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FÜHRER
DURCH DEN CONCERTS^AL
TON
HEBMANN EBETZSOHMAB.
I. ABTHEILÜNG:
SINFONIE UND SUITE.
I. BAND.
DRITTE AUFLAGE.
HIEBENTKS TAUSEND.
LEIPZIG
VERLAG VON BREITKOPF & HÄRTEL
1898.
v.l
^W« Rechte, atAch das der Ubersetzungy vorbehalten.
Das Recht des Einzelabdrucks und dessen H'eitervergebung
steht ausscMiesslich den Verlegern Breitkopf dt Härtel
in Leipzig zu.
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VORWORT
zur ersten Auflage.
Der vorliegende „Führer durch den Concert-
saal^ ging aus einzelnen Aufeatzen hervor, welche
ich im Laufe der Jahre fb die von mir geleiteten
Concert« geschrieben habe, um die Zuhörer auf
die AufflQirungen unbekannter oder schwierig zu
verstehender Compositionen vorzubereiten.
Für die Buchform sind diese Artikel umge-
arbeitet und dahin vervollständigt worden, dass
die erläuterten Werke in geschichtlicher Folge
erscheinen. Da Historie und Kritik unzertrenn-
lich sind, wird man entschuldigen, dass die Com-
positionen und die Componisten auch beurtheilt
werden. Ich hoflFe jedoch mich in dieser Be-
ziehung durchschnittlich in den gebotnen Grenzen
gehalten zu haben. Den ersten Gesichtspunkt
flir Aufiiahme oder Weglassung, kürzere oder aus-
^^ ftthrlichere Behandlung der Werke und Künstler
bildete ihre Stellung im heutigen Repertoir, den
/ zweiten ihre kunstgeschichtliche Bedeutung. Aus
ersterem Grunde mussten unter anderen einige
%
->
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«0' IV* ^
Compositionen aus der jüngsten Gegenwart zur
Zeit noch unberücksichtigt bleiben.
Rostock, 26. September 1886.
Dr. Hermann Kretzschmar,
Acftdemisoher Lehrer der Matik ma der LandetuniTenit&t,
OroMhersogl. u. itädt. MoBlkdireotor xu Boatook.
Zur zweiten Auflage.
Das Erscheinen einer zweiten Auflage bietet
mir wiUkommene Gel^enheit für die freundliche
Aufnahme, die mein „Führer* gefunden hat, herz-
lich zu danken.
Im Wesentlichen ist das Buch geblieben, wie
es war. Ich konnte mich darauf beschränken,
einzelne Irrthümer zu berichtigen und da und dort
das geschichtliche Bild zu ergänzen.
Leipzig, September 1890.
Dr. Hermann Kretzschmar,
AoMerordentlicher Professor au der Universität Leipzig
and UniverBitätamusikdireotor.
Zur dritten Auflage.
Wegen Ueberbürdung und Krankheit des
Verfassers hat diese Abtheilung des „Führers" seit
Jahren im Handel fehlen müssen. Jetzt erscheint
sie beträchtlich verändert. Die Händerschen Con-
certi grossi, S. Bach's Brandenburger Concerte, die
*
e© V «o
sinfonischen Dichtungen Liszt's und seiner Nach-
folger sind weggelassen und flir den in Vorberei-
tung begriffnen Schlusstheil des Werks (Concerte,
Ouvertüren u. s. w.) zurückgestellt worden. Trotz-
dem ist die neue Auflage doppelt so stark wie
die Yorhergehende und der besseren Handlichkeit
wegen in zwei Bände zerlegt worden. Die
Vermehrung kommt eines Theils auf die ältre Ge-
schichte Yon Suite und Sinfonie ; zum andren waren
eine grosse Anzahl von .Werken aus jüngster Zeit
ganz neu au&unehmen. Wenn die meisten Yon
diesen sehr ausführlich behandelt worden sind, so
zwangen dazu äussre, praktische Gründe. Grund-
satzlich bin ich nach wie vor der Meinung: dass der
Erklärer sich vor Allem der Kürze befleissigen und
bei Denen, welche sich mit Sinfonien beschäftigen,
einige Kenntniss in der musikalischen Formenlehre,
mindestens die Fähigkeit, Thüren und Fenster zu
unterscheiden, voraussetzen soll. Ich habe es des-
halb trotz gütiger Aufforderungen abermals ver-
mieden immer wieder zu sagen, aus wieviel Takten
die und die Melodien bestehen, in welchen
Tonarten sie beginnen und schliessen, und mich
darauf beschränkt den Leser mit Dingen des äussren
Mechanismus nur soweit zu behelligen, als sie be-
sondre Wichtigkeit haben. Mein Bestreben ging da-
hin : anzuregen, ins Innre und Intime der Werke und
der Künstlerseele zu flihren und womöglich den Zu-
sammenhang mit der Zeit, mit ihren besondren
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musikalischen Verhältnissen, mit ihren geistigen
Strömungen au&udecken.
Dass mein ,, Führer^ auch Andere zu gleichen
Versuchen yeranlasst hat, ist mir sehr schmeichel-
haft; dass er zuweilen ohne Weitres benutzt wird,
noch mehr. Doch erlaube ich mir darauf auf-
merksam machen, dass in Fallen wortlicher Ent-
lehnung schweigende Dankbarkeit oder Verlane
Gäusefiisschen nicht genügen, sondern dass dann
der literarische Anstand vollständige Quellenangabe
verlangt.
Dem Publikum und meinen Kritikern bin ich
für die freundliche Auihahme auch der zweiten Auf-
lage verbunden.
Zum Schlüsse spreche ich den Vorstanden von
Bibliotheken und Archiven, sowie den Herren Ver-
legern — insbesondre den Herren Breitkopf & Härtel
— die auch die Arbeit an dieser Auflage bereit-
willigst durch Ueberlassung von Materialien unter-
stützt haben, herzlichsten Dank aus.
Leipzig, October 1898.
Dr. Hermann Kretzschmar,
Ausserordentlicher Professor an der Universii&t Leipxig.
INHALT.
I. Band.
Seite
Von Oabrieli bis Bacb. Blütbezeit der Orcbestersonate
und der Saite, Entwickelnng der Sinfonie . . 1 — 50
J. Haydn, Mozart, Beetboven 51 — 187
Nebenm&nner and Gefolge der Classiker. Vorifiofer
and Haaptvertreter der Romantik 188 — 264
n. Band.
Die Programmmosik and die nationale Riebtang in
der Sinfonie 265—554
Die moderne Saite und die neueste Entwickelang
der dassiscben Sinfonie 555 — 697
mtlsikalischen Yerhaltnifisen, mit ihren geistigen
Strömungen ao&adecken.
Dass mein „Führer^ auch Andere zu gleichen
Versuchen yeranlasst hat, ist mir sehr schmeichel-
haft; dass er zuweilen ohneWeitres benutzt wird,
noch mehr. Doch erlaube ich mir darauf auf-
merksam machen, dass in Fallen wortlicher Ent-
lehnung schweigende Dankbarkeit oder verlegne
GäusefÜsschen nicht genügen, sondern dass dann
der literarische Anstand vollständige Quellenangabe
verlangt.
Dem Publikum und meinen Kritikern bin ich
für die freundliche Aufnahme auch der zweiten Auf-
lage verbunden.
Zum Schlüsse spreche ich den Vorstanden von
Bibliotheken und Archiven, sowie den Herren Ver-
legern — insbesondre den Herren Breitkopf & Härtel
— die auch die Arbeit an dieser Auflage bereit-
willigst durch Ueberlassung von Materialien unter-
stützt haben, herzlichsten Dank aus.
Leipzig, October 1898.
Dr. Hermann Kretzschmar,
Aassorordentlicher Professor an der Universität Leipzig.
INHALT.
I. Band.
Seite
Von Gabriel! bis Bacb. Blfitbezeit der Orcbestersonate
and der Suite, Entwiekelong der Sinfonie . . 1 — 50
J. Haydn, Mozart, Beethoven 51 — 187
Nebenm&nner and Gefolge der Classiker. Vorläufer
and Haaptvertreter der Romantik 188 — 264
n. Band.
Die Programmmosik and die nationale Richtung in
der Sinfonie 265—554
Die moderne Saite und die neueste Entwickelang
der dassischen Sinfonie 555 — 697
I.
Von Gabrieli bis Bach.
Blüthezeit der Orcliestersonate und der Suite,
Entwickelung der Sinfonie.
pCDii wir nach den Anfängen unsrer heutigen Concert-
•i-/ musik für Orchester suchen, so müssen wir eine
beträchtliche Strecke zurückwandern. Nachdem die besseren
Elemente unter den Spielleuten durch eigene Verbände.
wie die Wiener Nicolaibrüderschaft, die Brüderschaft der
Pfeifer im Elsasss sich aus der Masse des fahrenden
Volkes gelöst hatten, kamen ihnen auch Höfe und Städte
"ZU Hülfe. Die Fürsten gründeten zunächst für Kriegs-
und Repräsentationszwecke im 15. Jahrhundert die vor-
nehmen , Trompeterzünfte*, deren Mitglieder Offiziers-
rang hatten.*) Noch weiter reichen in den grossen deutschen
Städten die Versuche zurück, das Musikgewerbe ehrbar
und zunftmässig zu machen. Bestimmte Nachrichten aus "
Wismar-), Basel*), Lübeck*) und anderen bedeutenden
Handelsplätzen *) zeigen die Anfänge der spätem „Stadt-
pfeifereien* bereits im 14. Jahrhundert.
') J. S. Altenburg, Vorsach oiner Anleitung zur heroisch-
masikalischen Trompeter- und Paukenkunst. 1795.
^) W. Crull, Mecklonburgischod Urknndenbuch. 1879.
3) A. Reissmann, Allgemeine Geschichte der Musik.
4) Carl Stiehl, Musikgoscliichte der SUdt Lübeck. 1891.
5) Wilb. Bttumcker, Zur Geschichte der Tonkunst in
Deutschland. 1881.
KretSBchmar, FUhrer. I. 1
eine Octav tiefer ein als der erste. Dadurch klingen seine
Wiederholungen immer viel ernster, dunkler, geheimniss-
voller. Um so mehr, als die heiden Chöre im Freien weit
von einander, in der Kirche auf verschiedenen Emporen
aufgestellt waren. Den grosst^n Raum setzen auch die
Tuttis voraus ; in unsere heutigen Concertsäle passen darum
diese Kirchen- und Festsinfonien nicht gut. Sie haben
noch, eine grosse Anzahl wenigstens, eine andere Schwierig-
keit für den modernen Hörer: Sie entwickeln nicht, wie
die neuere Instrumentalmusik vorzugsweise thut, ihre
Perioden und Sätze mit Wiederholungen und Verwand-
lungen eines Themas oder eines Motivs, sondern die
Musik strömt daher in der Form , unendlicher Melodie",
um einen Wagner'schen Ausdruck zu gebrauchen. Auch
in den einchörigen Compositionen dieser Gattung mochte
man auf den Reiz des Chorwechsels nicht ganz ver-
zichten. Man ersetzte und deutete ihn hier gern durch
ein sogenanntes ,Echo* an. Eine kleine Gruppe von
Spielern in einem Nebenraum, jedenfalls entfernt und
möglichst verdeckt aufgestellt, wiederholt sparsam oder
reichlicher kleinere und grössere Abschnitte der Musik
Bianchcri. ^*'^ Hauptchors. Unter den Zeitgenossen Gabrieli's macht
Baisani . B i a n c h e r i unter den Nachfolgern B a s s a n i viel G ebrauch
vom Echo im Orchester. Eine viel grössere Bedeutung hat
es aber in der mehrstimmigen Gesangmusik des 16. Jahr-
hunderts. Viele Wiederholungen in den Chören jener
Zeit, die uns befremden, sind sofort verständlich und
schön, wenn man sie dem Echo giebt. Ein naheliegendes
Beispiel bietet das weltbekannte „Ecce quomodo* von Jacob
Handl (Gallus"! mit der Refrainstelle: ,Et erit in pace*.
Die einchörigen Orcbestercompositionen des G. Gabrieli
haben offenbar eine andere Bestimmung als seine doppel-
chörigen; sie setzen andere Räume und andere Stimmung
voraus. Die Violinen konunen jetzt mehr zur Geltungj
die Musik klingt zur Hälfte gut weltlich. Man kann an
Vermählungsfeiern und andere Familienfeste in hohen
Patrizierhäusern denken. Ein Glanzstück dieser Art ist
die als Nr. VIU in der Wasielewski'schen Sammlung
cc 7 '«>"
mitgotheilte 6 stimmige Canzone für zwei Violinen, zwei
Cornetten und zwei Posaunen, eine Composition, interessant
durch den Wechsel fröhlicher und frommer Stimmung.
Ein heiteres, munter bewegtes Thema:
A]l«gro nuMtoso. Cornett.^
^-, setzt ein und läuft
rUUU TT f T
TeaorpoMnne.
durch die Stimmen ; ein breiter, ernster Gesang des vollen
Orchesters, durch den Rhytmus allein schon scharf ge-
(Ylolloen and volles Orchester.)
schieden: tf " '^^ 1 "' 1 " ^ j^ 1 "' | ^^ilt ihm ent-
gegen. Dieser Wechsel wiederholt sich fUnfmal und
so, dass die Gruppen immer breiter, und namentlich die
Abschnitte im Tripel Takt immer majestätischer werden.
Dann krönt ein freier Schluss, die Freudigkeit des Stücks
zur Ausgelassenheit steigernd — im Kleinen ein Vorläufer
Beethoven'scher Finalausgänge, — das Ganze. Will Jemand
— und unsere Musikschulen mlissten das wollen — die
Gegenwart wieder mit G. Gabrieli*s Orchestercompositionen
bekannt machen, so eignen sich die beiden näher geschil-
derten Stücke ganz besonders dazu. Auch wohl deshalb
noch, weil ihre Besetzung mit den modernen Mitteln, sonst
so häufig ein Stein des Anstos.ses für die Wiederbelebung
alter Tonkunst, keine Schwierigkeiten macht. Vergleicht
man Compositionen, wie diese Canzone, mit gleichartigen Mascher».
seiner italienischen Mitarbeiter, Mascheras in Brescia z. B.,
so überragt Gabriel! die anderen unverkennbar an innerer
Lebendigkeit und feinem Geschmack. Der letztere zeigt
sich namentlich in seiner Behandlung der contrapunktischen
Formen. Die Nachahmungen werden, auch wenn sie sich
mit Leichtigkeit viel weiter führen Hessen, immer bei
Zeiten abgebrochen. Andere thun es in gleicher Lage
nicht unter einer regelrecht durchgeführten Fuge.
Die Orchestermusik G. Gabrieli's hat auf einen weiten
Umkreis in der ferneren Geschichte der instrumentalen
Composition nachgewirkt. In ihrer Form lag schon der
Kt'im za dem n<'ueren Schema der Sonate und seiner
Nachkommenschaft. Den Ton und Geist der Gahrielischen
Sonate finden wir noch lange in den kurzen einsätzigen
Instrumentalsinfonien, die in den geistlichen Vocal-
concerten und Cantaten des 17. Jahrhunderts vorkommen^
'^****'' u. a. auch in den Compositionen Kaiser Leopolds I.*)
U«p«l4 1. gjp kamen durch Monteverdi und seinen ,Orfeo* auch
eine Zeitlang in die Oper hinein. Sie bildeten endlich den
direkten Anfang einer ganz besonderen Gattung einsätziger
Festsonaten für Bläserorchester, die in den Musikschränken
aller Instrumentalcapellen ausreichend vertreteu war. Den
ganzen Umfang dieses Kunstgebietes festzustellen, bedarf
es noch besonderer Untersuchung. Gepflegt wurde es
von hervorragenden und von unbekannten Componisten;
denn es war in der Sitte der Zeit begründet. Wir können
es auch heute nicht ganz entbehren, obwohl unser öffent-
liches Leben auf musikalischen Schmuck und musikalische
Weihe bis zu einem bedenklichen Grade verzichtet hat.
Fast will es scheinen, als sollte die Tonkunst ins Concert
gesperrt und da strangulirt werden! Thatsache ist, dass
die heutigen Componisten für Feierlichkeiten, wie sie sich
bei Einweihungsakten, bei solennen Empfängen und Be-
grUssungen vollziehen, wenig componiren und wenn sie
es thun, treffen sie nur selten den richtigen Stil. Beethoven's
Ouvertüre ,Zur Weihe des Hauses* in allen Ehren, aber
man hört sie jetzt an Stellen und bei Gelegenheiten, wo
sie keinesfalls hinpasst! So empfehlen wir denn den
Dirigenten, die um ein feierliches Stück in Verlegenheit
sind, einen Griff in die alte Zeit der einsätzigen Gabrieli'schen
Sonate. Unter dreierlei Titeln bergen die Archive die
Reste dieser Tonfamilie: als Sonaten, Sinfonien und als
geistliche Concerte (Sacri concerti). Bei dieser dritten
Gruppe tritt zuweilen zu den Orchesterinstrumenten noch
Begleitung der Orgel oder eines anderen Harmonie-
instruments. Sie lassen sich daher in der Regel nur in
*) Musikalische Werke der Kaiser Ferdinnnd III., Leopold I.
und Joseph I. Herausgegeben von Guido Adler. Bd. I.
ob" 9 '^
Kirchen oder grossen Sälen verwenden. Die Mehrzahl
aller hierhergehörigen Compositionen ist, ganz ähnlich wie
hei der älteren Suite, für Bläserchöre bestimmt und alle
sind nur in Stimmdrucken vorhanden; zu einer neuen
Ausgabe in Partitur haben es bisher nur die von Wasie-
t^^vski mitgetheilten Stücke gebracht. So finden sich z. B.
aus ur.i^erer Klasse in der königlichen Bibliothek zu Berlin
folgendeNuiT.memiD.Castelli: Sonate concertante (Venedig
1621); F. S. Ertt*Uu8, Symphoniae sacrae (München 1611);
Gabr. Fattorini, Sacri concerti (Venedig 1615) ; Fr. Giuliani,
Sacri concerti (Venedig 1619); G. Piccbi, Canzoni da sonare
(Venedig 1625).
In Deutschland finden wir den letzten Vertreter dieser ttfHÄd
Gabrieli'schen Orchestersonate in Gottfried Reiche, jenem ßeiohe
Leipziger Stadtmusikus, für den Seh. Bach seine gefürch-
teten Trompetenpartien geschrieben hat Aus seinem
Hauptwerk: ,24 neue Quatrocinia*^ (Leipzig 1696) empfehlen
wir zur Einführung namentlich das B durstück über
das Thema mr i ^ Jlp'frp" f I Damit beginnt in
markiger Harmonie der erste Theil. Ein mittlerer wendet
die Melodie in geraden Takt: £y'4i |t j ^m*\^^eic,
und führt sie in Fugenform durch die Instrumente, hier,
wie überall ein Bläserquartett von Comott und drei
Posaunen. Jedermann kann nur über die formelle Tüchtig-
keit und die wirklich hohen Gedanken in dieser und in
ähnlichen Arbeiten des schlichten Mannes erfreut sein.
Sie zeigen, wie sich auch bescheidene Kräfte auf einen
Kunstzweig verstanden, der uns heute wieder ganz fehlt.
Er verschwand im 18. Jahrhundert unter der Herrschaft
der Neapolitanischen Schule, der der feierlich gehaltene
Ton fast ganz fremd war; selbst in der eigentlichen
Kirchenmusik gelang es ihr ihn völlig zu verlernen. Wie
schnell aber die alte Orchestersonate in jener über-
productiven Zeit vergessen wurde, das kann man daraus
CO-
10 o-
ersehen, dass Gerber in seinem so vortreflFlicheu Lexikon
die grossen Gabrieli^s gar nicht erwähnt.
Der Gabrieli'schen Sonate folgte bald eine zweite
Gattung selbständiger Orchest^rcomposition: die Suite.
Unter diesem Namen, der sich im 18. Jahrhundert mehr
und mehr verbreitete , verstehen wir heute eine Folge von
mehreren in sich abgeschlossenen Stücken, in deren Inhalt
und Form die Tanz- und Liedmusik überwiegt. Die Sonate
war eine freie und neue Schöpfung der höchsten und ge-
bildetsten Künstlerkreise; die Heimath der Suite ist die
Volksmusik. Wahrscheinlich ist sie so alt, wie das
Instrumentenspiel überhaupt. Denn wenn Spielleute zwei
im Charakter verschiedene Stücke — einen Choral und
gleich darauf einen Tanz z. B. , wie wir das in Deutsch-
land bei Umzügen und Morgenständchen noch tagtäglich
hören können -r- unmittelbar, ohne längere Pause, hinter-
einander spielen, so ist die Suite fertig. Geschrieben und
gedruckt zeigt sie sich zuerst [in der Lautenlitteratur des
16. Jahrhunderts.*) Dann kommt sie bei den Engländern
als Ensemblemusik für mehrere Instrumente. ^) In Deutsch-
land bürgert sich die Orchestersuite nach 1600 rasch ein
und durchläuft in vier, chronologisch nicht streng ge-
schiedenen Stufen ihre erste bedeutende Entwickeluug.
Nürnberg ist, sowie für das deutsche Chorlied des 16.» so
auch für diese alte deutsche Orc beste rsuito des 17. Jahr-
hunderts der Hauptdruckort.
Auf der ersten jener vier Stufen begegnen wir Suiten
als Sammlungen von Tänzen ein und derselben Sorte,
V. HaMmanD. wie z. B. in Valentin Hausmanns 24 , Neuen Intraden''
von 1604 oder in Benedict Widman's , Neuer musikalischer
Kurzweil" von 1608. Wie bei diesem letztgenannten Autor, so
finden sich auf dieser ersten Stufe überhaupt häufig den
^) Wolf Heckeis Lautenbuch 15G2, Matthias Reymann's:
,,Noctös musicae'* 1598 z. B.
*; Th. Morley's Consort lessons, made by divers exquisite
authors for sex different instniments to jplay together, vizi: the
treble lote, pandora, citterne, base violi, flute and treble violi.
Londres 1599; zweit© Auflage 1611.
c<?
11
^
Melodien Texte beigegeben. Hier lebt also noch entschieden
die Zeit, in der beim Tanzen auch gesungen wurde ; in der
späteren Suite macht sie sich durch Verwendung alter
Liedmelodien noch bemerklich.
Dann kommen Hefte mit zweierlei Tänzen; in der
Regel erst eine Anzahl gravitätischer Paduanen, dann
genau oder annnähemd ebensoviele neckische, muntere
Galliarden. Beispiel: L. Hassler 's , Neuer Lustgarten* L. Hattler.
von 160L
Auf der dritten Stufe gesellen sich zu den Paduanen
und Galliarden noch . Intraden. Das sind marschartige
Stücke, die den Paduanen nahe stehen. Beispiel:
Melchior Frankes Pavanen, Galliarden und Intraden. M. Framk.
Coburgk 1603.
Den Abschluss jener ersten Entwickelung der deutschen
Orchestersuite bilden Werke in vier Sätzen. Die Wahl
und Folge der Sätze ist bei dieser Stufe verschieden ; doch
haben die meisten zu ihr gehörigen Suiten Paduanen und
Galliarden behalten. Valentin Hausmann z. B. ordnet so
an: Intraden, Passamezzen, Paduanen, Gaillarden. 160*),
Paul Bäwerl (Peurl) bringt Paduanen, Intraden, Dantz P.Pearl.
und Galliarden (1611) hintereinander.
Erst hier an dieser vierten Stufe, stehen wir vor der
Suite im modernen Sinn. Dort, an den vorhergehenden
Stufen , schüttet der Componist gewissermassen jede Sorte
massenweiss vor uns hin, zur beliebigen Auswahl. Hier
überreicht er uns fertige [Sträusschen. Die Wahl und
Zusammenstellung der Blumen ist das Werk des Geistes
und des Geschmacks eines bestimmten Künstlers und es
kann nicht fehlen, dass sich das Walten einer höheren
Kunst in dieser neuen Suite noch in weiteren Merkmalen
äussert. Am meisten in's Auge fallt unter ihnen der
Gebrauch der Variationenform. Sie findet sich bereits bei
Hausmann. Der Passamezzo wird als Thema aufgestellt
und dann noch in fünf bis sechs namentlich rhythmisch
bedeutend und sinnvoll erfundenen Verwandlungen vor-
*; Gaillarde* siohe S. 15.
gi'führt. Mit der Variation gewann die Suite breite
Formen and die Möglichkeit, einen bedeutenden Gedanken
näher auszulegen. Sie hat aber davon immer nur be-
scheidenen Gebrauch gemacht ; in der Regel nur für einen
Satz. Man überliess solche Kunst der Orgelcomposition
und blieb mit der Suite in den Grenzen der Volksmusik
und in erster Linie immer darauf bedacht, kleine aber
sinnfällige Tonbilder zu erfinden.
Ziemlich häufig bilden auch die einzt»lnen Stücke der
Suite zu einander Variationen. Die Musik des einen kehrt
im nächsten ganz oder theilweis<» wieder; natürlich nicht
wörtlich, sondern rhythmisch und metrisch umgebildet und
mit neuen Melismen behangen. Der Vorgang ist ein ähn-
licher, wie in der Vocalmessi' des 16. Jahrhunderts, durch
deren Sätze sich bekanntlich leitende Themen ziehen. Die
Paduane ist nur selten in diese thematische Verwandt-
schaft der Suitensätze einbegriffen ; oft beschränkt sie sich
auf die beiden Blittelstücke. Bei Peurl, dem Hauptver-
treter dieser zweiten Variirungsart finden wir die thematische
£inheit der vier StUcke verhältnissmässig am häufigsten,
zuweilen allerdings nur in sehr zarten Andeutungen er-
kennbar. Die zweite seiner Suiten beginnt
in der Paduane:
in der Intrade: ^»ii p 11" f (Mp ') j^J I "* 1"^
im Dantz: y* f I ff} ^ J Ifjjijb^
in der Galliarde: ^ ffili p | [' f f p | Jj J | J.
Die 3. Paduane: i Vi {JJ^f Uf T
Intrade: ^^»1 [' NdJ^' T f I
cG" 13 '«>^
Dantz: ^P$ ^ | Jj f f ^^
Galliarde: ^^n?l (M Jj^j H'rnC^J
Die 5. Paduane :
crir'rfMrr ir
InlrsMle: <^><lll f T T (^-Tf I ["7^^
Dantz :
Galliarde: ^tW f irrfrlf|-|- 1 1^
Die 7. Paduane: jfc^i fff f p |jj^ ]
Intrade: ihfii K^ |f^ |" |> fgE
Dantz: ^ ^> f ""ff f [^^
Galliarde :
Die 10. PaduaDe: il\ f f f f ^^
Intrade: i <H f f T f ^^
Dantz:
Galliarde: ^»11 J If" f T f iT f V j
Die Einheit der Suite als Ganzes, die Zusammen-
gehörigkeit der vier Theile ist von den Künstlern der
vierten Stufe starker hetont, schärfer zum Ausdruck ge-
hracht worden. Es waren aber Ziele, denen man von
jeher zugestrebt hatt«; allerdings mit einem viel be-
scheideneren Mittel: Man hielt die Sätze in derselben
Tonart und bei dieser Gleichheit der Tonart ist die Suite
bekanntlich inmier geblieben. Das ist nach modernen
Anschauungen fast ein Fehler. Denn wir können in der
Kunst von Abwechselung, Gegensätzlichkeit, Steigerung
und dramatisch anregenden Elementen aller Art kaum
genug haben. Das geht in unserer Tanzmusik bisweilen
bis an die Carricatur. Ganz anders die ältere Zeit. Die
suchte, wenn es sich nicht gerade um Heiligen- und
Märtyrerbilder handelte, in der Kunst ruhige Sammlung
und Erhebung, reihte gern Verwandtes aneinander und
verweilte, den Standpunkt immer nur schrittweise verschie-
bend, gerne lang in Betrachtung desselben Themas. Diesem
Zuge ruhigen Eindringens kam die Fuge besonders ent-
gegen; er kommt aber auch in dem Tonartenverhältniss
der Suitensätze zum Ausdruck. Die Tonart bleibt immer
dieselbe; sie weist gewissermassen dem Zuhörer die
Stellung an, die er dieser Kunst gegenüber einnehmen soll :
wie vor der laterna magica leidenschaftslos geniessend, er-
freut, erwärmt, aber nie hingerissen und im seelischen
Gleichgewicht gestört.
Noch in einem anderen Punkte stand die Orchoster-
suite, vom ersten Auftreten an, künstlerisch bis zur Muster-
haftigkeit fertig da. Das ist die sogenannte Stimmführung.
Ob man die Suite für 4, 5, 6 oder 7 Instrumentalstinamen
schrieb, diese Stimmen waren alle als lebendige Individuen
gedacht, an den Motiven, Themen, Melodien der Musik-
stücke ziemlich gleichmässig betheiligt, die Hauptgedanken
in freien, leichten Nachahmungen aufnehmend oder mit
eignen, zierlichen, anfeuernden Erfindungen umspielend.
Von den Klangeffecten ihres Orchestersatzes verwendet auch
die alte Suite mit ebensoviel Vorliebe als Geschick das Echo,
ohne das ja — es sei nochmals bemerkt — weder die Gesaug-
co 15 'y^
uoch die InstrumcDtalcomposition des 17. Jahrhunderts zu
denken ist. Ihm am nächsten kommt der Wechsel von Solo
und Chor. Mit diesem Mittel geht sie unvergleichlich weitüher
das in der mehrstimmigen Gesangcomposition der früheren
Zeit übliche Maass hinaus und giebt dem geistlichen Vocal-
concert ihres Jahrhunderts unverkennbar Anregungen und
Vorbilder. Diese innere Einrichtung, dieses innere Leben
innerhalb der Stinmien ist eine der bedeutendsten Züge
der alten Orchestersuite : er setzt die Phantasie des Hörers
fortwährend in Bewegung, stellt sie vor Scenen, als wenn
die Menge dem voranschreitenden Helden zustürmte, in
seinen Ruf einstimmte.
Die oben aus Peurl beigebrachten Citate vermögen
vielleicht einen kleinen Begriff vom Geist und vom
Charakter der Orchestersuite in ihrer ersten Periode zu
geben. Es ist eine Kunst nach dem Motto: fromm und
fröhlich. Der Fröhlichkeit dienen die drei letzten Stücke
mit sich steigerndem Eifer. Aber auch die Galliarde geht
nie bis zur Ausgelassenheit; sinnige Anmuth bleibt das
Gebiet, auf dem die einzelnen Sätze einander zu über«
bieten suchen. So, wie wir es aus diesen Tönen hören, so
fühlten und so gaben sich die deutschen Bürgerkreise am
Anfang des 17. Jahrhunderts in ihren frohen Stunden:
sittig und liebenswürdig. Als das eigenthümlichste Stück
dieser alten Orchestersuite darf man diePaduane bezeichnen.
Auch sie ist dem Humor nicht unzugänglich ; ihren Haupt-
zug bildet aber der Ernst und die feierliche Sonntags-
stimmung. Sie hat, wie die Gabrieli'sche Orchestersonate
von Haus aus kirchlichen Geist. Einzelne Tonsetzer, wie
der süddeutsch-gemüthliche Peurl, setzen sich über ihn
hinweg, ja, es giebt sogar „lustige Paduanen** ; aber bei der
Mehrzahl der Suitencomponisten unserer Periode bleibt
doch der gehobene Feiertagston das wesentlichste Merkmal
der Paduane. Ihr äusserer Aufbau vollzieht sich in drei
scharf und klar geschiedenen Theilen. (Die Dreitheilung
bildete auch bei den übrigen Sätzen der Suite die Regel,
Zwei- und Viertheilung sind Ausnahmen.) Der Umfang
des ersten Theils wechselt von 8 oder 9 bis zu 20 Takten,
oC?
IG
-CK.
dtT zweite ist häufig »ehr kurz (4 Takte), der dritte wieder
ausgedehnter. Die Paduane setzt immer ruhig, breit und
gehalten ein, in einem Ton, der im Anfang von Wagnen*
Meistersinger- Vorspiel merkwürdig getn»u auflebt. Dann
regt es sich in Figuren, Sequenzen bescheiden aber plan-
voll und fest, zuweilen in einer etwas steifen Anmuth.
Der zweite Theil schliesst entweder an den Anfang an oder
stellt sich mit Motiven der Energie und Kraft in Geg(»n-
satz zu ihm. Der letzte, der dritte Theil, bringt neue
überraschende Einfälle in schnellen Noten, die aus allen
Ecken wiederklingen. Mit diesem Ende reicht die Paduane
der Weltlust und der Fröhlichkeit die Hand. Die ur-
sprüngliche und alleinige Vertreterin dieser Empfindungs-
elemente in der Suite ist die Galliarda (Gagliarda italienisch,
Gaillarde französisch). Sie steht immer im ungeradem
Takt und hat in der Regel drei gleich grosse Theile, deren
Umfang von 4 bis zu 16 Takten steigt. Der äusseren
Form nach ist die Galliarda der modernste unter den
Sätzen der alten viersätzigen Suite. Sie liebt die Symetrie
wie die Wiederholung im Satzbau und sie zeichnet
zweitens die Oberstimme vor den andern durch reichere
Beweglichkeit aus. Zwei reizende Beispiele für diesen
ersten Zug finden sich bei M. Frank:
Orazloso.
tif txr
(Nr. 27 in den Pavanen etc. von 1603) und bei Hausmann
^l|| liMi II MJ'J II Hl II I \\[\\ 1| I I
•^ 0_ ahn R - R 'n p ^^ ' ' p
*) Der Takt ist hier in moderner Form tibersetzt.
^
Zugleich auch gehen diese beiden Bruchstücke ein
Bild von dem Durchschnittscharakter der Galliarde. Ihn
beherrschen sichtlich noch dieselben mittelalterlichen An-
schauungen über die Grenzen weltlicher Kunst, denen sich
auch Dichtung und Malerei lange genug zu beugen hatten.
Der Ausdruck aller Empfindungen, auch der der Freude,
stand unter dem Gesetz der gesellschaftlichen Ehrbarkeit.
Im Madrigal noch schüchtern, entschiedener in der Oper
ging die Musik eben erst daran, diese Fesseln der Sitte zu
durchbrechen und sich in der naturtreuen Darstellung
mächtiger Leidenschaften zu versuchen. Die Instrumental-
musik, die bei dieser Aufgabe bald die wichtigsten Dienste
leistete, blieb in der Suite durchaus noch zurückhaltend. Es
sind nur einzelne Stellen in den alten Orchestergalliarden,
bei denen der Ton einer neuen Zeit sich vernehmlich
macht, hauptsächlich in der Form erregter Rhythmen, die,
als sie neu waren, ausserordentlich übermüthig und komisch
gewirkt haben müssen. So fahrt z. B. die Frank'sche
Galliarde, deren erster Theil eben angegeben wurde,
folgendermassen fort: _| ^ "
Der Galliardengeist lebt auch in der späteren Suite
unter anderen Formen und Namen, unter denen namentlich
Gigue und Menuett hervorzuheben sind, fort und noch die
neueste Instrumentalmusik sucht ihn festzuhalten, z. B. die
Brahms'sche Sinfonie in ihren, das Scherzo ersetzenden
Allegrettis. Aber am mächtigsten wirkt er doch da, wo
er zu Hause ist, nämlich in der Orchestersuite aus dem
Anfang des 17. Jahrhunderts. Sie verkörpert altdeutsches
Leben und Empfinden von einer Seite, mit der die Gegen-
wart jeden Augenblick wieder eine unmittelbare und
segensreiche Verbindung anknüpfen kann. Es sind deshalb
nicht blos kulturgeschichtliche, sondern auch künstlerisch
menschliche Gründe, die die Wiederbelebung und "Wieder-
benutzung dieser alten Orchestersuite empfehlen. Mindestens
ebenso schnell, wie die alten Armeemärsche es gethan
Kretisobmar, Führer. I. 8
^.^ 18 '>
haben, würde sie sich heute wieder einbürgeni und wenn
sie in unst^ren Volksconcerten der vielfach kÖKtlichen aber
ebenso vielfach überreifen Walzer- und OpereltenmuHik
von Joh. Strauss und seiner Schule den Platz etwas
streitig machte ^ so würden tiefer blickende Kunstfreunde
damit nur zufrieden sein dürfen. Bisher ist von dem un-
gt^heuren Vorrath von Stimmendrucken alter Orchester-
suiten noch nichts in Partitur vorgelegt worden. Da
bietet sich also dem deutschen Musikerverlag eine Aufgab«».
Unter den übrigen Stücken, die in der viersätzigen
Suite zwischen Paduane und Galliarde entweder vermittehi
oder den zwischen diesen beiden Hauptstücken bestehfliiden
Gegensatz, bald abgeschwächt, bald gi^steigert, wieder-
holen, kommt die Intrade am häufigsten vor; man kann
sagen , sie bildet die Regel. Das ist deswegen auffall ig,
weil sie der Paduane so sehr gleicht, das» man sie fast
für einen Concurrenten von anderer geographischer Her-
kunft halten kann. Auch sie hat von Haus aus einen
feierlichen Ouvertürencharakter. Deshalb wird sie von
vielen Componisten und zwar bis ans PInde des 17. Jahr-
hunderts an die Spitze der Suiten gestellt. Doch hat sie
sich im Laufe der Zeit als ganz bi'sonders verwandlungs-
fähig und für kurzgefasste, eindeutige Definitionen, wie sit'
nach dem Vorbilde Matthesons noch heute in musikalischen
Wörterbüchern beliebt sind, schlecht geeignet erwiesen.
Wir haben ebensoviel Intraden im geraden, wie im un-
geraden Takt; ja es kommt häufig bei den in Allabrevt'
geschriebenen vor, dass der dritte Theil in % umsetzt.
Die Freiheit und Mannigfaltigkeit des Charakters, in der
sie auftritt, hängt sicherlich damit zusammen, dass dit*
Componisten an die Gelegenheit und den Zweck dachten,
für den sie diese Eröffnungsmusiken schrieben. So sind
die Intraden von M. Franck alle ganz besonders lebhaft
und glänzend: sie waren für die Hochzeit des Landgrafen
Moritz von Hessen bestimmt.
Nach dem Jahre 1620 ungefähr tritt die Orchester-
suite eine neue Entwickelung an. Sie wird fünfsätzig und
sechssätzig, es bilden sich neue Gruppierungen , die alten
cC? 19 'ö^
Paduanen und Galliarden schwinden, dafür treten Ballets,
Correnten, Sarabanden, Giguen in den Vordergrund. Der
dreissigjährige Krieg hat die reichen Vorräthe an Charakter-
tänzen, über welche die europäischen Culturvölker am
Ausgang des Mittelalters verfugten, tüchtig durcheinander
geschüttelt. Die Suite bekommt scheinbar ein inter-
nationales Aussehen, hinter dem sich aber doch der Anfang
einer französischep Vorherschaft verbirgt.
Der letzte namhafte Vertreter der deutschen Orchester-
suite in dieser, mit dem Jahrhundert endenden Periode ist
Joh. Petzel, ein Tonsetzer, dessen Leben sehr bewegt J. Petiel.
verlaufen zu sein scheint. Er war in Prag Augustiner-
mönch, ehe er ab Stadtpfeifer erst in Bautzen, dann in
Leipzig zur Musik kam. Seine Suiten waren neben denen
von Peurl und dem Hamburger A. Schop bis ins 18. Jahr-
hundert hinein die beliebtesten und verbreitetsten.
Wenigstens für die deutsche Schweiz ist das jüngst durch
Nef nachgewiesen worden. *) Es sind frische und anmuthige
Compositionen , die sich besonders durch Schlichheit des
Ausdrucks empfehlen; sie halten am Variiren der alten
viersätzigen Suite noch soweit fest, dass sie gern je zwei
benachbarte Sätze verbinden, z. B.
Allemande.
f.rtirifdifrf \nt9r IT
Coonnte.
ifiiMr^rViri' I
oder
Ballet.
^"rrru'iLL^^
Sanbande
jlll I I IM|I iTl I II
^) Carl Nef, Die Collegia musica in der reformirten deutschen
Schweiz ... St. Gallen 1897.
2*
c/? 20 '^
Ebensoviel IntcresBC wie die Musik verdienen die Titel
von Petzold*8 Hauptwerken: , Leipziger Abendmusik*
(1669) und .Fünfstimmige blasende Musik» (1686 ,
Denn sie zeigen uns den gesellschaftlichen Boden, auf den
die Suite zur BlUthe kam und zugleich das musikalische
Kleid, in dem sie am liebsten einherging. Die ältere
Zeit verbrauchte viel mehr Musik unter freiem Hinunel.
als unsere Gegenwart, die sich nervenmörderischen Maschinen-
und Wagenlärm ruhig gefallen lässt, aber jede Art von
Musik, von Kunst überhaupt, prinzipiell in die Häuser
sperrt. Wo es in früheren Jahrhunderten in der Gemeinde
oder in der Familie etwas zu feiern gab, den Einzug, den
Aufenthalt von Standespersonen, bei Umzügen, Volksfesten,
Kindtaufen, Hochzeiten, Geburtstagen, Jubiläen, da schickte
man nach den Stadtmusikanten, den Pfeifern, nach dem
«Hausmann*^ und seinen Leuten, die von den »Aufwartungen*
auf Plätzen, Strassen und Gärten, bei Festen und Schmausen
ihre Haupteinnahmen hatten und Hess Suiten spielen.
Die Orchestersuite war in erster Linie Platz- und Strassen-
musik, erst in zweiter, wie Riemann will*), Kammermusik.
Darum blieb sie im Gegensatz zur Ciaviersuite bei den
volksthümlichen Satzformen, deshalb setzte man sie auch
vorzugsweise für Blasinstrumente, am liebsten Cornetten
und Posaunen. Peurl , Haussmann und andere Vertreter
der viersätzigen Suite bemerken allerdings auf den Titeln
gern ,|8onderlich auf Violen zu gebrauchen». Aber diese
Bemerkung ist wohl meistens nur eine captatio benevolen-
tiae, ein frommer Wunsch, vom Ehrgeiz eingegeben. Denn
die Streichmusik war am Anfang des 17. Jahrhunderts das
Neueste und galt für etwas Besonderes. Der Stil, in dem
sie ihre Stimmen schrieben, zeigt nur selten eine ausge-
sprochene Violinennatur.
Die ersten Orchestersuiten, die wir ganz ohne Zweifel
^) Hugo Riemann, Die Variationenform in der alten deutschen
Tanssuite (Moiikaliscbes Wochenblatt 1895). Derselbe: Die
deuttohe Kammermusik zu Anfang des 17. Jahrhunderts (Sänger-
hain 1895).
c<? 21 "^
als Kammer- und Violinenmusik zu betrachten haben,
sind die von Georg Muffat. Sie füllen zwei Samm Oeory MvUkt.
lungen, von denen die erste als ^Florilegium primum'^ in
Augsburg 1695, die zweite als ,Florilegium secundum* in
Passau, wo der Componist am bischöflichen Hofe als
Kapellmeister und Pagenhofmeister angestellt war, 1698
erschien. Der erste Band enthält 7, der zweite 8 Suiten
oder wie sich Muffat, als Sohn seiner Zeit auch hier
poetisch ausdrückt: Fasciculi, d. i. Bündel. Der Name,
den die deutschen Musiker am liebsten für die Orchester-
suite brauchten war: Parthey oder Partie. Die 15 Suiten
umfassen 112 Sätze, in der Regel bilden 7 einen Fascikel.
Die Besetzung ist für alle fUnfstinmiiges Streichorchester:
Violine, Viola, Bass, dazu Violetta und Quinta Parte,
jenes eine kleinere, dieses eine grössere Sorte Bratsche als
die heute gebräuchliche. Zu diesen Streichinstrumenten
kommt noch der bezifferte Basso continuo, d. h. also die
Begleitung des Cembalo. Es ist bis auf eine oder zwei
Stellen thatsächlich entbehrlich, da die Streichinstrumente
allein immer vollständige Harmonien ergeben ; aber es sagt
deutlich, dass die Suite jetzt ernstlich zu den Kennern
und in die höhere Kunst übersiedeln will. Das zeigt sich
auch noch in dem neuen vornehmen Kopfputz, in dem sie
bei Muffat auftritt. Mit Ausnahme von zweien steht an
der Spitze aller dieser Fasciculi eine regelmässige fran-
zösische Quvertüre, dreisätzig, wie sie Lully einge-
führt hatte : Anfang und Ende langsam, in der Mitte eine
bewegte Fuge. Einmal ist dieser Typus der französischen
Ouvertüre durch einen Rivalen, eine italienische Sinfonie
ersetzt. In den Tänzen selbst zeigt die Muffat'sche gegen
die alte deutsche Orchestersiüte der ersten Periode einen
künstlerischen Rückgang: Von thematischer Verbindung
sich folgender Sätze, vom Varüren ist keine Rede
mehr; nicht um Einheit handelt es sich, sondern um
«•ine Vielheit scharf gesonderter Gestalten. Mit einigem
Rechte darf man die Suite Georg Muffat^s Renaissance-
Kiute nennen. Eines der Hauptziele aller Renaissance, die
Steigerung des individuellen Gehalts im Kunstwerk,
erHchcint als ihr Hauptziel. DoHhalb Vwf^i ea MufFat fem,
wie Boine Vorgänger eine beschränkte Anzahl von
Tanzarten immer zu wiederholen: Er hat die gebrauch
liebsten Arten »einer Zeit, Gaillarde, Courante, Sarabande,
Gavotte, Passacaille, Bourc^e, Menuett, Gigue — die zweite
Suite de» zweiten Florilegium bringt sie in der angegebenen
Reihenfolge zusammen — ; es treten zu ihnen noch Alle-
mande, Canaries, Chaconne, Conlredan»«», Rigaudon, Ron-
deau, Traquouard, Entrt^e, Ballet, Air. A))er in der Mehr-
zahl von Muffats Suitensätzen winl atif jedes bekannte
Schema verziehtet , der Componist geht neuen , oft ver-
wegenen Aufgaben nach und sucht sie mit den besten
Mitteln zu lösen. Besonders das zweite Florilegium ent-
rollt ein äusserst bunt«'s Stück Programmmusik, einen
Ausschnitt aus den Flegeljahren dieser Richtung, der alles
überbietet, was sonst aus Froberger's und Couperin's Zeit
bekannt ist. Spanier, Holländer, Engländer, Italiener,
Franzosen, Cavaliere, Bauern, Dichter, Tänzer, Fechtmeister,
(iendarmen, Köche, Schornsteinfeger, Genien und Ge-
spenster. — Alles will diese Musik malen können , auch
kr»rperliche Gebrechen , die dem Ton und dem Rhythmus
«THichtlich keinen Anknüpfungspunkt bieten: Einen Lahmen
kann der Componist andeuten, aber einen Bucklichten?
An solchen Missgriffen hat die Renaissance weniger
Schuld, als die franz^Jsische Oper. Durch die Bedeutung,
die in ihr die BalbMs hatten , kam die chon'ographiscln'
Kunst auf den geschichtlichen (iripfel ihrer Leistungsfahig-
kt'it und ihres Selbstvertrauens und muthete folgerecht auch
ihrer Gehilfin, der Musik, gelegentlich unmr»gliche Dienste
zu. Den Zusammenhang mit Ballet und Tanz kekennt
Muffat in den — in lateinischer, deutscher, italienischer
und franzr»sischer Sprache geschriebenen — Vorreden seines
Florilegiums. Die Fasciculi seien, sagt er, bei den Festen
des Passaiu^r Hofs, beim Concert (,|Instrumenten-Zusammen-
stimmung* üln^rsetzt er das}, beim glänzenden Empfang
hoher Gäste, vornemlich aber auch bei den Tanz-
übungen der adligen Jugend aufgeführt worden.
Die Stücke des zweiten Florilegiums nennt er geradezu
o9 23 '^>^
Ballets und man sieht ihnen in der Mehrzahl die Herkunft
vom Theater, von der Pantomime nicht blos an einem
Punkte an. Hier verrät hs die Ueberschrift der ganzen
Suite, sie ist der Titel eines Schauspiels oder eines Ballets
dort wird an einer Stelle gesungen, dort gar mit Pistolen
geschossen.
Wir haben es also bei diesen Suitenwerk Muffats mit
Balletmusik nach französischem Muster zu thun. Wieder-
holt nennt er Lully als sein besonderes Vorbild. Ihn er-
reicht er auch ziemlich, übertrifft ihn in der Arbeit, aber
mit Händel und Gluck darf man, ihn nicht vergleichen,
wie das neuerdings geschehen ist *) ; am allerwenigsten mit
Rameau. Das deutsche Element überwiegt in seiner Musik
mit seinen Vortheilen und Nachtheilen. Seine Kunst
braucht etwas Platz. Darum sind die längeren Sätze die
besten, wie die vereinzelte Passacaille in der 3. Suite des
zweiten, der Rigaudon in der nächsten Suit« desselben
Bandes. Desgleichen zeichnen sich auch, wie man es von
dem Verfasser des Apparatus musico-organisticus erwarten
darf, die Fugen in den Ouvertüren durch eine vollendete
Natürlichkeit und Leichtigkeit aus. Muffats Talente liegen
auf der Seite des Gemüths und der anmuthigen Heiterkeit.
Als einer der vorzüglichsten Melodiker des mclodienreichen
17. Jahrhunderts, Lully an diesem Punkt weit überragend,
schreibt er in den Einleitungen der Ouvertüren, in der
Form von Sarabanden und Airs langsame Sätze, die sich
in die Seele des Hörers auf lauge hineinsingen. In den
Giguen, Menuetts und den ihnen verwandten Satzarten
hat er wenig Nebenbuhler; in den Giguen namentlich ist
er oft völlig neu, erinnert an das 19. Jahrhundert mit der
phantastischen Beweglichkeit und der ungewöhnlichen Metrik
Pr«sto.
seiner Weisen: j |, II ^f\i!^r^r\fTll ^^
Aber die Kunst des Pointireus, der frappanten Erfindung,
') L. S toll brock: Georg und Gottlieb Muffat. Rostocker
Dissertation 1888.
uQ 24 '«>^
in der die Grösse und die Eigenthümlichkeit der Franzosen
ruht, ist Muffats Sache nicht. Kleine Malereien gelingen
ihm manchmal: Ganz ergötzlich giebt er z. B. einmal das
Lärmen der Messer wieder, mit denen Fleisch geklopft und
gehackt wird, trefflich ist an derselben Stelle — zweite
Suite des zweiten Florilegiums — die Lustigkeit der Küchen-
jungen gezeichnet. Aber viel, viel häufiger sind die
Beispiele verfehlter Aehnlichkeit : Die Bauern haben die-
selben Züge wie die Cavaliere und Gespenster. Um unter
die Grössen der Tonmalerei sich zu erheben, ist die
Rhetorik des Componisten zu bescheiden und zu sehr auf
Wiederholungen in allen drei Elementarreichen der Musik
angewiesen.
Noch weniger, wie zwischen den Titeln der Einzeln-
sätze und ihrer Musik, lässt sich eine üebereinstimmung
zwischen den üeberschriften der ganzen Suiten und ihrem
musikalischen Charakter feststellen. Es ist schon erwähnt
worden, das diese Üeberschriften im zweiten Florilegium
oft Namen von Theaterstücken sind; im ersten sind sie in
der Mehrzahl reine Räthsel. Nur bei dem vierten und
dem sechsten Stücke, die Impatientia und Blanditiae
heissen, lassen sich ohne Gewalt einige Beziehungen
zwischen den Werken und den Namen nachweisen.
Auf die Enttäuschungen, denen der moderne Hörer
der Muffat*schen Suiten entgegengeht, hinzuweisen, ist des-
halb zeitgemäss, weil die beiden Florilegien unlängst in
Partiturform neugedruckt worden sind. *) Schon vorher
sind in den Leipziger Akademischen Orchesterconcerten
die Blanditiae aufgeführt worden und nach andern Stelleu
weiter gedrungen. Die Muffat'sche Musik ist trotz der
nöthigeu Einschränkungen geschichtlich und künstlerisch
werth gekannt zu sein. Wer sie auffuhrt, muss aber
wissen, wie weit die Noten wörtlich bindend sind und wo
sie der Ergänzung bedürfen. Von sonstigen Freiheiten
des Vortrags alter Musik abgesehen, arbeiten die Suiten
') Denkmäler der Tonkunst in Oesterreicb, Band I, 2 und
II, 2. Wien 1894 und 1895.
u? 25 "ö^
Muffats, wie die Instrumentalmusik und der Sologesang
ihrer Zeit im Allgemeinen mit einem sehr grossen Apparat
von Verzierungen und Spielmanieren , die nicht gedruckt
wurden und die die heutige Musik nicht mehr kennt. In
der Vorrede des zweiten Florilegiums giebt Muffat darüber
den deutschen Musikern, denen dieser Zierrath noch etwas
fremd und neu war, genaue Anweisungen. Nach ihnen
muss der Dirigent die Stimmen erst ausarbeiten. Der ganze
Charakter dieser Musik wird durch diese , Agrements* und
Ornamente mit bestimmt. Aus ihnen spricht der an Klein -
leben unerschöpflich reiche, vermittelnde, glättende, alle-
zeit graziöse Geist des Roccoco. Der heute so beliebte,
grosse Ton , die langen Noten, die weiten Intervalle waren
ihm rauhe und rohe Erscheinungen; durch eingelegte
Gänge, durch ein beständiges Gleiten, Schleifen und
Trillern setzte er ihre Wirkungen ausser Kraft. Auch
ein guter Ciavierauszug der Florilegien müsstc mit dieser
Stileigenthümlichkeit rechnen.
Muffat verfolgte mit der Veröffentlichung seines
Florilegiums noch höhere, kunstgeschichtliche Zwecke.
Es sollte in Deutschland der französischen Schule die Herr-
schaft über die italienische gewinnen. Die Italiener
pflegten seit dem Anfang des Jahrhunderts mit grossem
Eifer das Concert. Von ihm, namentlich von dem ihm
innewohnenden Hang zu ^unmässigen Läufen und Sprüngen**,
zu virtuosen Aeusserliehkeiten und zu allerhand Blendwerk,
fürchtete Muffat für den musikalischen Geist der Zukunft
mit Recht ernste Gefahren und suchte ihm, allerdings viel
zu spät, durch die nach seiner Meinung viel solidere und
gesündere Kunst der französischen Charakterballets den
Weg nach Deutschland zu versperren. Das gelang nicht;
bereits 1701 hat Muffat selbst zwölf Instrumentalconcerte
nach italienischem Muster drucken lassen. Wir haben
bis heute auch noch keine zureichenden Nachrichten über
die Verbreitung von Muffats Florilegien. Nur das wissen
wir, dass sie nach Schweden kamen. Aber es unterliegt
keinem Zweifel , dass sie , soweit es sich um Violinen,
Cembalo und französische Ouvertüre, also um die An-
o? 26 -ö--
näherung an die höhere Kunst, an Coneert und Kammer-
musik handelt, für die Orchestersuite in Deutschland vor-
bildlich geworden sind.
Während die Italiener nach wie vor sich an der Pflege
der Orchestersuite, unmittelbar wenigstens, nur schwach
betheiligten, behielten die Franzosen noch lange das
Uebergewicht auf diesem Gebiete. Nur darf man ihre
Leistungen nicht unter der Rubrik , Orchestersuite* suchen.
Den Rahmen, in dem sie enthalten sind, bilden die Ballet-
scenen der französischen Opern des 17, und 18. Jahr-
hunderts. Da braucht man sie nur herauszunehmen und
zusammenzustellen. Oft bietet eine einzige Scene das ge-
sammte Material zu einer vollständigen Suite ; denn Charakter-
länze und Ballets bilden den Grundstock und oft die reich-
liche Hälfte der Musik in der älteren franz()sischen Oper. So
sind denn früher schon einzelne Sätze aus Lully's und Rameau's
Opern mit Erfolg in 's Coneert gebracht worden.^) Neuerding«
J. P. Ramean. ermöglicht die Ausgabe von drei „Balletsuiten* *) Rameau^s
ein bequemes Studium dieses Meisters. Sie sind dazu bisher
noch wenig benutzt worden, wahrscheinlich deshalb nicht,
weil nur sehr wenige Musiker und Musikfreunde eine
Ahnung von der Bedeutung Rameau's haben. Wie er im
Allgemeinen ohne jedes Bedenken der gWisste Tonsetzer
Frankreichs und ein ebenbürdiger Zeitgenosse von Händel
und Bach genannt werden darf, so ist er auf dem be-
sonderen Gebiet der Suite, des poetischen Charakterstücks,
der geschmackvollen Programmmusik geradezu unvergleich-
lich. Er vertritt, gegen Lully und Muffat gehalten, eine
neue Zeit und eine Kunst, die die SehtJnheitsideale der
Claude Lorrain und Poussin mit dem Realismus der
*) Lully: „Celebre Gavotte" und Monuet de Bourgeois
Gentilhomine; Rameau: Musette et Tambourin des „Fetes
d'Hebe*, Rigaudon de „Dardanus" fragments de „Castor et
Pollux** in Gevaert's Kepertoire des Societöa philharrooniques.
*) Drei Balletäuiten aus Acante , Zoroaster und Piatee.
Leipzig, Kieter-Biedermann. Den hier versuchten Titel „Ballet-
suite" hat sich inzwischen auch Felix Mottl zu eigen gemacht.
«/? 27 "o^
Niederländer zu verbinden weiss. Gross und vielseitig im
Erfinden, besonders originell im Humoristiscben , im An-
muthigen und Innigen, ist er im Gestalten ein echter
Virtuos. Er spielt mit der Form und gewinnt ihr nach
allen Seiten vollendete, hier durch Breite und Umfang,
da durch Feinheit der Verschlingungen überraschende
Neubildungen ab. In seiner Melodik, in seiner Rhythmik,
überall wimmelt es von ganz eigenen, schönen und fesselnden
Einfällen; nicht am wenigsten in seiner Instrumentation,
in der wir Klangwirkungen begegnen, die vor ihm Niemand
gehabt hat und die heute, nach hundertundfunfzig Jahren,
von ihrer Frische nicht das Geringste eingebüsst haben.
Hier kommt er in der Zeit und im Rang unmittelbar nach t
Monteverdi. Wenn die Franzosen noch heute in ihrer
Oper der Balletmusik eine Stellung einräumen, die die
Deutscheu nicht begreifen, so ist das die Nachwirkung
Rameau^s. Wagner's Balletmusik zum Pariser Tannhäuser
war ein Opfer, nicht dem Jokeyklub, sondern einer grosse«
historischen Tradition dargebracht. Auch Gluck hat C.W. TonG lock,
sich ihr beugen müssen und er hat sie lieb gewonnen.
Waren lange Zeit der „Furientanz* und der „Reigen seliger
Geister* aus Orpheus die einzigen Beiträge zur Suite , die
man von ihm kannte, so ist das neuerdings anders geworden.
Wir haben da u. a. die Balletmusik aus „Paris und
Helena* von ihm vorliegen, Mottl hat als „Balletsuite*
Stücke aus verschiedenen Opern Gluck's zusammen-
gestellt; auch der grtisste Theil seines 1761 geschriebenen
Ballets „Don Juan* ist vor einigen Jahren in Form
einer viersätzigen Orchestersuite dem Concert zugeführt
worden.*) Dieses Ballet brachte pantomimisch dieselbe
Handlung mit denselben Personen und in derselben Scenenfolge
zur Darstellung, die später Mozart als Oper componiert hat.
Gluck hat viele Sätze aus diesem Ballet für nachfolgende
Opern benutzt, die Höllenfahrtmusik z.B. i«t der „Furientanz*
geworden. Mehrere, namentlich unter den kleinen und
*> Leipzig', Droitkopf & Härtel.
28
Öo
Hiadel
Fetiennasik.
kleinsten Stücken haben einen hohen Klangreiz, so da»
Pizzicatoständchen der Bauern.
Neben der neuen Muffat'schen Violinensuite, bestand
natürlich die alte Bläsersuite noch weiter und so lange
fort, als es noch Ständchen und allerhand .Aufwartungen*
im Freien gab. Sie begegnet uns noch in den Divertisse-
ments, Cassationen und ähnlichen Compositionen Haydn's
und Mozarts. Auch G. F. Händers Feuer- und
Wassermusik gehörten ursprünglicher zu dieser Classe
von Suite. Die Violinen und die Ouvertüren sind ihnen erst
später zugesetzt ; die Feuermusik hat heute noch kein Cembalo
Die Feuermusik kam bei einem Hoffest, da« sich
durch ein brillantes Feuerwerk auszeichnete, am 27.April 1749,
zur ersten Auffiihrung. Was den Londonern an der Musik
gefiel, war die ausserordentlich starke Besetzung der Blas-
instrumente, welche die Feuerwerks-Musik auszuführen
hatten. Nur selten mochte bis dahin eine solche Harmonie-
musik aufgestellt worden sein: 9 Homer, 9 Trompeten,
24 Oboen, 12 Fagotte, 3 Pauken. Das Hauptstück der
Suite ist jetzt die glänzende» Ouvertüre, mit ihrem freude-
hichenden, farbenprächtigen Allegro, welches überraschender
Weise nach dem zweiten Lento nochmals einsetzt. Die
übrigen Sätze haben einfachen Tanz- und Liedstil: Im
Anschluss an die entsprechenden Bilder des Feuerwerks
tragen einzelne Ueberschriften : der schöne, weiche Siciliano
heisst ,1a paix* , der drauf folgende schnelle Marsch, in
dem die Trompeten wieder an die Spitze treten ,1a n'jouLs-
sance*. Die Wassermusik, eine Suite von nicht weniger
WasBermosik. alg 20 kleinen Stücken, ist mit einer Anecdote verknüpft:
Freunde Händeis, der bei Georg I. in Ungnade gefallen
war, veranlassten, dass der König bei einer abendlichen
Vergnügungsfahrt auf der Themse mit dieser Musik über-
rascht wurde. Der König errieth den Verfasser der
vielstimmigen Ovation und wendete dem Componisten seine
Huld von Neuem zu. Noch weniger als die Feuermusik
darf man die Wassermusik so ohne Weiteres in unsem
heutigen, an philosophische Offenbarungen gewöhnten
Concertsaal verpflanzen. Das sind durchweg leichtere
Häadel
Unterhaltungsstückchen heiterer oder anmuthiger Natur,
aber durchaus für den Zweck entworfen, einer fröhlichen
Gesellschaft, die Abends auf der breiten Themse fuhr, in
gehörigen Zwischenpausen zum Besten gegeben zu werden ;
bei gehöriger Kürzung und Einrichtung wird jedoch die Suite
mit dem Reize ihrer Hom- und Trompetenklänge ein einsich-
tiges Publikum auch heute noch staunen machen und erfreuen.
Wir kannten bisher Feuer- und Wassermusik nur aus
alten, unglaublich verstümmelten, englischen Ausgaben.
Der 47. Band der Händelausgabe Chrjsanders bringt die
Werke zum ersten Male in reiner Form.
Wenn Einer von den vielen Eunstmusikem, die sich
von der Mitte des 17. Jahrhunderts ab der Suite zuwendeten,
berufen war, in dieser von Hause aus so volksmässigen
Gattung etwas Ausgezeichnetes zu leisten, so war es sicher-
lich S e b. B a c h , dessen Familie, durch die vielen tüchtigen
Raths- und Stadtmusikanten, die sie den thüringischen
Ländern Geuerationen hindurch stellte, mit dem alten an-
heimelnden Pfeiferthum verwachsen erscheint — Bach, der
selbst in seinen verschlungensten Kunstwerken die Neigung
zum Volksthümlichen bald mit grandiosem Humor, bald in
kindlicher Naivität durchblicken lässt. Bach hat bekannt-
lich sehr viele Ciaviersuiten geschrieben, Orchesterpartien
leider nur vier,*) was wir um so mehr bedauern müssen,
ab in der Mehrzahl derselben der alte einfache Suitengeist
in einer Reinheit und Stärke zum Ausdruck kommt, die
andern Tonsetzem nicht erreichbar war.
Entschieden lehnt sich Bach in seinen Orchestersuiten
an die Tanzformen : Nur der erste Satz — eine regelrechte
französische Ouvertüre von 3 Sätzen mit der Fuge in der
Mitte — gehört, wie bei Muffat, der Kunstmusik an. Dann
kommen Gavotten, Menuetten, Bour^es, Giguen, Tanzweisen J. 8. Bark
aus aller Herren Ländern in voller Naturtreue, kaum ein Soiten.
^) Sie sind im 31. Jahrgang der Gesammtausgabe von
Bach's Werken (durch die Bacbgesellschaft) unter dem Titel
«.Onvertttren", veröffentlicht. Nach alter Regel gab der erste
Sati der Suite den Gesammtnamen.
«? 30 «»
wenig ideaKsirt: üppige Melodien und gebieteriBche,
markante Rhythmen.
J. S. Bmeh Die erste dieser Suiten in C dur hat ausser der
c dor-Soite Ouvertüre eine Courante, Garotte I und TI, Forlane, Menuett
(Nr. 1). j yjj^ jj^ Bour^e 1 und 11 und 2 Passepieds.
Die Forlane ist ein venetianischer Tanz in gleich-
massig ruhiger, breiter Bewegung. Hier wird die führende
Melodiestimme :
von einem Perpetuum mobile der zweiten Violinen und
Bratschen begleitet; die Bässe stehen wie Zuschauer
daneben und thun nur das Nöthigste um Harmonie und
Rhythmus zu skizziren. Die Besetzung der Suite geht
über Muffat hinaus, sie besteht aus Streichquartett und
dem bekannten Bläsertrio: 2 Oboen und Fagott. Letzeres
ist in alter Weise häufig solistisch und concertirend ver-
wendet. In Bezug auf die Erfindung gehört diese C dur-
Suite nicht zu den hervorragenden Werken Baches. Sie
charakterisirt mehr die Zeit als den speciellen Meister.
Die Biographen setzen sie in Bach*8 Cöthener Periode.
J. S. Baeh Dieser gehört auch die Hmoll-Suite an, deren eigenthüm-
HmoU-Suite lieber Zug in der Verwendupg der Flöte besteht, welche
^'' ^^' als einziger Vertreter der Bläserfamilie dem Streichorchester
gegenüber gestellt ist. Doch hat man sich nach alter
Praxis, mit Ausnahme der speciell als Solo bezeichneten
concertirenden Stellen, eine chorweise, jedenfalls mehrfache
Besetzung dieses Instruments zu denken oder aber, man
fuhrt die Suite als Kammermusik auf, nimmt nur eine
Flöte und doppeltes Streichquartett.*) In der Hmoll-
Suite lebt sehr viel Grazie. Das Thema ihrer Fuge ist:
Allegro.
^i-' I ^ ^ r I r : -^f^ r r r tr^Frr
^) Es giebt von diesem Werk eine Ausgabe von H. v. Bülow,
die aber der Bach'schen Musik durch uunatürliche Phrasirung
Gewalt anthut.
^ 31 '^
Dem ersten Satze folgt ein Rondeau, das einigermassen
kunstmässig durchgeführt ist und die einfachen Suiten-
maasse überschreitet. Seine Gnindmelodie uialt aber das
bestimmte Tanzbild handgreiflich genug:
ii*^f} 1 1 fr ii r^r^'^^''^^^^'''rrrr^
In der darauf folgenden Sarabande führen die Oberstim-
men mit dem Basse einen Canon in der Unterquinte durch.
Die weitem Sätze sind 2 Bour^es, eine Polonaise, bei der
Bach ausnahmsweise eine Tempobezeichnung angiebt:
«Moderato* ein sicheres Zeichen, dass er darauf besonderen
Werth legte; ein Menuett und eine keck dabin flatternde
Badinerie. Die H moll-Suite hat als künstlerischer Beitrag
zur Culturgeschichte noch ihren Nebenwerth. Das ge-
schniegelte, fein abgezirkelte Wesen der eigentlichen
, Gesellschaft* in der Zeit des Reifrocks und der Perrücke
mit Zöpfchen ist hier so fein und mit einem so behaglichen
Humor gezeichnet, als es nur jemals ein Chodowiecki ge-
konnt hätte. Den Verfasser der Matthäuspassion, den
Schöpfer der protestantischen Kirchencantate zeigt die
H moll-Suite von einer seltneren Seite, als einen vollendeten
Kenner und Darsteller höfischen Geistes und höfischer
Künste, als einen Weltkundigcn, der die Etiquette bis auf
den unscheinbarsten pas beherrschte.
Die beiden andren Suiten Bach's stehen in D dur und
sind beide in Leipzig geschrieben, mciglicherweise für den
Telemann'scben Musikverein, einen der Vorläufer des
jetzigen Gewandhausconcerts , den Bach von 1729—36
dirigirte. Es sind sogenannte Trompetensuiten, Suiten,
mit dem vollen Orchester der Bach'schen Zeit. Sie waren
eine Zeit lang das Neueste und Vornehmste, was in dieser
Art Musik zu haben war. Wie das grosse Geläute, mussten
sie besonders bestellt, bewilligt und bezahlt werden. Dass
Bach in Leipzig als Suitencomponist volksthümlich ge-
worden war, beweist die von Spitta dem ,Tableau von
Leipzig im Jahre 1783* entnommene Mittheilung, in der
es bei der Schilderung der Kirmess zu Eutritzsch heisst:
»Das Chor Musikanten streicht wacker zu; debütirt mit
Sonaten von Bach und schliesst mit Gassenhauern*.
Diese Sonaten können nur die Orchestersuiten oder Theile
daraus gewesen sein. Bei den Laien, und auch bei den
gewöhnlichen Orchestermusikem war und blieb , Sonate** der
UniTersalname für mehrsätzigc Compositionen jedweder Art.
J. 8. Baeh Die erste dieser beiden D dur-Suiten ist auch heute
D dnr-Soite wieder populär. Wir wollen nur die Anfangstakte ihrer
(Nr. 8). Ouvertüre hersetzen :
Orave. -v
Das Weitere, die in heiterster Kraft dahin schäumende Fuge,
Allef^ro. •
A ip » ^^TET [fT LLT I ^ ^^ tf^ die entzückende, in selige
Abendstimmung getauchte Air JL '< ^^^^
die energischen Gavotten und was noch dazu gehört:
Bour^e und Gigue, das Alles steht jedem Musikfreund mit
der losen Skizze vollständig vor der Erinnerung. Es ist
fast unvermeidlich, diese Musik, die aus dem frischsten
Quell entsprungen ist, sich zu merken. Ein äusserst glück-
licher GriflP war es, dass Mendelssohn (im Jahr 1838) gerade
mit diesem Werke den als Orchestercompouisten ganz ver-
gessenen Grossmeister in den Gewandhaussaal und damit
in das Concertleben der Gegenwart zurückführte. ,Er
wiegt uns sammt und sonders auf dem kleinen Finger*
schrieb Schumann unter dem frischen Eindruck der Auf-
führung dieser Suite.
J. 8. BMh Die andre Suite in D dur hat entweder unter der Be-
D dur-Snite rühmtheit ihrer Schwester oder aber unter der Bequemlich-
(Nr. 4). ^q[i (j^r Dirigenten bisher zu leiden gehabt. Noch ehe sie
in der Bachausgabe erschien, hat sie (1881) Roitzsch bei
^) Sie wird in der bekannten Wilhelmi'schen Bearbeitung
für Solovioline durch die Transposition auf die tiefen Saiten im
Charakter entstellt.
cc? 33 's>^
Petcre in Partitur herausgegeben. TrotzdeiA ist sie so
gut wie unbekannt geblieben. Brcnet, der französische
Geschichtsschreiber der Sinfonie nennt sie gar nicht. Und
doch ist sie in doppelter Beziehung sehr interessant:
einmal durch ihren Eigenwerth, zweitens durch den Ver-
gleich mit der andern Ddur-Suite, der in der Ouvertüre
wenigstens sich aufzwingt. Hier ist die Verwandt-
schaft der beiden Werke eine eminent nahe; im lang-
samen Satze sind die Motive nahezu identisch, nur in
der Behandlung unterscheiden sie sich. Wie die erste
D dur-Suite in ihrer Air, so hat diese zweite in der zweiten
Bouröe einen Treffer, der nie versagen wird. Das ist ein
ganz eigenes Stückchen Bach'scher Melancholie ; in heiterer,
anmuthiger Form die Klage der Oboe:
Allegramoderato. k
u^j- L-j--r ir.^- I i-r^^^ irfflff "™ *^*^ herum
der beunruhigte Solofagott und der lauschende und auf-
munternde Chor!
Die Fuge in der Ouvertüre mit diesem Thema:
f 11^ » P ^77r7-rlr7Tr^rr?>lr■rrrr^r^^?V|g+F
ist von Bach in der Weihnachts-Cantate , Unser Mund sei
voll Lachen** zum Chore umgebildet. Bach Hess die
Instrumente wie sie waren und componierte Singstimmen
darüber hinzu. Die weiteren Sätze dieser zweiten D dur-
Suite sind, soweit sie nicht schon erwähnt wurden : Bour^e I,
Oavotte, Menuetto con Trio und ein „R(?jouissance* be-
nannter Finalsatz. Die Instrumentirung in dieser ganzen
Suite ist mit besonderem Bedacht ausgeführt; ein Theil
der Wirkung der Composition fallt in ihren Bereich allein.
Für die moderne Praxis macht allerdings, abgesehen von
der Nothwendigkeit , die drei Oboen jede mehrfach zu
besetzen, der Trompetenchor grosse Schwierigkeiten,
Schwierigkeiten, die noch bedeutender sind, als die (in den
Originalstimmen wenigstens) gefürchteten der bekannten
D dur-Suite Nr. 3.
Trotz des starken Verbrauchs an Orchestersuiten sind
Kretzichmar, Führer, I. 8
oo 34 "ö^
im 18. Jahrhundert keine mehr gedruckt worden. Auch
die Bach'schen lagen bis auf unsere Zeit nur handschrift-
lich vor. Unter den Zeitgenossen von ihm, die sich der
Suite widmeten, verdient der als kirchlicher Tonset^r wohl
J. D. Zelenka. heute noch bekannte Joh. Dismas Z e 1 e n k a , ein geborener
Böhme und mit S. Bach zugleich Hof- und Kirchen-
componist der Kapelle in Dresden Beachtung. Die vor-
malige musikalische Privatsammlung Sr. Majestät des
Königs von Sachsen besitzt von Zelenka eine Trompeten-
suite in F, *) über deren Humor wohl schon das Fugenthema
der Ouvertüre:
unterrichtet. Was ist das für ein drolliger Einfall, sich auf dem
Sechzehntel-Motiv festzurennen und was giebt das für einen
grotesken Scherz, wenn die Oboen in Terzen sich um die
Stelle abmühen! Tn dem guten Blick und der Vorliebe
für lustige Nebenmotive haben wir einen Zug, an dem die
slavische Musik noch heute zu erkennen ist. Mit der
Ouvertüre theilt ihn auch der Schlusssatz von Zelenka'»
Suite, eine , Folie*, mit folgendem Hauptthema:
z^:^ XJJIP \^fj[\ fJrJ^IjLfc aus dem im Verlauf
das Motiv vom Anfang des dritten Taktes bevorzugt wird.
Diese Folie ist sehr lang und eifrig durchgearbeitet, ein
Zeichen, dass die höhere Kunst in der Suite sich nicht mehr
mit der Ouvertüre begnügen wollte, dass man das Wesen der
Suite nicht mehr recht verstand. Für Norddeutschland ist
ihre Geschichte mit Bach und Zelenka zunächst zu Ende. In
Süddeutschland und Oesterreich hielt sie sich, wie aus den
Werken der Wiener Klassiker bekannt, noch länger, aber
nicht, ohne auch hier eine kleine Wendung nach der
*) Ihre Veröffentlichung durch nroitkopf & Hftrtol steht
nächstens bevor.
«e 35 "^
gelehrten Kunst zu machen. Seit jener Zeit hat sich
iswischen der Tonkunst der höheren und der niederen
Stände ein Riss gebildet und fast zu einer Kluft erweitert,
deren Beseitigung wir nur aufs lebhafteste wünschen können.
Neben die Ga|)rieli'8che Orchestersonate und neben die
Suite tritt schon bald im 17. Jahrhundert als eine dritte
Gattung selbständiger Orchestermusik die Sinfonie.
Das Wort Sinfonie fuhrt uns einige Jahrtausende
zurück : Die griechischen Theoretiker gebrauchen es zuerst
in dem Sinne eines melodischen Intervalls; bei den mittel-
alterlichen Musikschriftstellem erhält es, von Hucbald, von
Guido von Arezzo ab, die Bedeutung des Zusammen-
klangs, des Accords. Im 16. Jahrhundert endlich erscheint
das WoH auf den Titeln von Compositionen allgemein
poetisirend: Waelraut 1594: Symphonia angelica, Engels-
klängc, G. Gabrieli 1597: Sacrae symphoniae, fromme
Klänge, Adr. Bianchieri 1607: Ecciesiastiche Sinfonie,
geistliche Klänge. Es bergen sich zunächst unter diesen
Sinfonien Sätze von ganz verschiedener Form, vokale und
instrumentale. Erst in der Oper wird die Sinfonie aus-
schliesslich Orchestermusik. In Monteverdi's Orfeo werden MoBt«f«rdi*s
Scenen und Akte durch Orchestersätze von massiger SImfiml«.
Länge (6, 10, 12 Doppeltakte) eingeleitet und abgeschlossen,
die als S in f o n i e n bezeichnet sind im Gegensatz von andern,
die Strophen eines Gesangs vorbereitenden Instrumental-
sätzchen, die Ritornelle heissen. Wir haben also hier
Sinfonien zum ersten Male im Sinne kurzer, instru.nentaler
Einleitungen. So wird das Wort bekanntlich noch lange,
bis in die Zeiten der Bach'schen Cantaten gebraucht.
Matheson kennt es fast nur von dieser Seite. Diese Monte-
verdi'schen Sinfonien die in ihrem feierlichen und erhabenen
Charakter noch einen deutlichen Zusammenhang mit der
Kirche und mit Gabrieli haben, gehören mit zu den be-
deutendsten Höhepunkten in der Kunst des grossen
italienischen Meisters. Ein solches Mittel zur Beseelung
der Handlung hatte bis dahin keine Art von Drama besessen.
Auch der Chor der griechischen Tragödie bleibt dahinter
zurück. Denn diese Monteverdi*schen Sinfonien gaben
8»
^ 36 'c>^
nicht blo8 der Stimmung an wichtigen Stellen mächtigen
Ausdruck, sondern sie verknüpften auch entfernte Scenen
in einer innigen poetischen Weise, die neu war, die später
vergessen und erst durch ComponLsten unserer Zeit, ins-
besondere durch R. Wagner wieder entdeckt wurde. Eins
der schönsten Beispiele für diese Verwerthung der Instru-
mentalmusik bietet Monteverdi's Orfeo*) im dritten Akt:
Die Sinfonie, unter deren schauerlichen Posaunen klängen
hier Orfeo zum Hades hinabsteigt, hören wir in dem
Augenblick, wo Charon den Bitten des Sängers weicht
zum zweiten Mal: jetzt aber gedämpften Tons im
Bratschenkolorit. Unter den nächsten Nachfolgern Mon-
te verdi's ist Giulia Caccini als Vertreterin dieser kleinen
scenischen Sinfonien zu bemerken; in der Venetianischen
CftTAlll's Schule zeichnet sich Cavalli darin besonders aus. Ihm
SUfOBieB. gelingen namentlich malerische Aufgaben, die Schilderung
eines Sonnenaufgangs, einer Fahrt auf ruhigem Meer
(Sinfonia navale in „Didone*) ganz herrlich.
Eine Hauptbedeutung gewann die Oper für die
Sinfonie von dem Augenblick ab, wo die Sinfonie zur
Eröffnung der Musikdramen verwendet wurde. Schon
Monteverdi hat diesen Versuch gemacht. Doch blieb
man noch lange dabei, die Handlungen mit einem ge-
sungenen Prolog einzuleiten. Erst in der Venetianischen
Schule, etwa von 1650 ab, haben alle Opera Instrumental-
prologe und zwar mit dem Titel Sinfonie. Mit diesen
VeMtUniiohe Venetianischen Opernsinfonien — auf sie wird bei Behand-
Sinfonie. l\mg der Ouvertüre näher einzugehen sein — beginntdie
Greschichte der modernen Sinfonie und zwar ist
diese Jugendzeit einer ihrer rühmlichsten und gehaltvollsten
Abschnitte. Es sind Compositionen von massigen Umfang
— von 35 bis zu 70 Takten — und nur einsätzig; aber,
durch Wechsel von Takt und Tonart scharf und reich -
gegliedert, bergen sie innerhalb dieses einen Satzes einen
mannigfaltigen Inhalt, eine verhältnissmässig grosse Reihe
') Der Orfeo Monteverdi s ist theUweise im 10. Bande der
„Publikationen der Gesellschaft für Musikforscbung" verüffent-
licht worden.
--^ 37 'Q^
von Bildern, die in der Regel ebenso wirkungsvoll
wie natürlich aneinanderschliessen. Im Vergleich zur
Gabrieli*8chen Sonate fuhren sie in eine viel buntere und
gestaltenreichere Welt und schildern neue Aufgaben
mit neuen Mitteln. Die gebrochenen Rhythmen: JTJXl
mit denen noch Händel und das 18. Jahrhundert Er-
regung und Unruhe wirkungsvoll zeichnen, die General-
pausen und Fermaten sind hier heimisch. Denn wie
sie anekdotenhaft und unruhig waren, so waren diese
Venetianischen Opern auch an Wundem und Schrecken,
an Spannung, Entsetzen und Ueberraschungen aller Art
mehr als reich. Allen diesen EröfiPhungssinfonien war auch
ein feierlicher, langsamer, breiter Anfang gemeinsam, der
zuweilen in der Mitte und sehr häufig am Ende wieder-
kehrt, ein Tribut von dem Componisten der Verwandtschaft
zwischen Musikdrama und griechischer Tragödie gezollt!
Aber viel stärker als die typischen treten an diesen
Venetianischen Sinfonien die individuellen Züge hervor.
Gerade darin liegt ihr Hauptwerth, dass sie immer ein
Bild von dem Drama geben, dem sie vorangestellt sind;
das macht sie unter einander so verschieden, giebt den
einzelnen ihr scharfes charaktervolles Gesicht. Man weiss
aus diesen Sinfonien ohne Weiteres, was im Drama zu
erwarten ist : ob Krieg und Kampf, Schauer und Unglück
oder ob heitre und elegische Elemente die Oberhand haben.
In knapper Form entwickeln sie einen reichen Inhalt, aus
dem deutlich und beherrschend, wie der Berg aus der
Ebene, ein Hauptstück hervortritt. Diesen Mittelpunkt
bildet in der Sinfonie von Luzzo's ,Medoro* z. B. die wilde
und allarmirende Episode, die gleich nach den Einleitungs-
takten einsetzt, in der von Cavalli^s ^Ercole'' der Abschnitt,
wo die Sextaccorde in ungestümer Hast und Kraft dahin-
jagen, eine kühne Anwendung der alten Fauxbourdon-
Harmonie; in der Sinfonie von Sartorio's ,Seleuco* prägt
sich die heimliche, zarte Melodie ein, die auf das Traum-
bild in der Oper deutet; aus der von Cestis „Pomo d'oro*
begleiten uns lange die freudigen Lieder die das Orchester
cc? 38 -e^^
dem Eingaugschor ,di feste di giubili* entnimmt. In der Regel
sind die wichtigsten Themen in den Venetianischen Sinfonien
ganz so wie heute in der Freischütz-, in der Oberon-, in
der Tannhäuserouvertüre den Hauptscenen der Oper ent-
nommen. Die wahre Heimath der modernen Pro-
grammouyertüre, die einzelne Schriftsteller mit Gluck,
andere mit Händel und Rameau einsetzen lassen, liegt also
inderVenetianischenOper.*) Sie ist bis heute spur-
los vergessen gewesen, nur ihre Orchesterbesetzung lebte
in der Sinfonie der folgenden Zeit weiter. Diese Besetzung
besteht aus Streichinstrumenten und Cembalo; von Blas-
instrumenten kommt fast nur die kriegerische Trompete vor.
Die Neapolitanische Schule, die am Ende des 17. Jahr-
hunderts die Führung in der Oper übernimmt, stellt eine
neue Sinfonieart auf. Die Sinfonie erscheint bei ihr zum
ersten Male in der modernen Form und Bedeutung einer
mehrsätzigen Composition, eines höheren Gegenstücks
Itaii«nisob« zur Suite. Diese Neapolitanische oder italienische
Sixifonie. Sinfonie besteht aus drei Sätzen in der Folge : Allegro,
Largo, Presto oder einer ähnlichen. Immer bildet ein
langsamer Satz die Mitte zwischen zwei bewegten. Kurze,
häufig taktmässig ausgezählte Pausen trennen ihn in der
Regel vom vorhergehenden und dem folgenden Allegro;
zuweilen wird er an den ersten Satz durch einen Trugschluss
näher herangezogen. Das erste Allegro steht im geraden,
das zweite im ungeraden oder in ®/g und **/g Takt. Beide
sind in der ersten Zeit verhältnissmässig knapp gehalten,
zwischen 15 und 30 Takten schwankt ihr Umfang. Der
langsame ist meistens der kürzeste von den drei Sätzen,
zugleich aber der stattlichste im Klang: in der Regel
zeichnet ihn ein schönes Solo der Oboe oder der Flöte aus.
Die Gesammtform dieser italienischen Sinfonie ist ein
sehr glückliches Stück bester Renaissancekunst. Die drei
') Das Material der Venetianischen Oper ist nur handschrift-
lich vorhanden, in der Hauptmasse in italienischen Bibliotheken.
Einige aus der Schule stammende Sinfonien werden jedoch (in
Partitur und Stimmen) nächstens in Breitkopf & Härtels
,, Akademischer Orchesterbibliothek** erscheinen.
c<? 39 ^
Sätze bilden ein leicht übersichtliches, scharf gegliedertes
und durch den einfachen, klaren Gegensatz zwischen Be-
wegung und Ruhe ästhetisch voll befriedigendes und wirk-
sames Ganze. Muster für diesen Typus bot bereits die
Yokalcomposition z. B. im Kyrie der Messe ; auch in dem
grossen Wirrwarr verschiedenster Sonaten- und Canzonen-
formen, den die £ntwickelung der jungen Instrumental-
musik im 17. Jahrhundert bildet, taucht er mit auf. Es
ist das Verdienst des grossen Alessandro Scarlatti A. ScarUtti.
ihn gewissermassen zum zweitenmale erfunden zu haben.
Soweit es sich übersehen lässt, hat dieser Meister in seinen
Opern die italienische Sinfonie ausschliesslich verwendet
und sie damit und mit der Wucht seines Namens für den
ganzen Bereich der italienischen Schule durchgesetzt. Sie
hat sich bis heute behauptet — denn streichen wir aus
unserer modernen Sinfonie das Scherzo, so steht der Grund-
riss der alten italienischen Sinfonie vor uns; ausnahmsweise
haben einzelne neue Sinfoniker, Liszt, Raff, Tschaikowsky
für bestimmte Werke auf die unverfälschte Dreisätzigkeit
zurückgegriffen. Sie ist aus der italienischen Sinfonie in
das virtuose Concert hinübergegangen und hat sich da
bekanntlich bis auf die Gegenwart rein erhalten.
Durch die innere Einrichtung steht uns unter den drei
Sätzen der italienischen Sinfonie der erste am nächsten,
weil er sich zwar nicht immer aber doch meistens in drei
Theilen ausspricht. Nehmen wir z. B. das erste Allegro
von Scarlati's Sinfonie zu „H trionfo del 'Onore*.*) Es
ist ein Satz von 17 Takten. Die ersten Violinen leiten
ihn mit folgendem Thema ein :
'rrii innriii
r^^'^^tJr^tei
*) Bis ist die 140. Oper des Componisten, ihr Entstehungs-
r 1718.
c<? 40 '£>*
Daran sohliesst sich oin zweiter Abschnitt, in dem die
Bässe und nach ihnen die Violinen nur das Motiv:
üw 1^^=^ durch die Tonarten tragen. Er geht von
C dur über D dur , E moll , G dur nach C zurück und
schliest mit dem 12. Takte, der uns wieder vor den Anfang
des Satzes führt. Wir haben also in diesem Miniatursatz
doch schon ganz deutlich das Gerippe des ersten Satzes
der Haydn-BeethovenVhen Sinfonie, oder wie man gewöhn-
lichsagt, da-s Sonatenschema vor uns: a) Themengruppe,
b) Durchführung, c) Wiederholung und was das
wichtigste ist, den Durchfuhrungstheil nach den Principien
gestaltet, die noch heute gelten.
Der langsame Satz hat häufig die einfache zweitheilige
Liedform; zuweilen bringt er gar kein Thema, sondern
markirt nur, präludienartig modulirend, die Stelle, wo das
Gemüth ruhen und träumen will und darf. Der schliessende
schnelle Satz zerfällt in der Regel in zwei Theile, die
thematisch verwandt sind und beide wiederholt werden.
Im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts war zu der
italienischen eine französische Oper gekommen und auch
die Franzosen entschieden sich für eine Instrumental-
FnnxösiBche sinfonie als Einleitungsstück der Oper. Diese französische
Sinfonie. Sinfonie oder Ouvertüre, die sehr häufig die Lully'sche
J. B. LoUjr. genannt wird, obschon sie bereits bei Cambert vorkommt,
besteht ebenfalls aus drei Sätzen, aber in der Anordnung
Grave, Allegro, Grave. Auch darin unterscheidet sich die
Form dieser französischen Sinfonie, der wir in der Suite
der Mufi'at, Händel, Bach, Zelenka bereits begegnet sind,
von der der italienischen, dass der erste Satz in der Regel
ohne Pause in den zweiten und ebenso dieser in den dritten
übergeht. Nimmt man noch hinzu , dass der dritte Satz
(das zweite Grave) meist<»ns eine wörtliche und vollständige,
oder aber abgekürzte Wiederholung des ersten langsamen
Satzes ist, so ergiebt sich für die französische Sinfonie eine
grtissere Abrundung und Geschlossenheit. Sie neigt zur
Einsätzigkt'it ; das in der Mitte steh<'nde, in der Regel
(-e 41 "ö^
fugirte Allegro ist nicht blos örtlich der Mittelpunkt des
Ganzen, sondern auch dem Umfang und dem Geist nach.
In der That ist auch aus jener französischen Sinfonie des
17. und 18. Jahrhunderts die einsätzige, langsam einge-
leitete Ouvertüre der Cherubini und Beethoven hervor-
gegangen; ja selbst die langsamen, so beliebten und so
dummen Einleitungen des modernen Walzers stammen aus
dieser Quelle.
Sowohl die italienische, wie die französische Sinfonie
stellen sich eine ganz andere Aufgabe, als die Venetianische.
Diese sucht möglichst viele und möglichst getreue Miniatur-
bildchen aus dem folgenden Musikdrama vorauszuwerfen.
Jene beiden wollen weniger ein bestinmites Theaterstück,
als vielmehr ein Fest einleiten. In Venedig waren die
Opembühnen Volkstheater, in Neapel und Paris Hof-
institute. Diesem Charakter der Opemaufführung tragen
die neuen Sinfonietypen Rechnung; die italienische betont
dabei die heiteren und glänzenden Seiten des Festes, die
französische die feierlichen und majestätischen. Fehlte doch
der Roi Soleil bei keiner wichtigen Vorstellung seiner
Academie Royale de musique!
Musikalisch haben die italienische und die französische
Sinfonie vor der Venetianischen die stattlichere Form und
die Möglichkeit voraus, eine gewählte Idee eingehender zu
verfolgen. Aber der Verzicht auf die Anregungen, die der
Phantasie des Componisten aus dem Drama zuströmten,
ist der Entwickelung der beiden Typen unheilvoll geworden.
Die französische Sinfonie hat dabei weniger gelitten. Dank
Lully, der sich darauf verstand, in seinen AUcgris trotz
des steifen Einerleis der ewigen Fugen, doch einigermassen
dem Charakter des kommenden Dramas anzukünden und
klar zu machen, ob die Oper heroisch oder pastoral sein
werde , waren in der französischen Sinfonie Charakter-
gemäldc ersten Ranges möglich, wie sie Jedermann
in Gluck's Iphigenienouvertüre kennt, und in C. W. t. Gliek.
H ä n d e Ts herrlicher Ouvertüre zu „Agrippina**^) kennen 0. F. Hindel.
^) 57. Lieferung der deutschen Händelausgabe.
sollte. Seitenstücke zu diesen Meisterwerken wolle man
J. P. BMieftm.in den Opern Rameaus aufsuchen, von denen auch jede
bescheidenere Musikbibliothek einige Exemplare zu besitzen
pflegt. Rameau war es, der den Uebergang aus der drei-
satzigen Sinfonie zur einsätzigen Ouvertüre mit langsamer
Einleitung anbahnte. Freilich scheinen die bedeutendsten
Sinfonien nicht immer die beliebtesten gewesen zu sein.
Das zeigt jene Anekdote von Friedrich dem Grossen, der
es Graun sehr verdachte, dass er in der Ouvertüre zu
.Papirio* die Fuge durch ein charaktervolles, frei geformtes
Allegro ersetzt hatte.*)
Die Vorlagen, die Scarlatti den Italienern gab, waren
geringer. Die Musik seiner Sinfonien ist sinnig, anmuthig,
munter und geistvoll, aber ohne Grösse und Tiefe billigeren
Zielen zugerichtet. Das Beste, was seine Sinfonien bieten,
liegt auf der sinnlichen Seite in einem glänzenden, geist-
reichen Concertiren, in einer sinnigen Figurenbildung, im
blendenden Colorit, Eigenschaften, die z. B. die Ouvertüre
zu ,11 prigionero fort Unat o* (1709)*) aufs Schönste
vereint. Was Hohes in der italienischen Sinfonie möglich
L. Leo. war, das zeigen die Oratorieneinleitungen LeonardoLeos,
von denen die zu ,St. ElenaalCalvario**') seit etlichen
Jahren in Partiturdruck vorliegt. Das ist grosse und edle
Trauer in unvergänglichem, für alle Zeiten musterhaften
Ton! Solche Werke sind aber leider in der italienischen
Schule die Ausnahme. Mit L. d a V i n c i beginnt in ihrer
Sinfonie ein Verfall , der die Mehrzahl ergriff und dem
die Versuche einzelner ernster Tonsetzer, wie Ad. Hasse
und N. Pji c c i n i dauernd Einhalt zu thun nicht vermochten.
Aeusserlich wuchs sie. Die Sätze wurden alle drei länger
und reicher im Ausbau. Der erste fügte — das Beispiel
gab auch für die französische Sinfonie das virtuose Concert —
*) L. Schneider, Geschichte der Oper in BerUn (1852),
S. 111 stellt den Sachverhalt verkehrt dar.
°) Diese Sinfonie erscheint demnächst in Breitkopf &
Härtel's ,.Acadeini5cher Orchesterbibliothek".
3) Bei Breitkopf & Härtel.
ein zweites Thema eio, der dritte wendete sich der viel-
gliederigen und die Erfindung reizenden Rondoform zu.
Aber das innere Wesen der italienischen Sinfonie ward
immer leerer und läppischer.
Den erfreulichsteu Theil bilden die langsamen Sätze.
Sie haben um die Mitte des 18. Jahrhunderts in der Regel
die grosse dreitheilige Liedform — a) Hauptthema als
Doppelperiode zweimal, zwischen dem ersten und zweiten
Mal ein mit Figuren ausgestattetes Seitenthema ; b) zweites
Thema zum Hauptthema in Tongeschlecht und Charakter
in Gegensatz gebracht ; c) Wiederholung von a in gekürzter
Form — und bringen in ihr die eigenthümliche , weiche,
edle Empfindsamkeit des 18. Jahrhunderts in freundlich-
wehmUthigen Melodien und in einer Reinheit zur Anschauung,
die den andern Künsten jener Zeit nicht erreichbar war,
am wenigsten der durch moralische und mythologische
Zöpfe gefesselten Dichtkunst. Zuweilen waren die Com-
ponisten hier noch zu süssen Erfindungen durch die Liebes-
scenen angeregt, die in der Oper und dem Oratorium des
18. Jahrhunderts einen sehr breiten Raum einnehmen.
Um so schlimmer stand es in der Regel um den ersten,
den Hauptsatz der Sinfonie. Einige Citate werden genügen,
einen Begriff von der hier üblichen Thematik zu geben :
"^ rrrrr ' — '
M
etc.
(Rückkehr zum Anfang in einer ein Takt langen Figur)
^
•tc.
(ähnlich wie bei a)
AUe^ro
«) jl|,]injjjjijijijjjJii.TOrTr^«.c.
^) j"f r r c£[fij^^ cETT'''^ ^^^-
Beispiel a ist der Anfang zu der Sinfonie, mit der L.
L. dft Tiiel. da Vinci seine „Semiramis* einleitet, b und c sind von
G,B-P«rgolesl.Pergolesi, das eine ist der Anfang zur Sinfonie der Oper
,Sallustia*, das andere vom Oratorium «San Guglielmo*.
Diese Sinfonie hat der Componist nochmals für seine letzte
K. JoHelll. Oper , Olympia* verwendet. Mit d beginnt Jomelli die
Sinfonie seines Oratoriums ,Abramo*. Wir haben also hier
grosse Namen und ernste Werke vor uns. Wie wenig lassen
das die Noten ahnen, wie tief ist der Begriff vom Wesen und
Zweck der Sinfonie gesunken ! Diese Umständlichkeit um
I^appalien, diese gespreizte Trivialität sind der wahre Hohn
auf echte Kunst, man kann solche Leistungen nicht mehr
zur Musik rechnen ; leider haben sie eine gewisse Bedeutung
fiir die Geschichte Italiens, das heute glücklicherweise der-
artige Instrumentalcompositionen nicht mehr duldet.
Vom Anfang des 18. Jahrhunderts ab mehren sich in
Deutschland die Orchester schnell und beträchtlich. Der
hohe und niedere Adel thut es den Fiirsteuhöfen nach;
gut oder schlecht, aber so ziemlich jedes Sc bloss hat seine
Hauscapelle. Schüler und Studenten, dem Beispiel der
italienischen Akademien folgend, gründen freiwillige collegia
musica, die Bürgerkreise ihnen nach. Um die Mitte des
Jahrhunderts ist das ganze Land mit einem dichten Netz
von Musikvereinen überzogen, die alle in „wöchentlichen
Concerten*, einmaligen und doppelten, ungemein viel
Instrumental- und Orchestermusik verbrauchen. Comödien
und Concerte sind die Haupthindernisse der Gelehrsamkeit,
klagt 1763 der musikfeindliche Ernesti. *) Es ist niemals
vorher und nachher wieder soviel Instrumentalmusik com-
ponirt, gespielt und angehört worden, als in jenen Tagen.
Die Zeugnisse dafür liegen in den Briefen Mozart's und
in den Lebensbeschreibungen von Quantz, Ditter^dorf,
M G. Wustmann, „Aus Leipzigs Vergangenheit** (Leipzig 188.5)
S. 289.
«G* 45 ^
Gyrowetz und anderen namhaften Musikern jener Zeit vor,
in den Archivresten der Bibliotheken und in den Verlagsver-
zeichnissen. Sinfonien, Concerte werden immer bündelweise
angeführt. Im quantitativen Sinn ist die Mitte desl8. Jahr-
hunderts die Glanzzeit der Instrumentalmusik in Deutschland ;
dort liegen die Anfänge und Ursachen ihrer Vorherrschaft.
Dass in der ersten Hälfte jener Periode die Sinfonie
zurücktritt, könnte nicht Wunder nehmen, auch wenn sie
besser gewesen wäre. Denn sie hatte an dem neuen
Virtuosenconcert einen übermächtigen Nebenbuhler. Wie
hundert Jahre früher Monodie, Solo- und Bühnengesang
die eigentliche „nuove musiche* der Generation waren, die
den dreissigjährigen Krieg erlebte, so schienen für die,
welche mit Friedrich dem Grossen jung waren, die Wunder
des Orpheus in den Violinconcerten der Torelli, Vivaldi,
Corelli wieder aufzuleben. Unter allen Erwerbungen, die
die Musik in den letzten Jahrhunderten gemacht hat, war
die des virtuosen Concerts die bedeutendste; keine andere
hat den inneren und äusseren Wirkungskreis der Tonkunst
so gewaltig erweitert. Indess den Dilettantenkräften der
neuen CoUegia musica musste den virtuosen Anforderungen
des Concerts gegenüber ein Erdenrest von Technik zu
tragen peinlich bleiben und den Wunsch nach einer andren
Gattung von instrumentaler Ensemblemusik nahe legen.
Da fiel denn der Blick naturgemäss auf die im Aufbau
mit dem Concert ganz identische italienische Sinfonie und
sie begann alimählich jenem zur Seite zu treten, es zu er-
setzen. Wir können diesen Prozess mit einer interessanten
Arbeit S. Baches belegen. Derselbe Band der Bach- g. Baeh
ausgäbe, *) der die Orchestersuiten enthält , bringt als Sinfonie in F.
Anhang eine Sinfonie in F aus drei Sätzen bestehend,
Allegro, Adagio, als Schlusssatz ein Menuett (mit 2 Trios).
Diese Sinfonie ist aber nichts als eine Umarbeitung von
Bach*8 erstem brandenburgischen Concert; der */g Takt,
der dort (ad libitum) dem Menuett vorausgeht, ist weg-
'; 31. Jnlirgaiig, £r&to Lieferung.
gelassen und der nur spärlich concertirende Violino piccolo,
das Soloinstrument des Concerts, ist einfach gestrichen.
Sonst stimmt Alles wörtlich. Auch wenn Bach selbst
nicht der Bearbeiter dieser Sinfonie sein sollte, bleibt
sie ein wichtiges Document für einen geschichtlichen
Hergang: die Entstehung und das Empordringen einer
selbstständigen Concertsinfonie. Sie verdankt ihre
Existenz der Einrichtung regelmässiger Concerte, ins-
besondere den collegiis musicis der Studenten und anderer
Dilettanten und befestigt sich ausserordentlich schnell in
ihrer Stellung.
Schon um die Mitte des 18. Jahrhunderts sehen wir
die Sinfonie unabhängig, das alte Verhältnis zur Oper
gelöst; es wird allmählig möglich, dass sich begabte Ton-
setzer vorwiegend oder ausschliesslich der Composition fürs
Concert, für die Instrumente widmen, die Orchestersinfonie
wird jetzt in Stimmen gedruckt und schnell ein ganz be-
deutender Handelsartikel. In dem Breit köpf sehen Katalog
von 1762 finden wir fünfzig Sinfoniekoraponiston, bekannte
Meister wie Gluck, Hasse, Galuppi, Jomelli, Graun, Hiller
und heute vergessene Lokalgrössen durcheinander: keiner
hat es unter einem halben Dutzend gethan. Als Beweise
höchster Fruchtbarkeit finden sich in den Bibliotheken
aus jener Zeit auch Sinfonien von Dilettanten componirt:
Friedrich der Grosse, Max Joseph von Bayern, der Baron
von Münchhausen erscheinen unter dieser Autorengruppe.
Das Ausland tritt mehr und mehr zurück und kommt
qualitativ bald ganz ausser Betracht. Die deutsche
Produktion aber vertheilt sich auf folgende drei Bezirke:
die Mannheimer, die Wiener und die Norddeutsche Schule.
lABBlieiiBer Die Mannheimer Schule lebt heute noch in vieler
Seliile. Munde durch W. A. Mozart, der in den Briefen an seinen
Vater wiederholt ihre Sinfonien und die Leistungen des
Orchesters rühmlich hervorhebt. Der sonst so strenge
Kritiker hat in Mannheim manches in einem allzu rosigen
Licht gesehen, sicherlich die Sinfonien. Einzelne Vertreter
J. Holsbaier. dieser Schule setzen durch ihre Fruchtbarkeit in Erstaunen.
Chr.CMiBabieh.HoItzbauer schrieb 205 Sinfonien, Cannabich unge-
o(? 47 ^
lähr 150*); auch die Fielitz, Tosca, Stamitz schrieben
fleissig. Aber eine besondere Art haben die Mannheimer
Sinfonien nicht; sie sind von geringem geistigen Gehalt
und kennzeichnen sich gleich mit ihren theatralisch weit-
schweifigen aber unbedeutenden Themen als Kinder der
italienischen Familie. Nur sind sie lebendiger instrumentirt
und concertiren ungewöhnlich eifrig und wirksam mit den
Orchesterstimmen, insbesondere den Bläsern. Mozart spricht
mit besonderer Bewunderung von dem crescendo des
Mannheimer Orchesters. Daraus haben Nohl und ähnliche
Gelehrte den für Kenner alter Musik ganz unmöglichen
Schluss gezogen: die Mannheimer Capelle sei die erste
und einzige gewesen, welche sich darauf verstanden,
die Uebergänge zwischen piano und forte zu geben. Das
von Mozart gemeinte crescendo der Mannheimer Sinfonien
ist aber etwas anders, nämlich in erster Linie ein Compositions-
effekt : Es wird ein kurzes Motiv in einer langen Sequenzen -
periode aus der Tiefe in die Höhe getragen, ähnlich wie
das in den Strettis der Rossini'schen Opern so häufig vor-
kommt. Mit dem Aufschreiten zur Höhe wächst immer auch
die Tonstärke. Namentlich Cannabich liebt diese Crescendi.
Ueber die Vorgeschichte der Wiener Schule, die Wiener Sehvle.
die Hauptquelle des deutschen Instruraentalruhms wurde,
weil Oesterreich fleissiger als andere Länder musicirte,
sind wir bisher schlecht unterrichtet. Niemand hat die
Sinfonien der Starzer, Aspelberger, Kohaut und der
andren Vorgänger Joseph Haydn*s untersucht. Wahrschein-
lich haben sie bereits die Dreisätzigkeit der italienischen
Sinfonie durchbrochen und den Menuett eingefügt.
In der Norddeutschen Schule ist neben dem Morddevtiehe
Berliner Friedrich B e n d a das bedeutendste Sinfonietalent Schmle.
der Zeit überhaupt, Philipp Emanuel Bach, der so- Fr. Beadm.
genannte Hamburger Bach. Ph. Em. Bach ist weder durch
Grösse, noch durch Menge der Gedanken ausgezeichnet;
er hat aber nichts destoweniger für die Geschichte der
^) 70 davon liegen in geschriebenen Stimmen aaf der
Münchner Staatsbibliothek.
-^ 4^; 'cx
Musik als Stylist eine Bcdvutuug ersten Ranges. Er erfand
eine neue Art der thematischen Durchfuhrung, die hinter
der Fuge und den andern strengen Formen der Nach-
ahmung an Gründlichkeit zurückstand, sie aher an
Schmiegsarakeit und Beweglichkeit bei weitem übertraf
und dem Spiele der Laune und des Augenblicks auch in
den grösseren Formen einen bequemen und allezeit offnen
Zutritt gestattete, ohne dass dabei die Darstellung — wie
dies in der nordisch niederländischen Instrumentalschule
früherer Zeit der Fall war — der Gefahr phantastischer
Willkür veriiel. Bach ist in dieser seiner Art einer der
ersten und bemerkenswerthesten Vertreter französischer
Bildungsideale in der deutschen Instrumentalmusik.
Richteten doch in der zweiten Hälfte des vorigen Jahr-
hunderts selbst die Liedercomponisten (der Berliner Schule)
ihre Augen auf die in Frankreich gebotenen Muster.
Neben seinem Lehrbuch , Versuch über die wahre Art
das Ciavier zu spielen* hat Bach am nachhaltigsten durch
die Pianofortecompositionen gewirkt , die in grossen und
kleinen, schweren und leichten Formen seiner fleissigen
Feder in Menge entflossen. Aber System und Geist seiner
Kirnst kommen in den Sinfonien, die er schrieb, immer
noch fühlbar zum Ausdruck. Ueberdies enthalten sie in
der Orchesterbehandlung Elemente, die für die weitere Ent-
wickelung der Gattung von Wichtigkeit wurden.
Gerber schreibt in seinem Lexicon dem Ph. E. Bach
^ein paar Dutzend Sinfonien* zu. Davon sind zu Bach's
Ph. E. Bftch Zeiten ungefähr nur 10 in Stimmen gedruckt worden, vier
Sinfonien, davon im Jahre 1780 (bei Schwickert in Leipzig). Diese
sind es, welche Espagnc im Jahre 1860 bei Peters in Leipzig
neu herausgab. Die erste derselben ist heute wieder be-
kannter: Das Hauptthema ihres ersten Satzes ist dieses
Allerfb di molto. , , , ^ ^ , ,
Es wird, flnnkirt
von einigen ziemlicli unbedeutenden Seitenmotiven, zu
einem Satze von ungefähr 200 Tacten Länge ausgeführt,
in welchem man die drei Theile des Sonatensatzes:
Themengruppe , Durchführung , Repetition , klar unter-
scheiden kann. Dieser erste Satz modulirt in den Schluss-
takten nach Esdur, der Tonart des zweiten Satzes, einem
Larghetto in dem weichen, zu Thränen bereiten Stile des
18. Jahrhunderts. Mit dem Klange der geliebten Flöten
tritt das Thema des Satzes ein:
^^!l'r}r-|pl|j|"ni|l^nn| l l E« Presto
in '/i Takt
et«.
sausenden Laufs, nur selten durch einen ernsteren Einfall
gehemmt, führt die Sinfonie zu Ende. Diese Scarlattische
Grundform und auch der seelische Typus der D-dur-
Sinfonie kehrt in den anderen wieder: geistreiches,
lebendiges und sprühendes Finale, anziehendes oder er-
trägliches Larghetto und ein verwunderlicher Hauptsatz.
Denn es ist verwunderlich, wie diese Hauptsätze der Sin-
fonien des Hamburger Bach im letzten Grunde doch ziem-
lich inhaltlos verlaufen. Sie setzen alle mit einem wunder-
baren Schwung ein; mit gewaltiger Kraftanstrengung
stürmen sie von Anlauf zu Anlauf, geberden sich in Trillern
und allerhand ungewöhnlicher Melodik nicht selten ganz
apart und absonderlich. Aber sie zerplatzen wie Seifen-
blasen ohne Spur und Resultate. Es stellt sich diesen
heroischen Versuchen nichts Wichtiges entgegen, der Zug
geräth in Tändeleien und streift am Bedeutenden flüchtig
vorüber; das Ganze kommt nicht über das Phantastische
hinaus und bleibt ein brillantes Feuilleton. Nur die ge-
danklich bedeutendste der vier Sinfonien, die zweite in F dur,
erhebt sich über diese Stufe. Beim unmittelbaren Hören
der Bach^schen Sinfonie findet jedoch die Kritik keine
Zeit zu ihren Bedenken; die Sätze gehen unmittelbar in-
Kretitchmar, Führer, I. 4
einaDder über und das Ganze rauscht, angeregt und anregend,
verhältnissmässig schnell vorüber.
Die Besetzung der vier Sinfonien ist die gleiche : Streich-
orchester, 2 Flöten, 2 Oboen, 2 Homer, 2 Fagotts und
Flügel. Sie weist auf specifisch hamburgische Ver-
hältnisse jener Zeit hin : ein starkes, mit virtuosen Kräften
ausgestattetes Violinenensemble und ziemlich massige
Bläser. Der Flügel ist in jener Zeit bereits eine entbehr-
liche Zuthat. Interessant und Schule machend wirkte Bach
durch die Behandlung der Instrumente. Unter ihnen
herrscht im Vergleich zur älteren Weise volle Freizügig-
keit, und sein Orchester formirt sich fortwährend anders
und vollzieht die Evolutionen der neuen Aufstellung mit
einer Leichtigkeit, die der älteren Praxis fremd war. Auch
Bach kennt das „Concertino* des Concertorchesters noch,
er giebt dem bekannten Bläsertrio gern die zweiten
Themen im Hauptsatz. Aber auch jedes andere Instrument
besitzt bei ihm die Solistenqualification und ist jeden Augen-
blick bereit, von ihr Gebrauch zu machen. Die solistische
Führung geht taktweise von der Oboe zur Flöte, von einem
Chor zum andern, während man früher bei solchem
Wechsel etwas umständlicher war.
II.
J. Haydn, Mozart, Beethoven.
^er grosse Aufschwung, den die Pflege der Sinfonie in
Deutschland um die Mitte des 18. Jahrhunderts nahm,
übte auf ihre innere Entwickelung nur geringen Einfluss;
im Wesentlichen blieb sie nach Form und Geist auf dem
alten italienischen Standpunkt. Erst Josef Haydn
wandelte sie um und zwar so gründlich und gewaltig, dass
diese Reform der Sinfonie eine der bedeutendsten Thaten
der gesammten Kunstgeschichte genannt werden darf.
Wenn wir auf die Frage, worin bestand Haydn's
Reform der Sinfonie, mit unseren Handbüchern der Musik-
geschichte und mit den musikalischen Lexicis antworten :
in der Einführung des Menuetts, so bleiben wir allerdings
den Thatsachen das Meiste und das Beste schuldig.
Haydn hat deri Menuett nicht in die Sinfonie einge-
fiihrt. Die Sinfonie mit Menuett war eine Eigenthümlich-
keit der Wiener Schule. Von dort eignete sie sich auch
Mozart zu einer Zeit an, wo die Haydn'schen Sinfonien
ausserhalb ihres Entstehungsorts noch unbekannt waren.
Haydn verschaflfte ihr nur in der internationalen Sinfonie
allgemeines Bürgerrecht. Es handelt sich dabei im Menuett
e<3' 52 "Ö'
um ein Stück voIksthUmlicher Musik im Allgemeinen. Die
Wiener Schule näherte sich mit der Aufnahme dieses
Tanzsatzes in die Sinfonie der Suite und Haydn war es,
der die von andern grossen Meistern, von Corelli und
namentlich von Händel auf dem Gebiete des Concerts ver-
suchte Aussöhnung der höheren Tonkunst mit der einfachen
gesunden und reichen Volksmusik auf dem Gebiete der
Sinfonie zu einem in seiner Art ganz vollendeten und
wundervollen Abschluss brachte. Ihm gelang es, in den
Formen der italienischen Sinfonie den Suitengeist heimisch
zu machen; für diejenigen — kann man sagen — die
diesen neuen Geist im alten Hause nicht merkten,
wurde der Menuett, der modernisirte , ländlerartige, öster-
reichische Menuett, noch besonders drein gegeben. Im
letzten Allegro, im Schlusssatz, hielt auch die italienische
Sinfonie auf eine gemeinverständliche, ungesuchte, an Tanz
anklingende Fröhlichkeit. Aber in den andern Sätzen
ist zwischen ihr und Haydn ein elementarer Unterschied :
Der erste Satz hat bei den Italienern weit ausholende,
umständliche, bei aller Trivialität auf Theaterfüssen ein-
herstolzirende Themen; bei Haydn, bei dem späteren
Haydn wenigstens, dem Haydn, den heute alle Leute
meinen, wenn sie seinen Namen nennen — knappe, sofort
fertige, ungekünstelte, lustige, gemüthlich beschauliche
Weisen, die wie aus dem Yolksmund genonmien klingen,
sicher für ihn wie geschaffen und doch dabei immer so
edel sind, dass sie auch die vornehmen und hohen Geister
erfreuen, erwärmen und fesseln. Seine langsamen Sätze,
seine Adagios, Andantes, Larghettos entwickeln oft den
Tiefsiun S. Bach's, die Empfiudungsgrösse HändePs, sind
erregt ohnegleichen; aber ihren Ausgang nehmen sie
meistens von dem Boden des Kinderliedes. Wer denkt da
nicht an das Andante mit dem Paukenschlag ? Es führen
gerade von diesen Sätzen goldne Faden nach dem Rohr-
auer Elternhaus Haydn^s, zu den Abendstunden, da der
Vater die Harfe schlug und die Kinder sangen. Familien-
abkunft und Heimath haben einen grossen Autheil an der
Sinfonie Haydn*s ; sie haben zum Theil ihre Richtung auf
cc? 53 '^
den Gedankenkreis der Suite bestimmt, ihre schnelle und
weite Verbreitung, ihre ungeheure, bis heute bewährte
Popularität begründet.
Aber der volksthümliche Charakter der Haydn^schen
Sinfonie ist nur der eine Theil ihrer Neuerung. Er ruht
auf der Erfindung der Gedanken. Wichtiger noch ist der
andere: die Auslegung, Verwendung des thematischen
Materials, das, was Theologen und Philologen die Exegese
nennen. HierfUr standen der älteren Zeit in der Instru-
mentalmusik vor allem Fuge und Variation zur Verfügung.
Beide Formen arbeiteten fast ausschliesslich mit dem Thema
in seiner ganzen Ausdehnung und Länge. In zweiter Linie
erst kam, namentlich durch das Concert, die Entwickelung
eines Tonsatzes auf Grund von Bruchstücken des Themas,
auf Grund sogenannter Motive in Brauch. Haydn machte
nun diese motivische Entwickelung zum Prinzip des Satz-
baues und eine besondere Eigenheit von ihm war es, dass
er solche Theile des Themas, solche Motive zu dem Zweck
gern heranzog, die im Zusammenhang der thematischen
Periode zurücktreten, denen man nichts bemerkenswerthes
ansieht. Ein Hauptbeispiel für dieses Haydn*8che Ver-
fahren bietet die D dur-Sinfonie Nr. 2 (der neuesten
Partiturausgabe von Breitkopf & Härtel), die zweite der
Londoner Sinfonien in ihrem ersten Satz. Da ist der
ganze, grosse Durchführungstheil und auch ein gutes
Stück der Uebergangpartien in der Themengruppe aus
dem 3. und 4. Takte des Hauptthemas, aus dem zweiten
Abschnitt des Vordersatzes hergestellt der also lautet:
ffwf ^ ^ ^ ^ I (^ -' 1 Nun vergleiche man einmal,
wie unbedeutend diese beiden Takte im Thema selbst
bleiben, andrerseits was für eine Skala von Empfindungen
Haydn mit ihnen durchspielt. Das geht von der ent-
zückten Träumerei bis zum entsetzten, verzweifelten Toben.
Dieses neue Haydn'sche Verfahren Hess die Grund-
linien der in der italienischen Sinfonie herrschenden
Formen im Anfangs- und Schlusssatz unberührt. Wir haben
im ersten Sinfoniesatz bei Haydn nach wie vor die drei
Haupttheile: Thomengruppe, Durchführung, Reprise: das
Schema also des sogenannten Sonatensatzes. Seine Schluss-
sätze bleiben bei der bisher üblichen Rondoform — eine
Art InstrumentalUbertragung des Ruudgesangs — oder sie
verwenden, wie der erste Satz, ebenfalls das Sonatenschema.
Aber die Theile selbst sind beträchtlich erweitert. Ganz
besonders gilt das von der Durchfuhrung des ersten Satzes,
die dessen wichtigsten und spannendsten, in der Regel auch
längsten , umfangreichsten Theil bildet. Gleicht die
Themengruppe der Exposition im Drama, so bringt die
Durchführung die Katastrophe, enthält das bewegteste
Stück aus dem in der Composition vorgeführten Lebens-
bild. Dem langsamen Satz gab Haydn eine ganz neue,
dem Sonatencharakter de« ersten Satzes nachgebildete , in
der Durchführung kürzer gehaltene, oder aber aus Variationen
herauHge wachse ne Gestalt. Die Variationenform verdankt
die Stellung, die sie in der modernen Sinfonie, im Quartett
und in allen Zweigen des Sonatengebietes einnimmt, dem
Meister Haydn. Zwischen ihm und der alten Orchester-
suite der Hausmann und Genossen liegt eine Zeit, da sie
ihr Dasein bescheidentlich auf dem Klavier und im Schul-
dienst fristete. Der Menuett allein bewahrt den Charakter
der Volksmusik, den die andern Sätze der Haydn'schen
Sinfonie im Anfang, in den Themen, zeigen, auch im
weitern Verlauf. Er besteht aus einem in zwei Clausein
getheilten Hauptsatz, einem Trio als Gegensatz und der
Wiederholung des Hauptsatzes. Im Huss<»ren Gefüge wie
im Inhalt, verliert er die praktischen Zwecke des Tanzes
nie ganz aus den Augen und verzichtet deshalb auf Durch-
führung, thematische Arbeit und alle Künste der Auslegung.
Eine erstaunlich grosse Anzahl von Musikfreunden
und Musikern — unter diesen Namen von gewichtigstem
Klang — glaubt den ,Papa Haydn", den ^gemüthlichen*,
den , kindlichen* Haydn, mit einem üblen Beisatz von
Herablassung verehren zu dürfen, weil er in den Themen
seiner bekannten Sinfonien sich sehr ungeniert als Bruder
Lustig gicbt und in demselben Kreise harmloser, von der
Oberfläche geistigen Lebens geschöpften Ideen dreht. Sie
c<? 55 'c>^
übersehen ganz den inneren Zusammenhang, der zwischen
der Thematik der Haydn'schen Sinfonie und ihrer Methodik
besteht. Die Methode, in der Haydn seine Gedanken
entwickelt, ausnutzt, zum grossen Tonsatz ausführt und
erweitert, liebt bedeutende, durch eigne Wendungen aus-
gezeichnete Themen nicht ; sie kann sie nur selten gebrauchen.
Auch die Macht und Unmittelbarkeit der ersten Erfindung,
der immer von Neuem, frisch einsetzenden Inspiration hat
für sie wenig Werth. Tongedanken, die sich für die
Haydn'sche Methode eignen sollen , müssen klar und reich
gegliedert sein, vor allem unbeschränkte Verwandlungs-
fahigkeit besitzen. Das Wesen der Haydn'schen Sinfonie,
ihre Eigenthümlichkeit beruht nicht auf den Themen und
Ideen, ihrem Eigenwerth und ihrem ersten Eindruck,
sondern auf dem Grad von Kunst, mit dem der Componist
sie behandelt, darauf, was er aus ihnen zu machen weiss.
Haydn schuf seine Sinfonien aus einem ähnlichen Glauben,
aus dem heraus Aeschylus und Sophocles ihren Tragödien
Yolkssagen zu Grunde legten. Schütz und Händel, AUer-
weltsmotive und nachweislich fremde Erfindungen für ihre
Compositionen benutzten: aus dem Glauben und der An-
schauung: die Originalität und der Gehalt der Grund-
ideen ist für grosse Kunstwerke weniger wichtig, als die
Begabung des Künstlers. Ein Sinfoniker, der in der
Methode Haydn's etwas lebten will, muss einen ausser-
ordentlich reichen, beweglichen Geist, er muss die Fähig-
keit besitzen, ein und dasselbe Thema mit tausend ver-
schiedenen Lichtem zu beleuchten, mit ihm in alleThüren und
Thore seines Phantasie- und Gemüthslebens einzudringen.
Er muss eine Persönlichkeit sein, die sich ihrer Fülle und
Eigenart freuen darf und daraus mit vollendeter Freiheit
mitzutheilen weiss was am Platz ist. War die Sinfonie
vor Haydn eine Festmusik, so wurde sie durch ihn eine
Tondichtung intimster Art : der Subjectivität des Compouisten
wurde ein grösserer Antheil angewiesen, als ihn bisher die
Orchestermusik gekannt hatte. Es war fortan — um
mit Brahms zu sprechen — „kein Spass* mehr Sinfonien
zu schreiben.
c<y 56 ^
Zu dem Soitengeist^ zu der durch die Betonung thema-
tischer Arbeit erweiterten Satzform der Haydn'schen Sinfonie
tritt als eine dritte Neuerung die Beseitigung des Cembalo
aus dem Orchester. Man kann diese Massregel auf die An-
regung der Gluck'schen Oper, oder, was wohl das Richtigere
ist, auf das Beispiel der alten Orchestersuite und ihrer süd-
deutschen Rechtsnachfolger der Cassationen, Serenaden,
zurückfuhren. Im letzteren Falle bedeutet sie, wie die Ein-
führung des Menuett, wie die Thematik der Haydn'schen Sin-
fonie ebenfalls eine Annäherung an die Bräuche der gleichzei-
tigen Volksmusik. In dem Augenblick, wo die Instrumente des
Haydn'schen Orchesters von dem Cembalo Abschied nehmen,
richten sie unter einander eine, über alle bbherige C-onvention
hiuschreitende Freiheit des Verkehrs ein. Das Concertiren
und das Solospiel wechselt in einer Beweglichkeit, die
wohl von Händel z. B. in den Oboenconcerten, von Ph. F. Bach,
von den Mannheimern vorbereitet, aber in der Haydn'schen
Weise bisher noch von Niemandem durchgeführt war.
Indem das Solorecht von jetzt ab allen Instrumenten ohne
Ausnahme verliehen und in buntester Reihe, unter Um-
ständen taktweise von einem zimi andern wandernd, aus-
geübt wurde, gewann das Orchester mit Haydn einen
Reichthum und einen Reiz des Colorits, der die Wirkungen
seiner Sinfonien auf die Zeitgenossen mächtig förderte.
Wir allerdings haben von der Schönheit und Eigenheit
des Haydn'schen Orchesterklanges in vielen Fällen gar
keine Ahnung, weil wir sie durch das Missverhältniss
zwischen der Besetzung der Geigen und der der Holzbläser
gründlich verderben. Das vernichtet namentlich die
Haydn'sche Kunst der Farbenmischung. Ein Beispiel: In
der hübschen G dur-Sinfonie No. 13 (Partiturausgabe von
Breitkopf & Härtel) kommt im ersten Satz mehrmals eine
Stelle vor, an der zu den von den Bässen gebrauchten
Variante des Hauptthemas:
■Ml f r \n r r \f^'^^ I^^Q-F^ die hohen
V V V
Instrumente mit der Figur:
e<? 57 ^
contrapunktieren.
Diese Figur klingt ausserordentlich schelmisch, weil die
Oboen mitspielen und in den Geigenton eine drollige
Färbung hineintragen. Diese Nuance muss aber verloren
gehen, wenn, wie das bei unseren Orchesteraufführungen
anstandslos passirt, die ersten Geigen zehn- bis zwanzigfach,
die Oboen aber einzeln besetzt sind. Der Dirigent muss
nothwendigerweise die Besetzung des Orchesters kennen,
die zur Zeit Haydn^s üblich war und danach seine Ein-
richtungen treffen. Ohne etwas historisches Wissen geht*s
eben auch den sogenannten Classikern gegenüber nicht!
Nur wenige Musiker sind sich darüber klar, dass die
Beseitigung des Cembalo aus dem Sinfonieorchester auch
mit einem künstlerischen Nachtheil verbunden war. Er
liegt darin, dass wir jetzt zur Füllung der Harmonie,
Angabe des Rhythmus imd anderer elementarer und
mechanischer Aufgaben, für die vor Haydn das Accord-
instrument da war, eine Anzahl von Künstlern in Betrieb
setzen müssen. Wie sehen die Stinunen der Bläser, der
zweiten besonders, in modernen Orchesterwerken oft aus!
Zwei, drei Fülltöne, dann wieder zehn, oder auch zehnmal
zehn Takte Pausen, selten eine melodische, thematische,
für sich sinnvolle Stelle. — Es ist ein geradezu demorali-
sirender Färberdienst , der trefflichen Künstlern zugemuthet
wird und über kurz oder lang wird es dahin kommen,
dass wir das Cembalo oder einen Ersatz dafür wieder
zurückholen. In London musste übrigens Haydn wohl
oder übel bei Aufführungen eigener oder fremder Sinfonien
sich das Ciavier gefallen lassen, wohl auch selbst spielen.^)
Unter den Neuenmgen der Haydn'schen Sinfonie ist
das Prinzip der motivischen Entwickelung, der thematischen
Arbeit die wichtigste. Sie hat die Zukunft der Sinfonie
bis heute beherrscht. Ihr Geist, ihr Charakter war mit
^) Griesinger, G. A. : Biographische Notizen Ober J. Haydn
(1810) S. 50.
co 58 "s^^
der Individualität Haydn's aufs eagste verbunden. Haydn
war nüt seinem Scharfsinn, seiner Schlagrfertigkeit, seinem
Witz für diese Methode geschaffen. Und doch hat er
sieh ihr erst zugewendet, nachdem er die Mitte seines
Lebens längst überschritten, — ähnlich wie im Oratorium,
auch beim Betreten dieses seines eigensten und glänzendsten
Gebietes ein Cunctatorl
Von den mindestens 150 Sinfonien, die Haydn com-
ponirt hat, ist die gute Hälfte unveröffentlicht geblieben,
nicht einmal in Stinmienausgaben gedruckt worden.
Namentlich die Arbeiten aus den ersten beiden Jahrzehnten
seiner Thätigkeit als Sinfoniker sind schwer zugänglich.
Der weite Kreis der Musikfreunde kann sich darüber nur
aus den Mittheilungen der vorzüglichen, aber unvollendeten
Haydnbiographie C. F. PohPs und aus der Partituraus-
gabe unterrichten, in der Carl Bank vor einigen Jahren
sechs der schönsten Erstlinge des Tonsetzers vorgelegt hat.
Es scheint aber festzustehen, dass Haydn in dieser früheren
Zeit bis auf eine Anzahl Arbeiten, die in ihrer Dreisätzig-
keit seinen Ausgang aus der italienischen Schule zeigen,
mit seinen Sinfonien Beiträge zur Programmmusik gab.
Die Richtung war zu Haydn's Zeit unter den Instrumental-
componisten noch von Muffat's Suiten, Frohberger's und
Kühnaus^ Ciavierstücken her beliebt und in der Sinfonie
durch Männer wie Dittersdorf (Sinfonien zu Ovid's Meta-
morphosen) Mysliwsczek (6 Sinfonien über die Monate
Januar bis Juni), C. Stamiz (la chaHne), Tessarini (la
stravaganza), Rosetti (Sinfonien : ^Calypso und Telemach*,
,Der Sturz Phaetons"), Pichel (neun Sinfonien über die
neun Musen) vertreten. Er selbst hat 8<»ine Neigung zu ihr
noch in späteren Jahren bekannt, als er dem Hofrath
Griesinger bemerkte, dass er in seinen Sinfonien gern
einen „moralischen Charakter* geschildert habe.*) Wie sehr
das Publikum Haydn's, nam<*ntlich das französische, einen
poetischen Anhalt in den Sinfonien liebte, das sagen uns
die Beinamen, mit denen es die Werke Haydn's belegte:
') Griwingor. 8. 117.
c^ 59 '^
Wir haben da einen Torso der Tageszeiten in den drei
Sinfonien: le midi, le raatin, le soir, wir haben einen
Philosoph, einen , Zerstreuten * , (il distratto) einen Schul-
meister, eine Lamentation, eine Passion, eine Maria
Theresia, einen Laudon, eine la Reine, la chasse, la
poule, einen Tours, eine Feuersinfonie, eine Militärsinfonie,
eine Eandersinfonie und noch eine ganze Reihe merk-
würdiger Namen. Carpani, der italienische Biograph
Haydn*s, der Librettist der italienischen , Schöpfung" irrt,
wenn er — wahrscheinlich gestützt auf die Bemerkung
Haydn's (bei Griesinger a. a. O.), dass er in einer seiner
ältesten Sinfonien sich einen Dialog zwischen Gott und
einen verstockten Sünder gedacht habe — behauptet, dass
Haydn diesen Sinfonien allen ausgeführte Novellen und Ge-
schichten untergelegt habe.*) Soweit es sich um Com-
positionen aus späterer Zeit handelt, stehen diese Titel dem
Wesen der Kunstwerke meistens sehr fern und heften sich nur
an Kleinigkeiten und Aeusserlichkeiten der im übrigen voll-
kommen normalen und formgerechten Sinfonien. Die bis zum
Anfang der siebenziger Jahre geschriebenen Sinfonien
Haydn's tragen aber meistens schon im Aeusseren die
Merkmale des Ausserordentlichen. So z. B. die (von Bank
mitgetheilte) Sinfonie „le midi" das zweite Werk der
Gattung, das er überhaupt und zwar 1761 in Eisenstadt
compouirt hat. Sie ist funfsätzig, bringt ein Adagio in
Form eines Recitativs der Solovioline und hat im Schluss-
satz dem concertirenden Dialog zwischen dieser und dem
Solocello einen breiten Raum angewiesen. Die bekannteste
aus dieser ersten Periode Haydn's ist die sogenannte
Abschiedssinfonie geworden, vermuthlich ihrer Ent-
stehungsgeschichte wegen. Dem Fürsten Esterhazy fiel es
im Jahre 1772 plötzlich ein, die Capelle zwei Monate
länger als gewöhnlich auf seinem Sommerschloss behalten
zu wollen. Da entschloss sich Haydn, für seine Musiker
eine Bittschrift einzureichen, und zwar eine musikalische.
Eines Abends wurde der Fürst damit überrascht. Es war
J. Haydii
Abschieds-
Sinfonie.
*) Carpani, Giuseppe: Le Haydine (MÜano 1812), 8. 69.
CG' 60 'ö^
die Abschiedssinfouie, ein Werk in fünf Sätzen, das in den
ersten drei ebenso verläuft, wie die viersätzigen Sinfonien
Haydn*s aus späterer Zeit. Mit dem vierten beginnt die
Pantonume. Er ist ein rasches Finale, in dessen Thema
JJJJI|jjJ|Jj^|jlJI - wenn der Satz
sich schon auf die Affaire mit bezieht — man vielleicht
die beiden Parteien der geschädigten Capelle, die klagen-
den und die wüthenden, räsonnirenden , erblicken kann.
Die Musik wickelt sich sehr hastig hin; zu einem zweiten
Thema kommt es nicht und ehe man es vermuthen und für
gut finden kann, wird abgebrochen : Ein Adagio von mildem
Tone, bittenden oder begütigenden Charakters, — äusser-
lich den zweiten Satz der Sinfonie gleichend — setzt ein
Es kommt zu sehr freundlichen Tönen. Nach 30 Takten
steht in der Partitur beim zweiten Hörn: „si parte". In
Esterhäz legte der Spieler hier seine Noten zusammen,
löschte die Lichter am Pulte aus und ging weg. Bald
darauf verschwand in derselben Weise der Flötist; ihm
nach der erste Hornist, die Oboebläser u. s. f. Das Or-
chester ward dunkler und leerer. Zuletzt blieben nur noch
2 Geiger übrig, die den Satz mühsam zu Ende bringen
und durch schläfrige Wiederholungen zu erkennen geben:
„Wir können auch nicht mehr". Der Fürst verstand die
originelle Adresse, ging ins Vorzimmer, wo sich die Musiker
inzwischen versammelt hatten, und sagte lächelnd: „Haydn,
morgen können die Herren reisen". Der originelle Künstler-
streich sprach sich bald herum und kam von den achtziger
Jahren ab wiederholt in Zeitungen und Bücher. Haydn
soll später auch eine Einzugssinfonie geschrieben haben,
eG» 61 "^
in der die Musiker nach einander eintreten, Lichter an-
brennen und zu spielen anfangen. Nachweislich ist die
Idee der Abschiedssinfonie — englisch heisst sie candle
overture — in dieser umgekehrten Richtung von Ditters-
dorf und Plejel ausgenützt worden. Mendelssohn, der sie
im Februar 1838 ins Gewandhaus zu Leipzig brachte (in
einem historischen Concerte), nennt sie in einem Briefe an
die Schwester Rebecca „ein curios melancholisches Stück''.
Aehnlich schildert Schumann und vor ihm Rochlitz den
Eindruck von Hören und Zusehen. Griesinger nennt sie
einen , durchgeführten musikalischen Scherz* und sieht in ihr
ein Hauptbebpiel fUrHaydn'sSchalkheit. Heute pflegt man
die Sinfonie in der Regel nach der Andr^'schen Ausgabe aus-
zuführen, die nur die zwei letzten Sätze enthält, und zwar nach
Emoll transponirt. Das Original steht in Fis moll, einer für
Orchestercompositionen sehr wenig gebrauchten Tonart, die
hier aber ihre grosse Bedeutung hat. Denn die Instrumente
klingen wie belegt, wie heiser, wie schlecht aufgelegt
und missgestinmit, das A dur des letzten Adagio dann aber
um so unwiederstehlicher!
Schon dieser eine Fall beweist, wie raffinirt Haydn
sich auf das Charakterisiren verstand. Die Wiedergabe
absonderlicher Zustände, Stimmungen und Gestalten musste
ihn deshalb mächtig reizen. Sein Talent führte ihn un-
willkürlich zur Programnmiusik und wie dem jungen
Schiller, dem jungen Berlioz, dem jungen Schumann scheinen
ihm das Phantastische, das Problematische, das Seltne
die eigentlich bedeutenden Aufgaben der Kunst zu um-
grenzen. Haydn schwamm in jener Strömung der
Romantik, die dem späteren Goethe so entsetzlich war; was
ihn hinein getrieben hatte, ob Wieland, ob die französische
Oper, lässt sich nicht sagen. Musikalisch ist allen den
Sinfonien, die dieser Periode Haydn*s angehören, ein
Streben nach Originalität und Individualität eigen, das zu-
weilen zu bedeutenden und merkwürdigen Themen fuhrt,
im Ganzen jedoch sich nur selten neu und kühn äussert.
Die Themengruppe, der Haydn in späterer Zeit sehr oft
nicht einmal ein zweites Thema gönnt, ist in diesen Werken
der bedeutendste unter den drei Theilen des ersten Satze».
Dagegen ist die Durchführung in der Regel nur sehr
obenhin in einem gewissen al freso Stil behandelt. Sie
zeigt Charakter, aber keinen eigentlichen geistigen Inhalt.
Alles in Allem ist dieser frühere Haydn das reine Gegen-
theil von dem, den seine späteren, die noch heute weltbe-
kannten Sinfonien zeigen.
Weil sie in Olavierauszügen vorliegen, geben auch
J. H»7dB ,der Schulmeister* und „Maria Theresia*, die der Periode
Sinfonie „Maria der Abschiedssinfonie angehören, bequeme Gelegenheit, einen
TherMia*'. Blick auf Haydn in der Zeit seines ersten Stils zu werfen.
Die Sinfonie „Maria Theresia* wurde bei einem Besuch,
den die Kaiserin im September 1773 in Esterhäz abstattete,
aufgeführt und erhielt daher ihn»n Namen. Haydn wird
das Werk aus dem Vorrath fertiger Sinfonien in der Er-
wartung hervorgeholt haben , damit Ehre einlegen zu
können. Sie ist so freigebig erfunden, dass man aus dem
mitgetheilten Material gut zwei Sinfonien herstellen könnte,
die selbständige und eigne thematische Ausstattung der
Uebergaugsgruppen erinnert mehr an den jungen Beethoven
als an den fertigen Haydn. Die plcUzliche Ausweichung
nach Cmoll im 13. Takte des ersten Satzes z. B. ruft un-
willkürlich eine frappante Stelle in Beethoven's erster
Sinfonie (Themengruppe : das plötzliche pp. nach derGdur-
Cadenz) vor die Phantasie.
Der Ton, in dem sonst Majestäten begrüsst zu werden
pflegen, kommt in dieser Sinfonie der Kaiserin nicht vor,
aber das „Willkommen*, das sie bietet, kann an Herzlich-
keit, an Frische und Kindlichkeit nicht übertrofFen werden.
Ein so begrüsster Gast kann nicht zweifeln, dass er unter
liebenswürdige, glückliche und auch interessante Menschen
gekommen ist. Wer die Sinfonie, ohne den Namen des
Autors zu wissen, hört, wird hie und da auf Mozart rathen
wollen, namentlich wenn das Hauptthema des ersten Satzes
^ Obo«m
Cornl in 0^ sab.
Stellen kommen wie der Abschluss der ersten grossen
Periode, in der die Violinen:
»
Vtollaoi.
J. hJ^ / J J J l fc '■ i trillern. Beide, Haydn wie
Mozart, hatten für solche Fälle eine gemeinsame Quelle:
die italienische Schule. Den flotten, temperamentvollen
Zug, der sich in den guten Opernsinfonien der Italiener
findet, hat diese .Maria Theresia* sich wohl zu eigen ge-
macht: das wird der Monarchin nach der musikalischen
Erziehung, die ihr zu theil geworden war, sehr wohl
gefallen und sie empfänglich und freundlich für die Menge
neuer Humore gestimmt haben, die Haydn aus seinem
eigensten Inneren dreingab. Sie finden sich in allen Sätzen :
Die hervorragendsten sind im ersten die polternde und
bärbeissige Unisono-Figur :
Klänge des zweiten Themas verjagt. Im zweiten Satze liegen
sie im Anfang des Hauptthemas selbst, in dem Wieder-
spruch zwischen dem leichten Charakter der Verzierungsfigur:
etwas schweren Klang der tiefen Violinsaiten: noch mehr
in den Stellen, die die Uebergänge vom ersten zum zweiten
Thema, von der Durchführung zur Wiederholung bilden.
Es ist, als wenn diese paar Takte mit dem plötzlichen
Hörnerklang, mit dem Vogclzwitscher, das aus den Violinen
tönt, in die philosophischen Träumereien des Satzes hinein-
mahnten: Siehst du nicht, wie schön die Welt ist! Der
Träumer aber fällt wieder in Tiefsinn und Grübelei und
stellt in dem Trugschluss bei der Fermate — hier darf
man an den Hamburger Bach denken — eine Frage an
das Schicksal. Wie seltsam verläuft sich der Menuett in
der zweiten Clausel aus der Klarheit und Sicherheit des
e<? 64 ^
Tanzliedes, von dem Motiv : AI ^ 1***^' I 1 gelockt und
gebannt ins Dunkel, ins Dickicht! Und als kaum wieder
alles in Ordnung — was für eine neue Ueberraschung:
Kriegsvolk in Sicht ? Wahrscheinlich. Es wird ja im Menuett
so ernst und ungewöhnlich : Moll und der schwere Ausdruck :
»iii^jjjini ni...,^iiJi^aiXij
Wenn die Kaiserin überhaupt schon je etwas so
originell und doch einfach Lustiges gehört hatte , wie das
Thema des letzten Satzes, der überhaupt nur das eine hat
— so war das wohl kaum in einer Sinfonie der Fall gewesen.
Allegro.
So etwas kann doch nur die Musik, und unter den Musikern
kann es so nur J. Haydn!
Die Durchführungen dieser hübschen und eignen Ge-
danken sind allerdings nach dem späteren Haydn'schen
Massstab gar nicht als solche zu bezeichnen ; es sind mehr
freie und kurze Phantasien, die mit den Themen und den
Ausgangspunkten der Sätze keinen oder nur geringen
Zusammenhang haben. Ein Spass, den sich Haydn an
dieser Stelle in der Periode der Absehiedssinfonie gern
erlaubte, fehlt auch in „Maria Theresia* nicht: Das
Hauptthema kehrt im ersten, wie im letzten Satz in der
ursprünglichen Tonart, bald nachdem die Durchführung
eben erst begonnen, zurück. Jedermann glaubt und be-
dauert, dass die Wiederholung schon einsetzt und dass
sich darin eben jedermann verrechnet, ist der Humor an
der Sache.
e<? 65 '^
Auch im ersten Satz der Sinfonie ,Der Schulmeister*, J. Rmjim
bringt Haydn diesen witzigen Treflfer an, hier aber wesent- ^^
lieh verschärft. Das Orchester holt sehr entschieden, 8chulmei«t6r.
immer wieder mit dem klopfenden Rhythmus ™ | J nach
Adur aus, die Harmonie liegt auf: b-d-f-gis. Aber im
entscheidenden Moment hat Haydn sich das gis als as
gedacht und da sind wir wieder in Esdur am Anfang der
Sinfonie :
AIIegTo di jDoItü.
der Nachsatz
So lautet der Vordersatz des Themas:
folgendermassen :
jii'i.f^i^^rrrirf^|fiLjii i^i
W
Das ist jedenfalls ein merkwürdiges Thema, ganz und
gar nicht von der Art, die Haydn in den Londoner
Sinfonien bevorzugt. Es hat Programmblut und verfuhrt,
an bestimmte Vorgänge zu denken, auf die es gemünzt
sein könnte. Die freundliche, sanfte Ansprache der vier
piano-Takte, das plötzliche Dreinwettern, das Nachzucken
des JTjJ, die gewaltsame Rückkehr in den leisen, zarten
Ton — das liesse sich ohne zu grosse Kühnheit in das
Bild einer Schulstunde zusammenbringen, wo die Unter-
weisung häufig genug durch Schelten unterbrochen werden
muss. Wir hätten dann eine Erklänmg für den Titel
der Sinfonie „Der Schulmeister*, die mit dem weiteren
Verlauf des Satzes ganz gut zusanunenpasst. Denn Unter-
brechungen, Ueberraschungen, halb übers Knie gebrochene
Schlüsse — Symptone des Zornes — geben ihm sein be-
sonderes Gepräge. Pohl (II, 262) fuhrt den Beinamen der
Kretzsohmar, Führer, I. 6
c<? 66 ^
Composition auf den zweiten Satz, da» Adagio zurück, auf
den .abgemessenen Gang* seines Themas:
p Memplice
I 1 1 I in> Hl rm I I
• • • • • «
Das würde der ersten Annahme nicht widersprechen; im
Gegentheil : wir erwarten bei einem Programm, dass alle
Sätze der Sinfonie an seiner Durchführung theilnehmen.
Die hier mitgetheilte achttaktige Periode wird sofort
in variirter Form wiederholt und nochmals im Halbschluss
beendet; dann erst kommt der Nachsatz, der das Thema
in die Haupttonart B dur zurückführt. Auch diesem gleich-
falls achttaktigen Nachsatz folgt seine Variation auf
dem Fusse.
Wir haben also ein Thema, das in breiter Anlage
32 Takte umspannt. Diese Aeusserlichkeit ist zu beachten,
weil in den folgenden Variationen über dieses Thema, aus
denen sich das Adagio bildet, die zweiten Perioden — als
wörtliche Wiederholungen der ersten — nicht ausgeschrieben,
sondern nur durch Wiederholungszeichen angegeben sind.
Es wäre in diesem Falle ein Verstoss gegen die Metrik
und das Ebenmass der Composition, wenn man, was sonst
ja zuweilen statthaft oder geboten ist, diese Wiederholungs-
zeichen ignoriren wollte.
Auch das Finale der Sinfonie ist ein Variationensatz
und zwar über das Thema:
Presto
Ji'nj I M I 1 1 LI I ' I IJ 'iil'li I
Zwar liegt dem Ganzen das Rondoschema zu Grunde; doch
treten die Zwischensätze ganz zurück. — In die sorgenfreie Ge-
müthlichkeit dieses Schlusssatzes platzt (hinter dem siebenten
Theilstrich) nach dem Dialog, den die hohen und die tiefen
Instrumente über das Motiv:
führen, eine sehr aufgeregte Scene herein. Wieder einer
jener Zwischenfälle, an denen diese Schulmeistersinfonie
80 reich ist ! Diesmal scheint er erfreulicher Natur gewesen
zu sein, denn das Sätzchen schliesst ganz still entzückt auf
einer Fermate auf dem unerwarteten f-as-ces-des. Wie alle
Sätze des , Schulmeister* ungewöhnlich mit einem kleinen
Stich ins Carrikirte ausklingen, so auch das Finale. Aber
das Kindliche und Rührende, der milde Glanz des Abend-
roths überwiegt doch ganz entschieden. Es ist eine Stelle
von jener Poesie und Schönheit, mit der uns eine andere
Perle der Schulmeister-Litteratur, Jean Paul's Schulmeister
Wuz, entzückt.
Was bei Haydn zu dem schroffen Wechsel der künst-
lerischen Anschauungen geführt hat, lässt sich nur ver-
muthen. Zum Theil scheinen ihn die Werke Ph. Em. Baches
beeinflusst zu haben. Als ihm einmal ^) von der Verwandt-
schaft seiner Musik mit der des Mailänder Tonsetzers
Sanunartini gesprochen wurde, wies er diesen vielcitirten
Lehrer Gluck's als einen „Schmierer" heftig zurück und
nannte ausdrücklich den Hamburger Bach sein Vorbild.
Wohl konnte er sich von diesem Tonsetzer angezogen
fühlen : denn er glich ihm an Temperament, an Munterkeit
und Heiterkeit des Geistes. Dann mussten ihn aber auch
die modernen Elemente in Bach's Musik mächtig erregen.
Die neue Zeit, die Zeit der Roussoau'schen Natürlichkeit
und des französischen Esprit, sprach aus keines Zweiten
Tönen so deutlich, wie aus den Ciaviersonaten Bach's mit
ihrer Freiheit des Ausdrucks, der Beweglichkeit und
Zwanglosigkeit , mit der sie den Satzbau betrieben und
allerhand bis dahin streng getrennte Stile durch einander
mischten. Man kann schon in den ersten Sinfonien
Haydn's vereinzelte Anregungen Ph. Em. Bach's an-
nehmen. Näher kennen gelernt und eingestanden studirt
hat er ihn aber wahrscheinlich erst in späteren Jahren,
wo er reif genug war, sich vor den Ausschreitungen Bach'«
zu hüten.
^) Griesinger. S. 15.
5*
c<? 68 ^
Auch an die äussere Lebensgeschichte Haydn's knüpff
sein neuer Sinfoniestil merkbar an. Im Jahre 1778 hatte
sein ^Stabat Mater* den Beifall Hasses und der italienischen
Schule gefunden. Haydn war mit einem Schlag ein be-
rühmter Mann geworden und schrieb nun auch seine
Sinfonien nicht mehr für den kleinen Eisenstadter Kreis,
sondern für das ganze musikalische Europa. Mit der Welt-
klugheit, die schon aus Haydn's Bildern spricht, trug er
dieser Thatsache Rechnung, verzichtete auf die melan-
cholischen und schwer verständlichen Sonderliebhabereien
seiner Phantasie, wenn er fortan an Sinfonien ging und
suchte statt dessen dem Geschmack der tonangebenden
Gesellschaft seiner Zeit Rechnung zu tragen. Hierbei war
es von entschiedener Bedeutung, dass die ersten und dann
die meisten auswärtigen Bestellungen auf Haydn'sche
Sinfonien von Paris einliefen. Von 1779 ab, wo das
Concert de la Loge Olympique, die Nachfolgerin der
alten Concerts spirituels von 1724, die heute noch in den
Concerts du Conservatoire fortleben, Haydn einführte , war
er der populärste Instrumentalcomponist der französischen
Hauptstadt. Der Verleger Sieber in Paris gab nach und
nach 63 Haydn'sche Sinfonien in Auflagestimmen heraus,
man handelte mit gefälschten Haydn ^), 1810 veröflPentlichte
Leduc sogar Partituren von 26 Haydn'schen Sinfonien.
Leider ist diese Ausgabe nicht zu brauchen und bis heute
sind die 6 von F. Wüllner herausgegebenen Sinfonien, nebst
den Nummern 10 und 13 der Breitkoprschen Ausgabe das
Einzige, was wir aus der grossen Masse von Haydn's
Pariser Sinfonien in Partitur halien. Von Paris aus
drang dann der Ruf der Haydn'schen Sinfonie nach Wien,
nach Deutschland und England und erzeugte jenen Haydn-
kultus,der bis ins 19. Jahrhundert hinein durch Anlegen von
Sammlungen, Errichtung von Concertsälen , Gründung von
Vereinsverbänden das allgemeine Musikwesen mannigfach
förderte. Die Vergleiche Haydn's gingen vom „Geliert der
Musik* vom musikalischen Ariost bis zum Phöbus Apollo
*) Siehe Gyrowetz Selbstbiographie 8. 45,
c<? 69 ^
und entsprangen einer völlig ungekünstelten Begeisterung,
die nicht zum kleinsten Theil mit darauf beruhte, dass
die Zeit Haydn*s den besten Theil ihrer Bildung, ihres
geistigen Wesens in den Sinfonien dieses Meisters wieder-
fand. Sie waren in vollendeter Weise auf den Ton jener
Klasse gestinunt, die vor der französischen Revolution,
unter dem sogenannten ancien regime, an der Spitze der
europäischen Menschheit stand. Darum klingt aus den
Themen dieser Sinfonien des zweiten Stils immer wieder
derselbe anacreontische Grundton heraus, der Ton der
Anmuth, Heiterkeit und Sorglosigkeit, der Denen ein für
allemal vorgeschrieben war, die auf den Adelsschlössem
und in den Salons der höheren Bürgerschaft verkehrten.
Jener Ton, in dem die Frivolität des „Morgen wieder
lustik*, die überschäumende Lebenskraft des „Carpe diem*
mit den Gefühlen edelster Humanität, des „Seid umschlungen
Millionen* zusanmicntraf.
Nicht minder finden wir aber in den HaydnVhen
Sinfonien jene Kunst der Conversation, jene Virtuosität im
geistreichen Gedankenaustausch wieder, die während des
18. Jahrhunderts, soweit französische Bildung reichte, also
innerhalb des ganzen civilisirten Europa unter den höchsten
innem Gütern obenanstand. Man lese nur die unüber-
treffliche Schilderung, die Frau von Stael in ihrem be-
kannten Buche flDell' Allemagne* von dieser französischen
Conversation entwirft und suche dann die hervorragendsten
ihrer Merkmale in der Haydn'schen Musik. Wer die
Cultur des vergangenen Jahrhunderts getreu und voll-
ständig übersehen will, darf an den Haydn'schen Sinfonien
ebensowenig vorbeigehen, als an den französischen Encyclo-
pädisten. Sie fuhren die Gegenwart vor das Bild eines
gesellschaftlichen Geistes, der dem heutigen in mancher
Hinsicht überlegen ist und zum Muster dienen kann.
Es ist nicht zu leugnen, dass unser Publikum dem
vielfachen Gehalt der Haydn'schen Sinfonien und der
grossen Bedeutung Haydn's volle Gerechtigkeit nicht
wiederfahren lässt. Zum Theil aus Unfähigkeit. Denn
die Haydn'sche Sinfonie verlangt eine grössere Kunst im
eO 70 'Ö^
Folgen und Hören, als die alte italienische und der grosste
Theil der modernen Werke. Mit der unvergleichlichen
Beweglichkeit ihrer Gedanken setzt sie die Fähigkeit
schnellen Veretehens und des scharfen £rfassens auch der
kleinsten und feinsten Wendungen voraus. Weil sie diese
nicht besitzen, kommen soviele Dilettanten, Kritiker, Spieler,
Dirigenten über die Bewunderung des Haydn'schen Humors
nicht hinaus. Dass Haydn auch tief, leidenschaftlich und
dämonisch angelegt ist, entgeht ihnen, weil er diese Gebiete
ausser in den langsamen Sätzen, inmier nur kurz — in
Einleitungen, in den Generalpausen, Fermaten seiner
Allegrosätze, an den Schlüssen der Durchführungen — streift.
Das Jahr 1780 darf man als die Zeitgrenze hinstellen,
in der der neue Sinfoniestil • Haydn *8 seine Ausbildung
abgeschlossen hat. Von den Pariser und den in ihre
Nähe gehörigen Sinfonien, in denen er sich zunächst zeigt,
sind La Chasse, L*ours, La Poule, La Reine und die
Oxfordsinfonie wenigstens dem Namen nach allgemein be-
kannt. Keine von ihnen gehört zur eigentlichen Prognunm-
musik und Haydn ist an den Titeln, die sie tragen, mit
Ausnahme der ersten vollständig unschuldig. Es sind
Kosenamen, die mehr an zufällige Einzelheiten, als an das
Wesen der Werke anknüpfen, mehr die musikalischen
Liebhabereien des französischen Volks, das diese Beinamen
erfand, beleuchten, als den Inhalt der Sinfonien. Sie ent-
standen in den Jahren 1781 — 1788 und zeigen so, wie sie
hinter einander folgen, dass auch Haydn auf dem Weg
zur vollen Meisterschaft, gelegentlich gestrauchelt und
rückwärts geglitten ist. Nach ihren Werth aufgestellt,
würden die genannten Sinfonien die Reihe geben: La Poule,
Pours, la Reine, la chasse, Oxford-Sinfonie.
In der Zeit der Pariser Sinfonien bewegt sich Haydn
noch in dem reicheren und weiteren Stimmungskreise seines
ersten Stils und nimmt wohl in der Ausführung seiner
Themen, aber nicht bei ihrer Erfindung auf den Geschmack
der grossen Welt Rücksicht. Wenn die Compositionen
dieser Periode im Allg(»meinen den Charakter von Gelegen-
heitsdichtungen, Herzensergiessungen und Augenblicks-
e^
71 '^
bildern aus dem Leben ihres Schöpfers haben, so ist das
bei La Poule ganz besonders der Fall. Diese Sinfonie
erzählt von unruhigen, trüben und ernsten Stunden. Ein
Rest von Sorge und Furcht wohnt auch in ihrem Menuett und
ihrem Finale, wfichst in diesem sogar zur Leidenschaft und
Erregung an. So hat sie denn den Vorzug der geistigen
Einheit und Zusanmiengehörigkeit sämmtlicher Sätze, die
ja so häufig in der neueren Sinfonie fehlt ; auf der andern
Seite lässt sie, namentlich in den fk;ksätzen, nicht verkennen,
dass der Componist seinem Stoff noch nicht mit der mensch-
lichen Freiheit gegenüberstand, die das Kunstwerk nicht
entbehren kann.
Der erste Satz ruht auf einem Hauptthema von 16 Takten,
von denen drei Viertel durch freie Wiederholung der Periode
AUegro coD splrlto
^^
1 splrlto.
¥Tff,f
I r Ur f^ I p gebUdet sind.
Sie spricht Schmerz und Unwillen aus; bei der nächsten
Weiterfuhrung des Themas bleibt kein Zweifel, dass die
Elemente des zweiten Abschnitts, die der Kraft und Energie,
Anstalt machen das Feld zu behaupten. Beim 33. Takt,
nachdem das Thema, variirt, zum zweiten male vorbei ge-
zogen, tritt ein munteres, lebensfreudiges Motiv:
in seine Fusstapfen. Nach einigen Gängen, die es thut, ver-
liert es sich aber unerwartet ins piano und pianissimo, tritt
wie auf den Fussspitzen (nämlich ^^j^y^^^^i^f)
bei Seite um einer wichtigen Erscheinung Platz zu machen.
Das sogenannte zweite Thema ists, das als höherer Ver-
bündeter gegen die dunkle Macht des Hauptthemas eintritt :
Der Dichter ist an den Busen der Natur geflüchtet. Wenigstens
La Poole.
ce 72 f>>
baben die FraiuBoeen nach diesem Tbema und einer gleich
darauffolgenden Stelle, wo die Oboe ziemlich lange auf dem-
selben Ton den Rhythmus J. ^ J. J J) angiebt, die Sin-
fonie als La Poule getauft. Auf die Dauer vermag jedoch
dieser naive Freund nichts gegen die Noth der Situation.
Vergebens erhebt er seine Stinmie noch einmal am Anfang
der Durchführung. Diese selbst gehört ganz den bedroh-
lichen Tönen, mit denen das Hauptthema beginnt. Sie
suchen mit besonderm Eifer aus den tiefen Regionen her, in
den Bassinstrumenten zu schrecken. Doch ist ihre ge-
spenstische Kraft geringer alsder Componist beabsichtigt hat.
Sie verstehen sich sowenig zu verwandeln und zu entwickeln,
dass wir den ganzen ersten Satz unserer Sinfonie trotz der
ansehnlichen und klaren Intentionen, die ihm zu Grunde
liegen, zu den schwächsten Leistungen Haydn*s rechnen
müssen. Mit L'ours, la Reine steht La Poule in Bezug
auf die Durchführung auf der Stufe von Versuchsarbeiten ;
nur das Prinzip erhebt sie über die Sinfonien des ersten Stils.
Ein schöner, reicher und interessanter Satz ist das
Andante. Was er will, sagt das Hauptthema schon ge-
nügend in seiner ersten Hälfte:
i^^\irTn\r^.
Nämlich beruhigen. Wie es aber in der Lösung d ieser Aufgabe
nach den besten Wegen suchend die Richtung ändert, wie
es dabei erschreckt, gehindert und gestört wird, das hat
Haydn in einem Tonbilde ausgeführt, welches wir unter
die unmittelbarsten, dramatisch bedeutendsten Leistungen
der Instrumentalmusik überhaupt zählen müssen. Wenn wir
uns die vier Sätze unserer Sinfonie als die Haupttheile
einer spannenden Geschichte denken wollen, so enthält das
Andante das Kapitel der Entscheidung. Ganz überwältigend
hat darin Haydn den Zustand der äussersten Seelenspannung
geschildert: wie die Erwartung, die das Schlagen des
ce 73 ^
Herzens unterdrücken möchte, dem lauten Aufschrei «reicht
und ein Gefühl ins andere stürzt, das ist mit einem wunder-
baren Realismus dargestellt.
Die fieberhafte Stelle beginnt mit einer abwärts
sausenden Scala in Zweiunddreissigsteln im forte, darauf
folgen zwei Takte, wo nur in den Violinen noch ein
Schatten von Ton sich regt — fast wie im 1. Satz der
Eroica beim .Cumulus' — ^^ ä ^ j ^ *"*^ dann
durchs ganze Tutti ein fortissimo!
Der Menuett giebt der Freude in ziemlich eigen-
sinnigen, Zwei und Dreiviertel unter einander werfenden
Rhythmen Ausdruck wie schon der Anfang zeigt:
rü 11 I I I LJ^^^^^^ Es klingt fa<rt
slavisch, deutet in der massigen Besetzung und den statt-
lichen Unisono-Figuren auf Volksmengen und Feste im
Freien. Von diesem Grunde hebt sich dann das Trio mit
dem anmuthigen Flötensolo:
pn n } uirm inin fft
als reizende Idylle ab. Das Finale ruht auf dem Thema:
Einige Ausgaben schreiben für das Tempo Presto,
andere Vivace vor. Es ist wieder einer von den Fällen,
der uns den Mangel einer kritischen Gesanuntausgabe der
Haydn*schen Sinfonien fühlbar macht. Presto geht ganz
und gar nicht. Vivace allenfalls ! Die Melodie nähert sich
nach Taktart und Charakter den Sicilianos des 18. Jahr-
hunderts. Es handelt sich in ihr nicht um stürmische
Freude, sondern um ein besonnenes, wonniges Geniessen
cc? 74 ^
eines schwer erruDgenen Glücks. In der DurchfUhning
leben die Stürme, die dem frohen Ende vorausgingen noch
einmal aaf. Sie setzt mit dem Thema in Dmoll ein und
geht dann in heftiges Toben und Lärmen über. Glücklicher-
weise ist sie nur kurz.
J. Haydn Die mit dem Beinamen Pours belegte C dur-Sinfonie
^*oun, stanmit mit la Poule aus demselben Jahre 1786 und ähnelt
ihr darin, dass auch bei ihr der erste Satz am wenigsten ge-
lungen ist. Auch er hat ein inhaltreiches und ergiebiges
Hauptthema :
Jii|.i rir"i if'i II n ij^ \
in das sich, wie in die Seele eines rechten Jünglings,
Feuer, Kraft und Anmuth theilen. Haydn stellt ihm ein
zartes, zweites Thema entgegen:
f'ffffiirrrii^'f^^^i^^r^
etc.
Das Eigenthümliche an dem Satze ist aber, dass der Uebergang
von dem ersten zum zweiten Gedanken nicht blos sehr lang
ist, sondern auch sehr viel Leidenschaft und Erregung ver-
braucht. Es kommt namentlich an der Stelle, wo in der
Mitte der Instrumente das g als liegende Stimme fortdröhnt,
zu einer Wirkung, die sich für den Verlauf des Satzes als
furchtbar einprägt und Schluss und Ausgleich verlangt.
Damit ist dem Durchführungstheile die Spitze abgebrochen
und in der That bringt er, mit Ausnahme des Eingangs,
an dem das Motiv c des Hauptthemas wieder auftaucht,
nicht viel anderes als Wiederholung der Themengruppe in
andern Tonarten.
Was dieser erste Satz etwa schuldig bleibt, das
bringen die andern reichlich wieder ein. Das Andante hat
ein Thema von ganz volksthümlicher Natur; es ist auch
ee 75 ^
in der einfachsten Art, die sieh denken lässt, aufgebaut.
Der Hauptsatz beginnt mit:
ein Nachsatz von ebenfalls vier Takten schliesst in Fdur
ab. Nun kommt ein Mitteltheil — 16 Takte lang — der
mit der echt Haydn'schen Wendung:
*p^p'"ip^*"P
in den ersten Theil zurücklenkt: Wir haben es also mit
einem dreitheiligen Lied als Hauptsatz zu thun. Das wird
dreimal in veränderter Instrumentation angestimmt; vor
die erste und zweite Wiederholung treten Zwischensätze
in Moll, gehamischt wie Riesen, die Alles zerschmettern
wollen. Aber, wie es mit Goliath und David erging, so
auch hier: die kleine Unschuld wird uns durch diesen
Gegensatz nur immer lieber, behält das letzte Wort und
benutzt die Gelegenheit zu einer Coda, in der sich noch-
pials ihr Humor, ihre Kraft und ihre Anmuth regen.
Die Glanzpartie der Sinfonie ist ihr Finale, dem nicht
die Rondo — , sondern die Sonatenform gegeben ist. Sein
Hauptthema:
^«r ^ ^ ^ W
dreht sich lustig und ausgelassen im engen Kreise. Seine
besondere Färbung erhält es durch den begleitenden Bass,
der den Satz ganz allein beginnt und hartnäckig auf dem-
selben Ton fortbrummt. Zuweilen unterstützt ihn als
zweite Stimme seine Quinte — das giebt dann einen
Pastoralklang, der uns mittlerweile sehr geläufig geworden
ist, denn neuere Componisten können ohne ihn kaum noch
die einfachste Tanzscene schreiben. Zu Haydn's Zeiten
war es eine ganz unerhörte Keckheit in eine Sinfonie der-
artige Sorten von Volksmusik hineinzuziehen. Wie mögen
die ersten Zuhörer gestutzt haben als ihnen diese Jahr-
marktskunst, diese lebensgetreue Nachahmung des Dudel-
sacks entgegentrat I Der übermüthige Streich ist aber so
frisch, so geistvoll und hinreisend durchgeführt, dass er
Haydn zum höchsten Ruhm ausschlug. Die Pariser fanden
ungeheuren Gefallen an dem Brununbass ; nach ihm tauften
sie die Sinfonie mit dem Namen Tours und reihten sie
unter ihre erklärten Lieblinge. Die Wirkung eines solchen
realistischen Einfalls, wie er diesem Finale zu Grunde liegt,
wird immer kurz sein, wenn ihn nicht die Kunst, mit der
er verwendet wird, nachträglich adelt. Und dieses Glück
ist unserm Bärenbass in vollstem Maass zu Theil geworden.
Die Idee des fortklingenden Basses wandelt Haydn sofort
in die der liegenden Stimme um. Wenn die langen Töne
dann in den Violinen anschlagen, dreht sich in den Bässen
die drollige Figur des bewegten Motivs wie ein Wirbel-
wind. Dann schwingt sich der Componist auf dem Motiv
J) I J>TT^ ini fröhlichen Sturm und mit der Sicherheit des
Virtuosen nach einer Stelle, wo ausgeniht werden kann.
Gdur ist erreicht und fest ergriffen. Da setzt ein zartes,
behagliches, zweites Thema ein in den Oboen:
P-rfU
In dieser Gesellschaft darf es nicht zu
ff r' '«pr
viel Ansprüche machen, den Schlusstakt der auf 8 Takte an-
gelegten Periode schlägt der Brummbass nieder. Noch ein-
mal versucht eine zarte Stimme sich Gehör zu verschaffen
— auch sie verschlingt der Sturm; mit einem wilden, chro-
matischen Zug setzt die letzte Periode der Themengruppe
ein. Die Durchfuhrung, die im Ganzen nur kurz ist,
überbietet die Ausgelassenheit des vorhergehenden Theils
oo* 77 'c>s
dadurch; dass sie das närrische Treiben in ganz entlegenen
Tonarten fortsetzt. Wir sind aus Gdur plötzlich nach F,
von da nach E dur gestossen. Von da geht es nach D dur
zurUck und von diesem Punkt aus wird das Thema als
neckischer Contrapunkt vorwiegend in den Bässen gebracht
und bald die Reprise erreicht. An Munterkeit und Witz
ist dieser Schlusssatz von Tours eine von Haydn*8 höchsten
Leistungen.
Die Sinfonie ,1a Reine** soll der Königin Maria '• ^Jf*"
Antoinette besonders gefallen und daher ihren Beinamen
erhalten haben. Sie ist eine Altersgenossin von Tours und
la Poule und steht mit ihnen auch in Bezug auf den
Werth des ersten Satzes auf derselben Stufe. Das Inter-
essanteste an ihm sind die Mozart*schen Züge in der kurzen,
sehr majestätisch einsetzenden Einleitung und im Thema
des Allegros:
^i'»^?-;7^,r^.^;.|||jii |i
r
Das ist das Sinnen und Träumen, das romantische Zögern,
dem sich der Meister von Salzburg gern überlässt wenn
das Spiel beginnen soll. Es ist auch der flotte, ritterliche
Schritt, mit dem er dann doch sich erhebt, wenn Haydn
nun fortfährt: ^^ m^^^ \\ V _f_4_^. Selten ist
f
bei einer Sinfoniecomposition Haydn von dem Ausgangs-
gedanken eines Allegro so gefesselt worden, wie dieses Mal.
Er wiederholt es zunächst in B dur noch einmal, dann kommt
es in Fdur, dann in der Durchfuhrung in As dur und zwar
inuner mit Ausnahme der Tonart vollständig wörtlich.
Auch die Zwischensätze, die diese Wiederholungen unter-
brechen, haben immer denselben Charakter: Es sind Scenen
der Aufregung und zwar fast alle in der primitiven Weise
La Beine.
o(? 78 ^
von Haydn's erstem Stil aus dem zuletzt angeführten
Viertelmotiv gebildet. Ein zweites Thema ist im Satze
nicht da und erst am Schlüsse der Durchfuhrung gewinnt
derComponist dem ersten einige neue und tiefere Wendungen
ab durch Nachahmungen und Anwendung weiterer contra-
punktischer Kunst.
Der zweite Satz von ,La Reine* ist ein Allegretto,
das aus einem Variationencyclus über ein Thema mit
folgendem Anfang:
^^'1■'' J J N j!
^j_^ I ^t^ I j J J U 1 1' (Tf^^m
besteht. Es ist, zu einem dreitheiligen Lied vervollständigt,
die Melodie einer französischen Romanze von ,1a gentille et
jeune Lisette * . Dieser Herkunft des Themas wegen hat Haydn
dem ganzen Satz die Ueberschrift , Romanze* gegeben.
Pohl findet in ihr nahe Verwandtschaft mit der Romanze
der Militärsinfonie. Sie beschränkt sich aber darauf, dass
beide Stücke den Rhythmus J J J J J | J benutzen. In
unsrer Romanze liegen die Reize der Variationen in der
Instrumentirung , in der Färbung, in der Geschicklichkeit
mit der Haydn das Thema, das inuner wörtlich wiederkehrt,
mit anmuthigen Contrapunkten verdeckt. Neue Gestalten
führt nicht einmal der Mollsatz ins Bild ein.
Der Menuett der Sinfonie hält sich ungewöhnlich straff
und bestimmt. Wenn er nicht im Dreivierteltakt stände,
könnte er marschirende Soldaten begleiten. Um so loser
tändelt das Trio; fast scheint es, als sollten hier die
Instrumente nur an- und eingespielt werden — so sehr ent-
schlägt sich die Compositiou jeder Gedankenlast. Das
Finale hat wieder die Form des Sonatensatzes und singt
einen Hynmus auf Behaglichkeit und Zufriedenheit. Die
Themen sind:
cG* 79 ®^
Presto.
pii\^is\ürr\\ii.\\\r\\nfii \f
und
ii"i'n'ri"'"ri 1^1
rrrii i'i'^if i^^rrnr ifi^
Es ist das einer der seltenen Fälle, wo Haydn sich dem
etwas trocknen Geiste der deutschen Moraldichter seiner
Zeit nähert. In der Durchführung, die mit dem ersten
Thema in den Bässen einsetzt, erhebt er sich aber mächtig.
Sie ist so bewegt und an den Stellen, wo sie von Dmoll
aus eine Reihe von verminderten Septaccorden in gewaltigen .
Absätzen anläuft, so gewaltig, dass man den Satz unter den
merkwürdigsten Stücken in der Haydn'schenJ Sinfonie-
composition in Ehren halten muss.
Die Sinfonie ,1a chasse" ist diejenige in unserer Reihe, 4. HAjdn
die wenigstens für einen Theil ihren Namen von Haydn i^* Ohasse.
selbst erhalten hat. Dieser Theil ist das Finale. Er ist
im Jahre 1781 als Einleitung zum dritten Akt der Oper
,1a fedelta premiata* componirt. In diesem, nach der
italienischen Intriguenschablone verfertigten Stücke führt
Diana die heillos verfizte Handlung zu einem gedeihlichen
Ende und dies Auftreten der Jagdgöttin hat Haydn benutzt,
seine sonst durch den Dichter unendlich gehemmte Phantasie
in erwünschte Bewegung zu setzen. Für die musikalische
Schilderung von Jagd und Jagen hatte sich in Cantate,
Oper, Sonate und Sinfonie lange vor Haydn ein förmlicher
Canon ausgebildet. Es war ein Lieblingsgegenstand der
Tonsetzer. So dürfen wir auch von Haydn, obwohl er be-
kanntlich Jäger von Fach war, für die Orchesterphantasie
in der er die Jagd und ihre Göttin feierte, keine neuen
Motive erwarten, sondern wir wollen uns freuen, dass er
cc? 80 ®*
alte, zweckentsprechende Weisen im lebensvollen Bilde auf
uns wirken lässt.
Der Satz beginnt natürlich mit Hörnern. Sie tragen
ein Fanfarenmotiv vor, in das aber auch Oboen, Fagotte,
sämmtliche Streichinstrumente mit einstimmen:
ro^H P I f P r p I r f Dieses gesammte Orchester
setzt unmittelbar daran das Motiv:
welches für den Durch-
führungstheil des Satzes grosse Wichtigkeit erlangt. Es
bildet dort den Träger der Bewegung, der Jagdfreude
und wechselt von zwei zu zwei Takten mit den Motiven
der Ruhe und des Waldfriedens als:
. Aehnlich wie in der
Jagdßcene der , Jahreszeiten* kommt am Schluss der Durch-
führung eine Minute gewaltiger Aufregung: Es sind die
Augenblicke wo es sich entscheidet ob der Jäger oder ob
das Wild Glück haben soll. Die letzten Kräfte werden an-
gesetzt, der Schuss fällt: Dominantseptaccord und Fermate!
Wir vermissen — die Stelle der Jahreszeiten im Kopf — hier
die Pauke. Aber sie ist nicht nöthig. Haydn versteht es,
mit seinen Violinen, Bratschen, Cellis, Bässen, mit Flöte,
Oboen, Fagotts und zwei Hörnern „grosses Orchester* zu
spielen. Galt ja doch diese Besetzung für Sinfonien eine Zeit-
lang, in Norddeutschland wenigstens, für bedeutend. Benda
nannte sie ausdrücklich in den Ueberschriften : grosses
Orchester.
Zu einer ganzen, viersätzigen Sinfonie wurde la Chasse
im nächsten Jahre vervollständigt; als der Fürst von
Esterhazy von einer längeren Reise zurückkehrte, führte
ihm Haydn das Werk vor. Man würde nach unseren
heutigen Begriffen erwarten, dass die Vordersätze mit dem
Schlusssatz in geistiger Verwandtschaft stehen und der
Jagd vielleicht eine Reihe von Waldbildern vorausschicken,
ce 81 'S«»
etwa in der Weise der RaflTschen Waldsinfonie. Anders
das 18. Jahrhundert, dem Wald und Gebirge nur be-
schränkt als poetische Gegenstände galten. Jedenfalls waren
dem Naturfreunde jener Zeit Ebenen mit Canälen und
Pappelalleen lieber. Wir müssen auf ein solches Progranun-
band zwischen den Sätzen von ,La Chasse** verzichten
und darauf: die Beziehungen, die zwischen ihnen zweifellos
bestanden, die Gründe, weshalb die Sätze so sind, wie sie
sind, angeben zu können. Der Fürst hat den Sinn der
Ovation und der Composition jedenfalls verstanden und wir
fühlen ohne Weiteres, dass die Sinfonie einen stark per-
sönlichen Zug zeigt , den Charakter von tiefen Lebensein-
drücken trägt. Sie gehört mit der Oxfordsinfonie zu denjenigen
Werken der in Betracht kommenden Periode, die eine viel
grössere Menge Herzenswärme ausstrahlen, als das bei Haydn
durchschnittlich der Fall ist. Am stärksten trägt diesen
Charakter der erste Satz der Sinfonie. Eine herrliche
Einleitung empfangt uns mit ernst sinnenden Tönen und
zeigt in der Feme auf freundliche, liebliche Bilder. In
ihrer Kürze, ihrem Reichthum ist sie eins der schönsten
Beispiele dafür, was Haydn auf diesem Gebiete der An-
deutungen zu bieten vermag. Sie schliesst in Adur, der
Oberdominant von D, der Tonart der Sinfonie. Und nun
setzt das Allegro ein:
Allegro. ^^
I n f lautet die erste Hälfte
des Themas.
Ißt das aber nicht seltsam, ein D dur- Allegro und der An-
fang in G, in der ünterdominant? Ja, aussergewöhnlich ists,
aber auch sehr bedeutungsvoll. Die Phantasie des Ton-
dichters weilt nicht in der Gegenwart. Die Noten sagen uns,
was ein anderer Poet jener Zeit in die Worte gefasst hat :
loh denk' an eucb, ihr himmlisch schönen Tage
Der seligen Vergangenheit.
Glückliche Stunden und Tage sind es, die vor die
Kretsichmar, Führer, I. 6
1
ee 82 -^
Erinnerung des Meistere treten ; vielleicht hat sie sein Herr
mit ihm getheilt. Später wird das trauliche Bild au» der
Vergangenheit noch mit einer breiten Melodie weiter geführt,
die folgcndermassen Mozartisch beginnt:
und über
Beulende Achtelketten, über dunkle Modulationen zum A dur-
schluss geht. Sie vertritt in der Themengruppe die SteUe eines
zweiten Themas. Die DurchfUhnmg ist getheilt zwischen
eine Hälfte des freudigen Schwärmens über das verkürzte
Anfangsmotiv des Hauptthemas, das in der Form:
in Nach-
ahmungen und £ngführungen von allen Stimmen tüchtig
durchgearbeitet wird. Noch einmal, glänzend imd golden,
drängen sich die , himmlisch schönen Tage* vor die Seele:
In der zweiten Hälfte der Durchführung kommt Erkennt-
niss und die Klage zum Durchbruch : dass es sich um Ver-
gangenes handelt. Die Sätze sind hier über das elegische
Motiv J J J J J gebildet, das einigemal sehr rührend,
traurig und schmerzlich zu uns spricht.
