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Full text of "Führer durch den Konzertsaal. II. Abteilung: [Vokalmusik]"

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I 


FÜHRER 
DURCH  DEN  KONZERTSAAL 

VON 

HERMANN  KRETZSCHMAß 


n.  ABTEILUNÖ 
BAND  I 

KIRCHLICHE  WERKE 

PASSIONIN,  MESSEN,  HYMNEN,  PSALMEN,  MOTETTEN,  KANTATEN 

FÜNFTE  AUFLAGE 


LEIPZIG 

*DRÜOK  UND  VERLAG  VON  BRBITKOPP  &  HÄRTEL 

1921 


I 

Alle  ßeohte,  auch  das  der  Übersetzung,  vorbehalten.  < 


Das  Recht  des  Einzelabdruckes  und  dessen  Weitervergebung 
steht  ausschließlich  den  Verlegern  Breitkopf  &  Härtel 

in  Leipzig  zu. 


Copyright  1916  by  Breitkopf  &  Härtel,  Leipzig. 


Vorwort  zur  dritten  Auflage. 

Die  Erweiterung  der  dritten  Auflage  wurde  hauptsächlich 
durch  die  zahlreichen  im  letzten  Jahrzehnt  erschienenen 
Neudrucke  alter  Kirchenmusik  nötig;  zur  Vervollständigung 
des  geschichtlichen  Bildes  ist  auch  eine  größere  Anzahl 
weiterer  Handschriften  herangezogen  worden.  Zweck 
und  Anlage  des  Buches  sind  unverändert  geblieben. 

Schlachtensee  bei  Berlin,  Juni  1905. 

H«  Kretzsehmar. 


Vorwort  zur  vierten  Auflage. 

Diese  neue  Auflage  gleicht  in  der  Anlage  der  voran- 
gegangenen. Erweiterungen  wurden  durch  die  in  Messen 
und  Motetten  beträchtlichen  Neudrucke  alter  Werke  nötig, 
in  zweiter  Linie  waren  Kompositionen  aus  neuester  Zeit 
aufzunehmen,  jedoch  nur  solche,  die  sich  bereits  weiter 
eingebürgert  haben. 

Das  Ausland  gab  äußerst  geringe  Veranlassung  zur 
Berücksichtigung.  Ich  schließe  mit  dem  Danke  für  das 
Wohlwollen,  das  auch  dieser  Band  erfahren  hat. 

Schlachtensee  bei  Berlin,  Juli  1916. 

H.  Kretzschmur. 


INHALT. 

Seite 
Vorwort III 

Erstes  Kapitel.     Passionen .    * B 

Zweites  Kapitel.     Messen 135 

Drittes  Kapitel.    Hymnen,  Psalmen .    .    .  340 

Viertes  Kapitel.    Motetten  nnd  Kantaten    .......  447 

Register 611 


\  ■ 

BAND  I 


KIRCHLICHE  WERKE 

I 

PASSIONEN,  MESSEN,  HYMNEN,  PSALMEN, 
MOTETTEN,  KANTATEN 


II,  4. 


Üi-stes  Kapitel. 
Passionen. 


Kfflffiler  Konzertsaal  hat  in  neuerer  Zeit  von  einer  Reihe 
I^wSm  größerer  Gesan'gwerke  Besitz  ergriFFen,  welche  ur- 
■=3™  aprünglich  Dicht  für  ihn,  sondern  für  den  Gottes- 
dienst bestimmt  waren. 

Hach  der  Bedeutung  des  Teirtes  nehmen  in  dieser 
Klasse  die  Passionen  die  erste  Stelle  ein. 

Die  neuere  Zeit  kannte  bis  vor  kurzem,  wenn  wir 
von  den  einschlagenden  Werken  Grauns  und  F.  Schnei- 
ders absehen,  nur  die  Passionsmusiken  von  Seb.  Bach; 
erat  kürzlich  trat  zu  diesem  in  einsamer  Höhe  thronen- 
den Meister  in  Heinrich  Schütz  ein  ebenbürtiger  Name. 
Die  Verschiedenheit,  in  welcher  diese  beiden  gleich 
großen  Kübsüer  die  Leidensgeschichte  Christi  musikäliach 
dargestellt  haben,  drängt  allein  schon  dazu,  nach  der 
Geschichte  der  Gattung  zu  fragen.  Wir  dürfen  aber  auf 
diesem  Wege  anch  noch  darauf  rechnen,  unsere  Einsicht 
in  die  herrlichen,  aber  rein  künstlerisch  nicht  völlig  ver- 
ständlichen Passionen  Seb.  Bachs  zu  vertiefen,  and 
zweitens  darauf,  daß  wir  einzelne  Werke  oder  ganze 
Gruppen  aas  der  Familie  der  Passionsmusiken  kennen 
lernen,  welche  verdienen  —  entweder  wegen  ihres  noch 
ungebrochenen  Gebrauchswertes  oder  wegen  der  Auf- 
fassung und  Durchführung  der  Aufgabe  — ,  der  Ver- 
gessenheit entrissen  zu  werden. 


— *      4      ^ — 

Unter  der  großen  Menge  von  Passionsmusiken,  welche 
im  Druck  oder  in  Handschrift  vorhanden  sind,  unter- 
scheiden wir  drei  Hauptgruppen:  die  Ghoralpassion, 
die  Motettenpassion  und  die  oratorische  Passion. 

Die  erstgenannte  Gruppe  hat  den  Altersvortritt  Nach 
dem  gegenwärtigen  Standpunkt  der  Forschung  gehen  die 
direkten  Nachrichten  üher  Ghoralpassionen  allerdings  nur 
bis  ins  45.  Jahrhundert  zurück;  das  von  Mone*}  beschrie- 
bene Exemplar  ist  das  älteste  in  Noten  vorhandene,  von 
dem  wir  wissen.  Aber  Charakter  und  Form  der  Musik 
in  den  Ghoralpassionen  des  45.,  4  6.,  4  7.  Jahrhunderts 
tragen  die  deutlichsten  Spuren  einer  viel  früheren  Ent- 
stehungszeit. Der  Altargesang,  wie  er  in  den  ersten 
Jahrhunderten  unserer  Kirche  war,  bildet  ihre  Seele. 

Es  war  im  43.  Jahrhundert**),  als  man  aus  den 
allgemeinen  Evangelienlektionen,  welche  als  eins  der 
wichtigsten  Glieder  in  dem  wi^derbaren  Kunstbau  der 
altchristlichen  Liturgik  bis  in  die  apostolischen  Zeiten 
zurückreichen***),  die  Passionslektionen  loslöste.  Während 
jene  der  Diakon  allein  sang,  zeichnete  man  die  letzteren 
dadurch  aus,  daß  man  sie  von  nun  ab  mit  verteilten 
Rollen  vortrug.  Der  Diakon  behielt  nur  den  Evangelisten, 
ein  zweiter  Kleriker  sang  den  Ghhstus,  ein  dritter  alle 
übrigen  Einzelpersonen.  Diese  drei  Solisten  oder  >Soli- 
loquenten«  (deren  Zahl  dann  in  protestantischer  Zeit  ver- 
mehrt wurde)  traten  bei  den  Worten  der  Menge  —  turbae: 
Jünger,  Hohepriester,  jüdisches  Volk,  Soldaten msw.  —  als 
Ghor  zusammen  und  wurden  als  solcher  bald  auch  durch 
die  Gesamtheit  der  anwesenden  Kleriker  verstärkt. 

Bekanntlich  ging  aus  dieser  Lesungsform  der  Pas- 
sionsgeschichte auch  das  geistliche  Schauspiel  des  Mittel- 
alters hervor.  Während  aber  in  diesem  letzteren  das 
dramatische  Element  den  kirchlichen  Ursprung  und  Zu- 


*)  Mone,  F.  L.,  Schauspiele  des  Mittetalten,  I,  60. 
**)  Kienle,  Ohorahcliule,  I,  79. 
***)  SchSberleln,    Schatz   des  liturgischen   Chor-   und  Ge- 
meindegesanges, I,  192,  236. 


sammeDhang  bald  vergaß  und  vernichtete,  erhielten  sich 
Geist  und  Form  der  alten  Passionslektion  bei  den  Choral- 
passionen in  ursprünglicher  Reinheit  und  Einfachheit  noch 
lange  fort.  An  ihnen  hat  die  Kirche  ihre  konservierende 
Natur  mit  besonderer  Macht  erwiesen.  Die  im  4  8.  Jahr- 
hundert geschriebenen,  sogar  die  auf  evangelischem  Boden 
verfaßten  Nachzügler  dieser  Gattung,  sehen  im  Rezitativ- 
teile wenigstens  noch  genau  so  aus,  wie  die  zwei  Jahr- 
hundert älteren,  und  die  dem  i  6.  Jahrhundert  an  gehörigen 
bringen  uns  wie  in  einer  Versteinerung  die  Gesangformen 
eines  Zeitalters  vor  die  Augen,  welches  noch  nicht  die 
Sequenzen.  Notkers,  ja  nicht  einmal  die  Hymnen  des 
Ambrosius  gekannt  hat. 

Mit  dem  evangelischen  Kirchenliede  hat  die  Choral- 
passion keine  Blutsbeziehungen.  Sie  leitet  ihren  Namen 
von  dem  sogenannten  Gregorianischen  Choral,  d.  i.  von 
jener  Stilgattung  liturgischen  Gesanges  ab,  welche,  in 
der  frühesten  Zeit  der  christlichen  Kirche  im  absichts- 
vollen und  weisen  Gegensatz  zu  den  sinnlichen  Formen 
heidnischer  Musik  ausgebildet,  angeblich  durch  Gregor 
den  Großen  Gesetzesgeltung  für  die  abendländischen 
Gemeinden  erhielt.  Sie  ist  heute  noch,  oder  vielmehr 
heute  wieder,  das  Fundament  kirchlicher  Musik  auf 
römisch-katholischer  Erde.  Die  Gesänge  des  Gregoria- 
nischen Chorals  zerfallen  in  zwei  Gruppen:  concentus 
und  accentus.  Der  concentus  umfaßt  wirkliche  Gesänge, 
kleine  und  große  Melodien  im  neueren  Sinne  dieses 
Wortes,  in  denen  musikalischer  Reichtum,  Schönheit 
und  Charakter  die  denkbar  höchsten  Maße  erreichen. 
Einzelne  dieser  ausdrucksvollen,  köstlichen  und  eingäng- 
lichen Melodien  aus  dem  Schatze  des  Gregorianischen 
Gesangs  haben  Jahrhunderte  lang  den  Meistern  der  Poly- 
phonie  immer  von  neuem  wieder  Anlaß  und  StofT  zu 
herrlichen,  mehrstimmigen  Kunstsätzen  geboten.  Die 
Sätze  des  accentus  sind  weniger  Gesang  als  Deklamation, 
Seine  einfachen  Tonreihen  unterscheiden  sich  von  ge- 
sprochener Deklamation  nur  dadurch,  daß  die  Stimme 
eine  musikalisch  kontrollierbare  Höhe  einhält  und  daß 


die  grammatische  Einteilung  durch  bescheidene  Hülfsmit- 
tel  melodischer  und  rhythmisdher  Natur  verschärft  wird. 
Der  accentus  weist  auf  eine  besonders  frühe  Entstehungs- 
zeit hin ,  auf  eine  Zeit,  in  welcher  singen  (canere)  und  laut 
sprechen  (alte  dicere)  als  gleichbedeutend  gelten  durften, 
wie  es  tatsächlich  in  den  Büchern  der  Kirchenväter  auch 
für  gleich  genommen  wird.  Zu  dieser  zweiten  Gruppe 
des  Gregorianischen  Rezitativgesanges  gehören  nun  mit 
den  Lektionen  im  allgemeinen  auch  die  dramatisierten 
Passionslektionen  im  besonderen,  und  aus  letzteren  gingen 
die  Choralpassionen  hervor.  Der  Beweis  hierfür  liegt  eben 
in  der  Tatsache,  daß  die  Solopartien  dieser  Choralpassio- 
nen den  vorgeschriebenen  Stil  der  Lektion  strengstens  ein- 
halten. 

Protestantische  Leser,  welchen  der  Lektionston  der 
katholischen  Liturgie  fremd  ist,  können  sich  von  dem 
Rezitativstil  in  diesen  Choralpassionen  einen  Begriff 
machen,  wenn  sie  an  den  Gesang  ihrer  Versikeln  und 
Kollekten  denken.  Wie  hier,  so  wird  dort  der  Hauptteil 
des  Textes  auf  demselben  Ton  (Tenor,  Reperkussion, 
Akzentton)  deklamiert,  das  musikalische  Element  ist  nur 
durch  wenige  schlichte  melodische  Formeln  vertreten, 
welche  an  denselben  grammatischen  Stellen  immer  wieder- 
kehren. Manche  ältere  Agenden  schicken  den  verschiede- 
nen Akzentstücken  eine  Tabelle  ihrer  Formeln  voraus.  Da 
haben  dann  alle  Interpunktionen,  das  Komma,  das  Kolon, 
das  Semikolon,  der  Punkt,  das  Fragezeichen,  das  Aus- 
rufungszeichen, besondere  Tonfälle,  die  der  Sänger  im 
Kopfe  haben  und  richtig  einsetzen  muß.  Bei  einem  Teil 
der  Akzentstücke  wird  der  Anfang  der  Sätze  im  Haupt- 
ton gegeben.  Zu  denjenigen,  die  auch  für  den  Anfang 
eine  Formel  (das  initium)  verlangen,  gehört  die  Lektion. 
Das  gebräuchlichste  Initium  der  Passionslektionen  bildet 
die  aufsteigende  kleine  Terz.  Mit  ihr  beginnt  der  Evange- 
list in  der  Tenorlage  '^  J  -fj  yj  p  p  Christus  bringt 
alle  seine  Einsätze:  "«^i^  i  be.gtb  iL  '  sie,  in  der  Baß- 
lage, wenigstens  zum  An-  >ji  j  i*  (*  i*  ^  p= 
fang  der  Nebensätze  immer:  *-~J    [  J  J    ^  J~  ^^ 

^  Dms  ib  du  Vu.Mf  bal 


nnd  die  übrigen  Soliloquenten  machen  von  ihr  ebenfalls 
einen  sehr  weitgehenden  Gebrauch:  Der  Falsettist  (Petrus, 
Pilatus)  in  der  Form  d  f  eine  Oktav  höher  als  Christus  und 
der  spätere  Soprc^nist  (Magd  usw.)  in  der  Form  a  c  uin  eine 
Oktav  höher  als  der  Evangelist.  Mehr  noch  als  durch 
die  verschiedene  Stimmlage  unterscheiden  sich  aber  der 
Evangelist  und  von  ihm  und  unter  einander  die  im  Evan- 
gelium auftretenden  Personen  durch  die  melodischen  Wen- 
dungen am  Ende  der  Satzteile,  d.  i.  durch  die  Schlußfor- 
meln. Der  Evangehst  schließt  kleine  Abschnitte  in  der 
Regel  mit  -^j^   ^   ■  ■  t  .   i  ■  ■  »  ^   ^^   J     i    sein  musikali- 

C     a     wie    ^   DaWdie.eR«de.<,Ue»dctlL.U.       '   ^Ches        Stich- 


satz  des  Christus  ist:  ff        *    ^        '^'^^       ^    f        y    j 


odsr 


wie 
in 


f  ^   '}     \\  ['■  r    ^     O    ^;  für  den  Choreinsatz : 

spraeh  er    sn    sd.nea     Jlin  «   gcra 

i  i  tT\  n  m- 

Sie     -tpr»    .     chto   t.lHNr: 

Die  wesentlichsten  Schlußwendungen  für  die  anderen 
Soliloquenten  sind  c  d  e  f  und  f  e  d  c,  z.  B. :  Judas 

i  f  f  "  ''  ^  \  \  ^       \  n  \ 

Ww  tiolk    ihr  mir    ye .  b«n,   m    will    idi   iha  tndi  ver .  ra    .     dwü 

und  Petrus: 


*Wnin  sie  «odi  liUi»  ddi  an  &  är.gerii,  m  viU  ich  midido<hnimmcnndur  ir^ra 

"Die  erste  der  beiden  letzterwähnten  Formeln  kommt  auch 
in  den  Reden  Christi  vor  und  ist  im  Lektionston  der  vor* 
geschriebene  musikalische  Ausdruck  der  Fragesätze.  Da 
die  Reden  der  Nebenpersonen  durchschnittlich  nur  kurz 
sind,  so  haben  sie  mehr  Formeln  als  eintönige  Dekla- 
mationsstellen und  sehen  musikalisch  belebter  aus.  Aber 
nichtsdestoweniger  stehen  sie  im  Eindruck  hinter  den 
Partiein  Christi  und  des  Evangelisten  weit  zurück,  vor- 
ausgesetzt, daß  dieselben  mit  der  ganzen  Kunst  musi- 
kalischer Deklamation  ausgeführt  werden. 


8 

An  einer  Stelle  geben  alle  Choralpassionen  das  wür- 
dige Einerlei  des  Akzentensystems  auf.  Das  ist  beim  »Eli, 
Eli  lama  asabthani«.  Hier  setzt  auf  einmal  Concent,  ecbter, 
warmer  Gesang  ein  und  im  Gegensatz  zu  der  Einfach- 
heit einer  halbstündigen  Deklamation  wirken  die  letzten 
Worte  Christi  wie  eine  Stimme  aus  der  ^anderen  Welt. 
Unter  den  drei  nachweisbaren  Hauptmelodien  des  ȣli< 
ist  die  am  meisten  gebrauchte: 


zugleich  die  er- 

^        greifen dste   und 

'  £,  ift.m»  a.Mb.  tb*  .  I  I  .  aU  feierlichste,  faie 
anderen  haben  nicht  die  schone,  weit  gesch\9rungene  Ton- 
linie, aber  schon  in  der  bloßen  Wiederholung  des  Namens 
Eli  besitzen  auch  sie  ein  starkes  musikalisches  Macht- 
mittel. Die  Übersetzung  der  hebräischen  Worte  über- 
nimmt in  der  Regel  der  Evangelist,  zuweilen  auch  merk- 
würdiger Weise  Christus  selbst;  ausnahmsweise  fehlt  die 
Verdeutschung.  Einzelne  der  späteren  Motettenpassionen 
haben  das  hier  angeführte  schöne  Eli  ebenfalls  als  Ober- 
stimme im  vielstimmigen  Satze,  und  der  Hinblick  auf  die 
gewaltige  Wirkung,  welche  der  Choralpassion  an  dieser 
Stelle  eigen  ist,  hat  auch  die  Komponisten  in  den  ora- 
torischen  Passionen  immer  gezwungen,  für  das  Eli  etwas 
ganz  Außerordentliches  zu  tun:  die  einen,  indem  sie  den 
Kunststil  aufs  höchste  anspannen,  die  anderen  —  und 
sie  bilden  die  Mehrzahl  —  indem  sie,  im  umgekehrten 
Verfahren  der  Choralpassion,  ihn  hier  mit  Tönen  von 
der  größten  Einfachheit  vertauschen. 

Der  Solopartien  wegen  hätte  man  kaum  Veranlassung 
gehabt,  Choralpassionen  aufzuschreiben  und  zu  drucken. 
Solche  Halbgesänge,  die  sich  in  ganz  glatten  und  fest- 
geränderten Geleisen  bewegen,  zu  behalten,  reicht  die 
Oberlieferung  von  Ohr  zu  Ohr  ziemlich  aus.  Karl  Löwe, 
der  Balladenkomponist,  erzählt  in  seiner  Selbstbiogra- 
phie, daß  in  seiner  Heimat  Löbejun  noch  am  Anfang  des 


49.  J<ahrhunderts  die  Solisten  in  der  Karfreitagspassion, 
Schnlknaben  und  Männer  aus  der  Gemeinde,  ihre  Partien 
improvisierten.  Allerdings  wichen  die  einzelnen  Provinzen 
der  Kirche  trotz  Gregor  in  den  Kirchenakzenten  schon  früh 
wieder  vielfach  von  einander  ab,  und  für  die  Passions- 
lektionen  im  besonderen  gesellte  sich  zu  dem  Römischen 
bald  ein  Kölnischer,  Münsterscher  und  noch  mancher 
andere.  Unter  den  späteren  gelangte  der  Passionston 
Luthers  (nach  welchem  die  obigen  Zitate  gegeben  sind) 
im  Protestantischen  Gebiet  schnell  zu  allgemeiner  Gel- 
tung; auch  katholische  Komponisten  ver\^enden  ihn  als 
»gewöhnliche  Passionsmelodey«.  Aber  alle  diese  Ab- 
weichungen in  den  Akzenten  sind  bis  weit  ins  47.  Jahr- 
hundert hinein  nicht  so  wesentlich. 
^  Es  ist  nicht  zufällig,  daß  uns  notierte  Ghoralpassionen 
erst  vom  4  5.  Jahrhundert  ab  vorliegen.  Da  kam  bekannt- 
lich der  mehrstimmige,  der » Figuralgesang c  auf  und  von  da 
ab  reizten  die  Chorsätze  die  Tonsetzer  nun  immer  häufiger, 
Choralpassionen  aufzuschreiben.  Fast  jeder  biographische 
Gang  in  die  Kantorengeschichte  des  4  6.  und  4  7 .  Jahrhunderts  • 
bringt  weitere  Passionskomponisten  ans  Licht*).  Beson- 
ders eifrig  waren  die  Thüringer  Musiker**).  In  der  vorher- 
liegenden Zeit  waren  die  Chöre  nichts  als  einstimmige 
Tonsätze,  die  nur  in  rbehrfacher  Besetzung  vorgetragen  > 
wurden.  Die  Massigkeit  des  Stimmklangs  unterschied  sie 
von  den  Soloreden;  in  der  melodischen  Beschränkung 
gingen  sie  noch  weiter  als  die  letzteren.  Solche  ein- 
fach unisono,  dahin  rezitierte  »Chöre«  finden  sich  noch 
in  der  Zeit,  wo  die  Kunst  des  mehrstimmigen  Satzes 
bereits  hochentwickelt  war.  So  in  der  Passion  (nach 
Matthäus)  des  Luc.  Lossius  (4  570},  so  auch  in  den  beiden  L.  Lossins. 
ersten  Matthäuspassionen,  welche  das  Vesperale  des  Matth. 
Ludecus  (4  588)  bringt.   Der  Brauch  hatte  das  Alter  und  die   M.  Lndeous. 


*)  Vgl.  ans  jüngster  Zeit:  K.  Held,  Das  Kreuzkantorat  in 
Dresden. 

**)  Fr.  Zainke  in    »0.  Reuter    als   Passionsdichter«    gibt 
hierüber  ausführliche  Mitteilungen« 


Bequemlichkeit  für  sich.  Aber  Ghoralpassionen  mit  solchen 
Scheinchören  bilden  Ausnahmen.  Die  Regel  ist  ein  gleich- 
mäßiger vierstimmiger  Satz:  Note  gegen  Note.  Freilich 
blieben  diese  mehrstimmigen  Ghorsätze  bei  vielen  Kom- 
ponisten, —  in  einigen  untergeordneten  Punkten  wie  Fest-, 
halten  an  Einsatzakkord  und  Tonart:  bei  allen,  —  in  den 
Banden  des  Ghoraltons.  Die  wenigen  Takte  über,  welche 
G.  Stepkani.  diese  Chöre  überhaupt  dauern,  haben  wir  es  bei  C.  Ste- 
K.  Sehieooer.  phani  (4  570^,  bei  Selneccer  (4587),  in  der  bei  Welak  ge- 
Welak.  druckten  Wittenberger  Passion  vom  Jahre  4  590,  auch 
Yopelias.  noch  bei  Vopelius  (4  684)  fast  ausschließlich  mit  dem 
Fdur- Akkord  zu  tun.  Die  Oberstimme  weicht,  um  ihre 
wenigen  Akzente  zu  geben,  von  a  nur  nach  g  und  b;  es 
ist  ein  großer  Schluß,  wenn  sie  (zuweilen  über  h)  das 
obere  c  aufsucht ;  in  der  Harmonie  begegnen  uns  nur  noch 
C-  und  B  dur.  Fast  ist,  wie  in  der  Jugendzeit  der  mehr- 
stimmigen Komposition  überhaupt,  die  rhythmische  Aus- 
beute ergiebiger  als  die  melodische  und  harmonische:  in 
Synkopen  und  Fermaten  sucht  sich  die  durch  die  mecha- 
nische und  unfreie  Gesamtbewegung  der  zugleich  sin- 
genden Stimmen  gefesselte  Macht  der  natürlichen  Rede 
einen  notdürftigen  Ausdruck. 

Die  Kunst  schritt  über  die  hier  geschilderte  Stufe  der 
Choralpassion  weiter;  die  Kirche  hatte  eine  gewisse  Be- 
rechtigung, bei  ihr  zu  beharren.  Noch  heute  werden  nich  t  blos 
in  der  Sixtina  zu  Rom,  sondern  auchin  anderen  katholischen 
Domen  die  Passionsevangelien  in  jener  altertümlichen 
Schlichtheit  vorgetragen:  die  Soloreden  im  Lektionston,  die 
Chöre  in  einem  von  L.  da  Vittoria  herrührenden  Satze, 
welcher  im  wesentlichen  noch  der  Kinderzeit  der  Harmonie, 
dem  alten  System  der  Falsobordone  angehört.  Ähnlich  ist 
auch  die  Matthäuspassion  des  Francesco  Soriano  (4  649) 
gehalten*).  Als  F.  Mendelssohn  im  Jahre  4832,  voll  Bach- 
scher Erwartungen,  einer  Passions- Aufführung  in  Rom  bei- 
wohnte, war  er  natürlich  enttäuscht,  wie  das  Jedermann 


*)  Die  Chöre  aus  Yittorias  Passionen  nnd  aus  der  von  Soriano 
sind  in  Haberls  »Kiichenmudkalischem  Jahrbuch  <  neugedrackt. 


ergehen  muß,  welcher  eine  solche  Chörälpassion  aus  dem 
liturgischen  Zusammenhang  herausgenommen  betrachtet. 
Aus  diesem  Grunde  erscheint  auch  der  von  Schöberlein 
a.  a.  0.  gemachte  Vorschlag,  den  Gottesdienst  der  protestan-  ^ 
tischen  Kirche  am  Karfreitage  oder  an  einem  andern  Tage 
der  stillen  Woche  durch  Aufnahme  der  Choralpassion  des 
Mancinus  [i  620)  oder  eines  anderen  Werkes  der  gleichen  Gat*  Th.  Manoinne. 
tung  zu  bereichern,  so  lange  gewagt,  als  nicht  die  protestan- 
tische Liturgie  zum  Lektionsgesang  iiberhaupt  zurückkehrt. 
Nur  wenn,  wie  im  katholischen  Kultus,  das  Akzentsystem 
noch  vollständig  lebt,  erklärt  ein  Lektionston  den  anderen 
auch  geistig.  Vergleicht  man  das  Hauptmotiv  des  Evan- 
gelisten in   der  Passion ,   das   früher   schon   angeführte 

£    J  '   p-    vJ     '•  sprechenden  in  .^    J^^    '^ ,.  ?     ['    ^=, 
*''  T  der  Osterhistorie        da      *«»    s»b  .  baSh 

so  nehmen  die  starren  Formeln  Leben  und  Charakter  an:  das 
eine  wird  zur  Klage,  das  andere  zum  Jubelausdruck -der  Freu- 
de. In  die  verarmte  Liturgie  der  heutigen  protestantischen 
Kirche  hineingestellt,  müßte  die  alte  Choralpassion  befrem- 
den. Es  ist  aber  das  glänzendste  Zeugnis  für  die  Macht,  • 
welche  sie  in  alter  Zeit  auf  die  Gemüter  geübt  haben  muß» 
daß  sie  auch  in  der  stockfremden  Umgebung  des  protestan- 
tischen Kultus  zur  Zeit  der  Pietisten  und  der  Rationalisten 
sich  noch  behauptete,  wenn  auch  nicht  gerade  in  den  großen 
Städten.  Die  in  den  Rezitativen  dem  Choralsystem  vollstän- 
dig angehörende  Passion  des  Kantor  Kram  er  (1735)  enjt- Chr.  Sramer* 
stand  in  Dosdorf  bei  Arnstadt,  eine  andere  *),  deren  Autor 
unbekannt,  aber  nach  dem  Buxtehudesche  Spuren  tragen- 
den Stile  der  Chöre  zweifellos  ebenfalls  ein  Musiker  des 
4  8.  Jahrhunderts  ist,  weist  in  Reimen  wie  »Werk«  —  » stark < 
und  anderen  Spracheigentümlichkeiten  die  deutsche  Ostsee- 
küste als  Heimat  auf.  Eine  dritte  gleichartige,  über  welche 
J.  Richter  **)  berichtet,  fand  sich  in  Glashütte.   In  Leipzig 

*)  Früher   im  Besitze    des    Herrn   Geh.-R.  Ph.  Spitta  in 
Berlin.    BibUotheksnummer  2099. 

*♦)  Monatshefte  für  Musikgeschichte,  Jahrgang  1879,  S.  72. 


hielten  sich  die  Choralpassionen,  wie  Spitta  mitteilt  (J.  S. 
Bach,  II,  908)  bis  zum  Jahre  1 766.  Das  weitere  Zeugnis  Karl 
Lowes  wurde  bereits  erwähnt  Im  Harz  und  im  Mannsfeldi- 
schen hat  sich  die  evangelische  Ghoralpassion  sogar  bis 
in  die  Gegenwart  behauptet"*). 

Den  ersten  Anlaß,  von  der  geschilderten  alten  Grundart 
der  Ghoralpassion  abzuweichen,  gaben  die  bereits  berührten 
landschaftlichen  Unterschiede  in  den  Kirchenakzenten  selbst. 
Wenn  aber  die  Tonsetzer  mit  der  Zeit  viel  tiefer  in  das  Wesen 
der  Ghoralpassion  eingri£fen,  sich  von  ihr  und  der  Kirche 
schUeßhch  trennten,  so  lag  der  Anstoß  hierfür  in  der  Ent- 
wickelung  der  Musik.  An  der  Leidensgeschichte  des  Herrn, 
als  an  dem  höchsten  Gegenstande  christlichen  Denkens,  ver- 
suchten Dichter  und  Musiker  mit  besonderem  Stolze,  was 
an  geeigneten  Formen  neuer  Kunst  zutage  kam.  So  wird 
die  Passionsgeschichte  später  noch  dem  Liede  und  der  Kan- 
tate angepaßt.  Zunächst  aber  galt  es,  das  musikalische 
Wunderwerk  des  i  6.  Jahrhunderts,  di^Kunst  der  Harmonie, 
an  der  Passionsgeschichte  voll  zu  erproben.  Bei  der  be- 
scheidenen Umwandelung  der  Partien  der  turbae  aus 
Unisonorezitativen  in  einfache  Chorsätze,  welche  den  Lek- 
tionenton einhielten  und  das  Wesen  der  Choralpassion 
in  Geltung  ließen,  blieb  man  nicht  lange  stehen;  das 
4 6.  Jahrhundert  schuf  die  Motetten passion. 

In  der  Motettenpassion  ist  der  ge s am  te  Text  des  Pas- 
sionsevangehums  mehrstimmig  komponiert.  Der  Evangelist, 
Christus,  die  Nebenpersonen,  die  Scharen  der  Jünger,  der 
Priester,  des  Volks  usw.  —  alle  Partien  singt  der  Chor. 
Auch  der  innere  Stil  der  Choralpassion  ist  hier  einer  viel 
reicheren  Musikweise  gewichen.  Das  ist  die  Sprache  und  der 
Geist  einer  neuen  Zeit  und  eines  neuen  Geschlechts,  welches 
das  Evangelium  nicht  länger  nur  mit  regungsloser  Ehrfurcht 
entgegennehmen,  nein,  welches  auch  zeigen  will,  daß  es  mit 
Herz  und  mit  Phantasie  den  Worten  folgt.  An  Stelle  der  al- 
ten, ruhig  vornehmen,  liturgischen  Deklamation  tritt  nun 

*)  M.  Schneider,  Die.  alte  Ghoralpassion  in  der  Gegenwart 
(Zeltschrift  der  Internationalen  Musikgesellschaft  VI,  S.  491  ff.). 


durchweg  ein  bewegtes,  oft  von  Gefühl  überquellendes  Singen. 
Die  Seele  ladet  die  Bilder,  welche  sie  schaut  und  fühlt,  in 
Melodien  aus,  die  mit  Koloraturen  und  anderen  Mitteln  musi* 
kalischer  Malerei  bemerkens^i^ert  ausgestattet  sind.  Be- 
deutungsvolle Worte,  bedeutungsvolle  Tonfiguren  werden 
wiederholt  und  zu  gesteigertem  Ausdruck  geführt.  Was  Har- 
monie und  Rhythmus  innerhalb  der  Grenzen  der  mehrstim- 
migen Gesangmusik  zu  leisten  vermögen,  das  wird  benutzt, 
um  die  Personen  und  die  Szenen  auch  in  ihrem  Charakter 
und  in  ihrem  Kolorit  erscheinen  zu  lassen.  Kurzum,  die  Mo- 
tettenpassionen sind  als  Ganzes  genommen  Hauptleistungen 
aus  der  Blütezeit  dßr  mehrstimmigen,  unbegleiteten  Gesang- 
musik, und  es  wäre  den  gegenwärtigen  Ghorinstituten,  welche 
sich  der  Wiedererschließung  jener  wichtigen  Kunstperiode 
gewidmet  haben,  nur  zu  empfehlen,  daß  sie  sich  dieser  Mo- 
tettenpassionen annehmen.  Diese  stehen  auch  ihrer  ganzen 
Natur  nach  dem  modernen  geistlichen  Konzert  nicht  so  fem 
und  lassen  einen  leichten  Zusammenhang  mitChoralpassio- 
nen  und  Gottesdienst  nur  an  den  Stellen  erkennen,  wo  die 
Menge  spricht.  Hier  sind  die  Bibelworte  mit  absichtlicher  Ein- 
fachheit und  mit  einer  geringeren  Charakteristik  komponiert. 
Alle  Motettenpassionen  sind  in  drei  Teile  gegliedert:  der 
erste  schließt  in  der  Regel  mit  dem  Verhör  beim  Hohen- 
priester, der  zweite  mit  der  Verspottung  Christi,  der  dritte 
bringt  Kreuzigung  und  Tod.  In  einer  ähnhchen  Welse  findet 
sich  die  Leidensgeschichte  auch  in  der  Form  von  Hymnen 
für  den  Gebrauch  bei  den  Hören,  bei  Vigilien  undMatutinen 
in  1 2  Szenen  zerlegt,  und  diese  Ähnlichkeit  läßt  darauf  sdiHe- 
ßen,  daß  die  Motettenpassionen  ausschließlich  für  Andachten 
und  Nebengottesdienste  bestimmt  waren.  Die  Kirche  sprach 
ihnen  also  den  Lektionencharakter  gerade  so  ab,  wie  denspä- 
deren  oratorischen  Passionen.  Auch  diese  kamen  zuweilen 
auf  mehrere  Tage  zerstückelt  zur  Aufführung.  Dem  moder- 
nen nur  halbliturgischen  Charakter  der  Motettenpassion 
^derspricht  es  nicht,  daß  sie  lateinischen,  der  Vulgata 
entnommenen  Text  haben.  Auch  die  protestantischen. 
Hält  ja  doch  der  ganze  evangelische  Figuralgesang,  im 
Gegensatz  zum  Gemeindeüed,  noch  bis  weit  ins  4  7.  Jahr- 


hundert  hinein  grundsätzUch  die  lateinische  Sprache  fest. 
So  wird  in  Frankfurt  a.  d.  0.  noch  im  Jahre  1607  eine  la- 
teinische Motettenpassion  (nach  dem  Evangelisten  Mat- 
thäus) von  der  Komposition  des  Barth.  Gesius  gedruckt. 
Die  Zahl  der  augenblicklich  bekannten  Motettenpassio-^ 
nen  gibt  ö.  Kade  *),  der  spezielle  Geschichtsschreiber  der 
Gattung,  mit  sechzehn  erstaunlich  gering  an**).   Nach  dem 

J.  Obreokt.  Niederländer  Ol)  recht,  dessen  vierstimmige,  gegen  4305 
komponierte  Matthäuspassion,  die  1538  in  G.  Rahws  »Har- 
moniae  selectäe«  gedruckt  und  in  der  Zusammenstellung 
des  Textes  aus  allen  vier  Evangelien  vorbildlich  wurde***), 
stellt  das  Ausland  nachweislich  freilich  blos  in  dem  Italiener 
Cypr.  de  Eore.  Cy  p  rian  de  Rore  (i  557)  noch  einen  bekannten  Namen  für 
die  Gattung.  Aber  Italiener  und  Spanier,  wahrscheinlich  auch 
Franzosen  und  Engländer  werden  das  ganze  4  6.  Jahrhundert 
hindurch  diese  neue  Art  musikalischer  Passionskunst  ge- 
pflegt haben.  Allerdings  scheinen  die  Deutschen  auf  diesem 
Gebiet  besonders  fleißig  gewesen  zu  sein.  Die  deutschen 
J.  T.  Bnrgk.  Hauptwerke  sind:  zwei  Passionen  von  Joachim  v.  Burgk 
i  568  und  1 574  (deutsch),  ferner  die  Johannespassion  von  Lu  d. 
L.  Daser.  Daser4578  (lateinisch),  ein  Werk,  welches  wegen  seines  rei- 
chen und  schwungvollen  Ausdrucks  ganz  besonders  hervor- 
gehoben zu  werden  verdient,  die  Johannespassion  (lateinisch) 

Jac.  Öallns.  von  Jac.  Gallu  s  1 587,  eine  achtstimmige  Komposition,  wel- 
che als  das  äußerlich  wirkungsvollste  und  interessanteste 
Exemplar  der  Gattung  angesehen  werden  darf,  eine  (deut- 

J.  Machold.  sehe)  Matthäuspassion  von  Machold  1593,  die  schon  er- 

B.  GeilQB.  wähnte  (lateinische)  Passion  nach  Matthäus  von  B.  Gesius 

1 607,  und  die  sechsstimmige  (deutsche)  Johannespassion  von 

*)  0.  Kade,  Die  ältere  Passionskomposition  bis  zum  Jahre 
1631,    Gütersloh  1893. 

**)  Diese  Annahme  ist  inzwischen  durch  Adolf  Sandbergers 
Mitteilangeu  über  Passionen  von  Stephan,  Meiland  und  Haupt 
verstärkt  worden.  (Denkmäler  der  Tonkunst  In  Bayern,  V, 
S.  XXVI,  XXXYI,  LXn.) 

***)  Sie  ist  außer  von  Kade  auch  von  der  »Vereeniging  voör 
Koord-Nederlands  Muzickgeschiedenisc  neu  herausgegeben. 


Chr.  Dem'antius  1634.  Der  Umstand,  daß  alle  diese  ge-Chr.  Bemantivi. 
nannten  Werke  sich  in  sehr  großer  Entfernung  von  ihren 
Heimatsorten  vorgefunden  haben,  läßt  auf  eine  weite  Ver- 
breitung der  Motettenpassion  als  Gattung  schließen.  Eine  der 
Passionen  desThüringer  Burgk  war  ganz  besonders  berühmt. 
Machold  schickt  seine  Passion  mit  dem  Wunsche  hinaus, 
daß  man  sie  abwechselnd  mit  der  des  Burgk  aufführen 
und  »nicht  stets  auf  einer  Saite  geigen  möge«.  Welche 
dies  igewesen,  ist  nicht  festzustellen.  Von  Burg]cs  Jo- 
hannespassion besitzt  die  Gymnasialbibliothek  zu  Brieg 
ein  unvollständiges  Exemplar,  welches  nur  drei  Stimmen 
enthält  Soweit  sich  daraus  die  Komposition  übersehen 
läßt,  beruht  ihre  musikalische  Wirkung  hauptsächlich 
auf  dem  Wechsel  der  Stimmgruppen  und  auf  einer  frap- 
panten Verwendung  schneller  Rhythmen.  Wie  die  Kom- 
ponisten der  niederländischen  Schule  liebt  B.  kleine 
Malereien.  Der  Ausdruck  ist  knapp,  besonders- gelungen 
in  dem  Spottchor:  >Sei  gegrüßet,  lieber  Judenkönig«. 
Merkwürdigerweise  folgt  der  durchaus  deutschen  Passion 
nach  der  Gonclusio  -^  letztere  hat  den  abweichenden 
Wortlaut:  »Wir  glauben,  lieber  ;Herr,  mehre  unseren 
Glauben!  Amen!«  —  noch  ein  Anhang  aus  der  latei- 
nischen Vulgata.  Es  ist  die  Erzählung  von  den  Marien, 
die  zum  Grabe  gehen,  den  Herrn  zu  salben.  Den  sechs- 
stimmigen Tonsatz  hat  Joachim  Kn«fel  komponiert.  Auch  j.  Knefel. 
die  Geschichte  der  Motettenpassion  gibt  einen  neuen 
Beweis  dafür,  wie  hoch  das  Deutschland  des  il.  Jahr- 
hunderts in  der  Kunst  des  Ghorgesanges  stand.  Die  Fund- 
orte von  einem  großen  Teile  der  genannten  schwierigen 
Werke  sind  die  Kirchenbibliotheken  kleiner  Städte. 

Die  Motettenpassion  ist  geschichtlich  als  ein  Vor- 
läufer und  Seitenstück  zu  der  der  Oper  vorhergehenden 
Madrigalenkomödie  zu  betrachten,  welche  der  Anfipar- 
nasso  des  Orazio  Vecchi  in  allen  unseren  Handbüchern 
der  Musikgeschichte  zu  vertreten  pflegt.  Beide  Gattungen 
waren  kurzlebig.  Das  Geschick  der  Motettenpassion  ver- 
mögen wir  zur  Zeit  nicht  über  das  Werk  des  Demantius 
und  über  das  Jahr  4  634  hinaus  zu  verfolgen.    Aber  klar 


läßt  sich  erkennen,  daß  sie  über  ihre  nächste  Bestim- 
mung hinaus  einen  großen  künstlerischen  Einfluß  übte: 
die  Motettenpassion  bereitete  der  oratorischen  den  Boden 
und  sie  zog  die  Ghoralpassion  in  den  Kreis  der  leben- 
digen Kunst  hinein. 

Es  sieht  wie  der  Versuch  eines  gütlichen  Ausgleichs 
zwischen  zwei  Interessengruppen  aus,  wenn  wir  von  der 
Mitte  des  4  6.  Jahrhunderts  ab  Passionsmusiken  begegnen, 
in  welcher  Elemente  der  Ghoralpassion  neben  denen  der 
Motettenpassion  stehen.  Aus  der  ersteren  sind  die' Reden 
des  Evangelisten,  zuweilen  auch  die  des  Heilands  im  Lek- 
tionston herübergenommen,  alle  übrigen  Solopartien  sind 
wie  die  Ghorpartien  im  vielstimmigen  Satze  komponiert. 
Noch  heute  kommt  die  Passion  in  italienischen  und  an- 
deren katholischen  Kirchen  in  diesem  Mischstil  zum  Vor- 
trag. Auf  protestantischer  Seite  begegnet  uns  als  erste 
Frucht  der  Verschmelzung  von  Ghoral-  und  Motetten - 
passion  die  (von  Gommer  in  der  Musica  sacra  neu 
herausgegebene)  Johannespassion  des  bereits  genannten 
I  B.  Gesius    (Wittenberg   1658).     Von   katholischen   Kom- 

I  ponisten  scheint  diese  vermittelnde  Form  schon  früher 

I         Orlando  Lasso,  angewendet   zu  sein.     Zu    Orlando   Lasso    und    Jacob 
Jao.  Beiner.    Reiner    ist    hier    noch    der    Breslauer   Kantor   Samuel 
8.  Besler.      Besler  zuzufügen,  welcher  i.  J.  4621    die   choraliter  ge- 
A.  Scandelli.  haltene  Johannespassion    des  Ant.   Scandelli    »mit    der 
GR^rstimme  vermehrte«.    Der  Evangelist  singt  in  einem 
mit  freien  und  ausdruckvolien  Wendungen  allerdings  be. 
risicherten  Lektionston,  Ghristus  vierstimmig,  die  Magd  in 
einem  Satze  von  drei  hohen  Stimmen,  Petrus  von  drei 
tiefen,  der  Diener  zweistimmig,  Pilatus  bald  in  zwei  bald 
in  drei  Stimmen.    Alle  mehrstimmigen  Sätze  sind  knapp 
aber  charaktervoll.    Einzelne  Stellen  wie  »Siehe,  das  ist 
deine  Mutter«,  »Mich  dürstet«  und  andere  in  der  Ghristus- 
nartie  machen  einen  außerordentlich  mächtigen  und  schör 
nen  Eindruck. 

Wichtiger  als  diese  bloße  Vermischung  von  Ghoral- 
und  Motettenstil,  welche  in  der  Passion  nur  selten 
gebraucht,    dagegen    aber    bei    der    Komposition    der 

/ 


Auferstehungsgeschichte  die  normale  Forhi  wurde,  war  die 
Wirkung,  welche  die  Motettenpässioh  im  eigenen  Hause 
der  Cboralpassicm  selbst  äußerte.  Am  stärksten  macht 
sich   dieselbe  zunächst  in  den  Sätzen  der  turbae,  den  ^ 

eigentlichen  Ghorsätzen,  bemerkbar.  Besonders  wird  die 
Melodik  viel  reicher.  Der  erste  Komponist,  an  dessen 
Ghoralpassionen  man  diese  Beobachtung  machen  kann, 
ist  der  Freund  und  musikalische  Mitarbeiter  Luthers: 
der  Torgauer  Kapellmeister  Joh.  Walther,  Seine  dritte  Joh.  Walther. 
Passion,  im  Jahre  4  5 52  komponiert,  im  Text  der  sogenannten 
seit  Obrecht  für  die  Passion  gern  benutzten  Evangelien- 
harmonie folgend,  bringt  namentlich  in  den  Sätzen 
»Gott  grüss  dich,  lieber  Judenkönig«,  »Kreuzige«  und 
»Andren  hat  er  geholfen«  Tonbilder,  die  in  ihrer  An- 
schaulichkeit jeden  Vergleich  mit  dem  Stile  in  der  alten 
Ghoralpassion  verbieten.  Auf  einer  ähnlichen  Stufe, 
welche  man  immerhin  schon  dramatisch  nennen  könnnte, 
stehen  die  meisten  Ghorsätze  in  der  Matthäuspassion 
des  Keuchenthalschen  Gesangbuchs  (4  573).  Nur  in  Eenohenthal 
den  Schlüssen  folgen  sie  einer  fertigen  Schablone. 
Auch  der  vorhin  schon  genannte  S.  Besler^)  hat  in  8.  Bflsler. 
seinen  vier  Passionen,  welche  i.  J.  4  644  gedruckt  sind, 
einzelne  Ghöre  im' freieren  Stile.  Bemerkenswert  sind 
in  der  Matthäuspassion  die  Nummern:  »Herr,  bin 
ichs?«,  »Weissage  uns«,  »Wer  ist's,  der  dich  schlug«,  in 
denen  große  Intervalle  und  Pausen  in  der  Deklamation 
viel  wirken ,  und  neben  diesen  die  ganz  kurzen  Sätze : 
»Barrabam«  und  iEr  rufet  den  Elias«.    Wie  schon  aus 

der  Ober-  a^  I  I  l  ■  jp  „  ■  ■  ^  i  ^^*  Besler  in 
stimme  zu  ^  ^  i|»  f i  ^  ^  \  f  f  I  «  I  n^  den  letzteren 
ersehen:  Er  rupfet   den  b  .   u  .   m.      einen  Zug  des 


*)  Nach  Kade  (a.  a.  0.)  ist  es  wahrscheinlich,  daß  Besler 
diese  Pafsionen  nicht  selbständig  komponiert,  sondern  aju  aus 
älteren  Werken,  Drucken  und  (mittlerweile  Tcrloren  gegangenen) 
Handschriften  entnommen  und  bearbeitet  hat.  Neben  Besler 
wird  auch  Stephan!  Ton  Kade  aus  der  Reihe  der  Komponisten 
In  die  der  »Herausgeber  und  Kompilatoren«  verwiesen. 

II.  4.  2 


18 


Bedauerns  gelegt   In  der  Passion  nach  Markus  ist  eben- 
falls der  Chor  »Herr,  bin  Ichs«  beachtenswert,  in  der  nach 
Lukas  besonders  die  Nummer  >Herr,  sollen  wir  mit  dem 
'  Schwerte   dreinschlagen?«,  welcher    durch    rhythmische 

Mittel  (Pausen  und  Synkopen)  ein  trotziger  Ausdruck 
gegeben  ist.  In  der  Passion  nach  Johannes  wirkt  das 
»Kreuzige«  durch  die  spannenden  Fermaten  mächtig. 

Das  bedeutendste,  was  vor  den  entsprechenden 
Werken  von  Heinrich  Schütz  innerhalb  der  Choralpas- 
sion an  Naturwahrheit  und  Lebendigkeit  des  Ausdrucks 
im  Ghorsatz  bis  je^t  bekannt  geworden  ist,  das  haben 
zwei  Thüringer  Kantoren  geleistet,  der  Weimarsche  M. 
Kt  Volpini.  Vulpius  in  seiner  Matthäuspassion  (1643)  und  Christoph 
Chr.  Sohvlts.  Schultz  in  Delitzsch  in  einer  Lukaspassion  vom  Jahre 
1 653.  Beide  lösen  schwierige  Deklamationsaufgaben  mit 
großer  Leichtigkeit.  Einfach  und  natürlich  trifft  Vulpius 
z.  B.  den  Ton  gleichgiiltiger  Frivolität  in  dem  Sätzchen 
der  Hohenprister  und  Ältesten: 


6opnA. 
Alt. 


IBM». 


m 


Schultz  den  der 
naiven  Verwun- 
derungin der  Re- 
de des  versam- 
melten Rates: 


IMst    dB  deaa     OoT",  ■  '  ,    u%        Sda? 


4l 


3P^ 


^^ 


1^ 


Vi/ 


Besonders  auffallend  ist  aber  die  Sicherheit,  mit  welcher 
diese  Tonsetzer  in  ihren  kurzen  Choralsätzen  den  Fanatismus 
der  Menge  gezeichnet  haben.  Daß  »Barrabam«  bei  Vulpius 
jagt  in  hoher  Stimmlage  in  überstürzenden  Rhythmen  hin. 
Noch  bedeutender  ist  sein  »Laß  ihn  kreuzigen«,  für  das  er 
Diskant  und  Tenor  verdoppelt,  wie  er  nach  der  anderen 


19 


Seite  seinen  von  vornherein  vierstimmigen  Satz  gegebenen 
Falls  auch  zusammenzieht,  bei  der  Vernehmung  der  fal; 
sehen  Zeugen  z.  B.  in  einen  zweistimmigen.  Der  sechs- 
stimmige Satz:  »Laß  ihn  kreuzigen«  sieht  aus  wie  folgt: 


LDiseant. 

