere  Orchestermusik 
an  phantastischen  Leistungen  aufzuweisen  hat.  Hier  fangt 
auch  das  Klavier  an  mitzuwirken  und  zwar  mit  beab- 
sichtigtem prosaischen  Effekt.  Die  Hetze  und  das  Gewirr 
dieser  Presto- Episode,  in  der  wir,  wiederum  vorzüglich  ein- 
gestellt, das  übliche  Scherzo  der  Sinfonie  vor  uns  haben, 
wird  durch  einen  gemüthvoUem  Abschnitt  unterbrochen, 
der  in  seiner  Wirkung  sich  mit  einem  ähnlichen  im 
G  moll-Concert  des  Componisten  begegnet.  Das  Thema 
lautet : 


«e     692     ^ 


p^  i'F'f  I  ß^ 


•to.   Es  wird  in  seinem  bamanen 
Wesen  noch  dadurch  gehoben,  dass  ihm  eine  sehr  zänkische 

Stelle    vorhergeht,    der   das   Motiv      ^  »  p_J  p  f  f  |  zu 

Grunde  liegt. 

Das  Allegro  moderato  kehrt  dann  wieder  und  auch 
das  halb  schreckende,  halb  erheiternde  Presto  kehrt  wieder. 
Es  hat  aber  kaum  eingesetzt,  da  stimmen  die  Bässe,. 
Bratschen  und  Posaunen  leise  einen  Gesang  an: 


■■jit  I  M.  I J I ' '  1 1'  I  I  i'Tn  <ä«'  ^o"  <'«"» 

Adagio  des  ersten  Theils  der  Sinfonie  stammt.  Er 
wirkt,  von  den  andern  Instrumenten  aufgenommen,  wie 
Gretchen's  Bild  auf  die  Mephistomusik  in  Liszt's  .Faust*  i 
reinigend  und  verklärend.  Es  wird  ganz  still  im  Orchester. 
Auf  einmal  setzt  die  Orgel  mächtig  mit  einem  C  duraccord 
ein.  Immer  von  diesem  feierlichen  Orgelklang  unterbrochen 
präludiren  die  Orchesterinstrumente  mit 

Maestoso.  «3  76       ^ 

»■Jijj  yfj}j  r  r    r    pTf    n   ll  z«  «^em  Schlusstheü 

der  Sinfonie,  einem  mächtigen   Hymnus.     Er  setzt  kirch- 
lich ein    dfix  l    ^    ^Ti    '    '  ^    1^^  und  schliesst 
^     ff  f  '    '    f  ff        -• 

mit  Sätzen,  die  auf  das  von  Brahms  geliebte  Motiv 


cG^     693     ^ 


Alle^ro.  J  s  92 


gebaut,  thoils  dem  dithyrambischen  Ton  Beethoven's  zu- 
streben, theils  in  freien  auflösenden  Cadenzen  eine  Maje- 
stät und  Grösse  der  Freude  aussprechen,  für  die  in 
Sinfoniefinales  wenig,  in  früheren  Compositionen  von 
St.-SaSns  gar  keine  Vorbilder  vorhanden  sind. 