Der zweite Satz ist in seinem Anfang:
eine leibliche Schwester des weltbekannten Andante
mit dem Paukenschlag. Es theilt mit ihm Rhythmus,
Metrum und den Charakter der Kinderscene. Auch
in den Liedern der , Zauberflöte * , im , Donauweib-
chen*, in den Singspielen Wenzel Müller's hat es zahl-
reiche Verwandte aus dem ereten Grade; in jeder
Faser bekundet es die Zugehörigkeit zur niederöster-
reichischen Volksmusik. Ja, wenn man will, kann man
CO SS ^
aus den Noten, die die Viertel anfangen, das Kaiserlied
,Gott erhalte Franz etc.* heraushören. Freilich endet die
Melodie nicht so einfach. Im 9. und 10. Takte, die den
Schluss bilden, wendet sie sich deutlich genug ins Weh-
müthige und fügt mit Halbcadenz und Fermate dem
reizenden Bildchen ein ,Ach dahin!* an. Es wiegt aber
für den Kunstwerth dieses Andante sehr schwer, dass es
sich dem ersten Satz innerlich so eng anschliesst, so eng,
dass Niemand den Sinn und das Yerhältniss missverstehen
kann. Es ist, als wollte es aus dem Schatz alter schöner
Erinnerungen der vorhin so obenhin erschlossen wurde,
ein besonders anheimelndes, specielles Stück hervorholen,
ein Stück aus der Kinderzeit meinen wir. In der Compo-
sition kämpft die Freude mit der Trauer. Der Trauer ist
aber ein Ausdruck gegeben, eben so schlicht und einfach,
wie es das Volkslied ist, von dem der Satz ausgeht. Kurze
Generalpausen und Fermaten vermitteln ihn. Und dieselben
Eigenschaften hat der Aufbau dieses vollendeten Kunst-
werkchens: a) Thema, 24 Takte, b) erste Durchführung
hauptsächlich in Moll etwas erregt und pathetisch, mit
wunderschönen Anklängen der Hauptmelodie aus der Tiefe,
26 Takte, c) Thema wie a; d) zweite Durchfuhrung mit
innigen Klagen auf es — eis — d und kleinen, erregteren
Nachahmungen, 20 Takte, e) Thema zum dritten Male
mit kurzem, sanftem Nachgesang.
Auch im Menuett finden wir die Merkmale der
Erinnerungsfeier: frohe Bilder und der Schatten der Ver-
gänglichkeit darüber. Diese letzten sind der Grund der
chromatisch romantischen Motivführung, die diesem Satz
eigenthümlich ist, sowie der ins Klagende und Schwer-
müthige übergreifenden Haltung der zweiten Klausel:
Allegro.
^^
P
Wir haben in La Chasse eine Sinfonie von höchster
Vollendung. Eigene Grundideen verbinden sich mit einer
Ausführung, bei der alle Theile, gleich gelungen in sich,
«ich als Glieder desselben Ganzen erweisen. Kein Wunder
6»
•<? 84 ^
darum, dass diese Sinfonie sich besondere schnell und weit
verbreitete. Sie wurde, was viel sagen wollte, auch in
Italien bald bekannt. Pohl's Biographie giebt die näheren
Daten.
J. HAyd> Die O x fo r d - Sinfonie, die Haydn im Jahre 1788 für
Oxford- Paris schrieb, ist im Zusammenhang mit ,La Chasse* ge-
Binfonie. uannt worden. Sie haben beide den persönlichen Bezug
auf Haydn*s eigenes Leben, gehen von einem elegischen
Rückblick aus, den der gereift*», alternde Mann auf die
dahingegangene Jugend wirft. Die Verwandtschaft eretreckt
sich aber auch auf die formelle Vollendung der ewei
Sinfonien. Haydn vertritt nicht blos das Prinzip der thema-
tischen Arbeit, der motivischen Entwickelung, der gründ-
lichen Auslegung der Gedanken, sondern er handhabt es
auch als Meister. Ohne Bedenken darf man in dieser
Beziehung die Oxford-Sinfonie einige Stufen höher als die
um sechs Jahre ältere Jagdsinfonie und auf eine Linie mit
den besten Londoner Sinfonien stellen. Haydn hat auf
seinem Weg zur Oxfordsinfonie sich in einem früher nicht
vorhandenem Grade der Kunst bemächtigt, den Inhalt eines
Themas mittels kontrapunktischen Feinheiten zu erschöpfen
und im spannendsten Ton dem Zuhörer vorzufuhren. Er
nähert sich in der Behandlung von Engfuhrungen , im
Reichthumvon schwierigen und aufregenden Nachahmungen
der Weise, die mit Mozart gleich geboren war. Mit dieser
sorgfaltigen Ausarbeitung der Form, mit diesem liebevolleren
Eingehen ins Kleinleben der Stimmen ist aber sichtlich
auch die Beweglichkeit und Leichtigkeit von Haydn's
Geist im Allgemeinen gewachsen. Wir bemerken das an
der spielenden Sicherheit, mit der er jetzt kleine, contra-
punktische Nebenmotive aufzunehmen und zur Gedanken-
verbindung zu benutzen pflegt, die er früher nach ein-
maligem Gebrauch würde haben fallen lassen. Das zeigt
uns namentlich der erste Satz der Oxfordsinfonie. Er scheint
keine Nebenpartien, keine Verbindungsabschnitte, keine
Uebergänge zu haben. Alle Fugen, wo die Glieder an*
einanderetossen, sind mit organischen Motiven überwachsen,
alles schliesst eng und natürlich zusammen. Ja, es ist
eC 85 '0*
Erklären! dieses ersten Satzes begegnet, dass sie eine
begleitende Geigenfigur für die Hauptstimme gehalten
haben. Dem Lernenden kann nur ernstlich gerathen
werden, alle die Stellen aufzusuchen, an denen Haydn einen
nebensächlichen Melodieschluss , ein Füllmotiv aufnimmt
und zum Träger des Gedankenbaues macht Man kann
mit einem gewissen Recht die Oxfordsinfonie Haydn's
Eroica nennen. Der neue Stil ist in ihr fertig.
Wenn der erste Satz in ihr und in der Jagdsinfonie
dieselbe poetische Idee haben, ein elegisches Erinnerungs-
bild vorftihren wollen, so thun sie das doch verschieden.
Die Oxfordsinfonie zeigt den Componisten in einer viel
stärkeren Weise erregt und ergriffen. Das sieht man schon
an der Einleitung, man sieht es dann besonders daran,
dass er im Allegro gar nicht von dem ersten Abschnitt
seines Hauptthemas
lassen kann. Das Thema erstreckt sich, ins Starke und
Zarte greifend, noch lang hin, bis die 16taktige Periode
fertig ist. Aber Haydn kommt immer wieder auf die
ersten fiinf Noten zurück. Bald liegen sie oben, bald in
der Mitte, bald unten, bald offen, bald überdeckt da. Er
kann sich nicht beruhigen. Das zweite Thema konmit
darum erst ganz am Schlüsse der Themengruppe. Es ist
eine Buffogestalt, aus vielen komischen Opern, zuletzt
noch aus Rossini's ^Barbier** bekannt. Hier wirkt es aber
doch wie eine freundliche, heimliche Vision : es spricht wie
ein guter Freund, wie ein liebes Rind:
Durch die Wogen der Durchfuhrung dient es mehrmals als
helfender Lootse und hilft den verlorenen Weg wieder finden.
So häufig im ersten Satz gefragt wurde:
ij' p^F f r m I J= ebenso beständig kommt nun im
Co 86 ^
Adagio die Antwort:
Adagio caot&biltt.
Das Thema wird zur 8taktigen Periode vervollständigt,
dann wiederholt. Hierauf folgen 6 Takte Mittelsatz, dann
unser Thema schon wieder und mit dieser Entschiedenheit
bleibt es auch für die Folge an der Spitze des Formen -
baus. In die Mitte des Satzes stellt Haydn ein mildes
MollstUck aus dem Dämonen ihre Fäuste vorstrecken. Aber
der kleine Engel aus D dur lässt sich nicht bange machen,
nur eine kleine Weile kommt er ins Stocken. Es ist das
eine sehr interessante Stelle, die die Fermaten und
Septimenaccorde genügend kenntlich machen.
Die Erregung, die wir im ersten Satz der Oxford-
sinfonie bemerken, dauert auch in dem Menuett noch an.
Syncopen und Generalpausen sind seinem Hauptsatz eigen.
Erst im Trio bringt der Gesang den Hörern den Frieden,
dessen wir sonst an dieser Stelle von Anfang an sicher zu
sein pflegen. Selbst im Finale dürfen wir dem frohen
Ausgang noch nicht ganz unbedingt trauen. Das erste
Thema hat in seinem Gesicht bei aller Regsamkeit einen
launischen Zug
^^ Presto. I -1 :>-^ x^-^
J J J I Ji ■! JH J y J und benimmt sich insofern höchst
eigenthümlich, als es nach Art der unbändigen Tarantella
unmittelbar hintereinander viermal wiederkehrt. Im weiteren
Verlauf verschwindet es einige Male ohne alle Ursache, bricht
ab, setzt uns vor sehr verlegne Pausen und springt wie
ein Kobold der nicht zu fassen ist aus den hohen Bläsern in
die Bassinstrumente. In der Durchführung entfaltet Haydn
sehr wirksam schwierige Künste des doppelten Contra-
punktes. So bleibt die Oxford-Sinfonie von Anfang bis
zu Ende originell. Haydn hat das Werk selbst hoch-
eC* 87 '&»
gestellt. Als er im Juli 1791 nach Oxford zur Promotion
reiste, legte er für alle Fälle diese Pariser Sinfonie in
seinen Koffer. Sie trat scbliesslich auch wirklich an die
Stelle der ursprünglich für die Feierlichkeit bestimmten
Composition und wurde seitdem unter den Namen Oxford-
Sinfonie ein Liebling der englischen Concerte. Später hat
Haydn ihrem Orchester noch Trompeten und Pauken
hinzugefügt.
Kurze Zeit vor die sogenannte Oxforder fällt eine andere
bedeutende G dur-Sinfonie die ebenfalls der Pariser Gruppe
angehört. Die bekannte Partiturausgabe der Haydn'schen J. Et^jdm
Sinfonien von Breitkopf & Härtel bringt sie als Nr. 18. Odnr-Sliifonle
Sie beginnt mit einem kurzen Adagio, das wie eine Nr.i8(B.4H,).
Morgenandacht die lustige Ausfahrt einleitet, die im AUegro
sich vollzieht. Dieser Allegrosatz hat schon im Thema:
|^»J^l?^J^J^^ ^\^n\i fnfrtt\T ^i
f fj jjj^^ unerkennbare Verwandtschaft mit dem Haupt-
thema im Finale von Beethoven's achter Sinfonie. Man
weiss ja dass Beethoven weil ihm die Aufgabe reizte
oder auch aus Uebermuth die Arbeiten andrer Tonsetzer
zuweilen zum Ausgangspunkt eigner grosser Compositionen
nahm. So hat er sich mit voller Absicht nachweisbar an
Händel, an Mozart, am häufigsten aber an unsem Haydn
angelehnt. An ihn gerade weil er sich von diesem Ton-
setzer mehr als von einem andern beeinflusst, geschult und
gefördert wusste. Ihn direkt zu überbieten, reizte ganz
besonders. Noch tiberzeugender als beim blossen Vergleich
der Themen drängt sich die Verwandtschaft des Haydn'schen
Allegros und des Beethoven^schen Finales auf, wenn man
CJharakter und Durchfuhrung der beiden Sätze prüft.
Hier wie dort: der unaufhaltsame, stürmische Zug, die
plötzlichen verblüffenden Stockungen der Modulation, die
polaren Gegensätze in der Dynamik! Bei Beethoven ist
der Schwank nur noch um einige Grade toller gehalten.
Mit der ihr in der Stinamung ganz fremden Oxford-
«^ 88 ^
Sinfonie hat die unsre im ersten Satze einige formelle
Züge gemein: Auch bei ihr tritt das zweite Thema sehr
zurück, beschwichtigt für den Augenblick ohne Spuren zu
hinterlassen. Auch bei ihr sind Motive des Hauptthemas,
besonders f ^ | f f virtuos zum Aufbau der Uebergangs-
partien verwendet. Auch bei ihr ganz nebensfichliche,
zufällige Melodiewendungen zum Träger der Weiterentwick-
lung aufgegriffen. £in schönes Beispiel hierfür ist derSchluss
der Themengruppe: ft ff f 0 \ p lautet das letzte
Wort der Violinen und daran knüpft der Anfang der
Durchfuhrung an, trägt die Figur im diminaendo nach es
wo heimlich das Hauptthema anknüpft. Die Durchführung
ist besonders meisterlich in der Grösse der Gruppirung.
Der zweite Satz ist ein Meisterstück Haydn'scher
Variirungskunst. Er beginnt mit dem Gesang (Oboe, Cello
dazu in 8va sub.)
L&rgo.
fiiTiLi^Trii iwirrti unn
^m
f-l p »■ Pp *» I p V i^= Diese 8 Takte ent-
P
halten das vollständige Thema. Wir hören es siebenmal ohne
Aenderung in seinen Motiven nur einmal nach Adur und
einmal nach Fdur transponirt. Auch keinen eigentlichen
Gegensatz hat ihm Haydn gegenübergestellt. Die Wieder-
holungen werden nur durch Zwischensätze unterbrochen, die
sich mit Ausnahme einer einzigen — es ist die von der
Adur- Variation, sie umfasst 16 Takte — auf vier und acht
Takte beschränken und in die Stimmung des Hauptthemas
einlenken, bis auf einige ff. Takte nicht einmal aus seinem
piano heraustreten. In den Variationen selbst herrscht
mit Ausnahme der ersten und dritten wo die ersten Geigen,
und der fünften wo die zweiten Geigen in Zweiunddreissigsteln
contrapunktiren und begleiten durchaus der ruhige Bhyth-
e<? 89 "ö*
mu8 der Hauptmelodie. Und doch würden wir nicht müde
wenn der Satz in ähnlicher Weise noch einige Minuten
fortdauerte. Das macht seine schöne wundervolle Stimmung,
die an Sonntage, an Kirchenstunden in der ELinderzeit, an
Träume vom Paradies und ewigen Frieden erinnert. In
England wird die Melodie wirklich in den Kirchen zu
der Hymne: »Praise God, from whom all hlessings flow*
gesungen. Dass Beethoven das Thema wiederholt benutzt
hat, ist bekannt. Das macht der unübertreffliche Wohl-
klang, der Reichthum von Farben, den Haydn seinem doch
bescheidnen Orchester hier abgewinnt. Auch seine Leistung
in der Bomanze von „La Reine* reicht noch nicht an das
in diesem Variationensatz Gebotne heran.
Im Hauptsatz des Menuett geht Haydn mit der zweiten
Klausel tiefer in die Auslegung des thematischen Gehalts
hinein, als es sonst bei ihn^ an dieser Stelle üblich ist.
Der originellste Einfall im Satze ist der, dass an den leisen
Schlüssen der beiden Theile die Pauke sich wie von fern
bemerklich macht. Auch diese Idee ist bei Beethoven —
in seiner ersten Sinfonie — auf fruchtbaren Boden gefallen.
Jener unvermuthete Eintritt der Pauke hat für das Trio
des Menuetts seine Folgen gehabt: Bratschen und Fagotte
bereiten den richtigen Boden zum ländlichen Tanz durch
immerwährendes Anschlagen der Bassquinten: aber die
Melodieinstrumente, Geigen, Flöten und Oboen kommen bei
allem eifrigen Drehen nicht recht von der Stelle.
Erster Satz und Finale scheinen in dieser Sinfonie die
Rollen tauschen zu wollen. Der Schlusssatz bleibt mit
seinem Thema:
^AUegro con spirlto.
zunächst hinter der Flottheit des Sinfonieanfangs zurück.
Aber je weiter wir in dem Rondo, das Haydn über diesen
Hauptgedanken aufbaut, vordringen, desto grösser wird
unser Erstaunen, unser Vergnügen über die Fülle von guter
Laune, von Witz, die uns auf Schritt und Tritt entgegen-
sprüht. Eine Wendung immer kecker und drolliger als
•<? 90 ^
die andere ) jeder Themeneintritt eine Ueberraschung und
eine Lust! Nach dem dritten Einsatz des Hauptthemas
kommt im ff. ein Canon, in welchem sich über 20 Takte
lang Violinen und Bässe in Entfernung eines Viertels um
das Thema streiten, erst die einen dann die andern an der
Spitze. Nach dieser tollen Hetzpartie folgt ein um so
decenterer üebergang: die Instrumente tröpfeln die Töne
nur noch leicht hin. Dann das Thema zum letzten Male :
Generalpause mit Fermate und ein freier Schluss im
dithyrambischen Stil!
Als die classischen Vertreter des Haydn'schen Stils
gelten die sogenannten 12 englischen Sinfonien,
welche Haydn für die von ihm selbst geleiteten Concert«
in Hannover Square Boom zu London in den Jahren 1791
und 1794 — jeden Monat eine^) — componirte. Die be-
reits angeführte Partitur- Ausgabe von Breitkopf & Härtel
bringt sie in den Nummern 1 — 9, 11, 12 und 14.
Bilden sie an und für sich schon eine Elite, so thun
wir doch gut auch noch unter ihnen eine engere Wahl
zu treffen. , Echter Haydn* sind sie wohl Alle; aber um
sich den richtigen Begriff auch vom , ganzen Haydn* zu
bilden, muss man unter ihnen unterscheiden. Da sind
denn die Nummern 1, 2, 6, 11 und 12 den übrigen be-
deutend voranzustellen. Sie sind die inhaltlich reicheren,
diejenigen, in welchen der Tonpoet den Weg zum Para-
diese sich weniger leicht macht, wo er kämpft und zweifelt
und wo der heitere Grundton seiner lebensvollen Bilder
durch tiefe und bedeutende Schatten die vollere und nach-
haltigere Resonanz erhält. Sie sind mit einem kurzen
Wort — das man nicht missverstehen wolle — moderner
als die andern, in welchen die Scala der Freude virtuos
und mit immer neuen Nuancen aber doch so abgespielt
wird, dass wir uns ab und zu nach einem Gegenmotiv
sehnen. Letztere sind — und wie wir glauben mit Un-
recht — in der Kunstgeschichte zum Träger der Haydn-
schen Kunst gemacht worden und haben zu dem schon
*) Griesinger, a. a. O. S. 116.
tc^ 91 '<>>
berührten MissverständDiss vom «Papa Haydn'^ geführt.
Hajdn, der immer die Frische des Jünglings bewahrt and
von Schwächen in seinen Werken nur die der Jugend
zeigt! Formell stehen sich die beiden Gruppen, in welche
wir seine Elitesinfonien theilen, ungefähr ebenbürtig gegen-
über. Namentlich auf dem Gebiete, welches Haydn der
Instrumentalmusik entdeckt, erobert und ausgebildet hat:
der Kunst der motivischen Arbeit, der Auflösung der
ganzen Gedanken in ihre kleinsten selbständigen Bestand-
theile und der Entwickelung neuer grosser Bilder aus
diesen Fragmenten — hier zeigen jene volleren und die
leichteren Sinfonien, als ganze Gruppen verglichen, keine
wesentlichen Unterschiede.
An der Hand jener Breitkopf sehen Partitur- Ausgabe,
und ihrer Reihenfolge nachgehend, durchschreiten wir
kurz die erste Gruppe:
Die erste Sinfonie in ihr ist eine von mehreren in Es.
Ihr Hauptsatz hat eine Einleitung, ein Adagio mit folgen-
dem Thema:
Adagio.
Die Mehrzahl der Haydn'schen Sinfonien der späteren J. Raydn
Zeit hat vor dem ersten AUegro eine solche feierliche, Sinfonie Nr. i
gedankenvolle, sinnende, träumende, romantische Ein- t^'®**^* * ^•)-
leitung. Das Tiefste, was an seiner Fantasie vorbeizog,
wenn er das ihm vorschwebende oder schon fertige Werk
mit einem eindringenden Seherblick mass, das fasstc er
in den Klängen solcher Einleitungen zusammen. Sie sind
meist nach dem Charakter der Sinfonie, welche sie eröffnen,
verschieden — sie haben sich auch von ihren eigentlichen
Vorbildern, den immer im gleichen Typus auftretenden Ein-
leitungslargis der französischen Ouvertüre weit entfernt. Auf
Cherubini namentlich haben sie tief eingewirkt. Unter vielen
solchen schönen Einleitungssätzen hat aber der hier in Be-
tracht kommende zur Esdur-Sinfonie noch seine besondere
Bedeutung. Haydn kommt auf ihn im ersten Allegro zwei-
«<? 92 '0*
mal zarück. Das erste Mal erscheineD die ernsten Züge
des Themas nach der ersten Fermate in der Durch-
fuhrung im schnellen Tempo und nur für einen flüch-
tigen Augenblick; nach der Reprise führt es aber der
Componist noch einmal in seiner Originalgestalt vor.
Solches Zurückgreifen ist bei Haydn äusserst selten: es
beweist in diesem Falle, wie wichtig das Thema an sich
ist. Der Componist stand unter dem Banne desselben und
gab sich in Folge dessen den heiteren Ideen, welche die
eigentlichen Themen des Allegro anschlagen, erstlich:
ff ,
E^ und zweitens:
^i\r fif i'.^tri'i I i| |i r| III i^^i^t;-! I i
nur bis zu einem gewissen Grade hin. Der Satz bleibt
viel stärker auf das Ernste und Grosse gerichtet, ah man
nach der ausgesprochen leichten und launigen Natur
dieser beiden Führer erwarten sollte. In formeller Be-
ziehung ist dieses Allegro der Normaltypus eines Sonaten-
satzes, wie er in dieser Regelmässigkeit bei Haydn nicht
oft vorkommt. Da haben wir ein vollkommen ausgebil-
dete« zweites Thema: auch das obligatorische Tonalitäts-
verhältniss der beiden Themen — Tonica: Dominant —
ist genau eingehalten. Im zweiten Theile, dem soge-
nannten Durchführungstheil des ersten Satzes, neckt sonst
Haydn die Zuhörer gern, bringt das Hauptthema z. B. so,
als wollte er die sogenannte Reprise beginnen, während
es damit noch gute Weile hat. Hier aber hält er sich,
unbeschadet aller Tiefe und Genialität, vollkommen schul-
gerecht. Ebenso normal verläuft der dritte Theil : die so-
genannte Reprise dieses ersten Satzes. Es ist einfache
Wiederholung des ersten Theils mit der üblichen Aenderung,
dass das zweite Thema nun ebenfalls in die Haupttonart
tritt, und sogar eine gekürzte Wiederholung. Nur die
Einführung der Coda, der Moment, wo das Einleitungs-
thema wie ein Geist in die heitere Gesellschaft eintritt,
steht ausserhalb und über jedem Usus und lehrt uns die
c<? 93 ^
Freiheit des Genies bewundem und respectiren. Eine
EigenthUmlichkeit von Haydn*s Gedankenbau — das plötz-
liche Absetzen — die pointenreiche eindringliche, oft ver-
blüffende Rhetorik, eine Frucht französischer Musikstudien
— zeigt dieser Satz in besonderer Stärke: £r hat nicht
weniger als sechs beredte Fermaten! In der Instrumen-
tirong sind die Clarinetten zu bemerken, mit welchen sich
Haydn erst in England näher befreundete.
Der zweite Satz ist ein Andante. Es beginnt mit
folgendem Gedanken von dunkler ' Schönheit und einem
im übermässigen Secundenschritte liegenden aparten Zug:
^ ^ Aadante.
Aus ihm entwickelt sich ein längerer Gesang in der zwei-
theiligen Liedform, dem hierauf ein Alternativ mit marsch-
artigem Charakter folgt. Durch Versetzung der obigen
Melodie ins Dur und durch kleine rhythmische Varianten
hat hier Haydn dem eben angeführten Thema ein voll-
ständig anderes Bild abgewonnen.
Hauptsatz und Alternativ werden hierauf zweimal variirt.
In der ersten Variation des Altemativs macht sich ein
Violinsolo sehr bemerklich. Die zweite Variation imponirt
durch einen gewaltigen Einsatz; zum ersten Male tritt
hier in diesem Andante die gesaromte Blasmusik, von
Pauken begleitet, im kräftigsten Ton auf den Platz. Nach
dem leise verhauchenden Ausgang des Violinsolos von
doppelter Wirkung! Der Satz belegt wieder, dass die
Kunst der Variation, mit Haydn^s Sinfonien in ein neues
Stadium tritt. Ganz genial ist an dem Andante unsrer
Sinfonie der Abschluss, die sogenannte Coda, welche nach
der Fermate beginnt. Sie bildet ein fteies Nachspiel zu
den Variationen; ein poetisches Abschiedswort an die
vorausgehenden Scenen, in welchem Alles, was an Ge-
eO 94 'ÖJ
danken und Empfindungen vorübergezogen ist, noch ein-
mal kurz zusammen gefasst und potenzirt erscheint. Die
16 Takte von der überraschend einsetzenden Dominanthar-
monie auf A bis zum Wiedereintritt des Altemativs dürfen
wir zu dem Genialsten und Eigenartigsten rechnen, was
in der musikalischen Composition jemals erdacht worden
ist. Nicht mit Unrecht haben Andere darauf hingewiesen,
dass dieses Andante, und namentlich die hier erwähnte
Episode der Coda, Beethoven beim Entwurf vom Trauer-
marsch seiner Eroica höchst wahrscheinlich als Muster
vorgeschwebt hat.
Der dritte Satz dieser Sinfonie ist der Menuett: Sein
erstes Thema
lässt schon in ungewöhnlichen Wendungen der Melodik
und Rhythmik ahnen, dass dieser Satz über den ein-
fachen Tanzcharakter hinausgehen wird; thatsächlich
ist er ein Charakterstück höheren Schlags und macht
bei allem Fluss und aller Einfachheit der Form eindring-
liche Abstecher in das Gebiet des Tiefsinnigen und Pathe-
tischen, sich ungewöhnlicher Modulationsmittel bedienend.
Die ausserordentliche Freiheit der Erfindung ist noch
mehr als im Hauptsatze in dem Trio zu bemerken, hier
namentlich an der Stelle, wo die Violinen, sehr launig
aufgelegt, das Wort der HÖrner weiterfuhren.
Das Finale ruht auf einem einzigen Thema:
Presto.
k
i
m m m
1
Ganz erstaunlich.
welche Menge wechselnder und schön aneinander schlies-
sender Bilder aus diesen wenigen Noten entwickelt werden !
Es ist eine der grÖssten Leistungen contrapunktischer
Kunst ! Im Geist dieses Satzes sind entschieden Mozart*sche
Züge bemerkbar. Wir begegnen solchen auch noch in
andern von Haydn*s englischen Sinfonien. Sie legen in
einer rührenden Weise von der Tiefe und Echtheit der
c<? 95 '^
edelsten HerzensfreuDdschaft und Liebe Zeugniss ab,
welche der alte Meister zu dem jungen gefasst hatte.
Der Tod Mozart's scheint sie nur noch inniger zu machen.
Besonders in der Sinfonie Nr. 2 (D dur) scheint Hajdn J. üayta
bei Mozart's Andenken zu verweilen. Er beginnt mit 8*«>'oni« Nr. a
Don Juan und schliesst mit Figaro*8 Hochzeit seinen ersten (^'•**^- * ^)-
Satz. £s sind flüchtige sinnige Anklänge, wörtlich kaum
nachweisbar, aber für das GefUhl nicht misszuverstehen.
Die Einleitung des ersten Satzes ist diesmal nur kurz,
hat aber einen wunderbaren, plötzlich verschleierten Schluss.
Darauf Generalpause, Verstummen und Schweigen als
müsste der Dichter schwere Gefühle niederkämpfen. War
es die frische Nachricht vom Tode Mozart's? Der Anfang
des Allegros lässt diese Annahme zu, denn es setzt aus-
gesprochen elegisch, leicht klagend ein, tritt aufföllig aus
dem Phantasiekreis der englischen Sinfonien heraus. Das
Hauptthema dieses Allegro ist folgendes:
Allegrp.
i{iMi,r;'jij jjjJi^ j ^ ^if ■' nn if ^Li
j J l^-J^J^- Erst mit dem Zutritt der Bläser kommt
eine fröhlich kräftige Gegenstrophe. Das endlich folgende
zweite Thema (Adur) scheint nur pro forma da zu sein
und kehrt im ganzen Satze ein einziges Mal, an der ge-
hörigen Stelle in der Reprise, wieder. Die Durchführung
zum grössten Theil von dem oben eingeklammerten Motive
des Hauptthemas getragen ist schon früher als Muster-
beispiel Haydn*8cher Art erwähnt worden. Sie erhält durch
die entschiedenen Rhythmen des zu Grunde liegenden
Motivs einen ziemlich streitbaren Charakter.
Das Andante dieser Sinfonie ist eins der interessan-
testen und für die Auffassung von Haydn's geistiger Per-
sönlichkeit, für das Yerständniss seines Kunstglaubens ein
wichtiger Beitrag. Zu Grunde liegt dieser Composition
ein etwas erweiterter Liedsatz mit folgendem Hauptvers:
Andante.
of? 96 '^
Er wird verschiedentlich variirt. Doch nicht diese
Yariationspartien sind das Haupt«lement der Composition,
sondern die freien Zwischensätze, in denen sich ein Fond
Yon Leidenschaft auslebt, welcher die Bekenner des ^ge-
müthlichen Vater Haydn* einigermassen erschrecken muss.
Immer wieder werden diese stürmischen Ausbrüche einer
heftigen trüben Empfindung unterdrückt, zurückgedrängt
und abgebrochen. Beschwichtigend, zuweilen gewaltsam
und halb ironisch, kehrt der Componist zu dem oben
citirten Friedensmotiv zurück. War es Furcht vor dem
Dämonischen, Respect vor der künstlerischen Etiquette,
die Haydn zu dieser Führung dieses Satzes bestimmten,
oder war sie durch einen besonderen Progranamvorwurf
bedingt, der verschwiegen blieb? Es liegen Räthsel in
diesem Satze, die aber glücklicherweise die rein mensch-
liche und künstlerische Wirkung des lebensvollen, erregten
Seelengemäldes nicht beeinträchtigen.
Der Menuett dieser Sinfonie ist einer der wuchtigsten
die vorkommen und sehr mannigfaltig in seinen Bildungen :
grotesk und intim, drohend und neckisch zugleich; reich
an formell ungewöhnlichen Erscheinungen: Rieseninter-
vallen, Paukenwirbeln mit Crescendo, Generalpausen und
Generaltrillem. Das Trio bleibt durchaus zart, mädchen-
haft im Blick und ft-öhlich einfach geschmückt.
Das Finale beginnt k la Musette wie die Bärensinfonie
A. Kuhacz weist nach, dass dieses, sowie das Thema vom
Andante und vom Finale der vorhergehenden Esdur-Sin-
fonie in kroatischen Volksliedern vorkommen.*) Obwohl
die Prioritätsfrage nicht entschieden ist, spricht Vieles
dafUr, dass sie Haydn daher entnommen hat. Gegen das
sehr fröhliche Treiben, welches sich auf Grund dieses
Themas im Finale entwickelt, bildet das bedeutsam aus-
gestaltete zweite Thema einen herrlichen Contrast.
*) Siehe darüber H. Beimann m Allg. Mosik-Zeitang 1898,
S. 625 u. ff.
ee 97 '^
^^<, »»r^Tr |[7T?^ i.i,j ir r \fTTf»i i,^i
Es wirkt, als wenn ein glücklicher Mensch, mitten in der
rauschenden Festesfreude,* einen frommen und dank-
baren Blick nach dem Stemenhinmiel würfe, imd erscheint
uns als die Perle in der durch und durch genialen Sinfonie !
Die Sinfonie Nr. 6 (Gdur) wird mit einer Einleitung J. Hajto
eröffnet, in welcher die «Jahreszeiten* ihren Schatten Sinfonie Nr. 6
vorauswerfen. Das erste Allegro dieser Sinfonie ist knapp (B»«**^ * H«)«
und gedrungen. Sein erstes Thema
läuft schon nach vier Takten aus dem üblichen leisen
Anfang in den sausenden und brausenden Chor ein , der
in den meisten Fällen das zweite Glied oder die Reserve
de^ Hauptthemas zu bilden pflegt. Das zweite Thema,
im Satz zu keiner Bedeutung gelangend, wird wieder,
wie so oft bei Haydn, mit einigen Geigenaccorden prälu-
dirt, die uns in die idyllische Sphäre der Harfen- und
Guitarrenmusik versetzen. Die Durchführung ist knapp
gehalten; das oben eingeklammerte Achtelmotiv liefert ihr
den grössten Theil des Materials. Der berühmteste Satz
dieser Sinfonie ist das Andante. Sie heisst nach ihm die Sin-
fonie mit dem Paukenschlag bei den Engländern „the sur-
priil*. Hajdn schliesst hier eine sanfte, erst p, dann pp gehal-
^m
einem kräftigen Accord des vollen Orchesters wie
Gyrowetz*) behauptet aus Schelmerei, wie Haydn selbst
sagte') um das Publikum mit etwas Neuem zu über-
^) Gyrowetz, Selbstbiographie S. 59.
^ Grieshiger 8. 65.
Kratischmftr, Führer, I.
•c 98 «^
raschen. Der an und für sich sehr billige Scherz gefiel
ganz ungemein und ist wiederholt nachgebildet worden
u. a. von Carl M. v. Weber in der Ouvertüre seines eben-
falls für London bestimmten ,Oberon*. Das Thema wird
dann in vier Variationen durchgeführt, die ausgezeichnet
unter einander verbunden sind. Besondere Aufmerksam-
keit verdient der unvermuthete Uebergang nach Esdur
in der zweiten und der schöne Gesang, welchen in der
dritten Oboen und Flöten dem in den Geigen herschreiten-
den Hauptthema entgegenstellen. Die Coda hat wieder
einschlummernden Charakter.
In dem sehr gestalten reichen Menuett ist das Trio
diesmal nicht als Gegensatz, sondern als Ergänzung be-
handelt. Die anmuthig hintlattemde Hauptmelodie des
letzteren tragen Violine und Fagott zusammen vor, eine
Octavverdoppelung, die Haydn namentlich in dem Menuett
und in den zweiten Themen der Ecksätze auch in andern
Formen gern anwendet. Die Heimath dieser Instrumen-
tationsweise ist eine entschieden volksthiimliche.
Das Finale giebt sich der fröhlichen Laune anfangs
nur mit Vorbehalt hin: sein Hauptthema
Alle^o di molto.
hat einige sentimentale Elemente. In der Führung des Satzes
ist die üeberleitung zur Reprise bemerkenswerth ; das
Hauptthema kommt einigermassen unvermuthet, aber als
willkommener Retter aus Irrfahrt und Oede.
J. Hftjda ^^^ 1^- Sinfonie (Gdur) ist die sogenannte Militär-
Süifonie Nr. 11 Sinfonie. Sie verdankt diesen Beinamen ihrem zwei-
(Breitk. A H.). ten Satze : einem Allegretto , das auf Grund einer (von
Haydn bearbeiteten) französischen Romanzenmelodie
E^^-t^^r^^^^^^^^^^l^.aq ein Inhalt-
reiches Tonbild entrollt, dem man kriegerische Unter-
lagen wohl ansehen kann. Es ist eine Art Abschieds-
stimmung in der freundlich sinnigen Marschweise, welche
die Chöre des Orchesters nicht müde werden einander
e<?
99
'0*
znzusingen. Dann kommt plötzlich das Thema in Moll;
der Satz erhält einen Mitteltheil, durch welchen grosse
Schatten ziehen, der ernst stinmit und die Trauer streift:
„Heute roth — morgen todt!* Unverkennbar ausgeprägt
tritt der militärische Charakter des Satzes gegen den
Schluss Yor: Abendstimmung: die Romanze verklingt:
Da ein Trompetensignal , das im Orchester augenschein-
lich grosses Aufsehen und Alarm erregt. In der Instru-
mentirung dieses Andante ist der grosse Apparat von
Schlaginstrumenten für die besondern Tendenzen Hajdn's
an dieser Stelle bezeichnend: Ausser den Pauken:
Triangel, Becken und grosse Trommel! Einen eigentlichen
langsamen Satz enthält diese Sinfonie nicht; ähnlich
wie Beethoven*s achte.
Der Hauptsatz beginnt nach einer prächtigen Einlei-
tung, die auch eine Stelle pathetischer Erregung hat, mit
folgendem Thema von Oboen und Flöte allein vorgetragen :
^^K^^^^^S^^^S
j j J|.|r7rrrr^
Ehe es noch zu einem zweiten Thema kommt
passiren wir bereits Partien eigenartigster Erfindung. Die
Stelle, wo nach der Reprise des Themas in der Domi-
nant, Geiger und Bläser echt träumerisch unschlüssig
mit den zwei Noten spielen und sich dann im Forte
heroisch aufraffen, gehört dahin. Darauf unmittelbar setzt
das zweite Thema, wieder wie von Guitarrenklängen prä-
ludirt, ein. Es ist eine Melodie von echtem Wiener Blut, die
zum flotten Marsch einer Infanteriekolonne ganz gut passt :
Dieses bis auf den Radetzkymarsch in der östreichischen
Kunst- und Volksmusik immer wiederkehrende Thema
lässt aber den Schwung nicht ahnen, der im Orchester
c<? 100 ^
losbricht, nachdem sich die Bfisse der tändelnden Weise
bemächtigt haben. Die Durchführung des Hauptsatzes
ruht wesentlich auf diesem zweiten Thema und erhebt
sich mit ihm ins Grossartige. Der Menuett dieser Sin-
;•* fonie nähert sich dem alten Stile und wiegt sich in
'-'* schwerfälliger Grazie. Hajdn schreibt ausdrücklich «Ho-
. ; derato' vor. Im Trio scheint sich ein Solopaar zu produ-
'.*•% ciren. Das Finale hat ein Hauptthema,
•••• Pratto.
^jHjUjJh'nuji I iiIlulü iu
welches auf leichten Scherz und Tändelei hinzudeuten
scheint. Haydn giebt ihm aber durch Modulationen
und contrapunktische Umarbeitungen einen schwereren,
energischen Charakter und flicht erregtere Scenen und
Momente dunkler Spannung ein; Alles mit wenigen No-
ten und in einer Kürze, die eine Meisterleistung an sich
bildet.
j. HsydB Die letzte Sinfonie in imserer ersten Gruppe Nr. 12
Shifonia Nr. i2(Bdur) beginnt ebenfalls mit langsamer Einleitung vor
(Breitk. « H.). ^^m AUegro : Die beiden Themen des letzteren sind fol-
gende :
a) Allegro.
irrrrpT^ririiltx^iriir
<>'%.! 1^. iJ.jiJJiJ,jJji"J<j-i;j' iiu I
j J)J j i^j j j jp ^
Das erste setzt ausnahmsweise gleich stark und mit
dem vollen Orchester ein und lässt dann das Piano
nachfolgen. Das zweite Thema hat in dem Satze grössere
Bedeutung, als es durchschnittlich bei Haydn der Fall ist.
Gleich sein erster Eintritt ist ungewöhnlich: es steht mit
einem gewaltigen Schlage da, fertig wie aus der Erde
emporgezaubert. An der Durchführung ninmit es einen
wichtigen Antheil. Doch stehen ihm andere Motive hier
eO 101 ^
ebenbürtig zur Seite; neben dem Achtelrhythmus des
Hauptthemas noch das diesem folgende kurze SeitenmoÜT:
jii' f i'in- r 1^
An Reichthum und Mannigfaltigkeit des Materials
zeichnet sich somit die Durchführung dieses Satzes aus
und gestaltet ihn zu einem der imposantesten in Bezug
auf den Aufbau. Dem entspricht eine Fülle innerer Bewe-
gung und Energie. Unter den Allegrosätzen Haydn's,
welche Beethoven zum Anknüpfen dienen konnten, muss
dieser an erster Stelle genannt werden.
Der zweite Satz, von Haydn auch in einem Clavier-
trio verwendet, mit folgendem Hauptthema
j^m-rpcj-ci'
ist auffallend kurz. Mehrmals streift er das leidenschaft-
lichere und schwennüthige Gebiet, zieht sich aber immer
mit absichtlicher Eile und in genialen Wendungen auf das
Ausgangsterrain der elegischen Träumerei zurück. Er
gleicht einer Skizze.
In dem Menuett treten dem behäbigen Tanzcharakter des
Hauptthemas ^^''tjlft«|j ,. f iffi,. f f |g f T '-^^
mehrfach beunruhigende Elemente gegenüber; namentlich
ein pochendes Unisonomotiv J | J J bringt eine fast
dramatische Bewegung in der Scene hervor. Das Trio
sucht mit einer unwiderstehlichen Herzlichkeit zu be-
schwichtigen: ^ »^ a J I f I J ^p llffO 1 1* . Die Me-
lodie, welche durch die chromatische Stelle ihre Signatur
erhält, wird wieder in der Octave von Oboe und Fagott
zusammen gespielt.
Das Finale ist auf das Material eines sehr possirlichen,
augenscheinlich der Volksmusik entnonmienen Trällerlied-
che», gebaut: f}^ Tj^rj J J I J?^ fl^L J^ ^^.
In seinem Anfangsmotiv bietet es Haydn Gelegenheit su
humoristischen Episoden, denen er freie Zwischensätze
von zuweilen trotdger Kraft gegenüberstellt. Im Ganzen
ist dieses Finale eins der wechselvollsten und inhaltlich
mannigfaltigsten.
Von den Sinfonien der zweiten Gruppe gehört die
J. HaydB Nr. 3 (Esdur) zu den schwächeren. Der erste Satz ent-
Sinfonia Nr. 8 behrt der bei Hajdn gewöhnlichen Inspiration und er-
(Breitk. ä H.) g^heint vorwiegend als ein Product der Arbeit. Seinen
vergnüglichsten Theil bildet das zweite Thema
Alle pro. ^ ,,«.,^^^^
^^iTr^^t'irirrpf'rir'i |i rii]i rT|i \^ .
Im zweiten Satze, Adagio (Gdur), wird ebenfalls das
zweite Thema, mit folgendem Grundmotiv ^j^ ^ F I f
zum Hauptgedanken und giebt der Composition einen
hymnenartigen Ausdruck. Wenn bei Haydn die zweiten
Themen hervortreten, so ist dies in den meisten Fällen
eine nicht unbedenkliche Erscheinung. Seine besten Sätze
sind vorwiegend diejenigen, wo er ein zweites Thema gar
nicht braucht
Der Menuett der Sinfonie erhebt sich in der Erfin-
dung über die vorhergehenden Sätze. Er gehört zu der
Gattung Haydn'scher Menuette, welche den üebergang
zum Scherzo Beethoven's bilden. Noch höher steht das
Finale, in welchem die gute Laune Haydn's an dem fol-
genden kurzbeinigen Thema
^^^P I r r r r7 1 rlJLfi'J' I r r r Lr I r7r> ^
sich wieder in ihrer ganzen Frische aufrichtet. Nament-
J. HftjdB lieh an kostbaren Instrumentaleffecten ist der Satz reich.
Sinfonie Nr. 4 In der Sinfonie Nr. 4 (D dur) macht sich eine gewisse
(Breitk. 4 H.). Gleichförmigkeit sowohl innerhalb der einzelnen Sätze als
•o 103 «•
auch im Verhältnisse der Sätze anter einander geltend.
Hier sind ihre Hauptthemen.
0 ü * Presto.
I.8«U.
ILSiilt.
■eniietto
Aliei
egretto
m.8ats.
Fliule. ^^i « ,r^
Den interessantesten Einfall der ganzen Sinfonie bildet
der im Andante die zahlreichen Wiederholungen des Haupt-
thema einleitende, eingeschobene Takt.
Die Sinfonie Nr. 5 (D dur) hat ebenso wie die vor- J. Kayd«
letzte ihren schönsten Theil in der zweiten Hälfte. Mit Si«^oni« Nr. 6
dem Einsatz des Trio in dem Menuett , da wo die Bläser (^^^^' * H-)-
alle zusammen die allarmirenden Triolen anstimmen,
verlässt der Tondichter endlich die Idylle, in der er uns
etwas lange festgehalten hat. Der bedeutendste Satz
Presto Dui non troppo.
" u iiU^i' -
ist das Finale ^ |li I j^
dessen Thema schon unverkennbar romantisch anklingt.
Seine ersten 3 Noten — bald wie ritterlicher Weckruf
Alles allarmirend, bald wie geheimnissvolle Stimmen aus
Waldesdunkel erschallend, jetzt näher, jetzt femer klin-
gend — haben im Bau dieses Finale besondere Bedeu-
tung. Es ist reich an Bildern; die Gruppe vor der Ein-
führung des zweiten Thema in der Reprise gehört zu
den phantastischsten Eingebungen. Ihre Pausen, Ferma-
ten, ihre schnell abbrechenden Schlüsse geben der Erklä-
rungskunst voll zu thun. Vor anderen trägt die Fröh-
^) In der Vorzeicbnung dieses Notenbeispiels fehlt ein
Kreuz (Br eis.
c<? 104 ^
lichkeit dieses Satees ein männlich schönes Geprfige.
Ganz am Schloss taucht Don Juan^s Bild auf: «Viva la
liberta!*
J. Hsyds Die Sinfonie Nr. 14 (D dar) gehört der zweiten Gruppe
. Sinfonie Nr. 14 vollständig an. Der erste Satz, dem ein leichtes Thema zu
(»^** = >- . AU.C,» _ ^ _ ^ .
Grunde Uegt: ji ,f 1 I^H^a^b^^^fS^
contrapunktirt einigemale strenger und verausgabt einen
grossen Vorrath gewaltig ausholender Gänge; er bleibt
aber in seiner Fröhlichkeit etwas äusserlich und theatra-
lisch. Das Andante:
f^
schwärmt dahin wie vom Glück beflügelt;
zuweilen bricht der Jubel mit Elementargewalt heraus,
dann wieder zittert es in allen Gliedern wie von heimlicher
Freude. Auch in dem dunkleren Mittelsatz, der ein MoU-
thema fugonartig durchführt, lebt ein schwelgender Klang.
Der Schlusstheil des Andante wird zum Concert, wo den
beiden Soloviolinen alle anderen Instrumente lauschen.
Der Menuett ist von der aristokratischen Familie und neigt
dem Zarten zu. Das Trio bringt reizende Soli der Flöte und
des Fagotts, letzteres von der ersten Violine unterstützt.
Das Finale ist ein Rondo mit folgendem kurzgeschürz-
teD Hauptthema : ^ ^n JJ \ }_i ij \ JjV \ T^ Rl fß-
Namentlich die Solostellen der Violine, welche die Rück-
kehr in dieses Thema einleiten , sind von eigenartiger
Wirkung.
Die drei übrigen Sinfonien (Nr. 7, 8, 9) nehmen eine
Art Mittelstellung zwischen beiden Gruppen ein. In der
Tendenz ihrer Hauptsätze, die dem Heroischen und Pa-
thetischen zuneigen, haben sie etwas Gemeinsames und
oG*
105
-Oj
würden ohne Weiteres den Sinfonien der ersten Gruppe
anzureihen sein, wenn sie sich mit diesen an musika-
lischem Reich thum der Ausführung messen könnten. Die
bedeutendste unter ihnen ist die Nr. 9 (Cmoll), wohl J. Haj^b
auch die bekannteste. Sie beginnt ohne Einleitung mit Sinfonie Nr. 9
einem Thema , dessen Doppelnatur weniger auf eine So- (ß'«^**^- * ^•>'
nate als auf die freiere Form der Fantasie hinzuweisen
scheint :
fr *-r \\ r
jj ;»TT3ir \uj_nt
In der weitern Folge beschäftigt sich Haydn vorwie-
gend mit der erregten Hälfte desselben, beginnt aber, wie
zur Entschädigung, die Reprise ohne diese. Eine grosse Be-
deutung hat für diesen Satz das volksthümliche freundliche
zweite Thema: ^^'l, PlT [) | |l Q i ^. I .[Tn 3
Es beschwichtigt die Stürme und herrscht in dem Wieder-
holungstheil des Allegro fast allein. Nach der ganzen
Anlage weist der Satz auf eine frühere Periode von
Haydn*s Sinfoniebehandlung hin, in die Zeit, wo Mozart's
Einfluss zuerst zur Geltung kam. In einzelnen Stellen
z. B. dem oben angeführten Hauptthema des ersten Satzes,
erinnert er ganz direct an ein bestimmtes Werk des jungem
Meisters: an dessen C moU-Fantasie. Mozart'sche Spuren
zeigen auch das Andante cantabile und das Finale.
Ersteres hat folgendes Thema:
welches in einer
Reihe von Variationen ausgeführt wird, von welchen
namentlich die düstere in EsmoU hervorzuheben ist. Im
Finale empfiehlt es sich für den Zuhörer die ersten beiden
Takte des Themas fest zu halten
oj 106 ^
-f f ^ *Jj I p' . Auf ihnen beruhen die lahlreichen
Fugenbildungen des Satzes; die Melodie in ihrem vollen
Umfange erscheint nur beim Abschluss grösserer Gruppen.
Der durch selbständige Aufführungen verbreitete Menuett
ist in seiner Verbindung von Grandezza und Schalkheit
ein Muster:
ji ^\ it j 1 j i-^i r i r f-f f^
-• — i- — * —
i"i r hr^^^^" -^H^F^^ • Ein ebenso anmuthiges als
schwieriges Solo des Violoncello bildet das Trio.
J. H«ydB Die Sinfonie Nr. 8 (Bdur) hat ihren hervorragendsten
Sinfonie Nr. 8 gatz an zweiter Stelle: Es ist das Adagio cantabile, einer
(Brdtk. ä H.). ^g,. wenigen langsamen Sätze in Haydn'schen Sinfonien,
der sich die idyllischen, an die Schäferpoesie anklingenden
Elemente ziemlich fem hält. Wie das Largo der Gdur-
Sinfonie Nr. 13 hat er entschiednen Hymnencharacter,
folgendes Motiv 'w^X'^^^^^^^ ist der Hauptträger
der andächtig gehobenen frommen Stimmung. Die Neben-
gedanken sind weniger bedeutend, ohne die Totalwirkung
aber zu stören. Das Finale, dem folgendes Thema zu
Presto.
Grunde liegt ^ >^' l [j \ ^p-^jFty^ ist durchweg
leicht gehalten. Nur ganz vorübergehend treten kräftigere
Gestalten hinein. Im Hauptsatz, dem ersten Allegro, ist
ausser dem Hauptthema:
AUegro.
^ " I 1 TTTTV I J J j J I ^^ noch ein an und für sich
unscheinbarer Zwischen gedanke :
i
CO 107 ««
A^^ "Hl" I ^ni* I " I zu beachten, der beim ersten
Male im AnBchloss an das zweite Thema als Oboensolo
auftritt. Das Mozart*sche Gepräge, welches die Haltung
des AUegro zeigt, ist ihm besonders aufgedrückt.
In der Sinfonie Nr. 7 (Cdur) bestehen wieder, ahn- J- Omyd«
lieh wie in Nr. 1 engere Beziehungen zwischen Einlei- Sinfonie Nr. 7
tung und erstem AUegro : das erstere eröffnende Motiv (^'®^*^- * ^•)-
JL J. ffp J~J ^ I j = kehrt mit der schönen Harmonie,
auf welcher es ruht, in letzterem wiederholt wieder, noch
zuletzt in der Coda des AUegro, wo es zu einer selb-
ständigen längeren Episode Veranlassung giebt. Das
Hauptthema des ersten Satzes ist folgendes:
ViTÄce.
ljjlrrri^|[>pi»|p;. Der Satz interessirt
durch sehr interessante Einzelheiten, er nimmt aber im
Ganzen nicht den hohen Flug, den man nach einem sol-
chen Anfang erwarten könnte, und erregt die Vermu-
thung, dass Haydn für ihn wie auch fUr den Menuett
dieser Sinfonie eine alte Mappe aus der Zeit aufgeschlossen
habe, da er noch unter dem Einffuss der italienischen
Schule stand. Denn in deren Stil gehört vor AUem das
Hauptthema. Bedeutender sind der zweite Satz, ein
Variationenwerk mit folgendem Grundthema:
in dem die stereotype Wiederholung der Schlussformel:
Xi.j ^JHJ'^ IJ ganz eigenthümlich wirkt, und das Fi-
nale, einer der gelungendsten Rondosätze, die wir von Hajdn
besitzen. Das Hauptthema, welches immer, so oft es wieder-
kehrt, vom Frischen überrascht und ergötzt, ist folgendes :
c<? 108 ^
Pntto Mtai. ^.^ ±
Namentlich am Schlosse dieses Finales zeigt Hajdn noch
einmal die ganze Grösse seiner Gestaltungskraft and
leitet das harmlose Motiv flogschnell aus dem Anmuthigen
ins Neckische und ins Erhabene und durch eine Fülle von
Regionen, wie sie nur ein grosser Humorist zugleich beherrscht.
In neuerer Zeit sind .Beethovenabende*, Orchester-
concerte in denen lediglich Beethoven'sche Sinfonien ge-
spielt werden, in Aufnahme gekommen. Niemand braucht
zu fHirchten, dass diese Mode nächstens auf Haydn über-
tragen wird. Denn so sehr seine Musik anregt, sie füllt
die Seele nicht, sie bedarf einer Ergänzung. Dem 18. Jahr-
hundert brachte diese Ergänzung W. A. Mozart: Haydn
hat der Sinfonie ihr neues Gebäude errichtet; aber von
Moisrt's dem Geiste, der hineinzog, ist ein wichtiges Stück Mozart's
Sinfonien. Eigenthum. Es sind die Ecksätze der Sinfonie, die Allegri,
an denen Mozart eine Reform vollzog. Sie erstreckte sich
nicht wie die Haydn*8 auf die Entwickelung , Durch-
fuhrung und Ausnützung der Themen, sondern sie betraf
die Themen selbst. In sie führte er ein Element ein,
welches die Zeitgenossen als ein ,cantabile«' bezeichnen.
Was das heissen soll, versteht man sehr leicht, wenn man
das Hauptthema im ersten Satz der bekannten D dur-Sinfonie
Mozart's (Nr. 38 der neuen Gesammtausgabe von Breitkopf
& Härtel) oder das entsprechende in seiner Es dur-Sinfonie
(Nr. 39 ebendaselbst) mit irgend einem ersten AUegrothema
des letzten Haydn's vergleicht. Hier immer rasche, vor-
wärts eilende Rhythmen, muntere, zuweilen leidenschaft-
liche Themen ; immer bestimmte und fertige Aeusserungen
einer activen, positiv kräftigen Stimmung. Dort, bei
Mozart : verweilende , sich ausbreitende Motive , in denen
eine schwere Empfindung nach Ausdruck ringt, das Pathos
eines vollen Herzens, welches die Formen des menschlichen
Gesangs bald fest ergreift, bald nur für einen kurzen
Moment zu streifen scheint. Diese, im höheren, im
e<? 109 '<>'
SchiUer'sclieii Sinne, sentimentalen Elemente des Seelen-
lebens waren der altem Instramentalmosik selbstrerständ-
lieb nicbt fremd; aber sie wurden dort in der Regel für
sieb gebegt und blieben vorzugsweise auf die langsamen
Sätze bescbränkt; in den lebbafteren erbielten sie böchstens
Nebenplätze. Nacb der Meinung Vieler macbte sieb daber
Mozart einer Stylvermiscbung scbuldig, indem er jene
sentimentalen Elemente in die Haupttbemen und an andere
wiebtige Stellen der Allegri bineinzog, und nocb der ver-
diente Nägeli nannte den Meister wegen jener Cantabilität,
durcb die ein Beetboven mit vorbereitet wurde, einen , un-
reinen Instrumentalcomponisten*^. Die zweite Hälfte des
18. Jabrbunderts war jedocb aucb in der Musik die Zeit
mancber woblgeglückten und beilsamen Stylvermiscbung.
In der ernsten Oper Gluck, in der komiseben Piccini,
Galuppi, Guglielmi, in der Instrumentalmusik Pb. E. Bacb
und in einem bestimmten Umkreise aucb J. Haydn!
Mozart's Cantabilität entspracb aber aucb einer geistigen
Strömung des 18. Jabrbunderts, die dem Optimi<«mus des
spätem Hajdn mindestens die Waage bielt. Auf Haydn^s
Seite: der Adel und ein absterbendes Gescblecbt, auf der
Mozart's das junge aufstrebende Bürgertbum, die FUbrer
der Litteratur, Kunstwerke wie Clavigo, Räuber, Cabale
und Liebe, wie Hogartb's Bildercyclen. In der Sebnsucbt
nacb einer gerecbteren und voUkommneren Welt kam der
Pessimismus der Aufklärung mit dem gläubigen Cbristen-
tbum zusammen, beriibrte sieb — obne es zu wissen —
Mozart mit dem ibm verbassten Voltaire. Mozart stebt als
Vertreter der cantabilen Ricbtung bereits in seiner ersten
Sinfonie vor uns, die er als acbtjäbriger Knabe scbrieb.
Das Haupttbema ibres ersten Satzes ist so eine ^Miscbung*
von Ritterlicbkeit in den ersten Takten und frommen
Kircbenklang im Nacbsatz:
Ane|7o molio.
I ■■ I ■■ I J t - I \^'^
cG* 110 ^
Die ,Cantabilität* seiner InstnimentalmuBik berahte dem-
nach in allererster Linie auf individuellen, angebomen und
ererbten Anlagen. Zeigt sie sich ja doch auch, wenn
schon viel schwächer in den Compositionen des Vaters:
Leopold Mozart, den wir überdies aus den Briefen als einen
bigotten Mann und argen Pessimisten kennen. Glücklicher-
weise hält jedoch bei Wolfgang Mozart den weltflüchtigen
Elementen eine starke , Frohnatur* köstlichster Art und
eine unversiegliche lebensfrohe Jugendfrische immer die
Waage. Der Priester, der Weltweise in ihm wird stets
von dem Cavalier begleitet; wie ein neuer Minnesänger
repräsentirt Mozart auch die besten Adelselemente seiner
Zeit. Daher die unübertreflfliche, die unerreichte harmonische,
die hellenische Wirkung seiner Kunst. Freilich in seinen
Sinfonien ist sie nicht überall zu flnden, sie zeigen zum
grossen Theil, dass Mozart's Herz für die Instrumental-
musik nur schwächer schlug. Von den 49 Sinfonien
Mozart's, die KöcheFs Verzeich niss nachweist, besassen wir
bis vor Kurzem nur 11 im Druck und zwar in der soge-
nannten alten Partiturausgabe von Breitkopf & Härtel,
die zu diejien noch eine zwölfte, aber unechte hinzufugte.
Diese Zahl ist durch die neue monumentale Gesammt-
ausgabe^) der Werke Mozart's jetzt auf 47 vermehrt
worden. Der Zuwachs besteht grösstentheils aus Jugend-
arbeiten, unter denen allerdings mehrere: z. B. die G moU-
Sinfonie aus dem Jahre 1772, die in Adur von 1773, die
3 Ddur-Sinfonien Nr. 4, 17, 20, die Bdur-Sinfonie Nr. 24,
die C dur- Sinfonie Nr. 28 der Gesammtausgabe mehr als
blos biographisches Interesse haben. Aber es dauert ver-
hältnissmässig lang, es kommt die Zeit der „Entführung
aus dem Serail* heran, ehe Mozart als Sinfoniker gleich-
massig bedeutend und eigenthümlich wird. Die Mehr-
zahl seiner früheren Sinfonien sind Durchschnittsarbeiten
mit interessanten Einzelzügen und hübschen Einfallen ; am
reizendsten äussert sich sein kindliches Wesen in den
Andantes und Schlusssätzen. Ein Theil dieser Jugend-
^) Leipzig, Breitkopf & Härtel.
ce 111
o»
arbeiten zeigt in der Aufnahme des Menuett und in der
Themenbildung den Einfluss der Wiener Schule, die Mehr-
zahl aber folgt dem Vorbild der italienischen Theater-
sinfonie, wie sie ungefähr Hasse behandelte. In den weit-
ausholenden Einsätzen, in der Allgemeinheit der Ge-
danken, in der dahinrauschendcn, an Figuren und glänzenden
Gängen reichen Rhetorik gleichen sie Festreden. Manche
haben aber von dieser Abkunft auch einen Vorzug. Das
ist ein hoher, weihevoller Grundton. Jedermann kennt
ihn aus der Majestät der Jupitersinfonie, die in Bezug
auf diese Eigenschaft keineswegs allein steht, sondern
gerade darin in den Jugendsinfonien Mozart's zahlreiche
Vorläufer hat.
Es giebt noch unter den seit langer Zeit bekannten
Sinfonien Mozart^s solche, die gar nichts Individuelles Hosart
haben. Dabin rechnen wir die D dur-Sinfouie Nr. 31^ Ddur-Sinfonie
welche in der äussern Geschichte Mozart's eine gewisse "^"^®'"'^'''*
Bedeutung hat. Mit ihr glaubte Mozart in Paris Position »us^'ftb'™
fassen zu können. Er schrieb sie für die dortigen Con-
certs spirituels des Dircctor le Gros (im J. 1778) und fand
damit grossen Beifall. Sie beginnt:
AllegTo
ersten
He.
drei Takte bilden den berühmten ,premier coup d'archet",
auf welchen die Franzosen so stolz waren. Das war
nichts weiter als der gemeinsame Einsatz des gesammten
Orchesters, der allerdings bei der ausserordentlich vollen
Besetzung des Streicherchors einen Effect machte, dessen
Natur die Pariser Dilettanten einer besondem Ueber-
legenheit in der Präcision zuschreiben wollten. Diesen
coup d'archet hat Mozart im ersten Satze weidlich aus-
genutzt und ihm noch eine Reihe ähnlicher dynamischer
Raritäten beigesellt, wie er sie selbst nagelneu aus der
Mannheimer Capelle mitgebracht hatte. Das aUgemeine
co 112 ^
Crescendo auf einem einzigen Aecord spielt darunter eine
grosse Rolle. In der Entwickelung des Stioimungs- und
Gedankenmaterials herrscht, obwohl Mozart in dieser Sin-
fonie dem «langen Geschmack*^ ausweichen wollte, eine
grosse Umständlichkeit. Das Andante
* vIoUm ^ ^
zehntes Jahrhundert; nur eine stolze Unisonfigur der
Streichinstrumente unterbricht die Ruhe dieser Gessner^-
sehen Idylle. Das Finale fängt ausnahmsweise einmal so
an, wie Haydn in der Regel seine schnellen Sätze einzu-
setzen pflegt: die erste Periode leise und dann ein tüch-
tiges Forte. ,Weil ich hörte' — schreibt Mozart an seinen
Vater — „dass sie alle letzte Allegro's, wie die ersten,
mit allen Instrumenten zugleich, und meistens unisono
anfangen, so fing ichs mit den zwey Violinen piano nur
acht Takte an — darauf kam gleich ein Forte, mithin
machten die Zuhörer (wie ich es erwartete) beim Piano
geh! — dann kam gleich das Forte. — Sie das Forte
hören und in die Hände zu klatschen war Eins. Ich ging
also gleich vor Freude nach der Sinfonie ins Palais
Royal, nahm ein gutes Gefrornes, betete den Rosenkranz,
den ich versprochen hatte, und ging nach Haus.*
Man kann die Sinfonien Mozart's in solche theilen,
bei denen der Ouvertürencharakter vorwiegt, und in eine
andere Classe, welche sinfonisch in der modernen Be-
deutung des Wortes genannt werden können. Daneben
giebt es noch eine kleinere Gruppe, welche den Cassa-
tionen und andern suitenartigen Gelegcnheitsmusiken nahe-
Moiut steht. Zu letzterer gehört die Sinfonie (in D) Nr. 8 der
Ddor-Sinfonie jjten Ausgabe von Breitkopf & Härtel. Sie hat 5 Sätze,
Nr. 8 (B. A H.). iinter ihnen zwei Menuetts, die durch ein sehr langes Andante
getrennt sind. Es ist eine Composition, die ganz und gar
nichts Mozart^sches hat und durch ihren altvaterischen
Charakter Zweifel erregt bezüglich der Echtheit.
Es giebt dann noch eine Uebergangsklasse, bei der die
Hauptthemen des ersten Satzes beide festlich decorativ und
o(? 113 o»
ouvertUrenmässig gehalten, aber durch gesangvolle und oft
breit ausgeführte Nebenmotive in der Wirkung beschränkt
sind. Unter den bekannteren Werken Mozart's gehört zu Hoiart
dieser Classe die Salzburger C dur- Sinfonie von 1780, Nr. 34 Ddur-Siufoni©
der Gesammt-Ausgabe. Allerdings verlässt bei ihr das ^'' ^ i^'-^')-
Hauptthema das Ouvertürengebiet:
<"^'i)'j- 'jfjijJ^ ihn^fyr''^
f ifrryrr ifVlpTpv'-p.pTl^i^q seine elegische
Schlusswendung in das Moll weist über die Mozart'sche
Zeit sogar hinaus. Das zweite Thema aber trägt das Ge-
präge der der Ouvertüre unbekannten Cantabilität ganz
besonders stark.
fil |ii|~' I rii I j II ly II n
Nur die Durchfuhrung widerstrebt in ihrer Ungebunden-
heit und • in ihrem starken Verbrauch neuen und ver-
schiedenen Ideenmaterials den neuen sinfonischen Be-
dingungen. Interessant ist im Bau dieses ersten Satzes die
doppelte Reprise des Hauptthemas. Das Andante ist ein
echter Mozart :
Mf^M/-, f ,-£1-^
Die resolute Schlusswendung zum Männlichen kennzeichnet
ihn. Im Finale, einem rauschenden Allegro im **/» Takt
mit folgendem Anfang: 1^^ r fjl '^'^ jT3 i f ^
herrscht die energische, dramatische Bewegtheit der Jupiter-
sinfonie: Stellen, wie die folgende, geben einen Begriff von
Kretsschmar, Führer, I. 8
ce 114 ©»
der Deutlichkeit des instrumentalen Dialogs and dem
bilderreichen Charakter dieses Finale:
■til/tiJ'llQ^^^
r Taill
Noch entschiedeneren Sinfoniencharakter als in der
Torhergenannten haben die Themen im ersten Satie der
Bdur-Sinfonie Nr. 33, die im Jahre 1778 zu Salzburg ge-
Bdvr-SiBfoiil« schrieben ist. In dem Hauptthema ist keine Spur mehr
Hr. 88 (O.-A.). yo^ ^ler Ouvertürenfeierlichkeit früherer Sinfonien, es zieht
YoU Haydn 'sehen Geistes daher, zum Malen deutlich eine
Originalfigur aus einem lustigen Genrestück:
AUerro «M&i.
Ganz Zärtlichkeit und muntere Anmuth tritt ihm dann
seine Gefährtin entgegen : X ' T | ' T T | |^. Die Durch-
führung kümmert sich um das liebenswürdige Paar leider
nicht. Sie bringt ein anderes Lieblingsthema Mozart's
mf J, I J' I [**T^"I- I , welches ihm zum ersten Male
in seiner Fdur-Messe vom Jahre 1774 erschienen ist und
dem er später in der Jupitersinfonie einen weit sichtbaren
Ehrenplatz zuwies. Eine andere Vorausnahme der Zu-
kunft bietet dieselbe Durchführung in einer Uebergangs-
episode, welche in Melodie und Harmonie auf einer Wendung
ruht, die mit der Zauberflöte und dem Terzett der drei
Damen weltbekannt wurde. Nach einem weichen Andante
folgt ein Menuett, der schärfer als die vorhergehenden in
grossen Intervallen und festen Rhythmen die Züge zum
Ausdruck bringt, welche Mozart für diese Tonstücke mit
Vorliebe einhält. Mozart's Menuetts lehnen sich durch-
schnittlich mehr an die alte Schule an als die Haydn's.
Sie sind nicht so witzig und nicht so beweglich, als die
te 115 -ö»
letzteren, ihr Humor ist schwerer, zuweilen finster, streift
auch wohl ans Groteske. Immer aber trägt ihn ein kraft-
volles Element. Das Finale ist die Krone des Ganzen:
ein Erguss bacchantisch dahinstürmender, aber gutmüthiger
Heiterkeit. Jugendliche, ritterliche Männergestalten sind
die Führer dieses fröhlichen Schwanns, dem Alles zu-
zuströmen scheint vom Adel und vom Volk, was Fröhlich-
keit im Blute fühlt. Bleibt der Zug einen Augenblick bei
einem schönen Auge stehen, so braust er dann nur um so
flotter weiter. Im Hauptthema:
Presto assai.
erkennt man unschwer Fleisch und Blut aus dem Er-
öfihungssatz der Sinfonie. Unter den zahlreichen Seiten-
themen verdient namentlich die drollige volksthümliche
Gruppe hervorgehoben zu werden, welche die Bläser
(Oboen und Fagott als Anklang an das alte Trio), bald
nachdem das zweite Thema passirt ist, aufstellen:
f^Vjl^l^^|^^■|ff^|^cJ^l^L;N^l^f^^^^
Aeussere Veranlassungen haben wahrscheinlich sehr
stark auf die Haltung eingewirkt, welche Mozart den Haupt-
sätzen seiner Sinfonien gab. Wie die Haydn'sche Sinfonie
aus einer Kreuzung mit der Suite hervorging, so scheint
man am Ausgang des 18. Jahrhunderts in Oestreich über-
haupt den Begriff der Sinfonie nicht so streng genommen
und ihn auf mehrsätzige Orchestermusik jeglichen Cha-
rakters angewendet zu haben. So erklärt sich bei Mozart
das scheinbare Schwanken in den Grundsätzen und in seiner
Entwickelung als Sinfoniecomponist. Der eben betrachteten
B dur-Sinfonie folgt eine Arbeit, die D dur-Sinfonie Nr. 35, Xoiart
die zum Theil wie eine Art Rückfall in den Serenadenstil Ddur-sinfonie
aussieht. Sie ging auch aus einer Serenade , einer Fest- ^'- ^ (G-A.)-
musik hervor, die eine freudige Feierlichkeit in der mit
Mozart in freundschaftlichen und musikalischen Beziehungen
stehenden Familie Hafner in Salzburg schmücken half.
8*
cG' 116 ^
Als Serenade begann sie mit einem Marsch und hatte
zwei Menuetts. Als sie nun Mozart in ein Wiener Con-
cert als Sinfonie brachte, strich er den Marsch und den einen
Menuett. Aber ihrem jetzigen ersten Satz ist die pathetisch
gehobene Allgemeinheit geblieben, welche solche musi-
kalische Gelegenheits- und Festdichtungen in der älteren
Zeit einzuhalten pflegten. Dieser erste Satz hat nur das eine
erstaunlich gross ausholende Thema:
AUegro eon «pirito.
fi^-^T^f^^^^.TiTjlT:T^
welches mit einer aussergewöhnlichen contrapunktischen
Consequenz durchgeführt wird. Gewiss wusste Mozart,
dass die Arbeit vor Kenner kam. Das Andante gleicht
einem dramatisirten Liede, seine simple Grundgestalt:
-j^^(JU-£/4y^Ej^^^^^^^^ wird bald durch
Zwischensätze, in denen es sich wunderbar und heim-
lich regt, verdrängt, bald durch Zuthaten der Dynamik
und Harmonie, durch Accompagnement und wechselnde
Seitenglicder mächtig gehoben. Menuett und Trio sind
einfach, aber wirksam contrastirend. Das Finale zeigt in
seinem
Hauptthema ^ ^i h fTl^J^ r'i^j^l^
eine starke Verwandtschaft mit Osmin's „Ha wie will ich
triumphiren*. In der That schrieb auch Mozart diese
Sinfonie i. J. 1782 mitten unter den drängenden Nach-
arbeiten der , Entführung".
Zeigt sie schon in den Allegrosätzen Haydn'sche
Elemente, in dem ersten bezüglich der Durchführung, im
letzten in der thematischen Erfindung selbst, so trägt die
XoEArt nächste Sinfonie (Nr. 36 Cdur) den Haydn'schen Einfluss
Cdnr-Sinfonie, noch offener zuT Schau. Unter den Musikern ist dieses
^Linaer-, Nr. 86 Werk als »Linzer* Sinfonie bekannt. Wahrscheinlich ist
(G.-A.). ßg diejenige Sinfonie, welche Mozart i. J. 1783, auf der
e<? 117 ^
Durchreise durch Linz begriffen, in kurzer Zeit für den
dortigen Musikvcrein componirte. Nicht eben tief, aber
ein liebenswürdiges frisches Werk, erfreut sie den Musik-
freund durch vielfache Vorklänge der grössten Zeit des
Meisters und deren Hauptschöpfungen: Don Juan und
Jupitersinfonie, und durch Klangwirkungen, welche ebenso
durch ihre Eigenart wie durch ihre Einfachheit frappiren.
Wir machen in letzterer Beziehung namentlich auf die
Bläserharmonien im ersten Satze aufoierksam. Die Haupt-
themen der Sinfonie sind:
Allegro .piritoBO. ^ fl ^ | .. | Ji J^ f J MJ J
fiiiuj^B^'iLjjtiV^^t-y^'^^
Ma^iatto. ^ ! r I n I I r|l I I |Tr^
Presto.
Flaale.
Haydn merkt man im ersten Satz: ausser in der
langsamen, träumerisch gedankenvollen Einleitung, nament-
lich in der Durchführung, die hier in Haydn's Weise
eingehender bei demselben Motive bleibt und aus ihm
entwickelt. Dieselbe Methode finden wir im Andante.
Dann sind auch noch kleinere Züge Haydn nachgebildet:
die Einsätze der AUegri von p zum forte schreitend: kecke,
überraschend in der Modulation wechselnde Periodenan-
fänge: Haydn'sche Lieblingswendungen der Melodie, wie
der Schluss des Themas im Andante : Eigenheiten der In-
strumentirung, wie im Trio die Verdoppelung der Melodie-
stimme: in der Dynamik unerwartete Accente und Gegen-
sätze. Es ist aber noch genug von Mozart^s be^sonderem
Wesen in dieser Sinfonie. Nicht blos in der Gesammthal-
tung, in dem ihm eigenen raschen, kräftig elastischen
Schritt kommt es zum Ausdruck; wir können es bis in
seine kleinen charakteristischen Geberden und Angewohn-
<o 118 ^
heiten hinein verfolgen. Sein beliebtes chromatisches
Ueberleitnngsmotiy : ft . | ■ ■ ■ ■ | j^^ kommt wieder-
holt vor: Zwischen dieser C dar -Sinfonie und der ihr
folgenden Nr. 38 (D dur) liegt ein Zeitraum von drei Jahren
nnd eine künstlerische Entwickelung Mozart's, die wir in
das eine Wort , Figaros Hochzeit** fassen wollen. Mit
dieser Sinfonie ist Mozart als Sinfoniker eine fertige
Grösse. In ihr und den ihr folgenden Schwestern — es
sind leider nur drei — steht er in bestimmter und ab-
geschlossener Individualität vor uns: in der ihm ganz
eigenen Mischung von Kindlichkeit und Ernst, ein Meister,
dessen Geiste sich , die Form gebeugt hat , ein Mensch,
dessen Anmuth und Liebenswürdigkeit die Tiefe und den
Beichthum seines Seelenlebens mehr zu verhüllen als zu
offenbaren suchen. In der Form zeigen die vier letzten
Sinfonien eine Wandlung vollbracht, die sich in etlichen
früheren Werken bereits vorbereitete. Sie betrifft die
Methode in dem Durchfuhrungstheil des ersten und letzten
Satzes. Wenn hier Mozart in den früheren Sinfonien
vorwiegend ganz neues Gedankenmaterial aufwarf, so
nähert er sich jetzt dem Haydn'scben Weg und ninmit
Themen und Motive aus dem ersten Theile des Satzes.
Eigen ist ihm dabei, dass er nicht die eigentlichen Haupt-
themen, sondern Nebenmotive aus Seiten- und üeber-
gangsgruppen benutzt und sich bei secundären Ideen aus-
ruht und sammelt. Diesen ausserordentlich merkwür-
digen, man kann sagen scheuen Zug, hat er einzig bei
der subjectivsten seiner Sinfonien, der berühmten Gmoll-
Sinfonie, aufgegeben.
HoMTt Die D dur -Sinfonie Nr. 38 (geschrieben fUr die Wiener
Ddar-Sinfoni« Winterconcerte im December 1786) hat eine bedeutende
Nr. 88 (O.-A.). Einleitung: im Tone freundlicher Ahnung beginnend, in
der Mitte düster, zum Schlüsse über Seufzer und Bitten
in demüthige Resignation einlenkend: Der Allegrosatz
ist zwischen eine fragend bange Stimmung und die
Regungen eines ringenden Kraftgefuhls getheilt. Diese
c<? 119 ^
Momente treten schon im Hanptthema direkt neben ein-
ander:
ff I' '^^J J J>I1>J J J Jilj J,^J J ,JJ I Ji Jyl J _Ji I
T
iiwj.nH
J j j J ij
Das zweite Thema
flüchtigen Lichtblick: es repetirt sofort in Moll und ver-
schwindet dann auf lange. In der Durchführung er-
scheint aus den Themen allein das oben eingehakte
Motiv, dem noch zwei andere heftig angelegte Figuren,
den Uebergangsperioden der Themagruppe entnonmien:
U\ nrlirrluhji'^'^^'rfrr^^r
zur Seite treten. Es herrscht unter ihnen die engste
Reibung: das eine kommt nie ohne das andere und wie
in der Mehrzahl der spätem Instrumentalwerke Mozart*s
geschieht die ganze Ideen- und Formenentwickelung
nach den Principien des doppelten Contrapunkts. Ein
Höhepunkt oder ein Resultat dieser Ideengährung ist
nicht zu bemerken, der Schluss zieht sich wie tastend
und suchend nach dem Hauptthema zurück, welches vor
der eigentlichen Reprise in harmonischen und melodi-
schen Umstellungen erscheint, die einen feinen poetischen
Zug bedeuten. Ein Merkmal der letzten Sinfonien Mozart's
ist der engere Anschluss in den Charakteren der ein-
zelnen Sätze. Diesen Zusammenhang zeigt unsere Ddur-
Sinfonie besonders stark. Wie er innerhalb des ersten
Satzes die Gestaltung und das Wesen von Einleitung und
wc? 120 ^
AUegro beeinflusstf so bestimmt er auch das Yerhältniss
dieses ersten Satzes zum Andant«. Schon im Hauptthema
▲ndaai«.
dieses Andante jfi j ^-r-^^^-/Hf^^#
ist die Verwandtschaft zu erkennen. In ihm liegt noch
etwas von der gedrückten Stinunung, mit welcher der
erste Satz begann; nur die Nuance ist eine mildere. Mit
dem Seitenmotive Ä— -/^ -^^\ JF-^ > ^** ^° ^^^ ^"*"
Wickelung de« Satzes eine bedeutende Stelle einnimmt
und gern in canonischer Stimmführung erscheint, strebt das
Andante freundlichen Regionen entschiedener zu. Durch das
energische und finstere Gegen thema ff, , ' ^^^TX^^^^
kommt der energische und dramatische Charakter der dem
ganzen Satz eigenthümllch ist, äusserlich am deutlichsten
zum Ausdruck. Er beherrscht den Geist des ganzen
Satzes in dem Grade, dass alle die Stimmung aufklären-
den und freundlichen Abschnitte nur Versuche bleiben.
Daraus erklärt es sich, dass das süsse zweite Thema des
Andante (in Ddur) auf dessen Verlauf nicht die geringste
Wirkung übt. Ihre grösste Macht enthalten die dunklen
Seelenmächt^ in der Durchführung, wo sie selbst das
Hauptthema ins Trübe und Bange (Dmoll, EmoU) wenden.
Der Schluss ist überraschend in seiner sich still ver-
lierenden Form sowohl als in dem halb humoristischen
Ausdruck. Dass diese D dur-Sinfouie auf die alte drei-
sätzige italienische Form zurückgreift, scheint kein Zufall
zu sein, sondern das ist ein Ergebniss der Innerlichkeit
dieser Musik, der Stärke und Echtheit mit der sie die
Spannung des Gemüths wiederspiegelt in der sich Mozart
zur Zeit dieser Composition befand. Ein Menuett, der
Tanzsatz des äusserlichen Herkommens wegen, wäre Mozart
in jenen Stunden mehr als blosse Verirrung des Stils, wäre
ihm eine Lüge gewesen. Eine Scene der Gemüthlichkeit
e<? 121 «^
passt in das Seelenbild, das diese Sinfonie giebt, nicht;
eber geht es mit einem gewaltsamen Humor. Ihm wendet
sich der Schlusssatz zu. Sein Hauptthema soll und will
Fröhlichkeit bringen, zum Aufraffen helfen:
Presto.
r r ri|^ I r r r r I j . Ueber Abschnitte der Nachdenklich-
keit und stürmischen Erregung gelangt die Darstellung zu
dem zweiten Thema (in Adur) das mit einem Anflug von
Resignation ein fröhliches Behagen, eine Art Glück in
der Beschränkung ausspricht. Die Kämpfe die der Ideen-
gang der Sinfonie erwarten lässt, sind in der Durch-
führung und im ersten Theil der Reprise enthalten, in-
dessen mehr nur angedeutet als vorgeführt. Schon hieraus
ergiebt sich, dass das Finale an Ursprünglichkeit und
seelischer Macht die beiden ersten Sätze nicht erreicht.
Die drei letzten und berühmtesten Mozart'schen
Sinfonien entstanden anderthalb Jahre nach dieser Ddur-
Sinfonie und zwar in der Reihenfolge: Esdur (26. Juni),
Gmoll (25. JuH) und Cdur (10. August 1788).
Die Esdur- Sinfonie (Nr. 39), welche, wir wissen Moiart
nicht von wem, den Beititel , Schwanengesang * erhalten^ ^"'-Sinfonie
hat, ist unter den letzten Sinfonien Mozart's, vielleicht ("^^^"'^«'^«•*
unter seinen sämmtlichen Sinfonien, die Haydn am
nächsten stehende. Sie ruft das Bild dieses Vormeisters
nicht blos in formalen Nachbildungen wach, sondern
namentlich durch das geistige Lebenselement, welches sie
bewegt. Sie ist entschieden dem Frohsinn gewidmet, und
wenn wir sie als Ausdruck von Mozart's persönlicher
Stimmung betrachten dürften, so war die Zeit, wo er
diese Sinfonie schrieb, eine sehr glückliche.
Die Einleitung des ersten Satzes beginnt in Pracht
und Spannung. Ganz am Schlüsse nur kommt ein
Bchwermüthiger Don Juan- Klang:
Adagio.
sang")
Nr. 39 (G.-A.).
^ i\ 11 ^ j- I l' ^'p I p^J 1 Jl M J^ y M. Das Allegro
>
co 122 ^
stellt ihm ein beruhigendes Bild entgegen
\\ ijjii i'^'in ji^rir
Der Wiederholung dieses freundlich susprechenden
Gesangs folgt das Hajdn^sche Forte:
^T= . Es ist der Ausdruck stolzen
KraftgefUhls, welches von nun an im Satze herrscht.
Er ist eine Art Mozart'scher Eroica, zwar ohne Kampf
und Sturm; aber in dem knappen, energischen, wuch-
tigen, bis zimi Herausfordernden hingehenden und doch
immer der Selbstbeherrschung sichern, männlichen Aus-
druck der Freude liegt etwas entschieden Heldenmässiges.
Was Haydn'sch ist im Satze, das erscheint aus dem
Ellangregister des Jünglings auf die Stimme des Mannes
tibertragen. Die tändelnd anmuthigen Elemente sind fem-
gehalten. Der in glücklicher Erinnerung schwelgenden
Schwärmerei ist ein dunkler Ton beigemischt:
r^^-rrp.i ^.Tp. I ^ r nf] |7 g 1 1 i|ir,i
so lautet das zweite Thema in bedeutsamer Cantabilität.
Für die Durchfuhrung, welche sehr kurz ist, hat folgendes
Nebenmotiv Wichtigkeit
Mit
einer Generalpause wird sie abgebrochen, und in der
genialen Kürze, mit welcher Mozart an diesem Punkte
häufig verfahrt, leiten 3 Takte der Bläser in die Reprise
über. Dem zweiten Satze der Sinfonie, dem Andante,
liegt folgendes Hauptthema zu Grunde
eO 123 ^
AaduUe.
(fmij jmij.Ti^l^^^S^E. in seiner
marschartigen Natur an Haydn'sche Vorbilder erinnernd.
Im zweiten Theile stellt ibm Mozart zunächst ein heftiges
Motiy entgegen, das den Frieden des Satzes wiederholt
in Frage stellt. Nach Abschluss dieser F moU-Episode
beginnen die Bläser ein beschwichtigendes Sätzchen,
das in seiner harmonischen Einfuhrung und in seinem
imitatorischen Stile sich ausserordentlich eindrucksvoll
bemerklich macht. Der Menuett setzt sehr kräftig ein
p\l r IjjJJjjljP' Li— i mit prächtiger
Ausnutzung der Natur der untern Yiolinsaiten. Das Trio,
von der Clarinette gesungen und geschwärmt, ist eine
der lieblichsten Idyllen, die musikalisch gedichtet worden
sind. Das Finale, über folgendes Thema gebaut:
ist-Hajdn'sch im Material und im Geist, neckisch, leicht,
scherzend und tändelnd. Auch die üeberraschungen
mit Generalpausen , dynamischen Contrasten , plötz-
licher Rückkehr des Themas fehlen nicht. An einzelnen
Stellen klingen uns specifisch Mozart'sche Töne ent-
gegen; aber es sind nur kurz eingeworfene Motive. Zur
Ausgestaltung eines zweiten Themas kommt es nicht;
vielmehr wird der ganze Satz mit jenen wenigen Grund-
takten bestritten, welche oben citirt sind. Es ist nicht
genug zu bewimdem, welches bunte Leben Mozart's Kunst
und dramatische Phantasie ihnen abgewinnt. Es tummelt
sich in diesem Finale wie auf den Marktbildem der
niederländischen Schule: die komischen Gruppen umsteht
und belohnt eine lebendige, froh erregte Menge mit
fortreissendem Gelächter; die Komik ist von der feinsten
Art bis zur unfreiwilligen vertreten, und auch der der-
beren Lustigkeit der Yolksmasse ist ein Plätzchen mit
ce 124 "<>»
eingeräumt. Siehe im ersten Forte die plump drollige
FröhUchkeit der Bässe: yl^ J^ \^^- Wie mit
einem plötzlichen Windstoss ist der ganze Cameval ver-
schwunden.
Im direktesten Gegensat« zu dieser Es dur-Sinfonie steht
MoHtft die in G moll in Bezug auf Inhalt. Man kann nur wünschen,
Gmoli-Sinfoniedass Mozart einen solchen seelischen Contrast, wie er
Nr. 40 (O.-A.). iiin in diesen beiden Werken innerhalb Monatsfrist dar-
stellte, nicht auch persönlich an seinem eignen Schicksal
hat durchleben müssen. Gmoll ist eine Tonart, die bei
Mozart immer etwas Besonderes zu bedeuten hat. Wir
denken an das Klavierquartett und an das Quintett. Aber
hier in dieser Gmoll- Sinfonie vom Jahre 1788 ist er doch
noch anders, als er jemals vorher gewesen. Eine derglei-
chen leidenschaftliche Hingabe an eine einseitige Stim-
mung und noch dazu an eine so düstere, kommt in der
ganzen Kunst überhaupt nur selten, sie kommt bei Mozart
nicht wieder vor. Vielen erscheint allerdings heute die-
ses Werk in Bezug auf seinen Ausdruck gar nicht wei-
ter der Rede werth, denn es ist Jahrzehnte lang in
Zwischenaktsmusiken geschmacklos verbraucht worden.
Aber noch im Jahre 1802 wird diese Sinfonie von Leipzig
aus eine „schauerliche* genannt. Diese Bezeichnung
kommt der eigentlichen Natur der Gmoll- Sinfonie viel-
leicht doch näher als die imitirte Begeisterung, mit wel-
cher neuere Mozart Verehrer uns immer wieder und immer
wieder nur auf die Anmuth des Werkes aufmerksam machen.
Es ist wohl nicht blos zufallig, dass die GmoU-
Sinfonie keine Einleitung hat. Mozart steht hier sofort
mitten in der Sache drin:
^^^ r? ir r f r ff ir M ^fir er r r7 1 r r * •
Das ist allerdings anmuthig in der Form, aber in ihrem Ver-
hältnisse zum Inhalt erinnert diese Form an das bekannte
Wort von der , guten Miene zum bösen Spiele». Der tiefere
ce 125 ^
Zug des Leidens, welcher sich schon in dem Sexten-
schluss des ersten Abschnitts vom Thema verräth, kommt
in der Nachsatzperiode noch deutlicher zum Ausdruck:
ji>> triff'rr ir r > crifNf r irf fg) i " \*" \*=
und in dem unmittelbar zugefügten Schlussmotiv
1^ A $4 J bricht die innerliche Er-
/ ^1» " I " f " I "= regung dämonisch durch.
* f^ r ^ ^ r r p Das zweite Thema bringt
keinen Gegensatz zum ersten, sondern es erweitert und
begründet den erregten und düstem Charakter der dort
ausgesprochenen Stinmiung durch Töne der Wehmuth und
Sehnsucht ^ ^'' r> l''f"' f L& I r r fr I ^^- Trotzige
Kraft lehnt sich dann auf, sie wechselt aber sofort mit
rührender Klage. In der Durchführung werden die Ver-
suche den Bann drückender Ideen zu durchbrechen mit
grosser Kühnheit, aber erfolglos erneuert. Nach schnei-
denden Dissonanzen, nach gewaltigen Ausbrüchen der
Heftigkeit endet der Kampf mit einem von den Holzblä-
sern gedeckten kleinlauten Bückzug in die Reprise. Be-
merkenswerth ist, dass in dieser Durchfuhrung Alles the-
mathisch ist, ein bei Mozart ganz seltner Fall. Er greift
weder zu neuen Motiven, noch zu Gängen und Passagen,
die Phantasie bleibt an das erste Thema gefesselt. Das
Andante hat zum Hauptthema folgendes Sätzchen:
») Für fes Ues: fis.
•<? 126 ^
Sein zögernder, immer wieder ansetzender Aofbau kün-
det den suchenden und fragenden Grundcharakter des
ganzen Satzes an. Das nächste Gegenmotiv, welches
ihm Mozart zuschickt, stellt sich kraftvoll einsetzend in
den Weg und verflattert ebenfalls bei seinem zweiten
Schritt 4 >'' ' I* fr Tp Srr^jl^tl ^^ ^- ^^^^ Zweiund-
dreissigstel-Figur bildet mit dem Achtelmotiv des ersten
Thema im Satze zahlreiche sinnvolle Combinationen. Ein
kurzes drittes Thema dieses Andante, beginnend:
*^£ri.l ß^> p ist ausserordentlich inniger Natur.
Der Menuett
nimmt den Kampf wieder entschieden auf; er ist mit den
harten Dissonanzen seines zweiten Theils einer der streit-
barsten Sätze, die auf Grund jener alten zierlichen Tanz-
form jemals gebildet wurden. Das Trio klingt süss und
in kindlicher Unschuld dazwischen. J^yi j I j ^ P I j =
Seine zweite Clausel enthält eine der gefürchtetsten
Homstellen.
Im Finale herrscht eine einigermassen unheimliche
Lustigkeit. In Unruhe und Aufregung stürmt es dahin mit
seinem Hauptthema:
ir tf\f tr-ffm
unvorbereitete Septimen und anderlei bösartige Elemente
ergreifend. Mit verzweifelten Humor jagen die Stimmen
in der Durchführung emsig contrapunktirend das ver-
wegene Thema durch die Tonarten — das zweite Thema
e<? 127 ^
bietet kaum einen Rahepankt in der Hast des Satzes.
Seiner Natur getreu gebt er ungestüm und ungeklärt zu Ende.
Mozart*s letzte Sinfonie, die Cdur-Sinfonie Nr. 41 Momt
fUbrt den Beinamen der »Jupitersinfonie*. Sie darf in Cdnr-atnfonie
mancber Beziebung für Mozart's grösste Leistung im ^'- *^ (Ö--A..).
Sinfonienfacbe gelten und bildet eins der scbönsten Denk-
mäler seines freien, starken und reicben Geistes. Keine
andere der Sinfonien Mozart*s hat diesen breiten Wurf der
Tbemen, keine andere verbindet mit dem gleichen Beich-
tbum wahrhaft goldener Ideen die Einheit im Charakter
und die Harmonie der Darstellung. Es lebt etwas Antikes
in ihr: eine erhabene Heiterkeit und ein Schönheitsgefiihl,
das auch ihre vollsten Lustausbrüche adelt. Ihr erster
Satz klingt mit seinem Eingangsthema wieder an den
festlichen Ouvertürenton der früheren Sinfonien Mozart^s
an ; aber schon nach dem ersten Komma wird der Charakter
innerlich
und so bildet nicht blos dieses Thema — es hat bis zu
seinem vollständigen Abschluss die beträchtliche Länge
von 23 Takten — sondern der ganze Allegrosatz eine
meisterhafte und erquickende Verbindung von äusserer
glänzender Schilderei und edlem Seelenausdruck. Es ist
im Allgemeinen nicht so schwer Programme zu den
Meisterwerken unserer classischen Instrumentalmusik zu
schreiben; bei der Jupitersinfonie kann man der Ver-
lockung kaum widerstehen. Man sieht die Einzelnen in
ihren stillen Gedanken dahingehen, die Massen in lauter
Freude außschäumen; es wechseln Bilder und Scenen in
ruhiger Steigerung und Folgerichtigkeit, aber auch mit
erschreckenden Zwischenfallen. Merkwürdig wie trotz des
festlichen Grundtons die Motive des intimen Gemüths-
lebens y ' I I ' i - 1* ' ^ "^P T j.' 1 1 1 'U^^ und der
naiven volksthümlichen Fröhlichkeit:
'U?
128
©j
den Gesammt-
ausdruck des Satzes bestimmen!
Im Andante stellt Mozart drei Führer auf. Sein erstes
Thema lautet:
Ihm tritt in gewohnter Weise ein zweiter Satz entgegen
von drohender, gegensätzlicher Haltung. Er ist diesmal
nur kurz skizzirt und geht in einen erhaben friedevollen
Gesang über *
ffi' jj iii I j,iii ii^^'irl li lyrrrrrf
rte.
dessen bewegliches Nachspiel (siehe *) im weiteren Ver*
lauf Anlass zu Combinationen und Wendungen giebt, die
in ihrer genialen Mischung von Tiefsinn und leichtem
Spiel ganz einzig sind. Der Menuett dieser Sinfonie ruht
auf sinnig beschaulichem Boden
^. Sein Trio hat in der
Acht^lmelodie und in der Instrumentirung Haydn'sche
Elemente. Der berühmteste Satz der Sinfonie ist das
Finale. Man nennt das ganze Werk zuweilen mit Bezug
auf diesen letzten Satz die C dur-Sinfonie mit der Schluss-
fuge und noch neulich hat ein Musikschriftsteller, der sich
in Speculationen gefallt, nachzuweisen gesucht, wie sich
in diesem Finale Faust und Helena vermählen, wie hier
die vermeintlich ganz conträren Stilarten der Fuge und
Sonate ihre erstmalige Verbindung eingehen. Von alle-
dem ist wenig wahr. Um diese Sinfonie von andern C dur-
Sinfonien Mozart's zu unterscheiden, mag man sie die
Sinfonie mit der Schlussfuge nennen. In Wirklichkeit
e<? 129 '^
aber spielt die Fagenfonn darin eine untergeordnete Rolle.
Das Hanptthema des Satzes, dem wir schon früher be-
gegneten, wird nach dem ersten Halb-
schluss, den der Satz macht, in einer
einfachen Fuge durchgeführt, die
nach 21 Takten zu Ende ist. Nach der Reprise des Satzes
schliettt Moeart nicht einfach, sondern setzt noch eine
Coda an, die ebenfalls wieder mit einer Fuge beginnt imdzwar
mit einer sogenannten Tripelfoge, bei welcher zu dem schon
angegebenen Hauptthema noch folgende 2 Sujets hinzutreten
ifi iiii ^imi;i,ijii|i h I iiiu*^i<.i ri-
Nach 34 Takten ist auch diese Fuge wieder zu Ende.
Das an letzter Stelle angeführte Motiv fungirt im Satze
Y(m Yom herein als sogenanntes zweites Thema. Dass es
wie auch die übrigen Motive und Themen in diesem
Finale mit Rücksicht auf contrapunktische Brauchbarkeit
erfunden ist und dass der Ausdrucksgehalt dieser Rück-
sicht nachgesetzt worden ist, braucht nicht erst nach-
gewiesen zu werden. Der Schlusssatz der Jupitersinfonie
ist und bleibt ein Meisterstück der contrapunktischen Kunst,
die sich namentlich in Engfilhrungen und canonischen Nach-
ahmungen im vollen Glänze zeigt aber, wie sich im folgen-
den Capitel zeigen wird, ist er darin in der Periode der
Classiker kein Unicum. Jedoch in der Hauptsache erhebt
er sich über alle verwandten Arbeiten in der gleichzeitigen
Sinfonik: nämlich unser Finale ist auch im Charakter, im
Ausdruck eines kraftbewegten festlichen Lebens ein Meister-
sttlek, würdig eines Jupiter, eines Olympiers der Kunst.
Mozart und Haydn waren persönlich befreundet, liebten
einander als Künstler ; aber wie das bei starken Individuali-
täten natürlich ist, keiner wirkte auf den andern künstlerisch
wesentlich ein. Haydn bringt zuweilen einige cantabile
Wendungen, Mozart eignet sich bei guter Laune humoristische
Effecte Haydn's an aber im Wichtigsten, in dem neuen
Princip der motivischen Gedankenentwickelung folgt er
Kretzfohmar, Führer, I. 9
ce 130 ©»
ihm nur ausnahmsweise. Wie Jahrzehnte lang italienische
und französische Sinfonien neben einander hergegangen
waren, so liess sich die weitere Geschichte der Sinfonie
bereits auf eine neue und feindselige Theilung in eine
Haydn'sche und eine Mozart^sche Schule an. Da ereignete
sich eine jener glücklichen Fügungen, wie sie die Kunst-
geschichte in ihren grössten Zeiten mehrfach zeigt Es
kam ein Dritter, der die Lebensthaten seiner beiden grossen
L.T*Bettho?eByormännerzusammenfasste. Ludwig vonBeethoven er-
Odor-Sinfonie gchien und gab mit neun Sinfonien einem vollen Jahrhundert
^'* ^' zu thun ! Und noch inmier nicht können wir sagen, dass das
richtige Yerhältniss zu diesen Ausnahmswerken gefanden sei.
An die Sinfoniecomposition, den Haupttheil seiner
Unsterblichkeit, trat Beethoven yerhältnissmässig spät und
bescheiden heran. Seiner ersten Sinfonie gehen in den
Klaviersonaten des op. 2, in der Trauercantate auf Joseph II.
viel bedeutendere und ältere Werke voraus. Jedoch leicht
hat er das neue Gebiet nicht genommen. Wir können bei
ihm nicht nur die fertigen Compositionen , sondern auch
die Entwürfe und Vorarbeiten dazu studiren. üeberall
und jederzeit begleiteten ihn schmale blaue Notenhefte, in
die er alle Einfalle und Versuche eintrug. Sie sind uns
als die sogenannten , Skizzenbücher * Beethoven'szum grössten
Theil erhalten geblieben — die Kgl. Bibliothek in Berlin be-
sitzt die meisten — und Gustav Nottebohm hat eine Aus-
wahl ihres Inhalts in den Druck gebracht. *) Nach diesen
Documenten hat Beethoven an seiner ersten Sinfonie schon
i. J. 1791 angefangen, aber erst im April 1800 kam sie als
Op. 26 zur Aufführung.*) Man sieht mit der heutigen
Beethovenbrille dem Werke die zehn Jahre Arbeit nicht
^) G. Nottebobm: 1) Ein Skizzenbach von Beethoven (1862).
2) Ein Skizzenbach B.*b vom Jahre 1803 (1880). 3) Beet-
hoveniana (1872). 4) Zweite Beethoveniana (1887). Alle Leipzig:
Rieter- Biedermann .
^ Die genaaesten Angaben Über Vollendung and erste Aaf-
f&hnmgen, Stimmen- und Partitarverlag der Beethoven'schen Sin-
fonien bietet: Georg Grove: Beethoven and bis Kine Symphonies.
London 1896.
•G» 131 ^
an, man that ihm aber Unrecht, wenn man es schlecht-
hin, wie das zuweilen geschieht, für eine Copie im
Mozart*schen Stil und im Allgemeinen für unbedeutend
erklärt. Kraft und Lust, Fröhlichkeit, leichter Scherz,
sprühende Heiterkeit, ja auch ein wenig Schwärmerei, an-
muthiges Träumen — aber nur Empfindungen freundlicher
Natur bilden den Ideenkreis, den Beethoven in seiner ersten
Sinfonie durchschreitet. Es sind die Stinmiungen, an
welche sich die Orchestermusik des Südens in ihren
Durchschnittsleistungen bis auf Beethoven hin fast aus-
schliesslich hielt. Nichts von dem tiefen Ernst des
nordischen Bach, nicht eine Spur von dem Pathos, welches
manche der Hajdn'schen Adagios kennzeichnet, nichts von
der Mozart*8chen Melancholie — nichts vor Allem von
dem Beethoven, welcher die Eroica schrieb, die 5., die
9. Sinfonie, die spätem Quartette, die grossen Klavier-
sonaten, eben jener Beethoven, den wir meinen, wenn wir
seinen Namen nennen ! Und doch ist er schon in der ersten
Sinfonie als ein Eigner zu erkennen, in erster Linie im
Ausdruck einzelner Stellen, im kühnen Vortrag und
Wechsel der Gedanken. Diese Eigenschaft war es, die
C. M. V. Weber im Auge haben mochte, als er die erste
Sinfonie Beethoven*s eine «feurig-strömende" nannte.
Im ersten Satze der C dur-Sinfonie (Op. 21) schliesst
sich Beethoven in der Erfindung der Themen an Mozart
an. Das Hauptthema:
mit welchem, nach einem sehr eigenwillig auf dem Sep-
timenaccord einsetzenden Adagio von kurzem Umfang, das
Allegro beginnt, hat nicht blos den allgemeinen, spannen-
den Charakter, welchen Mozart für seine Ouvertüren-
sinfonien gern einhält, es ist geradezu eine Variante zum
Hauptthema des ersten Satzes der Jupitersinfonie. Es
wird in zweimaliger Sequenz weiter getragen : ein kräftiges
Forte krönt den breiten Aufbau, ganz so wie wir das bei
Mozart oft gesehen haben. Auch das zweite Thema
9*
*& 132 ^
I I = ist gan« MoEart^sch. Der jubelnde
Nachgesang ^ IfcFrf 1 TiLH^^. welcher ihm folgt, kommt
wörtlich so in der Jupitersinfonie und in andern Sinfonien
des Salzburger Meisters vor. Gleich danach tritt aber
Beethoven selbst in das Orchester. Es ist an der Stelle,
wo die brausende Gdur-Cadenz so ganz plötzlich von
einem pp. abgelöst wird, wo die Bässe still über das
erste Motiv des zweiten Themas sinnen und die andern
Instrumente in dunklen und unruhigen Harmonien fest-
liegen. Die Oboe findet den Ausgang aus der unheim-
lichen Verzauberung. Das ist zum ersten Male das
dämonische Element Beethoven*s in der Sinfonie I In
der Durchführung dieser Gedanken folgt Beethoven der
Hajdn'schen Methode der motivischen Arbeit. Er geht
aber schon hier im Herausgreifen und Bevorzugen der
kleinen und unscheinbaren Motive und in den kühnen
modulatorischen Umbildungen, denen er sie unterzieht,
über seinen Meister hinaus. Es sind besonders das Motiv
aus dem vierten Takt des ersten und aus dem fünften
Takt des zweiten Themas.
Das Andante hat zum Hauptthema eine Melodie:
deren Metnun ungewöhnlich ist : 7 Takte. Sie wird fugen-
massig kurz durchgeführt, dann bewegt sich der Satz in
Haydn'scher Weise weiter: auch die concertirenden Triolen-
stellen fehlen nicht und nicht die leise Begleitung der
Pauken.^) Den Charakter behaglich anmuthiger Schwärmerei,
^) Siehe S. 89 dieses Bachs.
ee 133 ^
welchen der Satz trägt , unterbricht nur der Anfang der
Durchführung. Aber hier ist er auch schon der ganze,
der einzige, der erschreckend grosse Beethoven, den man
aus Tausenden heraus erkennt. Mit den blossen zwei
ersten Noten des Hauptthemas schwingt er sich da
in Hohen, taucht in Tiefen, die Niemand erwartet hat
Alles geht blitzschnell, aphoristisch andeutend vor sich.
Es sind mehr Ahnungen als Bilder, Blicke mit dem Schein-
werfer in weite Femen gethan. Aber wer die Stelle über-
haupt versteht, wird sie zu den ungeheuersten Eingebungen
vonBeethoven*s wunderbarem und furchtbaren Genie rechnen.
Den dritten Satz benennt hier Beethoven noch Me-
nuetto. Die Melodie:
AUeg^ motte « viTaee
hat in ihrem Rhythmus einen Rest von Tanzcharakter,
in ihrem rastlosen, stürmischen, feurigen Wesen geht sie
aber über die Natur der alten und auch der Hajdn'schen
Menuetts weit hinaus. In ihrem zweiten Satze steht in
der Kette trotziger Sforzati, in dem plötzlichen Piano mit
seinen modulatorischen Irrlichtem, in den eigensinnig
humoristischen Bildungen um die drei Noten J | J J der
spätere Scherzomeister in voller Originalität vor uns. Das
Trio ist einer jener Sätze, in denen der Componist eine
grosse Wirkung durch elementare Einfachheit erreicht.
Auf melodische Gedanken und Themata ist hier so gut
wie verzichtet; der feierliche Klang der ruhigen Bläser-
harmonien genügt. Als Spohr bei dem ersten deutschen
Musikfest zu Frankenhausen die erste Sinfonie Beethoven's
in den grossen Räumen der Kirche auHuhrte, machte
nichts solchen Eindmck, als dieses Trio. ^) Das Finale ist
ein Rondo im Haydn^schen Stil, leichtMn scherzend und
^) (Leipziger) Allgemeine Musikalische Zeitang, Jahrgang 12,
8. 745 Q. ff.: „Nachricht von einem in Thüringen seltnen Mnsik-
feste" (verfasst vom Lezicog^aphen Gerber).
CO 184 z^
tändelnd, aossergewöhnlich kurz. Das Witzigste daran
sind die Stellen, wo das erste Thema
AllegTo molto « TiTao«.
üUin
repetirt. Beethoven ISsst ihnen Momente pathetischer
Spannung vorausgehen. Unter den vier Sätzen der Sin-
fonie ist dieses Finale der am wenigsten eigenthümliche
und ohne Zweifel hat Beethoven in den Klaviersonaten,
welche in der Opuszahl und der Entstehungszeit unserer
Cdur-Sinfonie vorausgehen — ganz andere Endsätze hin-
gestellt. Aber harmlos hingenommen, wie es gemeint ist,
kann auch dieses Finale nur erfreuen und erheitern; es
gehört die ganze graue, in Programmmusiktendenzen blind
gewordene Rigorosität eines Berlioz dazu, um ein so lebens-
frohes und vergnügtes Kunstwerkchen einfach als «kin-
dische Musik* abzuthun. ^)
Wir können es nur dem Himmel danken, dass Beet-
hoven nicht mit der neunten Sinfonie, mit der grossen Messe
L.?.Be«thoTeBin Ddur debütirte, sondern mit Werken die, wie das erste
Ddnr-Sinfonie Klavierconcert, wie die Cdur-Messe und wie diese Cdur-
(Nr. 2). Sinfonie, an die bisherige Schule anknüpften. Das Publi-
kum seiner Zeit war entschieden dem heutigen an naiver
Empfänglichkeit überlegen; aber bei der D dur-Sinfonie
stutzte es doch schon. Die Referenten der Allgemeinen
Musikalischen Zeitung hielten sich nach der ersten Leip-
ziger Auffuhrung dieses Werkes (im Jahre 1803) an die
nicht ganz gelungene Wiedergabe, die Berliner sprechen
nur (im Jahre 1804) von ,den dreiviertel Stunden lang
ausgeführten Schwierigkeiten"*, so dass sich Rochlitz, der
erste Kritiker seiner Zeit und einer der ersten Verehrer
und Pioniere Beethoven'scher Kunst, veranlasst sah, bei
der nächsten Gelegenheit selbst das Wort zu ergreifen
und zu versichern, dass diese zweite Sinfonie ,das Werk
^) EL Berlioz: A travers chauts I (Uebersetstmg von
R. Pohl): Kritische Studie über die Symphonien von Beet-
hoven.
^ 135 '^
eines Feuergeistes bleiben werde, wenn tausend jetzt ge-
feierte Modesachen Ifingst zu Grabe getragen sind*. Aber
von der ersten Sinfonie liest man nur, dass sie ein Lieb-
lingsstUck des C!oncertpublikums sei.
Die zweite Sinfonie Beethoven's (Ddur op. 36, zu-
erst aufgeführt L J. 1803) geht einen bei weitem beträcht-
licheren Schritt über den Stil und die Sphäre der Hajdn-
Mozart^schen Sinfonie hinaus. Der erste Satz zeigt dies
namentlich an der Einleitung und der Coda, die beide
in Umfang und Inhalt alles bisher an dieser Stelle Ge-
wohnte überragen. Nur die siebente Sinfonie Beethoven's
hat einen noch bedeutenderen Einleitungssatz. Der der
zweiten ist ausgezeichnet durch den herrlichen Gesang,
mit dem er beginnt. Wie ein Bild aus der Stemenwelt
wirkt diese ebenso erhabene als innige Melodie. Darauf
wird es wolkig und sehr ernst: es kommt zu einem
drohenden Unisono von unheimlicher Gewalt, das uns
später fast wörtlich in der neunten Sinfonie wieder begegnet :
Muntere Triolen vertreiben das Unwetter
;. und hellen den Horizont auf für das
ff freundlich schwungvolle Allegro. In
ihm ist das Verhältniss der beiden Themen merkwürdig:
das zweite erscheint als die Hauptgestalt des Satzes. Das
erste Thema hat einen gemüthlich humorvollen Ton, er
erklingt aber vorerst nur leise, heimlich und erwartungsvoll
y^ H I». rrfj\r [j£J''^^''r'fE ' •*** zweite aber er-
hebt sich triumphirend :
BllMI
^ ii H j j.. J^i [■b=a'+r r r r if^ H^ r"tM
In der Durchführung und
der Verbindung der Satz-
gruppen ist die Doppelschlagfigur aus dem ersten Thema
von grosser Bedeutung. Neben ihr sind aber in Mozart-
*c 136 «*
•eher Weise der Ideenentwickelung much Moüre mus
Tkemen ku Ghrnnde gelegt, welche nur eine Neben-
stellung haben, z. B.:
, und
Das erste dieser beiden das erregte, drohende Dmoll-
Motiv verknüpft Einleitung und Hauptsatz in ähnlicher
Weise, wie das in der HaydnVhen Esdur-Sinfbnie Nr. 1
der Fall ist. Es ist der erste Versuch Beethoven's in seinen
Sinfonien das Sonatenschema weiter zu bilden, seine Form
dem Charakter und Inhalt der Ideen des Satzes anzupassen.
Die Neigung Beethoven's, die Zahl der Themen zu
vermehren, sogenannte Nebenmotive in wichtiger Weise
zu verwenden und mit den hergebrachten Formen freier
zu schalten, tritt mehr noch, als im ersten Satze der
D dur- Sinfonie , in ihrem Larghetto hervor. Die Stellen
des grössten Ausdrucks sind hier geradezu diejenigen, an
welchen die Darstellung an winzigen Motiven haftet, wie:
Das Hauptthema des Satzes:
fll I rlflliLj^
tr«»«.
ein von Sehnsucht und Wehmuth leise berührter Hinweis
auf Glück und Frieden, wirkt doppelt poetisch durch die
Elemente, die es begleiten und bestreiten. Es dauert ziem-
lich lange und der Weg geht nicht in einfach gerader
Linie, ehe der kindlich trauliche und einfache Spielplatz von
ifjj1Tri[^rnTiriiirmiii»rfi.r'Llr.
erreicht wird. Diese schalkhafte Weise, die den Himmels-
tönen des Hauptthemas die behaglichen Klänge irdischen
Glücks gegenüberstellt, aus den weiten Weltenräumen die
Phantasie heimfuhrt in den Abendfrieden von Haus,
e<? 137 ^
Familie und Freunden, bildet nur den Anhang des
zweiten Themas:
verdunkelt es aber.
Der dritte Satz ist als Scherzo bezeichnet. Mit diesem
Namen war der Begriff einer bestimmten Form bis sn
Beethoren nicht verbimden. In der grossen Revolutions-
zeit der Musik, im 17. Jahrhundert, taucht auch er zum
ersten Male auf und zwar für kleine, in der Form freie
und im Inhalt etwas ausgelassene und Ubermüthige Liebes-
gesänge (fUr eine Stimme oder mehrere, meistens mit Be-
gleitung). Von da wurde er auf das Instrumentalgebiet
übertragen, aber nicht häufig angewendet. Beethoven
griff ihn zunächst für seine Klaviersonaten auf und machte
ihn classisch. Das Scherzo der D dur-Sinfonie ist eins der
drastischsten. Wie die Motive des Hauptthemas
gleichsam flüchtig und verirrt im Orchester hin und her-
flattem, jeder Takt eine andere Instrumentirung! Wie toll
es der lustige Kobold, der sie jagt und schreckt, treibt,
wie übermüthig er mit der musikalischen Grammatik spielt :
Immer das ff auf dem von Natur unbetonten Takte ! Diese
Art Humor ist noch in keiner Sinfonie zum Vorschein ge-
kommen. Das ist der grandios barocke Beethoven! Und
bald darauf wieder etwas Neues: Unerhört ausgelassen
brüllen sämmtliche Instrumente 14 Takte lang nur den
einen Ton, fis, am Anfang des zweiten Theils vom Trio.
Das iBt der naturalistische Beethoven, derselbe Beethoven,
der vor den Häusern vermeintlicher und wirklicher Wider-
sacher die wildesten Injurien in die stille Nacht hinaus-
tobte! Das Thema des Trios selbst steht der Berserker-
scene wie ein bittendes, zartes Weib gegenüber. Seine
Töne bilden dieselbe Folge wie im Trio der 9. Sinfonie,
nur die Rhythmik ist anders:
oe 188 ^
irT^'i^ii rir"TriiT| n i
Das Finale erscheint im Anfang mit seinem komisch
polternden und bärbeissigen Eingangsmotiv zum Haupt-
thema:
GÜir^^rrif7f I lL^j 1 1. m ipi
•te.
wie eine Fortsetzung des Scherzo. Es hat Haydn^sches
Blut in den Adern. Das zweite Thema:
■X3C.
1
ere4C.
ereae. <
aber lenkt in die Bahnen jener Cantabilität ein^ welche
Mozart in das AUegro einführte. Mit welcher Entschieden-
heit Beethoven diesen neuen Weg weiter schritt und wie
sehr er den frisch eröflFheten Ideenkreis zu erweitem be-
rufen war, ist an diesem Thema schon fühlbar. Noch
mehr setzt die Durchfuhrung in Erstaunen, die die heitren
oder innigen Gedanken dieser Themen ins Majestätische
und Gewaltige wendet. Wenn schon das ganze Finale
sich mit dem der 8. Sinfonie mehrfach berührt, so thut
dies namentlich der Schluss. Auch da wirds vor dem
jubelnden Ende noch einmal abendlich still und gesammelt.
L.T.BeetlioTeB Die dritte Sinfonie Beethoven's (Esdur, Eroica)
Eodiir-Sinfonie wurde im Jahre 1804 vollendet und im nächsten Januar
(Nr. 3. Eroic»). 2Ußrgt in dem Würth'schen Concert in Wien aufge-
führt. Nach dem Bericht, welchen die Allgemeine Musika-
lische Zeitung darüber brachte, nicht mit unbezweifeltem
Erfolge. „Frappante und schöne Stellen* heisst's von ihr,
te 139 f>»
«energischer, talentvoller Geist* von ihrem Schöpfer.
Aher diese Zugeständnisse werden so gut wie aufgehoben
durch £pitheta wie «äusserst lange und schwierige Com-
Position*, «wilde Phantasie, die sich ins Regellose verliert*
und mehr noch durch das demonstrative Lob einer an-
deren Es dur- Sinfonie, die in demselben Concert vorkam.
Diese andere war von Anton Eberl, den heute, vielleicht
mit Unrecht, Niemand mehr kennt. Die Schwierigkeit
der Eroica lag für die Ausführenden so gut vor wie für
die Zuhörer. Auf letztem Umstand Gewicht legend ver-
langte Beethoven (in einer Bemerkung die auf den Stimmen
der ersten Auflage steht) dass die Sinfonie möglichst an
den Anfang des Concerts gestellt werde. Sie wurde bei
der ersten Probe in Wien, der Prinz Louis Ferdinand von
Preussen beiwohnte, umgeworfen; in Leipzig und wo sie
sonst in die Hände eines gewissenhaften Dirigenten kam,
veranlasste sie Extraproben. Habeneck in Paris Hess sie
sich sogar ein grosses Frühstück kosten. Noch heute ist
sie eine der schwierigsten Vorlagen, wenn ein intelligentes
Orchester seine Meisterschaft zeigen soll; namentlich im
ersten Satze, dem die mechanische Präcision allein nicht
beizukommen vermag. Bei der ersten Auffuhrung des
Werks im Leipziger Gewandhause war die Direction so
vorsichtig und verständig, ihre Abonnenten durch gedruckte
Charakteristiken der einzelnen Sätze vorzubereiten. Im
Ganzen aber kann man sich nur wundem, dass die Musik-
welt jener Tage sich nicht mehr und länger über die Eroica
wunderte, sondern sie ziemlich bald und allgemein unter
die immer und regelmässig wiederkehrenden Repertoir-
werke aufnahm. Denn dieses Werk war den Zeitgenossen
über Nacht gekommen : in seiner exotischen Pracht musste
es zunächst ebenso befremden als entzücken. Von den
vorausgehenden Werken zur Eroica fehlt die hinreichende
Brücke. Soviel die ersteren, in erster Linie die Klavier-
sonaten, bieten und versprechen: dem Ideenreichthum
dieser Sinfonie gegenüber, dem VoUgehalt, der Kraft und
Gediegenheit, der ebenso kühnen, ja übermässigen, als
festgefugten Anlage dieses Werkes gegenüber erscheinen
=<? 140 ^
sie nur als kleine Vettern aus einer entfernten Seitenlinie.
Es ist ein unbegreiflicher Rest um die Stellang dieses
Werkes in der Greschichte ihres Schöpfers. Denn Beet-
hoven hat diesen monumentalen Eingangsbau zu einer
neuen Orchesterkunst auch nicht überboten. Er setzte
ihm Werke zur Seite, welche die einen intimer, die anderen
populärer sein mögen, aber nur wenige, in denen jedes
Glied so wie in dieser Eroica in Geist, Charakter und
Poesie getaucht ist, wo die Kunst so sehr wie hier auf
Figuren, auf Passagen, auf Putz und Ornament, auf allen
jenen ELitt und Mörtel Tcrzichtet hat, dessen sich die
Musik zur Verbindung ihrer Hauptglieder gebräuchlicher-
und erlaubtermassen bedient. Die Eroica bleibt für die
Macht Ton BeethoTen*s Schöpfergeist das stärkste Zeugmss,
und er selbst erklärte sie bis zur Zeit, wo ,die Neunte*
erschien, für seine beste Sinfonie.
Man weiss, dass Beethoven seine Eroica , Bonaparte*
überschrieben hatte. Als aber der Consul sich zum
Kaiser gemacht hatte, riss der republikanische Tonsetzer
den Umschlag weg und widmete das Werk nur im All-
gemeinen dem «Andenken eines Helden*. Mit diesem Titel
ist weniger ein eingehendes Programm gegeben, als viel-
mehr nur eine allgemeine Directive. Man hat bekannt-
lich den Mittelsätzen bestimmte Bilder aus dem Krieger-
leben unterzulegen versucht; dem Trauermarsch eine
feierliche Bestattungsscene der Gefallenen, dem Scherzo
das geschäftige Treiben des Lagers und der Beiwacht.
Das mag gestattet sein und jedenfalls nichts schaden. In
den anderen Sätzen ist aber dieser Versuch nicht durch-
führbar ; namentlich dem ersten gegenüber erscheint er un-
bedingt kleinlich! Das ist nicht das Bild einer Schlacht,
wie Ausleger behauptet haben, sondern das einer Helden-
natur, deren Hauptzüge Beethoven mit einer eignen Tiefe
des Blicks erfasst hat und in gegenseitige Action bringt.
Das Eigenthümliche an dieser Beethoven^schen Auffassung
des Heroischen ist, dass er den Elementen der Kraft und
des frohen Thatendranges einen stark elegischen und
pathetischen Gegensatz beimischt. Es geht durch den
ce» 141 ^
ganzen Satz ein Zog der Trauer, über die Wunden, welche
der Held schlagen muss; vor und nach den gewaltigen
Streichen, die er führt, erhebt sich die Stimme des Mit-
leids, und seine grossen Entschlüsse umringt die Wehmuth.
Dieser weiche menschliche Zug begleitet schon das Haupt-
thema, das in seiner ersten, vielleicht aus Mozart's Ouvertüre
zu .Bastien et Bastienne* entnommenen Hälfte den Haupt-
träger des kräftigen, fröhlichen Heroenthums bildet.
Bereits aber im fünften Takte mit dem langen verminderten
Septaccord kommt die schmerzliche Wendung. Noch
stärker ist sie im zweiten Thema ausgebildet:
^ mit dem übermässigen
A^ Dreiklang; femer in
iLi'JJiJililiil l4 ff L, - I I^reiklang; femer in
* i i *l H 'i vi ' 4~frK ^®' wehklagenden E-
p ^7j T r moU-Episode derDurch-
Episod(
führung ^\\ r^ir^rr l'r ^^ l^=. Diese Epi-
sode machte Beethoven, wenn wir die durch Nottebohm
veröffentlichten Skizzen zu dieser Sinfonie recht verstehen,
geradezu zum Mittelpunkte des ersten Satzes. Sie war
von vornherein fertig und fest beschlossen, und um sie in
die rechte Wirkung zu setzen, änderte er die Entwürfe
zu der ihr vorhergehenden Partie immer wieder, bis die
Rhythmen so trotzig, die Dissonanzen so beängstigend,
so realistisch schneidend wurden, wie sie jetzt dastehen.
Von ähnlicher Tendenz ist auch das Nachspielmotiv,
welches den wuchtigen Schlägen des empörten Orchesters
am Schlüsse des ersten Theils folgt:
to 142 ^
Es sind die reinen Klagen und Seufeer; ähnlich auch die
hinsterbenden Anklänge an das erste Motiv des Haupt-
themas, mit denen der Durchfuhrungstheil beginnt. Für
die formelle Bildung des Satzes hat ausser den angefUhrt«n
thematischen Elementen noch das kurze Motiv grosse
Wichtigkeit, welches die Ueberleitungsgruppe zwischen
dem ersten und zweiten Thema eröflPhet
F^^^^^^. Es kUngt wie Fragen
ßf I» I» p
und Bedenken. Deshalb folgt ihm gleich die Beschwich-
tigung in jb'iaj t^\^^\ If ffirrr Ip und
V
diesem ein Motiv des erneuten Aufschwungs nach:
ete«
Der Durchfuhrungstheil dieses ersten Satzes der Eroica
stellt an das Zuhören und Verstehen ganz neue bis dahin
noch nie erhobne Anforderungen wegen der ausserordent-
lichen Beweglichkeit, mit welcher der Componist Ideen
und Empfindungen wechselt, wegen der Breite, mit welcher
er sie ausführt und drittens weil er zur Themengruppe
ein ganz ungewohntes Verhältniss einnimmt. Er ist dies-
mal keine Exegese, sondern er hat unverkennbar prag-
matische Bedeutung er bringt die Hauptsache: die Schil-
derung des Kampfes, den der Held leitet. Diese durchaus
dramatisch gehaltne, aufregende Schilderung gipfelt in
der Scene wo sich Bläser und Geigen gewissermassen in
einander festrennen, wo die Secunde t so grässlich durch
die Harmonien schreit. Das ist Schlag und Schmerz und
darauf kommt naturgetreu und lebenswahr die E moll-Klage.
Sie ist das eigentliche 2. Thema des Satzes und wir stehen
vor ihr wieder bei einem gewaltigen Versuch Beethoven*8
die Sonatenform frei zu beleben. Nachdem dieser Gipfel
c6* 143 ^
passirt ist, setzt Beethoyen ein zweites Mal an : Der Feind
ist getroffen, aber nicht vernichtet. So beginnt der Kampf
zum zweitenmal und diesmal endet er bei der fanatischen
Cesdur-Stelle, die allmählich in Todtenstille übergeht und
mit einer Wendung schliesst, deren eigenthümliche Schön-
heit lange Zeit über ihrer absonderlichen Form verkannt
worden ist. Wir meinen jene Stelle — man nennt sie
wenig geschmackvoll den Cumulus — wo über der tremo-
b
lirenden Secunde as der beiden Geigen das Solohom leise
den Zauberruf intonirt, der Alle wieder aus der unheim-
lichen Erstarrung ruft : das Heldenmotiv es g \ es^ In der
ersten Wiener Probe hatte Beethoven dieses as gegen die
Musiker zu schützen, welche meinten, es sei ein Fehler
vorgekommen; die Herausgeber der ersten französischen
Partitur corrigirten es als Druckfehler in ^; auch noch
B. Wagner war dieser Meinung. Seit das Skizzenbuch
Beethoven*s aus dem Jahre 1803 bekannt ist, darf nicht
der leiseste Zweifel mehr gehegt werden, dass Beethoven
kaum etwas Anderes in seiner Eroica so bestimmt und klar
gewollt hat, als diese vom mechanischen Hannoniestand-
punkte aus befremdende und unter allen Umständen ge-
wagte , aber jedenfalls mit tondichterischer Kühnheit und
Feinheit ersonnene Wendung. Mit Gewalt rafft sich der
Sieger. Die Reprise beginnt und verläuft in herrlichen
Varianten. Da ist gleich das Thema in Fdur vom Hom,
dann in Des von der Flöte gebracht. Es ist als wenn
nach gefallner Entscheidung sich Alles freier und grösser
regte. Auch die Coda ist ungewöhnlich, am meisten
dadurch, dass der Componist hier nochmals auf die Durch-
führung zurückgreift, wiederum nämlich auf die bereits
berührte Episode in Emoll; ein Beweis, wie wichtig sie
für die Eigenart des Helden ist, wie ihn sich Beethoven
dachte.
Der zweite Satz der Eroica, Marcia fiinebre über-
schrieben, die Grenzen eines einfachen Trauermarsches
aber in jeder Beziehung überschreitend, besteht aus fünf
Theilen. Der erste Theil stellt zunächst das Hauptthema
cG»
144 ^
I im Streichquartett auf. Die
Bläser wiederholen dasselbe, ron den Violinen in zittern-
den Rhythmen begleitet aus denen es wie ferner Tronunel-
schlag klingt. Dann folgt ein Gegenmotiv in Esdur, das
nach dem Hauptthema EurUckkehrt. Auch diese Grruppe,
Tom Streichquartett zuerst gebracht, wiederholt der Bläser-
chor, und mit einem kurzen freien Nachspiel in CmoU
schliesst dieser erste Theil. Inhaltlich verbildlicht er jenen
furchtbaren, fassungslosen Zustand der trauernden Seele,
wo das Gefühl nach Ausdruck ringt, wo die Klage mit
der Resignation kämpft, wo die Sprache erstarrt, versagt
und bricht, wo die freundlichen Bilder der Erinnerung
nur auftauchen, um von den Ausbrüchen des heftigsten
Schmerzes verjagt zu werden. Der zweite Theil ruft das
glänzende Bild des Helden zurück. Er erscheint wie eine
Art Apotheose. Das Thema, welches ihn fUhrt, in hellem
Dtir gehalten
t» Ub.
I nimmt schon beim
ersten Halbschluss (in Gdur) einen ganz triumphirenden
Ton an. Am Schluss dieses Theiles ist die Rückkehr ins
Hauptthema, der stets im Laufe des Satzes ein leiden-
schaftlicher Accent vorausgeht, von einem ganz besonders
tiefen und gewaltigen Ausdruck des Schmerzes begleitet.
Der dritte Theil, welcher mit dem Hauptthema (in Cmoll)
beginnt, ruht im Wesentlichen auf folgendem Thema:
^^^^-i^-^^ ^^^S^f^E:j^-^ . In der ersten Hälfte
erscheint es durch die Verkettung mit dem Motiv
gl Tb ,J i J-f^. ;)^l-ft ia der Form einer Doppclfugc
• 5~i/
e<? 145 '^
Sein Ausdruck ist klagend, aber die Klage hat ihre Herb-
heit verloren und fliesst nun stetig dahin. Die Wendungen
werden mild, fast freudig. Wieder steigt das Bild des
lebenden Helden auf: ein leidenschaftlicher, begeisterter
Aufschwung in der Musik: Da plötzlich:
t* j>- das schreck-
liche Besinnen: ,Er ist nicht mehr!* Ein Aufschrei in den
entlegensten Regionen des Orchesters, ein wilder, fast
wüster Ausbruch des Schmerzes auf dem Asdur-Accord,
ein Chaos, aus dem die schmetternden Trompeten den Aus-
weg suchen. Dann lenkt es mit mühsamer Beruhigung
über in den vierten Theil, welcher im Wesentlichen eine
Repetition des ersten Theiles aber mit einem grossen Zu-
satz von Leidenschaftlichkeit und Aufregung bildet. Es
wird der letzte Abschied genommen! Der fUnfte Theil,
die Coda, schliesst das ergreifende Bild versöhnend ab.
Wie Glockengeläute, das Beethoven ähnlich auch in seiner
Trauercantate auf Joseph IL anklingen lässt, beginnt er
in den Violinen, eine wehmüthig freundliche Melodie
klingt wie aus der Feme herüber,
dann geht die Musik für einen Augenblick in blosse
rhythmische Bewegung auf; in den Violinen tönt's wie
Schluchzen. Noch einmal erscheint dann das Marseh-
thema, verflattert aber bald und zerfallt in Stücke. Als
es verschwunden, stossen die Bläser noch ein letztes leiden-
schaftlich accentuirtes Lebewohl aus, über das sich sofort
eine leise Fermate wie Grabesruhe legt.
Das Scherzo ist von einer ganz eigenthümlichen An-
lage. Zum Hauptthema hat es folgende Takte:
Presto _ _
Aber dieses theilt sich in die Darstellung mit einem
Motive, das von Natur nur präludirenden und anlaufen-
Kretzfchmar, Führer, I.
10
eC 146 '^
den Charakters ist: 1^"^ 1 "^ JTf^^^ ' ^*°^^ '^^^'
pp
reihen, aus diesen wenigen Noten gewoben, durchziehen
den Satz und geben ihm sein phantastisches, heimliches
Gepräge, den merkwürdigen nächtlichen Klang, die Aehn-
lichkeit mit dem Gemurmel einer entfernten Menge, mit
dem Getöse einer geschäftigen Stadt, das der Wind auf
Meilen hinausträgt zum Wandrer. Die Tonart ist Esdur,
aber es dauert 92 Takte, ehe sie mit dem Fortissimo des
zum ersten Male geschlossen vortretenden Orchesters zum
Ausdruck kommt. Es ist interessant zu wissen, dass Beet-
hoven als dritten Satz seiner Eroica einen einfachen Menuett
schreiben wollte. Erst im Laufe der Skizzen kam er auf
das eben angeführte schwankende Motiv und damit auf
die ganz neue Anlage des Satzes. Den Hömem, welche
bekanntlich im Trio des jetzigen Scherzo eine ziemlich
gefürchtete Aufgabe haben, war von Anfang an eine be-
sondere Rolle zugedacht, aber im Hauptsatze der Menuett,
Der Held auf der Jagd?
Das Finale der Eroica ist in seiner ersten Hälfte ein
Variationencyclus , dem folgendes einfache Thema zu
Grunde liegt :
^ yy \ ;, > ripz^^^^4?ja,-t:;r?f^y rr-^ j4^rg|
dasselbe, welches Beethoven früher schon zu den Klavier-
variationen (Op. 35) und auch zur Musik des Ballets: „Die
GeHchöpfe des Prometheus** benutzt hat. Von der dritten
Variation ab baut der Componist über dieses Thema eine
innige Gesangmelodie,
dvlct
welche in dem Satze als zweites Thema fungirt. Nachdem
sie durchgeführt, wird die Variationenform verlassen, das
Thema erscheint umgestaltet in eine Fuge; in andern
Gruppen sind nur wenige Noten benutzt, auf Augenblicke
cG» 147 'ö^
yerschwindet es ganz. Mit dem G moll-Satze, der marsch-
artig kräftig einsetzt, tritt die Variationenform wieder
ein; die einzelnen Variationen haben freie Schlüsse; im
üebrigen wiederholt sich der ganze Prozess der ersten
Hälfte. Bis dahin erscheint das Finale der £roica, so viele
schöne Momente darin vorkommen, im Yerhältniss zu den
andern Sätzen etwas leicht gefugt: eine Reihe fröhlicher
Bilder von der Krieger Heimkehr, frei nach Bürger's
Versen: «Und alles Volk mit Sieg und Klang geschmückt
mit grünen Reisern, zog heim zu seinen Häusern*^. Am
Ende jedoch, mit der frommen Episode, in der das zweite
Thema als Andante auftritt, erhebt es sich und schliesst
allerdings etwas kurz abgebrochen, aber mit dithyram-
bischem Schwünge.
Beethoven's vierte Sinfonie (Bdur Op. 60), welche L.t. Beethoven
im Jahre 1806 entstand, wurde im Anfang des Jahres Bdar-Sinfonie
1807 zuerst in Wien , kurz nach einander zweimal auf- ^'* *•
geführt erst im Theater und dann im adligen Liebhaber-
concert, und erfreute sich sogleich, wie berichtet wird,
eines reichen Beifalls. Heute theilt sie mit der ihr geistig
verwandten achten Sinfonie das Schicksal einer gewissen
Zurücksetzung. Sie erreicht ihre Nachbarn zur Rechten
und Linken, die Eroica und die C moU-Sinfonie weder in
der Breite des Aufbaues und der äusseren Dimensionen,
noch in der Grossartigkeit der Combinationen ; sie ist
aber dennoch eins der eigenartigsten und vollendetsten
Werke der Beethoven'schen Kunst und repräsentirt unter
den Sinfonien eine Gattung für sich. Was sie auszeich-
net, ist die Frische und Unmittelbarkeit der Gestaltung.
Sie gleichtodarin einigen der Klaviersonaten, dass sie mehr
phantasirt und improvisirt, unter einem fortwährenden Zu-
fluss neuer Gedanken entstanden, als gearbeitet erscheint.
Zweitens zeichnet sie sich aus durch eine andauernd heitre
und glückliche Grundstimmung, die sich allerdings, wie
bei Beethoven zu erwarten, nicht völlig rein, sondern in
romantischer Färbung äussert. Man bemerkt diesen roman-
tischen Zug in dem zögernden Aufbau der Melodien, in
dem langen Festhalten der Harmonien, in der versteckten
10»
«c? 148 ^
Einmischung Ton Dissonanzen, in der bald in scharfen
Contrasten springenden, bald träumerischen Dynamik : Er-
scheinungen, die uns in keiner zweiten Sinfonie Beethoyen's
so systematisch entgegentreten wie in der Bdur-Sinfonie.
Sie schattirt auch die freudigen Farben ein wenig. Aber
die Stürme düstrer Leidenschaft bleiben ihr fem und über
dem Ganzen leuchtet eine solche Menge hellen und wärmen-
den Sonnenscheins, dass man die Zeit, wo diese Sinfonie
entstand, zu den am wenigsten getrübten, zu den schönsten
Tagen aus Beethoven'« Leben rechnen möchte. Grove
setzt sie geradezu mit einer Verlobung Beethoven's (mit
Theresa von Brunswick) in Verbindung.
Nach einer Einleitung die ganz von geheimnissvoller
Erwartung und Spannung erfüllt ist, bricht das Allegro
des ersten Satzes mit Schlägen von urwüchsiger Derbheit
los. Nach dem stürmischen Einsatz gelangen wir zu folgen-
dem Hauptthema:
Allerro Ttrace
n ^1" r r ir r f P l ^^'^ r i: das die beiden Elemente
des Satzes: frohes Ungestüm und geheimnissvolles Sinnen
verbindet. Ihm folgt ein selbständiges Seitenthema, welches
über das kindlicher Freude volle Motiv :
zu einer Repetition des ersten überleitet. Diese Wieder-
holung schliesst mit einer Synkopenstelle, die eine gewaltige
Herzenserregung kündet. Zauberschnell bricht sie ab:
Das zweite Thema das nun erscheint, zertällt in zwei
Hauptgruppen, deren Grundmotive die folgenden sind:
y^''Fr£;r jlfrrfir ^^^^j^^. Die zweite Gmppe
tritt als Dialog, als Canon (in der Octav) zwischen Clarinette
und Fagott auf. Zwischen ihnen stehen noch weitere
selbständige Gedanken unter denen eine weit ausholende,
cG» 149 ^
aus Sequenzen über ein Motiv in (staccato gegebnen)
Halbennoten gebildete Passage, die Sammeln und Klären
bedeutet, der wichtigste ist. Ueppigkeit der Phantasie
zeichnet diese Sinfonie aus. Auch die Durchführung über-
rascht durch eine ganz neue Idee : eine herrliche Melodie :
li^ *TP^r I r ^r r \\ff \p » mit weicher eine Strecke
lang die beiden Gruppen des Orchesters, Geiger und Bläser
einen Wechselgesang vollführen. Das ist für lange Zeit
die letzte Aeusserung fertiger Gedanken im Satze. Tiefste
Ruhe, tieftter Frieden breiten sich über eine glückliche
Seele. Lnmer leiser huschen durch die Geigen flüchtige
Schatten des Hauptthemas, die Accordnoten aus den ersten
beiden Takten. Diese lange Dämmerungsstelle kenn-
zeichnet die vierte Sinfonie. Ganz eigen ist der Schluss
dieser Durchführung, das Einschlummern der Instrumente
in entlegener Tonart, die Führerrolle, welche die Pauke
in diesem Momente übernimmt, und der eilige Rückzug,
den das verlorene Gros unter ihrem inuner lauteren Com-
mando bewerkstelligt. In dem Scherzo der C moll-Sinfonie
findet sich ein ähnliches und doch wieder sehr ver-
schiedenes Seitenstück zu dieser Stelle.
Das Adagio, ein wunderbares Stück verklärter Poesie
und der intimste von allen langsamen Sätzen der Beet-
hoven'schen Sinfonien hat folgenden Gesang zum Haupt-
thema :
cretc.
Die Form dieses Satzes ist so rein und einfach, dass
er keiner Bemerkung bedarf. Das zweite Thema, in dem
Momente eingeführt, wo die vom Anfange an im Satze
lauernden Geister der Schelmerei und des Humors über das
Maass zu gehen Miene machen, wird von der Clarinette
vorgetragen, das Fagott bringt einen Nachgesang dazu.
^ 150 '^
Id der Stimmang knüpft dieses zweite Thema an die leise
und edle Melancholie des Hauptthemas wieder an.
Der dritte Satz, welcher nicht ausdrücklich als Scherzo
überschrieben ist, hat die ausgesprochene Natur eines
Capriccio. Er läset eine etwas herausfordernde Lustigkeit
gegen einige bedächtigere Humore ankämpfen. Das
Anfangsmotiv seines Hauptthemas
^^^i J3|^^3^^^[:gji rj jig giebt den Haupt-
stofF zum Bau des Satzes. Der in den ersten Takten dieses
Themas schon gegebene Gegensatz von "/^ und ^/^ Takt
geht durch das ganze Stück und verstärkt den Eindruck
einer bald übermüthigen , bald eigensinnigen Natur. Das
Trio ist eins der köstlichsten Bilder naiver und unschul-
diger Freude, eins jener Kunstwerke, die man nicht hören
kann, ohne die Musiker zu beneiden, welche sie auffuhren
dürfen. Die Oboe führt das einfache Thema:
^fitbztl^^-f-»-^ I t ITTt?
^^^
mE::^^:it^m
cre»c. j^ Z f»
In die Pausen streuen die Violinen allerhand kleine Neckereien
hinein — am Ende des Trios wächst die liebenswürdige zärt-
liche Melodie zu stohser Pracht heran. Schon der erste
Satz der Sinfonie zeigt einige Mozart^sche Spuren; sie
mehren sich im Finale so sehr, dass man die Vermuthung
kaum abweisen kann, in den Hauptgedanken gehöre dieser
Satz einer früheren Entstehungszeit an. Seine Themen sind
I.VioI. . . . i) y J^ 7 J^ %
h^ liij
mit dem Nachsatze A p'^i; pJ^S | ]\ » jV j J |
und
^UiU^^f^^i^Mä^^ .
co 151 "^
Sie ergeben einen Satz von brillantem, funkelndem
Effect, von dramatischer Lebendigkeit und frappantem
Humor, dessen heitere Natur nur durch einige breite, un-
barmherzig dissonirende Accordc, die Einfälle einer rauhen
Laune, gestört wird.
Die fünfte Sinfonie (CmoU) ist mit der Pastoral- L.T.BeethoTen
Sinfonie zusammen veröffentlicht worden. Beide Werke, Cmoii-Sinfonie
welche die Opuszahlen 67 und 68 tragen , wurden auch ^'- ^•
zusammen in demselben Concert zuerst aufgeführt, wel-
ches Beethoven am 22. December 1808 im Theater an der
Wien gab, einem Concerte, das durch die Reichhaltigkeit
seines Programms als Curiosum in der Concertgeschichte
dasteht. Es umfasste zwei grosse Chorwerke, die Chor-
fantasie, das Klavierconcert in G, eine freie Fantasie, die
Pastoralsinfonie (als Nr. 5), die C moll-Sinfonie (als Nr. 6
bezeichnet). Gleichwohl sind die beiden Sinfonien zu ver-
schiedener Zeit entstanden. Die ersten Arbeiten an der
C moll-Sinfonie reichen bis in die Jahre 1800 und 1801 zu-
rück. Das ausserordentliche, in jeder Faser Beethoven-
*sche Werk hat den Meister auch ausserordentlich intensiv
beschäftigt und ist unter denjenigen Arbeiten, mit welchen
er sich aussergewöhnlich lange trug — vergleichen wir nur
die Ddur-Messe und die neunte Sinfonie — vielleicht die-
jenige, bei welcher die endgültige Form alle Intentionen
des Schöpfers ohne Rest aufnahm. Von vielen Beurtheilern
wird die C moll-Sinfonie als der Höhepunkt nicht bios
der Beethoven*schen, sondern überhaupt der Instrumental-
musik bezeichnet, jedenfalls ist sie eins derjenigen Kunst-
werke, über deren Gewalt Alle einig sind. Mit der C moll-
Sinfonie bekehrte der junge Mendelssohn den alten Goethe
zu Beethoven.*) Selbst Diejenigen, welche amusischen
Geistes sind, pflegen vor der C moll-Sinfonie eine leise Regimg
von Respect zu haben. Jeder fühlt, dass aus dieser Sin-
fonie ein ungewöhnlicher Geist spricht. Es liegt etwas
Titanisches in ihrem Zorn und ihrem Trotze, in ihrem
Schmerze und auch in dem Rausche der Begeisterung, in
*) F. Mendelssohn, Briefe (26. Mai 1830).
CG* 152 ^
welchem sie Bchliesslich ausmündet. Man könnte sich vor
diesem Kunstwerke an vielen Stellen fürchten, wenn nicht
aus dem Hintergrunde seiner nächtigen Phantasien auch
freundlichere Genien auftauchten; es würde uns trans-
cendental und nur ehrwürdig bleiben, wenn es den Blick
nicht ausser auf unendliche Stemenweiten auch auf trau-
liches Erdenland lenkte, wo uns Boten der Sehnsucht, des
Humors und diejenigen Menschengefühle begegnen, welche
das Walten eines guten Gemüthes verkünden. Die Dar-
stellung in der CmoU-Sinfonie ist heiss und ursprünglich,
wahr, nothwendig einheitlich und dabei so scheinbar ein-
fach und klar, dass das Werk trotz der Grösse seines
Inhalts populär geworden ist. Was diesen Inhalt der
C moll-Sinfonie bildet, wer getraut sich das ohne Fehler
zu übersetzen? Beethoven soll dem ersten Satze dieses
Werkes das Motto gegeben haben: „So klopft das Schick-
sal an die Pforte*. Wir betonen aber das Wort »soll*.
Es ist das Charakteristicum musikalischer Kunstwerke,
dass sie die Phantasie des Hörers anregen, ihn wohl auch
auf bestimmte Bilder führen. Aber es ist vermessen, das
eine dieser Bilder für das ausschliesslich richtige zu halten
und zu proclamiren. Die Zahl der benannten Grössen,
welche derselben algebraischen Formel entsprechen, ist
in der Regel nicht klein: „Ratio multiplex, veritas una*!
Aber der allgemeine Gang der Phantasie, nennen wir es
die Grundidee, in der C moll-Sinfonie ist so klar ausge-
prägt, dass man sie nennen muss: Es ist der Weg „aus
Nacht zum Licht* , per aspera ad astra , jener in der sin-
fonischen Kunst so oft gesuchte und noch öfters verfehlte
Weg!
Der erste Satz ist eine der glänzendsten Bestätigungen
für einen in jeder Kunst sattsam erprobten Erfahrungs-
satz: dass mit der Schwierigkeit der technischen Aufgabe
bei starken Geistern auch die Phantasie wächst, der Flug
der Gedanken kühner wird und die Ideen an Macht,
Kraft und Reichthum zunehmen. Von der technischen
Seite aus betrachtet, ist der erste Satz der C moll-Sin-
fonie eins der verwegensten Kunststücke: Denn sein
co 158 '^
wesentliclies Grundmaterial besteht aus den vier Noten,
welche lapidar und erschreckend den £ingang des Werkes
^ ^ AUegro con brio. ^
bilden : ft ^^i. j ^ J J j-l- j | . Schindler behauptet in
seiner Biographie, dass Beethoven sie und ihre gleich
folgende Transposition in einem langsameren Tempo ge-
wünscht habe, wodurch sie gewissermassen als Motto
hervorgehoben wurden. Wenn der Gewährsmann hier
zuverlässig ist, bleibt doch auch die andere, die leiden-
schaftlichere Auffassung der Stelle bei Recht bestehen.
Nach Czernj soll ein Goldammer Beethoven im Walde dieses
von Spohr*) wegen Mangel an , Würde* getadelte Motiv
zugetragen haben. Zwar hat der Satz ein zweites Thema:
Aber dasselbe ist in dem grossen psychologischen Process
nur ein momentanes Beschwichtigungsmittel, über welches
die Combinationen jenes Urmotivs achtlos hinwegschreiten.
Es wird bei seinem ersten Erscheinen schon von den
Bässen mit jenen vier unruhigen Grundnoten drohend
empfangen, verfolgt und bald in den Strudel der wogen-
den Aufregung hineingezogen. Auch Aeltere, namentlich
S. Bach, haben mit einem einzigen kurzen Motiv zuweilen
ausgeführte Sätze gebildet. Aber dies sind Präludien und
kleinere Stücke — hier aber haben wir einen ganz
colossalen Satz von gegen 500 Takten! Dabei aber ist
dieses Kunststück zugleich auch die höchste Leistung im
leidenschaftlichen Stile, welche bis dahin vielleicht die
ganze Instrumentalcomposition, ganz gewiss aber die
Orchestermusik aufeuweisen hat — als musica appas-
sionata eine Leistung, die in der Folge fraglich ob wieder
erreicht, jedenfalls aber nicht überboten worden ist. Den
Gang des Satzes im Einzelnen zu beschreiben, ist nicht
durchführbar, wohl auch nicht nöthig. Nach so und so
viel rührenden und erschütternden Versuchen kommt das
^) L. Spohr, Selbstbiographie I, S. 229.
Ende auf den Anfang zurück. Es ist das Bild eines er-
greifenden hartnäckigen und verzweifelten Kampfes, der
durchgeführt wird: Wohin unsere Phantasie den Schau-
platz desselben legen mag, in die menschliche Seele oder
in die Natur: seine Phasen sind mit der schauerlichsten
Deutlichkeit wiedergegeben. Es ist ein Riugen ohne
Gnade und ohne Nachgeben, das Seitenstück zum ersten
Satz der Eroica, aber ohne Klage. Den kritischen Mittel-
punkt bildet jene Partie im DurchfUhrungstheile , wo das
Anfangsmotiv des zweiten Thema
^J^^=~\ j t^- j I j I entscheidend eingreifen
will. Die Stelle hat eine dramatische Gewalt, wie sie in
der Instrumentalmusik ganz selten vorkommt. Wirds ge-
lingen oder nicht? Als Streicher und Bläser mit dem
Halbenmotiv wechseln, scheint volle Erschöpfung ein-
getreten und das Ende nahe zu sein. Aber der Held rafft
sich wieder, weicht und bebt abermals; doch schliesslich
steht er wieder fest in alter Kraft. Mit einem plötzlichen
Ruck stehen wir vor dem Anfang des dritten Theils: der
Reprise. Sie ist wie immer bei Beethoven keine wört-
liche Wiederholung. Unter den Wendungen, die ihren
Ausdruck und ihre Wirkung mächtig steigern sind die freie
Cadenz der Oboe und die Coda hervorzuheben. Die
Oboe spricht wie eine Menschen stimme, ganz unbeschreib-
lich rührend auch deshalb, weil es die einzige Stelle in
dem durch und durch männlichen Satz ist, wo das Herze-
leid zu Worte kommt. Seit Haydn's früheren Werken
war es das erste Mal, dass wieder ein Componist in der
Sinfonie Recitativ verwendete.
Entschieden der Hoffnung zugewendet, doch von Sorge
und Zweifel noch leicht gestreift, setzt der zweite Satz (Andante
con Moto, As dur, '/g Takt) mit einem lieblichen Thema ein,
welches Celli und Bratschen unisono vortragen:
«<? 155 '^
f
^f Li I [jji^y-^'rr^.t=^. Die hohen Holzbläser fahren
unmittelbar fort mit
jfistrfi f \ff\fr [T rTr|n ^^ ^^.^^^
führen dieses Thema zu Ende und ihm folgt von Clarinetten
und Fagotts eingeführt auf dem Fusse die Marschweise:
doloe Violino.
aoloe vioiino.
^ V\m^ f.V I p^. In diesen drei Melodien liegt das
ganze Material des Andante vor uns, in ihrer Folge zu-
sammengedrängt der Verlauf der Composition. Das Thema
der Holzbläser kommt immer gleichlautend wieder, selbst
die Tonart wird in keiner Wiederholung verändert. Es
ist der Leitstern, det fest am Himmel steht und freund-
lich blinkt. Der Marsch, der dreimal mit Pauken und
Trompeten in Cdur vorüberzieht bedeutet Triumph und
Sieg und wirft einen Blick voraus in die Sphäre des
Finales der Sinfonie. Die Grundform des Andante ist die
einfache eines Variationengebildes • in Haydn'scher Art.
Das Hauptthema wird erst in Sechzehntel- dann in Zwei-
unddreissigstelform gebracht, der leichte Conflict der Ge-
fühle, der in ihm liegt also gesteigert imd erregter. Zu
dieser Wendung tragen die übrigen Factoren der Compo-
sition alle ihr Theil mit bei. Auf der ganzen Linie wird
die Farbengebung leuchtender, insbesondre wirkt die Sprache
der Zwischensätze immer dringlicher, so sehr: dass die
Nebenthemen, — der Gesang der Holzbläser und die Marsch-
melodie — den Gesammteindruck des Satzes fast mehr be-
stimmen als das Hauptthema : Unter den Episoden prägen
sich namentlich zwei bedeutungsvoll ein: Die eine ist der
Uebergang aus dem ersten Cdur des Marschsatzes. Die
Trompeten klingen mit der Quinte fast herausfordernd
^ 156 ^
lang hin il»[jf I f k^ \ f j. Da mahnt es in den
Streichern A )i]^ g*jTf f^jT} - • Es geht nach Fmoli,
es wird plötzlich finster fürs Ohr und wie Samiel im »Frei-
schütz" zieht in der Feme, gespensterhaft zu dem des der
Geigen der Rhythmus ^^j /Tl *^ *^^™ ^ ^^^ Bässe
vorüber; die Kampfgeister des ersten Satzes sind noch nicht
todt. Die zweite Episode tritt nach der Zweiunddreissigstel-
variation des Hauptthemas mit dem interessanten es in der
Flöte (von dem Berlioz in seinen Memoiren eine F^tis be-
treffende Anecdote erzählt, die an den Cumulus der Eroica
erinnert) ein. Die Geigen geben Guitarrenaccorde, ein
kleiner Dialog zwischen Clarinette und Fagott variirt den
Anfang des Hauptthemas und nun beginnt in den obern Holz-
bläsern ein träumerisch holdes Spiel paarweise in Terzen,
die Paare in Gegenbewegung. Die Stelle ist nur kurz,
aber sie bildet einen der freundlichsten und lieblichsten
Augenblicke in der ganzen C moU-Sinfonie.
Das thematische Material des dritten Satzes: ist
folgendes für den Haupttheil
^KS y j iJ r . i^^fefe^j >r I r- r ir r I
'^'"'"^' ' 'J J . M. li-J Jl J, If JJI,
für den das Trio ersetzenden Mitteltheil:
V^X J [/TTfT^g^^^:^^^. DieTheUea(fiir
■">/■' #--■'- -^^ 1 » ! - — dessen vier
erste Takte Beethoven, nach Ausweis des von Nottebohm
veröffentlichten Skizzenbuchs, den Anfang des Finale von
Mozart's G moll- Sinfonie benutzte) und b des Hauptthema
folgen im Satze unmittelbar wie oben; für die Entwicke-
lung des Satzes wird besonders das Motiv b ausgenutzt.
Während in den meisten andern Sinfonien Beethoven's im
oc 157 "^
dritten Satze eine ausgelassene Fröhlichkeit ihre Feste
feiert, will hier — wo, wahrscheinlich nicht zufällig, auch
die Bezeichnung Scherzo fehlt — die gute Laune noch
nicht recht in Gang kommen. Das nähere Yerwandt-
schaftsverhältniss , in dem bei Beethoven sehr häufig der
dritte Satz zum ersten steht, kommt hier mit besonderer
Deutlichkeit zum Ausdruck. Eb zeigt sich äusserlich in
der Aehnlichkeit , welche zwischen dem Hommotiv und
dem Hauptrhythmus des ersten Satzes besteht, femer in
den vielen Fermaten, welche beiden Sätzen gemeinsam
sind, und mehr noch innerlich in dem vorwiegend dUstem
Charakter dieses , Scherzo*. Heiter ist im Hauptsatze
desselben nur der Rhythmus, die Harmonien sind ge-
drückt, die Melodien fragend und schwermüthig , fremd-
artig durch den Klang der Instrumente, welche sie an
den wichtigsten Stellen vortragen: das Motiv a die sonst
nur fUr den schweren Dienst verwendeten Contrabässe,
das Motiv b die Homer. Auch der Mittelsatz, mit seinen
polternden Figuren und seinem eifrigen Fugiren, verwischt den
Eindruck des Aengstlichen, halb Unheimlichen noch nicht :
Sein Humor ist etwas forcirt und ungeheuerlich, er deutet
eine gute Wendung der Sache mehr an, als dass er sie
schon bringt. Als sich — wie Berlioz, dem wir hier aus-
nahmsweise das Wort geben wollen, sagt*) — der Lärm
seiner gewaltigen Läufe mehr und mehr verloren hat, er-
scheint das Scherzomotiv wieder: diesmal pizzicato. Man hört
nichts mehr als einige von den Violinen halb hingehauchte
Varianten des Motivs b und dazwischen ein seltsames,
halb unterdrücktes Schluchzen der Fagotte. Dann bricht
der Gedanke ganz ab. Das Orchester macht Miene den
bösen Traum zu verschlafen; nur die Pauke hält im pp
noch den Rhythmus wach. Es folgen einige Takte voll
mysteriöser Harmonien und einer Ruhe, dass das Ohr
zu hören zaudert, bis die Paukenschläge rascher werden,
die Violinen sich winden und raffen und endlich das
ganze Orchester wahrhaft fieberisch sich auf den leuchten -
1) H. Berlioz. A. Travers Chants (Deutsch von R. Pohl) S. 89.
^ 158 ^
den Cdur-Accord stürzt, mit dem der Triumphmarseh
des Finale beginnt. Mit seinem unbeschreiblichen Jubel,
mit Kraft und Schalkheit erstickt er alle finsteren Anwand-
lungen, die aus den früheren Sätzen in den Schluss hinein-
ziehen möchten. Die Themen sind einfach bis zur Trivialität :
AUegTO. ^^ .-^
PC^
-Ä-e-
-x--^r=3
^W^H-
z=r etc.
^^^s^i^r' ^H^^
ifplip^
mc
f-^-Q-h
•le.
^^^^^^
^> I^^^^^^P
^'pif Hu
b) scheint, wie Grove richtig bemerkt, von einem Neben-
thema im Andante der Mozart'schen Jupitersinfonie ab-
geleitet zu sein, den Nachsatz von c) begleitet ein Bassmotiv
*i- r I ^ f I r = das in der Durchfuhrung, nament-
lich aus dem Munde der Posaunen gewaltig und majestätisch
wirkt und fast ihrer ganzen ersten Hälfte zu Grunde liegt.
Der eigenthümliche Zug an dieser Durchfuhrung ist, dass
sie beim kritischen Punkte angelangt, plötzlich still ab-
bricht und das Scherzo zurückkehren lässt. Die Idee selbst
ist, höchstwahrscheinlich, einer Cdur-Sinfonie von Ditters-
dorf entnommen aber die Wirkung mit der sie Beethoven
hier verwerthet hat, so ursprünglich als möglich: Banko's
Geist an der Festtafel! Damit war auch Spohr, der wie
C. M. V. Weber, begreiflicherweise an Beethoven's Sinfonien
manches auszusetzen hatte, sehr einverstanden.
In der Instrumentirung ist nichts Ausserordentliches
als der Zusatz von drei Posaunen, die hier zum ersten
Male in Beethoven's Sinfonien erscheinen, Piccolo und
Contrafagott — aber der innere Schwung und die Kunst
cG» 159 ^
des Componisten erreichen mit diesen gewöhnlichen Mitteln
eine elementare, donnerähnliche Wirkung. Echt Beet-
hoven'sch ist die Beharrlichkeit, mit welcher das endliche
Ende immer wieder hinausgeschoben und umgangen wird.
Schliesslich muss es doch kommen, aber nicht ohne einen
letzten neuen Trumpf: ein freudezitterndes Presto über
das Thema d.
Mit Recht ist die C moll-Sinfonie Beethoven's seine
populärste. Sie war das von allem Anfang ab. Kaum
bekannt geworden, findet sie sich in den Programmen der
Virtuosen-Concerte ebenso gut wie auf den eben ins Leben
tretenden Musikfesten — eine nie versagende pi^ce de
r^istance !
Wie Beethoven auf die Eroica die vierte Sinfonie
folgen Hess, so schickte er ähnlich auf den schweren
Kampf der C moll-Sinfonie sich und den Freunden seiner L.T.BMthoTen
Muse zur Erholung die Pastorale nach. Pdar-Sinfonle
Die Biographen erzählen uns von des Künstlers leben- ^'* *• P"*o'»i«
digem Gefühle für die Schönheiten von Wald und Flur,
von seinem unablässigen Studium der Naturphilosophie
jener Tage. Beethoven hat seinem Wohlgefallen an
Wachtelschlag und Waldesrauschen, seiner Freude und
innigen Liebe zu Gottes freier Schöpfung in vielen Werken
Ausdruck gegeben; in keinem glänzender als in seiner
Pastoralsinfonie.
Sie gehört bekanntlich der Programmmusik an, sie
ist aber ein Idealwerk dieser Richtung, welche, wie früher
schon erwähnt, um die Neige des vorigen Jahrhunderts
in Süddeutschland und Wien einen starken Anhang hatte.
Von keinem Lessing geschreckt, unbekümmert um die
— heute noch nicht festgestellten — Grenzen der Musik
suchte ein grosser Theil der damaligen Instrumental-
componisten die Stoffe mit der grössten Ungenirtheit in
allen Gebieten der sichtbaren und der gedachten Welt:
in Philosophie und Geschichte , in den Werken der Dich-
ter und den Phänomenen der Natur. Jedes Verlagsver-
zeichniss brachte neue Beiträge zur beschreibenden Ton-
kunst: Thayer citirt aus 2 Anzeigen des Verlegers Traeg:
c© 160 ^
5 Sinfonien a) Belagerung Wiens, b) le portrait musical
de la nature, c) König Lear (im Jahre 1792), drei weitere
aus derselben Zeit, a) la tempesta, b) rharmonie de la
-nature, c) la bataille. ,Le portrait musical de la Nature*
war eine 5 sätzige Composition des Stuttgarter J. H. Knecht,
der als Tonmaler grosses Ansehen genoss. Und noch grösser war
dem Anschein nach die Zahl der ungedruckten Versuche,
welche auf diesem Felde gemacht wurden. Noch bis in die
Zeit Schumann^s und seiner neuen Zeitschrift hinein lassen
sich die Spuren der reisenden Orgelspieler verfolgen, welche
wie der bekannte L. Böhner ständig auf ihrem Progranun ein
.Donnerwetter* mit sich fUhrten. In einem Concertzettel des
bekannten Abt Vogler findet sich eine solche Orgelmalerei,
welche vor der Pastoralsinfonie bereits an diese erinnert:
,das vergnügte Hirtenleben, von einem Donnerwetter unter-
brochen, welches aber wegzieht, und sodann die naive
und laute Freude deshalb*. Beethoven lachte wohl Über
solche Malereien, wenn sie kindisch ausfielen, aber er ver-
schmähte sie principiell nicht, und es war auch hier, wie
Thayer richtig sagt, sein Ehrgeiz, die Zeitgenossen in
der Anwendung vorhandener Kunstformen zu übertreflfen.
Doch hat es ihm wohl einige Mühe gemacht bei der
Pastoralsinfonie über die Angabe seiner Programmideen
ins Reine zu kommen. Einmal steht im Skizzenbuch: wer
einen Begriff vom Landleben hätte, müsse den Componisten
ohne alle Titelhülfen verstehen. Dann giebt er in der
Partitur, in den geschriebnen und gedruckten Stimmen die
Ueberschriften mit seinen Unterschieden. Vom Anfang bis
zum Schluss bleibt er aber bei der Bemerkung, dass die Sin-
fonie «mehr Ausdruck der Empfindung als Malerei* sein solle.
Der erste Satz hat jetzt die Ueberschrift : .Erwachen hei-
terer Empfindungen bii der Ankunft auf dem Lande'. Von
der ersten ausfuhrlichen Recension ab, die über die Pastoral-
sinfonie erschien ^) bis heute ist immer wieder die Reserve ge-
^) AUgemeine Musikalische Zeitung 1810, S. 241. Ebenda
auch über die C moll-Sinfonie : S. 630. Der zweite Aufsats bt
von E. T. A. Hoffmann, dem Gespenster-Hoffmann.
cc 161 t>-
lobt worden, mit welcher Beethoven sich darauf beschränkt
habe nur den Empfindungen, den innem Gefühlen Aus-
druck zu geben, welche das Landleben erregt. Nicht aber
soll er versucht haben Aeusserlichkciten des Naturbildes
nachzumalen. So ganz streng ist das nicht zu nehmen.
Trotz des Titels steht in dem ersten Satze manches, was
in die Kategorie der Empfindungen nicht passt. Die
Triolen der Clarinetten und der anderen Bläser nach dem
Abschluss des Hauptthemas, der lange Triller der Geigen
vor der Reprise sind doch zu deutliche Anspielungen auf
das Thun und Treiben, das Zirpen und Zwitschern der
Vögel. Der feine Duft in der Instrumentirung, der durch-
klingende Schalmeienton, der Bnunmbassklang, die genre-
hafte kurzlebige Metrik — das Alles ist doch in diesen
ersten Satz als der musikalische Niederschlag reeller Er-
scheinungen des Naturlebens gekommen. Uns soll das
Werk darum nur um so lieber sein. Was die technische
Structur des Satzes betrifi^, so zeichnet sie sich durch
ihre zarte Beweglichkeit aus und durch einen gewissen
Miniaturencharakter des verwendeten Materials. Leicht
tändelnde Themata hat Beethoven auch in der siebenten
und achten Sinfonie — in keiner früheren — verwendet.
Aber sie sind da weder so kurz wie in der sechsten, noch
werden sie so naiv und zugleich kühn hinter einander weg
wiederholt. BJeine eintaktige, einviertelige Figuren kommen
10, 20, 30 mal hintereinander. Es ist neuerdings vermuthet
worden, dass Beethoven bei der Pastorale unter slavischem
Einfluss gearbeitet habe.*) Wohl möglich: Diese Sinfonie
ninmit thatsächlich die ganze Neurussische Schule vorweg.
Für Cantabilität und grossen Ausdruck bietet nur die zweite
Hälfte des ersten Thema eine bescheidene Unterlage
Allegro ma non lro£^. _ _ _ ^
creic.
^) Vgl. Kahacz, X. Sammlung Kroatischer Volkslieder
(Agram 1878 — 85) Bd. III und den Aufsatz: „Das Kroatische
in der Pastoralsinfonie" in Allg. Musikzeitung 1893, S. 638.
KretzBchmar, FUhrer, I. 11
^ 162 ^
^^■h i f p \}\ . Der Zusatz von DankgefUhl, welche der
Heiterkeit dieses Gedankens schon mit beigemischt ist, kommt
in dem Zwischenmotiv, welches zum zweiten Thema über-
leitet, noch be- p ■ ß^ i ■ ■ ^^^•^- | t-f-^^m=^:^f^\ \
redter heraus fr ^ ^ ^.LJf * f l 'f f i ^ '■J ■/ I f |-j— p-J*
In seinen inmier neuen Wiederholungen kann es sich gar
nicht genug thun: es wandert durch alle Instrumente,
überall das Bewusstsein der glücklichen Stunde weckend,
zu ihrem vollen Genüsse ladend. In verwandten Bildungen
kommt auch die ,Scene am Bach* und der , Hirtengesang*
des Finale darauf zurück. Das zweite Thema selbst ist
nur der Abschluss der beglückten Schwärmerei:
|f^■fLg^l^t-lf^-^^^H
•f"^ r~L.\ r In den formellen Elementen zeigt es sich
dem ersten Thema mehr verwandt als entgegengesetzt. Für
die Durchfuhrung hat der zweite Takt des ersten Themas
Hauptbedeutung. Aus ihm entfaltet Beethoven breite
Bilder, wechselnden Scenen der durchwanderten Natur
gleich, die zum Staunen und Lauschen veranlassen. Dem An-
schein nach sind sie alle ähnlich leicht entworfen wie die ent-
sprechenden Abschnitte der 4. Sinfonie. Beidemale handelte
es sich um Ideen, mit denen Beethoven*s Phantasie spielen
konnte, nicht zu ringen brauchte. Soll aus diesem Dupch-
fuhrungstheil etwas hervorgehoben werden, so möchte man
gleich beim Eingang beginnen. Hier sind die scharfen
Biegungen so auffällig und fesselnd, die der Weg macht.
Von B nach Z), dann nach G und J'J; immer gehts im
scharfen Ruck: Landschaftliche Ucberraschungen ! Vom
Glänzenden wendet sichs nun zum Intimen und wie der
Wechsel auch weiter geht, der Genuss wächst nur. Weil
menschliche Schwäche anmuthige Kunstwerke hinter die
leidenschaftlichen stellt, sind wir — England ausgenonunen
— fUr- den ersten Satz der Pastoralsinfonie nicht so dank-
^ 163 ^
bar, wie er's verdient. Steht er doch, wie es Beethoven
auch sichtlich gewollt hat, dem ersten Satz der Fünften an
Kunstwerth mindestens gleich. Moritz von Schwind und
nach ihm neuere Maler haben die Pastoralsinfonie zu
illustriren, Theaterdirektoren und andre Leute von Phan-
tasie haben sie scenisch und mit lebenden Bildern^) auf-
zufuhren versucht. Für die andren Sätze mögen diese
Versuche annehmbar sein ; von dem Inhalt und Charakter
des ersten geben sie keine Ahnung.
Im zweiten Satz hat Beethoven die malende Ten-
denz offen eingestanden: er nennt ihn: «Scene am Bach*.
Im Vordergrunde dieser entzückenden Composition stehen
als die Hauptthemen zwei leicht eingängliche gesang-
volle Melodien, aus denen das ganze glückliche Behagen
einer von allem Tagewerk befreiten, der herrlichsten Ruhe
und den lieblichsten Träumereien hingegebenen Seele
spricht, und wir dürfen Alles mit geniessen. Der Ton-
dichter führt uns an den sonnigen Waldbach hin, wir
sehen die glitzernden Wellen dahingleiten und hören ihr
melodisches, fleissiges Gemurmel. Tausende von Lichtem
blitzen durch die Bäume; von ihren Zweigen, ihren
Gipfeln schallen kleine zarte Stimmen; es neckt sich, es
lockt sich; es lebt im Laub und im Grase; der Kukuk
ruft, die Wachtel, die Nachtigall, der Goldammer und aus
der Schaar der gefiederten noch so mancher andre unge-
nannte Sänger. Es ist ein so lebendiges Bild von dem
heimlichen Weben der Natur, so glücklich gemischt mit
menschlicher Poesie, so natürlich in dieser Mischung und
in seinem ganzen Verlaufe. Die Musik des Satzes ist fast
mehr klanglich als gedanklich. Es trillert fortwährend in
Violinen, Flöten, Oboen, die Bässe und Homer halten,
durch Syncopen doppelt bemerklich, lange Töne, es
schwirrt von kleinen Motiven. Das erste Thema im Satze
wächst sich aus solchen verstreuten Ansätzen ziemlich un-
merklich zu einer Melodie aus (Bdur) schwärmerisch,
^) Vgl. Jahn, O. Gesammelte Aufsätze: S. 260 „Beethoven
im Malkasten'*.
11*
ee 164 -EX.
träumerisch, mit einem frommen Anklang. Das zweite
Thema, das die Fagotts bringen, spricht Freude und Ent-
zücken etwas lebhafter aus, aber doch immer noch zart.
Die Durchführung ist kurz, modulirt aber viel. Da wo
sie nach G dur tritt, lässt sich in einem Arpeggio der Flöte
— wie Beethoven Schindler mittheilte, — der Grold-
ammer hören. Der berühmte Scherz, wo Nachtigall,
Wachtel und Kukuk zusammenwirken, befindet, sich in
der Coda.
Im folgenden Satze wird ein , lustiges Zusammensein
der Landleute* geschildert. Man versammelt sich, sehr
munter und leichtfüssig eilt das junge Volk herbei:
Allefro.
Sofort wird auch der Vorschlag zu einem Tänzchen gemacht,
zunächst noch leise : ^^^ -Jf^r[^r^ f | f^^^t^^.
Als immer mehr kommen, und es lauter und lauter wird,
da ist die Möglichkeit eines Reigens Thatsache und wird
mit urkräftiger, allgemeiner Zustimmung begrüsst. Und
nun beginnen jene drolligen Scenen, in welchen Beethoven
sich als Bauemmaler mit vollendetem Humor und mit
weitgehender Realistik neben und über die Teniers, J.
von Ostade, Adrian Brouwer und die andern Grössen des
Faches stellt. In der Form dieser Schilderungen liegt
ein zweiter grosser Spass, denn es ist darin sehr über-
müthig die saloppe Art und Weise copirt und parodirt, in
welcher, wie heute noch, auch zur Zeit der Wiener Meister
ländliche Orchester zuweilen ihr Pensum Tanzmusik ab-
solviren. Das sind ganz die richtigen, armen, müden und
schlaftrunkenen Bierfiedler. Man hört lange Strecken nur
begleitende Mittelstimmen und Rhythmus. Dann setzt eine
Oboe ein, aufs Gerathewohl. Sie scheint eben erwacht,
und hinkt ihre Melodie ein Viertel nach der Zeit hinter-
her. Ab und zu giebt auch ein anderer ein paar Töne
drein, um gleich wieder zu verschwinden. Von besonderer
uy
165
'd^
Komik ist namentlich der stereotype Einsatz des ersten
Fagott, der immer nur f c bläst. Dass Beethoven
specifisch österreichische Vorbilder für diesen ausge-
lassenen Scherz im Auge hatte, zeigt der zweite Theil
dieser Tanzmusik: der Zweivierteltakt, welcher den Drei-
viertel ablöst. Die alte östreichische Tanzmusik ist suiten-
mässig gehalten und liebt den plötzlichen Wechsel der
Rhythmen. Nimmt man zu der Melodie dieses neuen
Satzes
mit ihrem Lärm und ihren gewaltsamen Accenten noch
die breiten Rhythmen und die unbewegliche Harmonie
der Begleitung, so ist das Bild einer plumpen und schwer-
fälligen Lustigkeit, einer Lustigkeit in Holzschuhen und
Aufschlagstiefeln, vollendet. Ganz drastisch ist der Schluss
dieses Mittelsatzes. Man tobt zuletzt, dass der Athem
ausgeht: eine Fermate mit diminuendo bildet das über-
raschende Ende dieses die Stelle des gewöhnlichen Trio
vertretenden Theils. Die Repetition des Hauptsatzes be-
ginnt, sie wird aber schon bald durch eine Generalpause
unterbrochen. Augenscheinlich macht sich etwas Be-
denkliches bemerkbar. Endlich ist man wieder im alten
Geleise; schon setzt die Dorfmusik wieder ein: Da
kommt statt des regelrechten kräftigen Fdur-Accords ein
-CT AI *5-f ^— ^^ ^^^ Contrabässen und Cellos. Das ist
- >ii j^ |:d^ gjji Donnerschlag in der Ferne. Man flüch-
ßv
tet, rettet sich und ruft ängstlich und klagend durcheinander:
Das Grollen
des Donners
Jl.Viol.
•fc. und Jfp I.Viol.
wiederholt sich, rückt näher, und nun im Fortissimo
t\. - . = .f f>. s . . ^^ bricht dasjWetter
AV'\> \ l' ^-l^ir r. j J I I los.BUtzezucken:
c<? 166 ^
4 .k^ — -:ft^-V-^ ^ I- f-f-^~^ Windstösse fahren ein-
P j^^^~^~^'^~~*7j) ^^^--— > her, Regenschauer
platzen nieder in mächtigen Unisonos des ganzen Orchesters :
Auf Momente tritt
-jt-p^j., m II Äur iKLomenie inw
^--^ i-T-Pf^-T-f f i-^' unheimliche Ruhe
ein, dann zuckt es wieder auf und schlägt scharf und
furchtbar drein. Den Ernst der Situation, den Höhepunkt
der Krisis bezeichnen die Bässe mit ihrem düstern Scalen-
gang und seinen er- ^^y-rH-f^-fH^ri» hiTl J 11^
schreckenden Accenten Jy ^f Jf ^^
In das furchtbare Grollen und die Aufregung der
Orchestermassen wirft jetzt auch der Piccolo seine
schrillen Töne, die Pauke wirbelt stärker, und zum
ersten Male in der Sinfonie stürmen die Posaunen drein.
Die Harmonie ist auf einem vier Takte langen Septimen-
accord erstarrt! Nun scheint aber auch das Schlimmste
vorbei zu sein. Und so gewaltig Beethoven bis hierher
im Aufthürmen und Drohen war, so rührend theilt und
glättet er nun die Wogen und lenkt zu dem letzten Theil
der Sinfonie über, dem „Hirtengesang* , der unmittelbar
ohne Pause an das „Gewitter* anschliesst. Wenn wir an
diesem beendeten Satz die Wahrheit , die Macht und die
Naturtreue der Darstellung bewundem, wollen wir nicht
vergessen auch der noch schwierigeren Kunst, die er hier
voll bewiesen, unser Augenmerk zu schenken. Das ist das
Maass, welches Beethoven bei der Ausführung der für die
Tonkunst dankbaren Aufgabe hielt, der souveräne Ge-
schmack mit dem er aufhörte , nachdem das Nöthigste
aufs Treffendste gebracht war.
Der „Hirtengesang* (AUegretto ^/b) soll „frohe und
dankbare Gefühle nach dem Sturme" schildern. Er thut
es mit Motiven, welche von hier und da erklingen und
deren pastoraler Charakter und deren Einfachheit Citate
unnöthig machen. Er thut es mit frommem innigem Ge-
sang, mit Wendungen in das muntere Gebiet und mit
oG» 167 '^
mancher versteckten und sinnigen Anspielung an Motive
des ersten und zweiten Satzes. Aber er thut das Alles
in einer etwas sehr ausführlichen Weise, mit Variationen,
Fugatos und andern Formen, die der Wirkung seiner
schönen Idee von jeher etwas Eintrag gethan haben. Zu
Beethoven's Zeit wurde darauf hingewiesen, dass Haydn
in seinen Jahreszeiten das gleiche Sujet, weil kürzer,
efiFectvoUer behandelt habe. Der formell beachtenswertheste
Zug an der Pastoralsinfonie ist ihre Dreisätzigkeit. Sie
zieht gleich wie die fünfte, die mit ihr entstand, Scherzo
und Finale zusammen. Wir finden andere Merkmale eines
solchen Parallelismus an Beethoven*schen Werken häufig.
Die siebente und achte Sinfonie sind wieder Zwillings-
werke: beide wurden in demselben Jahre 1809 skizzirt,
beide 1812 — die achte in Linz — vollendet, bald nach
einander im December 1813 und Februar 1814 aufgeführt
und später als op. 92 und 93 veröffentlicht. Die Musik
beider Werke trägt die Züge einer und derselben sonnigen
Heimath, beide sind von grandioser Heiterkeit, die eine
mit einem starken Schatten darin, die andere ganz un-
getrübt — aber merkwürdiger Weise hat die achte nichts
von der überreichen Popularität der siebenten, der Adur-
Sinfonie, erringen können. Zum Aerger Beethoven*s,
welcher zu sagen pflegte: die achte sei ,viel besser* als
die siebente. In Wien wurde Jahre lang die Pastoral-
sinfonie schlechthin als die Sinfonie in Fdur angezeigt,
als ob die achte gar nicht existirte.*) Erst neuerdings
zeigen die Concertzettel die Tendenz, dieses Hohelied des
Humors zu Ehren zu bringen.
Aehnlich wie die zweite Sinfonie eröffnet die sie-L.T.Beethoren
beute eine lange ausführliche Indroduction, ein herrliches, Adur-Sinfonie
träumerisches Tongemälde , in dessen Bann der Zuhörer Nr. 7.
ganz vergisst, dass es nur eine Einleitung sein soll.
Auch Beethoven hat mit gleicher Liebe kaum eine zweite
Indroduction behandelt. Ihre Hauptmotive sind
^) E. Hanslick: Aus dem Concertsaal (1870) S. 819.
ce
168
-c»
Foco sostennto.