».DiMiSk 
Alt. 

Btss. 


l«MBa^eadge9t 


las»  Dm  knii«i9n,UMilmfa«Qfi.gnI 


LusOiikivQagaBtlus  QmkreosifenJbtfsQm 


Lmk  Dmkwqiigen.kttDuitreiiiiya,h«Bml 


Mit  einer  noch  wilderen  Entschiedenheit  herrschen  die 
Juden  bei  Schultz  dem  Landpfieger  zu: 


LDiseuii 

2.DiiBeaiit. 
Alt 

LTttor. 
Siss. 


Knoilg»,  lawiuig«,knniigeQm!Kreiizlge,l(reiuige,  kravxLge   Qm! 


^      Kreiingo,  lDMasig*,ltfeuigeilmJiUeQkigo.  knotige,  kreiiA^e  ita! 


Kraisige,  UBnsige.lcreiuigefluiiKreittige,  kreuzige,  kreniLg»  Ihnl 

Etwas  gemächUcher  und  kaltblütiger  ist  das  dem  letzten 
Satze  vovausgehende 


20 


LDiseant. 
^.OisöaAt. 

ßi. 

t.Tenor. 

;9.Tenor. 

Bass. 


jt»T  J)p  J?r    r^  ip  {■  f 


Hinweg,  hiiLweg,     hin   .    weg  mit  dem. 


i 


Hinweg,  hin  .weg,      Üii  .    wegmftdem, 
r»  ^7. 1.. hin-weg,hin_weg,      hin    . 

M  J'  |)  J'  r    r.    i 

hb.weg,fain.%eg,     hin    . 

I        ,..    ^  ^1  p  J'l 


Hin.weg,lün.w8g, 
Hin  .  weg.Unjveg, 


^^tf^    p  p  r 

Hin  .  weg,)iinjve| 

^»n     P  P  l'  = 

Hin  .  weg,lun.weg, 


Hin  .  weg.hin.weg, 


Un.weg,  hin . 

.11    .HM'  ,  ^ 


hin  1  weg.l^n.weg, 


p'       f  p  I)  i'i"  1"  r "  '   inir  i"'i 


^ 


hinweg  mit  die.sem  tmd  gieb   uns 

m 

-gieb 


Bar.rabam ,     IobI 


inwesmit  die.sem  nnd  gieb   vns        Bar.fftbnm       loi! 


hinweg 


wegmitdnn,hinweg,hinwegmit  die.sem  nndgiebnnsBar.rnbam       losl 


temnndgleb  «ns        Bar.ra.bam     losl 


weg,      Ain  .  ireg,mnweg'mu  ue.aemnnagMD  xaa        ov.Ta.ouu     wsi 

^n^ 2>p j^pfiFj  r  I    I  I'I  I  'I  i^^i 


hinweg, hinweg.hinweg mit  die.sem         und  gieb  uns  Bar.rabam       losl 

Es  ist  nicht  alles  reif  und  schön  in  diesen  Sätzchen.  Die 
einzehien  Stimmen  gehen  zuweilen  steif  und  gezwungen, 
und  uns,  die  wir  der  lateinischen  Zeit  fern  stehen, 
stören  undeutsche  Silhenbetonungen  wie  die  am  Schlüsse 
des  Vulpiusschen  Satzes  empfindlich.  Aber  es  liegt  doch 
entschiedener  Situationscharakter  in  diesen  Chören,  und 
wir  glauben  nichts  hinein  zu  interpretieren,  wenn  wir  in  der 
etwas  übertriebenen  Beweglichkeit  auch  das  besondere 
jüdische  Element  angedeutet  erblicken.    Diese  Gabe,  sich 


«1 

realistisch  auszudrückea,  welche  die  Mehrzahl  der  deut- 
schen Musiker  in  Italien  aufsuchten,  erwarben  sich  jene 
Thüringer  in  ihrer  Heimat.  In  den  thüringischen  Kur- 
rendengesängen in  jener  Zeit  bildet  dieser  weltliche,  realir 
stische  Zug  ein  kennzeichnendes  Merkmal.  Auch  Sebastian 
Bach  ist  durch  diese  Schule  gegangen,  und  es  wird  wohl 
mehr  als  bloßer  Zufall  sein,  wenn  seine  Matthäuspassion 
in  den  Chorstellen  >So  steig  herab  vom  Kreuz«,  > Anderen 
hat  er  geholfen«,  »Er  rufet  den  Elias«  in  kleinen  und 
größeren  Zügen  mit  Vulpius  ÄhnHchkeit  zeigt. 

Außer  den  durch  den  Bibeltext  selbst  gegebenen 
Ghorsätzen,  haben  die  spätem  Choralpassionen  in  der 
Regel  noch  zwei  mehrstimmige  Nummern:  den  »Introitus« 
und  die  >Conclusio«.  Der  Introitus,  auch  Präfation 
genannt,  ist  eine  kurze  feierliche  Einleitung  mit  dem 
Wortlaut ,  »Das  Leiden  unseres  Herrn  Jesu  Christi,  wie  es 
St.  Matthäus  (Markus,  Lukas,  Johannes  —  oder  die  vier 
Evangelisten)  beschreibet«.  Dieser  Überschriftenstil  wird 
zuweilen  durch  ein  vorausgeschicktes  »höret  an«  in 
einen  Aufforderungssatz  umgestaltet.  In  der  lakonischen 
Fassung  sowohl,  wie  in  der  erweiterten  kommt  der  Introir 
tus  bekanntlich  auch  vor  anderen  liturgischen  Stückep 
vor.  Händel  hat  diesen  feierlichen  Brauch  im  »Israel  in 
Ägypten«  bei  dem  Lobgesang  der  Kinder  Israel  ins  Ora- 
torium hinübergenommen.  Die  Conclusio  oder  Gratiarum 
actio  ist  ein  die  Stelle  des  Respons  vertretender  Schluß- 
gesang über  die  Worte  »Dank  sei  unserem  Herrn  Jesu  Christo, 
der  uns  erlöset  hat  durch  sein  Leiden  von  der  Hölle«  oder 
ähnliche.  Die  Gratiarum  actio  fehlt  häufig,  in  katholischen 
Choralnassionen  sehr  oft;  der  Introitus  dagegen  nie.  Wohl 
aber  ist  er  häufig  dem  Evangelisten  allein  im  Choralton 
übertragen,  so  auch  in  der  Waltherschen  Passion  vom 
Jahre  4  552.  Wenn  aber  in  den  Choralpassionen,  welche 
in  den  biblischen  Chören  den  alten  Stil  verlassen  haben, 
die  beiden  Zusätze  da  und  mehrstimmig  komponiert  sind, 
so  zeigen  sie  ebenfalls  die  Einwirkung  der  Motettenpassion 
und  zwar  sie  ganz  besonders  durch  reichere  Einmischung 
von  Koloraturen  und  Melismen. 


n 

Diejenigen  Komponisten,  welche  in  den  Chorsäizen 
der  Choralpassion  über  den  alten  Stil  hinausgingen, 
haben  auch  in  den  Partien  der  >Soliloquenten€  sich 
mannigfache  sinnreiche  Abweichungen  vom  Lektionston 
erlaubt.  Auch  hier  ist  Walther,  vielleicht  von  Luther  be- 
einflußt, wieder  der  Erste*).  Manche  neue  Wendungen, 
die  er  dem  Evangelisten  und  den  Nebenpersonen  gibt, 
können  auf  Rechnung  des  römischen  Passionstons  ge- 
setzt werden.  Die  ganze  Haltung  der  Ghristuspartie  geht 
aber  über  den  Einfluß  eines  bestimmten  Vorbildes  hinaus; 
sie  ist  das  Werk  einer  starken  eigenen  künstlerischen  An- 
schauung und  einer  allgemeinen  Zeitströmung.  Das  Stre- 
ben nach  Individualisierung  ergreift  im  16,  Jahrhundert 
auch  den  Accent  und  modernisiert  seinen  Stil.  Wir  dür- 
fen Walther  noch  nach  einer  anderen  Richtung  einen  refor- 
matorischen Schritt  in  der  Geschichte  der  Choralpässion 
ztischreiben..  Er  fügte  den  herkömmlichen  drei  Solisten 
einen  vierten  hinzu:  einen  Sopran,  welcher  dem  ehemaligen 
Vertreter  der  sämtlichen  Nebenpartien,  dem  falsettieren- 
den  Succentor  die  Mägde,  die  Türhüterin  und  seltsamer 
Weise  auch  den  Hohenpriester  abnahm.  Es  ist  nicht  das 
einzige  Mal,  daß  in  der  Geschichte  der  Musik  gegen  die 
dramatische  Wahrscheinlichkeit  verstoßen  worden  ist.  Da 
die  Kunstmusik  des  1 6.  Jahrhunderts  weit  davon  ent- 
fernt war,  Männer  und  Frauen  nach  dem  Stimmklang 
zu  scheiden,  fand  Walthers  Passionssopran  durchaus 
nicht  schnelle  Zustimmung;  die  Magd  blieb  bis  tief  ins 
siebzehnte  Jahrhundert  hinein  noch  Eigentum  des  Fal- 
settisten. 

Vereinzelte  liebevolle  Züge  im  Accent  fehleij  auch 
in  solchen  Choralpassionen  nicht,  die  im  allgemeinen 
streng  im  vorgeschriebenen  Tone  gehalten  sind.  So  hat 
z.  B.  Lossius  eine  unverkennbar  freundliche  Wendung  am 
Anfang  seines  Werkes  für  das  Wort  discipuli  (Schüler). 


*)  Yergl.  Walthers  Bericht  über  die  Einsetzungsworte  von 
Lnthers  »Deutscher  Messe«  im  Syntagma  des  Prätorius. 
(I,  449  u.  fif.) 


« 

Auch  bei  Keachenthal  stellt  sich  an  demselben  Orte  »sprach 
er  zvL  seinen  Jüngern  c  ein  vollständiger  Abschnitt  herz- 
lichen   deut-  ,Jl  >**,   i>i  >  i     I   I  .M,)    y  ,  i  Und  fast 
sehen    Lied-  'ff^^    F  \j    P  f    ■'   If  '^^^^.    genau 
gesangesein:        '^'^     •*  « »d.ae«     JVa.g«»        g^  ^^^^ 

auch  S.  Besler  in  seiner  Matthäuspassion  diese  Worte.  Bei 
ihm  ist  das  Bestreben,  wichtige  Einzelheiten  in  Handlung 
und  Rede  der  Solopersonen  aus  dem  Choraltone  heraus- 
zuheben, schon  ein  grundsätzliches.  Er  verläßt  bei  be- 
deutenden Worten  wie  »töten«  und  »kreuzigen €  den 
gleichen  Ton  der  Deklamation,  er  läßt  den  Evangelisten 
die  Betrübnis  der  Jünger  mit  einem  kurzen  melodischen 
Striche  malen,  sein  Pilatus  (in  der  Johannespassion)  ruft 
von  Rührung  und  Bewunderung  ergriffen:  »Sehet,  welch 
ein  Mensch« ;  Besler  sagt  sich  sogar  von  den  Schlußfällen 
des  Evangelisten  los,  welche  andere  nie  antasten.  Nament- 
lich die  Ghristuspartie  hat  in  allen  Passionen  Beslers  Ab- 
schnitte, in  denen  der  Choralton  ganz  vergessen  ist  Das 
»Petre,  ich  sage  dir«  in  der  Lukaspassion,  die  Einsetzungs- 
worte in  dieser,  wie  auch  in  Beslers  Matthäuspassion  sind 
musterhafte  Beispiele  eines  schönen,  gehaltvollen,  einfach 
würdigen  Gesangstils. 

Auch  Vulpius  und  Schultz  bauen  den  Choralton 
melodisch  aus,  sie  geben  logische  Accente  mit  Wechsel- 
noten und  gestalten  in  Schlüssen  und  auch  in  Einsätzen 
frei  ohne  Rücksicht  auf  das  Herkommen.  Letzteres  tut 
besonders  Schultz,  der  bereits  im  Begriffe  steht,  Äußerlich- 
keiten der  Geschichte  ^  ,  ,  I  ,  >  Gerade  für 
malen  zu  wollen,  z.  B.  ,y  J  J  ■*  -Lf  ,  =.  Petrus  zeigt 
wenn  er  anfängt:  «^  •»  •«•«*  «^  sich  in  den 
Sünden  gegen  den  Choralton  ein  besonderes  guther- 
slges  Interesse.  Bei  ^  ^  _,  _  , ,,  ,  ,  j  .  In  der 
Schultz  heißt  es:  »Der  y  p,  p  f  M  rL  i  ,H  =.  Lukas- 
Herr  wandte  sich  »4  •»-  »»•  f»  -  tn»  «  passion 
von  Schütz  ist  dieselbe  Stelle  (mit  Ausnahme  einer  un- 
bedeutenden Note  im  Auftakt)  genau  so  komponiert;  doch 
aber  bleibt  die  Wirkung  gering,  weil  das  Motiv  schon  vor- 
her verbraucht  ist, 


— *     24     -9»— 

Es  iist  nicht  zufällig,  daß  die  Choralpassionen  mit 
dem  Anfang  des  4  7.  Jahrhunderts  sich  so  merkbar  von 
dem  einfachen  Accentton  abwenden.  Zu  den  früheren 
Gegnern  seines  Systems,  dem  Gefühlsbedürfnis  und  dem 
Einfluß  des  Volkslieds,  war  da  ein  mächtiger  Verbündeter 
gekommen:  Der  neue  begleitete  Sologesang  mit  seinem 
Rezitativstil.  Von  ihm  geleitet  führt  nun  Heinrich 
Et  Schütz.  Schütz  alle  die  bisherigen  Versuche,  im  Schema  der 
Ghoralpassion  musikalisch  reicheren  Ausdruck  zu  ge- 
winnen, bis  ans  Ende.  Die  Passionen  von  Schütz  hängen 
mit  den  Choralpassionen  äußerlich  noch  zusammen.  Sie 
beschränken  sich  auf  die  zwei  hergebrachten  musikalischen 
Formen,  den  unbegleiteten  Einzelgesang  für  den  Evange- 
listen und  die  Soliloquenten  und  den  unbegleiteten  Chor- 
satz für  die  turbae.  Innerlich  aber  hat  Schütz  mit  der  Gat- 
tung nahezu  gebrochen.  Seine  Einzelgesänge  stehen  dem 
modernen  Rezitative  viel  näher  als  dem  vorgeschriebenen 
Lektionston,  seine  Chöre  sind  schlechtweg  dramatisch 
und  nicht  etwa  blos,  wie  bei  Vulpius,  Schultz  und  anderen 
Vorgängern  hier  und  da,  sondern  grundsätzlich  vom  An- 
fang des  Evangeliums  bis  zum  Schluß.  Sie  sind  im 
engsten  Anschluß  an  Charakter  von  Personen  und  Situ- 
ation ersonnen,  sie  zeichnen  aufs  feinste  und  schärfste 
-  alles,  was  bei  den  augenblicklichen  Äußerungen  der 
Parteien  in  Betracht  kommt,  sie  geben  Leidenschaften 
und  Stimmungen  mit  fortwährendem  Hinblick  auf  den 
Zusammenhang  des  Ganzen  wieder,  sogar  mit  Berück- 
sichtigung äußerlicher  Dinge,  wie  die  gesellschaftliche 
Stellung  der  Sprecher  und  der  Angesprochenen.  Sie 
lassen  endlich  den  Grundton,  durch  welchen  sich  die 
Berichte  der  einzelnen  Evangelisten  unterscheiden,  jedes- 
mal in  besonderen  Färbungen  der  Musik  durchklingen. 
Und  das  alles  in  einem  einfach  belebten  Stile,  wie  er  für 
den  vierstimmigen  Chorsatz  kaum  natürlicher  sein  kann. 

In  der  von  Ph.  Spitta  redigierten  Gesamtausgabe 
der  Werke  von  Heinrich  Schütz*),  von  deren  praktischer 


•)  Leipzig,  Breitkopf  &  Härtel. 


25 

Benutzung  wir  viel  Segen  für  die  weitere  Entwickelung 
der  Tonkunst  erwarten  dürfen,  stehen  die  vier  Passionen 
im  ersten  Bande  gedruckt.  Aber  gerade  die  Passionen 
sind  schon  fast  zwei  Jahrzehnte  vor  dieser  Gesamtausgabe, 
allerdings  nicht  originalgetreu  und  vollständig,  wieder  be- 
kannt und  in  die  Praxis  eingefügt  worden  und  zwar  in 
einer  Bearbeitung  von  Carl  Riedel*),  welcher  nach  Art  der 
Evangelienharmonie  Sologesänge  und  Chöre  aus  allen 
4  Passionen  zu  einem  neuen  Ganzen  aneinandergereiht 
und  mit  Orgelbegleitung  versehen  hat.  Trotz  der  berechtig- 
ten  Bedenken,  welche  gegen  ihre  Methode  —  am  stärksten 
von  M.  Hauptmann  —  erhoben  worden  sind,  ist  diese  Be- 
arbeitung für  zahlreiche  Aufführungen  benutzt  worden;  in 
ihr  und  durch  sie  ist  Schütz  in  großen  und  kleinen  Städten 
Deutschlands  wieder  als  eine  bedeutende  Erscheinung  der 
deutschen  Musikgeschichte  bekannt  geworden,  und  Carl 
Riedel  wird  das  Verdienst  bleiben,  daß  er  in  einer  Zeit, 
in  welcher  der  historische  Sinn  noch  schlummerte,  für 
einen  unserer  besten  alten  Tonmeister  einen  zwar  nicht 
korrekten,  aber  erfolgreichen  Sieg  gewonnen  hat.  Dabei 
darf  picht  unerwähnt  bleiben,  dass  Riedel  selbst  auf 
Schütz  durch  v.  Winterfelds  und  namentlich  durch  Chry- 
sanders  Arbeiten  hingeführt  worden  ist.  Die  Matthäus- 
passion allein  ist  neuerdings  von  Arnold  Mendelssohn 
in  einer  nach  Riedelscher  Art  modernisierenden  Bearbeitung 
herausgegeben  worden.  Mendelssohn  hat  die  Schützsche 
Choralrezitation  in  begleitetesRezitativ  verwandeltund  auch 
bei  den  Chören  gehen  Orgel  oderKlavier  mit.  Diesen  Ver- 
suchen •♦)  ist  zuerst  Bernhard  Richter  entgegengetreten 
und  hat,  bald  von  andren  gefolgt,  seit  4  892  in  der  Leip- 
ziger Lutherkirche  Schützsche  Passionen  originalgetreu 
im  Gottesdienst  aufgeführt  und    an    dieser  Stelle,    für 


•)  Leipzig,  E.  W.  Fritzsch. 
**)  Auch  Friedrich  Spitta  (der  Brudei  des  Baohbiographen), 
der  die  Passionen  von  Schütz  in  einer  besonderen  Monographie 
bebandelt  hat,  hält  die  Beigabe  einer  Begleitung  für  ein  not- 
wendiges »Zugeständnis«  an  die  Gegenwart. 


26 


H.  Bohflti, 

MatthSas- 

pasBion. 


die  sie  bestimmt  sind,  haben  sie  erbaulich  gewirkt  Ins  Kon- 
zert, auch  ins  Kirchenkonzert  gehören  sie  nicht,  sondern 
nur  in  die  Liturgie.  Deren  Anforderungen  entspricht  ihre 
Knappheit  und  ihr  Eigenstes  liegt  darin,  daß  sie  Oestalt 
und  Zeitdauer  der  alten  Lektion  einhalten  und  doch  den 
-Text  zum  reichsten  Ausdruck  bringen.  Dieser  wesent- 
lichste Zug  witd  durch  Orgelbegleitung  und  eingelegte 
Choräle  vernichtet  Das  Riedeische  Experiment  hat  seine 
Schuldigkeit  getan;  es  mag  nun  ruhen!  Die  Hauptaufgabe, 
die  jetzt  diesen  Werken  gegenüber  gelöst  werden  muß,  ist: 
die  Solisten  im  richtigen  Vortrag  des  Redegesangs  auszu- 
bilden. 

Aus  dem  Lebenslauf,  welchen  der  Oberhofprediger 
Geier  in  Dresden  der  Leichenrede  auf  den  Komponisten 
hinzufügte,  wissen  wir,  daß  Schütz  drei  seiner  Passionen 
im  hohen  Alter  geschrieben  hat  Zwei  von  diesen  drei 
sind  in  der  Matthäuspassion  und  der  Johannespassion 
der  Gesamtausgabe  festgestellt.  Für  die  erstere  ist  hand- 
schriftlich 4  666,  für  die  andere  4  665  als  Entstehungsjahr 
angegeben.  Aus  guten  Gründen  wird  die  Lukaspassion 
ein  gutes  Stück  vor  diese  beiden  Werke  gesetzt  werden 
müssei^.  Die  Matthäuspassion  gilt  unter  diesen  dreien 
für  die  bedeutendste  wegen  ihrer  »Rezitative«.  Dem  mo- 
dernen Hörer,  welcher  für  den  unbegleiteten  Sologesang 
mangelhaft  oder  garnicht  geschult  ist,  werden  allerdings 
diese  Rezitative  zunächst  mehr  fremdartig  und  eintönig 
als  gehaltvoll  vorkommen.  Sie  sind  auch  kunstgeschicht- 
lich eine  Ausnahme,  sie  suchen  zwischen  zwei  ganz  ent- 
gegengesetzten Stilarten,  der  neuen  Monodie  der  Italiener 
und  dem  alten  Choralton,  einen  Mittelweg  zu  finden.  Es 
ist  neuer  Geist  in  alter  Form!  Das  ist  wohl  sicher: 
Jeder,  der  sich  in  diese  Sologesänge  tiefer  einlebt,  sie 
im  richtigen,  nicht  im  verschleppten  Tempo  hört,  der 
wird  in  ihnen  den  Qriffel  eines  großen  Künstlers  spüren 
und  mit  Bewunderung  sehen,  wie  viel  Schütz  mit  den 
erweiterten  Mitteln  des  Accents  angedeutet  oder  klar 
ausgedrückt  hat.  Erweiterter  Accent!  Das  ist  die  ge- 
gebene Bezeichnung  für  diese  Art  von  Sologesang.    Die 


t7     ♦^ 

Erweiterung  geschieht  nach  der  Methode  Luthers  und 
Walthers  durch  Einmischung  von  Wendungen,  die  zum 
Concent  gehören,  aber  viel  reicher,  als  bei  allen  Vor- 
gängern. Dennoch  stehen  diese  Sologesänge  auf  dem 
Boden  der  unbegleiteten  Monodie,  beigegebene  Harmonie 
macht  ihre  Melodik  schwerfällig  und  zerstört  ihren  Cha- 
rakter. Dadurch  unterscheiden  sie  sich  vom  neueren 
Rezitativ.  Indes  ist  es  kein  Schaden,  wenn  man  sie  Re- 
zitative  nennt  Geht  man  den  Zielen  nach,  die  Schütz 
zu  seinem  erweiterten  Accent  geführt  haben,  so  fallen 
am  schnellsten  die  malerischen  Einzelheiten  ins  Auge, 
welche  der  bildliche  Gehalt  von  Worten  und  Sätzen  dem 
Tonsetzer  unterbreitete.  Tiefer  liegen  die  bedeutenden 
Züge  bewegten  Mitempfindens,  an  welchen  namentlich 
die  Partie  des  Evangelisten  außerordentlich  reich  ist.  Er 
weiß  uns  zu  rühren  und  zu  spannen.  Einmal  unterbricht 
er  den  Qioralton  mit  wenigen  herzlichen  Gesangnoten, 
ein  andermal  verläßt  er  ihn  ganz,  um  in  motivischen 
Steigerungen,  die  den  speziellen  Einfluß  Monteverdis  deut- 
lich zeigen,  die  besondere  Wichtigkeit  eines  dramatischen 
Vorgangs  entsprechend  wiederzugeben.  Interessant  ist 
besonders,  wie  der  Evangelist  in  vielen  Schlüssen  seiner 
Erzählung  den  inneren  Ton  der  folgenden  Reden  vorbe- 
reitet Die  übrigen  Einzelpersonen  der  Leidensgeschichte 
sind  mit  kurzen  aber  scharfen  Strichen  hingestellt  Christus 
in  der  Matthäuspassion:  ernst,  in  edler  Wehmut,  trauernd; 
Petrus:  weich,  erreglich;  Pilatus:  freundlich  gemessen; 
Caiphas:  gespreizt;  Judas  keck,  vordringlich  frivol. 

Deutlicher  als  Besler  und  andere  Tonsetzer,  welche 
die  Passion  mehrmals  nach  den  verschiedenen  Berichten 
der  Evangelisten  komponiert  haben,  versteht  Schütz  jedes 
Evangelium  durch  eine  besondere  Tonart  zu  zeichnen. 
Seine  Passion  nach  Matthäus  hat  die  dorische.  Der  In- 
troitus  bringt  deren  Wesen  eindringlich  zum  Ausdruck: 
hervorstechend  ist  die  Verwendung  des  CmoU- Akkords: 
sein  schmerzlicher  Klang  wird  durch  die  eingefügte  Vor- 
haltsdissonanz noch  herber.  Schützens  Einleitungsgesänge 
;nnd  in  deo  anderen  Passionen  länger  als  bei  seinen 


--♦      28 

Vorgängern;  der  nach  Matthäus  macht  hierin  eine  Aus- 
nahme, zßigt  aber  im  Charakter  die  allen  gemeinsame 
Mischung  von  choralartig  anklingender  kirchlicher  Musik 
und  beschreibender  Beweglichkeit  ebenfalls. 

Der  Evangelist  beginnt  nur  wenig  von  dem  Stile 
des  Choraltons  verschieden.  Erst  am  Schlüsse  wird 
seine  Erzählung  individuell  belebt.  Christi  Rede  klingt 
trüb,  an  einzelnen .  Stellen  klagend.  Nach  ihr  nimmt 
das  Rezitativ  des  Evangelisten  einen  lebhafteren  Cha- 
rakter an:  er  sieht  die  Dämonen  des  Passionsdramas 
pahen;  die  Hohenpriester  und  Schriftgelehrten  beginnen 
ihren  ersten  Chor  »Ja  nicht  auf  das  Fest«.  Schütz  zeichnet 
sie  als  kluge,  wohl  berechnende  Männer.  Wie  in  den 
meisten  der  Passionschöre  stützt  sich  Ausdruck  und 
Charakter  auf  ein  kurzes  Hauptmotiv,  welches  die  Stim- 
men sehr  frei,  lebendig  und  natürlich  untereinander  ver- 
teilen: Es  j  welches  der  Tenor  zuerst  an- 
ist hier  ^V  ♦  i  T  f  .  1^  hebt.  Anfang  und  Schlußteil 
das  kurze :  ^»  ^^^  des  nur  \  5  Takte  betragenden 
Satzes  sind  über  diese  zwei  Noten  aufgebaut,  in  der  Mitte 
steht  eine  Episode  erregterer  Natur,  in  welcher  die  Hohen- 
priester und  Gelehrten  ihrer  Besorgnis  wegen  des  Auf- 
standes einen  halb  launigen  Ausdruck  geben.  Ihr  Motiv 
kehrt  in  dem  gleichen  Chore  der  Markuspassion  bei  dem 
Worte  »Aufruhr«  wieder.  In  dem  folgenden  Rezitative 
ist  die  Stelle  von  besonderer  Schönheit,  an  welcher  der 
Evangelist  malt,  wie  das  Weib  das  köstliche  Wasser  auf 
Jesus  Haupt  ausgießt.  Die  jetzt  anschließenden  zwei 
Chöre  der  Jünger:  »Wozu  dienet  dieser  Unrat«,  »Wo 
willst  du,  dass  wir  dir  bereiten«,  haben  einen  harten, 
trockenen,  nahezu  unfreundlichen  Zug,  der  gegen  den 
innigen  Ton,  welchen  Schütz  den  Jüngern  in  den  anderen 
Evangelien  gegeben  hat,  ganz  auffällig  absticht.  Der 
Grund  für  diese  Auffassung  des  Komponisten  liegt  in  der 
Gethsemaneszene.  Denn  gerade  Matthäus  schildert  in 
dieser  mit  viel  grösserem  Nachdruck  als  die  anderen 
Evangelisten  das  Verhalten  der  Jünger  als  unrühmlich, 
gleichgültig  und  lieblos.   Der  dritte  Chor  »Herr,  bin  ichs« 


bringt  eine  Wendung;  aus  seinem  Schlüsse  klingt  die  Liebe. 
Er  ist  trotz  seiner  Kürze  (7  Takte)  ein  Meisterstück  der 
Seelenmalerei  nud  schildert  ergreifend  den  Übergang  von 
Verlegenheit  zu  herzlichster  Wärme.  Aus  den  Rezitativen, 
welche  diesen  Chören  vorausgeheil ,  tritt  besonders  die 
Stelle  des  Judas  hervor,  >Was  wollt  ihr  mir  gebenc.  Der 
Verräter  macht  den  Hohenpriestern  sein  Angebot  in  der 
freudigen,  prahlerischen  Aufregung  eines  eitlen  Patrons, 
der  einen  besonders  glücklichen  Gedanken  zu  haben  glaubt. 
Die  Wiederholung  des  9lchc  ist  hierfür  bezeichnend.  Nur 
ganz  am  Schlüsse  lässt  er  merken,  daß  er  in  dem 
Handel  doch  etwas  Dunkles  fühlt.  Den  herausfordernden 
Ton  tragen  auch  die  Worte,  mit  denen  Judas  die  feier- 
hche  trübe  Anklage  gegen  den  »Menschen,  durch  welchen 
des  Menschen  Sohn  verraten  vnrd<  beantwortet:  »Bin 
ichs,  bin  Ichs,  Rabbi?«  Die  Wiederholungen  von  Worten 
und  Sätzen  und  so  entschiedene  Melodieschritte  wie  in 
der  Partie  des  Judas  kommen  bei  keinem  der  übrigen 
Soläoquenten.  vor.  Den  Schluß  dieser  Szene  bilden 
die  Einsetzungsworte,  deren  liturgischer  feierücher  Ton 
in  den  Erläuterungssätzen  Jesu  »Ich  sage  Euch,  ich 
werde  von  nun  an  von  dem  Gewächs  des  Weinstocks 
nicht  mehr  trinken«  ein  wehmütiges  Nachspiel  erhält. 
In  der  kurzen  Szene  am  ölberg  sind  die  innig  herz- 
lichen Worte  des  Petrus  »Und  wenn  ich  mit  dir  sterben 
müßte  etc.«  von  besonderem  Eindruck.  Der  nun  fol- 
gende längere  Abschnitt:  Jesus  auf  Gethsemane,  ist 
eine  der  bedeutendsten  Partien  in  dem  Rezitativteile 
der  Matthäuspassion.  Der  Evangelist  schildert  hier  ein- 
zelne Züge  (wie  Christus  zum  Gebete  hinfällt,  wie 
er  enttäuscht  ist,  die  Jünger  schlafend  zu  finden) 
in  besonders  anschaulichen  Tonwendungen,  und  aus 
seinem  ganzen  Vortrage  spricht  die  tiefste  und  leben- 
digste Teilnahme.  Aus  den  Reden  Christi  klingt  eine 
schmerzliche  Resignation;  von  hervorragendem  Ein- 
druck ist  der  Schluß  »Stehet  auf,  laßt  uns  gehen«, 
in  welchem  die  mutige  Fassung  mit  der  Verzweiflung 
ringt. 


Aus  der  Szene,  wo  Jesus  verhaftet  und  zu  Caiphas 
geführt  wird,  ist  die  Stelle  in  der  Erzählung  des  Evan- 
gelisten hervorzuheben,  welche  von  dem  Angriff  auf  den 
Knecht  des  Hohenpriesters  berichtet. 

Die  Worte  der  beiden  falschen  Zeugen  sind  in  einem 
Kanon  wiedergegeben,  welcher  in  der  ersten  Hälfte  die 
obere  Sekunde,  in  der  zweiten  die  untere  einhält.  Ohne 
Zweifel  hat  Schütz  die  Form  des  Kanons  als  ein  scharfes 
Mittel  der  Charakteristik  gewählt.  Die  übertrieben  feier- 
lich einsetzende  und  dann  zwischen  Schwulst  und  Leicht- 
fertigkeit einherschwankende  Aussage  wird  durch  das 
mechanische  Mit-  und  Nachplappern  des  zweiten  Zeugen 
doppelt  widerwärtig  und  lächerlich. 

Die  Antworten , '  welche  Christus  dem  Hohenpriester 
Caiphas  gibt,  tragen  einen  Ton  vornehmer  Ruhe  und 
Hbheit,  welcher,  verglichen  mit  der  Stimmung,  die  in 
Jesu  Reden  auf  Gethsemane  zum  Ausdruck  .kam,  sofort 
verständUch  sein  muss.  Der  Chor  der  Schriftgelehrten 
und  Ältesten,  »Er  ist  des  Todes  schuldig«  zeigt  nichts 
von  der  Erregung  und  der  Bitterkeit,  welche  man  in 
diesen  Worten  erwarten  könnte.  Dieses  Urteil  wird 
vielmehr  in  dem  leichten  Tone  eingesetzt,  mit  dem  man 
etwas  ganz  Selbstverständliches  zu  sagen  pflegt.  Schützens 
Absicht  geht  hier,  wie  das  auch  schon  in  der  Nummer 
der  falschen  Zeugen  der  Fall  war,  darauf  hin,  in  dem 
Verhalten  der  Ankläger  das  abgekartete  Spiel  durch- 
merken zu  lassen.  Das  ganze  Verhör  über  nehmen  sie 
die  Sache  vorwiegend  leicht,  kurz  und  mit  einem  bru- 
talen Humor.  Am  stechendsten  drückt  diesen  der  nächste 
Chor  aus:  »Weissage  uns,  Christe,  wer  ist  es,  der  dich 
schlug?«  In  roher  Lustigkeit  tänzelnd  fängt  er  an,  dann 
wird  der  Titel  »Christe«  höhnisch  feierlich  in  breiten  Rhyth- 
men gegeben.  In  quälerischen  Steigerungen  wiederholen 
sie  die  trocken  stilisierte  Frage  »wer  ist  es,  der  dich 
schlug«,  und  um  dem  Ganzen  die  Krone  aufzusetzen; 
heucheln  sie  aufhörend  auch  noch  Mitleid.  Man  wäre 
kaum  verwundert,  diesen  Chor  noch  durch  einen  Takt 
nackten  Gelächters  verlängert  zu  sehen.    Das  zwischen 


diesen  beiden  Chören  liegende  k;urze  Rezitativ  des  Evan- 
gelisten hat  den  Ton  tiefer  Betrübnis. 

Die  Szene  von  Fetri  Verleugnung  ist  als  besondere 
Episode  auch  in  der  Tonart  kenntlich  gemacht  Der 
F  dur-Einsatz  bei  den  Worten  »Petrus  aber  saß  draußen« 
nach  dem  A  dur-Schluss  des  letzten  Chors  führt  anschau- 
lich aus  dem  Palast  hinaus.  Über  der  Partie  des  Evan-' 
gelisten  liegt  in  dieser  ganzen  Szene  ein  Tön  der  Ver- 
wunderung und  des  Bedauerns.  Das  letztere  findet  seinen 
größten  Ausdruck  am  Schlüsse,  wo  der  Hahn  gekräht 
hat  und  Petrus  bitterlich  weint.  In  den  Reden  Petri 
wird  man  die  steigende  Aufregung  beobachten  können; 
seine  dritte  Beteuerung:  »Ich  kenne  des  Menschen  nicht« 
setzt  er  forziert  mit  hohem  Ton  ein. .  Aus  der  Reihe 
der  Belastungszeugen  des  Jüngers  tritt  natürlich  der  Chor 
am  meisten  hervor.  Er  setzt  das  »Wahrlich«  mit  breitem 
und  entscheidendem  Nachdruck  ein,  die  Worte  »du  bist 
auch  einer  von  denen«  sind  leicht  hingegeben,  wie  des 
Beweises  und  der  Erörterung  nicht  bedürftig. 

In  der  kurzen  Episode,  welche  die  Reue'  und  den 
Selbstmord  des  Judas  enthält,  sind  zunächst  die  Worte 
des  Judas  selbst  sehr  bemerkenswert.  Wie  kleinlaut  klingt 
das  »Ich  habe  übel  getan«  gegen  das  frühere  »Was  wollt 
ihr  mir  geben«  des  unglücklichen  Tors.  Der  Ausdruck 
auf  dem  Worte  »übel«  und  der  Schluss  hat  etwas  Ver- 
söhnendes. Die  Hohenpriester  behandeln  den  Zwischenfall 
mit  mühsam  erheuchelter  Gleichgültigkeit  Das  schnelle 
vorzeitige  Abschliessen  auf  »Was  geht  uns  das  an«,  die 
Fortsetzung,  die  sich  in  übereinanderstürzenden  kurzen 
Imitationen  des  »Da  siehe  du  zu«  weiter  hilft,  sind  be- 
zeichnend. In  dem  zweiten  Chor  »Es  taugt  nichts«  ist  die 
Verlegenheit  noch  ersichtlicher;  aus  dem  halb  schauer- 
lichen Schlüsse  »denn  es  ist  Blutgeld«  spricht  das  böse 
Gewissen. 

Der  langen  Szene,  wo  Christus  vor  Pilatus  steht 
und  der  Landpfleger  mit  den  Juden  über  Freigebung  ver- 
handelt, hat  Schütz  durch  die  Tonschlüsse  in  den  Partien 
des  Evangelisten    und    des  Pilatus    einen    spannenden 


t!harakter  zu  geben  versucht.  Eiaen  für  Uneingeweihte 
faßlicheren  Anhalt  gewinnt  sie  mit  dem  Eintritt  der 
Chöre,  in  denen  zum  ersten  Male  das  Volk  der  Juden 
das  Wort  nimmt  Schätz  schreibt:  »der  ganze  Haufe«. 
Der  erste  Chor  »Barrabam«  hat  nichts  von  Fanatismus, 
aber  etwas  Uebermut  und  er  gibt  das  unruhige 'Bild 
einer  Menge,  in  welcher  der  Eine  vom  Änderen  gereizt 
und  in  einen  äußerlichen  Eifer  hineingedrängt  wird.  In^ 
dem  nach  einem  kurzen  Rezitative  wiederholten  >Laß 
ihn  kreuzigen«  tritt  dieser  Obermut  noch  stärker  her- 
vor; besonders  frivol  und  hart  klingt  das  kurz  und  schnell 
herausgestoßene  Wort  »kreuzigen«.  Nachdem  Pilatus 
sehr  ausdrucksvoll  und  bewegt  erklärt  »Ich  bin  un- 
schuldig an  dem  Blut  dieses  Gerechten«,  nimmt  der  Haufe 
das  eigene  Wort  des  Pilatus  »Sein  Blut«  mit  einem  Nach- 
druck auf,  der  in  seiner  höhnischen  Breite  etwas  Belei- 
digendes hat.  Die  parodierende  Absicht  wird  durch  den 
hastig  hingeworfenen  Vortrag  des  Nachsatzes  »komme 
über  uns«  noch  deutlicher.  Die  Partie  des  Evangelisten, 
welche  den  Spottchor  der  Kriegsknechte  einleitet,  ist 
hervorragend  reich  an  malerischen  Wendungen:  Das 
Geißeln,  das  Kreuzigen  ist  in  kurzen  Tonbiegungen  ange- 
deutet, das  Umlegen  des  Purpurmantels,  das  Flechten 
und  Aufsetzen  der  Domenkrone,  das  Kniebeugen  in 
breiteren  Melodiezügen  ausgeführt.  Der  Spottchor  selbst 
bewegt  sich  wieder  in  Kontrasten:  gesuchte  Feierlichkeit 
wechselt  im  »Gegrüßet«  mit  lächerlicher  Beweglichkeit; 
mit  nicht  mißzu verstehender  Realistik  saust  das  »du,  du« 
schneidend  hinein.  Von  hier  an  bis  zum  Ende  Jesu  nimmt 
der  Bericht  des  Evangelisten  eine^  aufgeregten  Ton  an; 
die  Melodik  hebt  die  Einzelheiten  der  Vorgänge  nach- 
drücklich heraus  und  wird  zuweilen  ganz  modern.  Voll- 
ständig leiden schafthch,  wie  vom  wilden  Schmerz  ge- 
packt, singt  der  Evangelist  namentlich  die  Worte:  »Aber 
Jesus  schrie  abermals  laut  und  verschied«.  Ein  guter 
Sänger,  welcher  die  nötigen  Pausen  einschaltet,  wird 
mit  dieser  Stelle  erschüttern.  Auch  die  Schilderung  von 
dem   Zerreißen    des   Vorhangs    und    dem   Erdbeben    ist 


— ^      33 


höchst  dramatisch.  Den  Höhepunkt  in  dem  rezitativi- 
schen Teil  der  Kreuzigungsszene ,  ja,  wohl  der  ganzen 
Matthäuspassion  bildet  aber,  dem  alten  Brauch  der  Cho- 
ralpassion entsprechend,  das  »Eli«  Christi*]: 


II  'ü'l  \i\^\ 


fr .   K.     £  .   II«     £  ■    lii      U  .  ma        a   .  c     -    sab.th» ,     -  nil 

Es  kann  kein  einfacheres  und  sprechenderes  Bild  der 
Seelennot  geben,  als  diese  mühsame  Melodie:  der  natur- 
wahre Ausdruck  der  letzten  um  Hilfe  ringenden  Kraft- 
anstrengung und  des  letzten  stoßweisen  Ermattens  und 
Erlöschens. 

In  den  Chören,  welche  die  Hohenpriester,  Schrift- 
gelehrten und  die  Juden  während  der  Kreuzigungsszene 
singen,  ist  der  leichtfertige  Ton  einem  ernsteren  gewichen. 
Am  freiesten  treiben  sie  ihren  Spott  noch  am  Schlüsse 
von  »Anderen  hat  er  geholfen«  mit  den  parodierenden 
Wiederholungen  des  »^Ich«.  Am  schärfsten  kommt  die  in  der 
Stimmung  und  Gesinnung  der  Menge  eingetretene  Wen- 
dung zum  Ausdruck  in  dem  Chor  des  »Hauptmann  samt 
den  Kriegsknechten«  bei  den  Einsatzworten:  »Wahrlich, 
dieser  ist  Gottes  Sohn  gewesen«.  Der  Schreck  des  Erd- 
bebens läßt  sie  ihr  Glaubensbekenntnis  in  wirren  Tönen 
sprechen.  Auch  die  Haltung  der  Hohenpriester  gegen! 
den  Pilatus  ist  eine  andere  geworden,  als  sie  in  der 
Verhörszene  war.  Ohne  jeden  herausfordernden  Bei- 
klang, aber  mit  wohlstudierter  Betonung  und  künstlicher 
Ruhe,  tragen  sie  ihm  das  Verlangen,  das  Grab  zu  ver- 
wahren, vor. 

An  Stelle  der  üblichen  Qonclusio,  der  Gratiarum  actio 
mit  ihren  stehenden  Textworten:  »Dank  sei  unsrem 
Herrn  etc.«  hat  Schütz  einen  Gesangbuch vers  genommen, 
die  letzte  Strophe  des  Liedes:  »Ach,  wir  armen  Sünder!« 
Die  Melodie  dieses  Chorals  hat  er  jedoch  nicht  benutzt, 
sondern  zu  dem  »Ehre  sei  dir,  Christe«  etc.   eine  freie 


*)  Dynamik  und  Rhythmik  u ach  A.  Mendelssohn. 

n,  1.  a 


und  sehr  reiche  Musik  gesetzt,  wie  man  sie  in  keinem 
Schlußsatze  der  früheren  Choralpassionen  kennt  und  wie 
man  sie  an  dieser  Stelle  auch  in  den  anderen  Passionen 
von  Schütz  selbst  nicht  wiederfindet.  Die  erste  Hälfte 
des,  mit  dem  bisherigen  Brauch  verglichen,  außergewöhn- 
lich langen  Satzes  ist  deklamatorisch  mit  kurzer  Beto- 
nung einzelner  Textbilder:  wie  Todesleiden,  ewige  Herr- 
schaft. Mit  den  liitaneiworten  »»Hilfuns  armen  Sündern« 
schlägt  aber  der  Chor  einen  innigen  melodischen  Weg 
ein,  der  über  die  Höhe  freudiger  Glaubensbegeisterung 
in  das  Gebiet  frommer  Zuversicht  und  Hoffnung  aus- 
mündet. 
HiSohüts,  Schützens  Lukas passion    ist  wahrscheinlich  be- 

Lttkaspassion.  deutend  älter  als  die  Passionen  nach  Matthäus  und  Jo- 
hannes! Wenn  die  inneren  Eigenschaften  eines  Musik- 
werks genügten,  um  sein  Alter  zu  bestimmen,  so  dürfte 
man  geneigt  sein,  diese  Passion  in  die  Jugendzeit  des 
Komponisten  zu  setzen,  wenigstens  soweit  es  sich  um 
die  Partie  des.  Evangelisten  handelt;  denn  dessen  Hezi- 
tative  halten  mit  denen  in  der  Johannes-  oder  gar  Mat- 
thäuspassion keinen  Vergleich  aus;  ja,  sie  verfehlen  so- 
gar vielfach  den  Charakter  der  Erzählung.  Schützens 
^  unleugbar  feines  Gefühl  für  Stil  und  Wesen  der  einzel- 

nen Evangelisten  und  die  Tatsache,  daß  Lukas  grelle 
Einzelheiten  der  Leidensgeschichte  übergeht,  daß  er 
freundliche  Episoden  berichtet,  welche  die  anderen  Evan- 
gelisten nur  flüchtig  berühren  oder  gar  nicht,  daß  im 
ganzen  über  seinem  Berichte  ein  Ton  der  Milde  liegt,  — 
diese  Umstände  alle  reichen  nicht  aus,  um  das  halb  ver- 
gnügliche, verbindliche  Gesicht  zu  erklären,  mit  welchem 
der  Evangelist  in  Schützens  Lukaspassion  seinen  Bericht 
vorträgt.  Schütz  ist  hier  auf  halbem  Wege  stehen  ge- 
blieben. Er  glaubte  im  wesentlichen  den  Choralton  bei- 
behalten zu  dürfen  und  hielt  es  für  genügend,  wenn  er 
demselben  noch  einige  typische  Züge  hinzufügte.  Diese 
Zutat  von  Typen  hat  aber  mehr  entstellend  als  berei- 
chernd gewirkt;  namentlich  ist  es  der  dem  alten  choral- 
mäßigen a-c  neu  angetritute  höhere  Terzengang  c  d  e  c, 


-—fr      35     *— 

der  in  seiner  übermäßig  häufigen  Verwendung  dem  Vor- 
trag des  Evangelisten  einen  unpassenden  wohlbefriedigten 
Grundton  gibt.  Einzelne  Stellen  in  dem  Berichte  des  Evan- 
gelisten stehen  über  dieser  geringen  Stufe.  Es  sind  vorwie- 
gend solche,  die  kleinere  Malereien  bei  geeigneten  Worten 
(fürchten,  kreuzigen  etc.)  enthalten.  Ein  größerer  Abschnitt 
freien  und  bewegten  Vortrags  findet  sich  bei  der  Gebets-  % 
szene  am  ölberg:  »Es  erschien  ihm  aber  ein  Engel  usw.« 

Ganz  anders  als  der  Evangelist  sind  die  anderen 
Soliloquenten  ausgearbeitet«  Über  alle  ragen  die  Reden 
Jesu  hervor,  obwohl  auch  sie  an  einzelnen  Choralschlüssen 
festhalten.  Sie  sind  in  einem  weichen  liebevollen  Ton 
gehalten,  welcher  namentlich  in  den  Gesprächen  mit  den 
Jüngern  rührend  wirkt.  So  spricht  der  ältere  Bruder, 
wenn  er  in  der  Stunde  des  Abschieds  denen  noch  einmal 
die  ganze  Herzlichkeit  erweisen  will,  die  seiner  Sorge  an- 
vertraut waren.  Dieser  weiche  zusprechende  Ton  macht 
einem  ernsteren  Platz,  wenn  Christus  dem  Petrus  den 
Abfall  und  den  Verrat  vorhersagt.  Wehmut  und  Trauer 
klingt  aus  Jesu  Gebet  zum  Vater,  Vorwurf  aus  der  An- 
rede an  Judas,  Hoheit  aus  den  Worten,  mit  denen  er  den 
Hohenpriestern  entgegentritt.  Aber  von  der  düstern  und 
schwülen  Stimmung,  welche  in  der  Matthäuspassion  die 
Reden  des  Heilands  beherrscht,  ist  hier  nirgends  eine 
Spur.  Der  bedeutendste  und  reichste  Abschnitt  der 
Christuspartie  in  der  Lukaspassion  ist  die  Rede  an  die 
nach  Golgatha  folgenden  Weiber:  »Ihr  Töchter  von 
Jerusalem  usw.« 

Bei  den  Nebenpersonen  ist  der  größte  Teil  ausdrucks- 
voller Deklamation  auf  Pilatus  gefallen.  Hervorragend 
ist  die  Stelle,  wo  er  auf  das  erregte  »Kreuzige«  der  Juden 
ebenso  erregt  fragt:  »Was  hat  denn  dieser  Übels  getan?« 
Daß  Schütz  auf  diesen  Abschnitt  besonderen  Wert  gelegt, 
ersieht  man  daraus,  daß  er  ihm  ausnahmsweise  eine 
Vortragsbezeichnung  (bei  den  Worten:  »des  Todes«  steht: 
adagio)  überschrieb. 

Als  den  wertvollsten  Teil  der  Lukaspässion  wird  man 
jedoch  die  Chöre  zu  betrachten  haben. 

z* 


36     ^— 

Diejenigen  der  Jünger  bilden  mit  den  Heden  Jesu 
zusammengefaßt  eine  liebliche  Idylle.  Diese  Jünger  sind 
Gestalten,  welche  in  dem  ganzen  Zauber  liebenswürdiger, 
jugendlicher  Naivetät  vor  uns  hintreten:  Es  klingt  etwas 
Kindliches  aus  der  Zuneigung  und  Anhänglichkeit,  mit 

fragen:  »Wowillt  1|6  "  rl    U     ^M  J    «1    J    «1  I  ^^^  J  J  i 

du,  daß  wir  usw.«  ^°     V^^^  *»•    dass  wir  d»  b«  ,   rei    .       .    ten. 

aus  der  ahnungslosen  Einfachheit,  mit  ■  welcher  sie  ver- 
sichern,   daß    ^        niokei.nen.mc' kei.Bep  gelittejtt«. 

sie  »Nie  kei-  jfc  if  ,    'J    ri  ^M  6    8    o    I  Und    als 


nen     Mangel    ^  ni«  keLnen.  nie      ^i.Mn.         GhlistUS 

ihnen  die  kommende  Gefahr  angedeutet  hat,  da  äußern  sie 

in:    »Herr,   siehe,     j        _  _  i  i    _     K.'  _    K    l  i  i     '  i 
hier     sind     zwei     ^   f  ■:^  P' I  ^    f    ^'   p. '^LJ^N■     i, 

.  »■■  »w  •         1.       V*         !_•        i-s  •     a      »  o   i_ 


Schwert«        nicht  ^"'  Harr.  sie.  bD>lüer,bierJ)iv  und  9«äS«bwert, 

Sorge,  sondern  lediglich  einen  fröhlichen  Mut;  ja,  als  die 
Schar,  die  Jesum  gefangen  nehmen  will,  schon  vor  ihnen 
steht,  fassen  sie  die  Situation  in  ihrem  munter  rüstigen: 
»Herr,    sollen   wir   mit    g_    __    _    ___     k,_ 

dem  Schwert  drein  schla-  ^  \    ^P'P    ppp    «^Hrrrfr 

gen«     nicht    von     einer       ^^^^  Herr,  «ol-len "wir  mit  dem    Sdnrert 

gefährlichen  Seite  auf,  sondern  wie  ein  erfreuliches  ritter- 
liches Abenteuer. 