Die  Kunst  spricht  nicht  nur  das  Innere  eines  Volkes 
am  offensten  aus  und  bucht  es,  sie  vermehrt  auch  seine 
geistigen  Güter.  So  zeigt  sich  uns  in  dieser  letzten  Sinfonie 
des  zur  Zeit  bei  seinen  Landsleuten  angesehensten  Compo- 
nisten  wie  die  französische  Kunst  mit  der  gesteigerten 
Pflege  dieser  Gattung  an  Tiefe  gewonnen  hat.  Am 
weitesten  geht  aber  in  der  Umwandelung  nationaler  Art 
und  in  der  Annäherung  an  deutsches  Wesen  unter  den 
heutigen  französischen  Componisten  Charles  Marie  Widor.  Ck.  Wldor 
Dieser  Musiker ,  den  die  Pariser  als  gründlichen  Kenner  Erste  Sinfonie, 
und  eifrigen  Vertreter  Bach^scher  Musik  schätzen,  ist 
durch  seine  produktive  Begabung  nicht  minder  bedeutend 
und  auch  für  Deutschland  würden  seine  Sinfonien  durch 
ihre  Ideen  von  Interesse,  durch  die  gewandte  und  an- 
muthige  Art,  in  der  schwierige  und  durchdringende  Arbeit 
in  ihnen  vorgelegt  wird,  von  Nutzen  sein.  Es  sind  ihrer 
zwei.  Die  erste  (in  Fmoll,  op.  16)  zeigt  das  Bild  ihres 
Schöpfers  am  reinsten  im  e  r  s  t  e  n  Satz,  der  zu  der  Richtung 
neigt,  die  bei  uns  Volkmann  und  Draeseke  vertreten. 
Die  Themen  lassen  nicht  ahnen,  was  der  Satz  enthält. 
Das  erste,  in  einer  fast  irreführenden  Art  entwickelt  und 
aus  einandergezogen ,  führt  in  eine  noch  in  Bildung  be- 
griffne, nach  Gestaltung  suchende  ernste  Stimmung  hinein : 
Seine  beiden  Theile 


«<5'     694     t>» 


ibl'|>'l(^    IT'   r    iff    CJ|^^  stehen  im  iVerhält- 


niis  wie  Baum  und  Frucht.    Beim  zweiten 


m 


VIol. 


I 


sind  ebenfalls  die  Fühler,  die  nachher  ausgestreckt  werden, 
fast  bedeutender  als  dieses  Thema  selbst.  Aber  die  Kraft 
die  auf  diesen  Grundlagen  aus  der  Musik  sich  erhebt, 
ist  bedeutend  genug.     Das  Andante  ist  im  Anfang 

Andante.  ^^^ 


D    O 


A B —     C 


D 


Es      P 


Beethoven*scher    Abkunft,    in     der    Fortsetzung    äussert 
R.  Wagner  seinen  Einfluss.    Das  zweite  Thema 


dientder  Stimmung 


zum  Ausruhen. 

Das  Scherzo  wird  durch   kleine,  zur  Besonnenheit 
und  zum  Aufhalten  mahnende  Wendungen  viel  origineller 

Presto. 

als   sein   Anfang    ^g  f  ^"^"Y^-^ 


A-      -^A-'-  A 

verspricht.  Das  Trio,  im  scharfen  harmonischen  Gegen- 
satz —  A  dur  gegen  A  moU  —  eingeführt,  tändelt  allerliebst, 
freundliche  Gedanken  mehr  andeutend  als  aussprechend. 
Das  Finale,  eine  flott,  frisch  und  im  unverfälschten 
Französisch  gehaltene  Balletscene,  unterhält  sehr  hlibsch, 
Ch.  Wldor  erscheint  aber  in  ihrem  Wesen  zu  leicht. 
Zweite  Sinfonie.         Widor*s  zweite   Sinfonie   (Adur,    op.  54)  ist  das 


^ 

1 


CO     695     ^ 

Lebenszeichen  einer  heitern  kräftigen  Seele.  Sie  stürmt 
jugendlich  übermüthig  namentlich  in  den  ersten  Sätzen 
dahin,  manchmal  in  burschikosen  Wendungen,  die  an 
Schumann  erinnern. 

Ihr  innerstes  Wesen  offenbart  sie  mit  den  ersten  Tönen, 
mit  dem  Hauptthema  des  ersten  Satzes 

Allegro  vivace.  J  s  160 

j!¥gjrii^ii  niiiTiHTi^i  I II 


Ihm  folgten  auf  den  Fusse  einige  feierlich  geheimnissvolle 
Takte,  die  uns  mit  romantischen  Regungen,  dem  Sinn  für 
des  Lebens  Räthsel  bekannt  machen.  Sie  schliessen  ganz 
merkwürdig.    In  das  Gis,   das  die  Bässe  aushalten,  singt 

die  Oboe  ein  e  \  a  \  a  hinein.  Das  ist  ein  Spielen  mit  dem 
Feuer,  zu  dem  auch  die  andern  Sätze  viel  neigen.  Alle 
Spannung,  die  die  Kühnheit  im  ersten  Satze  erregt,  löst 
sich  immer  wieder  behaglich  durch  die  Weisen  des  zweiten 


Tanzgedanken  nicht  fern  stehen. 