- fj.'f^'^'rffH^
beide zum ersten Male von der Oboe eingeführt; gigan-
tische Scalen bilden den Uebergang. Aehnlich wie in der
letzten Ouvertüre zu ^Fidelio', der in E, benutzt Beet-
hoven die ersten beiden Noten des Adur-Themas zu
romantischen Bildern, über denen jetzt Mondschein, jetzt
der Glanz der prangenden Sonne liegt. Plötzlich, wie
auf den Wink eines verschwiegenen Programms bricht er
dann diese Scene erhabner Schwärmerei ab und lenkt in
neckischer Führung der Instrumente über ins Vivace,
dessen Hauptthema
vivace.
Y''''^'|J7OT| J ^ t J)| J i)^ \^^ ä 'r f ^^
.ly^f
j J)J^i^j I }\f ;iJT3irTpi^ /.JTlirr pi
zugleich auch im Wesentlichen das Einzige des Satzes
ist. Derselbe ist in dieser Beziehung, in der Ausbeutung
eines beschränkten Grundmaterials mit dem Eingangs-
satze der C moll-Sinfonie verwandt, im Charakter selbst-
verständlich ganz verschieden. Beethoven gewinnt dem
naiven pastoralen Grundgedanken des Satzes der zuerst
wie ein Nachklang, ein Supplement der sechsten Sinfonie
auftritt, Wendungen von hoher Pracht und Erhabenheit
ab; das Gebiet des Leidenschaftlichen und des Dunklen
wird nur gestreift. Reich ist der Satz an langgemessenen
Perioden, Producten einer ungewöhnlichen Macht und
Grösse der Empfindung; eigenthümlich sind ihm die
schroffen Modulationen und der unvermuthete und unver-
mittelte Wechsel extremer dynamischer Nuancen. In beiden
c<? 169 ^
Merkmalen äussert sich excentrische Stimmung. Auch das
kurz abbrechende Element, das den Schluss der Einleitung
charakterisirte , kehrt in diesem Vivace wieder: mit
Dissonanzlösung, Modulationssprung und Wechsel von ff
und pp verbunden sehr kühn und neu gegen den Schluss des
ersten Theils wo dem lauten Accord: a-cis-e-fis vorüber-
gehend ein stilles — a c f — folgt. Die Durchführung be-
ginnt ähnlich sprunghaft. Wir sind plötzlich in Cdur,
aus wildem Lärm in verschwiegner Idylle: tief unten
flüstern und murmeln die Bässe das Thema. Bei der
Reprise geht es mit Sturm und Scalenanlauf in das
pastorale Hauptthema; erst später wiederholt es die Oboe
in seinem angestammten Ton. Wie dieses eine Beispiel
so ist der ganze Verlauf dieses Theils Wiederholung in
freister Art; in der Instrumentirung, im ganzen Charakter
erscheint das alte Material neu und frisch belebt. Die
Coda ist mehr als je Beethovenisch. Sie tritt unter
seltnen Zeichen ein: mit Generalpause, mit einer ganz
imerwartet^n Ausweichung der Harmonie nach As und
einer langen Satzbildung über einem kurzen Basso ostinato
folgenden Inhalts .? *<* f'^*^ k^j^ '^' 1« Was uns
andere Stellen vernehmlich genug andeuten, das zeigt
uns diese ganz deutlich und unverkennbar, dass nämlich
hinter der anscheinend dominirenden , manchmal grellen
Heiterkeit dieses Satzes doch höhere und ernstere Ge-
danken wachen, die sich nicht übertäuben lassen. Es be-
steht ein Zusammenhang zwischen dieser Stelle und dem
edlen Pathos der Indroduction , ein Zusammenhang, der
sich auch noch in der Melancholie des Allegretto und in
den feierlichen Visionen, welche dem Trio des Scherzo zu
Grunde liegen, verfolgen lässt. Wie ein leitender Faden
geht durch die ersten Sätze dieser Sinfonie der halbver-
schwiegene Kampf zwischen einer jetzt harmlosen, alltäg-
lichen, jetzt wilden Fröhlichkeit und einer höheren Sinnes-
art. Die Sinfonie erscheint unter diesem Gesichtspunkt
als ein Lebensbild, aber nicht als ein rein freundliches.
Das Ende deckt ein ironischer Humor.
^ 170 ^
Der zweite Satz der Adur- Sinfonie, Allegretto über*
schrieben, ist von Alters her berühmt. Die Berichte aus
den Jugendjahren des Werkes theilen fast von jeder Auf-
fuhrung mit, dass dieser Theil zur Wiederholung ver-
langt worden und gebracht sei. Das AUegretto besitzt
jene seltne Art von Originalität, die sofort verstanden
und sympathisch aufgenommen wird. Am Eingang und
Ausgang des Satzes steht wie eine Erscheinung aus
fremdem Lande ein Bläseraccord , auf eine Quartsext-
harmonie kühn und vielsagend hingestellt. Dann be-
ginnen die tiefen Saiteninstrumente still und leise das
merkwürdig resignirte Thema:
mit dem gebrochnen Marschrhythmus hinzustammeln.
Erst . mit dem Eintritt der Geigen kommt Fluss in die
Sprache: Celli und Bratschen begleiten mit einer Melodie
von innig sehnsüchtigem Ausdruck
>M n> ft"^tf ifrr ifUffffff^^^\^^^f I
Je mehr sie aus ihrem anfänglichen Versteck heraus-
tritt, um so wärmer wird der Ton der Darstellung. Wie
einer Bitte die Verheissung, so folgt diesem edel weh-
müthigen Satze eine einfach sanfte, freundliche Melodie,
die wie eine Mutterstinmie tröstend und zusprechend aus
der Clarinette weich herüberklingt:
r ifru i u J iTiTTr \fTu
iiT I r TT lfm
•te.
Der einfache Contrast von Moll und Dur wirkt hier mit
ganz ursprünglicher Elementarkraft. Die Bässe klopfen
unter diesem Gesang den alten Marschrhythmus leise
weiter, der wie Cerberus unter Orpheus' Saitenspiel zu
cc? 171 -0-
erweichen scheint. Mit einem Male aber fahrt er wie
eine Tigertatze hervor; schrill und heftig durchsausen
die trotzigen Achtel das Orchester von einem Ende zum
andern. In veränderter und erweiterter Form beginnt die
Repetition. Nachdem die zweite Grruppe wieder vorbei-
gezogen, folgt das Ende sehr rasch mit all' der eigen-
thümlichen und schmerzlichen Schönheit eines gewalt-
samen Abschiedes.
Mit derselben Erscheinung eines unbarmherzigen Los-
reissens von prächtigen Bildern endigt auch der dritte
Satz. Das Trio mit dem, nach Abb^ Stadler*) einem
östreichischen Wallfahrtsgesang entnonmienen Thema:
Aiia! meno pretto.
bildet den paradiesischen Theil dieses Satzes. Es ist
nicht auszusagen, welch' ein zauberhaftes Tongebilde
Beethoven dieser einfachen Melodie entlockt hat, wie er
hier das Schöne in immer neuen Arten ausbreitet von
der lieblichen stillen Idylle, mit welcher die Holzbläser
einsetzen, bis zu den im Sonnenglanze strahlenden, fest-
lichen und feierlichen Schlüsse, in dem das Thema unter
Pauken und Trompetenklang mit dem vollen Orchester
wie auf dem stolzen Siegeswagen einherzieht. In einer
genial - energischen Weise, die ohne Gleichen ist, hat
Beethoven in diesem Trio den Effect einer sogenannten
liegenden Stimme angebracht. Den ganzen Triosatz
durchschinmiert der gleiche Klang eines festgehaltenen a;
bald schwebt dieser Ton in den Violinen über den Me-
lodien, bald leuchtet er aus den unteren Instrumenten
in den Gesang des Orchesters hinein; am eigenthüm-
lichsten an den Stellen, wo das zweite Hörn ihn murmelt.
Schärfer als sonst vielleicht mit Ausnahme seiner ersten,
der C dur-Sinfonie , wollte Beethoven hier das Trio gegen
den Hauptsatz contrastiren lassen. Die Tonarten zeigen
1) Vgl. A. W. Thayer: L. v. Beethoven's Leben (1879)
lU., 191.
to 172 '^
das schon: D za F, Der Hauptsatz selbst ist ein echter,
der Capricen voller Schwarmgeist.
Pretto. ^)
iji > ii j i^j^jh j ii| ii I n" I I II I I I, , 1 1
j.ir r f ir r M| I I I I Ti I I i|~i I
Seine Haupttrümpfe spielt er in seinem zweiten Theile
aus, wo auf Grund der Motive a und c der überraschendste
Schabernack, namentlich auch in metrischen Dingen ge-
trieben wird. Der Bau des ganzen Satzes ist abweichend,
aber einfach, nämlich : Hauptsatz und Trio zweimal. Der
Hauptsatz wird zum dritten Male durchgespielt, auch das
Trio setzt zum dritten Male ein, gelangt aber nicht über
den zweiten Takt hinaus; sondern Beethoven schlägt ein
Schnippchen und „spritzt die Feder aus' , wie Schumann
sagte.
Das Finale bt einer der ausgelassensten Sätze in
der ganzen Musik: Beethoven nicht blos „aufgeknöpft*
wie er sich gern sah und nannte, sondern Beethoven in
einer demonstrativen, wilden, trotzigen Lustigkeit, die zu
einem Theil derselbe „Galgenhumor* zu sein scheint, der
in seinen letzten Kammermusikwerken öfters wiederkehrt.
Dieser Satz tollt daher wie von der Tarantel gestochen,
jauchzt, schreit auf
Allegro eon brio.
pocht in überschäumender ELraft
^) Qrove macht darauf aufmerksam, dass das Thema auch
in Beethovens Accompagnement zu dem Irischen Lied „Nora
Croina" vorkommt.
ce 173 -&»
und mischt auch in seine Grazie
^,^ einen Zug des Grotesken:
ff f /f nfSr f fr 9 rlir f f r f jUr ^T? yTir ^'/f f /l
If f'/T f/ I rJT [ l*[J r I ^^. Ein formelles Element,
welches sich an diesen Themen nicht einfach beweisen
lässt) aber in ihrem Zusammenhang ersichtlich wird, ist
die Hereinziehung ungarischer Rhythmen, Accente und
Anklänge. Unter den Combinationen, in welchen Beet-
hoven das hier skizzirte Ideenmaterial entwickelt, sei die
Fdur-Stelle am Anfang der Durchführung hervorgehoben.
Da stösst der Fluss auf ganz merkwürdige Hindemisse,
zu deren Beseitigung die Violinen und die Bässe sich
grotesk riesig anstrengen. Die Kühnheit der thematischen
Entwickelung erreicht den Gipfel mit dem colossalen
Orgelpunkt der Coda. Wir stehen hier ganz in der Nähe
des Maasslosen und thun gut im Interesse unsrer Jugend
zu bemerken und zu bekennen, dass Beethoven zuweilen
geneigt war seine Intentionen mit übermüthiger Hart-
näckigkeit auf die Spitze zu treiben. Eine »ungebändigte*
Persönlichkeit nennt ihn Goethe in einem Brief an Zelter.
Es lässt sich nicht leugnen, dass darunter auch die klang-
liche Klarheit und Ausführbarkeit unsres Finales gelitten
hat. Wenn ein Theil unsrer heutigen ELritik die von
Fach- und Zeitgenossen Beethoven's gegen diese Punkte
gerichteten Einwendungen schnellfertig auf Neid und Be-
schränktheit zurückzuführen beliebt, giebt er sich selbst eine
Blosse. Unbedingte Bewunderung ist eine erhebende Er-
scheinung, jedoch nur wenn sie auf zureichender Einsicht
beruht.
Die achte Sinfonie (Fdur) beginnt ohne Einleitung L.T.BeetboTen
mit Themen, die eine laute Fröhlichkeit, ein Behagen, Fdur-Sinfonie
aber noch nicht einen wirklichen Humor ausdrücken: ^'* *•
c<? 174 o»
HauptthemA.
All«pro Tirac«.
Pf ■ {^ I M F^
SeitanthemA.
II f',\^,fih\m-
In dem Abschnitt b des Hauptthemas liegt sogar ein
sinnendes, zögemdes' Element, welches das zweite Thema,
ifi njjiiJj' njjj] ni^jXn II 1^1
r r^r in7r^i-r^^4g^^^
trotz seines tändelnden Eintritts, theilt und in fast stär-
kerem Grade besitzt. Der Schalk konmit erst später und
zwar am Schlüsse der Wiederholung dieses zweiten Themas
durch die Bläser. Da machen die Bässe dem Ritardando
und dem Septimenaccord ein rasches Ende
y .J^J Ji'^i* I ' und wecken Kraft und Leben in der
Versammlung. Doch bleibt dem ganzen Satze ein elegi-
scher Rest — sehr schönen Ausdruck hat er in dem zweiten
Seitenthema gefunden
il i'r r i^f r-|7-| i^j.'Ti^ r ir f ir r ir
Der Hauptzweck der Durchfuhrung ist, ihm die weitere
Ausdehnung zu bestreiten, was in einer launig barschen
Art auch ausgeführt wird. Beethoven beginnt diese Durch-
führung mit einer kleinen Bosheit gegen die Bratschen;
sie, die sonst immer in Deckung marschiren, stellt er als
hätten sie den allgemeinen Rückzug versäumt allein hinaus
CO 175 ^^
mit dem Motiv V' | ^ f | J- = • Diese immer wieder
holten vier Noten sind die kläglichen üeberbleibsel des
glänzenden Schlusses, den das Tutti dem ersten Theil des
Satzes, der Themengruppe gab. Sie sind zugleich die
variirten Stichworte für den Einsatz des zweiten Themas.
Doch dieses zweite Thema kommt nicht, sondern Fagott,
Clarinette, Oboe, Flöte nach einander benutzen die Ge-
legenheit, das erste Motiv des Hauptthemas in sentimentale
Beleuchtung zu bringen. Das Tutti fährt lärmend da-
zwischen und setzt, nachdem die Versuche noch einigemale
sich wiederholt haben, auch seine Auffassung durch : Kraft
ist Trumpf. Aus den ersten 6 Noten werden durch Se-
quenzen Perioden gebildet, in denen erst die Bässe (D moU),
dann die zweiten Geigen (G moll), die ersten Geigen (F moll)
die Führung übernehmen. Die Instrumente reissen sich
formlich um das Motiv; vom Einsatz des Desdur ab
stehen wir vor einer nahezu beängstigenden Kampfscene.
Die Bässe bleiben die Sieger, stellen die Ordnung wieder
her und beginnen in unbeschreiblich stolzem Ton die
Reprise des^ Satzes. Die Coda fängt nochmals contra-
punktiBche Neckereien an. Doch mit dem heimlichen
Schluss des Satzes: m^ ^ p^ppjj i ^ bleibt das letzte
Wort den Grazien.
Es bt interessant aus den Skizzenbüchem Beethoven's
zu ersehen, dass der ganze schöne Ausgang des ersten
Satzes (von der Fermate ab) nachcomponirt ist.
Dem stark humoristischen Grundzug dieser Sinfonie
zuliebe hat Beethoven auf einen langsamen Satz in ihr
verzichtet und infolge dessen den Mittelsätzen dieses
Werkes einen von dem an dieser Stelle Gebräuchlichen
ganz abweichenden Charakter gegeben. Der zweite ist
ein richtiges Allegretto; es hüpft auf Kinderfüssen dahin,
jugendlich durch und durch, unschuldig und reizend,
scheinbar wie in einem Zuge hingeschrieben. Es ist eins
der genialsten und gewinnendsten Stücke im graziösen
CG' 176 ^
Genre. Ursprünglich hatte es Beethoven als einen Canon
auf Mälzel und sein Metronom entworfen. Die Sechzehntel-
Accorde mit denen die Bläser einsetzen, sollen also das
Klappern dieses Instruments nachahmen. Der dritte Satz
ist ein echter Menuett im alten Schnitt, in halb liebe-
voller, halb humoristischer Hingabe an altvaterisches
Wesen und Brauch ausgeführt. Wie getreu ist die ge-
müthliche Gravität und die Innigkeit, mit der vordem ge-
Tempo dl Mea.
tanzt wurde, tf ff i f des Anfangsmotivs, wie launig
in dem & * die Umständlichkeit, mit dei
angesetzt, ausgeholt und der Takt probirt wurde, in dem
Tempo di Mennetto.
-li ^ n 1^ P-.^ I^T^ wiedergegeben! Das Trio
g yU ' QJj ^^ ' V^^ ist ein verklärter Ditters-
dorf , eine wunderliebliche Idylle aus der altwienerischen
Musikantenzeit, über dessen Charakter der Ciavierauszug
keine genügende Auskunft giebt. Es stehen in dem Satze
manche kleine Scherze im Stile der Dorfmusik in der
Pastoralsinfonie. — Um allen Missverständnissen in der
Behandlung dieses dritten Satzes vorzubeugen, hat ihn
Beethoven „Tempo di Minuetto* überschrieben d. h. nicht
ein blosser Titularmenuett , wie ihn Haydn oft schreibt,
sondern einen mit der Poesie und dem Tempo der Spiess-
bürgerzeit !
Das Finale, dessen schon früher erwähntes Hauptthema :
Allegro TiTace.
rj*
ü "• l'iil^ ^i^^^'i ^i^^^"il^^^
ebenso wie das des ersten Satzes, nach Ausweis des
Skizzenbuchs, zu den schwer gefundnen gehört, steht mit
seinen thematischen Wurzeln, aber auch mit seiner Ent-
wickelung, seinem leichten, schäumenden, geistsprühenden
Wesen auf dem Boden Haydn'scher Kunst. Es ist ein ins
l^*-^ :;->?*• L:i=:,'ri-rlvLrf. H:*-r *^-rr jv-V^ j^,> G- jmisäu-
* Takt^ W'-irrT :c C ior :2r.ni<?r I^i?<?r. ht^imlicher. Und *1I^
mai fillx in dirr I^fizTrn T"L»f da na ein Lama ein. dt r ui>> aus
aljrn Himm-
ln wL-ft: 4^ n ! ! I ;
I>i *-*♦-« ci«, tfin hTim<^»ri*ti«cht?s Un^reh'nier. ein irä;izl;ob un-
ma*ikali«che* Phän^tmen. ein S<*hreck!i<?huss, ein Uebererritf
d*^ äu*s^r!4en Rt^ali-mus in der Kuü<t ist eine Haiiptquelle
für die originelle Wirkunir d»^s Finalt.-s der S. Sinfoni«'. Es
hat nirgends wieder «**int*s Gkicben; vielleicht jrlucklioher-
wei*e. Nach dieser rerwetrnen Aurt\:hrunir des Haiipt-
themaS; setzt nun das zweite Thema lieblicher al> je ein
i \ f ^ vf i \ i \ " |. Es schliesst mit einem Anbauir:
vn r J' CJ" I r— > r.' I r «tc. der ganz wie leisesKiche
rn
PP
klingt. Die Themengruppe ist damit zu Ende. Der Satz,
einer der längsten Beethovensinfoniesätze, hat modificirte
Rondoform: es setzt die erste Durchfuhrung ein, ernst
durch die Herrschaft des neuen, sehr einfachen Commando-
motivs "ffi ^ I I n I "^ und durch Bildungt^n aus
den Vierteln vom 6. bis 8. Takt des Hauptthemas ent-
Kretzsohmar, Führer, I. 12
^ 180 '^
und die Skizzenbücher zeigen wie er wiederholt dazu aus-
holt, es in Ouvertüren — z. B. bei der zur Namensfeier —
zu verwenden. Aber noch im Jahre 1823, als die ersten
drei Sätze schon so gut wie abgeschlossen waren, sehen
wir ihn zwischen einem vocalen oder instrumentalen
Schlusssatz für die neunte Sinfonie schwanken. Wenn
Beethoven sich dann doch für die Zuziehung des Gresangs
entschied, so handelte es sich dabei um eine Massregel,
die im Princip schon Haydn für zulässig erklärt hatte,
indem er Recitativ in der Sinfonie verwendete. Beet-
hoven war ihm darin in seiner Fünften gefolgt und
von da, zuerst in den Skizze nbüchem, dann in seiner , Chor-
fantasie ** zur Verwendung wirklicher Menschenstimmen
und ausgeführter Vocalmusik weiter geschritten. Aus
dem 17. Jahrhundert giebt es Cantaten, von denen man
nicht weiss, ob sie wohl zur Gesang- oder zur Instrumental-
musik gehören. Auch zu Beethoven's Zeiten war in der
Sinfonie der Chorschluss versucht worden. So von P.
von Winter in seiner Schlachtsinfonie, die bei ihrem Er-
scheinen (1814), so schwer begreiflich das diesem Product
aus Lärm und Trivialität gegenüber auch sein mag, viel
Aufsehen erregte und Beethoven's „Schlacht bei Vittoria*
an manchen Orten aus dem Sattel hob Auch eine Sin-
fonie „Schlacht bei Leipzig* des Böhmen P. Maschek
(1814) gehört zu dieser Mischgattung von Sinfonie und
Cantate. Freilich war zwischen den Formen der Sinfonie
Beethoven's und der anderer Leute ein grosser Unterschied,
und indem Beethoven für die Sätze, welche zur Vor-
bereitung, Begründung und Einleitung der Ode dienen
sollten, seine gewöhnlichen Sinfoniemasse des AUegro, des
Scherzo und des Adagio nicht nur beibehielt, sondern
auch noch steigerte, erhielt Schiller's Tempel der Freude
einen so colossalen Unterbau, ein Fundament von solchen
Dimensionen, solcher Selbständigkeit und solchem Reich-
thum an eigner Schönheit, dass das Hauptwerk, welchem
dies Alles dienen soll, leicht darüber vergessen werden
kann. Sei es nun mit der formellen Berechtigung wie es
will; keinesfalls würde Beethoven die Ode ins Finale ge-
c<?
181
-Oo
bracht haben, wenn zwischen ihr und den drei ersten
Sätzen der Sinfonie keine geistigen Beziehungen bestanden
hätten. Sie aber aufzufinden, ist nicht schwer.
Die Schilderung eines Zustandes, dem die Freude fehlt,
ist die wesentliche Idee des ersten Satzes. Mit der Form-
freiheit, welche die Werke von Beethoven 's letzter Periode
auszeichnet, setzt er zunächst ohne Thema ein. Es wogt
und nebelt chaotisch und unbestimmt über den berühmten
leeren Quinten. Dann, erst nach 16 Takten, steigt in
finsterer Majestät, voll Kraft und Trotz, aber durch einen
an die gleiche Stelle in der „Eroica* erinnernden Zug
des Leidens gezeichnet, die Heldengestalt dieses Allegro
zu Tage:
AllegTonon troppo an poco maestoso.
i
ff>FI^^"-f!Q-^lj^^ffff^lp>rTlP>' I
Welch' heroischer Eintritt, wie langgemessen der Weg —
aber wie sonderbar wirr das Ende! Das Thema setzt
gleich darauf zum zweiten Male von einer anderen Seite
ein, in Bdur, ohne sich aber wieder so breit zu ent-
falten: Ketten, aus dem Motive a^:^:^^:^ gebildet.
decken und vorbereiten den Aufmarsch seiner zweiten
Hälfte. Es capitulirt am Schluss und überlässt unmittelbar
das Terrain an das zweite Thema und seine Vorläufer
cur.
*e 182 ^
I I fl p if ff I _ Auch hier das gewaltige
"w'^^bü y* ß>cre*e.*tc ' Längenmass, welches alles
y* ^' ^''^^i^ y jtcre»e.tc
Gedanken- und Formenwesen der neunten Sinfonie, und
dieses ersten Satzes insbesondere, charakterisirt. Dieselbe
dämonische Unruhe, welche Empfindung und Phantasie
immer wieder aufjagt. Sie treibt hier aus dem Reiche
milder Wehmuth , freundlichen Sehnens , tröstlichen Er-
innems fort in das Un- ^ f |;rrfl - i^f f* f ftrz" Unmittelbar
gy [ bir "^ I I Ld ^"^ * daran reihen
jcr
gestüm des Kampfes
sich wieder Bilder des Friedens und des seligen Glückes
E^ i t=tdlf^"T^r |etc. Alle Qual schlum-
mert einen Augenblick; aber auch aus dem sanft wiegen-
den Traumgebilde treten Gegensätze erkennbar hervor:
Im Nu ist ein neuer Ausbruch da, in welchem diesmal
die wild aufschlagenden Bässe die Führung übernehmen:
f if
Die Holzbläser ver-
suchen zu be-
schwichtigen; sie bitten um c^fff
einen freundlicheren Ton
fefJlrg--^
und erreichen es, dass der erste Theil des Satzes mit
einer gewissen kräftigen Freudigkeit geschlossen wird. Die
Durchführung entrollt das Faustische Bild weiter: Suchen
und nicht Erreichen, rosige Phantasien von Zukunft und
Vergangenheit und die Wirklichkeit von einem Schmerz
erfüllt, der seine Rechte plötzlich geltend macht! Der
Durchführungstheil ist verhältnissmässig nur kurz: the-
c<? 183 ^
matisch wird er hauptsächlich getragen von Bildungen
aus dem dritten und vierten Takte des Hauptthemas.
Das trübe Element tritt in ihm zurück, um mit vollster
Kraft bei der Rückkehr in den Hauptsatz auszubrechen
an jener Stelle, wo die Pauke 38 Takte lang ihr d wir-
belt ; wo die beiden Theile des Orchesters heftig und wild
gegen einander angehen — eine Stelle, an welcher die
Mittel der musikalischen Kunst den dämonischen Inten-
tionen Beethoven*8 kaum zu genügen scheinen. Am
Schlüsse der Coda, in deren Mitte das Hom einen überaus
freundlichen und zuversichtlichen Lichtblick fallen lässt,
wird die freudlose Grundstimmung des Satzes zu voll-
ständiger Gebrochenheit. Wir glauben in der Melodie der
Oboe einen Trauermarsch intonirt zu hören, bis die
Klänge der anderen Instrumente stärker und stärker wer-
den und noch einmal kurz, aber lapidar, Schmerz und
Trotz neben einander stehen.
Der zweite Satz nähert sich der Freude schon mehr.
Molto vivace.
Er beginnt über
folgendem Thema
welches später auch in der Verkürzung von drei Takten ge-
braucht wird, ein Fugato erst heimlich und leise : am Schlüsse
im fröhlichsten und lautesten Tumult der dahinjagenden
Instrumente. Nur auf einen kurzen Augenblick wird
dieses muntere Treiben von Momenten müden Sehnens
fc**
abgelöst , die
derb fidelen
Tanzweisen der Bläser;
f t r I r i-f~ir r LI \t ^ r I denen die Streich-
etc.
Instrumente in kräftigen Streichen das Anfangsmotiv des
vorigen Themas f * ^ f zujauchzen , ersticken sie sogleich.
<o 184 '^
Der Mittelsatz, welcher das Trio vertritt, hat als Haupt-
gedanken folgende möglicher Weise Beethoven's russischen
Musikstudien entsprossene in der Tonreihe mit dem Anfang
des Trios der zweiten Sinfonie ganz übereinstimmende, nur
rhythmisch von ihm verschiedne Melodie
Presto. 0""^^ - _ ^_^ ^"'"^TV
^^rr-tf^E-^-tf r r r 1 r rT^ r 1 r c-^i
r r [ r I r - Er schlagt pastorale Töne an und
spielt in seinen simplen Hirtenweisen auf ländliche Ver-
gnügungen an, aber auch in seinem zweiten Theile, den
Beethoven über eine Umkehrung des Begleitungsbasses bildet :
Viol.
jgii^^ fi r r r ttr^j JJ „J ^ m mächtig
pCeUI
mystischen Geigenklängen auf Sonnenaufgänge und er-
habene Freuden der herrlichen Natur.*)
Das Adagio, der dritte Satz der Sinfonie, hat eine ab-
weichende, nichts destoweniger aber sehr klare Disposition.
Sein Hauptthema, der inbrünstige Ausdruck eines edlen,
frommen Sinnes, der in die andere Welt hinüber Fragen
zu richten scheint,
^ Bl!.^tr^. ^ Viol.
^ .''--'::::*->^ _^ . ßiiisrr vioi.
., — ^^ i — I-, 1-, — i.^ — '■ * t — *^^^*- — * — -^j — ' — ^ f^-^ ^^ — ' — I F — ' ' *
Adagfio.
mtssn vi'ce
*) Um zu veranschaulichen, wie allgemein verständlich die
Schönheit dieses Scherzo sei. berichtet der Franzose Elwart in
seiner Voyago musical (1849), dass es selbst Rossini's Deifall
gefunden habe, ähnlich findet Lenz in seiner Beethoven-
biograpbie das Entzücken Glinkas bemerkenswerth. Gewiss
hat das Scherzo der 9. Sinfonie ebensowenig Gegner wie ihr
Adagio. Aber Kossini sollte man bei dem Beweis hierfür ver-
schonen. Dass sein Geschmack nicht gewöhnlich war, gebt
aus seiner Mitgliedschaft bei der Bachgesellschaft genügend
hervor.
c<? 185 "^
hat die Länge des Periodenbaues, welche der Beethoven
der letzten Periode liebt. Es schliesst nicht voll ab,
sondern es schwebt unmittelbar in den Schooss des zweiten
Thema über
Andante.
welches auch äusserlich , nach Tonart und Taktart , die
Kennzeichen einer völlig anderen Sphäre trägt. Nach
dieser Themengruppe beginnen Variationen, zuerst über
beide Hauptgedanken, dann über das erste Thema allein.
Der ganze Satz strebt einer höheren Art von Freude zu;
Da scheint ein Mensch zu träumen vom Himmel und
vom Wiedersehen, von seinen Jugend tagen und von seinen
Lieben. Aber Träume gehen zu Ende. Am Schlüsse der
ersten ^^J^ Takt- Variation verkünden Trompeten und Hörner
mit einem plötzlichen Signal:
die Nähe des rauhen Tages.
Das schöne Bild verschwindet, und nun kommt im
vierten Satze das, was Faust meint, wenn er sagt: ^Des
Morgens wach' ich mit Entsetzen auf*. Gedacht ist wohl
ohne Zweifel der Anfang des Finale im unmittelbaren
Contrast zu den Himmelsklängeu des Adagio. Im mög-
lichst schnellen Anschluss an das Ende des letzteren ver-
liert die wirre Fanfare, der Höllenlärm, mit welchem das
empörte, heulende Orchester einsetzt, den Charakter des
Unbegreiflichen, Capriciösen, am besten. Dieser wüste
Anfang bedeutet den Rückfall in die chaotische Stimmung
des ersten Satzes. Bässe und Celli warnen in kühnen,
heftigen Recitativen. Jetzt suchen die Geigen und die
Bläser nach rettenden Ideen. Die einen bringen eine
Weise aus dem ersten Satz, die anderen aus dem zwei-
ten, dann kommt ein Citat aus dem dritten. Nichts ge-
c(? 186 ^
fallt den Bässen. Endlich intoniren die Oboen etwas
ganz Neues. Das findet Gnade bei den Vätern des
Orchesters. Nachdem sie ihre Zustimmung in einem letz-
ten Recitative ausgesprochen, ergreifen sie selbst das
Motiv und führen es zu einer breiten Melodie aus:
Es ist dieselbe, zu der dann die Freudenode angestimmt wird,
und die, rein oder variirt, den leitenden Faden des ganzen
Finale bildet. Zunächst wird sie in einer Fuge durch das
ganze Orchester geführt, ohne aber demselben auf die Dauer
einen genügenden Halt bieten zu können. Denn es taumelt
nach einem Moment des Herumirrens wieder zu jener
Schreckensscene zurück, mit welcher der Satz begann. Da
kommt weitere Hülfe. Es ist diesmal der Sänger des
Barytonsolo, der mit den von Beethoven selbst eingeschobenen
Worten „0 Freunde, nicht diese Töne — sondern lasst uns
angenehmere anstimmen und freudenvollere* die Ordnung
wiederherstellt. Und nun beginnt er den Hymnus in obiger
volksthündicher Melodie, — einer der wenigen, die Beet-
hoven gleich beim ersten Anlauf fand — in welche die
anderen Solisten und der Chor dann einfallen.
Von Schiller's Ode hat Beethoven nur einige Strophen
benutzt und aus ihnen eine Reihe musikalischer Bilder
entwickelt. Er lässt die Creaturen jauchzen um Küsse
und um Reben, er tritt mit dem Cherub vor Gott, er
malt die Bahn, die der Held durchläuft in einem wilden,
stürmischen Fugato, dessen Kampfgetöse in einem festen,
sieghaften Pochen endigt. Der Refrain aller Scenen, die
Beethoven ausführt oder skizzirt, ist das vom Chor wieder
eingesetzte „Freude*. Am ausführlichsten hat Beethoven
'^ 187 "^
die Scene des Helden behandelt; die Rücksicht auf die
Dimensionen des Satzes gestatteten leider nicht, mit allen
Themen des Gredichts in gleicher Weise zu verfahren.
Es steht Vollendetes und Angefangenes neben einander,
und bei aller Begeisterung über die entzückende Schön-
heit des Einzelnen empfinden wir, bewusst oder un-
bewusst, in der Totalform des Finale einen Mangel. Be-
sonders weihevoll und hinreissend sind die Momente, in
denen sich Beethoven dem Sternenzelt und dem himm-
lischen Vater nähert, der darüber wohnt. Die Worte
,Seid umschlungen, Millionen* hat er in eine Art Cere-
monie gefasst, die da oben am ewigen Throne zu spielen
scheint. Sphärenhaft sind ihre Schlussklänge. Die ir-
dische Musik vergeht in dieser Nachbarschaft ganz ins
Stille. Nur wie heimlich setzen die Solostimmen wieder
mit ihrem , Freude, Tochter aus Elysium* ein; bald aber
gewinnt das Ensemble seinen Muth wieder und rauscht
in einem Enthusiasmus einher, welcher immer stärker
wird und schliesslich in einen völligen Freudentaumel
übergeht. Dieses Schlussbild hat Beethoven in dem rea-
listisch schwungvollen Stile ausgeführt, der mit ihm zu-
erst in die Tonkunst eintrat.
m^^i^MSMi
•'^t-e-^i\*'>X
"V. ;■
*'>«- T
V^/
m.
Nebenmänner und Gefolge der Ciassiker.
Vorläufer und Hauptvertreter der Romantik.
ie allgemeine Musikgeschichte pflegt bei dem Capitel
, Sinfonie* schnellen Schrittes von Beethoven auf
Mendelssohn überzugehen. Nur Schubert und Spohr
werden als Zwischenglieder kurz berührt. Es ist jedoch
interessant und vom historischen Standpunkte aus sogar
nothwendig, etwas länger bei dem Kreise schöpferischer
Talente zu verweilen, deren Werke für die hervor-
ragenden Leistungen der classischen Führer den Hinter-
grund bildeten.
Der Umbau der Sinfonie aus einer einfachen Ge-
legenheitsmusik zu einer Tondichtung grüssten Stils hatte
sich in dem verhältnissmässig kurzen Zeitraum von sechzig
Jahren vollzogen. Das musikalische Publikum lebte sich
wunderbar leicht in die Vcränd<^rung hinein, und geradezu
erstaunlich ist es, wie schnell und richtig das Verhältniss
zu Beethoven festgestellt wurde. Wir hören und lesen
heute viel von dem unverstandnen Beethoven, von Beet-
hoven dem Märtyrer. Diese Auffassung stützt sich auf
kürzere und längcjre Verstimmungen des Componisüm selbst,
auf herbe und hitzige Urtheile der Gegner und Wider-
sacher, die seine Werke im Einzelnen oder Ganzen natür-
lich fanden. Aber ihrer waren im Verhältniss zur Neuheit
und Kühnheit seiner Kunst nur wenige und sie gaben
ce 189 o>
nicht den Ausschlag. Beethoven lebte in einer Zeit die
seiner würdig^, seinem Geiste verwandt war. Man ehrte in
ihm eine Aasnahmeerscheinung. Beethoven's Sinfonien
sind die ersten und noch fiir lange die einzigen, von
welchen zu Lebzeiten des Verfassers die Partitur geilruckt
wurde. Das Hauptbedenken, welches sie verursachten,
war ihre grosse Schwierigkeit: Die Dilettantenorchester,
auf welchen die Existenz der damaligen Concertgesell-
schaften ruhte, waren diesen Werken gegi^nüber quantitativ
und qualitativ zu schwach. Der bekannte Hofrath Andre
gab diesem Bedenken den stärksten praktischen Ausdruck,
indem er eine kleine Serie von »leichten* Sinfonien ver-
öffentlichte. In einer derselben folgt in der Menuett auf
einen Walzer als Hauptsatz das Trio in Form eines figu-
rirten Chorals. Trotz Andre und trotz der Schwierigkeit
blieben aber die Beethoven'schen Sinfonien an der Spitze
des ßepertoirs, über Haydn und Mozart sogar, und die
Orchester wurden soweit sie in der Noth der Befreiungs-
kriege Stand gehalten hatten, ihnen zu Liebe mit grt>ssen
Kosten allmählich umgebildet.
In den Kreisen der Componisten fonlerte der Ueber-
gang in die neue Periode seine Opfer. Die Zahl der
Stimmen im Sängerwalde minderte sich und ganze Ge-
schlechter verschwanden. Es war aus mit einer , Sinfonie
mit Guitarre* und mit ähnlichen Curiositäten : es war aus
mit den alten, rauschenden Theatersinfonien, aus mit den
concertirenden Sinfonien und den harmlosen Divertisse-
ments , welchen bisher ebenfalls der Titel Sinfonie erlaubt
war. Wenn jetzt die Brandl, Braune, Blyraa, Weyse,
Kuffner und die andern Matadoren des leichten Stils an
die Thüren der Concertsäle klopften, so scholl ihnen, wie
dem Tamino in der Zauberflöte ein energisches , Zurück*
entgegen. Es kamen Zeiten, wo es der Kritik gar nicht
recht zu machen war, wo diejenigen, welche sich in Beet-
hoven's Pathos versuchen wollten, schlechtweg , schwülstig*,
die Anhänger Haydn*8 als „kindisch* gescholten wunlen,
wo man die Form der Sinfonie für erschöpft erklärte und
wo fast jede Recension eines neuen Werkes den melan-
<e 190 ^
cholischen Anfang: ,Wer jetzt noch mit einer neuen Sin-
fonie hervortritt, der etc.** trug.
Diejenigen Männer, welche sich unter so erschweren-
den Umständen als Sinfoniker zu behaupten wussten,
welche neben den Classikern auf dem Repertoir standen
und nach Beethoven einen Platz errangen, verdienen
nicht ganz vergessen zu werden. Ohne einen Blick auf
das Wesen und die Menge dieser Nebenmänner versteht
man die Blüthezeit der Wiener Schule und die Indi-
vidualität ihrer Classiker kaum vollständig. Die Grösse
dieser classischen Periode beruht nicht zum Geringsten auf
ihrem Reichthum an wirklichen, an bedeutenden Talenten.
Süssmayer hat bekanntlich das Requiem von Mozart so
vollendet ergänzt, dass noch bis heute Musiker sich ver-
nehmen lassen, die angesichts der wohlverbürgten Thatsache
doch die blosse Möglichkeit einer fremden Hand glauben
in Abrede stellen zu dürfen. Diese kühnen Zweifler wissen
nicht, dass Süssmayer keine vereinzelt« Erscheinung ist,
dass Haydn, Mozart, Beethoven nicht von Zwergen, sondern
von hochgewachsnen Genossen umgeben waren, von denen
einzelne heute, in unsrer musikalisch ärmeren Gegenwart
vielleicht als Grössen ersten Ranges gelten würden.
Unter denjenigen Nebenmännern der Classiker, welche
in der Sinfonie diesen hohen Massstab vertragen ist der
C. T. Ditters- älteste und bedeutendste Carl Ditters von Dittersdorf.
dorf. Einst ein Liebling der deutschen Musikkreise, ein wieder-
holt und besonders gern gesehner Gast der preussischen
Hauptstadt, ist dieser Tonsetzer heute nur noch durch seinen
,Doctor und Apotheker* bekannt. Und auch da nur dem
Namen nach. Denn obwohl diese trauliche Oper als Cultur-
bild, als Supplement zu Goethe's „Hermann und Dorothea*
einen unverlierbaren Werth besitzt, ist sie seit dreissig
Jahren vollständig von der Bühne verschwunden. Trotz-
dem ist es möglich, dass Dittersdorf als Instrumental-
componist wieder Fuss fasst. Mit seinem Es dur-Quintett
hat er es bereits gethan. Mit seinen Sinfonien würde er
die Neugier des jetzigen Geschlechts zunächst als Ver-
treter der Programmmusik reizen — aber schwerlich be-
cc 191 '^
friedigen. Die Programmmusik giebt in Haydn's Werken
bis zu seiner Jagdsinfonie, bei Beethoven in der Pastorale
Lebenszeichen stark und deutlieh genug um ahnen zu
lassen, dass sie in der Nähe der Classikerperiode eine Rolle
spielte. Thatsächlich war der Ausgang des 18. Jahr-
hunderts eine ihrer günstigsten Zeiten. In Sulzer's .All-
gemeiner Theorie der schönen Künste* wurde ihr damals
sogar der wissenschaftliche Segen zu Theil, unter den
Praktikern aber die sich ihr in allen Ländern widmeten,
war Dittersdorf der bedeutendste. Dittersdorfs Haupt-
beitrag zur Gattung bestand in 12*) charakterisirten Sin-
fonien zu Abschnitten aus Ovid's Metamorphosen. Im
Jahre 1785 als Stimmdruck veröffentlicht müssen sie einen
beträchtlichen Erfolg gehabt haben, denn im nächsten
Jahre schrieb der Probst Hermes Analysen dazu. In
Deutschland scheint das interessante Werk verschwunden
zu sein. Brenet*) ohne die Bibliotheksstellen zu nennen
an denen er sie gesehen hat, beschreibt zwei Stücke daraus :
,Die vier Zeitalter* und „Actaeon* tadelnd, dass sie ganz
an der viersätzigen Sinfonieform festhalten. Hanslick')
dem wohl auch Herr Brenet seine Kenntniss der Metamor-
phosencompositioncn verdankt, rechnet unter die Dittors-
dorfschen Programmsinfonien auch ein ,Combattimento
deir umane Passioni." Doch ist das eine Suite, die dadurch
überrascht, dass sie ganz in Muffat's Stil gehalten ist.*)
Sie besteht aus den sieben Sätzen: II Superbo, il Umile,
il Matto, il Contento, il Melancolico, il Vivace. Der
Schlusssatz ist ein grösseres Musikstück, die andren haben
die kurze zweitheilige Form, die im Ballet und im Tanz
so gebräuchlich ist; nur ausnahmsweise sind geeignete
Motive durchgearbeitet. Die Erfindung ist in ,11 Vivace*
am glücklichsten gewesen; hier das Hauptthema:
^) Diese Zahl und diesen Titel giebt Dittersdorf (K v. Ditters-
dorfs Lebensbeschreibang — Leipzig 1804 — S. 230) selbst an.
«) Brenet, Histoire de la Symphonie, Färb 1882, 8. 109.
*) Hanslick, Geschichte des Wiener Concertwesens, Wien
1869, S. 114.
*) Exemplar auf der Münchner Hof- und Staatsbibliothek.
«^ 192 "^
AJle^o asBai.
'^^ITT^} _t-Jr"^JgE*te. Im Ganzen entbehrt sie der
Schärfe. Von dem combattimento , dem Kampf den der
Titel ankündigt, enthält die Composition keine Spur. Ein-
mal nur sprechen zwei folgende Stücke einen Gegensatz
im Charakter aus: il superbo und il umile. Den Aus-
druck des Stolzes hat aber Dittersdorf dabei nicht sicher
gefunden. Die Musik spricht Freude, Aufgeregtheit, ja
Zorn aus; aber es fehlt ihr die Ruhe und Vornehmheit
die zum rechten Stolz gehört. In eine sonderbare Be-
ziehung ist il Amante der Verliebte zu II Matto dem Ver-
rückten gebracht worden. Er tritt als Trio im Menuett
auf. Nach diesem Menuett hat sich Dittersdorf einen
stillen Narren gedacht. Ob nun diese Sätze selbständig
als „Sinfonie** componirt oder, was wahrscheinlicher ist als
Einlagen zu einem Schauspiel, als Begleitungsmusik zu
lebenden Bildern entstanden sind, eine angeborne Begabung
für Programmmusik, Tonmalerei und Charakteristik zeigen
sie nicht. Die Plastik, Eindringlichkeit und Eigen-
thümlichkeit der Motivbildung, die die Stärke Rameau's
und der Franzosen ausmacht, in der auch Kuhnau sehr
gross ist, geht ihnen ab. Und mit dieser Eigenschaft steht
und fällt das Recht der Gattung.
Ein ganz Andrer aber ist Dittersdorf wenn ihm grosse
Formen zur Verfügung stehen : da überrascht er durch
einen poetischen und ungewöhnlich selbständigen Geist
und lässt uns überall verstehen, warum ihn die Musikfreunde
des ausgehenden achtzehnten Jahrhunderts in ihren
Orchesterconcerten dicht neben Havdn und Mozart stellten.
Er ist der Erste unter den Oestreichern jener Zeit, welcher,
mit beiden Meistern geistesverwandt, zwischen ihnen in
bedeutender Weise vermittelt. Mit Haydn theilt er als
Naturgeschenk den Humor, lernt von ihm die Kunst der
motivischen Arbeit und fügt dem die Mozart'sche Canta-
bilität bei. So betritt er mit grosser Bestimmtheit den
oG' 193 -oo
Weg, den dann Beethoven glänzend weiterschritt. Wir
dürfen Dittersdorf in der Sinfonie soweit es sich um die
Yermittelung zwischen Haydn und Mozart und um Selb-
ständigkeit und Originalität in der musikalischen Archi-
tektur, im eigentlichen Satzbau handelt, einen Vorläufer
Beethoven's nennen. Nur Unbekanntschaft mit seinen
Werken ist die Ursache, dass die Biographen Beethoven^s
Dittersdorf als Vorgänger und Lehrer Beethoven^s nicht
anführen. Denn dass der junge Rheinländer die Sinfonien
Dittersdorfs gekannt und studirt hat geht daraus hervor,
dass er sie in einzelnen Zügen besondrer Grestaltung nach-
gebildet hat. Der diplomatische Beweis ist dafür wohl
nicht zu erbringen aber für Diejenigen, welche noch mit
Gründen äusserster Wahrscheinlichkeit rechnen, auch
entbehrlich.
Als die (programmlosen) Hauptsinfonien Dittersdorfs
darf man die 12 Stück betrachten, die im Jahre 1788 in
Stimmendruck erschienen sind. Für diese Annahme spricht
der Umstand, dass sich von einzelnen von ihnen wie von
der ganzen Sammlung geschriebne Partituren vorfinden.
Eine daraus — sie geht aus C dur — ist unlängst in Parti-
tur imd Stinamen neugedruckt worden*) und könnte be-
rechtigte Veranlassung bieten Dittersdorf — und zwar
nicht blös aus historischem Interesse — wieder in unsre
Orchesterconcerte einzufuhren.
Sie hat das grosse Orchester der Vor-Beethoven*schen
Sinfonie nämlich 2 Oboen, 2 Fagotte, 2 Homer, 2 Trompeten,
Pauken und den fünfstimmigen Streicherchor. Dazu aber
— ohne dass es besonders angegeben ist — Cembalo, ein
Beweis, dass die Haydn'sche Praxis nicht mit einem Male
und unabänderlich durchdrang.") Auf dem Titelblatt
nennt sich der Componist Carlo di Dittersdorf. Das ist
mehr als eine blosse Aeusserlichkeit , denn die Musik
*) Bei Breitkopf & Härtel, Leipzig.
^ Unentbehrlich ist das Cembalo nur im 2. Satz der Sin-
fonie, in der Breitkopf'schen Neuausgabe übernehmen die Streich-
instmmente seine Partie mit. |
Kretitohmar, Führer, I. 18 '
ee 194 ^
mischt zu den Haydn'schen und Mozart'schen Elementen
drittens noch italienische. Namentlich der erste Satz hat
die Lärm-, Prunk- und Festmotive der alten italienischen
Sinfonie.
Mit einem solchen setzt das Hanptthema ein:
a)
AlUgro Bolto.
l^^^^f Pf • ^-
klingt sehr entschlossen und
kräftig, die Fortsetzung schlägt aber einen zögernden Ton an :
jnimi/] j yf^nT^JJ \fiJUM
^m
Sie hat die Mozart'sche Canta-
bilität und das Thema als Ganzes ist der Ausdruck einer
noch ungeklärten Stimmung. Es ruft uns das Bild eines
Menschen vor die Phantasie, der vor einem schweren Ent-
schluss vor einer schweren Aufgabe steht, vor einer Lage
die unerwartet gekommen ist und deshalb verwirrend wirkt.
Das scheint das Sechzehntelmotiv b) auszusprechen. Es
hat nach einer wörtlichen Wiederholung des Staktigeu
Themas zunächst die Oberhand, füllt mit scheinbar end-
losen und rathlosen Sequenzen einen zwölftaktigen Ab-
schnitt, der in Gdur endet und das zweite Thema bringt
Mit der Freiheit der Formbehandlung, die DittersdorTs
lustrumentalcompositionen auszeichnet ist es zu einer ganzen
Themengruppe erweitert, in der wir drei Glieder zu unter-
scheiden haben: Das erste knüpft inhaltlich wieder an
Motiv c) des Hauptthemas an: aber steigernd. Dort Sinnen,
hier dumpfes Brüten wie gelähmt vom harten Schlag.
VJohne.
etc.
^ 195 ^
Im weitren Verlauf der zwölftaktigen Periode dringen die
Achtelnoten mehr und mehr nach ohen, Ermannen , Er-
wachen von Kraft verkündend. Und da setzt dann als
zweites Glied eine abermals tfUs Motiv b) des Hauptthemas
gebildete Periode an, jetzt aber nicht im fassungslosen Ton,
in der Richtung schwankend, sondern entschieden nach
oben strebend, von Hoffnung erfüllt, ja mehr als das: des
glücklichen Ausgangs gewiss. Von dem jubelt das dritte
Glied halb und halb in italienischer Zunge:
fr \trr*r I r I r'ir^r if ir7r I r
Das Verwirrungsmotiv (Abschnitt b des Hauptthemas)
spielt jetzt in freudiger Gestalt als Bass mit. In feurigen
Umbildungen dieses dritten Gliedes geht die Themengruppe
zu Ende. Bevor aber ihr Schlusstheil einsetzt, lässt sich
episodisch eine zarte Stimme vernehmen:
i J l^rTr I r ^ J-^yr^H-^ mitten im Jubel
wird in glücklicher Ruhe der vorübergezognen Wolken ge-
dacht. Das ist einer der sinnigen Züge, durch die Ditters-
dorf seine instrumentalen Stimmungsbilder zu bereichern
pflegt. Was seine Darstellung im ersten Theile des Haupt-
satzes aber besonders auszeichnet das ist die psychologische
Folgerichtigkeit der Theile, die Naturechtheit der Ent-
wickelung und die Kunst mit der er die Satzform dem
Gang seiner Ideen beugt. Ist Dittersdorf s Ideenkreis auch
abgegrenzt, so bewegt er sich doch in ihm wie es nur ein
grosser Meister und ein durch und durch klarer und auf-
richtiger Mensch thun kann.
Die Durchführung unsres Hauptsatzes knüpft an das
eben vorgeführte Episodenthema an. Es setzt in Gmoll
ein: Die Stimmung wird wieder trüb und mehr und mehr
kleinlaut. Pausen unterbrechen die Darstellung fortwährend.
18*
e<? 196 ^
Dann folgt als zweiter ein kräftigerer Abschnitt innem
Kämpfens und Ringens. Das Verwirrungsmotiv bildet in
ihm fortwährend den Bass. Er schliesst ausweichend,
zagend in £ dnr und da setzt Qas zweite Thema ein. Aber
nur in seinem ersten Grlied wird es verwendet; im Gregen-
satz zu der Richtung die es in der Themengruppe nahm
verliert es sich nach unten wie in Träumen und Schlummern.
Wir hören zuletzt nur immer leisere Sextaccorde, Pausen
dazwischen. Endlich kommt eine mit langer Fermate, der
vorhergehende Accord klang beruhigender: G h d f . In
diesem Augenblick setzt mit überraschender Wirkung der
dritte Theil, die Reprise ein. Wir treten an sie des guten
Endes gewiss heran und sie verläuft in aller Regel-
mässigkeit.
Der zweite Satz, ein Larghetto, besteht aus Thema,
drei Variationen darüber und Coda. Das Thema selbst,
ein dreitheiliges Lied, von dem der erste Theil folgender-
massen lautet:
Larftbetto.
z^ I n , j^
zeigt uns Dittersdorf von seiner bekanntesten Seite als
einen Hauptvertreter jener Poesie der Beschaulichkeit, der
Zufriedenheit, der Zierlichkeit und Artigkeit, die als eine
letzte Verdünnung der Renaissance übrig geblieben, von
der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts ab die deutschen
Liedersammlungen und Singstuben beherrschte und bald
dann in Gestalt der bürgerlichen Oper nach ihrem Aus-
gangspunkt: der Bühne, und zwar auch der italienischen
und französischen zurückkehrte. — Den Ansatz mit dem
Doppelsehlag liebt Dittersdorf ausserordentlich; aber kaum
wird er dieser Lieblingswendung in einer zweiten (Kompo-
sition so viel Raum zugestanden haben wie hier. In den
89 Takten aus denen ohne Wiederholungen das Larghetto
besteht, fehlt sie nur vierundzwanzig mal. Etwas Monotonie,
e^ 197 ^
liebenswürdige EinfÖnnigkeit gehört zum Charakter einer
Idylle, wie sie dieser Satz im Gresammtbau der Sinfonie
bilden soll: eine Seene der ungetrübtesten Anmuth,
schmiegsamster ZärtUchkeit nach der gelinden Erregung
des Hauptsatzes. Die Methode in der die Variationen ge-
arbeitet sind, ist die einfache der Vor-Haydn'schen Zeit.
In der ersten begleiten zweite Violinen und Bratschen das
Thema mit einem Triolenmotiv, in der zweiten lösen es die
ersten Violinen in ein perpetuum mobile in Zweiund-
dreissigsteln auf, das wohl fUr die Sologeige gedacht ist.
In der dritten treten die Bläser mit reichen langen Klängen
hinzu und die Bässe yersuchen mit der Melodiestimme
einen rhythmischen Dialog j s ^^^ ^^^ * 1 . In
der kurzen Coda verklingt das merkwürdige Stück auf
einer fremden, entlegnen G dur-Harmonie an die sich un-
mittelbar der Menuett anschliesst. Er ist dadurch eigen,
dass er uns in kurzen und in neuen, zusanmiengedrängten
Formen noch einmal das Wesentliche des ersten Satzes
der Sinfonie vorfuhrt. Wir haben da das kräftig ent-
schlossene Aufbrechen J J J | J und die Töne der
Hoffnung und des Jubels
jfff if fifrrJte^F^
im ersten Theil
wörtlich vor uns. Der zweite Theil streift die Momente
des Bangens. Das Trio ist als 2. Menuett bezeichnet, eine
reine Aeusserlichkeit. Das Stück bildet zum ersten Menuett
weniger einen Gegensatz als eine Ergänzung, bringt zum
Aeussren das Innre. Dort eine Freudenscene vor der
Oeffentlichkeit, hier die dankbare und friedensfrohe Seele
mit sich allein im stillen Känmierlein: das schöne Thema
A ^\^^ ^ J I J ^jry ^ J viermal hintereinander
und immer leiser, so schliesst der Satz. Er klingt aus-
gezeichnet. Den Haupttheil kennzeichnen die tiefen Saiten
ce 198 o»
der Geigen, den Mittelsatz ein mit Lerchenklang und
Naturton fesselndes Oboensolo. Es kehrt nach Wieder-
holung des ersten Menuett als Coda wieder, mit einem
Halbschluss bricht der Satz ab und unmittelbar darauf
setzt das Finale ein:
Erst mit
Prestlsslmo
f|"i^Lf^^^^l^lJ rTTii^ij rmi
Dann
f rTr^frT^rfTfrfiffiffTrrni
Drittens ;
TT .,ftfri\rS^ f |f r iriii'rrrrif
Diese Themen konunen einzeln hintereinander, mit dem
14. Takte aber stehen wir, wie im Finale von Mozart's Jupiter-
sinfonie, in einer Tripelfuge. Alle Geister der Neckerei
und Heiterkeit, feine und derbe, phantastische und prosaische
wirken zusammen. Aus einer Durchführung stürmen die
Carnevalsgedanken in die nächste, in die dritte und vierte
als endlich ein Orgelpunkt auf G eine bedeutende Wendung,
vielleicht ein Ende des Treibens ankündet : Sie kommt zu-
nächst mit einem grotesken Unisono in dem alle In-
strumente, Homer und Trompeten ausgenommen, auf dem
ersten Thema fortissimo vorübersausen. Als der vierte
Takt vorbei und G dur erreicht ist, fallen die Pauken ein :
Halbschluss, Generalpause mit Fermate und — Wieder-
holung des Menuetts. Genau also die Wendung, die
das Finale von Beethoven*s Cmoll- Sinfonie hat. Dieser
Einfall Dittersdorf s hat an seiner Stelle die Bedeutung
oG» 199 '^
eines würdigeren Schlusses anstatt des tollen der von der
Tripelfdge zu erwarten wäre und zugleich auch den der
Rückkehr in die Stinunungssphäre des Hauptsatzes der
Sinfonie, also den einer wohlthuenden Abrundung. Des-
halb kommen beide Menuetts, nur ohne Wiederholungen,
noch einmal vollständig und die Sinfonie schliesst auch
mit einigen tumultarischen Takten im Rhythmus des
Menuetts.
Bei näherer Prüfung ergiebt sich für Dittersdorf ein
üebergewicht des Mozart'schen Einflusses. Auf die Wiener
Schule im Ganzen dagegen übte naturgemäss Haydn die
stärkere Anziehung aus. Ihre Sinfonien vertreten den
heiteren Charakter der Musik. In ihrem Rhythmus
und in ihrem Pigurenwerk herrscht ein rascher feuriger
Geist, die Melodien sind in der Mehrzahl flott und
munter und geben dem Frohsinn und der Lebenslust
einen naiven und herzlichen Ausdruck. Es lebt in der
Wiener Schule ein starker volksthümlicher Zug. Ein
gewisser Localdialect klingt durch, derselbe, in wel-
Allegro
chem Haydn — z. B. in
3*^1
AUcgro.
und Mozart — in r&^—[^^
zuweilen ebenfalls sprechen und der noch heute unver-
fälscht in der östreichischen Armeemusik fortlebt.
Diese Stammeseigenschaften führten die Mehrzahl der
östreichischen Sinfoniker zunächst auf die Seite Haydn's.
Die hervorragendsten unter ihnen: Gyrowetz, Rosetti,
Pleyel, Wranitzky, Hoffmeister hat Riehl in
seinem Capitel über ,Die göttlichen Philister* geschildert.
Ihnen wäre vielleicht noch Neubauer, Vanhall, van Swieten,
jedenfalls aber Franz Krommer anzureihen, der, durch
die unglaubliche Popularität und Verbreitung seiner
Quartette und Quintette mitgetragen, auch als Sinfoniker
weiter drang und sich länger hielt als die genannten
Schulgenossen. Seine Sinfonien sind denen Haydn*s im
ce 200 '^
AUgemeiDen sehr ähnlich , aber von einer niedrigeren
Bildungsstufe aus entworfen und durchgeführt Die Fonn
hat grosse Mängel, die Gedanken verrathen die derbe
Atmosphäre der Zauberoper. Die Aelteren unter uns
haben mit dem Ton dieses Kreises vielleicht noch durch
die Diabelli'Hchen Ciaviersonaten unerfreuliche Bekannt-
schaft gemacht. Einzelne von ihnen, Pleyel, Gyrowetz,
haben grössere Ansprüche auf Sympathie und Achtung.
Aber auch sie haben von dem Haydn*schen Erbe vom
Geist der Zeit geleitet, nur den Epikuräischen Theil an
sich genommen: die lustige Thematik seiner Londoner
Zeit. An seiner Kunst des Auslegens gingen sie vorbei.
Nach dem Antheil, den französischer Geist am
Wesen von Haydn's Sinfonien hat, war zu erwarten dass
sich in Frankreich eine bedeutende Gefolgschaft dieses
Tonsetzers gebildet hätte. Doch fehlte es hierzu an wesent-
lichen Bedingungen: an Concertinstituten und Sinfonie-
componisten. Von dem Reichthum musikalischer Collegien
und , wöchentlicher Concerte" dessen sich Deutschland er-
freute, keine Spur! Die wenigen Institute dieser Art, die
sich in Paris und den Provinzhauptstädten aufgethan hatten,
konnten den Vortheilen gegenüber, die eine erfolgreiche
Oper einbrachte, nichts bieten. Diese an und für sich un-
günstige Lage wurde durch Haydn noch verschlimmert.
Denn, — so sagt ein Artikel des Moniteur im Jahre
1808*) — , nachdem Haydn's Sinfonien die erste Schwierig-
keit der Einführung überwunden hatten, konnte sie bald
Jedermann auswendig und wollte keine andren hören. Be-
klagenswerther Weise ist hierüber auch Fr. J. Gosse c
um die Anerkennung gekommen, die ihm die Musik-
geschichte Frankreichs schuldig ist. Er war der erste Ton-
setzer von Bedeutung der sich der neuen Gattung der
Concertsinfonie nachhaltig und mit voller Hingabe widmete.
Schon als Zwanzigjähriger trat er mit Sinfonien hervor,
die in italienischer Folge dreisätzig und vielleicht die ersten
*) Abgedruckt in A. Pongius Mehul-Biographio (Parb 1889)
S. 301.
e<? 201 '^
überhaupt Biod, in denen Clarinetten vorkommen. Denn
damals, Anfang der füjifisiger Jahre, hatte diese neuen
Instrumente ausser Rameau wohl noch Niemand ins
Orchester gebracht; Haydn Hess sich damit fast noch
vierzig Jahre lang Zeit. Das allen Franzosen gemeinsame
Rlangtalent ist bei ihm überhaupt noch besonders hervor-
ragend entwickelt. Deshalb waren seine concertirenden
Sinfonien auch seine angesehensten. Doch auch durch
einen stark nationalen Zug von Eleganz und Anmuth
fesseln sein Werke. So war er in den siebenziger Jahren
der unbestrittene Herrscher in den von ihm gegründeten
Concerts des amateurs sowohl wie in den Concerts spirituels.
Da kam Haydn und verdunkelte auch Gossec dermassen,
dass das Ausland von ihm überhaupt keine Notiz nahm.
Die wenigen ^nzösischen Musiker, die in der Periode
der Wiener Classiker Sinfonien schrieben, schlössen sich
Haydn an. Unter ihnen ist Cherubini zu nennen mit
einer Ddur-Sinfonie, die auch nach Deutschland kam aber
bald vor den viel freieren und bedeutenderen Ouvertüren
ihres Verfassers verschwand. Obwohl Haydn selbst Cherubini
als , seinen musikalischen Sohn*^ bezeichnet hat^), sind in
diesem Werke, mit Ausnahme des Larglietto cantabile, die
eigentlichen Haydn^schen Künste nicht zum vollen Recht
gekommen. Die Sinfonie ist wieder wie fast jede Orchester-
composition Cherubini's ein Muster des Klangs und auch
in der Satztechnik anziehend und belehrend, unter anderm
durch schöne Kanons. Ihr poetisch bedeutendstes und
eigenthümlichstes Stück ist die träumerische Einleitung
zum ersten Satz. AuchM^huTs Sinfonien gehören ganz
zur Haydn'schen Schule ; man kann Mdhul den interessan-
testen und selbständigsten Schüler Haydn*s nennen. Er
folgt ihm, ohne sein Vorbild in der Virtuosität der thema-
tischen Arbeit, der Beweglichkeit der Gedanken ganz zu
erreichen in der Methode; das Uebrige bestreitet er aus
eignem Vermögen. Die ganze Auffassung von Zweck und
Wesen der Sinfonie ist bei M(5hul etwas andres als bei
») Oriesinger 8. 104.
c<? 202 ^
Haydn und den Deutschen: Man merkt zuweilen, dass
diese Kunst sich an ein grosses Volk richten will, von
einem grossen Volke kommt: es ist ihr etwas Pathos und
Stolz eingemischt und auch eine Dosis Glanz und Kraft,
die mehr an Gluck und Händel als an Haydn erinnert
Anmuth und Eleganz geben sich etwas zugespitzt, so wie
das die Franzosen von Bameau ab und in ihrer Volks-
musik von jeher gern gehabt haben. Von den vier Sin-
fonien M^hul's, die sich nachweisen lassen, sind nur die in
Gmoll und die in Ddur nach Deutschland gekommen.
Die erstere, in der der Menuett wegen des Pizzicato des
Hauptsatzes besonders wirkte, kehrt bis in die sechziger
Jahre, wenn auch nicht häufig, wieder. Mendelssohn, der
durch historischen Sinn alle nachgekommnen Dirigenten
unvergleichbar überragte, suchte sie in Leipzig im Jahre
1838 wieder aus dem Archiv hervor: Schumann, von dem
man bei dieser Gelegenheit ein besondres Wort erwarten
durfte, mengte sie — absichtlich oder versehentlich? —
unter die Werke , bekannter Meister*.^) Bei ihrer ersten
Aufführung im Jahre 1810 hatte sie ein Messfremder in
der Allgemeinen Musikalischen Zeitung*) als eine Sinfonie
in , J. Haydn*s Weise, frei ins Französische übersetzt* be-
zeichnet. Nach diesem richtigen Anfang fährt der Ver-
fasser fort: „So gut das gelingen kann, war es M^hul
wirklich gelungen. Der melodische Theil war unstreitig
der schwächste: der harmonische aber auch nicht selten
grell und gesucht: Die Arbeit übrigens sorgsam und mit
Streben nach Gründlichkeit; die Instrumentirung sehr gut
und effektvoll*. Von der dreifachen Befangenheit die
dieses Urtheil trübt, kommt ein Theil auf die musikalisch
mechanische Richtung des Schreibers, die beiden andren
Theile muss man der Zeit Napoleon's und Beethoven^s zu
Gute halten. Die Gegenwart ist in der Lage MehuFs
Sinfonien ohne Eingenommenheit zu würdigen; giebt man
*) Neue Zeitschrift für Musik, 8. Bd., 8. 107.
^) Allg. Musik-Zeitung, 12. Jahrgang, S. 565.
c<? 203 ^
ihr dazu Gelegeoheit, wird sie ihn lieb gewinnen: mehr
noch als in der Gmoll- Sinfonie in der in Ddur.
Die Italiener auf eine Herrschaft der Instrumental-
musik ebensowenig yorbereitet als die Franzosen, streichen
allmählich die Pflege der Sinfonie so gut wie ganz aus
ihrem musikalischen Pensum. Unter den Gründen, mit
denen sie diesen schweren Fehler zu beschönigen suchten,
hat der bis auf den heutigen Tag immer wiederholte Vor-
wurf, dass die deutsche Musik gelehrt und wissenschaft-
lich geworden sei, dass sie sich zu sehr an den Verstand
wende, Gemüth und Phantasie vernachlässige, deshalb
für uns Interesse, weil etwas wahres an diesem Vor-
wurf ist. Mozart, C. M. von Weber haben in ihren Sin-
fonien, Beethoven hat mit seinen letzten Quartetten gezeigt,
dass es neben der Haydn'schen Methode in der sich Geist
und Witz am besten entfalten können, andere giebt, die
Erfindung, Phantasie, Inspiration zu einem grossem Recht
kommen lassen. Die Bevorzugung des Haydn'schen Stils hat
uns eine grosse Menge pedantisch langweiliger Instrumental-
compositionen eingebracht und der spätem Entwickelung
der Sinfonie geschadet. Die wenigen italienischen Com-
ponisten die von jetzt ab noch Sinfonien versuchten, schlössen
sich Jedoch ebenfalls Haydn an. Unter ihnen ist L. B o c •
cherini für lange Zeit der Einzige, der in Deutschland
und wohl auch in Frankreich Beachtung gefunden hat.
Wenigstens sind in Paris um 1799 zwei seiner Sinfonien
(in Stimmendrucken) veröffentlicht worden. Beide haben
vier Sätze, den Menuett als dritten. Die erste (in D)
kommt im Finale auf das erste AUegro zurück und er-
reicht dadurch eine Einheit und Abrundung die dem
Durchschnitt der Sinfonien jener Zeit nicht eigen ist. Die
zweite (in C) gehört zur Gattung der concertirenden Sin-
fonien, sie verwendet das alte Corelli'sche und HändePsche
Concertino: 2 Soloviolinen und Solocello. Letzteres tritt
im Andante sehr schön hervor.
Unter den Sinfonikern, welche zuerst auf Mozart's
Seite traten, gebührt der Altersvorrang Michael Haydn,
dem Salzburger Bruder von Joseph Haydn. Von den
oc? 204 '^
32 SiDfonicD, die ihm F^tis zuschreibt, sind zu Lebzeiten
des Componisten nur drei in Stimmdrucken erschienen
(1793 Wien); eine von diesen, eine Cdur-Sinfonie liegt
aber seit kurzem in stattlichem Partiturdruck*) vor. Der
Herausgeber, Otto Schmid, weist ihre Entstehung in das
Jahr 1784, wo ihr Verfasser im zweiundfllnfzigsten Lebens-
jahre stand. Die Musik würde jedem Jüngling Ehre
machen; sie hat Frische, Freudigkeit, Kraft, alle Merk-
male eines jugendlichen gesunden Geistes und zeigt dabei
in jeder Wendung der Form die Sicherheit und Klarheit
des reifen Meisters, jene Mozart'sche Abgeklärtheit, die
auch in Vocalwerken des Salzburger Haydn so wohlthuend
berührt.
Die Haydn'sche Sinfonie fangt mit denselben Noten
wie Mozart's Linzer Cdur-Sinfonie aber sogleich im andren
Charakter an. Noch ehe der zweite Takt schliesst, ist
von Cantabilität keine Rede mehr, das Herz aus dem diese
Töne kommen ist voll lauter Sonnenschein:
AUegro splrttuoso.
VloUoeii.
itn tljglJ feg I U1s2j '!^' ^^
P^r Bif FJi f-f t'f Q I n-rr i
ganz besonderes Wohlgefallen hat der Componist an der
aufschlagenden Sext des letzten Taktes gehabt. Wer
noch nicht klar darüber ist, mit wem er es zu thun hat,
dem müssen alle Zweifel schwinden wenn (mit dem 15. Takt)
die Ergänzung des ersten Themas kommt:
f/' ^ "* i" ä^r^iiil^^tisjü^^
Das ist Musik vom Geblüt des Don Giovanni und des
Grafen im , Figaro*. Der ritterliche, junge, ins Leben
stürmende, stolze Mozart ist es an den sich wie die Mehr-
zahl der Wiener Mozartschüler auch Michael Haydn an-
1) Leipzig, Breitkopf & Härtel.
^ 205 "^
schlieest. Zweites Thema und Uebergangspartien bieten
geringres Interesse, in letztren macht sich eine gewisse Um-
ständlichkeit bemerkbar. Sonst hat der Satz den grossen
Vorzug vollendeter Natürlichkeit und Schlichtheit. Die
Durchführung verarbeitet das 1. Motiv des Nachsatzes vom
Hauptthema, das erst in Nachahmungen zwischen Violinen
und Bässen, dann in letztren aUein erscheint. Gefühl der
Kraft äussert sich in kunstvollen Formen. Das Hauptfeld
seiner contrapunktischen Meisterschaft verlegte Haydn in
das Finale, bei dem wir wie in Mozart's Jupitersinfonie,
in DittersdorTs gleichaltriger Cdur-Sinfonie wieder vor
einer Tripelfnge stehen. Haydn's Priorität ist unbestreitbar.
Das erste Thema:
vivace &BBai.
P
dem 16 Takte spannende Einleitung vorangehen, nimmt
mit seinen Durchführungen den ersten Abschnitt (bis zum
67. Takt) allein ein und führt uns ein Stimmungsbild vor
in dem leises ahnungsvolles Behagen sich bis zu lauter
Fröhlichkeit steigert. Da setzt auf dem Höhepunkt (Halb-
schluss in G) eine neue beweglichere Freudenweise ein,
das zweite Thema:
oder vielmehr sein Vorläufer. Denn der kurze Gedanke
wird zunächst mehr versuchsweise begleitend in den ersten
und zweiten Violinen probirt, das Commando bleibt beim
ersten Thema. Neue Durchführungen, Engführungen,
Zwischensätze aus Umbildungen dieses ersten Themas
oder ganz frei gestaltet bilden den Inhalt des zweiten Ab-
schnitts des Finale (bis zum Takt 152) der einem Aus-
ruhen und Geniessen gewidmet ist. Seine schönsten
lauschigsten Stellen sind die aus den Umbildungen des
Themas gewonnenen:
K f ' f n f ' f rr f^^
ete.
ce 206 ^
und namentlich die heimlich humoristische wo die Bässe
yiermal *M ^ f f — | geben.
FP
Am Ende des Abschnitts wird ans Weitergehen ge-
mahnt: Ein neues, fortdrängendes Thema:
f I ' f I' I' '/^ T ' r I r r r r, I I f
lässt sich vernehmen. Der dritte Abschnitt beginnt. In
ihm zeigt sich das zweite Thema in seiner Tollen Grestalt,
nämlich:
das neue dritte ist hierbei sofort wie ein Nachsatz ver-
wendet. Zunächst ziehen nun die beiden Hälften dieses
combinirten Themas Arm in Arm durch die Instrumente,
dann hat der Nachsatz — (oder das dritte Thema) allein
die Satzbildung zu bestreiten. Die Stimmung die sich in
dem Abschnitte ausspricht ist im Yerhältniss zum Vorher-
gehenden die einer grössren Erregung. Als er zum Schluss
(Takt 202) ausholt, sehen wir mit ungeduldiger Er-
wartung nach der Fortsetzung aus. Sie tritt als Repe-
tition des ersten Abschnitts vor uns hin. Aber es ist keine
wörtliche, gewohnheitsmässige, sondern eine Wiederholung
mit den stattlichsten Varianten. Wir sind noch gar nicht
weit in dem neuen Abschnitt vorgedrungen, da bringt
Hajdn zum ersten Male alle 3 Themen miteinander. So
hat die Anlage seines Finale Aehnlichkeit mit einem
Spaziergang, der uns immer höher hinauf, von einem
schönen Aussichtspunkt zum andern führt; der letzte ver-
einigt die einzelnen Augenweiden zu einem mächtigen
Gesammtbild. Es ist in dem Finale dieser Sinfonie mit-
hin gehaltvoller Plan und meisterliche Formbeherrschung
nicht zu verkennen. Doch geht ihm die Fülle von sinnigen
Details, die der mächtigen Persönlichkeit entspriessen , es
geht ihr auch der gewaltige Zug ab. Es ist zu lang und
«<? 207 '^
zu reich an Formalismen, an Wendungen die von Grössren
geborgt sind. Man wolle diese Schwäche nicht der Zeit,
sondern nur der Individualität ihres Schöpfers zur Last
legen und ihrer niederdrückenden Wirkung bei etwaigen
Aufführungen durch gehörige Striche vorbeugen. — Einen
Menuett hat die Sinfonie nicht; sie ist dreisätzig wie es
die italienischen Sinfonien waren. Der hier noch zu er-
wähnende Satz, der langsame, an der zweiten Stelle im
Werke enthalten, ist aber der eigenste in der ganzen
Composition. Er hat die hier ungewöhnliche Form des
Rondo. Der Hauptsatz, der dreimal vorüberzieht ist ge-
müthlich beschaulicher Natur, fast in DittersdorTscher
Art. Ausserordentlich schön und lebendig sind aber die
Zwischensätze. Beim zweiten namentlich wills Einen an-
muthen als wenn die Fluth des grossen Weltenlaufs in
ein stilles Gebirgsdorf hineinwogt. Im ersten ist eine
Stelle, die sich klanglich sehr hervorthut : Homer, Trompeten
und Pauken allein.
Auch der für die Ciavierstudien unsrer Jugend noch
heute sehr wichtige Muzio Clementi gehört unter die-
jenigen hervorragenden Nebenmänner der Wiener Classiker,
die sich an Mozart anreiben und zwar an den feurigen,
nicht an den Sänger der Schwermuth und des Welt-
schmerzes. Die fatale thematische Abhängigkeit von seinem
Vorbild, die schon in Claviercompositionen Clementi's vom
Plagiat schwer zu unterscheiden ist, tritt uns aber auch in
den Sinfonien wieder entgegen. Die in Bdur z. B. fängt an
Allagro asttal.
P'^J' J>nT] I JTTlp r I r • Nun vergleiche
man damit das Presto der Mozart'schen Salzburger Bdur-
Sinfonie von 1778! Zu diesem ersten Verdruss tritt ein
zweiter noch stärkrer über die Affectirtheit Clementi's.
Was einen so sichren und in sich abgeschlossnen Künstler
bewogen haben kann den natürlichen Gang seiner Modu-
lationen fortwährend durch fremde Harmonieeinschübe und
gewaltsame Quersprünge zu unterbrechen — wenn es nicht
das Bestreben war sich neben den grossen Meistern als ein
e^ 208 '^
noch grÖBsres Original zu zeigen — lässt sich schwer be-
greifen. Wie sie in Folge dieser Gebrechen zu ihrer Ent-
stehungszeit nicht fest einzuwurzeln yermochten, so ist^s
auch aussichtslos mit den Clementi*schen Sinfonien, obwohl
sie durch das allgemeine Können ihres Verfassers ziemlich
hoch stehen, heute Wiederbelebungsversuche anzustellen.
Ehrlich währt am längsten — gilt auch für die Componisten !
Weitere Mozartianer unter den Sinfonikern der Wiener
Schule sind: Sterkel, Witt, Wölfl, Wilms. Das
Oestreichische vertritt unter ihnen am ausgeprägtesten
Wölfl, Mozart^s Salzburger Landsmann : anmuthig, gemUth-
lich, zuweilen intim; auf der Kehrseite nachlässig und un-
selbständig. Bei Sterkel tritt noch der italienische Bil-
dungsgang in Melodien und Formen hervor. Diesem Umstand
verdankt er den Triumph einmal Beethoven geschlagen zu
haben. Das war bei einer Concurrenz um die Composition
von „In questa tomba obscura*^. Sterkel erhielt den
Preis; Beethoven*s Musik wurde als „neudeutsch* ab-
gelehnt. Witt ist ein kleiner Berlioz, ausgezeichnet durch
Experimente und Künste der Instrumentirung: ganze
Adagios mit Pizzicato in den Allegros: grosse Trommel
und türkische Musik ! Wilm's überragt die Genossen durch
seine leidenschaftlichere Natur, welche sich musikalisch in
grossen, kühnen Crescendos und breiten Zwischensätzen
äussert. Der bedeutendste Wiener aus der Blüthezeit
der Classiker ist Anton Eberl. Ihn nannte man unter
den Grössen der Gattung und verglich ihn mit Beet-
hoven, mit dem er die Gewohnheit theilte, auf Spazier-
gängen zu componiren. EberFs thematische Erfindung
ist wenig originell, vielfach auf Mozart direkt gestützt,
die Figurenbildung altvaterisch und schablonenhaft. Aber
in seiner Harmonik, in der Steigerung des Ausdrucks, im
gewaltigen Aufbau der Perioden, in den zarten Einschal-
tungen der Schlusstheile , in der ganzen Handlung der
Form, lebt ein eigenes und starkes poetisches Talent.
Eberl starb jung; sein Ruhm als Sinfoniker ruht nur auf
wenigen Werken, von denen die Sinfonie in Ddur
ihren Schöpfer lange überdauerte, auch draussen „im
o<? 209 ö*
Reich*. Tn ihrer dreisätzigen Form, io dem Violiosolo
des Adagio hängt sie noch mit der alten Yor-Haydn^schen
Periode zusammen; originell ist sie in der Disposition des
ersten Satzes, welcher zwischen der langsamen Einleitung
und dem eigentlichen Allegro in anziehenden Nuancen
einen sehr hübschen Marsch vorüberführt:
Allegro moderato.
Er zeigt vor dem Eintritt in den Kampf, dass Hülfe naht.
Das liebenswürdige Adagio weist in seinem Hauptthema
.Adagio.
mit den schmachtenden Vorhalten auf die Zeit Naumann *s
zurück und voraus auf die Bellinische. Dieser weichliche
Schmerz rührt uns, weil er erlebt ist, — der männlichen
Sprache der Classiker war er aber fremd. So bietet dieses
Beispiel und ebenso das vorhergehende eine Ergänzung zu
dem Ideenkreis der drei Hauptmeister. Sie zeigen uns
die Stellen der Wiener Schule, aus denen Männer wie
Franz Lachner und Louis Spohr ihren Ausgang nahmen.
Wenn das Wiener Publikum seiner Zeit der Eberl'schen
Es dur-Sinfonie den Vorzug gab vor Beethoven's Eroica,
so schenkte es wenigstens seine Gunst keinem gewöhnlichen
und unbedeutenden Werke. Es ist eine mit allen Vor-
zügen des Componisten ausgeführte sehr leidenschaftliche
Composition; selbst in der Menuett grollt es noch heftig,
erst das zweite Trio bringt Ruhe in die Stimmung. Der
langsame Satz hat mit dem Trauermarsch der Eroica in
der Vertheilung auf eine CmoU- und eine Cdurhälfte
und in den kriegerischen Triolen einige zufällige Aeusserlich-
keiten gemeinsam.
Kretisohmari Führer, I.
U
c<? 210 ^
S. Keiko
C. OBemj.
F. Bies.
Der geistige Eiofluss Beethoven's lässt in der Wiener
Schule sehr lange auf sich warten. Nur Wilms und
Eberl zeigen unter den Genannten leise Beziehungen zu
ihm. S. Neukomm, ein direkter Schüler J. Haydn^s, in
den Concertsälen Deutschlands bis in die Dreissiger Jahre
hinein eine gern gesehene Erscheinung — namentlich seine
Orchesterphantasie in D, eine zweisätzige Composition, in
der das concertirende Element viel zur Geltung kommt,
war sehr beliebt — schrieb noch im Jahre 1818 eine Sin-
fonia eroica. In ihren Schlusssatz ist Händers „Seht er
konmit etc.* eingearbeitet. Als endlich Beethoven von
den Wienern eifriger studirt wurde, wirkten zunächst die
Aeusserlichkeiten des grossen Vorbildes. So wurden von
Wien aus, dann weit und breit, die Posaunen in den Sin-
fonien endemisch. Die Dotzauer, Keicha, Maurer, Moralt
— allerlei Talente, voran die kleinen, griffen zu den
grossen Instrumenten. Als typisch für die einreissende Ton-
verschwendung können die Sinfonien von C. Czerny be-
trachtet werden. Diese beiden platt behaglichen, lärmen-
den Werke tragen die Opuszahlen 750 und 781 ! Aus dem
grossen Citatenvorrath der ersten (in CmoU) ist eine
Reminiscenz von Schubert*s , Erlkönig* kunstgeschichtlich
bemerkenswerth ! Ein andrer direkter Schüler Beethoven 's,
der bekannte Ferdinand Ries copirt stilistische Eigen-
thümlichkeiten des Meisters, besonders seine Ueber-
raschungseffekte und vermischt sie mit Rossini^schen
Scherzen : Plötzliche Unterbrechungen der Fortepartien —
die Geigen schaukeln Takte lang auf leisen Accordnoten,
italienisches Guitarrenorchester — dann eine unvermuthete
starke Dissonanz, aus der sich aber nichts Beethoven'sches
entwickelt: ,Parturiunt montes etc.*! Trotzdem feierte die
Kritik in den Zwanziger Jahren Ries als , geistreichen*
(Komponisten. Schumann fand seine Eigenthümlichkeit
„nur durch die Beethoven'sche verdunkelt*.*)
Der erste Tonsetzer, welcher, obwohl er auf einem
*) H. Schumann's Gesammelte Schriften (Aasgabe Jansen)
I, 135.
oc? 211 ^
wesentlich realiatischem Bildungsboden steht, im höheren
Sinne als Beethoven*s Schüler bezeichnet werden kann, und
welcher zugleich die Wiener Schule und ihren Localton
als einer der Letzten und als der Glänzendste vertritt, ist
Franz Schubert. Wiener und Oestreicher ist er in der F. Sehikert.
Erfindung und Phantasie bis zu einem Grad , dass seine
Compositionen an die Wiener Landschaft an Ländlerton
und an Czardasklang erinnern, Beethovenianer in der
breiten, zuweilen masslos breiten Führung der Form.
Das Hauptwerk unter Franz Schubert*s Sinfonien ist
die grosse Sinfonie in Cdur, welche in der Reihe der
übrigen die Nummer 7 trägt. Sie ist ein Ausnahmewerk:
in ihrer colossalen Anlage, in den unaufhörlichen Wieder-
holungen ihres Periodenbaues, in ihrer , himmlischen
Länge*, wie sich R. Schumann euphemistisch ausdrückte,
etwas monströs; meisterhaft und genial, wie keine andere
seit Beethoven, in der musikalischen Erfindung, in der
Stärke des melodischen Stromes, in der Fülle schwärme-
rischer Weisen, in der Ursprünglichkeit und dem Reich-
thimi origineller Tongedanken, die auf Schritt und Tritt
in diesem Werke entgegensprossen: liebenswürdig und
unwiderstehlich wie eine heitere, herrliche, grossartige
Frühlingslandschaft nach der Natur ihrer Phantasie und
Stimmung. Alles in Allem kann man sie vielleicht die
schönste, die musikalisch reichste Sinfonie des 19. Jahr-
hunderts nennen; sicher hat sie in der Laienwelt mehr
Freunde als irgend eine andere.
Die Sinfonie beginnt mit einer ausgeführten Einlei-
tung, welche die Hörner romantisch eröflPhen:
Andante. r^ v > ^^ F. 8eli«bert
I dur-Sinfonie
~^ r^ r^ pp Nr. 7.
Die Holzbläser nehmen diese fragende Melodie zunächst
auf, die Celli setzen sie fort. Dann beginnt eine Durchfüh-
rung über die zwei ersten Takte des Themas. Dieser Discurs,
von den Holzbläsern schüchtern und zagend , von dem Gros
des Orchesters mit starker Entschiedenheit und einer ge-
wissen robusten Pracht geführt, endigt mit einem Schluss-
CG' 212 ^
resultat, welches in dem ersten Satze zu grosser Be-
deutung gelangt. Es ist das freudig zuversichtliche Motiy
^y^'^''^^ 1^ ^ rHM-r— ^** ^^^^ Mozart*scher, Ditters*
dorf scher, wir können sagen nach Wienerischer und
italienischer Art der triumphirende Refrain in der Dichtung
des ersten Satzes wird. Mit ihm scheint der Berg über-
stiegen. Ohne Aufenthalt, mit formlichem Ungestüm geht es
über in das AUegro, dass wie in den Strahlen der Morgen-
sonne Tor uns glitzert und flimmert. Ritterlich stolz die Greigen :
AUegro.
—/L ih —— ?^ ~^i I \ i rJ . vor freudiger Erwartung
g " i. j)i:'y'i. j)i. JJ'i bebend die Holzbläser:
so bauen die
beiden Theile
^ rr rr rrirrr rrr ir P^
des Orchesters das lange Thema vor uns stückweise auf.
In seiner zweiten Hälfte giebt es einer grossen Freude
immer kühneren und rauschenderen Ausdruck:
f;'rr'ri^"'""""ir'rr'ri^'^^'Pif r ir
Echt Schubert'sch ist der Abschluss dieses Bildes und der
Uebergang ins Nächste. Zwei Takte im Decrescendo ge-
halten — und wir sind aus dem Cdur und dem Sturme
des vollen Orchesters in Emoll! Das zweite Thema setzt
beschaulich und mit jenem kleinen Anflug von Melancholie
und Sehnsucht ein, der Schubert gleich einen musikalischen
Lenau immer begleitet: Die stark beschäftigten, in dieser
Sinfonie fast überbürdeten Holzbläser tragen es
P, J j J^^fe^
^^
fi - Erst nach 33 Takten
rr^^H-f^T ' I ^ ' gelangt es ans Ende
und in die für diese Stelle zu erwartende normale Tonart
cc 213 ^
Gdar. Eigenthttmlich ist, dass Schubert schon hier eine
Durchführung, wenn auch nur eine kleinere, einschaltet.
Darin zeigt sich deutlich der Einfluss Beethoven^s. In
dieser Durchfuhrung durchstreift der Componist einen
ausserordentlich weiten Ideenkreis. Die Holzbläser und
das Streichorchester bringen mit dem munteren:
ft f I r Jir^ oaiv fröhliche Klänge; die Posaunen dicht
daneben mysteriös schauerliche *ji \irt [t' T | T ;. Es
ist wie Yogelzwitschem und Waldesrauschen in einer
Stunde, wo die Natur einschläft Die beiden Motive sind
durch kurz zugesetzte Auftakte aus früher aufgestellten
Themen gebildet: das erste aus dem zweiten Thema, das
Posaunenmotiy aus dem zweiten Takte der Einleitung.
Es ist abo Alles höchst einfach und natürlich zugegangen
und doch stehen wir hier wie vor einer übernatürlichen
Wirkung, vor dem ganzen Schubert in seiner fast er-
schreckenden Grösse. Er, der aber noch wie ein Kind
mit Kindern spielte, pflegt jetzt geheimen, priesterlichen
Verkehr mit der Geisterwelt. Der gewaltige Eindruck der
Stelle lässt sich weit in der modernen Composition ver-
folgen, z. B. Schumann's DmoU-, Brahmas D dur-Sinfonie
zeigen die Spuren. Ein ganz eigner und neuer Zug an
diesem Sinfoniesatze ist die innige Verbindung des Allegro
mit der Einleitung. Dies oben unter b) gegebene Refrain-
thema aus der Einleitung schliesst die kleine Durchführung,
von welcher hier die Rede ist. Es schliesst auch die
grosse, die eigentliche Durchführung, welche nach ihr be-
ginnt — etwas düster und in Moll gehalten — und am
Schlüsse des ganzen ersten Satzes steht herrlich und in
vollem Glänze die Melodie vor uns, mit welcher die Hörner
die Sinfonie begannen. In der grossen Durchführung des
ersten Satzes ist eine a mit einem
Combination des Motivs wT f-^T^rT f"^ andern aus
dem ersten Thema des Allegro
cG' 214 'ö^
pg-fg^^^^^
zu bemerken.
Nach der Reprise kommt eine Coda, welche in gesteigerter
Empfindung noch einmal auf den fremden- und erwartungs-
vollen Eingang des Allegro einen Blick wirft.
Das Andante der Sinfonie, ihr zweiter Satz (A moll */4)
besteht aus zwei grossen Gruppen. In der ersten trägt
AUes den Charakter von genial, frei und sicher zusam-
mengestellten Impromptus. Das führende Thema ist
folgendes:
^^i
Es hat einen Ab-
schluss in Dur, der
ins Land des Glücks und ungetrübten Friedens weist;
Zu diesem Hauptthema tritt ein zweites, in welchem die
Gegensätze des erstem gesteigert und näher an einander
gerückt er- —4~%~
scheinen: Ffe ,
.//i Violinen Jf BUitt
Der zweiten Gruppe ist ein ruhigerer Charakter eigen.
Aus ihr klingen Töne der frommen Andacht und einer
erhabnen Feierlichkeit, und an einzelnen Stellen herrschen
ein Ernst und eine Resignation, aus denen die Gedanken
an das Jenseits zu sprechen scheinen. Wir stehen wie
durch Magie vor diesem neuen Bilde. Mit einem jener
kleinen Harmonie wunder, an denen Schubert so reich ist,
führt er uns von A- nach Fdur. Das Hauptthema dieser
zweiten Gruppe ist das folgende:
li.vioi.
l.Viol.
cc? 215 ^
Es wird sofort Dachdem es aufgestellt ist in kleinen
Sätzchen motivisch entwickelt. Der Wechsel zwischen
den zwei Chören des Orchesters, den Bläsern und den
Geigern, giebt diesen Sätzchen ihre charakteristische
Form. Von einer besonderen Schönheit ist die Schluss-
partie dieser zweiten Gruppe, ihr sanfter wehmüthiger
Abschiedscharakter, das fast übersinnliche Klangbild, in
welchem Schubert hier mit den immer leiser, immer
stockender gebrachten Tönen des Hornes und des Streich-
orchesters das Verschwinden der himmlischen Vision ver-
anschaulicht.
Die beiden Gruppen des Andante werden nach diesem
Momente ein zweites Mal vorübergeführt. Bei dieser
Repetition besteht eine Hauptveränderung darin, dass
die wilden Elemente des oben mit b) bezeichneten The-
mas der ersten Gruppe einen breiten Spielraum erhalten.
Sie treiben es bis zu einer sehr bedenklichen Spitze. Von
ihr aus finden die Celli mit einer rührenden Variante des
Thema a) den üebergang nach der zweiten Gruppe,
welche diesmal in Adur gehalten ist. — Trotz der un-
endlich vielen Wiederholungen im Kleinen ist die Dispo-
sition des Andante eine knappe und einfache.
Das Scherzo, der dritte Satz, erscheint bei Weitem
complicirter. Namentlich der zweite Theil seines Haupt-
satzes übertrifft in der Menge der hier zusammentreten-
den Ideen und in der Länge seiner Ausführung auch die
kühnsten Beethoven'schen Vorbilder.
Den Anfang des Scherzos macht ein Wechselspiel
zwischen Bläserchor und Streichorchester, welchem fol-
, ,, ^. AUerro vivace
gendes Motiv j .| ^
zu Grunde liegt
Die Violinen, zuerst etwas barsch und burschikos, lenken
dann in den zärtlicheren Ton der Blasinstrumente ein
und schlagen schmeichelnd eine liebenswürdige Tanz-
melodie vor
te 216 ^
^h 1,1 ^j I n- \f^f irTvT) 1^^ r ü I
/ ^,JrT^' f— I etc., welche jene mit Achtelgewinden aus
dem Hauptthema umkränzen.
Der zweite Theil des Hauptsatzes setzt die reizenden
Schelmereien des ersten fort; neu hinzugetragen erscheint
ein kurzer Gedanke von grosser Innigkeit: ein veredelter
Ländler ^-^ J f^j^^^^f^-^^^T 7 |.
Das bewegte Treiben des Scherzo erhält durch das
Trio eine köstliche Unterbrechung. Die Bläser tragen
einen langen, gefühlvollen Gesang vor, dessen Haupttheil
auf folgender Melodie ruht:
^f^^^i^^^m
^m-
Das Finale setzt mit einem humoristischen Allarm-
Allegro vlT&ce.
f f. ^ * ... ?T— ,
Signal folgendermassen ein ä _
Von allen Seiten wird zum Aufbruch gerufen eine grosse
glänzende Menge ist in Bewegung: ein herrlicher Tag,
eine herrliche Landschaft! Aus der zweiten Hälfte des
Hauptthema :
r> ■?-
ter^tiirÄ^^^^
») Im 2. Takt ist statt g „a" zu lesen.
oe 217 ^
spricht vergnügt, ungeduldig drängend die Freude über
ein grosses Ereigniss.
Im zweiten Thema nimmt die frohe Stimmung des
Satzes einen beruhigten, festlichen Ausdruck an: es ist
als ob sie nun kämen die lang Erwarteten im stolzen
langen Zug. Ein Siegesfest Hesse sich mit dieser herr-
lichen, reichen Musik feiern.
ji nr I M r ii I ifp I ''i-Li-^ 'Pf'
Rt irTlr^^^
An dieser Melodie hat Schubert ein ersichtliches be-
sondres Wohlgefallen gehabt; namentlich auf den breit
daher schlendernden Anfang in halben Noten greift er
immer wieder zurück: Dröhnend und mit mächtigem
Nachklang schlagen sie uns aus den Bässen entgegen
und führen die Gedanken von dem dunkleren Wege, den
sie in der Durchführung streiften, wieder in heitere Sphären
zurück. Aussergewöhnlich frei tritt die Reprise ein: mit
dem ersten Thema in Esdur anstatt in der Haupttonart
C, Namentlich das Finale ist derjenige Satz der Sinfonie,
an welcher sich das Uebermass breiter Ausführung,
welches dem Werke eigen ist, empfindlich macht. Ohne
irgend einen neuen Zug zu bringen, setzt der Schluss
dieses Satzes immer wieder an und wiederholt in immer
andern Tonarten die zur Genüge oft vorgetragnen Ge-
danken. Es ist dies ein Mangel, der von der üeber-
schwänglichkeit Schubert's, die uns häufig genug selige
Momente bereitet, nicht zu trennen ist. Die Cdur-SiÄ-
fonie bleibt trotzdem eins der reichsten und beliebtesten
Kunstwerke. Aber man würde sie wahrscheinlich häufiger
aufführen, wenn sie kürzer wäre.
c<? 218 ^
Schubert schrieb diese Sinfonie im Jahre 1828, wenige
Monate vor seinem Tode ; aber erst 10 Jahre später wurde
sie der Oeffentlichkeit bekannt und zwar auf Schumann*s
Veranlassung.*) Eine noch viel längere Wartezeit haben
die übrigen Sinfonien Schubert*s durchmachen müssen.
Erst im Jahre 1865 kamen die beiden Sätze zur Auf-
P. Seknbert fuhrung, welche von der H moU-Sinfonie vorhanden sind. *)
HmoU-Sinfonia.Dass das Werk nicht ein Fragment bleiben sollte, ist
unzweifelhaft. Die Originalpartitur enthält noch 9 Takte
als Anfang des Scherzo. Der Entstehungszeit nach dem
Jahre 1822 angehörend, also 6 Jahre älter als die grosse
C dur-Sinfonie , ist sie dieser doch an künstlerischer Voll-
endung überlegen: gedrungen in der Darstellung und frei
von den formellen Mängeln der berühmten Schwester.
Es ist eine Eigenheit der künstlerischen Entwickelung
Schubert*8, dass sie in Sprüngen auf und abwärts ging.
Dem Inhalt nach ist die H moll-Sinfonie mit der grossen
in C gar nicht zu vergleichen. Hier steht der schwer-
müthige Schubert vor uns und entrollt uns in kurzen
und ergreifenden Zügen das Bild einer leidenden Seele.
Manche Stellen im ersten Satze weisen direkt auf ,Gret-
chen am Spinnrade* hin, sogleich das erste Thema, in
welchem unter dem sehnsüchtigen Gesang von Clarinette
und Oboe (unisono)
Allepro moderato. ^^^^ ^^ — .„^^
die Geigen auf träumerisch belebtem Sechzehntelmotiv')
*) Die EntdeckuDgsgescbichte hat Scbumann zuerst aus»
fUhrlich in der Neuen Zeitschr. f. Musik, Bd. XII, S. 81 mit-
getheilt : von da ist der Aufsatz in seine „Gesammelten Schriften"
übergegangen.
*) Ueber die Auffindung durch J. Herbeck siehe: Ed. Hans-
lick. Aus dem Concertsaal. Wien 1870, S. 350.
*) In der Partiturausgabe sind an dieser Stelle mit be-
merkenswerther Pietät auch einige offenbare Schreibfehler
Scbubert's conservirt worden.
c<? 219 'ö^
hin- und herschaukeln. Das zweite Thema, eine ländler-
artige Melodie, setzt dann mit unbeschreiblichem Wohl-
klang in den Cellis ein
j^p
-^JH5;{^^^.4:^e.a=ti£d^.^
^r'/ 1* r r tX^V^\-^ r r_r l*^^* ^^ nimmt die ganze
Erinnerung in Beschlag: es ist für seine Stelle fast zu
schön und macht uns die erschütternden Gemüthsaus-
brüche vergessen, welche doch seine Fortsetzung bilden:
|iii I ii II I ij I Uli ii| i'i r
Der zweite Satz, Andante con moto (Edur ^/g) bringt
, himmlischen Balsam*^ in einfachster Schale. Die
Melodie, auf welcher sein Hauptthema im Wesent-
Andaüte
moto.
liehen ruht, ist ein schlich- j j n f ' i f i ff r | f ' rfr"
ter frommer Kindergesang: & tt * "^^ ' ' ^^ ' - — ^^'
Das zweite Thema tritt mit den Fragen eines beschwerten
Gemüths dagegen hin. Sie haben in der harmonischen
Führung dieser Partei einen bewunderungswürdigen Aus-
druck erhalten. Der ganze Satz ist das glänzendste
Document für die Tiefe des Schubert'schen Geistes, für
den erstaunlichen Reichthum einer Natur, in welcher
neben der vollen Naivetät des Kindes aus dem Volke
auch jene Grösse der Empfindung wohnte, die Beethoven's
Theil war.
Seit kurzer Zeit liegen uns in der verdienstvollen
Schubert- Ausgabe ^) auch die Partituren der übrigen sechs
Sinfonien vor, welche Schubert ausser den beiden hier
geschilderten und in der Praxis eingebürgerten geschrie-
ben hat. Von einer: der Cdur-Sinfonie Nr. 6, welche in
^) Leipzig, Breitkopf & Härte!.
F. Sohmbert
OdoT^infonla
(Nr. 6).
«<? 220 '^
ihrem ersten Satze Weber'schen Einfluss, im letzten Ver-
wandtschaft mit dem Finale der siebenten zeigt, wissen
wir das Entstehungsjahr nicht genau, wir dürfen es aber
nach 1822 setzen. Die andern fünf fallen in die Zeit
von 1813 bis 1816, ohne dass sich in der Keihenfolge,
in der sie entstanden, eine fortschreitende Entwickelung
yerfolgen Hesse. Dem grossen Sinfoniestile Beethoven^s
F. Seknbert nähert sich Schubert am meisten in der B dnr-Sinfonie
Bdor-Sinfönie (Nr. 2) vom Jahre 1844. Hier strebt er dem grossen
(Nr. 2). Meister in dem breiten Entwurf der Perioden nach ; ja
das Hauptthema des ersten Satzes ist direkt aus einem
ähnlichen im Finale von Beethoven *8 vierter Sinfonie
hervorgegangen. Gleichzeitig zeigt auch diese Sinfonie
das Eigene und das Wienerische in Schubert am stärksten,
vornehmlich das Andante mit den Variationen:
- Andajite. .^-^ und das keck
-^^' f l'rrrfmJr'' l^'^Mf/lQ dahlnsprühende
$
Finale :
Presto.
^j^jjijj^icj.rJirnj jiij jJirrrrif i i.
Diese B dur-Sinfonie hat von allen den nachgefun-
denen die ersten Aussichten im Concertsaale heimisch zu
werden. Alle die neugefundenen Sinfonien haben ihre
interessanten Einzelheiten in Beziehungen auf andere
F. Sehnbert berühmte Werke ihres Componisten : die erste (D dur v.
Sinfonie Nr. 1 J. 1813) in dem zweiten Thema des Finale, das mit dem
^^ 3. Lied von der Forelle bestimmte Züge theilt , die dritte
(Ddur V. J. 1815) durch einen Anklang an die grosse in
Cdur. Gemeinsam ist ihnen die Meisterschaft im Colorit,
die angeborene Genialität in der Mischung und Verwen-
dung der Instrumente und ein ausgeprägter Zug von
Lebensfreude. Eine Ausnahme von der letzten Eigen-
schaft macht nur die vierte Sinfonie (Cmoll v. J, 1816).
F. Sehnbert Sie ist „tragische Sinfonie** überschrieben und als ein
Tragische Sin- Versuch in diesem Stile zu betrachten , wobei Muster wie
fonie. Beethoven*s Ouvertüren zum Coriolan und zum Egmont
I und die Cherubini's zur Medea zimi Grunde gelegen
co 221 ^
haben. Vom eigentlichen Wesen tragischer Musik ent-
hält sie jedoch weniger als die unvollendete Sinfonie in
Hmoll.
Die norddeutsche Schule die noch zu den Zeiten
des Hamburger Bach der Wiener Schule innerlich ziem-
lich nahe steht, wird sich mit deren Erfolgen eines Gegen-
satzes bewusst und bemüht sich eine eigene Art zu äussern.
Sie giebt sich pathetisch, ruhiger und ernster als die Wiener,
zuweilen etwas trocken. In Form und Stil übertriflFt sie
jene durch Grediegenheit und Solidität und verräth einen
Zusammenhang mit jener Berliner Contrapunktistenpartei,
welche unter der Führung Kimberger's den ersten Triumphen
Haydn's mit dem Feldgeschrei , Sebastian Bach* entgegen-
trat. Die Opposition mag etwas lächerliches gehabt haben.
Spottet doch Marpurg*) einmal über einen Philister, der
eine Partitur ,mit der finstren Miene eines Erzdoppel-
contrapunktisten , der den galanten Haydn zu Boden
schlagen will* prüft. Die norddeutschen Sinfonien sind reich
an Imitationen und Umkehrungen und an Fugenpartien.
Fugen sind auch den Wiener Sinfonien nicht fremd; aber
die Norddeutschen tragen die strenge Arbeit gern zur
Schau; ja es giebt Werke, in welchen das gelehrte Ele-
ment sich ganz zum Herrn macht. Das am meisten
charakteristische Produkt dieser Richtung ist die Cdur-
Sinfonie des Abt Vogler, in deren Finale die diatonische Abt Yogier.
Scala als Thema durchgeführt wird. Das Werk genoss
von seinem Entstehungsjahre 1815 bis nahe an die neueste
Gegenwart heran ein grosses Ansehen.
Mit dem Auftreten Mozart's nähert sich die Nord-
deutsche der Wiener Schule wieder. Mozart wird das
Ideal ihrer Tonsetzer. Um Beethoven aber erwarb sie sich
die grössten Verdienste. Seine Musik fand ihre Haupt-
stütze in Norddeutschland, namentlich durch das Eintreten
des von Fr. Bochlitz wohl berathnen Leipziger Gewand-
^) Legende einiger Masikheiligen. (Colin a/Rh. 1786.)
8. 200.
cc 222 'ö^
haoses, eines der wenigen Institute, die aus der Periode
der , wöchentlichen Concerte* heil in die neue Zeit herüber-
kamen. An guten Grundsätzen und Absichten reiche blieb
die Norddeutsche Schule an überragenden Talenten lange
arm und hinter der Wiener beträchtlich zurück, bis
Mendelssohn und Schumann erschienen.
Die ersten namhaften Vertreter der norddeutschen
A. Bomber;. Sinfonie sind die beiden Romberg und Fr. Schneider.
Andreas Romberg, der Componist der , Glocke * , galt als
der anerkannte Führer. Von seinen Sinfonien, unter denen
sich auch eine mit Janitscharenmusik befindet, ist die in
D, welche Jahre lang ein Liebling der Orchester war, be-
sonders hervorzuheben. In ihrem ersten Satze, welcher
in freier und selbständiger Weise an die tragischen Motive
des Don Juan anklingt, zeigt sie die der Schule eigen-
thümlichen ernsten Züge ausserordentlich deutlich. Sein
B. Bomberg. Vetter Bernhard Romberg, einer der grössten Cello-
spieler seiner Zeit, heute noch durch seine Kindersinfonie
weit bekannt, hat sich in der Gattung der höheren Sin-
fonie durch die , Trauersinfonie auf den Tod der Königin
Louise* ein rühmliches Denkmal gesetzt. Ohne Choräle,
Begräbnissgesänge und äusserliche Hülfsmittel wird hier
eine erhebende Todtenfeier vollzogen, der leidenschaftliche
Schmerz und die sanfte Klage haben denselben natürlichen
schlichten Ausdruck gefunden ; wahres, echtes Gefühl und
edle Haltung machen diese Sinfonie zu einem hervor-
ragenden Kunstwerk. Nach Geist und Stil erinnert es an
Fr. Sehaelder. Mozart 's , Maurerische Trauermusik * . Friedrich Schneider
war einer der Ersten , welche in Beethoven*s Fussstapfen
zu treten suchten. Vom Jahre 1803 ab hat er Über vier
Jahrzehnte lang das Gebiet der Sinfonie gepflegt und in
den Scherzi's seiner ungefähr zwanzig Sinfonien oft eine
bedeutende Höhe erreicht.
Als der letzte und bedeutendste Vertreter des ursprüng-
W. Kalliwoda. liehen Stiles der norddeutschen Schule ist W. Kalliwoda
zu betrachten, der von der Mitte der zwanziger Jahre ab
ein Vierteljahrhundert hindurch einen bedeutenden Platz
im Repertoir einnahm. In ihm schien das Geschick
ee 223 ^
wieder einen Meister ersten Banges bescheeren zu wollen.
Vielseitig, auf jedem Gebiete sicher, oft neu, originell und
doch natürlich und einfach, macht er wiederholt den Ein-
druck eines Auserlesenen und nähert sich der letzten Stufe
zur Unsterblichkeit. Obwohl das eminente Talent Kalli-
woda's nicht zu voller Entfaltung gelangt ist und in fast
jedem seiner Werke ein unfertiger Rest bleibt — hier die
übermässige Breite der Ausführung, dort die Ungleichheit
der Theile — ist doch das Studium seiner Sinfonien sehr
genussreich. Jede enthält Perlen und Proben einer musi-
kalischen Urkraft. In der ersten Sinfonie Kalliwoda's
(FmoU) machen wir auf die schöne Einleitung und das
naiv kräftige (zweite) Thema des ersten Satzes:
AUegro. ^ ^
-j^^VS! J"^r Ip r ir {Jjj I|>"J^ aufinerksam. Ihr
Scherzo hat in dem Hauptthema
Vivtce. ^ ♦ f f. .. . eine zufällige Aehnlich-
tf .iL „V* f* f .f f r ■ »• ^*"*^ zuiaiuge Aenniicu-
flin'» f \\ \ ^ V ^ \ \ \ \ keit mit dem entsprechen-
den Satze der Schumann Vhen D moU-Sinfonie. Die zweite
Sinfonie Kalliwoda's zeigt bedeutende Fortschritte in der
Form. Die Verbindungsgruppen sind gedankenvoller ge-
worden und können der Stütze durch Figurenwerk ent-
rathen. Der poetische Glanzpunkt des Werkes liegt in der
kleinen Coda des Larghotto, welche der scheinbar schon
geschlossenen Darstellung noch einen ganz neuen traulich
herzlichen Gedanken in Canonform nachsendet. Die dritte
Sinfonie Kalliwoda's darf im Allgemeinen als ein Haupt-
werk aus der Periode ihrer Entstehung (1831) bezeichnet
werden. Leider ist der letzte Satz den vorhergehenden
nicht ebenbürtig und in allen wünscht man die Darstel-
lung etwas gedrungener. Ohne diese Mängel würde sie
ftir alle Zeiten die Repertoire zieren können. Viele Par-
tien haben Beethoven's grossen und kühnen Zug; im zwei-
ten Thema des ersten Satzes glauben wir uns direkt in
die Sphäre der Bassumowsky-Quartette dieses Meisters
versetzt. Der erste Satz ist einer der charaktervollsten
c<? 224 ^
Sinfonie-Sätze, die je geschrieben worden sind; in seiner
blUthenlosen Starre und Strenge hat er kaum seines Gleichen.
Sein kahles und stei- p ♦^' „ i l.« i _ i i i
nemes Hauptmotiv ^ ^ J " I I ^ I " J," :
welches schon fremdartig in die Einleitung hineinklingt,
gehört zu jener Classe von Themen, mit welchen es nur
ein Genie wagen darf. Die vierte Sinfonie (C moll) zeigt den
Componisten in Formen und Gedanken wieder als einen
ganz anderen. Ihr erregtes Wesen deutet auf persönliche
Erlebnisse; namentlich das Finale, wo nach einem ausser-
ordentlich leidenschaftlichen Eingang plötzlich das sinnende
Andante wieder erscheint , legt diese Vermuthung nahe.
Die fünfte Sinfonie Kalliwoda's (Hmoll), welche im Ganzen
etwas leichter wiegt, hielt sich durch das den langsamen
Satz vertretende einschmeichelnde AUegretto
AUei^retto. ^ ^^^^
lange in der Gunst des Publikums. Die sechste und siebente
Sinfonie Kalliwoda's stehen gegen ihre Vorgängerinnen zu-
rück und erlangten in den Coneertprogrammen keine feste
Position.
Zur Bedeutung gelangte die norddeutsche Schule mit
dem Anwachsen der romantischen Bewegung, die sie in die
Sinfonie hineintrug.
Jean Paul nennt bekanntlich die Musik die roman-
tischste, d. h. von Natur aus und von jeher romantische
unter den Künsten. Und in früherer wie in neuerer Zeit
ist mit Keeht darauf auftnerksam gemacht worden, dass
auch schon die Werke S. Bach's und anderer älterer Meister
romantische Züge tragen. Geschichtlich datiert aber der
Begriff der musikalischen Komantik erst seit dem Anfang
unsers Jahrhunderts. Zwiespältigkeit und Mischung galt
als Wesen der Romantik. In diesem Sinne wurden Mozart
und Beethoven im Gegensatz zu Haydn als romantische
Componisten bezeichnet: Mozart, weil er in seinen Allegro-
sätzen die Instrumente ohne Weiteres aus bewegtem
^ 225 ^
Figurenspiel in ruhigen Gesang übergehen Hess, Beet-
hoven, weil er Scherzi, d. i. heitere Sätze schrieb, bei
denen man sich ängstigen konnte, und weil er auch sonst
in demselben Athem Dinge verband, welche im schärfsten
Gegensatze zu einander standen. Haydn that eins nach
dem anderen und hielt seine Gedanken und Stimmungen
einfach und frei von Mischungen. Die Wiener Schule,
die ihm vorzugsweise folgte versagte sich der Romantik
nicht grundsätzlich, aber sie ging, Franz Schubert aus-
genommen, kaum über den Punkt hinaus, bis zu dem
Mozart vorangeschritten war. An A. Eberl lässt sichs
wahrnehmen wie sie die romantischen Wendungen auf die
eigentlichen Adagiogefühle beschränkt. In der nord-
deutschen Schule durchdringt dagegen der romantische
Geist schon frühzeitig auch das Allegroleben.
Wir begegnen seinen Spuren z. B. bei A. Romberg in
kleinen chromatischen Durchgängen und Wechselnoten:
AHegro modertto.
Durch sie werden die im Grunde muntren Weisen seiner
Ddur-Sinfonie sentimental durchblitzt. Die Heimath dieser
Art romantischer Musikelemente ist vornehmlich die fran-
zösische Oper. In den durch ihre Herbheit der nord-
deutschen Schule nahestehenden Sinfonien von Tomaschek,
dem böhmischen , Schüler der Musik«, und von Mehul,
greift die Romantik schon tiefer in den Satzbau und in
die Gedankenentwickelung hinein. Vom Jahre 1815 ab
wird der romantische Stil der herrschende, und alle
die Sinfoniker, welche neben Beethoven etwas bedeuten,
repräsentiren eine Seite des romantischen Geistes. Die
musikalische Romantik hat mit der Romantik in Litteratur,
Poesie und bildender Kunst fortan mehrere Jahrzehnte
lang hervorragende Berührungspunkte. Auch die musi-
kalischen Romantiker kennzeichnet das Festhalten an
Lieblingsstimmungen, das Hervortreten der Persönlichkeit
des Darstellers in der Darstellung, der subjective Ton und
die aus diesen Erscheinungen hervorgehende Einseitigkeit
KretEiobmar, FOhrer, I. 15
oc? 226 '^
und Gleichförmigkeit der Werke. Die musikalischen
Romantiker pflegen Specialitäten des Gemüthslebens und
der Phantasie und haben in der Form Manieren, die
immer wiederkehren und für welche sie schnell Nach-
ahmer und Schüler finden. Wie die allgemeine Romantik
läuft auch die Geschichte der musikalischen im Zickzack.
Sie springt von dem phantastischen Gebiete auf das senti-
mentale über, von da auf das naturfrohe und naive, und
läuft endlich von dieser letzten Station, von der Hingabe
an das Genre und an das Kleinleben, in eine Periode der
Realistik und des Naturalismus aus. Die romantische
Epoche hat in der Musik sehr belebend und anregend ge-
wirkt, Ideen einer früheren Zeit vertiefend ausgeführt,
neue Klang- und Ausdrucksmittel zum Vorschein gebracht
und die Litteratur mit Werken bereichert, welche all-
gemeinen bleibenden Kunstwerth haben. Sie bedeutet eine
zweite Blüthezeit in der Geschichte der Sinfonie und
hat in Mendelssohn und Schumann zwei Meister hervor-
gebracht, welche an Originalität und Reichthum der
musikalischen Erfindung den grossen Classikem der Wiener
Periode nahestehen.
Die phantastische Richtung der Romantik vertritt in
C. M. T. Weber, der Sinfonie zuerst C. Maria von Weber. Von seinen
zwei Sinfonien , die beide in C dur stehen , ist die erst«
(i. J. 1807 für die Capelle des Herzogs von Württemberg
geschrieben) die bedeutendere. Sie war (vom Jahre 1814
ab) längere Zeit bei den Orchestern sehr beliebt und
dürfte auch heute noch einer freundlichen Aufnahme ge-
wiss sein. Es ist ein bescheidenes , liebenswürdiges und
sehr mannigfaltiges Werk, heute doppelt interessant durch
die vielen Einzelheiten, welche direkt auf den Schöpfer
des Freischütz hinweisen. Das Andante, das poetische
Hauptstück der Sinfonie , ' hat Wolfschluchtsbässe und
Agathecantilenen. In seiner düster feierlichen Pracht, in
der stillen Schwermuth, welche aus den schmelzenden
Klängen der Blasinstrumente spricht, ist es einer der
schönsten langsamen Sätze, welche zur Zeit Beethoven*8,
und ganz unabhängig von diesem Meister, geschriebeu
e<? 227 ^
worden sind. Die freie Disposition macht es einer dra-
matisirten Erzählung ähnlich. Der Schauplatz ist nächt-
lich, zu den handelnden Personen stellt die Geisterwelt
Mitwirkende. Im ersten Satze, welcher im Stile die con-
trapunktischen Merkmale der norddeutschen Schale trägt,
üherwiegt der muntere ritterliche Ton; die spannenden
phantastischen Momente liegen in den leisen Solostellen
der Contrahässe. Malerisch und bilderreich ist er im hohen
Grade; der herrschenden Haydn'schen Methode bleibt er
viel schuldig. Weber selbst war später mit diesem aller-
dings etwas zerfahmen Satze am wenigsten zufrieden.
Er entschuldigt sich bei Gottfr. Weber, dem die Sinfonie
gewidmet ist, und bei Fr. Rochlitz damit, dass er hier mehr
auf eine Ouvertüre ausgegangen sei.^) Dagegen erkannte
er Menuett und Adagio voll an. Beim Publikum und bei
dem Orchester war das Finale, in welchem immer die
Homer mit komischer Beflissenheit vorausstürmen , als
einer der drolligsten Sätze seiner Zeit besonders beliebt.
Ein späterer Vertreter derselben Richtung ist Ons- ^- Oaslow.
low, ein geistreicher, temperamentvoller Componist, wel-
cher unter die Ersten gehört, deren Adagios den Beet-
hoven'schen Massen nachstreben. Onslow ist apart, ele-
gant, reich an Ideen, in Figuren und Rhythmen vielfach
neu; in den Durchfdhrungssätzen verrathen leider triviale
Episoden den Mangel an musikalischer Durchbildung,
welcher den Werken Onslow*s eine schnelle Vergessenheit
bereitet hat. Die verbreitetste seiner Sinfonien war die
in Adur. Die Hauptthemen ihres ersten Satzes
mögen den romantischen Charakter
von Onslow's musikal. Erfindung erläutern. Wie die
Romantiker der phantastischen Richtung von der franzö-
sischen Oper im Allgemeinen viele Impulse empfingen, so
*) F. W. Jahns : C. M. v. Weber in seinen Werken (187 1) S. 64.
15*
CO 228 "^
zeigen diese und andere Melodien Onslow^s speciell den
Einfluss der Komanzen Boieldieu*8.
Die sentimentale Richtung der Romantiker ist durch
Mozart und Cherubini vorbereitet und auch in den Sin-
fonien der Wiener Schule reichlich vertreten. Ihre eifrigste
Pflege findet sie in den Sinfonien von L. S p o h r und
F. Mendelssohn-Bartholdy.
Die Sinfonien von Louis Spohr sind in ihrer Mehr-
zahl der heutigen Generation bereits wieder fremd ge-
worden. Fast zwei Menschenalter hindurch war dieser
unermüdlich strebende Künstler auf diesem Gebiete thätig
und nahm an allen den Bestrebungen thätigen Antheil,
welche von Beethoven bb auf Liszt der Weiterentwicke-
lung des sinfonischen Stils galten. Die erste unter Spohr*s
gedruckten neun Sinfonien (in Es dur) wurde für das zweite
Frankenhauser Musikfest (1811) componirt und erfreute sich
bald allgemeiner Anerkennung. *) Sie zeigt bereits die fertige
L. Spohr Individualität des merkwürdigen Künstlers : die Zeitgenossen
Eadar-Sinfouie. fanden in ihrer ruhigen Würde einen Gegensatz zu dem
Feuer Mozart's und Beethoven's, lobten die weniger ge-
danklich bedeutenden als angenehmen Melodien und tadel-
ten die allzuhäufige Wiederkehr seiner chromatischen Gänge
und die unruhige Modulation. Bis gegen das Jahr 1830 kehrt
das Werk auf den Repertoiren immer wieder. Seine
zweite Sinfonie (D moll) schrieb Spohr i. J. 1820 für die phil-
harmonische Gesellschaft in London, die durch ihn kurz zuvor
die erste Bekanntschaft mit dem Taktstocke gemacht hatte.
Sie wirkte besonders durch die virtuosen Stellen des Streich-
orchesters. *) Spohr*s dritte Sinfonie (CmoU), seine vierte
(, Weihe der Töne*) und seine fünfte (C moll) bilden den Höhe-
punkt in der sinfonischen Thätigkeit ihres Verfassers und
sind bis heute noch in den Programmen zu finden. Nament-
L. Spohr lieh seine dritte Sinfonie (v. J. 1829) ist eins der liebens-
C moii-Süifonie würdigsten Denkmäler der ersten, unschuldigen Jugendzeit
Nr. 8. (jgr musikalischen Romantik. Manche Zeilen in dieser
^) L. Spohr, Selbstbiographie I, 161.
*> Ebendi II, 89.
oc? 229 '^
Dichtung — wir denken an das zweite Thema des ersten
Satzes — sind veraltet, aber aus dem Ganzen spricht der
überschwän gliche Geist milder, weicher Schwärmerei, dem
Spohr zuerst einen eignen Ausdruck verlieh, noch in erster
Frische. Die musikalischen Wurzeln dieser Spohr'schen
Kunst reichen bis in die Opern Paisiello's, Piccini's, Ga-
lüppi*8 zurück; in der Sinfonie erstarkte sie namentlich
durch Eberl und jene Wiener Rührungsmänner, deren
letzte Spuren sich in den Liedern H. Proch*s finden.
Schubert kannte Spohr nicht, als er seine ersten Sinfonien
schrieb, und von Beethoven'schen Anregungen macht er
nur einen sehr vorsichtigen Gebrauch; der italienischen
und ^nzösischen Oper seiner Zeit, Cherubini namentlich,
verdankt er Einiges. Spohr hat aber die Sprache der
Sentimentalität auch selbständig weiter gebildet, und wie
viel von den verminderten Schlussintervallcn :
^ f h'^ r^r ^^^ ^^^ anderen Wendungen seines
romantischen Idioms in die Werke mitlebender und folgen-
der Künstler übergegangen ist, wird man mit Staunen bei
Betrachtung dieser C moll-Sinfonie gewahr. Ihr Larghetto
namentlich, der vollendetste, gedankenreichste und mannig-
faltigste Satz des Werkes, hat in den Sinfonien gleich-
zeitiger und späterer Sinfoniker mächtig nachgewirkt.
Am ersten Satze ist das Beste die Einleitung mit dem
charakteristischen, suchenden Quintenmotiv ft J t~\ f l "
und der Schluss der Durchführung, an welchem diese Ein-
leitung wieder erscheint. Auch das erste Thema des
Allegro, in seinem Anfang nicht hervorragend, erhält
durch die poetische Anknüpfung an das citirte Motiv der
Einleitung einen werthvollen Schluss.
Das Larghetto (F dur ''/f,) hat zum Hauptthema eine lange,
behaglich ausgeführte Melodie, das Kind eines Herzens, wel-
L&rghotto^^
ches seinen Frieden gefunden fc ^ H T^^ P ^ ^ ^' *** '
Nur leichte Schatten finden hier einen Zutritt:
«? 230 'ö»
Der Glanzpunkt dieses Satzes ist
das Cantabile
KiJA^^ ' ^-^•" ^-^^ •' i ' ^-^ *^^'^^ S^
bei dem Spohr einen neuen Instrumentationseffect an-
wendete: Sämmtliche Geigen, Bratschen und Celli tragen
die Melodie im Unisono vor. Die Wirkung ist grandios!
Das Scherzo dieser Sinfonie ist in seiner Herkunft
verwandt mit dem in Beethoven's fünfter:
In der Ausführung bleibt es etwas gleichförmig. In
lauter kleinen Zügen gepflegt, eines lebendigeren drama-
tischen Impulses baar, bildet es für den Zuhörer einen
einigermassen mühsamen Genuss.
Der Humor Spohr^s vergräbt sich mit Vorliebe in
Miniaturen. So streiten auch im Finale gegen die
grossem Intentionen des kühn scherzenden Hauptthema^s,
das an das Finale von Beethoven's zweiter erinnert,
w " Jj I [' J. J3 I ■ J ^ ^ J>l ^ I * ^\^l J J allerhand kleine
Arabesken, unter denen namentlich folgende Figur
^ ? f iir I r^
Nr. 6.
einen breiteren Kaum einnimmt.
L. Spokr Die andere Cmoll- Sinfonie Spohr's (geschrieben im
Cmoli-Sinfonie Jahre 1838 für die Wiener Concerts spirituels) hat eine
pathetischere Tendenz. Sie begiebt sich, allerdings nicht
sehr weit, direkt ins Gebiet der Leidenschaften hinein.
Spohr war sich der Einseitigkeit seiner musikalischen
Natur bewusst und strebte zeitlebens ernstlich darnach
seine Phantasie auch ausserhalb der elegischen Grenzen
heimisch zu machen. Es ist aber nicht zu verkennen,
dass ihm bei solchen Versuchen die Originalität des Aus-
^ 231 ^
drucks versagt und dass er sobald wie möglich den Rück-
zug auf vertrautes Terrain anzutreten pflegt. Für die
erstere Thatsache bildet das Hauptthema im ersten Allegro
dieser Sinfonie eine genügende Illustration:
AIIOJTO. 1) ^^
$m f ,1|?^ • Einen schönen poetischen Zug
T I f I ' r • theilt dieser erste Satz der fünften
Sinfonie mit dem der dritten : das Thema der langsamen Ein-
leitung die wie eine Verheissung in Dur steht, tritt plötzlich in
die Durchführung hinein und kehrt dann bis zum Ende des
Satzes mehrmals wieder. Der Schluss des Allegro sticht durch
Macht des Ausdrucks hervor und schliesst das ganze Bild
mit den Klängen edler Trauer ab. Man hat den Eindruck,
dass das Werk einer Fortsetzung nicht bedarf und thatsäch-
lieh ist auch dieser Satz selbständig i. J. 1836 als Ouvertüre
zu Raupach*s , Tochter der Luft** entstanden.
Das Larghetto dieser Sinfonie kommt im Geiste und
auch in der thematischen Erfindung Beethoven sehr nahe ; es
ist einer der schönsten langsamen Sätze, die Spohr geschrieben
hat. Bei der ersten Aufführung in Wien musste er wieder-
holt werden. Der Mittelsatz dieses Larghetto contrastirt
mit dem Haupttheile, führt aber seine Aufgabe, eine un-
ruhige Scene darzustellen, in einer namentlich nach Seite
der Instrumentation hin bemerkenswerth originellen Weise
aus. Wir geben hier das Hauptthema dieses Larghetto:
^ ,i -T_X^ -^ <^^' etc.
Das Scherzo, ein für Spohr aussergewöhnlich kräftiger
Satz, stützt sich im Hauptthema auf ein chromatisches
Motiv ^-1
[IIZ welches, von den Hörnern aus durch die
Bläser wandernd, ein heitres Leben im Orchester wach
*) Lies c.
CO 232 "^
hält. Der zweite Tbeil des Hauptsatzes verdankt dem
Aennchen aus Weber's Freischütz (, Grillen sind mir böse
Gäste*) Einiges. Das graziös elegische Trio ist den Holz-
bläsern in der Hauptsache allein überwiesen.
Im Finale herrscht der Ton einer milden Heiterkeit.
In kunstvollen Formen fugirend und imitirend, bilden sich
fröhliche Spiele um das dem Hauptthema folgende Seiten-
Ȋizchen:w^h^tzjL-j^i=^^'^'^^\i f^^- Als zweites
Thema des Finale erscheint die Melodie der Einleitung
zum ersten Satz. Die Sinfonie erhält dadurch in Form
und Idee eine sehr schöne Abrundung. Mehr als beachtet
wird, sind die Sinfonien Spohr's reich an solchen geist-
und sinnreichen Wendungen.
L. Spokr Zwischen den beiden Cmoll-Sinfonien steht die , Weihe
„Die Weihe derber Töne*. Dieses , charakteristische Tongemälde in Form
^'^°® • einer Sinfonie*, wie es der Componist nennt, erschien im
Jahre 1834, fallt also in eine Periode, in welcher die
Tendenz, die Instrumentalcomposition an poetische Vor-
würfe zu binden, wieder einmal energisch aufgelebt war.
Diese Periode, welche zufällig mit der Blüthezeit der
Bomantik in der Litteratur zusammenfällt, datirt von dem
Franzosen H. Berlioz, dem sich Mendelssohn und Gade in
ihren poetisirenden Concertouvertüren auf dem Gebiete
des Orchesters in besonnener Distanz anschlössen ; Schumann
vertrat eine ähnliche Tendenz in der Klaviermusik mit
seinen Charakterstücken. Auch auf Spohr übte diese
Richtung einen grossen Reiz, und in seiner energischen
Art ging er gliuch praktisch und mit grossem äussren
Erfolg ans Werk. Denn diese Composition wurde eine
Lieblingssinfonie die man eine Zeit lang in den stehen-
den Concerten jedes Jahr zu hören verlangte. Der
, Weihe der Töne* liegt ein ziemlich langes ursprünglich
zu einer Cantate bestimmtes Gedicht von Carl PfeiflFer,
einem Casseler Freunde des Componisten, zu Grunde,
welches bei der Aufführung der Sinfonie entweder ver-
theilt oder laut vorgetragen werden soll. Die Concert-
«<? 233 'o-
direktionen begnügen sich indessen mit einem kurzen
Auszug, einer Art Inhaltsangabe, die den Tempis der
einzelnen Sätze beigeschrieben wird und die Intentionen
von Dichter und Componist, wenn auch nicht immer ganz,
so doch annähernd trifft. Etwas unglücklich gewählt er-
scheint sofort die Bezeichnung des ersten Largo: , Starres
Schweigen der Natur vor dem Erschaffen des Tons*.
Thatsächlich will Spohr hier nur etwas Aehnliches schil-
dern wie J. Hajdn im Chaos der Schöpfung, wie Beet-
hoven im Anfang der neunten Sinfonie : eine Welt, der die
Freude fehlt, in der das Leben noch nach Formen ringt.
Das thut er in der Einleitung durch träge, lastende
Melodien in den Bässen und andern tiefen Instrumenten
und durch wühlende Harmonien. Der erlösende Jubal ist
sehr bald geboren : Schon nach 23 Takten beginnt das Allegro.
Es bringt als Hauptthema eine echt Spohr*sche Melodie:
Ein zweites Thema besitzt dieser Satz nicht: An seiner
Stelle erscheint eine lange concertirende Partie, in welcher
die Holzbläser das Vogelgezwitscher nachzubilden suchen.
Dergleichen Aeusserlichkeiten , Künsteleien und unreife
Stellen sind in Programmsinfonien nichts Seltenes. Aber
in der , Weihe der Töne* scheinen sie nicht ausschliess-
lich aus dem Principe hervorgegangen, sondern aus einer
augenblicklichen Schwäche der musikalischen Erfindungs-
kraft, die im Allgemeinen nöthigt, das Werk — so viel
Liebenswürdiges es enthält — hinter die beiden Cmoll-
Sinfonien zurückzustellen. Namentlich die Uebergangs-
partien von Bild zu Bild, von einem Thema zum andern,
entbehren der Gedankenkraft und behelfen sich mit leerem
Figurenwerk. Auch die Dichtung zwang nicht zu den
kleinlichen Malereien, in welchen Spohr die Stimmen der
gefiederten Sänger wiederzugeben glaubte; sie bringt in
dem Verse, welchen das Allegro illustriren will, eine
Reihe höherer Momente, welche der Componist bei Seite
liegen Hess. Dagegen hat Spohr in diesen Satz eine
oG" 234 «*
Scene hinein escaraotirt, von welcher der Dichter nichts
weiss: einen Aufruhr der Elemente. Mit seinen heftigen
Accenten bildet er zu der musikalischen Idylle der Themen-
gruppe einen nicht unwillkommenen Gegensatz.
Im zweiten Satze sucht Spohr Wiegenlied, Tanz und
Ständchen zu vereinigen. Namentlich das Wiegenlied ist
mit einer sehr gelungenen Melodie wiedergegeben, von
der man fast bedauert, dass wir sie so wenig unvermischt
geniessen können
Andantin». ^,_^ .
VP
Der Tanz, ein französischer Zweivierteltakt , vertreibt
diese Melodie schnell, und ihn löst später das Ständchen
ab. Merkwürdiger Weise ist seine Ausführung dem Fagott
übertragen. Es steht im **/,<, Takt:
Diese drei Melodien sind, ähnlich wie in der Ballsccne
des Don Juan, zusammengestellt und bilden in ihren
Combinationen für den Vortrag bedeutende Schwierig-
keiten.
Der dritte Satz: „Kriegsmusik, Fortziehen in die
Schlacht, Gefühl der Zurückbleibenden, Rückkehr der
Sieger, Dankgebet* beginnt mit einem Marsch (in D). Mit
demselben kehren die Krieger auch nach dem Siege
zurück. In der Zwischenzeit stimmt die Clarinette in einer
sehr sprechenden, beklommenen Weise eine klagende
Melodie an : in den Cellis banges Sinnen, das volle Orchester
bringt leidenschaftliche Ausbrüche des Schmerzes. In der
Ferne hört man ab und zu abgerissene Motive des
Marsches. Nach der Rückkehr der Krieger wird als Dank-
gebet der Ambrosianische Lobgesang: „Herr Gott, Dich
loben wir* geblasen; die Violinen lunspielen ihn mit
jubelnden Figuren.
Der letzte Satz: „Begräbnissmusik, Trost in Thränen*
überschrieben, wird durch ein Larghetto (F moll C) einge-
^ 235 '^
leitet, welches in seiner Form dem Schlüsse des vorher-
gehenden Satzes, dem , Dankgebet* ähnlich ist: Der Choral
,iNun lasset uns den Leib begraben", von den Cellis und
den beiden Clarinetten vorgetragen, wird von den andern
Instrumenten mit Motiven begleitet. Namentlich die
Zwischenspiele, in dumpfen Paukenwirbel gehüllt, sind
ausserordentlich ergreifend und eindrucksvoll. Nach dieser
Trauerscene folgt der Trost in Thränen als AUegretto
(Fdur '/i) mit folgendem Hauptthema:
^
i
^ f ff^ \ f, rH^'^J. J ^® schliesst mit dem Quinten-
p motiv d g, welches schon im
ersten Satze eine wichtige Stelle im Thema einnimmt.
Spohr hat diese ihm in allen Werken sehr liebe Wendung
in allen Sätzen dieser Sinfonie untergebracht: Hier er-
scheint sie wie der bescheidene Hausgeist in einer Ecke
versteckt, dort offen im Vordergrunde; vielfach in folgen-
der Form: ft ^ T ^^- Immer elegisch, friedvoll und
auch an den Stellen des Aufschwungs so masshaltend,
wie es der fromme Grundton der Stimmung verlangt, ist
dieser Schlusssatz der ^ Weihe der Töne* nicht immer
verstanden worden. Von der gebräuchlichen Haltung
eines Sinfoniefinales weicht er völlig ab; zum Charakter
des Tongemäldes, welches mit dem Ausblick auf das Jen-
seits abschliesst, passt er sehr wohl.
Spohr hat später nur noch eine rein musikalische Sin- L. Spohr
fonie geschrieben. Es ist die Nr. 8 (Gdur), welche nach Gdur-Sinfonie
der instrumentalen Seite manches Neue und Interessante ^''* *•
enthält. Das Scherzo, im Trio mit einem Violinsolo aus-
gestattet, ist in der Erfindung, welche sich ganz auf das
virtuose Element lehnt, der eigenartigste ihrer vier Sätze.
In den übrigen Sinfonien blieb er von der .Weihe der Töne* |^^ gpohr
ab beim Princip der Programmmusik. Zunächst kam im Historische
Jahre 1839 seine , historische Sinfonie im Stile und Ge- Sinfonie.
c<? 236 '^
Bchmack vier verschiedener Zeitalter*. Der erste Satz soll
die Periode Händel und Bach oder die Zeit um 1720 ver-
anschaulichen. Er versucht das in einer aus trockenen
Sequenzen zusammengebauten Fuge, mit einem Pastorale in
der Form des Siciliano C^U Takt) als Mittelsatz. Der zweite
Satz gilt der Periode Haydn-Mozart (1780). Dieser stand
Spohr selbst geistig am nächsten und darum ist wohl
dieses Andante der gelungenste Satz der Sinfonie. Auch
hier schaut der chromatische Spohr überall hervor: aber
er thut nichts was seine Modelle entstellt: Einiger Spässe
und Derbheiten, welche Spohr den beiden Wiener Meistern
insinuirt, wären sie fähig gewesen, wenn auch gerade nicht
im Andante. Die Beethoven 'sehe Periode (1810), als die
dritte, ist durch ein Scherzo vertreten, welches mit einem
Solo von drei Pauken beginnt. Sie geben das Motiv
^sg=^fe^^-^=f^^fpT?r"TT^--^^^
Im Uebrigcn schiebt Spohr dem Beethoven einen Eigen-
sinn zu, welcher selbst für diesen über alle Möglichkeit
hinausgeht: In einem Satze, der gegen 400 Takte um-
fasst, ein einziger thematischer Gedanke von 8 Takten
Länge ! Wider allen Beethoven'schen Brauch bleibt auch das
Trio an dieser fixen Idee haften! Noch schlimmer kommt
„die allerneueste Periode* (1840), welche den vierten
Satz einnimmt, weg: Ein Hexengebräu aus Nonen, Sep-
timen und freien Dissonanzen, winselnden und schmach-
tenden Vorhalten! So wild ist auch Berlioz nie gewesen,
so sehr haben auch die Pacini, Mercadante und Meyer-
beer nicht gelärmt, so süsslich und zerflossen waren
Rossini und Bellini niemals! Und wer in aller Welt mag
zu den ewigen und tollen Gedankensprüngen dieses Satzes
gesessen haben! Ist die Historie in den andern Sätzen
dieser Sinfonie nur unzulänglich — so wird sie hier zur
Parodie zur härtesten Kritik von Spohr's Beobachtungs-
talent und seinem Kunstverstand! Nur in Wien wo
man bei der Aufführung blos die Jahreszahlen angab,
die Namen weg Hess, wurde diese Sinfonie beifallig
c<? 237 "^
und besonders im letzten Satz aufgenommen. Ucberall
sonst blieben die Meinungen mindestens getheilt.*)
Die nächste Programmsinfonie Spohr's (im Jahre 1842 L. Spohr
veröffentlicht) heisst .Irdisches und Göttliches im Men- »iidiiches und
schenleben* und ist betitelt als , Doppelsinfonie* ! Wie öötuiohe. im^
dies in der altem Zeit dann und wann (s. Cannabich) "**® e e on .
versucht wurde, sind hier wieder einmal zwei Orchester
aufgestellt, die sich in der Regel ablösen, hie und da
auch vereinen. Das erste Orchester hat im Streich-
quartett nur einfache Besetzung. Diese Anordnung fuhrt
zu einer Reihe neuer und schöner Klangwirkungen, deren
häufige Wiederkehr allerdings den Endeindruck schwächt.
Sie ist ein weiterer Beweis, wie Spohr sich immer etwas
Neues ausdachte und in seiner Art auch ins Werk setzte.
Die Idee zu dem Doppelorchester erhielt Spohr durch einen
Scherz seiner Frau auf der Rückreise vom Musikfest zu
Luzem. Sofort war auch die Sinfonie entworfen. Der
erste Satz gilt der Kinderwelt. Hier sein Hauptthema:
■ AUerretto.
$
» r^'f r I O j r ^""^^ ' - - - ■ Freilich: ein
ungetrübtes
Glück schildert er nicht; auch ihn drücken chromatische
Schmerzen.
Der zweite Satz schildert die Zeit der Leidenschaften.
Diese nahen in chromatischen Sechzehntelgängen der
Bässe, stören die friedvollen Melodien der Holzbläser und
schwellen zu einem Sturm an, der sich in einem Allegro
(C-Takt) austobt, dass in seinem Haupttheil mit Sechzehntel-
läufen angefüllt ist. Eine Art kräftiger Marschmusik bildet
einen Widerpart dagegen.
Der dritte Satz ist überschrieben: Endlicher Sieg des
Göttlichen. Ein Presto in ^/^ Takt (Cmoll) beginnt auf-
geregt und lenkt dann in freundlich muntere Melodien
über. Sie führen zu einem Adagio, welches, pompös in-
strumentirt, mit einem feierlich gehobenen Gesang ein-
*) L. Spohr a. a. O. II, 231.
«c 238 ^
L. Spohr
^Bie Jahres-
seUen**.
setzt, und, ähnlich wie in der , Weihe der Tone* der
Schlusssatz, mild und leise ausklingt.
Den Vorwurf zu Spohr's letzter Sinfonie (Nr. 9, Hmoll)
bilden ,Die Jahreszeiten*. Dieses der musikalischen Kunst
viel bietende Thema wird hier in zwei Abtheilungen ab-
gehandelt, deren erste den Winter, den Frühling und den
Uebergang zwischen beiden enthält, die zweite den Som-
mer und Herbst. Das dichterische, allgemein künstlerische
Talent Spohr's und noch mehr sein musikalisches — beide
haben sich der reizenden Aufgabe gegenüber sehr kühl
verhalten. Nur der letzte Satz erhebt sich an einzelnen
Stellen, mit einer Paraphrase des Rhein weinliedes , über
eine mittlere Temperatur.
Die sentimentale Richtung der Romantik erreicht in
Mendelssohn ihre Spitze, kommt mit ihm ungefähr auf
die Stufe, die in der Dichtkunst Lord Byron einnimmt.
Der romantische Beiklang, welcher viele Compositionen
Schubert's wehmüthig färbt, welcher alle Werke Spohr's
wie mit einem Hauche von Sehnsucht überzieht, nimmt
bei Mendelssohn einen energischeren Charakter an und
äussert sich schwermüthig und klagend. Mendelssohn ist
eine vielseitigere, beweglichere und reichere Natur als
Spohr und wirft häufig jede romantische Fessel ab. Aber
die Nachfolger ergriffen die romantische Sentimentalität
seiner Werke als Hauptseite seines Wesens.
Mendelssohn's sinfonisches Hauptwerk ist die Amoll-
Sinfonie. Sie ist unter dem Beinamen „die schottische*
bekannt; die Hauptmelodie des munteren Satzes, welcher
in ihr die Stelle des Scherzos einnimmt, soll dem reichen
Volksliederschatz Schottlands entstammen. Aber die Be-
ziehungen zwischen dem Werke und seinem Titel sind
tiefer: Mendelssohn schreibt, dass ihm die ersten Themen
an den Stätten Maria Stuart^s kamen. *) Die Sinfonie ent-
stammt der künstlerisch reifsten Periode des Componisten,
einem Abschnitt derselben, wo auch die Frische und der
Reichthum seiner Phantasie die Höhe jener Jugendtage
*) S. Henselt. Die Familie Mendelssohn (5. Aufl.) 1886. I, 225.
CO 239 '^
behaupteten, in denen die Sommernachtstraum-Ouvertüre
entstand. Die , Walpurgisnacht* , die mit dieser Sinfonie
zugleich das Licht der Welt erblickte, schickt in dieselbe
manche Grüsse hinein. Das Werk trägt in den gemischten
Stimmungen, welche es wiedergiebt, in seiner Hinneigung
zum naiv Volksthümlichen die Kennzeichen der Früh-
romantik. Es ist unter den Werken, welche diese Rich-
tung in Poesie und Kunst hervorgebracht hat, eins der
individuellsten und zugleich abgeklärtesten. An neuen,
melodisch eindringlichen, eigenen Gedanken reich, be-
sitzt die Sinfonie in der Darstellung den zugänglichen
Charakter, welcher den Werken Mendelssohn's gemeinsam F. Mendelfioha
ist, im hohen Grade. Im Periodenbau herrscht ein Mass- ^ "o^-Sin'onle
halten und eine Regelmässigkeit, die uns fast zu gross («chottUche).
dünkt und die auch thatsächlich von Anfang an Wider-
spruch erregt hat. Ein andrer Gnmd dafür, dass das
Werk bei seiner ersten Aufführung (im Jahre 1842) nur
einen massigen Anklang fand, lag in der Neuerung, dass
Mendelssohn die vier Sätze der Sinfonie attacca d. h. ohne
die gewöhnlichen Unterbrechungen aufeinander folgen lässt.
Diese Anordnung, welche auf einen engem poetischen
Zusammenhang der Sätze hinweist, schien die Zuhörer
zu ermüden. In der Folgezeit hat sie ausser Schumann in
seiner D moll-Sinfonie kein Componist adoptirt. In den
kleinen Sinfonien von Ph. E. Bach und der Vor-Haydn*schen
Periode Hessen sich die Pausen zwischen den einzelnen
Sätzen leichter entbehren.
Das Thema der Introduction der A moll-Sinfonie
gehört zu den Lieblingsgedanken Mendelssohn's: Paulus
in der Stunde der Reue, der lebensmüde Elias intoniren
diese schwermüthige Melodie. In der Schule des Meisters
ist sie vielfach variirt worden. Mendelssohn hat die
ausserordentlich bedeutende Idee des Introductionsthemas
in der Sinfonie noch einige Male berührt: im Adagio
nimmt er einen flüchtigen Bezug darauf und im ersten
6<3' 240 '^
Allegro knüpft er direkt an die vier ersten Noten desselben
an. Folgendes ist das Hauptthema dieses Allegro:
A) Allegro an poco af itato.
/»/»
Die Erregung, welche in dieser Wendung halbverdeckt
durchscheint, wird mit dem Schlüsse des Hauptgedankens:
n p p I r ä)ä ft I f r fl ^ ^^ zunächst zu melancho«
lischer Ruhe gebracht. Bald aber bricht sie in dem Seiten-
gedanken :
''ly^ü ^-^n^r\t'rrftLL
mit den heftigen, kurzen Stössen aus, durch welche sich
Mendelssohn's Sprache der Leidenschaft von denen an-
derer Künstler unterscheidet. Das zweite Thema geht
mit innigen Tönen
in die klagende tragische Sphäre der Intro-
duction zurück.
Ein äusserst liebenswürdiger rührender Nebenge-
danke schliesst die -f H 1 j»"
Themengruppe :
Besonders schön wirkt er, als er gegen den Schluss
der Durchführung hin sich unmittelbar neben die wilde
Gestalt des oben mit c) bezeichneten Themas stellt. Diese
Durchfuhrung selbst ist nicht nur musikalisch formell
vollendet, sondern auch ein poetisches Meisterstück, genial
in Aufbau und Ausdruck der Stimmung. Dieser Ein-
gang, der Ruhe und Vergessenheit in neuen Träumen
sucht, die allmähliche Einfuhrung des Conflicts, der nicht
l V
co 241 '^
zu venneiden war, — die wiederholten Versuche abzu
brechen — der endliche Ausgang mit der Trost und Re-
signation predigenden Melodie der Celli — das wirkt
Alles mit einer Unmittelbarkeit, wie sie an dieser Stelle
in Sinfonien nur selten erreicht wird! Wie ergreifend
auch der letzte Abschluss des ganzen Allegro — als nach
allen Stürmen die Melodie der Introduction ihr freund-
lich bleiches Antlitz wieder zeigt! In seiner harmonischen
Mischung von menschlicher Tiefe und Anmuth, freier
Dichtersprache und vollendeter Form würde der Satz
allein hinreichen die Bewunderung zu erklären, welche
Mendelssohn bei seinen Zeitgenossen erregte.
Auf einem andern Grundcharakter basirt ist der zweite
Satz der A moll-Sinfonie , das Vivace. Von dem phan-
tastischen Elemente, welches Mendelssohn für seine
Scherzi bevorzugt, hat es nicht«. Es ist ein künstlerisch
vollendetes Genrebild pastoraler Natur, welches uns nur
bedauern lässt, dass Mendelssohn dieses Gebiet so selten
betreten hat. Die Themen, welche in theilweise strengerer
Arbeit durchgeführt werden, sind folgende:
ViTaee.
jjL II Jj^H-fffli^ i| j f,! ijrj .j^i ggJTWi^fJH
n\Tii\fi Piniiii
Einen das Trio vertretenden Mittelsatz hat das Vivace
nicht, aber eine kleine Einleitung von wenigen Takten,
in der fröhliche Signale auf das bevorstehende lustige
Treiben hinweisen. Auch das Adagio beginnt mit eiijer
kurzen Einleitung, die den Zusammenhang mit der Intro-
duction mit einigen, allerdings sehr feinen Strichen her-
stellt. Das Hauptthema hat in seiner ersten Hälfte fol-
gende Gestalt:
Adagio.
Unmittelbar nachdem es abgeschlossen, tritt das zweite
Thema :
Kretzsohmar, Führer, I.
16
to 242 ^
^i^
ein, fremdartig und feierlich wie Hamlet's Geist Im gan-
zen weitem Verlauf des Satzes geht es mit dem andern,
von dem die Celli bevorzugten Besitz ergreifen, keine
nähere Verbindung ein, sondern stellt sich ihm nur, immer
wieder überraschend , wie mahnend und warnend , ent-
gegen. Diese ungewöhnliche Disposition der Themen giebt
dem Satze einen dramatischen Charakter.
In dem letzten Satz verschwindet das romantische
Colorit einigermassen. Die Themen stürmen einer be-
haglichen Sphäre zu
AUegro con »pirlto.
fiPrrrTijjTi j'f Cr'r ^'^r
erreichen sie
^
II' J- f I -i .J
und geben den Gefühlen heroischer Kraft freudigen Ausdruck :
C '»"-. ,v ,- . WsLB leidende Miene trägt,
' '' ^^L ^"P*r r r r I A:- wie das Thema
jrif r?piv rirrrprr r ir-r^^^
y-r-f^pT^-t'r \T 'f^^f^ das rücken Hegende Stirn-
men. Orgelpunkte und andere Hülfsmittel der Instrumen-
tation und der Harmonie in eine verklärende Feme.
Die hier angeführten Themen gehören dem ersten,
dem Haupttheile des Schlusssatzes zu. Mendelssohn
nennt diesen ersten im C-Takt geschriebenen Theil Alle-
gro guerriero — und bietet damit der Erklärongskunst
einen verlockenden Stoff. Der zweite, kürzere Theil des
c<? 243 ^
Finale besteht aus einem Satze im •/jj Takte, in dessen
Hauptmotiv: p ^ip J. J J) i^^E das schottische Ele
ment der Sinfonie noch einmal zu entschiedenster Geltung
kommt. Diese Wendung bildet in der Melodik der schot-
tischen Volksmusik eine stereotype Schlussformel. Be-
kanntlich fehlt der schottischen Scala die Septime.
Der schottischen Sinfonie steht unter den andern
Sinfonien Mendelssohn's die vierte (Op. 90) an Werth und
Popularität am nächsten. Sie heisst die italienische und
gilt als die künstlerische Frucht der längeren italienischen
Reise, welche der junge Mendelssohn im Jahre 1830 unter-
nahm. Direkt erkennbare südliche Elemente bringt die
Sinfonie in ihrem Schlusssatze: einer ausgelassenen, bac-
chantisch lustigen Scene, welcher eine neapolitanische F. Hendeliiohn
Tanzform, der wilde Saltarello, zu Grunde liegt. In den Adur-Sinfonie
andern Sätzen sind Beziehungen zum Süden nicht nach- (italienische),
zuweisen. Der erste Satz mit seinem heiteren Grundton
hat gleichwohl zu vielen schwärmerischen Parallelen mit
dem jiCwig blauen Himmel des Landes, wo die Citronen
blühen* Veranlassung gegeben. Es herrscht in ihm eine
kräftig glückliche Phantasie, die wohl an die Stimmung
eines Jünglings denken lässt, der fröhlich und jubelnd
hinauszieht in die schöne Welt. Das erste Thema, wel-
ches ohne Einleitung einsetzt:
Allef ro Ttv&ce.
f-^jtf ^^-^^ih^^hhi^i^'i^^Pi^^k
jf — beginnt kräftig, ungeduldig; das
zweite :
^i^^^
^#^^
U^^^mC !^gi^V^4:fe|r^ }^yi
ist ruhiger , hat etwas vom sentimental romantischen Ele-
ment; aber ein freudiger Schwung lebt auch in ihm.
co 244 '^
In der Durchführung tritt ein neuer dritter Gedanke auf:
rEii, ?^J^Xl"ip>.^ rtf Vlt£W^^, welcher dann
auch in den Schlusstheil des ersten Satzes aufgenommen
wird.
Der zweite Satz (Andante con moto, Dmoll) beginnt
wie eine schwermüthige Ballade mit folgendem Haupt-
thema, zunächst von Bratschen, Clarinette und Fagott
vorgetragen :
Andante con moto __
■f-*-^^i
dem dann ein freundlicher Gesang entgegentritt:
Diese anheimelnde Begegnungsscene wiederholt sich mit
kleinen Intermezzos einige Male: Die trauernde Gestalt
hat das letzte Wort und wie mit leisen Seufzern ver-
schwindet der Satz in die umwölkte Feme. Sind in die-
sem langsamen Satze schon nordische Anklänge nicht
zu verkennen, so tritt in dem folgenden Satze, einem
^/^Takt ohne weitere Gattungsbezeichnung, das deutsche
Element mit der grössten Bestimmtheit vor.
Der Hauptsatz dieses traulichen Stückes knüpft mit
seinem Ländlerthema:
. Con moto moderato.
an die gemüthlichsten Bilder an, welche die Wiener
Meister von deutscher Fnihlichkeit und Geselligkeit ent-
worfen haben. In dem Mitteltheil dieses Satzes lebt die
Bomantik unsrer Wälder in der Seele des jungen Men-
delssohn auf: C. M. v. Weber, die musikalische Jugend-
liebe Mendelssohn's, scheint vor seine Phantasie zu
treten und in dessen Homklängen spricht der junge Ton-
dichter einige der herrlichsten Zeilen seiner italienischen
Sinfonie.
Der letzte Satz, mit einem fanatischen Unisono seinen
co 245 'ö^
unbändigen Charakter ankündendj bringt als erstes Thema
folgendes :
3
lijLLfrBt^-tfe.
g^s^^^:-:
Es zieht in einer langen Entwickelung auf, durchstreift
die Nuancen seelischen Ausdrucks von der zarten Anmuth
bis zum wilden Toben und bringt alle Kräfte des Or-
chesters, die Solisten und die Massen in immer heftigere
Action. Dem Aufmarsch dieses Hauptthema folgt eine
Nachhut aus derben Elementen, aus stampfenden und
pochenden Figuren, wie:
gebildet. Die weicheren und feineren Geister haben in
den Kreisen dieses Satzes nur einen bescheidenen Platz.
Das zweite Thema, in dem eine leise Reminiscenz an die
Durchfuhrung des 1. Satzes, gleichsam wie an den Anfang
der Reise erinnert, sucht sie einzuführen:
Ein erneuter
und längerer Versuch, die ins Bedrohliche steigenden Wogen
der Fröhlichkeit zu glätten, wird in der Durchführung
dieses Satzes mit der Figur
J3^'^^L&--1^^^^
PI*
unternommen. Wie der erste Satz der Adur- Sinfonie
manches aus der Nottumosphäre , so bringt dieser letz-
tere wörtliche Einzelheiten aus den grotesken Partien
der Sommemachtstraunmiusik, speciell aus der Ouvertüre.
Die italienische Sinfonie ist als Nr. 4 erst nach dem
Tode des Componisten veröflfentlicht worden; der Ent-
stehungszeit nach geht sie der schottischen um mehrere
Jahre voran: sie wurde von Mendelssohn zuerst im Jahre
1833 in der Philharmonischen Gesellschaft zu London
au%eführt. Zwischen diesen beiden Hauptsinfonien
e<? 246 "^
F. ■•■delMoha McDdelssohn's liegt sein , Lobgesang* , den er als «Sin-
nLobgesang*" foniecantate nach Worten der heiligen Schrift* bezeichnet
Sinfonie- d[q Mischung von Sinfonie und Cantate, wie sie in diesem
C»ntate. Werke sich zeigt, ist älter als Beethoven und seine neunte
Sinfonie. Die eigenthümliche Anlage dieses Lobgesangs
ist jedoch mit Berufung auf ältere Vorlagen noch nicht
recht zu verstehen. Während die schottische und die
italienische Sinfonie ziemlich langsam reiften , entstand
diese Sinfoniecantate als rasche Gelegenheitsarbeit zum
Leipziger Gutenbergfest des Jahres 1840. Für die In-
strumentalsätze benutzte Mendelssohn eine seiner Zeit
für London geschriebene Jugendsinfonie , deren Charakter
sich der Idee der gewünschten Festmusik ohne Gewalt
anpassen Hess: Zu der Dankfeier, welche einem der
wichtigsten Culturereignisse , einem Wendepunkt in der
Geschichte der Menschheit galt, soll die ganze Tonkunst
beisteuern. Voran schreiten die spielenden Massen. Sie
loben den Herrn (im ersten Satze) mit Posaunen:
Dann lobt man ihn mit
y
Psalter und Harfen, in einem .feinen Ton*. Dieser feine
Ton ist der Kern des ersten Theils des Allegretto der
Sinfonie (G moU */ J ; seinen Ausgang bildet eine Choral-
paraphrase. Dem dritten Satze, dem Adagio (Ddur "/<),
dem frommsten und ehrfurchtsvollsten Theile der Sin-
fonie scheint der Gedanke zu Grunde zu liegen: «Betet
an den Herrn in seinem heiligen Schmucke*. Er bildet
den Schluss des Sinfonietheils im Lobgesang. Nun setzt
die Cantate ein. In ihrem ersten Chor sucht sie die
Verbindung mit dem Vorausgehenden, indem sie das
oben angegebene Thema des ersten Sinfoniesatzes zu
den Worten „Alles was Odem hat, lobet den Herrn*
aufnimmt. Der H()hepunkt dieser Cantate ist das dra-
matische ßecitativ des Tenors „Hüter ist die Nacht bald
Beformationi- Weniger bekannt, im Drucke erst seit dem Jahre
Sinfonie. 1868 vorliegend, ist Mendelssohn's „Reformationssinfonie*.
eO 247 ^
Das Werk ist interessant ab ein halb declarirter
Beitrag Mendelssohn*s zur Programmmusik. Auf die
Reformation selbst nimmt es den klarsten Bezug im
letzten Satz, dessen Mittelpunkt der Choral ,£ine feste
Burg* bildet. Um ihn herum treten noch kriegerische
Liedweisen, die den Charakter der Volkslieder des Mittel-
alters tragen. Der religiösen, ernsten Seite der Reformation
selbst, ihrer streitbaren Natur, ihrer Freudigkeit am Kampfe,
ihrer Festigkeit im Glauben und im Gottyertrauen ist der
erste Satz gewidmet. Mit einer gewissen Starrheit und
Unbeugsamkeit hält diese Composition ein kurzes Motiv
fest : 'w ^ J J. _h I '^ " ^*® ^^^ ^^^ Einleitung bis zum
Schlüsse, wie der feste Wächterruf in der Nacht, den
Satz durchschallt. Wie das Kleinod, dem das Mühen gilt,
ist die Melodie des Lutherischen Amen (das sogenannte
«Dresdner Amen* , das auch Wagner in seinen Parsifal
aufgenommen hat): ^i|£"^^ — i
in die erste Abtheilung der Sinfonie hineingestellt. Der
Zeit der Reformation gilt der zweite Satz, ein Allegro
vivace, die musikalische Verkörperung einfachen, altvate-
risch schlichten und kräftigen Frohsinns. Seine Melodie
erscheint als metrische Umbildung des zweiten Thema
im Vivace der schottischen Sinfonie. Das Trio besitzt
Weihnachtsklang. Das Andante hat nach der Kürze
des Umfangs und nach seiner erregten Haltung Aehnlich-
keit mit einem Recitativ.
Im melodischen Stile weicht die Heformationssinfonie
von den drei vorhergenannten Werken ab. Nichts von
den weichen Sext- und Terzvorhalten, welche in den
Weisen der mittleren Periode immer wiederkehren, und
wenig von der Rücksicht auf das Violinmässige , welche
in der Motivbildung der andern Orchesterwerke häufig in
den Vordergrund tritt. Es geht ein herber, aber cha-
raktervoller Zug durch die Melodik der Reformations-
sinfonie, der allein dazu berechtigen würde, diese Com-
^ 248 ^
F. Xeadeluoha Position der Jugendzeit Mendelssohn's zuzuweisen. Sie
c moU-Sinfonie. theilt ihn mit seiner ersten Sinfonie, der in CmoU.
Diese ist (als Opus 11) der Philharmonischen Gesellschaft
in London gewidmet, vor längerer Zeit schon durch
Schlesinger in einer gestochenen Ausgabe veröffentlicht,
aber für Aufführungen so gut wie nicht benutzt worden.
Der Stoff, welchen sie der Vergleichung und der bio-
graphischen Betrachtung bietet, ist nicht unbeträchtlich.
Im Stile steht sie auf dem Boden der , Hochzeit des
Camacho*, der .Heimkehr aus der Fremde* und lässt gar
nichts Yon der eigenthümlich phantastischen und reich
beweglichen Natur des Componisten der Sommemachts-
traummusik ahnen. In den Gedanken folgt sie nament-
lich der Führung Beethoven's; der erste Satz knüpft
direkt an Ideen des G dur-Concerts , der Coriolanouver-
türe und der Waldsteinsonate dieses grossen Vorbildes
an. Trotz dieser Unselbständigkeit ist aber das Werk
wegen der Kraft, Frische, Knappheit und der Entschie-
denheit, mit der es sich auf gedanklich Wichtiges richtet,
sehr erfreulich und besitzt Lebensfähigkeit.
Die naive Richtung der Romantik tritt mit der phan-
tastischen ziemlich gleichzeitig in die Musik herein. Ihre
ersten Vertreter, unter welchen wir den liebenswürdigen,
lyrisch schwungvollen F. E. Fesca (vier Sinfonien 1817
bis 23) nennen, gehören nach dem Stilbereiche der nord-
deutschen Schule an. Ihr Hauptmeister ward R. Schu-
mann. In der grossen Reihe hoher Dichtergaben, deren
Vereinigung Schumann^s Individualität imposant macht,
sticht sein naiver Zug besonders hervor. Mit ihm vertritt
er in der Sinfonie kräftiger, als es vor ihm geschehen,
jenen Rousscau'schen Zug zur Natur und Einfachheit,
dessen Aufleben den gesundesten Theil der romantischen
Bewegung bildet, denselben Zug, welcher unsere Dichter
ziun Volkslied zurückführte und unsere Maler, Ludwig
Richter voran, den grossen Schatz von Poesie neu ent-
decken Hess, der sich dem sinnigen Auge in der Alltäglich-
-keit des heimischen Lebens und im eigenen Lande auf-
that. Der jugendliche Ton, die grosse Dosis ungezwungener
cc 249 "^
Natürlichkeit ist es in erster Linie, durch welche Schu-
mann's Musik ihre erfreuende und erfrischende Macht übt.
Diesen inneren Eigenschaften verdankt sie auch viele von
ihren eigenthümlichen formellen Elementen: die Figuren
und Gesang ineinanderziehende Themenbildung, die
aphoristischen und versteckten Melodien, die jetzt uu-
genirt losen, jetzt seltsam verketteten Rhythmen, die Natur-
lauten gleichenden Dissonanzen, und alle die neuen
Elementarbildungen, durch welche Schumann's Schöpfungen
fiir die weitere Entwickelung der Tonkunst von grosser
Bedeutung geworden sind.
In die Reihe der Sinfoniker trat Schumann ungeiähr ein
Jahr, bevor Mendelssohn's , schottische Sinfonie* erschien.
Die echten Romantiker pflegen ihr Bestes gleich beim
Anfang zu geben. Schumann^s sinfonischer Erstling war
die Sinfonie in Bdur (Op. 38), eine seiner schönsten Ton-
dichtungen und dasjenige Werk, welches seinem Namen
mit einem Schlage die historischen Würden erwarb. Die
Bdur-Sinfonie hält sich an~[die bekannten Hauptformen
der Gattung und bewegt sich im Wesentlichen in ver-
trauten und jedem Menschen naheliegenden und lieben
Ideenkreisen — aber Schumann behandelt Idee wie Form
mit ungewöhnlicher Freiheit und Kühnheit. Ja in der
kurzen, ungenirten Ausdrucksweise, welche er in einzel-
nen Sätzen entwickelt, liegt eine Originalität, die nicht
blos vor 40 Jahren neu war, die auch heute noch dis-
cutabel sein würde, wenn nicht der Grund einer fort-
reissenden Natürlichkeit und einer mächtigen Phantasie,
auf denen sie ruht, zu stark durchleuchtete. Schumann B. Sehamann
selbst nennt in einem Briefe an Griepenkerl seine Bdur- Bdur-Sinfonie.
Sinfonie ,in feuriger Stunde geboren" und nahm es seinem
Freunde Wenzel sehr übel, als dieser (in der Leipziger
Zeitung) bei Beurtheilung des Werkes von Hoffnungen für
die Zukunft gesprochen hatte.*) Sie war in der kurzen
Zeit von vier Tagen im Entwurf fertig.
^) G. F. Jansen: R. Schamann^s Biiefe. Neue Folge.
(Leipzig 1886) S. 175.
<^ 250 ^
Die poetische Idee der Sinfonie soll*) mit dem Ge-
dichte ,Du Geist der Wolke trüb und schwer* von Adolf
Böttiger in Beziehung stehen. Die Worte ,Im Thale zieht
der Frühling auf* leiteten den Componisten, der das
Werk mehrmals seine , Frühlingssinfonie* genannt hat.
Dunklen Bildern und Ideen giebt Schumann in ihr,
die den Stempel einer glücklichen Zeit überall trägt, nur
so weit Raum, als es das Gesetz des Gegensatzes, das
Lebenselement der Sonaten- und Sinfonieform, fordert.
Die Einleitung stellt zuerst diesen Gegensatz hin.
Feierlich und ernst, auch etwas drohend, erhebt sie sich
.V j. TT ••IUI. a\ Aadaate an poco aaefttoft«.
m ihrer ersten Hälfte. ^ j ^^t. __ , i »^ %. ß' m \ T'^ ? "
In lapidarer Form -g-^— "^r^t -y^^^T T \
bringt sie das Motiv voraus, welches in dem Gefüge des
ersten Satzes die Hauptstütze bildet.*) Klagende Weisen
tauchen in den Holzbläsern auf, schwer und kurz schlagen
die Massen mit Accorden drein. Da mit einem Male, mit
einem Ruck in der Harmonie, kommt Flötenklang: der
Horizont hellt sich auf; in den Geigen beginnt es zu
rauschen und in einem grossen, mächtigen Zug geht es
über in das kräftige, frische Leben des Allegro:
., AUegro molto vtrace. m"^
-UT— ? — So lautet das Haupt-
thema — für den ersten Satz einer Sinfonie eine unge-
wöhnlich leicht gefugte, fast wunderliche Erscheinung,
die in ihrer Naivetät dem Geiste Haydn^s und älterer
') Nach einem anf der Leipziger Stadtbibliothek befindlichen
Widmungsblatt Schumann's an den Dichter.
^; Nach des Componisten erster Intention hieas das Motiv
gab aber auf den damals nur
für Natortdne eingerichteten Ilömem einen komischeu Effekt
e<? 251 "^
Meister nahe steht. Auch das zweite Thema ist in seiner
Bildung ungewöhnlich:
p'jiTT iiTr|ii>p^.jinj)
Es gleicht mehr einer Kette von Naturlauten als einem
künstlerisch gestalteten Gesang. Was sonst noch an
Melodie in der Themengruppe vorkommt, das reducirt
sich auf Scalenmotive und auf kurze und kecke Andeu-
tungen. Neben diesen anspruchslosen und bagatellartigen
Ideen stehen aber Perioden, in welchen sich die Harmonie
in dem grossen Stile Beethoven*s aufbaut, kühn, sicher
und leicht gestaltet. Alles ist vom Leben getragen und
eine mächtig drängende Stimmung verräth die ungewöhn-
liche Künstlernatur, die auch aus Kleinigkeiten Bedeuten-
des bildet. Die Durchfuhrung nimmt einen doppelten
Anlauf. Das erste Mal geht der Weg über die beiden
ersten Takte des Hauptthemas. Ihren dunklen Combi-
nationen fügt der Componist noch eine neue, unbestimmt
suchende Melodie bei:
f^-^^^^^^dziMlJ- -U-^.^fH^
Auf der Höhe angekommen, erhebt die Flöte ihre Stimme
und jubilirt wie eine Lerche mit der losen Sechzehntelfigur,
welche die zweite Hälfte des Hauptthemas bildet. Das Tri-
angel klingt romantisch drein. Beim zweiten Male geht der
Weg über ein Nebenmotiv
und führt unmittelbar in den dritten Theil des Satzes
über. Die Stelle, wo das Hauptthema in den breiten
Rhythmen der Einleitung von Trompeten und Hörnern
getragen und mit dem vollsten Glänze des Orchesters
wieder eintritt, ist eine der herrlichsten in allen Sinfonien !
Die Reprise ist sehr kurz gehalten, der zweite Theil des
Hauptthemas sogar übergangen. DafUr fügt der Componist
eine breite Coda an, die sehr viel Neues bringt. Besonders
schön und innig berührt uns nach den stürmischen und
cG* 252 "ö»
hastigen Anläufen, mit denen sie beginnt, der fromme
und ruhige Gesang
p'r\n\i^i
" /i-
creac.
"^^^^^^f^Tf Ir'yr^ri- Die rhjrthmischen Stockun-
gen, welche den graden Gang dieser Melodie aufhalten,
sind eine Liebhaberei Schumann's. Aus ihr entwickelte
sich mit der Zeit mehr und mehr eine erschwerende und
störende Manier.
Der zweite Satz (Larghetto Esdur ^/g) erscheint durch
die letzt angeführte Episode in der Coda des ersten Allegro
ideell vorbereitet. Er redet die Sprache eines Herzens, dad
leise zagt, bittet und vertraut. Ein tief religiöser Zug
lebt darin. In Geist und Form dieses Larghetto ist viel
Beethoven'sches , namentlich in den üebergangsgruppen.
Als Hauptthema dient dem Satze folgende Melodie:
Larghetto.
trewc.
z^t^:-^tfi^=mm
£frr
m^
eresc.
crttc.
Die Ausweichungen ihrer ersten Takte sind ganz Schu-
mann's Eigen. In der kurzen Gruppe, welche der Repe-
tition des Themas durch die Celli (in B) vorausgeht, tritt
ein Beethoven'sches Motiv (Andante der fünften Sinifbnie)
hervor. Der Gegensatz zum
Hauptthema besteht aus einer knappen Partie, in welcher
das Motiv
durch die Instrumente wan-
dert. Auch in diesem Satze bringt der Schluss etwas
ganz Neues, wieder einen Hinweis auf den folgenden Satz :
c<? 253 "0^
Wir hören ins Feierliche übertragen den Anfang des
Scherzo von einem aus der Ferne herüber tönenden Po-
saunenchor. Wie mit einer stummen, tiefeinnigen Frage
klingt das Larghetto aus, und unmittelbar, ohne eigent-
liche Pause, schliesst sich das Scherzo mit seinem ener-
gischen Thema an:
Alle^o Tlvace.
f V *r V
Der zweite Theil des Hauptsatzes ist ungewöhnlich knapp
gehalten. Eingeleitet wird er durch eine selbständige,
liebenswürdige Idee
ji j ir 'T II I J N^» » ^^±2}^^ I Jj N
cre»c. dim.
Dem finstren Tone, der den eigentlichen Scherzosatz be-
herrscht, stellt Schumann zwei Trios gegenüber, auch
hierin ungewöhnlich und, für seine Zeit wenigstens,
neuemd. Von beiden ist das erste namentlich von
grosser, von unerhörter Originalität: ein Wiegen auf
weichem Rhythmus, ein Klingen und Grüssen lieblicher
Accorde, das aus der Ferne näher und näher kommt und
wie die starke Melodie der Winde anschwillt! Für die
i'hythmische Grundidee dieses Trio
'A~|<< — ^i- 'l\J ' \ ^ ^= liegen in Beethoven's erster,
für die Mystik seines Klanges in desselben Componisten
neunter Sinfonie Vorbilder vor. Ein kleines, munteres Motiv
^l,J h,,jTr ü^ip^ypUJi^U rl 1^ bildet den Ab-
schluss der wunderbaren Partie. Das zweite Trio ent-
wickelt eine harmlose, jugendliche Fidelität auf Grund
eines altbekannten Allerweltsthema:
Das erste Trio
•^^j ij J J^ ^ r Ir 'r •
^p cre0C. fr
wird am Schlüsse des Scherzo noch einmal citirt, es er-
scheint mit innigen, sehnenden Blicken und verschwindet
cc? 254 ^
mit einem Seufzer. Dos Finale der Sinfonie ist aus
Heiterkeit und Kraft gemischt. Es dreht sich in ver-
gnügter Stimmung in originellen , anmuthig possirlichen
Wendungen
AIIefTo animato
(erstes Thema) und führt wunderliche Dialoge, in welchen
den ausgezeichnet gelaunten Bläsern von den Geigen un-
wirsch und barsch geantwortet wird
Aus dieser eigenartig klingen-
den Stelle entwickelt sich
dann das eigentliche zweite Thema des Finale, der Aus-
druck eines in Ruhe, Dankbarkeit und Festigkeit ge-
sammelten Gemüthes:
~9-
r itj- rm-^tx^-r it' r I r r I f r |f ' f if r r ^r I r .
Unter den vielen Zügen des Humors, die sich in diesem
Finale finden , sei namentlich auf die Stellen aufmerksam
gemacht, wo sich die Bässe mit den Cellis und Bratschen
des Motivs " .V f] I J-j T ^ LP^^ bemächtigt haben.
Der Entstehungszeit nach liegt die vierte Sinfonie
Schumann's (Op. 120) nicht weit von der ersten. Sie
wurde im Jahre 1841 als Nr. 2 aufgeführt und erhielt
später im Wesentlichen nur eine neue, für geringe Or-
chester berechnete Instrumentirung , einen viel dickeren
und plumperen Rock, der viel von der Grazie und den
Farbenreizen des ursprünglichen Entwurfs verdeckt. Im
Kunstwerth der Bdur- Sinfonie mindestens gleich, wenn
co 255 ^
nicht überlegen und ihr auch im Charakter nahe ver-
wandt, bildet Schumann's D moU-Sinfonie in der Geschichte B. SehuiaBB
der Sinfonieform ein wichtiges Document. Wir denken Dmoll-Sinfoni«.
hierbei weniger daran , dass in ihr genau wie in Men-
delssohn's Amoll-Sinfonie die vier Sätze des Werkes ohne
Unterbrechung auf einander folgen, also gleichsam einen
einzigen grossen Satz bilden sollen , als yielmehr an die
yon Schumann altern Vorgängern glücklich nachgebildeten
Versuche die einzelnen Sätze in einen engeren materiellen
Zusammenhang zu bringen und dem ganzen Werke eine
strengere Einheit zu geben: Die Introduction ist mit der
Romanze, der letzte Satz mit dem ersten durch Gemein-
samkeit und Verwandtschaft der Themen verknüpft. Aber
auch innerhalb der einzelnen Sätze, namentlich im ersten,
zeigt der formelle Aufbau gelungene Neuerungen von Be-
deutung. Angesichts der Sicherheit und Leichtigkeit,
mit welcher sie vollzogen sind, kann man nur erstaunt
sein, dass vormals und neuerdings wieder die Frage auf-
geworfen werden konnte, ob Schumann der grossen Form
völlig Herr gewesen sei.
Das Thema, mit welchem nach einer etwas schwer-
müthigen Introduction das erste Allegro einsetzt, ist
folgendes :
L«bh4ft. ^
lOTgyjijjffj?^^^
_ ^ „- ■ ' el«.
allerdings formell eine blosse Figur, aber eine Figur voll
Charakter, aus der eine starke Erregung spricht. Es ist
höchst meisterlich, wie Schumann dieses schwierige Thema
handhabt, jetzt zum Ausdruck trotzig stürmender Kraft,
jetzt des Zweifels gebraucht und dann mit ihm in freu-
dige Regionen einlenkt. In keinem Takte lässt er das-
selbe aus der Hand. Ob als Hauptglied, ob als Arabeske,
immer ist es da und beherrscht die ganze Themengruppe,
so dass, obgleich Alles singt und lebt, ein zweiter eben-
bürtiger Hauptgedanke in dieser nicht aufkommt. Um
so üppiger blühen die neuen Ideen im Durchfuhrungs-
theile. Da ist zunächst, ähnlich wie in Schubert's grosser
<o 256 ^
C dur-Sinfonie , ein geheimnissvolles Motiv der Posaunen
■_Jg-Jf MT'^j I ^^ » welches sich mit den Umbildungen
der Hauptfigur verbindet; da ist ferner die feierlich,
prächtige, mit Fermaten gekrönte Gruppe, deren Thema:
-fti: 1 ^P-:^5-M-^ü-i=tJ=fij^^^^Jb3 |iiJ) E später die Spitze
und den Kern des Finale der Sinfonie bildet, da ist vor
Allem die schöne, zarte, echt Schumann Whe Gestalt,
die, noch post fcstum eintreflfend, den Platz und die Be-
deutung eines zweiten Thema in dem Satze erhält:
*^ t» äulce *'rete. P crete. /
In der dem Componisten eigenen Weise ist auch diese
Melodie an verschiedene Instrumente vertheilt.