Die  Juden,  welche  Jesum  mit  ihrem:  i Weissage,  wer 
ist's,  der  dich  schlug«  verhöhnen,  machen  den  Eindruck 
irregeleiteter  Tölpel.  Ihr  Spott  kommt  in  schwerfälligem 
Rhythmus  zu  Tage.  In  der  Matthäuspassion  fallen  die- 
selben Worte  auf  einen  späteren  Zeitpunkt  und  finden 
eine  bereits  erregte  Masse. 

Die  Chöre  der  Hohenpriester  und  Schriftgelehrten, 
welche,  fünf  an  der  Zahl,  nur  durch  kurze  Rezitatrve 
auseinandergehalten  werden,  sind  als  eine  geschlossene 
Gruppe  zu  betrachten.  Mit  scheinheiliger  Freundlichkeit, 
wie  unverfänglich  und  wie  mit  wohlwollender  Dringlich- 
keit fragen  sie  zuerst:  »Bist  du  Christus,  sage  es  uns«: 
Ober  die  Antwort  Christi  verwundert  und  leicht  ge- 
ärgert,   stellen    sie    dieselbe  Frage    nochmals,    aber   in 


-— ^      37  • 

einem  umständlicheren  und  wichtigeren  Ton  mit  dem 
zweiten  Chor:  »Bist  du  denn  Gattes  Sohn?«  Als  Christus 
bejaht  hat, .  kommt  der  wahre  Charakter  dieser  bisher 
liebenswürdigen  Fragesteller  zum  Vorschein:  Mit  platter 
und  gemeiner  Heftigkeit  setzt  der  dritte  Chor  ein:  »Was 
dürfen  wir  weiter  Zeugnis«  und  in  gleichem  Tone  geht  es 
nun  weiter.  Mit  prahlerischer  Entschiedenheit  erklären  sie 
dem  Landpfleger:  »Diesen  finden  wir,  daß  er  das  Volk 
abwende«,  und  als  Pilatus  sich  eine  Einwendung  erlaubt 
hat,  vergessen  sie  ganz,  daß  sie  den  Statthalter  des 
Kaisers  vor  sich  haben.  Der  betreffende  Schlußchor: 
»Er  hat  das  Volk  erregt«  setzt  im  Ton  des  sich  über- 
stürzenden Eifers  ein.  Der  Trugschluß  im  zweiten  Takte 
drückt  das  sehr  anschaulich  aus.  Nun  erst  bemühen  sich 
die  Aufgeregten  um  eine  passendere  Redeweise  und  über- 
bieten sich  in  ruhigen  Versicherungeu.  Am  Schlüsse  des 
vierten  Chors  dieser  Gru^ipe  fällt  es  auf,  daß  bei  den 
Worten  »und  spricht:  er  sei  Christus,  der  König«  ein 
feierlicher  Stil  eintritt.  Friedrich  Spitta*)  hat  mit  Glück 
den  Grund  dieser  Wendung  in  der  von  Schütz  dem  grie- 
chischen Text  entnommenen  Lesart  »der  König«  aufge- 
funden. ,  »Ein  König«,  wie  Luther  übersetzt  hat,  würde  den 
spottenden  Ton  vertragen  haben,  aber  »der  König«  war  den 
Juden  etwas  Heiliges :  der  erwartete  und  ersehnte  Messias. 
Von  den  beiden  Chören  der  Menge  ragt  der  zweite: 
»Kreuzige  ihn«  durch  Schärfe  des  Ausdrucks  hervor. 
Namentlich  der  Einsatz,  wo  der  Tenor  eine  ganze  Oktav 
hinaufsteigt,  während  die  andern  Stimmen  kurze  Motive 
wild  dagegenstoßen,  hat  etwas  Dämonisches.  Man  kann 
auf  den  Gedanken  kommen,  daß  das  »Kreuzige«  in  der 
Johannespassion  Bachs  nach,  diesem  Vorbild  entworfen 
sei.  Der  erste  der  betreffenden  Chöre  gleicht  in  der  Be- 
handlung des  Wortes  »Barrabam«  ganz  dem  entsprechen- 
den in  Schützens  Matthäuspassion.  Auch  für  die  beiden 
letzten  ddramatischen  Chöre  der  Lukaspassion,  den  Chor 
der  Obersten:  »Andern  hat  er  geholfen«  und  de^  grausam 


♦)  Friedrich  Spitta  a.  a.  0. 


38 


H.  Sohüts, 

JolianneB- 

passlon. 


höhnenden  der  Kriegsknechte :  >Bist  du  der  Juden  K&nig«, 
finden  sich  in  der  Matthäuspassion  Seitenstücke. 

Sämtlichen  Chören  der  Lukaspassion,  auch  dem  In- 
troitus  und  dem  Schlußchor,  liegt  die  lydische  Tonart  zu 
Grunde.  Der  Introitus  hat  in  allen  Schütz'schen  Passionen 
ziemlich  denselben  Zuschnitt:  einen  feierlichen  Anfang 
und  dann  einen  lebhaften  Ton,  wenn  der  Satz  an  das 
Wort  >beschreibet«  und  an  den  Namen  des  Evangelisten 
heranrückt.  Es  ist  eine  ähnliche  Stimmungsfolge  wie  in 
der' gleichzeitigen  Orchesterpaduane.  Der  >Beschluß<,  wie 
Schütz  die  alte  Gratiarum  actio  nennt,  wird  in  der  Lukas- 
passion mit  dem  9.  Verse  des  Gesangbuchliedes:  »Da  Jesu 
an  dem  Kreuze  stand«  gemacht:  Auch  hier  hat  Schütz 
nicht  die  Ghoralmelodie  benutzt,  sondern  die  Worte:  »Wer 
Gottes  Marter  in  Ehren  hat«  mit  einer  eignen  Musik  ver- 
sehen, die  zwischen  gehaltenem  altkirchlichen  Stile  und 
frohem  Liedton  merkwürdig  abwechselt. 

Die  Johannespassion  steht  in  der  phrygischen 
Tonart.  Wenn  es  bei  der  Matthäuspassion  und  bei  der 
Lukaspassion  ein  geringeres  Interesse  hat  zu  wissen,  wel- 
ches System  des  Kirchentons  zu  Grunde  liegt,  so  ist  das 
bei  der  Johannespassion  anders ;  denn  in  ihr  machen  sich 
die  Eigentümlichkeiten  in  Melodie-  und  Harmoniebildung, 
die  aus  der  phrygischen  Skala  hervorgehen,  viel  stärker 
geltend,  als  in  jenen  beiden  Werken,  welche  dem  Gesetze 
ihrer  besonderen  Tonart  vorwiegend  nur  in  den  Chören 
gehorchen.  Die  spezifisch  phrygischen  Schlüsse  treten 
aber  in  der  Johannespassion  nicht  blos  in  den  Chören 
sehr  merklich  hervor.  Auch  in  den  sämtlichen  Rezitativ- 
partien kehren  bestimmte  phrygische  Melodiewendungen 
immer  wieder;  am  häufigsten  der  bekannte  und  bezeich- 
nende Gang  zum  Grundton  über  die  kleine  Sekund:  g  f  e  e. 
Das  gibt  sämtlichen  Teilen  des  Werkes  eine  gleichmäßigere 
Färbung,  als  wir  sie  in  den  Übrigen  Passionen  Schützens 
gefunden  haben.  Daß  unter  diesem  gedämpfteR  Licht, 
das  sich  Über  das  ganze  Werk  ohne  Unterschied  ergießt, 
die  Vorgänge  aber  klar  dargestellt  sein  und  die  Personen 
als  gesonderte  Gestalten  erscheinen  können,    lehrt   ein 


— -*     39 

kurzer  Blick  auf  die  Hauptfiguren.  Der  Evangelist  nähert 
sich  in  Bezug  auf  Mitempfinden  und  Lebhaftigkeit  des 
Vortrags  wieder  dem  in  der  Matthäuspassion;  der  Christus 
der  Johannespassion  unterscheidet  sich  von  dem  der 
anderen  beiden  Passionen  durch  einen  gebieterischen, 
abweisenden  Zug.  Fast  nimmt  der  Pilatus  das  größte 
Interesse  in  Anspruch;  so  abweichend  ist  seine  Haltung 
hier  im  Vergleich  zu  der  in  den  andern  Evangelien. 
Nicht  blos,  daß  er  jetzt  im  Tenor  singt;  seine  Reden 
sind  so  reich  mit  melodischen  Illustrationen  geschmückt, 
daß  er  den  Evangelisten  an  Teilnahme  und  Christo  zu- 
gewandtem erregten  Gefühle  oft  zu  übertreffen  scheint. 
Ein  Teil  der  dramatischen  Chöre  bekommt  durch 
den  phrygischen  Halbschluß  (A :  E)  einen  finsteren  Zug. 
Eigen  ist  auch  der  Mehrzahl  die  Neigung  zu  einem  ver- 
haltenen, fast  möchte  man  sagen:  phlegmatischen  Aus- 
druck, der  die  Entschiedenheit  durchBreite  ersetzt.  In  diese 
Gruppe  gehören  die  Nummern:  »Jesum  von  Nazarethc, 
>Wäre  dieser  nicht  ein  Übeltäter«,  »Nicht  diesen,  sondern 
Barrabam«,  »Wir  haben  ein  Gesetz«  und  mit  Ausnahme  des 
erregten  Eingangs  und  des  stark  auftragenden  Motivs: 
•    .1»^"^   ^    ^  p  auch  noch  der  Chor:  »Läs- 

■"^  r   r   '^    I  '    ^^~^— '    j '      '    *=  sest  du  diesen  los«.  Einen 


das  ist  MTi^  der  den  Kai.ser  leidenschaftlichen  Gegen- 
satz zu  dieser  Gruppe  bilden  der  in  schneidenden  Kontra- 
sten geführte  Chor  der  Kriegsknechte:  »Sei  gegrüßet«,  das 
immer  wilder  anlaufende  »Kreuzige«  des  ganzen  Haufens, 
dessen  Musik  in  dem  »Weg,  weg«  variiert  wiederkehrt, 
und  die  beiden  Nummern  der  Hohenpriester:  »Wir  haben 
keinen  König«  und  »Schreibe  nicht  der  Judenkönig«.  Die 
beiden  kleinen  Chöre:  »Bist  du  nicht«  und  »Wir  dürfen 
Niemand  töten«  haben  sehr  deutlich  sprechende  Wen- 
dungen in  den  Grundmotiven:  im  i  p  -fr^  ^^^  l^^z- 
jener  in  der  einsetzenden,  -"^  ^  ■  ^-  ==fe=>  tere in  den 
Erstaunen    malenden     Oktav:       ^^^    ^  "^*^*    naiv     ab- 

den  Quar-  .j^  rl    f   p    I  p  jtJ    J.   I  |^. 


tenfällen :  ^^  dOr-fon     Nlenund  tSd  .  teiu 


In  dem  Chore:  »Wäre  dieser  uicht  ein  Übeltäter« 
finden  wir  bei  dem  Worte  »überantworten«  ein  Lieblings- 
motiv von  Schütz,  den  in  gelirochenem  Rhythmus  hinab- 
steigenden,       von 

Gegenstimmen  £  'j)  U  L  *  _hA  iil'^v  -  .'/^J 
bald  aufgehalte- 
nen, bald  fortgezo- 
genen Skalengang: 
der  noch  von  der  Barrabasstelle  in  Matthäus  und  Lukas 
erinnerlich  sein  wird.  Der  Chor:  »Schreibe  nicht  der 
Judenkönig«  hat  den  in  den  Psalmen  und  den  Cantioni- 
bus  sacris  sehr  häufig  angewandten  Effekt  einer  gegen 
die  lebhafte  Bewegung  sämtlicher  andern  allein  in  langen 
Tönen  anliegenden  Stimme.  Bekannt  ist  die  wunder- 
bare Wirkung  dieses  Schütz'schen  Choraufbaues  wohl 
am  meisten  aus  der  großartigen  phantastischen  Szene: 
»Saul,  Saul,  was  verfolgst  du  mich?« 

Der  Introitus  der  Johannespassion  ist  länger  als  der 
zu  Matthäus  und  Lukas;  mit  einer  wahrhaft  schwär- 
merischen Innigkeit,  die  ganz  am  Schlüsse  nochmals  im 
Tenor  und  Sopran  in  verzückten  Zuruf  ausbricht,  wird 
hier  der  Name  des  geliebten  Evangelisten  angestimmt 
und  immer  wieder  lang  hinklingend  hinausgesungen.  Der 
»Beschluß«  hat  den  Choralvers:  »0  hilf,  Christe,  Gottes 
Sohn«  zum  Text  und  führt  ihn  auf  die  Melodie  des  Kir- 
chenliedes, Strophe  für  Strophe  in  dem  kurzen  motetten- 
artigen Stile  durch,  in  welchem  man  zu  der  Zeit 
Schützens  eben  die  Charalmelodien  zu  behandeln  be- 
gann. Von  hervortretender  Schönheit  sind  die  Stellen, 
wo  die  Stimmen  zu  zwei,  paarweise,  sich  die  Motive 
abnehmen. 

Noch  auffallender  als  in   der  Lukaspassion  ist  die 

H.  Sohtttt,  ^7)  Ungleichheit   der  Teile   in    der   Markuspassion    von 

Markus-      Schütz.     Sie   ist  so   stark,    daß  man   neuerdings  dahin 

passion.      neigt,   die  Echtheit   dieser  Passion  überhaupt  in  Frage 

zu  stellen,   obwohl  das  Werk  von  demselben  Musiker, 

dem    nachmaligen    Kantor    der    Dresdner   Kreuzschule, 


J.  Z.  Grundig,  dem  wir  auch  die  Handschrift*)  der 
andern  drei  Passionen  verdanken,  zu  gleicher  Zeit  wie 
diese  letzteren,  nämlich  am  Ende  des  17.  Jahrhunderts, 
aufgeschrieben  und  mit  ihnen  in  demselben  Bande  zu- 
sammengestellt ist. 

Für  den  Evangelisten,  für  Christus  und  die  einzelnen 
Nebenpersonen  ist  in  dieser  Markuspassion  vollständig 
auf  den  alten  Choralton  zurückgegriffen  worden.  Nur 
bei  dem  Verscheiden  Christi  sind  Erzählung,  und  Rede  in 
mehr  rezitativartigem  Stile  gehalten  und  in  Wendungen 
deklamiert,  die  mit  ähnlichen  in  der  Lukaspassion  über- 
einstimmen. 

Die  Chöre,  welche  in  der  jonischen  Tonart,  dem 
modernen  F  dur,  stehen,  weichen  von  der  sonstigen  Weise 
Schützens  bedeutend  ab.  Auf  einzelne  Äußerlichkeiten, 
wie  die,  daß  die  Soprane,  die  Schütz  in  seinen  andern 
Werken  nur  ausnahmsweise  bis  T  oder  g^  führt,  sich  hier 
viel  häufiger  in  den  hohen  Lagen  bewegen,  ist  weniger 
Gewicht  zu  legen;  denn  die  hohen  Soprane  kommen  bei 
den  deutschen  Komponisten  am  Anfang  des  47.  Jahr* 
hunderts  vor,  wie  wir  bei  Vulpius  sehen  können.  Ge- 
setzt den  Fall,  daß  Schütz  seine  Markuspassion  als  sehr 
junger  Mann  geschrieben,  könnte  er  sich  diesem  Brauche 
angeschlossen  haben.  Aber  die  Harmonik  in  den  Chören 
weist  nicht  auf  .den  Anfang,  sondern  auf  das  Ende  des 
4  7.  Jahrhunderts;  namenthch*  die  Verwendung  der  Domi- 
nantseptime und  die  Bevorzugung  der  weichen  Dominant- 
harmonie an  den  Satzschlüssen  ist  hierfür  entscheidend. 
Ferner  sind  einzelne  Sätze  in  der  Erfindung  der  Themen 
so  nichtssagend  und  ersichtlich  nur  aufs  Formelle  gerich- 
tet, daß  man  das  Konto  von  Schütz  damit  nicht  gern 
belasten  möchte.  In  diese  Gruppe  gehören  vor  allen  der 
Chor  der  Jünger  Jesu:  >Wo  willt  du,  daß  wir  hingehen< 
und   der   auf  äußerliche   Abrundung  und   guten   Klang 


*}  Sie  befindet  sich  in  der  Leipziger  Stadtbibliothek.  Von 
der  Jobannespassion  allein  bat  Wolfenbüttel  eine  von  Scbütz 
selbst  hergestellte  mit  mancherlei  Abwelcbungen. 


49 


H.  Sohtttii. 

Die  sieben 

Worte. 


angelegte,  aber  im  Hinblick  auf  Situation  und  Inhalt  ganz 
unpassende  Chor  der  falschen  Zeugen:  >Wir,  wir  haben 
gehört«.  Trotzdem  wird  man  sich  nur  schwer  entschlie- 
ßen können,  die  Markuspassion  ganz  aus  der  Liste  der 
SchÜtzschen  Werke  zu  streichen;  denn  sie  enthält  zu 
viel  Material,  das  in  Form  und  Geist  das  Gepräge 
Schützens  trägt.  Der  größte  Teil  des  Introitus  und  des 
Beschlusses,  ferner  der  Chöre:  »Ja  nicht«,  »Was  soll 
doch  dieser  Unrat«,  »Bin  ich's«.  »Wahrlich,  wahrlich«, 
»Pfui  dich«,  »Andern  hat  er  geholfen«  könnte  von  ihm 
sein.  Wir  sagen,  der  größte  Teü  dieser  Nummern,  weil 
sie  in  einem  Reste  die  Zeichen  einer  eingreifenden  frem- 
den Hand  tragen.  Es  wäre  möglich,  daß  ein  Bearbeiter 
vielleicht  schon  bald  nach  dem  Tode  von  Schütz,  sich 
überdessen  Markuspassion  gemacht  und  sie  einem  neueren, 
aufs  Gefällige  des  Ausdrucks  und  auf  breitere  Formen 
gerichteten  Geschmack  angepaßt  hat.  Der  größte 
Teil  der  Schütz'schen  Motive  blieb,  wurde  aber  in  der 
Ausführung  in  die  Länge  gezogen  und  sämtliche  Sätze 
erhielten  ganz  neue  Schlüsse.  Daß  dieser  Bearbeiter 
kein  Stümper  war,  zeigen  die  Chöre  »Weissage«  und 
»Kreuzige«,  an  denen  nichts  Schütz^sches  ist,  die  man 
aber  trotzdem  als  meisterlich  geformte,  wirkungsvolle 
und  auch  im  Ausdruck  treffende  Tonbilder  wird  müssen 
gelten  lassen. 

Seine  Hinneigung  zu  äem  modernen  italienischen 
Rezitativ,  welche  den  Solosatz  der  Passionen  so  bemer- 
kenswert macht,  hat  Schütz  in  zwei  andern  Werken, 
welche  mit  der  Leidensgeschichte  des  Herrn  in  nahem 
Zusammenhang  stehen,,  offen  und  formell  unzweideutig 
bekannt.  Es  sind  dies  die  ebenfalls  durch  Riedel  zuerst 
wieder  veröffentlichten  und  in  die  Kirchenkonzerte  ein- 
geführten »Sieben  Worte«  und  die  »Historia  von  der  Auf- 
erstehung Jesu  Christi.«*) 

Die  »Sieben  Worte  Jesu  Christi  am  Kreuz« 
beginnen  mit  einem  fünf  stimmigen  Introitus  (zwei  Tenöre) 


*)  Beide  Werke  iu  Bd.  I  der  Geäamtausgabe. 


über  den  Choral:  >Da  Jesus  an  dem  Kreuze  stund<. 
Schütz  hat  für  die  durch  ihre  dorische  Färbung  inter- 
essante, aus  dem  alten  Volkslied:  »Wer  das  Elend  bauen 
will«  herstammende  Choralmelodie  eine  Vorliebe.  Sie 
klingt  in  verschiedenen  seiner  Werke  leicht  an:  unter 
anderen  auch  in  dem  Introitus  seiner  Johannespassion. 
In  dem  Introitus  der  »Sieben  Worte«  führt  er  sie  ziem- 
Uch  vollständig  durch,  in  einfachen,  aber  aus  vollem 
Herzen  heraus  deklamierten  Kontrapunkten.  Es  ist  oft 
als  ob  eine  Stimme  die  andere  in  Hingebung  überbieten 
wollte.  Besonders  schön  ist  am  Eingang,  wie  der  Sopran, 
während  die  andern  in  ihren  Betrachtungen  schon  weiter- 
gehen, gar  nicht  von  dem  Gedanken  und  dem  Bilde  los- 
lassen kann:  »Da  Jesus  an  dem  Kreuze  stund«;  höchst 
eindringlich  auch  die  scharfe  Dissonanz  an  der  Stelle, 
wo  die  Stimmen  mit  den  Worten  »bittere  Schmerzen« 
nach  langem  Einzelgehen  wieder  zusammentreten.  Von 
dem  Passionenstil  weicht  dieser  Introitus,  außer  durch 
seine  Länge,  auch  noch  dadurch  ab,^  daß  ihm  eine  In- 
strumentalbegleitung beigegeben  ist.  Sie  ist  für  den  so- 
genannten Continuo  (in  Generalbaßnotierung)  skizziert 
und  für  ihre  Ausführung  müssen  wir  uns  nach  dem 
Brauche  des  47.  Jahrhunderts  einen  ganzen  Chor  von 
verschiedenartigen  Tasteninstrumenten  und  lauten-  oder 
harfenartigen  Spielwerken  denken.  Diese  Continuostimme 
wirkt  in  allen  Teilen  der  »Sieben  Worte«  mit,  ein  sicheres 
Zeichen,  daß  dieses  Werk  in  seiner  Form  auf  italienischem 
Boden  steht. 

Von  dem  Introitus  geht  Schütz  nicht  direkt  ins  Evan- 
gelium, sondern  es  folgt  —  ebenfalls  nach  italienischem 
Vorbild,  —  noch  ein  zweiter  Prolog:  eine  instrumentale 
»Symphonia«  für  fünf  Stimmen,  deren  Besetzung  dem 
freien  Ermessen  der  Direktoren  überlassen  ist.  Dem 
Charakter  nach  ist  diese  Symphonie  eine  Trauermusik. 
Während  die  spätem  Italiener  für  solche  Instrumental- 
prologe an  der  dreisätzigen  Form  festhalten,  gibt  hier 
Schütz  eine  freie  einsätzige  Phantasie.  Sie  gehört  for- 
mell mit  den  Orchestersätzen  in  den   »österreichischen 


Kaiserwerken«*)  zu  den  ersten  deutschen  Nachkommen  der 
Gabrieli'schen  Sonate  und  schheßt  sich  auch  im  inneren 
Stile  der  bei  Gabrieh  und  andern  Venetianern  für  feier- 
liche Gelegenheiten  eingehaltenen  Weise  an.  Schützens 
Symphonia  beginnt  in  dem  Tone  eines  schwermütigen 
Liedes: 


^^^^^^^ 


'Aus  dem  zögernden  Schritt  geht  sie  bald  in  einen  lebhaf- 
teren Gang  über,  spricht  einige  warme  Worte  der  liebenden 
Begeisterung  und  sinkt  in  dem  Moment,  wo  das  Drama 
beginnen  muß,  wieder  in  Trauer  zurück. 

Der  Evangelist,  welcher  zunächst  als  hoher  Tenor 
(im  Altschlüssel  notiert)  auftritt,  vollzieht  im  Laufe  des 
Werkes  einige  musikalische  Metamorphosen.  Nach  dem 
dritten  Worte  Jesu  erscheint  er  als  Sopran;  als  aber  die 
bedeutungsvolle  Stelle  des  »EH«  kommt,  da  verwandelt  er 
sich  in  einen  vierstimmigen  Chor.  Noch  einmal,  nachdem 
Christus  das  letzte  Wort  gesprochen,  findet  sich  in  der 
Partie  des  EvangeUsten  dieses  Übergreifen  in  den  Stil 
der  Motettenpassion.  Die  Wirkung  ist  tief  mystisch.  Als 
Nebenpersonen  haben  die  »Sieben  Worte«  nur  die  beiden 
Schacher.  Der  erste  ist  dem  Altfalsettisten,  der  andere 
dem  Baß  gegeben.  Die  Partie  des  Christus  ist  äußerlich 
dadurch  ausgezeichnet ,  daß  bei  ihr  zur  Begleitung  des 
Continuo  noch  zwei  (nicht  näher  bezeichnete)  Instrumente, 
unter  denen  wir  uns  Violen  denken  können,  hinzutreten. 
Die  Anregung  hierzu  mag  Schütz  wie  später  Bach  der 
Oper  entnommen  haben,  in  welcher  bereits  bei  Monte- 
verdi  besonders  wichtige  Reden  der  Hauptpersonen  außer 
mit  dem  Continuo  auch  noch  durch  Streichinstrumente 
begleitet  werden.  In  der  zweiten  Hälfte  des  4  7.  Jahr- 
hunderts findet  man  in  der  altvenetianischen  Oper  als 
ständige   Erscheinung,    daß   die   Rezitative    der   in    den 


*)  Musikalische  Werke  der  Kaiser  Ferdinand  III.  etc.  heraus- 
gegeben von  Guido  Adler. 


' 


häufigen  Beschwörungsszenen  auftretenden  Geister  (om- 
brae)  von  hohen  und  äusgehaltenen  Geigenakkorden  ge- 
stützt werden.  Auch  Steffani  hat  in  seinem  »Trionfo  di 
fato«  diese  geheimnisvollen  Violintöne,  da  wo  sich  die 
Schatten  des  Hektor  und  des  Anchises  treffen.  Als  in 
die  Passion  Instrumentalmusik  eingeführt  war,  entnahm 
sie  der  Oper  diese  wirksame  Begleitungsformel  als  ein 
willkommenes  Mittel  des  feiertichen  Ausdrucks.  So  fin- 
det es  sich  zuerst  bei  Sebastiani,  später  gleichzeitig  mit 
Seb.  Bach,  der  es  in  der  Matthäuspassion  ganz  besonders 
eindringlich  verwertete,  in  Passionen  von  Keiser  und 
Telemann,  welche  es  jedoch  nicht  für  alle  Reden  Christi 
verwenden. 

Man  hat  den  treffenden  Vergleich  gemacht,  daß  Bach 
und  die  mit  ihm  genannten  Passionskomponisten  die  be- 
sondere Klangfarbe  der  Violinfen  wie  einen  Heiligenschein 
um  die  Gestalt  Christi  legen.  Schütz  verwendet  seine 
begleitenden  Instrumente  anders,  in  einer  lebhafteren 
Weise.  Als  der  Herr  zum  Sterben  kommt  und  in  den 
überwältigenden  Sätzen,  welche  Schütz  über  die  Worte: 
>Es  ist  vollbrachte  und  »Vater,  ich  befehle  meinen  Geist 
in  deine  Hände«  geschrieben  hat,  seine  Stimme  ins 
Stocken  kommt^  da  tönt  aus  den  Melodien  und  aus  den 
kurz  hingetropften  Rhythmen  der  Begleitung  Klagen  und 
Zittern.  An  andern  Stellen  vervielfältigen  die  Instru- 
mente die  Worte  Christi  in  bedeutungsvollem  Echo  und 
zuweilen  hüllen  sie  dieselben  wie  in  feierliche  Dämme- 
rung. 

Der  tiefe  Eindruck,  welchen  die  eigenen  Reden  Christi 
in  der  Komposition  von  Schütz  machen,  wird  noch  ver- 
stärkt durch  die  sie  umgebenden  Rezitative  des  Evan- 
gelisten. Dieser  edel  ruhige  Ton  erhabener  Ergriffenheit, 
welcher  die  meisten  Sätze  des  Erzählers  kennzeichnet, 
ist  nie  wieder  übertroffen  und  nur  selten  erreicht  worden. 
Wer  nicht  Musterstücke  aus  der  Jugendzeit  des  begleiteten 
Sologesanges  kennt,  wie  den  Schluß  des  Combattimento 
von  Monteverdi,  seinen  Klagegesang  der  Arianna,  die 
Eingangsszene   seiner  >Incoronazione«,  wird  an  Stellen 


t 


46 


■ 


wie  »Es  stund  aber  bei  dem  Kreuze  Jesu  Mutter  und 
seiner  Mutter  Schwester,  Maria,  Gieophas^  Weib«  sich 
ganz  modern  berührt  fühlen.  Das  Pathos  dieser  Deklama- 
tion ist  von  einem  Gehalt,  welcher  alle  Zeiten  überdauert. 

Nachdem  Jesus  verschieden,  deckt  das  Orchester  mit 
derselben  Symphonia,  die  wir  am  Anfange  hörten,  das 
kurze,  ergreifende  Passionsbild  wieder  zu,  und  eine  fünf- 
stimmige Conclusio,  welche  im  Anfang  dem  Introitus 
ähnelt,  im  Tone  frommer  Hoffnung  mit  nachdrücklichem 
Verweis  auf  das  »Dort«  des  ewigen  Lebens  ausklingt, 
schließt  die  andächtige  Feierlichkeit. 

Das  Entstehungsjahr  der  »Sieben  Worte«  kennen  wir 
E.  Sohflts.     nicht.    Für  die   »Historia  von  der  Auferstehung 
Die  Historia  Christi«  steht   4623  als  Datum  des  von  Schütz  selbst 
von  der  Auf-  veranstalteten  Druckes  fest.    Wir  dürfen  aber  aus  der 
erstehang.    Musik  schließen,   daß    die  »Sieben  Worte«   das  spätere 
Werk  sind;  denn  wo  sie  sich  mit  der  Auferstehungsge- 
schichte in  den  gleichen  Formen  begegnen,  zeigen  sie  eine 
unvergleichlich  größere  Reife.  Die  »Sieben  Worte«  können 
als  dasjenige  Werk  bezeichnet  werden,  welches  am  besten 
geeignet  ist,  die  Bekanntschaft  mit  Schütz  zu  vermitteln: 
es  zeigt  auf  einmal  viele  Seiten  seiner  Kunst  und  es  zeigt  ihn 
in  allen  alsMeister.  Auf  die  »Auferstehung«  hat  Schütz  selbst, 
wenigstens  in  dem  Augenblicke,  wo  er  sie  vollendet  hatte, 
viel  gehalten.  An  ihrem  Schlüsse  stehen  die  beiden  Verse: 


OhrlBte,  Resurrexit,  cecinit, 

mea  Musica, 
Christa,  beatiflcum,  dicquoqne, 

Sarge,  mllii. 
Sic  nunc  mortall  cecini  qnod 

voce,  resargens 
Voce  immortali  tunc  tibi  Christe 

canam,< 


Herr  Christ,  hienieden  hat  mirs 
gelungen 

Das  ich  dein'  Urständ  hab  ge- 
sungen, 

Herr    Christ,   heiß    mich  am 
jüngsten  Tag 

Auch  auferstehen  aus  meinem 
Grab, 

So  will  ich  dich    mit  ewiger 
Stimm' 

Im  Himmel  loben   mit  Sera 
phim. 


Aber  das  Werk  als  Ganzes  ist  für  die  praktische  Wieder- 
belebung verloren.  Es  ist  ein  unfertiges  Gemisch  von  alten 
und  neuen  Formen.  Der  Evangelist  singt  Choralton  in 
der  für  die  Osterlektion  hergebrachten  (oben,  S.  41,  im 
Hauptmotiv  skizzierten)  Formel.  Das  ist  das  Alte.  Das 
Neue  in  der  Partie  des  Evangelisten  besteht  darin,  daß 
vier  Gambenviolen  diesen  Choralton  mit  Akkorden  beglei- 
ten. Eine  oder  die  andere  soll  (nach  niederländischer  Or- 
ganistenweise) Passagen  in  die  ruhende  Harmonie  hinein- 
spielen dürfen.  Auch  ohne  diese  Improvisationen  sind 
schon  Dissonanzen  genug  da.  An  bedeutenden  Schluß- 
stellen der  Erzählung,  oder  auch  wenn  ein  malerisches 
Bild  lockt,  verläßt  der  Evangelist  mit  seinen  Gamben  den 
Choralton  und  begibt  sich  ins  Bereich  der  rhythmisierten 
Melodik.  Christus,  Maria  Magdalena  und  der  Jüngling 
im  Grabe  sind  im  Stil  der  Motettenpassion  gehalten  und 
singen  der  eipe,  wie  die  andere  zweistimmige  Sätze. 
Doch  ist. in  der  Vorrede  das  moderne  Zugeständnis 
gemacht,  daß  die  zweite  Stimme  durch  ein  Instrument  er- 
setzt werden  oder  wegbleiben  kann.  Der  untergeschrie- 
bene Viadan  ansehe  Generalbaß  erlaubt  auch  diese  zweite 
Form.  In  den  Gesängen  der  drei  Marien  haben  wir  rich- 
tige dramatische  Terzette,  in  den  Reden  des  Cleophas 
und  seines  Gesellen,  in  denen  der  zwei  Engel,  der  zwei 
Männer  im  Grab  ebensolche  Duette.  Sie  und  diejenigen 
Sätze,  in  welchen  sich  Christus,  ebenso  die  kürzeren 
Abschnitte,  in  welchen  sich  der  Evangelist  auf  den 
Boden  des  neuen  Sologesanges  stellt,  sind  aber  nichts 
weniger  als  Muster  der  Gattung.  Vielmehr  stehen  sie 
auf  der  untern  Stufe  der  Entwickelung,  die  wir  in  der 
Florentinischen  Oper  ungefähr  bei  Gagliano  antreffen. 
Der  Melodienbau  bewegt  sich  in  Extremen:  Trockenheit 
und  Überschwang.  Unvermittelt  geht  es  aus  regelrechten, 
aber  sehr  stückweise  zusammengesetzten  Kantilenen  in 
Koloraturen  und  Läufe,  für  welche  im  Text  gar  keine 
Veranlassung  vorliegt.  Wenn  die  Oper  »Daphne«,  welche 
Schütz  vier  Jahre  nach  dieser  Auferstehungsgeschichte 
komponierte,  nicht  besser  gewesen  ist,  so  haben  wir  ihren 


Verlust  nicht  sehr  zu  bedauern.  Es  ist  selbstverständlich, 
daß  bei  einem  Genie,  wie  das  Schützens,  auch  in  einem 
im  Ganzen  verfehlten  Werke  doch  noch  sehr  viel  Packen- 
des und  Bedeutendes  übrig  bleibt.  Es  findet  sich  nament- 
lich in  dem  herrlichen  Tone,  der  in  den  Gesprächen  herrscht, 
welche  Cleophas  und  sein  Geselle  mit  Jesu  halten.  Auch 
die  Reden  des  Letzteren  enthalten  Stellen  von  mächtiger 
Hoheit.  Eine  solche  ist  z.B.  das  erste  >Friede  sei  mit  Euch«. 
Geniale  Detailmalereien  ziehen  sich  in  reicher  Zahl  durch 
das  Werk:  Eine  der  bedeutendsten  ist  in  dem  Gesang  der 
Hohenpriester  »Saget,  seine  Jüng6r  kamen«  bei  dem  Worte 
»schliefen«  zu  finden,  eine  andere  noch  bedeutendere  in 
der  Rede  Jesu,  auf  dem  Wege  nach  U  4  l^  /^ 
Emmaus.  Die  Modulation,  in  der  er  die  Vi  _  '^  y^  1*^^^  ^ 
beiden  Jünger  wegen  ihrer  Traurig-  f  f  '  **  '  t» 
keit  be&agt^jzeigt  wieder  ganz  direkt  ^** " 

den  Einfluß,  den  die  Werke  Monteverdi's  auf  Schütz  geübt 
haben. 

Wirklich  groß  sind  in  der  »Historie  der  Auferstehung« 
die  Stücke,  welche  der  alten  Kunst  angehören :  der  Chor- 
komposition. Das  Werk  hat  nur  einen  dramatischen  Chor, 
die  Rede  der  elf  Jünger:  »Der  Herr  ist  wahrhaftig  auf- 
erstanden usw.«  Schütz  hat  in  ihm,  ähnlich  wie  in  sei- 
nen Psalmen,  versucht  die  einfache  Deklamationsweise  des 
Choraltons  auf  den  Chorgesang  zu  übertragen,  und  dieser 
halb  wie  Stammeln  wirkende  Vortrag  paßt  hier  ganz 
treffend  zu  der  Lage  der  mehr  erschrockenen  als  er- 
freuten Jünger.  Außer  diesem  dramatischen  Chor  hat 
die  Auferstehung  nur  noch  die  beiden  üblichen  betrach- 
tenden Chöre,  den  Introitus  und  die  Conclusio.  Der  In- 
troitus  hat  die  aus  den  Passionsevangelien  bekannte  An- 
lage, nur  am  Schlüsse  ist  die  Freude  über  die  »Beschrei- 
bung« bis  zu  einem  naiven  Übermut  gesteigert,  der  in 
einer  Kette  leichter  Dissonanzen  dahinspringt.  Die  Con- 
clusio des  AuferstehungseVangeliums  hat  auch  bei  den- 
jenigen Komponisten,  welche  dasselbe,  wie  Scandelli 
und  Besler,im  Motettenstile  behandeln,  einen  sehr  reah- 
stischen  Zug:  Der  Evangelist  ruft  von  Anfang  an  in  das 


"-<     49     ♦— 

fromme:  »Dank  sei  Gott,  der  uns  den  Sieg  gegeben  hat, 
durch  unsren  Herrn  Jesum  Christum«  immer  kräftig  »Vic- 
toria« hinein,  bis  der  ganze  Chor  in  diesen  Freudenruf 
mit  einstimmt.  Diesen  Zug,  welcher  wohl  aus  den  alten 
verweltlichten  Osterspielen  in  die  Osterlektionen  hinüber- 
gerettet ist,  hat  Schütz  mit  ersichtlicher  Lust  durchge- 
führt. Die  ganze  zweite  Hälfte  seiner  Gonclusio  ist  ein 
allgemeines  Victoriajubeln  und  führt  die  Phantasie  aus 
den  feierlichen  Hallen  der  Kirche  hinaus  in  das  unge- 
zwungen fröhlich  laute  Treiben  eines  Volksfestes.  Wir 
sind  bei  diesem  Stück  mitten  auf  dem  Weg  von  Palestrina 
zu  Händel. 

In  der  von  Schütz  in  den  Passionen  vorgeniommenen 
Annäherung  des  Ghoraltons  der  Soliloquenten  an  das 
Rezitativ,  in  der  vollen  Einführung  des  modernen  Solo- 
gesangs in  den  »Sieben  Worten»,  in*  der  durchgeführ- 
ten Instrumentalbegleitung,  welche  diesem  Werke  mit 
der  Auferstehungsgeschichte  gemeinsam  ist,  haben  wir 
Elemente  zu  erblicken,  welche  der  italienischen  Oper  und 
dem  italienischen  Oratorium  entstammen.  Beide  Kunst- 
arten entstanden  am  Ende  des  4  6.  Jahrhunderts  zu  glei- 
cher Zeit  und  unterschieden  sich  in\ihrer  späteren  Jugend- 
periode im  wesentlichen  nur  durch  die  verschiedenen 
Stoffgebiete.  Das  des  Oratoriums  war  die  biblische  Ge- 
schichte, mehr  noch  die  Heiligenlegende  und  das  allego- 
rische Drama.  Als  die  Florentiner  Hellenisten  die  durch 
die  Ausbildung  des  begleiteten  Sologesanges  umgestaltete 
Musik  zur  Mitwirkung  im  Drama  herbeizogen,  leitete  sie 
die  Illusion,  daß  die  enge  Verbindung  des  Dichterwortes 
mit  dem  Geniuis  der  neuen  Tonkunst  das  sichere  Mittel 
sei,  das  italienische  Drama  von  Rohheit  und  Unnatur  zu 
reinigen  und  dasselbe  der  Form  und  dem  Geiste  des  an« 
tikeii  Schauspiels  zu  nähern. 

Doch  es  kam  anders.  Herrschsüchtig  und  unreif 
zugleich,  bahnte  sich  die  Musik  bald  bequemere  und 
dankbarere  Wege  neben  dem  Drama  her  und  brachte 
es  bald  dahin,  daß  durch  ihre  ununterbrochene  Mit- 
wirkung die  Führung  der  Handlung  mehr  geschädigt  als 

U,  4.  4 


50      «=> — 

gefördert  wurde.  Schon  um  die  Mitte  des  17.  Jahrhunderts 
dringt  dieGommediadeirarte,  die  Stegreifposse,  in  das  welt- 
liche und  geistliche  Musikdrama  ein.  Opern  und  Oratorien 
füllen  sich  mit  kleinen  und  großen  Liedern,  mit  arienartigen 
und  anderen  Neubildungen  des  vorwärtssttirmenden  und 
von  der  Menge  in  seiner  Selbstherrlichkeit  begünstigten 
Sologesanges.  Ihr  Textinhalt  bildet  zum  größten  Teil  nur 
einen  Mißbrauch  der  dramatischen  Gelegenheit.  Das  Vor- 
drängen des  betrachtenden  und  empfindsamen  Elements, 
das  überwuchern  einer  in  vielfache  Gestalt  gekleideten 
Lyrik  bildet  von  da  ab  einen  wesentlichen  Grundzug 
auch  der  Passionen.  Bibeltext  und  biblische  Handlung 
werden  in  Oratorienart  lyrisch  ausgeschmückt  oder  er- 
drückt. Es  entsteht  im  18.  Jahrhundert  dieoratorische 
Passion  und  tritt  nicht  blos  musikalisch,  durch  Instru- 
mentalbegleitung und  Rezitativ,  sondern  noch  vielmehr 
textlich  in  Gegensatz  zu  ihren  Vorgängern:  der  Choral- 
und  Motettenpassion.  Dieser  Grundzug  kennzeichnet  die 
oratorische  Passion.  Nicht  blos  Rezitativ  und  Instrum eutal- 
begleitung  unterscheidet  sie  von  den  beiden  andern  Grup- 
pen der  Passionskompositionen,  sondern  vor  allem  die 
lyrische  Ausschmückung  der  biblischen  Handlung. 

In  Deutschland  hatte  sich  der  Passionstext  sowohl 
in  der  Choralpassion  wie  auch  in  der  Motettenpassion 
bisher  streng  auf  das  Bibelwort  beschränkt.  Introitus 
und  Conclusio  stehen  wie  Rahmenleisten  außerhalb  des 
Evangelienbildes.  An  der  letzteren  fing  man  schon  frü- 
her an  zu  ändern :  Zusätze  zu  machen,  wie  mit  dem  >Ecce 
quomodo«  des  Gallus,  welches  siph  bei  Vopelius  findet, 
oder  wie  Burgk  und  Schütz  ein  liturgisches  Stück  von 
ganz  anderem  Inhalt  an  ihre  Stelle  zu  Bringen.  Daser 
hat  gar  statt  der  Danksagung  ein  » Miserere <.  In  die  Er» 
Zählung  und  Darstellung  der  Leidensgeschichte  selbst  aber 
drängt  sich  nirgends  ein  fremdes  Wort.  Es  sei  denn  das 
> Pater  noster«,  welches  in  katholischen  Passionen  regel- 
mäßig nach  dem  Verscheiden  des  Herrn  vorgeschriel)en 
ist  Ähnlich  sind  noch  Hammerschmidts  Passionen 
gehalten.    Auch  Schütz  hat  in  seihen  > Sieben  Worten«  und 


in  der  Auferstehungsgeschichte  nur  die  musikalischen 
Elemente  des  Oratoriums  zugelassen ,  der  Text  dieser 
Werke  ist  rein  biblisch;  immer  den  Einleitungs-  und 
Schlußchor  abgerechnet.  Die  erste  deutsche  Passion, 
in  welcher  zu  der  biblischen  Darstellung  oratorienmäßige 
Text-Zutaten  treten,  ist,  soweit  bis  jetzt  bekannt,  die  des 
Königsberger  Kapellmeisters  Joh.  Sebastiani*),  eines Joh,  Sebastiasi, 
aus  Weimar  gebürtigen  Thüringers.  Sie  ward  in  dem  Matthäus- 
I  Jahre  gedruckt,  in  welchem  Schjltz  starb:  4  672.  In  diesem      passlon. 

Werke  begegnet  uns  zum  ersten  Male  fest  nachweislich 
das  Luthersche  Kirchenlied.   Die  Choräle  nehmen  hier  in 
erster  Linie  die  Stelle  ein,  welche  die  Arie  im  italienischen 
I  Oratorium  hat,  nicht  bloß  in  dem  Sinne  der  Dichtung, 

I  sondern   auch  nach  der  musikalischen  Form.    Es  sind 

i  Sologesänge  für  den  Sopran,  der  vom  Continuo**)  und 

4  Violen  begleitet  wird.  Jedoch  sollte,  wie  in  dem  1686 
erschienenen  Auszug  bemerkt  wird,  die  Gemeinde,  we- 
nigstens bei  einigen,  mitsingen  können.  Die  benutzten 
Kirchenlieder  sind:  >0  Welt,  ich  muß  dich  lassen«, 
»Gott  sei  gelobt  und  gebenedeiet«,  »Vater  unser  im 
j  Himmelreich«,  »0  Lamb  Gottes«  (dreimal  an  verschiedenen 

!  Stellen),  »Erbarm  dich  mein « ,  »Führ  uns,  Herr,  in  Versuchung 

nicht«,  Herr  Jesu  Christ,  wahr'r  Mensch  und  Gott«,  »Herr, 
'  meinen  Geist  befehl  ich  dir«,  »Mit  Fried'  und  Freud'  fahr 

I  ich  dahin«,  »0  Traurigkeit,  o  Herzeleid«.  Dem  Sopran  sind 

außer  der  Chorallyrik  auch  dramatische  Partien,  nämlich 
das  »Weib  des  Pilati«  und  die  »zwei  Mägde«  übertragen. 
Der  Evangelist,  vom  Continuo  begleitet,  stützt  sich  in  seiner 


*)  Handschriftlich  Berlin :  Kgl.  Bibliothek,  Ein  gedrucktes 
Exemplar  (Königsberg  1672  bei  Reußer)  in  der  Universitätsbib- 
liothek zu  Königsberg.  1686  wnrde  eine  Fassung  veröffentlicht : 
»DerGemeine  zum  Besten,  woraus  sie  selbst  mit  lesen  und  singen 
kann«.  Das  Werk  liegt  seit  kurzem  als  Band  17  der  »Denk- 
mäler deutscher  Tonkunst«  im  Neudruck  vor. 

••)  Für  seine  Besetzung  sind  außer  Orgel,  Positiv  und 
Oembalo  aach  noch  als  »subtilere  Instrumente«  Lauten  und 
Theorben  vom  Komponisten  gewünscht. 


5« 


Rezitation  allerdings  auf  gewisse  stereotype  Schlußformeln, 
wie  ja  auch  in  Italien  die  Bezitative  in  der  ersten  Periode 
die  Madrigalenreste  noch  mit  sich  herum  tragen.  Aber 
er  deklamiert  doch  im  Ganzen  immer  mit  einfachem  Aus- 
druck und  hebt  einzelne  Details  der  Erzählung  sehr  ein- 
dringlich hervor.  Besonders  bemerkenswert  ist  die  Stelle 


i  T  1^  .fi  J)  >i    I  h.  ii|  II    I  ii    I  I 

und     f  is ,  gen     an      su        ttan .  orn       vaä      n        i» ,  gßu 


und  die  Episode  bei  der  Gefangennahme  Jesu,  wo  der 
eine  Jünger  dem  Knecht  des  Hohenpriesters  das  Ohr  ab- 
schlägt.. Die  Partie  Christi  ist  in  dem  zuweilen  unbehol- 
fenen häufiger  aber  sehr  machtvollen  Stile  gescturieben, 
der  für  die  Baßgesänge  in  der  ganzen  Anfangszeit  der 
Monodie  bis  auf  Carissimi  hin  beliebt  war :  Der  singende 
Solobaß  ist  an  den  Harmoniebaß  gekettet.  Mit  anderen 
Deutschen  pflegt  ihn  auch  Schütz  z.  B.  in  der  Aufersteli- 
ungfthistorie  und  in  den  »Sieben  Worten c.  Freier  stilisierte 
Stellen,  in  denen  zugleich  der  Ausdruck  leichter  zu  ver- 
stehen ist,  finden  sich  bei  »Ich  werde  den  Hirten  schlagen« 
und  bei  »Ehe  denn  der  Hahn  krähet«.  Das  »Eli«  läßt  in 
eignen  Wendungen  —  die  Oktaven  sind  eigentümlich  — 
einen  Typus  erkennen,  der  dem  in  der  Schütz^schen 
Matthäuspassion  verwandt  ist: 
Langsam. 


&.  iL  E  .  1i.  E  .  U. 

Die  VioUnen  begleiten  außer  Christus  keinen  zweiten 
Solisten,  aber  sie  spielen  noch  in  den  Chören  mit.  Soweit 
letztere  zur  Handlung  gehören,  sind  sie  einfach  und 
knapp,  jedoch  scharf  gezeichnet  und  entschieden  im  Aus- 
druck.   Wir  geben  eine  Probe: 


^ 


Sopran. 
Alt. 


Tenor. 
Baas 


Sein  Blut     koi 


%..  ber  «BS 


vaA  ^A>n 


S«b     Blut 


fi  .  Mr  sn»         md  va^fjn    Kin 


'<^      53 


IB 


se  .  te 


Klo    .     derl 


I   '^''        I 


i^ 


V 


^^m 


M/ 


Der  Gonclasio  »Dank  sei  dem  Herrn«  folgt  noch  ein 
zweites  Danksagungslied,  »welches  ganz  zum  Beschluß 
nach  den  Kollekten  kann  gesungen  werden.« 

Der  Introitus  wird  durch  folgende  Sinfonie  der  4  Violen 
mit  dem  Gontinuo  eingeleitet: 


Unmittelbar   an    den    letzten   Akkprd   schließt   sich  der 
Chor  an- 


— ^     54     ^^— 


HS    .      ret  das     Lei 


•den und  Ster    ..    ben     «n.serjiHer. 