Der  zweite   Satz  ist  ein  Scherzo  ausnahmsweise  im 
Viervierteltakt.    Sein  Hauptthema 

Moderato.  J:104 


P 

ein  Stück  burlesker  Kunst.  Im  Innern  des  Satzes  herrschen 
Dämonen,  die  durch  Walkürenklänge  sich  und  den  Ein- 
fluss  Wagner's  verrathen.    Das  zweite  Thema 


A  ff  fi  Vi«  I?  "  ^^  1? 


A IL      O ¥Vf. 

sehnt  sich  nach  dem  ersten  Satz  zurück. 

Der  dritte  Satz  giebt  sich  mit  dem  leitenden  Thema 


't 


<^     696     ^ 


Aodante.  J:6S 

rf'^jJüu.ij  I ijj 1 1  ig? L'  ' 


als  Ballade  zu  erkennen.  Aus  dem  ruhigen  Anfang  geräth 
sie  in  wild  dramatische  Erzählung  aufregender  Begeben- 
heiten, denen  sich  das  zweite  Thema 

Tr  Aoq  u  1  llamente. 


j^.  ,>rff|i-;^i2'^^^iii7Fr 


I 


mild  beschwichtigend  entgegenstellt. 

Das  Finale  beginnt  in  sehr  schwankender  Stimmung: 
leicht  und  coquett  scherzenden  Motiven  tritt  ein  Gedanke 
entgegen 

.Moderato.  ..a^.— 


E^^ 


cresc 


tjßtf±^iih^^m 


der  an  die  geheimnissvollen  Takte  erinnert,  die  am  An- 
fang der  Sinfonie  dem  ersten  Auftreten  des  Hauptthemas 
folgten.  Schliesslich  festigt  sich  die  Stimmung  und  spricht 
sich  mit  dem  Thema 

Alh-gro  con  brio.  d:  120 


heroisch   aus.    Unter  den  Gedanken  die  es  ergänzen,   ist 


der  folgende  ^^^-f+fTr  lj|-7"r  \^t  T  |^^ 


der  wichtigste.    In  einer  mildem  Lesart  lautet  er 


fP^f-fJ^-^^^- 


Auch  die  Italiener  sind  im  letzten  Jahrzehnt  wieder 
an  die  Sinfonie  herangetreten.  Die  wenigen  Werke  der 
Gattung,    die    in   Druck  gekommen   und   in   Deutschland 


«c     697     ^ 

probirt  worden  sind,  die  Sinfonien  von  Sgambati  und 
Martucci  lassen  jedoch  erkennen,  wie  lange  in  dem 
mnsikreicben  Lande  die  Arbeit  geruht  hat,  die  eine  durch 
übergrosse  Genügsamkeit  der  Ideen,  die  andere  durch 
deren  Schwulst  und  Unselbständigkeit.  Viel  Hoffnung  ist 
auf  das  Eingreifen  Enrico  Bossi's  zu  setzen. 

In  absehbarer  Zeit  dürfen  wir  auch  englische  Sin- 
fonien auf  dem  Continent  erwarten.  Wie  nun  auch  neue 
Wässer  mit  dem  Strom  sich  mischen  mögen,  die  nächste 
Entwickelung  der  Sinfonie  wird  hauptsächlich  durch  die 
Gruppe  Brahms  —  Draesekc  —  Brückner  —  Mahler  be- 
stimmt sein.  Denn  die  Brücke  zu  einer  grossen,  zu  einer 
monumentalen  Kunst,  nach  der  unsre  Zeit  zu  drängen  be- 
ginnt, liegt  auf  ihrer  Seite. 


Druckfehlerberichtigungen. 

Die  Korrektur  erfolgte,  wätirend  der  Verfasser  durch  Abwesenheit 
behindert  war.  In  dem  folgenden  Verzeichnisse  hat  man  davon  ab- 
gesehen  y  diejenigen  Verbesserungen  antuführen,  die  sich  Jedem  Leser 

von  selbst  ergeben. 