Aus der freudigen Sphäre, in welche der schwung-
volle feurige Schluss des ersten Satzes versetzt, ruft uns
der Einsatz des folgenden dämonisch ab. Ohne Zweifel
hat dieser accentuirte Dmoll-Accord, den die Bläser wie
einen Schmerzensruf ausstossen, mit dem bekannten
Quartsextaccord , welcher das Allegretto in Beethoven*8
siebenter Sinfonie einleitet, eine geistige Verwandtschaft.
Aber bei Schumann wird die Wirkung des elementaren
Mittels dadurch verschärft, dass die Zwischenpause der
beiden Sätze wegfällt. Es ist wie ein Regenschauer bei
blauem Himmel! Die Komanze mit ihrem edel weh-
müthigen Gesang
Ziemlieh lanf sam. ^.^ ^
JTj j j_^^ I J JrJ J j j I j_ ( gehört zu dem Schönsten, was
die Musik an Volkspoesie besitzt. Mit der grössten Natür-
lichkeit schliesst ihr Schumann die nachdenklichen Ge-
danken an, welche das thematische Material der Intro-
duction der Sinfonie bilden:
cG» 257 '^
Die klagende Melodie hat sie geweckt. Eine ausser-
ordentlich liebenswürdige Idee des Componisten aber ist
es, aus ihndn den freundlichen, sonnigen Ddur-Satz zu
entwickeln, welcher die Mitte des kleinen Tonbildes ein-
nimmt. Zu der Schönheit der Zeichnung und der Intention
kommt hier auch noch der warme milde Klang, den die
Celli der Melodie geben, und der Reiz, den der zierliche
Schmuck der Solovioline darüber giesst.
Das Scherzo hat einen kräftigen Humor, am Schluss
des Hauptthemas
spricht der Uebermuth der Jugendkraft, der Schumann's beste
Compositionen kennzeichnet. Aus dem Grundmotiv des
Hauptthemas: IfcV 'j \lT~J~i I j J J Ij bildet der zweite
Satz zärtliche und innige Varianten. Das weiche, träume-
risch sinnige Trio, mit seiner sanft dahingleitenden Melodie :
cur.
P-Hf rif ^i7 11,1 ji,i jij.i j.M«rif
kehrt nach der Wiederholung des Hauptsatzes zurück.
In seine einfache Herzlichkeit mischen sich schmerzliche
Töne. Es nimmt einen langen Abschied und klingt dann
noch wie aus weiter Ferne wie in Traumesschatten an. Als
es ganz still geworden, intoniren die ersten Violinen wieder
das Sechzehntelmotiv des ersten Allegro in der Form eines
Langsam.^, ^
schüchternen Vorschlags: ' j£ ^ _^rTf ^jy "« I^ie Posau-
nen und Homer sind vor der Hand noch anderer Meinung
und wollen bei der ernsten Weise bleiben. Die Mehr-
heit entscheidet aber zu Gunsten der Violinen, die Holz-
bläser gehen mit ihrem Antrag sogar noch weiter und
stellen Motive auf, die dem freudigen Gezwitscher der
Kretziohmar, Fährer, I. 17
e<? 258 ^
•«•.
Vögel zu gleichen scheinen:
So wird der heitere Charakter des letzten Satzes festgestellt.
Diese 16 langsamen Takte , welche den Uehergang Tom
Scherzo zum Finale bilden, enthalten einen Reichthum von
Phantasie und yon musikalischen Ideen, welcher fUr eine
eigene neue Composition ausreichen würde. Das Haupt-
thema des Finale ist uns aus der Durchführung des ersten
Bewegt.
Satzes bekannt: ^^gH^^ »P»P %i |f JT'JJ^^, Mit
der Entschiedenheit, die der Grundstimmung des Finale
entspricht, rückt es sofort im dritten Takte nach Cdur.
Die Bässe in ihrem schwerflUligen Greiste halten noch
eine ganze Weile an der Sechzehntelfigur fest. Das
Finale hat seine schwülen Momente: Sie finden sich
in dem t . rT"^. . welches oft durch das Orchester
Motive ff t ■ ' Lf * fährt, namentlich aber am Ein-
gang der Durchführung, wo dem über das Hauptthema ge-
bildeten Fugato ganz eigenthümliche Dissonanzen, in ihrem
besonderen Klange eine eigenste Erfindung Schumann^s
— vorhergehen. Aber immer folgen diesen flüchtigen
Trübungen Partien von vollendeter Anmuth. Das zweite
Thema ist ihr Hauptträger:
lih n"iTiiiT t:£ErNjl.R!^ui^LiI!rir
in seiner Mischung von Grazie, Caprice und jugendlich
fröhlicher Naivetät ein echter Schumann. Es geht in
eine Periode von kühnem harmonischem Aufbau über,
in der die Kraft aufbraust. Der Posaunenklang kenn-
zeichnet sie. Nach Beendigung der Reprise lenkt der
Satz noch einmal auf ein ruhigeres Gebiet über, mit
einem unerwarteten neuen Thema: freundlich fragenden
Charakters: rA^^fL^^ \ C_r? [■ f ■ I. Um so stürmischer
bricht dann der jubelnde Schluss ein. Er hat die Form
«<? 259 ^
einer Stretta, frei nach italienischen Mustern! Das letzte
Presto hat noch nie seine Wirkung yerfehlt.
Mit seiner D moll-Sinfonie zugleich hrachte Schumann
eine zweite kleine Sinfonie in drei Sätzen zur ersten
Auffbhmng, die unter dem Titel ^OuTertüre, Scherzo und B« Sek«««»
Finale* als Op. 52 veröflfentlicht wurde. Auch diese Sin- Ouvertüre,
foniette zählt, nach der Häufigkeit der Aufführungen zvL^ohmo.-FinBlt.
schliessen, unter Schumann*s heliehteste Compositionen
und hat den Schülern dieses Meisters besonders oft als
Modell gedient. Was sie so anziehend und wirkungsvoll
macht, ist der stark ausgeprägte Ton ritterlich phan-
tastischer Romantik. Darin und in der ganzen Richtung
der Phantasie erscheint sie als das Seitenstück zu den
vierhändigen Märchenbildem. Man könnte ihr eine neuere
oder ältere ,Aventiure* unterlegen. Es lebt in ihr ein
welt^hrender, abenteuerlicher und munterer Sinn,
AUe^o.
r
Sie erzählt von Lieben und Sehnen
iJ T r ir
^m
etc. etc.
(1. Sau.)
9i»0
Trio im
Sckerso
und auch von Fehden und wehrsamen Streichen:
Nicht ohne Be-
deutung ist es,
^y f> — -f f •«•. dass Schumann
am Eingang des Werkes so deutlich den Geist Cherubini's,
des Componisteu der ,Abenceragen* vorbeiziehen lässt.
Auch Weber's romantische Harmonien klingen in der Ouver-
türe durch. Musikalische Erfindungen bietet die kleine
Sinfonie von eigenster und reizendster Art; in der Aus-
führung steht sie jedoch hinter den beiden Sinfonien in
B und D beträchtlich zurück. Die Ungezwungenheit des
t<? 260 '^
Componisten artet hier vielfach in Lässigkeit und Breite
aus; ja der letzte Satz trägt in den Meodelssohn'scheD
Citaten und in dem eigensinnigen Beharren an alltäg-
lichen Einfällen ) in der Monotonie des Rhythmus und
Metrums die unverkennbaren Spuren einer versagenden
Phantasie.
Auf einem andern Boden als diese drei Werke steht
R. SchaMaan Schumann's Cdur-Sinfonie, die (als Op. 61) in der Ver-
Cdur-Sinfonle. öffentlichung der in Dmoll vorausging und bekanntlich
die zweite genannt wird, aber nach der Entstehuogszeit
und nach der ersten Aufführung Schumann's dritte Sin-
fonie ist. In dieser Sinfonie hat Schumann hohe pa-
thetische Intentionen p ^ ■ ''^"^i ^ i f^ ~ "^^Iches
verfolgt. Das Motiv: fr * ^^—\' LJ" ' ' =^ dieTrom-
peten und Hörner an den Eingang der feierlich sinnen-
den Introduction hinstellen, durchzieht, mit Ausnahme
des Adagio, alle Sätze des Werkes wie ein geheimniss-
volles Geisterwort und bietet uns die Richtschnur für
den aussergewöhnlichen Flug, welchen Schumann's Phan-
tasie in dieser Tondichtung zu nehmen gedachte. Es
handelte sich hier für den Componisten um die grossen
Leidenschaften und die höchsten Ideen einer tiefen
Menschenseele, um Faust 'sehe Probleme: um den Weiter-
bau auf jenem grausig schönen Terrain, auf welchem
die neunte Sinfonie steht. Es geschah auf Grund dieser
zweiten Sinfonie namentlich, dass Schumann von einer
Anzahl treu ergebener Verehrer als der „Erbe Beet-
hoven's* proclamirt wurde. Wir wissen, was Schumann mit
diesem grössten Tondichter des Jahrhunderts gemeinsam
hat. Wir stellen die zweite Sinfonie um ihrer Intention
willen sehr hoch — aber wir glauben doch, dass es eine
Irrlehre ist, sie als die Hauptsinfonie ihres Autors zu er-
klären. Sie ist sowohl in dem Werthe der musikalischen
Grundideen selbst als in ihrer Behandlung ungleich; sie
mischt Perlen und Sand und steht an Frische und Natür-
lichkeit der Gestaltungskraft den vorausgehenden Sin-
fonien sowohl in einzelnen Satzgruppen, wie auch in
cc? 261 ^
ganzen Sätzen nach. Mit der Cdur- Sinfonie beginnt ein
Abschnitt der Entwickelung Schumann's als Tnstrumen-
talcomponist , in welcher der naiv - romantische , volks-
thümliche Zug seiner Erfindung die vornehmere künst-
lerische Sphäre häufig verlässt. Namentlich in den Final-
sätzen der Cdur-Sinfonie und in dem der ihr folgenden
Esdur-Sinfonie tritt diese Erscheinung zu Tage und leider
gerade an ihren Hauptthemen. Zu dem Besten der Cdur-
Sinfonie zählt im ersten Satze der Abschnitt, welcher
das zweite Thema entwickelt, und das Thema selbst,
welches in der Introduction schon angekündigt wird:
Allerro.
Es ist eigentlich nur ein Ab-
senker vom Hauptthema des Satzes:
P «rr«0.
J. 3 JTT-^ft I aij r"~S I r :. Dieses Hauptthema, in seinem
capriciösen Charakter allerdings sehr wohl verständlich,
leidet schon an der Monotonie des Rhythmus, welche
die schwächeren Werke Schumann's kennzeichnet. In
der Durchfuhrung ist ein müder, stockender Schritt, der
die Höhe nur erstrebt. Doch sind darin in der Gattung
des leidenden Ausdrucks grosse Schönheiten. Die Glanz-
nummern der Sinfonie sind der zweite und dritte Satz.
Jener ist ein Scherzo, welches in dem Hauptsatze aus dem
AUegro riraco.
Motive if 3i ^ |'-i^^^:rffi?4-irl44-fcr entwickelt ist.
Es dringt aus der anfangs bewölkten Sphäre zuweilen
zu einer grandios freien Stimmung vor, namentlich in
den H dur-Schlüssen. Die Frühlingsklänge, die sich in
den Holzbläsern vereinzelt hören lassen, erscheinen im
ersten Trio zu einem Gedichte zusammengereiht. Das
«weite Trio, welches nach der Repetition des Hauptsatzes
•<? 262 ^
einsetzt, gehört zu den schwächeren Partien der Sinfonie.
Der dritte Satz ist ein Adagio, das in seiner Anlage einer
Phantasie Über folgendes Thema gleicht:
Dieser tiefe, seelenvolle Gesang,
dessen Heimath das Trio in S. Bach's , Musikalischen Opfer*
ist, beherrscht den Satz : ein selbständiges Thema tritt ihm
nirgends auf die Dauer entgegen. Die wunderbare Melodie
scheint, der trauernden Peri gleich, den Himmel zu suchen.
Und sie findet die Pforte offen. Da: an den Stellen,
wo die Violinen in Trillern von der höchsten Höhe wieder
herabschweben, kann man einen Blick hineinthun. Dieses
Adagio, eins von den wenigen neuen, deren Kürze man
bedauert, wirft noch etwas von seinem Glanz in den
letzten Satz der Sinfonie hinein. Kurz nach dem Ab-
schlüsse des ersten Thema, dessen Hauptkem folgender:
AIlefTo Bolto.
4^
Hif "V. w I P p. w I f r in da ^o die Violinen
fc^ '^ ' ^' ' ' ' M ' ' ^^ ihre Achtelfiguren
anfangen — ergreifen im Finale die Olli den Gesang des
Adagio und bilden aus ihm das zweite Thema des Schluss-
satzes. Die spätere Stelle — sie ist an den General-
pausen leicht zu erkennen — , wo diese schöne Melodie
gleichsam unter allgemeiner Trauer ins Grab gelegt wird,
ist eine der ergreifendsten im ganzen Finale. An gross-
gedachten Combinationen ist dieser Schlusssatz reich.
Wir rechnen dahin ausser der Einführung des zweiten
Themas aus dem ersten Satze auch die Aufnahme eines
bekannten Beethoven 'sehen Gedankens:
^ fl^f i fj i .TTJ I^^. Was den Eindruck des
Finale beeinträchtigt, das hängt mit dem Charakter des
Hauptthema und seiner mehr wiederholenden, als um-
bildenden Durchfuhrung zusammen.
e<? 263 ^
Die dritte Sinfonie Schumann^s (Esdur Op. 97) rückt B. SelivMniB
den beiden Vorgängen in B- und DmoU wieder näher. ^^"-Sinfoiiie.
Ihr Grundcharakter ist heiter. Wird doch ange-
nommen, dass sie zu dem frischen Leben des Rhein-
landes in inneren Beziehungen steht. Sie ist Schumann^s
letzte Sinfonie, entstand in Düsseldorf und kam am Anfang
der fünfziger Jahre zur Veröffentlichung. In ihrem Stile
unterscheidet sie sich von den ersten Sinfonien in Bdur
und Dmoll, obgleich sie mit ihnen die Richtung der
Phantasie theilt. £ine gewisse Schwerfälligkeit hat Platz
gegriffen, die sich in dem ersten Entwurf der Tonge-
danken und in ihrer nur Transpositionen bietenden £nt-
wickelung äussert. Ja sogar bis auf die Instrumentirung
erstreckt sie sich. Der Klang ist oft pomphaft, aber in
seiner Feierlichkeit monoton; vorzugsweise marschirt das
Orchester in schwerer Rüstung und breitem Tritt. Wo
sind die geistvollen, lebendigen, sprühenden und charak-
teristischen Violinfiguren hingekommen? Doch hat auch
diese Sinfonie noch sehr schöne Partien. Dahin zu rechnen
ist im ersten Satze namentlich das zweite Thema:
Lebb&ft. .
|i' ii^TTjiiifrn I i^TTTT j I
vom zweiten Satze der Haupttheil, der in einer gewissen
altvaterischen Fröhlichkeit gehalten ist.
Der Mittelsatz in diesem zweiten Satze, der dem
Trio des Scherzo entspricht, erhält eine eigenthümliche
Färbung dadurch, dass die einfache elegische Liedweise,
welche die Holzbläser spielen, über einen grossen, tremoli-
renden Orgelpunkt gespannt wird. Für den bescheidnen
^ , ^ Sehr rnftsttg. „ . ^ j- a
Glrundstoff .^rTrTn P I f r T^; -
des Satzes : '^ ^ /' ' T |,il ^ r ' ' L, T P J" P ^ führung
sehr reichlich bemessen. Nach dem Andante (As dur C), in
welchem sich sentimentale Elemente mit tändelnden
mischen, kommt noch ein zweiter langsamer Satz (Es
moU C) mit feierlichem Posaunenklang, in den seltsam
aufgeregte Figuren hineinspielen. Man denkt an ein
c<? 264 '^
,Gretchen im Dom*. Eine kirchliche Scene zu schildern,
soll auch in diesem Satze Schumann's Absicht gewesen
sein. Er schrieb ihn kurz nachdem er einer Feierlich-
keit im Dome zu Köln beigewohnt und gab ihm ursprüng-
lich eine erklärende üebcrschrift. Von dieser Domscene
ist noch ein Nachklang im Finale zu finden. In der Haupt-
sache entrollt dieses aber eine Menge launige, anmuthige
und frische Scenen, in deren neckischer Leichtigkeit wieder
der alte Schumann lebt. Nur das Hauptthema und die zu
ihm gehörenden Gruppen sind schwächer.
FUHRER
DURCH DEN CONCERTSAAL
VON
HERMABN ERETZSOHMAB.
I. ABTHEILUNG:
SINFONIE UND SUITE.
IL BAND.
DRITTE AUFLAGE.
SIEBENTES TAUSEND.
LEIPZIG
VERLAG VON BREITKOPF & HÄRTEL
1898.
AÜ€ Rechte, auch das der Übersetzung^ vorbeJiaUen.
Das Recht * des Einzelahdrucks und dessen Weiterver-
gebung steht ausschliesslich den Verlegern Breitkopf dt Härtel
in Leipzig zu.
IV.
Die Programmmusik und die nationale
Richtung in der Sinfonie.
^ie Mendelssohn und Schumann beide verhältniss-
mässig nur wenig Sinfonien geschrieben haben, so
war zu ihrer Zeit die alte Fruchtbarkeit auf diesem Ge-
biete überhaupt erloschen. Aeussere Verhältnisse und der
Gang des geistigen Lebens hatten dazu gleich stark bei-
getragen. Die Zahl der neuen Concertinstitute hatte die
der alten Collegia musica nicht im Entferntesten wieder
erreicht. Die neuen Sinfoniker standen unter den unend-
lich gesteigerten Forderungen Beethoven's, aber nicht wie
ihre Vorfahren wurden sie vom Ideengehalt der Zeit ge-
tragen, kaum unterstützt. So waren die Werke der Ro-
mantiker ein letztes Aufflackern alten Glanzes; die mageren
Jahre der Sinfonie begannen und die bestgemeinten Preis-
ausschreiben konnten das nicht ändern. Wenn in einem
Winter vier oder fünf neue Sinfonien vorlagen, die halb-
wegs brauchbar waren, so bedeutete das das Höchste, was
sich erwarten Hess. Die Namen dieser Componisten findet
man ziemlich vollständig in Dr. A. DörffeFs Geschichte
der Leipziger Gewandhausconcerte (1884), denn unter dem
mit voller Bildung ausgerüsteten Mendelssohn machte
dieses Institut erfolgreich von der natürlichen Ueber-
legenheit seiner aus dem 18. Jahrhundert überkommenen
Organisation Gebrauch und commandirte die deutsche Musik.
Die verschiedenen und ehrenwerthen MüUer's um die es
ce 266 '^
sich hierbei handelt, die Molique, Gähring, Möhring, Täg-
lichsbeck, Markuli, Lührss, RoseuhaiD, Leonhardt, Helstedt,
Pape u. 8. w., die die Ehre einer Aufführung in der Regel
nur einmal erlebten, arbeiteten durchschnittlich in den
Spuren Mozart's und des jungen Beethoven. Etwas länger
hielten sich die Sinfoniker aus der Schule Spohr's. Der
fruchtbarste von ihnen: A. Hesse, der Breslauer Orgel-
meister, ist jedoch heute im Concertsaal gleichfalls ver-
schwunden. St. Bennet, dessen G moll-Sinfonie ebenfalls
zu dieser Gruppe gehört, ist in England noch nicht ver-
gessen und der poetischste dieser Spohrschüler Norbert
Burgmüller bei uns auch noch nicht.
Beim Beginn dieses deutschen Niedergangs greift das
Ausland, das seit Haydn gar nicht mehr mitgezählt wor-
den, plötzlich und bedeutsam in die weitere Entwickelung
der Sinfonie ein. Der Franzose Hector Berlioz be-
gründete eine neue Periode — vielleicht nur eine Episode
— der Programmmusik, der Däne Niels Gade er-
öffnet eine Reihe von Versuchen Elemente der Volks-
musik zur Grundlage oder zum Ornament der grossen
Formen der Sinfonie zu verwenden.
Unter , Programmmusik " versteht man bekanntlich eine
Musik, welche als die Darstellung bestimmter innerer oder
äusserer Vorgänge aufgefasst sein will, welche Geschichten
in Tönen zu erzählen und nachzumalen versucht und die
Phantasie an gegebene Objecte bindet. Die Tendenz dieser
Kunstrichtung ist so alt wie die Musik und hat ihre na-
türliche Stütze in der Thatsache, dass Tonverbindungen
wesentliche Merkmale geistiger Ideen und körperlicher Er-
scheinungen wiedergeben können. In der Vocalmusik bildet
die Uebereinstimmung von Ton- und Textideen ein wich-
tiges Kriterium für den Kunstwerth der Compositionen.
So lange es eine künstlerische Instrumentalmusik giebt,
sind auch in dieser zu allen Perioden Versuche gemacht
worden, bestimmte Programme durch die Tone zu über-
setzen. Diese Versuche waren in der Regel von neuen,
aber auch von verwunderlichen Resultaten begleitet. Nicht
immer, z. B. nicht in der Periode Dittersdorf s, aber häufig
cc? 267 ^
haben die Programmmusiker eine poetische Hinneigung
zu Ausnahmezuständen, zu aussergewöhnlichen Ereignbsen
oder zu Gegenständen gezeigt, welche ausserhalb der mensch-
lichen Anschauung und Erfahrung liegen. So schildert
schon Froberger einmal Jacobs Himmelsleiter, ein ander-
mal einen Schiffbruch und einen Ueberfall durch See-
räuber, Kuhnau die , Unsinnigkeit* Sauls. Für die neueste
Epoche der Programmmusik ist eine ähnliche Neigung ge-
radezu zum Merkmale gemacht worden. Ist von ihr die
Rede, so erinnert man sich, mit Unrecht, aber doch that-
sächlich, in erster Linie der grässlichen Stoffe, welche sie
zur Behandlung gewählt hat. Man denkt an die Hin-
richtungsscene, an den Höllensatz in Berlioz's Sinfonie fan-
tastique, an die Banditenscene in seinem Harold, an Liszt^s
Mephistosatz im , Faust*, an den Inferno in der Dantesinfonie,
an den Mazeppa, den Prometheus und die „Hunnenschlacht*
des letztgenannten Componisten. Das sind Partien, in
welchen die neue Programmmusik zugleich auch von dem
Stile, welcher bis dahin in den Sinfonien üblich war, sehr
bemerkbar abweicht. Wo die Extreme der Leidenschaften,
wo Zustände der grössten Erregung, Ereignisse unerhörten
Charakters, wo die Superlative der Phantasie berührt
werden sollen, da bauen diese Componisten wie die Cy-
clopen mit unbehauenen Blöcken. Da lassen sie die Ele-
mentarkraft des blossen Klanges und des blossen Rhythmus
wirken und gewähren der Macht des musikalischen Roh-
materials, dem physischen Elemente der Musik einen weiten
Spielraum. Da stützen sie ganze Perioden nur auf das
Fundament dissonanter Harmonien, auf hin- und hersausende
chromatische Figuren, auf das brutale Treiben von Mo-
tiven und Themen, welche die Kunstmusik als trivial ver-
wirft. Man vergisst über den Producten gewaltthätiger
Charakteristik und über den Befürchtungen, welche ihr
naturalistischer Stil erregen kann, sehr leicht, dass die
Werke der Programmmusiker auch sehr reich sind an
eigenartigen Schönheiten freundlich ruhiger Natur und
dass ihre Hauptvertreter durch Aufstellung neuer, zweifel-
los berechtigter Principien und durch Ausbildung neuer
oG» 268 '^
Ausdracksmittel die allgemeine Entwiekelung der TonkuBBt
gefördert haben. Die Geschichte der Sinfonie ist noch
jung, denn die Kunst zählt nach Jahrhunderten. Mag
die Programmmusik noch so oft Fiasko machen ; ihr Princip
wird nicht sterben. Nach der ganzen Entwiekelung der
Instrumentalmusik kann in der Zukunft ihr Boden nur
breiter und fester werden. Schon heute liebt das Publikum
einen poetischen Anhalt für die sinfonischen Gebilde und
unter den Componisten hat das Programm mehr Anhänger,
als sich öffentlich dazu bekennen. Es wäre ein Unglück,
wenn wir nur Programmmusik hätten ; aber es wäre kaum
weniger zu bedauern, wenn wir gar keine hätten!
Die heutige Programmmusik ist zum grossen Theil durch
Hector Berlioz so geworden, wie sie ist. Trotz seiner
Schwärmerei für Virgil und für Gluck war Berlioz ein
Erzromantiker und nicht umsonst nannten ihn seine Lands-
leute schon bald den Victor Hugo der Musik. *) Musikalisch
lässt er den gebornen Franzosen, den Landsmann Rameau*s
nur massig merken ; aber dichterisch war er ganz von jener
französischen Neuromantik besessen, der Vischer (in den
„Kritischen Gängen*) grob aber bezeichnend eine , Schinder-
phantasie* vorwirft. Der erste, schwerste, der unheilbare
und unverzeihliche Mangel von Berlioz's Programmmusik
liegt in den Programmen selbst, nicht in der Colossalität
und Machtlosigkeit seiner poetischen Intentionen, wie Am-
bros sagt,*) sondern in ihrer vollständigen Geschmacklosig-
keit. Der Einfall: die Geschichte, die der Sinfonie fan-
tastique zu Grunde liegt mit Hexen und Hölle, die des
Harold mit einer Banditenorgie zu schliessen bleibt, auch
wenn man den Massstab nach den Verirrungen der Schule
Eugen Sue's bildet, so vereinzelt und ungeheuerlich, dass
man zu seiner Erklärung weitere Gründe bedarf. In der
That wirkten auch auf den schwachen Punkt in Ber-
lioz's Phantasie neben den litterarischen Einflüssen noch
starke musikalische. Durch Simon Mayr waren in der
») F. Hiller: Kfinstlerleben, 1880. S. 85.
2) W. Ambros: Bunte Blätter, 1872. S. 100.
US' 269 "^
italienischen Oper die Blasinstrumente zu einer neuen Be-
deutung gelangt, bei Pacini und Mercadante entwickelte
sich daraus ein förmlicher Cultus des Blechs. Meyerbeer
fiihrte ihn in die französiscbe Oper über und Berlioz ward
der Meyerbeer der Sinfonie. Er bereicherte sie mit der
Harfe und dem englischen Hom, aber auch mit den dritten
und vierten Fagotten und Trompeten, mit den Ophicleiden,
dem türkischen Schlagzeug und mit dem halben Orchester
der Wachparade. In den Schlusssätzen seiner Sinfonie
wird dieser neue akustische Spuk prasselnd losgelassen.
Nichts setzt Berlioz so weit unter Beethoven wie diese
Abhängigkeit vom gemeinen Effect. Und doch hat er sich
für einen Schüler und Nachfolger Beethoven's gehalten
und dieses Verhältniss mit dem Vergleich zwischen Colum-
bus und Ferdinand Cortez zu bestimmen versucht.^) In
der That fand er für seinen Naturalismus eine kleine
Stütze in der Beethoven*schen Sinfonie von der zweiten
ab. Aber wer gerecht sein will, kommt auch nicht um
die Nothwendigkeit herum einzusehen und zuzugeben, dass
Berlioz auch nach einer zweifellos nützlichen und zukunfts-
reichen Richtung hin an Beethoven anknüpft und ihn fort-
gesetzt hat: Er suchte und fand geeignete Mittel den
breiten Beethoven^schen Formen der Sinfonie Verständ-
lichkeit zu bewahren. Diese Mittel waren das Programm
und die Verbindung der einzelnen Sätze durch Wieder-
kehr desselben Themas. So schlecht Berlioz^s Programme
waren, die Berechtigung und Wirkung des Mittels an sich
haben sie festgestellt, sein aus dem Schlummer der Jahr-
hunderte wiedererwecktes Princip des Leitthemas ist aber
von der ganzen modernen Musik, instrumental und vocal,
von Gegnern und Freimden Berlioz's ohne Unterschied
immer mehr aufgenommen worden.
Berlioz*s Debüt bildet die Sinfonie fantastique, H. Berlioz
op. U (1. Auff. 1830). In seinen Memoiren (S. 95) sagt Süifonie fwita-
Berlioz, dass die Bekanntschaft mit Goethe's „Faust* einen «tique.
grossen Einfluss auf diese Composition gehabt habe. Das
*} F. Hillcr, A. a. O. 127.
cG^ 270 '^
mag sein mit Blocksberg und Walpurgisnacht, vielleicht
auch mit dem Spaziergang und mit den ,zwei Seelen iu
einer Brust* ; die Idee zu der , Fantast ique* wäre für
Goethe ein Greuel gewesen und ist ganz Berlioz's eigene
Erfindung, als solche für den abenteuerlichen Charakter
seiner dichterischen Neigungen und seiner Ansichten vom
Wesen und Zweck der Kunst überaupt sehr bezeichnend:
Ein junger Künstler, liebestoll und lebenssatt, nimmt
Opium. Die Dosis des Giftes, zu schwach um zu tödten,
bewirkt nur einen tiefen Rausch und eine Reihe von
Träumen, in denen die Liebesgeschichte des Künstlers repe-
tirt und zu einem phantastischen ungeheuerlichen Ab-
schluss weitergeführt wird. Mit andren Auslegern hat
auch Schumann^) angenommen, dass der Composition und
ihrem Programm ein Stück aus dem eignen Leben von
Berlioz, seine Liebe zu der englischen Schauspielerin Miss
Smithson, zu Grunde liege. Die Musik versucht die Traum-
bilder in fünf Sätzen wiederzugeben.
Der erste ^Reveries — Passions* — (Träumereien —
Leidenschaften) überschrieben, schildert die Zeit der er-
wachenden Liebe und der ersten Begegnung mit der Ge
liebten. Das Programm sagt: ^»Zuerst gedenkt der junge
Musiker des beängstigenden Seelenzustaudes , der dunklen
Sehnsucht, der Schwermuth und des freudigen Aufwallens
ohne besondren Grund, die er empfand, bevor ihm die
Geliebte erschienen war; sodann erinnert er sich der heissen
Liebe, die sie plötzlich in ihm entzündet, seiner fast wahn-
sinnigen Herzensangst, seiner eifersüchtigen Wuth, seiner
wieder erwachenden Liebe, seiner religiösen Tröstungen.
Die in diesen Worten gestellte Aufgabe sucht Berlioz
mit einem Satze zu lösen, der ganz die Form hat, die wir
seit Haydn an dieser Stelle gewohnt sind : ein im Sonaten-
schema ausgeführtes Allegro mit langsamer Einleitung.
Die Einleitung (Largo C, C moll) schildert den Seelen-
zustand, in dem sich der Künstler vor dem Erscheinen der
*) R. Schumann's Gesammelto Schriften (Ausgabe von Jansen)
I, 131.
c<? 271 "ö*
Geliebten befand: Schon die ersten beiden Takte suchen
das Bild einer klopfenden und nagenden und im selben
Augenblick vom schweren Druck gehemmten Empfindung
zu zeichnen : Die .Schwermuth* und ,die dunkle Sehn-
sucht* des Programms drückt eine längere Geigenmelodie
aus, die folgendermassen einsetzt:
Largo. J» 66
j . Die Fermaten und der stockende Gang
=F=t
kennzeichnen auch ihren weiteren Verlauf. Im achten Takt,
am Schluss der Periode, zeigt ein Nonenaccord über der Do-
minante den Höhepunkt des Wehgefiihls. Von da ab ver-
sucht die spröde Melodik grössere Schritte, überlässt aber
sehr schnell das Wort dem Rhythmus, der in den tiefen
Instrumenten über das Motiv 7 J* einen Aufschwung
der Stimmung einleitet. Aehnlich wie an der berühmten
Stelle im Trauermarsch der Eroica lassen die Bässe ganz
allein ein mächtiges As hören, das dröhnend nach G über-
tritt. Wir stehen vor dem zweiten Abschnitt des Largo,
dem das Programm „das freudige Aufwecken ohne be-
sonderen Grund* zuweist. Er malt es in losen Figuren, die
als Sechzehntelsextolen und als Triolen dahinflattern. Zu-
erst in der ersten Violine allein, dann ergreifen sie auch
die übrigen Instrumente, durchschwärmen rasch von Cdur
aus einen Kreis naher und femer Tonarten, bis sie im
sechsten Takt nach Cdur und gleich darauf nach Cmoll
zurückkehren. Es war nur das Aufglühen des Fiebers,
jetzt meldet sich die alte Schwermuth in den Klagen der
Bläser wieder. Nach vier Takten haben wir wieder die
oben angegebene Geigenmelodie. Der dritte Abschnitt des
Largo beginnt, verläuft aber doch nicht ganz gleichlautend
wie der erste. Das heitere Aufwallen hat etwas gewirkt:
ee 272 ^
in der Seele des verliebten Musikers ist es heller geworden.
Das sagt uns die Durtonart (Es), in die das Thema jetzt
versetzt ist, das sagen uns die Bläser, die die Greigen
mit den muntren Motiven des zweiten Abschnitts um-
spielen. Nachdem diese Repetitionsgruppe geschlossen
hat, geht in der Stimmung eine noch viel entschiedenere
Wendung zur Hoffnung und Freude vor sich. Desdur
setzt plötzlich ein, das Hom übernimmt die Führung mit
Melodien djje trösten, mit trillernden Figuren und neues
Leben weckenden Motiven. Die Violinen nehmen die
Dämpfer ab und stimmen mit frohen und muthigen Gängen
ein. Es ist ein Zögern und Gähren in diesem Schlussab-
schnitt des Largo, das den empfänglich folgenden Zuhörer
in grosse Spannung versetzt.
Das Allegro (Allegro agitato e appassionato , Cdur),
welches im erregtesten Zucken einsetzt, löst sie bald. Die
Geliebte erscheint, das folgende Thema, von der Flöte
zuerst eingeführt;
soll ihre Gestalt bezeichnen. Schumann findet in ihm so-
gar den Charakter der „kühlen Brittin*, die später Berlioz's
Gattin wurde, ausgedrückt. £s fängt wohl etwas glück-
lich reservirt an, wird aber in den folgenden Perioden
der Klage ziemlich warm und schliesst liebenswürdig zu-
sprechend. Der hier wiedergegebene Anfang kehrt, ge-
wöhnlich durch zitternde Rhythmen begrüsst, als Leit-
motiv in allen Sätzen der Sinfonie wieder, Berlioz nennt
es ihre „id^e fixe". Das ist nicht in dem Sinne gemeint,
in dem wir Deutsche von der „fixen Idee* gestörter Geister
sprechen, sondern jene acht Takte bilden den „festen Pol
in der Erscheinungen Flucht* , das Band das den Inhalt
der Sätze der Sin^onik verknüpft, das äussere Zeichen ihrer
Zusammengehörigkeit. Gleichviel ob man in Berlioz^s spe-
cifischer Musikbegabung Talent oder Talen tlosigkeit erblickt,
jedermann sollte einsehen, dass die Einführung und Durch-
führung des Princips der ,idde fixe* eine künstlerische
ee 273 tx»
That von hoher Bedeutung ist. Es war der erste und
einzige wesentliche Fortschritt, den die Geschichte der
Sinfonie nach Beethoven zu verzeichnen hat, der Punkt
von dem aus sich noch eine Zukunft für diese Kunst-
gattung eröffnete.
Wie Haydn, legt auch Berlioz den zweiten Themen
nicht viel Werth bei und zieht ihnen eine freie aber logische
Fortsetzung des Hauptgedankens vor. So wird denn hier
in der Themengruppe des ersten Satzes das Hauptthema
mit einem Jubelausbruch begrüsst, der von zwei laut tre-
molirenden, je einen Takt langen Accorden aus: g-b-des-e
und g-h'd-f in Achtelfiguren hinab und hinaufstUrzt. Er
schliesst zunächst mit einem innigen Rückblick auf den
Schluss des Hauptthemas, auf dessen letzte Periode:
Allegro.agltato>-4
Dann erneut er sich, aber mit Motiven des stillen Entzückens:
i f ' y I ^ ^,na i if ^f J r^ gemischt, er-
weitert und in der Richtung bestimmter. Sie läuft gerade-
wegs wieder auf das Hauptthema zu, das in Grdur er-
reicht, aber nur mit den ersten Noten aufgenommen wird :
i 'jX^PfJirrritf^^^^^g
Die mit dem dritten Takte einsetzenden neuen Glieder
fungiren als zweites Thema im Satze und vertreten in der
Durchfuhrung die Stimme des Liebesglücks.
unser Allegro ist in der seit Hajdn üblichen Form in
den drei Haupttheilen : Themengruppe, Durchfuhrung, Re-
prise aufgebaut. Die Themengruppe schliesst bald nach
dem Auftreten des als zweites Thema geltenden Gedanken.
Die Durchführung ist die Stelle der , Erinnerungen*', auf
die das Programm zum ersten Satz hinweist. Nur sind
Kretzichmar, FUhrer, I. 18
US' 274 ^
sie in der Musik nicht so einfach abzulesen wie dort im
Text. Die Reihenfolge der Empfindungen ist anders, aber
insofern wohlgeordnet und Übersichtlich als den trüben
immer helle folgen. Eine wirkliche Schwierigkeit für
Folgen und Verstehen liegt darin, dass Berlioz in der
Schilderung der Affecte mebt ohne Uebergänge schroff
abspringt.
Die Durchfuhrung beginnt mit einem kleinen Dialog
(von Gdur aus). Die Bässe zeigen wie aus der Feme im
Halbdunkel das Bild der Geliebten (Anfang des Haupt-
themas), die Bläser in neuen eignen Motiven das Herz des
liebenden jungen Künstlers. Mit dem zweiten Thema in
Cdur schliesst diese Gruppe. Nun konunt als zweite
Gruppe die Darstellung jener .Herzensangst* auf die das
Programm vorbereitet. In den Saiteninstrumenten wühlt
es mit chromatischen Läufen, die Bläser stossen lange
Klagetöne aus. Die Scene endigt mit einem aufregenden
Sturm nach der Höhe, wie ein Befreiungsversuch aus
schwülem luftlosem Raum, und mit einer erlösenden General-
pause. Der dritte Abschnitt bringt das Bild der Geliebten,
das Hauptthema in voller Ausdehnung aber in G dur wie-
der. Ihm folgt eine leise beginnende Stelle des Besinnens
erst, dann des Jubels, an die sich als fünfter Abschnit eine
kurze Durchführung des zweiten Themas, die von den
Cellis aus nach oben angetreten wird, schliesst. Sie endet
mit der Wiederaufnahme vom Ende des Hauptthemas, das
schliesslich wie grollend in den Bässen verschwindet. Und
nun schliesst die Durchfuhrung mit einer Gruppe, die
complicirter und auch für die Aufführung schwieriger ist,
als irgend eine der bisherigen Partien des Allegro. Die
Celli nämlich beginnen eine lange Kette von Imitationen
über den Anfang des Hauptthemas erst mit den Bratschen,
später mit den zweiten Geigen. Die Holzbläser spielen
verlegne oder brütende Gegenmotive dazu, die ersten
Geigen wirken nur rhythmisch erregt mit. Das ist wohl die
Schilderung der , eifersüchtigen Wuth" und der dunklen Be-
fürchtungen im Herzen des Liebhabers. Er ringt sich
durch imd wir gelangen an die Reprise des Hauptthemas
co 275 '^
im ff (Cdur) wie in der Apotheose. In der Reprise hat
Berlioz Beethoven'sche Einschübe zur Steigerung des Aus-
drucks des Liebesglücks mit Erfolg versucht. Es ist die
H durstelle, wo die Bässe mit h a fis dis beginnen. Die
, religiösen Tröstungen'' des Programms kommen in den
letzten Takten des Satzes im Anschluss an den leisen Ab-
schied des Hauptthemas.
Der zweite Satz (Valse '/„, Adur) hat die Ueber-
schrift ,ün bal* ein Ballfest. Das Programm sagt zur
Erläuterung: ,Auf einem Ball inmitten des Geräusches
«ines glänzenden Festes findet er die Geliebte wieder*.
Berlioz hat namentlich durch den Ball in Romeo und Julie
die musikalische Welt an efifectvolle und lebendige Fest-
scenen gewöhnt wie keiner vor ihm. Die hier gegebne ist be-
«cheiden nach aussen, aber durch innerliche Wärme, durch
Poesie und dramatisches Leben in der Form sehr bedeutend.
Wie schön ist beidemal die ,id^e fixe* eingeführt, das Zu-
sammentreffen der Liebenden in der festlichen Menge ge-
zeichnet! Nach einer kurzen Einleitung, welche düstre
Traumfiguren enthält, nimmt die Musik den Charakter
eines deutschen Walzers an:
jf^iittuUJiJT^ir^ifTrriOiir 1^ 1
Die Durchführung dieses Hauptsatzes wird von er-
regteren, tiefere Saiten des Gefühls anschlagenden, sce-
nischen Charakter tragenden Episoden mehrmals unter-
brochen. In das rauschende Ende des Satzes lächelt
Rossini herein.
Der dritte Satz (Adagio, ^/g, Fdur) hat die Ueber-
schrift: „Sc^ne aux champs* (Auf dem Lande) und fol-
gendes Programm: „An einem Sommerabende, auf dem
Lande, hört der Künstler zwei Schäfer, die abwechselnd
den Kuhreigen blasen. Dieses Schäferduett, der Schau-
platz, das leise Flüstern der sanft vom Winde bewegten
Bäume, einige Gründe zur Hofliiung, die ihm erst kürzlich
18*
«6^ 276 ^
bekanut geworden, alles vereinigt sich um seinem Herzen
eine unendliche Ruhe wieder zu geben, seinen Vorstellungen
ein lachendes Colorit zu verleihen. Da erscheint sie aufs
Neue; sein Herz stockt, schmerzliche Ahnungen steigen in
ihm auf: ,Wenn sie ihn hinterginge!* — Der eine Schäfer
nimmt die Melodie wieder auf; der Andere antwortet nicht
mehr . . . Sonnenuntergang . . . fernes Rollen des Donners
. . . Einsamkeit . . . Stille*.
Die Musik beginnt mit einem Dialog zwischen Eng-
lisch Hom und Hoboe, welche sich Motive des Kuhreigens
zurufen. Das Gesammtorchester stimmt bald in die länd-
lichen Weisen ein, bald vertauscht es sie mit dramatischen
Phrasen, welche die Sprache einer zwischen Zweifel und
Hoffnung schwankenden Seele reden. An den Stellen,
wo die ,id^e fixe* erscheint, wird der Ausdruck wild er-
regt oder rührend schmerzlich. Der Satz zeigt eine eigen-
thümliche Mischung von Gemüthsschilderung und Land-
schaftsmalerei. Berlioz verstand in einem hohen Grade
die Kunst, die dramatische Darstellung seelischer Zustände
mit einer anschaulichen, poetischen Wiedergabe der äusseren
Scenerie zu verbinden. Sein Childe Harold und seine
Romeosinfonie enthalten Musterstücke dieser Art. In letz-
terem Theile erinnert die ,Sc6ne aux champs' vielfach
an das Andante von Beethoven's Pastoralsinfonie. Hier
wie dort das Vogelgczwitscher, das Rauschen des Windes,
das Säuseln der Bäume, der Reichthum an naturalistischen
Details in den grossen Fluss der musikalischen Darstellung
eingezogen, zuweilen direkte Anklänge. Das Hauptthema
der pastoralen Partie der Scene ist eine gesangvolle Me-
lodie, welche folgendermassen anfangt:
Cr€9C,
Sie erscheint, so oft sie wiederkehrt, darunter zweimal
in Cdur, in immer neuen Reizen des Colorits und des
ce 277 "^
Rhythmus. Von grossartigem Eindruck ist namentlich
die Stelle, wo Bässe, Celli und Bratschen, alle in viel-
stimmigen Griffen mit dem Rhythmus ■■ . IM « be-
gleiten. Die Gabe, schöne und eigenthümliche Klänge
zu finden, war Berlioz angeboren. Kurze Zeit, bevor
er seine Sinfonie fantastique schrieb, studirte er noch
Medicin. Die ,Id^e fixe* beherrscht von der Mitte des
Satzes an die Composition. Ihr erstes Auftreten bereitet
ein in grösster Aufregung einsetzender Gang der Celli und
Bässe vor:
Die Geigen werden von seiner verzweifelten Energie
erfasst und helfen das Bild des in Leidenschaft schlagen-
den Herzens aufs spannendste ausfuhren. Erst nachdem
das rasende Orchester sich in langen, auf verminderte
Harmonien gestellten Tremolos ausgetobt hat, beginnt das
«Stocken* von dem das Programm spricht. Die Clarinette
beschwichtigt noch einmal mit einer neuen sanften Melodie
* ^ F» f r f I f^^f f^r I J "**• ^^^ folgen die zwei-
ten Geigen mit dem Hauptthema, dessen Vortrag mit einer
Wendung des Aufschwungs und des Ausdrucks glück-
lichster Gefühle schliesst. In Cdur begann dieser Ab-
schnitt, in F geht er aus. Da setzt die ,Id^e fixe* noch-
mals ein, aber diesmal nicht verwirrend und verstörend;
Hand in Hand mit ihr, die die Bläser einführen, geht in
den Geigen das Haupttbema des Satzes. — Den , Sonnen-
untergang*, den das Programm verspricht, aus der Musik
herauszuhören, wird nur Wenigen gelingen. Dagegen ist
das .Rollen des fernen Donners* durch ein kleines Extra-
concert auf vier Pauken sehr deutlich gemacht.
In seinen Memoiren (S. 95 und 110) erzählt Berlioz,
c<? 278 ^
das« die Sc^ne aux champs bei der ersten Aufführung
keine Wirkung auf das Publikum geübt, dass er das Stück,
das ihn bei der ersten Niederschrift schon drei Wochen
aufhielt, im Laufe mehrer Jahre wiederholt umgearbeitet
und nach den Anweisungen Ferd. Hiller*s in seine letzte
Gestalt gebracht habe. Es war also ein Sorgenkind und
lässt auch heute noch einen Rest von Unfertigkeit merken,
der die Wirkung seiner schönen Ideen und Absichten etwas
beeinträchtigt.
Dagegen ist der folgende vierte Satz der Sinfonie
(AUegretto non troppo, (p, Gmoll) in einer Nacht ge-
schrieben, ein Werk aus einem Guss. Er hat die üeber-
schrift: Marche au supplice (Gang zum Hochgericht) und
wird im Programm folgendermassen erläutert: „Dem jungen
Künstler träumt er habe seine Geliebte gemordet, er sei
zum Tode verdammt und werde zum Ricbtplatz geführt.
Ein bald düsterer und wilder, bald brillanter und feier-
licher Marsch begleitet den Zug; den lärmendsten Aus-
brüchen folgen ohne Uebergang dumpfe, abgemessene
Schritte. Zuletzt erscheint neuerdings die „Td^ fixe", auf
einen Augenblick, gleichsam ein letzter Liebesgedanke den
der Todesstreich unterbricht.*
Mit diesem Satze nehmen die Opiumträume des
jungen Künstlers eine abenteuerliche Wendung, eine Wen-
dung, welche uns den eigentlichen Traumgott der Sinfonie
fantastique, ihren Componisten H. Berlioz nämlich, zum
ersten Mal als Parteigänger jener Blut und Gräuel lieben-
den französischen Neuromantik zeigt, von der bereits die
Rede war. Die Musik zu einem solchen dichterischen Vor-
wurf kann nicht anders als schauerlich sein. Dieser Zweck
schliesst Sparsamkeit in den Mitteln der Instrumentation
aus. Kurz vor dem Momente, wo das Fallbeil fallt — hef-
tiger Schlag des ganzen Orchesters, zwei Pizzicatonoten
des Streicherchors, ungeheurer Wirbel sämmtlicher Pauken
und Trommeln — taucht der Gedanke an die Geliebte
noch einmal auf. Die ,idde üxe'^ erklingt im Solo einer
schrillen C - Clarinette. Der Stelle geht ein schroffer
e<? 279 ^
Harmoniewechsel von Bmoll (Bläser) und GmoU (Geigen)
Yoraus, welcher bei den ersten Aufführungen der Sin-
fonie in Deutschland die Meinungen besonders erhitzte.
Eine tiefere Anpassung der ganzen Scene, das tragische
Element derselben, kommt in der Melodie:
Alle^«tto^^
Vi^B^ \^ ^ tl \t i t i ir zur Geltung,
welche nach einigen einleitenden Perioden , in der die
Contrabässe einfach getheilt pizzicato- Accorde geben, die
Pauken wirbeln, die Homer einfach ernste Marschmotive
anspielen, zuerst dumpf und schwer durch die Bässe
schreitet Der rhythmische Vortrag, namentlich die Be-
tonung der einsetzenden Halben kann nicht entschieden
genug sein. Die Violinen nehmen das Thema (in Es) auf
eine dritte Clausel führt mit den Bässen als Hauptstinune
wieder nach GmoU zurück und an den Schluss des ersten
Theils. Die Fortsetzung des Marschbildes ruht nun auf
dem Bdur-Thema;
i^l'iTf r ir I tri \t rrnf K T •
Wie sie rhythmisch belebter ist, zieht sie die Aufmerksam-
keit von dem erschütternden Charakter des Vorgangs mehr
auf die Aeusserlichkeiten des Schauspiels, auf den Pöbel,
dem jedes Unglück zum Feste wird. Es giebt Stellen wo
man aus der Begleitung der Themen das Murmeln, Lärmen
und Toben der Menge hört. Zuweilen dringen die Töne
des tragischen Hauptthemas wieder vor. Schliesslich setzt
es, von den Posaunen durchgedrückt, im vollen Tutti
wieder ein, geht ins Wilde und zu dem schon geschilderten
Ende über.
Durch die Einlage des Marsches überschreitet die Sin-
fonie fantastique zum ersten Male seit Haydn die her-
gebrachte Vierzahl der Sätze. Berlioz mag daran gedacht
haben, dass versteckt wenigstens ein ähnliches Verhältnis»
in Beethoven^s Pastorale vorliegt oder auch den Marsch
«<? 280 ^'
als eine Art Präludium zum Finale gemeint haben. Dieses
als fünfte Nummer gebrachte Finale hat die Ueberschrift
Songe d*une nuit du Sabbat (Traum in der Walpurgisnacht)
und folgendes Programm : „Der junge Künstler glaubt einem
Hexentanz beizuwohnen inmitten grausiger Grespenster,
unter Zaubrem und vielgestaltigen Ungeheuern, die sich
zu seinem Begräbniss eingefunden haben. Seltsame Töne,
Aechzen, gellendes Lachen, fernes Geschrei, auf welches
andres Geschrei zu antworten scheint. Die geliebte Melodie
taucht wieder auf, aber sie hat ihren edlen und schüch-
ternen Charakter nicht mehr; sie ist zu einer gemeinen,
trivialen und grotesken Tanzweise geworden : s i e ist's, die
zur Hexenversammlung kommt. Freudiges Gebrüll be-
grüsst ihre Ankunft .... Sie mischt sich unter die höllische
Orgie; Sterbegeläute . . . burleske Parodie des Dies irae;
Hexen-Rundtanz. Das Rondo und das Dies irae zu gleicher
Zeit.«
Die Hauptmasse der Musik des Schlusssatzes fällt auf
dies ,Ronde du Sabbat*^ die Darstellung des Hexenfestes
in der Walpurgisnacht (Allegro, ^/g, Cdur). Die voraus-
gehende Partie vertheilt sich auf mehrere durch Tempo
und Charakter unterschiedene kürzere Sätze:
Ein Larghetto in Cdur beginnt gleich mit vermin-
derten Harmonien, fremdartig polternden Bassfiguren, denen
die dreifach getheilten Violinen hohe Tremolos und bac-
chanalisch schlürfende und schleifende Motive entgegen-
stellen. Das Larghetto ist der Ort der im Programm ver-
sprochnen , seltsamen Klänge*^, soweit sie ruhiger Natur
sind. Am bemerkbarsten macht sich unter ihnen eine
Nachahmung des Hahnenschreies. Es folgt ihm ein nur
acht Takte langes Allegro (*/g, Cdur) in dem die ,id^e
fixe* von der Clarinette |)pp gebracht, die erste Verzerrung
erleidet. So kurz die Stelle ist, so wirkt sie doch sehr
dämonbch durch die Begleitung der beiden Pauken und
der grossen Tronmiel. Schon hier zeigt sich das Finale
der Fantastique als die Fundgrube von Effecten, die
Meyerbeer und andre französische Opemcomponisten fleissig
ausgemünzt haben. Diesem ersten Allegro folgt ein zweites.
ce 281 ^
wild tobendes in Esdur. Es leitet zu einem längeren Satz
über, (Allegro ^/g, Esdur) den das Programm eine «gemeine,
triviale und groteske Tanzweise*^ nennt. Die Melodie der
,idde fixe* erscheint in den schrillen, abscheulichen Tönen
einer hohen Es-Clarinette , lächerlich fratzenhaft und von
Rohheit umgeben. Die Scene bricht plötzlich ab und
macht einem ernsten Recitativ der Bässe Platz. Ihm folgen
— noch heute eine crux für die Auffuhrung — Glocken-
töne CGf CG, Es ist der denkbar schärfste Contrast an
dieser Stelle: Aus dem Höllenqualm gehts unvermittelt in
Kirchenluft und WeihrauchduÄ. Das Dies irae setzt auf
folgende Melodie ein:
Allegro. J'S 104
J.iJ-ii.ij.ij.ij.lj.'li.l4ljj4l-
Ophicleiden und Fagotte blasen sie, die Glocken läuten dazu.
Sofort wird sie von Hörnern und Posaunen in einfacher,
von den Geigen in doppelter Verkürzung parodirt. Es ist
ein freches Stückchen Kunst. Das nun folgende «Ronde
du Sabbat** ist im Haupttbeil eine Fuge über das Thema :
'^figiiJ.f iLLji ht pr J'ij.T:irrrir ,
das von den Cellis aus allmählich über das ganze Orchester
vordringt. Es wird unterbrochen von Zwischensätzen, in
denen f und p diabolisch wechseln, von neuen Motiven der
Klage. Nach einem gravitätisch-burlesken Zwiegespräch
von Bässen und Fagotten meldet sich das Dies irae wieder.
Ein neuer Anlauf zur Fuge, — das Thema vom zweiten Takt
an chromatisch rieselnd, — vertreibt es, bald aber als die
Fuge am tollsten geworden, setzt es dominirend ein. Nun
folgt ein Abschnitt der als Composition eine Farbenorgie
ist. Eine Klangteufelei folgt der andren. Auf einen Satz
col legno der Violinen ein verworren elastisches staccato
der Holzbläser, dann die Ophicleiden im plumpen Sturm-
oc? 282 'S*
lauf und bald fanatisch erregt das Ende des Satzes, den
man nicht unrecht eine musikalische HöUenbreugheliade
genannt hat. Noch näher liegt der Vergleich mit WUrtz,
dem Brüsseler Maler.
Aesthetisch abstossend ist er technisch eine compo-
sitorische Virtuosenleistung , durch neue Formprincipien
auch historisch wichtig.
Berlioz rühmt (a. a. 0.) die gute Aufnahme, die in
Paris bei der ersten Aufführung der Sinfonie fantastique
Bai, Marche und Sabbat fanden. Börne ') äussert sich be-
geistert über das Ganze: „Es steckt ein ganzer Beethoven
in diesem Franzosen .... Alles ist mit Händen zu
greifen*. Unter den Musikern bildeten sich Parteien für
und wider. Stinunfiihrer der Gegner war F^tis, der in
der Revue musicale dem Componist Alles absprach und
nur einen Instrumentationsinstinkt gelten liess. Mendelssohn
verwarf mit befremdenden Hass bekanntlich sogar Berlioz*s
Instrumentirung. *) Schumann dagegen trat in seiner Neuen
Zeitschrift für Musik mit der bereits erwähnten Kritik
warm für die wunderliche Sinfonie ein. Zwei sehr wichtige
Freunde fanden sich in F. Liszt und N. Paganini.
H. BerliOB Nach einer sehr guten Aufführung der Sinfonie fan-
Hazoidenitaiie.tastique am 22. December 1833 — schreibt Berlioz — er-
wartete mich nachdem das Publikum fort war, allein im
Saal ein Mann mit langem Haar, durchbohrendem Auge,
mit einer seltsamen Figur, ein sichtlich vom Genie Be-
sessener, ein Coloss von einem Riesen, den ich nie gesehen
hatte und dessen erster Anblick mich vollständig verwirrte.
Er hielt mich beim Vorübergehen an um mir die Hand
zu drücken, überhäufte mich mit heissen Lobeserhebungen,
die mir im Kopf und Herzen brannten. Es war Paganini!
Einige Wochen später besuchte er mich. ,Ich habe
eine herrliche Bratsche — sagte er, — ein wundervolles
Instrument von Stradivarius und möchte es gern öffentlich
spielen. Aber ich habe keine Musik dafür. Wollen Sie
^) Allgemeine Zeitung vom 8. December 1830.
^) M. Briefe an Moscheies (S. 85).
co 283 'O»
mir nicht ein Bratschensolo schreiben? Für diese Arbeit
habe ich Vertrauen blos zu Ihnen*. — Gern, antwortete
ich, das schmeichelt mir mehr als ich sagen kann; aber
um Ihren Erwartungen zu entsprechen um in einer solchen
Composition eine Gelegenheit zum Glänzen zu geben, die
eines Virtuosen wie Sie würdig ist, muss man Bratsche
spielen und das kann ich nicht. Sie allein, scheint mir,
könnten die Aufgabe lösen. Nein, nein, ich bestehe darauf,
— sagte Paganini, es wird Ihnen gelingen; was mich be-
trifft, so bin ich jetzt zu leidend zum Componiren, ich
kann nicht daran denken.
Ich versuchte nun um den berühmten Virtuosen ge-
fällig zu sein ein Bratschensolo zu schreiben, aber ein
Solo das derartig mit dem Orchester verbunden wäre, dass
es die Instrumentenmasse in ihrer Aeusserung nicht beein-
trächtige, dabei war ich gewiss, dass Paganini durch
seine wunderbare Vortragskunst dem Bratschensolo immer
die herrschende Rolle behaupten würde. Die Absicht er-
schien mir neu, bald bildete sich bei mir ein ziemlich glück-
licher Plan und leidenschaftlich ging ich an seine Ausführung.
Der erste Satz war kaum fertig, als Paganini ihn seheh
wollte. Beim Anblick der Pausen, die die Bratsche im
AUegro zu zählen hat rief er: Das ist nicht das Rechte:
ich schweige viel zu viel darin, ich muss immer spielen.
Ich habe es gleich gesagt, antwortete ich. Sie wollen ein
Bratschen concert haben und Sie sind augenblicklich der
Einzige, der das schreiben kann. Paganini erwiderte nichts,
er schien enttäuscht und verliess mich ohne weiter von
meinen sinfonischen Skizzen zu sprechen. . . .
Nachdem ich mich überzeugt hatte, dass mein Com-
positionsplan ihm nicht passen konnte, entschloss ich mich,
ihn in andrer Richtung und ohne mich um die Dankbar-
keit der Bratschenpartie zu kümmern, doch auszufuhren.
Ich nahm mir vor eine Reihe von Scenen für Orchester
zu schreiben, in die sich die Solobratscbe wie eine mehr
oder minder theihiehmende Figur, die jedoch immer ihre
eigene Art festhielt, einmischen sollte. Ich wollte in der
Solobratsche, indem ich sie in die Mitte der poetischen
e<? 284 ^
Erinnerungeu stellte^ die meine Wanderungen in den
Abruzzen bei mir hinterlassen hatten, eine Art melan-
cholischen Träumer hinstellen ungefähr so wie es Byron^s
Childe Harold isf.
Soweit Berlioz selbst über die Entstehungsgeschichte
und den Charakter seiner zweiten Sinfonie, die am 23. No-
vember 1834 mit vollem Erfolg zum ersten Mal aufgeführt
und dann als op. 16 veröffentlicht wurde. Sie dichtet
einige der musikalischen Behandlung entgegenkommende
Nebenscenen von Byron*s „Childe Harold* in freier Art
nach und ergänzt und bcschliesst dieselben mit einem neu
erfundenen Finale im Stile der französischen Neuromantik.
Eigen ist in der Anlage dieser Sinfonie das in allen Sätzen
durchgehende Bratschensolo, in welchem das concertirende
Element der alten Vorhaydn*schen Sinfonie wieder einmal
in dichterischer Bedeutsamkeit auflebt. In der poetischen
Oekonomie des Werkes repräsentirt es die Partie Harold*s,
des Helden, ähnlich wie in der Sinfonie fantastique die
,Td^e fixe* die Geliebte oder den Gedanken an sie vertritt.
Nur tritt diese vorwiegend episodisch auf, Harold ist dagegen
immer dabei, führt oder lässt sich führen. Das Leib-
und Leitthema des melancholischen Ritters, welches diesen
bis zu seinem letzten Athemzuge begleitet, ist folgendes:
Adagio.
Der erste Satz zeigt uns „Harold in den Bergen*.
(Harold aux Montagnes : Seines de m^lancolie, de bonheur
et de joie.) Er besteht aus einer langsamen Einleitung
(Adagio, '/4, Gmoll-Gdur) und einem bewegten Satz in
Sonatenform (Allegro, ^/g, (jrdur).
Der langsame Satz, der nicht weniger als 94 Takte
umfasst, geht hierdurch schon äusserlich über den Charakter
einer gewöhnlichen Einleitung hinaus. Er hat die Auf-
gabe, uns das düstre, blasirte, aber durch edle und liebens-
'<o 285 -^
würdige Züge Theilnahme und Mitleid weckende Grund-
wesen Harold's zu schildern und beginnt mit der Scene der
Melancholie, auf die die Ueberschrift des Satzes hinweist.
Sie hat die musikalische Form einer Fuge erhalten, der
das von Bässen und Cellis zuerst aufgestellte Thema:
Adagio. J : 76
zu Grunde liegt, ein treffendes melodisches Abbild düster
hinbrütender, schmerzlich auffahrender Stimmung. Die
Bläser, Fagotte, Hoboe, Clarinette mit Hom, Flöte geben
zunächst nach einander einen chromatisch jammernden
Contrapunkt dazu und vereinen sich dann zum Schluss der
ersten Durchführung (15. Takt) zum Vortrag der Harold-
melodie. Aber sie steht hier in Moll. Die Fuge hebt jetzt
pp vom Neuen an, aber schon mit der zweiten Stimme
hört sie wieder auf und geht schnell zu einem lauten
Schluss in G moll. Bei diesem Accord setzt die Harfe mit
Arpeggien ein, im zweiten Takt bereits überrascht sie mit
Gdur. Es entsteht eine plötzliche Helle in der nun die
Solobratsche mit Harold und seiner Melodie in der oben
angegebenen Originalform hervortritt. Sie wird ganz leise
wiederholt als ob Alles athemlos lauschte. Das veranlasst
Harold sich zu zeigen, sich freier zu geben, er schliesst
virtuosenmässig keck und übermüthig mit Passagen ein-
fach und in Doppelgriffen, Resten einer auf Paganini ge-
münzten Erfindung.
Nach dem Schluss dieser brillanten Solostelle wird das
Haroldthema vom vollen Orchester aufgenonunen und zwar
in der Form eines Kanons, als wären Aller Seelen von
dem schönen Gesänge voll. Die Trompeten, die Harfe,
Cello, Fagott singen vor, die Holzbläser und Solobratsche
singen in eines Viertels Abstand als zartes Echo nach; in
den Violinen und Tuttibratschen erheben sich Zweiund-
dreissigstelfiguren nach oben als wenn der Morgenwind den
Nebel theilt. Mit dieser Klärung und Aufheiterung
in sanften Tonen schliesst der langsame Einleitungs-
Co' 286 ^
satz, eins der schönsten unter den vielen schönen Ton-
bildern der Sinfonie. — Das Allegro, welches ihm folgt,
ist ein breit ausgeführtes Pastoralgemälde, stilistisch und
materiell dem ersten Satze von Beethoveu*s siebenter Sin-
fonie verwandt. Seine beiden Themen sind:
AUegro.
-f?j-JH^i^i7~~r-f^^=^=^^^^ und das Mendelssohn
Den Scenen, welche auf Grund dieser theilweise etwas
spröden Melodien entrollt werden, mischt Harold mit den
Tönen seiner Bratsche abwechselnd Jubel und Trauer ein.
Der Anfang des Allegro bringt das Hauptthema noch
nicht in der hier mitgetheilten Form, sondern zunächst
noch unfertig, durch Pausen und durch die Instrumen-
tirung zersprengt. Harold erhebt gegen den neuen Ton
Einspruch: höchst sonderbar geigt er sechs Takte lang
auf dem untersten Ton seiner Bratsche, dem c, dagegen
an. Dann aber ist er es, der die vom Orchester vertretene
Menge in den Schwung und auf den richtigen Weg bringt.
Wie er sie erst aus dem Zögern fortreisst, so beschwich-
tigt er nun bei seinem zweiten Einsatz ihren Sturm. Mit
einem langen Ton erbittet er sich allgemeine Aufmerk-
samkeit und Stille; dann spielt er sich allmählich in die
fliessende Melodie hinein. Das chromatische Motiv in ihr,
das dem Wesen Harold's so natürlich entspringt, scheint
seinen jetzigen Genossen Schwierigkeiten zu machen.
Augenscheinlich verstehen sie nicht recht: woher und
warum der trübe Klang mitten in der Freude? Es ent-
spinnt sich um ihn eine kurzgegliederte Auseinandersetzung
zwischen Solo und Chor. Sie schneidet ganz unvermuthet,
wie mit einem väterlichen Machtspruch den Einsatz des
zweiten Themas ab, dessen gemüthlicher Inhalt ganz aus-
gezeichnet für den Mund des — vom Cello begleiteten —
c<? 287 '^
Fagotts passt. Auch Harold nimmt es mit seiner Bratsche
auf und bringt es aus fremder Tonart (F^ B) in das
normale Ddur. Schon im ersten Takt aber reisst er sich
unwillig, nach höherem verlangend los. Die Themen-
gruppe nimmt ein plötzliches Ende und die Durchführung
beginnt mit wilden Figuren Harold's, denen das Orchester
verwirrt und erschreckt gegenübersteht Nach 16 Takten
endlich tritt wieder Sanunlung und Ordnung ein. Harold
intonirt das Hauptthema erst in Desdur, dann in Dmoll.
Das Orchester spielt es nun mit an, in Bdur, in Hmoll.
Endlich ist ein sicherer Boden mit Cdur erreicht. Die
Melodie kommt in ihrer vollen Grösse, es wird nach Gdur
modulirt, also in den freundlichen Stimmungskreis des
Anfangs zurückgekehrt und zwar mit wörtlichen Wieder-
holungen. Auch das zweite Thema kommt wieder und
wieder unerwartet, diesmal in Gdur und man verweilt
etwas länger, beschaulicher und ruhiger dabei als vorhin
in der Themengruppe. Die Bläser haben es. Diesmal
machen ihm aber die Violinen ein Ende mit einer
Sechzehntelfigur die im energischen crescendo nach oben
geht und auf dem Motiv J J J mit dem das Hauptthema
beginnt, wie in einem Rausch von Freude und Kraftgefühl
bedrohlich tobt. Eine Generalpause. Die Besonnenheit
kehrt zurück: Wir hören kurz aber viel bedeutend einen
Anklang an den chromatischen Theil des Themas: im
sechsten Takt setzt es selbst ein, in der Solobratsche und
den vier Fagotten unisono in Gdur, der Haupttonart ge-
bracht. Die übrigen Bläser nehmen es in D auf. Man
will verweilen aber die Perioden und Metren haben etwas
Unregelmässiges das nicht viel verspricht und siehe da:
bald stehen wir vor Fermaten auf verminderten Accorden,
unverkennbaren Zeichen der Verlegenheit! Dieser Punkt
würde ungefähr den Schluss der Durchführung nach dem
von den Klassikern beobachteten Brauch bilden müssen.
Berlioz hat in dem ersten Satz der Haroldsinfonie den
üblichen Abschluss, durch die erweiterte, aber im Wesen t-
*<? 288 ^
liehen wörtliche Wiederholung der Themengruppe ver-
mieden, ppf aher mit einer gewaltsamen Wendung der
Phantasie geht er mit einigen Orchesterarpeggios von
jenem Verlegenheitspunkt und dem verminderten c-h-eis-g
nach Gdur herüber und bringt die Haroldsmelodie , die
wir seit der Einleitung nicht gehört haben , in einem
Fugato, — dem zweiten seiner Art in diesem Satze — das
die Contrabässe beginnen. In den Bläsern tauchen dazu
noch Brocken des zweiten Themas auf. Der beabsichtigte
Aufschwung ist damit erreicht. Von Harold^s Geist —
das will wohl Berlioz sagen und schildern — ist ein Hauch
in die Masse gedrungen. Dithyrambisch stimmt sie mit
ein in den Hymnus der Lebensfreude, zu der den hinge-
rissenen Melancholiker die Schönheit der Natur, der An-
blick und die Gesellschaft einfacher harmloser Menschen
gezwungen hat. So geht vom Ritter zum Volke eine be-
ständige Wechselwirkung, beide Theile empfangen von
einander, und heben sich gegenseitig. Die mächtigste
Stelle dieses Schlussabschnittes ist wohl das zweimal vor-
überrauschende Unisono des vollen Orchesters mit seinen
grandios humoristischen Sprüngen und dem Feuer der Be-
geisterung, das aus Melodien und Harmonien leuchtet.
Der zweite Satz der Sinfonie (Allegretto, ^Z^, Edur)
heisst ,Marche des P^lerins chantant la pri^re du soir*
(Pilgermarsch und Abendgebet). Sein Hauptthema bildet
ein frommes einfaches Marschlied:
Alle^atto.
^,Vif I N ^N,nlU jljjll.jjlfjJlf I-
Alle acht Takte wird dasselbe von einer Unisono-
Phrase der Bläser
unterbrochen,
welche anschaulich genug die ihre Litanei hersagende
Wallfahrerschaar vorführt. Das Bild einer psalmodirenden
Gemeinde suchte Berlioz auch in seinem Requiem, das der
Haroldsinfonie zunächst folgte, wiederholt wiederzugeben.
Die Mitte des Satzes nimmt der Vortrag eine« feierlich
^ 289 '^
religiösen, in den ruhigen Rhythmen der alten Zeit ge-
führten Hymnus ein, dem Berlioz die Ueberschrift ,Canto
religioso* giebt. Harold, d^ vorhin, als die Pilger näher
kamen, sie mit seinen Thema begrUsst und dann ab und
zu seine Nähe mit leisen Arpeggien bekundet hat, stimmt
in das Pilgerlied merkbar ein, die Bässe setzen in decenten
Pizzicato-Tönen den Rhythmus des Marsches fort. Noch
einige Mal hören wir wie vom Weiten das fromme Wander-
lied, dann gehen die Töne schlafen. Nur die Glocken des
nahen Ellost€rs, die uns am Anfang des Satzes (in der
Harfe: CH) empfingen, treten wieder vor. Es kouunt die
Nacht und stille Sterne blinken. Die kleine Composition
ist ein Meisterstück, in welchem die Realistik der Dar-
stellung nur dazu dient, die Poesie des Bildes noch be-
redter zu machen. Sie war die Frucht einer glücklichen
Eingebung in der Dämmerstunde am Kaminfeuer. In
2 Stunden — erzählt Berlioz a. a. O. — war der Marsch
fertig und erntete gleich bei der ersten Aufführung einen
vollen Erfolg; trotzdem hat der Componist noch 6 Jahre
lang daran gefeilt und verbessert. Er hat durch Einzel-
aufführungen den übrigen Sätzen voraus der Sinfonie den
Boden und eine freundliche Stimmung auch in gegnerischen
Lagern bereitet.
Der dritte Satz: (Allegretto assai, ^/g, Cdur), be-
titelt: , Serenade d'un montagnard des Abruzzes k sa
maitresse* — , Ständchen in den Abruzzen** — beginnt
mit einem kleinen Scherzosatze, welchem wahrscheinlich
eine italienische Originalmelodie zu Grunde liegt. Die
italienischen Piflferarii, die ja auch Händel in seinem
„Messias* verewigt hat, waren seit alten Zeiten an drolligen,
schelmischen Weisen reich und bringen sie noch heute auf
die deutschen Märkte:
ÄUegro assai. •». ^
^Br_TrrrJiPH f irn in j_rir pTirpr
Piccolo und Oboe blasen das zusammen, und Bratschen
mit Clarinetten geben in ausgehaltenen Tonen und trägen
Harmonien das nöthige Dudelsackcolorit dazu. Nun tritt
Kretsschmar, Führer, I. 19
ex? 290 ^
der Liebhaber auf und stimmt auf dem englischen Hom
eine schmachtende, anmuthige, gutgemeinte zuweilen
stockende, schüchterne und ungeschickte Melodie an:
AUe^retio*.
in welche die Ge-
fährten helfend und hingerissen einfallen. Auch Harold
stimmt mit ein und sinnt noch den rührenden Tönen der
Liebe nach, als die Dorfmusikanten schon längst nach
Hause gezogen sind. Seine breite Melodie trägt in das
Stückchen italienischer Dorfgeschichte, das Berlioz hier
mit einem virtuosen Humor entrollt, der wohl nur in
seiner Ouvertüre zum Carneval Romain ein SeitenstUck
findet, einen edlen und feierlichen Zug hinein.
Die Idee des Harold-Finale müssen wir ebenso wie
die vom Schlusssatz der Fantastique ablehnen. Wie man
aus Liszt's langem Aufsatz über die Sinfonie ersehen
kann*), hat dieses Finale in Frankreich und in früherer
Zeit doch zuweilen dämonisch gewirkt. Heute — imd in
Deutschland wohl von jeher — versetzt es auf den Boden,
auf den sich die Räuber- und Rittergeschichten von Spies
und Gramer bewegen. Berlioz*s Satz schildert das Ende des in
Gesellschaft von Banditen zu Grunde gehenden Harold in
Zügen, die zum Theil rührend sind. Er beginnt wie das
Finale der neunten Sinfonie mit Reminiscenzen an die
früheren Sätze. Vor Harold's Geist tritt die fugirte Ein-
leituDg aus dem ersten Satze, der Pilgermarsch zieht
vorüber; als letzte Erinnerung an reinere Zeiten tönen
Fragmente aus dem Ständchen: Die wilde, wüste Orgie
mit ihrem brutalen Hauptthema:
AUegro tranquillo.
:5^ mf f
*) Gesammelte Schriften von Franz Liszt 1882. S. 3 u. ff..
eö» 291 ^
▼erschlingt Alles. Unter ihren grausamen Attacken zer-
bricht auch Harold's Thema und verflattert in Brocken.
Zuweilen werden die wüthenden Triller, die bacchantischen
Läufe und die grotesken, nirgends verführerischen, frechen
Tanzweisen der Banditenmusik die sich gern auch soldatisch
stolz giebt:
durch unheimliche Klänge unterbrochen, welche Gewissen,
Reue und Strafgericht zu repräsentiren scheinen. Die
weichste und ergreifendste Stelle des Satzes ist wohl die,
wo nach dem dritten Einsatz des eben angeführten Themas
(in G-dur) der Pilgermarsch — in einem Nebensaal von
Solisten gespielt — erklingt. Die Wallfahrt zieht draussen
vor der Grotte vorbei. Tannhäuser in ähnlicher Lage
flieht; Harold stirbt. Zum letzten Mal sucht er stanmielnd
nach seinem Thema; er findet die Intervalle nicht mehr.
War Berlioz in seiner «Fantastique*^ und in seinem
«Harold*^ darauf ausgegangen unter Einhaltung der Bee-
thoven'schen Formen den Inhalt der Sinfonie fasslicher zu
gestalten, so versuchte er im Jahre 1839 mit einem dritten
Werke eine Aenderung dieser Formen selbst. Es ist die Sin-
fonie yBomeoundJulie*', (op. 17) mit der der Componist H. Berllos
eine neue Gattung zu gründen gedachte, die er drama-^^™«** u. Juiio.
tische Sinfonie nennt. Sie vergrössert die Zahl der Sin-
foniesätze imd mischt in ihnen reine Instrumentalmusik mit
einfacher Gesangmusik und Oper. Einen Vorläufer hatte
Berlioz diesem Werk in seinem ,Lelio* vorausgeschickt.
Diese Composition war als Ergänzung zur Sinfonie fan-
tastique, mit der sie die Opuszahl gemeinsam hat, gedacht,
sollte schildern wie der junge Künstler aus seinen schreck-
lichen Träumen erwacht und zum Leben zurückkehrt.
Daher ihr Nebentitel ,Le retour k la vie*. Berlioz giebt
ihr die Gattungsbezeichnung Monodrame und fügt dem
Instrumentenspiel und dem Gesang als drittes Mittel der
Darstellung noch gesprochnen Dialog hinzu. Doch ist
19*
e<? 292 '^
dieser Lelio bis beute nicbt zu praktiscber Bedeutung
gelangt.
Eine Mischung der Kunstmittel, wie sie Berlioz in Ro-
meo und Julie versucht, ist ungewöhnlich, unbequem aber
an und fUr sich weder unsinnig noch unmöglich. Für
Berlioz mag die nächste Anregung aus dem Finale von
Beethovcn's neunter Sinfonie gekommen sein ; das Verfahren
in der Darstellung einer Idee mit Vocal- und Instrumental-
sfitzen abzuwechseln ist aber schon älter. Aus dem 17. Jahr-
hundert bieten die sogenannten östreichischen Kaiserwerke*)
bequem erreichbare Beispiele, jeder Musikfreund weiss wie
Bach und Händel, jener im „Weihnachtsoratorium', dieser
im „Messias* die Schilderung der heiligen Nacht mit den
„Hirten auf dem Felde* in Instrumentalsinfonien geben.
Das Wagner'sche Musikdrama und das neue Lied seit
Schumann zeigen ebenfalls wie Gesang und Instrumente
sich ebenbürtig und zum Besten des Gesanmiteindrucks in
die Darstellung theilen können. Werden in eine Sinfonie
Gesangsätze und in ein Chorwerk Instrumentalsätze einge-
fügt, so wird es immer darauf ankommen, dass diese Mi-
schung so verschiedner Elemente Gründe der Nothwendig-
keit für sich hat, den Hauptabsichten und den Grundideen
des Kunstwerks zu Gute kommt und seine Wirkung bis
zu einer Stufe hebt, die ohne jenes Mittel nicht erreich-
bar war.
Von diesen Gesichtspunkten aus kann man sich nicht
darüber täuschen, dass auch „Romeo und Julie* ähnlich
wie die Fantastique und flarold nur der Versuch aber
nicht das Muster einer neuen Gattung ist. Die „Sinfonie
dramatique* die Berlioz mit diesem Werke in die Orchester-
musik einführen wollte, mag eine Zukunft haben — aber nur
dann wenn ihre Vertreter kritischer zu Werke gehen als
das Berlioz gethan hat. Ihm bleibt wieder das Verdienst
den Pfad gewiesen zu haben, ihm der Ruhm in dem neuen
Werke viel Schönes und Ergreifendes und Merkwürdiges,
zum Theil in ganz neuer Art geboten zu haben. Aber
*) Siebe S. 8.
ce 293 '^
•
wer sich nicht über die Schwächen und Missgriflte in dieser
dramatischen Sinfonie klar ist, bezahlt seine unbedingte
Begeisterung nrft einer etwas teuern Verwirrung seines
künstlerischen Urtheilsvermögens.
Aeussere Gründe mögen Berlioz abgehalten haben Romeo
und Julie, wie so viele Componisten vor und neben ihm, ein-
fach als Oper in Musik zu setzen. An der Bühne gab es, wie
sich soeben gelegentlich des Benvenuto Cellini gezeigt hatte,
vielmehr Verdruss, Aerger und Aufregung als im Concert-
saal, wo Berlioz bereits festen Fuss gefasst hatte. Er selbst
sagt in seinen Memoiren über die Entstehung zu dem selt-
samen Plan seiner Sinfonie dramatique nichts, erzählt uns
nur von dem Entzücken in dem er sich während der Arbeit
befunden, von der Schnelligkeit mit der er sie — inner-
halb von 7 Monaten — vollendet habe und lässt an mehr
als einer Stelle durchblicken, dass er mit dieser Compo-
sition dem Geist Shakespeare's eine durchaus würdige
Huldigung gebracht zu haben glaubte. In der Meinung
etwas vom Besten gegeben zu haben, widmete er die Sin-
fonie Nicolo Paganini, der ihn kurz vorher, nach der letzten
Aufführung des Harold, grossmüthig — die böse ^Welt
meinte aus Berechnung*) — mit dem zeitgemässen Geschenk
von 20000 frcs. überrascht hatte.
Auf dem Titelblatt der Partitur steht „composde d'apr^s
la Trag(5die de Shakespeare**; diese Wendung lässt Frei-
heiten und Abweichungen zu. Im Ganzen aber haben
wir keinen ausreichenden Grund daran zu zweifeln, dass
Berlioz mit seiner Sinfonie ein Abbild der grossen eng-
lischen Liebestragödie geben und ähnlich, wie es Schu-
mann später mit dem dritten Theil seiner Musik zu Goethe's
Faust wirklich gelungen ist, die Wirkung dieses Kunst-
werks vertiefen wollte. Die Aufgabe dachte er sich wohl
so, dass die gefühlsreichsten Situationen des Dramas dem
Orchester zugewiesen würden , der Gesang sollte bei der
1) Ad. Jullien: Berlioz, 1888, S. 133. F. Hiller: Künstler-
leben, 1880, S. 89.
ce 294 ^
DanteUang verwickelter, an Conflikten reicher Scenen zu
Hülfe kommen und ausserdem die Verbindung und Vor-
bereitung der musikalischen HauptbUder übernehmen. Im
grossen Ganzen hat Berlioz dieses Programm auch einge-
halten ; nur hat er es um rein musikalischer Effekte willen
mehrfach getrübt und auch der Instrumentalmusik Leis-
tungen zugemuthet, deren sie nicht fähig ist. Der erstere
Fehler tritt in der Stellung des Prologs hervor und in der
ungeheuren Bedeutung welche in der Sinfonie der im
Drama ganz unwesentlichen Erzählung von der Fee Mab
gegeben ist; der andre namentlich am Eingang der
Grabscene.
Die Sinfonie besteht aus folgenden 8 Nummern:
1) Introduction , 2) Prolog, 3) Ballscene, 4) Garten-
scene, 5) Fee Mab, 6) Julieus Begräbniss, 7) Grabscene,
8) Finale.
In der Natur des Prologs liegt es, dass er ein Werk
eröflFnet. Wenn Berlioz den von Romeo und Julie hinter
die Instrumentalintroduction setzt, so könnte er sich auf
altvenetianische Präcedenzfälle aus dem 17. Jahrhimdert
berufen, bei denen bekanntlich dem gesungnen Prolog noch
eine gespielte Ouvertüre vorausging, gleichsam der Prolog
doppelt gegeben wurde. Bei Berlioz hat es aber eine
andre Bewandniss: Ihm kam der Anfang des Werks mit
dem berichtenden Prolog zu ruhig und zu matt vor. Er
wollte den Zuhörer zunächst erst einmal in Bewegung
bringen. Seine Instrumentalintroduction (Allegro
fagato, (j^j Hmoll) ist gar keine Introduction im üblichen
Sinne des Wortes, sondern sie versucht den Inhalt der
ersten Scenen Shakespeare's wiederzugeben, sie führt mitten
in die Handlung hinein: in die Strassenkämpfe der Gre-
schlechter der Montecchi und Capulets. Ein Zusatz zur
Ueberschrift der Nummer: Combats — Tumulte — Inter-
vention du Prince (Streit und Auflauf, der Fürst erscheint)
spricht das noch ausdrücklich aus.
Die Musik sucht jene Kämpfe, ihre Aufregung und
ihre Zwischenfalle mit einer Fuge zu veranschaulichen,
die die Bratschen mit dem Thema:
co 295 ^
anfangen; Celli, erste,
zweite Violinen folgen und nehmen sich dabei mancherlei
Freiheiten in Bezug auf Tonart und Intervalle gegenüber
den Gesetzen, die die Schule für Beantwortung und Auf-
nahme von Fugenthemen stellt. Das Thema selbst hat
in dem mit scharfem Triller einsetzenden Motiv seinen
wichtigsten Bestandtheil und gelangt auf seinen vollen Um-
fang durch sogenannte Sequenzen, d. i. wörtliche oder freie
Wiederholungen eines Grundmotivs. Hierdurch erhält der
Satz einen auffallend regelmässigen Charakter. Berlioz
scheint an den Anstand und das strenge Ceremoniell ge-
dacht zu haben, das im Mittelalter die Turniere der Ritter
beherrschte. Aufgeregter und eifriger wie die Introduction
erst mit dem Fismoll beim Zutritt der Blasinstrumente.
Das ist ungefähr die Stelle, wo bei Shakespeare zu den
Dienern und Angehörigen der Capulets und Montecchi sich
die Bürger von Verona mit Knütteln gesellen: ,He! Spiess'
und Stangen her! Schlagt auf sie los!* Als bald darauf
die Haupttonart Hmoll wiederkommt, dröhnt in Hörnern
und Contrabässen der Grundton in halben Noten: Es sind
dumpfe Schläge: die Glocken läuten Sturm, in fernen
Gassen erwacht das Volk und sammelt sich. Auf dem
Platz sind die Parteien zum ersten Male hart an einander
geraten. Die beiden Geigen treiben einander vom fis bis
zum ^. Auf diesem Tone sitzen sie fest acht Takte lang;
bedrohlich steigen von unten die Bässe nach der Höhe.
Da löst eine schnelle Modulation nach Adur den Wirr-
warr, die Fuge setzt vom Neuen an: das Thema diesmal
in den ersten Violinen in Ddur aber ff und von allen In-
strumenten des Orchesters im stärksten Ton begleitet, die
Homer kurz und entschieden, die Posaunen mit einer
wohlgemuth kampfesfrohen Melodie. Das Thema gelangt
an die zweiten Violinen; noch ehe sie es an die Celli ab-
c<? 296 '^
gegeben haben ist mit den Trompeten zugleich der voll-
ständige Sturm da; keine Ordnung mehr, kein Sinn für
Fuge und Vernunft, sondern die vollständigste Empörung!
Wie lange Alles vernichtende Wogen zischen die Accorde
des Tutti hin. In diesem Augenblick geschieht etwas
Ueberraschendes: Es wird still, die Rhythmen kommen ins
Schwanken, das Fugenthema nimmt Reissaus, wir hören
nur noch wie vom Weiten Bruchstücke: eine spannende
Fermate I Ihr folgt von sämmtlichen Posaunen und der Ophi-
cleide im Einklang und Octave vorgetragen eine seltsame
Melodie :
PieremeotfUn pea retenu et «vec le caractere du recltatlf.
Sie bezeichnet das Auftreten des Fürsten von Verona, seine
Anrede an die streitenden Haufen. Voll Hoheit und Ver-
wunderung klingt sie in diesem Eingang doch noch gütig;
erst im weitern Verlauf wird sie wetternd und donnernd.
Shakespeare's Fürst ist gleich von Anfang an ungehalten
und aufgeregt: , Aufrührerische Vasallen etc.*
Die Annahme liegt nahe, dass diesem Recitativ daa
Finale von Beethoven's neunter Sinfonie zum Vorbild ge-
dient hat. Der Prozess ist beidemale derselbe: dem Chaos,
dem Tumult gegenüber die Bässe als Ordner! Verstehen
und richtig deuten lässt sich die Stelle ohne Schwierigkeit,
vorausgesetzt dass der Hörer soviel guten Willen und
Scharfsinn mitbringt als die Programmmusik jederzeit vor-
aussetzen darf. Hat doch Berlioz durch die üeberschrifk
des Satzes der Phantasie vorgearbeitet! Berlioz hat dann
wieder vorbildlich auf Liszt und den ersten Satz seiner
Dante-Sinfonie gewirkt.
Die Rede des Fürsten wiederholt von höhrer Stufe
aus die drei Glieder in denen sie zuerst vorgebracht wurde,
wird herrischer und strenger. Am Schlüsse, da wo die
Bassinstrumente vom vollen Orchester abgelöst werden, wo
die Homer wie entsetzt nachschlagen, die Harmonie immer
wieder dasselbe Fis anschlägt und verklingen lässt, da wo
cG» 297 'ö^
mit einem Worte das Leben der Musik erstarren will, da
muss wohl das Wort »Todesstrafe* gefallen sein. Ein
schnelles Ende folgt dieser Stelle, leise und kleinlaut steht
das Fugenthema noch einmal auf, dann klingt es nur noch
in Bruchstucken an, zuletzt bleibt das Trillermotiv ganz
unsinnig in den Cellis hängen ; bald ist Alles verschwunden.
In diesem Schluss der Instrumentalintroduction von Romeo
und Julie lebt eine starke Poesie. Auch im Ganzen ist
der Satz einer der besten in der Sinfonie, geeignet und
wohl werth für sich allein gekannt und aufgeführt zu
werden, an malerischer Kraft und Eigenart ein echter
Berlioz ersten Ranges, durch den Inhalt noch mit der
gleichaltrigen Ouvertüre „Carnaval Romain* nahe verwandt.
Der aus angegebenen Gründen auf die zweite Nununer
verschobene Prolog der Sinfonie ist für Solostimmen, für
dreistimmigen Chor (Contraalt, Tenor und Bass) und Or-
chester componirt. Wie bei allen Gesangsnummern von
Romeo und Julie hat auch hier Berlioz selbst den Text
entworfen, Emil Deschamps brachte ihn in Reime, ein ge-
wisser Freiberg hat ihn in oft holpriges Deutsch über-
setzt. Der Zweck des Prologs ist der: den Inhalt des
Dramas kurz zu erzählen. Der Chor ist der Träger dieser
Erzählung; wichtige Punkte hebt Berlioz durch Sologesang
und durch kleine Instrumentalsätze hervor.
Der erste Abschnitt beginnt mit einem Harfenakkord
(fis-aiS'ds). Dann fangt der Chor an eine Erklärung zu
geben zu der Scene, die wir soeben in der Orchesterin-
troduction erlebt haben. Der Chor singt oder declamirt
vorwiegend im unisono ; es ist nur wenig Harmonie in seinen
Satz gemischt, aber dann sehr wirksam. Der ganze Ab-
schnitt macht dadurch, dass er an den liturgischen Ton
erinnert, einen sehr ehrwürdigen und alterthümlichen Ein-
druck, ganz besonders in der Schlussmodulation, die uns
bei den Worten ,encore recours** (^fortan erkämpft**) ausser-
ordentlich fein und Phantasie bezwingend nach DmoU
führt. Ein feierlich an- und abschwellender Akkord der
Messingbläser, von der Pauke unterstützt, schliesst ab.
Der zweite Abschnitt erzählt vom Waffenstillstand der
c<? 298 ^
Parteien und vom Fest bei Capulet. Hier ist das Er-
scheinen Romeo^s ausgezeichnet durch einen unbegleiteten
Sologesang des Alts, der mit einfachen Mitteln der Tempo-
verzögerung, chromatischer Melodiefiihrung, des Wechsels
der Tonstärke sehr ausdrucksvoll und bewegend wirkt
Das Fest bei Capulet schildert das am Chorschluss ein-
setzende Orchester indem es aus der dritten Nummer der
Sinfonie das Hauptthema der Ballmusik und deren am
Schluss der Nummer eintretende Umwandlung (die Musik
der heimkehrenden Gäste) vorfuhrt. Gewiss üben der-
artige Anspielungen erst auf solche Zuhörer welche das
ganze Werk bereits kennen, ihre volle Wirkung aus; aber
unberührt lassen sie auch den Unvorbereiteten nicht Dank
dem dieser Musik innewohnenden plastischen Charakter.
Sie erzählt unverkennbar von glücklichen Herzen.
Der dritte Abschnitt führt zur Gartenscene. Spannend
ist die Stelle gehalten wo berichtet wird wie Romeo die
Mauer übersteigt. Eine Generalpause mit Fermate giebt
dem Erstaunen Raum. Und nun markirt ein pianissimo,
ein heimlisches Rauschen der Chorakkorde die neue, die
grössere Ueberraschung : Julia auf dem Balkon. Aufregend
kurz, aber meisterhaft führt Berlioz zu dem Schluss, zu den
warmen von Chor und Orchester gemeinsam gesungenen
Melodien aus der Liebesmusik der vierten Nummer.
Angefugt ist diesem dritten Abschnitt eine lyrische
Einlage, ein Strophenlied das das Glück der ersten Liebe
preist: , Premiers transports etc." („0 erste Schwüre etc.*).
Der Soloalt singt es und das Cello singt mit ihm, so wird
es zum Dialog, ein einfaches aber gefühlreiches prächtiges
Stück musikalischer Poesie. Die Harfenbegleitung giebt
ihm einen gewissen Troubadourcharakter, nur an wenigen
Stellen tritt der Klang von Flöten, Clarinetten und eng-
lischem Hörn weich umhüllend noch hinzu.
Es folgen nun als vierter Abschnitt die Erzählung von
der Fee Mab und als fünfter, schliessend, der Bericht von
Juliens Begräbniss und von der Versöhnung der feindlichen
Geschlechter an der Gruft.
Die Geschichte von der Fee Mab ist nicht in dem
e<3' 299 ^
kurzen Stil behandelt, der sonst im Prolog herrscht, sondern
im Detail breit, dramatisch alle Einzelheiten belebend, vor-
geführt. Dieselbe Aufgabe in einem Werke auf zwei ver-
schiedene Arten lösen zu wollen, war eine Kraftprobe.
Berlioz hat sie glänzend bestanden. Denn die Schilderung
der Fee Mab durch den Solotenor und den Chor ist ein
ähnliches Unicum und ein Meisterstück wie das berühmte
Orchesterscherzo , das Berlioz dem Gegenstand als fünfte
Nummer der Sinfonie gewidmet hat. Die Fee Mab oder
Königin Mab zieht im Prolog in der Form eines ,Scher-
zetto* vorüber, wie Berlioz das Tonbild nennt; es ist das
originellste und grösste im ganzen Prolog — 116 Takte
umfasst es. Unter all den Geisterscenen lustiger freund-
licher oder schreckhafter Natur, die der Musik in der
grossen romantischen Epoche von Gretry, d'Alayrac, C. M.
V. Weber bis auf Mendelssohn und Meyerbeer zugewachsen
sind, ist mit dieser Berlioz'schen Composition von der Fee
Mab Nichts zu vergleichen. Das ist ein Spuk ganz für
sich, fluchtiger, leichter, abwechselungsreicher als jeder
andere und auch da wo das Treiben verworrener wird,
immer von grösster Anmuth. Das Hauptelement dieser
Musik bilden Rhythmus und Tempo. Das Zeitmass ver-
langt von Instrumenten und Singstimmen das Aeusserste
was sie an Schnelligkeit leisten können, die Bratschen und
die untern Ollis haben mit ihren Begleitungsfiguren ein
ungestümes aber doch inmier feines perpetuum mobile zu
leisten. Dann kommen die merkwürdigen schillernden Har-
monien hinzu dem Satz einen fremdartigen Charakter zu
geben: Jeder einfache Dreiklang wird durch einen hu-
moristisch berechneten Misston gestreift. Die Einsätze der
dürftigen Blasinstrumente wirken in gleichen Graden ge-
spenstisch und komisch. Instrumentation und Nüancirung
— fast immer p — werfen über das Ganze phantastische
Schleier. Es ist in der Geschäftigkeit mit der eine Gestalt
nach der andern vorbeisaust, etwas Athem versetzendes.
Nirgends kommt etwas Fassbares; höchstens die kleine
Episode von dem Kriegstraum des Pagen mit den Kano-
naden, dem Tambour und der Trompete tritt deutlicher
^ 300 '^
heraus und macht Miene dem Zuhörer auf den Leib zu
rücken. Im Gesangtheil ist das Sätzchen, für germanische
Chorzungen namentlich, ganz ausgesucht schwierig.
Der Schluss des Prologs, der vom tragischen Ende des
Liebespaares und der Versöhnung der Geschlechter be-
richtet, ist äusserst kurz gerathen, fast als hätte Berlioz
nach der Fee Mab sich über die Geduld der Zuhörer und
über ihre hohen Ansprüche Gedanken gemacht. Angespielt
ist nur auf die Begräbnissmusik der sechsten Nununer,
und zwar ninmit das Orchester das charakteristische Liegen-
bleiben des einen Tons {e) von dort herüber.
Zieht man die Summe des Gebotnen, so kann kein
Zweifel sein, dass im Prolog von Romeo und Julie, un-
scheinbar in der Form und in den Mitteln, doch eine
ausserordentlich grosse und völlig originelle Leistung vor-
liegt, die für die Beurtheilung von Berlioz schwer wiegt.
Berlioz wendet sich nun wieder der unmittelbaren
Darstellung zu und giebt zunächst ein Bild von dem Ball-
fest bei Juliens Eltern. Im Drama ist dieses Fest ein nicht
unwichtiger Abschnitt: er bringt zum ersten Male die Lie-
benden zusammen. Dem Componisten bietet er gleich gute
Gelegenheit zur Seelenmalerei wie zur Situationsschilderung,
er kann scharf geprägte Gestalten zeichnen, ihre Herzens-
beziehungen bloslt'gen, kann einen Ausschnitt aus dem
Treiben der grossen Welt versuchen, sich im Intimen,
ebenso wie im Glänzenden bewähren. Als geborner Freund
grosser Mittel, mächtiger, üppiger, Sinne berauschender
Klänge, als Meister in der Schilderung äusseren Lebens
hat Berlioz den festliehen Charakter der Scene, die Pracht
und die Freude in der sich die stolzen Massen einherbe-
wegen, betont. Reichlich zwei Drittel der neuen Nummer
sind mit rauschender, pompöser Ballmusik ausgefüllt. Aber
wie in der Fantastique und im Harold kommen auch hier
die eigentlichen Helden des Stücks nicht zu kurz und treten
im rechten Augenblick in den Vordergrund.
Diesem dritten Satz, welchen das Orchester allein
ausführt, hat Berlioz die Ueberschrift gegeben: Romeo
seul - Tristesse - Concert et Bai -Grande Fite chez Capulet
CO 301 ^
(Romeo allein in Traurigkeit; Concert und Ball; grosses
Fest bei Capulet).
Er beginnt mit einem Andante melancolico, C, Fdur,
das zunächst die Worte Romeo's (I, 4) zu veranschaulichen
scheint: «Mich drUckt ein Herz von Blei zu Boden, dass
ich kaum mich regen kann**. Die ersten Violinen suchen
nach Melodie und Ausdruck und finden nur spärlich;
namentlich in der Unbestimmtheit der Tonart spricht diese
Einleitung aufs deutlichste einen schwankenden Zustand
aus. Endlich bietet sich ein Halt. Die Oboen und
Clarinetten setzen (im 23. Takt) das Motiv
Andante. ^,«„^
Ah» r * I * F^ ein und klammern sich daran wie
an eine letzte Rettung. Sechsmal hintereinander, nur mit
immer neu tastenden und wechselnden Bässen, hören wir
diese klagende Stimme ; dann erst entwickelt sich eine lange
Gesangmelodie, die im Anschluss an das gegebene Motiv
folgendermassen lautet:
jfi'Mf irrfiTli
f fLuU"^'' nLl^Oq
Noch einmal setzt sie zu einer viertaktigen Halbperiode
an und gelangt mit ihr nach Asdur. Diese unerwartete
Harmoniewendung bestätigt nur was der gewissermassen
irrende Schritt des Themas schon verräth: die Unruhe in
Romeo^s Seele, sein Sehnen und Zweifeln: „Mein Herz er-
bangt und ahndet ein Verhängniss, welches noch verborgen
in den Sternen . . . das Ziel des läst'gen Lebens . . . mir
kürzen wird durch irgend einen Frevel frühen Todes.*
(I, 4). In der neuen Tonart (Asdur) schweben freund-
liche Motive in Triolen tänzelnd heran. Der kleine
Zwischensatz (8 Takte) hebt die Stimmung etwas auf.
Das Gesangthema mit den ausdrucksvollen halben Noten
setzt jetzt in C dur wieder ein, aber des Zieles sichrer und
^ 302 ^
hoffbungsToUer als beim ersten Mal weiter geführt.
Violinen, Flöten, Bratschen bringen der Reihe nach das
tröstliche neue Schlussmotiv. Da kommt eine plötzliche
Unterbrechung: Allegro im Alla breve: pp klingen
in den Greigen zitternde Rhythmen JTTJ JT^ JT^ J^ ,i
auch die Tonart Desdur zeigt auf eine ganz unvermuthete
Wendung. In Clarinetten und Fagotten taucht das Bruch-
stück eines Polonaisenthemas auf. Dann folgt eine Gruppe
von Takten, wo die Geigen still auf gehaltnen Accorden
tremoliren, zuletzt tritt aufregender Paukenwirbel hinzu.
Es ist eine ganz naturalistisch packende Stelle, ein Bild
des kalten Fiebers das Romeo ergriffen hat. Was Berlioz
hier gemeint hat, kann Niemand ganz bestimmt sagen:
etwas Ausserordentliches jedenfalls. Das Wahrscheinlichste
ist: Romeo hat seine Julie erblickt. Sei es nun eine
äussere Erscheinung, sei es ein Entschluss dem der jetzt
folgende Abschnitt in der Composition — Larghetto ex-
pressivo, ^Z^, Cdur — gilt, Jedermann wird davon ergriffen
sein, wie fein erfunden und gedacht er ist: Kein Ausbruch
des Jubels, lauter Leidenschaft überhaupt, sondern ein
zarter Gesang, fromm wie ein Gebet.
^St J lin* Ifr '^ J I rTf- Die Oboe
p
trägt die unschuldig einfache Melodie vor, die Erregung
aus der sie emporgewachsen ist wird nur in den Rhythmen
der decenten Begleitung bemerkbar: die Cellis umspielen
mit rastlosen Sextolen; an den Schlussstellen werfen die
Geigen mit den Pauken schauernde Tremolos hinzu. Und
nun gebt Romeo mitten hinein ins Fest der Feinde. Der
Haupttheil des Satzes — Allegro Q/ Fdur — beginnt.
Es ist im Wesentlichen ein Tanzsatz, er theilt mit
andren Arbeiten gleicher Gattung die wir von Berlioz be-
sitzen das Feuer, unterscheidet sich aber von ihnen allen
durch einen Zug von Stolz und Pracht. Dass es sich hier
um ein Fest bei Patriziern handelt, sagen uns schon die
c(? 303 ^
einleitenden Takte mit den pompösen Bassgängen. Sie ver-
setzen die heutigen Zuhörer unwillkürlich in den dritten
Akt von Wagner's «Lohengrin*, der allerdings 1839 noch
nicht geschrieben war. Das Hauptthema, über dem sich
Berlioz^s Festgemälde nun aufbaut, fangt folgender-
massen an:
legro. da 108
Es enthält in der Schale einer Marschweise einen kost-
baren Inhalt von Würde und Lebenslust. Der letztren
dient unter den Motiven die dem hier gegebenen Anfang
folgen, besonders das drollig ausholende:
/l iffffffif^
Nachdem die glänzende Gesellschaft ihren ersten Rund-
gang vollendet — Ganzschluss in P dur — wird unsre Auf-
merksamkeit auf eine einzelne Gruppe die etwas im Hinter-
grund steht, gelenkt. Celli, Bratschen und Fagotte sind
ihre Sprecher:
Halblaut reden sie von den letzten Händeln mit den Mon-
tecchis. Es sind herrische Leute und wehe dem armen
Romeo! Andere ziehen mit leichtem Scherz vorbei. Dann
kommt das Hauptthema zum zweiten Mal, diesmal in den
Holzbläsern, die Geiger ziehen ein langes Gewinde von
Achteln darum. Dann wird es auf allen Seiten lauter, als
stritten sich die Streicher mit den Bläsern um die Accorde.
Und siehe da, in diesem Augenblick des Lärms und der
Aufregung erscheint das Thema aus dem Larghetto wieder,
diesmal nicht von der Oboe sondern von den Hörnern ge-
führt. Sie behalten es auch im weitren Verlauf und
ziehen noch Posaunen und Fagotte dazu. Berlioz giebt
uns jetzt die Aufklärung was er mit der Larghetto-Melodie
cG'
304
-c^
gemeiot hat: Es ist wirklich Juliens Gestalt: majestätisch
schreitet sie dahin und als der Hauptsatz, die rauschende
Ballmusik, jetzt wieder wie beim Anfang des Allegro Ton der
ganzen grossen Masse der Geigen, von Flöten und Bratschen
unterstützt, von den andren Instrumenten, unter ihnen zwei
Harfen, umlärmt wird — strahlt doch über all den glän-
zenden Wirrwarr hinweg in Hoheit die Larghettomelodie :
Das Stück könnte nach genauer Wiederholung des ersten
Allegrotheils — bis zu dem Punkte wo das Bassthema
kam — beendet sein. Berlioz erweitert aber BeethoTCn'sch.
Statt eines F dur-Schlusses kommt eine Ausbiegung über
Adur nach Dmoll und ins piano. Die Stille der Ver-
legenheit tritt ein und in ihr lassen sich wieder Händel-
süchtige vernehmen, sie brüten neue Complotte : Diese un-
friedlichen Gedanken sind in zwei Themen gegeben
und b)
^w
die das Material zu einer bescheidnen
Doppelfuge bilden. Sie wird nicht durchgeführt, sondern
Berlioz beschränkt sich darauf die chromatische Scala zu
einem Basso ostinato zu verwenden, über den in wachsen-
der Erregung, im langen crescendo erst allein die Bläser
rhythmische Kampfmotive hinschmettem. Bald stiomien
die Geigen mit ein ; es reizen die Schlaginstrumente. Die
festliche Stimmung ist in eine kriegerische umgeschlagen.
In allen Gruppen grösste Unruhe, ein Anlauf über den
andern auf das drängende Motiv:
cresc.
rfj" If-^^ ^ I über D moU nach G,
nach C, dann dieselben Wege nochmals in bedrohlicherem
Tone — es schlägt am Ende der Perioden bereits ein —
und dann bricht mit dem endlich erreichten F dur das volle
Wetter los: Eine wilde elementare Musik, ein schlimmrer
<o 805 ^
Aufruhr als in dem Augenblick der Orchesterintroduction,
in dem die Posaunen des Fürsten sich erhüben. Noch
einmal wird Ruhe. Wir hören wieder den chromatischen
Bassgang yon Pauken und Tronmieln schauerlich beleuchtet.
Diesen letzten Augenblick benutzt Romeo sich zu ent-
fernen. Die Oboe singt wieder den Klagegesang mit dem
sich im Andante melancolico Romeo schwermüthig vor-
stellte. Im Toben der Massen — eine plötzliche General-
pause sagt uns, bis zu welchem Grad die Wuth gediehen —
geht der Satz schnell zum Schluss.
Die Italiener des 17. Jahrhunderts, die venetianischen
Librettisten yoran, die Spanier, die Geschlechter der aus-
gehenden Renaissance überhaupt verstanden sich auf
Liebesscenen. Aber den Scenen, in denen Shakespeare in
„Romeo und Julie*' das Liebespaar zusanunenfiihrt, konmit
doch wenig gleich. Dieses Urtheil lässt sich auch auf die
Gartenscene der Berlioz'schen Sinfonie übertragen in der
der Componist seine Erinnerungen an jenen schönsten Theil
des Shakespear'schen Dramas in Töne gebracht hat. Man
kann es ruhig sagen: Berlioz hat die Liebe von Romeo
und Julie schöner geschildert als der Dichter, um so viel
inniger und ergreifender als die Musik wenn es Gefühle
darzustellen gilt, der Sprache überlegen ist. In der Com-
position Berlioz's steht auch das mit, was bei Shakespeare
ungesagt bleibt; vor Allem über alle Süssigkeiten des
Augenblicks hinweg bringt sie uns ins Bewusstsein, dass
diese Liebe tragisch enden wird. Ein Ton der Klage und
der Wehmuth klingt mit durch alle Seligkeit hindurch.
Mit der vorhergehenden Nummer, der Ballscene, ist
die Gartenscene, als fünfte Nunmier des Werkes, durch
eine dramatische Einleitung verbunden. Die Ueberschrift
des Stückes — Nuit ser^ne — le jardin de Capulet silencieux
et decent. Les jeunes Capulets sortant de la fete, passent
en chantant des reminiscences de la musique du bal —
welche Berlioz selbst gegeben hat, enthebt jeder weitern
Beschreibung des Verfahrens. Ein AUegretto, ("/g Adur)
enthält diese Einleitung. Langgezogne Geigenaccorde, die
nur schleichend moduliren, beginnen. Berlioz schreibt pppp
Eretsiohmftr, Führer, I. 80
6(? 306 ^
vor. Das ist die Stille des Gartens, von der die üeber^
Schrift sagt. Nach dreissig Takten erst klingt es im ersten
Hom: als käme Jemand. Und bald darauf beginnen die
jungen Cavaliere ihr: ,Oho Capulets, bon soir' («Capulets,
schlaft wohl*). Gleich darauf kommt auch die haupt-
sächlichste von den Ballreminiscenzen , auf die uns der
Componist selbst aufmerksam gemacht hat:
wH r' »p "»p p I f ■>>■!=. Leicht wird man in ihr
*^ 0 quell« DQlt, qtfel fostinl
den Anfang vom Hauptthema des Allegro*s der Ballscene
wiedererkennen. Das ganze Stück Einleitung ist von
Humor, wie von poetisch höhrer Empfindung gleichmässig
belebt. In ihrer etwas steifen Anmuth erinnert seine
Melodik namentlich an Berlioz^s „Flucht der heiligen
Familie nach Egypten*. Ein Wunder, dass es sich unsre
Männergesangvereine fortdauernd entgehen lassen ! Es ver-
klingt und nun beginnt die eigentliche Sc^ne d*Amour, die
Liebesscene, in Form eines mehrmals von belebten, er-
regten Episoden durchbrochnen Adagios. Der ®/g Takt
und die A dur-Tonart bleiben. Das langsame Tempo giebt
aber der Composition ihren eigenthUmlichen Charakter als
einer Liebesscene von fast religiöser Tiefe.
Das Adagio beginnt wie präludireüd mit einem Ab-
schnitt in dem die Bratschen mit den getheilten Cellis
in bald ausdrucksvollen, bald spielerischen Motiven sich
dem Gesang nähern. Es ist ein eigenthümlich volles,
gedämpft weiches Colorit ähnlich dem in der ,Sccne
aux champs'^ von Berlioz's Fantastique. Drunter klopfen
die Bässe wie die Schläge des Herzens. Die zweiten,
dann die ersten Geigen tragen Verzierungen und melo-
dische Fragmente herbei; noch mehr aber erinnern
Clarinette und englisches Hörn an die Liebesmusik der
Vögel, sie seufzen sehnsüchtige Motive die uns die Stelle
des Dramas vor die Phantasie bringen wo es heisst:
„Es war die Nachtigall und nicht die Lerche". Dann
wird ein Singen daraus, leidenschaftlich treiben die Töne
nach oben. So setzt die Stelle ein:
c<? 307 ^
^ f \ ^ ^ i P I r P r I und 80 schliesst sie :
Bald kehrt sie wörtlich genau wieder, sie umrahmt
das vom Cello und vom Hom vorgetragne Liebesthema
Julien s, ihr Geständniss, den Lüften anvertraut:
^ p espresstto er esc.
p espressxno cresc, i^
Eine der schönsten Melodien der ganzen neueren Musik,
muss dieses Thema in diesem Werk und in diesem Satz
namentlich mit seinem Schluss fest gemerkt werden. Denn
er taucht wie ein Leit- und Repräsentirthema häufiger in
unserm Adagio wieder auf. Die Musik wird von dem Ein-
satz der Vogelmotive ab wiederholt. Romeo lauscht ent-
zückt und als Julia nun im vollsten Tonglanz ihr Liebes-
geständniss (jetzt in Cdur) nochmals ablegt, bemächtigt
sich ein grosser Sturm seiner Gefühle (AUegro agitato).
Er dringt vor, giebt sich zu erkennen, das Cello hebt ein
Recitativ an und leitet damit über zu der zweiten Hälfte
der Nummer, dem Liebesdialog. Dieser Dialog hat
wieder die Form eines Adagio, das gegen das erste um
eine Kleinigkeit beschleunigt ist. Das in ihm neu hinzu-
tretende Hauptthema ist:
^. 112
r^rrfT.TiO'^
I
i . Von Flöte und eng-
lischem Hörn eingeführt, findet es in einer zweiten Periode
den seiner friedlich geniessenden Natur entsprechenden
Abschluss in Adur. Daran knüpfen sich heitre, zum
Tändeln neigende Motive bis dann bald Juliens Liebes-
20*
«e 808 ^
gesang den Ideenkreis ins innig Pathetische zurUckleitet.
Es wechseln nun Augenblicke der Ruhe und der Erregung:
es kommt die Schwere des wiederholten Abschieds, die
Wonne des Wiedertreffens. Mehr als bei andren Sätzen
der Sinfonie bietet die Kenntniss Shakespeare^s für diese
Nummer eine weitreichende Gew&hr des Verständnisses.
Der fünfte Satz der Sinfonie, das Scherzo (Prestis-
simo, ^/g, Fdur) trägt die Ueberschrift : ,La Reine Mab,
ou la F^e des Songcs* (Königin Mab, die Traumfee). Er
bedeutet einen Abfall von Shakespeare, eine üeberläuferei
zur selbstherrlichen Musik, insbesondere zu den Formen
der Beethoven 'sehen Sinfonie. Berlioz mochte auf die be-
währte Wirkung eines Scherzos auch in „Romeo und Julie''
nicht verzichten. Sieht man von der Entstehungsursache
ab, so bleibt dieser Satz eine bis heute noch nicht Uber-
botne Glanzleistung auf dem Gebiete der Elfenmusik. Die
Composition giebt den flüchtigen Charakter, den man von
dieser Gattung erwartet nach einer Richtung wenigstens
vollkommen wieder, ganz besonders aber zeichnet sie sich
aus durch ihren Reichthum neuer und ungewohnter mit
ebefasoviel raffinirter Berechnung als mit poetischem Genie
aufgesuchter und erfundener Klänge. Zwar für die Gre-
stalt und das Treiben des Miniaturelfs, wie sie Shakespeare
— vor Ball- und Balconscene 1,4 — beschreibt ist die
Berlioz^sche Musik immer noch zu compakt, zu reich an
Bassklang; aber man hatte in einer Sinfonie ein Scherzo
wie dieses doch noch nicht gehört: Ein ganzer Jahrmarkt
von seltnen, schweren Trillern, von pizzicatos, Flageolets,
ausgesuchten Spielarten und Tonlagen that sich hier auf.
Dem Hauptsatz, den einige accordische durch Fermaten,
Modulationen und Klangfarbe ins Träumerische erhobne
Takte einleiten, liegt folgendes Thema
fe44EAiJcfiiif?^iii*tr
ce 309 '^
zu Grunde. Die Violinen durcheilen mit ihm im schnellsten
Zeitmass, in der grössten Leichtigkeit, die möglich ist einen
ziemlich umfangreichen Elreis Ton Tönen und Tonarten.
Fdur heginnt, der Schluss führt nach eis und nach einem
dissonanten Accord des-f-as-hf denselben der den Satz über-
haupt begann. Es ist etwas koboldartiges in dieser Be-
weglichkeit und es ist auch nicht leicht für den Zuhörer
genau zu folgen. Um das zu erleichtern müssen Spieler
und Dirigenten die metrisch betonten Takte hervorheben.
Wird damit von Anfang an — der mit * bezeichnete ist
der erste — Klarheit eingehalten, so ist der Aufbau der
Perioden leicht zu begreifen; er vollzieht sich vorwiegend
in zweitaktigen Abschnitten.
Zunächst stellt Berlioz das angeführte Hauptthema
noch zwischen das accordische Einleitungsmaterial. Erst
im zweiten Abschnitt, dessen Eintritt sich scharf dadurch
markirt, dass wir 8 Takte lang nur (in Bratschen und
zweiten Violinen) Accordbegleitung ohne Thema haben,
erhält es das Feld für sich und bestellt es in Umbildungen,
wie sie für Menuetts, Scherzi fürs ganze Tanzgebiet von
jeher üblich sind: Eine Doppelperiode in der Haupttonart
Fdur mit Schluss in 0, eine zweite in G mit Modulationen
nach verwandten Harmonien und Schluss in F. Es ist
ein leichtes anmuthiges Treiben ohne wichtigere Vorfälle.
An dem oben genannten Punkte erst erscheint ein theil-
weise neues Motiv
in den Geigen, das Flöte und englisches Hom mit
j^^ P I f ? [f F |T ^^^ beantworten. Fee Mab
wird ausgelassner: schärfer tritt der pizzicato-Klang vor,
schärfer wechseln die Tonarten, in diesem kleinen Seiten-
satz. H dur ist erreicht. Da führt bei einem allgemeinen
temperamentvollen Crescendo ein heftiger chromatischer
Lauf der Mittelstimmen nach der Haupttonart zurück und
ce 310 ^
Id eine grosse Wiederholung des Hauptsatzes mit einigen
Erweiterungen. Motivisch neu tritt eine zuweilen auf vier
Takte ausgedehnte Trillerfigur ^ aus der Schabernack und
Uebermuth herüber klingen, vor.
Die grössten Ueberraschungen fürs Ohr hat Berlioz
für die Mitte seines Scherzos aufgespart, für die Stelle die
üblicherweise das Trio einnimmt. Gedacht ist wohl dieser
wichtigere Theil so : dass er die Wirkungen der Schalkereien
Mabs im Kopf des Schläfers veranschaulichen soll, während
uns der bewegtere Hauptsatz den Umzug der Fee schildern
soll. Das Thema dieses Trios heisst:
AUegro. J « 1S8
Mit seinen rufenden und ahnenden, auch mit seinen
gesanglichen Elementen ist es im Grunde höchst einfach.
Seine Wirkung erhält es durch die Decoration. Die ersten
Violinen trillern dazu vom ersten Ton der Flöte bis zum
letzten pppp aber ohne Unterbrechung auf a; die Celli
antworten auf das Quartenmotiv; die andern Saiten-
instrumente aber halten hohe Flageoletttöne aus.
Von ihnen kommt der Märchenzauber, das Feenlicht das
über dem Abschnitt liegt; süss wie Liebestraum und ganz
fremdartig und neu erscheint er. Zugleich ist dieses
Colorit zum ersten Mal das, was sich mit den von
Shakespeare erweckten Vorstellungen deckt. Die Harfen
fallen bald mit unerhörten Klängen ein, die zur selben
Familie wie die Flageoletttöne der Geigen gehören. Die
Phantasie des Hörers wird in demselben Augenblick aus
dem Elegischen hinüber greifen nach dem humoristischen:
wir hören in den Bratschen und Cellis Figuren die an den
Rhythmus des galoppirenden Pferds erinnern. Berlioz
hat an die Stelle gedacht wo bei Shakespeare die Fee Mab
den Soldaten neckt.
Noch breiter ausgeführt als im Trio sind diese
oc? 311 ^
militärischen Bilder in der Reprise des Hauptsatzes.
Hier führen sie zu einigen Episoden an deren Spitzen die
Homer stehen; ''J'bfl^ | T | C_f_f | f | T |. Auch
das englische Hom kommt einmal mit einem Jagdmotir:
#
I r -^n J iiJ^ llJ i^J) I J IL Von einer ein-
fachen Wiederholung ist diese Reprise so weit als möglich
entfernt; sie ist eine Steigerung in jeder Beziehung, in den
Formen nicht weniger als in den Farben. Für letztre sind
auch die Schlaginstrumente meisterhaft herangezogen.
Stephen Heller lernte die neue Sinfonie Berlioz's bald
nach ihrer Entstehung im Manuscript kennen und berichtete
darüber an die Zeitschrift Robert Schumann's *). Dieser Be-
richt ist noch heute wichtig, weil er über die erste Fassung
der Sinfonie Mittheilung giebt. Unter den Abweichungen,
die sie von der veröffentlichten Form unterscheiden, tritt
als eine der wesentlicheren der Umstand hervor, dass zum
Beginn der zweiten Abtheilung die mit der Nummer 6 ein-
setzt, früher nochmals ein Prolog gesungen wurde.
Für diese sechste Nummer, die Juliens Begräb-
nis s bringt — Convoi funebre de Juliette — ist kein
Prolog und keine Erläuterung nöthig. Denn es ist ein
einfacher Satz (Andante non troppo lento, C, Emoll), ein
Trauermarsch wie wir ihn hier erwarten, nur mit der Be-
sonderheit, dass das ausdrucksreiche Hauptthema
^) Keue Zeitschrift lür Musik, XI, S. 102.
«o 312 ^
in Fonn einer Fuge durchgeführt wird. Die Singstimmen
psalmodiren dazu auf einem und demselben Ton e,
Berlioz hat denselben und einen ähnlichen Kunstgriff in
seinen Trojanern und im Offertorium seines Requiems mit
grossem Glück zum Ausdruck äusserster Niedergeschlagen-
heit verwendet. Besonders schön ist der zweite Theil der
Nummer, der sich nach Edur wendet und Chor und
Orchester die Rollen tauschen lässt.
In hohem Grad einer Erläuterung durch Prolog oder
eine sonstige authentische Willensäusserung des Componisten
ist dagegen die folgende siebente Nummer der Sinfonie,
dieGrabscene, bedürftig. Berlioz hat das selbst gefühlt.
Er schickt in der Partitur eine Bemerkung voraus, worin
er den Dirigenten ermächtigt den Satz zu überspringen.
Mit den Worten: ,Le public n'a pas d^imagination* wälzt
er die Schuld von sich auf den unschuldigen Theil: Das
Publikum, die Zuhörerschaft kann diesen Satz nicht ver-
stehen und wenn neue Erklärer*) seinen Schwierigkeiten
gegenüber mahnen sich den fünften Akt von Shakespeare^s
Drama lebhaft zu vergegenwärtigen, so empfehlen sie ein
unzureichendes Mittel. Berlioz giebt als Inhalt imsrer
siebenten Nummer an: Romeo au tombeau des Capulets;
Invocation, Reveil de Juliette, Joie delirante, d^espoir,
demi^res angoisses et mort des deux amants (Anrufung und
Erwachen Juliens, Entzücken und Freude, Verzweiflung,
letzte Noth und Tod der beiden Liebenden). Daraus er-
giebt sich doch dass er die Ereignisse vollständig um-
gedichtet hat. Bei Shakespeare ist Romeo gestorben,
ehe Julia erwacht; wohl bei Bellini, aber nicht bei
Shakespeare giebt es Wiedersehn, Anlass zur Freude und
gemeinsamen Tod. Der Zuhörer muss sich also in der
Composition durch Rathen zurecht zu finden suchen; sie
ist keine gute Programnunusik, sondern Theatermusik die
nur den Augen will sehen helfen, sie ist ein an dieser
Stelle verfehltes Kunstwerk.
*) F. Weingartner in Allgemeine Musikalische Zeitung, Jahrg.
1893, S. 123.
^ 313 ^
Der Satz (Allegro agitato e disperato, 2, EmoU) be-
ginnt mit hastigen Figuren
J s 144
^m
|pp J^ ir i die in einem kurzen Satz
das Bild geben, als wenn ein Mensch athemlos gerannt
kommt: Romeo, den die schlimme Nachricht von Juliens
Tod aus dem Mantuaner Exil vertrieben hat, eilt an die
Pforte des Grabes. In langen Noten
4 " II ' J^i^^ "^^^^ äusserste Kraft ge-
sammelt. ,Die Nacht und mein Gemüth sind wüthend wild,
viel grimm'ger und viel unerbittlicher als durst'ge Tiger
und die wüste See* so lauten die Worte mit denen Romeo
bei Shakespeare (V, 3) die Thüre des Gewölbes — ,die
morschen Kiefern des Schlundes* — erbricht. Dumpf, tief
und schauerlich schlagen die Posaunen, ein Hörn dazu,
durch Fermaten gefesselte Accorde an. Dann folgt die
Invocation, ein längrer Satz (Largo, *^/g, CismoU) in
dem Romeo in feierlichen und wehmüthigen Melodien zu
der todt geglaubten Geliebten spricht. Als sie zum Schluss
kommen, gerathen sie ins Stocken. Chromatische Figuren
in den Cellis deuten auf ausserordentliche Vorgänge. Die
Clarinette setzt ein:
i¥l»tf f\\yi ■* I ^fW^^ r '^ Wer kennt
*r imnona !^
diese Motive nicht und denkt bei ihnen nicht an den An-
fang der Gartenscene? Nun kommt das volle Thema. Julie
ist erwacht, sie lebt und ihr erster Gedanke ist wieder:
ihre Liebe, ihr Romeo! Das Orchester stürmt voll wie in
der Ballscene im Freudenrausch dahin eigentlich ohne
Melodie und ohne Rhythmus,
c<? 314 ^
AUerro TlTace ed appas^lonato.
zügellos, elementar in Empfindung und Fonn. Lange klingt
die Stelle wie ein grotesker, riesiger Triller. Dann ver-
nehmen wir in den Motiven Reminiscenzen an die Garten-
scene, an ihre schönsten Themen; aber in der unglaub-
lichsten Extase und Beschleunigung. Dazu unheimliche
Dissonanzen! Der überspannte Bogen muss brechen, das
Unglück ist in der Nähe. In dem reissenden Strom dieser
Musiklava entsteht Stockung, Verwirrung: Romeo^s Reci-
tativ aus der Gartenscene klingt nochmals krampfhaft und
unnatürlich an, von härtesten Schlägen des Orchesters be-
gleitet, das e aus dem Leichenbegängniss (Nr. 6) lässt sich
hören: Romeo stirbt. Bald, mitten heraus aus der Selig-
keit, in der sie befangen, folgt seine Julie ihm im Tode
nach. Innerhalb einer Minute gings aus höchstem Glück
in die Vernichtung. Nur eine einzige Oboe hält an der
verödeten Stelle noch Stand, wo eben noch das volle Or-
chester wie für eine Ewigkeit aufspielte.
Die achte Nummer, das Finale der Sinfonie, hat die
Ueberschrift : La foule accourt au cimetiere, Rixe des
Capulets et Montagus, Recitatif et air du P^re Laurence,
serment de reconciliation (Die Menge eilt zum Kirchhof,
Streit der Capulets und Montechi, Recitativ und Gesang
des Pater Lorenzo, Versöhnungsschwur). Sie beginnt mit
einem AUegro vivace, C, A moll, das dramatisch lebendig
die Erregung der herbeieilenden Volksmassen schildert und
viel Natur- und Herzenaton enthält. Besonders der Schluss,
wo das Tempo doppelt so langsam wird als es war, er-
greift mächtig. Dann tritt der Pater Lorenzo auf und be-
mächtigt sich mit Erklärungen und Ermahnungen des
Worts, für seine salbungsvolle Weise immer noch etwas
allzu lange.*) Als die Parteien wieder an einander gerathen,
^) Berlioz bat die Reden des Paters, laut Memoiren, be-
deutend gekürzt.
wiederholt Berlio2 die Fugenmusik aus der Introduction
der Sinfonie, diesmal mit Text ^Mais notre sang rougit
etc.* (.Doch unser Blut etc."). Dem Pater gelingt es zu
beruhigen, zu rühren. So gelangen wir ganz in dem Stil
der grossen fraiizösischen Oper und mit mancher hübschen
auf Berlioz persönlich weisenden Wendung, zum Schluss-
und Trumpfetück dieses Finale : dem S e r m e n t , der Schwur-
scene, die ihrer musikalischen Natur nach ein Geschenk
Meyerbeer^s an das Haupt der französischen Instrumental-
composition sein könnte. Wer mit Grund das Werk lieben
gelernt hat, bedauert dass es nicht selbständiger und in
einem poetischeren Stile endet.
Der Oomponist selbst hat seiner dramatischen Sinfonie
nur eine Ausnahmestellung im Concertsaal zugetraut. Ihre
Schwierigkeiten, sagt er in den Memoiren sind so gross,
dass die Ausführenden das Werk auswendig können müssen.
Als sie in Petersburg ausgezeichnet geht, trübt ihm der
Gedanke die Freude, dass sie für London doch unmöglich
sei. Er hat sie aber schliesslich auch in London dirigirt
und im Laufe der grossen Berliozbewegung , die sich in
den siebziger Jahren erhob, ist sie erst in Bruchstücken,
dann mehr und mehr in ihrer Vollständigkeit bekannt ge-
worden. Damit im Einklang mehren sich in neuester Zeit
die Sinfonien, die nach dem Vorbild von Romeo und Julie
Instrumentalstücke und Gesangsnummem mischen. Lange
Zeit stand Fei. Darid und seine „Wüste* mit dieser
Nachfolge allein. Heute sind noch Nicodd's ^Meer",
A. SamueTs „Christus* und G. Mahler*6 Cmoll-
Sinfoiiie zu nennen.
Es war mehr als blosser Zufall, dass der jüngste Vor-
stoss der Programmmusik von Frankreich ausging. Die
Zuthaten und Aenderungen die das'Gebäude der Beethoven*-
schen Sinfonie hierbei durch Berlioz erfuhr, lassen im
letzten Grunde den Einfluss der Traditionen Rameau^s
doch deutlich erkennen. Indessen erkannte ihn Niemand.
Berlioz's Programmsinfonien trugen in ihren dichterischen
Wendungen sehr stark in ihren musikalischen Mitteln immer
noch erkennbar französisch-nationalen Charakter; die Fran-
c<? 316 "^
zosen wussten es ihm keinen . Dank. Auch im Ausland
fanden sie mehr Widerspruch als Erfolg. Vor Allem blieb
die Schule und der productive Anhang aus, der jeder neuen
Richtung unentbehrlich ist. Spohr war für Jahrzehnte der
einzige europäische Sinfoniker, der mitthat. Aber er ver-
mied sowohl die Stoffe, wie die musikalischen Mittel, welche
für die Berlioz^sche Epoche die charakteristischen sind.
Da trat endlich in den fünfziger Jahren Franz Liszt
mit der grössten Entschiedenheit für die gefährdete Sache ein.
Liszt ging aber über seinen Vorgänger wesentlich hinaus
und ordnete dem Programm auch die Formen der Compo-
sitionen vollständig unter. Seine Sinfonien sind dreisätzig,
zweisäizig, einsätzig, je nachdem; die dichterische Idee
bestimmt den musikalischen Plan. In dieser Freiheit, in
der Kühnheit und Sicherheit, mit welcher die Grundlinien
des Formenbaues entworfen und durchgeführt sind, bilden
die Liszt'schen Sinfonien Originalleistungen, und repräsen-
tiren eine geistige Kraft und ein künstlerisches Gestaltungs-
vermögen von ausserordentlicher Stärke. Nach diesen for-
mellen Seiten liegt ihre geschichtliche Bedeutung. Liszt^s
Sinfonien führen die von Berlioz gegebene Anregung zu
einer vollen Reform aus und brechen die Alleinherrschaft
des Haydn-Beethoven'schen Systems. Berlioz trat für die
Deutlichkeit des poetischen Inhalts und des Zusammen-
hangs der Sätze ein; Liszt erweiterte diese Forderungen
mit der dritten: Freiheit des Formenbaues 1 Wohl ver-
standen : Freiheit, künstlerische Freiheit, nicht etwa Anar-
chie und Formlosigkeit!
Auch den internen musikalischen Stil der Liszt^schen
Musik hat vielfach die Forderung bestimmt, dass Ausdruck
und Darstellung in erster Linie charakteristisch und an-
schaulich sein müssen, und eine grosse Reihe seiner Eigen-
thümlichkeiten sind aus der Treue gegen das Princip her-
vorgegangen. Dahin gehören die bei ihm noch zahlreicher
als bei Berlioz hervortretenden Stellen, wo blosse Klang-
phänomene, rein accordische, instrumentale, dynamische
und andere naturalische Bildungen die Träger der musi-
kalischen Entwickelung bilden. Dahin gehören specifische
e<? 317 O'
Eigenheiten der LiszVschen Rhetorik: ihr Reichthum an
Interjectionen, an Ausrufangszeichen und Gedankenstrichen,
an pathetisch fortchreitenden Sequenzen und anderen pri-
mitiven Ausdrucksmitteln der musikalischen Deklamation,
wie sie Liszt namentlich in den Momenten der Extase gern
verwendet.
Andere Erscheinungen des Stils müssen auf die Natur
und die Schranken der musikalischen Begabung Liszt*»
zurückgeführt werden: der vorwiegend eklektische Cha-
rakter seiner Melodik, seine Abhängigkeit von chromatischen
Gängen, melodischen Ausnahmsintervallen und anderen
Reizmitteln des Ausdrucks, die zu stehenden Formeln ver-
braucht werden; endlich der grössere Theil jener Satz-
bildungen, in denen Perioden und grössere Redetheile durch
unaufhörliche Wiederholungen und blosse Transposition
des ersten Gliedes entwickelt werden. Es konunt zu diesen
Eigenheiten auch noch der Umstand, dass einzelne Com-
positionen LiszVs augenscheinlich sehr flüchtig hingeworfen
sind. Aber eine ausserordentliche Gabe, mit wenigen
Strichen einen Charakter zu zeichnen, leuchtet auch noch
aus den schwächsten unter seinen Orchesterwerken. Die
Mehrzahl von allen fesselt durch den Geist und die Hin-
gabe, welche sich in der Haltung des Ganzen aussprechen,
durch die Wärme des Ausdrucks, die Macht der poetischen
Anschauung, welche einzelne Stellen belebt, durch eine
Reihe schöner Momente, deren Genialität selbst vom Stand-
punkte des absoluten Musikgenusses nicht geleugnet werden
kann. Dass aber Liszt, ähnlich wie dies Gluck seiner Zeit
bei der Opemcomposition gethan, auf diesen absolut mu-
sikalischen Standpunkt bei seinen Programmsinfonien ver-
zichtet, soll der Zuhörer nie vergessen und dem Compo-
nisten mit einiger Gutwilligkeit — den poetischen Gegenstand
der musikalischen Schilderung fest im Kopfe ! — entgegen-
kommen. In diesem Falle wird man, wie es beabsichtigt
ist, die Formen und den Ideengang der Liszt^schen Or-
chestercompositionen leichter finden, als die anderer pro-
grammloser Sinfonien, und ihnen Anregung und Genuss
verdanken.
ce 318 ^
Die Liszt*8chen Orcheaterwerke umfassen — ausser
einigen Bagatellen — 2 Sinfonien und 12 sogenannte sin-
fonische Dichtungen. Unter den beiden Sinfonien ist die
im Jahre 1855 geschriebene Faustsinfonie (nach Goethe)
die durch die Menge der Ideen und durch die Kunst, mit
welcher sie entwickelt sind, hervorragendere. Sie ist in
drei Sätzen gehalten, welche Liszt „Charakterbilder' nennt,
womit also ein Anschluss an den scenischen Verlauf der
Goethe*8chen Dichtung von vornherein abgewiesen wird.
Hierin verfahrt Liszt ungleich mehr musikalisch, als Ber-
lioz in „Romeo und Julie*^.
Der erste Satz (Lento und Allegro, C, (^, '/4, C dur und
F. Liiit CmoU) gilt der Hauptfigur des Gedichtes, dem „Faust*.
Faust-Sinfonie. Während die Normalsinfonie zwei Themen im ersten Satz
aufstellt, bringt Liszt hier vier, die die hervortretendsten
Züge der Faustnatur veranschaulichen wollen: das grü.-
belnde, melancholisch - dämonische Element, das Ringen
und Streben, das Liebessehnen, die heroisch thatenfrohe
Seite seines Wesens. Das erste, Zweifel, Gram, GefUhl der
Oede ausdrückend:
* Lento.
-^'— -r^iit^^- - ~i ^^''"^^ ^^ seiner vorderen Hälfte auf
-rit— ^'^^y^^^'^ dem übermässigen Dreiklang. Gewiss
J* dolente
ist dieser bis dahin noch niemals in ähnlicher Weise für
ein Sinfoniethema verwendet worden und hat bei den ersten
Aufführungen desLiszt'schen Werkes ungewöhnlichesStaunen
erregt. Aber um auf den überspannten Zug in Faust's
Geist hinzuweisen, war das Mittel glücklich gewählt. Das
Thema findet seine nächste Fortsetzung in einer Reihe
kleiner, freier Monologe, die zwischen den Bläsern wech-
selnd, die äusserste Niedergeschlagenheit aussprechen. Im
11. Takte: Stocken, Fermate! Darauf repetirt der Satz
von C aus und tritt dann in ein wildes Allegro (C, ^Z^, ^j^
über, in welchem die Klagen des Hauptmotivs von den
CO 319 "^
Flammen der Verzweiflung und Empörung umlodert er-
scheinen. Bereits hier wird eine Schwierigkeit sehr be-
merkbar, die der Hörer im ganzen Verlauf der Sinfonie
immer wieder zu überwinden hat. Das ist die metrische
Mannigfaltigkeit der Musik. Es findet fortwährend Wechsel
von Takt und Rhythmus statt. Wer zu schlafen, zu
träumen und nur äusserlich zu hören gewöhnt ist, erhält
harte Stösse; nur mit lebendiger Phantasie und regem
Geist erwirbt man sich den Genuss an diesem Kunstwerk I
Das zweite Thema, das von der ausgeführten Gruppe des
ersten durch ein kurzes Lento getrennt wird, ist weniger
original als das erste, erinnert an Spohr^sche und Schu-
mann^sche Weisen; aber wirkt an seiner Stelle warm und
edel. Es repräsentirt lebenswilligere Elemente der Faust-
natur: Ringen, Streben, Hoffen. Das Hauptglied seines
technischen Organismus bilden die folgenden Takte:
Allegro agltato.
vjoi:
Am Schlüsse des Satzes, der dieses Thema entwickelt,
wird die Stimmung wieder trostlos: die Bläser klagen
und bitten:
Es folgt eine kurze Episode (Meno mosso, ''4 und *l^)
traumhaft phantastischen Charakters, in welcher schatten-
hafte Figuren (Violini con sordini) das erste Thema flüchtig
umschweben. Wie eine freundliche Vision erscheint nun,
eingeleitet durch eine Art Recitativ, in dem Cello und
Violine leidenschaftlich die Schlussnoten vom ersten Thema
austauschen als drittes Thema eine Melodie, aus den beiden
letzten Takten vom Thema a entwickelt, welche dem
schwärmerischen Zuge im Faust, seinem Sehnen und
Lieben gilt:
AadABte.
j»^ — ^
BrfttMkta
co 320 ^
Sie setzt im neuen Tempo ein , wechselt die Taktarten,
schliesst nicht streng ab und veranschaulicht damit auf
einmal die ganze Reihe Freiheiten der Gestaltung, in
denen Liszt zum Zweck einer lebendigen, dramatischen
Darstellung vom üblichen Gange abweicht. Man wird
dieses Thema auch im zweiten und im dritten Theile der
Sinfonie wieder finden. £s bildet eins der wichtigsten
, Leitmotive' des Werks, deren Princip Liszt, wie schon
angedeutet, von Berlioz übernommen hat. Faust trennt
sich von dem beglückenden Bilde wie vom Freudenrausche
ergriflfen; die Energie erwacht wieder (Allegro con fuoco,
dem das Sechzehntelmotiv vom Thema b zu Grunde liegt),
Thatkraft und Stolz regen sich und finden ihren Ausdruck
in dem spannend eingeleiteten vierten Thema:
Or&ndloso. # jT« ♦^
Wer die Vorzeichnungen der hier mitgetheilten Themen
ansieht, kann nicht im Zweifel sein, dass Liszt so wie mit
der Metrik auch mit der Harmonik von allem Herkommen
abweicht. Es ist, wie z. B. am Anfang des Satzes, zu-
weilen schwer zu sagen in welcher modernen Tonart wir
uns befinden. In C begann die Themengruppe; mit dem
hier zuletzt gebrachten vierten Glied schliesst sie in H dur.
Wir treten nun in den Durchführungstheil ein. Denn der
erste Satz der Faustsinfonie hält an der üblichen Gliederung
in Themengruppe, Durchführung, Reprise fest. Diese
Durchführung beginnt mit einer Combination des vierten
und dritten Themas, das letztre allerdings in Moll und
Leidenschaft verwandelt; dann folgt ein zweiter Abschnitt
der erstes und zweites Thema gegen einander stellt, von
jenem durch einen Uebergangssatz heftigen Charakters
e<? 321 'S-
getrenDt. Der dritte Abschnitt der Durchführung zeigt
das zweite Thema allein zur Herrschaft gelangt aber mit
einem Znsatz von Erregung und Wildheit der die
Physiognomie mit der es in der Themengruppe auftritt,
vollständig ändert. Sehr natürlich und folgerichtig führt
diese Wendung in die Reprise hinüber. Das erste Thema,
als höchster Ausdruck von Fausfs Seelenleid, kehrt wieder
und mit ihm die ganze Themengruppe aber mit Modi-
ficationen, welche als die moralischen Wirkungen des
Thema e) au&ufassen sind: Die Liebe hat Faust's Wesen
verwandelt.
Das Yerhältniss der drei Hauptgruppen des ersten
Satzes weicht hiemach in Liszt^s Faustsinfonie vom Her-
kommen namentlich dadurch ab: dass der Schwerpunkt
aus der Durchführung in die Reprise verlegt ist.
Jene ist sehr kurz gehalten, verfolgt nur den Zweck
den Rückfall von der heroischen Stimmung, mit der die
Themengruppe schloss, in die verzweifelte des ersten
Themas, des Anfangs des Charakterbildes psychologisch
zu motiviren. Die Reprise aber ist nichts weniger als
blosse Wiederholung der Themengruppe: sie zeigt uns
Faust*s Inneres noch einmal, führt noch einmal die Elemente
der ersten Hauptgruppe vorüber aber in andrer Anordnung,
in andrem Charakter, andren Verbindungen, sie zeigt einen
neuen Faust. Mit dieser veränderten Bedeutung der Re-
prise knüpft Liszt, durch ein musikalisches, poetisches
Naturrecht bereits genügend gestützt, an Anregungen an,
die Beethoven namentlich in seinen grossen Leonoren-
Ouvertüren gegeben hat.
Noch in zwei andren Punkten weicht die Form dieses
Liszt'schen Faustsatzes von der Sinfonik des 19. Jahr-
hunderts ab: in der Beschränkung der motivischen Ent-
wickelung und in der Aeusserlichkeit der Uebergangsideen.
An beide Erscheinungen haben seine Gegner bis zu einem
gewissen Grad mit vollem Recht ihre Bedenken und ihren
Tadel geknüpft. Gegen eine sparsamere Verwendung
motivischer und thematischer Arbeit lässt sich grundsätz-
lich schon deshalb wenig einwenden, weil, dieses Erbe
Kretssohm»r, Führer, I. 21
c<? 322 "^
einer philosophisch und poetisch sehr reichen Zeit den
geistig ärmeren Sinfoniecomponisten von heute und ihren
Zuhörern in der Regel Verlegenheit bereitet.
Der zweite Satz der Faustsinfonie ist .Gretchen»
Überschrieben. Dieser Gretchensatz ist durch Einzelauf-
fuhrungen bekannt geworden und hat auch in denjenigen
Kreisen Freunde gefunden ^ welche der Natur und der
Form der Faustsinfonie, wie überhaupt der ganzen Liszt*-
schen Kunst, apathisch oder feindlich gegenüberstehen.
Er verdankt diesen Erfolg der gleichbleibenden Freund-
lichkeit des Inhalts und der gewinnenden Einfachheit,
mit der Gretchen^s holde Mädchengestalt gezeichnet ist.
Dieser Gretchensatz (Andante soave, Hauptzeitmass : '/«^
Asdur) zeigt die auch bei langsamen Sätzen bekannter-
massen seit Hajdn übliche Dreitheilung , das Sonaten-
schema aus Themengruppe, Durchführung und Reprise
bestehend. Ein kurzes, träimierisch und weich schwärmen-
des Präludium von Flöten und Clarinetten leitet den Satz
ein, dessen erstes, schlichtes Thema einen lieblichen, zarten
Charakter hat:
Andante
^^m
Beim ersten Eintritt trägt es die Oboe vor: nur von einer
Bratsche begleitet, ein Meyerbeer'scher Instrumentations-
effekt! Liszt hat aber diese dürftige seltsame Begleitung
aus innem Gründen gewählt: Es kam ihm darauf an die
Gestalt Gretchen*s zwar eigen, aber ganz bescheiden und
unscheinbar einzuführen. Bei jeder Wiederkehr erscheint
uns die zarte Melodie stattlicher und bedeutender. Der Zu-
hörer hat sie zu merken, denn im Schlusssatz der Sinfonie
übernimmt sie die poetische Hauptrolle. Das zweite Thema :
^ocv cretc
ee 323 ö-
das vom beruhigten Gemüth, vom heimlichen sichren
Liebesglück zu erzählen scheint, ist eine von Liszt's ge-
lungensten Melodien. Eine sehr gewählte schöne Harmonie
erhöht die eigenartige Wirkung. Zwischen den beiden
Themen liegen einzelne frappante Momente: ein Oboen-
einsatz auf einer jähen Modulation , als wenn in Gretchen
plötzlich der Gedanke an Faust erwachte: eine kleine
Episode, in welcher zuerst Flöten und Clarinetten, dann die
Violinen mit, erst schlichtem und leise, dann laut und stür-
misch erregt, um die Motive -m-^h J^^
und
wie um ,Er liebt mich* und ,er liebt mich nicht* spielen.
Bald nachdem das zweite Thema verklungen, setzt das
Hom mit dem Liebesgesang des ersten Satzes ein
(S. Thema c): Faust tritt auf! Mit diesem Momente be-
ginnt der zweite Theil des Andante, verläuft aber sehr
ungewöhnlich. An Stelle -einer Durchfuhrung und Ver-
arbeitung der eben gehörten beiden Themen bringt Liszt
Reminiscenzen aus dem ersten Satz der Faustsinfonie.
Zu dem Liebesthema treten die Klagen Faust^s die Motive
des Ringens und Hoffens (Thema b). Zum Theil erscheint
die Musik als eine wunderschöne Scene des Gefühlsaus-
tausches, über welche der Instrumentenklang magisches
Mondlicht leuchten lässt. In Faust's Seele wird es ruhiger
und milder, seine düstren Gedanken überkleidet ein heller
Schimmer; Jubel und Jauchzen klingen aus seiner Brust.
Dann wird schnell abgebrochen, als wenn eine Vision plötz-
lich schwindet. Die Reprise setzt ein, bringt das erste
Thema mit 4 Soloviolinen, citirt nochmals kurz das Liebes-
thema und geht über das zweite Asdur-Thema schnell
zum Schluss.
Der dritte Satz fuhrt den ^Mephistopheles* ein. Die
ersten Takte entwerfen kurz und meisterlich das Signale-
ment des kalten, frechen, kecken, frivolen Patrons, geben
ein Bild von seiner herausfordernden Gemeinheit eben-
sowohl als von der vollendeten Sicherheit und Leichtigkeit
seines Auftretens. Dann beginnt die , Spottgeburt* ihre
21*
e<? 824 «-
Arbeit: spotten, verneinen und verhöhnen. Die Themen
Faust's aus dem ersten Satx werden veraerrt, verrenkt und
mit burlesken Schnörkeln versehen. Das erste Thema wird
durch Tempo und angehängte Figuren wir Fratze gemacht,
das zweite durch einen bissigen Rhythmus in folgende
Alle^ro vivace.
Missgestalt verwandelt: ^^^^
Zur b<'sonderen Zielscheibe seines malitiösen Humors hat
sich Mephbto, ,der Geist, der stets verneint*, das Liebes-
motiv der Sinfonie ausersehen. Er eerreisst es, wirft die
Stucke hin und her, verfolgt es unaufhörlich, zieht ihm
Narrenkleider an:
Allrgro.
rpatJ^JÜ^
— und auf dem Gipfel des üebermuthes angelangt, jagt
er es endlich in einer regelrechten Fuge zu Tode. Es
ist etwas dämonisch Fortreissendes in dieser Schilderung
der Mephistofeiischen Lustigkeit, und die Bewunderung,
die wir der Virtuosität zollen müssen, mit welcher Liszt
die Themen der frühern Sätze umgebildet hat, wird in
Nichts dadurch vermindert, dass wir uns an das Muster
erinnern, welches in der Sinfonie fantastique von Berlioz
hierfür bereits vorlag. Denn dieses Muster hat Liszt be-
trächtlich überboten. Hier ist die motivische Arbeit, auf
die im ersten Satz verzichtet wurde, glänzend und in neuer
Weise geleistet. Es kommen übrigens in diesem Finale
der Faustsinfonie doch Momente vor, welche über ein
Charakterbild Mephisto^s im engeren Sinne hinausgehen
und an den Verlauf der GoetheWhen Dichtung anknüpfen :
Mitten in den wildesten Excessen der Höllenmusik ertönen
feierliche und dumpfe Klänge, die an Grab und Geister-
weit erinnern. Die erste Mahnung dieser Art erklingt,
nachdem wie unter Hohngi^läehter Faust's erstes Thema
=o 825 ^
(mit dem übermässigen Dreiklang) vorübergezogen ist, ernst
und schwer unter Paukenbegleitung von den Bläsern her.
Sie kehrt sofort wieder als die Bratschen jenes oben ge-
gebne Fugenthema eingesetzt haben, die warnenden und
drohenden Stimmen lassen sich dann während der Ver-
spottung von Faust's heroischem Thema breiter und schauer-
licher vernehmen (Gestopfte Homer!). In seiner , Hunnen -
Schlacht**, wo ein ähnlicher Geisterkampf geschildert wird,
behandelt Liszt beide Parteien gleichmässig breit. Hier
steht nur Mephisto in voller Tageshelle auf dem Bild;
die Himmelsmächte stecken gewissermassen in den Wolken,
aber für Jeden, der den Componisten überhaupt verstehen
will, deutlich sichtbar. Den Sieg entscheidet schliesslich
Gretchens blasses Bild. Im Hauptthema des zweiten Satzes
schwebt es heran und wird nach einem langen letzten An-
sturm, in dem die gesammte Teufelsmusik noch einmal
durchgenommen wird zum Zauberschild, vor welchem
Mephisto das Feld räumt: Die Musik geht in ruhigen
Orgelton über, ein Männerchor tritt auf und declamirt in
der alten knappen Weise der frühchristlichen Psalmodie
„Alles Vergängliche etc.* : Der Solotenor flicht in diese
einfach weihevollen, kirchlichen Klänge zum letzten Male
Gretchenmotive hinein, und so klingt das Werk mit einer
mystisch verklärten Wendung aus.
Liszt's im Jahre 1856 vollendete Dante-Sinfonie F. LUxt
hat nur zwei Abtheilungen: Inferno und Purgatorio, Na- ^»nte-Sinfonie.
men, die uns in Phantasiegebiete führen, welche die Musik,
in erster Linie die kirchliche, seit alten Zeiten oft genug
aufgesucht hat. Gegen einen ursprünglich geplanten dritten
Theil: , Paradies* sprach R. Wagner im Juni 1855 leb-
hafte Bedenken aus.') Dass Liszt in seiner Schilderung
von Hölle und Fegfeuer der Divina Comedia Dantes folgt,
wird aus einzelnen Zügen des ersten Satzes bemerkbar,
namentlich durch die süsse Scene, welche der Erscheinung
des classischen Liebespaars, Francesca und Paolo, ge-
') Briefwechsel zwischen Wagner und Liszt (1887). I. Band.
8. 78.
c(? 326 ^
widmet ist. Keineswegs aber versucht der Compoiiist die
ganze Pragmatik der Dichtung ins Musikalische zu über-
tragen und den Dichter auf allen Gängen zu begleiten,
sondern beschränkt sich, wie in der Mehrzahl seiner Pro-
grammcompositionen, auch hier darauf, wenige hervor-
ragende Ideen, solche, die musikalisch fassbar sind, nach-
zudichten und denjenigen Theil ihrer Seele blosszulegen,
welchen die Töne voller und mächtiger wiedergeben können
als die Worte. Das Inferno trägt eine Art musikalische
Ueberschrift : eine wuchtige Melodie der Blasinstrumente,
die das hier stehende Thema
T-^' Ff^ unter unheimli-
cher Begleitung von Paukenwirbel und Tamtamschlägen
in dreimaligem Anlauf höher und höher tragen. Diese
Melodie soll uns die Worte vor die Phantasie rufen, die
über Dante^s Höllenthor stehen: ,Per me si va nella citta
dolente etc.* Das berühmte ^Lasciate ogni speranza etc.*,
von Trompeten und Hörnern in dem bekannten Stile der
Opemorakel und Geistererscheinungen hingeschmettert, bil-
det ihren Abschluss:
Lento.
Der nun folgende erste Theil gilt der Schilderung der
Hölle, ihrer Schrecken und Schauer, und bestreitet diese
Aufgabe mit dem Aufgebot aller düstem und furchtbaren
Elemente der modernen Musik : mit chromatischen Figuren
und Motiven, mit freien Nonenaccorden und zusammenge-
ketteten Dissonanzharmonien, mit einer bald zuckenden,
bald fieberisch hastenden Rhythmik, mit Instrumenten-
combinationen, die drohen und ängstigen, mit allen Hülfe-
mittein der Tonwelt in ihrer doppelten Natur, als Kunst
und als Naturerscheinung. Den Abschluss dieser Partie
bildet die erneute Intonation des Themas des ^Lasciate*,
jetzt noch von Posaunen und Tuben verstärkt. Und nun
<^ 827 ^
erklingen doppelte Harfen, duftig und leicht schweben
Figuren in Flöten und Violinen auf und nieder, die Bass-
clarinette stimmt ein Recitativ an : Clarinetten und englisch
Hörn lösen sich mit schmachtenden und wehmütigen Weisen
ab: Das classische Paar erscheint in der Hülle eines mu-
sikalischen Dialoges. l)as Cello beginnt an einen kurz vor-
her gehörten Zwiegesang der Clarinetten anlehnend mit:
Quasi Andantf. _
yMlUt ^^T^^ rrTT'r iTF . DieVioUnen,
bald von den Bläsern unterstützt, antworten:
Andante amoroso.
Material entwickelt sich ein breiter Satz, der zu Liszfs
schönsten Erfindungen zählt und an Zärtlichkeit, Innigkeit
und Wärme an das Beste heranreicht, was die moderne
Oper auf diesem Gebiete aufzuweisen hat. Das Thema
des „Lasciate' verscheucht dieses liebliche Bild, und die
Greuel der Hölle vollführen einen zweiten Reigen.
Wenn dieser Satz im Totaleindruck Liszt vorwiegend
von der Seite des unerbittlichen Charakteristikers zeigt, so
ist der Purgatorio dagegen eine Idylle grössten Stils, durch-
aus anheimelnd und mehr als das: auch erhebend. Der
erste Theil des Purgatorio beginnt wie eine Scene auf der
Bergeshöhe: Leise säuselnd sammeln sich helle Accorde
und umwogen uns wie leichte Wolken, anmuthig sanfte
Melodien, die in Wagner*s „Charfreitagszauber* passen
würden, wechseln mit einer religiösen Weise:
Andante.
w ji« J j J I « J J I • I. Mit Recitativen und einsamen
Violinfiguren wird Umschau gehalten, nach dem Wege
zum Himmel gesucht und leise der Erde gedacht, die mit
ihren Leidenschaften unendlich weit abliegt von diesem
reinen Gefilde. Den zweiten Theil des Purgatorio bildet
ein Fugensatz über folgendes Thema:
c<? 328 ^
Luientos«.
' ^^JI] S*^ r "li^ - • •^'^ diesem Fugensatze klingen Rc-
signation and BetrUbniss. Das oben angeführte religiäse
Thema schliesst ihn ab und leitet zum letzten Abschnitte
des Purgatorio über: einen Choraatz. In ihm intoniien
Frauenstimmen das Magnificat und führen seine fromnoen
Themen in einer einfachen Weise durch, welche sich d»m
Palestrinastil nähert. Das Orchester geht in schimmern-
den Klängen mit; bald zart und mystisch wie eine Aeoli-
harfe, bald mächtig und in ruhiger Pracht dahinrauschenc.
Liszt hat für diesen Schluss zwei Lesarten gegeben, voa
denen die erste leise ahnungsvoll verhallt, die andere ex-
statisch und verzückt im Forte abbricht.
Eis wird an anderer Stelle^) auszuführen sein, wie Liszt
in seiner weitem Entwickelung dazu kam die mehrsätzige
Sinfonie aufzugeben und sich ausschliesslich dem neuen
Typus der sogenannten „sinfonischen Dichtungen*, die
durchaus einsätzig sind, zuzuwenden. Im Inland und Aus-
land ist auf diesem Gebiete Liszt*s Grefolgschaft immer
gewachsen, die mehrsätzige Programmsinfonie gedeiht da-
gegen nur spärlich.
Joachim Raff, ist der Tonsetzer, welcher sie nach
Berlioz und Liszt am erfolgreichsten vertreten hat. Es
kommen hier unter seinen neun Sinfonien die Sinfonie
,Im Walde* (op. 153) und die .Lenore* (op. 177) als dio
verbreitetsten in Betracht. Raff hat in beiden Werken die
viersätzige Gestalt der Sinfonie etwas unkenntlich gemacht,
indem er seine Compositionen in drei Abtheilungen grup-
pirt; aber wenn man die einzelnen Abtheilungen näher
prüft, 60 findet sich der vermisste vierte Satz irgendwo als
blinder Passagier.
In der Waldsinfonie führt der erste Satz den Titel:
1) Im 8. Band dieses Werkes, der Concerte, Ouvertttren,
Variationen und andre einsätzige Orchestercompositionen enthält.
co 829 -ö»
,Am Tage: Eindrücke und EmpfinduDgen'. Er ist origi-
nell eingeleitet durch einige präludirende Takte, in welchen
die beiden Hauptthemen des Satzes verkürzt ihre Schatten
voraus werfen. Das erste Thema setzt dann im munteren
Wandertone ein:
AUegro
. Der Abschluss desselben und
die Ueberleitung zum zweiten Thema dauern etwas lange,
dann aber kommt letzteres als ein echter Raff:
i' *>c» ^u~^^j \ ^^r^yj,^-^t^
J. Raff
Jm W»lde".
S^j Tlj^l — j^^ — -. Die Terzenbegleitung der Melodie, Nonen-
akkorde als harmonische Stütze der Hauptpunkte gehören
zum Signalement dieses Componisten; wenn er zum Ge-
müthe sprechen will, kommt ihm in der Hälfte aller Fälle
diese volksliedartige Weise auf die Zunge. Sie folgt ihm
wie eine Erinnerung aus Heimath und Kinderjahren und
fehlt fast in keinem von Raff*» grösseren Werken. Die
Anlage des Satzes ist die für ein erstes Allegro der Sin-
fonie übliche. In der Durchführung treten zu den beiden
Haupthemen noch allerhand kleine Waldteufel; auch ver-
schiedene niedliche Kunststücke (Canons etc.) hat der Com-
ponist hier untergebracht, welche kaum Jemand beachtet.
Die schönsten Stellen des Satzes liegen abseits vom Haupt-
wege: da wo das Orchester still den einfachen Rufen des
Homs lauscht: A j | i |
Die zweite Abtheilung betitelt: „In der Dämmerung'
besteht aus zwei Sätzen: A. „Träumerei', B. „Tanz der
Dryaden*, welche dem Adagio und dem Scherzo entsprechen,
c<? 330 ^
wie wir sie soDst in der Sinfonie zu finden gewohnt sind.
Raff bat sie dadurch enger verbunden, dass er ohne Pause
in das Scherzo übergebt und an dessen Schlüsse das Haupt-
thema des langsamen Satzes noch einmal anklingen lässt.
In der .Träumerei* ist die Führung einer Melodie über-
tragen:
Adario.
•ulG
f— y- J) IJ J I J an welcher man die Kunst bewundem
kann, mit welcher Raff, ein Genie der Eklektik, Beet-
hoven*8che, Schumann*8che und Wagnerische Elemente zu-
sammenzuschmelzen verstand. Der in seiner Wirkung edle
Gesang entspringt der Brust des Träumers. Die Traum-
bilder selbst, welche sich diesem zeigen, bestehen aus
leichten Gaukeleien: concertirenden Figuren und Phrasen
der Bläser. Der „Tanz der Dryaden* — Hauptsatz Amoll,
Trio A dur — ist nichts als ein Pflichttanz, eine jener rein
handwerksmässigen Leistungen, die den Genuss der Raff-
'schen Compositionen immer wieder erschweren. Die dritte
Abtheilung der Sinfonie heisst: „Nachts. Stilles Weben
der Nacht im Walde. Einzug und Auszug der wilden Jagd
mit Frau Holle und Wotan. Anbruch des Tages*. Man
muss fragen, wie kommt auf einmal die nordische Sage
mit Frau Holle und Wotan in ein Tonwerk, welches sich
— unbeschadet des Dryadencitats — bisher in der Sphäre
einer reinen Naturdichtung bewegt hat? Indess beginnt
der Satz zwar gar nicht nächtlich, aber musikalisch sehr
ansprechend mit einer Fuge über ein Thema:
AUeg^ro.
^BfULi \f^rfT[n r \r i t r \r ' r \r t r \^'
j'p
welches ziemlich ähnlich auch dem Componisten C. Gk)ld-
mark bei seiner Sinfonie „Ländliche Hochzeit* eingefallen
ce 331 e»
ist. Aber dann Überkommt Berlioz's böser Geist den Ton-
setzer und auf Conto der »Frau Holle* entfesselt er ein
SpectakelstUck , das noch hässlicher, dabei aber viel ge-
wöhnlicher und uninteressanter ist, als die Höllenscenen
der Sinfonie fantastique und die Orgien des Childe Harold.
Eine Coda\ welche die Fuge wieder aufnimmt und leise
verklingen lässt, sucht den Endeindruck zu retten.
Die Sinfonie «Lenore*^ ist Raff's beste Leistung auf
dem hier in Betracht kommenden Gebiete: ein edel ge-
dachtes Werk, frei von den Auswüchsen einer ästhetischen
Halbbildung, und musikalisch das Beste zusammenfassend,
was Raff zu bieten hatte. Eine volle Originalität der mo-
tivischen Erfindung, wie wir sie von den Führern und
Meistern unserer Kunst verlangen, ist auch in der Lenore
nicht zu finden. Fast jedes ihrer Themen zeigt in einem
Theile, zuweilen in der ganzen ersten Hälfte auf fremdes
Eigenthum, hier sind Beethoven*s Quartette die Quelle,
dort tritt uns Schumann*s Klavierconcert entgegen. Aber
die einmal aufgestellten Gedanken sind in dieser Sinfonie
zuweilen mit dem Schwung und der Wärme behandelt,
die den grossen Künstler macht, und verfiele nicht Raff
auch hier hin und wieder in bequeme Breite, in das rein
formale , Musikmachen*, so würde die „Lenore* geeignet sein,
den Namen ihres Schöpfers bei der Nachwelt zu verewigen.
Die erste Abtheilung der Sinfonie schildert das „Lie-
besglück*. Sie besteht aus zwei selbständigen Sätzen, die
dem gewöhnlichen ersten Allegro und dem Adagio in der
Sinfonie entsprechen. In dem Allegro herrscht ein erregter
Geist. Die Liebe spricht in Tönen des Ueberschwangs,
in Themen, die kein Ende finden wollen:
, Allegro.
J. Baff
Lenore.
!^Oi.'r\r ■:
«<? 832 ^
j^_^_£^^__^ - . Dem Jubel und dem still glücklichen
Sinnen folgen Scenen, aus denen Sehnsucht und Dankbar-
keit zugleich sprechen.
Einen der schönsten Momente des Satzes, einen Augenblick
still süssen Erinnerns, zeichnet Raff wieder mit seinem
Lieblingsgedanken, mit der Terzenmelodio :
In dem Durch-
führungstheil dieses Allegro lassen sich Klänge banger
Ahnung hören. Der zweite, der langsame Satz der ersten
Abtheilung gleicht einem Gespräch der Liebenden, be-
herrscht von dem ruhigen Tone der des Besitzes sicheren
Liebe. Naive, trauliche, herzliche Gedanken, von der Art
wie das Hauptthema beginnt:
Andaat« larrhetto.
PP
^^, werden ausgetauscht;
lächelnd hält der Bursche dem Kosen und Flüstern seines
Mädchens still, freundlich bestimmt zusprechend beschwich-
tigt er die Sorgen Lenores, die in der recitativartigen
Gismoll- Episode des Satzes einen erregten Ausdruck finden.
Die zweite Abtheilung, betitelt , Trennung*, besteht in der
Hauptform aus einem Marsch, der alten Zuschnitt hat und
in manchen Wendungen direkt an den ^Hohenfnedberger*
erinnert. Der Krieg ist ausgebrochen : Wilhelm muss fort,
Ein Mittelsatz (Agitato in Cmoll) enthält die Abschieds-
scene der Liebenden; ein Tonbild aus leidenschaftlichen,
wie rathlos irrenden Figuren, wehmüthig klagenden Weisen
und schmerzvollen Accenten zusanunengesetzt. Dann setzt
der Marsch wieder ein, am Schlüsse hört man ihn wie aus
cG* 383 ^
der Feme. Es ist viel poetische Kraft in dem einfachen
Entwurf dieser zweiten Abtheilung. Die dritte Abtheilung
behandelt die , Wiedervereinigung im Tode* mit Grab-
und Choralmusik, in welche sinn- und wirkungsvoll die
Motive des Trennungsmarsches und der langsamen Liebes-
scene hineingezogen sind. Am Anfang der Abtheilung
bringt Raff wohl im Sinne eines Citats den Abschnitt:
,Wenn alle Todten auferstehen* aus der grossen Scene
des , Fliegenden Holländers** in R. Wagner's gleichnamiger
Oper. Den schauerlichen Geistercharakter der Situation
deutet ein in den tieferen Instrumenten unaufhörlich wüh-
lendes kurzes Motiv J'TS J) ***• -A.m Schlüsse lässt der
Componist über den Spuck' und Lärm der Gespensterscene
den Vorhang fallen und spricht einen sanft wehmüthigen
und ergreifenden Epilog.
Von den übrigen sieben Sinfonien Raff*s gehören noch
mehrere der Programmmusik an: , In den Alpen*, „Jahres-
zeiten*, „An das Vaterland*. Wie die unbenannten Werke
der Gattung aus der Feder des Componisten, unter denen
die G moll-Sinfonie die werthvoUste ist, theilen sie un-
leugbare grosse Schönheiten mit unbedeutenden zierlichen
Spielereien und öden Partien der blossen Routine. Die
Vonsüge einer ungewöhnlichen, starken Einbildungskraft,
eines warmen Gemüths, welche dieser Tonsetzer besass,
wurden wett gemacht durch den Mangel an jener Samm-
lung und Hingabe, welche ein wesentlicher Theil der
Poesie selbst ist, durch das Fehlen jener Kritik, welche
Büreaudienst vom Dienste der Kunst unterscheidet.
Eine andere Sinfonie „Lenore*, die ebenfalls der Bai- Aay. Elayhardt
lade Bürger's folgt, ist von August Klughardt veröffent- nLenoW.
licht worden. Sie hat vier Sätze, unter denen ein Adagio
wegen seines Reichthums an innigem, ungekünsteltem Aus-
druck hervorragt. Auch in den anderen Sätzen, wo das
Element der Situationsmalerei überwiegt, spricht Gemüth
und Herz in fesselnden Partien. Das Werk ist leider zu
wenig bekannt geworden.
Unter denjenigen neueren Sinfonien , welche in der
oQ^ 334 ^
hergebrachten viersätzigen Form ein Programm durchzu«
führen suchen, ist als eine der frühesten Abert^s ^Co-
lumbus'^ zu nennen. Eine der musikalisch gehaltvollsten
Programmsinfonien der vermittelnden Richtung besitzen
J. Bheliib«iv«r wir in dem «Wallenstein** von Jos. Rheinberger.
w»ilaiutein. Der Componist hat aus der Schiller*8chen Trilogie die
Figur der ,Thekla*, die Lagerscene mit der Capuziner-
predigt und den Tod Wallenstein 's zur musikalischen Illu-
stration ausgewählt und diese drei Objecte an das Adagio,
das Scherzo und das Finale der Sinfonie vertheilt. Den
noch freien ersten Alle grosatz benutzt er zu einem »Vor-
spiel*'. Das letztere fuhrt uns am Anfang mitten hinein
in das frische, kräftige Lagerleben:
Allcgro con faoco.
^j^ ' etcT
Wallenstein steht hier noch fest und herrisch in der
Menge ; später zeigt ihn der Componist in seinem Schwan-
ken zwischen düsteren Ahnungen und freundlichen Zu-
kunftsträumen. Auf letztere bezieht sich wohl das eigen-
thümliche Thema der Bläser, welches mit dem langen
Verweilen auf einem Tone beginnt und dann so traulich
Schubert'sch schliesst. Einzelne Melodien des Vorspiels
sind von einer so ausgeprägt weiblichen Schönheit, dass
sie uns von Wallenstein weg an Max und Thekla denken
lassen. Dahin gehört das träumerisch wiegende Thema:
.-^1 |,r-! |-r>v, ii>^T?% ,f f I welches auch in
'^ I [- ^M r^-rrrff-^ ^ ' I ^ ^ dem Adagio der
^' _ : — / etc. ^
Sinfonie verwendet ist. Dahin wohl auch die italienisch
anklingende, direkt mit der (erst später erfundenen) ,Man-
dolinata'' verwandte Melodie:
Piü moderato.
welche die Durchführung einleitet und einen grossen
Theil derselben trägt. Die Nähe der Schicksakmächte
^ 335 '^
wird im Vorspiel in kurzen schwermUthigen Motiven, in
Fermaten, welche den lebendig bewegten Gang der Dar-
stellung bedeutsam unterbrechen, angedeutet. Ihnen
namentlich scheint die hymnenartige Melodie zu gelten,
deren Hauptmotiv folgendes ist:
^» f |t'" l'-" I i-T-f-f^yq-^^^ , Sie tritt immer
in dunkler Instrumentirung auf, so oft sie in dem Satze
erscheint. Beim letzten Male geht ihr eine sehr eindring-
liche Klage aus dem Munde der Clarinette voraus. Auch
im zweiten, im langsamen Satze der Sinfonie, kehrt sie
wieder.
Zu den leichtverständlichen Werken der Programm-
musik gehört Rheinberger's Tongemälde nicht ; am wenig-
sten das , Vorspiel* mit seiner Fülle von theil weise sehr
vieldeutigen Themen. In der musikalischen Behandlung
des Materials macht sich der Einfluss Beethoven*s in einer
seltenen Stärke bemerklich. Durch das , Vorspiel* blickt
deutlich die zweite „Lenorenouvertüre*.
Das Adagio der Sinfonie, ,Thekla* überschrieben, wird
von folgender schönen Hauptmelodie getragen:
^^''inj.ij.jj>jTiri II ij 1^
Auch das zweite Thema ist in seinem mädchenhaften
zarten Charakter nicht misszuverstehen. Während es die
Bläser singen, begleiten die Violinen mit munteren Motiven,
welche das träumerisch schwärmerische Bild der Tochter
Wallenstein's mit einem anheimelnden Zusatz von Zier-
lichkeit ergänzen. Am Ende der Themengruppe erscheint
eine kleine Episode erregter Natur, welche der Blumen-
scene Gretchen*s in Liszt's , Faust* ähnlich ist. Sie stützt
sich musikalisch auf das kleine Motiv: ,fa ^ «" i J J .
In der Schlusshälfte des Satzes wird Thekla wiederholt
von Gefühlen stürmischer Unruhe ergriffen. In einem der-
co 336 ^
artigen Momente ist es, wo das früher erwähnte Hymnen-
thema des ersten Satzes beschwichtigend eintritt.
Das Scherzo ,Wallenstein*s Lager* wird viel einaeln
aufgeführt. Es verdankt diese Bevorzugung seiner be-
stimmten Charakteristik, der Einfachheit seiner Form und
seiner launigen Natur. Die Stütze seines Hauptsatzes
bildet das Thema:
AllcrreUo.
■i^Birf^^ff^if Um dasselbe herum reiht sich eine
_ * kleine Suite lebendiger Bilder, welche
das Soldatenleben von seiner fröhlichen Seite veran-
schaulichen. Der Triangel klingt mit den Becken ; ab und
zu giebt auch die grosse Trommel grotesk einen dumpfen
Schlag darein. Man spielt und tändelt anmuthig und
gemUthlich; zuweilen werden auch die Scenen wilder,
barsch und derb. Unter den vielen Nebenthemen, welche
im Satze erscheinen, macht sich besonders das folgende
bemerkbar :
^^
rr r \r .
Es ist die Melodie zu ,Wilhelmu8 von Nassau* , einem
niederländischen Reiterliede, welches in der Zeit der Re-
formation sehr beliebt war. In versteckteren und offenen
Anspielungen durchzieht dieser Yolksgesang das ganze
Scherzo von Anfang an. Schliesslich intoniren es die
Bläser in seiner Originalgestalt zur Freude des Chorus,
welcher es brausend aufnimmt. Da auf einmal: General-
pausen, Dissonanzen — ein Wirrwarr entsteht. Der Ca-
puziner ist da! Seine Predigt vertritt das Trio des Scherzo.
Ausserordentlich gelungen hat Rheinberger den bald bis-
sigen, bald larmojanten, bald salbungsvollen Ton nach-
geahmt, welchen der Pater bei Schiller anschlägt, und
die Drastik der originellen Scene wird in der Musik noch
dadurch erhöht, dass hier auch die Reaction der unfrei-
^ 837 ^
willigen Zuhörer zu einem treffenden lebendigen Aus-
druck kommt. Der Haupttrumpf, welchen die über-
müthigen Landsknechte dem Strafredner entgegenstellen,
ist das Reiterlied.
Der vierte Satz der Sinfonie, «Wallenstein's Tod* hat
einen kurzen Prolog (Moderato DmoU ®/g), welcher den
tragischen Inhalt des Kommenden in schreckenden und
klagenden Tönen kurz feststellt und dem unglücklichen
Helden einen edlen Trauergesang widmet. Dann beginnt
mit dem Allegro vivace (Ddur **/g) eine Schilderung der
letzten Stunden Wallenstein's. Ein Tongemurmel, dem
im Scherzo von Beethoven's Eroica ähnlich, sagt uns,
dass die Scene in der Nähe des Soldatenlagers spielt.
Wir hören muntere / m "nT' -^^^^^?-F^
kriegerische Weisen: g (i ' » T »^ -M-h- g^fcf-M^^^'
Auch Wallenstein scheint ihnen zu lauschen, bis er all-
mählich in Träumereien versinkt, drückender Natur die
einen, liebenswürdig entzückend die anderen:
Das Schlussbild seiner Visionen (Allegro C) gleicht einem
Triumphzuge. Wallenstein erwacht. Wieder hören wir
den Lärm des Lagers. Der Fortgang ist wie vorhin. Nur
lenkt die Traumscene jetzt in eine wunderschöne Schlum-
merscene (Adagio ^/g Hdur) über. Zum dritten Male be-
ginnt darauf die Musik mit der Schilderung des Treibens im
Lager. Wieder träumt Wallenstein. Jetzt aber werden die
Motive von grellen Signalen der Posaunen und Trompeten,
von wilden Figuren, von Dissonanzen und von einem
grässlichen Aufschrei des ganzen Orchesters abgelöst. Die
Katastrophe ist vorbei! Mit einem kurzen Epiloge, dessen
Knappheit auf die Realistik der letzten Scene sehr be-
ruhigend wirkt, entlässt uns der Componist.
Schiller hat neuerdings zu anderen Programmsin-
fonien Veranlassung gegeben, die im Publikum noch
Kretzsohmar, Führer, I. 22
o(? 838 ^
H. HoftiaaB
„Prithjof*.
wenig bekannt geworden sind: M. Moszcowsky's
«Jeanne d*Arc*, J. L. Nicod^*» .Maria Stuart* und H.
Huber'8 .Teil*.
Eins derjenigen Werke, in welchem zwischen Pro-
gramm und Musik nur ein lockerer Zusammenhang besteht,
ist die früher vielgespielte Sinfonie .Frithjof* von Hein-
rich Hof mann. Der Componist beschränkt sich auf den
erotischen Theil der bekannten Sage £. Tegner*s, und
entwirft in dem ersten, zweiten und vierten Satze seiner
Sinfonie von dem Glücke Frithjofs und Ingeborg^s, von
ihrer Trennung und ihrem Wiederfinden, eine Schilde-
rung, welche an und für sich beredt ist, aber sicher auch
auf jedes andere Liebespaar ebenso gut passen würde.
Das Localcolorit, unter welchem wir die Bilder nach dem
Titel des Werkes gern sehen möchten, ist in einem ein-
geschobenen dritten Satze .Lichtelfen und Reifiriesen*
extra beigegeben. Im ersten Allegro der Sinfonie, .Frith-
jof und Ingeborg* überschrieben, wechseln, in der Sprache
der modernen Oper geflüsterte, zärtliche Geständnisse,
schmeichelnde und kosende Reden und überschwäng-
liche, glühende Erklärungen. Die beiden Hauptgestalten
sind in ihren Themen mit Motiven charakterisirt , welche
im Finale der Sinfonie wiederkehren. Frithjof mit
^=, Ingeborg mit:
^^
Der zweite Satz heisst .Ingeborg's Klage*. Das trauernde
Mädchen ist repräsentirt durch:
Adag:to.
und durch das Schumann'sche (Cdur- Sinfonie):
Pi^ animato.
-f^ r r njj' J TTZ. V^^ ^ hoffende durch:
«<? 389 ^
A ^g ^J ffl j J |. In der selir kurzen Durchführung ist
eine Episode der Erinnerung an Frithjof gewidmet. Sie
steht auch motivisch mit dessen Thema in einem er-
kennbaren Zusammenhang: ^^HV
Die , Lichtelfen* des dritten Satzes (.Intermezzo*)
werden durch folgendes Hauptthema gezeichnet:
AU«rro moderato. ^ i>^^
PI» Yiol. c. 8ord.
r ^f r rri r I' r4XUL££j;j I f ^1* .
Die »Reifriesen* fuhren über:
h JU 'jjj' j^j ' ^ ^i^ ' ^ j / ®">e° Tanz
^S
aus, dessen wilder Charakter durch hohe Triller und
durch compacte Bläsermassen noch verstärkt wird. Die
Erfindung und die Entwickelung der Themen zeigt den
Einfluss von Mendelssohn und Gade. Das Eigenste des
Componisten liegt in der lebendigen Farbenmischung, zu
deren Beizen ein Glockenspiel einen aussergewöhnlichen
Beitrag steuert.
Der vierte Satz, ^Frithjofs Rückkehr*, beginnt mit
einer anschaulichen Einleitung. Hornsignale tönen von
allen Seiten, allarmirende Figuren der Violinen rufen uns,
einem festlichen Ereigniss zuzuschauen. Die heimathlichen
Helden kehren als Sieger zurück, wie uns das aus Wag-
nerischen und Weber'schen Elementen zusammengesetzte
und mit einem frischen Kopfe gekrönte Hauptthema
sagen will:
Alleg^ro YiYao«.
j-ii
;£#.