(4.VioIa  und  Cotatintto  gleieUaatend  mit  Singbass.) 


ren  Je.sa  Chri 


sti  nadi  dem  hei.  liegen  Mat .  thä 


Ol 

1^ 


Mk ,-  I n    1  .    ■ ,    I  . ,-Ä-, 


Prri|n-|  I  ,1  ij  1 1  i|  ni  ii.i  j  II''   r^i 


pr  if  I  I  iJ  jifyi.^— 1^    V'-^m 


hl!  ifrri    .  ir  j  j  ii  ^'i  ji 


Ä 


— -<^      5  5     -o^— 

Das  Gahrieli'sche  Muster  ist  in  diesen  beiden  Stücken 
ebenso  deutlich  zu  erkennen  wie  in  der  Einleitung  der 
»Sieben  Worte«  von  Schütz.  Sebastiani  folgt  der  ita- 
lienischen Schule  weiter  als  der  Dresdner  Meister »  er 
folgt  ihr  bis  in  die  Vorrede  seiner  Passion,  welche  nach 
dem  Vorbilde  in  den  venetianiscfhen  Öpernlihrettis  in 
zwei  Teilen  gegeben  wird.  Der  zweite,  an  den  Leser 
gerichtete,  welcher  nebenbei  auch  mitteilt,  daß  der 
Komponist  auf  dieselbe  Manier  wie  diese  Passion  einen 
ganzen  Jahrgang  Evangelien  ausgesetzt  und  mit  Kirchen- 
liedern versehen  habe,  ist  besonders  interessant  durch 
die  Notiz,  daß  an  zwei  Stellen  der  Passion  Pausen  ein- 
treten und  während  derselben  auf  die  Leidensgeschichte 
bezügliche  Bibelabschnitte  verlesen  werden  sollen.  Daraus 
geht  hervor,  daß  der  Zusammenhang  der  Passionsmusik 
mit  dar  alten  Evangelienlektion  ganz  aus  dem  Bewußt- 
sein geschwunden  war,  und  daß  das  ernstlichste  Hinder- 
nis für  die  weitere  oratorienmäßige  Ausgestaltung  der 
ersteren,  wenigstens  in  Königsberg,  als  beseitigt  gelten 
konnte. 

Ton  einigen  steifen  Stellen  abgesehen,  darf  die  Pas- 
sion ^bastianis  auch  heute  noch  für  musikalisch  lebens- 
fähig erklärt  werden.  Höher  ist  ihr  kunstgeschichtlicher 
Wert  Mit  ihr  ist  der  Obergang  zur  oratorischen  Passion, 
zu  welcher  am  Ende  des  47.  Jahrhunderts  die  Neigung 
in  allen  Musikländern,  auch  in  Frankreich,  drängte,  gegen 
welchen  aber  Schütz  noch  seine  Einwände  und  Bedenken 
haben  mochte,  für  Deutschland  grundsätzlich  vollzogen. 
Schon  das  Jahr  1673  brachte  eine  Passion  von  Th eile*), 
in  der  ebenfalls  Choräle  unter  dem  Titel  »Arien«  einge- 
legt sind.  Derartige  Werke  mehren  sich;  gegen  das  Ende 
des  Jahrhunderts  finden  wir  in  den  Gesangbüchern  Pas- 
sionstexte mit  eingelegten  Liedern,  ein  weiteres  Zeichen, 
daß  die  Gemeinde  diese  Lieder  mit  sang.  Daneben  bleibt 
aber  der  Choral  auch  für  eine  Solostimme,  als  Ersatz  der 


*)  In  den  »Denkmälern  deutscher  Tonkunst«  mit  der  von 
Sebastiani  in  demselben  Band  neugedruckt. 


kunstvollen  Arie  bestehen.  Drittens  machen  die  Choräle 
der  wirklichen  Kunstarie  Platz.  Sie  wird  in  den  ^ßeren 
Städten  die  herrschende  Form  für  die  Passionseinlagen; 
aber  ganz  mochte  man  auch  auf  dem  Dorfe  und  in  der 
Provinz  nicht  auf  sie  verzichten. 

Die  Motettenpassion  hatte  die  einfachen  musikali- 
schen Formen  der  Ghoralpassion  nur  vorübergehend  in 
Schatten  gestellt  Die  oratörische  Passion  untergrub  sie 
oder  wandelte  sie  völlig  um.  Aber  sie  gefährdete  auch 
das- Bibelwort,  verdrängte  es  überhaupt  oder  setzte  es 
an  zweite  Stelle.  Lyrische  und  dramatische  Umschrei* 
bungen  von  geringem  Geschmack  treten  an  die  Stelle 
des  Evangelientextes.  Es  gibt  aus  den  Jahren  4700 — 80 
eine  ziemliche  Reihe  von  Passionsmusiken,  die  ganz  aus 
gereimten  Betrachtungen  bestehen.  Der  Text  der  Evan- 
gelien wird  npi  in  der  Form  von  Oberschriften  verwendet, 
die  die  einzelnen  Teile,  häufig  als  »Actus«  nummeriert, 
trennen,  oder  aber  er  wird  zwischen  diesen  einzelnen 
Teilen  verlesen.  Die  Betrachtungen  sind  den  Personen 
der  Leidensgeschichte  in  den  Mund  gelegt,  aber  nicht 
ihnen  allein.  Man  gesellt  ihnen  aus  den  P  assions  spielen 
und  aus  anderen  Quellen,  dem  italienischen  Oratorium 
z.  B.,  alttestamentliche,  frei  erdichtete  und  allegorische 
Figuren  hinzu.  Besonders  beliebt  sind  unter  ihnen  die 
Sulamith  des  Hohenliedes,  die  gläubige  Seele  imd  die 
Tochter  Zions.  Die  letzteren  wirken  bekanntlich  auch 
noch  bei  S.  Bach  mehr  verwirrend  als  bereichernd  mit. 
In  der  Musik  über  diese  Texte  herrscht  der  Sologesang ; 
ganz  wie  in  der  italienischen  Oper  ist  der  Chor  abgesetzt 
Die  Instrumentalmusik  tritt  breiter  vor,  aber  nicht  blos 
in  der  Form  von  guten  Lamentos,  sondern  auch  unpassend 
mit  Virtuosensätzen.  Diese  Art  von  Passionen  waren 
ursprünglich  für  außerliturgische  Andächten  bestimmt; 
sie  drängten  sich  aber  auch  in  den  Gottesdienst  Das 
Telemann,  Hauptstück  dieser  Gattung  ist  Telemanns  dreiteiliges 
Seliges  Erwägen.  Passionsoratorium:  »Seliges  Erwägen  des  Leidens  und 

Sterbens  unseres  Herrn  usw.«,  welches  sich  besondere 
Berühmtheit  erworben  hatte.    Es  ist  durchweg  Solomusik, 


y 

welche  Ansprüche  an  die  Ausführung  stellt.  Nach  dem 
Plane  -Telemanns,  dem  Gerber  44  Passionsmusiken  zu- 
schreibt, der  also  auf  diesem  Gebiet  schon  durch  seine 
Fruchtbarkeit  eine  Autorität  war,  arbeiteten  die  Lokal- 
komponisten hier  und  da  etwas  Ähnliches  für  die  vor- 
handenen Krsifte  zurecht.'*')  Teile  der  Leidensgeschichte, 
welche  sich  den  gegebenen  musikalischen  Mitteln  nicht 
anpassen  wollten,  ließ  man  sprechen.  So  entstanden 
Passionsmusiken  mit  verbindendem  Text.  ^  Einen  Anteil 
der  Zuhörerschaft  oder  Gemeinde  an  diesen  Mischwerken 
künstlerisch-liturgischer  Passionsfeier  geben  hier  und  da 
ausgeschriebene  oder  nur  angemerkte  Choräle  kund. 

Schon  in  diese  betrachtenden  Umschreibungen  des 
Evangelientextes  mischen  sich  hie  und  da  dramatisch  auf 
das  italienische  Oratorium  weisende  Liebhabereien.  Es 
kommen  Dialoge  zwischen  Christus  und  ^> dem  Passions- 
schüler« vor;  die  Hauptpersonen,  Petrus  besonders,  halten 
lange  Monologe  (Soliloquien).  Bald  bemächtigte  sich  diese 
theatralische  Richtung  der  ganzen  Leidensgeschichte  und 
zwängte  sie  in  Opernform.  ]>as  erste  Werk  dieser  Gattung 
ist  »Der  blutige  und  sterbende  Jesus«,  von  Hunold  in 
Hamburg  gedichtet,  von  R.  Keiser  in  Musik  gesetzt  und  fi.  Xeiser, 
in  der  Karwoche  4704  aufgeführt.  Der  Evangelist  ist  PasBion  von 
hier  einfach  gestrichen,  alles  Bibelwort  umgedichtet  und  Hanold. 
die  ganze  Handlung  vollständig  bühnengerecht  ausgeführt. 
In  den  alten  Passionsspielen,  die  am -Anfange  des  18.  Jahr- 
hunderts noch  in  lebhafterer  Erinnerung  des  Volks  waren, 
hatte  man  es  ebenso  gemacht  und  kein  Bedenken  ge- 
tragen, noch  weiter  zu  gehen.  War  doch  in  ihnen  sogar 
die  lustige  Person  der  Stegreifkomödie  eingeschoben 
worden :  man  übertrug  sie  dem  Knecht  Malchus,  der  sich 
das  abgehauene  Ohr  besah,  oder  einem  ganz  frei  zuge- 


*)  Johannespassion  (Dnrlach  1719):  »Seliges  Erwägen«  von 
Ph.  Müller,  1727  der  Henogin  EliBabetb  von  Würtemberg  ge- 
widmet. Seliges  Erwägen,  Schwerin  (ohne  Prnckjahr).  Seliges 
Erwägen,  Passionsandacht  in  der  geistlichen  Seelenmnslk  von 
St  Gallen  -^727).     Passion  in  sechs  Teilen,  Lndwigslnst  1770. 


dichtetei^  Quacksalber,  der  den  weinendei^  Frauen  steinen 
Kram  anpries.  Außerdem  war  diese  theatralische 'Zurich- 
tung der  Passionsmusik  nur  der  letzte,  folgerichtige  Schritt, 
der  aus  dem  Vergessen  ihres  Lektionscharakters  und 
ihrer  Verbindung  mit  dem  Oratorium  hervorging.  Denn 
in  seiner  Heimat  Italien  wurde  das  Oratorium  lange  ganz 
opernmäßig  behandelt;  selbst  Carissimi  folgt  im  Grunde 
dieser  Anlage.  Gleichwohl  drang  aber  die  oratorische 
Passion  in  der  Form  der  Oper  nicht  durch.  Es  üanden 
sich  in  Benjamin  Neukirch  und  Ulrich  König  nur  zwei 
Dichter,  welche  sich  Hunold  anschlössen.  Des  letzteren: 
»Tränen  unter  dem  Kreuze  Jesu«  kamen,  ebenfalls  wieder 
mit  Musik  von  R.  Keiser,  in  der  stillen  Woche  des  Jahres 
'47H  zu  Hamburg  zur  Aufführung.  Seebach  und  Bricau, 
zwei  weitere  Poeten,  wdche  die  Passion  ebenfalls  als 
Theaterstück  behandelten,  lassen  insofern  schon  den  Rück- 
zug merken,  als  sie  das  ßibelwort  wenigstens  in  der  Form 
szenischer  Bemerkungen'*'}  mit  hereinziehen.  In  dieser 
Form  begegnet  uns,  weit  weg  von  Hamburg,  eine  Passions- 
oper: »Der  leidende  und  sterbende  Jesus«  im  Jahre  4749 
zu  Durlach  in  der  Komposition  des  dortigen  badischen 
J.  P.  Käfer,  Hofkapellmeisters  Joh.  Philipp  Käfer.  Dieses  Werk  ist 
Der  leidende  auf  mehrere  Tage  verteilt ,  jeden  Tag  ein  Abschnitt  in 
und  sterbende  zwei  Hälften  aufzuführen,  die  eine  vor  der  Predigt,  die 
Jesus.  andere  nach  der  Predigt.  Interessant  ist,  daß  in  sie 
Solochoräle  hineingezogen  sind:  Christus  singt  zu  ver- 
schiedenen Malen  passende  Gesangbuchverse,  Petrus  ein- 
mal ein  ganzes  choralisches  Bußlied  von  acht  Versen. 

Die  Geistlichkeit  in  Hamburg  erhob  gegen  die  voll- 
ständige Umwandlung  der  oratorischen  Passion  in  die 
Oper  entschiedenen  Widerspruch  und  sie  ward  darin  durch 
Dichter  und  Musiker  praktisch  unterstützt.  Zu  gleicher 
Zeit  mit  dem  Hunold-Keiserschen  »Blutigen  und  sterben- 
den Jesus«  vom  Jahre  1704,  möglicherweise  noch  vorher, 
wurde  in  Hamburg  eine  »Passion  nach  dem  Evangelisten 


*)  Diese  szenischen  Bemerkungen  sind  auf  das  italienisehe 
Oratorium  des  16.  Jahrhunderts  zurückzuführen. 


-— ^     59 

Johannes«  aufgeführt,  welche  de^r  zu  jener  Zeit  in  der 
Stadt  weilende  junge  G.  F.  Händel  komponiert  hatte.  0.  F.  Bündel, 
In  ihr  ist  das  Bibelwort  und  der  Evangelist  in  seinem  Johannes- 
Rechte  belassen;  der  Dichter,  der  Lizentiat  Postel,  hat  passion  yon 
das  oratorische  Element  auf  frei  gedichtete  Verse  be-  Postel. 
trachtenden  Inhalts  beschränkt.  Diese  Verse  sind  oft 
geschmacklos  genug:  Als  die  Kriegsknechte  die  Kleider 
Jesu  verteilen,  empfängt  der  erste  von  ihnen  den  ihm 
zufallenden  Teil  mit  den  durch  mehrfache  Wiederholung 
immer  lächerlicher  werdenden  Worten:  »Du  mußt  den 
Rock  verlieren«.  Sie  erhalten  musikalisch  die  Form  der 
Arie.  Choräle  kommen  in  dieser  Passion  nicht  vor.  Die 
Musik  im  Werke  setzt  ziemlich  schwach  ein.  Die  Arien, 
auch  wenn  sie  der  Taktzahl  nach  kurz  erscheinen,  sind 
durch  unnötige  Zwischenspiele  ins  Breite  gezogen,  die 
Chöre  ermangeln  des  dramatischen  Ausdrucks,  sie  haben 
in  der  Mehrzahl  kaum  einen  erkennbaren  Charakter. 
Gegen  die  Mitte  des  Werkes  zu  erhebt  sich  aber  der  wahre 
Händel.  Man  merkt  ihn  zuerst  an  der  Baßarie:  »Er- 
schüttere mit  Krachen«,  einer  seltsamen  und  großartigen 
Nummer,  vor  der  man  erschrecken  kann.  Wo  die  Unter- 
handlungen zwischen  Pilatus  und  dem  Volke  erregter 
werden,  kommt  auch  in  die  Chöre  Leben  und  Feuer. 
Christus  singt  Baß  und  durchweg  in  einem  edel  gehaltenen 
Tone.  Nur  an  der  Stelle:  »Es  ist  vollbracht«  erscheint 
eine  ausgeführte  Koloratur,  die  in  der  Intention  schön  ge- 
nannt werden  muß,  schlecht  ausgeführt  aber  wohl  leicht 
mißverstanden  werden  und  als  Abfall  vom  Stil  getadelt 
werden  kann.  Mit  besonderer  musikahscher  Kunst  ist 
der  Pilatus  behandelt.  Von  den  tonmalerischen  Zügen, 
an  denen  später  Händeis  Musik  immer  reich  ist  und  für 
welche  die  Passionsmusik  herkömmliche  Gelegenheit  bot, 
findet  sich  in  dieser  Johannespassion  wenig.  Hervor- 
tretend ist  in  dieser  Beziehung  nur  eine  Stelle  am  Ein- 
gang, wo  Händel  das  Geißeln  zeichnet.  Das  tremolierende 
Streichorchester  nach  Venetianischem  Vorgang,  zum  Aus- 
druck stark  bewegter  Affekte  von  dem  späteren  Händel 
gern  benutzt,  findet  sich  in  einer  Nummer  des  Soprans: 


»Bebet,  ihr  Bergec.  Der  Schlaßchor:  »Schlafe  wohl  nach 
deinen  Leiden«  ist  hervorragend  durch  die  schöne  Be- 
handlung der  Singstimmen:  Sopran  und  Alt  lösen  sich 
abwechselnd  vom  Tutti  der  anderen  mit  tief  ausdrucks- 
vollen Melodien  los.  Lange  Zeit  war  die^e  Passion  nur 
durch  eine  sehr  hämische  Rezension  Mattiiesons,  welche 
in  der  »Gritica  musica«  fast  soviel  Seiten  einnimmt,  als 
das  Notenwerk  selbst  enthält,  bekannt.  Die  Gesamtaus- 
gabe der  Deutschen  Händelgesellschaft  bringt  es  im  neun- 
ten Bande,  und  Ghrysander  hat  sehr  Recht,  wenn  er  dort 
im  Vorwort  den  musikalischen  Gehalt  dieses  kleinen  Pas- 
sionsoratoriums als  erheblich,  bedeutend  und  von  echt 
Händelschem  Gepräge  bezeichnet '*'). 

Wir  begegnen  Händel  in  der  Geschichte  der  Passion 
noch  zweimal.  Zuerst  mit  einem  kleinen  Osteroratorium 
0.  F.  Händeli  »La  Resurrezione«,  welches  beim  zweiten  Aufenthält  des 
Resnrrezione.  Komponisten  in  Rom,  im  Frühjahr  4  708,  entstand  und 
vollständig  im  Stil  der  damaligen  italienischen  Oper 
gehalten  ist.  Nur  zwei  kurze  Chöre  finden  sich  darin. 
Die  »Resurrezione«  hat  zwei  Teile;  der  erste  spielt  in 
der  Ostemacht:  Johannes  verkündet  der  trauernden  Mad- 
dalena,  daß  Christus  am  kommenden  Morgen  sein  Grab 
verlassen  werde.  Der  zweite  Teil  führt  an  das  Grab: 
Der  Herr  ist  auferstanden.  Als  dramatische  Füllperson 
ist  der  sehr  schönen  Dichtung  noch  die  Figur  des  Lucifer 
eingefügt  worden.  Händel  stellt  ihn  in  mehreren  furiosen 
Baßarien  dar,  welche  von  bedeutender  Wirkung  aber 
auch  sehr  schwierig  sind.  Noch  mehr  als  Polyphem  in 
»Aci  e  Galatea«  bewegt  sich  der  Fürst  der  Hölle  in  Riesen- 
intervallen, —  auf  dem  Worte  >abisso<d-Gis,  gleichlautend 
mit  einer  Stelle  in  dem  Rezitative  des  Claudio  in  Hän- 
deis >  Agrippina«  —  wie  sie  die  damaligen  Italiener  liebten, 
um  musikalisch  anzudeuten.  Auf  »lunghi«  setzt  Scarlatti 
einmal  eine  Undecime,  und  an  ähnlichen  Beispielen  ist 
die  Kantatenkomposition  der  damaligen  Zeit  reich.    Das 


*)  Ihm  widersprechend  hat  neuerdings  Ed.  D.  Rendall  die  Echtheit 
der  Johannespassion  bestritten  (Zeitsch.  d.  I.  M.  G.  VI,  S.  143  ff.). 


musikalische  Hanptstück  der  »Resurrezione«  ist  die  Arie  der 
Maddalena:  '»Ferma  Tali«.  Ihr  Hauptsatz  ruht  auf  einem 
Orgelpunkte,  freundliche  Melodien  ziehen  kanonisch  darüber 
hin ;  der  Klang  gedämpfter  Violinen,  sanfter  Flöten  und  weich 
arpeggierender  Gambenviolen  vollendet  das  eigentümliche, 
nächtliche  Kolorit  Überhaupt  ist  die  Instrumentierung  dieses 
Oratoriums  s«hr  bemerkenswert.  Man  sieht  ihr  das  Bestreben 
an,  außergewöhnlich  zu  sein;  das  Orchester  hat  zuweilen 
förmlichen  Konzertcharakter  und  glänzt  durch  die  Fülle  (vier- 
fache Violinen)  und  die  Art  der  Besetzung.  Das  Werk  kam 
in  der  Kapelle  des  Kardinal  P.  Ottoboni  zur  Aufführung. 

Die  dritte  Passionsmusik  Händeis  entstand  im  Jahre 
^716  zu  Hannover,  wo  ihm  »Der  für  die  Sünde  der  Welt  - 
gemarterte  und  sterbende  Jesus«  des  Hamburger  Ratsherrn 
Brockes  in  die  Hände  kam.   Der  Unnatur  in  der  Dichtung,  Ch<  F.  E&ndel, 
wie  in  der  Oper  so  auch  hier  kühl  gegenüberstehend,  hat  Passion  von 
Händel  in  diesem  Werke  einen  großen  Teil  gewöhnlicher     Brockes. 
Musik  geschrieben.   Aber  mit  der  Situation  wird  auch  die 
Musik  groß.   Sehr  bedeutend  ist  die  ganze  Szene  von  dem 
Gebet  in  Gethsemane  an  bis  zur  Verleugnung  des  Petrus. 
Besonders  treten  daraus  hervor :  Christi  Arie:  »Mein  Vater, 
schau,  wie  ich  mich  quäle«,  eine  Arie  der  Tochter  Zion: 
»Brich,  mein  Herz,  zerfließ  in  Tränen«  und  ganz  beson- 
ders die  (später  für  »Esther«  verwertete)  Nummer:  »Er- 
wachet doch«  —  ein  ganz  merkwürdiger  Vorläufer  einer 
erst  später  zur  Ausbildung  gekommenen  Musikform:  des 
dramatischen  Ensembles.     Sebastian  Bach  hat   sich  die 
erste  Hälfte  dieser  Passion,  Händeis  letzte  größere  deutsche 
Vokalkomposition,  eigenhändig  abgeschrieben;  die  Abend- 
mahlsszene in  der  Matthäuspassion  ist  aber  das  Einzige, 
was  auf  dieses  genaue  Studium  hinweist. 

Die  genannte  Dichtung  von  Brockes  hat  in  der  Ge- 
schichte der  Passionsmusiken  eine  große  Bedeutung.  Sie 
schlug  alle  weiteren  Versuche  zu  einer  rein  opemmäßigen 
Behandlung  der  Leidensgeschichte  einstweilen  in  Nord- 
deutschland aus  dem  Felde  und  söhnte  die  Vertreter  der 
Kirche  mit  der  oratorischen  Passion  wieder  aus.  Uns 
kommt   die  Dichtung  von    Brockes,    der  in   G.   Reuter, 


dem  Verfasser  des  »Scbelmuffsky«,  einen  Vorgänger  hat*), 
allerdings  noch  opemhaft  genug  Yor.  Ganz  nach  dem 
Muster  des  italienischen  Dramas  erdrückt  eine  Unmasse 
empfindender  Betrachtungen  die  Handlung.  Die  Sprache 
jagt  nach  Bildern  und  verliert  sich  in  ihrer  Sucht  nach 
Deutlichkeit  bis  ins  Ekelhafte.  Die  Leidensgeschichte  ist 
dargestellt  im  Lichte  einer  krankhaften  Phantasie,  die  zwi- 
schen Rohlieit  und  Überfeinerung  hin-  und  herschwankt 
und  der  Gesamteindruck  ist  der  einer  prunkenden  und 
'  übertreibenden  Geschmacklosigkeit.     Nichtsdestoweniger 

galt  die  Dichtung  von  Brockes  lange  Zeit  für  ein 
Muster.  Dem  kirchlichen  Sinne  kam  sie  dadurch  ent- 
gegen, daß  sie  den  Evangelisten  beibehielt,  der  den  Bibel- 
text in  freier  Umdichtung  vorträgt,  und  daß  sie  unter 
die  madrigalischen  für  den  Ariengesang  bestimmten  Ein- 
lagen auch  bekannte  choralische  Kirchenlieder  einflocht. 
Den  Musikern  aber  bot  sie  in  der  Einteilung  der  Hand- 
lung in  abgeschlossene  Szenen  dankbare  Aufgaben 
moderner  Natur.  Die  Fassionsdichtung  von  Brockes  wurde 
wahrhaft  populär:  man  las  sie  und  erbaute  sich  an  ihr 
auch  ohne  Musik.  Sie  war  mehr  verbreitet,  als  später 
Klopslocks  »Messias«;  im  Süden  wie  im  Norden  kannte 
man  und  zitierte  den  berühmten  Brockes,  und  wie  sehr 
»Der  gemarterte  und  sterbende  Jesus«  allenthalben  ge- 
läufig war,  kann  man  daraus  ersehen,  daß  er  an  sehr 
vielen  Orten  ohne  Nennung  eines  Dichters  aufgeführt 
und  neu  gedruckt  wurde.  Er  ward  zum  Gemeingut,  und 
wenn  irge'ndwo  für  eine  in  der  Hauptanlage  biblische 
Passionsmusik  ein  paar  Arieneinlagen  gebraucht  wurden^ 
nahm  man  die  Verse  am  einfachsten  aus  Brockes.  Auch 
Bach  hat  das  bekanntlich  in  seiner  Johannespassion 
getan. 

Der  erste  Komponist,  welcher  die  Passion  von  Brockes 

&.  Kelter,     in  Musik  setzte,  war  R.K eiser  im  Jahre  4  71 2.  Man  kann 

Passion  yon   dieses  Werk  nicht  schlechtweg  ungenügend  nennen.  Die 

Brockes.      ganze  Eingangsszene  bis  zur  Einsetzung  des  Abendmahles 


*)  F.  Zarnke,  a.  a.  0. 


y 


— ^      63      ^— 

ist  würdig  und  charaktervoll:  der  Einleitungschör;  »Mich 
voih  Stricke  meiner  Sünden«  klingt  ernst  und  schwer; 
die  Reden  Jesu  sind  weihevoll  und  stellen  sich  über  den 
weichlichen  und  süßlichen  Ton,  der  aus  der  breiten 
Sprache  des  Dichters  hervordringt;  hinreißend  und  rüh- 
rend, an  die  ähnlichen  Nummern  der  Schützschen  Lukas- 
pasadon  erinnernd,  wirken  die  kindlich  liebevpllen  Chöre 
der  Jünger.  Gut  ist  auch  die  Arie  der  Tochter  Zion: 
»Brich,  mein  Herz«,  ein  Stück  von  schwerer  Empfindung 
beherrscht.  Schwächer  sind  die  Arien  oder  Arietten  der 
gläubigen  Seele  (Sopran),  weil  zu  leicht  im  Ton,  und  die 
Rezitative  des  Evangelisten  weil  zu  sehr  nach  dem  Reim 
deklamiert  und  deshalb  zerstückelt.  Von  dem  Punkte 
an,  wo  die  Leidensgeschichte  einen  erregteren  Charakter 
annimmt,  von  der  Gefangennahme  ab',  wird  die  Kompo- 
sition hahnebüchen  und  roh.  Das  Quartett  Christi  und 
der  drei  Jünger:  »Erwachet  doch«,  der  Chor  der  Schergen: 
»Greift  zu,  schlagt  tot«,  auch  die  Arie  des  Petrus:  »Gift  und 
Blut«  sind  Nummern,  die  in  einer  komischen  Oper  wegen 
ihrer  Realistik  Lob  verdienen  würden;  in  die  Umgebung 
von  Chorälen  und  gläubigen  Bekenntnissen  passen  sie 
nicht.  Die  Hauptschuld  an  dieser  Stillosigkeit  des  Werkes 
trägt  freilich  Brockes,  und  er  hat  dafür  gesorgt,  daß  der 
Komponist  bis  ans  Ende  nicht  wieder  aus  ihr  heraus  kann. 
Auch  die  Tochter  Zion  verfällt  mit  in  die  Sprache  des 
Hamburger  Janhagel :  »Was  Bärentatzen  —  Löwenklauen«. 
Nach  der  Verleugnung  Petri  wird  der  Ton  in  Dichtung 
und  Musik  für  eine  Weile  wieder  feiner.  Mit  der  Arie  des 
Judas:  »Laßt  diese  Tat  nicht  ungerochen,  zerreißt  mein 
Fleisch,  zerquetscht  die  Knochen  usw.«  tritt  ein  heftiger 
Rückfall  ein. 

In  demselben  Jahre  1746,  wo  Händel  diese  Passion 
vonlBrockes  komponierte,  wurde  sie  noch  von  Mattheson  J.JCattheson  n. 
und  Telemann  in  Musik  gesetzt.  Proben  aus  diesen  und  Ot,  F.  Telemuin, 
anderen  oratorischen  Passionen  derselben  Periode  findet  Passion  von 
der  Leser  zahlreich  in  Winterfelds  »Evangelischem  Kir-      Brockes. 
chengesang«  und  m  Bitters  »Beiträgen  zur  Geschichte  des 
Oratoriums«.    Am  berühmtesten  und  verbreitetsten  war 


Telemanns  Komposition  der  Passion  von  Broekes.  Wir 
finden  sie  4719  in  Durlach,  auf  Früh-  und  Abendgoties- 
dienst  in  vier  Abschnitten  verteilt,  mit  der  Bemerkung 
aufgeführt,  daß  Se.  Hochfürstliche  Durchlaucht  an  diesem 
Werke  nach  dem  Vorgang  von  Hamburg  und  Frankfurt 
(a.  M.)  ein  besonderes  Seelenvergnügen  gefunden.  An 
letztgenanntem  Orte  war  das  Werk  entstanden. 

Dem .  fiSrockesschen  Werke  wurden  viele  Passionen 
nachgedichtet;  zuweilen  mit  noch  geringerem  Geschmacke, 
als  ihn  das  Original  zeigt  In  einer  der  vielen  Passionen 
0.  H.  Btsiiel,  des  Gothaischen  Kapellmeisters  Stölzel  —  ihre  Zahl  wird^ 
Passion  vom  auf  14  geschätzt  —  wird  die  ffgLUze  Leidensgeschichte  in 
Jal&ie  1727.  Form  einer  Unterhaltung  abgehandelt,  welche  Christus  und 
die  anderen  aktiven  Personen  des  Evangeliums  mit  einer 
Reihe  von  Schafen  (dem  gläubigen,  dem  demütigen,  dem 
reuigen  usw.)  führen.    Ein  ungeheuerlicher  allegorischer 
Apparat  dringt  auch  in  diejenigen  Passionen  ein,  welche 
im  wesentlichen  an  dem  Texte  der  Evangelien  festhalten. 
G.  H.  Telemann  So  finden  wir  in  der  zweiten  Markuspassion  von  Tele- 
Matkus-      mann  [vom  Jahre  i  759)  die  Andacht,  den  Eifer,  die  Treue, 
passionen  vondie  Klugheit,  die  Nachahmung,  den  Mut,  die  Liebe,  die 
1729  u.  1769.  Gerechtigkeit,   die  Stimme  Gottes;   daneben   noch  den 
Christ  und  den  Sünder.    In  seiner  ersten  Markuspassion 
vom  Jahre  4729  begnügt  sich  Telemann  noch  mit  der 
gläubigen  Seele  allein.    Sie  singt  da  zärtliche,  zuweilen 
schmachtende  Baßarien.    Auch  Christus  ist  in  diesem 
Werke  mehr  anmutig,  als  würdig  behandelt.   Seine  Worte 
zum  Schutze  des  Weibes,  welches  das  Wasser  auf  sein 
Haupt  gegossen:  »Laßt  sie  mit  Frieden«,  tänzeln  im  Vs-Takt. 
Die  Einsetzungsworte    _  ,    f.    ^_.f  .  ^,    .    .  ^ 

fangen  mit  übertrie-  .^1*''  \  LT  I  '  f  ^  T  P  ?P  P  ^^. 
benem    Pathos    an:  KeiL-Äet.  «s.tet     ^a»  u%  »rf»  LeJbi 

Die  Stelle:  »Ich  werde  den  Hirten  schlagen«  ist  der  von 
S.  Bach  in  der  Matthäuspassion  gewählten  Fassung  ähn- 
lich. Eine  plötzliche  Beweglichkeit  bei  diesen  Worten  darf 
für  die  oratorische  Passion  als  tra-  ^^i""^  W 

ditionell  angenommen  werden.   Von  3 

hervorragender  Schönheit  ist   das  x  .     .  lu. 


Zu  der  aus  diesem  Motive  gebildeten,  wie  in  Bedräng- 
nis und  ans  umdämmertem  Sinn,  aus  überirdischer 
Sehnsucht  heraus  fragenden  und  suchenden  Melodie 
gibt  das^ Orchester,  in  Achteln  zitternd,  spannende  yer- 
minderte  Akkorde.  Die  Chöre  nähern  sich  der  Realistik 
Keisers.  Die  der  Juden  sind  alle  im  Presto  zu  dng:en. 
Hervorragend  ist  das  »Kreuzige«  durch  ein  mächtiges 
Unisono  aller  vier  Stimmen,  welches  dann  in  kurze  har- 
monisierte Motive  übergebt,  welche  die  Massen  als  vor 
Wut  bebend  hinmalen.  Hasse  in  Dresden  schrieb  sich 
diese  Markuspassion  Telemanns  eigenhändig  ab.  In  der 
dreißig  Jahre  später  vorgenommenen  zweiten  Bearbei- 
tung desselben  Evangeliums  hat  Telemann  den  Haupt- 
nachdruck auf  eine  dramatische  Wirkung  seiner  Arien 
gelegt  Alle  die  personifizierten  Tugenden,  welche  die 
Besetzung  dieses  Werkes  bilden,  singen  in  einem  auf- 
geregten Stile,  der  durch  die  wiederholt  vorkommenden 
Vortragsbezeichnungen:  »plötzlich«,  »hurtig«,  »aufgebracht« 
auch  äußerlich  kenntlich  gemacht  wird.  Sie  treten  da- 
durch in  einen  schön  Wirkenden  Gegensatz  zu  den  Redea 
Christi,  welche  durchweg  in  einem  ruhigen  und  edlen 
Rezitativton  gehalten  sind,  der  die  frühere  Markuspassion 
weit  hinter  sich  läßt.  Sehr  fein  an  die  alte  Weise 
Hammerschmidts  anknüpfend,  ist  am  Ende  des  Werkes 
der  Choral:  »Lobt  Gott,  ihr  Christen,  allzugleich«  als 
Instrumen^almelodie  in  die  Arie  der  »Stimme  Gottes«  und 
in  die  der  »Religion«  eingewebt,  bei  der  ersten  durch  die 
Flöte,  bei  der  letzten  durchs  Fagott. 

Als  Sebastian  Bach  in  die  Fassionskomposition  ein- 
trat, war  die  ganze  Gattung,  wie  wir  aus  dem  Vorher- 
gehenden ersehen,  in  einem  Zustande  des  Schwankens 
begriffen  und  in  einen  Kampf  verwickelt,  in  welchem  die 
geistigen  Anschauungen  verschiedener  Zeitalter  und  ganz 
entgegengesetzte  Richtungen  der  musikalischen  Kunst  auf 
einander  stießen.  Di^  Choralpassion  bestand  noch  in 
doppelter  Gestalt:  in  der  alten  ursprünglichen  und  in 
einer  modernisierten.  Neben  ihr  drang  die  oratorische 
Passion  vor,  noch  unklar  darüber,  ob  als  das  Hauptziel 

II,  4.  5 


die  Kirche  oder  das  Theater  ins  Auge  zu  fassen  sei. 
Auch  Bachs  Passionen  tragen  die  Zeichen  schwankenden 
Wesens  an  sich;  aber  was  sie  außer  der  musikalischen 
Genialität  aus  der  Menge  der  gleichzeitigen  Werke  her- 
aushebt —  das  ist  die  Klarheit  und  Entschiedenheit,  mit 
welcher  Bach  für  die  kirchlichen  Elemente  der  Passion 
eingetreten  ist. 

S.  Bach  hat  fünf  Passionen  geschrieben:  vier  nach 
den  Evangelisten  und  eine  nach  einem  Text  von  Pican- 
der,  in  welcher  dieser  bekannte  dichterische  Mitarbeiter 
des  Leipziger  Thomaskantors  die  Leidensgeschichte  in 
ähnlicher  Weise  wie  Brockes  behandelt  hatte.  Diese  Pi- 
candersche  Passion  ist  ganz  verloren  gegangen;  von 
der  Passion  nach  dem  Evangelisten  Markus  sind  nur 
fünf  lyrische  Stücke  in  Bachs  Trauerode  auf  den  Tod' 
der  Königin  Christiane  Eberhardine  erhalten. 
8.  Baoh   (?)  Von  den  drei  andern   ist  die  Lukaspassion  erst  in 

LukaspMBion.  jüngster  Zeit  in  einem  von  Alfred  Dörffel  gearbeiteten 
Klavierauszug  gedruckt  worden.  Es  steht  aber  dahin,  ob 
das  ein  Bachsches  Werk  ist.  Sie  ist  handschriftlich  nicht 
beglaubigt*):  in  der  Musik  aber  ist  manches,  was  Verwun- 
derung erregt.  Daß  sich  Bach  im  Ton  hie  und  da,  wie  im 
Einleitungschor  »Furcht  und  Zittern«  mit  geringeren  Mu- 
sikern begegnet,  ist  weniger  hoch  anzuschlagen ;  denn  das 
ist  ihm  auch  noch  in  Werken  passiert,  die  wie  das  Weih- 
nachtsoratorium, zu  seinen  reichsten  zählen.  Auch  die  Ein- 
fachheit der  Harmonie  und  Stimmführung,  in  den  Chorälen 
namentlich,  findet  sich  ähnlich  in  Bachschen  Jugendarbeiten 
vor  der  Weimarschen  Zeit.  Aber  befremdend  ist  die  Tat- 
sache, daß  diese  Lukaspassion  in  holprigen  Baßgängen  und 
unreifen  Modulationen  manche  Elemente  birgt,  welche 
man  sich  mit  Bach  nur  schwer  zusammendenken  kann. 
Jedenfalls  nicht  mit  einem  25jährigen  Bach.  Auf  den 
kommt  man  jedoch,  wenn  man  mit  Spitta  die  Entstehung 


*)  Max  Schneider  hat  in  einem  Aufsatz  über  Bachs  Lukas- 
passion  (Bach -Jahrbuch  1911)  nachgewiesen,  daß  die  Handschrift 
des  Werks  (Berlin,  Kgl.  Bibliothek)  kein  Autograph  S.  Bachs  ist. 


des  Werkes  gegen  das  Jahr  474  0  setzt.  Auf  der  andern 
Seite  enthält  aber  diese  Passion  auch  Nummern  und 
Stellen,  die  Bachs  nicht  blos  würdig,  sondern  die  spezi- 
lisch Bachisch  sind.  Sie  berechtigen  zu  der  Annahme, 
daß  wir  es  in  dieser  Lukaspassion  doch  vielleicht  mit 
einer  Arbeit  aus  der  Schulzeit  zu  tun  haben,  auf  die 
der  Autor  in  den  Jahren,  aus  welchen  die  Handschrift 
stammt  (4  732  bis  4  734],  zurückgriff.  Die  Ansprüche  des 
Kircheudienstes  waren  nicht  immer  mit  lauter  neuen 
und  lauter  Meisterwerken  zu  decken.  So  gut  Bach  Pas- 
sionen von  Keiser  und  Stölzel  kopierte  und  aufführte, 
konnte  er  in  einer  Zeit  der  Verlegenheit  sich  auch  seiner 
alten  Lukaspassion  erinnern.  , 

Ein  von  der  Johannes-  oder  Matthäuspassion  Bachs 
abgenommener  Maßstab  paßt  auf  diese  Lukaspassion 
gar  nicht.  Sie  vertritt  die  Kindheit  der  oratorlschen 
Passion  und  gehört  in  den  Sebastianischen  Kreis.  Ist 
sie  unecht,  was  man  mit  sogenannten  inneren  Gründen 
allein  in  diesem  Fall  nicht  für  bewiesen  halten  darf,  so 
ist  sie  doch  wahrscheinlich  Thüringisch.  Dafür  spricht 
die  Verwendung  des  evangehschen  Kirchenlieds  und  des 
protestantischen  Altargesangs  als  Ersatz  der  Kunstarie, 
welche  die  bescheidenen  Mittel  kleiner  Kantoreien  nicht 
immer  zuließen.  Eine  solche  oratorische  Landpassion 
von  Christian  Wolff  z.  B.,  der  von  4  730-— 63  in  dem  Christ.  Wolff, 
sächsischen  Städtchen  Dahlen  wirkte,  ein  sehr  anständiges  MaTkuspusion« 
und  für  den  Zustand  der  Musikpflege  Sachsens  im  4  8.  Jahr- 
hundert rühmlich  zeugendes  Werk,  hat  nur  3  kurze  Arien 
und  alle  für  Sopran.  Die  Lukaspassion  hat  6  Arien 
gegenüber  84  Chorälen.  Unter  den  Arien  sind  einige  nicht 
unbedeutend;  von  den  3  Tenorarien  kann  die  letzte 
>Laßt  mich  ihn  nur  noch  einmal  küssen«  entschieden 
als  hervorragend,  gehaltvoll  und  originell  bezeichnet 
werden.  Die  Altarie  >Du  gibst  mir  Blut«  erinnert  leise 
an  das  »Esurientes«  in  Bachs  »Magnificat«.  Aber  auch 
die  schwächeren  haben  in  der  Instrumentation  Bachsche 
Züge.  Zu  den  Arien  tritt,  ~  eine  für  die  Zeit  höchst 
seltene  Erscheinung  —  noch  ein  Terzett  für  i  Soprane 

5* 


— ^      68     4— 

und  Alt,  welches  auch  für  Chor  gedacht  sein  kann:  »Weh 
und  Schmerz  in  dem  Gehären«.  £s  ist  eine  Nummer 
von  sehr  einfachem  Ausdruck,  aher  von  großer  Wir- 
kung, zu  welcher  namentlich  das  Kolorit  der  des  Baß- 
tons entbehrenden  Begleitung  beiträgt.  In  diesem  seinem 
fahlen  haltlosen  Klang  gleicht  es  ganz  unverkennbar  der 
wunderbaren  Sopranarie  »Es  zittern  und  schwanken«  der 
Bachschen  Kantate:  »Herr,  gehe  nicht  ins  Gericht«. 

In  der  Chorpartie  der  Lukaspassion  ist  das  orato- 
rische  Element  nur  in  dem  Einleitungschor  »Furcht  und 
Zittern«  bemerklich,  welcher  an  die  Stelle  des  alten  halb- 
biblischen Introitus  getreten  ist,  und  in  den  eingelegten 
Chorälen.  ^  Die  biblisch  dramatischen  Chöre  haben  das 
knappe  Maß,  wie  es  in  der  modernisierten  Choralpassion 
übhch  ist.  Von  den  Chören  der  Jünger  stimmen  beson- 
ders die  beiden  letzten  »Herr,  hier  sind  zwei  Schwert« 
und  »Herr,  sollen  wir  mit  dem  Schwert  dreinschlagen« 
mit  Schütz  in  der  Auffassung  überein.  Sie  bringen 
nicht  den  Grimm,  sondern  den  jugendlichen  Mut  zum 
Ausdruck.  In  den  Chören  der  Schriftgelehrteu  und  Juden 
tritt  die  Erregung  in  den  Vordergrund;  stilistisch  haben 
sie  ein  starkes  Bachsches  Gepräge. 

Was  die  Lukaspassion  aber  ganz  besonders  aus- 
zeichnet —  das  ist  die  poetische  Verwendung  der  Choräle 
und  der  kleinen  Einlagen,  welche  aus  der  Litanei,  dem 
Tedeum  und  dem  Vaterunser  entnommen  sind.  Nament- 
lich mit  den  kurzen  liturgischen  Zitaten,  in  denen  sie 
einem  Brauche  folgt,  der  in  Thüringer  Passionen  wieder- 
holt vorkommt,  werden  sehr  große  Wirkungen  erzielt. 
Wenn  an  der  Stelle,  wo  auf  Gethsemane  Christi  Seelen- 
angst beginnt,  der  Chor  an  Stelle  der  schlafenden 
Jünger  zu  beten  anfängt  und  aus  der  Litanei  die  weni- 
gen Takte  einsetzt:  »Wir  armen  Sünder  bitten«,  wenn 
er  da,  wo  Petrus  seinen  Herrn  verleugnen  will,  aus 
dem  Vaterunser  singt  »Führe  uns  nicht  in  Versuchung«, 
so  ist  das,  was  die  Situation  zu  empfinden  gibt,  «o  fein 
und  eindringlich  angedeutet,  als  es  mit  den  glänzendsten 
Mitteln   der  oratorischen   Kunst    nur  immer  geschehen 


—^     69     ^^— 

kann  und  ohne  daß  die  Darstellung  der  Handlung  lange 
aufgehalten  wird.  Von  den  Chorälen,  die  in  der  Lukas- 
passion verwendet  sind,  haben  drei  eine  Hauptbedeutung. 
Es  sind  solche,  die  heute  nicht  mehr  gebraucht  werden 
und  die  auch  zu  ihrer  Zeit  nur  eine  beschränkte  Ver- 
breitung genossen:  Der  erste  ist:  »Ich  hab^  mein  Sach^ 
Gott  heimgestellt«.  Er  erklingt  zum  erstenmal  in  der 
Form  einer  an  Schütz  und  Sebastiani  erinnernden  Trauer- 
Sinfonie  nach  dem  Verscheiden  Christi.  Gleich  darauf 
nimmt  ihn  der  Chor  auf  zu  den  Worten:  »Derselbe  mein 
Herr  Jesu  Christ,  vor  air  mein  Sund  gestorben  ist«.  Zum 
letztenmal  tritt  er  in  die  Tenorarie  »Laßt  mich  ihn« 
hinein.     Der  zweite   ist:    »Stille,   stille  ist  die  Losung«. 


Stil .  le,  ttU  .  le       Ut  die   Lo.tung    dex  Gott.lo  .  a«ii         in    derWtlt 

Der  dritte  ist  das  Flittnersche  Lied  »Jesu,  meines 
Herzens  Freud'«,  welches  wegen  seiner  freieren  Rhyth- 
mik niemals  eigentliche  kirchliche  Geltung  erlangt  hat. 
Zum  ersten  Male  setzt  es  ein,  wo  Christus  den  Auftrag 


ZU      eSäen*  ^ei.  de  mich  und    uuidk  midi  satt,,  Himmels,  tpei  .   sei 

und  zwar  in  einer  Solostimme,  die  deutlich  auf  Sebastiani 
hinweist  Dieser  Flittnersche  Halbchoral  durchzieht  die 
Lukaspassion, besonders  erkenntlich  und  gibt  ihr,  wenn 
man  so  sagen  darf,  einen  gewissen  traulichen  Charakter. 
Es  ist  nichts  Großartiges  in  diesem  Werke,  aber  ungemein 
viel  Sinniges.  Kein  »Barrabam«  erschüttert  uns,  kein  »Sind 
Blitze,  sind  Donner«  macht  uns  beben ;  aber  wenn  der  letzte 
Akkord  dieser  Lukaspassion 

vorüber  ist,  dann  singt  es  A  v'  f  ^  f  T  \  f*  ^  ('  l- 
in   uns   noch    lange    nach:    '^  ^   '     •      '     ^"  ' 

Von  den  ausführenden  Kräften  verlangt  das  Werk  nur 
wenig. 

Die  Lukaspassion,  ob  von  Bach  oder  nicht,  ist  jeden- 
falls ein  liebenswürdiges  Denkmal  aus  der  Jugendzeit 
der  oratorischen  Passion.    Bachs  Johannespassion  und 


Matthäuspassion  stehen  in  der  £nt£altung  eigentlich  ora- 
torischer  Anpassung  und  Kunst  weit  höher.  Aber  in  einem 
Zuge  gleichen  sie  ihr.  So  hoch  Bach  in  ihnen  als  Musiker 
aufwärts  schreitet,  immer  hält  er  die  Richtung  aufs  Kirch- 
Uch- Volks tümUche  ein;  seine  in  der  Heimat  eingesogene 
liebe  zum  Choral  und  zum  Bibelwort  unterscheidet  ihn 
von  den  Passionskomponisten  der  Hamburger  Schule.  In 
dieser  Beziehung  stehen  sich  die  zweifelhafte  Lukaspassion 
und  die  Bachsche  Matthäuspassion  ganz  nahe ;  aus  beiden 
blickt  dasselbe  Auge,  dort  das  des  Kindes,  hier  das  des 
Mannes.  Die  Johannespassion  ist  musikalisch  wohl  eben- 
so bedeutend  wie  die  nach  Matthäus.  Ja,  Schumann 
und  andere  haben  sie  der  letzteren  voranstellen  wollen. 
Aber  wenn  sie  in  einem  Punkte  einen  Schritt  hinter  der 
Matthäuspassion  zurückbleibt,  so  ist  das  eben  in  ihrem 
Verhältnis  zu  den  kirchhch  volkstümhchen  Elementen. 
8.  Bach,  Bach  hat  dem  Vermuten  nach  die  Johannespassion 

Johannes- in  Aussicht  auf  den  Antritt  des  Thomaskantorats  schon 
passion.  im  letzten  Jahre  söines  Cöthner  Aufenthalts  komponiert. 
In  Leipzig  kam  das  Werk  erst  am  Karfreitag  4  724  zur 
Aufführung*)  und  erlebte  während  der  Amtszeit  des  Kom- 
ponisten mehrere  Wiederholungen.  Noch  einige  Jahrzehnte 
nach  Bachs  Tode  kannten,  wie  wir  aus  einem  Berichte  von 
Rochhtz  schließen,  der  selbst  Alumnus  war,  die  Thömas- 
schüler  die  Johannespassion.  Dann  verschwand  sie  mit 
der  Mehrzahl  der  Bachschen  Vokalkompi)sitionen  auch  aus 
dem  Gesichtskreise  der  Leipziger  und  kam  erst  im  Gefolge 
der  wiederentdeckten  Matthäuspassion  aufs  neue  zum 
Vorschein;  zuerst  in  einer  Ausgabe  bei  Trautwein,  nach 
welcher  die  erste  Aufführung  des  Werkes  durch  die  Ber- 
liner Singakademie  (21.  Febr.  4  833)  erfolgte.  Die  Gesamt- 
ausgabe der  Bach-Gesellschaft  veröffentUchte  das  Werk 
im  Jahre  4  863  (Bd.  XH)  in  der  Redaktion  von  W.  Rust. 