Seite      2  Zeile  14  statt  ^Tabourin*  lies  , Tambourin*. 
,        11      ,      20  lies  1604.    Das  wenig  bekannte  Werk 

(Exemplar:  Stadtbibliotbek  su  Bautzen) 
beisst  Paduanen  und  Gaillarden. 
20      ,      20  statt  ,bain*  lies  ,(Sänger.)balle\ 
,        43  Notenbeispiel  b  in  Takt  1  beisst  das  1.  Secbs* 

zebntel    a    (nicbt   li),    in    Takt    3    beisst    das 

2.  Secbszebntel  a  (nicbt  ^). 
,        43  Notenbeispiel  c  in  Takt  3  beisst  die  erste  Hälfte 


134  Zeile  3  v.  u.  statt  «cbauts"  lies  «chants*. 

144  im  ersten  Notenbeispiel  muss  der  3.  Takt  beissen 


« 


200  Zeile  2  v.  u.  statt  ,Pongius*  lies  ,Pougin*s*. 
,       219      ,    15  statt  , Partei**  lies  , Partie*. 
,       220      ,      9  statt  ,1844*  lies  ,1814*. 
,       234  zweites  Notenbeispiel  sind  nacb  der  Auftaktnote, 

nacb   der  letzten  Note  des  zweiten  Taktes  und 

nacb  den  beiden  letzten  Noten  des  dritten  Taktes 

Punkte  zu  setzen. 
y,      245  zweites  Notenbeispiel  ist  im  letzten  Volltakt  ein 

tt  vor  die  erste  und  ein  Jj  vor  die  6.  Note  zu  setzen. 

„      348  erstes  Noten  beispiel  beisst  die  4.  Note  g  (nicbt  7). 
,       376  erstes  Notenbeispiel  muss  im  2.  Takt  das  3.  Achtel 


es  (statt  d)  beissen. 
399  Zeile  13  statt  „tängeluden*  lies  .tändelnden*. 


c(?     699     ^ 

Seite  419  erstes  Notenbeispiel  lautet  die  Figur  fünf  mal 
J^  statt  JJJ^ 

,      428  Notenbeispiel  muss  das  dritte  Achtel  im  zweiten 

Takt  wegfallen. 
,      444  Zeile  14  statt  .Kittel«  lies  ,Kittl*. 
„      461  erstes  Notenbeispiel  muss  zu  Anfang  des  8.  Taktes 

ein  tj  vor  b  stehen. 

«      537  Notenbeispiel  fehlt  vor  der  3.  Note  (Ä)  ein  K 

,  602  erstes  Noten beispiel  muss  die  letzte  Note  des  vor- 
letzten Taktes  c  (nicht  d)  heissen. 

,  607  drittes  Noten  beispiel  muss  im  vorletzten  Takt 
über  den  3  Viertelnoten  das  Triolenzeichen  ^ 
stehen. 

fl      608  drittes   Notenbeispiel    muss    der   letzte    Accord 

fis-c-es-a  (nicht  gts-c-es-a)  heissen. 
,      610  Zeile  1  v.  u.  statt  „Reinsberger's*   lies  ,Rhein- 

berger*s*. 
j,      617      ,      6  V.  u.  statt   .Repercassion*   lies  ,Reper- 

cussion*. 
^       635  vorletztes  Notenbeispiel  muss  im  vorletzten  Takt 
auf  dem  letzten  Achtel  ein   t(  vor  h  (resp.  b) 
stehen. 
,       637  letztes  Notenbeispiel  muss  nach  der  1.  Note  des 

vorletzten  Taktes  ein  Punkt  stehen. 
yt      638  erstes  Not^nbeispiel  muss  nach  der  1.  Note  des 

2.  Taktes  ein  Punkt  stehen. 
,       641  Zeile    8/9    muss    die    Parenthese    nicht    nach 

»grazioso**    sondern    nach    ,  Presto    ^Z^* 
geschlossen  werden. 
655      ,      20  statt  ^Nitzsche*  lies  , Nietzsche*. 
688  zweites    Notenbeispiel    muss    zu    Anfang    des 

6.  Taktes  ein  ij  vor  c  stehen. 
690  erstes  Notenbeispiel  muss  die  2.  Note  im  4.  Takte 
ein  Achtel  sein. 


REGISTER. 


d'ilayrac,  299. 
Andre,  Hofrath,  189. 
Areosky,  511. 
Aspelberger,  47. 