Die Seitengedanken und das zweite Thema:
22*
^ 840 '^
wenden sich intimeren Herzensangelegenheiten zu. Schliess-
lich erscheint Ingeborg mit ihrem Thema aus dem ersten
Satze der Sinfonie.
Eine kürzlich veröflFentlichte Programmsuite H. Hof-
mann*s, ,Im Schlosshofe*, gehört zu den besten Leistungen
des Componisten.
Ebenso und noch mehr lose als im ,Frithjof* sind die
Beziehungen zwischen Titel und Inhalt in der Sinfonie
€• doliaark «Ländliche Hochzeit* von Carl Goldmark. Der Gregen-
„L&ndliohe stand ist für ein bescheideneres Genrebild, etwa im üm-
HoobMü*". fang und Stil der , Festklänge* von Liszt, sehr geeignet;
aber für eine Sinfonie oder eine grosse Suite — das letztere
ist die Goldmark*sche Composition eigentlich — nicht
wichtig genug. Auch ist der ländliche Charakter des zur
Darstellung gewählten Ereignisses nicht eben eindringlich
veranschaulicht; einzelne Partien widersprechen ihm ge-
radezu. Aber die Goldmark'sche Sinfonie hat ihren mu-
sikalischen Werth. Sie verbindet Reichthum der Phan-
tasie mit einem theilweise eigenthümlichen , immer aber
fertigen und sicheren Ausdruck.
Der erste Satz besteht aus einer Reihe von 12 Va-
riationen. P. Lachner hat diese Form für den Eingangs-
satz der Suite eingeführt. Von ihm unterscheidet sich
Goldmark dadurch, dass er die Variationen frei durch-
führt. Nur wenige bringen das ganze Thema; in einzelnen
finden wir nur kurze motivische Fragmente desselben, in
einer dritten Gruppe herrscht nur ein ideelles Verhältniss
zum Modell. Der Ueberschrift nach bedeutet dieser erste
Satz den , Hochzeitsmarsch*. Im technischen Sinne marsch-
mässig sind nur der Anfang und der zu diesem zurück-
kehrende Schluss. Die Variationen haben wir uns als Fi-
guren aus dem Hochzeitszug oder als Stimmungsbilder zu
denken : einzelne phantastisch oder innig und beschaulich :
die Mehrzahl flott, feurig und freudevoll. Das Thema
selbst beginnt, in den Bässen allein, mit folgender Periode :
^ 341 ^
Moderato
welcher der entsprechende Nachsatz folgt. Es schliesst
mit einem ^ien Abgesang:
'n^\U^w ir-r/iP^PM^n^T^ttp^t^iaE
dessen lange Noten sich sehr hübsch in den Variationen
bemerklich machen. Von besonderem Reize ist die In-
strumentation des Satzes.
Der zweite Satz — .Brautlied* überschrieben — ist
eine knappe Composition in der Form der dreitheiligen
Arie. Der Hauptsatz hat reizende Elemente Schubert'scher
Melodik. Sein führendes Thema ist das folgende:
Allogrotto. . ^^
P^C\Mt.'
T
Oh.
Dem Mittelsatz "^^^Fj.-ft^
i^^
if^^gJB^ giebt
die ungewöhnliche Wahl der Tonart (Unterdominante) den
Charakter grosser Wärme.
Der dritte Satz, , Serenade*, hält die kunstvollere Form
der Sonate ein. Seine Themen:
Allegro moderato.
l»ci^
und das in der Durchfuhrung bevorzugte:
jf Ob
^^
sind beide leichter scherzender Natur. In der Instrumen-
tirung, die zuweilen eine dorfmässige Einfachheit besitzt,
und in der Harmonie, in welcher die liegenden Bassquinten
eine grosse Rolle spielen, hat der Componist ländliche Züge
sehr launig eingewebt.
Der langsame Satz der Sinfonie fuhrt den Titel ,Im
c<? 342 ^
Garten*. Die Einleitung dieser Scene und der mit ihr
identische Ausgang wird mit Recht als der schönste
Theil der ganzen Sinfonie angesehen. Das Thema, wel-
ches demselben zu Grunde liegt:
^ . Andante, ci«-. i i i j , ^
:i^t=cr^^ztiXf^iilh .1 J l-'-^^ bUdet in dem
wilden Finale der Sinfonie dann nochmals eine kurze, zarte,
träumerische Episode. Den mittleren Theil des Satzes
(Ges dur, ^*/g Takt) bildet ein Liebesdialog, in der glühen-
den Sprache von Wagner's , Tristan und Isolde* geführt.
Der Schlusssatz der Sinfonie heisst Tanz. Sein Haupt-
thema :
AllcgTo molto. >. .^
welches zunächst in der Form der Fuge ausgeführt wird,
bringt kecke und volksthümliche Elemente in die Compo-
sition hinein. Unter allen Theilen der Sinfonie ist das
Finale derjenige, welcher den ländlichen Charakter der
Hochzeit am treuest^n veranschaulicht und ein wirkliches
Stück realistischer Programmmusik bildet. Eigenthümlich
und mehrdeutig sind die nach Klang und Tonart so frem-
den Harfenaccorde, welche an mehreren Stellen des Satzes
mitten in den stärksten Tumult hineintönen.
Die neuesten und bedeutendsten Beiträge zur Pro-
BiehArdSlrAasi.grammmu8ik hat Richard Strauss geliefert. Aber dieser
Componist hat sich bald für die Form der einsätzigen sin-
fonischen Dichtungen entschieden, Programmcompositionen
von cyclischer Anlage, die dem Bereich der Sinfonie oder
Suite zuzuweisen wären, giebt es von ihm nur eine. Sie
heisst ,Aus Italien* und scheint jetzt, nachdem der
Componist in «Tod und Verklärung*, in „Till Eulenspiegel*,
und in .Also sprach Zarathustra* kühnere die Aufmerk-
samkeit erzwingende Würfe gethan hat, nachträglich stär-
kere Beachtung und Verwendung zu finden. Mit diesem
Werke vollzog der Componist, der bis dahin mit einer
grossen F moll - Sinfonie und andren Beiträgen zur söge-
cc 343 "^
nannten absoluten Musik, sich als ein stark eklektisches,
anlehnendes und für äussere Effecte begabtes Talent ge-
zeigt hatte, seinen Uebergang in das Lager Liszt's und
der Tonmalerei. Es ist sein opus 16. Strauss nennt die
Composition mit der ihm eignen Willkür und Sondersucht,
die sich auch in den oft geradezu verkehrten Tempobe-
zeichnungen des Werkes äussert, eine „Sinfonische Fantasie*.
Das eigentliche Formgebiet, dem sie von aussen und innen
zugehört, ist aber das der Suite. Sie ist eine Programm-
suite von freundlicherer Art, wenn auch nicht immer ganz
massvoll, so doch frei von eigentlichen Excessen der Phan-
tasie und der musikalischen Ausführung und nach letzterer
Richtung reich an Proben eines coloristisch , in zweiter
Linie auch melodisch hervorragenden Talents.
Die Strauss'sche Fantasie oder Suite hat vier Sätze
und die Hauptbilder, die er in ihnen vorführen will, heissen :
Auf der Campagna, In Roms Ruinen, Am Strande von
Sorrent und Neapolitanisches Volksleben. An Versuchen
italienische Eindrücke wiederzugebeij , ist die Musik im
Allgemeinen nicht arm. Im Orchester allerdings liegen
sie von der Pifferarisinfonie des HändelVhen „Messias* an-
gefangen, nur spärlich vor und haben in Berlioz^s „Harold*
und seinem „Römischen Cameval* die Hauptstücke aufzu-
weisen. Um so reicher ist die Kammer- und Klaviermusik
mit ihnen ausgestattet. Die Beiträge, die Strauss in seinem
Programm zu diesem Capitel zu geben verspricht, haben
die musikalische Möglichkeit für sich. Wer an die Cam-
pagna, an Rom, an Sorrent, an Neapel denkt, dem erweckt
schon jedes dieser Worte eine Stimmung für sich, jede
gross und jede eigen. Und wenn man die ungeheure Fülle
landschaftlicher und historischer Charaktere Italiens in
seiner Phantasie aufsteigen lässt, muss man dem Compo-
nisten das Zeugniss geben, dass er Hauptpunkte gewählt hat.
Venedig bei Seite zu lassen, mag ihn vielleicht Liszt's
Tasso bewogen haben.
Was die „Campagna* (di Roma), die den Gegen-
stand des ersten Satzes (Andante C, Gdur) bildet, poeti-
c<? 344 ^
sehen GemUthern von Horaz bis auf Molike und Gregorovius,
immer wieder eingeprägt hat, ist vornehmlich ihre
schwermuthsvolle Schönheit. Hier der weisse Soracte mit
den andren herrlich ragenden Bergen und das nahe Meer,
dort die Lavaströme, die die Fluren verwüstet, menschliche
Ansiedlungen im Thale und auf der Höhe vernichtet haben.
Eine Natur, die gelockt und gemordet hat, eine Landschaft,
deren Reizen die Tücke der Malaria gegenübersteht.
Strauss hat vor diesen Gegensätzen mit dem Gefühl
des Räthselhaften und Geheinmissvollen gestanden. Fast
scheint es als wolle er uns eine verrufene Stätte, ein ver-
wunschnes Land schildern wenn er einsetzt:
Andante. J = 58
Der hervortretende Bratschenklang, die zwischen Moll und
Dur schillernde Harmonie, der schleichende Gang der Mo-
tive geben der Stelle etwas Märchenhaftes, todt Gespen-
stisches, etwas uralt Unheimliches. Das Leben der Gegen-
wart regt sich in dem bescheidnen Motiv
das die Flöten mehrmals leise in die Oede hineinrufen.
Der Wandrer überwindet durch diese Lebenszeichen
die Fremdartigkeit des ersten Eindrucks; die Starre, die
sich seiner Empfindung bemächtigt hatte, weicht einer
Mischung von Neugier und Wehmuth, die die Musik in
folgender Weise ausdrückt:
Darauf setzt das Octavenmotiv das die Flöten zuerst
einführten, mit grössrer Entschiedenheit, rascher nachein-
ander und in zahlreichen Instrumenten ein; die entfachte
Bewegung verlischt aber sofort wieder. Klagend steigen
co 345 ^
die Hörner die Scala hinab und der Wandrer fasst seine
Eindrücke in eine Melodie, die ebensoviel von grossen wie
von traurigen Erscheinungen erzählt:
^^jri
In ihrem weitem Verlauf heitert sie sich mehr und
mehr auf und als sie zum Es-Durschluss kommt, da setzt
die Trompete mit dem lebensfrohen Motiv ein, das sie ins
Thema 2 zuerst einfugte. Gleich einem Heroldssignale
locken diese wenigen Trompetentöne freundliche Neben-
melodien herbei, die drängend und schwungvoll in dieses
zweite Thema selbst auslaufen. Sein Endtheil, der vorhin
wehmüthig klang, kommt jetzt in den Hörnern glänzend
und triumphirend. Es war ein Aufleuchten der Stimmung.
Noch ist der Horizont mit Gewölk bedeckt. Das elegische
Octavenmotiv und das muntre Eingangsmotiv des zweiten
Themas Ji | jTj j) führen in den Bläsern einen kurzen
frischen Kampf gegen einander, in der auch die Streich-
instrumente bald hineingezogen werden. Das Resultat ist :
dass die Sonne und die Freude siegen. In einem gran-
diosen Fortissimo kehrt Gdur — zunächst als Quartsext-
accord — zurück und bringt eine neue Melodie mit sich,
die, allerdings an Elemente des zweiten Themas anknüp-
fend, die erhabene Schönheit der Campagna hymnenartig
verherrlicht. So beginnt sie:
Das ist der
Glanz- und der Mittelpunkt von dem Campagnabild das
Strauss uns zeigt. Es ist der musikalische Niederschlag
eines jener Augenblicke wo der entzückte Blick von den
blauen Linien der Küste hinübereilt nach der scheinbar
c<? 346 '^
oben am Himmel wie eine Vision auftauchenden Peters-
kuppel, wo vor dem geistigen Auge die Zeiten und die Ge-
stalten vorüberziehen, die über diese Landschaft hinweg-
geschritten sind. Da wogt es in der Seele des Beschauers
wohlig und auch ernst:
Thema 3
kehrt zunächst in den Cellis wieder. Ein weitres erregtes
Thema tritt in den Violinen hinzu. Die Musik spricht in
doppelten und dreifachen Zungen in jener feurig, oft sinn-
verwirrenden Polyphonie, die die jüngere CJomponistenge-
neration aller Länder von R. Wagner gelernt hat. Strauss
lässt aber in dieser Suite schon merken was seine spätem
sinfonischen Dichtungen unwiderleglich künden, dass er in
dieser besondren Kunst den Meister zu überbieten vermag.
Dieser Abschnitt des ersten Satzes seiner Suite, der unge-
fähr der Durchführung im gewöhnlichen Sonatensatz ent-
spricht, endet mit einer neuen in den grösstmöglichen Glanz
gekleideten Intonation von Thema 4, bricht aber mitten
drin plötzlich ab. Ein geisterhafter Bläseraccord, das ele-
gische Octavenmotiv, ein kurzer Außsug der Hauptthemen
zum Theil in umgekehrter Ordnung — Ende! Die neuere
Kunst überhaupt, nicht blos die Musik, scheut ja vor keiner
Unfreundlichkeit wenn sie die Naturtreue und die Lebens-
wahrheit für sich hat. In diesem Fall kommt aber auch
zu Gunsten von Strauss eine Schönheit hinzu die ganz aus
dem Charakter des Gegenstandes fliesst: Die Campagna
entlässt ihre Freunde mit einem elegischen und mysteriösen
Endeindruck !
Der zweite Satz (Allegro molto con brio, ^/^ '/j, Cdur)
fuhrt die Ueberschrift „In Roms Ruinen*. Sie wird
durch den Zusatz ergänzt : .Phantastische BUder entschwund-
ner Herrlichkeit, Gefühls der Wehmuth und des Schmerzes
inmitten sonnigster Gegenwart*. Damit ist eine Reihe
poetischer Vorstellungen erweckt, denen die Musik nicht
in dem erwarteten Masse gerecht wird. Den fröhlichen
eG^ 347 ^
Bildern fehlt der phantastische Charakter, die Gefühle der
Wehmuth und des Schmerzes, die grossen Eindrücke die
sich für den gebildeten Beschauer an Colosseum, Capitol,
Forum Maximum, Pantheon, Hadriansburg und die andern
erhabnen Reste der Grösse des alten Roms knüpfen, kommen
in diesen Tönen nicht zum Vorschein ; dazu fehlt dem Satz
vor Allem die Ruhe und die scharfe Gliederung. Er ist
ein sehr eigensinniges, theilweise wildes Capriccio nicht
ganz ohne Züge die sich auf Wesen und Charakter der
ehemaligen Römerwelt deuten lassen; aber viel mehr als
für das Programm für den Componisten charakteristisch,
der in jugendlicher Rücksichtslosigkeit in der Wahl und
Gestaltung seiner Ideen und Einfälle nur seiner subjectiven,
augenblicklichen Disposition folgt und nichts nach der Fas-
sungskraft einer unvorbereiteten Zuhörerschaft fragt. Sie
muss in diesem längsten der vier Sätze auf schwierige
Rhythmen und auf Hartnäckigkeit im Arbeiten und Ver-
folgen spröder Motive gefasst sein.
Der Satz hat wieder wie der vorhergehende eine Drei-
theilung in Themengruppe, Durchführung und Wieder-
holung. Die Themengruppe führt mit
Allegro moltocon brio. d«s66
r-^ — f
zunächst vor die phantastischen Bilder von denen das Pro-
gramm spricht.
Es ist eine Weise mit der sich der Gedanke an fröh-
liche kräftige Spiele verknüpfen lässt. Ein Zug von Härte
liegt in ihr, der zum altrömischen Wesen gut passt. Das
Thema wird sofort in einem selbständigen Sätzchen um-
gebildet und erweitert, das mit einer sehr breiten, bunten
Modulation — in Trompeten und Posaunenklang gehüllt —
nach Cdur zurückkehrt. Man erwartet einfache Wieder-
holung, aber die Melodie kommt grösser und kecker
if. i h Ti
und zieht als-
^ 348 ^
bald ein Thema nach sich, das zum ersten Bial auf die
Gefühle der Wehmuth anzuspielen scheint von denen die
Ueberechiift redet:
Es hat einen Hang sich ins Unscheinbare zu verlieren und
kommt auch bald auf einem mit ungestümer Energie er-
fassten verminderten Septaccord ausser Sicht, den wir wohl
als Accent des programmmässigen Schmerzes aufizufiassen
haben. Erläutert wird er durch ein neues drittes Thema:
1.
iX
das auf die Kraft und die Grösse hinweisst, deren Zeugen
diese Römischen Kuinen einst gewesen sind. Nun zeigt
der Tonsetzer auf die sonnige Gegenwart:
und verweilt
bei diesem anmuthig friedlichen Thema mit träumerischer
Befriedigung. Da kommt ihn doch wieder der G^anke
an die Ruinen und die Frage warum die blühende Welt
verschwunden, zu der sie gehört haben? Antwort geben
die Motive:
^i//4/^"i"
j. i, i.n^ rr r=^
Unfriede wars und Kleinlichkeit. Den Blick immer wieder
flüchtig auf die sonnige Gegenwart gerichtet, vertieft sich
der Componist in das Treiben dieser Mächte. Seine Be-
trachtungen gipfeln in lauten Wehklagen:
'<!■ 849 '^
heisst es zu-
erst, beim zweiten Mal durchschneidet den Versuch des
Stimmungsaufschwungs ein furchtbar grausam (neben Grdur)
hingesetzter langer Asdur-Accord!
Die Durchfuhrung verknüpft zunächst Motive aus dem
ersten Thema mit solchem aus dem fünften, als sollte ein
Bild von dem ethischen Prozess gegeben werden, der das
Wesen der Römer verdarb. Ihren Hauptinhalt bilden Satz-
gebilde, denen das dritte Thema und seine Vorstellungen
zu Grunde liegen. Die Grösse und Macht der alten Welt,
die Trauer um ihren Untergang sind in einer noch viel
stärkren und tiefer eindringenden Weise als in der Themen-
gruppe die Gegenstände der musikalischen Darstellung in
der Durchfuhrung. Einen kleineren Antheil nimmt an ihr
auch die wehmüthige Weise des zweiten Themas.
Der Wiederholungstheil führt die Bilder und Betrach-
tungen der Themengruppe mit den gewohnten, her-
gebrachten kleinen Aenderungen noch einmal vorüber.
Eine kurze angefügte Coda stellt das Thema (4) der
, sonnigen Gegenwart* in den Vordergrund und kehrt von
den Ruinen in das Leben der Zeit zurück.
Der dritte Satz (Andantino, ^/g, Adur) ist der eigent-
liche langsame Satz der Suite. Strauss bezeichnet ihn mit
Andantino ziemlich missverständlich; ein sehr getragnes
Tempo ist gemeint. Sein poetischer Gegenstand ist Schil-
derung von Eindrücken, Stimmungen „am Strande von
Sorrent*, die Ausführung arbeitet mit ganz ausgesucht
feinen und eignen Farben, sie arbeitet lebendig und
elastisch, aber vorwiegend zart.
Zuerst lässt der Componist die Natur sprechen in einem
auf wesentliche Motive verzichtenden, fast rein in Accord
Und Rhythmus gehaltnen Präludium. Diese zweiunddreissig
Takte überschütten aber den Hörer mit einem üppigen
Segen volbinnlicher Klänge. Da huschen Violinfiguren
in höchsten Lagen durcheinander, Spielarten und Ton-
c<? 350 ^
regionen, die in der Regel unberührt bleiben, werden
lebendig, die verschiednen Rhythmen kreuzen sich, Triller
und Verzierungen aller Art klingen von oben und unt^n,
in Ruhe und in Eile. Das Sätzchen wirkt blendend, über-
wältigt wie eine Landschaft, die den Sinnen mehr bietet
als sie aufnehmen können.
Dann beginnt eine Scene der Träumerei. Der Dichter
spricht, die Seele voll Dank xmd höhrer Wonne:
Den Ueberschwang der
Stimmung yerrathen schon die verhältnissmässig zahl-
reichen Nonenaccorde auf denen die Melodie ruht. Wie
warm sie auch wird, die Aussenwelt bringt sie nicht zum
Schweigen, jeden Augenblick contrapunktirt eine reizende
Stimme aus der Natur anmuthig hinein. Und diese Partei
nimmt in dem mit
eingeleiteten Seitensatz das Wort ganz für sich in Beschlag,
legt ihren ganzen Reichthum aus und freut sich ihrer
Macht bis zur Leidenschaftlichkeit. Das ist wo die scharfe
Dissonanz cis-dis im forte herausgestossen wird. Wie über
den lauten Ton beschämt und erschreckt, verschwindet die
Sippe der Naturgeister mit einem Schlag und der Dichter
giebt sich aufs Neue der Beschaulichkeit hin
Eine auf einer liegenden Stimme festgehaltne und sonst
mit Spannungsmitteln ausgestattete Begleitung hebt diese
co 351 '^
Weise aus der populären Sphäre, der sie angehört, etwas
heraus. Ohne Yermessenheit dürfen wir sie auf trauliche
deutsche Heimathserinnerungen deuten. Bald lässt sich
auch einer der eingehomen Südländer hören. Der Satz
schlägt nun nach Amoll, das Tempo wird bewegter, in
den Cellis, Bratschen und Fagotts treten raschere Figuren
auf. £s ist als ob der Wind die See kräuselt. Da kommt
ein Boot und ein Sänger drauf mit einer echten, aus dem
Land gebomen Melodie, einem Abkömmling jener edlen
Sicilianos, die seit dem Ende des 17. Jahrhunderts von
jener Sorrenter Gegend her über ganz Europa gedrungen
sind:
Plü BOiio. J s 60
' ' 1.
Gefährten antworten bald ; so giebt dieser nur kurze Mittel-
satz ein sehr willkommnes, belebendes Intermezzo. Ein
dritter Theil, mit dem Tempo des ersten mischt dessen
thematische Elemente frei und phantastisch; noch stärker
als der Anfang steht er unter dem Zauber schwirrender,
girrender, sinnverwirrender Klänge und Figuren.
Der vierte Satz (Allegro molto, */4, Gdur) führt uns
«Neapolitanisches Volksleben ** vor. Was wir hier
zu erwarten haben, lässt der tolle Einsatz schon ahnen.
Das volle Orchester stürzt auf einem freien Nonenaccord
herein und in rasendem Lauf schwingen sich von ihm die
Geigen und Bratschen unisono dem Hauptthema des Satzes
entgegen :
Alleirro molto. Js 126
p
O
Wer einmal zwischen Monte Cassino und Capri gereist
ist, wer in der Schweiz etwa wandernden süditalischen
Sängern zugehört hat, dem sind diese und ähnliche Melodien
geläufig. Von den beiden Geistern der Operette und der
Degeneration getrieben improvisiren die Kinder dieses
«<? 352 ^
musikalischen und leichtherzigen Volks derartige Weisen
zu jedem Text und zu jeder Zeit; der ganze ehemals so
reiche Gesangschatz des Königsreichs beider Sicilien wird
heute fast ausschliesslich von ihnen vertreten. Wenn
Strauss also sein Finale mit diesem Gassenhauer eröflPnet,
so erweckt er grosses Vertrauen in Bezug auf die photo-
graphische Treue seines musikalischen Bildes. Die Melodie
fährt mit kräftigem Gliedern ihrem Schlüsse zu, der zu-
gleich das Ende des ersten Abschnitts des Satzes ist. Er
kommt rascher als man vermuthet, kommt in HmoU und
fuhrt zu einem Seitensatz, der über
U "^ JiTl^^^^* P ^^^ ähnliche lustige Mo-
tive leicht und anmuthig tändelt. Er baut klar und emsig
in zweitaktigen Abschnitten auf, zum Schluss hin erhält
er durch das Eingreifen chromatischer Bässe:
einen Stich ins grotesk Humo-
ristische. Die stürmischen Einleitungstakte kehren wieder
und fuhren zum zweiten Hauptthema des Satzes:
j" ^ Uj I jj-'^ I rt-'''p iilTI^ t^
Es ist in südländischer Art innig, jedenfalls liebenswürdig
und zeigt durch die Vertheilung auf zahlreiche Instrumente
auf das echt gesellige Wesen des geschilderten Volks.
Lange hält dieser ruhigere Ton nicht an. Themenreich
wie Liszt stellt Strauss bald in diesen ersten Theil seines Fi-
nales noch einen vierten Gedanken, der folgendermassen bei
den Flöten beginnt:
e© 358 ^
Er bringt in die Musik eine ganz eigne, halb komische,
halb dämonische Lustigkeit, ein Abbild jenes temperament-
vollen nervösen Wesens, das dort unten die Revolutionen
macht und auch dem Spiel und dem Tanz sein Gepräge giebt.
Die Abschnitte die der Componist ans diesen kreiselnden
Motiven in den nun folgenden Durchführungen gestaltet
hat, bestimmen die Erinnerung an seine Neapolitanischen
Schilderungen am prächtigsten und am angenehmsten. Im
Allgemeinen wird man von den Entwickelungen , die
Strauss giebt, den Eindruck eines vielfachen Uebermasses
haben. Die Darstellung ermangelt der Leichtigkeit, die
dem Gegenstand natürlich ist; sie ist zu zäh im Festhalten
der Motive, zu sehr in der Farbengebung von Berlioz be-
einflusst. Wozu hier überhaupt Posaunen ? Wohl aus dem-
selben Grunde aus dem unsre modernsten Maler für zwei
kleine Gänse eine ganze volle Stuben wand bemalen. Ein
sehr guter poetischer Einfall in der Reprise ist die Ein-
führung von Motiven aus dem ersten Satz: in dem Lärm
und der Unruhe dieses Neapel der Gedanke an den Frieden
der Campagna!
Den Schluss der deutschen Beiträge zu den mehr-
sätzigen Formen der Programmmusik bildet ein Werk, das
ein würdiges und gehaltvolles poetisches Thema mit ernster
Eingebung und innerlicher Wirkung aber ganz mit den
sinfonischen Mitteln der classischen und romantischen Schule
durchfuhrt. Es ist die viersätzige Tondichtung „Traum PWl» ScMät-
und Wirklichkeit* von Philipp Scharwenka (op. ^''***^
92), dem altern Bruder des bekannten Pianisten Xaver S.,
der auch temperamentvolle Sinfonien componirt hat. Ihr
Gedankengang verfolgt einen Lebenslauf, der freundlich,
voller Hoffnungen und Ülussionen beginnt und mit Ent-
täuschungen und in Resignation endet. Ein ausführliches
Gedicht aus der Feder des Componisten giebt über die
Absichten, die die Composition im. Einzelnen verfolgt ein-
gehende Auskunft. Die vier Sätze, aus denen die Sinfonie
— wie wir die Bezeichnung Tondichtung ruhig übersetzen
dürfen — besteht, gehen ohne Pausen einer in den andern
über, stehen auch thematisch in enger Verbindung und
Kretstohmar, Filbrer, I. 23
„Traum und
WirkUchkeit«'.
CO 354 ^
behandeln das Schema der Sinfonie ziemlich freL Was
sie xinter ihresgleichen auszeichnet, ist der grosse Herzens-
antheil und die Gemüthswärme, die aus der Musik Schar-
wenka^s spricht, ünsre heutige Oeflfentlichkeit hat für
Spohr^sche Naturen nicht das volle Verständniss; denjenigen
Kreisen aber welche sich zu einem harmonischen und ehr-
lichen Künstler, auch wenn er abseits vom Wege steht,
hingezogen fühlen, kann die Arbeit nur eifrig empfohlen
werden.
Der erste Satz (AUegro moderato, C, Ddur) führt
mit dem Thema:
All«f ro modtrftto. J s 190
PP
eine edle liebenswürdige aber für die rauhe Wirklichkeit
unsrer Tage wohl etwas zu weiche Jünglingsgestalt ein.
Diesem auffallender Weise im Verlauf der Composition
nur wenig benutzten Thema folgt eine längere Gruppe
zierlicher Nebengedanken, die — zum Theil in Wendungen
die an Hermann Götz und an die Meistersinger erinnern —
sich in kleinen Schwärmereien entgehen. AllmähHch kommt
nach diesem weniger gelungenen und zersplitterten Abschnitt
wieder ein grosser Ton in die Stimmung und bringt neue
tiefer eindringende Weisen. Unter ihnen ist die Melodie:
ff\i iP^r}iJLL^U:i^^r^iH:^-^m\
jSFr|¥iPcL
mo/to creao. /"
gjT V i l-L^r P I = die wichtigste. Sie bedeutet
das Herzens- oder Geistesideal unsres Helden und kommt
am Schlüsse der Sinfonie zu rührender Bedeutung.
Der zweite Satz (Allegretto scherzando, "Z^, Fdur)
ist eine Art langsamer Walzer, bestinmit die glücklichste
Stunde dieses Menschenslebens einzuleiten. Mit rhythmischen
Motiven in den Hörnern, melodischen Bruchstücken in Cla-
«<? 355 ^
rinetten, Flöten, Geigen verlockend präludirend gelangt
er endlich zu folgendem Hauptthema:
Jsieo
if'll J I IT^ II 'ÜiTi fi 1l i|| I
^p-
Der Jüngling schwingt sich im Reigen mit der Er-
wählten ; heroische etwas finstre Motive künden seine stolzen
Gefühle, die Wonne in seiner Brust spricht am deut-
lichsten aus folgender an Raff anklingender Melodie :
Dieses Thema leitet über zu der Scene des Geständnisses
und der £rhörung die den Inhalt des dritten Satzes
(Andante tranquillo, '/s, B dur) bildet. Sie folgt allerdings
dem Eintritt dieses innigen Themas nicht unmittelbar,
sondern die Freuden des Tanzes werden noch gründlich
ausgekostet. Dann kommt endlich langsames Tempo und
wehmuthsvoller Klang. Es wird Abend, das Fest muss
schliessen. Die Musik bringt in einem Uebergangssätzchen
die Stimmung einer gewissen Müdigkeit zum Ausdruck,
es wird stiller und stiller und als es einsam um das liebende
Paar geworden da setzt das schöne Thema des Andante
zunächst im Hom ein:
Andante tranqvlllo. d)i 68
^m
eto.
Das ist die stille Seligkeit. Ein zweiter Theil des Satzes
in Ddur, zeigt erregtere Herzen, lebhaftes Zwiegespräch
von ewigem Glück, zeigt ungeduldiges Sehnen. Dann kehrt
der Bdurtheil wieder von einer Coda gefolgt, in der der
üeberschwang der Stimmung sich eigens in einer Clarinetten-
cadenz Luft macht. Unruhige Trompetensignale reissen
28*
^ 356 ^
den Zuhörer aus dieser Idylle fort. Das Leben mit seiner
harten Prosa ruft. Der vierte Satz (AUegro, G, Dmoll)
beginnt.
In seinem ersten Theil stellt er von den Trompeten-
tönen immer wieder unterbrochne Sätze unruhigen Cha-
rakters auf. Das erste Hauptmotiv ist an ein verwandte«
aus dem ersten Satz angeknüpft:
yi. r- P C-^g^^p^^if-f^i^^ • steigend
und steigernd tritt zu ihm das feste und energische:
men benutzen es zum Fugiren. Und bald nach der ersten
Durchführung erscheint dann das (oben angeführte) schöne
zweite Hauptthema des ersten Satzes, wie der gute Geist
der den Kämpfer leitet, des Mühens und Ringes Preis und
Lohn. Umsonst, alles umsonst! Noch einige verzweifelte An-
läufe, äusserster Kraftaufwand, Wehrufe mit Intonationen,
Verlängerungen und Verkürzungen des letztcitirten Fugen-
themas gemischt — dann setzen die Messingbläser den
Choral , Herzlich thut mich verlangen' ein. Der Com-
ponist hat sich ihn mit dem Text „Wenn ich einmal soll
scheiden' und somit als Grab- und Trauermusik gedacht
Diesem Ende sendet er einen Epilog nach, der dem leiden-
schaftlichen Schmerz, mehr noch aber der süss wehmüthigen
Erinnerung an die schönsten Momente der vorausgegangnen
Sätze gewidmet ist.
Von Berlin aus ist vor einem Jahrzehnt noch eine
Programmsinfonie von Friedrich Koch bekannt ge-
worden, die den Titel führt: ,Von der Nordsee'
(Dmoll, op. 4). Unter den neueren Schilderungen des
Meers in der Sinfonie ist sie die bescheidenste. Nur im
letzten Satz (Auf hoher See) scheint die Phantasie von
einem Hauch des unergründlichen Urelements und seiner
c^ 357 «*
Kraft belebt. Die andren (Friesenfiahrt, Abend am Strande,
Spiel der Wellen) sind im Cbarakter der sanften Bilder
Douzettes aufgefasst: Mondschein über den glatten Wellen
und Anmuth ringsum, Hoffinann*sche Schale!
Auch im Auslande tritt die Prognunmmusik in Sin-
fonie und Suite hinter den Werken zurück welche bestimmte
poetische Ziele nicht angeben oder vielleicht — was schlinmi
ist — gar nicht einmal haben. Nur Frankreich macht,
alten Traditionen folgend eine Ausnahme. Die Programm-
suite ist hier geradezu die Normalform für cjclische
Orchestercompositionen ; eigentliche Programmsinfonien ge-
hören aber auch hier wie zu den Zeiten von Berlioz zu
den Seltenheiten. Als eins der wenigen Werke dieser Art,
die die Landesgrenze überschritten haben verdient die in
neuerer Zeit wiederholt auch in deutschen Concerten ge-
brachte Sinfonie zu Schiller*s «Wallenstein* von Vi n- ThiMBtd'bidy
cent d*Indy (op. 12) Beachtung. Der Componist nennt »W^UeMtein«.
diese Arbeit, wohl an Schiller*s Gesammttitel anknüpfend,
eine ,Trilogie*. Das ist für Form und Inhalt des Werks
etwas zu volltönend. Es sind nicht drei Sinfonien, die er
vorlegt, sondern es ist eine Sinfonie, — ähnlich wie die
LiBtzt*sche zu ,Faust' — in drei Sätzen. Der erste will ein
Bild des Lagers, der zweite des Liebespaars (Max und
Thekla) geben; der dritte knüpft an .Wallenstein's Tod*
an. Ein enger Zusammenhang besteht nur zwischen dem
ersten und dritten Satz; der zweite, der auch den Unter-
titel Piccolomini führt, eignet sich für eine Einzelauf-
fUhrung. Die Sinfonie zeigt wenn auch keine besonders
tiefe, so doch eine im Ganzen sehr lebendige Auffassung der
deutschen Dichtung, eine anschauliche musikalische Er-
findung und einen auf breiter Bildung ruhenden, ge-
schickten Stil. Individuelle Züge sind d^Indy nicht eigen,
sondern er theilt mit der Mehrzahl der neufranzösischen
und neurussischen Orchestercomponisten die Vorliebe für
Nonen und Undecimenaccorde , für Orgelpxinkte und ähn-
liche harmonische Vergrösserungsmittel, den Wagnerischen
Einfluss auf die Stimmführung, die interessante, dissonanzen-
reiche Contrapunktik. Wie alle diese Ausländer ist auch
^ 858 ^
V. d^Indy ein hervorragender Colorist, allerdings starkem
Farbenauftrag etwas einseitig zugeneigt.
Rheinberger hat mit vollem Becht dem Wallen-
stein selbst in seiner Sinfonie einen vollen Satz ge-
widmet. d^Indy begnügt sich dessen Gestalt ab und zu
durch die Sätze schreiten zu lassen. Es war ihm nicht um
die Schilderung von Charakteren zu thun^ sondern darum
die Eindrücke der Schiller^schen Dramen ins Musikalische
zu übertragen:
Bei dem ersten Satz ,Le Camp de Wallenstein' (Wallen-
8tein*B Lager) macht sich die französische Abkunft der
Musik am deutlichsten geltend. Sie hat für die ernsten
Figuren und Reden des Schiller^schen Lagers keine Töne
und lässt nichts von der Zeit und dem Boden ahnen die
dem Vorspiel der Trilogie seinen Charakter und eine ge-
wisse GrrÖsse geben. Das Lager d*Indy's ist ohne Unter-
brechung munter, ausgelassen, kommt niemals zur Buhe,
wimmelt von Spassmachem und Jongleuren, besteht aus-
schliesslich aus leichten Truppen und leichten Vögeln.
Seiner formellen Anlage nach ist es ein Scherzo mit etwas
buntem Haupstatz (Allegro, Gdur). Es setzt mit folgen-
dem Thema ein
Allegro giusto. « s 160
m
S^TT^'fTi iill . ^"^
£
^ ' n ' "p""^ ' P
etc. das uns
mitten hinein in den fröhlichen Lärm der Massen fuhrt,
fröhlich und elementar. Denn die G^ebilde die der Com-
ponist aus seinen Motiven entwickelt sind unregelmässig.
Hier führt er uns vor eine fünftaktige Gruppe, dort kommen
zwei- xind dreitaktige, hier hält er an einem Motiv fest,
dort schweisst er zwei oder mehrere zu bald kürzeren,
bald langem Abschnitten zusammen. Unberechenbar und
frei will er uns das Leben und Treiben des Lagers sehen
lassen. Der erste Abschnitt über dieses Hauptthema
Bchliesst in Hdur. Der zweite setzt in Emoll ein und
geht von Cdur aus ins Ddur in Modulationen und mit
^ 859 '^
wilden Trillern die den Walkyrenritt Wagner*8 für einen
Augenblick vor die Phantasie rufen. Ein dritter Abschnitt
Über dasselbe Hauptthema beginnt in Asdur, und geht
Ton Bmoll aus allmählich nach der Haupttonart G zurück
die in Solopassagen der Violinen (einige Takte geht die
Flöte mit) erreicht wird.
Da beginnt ein erster Seitensatz, dem das ruhigere
Thema
Js144
zu Grunde liegt. Es kommt nicht weit damit. Den
Augenblick wo die erste Violine sich ein Motiv zum
Schwärmen aussucht, benutzt die derber gesinnte Masse
um mit einem Walzer einzufallen, dessen grob einfache
Weise
Allef^ro moderato. J.= 76
durch die seltsamen Humore der Begleitung — die Bässe
bleiben lange auf den zwei Tönen e und h — bedenklich
gestört wird. Nach einem Zwischensätzchen, in dem die
Flöte das Solo hat, wird wohl die übliche Wiederholung
erreicht, aber die rechte lustige Stimmung bleibt aus und
am Ende haben die Störenfriede, die einen '/^ Takt hinein-
werfen die Hauptstimme. Der Tanz hört plötzlich auf
und wie aus der Form hören wir wieder den Lärm des
Lagers mit dem der Satz begann. Wir haben es mit der
üblichen Wiederholung des Hauptsatzes zu thun. Doch
verschmäht es der Componist sie glatt und wörtlich zu
bringen. Wie er den Hauptsatz zunächst pp einsetzt, hat
er ihn auch in der Tonart verändert, nämlich nach Edur
gebracht und auf den Quartsextaccord gestellt. Aehnlich
bringt er das erste Seitenthema, das beim ersten Mal in
Gdur auftrat, jetzt in Es und vertheilt seinen Vortrag
taktweise auf verschiedne Instrumente. Auch jetzt kommt
dieses zum Schwärmerischen neigende Thema nicht zu
e^ 360 ^
seinem vollen Rechte. Ali es sich ausbreiten will, entsteht
unerwartet Tumult. In den Bläsern treten wieder Ver-
treter des zweitheiligen Rhythmus ein. Ein Schreck geht
von ihnen aus: von unten bis oben rufts durch das
Orchester: cis-fis. Dann eine lange Greneralpause und
darauf
Allefrro otoderato e g1oco80.(Jc86) ^
rs^ M J' I c? a£fej p J"Q
ete.
Zu dem einen Fagott kommt ein zweites, bald ein drittes;
der Satz lässt sich zu einer Fagottfiige an und versetzt
uns in die Zeiten R. Keisers der in seinen Opern Quartette,
Quintette und Sextette für Fagotten schrieb. Wie hat sich
die öffentliche Auffassung des Instruments seitdem ge-
ändert! Damals der Lyriker unter den Blasinstrumenten,
ist es heute der unfreiwillige Komiker. Hier bei d'Indy
vertritt es den Kapuziner mit seiner Predigt und der Lohn
seiner wohlgesetzten Reden ist ausgelacht zu werden. Das
thun zuerst die Geigen, bald die Clarinetten mit, in chro-
matischen Sechszehntelgängen. Dann packt aber die
Oboen und die andren Holzbläser eine gewaltigere Heiter-
keit , sie platzen in kurzen Zwischenrufen « J^^ heraus.
Das Piston setzt ein und parodirt das Fugenthema, das
die Clarinette gar verzerrt, während die Violinen, die
Flöten dazu, sich auf einem langen Triller vor Lachen
schütteln und dem folgt ein elementarer Ausbruch von
Ausgelassenheit in Motiven die auf den Walzer zurUck-
Allegro oon fuooo. _
gehen: § \\} ^ \J ^f ^ '' ^-^.*e. Ter-
geblich versucht die Tuba das Fugenthema dem entgegen-
c<? 361 ^
zustellen, der Länn wächst nur. Da plötzlich klingt^s in
Hörnern, Trompeten und ^Posaunen:
Largo e maestoso, d s 66 ^0- i"^
J|H||J. fil -UJ [■ Ff «r p A*^m Dm bedeutet:
der Feldherr, Wallenstein taucht auf. Nehmt Euch in
Acht! Der unglückliche Kapuziner wird freigelassen,
Alles nimmt wieder seine gewöhnliche Miene an. Das
Trio das mit dem Thema des Fagotts begann ist zu Ende ;
der Hauptsatz des Scherzos kehrt wieder. Nicht ganz
wörtlich sondern mit mehrfachen Aenderungen, deren
wichtigste das Colorit betreffen. Im Walzer erscheint eine
sehr pikante Episode für drei Flöten als etwas Neues.
Am SchluBs konunt das erste Thema des Hauptsatzes in
vergrösserten Rhythmen und erweitert, als wollte es sich
zu einem Hymnus ausbreiten, einem Preislied auf den
Helden, den vergötterten Wallenstein, dessen Thema als
einer der letzten Gedanken der Composition auftritt.
Der zweite Satz der Sinfonie (Andante und Allegro
G, Esdur), Max und The cla betitelt, lässt breite gefühl-
volle Melodien mit erregten Themen wechseln und zeichnet
damit die tragische Lage des Schiller'schen Liebespaares.
Wie einst in Verona so haben sich hier zwei Herzen in
kritischer Stunde gefunden; auch ihr Loos ist in die Händel
der Parteien verflochten. Der Componist hat der lieber-
Schrift des Satzes noch den Nebentitel .Piccolomini* bei-
gefügt um den Zuhörer darauf vorzubereiten, dass er hier
unbewölkte, ungestörte Liebesscenen nicht zu erwarten hat.
Die Musik lässt darüber vom ersten Takt ab keinen
Zweifel. Die Pauke zeichnet mit dem im Satze oft und
bedeutend wiederkehrenden Rhythmus: ^^ Jj J den
kriegerischen Boden, der betreten werden soll; die
Violinen machen uns mit dem ebenfalls durch die meisten
Abschnitte der Situation klingenden Motiv
^ 362 ^
Aadante.
y ^^ 1^ f^' [J* I ^ - auf Trauer und Klage gefasst
uod die Hörner die mit einigen Takten die Einleitung
vervollständigen, spielen ebenfalls im resignirten Ton.
Das erste Thema, welches nun in den Bläsern (Hörner
und Clarinetten) mit folgendem Anfang
Andante. J:66
Fjf Lj/l? » II einsetzt, ist sehr breit entwickelt. Dem
in Gesdur schliessenden Nachsatz folgen zunächst einige
Takte über das oben skizzirte Paukenmotiv, dann beginnt
die Wiederholung des Themas in hellrem Klang der
Violinen. Sie wird aber sofort — vom zweiten Takt ab —
zur Variation, zwingt den Ausdruck zu grösserer Wärme
und erreicht bald gehoben und freudig das Ende. Doch
gerade bei diesem Ende lässt der Componist noch einen
starken Schatten nachkommen. Es ist die Imitation die
die Hörner und Posaunen tiefen und gedämpften Klangs
von dem letzten Takt gaben. Auch der Paukenrhythmus
tritt wieder in den Vordergrund. Die ganze Gruppe mag
wohl Max und seine Sehnsucht schildern sollen. Jetzt
setzt ein neues Tempo: AUegro risoluto mit folgendem
Hauptthema
Alleg ro risoluto. J s|26
^fes
eta
As l'B
ein. Der Componist zeichnet die Parteien und die Wirren
die den Gegenstand von Schiller's Piccolomini bilden.
Dem einen Thema tritt zunächst ein klagendes zur Seite
^^ 1* f^ i't r^r f-P^ I ^f^-^ ^^' ^^ ^"* "™ *^
^ 363 '^
mehr an das Liebespaar erinnern darf als es theilweise
mit Nachahmungen zwischen Violine und Cello begleitet
und von langsamen, gehaltnen Episoden unterbrochen wird,
in denen Bruchstücke der später zu erwähnenden Liebes-
melodie (in Hdur) auftauchen. In einem zweiten Ab-
schnitt, der in C dur einsetzt bringt das Allegro ein zweites
Thema ''ß)^\^ J ["Dir' " ' I = das von Wagner^s
Nibelungenmusik sichtlich beeinflusst eine ähnliche Rolle
übernimmt wie in der Originalquelle : Es ordnet, klärt und
führt einen Aufschwung herbei der sich bei der Wieder-
kehr des Hauptthemas durch einen helleren, entschiedneren
Klang äussert. Nun ist auch die Zeit wo die liebenden
Berzen sich öfiFnen dürfen. Ein Andante tranquillo bringt
die schöne, etwas Gounod^sche Liebesmelodie, deren An-
fang folgendermassen lautet:
|. Die Clarinette
führt sie ein, das Cello nimmt sie ihr ab. Noch ehe das
Zwiegespräch zu Ende ist, hören wir versteckt mehrmals
die Triolen des Wallensteinthemas. Dann tritt die Liebes-
melodie mit jenem Thema des Andante, das den Satz be-
gann, zu einem wirklichen Dialog zusammen ( — jenes in
den Holzbläsern dieses in den Geigen). Auch diese
schliesst mit den markirt hervortretenden Wallenstein-
triolen in beiden Violinen und Bratschen. Und nun setzt
Maestoso das Wallensteinthema aufregend in Posaunen
und Trompeten ein ; aber es endet in Dissonanzen und das
Tremolo der Bratschen kündet nichts Gutes. Der Com-
ponist will unsre Gedanken hier auf den Anschlag gegen
Wallenstein lenken. Desshalb setzt er auch das jetzt
wiederkehrende Allegro risoluto in Esmoll und giebt ihm
ein Ende in gedämpftem Ton. Die Liebesmelodie kommt
darin noch einmal als Adagio und halb unterdrückt.
Der Intention nach ist dieser zweite Satz von d'Indy's
^ 864 ^
Wallensteinainfonie der bedeutendste des ganzeD Werks.
Leider hat den Componisten im Allegro die Erfindang
Dicht genügend unterstützt.
Der dritte Sats der Sinfonie (Tres large, Allegro,
Maestoso, H moll (p) , Wallenstein^s Tod' betitelt, beginnt
mit einer langsamen Einleitung, die schauerliche Absichten
mit Berlioz'schen Mitteln der Modulation (Hmoll und
Dmoll nebeneinander) und Instrumentation (Geigen in
den höchsten Lagen getheilt ; von Blfisem nur Flöten und
Posaunen) verfolgt. Natürlich tritt in ihr auch bald das
Wallensteinthema auf. Nachdem so am Anfang ein Blick auf
den Ausgang der Composition geworfen worden, beginnt
die eigentliche Darstellung mit einem Allegro, das wohl
Verschwörung und Empörung zu zeichnen bestimmt ist
Zunächst in den tiefen Instrumenten wühlend und stechend,
erscheint folgendes Thema
Allegro. J s 100 V^a
das ersichtlich von dem Wallensteinthema abgeleitet ist
Klopfende Achtelrhythmen in Holzbläsern und Hörnern
bilden die Begleitung. Mit dem Abschluss der Gruppe
(in Hmoir tritt ein Seitenthema ein J ■ J j-i I i ^F^
zugleich aber setzt auch die Musik ein die im ersten Satz
der Sinfonie den Lärm und das frohe Treiben des Lagers
schilderte. Dieses Lagerthema nimmt nun im Schlusssati
der Sinfonie einen sehr breiten Raum ein und beherrscht
den Satz allein oder mit andren Motiven vereint oder
wechselnd länger als es die Bedeutung, des Gegenstandes
erfordert. Vincent d'Indy hat für die Darstellung des so-
genannten Milieu wie das — man denke nur an Raff*s
Schlusssätze von Lenore und von der Waldsinfonie —
den Progranunmusikem sehr häufig begegnet, zuviel ge-
than und ohne dadurch eine ganz klare DarsteUung der
äusseren Hergänge zu erreichen. Niemand wird mit Be-
cc 365 "^
stimmtheit den Punkt bezeichnen können, an dem Wallen*
stein fällt.
Zu den besseren und schönen Theilen der Composition
gehört der Anfang des Maestoso mit dem an Schumann^s
, Manfred* erinnernden Thema
Maestoso. J «60 ^
^^"1 r iiniiiih'i J UJJi.ni
Lüyii ilii '«
„L» MST«.
eine Wiederholung des Allegro mit einigen Aenderungen:
es nimmt z. B. das Maestosothema mit auf. An seinem
Schluss erscheint die Liebesmelodie des zweiten Satzes
und ihr folgt ein zweites Maestoso, in das der Componist
aller Wahrscheinlichkeit nach die Katastrophe hat ver-
legen wollen. Ein Largo, das in verklärten leuchtenden
Farben, die Harmonien der Einleitung wiederholt, schliesst
den Satz ab.
Die zweite französische Programmcomposition auf die
hier wenigstens ein kurzer Blick geworfen werden muss,
ist die Sinfonie ,La Mer* von Paul Gilson (ohne ''^ ®**^*
Opusangabe). Der Componist ist zwar Belgier, aber ähn-
lich wie C. Franck, Edgar Tinel und die überwiegende
Mehrzahl seiner Landsleute in seiner Kunst durch und
durch Franzose. H. Berlioz's Ansprüche an die Orchester-
besetzung insbesondre hat bisher Niemand mit gleicher
Unbefangenheit aufgenommen und erweitert wie dieser
junge Belgier. Im letzten Satz seiner Sinfonie verlangt er
ausser dem schon starken Bläserchor des gewöhnlichen
CJoncertorchesters noch eine zweite Garnitur Holzbläser
und ein Dutzend Saxhömer. Dieser Aufwand und die be-
rechtigte Furcht von den akustischen Wirkungen dieses
Finale mögen der Sinfonie von Gilson den Zugang zu dem
deutschen Concert wesentlich erschweren. Gekannt zu
werden verdient sie weil sie als die talentvolle Leistung
eines Hauptvertreters der extremen Koloristenpartei einmal
ein Licht darauf wirft, was den Formen der Sinfonie unter
cf? 366 ^
4er Herrschaft dieser Richtung bevorsteht Das ist gerade-
so wie in der Malerei eine collossale Verarmung des eigent»
liehen innren Lebens zu Gunsten einer nebensächlichen
Naturtreue.
Am stärksten ist dieser Eindruck im ersten Satz
(Allegretto, •/g, Fdur) dem nach einem höchst umständ-
lichen mit mythologischen und sonstigen Schemen arbei-
tenden Gedicht, dem Programme der Sinfonie, die Aufgabe
zufallt den Sonnenaufgang zu schildern. Man erwartet
da eine Einleitung, die der Schatten der Nacht und der
Dämmerung gedenkt. Aber der Componist setzt sofort mit
einem fertigen Thema ein:
^ Allegretto. J.= 80.
jit^u_urjLt^ 1 1 j. I i-n' r f I r^r"!;!' '
das wohl die Stimme des seelenlosen Meeres bedeuten soll.
Und diese sowie so schon an Sequenzen d. h. an
Wiederholungen desselben Motivs reiche Weise wird nun
durch den ganzen Satz unaufhörlich wiederholt meist wört-
lich und vollständig. Nur in der Mitte des Satzes, da wo
sonst die ersten Sätze der Sinfonien die Durchfuhrungs-
partie bringen, begnügt sich der Ck>mponist mit Bruch-
stücken seines Themas und fügt auch auf einige Abschnitte
hin eine Bildung aus auf- oder absteigenden Achtel-
figuren hinzu, die man für eine Art neuere Gedanken an-
sehen kann. Sonst aber bleibt er unerbittlich bei seiner
Melodie wie sie steht. Keine wesentliche Entwickelung,
keine Umbildung giebt ihr den Schein des Neuen und
wenn es des Componisten Absicht war die Eintönigkeit
des Meeres vor die Stelle seiner Zuhörer zu bringen, so
hat er diese Absicht bis zu einem Grad erreicht, der ausser-
halb der Grenzen der Kunst liegt
Der zweite Satz (AUegro, */« und "Z^, Adur) hat die
Ueberschrift , Matrosen-Lieder und -Tänze* und
bildet einen Reigen lustiger Scenen von sehr frischen und
c<? 367 -ö"»
kräftigen Grundton. Es scheint als wären fiir die fröh-
lichen Bilder Volksweisen mit verwendet. Auch in diesem
Falle bleibt dem Ck>mponisten das Verdienst sichrer, klarer
und wirksamer Gestaltung. In der Sicherheit mit der eine
grosse Menge bunter Gestalten gruppirt ist gleicht der
Satz dem Scherzo in Svendsen's Ddursinfonie und in der
Lebendigkeit, Unmittelbarkeit und in der freudigen Theil-
nähme mit der er das Glück und die Lust der untren
Schichten schildert, zeigt er sich als echter Sohn der
Niederlande.
Der Satz zerfällt in zwei Haupttheile. Dem ersten
liegt folgendes Thema:
- AUegro. J : 116.
zu Grunde, das, von unbedeutenden Nebenmotiven gestreift,
eine lange Entwickelung erfährt An dem Schluss wird
der Ton wilder: ein Presto tritt ein:
i|!''i'' I M r7i
Bald aber kommt eine ruhigere Weise in ihm:
p-fTTff iT^Jr I r7> I n-^^.
Trotz des Presto ist der zweite Theil des Satzes, in den
wir jetzt gelangt sind ein Ersatz des alten Trios. Es
schliesst mit einem noch mehr gesteigerten Tempo (Molto
presto). Aber in ihm kommt äusserlich fürs Auge viel-
^ u Molto presto.
leicht etwas fremd : Wj J Jl-lJ ( \^ ' ^^ Thema
des Hauptsatzes wieder. Wir sind also in der Wieder-
holung des ersten Theils eingetreten. Als dann die Holz-
bläser im breiten Gesang die Melodie aufnehmen, baut der
Componist seine Harmonie auf einen langen basso ostinato
^ 368 '^
auf, in deo scheinbar leichtesten Aufgaben die grosste
Kunst entfaltend.
Der dritte Sat« (Allegro moderato, Vi und */4, Desdur)
Dämmerung überschrieben führt uns wieder nach der
See lurück. Wir hören das gleichmässige Plätschern ihrer
Wellen in Motiven, die dem Hauptthema des ersten Satzes
entnommen sind. Erst kommen sie in den Bläsern muntren
Schritts, dann werden sie langsam und leise in den Gkigen
angespielt. Die Nacht kommt, Licht und Bewegung er-
lischt. Wie ein Abendlied erklingt es aus dem englischen
Hom:
Ua f ooo a«BO leato. J = 69.
I>w I>e8 . D^,
eine Idylle im Satz, Gelegenheit zum Träumen ! Dann wird
aber die Bewegung lebhafter. Die Motive aus dem ersten
Satz kommen wieder; die dämonischen Mächte der See
regen sich und messen sich eine Weile mit den Geistern
des Abendfriedens. Auch Nachklänge aus der Tanzscene
durchziehen den Satz.
Der vierte Satz (Allegro moderato, •/,, •/4, Fdur)
Sturm überschrieben, beschränkt sich thematisch auf den
ersten Takt des Hauptthemas de.s ersten Satzes. Die vier
Noten dieses Motivs variirt Gilson in Farben und Harmonien
und wiederholt sie so unermüdlich, dass sie den Hörer
noch Tage lang verfolgen ähnlich wie uns das Rauschen
des Meeres noch lange auf dem Festland begleitet Der
Componist erreicht damit eine geisterhafte, gespenstische
Wirkung, der Eindruck seiner Meerbilder wird ähnlich
wie ihn Haydn von seiner Englandfahrt gehabt haben
muss als er das Meer «das grosse Thier* nannte. Diese
Frucht fällt in Gilson's Finale nebenbei mit ab. Sein
Hauptziel ist: die See in Empörung zu zeigen. Nach
dem Programm geht das Schiff, dem die Matrosen des
zweiten Satzes angehörten, in diesem Schlusssatz zu Grunde.
Das Heulen des Sturmes, das Krachen der Wasserberge
c<? 369 '^
und alle die Schauer der wilden furchtbaren Natur sind
in einer Sinfonie so lebensgetreu wie hier in dem Werke
des Belgiers noch nicht gemalt worden. Wenn es ein
Triumph der Kunst ist das Heulen des Sturmes, die schreck-
lichen Schläge der Wellen, das Stöhnen des Fahrzeugs,
die hörbaren Aeusserungen seines Kampfes mit den Ele-
menten mit dem grössten Grad von Täuschung vorzuführen,
80 hat Gilson hier eine Hauptleistung hinterlegt. Zum
Theil sind die Mittel altbewährt, namentlich von Liszt
und Wagner eingeführt: die chromatischen Scalen, die
hohen Triller, die hereinprasselnden Accorde der schweren
Bläserharmonie; zum Theil sind es Combinationen rhyth-
mischer Natur die Gilson für sich in Anspruch nehmen
kann. In den kritischen Minuten ist auch ein Männer-
chor zugezogen der die Matrosen darstellt ihre ver-
zweifelte Arbeit mit ,hohe* begleitend. Nachdem das Un-
glück geschehen, hören wir das Thema des ersten Satzes
in seinem vollen Umfang noch einmal. Das Meer hat kein
Erbarmen und kein Gewissen; es giebt sich so unschuldig
und gleichgültig wie am Morgen, da die welche jetzt in
der Tiefe ruhen, die Sonne aufgehen sahen.
Die Aufgaben, die sich die französische Progranim-
suite stellt, laufen in der Regel auf Stimmungs- und
Situationsbilder allgemeiner Natur hinaus. Es sind im
Grunde Charakterstücke wie sie die französische Orchester-
suite seit Muffat gehabt hat, sie schildern Affekte deren
musikalische Natur ausser allem Zweifel steht und ge-
brauchen den poetischen Titelzusatz nur als Sporn und
Hülfe die Phantasie zu beleben und vor dem Einschlafen
auf Gemeinplätzen zu schützen. Der Zusammenhang dieser
Musik mit dem Ballet offenbart sich im Charakter der
Sätze; ja ein Theil dieser französischen Programmsuiten
bekennt auch äusserlich die Herkunft von der Bühne.
Von L. Delibes z. B. haben wir eine Balletsuite aus ,le Roi
s^amuse*^, von G. Bizet zwei Suiten die aus der Musik zu-
sammengestellt sind, die der Componist der „Carmen*^ i. J.
1872 zu A. Daudet's Schauspiel ,L'Arl^sienne* ge-
schrieben hat.
Kretztclim»r, Führer, I. 24
co 370 ^
G. BiMt Von diesen beiden Suiten Bizet's ist die erste in
L'Ari^tieime I. Deutschland ausserordentlich verbreitet, ist wohl mehr als
irgend eine zweite neuere französische Orchestercomposition
aus den Kreisen der Abonnementsconcerte hinaus in die
Volksmusik gedrungen. Das ist nur natürlich, denn sie ist
eine so reizende Arbeit wie wir nur wenige haben und bleibt
— mannigfach gehaltvoll — leicht, klar, liebenswürdig auch
da wo sie Ungewöhnliches und Ausserordentliches bietet.
Eins wollen wir Bizet nicht vergessen : das ist die ELnapp-
heit seiner Entwickelungen und Ausführungen.
Die erste Nummer unserer viersätzigen Suite (Allegro,
C, Cmoll) die die Ueberschrift Pr^lude hat, bildet in der
vollständigen Schauspielmusik die Ouvertüre und hat den
doppelten Zweck auf die Hauptzüge und den Charakter
der Handlung vorzubereiten und uns mit T^and und Leuten
etwas bekannt zu machen. Das zweite Ziel verfolgt Bizet
mit dem Thema das den Satz eröffnet:
AUa^rodeciM. Jsl04
I L'iJi ' I
JJJ j NJjJjl
Es ist eine provencaliscbe Volksmelodie als ,Marche de
Turenne* in Frankreich bekannt. Bizet entwickelt sie in
einer Reihe Variationen ernsten Charakters die die Phan-
tasie seiner französischen Zuhörer mit ganz bestinmiten
geographischen und culturhistorischen Bildern erfüllen
müssen wie wir ähnlich bei , Jetzt gang ich ans
Brünnele* an Schwaben denken. Zuerst kommt die Melodie
ohne Begleitung aber in mächtiger Besetzung (alle Streich-
instrumente mit Ausnahme der Contrabässe, Holzbläser,
Saxophon und Homer). Dann wird sie zart von der
Clarinette gesungen, von der Flöte, englischem Hom und
beiden Fagotten mit schmiegsamen Harmonien begleitet.
Die zweite Variation bringt das Thema von sämmtlichen
Bläsern gespielt; sämmtliche Streichinstrumente begleiten
ebenfalls unisono in Achtelfiguren die c als Orgelpunkt
cc 371 ^
festhalten in den Nebennoten aber die Scala empor-
klimmen. Die Perioden setzen pp an und gelangen zur
selben Zeit wo die Figuren sich der Octav von c nähern
ins f und /f.
Die dritte Variation bringt das Thema im langsamen
Tempo in Cdur vom Cello vorgetragen, Hom und Fagott
begleiten. Die vierte Variation hat es wieder in der An-
fangsbewegung und im grossen Glanz des vollen Orchesters.
Mit einem kleinen Anhang schliesst die Variationengruppe,
die dadurch ungewöhnlich ist, dass sie auf die modernen
Mittel des Variirens, auf wesentliche Veränderungen des
Themas selbst, verzichtet. Bizet wollte mit Rücksicht auf
den Zweck seiner Musik so einfach und gemeinverständlich
als möglich bleiben; er ist trotzdem nicht in Monotonie
verfallen.
Die Mitte, oder den zweiten Theil des Prdlude füllt
AiMUoiemoUo.
fast ganz das Motiv JHn»^ ( _ i (j I p^ • Jeden zwei-
ten Takt erhebt es seinen Klageruf. Wie auch die Musik
ihre Wege wählt, durch alle Harmonien drängt es sich.
Wenn je so darf hier an eine fixe Idee gedacht werden
und thatsächlich bedeuten jene vier Noten auch etwas dem
Aehnliches. Frdderi, der Held des Daudet^schen Schau-
spiels, muss das Mädchen von Arles (rArl^ienne) auf-
geben weil sie eine Unwürdige ist. Aber er hört nicht
auf an sie zu denken sich nach ihr zu sehnen und an dem
Abend wo seine Verlobung mit einer Andren vorbereitet
wird, stürzt er sich zum Fenster hinaus. Der mittlere
Theil des Prelude malt nun mit der unaufhörlichen
Wiederkehr dieses einen Motivs den Geisteszustand des
armen Fr^deri, der so ganz bis zur Sinnlosigkeit von
dem Gedanken an die Verlorne beherrscht wird. Ein
Un pen aolas lento. J = 76.
dritter Theil, in dem das Motiv ^ ' ' -lU ' ' ^
24*
oT 372 ^
die hauptsächliche Entwickelung trägt , malt das Sorgen,
das Hoffen und Ringen der Umgebung. Die letzten Takte
des Satzes nehmen Bezug auf den traurigen, schrecklichen
Ausgang des Stückes.
Der zweite Satz (Allegro giocoso, '/4, Cmoll) als
Minuetto bezeichnet ist als Zwischenaktsmusik zur Eröff-
nung heitrer Scenen componirt. Er hat die alte, von
Haydn her bekannte Anlage. Der Hauptsatz stützt sich
auf ein Thema das bei aller Einfachheit und Beschränkung
doch eine feine wählerische Hand verrät h. Die Bass-
fuhrung zeigt sie:
giocoso. J r 184 ^^ ■ ^-^ , r I J |
Mcmioa AUocro giocoso.
fT^I-^-QU-4-^
Mehr als vom Hauptsatz wird jedoch das Wesen dieses
Minuetto von dem andren Theil, dem an Stelle des Trio's
stehenden Satz bestimmt. Er steht in Asdur mit folgen-
dem Thema:
^Jgrnrnri'i'i in i htm h
Mit seinem innigen elegischen Ausdruck fesselt es an sich
schon das Gemüth des Hörers; der Componist verstärkt
aber seine Macht durch die sichtliche Liebe, mit der er
bei ihm weit über die normale Zeit hinaus verweilt
Der dritte Satz (Adagio, */4, Fdur), Adagietto be-
titelt, ist kaum mehr als ein Lied mit einem kleinen selb-
stäudigen Mittelsatz, sonst von einfachstem Bau. Die
Hauptstrophe bildet Vorder- und Nachsatz und wird soviel
ausgenutzt als nur möglich ist und in ihr selbst sind die
melodischen Verhältnisse so leicht gewählt als es nur sein
kann. Grössere Schritte kommen fast gar nicht vor.
Diese äusserste Einfachheit, die das innige Stück noch
<C' 373 ^
rührender macht als es an und für sich schon ist, dient
hier Zwecken dramatischer Charakteristik. Es begleitet
den Dialog zweier alten Leute im Stück: der Mutter
Renaud und des Schäfers Balthasar, die sich um brav zu
bleiben vor fünfzig Jahren getrennt haben und jetzt zum
ersten Mal wieder sehen. Als die Musik der alten Leute
zeigt sich das Adagietto auch in seiner bescheidnen Be-
setzung (Streichquartett) und im Tempo das man kaum
zu ruhig nehmen kann.
Der Schlusssatz (Allegretto moderato, ^Uj Cdur)
»Carillon* betitelt, ist derjenige welcher den Concerterfolg
der Suite unter allen Umständen sichert. Eine Harmonie
gegen einzelne liegen bleibende Töne (liegende Stimme)
zu führen oder gegen ein im Bass festgehaltnes Motiv
(Basso ostinato) das ist nichts Seltnes. Aber ein Motiv in
einer Mittelstimme ohne Unterbrechung sechzig Takte
hintereinander wiederkehren zu lassen und darüber und
darunter eine Musik in Fhiss und Charakter zu bieten —
wie das Bizet hier thut, das ist ein Kunststück. Dazu
kommt aber noch, dass dieses Kunststück sich ganz natür-
lich giebt. Der Satz Bizet's ist wirklich ein Stück Pro-
gramnmiusik im eigentlichsten Sinn: Malerei. Er macht
das Glockenspiel nach aber Bizet hebt den EflTekt poetisch
ähnlich wie er in seiner Carmen die Aeusserlichkeiten
des militärischen Lebens getreu aber zugleich auch in
poetischer Verklärung vorfuhrt. Im Schauspiel setzt unser
Finale in dem Augenblick ein wo die jungen Leute nahen
um die bevorstehende Verlobung Fr^deri^s mit Vivette zu
feiern. Was das Dorf nur an Mitteln besitzt um einer
freudigen und hochgehenden Stimmung Ausdruck zu geben,
das wird in Thätigkeit gesetzt. Natürlich müssen da die
Glöckchen auf dem Thurm auch mitthun. Sie spielen :
Allegr«ito aotfanto. J : 104
if^^i J J J I J -p . Unter den Contrapunkten die
ihnen entgegentreten ist der wichtigste der folgende:
cc^ 374 '^
t
f!^^-^^-^r-| n M fl i I fi il i II
als der Ausdruck fröhlicher, flotter Feststimmung. Unter
den Klängen dieses Themas stürmt die Schaar der jugend-
lichen Gratulanten heran. Im Mittelsatz der über folgen-
des Thema entwickelt ist:
AnduitlBO.
tritt das Sprecherpaar hervor und stattet sittig und herz-
lich den Glückwunsch ab.
Der ausserge wohnliche Beifall, mit dem Bizet's 1. Suite
zu TArlösienne in allen Ländern aufgenommen wurde, be-
stimmte seine Freunde die (aus 24 Nummern bestehende)
Musik zu dem Schauspiel Daudet*s noch einmal nach Sätzen
durchzusehen, die im Concert verwendbar wären. Seit
G. BIset etlichen Jahren hat uns Guiraud eine zweite Suite Bi-
L'Ariösienne II. zet*8 ZU l'Arl^sienne vorgelegt, die ebenfalls aus vier
Nummern besteht, welche den Stücken der ersten Suite
in der Wirkung nichts nachgeben.
Sie wird mit einem Pastorale eröffnet, dessen Haupt-
satz auf folgendem Thema ruht:
Andante sostenato ass&l. J : S4. ^^^^^
jr
f f| "^ 1 . In der harmonischen Stellung der
Achtelnoten, in dem ländlich naiven, freundlich liebens-
würdigen Ausdruck froher Stimmung erinnert es an Boiel-
dieu s „Weisse Dame**. Ein Nachsatz von h aus gebildet,
vervollständigt es zur achttaktigen Periode, die von den
Bläsern allein, mit der Flöte als Soloinstrument sofort und
wörtlich aber im zarten Ton wiederholt wird. Da schon
wird die ländliche Scene unterbrochen : die Holzbläser rufen
einander zu als käme Jemand der noch mit will: vom
^
c<? 375 ^
Soxophon und Hom her hören wir ein Motiv, das wie ein
Hailoh klingt. Man wartet auf den Nachzügler und als
er da ist beginnt ein kleines Pastoralconcert, eine echte
Landmusik im ^^/^Takt: dp » Ji r *(ri**r ! ^ f *r f FE etc
wie von Dudelsackharmonien , von den Quintenbässen der
Fagotte begleitet. Lange dauert sie nicht, dasAdurthema
setzt wieder im ff ein, der Zug bewegt sich weiter. Bald
hat er aber sein Ziel, den Spielplatz im Schatten erreicht.
Noch einmal setzt sich alles in Positur, das Messing (Po-
saunen mit) intonirt mit äusserster Kraft und Würde die
A durharmonie , die andern Instrumente fangen Nach-
ahmungen des Themas an. Aber blitzschnell wird das
aufgegeben, die Klänge verhauchen und wir stehen vor
einem ganz veränderten Bild: vor dem zweiten Theil des
Pastorale. Dieser zweite Theil ist in Fismoll und im */4Takt
gehalten, scheidet sich also auch äusserlich scharf von dem
Hauptsatz. Dem Charakter nach ist er eine Tanzscene
und der Componist hat hier sichtlich darauf gerechnet,
dass der Zuhörer die sinnlichen Haupteindrücke durch dan
Auge von der Bühne her empfängt. Denn die Musik er-
geht sich in blossen Wiederholungen. vSie repräsentirt
wohl mit provencalischen halb ehrwürdigen, halb drolligen
Melodien ein Päärchen. Sie singt zierlich:
,fiffffLf|tffrfll
6t0#
P
er ungestüm:
Ein freierer und ausdrucksreicher Abgesang schliesst die
Scene und eine abgekürzte Wiederholung des Hauptsatzes
den ganzen Satz, der durch das reizende Adurthema noch
lange nachwirkt. Im Schauspiel contrastirt sein Hebens-
«<? 376 ^
wUrdig freundlicher Klang aufs Schneidendste mit der
augenblicklichen Situation. Denn der Aufsug des Pasto-
rale erfolgt unmittelbar, nachdem Fr^deri über den ernsten
Charakter der ArWsienne schmerzlich aufgeklärt worden ist.
Der zweite Satz der Suite (Andante moderato, C,
Esdur; Intermezzo überschrieben ist Zwischenaktsmusik
elegischen Charakters. In der kurzen Einleitung, die am
Schluss der Nummer, wiederkehrt wechselt eine starke Uni-
sonofigur mit zarten, geheimnissvollen Bläseraccorden. Der
Hauptsatz gleicht einem Gesangstück dessen gleichmässig
breiter Fluss nur durch einige Takte der Erregung unter-
brochen, dem Ende zu durch Hinzutreten immer weitrer
Instrumente sehr imposant anschwillt.
Auch der dritte Satz (Andantino quasi allegretto,
^'4, Esdur; Menuett betitelt ist ein Stück Zwischenakts-
musik, dem vorigen aber an Originalität weit überlegen.
In der Familie der Menuetts lässt es sich ebensowenig mit
einem zweiten Stück verwechseln oder auch nur vergleichen
wie Mozart's Menuett seiner letzten Es dursinfonie. Zu der
kecken Grazie seiner Melodie, Mie von dem Thema:
getragen wird, kommt eine
ganz ungewöhnliche Instnimentirung: den grössten Theil
des Hauptsatzes spielen Flöte und Harfe allein. Um so ge-
waltiger klingt dann das volle Orchester im Mittelsatz, der
über das feste Motiv il>k fff |FFP| gebaut ist. Die
Pausen füllen Sechzehntelgänge von Flöten, Oboen und
Clarinetten, die durch die Betheiligung der Harfe Härte
und Rückgrat erhalten.
Aehnlieh wie in der ersten, so ist auch in Bizet's zweiter
Suite zu l'Arl^sienne der Schlusssatz (Allegro deciso,
C, */4, Dmoll, Ddur) als die Krone des Ganzen zu be-
zeichnen.
Bis zu den Entrees in den Ballets Rameau's können
«? 377 ^
wir die Tbatsache zurücky erfolgen, dass die französischen
Componisten ihre besten Stunden immer bei der Schilderung
von besondem Aufzügen haben. So sind auch in Bizet's
Suiten der Carillon, das Pastorale und unser Schlusssatz
die bedeutendsten Treffer. Denn auch dieser Schlusssatz
ist eine Aufzugsmusik: Farandole, wie er überschrieben
ist, bedeutet den Marsch und Tanz mit dem die Theil-
nehmer am Fest des heiligen Eligius (Eloi) in der Pro-
vence vor den Häusern und Höfen erscheinen, von deren
Besitzern sie milde Beiträge erbitten wollen.
Bizet's »Farandole* beginnt wie das Pr^lude der ersten
Suite mit dem Marche de Turenne. Doch beutet er die
alte Melodie nicht wieder zu Variationen aus, sondern
bricht sie bald ab und ersetzt sie durch die eigentliche
Farandole. Das ist ein altert hümlicher provencalischer Ge-
sang zu dem auch besondre Instrumente gehören: das
lange schmale Tambourin und das Flageolett : die Melodie
des Farandole ist folgende:
AIlegTO TtTO.
W f^\rt\f\ (jjj-f. ^ I
I r f r r l^= . Die Periode wird wie-
derholt und erhält dann einen Nachgesang:
der ebenfalls zweimal gegeben
wird. Dann beginnt der ganze Reigen von vorn, zwei-,
dreimal erneuert sich das Spiel aber immer lauter. Wie.
aus weitester Feme ppp begann die Farandole, beim
zweiten Einsatz war sie schon im f und fortwährend
wächst sie an Tonstärke, zieht Instrument um Instrument
in ihre Kreise imd klingt mit jeder Secunde entschiedener,
naturmächtiger. Nimmt man noch hinzu wie das Tam-
bourin noch ehe die Melodie eingesetzt hat, schon seinen
Achtelrhythmus begann und wie es seitdem nicht auf-
te 378 ^
Roma.
gehört hat die Achtel weiter zu klopfen, so kann man
sich einen Begriff von der sinnverwirrenden Wirkung
dieser Musik machen. Endlich kommt eine Abwechse-
lung: der Marche de Turenne tritt ein. Aber nur für
kurze Zeit. Bald macht er der Farandole wieder Platz,
die bis zum Ende des Satzes nicht wieder verschwindet.
Wir stehen also dieser Schlussnummer der zweiten Suite
gegenüber vor einem ähnlich behandelten Variationenge-
bilde wie es Glincka's Kamarinskaja ist. Die Bussische
Kunst ein unscheinbares und geistig geringes Thema durch
Zähigkeit zu einer Grösse, ja zu einer Naturgewalt zu
steigern hat sich Bizet mit einer Wirkung zu eigen ge-
macht, die nichts zu wünschen lässt.
Gleichfalls nach dem Tode des Componisten hat man
G. Biiet eine dritte Orchestersuite von Bizet veröffentlicht. Sie
führt den Titel Roma und gehört zu seinen altem Ar-
beiten. Nach den Versichrungen Ch. Pigot's*) hat Bizet
schon i. J. 1863 an ihr gearbeitet, damals noch mit der
Absicht eine Sinfonie zu schreiben. Am 28. Februar 1869
wurde das Werk bei Pasdeloup aufgeführt mit der Be-
zeichnung „Fantaisie Sjmphonique* und dem Nebentitel
,. Souvenirs de Rome*. Der erste Satz trug die Bemerkung
,Une chasse dans la foret d'Ostie* — das ist für eine Suite
mit dem Titel Roma ein zum Verwundern harmloses Thema
— der dritte war als ,Une procession* angegeben, der letzte
wie noch heute Carnaval benannt.
Der erste Satz (Andante tranquillo, C, Cdur und
Allegro agitato, **/^, Cmoll) beginnt mit einem Homquartett,
dem folgender an den Schlüssen etwas Mendelssohnisch ge-
färbter Gesang zu Grunde liegt:
AadMito t^aaqttlllo. J s 66.
j n 'j-TTTHTfr jTpT3r er |f r r |f r T]
■ r ffrripJl^r ^ir^. in derselben Sonn-
^) Charles Pigot: Georges Bizet et son oeuyre. 1886.
c<? 379 ^
tagsmorgenstimmung wie dieses Thema, sind auch die
Strophen gehalten, welche die Geigen ihm entgegen-
stellen. Dann geht die Erwartung in Unruhe über. Be-
wegtere Motive treten ein , die Geigen begleiten in
sprühenden Figuren, aus den Bläsern tönen lockende Rufe.
Die ganze Natur beginnt zu leben, es wird Zeit zum Tage-
werk. Dessen Schilderung ist die Aufgabe des Allegro,
das den zweiten Theil dieser Nummer bildet. Es ist in-
sofern ganz ungewöhnlich angelegt als es weder die übliche
Eintheiluug eines Sonatensatzes noch die eines Rondo zeigt.
Es hat kein bestimmtes Thema aus dem es sich entwickelt,
sondern es sucht die augenblickliche Lage mit immer
neuen Motiven zu zeichnen und überlässt es dem Zuhörer
aus deren Charakter auf den Inhalt der wechselnden
Bilder zu schliessen. Die wichtigsten dieser Motive sind
folgende drei Beispiele:
Allegro Agltato. J.^ 104
p\'\ jMl ,lf JilJ .1', jr, J I ^ üf^^
Der Satz hat einzelne
wenige Idyllen, vorwiegend malt er ein lautes, froh erregtes
Treiben, bei dem die Homer eine Hauptrolle haben. Im
Augenblick wo die Wogen am höchsten gehen, geht auch
die Modulation aus Rand und Band, nämlich in das ganz un-
erwartete E dur. Dieser Abschnitt hat auch ein hervortreten-
des Hauptmotiv nämlich:
Als er wieder in Es geschlossen, verklingt der Lärm; mit
einem Male sind die Schatten des Abends da. Noch einmal
kommt ein Aufschwung aus der sanften Idylle, die das
Allegro geworden ist. Dann kommen die Motive der Ein-
leitung wieder und schliesslich das Andante selbst.
o(? 380 ^
Der zweite Satz (Allegretto vivace, ','4, Asdnr) ist
als das Scherzo der Suite anzuseheD. Seinem Hauptsatz
liegt folgendes flüchtige phantastische Thema zu Grunde:
Jriie.
Zunächst wird es zu einer Fuge benutzt, dann aber zu
einer Reihe freierer leichter Satzbildungen , begnügt sich
später hie und da wohl auch Begleitungsmotive und Ver-
zierungsfiguren zu liefern, z. B. zu folgender Melodie:
Der zweite Theil, dem gewöhnlichen Trio entsprechend,
ißt ähnlich wie in der ersten Suite Bizet's zu TArlesienne
sehr liebevoll ausgeführt. Das warm gesangvoUe Haupt-
thema, das dem zarten Satz zu Grunde liegt, ist:
Der dritte Satz (Andante molto, G, Fdur) gleicht mit
seinem ruhigen ein Gemüth das seinen Frieden gefunden,
kündenden Thema:
Andante molto. J = ^^
jfn JT/JfT JTB-H-i
mehr einer Scene in der Ka-
pelle als einer Prozession. Nur die häufigen Wieder-
«<? 381 ^
bolungen führen uns das Bild des Marsches der aus-
ruhenden und wieder aufbrechenden Pilgerschaar vor die
Phantasie. Bizet hat diesen Wiederholungen ganz im
Gegensatz zu den Verfahren, das Berlioz im Harald ein-
schlug, das Eintönige dadurch zu nehmen gesucht, dass er sie
harmonisch oder in der Instrumentirung variirte. Nament-
lich die letzte Variation hat durch die lebendigen, inter-
essanten Contrapunkte der ersten Violine einen grossen
Reiz. Ursprünglich war dieses Andante von Roma ein
Seitenstück zu dem Adagietto in der ersten Suite zu TArle-
sienne, einfach und knapp. Der Componist hat dem Satz
aber nachträglich einen imposanten Charakter dadurch ge-
geben, dass er das zweite Thema aus dem Schlusssatz der
Suite in ihn hereinnahm und ausführte.
Dieser Schlusssatz (AUegro vivacissimo, ^/V Cmoll) ist
ein Rondo. Sein Hauptthema ist ein Bassrhythmus, der
durch die Dissonanzen mit denen er begleitet wird eine
wilde und ausgelassene Natur und die Fähigkeit erhält,
die Stütze einer tollen Carnevalsmusik zu bilden:
AUerro vivmoiMimo^J r 168.
^^^.
^^
^^
I
^ . P , I 1^^
S
^P ^ p ^
^^
Eine bunte Schaar von Motiven gesellt sich zu dieser
Bassfigur; jedes Instrument, das an der Musik Theil nimmt,
hat ein anderes. Der lustige Tag macht die Phantasie
sprühen, der melodische Segen ist fast unerschöpflich.
Hervorgehoben seien unter ihnen zwei die später benutzt
und bedeutender werden: m^^ i ^ ^ \ p [} und
c<? 382 ^
das von ihm abgeleitete:
Unter den Gedanken der Zwischensätze erregt das Thema
des ersten Zwischensatzes Interesse weil es beim Einsatz
sehr an Nicolai's Lustige Weiber erinnert:
^ ►'l. P I ^" P iTil I O t^ I ft . Dm eigentliche
zweite Hauptthema des SchlusssatzeSfdessen Bekanntschaft der
Hörer schon im vorhergehenden Andante gemacht hat lautet :
iA-|ij j iJ Ji j.jii^^.hh^^J j I j I
Es giebt am tollen Tage edleren (refiihlen Ausdruck und
wenn wir in Betracht ziehen wie dieses Thema im Satze
plötzlich unvorgesehen vor uns steht, so liegt der Gedanke
nicht so fern, dass der Componist damit auf eine liebe Be-
gegnung hat hindeuten wollen. Die innige und schöne
Weise, aus der schon eine Hauptstelle von „Carmen* heraus-
blickt, klingt oft wieder und wirft in die noch folgenden
ausgelassenen Scenen, von der eine Fuge über
f^flU' ' 'nM lli|ilJ^lLJ!£/''LtJlM
die ärgste ist, veredelnde Lichter. Mehr und mehr dem Ende
zu wird aber auch sie ihres Charakters entkleidet und in
den Strudel sinnloser Lust hineingezogen.
In Frankreich wird noch eine sogenannte Kleine
0. Bliet Orchestersuite (op. 22) Bizet's viel gespielt, die den
dcux d'enfanu. Titel führt d e u X d' e n f a u 1 8 d. i. Kinderscenen. Diese
Kinderscenen entstanden als Klaviermusik, ein Heft 12
Nummern umfassend. Zur EröflFhung der Concerte Colonnes
hat der Componist fünf davon instrumentirt und als petite
Suite d'orchestre veröffentlicht. Die erste Nummer ist ein
einfacher Marsch, bei dem Trompeten, Hörner, Pauke und
kleine Trommel, also die Instrumente die die Aufmerksam-
c<? 383 ^
keit des Rindes am stärksten erwecken, sehr hervortreten.
Es ist nicht zu verkennen dass der Humor der Composition
im Klavier reiner wirkt. Der zweite Satz, eine Berceuse,
ist die Krone des Werkchens durch die Süssigkeit der
Cantilene. Alle Instrumente nehmen die schöne Melodie
für eine Weile, das Cello umspielt mit wiegenden Figuren.
Der dritte Satz «Impromptu'^ ahmt das Brummen des
Kreisels mit einer Trillerfigur nach die in den untern
Mittelstimmen durchgeführt wird. Die vierte Nummer
Duo genannt ist ein kurzes Andantino in dem erste Violine
und Cello in zärtlichen Melodien das Bild zweier Liebes-
leute geben sollen. Der Schlusssatz, Galop betitelt, will
zeigen wie die kleinen Leute Gesellschaft haben und einen
grossen Ball geben. Es geht sehr hoch her. Der Satz
verarbeitet das Thema nach verschiedenen Richtungen,
stellt es sogar in den Bass. Das Ganze ist ein liebens-
würdiges Stück Kleinkunst.
Von Camille St. Saens besitzen wir neuerdings C. St. SaSmt
eine Programmsuite, die den Titel Suite Alg^rienneSuiteAlg^nenne.
(op. 60) führt und wohl als eine von mehreren musikalischen
Früchten jener viel besprochnen Reise zu betrachten ist,
die vor einigen Jahren das Haupt der heutigen französischen
Tonsetzer seinen Pariser Freunden auf längere Zeit entzog.
Der erste Satz (Molto allegro, */g, Cdur) beginnt ge-
heimnissvoll mit einem leisen Paukenwirbel. Dann setzen
die Celli ein:
Molto allegro. JU 144
Mit dem Eintritt der Bratschen wird aus diesen tastenden
Motiven ein Thema:
r f i^i^rTTin
«tc.
cc? 884 ^
und beide, Motivgruppe und Thema, reichen sich die Hand
um vereint den Aufmarsch der Stimmen zu stützen. Der
ganze Abschnitt hat den Charakter einer grossen Spannung:
Leonorenouverture und Rheingoldvorspiel haben Theile
von gleicher Anlage: eine Entwickelung die über einem
Orgelpunkt aufbaut und aufthUrmt und die Phantasie eifrig
mit der Frage beschäftigt was wird kommen wenn die er-
strebte Höhe endlich erreicht ist. Jener Augenblick nahet
sich als die ersten Geigen das Thema nehmen. Da ver-
lässt die Harmonie den lang festgehaltnen Standort auf C
und wendet sich nach G. Das neue Bild aber, das sich
jetzt bietet, ist das Thema
das gehegte Erwartungennicht befriedigt sondern nur steigert.
Was fremdartig an diesen Tönen ist, die wohl einen Gruss,
die ersten Klänge vom afrikanischen Land bedeuten, das
wird romantisch gehoben durch die Einkleidung die ihnen
St. SaSns giebt. Ein Tremolo der Geigen begleitet sie und
ein Freudenschauer des vollen Streichorchesters folgt ihnen.
Von nun ab kommt in die Musik viel grössere Beweglich-
keit; nur der Schluss des Satzes wendet sich wieder ins
Zarte und erzählt von einer Seele, die sich dankbar still
sammelt.
Der zweite Satz (Allegretto non troppo, •/s, Ddur)
bringt nationale Musik. Die Rhapsodie mauresque, wie
die Nummer heisst, zerfallt in zwei Theile. Der erste ist
eine kunstreiche Phantasie über das Glockenspielthema
^^ Allegretto non troppo. J*2 64
II IUI I II Uli Ml 1 1 I II I II
das durch alle Instrumente geht und mancherlei Umbildungen
erfahrt. Die interessanteste und wichtigste bringt es in
ce 885 ^
die Form einer Sechzehntelfigur, wodurch der Satz der in
beabsichtigter Monotonie gehalten ist auf eine Weile be-
wegter und spannender wird. Unter den Contrapunkten
die diesem Hauptthema entgegengestellt werden, machen
sich in den Holzbläsern einige scharf rhythmisirte Figuren
bemerklich, die wohl der Maurischen Volksmusik entnommen
sind. Während dieser erste Theil träumerisch gestimmt ist,
bringt der zweite eine frohe und fröhliche Musik auf
Grund folgender Themata:
Allegro modecMo. Js 188
f nfTTiiniii |i ii r iiirrifrn hi
p
Yi r II I I II 1 1 rfiffiTi i i
Das erste ist in seiner Einfalt und seinem Mangel an Leit-
tönen entschieden barbarisch. Das letzte hat St. Saens
ausserordentlich wirkungsvoll eingeführt. Als Zweck dieser
Rhapsodie könnte man sich ein Ständchen denken.
Dem dritten Satz (AUegretto quasi Andante, ^^g,
Adur) liegt eine zwanzig Takte lange Melodie zu Grunde,
deren Charakter aus folgendem Anfang
^Andantino. J)ift4 ^ ^^^^
zu erkennen ist. Ihr gehen einige Takte in den Holz-
bläsern vorher, die sich durch den freien spielfreudigen
Rhythmus als eine musikalische Gabe der Eingebomen
kennzeichnen, während das hier angegebene Thema me-
lodisch und rhythmisch die europäische Abkunft zeigt.
So haben wir in den beiden Melodien zwei Culturen gegen-
übergestellt, Stoff genug zu einer Träumerei. Denn der
Titel der Nummer lautet Reverie dusoir(k Blidah).
Kretziohmar, FUhrer, I. 25
c<? 886 ^
Jene Maurische Weise bedeutet den Gebetsruf: der Fremd-
ling der ihn hört fühlt sieh fromm gestimmt und gedenkt
dankbar der Herrlichkeit die er am Tage in diesem ge*
segneten Ort genossen. Blidah ist ja die Gartenstadt von
Algier und auch durch geschichtliche Besiehungen aus-
gezeichnet. Dreimal folgt den maurischen Motiven die
lange abendländische Melodie, die Instrumentirung wechselt
und beim dritten Male treten weitre Modifikationen
ein. Die Violinen kommen nicht mit der Melodie
sondern legen als Episode einen zweistimmigen dem be-
schaulichen Nachsinnen gewidmeten Satz ein. Als nun
das Adurthema eintritt, bringen es die Blfiser; erst
in der zweiten Periode treten die Geigen hinzu, die in
einem kurzen Nachspiel den knapp gehaltnen Satz zart
verklingen lassen.
Der Schlusssatz (Allegro giocoso, (J^, Cdur) be-
titelt Marche militaire fran9ai8e ist eine Probe von
den Leistungen des Componisten auf dem Gebiete fran-
zösischer Volksmusik. Denn dazu gehören die Armee-
märsche; ja ihre Musik pflegt ganz besonders sich durch
nationalen Charakter auszuzeichnen. Deshalb tragen in
Frankreich auch die ersten Tonsetzer kein Bedenken dem
Marsch, der bei uns heute fast ausschliesslich den Musik-
meistern der Regimentskapellen überlassen wird, ihre Kraft
zu widmen. So hat auch St. Saens eine lange Schule auf
diesem Gebiete durchgemacht und eine grosse Anzahl ein-
zelner Märsche componirt. Von der Meisterschaft die er
für dieses Fach erworben, legt nun dieser Marsch, der die
Algier'sche Suite schliesst, hinlänglich Zeugniss ab. Was
für ein flottes Wesen sich in dem Stück entwickelt, das
verräth schon das erste Thema
Alle^o giocoso
^^T^U^t34JII JjllOT
/
Ihm folgen noch eine ganze Anzahl kecker Springinsfelde.
c<? 387 ^
Das Trio, das bei uns innig zu sein pflegt, ist phan-
tastisch.
Während diese Werke von Bizet und St. Saens die
Phantasie geographisch in Beschlag nehmen, giebt es eine
Reihe französischer Programmsuiten deren Vorgänge und
Bilder an keinen' bestimmten Ort gebunden sind , sondern
sich überall und nirgends denken lassen. Zu den bekann-
testen Stucken dieser Klasse gehören vor Allem B. G o d a r d *s B. Oodard
Seines poötiques, die seit sie Franz Wüllner hier SoÄnei po6ti-
eingeführt hat, auch in Deutschland einen grossen Freundes- *"*■'
kreis gefunden haben. Es sind kurze pastorale Skizzen:
Jm Walde*, ,Auf der Flur*, Jm Gebirge*, Jm Dorfe*.
Ein anmuthiger kecker Jugendgeist, der in der Natur-
schwärmerei nur eine Gastrolle zu geben scheint, spricht
daraus. Thematisch sind die kleinen Sätze loser und leichter
als die der Bizet'scheu Suiten entworfen und durchgeführt.
Ihr Hauptreiz liegt in der Sicherheit mit der die Form be-
handelt ist. Das ist eine Anmuth in jeder Wendung, eine
vollendete Harmonie in den Maassen und eine Klarheit
die den Genuss wesentlich erhöht. Auch die Instrumen-
tation trägt zu dem Gefühl dass man vor einem in seiner
Art vollendeten Kunstwerk steht, viel mit bei. Der letzte
Satz bei dem die grosse Trommel bedeutend mitwirkt, ist
der origineUste und zeigt das eigentliche Schelmengesicht
des Autors.
Zu dieser Classe gehören auch J. Massenet 's Scenes J. MMseaet
pittoresques. Von den vier Orchestersuiten die dieser als Seines pittore»-
Stütze der heutigen französischen Oper bekannte Componist **^*"*
geschrieben hat, sind die Scenes pittoresques der ver-
breitetste Theil; am nächsten steht ihnen die viersätzige
Suite Eslairmonde, die aus Stücken der Oper Eslairmonde
zusammengesetzt ist.
Die Seines pittoresques beginnt ein Marsch mit
folgenden pikant nüancirten Anfang:
Alleicro moderato. ^.„^
25*
c(? 388 ^
Der Autor zeigt sich nicht als grosser Erfinder und nicht
als grosser Geist, aber als ein Künstler der den Effekt ver-
steht und aufsucht. Die Perioden sind auf üeberraschungen
hin gebildet, das Verhältniss der Sätze ist auf Contrast
gestellt und um einen wirksamen Gegensatz zu bekommen
wird such ein gewöhnlicher oder sehr gewöhnlicher Ge-
danke mit in den Kauf genommen. Sehr hübsch ist es,
wie Massenet das anmuthige Motiv mit dem der Marsch
beginnt, immer wieder in den Satz einzuführen weiss. Hierin
zeigt sich eine sinnige Seite seiner Begabung und ein
hervorragendes formales Talent.
Der zweite Satz, Air de Ballet betitelt, besteht aus
zwei Theilen: In dem Hauptsatz (Hmoll, »/g) trägt das
Cello ein Solo vor, das als Ergänzung von Manrico^s Partie
dem ^Troubadour* als Ständchen einverleibt werden könnte.
Der Mittelsatz bringt (in Gdur) eine von den bekannten
Balletscenen, wo die oberen Holzbläser eine einfache Me-
lodie in Staccatonoten hinstellen. Man hört derartige Musik
nicht ohne dass vor die Phantasie die auf den Fussspitzen
trippelnden Ballerinen treten. Die künstliche Zartheit
dieser Töne wird etwas grob an den Schlüssen von einem
«tarken Tuttieinsatz des Streichorchesters unterbrochen. Im
Cello giebt dann und wann der Sänger Zeichen von Un-
geduld. Endlich ist das Ballet aus und der Hmollsatz
kommt wieder.
Der dritte Satz, ein Andante sostenuto, mit der Ueber-
schrift Angelus ist die Glanznummer der Suite, ein Stück
grosser Kunst, einfach erfunden und der tiefen Wirkung
sicher. Es gleicht zur Hälfte einer Kirchensccne in der
fromme Weisen vom Priester zum Volke gehen. Alles er-
innert an den Gottesdienst, der feierliche Ton der Themen,
der Wechsel schwacher und starker Klanggruppen. Die
leicht präludirendcn Motive scheinen auf die Orgel hinzu-
weisen. Zur Hälfte ist aber die Musik der Nummer Volks-
musik, 80 vor allem die Motive im "/^Takt. Beide Bilder
schliossen sich nicht aus, sondern dass des Volkes Stimme
in der heiligen Ceremonie hörbar wird, hat der Componist
als den Gipfelpunkt der Scene gedacht. Der Schlusssatc
^ 889 ^
,Fete Boheme* ist ein Balletbild, wie es Jedermann
kennt. Eine grosse Menge Volks stUrzt herein mit wunder-
lichen Sprüngen, dann tritt ein Solopaar heraus und ihm
folgt der Chor wie zu Anfang. Die Erfindung zeichnet
diese Musik nicht aus, ihre Wirkung sucht sie in massigen
Klängen.
Von der jungrussischen Schule, deren Geist der
alten Kunst nur wenig gewogen ist, hätte sich eine be-
deutendere Förderung der Programmmusik erwarten lassen,
als sie bisher von dort thatsächlich erfahren hat. Die
wenigen russischen Werke dieser Klasse welche über den
Continent verbreitet sind, rühren von Rimsky-Korsakoff
und von P. Tschaikowsky her.
Von Rimsky-Korsakoff ist es die symphonische BI"»sky.Korwi.
Suite ,Schehezerade* (op. 35) die in letzter Zeit hau- ^^^
figer gespielt worden ist. Der Composition liegt als Pro- S«»»«»»«««'»^«-
gramm ein Abschnitt aus «Tausend und eine Nacht** zu
Grunde, die Erzählung von der Sultanin Schehezerade.
Der Sultan Schahriar hat bisher alle seine Frauen nach
der ersten Nacht ermordet. Schehezerade entgeht diesem
Loos durch ihre Erzählungskunst. Tausend und einen
Abend weiss sie den Sultan durch ihre Geschichten immer
wieder zu fesseln und nach dieser Zeit steht er von seinem
blutdürstigen Plan ab. Rimsky-Korsakoff giebt in den vier
Sätzen seiner Suite vier solche Erzählungsabende, am ersten
wird die Geschichte von Sindbad und dem Meer vorge-
tragen, am zweiten die vom Prinz Kalender, am dritten
die vom jungen Prinz und der jungen Prinzessin, am vierten
die von dem Fest in Bagdad und vom Schiff das an dem
Felsen scheitert. Aber man versteht seine Composition
nur halb oder gar nicht wenn man ihre Bedeutung in der
Wiedergabe dieser Märchen sucht. Das Hauptziel, das
sich der Componist gestellt hat, ist vielmehr: die Cha-
raktere des Sultans und der Sultanin zu zeichnen und die
Wandlung zu veranschaulichen in der das rauhe Gemüt h
des Schahriar allmählich der Grausamkeit entkleidet und
mit Milde und Gesittung erfüllt wird. Rimsky Korsakoff
entfaltet bei der Lösung seiner Aufgabe eine stattliche
c<J
390
-DJ
ErfinduDgagabe und ein grosses Farbentalent. Seine Arbeit
hat aber zwei Mängel, die Vielen die Anerkennung ihrer
Vorzüge erschweren: Masslosigkeit der Formen und der
Farben. Er kann sich häufig nicht entschliessen aufieu-
hören wo die Geringfügigkeit des Gegenstandes schon
längst das Ende erfordert hätte und er setzt einen schweren
und lärmenden Orchesterapparat in minutenlange Thätig-
keit, wo wir überhaupt keine Noth wendigkeit fUr das Auf-
treten rauher Stimmen einsehen können.
Der erste Satz hat eine kleine Einleitung, Largo maestoso,
in der die Hauptpersonen des Märchens sich vorstellen:
Schahriar gebieterisch, stolz rauh und hart:
L&TfO •
J.
die Sultanin behend, anmuthig, liebenswürdig und auch
klug über lange Anschläge verfügend:
Violine
solo.
Lento
Dann folgt ein AUegro non troppo C*/^, Edur) das das
Sultansthema zunächst durchführt, p setzt es ein als wenn
Schahriar durch Scheherazade's Erscheinung betroffen und
in seinem Wesen umgewandelt oder verwirrt wäre. Nur
mühsam gewinnt er die Fassung wieder. Ein forte in Edur
bezeichnet diesen Augenblick. Noch einmal durchläuft er
diesen Gemüt hsprozess. Den zweiten Abschluss markirt
eine Modulation in G dur. Jetzt fangt die Sultanin zu er-
zählen an. Es ist die Geschichte von Sindbad. Dass sie
aber nicht sonderlich interessirt, sehen wir an dem Thema
«<? 891 ^
das etwas trocken
ist; wir sehen es noch deutlicher daran, dass es nicht be-
nutzt, weiter geführt und entwickelt wird. Das Hörn macht
einige Versuche dem Sultan das Wort zu verschafiPen, bald
aber tritt Scheherazade in den Vordergrund des Bildes.
Ihre graziösen Triolen von der Solovioline eingeführt, klingen
schnell aus dem ganzen Orchester. Das scheint den Sultan
zu reizen. In aller Bedeutung, Wucht und Härte kommt
sein Thema wieder. Ein breiter im ff ausgehaltner E dur-
accord zeigt weithin wer Herr ist. So wechseln die beiden
Themen noch öfter im Satz. Die Composition giebt das
Bild eines Paars, dessen beide Theile ihre Kräfte messen.
Die Sultanin greift auch einmal wieder zur Erzählung.
Der Schluss bringt die Sultansmelodie zart und leise.
Den zweiten Satz leitet in einem kurzen Lento wieder
Scheherazade ein. Dann folgt in einem Andantino (^/g,
G dur) eine Musik die die Erzählung vom Prinzen Kalender
bedeuten soll. Das Thema
Andutino. Al18
%
Tf.
rfifffif
I
frfrfi^
etc.
zeigt was für eine Art Held dieser Prinz ist, eine komische
Figur wie Eulenspiegel und Don Quixote und die Ge-
schichten die ihn behandeln müssen lustig sein. Das Thema
geht von einem Instrument zum andern, wir sind unver-
sehends in einen jener bekannten russischen Variationen-
sätze gerathen, die durch die Eintönigkeit so aufregend
wirken, als sich Schahriar einmischt : In mehrerlei Gestalt
legt er Machtsprüche ein
cc? 392 ^
Molto aodarato.
Allttgro molto. J s 144
nicht sehr ernst genommen. Als die Clarinette in Form
eines Recitativs die Melodie der Sultanin gebracht hat
wird der Ton ausgelassen. Ein Vivace scherzando tritt
ein und in ihm finden wir das Schahriarthema in folgen-
der Form
Vivace ■ch«rzando. J*s188 , ^ ^
Eine Wiederholung des Klarinetten-Recitativs bringt eine
neue Wendung; Der '/^Takt mit der Musik zur Erzählung
vom Prinz Kalender kehrt zurück und mit ihr schliesst
die Nummer. Kurz vor dem Ende kommt noch ein sehr
schön berechnetes und gesetztes Homsolo.
Der dritte Satz der die Erzählung von dem jungen
Prinzen und der jungen Prinzessin bringt, ruht auf folgen-
dem Thema
Aadaotlao quasi AUegrotto. J«: 68
G
das für die Gabe des Componisten anschaulich zu gestalten
das schönste Zeugniss ablegt. Wer den Tonfall genau an-
sieht mit dem in den zweiten Takt eingetreten wird, kann
kaum in Zweifel darüber sein, dass es sich bei dem Prinzen
und der Prinzessin um eine richtige Kindergeschichte han-
deln muss. Das angegebne Thema ist das einzige und in-
folgedessen hören wir seine Motive sehr oft. Der Componist
hat allerdings viel aufgeboten die Wiederholungen nicht
^ 393 ^
als solche erscheinen zu lassen. Die Farben wechseln, die
Modulationen ; unter den Contrapunkten mit denen er Neues
zu bieten sucht, sind ganz verwegne. Die zweite Flöte
bläst einmal einen wahren Trommelrhythmus. Auch
die Pausen bei den Periodenschlüssen sind darauf ange-
legt Spannung zu erzeugen. Erfrischend wirkt das Ein-
greifen der Scheherazade , die dem Ende zu ihre Melodie
bringt und dann die Prinzenmusik eine Strecke lang in
der Solovioline mit Arpeggien verziert.
Der Anfang des letzten Satzes (Allegro molto) zeigt
den Sultan in heftigster Erregung. Er bietet seine ganze
Kraft auf um sich Scheherazade gegenüber zu behaupten.
Diese schmückt ihre Melodie mit den Künsten des Vir-
tuosen : das Yiolinsolo kommt in mehrstimmigen Satz. Ein
noch heftigerer Ausbruch des Sultans antwortet. Noch
einmal erhebt die Sultanin ihre liebliche Stimme und be-
ginnt dann sofort zu erzählen. Es ist diesmal die Ge-
schichte von dem Fest in Bagdad, dessen Bild die Musik
auf Grund folgenden Themas entrollt;
das sehr oft hinter einander wiederholt wird. Dann setzen
Trompeten und Homer ein aufmerksam zu machen, dass
sich etwas Ausserordentliches begiebt. Die neue Erschei-
nung stellt sich musikalisch vor als
So gewichtig sie ist, verschwindet sie doch bald wieder
und nun kommt eine sehr schöne Stelle: ein Abschnitt
aus der vorhergehenden Nummer. Sind der junge Prinz
und die junge Prinzessin mit auf dem Feste? Die Idylle
entweicht, der Festtrubel wirbelt weiter in Bruchstücken
und Umbildungen aus dem ersten Thema. Einmal (der
Satz ist nach Edur gegangen) hören wir die Stimme des
c<? 894 tp
Sultans wie im Unmuth über den Gang der Erzählnng.
Das ändert aber nichts am Plan. Das Thema bleibt, wird
nur um vieles stärker vom vollen Orchester gegeben. Von
einem Bdurschluss ab beginnt wieder eine Episode fiir
die Messinginstrumente. Wieder folgt das mächtige zweite
Thema, das wohl das gefährdete Schiff bedeutet. Sind
der Prinz und die Prinzessin darauf? Ihre Musik folgt
abermals diesem zweiten Thema und dass Gefahr vorliegt,
zeigt die Trompete die ohne Unterbrechung hochnothpein-
liehe Rhythmen schmettert. Noch einmal geht sie vorüber
und das Fest beginnt wieder. Aber als das Thema und
der Festtumult am lautesten wird, da kommt die Kata-
strophe: das Schiff scheitert. Die Trompete bläst wie
rasend und das Schlagzeug thut das Möglichste. Gemeint
ist die Stelle ganz richtig, aber die Aufnahmefähigkeit
des gebildeten Ohres ist vom Componisten nicht richtig ge-
schätzt und der Märchencharakter ebenfalls nicht. Nach
jener entsetzlichen Stelle setzt ein ^/«Takt ein, in dem
Schahriar und Scbeherazade einen Dialog aufführen. De^
Sultans Stimme, die erst rauh einsetzte, wird sanfter und
und zarter. Träumerisch, mit Accorden wie sie ähnlich
Mendelssohn's Sommemachtstraum eröffnen, klingt die Ck>m-
position so aus wie sie begonnen hatte.
Korsakoff kommt die Ehre zu als der erste Russe eine
wirkliche Sinfonie geschrieben zu haben. Sie wird aller-
dings selbst von seinen Verehrern abgelehnt.*) Dagegen
gelten in der Heimath des Componisten die beiden Pro-
grammsinfonien viel, welche jenem ersten Versuch gefolgt
sind: Sadko und Antar, jene dreisätzig, diese viersätzig.
A n t a r fängt in neuester Zeit an auch in Deutschland be-
kannt zu werden, in Russland gehört das Werk zu den
allerbeliebtesten Orchestercompositiouen. Es bietet Pro-
grammmusik mildester Art.
Wieder führt uns Korsakoff in die arabische Sagen-
welt, in den Kreis der Fabeln, die sich im Volk um
Antar den Dichter und den geliebten Helden der Wüste
*) Cdsar Cui: La Musiqae en Kassie. 1880 p. 130.
e<? 395 o*
gebildet haben. Antar, einsam in den Ruinen von Palmyra
weilend, sieht plötzlich eine Gazelle und gleich darauf
einen Raubvogel, der sie verfolgt. Er tödtet den Vogel,
die Gazelle verschwindet. Antar schläft ein und wird nun Blssky-Korsa-
im Traum nach einem prächtigen Palast entftlhrt, wo er koff
seine Gazelle wiedertrifift, die nichts Geringeres war als AnUr.
die Fee Gul-Nazar, die Herrscherin von Paimyra. Sie
fordert Antar auf drei Wünsche auszusprechen und Antar
wUnscht sich 1) den Genuss der Rache, 2) unbedingte
Macht, S) die schönsten Freuden der Liebe. Als das
GlUck der Liebe den guten Antar zu ermüden beginnt,
tödtet ihn Gul-Nazar mit einem Kuss.
Es handelt sich also bei dieser Sinfonie um poetische
Vorwürfe, wie sie die Instrumentalmusik überall und zu
jeder Zeit unbedenklich in ihr Bereich hat ziehen dürfen.
Nur wer der Musik überhaupt das Recht und die Möglich-
keit des Charakterisirens abstreitet, wird sich diesem
Programm entgegenstellen dürfen. Denn es handelt sich
in dieser Antarsinfonie um weiter nichts als um den Ver-
such durch Musik- Vorstellungen vom Feenleben, vom
Wesen der Rache, der Macht, der Liebe zu erwecken.
Korsakoff hat sich diese vier Bilder als Träume Antares
gedacht, begegnet sich demnach mit der Auffassung in
der Berlioz in seiner Sinfonie fantastique die Schilderungen
aus dem Leben eines Künstlers genommen haben wollte.
Korsakoff folgt Berlioz auch in der Verwendung von Leit-
motiven.
Am meisten bietet die Sinfonie von Korsakoff den
Liebhabern einer weichen, in zarten Tönen, süssen und
schmiegsamen Harmonien schwelgenden Musik. Sie finden
im ersten und vierten Satz Alles was sie erwarten dürfen
und es zeigt sich auch hier wieder dass Korsakoff's Musik
den schmiegsamen weiblichen Zug des russischen National-
charakters besonders stark und deutlich ausprägt. Auch
der fast Blinde kann aus ihr sehen: was asiatischer Geist
für das Czarenreich bedeutet. Die Schilderung der Rache
interessirt durch Beweise guter, scharfer Seelenbeobachtung,
das Bild der Macht überzeugt am wenigsten.
u? 396 ^
Der erste Satz beginnt mit einem Largo in Fismoll
('/^ Takt) das in schwer beweglichen schleichenden Motiven
den ernsten, der Einsamkeit und Vergangenheit lebenden ,
die Menschen meidenden Antar zu zeichnen sucht. Das
wichtigste Antarmotiv ist:
^>ll||ltn f|l f rr ll|^^4^-4^ . Es kehrt, den
schwermUthigen Grübler zeichnend, in allen Sätzen
wieder. Im Sinnen und Dämmern scheint die Phantasie
des Einsiedlers auf die Sage von der Fee Gul-Nazar zu
stossen, die Töne suchen eine hoheitsvolle zarte Gestalt
vor unser innres Auge zu stellen:
f "" j. I U ^iji^jj I jj^i J>LJ jj^Jjj^ •
Diese Weise wird das Leitmotiv der Königin in der Sin-
fonie. Mit dem Eintritt des Allegro (Dmoll, ^/4) erwacht
um Antar Leben: Von dem verzierungsreichen Thema
Flöte.
AU«gro glocoto. ^____^
fllir ^ImJTrrTmTH au.entwickeU
sich eine breite, in einer gewissen trägen Munterkeit fort-
schreitende Melodie. Dreissig Takte lang liegen die Homer
dazu auf Aj die zweite Violine giebt einen Tambourin-
rhythmus. Korsakoff hat sich vielleicht unter dieser
Musik die Gazelle seines Programms gedacht, und dabei
die Gelegenheit gern ergriffen etwas orientalisch zu malen.
Das volle Streichorchester bringt Aufregung in das Bild,
üeber ein gewaltiges anwachsendes Tremolo der untern
Instrumente werfen die obem Violinen das Motiv
m ^ E.a K Jiijft I L unruhig hin und her. Bald ertönt
fechrill in den Bläsern der Schrei des Raubvogels und treibt
cc 397 ^
den ganzen Geigerchor in einem wUtbenden Unisono in
die Höhe. Ein kurzer Kampf , während dessen die grosse
Trommel bebt, dann der entschiedne Streich in den Violinen :
Das ist der Tod des Räubers, ein schwerer
Seufzer in den Bläsern: als wenn der Druck sich löste
den die Gefahr in Antares Brust veranlasst hat. Bald
dann kommt die Stimme der Gazelle und der Königin,
wie sie ja zusammengehören, dicht hintereinander; die Ge-
stalten scheinen sich in Antares Phantasie zu vermengen.
Er schläft ein und nun tragen ihn die Träume in den
Feenpalast, wo Gul-Nazar weilt und seiner Wünsche
wartet. Ein zweites AUegro (Fisdur ^/j) beginnt. Schatten-
haft huschende Flötenfiguren, süss schneidende Geigen-
accorde, das Hom mit langem liegenden Ton darunter,
leiten es ein. Dann fängt der zarte weiche Reigen an,
der von dem Thema
Altogretto Tlvace.
aus
gebildet, den musikalischen Hauptinhalt der Nummer
ausmacht. Sein melodischer Theil erinnert an das schöne
Stück von den Prinzenkindem , das Korsakoff in der
,Schehezerade* gegeben hat. Harmonien, Begleitungs-
motive, Klangfarben — Alles strebt nach äusserster Zart-
heit und der Vortrag soll noch das Uebrige thun dieses
Ziel zu sichern. Ein gutes Orchester kann sich hier im
Piano zeigen. In der Periodenbildung macht sich das
Verfahren bemerklich den thematisch melodischen Zu-
sanunenhang durch ruhende Accorde zu unterbrechen.
Das hebt den phantastischen Traumcharakter des Ton-
bilds sehr wirksam. Die Wiederholungen, deren es sehr
viele sind, reizender zu gestalten, hat sich Korsakoff kleiner
Aenderungen durch Verzierungen sehr wirksam bedient.
In der Mitte ungefähr, gerade als das Hom wieder das
e<? 398 t^
Thema des Feenreigens gefUhrt hat und die Harmonie
ohne Weitres von Es nach E wechselt, tritt das Motiv
der Königin ein. Bald darauf hören wir wieder die
Figuren die den Kampf gegen den Raubvogel veranschau-
lichten. Das soll uns darauf fuhren, dass Gul-Nazar, die
Königin, jetzt ihren Retter belohnt. Und er bedankt
sich: das Antarmotiv folgt unmittelbar den Tönen, die
die Königin bedeuten und wird immer wiederholt, während
der Reigen wieder aufgenommen ist. Dann erzählt die
Musik wieder nur vom Schlafen und Träumen Antares und
zeigt noch einmal wie in seinen Gedanken die Figuren
der Gazelle und der Königin durcheinander laufen. Unsre
letzten Blicke fallen wieder auf die Ruinen von Palm3rra,
wo der einsame Antar das Abenteuer hatte.
Der zweite Satz (Allegro, '/j, Edur) giebt das Bild
der Rache zuerst mit leisen Motiven:
"llll I IIJ I I I I I II I I I
3 S S i^^p^t^ . So wühlt (in den Cellis) , so
y|||l*l /»l||,:^J|ft I ygjjj^ ^'"^ d«° Fagotten,
Hörnern, Posaunen): brütet der Dämon. Dann heftiges
Auffahren :
(PosanBcn.) ^
yM> ^ V r"f i'^'^i "f I . Ist das noch Antar,
der Grübler? Mit gesteigertem Tempo geht die Rache
nun zum Handeln über:
Die Energie steigert sich zur Wuth, fast bis zur Sinn-
losigkeit; wild und diabolisch zischen versprengte Töne
e<? 399 ^
durch das Gewebe der Themen. In der Mitte des Satzes
kommt das letzte Thema in langsamer Bewegung, als wenn
Antar, dessen Leitmotiv ihm angehangen ist, nach Samm-
lung ränge. Dann wiederholt sich der ganze Process des
Anwachsens der Leidenschaft in verstärkten Graden; mit
Zuthat von neuen, anfeuernden Motiven giebt der Componist
ein schreckliches Bild von den Qualen einer Seele, die
die Herrschaft verloren hat. Der letzte Abschnitt malt
Erschöpfung und Reue.
Der dritte Satz (Allegro risoluto aUa Marcia, ^/4,
Hmoll), der Antar im Besitz der Macht zeigen soll, baut
seinen Haupttheil auf das Thema der Hörner:
^M Allegro rlsolalo.
das die Holzbläser mit leicht tängelnden Motiven:
p- r P I umspielen. Kraft
und Frohmuth spricht aus diesen Tönen, aber nicht was
wir erwarten : Grösse. Das Thema macht sehr bald einem
andren Platz
von dem es allmählich fast ganz verdunkelt wird. Es
wird auf Individualität und Race ankommen ob man der
Auffassung vom Wesen der Macht, zu der sich Korsakoff
in dieser Composition bekennt, beistimmt oder wider-
spricht. Sicher liegt nach dieser Darstellung der Werth
der Macht nicht in den Thaten, sondern im Genuss. Und
um sie von dieser Seite zu zeigen hat Korsakoff das neue
Thema mit Motiven des Scherzes und der Heiterkeit um-
geben, die die Reize des Bildes bedeutend erhöhen. Zum
Theil muss sein Charakter auch daraus erklärt werden,
dass es sich um orientalische Anschauung handelt. Antar
und die Königin erscheinen in einem Augenblick besonders
«<? 400 ^
hoher Lust, den mächtige Trillerwellen, Violinen und
Holzhläsern entströmend, bezeichnen.
Der vierte Satz, der das Walten der Liebe zeichnen
soll, beginnt mit einem Allegretto vivace (•/g, Ddur) in
dem wieder die hinabhUpfenden Fiötenfiguren (wie im
ersten Satz) an das Weben des Traumgottes erinnern.
Dieses Allegretto geht nach 12 Takten bereits in eiu
Andante amoroso über, das den Satz ausfüllt. Sein Haupt-
thema ist die Melodie eines arabischen Lieds mit folgen-
dem Anfang:
Anduite.
(Englisch Bora.)
H II ul
Uj liLÜ I '
Die Clariuette schliesst mit
das ist also mit einem Anklang an das AUegro giocoso
des ersten Satzes. Das Liebespaar wird dann musikalisch
vervollständigt durch das zuerst von den Violinen ge-
brachte Thema:
Bald sagen uns auch die Leitmotive der Königin und
Antares um wen es sich bei diesem Austausch zarter
Gefühle handelt. Mit dem Eintritt des Animato wird da«
Spiel auf einen Augenblick von Leidenschaft erwärmt,
dann zögernd. Der Stimme der Königin gegenüber, ist
die Antar's kaum noch zu vernehmen. Ein Tamtam-
oG* 401 ^
schlag, ein glissando der Harfe, das ungefähr klingt als
wenn ein Faden zerreisst — und mit einigen Tönen wie
frommer Grabgesang aus hohen Sphären herabgehört,
schliesst die Sinfonie!
Die neueste russische Programmsinfonie, die sich soeben
in den deutschen Concertsälen einzubürgern beginnt ist
P. Tschaikowsky's .Manfred* (op. 58). Diese P. Tsch»!
Composition will »vier Bilder nach dem dramatischen Ge- kowsky
dicht Byron's» bieten wie auf dem Titelblatt steht Manfred.
Im ersten Satz haben wir uns Manfred zu denken wie
er im Gebirge herumirrt von Seelenqualen gefoltert, gegen
die keine Wissenschaft, keine Höllenkunst, keine Er-
innerung hilft. Die Musik beginnt mit einem Thema:
Lento Ingubre. dz SO
vnf'^rfffTf rupTrJ'
-FFT" I ^ c^'^^r iH" I ^7(jt I
in das sich heroischer Stolz und Schwermuth theilen. Das
ist das Bild des unseligen Manfred, der einst so gewaltig,
nun gebrochen dahin wankt und klagt. Für dieses Klagen
hat der Componist ein ganz bestimmtes Motiv ins Thema
eingesetzt. Es erscheint da im siebenten Takt, wird aber
auch frei für sich in dieser ersten Form oder auch als:
oder ^^ ver- ] |„| |^ 1^
oder endlich in verkürzten Rhythmen verwendet. Manfred
mUht sich seines Elends Herr zu werden. Das sagt uns die
Fortsetzung seines Themas Ajpriuj-J aj ffj~\ 4- \ j '^
die Kraft und ernstes Bestreben äussert. Und bald wird
der Eifer mit dem Manfred gegen die Dämonen kämpft
noch grösser. Die Celli stellen mit dem Rhythmus
Kretsichmar, FOhrer, I. 26
c<? 402 "ö*
•16 ein Gegengewicht gegen Fagotts and
Clarinetten aaf , in denen das SeofiEermotiv haust. Diese
Triolen werden von mehr und mehr Instrumenten des
Orchesters aufgenommen, schliesslich auch Ton ersten und
zweiten Violinen. Mit ihnen kommt der Abschnitt zu
einem schroffen Abschluss im ffi /^ J): Die Kraft in
Manfred hat sich gegen sein Leiden aufgebäumt. Kurze
Generalpause. Wieder setzt das Manfredthema ein aber
mit h^ eine Quint höher als beim ersten Male. Der ganze
Vorgang wiederholt sich mit Steigerung. Das Triolen-
motiv wandelt sich in eine Sechzehntelfigur, eine be-
sondre Figur des Strebens
^ ^ J J 3 ffrT »{[ r =d!lh:| tritt noch dazu; mit ihr
wird die Erregung allgemein, am Ende (beim Animando
un poco) ein wahrer Tumult und wieder ist das Resultat
Sisyphusarbeit gewesen. Zum dritten Male setzt das
Manfredthema aber wie ein Schrei der Verzweifelung fff
(beim Piu mosso) ein*. Die Trompeten führen, die Bläser
stehen an der Spitze des Orchesters, die Violinen markiren
mit dissonanten Tremolos einen Fieberzustand. Manfred
sucht diesmal die schlimmen Geister in seiner Seele durch
Kraft und Trotz zu bannen. Hart stossen die aus Liszt's
, Faust" undBerlioz's «Fantastique* bekannten Rhythmen der
Verwegenheit durchs ganze Orchester. Drei-, viermal : /^ ,
dann gar J j J. . Auf diesen Triolen rast die Musik einen
Takt lang. Alle Instrumente schlagen diesen Rhythmus mit
der äussersten Kraft an, das Tamtam flUlt ein; dann zittert
der Zorn sogar in einem allgemeinen Sechzehnteltakt,
wohlverstanden : nur Rhythmus in allen Instrumenten. Und
abermals umsonst, Manfred kann es nicht zwingen. Da
ist es denn rührend, wie er nach diesem letzten grossen
co 403 ^
Miaierfblg (b«im Moderato con moto) bescheiden und
demUthig, nicht mit dem herauBfordernden breiten Thema,
sondern mit der Fortsetzung, mit den Motiven des Strebens
wieder anfängt. Den Lohn erhält er aus dem Munde des
Horns :
pooo ersgc. v
So ermuntert nimmt Manfred den Kampf gegen die
innren Feinde wieder auf. Die Motive des Strebens
werden energisch durchgearbeitet , in Nachahmungen in
einander geflochten und zu einem lebendigen Bild von
Seelenkampf entwickelt. Die ersten zwei Noten des Man-
fredthemas sind auch darin als leidenschaftlicher Weh-
ruf| das Seufzermotiv kommt in den Hörnern in der Form
m
r I i f.^^^p^ eto. Dass auch dieses Kampfes Ausgang
nicht günstig, sagen uns die Motive des Trotzes und der
Verwegenheit, die am Ende des Abschnittes wieder hart
als J^ im fff einsetzen.
Und nun kommen wir an die Mitte des Bildes^ an die
Stelle wo der Componist auf das Antlitz und in die Seele
Manfred's einige freundliche Strahlen fallen lässt. Ein
Andante beginnt. Sein Hauptthema
Aodaote. J = 69
^ 7 i f fp r I r P ^ fahrt die Gestalt Astartens vor
Manfred*s inneres Auge und der Erinnerung an die Heiss-
geliebte gilt der ganze Abschnitt. In den Bildungen um
^lO
26*
cc 404 ^
rakter eines traulichen Dialogs an; freundlich erregte
Klänge die von entzückten Herzen erzählen, tonen da-
zwischen. Es kommt eine Stelle (beim Poco piu ani-
mato) die mit dem Anfang
f'i i'i ^^iri I Pir ^Vr^
etwas anGounod erinnert. Sie schliesst dann einfach mitScalen :
jEif r |T r V r f^ I /l J ;\ etc. Aber diesen
Gängen hat der Componist durch Gegenmotive und Har-
monien eine solche Wärme gegeben, dass von dieser Stelle
aus ein Glanz auf die ganze Scene fällt. Nachdem das
Thema der Astarte nochmals, aber nicht innig und schüch-
tern wie beim ersten Mal, sondern in Pracht und im Licht
der Begeisterung vorübergezogen, schliesst die Stunde
schöner Erinnerung mit einem letzten Ausklang des Jubels
Allegro Bou tro^o.
und der Freude :
Mit dem letzten Takte kommt der erste Bote von den
Qualen wieder, die Manfred's Gemüth bedrohen. Die
Bratsche setzt diesen chromatischen Ton fort undderSchluss-
theil des Satzes, ein Andante con duolo, das mit dem innren
Gang der Musik das Tempo zuweilen etwas beschleunigt,
empfängt uns mit dem Maufredthema von Geigen, Brat-
schen und Cellis unisono gespielt. Es klingt aber hier zu-
nächst edel, gewissermassen unter der Nachwirkung der
vorausgegangenen Scene verklärt. Als es die Homer auf-
nehmen, Geigen und Holzbläser mit wilden Trillern be-
gleiten, wird sein Charakter dämonisch und so schliesst
der Satz. Manfred*s Kämpfen und Mühen war vergebens.
Es ist dieser erste Satz der Tschaikowsky^schen Sinfonie
der bedeutendste unter allen. In Bezug auf die Form zeigt
er wieder des Componisten aussergewöhnliche Gestaltungs-
kraft. Sie erlaubt ihm sich vom Schema zu entfernen und
«<? 405 ^
frei neue Bildungen zu versuchen. Nichts von der Ein-
theilung und den Elementen des üblichen Sonatensatzes in
diesem Stück, keine Themengruppe, keine Durchführung.
Dafür eine schöne freundliche Scene als Mitte des Bildes,
zu ihr hinführend eine Reihe von Anläufen eine dämonisch
qualvolle Stimmung zu überwinden, diese Anläufe ziemlich
gleich in Material imd Führung. Nachdem das Bild in
der Mitte verhangen worden ist, werden die Vorgänge
des ersten Theils gekürzt und gesteigert noch einmal
vorüber geführt und zum baldigen Ende gebracht. Auch
was den Ausdruck, den seelischen Charakter betrifft, muss
dieser Satz hoch gestellt werden. Wenn es sich um eine
Manfredcomposition handelt, so kann keinem neuen Ton-
setzer der Vergleich mit Schumann erspart werden. Denn
seine Manfred- Ouvertüre ist ein Charakterbild, dem man
nur wenig an die Seite setzen kann: Händeis Agrippina,
Beethoven^s Coriolan, Volkmann's Richard III. allenfalls
noch. Schumann*8 Manfred hat Züge die ihm ganz
allein gehören; kein zweiter Componist hätte solche Töne
wie Schumann für den Geisterverkehr gefunden. Aber im
Allgemeinen behauptet sich Tschaikowsky neben seinem
Vorgänger. Auch er hat ein ergreifendes Bild bedeutender
Seelenzustände gegeben. Zeichnet Schumann die Leiden-
schaften, so enthüllt der Russe die Leiden seines Helden.
Die oft beklagte Ungleichheit in den Werken des
hoch veranlagten Russen zeigt sich auch in seiner Manfred-
sinfonie wieder. Während uns der erste Satz eine bedeutende
geistige Erfassung der Aufgabe bekundet, ist der Com-
ponist dem Gegenstand im zweiten Satze nur äusserlich
näher getreten. Das Programm sagt: »Die Alpenfee er-
scheint vor Manfred unter dem Regenbogen des Wasser-
faHs** und erregt damit die Erwartung wunderbarer und
in Anbetracht der Gebirgsnatur jedenfalls erhabner Er-
scheinungen. Sonst doch ein durchaus modemer Künstler,
hat Tschaikowsky diesmal sich um das gegebne ,milieu''
wenig gekümmert, sondern, nur den Wasserfall und das
Glitzern des Regenbogens im Kopf, im Hauptsatz eine
Springbrunnenmusik gegeben. Dieser Satz von der Alpen-
^ 406 ^
fee ist eine Saloncomposition mit äusseret geschickter Or-
chestertechnik durchgeführt und einigermassen von Mendels-
sohn*8chen und Berlioz*schen Ideen inspirirt, aber keine
Tondichtung die über das AlltSgliche hinaushebt. Der
Form nach gleicht er einem Scherzo. Die Bläser tragen
den Haupttheil der Daretellung mit sprühenden und reg-
samen Sechzehntelmotiven. Sie führen auch in das Stück
ein. Die zweite Flöte bringt das von andren Stimmen
ziemlich verdeckte Hauptmotiv
▼iv&ce con spirlto. JslSO ^^
Geigen seltsam und grotesk mit einer metrisch etwas ver-
renkten Octavenfigur 'm'jl * [ > ^ ~t^ ^ begrüsst
wird. Das Bläsertbema ergänzt sich dann noch durch eine
Figur, die das Phänomen des Fliessens vor die Phantasie ruft
Den Bildern des
bewegten Wassere widmet sich dann der Ck>mponist, nach-
dem die erste Themengruppe zweimal vorgeführt worden
ist, für eine ziemliche Weile. Mit Bildungen die auf dem
Motiv A^K ^ ' ' ''I I I I ^rij' ruhen zeigt er
uns das Element im hüpfenden Zustand. Dann bringen
die Celli vier Takte lang das Motiv
J'MffM^^'J i;jff , ihnen nach die Bratschen und
die andern Streichinstrumente ähnliche Figuren. Das ist
die musikalische Zeichnimg von den langhinströmenden
und fluthenden Wellen. In der grössten Bewegung hält
die Musik plötzlich ein, bricht auf einer Dissonanz (cis-e-g-h)
oG* 407 ^'
ab. Bratsche und englisches Hörn halten allein eis aus.
Dann setzen die Geigen mit einer neuen weit ausholenden
Triolenfigur ein, die wie Verwunderung aussieht. Es hat
sich etwas ereignet, was die Elemente stutzen macht:
Manfred ist am Wasserfall erschienen. Wir erfahren das
nicht aus seinem herrischen Thema, das die Sinfonie er-
öffnete. Nur durch das Seufeermotiv wird er vertreten. Es
durehklingt in der Form A°|t p ifefa und immer auf
denselben zwei Tönen von der Oboe gebracht einen
längren Abschnitt, in dem es ziemlich still hergeht. Nur
ein leichtes Tremolo der Bratschen dann der zweiten
Violinen erinnert noch an das Wasserrauschen und an
den Ort, an dem unsre Phantasie weilen soll. All-
mählich wird die Wassermusik wieder deutlich. Der
Componist wiederholt den ganzen Hauptsatz mit Aende-
rungen. Die Rollen sind vertauscht: dÜe Violinen haben
die leichten Sechzehntel, die Bläser die Achtelmotive.
Ein neues Motiv tritt hinzu
P
Es hat sich über das muntre Treiben durch die Seufzer
des vorigen Abschnitts ein Schatten und eine Lähmung
gelegt. So hört es denn auch früher als zu erwarten auf,
oben in den Bläsern mit schrillen Tönen, unten in den
Violinen vollständig erstarrt. Achtundvierzig Takte lang
spielen erste und zweite Geigen abwechselnd, immer nur
fis g; schliesslich bleiben die ersten Violinen mit ihrem
fis allein übrig. Die Stelle macht einen ausserordent-
lich phantastischen Eindruck, der Einfall erregt grosse
Spannung zugleich aber auch ein gewisses gespenstisches
Grauen. Da setzt denn nun von zwei Harfen rauschend be-
gleitet die erste Violine mit folgender freundlicher Melodie
- j doice
c<? 408 ^
ein. Es ist die Stimme der Alpenfee die Tschaikowsky
mit seiner Musik als eine Gestalt zeichnet, die ganz Güte und
Liebe ist. Das Lied hat einen zweiten Theil, den ebenso wie
den ersten die aufschlagenden Achtel als Gebirgsmusik kenn-
zeichnen. Der Gesang wird reichlich wiederholt und dabei
immer glänzender instrumentirt. Als ihn das Fagott eben
durchgeführt hat, da setzt in Hom und Bratschen das Thema
des unseligen Manfred ein. Manfred erzählt ja nach Byron
der Alpenfee seine unglückliche Liebe zu Astarte. Mit
dem Manfredthema zusammen geht das Lied der Alpenfee
immer weiter. Auch die Wassermusik wird wieder lebhafter ,
besonders an der schönen £ durstelle wo die Saiteninstru-
mente die Motive der Alpenfeemelodie in Gegenbewegung
durchfuhren. Die Homer haben einen weitern selbständigen
Contrapunkt dazu und die Musik spricht hier mit glühen-
der Wärme Mitleid mit Manfred aus. Die freundlichen
Sorgen der Alpenfee schildert ein Abschnitt in dem die
hohen Bläser die Motive des Ddurthemas mit den Bässen
in Nachahmungen bringen. Es scheint aber nichts zu
nützen. Der Satz setzt sich auf einen Asmollaccord fest,
fängt an rhythmisch ähnlich zu rasen, wie wir es im ersten
Satz erlebt und bricht wie dort im fff mit dem Rhythmus
des Trotzes ab: J^, Darauf in grossen schmerzlichen
Kegungen Manfred's Thema in Violinen und Holzbläsern
und ein Ende dieses Absatzes in Dissonanzen (G-d-e-h) und
Verlegenheit. Aus dieser Situation helfen Celli und Fa-
gotte mit einem neutralen Einfall fort
und hinein in die Wieder-
holung des Hauptsatzes. Sie weicht von der ersten Aus-
führung am Ende ab: Englisches Hom und Clarinette
bringen noch einmal im weichen Ton das Manfredthema
und die letzten Takte haben nur noch einen Schimmer
von Klang: Harfen und Violinen in hohen Trillern sind
allein übrig geblieben. So wird der Ausgang des Satzes
dem Wunderbaren der Scene noch schnell gerecht.
c^ 409 ^
Wie Tschaikowsky^s Manfred im Allgemeinen mit
Berlioz's ,Harold* wichtige Berührungspunkte gemein hat,
60 erinnert der dritte Satz insbesondre an die Scene Ha-
rold's in den Abruzzen, wo die Landsleute das drollige
Ständchen bringen. Das Programm zu diesem Satze giebt
an : «Pastorale. Einfaches, freies und heitres Zusammenleben
der Gebirgsbewohner*. Den Pastoralcharakter zu treffen
brauchts vor Allem einen ^/gTakt, als Nachkömmling des
alten Siciliano. Auch Tschaikowsky hat sich dieses ge-
gebnen Mittels bedient und in ihm folgende Melodie an
die Spitze seines Pastorale gestellt
^ Aad>nf coo moto. Jn:48
Sie wird durch die begleitende Harmonie eingermassen ge-
hoben und sucht auch des Weitren das Behagen an ihrer
Sphäre durch künstliche Mittel zu steigern. Die Oboe
modulirt nach ihrem zweiten Einsatz bereits nach Hdur
und daran schliesst sich ein Abschnitt in dem die Stimmen
um das Thema
j * I r_ [ kunstvolle
Spiele (Canons und freiere Nachahmungen) führen. Der
G dursatz wird darauf mit der Melodie in den Holzbläsern
wiederholt. Als das Ende des Themas erreicht ist, kommt
keine Durchführung sondern das Bild des Friedens und
der Unschuld verwandelt sich. Eine neue ganze Gesell-
schaft tritt auf bei der es aus einem andren Ton geht,
nämlich :
i* ÜJl (7\ SA^^ :?ir]dJ ^T^^-
Zu dieser Melodie muss man sich rustikale Quintenbässe
(Fagotte) denken und ungenirte Reibungen in den Begleit-
eC 410 O»
stimmen um zu begreifen, dass es sich jetzt um eine derbre
Lustigkeit handelt. Allenfalls lässt das ja schon die rhyth-
mische Hast des Themas ahnen. Es sind gewiss herum-
ziehende Musikanten, die das kleine Sätzchen vortragen.
Die Episode entfesselt aber einen Freudensturm bei der
Hirtengemeinde. In einem Hmollsatz der den Mitteltheil
des Pastorale bildet, kommt er zum Ausdruck weniger in dem
in einem grandiosen Unisono der Streicher gebrachten Thema
^P J i|J< r'j r^LF r «^-"^^ »»• in «»«^ Begleitung,
in dem lauten Ton, in dem sie gehalten ist und in den
erregten Rhythmen die immer aus einzelnen Stinunen oder
ganzen Orchestergruppen dazwischenfahren. Es schliesst
sich daran eine Durchführung des ersten Seitenthemas das
früher in Hdur erschien nun in der Haupttonart Gdur
gebracht wird. Es verliert sich in einen Schluss der ähn-
lich gehalten ist wie der Ausgang des zweiten Satzes ; die
ersten Violinen haben einen Triller auf hohem Ä, die drei
Flöten umwinden ihn mit hohen Arpeggien. Der imge-
wöhnliche Klang soll hier auf Wunderbares vorbereiten.
Das jetzt in den Cellis einsetzende Thema
' p^i^^ I [^J^^^'^ hat nur dann einen Sinn,
wenn es einigermassen visionär, in einer entrückten Stim-
mung gedacht wird. Es ist Manfred's Traum vom GlUck,
ein Traum zu dem er sich an den Bildern des ländlichen
Friedens und Behagens berauscht hat. Schon aber als die
Bläser das Thema aufnehmen, wird es getrübt und erregt
und trotz gewaltsamer Anstrengungen bricht doch Manfred*s
verzweifelte Stimmung bald wieder und schauderhaft durch.
Die Hörner bringen das Thema aber ohne den Anfang,
gleich mit der resignirt herabsteigenden Wendung und dann
stehen sie festgebannt auf dem schliessenden C, das 23 Takte
«<? 411 ^
hindurch unter wechselnden Harmonien immer wieder an-
geschlagen wird. Diese Beharrlichkeit wirkt religiös ; in der
That stimmt auch eine Glocke mit ein und dass der ganze
Vorgang das Herz Manfred^s entlastet, zeigt die Melodie
die das Hom einsetzt während die Holzbläser immer noch
am C und den dazu gehörigen Harmonien festhalten:
fli I I III I I ij^i II II I I 1 .1 I
j /'J-niUJLillü'ILMlT 1.1 ij .
Sie erinnert an eine andre Hommelodie die im ersten Satz
der Scene vorhergeht, in deren Mittelpunkt Astarte steht.
Auch hier folgt Sonnenschein. Die Pastoralmusik aus dem
ersten Theil der Nummer kehrt wieder, in der zweiten
Periode, wo die Streichinstrumente das Thema nehmen,
durch die Contrapunkte der Bläser in einen bachan-
tischen Charakter gewandelt. Der hohe Ton hält an.
Nach einer Steigerung die von Gdur nach Emoll geführt
hat, tritt das Thema von Manfred's GlUckstraum hinzu
ohne sich jedoch lange zu behaupten. Es wird still, das
Homthema erscheint wieder am Schlüsse mit Harmonien,
die wie die Schatten des Abends wirken. Noch einmal
blasen die wandernden Musikanten ihr Stückchen. Nur
aus der Feme aber wird ihnen gedankt; leise und immer
leiser klingen froh bewegte Figuren aus den Violinen, aus
' den Holzbläsern Abschiedsgrüsse — ein letztes Anspielen
des Pastoral themas wie im Einschlafen, und Alles ist aus !
In seinem Schlusssatz hat sich Tschaiko wsky die Auf-
gabe gestellt den unterirdischen Palast Ariman^s zu schildern.
Manfred erscheint inmitten des Bacchanals. Der Schatten
der Astarte wird beschworen. Sie verkündet ihm das Ende
seiner irdischen Leiden. Manfred stirbt. Durch dieses
Progranun erklärt sich der Compouist als einen Schüler
Berlioz*8, der seinen Harold gleichfalls unterirdisch und
bei einem Bachanale zu Grunde gehen lässt. Und Tschai-
kowsky zeigt sich auch in der Ausführung dieser Idee voa
«<? 412 ^
dem FraDzosen beciDflusst namentlich darin, dass er aas
seiner DarsteUung die Grazien ganz und gar verbannt. Von
Gluck und Wagner hätten diese Programmmusiker lernen
können dass die Hölle durch ihre zarten Künste am ver-
führerischsten ist und die grösste Gewalt über die Geister übt.
Ein gewaltsames heftig auffahrendes Thema kenn-
Allsgro coD fuoco. J : 144
zeichnet das Reich Ariman's iHw f \' If F^C/ j f .
Es wird häufig von einem geisterhaften Nachgesang der
Bläser begleitet, dem folgendes Motiv zu Grunde liegt:
ff ^ P ^ r^P ^ P ^ I ^ fl^% • Wenn es in verkürzter Ge-
stalt erscheint: m^ \ i .J'IJT I J [ folgen ihm in der
Regel lärmende Contrapunkte, grösste Erregung hervorrufend
die grimmige Bassfigur:
Für den ganzen Theil der der Schilderung der Ariman*-
Bchen Herrschaft gewidmet ist, hat der Componist Unge-
stüm und Heftigkeit als kennzeichnende Merkmale gewählt.
Daher die immer neuen und inmier kurzen Anläufe auf Grund
des Themas grossere Sätze zu bilden. Bald geschehen sie
in Fugenform oder in andren Arten der Nachahmung, bald
mit Verlängerung bald mit Verkürzung der Anfangsnoten,
bald mit gefassten, bald mit wilden Contrapunkten. Dia-
bolischer wird die Scene mit dem Auftreten der Trom-
petenvariante: ^l^fftfr-i^hf-c j nnJ i j i|-L/^'-
Geigen und Flöten umtrillem sie wie rasend, brutale Stösse
der Homer antworten darauf. Der Lärm wächst von allen
Seiten, die Trompete feuert in gemeinen Rhythmen an und
e<? 413 ^
endlich macht sich das animalische Behagen dieser Ge*
Seilschaft in einem Reigen Luft, zu dem Englisch Hörn,
Bassclarinette und beide Fagotte folgende Weise aufspielen :
Sie wird sehr breit ausgeführt, mit Freuden gehört und
begrUsst, leidenschaftlich von den einzelnen Gruppen über-
nommen imd mit Verzierungen versehen. Plötzlich — die
Violinen liegen auf g — bricht die Scene ab. In einer
Umbildung lässt sich das Manfredthema in den BSssen
hören. Das Bacchanale ist damit zu Ende. Ein Lento
setzt ein. Geheimnissvoll beginnt ein leiser Satz auf chro-
matischem Motiv Itjt" \t^ l^p r " i » i^™ folgen feier-
lich schrecklich laute Blfiseraccorde. Und nun tritt Man-
fred wirklich auf in seiner edlen Art mit den Motiven des
Strebens. Ihm stellt sich Ariman entgegen mit einer Fuge
über das erste Thema des Schlusssatzes dem aber ein et-
was verworrener Abschluss gegeben ist. Die Musik des
Bacchanale tritt dazu, bald werden beide Themen ver-
bunden. Ariman zeigt sich in dem höchsten Glanz über
den er verfügt ; der Lärm ist betäubend genug. Da kommt
plötzlich wieder eine jener naturalistischen Stellen, wo das
voUe Orchester nur Rhythmus giebt. Hier ruht es Takte
lang auf Triolen. Im ersten Satz verwendete Tschaikowsky
dieses Mittel um extremste Gemüthszustände Manfred's, die
Augenblicke der tollsten Verzweifelung zu bezeichnen.
Auch hier gilt es wieder Manfred. Die Trompete meldet
ihn an und bald erscheint ein wenig beweglicher gehalten
als im ersten Satz sein Thema in einem Andante, von der
Gesellschaft Ariman's mit Staunen empfangen. In einem
Adagio, an das wir kurz darauf gelangen, hören wir die
Klänge der Liebe zart wieder, die dem Mitteltheil des
ersten Satzes sein schönes inniges Gepräge gaben. Astarte
wird angerufen: sie kommt und mit ihr ein grosser Theil
u? 414 ^
von den besten Augenblicken des Werkes. Wir durch-
leben, nur gedrängter, noch einmal die ergreifende und
erwärmende Scene, die dem ersten Satz der Sinfonie seine
Herzenstöne gab. Auch das Andante con duolo, das dort
der Scene der Erinnerung an Astarte folgte, kehrt wörtlich
wieder, bis beim Allegro die Basse ein neues Motiv bringen :
i f 'uJj n ' ^^ ^^ ^^^ rauhe Hand des Todes.
Noch ein kurzer heftiger Kampf dann fallt die Orgel ein
wie in Liszt's «Faust** als Stimme des Himmels: Manfred ist
erlöst. In einem feierlichen, von milder Schönheit erfülltem
Largo wird ihm ein tröstliches imd friedevoUes Requiem
gesungen. Einigermassen stinmit es im Ton mit dem Ende
von RafiTs .Lenore**. i Durch den schönen versöhnenden
Abscbluss unterscheidet sich das Finale von Tschaikowsky^s
Manfred vortheilhaft von dem des Beriioz*schen Harold.
Von dem Zeitpunkte ab, wo Haydn ihre Umgestal-
lung begann, blieb die Sinfonie den Deutschen zieodich
allein überlassen. Nur die Franzosen stellten in längeren
Abständen einzelne nennenswerthe Mitarbeiter, wie: Gossec,
M^hul, Berlioz. Nach Analogie der Entwickelung, welche
die Vocalmusik, zuletzt noch in der Oper, genommen
hatte, war anzunehmen, dass eines Tages auch die Gre-
schichte der Sinfonie wieder den internationalen Charakter
tragen und dass der Wettstreit der Nationen sich auch
dieser Kunstgattung bemächtigen werde. Nach 80 Jahren
trat diese Wendung endlich ein. Doch erfolgte sie mit
einer ebenso wichtigen als überraschenden Nuance. Die
neuen Sinfoniker kamen nicht aus Italien, sondern aus
Ländern, welche sich an der höheren musikalischen Kunst-
arbeit bisher nicht betheiligt hatten. Sie brachten neue
Weisen, neue Klänge, einen ganzen Schatz von Natur-
musik mit, für welchen die Stimmung durch die Arbeit
der Romantiker aufs Günstigste vorbereitet war. Mit den
Programmsinfonien theilen die nationalen das realistische
c<? 415 ^
Element in der Darstellung; der pathetische und hoch-
dramatische Zug jener ist ihnen bis auf einzelne neueste
Ausnahmen russischer Herkunft fremd. Ihr liebstes und
eigenthUmlichstes Gebiet ist das Genre.
Das erste Interesse für die Musik der sogenannten
Nebennationen erwachte schon am Ende des achtzehnten
Jahrhunderts. Noch ehe Herder's ^Stimmen der Völker*
erschienen waren, lenkte Delaborde's , Essai sur la musi-
que etc.*^ die Au^erksamkeit der gebildeten Musikwelt
auf die Gesänge und die Tanzweisen der bisher musi-
kalisch unbeachtet gebliebenen Nationen. Die Allgemeine
Musikalische Zeitung verfolgte auf Anregung des Abt
Vogler, des Lehrers von C. M. v. Weber und Meyerbeer,
vom Anfang ihres Bestehens (1798) alle Erscheinungen
auf diesem Gebiete, die Sammlungen und die Berichte.
Die wesentlichste Beachtung erregten die Scandinavier.
Bei ihnen nahm die Pflege der alten Nationalweisen zuerst
wissenschaftliche Formen an , und sie lenkten diesen
Schatz zuerst in das Gebiet der Kunst hinüber. Kuntzen,
Weyse, P. E. Hartmann schrieben die ersten dänischen
Opern, Opern, in welchen der Stoff der Handlung und ein
Theil der Melodien vaterländisches Gut waren. Hierdurch
angeregt und ermuntert, componirte der junge Däne
Niels Gade seine berühmte Ouvertüre «Nachklänge aus
Ossian*^ , welcher i. J. 1843 schon seine Cmoll-Sinfonie
folgte. In dieser Sinfonie fanden die Renner und die
Freunde der nordischen Poesie den Geist der Frithjofsage H. Gade
und der Edda wieder. Sie erschien ihnen wie ein C mou-süifonie.
nordisches Musikepos, welches von den alten, gewaltigen
Recken und ihren Kriegen und Siegen, von schlichten
Jägern und Hirten und ihren naiv frohen Festen, von
einer Natur, welche unter unscheinbarer Hülle intimen
"Reiz barg und von freundlichen Elementargeistem belebt
war, erzählt. Wie der Stoff neu und poetisch, so war die
DarsteUung liebenswürdig. Das nordische Element drang
sich nirgends äusserlich auf, technisch blieb es in einigen
düsteren Balladenmelodien und in kurzen Dialogen der
Bläser versteckt. Im Stile der Composition begegnete
eO 416 ^
man dem romantischen Charakter der Zeit. Es war
ein schöner menschlicher Zug in ihm, dass er der be-
geisterten Schilderung einen wehmUthigen Ton beimischte,
einen Ton, welcher der Trauer darüber Ausdruck eu
geben schien, dass jene Welt, die in der Tondichtung
mit ihren Göttern und Helden auflebte, in Wirklichkeit
längst dahin gegangen war. In diesem Sinne beginnt der
erste Satz der Sinfonie mit einem klagenden Prolog: Ein
melancholischer Flor liegt über der liebeTollen Melodie,
die wie aus der Feme während der Einleitung durch die
Instrumente zieht.
Moderato. vtoi.
Dann aber ergreifen die
Trompeten das Wort und leiten eine Scene ein , in . der
sich rauhe Kräfte machtvoll regen. Das Thema
T r-?T ff f
durch mehrfache Wiederholungen ge-
I ^ * I steigert, bildet den Hintergrund des
' ^ ■ ' Bildes: Der Held tritt auf mit seiner
t
g
C/' tr • Schaar:
Allegro. ^^ . — s^
xr
Die Gestalt
ist uns aus
der Einleitung bekannt; nur kräftiger und fester steht sie
hier vor uns. Mit diesem einen Thema hat Gade den
ganzen Satz bestritten, bald rückt er ihn in die Feme,
bald in eine düstere, bald in eine freundlichere Beleuch-
ce 417 ^
tung, wendet ihn hier ins Träumerische, dort ins HeroiHche.
Nur während der kurzen Durchführung, in welcher der
"/^Takt der Einleitung wieder einsetzt, tritt ein freund-
lich sinnender Nebengedanke ein:
^^
p —
Als zweiter Satz folgt ein Scherzo (Cdur ^'jTakt).
Das Thema hat in der ersten Hälfte nur rhythmisches
Leben: Melodielos, fassungslos vor freudiger Aufregung,
rollt es in schnellen Achteln dahin — die zweite Hälfte
bildet ein keckes Citat aus dem Hochzeitsmarsch der
ySommemachtstraum** -Musik. Auch im Trio begegnet
sich Gade mit Mendelssohn. Seinen motivischen Inhalt
bildet im vorwiegenden Theil eine jener schattenhaft da-
hinhuschenden Figuren, die Mendelssohn in den phan-
tastischen Sätzen einbürgerte:
Vlvtce. i ^^
Der Nachsatz
treibt ein an-
/..Viol.c.iord. "**
muthiges Spiel mit Motiven , die der Natur abgelauscht
zu sein scheinen:
yi , ^'''''''T«' "
^^
äutc«
Den Kern des dritten Satzes (Andantino grazioso,
F dur ^j^) bildet ein freundlich ernster Gesangssatz, dessen
Hauptperiode folgende ist.
Andantino.
Ob.
Die kurzen Zwischensätze, welche die Wiederholungen
dieser Hauptgruppe auseinanderhalten, haben den oben
berührten klagenden Charakter und ruhen auf folgen-
Cor. _
dem Motive: -tC-^J"] I ^=ii=p^-=ii> 1 ^ J^,^^. Ein
M..,..: if'JjliJjJ^U •
Kretzf chmar, Führer, I.
27
eO 418 ^
Triolenrhythmus, welcher zuerst in der Cellofigur
ij^iiTTr
des Satzes hellere Lichter hinein.
Der letzte Satz beginnt mit einem wahren Freuden-
allarm. Mit ausgelassenen Dissonanzen setzt das Tutti ein :
MoUo AUef ro.
im breiten Behagen wiegt es sich
j I >1 J I J ^ I schier endlos, wenn die fröhliche, in den
Eingangstakten auf den Anfang der Sinfonie zurückgrei-
fende und ein Schubert'sches Gresicht tragende, Haupt-
melodie angestimmt werden soll:
:i Iri I J ] I r - Der Satz ist an selbständigen, schönen
Themen überreich. Mit besonderer Wucht macht sich
folgende Melodie der Bläser geltend:
die das gesammte Streichorchester mit breit arpeggirten
Aecorden, wie mit mächtigem Harfenklang umrauscht.
Die ausserordentliche Instrumentirungskunst, welche Gade
in der ganzen Sinfonie beweist, feiert hier ihre stärksten
Triumphe. Wenn die Trompeten ihre fröhlichen Signale
in die glänzend kräftige Scene hineinwerfen, welche um
den eben skizzirten Gesang sich bildet, da steht BUrger^s
^Lenore* Tor uns: ,,Und jedes Heer mit Sing und Sang
— Mit Paukenschlag und Kling und Klang — Geschmückt
mit grünen Reisern — Zog heim zu seinen Häusern!* Be-
tc 419 f^
sondere sinnig empfinden wir es, dass das Heldenthema
aus dem ereten Satze der Sinfonie in das Finale hinein-
gezogen worden ist. Dass die Menge des poetischen
Stoffes in diesem Schlusssatze nicht ganz bewältigt worden
ist, lässt sich nicht verkennen. Auch die anderen Sätze
kann man formell ToUendet nicht nennen, besonders das
Scherzo ist unverhältnissmässig breit. Doch aber bleibt
der Sinfonie ein mächtiger Zug in der Gestaltung, und
in ihren nordischen Melodien und Motiven ein originelles
£lement von sicherer und grosser Wirkung.
Unter den übrigen Sinfonien Gade*s — es giebt im K. Oade
Ganzen acht — ist die vierte (in Bdur, 1851 veröffent- Bdur-sinfonie.
licht) die verbreitetste. Ihr Scherzo — es hat einen
Spohr*schen Zug im Hauptsatz und zwei allerliebste volks-
massige Melodien als Trios — ist der beliebteste unter
den vier Sätzen. Im ereten Allegro tritt das scherzende
Seitenthema : . . .^ . _ ,
und die schelmisch liebenswürdige Episode
i^t[t\p\HS\S^t\l^tJit\H^ vor der letz-
ten Intonation des kräftigen Hauptthema, im letzten Satze
das recitativartig , zögernd und fragend in den Violinen
beginnende zweite Thema hervor:
AUvrro.
\r r \f f \ ^\ ,. \ f \
Es sind die wirklich eigenartig gedachten Stellen der Sin-
fonie. Das ganze Werk ist von dem abgeklärten Geiste
milder Anmuth beherrecht und formell eine der reifsten
Arbeiten der neueren Composition. Gleichwohl steht sie an
geschichtlicher Bedeutung hinter der weniger abgerundeten
C moli-Sinfonie Gade's über allen Vergleich weit zurück.
27«
oG* 420 ^
Denn in der späteren Sinfonie ist Gade ein hervorragen-
der Vasall Schumann's und Beethoven's, in jener ersten
aber erscheint er als die Spitze und der Führer einer neuen
Epoche. Jene Cmoll-Sinfonie gab der höheren Instrumen-
talmusik Impulse von grösster Bedeutung. Sie lenkte mit
frischer Schärfe den Blick auf die nationalen Lieder und
Tänze, und bewies, dass dieser Schatz auch für die
grossen Formen der Composition nutzbar gemacht werden
könne. Sie appellirte an die Heimathsliebe der Tonsetzer
in allen Ländern und leitete eine Bewegung ein, die
jedenfalls zu den wichtigsten Erscheinungen der neueren
Musikgeschichte zählt. War diese Bewegung im Liede,
in der Klaviermusik (Field, Chopin), in der romantischen
Oper Weber's, Boieldieu's, Auber's auch schon vorbereitet,
so gebührt Gade doch das Verdienst, sie auf das wichtige
Feld der Sinfonie gelenkt und da in Fluss gebracht zu
haben.
Wir haben heute eine Reihe solcher auf nationalen
Elementen ruhender Sinfonien und sinfonieartiger Werke,
von denen einige auch im Repertoir Fuss gefasst haben.
Der dänischen Schule gehört zunächst Emil Hartmann
an, dessen Es dur- Sinfonie in Stil und Stoff unmittelbar
an Gade anschlicsst. In denselben Kreis sind auch die
Nordischen Suiten von A. Hamerick zu stellen , welche
allerdings mit Mendelssohn'schen , Wagnerischen und an-
deren Elementen stark getränkt erscheinen. Ein Posi-
tives besitzen sie in ihrem eigenen Klangleben. Dem Ver-
ständniss kommen ihre Ueberschriften entgegen. Nor-
wegen und Schweden sind in der Sinfonie neuerdings
durch S. Svendsen, in der Klaviermusik, dem Liede und
der Orchestersuite durch E. Grieg speciell vertreten.
Diesen beiden «Jungscandinaviern*^ wird zuweilen be-
wusste Opposition gegen Gade und seine dänische Schule
zugeschrieben. Nur bis zu einem beschränkten Maasa
geschieht das mit Recht Die Verschiedenheit beider
Schulen beruht auf den benutzten Quellen. Die dänischen
Volksweisen haben vorwiegend einen ernsten und strengen
Charakter; in ihrer technischen Structur sind sie jedoch
cjj 421 tv»
vorwiegend abeDdländisch. Die scandinaTischen Melodien
hingegen, welche Grieg und Svendsen benutzen, weisen
auf ein fremdes Tonsystem hin, das sich abseits des grossen
europäischen Kunststromes entwickelt hat. Stellt man sie,
wie es die genannten Tonsetzer thun, in unser bekanntes
Harmoniegebäude ein, so zwingen sie zu einer freieren
Behandlung der Dissonanz, zu manchem grellen Wechsel
zwischen Dur und Moll und zu Accordfolgen , welche uns
ungewohnt berühren. Sie repräsentiren eine eigenthUm-
liehe Empfindungswelt, in welcher das Träumerische einen
breiten Raum einnimmt. Ein starker Schatten von Me-
lancholie liegt in der Regel auch noch über den kurzen
Tanzweisen, an welchen der norwegische Tonschatz be-
sonders reich ist. Sie bilden Idyllen, in welchen zu dem
ergötzlichen Moment auch ein rührendes hinzutritt. Das
letztere liegt in der Beschränktheit der melodischen und
rhythmischen Kreise, in welchen sich ihre Munterkeit be-
wegt. In diesem Punkte berühren sie sich mit der slavi-
sehen Volksmusik.
Svendsen giebt namentlich in seiner Ddur-Sin-J. 8. Sreadteii
fonie bezeichnende Proben von den Formen und auch Ddur-Sinfonie.
von der Seele seiner heimathlichen Volksmusik. Das
Hauptthema des ersten Satzes ruht in seinem Grundmotiv
auf einer kurzen scandina vischen Tanzweise:
Molto Älle^o.
jf^»r t r irP^ r'P^ l^^. Das zweite Thema,
eine suchende und sehnende Gestalt, bildet gegen die
drängenden und heftigen Elemente dieser fröhlichen Melo-
die einen sehr starken Contrast. Es besteht nicht aus
einer einfachen Melodie, sondern aus einer Gruppe melodi-
scher Sätzchen, unter denen das Motiv p ^i [" T 1 T ^^
für die Entwickelung des Satzes die Hauptrolle über-
nimmt. In dem Entwurf dieses Satzes liegt sehr viel
Genialität. Der Gegensatz zwischen froher Lebenslust und
sinniger Träumerei, welchen die Themen aussprechen.
e<? 422 ^
tritt auch da auf, wo wir ihn nicht erwarten, z. B. in der
Entwickelung des Hauptthemas selbst, und bewirkt un-
aufhörlich ungesuchte Effekte, kleine und grosse. Eine
besondere Kunst liegt in der raschen Modulation der
Stimmungen. Mit einem Schlage versetzt der Componist
uns aus der Majestät der Bergwelt in die stiUe Schönheit
der Fjords. Die dynamischen Mittel namentlich sind mit
frappantem Erfolge benutzt. Das einzige, formell etwas
unreife Element dieses Allegros bilden die Fugatos, welche
über das erste Thema versucht werden.
Die aus der Hingabe an das Wesen der Volksmusik
fiiessende Neigung zu einfacher Elementarwirkung zeigt
sich auch in dem Andante der Sinfonie: an der Stelle
besonders, wo das zweite Thema mit den langen, leisen
Accorden der Streichinstrumente eingeleitet wird, über
welche die Bläser einander sanfte Hirtenmotive zusingen.
Das Hauptthema dieses Satzes, ein edler breiter Gesang,
welcher zuerst auf den tiefen Saiten der Violinen erklingt :
>M 1 , 1 , Ml .111 I dient im weiteren Ver-
C *i ^ IJJ^I^iJ IJ_^ lauf des Satzes dazu,
das glänzende coloristisohe Talent des Componisten zu
entfalten. Von besonderer Schönheit ist die Stelle, wo
PS als Hommelodie von den Pizzicato • Rh jthmen der
Geigen umspielt wird.
Den nordischen Charakter der Sinfonie bringt der dritte
Satz derselben, ein Allegretto scherzando (G dur -/4) am ent-
schiedensten zum Ausdruck. Zwar fängt er in deutscher Ge-
mUthlichkeit an :
Aber schon nach 12 Takten beginnt der zweite Satz mit
einem Motive: Ji.mt$wr\l f ^ r^^i4 J4\l*K^ dessen scan-
dinavische Abkunft durch die untergelegte Harmonie noch
deutlicher wird. Von derselben Natur ist das Thema des
dritten Abschnitts, der in Bdur einsetzt:
cc? 423 ^
Ziemlieh spannend klingt er lange aus. Da setzt in den
Violinen mit ganz wunderbar zart belebten Tonfarben —
die auf geschickter Benutzung einer seltenen Spielart be-
ruhen — Adur ein, und darüber intoniren die Hornbläser
eine neue nordi-
sche Melodie:
Sie ist von Hause aus von etwas derberem Schlage, ent-
faltet aber ihren ganzen schwerfallig drolligen Charakter
erst dort, wo sie Bässe und Violinen im Canon durch
ein gewaltiges Forte führen, das Trompeten und Homer
stürmisch genug einleiten. Schnell wie es gekommen, ist
es auch vorbei. Der Componist zieht mit der ihm eigenen
Raschheit einen phantastischen Schleier über die Scene,
unter welchem sich allmählich das erste Thema des
Satzes wieder zu regen begannt. Es folgen nun Bepe-
titionen in freier Folge. Die Form, durch welche die
grosse bunte Menge lustiger Bilder in diesem Satze fest
zusammengehalten wird, ist eine Modification des Rondo-
satzes. An der Wiederkehr des gemächlichen Haupt-
themas hat der Zuhörer immer wieder einen Anhalt und
Sammlungspunkt.
Das Finale beginnt mit einer Einleitung. Alle The-
men sind nordisch. In der Durchführung überwiegt die
Arbeit die Phantasie. Ein sehr schöner Moment der In-
spiration ist der Eintritt des zweiten Themas. Er ge-
bietet den Wolken, und siehe: es erscheint ein freund-
licher Stern. Dass dieses zweite Thema nichts anderes
ist, als die Melodie der Einleitung, nur in schnellerem
Gang, hebt nur die Wirkung.
Die zweite Sinfonie Svendsen's (Bdur) beruht auf J. 8. STeadse»
einem tieferen Stinunungsgrunde als seine erste. In allen Bdttr-Sü»fom«.
ihren Sätzen lauert die Schwermuth, und noch im Finale
wechseln die Momente des gewaltsamen Aufraffens der
«^ 424 ^
Kraft mit Augenblicken gänzlicher Verzagtheit. Am
freiesten von trüben Anwandlungen hält sich der dritte
8atz^ eine als Intermezzo bezeichnete Pastoraldichtung, die
Beethoven'sch beginnt und dann ganz in dem nordischen,
neckischen und kindlichen Schalmeienton aufgeht. Auch
der erste Satz hat eine ausgeprägt norwegische Melodie in
seinem zweiten Thema, welches in diesem Satz die Rolle
des guten, tröstenden, mit Heimaths- und Jugendbildern
zusprechenden Geistes übernimmt. Im Andante, das
manchen BrahmsWhen Zug enthält, hat der freundliche
Gegensatz in einem kurzen, immer repetirenden — oft be-
scheiden versteckten — Achtelmotiv einen rührend naiven,
unschuldigen Ausdruck gefunden. In der Form reifer
als die Ddur-Sinfonie, zeiget sich Svendsen in der zweiten
Sinfonie doch weniger originell. Ausser den bereits an-
geführten Meistern gehören noch Schumann (im ersten
Satz), Schubert (im dritten) zu den Componisten, deren
Einfluss bemerkbar wird.
Ed. Cirieg*! Von den Orchestersuiten Ed. Grieg's darf man die
'^"■^««JI'ergB ^tere ,Aus Holbergs Zeit* (op. 40) kaum in die
Classe der nationalen Musik stellen. Sie hat nur in der
Musette und im Rigandon einige spärliche scandinavische
Töne. Aber das Werk ist unter allen den neuen Suiten,
welche den Geist des 18. Jahrhunderts heraufzubeschwören
suchen, eins der liebenswürdigsten. Es wählt die copiren-
den Mittel mit allzuviel Beschränkung, es entfernt sich in
seiner Leidenschaftlichkeit vom Wesen der alten Kunst;
aber es ersetzt das Alles durch die poetische Kraft, welche
die knappen Formen erfüllt.
Zwei Suiten Grieg's sind der Musik entnommen, die
er für den Versuch einer Bühnenaufführung von Ibsen'»
Ed. Orieg's „Peer Gynt* geschrieben hat. Diese beiden Orchester-
,reer Ojnt~ I. gujten ZU Peer Gvnt haben somit einen ähnlichen Ur-
Sprung wie Bizef s Suiten zu TArl^ienne ; sie können sich
mit ihnen aruch an künstlerischer Bedeutung sehr wohl
messen, sind ihnen an Stärke des Nationalklangs und an
Einfachheit sichtlich überlegen. In letzter Beziehung
darf man diese Grieg'schen Compositionen sogar für ein
oc 425 ^
Ideal vornehmer Orchestermusik erklären. Was das nor-
dische Colorit betrifft, so sind in diesem Falle die eignen
starken Anlagen und Neigungen des Coroponisten noch
durch die Dichtung befruchtet worden. Lebt doch im
Peer Gynt die ganze nordische Natur; ja: in dem mit
überreicher Phantasie ausgestatteten Helden hat Ibsen dem
norwegischen Volk ein Spiegelbild vorhalten wollen.
Der e r s t e Satz der ersten Suite (op. 46) heisst Morgen-
stimmung und soll wohl den zweiten Aufzug des dra-
matischen Gedichts einleiten, in dessen erster Scene Peer
mit der geraubten Ingrid bei Tagesanbruch ins Gebirge
schreitet. Die Composition hat durchaus Pastoralcharakter.
Ihr Haupthema:
Aüejtwtto pastoral», ^«r fio.
P
wechselt lange Zeit zwischen Flöte und Oboe mit ver-
änderter Harmonie. Die beiden Instrumente gemahnen an
die Hirten des Hochgebirgs die von Höhe zu Höhe sich
musikalisch unterhalten. Mittlerweile ist die Sonne höher
gestiegen und nun kommt die Melodie in dem vollen
Glänze, den das Unisono des gesammten Streichorchesters
(Bässe ausgenommen) geben kann, wenn forte vorge-
schrieben ist. Ein kleiner Zwischensatz, der in Cismoll
einsetzt, lässt über das Cellomotiv
gewissermassen die
Lichter auf dem Morgenbilde wechseln: es dunkelt, es
hellt sich wieder auf, es herrscht reges Leben am Himmel
und in den Farben der sonnentrunknen Flur. Mit dem
Hom, das das Pastoralthema wieder intonirt (in Fdur)
kehrt die ruhige Stimmung des Anfangs zurück; nur ein
wenig reicher fühlt sich das Herz. Die voll dahiaströmenden
Contrapunkte in Bläsern und Geigen sagen es. Knapp vor
dem Schluss legt der Componist noch eine zart muntre
Episode ein. Die neuen Motive der Hörner, die Triller
^ 426 ^
der Holzbläser skizziren eine intime Scene aus dem Thier-
leben.
Der zweite Satz illostrirt Ases Tod. Die Mutter
Peer Gynt*s stirbt einen schönen sanften Tod: mitten im
Aufbau von Luftschlössern schläft sie schnell und ruhig
ein. Da« deutet die Musik die nur für Streichorchester
bestimmt ist wohl an. Der erste Theil bringt das freund-
lich sehnsuchtsvolle Lied
in einem crescendo das über Fismoll nach Hmoll zurück
und ins fortissimo führt. £r giebt gewissermassen ein Bild
von dem letzten Glück der Todten, die in Träumen ihre
schönsten und immer kühneren Wünsche befriedigt sah.
Der zweite Theil leitet mit einer Umbildung der Liedweise
in den Ton der Trauer ein.
Der dritte Satz, «Anitra^s Tanz* betitelt, bringt uns
nach Marokko, wo Peer Gynt in der Oase, im Zelte eines
Araberhäuptlings weilt, dessen Tochter Anitra mit andren
Mädchen den für den Propheten gehaltnen Fremdling durch
Tänze und Spiele zu ehren und zu erheitern sucht. Die
knapp gehaltne und wieder nur für Streichorchester com-
ponirte Nummer hat einen Hauptsatz über das Thema
Tempo dl H>«igka. _ ^- ^ ^
I f I r/r r I ' ' I
das nach einigen Takten Accord gebender Einleitung in
der ersten Violine zierlich trippelnd und mit bestrickend
anmutbiger Bewegung einsetzt. Die Melodie geht schon
am Schluss der ersten Periode in ein verwirrendes Figuren-
spiel über und diesem Abschnitt folgt der zweite Theil mit
^ f' Plj} l^fip/ I f' IT ' Mit diesen Schmach-
eo 427 t>»
tenden Motiven wechseln prickelnde pizzicato-Stellen. Dann
kommt der Hauptsatz wieder aber mit gesteigerten Reizen.
Seine Melodie wird zum Kanon zwischen erster Violine
und Bratsche. So giebt der Componist ein Bild von den
immer stärker wirkenden Künsten der raffinirten Beduinen-
tochter, an die ja im Drama Peer Gynt sein Herz ernst-
lich verliert um Hohn und Spott zu ernten.
Der vierte Satz mit dem Titel ,In der Halle des
Bergkönigs* ist eine Yariationenreihe über das Thema:
AU» BUtfCl» molto maroaio. JsiBB.
LilJ'lÜjJfil
Es kommt zuerst ganz leise in den Contrabässen, geht von
ihnen an die Fagotte, wechselt in veränderter Tonart
längre Zeit zwischen beiden Instrumenten ; dann betheiligen
sich die Violinen und lösen sich mit den obern Holzbläsern ab.
Der Tanz wird lauter, schneller und giebt das Bild eines
Behagens, das bis zum Fanatismus anwächst. Die Varia-
tionen entwickeln sich mit einem Minimum von Kunst : es
sind nur Wiederholungen. Aber gerade dieses Einerlei er-
höht die Wirkung der Dynamik, die Beharrlichkeit rückt
wie leibhaftig und beängstigend auf uns los und schliesslich
ist der Eindruck elementar und beängstigend. Grade mit
dieser Art von Kunst haben die Scandinavier und Slaven
ein frappantes neues Element in unsre europäische Musik
eingeführt und ihren Vorrath an Naturalismus gewichtig,
vielleicht auch gefahrlich vermehrt Grieg kann hier, wie
auch bei seinen norwegischen Tänzen fürs Klavier für sich
das Verdienst in Anspruch nehmen ein interessantes, nicht
gewöhnliches Thema gewählt zu haben und mit den Wieder-
holungen nicht übers Maass gegangen zu sein. Mit ge-
nialem Takt hört er zur rechten Zeit auf.
Die zweite Suite Grieg's zu Peer Gynt (op. 55) bringt Ed. Grleg
als ersten Satz eine Composition die überschrieben ist »^««'Gya^'^ii-
.Der Brautrau b**. Peer Gynt hat als der Tollkopf,
der er ist, als er das Elternhaus verlassen aus dem ersten
Dorf in das er kam bei einer Bauernhochzeit die Braut
«^ 428 ^
geraubt und ins Gebirge entführt. Die Musik zeigt uns
nun das Entsetzen, die Wuth der Hochzeitsgesellscbaft als
sie bemerken dass Ingrid verschwunden ist in einigen
Takten wilden Allegros. Dann rufen sie wohl nach ihr:
aber nur dumpfe Horntöue, Laute unempfindlicher Natur
kommen zurück. Ein Andante doloroso führt uns darauf
zu der Geraubten, die eine lange Klage singt. In den
tiefen Saiten der Violinen gespielt haben diese Klage-
melodien ein ausserordentlich individuelles Gepräge, sie
lassen an ein stolzes Gesicht denken und zugleich sind sie
in einzelnen Wendungen sehr rührend.
Der zweite Satz, Arabischer Tanz überschrieben,
führt uns noch einmal in die Scene, zu der in der ersten
Suite Anitras Tanz gehörte. Während sich aber in diesem
die Häuptlingstochter allein in den Künsten der Coquetterie
erging, haben wir hier eine ganze Mädchenschaar vor uns
und zwar mit ausgeprägten Racenzügen, die sich nament-
lich in den Rhythmen der Musik äussern. Der Anfang
des Themas vom Hauptsatz giebt davon mit den Schluss-
noten eine kleine Probe:
Allagretto vlT»oa. d^ 188.
^„ffir7rffrrf
Zur Melodie gehört in diesem Falle nothwendig der
schrille Klang des Piccolo um den anmuthigen Theil des
Bildes auch mit dem abstossenden zu vervollständigen. Misch-
charaktcr ist dem ganzen Satze eigen : den weichen Tönen
treten fortwährend wilde auf den Fuss. Sehr schön zeichnet
der Mittelsatz, den d:is Streichorchester allein spielt (nur
Triangel kommt noch dazu) wie aus dem Kreis der Mädchen
eine Schöne heraustritt und mit Tönen des Gemüths, mit
Geberden der Innigkeit den Helden lockt. Diese Sccne
wird auf einen Augenblick durch den Chor unterstützt der
sich in zierlichen und reizenden Balletweisen bewegt.
Um den dritten Satz zu verstehen muss man das
Ibsen'sche Gedicht kennen. Die Ueberschrift der Nummer:
„Peer Gynt's Heimkehr' erklärt nicht den Charakter
co 429 ^
der Musik. Heimkehr gilt gewöhnlich filr ein freudiges
Ereigniss; Peer Gynt wird aber hier schlimmer empfangen
als der verlorne Sohn : mit einer düster erregten, mit einer
tobenden Musik. Ibsen lässt seinen Helden als Schiff-
brüchigen heimkehren und Grieg malt den Seesturm dem
das Fahrzeug an der heimischen Küste zum Opfer fällt.
Der Composition liegt darnach ein ganz ähnliches Pro-
gramm zu Grunde wie R. Wagner^s Ouvertüre zum ^Fliegen-
den Holländer**. Mit ihm begegnet sich Grieg auch
thematisch, namentlich der Quintenfall in seinem Haupt-
motiv bildet eine für Jeden bemerkbare Aehnlichkeit :
Allegpoa«ltato.J=13fiu^ ^ ^
^l*ra i P f lI [1 V^^ . Das kommt daher, weil
der Gehöreindruck des durch die Segel und Taue pfeifen-
den Sturmes für alle Musiker nahezu derselbe ist. Das
ist ein Klang der unten ansetzt und springend sich nach
oben immer mehr zuspitzt. Dann grollt und wühlt es an
einer andren Schiffsseite wieder, scheinbar ruhiger;
I i_ n I rn m I n i
So spielen die Elemente lange mit dem armen Fahrzeug
ihr grausames Spiel. Dann wird die Lage verschlimmert.
Das Wetter heult in langen Zügen, in bösartigem Zischen :
Diese greuliche Figur klingt in allen Registern ; nach den
Flöten durchläuft sie die Coutrabässe. Erst dann und
wann auf eines Viertels Pause absetzend, nimmt sie sich
im weitren Verlaufe gar keine Zeit mehr, wüthet ärger
und ärger; schliesslich saust sie in ganzen chromatischen
Chören einher. Einige starke (fff) Accorde Takte lang aus-
gehalten bedeuten die Katastrophe, den Untergang des
Schiffes. Noch eine Zeit lang setzt sich das Toben fort,
ec 430 ö-
dann wird es schwächer und schwächer. Stille tritt ein
und nachdem die Schilderung beendet ist fügt der Componist
als Dichter eine kurze, aber ergreifende Klage hinzu, die
den Holzbläsern gegeben ist. Was Realistik und Naturtreue
betrifPt, so wird man den Satz unter den neueren musika-
lischen Gemälden rom Meer mit den Arbeiten Gilson's zu-
sammen die hervorragendste Stelle einräumen müssen.
Der vierte Satz der Suite heisst »Solvejg's Lied*.
Solvejg^ist die Jugendgeliebte des Landfahrers — als alter,
verkommner Mann trifft er sie nun wieder. Das Lied, das
sie ihm singt, hat ausgeprägt norwegischen Charakter in
den Schlüssen des Mollsatzes und ist sehr ernst. Soll es
doch nach des Dichters Ansicht symbolisch den Tod be-
deuten. Mit dem Hauptsatz (in Amoll) wechselt ein Neben-
satz (Adur) von freundlich anmuthigem Charakter, an
Jugend und an Tanz erinnernd. Die Cömposition hat auch
als Lied fUr eine Singstimme mit Klavierbegleitung weite
Verbreitung gefunden.