Von  der  Form,  in  welcher  die  Johannespassion  an 
dieser  letztgenannten  Stelle  vorliegt,  war  die  ursprüngliche 

*)  So  Spitta;    nach  B.  F.  Richter    (Bach-Jahrbuch    I90ö, 
S.  49)  schon  1723, 


Fassung  einigermaßen  verschieden.  Der  Einleitungschor, 
der  ScUaßchor  und  die  Hälfte  der  Arien  waren  andere 
als  jetzt  Die  lyrische  Partie  hat  dem  Komponisten  in 
dieser  Passion  ersichtlich  viele  Schwierigkeiten  gemacht 
Lag  ihm  doch  für  diesen  Teil,  welchen  er  zum  erstenmal 
in  größeren  Formen  zu  behandeln  hatte,  kein  fertiges  Gre- 
dicht  vor,  wie  später  bei  der  Matthäuspassion.  Bach  half 
sich  mit  Bibelzitaten  und  Gesangbuchversen;  wo  es  ihm 
passend  schien,  griff  auch  er  zu  Brockes:  Aber  die  wieder- 
holten Umarbeitungen  scheinen  darauf  hinzudeuten,  daß 
iBach  selbst  mit  der  lyrischen  Ausstattung  der  Passion  nicht 
recht  zufrieden  war,  und  sicher  ist  es,  daß  in  diesem 
Funkte  die  Mängel  des  ersten  Entwurfs  noch  bis  heute 
sich  empfindbar  machen.  Ein  Teil  der  Arien,  so  vortrefflich 
sie  an  sich  sein  mögen,  steht  nicht  an  der  richtigen  Stelle. 
Der  Einleitungschor  der  Johannespassion  >Herr  unser 

Herrscher zeig*  uns  durch  deine  Passion,  daß  du  der 

wahre  Gottessohn  usw.«,  welcher  erst  mit  der  zweiten  Be- 
arbeitung, gegen  das  Jahr  4  727,  in  das  Werk  kam,  ist  unter 
allen  Karfreitagsbildern,  welche  in  der  Tonkunst  geschaffen 
worden  sind,  eins  der  eigentümlichsten  und  gewaltigsten. 
Eine  merkwürdig  dunkle  Färbung  zeichnet  ihn  aus,  und  durch 
das  Gebet  der  Menge,  die  hier  unterm  Kreuze  zusammentritt, 
geht  ein  zagender  und  klagender  Grundton.  Der  Preis  des 
Herrschers, »dessen  Ruhm  in  allen  Landen  herrlich  ist«,  klingt 
wie  aus  gepreßter  Brust:  er  setzt  mit  schweren  stockenden 
Akkorden  ein  und  untermischt  die  Figuren  des  Jubels  mit 
schmerzlidien  und  wehmütigen  Wendungen,  bricht  sie  ab 
im  Tone  der  Resignation.  Über  allen  den  Partien,  in  wel- 
chen der  Chor  in  immer  wieder  wechselnden  Motiven  nach 
dem  Ausdruck  freudiger  Bewunderung  sucht,  herrschen  die 
Holzinstrumente  (Flöten  und  Andante 

Oboen)  mit  der  Durchföh-  X^H  i  rJOl  p,.!^. 
rung  des  klagenden  Motivs:   ^  '  ■ 

Unsere  heutigen  starken  Chöre  und  unsere  Geigenmassen 
überdecken  diese  geblasene  Melodie  allerdings;  Bach  aber 
schrieb  für  einen  nur  dünn  besetzten  Chor  und  rechnete 
damit,  daß  auf  je  2  VioUnen  i  Oboe  kam.  Wer  demnach^ 


— ^     72 


heute  seine  Werke  mit  i  0  oder  1 6  ersten  Geigen  aufführt, 
muß  ihnen  5  oder  8  erste  Oboen  usw.  gegenübersteHen. 
Die  Harmonie  liegt  in  langen  Orgelpunkten  fest;  in  dem 
Geigenchor  drängt  unaufhörlich  eine  wogende  Sech- 
zehntelfigur  von  unten  nach  oben.    Erst  mit  dem  Thema: 

^  kA  ^  Ct^ setzt  sich   die 

P  r  M  [L/  ^n^  schwankende 

Stimmung  fest. 


on 


Zeig  mdanh  dei ..  bo  Pas  .      .      .      .    sl 

Schon  im  ersten  Teil  des  Chors  (als  Oberdominant:  Ddur) 
kurz  berührt,  wird  dieses  Thema  beim  zweiten  Auftreten 
(Esdur)  zu  einem  längeren  Satze,  den  man  als  Mittelteil ' 
der  Nummer,  jedenfalls  als  ihren  geistigen  Mittelpunkt  be- 
trachten kann.  Er  ist  ganz  in  Passionsbetrachtung  getaucht : 

die  Stimmen  überbieten  einander  in  der  ,  ^ 

Inbrunst,  mit  welcher  sie  zum  Kreuze  *^  ^l»  p  T  Cj  |P", 
blicken  und  klagen.     Daß  das  Motiv,  "™  "^ 

welches  diese  warmen,  ausdrucksvollen  Melodien  trägt, 
symbolische  Bedeutung  hat,  lehrt  der  Vergleich.  Immer 
wenn  Bach  das  Bild  des  Kreuzigens  vor  die  Phantasie 
stellt,  in  dem  Motiv  a  (S.  79)  des  Kreuzigungschors  der 
J^hannespassion,  in  dem  Hauptthema  von  »Laßt  ihn 
kreuzigen«  in  der  Matthäuspassion,  an  zahlreichen  Rezi- 
tativstellen beider  Werke,  tut  er  dies  in  der  eigentüm- 
lichen Verbindung  von  Synkope  und  Quart  (oder  einem 
höheren  Intervall).  Als  Kunstwerk  betrachtet  ist  der  Pro- 
log der  Johannespassion  eine  der  großartigsten  Leistungen; 
keine  der  Hamburger  Passionen  hat  eine  Einleitung,  die 
mit  dieser  nur  verglichen  werden  könnte.  Und  Bach 
selbst  hat  diesen  Chor  kaum  überbieten  können.  In  allen 
Gruppen,  die  sich  an  seiner  Durchführung  beteiligen  — 
Chor,  Streichorchester,  Bläser  —  ist  ein  derartiger  Reich- 
tum und  eine  solche  Selbständigkeit  der  Ideen  und  des 
Ausdrucks,  daß,  wie  man  aus  den  vorhandenen  Klavier- 
auszügen sieht,  selbst  geübte  Musiker  sich  zwischen  Haupt- 
nnd  Nebenstimmen  geirrt  haben.  Und  bei  der  größten  Ein- 
heit der  Form  und  dem  Festhalten  an  der  Grundstimmung 
hat  Bach  doch  noch  so  viele  Einzelheiten  rührend  betont. 
Man  sehe  nur  die  Wiedergabe  des  BegrifiTs  »Niedrigkeit«. 


Im  ersten  Teil  der  Johannespassion  wird  der  Chor 
sonst  nur  für  dramatische  Sätze  und  für  Choräle  ver- 
wendet. Unter  den  ersteren  ist  der  an  den  leugnen- 
den Petrus  gerichtete:  »Bist  du  nicht«  von  längerer 
Ausdehnung,  eine  den  Ton  der  Verwunderung  sehr 
lehendig  wiedergebende  Durchführung  des  Themas: 
u  >     p        r  ±-^  Die  beiden  anderen  sind 

y^h  p   p-'T    PNI     r   ^^^-  kurze  dramatische  Ant- 
But  do  niehft  seLae»  J8a.g«?  «i.nw?     worteu  der  neugierigen 
Menge    auf    die    Frage    des    Heilandes    >Wen    suchet 
ihr«.     In  verschiedenen  Tonarten  liegt  beiden  dasselbe 

gründe:  Je-»um,  Je-»oin,  .Je.ram tod  Nft.swflOu  chesters, 
welches    die        ^    ^   ^     kehrt  auch  in  Chö- 

Singstimmen  A  b!'  h  f  ^^JjJ/JN  ren  des  zweiten  Teils 
umspielt:  *"  ■■*=■■■■==  ^^g^j^j.^  ^^  ^^^  ^^^^ 

fen  Niemand  töten«,  »Nicht  diesen,  sondern  Barrabam« 
und  »Wir  haben  keinen  König  denn  den  Kaiser«.  Die 
Choräle,  deren  dieser  erste  Teil  vier  hat,  zeichnen  sich 
vor  denen  aller  anderen  Komponisten  durch  ausdrucks- 
vpUe,  kunstreiche  Harmonien  und  durch  eine  Melodik 
aus,  welche  in  der  \yeise  Eccards  auch  die  Nebenstimmen 
in  hervortretenden  kurzen  Wendungen,  manches  Eigene 
und  Schöne  sagen  läßt.  Ob  in  Leipzig  zu  Bachs  Zeiten 
die  Gemeinde  die  Oberstimme  dieser  einfachen  Choräle 
mitsang,  steht  urkundlich  nicht  fest,  aber  die  Wahr- 
scheinlichkeit spricht  dafür.  Darauf,  daß  die  Gemeinde 
auch  bei  kunstvoller  gesetzten  Chorälen  doch  mitsingen 
sollte,  haben  einzelne  Komponisten  selbst  aufmerksam 
gemacht,  Eccatd  z.  B.  und  M.  Altenburg.  Für  die  Passions- 
choräle liegen  noch  besondere  Zeugnisse  vor.  Dem  be- 
reits (S.  54)  angeführten  aus  Königsberg  ist  ein  weiterer 
aus  Mecklenburg'*')  hinzuzufügen.  In  der  Dresdener 
Kreuzkirche  wurden   bei   den    Karfreitagspassionen    die 


*)  Bachmann ,  J. :    Geschichte  des  evapgelischen  Kirchen- 
gesanges  in  Mecklenburg  93,  122. 


vorkommenden  Choräle  auf  der  Liedtafel  mit  ihrer  Gesang- 
bnchsnummer  noch  heute  vor  fünfzig  Jahren  ausgesteckt, 
und  sogar  in  Haydns  »Sieben  Worte«  und  Beethovens 
»Christus«  Gemeindelieder  eingelegt.  Nur  waren  die  in 
der  Partitur  enthaltenen  Choräle,  ebenso  wie  di«  Arien, 
>ad  libitum«  gemeint.  Sie  bei  einer  Aufführung  sämt- 
lich zu  bringen,  verstößt  gegen  Usus  und  Verstand. 

Der  Hauptchoral  der  Johannespassion,  das  Stock- 
mann'sche  Passionslied  »Jesu  Leiden,  Pein  und  Tod«,  er- 
scheint zum  erstenmal  ganz  am  Schlüsse  des  ersten 
Teiles  zu  den  Worten  »Petrus,  der  nicht  denkt  zurück«. 
Eine  kunstvollere  Bearbeitung  desselben  Chorals  in  der 
Form  eines  Duetts  zwischen  Sopran  und  Baß  »Himmel 
reiße,  Welt  erbebe«,  die  in  der  ersten  Fassung  der  Jo- 
hannespassion unmittelbar  auf  den  Choral  »Wer  hat  dich 
so  geschlagen«  folgte,  hat  Bach  später  gestrichen. 

Mit  der  Wahl  des  Stockmannschen  Passionsliedes 
hat  es  seine  besondere  Bewandtnis.  Wie  noch  bis  in 
die  neueste  Zeit  die  Evangelien  Dichtern  und  Dichter- 
lingen immer  wieder  StofT  zu  schönen  oder  gutgemeinten 
Paraphrasen  geboten  haben,  so  war  es  auch  im  Mittel- 
alter. Insbesondere  wurde  die  Leidensgeschichte,  in  der 
lateinischen  wie  in  der  deutschen  Zeit,  allen^  Formen  der 
freien  Dichtung  angepaßt;  zuweilen  allerdings  mit  mehr 
Gelehrsamkeit  als  Geschmack.  So  begann  noch  Enoch 
Klitzing  im  Jahre  4708  seine  lange  »Karfreitagsbetrach- 
tung einer  gläubigen  Seele«  mit  der  Blasphemie  »Der 
große  Pan  ist  tot«.  Selbstverständlich  übertrug  man 
die  Darstellung  der  Passion  auch  bald  in  die  Form  des 
evangelischen  Kirchenliedes.  Alle  Gesangbücher  vom  An- 
fang des  16.  Jahrhunderts  ab  enthalten  solche  Lieder, 
mit  oder  ohne  beigedruckte  Musik,  Zum  Unterschiede 
von  den  bloßen  »Passionsandachten«,  —  Liedern  be- 
trachtenden Inhalts,  unter  denen  die  von  Rist,  komponiert 
von  Martin  Colerus  (Köhler],  dem  »einzig  wahren  Phöbus 
unsers  ganzen  Deutschland«  (Hamburg  4  664),  besondere 
Beachtung  verdienen  -^  tragen  sie  den  Titel  »Historie 
des  Leidens' ....  nach  den  Evangelisten« ,  also  genau 


/ 


75 

denselben  wie  die  Passionslektionen  und  Choralpassionen, 
als  deren  Ersatz  sie  gemeint  waren.  Die  Zahl  der 
Verse  in  diesen  in  Liedform  gegebenen  Passionshistorien 
schwankt  zwischen  20  und  40;- sie  ist  bei  allen  sehr  groß. 
Die  größere  Anzahl  dieser  dem  proteistantischen  Choral 
angepaßten  Passionsgeschichten  fand  keine  Verbreitung, 
aber  einige  wurden  zum  Gemeingut  des  evangelischen 
Deutschlands.  Unter  ihnen  sind  die  wichtigsten  »Da 
Jesus  an  dem  Kreuze  stund«,  >0  Mensch  bewein'  dein 
Sünden  groß«,  >Ö  Gottes  Lamm  unschuldig«  und  unser 
>Jesu  Leiden,  Pein  und  Tod«.  Es  war  demnach  ein 
sinniges  und  poetisches  Verfahren,  wenn  S.  Bach  diese 
drei  letztgenannten  Choräle,  den  einen  in  der  Johannes- 
passion, die  anderen  in  der  Matthäuspassion  so  außer- 
ordenthch  bevorzugte:  ein  Schritt  der  Liebe  zu  Heimat 
und  Volk,  der  auf  Bach  den  Künstler  und  den  Menschen 
ein  helles  und  herrliches  Licht  wirft. 

Arien  hat  der  erste  Teil  der  Johannespassion  nur 
drei.  Die  erste  setzt  an  der  Stelle  ein,  wo  Jesus  ge- 
bunden zu  Hannas  geführt  wird.  An  dieses  Binden 
knüpft  der  Text  an  >Von  den  Stricken  meiner  Sünden 
mich  zu  entbinden,  wird  mein  Heil  gebunden«.  Er  ist 
von  Brockes  und  bildet  den  Eingang  seiner  Passions- 
dichtung. Die  meisten  Komponisten  haben  ihn  als  Chor 
behandelt  und  sich  dabei  mit  Synkopen  und  schleifen- 
den Dissonanzen  eine  anschauliche  Wiedergabe  der 
Mechanik  des  Bindens  angelegen  sein  lassen.  Bach  hat 
nichts  auszudrücken  gesucht  als  das  Mitleid  und  '  die 
dankbare  Rührung,  welche  der  Anblick  der  ersten 
Marter  des  Herra  in  dem  Christen  erwecken  muß. 
Zum  Hauptträger  dieses  Gefühls  nimmt  er  das  Thema 

Andante.  ^^  ^  dessen  Durcharbei- 

^F  ^  '  [  I  f  "p^  ±^!^aUsiJ  I  r  stimme  und  .  zwei 
Oboen  ziemlich  gleichmäßig  teilen.  Erstere  hat  vor  den 
Instrumenten  nur  einige  kurze  Stellen  voraus,  in  wel- 
chen sie  die  Stimmung  in  schneidenden  Interjektionen 
äußert.     Der  klare  Vortrag  ist  ebensowenig   leicht  vwie 


— ^     76     *>— 

das  Verständnis  des  vielleicht  etwas  zu  langen  Stückes. 
Doch  aber  tut  man  sehr  unrecht,  wenn  man  es  lediglich 
für  kontrapunktisch  wertvoll  hält* 

Dieser  Altarie  schickt  Bach  sofort,  nach  nur  3  Takten 
Rezitativ  eine  zweite  Arie  nach,  deren  Zusammenhang 
mit  der  Erzählung  auf  die  Worte  des  Evangelisten  ge- 
stützt ist:  »Simon  Petrus  aber  folgte  Jesu  nach«.  Der 
Sopran  setzt  sie  mit  den  Worten  ein  »Ich  folge  dir  gleich- 
falls mit  freudigen  Schritten«.  Die  dramatische  Begrün- 
dung dieses  Stückes  ist  also  ersichtlich  schwach;  es  soU 
wahrscheinlich  auch  nur  für  den  Notfall  verwandt  werden, 
daß  die  Altarie  mangels  eines  guten  Solisten  wegbleiben 
muß.  Musikalisch  ist  die  Komposition  vorzüglich.  Die 
Singstimme  »folgt«  naiv  und  tändelnd  wie  ein  Rind  in 
Sechzehntelfiguren,  welche  die  Flöte  vorspielt  und  zu  sehr 
interessanten  Gebinden  erweitert.  Auch  hat  die  Arie 
Stellen,  an  welchen  sie  aus  dem  leichten  Ton  in  die  Tiefe 
der  Empfindung  übergeht,  und  einige  Malereien,  nament-  . 
lieh  auf  die  Worte  »ziehen  und  schieben«,  die  merk- 
würdig genug  sind.  Aus  den  K!onzertaufführungen  der 
Johannespassion  wird  man  die  Arie  wegen  des  Wider- 
spruchs der  Sopranistin  nur  schwer  beseitigen  können. 
In  England  soll  si»  eine  besondere  Popularität  erlangt 
haben.  Ganz  anders  steht  die  Tenorarie  »Ach,  lüein 
Sinn!«  an  ihrem  Platze,  welche  das  letzte  Stück  vom 
ersten  Teil  der  Johannespassion  bildet.  Mit  ihr  hat  Bach 
der  Szene  der  Verleugnung  Petri,  welche  er  aus  dem 
Matthäus-  in  das  Johannesevangelium  dichterisch  ergän- 
zend herübergenommen,  einen  rührenden  und  versöhnen- 
den Abschluß  gegeben.  Der  weiche,  suchende,  fragende 
und  klagende  Ton,  in  welchen  diese  unablässigen  und 
eifrigen  Vorwürfe  gekleidet  sind,  bildet  die  schönste  Ver- 
teidigung des  reuigen  und  irrenden  Jüngers  und  die  Arie 
ist  eins  der  schönsten  Solostücke  nicht  bloß  der  Johannes- 
passion, eine  Probe  feinster  Seelenmalerei.  Sie  schließt 
viel  trefflicher  an  den  vorausgehenden  Schluß  des  Rezi- 
tativs, an  die  Worte  »er  weinte  bitterlich«  an,  als  die 
Arie  »Zerschmettert  mich,  ihr  Felsen  und  ihr  Hügel«, 


77     ♦— 

welche  in  der  ersten  Fassung  der  Johannespassion  an 
dieser  Stelle  stand.  Letztere  malt  einen  zornigen,  die 
jetzige  Arie  aher  den  weinenden  Petrus.  Es  ist  übrigens 
ein  weiterer  Beweis  für  die  große  Pietät,  mit  welcher 
Bach  dem  Bibelwort  gegenübersteht,  daß  diese  Arie,  die 
doch  ganz  aus  der.  Seele  des  Petrus  heraus  gedacht  ist, 
in  einen  neutralen  Mund  gelegt  wird.  Ein  Tenor  singt 
sie;  Petrus  aber,  wo  er  im  Rezitativ  selbst  auftritt,  hat 
Baß.  Die  Stelle,  wo  der  Evangelist  von  dem  Weinen 
Petri  berichtet,  ist  eine  der  glänzendsten  in  dem  an 
Malereien  und  empfindungsvollem  Ausdruck  reichen  Rezi- 
tativ der  Johannespassion.  In  seinen  Passionsrezitativen 
ist  Bach  ganz  frei  schöpferisch  vorgegangen.  In  ihrer 
Tendenz  berührt  er  sich  einigermäßen  mit  Schütz,  und 
für  gewisse  Einzelheiten  der  Form,  den  schnellen  und 
häufigen  Wechsel  zwischen  Deklamation  und  Gesang, 
mögen  ihm  seine  Studien  Albinonis  und  anderer  früh- 
venetianischer  Meister  einige  Anregungen  geboten  haben. 
Aber  das  meiste  beruht  auf  eigener  Auffassung  und 
Erfindung.  Die  Rezitativpartie  ist  voll  von  kleinen  und 
sinnigen  Randzeichnungen,  zu  deren  klarer  Wiedergabe 
vonfi  Sänger  und  vom  Zuhörer  liebevolles  Eingehen, 
namentlich  aber  von  dem  den  Continuo  ausführenden 
Begleiter  Elastizität  im  Auffassen  und  Ausführen  voraus- 
gesetzt wird.  Viele  der  schönsten  Züge ,  wie  der  beim 
Krähen  des  Hahnes,  sind  der  Phantasie  des  letzteren  fast 
ganz  allein  anvertraut  Auch  für  die  Charakteristik  der 
Personen  müssen  die  Vortragenden  das  Entscheidende 
tun.  Das  gilt  insbesondere,  und  auch  für  den  zweiten 
Teil  der  Passion  von  den  Reden  Jesu,  den  der  Evan- 
gelist selbst  sehr  wortkarg  vorgestellt  hat.  Bach  hat  nur 
an  wenigen  Stellen,  mit  Wiederholung  bei  den  Worten 
»soll  ich  den  Kelch  nicht  trinken«,  mit  dezenten  Kolora- 
turen bei  den  Worten  »wäre  mein  Reich  von  dieser  Welt, 
ineine  Diener  würden  darob  käinpfen«  nachgeholfen. 

Im  zweiten  Teile  der  Johannespassion  treten  die 
dramatischen  Chöre  bedeutend  in  den  Vordergrund,  so- 
wohl durch  ihre  Menge,  wie  auch  durch  die  breite  Anlage, 


welche  einzelnen  von  ihnen  gegeben  ist.  Im  ersten 
Abschnitt,  welcher  durch  die  Geißelung  markiert  ist, 
haben  wir  ihrer  drei:  Der  dritte:  »Nicht  diesen,  son- 
dern Barrabam«  ist  ein  kurzes,  dramatisches  Stück, 
welches  die  heftige  Entschiedenheit  der  fordernden 
Menge  in  knappen,  schärfen  Strichen  wiedergibt.  Die 
ersten  beiden:  »Wäre  dieser  nicht  ein  Übeltäter«  und 
»Wir  dürfen  Niemand  töten«  hat  Bach  wie  selbständige 
Szenen  breit  ausgeführt.  Die  Juden  sind  sich,  nach  Bachs 
Auffassung,  der  Schwäche  ihrer  Gründe  bewuBt  und 
helfen  durch  eine  aufdringhche  Deutlichkeit  und  Um- 
ständlichkeit des  Vortrags  nach.  Die  Musik  beider  Num- 
mern ist  ziemlich  dieselbe.  Sie  ruht  auf  zwei  Hauptmotiven 


1^  >    J)  J>ip   p    p    p  T  \    l.r  T   Fe  und» wirhätten dirihn 


Wtf^n    di«.^er  nicht  ein  Ü.bel.  tä  ,t6r. 


Im  zweiten  Chor  ist  auf  das  chromatische  Motiv  und  die 
Koloratur,  wo  sie  vorkommt,  das  entscheidende  Wort 
»töten«  eingesetzt.  Durch  die  Harmonien  und  die  Dekla- 
mation dieser  beiden  Nummern  geht  ein  unheimlich  dä- 
monischer Zug.  Es  liegt  der  in  Heuchelei  verhaltene 
Fanatismus  darin ;  im  ersten  bricht  er  häufig  in .  den 
zischend  herausgeschleuderten  Achteln  auf  das  Wort 
»nicht«  offen  hervor. 

Den  ersten  kleinen  Ruhepunkt  in  dem  Abschnitt 
bildet  der  Choral:  »Herzliebster  Jesu,  was  hast  du  ver- 
brochen«, dem  hier  die  Worte:  »Ach  großer  König,  groß 
zu  allen  Zeiten«  untergesetzt  sind.  Sie  knüpfen  an  die 
Erklärung  Christi  an:  »Mein  Reich  ist  nicht  von  dieser 
Welt«.  Das  Ende  des  Abschnitts  ist  Weiter  markiert  durch 
das  Arioso  des  Basses:  »Betrachte  meine  SeeF«,  eine 
herrliche  tiefgehende  Nummer  aus  jener  mild  erhabenen 
Gattung  von  Baßgesängen,  die  bei  Bach  und  Händel 
vielfach  vertreten,  in  neuerer  Zeit  höchst  selten  geworden 
ist.    Den  Text  hat  Bach  aus  Brockes  mit  Änderungen 


genommen,  die  keine  Verbesserungen  sind.  Dem  Arioso 
folgt  in  der  Partitur  noch  eine  große  Tenorarie:  »Er- 
wäge,  wie  sein  blutgefärbter  Rücken«,  die  mit  Recht  ge- 
wöhnlich übergangen  wird.  Sie  arbeitet  im  wesentlichen 
nur  das  Motiv  der  Geißelung,  -mit  welchism  der  Evangelist 
seine  Erzählung  naiv  malend  abgeschlossen  hat,  zu  einem 
großen,  selbständigen  Instrumentalbild  aus. 

Die  zweite  Szene  der  zweiten  Abteilung  ist  fast  rein 
chorisch.  Die  langen  Sätze  der  turbae  sind  nur  durch  kurze 
Rezitative  des  Evangehsten  und  des  Pilatus,  zu  denen  an 
einer  einzigen  Stelle  auch  Christus  tritt,  unterbrochen. 

Die  erste  Nummer  des  Chors  ist  der  Spottchpr 
der  Kriegsknechte  (die  Bach  in  alter  Weise  auch  mit 
Sopran  und  Alt  auftreten  läßt):  »Sei  gegrüßet,  lieber 
Judenkönig«.  Um  das  höhnische  Element  des  Textes 
zum  Ausdruck  zu  bringen,  muß  hier  der  Vortrag 
der  Chorstimmen  das  beste  tun:  es  empfiehlt  sich 
ein  leiserer  Anfang,  crescendo  beim  Einsatz  jeder 
weiteren  Periode,   staccato  auf  die  kurzen   Noten   und 

ein    nicht     über-    _^, >    .   ^  -^  ^  ^     >^ 

treibender  Accent    jl  ^'' Jt  f    ^  If    T   P  P  T  f  [}' I  rp 

auf      die      langen :  Sei  ge .  grft.sstC  UeJb«  la .  dm  .  KB.oi(i 

und  scharfes  Hervorheben  des  gegen  den  Schluß  ein- 
tretenden mun-  ^  l'*  ft'  -  I  *  .  :  ^^  Orchester  unter- 
teilen ausgelas-  .fli  ^  r  p  I T  f  ..  stützt  die  Absichten 
senen     Motivs:  ••*  ««-  fö^»«ü     des  Textes  nur  in  den 

Blasinstrumenten:  Flöten,  Oboen  reden  in  scharf  absetzen- 
den, lachenden  Figuren  eine  deutliche  Gebärdensprache: 

•^^^^^^  /T-^.  rr^,  ^^  ^^*  interessant  den 
jh  ^    ^^^T^^T^tfJ  I  Cil^^-  z^^i^^^  Chor:  »Kreu- 

.  "■    '  *^^*=   2jgg^  Kreuzige  ihn«  mit 

dem  über  die  ähnlichen  Worte:  »Laß  ihn  kreuzigen« 
in  der  Matthäuspassion  zu  vergleichen.  Der  letztere 
ist  in  seiner  Kälte  teuflischer,  der  der  Johannes- 
passion  bringt  die  Wut  der  sinnlos  empörten  Menge  mit 
elementarer  Gewalt  zum  Aus-  ^  ,  ^  a  j^j  J  j  t  ! 
druck:  greulich  in  Dissonan-  a)  -A  i  l  ii«  |I  p  ^  ^  | 
zen  heulend  die  eine  Partei:  lUtu    .      li^fti 


/ 
I 

die  an(}ere  wie  im   Fieber  wetternd   und   schnatternd: 

I&'  fi  n  ji  I  fl   h.  h.  n  JL  -  f^   l  -r"  Und  diese  Motive  immer 

h)  ff  ^    r  ■■  P.  (?  M  f /f?  r  P  p  r   feg  mit  einander  und  durch 

xre«u.ge,  kreaiL«».kreittLg«.itteuiLcoJ    einander!  Zum  Schlusse 

hat  Bach  durch  Verlängerungen  des  zweiten  Motivs  noch 
eine  erschreckende  Steigerung  angebracht,  die  in  dem 
durch  den  verwirrenden  Lärm  der  übrigen  durchdröh- 
nenden, von  Mißklängen  gekreuzten  langen  und  hohen 
Machtschrei  der  Bässe  (auf  d)  ihre  Spitze  findet. 

Nach  diesem  wilden  Ausbruch  plötzlicher  Roheit 
gibt  der  nächste  Chor  in  seinem  gesetzten,  gemessenen 
Gang  einen  eigenen  Gegensatz:  Mit  künstlicher  Ruhe  und 
gesucht  deutlicher  Betonung  stellen  die  Juden  dem  über 
den  Fanatismus  verwunderten  und  für  Christus  eintreten- 
den Pilatus  streng  abweisend  ihr: 

wir  hahm  dnCteLset«,  undnaAdemOejeti  soll  «r  stw  ....  ^b 

entgegen.  Das  Thema  wird  in  Fugenform  regelrecht 
durchgeführt.  Der  demonstrativ  bedauernde  Ausdruck 
auf  »sterben«  tritt  darin  besonders  hervor  und  wird  ganz  , 
am  Schlusse  auch  auf  das  zweite,  leichtgehaltene  Motiv 
auf  die  Worte  »denn  er  hat  sich  selbst  zu  Gottes  Sohn 
gemacht«  übertragen. 

Der  Choral:  »Durch  dein  Gefängnis,  Jesu  Christ«, 
der  den  Worten  folgt:  »Von  da  an  trachtete  Pilatus,  wie 
er  ihn  losließe«,  stört  die  Einheit  der  Szene.  Wird  die 
Passion  beim  Gottesdienste  benutzt,  so  ist  er  an  seinem 
Platze.  In  Konzertaufführungen,  wo  nur  eine  zuhörende 
Gemeinde  vorhanden  ist,  wird  besser  in  der  Erzählung 
und  zu  den  beiden  Chören :  »Lassest .  du  diesen  lo$«  und 
»Weg,  weg  mit  dem«  fortgegangen  werden.  Ersterer  ist 
identisch  mit:  »Wir  haben  ein  Gesetz«,  letzterer  bringt 
mit  einer  verschärfenden  Einleitung  die  Musik  des  »Kreu- 
zige« wieder.  Mögen  auch  prosaische  Gründe  und  Tra- 
ditionen (vgl.  Schütz)  Bach  zu  diesen  Repetitionen  mit 
veranlaßt  haben;  sicher  ist,  daß  sie  passen.  Die  Szene 
schließt  mit    einem   kurzen   Chor:    »Wir  haben   keinen 


König,  denn  den  Kaiser<,  in  dem  die  BetonuAß  des  »Wir« 
sehr  wirksam  ist. 

Zwischen  ihr  und  dem  nun  auf  Golgatha  spielenden 
Abschnitt  hat  Bach  eine  madrigalische  Nummer  einge- 
schoben: »Eilt,  ihr  angefochtenen  Seelen«,  einen  Dialog 
zwischen  dem  Solobaß  und  dreistimmigen  Chor  (Sopran, 
Alt,  Tenor).  Dem  Text  (aus  Brockes*  Passion  entnommen) 
liegt  ein  ähnliches  dramatisches  Bild  zugrunde,  wie  dem 
großen  Eingangschor  der  Matthäuspassion:  Die  Tochter 
Zion  fordert  die  gläubigen  Seelen  auf,  sie  auf  dem  Gang 
dort  nach  dem  Kalvarienberg,  hier  in  der  Johannespassion 
nach  Golgatha,  zu  begleiten.  Es  ist  ein  Wechselgesang, 
im  letzten  Falle  einfachster  Art.  Der  Baß  führt  lange, 
eifrige,  erregte  Reden;  der  Chor,  in  die  Hast  mit  hinein- 
gerissen, wirft  in  höchster  Spannung  nur  immer  wieder 
die  kurze  Frage:  »Wohin?«  dazwischenT  Keiser  hat  das 
Bild  dieses  in  phantastischer  Begeisterung  hinstürmenden 
Zuges  ähnlich  wie  Bach  in  rollenden  Figuren  wiedergegeben, 
nur  sind  die  Maße '  kürzer.  Was  aber  die  Komposition 
Bachs  so  groß  macht,  das  ist  die  geniale  Deklama- 
tion der  Worte  »Nach  Golgatha«  mit  denen  die  Tochter 
Zion  (Baß)  den  gläubigen  Seelen  (Frauenchor)  geheimnisvoll, 
wuchtig  und  gebieterisch  antwortend  die  Richtung  bestimmt. 

Die  dritte,  Kreuzigung  und  Tod  des  Herrn  umfassende 
Szene  hat  nur  zwei  dramatische  Chöre,  den  der  Hohen- 
priester: »Schreibe  nicht  der  Juden  König«,  welcher  in 
wenig  passender  Weise  einfach  die  Musik  des  Spott- 
chors: »Sei  gegrüßet«  aus  der  vorigen  Szene  wiederholt, 
und  den  Chor  der  Kriegsknechte:  »Lasset  uns  den  nicht 
zerteilen«.  Aus  letzterem  hat  Bach  eine  Fuge  gemacht 
über  folgendes,  das  platte  Behagen  der  Landsknechte  sehr 
gut  zeichnende  Thema: 

1=M=^^  ^  I  {"^"^^{i  I   '  II  II  I 

Lu.Mt  u»  d»  sieht  ser  ,    tbei   .         ,         .    Im,  toiudera  da.riUB 

«««^A  ^^     #  Zum  Schluß  wird 

r^^=£££a=fl  I  *   '    r    [f   r^.  aer   Ton    immer 

lo  .  .    tm.      wMs  «r    s«ia  loui  lebhafter        und 

II,  1.  6 


ausgelaßne^  Naturlaute  schlagen  dämonisch  daraus 
hervor  Qct  Anfang  des  Chores  ist  ein  realistisches 
Genrebild  im  Hamburger  Stil,  zu  welchem  die  Vor- 
würfe aus  dem  48.  Jahrhundert,  aus  dem  gemütlich 
philiströsen  Kreise  der  fürstlichen  Torwachen  und  städti- 
schen Söldner  genommen  scheinen.  Den  schönen  Ab- 
schnitt der  Erzählung,  wo  Jesus  seine  Mutter  dem  Jo- 
hannes übergibt,  zeichnet  Bach  durch  den  Eintritt  des 
Chorals:  > Jesu  Leiden,  Pein  und  Tod«  aus  [zu  den  Worten: 
>Er  nahm  alles  wohl  in  Acht«).  Bald  darauf,  wo  es 
heißt:  »Und  neigte  das  Haupt  und  verschied«,  kommt 
dieser  selbe  Choral  wieder.  Diesmal  in  einer  kunstvollen 
Bearbeitung.  -  Er  ist,  im  Munde  des  Chors,  einer  Arie  ein- 
geflochten, welche  der  Baß  auf  die  der  Brockesschen 
Passion  nachgedichteten  Worte:  >Mein  teurer  Heiland, 
laß  dich  fragen«  singt.  Es  sind  ungemein  liebevolle  und 
hingebende  Weisen.  Zwischen  dem  einfachen  Choral  und 
der  Choralfantasie  steht  noch  eine  weitere  Arie,  welche 
an  Jesu  letztes  Wort  anknüpft.  Es  ist  die  schönste  der 
ganzen  Johannespassion,  die  Altarie:  »Es  ist  vollbracht«. 
Sie  besteht  aus  zwei  Teilen,  einem  schwermütigen  Adagio, 
in  welchem  die  Altstimme  sich  mit  der  Viola  da  gamba 
(gewöhnlich  durch  Violoncello  ersetzt)  in  klagenden  und 
trauernden  Melodien  vereint  und  ablöst.  Der  Allegro- 
satz erhält  durch  den  Zutritt  des  vollen  Streichorchesters 
einen  bedeutenden  Glanz.  In  visionärem  und  entzücktem 
Ton  feiert  er  den  Sieg  des  Helden  aus  Juda.  Statt  des 
üblichen  da  capo  —  der  Wiederholung  des  ersten  Teils  — 
klingt  nach  dem  Schlüsse  des  Mittelteils  der  Hauptsatz 
nur  wieder  an.  Der  Übergang  in  diese  Reprise  zeigt 
ganz  besonders  den  freien  und  lebendigen  Geist,  mit 
welchem  Bach  innerhalb  der  Johannespassion  sich  in 
den  hergebrachten  Formen  bewegt. 

Nach  dem  Verscheiden  Christi  und  der  Fantasie  über 
den  Stockmannschen  Choral  fuhr  die  Johannespassion 
in  der  ersten  Bearbeitung  mit  einer  Instrumentalsinfonie 
fort.  Diese  ist  später  durch  die  (aus  dem  Matthäus  ent- 
lehnte) Erzählung  von  dem  Erdbeben  durch  ein  im  Stile 


des  begleiteten  Rezitativs  gehaltenes,  im  Inhalt  stark  be« 
wegtes,  sehr  eigentümlich  abschließendes  Arioso  (Tenor: 
»Mein  Herzt  In  dem  die  ganze  Welt«)  und  durch  eine 
Sopranarie:  »Zerfließe,  mein  Herze,  in  Fluten  der  Zähren« 
ersetzt  worden.  Zu  beiden  Stücken  lieh  wieder  Brockes 
den  Text.  Die  Sopranarie  ist  eins  der  eigentümlichsten 
Stücke  der  Passion:  Rokoko  in  den  zierlichea  feinen  For- 
men und  die  bewegteste  Romantik  in  dem  Ausdruck  der 
Trauer.  Kindliche  und  tragische  Töne  spielen  hier  in- 
einander. Namentlich  der  ganze  Schluß  des  Mittelteils 
mit  der  Stelle  »dein  Jesus  ist  tot«  ist  hierdurch  tief  er- 
greifend. 

An  Stelle  der  alten  Gratiarum  actio  war  schon  in 
der  moderhisierten  Choralpassion  eine  sogenannte  Chor- 
arie getreten,  deren  Text  in  den  meisten  Werken  der 
gleiche  ist:  Die  Sänger  nahmen  am  Grabe  von  dem  Ent- 
schlafenen Abschied  und  bitten  für  ihr  eigenes  einstiges 
Ende  um  eine  sanfte  Ruhe.  Auch  die  Musik  dieser  Chor- 
arien stimmt  im  allgemeinen  Charakter  überein.  Sie 
wollen  einen  milden,  versöhnenden  Abschluß  geben.  Die 
beiden  in  den  Bachschen  Passionen  zu  Johannes  und 
Matthäus  stehen  mit  dieser  Absicht  ebenfalls  in  der  all- 
gemeinen Reihe,  aber  sie  sind  wie  die  Eingangschöre 
dieser  Werke  durch  ihre  großen  Dimensionen  ohne  Glei- 
chen. Untereinander  teilen  sie  auch  Taktart  und  Tonart 
und  gleichen  sich  überdies  in  den  Themen  des  Mittel- 
satzes ziemlich  genau.  Der  Schlußchor  der  Johannes- 
passion ist  aber  etwas  leidenschaftlicher.  Der  Zug  einer 
im  tiefsten  Grunde  noch  sehr  erregten  Empfindung  tritt 
namentlich  an  den  Stellen  offen  hervor,  wo  es  heißt: 
»Und  bringt  auch  mich  zur  Ruh«.  Dieser  Umstand  und 
nicht  der  kirchliche  Brauch  allein  mag  Bach  veranlaßt 
haben,  seine  Johannespassion  nicht  mit  dieser  Chorarie 
zu  schließen,  sondern  ihr  noch  den  Choral:  »Herzlich 
lieb  hab  ich  dich,  o  Herr«  auf  die  Worte:  »0  Herr,  laß 
dein  lieb  Engelein«  zuzugeben.  8«  Baoh« 

Die  Matthäuspassion  stimmt  im  wesentlichen  der    Matthius- 
Anlage  und  Richtung  mit  Bachs  Passion  nach  Johannes      passion. 

6* 


— ^    61    ^ — 

überein.  Auch  sie  ist  in  diesen  Punkten  als  ein  Werk 
der  Reform  zu  betrachten,  als  ein  Versuch  Bachs,  die 
oratorische  Passion  auf  altkirchlichem  und  volkstümlichem 
Boden  aufzubauen.  Im  musikalischen  Wert  der  einzelnen 
Sätze  steht  die  Johannespassion  der  späteren  wohl  nicht 
nach.  Aber  es  ist  nicht  zu  verkennen,  daß. Bach  in  der 
Matthäuspassion  das  oratorische  Element  sowohl  als  da? 
kirchlich  volkstümliche  breiter  entfaltet  und  beide  in 
innigere  Verbindung  gebracht  hat  als  in  der  Johannes- 
passion. Auch  im  Text  der  Matthäuspassion  stört  uns 
der  starke  allegorische  und  lyrische  Ballast,  den  die  Ent- 
stehungszeit verlangte.  Abier,  soweit  es  die  Musik  be- 
trifft, kann  diese  Passion  als  die  ideale  Lösung  der  Auf- 
gabe gelten,  die  Leidensgeschichte  zugleich  mit  höchster 
Kunst  und  in  größter  Einfachheit  und  Verständlichkeit 
darzustellen.  Manches  andere  hat  die  Matthäuspassion 
auch  noch  durch  den  Bericht  des  Evangelisten  selbst 
voraus,  der  den  des  Johannes  an  Lebendigkeit  und  durch 
die  Menge  spannender  Episoden  übertrifft.  Sein  größter 
Vorzug  liegt  darin,  daß  er  die  Gestalt  des  Heilands  so 
herrlich  hervortreten  läßt.  Bach  hat  diesen  Vorzug  durch 
die  Musik  verstärkt.  Die  Rezitative  des  Evangelisten  und 
der  Nebenpersonen  werden  in  der  üblichen  Weise  vom 
Cembalo  und  Streichbaß  begleitet.  Sobald  aber  Christus 
spricht,  setzt  das  volle  Streichquartett  mit  langgezogenen 
Tönen  ein,  >webt<  wie  man  gesagt  hat,  um  Jesu  Haupt 
einen  »Heiligenscheine.  Allerdings  ist  dieser  »Heihgen- 
schein«  weder  eine  Originalerfindung  noch  ein  Monopol 
Bachs,  sondern,  wie  schon  erwähnt,  eine  Entlehnung  aus 
der  Venetianischen  Oper.  Diese  unbekannte  Tatsache 
nimmt  aber  den  Christusrezitativen  nichts  von  ihrer  Wir- 
kung und  Bach  nichts  von  seinem  Verdienste.  Schließlich 
gibt  auch  der  reiche  musikalische  Apparat:  die  Teilung  in 
zwei  Chöre,  die  größere  Mannigfaltigkeit,  die  in  den  Formen 
der  Arie,  des  Chorals  und  auch  des  Rezitativs  herrscht, 
der  Matthäuspassion  einen  weiteren  äußeren  Vorsprung. 
So  wie  wir  die  Matthäuspassion  heute  aufführen,  ist 
sie  das  Produkt  einer  Umarbeitung,  welche  nicht  vor  4  740 


— '^     85     ^Gt~ 

erfolgt  sein  kann.  Als  Bach  das  Werk  zum  erstenmal 
im  Nachmittagsgottesdienste  des  Karfreitags  4  729  —  es 
war  der  45.  April  —  hören  ließ,  war  die  Ghoralfantasie 
über:  >0  Mensch,  bewein«  noch  nicht  drin.  An  Stelle 
dieses  ursprünglich  als  Eingang  zur  Johannespassion 
komponierte^  überschwanglichen  Satzes  schloß  ein  sehr 
einfacher  Choral:  >Jesum  laß  ich  nicht  von  mir«  den 
ersten  Teil  der  Matthäuspassion. 

Der  Dichter  der  Matthäuspassion,  oder  besser  ihres 
oratorischen  Teils,  wan  der  schon  erwähnte  Picander, 
ein  Leipziger  Postbeamter,  welcher  mit  seinem  bürger- 
lichen Namen  Henrici  hieß.  Picander,  dem  Bach  manche 
eigene  Winke  gab  —  der  Text  zu  »Am  Abend,  da  es 
kühle  ward«  scheint*)  auf  diesem  Wege  einem  Lied  des 
von  Bach  besonders  geliebten  Franck  nachgebildet  zu 
sein  —  war  einfacher  und  natürlicher  in  seiner  Sprache 
als  Brockes,  hat  sich  aber  diesem  in  der  Motivierung 
seiner  oratorischen  Zutaten  angeschlossen.  Auch  er  ver- 
mehrt die  Personen  der  Leidensgeschichte  um  die  wesen- 
lose Figur  der  »Tochter  Zion«  und  des  zu  ihr  gehörigen 
Chors  der  »gläubigen  Seelen«.  Bach  unterscheidet  sich 
in  der  Matthäuspassion  noch  mehr  als  in  der  zu  Johannes 
in  der  Behandlung  dieser  Tochter  Zion  von  den  Ham- 
burger Komponisten.  Er  löst  ihren  persönlichen  Charakter 
vollständig  auf,  indem  er  ihr  musikalisch  eine  eigene 
Stimme  verweigert.  Die  Tochter  Zion  singt  ihre  Reden 
als  Einzelstimme  in  Alt,  Sopran,  Tenor  und  Baß;  sie 
singt  in  Form  von  Duetten  und  als  Chor.  In  letzterer 
Gestalt  eröffnet  sie  die  Passion  mit  dem  großen  Dialog: 
»Kommt,  ihr  Töchter,  helft  mir  klagen«.'  Mit  ganz  ähn- 
lichen Worten  luden  die  sogenannten  Leichenbitter  noch 
bis  in  die  Mitte  des  49.  Jahrhunderts  auf  dem  Lande  zu 
großen  BegräbnisfeierUchkeiten  ein.  Bach  führt  nun  das 
Bild  in  der  Weise  durch,  daß  die  Tochter  Zion  (4.  Chor) 
als  nächste  Leidtragende  die  Klage  um  das  Leiden  und 
den  Tod  des  Herrn  in  beweglichen  Melodien  anstimmt 


•)  Ph.  Spltta,  J.  S.  Bach,  II,  386. 


86     <f> 


und  durchführt.    Die  Hauptthemen,  welche  er  der  Klage 
unterlegt)  sind: 


und  das  vom  Eintritt  der  Singstimmen  als  ständiger  Ge- 
nosse mit  ihm  bald  zur  Rechten»  bald  zur  Linken  gehende 
(im  System  des  doppelten  Kontrapunktes  entworfene) 
Gegenthema: 


Es  wird  auf  diesen  einfachen  Unterlagen  eine  große  Skala 
des  Schmerzes  durchgespielt;  von  dem  stillen  wehmütigen 
Betrachten  geht  sie  über  in  langen  Tränengujß  und  in 
Ausbrüche  des  lauten  leidenschaftlichen  Jammers,  eines 
Jammers,  der  in  den  Dissonanzen,  in  welchen  das  Motiv 
•f^r\  fT)  r  vorzudringen  sucht,  die  Hände  zu  ringen 
■fr  iM  "T  I  scheint.  Immer  bricht  die  Tochter  Zion 
dann  mit  einer  kurzen  Wendung  der  Niedergescfilagen- 
heit  ab,  um  in  ruhigerer,  hellerer  Fassung  denen,  welche 
geladen  sind,  klagen  zu  helfen  und  das  Geleit  zu  geben, 
zu  sagen,  für  wen  sie  zur  Trauer  entboten  sind:  »Seht 
ihn,  den  Bräutigame  Die  gläubigen  Seelen  (2.  Chor]  stehen 
den  Mitteilungen  der  Tochter  Zion  zunächst  wie  fassungs- 
los gegenüber  und  antworten  mit  kurzen  heftigen  Fragen : 
»Wen,  Wie«,  die  als  vereinzelte  Akkorde  hervorgestoßen 
werden  -^  Bach  hat  extra  ein  forte  vorgeschrieben  — 
und  aus  denen  Überraschung  und  Entsetzen  deutlich 
spricht.  Erst  nach  längerer  Zeit  werden  sie  wortreicher, 
um  am  Schlüsse  endlich  mit  der  Tochter  Zion  in  die 
lang  hinströmenden  Melodien  der  Klage  einzustimmen. 
Bach  hat  diese  rührende  und  reiche  dramatische  Szene 
allein  noch  nicht  genügt.  Wie  Rafael  in  der  Sixtinischen 
Madonna  läßt  er  aus  dem  Himmel,  der  sich  über  dem 
Bilde  dieses  heihgen  Begräbnisses  wölbt,  noch  eine  Schar 
Engelsköpfe  herausbHcken.  Als  die  Tochter  Zion  den 
gläubigen  Seelen  zuruft:  »Seht  ihn  als  wie  ein  Lamm«, 
stimmt  ein  Chor  von  Knabenstimmen  im  unisono  den 


alten  Passionschoral:  >0  Gottes  Lamm  nnschuldig«  an. 
Er  geht  in  seinen  sieben  Zeilen  durch  und  steht  in  seiner 
feierlichen  Einfachheit  über  den  kunstvollen  Gebilden  der 
fugierenden  Stimmen  wie  eine  lichte  Erscheinung  aus 
der  andern  Welt.  Wir  haben  es  also  auch  bei'  diesem 
Satz,  wie  bei  der  Mehrzahl  der  madrigalischen  Chor- 
nummem  der  Mattbäuspassion,  formell  mit  einer  Choral- 
bearbeitung zu  tun. 

Den  hierauf  einsetzenden  ersten  Teil  der  Matthäus- 
passion kann  man  in  drei  Hauptbilder  teilen:  a)  Jesus 
mit  seinen  Jüngern  und  die  Einsetzung  des  Abendmahls, 
b)  Jesus  auf  Gethsemane,  c)  Die  Gefangennehmung. 

Die  erste  Szene  ;st  zum  größten  Teil  mit  den  Reden 
von  Jesus  und  den  Reden  der  Jünger  ausgefüllt.  Der 
erste  Chor,  der  uns  begegnet,  ist  der  der  Hohenpriester 
und  Schriftgelehrten:  ein  geteilter  achtstimmiger  Satz, 
dessen  kluge,  ruhige  Berechnung  zeigender  Ausdruck 
hauptsächlich  auf  dem  Quartintervall  ruht,  mit  welchem 
das  »Ja  nicht«  betont  ist.  Mit  der  Malerei  auf  das 
Wort  »Aufruhr«  hat  sich  Bach  älteren  Mustern  ange- 
schlossen, wie  sich  eine  ähnliche  Rücksicht  auf  die  ein- 
gebürgerten Züge  der  älteren  Choralpassion  durch  die 
ganze  Matthäuspassion  hindurch  ver-  j 
folgen  läßt.  Das  Motiv,  in  dem  die  ^  J  f  "f  2^)^=, 
Jünger  in  ihrem  letzten  Chore  fragen  Herr,  bb  ieUtt 

ist  ein  solches  Zitat,  welches  wir  fast  wörtlich  in  einer 
großen  Zahl  älterer  Choralpassionen  treffen.  Aber 
nirgends  ist  es  innerhalb  weniger  Takte  mit  einer  so 
reichen  Modulation  des  Ausdrucks  durchgeführt.  Wie 
wunderbar  schön  der  Übergang  aus  der  steigenden  Un- 
ruhe und  Erregung  in  die  demütig  klagende  Ergebung 
des  Schlusses!  Der  Chor:  »Wo  willst  du,  daß  wir  dir  be- 
reiten das  Osterlamm?«  klingt  mild  und  fromm.  Das 
erste  Auftreten  der  Jünger  in  »Wozu  dienet  dieser  Un- 
rat?« hat  einen  unfreundlichen  Charakter  in  der  Heftig- 
keit der  ein-  ,  ^  _  p^  _  ^  einen  altklugen  in  der 
setzenden  ^  ^  r  ^  f  p  trocken  gespreizten  De- 
Sechzehntel  Wo.xud»jiet     '  klamation     des     Mittel- 


t 

Satzes  (»Dieses  Wasser  hätte  mögen  teuer  verkauft«)  und 
einer  übertriebenen  Weichherzigkeit  bei  den  Worten  »den 
Armen«. 