Bach,  J.  S.,  29  ff.,  45,  153. 

Bach,  Ph.  E.,  47  ff,  56,  67, 
109,  262. 

Balakireff,  511. 

Bargiel,  W.,  562,  585. 

Bassani,  6. 

Bäwerl,  P.,  11  ff. 

Beethoven,  L.  v.,  8,  40,  87, 
108, 109,  130  ff.,  188, 189, 
191,  286,  308,  405,  420, 
454,  470,  472,  477,  484, 
527,  531,  584,  591,  592, 
612,  615,  632,  657. 

Benda,  F.,  47,  441. 

Bennet,  S.,  266. 

Berlioz,  H.,  2((6  ff.,  316,  395, 
529,  571,  676. 

Biancheri,  6,  35. 

Bird,  A.,  575. 

Bizet,  G.,  369  ff. 

Blyma,  189. 

Boccherini,  203. 

Böhner,  L.,  160. 


Boieldieu,  374. 
Borodin,  A.,  532  ff. 
Bossi,  £.,  697. 
Brahma,  J.,    17,  213,  440. 

564ff.,  575,  615,  «2f., 

697. 
Brandl,  189. 
Braune,  189. 
Brach,  M.,  600  ff. 
Brückner,  A.,  652  ff.,  697. 
Brüll,  J.,  575. 
Burgmüller,  X.,  266. 

Cannabich,  Chr.,  46. 
Cast^Ui,  D.,  9. 
CavaUl,  36  f. 
Cesti,  37. 

Cherubini,  L.,  201,  259. 
Clementi,  M.,  207. 
Couperin,  22. 
Cowen,  F.,  439  f. 
Cui,  C,  553. 
Czemy,  C,  210. 

Dargomijskj,  511. 
David,  Fei.,  315. 
Delibes,  L.,  369. 
Dietrich,  A.,  602. 


I      . 


Co'     701     ^ 


Ditteredorf ,  44,  58,  61,  158, 

190  ff. 
Draeseke,  F.,  512,  514 ff., 

576  ff.,  653,  697. 
Dussek,  Fr.,  442. 
Dvorak,  446,  469  ff.,  539. 

Eberl,  A..  130,  225,  558. 
Ertelius,  F.  S.,  9. 
Esser,  H.,  561. 

Fattorini,  G.,  9. 
Fesca,  F.  E.,  248. 
Fibich,  Z.,  507  f. 
Fielitz,  47. 
Fraock,  C,  683  ff. 
Frank,  M.,  11,  16,  17,  18. 
Friedrich  d.  Gr.,  40. 
Froberger,  22,  58. 
Fuchs,  R.,  575  f.,  679. 

Gabrieli,  A.,  3. 

Gabrieli,  G.,  3  ff.,  6,  10,  35. 

Gade ,  N.  W. ,  266 ,  415  ff., 

573  f. 
Galuppi,  46,  109. 
Gähriug,  266. 
Gernsheim,  F.,  612  f. 
Gilson,  P.,  365  ff. 
Giuliani,  F.,  9. 
Glazunoff,  A.,  543  ff. 
Glinka,  M.,  511,  542. 
Gluck,  Chr.  W.  v.,  23,  27, 

38,  41,  46,  109,  412. 
Godard,  B.,  3S7. 
Goldmark,  C,  340  ff. 
Gossec,  Fr.  J.,  200. 
Gölz,  H.,  612,  620  ff.,  653. 


Graun,  42,  46. 
Gretry,  299. 
Grieg,  E.,  420,  424  ff. 
Grimna,  J.  0.,  562  f. 
Guglielmi,  109. 
Gyrowetz,  45. 