Die nächste Veröffentlichung Grieg's die dieser zweiten
Suite zu Peer Gynt folgte, war wiederum eine Orchester-
suite aus Stucken zusammengestellt, die ursprünglich zu
einer Schauspielmusik gehören. Dieses opus 56 enthält
drei Stücke: Vorspiel, Intermezzo, Huldigungsmarsch aus
Ei. Orleg einer Cömposition zu BjÖmson's Schauspiel: SigurdJör-
„sigurd Jönai- salfar. Das Vorspiel und das Intermezzo sind beide
^"*'' sehr kurz und einfach. Jenes, das noch den Nebentitel
hat ,Iu der Königshalle** ruht im Hauptsatz auf einem Motiv
^^ g Aüs^tto stpipüea. (J : 84.)
mH J Jj J^ J 1J)T j § dessen humoristischer
Charakter noch dadurch wesentlich verstärkt wird, dass
an seinem Schluss die Bässe wie verlegen und versehentlich
ins Leere nachschlagen. Mit dem Eintritt der Violinen
nimmt der Satz aber einen sehr glänzenden, ungefähr den
Charakter eines Hoffestes an. Die Mitte der Nummer füllt
ein Dialog zwischen Flöte und Oboe, dann zwischen Cla-
rinctte und Fagott, in dem mit elegischen, sinnigen Ge-
danken kunstvoll gespielt wird. Das Intermezzo giebt
Ol? 431 ©-
Einblick in eine edle Seele zu kritischer Stunde. Es be-
steht aus einem Andante, das nachdenklich über ernste
Motive brütet und einem düster aufgeregten Allegro, in dem
der Schrecken haust. In veränderter Form kehrt nach
ihm das Andante wieder.
Der Huldigungsmarsch setzt gleich ungewöhnlich
ein : die Trompeten holen fröhlich und munter das Orchester
herbei und dies fiUlt mit einer Dissonanz ein, die sich natür-
lich gleich auflöst, aber doch einen Augenblick das festlich
gestimmte Gemüth in Verwirrung bringt. Als Hauptthema
seines Marsches giebt Grieg folgende Weise
f »fliQf rrrirl piO i iii i
die zuerst von einem Quartett von Cellis gebracht und
dann mit manchen überraschenden Wendungen entwickelt
wird. Ausserordentlich belebend ist der Eintritt des Zwischen-
satzes. War die Musik bis dahin kräftig, so springen jetzt
ganz plötzlich die Bässe wie Riesen auf und führen eine
Weile das Orchester, das gleich darauf von den Trompeten
und Hörnern in einen ausserordentlich fröhlichen und volks-
thümlichen Allarm gebracht wird. Die Stelle wirkt wie
der Anblick einer unwillkürlich in Jubel ausbrechenden
Menge. Und wie nun das Hauptthema wieder aufgenommen
wird, hat Grieg noch eine Ueberraschung : Es setzt als
Maestoso mit verlängerten Rhythmen ein, ähnlich wie
Dvofak zuweilen seine Motive in Yerg^össerung bringt.
Das Trio hat bei aller Einfachheit der Melodien durch
die Harmonie viel Tiefe, so dass der Marsch als Ganzes
als eine der gehaltvolbten neueren Arbeiten seiner Gattung
angesehen werden muss.
Von den jUngren scandinavischen Componisten hat
am meisten Christian Sinding die Aufmerksamkeit Chr. Sladlag
auf sich gelenkt mit einer D moll-Sinfonie (op. 21), die an^^cioU-Siiifoni«.
einigen der ersten deutschen Concerte bereits zur Auf-
fUhrang gelangt und vielleicht zu noch grössrer Verbreitung
bestimmt ist. Der bisher namentlich durch ein Quintett
für Klavier und Streichinstrumente bekannt gewordne Com-
ponist legt mit dieser Sinfonie seine reifste und selb*
ständigste Arbeit vor. Der Einfluss Richard Wagner's ist
an und für sich in richtige Grenzen zurückgetreten, wird
aber vielen Hörern ausserordentlich stark erscheinen weil
er sich durch markante Aeusserlichkeiten , Harmonieftili-
rungen namentlich, geltend macht. Beethoven wird insbe-
sondre mit seiner fünften Sinfonie bemerklich. Die nordische
Abkunft zeigt die Sinfonie in eigenthümlichen Melodie-
wenduugen, denselben die auch Svendsen liebt, und im
Taktwechsel ; hauptsächlich aber in dem Fühlen und Den-
ken des Componisten, das aus der Musik spricht. Der
Zeiger von Siuding's Phantasie und Empfindung ist fast
zu fest auf Kraft gestellt und ein hübscher Zusatz freund-
licher Züge würde der Composition nur zum Vortheil ge-
reichen. Der Ideengohalt einer Musik hängt aber wie von
Phantasie und vom Charakter des Componisten auch von
seiner Methode und Schule ab. Und in diesen Punkten
theilt Sinding mit vielen Musikern der Gegenwart den Irr-
thum, der die Entwickelung über die Erfindung, die Arbeit
über die Eingebung stellt. Dieses Prinzip passte für die
philosophische und geistreiche Zeit Haydn's und Beethoven's;
heute sind gute und viele Originalideen das Wichtigste.
Gute Gedanken sind allerdings Himmelsgaben; aber auch
Himmelsgaben empfängt man nicht ohne Wünschen, Wollen
und Bemühen oder wie Hesiod sagt: avev novtov ovStr
idamav oi &eou Es muss jedoch dem Componisten nach-
gerühmt werden, dass er in der Arbeit und in der Ent-
faltung seiner Künste Maass hält. Auch an die gewohnten
Sinfonieformen schliesst Sinding an; nur durch harmonische
Härten und verwickelte rhythmische Verhältnisse erschwert er
es seinen Zuhörern oftmals. Den stärksten individuellen Zug
hat seine Musik in dem dramatischen Ton des Vortrags;
namentlich wenn es gilt im Lauf eines Satzes ein neues
Bild einzuführen wird sie schwunghaft und setzt in un-
geduldige Spannung. Auch in der Anlage der Sinfonie
oe 433 ^
zeigt sieb ein ernster und bedeutender künstleriscber Cba-
rakter. Die Sätze steben sicbtliob und aueb äusserlicb er-
kennbar im Zusammenbang. Die Grundidee des Ganzen
ist ungefäbr in einem Tonbild zu zeigen wie eine gesunde,
selbst bewusste Natur den Lebenskampf fUbrt und gewinnt.
Der erste Satz schildert Kampf. Sein Hauptthema,
dessen Vordersatz folgendermassen lautet:
Aüegro moänwJto,
■^JU Jji j^i
spriebt reckenhaften Trotz aus. Am stärksten äussert er
sich am Ende, das auf einem der von Sinding sehr, nament-
lich in der Gestalt des verminderten Sextaccords, geliebten
Trugschlüsse erfolgt. In der Gruppe die um diesen Haupt-
gedanken gebildet ist, fällt namentlich die Stelle auf in
der das Thema p (auf dem Undecimenaccord auf c) ein-
setzt. Sie wirft einen Schatten ins Bild, der vor dem
letzten gewaltigen Anlauf sehr wohlthut. Ihm folgt ein
Abschnitt der Sammlung. Die Streichinstrumente bringen
im grossen Unisono das Zwischenthema
^^
I j' 3 J J. I lJ. j das darauf hinweist.
dass noch ein grosser Fond von Kraft im Innren des Helden
dieser Dichtung ruht. Der Schluss giebt in der ohne viel
Umstände erzwungnen Modulation eine Probe seiner Kühn-
heit. Die Holzbläser nehmen den Gedanken in zartrem
Ton auf, gewissermassen vertrauensvoll und still beglückt.
Und nun folgt das zweite Hauptthema des Satzes. Sein
Anfang ij j^ Jjl |J kl jj ^ genügt um zu sehen
was es ausdrückt: das Gefühl und die Gewissheit glück-
licher Zukunft. Die Stimmung wird längre Zeit festge
Kretstchmar, Führer, I. 28
^ 434 ^
halten, sie schäumt, als die Geigen sich des Themas be-
mächtigt haben, brausend auf. Wie im Schrecken über
das Uebermass bricht die Darstellung mitten im höchsten
Jubel (auf h-d-fgis) ab. In den Blasern hört man war-
nende Stimmen und es beginnt ein Besinnen und die Durch-
führung. An ihrem Anfang bringt Sinding seine beiden
Hauptthemen zugleich, das erste in den Violinen, das
zweite in den Bläsern; beide leise. Dann gewinnt aber
die Kampfesstimmung, die im ersten Hauptthema liegt
die Oberhand und äussert sich in einer Reihe äusserst
energischer Bildungen ; schliesslich arbeitet sie fast nur noch
mit Rhythmus. Eine Stelle an der alle Instrumente auf
dem Ton f pochen und verschnaufen, bezeichnet die Um-
kehr. Das zweite Thema lässt sich noch einmal begütigend
vernehmen, hinter ihm her das Motiv des Zwischensatzes
wie es in der Themengruppe die Bläser brachten
J J J I J.3 J J« I J* y dann tritt die sogenannte Reprise,
die Wiederholung des ersten Theils des Satzes ein. In
ihr zeichnet sich der Eintritt des zweiten Themas, das
jetzt in Ddur steht, merkbar aus. Sinding schickt ihm
vier Takte Einleitung voraus, in der erst die Bläser, dann
die Geigen gewLssermassen um Ruhe bitten. Athemlos
erwartet, klingt es geheimnissvoll dahin. Mit dieser Wen-
dung ist der Endeindruck des Satzes bestimmt: er spricht
Siegesgewissheit aus. Sie zu betonen führt der Componist
in einem Schlussanhang noch einen neuen Gedanken ein,
^
aus in einer jener mächtigen Steigerungen ergeht, die wir
bei Sinding häufig und bewundernd trelfen. Bezeichnender
Weise schliesst der Satz mit den Motiven des Zwischen-
satzes der dem zweiten Thema vorhergeht. Das ist der
Hinweis auf innre Kraft, der stolze und ruhige Ausdruck
des Selbstvertrauens.
Der zweite Satz (Andante, •/4, Gmoll) ist der Ruhe,
co 435 -0»
dem Frieden, dem behaglichen Träumen gewidmet. Er
hat eine zutrauliche Weise als erstes Thema, die folgender-
^ , Andante. _
masaen anfängt |[l l| I p \ \J q^\ f^Jj} \ .1^
und in der Fortsetzung etwas redselig, dringlich aber auch
warm wird. Schon bald wird sie durch einen (am Ende)
weiterblickenden Gedanken abgelöst, der zuerst im Hörn
auftritt :
und vom Chor
der Instrumente mit unverkennbarem Wohlgefallen be-
grüsst wird. Aber auch er füllt das Herz in der Feier-
stunde noch nicht aus, sondern das ist dem Thema vor-
behalten das nach kurzer Wiederholung der Eingangsweise
durch hohe Klänge in Geigen und Flöten angekündigt
von der Clarinette gebracht wird:
pp dolce
I ii'iN. ;7iT|. I
Es ist als wäre mit dieser Melodie der Ton der in den
vorhergehenden beiden Themen gesucht wurde, wirklich
gefunden. Es ist aber diese Melodie eine Volksweise und
indem er sie in den Mittelpunkt der der Ruhe, der Er-
holung gewidmeten Scene seines Heldengedichts stellt, will
der Componist etwas Aehnliches sagen wie das was Scliiller
mit den Worten ausspricht «Ans Vaterland, ans theure
Bchliess' Dich an**. Die Darstellung hält lange Zeit an
diesem Gedanken fest. Sie giebt ihm im Laufe der Ent-
Wickelung einen glühenden Ausdruck, einmal auch einen
seltsamen. Es handelt sich um die Stelle wo, nach einer
langen Reihe von Sequenzen über das von den ersten zwei
Takten gebildete Glied, der verminderte Septimenaccord
(cis-e-g-b) dem Ausbruch der Freude und Begeisterung ein
plötzliches Ende macht. Da blasen zunächst die beiden
Fagotte sehr gefühlvoll allein. Und dann folgt ein Ab-
schnitt in dem nur von der Pauke und den Contrabässen
28*
ce 436 ^
begleitet die Tuba und zwar pp das Thema vorträgt. Die
Steile hat etwas mystisch Groteskes. Der Compontst bleibt
aber nicht blos bei der Betrachtung und Bewunderung
von Yolksthum und Heimath: er steigert ihren Ausdruck.
Es tritt zu der elegischen Weise die die Clarinette brachte
ein andres nordisches Motiv stürmisch fröhlicher Natur:
springt allein übermüthig daher
und wird zur Begleitung jener Weise verwendet. Auf
Grund dieses Materials bildet der Schluss des Tonbilds
eine Scene der Freude. Ganz am Ende wird es aber
plötzlich stille und wir hören nochmals, wie verschleiert,
jenen übergreifenden, in die Zukunft, in die Feme hinaus-
weisenden Gedanken, den das Hom zuerst zwischen die
beiden Hauptthemen des Satzes schob.
Das erste Thema des dritten Satzes (vivace, 'Z^,
F dur) zeigt den jungen Recken, dessen Schicksal die Com-
position schildert, nach der Idylle des vorhergehenden
Satzes erfrischt, erheitert, ermuthigt und ermuntert. Nach
acht Takten Accordeinleitung setzt es so ein:
VlVÄce.
jn I .rJlirj'jjijijjmT i i^i i| \
y V ^ •♦^-» -.,^ — CTesc.
-, f rn^f I ' J>J^. Namentlich die letzten beiden Takte
mit den punktirten Rhythmen äussern ein übermüthiges
Kraftgefiihl und sie sind es die der Componist in den Aus-
fuhrungen des Themas vor Allem benutzt. Bald stehen
wir vor wohlbekannten Klängen: vor dem ersten Haupt-
thema des ersten Satzes. Diese Reminiscenz bedeutet:
, wieder Kampf*. Aber es handelt sich nicht so um die
Noth des Kampfes als um die Lust und die Freude daran.
Die innerlich zufriedne, beglückte Stimmung zeigen die
Themen des folgenden Seitensatzes: das von den Bässen
«<? 437 ^
eingeführte: ^Ij J. rt f I f -1 If Pf 1 1^ I das die
Homer mit A j« K J 1 r"1 1 i 1 — i — '■ beantworten
und die erst von den Holzbläsern etwas ungeschickt
und eigensinnig probirte, bald von den Hörnern in Ordnung
gebrachte Weise:
^nJiJJiJijUjij^iUJiJjjijJy
Mit letztrer entwirft Sinding eine längre Reihe kleiner
Bildchen : vom Sonntag und züchtigen ländlichen Freuden
die einen , von dem ausgelassnen Treiben und der lauten
Lust der männlichen Jugend die andren. Dann wird der
Hauptsatz noch einmal vorübergefuhrt. Die Composition
hat also die einfache Anlage, die wir schon vom Haydn'-
schen Menuett her kennen; nur sind die Formen etwas
vergrössert. Auch das nach der Wiederholung des Haupt-
satzes übliche Trio kommt an der erwarteten Stelle: Sin-
ding giebt ihm eine derb launige Volksmelodie:
■• Vit moderato. ^_ »
jr
die sich besser lesen würde, wenn sie im •/4Takt notirt
wäre. Nach einer Weile, durch Wiederholungen ausge-
füllt, erfährt sie eine Fortsetzung in folgender von den
Trompeten eingeführten Melodie:
•f''i '1' iiiHfr'Tii IM gi i| I 'i n
'n iif gi i^ii III ^ 'ii 'i'i'i 'i'i
mit der sie sich nun in den Platz zu theilen hat. In der
Ausführung dieser Motive ergeht sich der Componist mit
breitem Behagen wie denn alle die Vertreter jener neu in
*o 438 ^
die Kunstmusik hereingekommnen Völker nichts lieber
wiedergeben als die Scenen heimischen Volkslebens. Ist
es doch mit den Dichtem und Malern der Scandinavier
ebenso! Nach dem Trio wird der ganze erste Theil wie
gebräuchlich wiederholt. In dieser Wiederholung hat Sin-
ding eine Episode mit erst zögernder, dann in verblüffen-
den Läufen hinstUrmender Musik eingelegt um den Eintritt
des zweiten Seitenthemas glänzend zu gestalten. Es er-
scheint dadurch als die Krone des Ganzen; mit ihm geht
auch der Satz schnell zu Ende, zuletzt noch Über eine un-
gewöhnlich drollige Fagottstelle geführt. Mit dieser Be-
tonung der nordischen Tauzweise konmit der dritte Satz
in nähere geistige Berührung mit dem vorhergehenden.
Auch hier wird ein Bekenntuiss zu Volk und Vaterland
ausgesprochen.
Der letzte Satz (Maestoso, ^j^, Dmoll) beginnt mit
dem Thema in den Bässen
^ j \ p \f etc. — die Violinen sämmt-
lieh immer d dazu als liegende Stimme — sehr ernst, feier-
lich und auch fromm gestimmt, wie Jemandem zu Muthe
ist, der vor einer wichtigen Entscheidung steht. Nachdem
das Thema — vor der Wiederholung ist ein kurzer Ab-
schnitt eingelegt, der gespannte, verlegne Erwartung aus-
spricht — das zweite Mal verklungen ist, künden heftige
Geigenfiguren etwas Besondres an: Es lässt sich der Ton
des Wunderbaren, Ausserordentlichen vernehmen — leise-
stes Triolenrauschen auf einem Orgelpunkt — und darüber
setzt wieder eine Volksweise eine Art Wanderlied ein:
Es erregt grosse Freude und wirkt gewaltig belebend wie
gleich darauf der Chor bekundet:
to 439 o-
■El- r J7J fff fj I r i tf IP ^ i I I etc. Doch wird erst
noch einmal in eine gehaltene, ruhige, dankbare Stimmung
eingelenkt, der das zweite Thema gewidmet ist:
_ etc.
Die bald darauf folgende Durchführung wirft sogar einen
Rückblick wie aus der Erinnerung, aus der Ferne auf
zurückliegende trübe Stunden. Mit stechenden Dissonanzen
setzt das erste Thema ein. Der Rhythmus vom ersten
Takt des zweiten Themas j . J^ J und ein Motiv aus dem
Endtheil dieses Themas ft^ ^ f C/ I f '- übernehmen
es aber aufzuhellen, sie ziehen vorübergehend auch das
Wanderlied mit in ihre Kreise und bringen es bald zu
einer glänzenden Wendung nach Ddur. Dieser Durtheil
beginnt mit einem Hymnus, der an das zweite Thema des
Satzes anknüpft und dann zum ersten Thema übergeht,
das nun die dunkle Farbe ablegt. In der sogenannten
Reprise wird besonders lange beim zweiten Thema ver-
weilt, das eine der interessantesten Bildungen in der Sin-
fonie bedeutet. Melodisch sehr einfach erhält es seinen
zwischen Glück und Leid schillernden interessanten Cha-
rakter durch Harmonie und Contrapunkte. Hier nun im
Schlusstheil seines Finale zieht es der Componist ganz in
freudige Sphären, ihm nach am letzten Ende das Haupt-
thema das aus dem Munde der sämmtlichen Blechinstru-
mente Heimkehr in Jubel und Triumph meldet.
Auch der Engländer F. C o w e n hat vor einigen Jahren F. Cowea
eine „Scandinavische Sinfonie** veröflfentlicht, welche von 8c»ndm«Tiiche
der Mehrzahl der deutschen Concertinstitute mit Beifall Sin^oni».
aufgeführt worden ist. Diese Sinfonie gehört jedenfalls
unter die bedeutendsten Instrumentalcompositionen, welche
u? 440 ^
seit Jahrzehnten jenseits des Canals entstanden sind. Wäre
der erste Satz, dessen melancholisches Hauptthema
schliesslich zum Quälgeist wird, etwas reicher an Ideen,
und der letzte ein total anderer, so würde diese Sinfonie
unter die hervorragendsten neueren Nummern ihrer Gattung
einzureihen sein. Die einfachen Ideen des Andante mit
dem Titel «Sommernacht am Fjord*, in welchen ein (im
Nehensaal zu versteckendes) Homquartett die Träumerei
der Violinen mit derben Tanzweisen unterbricht, die ganz
wie aus der Feme herüberklingen, haben die Poesie und
den Effekt fUr sich. Ebenso ist das Scherzo in anderer
Art wirksam und frappant: ein freundliches Gespenster-
stück, in welchem der flüchtige, schattenhafte Charakter*
mit einer genialen Consequenz durchgeführt wird. Die
Geigen hinter Sordinen mit einem eiligen Motive huschend
Allegro molto.
Lfej, der Mittelsatz, ein
Nebel aus zitternden Rhythmen und mysteriösen Modu-
lationen, in den die Bläser nichts als Accordnoten hinein-
tropfen: das Ganze getrieben vom hellen Klang des Tri-
angel. Es ist seit der „Fee Mab* von Berlioz in dieser
eigenen Art von Phantastik vielleicht kein so runder und
gelungener Satz componirt worden!
Gade's Weckruf fand aber auch weit über die scan-
dinavischen Länder und Kreise hinaus seinen Wiederhall.
Verwunderlicher Weise ist das, was aus Ungarns grossem
originellen Musikschatz für die grossen Formen der Or-
chestercomposition fruchtbar gemacht wurde von wenig
Belang. Wir registriren hier einfach die Ungarischen
Suiten von H. Hoff mann, von Raff und verweisen auf
die Rhapsodien Liszt*s, auf die Versuche von J. Brahms
und andren in Oestreich lebenden Componisten, hie und
da in grÖssren auf der Sonatenform ruhenden Compositionen
einen Satz auf ungarisches Musikmaterial zu stützen. Ge-
c<? 441 o»
legentlich sind ja transleithanische Melodien bekanntlich
schon in der Zeit der Classiker verwendet worden. •
Auch Franzosen^ Engländer und Italiener sind infolge
der dorch Gade entfachten Bewegung nach langer Pause
an die Mitarbeit in der hohem Instrumentalcomposition
vom frischen herangetreten. Hier handelt es sich jedoch
nur um Werke die aus nationalem Musikbom schöpfen,
in den Themen entweder durchaus oder theilweise Volks-
lieder oder Volkstänze bringen und so der sinfonischen
Kunst durch neue und originelle Ideen bisher ungegangne
Wege anweisen, ihr Richtungen erschliessen, die die weitrc
Entwickelung bedeutend bereichem und beleben.
Von diesem Gesichtspunkt aus kommen neben den Sin-
fonien und Suiten der Skandinavier nur die Beiträge in
Betracht, welche auf diesem Gebiet in neuerer Zeit von
den Slaven, insbesondre von Böhmen und Russen geliefert
worden sind.
Das Böhmerland hat vom achtzehnten Jahrhundert ab
Dank in erster Linie seinem Adel, der das vom kaiser-
lichen Hofe gegebne Beispiel der Musikliebe und Musik-
pflege mit Eifer, Opferfreudigkeit und Geschick aufnahm
'die Tonkunst aller Staaten mit so zahlreichen und vor-
zuglichen ausübenden Kräften versorgt, dass man — es
war wohl Bumey der das that — von Böhmen als dem
Conservatorium Europas sprechen konnte. Merkwürdiger
Weise steht aber der Antheil den das schöne Land an
der Composition nahm, quantitativ und qualitativ hinter
der Bedeutung sehr zurück die es als Bezugsquelle von In-
stmmentalisten aller Art, von den einfachen hausirenden
Spielbanden über die Kapellmitglieder hinauf bis zu den
grossen Virtuosen gehabt hat. Insonderheit kommt die
böhmische Ck^mposition in der Sinfonie und den ihr ver-
wandten Formen nur wenig in Betracht. Mit F. B e n d a ,
L. Kozeluch, Mysliweczeck, Reicha, V. Mascheck
sind die Namen erschöpft, die auf diesem Gebiete vor
hundert Jahren ausserhalb ihrer Heimath bekannt ge-
worden sind; zu ihnen kommt noch der bereits erwähnte
D. Zelencka als Meister in der Orchestersuite und
c<? 442 'o^
Fr. Dussek als Concertcomponist. In einem längren Ab-
stand- folgt dann W. J. Tomaschek mit einer £sdiir-
Sinfonie, die in ganz Deutschland fast ein Jahrzehnt lang
gespielt und mit grosser Achtung beurtheilt wurde. Sie
hat im dritten Satze, der für jene Zeit noch ausserge-
wohnlich als Scherzo betitelt ist eine durch einen ausge-
sprochnen Hang zum Trübsinn ungewöhnliche Nummer
und zeigt einige tiefe Regungen in der Einleitung des ersten
Satzes. Tm Allgemeinen waltet aber in ihr nur ein kleiner
Geist, der von fremden Tischen, insbesondre von den Mo-
zart'schen Opern genährt wird. Die Arbeit zeigt Vorliebe
TomMchek für die kleinen Künste der Kontrapunktik, wie denn Toma-
Eidur-Sinfonia. gchek als eine Grösse in der strengen Form und auf Grund
seiner Kirchencompositionen, namentlich des Requiems, mit
Recht, betrachtet wurde.*) Das schliesst jedoch ein grosses
auf UngeUbtheit beruhendes Ungeschick im Orchesterstil
nicht aus. Fast unablässig schnörkelt die erste Violine in
schematischen Figuren dahin, während die andren Instru-
mente in träger Ruhe so lange daliegen bis sie zu einer
Nachahmungsparade befohlen werden. Was uns jedoch
am meisten an dieser Sinfonie interet^sirt, ist ihr Verhältniss
zu böhmischer Nationalmusik. Tomaschek hat Lieder
aus der Königinhofer Handschrift componirt, lässt also
Liebe für die Stammeskunst seiner Heimath erwarten.
Doch bietet seine Sinfonie hierin nichts als eine Ver-
muthung, nämlich die: dass das erste Thema des Finale
von alter böhmischer Volksmusik stammen könnte. Wir
theilen es hier mit:
Vivace. r».
ij^Jni.rJMj)ijj J j J Ji
etOo
und überlassen es Berufenen den Sachverhalt festzustellen.
Gesetzt: es ist slavisch, so würde doch in der Tomaschek*-
^) Rudolph Freiherr Prochazka: Arpeggien 1897. S. 60.
ee 443 ^
sehen Sinfonie das nationale Element einen immer noch
weit geringeren Antheil haben, als es sich in der Suite
Zelencka's ergab.
Auf Tomaschek folgt als der nächste böhmische Sin-
foniecomponist von Bedeutung J oh. Wenzel Kalliwoda.
Er ist bereits in einer andren Gruppe behandelt worden
und kann unter die Vertreter einer spezifisch böhmischen
Musik nicht gerechnet werden, da er nur nebenbei Volks-
melodien anklingen lässt.
Anders verhält es sich mit einem Schüler Tomaschek^s
mit Job. Friedrich Kittl, der vom Anfang der vier- '• F. KIttl
ziger Jahre ab auch mit mehreren Sinfonien hervortrat, Jagdsinfonie.
unter denen die , Jagdsinfonie* besonders verbreitet war.
Es ist ein Beitrag zur Programmmusik ; die vier Sätze heissen :
1) , Aufruf und Beginn der Jagd*, 2) „Jagdruhe* (An-
dante), 3) „Gelage* (Scherzo), 4) „Beschluss der Jagd*.
Als Jagdmusik weicht die Sinfonie von allem früheren
Brauch, wie er in der Zeit von Stamitz, Haydn und M^hul
und weiter zurück sich feststellen lässt dadurch ab, dass
sie nicht in Ddur sondern in Esdur steht. Auch das ist
ungewöhnlich, dass sie nicht blosHömersignale und Fanfaren,
sondern im ersten Satz ein ganzes Jagdlied giebt. Es er-
öifnet die Sinfonie in der Form eines Hornquartetts und
hat folgende Melodie
. „ I AUegTO.agltato.
j.j J'i-l-j j'ij ^j j^ij ;j j^ij. j JiiJ :^J pi
U /J j jj JJf J JilJ J^J .hlJ J^J II^J iilH
die ihren Taktgruppen nach wohl von slavischer Abkunft
sein könnte. Jedenfalls ist die ganze Sinfonie mit —
gleichviel ob originaler oder nachgebildeter — Volksmusik
durchtränkt wie keine andere seit Haydn. Ueberall klingen
ec 444 ■©*
uns die kurz angebundnen, heitren und frischen Weisen
entgegen, die der böhmischen Musik eigen sind. Auf ihnen
beruht der lebendige, temperamentvolle Charakter der Sin-
fonie, die mit Ausnahme einiger äusserlichen Uebergänge
von Gruppe zu Gruppe im ersten Satz sehr sicher und
auch eigen gestaltet ist. Namentlich im Kleinverkehr inner-
halb der Perioden bewegt sich der Componbt flott, rasch
und reich in seinen Wendungen und zeigt ein ungewöhn-
liches Talent. Mendelssohn nahm die Widmung der Sin-
fonie an, Schumann hob sie unter den Neuerscheinungen
des Winters 1840 nachdrücklich hervor*), R.Wagner schätzte
den Componisten hoch genug um ihm ein eigenes Opern-
gedieht («Die Franzosen vor Nizza*) zu überlassen. Um
Kittel's Sinfonie aber in ihrer nationalen Bedeutung, in
ihrer Ideenrichtung voll zu würdigen, war, als sie entstand,
die Zeit noch nicht gekommen. Weder bei Deutschen
noch bei den Böhmen selbst. Denn diese hatten sich
bisher, wenn sie Sinfonien schrieben, um ihre Volksmusik
doch nur sehr wenig gekümmert und auch Klttl wird den
Weg seiner .Jagdsinfonie* mehr zufällig und instinctiv
eingeschlagen haben. Erst als nach den achtund vierziger
Wirren die nationalczechischen Bestrebungen auf socialem,
politischem und literarischem Gebiet mit verstärktem
Eifer aufgenommen wurden, begannen allmählich auch
die böhmischen Tonsetzer über die Eigenthümlichkeit
ihrer Volksmusik und über ihren Zusammenhang mit dem
W^esen und der Begabung des Stammes klar zu werden.
Heute ist in dem Neuhussitenthum , das sich in Böhmen
gesammelt und zum Sturm bereit gestellt hat, die musi-
kalische Gruppe eine der von Glück, natürlicher Kraft
und Talent begünstigsten, einfiussreichsten, wohl auch der
Ueberhebung und der Verblendung am stärksten zuge-
neigten. Ihr Vater war Fr. Smetana, ein Künstler,
dessen seelischer Reichthum, dessen klare, einfache Ge-
staltungskraft nationaler Stützen und Hülfen gar nicht be-
^) Neue Zeitschrift für Musik. 1840, S. 139.
e<? 445 '^
dürft hätten. Sein £ moll-Quartett bezeugt das. Smctana
hat in seiner Jugend eine Sinfonie nach Beethoven'schem
und mehrere sinfonische Dichtungen nach Liszt^s Muster
geschrieben, dann aber seine volle Kraft auf die Com-
position von zahlreichen Opern gelenkt, die alle keinen
Zweifel darüber lassen, dass die heimische Volksmusik mit
dem Herzen dieses Tonsetzers verwachsen war. Erst als
sich der Weg ins Weite für diese Bühnenwerke vorläufig
als verhauen erwiesen hatte, als Taubheit Smetana zwang f. SMeimna
dem Taktstock für inmier zu entsagen , wendete er sich „mä vimi".
wieder der Instrumentalcomposition zu. «Um sich die
Mittel zur Consultirung berühmter ausländischer Specialisten
zu verschaffen* — sagt Wellek*) — gab Smetana ein Con-
cert am 4. April 1875, in dessen Programm zwei «Sinfonien* :
— ,Vysehrad* und ,Ultava* hervorragten. Das sind die ersten
beiden Stücke eines Cjklus von sechs sinfonischen Dich-
tungen, die dem für die Schönheit und den Charakter der
heimischen Volksweisen empfänglichen, schlicht gestalten-
den Künstler und dem für die Vergangenheit, für die Ge-
schichte und die Natur seines Geburtslands begeisterten
Patrioten gleich viel Ehre machen. Denn es war Smetana
bei seinem Cjklus nicht blos um eine erfreuende, heimisch
anklingende, Phantasie und Gemüth bewegende Compo-
sition zu thun, sondern es sollte ein musikalisches Epos,
eine monumentale Verherrlichung von Böhmens grössteu
Helden und Zeiten, ein Kranz schwärmerischer und inniger
Gesänge zum Preis von Land und Leuten werden. Von
diesem Gesichtspunkt aus wählte er den Gesammttitel Mk
Vlast d. i. Mein Vaterland und den Inhalt der einzelnen
Stücke. Der Form nach sind diese Stücke einsätzige Com-
positionen. Smetana hat sie als symphonische Dichtungen
bezeichnet obwohl sie sich mit der Natur dieser von Liszt
eingeführten Gattung nur theilweise begegnen. Sie sind
viel einfacher angelegt. Sie hier in den Verband von
Sinfonie und Suite mit einzureihen veranlasst und berech-
^) Bronislaw Wellek: Friedrieb Smetana. 1895.
cG* 446 ^
tigt der Umstand dass sie ein zusammenhängendes, durch
gemeinsame Themen verbundnes Ganzes bilden. Die ersten
vier sind 1874 und 1875 entstanden, die beiden letzten erst
drei und vier Jahre später hinzugefugt, alle zusammen
erst nach der Wiener Theater- und Musikausstellung weiter
bekannt geworden. Wohl mit Recht ist dieser Cyklus
als Smetana's Hauptwerk bezeichnet worden. Man darf
bei diesem Urtheil die vaterländischen Absichten des Com-
ponisten ganz bei Seite lassen und sich auf den musika-
lischen Werth beschränken. Da bleiben allerdings, wie
überall, die von Polka, Marsch und heimischen Tanzweisen
abgeleiteten Abschnitte die anheimelndsten, vom stärksten,
mächtigsten innem Strom getragnen. Aber Smetana's Ta-
lent wird hier doch auch in seinem weiten Umfang offenbar
und zeigt sich in dem weiten Bereich von der Schilderung
des heimlichen Naturlebens, phantastisch luftigen Elfen-
treibens bis zum Ausdruck der feierlichsten Stimmungen
und grosser Welt bewegender Ideen sicher und ergiebig.
Freilich bleibt darum zwischen ihm und Mozart immer
noch derselbe Abstand wie zwischen Dvorak und Beethoven.
Der neuste Biograph des böhmischen Tonsetzers hätte sich
dieses Vergleichs besser enthalten, schon deshalb weil
unsre Zeit weder eines Haydn, noch eines Mozart^s, noch
eines Beethoven 's fähig ist.
Bei der Composition seiner Tongemälde hat sich Sme-
tana in die Rolle eines Rhapsoden alter Zeit hineingedacht
der seineu Zuhörern von grossen geschichtlichen Begeben-
heiten erzählt und sie dazwischen hinein vor liebliche
Idyllen fuhrt. Zu der ersten Classe gehören I Vysehrad,
III Sarka, V Tabor und VI Blanik; zur zweiten: II Ultlava
(Moldau) und IV Z deskych luh&v a häj&v d. i. Aus Böhmens
Hain und Flur.
Zu dem Cyklus giebt es kurze Programme von V. Zelen^,
die deshalb beachtet werden müssen, weil sie (nach Wellek)
Smetana selbst beglaubigt hat. Damach ist der Inhalt
F. 8m6tMia des ersten Stückes: ,Vysehrad* folgender: Der Dichter
Vysebrad. hört beim Anblick des Vysehrader Felsens im Geiste die
Klänge der Leier des sagenhaften Sängers Lumir. Vor
c<? 447 f>»
seinen Blicken erhebt sich der Vysehrad im Glänze seiner
glorreichen Vergangenheit wieder. Auf dieser Hochburg,
wo der Thron der Herzöge und Könige aus dem Geschlechte
der Pfemysllden stand, versanunelte sich die Ritter-
schaar zu Ding- und Heerfahrt. Die Feste dröhnte in ihren
Gründen vom Tritt der einziehenden Krieger und ihrem
Triumphgesang. Bald sieht der Dichter aber den Unter-
gang der alten Glorie. Wilde Kämpfe wüthen und die
herrlichen Hallen des Königssitzes zerfallen in Schutt und
Trümmer. Auch diese gewaltigen Stürme verstummen, der
Vysehrad steht öde und verlassen da, ein Bild vergangnen
Ruhms. Aus seinen Ruinen hallt klagend das Echo des
längst verstummten Saitenspiels Lumir's nach.
Nach dieser Angabe haben wir in der Compositiou
drei Haupttheile zu erwarten, die nach einander den Glanz
der Burg, den Kampf der um sie geführt wird, und ihr Ende,
ihren Verfall schildern. Sie finden wir auch in der Musik
und bemerken dabei sofort, dass Smetana seine Schilderung
durch Einfügung begleitender und bereichernder Züge sehr
wirksam zu beleben weiss. Zu jenen drei Theilen tritt
noch anhangsweise ein vierter, in dem aus den Augen des
heutigen Geschlechts noch einmal ein Rückblick auf die
vorgetragnen Begebenheiten geworfen wird. Dabei tritt
naturgemäss die Zeit des Glanzes wieder hervor und die
Perioden des Unglücks bleiben im Dunklen. Die etwas
künstliche Vermittelung der Schilderungen durch den alt-
böhmischen Orpheus, den Sänger Lumir, hat Smetana
wahrscheinlich nur der Harfeneffekte wegen ins Programm
genonunen. Bei den spätem Stücken des Cyclus fällt sie
weg. Hier in Vysehrad giebt sie Gelegenheit zu einem
romantischen stimmungsvollen Eingang: Von Harfen vor-
getragen hören wir den wichtigsten Melodiekern des Satzes
:^^^^l j i I I J j W' I J - den Smetana
in verschiedener Weise zu Perioden weiterbildet. Die
erste Harfe rauscht in die Pausen des schrittweise lang-
», fc • ^ *"
^ 448 ^
sam aufsteigenden, sich aufbauenden Themas Arpeggten
hinein. Bei Harfenklängen denkt Jedermann gern an den
König David, an den blinden Homer und an die von
Klopstock geschilderten Barden. Sie führen die Phantasie
unwillkürlich in alte Zeiten und der Balladengeist des
Themas thut das Weitere sie da festzuhalten. Nachdem
die Melodie, die von vornherein schon elegisch gestimmt
ist und auf verschwundne Herrlichkeiten hinweist, zwei-
mal durch die Bläser gezogen ist, spielt die Musik ganz
kurz auf Ritterthum an mit
^^ 1' J^^l J J. J ^ J^'^ c^^' ^^"^ ^® Trompete noch
ein ausdrückliches Heersignal beisteuert und fügt diesem
neuen aus der latema magica gcsehnen Bildchen gleich
ein weit res, sofort breiter ausgeführtes Motiv zu, das in
seiner Zusammensetzung aus einfachen Dreiklangsnoten
fcHt j ,r^ J -1 ^ einen gewissen Hinweis auf Wasser-
musik bietet. Es ist wohl kaum zu bezweifeln dass
Smetana mit diesem Motiv zunächst auf die Wellen der
Moldau hat hindeuten wollen, die noch heute den Prager
Stadttheil bespülen, der an der Stelle entstanden ist, wo
ehemals die stolze böhmische Fürstenburg lag. Doch hat
sich der Begriff des Stroms, den diese Töne zuerst trugen,
unwillkürlich zu dem des Landes und der Landeskraft
erweitert. So kommt es dass Smetana wenn die Melodie des
Vysehrad im begeisterten Ton erklingt, in der Regel den
grössten Schwung der Stimmung in Bildungen überleitet,
die aus diesem Wassermotiv hergenommen sind. Bald
kommen wir an eine solche Stelle. Nachdem das bisher
beschriebne Material aufgestellt ist bringen die Streich-
instrumente den Gesang vom Vysehrad in Bdur. Am
Schluss dieser Periode fängt es an zu fluthen und nun
nimmt das volle Orchester im glänzendsten Klang v die
Melodie in der Haupttonart durch. Die Melodie klingt
jetzt vollständig folgendermassen :
c<? 449 "^
vp. f.
.^P £fifff ffr^frr n irTi^Tn i
Trompeten und Homer schmettern darein — das im vierten
Takt zuerst neu eintretende durch das Sechzehntelpaar be-
merkbare Motiv drängt sich hervor und theilt sich mit
dem Wassermotiv in eine Fortsetzung, die bis zu Lauten
höchsten, trunknen Jubels führt. Als er abbricht, hören
Wir still wie mahnend die Klänge vom Vysehrad und von
der Moldau, die eine lange Strecke inmier leiser mit ein*
ander wechseln. Und als die Wellen kaum noch sich be-
wegen — da setzt der zweite Theil ein : die Schilderung der
bösen Zeit, der Zeit der Kriege und Kämpfe.
Das Mittel um diesen Kampf um Vysehrad zu schildern
nimmt Smetana aus dem ersten Theil seines Gemäldes,
indem er das Burgmotiv in der geistreichen Weise Liszt's
folgendermassen umbildet:
AUe^o viTo.
etc.
Diese verzerrten Rhythmen genügen schon allein den häss-
lichen Streit zu malen; den wachsenden Kampfeseifer be-
zeichnen lange Figuren, in denen das Streichorchester sich
verworren windet um einstimmig, athemlos und wuchtig
nach der Höhe zu stürzen. Dann beginnt ein contrapunk-
tisches Spiel, das den Fortgang des Kampfes sehr gut ver-
anschaulicht. Das aus dem Burgmotiv abgeleitete —
soeben angegebne — Streitmotiv wird in Engführungen
vorUbergefuhrt an denen alle Stimmen so theilnehmen,
dass wir Viertel auf Viertel die schneidigen Accente hören,
80 als ob Streich auf Streich herniedersauste. Die steigende
Kampfeshitze malen Streicherfiguren wie
29
- y
KretzBchmftr, Führer, I.
«^ 450 ^
wieder die chromatisch verwormen Unisono-Gänge da-
zwischen, die sich dem Streitmotiv gleich heim ersten Er-
scheinen anschlössen:
cresc.
An einem Höhepunkt dieser Schilderung erscheint das
Burgmotiv in folgender Form : it»"l. ^. LT f | f 1 |fe
Das sind die frohlockenden Yertheidiger : der Angriff
scheint abgeschlagen. Da stürmen — und wie der Anfang
des Themas zu schliessen erlaubt — Tom Moldauthale her
frische Schaaren an:
ifi'i"fnjf"iii i- ri"°jrhjriii Ml I
jsr
Wie das langsamere Tempo zeigt wird der Sturm jetzt
besonnener, kräftiger, wuchtiger geführt. Die Folge
glarinetten.
hören wir in: f '!■ f » Q^il ' f^ \Q\' V
Das ist das Burgmotiv in die Form einer leisen Klage,
einer Warnung gebracht. Es ist die Stimme des ahnen-
den, erschreckten Hausgeistes. Sie spricht zuweilen sehr
dringlich, aus offner Gefahr heraus; aber in der Haupt-
sache so freundlich bittend dass man aus ihr das Lied des
Herolds, der den Frieden verkündet, hören könnte wenn
nicht die kriegerischen Signale der Trompete uns über-
zeugten, dass der Kampf fortgeht. So treten denn auch
die neuen Schaaren die sich unter dem Moldanmotiv ge-
sammelt haben, bald zum letzten Sturm an. Kurz darauf
erscheint das Yertheidigermotiv wie in grösster Noth, in
kurzen Wiederholungen die an Hülfe und Angstgeschrei
gemahnen. Daran knüpft sich ein Zurückgreifen auf den
Anfang des AUegros ! Die Motive ies Streits und der Ver-
c© 451 'S"
wirrung tauchen in potenzirter Bedeutung auf und im
selbigen Augenblick föllt die Entscheidung. Der Klage-
gesang den wir vorhin nur wie eine leise, vereinzelte
Stimme hörten kommt (beim Piu Mosso Cdur) fff vom
ganzen Orchester. Wir sind damit in den dritten Theil
des Stücks eingetreten. Er wird zu einer leidenschaftlichen,
heissen Siegeshjmne. Aber an ihr Ende reihen sich die
Sturmmotive noch einmal; sie haben jetzt den Charakter
von Verwünschungen, klingen äusserst heftig und stechend
und fuhren zu einer in breiten Noten und auf Tremolos
aufbauenden ELlage. Das bedeutet den Fall von Vysehrad
und damit schliesst der 8. Theil. Mit Piu lento setzt der
Anhang ein. Er zeigt in leisen Tonfarben wie ,in der
Feme längst vergangner Zeiten*' ims wesentlich verkürzt
die Bilder, die eben lebendig an uns vorübergezogen sind.
Zunächst knüpft er an den Klagehymnus an, dessen
Motive er zwischen Dur und Moll wechseln und schillern
lässt, dann führt er das Burgmotiv in der ernst elegischen
Fassung vor, in der es die Composition eröffnete. Sehr
schön fügt nun der Componist diesen ruhigen Betrach-
tungen noch einige Zeilen aus glühenden Herzen hinzu.
Die Musik wallt auf in langen Triolengängen und nimmt
noch einmal in Schwung und Begeisterung die Burgmelodie
auf. So &eut sich das neue Geschlecht der herrlichen
Vergangenheit seines Volkes und hofft. Drauf wird es
still. Leise rauschen wieder die Wellen der Moldau, wie
im Traum klingt nochmals Rittermusik und Burgmotiv
an und die Harfe breitet einen Schleier über alle die Scenen
aus Vergangenheit und Gegenwart.
Wie diese Untersuchung ergiebt, ist die ganze Com-
position nicht blos sehr klar sondern auch poetisch reich
entworfen und durchgeführt. In ihrem musikalischen
Wesen spiegelt sich neben dem Einfluss des Volkslieds,
den der Klagesang am deutlichsten zeigt, am stärksten der
von Beethoven wieder.
Das zweite Stück des Cyclus .Ultava** betitelt, ist f. Smetana
vor allen den andren am frühesten und weitesten bekannt Uitav».
geworden obwohl es viel weniger Geist enthält als z. B.
29*
c<? 452 ^
^Vvsehrad*. Es verdankt diesen Vorzug seinem heiter
romantischen Charakter und der leichten verständlichen
Form in der es seinen Inhalt entrollt. Dieser besteht aus
einer Reihe von Bildern, die einfach aneinander gereiht
sind; nur einzelne sind durch ein gemeinsames musikalisches
Motiv verbunden, eine munter dahin gleitende Sechzehntel-
figur, die das Spiel der Wellen in ähnlicher Weise wie
das schon seit Jahrhunderten geschehen ist, veranschau-
lichen will. Denn der Gegenstand des Programms dieser
zweiten sinfonischen Dichtung die ,ültava* ist die Moldau,
der Hauptstrom des böhmischen Landes. ,Zwei Quellen
— sagt die von der Yerlagshandlung veröflfentlichte Inhalts-
angabe — entspringen im Schatten des Böhmerwaldes;
die eine warm und sprudelnd, die andre kühl und rubig.
Die lustig in dem Gestein dahin rauschenden Wellen ver-
einigen sich und erglänzen in den Strahlen der Morgen-
sonne. Der schnell dahin eilende Waldbach wird zum
Flusse ültava, welcher immer weiter durch Böhmens Gaue
dabinfliessend zu einem gewaltigen Strom anwächst; er
fliesst durch dichte Waldungen, in denen das fröhliche
Treiben einer Jagd immer näher hörbar wird und das
Waldhorn erschallt, er fliesst durch wiesenreiche Triften
und Niederungen, wo unter lustigen Klängen ein Hochzeits-
fest mit Gesang und Tanz gefeiert wird. In der Nacbt
belustigen sich die Wald- und Wassernymphen beim Mond-
scheine auf den glänzenden Wellen, in denen sich die vielen
Burgfe8t<*n und Schlösser als Zeugen vergangner Herrlich-
keit des Ritterthums und des geschwundnen Kriegsruhms
vergangner Zeiten abspiegeln. In den Johannisstrom-
schnellen braust der Strom durch die Katarakte sich durch-
windend und bahnt sich mit Gewalt, mit schäumenden
Wellen den Weg durch die Felsenspalte in das breite
Flussbett, in welchem er mit majestätischer Ruhe gegen
Prag weiter dahinfliesst, bewillkommt vom altehrwürfigen
Vysehrad, worauf er in weiter Ferne den Augen des
Dichters entschwindet.*
In diesem Programm ist zu dem was der Componist
wirklich bietet, Einiges hinzugedichtet. Smetana hat in
^ 453 "ö*
der Partitur selbst über seine Absichten knappe Auskunft
gegeben: sobald ein neues Tonbildchen eintritt, wird es
durch eine Ueberschrift vorgestellt. Der erste Abschnitt
heisst darnach ,der erste Strom* damit ist gemeint: der
Anfang des Stromes. Folgendes Thema
Allegro coounodo noo a^lt'&to.
I J^ II liegt ihm zu Grunde. Mit
spärlichen und kurzen Tönen der Harfe und der Violine
begleitet tragen es zuerst die beiden Flöten vor, denen
sich von dem Trugschluss auf Cdur ab die Clarinetten
gesellen. Ob diese beiden Instrumente wirklich auf Zwei-
heit der Moldauquellen, die in dem angeführten Programm
betont wird, Bezug haben sollen, kann bezweifelt werden.
Die Tonfarben der beiden Holzbläser scheiden sich doch
nicht wie warm und kalt; ausserdem hat der Componist
ersichtlich an viel mehr kleine Wässerchen gedacht die
zum Bach und zum Flüsschen zusammenlaufen. Es rauscht
in vier Bläserstimmen, die Bratsche murmelt ihren langen
Triller dazu, es mehrt sich unermesslich als das Streich-
orchester die Wellenmotive mit aufnimmt. Die Wasser-
poesie Smetana's hat nicht den träumerisch ruhigen Cha-
rakter der uns an M. v. Schwind's Melusinenbilder fesselt.
Sie nähert sich dem musikalischen Stil von Mendelssohn^s
Hebridenouvertüre , unterscheidet sich aber von ihr durch
die viel muntrere Natur der Motive. Sie stellen die junge
Moldau als ein frisches Gebirgskind dar, das es eilig hat.
Der kleine Fluss gleitet allmählich etwas gleichmässiger
dahin und dieser Abschnitt seiner Entwickelung wird von
einer Melodie dargestellt, die, wenn sie nicht Volkslied
wäre, zur Hälfte von Mendelssohn stammen könnte:
P PT pT^r r PI r II . Holzbläser führen diese Mol-
^ Abi ^
daamelodie mit den ersten Violioen ein, in den andren
Geigen rauschen die Wellenmotive stärker und mit kräf-
tigerem Anlauf. In den Hörnern klingt es frühlings-
lustig darein. Mächtiger wird der Schwung dieses Ge-
sanges als er nach Cdur tritt: er schwillt zum ff an und
findet — als träte er in die volle Sonne und in das blühende,
reiche Land hinaus — einen mächtigen, mit seiner Schönheit
ergreifenden und doch einfachen, im volksthümlichen Stil
bleibenden Abschluss in Edur. Merkwürdig wie dieses
Dur einschlägt, obwohl Smetana das gis nur streift und zum
g zurückkehrt. Dem nächsten Abschnitt hat Smetana die
Aufschrift , Waldjagd * gegeben. Dass er am Strom weiter
spielt, hören wir aus den Geigen, in denen die Wasser-
motive fortgeführt werden. Die Bläser aber, natürlich die
Homer voran, entwickeln eine neue Musik aus Fanfaren.
Das neue Bild bringt in die Composition ein kräftiges
Leben, das zu der vorhergegangnen Wasserstimmung an
sich schon eine Steigerung bildet, aber durch die £nt-
wickelung der Jagdthemen, die auif folgendes Motiv
jltl jl ^^^^T j^^j^T^^ zurückgehen, noch viel
mächtigor wirkt. Denn Smetana fUhrt sie in den scharfen
Wendungen der Modulation von Periode zu Periode, (von
C nach O, nach Fj nach K), die uns Allen aus dem ersten
Satz von Becthoven^s Pastorale in Erinnerung sind. Es
ist das wieder eine Stelle die den böhmbchen Componisten
in Beethoven tief eingedrungen und von seinem innren
Wesen gofcirdert und geleitet zeigt. Die Jagdscene ver-
klingt auf einem langen Eduraccord wie in weiter Feme
und nun kommt «die Bauernhochzeit*, die vielleicht unter
den kleinen Bildern aus denen ,Ultava* besteht, am meisten
bestrickt. Diese Musik deren Grundstoff auf den vier Takten
^ii^^^^^Ä
U LS tj '-^
c<? 455 ^
ruht, könnte unmittelbar aus einer der Opern Smetana^s
■genommen sein. Es ist eine polkaartige Tanzweise, ein
Stück Volksmusik, wie es in seiner naiven Anmuth und
mit dem kleinen Beisatz von Derbheit bei den Böhmen
allein vorkommt. Liebenswürdigere Kunst als sie in dieser
kleinen Dorfscene vorliegt giebt es nicht; gern trägt man
80 ein Stückchen fUr afie Fälle mit sich durchs Leben.
Auch dieser Satz verklingt ganz leise; wieder schiebt der
Componist eine kleine Leiste ein und dahinter zieht er das
nächste Bild auf mit der Ueberschrift : «Mondschein,
Nymphenreigen*. Es ist mit der Wasserscene, die die
Composition einleitet nahe verwandt, wie es denn auch
am Schluss in die Moldaumelodie ausläuft, die die zweite
Hälfte jenes Abschnitts bildet. Bis dahin entwickelt sich
die Musik auf Grund eines Naturmotivs
das bald in folgender be-
8.n.
stimmteren thematischen Form
^bll>ii /7T5 iii^ l^f^pj^ von den Flöten
durchgeführt wird. Die Clarinetten begleiten in sanften
Triolen, die Violinen hauchen einen breiten Gesang in die
zarte Farbenstudie hinein, auch die Harfe macht sich mit
glänzenden Klangtropfen bemerklich. Soviel das Mond-
licht auch wechselt: immer bleibt das Spiel unverändert
zierlich, die Bewegung der Nymphen fein bis zum Uner-
kennbaren. Die Dynamik des ganzen Abschnitts hält sich
im pp ; nur an einer Stelle, wo die Musik nach H dur tritt
kommt ein crescendo, das decent nach einem p und in die
Wassermusik des ersten Abschnitts von ,Ultava* zurück-
führt. Schon aus dieser Wendung lässt sich vermuthen,
dass der Composition die Rondoform zu Grunde liegt.
Das Moldaulied ist ihr Hauptsatz, die andren Ideen haben
die Bedeutung von Episoden, Zwischensätzen. An den
^ 456 ^
Abschluss des Lieds reiht sich ein neuer Abschnitt, den
Smetana «St. Johann- Stromschnellen'' überschrieben hat»
Die Gewalt des Wassers, das Toben, Wüthen des Elements
ist auf Grund folgender Motive
und
veranschaulicht, die von
den Geigen bis zu den Cellis durch das Streichorchester
unaufhörlich erklingen. Ruht die eine Stimme auf einer
Achtelpause, rauscht's in einer andren. Die Contrabässe
spielen mit immer gleichem Eifer wieder und wieder die
wuchtige Figur J?'lB)|Jji^j:^^ I f^p f^H^^. Sie
ist aus Motiven der Moldaumelodie gebildet, die auch
während der ganzen wilden, realistisch aufregenden Scene
in leibhaftigen Bruchstücken in den Bläsern anklingt.
Auch in andren kurzen Motiven und sprechenden Klängen
äussert sich Hülfs- und Angstgeschrei und verzweifelte Ver-
legenheit. Endlich (nach einem fff des vollen Orchesters)
ist die böse Stelle überwunden. Ein decrescendo und ein
crescendo der Geigen — und nach wenigen Takten sind
wir wieder beim Hauptsatz des Rondos, bei der Moldau-
melodie die im glänzenden E dur und mit der Ueberschrift :
,Der breiteste Strom* einsetzt und drängend wie zum Aus-
druck freudigster Erregung variirt wird. Ihr folgt als der
letzte Abschnitt, als Schluss der Composition ein in
Edur gehaltner, zu zwei Dritteln auf dem Accord der
Tonica liegender Satz, der das Vysehradmotiv in breiten
Rhythmen zum Thema nimmt und in der Art der
Weber'schen Jubelouvertüre umspielt. Die Moldau fliesst
ja an Prag und an der alten Fürstenburg vorbei.
Wenn die dritte Nummer des Cyclus ,Sarka* wenig
bekannt geworden ist, ja es noch nicht einmal zu einer
US' 457 t»
gedruckten Partitur gebracht hat, so liegt der Grund in
der Composition. Sie ist wohl dramatisch geplant, aber
sie bleibt zu vorwiegend hart und grausam und was die
Hauptsache: in der musikalischen Erfindung ist sie mit
Ausnahme von zwei Stellen nur massig gut und ohne die
Reize der Volksthümlichkeit. Das Programm — vielleicht
aufgedrungen — scheint Smetana nicht erwärmt zu haben. F. Smetana
Sarka, nach deren Namen auch ein Thal im Norden von S*rka.
Prag benannt ist, war eine der Anführerinnen in dem
langen Krieg, den die böhmischen Jungfrauen unter dem
Oberbefehl der von Karl Egon Ebert besungnen Wlasta
gegen die Männer des Landes führten. Der Ritter Ctirad
findet sie im Walde an einen Baum gebunden und löst,
die List nicht merkend, mitleidig der Todfeindin die
Fesseln, führt sie in sein Lager und feiert mit den Ge-
nossen den Liebesraub. Als aber die Ritterschaar trunken
im Schlaf gefallen ist, ruft Sarka die Amazonen herbei
und Ctirad wird mit den Seinen niedergemacht.
Der erste Abschnitt der sinfonischen Dichtung schil-
dert Krieg und Kämpfe auf Grund des Themas:
Alle^o con fQoco.
eto.
sehr energisch, an einer Stelle dramatisch aufregend. Es
ist wo den Fluss der wilden Triolengänge plötzlich die
stockenden Rhythmen
V ^ if ^
brechen. Deuten sie auf einen ungeheuren Entschluss,
auf das Wagniss zu dem Sarka bestimmt wird ? Noch eine
andre Stelle fällt durch ihre Weichheit aus dem Ton dieser
Amazonenmusik :
fC' 458 ^
Soll in ihr des Weibes eigentliches Wesen die Amazonen-
maske durchbrechen ? Der zweite Abschnitt ist eine Marsch-
musik die auf das folgende liebenswürdige Thema ge-
. Pitt Tnodtrato. ^
•'•'"*"*■• f'ji Uli 'u'j^J,(jiUt-
Mit ihm schildert Smetana die Ritter als gutmüthige, sorg-
lose Leute; etwas fester treten sie in den Bläsermotiven
auf, welche mit dieser Geigenstelle zusammengehen;
inrtJMff-l^' I^iese Rittermusik, die den
ersten von den musikalisch glücklicheren Abschnitten in
,Sarka* bildet, erhält plötzlich durch eine klagende Melodie
der Klarinette einen Gegensatz. Wir haben uns darin die
Stimme der an den Baum hängenden Sarka zu denken.
Endlich wird sie von den Rittern entdeckt. Der Marsch
pocht viermal ff und mit Nonenaccorden auf dem Rhyth-
mus J, 3 J. Dann folgt ein Dialog zwischen Clarinette
(Sarka) und Cello (Ctirad) in beweglichen Recitativen und
ihm der dritte Abschnitt. Er ist ein A dursatz über das Thema
^Moderato ma coi^calore. ^ -^^
'jl¥nj;Tr tir\ \ (JJ iH ' gebUdet,
den wir als Liebesscene zu denken haben und der am
Schluss grosse GefUhlswärme entwickelt. Das Gelage der
Ritter löst ihn ab. Diese Scene, die von Hörnern, Trom-
peten und Posaunen ziemlich tumultuarisch eingeleitet und
in ihrem Charakter bezeichnet wird, ruht musikalisch
wesentlich auf rhythmischer Wirkung und erinnert hierin,
sowie in der Gestaltung ihres Grundmotivs sehr lebhaft
an eine der besten Scenen in Smetana's ,Kuss*. Hier ist
die Figur
Moderato.
etc. die mit
e<? 459 t>-
der Entschiedenheit, die die böhmische Volksmusik aus-
zeichnet, aufpocht und aufschlägt. Der eindringliche
Charakter des Motivs an sich stellt diesen Abschnitt von
Sarka unter die eindringlicheren und musikalisch werth-
volleren. In der Ausführung bietet er nichts Bemerkens-
werthes. Ein diminuendo und ein pp veranschaulichen
wie die Ritter müde werden und schlafen. Da klingt erst
laut dann leise ein Hornruf : die Geigen malen mit tremo-
lirenden und dissonirenden Accorden Erregung. Wir sind
in den Schlussabschnitt eingetreten. Die Amazonenmusik
aus dem Anfang der Composition kehrt wieder, zunächst
allerdings nur leise und zögernd wie aus der Seele der
schwankend gewordnen Sarka heraus; dann aber wilder
und wilder, zuletzt wie ein Siegesrausch. Als es zu Ende
geht versuchen sich die Gestalten der Ritter noch einmal
in recitativartigen Bassstellen zu erheben. Aber gnaden-
los fegt der wilde Sturm über sie dahin.
Das vierte Stück des Cyclus »Aus Böhmens F. SMetwiÄ
HainundFlur*(Z Sesk^ch luhfiv a häjÄv) nähert sich ^^ Böhment
im Charakter etwas der Dichtung über die Moldau. Es ist ^^ "^""^ ^^'"'
eine Naturschilderung, ein musikalischer Spatziergang durch,
das gesegnete Land an einem schönen Sommertage. Die
Composition, die als frei variirtes Rondo angelegt ist, zeigt
im Allgemeinen, und im Besondren in der Umbildung und
Ausnutzung der leitenden Motive grosse Kunst. Am glück-
lichsten ist sie in den Theilen wo ausgesprochnermassen
Volksmusik angestimmt wird.
üeber den Inhalt der ersten Abschnitte dieser sin-
fonischen Dichtung hat Smetana selbst sich dem oben-
genannten Zelen^ gegenüber geäussert.^) Damach soll der
Eingang den mächtigen Eindruck darstellen der den
Wandrer beim Eintritt in die Landschaft erfasst. Ohne
diese Erklärung würde man die Musik dieses Eingangs
kaum im Sinne des Componisten verstehen. Sie be-
ginnt mit:
») Wellek a. a. O. 8. CO.
^ 460 ^
Molto iDoderato. J= f>3
JTg
. B -
^P
etc. wie die Umdrehungen eines grossen
Es .
Mühlrads von dem das Wasser schallend herabrieselt.
Sämmtliche Streichinstrumente, die Contrabässe einge-
schlossen, sind in dieser Sechzehntelbewegung begriffen,
ebenso der ganze Chor der Holzbläser, die Homer, Posaunen
und Trompeten geben Glanz und Strahlen drein. Gedacht
hat der Componist an die berauschende Wirkung die ein
grosses Landschaftsbild von der Sonne beleuchtet, von
einem schönen Punkte aus erblickt, auf ein empfängliches
Gemüth üben kann. Darum wühlt seine Musik mit soviel
Klang, so nachdrücklich und mit der Beharrlichkeit, die
Smetana bei Tonmalereien häufig liebt, auf demselben
kleinen kreisenden Motiv. Während in der ersten Hälfte
der Satz doch noch mit den Harmonien wechselt, die
Lichter vermindert und verstärkt — einmal bis zu einem
Nonenaccord auf J. — liegt in dem Schlusstheil der G moll —
Dreiklang 27 Takte lang fest, vom fffzxxm pp abschwellend.
Als es stille geworden ist, erhebt sich endlich über diesem
Farbenrausch ein Gedanke. Die Clarinetten haben ihn
aus dem Sechzehntelmotiv entwickelt und sprechen in
dem Augenblick, wo das Bild entschwindet, Behagen und
Dankbarkeit über die genossene Schönheit aus:
ifi'h'.l'J ii^ir'
^m
I L' I I I
Ueber den an diesen kurzen gemUthvollen Gesang sich
unmittelbar anschliessenden zweiten Abschnitt in Gdur
hat Smetana bemerkt: er gleiche dem Spatziergang eines
naiven Dorfmädchens. Sein Thema
.7
ji'iiil^ii iii|^i'i| Lj inrniiirri f i
löst den letzten Druck, den die pathetische Pracht des
Eingangs in der Seele des Hörers etwa zurückgelassen hat.
Zu der kindlichen Fröhlichkeit, die mit ihm in der Oboe
laut wird, tragen die Flöten Elemente der Ausgelassenheit
hinzu. Sie contrapunktiren das hübsche Sommerliedchen
mit Figuren die aus den Motiven des ersten Abschnitts
geformt sind. Da das Sommerliedchen selbst aus der
gleichen Quelle hervorgegangen ist, stehen wir also an
dieser Stelle vor einem Beweis von Stoffbeherrschung und
einheitlicher Gedankenkraft, der dem Componisten Ehre
genug macht. Auch dieses zweite Bild versinkt langsam
und wird, wie es Smetana in diesen sinfonischen Dich-
tungen so häufig thut, durch eine Pause, also sehr scharf
und mit deutlichster Benachrichtigung des Zuhörers von
dem folgenden getrennt. Dieser folgende dritte Abschnitt
der Composition ist ein Fugato über das Thema
AUe^o poco viVD. J = 138 ^^ .^-^ /^
P _
Es steigt von dem hier angegebnen Ende immer noch
höher, erinnert damit an eine Stelle in Wagner's , Siegfried*,
wo die Violine ebenfalls in die letzten Lagen klettert und
zwar in dem Augenblick wo der Held sich zur Ausschau
auf den Brünhildenfelsen begiebt. Smetana hat hier andre
malerische Absichten. Die Scene soll an die Mittagszeit,
an die Stunde erinnern, wo die Sonne am höchsten steht,
Wo Pan schläft. Daher die hohen Klänge, das Glitzern
und Trillern, die wirre Beweglichkeit, mit der ab und zu
eine Todtenstille tauscht. Dass es des Tonsetzers Absicht
war einzelne Züge aus dem eigenthümlichen Leben, das
die Natur um Sommermittagszeit führt, in das Bild hinein-
zubringen, hat er selbst mitgetheilt: mit dem Motiv
^ sollte das Zwitschern der Vögel
<o 462 ^
dargestellt werden. Man kann sich dem Granzen gegen-
über nicht des Eindrucks erwehren, dass die Elrfindung in
diesem Abschnitt auf scharfer Naturbeobachtung mit be-
ruht. Aus dem Zwitschermotiv und seinen Umbildungen,
aus dem Fugatothema oder Bruchstücken von ihm windet
das Streichorchester noch lange mannigfache und yer-
schlungne Gewinde, während die Bläser, voran Clarinetten
und Homer längst zu einem neuen Thema übergegangen
sind, das nach Form und Charakter in den böhmischen
Choralschatz passen würde und unter dessen Klängen man
sich gut eine fromm dahinschreitende Wallfahrerschaar
denken kann. Es kommt erst in Fdur dann in Desdur.
Dazwischen liegt eine neue Schicht des Fugato, das auch
weiterhin fortspielt während der Choral schweigt, bis er
endlich vom vollen Orchester in Adur aufgenommen wird
und mächtig und glänzend wie im Krönungszug daher-
braust. Kaum lässt sich der Gedanke abweisen, dass
Smetana mit diesem Tonbild dem frommen kirchlichen
Sinn seiner Landsleute hat ein Denkmal setzen wollen.
Dass das Thema auch im weitren Verlauf der Composition
wiederkehrt, bezeugt seine poetische Bedeutung. In dem
Adursatz jedoch, den es so glänzend beherrscht, wird es
jählings durch einen Ausbruch unbekümmertster Lebens-
lust unterbrochen:
Allei^oj^sa.!. Polka.
Es setzt ein-
jf ü^LEÜf L^feyN^^
mal, zweimal wie verschüchtert wieder ein; jedes Mal
drängt sich die übermüthige Tanzweise wieder dazwischen.
Sie behauptet auch den Platz und nun entwirft Smetana
auf Grund dieses Themas und in der Form einer wuch-
tigen und doch beweglichen böhmischen Polka eine jener
Schilderungen herzhafter Weltlust, die er als Sohn seiner
Heimath stark liebt und mit grösster Meisterschaft be-
herrscht. So verwegen diese Tanzscene unmittelbar in die
frommen und kirchlichen Klänge hereinbricht, so schön
und sinnig ist sie durchgeführt. In der Mitte steht eine
e<? 468 ^
Idylle, die von dem Thema
getragen wird. Auch diese ruhige Weise ist von dem
Sechzehntelmotiv abgeleitet, das den Grundstock der Ein-
gangsmusik der Nummer bildet. Ebenso ist aber mit
diesem Motiv das Polkathema verwandt, das während der
Idylle immer leise weiter spielt. Wir haben es hier also
mit demselben Fall kunstvoller Arbeit zu thun, der uns
bei dem G durabschnitt im ersten Theil unsrer Nummer
entgegentrat. Das Thema der Idylle wird nun die Haupt-
figur der Composition, die Bilder die sich darum ent-
wickeln sind ihre Hauptsätze. In der Fortsetzung der
Tanzscene kommt es zunächst noch in einem Gdursatze
vom Polkathema begleitet, dann aber in einem zweiten
G dursatze (Piu mosso) selbständig und im Charakter etwas
verwandelt : heissblütiger. Da unterbricht der Wallfahrts-
gesang noch einmal leise und in fremder Tonart (Asdur),
ohne weitren Einfiuss. Eine rauschende Coda bildet den
Schluss und giebt Gefühle der Freude kund. Ihre Motive
ninunt sie aus kurzen Anklängen an das Eingangsmotiv;
ganz zuletzt kommt es in einer grandiosen Umbildung
^ Presto. ^,^ » >. >. . >• >.
ifv^irTr iVTr '1 ■F'V'^f ^■'"■'"f 'Ü^'
noch einmal gewissermassen in eine lapidere Formel die
Eindrücke des Tages zusammenfassend.
Die fünfte Nummer von Smetana's böhmischen F. Saetana
Nationalfantasien .Tabor" ist wieder wie Vysehrad Tabor.
und Sarka ein musikalisches Geschichtsgemälde; es hängt
als solches eng mit dem folgenden Stück, mit «Blanick*'
zusammen. Beide sind sehr charaktervolle Compositionen
und kehren den Ausdruck der trotzigen Kraft hervor.
Jedermann weiss von den Taboriten, von Tabor, von
ihrem Ziska und von ihrem Trutz- und Kampflied, dem
Choral: »Die Ihr seid die Kämpfer Gottes* (»Kdoz jste
Boie bojovnici*), der für die Hussitenkriege eine ähnliche
cc 464 ^
;_»
Bedeutung hat, wie für die Reformation Luther's .Ein
feste Burg ist unser Gott*.
Smetana giebt in seiner Composition ein Bild aus der
hussitischen Bewegung und er thut das in der Form einer
Choralbearbeitung, die nicht in allen Theilen gleich werth-
voll, doch nirgends die Würde und den künstlerischen Ernst
vermissen lässt und an einzelnen Stellen sich zu einer ausser-
ordentlichen Höhe des Ausdrucks und der Wirkung er-
hebt. Die Choralbearbeitung hat nicht etwa die strenge
Form, die wir von altem Orgelmeistern gewöhnt sind,
sondern sie ist mehr als eine freie und elastische Fantasie
gehalten, bei der der Choral nur an wichtigen Punkten in
seiner vollen Gestalt erscheint, an andren nur mit einzelnen
Gliedern benutzt wird. Im ersten Abschnitt (Lento, ^/g,
Dmoll) schildert der Componist wie sich die Bewegung
im Lande vorbereitet und entwickelt. Ein langer Orgel-
punkt auf tiefem D, chromatische Motive in tiefen Bläsern
deuten auf Gähren und heimliche düstre Unruhe in den
GemUthern. Drohend klingt dazu aus den Hörnern das
Anfangssmotiv des Chorals a^ jl j j j j \ und
sein kraftvollstes fanatisches Glied : ft^B | | J i
wandert durch das ganze Orchester, wie ein Signal der
Empörung das von Ort zu Ort durchs Land geht, die
Geister in Bewegung zu setzen, die Schaaren zu sammeln.
Auch die weibliche Stimme der Milde, des Gebets, der
Glaubenszuversicht lässt sich dazwischen hinein vernehmen :
#^^iU4±iLJjJ^' 1 "
Aber sie entfacht nur den endlichen Ausbruch des Sturms,
der sich in Scalenfiguren äussert, die hoheitsvoll durch zwei
Octaven schreiten und uns zu dem Punkte führen, wo der
Bund der Genossen auf Tod und Krieg geschlossen und
zum ersten Mal das Trutzlied angestimmt wird:
^ 465 '^
LeBto. Jr46
. Es ist nur die erste Hälfte
^'~~' ' tl^ ' ^^ '
von ihm und auch in ihr sind Vorder- und Nachsatz dra-
matisch getrennt. Abermals kommt die weiche Gebets-
melodie — die ständig in den Holzbläsern liegt — da-
zwischen, ihr folgt die Fortsetzung und der Abschluss des
Chorals mit
IT 1^
Nun giebt Smetana in einer Reihe von lebhaften Sätzen
die alle ein Molto vivace vorgeschrieben und als thematische
Hauptunterlage das aus dem dritten und vierten Takte
des letzten Beispiels bestehende Motiv haben und in ein
Piü mosso auslaufen das Bild eines im Kämpfen aufgehen-
den starken, gewaltigen Geschlechts. Der Kampf wird in
vielen Wendungen vorgeführt : etwas kleinlaut beginnt er,
nimmt aber bald den Charakter entschicdner, rücksichts-
loser Entschlossenheit an. In den Bläsern stehen gewisser-
massen die Thaten, in den Violinen die Stinunungen: die
Erregung, das Treiben und Schüren. Der Kampf hat seine
stürmischen und hitzigen, seine verwickelten, auch seine
müden und verlegnen Augenblicke, längre Zeiten der Ge-
fahr und des Unterdrücktseins wo die Instrumente nur auf
Rhythmen leise stöhnen und stammeln. Der Wille ist
nicht gebrochen das Terzenmotiv: -fCt» ^^1 J J~~r~
hört nicht auf anzufeuern und im Piü mosso kommt es zu
einem neuen und letzten Ansturm von furchtbarer Gewalt
mit frischen endlosen Schaaren. Seinen Erfolg erzählt das
Lento maestoso (^;.^), in dem der Choral als heisses Dank-
gebet im Jubelrausch zum Himmel klingt. Ein schliessen-
des Piü animato fügt nochmals drohend und in finstrer
Kraft das Glaubensbekenntnis« daran, wirft einen Rück-
Kretzschmar, Führer, I.
SO
c<? 466 ^
blick auf das Vollbrachte in dem wohl still auch der ge-
opferten Genossen gedacht ist. Dann sprechen die Führer
aus dem Munde der Bässe noch ein stolzes und rühmendes,
anfeuerndes Wort und herrisch, zuversichtlich und be-
geistert antworten die Schaaren.
In ihrer harten gedrungenen Kraft erinnert diese Com-
position über den Taboritenchoral an altes Römenolk und
Nibelungenlied; aus der gleichzeitigen Musik wäre ihr
ausser R. Wagner's , Walkürenritt* allenfalls noch die eine
oder andre Stelle aus R. Yolkmann's D moll -Sinfonie an
die Seite zu stellen. Unter den Dichtem die mit Smetana
lebten, findet sich eine verwandte Natur in Fr. Hebbel,
unter den bildenden Künstlern keine.
F. SaetABa ^Blanick* die letzte, sechste Nummer des Cyklus
BUnick. verbindet die zweite Folge der vaterländischen Tondich-
tungen Smetana's mit der ersten poetisch und musikalisch.
Es verschmilzt schliesslich die Motive der Taboriten und
der alten böhmischen Filrstenburg und es ist auch in
seiner dichterischen Bedeutung das Gegenbild zu Vyseh-
rad : es umschliesst ebenfalls versunkne oder schlummernde
Herrlichkeit und Grösse, es ist die Stätte stolzer nationaler
Erinnerungen. Blanick heisst ein bei Tabor gelegner Berg,
der dem Salzburger Untersberg, oder dem KyflFhäuser der
Deutschen ungefähr entspricht. Hierher zogen sich einst
die Helden der Hussitenkriege zurück und warten der Zeit,
da die Träume von der Wenzelskrone in Erfüllung gehen,
wie Barbarossa gewartet hat.
Smetana empfängt uns in seiner Composition mit einem
Allegro moderato (•/» D moll) in dessen ersten Takten der
Kampfchoral in aller Herbheit nochmals anklingt, das aber
bald zu einer freudigeren und heiteren Schilderung jener
kraftvollen Hussitenzeit übergeht. Es klingt darin wie
von flotten Reiterschaaren und das Taboritenmotiv tönt,
aller seiner Schrecken entkleidet, frisch und freundlich
dazwischen. Nur am Ende, das Smetana wie so oft,
etwas lange hinausschiebt, wird der Ton etwas düster.
Das Thema welches diesem ersten Theil von , Blanick*
zu Grunde liegt
ce 467 ^
Allcgro moderato. J=72
steht mit der Originalfassung der ersten Strophe des Ta-
boritenchorais im Zusammenhang. Smetana liebt es die
einzelnen Gruppen in seinen Tongemälden scharf abzu-
grenzen und zu sondern. So lässt er auch das Bildchen
das er hier von dem Lebensabend der alten Taborhelden
entworfen hat im Dunkel verschwinden, ehe er weiter geht.
Die zweite Scene beginnt (Andante non troppo) mit folgen-
Audante non troppo. z-^.
sehnsuchts-
voll und elegisch. Es ist als wenn ein Wandrer an den
Berg herantretend im patriotischen Schmerz der alten
grossen Zeiten seines Landes und ihrer Männer gedächte.
Schnell aber verscheucht die Gegenwart alle Beklemmung :
er findet am Berg ein Idyll : Heerden und Hirten die sich
im Tonspiel ergötzen : Smetana lässt uns einen Kanon hören
der zunächst zwischen Oboe und Hom, später zwischen
Oboe und Clarinette läuft und folgendermassen beginnt:
Plü aHegro.
Jr
76
•fr^^ir_fatgrpirrrn
Seine immer
muntrer werdenden Melodien begleiten erst lediglich Blas-
instrumente, dann legen ihnen die Geigen träumerisch einen
langen, leisen Fduraccord unter. Aus diesem Frieden
reisst ein Piü mosso. Wir sind auf den Abschnitt in ge-
wohnter Weise allerdings etwas vorbereitet worden durch
ein diminuendo. Nun fangen die Geigen an zu tremoliren,
dann heftige Figuren auszustossen ; in Vorhalten, in Disso-
nanzen, in fassungslosen Rhythmen spricht sich höchste
Aufregung aus und nach dem gewaltigen Anlauf setzt nun
der neue Hauptsatz mit:
80*
^ 468 ^
Meno mosso. d = 6S
KTjJJJJ-'ig^^
1 ILffÜlrj-üi;[iu iLJj i|
ein. Er giebt ein Bild des Irrens und der Rathlosigkeit,
die auf Augenblicke in Verzweiflung übergehen will. Schon
bald erheben sich dagegen Regungen der Zuversicht; in
Hörnern und Clarinetten hören wir
pp J^J, JVpV-. Endlich dringt die
freundliche zuversichtliche Schlusszeile des Taboritenchorals
durch und von seinem Ende wird ein Marsch
jjjii jjlJJJ J3N JJ JJlJfJJ^^
abgeleitet und mit ihm verbunden, der die Erinnerung zu
den alten Helden zurückführt die im Berge schlummern,
ihr kräftiges Wesen ähnlich wie der Anfang der Compo-
sition, das Allegro moderato, aufleben lässt. Und bald ist
es auch, als wenn sie leibhaftig wieder da ständen. Mit
dem Grandioso (Ddur) kehren wir in den glänzendsten
Theil der fünften Nummer des Cyklus, in das Tongemälde
über ,Tabor* zurück. Noch einmal wird die Stimmung
wieder etwas trübe : es tritt wieder D moll und eine Durch-
fuhrung des in der Stimmung etwas zwiespältigen Motivs,
j^PT-t I 1 I I I J._J lU^ji^-fli-jr^
ein. Wieder wird sie durch das Choralthema überwunden.
Das Grandioso kehrt zurück und führt zu einem Larga-
mento maestoso (Ddur, '/g) und zum Burgmotiv aus
Vysehrad. So reichen sich Ende und Anfang des Cyclus
die Hand. Der Tondichter schliesst mit der begeisterten
Mahnung an seine Landsleute der grossen Zeiten ihrer
e<? 469 'S«
Geschichte der Zeiten von Yysehrad und Tabor immer zu
gedenken!
Die vaterländischen Compositionen Smetana^s haben für
Anton Dvorak, das reichste böhmische Musiktalent, den
Weg gebahnt, sie haben ihm die Anregung zu seinen
„Slavischen Tänzen" gegeben, für seine «Slavischen Rhap-
sodien • auch die Form. Von der internationalen Strömung
der gegenwärtigen Musik, oder besser gesagt von dem
immer noch fortwirkenden gewaltigen Geist des achtzehnten
Jahrhunderts ergriffen, ist Dvorak jedoch bald von den
Exakten zu den Philosophen übergelaufen, ist unter die
Sinfoniker gegangen, hat unter den lebenden Vertretern
der Beethoven^schen Methode sich heute den ersten Platz
errungen und dabei in seinen Sinfonien so gut es ging
immer noch für böhmisches Wesen und böhmische Musik
Zeugniss abgelegt und gewirkt.
Der ausgesprochen nationale Satz in seiner ersten,
seiner D dur-Sinifönie (op. 60) ist das Scherzo. Es unter- ^» D»or«k
scheidet sich in Form und Charakter kaum von den ^^"'"S^®»*«-
bekannten und bedeutenden «Slavischen Tänzen'' dieses
Componisten und soll wohl auch durch den überschrie-
benen Titel : »Furianf dieser Gattung zugewiesen werden.
Ein wildes Blut wallt in diesem Satze; zu der Frische,
mit welcher sein Hauptthema herein stürzt, gesellt sich
auch ein querköpfiges Element, eine eigensinnige Ausge-
lassenheit, die in einem aus Beethoven's vierter Sinfonie
bekannten Wechsel von Zweiviertel- und Dreivierteltakt
imd in den dissonirenden Vorhaltsnoten deutlich zum
Ausdruck gelangt:
Presto. ^ ^ ^ ^ ^ ^
J> »?^ # ^^^r^ ^__f3^ ^^^ Hauptsatz ist nur
"^^ ' ^ ?^-t^a— H^^^"""T~:- 8ehr kurz, der Mittelsatz
if »tc.
*) Statt d lies: c.
c<? 470 -0»
dagegen im BeethovenVhen Stile breit ausgeführt und
mit einem neuen Thema bereichert. Es ist folgendes:
a^^^B|^rlr■r|rYrtnpt^^FM^I l-'?rn"M
ere»e.
Das hier mit h) bezeichnete Schlussglied ist dasjenige,
welches in der jetzt beginnenden Durchführung beider
Themen berorzugt wird. Die im Anfangstheile der neuen
Melodie liegenden weicheren Elemente bleiben im Hinter-
gnmde. Das Trio dieses Scherzo entwickelt sich in seinem
ersten Theile ziemlich zögernd : Sein Thema baut sich stück-
weise auf und schliesst fragend und unentschieden:
Ueno moMO.
Ob, Fl.
jjiPj'frrrr- '
J^ ßVCO §9»UKuflf
Der Klang des Piccolo bringt darin das national slavi-
sehe Element sehr drastisch zur Geltung. Von der zwei-
ten Hälfte des ersten Theils und durch den anderen Theil
des Trios regt sich's dann freundlicher: durch die Bläser
und die Celli streifen ruhige Gänge, die nach Melodie
zu suchen scheinen. Einen ausgesprochenen wirklichen
G^esangton vermeidet der Componist, der in seinem
Scherzo weniger einen heiteren Satz, als ein musikalisches
Charakterbild geben wollte : das Gemälde einer mit unwir-
schen Elementen kämpfenden Fröhlichkeit. Das Scherzo
ist in der Form der einfachste und übersichtlichste Satz
der Dvorak'schen Sinfonie. Die anderen Sätze stellen in
Betreff der Gedankenentwickelung und der durch sie be-
dingten Form dem Zuhörer durchschnittlich schwere Auf-
gaben, und es scheint uns durchaus nicht ein blosser
Zufall zu sein, wenn das Publikum dieser Sinfonie etwas
kühl gegenüber steht. Namentlich durch den ersten Satz
und durch das Finale geht ein unsteter Zug. Die Phan-
tasie hat die Menge der Gesichte nicht bewältigt; die
Ideen durchkreuzen und verdrängen einander, die Episo-
eO 471 'S»
den vergewaltigen die Hauptgedanken, und die ganze
Darstellung macht das Folgen und Verstehen zu einer
harten Arbeit.
Der erste Satz hat in seiner Themengruppe nicht weniger
als sechs verschiedene Ideen, welche um die Führung ringen.
Die wichtigsten ^ 'J ^T\\^ a ä i äT^f i f f rT"» —
davon sind: ^ <' i ^^A^^^^^^^^^^^^T^'
Diese vier Takte bilden die vordere Hälfte des Hauptthema,
dessen erster Abschluss bereits bedeutend hinausgeschoben
wird. Nach einer etwas stürmischen Unterbrechung im be-
schleunigten Tempo kehrt das Thema im glänzenden Forte-
Klang, aber nur auf einen flüchtigen Augenblick zurück. Vor
dem Eintritt des zweiten Thema passiren wir noch eine
Reihe von Nebenmotiven, aus denen das folgende als
das für die Satzentwickelung wichtigste hervorzuheben ist :
Das zweite
Thema (in
Flöt«
Hdur gestellt) gelangt zu keiner Bedeutung, dagegen
nimmt der ihm folgende Nachsatz:
ßf etffrr»»
im Ideenkreise des Allegro eine hervorragende Stellung
ein. Der ganze Satz gewährt das Bild einer um freund-
liche Ziele kämpfenden Stimmung, und enthält in seinen
heiteren Partien eine Menge liebenswürdiger Züge,
blühende musikalische Einfälle pastoralen und idyllischen
Charakters. In ihnen ist ein leichter Einfluss Schubert's
zu bemerken, während für die pathetischen Excurse, die
den weniger gelungenen Theil des Satzes bilden, Beet-
hoven und noch mehr Brahms augenscheinlich zum
Muster gedient haben.
Das Adagio (Bdur '4) wird von folgendem Hauptge-
danken beherrscht:
ce 472 ^
Als zweites Thema folgt ihm ein schwärmerisch zärtlicher
Gesang :
Vtul.
PP
1^ ^\\ , i:^''Tji.r|iii'i;^i
\ LT" f^ CT€9C.
V
^M I j)*~J^| J ^J^fcbfei: dessen Einführung durch eine
kurze selbständige Episode, von freudigem AufBchwung
beherrscht, wunderschön vermittelt wird. Der ganze Plan
des Satzes ist noch leicht zu übersehen: Nach dem Ab-
scbluss des Seitenthemas repetirt die Hauptmelodie, und
die eben erwähnte Episode leitet zu einer kurzen Durch-
führung über. Letztere setzt mit leidenschaftlicher
Bewegung ein, geht aber sehr bald in den milden träume-
rischen Ton über, der dem ganzen Adagio seinen Cha-
rakter giebt. Auch durch seine melodischen und modu-
latorischen Wendungen erweist es die Verwandtschaft
mit dem langsamen Satze von Beethoven's Neunter. Im
Finale seiner Sinfonie steht Dvorak wieder auf dem
Boden, auf welchem seine dichterische Kraft das Eigen-
artigste und Beste giebt. Die Themen dieses Satzes,
von denen wir als die hauptsächlichsten folgende zwei
citiren :
Alleg^ro con spirito^
PP
cic.
sind echt böhmbche Melodien,
die uns an die alte Wiener Sinfonie, an Wenzel Müller,
an lustige Sonntags-Nachmittage und an vergnügte Men-
schen erinnern. In der Durchführung verlässt Dvofak die
in diesen Weisen gegebene Sphäre, zögert und scheint
über die Berechtigung der fideleu Motive in Bedenken zu
^ 473 "^
gerathen. Dieser Theil enthält sehr viele humoristische
Züge von grosser Wirkung. Ausserordentlich drastisch ist
der wilde Einsatz, mit welchem die Hörner das Motiv
w 'l^^ r p r : in das pp des Orchesters hineinwerfen.
Jedoch nimmt das capriciöse Element das Interesse des
Zuhörers etwas zu lang und zu kühn in Anspruch. Der
Satz schliesst mit einem Presto üher das Thema a).
Auch in der zweiten Sinfonie DvoFak's (Dmoll, 1. Drofmk
op. 70) wird man vergeblich nach der unbedingten Lebens- Zweite Sinfonie,
freude suchen, die seine Slavischen Rhapsodien zu einer
Wohlthat für die neue Musik gemacht haben. Sie ist ein
Stimmungsbild fUr das die Ueberschrift ,Aus trüber Zeit''
nicht übel passen würde. Ohne im höhren Sinn originell
zu sein, fesselt das Werk durch eine klare, planvolle An-
lage, durch ein reiches, bewegliches Empfindungsleben,
durch natürliche, meistens aus dem Vollen fliessende musi-
kalische Durchführung. Diese Vorzüge krönt Einheit und
Strenge des Charakters. Selbst auf den üblichen, immer
dankbaren , glücklichen Ausgang" im Schlusssatz hat
Dvofak diesmal verzichtet.
Der erste der vier Sätze (Allegro maestoso, C, D moll)
beginnt folgendermassen :
AUegro maestoso. Jm66 ^^^ _ , --
ppT T r r i
Man kann diese von Cellis und Bratschen
unisono vorgetragne Melodie in zwei Hälften theilen. Die
vordere, in gleichen Achteln gehalten, klingt wie das leichte
Murren eines Unwilligen, die zweite, mit dem durch das ver-
längerte Viertel schwer accentuirten Motiv, zeigt dass hier
ein Gemüth tiefer getroffen worden ist, bis zur Verwirrung
getroffen. Das sagt uns der an den Schluss gestellte ver-
minderte Accord. Er kommt ganz plötzlich, bleibt aber
für die Dauer einer achttaktigen Periode. Drüber wieder-
holen die Clarinetten von d aus das Thema. Ihr Schmerzens-
motiv JJ I J. J beantwortet das zweite Hom gewisser-
massen in vergrössertem Echo mit fis fis \ c und lockt damit
eine Reihe von Stimmungsäusserungen hervor die den
klagenden und vorwurfsvollen Ton immer heftiger hervor-
kehren. Technisch sind sie als Fortsetzungen des oben
angeführten Themas zu betrachten. Denn die neue und
neueste Sinfonie begnügt sich nur ausnahmsweise mit
solchen knappen Hauptgedanken wie sie bei den Wiener
Classikern die Regel bilden ; sondern sie arbeitet am liebsten
mit einer langen Themenkette. Die erste dieser Fort-
setzungen des Hauptthemas knüpft an den Sechzehntel-
auftakt der zweiten Hälfte des Eingangsthemas an und
modulirt im achten Takt nach AmoU. Die zweite wird
von demselben Sechzehntelmotiv als Bass begleitet und
setzt in der Hauptstimme mit breiten Vierteln a \ es \\/b a
ein. Dieses Viertelmotiv erlangt seine Bedeutung im Ver-
lauf des Satzes. Zuerst von der zweiten Violine, Oboe und
Fagotten vorgetragen, wird es zwei Takte später von der
ersten Violine als </ öf | 7 e aufgenommen und schnell zu
einer langen Dmollcadenz geführt, die uns eine sehr
stürmische Wendung erwarten lässt. Das Natürlichste
würde Wiederholung des oben aufgezeichneten Themas im
Tutti des Orchesters und im ff sein. Sie kommt auch ; aber
erst 22 Takte später. Vorher bringt der Componist erst
noch einen jener erweiternden und belebenden Abstecher
an die namentlich Liszt die modernen Sinfoniker gewöhnt
hat. Er legt eine Ausweichung ins Gebiet der Ruhe und
des Seelenfriedens ein. Sie führt mit einer etwas beabsich-
tigten Gewaltsamkeit nach Esdur und vor eine sehr ein-
dringliche Hornstelle, die mit einer raschen Scalenfigur
beginnt und dann in die Rhythmen des nachher folgenden
zweiten Themas des Satzes einlenkt. Bei dem nach dieser
Verzögerung doppelt wirksamen Eintritt des Hauptthemas
c<? 475 ^
ist es zu bedauern dass das Thema, weil nur den Holz-
bläsern gegeben, von dem starken Begleitungsapparat über-
tönt wird. Merkwürdiger Weise ist der in der Instrumen-
tation so sicher und ausgezeichnete Componist hier in einen
Beethoven*8chen Fehler verfallen, den intelligente Dirigenten
wohl stillschweigend verbessern dürfen, wie es DvoFak beim
Eintritt der Reprise selbst gethan hat. Hier spielt das
erste Hörn das Thema mit. Wie schon bei seinem ersten
Eintritt mit dem verminderten Accord, so nimmt unser
Hauptthema jetzt wieder ein seltsames Ende. Noch viel
verwunderlicher und aufregender als dort bricht es in einer
verzweifelt wirkenden Dissonanz ab : — fesbc ges — der
naturgemäss eine Reaction folgen muss: Die Holzbläser,
dann die Geigen mit, führen ein zwölf Takte langes
Ueberleitungssätzchen, auf weich gleitende Motive gebaut,
aus: Nach seinem Ende hin spielen die Mittelstimmen
kurz einmal das Achtelthema (der Celli und Bratschen) an,
mit dem der Satz begann.
So wird also das zweite Hauptthema des Satzes
''doice ' fP
sehr schön und gewissermassen dramatisch eingeführt.
Seine poetische Aufgabe : sanft und freundlich zuzusprechen,
erfüllt es auf eigenthümliche Art. In tiefen Flötenklang
gehüllt, leise vom Tutti umschwebt, hat es etwas Geheimniss-
volles, wirkt wie ein Bild im Zauberspiegel, wie ein Gast
aus der Geisterwelt. Ganz besonders schön und rührend
ist das zögernde Verschwinden der Vision: Volle acht
Takte haftet die Melodie an dem verzierten ««, ehe die
Auflösung ins d fallt. Dieses Zögern, Aufhalten und
Schwanken ist ein Zug, der in unserm Satz immer wieder-
kehrt. Die Wirkung dieses zweiten Themas greift un-
gewöhnlich tief in den formellen Plan und in das Wesen
des ersten Satzes ein. Der nächste Abschnitt, den es be-
herrscht, wiederholt es wörtlich in den Violinen, knüpft
daran versuchsweise und schnell wieder abbrechend Motive
der Aufheiterung und des Aufschwungs. Er endet aber
in B moll und in seinen Schluss mischen Oboen, Clarinetten
und Homer das Unmuthsmotiv mit dem die Sinfonie be-
gann. Der ganze Schluss der Themengruppe wird zu
einer äusserlich knappen, aber innerlich bedeutenden Aus-
einandersetzung zwischen den beiden Hauptthemen. Das
zweite scheint, in Bdur, seiner Tonart, fortissimo vor-
getragen, die Oberhand zu bekommen als sich wieder jenes
schon berührte,- dem Gang unsres Satzes wesentliche
Element des Schwankens und Abbrechens geltend macht.
Diesmal in der Form von Sequenzen über den Rhyth-
mus ^^jj , welcher aus einem der Nebenmotive (Motiv
der Aufheiterung^ des zweiten Themas stammt.
Die sehr kurz gehaltne Durchführung wendet den
Stimmungsprozess wieder zu Gunsten des ersten Haupt-
themas. Sie beginnt in Hmoll mit einer achttaktigen
Periode, die die ersten zwei Takte des zweiten Haupt-
themas nacheinander durch Geigen, Celli, Flöten und
Contrabässe führt. Ihm folgt ein wilder Aufzug seines
Antipoden, des ersten Hauptthemas. Trotzig springt es
auf den verminderten Septimen accord c-dis-fis-a und stellt
sich in voller Breite hin. Der Effekt dieser lieber-
rumpelung ist vorerst Rathlosigkeit der Seele. Nach dem
Edurschluss, mit dem sich das Hauptthema verabschiedet,
wird es still ; kleine Brocken des Gehörten flattern herum.
Das Wichtigste an der Musik sind hier die Pausen. Nur
leise ausgehalten klingt da ein Ton des Horns oder der
Bratsche in sie hinein. Die Modulation rückt plötzlich
von E nach f-a-c-es die Stimmung sammelt sich. Ueber
einem ppp der in Bmoll tremolirenden Streichinstrumente
stimmen die Clarinetten leise das vollständige erste Haupt-
thema an, Flöten, Oboen, greifen mit ein; mit einem
raschen crescendo gelangen wir vor einen Abschnitt in
dem das Motiv des ünmuths, nun zur Wuth gesteigert
aus den Bässen dröhnt; es kommt in die Geigen von
Dissonanzen der Bläser durchschnitten, holt mit dem
cc 477 's^
Rhythmus Jj J J aus und gelangt nach Dmoll zum fff
und zu einer Reprise, die mit der des 1. Satzes von Beet-
hoYen's 9. Sinfonie eine Charakterähnlichkeit theilt, wie
sie gleich stark sich ein zweites Mal nur in dem Dmoll-
concert von Brahms aufdrängt.
Die Wiederholung der Themengruppe verläuft nach
den bekannten Regeln. Nur das ist besonders an ihr, dass
das Gebiet des ersten Hauptthemas gekürzt wird. Durch
dieses einfache Hülfsmittel übt die Musik eine unvergleich-
lich mächtigere und leidenschaftlichere Wirkung aus als
im ersten Theil des Satzes. Die sehr ausgeführte Coda,
die höchste Leistung im Ausdruck gewaltiger und grosser
Ideen, die bis dahin sich in Dvofak's Werken gezeigt hat,
markirt noch einmal unumstösslich hart und mitleidslos
den Sieg des ersten Hauptthemas und seiner dämonischen
Elemente. In Resignation verklingt sie. Auch hier steht
Dvorak, der früher sich gern von Brahms'schen Vorbildern
leiten liess, unter dem Einfluss Beethoven's. Der Basso
ostinato auf f d es f zeigt nach dessen siebenter Sinfonie.
Wie als wenn nach finstrer stürmischer Nacht der helle
Morgen aufzieht, beginnt der zweite langsame Satz (Poco
Adagio, C, Fdur; folgendermassen :
Poco Adagio. J : 6«
Breit und feierlich abschliessend legt das volle Orchester
den F dur-Accord über das Ende dieses kleinen Präludiums
und das eigentliche erste Thema des Satzes tritt, von
Flöte und Oboe vorgetragen, ein
i fT^ff I [Q 1 fl \rPll\El\^^' InSequen-
zen über das letzte Motiv senkt es sich tiefer und tiefer
und athmet dann noch einmal gross auf um plötzlich im
Halbschluss zu verlöschen. Es ist als flöhe es vor dem Motiv
c<? 478 o^
jL^ r^^J> I J^ ^^ ^^^^ kleine Scene der Unruhe
einleitet, die uns die aufregenden Augenblicke des ersten
Satzes in die Erinnerung zurUckruft. Das Hom sucht mit
kühnen Figuren zu beschwichtigen. Noch einmal schlägt
Schrecken in kurzen Motiven dazwischen, dann aber be-
hält das Hörn mit der schönen Melodie
^^ das Wort.
Sie nimmt ungefähr die Stelle ein, die sonst das zweite
Thema zu haben pflegt. Aber wie Dvorak sich im Allgemeinen
den Formen der Sinfonie gegenüber die Freiheit der Ideen
und ihrer Bewegung wahrt, so hat er dieses zweite Thema
hier ungewöhnlicher Weise in die Haupttonart Fdur ge-
setzt und ihm auch nur einen geringen Einfluss auf Ge-
stalt und Wesen des Satzes zugewiesen. Unser Adagio
hat gar keine Durchführung in dem Sinne einer Aus-
legung und Verarbeitung bisher gebrachter Themen.
Sondern nach dem Schluss des zuletzt angeführten Ge-
dankens setzt ein ganz selbständiger Mitteltheil ein zu-
nächst in FmoU und von einem scharfen rhythmischen
Motiv J^ ^^ j) geführt. Mit ihm wechselt ein Motiv
des Schnens von folgendem rhythmischen Charakter
J jTj J ^^^ kommt mit ihm, oft jäh und erschreckend
in heftige Conflikte. Nach einer solchen Stelle, — da«
fortissimo auf e-fis-ais-cis macht sie leicht kenntlich — tritt
die Reprise, die Wiederholung der Themengruppe, ein.
Das Hauptthema kommt jetzt in den Cellis. Ihm folgt
das erste Seitenthema wie beim ersten Mal in den Violinen,
aber jetzt mit Contrapunkten die bald beschwichtigen,
bald anfeuern, in den Holzbläsern versehen. Alle Elemente
der Aufregung die in dem Abschnitte vorhin bereits vor-
handen waren, erscheinen ins Gespenstische und be-
cc? 479 ^
drohlich gewachsen. Das Fdurthema des Horns taucht
jetzt nur angedeutet in den Violinen auf und von
Trompeten und Hörnern merkwürdig umschmettert. Ganz
zuletzt kommt auch die Melodie des kleinen Prä-
ludiums des Satzes und zwar in der Oboe nochmals
zu Wort.
Der dritte Satz, das Scherzo (Vivace, •/4, D moll) zeigt
den Zusammenhang mit dem ersten Satz der Sinfonie nicht
so stark wie das Adagio aber immer noch deutlich genug.
Es erstrebt die an dieser Stelle übliche Fröhlichkeit, aber
es besitzt sie nur im geringen Grade. Das Hauptthema
vivace. J.80
|etc. orientiert in diesem Falle genügend
über das Wesen des ganzen Satzes: Die Rhythmen der
Violinen treiben vorwärts, aber hinkend, als schleiften Ketten
mit. Die , schlotternden Lemuren* Goethe's treten vor das
geistige Auge und die in den Mittelstimmen (Cellis und
Fagotts) dazwischen schluchzende Melodie giesst noch mehr
Wehmuth über das an und für sich schon grau gehaltne
Bildchen. Mit dem achten Takt, dem Abschluss der ein-
fachen Periode geräth die Darstellung schon ins Stocken.
Wir stehen wieder vor dem schwankenden, unentschlossnen
Zug der auch in den andren Sätzen als wesentlich sich
bemerkbar macht. Mit einem Motiv J. J J J J, das
bis dahin in der zweiten Violine Begleitungsdienste ver-
richtet hat bildet der Componist einen 10 Takte langen
Zwischensatz und wiederholt dann das Hauptthema mit
der Aenderung, dass die Holzbläser die Hauptstimme, die
Violinen aber den Contrapunkt der zuerst in den Cellis
gebrachten gebundnen Melodie übernehmen. Nach einem
breiten Abschluss tritt folgendes Seitenthema
cc? 480 ^
Jk^r^f^J r ( w |tP ein, aus dem ein neuer, mit
grossem Tumult und Kraftaufwand geendeter Zwischen-
satz (14 Takte lang) gebildet wird. Und nun wird vom
Anfang des Satzes an wiederholt. Bei Haydn und Mozart,
in den meisten Beethoyen'schen Sinfonien steht hier das
blosse Bepetitionszeichen, die Musik kehrt wörtlich wieder.
Bei Dvo?ak ist die Wiederholung zugleich Variation. Die
Instrument] rung ist wesentlich geändert und zwar nach
einem Muster, das viele Hörer angenehm an die Concert-
Ouvertüre (in A) von Julius Rietz oder an A. Bubinstein*s
„ Lichtertanz ** aus ^Feramors" erinnern wird: Von Ab-
schnitt zu Abschnitt wechseln die Streicher und die Bläser
zwischen Haupt- und Nebenstimme, lösen sich im Vortrag
des von Pausen durchsetzten Themas und der gebundnen
Melodie ab.
Diesem Hauptsatz steht ein Trio gegenüber, das in
der Hauptsache von dem zuerst in der Oboe gebrachten
Poco meoo mosso. ^^____^
Gedanken 4 jJ ^f p p ^ f^ f"^p ^ 7 J : getragen wird.
Den Schluss der zwölftaktigen Periode, die das voll-
ständige Thema bildet, machen die Violinen mit Ruhe
athmenden, freundlichen Wendungen. Das Bild des Friedens,
welches das Trio entwerfen will, wird etwas durch einen
Seitensatz gestört, aus dessen spärlichen Motiven der
Rhythmus J^ J stechend hervortritt. Das ganze Trio
ist unter sämmtlichen Theilen der Sinfonie derjenige, bei
dem die Erfindung den Componisten am wenigsten unter-
stützt hat. Gleichwohl erreicht es durch die musikalischen
Elemente, durch den Rhythmus insbesondre, doch die be-
absichtigte Wirkung und das Scherzo als Ganzes ist der
Satz, der in seiner eigenthümlichen Mischung von Melan-
cholie und Beweglichkeit auf viele Hörer den nachhal-
tigsten Eindruck ausübt.
«(? 481 ^
Das Finale der Sinfonie (Allegro, (fc, DmoU) erinnert
mit den ersten drei Noten seines Hauptthemas
Allegro. JrlOO a-^
i ^U \$H\\\i\ an ein Seitenmotiv, das in trotzigen
Vierteln bald sich nach dem Eingang der Sinfonie zeigte.
Jedenfalls weicht es dem gewöhnlichen Schluss der in Moll ein-
setzenden Sinfonien aufs entschiedenste aus und hat mit dem
grossen Kreise der sinfonischen Paradigmen zu dem Motto ,per
aspera ad astra* nicht das Geringste gemein. Am nächsten
steht die Dvorak'sche Arbeit in diesen Verzicht auf ein
frohes, versöhnliches Finale der CmoU-Sinfonie Draeseke*s.
Wenn man den Inhalt von Dvofak's Sinfonie in die Form
einer Erzählung fassen wollte, würde das Ende lauten:
,Die Lage unsres Helden ist noch widriger und geföhr-
lieber geworden, als sie am Anfang der Geschichte war;
aber auch seine innre Kraft ist immer mehr gewachsen.
Er braucht sich nicht zu beugen*. Es geht ein starker
Zug von Trotz durch dieses Finale und in ihm liegt viel-
leicht die einzige Spur fUr die nationale Abkunft des
Werkes, das sich motivischer Anleihen aus der böhmischen
Volksmusik vollständig enthält. Das Bild von Kraft und
Entschlossenheit, das unser Finale entrollt, wird dadurch
liebenswürdiger und reicher, dass ihm weiche Wendungen,
die wie Sehnsucht nach Ruhe, wie Neigung zur Ergebung,
wie leise Klagen erscheinen, eingemischt sind. Jedermann
erkennt eine solche wohl in den drei letzten Takten des
oben gebrachten Notenbeispiels, als dem Schluss des von
Cellis und erstem Hom gebrachten Hauptthemas. Mit
diesem Motiv der Ergebung setzen die Violinen zunächst
leise ein Sätzchen von 14 Takten ein, das in seinem jähen,
aufgeregten Abbrechen uns wieder lebhaft an den Anfang
der Sinfonie, nämlich an jene Stelle zurückversetzt, wo das
erste Thema des ersten Satzes in den plötzlichen ver-
Kretzfchmar, Führer, I. 81
«<? 482 ^
• derten Accord auslief. Derartige Wendungen gehen
H* reh die gaii«e Sinfonie als Symptome eines aufgeregten,
fieberiscben Seelenzustandes. Hier folgt dem Trugscbluss
«uofichst eine Wiederholung des Themas in den Holz-
bifisero, die sich ins Unhörbare, ins Reich des Schlummers
verlieren wiU. Vergeblicher Versuch! Mit aller Leiden-
Bchaft, die ein modernes grosses Orchester ausdrücken
kann, nimmt es gleich drauf das Hauptthema im stärksten
forte auf. Dazwischen meldet sich in Flöten und Oboen
der Anfang eines Themas
marcato ^
fy \/^j jjl M7J[}|.n.7j J ^^
das bald in seiner Vollständigkeit seinen Platz als Fort-
setzung und Steigerung des Hauptthemas einnehmen wird.
Es folgt ihm eine einfache Periode mit Verwandlungen
des Hauptthemas gefüllt. An sie knüpft eine gleich kurze
an, der ein chromatisch aufsteigendes Scalenthema zu
Grunde liegt. Sie giebt sich ziemlich wild und heroisch
und vermittelt technisch die Modulation nach £dur. Sie
thut das aber sehr ausdrucksvoll, dringend und auf das
zweite Thema in der Stimmung vorbereitend. Dieses
zweite Thema steht regelrecht inAdur, der Oberdominant
der Haupttonart des Finale und bildet — ebenso nach
bekanntem Sonatenbrauch — einen innren Gegensatz zum
Hauptthema :
j¥ \Tu I rTr-M^7 J i<Uj r r ^^
Zuerst bringen es die Celli, gleich drauf Flöten und Oboen
mit einem Abschluss in Fisdur. Ihm folgt ein 14 Takte
langes Nachspiel über das aus dem Anfang genommene Motiv
^ • Jj I J. Und darauf zieht das Thema im vollen
Glänze des Tutti fortissimo noch einmal vorbei. Zu einer
Macht im geistigen Getriebe wird es nicht; die Durch-
c(? 483 ^'
führung des in der SoDatenform gehaltDen Satzes nimmt
gar keine Notiz von seiner Existenz. Es bezeichnet einen
flüchtigen und trügerischen Augenblick des Hoffens. Unsern
Componisten hat diese kurze Minute des Sonnenscheins in
die Sphäre Franz Schuberts geführt , mit dem er ja un-
verkennbare Verwandtschaft besitzt. In dem Abschnitt
der den Bereich des zweiten Themas abschliesst, spricht
Dvorak in Schubert'scher Zunge. Es sind Motive der
grossen C dursinfonie , die uns in den Anfang der Durch-
führung hineingeleiten und auch die berühmten Posaunen
aus dem ersten Satz dieses Monumentalwerkes klingen in
Dvorak's Finale hinein. Dieser Zufall nimmt aber dem
Werth der Durchführung nichts. Ihre bedeutendsten Theile
liegen am Anfang und am Schluss, besonders im erstem
an der Stelle, wo das Hauptthema zweimal staccato ge-
wissermassen versuchsweise und ganz leise kommt. Beim
dritten Mal (in H moll) tritt es vollständig auf. Die Geigen
entwickeln das schliessende Ergebungsmotiv zu einem
längren Sätzchen, bei dem auch Dvorak der modernen Un-
sitte des überflüssigen Contrapunktirens durch fleissige
aber mehr störende als unterstützende Bläsermotive ge-
huldigt hat. Den Mitteltheil der Durchfuhrung füllen
Variationen über die Fortsetzung des Hauptthemas, ihr
still einsetzendes Ende Umwandelungen des Hauptthemas
selbst. In der Reprise ist der Uebergang zum zweiten
Thema besonders ergreifend. Den im Grunde doch
pessimistischen letzten Ausklang zu veredeln, setzt Dvorak
die schliessenden 10 Takte in ein gehaltnes Tempo : Molto
Maestoso.
Hatte die D dursinfonie sofort Dvorak's grosses Talent,
die zweite seine Reife festgestellt, so gab der Componist
nun in einer dritten, vierten und fünften Sinfonie auch
diejenigen Beweise von Fleiss und Fruchtbarkeit, die von
jedem Künstler verlangt werden, der eine hervorragende
Stellung behaupten wUl. Um den Umfang von Dvofak*s
Begabung, seine ganze künstlerische Bedeutung zu beur-
theilen wird unter den vorhandnen Sinfonien später einmal
die zweite die wichtigste sein. Er schien mit ihr, ähnlich
o(? 484 '^
wie früher Gade, der Pflege nationaler Musikbestrebongen
abspenstig zu werden. Diese Erwartung ist jedoch nicht
eingetroffen, seine dritte und vierte Sinfonie bringen wieder
reichlich böhmische Musik.
In der Fdursinfonieist das nationale Element mit der
Reserve benutzt, die für die Sinfonie nothwendig ist, wenn
sie nicht zu einer blossen Ausstellung von lustigen oder
phantastischen Genrebildern herabsinken, wenn sie auch
ferner noch dem Componisten gestatten soll seine Persönlich-
keit mit ihren Lebenserfahrungen und ihren Talenten zu
entfalten. Die böhmischen Melodien sind in dieser Sin-
fonie nicht absichtlich herbeigeholt, sondern sie sind im
geeigneten Augenblick in die Architektur der einzelnen
Sätze eingestellt worden wenn sie zufällig dem Tonsetzer
in die Hand liefen.
A. DroHk Diese dritte Sinfonie Dvofak's (Fdur, op. 76) zeigt
Dritte Sinfonie, vielerlei Verwandtschaft mit ihrer Vorgängerin in den Ein-
wirkungen Beethoven's und Schubert*s; Schumann bringt
sie neu hinzu. Sie steht ihr an Einheit, an Kunstwerth
überhaupt sehr nahe, hat vielleicht durch die frappanten
poetischen Einfälle, mit der sie die Formen behandelt,
noch etwas vor ihr voraus. Sie gleicht ihr auch darin,
dass sie als ein weitrer musikalischer Beitrag zur Bio-
graphie des Componisten erscheint. Sie erzählt von seiner
Jugendzeit, von Idealen, von Herzenserlebuissen, von wohl-
bestandnen Kämpfen, von Läuterungen. Der Componist
sucht in diesem Werke die Freude:
„Auf dem saatbekrftnzten HQgel,
An des Teiches klArcm Spiegel,
Auf der Au, im Buchenwald
Ist ihr liebster Aufenthalt."
Dvofak's Fdursinfonie ist zum guten Theil eine Pas-
toralsinfonie. Besonders trägt ihr erster Satz (Allegro ma
non troppo, */4> F dur) den Charakter einer derartigen Ton-
dichtung. Es ist die Stimmung eines Ausmarsches am
schönen Sonntagsmorgen, mit dem sein erstes Thema ein-
setzt: munter im ersten Theil, fromm am Schluss
e<? 485 ^
Allegro ma ooo (roppo. J s tl3
^'J'U NJ'LiI-
Die Flöte singt
es der Clarinette nach und fuhrt die Melodie zu einem
Cdurschluss. Mit ihm beginnt ein Abschnitt der freudigen
Spannung: Die Instrumente nehmen einander Motive des
Themas ab, bald dies, bald jenes, bis sie sich in einer
mächtigen Triolenfigur vereinigen. Diese bringt uns vor
das eigentliche Hauptthema des Satzes:
graoäloso . ^^^"^
rff
F I" F I ' ■■ LT I r eine jener zahlreichen Tanz-
weisen kraftvoll freudigen Ausdrucks an denen die böh-
mische Volksmusik so reich ist. Ihre Wiederholung giebt
Dvorak, wie er das liebt, den Holzbläsern und Hörnern
allein, — die Streichinstrumente machen nur mit einem ur-
wüchsigen Zuruf: ^^^ Jj ihr© Anwesenheit bemerkbar
— und diese schliessen in A moll ab.
In dieser Tonart beginnt sofort eine Durchführung.
Sie heftet sich zunächst — acht Takte lang — in launigem
Eigensinn ausschliesslich an den siebenten Takt des soeben
gegebnen Themas. Celli und Bratschen haben sich seiner
bemächtigt, die Violinen möchten es gerne zu sich herüber-
ziehen. Dann wandelt sich die Scene. Als wäre der Wald
dichter und der Schatten dunkler geworden, tritt Ruhe im
Orchester ein. Nur ein lange liegender leiser Accord
(AmoU) tönt in Hörnern und Fagotten; über ihm flattert
noch ein melodischer Rest in den ersten Geigen. Jetzt
nehmen die Contrabässe |>p das Motiv des ersten Taktes
in Fdur, die Violinen antworten miit dem bisherigen Syn-
*e 486 ^
kopenmotiv. Wir denken uns hier unsren Wandrer
ruhend, rastend und träumend. Im Traum rückt das Ent-
fernte aneinander. So hier Anfang und Ende des Themas,
des Gedankens den er zuletzt im Kopfe trug. Die Musik
ergänzt das Stimmungsbild an dieser Stelle noch durch
Schilderung der äussren Natur: In den Clarinetten schlagen
leise Triolenterzen an, leibhaftig dieselben wie im ersten
Satz von Beethoven's Pastoralsinfonie. Es flüstert in den
Bäumen, es zirpt im Grase. Und weiter noch : Genau wie
bei Beethoven rückt die Harmonie schroff von vier zu vier
Takten von F nach A>, von da nach Des um gewaltige
Ueberraschungen anzudeuten. Von Ictztrcm Punkt ab dringt
wieder Licht und Glanz in die Landschaft und in die Seele
des Schwärmers. Wir gelangen rasch nach Adur und vor
das zweite Thema
Jo/ce
Es verhält sich zum Hauptthema wie Dank zum Genuss.
Musikalisch ist zu beachten dass es an das Hauptthema
durch den Synkopenrhytbmus seines zweiten Taktes ge-
wissermassen unwillkürlich anknüpft. In seinem jugend-
lichen Drang und in dessen technischen Ausdruck trägt
es die Züge Robert SchumannV
Der ganze noch übrige Theil der Themengruppe wird
mit Phantasien über dieses zweite Thema ausgefüllt. Eigen
ist ihm ein durchgehender Triolenrhythmus als Begleitungs-
figur, der zum Schluss melodisch wird und motivische Be-
deutung erhält. Zweimal werden die Variationen über das
zweite Thema durch ein Solo von Flöte und Clarinette,
das freundlich und behaglich in Sechzehnteln die Scala
hinauf und hinab trällert, unterbrochen. Ihm folgt beide-
male ein ebenfalls aus Beethoven's Pastorale bekanntes
Freudeschütteln des ganzen Orchesters auf einen zwei Takte
gehaltnen Accord im ff. So giebt der Componist bald im
Zarten, bald im Starken dem Glücke das er schildern will,
reich aus Eignem erfindend und geschickt an Vorhandnes
sich anlehnend, immer neue Wendungen.
e<? 487 "^
Die Durchführung beginnt geheimnissvoll beschaulich
mit dem Triolenmotiv , das die Themengruppe schloss.
Ihm gegenüber, dem Vertreter der einschläfernden Zauber-
mächte, stellen die Bässe mit den gleichmässig klopfenden
Rhythmus J Js 1 J » ^^^ Violinen mit einen in Accord-
noten abwärts steigenden neuen unwesentlichen Thema den
weitren Thatendrang, und die Lust zu neuem und meh-
rerem Genuss dar. Diese Motive führen uns bald vor das
erste Thema, mit dem die Sinfonie präludirend begann.
Die Flöte bringt es in G dur. Ebenfalls in höchster Ton-
region wiederholen die Violinen die langsamen Schluss-
noten mit Modulation nach Hdur. Und nun folgt eine
lange Strecke, in der inmier wieder in sehr regelmässigen
Abschnitten die erste Hälfte dieses Themas vorüberzieht.
Es hat gerade in dieser ersten Hälfte den Charakter ein-
fachster Signale , besteht hier nur aus Accordnoten , ge
Wissermassen aus musikalischen Naturlauten und schlägt
damit eigentlich in ein Kunstfach, das di^ Russen und
solche Männer der äussersten Linken in der neuesten Sin-
foniecomposition für sich beanspruchen, von denen Dvorak
in Ansprüchen und Zielen weit entfernt steht. Wie sehr
er aber im Betrieb dieser künstlerischen Spezialität seinen
Mann stellt, beweist dieser Theil seiner Durchführung.
Wir haben da eine mit sichrer, leichter Meisterhand ge-
bildete Stelle : ruhig und regelmässig in gleichen Abständen
folgen die kleinen Bilder, die sich gleichen, denn sie sind
alle lieblich und doch jedes anders. Mühelos fügen sie
sich zum Ganzen und streben den Höhepunkten zu: das
sind die Takte, wo die Freude nach lauten Tönen greift.
Besonders treten die Messinginstrumente hervor. Von ihnen
gebracht wirkt die Sechzehntelfigur aus dem Anfang unseres
Themas äusserst wohlgemuth und frisch; namentlich
die Stelle wo die Trompete — auf b-c-e-g — damit ein-
setzt ist ein hinreissendes Gemisch von Stolz und Heiter-
keit. Die Harmonie rückt nun von Adur aus von zwei
zu zwei Takten immer einen Schritt weiter und gelangt
c<? 488 ^
allmählich auf den verminderten Septimenaccord — f-as-
h'd als den Gipfel in der Entwickelung romantischer Ge-
fühle. Denn darin ist der Satz sehr modern, ganz und gar
ein Product des 19. Jahrhunderts, dass er der , höchsten
Lust** auch einen Stich „hohen Leids* beimischt. Merk-
würdig : alle die Instrumente, die von Natur beweglich sind,
die Violinen, die Holzbläser bleiben an diesem Punkt vier
Takte lang auf einem Tone im ff liegen und sind in der
Höhe erstarrt und unten in der Tiefe tummeln sich die
schwenälligen Bässe mit dem lustigen raschen Motiv! Es
handelt sich hier aber um einen gewaltigen AufiMshrei der
Freude, gewaltig und von einer Leidenschaft getrieben,
die nach Ordnung nicht fragt. Nach diesem Augenblick
tritt die Reaktion in ihr Recht: Das zweite Thema erscheint:
die Oboe intonirt es, die Clarinette nimmt es auf und führt
es vollständig vor. Damit ist es aber auch abgethan. Das
Tutti schiebt es demonstrativ mit einem /f Einsatz des
eigentlichen Hauptthemas, der kräftigen slavischen Tanz-
melodie bei Seite, die von den Violinen nach den Bässen
wandert. Wie keck der Ton gegen den ersten Eintritt
in der Themengruppe geworden ist, das lässt sich aus der
Pauke ersehen. Die schwieg damals ; jetzt stimmt sie beim
Synkopentakt mit einem Sechzehnteltremolo ein. Dieser
mit dem Synkopentakt beginnende Abschnitt bleibt nun
für den Schluss der Durchführung ; sechsmal kehrt er mit
denselben Tönen von g b aus wieder. Ein Ruck von Es
nach DeSy eine Periode über dasselbe Motiv gebildet und
im pp gehalten, dann der Quartsextaccord c-f-a und auf
ihm im Hörn das präludirende Thema mit dem die Sin-
fonie beginnt Die Phantasie klammerte sich an die letzten
schönen Bildern der Durchfuhrung gewaltig fest. Nun ist
die Trennung doch geschehen: unvermerkt sind wir in
die Reprise gelangt, die Kunst des Componisten hat den
Schritt der zum Rückweg führte zu dem entzückendsten
Augenblick der bisherigen Wanderung gemacht.
In dem Verlauf der Reprise fordert die Erweiterung
des Umkreises des eigentlichen Hauptthemas gesteigerte
Aufmerksamkeit, noch mehr die schöne Combination in
^ 489 'ö*
der beim Beginn der kurzen, feurig einsetzenden Coda die
Einleitungsmelodie des Satzes und sein zweites Thema zu-
sammenklingen. Trompeten, Violinen, Flöten, Clarinetten
stehen auf der ersten, Posaunen, Fagotte, Celli und Contra-
bässe auf der andern Seite. In Abendroth und zartem
Mondenschein geht der schöne Tag, in den uns die Ton-
dichtung versetzte, zu Ende.
Der zweite Satz (Andante con moto, '/g, Amoll) ist
ein interessanter Absenker des Allegrettos in Beethoven^s
A dursinfonie. Die Aehnlichkeit liegt hauptsächlich in
dem ethischen und tonalen Verhältniss der beiden Theile,
in welche dis Composition zerfallt. Sie entwickeln sich
um folgende zwei Themen:
Andante con moto. J^sJB
und
oo pocbettino plö mosso .
Iijliiiiipli
Die zweite Hälfte des ersten, von den Cellis einge-
führten Themas modulirt nach A moll zurück. Sein Schluss-
takt ist der Anfang der von den Violinen aufgenommenen
Wiederholung mit Schluss in D. Daran knüpft sich ein
Zwischensatz, der das Sechzehntelmotiv des Einsatzes durch-
führt und ihm folgt als Fortsetzung und Abschluss des
Satzes die bisher gehörte Musik mit den Bläsern (zuerst
Flöte und Fagott gemeinsam voran) als Hauptstimmen.
Zu den schönen Gedanken und Erlebnissen des ersten
Satzes der Sinfonie stellt sich dieser erste Theil des An-
dante in einen gewissen undankbaren Widerspruch; als
Niederschlag aus dem trüben, an seelischen Kämpfen reichen
Stimmungskreis der zweiten Sinfonie ist der ernsten Zu-
friedenheit, die in seiner Melodie sich ausspricht, ein kleiner
Zusatz von Schwermuth beigemischt. In den Zwischen-
sätzen, die aus dem Sechzehntelmotiv herauswachsen, ringt
«e 490 '^
das GemUth nach Befreiung von dem dunklen Rest und
nach vollständigem Licht. Der Adursatz bringt es. Eine
Weile tragen die Bläser allein den xwar nicht neuen, aber
an dieser Stelle wie ein Original wirkenden, Himmelsruhe
athmenden Gesang vor. Mit dem Eintritt von H moll nehmen
es die Violinen auf und zugleich tritt an dieser Stelle eine
gewisse Stockung der Empfindung ein. Die Modulation
geräth ins Schwanken, es ist als ob eine ungesehne Macht
den Weg versperrte, es bedarf eines gewaltsamen Anlaufs.
Dieser führt nach Cdur. Von da aus wiederholt sich die
schöne Scene, die mit Schumann'schen Material die Weihe
Beethoven'scher Gebetsmomente erreicht Die dramatische
Wendung, die im ersten Theil dieses Mittelsatzes mit der
Modulation nach HmoU begann, setzt jetzt mit dem Ein-
tritt des Themas in die Septimenharmonie g-h-d-f ein , es
kommt zu einer gr()ssem Kraftäusserung und zu einem ver-
zweifelten energischen Abschluss in dem fernen Edur. Ihm
antworten wie warnende Stimmen, zweimalige Bläsersignale,
die wie Recitative wirken. Kleinlaut und resignirt tritt
der vermessne HimmelsstUrmer den RUckzug an nach der
heimischen Sphäre in die engre und bescheidne Beschau-
lichkeit des Hauptsatzes in A moll, der nach einem langen
Nonenaccord auf E in veränderter Instrumentation einsetzt.
Die Holzbläser haben das erste Wort, die Celli erst das
zweite. Nachdem die Doppelperiode harmonisch genau
wie im ersten Theil des Satzes verlaufen ist, ninmit die
Musik einen neuen sehr erregten Charakter an. Ein Trug-
schluss nach Bdur markirt den Anfang der Stelle. Sie
endet damit, dass von den ersten Violinen tumnltuarisch
begrUsst, in den Holzbläsern wie ganz von fem das Thema
des Mitteltheils des Adursatzes noch einmal erscheint.
Unter dem Eindruck dieser Vision endet der Satz ohne
innerlich zur Ruhe und zum Abschluss gekommen zu sein.
Am deutlichsten geht das aus dem unvermittelten Neben-
einander von pp und f hervor in dem sich der Anfang
des Amollthemas verabschiedet. Es wäre denkbar dass
der Satz und namentlich sein Schluss auf abergläubische
und hysterische Zuhörer beängstigend wirkt.
cc 491 f>»
Dvorak trägt dem ganz UDgewöhnlichen Ausgang
seines langsamen Satzes noch dadurch Rechnung^ dass er
dem dritten Satz (Allegro scherzando, ^'^^ B dur) eine Ein-
leitung vorausschickt, die au die Recitative erinnert, mit
dem das Finale von Beethoven's Neunter beginnt. Nur
eine ganz kurze Pause, die Zeit lässt einmal aufeuathmen,
soll dem Andante folgen. Dann setzt sofort das Achtel-
motiv y J*^ I J j das in A moU schloss, auf dem Do-
minantsextaccord F-a-c-es wieder ein. Es veranschaulicht
wohl das ELlopfen des erregten Herzens. Und nun beginnen
die Cellis eindringlich zur Ruhe und Besonnenheit zu er-
mahnen. Das Tutti giebt den Wiederhall der Worte erst
einsilbig, immer noch zagend und erschreckt, schliesslich,
als das Cello auf es schliesst, gefasster in einem längren
Sätzchen von vier leisen Takten. Da schliesst sich an die
Fermate, die hier einem Fragezeichen gleicht, ganz un-
vermuthet ein hübscher — wohl böhmischer — Walzer,
von dessen Liebenswürdigkeit der Anfang
Allegro scherzando. Js76
• I ■■^^•jL"' I t " eine genügende Probe giebt.
Diese humoristische Ueberrumpelung führt glücklich
über eine gespannte und peinliche Situation hinweg. Ge-
wiss bieten die Formen der Beethoven'schen Sinfonie häufig
Gelegenheit zu sinnreicher Modifikation und poetischer Be-
lebung. Aber erst in neuester Zeit bemühen sich die
Componisten merkbarer sie zu benützen, insbesondre die
ausländischen. Das hier von Dvorak gegebne Beispiel ist
eins der auffälligsten und wirksamsten. Die Weiterfuhrung
dieses Themas ist zunächst ganz regelmässig. Den Flöten
und Clarinetten nehmen es die Violinen ab. Es modulirt
nach Dmoll und geht mit den Bläsern nach Bdur zurück.
Sofort nach diesem Bdurschluss nimmt aber die froh ge-
müthliche Tanzweise einen schwankenden Charakter an:
^ 492 ^
der ganze Mitteltheil des Hauptsatzes verläuft stockend:
durch Generalpausen, verlegne Wiederholungen versprengter
Motive unterbrochen, in Fugenansätzen die offne Rath-
losigkeit verkündend. Das Seitenthema, das sonst üblicher
Weise dem Hauptthema Gesellschaft leistet, bleibt aus.
Es senken sich über die Scene die Schatten des Abends
und der Bangigkeit. Der lange Abschnitt endet mit einem
gewaltsamen, plötzlichen Uebergang der Harmonie von
Dmoll nach Bdur, der Nüancirung von p zum ff. Noch
einmal eine irrende und suchende Geigenfigur und dann:
Wiederholung des ersten Theils des Hauptsatzes im ff,
demonstrativ mit Kraft und Glanz angethan. Nach acht
Takten aber schon beginnt das Abschieduehmen , das
Schliessen und Verklingen. Dann ein kurzer Uebergang
im pPj merkwürdig durch die Entschiedenheit, mit der er
in fremde Tonart (nach Desdur) führt und in dieser: das
Trio auf Grund folgenden Themas
Es ist dieses Trio eine neue Idylle, ein verschwiegenes
Plätzchen, das sich von dem Festplan des Hauptsatzes ab-
zweigt, in Park und Bäumen gelegen, für die Zwiesprache
von Liebenden geschaffen. Die Musik ist in diesem Satz
der Ausdruck intimster Schwärmerei, freudig ruhiger und
inniger Gefühle. Er verläuft in drei Abtheilungen. In
der ersten spielen Bläser und Streicher nur zart um Rhythmen
wie das Schumann gern thut. In der zweiten (mit dem
Septimenaccord des-f-as-ces setzt sie ein) erweitert sich
das Motiv durch Anfügung des Rhythmus J J J i J zum
Gesang. Mit dem Eintritt in Adur und ins forte des
vollen Orchesters nimmt er einen Hymnenton an, der uns
ganz an die correspondirende Stelle in Schubert's grosser
Cdursinfonie versetzt. Sehr schön ist es wie diese Ab-
theilung mit dem neuen Achtelmotiv von dieser Stelle des
*c 493 ^
glühenden Ausdrucks zurücklenkt in den Ton stiller Selig-
keit. Die dritte Abtheilung markirt mit ihrem ersten
Schmerzensaccord : des-f-as-ces-d den Augenblick des Ab-
schieds, der Trennung, die der Componist in neuen Tönen
der Innigkeit schildert. Nach dem letzten leisen Klopfen
des Des-dur-Rhythmus setzt sofort laut und mitleidlos der
übermässige Dreiklang des-f-a ein und treibt zurück in
die ländliche Tanzscene.
Das Finale (Allegro molto, C, Fdur) setzt in Amoll
ein, so wie der zweite Satz der Sinfonie, das Andante.
Ebenfalls ähnlich wie in diesem Andante hören wir zuerst
nur Bassinstrumente. Es sind diesmal Celli und Contra-
bässe, die — natürlich in tiefer Lage — die ersten 3 Takte
des Themas
AI legr^ molto. Js 126
ji^r^^^^^"'*^^^
:^ G Fl»
^ ' ^1 M II vortragen. Eine Wendung in schwer
Pls G A H B
accentuirten Vierteln führt nach G moll und in dieser Ton-
art fällt das Tutti ff ein und erst über diesen Umweg ge-
langen wir zu der Lesart in der hier das Thema angeführt
ist. Auch sie bedeutet noch nicht die endgültige Form
für den Hauptgedanken des Satzes. Dem Componisten
war eben daran gelegen auch hier Schema und Schablone
zu vermeiden und uns das thematische Material, mit dem
er arbeitet, in seiner Entstehung und als ein Produkt einer
Stimmungskrise zu zeigen. Aus diesem Grunde beginnt
er mit den Bassrecitativen , mit Unmuth und Empörung
mit den harten an Beethoven erinnernden Unisonostreichen
des gesammten Orchester auf den Oktaven von ^ und e,
die dem oben gegebnen Amolleinsatz des Tutti voraus-
gehen. Er bildet eine Scene der Verwirrung und Ver-
zweifelung, die ihren Charakter am bedrohlichsten in
einem hinabstürzenden Achtelunisono äussert. Seinem ff
tc 494 "^
folgt ein piano, der Eile ein Zögern und nun kommt eine
merkwürdige Stelle, die Jedermann an Schubert und an
das Hörn im Andante seiner grossen C dursinfonie erinnern
wird. Auch hier bei Dvorak liegt die Vorstellung einer
Wundererscheinung, eines ,deus ex machina* zu Grunde, der
die wilden Wogen sanftigt und bändigt. Die musikalische
Gestalt, die der Componist dieser Vision giebt ist die einer
liegende Stimme die zehn Takte lang, — nach jedem Ton
eine kurze Pause — immer wieder g angiebt. Die Bässe
steigen drunter von e bis ins grosse g und stützen eine
Modulation, die von e-g-h-des aus tastend und seltsam
schliesslich nach a-cis-c-g gelangt. Damach ein Sammeln
und Ausholen in den Stimmen und nun erst der eigent-
liche, der formal richtige und nothwendige Anfang des
Satzes: das oben angegebene Thema in Fdur, natür-
lich mit einigen Aenderungen in den Motiven: vom zweiten
Takt ab in Achteln, bei der Wiederkehr — die sehr
spannend eingeleitet wird durch ein mächtiges Signal auf
h h — in Vierteln. So schliesst die Themengruppe, die
düster und schwer begann triumphirend, freudig kraftvoll.
Aber dieser Siegeston wird schnell abgedämpft, der Platz
für das zweite Thema
zurecht gemacht.
Dieses führt uns in die Sphäre des Adursatzes im
Andante zurück wenn das auch technisch noch nicht so
gleich zu ergehen ist. Den freien Wiederholungen der
hier mitgetheilten Periode folgt zunächst ein sehr einfacher
Nachgesang aus Accordnoten
= txc
p^k^^=f^^^-^ t I Q^X'' ^ '"1 ""'"
diesem aber die auf dem Nonenaccord ruhende Musik,
mit der in jenem Andante die Vision des Adurthemas
e<? 495 «Oo
verschwand. Ganz natürlich also, dass diese Stelle, als sie
geendet — zunächst einen Allarm erregt.
Die Durchführung des Satzes beginnt damit. Das
Haupttheroa tritt in C moU auf. Bald tritt das Motiv mit
den punktirten Achteln — siehe den zweiten und dritten
Takt des Hauptthemas — in den Vordergrund. Es fugt
sich — beim Eintritt nach Asdur — zu einem Sätzchen,
das an Wiener Tanzweisen köstlich erinnert. Jener oben
angegebene Nachgesang des zweiten Themas und die weh-
mUthige Abschiedsmusik aus dem Andante treten an seine
Stelle. Wiederum grosser Aufruhr als sie geschlossen,
das hüpfende Motiv sucht sich vergeblich durch den
dramatischen Lärm des vollen Orchesters durchzukämpfen.
Die Hörner schleudern ein Machtwort drein und durch die
erzwungene Stille zieht langsam, (tempo Andante), von Oboe,
dann von Clarinette geblasen, der Anfang des Hauptthemas
dahin. Im Trauergewand nimmt der Dichter den letzten
Abschied von seinem schönsten Ideal, von der Erinnerung
an jene Himmelsgestalten des Andante. Die Keprise be-
ginnt mit einer geistreichen Variation. Ein einfaches ge-
stossenes Achtelmotiv mit dem von Tonart zu Tonart
rüstig fortgeschritten wird, ist das neue Element. Dann
kommt das Hauptthema wieder wie im ersten Theil des
Pinale, endlich in der Haupttonart : F dur. Die Gruppe des
zweiten Themas ist einigermassen erweitert, sie schliesst
wieder mit Nachgesang und mit der aus dem Andante
entnommenen Trennungsmusik. Aber diesmal bricht kein
Tumult aus, sondern es schliesst sich das fronmie Ende
des Einleitungsthemas des ersten Satzes an. Immer
freudiger wird nun der Ton, in dem das Hauptthema (in
F) wieder aufgenommen wird, immer pastoraler und in
den zwölf letzten Takten stehen wir vor dem Anfang der
Sinfonie. Glänzend intonirt die Posaune das erste Thema
des ersten Satzes.
Dvoi'ak's vierte Sinfonie (Gdur op. 88) ist in A. Drofak
England erschienen und vielleicht schon aus diesem Grunde Vierte Sinfonie,
weniger bekannt geworden. Es stehen ihrer Einbürgerung
und Verbreitung jedoch auch innere Schwierigkeiten gegen-
^ 496 ^
über: Sie ist den Begriffen nach, an die die europäische
Musikwelt seit Haydn und Beethoven gewöhnt ist, kaum
noch eine Sinfonie zu nennen, dafür ist sie viel zu wenig
durchgearbeitet und in der ganzen Anlage zu sehr auf
lose Erfindung begründet. Sie neigt zu dem Wesen der
Smetana*schen Tondichtungen und dem von Dvofak's eignen
slavischen Rhapsodien. Die wahre Freude an dem Werk
bleibt den Landsleuten des Componisten vorbehalten, die
in dieser und jener an sich nur bescheidnen Melodie ein
Stück theuerster Cultur erleben.
Der erste Satz (Allegro con brio, C, Gdur) wird
von einer elegischen Weise in G moll eingeleitet, die durch
den vollständig Schubert'schen Schluss mit der Auflösung
nach Dur am meisten fesselt. In der Mitte drängt sich
ein Marschmotiv:
J JJ|J. /7|JJJJ|eJ. bervor. Dieser Ein-
leitung, die sich hauptsächlich auf Cello und Hom stützt,
folgt die Flöte mit einem Thema in Gdur
das unter den zahlreichen Ideen, die dem Componisten
während dieses Satzes durch den Kopf ziehen , die erste
Stelle einnimmt. Nächst ihm gelangt das Marschmotiv
zur grössten Bedeutung. Nachdem das zweite Thema mit
seinem Gefolge vorbei ist, kehrt die Einleitung in Moll
wieder. Diese Stelle ist die bemerkenswertheste im Satze.
Ihr folgen Durchführung und Reprise ohne nennenswerthe
Beweise von Inspiration oder künstlerischer Energie.
Der zweite Satz (Adagio, "Z^, CmoU) ist der originellste
der Sinfonie und einer der eigensten überhaupt, die wir
Auf diesem Gebiete haben. Feierliche Kirchenmusik,
Serenaden, von fem her kecke Marschklänge — ganz
disparate Elemente schliessen sich da höchst glücklich zu-
sammen.
co 497 o»
Der dritte Satz (Allegretto grazioso, '/g, Gmoll) hat
zum Hauptthema eine Melodie von sehr breitem Wurf und
einem Charakter, der sich ganz für den Hausschatz der
älteren Romantik eignen würde. Als Seitenthema folgt
ihr eine chromatisch beginnende Weise, die in einem etwas
halsstarrigen Canon durchgeführt wird. Der beste Theil
des Satzes ist das Trio in Gdur. Seine Melodie hat
Kinderaugen. Das Finale (Allegro ma non troppo, */« G dur)
wird von einem sehr anspruchsvollen Trompetensolo ein-
geleitet, das uns wohl zu einem Nationalfest ruft. Volks-
spiele in Gestalt von Variationen über eine Paraphrase
des Hauptthemas vom 1. Satze — siehe das erste Noten-
beispiel — füllen es zum grössten Theil aus.
Eduard Hanslick fasst in seinem Neuesten Buche:
,Fünf Jahre Musik* einige Kammercompositionen Dvoifak^s
als des Componisten , Amerikanische Musik" zusammen.
Das HauptstUck dieser Abtheilung zu sein darf Dvorak*s A. Drofak
neueste, seine fünfte Sinfonie (Emoll, op. 95) bean- '*^°'*« Sinfonie,
spruchen. Sie führt oft'en den Titel »Aus der Neuen
Welt*. Ein Programm will diese Bemerkung wohl kaum
bieten, die Sinfonie malt und schildert nur sehr bescheiden.
Sie sollte den Freunden Dvorak's ein Lebenszeichen bringen,
die Fragen nach seinem Thun und Ergehen nach echter
KUnstlerart nicht mit Reden und Worten, sondern mit einem
Stück seines besten Lebens beantworten. Da kann sich
Jeder überzeugen ob er noch der Alte im fremden Lande
geblieben. Spärlich und nicht gerade imposant konmien
einige neue Eindrücke zum Vorschein, die die New- Yorker
Zeit in Seele und Phantasie verursacht hat; mächtiger
schlägt aus dem originellen Künstlerbrief die Sehnsucht
nach der alten Heimath, die Liebe die ihn an der Väter
Sitte bindet, hervor.
Einen äusserlich greifbaren Niederschlag des Ameri-
kanischen Aufenthalts bietet die Sinfonie in einer Handvoll
aus der Volksmusik der Neger oder der Indianer stammen-
den Originalmelodien, die in den einzelnen Sätzen des
Werkes verstreut und versteckt sind. Der amerikanische
Neger hängt mit der Musik fast ausschliesslich durch den
Kretxschmar, Führer, I. 83
^ 498 'o*
RhythmuB zusammen ; bei weitem höher stehen die Indianer-
weisen. Ihnen begegnen wir deshalb auch häufiger in
Instrumentalcompositionen der jungen amerikanischen
Schule ; auch Heinrich Zöllner hat in einem seiner letzten
Chöre, dem , Indianischen Liebesgesang* eine sehr hübsche
Probe davon gebracht. Dass ein Vertreter nationaler
Elemente in der Kunstmusik wie Dvorak Volksweisen
überall wo er sie findet theünehmend und liebevoll be-
handelt, versteht sich ohne Weitres. Wenn wir trotzdem
sehen, dass aus dem amerikanischen Material in dieser
Sinfonie nicht viel geworden ist, so führt diese Thatsache
zu der Vermuthung: dass die Natur dieses Materials dem
Wesen der Sinfonie zu fremd gegenüber steht.
Der erste Satz beginnt in einer langsamen Einleitung
(Adagio, */g, Emoll) mit nachdenklichen durch Syncopen-
rhythmus gezeichneten Motiven, die leise von den Cellis
zu den Flöten ziehen. Plötzlich setzt das Streichorchester,
an das Syncopenmotiv anknüpfend, unisono im ff ein , die
Pauke dröhnt, scharf fahren die Bläser auf, die Harmonie
ist von Emoll nach Bdur gesprungen. Es muss etwas
Bedeutendes vorgefallen, eine grosse Wendung eingetreten,
ein wichtiger Entschluss gefasst sein. In der neuen Tonart
treten neue Motive auf: die Bedenklichkeit (in den Holz-
bläsern) wird vom Wagemuth (Celli, Bratschen, Homer)
vertrieben. Die aufsteigenden Töne dieses zweiten Motivs
künden das Hauptthema des Allegros ("^/„ Emoll) an, das
nach wenigen Takten eintritt. Seine vollständige Gestalt
Allegro mfilto. J = 136
ruht in der ersten Hälfte auf dem Klang des zweiten Horns,
in der zweiten auf Clarinetten und Fagotten, spricht in
jener grosses Sehnen und Erwarten, in dieser Behagen und
Befriedigung aus. Die nächste Wiederholung, an der
Spitze die Oboe, führt nach Gdur, und sofort mit Trug-
schluss nach H dur. Von da an setzt es mit der ersten
Hälfte allein zu neuen Sätzen an; die Stimmung schwingt
c<? 499 ^
sich auf und es kommt zu einer neuen Wiederholung des
Hauptthemas in seiner Originaltonart, im fff. Im Triumphe
zieht es vorüber, gefolgt von einer Kette froher Gefühle
über das leitende Motiv der zweiten Themenhälfte gebildet.
Ehe man es erwartet, wird abgebrochen ; der freudige Ton
wird schwächer, zögert und schwankt. Wir stehen vor
einem psychologischen Vorgang wie ihn Jeder jeden Tag
erlebt : Eine Fülle innerer GefUhle schwindet plötzlich vor
einem Eindruck der das äussere Auge getroffen hat. Die
kleine Barbarenmelodie
Fl.a.ob. ^^ ^^
^ i r ; r r r ; ^ t"
ist in Sicht gekommen. Alles was Dvorak bisher gegeben
hat, konnte in Europa heimisch sein; diese Tanzweise
fuhrt uns zum ersten Mal in die neue Welt, wenigstens
auf einen der Kultur entrückten Boden. Das sagt uns vor
Allem das f an Stelle des fis. Wo der Leitton aufhört,
da beginnt das Naturvolk oder das Alterthum. Der fremd-
artige Charakter der Weise wird aber durch Nebenum-
stände noch unterstützt. . Da ist das Hom , das die ganze
Zeit d in Vierteln giebt. Auch in den Violinen zittert
und schillert dieses d. Als das amerikanische Thema zum
ersten Male erscheint, da hat der Componist noch nicht die
Absicht sich ihm gefangen zu geben. Die Flöten und
Oboen bringen es als Contrapunkt, als Begleitstimme; die
geistige Fuhrung liegt, wenn auch nur leise, noch in der
Clarinette. Aber schon nach 8 Takten ist das anders. Da
kommt die Melodie der Wilden in die zweite Violine und
bringt ihren ganzen aus der Heimath gewohnten Musik-
apparat mit : die liegenden Stimmen und die Quintenbässe.
Und nun ist auch die Phantasie des Tondichters auf eine
weite Strecke ganz von diesen drolligen Motiven in Beschlag
genommen. Er sucht sich ihrer mit einer ernsten Bass-
weise zu erwehren aber drüber spielen die Sechzehntel
weiter und in den Holzbläsern kommen gar neue Motive
83*
cc 500 '^
dazu, die mit Pralltrillem und kecken Rhythmen des Abend-
länders zu spotten trachten. Die lustige Weise war nur
ein Vorläufer; in das eigentliche amerikanische Musik-
wasser kommen wir erst mit dem zweiten Thema das die
Flöte in Gdur bringt
P
Mit ihm schlicsst auch der ganze erste Theil des Satzes,
die Themengruppe sofort ab.
Die Durchführung beginnt, indem sie an das Ende
des zweiten Themas anknüpft, auf dem übermässigen Drei-
klang g-h-dtSj der 12 Takte lang immer leiser gehalten
wird : Der Dichter, von den neuen Eindrücken überwältigt
und verwirrt, schlummert ein. Wie im Traum tritt nun
in seiner Seele das Entlegenste zusammen: der Anfang des
zweiten Themas und der Schluss des ersten. Dann kommt
dieses zweite Thema — jetzt in Adur und Amoll — in
einer närrischen Verkürzung und zerrissen, die erste Hälfte
in den Cellis, die zweite in den Holzbläsern, unaufhörlich nach
vom. Die Combination von erstem und zweiten Thema kehrt
wieder. Dann stellt sich der Anfang des Hauptthemas
mit ein und sobald es sich gezeigt ist der Traumcharakter
für eine Weile preisgegeben. Jedes der aus seinem Zu-
sammenhang gerissenen Elemente sucht sich durchzusetzen
und mit Gewalt zu behaupten. Das giebt eine Art Rüpel-
scene mit grossem Lärm. Erst am Schluss der im Ganzen
knappen Durchführung wo das Hauptthema entschieden
die Oberhand gewinnt, tritt wieder Kühe und Klar-
heit ein.
Die Reprise verläuft regelmässig bis auf den im-
wesentlicheu Umstand, dass das zweite Thema in Asdur
steht. In der Coda lässt Dvorak zweites und Hauptthema
gleichzeitig spielen : jenes in den Trompeten, dieses in der
Altposaune. Der ganze Schluss ist in Farbe und Harmonie-
haltung sehr glänzend und rühmt den Freunden in der
Heimath die „Neue Welt" im Superlativ.
Der zweite Satz (Largo, C, Des dur) ist wohl derjenige,
^ 501 ^
der bei den meisten Zuhörern der Sinfonie einen dauernden
Platz in ihrer Erinnerung erobert. Er ist von der eigen-
thUmlichen, ruhigen und träumerischen Schönheit, durch
die uns zuweilen Bilder der Wüste, der Steppe, der Pussta
80 mächtig ergreifen. Die Stille und die Grösse der Seh-
fläche und der unbestimmte Glanz der drüber liegt, wirken
gemeinsam Phantasie und Sinne zu nähren und noch mehr
zu reizen. In der Musik finden wir die Seitenstücke zu
dem Satze Dvorak's am nächsten bei Borodin und Rimsky
Korsakoff. Es handelt sich um einen neuen Ton, dem sich
Ton den Aelteren nur Liszt in seinen Ungarischen Rhapso-
dien nähert. Dvorak hat vielleicht Eindrücke der Prairie
in seine Largo gemischt.
Der Satz beginnt ,wie Orgelton und Glockenklang*
mit feierlichem, breiten Accordenvorspiel der Messingbläser.
Darauf setzt das englische Hörn zu folgendem Ge-
sang an:
Largo. J = 62
Des Des F Ges. Ab.Deä
Das ist die Stimme des Gottesfriedens, der heitern
Andacht, der kindlichen Unschuld, erhebend und lieblich
zugleich. Der Satz wird unter Mitwirkung von Clarinetten,
dann Fagotten zu einem bescheidenen Lied von 16 Takten
erweitert. Da kehren die einleitenden Accorde, jetzt in
den Holzbläsern, zum Abschluss wieder. Darauf nehmen
die Violinen das Thema zu einem kleinen Satz der dem
Mitteltheil des dreitheiligen Liedes ungefähr gleicht und
das Schlusswort hat das englische Hörn. Ihm nach giebt,
wie im fernsten Echo, das Hom con cordini die Motive des
ersten Taktes noch einmal. Dieser bis hierher reichende
erste Theil des Largo ist in Desdur geblieben. Der zweite
setzt in Cismoll ein. Sein thematisches Material besteht
aus mehreren Stücken.
Das erste Stück wird vom folgenden Thema ge-
bUdet:
cG* 502 ^
Ud ppcp plu mosso.
^f^ Es bringt von aussen her, ähnlich wie die
E— eis
Gmoll-Melodie des ersten Satzes der Sinfonie, Bewegung
in die bis dahin feierlich ruhige Scene. Als zweites Stück
folgt ihr ein langsamer Gesang in den Clarinetten
Oo poco meno mosso.
Ersichtlich ziehen Schatten durch ihn. Glich dasDesdur-
Thema einem Dankgebet, so dieses einer Bitte um Schutz
vor Gefahren. Ziehen wir aber die Erregung mit in Be-
tracht, die sich in den Rhythmen der begleitenden Streich-
instrumente ausspricht, ferner den leisen Ton in dem der
Satz gehalten ist, drittens den deutlichen nationalen An-
klang in der Melodie, so dürfen wir den Abschnitt wohl
auch auf Heimathserinnerungen des Componisten deuten.
Das eine schliesst in diesem Fall das andere nicht aus.
Was der Poesie versagt ist, verschiedue Vorstellungen und
Empfindungen mit einander in der gleichen Sekunde zur
Anschauung zu bringen, — die Musik kann es.
Die von diesen beiden thematischen Stücken gebildete
Gruppe wird, und zwar in derselben Tonart, wiederholt.
Der Hauptunterschied ist , dass jetzt die Violinen führen.
Zu dem Triolenthema bringen die Holzbläser nachahmende
und verstärkende Contrapunkte. Wie das bei Wallfahrten
häufig vorkommt, dass sich an die religiösen Ceremonien
ein bunter Jahrmarkt anschliesst, so folgt jetzt dem CismoU-
Theil ein dritter Abschnitt unsres Largo in Cisdur, dessen
Charakter durch das ihm zu Grunde liegende Thema
co 503 '^
genügend gekennzeichnet wird. Es läuft erst durch die
obern Holzbläser, dann nimmt es das Streichorchester auf
und treibts mit ihm zu einer wilden, bachantischen Lustig-
keit, die sich mit der Schnelligkeit entwickelt, in der nur
Naturvölker ihre Empfindungen wechseln. Die Trompeten
setzen das Tüpfelchen auf das i des tollen Spucks. Sie
sind es aber auch, die schon im nächsten Augenblick der
aus Rand und Band gerathnen Gesellschaft der Instrumente
wieder den ernsten Zweck der Versammlung zu Gemüthe
führen. In einem unerwarteten A dur (unmittelbar auf die
Cis dur-Accorde) bringen sie den Anfang des Hauptthemas
des Largos, des Des dur-Themas. Es folgt in seiner Ori-
ginalgestalt und vom englischen Hörn gesungen diesem
Appell auf dem Fusse. Als es die Geigen aufnehmen, macht
sich — in drei Fermaten — ein wundersames Stocken be-
merkbar. Der Satz verklingt poetisch als wenn sich Nacht
übers Land breitet. Ganz nahe am Schlüsse hören wir
auch noch einmal die feierlich langsamen Bläseraccorde.
Das Scherzo der Sinfonie (Molto vivace, '/4, Emoll)
entfaltet in seinem Hauptsatz einen harten Humor. Diese
Härte beruht weniger auf dem melodischen Thema des
Molto vivace. d<r80
Satzes i%t ^J^-f-r M^ T 1^4^?) ^ H als auf
P
der Einkleidung, die ihm der Componist giebt. Mit einigen
erschreckenden Schlägen meldet es sich in den einleitenden
Takten, lässt seine ersten Achtel befremdend, zügellos
durch die Streichinstrumente sausen, erscheint dann endlich
vollständig aber auf einem gänzlich unbefriedigenden
Accord, (auf der Dissonanz h-d-e-g), so wie es die russischen
Melodien zu thun pflegen. Als es zum zweiten Male seinen
Weg sucht, stellt sich ihm die Clarinette rechthaberisch
und ungeberdig entgegen. Dann hat sich wieder das Tutti
des Streichorchesters in einem übermässigen Dreiklang
verfizt und als es endlich in die richtige Harmonie ge-
kommen ist und im ff die Unglücksmelodie durchdrückt,
stellen wieder die Hörner mit ganz querköpfigen Tönen
e<? 504 ^
alles Erreichte in Frage und finden leider bei den sämmt-
liehen Hokbläsem Unterstützung. Nur die Bässe führen
unter diesen Umständen die Absicht mit dem Scherzo-
thema durch. Aber nachdem der Form soweit genügt ist,
lässt man es allgemein fallen. Ganz wieder allen Brauch
tritt schon jetzt das Trio ein, ein etwas langsam ge-
haltuer Satz in Edur mit folgendem Hauptthema
Seine beiden ersten Noten erklären uns warum der
Satz bisher so wunderlich verlaufen, warum der Scherz
in einen Streit ausgeartet ist. Der zweite Satz, das schöne
Largo beherrschte noch die Phantasie und was hier in
diesem Trio in den Holzbläsern, später im Cello gespielt
wird, ist ein Anklang, ein Nachklang seines Des durthemas,
der Melodie des englischen Homs. Doch lange dauert
der Frieden dieses Trios nicht. Dem Cello wird die übliche
zweite Periode gar nicht vergönnt. Das Thema des Haupt-
satzes setzt wieder ein im dreifachen p und in Edur.
Aber bald wird das Wetter schlecht: ein verzweifelt vor-
wärts schiebender Uebergangs- und Modulationssatz, bei
dem die Trompete eine sehr wichtige Rolle spielt bringt
uns wie im Flug wieder nach £ moll und gleich an die Stelle
wo die Homer das ff des Hauptthemas so heftig bestritten.
Sie haben jetzt auch die Bässe auf ihrer Seite und es
kommt zu einem schnellen Schluss, oder vielmehr einem
Abbrechen. Es ist still geworden. In den Bläsern hören
wir wie einen Wehruf wiederholt : c Ä, die Geigen intoniren
dazu wie stumpf und mechanisch das Quintmotiv, mit dem
das Thema des Hauptsatzes beginnt. Da werfen die Celli
und nach ihm die Bratschen in die allgemeine Rathlosig-
keit das Hauptthema des ersten Satzes der Sinfonie hinein,
auf das vor dem letzten Sturm, wohl unbemerkt, die Bässe
schon einmal angespielt haben. Jetzt thut es seine Wir-
6<? 505 ^
kung. Es beginnt ein friedliches Spiel um folgende ein-
fache Tanzweise
Mdito vlrace. J. : sO
J'ii ii ii' II I'" inrnrpf irTfuTi ii
die uns wieder in die deutsche Volksmusik, wieder in die
Nähe von Dvorak's grossem Ahnherrn Franz Schubert
führt. Dem C dursatz , mit dem dieses neue Thema be-
ginnt folgt eine Fortsetzung in G mit weitem hübschen
Motiven als zweiter Theil und dann kommt der C dursatz
wieder. £s handelt sich also in der Composition unseres
Scherzos um die Einschiebung eines dreitheiligen Lied-
satzes an die Stelle einer etwaigen Durchführung. Durch
diese Einschiebung, weiter durch die Vorschiebung des
Trios, durch die Aufnahme von Themen aus dem zweiten
und ersten Satz hat aber Dvorak seinem Scherzo einen
ganz ausserordentlich individuellen Charakter gegeben.
Das hergebrachte Formenschema ist zwar benutzt worden,
aber die Formen haben eine ganz unerwartete Bedeutung
und Stellung erhalten. Der eigentliche geistige Hauptsatz
ist der C dursatz geworden, den wir eben verlassen haben.
Dvofak hat seine wiederholt gerühmte Kunst der poeti-
schen und dramatischen Belebung Beethoven'scher Formen
wiederum glänzend bewiesen. Man kann nur wünschen,
dass dieser Beweis auch als Muster dienen möge!
Die Coda des Satzes ist vorzugsweise dem Haupt-
thema aus dem ersten Satz der Sinfonie gewidmet; ganz
am Schlüsse spielt die Trompete noch einmal auf den
eingeschobnen C dursatz an und bekräftigt damit die
Wichtigkeit die er in dem nun beendeten Satz ge-
habt hat.
Das Finale der Sinfonie (Allegro con fuoco, C, E moll)
beginnt in einem ähnlichen Balladenton wie der Schluss-
satz von Gade's C moll- Sinfonie. Auch thematisch fühlt
man sich an dieses Werk erinnert wenn das Hauptthema
wie folgt einsetzt:
c(? 506 ^
Allei^ro eoo fuoco. J : tß2
f>nr rrir'nr H-f^f+h^-fK^r ir'pr i
>/^Horoer a. Trompeten.
^
1 . Ueber den Charakter der in-
dianischen Kriegsmelodien wie sie etwa Baker mittheilt*),
geht es mit grossem Schwung hinaus. Es könnte ein Kampf-
lied der Puritaner aus den Unabhängigkeitskämpfen sein.
Nachdem das volle Orchester die Melodie abgeschlossen
hat, findet ihr Siegesmuth einen weitern, nicht mehr feier-
lichen, sondern kräftig weltlichen Ausdruck im folgenden
Thema, das seine fremdländische Abstammung durch drei-
taktiges Metrum kundgiebt
'M^^kä^^
Zum zweiten Male in der Haupttonart, EmoU, gebracht
verliert es sich auffallig schnell. Die Harmonie sitzt auf
dem verminderten Septaccord cis-e-g-b fest; zu den vielen
allarmirenden Elementen die an der Stelle zusammen-
kommen, steuert auch das Schlagzeug bei. Wie geister-
haft tritt als zweites Thema des Finale der Gesang der
Clarinette ein
4^igrgiiij3
dim.
^ aim.
Er bedeutet Heimweh, Sehnsucht nach Vaterland und
Freunden, den Entschluss zur Rückkehr in die alte Welt.
Wenn wir es aus dem Thema selbst nicht verstehen sollten,
^) Th. Baker. Ueber die Masik der nordamerikanischen
Wilden. Leipzig 1882.
<o 507 "^
aus dem schmerzlichen Einsatz, 80 sagt es uns das Motiv das
im 6. Takt begleitend einsetzt. Das stammt aus Dvofak's
letzter Sinfonie, aus seiner vierten, seiner böhmischen Sin-
fonie. Diesem elegischen Thema der Clarinette, das die
Violinen bald aufnehmen, schickt Dvorak einen fröhlichen
Nachfolger hinterdrein
.jL^J^-f^uHi
Sein letzter Takt trägt in Ubermüthiger Färbung langhin
die Fortsetzung, bis ihn zuletzt der Fagott mit dem Cello
vereint, leise aufnimmt und das Motiv ins humoristische
wendet. Ein wenig klingt es ja auch an den Mitteltheil
des Cdursatzes im Scherzo an.
In der Durchfuhrung wechselt zunächst dieses Motiv
der Heimkehr — wie wirs wohl nennen dürfen — mit
Bruchstücken der amerikanischen Themen des Finale. Dann
setzt in F dur die schöne Hauptmelodie des zweiten Satzes
der Sinfonie, das Largo ein, tritt glänzend und glänzender
heraus. Daneben stellt sich dann der Anfang vom Haupt-
thema das Finale, plötzlich tritt das Homthema herein
mit dem die Sinfonie begann: das Motiv der Erwartung.
Jetzt gilt es wohl der Heimreise. Noch eine Weile streiten
sich im Gemüthe des Componisten und in der Durchführung
Alte und Neue Welt. Dann erscheint im Meno mosso des
Hauptthema das Finale piano von der Oboe in tiefer Lage
und vom Hom geblasen, bald darauf das zweite Thema,
das Thema des Heimwehs in Edur. Der Abschied ist ge-
nommen, der Entschluss zur Rückkehr gefasst und ent-
schlossen, freudig wird er ausgeführt.
Unter den weitem böhmischen Beiträgen zu Sinfonie
und Suite erregen die Arbeiten von ZdenkoFibiöh des- Zdeako FiblJh
halb das Interesse, weil dieser Componist durch Ouvertüren Sinfonie in Et.
und ähnliche einsätzige Werke ein starkes, in der Erfindung
hervorragendes Talent bewiesen hat. Von seinen zwei
Sinfonien ist nur die zweite (in Es dur) in Deutschland be-
kannt geworden, hat sich jedoch nur wenig verbreitet.
c<? 508 ^
Das liegt wesentlich an ihrem ersten Satz. Dieser setzt
mit einem breiten Thema ein:
ADegro modento.
Hörn er.
Holxbriser.
^
das den Ton einer erhabnen Naturode anschlägt, an
Wagner^s Vorspiel zum Rheingold und an ähnliche Ton-
oder Wortdichtungen erinnert, die auf langgeschwung-
nen schönen Wegen zu einem mächtigen, unvergesslichen
Höhepunkt fuhren. Wir sind in einer Stimmung wie in
der Morgendänunerung. Der Sonnenaufgang kommt aber
nicht in dem Satze. Es fehlt ihm eine grosse, klare Ent-
Wickelung, sogar in der äussren Gliederung bleibt er etwas
verwischt — hat nur präludirenden Charakter und ist für
seine Natur zu lang. Dass die Absichten des Componisten
weit gingen, ist daraus zu ersehen, dass er nicht blos das
erste Thema des Satzes, sondern auch das an und für sich
nicht bedeutende, vom folgenden Anfang aus
"ßy^^ f^* f f ^ I ' I sequenzenmässig weiter ge-
führte zweite Thema in die spätem Sätze hineinzieht.
Diese enthalten sehr viel Frische, Kraft, Poesie und Kunst
und lassen es bedauern dass der Anfangssatz der Sinfonie
nicht besser gelungen ist. Das nationale Element tritt bei
Fibich in diesem Werke gänzlich in den Hintergrund; nur
das Scherzo enthält in dem C moll abschnitt einen Theil,
der auf Volksmusik zurückgeführt werden kann. Deut-
licher verräth seine Sinfonie die Einflüsse Beethoven's,
Mendelssohn'» und Wagner's. Das im Entwurf hervor-
ragende Adagio der Sinfonie, das durch Einfügung eines
mit der , Götterdämmerung* verwandten Marschmotivs aus
e<? 509 '^
dem Elegischen ins Grossdramatische wächst, stellt diese
d^ei Meister dicht zusammen.
Stärker als in anderen Ländern hat sich der Cultus
nationaler Musik in Kussland entwickelt. Es ist erst
durch die nationale Bewegung an die Pflege der höhren
Instrumentalmusik herangeführt worden und hat in wunder-
bar schneller Zeit, obwohl ihm Orchester, Ck)ncerte und
eine Menge der wichtigsten Vorbedingungen zu fehlen
schienen, in ihr sich eine hervorragende Stellung errungen,
aus der vielleicht eine Führerschaft sich entwickelt. An
Fruchtbarkeit und Charakter ist die russische Schule schon
heute die erste. Insbesondre geht ihre Orchestercomposition
vollständig in volksthUmlicher Arbeit auf und selbst die-
jenigen Componisten, deren Bildung eine entschieden west-
liche und internationale ist, können sich jener nationalen
Strömung nicht entziehen. Der allgemeine europäische
Musikschatz ist durch die Russen stark mit Temperament
bereichert worden; weniger mit Ideen. Denn die Mehr-
zahl ihrer Tonsetzer bewegt sich in den nationalen
Extremen von "Weichheit und Ausgelassenheit. Für Contra-
punkt und Instrumentation bringen sie eine ausser-
ordentliche Bildung und Begabung mit, die ihrer Musik-
schule grosse Ehre macht. Ihre Leidenschaft für das
aus den Volkstänzen der Heimath gewohnte naturalistische
Varüren muss jedoch auf die Dauer die Form der Sin-
fonie zerstören und bedroht folglich auch den Geist dieser
Gattung wie kein zweites unter den neuen Elementen.
Das patriotische Streben der jungen russischen Tonsetzer
wird durch den Keichthum an heimischen Weisen be-
günstigt, über welche das vielstämmige Riesenreich ver-
fügt. Augenscheinlich sind es die der Cultur femer
stehenden Völkerschaften, zu deren musikalischen Schätzen
sich die Schule besonders hingezogen fühlt. An Ge-
dankengehalt bieten die Weisen dieser Naturvölker durch-
schnittlich wenig: zum kleinen Theil sind es langsame,
auch innerlich wenig bewegte Melodien, aus denen die
Melancholie und die Unendlichkeitsstimmung der Steppe
spricht, vorwiegend aber kurze Tanzweisen, welche sich
"^ 510 'ö^
durch fortgesetzte Wiederholungen desselben Motivs weiter
fristen. Sie halten in Bezug auf melodischen Werth keinen
Vergleich aus mit dem, was die Ungarn und Böhmen auf
diesem Gebiete aufzuweisen haben, und selbst die Melodien
der Skandinavier sind ihnen an Reichthum der Phantasie,
an Freiheit und Mannigfaltigkeit der Form überlegen. In
dieser Beziehung bieten die russischen Allegrothemen der
künstlerischen Behandlung grosse Schwierigkeiten. Aber
diese Nomadenmusik hat andere Seiten, von welchen aus
sie auf die kunstmässige Ck>mposition sehr belebend ein-
wirkt. Sie neigt zu dramatischen Formen und bietet im
rein Klanglichen die erstaunlichsten Originalerscheinungen.
Das Tonleben jener russischen Stänmie, welche an den
Cfem der Wolga, an den Küsten des Schwarzen Meeres
und in den Thälem des Kaukasus dem Krieger- und Hirten-
beruf obliegen, nährt sich von den Klängen der Natur;
ihre Harmonien bilden sie nach dem Vermögen der am
liebsten glissando ansprechenden Balalaika und nach der
Gnade von Instrumenten, welche der sanglustige Reiters-
mann zu Pferde handhaben kann, ihre Accorde werden
nicht von gebuchten Künstlergesetzen geregelt, sondern
vom Zufall, von der praktischen Bequenüichkeit und dem
Streben, sich Gehör zu schaffen, ihre Rhythmen und Metren
wechseln wie die Launen des Naturmenschen. Von daher
kommt in den Orchesterwerken der jungrussischen Schule
der bukolische Grundton, die häufige Verwendung einfacher
und doppelter liegender Stimmen, von daher kommen die
elementaren Ausbrüche ungezügelter Lust, von daher der
Eifer und auch das Glück, mit welchem diese Tonsetzer
ungewohnten instrumentalen und harmonischen Combina-
tionen nachgehen, die naive Freude an dem Wechsel der
Klangfarben, das Behagen, mit welchem sie lange Strecken
ein unbedeutendes Motiv von einem Instrumente zum an-
dern wandern lassen. Von der künstlerischen Seite, in
Bezug auf Phantasie und Form geprüft, sind diese national-
russischen Orchestercompositionen im Durchschnitt erfreu-
lich, theilweise im höchsten Grad fesselnd — immer dabei
vorausgesetzt dass hinter dieser Russischen Musik noch mehr
ce 511 t>»
als hinter der Russischen Litteratur eine von der unsren
wesentlich verschiednen Welt steht. Wie jede in der Bil-
dung hegrifPene Schule, hat auch die jungrussische harocke
und unreife Werke auf ihrem Conto stehen: ungeheuer-
liche Versuche, Stoffe aus der russischen Sage und Ge-
schichte musikalisch zu bewältigen. Aber die Mehrzahl
der Componisten hält sich ungefähr an den Typus, welchen
M. Glinka, der Vater jener Schule, in seiner Kamarins-
kaja, die Europa zuerst mit russischer Instrumentalmusik
bekannt machte, aufgestellt hat : die Stimmung naiv, heiter,
drollig, ausgelassen, von grotesker oder träumerischer Poesie,
die Form besonders gern durch wörtliches Wiederholen
und leichtes Varüren entwickelt. In Deutschland beginnen
jetzt die Arbeiten der nationalen russischen Schule mehr
und mehr Eingang zu finden. Fremd sind uns Dargo-
mijsky undBalakireff geblieben, dagegen hat Rimsky •
Korsakoff neuerdings Boden gewonnen; inunsrerKanmier-
musik ist der jüngste Nachschub der Schule bereits mit
Arensky zu Worte gekommen. Am stärksten hat P.
Tschaikowsky fUr die russische Orchestermusik in den
deutschen Concertsälen gewirkt. Seine ersten hier in Betracht
kommenden Werke sind die Serenade für Streichinstrumente
(op. 48) und zwei Suiten. Die Serenade enthält in ihrem
einleitenden, ersten Satze eine interessante Verbindung von
alter (HändePscher) und neuer (Schumann'scher) Musik.
Ihr zweiter Satz, ein gut imitirter deutscher Walzer, weist
namentlich in den zweistimmigen Solostellen der Violinen
naiv liebenswürdige Züge auf, und ihr dritter, Elegie be-
titelt, zählt in seiner schönen Abendstimmung zu den po-
etisch hervorragenden Stücken der Gattung. Russisch ist
nur das Finale, eine Burleske über ein kurzes Tanzthema.
Sie geht in ihren Scherzen über das Mass hinaus und
streift die Trivialität, ein Fehler, in welchen der durch
Begabung und Bildung übrigens ausgezeichnete Compo-
nist hin und wieder verfallt. Die erste Suite bringt das
nationale Element viel entschiedener zur Geltung. Der
erste Satz durch einige russische Themen und durch
einen geistigen Charakterzug der ganzen Schule: die
P. Tschai-
kowsky
Serenade.
P. Tsehai-
kowskj
1. Suite.
c<? 512 ^
P. TsehAl-
kowMky
2. Suite.
Hartnäckigkeit im Verfolgen kleiner Einfälle. Bald na-
turalistisch, bald gelehrt, versuchen die Instrumente, wie
weit sie es mit dem aufgesetzten Motive wohl treiben
können. Der Walzer unterbricht mit vielen Stringendos
und Kitardandos die behagliche Grundstimmung seines
Hauptthemas. In der Mitte veranlasst das Erscheinen
einer gewöhnlichen Achtelfigur einen wahren Tumult.
Specifische russische Melodien hat der Satz nicht, aber
mehrere der reinen Freude am Klingen von Accord und
Ton gewidmete, schöne Stellen. Namentlich der Ausgang
des Ganzen gehört in diese Kategorie. Der dritte Satz
ist eine echt russische Burleske, welcher fast von Anfang
bis zum Ende ein und dasselbe rhythmische Motiv zu
Grunde liegt fTi J J^ | J. . Mit wahrem Fanatismus feiern
es die Instrumente. Der vierte Satz ist eine gut ge-
dachte Träumerei, in der Form eines Altemativs. Die
beginnende Melodie in AmoU ist national, der Gegensatz
in A dur freie und für die Länge nicht recht ausreichende
Erfindung. An Klangeffekten, Solis von englischem Hörn,
Piccolo, Harfe, hohen Harmonien, rauschenden Mischungen
des Rhythmus ist dieser Satz sehr reich. Der letzte
Satz mischt ein russisches , kurzes rhythmisch gleich-
förmiges Tanzthema mit freien Stellen, deren musikalischer
Gehalt wesentlich auf Accord- und Instrumentationseffekten
beruht. Nicht blos dieser Satz sondern die ganze Suite
entfaltet nach dieser Seite hin eine unverkennbare Ori-
ginalität und äussert eine nachhaltige sinnliche Wirkung.
Eine zweite Suite Tschaikowsky's (op. 53) verfolgt die
in der ersten schon hervortretende Richtung aufe Aeusser-
liche noch bedeutend weiter, bis zu Punkten, wo man
an dem Geschmack des Componisten irre werden muss.
Ein solcher Punkt ist die Nr. 4 der Suite, ein ,Marche
miniature*, in dem mit den Mitteln des Orchesters die
Effekte einer Spieldose nachgeahmt werden.
Die Gegner des Componisten hätten nach diesen Suiten
sicher nicht den Sinfonien die er hat folgen lassen die
Wirkung zugetraut, die sie nach Ausweis der Statistik
cc 513 oa
in den letzten Jahren ausgeübt haben; sie hat wohl
auch die Erwartungen seiner Freunde übertroflFen. Erst
durch diese Werke ist die volle Bedeutung und die Eigen-
thUmlichkeit Tschaikowskys ganz klar geworden. Wenn
jene Suiten Skizzen und Studien auf dem Gebiete der
Stimmungsmalerei und der Schilderung heimischen Volks-
thums gleichen, so sind seine Sinfonien ausgeführte Lebens-
bilder die sich um seelische Gegensätze fesselnd, frei, zu-
weilen dramatisch entwickeln. Tschaikowsky ist diesen
höheren Aufgaben gegenüber in den meisten Punkten der
Alte geblieben : ein Componist ohne eigentliche musikalische
Originalität im strengeren Sinn, wenig wählerisch, zuweilen
gewöhnlich, niemals neu in seinen Ideen, aber eine immer
offne und ehrliche, häufig in ihrer Wärme und Herzlichkeit
grosse Natur. Was aber erst diese Sinfonien an ihm zeigten,
das ist die ausserordentliche stilistische Begabung, die Fähig-
keit in dem alten Formenbezirk der Sinfonie sich ganz un-
gezwungen zu bewegen und jederzeit und nach jeder Richtung
auch ungegangne Wege zu finden, die den ins Auge ge-
fassten poetischen Absichten gut entsprechen. Die An-
regungen, die auf diesem Gebiete Fr. Liszt gegeben hat,
sind von keinem Zweiten so geschickt, so freisinnig und
doch ohne alles herausfordernde Wesen aufgenommen
worden. Zugleich versteht sich Tschaikowsky in seinen
Sinfonien auf die Nietze'sche Kunst alten Gedanken, auch
wenn sie Gemeinplätze sind, durch den Ton des Vortrags
und durch die Einstellung auf den günstigsten Platz
einen Schein von Eigenthümlichkeit und besonderer Tapfer-
keit zu geben. Auch die Reichhaltigkeit und die stets
überdachte Regsamkeit des Orchesterklangs trägt zu der
lebendigen Wirkung von Tschaikowsky's Sinfonien mit bei.
In der Gegenwart waltet der Componist als unbedingte
Grösse; ob ihm spätere Zeiten diesen Platz belassen oder
ob sie ihn auf eine ähnliche Stelle verweisen werden wie
sie die Sudermann und Raupach im Drama einnehmen, wird
wesentlich davon abhängen ob mehr die Freiheit seines
Wesens oder mehr dessen Ungleichmässigkeit, dessen Durch-
setzung mit vulgären Elementen ins Auge gefasst wird.
Kretstohmar, Führer, I. 33
c<? 514 '^
Tschaikowskv's erste Sinfonien scheinen im Dunkel
bleiben zu sollen; zuerst ist seine letzte, die sechste (aus
dem Nachlass) bekannt geworden und hat rückwirkend die
fünfte und die vierte nach sich gezogen. Von dieser vierten,
der Manfred-Sinfonie ist bei den zur Programmmusik ge-
P. TichAl- hörigen Werken geredet worden. Auch die fünfte Sin-
kowiky fonie könnte mit einem gewissen Recht in diese Abthei-
Füufte Sinfonie, lung gestellt werden. Denn auch sie fuhrt ein Programm,
oder wie Haydn zu sagen pflegte? , einen Charakter durch
und bekennt auch äusserlich dass ihre Sätze inhaltlich
enger verbunden sind; ja ihr ästhetischer Werth ruht
hauptsächlich darauf dass diese Musik den Stempel des
wirklich Erlebten und Empfundenen trägt. Aus dieser
Eigenschaft ist auch die Freiheit und theilweise neue
Führung der Form entsprungen. Tschaikowsky ist in der
Weise originell geworden, wie Goethe es empfohlen hat.
Das Hauptthema der Sinfonie das wie ein getreuer
Eckart, wie ein Mentor der seinen Telemach begleitet,
durch alle ihre Sätze mitgeht, trefifen wir schon an ihrem
Eingang. Der erste Satz beginnt mit:
wie mit einem Mahnwort, das ein besorgter Vater freund-
lich und ernst dem in die Welt ziehenden begabten aber
leicht gerichteten Sohn zum Abschied giebt Es klingt
noch eine Weile in der Seele des jungen Wanderers fort;
dann tritt es zurück gegen neue und heitere Eindrücke,
die mit dem ersten Thema des der Einleitung (Andante)
sehr bald folgenden Allegro erscheinen
Allagro coD anim». m^z 104
mm
9
In seiner Vollständigkeit bildet dieses Thema ein ganzes
Lied, dem sich ein lebenslustiger, nach allen Seiten ge-
^ 515 '^
fassten Sinn bekundender Text mit Leichtigkeit anpassen
Hess. An seinen Schluss heften sich sogar einige Schöss-
linge einer wilden Stimmung, die den Charakter des ganzen
Allegro wesentlich mit bestimmen. Es ist das keck, mit
rauhem Humor hinabschlagende Motiv:
und noch mehr sind es Figuren, die sich ihm unmittelbar
anschliessen
die schon zu-
erst übermütig genug klingen und sich später immer stärker
über Gleichgewicht und Ordnung hinwegsetzen. Der oben
angegebene Anfang des Wanderliedes wird nach russischer
Art zunächst freigebig wiederholt, klingt stärker und stärker
und steigert seinen fröhlichen Ausdruck bald bis an die
Grenze der Ausschreitung, stockt da lange Zeit auf dem
Rhythmus JTTD » ^^^* ^° ^^^^^ fff '^^ ^^^ höheren
Grade der Ausgelassenheit über, würzt sie durch Nach-
ahmungen zwischen Hörnern und Geigen, durch Gegen-
bewegungen zwischen letztren und Posaunen und erreicht
wie das Tschaikowsky's Musik gerne hat eine Stufe des
so
unverkennbaren Naturalismus. Hinter ihr erhebt sich aber
sofort die Stimme der guten Sitte, der inneren Einkehr in
einem an seiner Stelle sehr schön wirkenden Gedanken, der
noch das für sich hat, dass er zu dem lustigen munteren
ersten Thema in einem formellen Verwandtschaftsverhält-
niss steht, dass er wie das Bild der Schwester hereintritt.