An  den  zänkischen  Ton  dieses  Chors  knüpft  die 
Tochter  Zioh  ihre  erste  Einmischung  in  die  Handlung  an. 
Sie  will  das  »törichte  Streiten  der  Jünger«  durch  den 
Ausdruck  ihrer  eigenen  Liebe  wett  machen  und  bringt 
ihm  ein  Herz  voll  Büß'  und  Reue  dar.  Denn  —  das  ist 
der  Zwischengedanke,  der  zum  Verständnis  dieser  Arie 
ins  Auge  gefaßt  werden  muß  —  durch  die  Sünde  der 
Tochter  Zion,  das  ist:  der  Menschheit  im  Allgemeinen, 
muß  der  Heiland  leiden.  Die  Mehrzahl  der  Sologesänge 
in  der  Matthäuspassion  besteht  außer  der  Arie  noch  aus 
einem  Vorgesang,  den  Bach  einfach  mit  Rezitativ  be- 
zeichnet hat.  Es  ist  das  sogenannte  Recitativo  accom- 
pagnato:  die  von  den  Italienern  in  Oper  und  Oratorium 
für  die  Wiedergabe  hochpathetischer  Empfindungen  be- 
stimmte Sonderform  des  Sologesanges,  von  der  Arie  durch 
das  Hervortreten  des  deklamatorischen  Elements  unter- 
schieden. In  der  Johannespassion  erscheint  diese  Rezi- 
tativform unter  dem  Titel  Arioso  und  zwar  nur  an  zwei 
Stellen.  In  der  Matthäuspassion  sind  diese  zahlreichen 
kurzen  Ariosos  ein  Hauptschmuck,  durchweg  so  voll 
Musik  und  Ausdruck,  daß  man  viele  der  an  sich  auch 
schönen  und  bedeutenden  Arien,  welche  durch  jene  nur 
eingeleitet  werden  sollen,  in  Anbetracht  der  Länge  des 
Werkes  in  der  Regel  wegläßt  und  auch  weglassen  kann. 
Die  zweite  Arie  unserer  Szene,  mit  welcher  die  Tochter 
Zion  die  Nachricht  von  den  verräterischen  Absichten 
des  Judas  begleitet  (Sopran  »Blute  nur«),  ist  eine  der 
wenigen,  welchen  kein  solches  Arioso  vorhergeht.  Eine 
dritte  Arie  (ebenfalls  des  Soprans)  schließt  die  erste 
Szene  ab:  »Wie  wohl  mein  Herz  in  Tränen  schwimmt«. 
Auch  sie  hat  den  wehmütig  liebevollen  Grundton,  in 
welchem  in  diesem  Abschnitte  der  Passion  alle  Arien 
gehalten  sind.  Bach  instrumentiert  sie  alle  mit  Flö- 
ten und  sanften  Instrumenten  und  läßt  die  Worte 
mit    Figuren    umspielen,    welche    zärtlichen    Gebärden 


t 


V 


gleichen,  wie  sie  Rinder  und  Mutter  unter  einander  aus- 
tauschen. Die  eigentliche  Arie  dieser  hier  in  Rede 
stehenden  Soprannummer:  >Ich  will  dir  mein  Herze 
schenken«  kommt  selten  zum  Vortrag.  Sie  ist  eine  der 
wenigen  madrigalischen  Nummern  des  Werks,  in  welchen 
der  Passionston  ganz  zurücktritt:  es  ist  die  freudige  Er- 
klärung der  gläubigen  Seele  an  den  Bräutigam,  an 
Christum  als  Seelenbräutigam.  Das  Arioso  >'Wie  wohU 
nimmt  seinen  Bezug  auf  die  in  der  Handlung  eben  vor- 
geführte Einsetzung  des  Abendmahls,  welches  sie  als  das 
>  Testament  Christi«  in  einer  eigentümlichen  Mischung 
von  Entzücken^  und  Abschiedstrauer  feiert. 

Die  eben  erwähnte  Einsetzung  des  Abendmahls  ist 
auch  musikalisch  der  hervorragendste  Abschnitt  in  den 
Reden  Christi,  weniger  wegen  des  Reichtums  in  den 
Einzelheiten  des  Ausdrucks  als  wegen  der  Form,  welche 
an  dieser  Stelle  ausnahmsweise  einen  bewegten  Cha- 
rakter annimmt  und  einhält.  Während  Christus  «sonst 
deklamiert,  singt  er  hier,  und  die  begleitenden  Instrumente 
—  vorher,  wenn  Christus  spricht,  auf  langen  Tönen  fest- 
gebannt —  singen  mit.  Das  gesangliche  Element,  welches 
die  Einsetzungsworte  ganz  durchdringt,  kommt  in  den 
vorhergehenden  Reden  des  Herrn  nur  an  vereinzelten 
Funkten  zum  Ausdruck  bei  Worten,  welche  geeignet  sind, 
die  Fantasie  lebhafter  aufzurütteln:  >gekreuzigt«,  »begra- 
ben«, »verraten«.  Ganz  in  derselben  Methode,  nur  ohne 
den  verklärenden  Schimmer  des  Geigenklangs  sind  auch  die 
Reden  der  Nebenpersonen  und  die  Erzählung  des  Evan- 
gelisten behandelt.  Es  ist  eine  lebhafte,  den  Einzelheiten 
des  Textbildes  nachgehende  Deklamation,  die  an  wichtigen 
Punkten  in  musikalische  Figuren  übergeht,  um  zu  malen. 
Auch  dafür  haben  die  Venetianer  das  Muster  gegeben. 

Mit  einem  ähnlichen  geschlossenen,  aber  auf  wenige 
Takte  beschränkten  selbständigen  musikalischen  Bilde, 
wie  es  die  Einsetzungsworte  enthalten,  beginnt  auch  die 
zweite  Szene:  »Jesus  am  ölberg  imd  auf  Gethsemane«. 
Es  ist  die  kurze  Stelle:  »Ich  werde  den  Hirten  schla- 
gen«.  Sie  besonders  herauszuheben  und  durch  Mittel  der 


-^     90 

Tonmalerei  anschaulich  zu  machen,  ist  eine  alte  Tradi- 
tion, die  sich  in  der  oratorischen  Passion  Deutschlands 
bis  zu  Sebastiani  zurückverfolgen  läßt.  Auch  in  Choral- 
passionen aus  dem  Anfang  des  4  7.  Jahrhunderts  ist  sie 
schon,  und  mit  ihr  die  Einsetzung  des  Abendmahls, 
durch  reichere  Bewegung  ^.i:o^?zeichnet.  Speziell  mit 
der  Schützschen  Matthäuspassion  stimmt  Bach  nament- 
lich in  der  feierlichen  Behandlung  der  Worte:  »Wenn  ich 
aber  auferstehe  <  ganz  auffallend  über  ein. 

Wenn  irgendwo  die  oratorischen  Hilfsmittel  am  Platze 
sind,  so  ist  es  in  der  Szene  auf  Gethsemane:  Der  Herr 
in  höchster  Seelennot,  von  Verzweiflung  gefaßt,  bittet 
seine  Jünger  wieder  und  wieder  ihn  nicht  zu  verlassen, 
mit  ihm  zu  wachen  —  und  sie  schlafen.  Niemand  wird 
an  dieser  Stelle  ruhig  weiter  lesen,  ruhig  weiter  hören 
können.  Hier  ist  es  zu  viel  der  schonungsvollen  Objek- 
tivität des  Evangelienberichtes.  Das  Herz  will  dazwischen 
reden.  Diesem  Gefühle  hat  Bach  in  der  schönsten 
Weise  Rechnung  getragen.  Den  größten  Teil  der  Geth- 
semaneszene  füllt  er  mit  einem  betrachtenden  Stücke, 
welches  zu  den  empfindungsvollsten  und  eindringlichsten 
der  ganzen  Matthäuspassion  gehört.  Es  zählt  in  seiner 
Form  wieder  zu  jenen  für  die  Matthäuspassion  bezeich- 
nenden Doppelarien,  von  welchen  bereits  gesprochen 
worden  ist.  Der  Vorgesang:  >0  Schmerz,  hier  zittert 
das  gequälte  Herz<  besteht  aus  einer  Ghoralbearbeitung 
von  jener  einfacheren  Art,  wie  wir  ihr  bereits  in  der 
Tenorarie  der  Lukaspassion:  »Laßt  mich  ihn  nur  noch  ein- 
mal küssen  <  begegnet  sind  und  wie  sie  Bach  in  der 
früheren  Zeit  häufiger  pflegte.  Dort  spielte  das  Orchester 
den  Choral,  hier  singt  ihn  ein  Singechor.  Die  Melodie 
ist  die  in  der  Matthäuspassion  mehrmals  (im  einfachen 
Satze)  wiederkehrende  von  »Herzliebster  Jesu«,  die  Worte 
dazu:  »Was  ist  die  ürsach  aller  solcher  Plagen«.  Der  Ab- 
schnitt beginnt  mit  einem  ^;-s^  auch  die 
Vorspiel,  dessen  schwer  '  £  ^\  n  %  T\^  \  f  ;  Form  und 
klagendes  Hauptmotiv  iX  ^^^  Stim- 
mung der  längeren  Zwischenspiele  trägt,  in  welchen  Solist 


91 

und  Orchester  die  einzelnen  Strophen  des  Chorals  trennen, 
und  ebenso  das  heißen  Ausdrucks  volle  Nachspiel.  Auch 
in  der  eigentlichen  Hauptarie :  »Ich  will  bei  meinem  Jesus 
wachen«  ist  die  Zweiteilung  des  einleitenden  Ariosos  weiter 
geführt.  Der  Solist  gelobt  dem  Heiland  Treue  und  der  Chor 
malt  wie  aus  der  Feme  den  Erfolg  dieses  Gelöbnisses.  Der 
Tenor,  der  vorhin  so  mächtig  klagte,  singt  jetzt  eine 
Melodie  ernster  Freudigkeit,  —  noch  beredter  als  er 
spricht  die  Solooboe  ihm  die  Weise  vor  und  mit  eigen- 
tümlichen schweren  und  trüben  Akzenten  gemischt  — ; 
aus  dem  Chor  tönt  über  die  Worte:  >So  schlafen  unsere 
Sünden  ein«  eine  sanfte  und  zarte  Schlummermusik. 
Zwei  Bilder  in  der  Form  streng  gesondert  und  im  Inhalt, 
das  eine  der  Reflex  des  anderen;  in  beiden  eine  Einfachheit 
der  Motive,  eine  schaffe  und  leidenschaftliche  Gruppierung 
wie  im  Volkslied!  Den  ersten  Augenblick  der  Entrüstung,  wo 
Christus  die  Jünger  schlafend  findet,  hat  Bach  durch  eine 
kürzere  Einlage  markiert:  eine  Baßarie  mit  vorausgehendem 
Recitativo  accompagnato:  »Der  Heiland  fällt  vor  seinem 
Vater  nieder«  die  gewöhnlich  wegbleibt,  da  sie,  nur  im 
ernsteren  und  gedrängteren  Ton,  dasselbe  sagt,  wie  der 
vorausgehende  große  Satz  von  Tenor  und '  Chor.  Den 
Schluß  des  großen  Kampfes,  die  Stelle,  wo  Christus  sich 
in  den  Willen  des  Vaters  ergibt,  verdeutlicht  der  Choral : 
»Was  mein  Gott  will,  das  g'scheh  allzeit«. 

Den  Akt  der  Gefangennehmung,  die  Schlußszene  des 
ersten  Teils,  führt  Bach  in  einem  Tonsatze  aus,  in  wel- 
chem wir  eins  der  gewaltigsten  dramatischen  Bilder  zu 
erblicken  haben,  welche  die  Musik  kennt.  Dieser  Satz 
ist  ein  Meisterstück  eines  genialen  Realisten,  in  großen 
und  kühnen  Freskozügen  hingeworfen  und  doch  reich  an 
fein  beobachteten  und  naturgetreu  wiedergegebenen  Ein- 
zelheiten. Man  täuscht  sich  kaum,  wenn  man  in  diesem 
von  elementarem  Schwung  erfüllten  Bilde  auch  Äußer- 
lichkeiten veranschaulicht  glaubt,  welche  der  biblische 
Bericht  nur  im  Vorbeigehen  streift.  Sie  betreffen  das 
Orchesterkolorit  des  Satzes.  In  dem  gedämpften  Klang 
der  unisono  spielenden  Geigeninstrumente,  in  ihren  jetzt 


— ^      92     ^ — 

stockenden,  jetzt  unheimlich  flutenden  Rhythmen  liegt 
wohl  ein  Hinweis  auf  das  unheimliche  Leben  am 
nächtlichen  Himmel.  Der  Mond  verbarg  sich,  als  sie 
Christum  banden  und  fortführten.  So  will  auch  das 
Licht  äes  Klanges  in  diesem  Satze  mehrmals  erlöschen, 
bis  in  dem  Schlußteil  (S/g-Takt:  >Sind  Blitze  und  Don- 
ner«) in  den  dröhnenden  und  rollenden  Baßfiguren  und 
den  zischenden  und  bebenden  Violinen  alle  Wetter  los- 
brechen. Im  Gesangsatze  vereinigen  sich  die  Toch- 
ter Zion  und  der  Chor  der  gläubigen  Seelen.  Jene 
spricht  (in  Form  eines  Zwiegesanges  von  Sopran  und  Alt) 

in     heftig  ^ ^^^         die  in  das 

klagenden  r^  '  ,,  p  ,»  ^  |  J,  J)  J.  ^fT^^ ,  ^^ere,  dro- 
Melodien:    ÜP        ^  '     P'  V       ^^    hende  Dun- 

kel des  Instrumentensatzes  schneidend  hineinklingen, 
und  in  weinenden  Gängen.  Der  Chor  steht  der  Szene 
in  entgegengesetzter  Haltung  gegenüber:  er  donnert 
den  Schergen  kurze  Zurufe  zu,  deren  empörter  und 
entrüsteter  Inhalt  sich  in  dem  schon  bezeichneten 
Schlußteile  des  Satzes  zu  einer  zusammenhängenden 
und  erschreckenden  Tonflut  verdichtet.  Hier  wird  der 
Chorsatz  achtstimmig,  die  beiden  Gruppen  treiben  sich 
zur  höchsten  Spitze  der  Wut,  wo  eine  Generalpause  das 
»Nicht  weiter«  bezeichnen  muß.  Von  da  an  lenkt  der 
Satz  in  seinem  Charakter  etwas  um  und  ganz  am  Schlüsse 
in  den  Ton  der  Klage  ein.  Dieser  Satz  ist  derjenige,  wo 
Bach  sich  der  Opernnatur  des  italienischen  Oratoriums 
um  einen  bemerkbaren  Schritt  genähert  hat  Man 
würde  durch  Text  und  Musik  berechtigt  sein,  den  Chor- 
satz dieser  Nummer  in  den  Mund  der  Jünger  zu  legen. 
Den  kirchlichen  Charakter  der  Passion  am  Schlüsse  ihres 
ersten  Teils  nochmals  nachdrücklich  festzustellen,  hat 
deshalb  Bach  an  diese  Stelle  eine  seiner  umfangreichsten. 
Ghoralfantasien  hingesetzt:  die  große  Komposition  über 
den  altklassischen  Passionschoral:  >0  Mensch,  bewein 
dein  Sünde  groß«.  Die  Melodie  singt  der  Sopran,  die 
übrigen  Stimmen  umschreiben  mit  selbständigen  Themen 
und  geben  ab  und  zu  auch  einen  ausdrucksvollen  Anhang. 


9 

Das  Orchester  vervollständigt  das  großartige  Stimmungs- 
bild mit  einem  sehr  beweglichen  Gewinde  über  die  Figur: 

deren*  einfaches  Grund- 
motiv alle    Stufen    der 
Klage  von  dem  zarten 
wehmütigen  Sinnen  bis 
zum  pathetischen  Ausbruch  des  bitteren  Schmerzes  durch- 
wandert. 
>.  Die  rasch,  und  reich  bewegte  Handlung  im  zweiten 

Teile  der  Matthäuspassion  ist  in  vier  Abschnitte  geglie- 
dert. Der  erste,  die  Vernehmung  Christi  vor  dem  Hohen- 
priester umfassend,  wird  durch  eine  madrigalische  Ein- 
lage (Altsolo  und  Chor)  eingeleitet,  welche  an  den  Punkt 
der  Handlung  anknüpft,  bei  welchem  sie  am  Ende  des 
ersten  Teils  verlassen  wurde.  Die  Tochter  Zion  sucht 
den  Herrn  und  klagt  in  tiefbekümmerten  Melodien  »nun 
ist  mein  Jesus  hin«.  Es  ist  eine  der  rührendsten  Szenen 
der  Passion,  ein  Bild,  über  dessen  tiefe  Traurigkeit  eine 
wunderbare  Anmut  gebreitet  ist.  Wie  die  Tochter  Zion 
so  dasteht  und,  während  die  Instrumente  spielen,  in  einem 
langen  Ton  Umschau  hält,  wie  die  gläubigen  Seelen  als 
liebevolle  Gefährten  in  den  kurzen  fugierten  Chorsätzen 
ihr  freundlich  zusprechen  und  sich  regen  eifrig  mitzu- 
suchen  —  eine  herzhchere  Idylle  im  Kreise  leidtragender 
Menschen  läßt  sich  nicht  denken.  Es  ist  nicht  unwich- 
tig, daß  Bach  die  Solostimme  dem  ersten  Chor  entnom- 
men haben  will,  den  Chorsatz  selbst  dem  zweiten  Chor 
zuweist.  Mit  dieser  Vorschrift,  die  uns  ähnlich  noch  bei 
anderen  Nummern  begegnet,  ist  augenscheinlich  eine 
gewisse  szenische  Wirkung  beabsichtigt.  Der  erste  ge- 
schlossene dramatische  Tonsatz  in  dem  Abschnitte  ist 
das  Duett  der  beiden  falschen  Zeugen:  »Er  hat  gesagt«, 
ein  kleiner  Kanon  in  der  Oktav,  durch  welchen  ähnlich  wie- 
bei  Schütz  das  mechanische  gedankenlose  Hinplappern 
angedeutet  werden  soll.  Mit  beabsichtigter  Übertreibung 
ist  das  Bild  des  »Aufbauens«  koloriert.  Die  Wichtigkeit 
der  Aussage  hat  zur  Einlage'  einer  Arie  für  Tenor  »Mein 
Jesus  schweigt  zu  falschen  Lügen  stille«  Veranlassung 


04     ^— 

gegeben,  die  in  der  Regel  übergangen  wird.  In  ihrem 
Rezitativ  ist  das  Orchester  in  leisem  Staccato  geführt, 
jeder  Akkord  dfirch  eine  Pause  gefolgt,  die  Span- 
nung anzudeuten,  welche  das  Schweigen  Christi  erregt. 
Die  Arie  selbst  wirkt  mit  der  Deklamation  des  Wortes 
> Gedulde  und  greift  durch  ihren  helleren  l'on  über  den 
Kreis  der  Passionsstimmung  hinaus.  Als  Christus  end- 
lich spricht,  beginnen  die  Violinen  zu  den  Worten  von 
»dem  Sitze  zur  Rechten  der  Kraftt  ein  myst^ches  Figuren- 
spiel. Auch  hierfür  liegt  ältere  Tradition  vor.  Der  Doppel- 
chor >Er  ist  des  Todes  schuldig«,  mit  welchem  die  an- 
gebliche Gotteslästerung  von  den  Hohenpriestern  beant- 
wortet wird,  zeigt  eine  gewisse  freudige  Aufregung:  End- 
lich ist  ein  Anhalt  gefunden.  Nur  die  SchluBtakte  haben 
einen  drohenden  GbarakteK  Der  ebenfalls  sehr  kurze 
Chor  »Weissage,  wer  ist  es,  der  dich  schlugt  offenbart 
den  frechen  Übermut  der  Pfa£fenpartei.  In  seinen  Sech- 
zehntelfiguren ist  das  höhnische  Gelächter,  in  den  kurzen 
Rhythmen,  mit  denen  sich  die  Chöre  ablösen,  das  grau- 
same Necken  und  Spielen  gezeichnet.  Mit  ihm  schließt 
dieser  erste  Abschnitt  des  zweiten  Teils,  ^d  der  ein- 
fache Choral  »Wer  hat  dich  so  geschlagen«  markiert 
diesen  Schluß. 

Als  Anhang  sind  ihm  zwei  Episoden  beigegeben :  die 
Verleugnung  des  Petrus  und  der  Tod  des  Judas.  Die 
Episode  der  Verleugnung  des  Petrus  war  ein  Abschnitt 
der  Leidensgeschichte,  welchem  die  Zuhörer  besonderes 
Interesse  entgegenbrachten.  Hier  wirkte  die  Erinnerung 
an  die  handgreifliche  Natürlichkeit  der  alten  Passions- 
spiele noch  lebendig  weiter.  Wenn  die  Kurrenden  in  den 
mitteldeutschen  Städten  ihren  Passionsumzug  hielten  •— 
und  dieser  blieb  bis  ins  4  9.  Jahrhundert  hinein  noch  ge- 
bräuchlich —  da  warteten  die  Leute  unter  den  Türen 
und  auf  der  Gasse  mit  Spannung  auf  das  Auftreten  der 
beiden  Mägde  und  auf  das  Krähen  des  Hahnes*).    Auch 


*)  Th.  Kiiebitzsch:  Du  Oiatoiium  (Muslkal.  Wochenblatt, 
1870). 


Bach  hat  auf  diese  naiven  Kunstansprüche  der  großen 
Masse  freundlich  Rücksicht  genommen.  In  seiner  Johannes- 
passion, wie  in  der  zu  Matthäus  ist  das  Krähen  des 
Hahnes  leicht  angedeutet;  ernster  ausgeführt  ist  das 
Weinen  Petri —  eine  von  den  Darstellern  des  Evange- 
listen gefürchtete  Stelle,  für  welche  die  Kunst  des  Fal- 
settierens  in  einem  Grade  vorausgesetzt  wird,  wie  er  im 
48.  Jahrhundert  noch  allgemein  verbreitet  war.  Ein  Zug 
ironischer  Art  äußert  sich  am  Anfatige  dieses  nach  dem 
kurzen  Chor:  »Wahrlich,  du  bist  auch  Einer  etc.«  ein- 
setzenden Rezitativs.  Bach  setzt  die  Worte  des  Evan- 
gelii^en:»Und  alsbald  krähete  der  Hahn«  auf  genau  die- 
selbe Tonreihe,  in  der  Petrus  unmittelbar  vorher  be- 
teuert: >Ich  kenne  des  Menschen  nicht«.  Wenn  Bach 
hier  und  auch  in  der  Johannespassion  den  Evangelisten 
das  Weinen  des  Petrus  so  geflissentlich  verbildlichen 
läßt,  so  war  ihm  dabei  um  mehr  als  eine  wirkungsvolle 
Tonmalerei  zu  tun.  In  anderen  oratorischen  Passionen 
verurteilt  die  Tochter  Zion  den  Abfall  des  Petrus  mit 
einem  zornigen  Erguß;  in  den  beiden  genannten  Bach- 
schen  Passionen  aber  spricht  sie  ihn  frei  um  seines  Wei- 
nens willen.  In  der  herrlichen  Arie  »Erbarme  dich«, 
welche  den  Schluß  der  Petrusepisode  bildet,  weint  sie 
mit  Es  ist  wohl  kein  Zufall,  daß  dieses  kunstvolle 
Duett  der  Altstimme  und  der  Solovioline,  trotz  seiner 
langgemessenen  schwierigen  Melodieperioden,  einer  der 
populärsten  Sologesänge  geworden  ist.  Der  Naturton 
darin  ist  unwiderstehlich. 

Die  Episode  von  der  Reue  und  dem  Tode  des  Judas 
bringt  in  dem  Satze:  >Was  gehet  uns  das  an«  wieder 
einen  kurzen  Doppelchor,  dessen  anfänglich  gleichgül- 
tiger Ton  am  Schlüsse  den  Ärger  und  die  Gereiztheit 
zu  Tage  treten  läßt,  und  ein  Duett  zweier  Bässe,  welche 
Bach  als  »Pontifex  primus«  und  >P.  secundus«  bezeichnet 
hat,  über  die  Worte:  >Es  taugt  nicht,  daß  wir  sie  in  den 
Gotteskasten  legen«.  Bei  dem  Worte  »Blutgeld«  äußert 
diese  vorher  absichtlich  etwas  bombastisch  gehaltene 
Musik   deutlich   den   Schauder.      Den   Abschluß   dieser 


Judasepisode  macht  die  Tochter  Zion  mit  einer  Baßarie 
—  ohne  Rezitativ  —  »Gebt  mir  meinen  Jesum  wieder c, 
welche  sehr  breit  ausgeführt  ist  und  auffällig  behagliche 
Bestandteile  enthält. 

Der  zweite  Abschnitt,  Christi  Verhörung  durch  Pila- 
tus umfassend,  hat  den  musikalischen  Schwerpunkt  in 
den  dramatischen  Chören,  den  erregten  Äußerungen 
der  Volksmassen.  Da  ist  das  in  seiner  plötzlichen,  bhtz- 
artigen  Wucht  niederschmetternde:  »Barrabam«.  Seine 
Kürze  dankt  es  wahrscheinlich  der  Erinnerung  Bachs  an 
die  alten  Choralpassionen.  Die  in  ihrer  Bedeutung  einen 
ganzen  langen  Satz  überbietende  Dissonanz,  in  welche 
der  Ruf  gekleidet  wird,  ist  Bachs  eigenste  Idee.  Da  ist 
femer  das  dämonisch  kalte  »Kreuzige«  mit  dem  unge- 
duldig und  ungebärdig  wie  eine  Drohung  gegen  den  Land- 
pfleger abbrechenden  Schlüsse:  und  da  ist  das  leichtfertig 
verwegene  »Sein  Blut  komme  über  uns  und  unsere  Kinder«; 
Bach  hat  in  diesem  letzten  Stück  die  törichte  Verblen- 
dung der  Menge  hervorgehoben,  nicht  ihren  Fanatismus : 
die  tänzelnden  Rhythmen,  die  auf  Tonleitergängen  hinr 
tändelnde  Melodik,  würden  auf  einen  Text  ganz  fröhlichen 
Inhalts  schließen  lassen,  wenn  nicht  in  der  Harmonie 
der  Mollcharakter  vorherrschte.  In  Bezug  auf  malerische 
Kraft  in  der  Motiverfindung  und  in  scharfer  Durchführung 
der  bildlichen  Vorstellung  ist  der  Spottchor  der  Kriegs- 
knechte »Gegrüßet  seist  du«  eins  der  hervorragendsten 
Stücke  unter  den  dramatischen  Chören  der  Passion.  In 
diesen  vier  Takten  steht  alles,  was  zu  dem  Bilde  gehört, 
die  grotesken  Verbeugungen,  das  Kichern  und  Lachen 
und  das  hart  herausfahrende  verächtliche  Schimpfen. 
Diesen  Höhepunkt  der  Schmach  hat  Bach  in  für  ihn  be- 
zeichnender Weise  nicht  mit  einer  Arie  oder  einer  anderen 
Art  des  oratorischen  Kunstgesanges  ausgestattet,  sondern 
mit  dem  Choral  »0  Haupt  voll  Blut  und  Wunden«  und 
zwar  in  der  einfachsten  Satzform.  —  Es  sind  in  diesem 
Abschnitte  nur  noch  zwei  Stellen,  an  welchen  der  bibli- 
sche Text  durch  oratorische  Einlagen  unterbrochen  wird. 
Das  erste  Mal  singt  der  Sopran  auf  die  Frage  des  Land- 


pflegers:  »Was  hat  er  dfenn  Übles  getan«  eine  Arie  mit 
vorausgeheadem  Arioso:  »Er  hat  uns  Allen  wohlgetan«. 
Das  Wort  des  Pilatus  zwang  nicht  zum  Verweilen,  aber 
dem  Komponisten  war  es  wünschenswert,  zwischen  dem 
Chor  »Laß  ihn  kreuzigen«  und  seiner  Wiederholung  etwas 
Zeit  vergehen  zu  lassen.  Zudem  ist  die  Arie  in  ihrem 
fahlen,  wie  von  Flor  bedeckten  Kolorit  un^  in  ihrem  auf 
Fermaten  absetzenden  Bau  eine  der  eigentümlichsten 
Nummern  der  Passion.  Die  andere  Stelle,  an  welcher 
die  Tochter  Zion  mit  einer  Arie  einsetzt,  ist  die,  wo  das 
Verhör  durch  den  Beschluß  beendigt  wird,  daß  Jesus  ge- 
kreuzigt werde.  Die  Arie  (Alt:  »Erbarm  es  Gott«)  besteht 
wieder  aus  Einleitung,  Arioso  und  Hauptsatz.  Beiden 
Sätzen  ist  die  unruhige  Sprache  der  erschütterten,  aus 
der  Fassung  gebrachten  Seele  gegeben.  Im  Arioso  folgt 
Bach  dem  tonmalerischen  Zuge  seiner  Zeit  und  führt  im 
Orchester  das  Bild  des  Geißeins  durch. 

Der  dritte  Abschnitt  des  zweiten  Teils,  welcher  die 
Kreuzigung'  auf  Golgatha  enthält,  wird  mit  einer  Arie 
eingeleitet  »Ja  freilich  will  in  uns  das  Fleisch  und  Blut 
zum  Kreuz  gezwungen  sein«,  in  welcher  ein  Solobaß  mit 
der  Viola  da  Gamba  konzertiert.  Der  Teit  knüpft  an  die 
Stelle  der  Erzählung  an,  wo  Simon  von  Kyrene  dem 
Herrn  das  Kreuz  abnimmt.  Die  Tochter  Zion  erklärt, 
daß  sie  dem  Heiland,  der  das  Kreuz  der  Menschheit  ge- 
tragen, einen  gleichen  Liebesdienst  mit  süßer  Lust*  er- 
weisen will.  Die  Musik  hat  jene  Mischung  von  Ernst 
und  inniger  Schwärmerei,  die  Bach  eigen  ist;  das  Solo- 
instrument drückt  Kraft  und  Freudigkeit  in  freundlichen 
und  lieblichen  Figuren  aus.  In  den  beiden  Chören  »Der 
du  den  Tempel  Gottes  zerbrichst«  und  »Andern  hat  er 
geholfen«  wechselt  der  leicht  scherzende  und  spöttelnde 
mit  einem  harten  verweisenden  und  barschen  Ton.  Eine 
Stelle,  deren  höhnischer  Ausdruck  leicht  verkannt  wird, 
ist  in  dem  letztgenannten  bei  den  Worten:  »Er  hat  Gott 
vertrauet«.  Beide  Chöre  sind  voll  absichtlich  gespreizter 
Malereien;  besonders  wird  das  »Herabsteigen  vom  Kreuze« 
ausgeführt.    An  der  Stelle,  wo  der  Evangelist  erzählt,  daß 

II,  4.  7 


auch  die  Mörder,  die  mit  gekreuzigt  wurden,  den  Heiland 
schmäheten,  klagt  die  Tochter  Zion  in  einem  ausdrucks- 
vollen Aribso:  >Ach  Golgatha«.  Namentlich  das  Ende 
dieses  Satzes  bringt  eine  Schwere  der  Empfindung  zum 
Ausdruck,  welche  die  Grenzen  der  musikalischen  Form 
fast  überschreitet.  Die  Singstimme  schreit  ihr:  »Ach 
Golgatha«  noch  einmal  laut  auf  und  sinkt  dann  wie  ge« 
brochen  hinab,  um  auf  einer  Dissonanz  zu  verklingen, 
welche  die  Instrumente  allein  aufzulösen  haben.  Die 
darauffolgende  Arie:  »Sehet,  Jesu  hat  die  Hand  uns  zu 
fassen  ausgespannt«,  wird  in  der  Regel  ausgelassen.  Sie 
wirkt*  auf  den  naturalistischen  Ausbruch  des  herben 
Schmerzes,  mit  dem  das  Arioso  zu  Ende  ging,  wie  ein 
weicher  Balsam.  Der  Zutritt  des  Chors  der  gläubigen 
Seelen,  welche  hier  genau  so  wie  in  der  schönen  Baß- 
arie der  Johannespassion  »Eilt  usw.«  der  Tochter  Zion 
mit  ihren  kurzen  Fragen  »Wie,  Wo«  entgegentreten,  stört 
den  Charakter  des  Satzes  mehr  als  daß  er  ihn  hebt.  Die 
ergreifenden  Worte  Christi:  »Eli  usw.«  sind  ohne  das  ob- 
ligate Streichquartett  begleitet,  welches  bis  dahin  den 
Reden  Christi  beigegeben  war.  Auf  den  Zusammenhang, 
in  welchem  diese  einfachere  Behandlung  mit  der  alten 
Choralpassion  steht,  ist  schon  früher  hingewiesen  worden. 
Die  beiden  Chöre,  in  welchen  die  Menge  diesen  Scheide- 
ruf Christi  auslegt,  sind  sehr  kurz  gehalten,  der  erste  im 
Töne  der  einfachen  Verwunderung,  der  zweite  mit  einem 
Beisatz  gehässiger  Kritik.  Der  dramatische  Hauptpunkt 
auch  dieses  Abschnittes,  die  Stelle  wo  es  heißt:  »Jesus 
schrie  abermals  laut  und  verschied«  ist  wieder  mit  einem 
einfachen  Choral  bezeichnet:  »0  Haupt  voll  Blut  und 
Wunden«  jetzt  mit  dem  Text  »Wenn  ich  einmal  soll 
scheiden«  und  diesmal  —  das  erste  und  einzige  Mal,  so 
oft  der  Choral  in  der  Passion  vorkommt  —  nicht  in  der 
Durtonart,  sondern  in  der  alten  phrygischen  Weise,  die 
unsrem  Moll  etwas  verwandt  ist. 

Die  Szene  der  Kreuzigung  hat  in  der  Erzählung  von 
dem  Erdbeben  und  in  dem  kurzen  frommen  Satze  des 
Hauptmanns  und  seiner  Gefährten  »Wahrlich,  dieser  ist 


Gottes  Sohn  gewesen«  ein  aufregendes  und  feierliches 
NachspieL  In  der  Darstellung  des  Erdhehens  ist,  der 
Skizze  des  Continuo  nach  zu  schließen,  auf  eine  reichere 
Entfaltung  der  Orgelkünste  gerechnet.  Manche  alte  Orgeln 
fiatten  für  das  »terraemoto«  ein  besonderes  Register. 

Der  vierte  Abschnitt  des  zweiten  Teils,  der  letzte  der 
'  Passion  überhaupt,  enthält  nur  drei  ausgeführtere  Stücke: 
Das  mittlere  allein  ist  dramatischen  Charakters:  der 
Chor  der  Hohenpriester:  »Herr,  wir  haben  gedacht«, 
einer  derjenigen  Sätze  unter  den  dramatischen  Chören, 
welche  inbezug  auf  Charakteristik  in  zweiter  Linie 
stehen.  Die  beiden  anderen  Sätze  sind  madrigalische 
Ergänzungen  des  Bibeltextes  und  in  der  Stimmung  ein- 
ander verwandt.  Der  erste  ist  ein  Sologesang  des  Basses: 
Arioso  und  Arie:  »Am  Abend,  da  es  kühle  ward«.  Unter 
den  vielen  Ariosos  der  Matthäuspassion  ist  dieses  das- 
jenige, welches  am  meisten  singt  und  von  dem  Charakter 
eines  pathetisch  deklamierenden  Yorbereitungssatzes  sich 
am  weitesten  entfernt.  Ein  bedeutendes  Stück  roman- 
tischen Sinnes  liegt  in  ihm  in  den  warmen  lyrischen 
Akzenten,  mit  welchen  die  Singstimme  der  »schönen  Zeit« 
der  Abendstunde  gedenkt,  und  in  den  zart  und  sanft 
in  die  Tiefe  hingleitenden  Figuren,  mit  welchen  die 
Geigen  die  Schatten  der  nahenden  Nacht  vor .  der  Fan- 
tasie aufsteigen  lassen.  Gleich  schön  und  von  eigener 
Schwärmerei  erfüllt  ist  die  zu  diesem  Arioso  gehörige 
Arie.  Wie  schade,  daß  sie,  von  deren  edel  populärer  Melo- 
dik schon  der  .,.,,„,  ,  -  ^  ■■  ^  ,  so  gut  wie 
Anfang  einen  }^V'  ^^  '    ?  r    P   f-TI^  I^S   unbekannt 

Begriff     gibt,  Ma-«te  dich  mein  ar^ie,   refail         jg^ 

Oft  liest  und  hört  man:  es  sei  unpassend,  daß  der 
Sänger,  welcher  die  Partie  des  Christus  durchgeführt  hat, 
nachdem  der  Heiland  verschieden  ist,  wieder  auftritt  und 
das  »Am  Abend,  da  es  kühle  ward«  vorträgt.  Diese  Be- 
merkung macht  der  feinen  dramatischen  Empfindung 
unserer  Zeit  Ehre,  aber  sie  geht  über  die  eigenen  An- 
sprüche des  Komponisten  hinaus,  der  nicht  blos  bei  dieser 
Arie,  sondern  auch  bei  zwei  anderen,  die  noch  in  die 

7* 


— ♦      400      <^ — 

Abschnitte  vor  der  Kreuzigung  fallen,  denselben  Sänger 
aus  dem  Coro  I,  der  den  Christus  singt,  zu  verwenden 
erlaubt.  In  den  alten  Choralpassionen  war  man  so  wenig 
bedenklich  in  dergleichen  Fällen,  daß  Christus  auch  ruhig 
den  Baß  in  den  Judenchören  mitsang.  Eine  strenge 
Trennung  in  der  Besetzung  der  dramatischen  Partien 
der  Passion  und  der  madrigalisch -oratorischen  würde 
wenigstens  für  die  Chöre  einen  zurückschreckenden  Auf- 
wand von  Personal  und  von  Aufstellungsplatz  erfordern. 
Vielleicht  gelangt  man  aber  noch  einmal  dahin.  Wenn 
die  Tochter  Zion  und  der  Chor  der  gläubigen  Seelen  auf 
einen  Raum  für  sich  unten  im  Orchester,  oben  Christus, 
die  Soliloquenten  und  die  dramatischen  Chöre,  der  Evan- 
gelist mit  dem  Dirigenten  in  neutraler  Mitte  untergebracht 
werden  könnten  und  die  einfachen  Choräle  von  der  Ge- 
meinde oder  Zuhörerschaft  mitgesungen  würden,  so  wäre 
das  Ideal  von  Deutlichkeit  erreicht  und  manchem  Miß- 
verständnis vorgebeugt,  dem  ein  unvorbereiteter  Besucner 
einer  Passionsaufführung  öfters  unterliegen  kann. 

Die  alte  Gtatiarum  actio  der  Choralpassion  ist  in  der 
Matthäuspassioti  ebenso  wie  in  der  zu  Johannes  durch 
eine  lange,  wehmütig  mild  gestimmte  Chorarie  ersetzt. 
In  der  Matthäuspassion  geht  ihr  wie  der  Mehrzahl  der 
Soloarien  des  Werkes  ein  rezitativisches  Arioso  voraus: 
>Nun  ist  der  Herr  zur  Ruh  gebrachte,  in  dessen  Vortrag 
sich  die  Solisten  der  vier  Stimmen  teilen. 

Man  weiß  allgemein,  daß  die  Matthäuspassion  erst 
dem  49.  Jahrhundert  zugute  gekommen  ist  Sie  gehört 
heute  in  allen  deutschen  Städten,  wo  die  musikalischen 
Zustände  geordnet  siiid,  zu  den  regelmäßigen  Erschei- 
nungen der  Charwoche:  Jahr  für  Jahr  oder  Jahr  um  Jahr. 
Auch  im  Ausland  beginnt  sie  sich  einzubürgern.  Wir 
verdanken  dies  dem  jungen  Mendelssohn,  der  das  Werk 
aus  dem  Archive  hervorzog  und  kühn  und  frisch  mit 
der  Berliner  Singakademie  (4  4.  März  4  829)  aufführte. 
Der  Erfolg  war  in  Berlin  schnell  entschieden.  In  anderen 
Städten  fand  man  die  Stellung  zu  dem  Werke  nicht  so- 
fort.  Aus  Königsberg,  dem  vierten  Ort,  wo  man  sich  {im 


Jahre  4  832  unter  Musikdirektor  Saemann)  an  das  Werk 
wagte,  wurde  berichtet:  »Ein  Teil  der  Zuhörer  lief  schon 
in  der  ersten  Hälfte  zur  Türe  heraus,  andere  nannten 
das  Werk  veralteten  Trödel«.  Der  Referent  schließt  sich 
der  dritten  Gruppe  an,  weljche  Bachs  Passion  einer  kolos- 
salen ägyptischen  Pyramide  vergleicht,  der  sie  den  »Tod 
Jesu«  von  Graun  als  den  anmutigen  griechischen  Tempel 
vorzieht.  Nach  der  ersten  Dresdner  Aufführung  (4  833 
Palmsonntag)  heißt  es  ziemlich  schüchtern:  »Bachs 
Passionsmusik  kann  neben  jeder  neueren  Tondichtung 
bestehen«.  Nach  und  nach  erkannte  man  ihr  dann  wohl 
auch  die  Überlegenheit  zu.  Das  Wiedererscheinen  der 
Matthäuspassion  bezeichnet  einen  der  wichtigsten  Wende- 
punkte in  der  neueren  Musikgeschichte  und  eröffnete  zu- 
nächst für  Deutschland,  allmählich  dann  für  die  gesamte 
Kulturwelt  eine  Periode  der  musikalischen  Renaissance, 
in  der  wir  noch  mitten  drinne  stehen.  Die  Matthäus- 
passion hat  uns'  den  ganzen  Bach,  sie  hat  uns  die  Werke 
von  Schütz,  Palestrina  und  eine  ganze  Reihe  eigentüm- 
licher und  bedeutender  Meister  wiedergebracht,  die  bis 
dahin  fast  nur  in  den  Wörterbüchern  fortlebten;  dem 
Studium  uüd  dem  Genuß  ist  eine  große  Kunstwelt  neu 
erschlossen  worden,  das  geistige  Band  zwischen '  Gegen- 
wart und  vergangnen  Zeiten  wieder  festgeknüpft. 

Gänzlich  unbekannt  blieb  übrigens  die  Matthäus- 
passion den  Zeitgenossen  Bachs  nicht.  Abgesehen  von 
Leipzig,  wo  nach  Rochlitz  am  Ende  des  4  8.  Jahrhunderts 
die  Aufführung  Bach  scher  Passionen  allemal  ein  »künst- 
leriscli  christliches.  Fest«  für  die  ganze  Stadt  gewesen 
sein  soll,  muß  das  Werk  auch  nach  außen  gedrungen 
sein,  wenigstens  in  die  Kreise  der  Kollegen.  Stölzel  hat 
in  einer  seiner  Passionen  ein  Seitenstück  zu  d^m  Arioso 
»Am  Abend,  da  es  kühle  ward«  in  Bachs  Matthäuspassion, 
das  zu  diesem  in  einer  Verwandtschaft  steht,  die  nicht 
auf  bloßer  zufälhger  Gedankenbegegnung  beruhen  kann, 
sondern  auf  das  Studium  des  Bachschen  Originals  zurück- 
geführt werden  muß.  Ähnlich  wird  es  sich  mit  einzelnen, 
schon  früher  berührten  Zügen  der  zweiten  Markuspassion 


— *     \0t     *— 

Telemanns  (vom  Jahre  4759)  verhalten.  Eine  Anspielung 
in  Mizlers  Musikalischer  Bibliothek  (Bd.  IV,  S.  4  09)  auf 
eine  »unvergleichliche  Passionsmusik,  welche  wegen  der 
allzuheftigen  in  ihr  ausgedrückten  Affekte  in  der  Kammer 
eine  gute,  in  der  Kirche  aber  eine  widrige  Wirkung  ge* 
habt  habe«,  könnte  auf  die  Matthäuspassion  bezogen 
werden,  auch  eine  Bemerkung  Marpurgs  (in  »Legende 
einiger  Musikheiligen«)  über  »ein  gewisses  sehr  künst- 
liches Passionsoratorium  eines  gewissen  großen  Doppel- 
kontrapunktisten«  geht  wahrscheinlich  auf  sie*).  Mögen 
aber  diese  Sticheleien  gelten,  wem  sie  wollen  —  eine 
weite  und  allgemeine  Verbreitung  der  Matthäuspassion 
wäre  im  4  8.  Jahrhundert  auch  dann  nicht  möglich  ge- 
wesen, ,  wenn  Bachs  musikalischer  Stil  überall  geliebt 
worden  wäre.  Die  großen  technischen  Schwierigkeiten, 
die  das  Werk  den  mutigen  und  erleuchteten  Dirigenten 
noch  verursachte,  welche  dem  Beispiele  Mendelssohns 
zunächst  folgten  —  aus  dem  Bericht  von  Mosevius  lassen 
sie  sich  ersehen  —  existierten  für  die  kleinen,  aber  sichren 
Schulchöre  des  48.  Jahrhunderts  zwar  nicht;  auch  der 
vermeintHchen  Länge  des  vierstündigen  Werkes,  wielche 
die  gegenwärtige  Generation  in  Verlegenheit  setzt,  wurde 
die  daihallge  Praxis  einfach  Herr.  Aber  die  Zeitgenossen 
Bachs  hatten  für  das,  was  sein  Ideal  war,  die  Verbindung 
alter  und  neuer  Kunst,  die  Mischung  von  Elementen,  die 
noch  mit  der  Ghoralpassion  in  Zusammenhang  standen, 
und  solchen  des  Oratoriums,  wenig  Sinn.  Der  allgemeine 
Geschmack  war  bereits  zu  bestimmt  in  die  Bahnen  des 
italienischen  Oratoriums  eingelenkt.  Bachs  Werke  büe- 
ben,  kaum  als  Merkwürdigkeit  erkannt  und  beachtet,  bei 
Seite  stehen,  und  von  den  Passionen  seiner  Schüler,  die 
nach  den  Grundsätzen  des  Leipziger  Meisters  gebaut 
habensollen,  wie  Krebs,  ging  noch  weniger  Wirkung  aus. 
Die  Bachschen  Passionen  bilden  Enklaven  in  der 
Geschichte  der  Passion,  Inseln  im  großen  Entwicklungs- 
strome der  Gattung.    Von  der  Mitte  des  4  8.  Jahrhunderts 


*)  Vgl.  Ph.  Spitta  a.  a.  0. 


—^      403     ♦— 

ab  kommt  das  nach  den  ersten  Hamburger  Versuchen 
zeitweilig  zurückgedrängte  italienische  Element  in  den 
Passionsmusiken  deutscher  Komponisten  wieder  und  als- 
bald ausschließlich  zur  Geltung.  Von  dieser  Zeit  ab  wird 
die  Leidensgeschichte  vorwiegend  in  zwei  Formen  dar- 
gestellt, welche  beide  den  Zusammenhang  mit  der  alten 
Passionslektion  fallen  lassen  und,  die  eine  im  Geist,  die 
andere  auch  in  der  äußeren  Anlage,  der  Oper  vollständig 
folgen.  Die  Passion  wird  als  Kantate  behandelt,  oder  als 
freies,  opernmäßiges  Oratorium. 

Die  Passionskantate  gibt  den  Inhalt  der  Leidens- 
geschichte in  Form  einer  lebhaften  Betrachtung  wieder, 
die  in  den  Mund  eines  frommen  Zuschauers  gelegt  ist. 
Dieser  äußert  in  Rezitativ,  Arie  und  Chor,  was  er  sieht 
und  was  er  fühlt.  Der  Hauptnachdruck  liegt  aber  im 
Ausdruck  des  Gefühls.  Mit  dem  Evangelisten  und  dem 
Bibelwort  sind  auch  die  redenden  und  handelnden  Per^ 
sonen  des  Evangeliums  beseitigt.  Die  Erzählung  der 
Vorgänge,  die  Wiedergabe  der  Reden  sind  aufs  äußerste 
zusammengedrängt,  das  Rezitativ,  welches  sie  enthält, 
ist  im  Text  mit  zählreichen  »Achs«  und  »Obs«  unter- 
mischt, und  mit  diesem  Text  wetteifert  die  Musik  in 
Empfindsamkeit.  Wie  die  Oper  und  das  italienische 
Oratorium  des  4  8.  Jahrhunderts  ist  auch  die  Passions- 
kantate ein  eigenstes  und  treuestes  Kind  der  Zeit  der 
»schönen  Seelen«  und  ganz  und  gar  dem  Drang  ent- 
sprungen in  unaufhörlichen  lyrischen  Ergüssen  den  Reich- 
tum der  weichen  Herzen  an  den  Tag  zu  bringen.  Die 
Ereignisse  der  Leidensgeschichte  selbst  werden  dem  Zu- 
hörer nur  in  halber  Deutlichkeit  vorgeführt,  der  Dichter 
eüt  durch  die  Rezitative  hindurch,  um  sobald  als  mög- 
lich in  breiten  Formen,  für  Arien  und  Chöre  bestimmt, 
die  Grefühle  zu  entladen,  in  welche  er  sich  aus  dem  be- 
treffenden Anlaß  eifrig,  oft  sehr  mühsam  und  gekünstelt, 
versenkt  hat.  Ein  Zug  von  Eitelkeit  und  Heuchelei  liegt 
in  der  ganzen  Methode,  und  wenn  er  irgendwo  unan- 
genehm berührt,  so  ist  es  bei  einem  Gegenstande  wie 
die  Passion.    Die  Passionskantate  entsprach  aber  nicht 


— ♦      104     ♦— 

bloß  dem  allgemeinen  Geschmack  der  Periode,  sondern 
auch  dem  musikalischen,  und  sie  war  selbst  kirchlidi 
durch  den  Pietismus  vorbereitet.  Dem  Wesen  der  alten 
auf  den  schUchten,  aller  Reflexion  baren  Vortrag  der 
Leidensgeschichte  gerichteten  Ghoralpassion  diametral 
entgegengesetzt,  näherte  sie  sich  dieser  doch  von  einer 
Seite:  in  der  Brauchbarkeit  für  den  Gottesdienst.  Sie 
war  verhältnismäßig  kurz  und  sie  hatte  außerdem  noch, 
mit  den  an  Brockes  anknüpfenden  Reformversuchen 
verglichen,  den  Vorzug  größerer  Einheitlichkeit. 