Hamerik,  A.,  420. 
Händel,  G.  F.,  23,  28,  29, 

37,  38,  41,  52,  56,  405,  621. 
Hartmann,  E.,  420. 
Hasse,  A.,  42,  46. 
Hassler,  L.,  11. 
Hausmann,  V.,  10, 11, 16,  54. 
Haydn,  J.,  40,  51  ff.,  109, 

115,  117,   118,  129,   132, 

135,  154,   167,  176,   180, 

191,  233,  414,  437. 
Haydn,  M.,  203. 
Helstedt,  266. 
Herbeck,  J.,  561. 
Herzogenberg,  H.  v.,  651  f. 
Hesse,  A.,  266. 
Hiller,  F.,  585. 
Hiller,  J.  A.,  46. 
Hofmann,H.,338ff.,440,653. 
Hol,  R.,  585. 
Holtzbauer,  J.,  46. 

Jadassohn,  S.,  563. 
Indv,  V.  d',  357  ff. 

Jomelli,  N.,  44,  46. 

Kalliwoda,  W.,  222  ff.,  443. 
Kittl,  J.  F.,  443. 
Klughardt,  A.,  :J33, 679, 680  f. 
Knecht,  J.  H.,  160. 
Koch,  F.,  356. 


^     702     ^ 


Kohaut,  47. 
Kozelucb,  L.,  441. 
Kuffber,  189. 
Kubnau,  58. 

Lachner,  F.,  556  IT.,  681. 
Leo,  L.,  42. 
Leonhard,  266. 
Leopold  L,  Kaiser,  8. 
Liszt,  F.,  39, 266, 816  ff.,  414, 

445,  591,  692. 
Lübres,  266. 

Lully,  J.  B.,  23,  26,  40. 
Luzzo,  37. 

Mabler,  G.,  315,  675  ff.,  697. 
Marenzio,  L.,  3. 
Markull,  266. 
Martucci,  697. 
Mascbek,  P.,  180. 
Maschek,  V.,  441. 
Mascbera,  7. 
Massenet,  J.,  387  f. 
Max  Josepb  v.  Bayern,  46. 
Mayr,  S.,  268. 
Möbul,  201  f. 
Mendelssobn-Bartboldy ,  F., 

228,  238  ff.,  249,255,  417, 

453,  529,  551,  585. 
Mercadante,  269. 
Meyerbeer,  269. 
Möhring,  266. 
Molique,  266. 
Monteverdi,  2,  35  f. 
Moszkowski,  M.,  576. 
Mozart,  W.  A.,  47,  95.  105, 

108  ff.,  135,  141,  192,  203, 

204,  222,  446. 


Muffat,  G.,  21, 23  ff.,  58, 191. 
Müller,  W.,  82,  472. 
Müller  (diverse),  265. 
Müncbbausen,  Baroo  r.,  46. 
Mysliwsczek,  58,  441. 

Neukomm,  S.,  210. 
Nicod^  J.  L.,  315. 

Onslow,  H.,  227. 

Pacini,  269. 
Pape,  266. 
Petzel,  J.,  19. 
Peurl,  P.,  11  ff.,  15,  19. 
Pergolesi,  G.  B.,  44. 
Piccbi,  G.,  9. 
Piccini,  N.,  42,  109. 
Picbel,  58. 
Pleyel,  61. 

Quantz,  44. 

Raff,  J.,  39,  81,  329  ff.,  414, 

440,  531,  556,  561,  655. 
Rameau,J.P.,23,26,38,42,315. 
Heieba,  441. 
Reicbe,  G.,  9. 
Rcinecke,  C,  585  ff. 
Reinbold,  H.,  575. 
Reissiger,  C.  G.,  585. 
Reznicek,  E.  N.,  576,  581  ff. 
Rbeinberger,  J.,  334  ff.,  358. 
Rietz,  J.,  480,  585. 
Ries,  F.,  210. 
Rimsky-Korsakoff,  389  ff. 
Romberg,  A.,  222,  225. 
Romberg,  B.,  222.