Er ist der Gegensatz zu
jenem ; aber er ist nicht das eigentliche zweite Thema des
Allegro's im üblichen Sinne. Wir stehen hier vor Tschai-
kowsky als Meister der Form, der überkommne Ordnungen
nicht bricht, aber weiterbildet. Der freundliche Klang des
83*
«<? 516 ^
Deueo Themas wird Bchwächer, stockt und verlischt. Un-
gestüm tritt wieder die laute Lust hervor, xu der die Fröh-
lichkeit des ersten Themas sich entwickelt hatte: Es ruft
herausfordernd £' \ n \ n i. Des ersten Themas
steigende Motive folgen im stürmischen Schritt. Die Fort-
setzung aher konunt anders als man erwartet : eine lehhaft,
aber edel schwärmerische Weise
Sie zieht das vorher angeführte Bufmotiv wieder an,
verbindet sich mit ihm und verklärt sein Ungestüm zum
Ausdruck der Begeisterung. So gleicht der Schluss der
Themengruppe gewissermassen dem Jubel mit dem der
Jüngling seiner Kraft und seines Glückes sicher , die Zu-
kunft begrUsst, die er vor sich liegen zu sehen glaubt.
Die Durchführung führt schnell aus dem hellen D dur,
das das Ende des vorausgehenden Abschnitts beherrschte,
hinweg. Das Bufmotiv wendet sich in fernere Tonarten,
es klingt dunkler und nimmt bald den Anfang des Wandrer-
lieds, des Hauptthemas des Allegros, als Gesellschafter an
seine Seite. Der Weg wird etwas dichter und einsam.
Da kommt mit einem Male wie ein Ueberfall im fff eine
Beminiscenz an die ausgelassne Stelle am Schlüsse des
ersten Themas, wo das volle Orchester auf dem Bhjthmus
J, 3 J tobte. Auch hier wird dieser Ausbruch unge-
zügelter Empfindung wieder durch das schwesterliche Mittel-
thema zurückgewiesen, jedoch nicht endgültig. Zwar ver-
suchen die Instrumente mit dem Anfang des Wandrerlieds
einen wohlgeordneten und in Nachahmungen kunstvoll ge-
führten Gedankenaufbau. Aber in andrer Form schlägt
eine elementar erregte, bacchantische Empfindung immer
wieder durch, nämlich in Wiederholungen des Zukunfts-
motivs das das eigentliche zweite Thema eroffiiete. Sie
werden reichlich und mit äusserster Kraft geboten. la
ihren Sturm braust gelegentlich auch das Wanderlied ein*
mal hinein. Im ganzen giebt die Durchführung noch mehr
als die Themengruppe das Bild einer durch eine Ueber-
fiille von Kraft gefährdeten, einer wenig gebändigten Natur.
Sehr eigenthUmlich setzt der dritte Theil des Satzes, die
sogenannte Reprise, nach dem schönen, breiten diminuendo,
in dem die Durchführung zu Ende geht, mit dem Wander-
thema im Fagott ein. Dieses Instrument scheint hier den
Philister zu verkörpern; seine halb ungeschickte Munter-
keit wirkt wie ein Hohn auf die Scene des gewaltigen, er-
schreckenden Aufschwungs, die eben vorherging. Dem
wird nun ein ehrbares Spässchen, der Genialität wird die
Banalität gegenüber gestellt. Klanglich wirkt der Eintritt
der Reprise, weil eine Strecke lang die Holzbläser allein
musiciren wie ein Gespräch in der Nebenstube. Im All-
gemeinen verläuft der dritte Theil des ersten Satzes ziem-
lich gleichlautend mit der Themengruppe. Das h-eundlich,
weiblich gestinmite Mittelthema tritt diesmal ein, ohne
vorher vom Toben und Aufschlagen harter Eisenfäuste ge-
schreckt zu sein. An die Gruppe des zweiten Thema
knüpft sich eine kleine Episode, die sich scheinbar wie
eine nochmalige Durchführung anlässt; sie dient aber nur
zur Pause vor einen letzten glänzenden Aufzug des ersten
Themas, das allmählich aus der höchsten Extase in die
äusserste Ruhe zurückkehrt und sich endlich ins Geheim-
nissvolle, ins ünhörbare verflüchtigt. Wie hier, so fällt
auch an andren Schlüssen des Satzes und an den Ueber-
gängen die Gelassenheit und die ruhige Breite auf, mit der
sie ausgeführt sind. Das ist in dieser hastigen Gegenwart ein
Zeichen innrer Sicherheit und Gesundheit des Componisten.
Der zweite Satz der Sinfonie (Andante cantabile, "/g,
D dur) steht zum ersten in einem Verhältniss wie die Rast,
wie die Idylle zur Ausfahrt. Die schöne Hommelodie, die
nach einigen stillen an Orgelklang und Kirche erinnernden
Accorden einsetzt
AOfdant« cantabile. J«: 64
II I iij II LI II
^ 518 "^
gehört zu jenen Gesängen, die wir unwillkürlich auf
innerstes Herzensglück, auf Jugendzeit und Liebe deuten.
Sie paart die Zartheit des geheimen Sehnens, des ersten
Ahnens mit heisser, drängender Leidenschaftlichkeit und
ist in den weichen Vorhalten, die den entscheidenden Zug
ihrer äussren Erscheinung bilden, ein Abkömmling von
Beethoven's Andante der Neunten Sinfonie, in der Schule
Schumann^s erzogen und weiter gebildet. Die Dieterich
und Raff waren lange die Meister in solchen Tongedichten.
Die Weit^rführung jener oben angegebnen Periode dringt
in noch höhere Wärmegrade der Empfindung; der
Nachsatz kehrt mit dem Motiv £Hv jjji | Ji i
zu einer beglückten Verschwiegenheit und Selbstbeherrschung
zurück. Sehr bald folgt diesem Hauptthema, dem Ausdruck
des Sehnens und Begehrens eine Scene, die der Erfüllung
gleicht. Sie beginnt wie ein Dialog
Coo noto. J zß9 j
fh i« I r *^ ^^ Motiv, das hier zur
Oboe
^^
Zwiesprache dient, finden wir, nachdem das Hauptthema
des Satzes sich im Cello noch einmal fast ungestüm hat
vernehmen lassen, erweitert zu
crescendo
f Fji JT*] |i*"J^ I . Das ist also eine Melodie , die
beschwichtigt und zugleich verheisst. Hier wirkt sie wie
die Antwort, die Erhörung, die der Werbung folgt; sie
wird bei jeder Wiederholung glühender im Ausdruck.
Dem eigentlichen Gegensatz zum Hauptthema begegnen
wir in:
Moderato con miid%. W «100 ^^^ .
c^ 519 '^
In diesem Thema spricht der Zweifel, die Sorge vor der
Zukunft and dem Schicksal. Es wird mit diesen trüben
und kleinlauten Gedanken sehr ernst genonmien, Stimme
nach Stimme trägt sie steigernd vor. Als sie eine fast
drohende Gestalt angenommen haben, da erscheint plötz-
lich das Hauptthema des ersten Satzes, das ja wie schon
erwähnt, das Leitthema der ganzen Sinfonie ist, das die
Stelle des guten Geistes im Hause einnimmt. Hier tröstet
es, ermuthigt, hellt wundervoll auf und fdhrt zu einer
Wiederholung der beiden Hauptmelodien des Andante im
glänzenden und triumphirenden Ton, einem Ton der den
Charakter des Rausches, des Selbstvergessens annehmen will.
In diesem Augenblick erscheint das Leitthema der Sin-
fonie wieder: ernst, auf einem Septimenaccord, mit einem
Anflug von Unwillen und Verwunderung, als Warner. Es
geht in einen halb klagenden Ton aus, wie im eignen
Bedauern über die unvermeidliche Strenge und führt zu
einem schnellen, ganz in Abschiedsstimmung gehaltnen
Schluss der Liebesscene.
Der dritte Satz (Allegro moderato, 'Z^, Adur) sagt
uns durch seine üeberschrift : Valse, was er darstellen
will. Tschaikowsky ist merkwürdiger Weise ein Freund
der Walzer, ohne für diese Gattung deutscher Ver-
gnügungen eine besondre, ohne auch nur die ausreichende
Begabung zu haben. Dieser Walzer seiner fünften Sin-
fonie tritt merkwürdig hinkend und stockend auf, wie die
Metren des Hauptthemas
^ Allegro moderato. J s 188
allein schon zeigen. In dem dichterischen Plan der Sin-
fonie hat diese Tanzscene wohl die Bestimmung eine
Stunde der Verführung vor unsre Phantasie zu rufen. Der
Mittelsatz der Nummer, der über das Motiv
entwickelt wird, schildert die
c<? 520 "^
Verwirrung, die sich der Seele des Jünglings nähert ^ ihren
bedrohlichen Charakter markirt die Pauke mit aufregen-
den Schlägen. Dieser Mittelsatz hat die Bedeutung des
Trio im gewöhnlichen Menuett und Scherzo. Als der
Hauptsatz wiederkehrt, zieht er die Motive des zweiten
Themas noch eine Weile mit sich. In einer F durstelle,
die kurz gehalten ist, aber sich durch den starken Klang
und den überraschenden Eintritt geltend macht, kommt
Kraft, Aufschwung, Befreiung und das Ende des Tonbilds.
Das Finale beginnt mit demselben über das Leit-
thema der Sinfonie gebildeten Andant«, das ihren ersten
Satz eröffnete. Doch steht es jetzt im hellen Edur, klingt
glänzend und feierlich. Den feierlichen Ton verstärken
besonders einige Takte in breiten Accorden, aus denen
man Glockengeläute zu hören glaubt. Diese Umbildung
der Einleitung der Sinfonie will sagen, dass das in Aus-
sicht gestellte Ziel nahezu erreicht ist, dass das fUr die
Zukunft gegebne Versprechen nun eingelöst wird. Doch
gilt es noch einen letzten Kampf, den der Componist in
einem Allegro vivace (Ip, Emoll) darstellt, dessen erste
Themengruppe mit dem Motiv
AUcgro irlvaeft. J < 120
fftii r Hf r \f n n J^g^anfängt. Es wird
mit seiner Umbildung ^* f ' T MF ^T I f ^ ß^**
ausholenden Perioden verbunden, durch
f}'\ int ifi (Hl fj
schattirt und durch den ruhigeren und friedevolleren
Gedanken '
i* i TTi ' U^ \^'f^r K' Pi^^p\
if Af
ausgelöst, den die Instrumente zeitweilig als Canon fest-
c<? 521 ^
zuhalten suchen. Als eigentliches Gegenthema im Allegro
dient eine Weise, deren Zusammenhang mit dem zweiten
Satze der Sinfonie, mit deren Hauptthema, nicht zu ver-
kennen ist:
f ji |1C iiTii I irrifi in I
y^"pp"|iiJ I ■^' pg^^geto. Die Vorhalte bezeugen
die Verwandtschaft und die Meinung des Tondichters ist,
dass die Liebe den Kämpfer leitet und stärkt. Er schliesst
die um dieses Liebesthema gebildete Gruppe damit, dass
das Leitthema der Sinfonie in triumphirenden Ton ein-
setzt und knüpft daran einige freie, ausgeprägt heroische
Worte der Posaunen und Trompeten. Sie haben zur Folge
dass die Hauptmotive der beiden Allegrothemen noch ein-
mal im kräftigsten und stolzesten Ausdruck durchphan-
tasirt werden; dann folgt die sogenannte Beprise, die
Wiederholung des Thementheils des Allegros, neu ein-
geleitet mit der muthig ausblickenden Zeile:
jfi'i II 'r^^^^''^|^r ir rifTir ■
Nach dem rein musikalischen Werth, gehört dieses Allegro
im Schlusssatz von Tschaikowsky's fünfter Sinfonie zu den
Sätzen, die uns vor der üeberschätzung dieses Componisten
behüten können. Die Erfindung ist gewöhnlich, die Aus-
führung lässig breit und bequem nach der russischen
Methode des unbeschränkten Wiederholens gehandhabt,
die bei Schilderungen aus dem Volksleben, aber nicht hier
am Platz ist. Doch muss man auch hier wieder die Klar-
heit und wohlberechnete Wirkung der künstlerischen An-
lage, des Formenaufbaus anerkennen; die dichterischen
Absichten sind vortrefflich und treten deutlich genug her-
vor. Der Endzweck war das gute Ende des Finales vor-
zubereiten und durch einen Gegensatz zu heben. Dieses
Ende selbst ist nichts andres als der Anfang des Finale,
das Andante in Edur, hier als Maestoso bezeichnet. Im
t^ 522 "^
Stile der Jubelouvertüre behandelt, schliesst es die Sin-
fonie und erhält ein Presto, in dem Themen aus dem
Allegro noch einmal vorüberrauschen, als Anhang und
Krone.
P. Tiehal- Seine sechste Sinfonie (Hmoll) hat Tschaikowsky
kowiky pathetisch genannt. Sie ist das im ersten Satz; im
Sechste Sinfonie.y^gj^gjj und dritten ruhen Leid und Leidenschaften, der
(Pa etique.) g^yugggj^^^ stimmt wider Vermuthen ein schweres Weh-
klagen an.
Wie der erste Satz am meisten dem Programm
getreu wird, so ist er auch der Arbeit und der Anlage
nach der bedeutendste und von starker Wirkung nament-
lich durch klare Gegensätze. Er sucht darzustellen wie
sich eine edle Natur von schwerem Gemüthsdruck durch
Kämpfen, durch Erinnern und Hoffen zu befreien sucht
und bedient sich dazu einer Form, die im Wesentlichen
den hergebrachten Verhältnissen des Sonatensatzes ent-
spricht. Die Eintheilung in Themengruppe, Durchführung
und Reprise ist beibehalten, ein sehr geschickter Tempo-
wechsel giebt ihr jedoch den Charakter der Ursprünglich-
keit. Der Satz beginnt mit einem kurzen Adagio in
Trauerklang: Das Fagott hält die Rede, und tiefe Instru-
mente umstehen es allein; erst am Schluss hört man von
den Oboen einen kurzen Seufzer. Der Spruch der dem
Satz zu Grunde liegt ist das Motiv:
Adagio. Js 64
vr)tj|n jm I J I I . Aus ihm wird folgende Melodie:
Adagio.
gestaltet, sie wird wiederholt; ein Anhang von 6 Takten,
den die Bratsche abschliesst, folgt und damit ist die Ein-
leitung beendet, eine Situation gegeben, die nicht ohne
Klärung bleiben kann. Das Allegro übernimmt sie und
wendet sich ohne Weiteres dem Motiv zu, das den Gegen-
c<?
523
v^
stand der Klagen in der Einleitung bildete,
ihm folgendes Thema:
AJl9gT0 noa troppo.
Es formt aus
jHiin fj I ^-p . I ^.1 f-p '-^^m
Die Bratschen haben es aufgestellt, Flöten und Clarinetten
übernehmen es: es bleibt ihm also zunächst der belegte
Klang, der gedrückte, traurige Charakter. Das wird mit
dem Augenblick anders wo es in die Hände der Violinen
kommt. Die tragen es im Nu nach Dmoll, eilen mit
ihm von Tonart zu Tonart und ins Forte und zur Höhe.
Sie gehen dem Grund der Trauer in höchster Erregung
nach und machen es jedem Hörer schnell klar: warum der
Componist seine Sinfonie pathetisch genannt hat. Wie
aber Tschaikowsky gern die schwere Rüstung bei erster
Gelegenheit mit einem leichteren Gewand vertauscht, so
giebt er auch jetzt, eben in dem Augenblick wo seine
Musik ernstlich leidenschaftlich wurde, diesen Ton zunächst
wieder auf. Mit
'^^Tm I J Ji i[£c^^
beginnen die Instru-
mente für eine Weile zu scherzen; die Wendung
f'^^'lll ii I
in den Vio-
linen, die von den Clarinetten abgekürzt und gemildert
wird in
dient zu einem
längeren Tonspiel, in dem die heiteren, neckischen Grazien
^ 524 '^
von der ToDdichtung Besitz nehmen und die Grenzen
leidenschaftlicher Empfindung nur ganz flüchtig berühren.
Beim ,un poco animando" findet aber der Componiat an der
Hand der Trompete, die mit J^f t (J 'T ^t \ \ V P "
zum Sturm ruft, den Weg zur eigentlichen Aufgabe des
Allegros sehr schnell zurück und entwirft ein kurzes, aber
gewaltig wirksames Bild einer Leidenschaft, die den Gegner
fest packt und nicht vom Platze weicht. Die Harmonie
lässt nicht von ihrem Bass; immer wiederholen sich die
beiden Tone e und es, die Melodieinstrumente rütteln über
zwölf Takte immer nur an demselben Motiv:
^hlTl I J^^^. Endlich bleibt von dem Aufgebot
an Kraft, das das ganze Orchester in aufregende Thätig-
keit gesetzt hatte, das Cello allein übrig und wird ruhiger
und ruhiger. Die Bratschen, die diesen Abschnitt des
ersten Satzes begannen, schliessen ihn mit einer leisen
bangen Frage; Die Antwort kommt in einem Andante,
das in dem ersten Satze dieser Sinfonie die Bolle des
zweiten Themas und seines Kreises einnimmt. Die Wort-
führer der Russischen Schule haben es Tschaikowsky übel
vermerkt, dass er bei elegischen Aufgaben seine Natio-
nalität vergisst. So spricht er auch hier, wo er trösten,
erwärmen, beglücken will, ein unverfälschtes musikalisches
Deutsch. Die Melodie die sein zweites Thema bildet,
könnte wie der Anfang
AndMto. J s 6» ^
!ftr r T^f I 4 ^ J^ r* r! I "^ •^«* beweisst , ganz
gut in Schumann's , Paradies und Peri* stehen; sie fangt
so an wie das Vorspiel dieses Werkes. Auch ihr Mittel-
satz bleibt in diesem Ton:
Aehnlich wie
'^ 525 ^
es mit dem ersten Thema des Satzes geschah, wird auch
dieses zweite zunächst unterhrochen und durch einen Ge-
danken ersetzt, der sich mit dem Programm an diesem
Punkte ebenfalls verbinden und als eine Steigerung der
von dem zweiten Thema eröflfneten freundlichen Aus-
sichten deuten lässt. £r giebt dem Componisten erwünschte
Gelegenheit sich in dem geliebten Gebiete anmuthigen
Tonspiels zu ergehen. Wir hören das neue Thema viel-
fach in nachahmenden Formen; zunächst fuhren Flöte und
Fagott das Gespräch. Der Zusammenhang mit dem Haupt-
gegenstand dieses Theils wird dann bald dadurch herge-
stellt, dass die Holzbläser das Mittelstück des zweiten
Themas in der Form:
aufnehmen und fleissig wiederholend zu dem neuen spie-
lerischen Seiten thema in einen Gegensatz bringen. Sie
verdrängen es und führen zu dem Trostgesang der das
Andante eröffnete zurück. Er kommt jetzt im Glanz des
vollen Orchesters siegessicher und schläfert Sorgen und
Leiden ein. Der Componist theilt das in einem kleinen An-
hang mit, der von dem Einsatz:
^ Moderato astai. J:88.
aus ganz still entzückt verlöscht. Ganz zuletzt stinmit die
Clarinette noch einmal die schöne Trostmelodie im Adagio
an ; sie hört mit ppppp auf. Das ist so, dass »ich der Spieler
kaum selbst noch deutlich hören darf! Generalpause. Und
darauf im ff ein Allegro vivo das mit der Dissonanz c-es-g-a
und mit dem wüthenden Ausruf:
hereinstürzt.
«<? 526 ^
Das ißt ein Aufwachen mit Entsetzen, wie wir es ähnlich
vom Schlusssatze der Neunten Sinfonie her kennen; nur
Btossen Himmel und Hölle hier bei Tschaikowsky ganz
unvermittelt und hart auf einander.
Wir sind mit dieser Stelle in den Durchführungstheil
des ersten Satzes eingetreten. Er hat zwei Abschnitte.
Der erste, dem Anfang entsprechend in äusserster Auf-
regung gehalten, setzt zweimal mit dem Hauptthema des
Allegro (von Dmoll und Emoll aus) zu einer wilden Fuge
an, an der sich jedoch nur die ersten Violinen und die
Bässe betheiligen. Die zweiten Violinen und Bratschen
treiben einander in die Leidenschaft mit dem Thema:
ijJI.'^U-JüJlLU
J(f8^ß9ub.
jjjl »J ^^ !P ^^6 Bläser rufen schrill und
heftig in kurzen Motiven und in liegenden Stimmen da-
zwischen. Als die Erregung die Spitze erreicht hat,
bringen die Trompeten die mittleren Takte aus dem
zweiten Thema jetzt in der Form:
fjjj* ^ r I r 'T I'T f r !'■[■ ^p und im ver-
zweifeltsten Ton. Der Anlauf endet erfolglos und vergeb-
lich, die Posaunen und Tuben stimmen ein Sätzchen au,
das einem Grabgesang ähnlich sieht. Als sich Trompeten
und Homer ihnen anschliessen, wird das Feuer noch einmal
entfacht und es kommt zu einem zweiten leidenschaftlichen
Ausbruch. Auch dieser zweite Abschnitt der Durchführung
erregt und ergreift, aber in einem andern Sinn als der
erste : Dort Ringen, hier Klagen. Er endet in Resignation
und führt so sehr natürlich in den Trauerton zurück mit
dem das Allegro und das erste Hauptthema des Satzes
begann. Die Reprise setzt zunächst im regen Anschluss
an das Ende der Durchführung in B moll ein. Als sie die
Haupttonart erreicht, schlagen die Wogen der Leidenschaft
co 527 '^
schon wieder hoch; das Hauptthema wird Silbe für Silbe
in Nachahmungen wiederholt, es klingt gewissermassen
mit solcher Gewalt hinaus, dass es die Wände widerhallen.
Die abschweifende Episode die im ersten Theile dem
Hauptthema folgte, fällt in der Reprise weg. Das zweite
Hauptthema (jetzt in Hdur) gelangt dadurch zu grosser
Bedeutung und giebt dem Ende des Satzes sein hoffnungs-
volles Gepräge. Ein kurzer Anhang (Andante mosso) über
a AiuUnt« mosso. J s 86
das Thema itfitf J [*■ g^ I [L_f^^ bildet den zar-
ten Schluss.
Im zweiten Satz (Allegro con grazia, W^, Ddur)
macht der Pathetiker dem behaglichen Epikuräer Platz.
Wir haben es hier mit einem ähnlichen Versuch zu thun
einen heiteren Satz an die Stelle des üblichen Adagio zu
bringen, wie ihn Beethoven in seiner achten Sinfonie
unternommen hat. Die Wirkung hat auch hier dem
Componisten Recht gegeben. Der Zuhörer verzichtet nach
dem durchlebten Stürmen des ersten Satzes gern auf hohe
Gedanken und tiefste Gefühle und freut sich über das
trauliche Stillleben, das ihm hier geboten wird. Es fügt
zu seinem Werth als Erholungsstück noch den Reiz einer
musikalischen Seltenheit : es fuhrt den sonst im Wesentlichen
nur für die Gelehrten exbtirenden ^/^-Rhythmus praktisch
durch und löst diese Aufgabe ganz anmuthig. Die Anlage
der kleinen zierlichen Composition ist höchst einfach. Der
Hauptsatz hat als erstes Thema die Melodie
r^iTTTi Hin in am
Sie kommt viermal hintereinander. Darauf folgt ein Seiten-
«atz mit dem von der Hauptmelodie abgeleiteten Thema;
c<? 528 ^
das ebenfalls viermal durchgespielt wird. Darauf kehrt die
Hauptmelodie zurück und erst als sie zum dritten Yorbeizug
ansetzt, wendet sie sich aus D dur hinweg und lässt in den
sittsam und artig gleitenden Reigen einige kräftigere Töne
herein :
t< _ _ . _ _
Die vielen Wiederholungen beruhen ebenso wie der ^j^ Takt
dieses Satzes auf EinÜüssen russischer Volksmusik. Es
muss dem Componisten nachgerühmt werden, dass er in
der Umkleidung der einfachen Figuren mit neuen Klängen
ausserordentlich erfinderisch gewesen ist. Die Wieder-
holungen sind ebensoviele Variationen in der Instmmen-
tirung. Ausserdem liegt aber in der Einförmigkeit, in dem
Festhalten an demselben Phantasiekreise in diesem Falle
nicht blos ein gewisser Balsam, der nach dem ersten Satz
heilend wirkt; es liegt darin auch die Poesie des kleinen
Tonbildes. Denn es ist gedacht als eine Musik aus Väter-
zeiten, gewissermassen als eine altrussische Menuett, als
ein Stück friedlichster und befreiender Erinnerungen. Der
Mittelsatz hat einen absichtlichen ländlichen Beiklang:
Sein Thema
pnnn\or^
und die zu ihm gehörenden Umbildungen und Ergänzungen
ruhen alle auf demselben Orgelpunkt: d im Bass. Es
ist als wenn die Leute aus dem Dorf Besuch auf dem
Schlosse machten. Zierlich wie die ganze Nummer ge-
dacht, verklingt sie in der zartesten Weise.
Der dritte Satz (AUegro molto vivace, ^^/g, Gdur)
hat die äusserst starke sinnliche Wirkung fUr sich: Für
den Klang dieser Composition sind alle Register gezogen
^ 529 ^
vom leisen Säuseln, von den niedlichsten Elfenstimmen bis
zum formlichen Orchesterorkan; die Form entwickelt sich
durch die immer grössere Anhäufung gleicher Glieder
und Bestandtheile nach dem Muster des Heerwurms
zu einem bedrückenden Phänomen. Es hat unstreitig
an diesem Satz ein gewöhnlicher Naturalismus einen
starken Antheil; gleichwohl ist er auch nicht ohne Origi-
nalität und diese liegt darin dass die Gattungen des
Scherzos und des Marsches in ihm sich verbinden. Als
Scherzo beginnt er mit einem Thema:
Alleirro iDolto TlTac». J s 1S9
•tc- das einem Mückentanz oder
irgend einem Freudenfest flüchtigster und heimlichster
Lebewesen zur musikalischen Unterlage dienen könnte.
Man hat seine Freude an diesen hin und herhuschenden
Tönen und merkt darüber lange nicht, dass sich ihrem
Spiel bald nachdem es begonnen hat, ein fremder Gast
beigesellt hat : fc' /] t
Die
Bässe fahren wie in Mendelssohn*s Sommernachtstraum mit
langen Tönen plump drollig dazwischen. Auch Berlioz'sche
Geister kommen in pizzicato- Noten und andren Instru-
mentenfeinheiten aus der «Fee Mab** zum Besuch. £s ist
ein reizendes Stück freundlichster Gespenstermusik, für das
der Componist reiche und belebende Einfälle jeglicher Art
zur Verfügung zu haben scheint. Wir hören Gemüths-
klänge als es zur ersten Wiederholung kommt
gl W T * ^^V^^\i4 I ^ ^ wir hören immer neue Kobold-
laute namentlich von den Bläsern her. Wir hören aber
Kretstchmarf Führer, I. 54
cG^ 530 '^
auch wie das flotte MarschmotiT, das sieb zuerst so unbe-
merkt und klein bereingestohlen hatte, anwächst und sich
nach vorn drängt. Die Violinen bringen es als:
Gleich darauf antworten die Hörner:
Es fängt an anhaltend mit seinem flotten Rhythmus durch
die Bläser zu ziehen und nicht lauge dauert es nun mehr
da sind die Elfen auf die Seite gedrängt, müssen ganz
fliehen und die Musik zieht daher wie ein lustiges fran-
zösisches Bataillon: Ein unverfälschter Geschwindmarsch
ist in neuer Tonart (Edur) eingetreten, dies ist sein
Hauptthema:
i*^ j/i^j,i j^ilj^i <f^ip 'jijjj;!-';,^ I j,
i
Er ist leichtfüssig und leichtherzig, macht aber zur Ab-
wechselung auch grimmige Geberden z. B.:
und zeigt sich barsch und kraftvoll mit:
I J.
Zunächst benimmt
er sich aber im Ganzen so massvoll, wie es dem Trio im
Scherzo geziemt. Er zieht sich zur rechten Zeit zurück
und die Elfen kehren wieder. Doch bleibt es nicht dabei,
sondern der Marsch drängt ein zweites Mal auf den Haupt-
platz und entwickelt nun ein Beharrungsvermögen, dessen
Ungebührlichkeit sich weder mit der Berufung auf die
russische Volksmusik, noch mit dem Hinweis auf die
glänzenden Toiletten die das Orchester anlegt verdecken
ce 531 ^
lässt. Auch mit dem Programm der SinfoDie lässt sich
diese Marschmusik nicht in Verbindung bringen. Sie ist
nicht pathetisch, und auch nicht heroisch wie man behauptet
hat, sondern in ihrem Grundcharakter einfach gewöhnlich,
ungefähr von der Art die Raff einhielt, wenn er reitende
Hexen schildern wollte. An Raff erinnert der Satz that-
sächlich wie Tschaikowskj^s allgemeine Verwandtschaft mit
diesem Componisten eigentlich Niemandem entgehen kann.
Nur ist die Naturfrische des Russen bedeutender und mit
ihr hängt das Farbentalent zusammen, von dem er hier
eine Probe gegeben hat, die die meisten Concertbesucher
zu berauschen und zu überwältigen pflegt.
Mit einem ungeheuer grossen Gegensatz der Stimmung
setzt darauf das Finale (Adagio lamentoso, ^/4, HmoU
ein). In den trauernden Motiven des ersten Satzes barg
sich Kraft und Streben : hier aber erfahren wir aus dem
Einsatz der Geigen:
Adagio l^gentoso. (J r ^^)
Unglück handelt, an dem nichts mehr zu ändern ist. So
hat denn Tschaikowsky den ganzen Satz dem Charakter
einer Todtenklage, eines Requiems genähert und damit
wieder einmal gezeigt, dass die alte Spohr^sche Idee eines
ernsten, verhaltnen Schlusssatzes in der Sinfonie die ja
eigentlich aus Beethoven^s Pastoralsinfonie stammt, au und
für sich sehr wirksam sein kann und nicht einmal einer
tieferen poetischen Begründung bedarf. Es mag Zufall
sein, das Tschaikowsky sich mit Spohr auch unmittelbar
in diesem Finale berührt. Denn der schöne elegische
Gesang den die Bläser zum Mittelpunkt des Satzes machen
W J I j J I 1 ^ I J J I 1 1»^- wird von den Geigen
in einer Melodie begleitet, die mit dem Hauptthema im
Finale der , Weihe der Töne* nicht blos den Charakter
sondern auch die Anfangsnoten gemeinsam hat.
84*
cc? 532 t)»
Der Typus der Sinfonie mit langsamen Schiasssatz ist
an und für sich ja älter als Spohr und Beethoven und hat
ein Jahrhundert hindurch, von LuUj his Gluck, bei den
Franzosen seine Brauchbarkeit und seine Bedeutung be-
währt.
A. Boro4lB In neuerer Zeit ist in Deutschland mehrfach die Es-
Etdor-Sinfoiiie. dur-Sinfonie von A. Boro d in aufgeführt worden und
hat weniger beim Publikum, aber ganz entschieden in den
musikalischen Fachkreisen grosses Interesse erregt. Diese
Sinfonie gehört nach ihrem Stoffe der jungrussischen
Schule inniger an, als dies bei den Arbeiten Tschai-
kowsky's der Fall ist. Sie zeichnet sich durch künst-
lerische Reife und Abklärung aus und scheint deshalb
besonders geeignet, die Bekanntschaft mit dieser für die
Zukunft vielleicht nicht unbedeutenden Richtung zu ver-
mitteln und ein Bild von dem zu geben, was die Jung-
russen wollen, was sie heute schon leisten und was ihnen
noch fehlt. Diejenigen Sätze, welche den Nationalcha-
rakter am schärfsten ausprägen, sind der erste und
dritte; der zweite ist zur Hälfte russisch und der vierte
ganz germanisch.
Der erste Satz beginnt mit einer schwermüthig träu-
merischen Einleitung. Die Bässe stellen die Haupt-
Adagio. ^^
melodie auf: '^ J'i>|.l. il ^ T ^ p I p P J I J^ p r P I T .
welche von den Holzbläsern und Geigern mit auf-
munternden Motiven beantwortet wird. Die Harmonie
deckt die Formen des Gesanges mehr zu, als sie die-
selben hebt. Da wendet sich die Phantasie mit einem
energischen Rucke einer heiteren Sphäre zu; unver-
muthet stehen wir im Allegro. In den Hörnern und Holz-
bläsern beginnt ein helles, munteres Klingen, das nur
auf Rhythmen gestützt ist. Die anderen Instrumente
probiren dazu jetzt zart, jetzt kräftig brausend, Motive
die zu dem neuen Tone passen, und endlich ist Alles zur
fröhlichen Fahrt bereit. Die ersten 26 Takte des AUegro,
welche der Feststellung von Tonart und Thema vorher-
eo 533 f>»
gehen, sind fUr das Wesen der russischen Kunstmusik
charakteristisch: sie zeigen uns ihre Liebe zu den Ele-
mentarkräften der Musik, ihre Freude am blossen Rhyth-
mus und am Accord, ihre Neigung, ohne bestimmten Ge-
dankenpfad, ohne die Stütze fest erkennbarer Motive
durch die klangliche Wildniss zu streifen, den Punkt,
welcher sie mit der Natur verknüpft und von der ge-
sitteten älteren Kunst des Abendlandes unterscheidet,
den Punkt, in dem ihre Stärke und zugleich ihre Schwäche
liegt. Das Thema, welches Borodin nach dem Abschluss
dieser tumultuarischen Scene aufstellt, ist aus der
Melodie der langsamen Einleitung abgeleitet und hat fol-
a) Alle 1^0 molto.
gende Gestalt; j|f>^ TP T plf ^J ["Hpi^^. Auf ge-
wichtige Gegenthemen hat der Componist fast ganz ver-
zichtet. Ein einziges, das öfter erscheint:
b) A Kir j ^J I J ^IjiJ j J " nimmt seinen Abschluss
identisch mit dem des ersten Thema's. Die anderen — unter
denen das Geigenmotiv £ l>% ■ \\, r-r+j—j^
5^
durch seinen festen Schritt bemerkbar — treten nur
episodisch auf. Dem jugendlichen, treibenden Elemente
des Hauptthema wird nur vorübergehend durch eine
sentimentale Wendung Halt geboten. Alles ist in diesem
Satze Bewegung und sprossendes Leben, aber von einer
grossen Gleichförmigkeit der Gestaltungen. Denn diese
ruhen bis auf wenige Ausnahmen alle auf der kurzen
Form jenes mit a) bezeichneten Thema. Es herrscht
Poesie in dem Satze: aber es ist die Poesie der Steppe,
welche uns an den Wechsel von Höhen und Thälern
gewöhnte, stille Plätzchen für's Gemüth liebende Deutsche
zunächst etwas befremdet. Sehr anzuerkennen ist die
Kunst, mit welcher Borodin das führende Motiv immer
wieder in neue Orchesterfarben kleidet und den Satz ohne
^ 534 ^
Stockungen immer leicht im FIuss erhält. Besonders
schön ist der Schluss des Satzes, ein Andantino mit Ab-
schiedsstimmung, durch rhythmische Verlängerungen der
beiden Themen a und b gebildet.
Der zweite Satz, ein Scherzo (Prestissimo '/g Esdur)
hat zum Hauptthema folgende Melodie:
PretttsslBo.
ijjhMt^^^^^ir' \r\r \^-^
=f-^ f i ^' i f ' i T-iP-l^ die aber in Violinfiguren
ver-
steckt und auch wegen ihrer auf die Symmetrie verzich-
tenden Periodisirung schwer zu verfolgen ist. Als Trio
bringt dieses Scherzo eine Art Dudelsackmusik , in der
folgende drollige Melodie durch die Instrumente wandert:
i f_r U ^ \i J J g. Der Satz, welcher als Bild aus
dem musikalischen Volksleben verstanden sein will, ist
mit viel Humor durchgeführt, namentlich das Fagott trägt
viel zu einem heiteren Effekte bei.
Der dritte Satz (Andante •/4 Ddur) zerfallt in drei
Abschnitte. Der erste beginnt mit einem breiten Gesang
Andante.
■f Jj ^f \f J ' den die Celli anstimmen, englisch Hom
=s--ei*. und Flöte fortsetzen. Er klingt eigen-
thümlich melancholisch, und die Verzierungen, die er ent-
hält, deuten auf orientalische Abkunft. In der Harmonie,
die in Dissonanzen still Hegt, herrscht ein merkwürdig
dämmernder Charakter, eine Beklommenheit, der am
c^ 535 ^
Schlüsse dieses Abschnitts ein plötzlicher starker Aufschrei
Luft macht. Der zweite Abschnitt wird lebendiger, die
Violinen betheiligen sich am Gesänge, und in den Blä-
sern zunächst erhebt sich ein rhythmisches Motiv, das
bald näher, bald ferner zu klingen scheint. Es ver-
schwindet wieder, lebt nur noch in den Schlägen der
Pauken fort, tritt dann wieder stärker auf, wächst bis
zur Macht tönender Glocken und erregt einen allge-
meinen Aufschwung. Das Tutti stimmt — wir sind in den
dritten Abschnitt eingetreten — die Melodie, mit welcher
der Satz begann, im Stile einer feierlichen Freuden-
hymne an, und mild und sanft klingt das Andante aus.
Der scenische Charakter dieses Satzes ist nicht zu
verkennen imd lässt verschiedene Deutungen zu. Der
Schlusssatz der Sinfonie, zu dessen Hauptthema
^ft r' p f r '*f ^ - 1^1" J'^-f-t^r^— i SchumanD, zu
dessen Durchfuhrungstheile Mendelssohn die Muster ge-
liefert hat, verlässt den heimathlichen Boden.
Weil sie der russischen Nationalität treuer bleibt, haben
seine Landsleute Borodin's zweite Sinfonie (HmoU) seiner A. Borodin
ersten vorgezogen ; vielleicht ist ihr auch deshalb die grössre Zweite Sinfonie.
Liebe zugefallen, weil sie als nachgelassnes Kind erst nach
dem Tod ihres Vaters (ohne opus-Zahl) vor die Welt trat.
Rimsky • Korsakoff und Glazunoff haben sich der Waise
als Bedactoren und Herausgeber angenommen.
Von einer bedeutenden Zwiespältigkeit ist jedoch auch
diese Sinfonie nicht frei und sie geht diesmal tiefer hin-
unter in das Wesen des Kunstwerks. Waren in der ersten
Sinfonie Borodin*s die Sätze nur nach den Bildungs-
quellen des Verfassers verschieden, so zeigt die zweite
Sinfonie einen Riss in ihrer Seele: Der erste Satz der
Sinfonie stellt Ideen und Ziele auf, die später unbeachtet
bleiben und höchstens noch einmal äusserlich berührt
werden: Ein Heros tritt auf und verschwindet spurlos in
den Wäldern. Sie ahmt mit Uebertreibungen den ver-
wunderlichen Gang von Freytag*s , Ahnen* nach, beginnt
^ 536 ^
mit Weltbildern und Seelenschildenuigeit gewaltigen
Charakters uod Terläuft dann ganz und gar in Dorfge-
schichten.
Der Anfang des ersten Satzes ^AUegro^ Hmoll) be-
ginnt herculisch mit einem Thema:
m/^
das mit dem Anfangs- und Hauptthema ron R. Volks-
man n'sDmoll- Sinfonie innre und äussre Aehnlicbkeit theilt.
Auch der Gedanken^ng beider Sätze ist rerwandt: Finstre,
ernste Entschlossenheit soll milderen Stimmungen weichen.
Bei Borodin treten die weicheren freundlicheren Gedanken
aber wie seine andre Hälfte an das Hauptthema heran:
buchen engste Verbindung mit ihm. Schon im elften Takte
Aulmato assal. JsH6.
hören wir: j^ II Pwf f F P \ jj f ^f f I ^ •«.
Das heroische Thema thut einige stolze Gänge durch die
Tonarten, immer folgt ihm der freundliche Berather auf
dem Fuss. Im Zögern und Drängen wird Adur erreicht
und da setzt das eigentliche zweite Thema des Satzes in
Ddur pastoral in seinem Wesen, zuerst vom Cello ge-
bracht, ein:
poco meou mosso. d s 66. _
Die Holzbläser nehmen die sehr lebendig metrisirte Weise auf,
Geigen folgen ; die Lustigkeit wächst, aber auch die Heftig-
keit des Widerspruchs. Die Bässe fuhren die Sache des
Hauptthemas ganz entschieden, die ländlichen Versuchungen
sind abgeschlagen. Mit einer gewissen Feierlichkeit, in
breiten Accorden, lang verklingendem Ton schliesst die
Themengruppe.
<o 537 ^
Die Durchführung wird im ersten Theil vom Haupt-
thema ausgefüllt. Nur hat es seinen Charakter verloren:
Ein 3/j Takt hat sein Wesen verwandelt, ins Leichtfertige
und Wirre gezogen:
AnlmatQ astal
creso.
Man treibt mit ihm entwürdigendes Spiel, zwingt es den
lächerlichen Aufmarsch zu wiederholen, die Geigen machen
seine Schritte spottend nach. Bald treten dann auch das
Freudenthema, das Arm in Arm mit dem Hauptthema in
die Sinfonie hereinschritt und das eigentliche zweite Thema
im Triumph ff auf. Doch kämpft sich endlich das Haupt-
thema im letzten Theil der Durchführung von den Trom-
peten, Posaunen, Hörnern und den Holzbläsern aus all-
mählich wieder nach oben. Die Durchführung im Ganzen
kommt zu keiner bedeutenden Entwickelung, begnügt sich
mehr äusserlich und spielerisch mit immer erneuten An-
sätzen und russischen Wiederholungen. Doch ist sie in
den Absichten klar. Die Reprise bringt die Themengruppe
verkürzt wieder und mit stärkerer Betonung des Haupt-
themas, das als Sieger das letzte Wort breit und donnernd
spricht. Die Gegensätze des Anfangstheiles haben sich in
Plänkeleien verflüchtigt, deren Darstellung den Ck)mponisten
zu Verkürzungen und andren interessanten Umbildungen
der ursprünglichen Themen veranlasst hat.
Der zweite Satz, ein Scherzo in Fdur, dessen
Hauptsatz im Prestissimo (p = 108) verläuft, ist einfach,
knapp und doch auch originell. Seine Originalität liegt
in dem Humor des Hauptthemas der Spässe treibt, wie
die, mit denen man Kinder erst schreckt und dann ergötzt.
Es setzt auf einem freien Konenaccord fürchterlich ein wie
das Finale der Neunten Sinfonie; dann regt es sich er-
wartungsvoll in den Hörnern, aus der Tiefe tappt ein
Marsch heran als kämen Gespenster. Mit dem Eintritt
der Holzbläser löst sich die doppelte Spannung in eitel
Anmuth, Zierlichkeit und gute Laune:
c<?
588
■03
Prftfitissimo. og 92
rrrr
rrrr rrrr
jiii iijj iiji jui^ ii
i
r ^
r
j iiji jui^ ii.j
i'l'>'l""'ll'l'lW^i'l"/'
^^
fT»rr
In der Fortsetzung finden sich herumspringende Modulationen,
versprengte und verirrte Solostimmen. Als dann Asdur
erreicht ist, kommt die phantastische Bewegung zum
Stehen und hahnt einer Gemüthlichkeit die Gasse, wie sie
Schumann in seinen jüngren Jahren liebte: In Synkopen
schiebt sich das Thema
ii-g^!tiJ
r f^i I ^"1^*1 [,J l^jl launig träge hin. Der Satz kehrt
in beiden Gruppen wieder, das Seitenthema, diesmal in
der Haupttonart, dient zum Abschluss des ganzen Haupt-
satzes und vermittelt mit romantischen, abendlichen Ab-
schiedsklängen den Cebergang zum Trio.
Dieses Trio ein Allegretto (**/4, Ddur) gleicht eirfem
Stück Erzählung aus dem Orient. Es hat den bukolischen
Charakter den die russische Volksmusik liebt. Wie es
Hirtenweisen thun, gleitet seine Hauptmelodie von Instru-
ment zu Instrument über wiegende Harmonien und einen
Orgelpunkt den der Componist wunderbar poetisch belebt
hat. Er klingt, in einzelne Glöckchentöne zerlegt, aus der
Harfe her, Homer und Triangel fallen mit ein. So ist der
Anfang dieses Theüs
AUegratto. fi< 72
e<? 539 ^
Er gebt dann aber ausscbweifend sofort nacb Desdur und
— irren wir nicbt — begegnet da einer leisen Warnung
vom Haupttbema des ersten Satzes in einem Pizzicato-
Motiv der Contrabässe. Es wird infolgedessen etwas dunkel
über der anmutbig unschuldigen Pastoralmelodie. Docb
bald kommt Ddur und voller Sonnenschein zurück. Wir
bedauern dass nicht länger Weilens ist. Mit einer gewissen
Rücksichtslosigkeit bricht der Componist ab und kehrt zum
Scherzo zurück. Es verläuft so wie wir es aus dem ersten
Theil kennen ; nur wird dem Seitenthema, als es zum zweiten
Male erschienen ist, der ganze Schluss übertragen, — ein
schwärmerisches Verklingen !
Der dritte Satz (Andante, C, Desdur) bietet uns
ein Stückchen Kunst, wie es zur Zeit nur in der Russischen
Musik zu finden ist und wie es von russischen Musikern
wieder nur Borodiu in der Gewalt hat. Nur einer von
den Lebenden hat sich ihm auf diesem Gebiet einmftl be-
trächtlich genähert. Das ist Dvorak im langsamen Satz
seiner letzten Sinfonie „Aus der Neuen Welt*. Etwas von
der Schwermuth, der Traumkunst und Resignation, die in
dieser Musik liegt ist den Slaven allen als Erbe aus der
gemeinsamen Heimath zu Theil geworden. Es spielt aber
auch in diese ethnographisch und allgemein menschlich
gleich stark fesselnde Musik der Orient stark hinein mit
seinen schillernden und verschleierten Farben, mit der ver-
lassnen, versteckten Schönheit und der Unendlichkeits-
stimmung, die wir auf Möckel'schen Bildern finden und
auch mit seiner heissen und doch züchtigen Sinnlichkeit.
Ein Theil des Phantasie- und Gemüthsgehalts dieser Musik
kommt aber auf eigenste russische Rechnung, auf Pusch-
kin*8che Landschaft und orthodoxe Religiosität. Sicher ist,
dass wenn einst Herder'sche und Rückert'sche Geister die
Summe Russischer Poesie und Kunst ziehen, derartige Sätze
wie dieser Borodin*sche die Hauptwerthe bilden werden.
Wenn wir unter den dichterischen Elementen die sich
hier zu einem Ganzen gruppiren, nach dem bestimmenden
fragen, so wird kaum eine Meinungsverschiedenheit dar-
Co 540 ^
über bestehen, dass das religiöse überwiegt. Wir haben
es mit einer Art Abendandacht zu thhn: draussen in der
weiten Natur, unter freiem Hinunel empfiehlt sieb, zur
Nachtruhe gerüstet, die Karawane dem Schutze Gottes.
Gleich die vier präludirenden Takte (Harfe und Clarinette)
haben einen feierlichen Charakter. Dann setzt das Hörn
ein mit einer Melodie:
P *9pr. (Ml
Dei.
aus der Dank und Frieden nach des Tages Mühen klingen.
Die Clarinette nimmt sie auf. Wir erwarten sie nun auch
im vollen Chor zu hören. Doch dieser natürliche Verlauf
wird dramatisch hinausgeschoben. Die Geigen tremoliren :
ein beängstigender Zwischenfall. Das Hörn ruft das An-
fangsmotiv im warnenden Ton:
wie aus der Feme, die Bässe nehmen es ernst und ent-
schieden auf. Als würden Wachen und Vorposten abge-
hört, melden sich aus allen Richtungen Stimmen mit dem
J»72
beruhigenden Thema 4 ^^h fT^r[Z^ [1? I * I ^ ^^
nun auch im Tutti beschwichtigend wirkt. In breiten, wie
Orgel und Kirchenmusik klingenden Accorden schliesst
dieser erste Abschnitt des Satzes in Cdur. Der nächste
Plü anlmato. Jz 80.
setzt mit einem Thema ein : 'Je | fJ \^f_}^ CJ* I ^
P
das die Stimmung wieder in das tägliche Geleise fuhren
will. Es begegnet in den Begleitstimmmen bereits einer
Reibung, in Gestalt eines chromatischen Motivs
^äjiJ J i^J I J ij il I ^^^ ^^ä basso ostinato die Har-
e<? 541 ^
monie beherrscht, bald in der Mitte, bald in der Höhe
durchklingt. Der Gedanke an die Gefahr wacht noch
und lebt auch noch einmal in seiner ursprünglichen Form
auf und wird in ihr, sogar erweitert:
lf^l(-U^"^Jt' {J^J'fJjl^^^ zum Trfiger der all-
gemeinen Empfindung, die am Schluss mit dem chroma-
tischen Motiv (in Adur ff und fff) wieder zum Vertrauen
und Gefühl der Sicherheit und zu einer lauten Anrufung
der göttlichen Gnade zurückkehrt. Nach einigen in stiller
Sammlung überleitenden Takten, in denen zuletzt wieder
die Wächterstimmen erscheinen, ist die Episode die am
Anfang die Fortsetzung der Des dur- Melodie unterbrach,
zu Ende und der Chor fällt in sie ein und der Satz geht
mit leichten Anspielungen auf den kritischen Augenblick
zu Ende. Das Präludium rundet die Scene als Nachspiel
schönstens ab.
Das Finale (Allegro, ®/4, H dur) setzt sehr überraschend
ein : Die zweiten Geigen halten des-as von dem langsamen
Satz herüber in den neuen als cis-gis^ drunter setzen die
Bässe mit fis ein. Wir haben also wieder eine der humo-
ristischen Dissonanzen mit denen die Neurussische Musik
die ganze abendländische Harmonielehre aus dem Sattel zu
werfen droht. Auf diesem Accorde probiren alle Instru-
mente erst den Rhythmus, in den Violinen huschen flüch-
tige Motive durch, dann stürmen Figuren durchs ganze
Streichorchester, wilde Triller setzen in den Bläsern ein.
Die lustige Spannung dauert 17 Takte; dann erst kommen
wir zur Klarheit, zum Hauptthema des Finale:
AUegro. J s 126
t2 \l{j ^^' Es ist echt
russisch naturfrisch und ausgelassen, auch in der Form
durchaus nationale Tanzmusik mit gemischtem Rhythmus
(•/^ und */4). Als das Tutti damit durch ist, macht es den
Platz für Solokünste frei. Das Cello schwingt sich mit
co 542 '^
dem Thema hin und her, während die Oboe eine Gegen-
figur dazu aufstellt :
äo/ce
des Satzes mehrmals unsre Aufmerksamkeit in Anspnich
nimmt. Das eigentliche zweite Thema bringt die Clarinette:
^^^
i
P^-f=j^~'^~ 1*"=:: , Durch die Begleitung wird es als
ein Abkömmling des Dudelsacks als echte Bauemmusik ge-
kennzeichnet. Per Componist legt ihm die verschiedensten
und sehr reizende Frisuren an durch Instrumentirungs- und
Harmoniekünste, er weiss es sogar majestätisch kommen zu
lassen. Die seltsamste Verwandelung , die im Finale vor-
kommt, erföhrt aber das oben angegebene Oboenthema,
das beim Eingang der Durchführung von den Posaunen
im breiten ^ ^Takt und lento als Bussprediger, wie Wallen-
stein's Kapuziner auftritt, natürlich nur um einen Sturm
von Heiterkeit zu erregen. In vieler Beziehung, in der
innren Freiheit und Lebendigkeit sowohl, wie in gleichen
motivischen Bildungen erinnert dieses Finale an den ersten
Satz von Borodin's Es dur-Sinfonie und darf mit ihr als
ein Hauptbeispiel fröhlicher russischer Sinfonik betrachtet
werden.
A.' Borodin Glazunoff hat aus dem Nachlass Borodin^s noch ein
Dritte Sinfonie. Bruchstück einer Amoll- Sinfonie instrumentirt, das aus zwei
Sätzen, einem Moderato und einem Scherzo besteht. Beide
sind im Wesentlichen Variationsarbeiten vielleicht aus einer
frühern Zeit, in der der Componist sich noch vollständig
unter dem Einfluss Glincka's bewegte. Wenn sie ih Deutsch-
land unbenutzt geblieben sind, so liegt das in ihrer Schwierig-
keit. Diese besteht bei dem Moderato in den grellen
Gegensätzon der Stimmung, zwischen denen es humoristisch
c^ 543 ^
schwankt, bei dem Scherzo im Rhythmus, einem kaum
verständlichen ^/jTakt.
AlexanderGlazunoffist mit eignen Compositionen A. Glaivnoff
bei uns bis jetzt noch so wenig bekannt, dass die Lexica ^*«rte Sinfonie,
seinen Namen übergehen. Nachdem aber in letzter Zeit
seine vierte Sinfonie (in Es) und nach ihr auch die fünfte
(in B) mehrmals aufgeführt worden sind, kann es kaum
ausbleiben, dass man diesem Tonsetzer mindestens eine
gleiche Stelle in den deutschen Concertsälen einräumt wie
seinen bereits eingebürgerten Landsleuten. Mit seinem
sichren und gleichmässig guten Geschmack steht er auf
Seiten Borodin's und über Tschaikowsky und Korsakoff;
doch ist er nicht ein so treuer Russe wie dieser. Wird
ihm elegisch, so äussert er sich in jenem überschwän glich
schwärmerischem und weichem Ton, der in die neuere Musik
mit Schumann eingedrungen ist, stimmt also in diesem
Fall mit Tschaikowsky überein. Nur ist ihm niemals so
wie diesem in der Fremde dauernd wohl. Erfassen ihn
tiefere Gefühle, so zeigt er die Macht der slavischen Natur,
die Lust am Wechsel, den Segen einer optimistischen Lebens-
anschauung. Für sie hat kein Schopenhauer und keine
Griesgrämerei überhaupt existirt, geschweige dass sie gar,
wie billiger Witz an der Neurussischen Musik oft bemerkt
haben will, nihilistischen Einflüssen unterstünde. Diese
Musik GlazunofiTs ist der praktischste Patriotismus, der
sich aufstellen lässt, sie fordert Heimathsliebe und Lebens-
freude. Diese Frische, dieses naive Talent fürs Geniessen,
für die Freude am blossen Dasein, an seinen einfachsten
Gütern, an Gesundheit und Sonnenschein — das sind Tu-
genden, auf denen die Mission der Russischen Kunst und
ihrer Sinfoniker voran, beruht. Denn die verstehen sich
unbefangner darauf als ihre dichtenden und malenden
Landsleute. GlazunofiPs Sinfonien beweisen ebenso wenig
eigentliche musikalische Originalität wie die von Tschai-
kowsky, sie stehen hinter dieser auch an künstlerischer
Originalität zurück. Das Alles muss bei ihm der nationale
Gehalt seiner Kunst ersetzen. Aber in einem Punkte über-
trifft Glazunoff seine Collegen. Ihnen allen muss eiue
c<? 544 '^
Achtung gebietende Herrschaft über die Technik der Com-
Position zugestanden werden und zwar nach allen Rich-
tungen hin. Glazunoff übertrifft sie sämtlich als Contra-
punktiker noch weit; es wlounelt bei ihm nur so Ton
Nachahmungen und Engfiihrungen, angefangnen und durch-
geführten Canons, Umbildungen in der Verkürzung und
Verlängerung, Verbindungen von verschiednen Themen
und andern die Form belebenden, den geistigen Grehalt
vermehrenden und vertiefenden Künsten. In der Instm-
mentirung liebt er humoristische Verwendung der Trom-
pete besonders. Gute Laune und Munterkeit scheinen
überhaupt die stärksten Züge in Glazunoff's sanguinischem
und grosser Weichheit fähigem Temperament zu bilden.
Die vierte Sinfonie (op. 48) hat die üblichen vier
Sätze, da aber das Adagio mit dem Finale zusammenge-
zogen ist, erscheinen äusserlich nur drei.
Sie beginnt mit einem Andante in Esmoll über ein
vom Englischen Hom vorgetragnes Thema, das sich auf
Grund folgenden Anfangs
Andant«. J.r58.
etwas bequem entwickelt. Als es auf der Dominante
schliesst, stellt sich ihm ein Gedanke entgegen, der die
freundlichen, friedevollen Zukunftsbilder dieses Themas
mit leisen Zweifeln und Fragen beanstandet. Den Reden
und Gegenreden wird ein rasches Ende bereitet durch das
Allegro das ohne alle Vermittelung die Durtonart durch-
zwingt. Als erstem Hauptthema begegnen wir in ihm einer
Melodie, die sich abermals etwas breit, unterm Antheil
verschiedner Instrumente entwickelt:
Violinen.
'ti \t rlPi \rnrhf f ^ .
c(? 545 ^
Sie spricht Worte der Hoffnung auß, in Reimen die der
Componist fertig vorgefunden hat und kommt in der Fort-
setzung in einigen Eifer, den sofort mit Tönen der Ruhe
ein Seitengedanke zu beschwichtigen unterninunt:
Ja 76.
Tgb'v f^ fpA I r'T^ ^ . Das Hauptthema kehrt
wieder, verklingt aber als schliefen alle Sorgen ein und
an seine Stelle tritt ganz scherzenden Tons das Thema
der Einleitung, bei der Yerwandelung die es aus Moll
nach Dur und in ein fröhlich, flottes Tempo geführt hat,
kaum wiederzuerkennen:
Damit sind wir ins Volksthümliche und in die ländlichen
Kreise und ihre Freuden eingetreten. Die Melodie be-
herrscht diesen Abschnitt eine Zeit lang, wörtlich und
Übertragen. Unter ihren Variationen ist eine im ruhigen
Tempo für Hom hervorzuheben. Dann führen ausge-
lassnere Scenen nach dem ersten Thema des AUegro zurück
und der Schluss der Themengruppe erhält als Anhang noch
einige kurze fröhliche Motive. Statt der erwarteten Durch-
führung folgt aber eine Wiederholung dieses ersten Theils,
eben der Themengruppe, mit etwas verändertem Modula-
tionsgang und auch mit verändertem Charakter. Es wird
etwas länger bei dem ersten Thema verweilt, es erhält
einen sorgenvollen Ausdruck, der sich laut leidenschaftlich
und wieder still seu&end äussert. Diese Stelle führt nach
der Einleitung zurück: dem Andante mit dem Pastoral-
thema in Es moU. Die Freude die vorhin durch seine Um-
bildung in die Gestalt eines scherzenden Durthemas in das
AUegro hineinkam, war verfrüht. Noch ists nur Zeit zu
hoffen. Dies spricht ein letztes kurzes Zurückgreifen auf
das Hauptthema des AUegro aus. Die im ersten Sinfonie-
satz übUchen Wege des Sonatenschemas hat Glazunoff zum
grossen TheU umgangen und doch eine verständliche Dar-
Kretzachmar, Führer, I. 85
c(? 546 ^
ttelluDg seelischer Vorgänge geboten, ein Bild vom Kampfe
edler Triebe mit den Versuchungen der Alltäglichkeit.
Die andern Sätze fUhren dieses Bild weiter: der Schau-
platz wechselt, es wechseln die Charactere. Das Scherzo
beginnt mit Quinten, die ungeduldig erregt in den Fagotten
Allegro Tlvaoe. J*s 168.
repetiren : ^ir^ B ' P 1 ' J | i^^^^ «to. Das sagt
Tanz an und bald stimmen auch die Clarinetten einen
Reigen an, dessen Melodie:
T
in ihrer Mischung von Lustigkeit und Demuth an Bubin-
st ein 's , Bräute von Kaschmir' erinnert. In der Durch-
führung dieses Themas tritt im Ganzen sein lustiger, mun-
terer Character mehr hervor. Er steigert sich bei dem
ersten Tutti zu Kraft und Ausgelassenheit:
an andern Stellen wird der Nachdruck auf die beweglichen Ele-
desThemasgelegt: p^ ^ f^^^Tt^f 1^^^
mente
Der Hauptsatz zerfallt in zwei klar geschiedene Theile:
der erste bringt die angegebnen Themen vorwiegend in B,
der zweite in F. Als in diesem zweiten Theile die aus
dem Eingang des Scherzos bekannten Bassquinten wieder
erklingen kommt ein neues Thema:
•3' 547 'ö*
in den Hörnern, das aber am Schluss die freundlichen
Lockrufe des alten Hauptthemas aufoimmt, während die
Violinen mit:
dazu contrapunctiren. Es ist als wollte der Componist eine
andre Seite ländlicher Freuden, die Jagd und ihr auf-
regendes Treiben im Schattenriss wenigstens vorführen.
Da kommt aber sehr bald das Trio mit seiner* fast in die
Farben der Aeolsharfe gekleideten Musik, deren Eintritt
man zu den schönsten Stellen der Sinfonie rechnen muss.
Die Melodie, die an ihrer Spitze steht, und zuerst von der
Clarinette gebracht wird:
Poco meoo mosBO. TranqulUo. J«: 60.
rJj' I ^"t^-t-^" ■ ^^^ ' r^t I r^^
ist zwar an und fdr sich einfach, aber in ihrem Gegensatz
zum Wesen der vorangehenden Scenen wirkt sie wie aus
höherer Welt gekoounen. Das bunte Treiben des Tags
und seiner Lust liegt weit hinter dem Hörer. Er denkt
an den Sternenhimmel und an die ewigen Fragen vom
Menschlichen und Göttlichen. Im dritten Theil des Scherzos,
am Schluss der Reprise klingt die Hinunelsmelodie des
Trios noch einmal an.
Auch der dritte Satz knüpft mit seinem einleitenden
Andante an die Stimmung des Trios an. Es leuchten über
dieser Einleitung in den tremolirenden Violinen zauber-
hafte Lichter und der Gesang der durch die Bläser zieht :
Andante. Js69.
y^ " 1 r *^J^~f^^^ l^^'p r versucht wenigstens
PP
die Töne des Friedens wiederzufinden, die in jener Abend-
35*
«fl» 548 '^
Bccoe klangen. Der Versuch stösst auf zu grosse Erregung,
die in dem plötzlichen Fortetakt über : £n f^PT f I
gewifisermassen elementargewaltig hervorbricht. Ihr folgt
auch bald eine jener langen, dem russischen Sinfonikern
eignen üebergangsstellen , in denen auf liegendem Bass
kleine Motive in die Höhe dringen und wie Wässerchen
zu Wässerchen kommend zum Strom anschwellen, der
den Damm durchbricht. Dieser Wandel in der Stimmung
tritt bereits im Andante ein, den stürmischen Charakter
nimmt sie mit den ersten Tönen des Allegro an. Da setzen
die Trompeten ein:
Plü mosso. Allei^ro moderato. ds 18B. ^^^^
und allarmiren das ganze Orchester so, dass es ins Zittern
geräth. Der ganze erste Theil des Allegro äussert wirk-
lieh seine Energie und seine Freude vorzugsweise rhythmisch,
was sein Hauptthema melodisch bietet, das erscheint noch
nicht geklärt : die Violinen schwingen sich mit dem Motiv
AJOir'pn J I J-4^^^ fj^^^^ ^^ Kreise und in die Höhe,
in den Klarinetten scheint die meiste Bestimmtheit zu
herrschen :
pK r r r t^i^^^j^irLiM^r t^yif
Das freudig verworrene Treiben endigt feierlich mit einem
Desduraccord und diese Stelle führt edlere Geister herbei.
Zuerst hören wir
f^* j J. ^'l^^fm^TtirW^^
ein Thema in dem ganz fremden Edur. Wie sie ein-
e<? 549 "Ö»
geleitet war so schliesst diese Episode auch wieder feier-
lich, geheimnissvoll mit langen Klängen, lang liegenden
Accorden (As, Ces) und nun folgt ein zweites Thema fried-
licher Natur, von der Oboe eingeführt:
^ Meno mosso. . ^ .^
dolte
I T\ Tij^r I r p-f-p. r p , ^.
Es beendet die Themengruppe des in Sonatenform ge-
haltnen Satzes. Sein Einfluss äussert sieh in der Durch-
führung dadurch, dass zunächst die wilden Motive des
Allegros ganz verwandelt erscheinen. Das erste kurze
Violinenthema z. B. kommt in den Posaunen als:
ybJ J l'C I ij bJ J I J. I.J UJ etc.
Bald erwacht ihre eigentliche Natur, sie ringen und kämpfen
gegen die edleren Regungen, die mit ihnen den Weg
wiederholt kreuzen. Ueberraschend erscheint am Ende
dieser Durchführung das Homthema aus dem Scherzo
gewissermassen als Bundesgenosse für die Geister der
äusseren Fröhlichkeit; den milderen Mächten kommt
Hülfe durch die schöne elegische Melodie, die den ersten
Satz der Sinfonie eröffnete. Dann folgt bald die Reprise
die die edleren Themen in grössrer Bedeutung zeigt, ausser-
ordentlich kunstvolle Arbeit enthält und freudig rauschend
schliesst.
Glazunoff^s fünfte Sinfonie (in Bdur) die die Opus- 1. GUs«Boff
zahl 55 hat, ist ein Werk der Heiterkeit und Kraft, das fünfte Sinfonie,
sich ohne die modernen Hebel der Leidenschaft und Ro-
mantik entwickelt, aber Phantasie und Gemüth des Hörers
festzuhalten und zu beschäftigen vermag. Denn es verräth
überall Geist und eine adlige Natur. Der Verlauf und
Charakter der beiden letzten Sätze scheint die Sinfonie
der Programmmusik zuzuweisen. Doch hat derComponist
«<? 550 ^
nicht verrathen was ihm vorschwebte — vielleicht ein
besondrer Lebenslauf — , da anorganische Einzelheiten, die
im Zusammenhang unerklärlich wären, nicht darin vor-
kommen. In der Form zeigt die Composition verschwin-
dend geringen russischen Einfluss, in der Stimmung äussert
er sich in wohlthuendster Art als Naturfrische und
Lebenslust.
Der erste Satz beginnt mit einer Einleitung über das
Thema :
Modento maestoso. J : 92.
J
Sie fUhrt zu einem Allegro, das an diesem kräftig fröh-
lichen Grundgedanken festhält. Nur im andren Rhythmus
tritt er hier auf und etwas erweitert:
AIl«i:ro. J*r78.
j^''« f ij j I .^^u^^y^^j^ r I n^ I
jQ I r ,trp I rr r4Q4gH-^-^^.
Gegen&ätze im Sinne eines Widerspruchs oder einer Ab-
leitung treten ihm nicht in den Weg, nur Versuche den
frohen Muth, der aus ihm spricht, noch zu steigern.
Darunter fallt durch seine Entschiedenheit der folgende
am meisten auf:
i"-;^ Auch das
eigentliche zweite Thema des Satzes bedeutet Zustimmung,
Freude — nur im zartren Ton:
Weiter bemerken wir noch Motive des Scherzes, Motive
<o 551 ^
aufwallenden Frohsinns. AUe diese grossen und kleinen
Einf&lle werden varürt, umgebildet und in einem leben-
digen Spiel zusammengebracht, das Humor und Witz
beherrschen. Die Durchführung, die nur kurz gehalten
ist, stellt sich auf einige Augenblicke grimmig. Die Re-
prise in der das zweite Thema geheinmissvoU spannend
vorbereitet wird, schiebt den Schluss geflissentlich und
fesselnd weit hinaus»
Das Scherzo schlägt mit seinem Hauptthema:
Moderato. Js96.
f ' utt'\ tili lüiji/w; \u4H-mh^
die fluchtigen Töne heimlicher Beweglichkeit an, mit
denen wir seit Mendelssohn den Begriff von Elfenmusik
verbinden. Das Stück gleicht einer Stunde aus der
Rinderzeit, wo Abends Märchen erzählt werden von schönen
.Feen und kleinen Geistern der Luft. Dann poltert ein
grober Eiese herein : Vi|^ ^S^ Pj^^ j ^ Jj^^^
der nach den tollen Dissonanzen zu schliessen, die diesem
Abschnitte eigen sind, Alles auf den Kopf zu stellen
seheint. Nach diesem Zwischenfall, kehrt der Hauptsatz
wieder. Der Mitteltheil, der die Stelle des Trios ein-
nimmt, führt mit einer hübschen Volksmelodie hinaus
ins Freie:
•Prestisslmojgeno mosso.
to 552 'S»
wo sich Tfinze und Spiele und gemUthliche Zwiesprache:
in zum Theil sehr
eigenthUmlich schönen Klang entwickeln. Vor dem Schloss
wird dieses Trio nochmals kun angespielt.
Der langsame Satz der Sinfonie, ihr dritter, wird mit
einigen Takten eingeleitet, in denen die Acoorde wie
schwere, trübe Wolken langsam hinziehen und schleichen.
Dann aber treten wie Wandrer, die vom innren GlUck er-
füllt, nicht auf Himmel und auf Wetter achten , die Ge-
sangsthemen ein, schwärmerischen Tons wie ein Liebhaber
in seiner Sehnsucht das erste:
. I Andante. #): 120. r ,^ _ _
cresc.
=^= reinster wärmster Zärlichkeit voll
da. andere: p^^ff^^'} I O CfV^r I p
Das zweite insbesondre breitet sich aus, steigert seinen
schönen warmen Ton, wird hervorgejubelt und gelispelt
und bildet die Grundlage für die Stimmung des Satzes.
Doch besteht eben dieser Satz nicht ausschliesslich aus
Stinmiungsschilderung und verläuft nicht ungetrübt. Die
Einleitung war eine Warnung. Mitten in den schönsten
Augenblick der Composition föllt ein brutales Stück Dra-
matik, ein vielerlei Deutung freistehendes Elreigniss, das
aus allen Himmeln reisst: Posaunen und Trompeten sind
die Vertreter der Schicksalswendung und dies das musi-
kalische Motiv, das sie veranschaulicht:
Meno mosso. •)= 72.
jfnV U|^ 1^^'
to 553 €)»
Das Finale der Sinfonie hat einen militäriscben Cha-
rakter. Sein Hanptthema ist folgendes und sein wichtig-
ster Theil der BerliozVhe Schloss:
k
AUegro maestoso, o: 126.
pii .1 I r cj r=T^=T=F=3^Fg=^^^g^
= jor
Es wird ergänzt durch das leichtherzigere:
1
P PP
Unter den wesentlichen Motiven des Satzes darf besonders
der wiederholte Anklang an die rauhe Trompetenstelle des
dritten Satzes nicht Übersehen werden. Allem Anschein
nach giebt der Satz das Bild eines wirklichen Kampfes.
Es koDunen neue Hülfstruppen, originell in den Bässen an-
gemeldet
wi r rr 'r rr 'r "^r '"■' »iJ ' i i i '■
es giebt Augenblicke der Niedergeschlagenheit, der Klage,
der Trauer und auch des Trostes, die aus dem letzten
Thema sich entwickeln:
y ii^^b^ fT^f f'^-Jß 4—^^ «*c« Dieses zeigt in weitem
Umbildungen seine immer grössre Wichtigkeit und seinen
Zusammenhang mit Volksmusik. Es wird allmählich zu
einer Kriegs- und Siegeshymne, die am Schlüsse auch dem
ersten Hauptthema des Finale eine glänzende Rückkehr
vorbereitet.
Zuweilen liest man von deutschen Aufführungen einer
Suite miniature von Cösar Cui dem Sprecher der G. C«l
Neurussen. Das ist ein halbes Dutzend einfachster Stücke Saite minlatora.
«c 554 ^
in Lied- und TanzfonneD, die an Schumann*« Kindeneenen,
an Bizefs jeux d^enfants erinnern. Die rossiBche Herkunft
verrathen sie in keiner Zeile, sondern gehören nach Gkist
und Form zu den besten Früchten der französischen
Schule und rerdienen wegen der liebenswürdigen Phan-
tasie und der feinen Züge in der Grestaltung weiteste
Verbreitung.
V.
Die moderne Suite und die neueste Ent-
wickelung der classischen Sinfonie.
[ie Werke der Nationalen und der Programmmusiker
bilden einen wichtigen Theil in der sinfonischen
Production der letzten Jahrzehnte und werden vielleich die
Zukunft der Gattung bestimmen. Jedoch repräsentiren sie
heute noch nicht die Hauptströmung. Diese hält vielmehr
immer noch an den Traditionen fest, welche in den Werken
Beethoyen's und der Romantiker niedergelegt sind. Ja,
mitten in der bewegtesten Zeit des Streites, welcher sich
um den Werth und Berechtigung der neuen Programüi-
musik erhob, um das Jahr 1860, lebte plötzlich eine Kunst-
gattung wieder auf, deren Blüthezeit noch hinter den
Tagen der Wiener Classiker zurückliegt. Es ist die schon
im vorhergehenden Capitel wiederholt berührte Suite.
Die Wiedereinführung der Suite entsprach dem prak-
tischen Bedürfnisse nach einer einfachen musikalischen
Naturkost, dem Verlangen nach grösseren Orchester-
compositionen, welche sich, wie die Symphonie, in gebil-
deten Formen bewegen, den Geist aber mit schwerer Ge-
dankenarbeit und den Strapazen unserer hohen Cultur
verschonen sollten. Dass man mit dieser humanen Mis-
sion gerade die alte Suite betraute, war eine weitere Wir-
kung jenes historischen Sinnes, welcher seit dem Vor-
gehen Mendelssohn^s die Musikwelt stärker zu durchdringen
c^? 556 ^
begann und welcher in den Gesanimtausgaben und Einzel-
ausgaben von Werken älterer Meister, in der Gründung
und Thätigkeit der Tonkünstlervereine immer mehr Aus-
druck und zugleich Förderung fand. Es war ein Jahr-
zehnt lang der Hauptfehler der modernen Suite, das«
man ihr das historische Studium und die Abhängigkeit von
alten Mustern zu deutlich ansah. Die alte deutsche Or-
chestersuite bildete den Sammelplatz, auf welchem sich
die charakteristischen Tanz- und Liedweisen aller Nationen
zusammenfanden. Davon ausgehend hätten die moder-
nen Suitencomponisten sich in erster Linie darnach um-
sehen müssen, was das 19. Jahrhundert an künstlerisch
verwendbaren Elementen der Volksmusik bietet. Und
dass es solche bietet, hatte Chopin bewiesen. Statt dessen
copirte aber die Mehrzahl die Sarabanden, Giguen, Cou-
ranten, AUemanden, der Bach'schen Ciaviersuite, trug aus
der neueren Zeit ein Scherzo, wenn es hoch kam, einen
Marsch herbei und vervollständigte das Ganze mit Varia-
tionen und Fugen. Der oft miss verstandene contrapunk-
tische Stil der Alten wurde ersichtlich höher angeschlagen,
als das volksthümliche Princip ihrer Suite.
Das Verdienst, als der Erste nach hundert Jahren
wieder Suiten geschrieben zu haben, hat Joachim Raff
für sich in Anspruch genommen.^) Der Hauptantheil an
der Neubelebung und Einführung der alten Kunstfarm
muss jedoch Franz Lachner zugeschrieben werden. In
der Sinfonieperiode der dreissiger Jahre von den Preis-
richtern, nicht aber vom Publikum ausgezeichnet, fand
dieser Tonsetzer noch spät in der Suite einen Wirkungs-
kreis , auf welchem er viele Freude bereitet und seinem
Namen ein bleibendes Andenken erworben hat. Auch
Lachner gehört der contrapunktischen Richtung der mo-
dernen Suite an. Aber die wirklich volksthümliche Natur
seines Talents äussert sich bei ihm auch, gerade wie bei
den Alten, in der strengen Form. Seine Fugen sind
frisch und kräftig, frei und effektvoll. Lachner hat sogar
^) Siehe M. Haaptmann, Briefe an F. Häuser II, 249.
«6» 557 ^
für die moderne Weiterbildung dieses ebenso schwierigen
als interessanten Stils wertbvolle Fingerzeige und An-
regungen gegeben. Lachner spricht echten Suitenton:
auch wo er gelehrt wird, bleibt er klar und verständlich;
wenn es nicht anders geht, ist er lieber trivial als gekün-
stelt, und der Undeutlichkeit geht er so sehr aus dem Wege,
dass er sich darüber oft ins Redselige und Breite ver-
liert. Eine besondere Specialität in seinen Suiten bilden
die Märsche. Sie zeichnen sich aus durch eine einfach
kernige Rhythmik und durch eindringliche Melodien, welche
oft mit aparten , blühenden Figuren gewürzt sind. Oft
sind diese Märsche gar nicht declarirt und segeln unter
der flagge von Ouvertüren und Intermezzos. Aber auch
an traulichen Idyllen sind die Lachner'schen Suiten reich.
Eine, im besten Sinne des Wortes, gut bürgerliche Poesie
beherrscht die Mehrzahl seiner Menuetts und Andantes.
Die Sprache, welche er in ihnen vorzugsweise spricht,
erscheint aus den Idiomen der alten Wiener Schule,
speciell dem F. Schuberts, dann denen Spohr's und Men-
delssohn^s als ein neues Viertes hervorgegangen.
Unter den sieben Suiten Lachner*s ragt die erste V. Laehner
(D moU) durch Werth und Popularität hervor. Ihr erster Suite Nr. i
Satz besonders, ein .Präludium«, in welchem das Thema: (»°»o"^
Alleg^ non trovpo. k i i i j i j K
mit Kraft und Kunst durchgeführt wird, ist einer der
effektvollsten Sätze in der neueren Suitenlitteratur : natur-
frisch und mit manchem kecken Harmoniesprung dahin-
fliessend, originell und individuell in seiner Mischung von
Derbheit und Anmuth. Der zweite Satz, Menuett, ist
eins der liebenswürdigsten Rococcobilder in romantischer
Färbung. Der Hauptsatz tänzelt auf folgender Melodie hin :
AUegTo non troppo.
•le.
Das Trio hat dieselbe Grazie, aber mehr Chorcharakter:
^ 558 ^
als ob Massen anträten. Sein Thema wird Ton einer Art
von Basso ostinato gravitätisch begleitet:
JTli /^Ti^t
r
r -
Der dritte Satz besteht aus
= einem Cyclus von Variationen,
welchen folgendes Thema zu
Grunde liegt:
JJUgTom
ffCmtü
rmirrrii7;)Ma
Die Bratschen begleiten es in der oberen Octave. Die
Variationen — 23 an der Zahl — sind vorwiegend im
älteren Stil gehalten und entfernen sich niemals weit
vom Thema, welches in andere Tempi und Taktarten
gesetzt, mit wechselnden Figuren umkleidet, aber ein-
schneidenderen Umbildungen nicht unterzogen wird. Die
grosse Hälfte der Variationen übt trotzdem die tiefere
Wirkung von Charakterstücken aus; ein Theil ist als
virtuoses Spielwerk zu betrachten. Den Cyclus beschliesst
ein Marsch, welcher über den Verband der Suite, zu
welcher er gehört, und aus den Concertsälen hinaus in
die Volkskapellen gedrungen ist. Sein direkt an A. EberTs
D dur- Sinfonie erinnerndes Thema, welches zuerst wie
aus weiter Feme hörbar wird, genügt allein, um diese
Popularität zu erklären:
VI.I.
t^r
*) Lies: ces.
ee 559 ^
r JQ i J :. Luise von Kobell
F. Lftolwer
Saite Nr. 2
(EmoU).
bat neuerdings erzählt wie die hübsche Sechzehntelfigur,
die dem Thema seine EigenthUmlichkeit giebt, yon einer
Yogelstimme stammt, die Lachner einen Sommer lang auf
seinen Münchner Morgenspatziergängen begrüsste. Das
Finale der Suite, ihr vierter Satz, besteht aus einem weh-
müthigen Andante ab Einleitung und einer sehr streitbaren
Fuge über folgendes Thema:
ADeg^o moderato. ^
y CoBtraklM« CcDi Faf .
Die zweite Suite Lachner^s (Emoll) hat unter ihren
fünf Sätzen zwei Fugen, welche beide durch eigenthüm-
liche Anlage interessiren. Die eine in der Gigue durch
die eingelegten homophonen Partien und die dramatisch
schwungvollen Steigerungen am Schlüsse; die andere, im
ersten Satze durch die poetische Verbindung, welche sie
mit der melancholischen Introduktion eingeht: In dem
Moment, wo der Satz abschliessen könnte, taucht das
leidenschaftliche Anfangsmotiv der Einleitung
auf, setzt sich als zweites
Thema fest, und die Fuge wird zur Doppelfuge. Der Menuett
dieser Suite, dessen Trio ein graziöser Canon zwischen
Violine und Bratsche ist, nähert sich dem Charakter der
Mazurka, das Intermezzo, namentlich im Mittelsatze, dem
Marsch.
Die dritte Suite Lachner's (Fmoll) beginnt mit einem F. Laekaer
«Präludium*' im müden Ton. Ihr zweiter Satz , Inter- Saite Nr. 3
mezzo, überdeckt eine tief elegische Stimmung, aus wel- (FmoU).
eher zuweilen pathetische Klagen hervorbrechen, mit
einem leicht tändelnden Motiv. Die Sarabande bildet
eine ähnliche Verbindung von gefühlvoll weichem Gesang
mit behaglichen Tanzmotiven. Zwischen den beiden Sätzen
steht wieder ein längerer Variationencyclus, dessen Thema
mit dem AUegretto von Beethoven's siebenter Sinfonie
«<? 560 ^
F. LMkier
8oite Kr. 4
(Eador),
F. Laehaer
Suite Nr. 5
(Cmoll).
F. Laelwer
Bulte Nr. 6
(Cdur).
in naher Verwandtschaft steht. Auch dieser Satz klingt
mild aus. Unter seinen energischeren Partien ragt die-
jenige Variation hervor, in welcher die Holzbläser uni-
sono sich auf der chromatischen Scala tummeln. In den
Schlusssätzen der Suite, einer Courante mit einem Schu-
mann*schen Violinthema und sehr hübschen Rlangeffek-
ten, und einer modemisirten , balletmässigen Gavotte
wirft die Composition alles Trübe ab und wendet sich
kräftigen Geistes dem Frohsinn zu.
In der vierten Suite Lachner*s (Esdur) ist das con-
trapunktische Element wieder stärker vertreten. Der erste
Satz, Ouvertüre benannt, fugirt am Schlüsse, der fUnfte,
eine sehr kräftig einsetzende, modemisirte Gigue, durch-
aus, und beide Male ist die Fugenform wieder in inter-
essanter, freier Weise mit einfach melodischen, anmuthi-
gen Episoden durchzogen. Der erste Satz ist nur dem
Namen nach eine Ouvertüre, nach dem Charakter ein
Marsch mit ausserordentlich populärem Thema. Er gleicht
einem Festzug, der von Jungfrauen eröffnet und von Mili-
tär geschlossen wird. Zwischen den beiden Gruppen
bildet ein energisch frohes Thema, dessen Heimath in
Weber*8 Eurjanthe liegt, den üebergang. Der wirkungs-
vollste Satz der Suite ist das Scherzo pastorale mit einem
reizenden Cellosolo im Trio.
Die fünfte Suite Lachner's (Cmoll) weicht von den
vorausgehenden wohlthuend durch die Knappheit der
Sätze ab. Ihre hervorragendsten Partien sind der Mittel-
satz des Andante, ein sehr klar wirkender Canon zwischen
Solovioline und Bratsche, und das Trio im Scherzo, ein
edler Gesang, auf welchem Schubert*s Geist ruht. Im
Finale, welches in der Form des Sonatensatzes gehalten
ist, taucht als zweites Thema eine bekannte Oberon-
gestalt auf.
Der poetische Plan von Lachner^s sechster Suite
(Cdur) steht mit dem deutschen Kriege in den Jahren
1870 — 71 im Zusanmienhang. Schon die Gavotte, welche
hereinfahrt wie „Zieten aus dem Busch*, erinnert an sol-
datische Elemente. Das Finale ist einer der bedeutendsten
c(? 561 ^
F. LMhner
Suite Nr. 7
„BaUtnite''.
patriotischen Tribute, welche die Musik jener Zeit dar-
gebracht hat. Es vereinigt die Trauerfeier mit Sieges-
jubel und Dank. Klagende Recitative im Spohr^schen
Stile leiten eine mild und resignirt gehaltene Paraphrase
des Heldenchorals ,Ein' feste Burg* ein. So wie die Be-
gleitmannschaft vom Grabe des Kammeraden mit fröhlichem
Spiel wegzieht, folgt dann auch hier der Trauercere-
monie ein demonstrativ munterer und energischer, kurz
und keck rhythmisirter Marsch, eine der flottesten Compo-
sitionen, welche Lachner in dieser seiner Specialgattung
geschrieben jbat.
Die siebente und letzte Suite Lachner 's, „Ball-
suite'' genannt, macht mit der Modemisirung der Gat-
tung Ernst. Sie besteht, mit Ausnahme des Intermezzo
und der Introduction , aus lauter Tanzsätzen, die heute
noch praktisch leben : Polonaise, Mazurka, Walzer, Dreher,
Lance. Leider ist die vortreffliche Absicht von der
musikalischen Erfindung wenig unterstützt worden. Mit
erfreuKcherem Gelingen hat einen ähnUchen Versuch
J. Herbeck in seinen „Tanzmomenten'' durchgeführt.
Die Lachner'schen Suiten warßn in dem Jahrzehnt
ihrer Entstehung sehr beliebt und haben die meisten
Werke der Gattung, welche mit ihnen gleichzeitig hervor-
traten, bis heute an Lebenskraft weit übertroffen. Wenn
sie jetzt anfangen zu altem und aus den Concertsälen
zu schwinden, so bleibt ihnen noch lange die Sympathie
der Freunde des vierhändigen Clavierspiels gewiss.
Unter denjenigen Suiten Bach'scher Richtung, welche
mit den ersten Arbeiten Lachner's bedeutend concurrir-
ten, sind die Cdur-Suite von J. Raff und die Amoll-
SuiteH. Essers (die zweite dieses Componisten) hervor- 8^'« (Cdur).
zuheben. Es sind in erster Linie Documente für den H. Esser
merkwürdigen Begriff von der Kunst der alten Meister, S""« <^ ™^">-
wie er um die Mitte unseres Jahrhunderts noch bei selbst
bedeutenden Musikern fest sass. Auch in den Charakter-
etüden des trefflichen Moscheies regnet es eitel .Figural-
musik'' wenn die Alten geschildert werden sollen. Raff
contrapunktirt steif, gleichförmig und so ruhelos und
J. Herbeek.
J. Baff
Kretstohmar, Führer, I.
86
co 562 "^
bastig, dass Einem der Athem vergeht. Esser jagt ba-
rocke Passagen mit unablässigen Sequenzen und Imita-
tionen im Kreise herum. In RaflTs Suite werden erst die
letzten Sätze, das Adagietto, Scherzo und Finale, welche
aus Mendelssohn^scben und Schumann^schen Quellen
schöpfen, natürlicher, freier und phantasievoller. Esser
hat ausser dem Ueberfluss an Vorhalten und archaisti-
schen Dissonanzen aus der alten Suite doch auch etwas
von ihrer Kraft (in der Introduzione) und von ihrer Grazie
(AUegretto) in seine Copie gebracht.
Auch die mit den genannten Werken ziemlich gleich-
W. BArglel altrige Cdur-Suite von W. Bargiel bildet alte Formen
Saite. nach: Courante, Allemande, Sarabande, Air und Gigue.
Aber der Ck)mponist erfüllt sie frisch zu mit modernem,
zum Theil Schumann'schem, Geiste. Dadurch wird diese
Suite zu einer der interessantesten Erscheinungen in der
Gattung. Sie überragt die Sinfonie BargieFs an Natür-
lichkeit der Haltung, an Beweglichkeit der Phantasie
und verdient in's Repertoir wieder aufgenonmien zu werden.
Die contrapunktische Tendenz der modernen Suit«
J. 0. OrlBM gipfelt in den beiden Suiten Julius Otto Grimm 's. Es
Suite in Canon- sind Suiten in der Form des Canons durchgeführt. Die
form Q^^^ (Cdur) für Streichorchester bewegt sich in knappen
Kr. 1 (Cdur). Bahnen. Ihrem ersten Satze, welcher den festlichen Ton
der Mozart'schen Jugendsinfonien anschlägt, liegt das
Schema der Sonatine zu Grunde. Das Andante hat drei-
theilige Liedform, der dritte Satz ist ein Menuett ein-
fachster Fassung ohne Seitensätze, das Finale ein Minia-
turrondo. Der Canon liegt immer sehr offen oben a\if:
die Stinmien folgen einander in der Octav und in kurzen
Abständen ohne Künstelei. Nur im letzten Satze wählt
Grimm für den zarten Mittelsatz (in As) die Distance acht-
taktiger Perioden. Trotz der Fesseln in der Schreibart
äussert die Composition eine schöne geistige und sinn-
liche Wirkung. Ein besonderer Reiz des Klanges liegt
über dem Andante, welches vom Soloquartett allein vor-
getragen wird, und über dem warm, gemüthlich und innig
einsetzenden Trio des Menuett.
^ 568 ^
Grimmas zweite Suite (Gdur) erregt und befriedigt J. 0. Orlmm
höhere Ansprüche. Irren wir nicht, so war sie vor derSaito in Canon-
Dmcklegung als Sinfonie betitelt. Sie ist fiir volles Or- '*''™
ehester geschrieben: ihre Sätze haben breite Formen mit
ausgeführten Durchführungspartien und ihre Gedanken
durchstreifen grosse Kreise und berühren entgegengesetzte
Regionen. Der Zuhörer vergisst über dem Gang der
Leidenschaften die kleinen Reize des Canons, den der
Componist selbst häufig auf die Nebenplätze der Dichtung,
in die Begleitungsmotive und in den Figurentheil, zurück
verwiesen hat. Obgleich der Canon hier bescheidener
auftritt, als in der kleinen ersten Suite, ist er mit noch
grösserer Kunst, mannigfaltiger, freier und praktischer
gehandhabt. Letzteres dadurch, dass die Melodien kürzer
und schärfer gegliedert sind. Auch hier wiegt der Canon
in der Octave und mit schnell folgenden Stimmen vor;
aber es sind, wie im langsamen Satze der Canon in der
Umkehrung, auch seltenere Arten verwendet. Auf Mo-
mente schweigt die canonische Kunst und vor dem Einerlei
bewahrt ein häufiger Wechsel in der Besetzung der fuhren-
den Stimmen. Den grössten poetischen Werth hat unter
den vier Sätzen der Gdur-Suite das Adagio, eine ernste
Betrachtung über das Thema:
M^to Ad&f lo 6 castaibtt«.
i^' MijUW
Seit kurzem ist eine dritte Suite Grimm's veröffent- J. o. CirlBim
licht, die in G m o 1 1 steht und als seine bedeutendste Arbeit Suite in Canon-
gelten darf. Doch ist sie bis jetzt wenig bekannt geworden ^<^""
und wird mit ihrer soliden Art der pikanten Richtung^'- * <^°*^">-
gegenüber, die mittlerweile in der Suite zur Herrschaft
gekommen ist, auch einen schweren Stand behalten.
Einen Nachfolger auf seinen canonischen Pfaden fand
Grimm in S. Jadassohn, welcher in seiner ersten Sere- J. JadMtohn
nade (Gdur) den Canon als die Form für leichte Gedanken i>'ei Serenaden,
und kleine Scherze benutzt. In seiner zweiten Serenade
(Ddur) hat derselbe Componist auf den Canon verzichtet,
in seiner dritten (A dur) ihn auf einen heitern Satz (Inter-
86*
«^ 564 ^
mezzo) beschräokt, dafür aber in beiden Werken eine Ver-
tiefung des Inhalts angestrebt.
Von bemerkenswerthen ausländischen Suiten gehört
dieser arcbaisirenden Abtheilung das op. 60 von C. St. S ae n s
zu. Das yPrelude*^ ist ein Canon mit wechselnden Instru-
menten, der in seiner Stimmung etwas an den ersten Satz vom
G moll-Concert des Componisten erinnert. Der zweite Satz,
Sarabande, bringt sehr anmuthige Variationen über ein
Thema, das dem von Händers «Lascia ch* io piango* nach-
gebildet ist. In der charaktervollen , Gavotte '^ zeichnet sich das
Trio durch die liegende Stimme der Violinen romantisch aus.
Der Schlusssatz, eine , Romanze * , verlässt wider allen
Suitenbrauch die gemeinsame Tonart (D) und steht in G.
Die contrapunktische Gruppe der modernen Suiten-
componisten ist allmählich durch eine andere Richtung
verdrängt worden, welche ihren Ausgang von den Diver-
tissements Mozart's, von den Gartenmusiken des 18. Jahr-
hunderts nahm und den ganzen Nachdruck auf den idylli-
schen und einfachen Charakter der Gattung legte. Der
nach Zeit und Rang erste Repräsentant dieser zweiten
J. Bnüiiu Gruppe der modernen Suiten ist Johannes Brahms.
Serenade in Leider hat er nur zwei Serenaden geschrieben. Sie stammen
Ddur. jedoch aus der besten Zeit des Componisten, und sind mit
den „Maggellonenromanzen* nicht blos gleichaltrig sondern
auch innerlich verwandt. Der jugendlich schwärmerische
Ton, der sie auszeichnet, stellt sie unter die schönsten und
liebenswürdigsten Aeusserungen des neuesten Serenaden-
geistes, die Natürlichkeit der thematischen Erfindung weist
sie unter die Hauptwerke des Componisten. Eine gewisse
Unreife verrathen sie in der allzu breiten Ausfuhrung ein-
zelner Sätze. Die erste Serenade (Ddur, op. 11), welche
im Jahre 1862 erschien, besteht aus sechs Sätzen. Sie
beginnt mit einem grossen Allegro in breiter Sonatenform,
in welchem der pastorale Ton vorherrscht. Das Hom, ein
Lieblingsinstrument des Componisten, stellt als Hauptthema
eine naiv fröhliche Melodie
Allegpro molto.
6<? 565 ^
m
bin, welche von primitiven Harmonien begleitet und i„
angenirten Modulationen weiter geführt wird. Das sinnige
zweite Thema tritt in einer Fassung auf, die Brahms
original zugehört
f f |f f7f T |f.^-ifL^f y |,rT^^
Celli und Bratschen nehmen die zarte Schwärmerei sofort
auf und geben ihr im Verein mit den Holzbläsern den in-
timsten Abschluss. Ein kurzer Nachgesang, aus welchem
das reinste Glück des Herzens spricht, geht in ein freudig
hupfendes Seitenthema
if^iii iiiii iiiM'iVufrifriiirrgi
über, welches das Material für den Anfang der Durch-
fuhrung liefert. Letztere selbst trägt in einzelnen gekünstel-
ten und gewaltsamen Stellen die Merkmale der Entwicke-
lungszeit des Componisten. Eigenthümlich schön ist der
Eingang in die Reprise des Satzes. Durch ein der D dnr-
Harmonie eingeschobenes C rückt das kecke Homthema
hier in ein überraschendes und das Ende der Scene kün-
dendes Dämmerlicht. Der Schluss des Satzes ist ausser-
ordentlich subtil: ein zartes Solo der Flöte, zu welchem
Bratschen und Clarinetten decent die Harmonie hinzu-
fügen.
Der zweite Satz (Scherzo Dmoll '/<) hat in seinem
Hauptthema :
'^ Allegro Bon troppo.
'rTi,iiii-|iirrimiiirrTmii
L \f\f r7Tr f f r I r ^^ Aehnllchkeit mit dem in
') Die 4 Aaftaktnoten sind Achtel.
c<r 566 '^
Brahms' zweitem Klavierconcert. Die Stimmung zeigt auf
ein pochendes Herz und wird erst vom Seitensatze ab eine
ruhig freudige. Ihr thematischer Ausdruck zeigt von da
ab Wiener Einflüsse, der Seitensatz Schubert'schen :
^ ^ r^;TJ I r if^J I r ir^r i ^' irTr \f^^ '
" m esBrmMM. cresc. af
P t9fT9$^
V^r'i Iff^r If'^^, das Trio
Foco pt4 Bot».
«te.
Haydn-Mozart*8chen.
Der Werth des Adagio (B dur * 4) ruht besonders auf
dem Hauptthema, welches eine der herrlichsten melodischen
Erfindungen von Brahms bildet:
Ad&f io non trpppo.
M
^^riffl^igp
^»hMh?7pWt
C.U» M WJ U« ' -^ K "^ ^— • • ' 7"
Noch schöner fast ist der concertirende Nachsatz:
'Mii ^ylliiiiJ^^,^
. Ihm folgt eine Episode
mit folgender Melodie
^»^'J Jjl^Jjylj JJ'^JJJI^- Auch ihre Be-
• etc.
gleitung mit murmelnden Zweiunddreissigstelfiguren er-
^) Im Hauptthema des Adagio fehlt im letzten Accord des
5. Taktes £ im Bass.
ce 567 "^
innert an die „Scene am Bach" in Beetboven's Pastoral-
sinfonie. Das Adagio zersplittert sich von da ab einiger-
massen und entschädigt die Aufmerksamkeit vorwiegend
durch feine Details.
Den vierten Satz bilden zwei zusanmien gehörige Me-
nuetts: (Gdur der erste, Gmoll das Alternativ), welche
den Originalcharakter der alten Serenade aufs Drastischste
wiedergeben. Namentlich der G dur-Satz ist ein originelles,
kostbar drolliges Genrebild, zu welchem die moderne
Suitenlitteratur vielleicht nur in dem Walzer von Volk-
mann's F dur-Serenade ein nahestehendes SeitenstUck auf-
zuweisen hat. Nur die beiden Clarinetten und ein Fagott
spielen es: Jene geben die Anmuth und LiebenswUrdlg-
Modertio.
keit in ff t ^ j' j j j H j ^ ^^^'^ ^^ letztere bringt
dem komischen Murkybass .V J * J ^ J * I J ^ J ^
Jf «to.
mit welchem es die Melodie begleitet, das CostUm der
alten Zeit hinzu.
Ein als fünfter Satz folgendes Scherzo (Allegro ^U)
beschwört in seinem Hauptthema:
ijji'lj.'! J. IJJ Jl .1 I I I I I LM I J I
den Vergleich mit Beethoven's zweiter Sinfonie (Trio im
Scherzo) etwas zu keck herauf und wird bei Aufführungen
am besten gestrichen.
Ein Rondo beschliesst als sechster Satz die Serenade.
Sein Hauptthema:
Allei^o.
•to.
welches einen leichten Anflug von Schumann^schem Wesen
hat, passt sehr gut zum Bilde einer fröhlich nach Hause
ziehenden Gesellschaft. Unter den Nebenthemen des Satzes
hat das folgende:
«<? 568 «*
n»
fUr die Entwickelung und Durchfolinuig hervorragende
Bedeutung.
J. BrftlMu Die zweite Serenade von Brahma (Adur op. 16), nur
8«r«nade Nr. 2 wenig jünger als die in Ddur, verhIUt sich zur letzteren
(AdoT). ^jg ^ß Schwester zum Bruder. Sie ist noch zarter, heim-
licher, inniger und tiefer ; zu gelegener Zeit kehrt sie aber
auch den Wildfang noch stärker heraus. Ueber ihrem
Klang liegt ein mattes Colorit: wie im ersten Satze seines
Requiem, wie Mehul in seinem Uthal, hat Brahms die
Violinen weggelassen und den Bratschen die Führung des
Streichorchesters übergeben. An formeller Reife steht die
Adur -Serenade über der ersten, an äusserer Wirkung
unter ihr.
Der erste Satz (Allegro moderado, (h A dur) hat zum
Hauptthema eine jener unscheinbaren, für Brahms be-
zeichnenden Melodien, deren seelischer Fonds sich erst bei
näherem Eindringen erschliesst:
Allegro moderato.
Das zweite Thema, welches der glücklichen Stimmung
einen lebhaften, aber immer noch reservirten Ausdruck
giebt, hat Wiener Localton:
f
m
f * -
Unter den Seitengedanken, welche zwischen den beiden
Themen auftreten, ist der folgende für die Durchfuhrung
^ 569 'o»
von
Wichtigkeit:^ ^)|^ fJJ^ iff Jl|J rp Ij ' Ergeht
in eine Episode über, deren Motiv:
JL Ji» f \f r [» I r r i i r 1 = an die Magelone- Romanzen
des Componisten erinnert.
Der zweite Satz, Scherzo (Vivace '/4, Cdur) vertritt
mit dem Finale die energische Heiterkeit in der Serenade.
YiTace. ±
Sein Hauptthema jf^tll^ffi IpPPt/ir-* ^^° ^^^
Bläsern frisch herausgeschmettert, beherrscht den Satz
allein. Wie in ihm und in der Mehrzahl der Themen der
A dur-Serenade, tritt auch in dem sanften Trio die Melodie
Arm in Arm mit einer Parallelstimme auf:
i{>jijjjijiiijjji^jjijjjijjiirii
Das ganze Scherzo hält sich in knappen Dimensionen.
Der dritte Satz: Adagio (^-/j^ Amoll) hat als erstes Thema
folgendes: ^^ J, J.HJ^J J)^ .| , jl^Jji ff [ E«
wird von nachstehender Bassfigur begleitet
'-^ ff j -M -1^^ J p r h I «J ^*-l |/J-1 p r • Sie schliesst sich den
Modulationen der Melodie in Transpositionen an und
bleibt ihr immer zur Seite, wodurch der Haupttheil des
Adagios sich der Form des alten Passacaglio , den Brahms
ja bekanntlich auch sonst, zuletzt noch in seiner vierten
Sinfonie verwendet hat, nähert. Der Charakter des Satzes
ist ruhig, sehnend, sinnend und träumerisch. Die erregten
Momente düstrer Leidenschaft in ihm kommen mit dem
heftig einsetzenden Motiv, j£ '■^■'Joiizr zum Ausdruck und
ce
570
©j
gehen schnell yorüher. Brahms entflieht ihnen durch einen
Sprung in das ganx entlegne Asdur. Hier setzen zunächst
die Homer mit einer freundlich schwärmerischen Melodie
ein, die in den Stimmungskreis zurückfuhrt, in dem die
Serenade begann. Dann folgt ihr in den Holzbläsern das
eigentliche zweite Thema:
Mit der ihm zugehörigen Gruppe bildet es nur ein aus-
drucksvolles Intermezzo. Weder die Durchführung noch
die Reprise wissen von ihm.
Der vierte Satz: , Quasi Menuetto* (Ddur, ^j^) ist
durch das zögernde Element, welches seine freundliche
Stimmung und seinen schlichten Melodiebau beherrscht:
Uanpttatz.
^jühTj jij .j .n"f'j'j' rii"P:i
^^^1^^
Trio. Ok
eigenthümlich charakterisirt.
Der Schlusssatz , Rondo* (Allegro V4 Adur) erhält
durch die Hauptthemen
AUe^o. ^.--.^ — ^ -. •. Ofc. ^Ts ^^.
sein fröhliches Gepräge. Die liebenswürdige Schüchternheit,
welche in den Gesichtszügen dieser Serenade einen her-
vortretenden Theil bildet, blickt noch einmal aus dem
«<? 571 '^
kleinen, dem zweiten Thema vorhergehenden Seitensatze,
.in welchem sich Clarinetten und Fagotte, anfangs in cano-
nischem Stile, über das Motiv
unterhalten.
Der von Brahms aufgestellten Ideenrichtung folgt auch
Bobert Volkmann in seinen drei Serenaden für Streich-
orchester, hält sich aber in knappen Formen. Das Schema
der ersten und der dritten Serenade gleicht dem der klei-
neren sinfonischen Dichtungen Liszt's, die zweite bildet
eine Suite von vier selbständigen und getrennten, aber
kurzen Sätzen. Die Serenaden von Brahms können eine
Sinfonie ersetzen, die von Volkmann eignen sich sehr gut
zu Zwischennummem im Concert und sind als solche auch
ausserordentlich beliebt. Dem Inhalt nach gehören sie
zu den gelungensten und gehaltreichsten Leistungen der
neueren musikalischen Genremalerei. Die poetisch be-
deutendste unter ihnen ist die dritte (Dmoll) mit dem B. TolkmuiB
Solocello. Der Solist hat in dieser Serenade eine ähnliche Serenade Nr. 8
Bolle wie der Solobratschist in Berlioz^s Haroldsinfonie. (DmoU).
Das Cello personificirt einen Melancholicus , der in allen
Lagen immer wieder auf sein Leibthema zurückkommt:
Largfaetto, non troppo
Ob der Chor zustimmt oder
widerspricht, der Cellist bleibt
bei diesem Motiv; wird jener heiter und ausgelassen, so
sieht er einsilbig zu, und das Freundlichste, was sich ihm
abgewinnen lässt, ist eine elegisch klagende Melodie:
Andaate^spreftsiTo. _ _
:, mit welcher die
lebendig ge-
haltene Composition auch einen rührenden und versöhnen-
den Abschluss erhält.
Die beliebteste unter den Serenaden Volkmann's ist B. TolkmaBB
die zweite in F dur und zwar wegen ihrer zweiten Nummer, ^"j^*^'* *
eines Walzers über folgendes Hauptthema:
(Fdur).
=^ 572 "^
Allepretto moderato.
ju Liiiipijj'ii nnnriiMi^iiiiii^^
Es ist eigentlich kein Walzer, sondern ein Walzerchen^
ersichtlich für alte Leute gedacht — ein Cabinetstück
liebenswürdig altfränkischer Musik. Von den beiden Theilen,
aus welchen der erste Satz der Serenade besteht: Allegro
moderat o (F dur ^,'4) und Molto vivace (D moU */4), ist der
zweite der originellere: Mit imposanter Consequenz und
doch reich an Abwechselung und effektvollen Steigerungen
ist er auf folgendes spröde Motiv gebaut:
Molto TlTtee.
flS ^ Sl J j^ f r f f LJ ). Besonders schön ist der Ein-
tritt seines Mittelsatzes in Ddur. Die Serenade schliesst
mit einem Geschwindmarsch. Die dreitaktige Construction
seines Hauptthema,
AUdCTO Bod6r&to.
i;i.irn]r3riQ^[l^i{jnjjj.i tXI^
und in dem ganzen Satze verrathen die ungarische At-
mosphäre, welche alle drei Serenaden Volkmann's mehr
oder weniger durchweht, besonders deutlich.
Die erste Serenade Volkmann's (Cdur) wird von dem-
selben kräftigen Maestoso aUa Maria, welches sie erÖflFnet,
auch beschlossen. Die Mitte der Composition nimmt ein
längeres Allegro vivo ein, welches auf Grund des Thema:
Allef^ro tIto.
jl II I r f I P% r I r M P ^^'^\tn^^ eine Eeihe
kecker, trotziger Gänge thut. Die schönsten Partien der
Serenade bilden die beiden langsamen Sätze, welche dieses
Allegro vivo einrahmen. Der erste ist sehr kurz in der
Weise der überleitenden Largi HändeFs, der zweite hat
c<? 573 '^
die dreitheilige Liedform, zum Hauptthema folgende edel
Andante sosteniuo.
sentimentale Melodie :
Kurz vor seinem Tode hat noch Niels Gade den Kiels Onde.
neuen Suitenschatz mit mehreren liebenswürdigen Arbeiten
bereichert. Die erste davon sind die ^Novelletten* fUr N. Gade
Streichorchester (op. 53). Von den vier Sätzen dieser Noreietten.
kleinen Suite, die sich auch als Sinfonietta vorführen
Hesse, sind der erste, der zweite und vierte einer feinen,
gebildeten Fröhlichkeit gewidmet. Hie und da mischt
sich in das geistige Geplänkel launiger Beden ein recht
wehmüthiger Ton, wie ein Rückblick auf Jugend und
auf Mendelssohn. Der dritte Satz, ein Andante, spricht
in den kurzen sinnigen Fragesätzen des Vaters der No-
vellette: R. Schumann^s. Besondere Bewunderung ver-
dient noch der Stil des reizenden und anheimelnden Kunst-
werkchens, der — ohne gerade mit Schulweisheit zu prunken
— die Stimmen unter einander in die interessantesten Ver-
bindungen bringt und jeder einzelnen Freiheit und eigne
Bedeutung sichert.
Die zweite dieser GadeVhen Suiten , Ein Sommer- M. Onde
tag auf dem Lande*^ (op. 55) besteht aus fünf Sätzen : Ein Sommerug.
1) Früh. 2) Stürmisch, 3) Waldeseinsamkeit, 4) Humoreske,
5) Abends, Lustiges Volksleben — die die versprochnen
Tonmalereien in der gelassnen Weise der alten romantischen
Schule ausführen. Die , Waldeinsamkeit* und der Schluss-
satz sind die besten Stücke, jene durch ihren warmen Ton,
dieser durch die sinnige Andeutung der Abendstimmung.
Die Nummern, welche Kraft und Frische verlangen, bleiben
hinter den berechtigten Erwartungen.
Mit einer dritten Orchestersuite: Holbergiana (op. 61) S. Onde
hat Gade eine Aufgabe durchgeführt, die auch Edv. Grieg Holbergiana.
bei der gleichen Gelegenheit — Holberg's zweihundertstem
Geburtstag — in ähnlicher Weise gelöst hat. Auch diese
Composition ist etwas umständlich und redselig und lässt
die Knappheit und Gewichtigkeit vermissen, die der Suite
e<? 574 ^
in der alten guten Zeit zu eigen war. Aber sie steht über
dem Sommertag Gade's durch die Anschaulichkeit und den
Gehalt der Thematik. Der Plan des (Komponisten war wohl
der die verschiednen Seiten von Holberg's künstlerischen
Charakter musikalisch aufleben zu lassen. Der erste Satz
(Moderato, Tempo di Minuetto, '/4, G dur) zeichnet uns erst in
weichen, sanften Weisen, die aus Dittersdorf und aus Nau-
mann genommen sein konnten den humanen Philosophen, den
Verfasser der , Moralischen Episteln*. Die Durchführung
beginnt animato und in Moll, scharfen erregten Tons. Da
kommt wohl der Satyriker, der rücksichtlose Feind alles Un-
rechtes zu Wort. Der zweite Satz (Allegro scherzando,
^!^J Emoll) bezieht sich auf den Schöpfer der dänischen
Komödie. Ein ausgelassnes, in seinen Rhythmen sprühen-
des, in den Intervallen keckes Thema wird fugirt — ein
Bild von dem flotten Treiben der Holberg'schen Lustspiele
und ihren fröhlichen Verwickelungen. Eine alte Melodie
aus dem 18. Jahrhundert, die in der Mitte des Satzes (mit
Edur) eintritt, bezeichnet das volksthümliche Wesen von
Holberg's Kunst. Von andrer Seite her knüpft auch der
dritte Satz (Andantino, '/j, Dmoll) an diesen Punkt an:
er ist eine Instrumentalballade die, ähnlich wie dies in
Gade's C moll-Sinfonie geschieht, von alter nordischer Zeit,
von Leiden und Freuden eines ernsten kräftigen Geschlechts
erzählt. Mit dem zweiten Satz der Suite theilt dieser
dritte die Fülle und Echtheit der Stimmung, er übertriflft
ihn aber in der Freiheit und Mannigfaltigkeit von Form
und Ausdruck. Die Erregtheit des Erzählens äussert sich
in Recitativen und dramatischen Wendungen. Die Suite
schliesst mit einem Allegro festivo das an die Entr^es der
alten französischen Oper erinnert, an Festaufzüge mit wech-
selndem Personal und Balletvorstellungen. Halb und halb
schlägt dieser Schlusssatz auch den Ton wehmüthiger,
pietätvoller Erinnerung an. Nach der Wiederaufnahme
des Hauptsatzes (Gdur ^/4) greift er auf die zweite, die
Komödiennummer der Suite zurück und ganz am Ende
fallen wie im Kaisermarsch R. Wagner's Singstimmen ein.
Sie rufen ,Vivat Holberg* !
c<^ 575 ^
Unter der grossen Zahl jüngerer Tonsetzer, welche
im Anschluss an Brahms und Yolkmann die Suite pflegen
— R. Fuchs, A. Klughardt, J. Brüll, H. Reinhold, v. Stan-
ford, A. Bird etc. — nimmt nur RobertFuchs einen festen
und der Stellung jener Vorbilder naheliegenden Platz im Re-
pertoir ein. Seine drei Serenaden für Streichorchester, oft ge-
spielt und gern gehört, sind das Produkt einer harmonischen
Künstlernatur und jener feinen Bildung, welche auch be-
kannte und gewöhnliche Ideen mit neuem Interesse zu
umgeben vermag. Ein besonderes Talent zeigt Fuchs in
seinen Serenaden als Colorist. Mit den einfachsten Mitteln,
Verdoppelung von Mittelstimmen, Theilung der einzelnen
Instrumente, entwickelt er in seinem Streichorchester ein
Leben, eine Abwechslung, einen Reiz im Klang, welcher
die Wirkung der einfachen Serenadengedanken wesentlich
erhöht.
Die erste Serenade von R. Fuchs (Ddur) zeigt viel B. Foehs
durchdachte Detailarbeit und Hinneigung zu den kleineren Serenade Nr. i
Künsten der Contrapunktik. Die Themen lieben das inter- (Ddur).
essante Halbdunkel der Mittelstimmen, einzelne Motive,
welche wie das die Serenaden eröffnende:
Andante.
platt anfangen , werden durch
Nachahmungen und Umbildungen veredelt. Durch Innig-
keit der Empfindung zeichnet sich unter den Sätzen
der Serenade der Gesdur-Theil des Allegro scher-
zando aus. Der breiteste ist der Schlusssatz (Dmoll ^/g).
Sein Durchführungstheil verlangt Aufmerksamkeit auf das
Motiv :
Allegro.
II ^ii liUiji liljjj.'
welches vom Hintergrunde aus längere Zeit neckisch drohend
den Satz beherrscht. Das zweite Thema dieses Finale lässt g. Fachs
von Feme den traulichen Wiener Walzerton hören. Serenade Nr. 2
Die zweite Serenade von R. Fuchs (Cdur) ist leb- (Odnr).
«c 576 ^
hafter als die erste and neigt dem Volkston mehr su als
jene. Am kecksten kommt er im folgenden Thema des
Finale zum Ausdruck:
Pr««to.
Das Larghetto dieser Serenade besteht aus Thema und
vier Variationen j welche , zwischen Dur und Moll wech-
selnd, vorwiegend figurativ gehalten sind.
B. Ficlis In die dritte Serenade (Emoll) klingen, wie bei
Serenade Nr. 8 Volkmann, ungarische Elemente herein. Ihr schönster Satz
(Emou>. £g^ ^j^ zarte Allegretto grazioso mit dem in der Bratsche
versteckten Thema.
Einen schnell vorübergegangnen grösseren Erfolg in der
X. Houcowskt Suite hat unter den jungem Tonsetzem M. Moszcowski
Suite. . nfiit zwei Arbeiten errungen, die von einem virtuosen Or-
chester vorgetragen dem Ohr manches Aparte und Er-
staunliche bieten, hie und da auch geistige Bedeutung er-
streben. Geschichtlich sind sie bemerkenswerth als Bei*
spiele für das Eandringen modern französischen Balletgeistes
in die deutsche Composition und haben ersichtlich mit
ihren pikanten Reizen in der neuesten Orchestersuite etwas
Schule gemacht.
Unter den jüngsten Beiträgen zur Suite verdienen die
Serenade von F. Draeseke und die Symphonische Suite
von E. N. von Rezni6zek besondere Hervorhebung, jene
weil sie den richtigen alten Suitenton so vorzüglich trifft,
diese weil sie ihn gänzlich verfehlt.
Die Serenade von Felix Draeseke (op. 49, Ddur)
ist eine der liebenswürdigsten Orchestercompositionen der
neueren Zeit. Sie bt ersichtlich in glücklichen Tagen
entstanden und zeigt uns den charaktervollen und kunst-
gewaltigen Tonsetzer, der wegen seiner schwierigen Con-
trapunkte und wegen seiner Herbheit zuweilen gefürchtet
wird, als einen Idyllendichter von reinster Naivetät und
köstlichstem Humor. Einigermassen archaisirt auch diese
Serenade ungefähr so wie es Vautier und Fritz Raul-
bach auf ihren Bildern aus alter Zeit gern thun, so wie
c<? 577 ^
es auch Brabms in seiner D durserenade gehalten hat.
Mit diesem Werke berührt sich Draeseke's Serenade viel-
fach in der Stimmung. Denn beiden hat das gleiche Vor-
bild vorgeschwebt: Mozart's Divertiments , beide (Kompo-
nisten haben sich in die entschwundne Poesie des 18. Jahr-
hunderts mit seinen Gartenmusiken, mit seiner engen Ver-
bindung zwischen Leben und Kunst zurückversetzt.
Draescke ist bis in die Instrumentirung hinein dem Ton
der alten Serenade gerecht geworden : er arbeitet mit einem
sogenannten kleinen Orchester das die Streichinstrumente,
Flöten, Oboen, Clarinetten, Fagotten und 2 Homer um-
fasst. Die zwei Trompeten und Pauken, die noch hinzu-
kommen wirken mehr drollig als prunkhaft. Auch in der
Zahl und Art der Sätze würde die Serenade von Draeseke F. Draeieke
den alten Bedingungen praktischer Verwendung durchaus Serenade,
entsprechen. Sie hat fünf Sätze , die einfach und knapp
gehalten sind; nur das Finale greift weiter aus.
Eine richtige Serenade verlangt ein Stück für den
Aufzug der Gratulanten. So eröffnet dann Draeseke die
seinige mit einem Marsch der folgendermassen wohlge-
muth und freundlich anfängt:
AUegretto leggiero. ,^-j ^^
'i ^L'i ^iii' ^jj, I iiijiT^iirj
Das in den letzten Takten dieses Beispiels angegebne
Achtelmotiv, der Ausdruck einer gewissen Vorfreude, trägt
nicht blos die weitre Entwickelung der ersten Clausel,
sondern liegt auch der ersten Hälfte des Nebensatzes zu
Grunde. Erst in dessen Mitte setzen wieder hüpfende und
springende Marschmotive ein. Das sehr kurze Trio (in
G dur) knüpft ebenfalls an die erwartungsvolle Stimmung
jenes Achtelmotivs an und geht in seiner zweiten Clausel
an die Erzählung stillen Glücks. Der Marschsatz wird
dann mit erweitertem Schluss wiederholt.
Dem Aufmarsch folgt logisch als nächster, zweiter
Kretzschmar, Führer, I. 37
«e 578 ^
Sats, ein «StSndchen* (Andantino, « ,, Fismoll). Der
Liebhaber spricht darch die Stimme eines Solocellos suerst
seine Verehrung aus:
Andaotlno. ^_^ ^
etc.
p moUö espr.
Diesem ersten Thema folgt ein Seitenthema in dem die
Bede flüssiger, herzhafter und heitrer wird:
-*[_ [, ' Lj" >-^gto. Das eigentliche zweite Thema,
im Charakter gemüthlich und zutraulich, wird von den
Bratschen eingeführt:
p espr. -*=^
Ueberhaupt folgt in diesem zweiten Theile das Solo-
instrument dem Chor, eine Abwechselung durch die die
Form dieses Ständchens sehr hübsch belebt wird. Die
Rückkehr zum ersten Thema und zur Hauptonart ver-
mittelt das oben angeführte Seitenthema mit dem Sech-
zehntelmotiv. Ehe ein Thema überhaupt einsetzt, hören
wir immer acht Takte die ganz lose präludiren, Tonart und
Rhjlhmus festsetzen ; nur die erste Violine tritt ein wenig
melodisch daraus hervor. Am Schluss dieses Präludiums
gleicht der Klang dieses Orchesters dem einer Guitarre.
In seiner Harmonie tritt ein dissonanter Accord stark
hervor, den der Componist im zweiten TheU des Sätcchens
überraschend im Thema erklingen lässt Eigenthündich
ist auch das Ende des Sätzchens, es macht den Eindruck
einer eingetretenen Störung, als sei der Künstler der die
Huldigung bringt aus dem Text geworfen.
Denkt man hier schon an Berlioz's Bomeo, so noch
viel mehr in dem folgenden dritten Satz der Serenade
co 579 ^
(Andante ®/s, Adur) der als Liebe sscene betitelt ist und
wie aus der Verwandtschaft in der Harmonie schon ver-
muthet werden kann, wohl als Fortsetzung des Ständchens
aufgefasst werden kann. Wir verstehen jetzt den kleinen
Aufruhr am Schluss der vorhergehenden Nummer: die
Geliebte der das Ständchen galt, ist gekonunen. Auch in
diesem Satze kann von einer Berührung Draeseke^s mit
Berlioz gesprochen werden; sie äussert sich in einer ge-
wissen Geroeinsamkeit von Ton und Stimmung, einer
ausserordentlichen Zartheit und Zurückhaltung im Aus-
druck des warmen Gefühls. Es ist eine Liebesscene bei
der glühende Sinnlichkeit ganz ausgeschlossen ist, sie hat
einen Zug von Rührung und Frömmigkeit; man kann an
eine Liebe denken, die durch schwere Hindemisse gegangen,
die alt geworden ist. Die Form die Draeseke hier wie
im vorhergehenden Satz für seine Darstellung gewählt hat
ist ungeführ die der Sonatine. Die zwei Themen
AÜ i A.ndant6.
r f fjlif I p^ folgen un-
mittelbar auf einander. Das erste trägt den Charakter
edelster Heimlichkeit, das zweite, mit dem der Vortrag
Dialogformen annimmt, zeigt wie sich die Herzen öffnen.
87*
c<3' 580 ^
Ihm folgt ein sehr zärtlicher Nachsatz, der sich auf da«
Motiv: ^*|| L'iira f ■ r P r ^ stützt und namentlich
in der Qnart, mit der es schliesst Träger freundlicher und
starker Hoffnungen wird. Die ganze Themenreihe wird
zweimal vorUhergeführt, das zweite Mal mit Veränderungen
und Erweiterungen. Dann folgt ein freier Schluss der
durch Recitative in Clarinette und Cello eingeleitet, dra-
matisch verläuft und sowohl in Wärme wie in Innigkeit
des Ausdrucks die Krone des ganzen Tonbildes bedeutet.
Mit dem folgenden Satze, einer Polonaise (Allegretto
con brio, •/4, D dur) wird aus der Gartenmusik ein Garten-
fest mit grosser Gesellschaft. Diese Polonaise entfaltet
Prunk und Virtuosität (Clarinette). Das Trio (Gdur, un
poco meno mosso) ist als eine Scene abseits gedacht, io
der zwei Liebende in innigen Tönen Zwiesprache halten.
Der Lärm des Festes klingt in versprengten Rhythmen
herüber, die die Homer, die Celli, auch einmal die Clari-
netten in die Ruhepunkte des Gesangs hineinwerfen.
Das Finale (Prestissimo, C, Ddur) ist ein Sonaten-
satz. Sein erstes Thema:
^ji Prestissimo. _
^j * . .
/> : .
' fTj I il, iTHT^ nTTj I jTTtft-
^^ ^ ^ ^ ^ ^ ^ ^ ^
^ : : : /
aus dem Freude und Befriedigung im langen Zuge strömt,
setzt nach einer kleinen Einleitung ein, in der das Viertel-
motiv seines Anfangs zu einem Ausbruch des Humors ver-
arbeitet wird, der durch die Trugschlüsse einen kecken,
übermüthigen Zug erhält. Mehifach begegnen uns im
Satze solche freie Wendungen guter Laune, am über-
raschendsten bei dem Bdureinsatze des zweiten Themas
cc? 581 ^
in der Durchfüliruiig. Dieses zweite Thema selbst ist in
der Stimmung mit dem ersten verwandt, nur äussert es sie
ruhiger.
Auch an der Suite von £. N. von Rezniczek, dem durchE.K.r.BexmiSiek
die Oper „Donna Diana* bekannt gewordnen Mannheimer Sinfoniwhe
Kapellmeister, ist ernstlich nur die missverständliche und irre- S^*®-
leitende Benennung zu beanstanden. Denn die Suite war jeder-
zeit ausgesprochenste Gesellschaftsmnsik; hier aber stehen
wir vor ganz und gar subjectiver Kunst. Der Componist
scheint diesen Sachverhalt gefUhlt zu haben, als er seine
Arbeit als symphonische Suite bezeichnete. Die drei
Sätze, aus denen sie besteht, sind wohl ein Niederschlag
von tief greifenden persönlichen Erlebnissen und Schick-
salen ihres Verfassers ; ein Zug leidenschaftlicher Erregung
geht durch das Ganze, der alle diejenigen Zuhörer, die
gewöhnt sind in der Suite von allem Pathos und allen
seelischen Strapazen loszukommen, befremden muss. Die
kleine Enttäuschung wird hoffentlich immer schnell über-
wunden. Denn Rezniczeks Musik ist zwar nicht thematisch
originell, sie zeichnet sich aber aus durch Klarheit und
Knappheit, durch eine unmittelbare, dramatische und
lebenswahre Empfindung. Dazu kommt noch eine sehr
farbenscharfe, wirksame Instrumentirung.
Der erste der drei Sätze (C, Emoll) Ouvertüre
benannt entwickelt sich um zwei Themen, deren An-
fänge:
€ehr rasch and mit Feuer.
und
^.JMiY-njiTijj ^\ij I )fr.i.E g,„^g,„i „.
p con wtoito ßsprtsst'oM
kennen lassen wie deutlich der Componist den Gegensatz
zwischen dem Sturm der Gefühle und der Sehnsucht nach
Frieden gestaltet hat. Das zweite muss, wenn es die
c<? 582 ^
höchsten Wirktmgen aasUben soll, immer plötzlich ein-
treten ; die Kunst des Componisten hat sich in den lieber-
gangen zu zeigen die aus ihm nach der Aufregong des
Hauptthemas zurückführen. Sie haben überall den Schein
grosser Natürlichkeit. Der Aufbau des ganzen Satzes
vollzieht sich im bekannten Sonatenschema, die Durch-
führung ist kurz gehalteui der Schluss versichert : dass für
weitre Anfechtungen und Prüfungen noch ein grosser Vor-
rath von männlicher Kraft vorhanden ist.
Der zweite Satz (Adagio, 'Z«, Fdur) thut einen
Schritt weiter nach der Richtung, aus der das zweite
Thema des ersten Satzes entgegenleuchtete. Er wendet
sich der Hoffnung schon mit dem ersten Thema:
'iT' ifiljil_hNpT|il fl I I p
QU ' tA
zu. Noch entschiedner, mit
mächtigem Schwung geschieht das aber im zweiten Thema,
das sich vom folgenden Anfang aus:
zu einer zwölf taktigen, schön modulirenden, auf energische
Bässe gestützten, in den Geigen hochsteigenden Melodie
entwickelt. Im Hauptthema fällt die Dissonanz sehr auf,
die beim ersten Eintritt im zweiten und vierten Takt an-
geschlagen wird. Bei der Weiterführung des Themas
wird sie zwar vermieden, aber es bleibt an ihrer Stelle
immer ein fremder Ton, mit dem entlegne, vereinzelte
Stimmen in hohen Lagen einsetzen. Die Erinnerung an
Leid und Unglück, die in diesen seltsamen Accorden
stechend mit geht, lebt in dem Adagio auch noch in einer
andren Form leise auf: in einem chromatisch klagenden
cc? 583 ^
Motir, das (in Fagott und Bratschen, dann aucb in den
Geigen und Oboen):
die kurze
Durchführung eröffnet. Bald lassen sich auch die punk-
tirten, heftigen Rhythmen vernehmen, die die Hauptträger
des Unfriedens waren, der die Ouvertüre beherrschte. Die
Wiederholung bringt das Hauptthema in einer Achtel-
Variation ; eine längere Coda zeigt nochmals auf den ganzen
Unfang seines beruhigenden und verheissenden Inhalts.
Den dritten, den Schlusssatz (Sehr rasch, ^/4, Emoll)
seiner symphonischen Suite hat der Coraponist Scherzo
finale betitelt. Es sind aber ausschliesslich bittre Scherzo,
zu denen sich der Componist versteht und der Humor, der
hier waltet, ist der sogenannte Galgenhumor. In seinem
pessimistischen, zuweilen dämonischen Charakter, in seinem
trostlosen, verzweifelten Ausgang hat dieses Finale wenig
Seitenstücke; als Suitensatz ist es völlig unerhört. Auch
formell bietet es dem Zuhörer Schwierigkeiten. Eine der
ersten bereitet schon das Hauptthema:
Sehr-ntscb und erregt.
i'l'JM|lilllJ]J|l JJllJji^l
. . 1 (Ho rner gestopft.) ^*-^
^ W' .T ^ ^ " ^ H JT'^'^T"^ ^*<^' dessen verzwickter
Rhythmus sich nur widerwillig in Bewegung setzt. Es zieht
ein Gefolge von allerhand elenden Stimmungen nach sich,
die sich in winselnden und sich krümmenden Motiven
äussern, es tritt in Bettlergestalt auf und im Ton der
Empörung. Unter den Nebenthemen, die in seiner Gruppe
auftreten, tritt klagend ein schwankender Gesang hervor,
der zuerst in Oboe und Bratsche erscheint:
e<? 584 'ö^
Ihm folgt dann das eigentliche zweite Thema des Satzes,
zwar in gehaltener Stimmung aber voll Resignation und
Leiden ;
, VioUnen snl 0
-}-U-^^
E^-JU^J t|J |il I r r r I ^ etc. Es wird sofort
fnit dem Haupttbema combinirt ; neben dieser Combination
gelangt noch das aus einer zufälligen melodischen Wendung
hervorgegangne Klagemotiv: AK1* j i^ I '^^^i } i
m
diesem Abschnitt zu wesentlicher Bedeutung.
Der erste Theil des Satzes schliesst mit einer kurzen
leidenschaftlichen Wiederholung des Hauptthemas allein,
die sich aus dem lauten Ton ausserordentlich schnell in
die Stille und ins Gespensterhafte verliert. Die Durch-
führung poltert mit den Rhythmen des Hexensabbaths
herein und widmet sich dann bald der Durchführung einer
Doppelfugc, die zum ersten Thema das Hauptthema des
Finale hat und mit ihm folgenden Contrapunkt verbindet:
Obgleich nun die Suite der Zeit der Wiener Schule
nahesteht, gehört sie doch zu den Nebenbuhlern der
classischen Sinfonie und ihr Wiederaufleben ist eine von
den Erscheinungen, die das Erbe Beethoven's bedroht zeigen.
Die Gründe, weshalb es mit der sinfonischen Produktion
nach classischem Muster mehr und mehr abwärts geht,
sind doppelter Natur. Auf der einen Seite sind die An-
sprüche gewachsen, auf der andren haben die Fähigkeiten
abgenommen. Gewachsen sind die Ansprüche an den
^ 585 '^
organischen Zusammenhang der Theile cyclischer Compo-
sitionen. Die Zusammenstellung ron vier einander nichts
angehenden Sätzen zu einem Ganzen lassen wir uns nur
dann noch gefallen, wenn der Gehalt dieser einzelnen Sätze
überwältigend ist. Vermindert hat sich dagegen die Be-
fähigung unsrer Componisten für die Haydn-Beethoven*sche
Kunst der Auslegung und Durchführung. Diese Kunst war
nicht blos das Privileg ganz ausserordentlicher Persönlich-
keiten, sondern fast noch mehr die Frucht einer ganz
ungewöhnlich geistig reichen Zeit. Sie lässt sich deshalb
mit allen musikalischen Mühen nicht zurückgewinnen und
der Versuch ihre Formen und ihre Methode nachzuahmen
fuhrt vielfach zu Ergebnissen, bei denen wieder gefragt
werden kann: , Sonate, que me veux tu?** Trotz alledem
repräsentirt die Summe der neueren Sinfoniecomposition
einen bedeutenden Theil des besten Talents und des
ernstesten Fleisses, über welchen die dermalige musikalische
Generation verfugt.
Merkwürdig bald ist die Herrschaft der Mendelssohn'-
schen Schule erloschen. Mendelssohn nahm die Geister
seiner Zeitgenossen mit einer Kraft in Beschlag, der sich
selbst ältere Tonsetzer nicht entziehen konnten. Reissi-
ger's Esdur-Sinfonie (1839) bietet hierfür den Beleg. Aber
die Sinfoniker, welche sich seiner Richtung ganz hingaben,
hatten nur einen kurz dauernden Erfolg. Nach einem
Jahrzehnt schon schwanden die Sinfonien von Taubert,
die Esdur-Sinfonie von Rietz, Hiller's E moll- Sinfonie (mit
dem Motto: ,Es muss doch Frühling werden") vollständig
vom Repertoir, und die spätem Nachzügler der Schule
(Hol: D moll- Sinfonie, J. Zellner ^Melusina**) haben weitere Hol, Zellner.
Beachtung überhaupt nicht mehr gefunden. Auch die-
jenigen Werke, welche mit ihrer geistigen Basis tiefer in
Schumann hinabtauchen, sind schneller bei Seite gelegt
worden, als sie es verdienten. Wir nennen die bereits
erwähnte Sinfonie in Cdur von W. Bargiel und die Adur-
Sinfonie von C. Reinecke, welche in ihren letzten beiden
Sätzen wirklich originelle Erfindungen des Humors und der
Anmuth bietet. Eine zweite Sinfonie Reinecke^s in C moll.
Kelsslger.
Taabert.
Bietx.
HUler.
Bargiel.
Beinecke.
e<? 586 ^
die i. J. 1874 erschienen ist, interessirt vornehmlich darum,
weil sie, ähnlich wie die Arbeiten Berlioz's oder Abert'»
«Columbos'' in den alten Formen Programmtendenzen ver-
folgt. Ihre Sätze geben Bilder aus dem Leben Hakon
JarFs wieder, den der Componist auch zum Gegenstand
einer sehr bekannten und bedeutenden Cantate für Mämier-
chor gewählt hat. Vor kurzem ist noch eine dritte, eine
Sinfonie in GmoU (op. 227) erschienen, die wohl als
C. Reiaeeke Reinecke^s Hauptarbeit auf diesem Gebiete bezeichnet
Dritt« Sinfoni«. werden darf und die man mit ihrem ersten Satz zu den
bedeutendsten neuen Orchestercompositionen zu rechnen
hat. £ine verhältnissmässig grosse Anzahl von Aufflihrungen,
die diese G moll - Sinfonie erfahren hat, bestätigen diese
Bedeutung auch äusserlich.
Wir haben kein Recht auch diese Sinfonie Reinecke^s
mit der Schumann'schen Schule in Verbindung zu bringen,
mit der schon die zweite kaum noch Nennenswerthes ge-
mein hat. Indem der Componist das für die Musik und
für die lyrischen Künste immer wieder neue Bild belohn-
ten Kampfes in der Spiegelung vorfUhrt, die es in seiner
massvollen, harmonisch abgeklärten Natur erfährt, tritt
er uns kräftiger ab je entgegen. Volkmannn, Spohr und
Gade sind die verwandten Künstler mit denen er sich der
Reihe nach hier berührt.
Es ist der erste Satz (Allegro, (fe, Gmoll) der die
geistige Verwandtschaft mit R. Volkmann, insbesondere mit
dessen Dmoll-Sinfonie, aufweist. Am stärksten spricht sie
sich in dem Hauptthema aus, dessen Gehalt wesentlich in
^ ; Allegro. Js 88.
dem Anfangsmotiv 4 ^^ J J J -h^ Jl J ^^^ß*' ^^*
ausserordentlicher Energie ist die ernste Stimmung und der
feste Wille, der sich in diesen wenigen Noten kurz und
bedeutend ausspricht, in dem Satz festgehalten. Es fehlt fast
in keinem Theil darin, es tritt zurück wenn andre Haupt-
gedanken den Platz beanspruchen; aber es verschwindet
nicht, sondern wird Begleitungsmotiv. Auch hierin erinnert
<^ 587 "^
diese G moll- Sinfonie an Beethoren's fünfte, von der sie im
Allgemeinen mehr als einen Hauch verspüren lässt. Auch
die Vergrösserungen und Verkürzungen und die andern
zahlreichen, contrapunktischen Künste, die mit dem Motive
spielend vorgenonunen werden, zeigen wie voll des Com-
ponisten Phantasie von ihm war. So ist denn eine Com-
Position entstanden, deren Einfachheit, Knappheit und
Grösse einen classischen Eindruck bewirken und dem sich
nur die offenbare Verblendung verschliessen kann. Das
zweite Thema des Satzes, zu dem ein auf dem Hauptmotiv
ruhender, aber sich mit recitativischer Freiheit äussernder
Uebergangssatz hinleitet, zeigt schon in seinem Anfang :
S/'\ I M M I I H/ I rTin~rtJ~
einen eigenthümlich schönen Ausdruck von Resignation,
gleicht einem Wort in dem gereifte Lebenserfahrung auf-
fordert zu hoffen und zugleich sich zu bescheiden. Die
Durchführung bringt erst das Hauptthema mit Dissonanzen
im Weg, zeigt es gewissermassen in seiner Arbeit, im
Kampf mit Widerstand und Hindernissen. Im Augenblick
der Rathlosigkeit tritt ihm das zweite Thema wie helfend
und tröstend entgegen und von da an bringt der Componist
eine Weile die unruhigen Elemente des Hauptthemas (aus
dem Achtelschluss) mit den sanften und weichen Klängen
des zweiten Themas in Berührung. Das Ende ist Er-
mattung, ein Verklingen in Pausen, aus dem auf einem
langen Orgelpunkt auf D ein neues Erwachen der Kraft
und Energie, die das Anfangsmotiv des Hauptthemas ver-
tritt, zur Reprise hinüberleitet.
Der zweite Satz hat in seinem Hauptthema:
.^ Andante sostennto. ■ i ■ ^tf^^fl
I
"T f^s ^^ I }}=. einer schönen Melodie, die an die
«e 588 -CK»
Beethoven'sche Zeit erinnert, sein Bestes. Auch in den
weiteren Sätzen der Sinfonie wird die Geschlossenheit und
Einheitlichkeit ihres ersten Satzes nicht wieder erreicht,
der Zuhörer muss sich an den Werth einzelner hervor-
ragender Gedanken halten.
In gleicher Progression, wie der geistige Einfluss der
Hauptmeister der Romantik verhlasst, wächst die Ein-
wirkung Beethoven's in der neuen Sinfonie. Neben ihm
in zweiter Linie tritt das Vorbild Schubert^s stärker her-
vor. Seine Cdur-Sinfonie, mit ihrem Finale namentlich,
und Beethoven*s neunte Sinfonie sind diejenigen Werke,
durch welche die frühere Periode in die gegenwärtige Sin-
fonielitteratur am mächtigsten hineinklingt.
Unter den namhaften Sinfonikern der Gegenwart ge-
A. Riblatteim bUhrt nach der Anciennetät der Vortritt: Anton Rubin-
Sinfonie Nr. 2 stein. Seine erste Sinfonie (Fdur) im Jahre 1854 ver-
(Fdur). öffentlicht, heute nur wenig gekannt, fällt noch in die
BlUthezeit der Mendelssohn'schen Schule und trägt in
ihren ersten beiden Sätzen die Spuren derselben. Ihre
letzten Sätze sind selbständig und lassen die Vergessenheit
bedauern, welche sich über das ganze Werk gebreitet hat.
Von den sechs Sinfonien des Componisten sind zwei Gemein-
gut der musikalischen Welt geworden: die Sinfonie ,Ocean*
und die „dramatische Sinfonie' (Nr. 4).
Obgleich die Oceansinfonie Franz Lizst gewidmet ist,
steht sie doch mit der Programmmusik nicht im engeren
Zusammenbang. Ihr Stil ist der Beethoven'sche und ihr
Titel giebt der Phantasie nur einen leichten Anhalt. Dass
Rubinstein unter die grösstcn musikalischen Erfindematuren
der neueren Zeit gehört, beweist namentlich der erste Satz
A. RablnstelB der Oceansinfonie : ein geniales , reiches Tonstück , von
Sinfonie mächtiger Stimmung getragen, im grossen Zuge entworfen,
,Oce«n'*. jjjj^ glücklichen , eigenthümlich anschaulichen Musik-
gedanken dargestellt ! Sucht man nach den näheren poeti-
schen Beziehungen des Satzes zum Titel, so stellt sich am
ungezwungensten das Bild der Ausfahrt ein. Dazu stimmt
das erste Thema:
ce 589 ^
Allei^ro maestoso.
1
jfl^A'd^A ^ie es erst erwartungsvoll leise aufflattert
] und dann in der prangenden Pracht des
f
vollen Orchesters vorüberzieht. Seinen Ab-
schluss erhält es in einer breit ausgreifenden, vom warmen,
innigen Gefühl durchwogten Gesangsmelodie
ivn:j.^iii^'4üL.i'j^'i I' ^^^^x
grosse Bedeutung hat. Zu der stillen Majestät des Oceans
passen die lang und ruhig dahinklingenden Dreiklangs-
harmonien, an denen die Bewegung des Satzes so häufig
Halt macht. Den drohenden und beängstigenden Cha-
rakter des Meeres deutet das Trompetenmotiv
an, welches namentlich dort an der
wo das liegende g mit den
Jy.jjjjlj si'
Harmonien des Chors in Dissonanzen lange wechselt, zu
sehr unheimlicher Wirkung gelangt. Das zweite Thema
des Satzes:
ri»^
j^ j i i ■^^=4h ^^^' gi^^* ^^ anmuthiger Form ernst be-
C :=^ schaulichen Gedanken Raum. Die Durch-
fuhrung der vielseitigen Ideen zeichnet sich durch Ruhe
und Vornehmheit aus.
In dem zweiten Satze der Sinfonie: Adagio (Emoll C)
ist folgende Melodie
^) Das 10. und 11. Achtel lies: h und c.
«<y 590 ^
Adafio BOB taito.
<|li"J.HJu ijJVg II f f ^nui|i,j]j I
die führende. Das zweite Thema, seiDem Charakter nach
noch tiefer fragend, ffingt mit einer aas Schumann*8 G dar-
Sinfonie bekannten Wendung an:
j. In den Streich-
i* de."
instrumenten erhalten durchgeführte leichte Begleitungs-
figuren die Gedanken an das Spiel der Wellen wach.
Die Ausführung der Ideen ist knapp; die poetische Haupt-
stelle des Satzes liegt kurz vor der Reprise: da, wo das
Hom seinen Ruf in die Stille hinaus erschallen lässt,
wo die Pauke zu dem Solo der Clarinette ausdrucksvoll
wirbelt.
Der dritte Satz (AUegro, •/4, G dur) könnte eine lustige
Seemannsscene bedeuten. Das Hauptthema beginnt derb
Mhlich animirt 'A ' I 1^^ 1^ f f "* ^ '^ '1 Tf 1^^
und erweckt bei den anderen Instrumenten in einer
Reihe wilder Triller ein verstärktes Echo seiner Stim-
mung. Im zweiten Thema wird der Humor etwas breit
und querköpfig. Das an und für sich treffliche Material
des Satzes ist in der Verarbeitung ziemlich zersplittert
worden.
Das Finale beginnt frohbewegt, als wenn es heimi-
wärts ginge.
Das Hauptthema wiegt sich lange auf
AUef^ro eon fieto.
A ^ J*n"i rlfl^U- ^^ I ^°^ ^^^ Sequenzen dieser
Motive und schliesst dann kräftig bestimmt mit
{j^^^Ti^i ririini I INJ j ab.
Eine dank volle Stimmung äussert sich in ruhigerer
Weise auch im zweiten Thema:
«e 591 ^
i "''j.TT^rT ■' ■'' '^ "'
Ihren feierlichsten Ausdruck findet sie aber in dem Cho-
rale, welcher von der langsamen Einleitung ab bis zum
Schlüsse des Satzes ein Hauptglied desselben bildet.
Gross und erhaben gedacht ist das Finale der Ocean-
Sinfonie — doch sind die poetischen Intentionen musi-
kalisch nicht so gelungen verkörpert worden wie im ersten
Satze.
In neuerer Zeit hat Rubinstein den vier Sätzen seiner
Oceansinfonie noch einen fünften und sechsten hinzu-
gefügt: ein Adagio in Ddur, welches als zweite Nummer
der neuen Ausgabe an die Gedanken des zweiten Themas
des ersten Satzes leicht anknüpft, und als vorletzte Num-
mer ein phantastisch belebtes, von innigem Gesangston
durchzogenes Scherzo in Fdur.
Die «Sinfonie dramatique* (Nr. 4, Dmoll) ist Rubin- A. BaMotteiB
stein's bedeutendste Leistung auf dem Gebiete der hohem «s*'»'««»*« dr»-
Orchestercomposition. Nach der natürlichen Grösse von "*»**^^ö •
Empfindung und Phantasie, nach der Stärke der ange-
borenen Dichterkraft, nach Einfachheit und Bestimmtheit
des Ausdrucks gemessen, bildet sie eine der hervor-
ragendsten Erscheinungen in der ganzen sinfonischen
Litteratnr.
Ihr erster Satz namentlich ergreift und erschüttert
wie wenige Tonstücke. Dem Inhalte nach tragischer
Natur, zeigt er manche, auch technisch erkennbare, Be-
rührungspunkte mit den Eingangssätzen der Faustsinfonie
von Liszt und Beethoven^s Neunter; mit der letzteren
in der Menge gewaltiger Trugschlüsse und in den ein-
schneidenden Wirkungen des verminderten Septimenaccords.
Die Form ist eigenthümlich , aber einheitlich und klar
disponirt. Eine Hauptstütze des ganzen Organismus bildet
die murrende und suchende Figur, mit welcher die Bässe die
Einleitung beginnen: V^ || p^p f f j* f llf T r fJTl^.
c<? 592 ©*
Sie geht im Laufe des Satzes viele Verwandlungen ein;
erscheint bald in breiten, bald in flüchtig dahineilenden
Rhythmen, stellt sich jetzt an die Spitze des Orchesters
und verbirgt sich dann in der Mitte und in der Tiefe.
Aber immer ist sie da, regulirt den dämonischen Puls
der Tondichtung mit ihrem Schlage und durchklingt den
ganzen Satz wie Windesbrausen und Glockengeläute. Den
regelmässigen Begleiter dieser Hauptfigur bildet von der
Einleitung ab das leidenschaftlich zuckende Motiv:
ft f J1 jpjx- welches sich mit schmerzhafter Dis-
sonanz häufig in die Klagen der Instrumente hineinbohrt.
Der Expositionstheil des Allegro zerfällt in fUnf Scenen.
Die erste breitet in einem langen Zuge das Haupt-
thema, ein getreues Abbild leidenschaftlicher Verwir-
rung, hin:
Allef ro moderato.
^^^^^^^^^^^^^
Seine Aufregung bricht sich an einer Gruppe, in welcher
die Musik nicht in zusammenhängenden Gedanken, son-
dern in Interjectionen und Naturtönen spricht: in fana-
tisch herausgestossenen Trillern, im kurzen schweren
Aufschrei der Bläser und in scharfen Dissonanzen, welche
in ihrer Art und ihrer Einführung an diejenigen erinnern,
welche im ersten Satze von Beethoven*s Eroica der E moll-
Episode vorangehen. Und nun beginnt die dritte Scene.
Von einem milden und beschwichtigenden Gesang der
Clarinette präludirt, tritt das zweite Thema ein, eine der
schönsten musikalischen Darstellungen vom Zustande eines
Herzens, in welchem die Hoffnung mit der Furcht kämpft :
Cor. ^^ Cor.
*e 593 ^
In jedem Takt ein anderer schöner Zug: Wie die Violinen
Trost zusprechen, wie das Hom absetzt und ansetzt, höher
und höher geht, zuletzt im langen Gang sich ausspricht,
selbst in der kleinen Dissonanz des a im ersten Takte
— in Allem liegt eine Wärme, Anschaulichkeit, Unmittel-
barkeit, eine Naturwahrheit, wie sie nur die genialsten
Künstler ab und zu erreichen. Die Scene wird haupt-
sächlich auf Grund der beiden eingehakten Takte weiter-
geführt und endigt mit einer Wendung, welche der eigen-
thümlichen Schönheit des ganzen Bildes würdig ist: Kurz
und überraschend moduliren die Bläser in sanften Accorden
Ton B- nach Ddur und halten die neue Harmonie leise
mit einer langen Fermate wie eine freundliche Vision fest.
Als sollte der Traum nicht gestört werden, bringen darauf
die tiefen Streichinstrumente pp das Motiv
y 1 1 p \if y ^ 7 y i gehen aber bald mit ihm wieder
ins Stürmische und zur fünften Scene des Expositionstheils
über, deren Thema heroischer Natur ist:
fi^r füll UM if'i I M ^.
Die Durchführung beginnt als wörtliche Wiederholung
der ersten Scenen, setzt aber dann die Schilderung des
Conflicts zwischen Muth und Zweifel mit selbständigen,
neuen thematischen Ideen fort und nimmt nach dem
Schlusstheil einen trüben und hocherregten Charakter an.
Mit harten Dissonanzen und chromatischen Passagen, welche
in Liszt^scher Weise stilisirt sind, wird der Uebergang zur
Reprise bewerkstelligt, welche den Inhalt des Expositions-
theils in gesteigertem Ausdruck, das Hauptthema noch
wilder und das zweite Thema noch rührender vorüberfUhrt.
Kretziohmar, Führer, I.
88
e<?
594
f>»
Der zweite Satz, ein Presto (D moll) in drei Theilen, be-
ginnt mit einem ^ ^— *
kleinen Schreckfl^3fe
Erst nach diesen durch die Generalpausen mfichtig rer-
stärkten Allarmsi^nalen setzt das stürmische Hauptthema,
in seiner Construction auf folgendes kurze Modell gestutzt:
ein. Durch das ganze Stück
bleibt ein herber, harter Zug
vorherrschend. Die freundlichen Seitenpartien, welche in
mannigfachen Nebenthemen betreten werden, wie in den
ballet- und tanzartigen Weissen:
«)(
i
«»'
r t i 'r ^ i 'i i r
viel
(f J"J^Q I J J^P \Ii J J J I j^^führen immer wieder
in den Hauptweg zurück, und selbst in dem Allegretto,
welches in dem Satze die Stelle des Trio vertritt — der
Alle^o Bon troppo. ^^
Anfang lautet : ^ gj ^f ^^ ^ 6 I ^ j' ^J'^ — verdrängen
die überwiegenden allarmirenden Elemente die Versuche
zum freundlichen Gesang. Mit dem Finale der Sinfonie
hat dieser zweite Satz die reiche Verwendung von Motiven
aus der slavischen Volksmusik gemeinsam.
Das Adagio (Fdur, •/g) der Sinfonie ist einer der
schönsten melodiereichsten Sätze der neueren Instru-
mentalmusik, von einer Milde in Charakter und Stimmung,
die seine Betrachtung zum reinsten Genuss macht. Seine
Hauptmelodie :
us^ 595 ^
Adagio.
in welcher die Beethoven'sclieii Ele-
mente reich vertreten sind, wird durch
ein Seitenthema abgelöst und ergänzt, dessen Ausdruck
und Abschluss eigenthUmlich schön ist:
CdU «. BraUek«n
«l/M/rw««.
Auf diese Hauptgruppe felgt eine Scene, die, melo-
disch auf Bagatellen beruhend, über kurze Motive schwärmt
und in entlegene Harmonien träumt. In der Süssigkeit der
Stimmung, in der ungezwungenen Innigkeit des Tons er-
innert sie an eine Liebesscene. Ueber dem Ende des
Satzes , wo die Bässe und Celli choralartige Weisen an-
stimmen, liegt religiöse Weihe.
Nach einer langsamen Einleitung beginnt das Finale
mit einem Thema, das in seiner stürmischen Natur und in
seinen An
Allef^o eoD fttoeo.
wörtlich mit einem sehr
n aus
seinen An- ^m ICTT^^. i — -wortucn mit einem
fangsnoten: y* y^ f J)'|J. —bekannten Gedanke
Beethoven*s Kreuzer- Sonate übereinstimmt. Das Finale
ist lebendig froh gedacht, aber ziemlich breit und mit
Einmischung seltsamer Einfälle ausgeführt. Unbedingte
Schönheit in Form und Charakter besitzt das zweite Thema:
Die nächste, die fünfte Sinfonie Rubinstein's (Gmoll,
op. 107) unterscheidet sich von allen ihren Geschwistern
änsserlich dadurch, dass sie, was die dramatische Sinfonie
in den Schlussätzen thut, durchs ganze Werk und noch
88*
^ 596 ^
reichlicher als ihre Vorgängerin slavische Melodien ver-
wendet. Von Freunden des Ck>mponi8ten ist sie deshalb
A. BBblMt«bi zuweilen Rubinstein's , Russische Sinfonie* genannt worden.
Fünfte Sinfoni«. Eine patriotische Tendenz spricht vielleicht auch daraus,
dass sie dem Andenken der GrossfUrstin Helene Panlowna
gewidmet ist, die unter den Gliedern des Herrscherhauses
sich als Förderin der musikalischen Entwickelung im
Czarenreich hervorthat. Die jungrussische Schule hat be-
kanntlich durch einen ihrer Führer, Cösar Cui,^) an Ru-
binstein und Tschaikowsky scharfe Absagen gerichtet und
damit sichtlich beide Künstler veranlasst sich den national
russischen Musikbestrebungen enger und eifriger anzu-
schliessen. Rubinstein hat von seiner Bekehrung in dieser
G mollsinfonie das ausführlichste und eifrigste Zeugniss
abgelegt. Seine Gegner wird er dadurch nicht gewonnen
haben.
Als Abbild russischer Musik wählt diese G mollsinfonie
ihre Themen zu einseitig; das träumerische Element
namentlich fehlt. Für die Aufgabe, wie sie sich Rubin-
stein hier und in seinen letzten Instrumentalcompositionen
überhaupt gestellt hat, konnte ihm die Volksmusik nur
wenig nützen. Sie verlangt Naturgemälde, Rubinstein
ging aber auf Lebensbilder Selbstbekenntnisse aus. Von
diesem Gesichtspunkte aus ist auch seine G moll-Sinfonie
aufzufassen. Sie erscheint dann als eine Art SeitenstUck,
als eine Fortsetzung seiner Sinfonie dramatique, als ein
betrübender Beweis, dass das Loos dieses gewaltig musi-
kalisch und menschlich gewaltig beanlagten Künstlers
unglücklich war. Doch ist nicht zu verkennen, dass die
dramatische Sinfonie in der Erfindung und Ausfuhrung —
bis auf den letzten Satz — höher steht, gewählter und ge-
drungner ausgefallen ist, als ihre Nachfolgerin. Nament-
lich dem ersten Satz dieser fünften Sinfonie hat beim
Entwurf, bei der Aufstellung der Themen und bei der Dis-
position des Formplans die Gründlichkeit und die Bedacht-
^) Cesar Cui: La Mosiqae en Kassie. Paris 1880.
c<?
597
o^j
samkeit empfindlich gefehlt, die zur Darstellung der Idee
die geeignetsten Mittel herbeizieht.
Dieser erste Satz (Moderato assai, C, Gmoll) beginnt
mit dem Hauptthema
Moderato aasat. ^— — ^— ^^
ernst. Ihm folgt eine aufgeregte Episode, die uns in der
Art der Sinfonien Karl Maria von Weheres in die Ballet-
und Opemsphäre wirft. Sie wtirde verständlich, wenn sie
mit der Rückkehr nach dem Hauptthema schlösse und
sich zu ihm in einen durchgeführten Gegensatz stellte.
Diese logisch nothwendige Wendung hat dem Componist
auch vorgeschwebt, doch begnügt er sich sie mit ein paar
gehaltnen Noten, die allerdings Rubinstein's starke Musik-
natur wieder glänzend veranschaulichen, anzudeuten und
geht nach ihnen zu dem zweiten Thema
über. Es hat den bukolisch russischen Charakter ausge-
prägt, während das erste die nationale Abkunft durch den
Verzicht auf den Leitton merken lässt. Die Themengruppe
wird, nachdem das zweite Thema in sehr überraschender,
hübscher Weise in Ddur wiederholt worden ist, durch
eine handvoll weitere Motive vervollständigt, von denen
keines eine grössre eigne Bedeutung hat und keins mit
dem andren in Zusammenhang steht. Der Componist
phantasirt mit einer Ungenirtheit als sässe er am Klavier
und um ihm herum lauter gute Freunde, die Werth darauf
legen in die Seele des grossen Mannes auch zur un-
passendsten Stunde einen Blick werfen zu dürfen.
Die Durchführung beginnt mit dem Hauptthema in
Flöten, Clarinetten und Fagotten, setzt es dann in die Bässe
in die zweiten Geigen, verliert bald Willen und Ziel, wühlt
«<? 598 ^
in der Verlegenheit über ein Viertelmotiv a gis a gis a
und kehrt unverrichteter Sache nach dem Anfang zurUck.
Sein glänzender kraftvoller Eintritt bildet eine der wirk-
samsten Stellen des Satzes. Die Bepriae weicht von der
Themengruppe zunächst dadurch ab, dass sie das zweite,
heitre Thema dem nachdenklichen, die Schwermuth
streifenden Hauptthema unmittelbar folgen läset. Erst an
dritter Stelle kommt die erregte Episode , die im ersten
Theile jene beiden Gedanken aus einander hielt Ihr
folgt ein ganz leiser, langsamer, choralartiger Abschnitt.
So gelingt es durch Zuthaten, Umstellungen und Aende-
rungen dem Componisten die dem Satz zu Grunde liegende
Absicht der Darstellung einer gährenden Stimmung am
Ende doch klarer und begreiflicher zu verwirklichen.
Der zweite Satz (Allegro non troppo, */4, B dur) bringt
wie Beethoven's Neunte Sinfonie das Scherzo. Den lang-
samen Satz hat Bubinstein an die dritte Stelle gerückt,
weil der Inhalt seines ersten Satzes eine aufheiternde Fort-
setzung verlangt. Dem Hauptsatze dieser zweiten Nummer
liegt ein russisches Thema zu Grunde:
Allegro non troppo.
^^^tf^mi^jj jiJinjjjijj^
das von der Clarinette zuerst eingeführt, von den übrigen
Instrumenten zu einer breiteren Scene des Spielens und
Tändeins ausgeführt wird. Auch hier werden wir wieder
an die Neunte Sinfonie erinnert: Die fröhlichen Klänge
unterbricht immer wieder ein Augenblick des Sehnens,
Zweifeins, Klagens und Schwankens. Ansätze zu einem
Seitenthema tauchen auf, der bedeutendste eine Synkopen-
bildung; keiner behauptet sich. Das Trio verdankt seine
ganz ungewöhnliche Gestalt dieser scherzowidrigen Stim-
mung. Es ist eine Fuge in Esmoll, ihr Thema dem Haupt-
thema des ersten Satzes etwas verwandt.
Der dritte Satz (Andante, ^/g, Es dur) hat ungefähr den
Ideengang: Von ferne tritt das Glück in Sicht und ruft
in der Seele des Dichters Erregung hervor, die sich in
e<? 599 ^
Hoffen und in Zweifeln theilt. Das Bild des Glücks er-
scheint in einer langen, anmuthigen und naiven Melodie,
mit der der Satz beginnt. Sie ist in Vertretung auch
andern Instrumenten, in erster Linie aber dem Hom über-
tragen und für gute Hornisten wird dieses Andante der
Rubinstein^schen G moU-Sinfonie ein Lieblings- und Glanz-
stück sein. In dem Augenblick des grössten Aufschwungs
hat allerdings dem Componisten der Umfang des Horns
(in F) nicht genügt, die Trompete muss aushelfend ein-
treten. Die Erregung ruht auf einem Motiv in Sechzehntel-
triolen, das den Violinen gegeben ist. Es führt nach dem
Abschnitt seines ersten Auftretens zu einer Wiederholung
der Glücksmelodie in Oboe und Hom. Ihm folgt ein neuer
Abschnitt der Erregung, der in einem kurzen folgenden
Sätzchen in Esmoll seine Spitze findet. Darauf setzt die
Flöte mit dem Haupthema ein, nach ihm noch einmal der
Abschnitt über das Triolenmotir ; die Hauptmelodie klingt
mit dem Anfang an und das Ende ist da. Es ist — ge-
mäss dem verschwiegnen Programm der Sinfonie — ein
Ende in UngewissheitI Das Andante ist vielleicht derjenige
Satz des Werkes, der die Seele des Zuhörers am leb-
haftesten und nachhaltigsten in Thätigkeit setzt. Die Ur-
sache liegt zum grossen Theil an dem dramatischen Cha-
rakter der Uebergänge, die zwischen den Haupttheilen
vermitteln, an der aufregenden Art in der die Leidenschaft
in die Idylle hereinbricht. Man merkt an diesem Stück
ganz besonders wie in der Gegenwart die Oper den Weg
zur Herrschaft über die gesammte Musik angetreten hat!
Der Schlusssatz (Allegro vivace, '/4, Gmoll, Gdur) hat
die Anlage des Sonatensatzes. Sein Hauptthema ist eine
von jenen russischen Tanzweisen, die in der beständigen
Wiederholung eines kurzen Motivs den Stempel der Kind-
lichkeit und des Naturvolks offenbaren. In seiner Moll-
harmonie hat die Lebendigkeit dieses Themas etwas Ge-
drücktes und Gewaltsames, erscheint an dieser Stelle als
Vertreter eines .Galgenhumors'^. Rubinstein stellt ihm (in
der Oboe zunächst und in Bdur) eine nach freundlichem
Ausweg nach Ruhe und Glück suchende Melodie entgegen.
c<? 600 ^
die deutsch sein könnte aber durch die Zahl und Art der
Repetitionen russificirt worden ist. Zwischen diesen beiden
Themen liegen noch zwei selbständige Motive, Träger der
heissblütigen und warmen Empfindung, die Rubinstein's Musik
immer wieder auszeichnet. Die Themengruppe wird wieder-
holt und diese Wiederholung hat der Compomst mit Rück-
sicht auf einige kleine Varianten ausschreiben lassen. Die
Durchfuhrung, mit der Gdur einsetzt, versucht zunächst
einen Ausgleich , eine Versöhnung der im ersten Theil ent-
haltnen Geflihlselemente, indem sie die beiden Hauptthemen
mit einander verwebt; das zweite liegt in den untern In-
strumenten, das erste kommt als Contrapunkt in den obem.
Generalpausen und fortwährendes Abbrechen zeigen wie ver-
geblich der Versuch bleibt. Da taucht aus dem ersten
Satz der Sinfonie pp das wühlende chromatische Viertel-
motiv wieder auf und setzt sich fest. Damit nimmt Fort-
setzung und Schluss der Durchfuhrung einen verzweifelten
Charakter an und auch die Reprise, mit der Gmoll zurück-
kehrt, spricht nur von Pessimismus und Resignation.
A. RnblBflt«i]i Während die fünfte Sinfonie Rubinstein*s vorzugsweise
SeohtteSinfonie.ein Gemüthswerk ist, wendet sich seine sechste und
letzte (A moll) hauptsächlich an die Phantasie des Hörers.
Sie entrollt eine Reihe Bilder: Erinnerungen des Compo-
ponisten aus fremden Landen, Erinnerungen an den Orient
vor Allem. Das macht sie der Suite verwandt mit der sie
auch den Mangel an thematischer Entwickelung theilt
Der erste Satz (Moderato con moto, C/, Amoll) setzt
gleich sehr fremdartig ein. Schrill schreit ein gis-c auf;
die Meisten werden es als as-c hören so lange bis — im
dritten Takt — e dazu kommt. Eine kurze aber stechende
Einleitung! Nun beginnt das ganze Orchester wie eine
Bardenharfe mit dem Dreiklang — A-c-E — in einem
Marschrhythmus zu präludiren. An die Arpeggien
schliessen sich kleine Motive im knappem, festen Balladen-
ton: es wird von Heroen erzählt und von Heldenthaten.
Mit dem Fdur konmien neue Motive, und weichere Em-
pfindungen zu Worte. Auf Augenblicke fühlen wir uns
c<? 601 ^
an die schÖDen, schwärmerischen Homstellen im ersten
Satze der Sinfonie dramatique zurückyersetzt. Dann nimmt
die Erzählung wieder die Richtung auf grosse Ereignisse;
die ruhig in einem ^'/^Takt (Cdur) an uns Yorbeiziehen,
erst bestimmt und hell gefärbt, dann in den Farben des
Triumphs. Mit diesem Hymnus — g-a-e ist beim zweiten
Mal sein Leitmotiv — schliesst die Themengruppe. Die
Durchführung beginnt, als sollte repetirt werden, indem
sie das Hauptthema (in A moll) wörtlich vorführt, schwenkt
aber sehr bald ab und mischt in die Beminiscenzen der
heroischen Bilder klagende Töne, Motive des Erinnems,
der Elegie. Die Reprise bringt den ersten Theil mit um-
gekehrter Reihenfolge der Themen.
Der zweite Satz (Andante, •/g, Edur) ist ein sehr ein-
facher Satz, ohne Verwickelungen im Charakter der Dar-
stellung freundlicher Ideen gewidmet. Eigen ist er durch
die Art, in der das hübsche Hauptthema (Edur) vorge-
tr^en wird, nämlich in lauter Einschnitten und einzelnen
Absätzen; nach jedem Motiv, nach zwei Achteln, nach fünf
Achteln immer eine Pause. Das giebt einen Ton, wie
Hast, Staunen, Athemlosigkeit, Uebermass des Gefühls und
des Behagens. Den Augenblick der Sammlung kündet (im
17. Takt) ein jauchzendes Motiv, das in seiner Ursprüng-
lichkeit und Wärme sich unter die echtesten Rubinstein-
erfindungen stellt. Unter den Gegenthemen der Nummer,
die sammt und sonders nicht bedeutend ins Gewicht fallen
und nur das Hauptthema lebendig schattiren, zeichnet sich
das schliesslich in H dur ausgehende, dramatisch eingeführte
Solo der Oboe aus.
Der dritte Satz (Allegro vivace, */4, Cdur) der Sinfonie
der das Scherzo vertritt, ist einer der phantastischsten
Compositionen der neueren Sinfonielitteratur, flatternd und
zerstiebend, nirgends festhaltend, wie der sprühende
Gischt des Wasserfalls. Kaum hat er im Hauptsatz Themen,
nur Motive. Als es endlich zum singen kommt, — Vio-
linen: orha-h I a-g-c \ — klingt das mit der liegenden
Stimme — ^r in den Bratschen erst, dann in den Pauken
— so exotisch als möglich. Das Trio (CmoU und Es dur)
CO 602 ^
mischt Gemüthstone, AnkläDge and Anfänge eines deuiscben
Waisen mit ganz fremden Tönen, Gedanken an den Orient !
Das Finale (Moderato assai, ''4, Amoll) dessen stock-
russsische Haupthemen
Moderato asnai.
^p^^^^fe
2^€r^^-U-^-^
und
Alleprro
in Variationen ausgeführt werden ist nach Form und Geist
zum grossen Theil ein Absenker von Glincka's Kamarinskaja,
dem Ausgangswerk der ganzen Neurussischen Schule.
Als der junge Rubinstein mit seiner ersten Sinfonie
auftrat, befand er sieb in einer ziemlich zahlreichen Ge-
sellschaft mitstrebender Talente : Leonhard, Heisted, Pape,
Goltermann, Kufferath, Pott, Veit, Wüerst, Ulrich, Gouvy,
Dietrich. Von diesen vielen neuen Sinfonikern der fünf-
ziger Jahre, welche in der Mehrzahl Mendelssohn'sche
Ideen kleiner münzten, haben sich nur sehr wenige für
längere Zeit behauptet: Gouvy und Ulrich fanden mit
mehreren Werken ehrenvolle Beachtung, eine populäre und
bedeutende Position errang nur Albert Dietrich mit
seiner zweiten Sinfonie in DmoU.
k, Dietrich Diese D moU-Sinfonie Dietriches, die vor 20 Jahren ein
Sinfouie DmoU. Liebling des Publikums war, ist eins der anziehendsten Kunst-
werke der neueren Zeit. Ihr Schwerpunkt liegt in der
edel weichen Schwärmerei , in der jugendlich glücklichen
Ueberschwänglichkeit , welche alle Partien der Sinfonie
romansisch durchdringt. Sie hinterlässt, wie wenige Com-
positionen, den starken Eindruck einer eigenen Individua-
lität und den Wunsch, dass sich die liebenswürdige, ge-
haltvolle Künstlernatur, der wir dieses Werk verdanken.
te 603 -ö»
Docb in einer grossen Reihe so freundlicher und anmuthiger
Sinfonien äussern möge.
Der erste Satz beginnt heroisch mit folgendem, von
sämmtlichen Streich-Instrumenten im Unisono vorgetragenen
Hauptthema:
AllegTo.
<^*njJpjj>iiJJ'JiJli^i^^rfiJ^^
ä
Schon im ersten Seitensätzchen aber nähert sich die
Phantasie friedlichen Regionen und lenkt dann im zweiten
Thema
<JliJ lliJ^ll7jlL^,JjHj^l(j.jjlJiJ.^'N-
in ihr Lieblingsgebiet, in das der herzlichen Idyllen ein.
Die Mittelsätze der Sinfonie bieten für solche das Terrain
ohne Beschränkung dar. Wir suchen in dem Kreise der
gleichzeitigen Dichter und bildenden Künstler vergeblich
nach Parallelen, wenn wir die gemUthlich traulichen, ein-
fach sinnigen, und doch Tornehmen Melodien hören, welche
uns Dietrich in dem Andante und in dem Scherzo seiner
Dmoll-Sinfonie bietet. Die Themen seines langsamen Satzes
(Andante, Fdur), der zwischen ^/g- und ^/^Takt wechselt:
der träumerisch freundliche Gesang des Hornes
„,,i-f^-,fnA^At-r-|ip7r'irPfPirrrrrri
Cor.
ri
r rfiff.frliffTfjfi ,.i," ^.^-J^a
-fl' 'i- X. I^= der
und die halbschelmische Weise
CeUi
49lcia$.
foca cretc.
'^lOiMh
Contrabä**«
klingen wie Volkslieder, reichen
aber über deren Form in der
«c? 604 ^
kanstvoUeQ und gewählten Anlage und DarchfUhrang
hinaus.
Das Scherzo beginnt einfach kräftig:
All« pro «s«rfieo. vuo.
y BiaM
f ^^-^J ^ r ^^^^^^^^^ In »einen Seitensatz
und in sein
cte>
erstes Trio
fallen Strahlen aus Schumann^schem Lichte. Das zweite
Trio ist eine echt Dietrich'sche, herzlich liebe Weise;
-J» _f)J I r p f I ^' /^J I J- — ; welche sich in empfanglichen
Gemüthern für's Leben festsetzt. Einen poetischen Zug
in der Gestaltung des Scherzo bildet die Einflechtung
der Hauptmelodie des Adagio.
Das Finale der Sinfonie ähnelt im Hauptthema:
wieder einem bekannten Schumann'schen Typus. Das
zweite Thema:
^^^^^^^m
y Celli u.Bratsch. erene.
*) Lies: fis statt g.
eO
605
^
(DmoU).
bringt Doch eimiud den eigen schwärmeriscben Zug
Dietriches zu warmem, schönem Ausdmck. Die Uebergangs-
partie zwischen den beiden Themengruppen ist dem Humor
gewidmet.
Noch einige Zeit vor das Dietrich'sche Werk, in das
Jahr 1863, fallt die Entstehung einer anderen berühmten
D moll-Sinfonie. Es ist die von Robert Volkmann.
Volkmann^s D moll-Sinfonie ist die Schöpfung eines *• ▼•!!«•■■
mannlich kraftigen Geistes, ein fest und gedrungen hin- ^^^*,^'* ^
gestelltes Werk, welches nach Wesen und Stil der Beet-
hoven'schen Schule angehört. Der erste Satz dieser Sin>
fonie steht mit seinem trotzigen, entschlossenen Zuge in
direkter geistiger Verwandtschaft zu der gewaltigen Neun-
ten. Ja, dort an der Stelle, wo am Schlüsse der
Durchführung die Bässe von den langen festgebannten
Harmonien sich trennen und ihre chromatischen Gänge
antreten, da klingen auch die Beethoven^schen Themen
leibhaftig an! Gleichwohl besitzt die Volkmann'sche
Sinfonie, und namentlich ihr erster Satz, geistige und
technische Selbständigkeit im hohen Grade, eigene be-
deutende, in Ernst und Frohsinn immer treffende, aufs
Ziel schnell hingehende Gedanken und eine eigene schlicht
belebte, auf jeden Prunk und Reiz verzichtende Darstellung.
An der Spitze des ersten Satzes steht das Thema:
Allei^o patetico. B)ift«r
mit seinen drohenden und schweren Gedanken. Während
es noch leise in den Bässen fortgrollt, erheben die
Holzbläser und Violinen ihre tröstenden und bittenden
Viol.
Stimmen: ^E
und die erste Scene des Satzes schliesst mit einem Com-
promiss, der die düstere Stimmung in einen heroischen
Entschluss r ji p .rrT-rr .r nr n^rrrrrr » m
Überleitet: 3
^ 606 ^
Es ist eine besondere und sehr bemerkenswerthe Idee
Volkmann^s, an Stelle des einen Themas eine ganze drei-
gliedrige und vollständig dramatisch entwickelte Themen-
gruppe zu setzen. Der Satz bleibt vorwiegend streitbarer
Natur. Die Momente der Ruhe, wie sie am entschieden-
sten das Fdur- Thema
den nur Episoden. Die Durchführung wiederholt in ver-
grösserten Verhältnissen den Auftritt zwischen den bitten-
den Bläsern und dem grollenden Streichorchester, mit
welchem der Satz begann, und die gewaltig eingeleitete
Reprise nimmt den gewöhnlichen Verlauf.
Das Andante (Bdur, ^Z^) hat zum Hauptthema eine
hauptsächlich von der Clarinette getragene Melodie, welche
Frieden suchend folgendermassen beginnt:
Andante.
welche ihr präludirend vorangehen, sind sehr wichtig-:
Sie bringen in A ^ ^ J J I J» |tj ein Motiv, welches für
die Entwickelung des Satzes die treibende Kraft bildet
und den kleinen Variationen, welche aus den Figuren
des Hauptthema abgeleitet werden , beständig zur Seite
geht. Der im allgemeinen ruhige Ton der kleinen Dich-
tung wird am Ende der Durchfuhrung einmal hoch leiden-
schaftlich. Es ist eine ausserordentlich mysteriöse Stelle:
die, wo nach den gewaltigen As dur- Accorden das Hom
zu den stillen Modulationen der Violinen 30 Takte lang
immer sein C anschlägt. Sie ruft auch klanglich das Bild
aus Wagner's Walküre vor die Phantasie, wa Siegmund
in seiner Seelennoth, einsam vor dem Herde in der dunklen
Hütte nach ^Wälse** ruft.
Das Scherzo stimmt einen rüstig muntern Ton an.
c<? 607 ^
Alle^ro non troppo.
In der Figur seines ■■ j l ii ["i iil i",
Hauptthemas g^ "^ * ^ ^"^^Uil
und in der contrapunktiscben Form seiner Entwickelung
leben noch einmal Geist und Methode der alten nord-
deutschen Schule auf. Das lieblich kosende Trio, welches
das geschäftige Treiben des Hauptsatzes mit ländlerartigem
Tone unterbricht:
trägt die reizenden Farben der FrUhromantik, in der Volk-
mann ebenso wie Dietrich mit einem Theil seines Wesens
wurzelt.
Das Finale der Sinfonie, ein Tonstück freudig ge-
hobenen Charakters fällt, mit seinem Hauptthema:
AUe^ro molto.
i^tif.f \T ,1 I ^
A
^
e=A
1
und noch mehr mit dem Nachsatz des zweiten Thema:
^r \r ^ \r n^
ClNr
in den Stilkreis der Mendelssohn-Schumann'schen Periode.
Das zweite Thema selbst, eine rhythmisch energische
Bildung
IJ/LI^'^I' l|i|,i 1^1 ^ I^V^ 1^^
TT
ist der Hauptträger der zwischen Pathos und Fröhlich-
keit hinsteuernden Gedankenentwickelung. Es giebt viel-
fache Veranlassung zu polyphonen Künsten, zu ver-
wickelten Harmonien und zu seltneren Klangcombi-
nationen, in welchen der Posaunenton ein wichtiges
Element bildet.
^) Lies: e statt d.
c<? 608 ^
B. YtlkMABB Volkmann's zweite Sinfonie (B dar) gebort dem
Sinfonie Nr. s frohen Und heitern Gebiete an und ist in ihrer lebens-
(Bdnr). lustigen Naivetät, in ihrer ungekünstelten, auf alle Um-
schweife verzichtenden Schlichtheit eins der liebens-
würdigsten Meisterwerke der neueren Sinfonik. Ihr erster
Satz vereinigt ausgesprochen volksthümliche Züge im ersten
Thema
Alle^ro Tivaee.
Viol
mit specifisch Schumann'schen im Seitensatz:
^''''- ' ' ' — und im zweiten
j,j^.jN.ji^|My^^
Die Ausführung dieser leitenden Gedanken ist sehr
knapp; überraschend schnell tritt der Schluss ein.
Der zweite Satz: Allegretto (Esdur, *l^) ist ein be-
hagliches Scherzando mit folgendem Hauptthema:
AUegTctto.
^^'^^^ n\^\ ^'\Uj n\n^h-i \u
Sein Seitensatz tändelt anmuthig auf dem Motiv
4 rj r r r r 1 p ^^°- unter den mancherlei
Aehnlichkeiten , welche der Satz mit dem berühmten
Allegretto in Beethoven^s achter Sinfonie gemeinsam hat,
tritt als die nächste das folgende Motiv:
^ iK f P I r r r r I hervor. Die originellste Idee
im Stücke bildet das Thema des Mittelsatzes:
•<? 609 '^
EigeDthümlich launisch weicht es in seinen Schlüssen
lange dem Grundton aus.
Der dritte Satz (Andantino, Gmoll, %) ist nicht viel
mehr als eine langsame Einleitung zum Finale. Das
Thema beider Sätze ist dasselbe. Das Andantino bringt
es in ruhiger Bewegung, in melancholischer Färbung und
in der eigenthUmlichen Instrumentirung der Steppenmusik :
Andantino. .
jff ^°;|' y-'i^^.' -SJ. rn,j jij^
« Viol= d4 f ' »imile
das Finale (B dur, ^j^) im raschen Tempo, in humoristischer
Haltung und mit all derjenigen Munterkeit, deren es fähig
ist, am Anfang in folgender Form:
A]I«(ro yivac«.