Die  Anfänge  der  Passionskantate  finden  wir  schon  in 
den  ersten  Jahrzehnten  des  48.  Jahrhunderts.  Einer  der 
frühesten  Tonsetzer,  welche  sie  pflegten,  war  C.H. Graun, 
der  Kapellmeister  Friedrichs  des  Großen.  Als  Schüler  hat 
Graun  noch  eine  Lukaspassion  iAi  Stile  der  Hamburger  ger 
schrieben.  Von  1730  ab  wendete  er  sich  der  Passions- 
kantate zu.  Fünf  Werke,  die  zu  ihr  gehören,  sind  von 
C.  Hl  Qrann,  ihm  bekannt.  Das  letzte,  »Der  Tod  Jesu«;  wurde  zum 
Der  Tod  Jesu.  Hauptdenkmal  der  ganzen  Gattung  und  erlangte  eine 
unvergleichliche  Berümtheit.  In  Berlin,  wo  dieser  »Tod 
Jesu«  mit  Spannung  erwartet,  den  26.  März  4  755  zur  ersten 
Aufführung  kam,  ist  er  bis  in  die  neuere  Zeit  ein  Lieb- 
lingswerk geblieben  und  früher  in  der  Charwoche  zu- 
weilen mehrfach  aufgeführt  worden.  Er  kam  schnell  in 
Druck,  erlebte  in  Partitur  und  Klavierauszug  Auflage 
um  Auflage  und  fand  die  allgemeiijste  Verbreitung.  Der 
»Tod  Jesu«  trat  an  die  Stelle  von  Telemanns  »Seligem 
Erwägen«  und  wurde  auf  Jahrzehnte  in  Nord  und  Süd 
die  beliebteste  Passionsmusik;  in  vielen  Orten  die  stän- 
dige, zu  der  man  Jahr  für  Jahr  wiederkehrte.  Das 
Werk  ist  aus  dieser  Stellung  erst  im  49.  Jahrhundert 
und  nur  langsam  durch  die  Matthäuspassion  von 
S.  Bach  verdrängt  worden.  Wenn  heute  vollständige 
Aufführungen  der  Graunschen  Kantate  seltener  sind,  so 
gibt  es  doch-  auch  jetzt  nur  wenige  Musikfreunde,  welche 
nichts  von  dem  »Tod  Jesu«  gehört  haben  und  nicht 
wenigstens  das  eine  oder  das  andere  Bruchstück  daraus 
kennen. 


Der  Text  zu  dem  Werk,  welcher  von  dem  bekannten 
und  angesehenen  Ästhetiker  Ramler  herrührt,  ist  stark 
getadelt  worden.  Herder  hat  ihn  zum  Gegenstand  eines 
Angriffs  gemacht.  Ramlers  Dichtung  leidet  an  dem 
Familienfehler  aller  oratorischen  Passionsgedichte:  dem 
Mangel  an  Anschaulichkeit  tind  Plastik,  an  klarer  Aus- 
prägung von  Ort,  Zeit  und  Personen  der  Geschichte. 
Man  weiß  nie,  wer  spricht:  der  Vortrag  eines  Augen- 
zeugen der  Leidensszenen  und  die  Betrachtungen,  die 
ein  gläubiger  Christ  achtzehn  Jahrhunderte  später  über 
das  Ereignis  anstellt,  laufen  ungesondert  durcheinander. 
Aber  Ramlers  Kantate  hat  den  doppelten  Vorzug  einer 
einfachen  Gruppierung,  und  eines  ausgezeichneten  musi- 
kalischen Gusses.  Sie  ist  mit  einem  feinen  Sinn  für 
Alles  das  entworfen,  was  die  Generation,  für  welche 
diese  Passion  bestimmt  war,  in  der  Musik  suchte  und 
für  das,  was  Graun  besonders  konnte.  Ramler  ent- 
wickelt die  Leidensgeschichte  in  sieben  Bildern,  und  ob- 
wohl für  die  Anlage  und  Ausführung  dieser  einzelnen 
Bilder  immer  ziemlich  dasselbe  Verfahren  eingeschlagen  ist, 
so  erscheinen  doch  die  Formen  mannigfaltig  und  wechselnd. 

So  ist  der  Eingang  der  Dichtung  sehr  geschickt  ge- 
dacht. Der  Erzähler  tritt  mit  der  Frage  auf:  »Wo  ist 
das  Tal,  die  Höhle,  die,  Jesu,  dich  verbirgt?  Verfolger 
seiner  Seele,  habt  Ihr  ihn  schon  erwürgt ?€  Das  ist  dra- 
matisch, —  aufregend.  Um  des  rein  kirchlichen  Effekts 
willen  hat  aber  Graun  diesen  Eingang  als  Choral,  auf 
die  Melodie:  »0  Haupt  voll  Blut  und  Wunden«  für  vier- 
stimmigen Chor  (und  Gemeinde)  komponiert.  Der  Chor 
fährt  in  der  Nummer  2  (Largo:  >Sein  Odem  ist  schwach«) 
in  der  Rolle  des  pathetischen  Erzählers  fort  und  schil- 
dert, daß  er  Jesus  gefunden  und  wie  elend  er  ihn  ge- 
funden hat.  Am  Anfang  und  Schluß  von  schüchtern  er- 
greifenden Ausdruck,  fugiert  dieser  Satz  zwischen  den 
genannten  Endpunkten  über  zwei  Themen  von  denen 
man  das  erstere  sowohl  in  bezug  auf  seinen  Charakter 
wie  seine  Durchführung  vorziehen  wird.  Nach  dieser 
Nummer  geht  die  Partie  des  Erzählers  an  den  SoUsten 


— ^      406     ♦— 

über  und  wird  Rezitativ:  »Gethsemane!  Gethsemane! 
Wen  hören  deine  Mauern  usw.«  Von  hier  ab  bleibt  die 
vom  Dichter  vorwiegend  in  die  Form  hochbewegter  Fra- 
gen und  Ausrufungssätze  gekleidete  Erzählung  musikaUsch 
in  den  Händen  der  Solisten.  Graun  wählte  für  ihre  Wieder- 
gabe die  Form  des  Recitativo  accompagnato,  welches  er 
wie  überhaupt  die  musikalische  Deklamation,  meisterhch 
beherrschte.  Auch  seine  Opern,  von  denen  der  »Monte- 
zumac  seit  kurzem  gedruckt  vorliegt*),  sind  darin  muster- 
haft. Die  Rezitative  von  Grauns  >Tod  Jesu«  gehören  zu 
den  gehaltvollsten  Lebenszeichen  der  Musik  in  Händeis 
und  Bachs  Zeit;  sie  sind  in  der  Begleitung  reich  an  fan- 
tasievollen und  von  tiefer  Empfindung  getränkten  Zügen; 
in  der  Singstimme  herrscht  ein  bewegter,  aber  immer 
edler  und  maßvoller  Ausdruck.  Das  Publikum'  wurde 
nicht  zum  geringsten  durch  diese  Rezitative  an  den  »Tod 
Jesu«  gefesselt,  und  die  Sänger  beneideten  einander  um 
die  schönen  Stellen,  die  in  diesem  Teile  ihrer  Partien 
jedem  Einzelnen  zufielen:  In  einer  Mannheimer  Partitur, 
die  zur  Zeit,  wo  die  berühmte  Wendling  und  der  Bassist 
Gern  der  dortigen  Hofoper  angehörten,  dem  Dirigenten 
als  Handexemplar  gedient  hat,  ist  das  kurze  eben  hier 
in  Rede  stehende  Rezitativ  > Gethsemane«  auf  drei  So- 
Usten  verteilt  worden.  An  wichtigen  Stellen,  wo  Reden 
Jesu  eintreten,  geht  Graun  aus  dem  Rezitativton  in  einen 
gesangmäßigen  über.  So  bei  den  Worten  Jesu:  >Meine 
Seele  ist  betrübt  bis  in  den  Tod«.  Der  Dichter  schreitet 
von  solchen  Höhepunkten  der  Situation  regelmäßig  zu 
einer  breiten  Betrachtung  fort,  deren  Inhalt  entweder 
darauf  zielt,  den  Zuhörern  zu  sagen:  Nehmt  euch  ein 
Beispiel  an  dem,  was  der  Heiland  hier  für  uns  getan, 
oder:  Sehet,  das  ist  geschehen,  weil  wir  gesündigt  haben. 
Nur  ausnahmsweise  schwingt  sich  Ramlers  Fantasie  aus 
diesen  beiden,  Gleisen  hinaus.  Noch  klarer  ist  der  musi- 
kalische Zweck  dieser  Einschaltungen  ersichtlich.  Sie 
sollen  dem  Komponisten  Gelegenheit  zu  einer  ausgeführten 


♦)  Denkmäler  Deutscher  Tonkunst,  16.  Band. 


--♦     407 

Arie  geben.  So  erhalten  wir  an  der  hier  in  Betracht 
kommenden  Stelle  eine  Arie  »Du  Held,  auf  den  die  Köcher 
des  Todes  ausgeleert  usw.«,  deren  Inhalt  die  Bitte  an 
Christus  bildet:  unser  Schutzgeist  in  der  Stunde  des  Todes 
zu  sein.  Der  erste  und  Hauptteil  der  Musik  in  dieser  Arie 
stützt  sich  auf  den  Begriff  des  Helden,,  der  dem  Kompo- 
nisten Veranlassung  und  Vorwand  zur  Ausführung  bra- 
Youratmender  Motive  wird;  dei:  Schlußteil,  welcher  ziem- 
lich spät  kommt,  bringt  die  Bitte  allein.  Ein  Choral  »Wen 
hab  ich  sonst,  als  dich  allein  c,  von  Chor  und  Gemeinde 
auf  die  Melodie  »Nun  ruhen  alle  ^älder«  gesungen,  bildet 
noch  eine  Ergänzung  des  Gebetsteils  und  schließt  dieses 
erste  Bild  des  Graunschen  »Tod  Jesu«. 

Den  weiteren  sechs  Bildern  liegt  in  Dichtung  und 
Musik  so  ziemlich  genau  dasselbe  Modell  unter,  wie 
dem  hier  geschilderten  ersten.  Das  zweite  fi;hrt  die 
Erzählung  im  Rezitativ  bis  zu  dem  Punkte,  wo  Christus 
seine  Jünger  bittet,  mit  ihm  zu  beten,  und  knüpft 
hieran  eine  mit  milder  Musik  umgebene  Arie,  die  den 
Segen  des  Gebets  behandelt.  Das  dritte  Bild  schildert 
weiter  bis  zur  Verleugnung  Petri.  Auch  Graun  hat  eine 
kleine  Malerei  für  das  Weinen  dieses  Jüngers,  und  Ramler 
hat  das  Weinen  des  Petrus  zu  einer  Betrachtung  über 
den  Unterschied  benutzt,  welcher  zwischen  den  Vergehen 
»weichgeschaffner  Seelen«  und  den  Verbrechen  der  »hart- 
gesottnen  Sünder«  besteht.  Dieser  Gegensatz,  dem  Kom- 
ponisten von  Haus  aus  willkommen,  hat  in  dem  weichen 
Hauptteile  Graun  Veranlassung  geboten,  sein  Bestes  zu 
geben.  Das  lag  nicht  in  dem  Gebiet  der  starken  Affekte, 
sondern  da,  wo  Mitleid  und  zarte  Regungen  auszudrücken 
waren.  Doch  war  er  sehr  wohl  befähigt,  jene  glücklich 
zu  skizzieren.  Einen  Beweis  davon  bildet  der  mächtig 
am  Herzen  rütteliide  Aufschrei:  »0  wehei  in  dem 
Chore:  »Unsere  Seele  ist  gebeugt,  daß  wir  so  gesün- 
digt«, welcher  den  Schluß  des  Petribildes  und  eine 
der  schönsten,  in  der^erbindung  von  Tiefe  und  Ein- 
fachheit eigensten  Nummern  der  Graunschen  Passion 
bildet. 


—^      108      ^ — 

Das  vierte  Bild  trägt  in  der  ersten  Hälfte  der  Solo- 
baß. Die  Erzählung  geht  bis  an  die  Stelle,  wo  Christus 
den  Frajien,  die  ihn  nach  Golgatha  begleiten,  zuruft: 
»Ihr  Töchter  Zions,  weinet  nicht«.  Ramler  erscheint  diese 
Anrede  als  Akt  des  Heroismus,  und  er  schreibt  eine  Arie 
über  den  Held  aus  Kanaan,  der  wie  ein  Fels  im  Unge- 
witter  steht.  Grauns  Komposition  dieser  Verse  ist  eine 
Huldigung  an  den  Bravourgesang,  ein  sehr  schwieriges 
und  für  einen  guten  Virtuosen  auch  wirkungsvolles, 
d.  h.  äußerlich  wirkungsvolles  Stück.  Wenn  Friedrich 
der  Große  wirklich  den  »Tod  Jesu«  für  Grauns  »beste 
Oper«  erklärt  hat,  so  liegt  die  Berechtigung  zu  dieser 
zweideutigen  Kritik,  die  schon  in  der  ganzen  Anlage  des 
Werkes  ihre  Stütze  findet,  in  solchen  Nummern,  wie 
dieser  Baßarie,  noch  besonders  vor.  Ergänzt  wird  der 
Textinhalt  der  Arie  noch  durch  den  Chor:  »Christus  hat 
uns  ein  Vorbild  gelassen«,  eine  flüssige,  an  Ausdruck 
nicht  eben  reiche  Doppelfuge,  die  wegen  ihrer  gut  voka- 
len Natur  und  trotz  der  Banalität  ihrer  Themen  einen 
ganz  ungemeinen  Privaterfolg  davongetragen  hat.  Das 
Stück  ist  heute  noch  auf  dem  Repertoire  vieler  Kirchen- 
und  Schulchöre,  es  ist  in  Fantasien  und  anderen  freien 
Bearbeitungen  für  Orgel  usw.  verherrlicht  worden  und  ist 
selbst  in  Lehrbüchern  des  Kontrapunkts  als  Muster  der 
Fugengattung  behandelt  worden!  Der  Choral:  »Herz- 
Uebster  Jesu«  auf  die  Worte:  »Ich  werde  dir  zu  Ehren 
Alles  wagen«  schließt  den  Abschnitt. 

Dasselbe  Schema,  welches  bisher  die  Grundlage  für 
die  Dichtung  und  die  Musik  des  »Tod  Jesu«  bildet,  können 
wir  bis  zum  Schlüsse  des  Werkes  weiter  verfolgen.  Es 
ist  das  Schema  der  Szene  in  der  italienischen  Oper  des 
48.  Jahrhunderts,  nur  ist  der  ewige  eintönige  Wechsel 
zwischen  Rezitativ  und  Arie  dadurch  gemildert,  daß  den 
Zwecken  der  Betrachtung  außer  den  Arien  auch  noch 
Chöre  gewidmet  sind,  und  dadurch,  daß  die  Rezitative 
an  und  für  sich  höheren  Wert  besitzen,  als  er  dem 
trockenen  Redegesang,  dem  sogenannten  Seccorezitativ, 
der  wirklichen  Oper  jener  Zeit  durchschnittlich  zukommt. 


-—4      109      *— 

Auch  an  Holzbauers  > Günther«'*')  kann  man  sehen,  daß  die 
deutschen  Musiker  der  Graunschen  Zeit  über  diesen  Durch- 
schnitt hinauszukommen  suchten.  In  den  Arien  der  Passion 
bewegt  sich  Graun  in  einem  ziemlich  kleinen  Kreise  see- 
lischen Lebens,  und  dieser  Kreis  erscheint  noch  kleiner, 
als  er  wirklich  ist,  weil  der  Komponist  im  Ausdruck  un- 
frei auf  von  vornherein  gegebene  Formen  und  auf  eine 
bestimmte  Stilart  hinarbeitet.  Es  waren  daher  auch  die 
Arien,  denen  gegenüber  die  unbedingte  Verehrung  für 
den  »Tod  Jesu«  zuerst  erschüttert  wurde.  Bereits  im 
Jahre  \  820  befahl  der  Großherzog  von  Hessen-Darmstadt, 
der  ebenfalls  diese  Graunsche  Passion  in  jeder  Ghar- 
woche  auffuhren  ließ,  seinem  Kapellmeister  Wagner,  die 
Arien  sämtlich  zu  kürzen.  Und  diesen  Darmstädter 
Strichen,  die  in  der  Allgemeinen  Musikalisc^ien  Zeitung 
veröffentlicht  wurden,  folgten  von  da  ab  die  meisten 
Aufführungen.  Eine  jener  Arien,  die  den  rein  virtuosen 
Zwecken  zu  Liebe  den  Geist  des  Tiextes  vollständig  ver- 
nichten, ist  das  Duett:  »Feinde,  die  ihr  mich  betrübet«. 
In  der  Richtung  verwandt,  aber  Dichtung  und  Musik 
doch  einigermaßen  in  Ober  einstimmun  g  haltend,  ist  die 
große  Sopranarie:  »Singt  dem  göttlichen  Propheten«, 
welche  zu  ihrer  Zeit  zu  den  berühmtesten  Nummern  der 
Passion  'Zählte  und  noch  bis  an  die  Gegenwart  heran 
unter  den  unentbehrlichen  Paradestücken  aller  Koloratur- 
sängerinnen ihren  Platz  behauptet  hat.  Auch  sie  steht 
mit  der  Erzählung  in  einem  nur  schwachen  Zusammen- 
hang. Besser  schließt  sich  an  das  Stichwort:  »Heute 
noch  wirst  du  mit  mir  im  Paradiese  sein«  der  Chor: 
»Freuet  euch  Alle,  ihr  Frommen«,  der  die  Worte:  »Und 
^as  er  zusagt,  das  hält  er  gewiß«  in  einer  jener  platten, 
und  handwerksmäßigen  Fugen  durchführt,  welche  lange 
Zeit  und  auch  bis  in  unsere  Zeit  herein  für  das  notwen- 
dige Kennzeichen  des  oratorischen  Stils  gehalten  worden 
sind.  Eine  der  wenigen  Nummern  der  letzten  Hälfte 
des  »Tod  Jesu«,  welche  von  wirklicher  Poesie  getragen 


/ 


*)  Denkmäler  Deutscher  Tonkunst,  Bd.  8  u.  9. 


— -*      HO      ^^— 

erscheinen,  und  zugleich  ein  kirchlich  gerichtetes  Stück  ist 
das  Quartett:  »Ihr  Augen,  weint«.  Die  drei  oheren  Stimmen 
führen  in  ihm,  von  den  Streichinstrumenten  mit  tropfenden 
Tönen  umspielt,  die  Ghoralmelodie:  >0  Traurigkeit,  o  Herze- 
leid« durch.  Der  Baß  singt  zwischen  den  einzelnen  Strophen 
freundlich  tröstende  Weisen.  Der  Schlußchor :  »Hier liegen  wir 
g^hrte  Sünder«  hat  in  der  Dichtung  noch  einen  leichten  Zu- 
sammenhang mit  der  alten  Gratiarum  actio.  Die  Musik  bringt 
noch  einmal  sehr  entschieden  und  würdig  den  Charakter  eines 
pathetischen  und  ergreifenden  Trauerakts  zum  Ausdruck. 
Auch  andere  Tonsetzer  haben  das  Gedicht  Ramlers  kom- 
poniert, darunter  Telemann  und  Ph.  E.  Bach.  Neue  Dichter 
fanden  sich  gleichfalls.  So  schrieb  die  bekannte  Karschin  eine 
Ph.  E.  Baoh.  Passionskantate,  welche  ebenfalls  der  Hamburger  Bach  in 
Musik  setzte.  Unter  den  21  Passionsmusiken,  welch  dieser 
Komponist  geschrieben,  gilt  sie  für  eine  der  besten.  Nament- 
lich die  Trauermusik,  mit  welcher  in  ihr  das  Orchester  nach 
dem  Verscheiden  des  Heilands  einsetzt,  machte  einen  grollen 
Eindruck'*').  Die  nächste  Passionskantate,  welche  nach  dem 
»Tod  Jesu«  in  Druck  erschien  —  und  zwar  auf  Veranlassung 
6.  A.  Homüiiu.  J.  A.  Hillers  —  war  die  Ton  G.  A.  Ho m  i  li  u s ,  deren  Text  von 
dem  Dresdener  Magister  Buschmann  herrührt.  Dichter  und 
Komponist  sind  in  derAusbreitung  der  gefühlvollen  Elemente 
etwas  übereifrig;  die  Chöre  des  Werkes  haben  in  ihrer  mÜden 
Schönheit  bleibenden  Wert.  Wie  überall  in  diesen  Passionen, 
sind  die  Rezitative  voll  Malereien  und  gleichfalls  wie  immer 
ragt  unter  diesen  das  Weinen  Petri  hervor.  Von  Homilius, 
einem  der  begabtesten  Schüler  S.  Bachs,  existieren  hand- 
schriftlich noch  M  Passionskompositionen*'*'),  unter  denen 
eine  Markuspassion  und  das  frei  gedichtete  Passionsorato- 
rium » So  gehst  du  nun,  mein  Jesu,  hin « mit  vorzügüchen  dra- . 
matischen  Chören  besonders  hervorragen.  Die  Hauptmasse 
der  in   der  zweiten  Hälfte  des  4  8.  Jahrhunderts  verfaßten 


*)  Von  einem  andern  Mitglied  der  Bachschen  Familie,  dem 
iBisenacher  Job.  Ernst  B.,  ist  ein  nach  Grannschem  Muster  ge- 
staltetes »Passlonsoratoriom«  (1762)  unl&ngst  als  48.  Bd.  der 
Denkmäler  D.  T.  veröffentllcbt  worden.        **)  K.  Held  a.  a.  0. 


Passionskantaten  ist  un  gedruckt  geblieben  und  über  den 
Kreis  des  Entstehungsorts  nicht  weit  hinausgedrungen. 
Darunter  gehören  auch  zwei  Arbeiten  des  Kopenhagener 
Johann  Ernst  Hartmann*).  Erst  ziemlich  spät  haben 
wir  erfahren,  daß  auch  Mozart  in  seiner  Jugend  ein  Werk 
in  dieser  Gattung  geschrieben  hat;  Rochlitz**)  nennt  als 
Passionskantaten  von  großer,  von  gleicher  oder  höherer 
Bedeutung  als  der  Graunsche  »Tod  Jesu«  die  Werke  von 
Seifert  in  Augsburg,  von  den  beiden  Opemkomponisten 
Schweitzer  in  Gotha,  Wolf  in  Weimar  und  von  dem 
Magdeburger  Rolle.  Aus  der  Passion  des  letzteren  J.  H.  Soll«. 
Tonsetzers  sind  die  beiden  ausdrucksvollen  Rezitative: 
>Noch  ringt  im  Todesschweiß«  und  »Wen  seh  ich  dort 
am  Kreuze  angespannt«  noch  heute  zuweilen  zu  hören. 
Eine  Altistin,  welche  die  Kunst  der  Deklamation  beherrscht, 
wird  mit  ihnen  einen  tieferen  Eindruck  erzielen.  Doch  ist 
diese  Passion  nicht  unter  die  Kantatengattung  zu  rechnen, 
der  Dichter  Patzke  nennt  sie  sogar  ein  Musikdrama.  Außer 
den  biblischen  Personen  treten  darin  auch  noch  frei  hin- 
zugefügte  Figuren  auf.  Das  Gespräch  eines  Fremdlings, 
der  verwundert  nach  dem  Grund  der  Aufregung  in  der 
Stadt  Jerusalem  fragt,  mit  einem  Blindgeborenen,  den 
der  Heüänd  geheilt  hat,  leitet  dieses  Passionsdrama  ein. 
Bibelworte  und,  Choräle  finden  sich  nicht  in  ihm. 

In  Norddeutschland  taucht  das  frei  dramatische  Pas- 
sionsoratorium erst  gegen  das  Ende  des  Jahrhunderts 
wieder  aut  Zwischen  Hunold-Keiser  und  Patzke-Rolle 
liegt  eine  große  Lücke.  In  Italien  und  an  denjenigen 
deutschen  Höfen,  wo  Komponisten  der  italienischen 
Schule  wirkten,  wurde  seine  Geschichte  niemals  unter- 
brochen. Besonders  berühmt  waren  die  Passionen  von 
A.  Scarlatti,  Jomelli,  f^aisiello.  Die  Dresdener 
Kapellmeister  zum  Teil,  die  Wiener,  von  Fux  bis  auf 
Weigl  sämtlich,  sind  mit  einer  Reihe  solcher  italienischer 


*)  August  Hammerich:   J.  P.  £.  Hartmaun  (Sammelbände 
der  I.  M.  G.  1901,  S.  466). 

♦♦)  Allg.  MuB.  Ztg.  1831,  S.  297. 


-— ♦      Ht      ♦ — 

Passionsoratorien  vertreten,,  welche  sich  von  den  Opern 
der  Periode  nur  durch  eine  reichere  Einflechtung  von 
Chor  und  Ensemblenummern  unterscheiden.  Über  die 
oft  erwähnten  Hamburger  Versuche  ragen  sie  sämtlich 
durch  die  Würde  der  dichterischen  Sprache  hervor:  Me- 
tastasio,  der  Gottsched  "der  italienischen  Oper,  gab  auch 
hier  den  Ton  an. 

Das  einzige  Werk  dieser  Gattung,  welches  für  unsere 
L.  T.  Beethoven. Zeit  noch  nähere  praktische  Bedeutung  hat,  ist  Beet- 
ChiiBtosam  hovens  > Christus  am  ölbergc.  Dieses  kleine  Ora- 
Ölberg.  torium,  von  F.  X-  Huber,  wahrscheinlich  dem  italienischen 
»Gesu  al  Calvariot  (u.  A.  von  Zelenka  komponiert)  nach- 
gedichtet, behandelt  nur  einen  Abschnitt  aus  der  Leidens- 
geschichte: Christi  Gebet  und  Seelennot  am  ölberge  und 
seine  Gefangennahme.  In  dem  Augenl^licke,  wo  die 
Schergen  den  Heiland  vor  Gericht  schleppen,  fällt  der 
Engelchor  ein  und  zieht  mit  der  Apotheose:  »Welten 
singen  Dank  und  Ehre  dem  erhabnen  Gottessohn«  den 
Schlußvorhang  über  den  grausamsten  Teil  des  Dramas. 
Die  Komposition  ist  1803  entstanden  und  in  demselben 
Jahre  in  Wien  wiederholt  aufgeführt  wordeü.  Erst  484  0  ge- 
langte sie  in  den  Druck,  ward  aber  von  da  ab  die  stärkste 
Stütze  für  Beethovens  Stellung  in  Deutschland.  Sie  ist 
neben  dem  »Tod  Jesu«  lange  genug  eine  der  bevorzugte- 
sten Passionsmusiken  gewesen.  Auch  ihre  Glanzzeit  erlosch 
nach  dem  Wiedererscheinen  von  Bachs  Matthäuspassion; 
aber  trotzdem  wurde  sie  noch  bis  in  die  Wagnersche  Zeit 
hinein  häufig  aufgeführt  und  siBlbst  hier  und  da  im  Char- 
freitagsgottesdienst  verwendet.  Beethoven  selbst  soll  in 
seinen  späteren  Jahren  auf  den  »Christus«  nicht  gerade 
stolz  gewesen  sein,  und  gewiß  kann  man  dieses  Oratorium 
heute  nicht  mehr  zu  seinen  Hauptwerken  zählen.  Aber 
es  trägt  in  vielen  Stellen  die  Züge  des  großen  Meister^, 
und  die  Vorwürfe,  die  man  früher  halblaut,  später  mit 
großem  Nachdruck  gegen  Beethovens  Behandlung  der 
Passion  erhoben  hat,  beruhen  wohl  alle  auf  der  Natur 
der  Dichtung;  denn. bei  Huber  hat  Jesus  den  größten 
Teil  der  Würde  und  Erhabenheit  eingebüßt,  in  welcher 


-— *      H3      ♦— 

er  bei  den  Evangelisten  erscheint,  und  auch  die  Jünger 
des  Herrn  sind  sehr  klägliche  Gestalten. 

Eine  der  bedeutendsten  Partien  des  »Christus«  bildet 
das  Instrumentalvorspiel,  mit  welchem  das  Werk  eröfibiet 
und  die  erste  Szene  eingeleitet  wird.  Es  ist  ein  Seelen- 
gemälde, in  welchem  die  schmerzliche  Klage  mit  der 
Ergebung  rin^.    ^  ,      Adagio  .  ^ 

f ärMit  ^^^^^^^ 

in  den  Streichinstrumenten  durchgeführt,  ist  der  Haupt- 
träger dieser  ergreifenden  Musik,  in  deren  Fugen  überall 
die  Verzweiflung  rüttelt.  Die  Hörner  rufen  heftig  Wehe; 
in  zitternden  Akkorden  bäumt  sich  das  ganze  Orchester 
auf  und  bricht  in  Pausen  ab,  welche  die  Pauken  schauer- 
lieh mit  dumpfen  Tönen  füllen.  Es  sind  einige  kleine 
Episoden  von  zwei  Takten  Länge  darin,  in  denen  die 
Hoffnung    unter   Klängen,    die    an   Florestan    erinnern, 

das  Haupt  erheben  will.     Aber      ß  'ia.  ,   r  »  .  ...   .  -  -  i 
sie    endigen    in     einem    resig-    %  ^\i\^  L^^^j-^^ . 
nierten    Motiv    der     Holzbläser  ^-       T^.    b 

Der  erste  Monolog  des  Christus  ist  vom  Dichter  in  dem 
^yortreichtum  gehalten,  den  wir  als  im  Widerspruch 
mit  dem  in  der  Bibel  eingehaltenen  göttlichen  Wesen 
des  Heilands  an  diesem  Oratorium  zu  allererst  störend 
empfinden.  Beethoven  steht  hier  zum  größten  Teil  be- 
deutend über  dem  Text.  Sein  Rezitativ  ist  im  großen 
Stile  gehalten  und  hat  einzelne  Stellen,  die  in  ihrer 
Einfachheit  geradezu  erschüttern.  Eine  ist  der  rhyth- 
misch und  harmonisch  feierlich  markierte  Satz  der 
Blasinstrumente  bei  den  Worten:  »Des  Seraphs  Donner- 
stimme«, der  wie  eine  überirdische  Erscheinung  herein- 
tritt. Eine  andere  liegt  an  dem  Schlüsse  des  Rezitativs, 
wo  Christus  nach  dem  erregten  Tremolo  der  Streich- 
instrumente sein  Klagelied  zum  Vater:  »Ach  sieh,  wie 
Bangigkeit  usw.«  in  die  Nacht  hinaussendet.  Die  darauf- 
folgende Arie:  »Meine  Seele  ist  erschüttert«  gibt  ein 
Bild  gährender  Erregung,  das  vom  musikalischen  Stand- 
punkt aus  wegen   der  Geniahtät,    mit   der   die   Farben 

n,  4.  8 


— *      f  i  4      ^ — 

gewählt  und  gemischt  sind,  Bewunderung  verdient. 
Aber  dieser  furchtbare  Ausdruck  der  Seelenangst  ist  für 
den  Heiland  zu  menschlich  leidenschaftlich;  der  göttliche 
Christus,  wie  wir  ihn  aus  der  Bibel  kennen,  erscheint 
erst  in  der  zweiten  Hälfte  der  Arie:  von  da  ab,  wo  die 
Holzbläser  das  herrliche,  mild  erhabene  und  fromme 
Thema  zu  den  Worten:  > Vater,  tief  gebeugt  und  klägliche 
intonieren.  —  Wie  die  Dichter  dieser  Art  Passions- 
oratorien in  der  Regel  mit  dem  dramatischen  Apparat 
des  Evangelienberichtes  allein  nicht  ausreichen,  S9  ver- 
stärkt ihn  auch  Huber.  um  einen  Seraph  und  den  zu 
diesem  gehörigen  Chor  der  Engel.  Ihnen  gehört  die 
zweite  Szene.  Ein  Paukenwirbel  kündet  den  Seraph  an, 
unter  rauschenden  Geigenfiguren  schwebt  er  zur  Erde. 
Sein  Gesang  ist  streng  geteilt:  der  erste  Teil  an  die  Er- 
> lösten  gerichtet:  »0,  Heil  euch,  ihr  Erlösten«,  der  andere 
Teil  ruft  denen  Fluch  und  Wehe  zu,  welche  das  Blut 
entehren,  das  für  sie  floß.  Diese  zweite  drohende  Hälfte 
kommt  zu  ihrer  gewaltigen  Bedeutung  erst  gegen  den 
Schluß  der  Szene,  wo  §ich  der  Chor  der  Engel  mit  dem 
Seraph  vereint:  Fluch  und  Weh  sind  hier  von  der  Orchester- 
masse mit  einer  erschreckenden,  finsteren  Entschiedenheit 
deklamiert.  Und  wunderbar  schön  ist  es,  wie  von  dieser 
unheimlichen  Stelle  ganz  sanft  und  schnell  die  Musik  in 
den  freundlich  milden  Hauptteil:  »Doch  Heil  euch«  zurück- 
geleitet wird.  Sehr  reich  ist  die  ganze  Szene  an  schön 
gestimmten  Klangwirkungen:  die  hohen  Töne  der  Engel- 
stimmen, die  Verbindung  des  Solosoprans  mit  dem  Chor, 
über  welchen  er  sich  hoch  hinauf  erhebt  und  in  ein- 
samer Höhe  dahinschwebt,  genügen  allein  schon,  die 
Fantasie  des  Hörers  zu  fesseln  und  Bilder  sehen  zu 
lassen.  —  Nun  erscheint  Jesus  wieder  und  der  Engel 
kündet  ihm  in  einem  hochfeierlichen,  ganz  mystisch 
wirkenden  Satze,  den  die  Blasinstrumente  wieder  aus- 
zuführen haben:  den  Willen  des  himmlischen  Vaters. 
Christus  erwidert  hierauf  in  einem  Adagio:  »So  ruhe 
denn  mit  ganzer  Schwere  auf  mir,  mein  Vater,  dein  Ge- 
richt!«,   welches   in    einfachen   herrlichen    Gesangtönen 


ausspricht,  daß  der  Heiland  bereit  ist,  zu  leiden  und  zu 
sterben.  Wenn  in  einem  der  Sätze  seines  >Christus<,  so 
hat  Beethoven  in  diesem  Adagio  etwas  von  der  himm- 
lischen Größe,  in  der  wir  uns  die  Seele  des  Erlösers 
denken,  niedergelegt.  Daß  der  Engel  gerührt  und  hin- 
gerissen in  die  Weisen  Jesu  mit  einstimmt,  ist  an  und 
für  sich  motiviert,  auch  mit  besonderen  musikalisch 
malerischen  Erfolgen  ausgeführt.  Doch  aber  wäre  die 
Wirkung  dieses  Adagios  reiner,  wenn  es  nicht  in  ein 
Duett  ausliefe.  Mit  ihm  schließt  der  erste  Teil  des  Ora- 
toriums und  dier  Akt  der  Gefangennahme  beginnt.  Seine 
Musik  hat  die  genaue  Form  eines  Opemfinales  und  auch 
den  Geist  eines  gewöhnlichen,  tumultreichen  und  spannen- 
den Bühnenstückes.  Ein  pikanter  Marsch,  der  wie  der 
bekannte  Derwischmarsch  in  den  > Ruinen  von  Athen« 
leise  wie  aus  der  Ferne  einsetzt,  meldet  den  Anmarsch 
der  Krieger,  welche  Jesum  fangen  sollen.  Man  hört  und 
sieht  sie  ebenso  geschäftig  als  vorsichtig  suchen.  Bald 
kommen  sie  näher,  bald  schlagen  sie  wieder  die  ent- 
gegengesetzte Richtung  ein.  Gewiß  ist  es  ein  großer 
Effekt,  als  sie  endlich  den  betenden  Heiland  vor  sich  er- 
blickend, in  das  triumphierende:  >Hier  ist  er«  ausbrechen. 
Aber  es  ist  der  Fehler  dieser  Art  von  Oratorien,  daß  sie 
Äußerlichkeiten,  die  an  und  für  sich  nicht  weiter  wichtig 
sind,  mit  soviel  Behagen  und  Aufwand  von  Zeit  und 
Kunst  ausmalen.  Es  ist  dieselbe  künstlerische  Unreife, 
die  uns  so  häufig  an  instrumentaler  Programmmusik 
stört.  Zu  dem  wilden  Jubel  der  Krieger  bildet  das  un- 
männliche Jammern  der  Jünger  einen  Gegensatz,  der 
sich  fast  an  die  Lachmuskeln  wendet.  Dann  tritt  Petrus 
stark  bramarbasierend  auf.  Jesus  und  der  Seraph  ver- 
einen sich  mit  ihm  zu  einem  längeren,  ganz  opern- 
mäßigen und  im  Ausdruck  verfehlten  Terzett,  dem  erst 
der  endlich  wieder  einsetzende  Chor  der  Krieger:  »Auf, 
ergreifet  den  Verräter«  ein  Ende  macht.  Als  ein  Situa- 
tionsbild ist  diese  ganze  musikalische  Szene  gar  nicht 
übel,  manche  Abschnitte  sind  packend  in  der  Wirkung. 
Aber  es  ist  nichts  darin,  was  uns  zwingt,  dieses  Bild  in 

8* 


L.  . 


— *      H6      ♦— 

die  Passion  hineinzudenken,  und  es  ist  eine  für  dieses 
Verhältnis  bezeichnende  Tatsache,  daß  die  Reden  Jesu, 
welche  in  diesem  Finale  vorkommen,  nirgends  auch  nur 
annähernd  an  den  weihevollen  Ton  anklingen,  welchen 
sie  in  dem  ersten  Teile  des  Oratoriums,  wenn  auch  nicht 
immer,  so  doch  vorwiegend  haben.  Mit  einer  ziemlich 
gewaltsamen  Wendung  reißt  sich  Beethoven  efndlich  aus 
dem  Kreise  der  Alltäglichkeit  heraus  und  lenkt  in  den 
fugierenden  Chor  der  Engel  ein,  dessen  dithyrambische 
Stimmung  in  dem  auf  wogenden  Violin  figuren  ruhenden 
Mittelteile:  > Welten  singen  Dank  und  Ehre<  einen  sehr 
schönen,  der  Sammlung  und  dem  neuen  Aufschwung 
gewidmeten  Mittelpunkt  hat.  ' 

Andere  Werke  aus  der  Gattung  des  frei  dramatischen 
Passionsoratoriums,  welche  zur  Zeit  und  in  der  Periode 
ihrer  Entstehung  hochgewürdigt  waren,  sind  heute  gänz- 
lich verschwunden.  Wir  nennen  aus  dieser  Klasse  vor 
J,  0.  Sobioht,  allem:  »Das  Ende  des  Gerechten«  von  J.G.Schicht, 
Das  Ende  des  einem  der  bedeutendsten  Musiker,  welche  nach  J.  S.  Bach 
Qerechten.  das  Kantorat  der  Leipziger  Thomasschule  bekleidet  haben. 
Besonders  ausgeführt,  von  mächtiger  äußerer  Wirkung 
in  den  knappen  Ghorsätzen,  ist  in  diesem  Oratorium  die 
Szene  der  falschen  Zeugen.  Sie  bekräftigen  ihre  Aus- 
sagen mit  feierlichen  Schwüren;  immer  neue  Ankläger, 
geführt  von  dem  alten  fanatischen  Philo  (einer  eigenen 
Erfindung  des  Textverfassers  Rochlitz),  treten  hinzu;  die 
Menge  wiederholt  die  Versicherung  der  einzelnen  Kläger 
und  allemal  schließt  die  Vernehmung  mit  dem  Satze.- 
>Ich  bekräftige  mit  heiligem  Eid,  daß  ichs  vernommen 
aus  seinem  Munde«.  Der  Partei  der  Feinde  ist  eine 
Partei  von  Freunden  und  Freundinnen  Jesu  gegenüber- 
gestellt. Eine  Hauptfigur  des  Oratoriums  ist  Johannes 
der  Jünger.  Er  berichtet  die  Vorgänge,  welche  sich  nicht 
im  Oratorium  selbst  abspielen,  und  er  interpretiert  sie 
ahnungsvoll.  Aus  seinem  Munde  erfahren  wir  gleich  am 
Eingang  des  Werkes,  daß  dem  Judas  nicht  getraut  wird. 
Judas  selbst  ist  originell,  aber  nach  dem  Brauche  der 
rationalistischen    Schule,    als    leichtsinniger    Spekulant 


aufgefaßt.  Als  er  sieht,  daß  sich  der  Herr  wider  Be- 
rechnung den  Händen  der  Feinde  übergibt,  ist  seine 
Verzweiflung  groß.  Außer  den  sehr  wirksamen  drama- 
tischen Chören  hat  >Das  Ende  des  Gerechten <  auch  viele 
sinnige  Stellen.  Der  Dichter  schreibt  nach  den  Worten: 
»Es  ist  vollbracht«  einen  Instrumentalsatz  vor,  »der  die 
letzten  Augenblicke  des  schwindenden  Lebens«  bezeich- 
nen soll.  Schicht  hat  in  seine  fugierende  Motive  den 
Choraji:  >0  Traurigkeit«  eingewoben.  (Siehe:  Graun.) 
Noch  bis  in  die  jüngste  Zeit  konnte  man  den  Schluß- 
chor des  Oratoriums:  »Wir  drücken  dir  die  Augen  zu« 
hier  und  da  als  Begräbnischor  hören.  Als  Ganzes 
scheint  das  i^Ende  des  Gerechten«  nur  wenige  Jahrzehnte 
lang  festen  Fuß  gefaßt  zu  haben.  Im  Jahre  4  806  zum 
ersten  Male  aufgeführt,  erst  nach  dem  Tode  des  Kom- 
ponisten in  den  Druck  gebracht,  wurde  das  Oratorium 
schon  im  Jahre  1838  wieder  verdrängt  und  zwar  durch  * 

Spohrs  Passionsoratorium:  »Des  Heilands  letzte  L,  Spohr, 
Stunden«,  welchem  ganz  dieselbe  Dichtung  von  Roch-  Des  Heilands 
litz  zu  Grunde  liegt,  wie  dem  Werke  von  Schi chtJetzte  Stunden. 
Spohrs  Oratorium  enthält  in  den  Chören  der  Freunde 
und  Freundinnen  Jesu,  in  den  Ariosos  der  Maria  viel 
schöne  weiche  Musik,  in  der  Partie  des  Johannes  vor- 
trefflich deklamierte  Rezitative.  Von  größerer  eindring- 
licher Bedeutung  ist  der  letzte  Abschnitt  des  Werkes, 
von  dem  Augenblick  ab,  wo  der  sterbende  Heiland  die 
Worte  ruft:  »Mein  Gott,  warum  hast  du  mich  verlassen«. 
Der  in  feierlicher  Stille  hingebetete  vierstimmige  Kanon: 
>Iti  seiner  Todesnot  dich  zu  ihm  wende,  gib  ihih  ein 
sanftes  Ende«,  das  Oktett:  »Wir  sinken  in  den  Staub 
und  feiern  deinen  Tod«,  die  geistreich  auf  die  Gerichts- 
szene zurückgreifende  Schilderung  des  »Erdbebens«  sind 
Stücke  einer  grandiosen  Stimmung  und  eines  wirklieh 
großen  Stils;  ihr  Eindruck  ist  tief  und  bleibend. 

Zu  diesen  beiden  Passionsoratorien  von  Schicht  und 
Spohr  tritt  als  ein  Werk  von  gleicher  Anlage  und  ahn-  Pr.  Schneider, 
lieh     starker    Verbreitung     das    Charfreitagsoratorium:    Gethsemane 
»Gethsemane  und  Golgatha«  von  Fr.  Schneider,  und  Golgatha« 


— ♦      H8 

Das  Werk  hat  sich  von  seinem  Erscheinen  (1838)  an 
mehrere  Jahrzehnte  hindurch  behauptet  und  ist  nament- 
lich häufig  im  Gottesdienst  verwendet  worden.  Die 
reichliche  Einlage  von  Chorälen,  bei  denen  die  Gemeinde 
mit  einstimmen  soll,  macht  es  dazu  geeignet  Sie  ist 
ihm  eigen  und  bedeutet  einen  Abfall  von  dem  rein  dra- 
matischen Prinzip,  zu  welchem  wahrscheinlich  ebenfalls 
die  mittlerweile  erfolgte  Verbreitung  von  Bachs  Matthäus- 
passion Veranlassung  gegeben  hat.  Der  Dichter,  Prediger 
Schubert  in  Zerbst,  hat  zu  den  dramatischen  Personen 
des  Evangeliums  noch  einen  Chor  der  Bekenner  und 
Stimmen  von  oben  hinzugedichtet  Dadurch  ist  dem 
Komponisten  Gelegenheit  zu  Doppelchören  und  zur  Ent- 
faltung starker  Gegensätze  *^egeben. .  Sehr  wirkungsvoll 
ist  sie  in  dem  Nacheinander  des  Judenchors:  »Sein  Blut 
komme  über  uns<  und  des  Bekennerchors:  »Wehe,  die 
ihr  Zion  bauet  mit  Blut«  benutzt  worden.  Im  letzeren 
ist  eine  aus  Mitleid  und  Grausen  gemischte  Stimmung 
sehr  anschaulich  wiedergegeben.  Unter  den  Doppel- 
chören zeichnet  sich  der  Chor  der  Jesum  suchenden 
Wächter  aus;  zu  ümen  treten  die  Stimmen  von  oben  in 
einfachen  edilen  Weisen.  —  Gemeinsam  ist  diesen  drei 
letztgenannten  Passionsoratbrien  die  Annäherung  ans 
Bibelwort.  In  dem  Schneiderschen  Werke  erfolgt  sie 
auch  in  einzelnen  Chören;  die  anderen  geben  wenigstens 
die  Reden  Jesu  getreu  nach  den  Evangelien  wieder  und 
beschränken  sich  auf  die  dort  beglaubigten  Worte.  Im 
musikalischen  Ausdruck  der  Reden  Jesu  erstreben  die 
Komponisten  eine  feierliche  Einfachheit  und  heben  sie 
durch  die  Begleitung  bestimmter  Blasinstrumente  in 
einen  besonderen  Klangkreis.  Alle  haben  dadurch  die 
Ähnlichkeit  mit  der  Oper  wenigstens  in  der  Christus- 
partie glücklich  vermieden.  Das  würdigste  Bild  von 
Jesus  gibt  unter  den  dreien  Schicht.  Das  zu  derselben 
Klasse,  wie  die  Werke  von  Schicht,  Spohr,  Schneider, 
gehörige  Passionsoratorium  »Das  Sühnopfer  des  neuen 
Bundes«  von  Karl  Löwe  hat  wenig  Beachtung  ge- 
funden. 


Wie  Beethovens  >  Christus  am  Ölbergc  sich  auf  einen 
Abschnitt  der  Leidensgeschichte  beschränkt,  so  gibt  es  in 
derselben  oratorischen  Gattung  Werke,  die  für  den  Ge- 
brauch in  der  Charwoche  bestimmt  waren,    obwohl  sie 
auf  die  Leidensgeschichte   nur  einen   indirekten  Bezug 
nehmen.     Die   einen  knüpfen  im  Text,   z.  B..  die  von 
vielen  namhaften  Tonsetzern  komponierte  Dichtung  >la 
deposizione  della  croce«,  noch  unmittelbar  an  die  Vor- 
gänge der  Passion  an.    In  anderen  handelt  es  sich  um 
Vorgänge,   die  von  dem   großen  Ereignis    des  Kreuzes- 
todes  Jesu  Christi   durch   Jahrhunderte    getrennt   sind. 
Im  wesentlichen  besteht,  gerade  so  wie  im   »Tod  Jesu< 
Ramlers,  ihr  Inhalt  in  Passionsbetrachtungen.    Nur  sind 
sie  in  die  Form  einer  Geschichte   geflochten  und   dra-  , 
matisiert.     Die  beiden  berühmtesten  Werke  aus  dieser 
zweiten  Klasse  sind  Hasses  >Sant*  Elena  al  Calvarioc    J.  A.  Hasse, 
und  seine  >Pellegrini  al  sepolcro  di  nostro  Salvatore«.  Sant' Elena  al 
Die  Dichtung  in  beiden  Werken  ist  von  Metastasio.    Die  Galvaiio  und 
>Sant'  Elena«  ist  die  Dramatisierung    der  Legende  von    Ipellegrini. 
der  Kaiserin  Helena,  die  bei  dem  Besuche  von  Jerusalem 
auf  wunderbare  Weise  das  Kreuz  entdeckt,  an  welches 
der  Heiland  geschlagen  war.     Der  Schluß  der  Dichtung 
preist  die  Monarchen.    Schon  früher  ist  diese  Geschichte 
bearbeitet  und  komponiert  worden.    So  von  L.  Leo.    Die 
>Pellegrini  al  sepolcro«   schildern  die  Ankunft  von  vier 
Pilgern  in  der  heiligen  Stadt  und  ihren  Aufenthalt  da- 
selbst in  Gesprächen  und  Betrachtungen,  die  das  Passions- 
drama zum  Gegenstand  haben.    Beide  Werke,  für  Dres- 
den geschrieben,  waren  am  Wiener  Hofe  und  anderen 
Residenzen  italienischer  Richtung  ein  behebter  Bestand- 
teil der  Charfreitagmusik;  die  »Pilgrimme«  wurden  auch 
ins  Deutsche  übersetzt  und  von  J.  A.  Hiller  im  Klavier- 
auszug  veröffentlicht.      An    ihrer   Musik    fesselten    die 
schönen  ausdrucksvollen  Rezitative  mit  Begleitung  und 
noch  mehr  als  etwas  Neues  und  Ungewöhnliches    die 
Wechselgesänge,  in  welchen  in  den  Ensemblenummern 
die  Frauen-  und  die  Männerstimmen  sich  ablösten.    Der  J.  Qt»  Naumann, 
Amtsnachfolger  Hasses,   J.  G.  Naumann,  komponierte    Die  Pilger. 


J.  &.  Sohioht, 

Die  Feier  der 

Christen  auf 

Golgatha. 


8.  Neakomnii 

DieGrablegung 

Christi. 