Clar. «to.
Mit ihren beiden letzten Sätzen gehört Volkmann^s
B dur-Sinfonie eigentlich in das vorhergehende Capitel:
Nationalmusik in der Sinfonie. Sie ist der Kaiserlichen
Russischen Musikgesellschaft in Moskau gewidmet und
giebt dieser Widmung durch die Schlusssätze einen ernstlich
praktischen Ausdruck. Tschaikowsky's Serenade (op. 48)
stimmt in dem Thema ihres Finale mit dem gleichen der
Volkmann^schen B dur-Sinfonie fast wörtlich überein, und
auch die Ausführung in Variationen, welche sich von
Nummer zu Nummer mehr erhitzen und bis zu dithy-
.rambischer Ausgelassenheit weiter geführt werden, ist die-
selbe, wie sie die russischen Componisten seit Glinka für
ihre kleinen heitern Pastoralmotive zu wählen pflegen.
Zu den bekanntesten Sinfonien der neuesten Periode Max Bmeh
zählt die in Esdur von Max Bruch. Sie ist ein Werk Sinfonie Nr. i
in classischer Richtung, durch einen objektiven Zug in (Eidur).
der Darstellung ausgezeichnet, im Inhalt vorwiegend
Kretxsohmar, Flihrer, I. 89
c<? 610 ^
heroischer Natur. In der mosikalischen Faktur zeigt sie
eine Hinneigung zum Einfachen und Kernigen, kräftige
Harmonik und Tolksthiimliche, liederartige Melodik.
Uir künstlerisch bedeutendster und reichster Sats ist
der erste (Allegro maestoso C^ , eine ernste Dichtung, die
uns wie ein Stimmungsbild am Vorabend eines wichtigen
Tages anmuthet. Er beginnt ruhig gedankeuToll mit dem
schönen Hauptthema:
ß\ Alle^o maestoso.
^ Nora
Die hoffenden Elemente dieser Melodie steigert der
Nachsatz zum Ausdruck stolzer Kraft:
Der ideelle Gegensatz zu dieser Gruppe ist wie diese
ebenfalls zweitheilig. Er beginnt mit einem Unruhe und
c) ^ -^
Zweifel bergen- / y f fif f> , f ^ fcf bw i * . iifftergb
den Motive : ^^' ^ c.^^ ' ^ 9\UU M'
und schliesst mit einem in freundlicher Sentimentalität
beschwichtigenden Gesangthema:
d)
^^
-I — i-
i
! ! ■ \nfrfU_^m
23
M i I
Die Durchführung beschränkt sich auf yerschiedene
Kreuzungen der Themen a und c.
Als zweiter Satz folgt ein Scherzo (GmoU •4), eine
breit ausgeführte und sehr populär wirkende Composition,
welche mit der Lagerscene in Reinsberger's .Wallenstein*
c<? 611 '<>'
manche Berührungspunkte hat. Das Hauptthema des
Satzes ruht auf einem äusserlich malenden Motiv:
Prasio.
i
Pf
•(«.
welches bald gewaltig in die Höhe wirbelt. Die Seiten-
sätze bringen frohe Rufe
iff LI ir"^ T tf
und Scenen, die den harmlos enthusiastischen Spielen der
Jugend zu gleichen scheinen. Das unschuldige Thema:
wird mit einem unermüdlichen Eifer wiederholt und durch-
geführt. Die Hauptpartie in dem belebten, fröhlichen
Bilde bt der Büttelsatz mrt seiner vom Unisono des Streicher-
und des Bläserchors herüber und hinüber gesungenen derb
behaglichen Melodie:
I r Ir.lf ■
Der dritte Satz: , Quasi Fantasia*^ betitelt (Grave,
Es moll, C), beginnt in sehr schwermüthiger Stimmung mit
einer, wiefolgt: ^Wiy f; If^ l"| \Q f^iHJ.]
ansetzenden und sich bis zum endlichen Abschluss lang
streckenden Melodie. Alle Motive im Satze tragen den
Charakter einer bangen Stunde. In der Mitte taucht das
beunruhigende Thema c) des ersten Satzes der Sinfonie
wieder auf. Ohne Pause geht dieser langsame Satz in das
Finale über, das ähnlich wie in Mendelssohn's Schottischer
Sinfonie halb programmatisch als ,Allegro guerriero* be-
89»
c<? 612 ^
zeichoet ist. Im poetischen Plan der SiDfonie bedeutet
dieses Finale die von Aussen kommende Rettung^ die
glückliche Entscheidung: Der musikalischen Fonn nach
ist es eine ausgeführte und idealisirte Marschcomposition,
in welcher ein flottes Thema:
mit einem
sentimentalen :
i
s
r r r I r f-iifQ
xr:
p I [" etwas einförmig wechselt.
Sinfonie.
Brach Die zweite Sinfonie von Bruch (FmoU) ist wenig
Zweite u. dritte bekannt geworden. Dem düster und trüb beginnenden
und froh endenden Werke, welches nur aus drei Sätzen
besteht, liegt oflfenbar ein Programm zu Grunde, welches,
wie in ähnlichen Fällen in der Regel, nur zum grossen
Schaden für die Wirkung und das Yerständniss der Com-
Position verschwiegen worden ist. Nicht an Ernst der
Anlage und Arbeit , wohl aber an Frische der musika-
lischen Phantasie steht diese zweite Sinfonie Bruches hinter
der älteren zurück. Der hervorragendste Satz ist der
mittlere, in welchem intime Gedanken ihren eigenen Aus-
druck gefunden haben.
Noch weniger ins Concert gedrungen ist die dritte,
die Emoll-Siufonie Bruches.
Die nächsten Componisten, welche nach Bruch auf
dem Gebiete der Sinfonie weitere und andauernde Be-
achtung gefunden haben, sind Friedrich Gernsheim,
Felix Draeseke und Hermann Götz.
Die GmoU-Sinfonie von F. Gernsheim steht
auf classischem Boden und entnimmt der Eroica, der
Neunten, dem Violinconcert Beethoven'» und der grossen
C dur - Sinfonie Schubert's eine Reihe merkbarer An-
regungen. Am selbständigsten erfindet der Componist
da, wo die Sinfonie sich auf dem pathetischen Gebiete
F. (temshelH
J%iDfonie Nr. 1
(Gmoll).
c<? 613 -0»
bewegt. Das in diese Kategorie gehörige Thema, welches
an der Spitze ihres ersten Satzes steht, ist unter die
stattlichsten Sinfonie • Gedanken der neueren Zeit zu
rechnen :
Allerro moderato. ^^ ^j^
- ■ ^^
In allen ihren Partien erfreut diese Sinfonie durch
edle Richtung, durch Geschmack und Masshalten.
Die zweite Sinfonie Gernsheim (Esdur) ist vor- **• Oeraihelm
wiegend idyllischer Natur. Ihre hervorragendsten Sätze Siufonie Nr. 2
sind die mittleren: Nottuma (in As) und Tarantella <*^'*^)-
(in C).
Seine dritte Sinfonie (Cmoll, op. 54) ist sogut wie *". Oemsheim
ganz unbekannt geblieben. Wie gleich das Hauptthema S*^o»*« ^r. 8
des ersten Satzes beweist, hat sie originelle Stimmungen, (Cmoll).
aber deren Stärke reichte für die grossen Formen des Sin-
foniebaues nicht aus. Die jüngste vierte Sinfonie des Com- *"• Oennhelm
ponisten dagegen (Bdur, op. 62) hat in den letzten Wintern Sinfonie Nr. 4
bei einigen hervorragenden Concertinstituten Deutsch- ^ ^^'
lands Eingang gefunden. Sua fata habent libclli. Der
grössre Erfolg beweist in diesem Falle keinesfalls den
höheren Werth. Diese neueste Gernsheim'sche Sinfonie
fuhrt die Rolle einer starken Natur mit tiefsinnigen Aus-
weichungen, mit Aeusserungen heftiger und trotziger Kraft,
auffahrend und pochend, mit Vorliebe mit den Mitteln
musikalischer Athletik durch, die neuerdings durch die
Sinfonien von Brahms in Schwang gekommen sind. Der
Arbeit und Kunst, die Gernsheim hierbei entfaltet, werden
die Kenner ihre Achtung nicht versagen ; an die Echtheit
der Leidenschaften und Empfindungen zu glauben, die
hier auf die Bildiläche gesetzt und hin und her bewegt
werden, verbietet sich aus mehr als einem Grund. Nach
dieser Richtung ist dies Werk ein weiterer Beleg für die
Ansicht, dass unsre Zeit den innren Aufgaben des Beet-
hoven'schen Sinfoniestils nicht mehr gewachsen ist. Ihr
Besitz an Gedanken und an Gemüth ist zu gering; für
Haydn'schen Witz würde sie sich eher eignen. Am
co 614 ^
wahrsten und natürlichsten berührt der «weite Satz (An-
dante sostenuto) mit seinem von BeethoTen'schem Geiste
getränkten Hauptthema. In der Marschepisode, die ihm
mit etwas zu viel Freude folgt, zeigt sich jedoch abermals
die Neigung zu Theaterwirkungen.
F. Dnieieke. Die beiden ersten Sinfonien von F. Draeseke zeigen
in ihrem Autor einen Cbarakterkopf, welcher streng an
seinen Ideen festhält und sie mit einer Consequenz
durchführt, die oft geistreich und genial, zuweilen aber
auch ermüdend wirkt. Die Elemente einer weicheren
Empfindung und einer schönen Sinnlichkeit sind in den
Werken dos Componisten durch einzelne Glanzstellen ver-
F. Draeseke treten. Daraus ist in der ersten Sinfonie (Gdur) die
Erste u. «weite ^ ^^.^i^
fclinfonle.
Clarinettenmelodie ~Wf
der Einleitung, aus der zweiten (Fdur) das zweite
Thema im ersten Satze i^?^^~fHl^^i^-^li3^^ I rj . E
c ------ o
hervorzuheben. Im Allgemeinen aber herrscht in diesen
Sinfonien ein harter Zug vor. Ihre Hauptstärke liegt in
den humoristischen Sätzen. Der drastischen, auch in den
gn)teskeu und burlesken Excursen immer fein und witzig
gehaltenen Komik des Scherzo in der ersten und des
Finale in der zweiten Sinfonie Draeseke^s haben wir aus
der neueren Littoratur wenig zur Seite zu stellen. Die
F. Draeseke dritte Sinfonie Draeseke's, seine Sinfonia tragica ist
hiufoui*tr»g»ca. mit «xn>ssem Keeht bekannter geworden als ihre Vor-
gängerinnen. Sie gehört mit dem Keijuiem. der Fis-moll Messe,
dem .Columlms* zu den bedt*utendsten Arbeiten des Ton-
setzers und ist eins der wucbtip^ten Stücke in der neuesten
deutschen Sinfonik. Diese muss auf Grund dieser Leistung
in Draeseke nach dem Toil von Brahms und Brückner
ihrt» Spitze erblicken und so dringlich der Beachtung der
ausländischen Sinfoni<.H.*on\ponisten das Wort zu reden ist,
CO* 615 ^
so ungereimt erscheint es wenn daneben deutsche Concert*
institute an einer einheimischen Sinfonie dieser Art vorbei-
gehen. Das gewaltige Werk schildert einen tragischen
Lebenslauf, den Kampf einer zum Glück angelegten Natur
mit dem harten Schicksal. Es begegnet sich in dieser
Tendenz mit andren C moU-Sinfonien, denen von Beethoven
und Brahms; auch an die D moll-Sinfonie R. Volkmann^s
kann es erinnern. Es hat aber einen andren Ausgang:
ein Ende in Trauer und Wehmuth. Populär ist diese
Sinfonie noch nicht geworden, wird es auch in ihrem
leidensehaftlichen, in scharfen Gegensätzen gehaltnen Wesen
nicht werden. Die complicirte Technik, der auf Com-
binationen und strenge Arbeit versessne Stil des Com-
ponisten erschweren das V erständniss noch obendrein ; auch
entbehrt die musikalische Erfindung des starken indivi-
duellen Gepräges, der sinnlichen Kraft und der Gleich-
mässigkeit. Aber wem nur einmal am Schluss des ersten
Satzes, von dem mit echtesten Herzenstönen einsetzenden piu
largo ab und bei den viel sagenden Fermaten eine Ahnung
von den Absichten des Componisten aufgegangen ist, der
muss sich zum eingehenden Studium der Sinfonie gedrungen
fühlen. Ihr Hauptwerth liegt in der Conception, in den dich-
terischen Ideen, die die Anlage des Werks beherrschen,
Sie sprechen zum Theil aus den Tönen und Themen selbst,
zum Theil aus den architektonischen Formen der Sinfonie.
Wie diese der Componist beziehungsreich und geistvoll
gestaltet hat, sieht man schon daraus, dass die einzelnen
Sätze durch gemeinsame Motive verbunden und in einen
engeren inneren und äusseren Zusammenhang gebracht
sind als das in der Regel bei den neueren Sinfonien der
Beethoven'schen Schule der Fall ist.
Der erste Satz wird von einem Andante eingeleitet,
das als selbständiger Satz bedeutend ist, aber seinen eigent-
lichen Werth darin bat, dass es den Hauptsatz, ein Allegro
risoluto (C, Cdur), gewissermassen dramatisch, als die
Frucht eines Stimmungskampfes eintreten lässt. Es setzt
ein mit den Tönen des Büssmuths und furchtbarer
Ahnungen, mit Tönen, die an das Grollen des Löwen er-
^ 616 ^
innern. Zweimal hören wir von stechenden Dissonanxen
begleitet das ungeheuerlich sich dehnende Intervall:
4
Andaatf.
n "^ "^^^ • ^^^^ crs* 1^8* sich die starre, chaotische
Empfindung in ein ernstes und schweres Marschmotiv, dem
wir später im zweiten Satz der Sinfonie noch näher treten
werden. Damit ist das Gemüth des Helden dieser Ton-
dichtung vom ärgsten Druck befreit. In einem Instrument
nach dem andern beginnen die Töne, noch suchend doch
melodisch zu fliessen und gelangen über hemmende Mo-
dulationen allmählich hinaus ins Helle, zur Freiheit, zur
Hoffnung, zum Träumen von Idealen: Eine der schönsten
Erfindungen der ganzen Sinfonie bezeichnet diese Wendung:
p moUo expr. f ^ ' •— ^ Uj 1
Diese von Clarinetten und Hörnern vorgetragene Melodie
löst sich in lose Sequenzengänge auf und verzieht sich.
Noch ehe sie ganz das Feld geräumt hat, tritt unvermuthet
und rücksichtlos ein unfreundlicher Gast an ihren Platz:
das Motiv : -^ <•' ' T T ' £j" i^ ■ -^ * Es ergreift von den
Contrabässen aus schnell das ganze Streichorchester und
drängt zu dem Allegro, das als Haupttheil des Satzes das
Bild einer jungen kräftigen Natur zu zeichnen scheint, mit
der es das Leben etwas hart meint. Der Satz erinnert an
das Dichterwort: ,Denn Mensch sein heisst ein Kämpfer
sein* aber er führt uns keineswegs vor erschütternde
Scenen. Es kämpft hier eine Art junger Siegfried, den
Hindernisse weniger schrecken, als erfreuen. Draeseke
schildert eine Jünglingsgestalt, der Muth und Energie aus
jeder Miene sprechen, der das Leben noch lacht, die noch
c<? 617 "^
an Ideale glaubt und zu schwärmen liebt. Jenes Motiv,
das die freundlichen Träume des Andante störte, wird von
dieser arglosen Natur mit Freundesaugen angesehen und
wie ein Führer, der nach des Lebens Höhen zeigt, begrüsst
und verwendet. Draeseke stellt es an die Spitze des thaten-
frohen Hauptthemas :
AU«gro rlsolQto.
in dem es gemeinsam mit dem Rhythmus I, h I die
Elemente der Entschiedenheit und Festigkeit vertritt gegen-
über den Regungen des jugendlichen Ungestüms und
Schwunges, die in den Achtelgängen ausgedrückt sind.
Eine Fortsetzung findet dieses Hauptthema in einem marsch-
artigen Abschnitt, der nach einigen sinnenden und sammeln-
den Takten mit folgendem Anfang einsetzt:
it^-j^^ ^ I ^ ^^i4f ^ Er endet, nachdem er
den Umfang einer normalen Periode erreicht hat mit dem
Rhythmus J , J^ J , lenkt also wieder auf das Haupt-
tbema ein, dessen freudige und lebenskräftige Geister sich
mit erneutem Eifer auf den Plan drängen. Es ist ein
hitziger Eifer. Die Stimmen wiederholen auf kecker Dis-
sonanz — e-fis — ihre Töne in der heftigen Form, die
die Alten Repercassion nannten und starkes Kraftgefühl
strömt von allen Seiten aus dieser Musik. Sie hat eben
das entlegene Hdur erstürmt, als sie plötzlich abbricht.
Die jugendliche Ueberschwänglichkeit neigt zu eutschiednen
Gegensätzen. So schlägt die Stimmung hier aus einem
heroischen Rausch ohne Weiteres um in eine Idylle. An
c^ 618 ^
die Stelle der ThatenluBt treten die Gedanken an die
intimen, zarten Lebensfreuden, an die friedlichen Bilder
von LiebesglUck und vom Behagen am heimischen Herd,
im Kreis der Familie. Das sind die Ideen aus denen das
zweite Thema des Satzes entsprungen ist. Draeseke stellt
allerdings nicht ein einfaches zweites Thema hin, sondern
er giebt, die moderne Art fast überbietend, eine ganze
Kette freundlicher Gedanken, deren Mehrzahl allerdings
der Marschrhythmus noch etwas fest in den Gliedern
steckt. Den Anfang macht ein von Melancholie leise ge-
streifter Wechselgesang zwischen Clarinetten und Streich-
instrumenten, dem folgende Periode
Tlarlnetten. ^ "Violinen.
ClurlnetU.
zu Grunde liegt. Aufmunternd unterbricht ihn das Tutti
mit kräftigem Zwischenruf Sr^-^^ P I f f^ und
nun
tritt ein ganz ungetrübtes Zukunftsbild vor die Phantasie :
^j das mit heimlicher Freude
beginnt und mit unverhohlnem Jubel schliesst. Gerade
dieses Stück aus dem Kreise des zweiten Themas hat der
Componist für den Durchführungstheil des Satzes besonders
e<? 619 ^
bevorzugt. Die Kette scbliesst mit einem dritten Ge-
danken der innig in den Hörnern einsetzt:
— die Pauke begleitet mit einem leise bebenden H — und
über das Motiv i^h f J' j "J | j "j^ ij
zu emem
Ende in triumpbirenden Ton gelangt. Aus diesem Ende
sind die Scblusstakte der Melodie
j^MluT |0 r^ I J |i J J I j fUrden weitern
Verlauf des Satzes wichtig.
Draeseke lässt aber diesen ersten Theil, die sogenannte
Themagruppe, nicht stolz und glänzend, sondern leise aus-
klingen. Dies ist nicht blos poetisch und schön, sondern
in diesem Falle vor Allem logisch. Denn es handelte sich
um Zukunftsbilder, die wie im Traum und wie in weiter
Feme gesehen waren. Die Hörner sind eben bei dem
letzten Seufzer, da treten die Celli mit dem Motiv der
Unruhe dazwischen, das seiner Zeit aus dem Andante ins
Allegro hinüberdrängte. Jetzt leitet es die Durchführung
des Satzes ein. Sie verläuft als Auseinandersetzung zwischen
den friedlosen und den friedfertigen Elementen der Themen.
Jene sind vorwiegend durch das eben erwähnte Motiv der
Unruhe aus dem Hauptthema vertreten, diese durch das
erste und das dritte Glied aus der Gruppe des zweiten
Themas. Eine besonders hervortretende Stelle in der
Durchführung bildet das piü largo, bei dem die schöne
Melodie aus dem Andante, die Melodie des Ideals, und
auch hier wieder im visionären Ton erscheint. Nach
dieser Stelle geht die Durchführung über einige Muth und
Kraft aussprechende Perioden, die aus dem zweiten Glied
des zweiten Themas ( — das ursprünglich in Edur ein-
u? (320 ^
setzte — ) gebildet sind, bald zu Ende und in die Beprise
über. In dieser Wiederholung der Themengruppe über-
geht Draeseke das eigentliche Hauptthema und bringt an
erster Stelle dessen marschartige Fortsetzung. Sie tritt fff
auf und wird noch dadurch zu höherer Bedeutung ge-
hoben dass Draeseke die Schlüsse ihrer zweitaktigen Ab-
schnitte durch Fermaten verlängert. Es giebt Fälle wo
die Pausen vernehmlicher sprechen als die Töne und diese
Draeseke'schen Fermaten gehören in erster Linie zu diesen
Fällen. Sie lassen den Zuhörer gewissermassen einen Blick
auf die Fülle von Kraft und Ernst werfen, die in der
Seele der Jünglingsgestalt aufgespeichert ist, die sich der
Componist als Helden dieses Sinfoniesatzes gedacht hat.
Sicher spricht aber auch eine gewisse Bangigkeit aus
diesen Fremateu, eine Ahnung tragischen Geschicks. Wie
das erste Thema abgekürzt, so wird die Gruppe des
zweiten Themas in der Reprise zusammengedrängt. Da-
für hat ihr Draeseke eine breite Coda zugefügt in der
neue Weisen des Stolzes, des freudigen Muthes, der auf-
schäumenden Kraft neben die aus dem ünruhemotiv
des Hauptthemas gebildeten Sätze treten. Bemerkens-
werth ist darin eine Stelle in der der modulationslustige
Componist sich auf einen vermessnen Augenblick nach
Gesdur wendet.
Im zweiten Satz der Sinfonie (Grave, '/,, AmoU)
entspricht der bedeutenden Stimmung auch eine bedeutende
und ziemlich in allen Theilen auf gleicher Höhe bleibende
Erfindung. Er giebt dem Schmerz über einen unersetzlichen
Verlust gewaltigen Ausdruck und klagt über das erste
Eingreifen tragischer Umstände in einen hoffnungvollen
Lebenslauf in männliehen Tonen, die im Gefühlsgehalt
und in ergreifender Wirkung den Segen HändeFs, Beet-
hoven's und Wagner's zusammenfassen.
Die Composition ist als Trauermarsch gedacht. Ihr
Hauptthema, das die Form der alten Sarabande hat, setzt
— von zwei zu zwei Takten durch das erste Motiv in den
Posaunen unterbrochen — gedämpften Tones folgender-
massen ein:
ce 621 "^
Orare.
Pos. , HoUblaser. Po» , .
Vlol- ^ D«. Vlol.__
i^=:— " -^ Pos 'l^i=:,:=i^
r f r p
Wenn man den fünften Takt dieses Trauergesangs schärfer
ansieht, erhält man auch Auskunft darüber : wer ins Grab
gesenkt worden ist. Denn da stehen wir vor der schönen
Melodie, die im Andante des ersten Satzes das Ideal des
jungen Helden, die die Gestalt bezeichnete, die als Lohn des
Strebens und Ringens vor seiner Seele schwebte. Bald
bricht der Schmerz über den Verlust scharf und leiden-
schaftlich in Wagner*schen Zungen hervor:
m
I 'nJijiiJ ' j-j-^
die Posaunen decken Grabesklang darüber. Gewaltig wirkt
darauf der £insatz des Marschthemas, in einer Wendung,
die an HändeFs «Saul*^ und „Samson** erinnert: Es kommt
in Cdur und im mächtigen fff des gesammten Streich-
orchesters, von Posaunen, Tuba und Trompete unterstützt,
von einem Aufschrei der Holzbläser beantwortet. Zarte
Zwischenspiele aus dem Idealmotiv des Themas gebildet,
suchen nach Trost; ein kurzer Mittelsatz , der die Stelle
des sonst üblichen Trios einninunt, bringt ihn auf Grund
folgenden Themas:
Un pochettiDo plli mosso:
c<? 622 ^
das von der Clarinette aus wörtlich und variirt durch eine
Reihe Instrumente wandert. Es ist theuren Erinnerungen
gewidmet und befreit von dem harten Druck einer um
Fassung k&mpfenden Stimmung. Doch geht es bald in
einen erregteren Ton über und fUhrt so zur Wiederholung
des Hauptsatzes. Die Erinnerung an verlornes Glück pflegt
den Schmerz über den Verlust zu steigern. Diesem Natur-
gesetz Rechnung tragend, wiederholt Draeseke nicht ein-
fach, sondern führt mit dem Marschthema die Motive der
heftigen leidenschaftlichen Aufregung zusammen. Die Stelle
packt mit physischer Gewalt. Die Stimmung wird auf
Augenblicke wieder ruhiger, schildert aber dann in neuen
Formen den Aufruhr schmerzlicher Gefühle.
Um den dritten Satz des Scherzo (Allegro, •/4,
Cdur) mit der Auffassung in Einklang zu bringen, dass
die Sinfoüia tragica einen Lebenslauf vorführen will, muss
man sich eine Ueberschrift ,Nach Jahren* denken. Der
furchtbare Schlag, von dessen unmittelbaren Folgen das
Grave berichtete, ist überwunden, aber er hat Spuren ge-
lassen. Von einer Persönlichkeit, die über eine Kraftfülle
verfügt, wie sie der erste Satz enthält, erwarten wir einen
freieren Humor als ihn dieses Scherzo bietet. Seine Fröh-
lichkeit ist etwas belegt, behilft sich mit den kleinen
Künsten der Caprice, hat Schatten und vollständig trübe
Stellen. In dem Trio kommt die Wehmuth ganz oflFen
zur Herrschaft. Die Form des Ganzen ist sehr einfach:
ein Hauptsatz in zwei Theilen, Mittelsatz (Trio) und Wieder-
holung des Hauptsatzes.
Das erste Thema des Hauptsatzes
AUeiffo molto nvace.
fc
^^^ui^-\4^m
Fis G .
erinnert in der melodischen Richtung etwas an das Menuett
von Beethoven's erster Sinfonie , unterscheidet sich aber
e<? 623 ^
von ihm durch ein stilleres Temperament. Seine Fortsetzung
erfolgt in sinnverwandten, metrisch launischen Bildungen.
Das zweite Thema, das ihm nach einer kurzen Stimmungs-
krisis folgt:
CeUo. ^
i^iTi I »rr^i-^r I n^r ijg
r T I I iiii3 "fr \in fTT^^
gehört zu den hesten Erfindungen in der Sinfonie. In
seiner Mischnatur, halb fröhlich, halb klagend, ist es ein
echt romantischer Gedanke, und bringt den Widerstreit
der Gefühle, der schon im Hauptthema leise zu vernehmen
ist zu gesteigertem Ausdruck. Die Violinen wiederholen
das Thema, schliessen aber nicht, sondern brechen ab. Die
Pauke setzt mit einem leisen Wirbel auf g ein ; nur ein
eis in den Contrabässen klingt dazu. Erst allmählich ge-
sellen sich die übrigen Instrumente hinzu, füllen den ver-
minderten Accord und versuchen zaghaft wieder die Me-
lodie aufzunehmen. Die Stelle macht sich sehr bemerklich.
Was sie bedeutet ist dem veranlagten Hörer nicht zweifel-
haft: eine Erinnerung an das Ereigniss, das das Glück
dieses Lebens gebrochen hat. Die Musik kommt wieder
in Fluss und rafft sich energisch auf; es bleibt ihr aber
ein schwerer harter Ton.
Wir haben in diesem ersten Theil des Hauptsatzes
seine Themengruppe. Der zweite Theil bringt eine Durch-
führung über die Motive des Hauptthemas und in ihr den
Versuch zu reiner, grosser Freude durchzudringen. Den
Fehlschlag bezeichnen Paukensoli. Dann setzt die Wieder-
holung des ersten Theils ein und verläuft bis auf einige
unwesentliche Aenderungen und Erweiterungen in ge-
wohnter Weise.
Das Trio (Des dur) leitet Draeseke mit einigen Des dur-
accorden ein, die uns den Sarabandenrhythmus des Grave
oe 624 ^
ins Gedächtnis zurückrufen, der auch im Weitren noch in
andren Formen aus der Begleitung erklingt. Dann stimmen
die Clarinetten das Thema an
Pia pochetüno plä lento
pKK M I .M I ^- 1 ^ J I N I -L^ I r^"^^
\Oir\Ü \Q\Q-UJ\lJ\jjß
Gegensätze stellt der Componist dieser aus Schubert'schem
Geiste gebomen Melodie nicht zur Seite. Sie entwickelt
sich ähnlich breit wie das entsprechende Thema von
Schubert's grosser C dur-Sinfonie , wird wiederholt in die
Bässe gelegt und erfährt mit einfachen Mitteln Verwan-
delungen die ihren ursprünglich wehmüthigen Beiklang in
reine Freude kehren. Eine der glänzendsten Stellen dieser
Art, eine wahrhaft grosse Wendung treffen wir bei der
Rückkehr nach Desdur wo die HÖmer und Posaunen das
Thema nehmen. Mit einem stillen Cmoll wird aber aus
diesem Rausch glücklicher Erinnerungen schnell in die
Resignation, in den Ton gebrochnen Seelenzustands zurück-
gelenkt und das Trio geschlossen. Den dritten Theil des
Scherzo bildet die wörtliche Wiederholung seines Haupt-
satzes.
Wir hättten in diesem Trio die Wiederkehr der schönen
Melodie aus dem Andante des ersten Satzes natürlich ge-
funden. Draeseke hat in vornehmer Zurückhaltung davon
abgesehen allzu deutlich zu werden und sich diese Re-
miniscenz für den Eingang des Finale (Allegro con brio, •/g,
Cmoll) aufgespart. Aus diesem Grunde glauben wir, dass
zwischen dem Scherzo und dem Schlusssatz die sonst üb-
liche Pause auf das kürzeste Maass zusanunengedrängt
werden muss. Das betreffende Thema, das Thema des
Ideals, tritt hier ins Finale unter ähnlichen Verhältnissen
hinein wie in die Einleitung der Sinfonie, nämlich als ein
Sonnen blick der dunkles Gewölk durchbricht. Dieses Ge-
wölk ist beim Beginn des Satzes noch im Begriffsich zu sam*
^ 625 ^
mein: es zieht in unruhigen Motiven und Gängen herauf
und in Dissonanzen die einen heklommnen und rathlosen
Seelenzustand ausdrücken. Unheimlich polternd setzen die
Bässe mit der Figur
AÜejrro con brlo.
'^l^fl r Q r'H^r ^ rjg i r= e«, die durch'»
ganze Finale hindurch die Rolle des SturmkUnders durch-
führt. Im Ganzen ist dieses Finale der Sinfonia tragica
eine der fürs Yerständniss schwierigsten Instrumentalcom-
positionen, die es giebt. Die Schwierigkeiten liegen ein-
mal in dem Aufbau, der keinem der gewohnten Modelle,
etwa dem der Sonate oder dem des Kondo folgt, sondern
seine Ueberfracht von Themen ohne Rücksicht auf Ueber-
sichtlichkeit so ausladet wie es die leider verschwiegnen
dichterischen Absichten mit sich brachten. Zum andern
liegen sie in dem eigenthümlichen contrapunktischen Stil
Draeseke^s, der den Hauptgedanken in der Regel wenig-
stens einen Nebengedanken, meistens aber mehrere, beizu-
fügen pflegt. Was der Componist mit seinem Schlusssatz
will, ergiebt sich aus dem Vorhergehenden. Er zeigte
uns im ersten Satz eine kräftige Natur, der ein schwie-
riges Leben zugefallen ist, im Grave den Schlag, der ihre
schönsten Hoffnungen vernichtete , im Scherzo das einst
kühne und frische Wesen gedämpft. Nun kommt das
£nde, — ein schwerer Lebensabend und der Tod mit
seiner Ruhe. Diesen letzten Theil seiner dichterischen
Aufgabe, seines in dem Titel der Sinfonie angedeuteten
Programms, hat Draeseke im Wesentlichen als einen Kampf
zwischen den lebenswilligen und lebensmüden Seelenkräften
dargestellt. Die musikalischen Hauptvertreter dieser beiden
Parteien sind das weit gegliederte Thema der Mühsal und
Rastlosigkeit, das am Schluss der Vorrede, in dem Augen-
blick einsetzt wo die Melodie des Ideals (aus dem Andante
des ersten Satzes) verschwindet. Es besteht aus zwei
Theilen. Der erste, schauerlich vom Bassklang signalisirt
lautet :
Kretzsohmar, Führer, I. 40
«<? 626 ty
AUef^Ti) con brio
Vlollno.
Die Bässe treten jetzt wieder mit unheimlichem Achtel-
motiv dazwischen. Dann fahren die Geigen emsig und
doch müde fort:
PP
Wieder treibt das Achtelmotiv der Bässe an, dann konmit
der oben in G gebrachte Abschnitt noch einmal in C moll
und damit schliesst das ganze Thema. Seine Natur ist
Hasten und Eilen, Ringen und Sorgen; es entrollt ein
Stück Lemurenleben , ein Mühen und Plagen mit bestem
Willen aber Unsegen darüber. Manchmal klingt*s daraus
wie aus Bürger's Leonore oder wie in der Sinfonie fan-
tastique. Der Dämon reitet immer nebenher, wir hören
ihn aus den Solostellen der Contrabässe, wir hören ihn aus
der Pauke, die das ganze Thema mit leisem Grollen be-
gleitet. Nebenbei bemerkt — wird sich keine zweite
Orchestercomposition finden lassen, in der der Pauker so
viel zu thun hat wie in diesem Finale, über dem von A
bis Z ein Gewitter steht.
Das zweite Hauptthema des Schlusssatzes, aus dem
die Stimme der Todessehnsucht, der Bitte um Ruhe, der
Hoffnung auf Frieden spricht , wartet bis das erste oben
angeführte Thema nach einem Abschnitt, wo die Harmo-
nien unter einer liegenden Stimme sich aufrührerisch
bäumen, wiederholt und zu einem lauten, empörten Ende
— wiederum liegende Stimme /*, darunter wilde Dissonanz-
bilduug — geführt worden ist. Dann tritt es in Esdur
ein und tröstet in Zungen, die wie bekannt anmuthen:
c<? 627 '^
•^ p moito espr. -^^ ^^- ^"^
Hiermit ist der Zuhörer von der Hauptsache des Finale
unterrichtet. Die weitern Gedanken , die der Componist
aufstellt, können als Nebenthemen betrachtet werden. Die
mit dem Ende des Esdurthemas schliessende Abtheilung
des Finale entspricht der Themengruppe des Sonatensatzes;
Durchführung und Reprise kann Draeseke nicht brauchen.
Denn er entwickelt kein Stimmungsbild, sondern er giebt
eine Erzählung in Tönen. Einzig das erinnert an den
Brauch der Durchfuhrung, dass er das erste Hauptthema,
— es mag der KUrze halber und mit der Bitte nicht miss-
zuverstehen das Lemurenthema genannt werden — auch
weiter verwendet und zwar sowohl als Hauptgegenstand
des Tongemäldes, wie auch als Staffage.
Nachdem das Esdurthema verklungen ist setzt das
Hauptthema regsam ein, jetzt in der Form :
Bässe. -, I -1 --^ ^'-"•^s
'>^bh.ll Jl I ^J.J J7^ I ftT^^= ■ Spöttisch ant-
einem
Worten die Homer: ftM» _h I J J I ^ • Aber mit ei
energischen Ruck rafft sich der Held der Tondichtung zu
alter Energie und Kraft auf in einer Grösse, vor der man
sich fürchten kann und zwingt dem Thema einen heitern
Charakter ab, der musikalisch am deutlichsten auf Grund
folgender Umbildung zum Ausdruck kommt:
j^bM rr r i^.^^j_j UnörrJ*^
Die Scene bleibt dem Scherz zwar nicht unbestritten ; ver-
minderte Septimenaccorde, harte und trübe Klänge drängen
sich dazwischen. Aber in der Hauptsache scheint es doch
40*
c<? 628 '^
als wolle sich dieses Leben noch zum Guten wenden:
Es erfolgt eine Wiederholung der ganzen Gruppe des
ersten Hauptthemas aber jetzt nicht im Lemurenton,
sondern im stolzen Klang f und /f, wie die Aeusserung
eines Riesen, der nicht zu vernichten ist. Diese Wieder-
holung endet mit einem neuen Thema , dem ersten be-
deutenderen Nebenthema des Satzes:
tfi'M II iiTi'i iTiijii
das vielleicht mit Absicht an Schumann^s Cdursinfonie
erinnert. Aus ihm hören wir, dass es mit der Kraft, die
sich eben noch geäussert hat, doch nicht so sicher steht,
denn es hat einen klagenden Beiton und bringt uns das
tragische Geschick, zu dem hier ein edler Mensch ver-
urtheilt ist wieder ins Bewusstsein. Draeseke führt es
sehr kunstvoll, in rhythmischen Verschiebungen, Nach-
ahmungen, Verkürzungen und andren Formen, die vielleicht
etwas zu gelehrt sind, durch und lässt es mit klagenden
Wendungen f)^\^Qjf l^HJU J ^;> ||,^ enden.
Das letzte, ganz beiläufig gefundne melodische Motiv
macht er sofort, seineu Charakter ins Heitre zwingend, zum
Träger eines zweiten Nebenthemas
g^"t^n I I jij 1 1 ij ij ü I
*! jr3 l-J jg I jr3 J -J^^h das die dritte Ab-
theilung des Finales vorwiegend beherrscht. Es wird in
ihr in andrer Form der Versuch wieder aufgenommen des
Lebens Härte und Tragik mit Scherz und Anmuth zu
besiegen oder doch zu vergessen. Ganz wohl wirds dem
Zuhörer nicht dabei, denn die dämonischen Rhythmen des
ersten Hauptthemas wühlen in den begleitenden Instru-
menten immer weiter. Zuweilen nehmen sie allerdings den
c<? 629 'ö-
scherzenden Charakter wieder an, den wir aus der zweiten
Abtheilung des Satzes schon kennen und schliesslich will
es zu einem grossen Freudenaufschwung kommen den eine
durchgeführte Themawendung:
I markirt.
Aber kaum angestimmt wird er unterbrochen. Aehnlich
wie wir es im Scherzo erleben, setzt von Bässen und Pauke
aus ein verminderter Septimenaccord ein (fis-a-c-es)^ an
den sich bald ein furchtbares Reiben der Stimmen über
einen Orgelpunkt (auf fis) anschliesst. Damit ist das
tragische Schicksal entschieden. Weinend und zerbrochen
sucht sich wiederholt das (frühere) Es durthema, das Thema
der Sehnsucht nach Frieden und Ruhe , durch die Massen
zu zwingen. Vergeblich. Es geht entschieden zu Ende.
Und da kommt nun die vielleicht ergreifendste Stelle der
ganzen Sinfonie: Angesichts des Todes wirft der Held
einen Rückblick auf sein unglückliches Leben : alle Themen
aus den vorhergegangnen 3 Sätzen der Sinfonie ziehen auf,
'ziehen wiederholt vorüber, am meisten bevorzugt die
Themen des Grave, die mit dem Hauptereigniss in diesem
Schicksal verknüpft waren. Ein langer Orgelpunkt auf </,
eine grausame Stelle im Klang und im Sinn , bezeichnet
wohl die letzte Noth. Dann setzt die Einleitung der
Sinfonie nochmals ein wie um zu sagen: die schlimmen
Ahnungen haben sich erftillt. Als dann aber die Melodie
des Ideals (Andante) eintritt, bleibt Draeseke in ihrem
Ton und giebt mit einigen weichen, sphärisch verklingenden
Takten der Sinfonie ein Ende in Verklärung, ähnlich wie
das neuerdings auch Brahms und Tschaikowsky gethan
haben.
Grössrer Popularität erfreut sich die S i n f o n i e (F d u r) H. G5t«
von Hermann Götz, dem Componisten der , Zähmung der Sinfonie Fdur.
Widerspenstigen*. Sie verdankt diese ihrem zweiten Satze
, Intermezzo", einem der reizendsten Genrebilder der
modernen Musik. Die Nummer wirkt ebenso durch ihren
cG*
630
-EP
fröhlichen, populären und doch noblen Inhalt, wie durch
die originelle Anlage. Das Hom beginnt mit:
o)Allepretto. , ♦'"Vts
Die Holzbläser antworten ebenso naiv mit einem mun-
_^j
[zsf^^r, welches die Vio-
teren Thema r^^ Mi4
linen aufnehmen und weiterführen. Nach einer lustigen
Cadenz der Flöte setzt der Seitensatz in gedämpfterer
Stimmung ein:
Colli, zweite Violinen und Fagotte legen eine sentimental
sinnende Melodie darunter.
Der Gedanke und seine Durchführung erinnern eine
Weile an das Scherzo der Schumann^schen C dur-Sinfonie,
bis die Trompete mit dem Homthema des Eingangs den
eignen Phantasiekreis des Componisten wieder feststellt.
Das kindlich heitere Treiben gelangt in einer die Stelle
des Trio vertretenden Episode über folgendes Thema:
Un poco mono moto.
^^^wTit^
■HXL
i^tgjT^^ij {?l^§
j n I ^ v+J ri^^^ I J *"^ einen Augenblick zur Ruhe.
Von diesem Mittelpunkte aus bewegt sich dann der Satz
in freien, vorwiepjend durch ruhigere Gegenmelodien ver-
änderten Wiederholungen der ersten Gruppen dem Ende
zu. Das Adagio (Fmoll, '^/4) steht mit dem Intermezzo in
näherer Verbindung. Das Thema d des letzteren bildet
den Mittelsatz. Hauptthema ist eine ernste Melodie
CO 631 ^
Adagio. -T-s
Grund der erste und dritte Theil des Satzes in einfacher
Sprache eine Reihe von Betrachtungen ausführen. Ihr
tief schwermüthiger Ton macht erst in der Coda (in F dur)
einer hoffnungsvolleren Stimmung Platz.
Von den beiden Ecksätzen der Sinfonie ist der erste
der hervorragendere. Sein Hauptthema ist durchaus roman-
tisch, in seiner Stimmung zwischen sinnig behaglichem
Geniessen, jugendlich stürmischem Ueberschwang und
leichten Anwandlungen von Melancholie getheilt:
Allcero moderato. a l^ ^/"^a. «,
*^
Das zweite, freundlich schwärmend:
weist auf Wag-
— ..-^ ner's Meister-
" rioti- 0»».
Singer hin. Ueber der Verbindung der beiden Ideen liegt
gleichmässig der Ton liebenswürdiger Anmuth ; doch bricht
an einigen Stellen auch der Jubel kräftig durch.
Besonders hervorzuheben ist der Schluss der Durch-
führung, an dem aus zarten Träumen sich die Phantasie
überraschend energisch zum Hauptthema zurückwendet.
Der Schlusssatz der Sinfonie erstrebt kräftigen und
feurigen Ausdruck. Hierzu dient die rauschende Violin-
figur, welche das Hauptthema eröffnet:
Allegrro con (uoco
des Seitensatzes:
o<? 632 ^
'^-frffr^^.
='^ V
Der Gegenpart ist durch eine Melodie vertreten, welche
nur durch kunstvolle Schlüsse zu einem stärkeren Gehalt
erhoben wird: -|^rr^J r f lj> J^TJ^InJ «
Lange erwartet trat zu der Zeit, wo die Grötz*8che
Arbeit erschien, am Ende des Jahres 1876, endlich auch
Johannes Brahms in die Reihe der Sinfoniker ein.
Aus den Kreisen der Romantiker hervorgegangen,
vertritt Brahms das bleibende Princip der romantischen
Richtung: das Princip der gemischten Stimmungen und
der raschen Bewegung des Empfindungslebens. Aber alle
die früheren Vertreter der musikalischen Romantik über-
triflFt Brahms durch seine in wunderbar zielbewusstcr und
energischer Entwickelung erworbene Vielseitigkeit, und
durch die Objektivität, die Strenge und Mannigfaltigkeit
des Stils. Brahms ist unter allen Sinfonikern unsere Jahr-
hunderts der bedeutendste Beethovenianer, soweit es sich
um Form und Stil handelt. Geistig wird Brahms heute
von denselben Leuten, die ihn noch vor zwanzig Jahren
bekämpften und verhöhnten, überschätzt. Die blinde Mode
beliebt ihn neuerdings über Schumann zu stellen, der doch
in seinen Ideen viel reicher und ursprünglicher war. Aber
das Eine ist richtig; dass kein Zweiter so wie Brahms
Beethoven in der Logik und Oekonomie des Satzbaues, in
der ununterbrochenen Gediegenheit des Materials und der
Arbeit, in dem vornehmen Verzicht auf das Conventionelle
erreicht. Seine Werke, naturgemäss die Sinfonien voran,
sind deshalb auch nicht durchweg leicht zu genießen.
J. BrAlimi ^^^^^'' ^st v^*" allen seine erste Sinfonie.
Sinfonie Nr. 1 Diese erste Sinfonie (Cmoll) nähert sich im Cha-
(Cmoli). rakter und im Gange ihrer Ideen der Beethoven'schen fünf-
c<? 633 ^
ten. Auch sie führt von Kämpfen und schweren Stunden
zur Klärung und zur freudevollen Freiheit der Seele.
Der Satz beginnt mit einer langsamen Einleitung (Un
poco sostenuto, Cmoll, */»), welche das Bild des folgen-
den grossen Allegro in kurzen Strichen vorauszeichnet.
Sie braust leidenschaftlich auf — schöpft Athem und
hoflPt wie dieses — auch die thematischen Motive des
Allegro klingen in ihr schon an. Unter diesen ist das
chromatische Thema, mit welchem die Violine sich unter
den dröhnenden Strichen der Contrabässe in die Höhe
quälen, dasjenige, welches für den Bau der ganzen Sin-
fonie hervorragende Bedeutung hat:
£s steht an der Spitze der Sinfonie und bietet für
den grössten Theil derselben den technischen Stützpunkt.
Noch in ihren zweiten und dritten Satz ragt es geistig
und leibhaftig hinein; der erste Satz aber ist vollständig
Allegro
auf ihm fundirt. In der Form: liK fl f^^p'^^f' I t' ^^^^^
es hier bald die Oberstimme, bald den Bass, fungirt in seinem
contrapunktischen Gewebe als heimlicher Cantus firmus,
und wirkt als treuer, leitender Geist in guten wie in
bösen Stunden. Es giebt die Alarmsignale und ruft be-
schwichtigend den Sturm der Leidenschaft zur Kühe.
Das formelle Hauptthema des Allegro ist folgendes:
Alle^o >— V -»— #*^h '"^ fc*
9#* a* k
^m
t
Es trägt die dämonischen Scenen des Satzes, welche
mit grosser Energie, Kraft und Schärfe, aber verhältniss-
mässig knapp dargestellt sind. Eindringlicher, für den
«? 634 ^
Gesammteindnick des Allegro fast entscheideDder , wir-
ken die Partien in welchen der verzweifelte Ton der
Kampfesstimmung leiser wird und den milderen Re-
gungen Platz macht. Wunderbar schön ist namentlich
der Uebergang zum zweiten Thema : der allmähliche Ein-
tritt der ruhigeren Bewegung, das Hervortreten klagen-
der Motive, der sehnsuchtsvolle Ton, in welchem das
erwähnte chromatische Thema an die Spitze der bitten-
den Stimmen tritt. Dieser Partie ist der Stempel der
Naturwahrheit aufgedrückt. Das zweite Thema, dessen
erste Periode zur Orientirung über das Ganze dienen
mag 3^fe^^rfe^'H»p'^E^^^ bUdet den
Abschluss dieser friedlichen Wendung. In geistiger, wie
in technischer Natur stammt es ebenfalls von dem chro-
matischen Leitthema der Sinfonie. Ein reizender Dialog,
von Hom und Clarinette fast nur in den einfachsten
Naturlauten geführt, fügt sich an ; leider ist er nur von
kurzer Dauer. Mit einem unwirschen Rhythmus ;
^^g^^j^^r^.^Er't aus welchem sich das für die Entwickelung
des Satzes wichtige Motiv ~£ ^^t» T-^^^ herausbildet, rufen
^ ff
die Bratschen den Chor der Instrumente in die leiden-
schaftliche Action zurück. In der Durchführung treten die
beiden grossen Pianostellen besonders hervor: In der
plötzlichen Todtenstille, welche sie verbreiten, in dem
leisen, halb verborgnen Walten ernster Gedanken, haben
sie etwas Uebersinnliches. Der ersten folgt eine Scene
von Kraft und Frömmigkeit. Die alten Motive des Trotzes
schliessen sich wie zum _jl^^^ ff i T f i f f I ^^p
Cboralgesang zusammen ; & ' ' ' ' ==^'
Die zweite lenkt in eine Periode über, welche den auf-
geregten Ton der Einleitung verstärkt und gesteigert
«<? 635 ^
wieder anschlägt und mit dem erschreckendsten Aus-
druck innerer Empörung in die Reprise überleitet. Es
ist diese Periode einer der gewaltigsten Versuche im
pathetischen Stil und zugleich ein Meisterstück in der
Kunst Uebergänge zu machen. Die Reprise nimmt den
gewohnlichen Verlauf. Als sie aber am Schlüsse der
ersten Themengruppe die dämonischen Mächte des Satzes
auf einen neuen höheren und unerhörten Punkt geführt
hat, bricht die Musik wie in natürlicher Erschöpfung ab.
Das chromatische Thema wird zu rührenden Klagemelo-
dien erweitert, und wehmuthsvoll elegisch klingt der
Satz aus.
Der zweite Satz der Sinfonie (Andante sostenuto,
F dur, ^|^) steht noch unter dem beklemmenden Einfluss des
ersten. Soweit er auch dem vorausgehenden Allegro in der
Tonart und in seinem Trost und Frieden suchenden Ab-
sichten ausweicht — einige von dessen furchtbaren Ele-
menten erreichen ihn doch. Sie äussern sich in den
heftigen Crescendos, in den schroffen Modulationen ein-
zelner Themen; ja das Allegro schickt auch einige seiner
Motive wörtlich in den langsamen Satz hinein: in das
erste Thema;
^^^
: ^^ J'"^ lif^ -^^jS^-ii^nCXL ^^" chromatischen Passus
Ip^ii'P It p ^^iHlptf^ des fünften Taktes , in den
Schluss der zweiten Themengruppe das schmerzlich-
wiederholte
Tn einzelnen Partien klingt der Ton kindlicher Zu-
versicht ausserordentlich rührend durch, so im Nachsatz
Ob.
des ersten Thema:
noch freund-
^^
c<? 636 -0-
licher belebt in dem Sechzebntelspiel , welches Oboe
und Clarinette als zweites Tbema bringen. Der Schluss
des Andante, wo Hom und die Solivioline mit dem
zuletzt citirten tröstlichen Tbema concertiren, wirkt wie
eine wahre Musica sacra.
Der dritte Satz der Sinfonie (Un poco Allegretto,
Asdur, *i^) liegt von dem Charakter des an dieser Stelle
gebräuchlichen Scherzo weit ab. Es ist im strengen Zu-
sammenhang mit dem Geist des ersten Satzes gedacht:
seine Heiterkeit infolgedessen eine gedämpfte wie in einer
fröhlichen Stunde, die als die erste auf eine Reihe trau-
riger Tage folgt. In seinem zweiten Thema namentlich
Alleeretto
m
P' cur
ist die BetrUbniss merkbar, und an der
Fortestelle erhebt sich der Accent des
Schmerzes. Der Grundton des Satzes ist kindlich herzlich.
So äussert ihn das Hauptthema, namentlich in der zweiten
Hälfte :
cur.
•t«.
noch mehr das Trio: ein graziöses Wechselspiel zwischen
Holzbläsern und Geigen über das Thema:
««■»*• viTi
In dem zarten Glöckchenton der Bläser liegt viel
Naturklang und ein ursprüngliches Instrumentationstalent,
wie es sich bei Brahms häufig in Bildungen von grösster
Einfachheit äussert. Der Schluss des Satzes, still und halb
unerwartet, steht mit dem decenten Charakter der Com-
position im vollen Einklang.
c<? 637 ^
Das Finale (Adagio, Cmoll — Andante — Allegro,
Cdar Q/) beginnt mit einem Rückfall in die leidenschaft-
lich trübe Stimmung des ersten Satzes der Sinfonie.
Schwermüthig setzt das einleitende Adagio ein:
Die Violinen suchen energisch und desperat in einem
durch das pizzicato und stringendo sehr scharf charak-
terisirten Satz, welcher auch an den kritischen Punkten
des Allegro wiederkehrt, von dem melancholischen Wege
abzulenken. Vergeblich! Die Phantasie irrt aufgeregt
im dunklen Kreise ; über das Motiv
erete.
geräth das Orchester in helle Empörung. Die Pauke
wirbelt fürchterlich. Da erscheint wie ein friedlicher
Himmelsbote das Hom mit folgender von Schubert^s Geist
berührter Melodie:
^ ^ Pitt Andante.
L^ii'i I ij I II 1 1 in I I ii I h I
Wir sind im Andante, dem zweiten Theile der Einleitung.
Die Stimmung sänftigt sich, erhebt sich und bereitet den
kräftig freudigen Hymnus vor, mit welchem der Haupt-
satz des Finale, das Allegro einsetzt:
^ Allegro non troppo.
lange und volksthümliehe Melodie, welch sich aus
dieser ersten Periode gestaltet. Sie bildet den Haupt-
träger der Darstellung im Satze. Unter den anderen Ge-
danken, welche ihr zur Seite treten, ist der wichtigste
der schwankende:
«<? 638 ^
p p^i>|-y^j~»>'ffj^' 2u vorübergehender
Bedeutung konunen noch die energisch heiteren Motive:
^ß^^^'\=^^^^^^^^^pX==f=^==\ das innige
Thema iftFr-^rSHJ-T-i'ir-f-~^-4£ und das melancholische :
t» übor
^fe^-g^-r:i^A#rif^^^
^^^^^Ö-
Der Satz giebt ein grossartiges, dramatisch schwung-
volles Bild einer Siegesstimmung, welche über alle Hin-
dernisse hinwegschreitend bis zum dithyrambischen Jubel
anwächst. In seinen heitern und seinen ernsten Momenten
wirkt dieses Finale gleicher Weise anschaulich und
lebendig und äussert einen mächtigen Zug. Die gewaltigsten
und ergreifendsten Stellen des Allegro sind wohl die, wo
die Hornmelodie des Andante wiederkehrt.
J. Brahmt Die zweite Sinfonie von Brahms (D dur, veröffent-
Sinfonie Nr. 2 ücht Ende 1877) ist ihrem Stil nach , welcher pastorale
(Ddiu). Motive und anakreontische Ideen mit geisterhaften Klän-
gen nahe zusammendrängt, eine der romantischsten Com-
Positionen des Autors. In der musikalischen Factur steht
sie hinter der ersten Sinfonie zurück. Ihr Entwurf ist
bedächtiger und lässt mehrmals die Punkte erkennen, wo
durch Zusätze und Einschiebungen nachgeholfen worden
ist. Ihrem Inhalt nach nähert sich die Sinfonie, in vor-
nehmer moderner Form, dem Phantasiebereich der alten
Wiener Schule. Ihr Grundton ist ein heiterer, und selbst
in den schwermüthigen Theilen ihres Adagio herrscht
seelische Anmuth und ein friedevoller Sinn.
Der erste Satz dieser Sinfonie (Allegro non troppo,
Ddur, 'Z^) gleicht einer freundlichen Landschaft, in
6<? 639 ^
welcher die untergehende Scfnne erhabene und ernste
Lichter hineinwirft. An selbständigen musikalischen
Ideen übersteigt er den Bedarf des Schema bei Weitem
und einzelne dieser zahlreichen Seitengedanken fesseln
die Erinnerung mit voller Stärke an sich. Das Haupt«
thema des Satzes besteht aus einem liebenswürdigen fa*
miliaren, gemüthyollen Dialog zwischen Hörn und Holz«
bläsem:
Allegro non troppo, ,^^
^^'tfürrrlf^ 1^
HoUbl.
A j l
iMi'rn^'if^ir
CoBtrab.
f^' ' r
Die Violinen schattiren mit ruhigen leichten Dreiklangs-
figuren seinen Abschluss, die Posaunen markiren ihn
mit Accorden von dunkler Feierlichkeit. Die Uebergangs-
partie, in der Mitte imposant auf Fragmente des ersten
Themas gestützt, bringt zwei neue Motive, zu Anfang
ein munteres :
am
P Viol.
Ende ein
neckisches:
Das zweite Thema,
^^' welches in seinem
Anfang einen leichten Anflug Mendelssohn'scher Senti-
mentalität aufweist:
^
wird in der Schlussgruppe des Expositionstheils von kräf-
tigen Gedanken abgelöst, unter denen die beiden folgen-
den hervorzuheben sind:
und
i ; .»r'^i' f-Tr^'^^^^ ^ I f ^f'^^f^l=ff-4^=g=i
co 640 ^
Namentlich dieses letzte Thema, durch markige Nach-
ahmungen verstärkt, setzt sich im Gesammtelndruck der
Sinfonie mächtig fest. Die Durchführung der aufgestellten
Gedanken ist verhältnissmässig kurz, im Charakter phan-
tastisch contrastirend. Die Reprise kommt überraschend
und mit reizenden Varianten. Die Coda des Satzes
gehört zu den schönsten Partien der Sinfonie. Sie ist ein
Produkt der unmittelbaren Inspiration. Das Hom leitet
sie mit einer eigenthUmlich zögernden und suchenden
Melodie ein, und darauf repetiren Violinen und Bläser,
die einen den anderen immer einhelfend, nochmals in
Kürze alles das Freundlichste und Anmuthigste, was
ihnen auf der vorhergehenden langen Wanderung be-
gegnet war.
Den zweiten Satz der Sinfonie (Adagio non troppo,
H dur, (p) beginnen die Celli mit einer Melodie folgenden
Anfangs :
•*■ «ab
»)
JMi^Jir rrir-^-|r ^^\tttt^ffff^^
^^r^T'nir' wclc^^ lange vergeblich nach dem Schlüssel
zu suchen scheint, der aus dem trübsinnigen Kreise heraus-
führen soll. Ihren schwermüthigen Blicken begegnet end-
lich ein freundliches Bild, welches die Phantasie in die
Jugendzeit, in die glücklichen Tage von Spiel und an-
muthigem Tanz zurückführen will:
y Juice
Ein dritter Theil, geführt von dem Thema:
*) als gehört in die Vorzeichnung.
^) Das 2. Achtel mass fiS heissen.
€c 641 ^
steigert die trübe StimmuDg, von welcher der Satz aus-
ging, bis zu einem leidenschaftlichen Grade. In der
Durchführung, deren Grundlage die Themen I und III
bilden, herrscht der aufgeregte Ton vor. Auch im Schluss-
theil kehrt die liebliche Melodie des ^'/gTaktes nicht zurück;
er lässt in einer träum artig-freundlichen Beleuchtung das
trauernde Thema der Celli verschwinden.
Der Haupttheil des dritten Satzes (Allegro grazioso),
Gdur, */4, Presto */*, Presto */q hat mit dem originellen
Menuett der Ddur- Serenade von Brahms den naiven
Charakter in Melodik und Instrumentation gemeinsam.
Das Hauptthema des Satzes hat folgenden Anfang:
Alle^retto (^acioto^
tu\h I Vih'"rif ü Uli iLLfi^^b^^^^
^^m
Die schlicht anmuthige Melodie ist mit einer gleichen
Einfachheit harmonisirt und instrumentirt. Der Seitensatz,
im Wesentlichen lediglich eine rhythmische Umbildung
Presto.
jenes Hauptthemas
wird noch durch
ein sehr wuchtiges Nebenthema verstärkt •
$
fffifffi^'^^
i
In ihm wie in dem die Stelle des Trio vertretenden
«/«Takte
Presto.
^ ^ f Viul.
U^^
BlSft^r
^^^
^
S
ist der Humor in die Formen der ungarischen Musik ge-
kleidet.
Das Finale der Sinfonie (Allegro con spirito, D dur (f)
erinnert an die schillernden Farben der Cherubini'schen
Kretztchm»r, Führer, I.
41
co 642 "ö*
Romantik, sein Geist ist der lustige lebensprüheDde der
Haydn^schen Sinfonie. Im Stil dieses Meisters setzt aach
das phantastische flotte Hauptthema
Alleg'ro coB *p«ritft ___^
f^E^fP^^'.IyrjKf^^ti^^^^^^ir^m^^
im spannenden piano ein, dem
dann nach einem frappanten Uebergang das rauschende
Forte folgt. Das erste Seitenthema ist folgendes:
^
T-J-H
tz
i
-mr:
-±=±
»Ct.
i
Die behagliche Wirkung des zweiten Thema:
z?^x^^^ erhält in einer Reihe von Seitengedanken,
patriarchalisch kräftig die einen, in losen Achtelfiguren
tändelnd die anderen, nachdrückliche Unterstützung. In
der Durchführung bildet eine traulich schwärmerische
Episode, welche auf folgendem Thema ruht:
-It^ . -^^n^-V . ^I^^!^^:^:^if m%T [i^ den anmuthi-
m
Vi^l.
gen Mittelpunkt.
^. Braluüs Die dritte Sinfonie von Brahms (Fdur), welche am
Siafonie Nr. 3 2. December 1883 zum ersten Male in Wien aufgeführt,
(Fdur). [m folgenden Jahre veröffentlicht wurde, zeichnet das Bild
einer Natur die trübe Gedanken und sinnliche Lockungen
gleich kraftvoll abwehrt. In der Darstellung dieses Vor-
wurfs verfahrt sie aber insofern ungewöhnlich, als die Stelle
der Conflikte am Ende der Composition liegt.
Im Stil unterscheidet sie sich von ihren Vorgänge-
rinnen durch Schärfe und äusserste Klarheit der Gliederung
co 643 ^
nnd dadurch dass sie sieb von der Beethoven'schen Methode
der Satzdisposition entfernt, indem sie den Schwerpunkt
der Composition aus der Durchfuhrungspartie in die The«
mengruppe, aus der Ausarbeitung und kunstvollen Weiter-
fiihrung in das Gebiet der ersten Erfindung zurücklegt.
Ein stattlicher Gedanke folgt dem andern direkt auf dem
Fusse, die Melodien sind in der Mehrzahl allerdings lang
gedehnt und setzen eine geübte Auffassungskraft voraus,
aber sie erleichtern die Aufgabe zum Theil durch eine
ausserordentliche Prägnanz.
Den ersten Satz, welcher den Grundzug rüstig heiteren
Fromuths hat, leitet ein kurzes Präludium von zwei Takten
Alle^ro con brio.
ein, dessen knappes melodisches Motiv
innerlich und äusserlich für die Composition sehr wichtig
ist. Es ist der Kern ihres melancholischen Theils und es
übernimmt formell in der Entwickelung des Satzes eine
selbständige Aufgabe; Es trennt die Gruppen und wird
zuweilen zu grossen, ausdrucksvollen Melodien erweitert.
Das Hauptthema des Satzes blitzt kampflustig bald aus
Dur, bald aus Moll, und spiegelt im raschen Wechsel von
Ruhe und knapper Bewegung, in seinen grossen Schritten
und seinen langen Gang eine ungewöhnliche Energie vor:
Allegro con brio.
Das im unmittelbaren Anschluss folgende Seitenthema:
tf 1 f 1 1 — »rim. r--^ i-m- m-r-T' -r-* » - m,TT TT^-* » ^ ■,
errac.
41<
gebort zu jenen zahlreichen Episoden des Satzes^ die mit
zarten Regungen die kräftigen Elemente der Composition
einzuschlummern suchen. Aber yergebiich : es folgen ihnen
immer nur kühnere Aeusserungen des starken Muths. Die
verführerischste in dieser Gruppe von Dalilahgestalten ist
das zweite Thema:
Oraztoso , ^ ^_„-^^^ __
p Clar. rP
, welches sich ausserordentlich ver-
wandlungsfähig erweist. Von ihm abgeleitete Glieder
finden sich als die Chorführer der tändelnden, wie auch
der heroischen Scenen. In der Durchfuhrung erscheint
es in Moll und stellt den ernsten Charakter dieses Theiles
fest. Ein sostenuto in Ks^ dem das Hauptthema zu Grunde
liegt, bildet den Höhepunkt und zugleich den Schluss ihrer
Entwickelung. Die Coda stellt die kräftige Erscheinung
des Hauptthema noch einmal auf ein erhöhtes Podium
und lenkt dann magisch schön zur Ruhe über. Büt einem
letzten leisen Citat seiner ersten Takte, ähnlich wie der
Eingangssatz von Bcethoven^s achter Sinfonie, klingt das
Allegro elegbch aus.
Das Andante der Sinfonie (C dur, (p) ist eine schlichte,
fromm gestimmte Dichtung, eine Composition, welche in
ihrem einfachen Ausdruck seelischen Friedens, in ihrer
in sich geschlossenen, einheitlichen und leidenschaftslosen
Haltung kaum einem Seitenstück in der neueren Sinfonie
seit Beethoven begegnet. Der grösste Theil des Satzes
ruht auf dem Thema :
welches in einer Reihe freier Variationen durchgeführt
wird, die an seinem Charakter wenig ändern, aber im
c<? 645 ^
Colorit den berrlichsten Wechsel bieten. Nur auf einen
Moment tritt ein klagender Ton ein mit
^.J l,l./t]|rL^
P cur. mit Fa^ . in Bv«
Diese Melodie, welche formell die Stelle des zweiten
Thema einnimmt, wird aber hier nicht weiter benutzt,
sondern kehrt erst im Finale der Sinfonie wieder. Nur
ihr Nachsatz, der in ein mystisches Spiel mit weichen
Dissonanzen ausläuft, kehrt am Ende des Satzes noch
einmal zurück.
Vom dritten Satze an (Poco Allegretto, C moll, ^/g) wird
der Charakter der Sinfonie trüber. Sein Hauptthema
welches ein wenig zu der Weise Spohr's hinneigt
Poco Allegretto.
CrUi
giebt das Bild eines anmuthigen Reigens wie aus dem
Spiegel einer schönen Vergangenheit, und die Stelle des
Hauptsatzes, wo die Musik ihren höchsten Reiz entfaltet
das MotiT
der Celli leitet sie ein —
ist in der Farbe der Erinnerung und des Traumes ge-
halten. An der Stelle des Trio steht ein Mittelsatz (in ^Iv),
welchen die Bläser mit dem Ton der Bitte und der
Resignation füllen j^^^
^f^JU
Er schliesst mit einer Beethoven'schen Wendung.
Dass der dritte Satz nicht ein feuriges Scherzo ge-
worden ist, hat, ähnlich wie in der ersten Sinfonie von
Brahms, seinen Grund in dem poetischen Generalplan
der Sinfonie. Dieser dritte Satz vermittelt der Uebergang
zu dem leidenschaftlich und oft finster erregten Finale
(Allegro, Fmoll, G). Letzteres bildet den Schwerpunkt
des Werkes. Das heroische Element der Sinfonie hat hier
«^ 646 ^
die Probe gegen harte uod unfreundliche Gegner zu be-
stehen. Düster phantastisch beginnt der Satz: huschende
Figuren, dann ein Anhalten und gänzlicher Stillstand der
rhythmischen Bewegung:
^\ , iUkgro. ^
Jim.
r^.^5^:^^
Noch beklommener und unheimlicher wird der Ton mit
dem Eintritt der Posaunen und dem verschleierten Thema,
das aus dem 2. Satze :^^.:r^^i_i a--j
der Sinfonie stammt: --p— - g
Pf, I I t I i t i
Gleich darauf bricht der gespannte Bogen und die
Situation nimmt einen ausgesprochenen Kampfescharakter
an. Wild und trotzig fahren die Violinen herein mit:
r ' eresc
die Celli singen siegosfreudig :
_ f>t^ _• ^r f^f
cte.
In der Durchführung dieser Confliktsperiode finden
sich mehrere Culminationspunkte — einer der höchsten
ist da, wo das Thema h im stärksten Klange den fana-
tischen Figuren der Violinen entgegengestellt wird. Ein
merkwürdig bedeutungsvoller Einspruch des Fagotts be-
schwichtigt die brandenden Wogen. Die Composition lenkt
in ein sostenuto über, dem die Schönheit des Reg^nbogen-
himmels eigen ist. Die düsteren Themen a und h strahlen
jetzt Ruhe und Frieden aus, und wie eine verklärte Er-
eC 647 '^
scheinung zeigt sich an der Ausgangsschwelle der Sinfonie
noch einmal das heroische Thema ihres ersten Satzes.
Wenn die im Jahre 1855 vollendete, erst zwei Jahre
spater (nach den Aufführungen in Meiningen und Wien)
veröffentlichte vierte Sinfonie von Brahms (Emoll) von J. Brahat
vielen Kennern als die bedeutendste des Componisten be- Sinfonie Nr. 4
zeichnet worden ist, so gründet sich dieses Urtheil nament- (EmoU).
lieh auf den Ausgang des Werkes. In ihm führt Brahms
den eigensten und mächtigsten Theil seiner Individualität
zum ersten Male entschieden und bestimmt erkennbar in
das sinfonische Gebiet über: der Sänger der deutschen
Todtenmesse steht vor uns! Im Stil geht diese Sinfonie
die Wege der Vorgängerin: sie strebt wie letztere nach
Einfachheit der musikalischen Grundgedanken, nach
Uebersichtlichkeit und zeigt eine auf wenige Haupt-
gruppen beschränkte Disposition der Sätze. Sie schlägt
einen schlicht erzählenden Ton an, und namentlich ihr
erster Satz gleicht fast einem gross stilisirten Liede.
Ohne weiteres setzt sein Hatiptthema ein:
Alleg^&on assai^ _,^^
km
^ 1^-r»^n^^^H::^^r-^ .1
^k^MW^
eine wiederum sehr lange Melodie, deren bewölkter Horizont
sich zuweilen etwas aufhellt, um dann einen noch trüberen
Charakter, oft einen schmerzlichen Accent anzunehmen.
Das Seitenthema in den Cellos) und das zweite Thema:
^^^=Pf^~^-^-[-f-^'^r iBf ^^t r Ittri-, welches von
hier aus in unscheinbaren Gängen dem zart verhauchen-
*) Beide Noten = J.
«?
648 ^
den Ende zuschreitet, sind Bundesgenossen der elegischen
Hauptfigur des Satzes. Sie leben mit ihr in leisem Zagen
dahin, werfen resignirte Fragen auf und ruhen in dunklem
Sinnen auf langen Accorden aus. Den originellen Cha-
rakter des Satzes bestimmt das ritterlich fröhliche Gegen-
thema, welches sich sofort an den Abschluss der grossen
E moU- Melodie heftet, und seine vielseitige Verwendung:
Bli«^
m^-i^^'^^^r^
^
^^m
Bald kräftig und gebietend, bald kosend und zärtlich,
neckisch und heimlich, bald fern, bald nah, bald eilig,
bald sich ruhig ausbreitend, — immer kommt es über-
raschend und stets willkommen, bringt Freude mit und
giebt dem Gang des Satzes einen dramatischen Schwung.
Auch hier, wie im Eingangssatz der dritten Sinfonie, ist
der Durchführungstheil sehr knapp gehalten und bescheidet
sich im Wesentlichen damit, die elegischen Elemente der
Dichtung etwas stärker auszusprechen. So einfach die
ganze Anlage des Satzes erscheint, so ist sie doch im
Detail ausserordentlich reich und kunstvoll. In jeder
Stimme selbständiges, melodisches Leben, der führende
Chor der Instrumente und der begleitende stehen im über-
wiegenden Theil des Satzes zu einander in einem anti-
phonischen Verhältniss, das die Wirkung voller macht ohne
sich aufdringlich zu zeigen.
Der zweite Satz (Andante moderato, E dur, ^/g) knüpft
an die elegischen Ideen des ersten an. Er macht im Ver-
gleich zu ihm einen ähnlichen Eindruck, als wenn Jemand
über ein aufgeworfenes Thema eine Geschichte aus alter
Zeit erzählt. Sein Hauptthema
Andante moderato.
welches von einigen Takten unisono
präludirt wird, hat den gleichmässigen Ton der alten
^ 649 'ö*
Romanzen und in seinen HarmonieschlUssen die charak-
teristischen Wendungen der mittelalterlichen Musik. In
der Mitte des Satzes, da wo die Triolen einsetzen, streift
die Musik den neutralen Erzählerton ab, zeigt freudigen
Antheil, Begeisterung und bricht in herzenswarme Weh-
klagen aus.
Der dritte Satz (Presto giocoso, Cdur, */4) theilt mit
dem Andante das archaistische Colorit. Namentlich in
dem Mollschluss des nur flüchtig behandelten Gegenthema
Presto. ^ ^
kommt das-
selbe zu einem starken Ausdruck. Die Heiterkeit dieses
Presto ist keine unbedingte. Sie streift die schauerlichen
Elemente wiederholt. In den dumpf und tief herein-
fallenden Accorden des Hauptthema
in seiner hitzigen.
rastlosen Rhythmik, in seiner plötzlich aufzuckenden Energie,
in der vorwiegenden Härte des Charakters erinnert der
Satz direkt an die dämonischen Riavierballaden (op. 10)
des Componisten, welche unter die poetisch bedeutendsten
seiner Jugendwerke gehören.
Das Finale (AUegro energico e patetico, Emoll, '/4)
ist durch die Menge des vorgeführten Materials der
für das formelle Verständniss schwierigste Theil der
Sinfonie; seinem Gedankengehalt nach ist es einer der
ernstesten und höchst gestimmten Sinfoniesätze, welche
existiren.
Es beginnt mit einer Reihe schwerer Accorde, zu
welchen die Posaunen drohende Farben und Accente
herbeibringen. Alle die Themen, welche nach diesem
Eingang zunächst aufgestellt sind, haben einen ängstlichen,
erschreckten und suchenden Charakter. Unter ihnen ist
das folgende
^ 650 ^
Alleg^
mj^ • cremt;. /
als das Haupithema anzusehen. Dasselbe kehrt mehrmals
im Satze wieder, wird jedoch nicht in der üblichen Weise
des Durchführungsschema ausgenutzt. Die Spitze der
düsteren Ideengruppe bildet ein langes Flötensolo, welches,
melodisch und rhythmisch naturgetreu, das Bild eines
haltlosen Seelenzustandes entwirft. Nach ihm tritt die
Wendung ein: die Harmonie wechselt plötzlich nach Edur,
die Rhythmik wird breit und ruhig, Clarinette und Oboe
beginnen trostvoll und fromm zu singen:
CI»r.
Ob.
C\tr.
Ok.
?-f^t^^--n^£J4rrr+^^ir^
die Posaunen sprechen feierlich erhabene Requiemge-
danken aus:
^^^^^^rt-
f
Die Composition lenkt in das Gebiet, wo Leid und
Freude schweigt und das Menschliche sich vor dem beugt,
was ewig ist. In dieser natürlichen Hoheit des Ausgangs
ist die vierte Sinfonie von Brahms eins der grossartigsten
und ergreifendsten Werke der sinfonischen Litteratur, in
der technischen Anlage dieses vierten Satzes aber ein er-
staunliches Kunststück: Denn seine ganze so feste und doch
mannigfache Gedaukenkette bildet einen Kreis von Varia-
tionen über das 8 taktige Thema:
das vorwiegend als Bass geführt wird. Auch Beethoven,
Vogler u. A. haben Theile von Sinfoniesätzen auf einfachen
Scalen- und Accordmelodien aufgebaut; aber in dieser
oc? 651 "^
Bach^schen Strenge und Freiheit zugleich und noch dazu
in solcher Ausdehnung hat noch kein Sinfoniker vor Brahms
die alte Form der Chiaconna angewendet.
In der Klaviercomposition und im Liede bereits merk-
bar hervortretend, hat die Schule Brahms in der Sinfonie
bisher nur schwache Lebenszeichen gegeben. Gernsheim's
vierte Sinfonie, die Dmoll- Sinfonie des Italieners Martucci
gehören darunter. Der Erste aber, welcher sowohl in der
architectonischen Form seiner Sinfonien wie in den innren
Wendungen der Melodie sich stärker beeinflusst zeigte,
war H. von Herzogenberg. Durch sein ^DeutschesH. t. Henogen-
Liederspiel* und durch eine Reihe Lieder als ausserordent- *•"*
lieh liebenswürdiges, für naive und volksthümliche Musik ^'*^°^*' ^"*'"'
besonders begabtes Talent bewährt, hat sich dieser Ton-
setzer als Sinfoniker mit einer grossen C moll-Stnfonie ein-
geführt. Der erste Satz dieser und der C moU-Sinfonie
von Brahms haben in Idee und Ausdruck eine grosse
Aehnlichkeit. Gleichwohl hat die Composition des Jüngers
ihren selbständigen Werth und ihre eigene Schönheit.
Unter die Theile, welche in dieser Richtung am meisten
hervortreten, rechnen wir die balladenartige Einleitung,
welche in der Weise Gade's den nordischen Ton anschlägt,
und das Scherzo. In ihm, das auch auf jene Einleitung
poetisch sinnvoll zurückgreift, sind der Hauptsatz und das
Trio in einer ganz neuen Art verbunden : Die beiden Theile
wechseln gleich von Anfang ab Clausel für Clausel im
malerischen Contrast. Das Adagio, in der Anlage dem von
Brahms zweiter Sinfonie entsprechend, darf sich eines tief
melodischen Zuges rühmen; der wie ein fremdes Bild ein-
gerückte freundliche Mittelsatz verräth ein eigenes Talent
zu einem edel volksthümlichen Musikstil.
Die zweite Sinfonie v. Herzogenberg's (B dur, op. 70) H. t. Bonogen-
theilt mit der ersten die Vorzüge einer durch und durch l>«rff
edlen Kunstrichtung. Sie übertriflFt sie aber an originalem ^^^°''*® ^^^•
Farbensinn, in der Freiheit und Leichtigkeit der Contra-
punktik und an Selbständigkeit der Erfindung. Die freund-
liche Natur ihres pastoralen und idyllischen Stimmungs-
kreises, ihre oft köstliche Thematik würden dazu be-
c(? 652 ^
rechtigen dieser zweiten Sinfonie des Componisten eine
grössere Verbreitung au versprechen. Ihr dritter Satz, in
der ein artiger, sanfter Humor sich originell durch die
Pauke äussert, ist sogar eine Perle des neuen Serenaden-
stils, eines R. Volkmann würdig. Leider aber fliesst auch
hier der Strom der Töne zu ungleich im Werth und viel
zu breit. Ein andrer Vertreter der Schule von Brahms,
ist der Schweizer Hans Huber. Doch sind seine Sin-
fonien in Deutschland unbekannt.
Jahrzehnte lang wenig bemerkt, haben seit Anfang
der achtziger Jahre die Compositionen des Wiener Ton-
A. Bnickaer setzers Anton Brückner die Beachtung der Musikwelt
7. Sinfonie E dar. auf sich gezogen. Insbesondre haben sich die Wagnerianer
ihrer angenommen und sie, blind für die Menge gemein-
samer Züge der beiden Künstler, den nach ihrer Meinung
aus blosser Kunstfertigkeit hervorgegangnen Sinfonien von
Brahms als die eigentlichen instrumentalen Offenbarungen
modernen Geistes und grosser Persönlichkeit gegenüber-
gestellt. Bruckner^s erste Bekanntschaft aussen im Reiche
zu ermitteln fiel seiner siebenten, seiner Edur-Sinfonie zu.
Sie ist wie die andren ohne Opuszahl erschienen, und
früher als manche der altern in Druck gekommen. Das
Werk hat Gedanken von grossem sinfonischen Charakter:
das Hauptthema des ersten Satzes
AllȤro moderato.
und noch mehr das des Adagio
Sehr feierlich.
^- Tuba
creae.
dim.' ** VioL
*) Die ersten drei Noten heissen e H e.
«? 653 ^
legen dafür Zeugniss ab. Aber höhere Originalität und
technische Keife suche man in dem Werke nicht. Selbst
der Contrapunkt ist steif, und der Entwickelung der Ideen
fehlt die Logik, der Zusammenhang und das Mass in
einem Grade, wie er in gedruckten Sinfonien unerhört
ist. Ohne alle Vermittelung, ohne jeglichen Uebergang
stehen im ersten Satze pathetische Themen und Wiener
Ländlerweisen neben einander, im letzten Choralmelodien
und infernale Figuren. Der Entwurf dieser Hauptsätze
scheint vom Zufall der täglichen Arbeitslaune bestimmt.
Aber trotzdem hat die Sinfonie ihre positiven Seiten.
Einmal eine kunsthistorische: sie zeigt zum ersten Male
den Einfluss Wagner's dem wir bei Raff, Hofmann, Sgam-
bati, Goetz und Draeseke nur in kleineren Zügen be-
gegneten, in breitesten Spuren. Das Scherzo ist fast nur
eine Umschreibung des Walkürenritts. Zweitens aber
entwickelt der Componist ein Talent der Nachdichtung,
das in seiner Art zu eigner Bedeutung gelangt. Am im-
posantesten im Adagio. Auch hier sieht man die Quellen
durch: Götterdämmerung und Neunte Sinfonie. Aber
die Wagner'schen Motive sind mit einem Schwung und
einer Begeisterung ausgeführt und erweitert, welche über-
wältigt. Die grosse Stelle dieses Satzes, wo die Trompete
über dem Glanz des vollen Orchesters mit ihrem G fort-
leuchtet, gehört zu den grossartigsten Toncombinationen
der neueren Litteratur.
Es war wohl ein arger Missgriff Brückner, verfuhrt
durch den Zauber ihres Adagios, mit seiner siebenten Sin-
fonie einzufuhren. Denn sie zeigt die Zusammenhang-
losigkeit, das bunte Wesen, die masslose Breite seiner
Musik, sie zeigt alle Mängel seiner Bildung und seines Ge-
schmacks bis zum Abstossen stark. Dagegen bringen es
die werthvollen Eigenthümlichkeiten , die sie enthält, nur
bis zu einem massigen Eindruck. Brückner ist, was nur
von wenigen der zeitgenössischen Sinfoniecomponisten ge-
sagt werden kann, eine Natur, er ist ein Künstler dessen
Werke eine klare und höchst befriedigende Auskunft über
den Menschen geben. Zwei Züge sind es die aus allen
e^ 654 "ö-
seinen Sinfonien, aus den schwächren nur weniger klar,
hervortreten und die Individualität Bruckner's in erster
Linie bestimmen : Eine herzliche naive Freude an der Natur
und zweitens eine ausgeprägte kirchliche Religiosität.
Es wäre schlimm wenn die Freude an der Natur Musikern
fremd wäre; sie muss das menschliche Gemeingut der
Grossen und der Kleinen bleiben. Aber die Meister unter-
scheiden sich in der Entschiedenheit mit der sie ihr Ausdruck
geben. Darin steht z. B. R. Wagner an der Spitze aller
neueren Opemcomponisten und reicht direkt Händel die
Hand, darin übertreffen die Deutschen von jeher die
Italiener, und werden merkwürdiger Weise wieder, zu Zeiten
wenigstens, von den Franzosen übertroffen. Schumann ist auf
diesem Gebiete ergiebiger als Mendelssohn, Beethoven der
Componist von Pastoralsinfonien und Pastoralsonaten reicher
als Mozart und auch als Haydn. Im Allgemeinen sind
in diesem Punkt die Ostreich ischen und süddeutschen Sin-
foniker stärker als die norddeutschen; in neuerer Zeit
haben dann wieder die scandinavischen und namentlich
die russischen Sinfoniecomponisten auf diesem Felde alle
Vorgänger überholt. Bleibt man im deutschen Culturge-
biet, so hat unter den Oestreichem als Schildrer von
Yolksthum und Landschaft Franz Schubert den unbe-
dingten Preis. Aber ihm wird man in Zukunft als den
Nächsten Anton Brückner an die Seite zu stellen haben.
Bei keinem Zweiten ist das Oestreicherthum in seiner
liebenswürdigsten Art so voll in die Musik übergegangen
wie bei ihm, bei keinem Andren die Lust an Heimath, an
Yolksthum, an der Pracht und an den Heimlichkeiten
schöner Natur allzeit so rege, wie bei Brückner. In dem
schwärmerischen Behagen mit dem er sich ihren Reizen
in jedem Augenblick hinzugeben bereit ist, zeigt er seine
Kinderseele; dass er einen Blick in den grünen Wald
sich nie versagen, dass er nie an dem Bild eines Tanzes
unter der Linde vorbeigeben kann, ist eine starke Quelle
der romantischen Fehler in seinen Sinfonien.
Aehnlich verhält es sich mit dem Ausdruck religiösen
Gefühls bei Brückner und bei Andren. Es wird in der
<^ 655 '^
ganzen Reihe der hervorragenden Sinfoniecomponisten —
auch wenn wir von den Adagios abseben — bei keinem
fehlen ; aber es äussert sich verschieden nach den Personen
und mehr noch nach den Zeiten. Es bildet von Haydn
bis Beethoven ein crescendo, bei Mozart hat es eine pessi-
mistische, bei Beethoven eine philosophisch erhabne Fär-
bung. Bei Schubert setzen die Abschwächungen der reli-
giösen Empfindung, ihre Umbildungen in die Formen von
Wehmuth, Sehnsucht, Melancholie und Weltschmerz ein,
die wir bis auf Brahms bei allen bedeutenderen Sinfonikern
verfolgen können. Meistens handelt es sich dabei um
den Zusammenhang der Instrumentalmusik mit der aUge-
meinen geistigen Entwickelung unsers Jahrhunderts, um
die Theilnahme an den Kämpfen gegen Oberflächlichkeit,
Alltäglichkeit und Frivolität der sittlichen Anschauungen,
Theilnahme an den bunten Bestrebungen die Menschheit
durch Glauben und Aberglauben durch Philosophie und
Kunst innerlich zu stützen und nach einem höheren Dasein
zu lenken, um Berührungen mit Kant und Fichte, mit
Schopenhauer und Nitzsche, mit Cornelius, mit Böcklin und
Thoma, mit Parsifal und Zarathustra. Ganz anders bei
Brückner. Aus seinen Sinfonien spricht die Religiosität
in ganz bestimmter, positiver Form: sie legt fortwährend
ein offnes, freudiges, christliches und kirchliches Bekennt-
niss ab. Die vielen Choräle in seinen Sinfonien sind
dessen Zeugniss, sie erschöpfen aber den Reichthum und
die Festigkeit seiner Gottesfurcht keineswegs. Ihre Spuren
gehen vielmehr durch die Hälfte aller seiner Themen und
Melodien; in seinen Sinfonien treten kirchliche Anklänge
in einer Stärke hervor wie sie in Sinfonien nur noch ein-
mal vorkommen : bei Mozart in seiner Knabenzeit. Brück-
ner war Schulmeister und Organist, ehe er zur höhren
Kunst kam. Das ist mit Andern auch, z. B. mit J. Raff
ähnlich gewesen. Es ehrt ihn und bekundet die Wahr-
haftigkeit seiner Natur, dass er in den neuen Kreisen doch
bei seiner alten Gedankenwelt blieb. Eine spätre Zeit
wird möglicher Weise wegen der Ehrlichkeit Bruckner*s
und wegen der Echtheit und Bedeutung der Ideen, die in
«<? 656 ^
seinen Sinfonien niedergelegt sind, Vieles von seinen
Schwächen und von seiner Unfertigkeit verzeihen.
A. Bniekaer Von einer gradlinigen, steigenden Entwickelung ist bei
DrtiCmoU-Sin- Brückner noch weniger die Rede als bei Franz -Schubert,
fonien. Jn allen seinen Sinfonien liegen Schlacken und Gold-
kömer beisammen. Aber alle bieten etwas Interessantes,
Züge die musikalisch oder psychologisch fesseln. Seine
erste und zweite Sinfonie stehen beide in C moll und auch
die achte, seine letzte, ist eine C mollsinfonie geworden.
Hätte ein Weltkundiger so etwas Unpraktisches gethan?
So sind denn diese C mollsinfonien auch alle drei ausser-
halb Wiens unbekannt geblieben, obwohl sie schöne Stellen
enthalten, namentlich wirkliche naturwüchsige Sinfonie-
und Orchesterthemen z. B. die zweite in
I ' ir n^ri
^
cro9c*
V r r ( letc. und
Miflslg schoall.
creScT
Alle zeigen den EinÜuss von Wagner, Schubert und Beet-
hoven. Seine bedeutenden grossen Züge entfaltet Brückner
am glücklichsten in der dritten und vierten Sinfonie, die
auch in den letzten Jahren sich in den Concertsälen
häufiger und häufiger eingefunden haben.
A. Bmckner Die dritte Sinfonie (D moll) ist im Jahre 1873 ent-
Dritto Sinfonie, standen und eine der wenigen , die schnell einen Verleger
gefunden hat. Richard Wagner nahm die Widmung an
und soll wie Th. Helm erzählt*) wiederholt ernstlich eine
>) Tb. Helm: A. Brackner im Musik. Wochenblatt 1886,
8. 35.
cG* 657 '^
Aufführung beabsichtigt haben. Was zunächst jeden
Musiker für die Sinfonie einnehmen muss, ist ihre voll-
endete Orchestematur. Alle Instrumente haben ihr eignes
Leben und äussern es wenn nicht immer mit bedeutenden
selbständigen Themen und Motiven, so doch in eignen be-
sonderen Rhythmen. Alles klingt schön, neu; immer inter-
essant. Nach dieser Seite bezeichnet Brückner einen
Fortschritt in der Geschichte der Sinfonie, den Niemand
bestreiten kann und verhält sich dem Durchschnitt der
Beethovenianer gegenüber ähnlich wie in der Malerei die
Piloty schule zu der Methode von Cornelius. Nach ihrem
Ideengehalt betrachtet bietet uns Bruckner*s DmoU-Sin-
fonie Einblick in das Innere einer Natur, in der sich
Lebensemst und Lebensfreude gleichmässig mischen ; sie
scheint die Stimmungen von Beethoven*s Neunter und
Beethoven*s Pastorale zu vereinen. Der Componist hat
in diesem Unternehmen einen Vorgänger und es ist wohl
nicht Zufall und von ungefähr, sondern bewusste Absicht,
dass er in seine Dichtung die Gestalt Franz Schubert's
leibhaftig hineintreten lässt. Dass Schubert die weit
stärkere Individualität war und durch die Zeitläufte allein
schon glücklicher gestellt war, kann dabei Niemandem
entgehen. Aber wir haben nach ihm in der Sinfonie das
beschauliche, sanguinische, des Daseins in der schönen,
mit landschaftlichen Reizen und liebenswürdigen Menschen-
thum übervoll gesegneten Heimath frohe Oestereicherthum
bei keinem Zweiten so stark und deutlich ausgeprägt als
bei Brückner und in dieser D moUsinfonie. Dem Lebens-
emst giebt der aus dem Kirchendienst hervorgegangne
Componist gern durch Choräle und choralartige Themen
Ausdruck.
Der erste Satz (Massig bewegt, (p, Dmoll) empfängt
uns mit einem der in der neueren Musik und von Brück-
ner ganz besonders geliebten Orgelpunkte — hier auf D.
Im Streichorchester ein ziemliches Rauschen wie von
freundlichen Wässern, ähnlich wie der Anfang von Schu-
bert's H-mollsinfonie, aber jedes Instrument seinen Rhyth-
KretsBohmar, Führer, I. 48
c<? 658 ^
mu« für »ich! Dann setzt im fünften Takt die Trompete
ein, d'e »ich in der Zeit der Classiker ihre heutigen Ehren
nicht hätte träumen lassen. Doch ist die Thatsache keines-
wegs zum Beweismaterial für die Hypochonder geeignet,
welche unsrer neueren Musik roher und roher werden sehen.
Unsre talentvollen Componisten gebrauchen die Trompete
keineswegs blos für starke Effekte, sondern ganz so viel-
seitig wie dies in der alten Suite, in der italienischen Oper
des 17. Jahrhunderts, im Oratorium noch bei Händel ge-
schieht. So beginnt Brückner mit ihr hier leise, im Ton
einer heroischen Ahnung das Hauptthema seines ersten
Satzes :
3r
S^^
Dieses Thema zieht sich lang hin. Zunächst wird es vom
Hom folgendermassen
fortgesetzt. Die zwei letzten Takte dieser Fortsetzung
werden zunächst von den Holzbläsern für Nachahmungen
und Wiederholungen aufgegriffen und dienen dem vollen
Chor des Orchesters als Anhalt zur Sammlung und zu
einem gewaltigen innren und äussren Crescendo. Dann
erst kommt im Unisono aller Instrumente der dritte Theil,
der Schluss des Hauptthemas:
^^m
cresc.
ri^J TlJ J J J H • Er bringt den höchsten Aufschwung
kräftigen Wollens und dicht daneben in den Zungen von
Schubert*schen Entreaktes das Versagen aller Hoffnungen,
somit die Gegensätze des Satzes im schroffen Widerspruch.
An der Triole hält sich die Phantasie des Componisten
c<? 659 ^
fest, als wäre mit ihr der Ausweg nach dem Licht, nach
einem sichren Blick in die Zukunft zu finden und ge-
langt so bald an eine Wiederholung des vollständigen
Hauptthemas von A, der Dominante, aus. Der Schluss
dieser Wiederholung verläuft in ein pjyp und in romantische
Dissonanzen, als schliefen alle Sorgen ein. Der Dichter
überlässt die Entscheidung über schwierige und ungewisse
Fragen der Zeit und dem Schicksal. Das zweite Thema
setzt ein und führt uns ohne Weitres in eine Scene des
Behagens und der beweglichen Schwärmerei. Mehr noch
als das Thema selbst, das zuerst als Wechselgesang
zwischen Bratsche und Hörn auftritt, führt uns sein Be-
gleitungsmotiv ^^ T \ ^ r^j^ I j r r i r^
vor
ländliche Bilder. Denn es ist ein Bruder jenes wichtigen
Zwischenmotivs, das im ersten Satz von Beethoven's sechster
Sinfonie zum zweiten Thema hinüberleitet. Bei Brückner
sagen die Contrapunkte immer etwas; der hier erfundne
erweist sich aber als ganz besonders gehaltvoll und er-
giebig. Ja, er wird nicht blos die Veranlassung zu einer
hübschen Episode, sondern er trägt einen Haupttheil von
dem Glaubensbekenntniss und der Weltanschauung, die
in diesem Satze niedergelegt sind. Alle die zahlreichen
Partien die darin aus dieser muntern Figur entwickelt sind,
vertrügen als Ueberschrift das schöne Wort Hölderlin*s;
,Ja wunderschön ist Gottes Erde und werth auf ihr ein
Mensch zu sein!'*. Das singt in urzufriednen Melodien,
das regt sich und hüpft in fröhlichen Rhythmen, das wiegt
sich wonnig träumerisch auf weichen Accorden, das ist ein
Schwelgen in seliger Sonntagsstimmung. Zuweilen bricht
das Entzücken laut und wuchtig durch: ]feL ' +- | r* §•
42«
o(? 660 '^
Zuletzt findet es einen doppelten Ausdruck von kräftiger
Zuversicht in der Melodie:
4^ r l' I 7 [' I P r I ^f' r h^- die unter den
Nebenthemen des Satzes Bedeutung hat und von Frömmig-
keit in dem Choral:
cIa EF DlO €
mit dem die Trompete, die bekanntlich angefangen hatte,
die Themengruppe schliesst. Zu verkennen ist nicht, dass
in der zweiten Hälfte des um des Pastoralmotivs gebildeten
Theils das Beharrungsvermögen des Zuhörers auf eine
Geduldprobe gestellt wird. Je nachdem das Orchester
besser oder schlechter ist, wird sie erleichtert oder er-
schwert werden.
Sofort nachdem die Trompete mit ihrem (unbedeuten-
den) Choral fertig ist, geht es aus Cdur mit drei knappen
Ueberleitungstakten in die Durchführung.
Die Durchführung beginnt, nach einer kurzen In-
tonation des Hauptthemas, mit einem Satze suchenden
Charakters, dem das dem Choral vorhergehende Neben-
thema, das vorhin als Ausdruck der Zuversicht bezeichnet
wurde, zu Grunde liegt. Er endet still und ergebungsvoli
in G dur. Damach setzt schön und scharf in der Wirkung
Adur ein, und in schnellen Modulationen, ziehen Um-
bildungen und Bruchstücke aus dem ersten Theil des
Hauptthemas in Flöte und Hörn vorbei, geheimnissvoll
aber färben mächtig. Der zweite Theil der Durchführung
verbindet den Anfang und den Schluss des Hauptthemas
erst in einer Periode in Fmoll, dann in einer zweiten in
G moll. Von deren Schluss ab (As dur) verschwindet der
Anfang des Themas, die Motive des kräftigen Wollens aus
seinem Schluss : J. J^ | J , J. ^ j) ^^d J. ^ h
c<? 661 ^
behaupten das Feld und führen scheinbar zur Reprise: In
DmoU setzt das Trompetenthema fff im vollen Orchester
ein. Es ist aber erst der dritte Theil der Durchführung,
den Brückner hier bringt. Er giebt das Hauptthema, —
wohl angeregt durch eine ähnliche Stelle in Beethoven's
Neunter — noch einmal im Leuchten der Wetter, im
Donner und Blitz, in glänzendster Machtentfaltung seines
ersten, des heroischen Theils. Dieser wird wiederholt, mit
Dissonanzen schattirt, nochmals wiederholt und bricht in
Edur tobend plötzlich ab. Generalpause, Paukensolo das
im pp endet! Und nun erst melden sich wie schüchtern
die beiden andern Theile des Hauptthemaft — mehr um
der Form zu genügen als zu innerer Wirkung. Dieser
letzte dritte Theil der Durchführung hat Alles entschieden,
es war ein Seherblick weit hinaus in die Zukunft ge-
worfen, der ein Ende in Herrlichkeit gesichert zeigt. Ganz
leise geht die Durchführung zu Ende und ebenso setzt die
Reprise ein.
Der zweite Satz (Adagio, quasi Andante, C, Esdur)
deutet mit dem Anfang seines Hauptthemas:
A.daglo
fast in der Sprache der Classiker die Sehnsucht nach Ruhe
und höherem Frieden an. Schon nach Abschluss der ersten
8 taktigen Periode setzen aber die in der zweiten Hälfte
dieses Beispiels enthaltnen Keime der Friedlosigkeit zu
einer Bewegung an, die zu einem Aufruhr der Gefühle
führt, den die stumme resignirte Klage:
wie ein stilles Gebet endet.
Wie ein Bild aus einer besseren Zukunft stellt nun der
Dichter dieser Gegenwart einen formell scharf verschiednen
Satz gegenüber, dessen erstes Thema:
^ 662 '^
Andamte quasi AII»gr«tto.
^ni ^ j"Jj^--^+jJj2f^^| lautet. Um das, was
es noch an Zweifeln zurücklässt, völlig zu beseitigen, ge-
sellt sich ihr noch eine zweite Weise hinzu, die ebenfalls
im visionären Ton eine Art Siegesmarsch anstimmt
Miatarloso.
if'''i>rr<'i^^Li'i»f'^>^i>ii"-
Ihr gelingt es die Stimmung zum Theil aufzuhellen: Froh
fliessen die Sechzehntelfiguren in einer Gruppe der In-
strumente dahin, andere, die Homer z. B. , bleiben aber
bei bangen Fragen. Das fuhrt dazu dass die verheissungs-
vollen Rhythmen des letzten Themas J J •# in starkem
Ton bekräftigt und wiederholt, dass die freundlichen Zu-
kunftsvisionen der schönen Drei viertelt aktmelodie in grosser
Breite ausgeführt werden. Bei dieser Ausführung ist auch
die Mannigfaltigkeit und der Reichthum der Farbenreize,
die von zarten Lohengrinklängen schnell zu einem wahren
Rausch schönen Orchestertons anschwellen nicht zu ver-
gessen. Ueberhaupt ist die Einwirkung Wagner's in diesem
Satze unverkennbar. Sie äussert sich nicht bloss im Colorit,
sondern auch in Harmonie und Melodie.
Nach dem Abschluss der Trostscene wird der Haupt-
satz wiederholt und erfährt dabei prächtige Steigerungen,
aus denen die Stimme der Trompete sich besonders ein-
dringlich und Ausschlag gebend hervorhebt. Der ganze
Satz zeigt Brücknern von seiner gewaltigsten Seite und als
eine fürs Drama gebome Natur.
Der dritte Satz (Scherzo, Ziemlich schnell, ^Z^, Dmoll)
ist durch eine gewisse Unfertigkeit originell, durch eine
Laune die sich begnügt mit Elementarmitteln zu wirken.
Wir hören vorwiegend rhythmische Motive, die nur lose
zu Themen entwickelt sind und, wenn das, keine Ent-
Wickelung durchgehen.
oG' 663 ^
Im Hauptsatze schildert der Componist humoristisch
eine Art grossen Sturm, der wie von der Feme einsetzt.
ziemlich schnell. •
Nur das Motiv Av ^ J J J J J ^ rührt sich zunächst.
£s setzt sich als liegende Stimme fest. Unter ihr steigen
Figuren stufenweise die ganze Octav crescendo und drohend
in die Höhe. Dann bricht ff das Thema
Ziemlich schnell.
ifff iJjflfr^
los. Es bildet mit Wiederholungen und Ableitungen den
Inhalt des Hauptsatzes. Einmal bricht es in eine der bei
Brückner häufigen plötzlichen Generalpausen ab und da
erscheint denn — die einzige im ganzen Scherzo — eine
fertige und durchgeführte singende Melodie.
h fj iH ir1^r ir r r ifr> if7r i^r imi
•? W cresc.
Durch sie, der bald verstärkend ein Sätzchen über das
Motiv W^lJ~r I r *'p f ll sich beigesellt, wird der
Seitensatz im eigentlichen Scherzo zu einer hübschen
Wiener Tanzidylle.
Auch das Trio sucht die Kunst darin die Musik in
eine Scene von Naturlauten, hier freundliche und zarte,
aufisulösen. Eine Art Thema meistens von der Bratsche
^'i'^r I ^ IJJ J-l 'l -1^ ir I angestimmt, wird
von
einer bunten Reihe kosender, zirpender und trillernder
Motive umkreist, so dass die Wirkung des Ganzen an ein
Vogelconcert , an eine schöne Stunde bei Weiher und
Wald nach Sonnenuntergang erinnert. Das ganze Stück
cG* 664 ^
(Trio und Scherzo) ist darnach wie ein Gegensatz vom
Lärmen der Stadt oder der Bahn und der Stille ländlicher
Einsamkeit gedacht.
Das Finale (Allegro, (P, Dmoll) wird mit einer
Achtelfigur der Geigen eingeleitet, die zwar wesentlich
zu Begleitungszwecken dient, aber für den Charakter des
Satzes nicht unbedeutend ist. Sie verkündet Wirren und
Autohr im Gemüth und dagegen erhebt sich in stolzer
Kraft breit und majestätisch das den BlSsem übertragene
Hauptthema
gLtJ-
.1 . -h,.!
i^ttj-trtr ly.! '^i-jij^. ''ij^i
r »TT
Ai
a^^
rr
Aj
Es gehört wieder zu den the-
matischen Erfindungen Bruckner*s in denen auf Melodie
und schöne Form zu Gunsten der charaktervollen Wirkung
verzichtet wird. Darin zeigt er sich als ein Schüler Liszt*s
und der Neudeutschen. Zweimal zieht dieses Cyclopen-
thema vorbei. Dann verlaufen sich die wilden Gänge im
Streichorchester. An ihre Stelle tritt ein anmuthiges
LMigs&nier. a ^
I, das aber doch nur
Motiv
ein nebensächlicher Contrapunkt ist. Die Hauptsache
kommt in den Hörnern, nämlich ein Choralgesang:
Langsam.
der sich breit hin entfaltet. Als er endlich still verklingt,
setzt wieder Sturm ein, diesmal von dem harten Motiv
Tempo !_■
diesen Abschnitt
p^'^ fjTT'^iTt ^ getragen. An
^ 665 '^
knüpft sofort die Durchführung an. Sie bleibt bei dem
Viertelmotiv und bekämpft es mit den herrischen, stolzen
Motiven des Hauptthemas und stellt das Bild einer Seele
hin, die der Anfechtung spottet. Dieser DurchfÜhrungs-
theil ist nur kurz und schliesst (in F) mit Klängen des
Friedens, die uns aus dem Eingang von Schubert's Cdur-
sinfonie geläufig sind.
Die Reprise bringt die dem Hauptthema zugehörige
Gruppe erweitert und im Ausdruck der Energie durch
Verküczung der Rhythmen, durch Nachahmungen und
Engfiihrungen gesteigert. Die Folge ist dass des zweiten
Themas, des Choralgesangs ruhiges und frommes Wesen
sich noch klarer und schöner als im ersten Theil des Satzes
geltend macht. Die Composition erhält damit einen aus-
geprägt christlichen Zug und die Idee des Componisten
tritt klar vor das Geraüth des Hörers : , Wer in des Lebens
Wirren auf die doppelte Stütze der eignen Kraft und des
Glaubens bauen kann, der siegt*. Und diesen Sieg spricht
das Finale dann noch einmal mit schöner poetischer Be-
ziehung und die ganze Sinfonie abrundend dadurch aus,
dass das Heroenthema des ersten Satzes und zwar in D dur
das Schlusswort erhält.
Seine Vierte Sinfonie (Es dur) hat Brückner die A. Bmckner
Romantische genannt. Die Romantik die er meint , ist Vierte Sinfonie,
die des Waldes. Das Werk ist eine Waldsinfonie, aber
aus einem viel tieferen Geiste als die bekannte von Raff,
die eine galante französische Romantik entwickelt. Die
Bruckner'sche Sinfonie hat durchaus deutschen Charakter :
er sehnt sich nach dem Wald, seiner Heimlichkeit, seinem
tiefen Frieden in Klängen die an Steficn Heller's trauliche
Klaviersceneu ,Im Walde** erinnern. Mehr noch, Brückner
hält im Wald wie das altgermanische Heidenthum seinen
Gottesdienst, er geht durch die Reihen der erhabnen
Stämme mit den Versen des Dichters im Kopf: ,Du hast
Deine Säulen Dir aufgebaut und Deine Tempel gegründet."
Ihm ist im Sinne jener alten Zeiten, wo wir Deutschen
noch ein Waldvolk waren, der Wald das herrlichste Gottes-
haus, der schönste Dom, den der Herr der Welten sich
«c? 666 ^
selbst gebaut. Der Wald stimmt den Componist ernst
religiös und ein feierlich erhabner Grundton, wie ihn ähn-
lich Bruch in seiner Esdur-Sinfonie leise und flüchtig ein-
mal anschlägt, wie er aber sonst nur in den langsamen
Sätzen aufzutreten pflegt, durchzieht die ganze Sinfonie.
Ihre Tom Familientypus abweichende geistige Haltung wird
der eine Grund sein, der ihre Verbreitung erschwert.
Ein anderer liegt darin, dass sie für die reichlichen Natur-
schilderungen, die sie enthält, ein ganz ausgezeichnetes
Orchester und ziemlich genauen Vortrag verlangt; ein
dritter in der übermässigen Breite einzelner Theile.
Besonders ist es der erste Satz (Ruhig bewegt, v,
Esdur) der durch tief religiöse, ins Ewige sieh ver-
senkende Stimmung ergreift. Sein Anfang und die um
das Hauptthema
Ruhiir beweist. 0 : 72 .
i: — — ^
^o I -^hi^iL^-|,„;)| o i gebildete
P
Gruppe erweckt im Hörer Schauer der Andacht, umweht
ihn mit Kirchenluft. An Liturgie erinnert auch der Vor-
trag : das Hörn, das beginnt, gleich dem Liturgen, der kleine
Chor der Holzbläser, der die Melodie ihm nachsingt, der
respondirenden Gemeinde. Für den romantischen Charakter,
den Brückner seiner Sinfonie geben wollte, ist dieses Haupt-
thema des ersten Satzes das wichtigste Stück; und das ces
mit dem der zweite Abschnitt einsetzt, der Hauptträger
des romantischen, geheimnissvollen Elements. Aus der ehr-
fürchtigen Stimmung wird nach dem feierlichen Eingang
bald eine froh erwartungsvolle; sie ist vertreten durch das
LtLlLiLu.
Motiv: -J^g-tt-XZ' — ! — i_ , ^^^ .. J — 1 ^ . das als eine Er-
gänzung gewissermassen mit zum ersten Thema gehört.
Der Anfang mit dem feierlich breiten Ton spricht die
Gottesfurcht, das neue Motiv die Naturfreude des Compo-
nisten aus. So haben wir in den beiden Theilen des ersten
c<? 667 ^
Themas die beiden HauptstUcke der menschlicben Grund-
lage vor uns, aus der Bruckner's Kunstwerke ihren Ur-
sprung ziehen. Mit dem Motiv der Naturfreude bildet
Brückner die nächsten Zeilen seiner Dichtung. Sie nehmen
bald den Charakter eines begeisterten Hymnus an. Der
Dichter wird von einem Jubel über die Schönheit der
Schöpfung fortgerissen; stürmisch drängt die Harmonie in
gewaltigen Modulationen fort und setzt sich dann auf ein-
mal, wie geblendet, auf dem Fduraccord fest, alle Kraft
der Empfindung in einem Guss ausschüttend. Brückner
liebt die Klangkontraste. So folgt auch hier dem Rauschen
des vollen Instrumentenchors der stille Klang der beiden
Hörner die einige Takte allein das F halten. Es wird
durch die Bässe, die des darunter anschlagen zur Terz
und die Bratsche setzt mit dem zweiten Thema, wie folgt
^^
J I J ' Ü II ^^* ^ ^^^ wäre die nor-
P
male Tonart gewesen, Brückner hat Des gewählt. Die
Ausweichung in eine entlegnere Harmonie ist in diesem FaUe
ein Mittel romantischer Wirkung, Brückner bevorzugt aber
auch im Allgemeinen das Gebiet der Unterdominant, sehr
zum Vortheil des wannen Charakters seiner Musik. Der
Ton innig dankbaren Genicssens, den der Anfang dieses
zweiten Themas anschlägt, geht mit den Motiven
ciHi LJ — [1. ' ^.jizE, die zuerst als begleitende ein-
treten, dann selbständig werden, in einen heitern über und
läuft in dem Schlussglied des Themas:
'^>K ^ F^i^J' \^f ^^ in den Ausdruck leben-
digen Entzückens über. Das äussert sich zuerst laut, jauchzt
in die Welt hinaus; dann wieder heimlich wie im tiefsten
Innern. Es ist ein ungemein wandelbares Motiv, das bald
den innigen Elementen des zweiten Themas die Hand
reicht, bald wieder aus dem ersten Thema die belebenden
«c 668 ^
Töne der Naturfreude herbeiholt. Die letztren füllen auf
längre Zeit die Seene mit Spielen verschiedener Art, wie
Kinder die vor Lust jetzt jauchzen, dann in stiller Anmuth
ihre Kreise ziehen. Von einem stürmischen Ausbruch der
Freude, in dem zuletzt sämmtliche Messinginstrumente mit
dem Desduraccord auf dem Rhythmus
}'- d^J J I J J J toben, lenkt Brückner noch ein-
mal unvermuthet in die ruhigere Region des zweiten The-
mas ein, jetzt in dem normalen Bdur; im pp und in Bruch-
stücken verklingt es. Der Dichter schliesst das Auge, die
Bilder schwimmen in seiner Seele in einander. Sie ruht ; unbe-
stimmt und dämmernd streifen Empfindungen und Ahnungen
durch die Brust. Das drückt die Musik nüt abwärts ziehen-
den chromatischen Gängen aus, die leiser Paukenwirbel
begleitet ; die feierlichen Motive des Hauptthemas und die
lustig erregten des zweiten laufen durch einander. So
schliesst die Themengruppe des ersten Satzes.
Die Durchführung beginnt im Traumeston mit dem
feierlichen Anfangsmotiv des ersten Hauptthemas, das
durch kühne Dissonanzen merkwürdig romantisch gefärbt
wird. z. B.:
Sie wendet sich dann zu breiten Bildungen über das Motiv
der Naturfreude, die sich von denen in der Themengruppe
durch einen durchschnittlich ernstren Ton unterscheiden.
Der christlich religiöse Zug der die Sinfonien Bruckner*s
unter Hunderten kenntlich macht, gewinnt auch hier
wieder die Herrschaft über seine Phantasie. Der Abschnitt
endet in einigen Strophen Choralmusik, in der die Trom-
peten die Stimmführer sind. Als sie leise ausgeklungen,
setzt das zweite Thema des Satzes (von Gdur) ein, jedoch
mit verlängerten Rhythmen und dadurch ebenfalls in die
kirchliche, fromme Empfindung übertragen.
c<? 669 ^
Von diesem Punkte vollzieht sich der Uebergang in
die Reprise ganz natürlich, wie von selbst. Sie verläuft
ohne bemerkenswerthe Ueberraschungen und hinterlässt
wohl bei den meisten Zuhörern den Wunsch nach KürzuDg,
namentlich in der allerletzten Schlusspartie.
Den zweite Satz (Andante, C, CmoU) zu verstehen
muss man bis in seine Mitte vorgehen. Denn zunächst
fragt man sich erstaunt: wie kommt ein Trauermarsch in
eine Waldsinfonie? Die erklärenden Worte stehen unter
andren in Schumann's »Pilgerfahrt der Rose* in dem schönen
vom Hornquartett begleitenden Männerchor ^Bist Du im
Wald gewandelt, etc.*. Brückner hat hier an den Wald,
an die Natur als Trösterin im Leid gedacht. So malt er
uns denn eine Scene des schwersten Leids: ein Begräbniss.
Die Celli singen eine klagende Melodie,
Andante. J = 66
einfach als ob sie aus dem Volkslied stammte und doch
ein wenig mit Chopin'scher Stimmung getränkt, wie denn
Brückner bei aller Schlichtheit im Grunde seines Gemüths
doch immer und überall modern bleibt. Die Begleitung
ein Schubert'sches Marschmotiv
"*^#4
VP
zeigt uns Ort und Veranlassung der Klage, erklärt und
malt die Situation. Die Scenerie wird bald noch mehr
verdeutlicht: Choralgesang, Trauerchörfe die folgender-
massen einsetzen
!^^
IbJ J lU II "••*«•■•
ij \\ijj^
p crcsc.
brechen auf längere Strecken den Marschrhythmus. Dann
beginnt der Marsch vom Neuen. Vom Neuen auch erhebt
sich die klagende Stimme aber viel gedämpfter, sie ist in
der Mitte des Streichorchesters, in der Bratsche, gleichsam
versteckt
c<? 670 ^
P\.i J"Ti4^3J)|Jjpi|» IjJ ^
und windet sich, halb unterdrückt, suchend und zugleich
fiiessend dahin, bis der Marsch (in C dur und ppp) wieder
schweigt. In diesem Augenblick lassen sich wie von fem
und von hoch oben Motive vernehmen
8^
Ä p 'tr \.a 1 r f J" I ^^ die schon am Anfang des Andante,
aber da ziemlich unbemerkt auftauchten. Wirkt diese
Flötenstelle nicht als riefen Vogelstimmen aus dem Wald
und hin zu ihm ? Nachträglich wirds uns klar, dass schon
von Anfang an immer in den Marsch hinein, kurze Natur-
töne erklangen. Das Hörn wars, manchmal auch die Trom-
pete, die ganz heimlich bald mit einem einzelnen Ton,
bald mit einem Motiv, am häufigsten mit J . J J lockten.
Als die Bratsche sang, gaben sie sogar deren Wendung
wie im Echo wieder, zuweilen hörten wir auch den Quinten-
ruf, der im ersten wie im zweiten Satz thematisch so viel
bedeutet.
Nach dieser entscheidenden Stelle, mit der der erste
Theil des Andante schliesst wandelt sich der Charakter
der Musik. Die Bässe sinnen jenem Flötenmotiv nach und
während sie es wiederholen und weiterführen, erfinden die
Violinen neue Melodien, die trostreich klingen:
Ji'i .1 I Ti I if^ ''LJÜ 1^ ^-^^-
Dann nimmt das Hörn, nach ihm nehmen die Holz-
bläser das klagende Hauptthema wieder auf; aber der
Marsch, der dazu gehört, klingt nur noch eine Weile aus
den Bässen an, dann verliert er sich ganz aus der Er-
innerung und Instrument nach Instrument tragen die freu-
digen und lebenskräftigen Elemente die die Melodie ent-
CG* 671 ^
hält, in immer hellres Licht. Es vollzieht sich ein grosser
Aufschwang der Stimmung. Freilich ist die Rückkehr
zum Trauerton jetzt noch unvermeidlich. Der Mitteltheil
des Andante verklingt leiser und leiser, verschwindet wie
eine Vision und sein dritter Theil, die Reprise setzt ein.
Jedoch bleiben jetzt die Anklänge an den Trauer-
chor weg und sehr bald kommen die Flötenmotive wieder:
schon vor dem Einsatz des Bratschenabschnittes. Nach
ihm setzt das Hauptthema wieder ein, aber mit Contra-
punkten umspielt, die den starren Trauerton weit weg-
weisen. Mehr und mehr klingt es verklärt und geht in
einen Triumphgesang über, der mit allem Glanz des
Bruckner'schen Orchesters den Sieg über alles Leid ver-
kündet und weit über Grab und Leichenzug hinaus weist
auf Himmel und ewiges Leben. Dieser Schluss des An-
dante ist seine Glanzpartie, poetisch ergreifend gedacht
und musikalisch kühn und genial ausgeführt. Der Ueber-
gang nach Cdur und die Rückkehr nach dieser Tonart
— von Ces aus — ragen besonders hervor.
Der dritte Satz der Sinfonie, ihr Scherzo (bewegt,
*/4, Bdur) wirft auf den Waldcharakter der Composition
ein für Jedermann genügendes Licht. Schon im dritten
Takt empfangen uns die Hörner mit Jagdsignalen. Der
Componist hat ihnen in dem Satze soviel Platz eingeräumt,
wie das vor ihm in einer Sinfonie noch nicht vorgekommen
ist. Darin spricht sich sowohl Bruckner's künstlerische
Naivetät aus, wie seine grosse Liebe zu solchen Schilde-
rungen aus der äussern Natur, die musikalisch zu fassen
und zu bezwingen sind. Drittens aber spricht aus den
breiten Bildern, die Brückner aus den einfachen Jagd-
motiven entwickelt hat, aber auch eine ganz eminente
Begabung. Vielleicht stimmen die meisten Hörer und
Kenner dieses Satzes darin überein, dass seine grossen
Gruppen — namentlich die des Hauptsatzes — zu oft
wiederholt werden. Aber innerhalb dieser einzelnen grossen
Gruppen möchte man nichts gekürzt und gestrichen wissen.
Das sind Meisterstückchen, unübertrefflich lebendig, farben-
reich und wirklich romantisch. Was ist das für ein
c^ 672 ^
intressantes Concertiren zwischen Hörnern und Trompeten
und wie hat Brückner es verstanden durch Harmonien,
namentlich durch den Gebrauch von Dissonanzen, diese
Brocken aus der gewöhnlichen Gewerbe- und Bedienten-
musik zu künstlerischer Bedeutung zu bringen, aus ihnen
Bilder von packender Naturtreue zu gestalten! Die Muster
aus Berlioz's , Requiem* und aus Wagner^s , Tristan*
haben hier ebenbürtige und selbständige Leistungen erzeugt.
Neben dieser Naturmusik aus den Jagdsignalen ge-
zogen, verschwindet der melodische Gehalt des Scherzos
bis auf ein Minimum, das sich auf das Motiv
HiF^F3P^t^-^-V-^+f£^p r I r H und noch
mehr auf das einer weichernen Stimmung gewidmete
^^ stützt. We-
WW^^
nigstens was im Hauptsatz des Scherzos den ersten Theil
betrifft. Sein zweiter Theil beginnt mit einer Durchführung
der im ersten aufgestellten Motive, bei der der Ausdruck
innrer tiefrer Gefühle vor der Jaglust den Vortritt erhält.
In einen noch schärferen Gegensatz zu der Schilderung
des aufgeregten Waidmaunslebens tritt, wie zu erwarten,
das Trio. Es klingt auf Augenblicke wie ein Tänzchen
und wirkt auf Grund seiner gemächlichen, auf niedere
Volksschichten und ihre Freuden weisenden Hauptmelodie
Oemacblich'
5 5 § 3 5 5 6
Ges G«s \ Oo8 GesI Ges Ges l 0«b q^
sehr drollig, stellenweise burlesk.
Das Finale (Massig bewegt, (P, Esdur) beginnt wie
in Nebel und Dämmrung mit einer Stimmung die noch
im Klären begriffen ist. Wir hören über verworrenem
Kauschen des Streichorchesters ernste Motive:
oc? 673 ^
MäflBig bewegt J 3 TS
in Horn und Clarinette. Eine
rp y^ =
Weile werden sie durch Reminiscenzen aus der Jagdmusik
des Scherzos vertrieben und erst nach einem langen,
mächtig gährenden crescendo schliessen sie sich zu folgen-
dem Hauptthema:
in
^k^C^i^f^f^U.^
1^;^' |0.»4i
iL4fJ!^-Uy^
=3c
des Satzes zusammen. Niemandem wird es entgehen, wie
sich diese stolze Weise wieder der feierlichen Stimmung
des ersten Satzes nähert und infolgedessen auch Niemanden
überraschen, wenn das Hauptthema dieses ersten Satzes
schon bald, hier im Finale, vor uns hintritt. Es muss
sich aber den Zulass gewissermassen erkämpfen und er-
zwingen und kommt durch eine Krisis geschritten, in
der drohende und freudige Töne in erschreckender Wild-
heit zusammentreffen. Namentlich eine rhythmische Formel
(Achtelsextolen) ist's, die darin so erschreckend wirkt.
Wer bisher noch ungewiss war, dem muss durch sie klar
werden, dass der Componist in diesem Finale an die
Schrecken des Waldes, an den Wald in Nacht und Sturm,
an seinen düstern, gespenstischen Charakter gedacht hat.
Dem Hauptthema des ersten Satzes folgt auf dem Fuss
ein Citat, oder besser gesagt ein Anklang an das Andante
und seine charakteristische Marschbewegung der Bässe.
Die Klagemelodie hat eine Umwandlung erlitten
j.
72
§A'frTt fJrf^i-H.
Ihr nach kommt sofort
eine freundliche Melodie ^h^f^^lu J I J^ JTl J II
die als zweites Thema im Satz gelten kann. Sie führt zu
Kretsschmar, Führer, I. 43
e<? 674 ^
einem Abschnitt anmuthiger Träumereien, die aus der
Gegenwart in ferne Zeiten, rielleicht der Kindheit eilen,
hin. Sie setzen sich schliesslich um das spielerische,
tändelnde Motiv
iv ^)r\, ^ jT^^^^^p j , das wieder einmal
aus einer Begleitungsstelle hereinkam, fest. Als das zweite
Thema zum zweiten Mal (in der Clarinette) eingesetzt hat,
kommt bald eine rauhere Antwort. Das auf die vorhin
erwähnten Achtelsextolen gebaut« Thema
i^llr^P [T r\r TT \ r 1 beherrscht jetzt auf
einige Zeit beängstigend die Scene. Dann tritt aber das
zweite Thema wieder beruhigend ein und schliesst den
Theil des Finales, der ungefähr der Durchfuhrung ent-
spricht.
Das Finale seiner Romantischen Sinfonie gehört im All-
gemeinen zu Bruckner's schwierigsten Sinfoniesätzen. Die
Themen sind nicht so einfach geformt und nicht so bestimmt
im Ausdruck, wie er sie sonst gewöhnlich giebt; zum
Theil erhalten sie ihre Bedeutung erst durch den erst
bei längrer Vertrautheit zu Tage tretenden Zusammenhang
mit Melodien aus dem ersten Satz. So soll z. B. das zweite
so wichtige Thema des Finale auf das Sextenmotiv im
Hauptthema des ersten Satzes, auf das geheimnissvolle
^9}, tfi \ni^ j --^[^Tlv,^ bezogen werden. Besonders
wird das Verständniss des Satzes aber durch die grosse
Anzahl der in ihr aufgestellten Themen und Motive er-
schwert. Diese Menge der Ideen ist hier nicht ein Zeichen
von Fruchtbarkeit und Keichthum, sondern sie ist die
Schwäche der Composition, die Folge ungenügender Durch-
dringung und Beherrschung des Stoffes.
Alle diese Schwierigkeiten des Finale sind eben in
seiner Reprise noch dadurch wesentlich gesteigert, dass
die Themen hier bis zur Unkenntlichkeit umgebildet und
c<? 675 ^
auch an ganz andere Plätze gestellt werden als sie in der
Tbemengruppe des Satzes inne hatten. Auch die Breite
einzelner Theile stört. Nur in eingehender Beschäftigung
mit dem Satz lernt man desshalb Inder Reprise ihn begreifen.
Einen Fingerzeig bietet der Umstand, dass das oft erwähnte
zweite Thema in ihr die geistige Führung übernimmt.
Sie hat bedeutende sinnliche Wirkungen: eine der ge-
waltigsten da, wo das umgebildete Hauptthema so un-
vermuthet hinter einem Trugschlüsse verschwindet. Das
ist zugleich ein Beispiel für Bruckner*s Kunst der schnellen
Stimmungsübergänge. Vor seiner Phantasie wechseln hier
majestätische Bilder aus der Natur mit wunderbaren, über-
irdischen Erscheinungen. Vor ihnen wird seine Tonsprache
magisch und mystisch, der Glanz des vollen Orchesters macht
der Leere Platz, der warme Tonstrom einem Tasten und
Stammeln zerstückter Motive. Zugleich tritt an dieser
Stelle auch der Einfluss sehr deutlich hervor, den Wagner^s
Werke auf Brückner auszuüben pflegen. Hier hören wir
das Verwandlungsmotiv aus dem «King des Nibelung**
und mit den Klängen des , Feuerzauber* geht seine
Bomantische Sinfonie zu Ende.
Die deutsche Musik wird in der Sinfonie mit einer
Schule Bruckner's zu rechnen haben. Ein bedeutender
Ansatz dazu liegt in der Cmoll- Sinfonie von Gustav 0. Hahler
Mahler bereits vor. Sie ist die zweite Sinfonie des Com- Zweit© Sinfonie,
ponisten. Seine erste (in D dur), die durch eine Aufführung
auf dem Weimar'schen Tonkünstlerfeste des Allgemeinen
Deutschen Musikvereins (i. J. 1894) weiter bekannt ge-
worden ist, war romantisch pastoralen Charakters; auch
seine dritte scheint^ nach den Titeln der Sätze zu schliessen,
sich auf diesem Gebiete zu bewegen. Beide sind noch
nicht veröffentlicht; nur die zweite liegt im stattlichen
Partiturdruck und in einem Arrangement für zwei Klaviere
vor, das indessen besser gemeint als gerathen ist. Diese
Cmoll- Sinfonie ist nun durchaus ernst und pathetisch, sie
bekennt sich zu Brückner aber nicht blos in der Richtung
der Ideen, sondern sie stellt diese zum Theil mit Brückner'-
sehen Mitteln, z. B. mit häufiger Anlehnung an Cboral-
43*
CO 676 ^
weisen dar und sie steht drittens, und zwar noch mehr
als Bruckner^s eigne Werke, unter dem starken Eanfloss
Richard Wagner's. An keiner früheren Sinfonie kann
man so wie an dieser Mahler'schen merken, wie die neuere
Musik immer mehr von dem Geist und auch von der
Sprache des Bayreuther Meisters aufnimmt. Seine Macht
ist schon jetzt der, die Schiller in der ersten Hälfte des
19. Jahrhunderts auf die deutsche Dichtung ausübte,
mindestens gleich.
In mancherlei Aeusserlichkeiten macht die Sinfonie
Mahler^s den Eindruck eines ausserordentlich schwierigen
Werks. Sie mischt, scheinbar ohne einen Anh^t dafür
zu geben wie Berlioz's „Romeo und Julie* Instrumental-
musik mit Solo- und mit Chorgesang, sie hat sechs Sätze.
Von allen diesen Schwierigkeiten bleiben nur die, welche
ihr unerhörte Blechmassen verbrauchendes Orchester und
die technische Natur des Werkes der Aufführung bietet.
Zu verstehen ist sie ziemlich einfach, wenn man nur
darüber klar ist, dass sie nicht eine Zusammenstellung
von allgemeinen Stimmungsbildern geben will, sondern
dass sie zu jener ungeheuren grossen Classe von Programm-
sinfonien gehört, deren Componisten eine Angabe über das
Programm für unnöthig erachtet haben. Ihr Inhalt berührt
sich einigermassen mit dem von Draeseke's Cmollsinfonie.
Sie schildert das Ende eines edlen Menschen, der einen
schweren Verlust nicht verwinden kann. Die Beziehungen
zu Draeseke sind rein zufällig; wesentlichere dagegen be-
stehen zwischen Mahler's Composition und der Sinfonie
fantastique von Berlioz. Auch Mahler neigt, wenn auch
durch bessern Geschmack gezügelt und gehalten, ein
wenig mit seinem Programm zur Schauerromantik; noch
mehr gleicht er ihm in den Streben nach neuen Orchester-
wirkungen. Sogar eine Besenruthe nimmt daran Theil.
Sie sind im Ganzen edler als die der Sinfonie fantastique
und beruhen im Wesentlichen auf einer üebertragung
der von Wagner für den „Ring des Nibelung* ersonnenen
Farben in den Concertsaal. Wenn sie sich aber hier
einbürgern sollten, so würde das eine ästhetische und
c<? 677 '^
physische Umwälzung der Concertmusik bedeuten bei der
die Bedenken überwiegen. Im Grossen und Ganzen bildet
diese C moU-Sinfonie Mahler's den Superlativ dessen, was
die neue Zeit in der Kunst der Klänge und Klang-
mischungen erreicht und vor sich gebracht hat. In der
Menge imposanter, mächtiger Töne hat sie in der Sinfonie-
litteratur wohl nicht ihres Gleichen. Sie ist aber auch
ein durch hohe und edle Ideen ausserordentlich hervor-
rageivles für die Zukunft der Sinfoniecomposition vielleicht
sehr wichtiges Werk.
Da das Werk zur Zeit noch zu den wenig bekannten
Grössen gehört, muss an Stelle einer eingehenden Analyse
eine kurze Skizzirung der einzelnen Satze genügen.
Der erste Satz (Allegro maestoso, C, Cmoll) beginnt
mit Motiven des Schwankens und der Aufregung, des
empörten Gemüths als wenn sich Einer sträubt eine furcht-
bare Nachricht zu glauben. Des Weiteren entrollen ihre
Bilder den ungeheuren Schmerz einer grossen Seele und
Begräbnissscenen. Die Phantasie sucht sich dem Kindruck
des Verlusts durch Flucht in ferne, holde Zeiten zu ent-
winden. — Die Form in der dieser Inhalt dargestellt wird,
entspricht in den grossen Zügen dem Aufbau des Sonaten-
satzes. Schwierigkeiten verursacht vielleicht das Ver-
ständniss des ersten Themas dadurch, dass sein Contrapunkt
als ein selbständiger Ideeutheil vorausgeschickt wird. Das
zweite Thema tritt ungewöhnlich bald ein und ist in
mehrere Gruppen zertheilt.
Der zweite Satz (Andante con moto, ^/g, Asdur) zeigt
den Helden des Tongedichts bemüht sich in des Lebens
Behagen und in seiner Alltäglichkeit wieder zurecht zu
finden. Erregung klingt bald leise durch diese Versuche
durch, bald bricht sie leidenschaftlich aus und wirft die
Töne der Verzweiflung in das Bild, die im ersten Satz so
erschütternd wirkten.
Der Hauptsatz dieses Andante hat ein Thema das dem
Walzer der Volkmann'schen F durserenade absichtlich nach-
gebildet zu sein scheint.
c<? 678 ^
Der dritte Satz (ebenfalls ein ruhiger '/sTakt, in
Cmoll) führt die Versuche vom Schmerz loszukommen,
einen gewaltsamen Schritt weiter. Um zu vergessen, ver-
liert sich der Trauernde ins Triviale, begiebt sich mit den
besten Theilen seines Wesens in unwürdige Gefahren. Um-
sonst! Durch alle Lagen, auch durch die Stunden neuer
Hoffnungen, dringt der alte Schmerz wieder durch. Die
Wunden der Seele bluten nur heftiger.
An neuen, überraschenden Mitteln der musikalischen
Carrikatur durch Klang und Melodik ist dieser Satz sehr
reich. Seine gebrochne Schlussstimmung führt höchst na-
türlich hinüber zum
Vierten Satz einem feierlichen CTakt in Des dur,
der ein Altsolo einführt und ihm ein „ Urlicht " betiteltes
Gedicht aus ,Dc8 Knaben Wunderhom* überträgt. Wer
dem zweiten und dritten Satz mit dem richtigen innerlichen
Antheil gefolgt ist, wird nicht befremdet sein, wenn hier
die sinfonischen Traditionen plötzlich durchbrochen werden.
Ihr Verlauf Hess für den Helden nichts übrig als die Sehn-
sucht nach dem eignen Tode und diese spricht das Altsolo
— für viele Zuhörer vielleicht überflüssiger Weise — er-
greifend schön, in der Tonsprache alter Zeiten aus.
Aus diesem Verhältniss folgt, dass der zweite, dritte
und vierte Satz eng zusammengehören und dass vielleicht
ihre äussere Trennung besser unterblieben wäre.
Der fünfte Satz, kurz gegliedert, zerrissen, im Tempo
immer wechselnd, führt die irreleitende Ueberschrift ,Im
Tempo des Scherzos**, die wohl nur für den ersten, ent-
setzlich wild hereinfahrenden Abschnitt ('/gTakt) gelten
soll. Jedenfalls darf Niemand den Charakter des gewöhn-
lichen Scherzos erwarten. Der Componist schildert hier
ein Gemüth unter den Eindrücken, die der Entschluss zum
Sterben hervorruft. Er giebt uns Choräle und fromme,
feierliche Gedanken der Ergebung, des Hoffens auf Grott
und Jenseits, der Liebenswürdigkeit im schroffen Wechsel
mit dem Ausdruck der Klage, des Entsetzens, des Todes-
grauens mit phantastischen Bildern geistiger Umnachtung.
Sie treten ganz besonders hervor in einem kurzen Abschnitt,
ce 679 ^
den Hörner — die Stelle hat die üeberschrift : »Der Rufer
in der Wüste* — mit Signalen einleiten. In der Mitte
der Composition regt sich in einem kräftigen Marschsatz
(Fdur) noch einmal die Lebenslust. Als Alles zu Ende
ist und Stille eintritt, spielen Mittelstimmen leise auf das
zweite Thema des ersten Satzes an.
Der Schlusssatz knüpft ebenfatls an die sanften be-
freienden Ideen dieses Themas in seinem Hauptinhalt an. Den
Anfang macht ein romantisches Concert zwischen Trompeten,
Hörnern die aus der Feme spielen mit der Soloflöte und
der grossen Trommel des Orchesters. Es hat wohl zu der
üeberschrift des Satzes ,Der grosse Appell • Veranlassung
gegeben und will das Auferstehen der Natur im Frühling
zugleich mit der Auferstehung der Todten vor die Phan-
tasie führen, Bilder eines Michelangelo und eines modernen
Idyllenmalers in einen Rahmen drängen. Bald darnach
tritt der Gesangchor ein und singt: „Auferstehn, ja auf-
erstehn*. Der zwischen Solisten und Chor vertheilte Text
erklärt auch das Weitre.
Unter den neuesten Vertretern der deutschen Sinfonie,
die sich keiner Schule zuweisen lassen, sind die Namen
von R. Fuchs, A. Klughardt u. F. Thieriot die
meist genannten.
Robert Fuchs, der als Componist anmuthiger R. Fieht
Serenaden eine feste Stellung in der neuern Musik einnimmt, Sinfonie in c.
hat mit seinem op. 37 bewiesen, dass er auch für die Sinfonie
wohl berufen ist. Freilich kann diese C dursinfonie nicht als
das Meisterstück ersten Ranges gelten, als welches es der
Ueberschwang von Freunden und Landsleuten hingestellt
hat. Ihre zweite Hälfte ist jedenfalls werth voller als die
erste, in der aus Stimmung und Form noch fremde, nicht
völlig bewältigte Elemente auftauchen. Der erste Satz
gleicht einem Bild, das sich ein muntrer frischer Jüngling
von der Zukunft macht. Sein Hauptthema zeigt den Muth,
die Kraft und auch die Sorgen. In der Feme hellt es
sich auf: ein reizendes schlichtes zweites Thema, das wie
Kindergesang klingt, verkörpert freundliche Erinnerungen
und trauliche Hoffnungen. In der Entwickelung dieser
CO 680 ^
Ideen reizen und erfreuen in erster Linie die sinnigen mu-
sikalischen Details, die Modulationen, Uebergänge und
Zwischengedanken, in denen sich der feine, vornehme, ge-
dankenvolle Künstler zeigt. Die Phantasie war aber der
Aufgabe nicht ganz gewachsen. Fuchs hilft sich deshalb
sehr oft mit launischer und theatralischer Aufregung.
Merkwürdiger Weise klingt auch das Orchester in den
zarten Abschnitten etwas stumpf.
Der zweite Satz ein Presto in Amoll (^Takt) das
den Titel Intermezzo führt in einem halb nordischen, halb
MendelssohnVhen Ton vor eine Reihe toller Abenteuer,
vor Irrgänge des Herzens die in phantastischer Beleuch-
tung jetzt weit in der Feme der Erinnerung liegen. Mit
dem dritten Satz einem Grazioso in ^/^Takt finden wir
den Serenadeomeister wieder. Das ist der liebenswürdige,
unwiderstehliche Ländlerton der Wiener Schule, den Fuchs
so natürlich durch Wendungen ins leicht Leidenschaftliche
in einen höheren Empfindungskreis zu heben weiss. Das
Finale hat den öst reichischen Heimathsklang noch viel
stärker. Es erinnert im Hauptthema direkt an Schubert^s
B dur-Sinfonie. Mit ihm berührt sich Fuchs hier auch in
tiefsinnigen mystischen Klängen, die in die heitre Welt
geisterhaft hineinfallen. Der Schluss der Durchführung
zeigt sie namentlich ; der Satz, der bis dahin die Sonaten-
form eingehalten hat, nähert sich von jetzt ab dem Rondo.
Er ist somit in architektonischer Beziehung der originellste
der Sinfonie, bietet aber auch im Allgemeinen die glänzend-
sten Belege fiir die Begabung des Componisten. Nicht am
wenigsten sprechen sie aus dem Geschick, mit dem er ge-
wöhnliche Ideen, wie sie in der Natur des zweiten
Themas liegen, durch die Stellung die er ihnen giebt, zu
heben weiss.
A. Klagkardt August Klughard's beste Begabung fUr Instru-
Dritte Siafonie. mentalcomposition weist ihn auf die Programmmusik. Trotz-
dem und trotz des starken Herzenstons, der aus ihnen
klingt, haben seine ersten beiden Sinfonien nicht im ent-
ferntesten den äussren Erfolg gehabt, den seine dritte, die
Ddursinfonie (op. 37) gefunden hat. Dieses Werk der
«<? 681 ^
Lebensfreude, dem sich eine Zeit lang wohl alle deutsche
CoDcertsäle erschlossen, hat eine deutliche Familienver-
wandtschaft mit den Suiten Franz Lachner^s. Seine Musik
ist munter, flott, anmuthig und kräftig, liebt Tonspiel und
Concertiren, steht den Instrumenten gut und gleicht der
Lachner'schen auch in der Hinneigung zu Franz Schubert.
Für die letztre Beziehung giebt namentlich ihr erster Satz
unwidersprechliche Belege ; seine beiden Hauptthemen sind
Nachklänge aus des Wiener Meisters grosser Cdur-Sinfonie.
Der langsame, der zweite Satz, der dichterisch vollste der
Sinfonie, beginnt mit einem breiten Gesang in dem die
Seele für Glück und Frieden zu danken scheint und flüstert
dann schwärmerisch bewegt von zarten Geheimnissen. Der
dritte Satz gleicht einer lustigen Ballade in der von
alten Zeiten, von Rittern und Recken kräftige Streiche,
Turniere und Minnefahrten, Schwanke und Abenteuer er-
zählt werden.
Das Finale ist ganz der Heiterkeit gewidmet, giebt
Proben eines eigensinnigen Humors und nähert sich in dem
köstlich tändelnden zweiten Thema und in seiner Umgebung
(*/4Takt) einer höhren musikalischen Originalität.
Die vierte Sinfonie Klughardt's (Cmoll, op. 57) ist A. Klaghardt
eine der beachtenswerthesten und fesselndsten Stimmungs- ^'^«'*« Sinfonie.
Sinfonien, die wir in der neuesten Zeit erhalten haben.
Der Löwenantheil ihres seelischen Inhalts und der künst-
lerischen Ausführung fällt auf den ersten Satz, der, in ähn-
licher Weise wie das in dem Doppelconcert und in anderen
Werken von Brahms der Fall ist , die übrigen fast in den
Schatten stellt. £r entrollt ein Bild nach Klärung und
nach Freiheit ringender Gefühle, ein Bild in dem harte
Kämpfe und freundliche Hoffnungen einander gegenüber-
stehen. Die grösste musikalische Macht offenbart der Com-
ponist in der zweiten Hälfte der Durchführung, wo ihm
erschütternde und rührende Töne gleich treffend im ersten
Augenblick kommen. Der vollen Wirkung des Satzes
steht die verwickelte und in Beiwerk verhüllte Natur des
Hauptthemas etwas entgegen. Einer der schönsten Mo-
mente bildet das muthige, aufhellende Homthema.
co 682 «-
Der zweite Satz hat eine Choral weise zur Grandlage.
In ihren Frieden bricht ein Mittelsatz hinein, wild und
dämonisch ; doch erfolglos. Die Freiheit der Erfindung und
des Entwürfe, die ein Kennzeichen dieses ganzen Andantes
ist, äussert sich am schönsten am Schluss dieser dramatischen
Episode mit dem Eintritt des Cellothemas.
Der dritte Satz (Presto) ist ein Scherzo nach dem
Muster Beethoven*s und mit ungesuchten Anklängen an
ihn. Aus dem von Hörnern eingeleiteten Trio spricht die
vorzügliche Begabung für edle vorksthUmliche Weisen, die
Klughardt^s Opern auszeichnet.
Dasselbe Marschner'sche Talent äussert sich in dem
Marschsatz, der den Haupttheil des Finales ausmacht; in
höhere Kreise hebt ihn eine kunstvolle, hier und da mit
der von Klughardt gern aufgesuchten Fugenform arbeitende
Behandlung. Die dämonischen Geister der Dichtung
sprechen noch einmal herrisch aus der langsamen Ein-
leitung des Satzes, die in seinen Verlauf noch einigemal
übergreift und die als der bedeutendste Abschnitt des
Finales gelten muss.
F. Thlerlot Von den sinfonischen Arbeiten Ferdinand Thieriot's
Sinfonietu. jgt die verbreitetste seine Sinfonietta (op. 55). Diese Com-
position ist ein Beitrag zur romantischen Musik der sich
durch einfache, natürliche Erfindung, durch liebenswürdige,
anmuthige Stimmung und namentlich durch eine ganz
unübertreflFliche Klarheit des Vortrags und der Form un-
gewöhnlich auszeichnet. Die sinnige, vornehme Romanze,
die mit allerlei Humoren gesegnete Tarantella erklären
sich selbst, auch der Eingangssatz, ein Allegro moderato
das sich wie zu einem schönen Spaziergang anschickt uud
im Verlauf seinen schlichten Themen viel Schwung und
auch geheimnissvolle Klänge abgewinnt.
Wenn auch der Aufschwung in der ausser deutschen
Orchestercomposition, der während der letzten Jahrzehnte
Niemanden entgangen sein kann, hauptsächlich der Pro-
grammmusik und der Pflege und Weiterbildung nationaler,
c(? 683 ^
volksthUmlicher Musikelemente zu Gute gekommen ist, so
ging dabei doch die Sinfonie nach klassischem Muster, die
Sinfonie welche subjective Stimmungen ihrer Verfasser in
breiten Bildern entrollt, nicht ganz leer aus. Von den
Bussischen Sinfonien stehen schon mehrere auf der Grenze
zwischen nationaler und internationaler oder deutscher Art.
Besonders aber ist es Frankreich, das alte Land der Ballet-
suite und der Tonmalerei, wo der Schatz der classischen
Sinfonie in der letzten Zeit um einige bedeutende StUcke
vermehrt worden ist.
Als erstes derselben nennen wir die Dmoll-Sinfonie C. Fraaek
von C^sarFranck. Franck ist zwar in Lüttich geboren ^ »oU-Sinfonie.
aber einer jener Belgier, die ohne Abzug der französischen
Schule zugewiesen werden können. In Paris hat er gelebt
und gelitten. Erst jetzt nach seinem Tode sucht man das
Unrecht wieder gut zu machen, das die blinde Mitwelt
seinem hervorragenden Talente zugefügt hat. Namentlich
seinem letzten Oratorium „Die Seligkeiten* kommt dieser
Umschwung zu Gute ; im Gefolge dieses Werkes erscheint
dann hie und da wohl auch eine oder die andere seiner
interessanten sinfonischen Dichtungen. Die bedeutendste
seiner Instrumentalcompositionen ist aber wohl seine D moll-
Sinfonie, die, ebenfalls aus dem Nachlass und ohne Opus-
Zahl veröffentlicht, den Anspruch erheben darf allgemein
•gekannt zu sein.
Dem Inhalt nach ist sie offenbar ein Stück Selbstbio-
graphie, eine jener gegen ein hartes Schicksal gerichteten
Klagen, wie wir sie in der Neuen Sinfonielitteratur ziemlich
häufig haben. Dieser Charakter allein würde seiner Zeit für
einen französischen Misserfolg genügt haben. Erschwerend
kam aber hinzu dass Francke^s Stil von nationalen Rück-
sichten keine Notiz nahm und Wagnerische und LisztVhe
Ausdrucksmittel anwandte, an die sich selbst Berlioz nicht
gewagt hätte. Die Franzosen sind besonders den Har-
monien gegenüber merkwürdig conservativ und empfindlich.
Franck aber fügt die Nonenaccorde kettenweise hinter-
einander, wenn er so gestimmt ist und drückt seinen Zu-
hörern die schönsten Quintenparallelen förmlich ins Ohr,
c<? 684 ^
wenn sie ihm für einen poetischen Zweck am Plate er-
scheinen.
Die Sinfonie Franck's ist nur dreisätzig. Ihr erster
Satz richtet Fragen an den Himmel, die in dem einfach
gehaltvollen Hauptthema der Einleitung
Lento.
1^^^^^^
cresc. dim.
W^-Tj^ f^fc4=^^?±zntf ^^^^^_ugu
f^~f"t~^f~~\ ^^^^ am entschiedensten zum Ausdruck
P
kommen. Auf diese Töne gestützt hittet der Tondichter
demUthig und vertrauensvoll, blickt schwermUthig umher,
klagt stürmisch und verzweifelt. Die schönsten Stellen
sind die, wo er von den freundlichen Hoffnungen, die im
zweiten Thema auftreten den Blick abwendend, Worte der
Ergebung stammelt. Wie er diese einfachen Motive mit
dem freundlichen Gesicht so in die Pausen hineinsprechen
lässt immer leiser, — das ist tief rührend und ausser-
ordentlich poetisch! Sieht man die Musik Franck^s auf
Originalität und auf Quellen hin an, so findet sich unter
den letzten Mendelssohn mit den heftigen Rhythmen der
Erregung, Wagner mit der Tristanchromatik vertreten.
Die Anlehnung an Wagner ist aber nicht blos äusserlich.
Kein andrer Componist weiss uns mit kleinsten und in-
timsten Intervallen so in den Zustand einer Seele zu ver-
setzen die sucht und versucht und immer wieder nach
einem Ausweg sucht.
Der zweite Satz ist ein AUegretto, wie wir keins
daneben haben. Trotz seines Dreivierteltakts hat es in
dem Begleitungsapparat — in Harmonien und Rhythmen
— den Charakter eines Trauermarschs. Dazu klingen aber
Melodien, als wenn der Componist bei den Erinnerungen
seiner Kindheit weilte und das Bild der Mutter fände, die
am Abend ihrer Kleinen Schlummerlieder sang.
Der Schlusssatz versucht munter und kräftig zu
werden. Aber schon sein erstes Thema fällt leicht auf das
^ 685 '^
Fragemotiv des ersten Satzes zurück. Des Weitem geht er
fast ganz in RemiDisceDzen an diesen und an das Allegretto
auf. Am Schluss hin sagt uns Grabgelfiut in den Bässen :
was geworden ist. Einige Takte im feierlich freudigen Ton
der Apotheose bilden das kurze Ende.
Während Aufführungen dieser Franck'schen Sinfonie,
in Deutschland wenigstens, noch ganz selten sind, fangen
die Sinfonien von Camille St. Saens an sich einen C. St. Saens
festen Platz zu erobern. Auf länger behaupten werden S"»'onie in Bb.
ihn allerdings nur seine zweite und dritte Sinfonie. Denn
die erste (Esdur, op. 2) hat mehr biographisches Interesse
als eignen Gehalt. Indess ist die Form mit einer an-
gebornen Sicherheit und mit einem starken Sinn für
scharfe Wirkungen behandelt. Reminiscenzen aus Classikem
mischen sich ungezwungen mit eignen Vorstellungen.
Unter ihnen machen sich Marschbilder und militärische
Phantasien besonders bemerklich. Das Adagio erhebt sich
wie ein nachcomponirter Theil über den kindlichen Ton des
Ganzen und bleibt — vielleicht grade aus diesem Grunde —
dessen am wenigsten befriedigender Theil. Es geht ohne
Pause in das Finale über in dem der Componist seine
Fertigkeit im Fugiren bioslegt.
Der zweiten Sinfonie von St. Saens (A moll, op. 55) C. St. Saeos
die in der Schweiz viel Freunde zu haben scheint, wird Zweite Sinfonie.
man überall das Interesse entgegenbringen, auf das die
neuen Kleider alter Bekannter zu rechnen haben. Denn
wirklich originell sind an der ganzen Sinfonie wohl nur
zwei Stellen, die Einleitung des ersten Satzes und die
feierlichen Episoden mit dem im Scherzo das Getümmel
der Geigen von den Bläsern unterbrochen wird.
Die eben erwähnte Einleitung des ersten Satzes
ist ein Allegro marcato im ^j^ Takt, eigenthümlich durch
die Ungezwungenheit und Natürlichkeit mit der es die Un-
fertigkeit der Stimmung offen darlegt und die Phantasie
vor aller Welt Toilette machen lässt. Das Orchester klingt
grade als wenn ein Pianist die Tasten des Klaviers probirt
und nach einem Einfall sucht, hie und da unterbricht er
die Figuren und Modulationsstudien durch eine dramatische
c<? 686 ^
Phrase, und lenkt endlich nach einem festern melodischen
Allegro moderato. J«: 60
Gedanken: j |i T | T T T T f »f I I" f'^'
Der Haapttheil des Satzes (Allegro appassionato,
C/f Amoll) bestätigt wieder einmal die Beobachtung, dass
Mendelssobn's Geist in der neuen französischen Instrumental-
musik noch frischer lebt, als in Deutschland, Das Haupt-
thema
Allegro appauionato. J : 68
^■"1 iiN'ij.ji^ ^IjisjVuM^^
belegt das für sich allein, ebenso wie die Ausführung, die
immer geschickt und unterhaltend bleibt. Grössre Wir-
kungen liegen nicht in seinem Kreise, auch Gegensätze
nicht; das zweite Thema
sotto voce
. soiio rvter 1 k I 1
etc. ist aus der-
selben Familie wie das erste. Ein grosser Vorzug des
ununterbrochen fliessenden und funkelnden Satzes ist
seine Knappheit.
Noch mehr charakterisirt diese Eigenschaft das Adagio
der Sinfonien. Es hat nur 79 Takte. Das Thema seines
Hauptsatzes
Adag^. i> s 60
Atsn JTT. 1 J)
ji¥Pi! fn I j^' » H p^i ^ jrriji I ji j7i
TTj ? ^flTffJh^^ ^i^^^m
erinnert an Beethoven'sche Sonaten und an Weihnachts-
musiken. Man würde es gern öfter als nur zweimal hören.
Von den zwei Seitensätzen (beide in Cismoll) die sich
c<? 687 "^
mit ihm ablösen und ebenfalls durchaus volksmässig
schlicht gehalten sind, kehrt der zweite im Finale wieder.
Das Scherzo (Presto, ^/4, Amoll) giebt sich in seinem
Hauptsatze auf Grund des Themas
Scherzo. Presto. J- =120
Beethovenisch, variirt aber diesen Familienzug mit einer
tiefisinnigen Falte, die durch die schon erwähnten feier-
lichen Accorde der Bläser — später werden sie auch Tom
Streichorchester gegeben — variirt wird. Der das Haupt-
thema varürende Seitensatz wird durch eine Reminiscenz
an den ersten Satz der Sinfonie eingeleitet und in seinen
Wesen durch das contrapunktirende Motiv
(fc^ t J J I J J [ bestimmt. Das Trio hebt sich
sehr bestimmt vom Hauptsatz ab und gewinnt durch sein
reizend liebenswürdiges Thema
^Ud poco meno moMO. o«=80
^f¥^nXfjjjjj|j»JrT^rfTCfrirrfrr»
eis n »^ E Gl8
schon allein zur Genüge. Die Rückkehr zum Hauptsatz
wird scheinbar begonnen und zwar sehr sinnig: die Trio-
melodie erscheint in Bruchstücken und ganz in Pausen
verloren. Der Hauptsatz selbst kommt aber nicht, sondern
der Componist bricht rasch und verblüffend ab.
Das Finale (Prestissimo , «^/g, Adur) ist ein an Ver-
wandlungen sehr reiches, fantastisch flottes Rondo. Seinem
Hauptthema das flatternd und beweglich anfängt:
.^ u Prestissimo. J: 800 .^fmm p.,^
Gis E • A Gis A ^^ E
und stürmisch kräftig schliesst, treten Nebenthemen mannig-
fachsten Charakters, die zeitweise sehr kunstvoll zusammen-
gebracht werden, zur Seite. Die wichtigsten von ihnen sind:
e<? 688 ^
UDd
j¥[irfif1^fi^^rf'i»*f#'iff^g|ffl
C. St. 8»?M Mit der dritten Sinfonie von C. St. Saens (CmoU,
Dritte Sinfonie, op. 78) ist die deutsche Musikwelt zuerst durch Franz
Wüllner, der durch weiten Gesichtskreis und umfassende
Bildung zur Zeit an der Spitze aller Dirigenten steht, be-
kannt geworden. Das Werk ist in der äussren Grestalt
nach mehr als einer Richtung ungewöhnlich. Zu dem an
und für sich sehr grossen Orchester Berlioz'scher Abkunft
zieht es, wie das die neueren Franzosen häufig thun noch
Klavier heran und ausserdem Orgel. Die Orgel in der
Sinfonie hat neuerdings J. L. Nicod^ in seiner Sinfonie-
Ode ,Das Meer* mit Erfolg verwendet. Vor ihm hat u. a.
C. Aug. Fischer das Gleiche versucht. Vielleicht führt
das Werk von St. Saens zur nachträglichen Berücksich-
tigung dieses Vorgängers. Es handelt sich aber bei St. Saens
nicht um eine concertirende Verwendung der „Königin der
Instrumente", die viel Bedenkliches hat, sondern nur darum
die Höhepunkte der Tondichtung mit dem verklärenden,
gewissermassen überirdischen Klang der Orgel noch mehr
hervorzuheben.
Ausserdem ist der Aufbau dieser Sinfonie ungewöhnlich.
Sie besteht nur aus 2 Abtheilungen, doch findet man in
ihnen die gewohnten Sätze heraus.
An die Spitze seines ersten Satzes stellt St. Saens das
Adagio V^ : 76. ''^V"^
kurze Thema ^^^z^z^fr-f- ^ ^^~^^p^~f '^^^ » Es ist
der Ausdruck einer ungewissen in Sorgen befangnen Stim-
mung, e^ ist der ernste Blick auf eine noch ferne, dunkel
drohende Wolke. Das Allegro moderato (CmoU, •/g) da»
der kurzen Einleitung folgt, beginnt mit dem Motiv
cC
689
-0»
Allegro modorato. «U 12
das für den grössten Theil des Satzes den Begleitungs-
dienst übernimmt, den vorherrschenden Gemüthszustand
veranschaulicht. Es zeigt in Schubert*scher Art das zitternde
Herz, zunächst unbestimmt ob die Unruhe auf Freude
oder auf Leid deutet. Bald giebt der auf die Einleitung
zurückweisende Gesang der Bläser
die Gewissheit, dass es sich um Klage handelt. Sie wird
unterbrochen durch einen selbständigen Satz über die
zitternden Motive, dann aber vom englischen Hom folgen-
dermassen weitergeführt:
I TW} M pfiii) I
^^TT P I i Jf^p \^i und mit einem leiden-
schaftlichen Abgesang:
(ji'i./TLria^|i|il'lTil'Tl^lj;i
i
Et.
'djij I' gj 'IJ' LU I ^- ' U j I
ij' > t I ^^^^^^
Es F Flo_
etc.
geschlossen, der in seinen besten Wendungen an Spohr er-
innert. Die Stimme des Trostes tritt mit dem anmuthig
ruhigen Desdurthema
Kretzschinar, Führer, I.
44
ce 690 ^
^ih [_)'|i_,F|i77ffirj|i|||i^frp^p|i'^|^
De.qC - B BB
ein. Sehr wirksam hat ihm St. Sa§DB einige vorbereitende
Motive vorausgeschickt, denen es folgt wie die volle Sonne
dem Morgenschimmer. Der Abschluss (in Fdiir) wirkt
glänzend ; poetisch hat ihn aber der Componist schliesslich
ins Stille und Ergebne gewendet um die Durchfuhrung
psychologisch zu begründen.
Sie beginnt mit einem stockenden und zagenden Be-
gleitungsmotiv, über das sich bald das aus der Einleitung
bekannte Motiv der Sorge erhebt. Ihm reicht das erste
Thema mit seinem Endtheil die Hand. In die wachsende
Erregung spielen Trompeten und Posaunen zwei kurze,
aber wichtige Melodiezeilen hinein. Sie weisen in ihrem
frommen choralartigen Charakter auf die Lösung der
Schwierigkeiten, mit denen die Seele des Tondichters augen-
blicklich kämpft, hin, die später wirklich eintritt. Die
Beprise ist heftiger als die Themengruppe gehalten und
läuft in das Einleitungsthema, in die Töne der Sorge
aus. Da setzt die Orgel weich und leise ein, der Himmel
spricht :
, Poco Adagio, äs 60 .
Des
So endet die erste Abtheilung der Sinfonie mit einem
grossen, erhebenden Eindruck. Es kann Niemanden ent-
gehen, dass dieser dem AJlegro angefügte, in frommer
Harmonie gegebne Desdursatz nichts ist als das Adagio
der Sinfonie, das in der Regel als ein selbständiger zweiter
Satz erscheint. In der Zusammenziehung der beiden
Sätze liegt hier die Originalität und das Glück der Ck)m-
Position.
r"
c<? 691 'o^
Man würde Dach diesem Adagio nichts weiter hören
wollen, wenn nicht einige Takte mit übermässigen Drei-
klängen ihren vollen Frieden störten und auf eine Wieder-
kehr schlimmer Stunden gefasst machten.
Sie brechen in dem Allegro moderato, das den zweiten
Satz der Sinfonie beginnt, grausam genug herein. Das
Hauptthema dieses Allegro moderato
Allegro moderftto. S^ 80
J. 11 J J J J I ) J J J J j J J J J I
ist eine Umbildung der leitenden Ideen des erten Satzes,
eine Umbildung theilweise in der carrikirendeu Art ge-
halten, für die Berlioz zuerst in seiner Sinfonie fantastique
das Muster gegeben hat. Diese Wendung zur Verhöhnung
des Theuersten und Ernstesten schlägt bald in ofiPenbare
Frivolität um. Es beginnt ein Presto mit folgendem Haupt-
thema
Presto. J.S 138
das mit das Tollste enthält, was die neuere Orchestermusik
an phantastischen Leistungen aufzuweisen hat. Hier fangt
auch das Klavier an mitzuwirken und zwar mit beab-
sichtigtem prosaischen Effekt. Die Hetze und das Gewirr
dieser Presto- Episode, in der wir, wiederum vorzüglich ein-
gestellt, das übliche Scherzo der Sinfonie vor uns haben,
wird durch einen gemüthvoUem Abschnitt unterbrochen,
der in seiner Wirkung sich mit einem ähnlichen im
G moll-Concert des Componisten begegnet. Das Thema
lautet :
«e 692 ^
p^ i'F'f I ß^
•to. Es wird in seinem bamanen
Wesen noch dadurch gehoben, dass ihm eine sehr zänkische
Stelle vorhergeht, der das Motiv ^ » p_J p f f | zu
Grunde liegt.
Das Allegro moderato kehrt dann wieder und auch
das halb schreckende, halb erheiternde Presto kehrt wieder.
Es hat aber kaum eingesetzt, da stimmen die Bässe,.
Bratschen und Posaunen leise einen Gesang an:
■■jit I M. I J I ' ' 1 1' I I i'Tn <ä«' ^o" <'«"»
Adagio des ersten Theils der Sinfonie stammt. Er
wirkt, von den andern Instrumenten aufgenommen, wie
Gretchen's Bild auf die Mephistomusik in Liszt's .Faust* i
reinigend und verklärend. Es wird ganz still im Orchester.
Auf einmal setzt die Orgel mächtig mit einem C duraccord
ein. Immer von diesem feierlichen Orgelklang unterbrochen
präludiren die Orchesterinstrumente mit
Maestoso. «3 76 ^
»■Jijj yfj}j r r r pTf n ll z« «^em Schlusstheü
der Sinfonie, einem mächtigen Hymnus. Er setzt kirch-
lich ein dfix l ^ ^Ti ' ' ^ 1^^ und schliesst
^ ff f ' ' f ff -•
mit Sätzen, die auf das von Brahms geliebte Motiv
cG^ 693 ^
Alle^ro. J s 92
gebaut, thoils dem dithyrambischen Ton Beethoven's zu-
streben, theils in freien auflösenden Cadenzen eine Maje-
stät und Grösse der Freude aussprechen, für die in
Sinfoniefinales wenig, in früheren Compositionen von
St.-SaSns gar keine Vorbilder vorhanden sind.
Die Kunst spricht nicht nur das Innere eines Volkes
am offensten aus und bucht es, sie vermehrt auch seine
geistigen Güter. So zeigt sich uns in dieser letzten Sinfonie
des zur Zeit bei seinen Landsleuten angesehensten Compo-
nisten wie die französische Kunst mit der gesteigerten
Pflege dieser Gattung an Tiefe gewonnen hat. Am
weitesten geht aber in der Umwandelung nationaler Art
und in der Annäherung an deutsches Wesen unter den
heutigen französischen Componisten Charles Marie Widor. Ck. Wldor
Dieser Musiker , den die Pariser als gründlichen Kenner Erste Sinfonie,
und eifrigen Vertreter Bach^scher Musik schätzen, ist
durch seine produktive Begabung nicht minder bedeutend
und auch für Deutschland würden seine Sinfonien durch
ihre Ideen von Interesse, durch die gewandte und an-
muthige Art, in der schwierige und durchdringende Arbeit
in ihnen vorgelegt wird, von Nutzen sein. Es sind ihrer
zwei. Die erste (in Fmoll, op. 16) zeigt das Bild ihres
Schöpfers am reinsten im e r s t e n Satz, der zu der Richtung
neigt, die bei uns Volkmann und Draeseke vertreten.
Die Themen lassen nicht ahnen, was der Satz enthält.
Das erste, in einer fast irreführenden Art entwickelt und
aus einandergezogen , führt in eine noch in Bildung be-
griffne, nach Gestaltung suchende ernste Stimmung hinein :
Seine beiden Theile
«<5' 694 t>»
ibl'|>'l(^ IT' r iff CJ|^^ stehen im iVerhält-
niis wie Baum und Frucht. Beim zweiten
m
VIol.
I
sind ebenfalls die Fühler, die nachher ausgestreckt werden,
fast bedeutender als dieses Thema selbst. Aber die Kraft
die auf diesen Grundlagen aus der Musik sich erhebt,
ist bedeutend genug. Das Andante ist im Anfang
Andante. ^^^
D O
A B — C
D
Es P
Beethoven*scher Abkunft, in der Fortsetzung äussert
R. Wagner seinen Einfluss. Das zweite Thema
dientder Stimmung
zum Ausruhen.
Das Scherzo wird durch kleine, zur Besonnenheit
und zum Aufhalten mahnende Wendungen viel origineller
Presto.
als sein Anfang ^g f ^"^"Y^-^
A- -^A-'- A
verspricht. Das Trio, im scharfen harmonischen Gegen-
satz — A dur gegen A moU — eingeführt, tändelt allerliebst,
freundliche Gedanken mehr andeutend als aussprechend.
Das Finale, eine flott, frisch und im unverfälschten
Französisch gehaltene Balletscene, unterhält sehr hlibsch,
Ch. Wldor erscheint aber in ihrem Wesen zu leicht.
Zweite Sinfonie. Widor*s zweite Sinfonie (Adur, op. 54) ist das
^
1
CO 695 ^
Lebenszeichen einer heitern kräftigen Seele. Sie stürmt
jugendlich übermüthig namentlich in den ersten Sätzen
dahin, manchmal in burschikosen Wendungen, die an
Schumann erinnern.
Ihr innerstes Wesen offenbart sie mit den ersten Tönen,
mit dem Hauptthema des ersten Satzes
Allegro vivace. J s 160
j!¥gjrii^ii niiiTiHTi^i I II
Ihm folgten auf den Fusse einige feierlich geheimnissvolle
Takte, die uns mit romantischen Regungen, dem Sinn für
des Lebens Räthsel bekannt machen. Sie schliessen ganz
merkwürdig. In das Gis, das die Bässe aushalten, singt
die Oboe ein e \ a \ a hinein. Das ist ein Spielen mit dem
Feuer, zu dem auch die andern Sätze viel neigen. Alle
Spannung, die die Kühnheit im ersten Satze erregt, löst
sich immer wieder behaglich durch die Weisen des zweiten
Tanzgedanken nicht fern stehen.
Der zweite Satz ist ein Scherzo ausnahmsweise im
Viervierteltakt. Sein Hauptthema
Moderato. J:104
P
ein Stück burlesker Kunst. Im Innern des Satzes herrschen
Dämonen, die durch Walkürenklänge sich und den Ein-
fluss Wagner's verrathen. Das zweite Thema
A ff fi Vi« I? " ^^ 1?
A IL O ¥Vf.
sehnt sich nach dem ersten Satz zurück.
Der dritte Satz giebt sich mit dem leitenden Thema
't
<^ 696 ^
Aodante. J:6S
rf'^jJüu.ij I ijj 1 1 ig? L' '
als Ballade zu erkennen. Aus dem ruhigen Anfang geräth
sie in wild dramatische Erzählung aufregender Begeben-
heiten, denen sich das zweite Thema
Tr Aoq u 1 llamente.
j^. ,>rff|i-;^i2'^^^iii7Fr
I
mild beschwichtigend entgegenstellt.
Das Finale beginnt in sehr schwankender Stimmung:
leicht und coquett scherzenden Motiven tritt ein Gedanke
entgegen
.Moderato. ..a^.—
E^^
cresc
tjßtf±^iih^^m
der an die geheimnissvollen Takte erinnert, die am An-
fang der Sinfonie dem ersten Auftreten des Hauptthemas
folgten. Schliesslich festigt sich die Stimmung und spricht
sich mit dem Thema
Alh-gro con brio. d: 120
heroisch aus. Unter den Gedanken die es ergänzen, ist
der folgende ^^^-f+fTr lj|-7"r \^t T |^^
der wichtigste. In einer mildem Lesart lautet er
fP^f-fJ^-^^^-
Auch die Italiener sind im letzten Jahrzehnt wieder
an die Sinfonie herangetreten. Die wenigen Werke der
Gattung, die in Druck gekommen und in Deutschland
«c 697 ^
probirt worden sind, die Sinfonien von Sgambati und
Martucci lassen jedoch erkennen, wie lange in dem
mnsikreicben Lande die Arbeit geruht hat, die eine durch
übergrosse Genügsamkeit der Ideen, die andere durch
deren Schwulst und Unselbständigkeit. Viel Hoffnung ist
auf das Eingreifen Enrico Bossi's zu setzen.
In absehbarer Zeit dürfen wir auch englische Sin-
fonien auf dem Continent erwarten. Wie nun auch neue
Wässer mit dem Strom sich mischen mögen, die nächste
Entwickelung der Sinfonie wird hauptsächlich durch die
Gruppe Brahms — Draesekc — Brückner — Mahler be-
stimmt sein. Denn die Brücke zu einer grossen, zu einer
monumentalen Kunst, nach der unsre Zeit zu drängen be-
ginnt, liegt auf ihrer Seite.
Druckfehlerberichtigungen.
Die Korrektur erfolgte, wätirend der Verfasser durch Abwesenheit
behindert war. In dem folgenden Verzeichnisse hat man davon ab-
gesehen y diejenigen Verbesserungen antuführen, die sich Jedem Leser
von selbst ergeben.
Seite 2 Zeile 14 statt ^Tabourin* lies , Tambourin*.
, 11 , 20 lies 1604. Das wenig bekannte Werk
(Exemplar: Stadtbibliotbek su Bautzen)
beisst Paduanen und Gaillarden.
20 , 20 statt ,bain* lies ,(Sänger.)balle\
, 43 Notenbeispiel b in Takt 1 beisst das 1. Secbs*
zebntel a (nicbt li), in Takt 3 beisst das
2. Secbszebntel a (nicbt ^).
, 43 Notenbeispiel c in Takt 3 beisst die erste Hälfte
134 Zeile 3 v. u. statt «cbauts" lies «chants*.
144 im ersten Notenbeispiel muss der 3. Takt beissen
«
200 Zeile 2 v. u. statt ,Pongius* lies ,Pougin*s*.
, 219 , 15 statt , Partei** lies , Partie*.
, 220 , 9 statt ,1844* lies ,1814*.
, 234 zweites Notenbeispiel sind nacb der Auftaktnote,
nacb der letzten Note des zweiten Taktes und
nacb den beiden letzten Noten des dritten Taktes
Punkte zu setzen.
y, 245 zweites Notenbeispiel ist im letzten Volltakt ein
tt vor die erste und ein Jj vor die 6. Note zu setzen.
„ 348 erstes Noten beispiel beisst die 4. Note g (nicbt 7).
, 376 erstes Notenbeispiel muss im 2. Takt das 3. Achtel
es (statt d) beissen.
399 Zeile 13 statt „tängeluden* lies .tändelnden*.
c(? 699 ^
Seite 419 erstes Notenbeispiel lautet die Figur fünf mal
J^ statt JJJ^
, 428 Notenbeispiel muss das dritte Achtel im zweiten
Takt wegfallen.
, 444 Zeile 14 statt .Kittel« lies ,Kittl*.
„ 461 erstes Notenbeispiel muss zu Anfang des 8. Taktes
ein tj vor b stehen.
« 537 Notenbeispiel fehlt vor der 3. Note (Ä) ein K
, 602 erstes Noten beispiel muss die letzte Note des vor-
letzten Taktes c (nicht d) heissen.
, 607 drittes Noten beispiel muss im vorletzten Takt
über den 3 Viertelnoten das Triolenzeichen ^
stehen.
fl 608 drittes Notenbeispiel muss der letzte Accord
fis-c-es-a (nicht gts-c-es-a) heissen.
, 610 Zeile 1 v. u. statt „Reinsberger's* lies ,Rhein-
berger*s*.
j, 617 , 6 V. u. statt .Repercassion* lies ,Reper-
cussion*.
^ 635 vorletztes Notenbeispiel muss im vorletzten Takt
auf dem letzten Achtel ein t( vor h (resp. b)
stehen.
, 637 letztes Notenbeispiel muss nach der 1. Note des
vorletzten Taktes ein Punkt stehen.
yt 638 erstes Not^nbeispiel muss nach der 1. Note des
2. Taktes ein Punkt stehen.
, 641 Zeile 8/9 muss die Parenthese nicht nach
»grazioso** sondern nach , Presto ^Z^*
geschlossen werden.
655 , 20 statt ^Nitzsche* lies , Nietzsche*.
688 zweites Notenbeispiel muss zu Anfang des
6. Taktes ein ij vor c stehen.
690 erstes Notenbeispiel muss die 2. Note im 4. Takte
ein Achtel sein.
REGISTER.
d'ilayrac, 299.
Andre, Hofrath, 189.
Areosky, 511.
Aspelberger, 47.
Bach, J. S., 29 ff., 45, 153.
Bach, Ph. E., 47 ff, 56, 67,
109, 262.
Balakireff, 511.
Bargiel, W., 562, 585.
Bassani, 6.
Bäwerl, P., 11 ff.
Beethoven, L. v., 8, 40, 87,
108, 109, 130 ff., 188, 189,
191, 286, 308, 405, 420,
454, 470, 472, 477, 484,
527, 531, 584, 591, 592,
612, 615, 632, 657.
Benda, F., 47, 441.
Bennet, S., 266.
Berlioz, H., 2((6 ff., 316, 395,
529, 571, 676.
Biancheri, 6, 35.
Bird, A., 575.
Bizet, G., 369 ff.
Blyma, 189.
Boccherini, 203.
Böhner, L., 160.
Boieldieu, 374.
Borodin, A., 532 ff.
Bossi, £., 697.
Brahma, J., 17, 213, 440.
564ff., 575, 615, «2f.,
697.
Brandl, 189.
Braune, 189.
Brach, M., 600 ff.
Brückner, A., 652 ff., 697.
Brüll, J., 575.
Burgmüller, X., 266.
Cannabich, Chr., 46.
Cast^Ui, D., 9.
CavaUl, 36 f.
Cesti, 37.
Cherubini, L., 201, 259.
Clementi, M., 207.
Couperin, 22.
Cowen, F., 439 f.
Cui, C, 553.
Czemy, C, 210.
Dargomijskj, 511.
David, Fei., 315.
Delibes, L., 369.
Dietrich, A., 602.
I .
Co' 701 ^
Ditteredorf , 44, 58, 61, 158,
190 ff.
Draeseke, F., 512, 514 ff.,
576 ff., 653, 697.
Dussek, Fr., 442.
Dvorak, 446, 469 ff., 539.
Eberl, A.. 130, 225, 558.
Ertelius, F. S., 9.
Esser, H., 561.
Fattorini, G., 9.
Fesca, F. E., 248.
Fibich, Z., 507 f.
Fielitz, 47.
Fraock, C, 683 ff.
Frank, M., 11, 16, 17, 18.
Friedrich d. Gr., 40.
Froberger, 22, 58.
Fuchs, R., 575 f., 679.
Gabrieli, A., 3.
Gabrieli, G., 3 ff., 6, 10, 35.
Gade , N. W. , 266 , 415 ff.,
573 f.
Galuppi, 46, 109.
Gähriug, 266.
Gernsheim, F., 612 f.
Gilson, P., 365 ff.
Giuliani, F., 9.
Glazunoff, A., 543 ff.
Glinka, M., 511, 542.
Gluck, Chr. W. v., 23, 27,
38, 41, 46, 109, 412.
Godard, B., 3S7.
Goldmark, C, 340 ff.
Gossec, Fr. J., 200.
Gölz, H., 612, 620 ff., 653.
Graun, 42, 46.
Gretry, 299.
Grieg, E., 420, 424 ff.
Grimna, J. 0., 562 f.
Guglielmi, 109.
Gyrowetz, 45.
Hamerik, A., 420.
Händel, G. F., 23, 28, 29,
37, 38, 41, 52, 56, 405, 621.
Hartmann, E., 420.
Hasse, A., 42, 46.
Hassler, L., 11.
Hausmann, V., 10, 11, 16, 54.
Haydn, J., 40, 51 ff., 109,
115, 117, 118, 129, 132,
135, 154, 167, 176, 180,
191, 233, 414, 437.
Haydn, M., 203.
Helstedt, 266.
Herbeck, J., 561.
Herzogenberg, H. v., 651 f.
Hesse, A., 266.
Hiller, F., 585.
Hiller, J. A., 46.
Hofmann,H.,338ff.,440,653.
Hol, R., 585.
Holtzbauer, J., 46.
Jadassohn, S., 563.
Indv, V. d', 357 ff.
Jomelli, N., 44, 46.
Kalliwoda, W., 222 ff., 443.
Kittl, J. F., 443.
Klughardt, A., :J33, 679, 680 f.
Knecht, J. H., 160.
Koch, F., 356.
^ 702 ^
Kohaut, 47.
Kozelucb, L., 441.
Kuffber, 189.
Kubnau, 58.
Lachner, F., 556 IT., 681.
Leo, L., 42.
Leonhard, 266.
Leopold L, Kaiser, 8.
Liszt, F., 39, 266, 816 ff., 414,
445, 591, 692.
Lübres, 266.
Lully, J. B., 23, 26, 40.
Luzzo, 37.
Mabler, G., 315, 675 ff., 697.
Marenzio, L., 3.
Markull, 266.
Martucci, 697.
Mascbek, P., 180.
Maschek, V., 441.
Mascbera, 7.
Massenet, J., 387 f.
Max Josepb v. Bayern, 46.
Mayr, S., 268.
Möbul, 201 f.
Mendelssobn-Bartboldy , F.,
228, 238 ff., 249,255, 417,
453, 529, 551, 585.
Mercadante, 269.
Meyerbeer, 269.
Möhring, 266.
Molique, 266.
Monteverdi, 2, 35 f.
Moszkowski, M., 576.
Mozart, W. A., 47, 95. 105,
108 ff., 135, 141, 192, 203,
204, 222, 446.
Muffat, G., 21, 23 ff., 58, 191.
Müller, W., 82, 472.
Müller (diverse), 265.
Müncbbausen, Baroo r., 46.
Mysliwsczek, 58, 441.
Neukomm, S., 210.
Nicod^ J. L., 315.
Onslow, H., 227.
Pacini, 269.
Pape, 266.
Petzel, J., 19.
Peurl, P., 11 ff., 15, 19.
Pergolesi, G. B., 44.
Piccbi, G., 9.
Piccini, N., 42, 109.
Picbel, 58.
Pleyel, 61.
Quantz, 44.
Raff, J., 39, 81, 329 ff., 414,
440, 531, 556, 561, 655.
Rameau,J.P.,23,26,38,42,315.
Heieba, 441.
Reicbe, G., 9.
Rcinecke, C, 585 ff.
Reinbold, H., 575.
Reissiger, C. G., 585.
Reznicek, E. N., 576, 581 ff.
Rbeinberger, J., 334 ff., 358.
Rietz, J., 480, 585.
Ries, F., 210.
Rimsky-Korsakoff, 389 ff.
Romberg, A., 222, 225.
Romberg, B., 222.