Ji  Haydiii 

Die  sieben 

Worte. 


no 


die  »Pilgrimme«  ebenfalls.  Aus  seiner  Komposition  hat 
sich  der  traulich  fromme  Chor:  >Zagt  nicht  auf  dunklen 
Wegen«,  in  welchem  die  Knabenstimmen  gleichfalls  mit 
den  Tenören  und  Bässen  wechseln,  bis  nahe  an  die 
Gegenwart  im  Repertoire  einzelner  Kirchenchöre  erhalten. 
Auch  Schicht  hat  ein  Oratorium:  »Die  Feier  der  Christen 
auf  Golgatha«  geschrieben,  weleheä  die  Passion  in  Form 
stimmungsvoller,  mitleidender  und  verzückter  Rückblicke 
darstellt.  Von  der  Musik  die  mehr  veraltet  ist,  als  in  dem 
»Ende  des  Gerechten«,  hat  der  Schlußchor  des  ersten 
Teils:  »Vor  deinem  Angesicht,  Erlöser,  stehen  wir«  seiner 
Zeit  besonderen  Erfolg  davongetragen.  Da  in  dem  Werke 
keine  dramatischen  Personen  auftreten,  wird  man  es 
besser  der  Gattung  der  Kantate  zuweisen.  In  dieselbe 
Kategorie  fällt  »Die  Grablegung  Christi«  von  S.  Neu- 
komm, nach  einem  Abschnitt  aus  Klopstocks  Messiade 
komponiert.  Ein  gehaltvolles  Werk:  namentlich  in  der 
Instrumentalpartie  die  bedeutendste  Leistung,  welche  wir 
von  dem  einst  sehr  gefeierten  Komponisten  besitzen; 
reicher  als  sein  viel  gesungener  »Ostermorgen«. 

Auch  »Die  sieben  Worte«  von  J.  Haydn  oder 
wie  der  vollständige  Titel  heißt:  »Die  Worte  des  Erlösers 
am  Kreuz«,  sind  von  dem  Komponisten  selbst  als  Ora- 
torium bezeichnet  worden.  Sie  gehören  zu  der  Gattung 
nur  dann,  wenn  man  den  Begriff  des  Wortes  in  jenem 
allgemeinsten  Sinne  zuläßt,  wie  wir  ihn  in  der  ersten 
Hälfte  des  1 8.  Jahrhunderts  hier  und  da  bräuchlich  ge- 
funden haben.  Man  nannte  da  jede  Art  geistlicher  An- 
dachten, bei  der  die  Musik,  gleichviel  in  welchen  Formen, 
einen  wesentlichen  Bestandteil  bildete,  ein  Oratorium; 
darunter  finden  sich  auch  Werke,  welche  die  Passion 
als  Melodram  behandeln,  z.  B.  eins  von  Baron  Dal- 
berg.  Die  sieben  Worte  des  Erlösers  am  Kreuze  sind 
als  besondere  Episode  der  Leidensgeschichte  oft  kompo- 
niert worden;  aber  in  der  Regel  nur  im  Zusammenhange 
mit  dem  Text  des  Evangelisten.  So  behandelt  sie  Schütz  (s. 
S.  43),  so  sind  sie  von  Vorgängern  dieses  Meisters  wie  Senfl 
und  auch  von  späteren  Komponisten  aller  Länder  (Lutz, 


121   ,  ^>— 

Mercadante,  Gounod)  in  Musik  gesetzt  worden.  Im  17.  Jahr- 
hundert kommen  sie  in  der  Komposition  von  Joh.  Glück 
(Leipzig  1 666)  auch  als  Madrigale  mitBasso  continuo  vor*). 
Die  Form,  in  welcher  sie  Haydn  bringt,  hat  ihre  eigen- 
tümliche Entstehungsgeschichte.  Ein  Domherr  in  Cadix 
bestellte  bei  dem  auch  in  Andalusien  berühmten  Haydn 
sieben  langsame  Instrumentalsätze  mit  Vorspiel  und 
Schluß  zur  Verwendung  in  der  Passionsandacht  der 
dortigen  Kathedrale.  Den  Gang  dieser  Passionsandacht, 
Oratorium  genannt,  beschreibt  Haydn  selbst  in  dem 
Vorbericht  der  i.  J.  1804  veröffentlichten  Partitur  fol- 
gendermaßen:  »Nach  einem  zweckmäßigen  Vorspiel  be- 
stieg der  Bischof  die  Kanzel,  sprach  eins  der  ^  sieben 
Worte  aus  und  stellte  eine  Betrachtung  darüber  an.  So 
wie  sie  geendigt  war,  stieg  er  von  der  Kanzel  herab  und 
fiel  knieend  vor  dem  Altare  nieder.  Diese  Pause  wurde 
von  der  Musik  ausgefüllt.  Der  Bischof  betrat  und  ver- 
ließ zum  zweiten,  drittenmal  usw.  die  Kanzel  und  jedes, 
mal  fiel  das  Orchester  nach  dem  Schlüsse  der  Rede 
wieder  ein.<  Im  Jahre  1785  waren  die  Adagios  fertig. 
Der  Komponist  nannte  sie  Sonaten  und  hat  sie  mit  dieser 
Bezeichnung  in  einem  Arrangement  für  Streichinstrumente 
bekanntlich  auch  unter  seine  Originalquartette  aufgenom- 

.  men.  In  dieser  Gestalt,  die  später  der  Mailänder  Graf  von 
Castelbarco  nachgeahmt  hat**),  als  reine  Instrumental- 
musik, —  nur  ein  gesungenes  Baßrezitativ,  welches  das 
betreffende  Wort  enthielt,  ging  jedem  Satze  voraus  — 
drangen  bald  die  > Sieben  Worte«  von  Wien  aus,  wo  sie 
im  Jahre  1787  zuerst  aufgeführt  wurden,  hinaus  ins  Reich 
und  ins  Ausland:  nach  Bonn,  Breslau,  Berlin,  London, 
Paris  und  Neapel.  Die  Umarbeitung  in  ein  Chorwerk 
erfolgte,   nachdem   Haydn    (1794)    auf   der   Reise   nach 

•  London  begriffen,  in  Passau  einet  Aufführung  seiner 
»Sieben  Worte«  beigewohnt  hatte,  zu  welcher  der  dortige 

•)  Albert  Göhler,  Verzeichnis  usw. 

•♦)  F^tis:    Biographie  ngw.    und  0.  F.  Pohl:    Haydn   und 
Mozart  in  London,  II,  136.  . 


\ 


— *^    \f^    * — 

Kapellmeister  Joseph  Friebert  Singstimmen  hinzukompo-^ 
niert  hatte.  Haydn  fühlte/  daß  er  das  selbst  besser 
machen  könnte,  scheint  aber  den  Text  des  Passauer 
Kollegen  bei  dieser  Umarbeitung,  nachdem  ihn  van  Swie- 
ten  einer  Redaktion  unterzogen,  und  nach  neuen  Unter« 
suchungen*]  auch  einen  großen  Teil  des  Vokalsatzes 
Frieberts  beibelialten  zu  haben.  Außerdem  übertrug 
Haydn  die  Solorezitative  auf  den  Chor,  fügte  nach  dem 
vierten  Worte  einen  neuen  selbständigen  Orchestersatz 
ein  und  änderte  an  einzelnen  Stellen  die  Instrumen- 
tierung. Klarinetten  und  Posaunen  sind  durchaus  n^u. 
In  diesei;  neuen  Form  kamen  die  »Sieben  Worte«  zuerst 
i.  J.  1796  in  Wien  zu  Gehör  und  erwarben  sich  bald 
zahlreiche  Freunde  und  Bewunderer.  In  Konzert  und 
Kirch«  ist  das  Werk  bis  heute  eine  der  angesehensten 
Passionsmusiken  geblieben.  Die  Methode,  aus  der  >Die 
sieben  Worte«  hervorgingen,  ist  weiter  verfolgt  worden: 
Chr.  Schulz  veröffentlichte  i.  J.  184  4  ein  Passions- 
oratorium: »Der  Versöhnungstod«,  welches  mit  Hin- 
zufügung von  Chorälen  aus  Haydnschen  Adagios  kompo- 
niert war. 

Die  Introduktion  der  »Sieben  Worte«  ist  eine  kurze 
Fantasie  Maestoso.  ^  Mitleid,  Klage,  Trauer, 
über  das  !j|^  Ir  h  |  T  J^^rJ^^'  ^^^^  werden  nur  kurz 
Motiv  "ff  J  L— 3  'l— ' .  =2=  gestreift.  Der  Haupt- 
inhalt dieses  gedrungenen  Prologs  ist  ehrfurchtsvolles 
Staunen,  und  durch  den  Ton  und  Stil,  in  dem  .  er  dies 
ausdrückt,  ist  er  ein  Meisterstück,  das  in  der  neueren 
Musik  fast  ganz  vereinzelt  steht.  Die  nächsten  geschicht- 
lichen Anknüpfungspunkte  bieten  Oratorienouvertüren 
L.  Leos. 

In  der  Konstruktion  der  einzelnen  Chorsätze  leuchtet 
der  instrumentale  Ursprung  noch  deutlich  durch.  Sie  sind 
in  der  Grundform  sämtlich  langsame  Rondos:  In  jedem 


*)  Ad.  Sandberger:  Zur  Entstehungsgeschichte  von  Haydns 
»Sieben  Worten«  (Jahrbuch  der  Musikbibliothek  Peters  für 
1903). 


— *      123     ^>— 

herrscht  ein  regelmäßig  und  symetrisch  gebautes  Haupt- 
thema, dessen  Wiederkehr  durch  selbständige,  unterein- 
ander verschiedene  Zwischensätze  unterbrochen  wird. 
Der  nach  dem  ersten  Worte:  > Vater,  vergib  ihnen  usw.« 
eintretende  Satz  hat  folgendes  Hauptthema: 


welches  die  Orchesterstimmen  mit  Betonung  des  Anfangs- 
motivs mannigfach  variieren.  Die  Ghorstimmen  über- 
decken in  der  Regel  gerade  dieses  bezeichnende  Motiv 
oder  pausieren,  während  es  in  kleinen  Sätzchen  durch- 
geführt wird.  Mit  dem  milden  Gesamtcharakter  des 
Satzes"  stimmen  die  Episoden  mit  ihren  sanft  klagen- 
den und  bittenden  Melodien  überein.  Einer  der  gewal- 
tigsten Zwischensätze  tritt  mit  den  Worten  auf:  »Das 
Blut  des  Lammes  schreit  nicht  um  Räch«.  Das  chro- 
matische Motiv  der  mittleren  und  unteren  Instrumente 
und  die  überraschende  Modulation  von  ,F  nach  Des 
heben  ihn  heraus.  Der  zweite  Satz:  »Ganz  Erbarmen, 
Gnad  und  Liebe  usw.«  ruht  auf  einer  breiten,  wehmütig 
freundhchen  Liedmelodie,  deren  Hauptglieder  das  Motiv 

undsei-  ^^^    -^  bilden, 

^^^^^^ne  Va.-  ibVrfltrr  A«s_  dem 
•«T  '  ^^  '       nante  ^  elegischen 

Gesamtton  treten  die  beiden  mit  Fermaten  gekennzeich- 
neten Gdur-Schlüsse  bei  den  Worten  »kommst  du  in 
mein  Reich,  so  denke  mein«  und  »heute  wirst  du  mit 
mir  im  Paradiese  sein«  hervor.  Die  feierliche  Hoheit 
der  Musik  geht  hier  mit  den  Worten  so  schön  zu- 
sammen, daß  man  die  nachträgliche  Entstehung  des 
Textes  kaum  glauben  mag.  Der  zweite  Teil  des  Satzes 
vertauscht  das  Cmoll  mit  Cdur  und  bringt  an  der 
Stelle:  »Gib  uns  auch  zur  letzten  Stunde«  einen  melo- 
dischen Gang,  der  äußerlich  wenigstens  mit:  »Gott  er- 
halte Franz  den  Kaiser«  genau  übereinstimmt.  Densel- 
ben Anklang  hat  auch  ein  noch  früheres  Werk  Haydns: 


— '^      U4      ♦ — 

seine  achte  Messe.     Das  Hauptthema  im  dritten  Satze: 

>  Mutter  Jesu,  Grare.  

die  du  trost.  IHh  »  JjiV.  |J  |u  -|  j  .rnn  1^^. 
los  usw.c  ist^J^        ^  ^  ^— ^    CT 

Seine  ersten  beiden  Noten  durchklingen  den  Satz  wie 
freundliche  Zurufe,  die  zwischen  Mutter  und  Sohn 
gewechselt  werden.  Wunderbar  ergreifend  ist  nament- 
lich die  Stelle,  wo  der  Satz  nach  dem  in  Grabesstille 
beginnenden  Zwischensatze:  »Wenn  wir  mit  dem  Tode 
ringen <  diesem  freundlichen  Motive  wieder  zustrebt. 
Die  schöne  Idylle  der  Passion,  in  der  der  sterbende 
Christus  die  Mutter  unter  den  Schutz  seines  Lieblings- 
jüngers stellt,  hat  in  diesem  rührenden  Tonbilde  Haydns 
eine  Wiedergabe  gefunden,  deren  Einfachheit  und  Herz- 
lichkeit kaum  übertroffen  werden  kann.  Der  Satz  ist 
einer  der  beliebtesten  der  ganzen  Literatur  der  Ps^ssions- 
musik;  er  ist  zugleich  in  den  »Sieben  Worten c  einer  der- 
jenigen, welche  in  der  Behandlung  der  Ghorstimmen 
voranstehen.  Sie  machen  durchaus  nicht  den  Eindruck 
nachkomponierter,  und  auf  den  fertigen  Satz  aufgelegter 
Partien,  sondern  einen  natürlichen  und  selbständigen« 
Der  melodische  Segen  hat  sich  nicht  bloß  auf  die  Ober« 
stimme,  sondern  über  alle  vier  ziemlich  gleichmäßig  er- 
gossen. Dex  vierte  Satz  »Warum  hast  du  mich  verlassen« 
schließt  sich  an  das  »Eli,  Eli«,,  die  Hauptstelle  der  Pas- 
sionsmusiken von  alters  her,  an.  Er  ist  dunkler  gefärbt 
als  die  vorhergehenden  und  schlägt  einen  lauteren  Klage- 
ton an.  Aber  auch  ihn  beherrscht  der  Grundgedanke,  in 
welchem  Haydn  die  ganze  Leidensgeschichte  in  diesem 
Werke  zur  Darstellung  bringen  wollte:  Dankgefühl  für  die 
Erlösungstat.  Nur  in  einem  Zwischenspiele,  welches  (vor 
dem  Abschnitt  in  Gesdur)  die  Instrumente  allein  haben, 
kommt  der  Schmerz  auf  einen  Augenblick  zu  einem  leiden- 
schaftlichen Ausdruck.  Möglicherweise  fehlt  an  dieser 
Stelle  (S.  50  der  Partitur]  vor  dem  Quartsextakkord  auf  des 
ein  Takt.  Der  von  Haydn  erst  bei  der  Bearbeitung  einge- 
fügte Instrumentalsatz  (für  Blasinstrumente),  welcher  das 
Werk  in  zwei  Teile  zu  scheiden  bestimmt  erscheint,  ist  eine 


— ^    ns    ♦ — 

ernste  Trauermusik  über  das  zuerst  von  Posauuea  vorge- 
tragene, dann  von  Gruppe  zu  Gruppe  wandernde  Thema: 

^  ][«"gg-  ,  .  I    ^-i  I  ■  i-H Stärker  als  aus  irgend 

.fc  i  j   J  i  j   J|  J  |/^  ^J.-^  ^'  einem  anderen  Satze  der 
^^  >Sieben  Worte«  spricht 

aus  ihm  eine  tief  schmerzliche  Passionsstimmung.    Den 
fünften  Satz,  der  sich  an  diese  Instrumentalnummer  un- 
mittelbar anschließt:  > Jesus  rufet:         ^  Adagig>^ 
Ach,  mich  dürstet«  durchklingt  wie  [  £  *tr     "     pp     -  S 
ein  großer  Seufzer  das  kurze  Motiv :  '  •^  "  ' 

Dieser  Satz  ist  der  erregteste  des  ganzen  Werkes:  Der 
Unwille  spricht  namentlich  von  den  Worten  ab:  >Kann 
Grausamkeit  noch  weiter  gehn?«  in  dramatischer  Deut- 
lichkeit und  in  mannigfaltigen  lebendigen  und  anschau- 
lichen Melodiege]}ärden.  Besonders  eindrucksvoll  sind 
die  chromatischen  Gänge  an  der  Stelle:  >Ihm  reicht 
man  Wein,  den  man  mit  Galle  mischt«.  Der  sechste 
Satz  >£s  ist  vollbracht«  will  dem  Gefühle  der  Freude 
Ausdruck  geben,  daß  nun  das  Leiden  des  Heilands  be- 
endet und  die  Erlösung  der  Menschheit  vollzogen  ist. 
Seine  Musik  mischt  deshalb  zwischen  schwere  und  ernst 
sinnende  auch  solche  Motive,  die  eine  edle  Heiterkeit 
ausdrücken.  Aber  für  diese  letzteren  sind  die  Worte 
nicht  immer  glücklich  untergelegt,  namentlich  nicht  an 
der  Stelle:  >Weh  euch  Bösen«.  Wer  den  Zusammenhang, 
das  Verhältnis  von  Text  und  Musik  nicht  kennt  und  seine 
Auffassung  von  ersterem  aus  bestimmt,  wird  hier  dem 
Komponisten  leicht  den  Vorwurf  der  Trivialität  machen. 
Selbst  C.  F.  Pohl,  der  verdienstliche  Biograph  Haydns, 
hat  sich  zu  dieser  Ungerechtigkeit  verleiten  lassen.  Aus 
derselben  milden  und  verklärenden  Auffassung  her- 
aus, die  Haydn  in  den  meisten  Sätzen  des  ersten  Teils 
leitete,  die  ihm  auch  die  friedlich  freudigen  Motive  des 
Chors  »Es  ist  vollbracht«  an  die  Hand  gab,  ist  auch  die 
Musik  zu  dem  letzten  der  sieben  Worte  >In  deine  Hand 
o  Herr,  befehP  ich  meinen  Geist«  geschrieben.  Sie  ist 
aus  dem  Grund  einer  Seele  heraus  empfunden,  die  ihren 
.Frieden  mit  Gott  gemacht  hat.     Daher  das  bewegliche 


—^      126      V  — 

kosende  Figurenleben  in  der  ersten  Violine,  und  daher 
,  die  unschuldig  pastorale  Hornmelodie,  die  den  Eingang 
und  den  Schluß  des  Satzes  bildet.  Als  Finale  bringen 
die  »Sieben  Worte«  eine  Schilderung  des  Erdbebens,  wie 
wir  sie  in  vielen  Passionen  und  in  manchen  viel  besser 
finden.  Den  Text  zu  diesem  Satze  »Er  ist  nicht  mehr«, 
der  nicht  recht  paßt,  nahm  Haydn  kurzer  Hand  aus 
Pamlers  »Tod  Jesu«. 

Schneiders  »Golgatha  und  Gethsemane«  war  für  lange 
Zeit  die  letzte  Passionsmusik  von  Bedeutung.  Unsere  pro- 
testantische Liturgie  wenigstens  hat  ihre  musikalischen 
Bedürfnisse  auf  das  Geringste  eingeschränkt,  und  unser 
modernes  Kopzert,  auch  das  geistliche,  vermeidet  die 
Berührung  wenn  nicht  mit  der  Religion,  so  doch  die 
mit  dem  Dogma.  Mendelssohn  und  Liszt  haben  einen 
»Christus«  komponiert,  aber  bei  ihnen  bildet  wie  in  Händeis 
»Messias«  die  Leidensgeschichte  nur  einen  Teil  im  Ganzen. 
Genau  so  verhält  es  sich  mit  G.  Schrecks  »Christus  der 
Auferstandene«  und  mit  Edgar  Elgars  »Aposteln«.  Beide, 
der  neuesten  Zeit  angehörende  Werke,  sind  ebenso  wie 
die  genannten  Vorgänger  besser  unter  den  Oratorien  zu 
buchen.  Die  Passionen  von  Eisner  und  Fr.  v.  Roda  aber, 
sind  nicht  über  die  Entstehungsorte  hinausgekommen  und 
Manuskript  geblieben.  Die  einzige  wirkliche  Passions- 
mnsik,  die  in  Deutschland  am  Ende  des  1 9.  Jahrhunderts 
in  Druck  und  auch  in  Umlauf  bei  den  Chorvereinen  ge- 

F.  Cial,       kommen,  ist  der  »Christus«  von  F.  Kiel. 

OhiiBtns.  Dieses  Oratoriums  eigentliche  musikalische  Originali- 

tät beschränkt  sich  auf  einzelne  Nummern  und  einzelne 
Stellen.  In  den  Motiven  Hegt  oft  ein  Mendelssohnscher 
Zug,  in  ihrer  Durchführung  wechselt  Heichtum  mit 
Trockenheit,  und  selbst  in  der  äußeren  Form  mancher 
Stücke,  in  der  Art  der  gemeinschaftlichen  Bewegung  der 
Stimmen  lehnt  sich  der  Komponist  an  bekannte  Vor- 
bilder, besonders  gern  an  Bach.  Gleichwohl  ist  aber 
der  »Christus«  Kiels  durch  den  Geist  in  Anlage  und 
Aufbau,  durch  die  Feinheit  und  Schärfe  der  Auffassung, 
das  Temperament   in    der  Deklamation    ein   Werk   von 


-^      127      o>— 

Bedeutung:  eine  Passionsmusik  die  nicht  einen  Musiker 
ersten  Ranges,  aber  eine  vornehme,  reiche  und  fesselnde 
Künstlerseele  zum  Verfasser  hat. 

Kiels  »Christust  gehört  zur  dramatischen  Gattung. 
Er  stellt  ohne  Evangelisten  die  Handlung  dar;  unter- 
scheidet sich  aber  von  früheren  Werken  derselben  Klasse 
dadurch,  daß  der  dramatische  Dialog  ganz  mit  dem  Evan- 
gelientext übereinstimmt.  Auch  die  lyrischen  Einlagen, 
die  der  Komponist  in  den  Mund  eines  Mezzosoprans 
und  des  Chors  gelegt  hat,  sind  der*  heiligen  Schrift  ent- 
nommen. Kiel  selbst  hat  sie  aus  den  Psalmen,  den  Epi- 
steln und  der  Offenbarung  sehr  treffend  ausgesucht. 
Eingeteilt  wird  das  Werk  in  Szenen.  Die  erste  trägt 
die  Überschrift:  »Christi  Einzug  in  Jerusalem«.  Ein 
sehr  glücklicher  Gedanke:  der  Darstellung  der  Passion 
das  helle  und  grelle  Gegenbild,  den  Empfang  des  Hei- 
lands am  Palmsonntag,  vorauszuschicken!  Die  Szene 
beginnt  mit  Klängen,  die  unbestimmt  von  der  Tiefe 
heranwogen;  man  lauscht  erwartungsvoll  und  hört  in 
Abständen  und  noch  wie  aus  der  Ferne  mild  festliche 
Weisen.  Sie  klingen  näher  und  rücken  mit  dem  Auf- 
treten des  Sblotenors,  der  wie  ein  Herold  der  wartenden 
Menge  zuruft:  »Bereitet  dem  Herrn  den  Weg«,  zum  ge- 
schlossenen Gesang  zusammen.  Da  mit  einem  Male 
wendet  sich  die  Harmonie  von  A  nach  Gdur:  der  fest- 
liche Zug  ist  allen  sichtbar  auf  den  freien  Platz  einge- 
schwenkt und  wird  von  hier,  von  dort,  immer  lauter 
und  stärker,  je  mehr  ihn  sehen,  mit  »Hosianna«  begrüßt, 
bis  endlich  zwei  Chöre  zu  je  vier  Stimmen  feierlich  »Ge- 
lobt sei  der  da  kommt  im  Namen  des  Herrn«  anstimmen. 
Es  geht  ein  hoher  Schwung  durch  die  Seele  der  Menge, 
der  in  dem  breiten  Chor  natürhch  und  anschaulich  zum 
Ausdruck  kommt.  Mit  den  Weisen  der  frommen  Ehrfurcht 
wechseln  die  fröhlichen  lustigen  Motive  des  Volksfestes. 
Eine  Solostimme  (Mezzosopran:^  »Das  zerstoßene  Rohr 
usw.«)  spricht  die  Erwartungen  aus,  die  das  Volk  auf 
den  Messias  als  den  Retter  aus  Elend  setzt.  Der  Chor 
schließt  sich  mit  dem  milden  Satze  ^Wenn  der  Herr  die 


— ♦      428      ^^- 

Gefangenen«,  der  auf  »Träumen«  prächtig  malt,  diesem 
Ausdruck  von  Hoffnung  und  Bitte  an  und  leitet  in  ein 
bewegtes  Bild  von  Frieden,  Glück  und  Freude  über,  wel- 
ches schließlich  zu  dem  Ausgangspunkt  der  Szene,  dem 
»Hosianna«,  zurückkommt  und,  hier  angelangt,  dem  Jubel 
und  der  Freude  einen  neuen  energischen  Ausdruck  in  der 
Doppelfuge  »Singet  dem  Herrn  ein  neues  Lied«  gibt.  Eine 
kurze  Episode,  in  Welcher  die  Interpellation  eines  Phari- 
säers die  Existenz  einer  feindlichen  Partei  ahnen  läßt, 
hebt  die  Wirkung  dieses  hochgestimmten  Schlußteils 
wesentlich.  Jetzt  ergreift  Christus  wieder  das  Wort  und 
zwar  zum  ersten  Male  zu  einer  längeren  ernsten  Rede, 
die  auf  eine  trübe  Zukunft  hinweist.  Der  Chor  antwortet 
mit  »Unser  Reigen  ist  in  Wehklagen  Verkehret«,  einer 
Nummer,  die  die  festlich  und  jubelnd  begonnene  Einzugs- 
szene mit  einem  eigentümlich  traurigen  Tone  abschließt. 
Es  ist  eine  große  Macht  der  Stimmung  in  diesem  Chore, 
der  einfach  melodisch  dahinfließt.  In  den  ruhigen  Gang 
der  Klage  si^hlagen  die  Akzente  bei  »0  Wehe«  auf- 
schreckend hinein.  Kaum  eine  andere  Nummer  des 
»Christus«  prägt  sich  dem  Gemüt  so  tief  ein  wie  dieser 
umflorte  Gesang.  Kenner  werden  bemerken,  daß  die 
Erfindung  darin  etwas  von  Grauns  »Tod  Jesu«  (»Unsere 
Seele  ist  gebeuget«)  beeinflußt  ist. 

Die  zweite  Szene  »Christi  Abendmahl  mit  seinen 
Jüngern«  geht  über  den  Inhalt  ihres  Titels  hinaus  bis 
zum  Verrate  des  Judas  und  zur  Gefangennahme  des 
Herrn.  Einen  längeren  musikalischen  Ruhepunkt  findet 
sie  erst  in  dem  altertümlich  gefärbten,  sechsstimmig 
fugierenden  Schlußchor:  »Wir  gingen  Alle  in  der  Irre«. 
An  Umfang  ihm  nachstehend,  an  Gehalt  und  Entschie- 
denheit der  Tonsprache  aber  überragend  ist  der  Chor 
»Wehe,  wehe,  sie  haben  ein  Bubenstück  usw.«  zu  be- 
zeichnen. Die  Szene  wechselt  sehr  lebendig  zwischen 
dramatischen  und  betrachtenden  Sätzen.  Die  biblischen 
Reden  der  Jünger  sind  in  ausdrucksvoller  Kürze  ein- 
gereiht. Unter  den  knapperen  betrachtenden  Num- 
mern   ist    die    eigentümlichste    der   Chor    »Siehe,    ich 


— ^      U9      ^— 

stehe  vor  der  Tür  usw.«,  den  die  Altstimmen  allein  vor- 
tragen. 

Mit  der  folgenden  Szene  »Petrus  verleugnet  Chris- 
tum« beginnt  Kiel  die  zweite  Abteilung  seines  Oratoriums. 
Die  Szene  der  Verleugnung  ist  nur  kurz  ausgeführt  aber 
sehr  geistvoll.  Nach  dem  Chor  »Wahrlich  usw.«  spielen 
die  Instrumente  eine  Reihe  von  Motiven,  mit  welchen 
die  Jünger  in  der  vorhergehenden  Abendmahlszene  die 
Versicherung  der  Treue  und  des  Todesmuts  —  »Und 
wenn  ich  mit  dir  sterben  müßte«,  »Herr,  sollen  wir  mit 
dem  Schwert  dreinschlagen?«  —  gaben.  In  der  nächsten 
Szene  »Christus  vor  dem  Hohenpriester«  hat  Kiel  zwei 
Priesterchöre:  »Er  ist  des  Todes  schuldig«  und  »Weis- 
sage,' wer  ist  es,  -^  der  dich  schlug«  in  einen  Satz  zu- 
sammengefaßt und  in  einer  eigentümlichen  Kombination 
diesen  in  den  Männerstimmen  spielenden  Ausbrüchen 
der  Wut  und  des  rohen  Spottes  in  dem  Unisono  von 
Sopran  und  Alt  einen  choralartigen  Gesang  gegenüber- 
gestellt, welcher  diese  Szene  der  Grausamkeit  mit  einem 
heiligen,  verklärenden  Licht  überstrahlt.  Die  nun  fol- 
gende Szene  »Christus  vor  Pilato«  ist  die  imposanteste 
des  ganzen  Werkes  und  muß  als  Meisterstück  moderner 
Passionsrealistik  angesehen  werden.  Nur  bei  Schicht  ist 
ein  ähnlicher  Aufbau  der  langen  Gerichtsszene  versucht 
worden:  Es  ist  ein  einziger  großer  Satz,  der  in  den  er- 
öffnenden Akkorden  der  Bläser  die  Feierlichkeit  des  Hoch- 
gerichts kurz  andeutet  und  dann  in  einer  wahren  Flut 
von  leidenschaftlicher  Erregung,  in  einem  gewaltigen  un- 
aufhaltsamen Zuge  dahinstürmt.  Kiel  folgt  hier  nicht 
dem  Matthäus  oder  Johannes  allein;  alle  die  Züge,  wel- 
che diese  beiden  Evangelisten,  und  die  anderen  dazu, 
von  dem  Fanatismus  des  Volkes  mitteilen,  sind  in  das 
Bild  aufgenommen.  Aber  Kiel  hat  sie  nicht  in  geson- 
derten Nummern  der  Reihe  nach  ausgeführt,  sondern 
genial  zusammengedrängt,  hier  kurz  skizzierend,  dort 
einen  Augenblick  verweilend.  Die  Einheit  der  Szene 
sichert  der  Hauptsatz,  das  »Kreuzige,  kreuzige«,  zu  wel- 
chem die  Menge  in  allen  Lagen  der  Verhandlungen,  im 

II,  4.  9 


Übermut  wie  in  der  Verlegenheit,  immer  wieder  zurück- 
kehrt wie  zu  .einem  ausgegebenen  Losungswort.  Den 
Höhepunkt  bildet  der  Satz:  »Sein  Blut  komme  über 
uns*,  der  mit  einer  dämonischen  Entschiedenheit  ge- 
geben ist.  Von  da  ab  beruhigt  sich  der  Ton  der  Szene; 
der  Spott  und  die  Wut  flackern  n^ch  dem  Arioso  von 
Christus  nur  noch  einmal  auf  in  »Der  du  den  Tempel 
Gottes  zerbrichst«.  Für  lyrische  Einlagen  war  diese 
Szene  nicht  der  Ort;  nur  ein*  kurzer  Choräatz,  der  wie 
von  Eccard  klingt:  »Siehe,  das  ist  Gottes  Lamm«,  taucht 
in  der  zweiten  Hälfte  auf.  Erst  ganz  am  Schlüsse 
kommt  die  hochgeschwellte  Stimmung  des  christlichen 
Herzens  zum  Wort.  Es  ist  in  dem  Choral:  »Mein  Jesu 
stirbt,  die  Felsen  beben«  nach  der  Stelle  »es  ist  voll- 
bracht«. Während  die  Stimmen  die  Weise  in  ihrer 
schlichtesten  Form  hinsingen,  grollt  in  dem  Orchester 
ein  Nachklang  des  Erdbebens,  welches  nach  der  Bibel 
das  Scheiden  des  Herrn  begleitete.  Dann  wird  der 
Choral  zum  zweiten  Male  zu  einem  kunstvolleren  Satze 
mit  fugierenden  Stimmen,  in  Bachscher  Weise,  aufge- 
nommen. Die  Originalmelodie  des  Chorals  ist  die  alte 
Neumarksche  von  »Wer  nur  den  lieben  Gott  läßt  walten«. 

Wie  Kiel  der  Passion  als  Vorgeschichte  den  Einzug 
am  Palmsonntag  vorausgeschickt  hat,  so  läßt  er  zu  ihr 
auch  als  Epilog  eine  Skizze  der  ihr  nächstfolgenden 
wunderbaren  Ereignisse  hinzutreten:  Auferstehung  und 
Himmelfahrt.  Aus  diesem  dritten  Teile  des  »Christus« 
sind  besonders  das  Duett  der  beiden  Marien,  hervor- 
zuheben und  der  nachkomponierte  an  innigen  Wen- 
dungen reiche  Dialog  zwischen  Christus  und  Petrus. 
Kurz  ehe  das  Werk  mit  dem  »Hallelujah«  und  der  auf 
ein  seltsam  weit  ausschreitendes  Thema  »Das  ist  der 
Stein«  aufgebauten  Fuge  abschließt,  klingen  nochmals 
die  friedlichen  Motive  seiner  Einleitung  an. 

Nach  Kiel  hat  es  Felix  ^Woyrsch  versucht,  den 
Bann  zu  durchbrechen,  in  den  Bachs  Matthäuspassion  den 
neueren  Anbau  der  Gattung  unverkennbar  gelegt  hat. 
Das  Riesenwerk  drückt  auf  den  Mut  der  musikalischen 


Passionstalente  noch  weit  mehr  wie  Beethovens  >Neunte< 
auf  den  der  Symphoniker.  Bach  zu  überbieten,  wird  man 
besser  garnicht  erst  versuchen.  Daß  es  möglich  ist, 
trotz  der  unvermeidlichen  Berührungspunkte  mit  ihm, 
doch  die  Leidensgeschichte  selbständig  und  bedeutend 
musikalisch  darzustellen,  hat  Kiel  bewiesen. 

An  Kiel  schließt  sich  nun  Woyrsch  mit  seinem  >Pas-  F,  Woyrioli, 
sionsoratoriumc  (op.  45)  für  gemischten  Chor,  Soli,  Or-  Passions- 
ehester  und  Orgel,  wohl  unbeabsichtigt,  aber  tatsächlich  Oratorium, 
sehr  eng  an.  Der  entscheidende  Verwandtschaftszug  liegt 
darin,  daß  beide  die  für  die  oratorische  Form  notwendigen 
Textergänzungen  der  Bibel  entnehmen.  Dieses  Verfahren, 
von  dem  S.  Bach  beachtenswerterweise  trotz  seines  Eifers 
für  Kirche  und  Bibel  abgesehen  hat,  ist  durch  Mendels- 
sohns »Paulus«  in  die  neue  Passionskomposition  hinein- 
gekommen. Es  würde ^ sich  leicht  nachweisen  lassen,  daß 
auch  Kiel  durch  diese  Schranke  beengt  worden  ist. 
Woyrsch  ist  aber  in  der  Wahl  der  eingelegten  Bibel- 
worte noch  viel  weniger  glücklich  gewesen  als  sein  Vor- 
gänger. Seine  Einschaltungen  kommen  häufig  zur  Un- 
zeit und  sie  sagen  nicht  das,  was  die  Situation  verlangt. 
Insbesondere  fällt  in  dieser  Beziehung  auf,  daß  Woyrsch, 
da  wo  die  Vorgänge  empören  und  entrüsten,  nur  Klage 
und  Trauer  hat.  Der  dramatischen  Schärfe  der  biblischen 
Passionsschilderung  ist  hierdurch  mehr  als  einmal  die  Spitze 
abgebrochen.  So  fehlt,  obgleich  der  Komponist  nicht  einem 
einzelnen  Evangelisten,  sondern  der  sogenannten  Evan- 
gelienharmonie folgt,  die  Episode  mit  Barrabas,  die  die 
Worte'  »Laß  ihn  kreuzigen«  so  entsetzlich  macht.  So 
wird  die  Erklärung  der  Juden  »Wir  haben  keinen  König 
usw.«  des  beißenden  Charakters,  den  sie  als  Antwort  auf 
die  Frage  des  Pilatus  hat,  dadurch  entkleidet,  daß  sie  in 
Verkoppelung  mit  »Laß  ihn  kreuzigen«  eintritt. 

Zum  Teil  sind  diese  Abschwächungen  der  allgemeinen 
Unklarheit  darüber  entsprungen,  ob  die  Passion  als  litur- 
gisches oder  als  dramatisches  Kunstwerk  aufzufassen  ist; 
die  Erinnerung  an  die  Bachschen  Choräle  hat  in  den 
Entwurf  mit  hineingespielt,  obwohl  der  Komponist  auf 

9* 


132 


L.-Perosi, 
Markus- 
passion. 


Choräle  verzichtet.  Zum  Teil  beruhen  sie  auf  individuellen 
Mängeln.  Bei  einer  besseren  Anlage  des  Textes  hätte 
dieses  Passionsoratorium  wahrscheinlich  viel  mehr  Ver- 
breitung gefunden,  als  das  der  Fall  gewesen  ist.  Denn 
seine  musikalischen  Quahtäten  sind  nach  mehreren  Rich- 
tungen bedeutend.  Ernste  Hingabe,  warme  Empfindung, 
schöne  einfache  Erfindung  fehlen  fast  nirgends.  Der 
Chorsatz  ist  mannigfaltig,  reich,  frei  und  immer  reif  und 
meisterlich.  Auch  die  Soli  sind  gehaltvoll;  nur  haben 
die  Rezitative  des  Evangelisten  zu  viel  Ausdruck  und  die 
Reden  des  Heilands  treten  nicht  genug  hervor.  An  ein- 
zelnen Stellen  schädigt  sie  der  Komponist  dadurch,  daß  er 
den  Instrumenten  die  Hauptstimme  gibt,  obgleich  das  Wort 
den  ersten  Anspruch  hat,  gehört  zu  werden.  An  andern 
Stellen  vermißt  man  die  selbständige  Betätigung  des 
Orchesters.  Einen  solchen  Fall  bietet  namentlich  der 
Augenblick,  wo  auf  Gethsemane  die  Jünger  fliehen.  Da 
galt  es  den  Seelenzustand  des  Herrn  so  zu  malen,  wie 
es  nur  die  Instrumente  können.  Statt  auf  diesem  moder- 
nen Wege  seine  Aufgabe  zu  lösen,  betritt  der  Komponist 
mit  dem  Chor:  »Jerusalem,  die  du  tötest  usw.«  einen 
Gemeinplatz.  Mit  sinnreichen  und  beziehungsvollen  Nach- 
spielen, mit  der  Verwendung  des  Chorals  »0  Gottes  Lamm 
unschuldig«,  hat  aber  auch  Woyrsch  auf  die  Mittel  hin- 
gewiesen, die  es  der  zukünftigen  Passionskomposition  er- 
möglichen werden,  sich  neben  S.  Bach  zu  behaupten. 

Daß  das  heutige,  über  L.  v.  Beethoven  und  über 
Wagner  gegangene  Orchester  als  lyrischer  Dolmetsch 
auch  für  die  Passion  vortrefflich  verwertet  werden  kann, 
zeigt  der  jüngste,  weiter  bekannte  Vertreter  der  Gattung 
Lorenzo  Perosi.  Seine  Markuspassion  —  la  Pas- 
sione  di  Cristo  secondo  S.  Marco,  Trilogia  sacra  lautet 
der  ausführliche  Titel  —  fällt  durch  die  Menge  selb- 
ständiger Orchestersätze  auf,  die  als  längere  und  ktlrzere 
Vorspiele,  Nachspiele  und  Zwischenspiele  die  Passions- 
vorgänge einleiten  oder  schließen.  Sie  bewähren  sich 
als  Mittel  den  Gefühlsgehalt  der  Szene,  unter  Um- 
ständen eindringlicher  und  reicher,   jedenfalls   aber  in 


U3     ^ — 

viel  kürzerer  Zeit  und  ohne  den  Fortgang  der  Handlang 
wesentlich  aufzuhalten,  auszusprechen  als  durch  ein- 
gelegte Gesänge,  seien  es  nun  Chor-  oder  Solosätze. 
Perosi,  dem  das  große  Verdienst  nicht  abgesprochen 
werden  kann,  in  Italien  den  abgestorbenen  Sinn  für  das 
Oratorium  wieder  erwefckt  zu  haben,  hat  auch  für  die 
Passionskomposition  durch  diese  freie  Anwendung  eines 
Prinzips  des  neuen  Musikdramas  eine  für  alle  Länder 
bedeutende  Anregung  gegeben.  Die  reformatorischen 
Wendungen  seiner  Markuspassion  gehen  jedoch  noch 
viel  weiter.  Es  kommt  ihm  nicht  bloß  auf  die  Zu- 
ziehung modernster  Ausdrucksmittel  an,  sondern  in  der 
Form  eines  praktischen  Experiments  stellt  er  den  Grund- 
satz auf:  der  Komponist  soll  die  Kunst  aller  Zeiten,  auch 
der  ältesten,  kennen  und  alles  benützen,  was  sich  er- 
probt hat.  Ein  zweiter  Garissimi  versucht  er  mit  außer- 
ordentlicher Kühnheit  die  Verschmelzung  jetziger  und 
früherer  Kunst  an  einem  der  bedeutendsten  Kompositions- 
entwürfe. Es  ist  ihm  dabei  gelungen  zu  zeigen,  daß  die 
musikalische  Darstellung  der  Passion  auch  heute  noch 
den  Rahmen  der  alten  Lektion  und  den  liturgischen 
Charakter  einhalten  und  dabei  doch  den  Forderungen 
des  modernen  Empfindungslebens  Rechnung  tragen  kann. 
Die  Aufführung  der  drei  Abteilungen,  in  die  der  Kompo- 
nist das  ganze  Werk  zerlegt:  —  das  Abendmahl,  das 
GQbet  Christi  am  ölberg,  der  Tod  des  Erlösers  —  nimmt 
nur  soviel  Zeit  in  Anspruch,  als  es  der  Gottesdienst  er- 
laubt Die  wichtige  Frage,  ob  eine  Passionskomposition 
streng  kirchlich  und  doch  modern  gehalten  sein  könne, 
ist  also  von  Perosi  durchaus  befriedigend  gelöst  und 
darin  liegt  der  Wert  seiner  Markuspassion  und  zugleich 
der  Hinweis  darauf,  daß  sie  mit  den  Ansprüchen  einer 
Konzertpassion  nicht  gemessen  werden  darf.  Sie  würde 
aber  auch  als  solche  Bedeutung  erlangt  haben,  wenn 
dem  nicht  beträchtliche  Schwächen  des  innern  Stils  ent- 
gegenständen. Man  bemerkt  sie  sofort,  wenn  man  nur  die 
Behandlung  der  Erzählerpartie  prüft.  Diese  ist  bald  einem 
Solisten,  bald  dem  Chor  übergeben.     Die  erzählenden 


Solisten  wechseln,  sie  singen  bald  im  Ghoralton,  bald  in 
der  modernen  Weise  der  begleiteten  Monodie.  Der  er- 
zählende Chor  ist  ein  Stück  aus  der  Rnnst  der  Motetten- 
passion, aber  innerhalb  dieser  Sphäre  wandelt  er  die 
Physiognomie  höchst  wunderlich.  Bald  singt  er  harmo- 
nisierten Akzent  und  Falsobordoni,  bald  fugiert  er  und 
bald  folgt  er  ganz  frei  den  Impulsen  des  natürUchen  Aus- 
drucks. Nicht  der  Wechsel  der  musikalischen  Mittel  an 
sich  ist  das  Anstößige  an  diesem  Verfahren,  sondern  der 
befremdende  Eindruck  ruht  darauf,  daß  diesem  Wechsel 
keine  klar  erkennbaren  Prinzipien  zugrunde  liegen,  daß 
er  sich  nicht  aus  dem  Charakter  der  Situation  erklärt 
und  somit  willkürlich  erscheint. 

Es  kommt  ein  zweiter  Umstand  hinzu,  die  Zensur 
der  Leistung  Perosis  herabzudrücken.  Das  ist  die  Un- 
gleichheit im  Wert  der  Erfindung.  In  den  Orchester- 
sätzen und  noch  mehr  in  den  Reden  Christi  kommen 
Passionstöne  ergreifendster  Art  vor,  Äußerungen  des 
Schmerzes,  die  dem  »Parsifal«  zur  Zierde  gereichen 
würden.  Daneben  stehen  aber  mehr  als  einmal  Motive, 
die  zu  leicht  wiegen,  ja,  selbst  offenbare  Floskeln. 

Eine  weitblickende,  auf  breiter  Bildung  stehende 
Persönlichkeit,  ein  großes,  sowohl  musikalisch,  als  all- 
gemein künstlerisch  großes  Talent  zeigt  diese  Markus- 
passio^  Perosis.  Kommt  der  Komponist  über  den  Ek- 
lektizismus hinweg  zur  Reife  und  Geschlossenheit,  so 
wird  die  italienische  und  die  internationale  Musik- 
geschichte seinen  Namen  an  einen  hervorragenden  Platz 
zu  stellen  haben. 


r 


*  Zweites  Kapitel 

Messen. 


Liturgisch  wichtiger  als  die  Passion  ist  die  Messe. 
Passionsmusiken  kommen  nur  in  der  Charzeit  vor,  Mes- 
sen das  ganze  Kirchenjahr  hindurch  bei  jedem  Haupt- 
«gottesdienst.  Die  Messe  ist  in  der  katholischen  Kirche 
das  >Hochamt«  und  dazu  bestimmt,  den  wichtigsten, 
erhebendsten  und  geheimnisvollsten  religiösen  Akt,  die 
Darbringung  des  Opfers,  vorzubereiten  und  zu  begleiten. 
Die  Protestanten  haben  diesen  Zweck  der  Messe  ih  die 
Feier  des  Abendmahls  gelegt.  Auf  ihrer  Seite  begann  die 
Trennung  der  Meßmüsik  von  den  heiligen  Zeremonien,  zu 
welchen  sie  gehört,  am  Ende  des  48.  Jahrhunderts.  In 
katholischen  Ländern  hat  man  sich  erst  später  entschlos- 
sen Messen  ganz  oder  in  Bruchstücken  im  Konzert  zuzu- 
lassen. Als  Beethoven  im  Jahre  4808  in  einer  Akademie 
zwei  Sätze  seiner  C  dur-Messe,  und  noch  4  824,  als  er  drei 
Stücke  seiner  »Missa  solemnist  aufführte,  mußte  er  sie 
hinter  den  Titel  »Hymnen  im  kirchlichen  Stile«  verstecken. 
Auch  in  Norddeutschland  haben  sich  am  Beginn  des 
4  9. 'Jahrhunderts  Stimmen  erhoben,  welche  die  Aufführung 
von  Messen  außerhalb  des  Gottesdienstes  als  eine  »Ent- 
weihung« verurteilten*).  Diese  Auffassung  ist  wohl  zu 
i^treng.      Gewiß  wird  ein    »Agnus  dei«   den    gläubigen 


*)  Allgemeine  Musikal.  Zeitung,  Jahrgang  1814:  Alte  und 
neue  Eiichenmusik. 


\ 


4^6     ♦>— 

Christen  in  dem  Augenblicke  am  mächtigsten  ergreifen, 
in  welchem  er  zur  heiligen  Handlung  am  Altare  nieder- 
kniet. Wenn  er  aber  zu.^iner  anderen  Zeit  denselben 
Satz  wieder  hört  und  sich  durch  ihn  an  die  gehoben- 
sten Stunden  erinnert  und  ermahnt  fühlt,  die  er  im 
Gottesdienst  erlebt  hat  —  ist  das  Entweihung?  Das 
Agnus  dei  und  wie  dieses  alle  Me^sätze  haben  einen 
selbständigen  Inhalt,  der  auch  dann  noch  erhebend,  die 
Frömmigkeit  erweckend,  die  Menschengedanken  auf  die 
göttliche  Gnade  und  Herrlichkeit,  aufs  Ewige  .fahrend, 
wirken  wird,  wenn  der  liturgische  Zusammenhang  dieser 
Sätze  ganz  vergessen  sein  sollte.  Dieses  Kyrie,  Gloria, 
Credo,  Sanctus  und  Agnus  dei  enthalten  Gedanken, 
welche  der  Christ  zu  jeder  Zeit  und  an  jedem  Orte 
versteht.  Das  Kyrie  bringt  in  spruchartiger  Kürze 
ein  Gebet  um  die  Hülfe  Gottes  und  seines  Sohnes. 
Wie  die  des  Sanctus  und  Agnus  dei,  kehren  seine 
Worte  außer  in  der  Messe  auch  in  anderen  liturgischen 
Stücken  wieder.  Das  Gloria,  ursprünglich  zur  Morgen- 
hymne bestimmt  und  leim  Aufgang  der  Sonne  ange- 
stimmt, ist  ein  Lobgesang.  Sein  jubelnder  und  dankender 
Grundcharakter  erhält  nur  in  dem  Abschnitt:  >Qui  tollis 
peccata  mundi  usw.«  einen  Gegensatz  demütig  bittender 
Art:  »miserere  nobis«  und  »suscipe  deprecationem  nos- 
tram«.  Das  Credo  ist  der  wortreichste  und  längste,' 
für  die  Komposition  der  schwierigste  der  Meßsätze. 
Seinen  Inhalt  bildet  das  christliche  Glaubensbekenntnis 
in  der  Fassung  des  Nicäischen  Konzils.  Die  Tonsetzer 
gaben  ihm  in  der  Regel  eine  feste,  feierliche  und  schwung- 
volle Musik;  besonders  tritt  in  ihr  der  Abschnitt  hervor, 
welcher  Christi  Menschwerdung  und  sein  Leiden  und 
Sterben  behandelt.  An  den  Stellen:  »et  incarnatus  est«, 
»et  homo  factus  est«,  »crucifixus  est«  darf  man  in  der 
besten  Zeit  der  musikalischen  Messe  das  Erhabenste 
suchen,  was  sich  musikalisch  denken  läßt.  Das  Sanc- 
tus, welches  den  Eingang  zur  eigentlichen  Kommum^, 
zur  heiligen  Wandlung  bildet,  ist  das  dreimalige  »Heilig«, 
der  bekannte  Gesang,  welchen  Jesaias  aus  dem  Munde 


—^      U7      ^— 

der  den  Thron  Gottes  umschwebenden  Seraphim  hörte.  An- 
gefügt sind  die  Jabebrufe,mit  welchen  die  Juden  Christum  am 
Palmsonntage  bei  seinem  Einzüge  in  Jerusalem  begrüßten: 
das  »Benedictus«  und  »Osanna«.  Das  Agnus  deiwar  in  der 
ältesten  Zeit  der  eigentliche  Kommuniongesang.  Es  enthält  in 
wenigen  schlichten  Worten  den  Ausdru^  demütigster,  liebe- 
vollster Hingebung  zu  dem  Heiland,  der  sich  für  die  Mensch- 
heit geopfert  hat,  und  die  Bitte  um  Gnade  und  Frieden.  In 
älteren  Messen  wird  der  Satz  in  dreifach  verschiedener  Mu- 
sik wiederholt.  Das  >Dona  nobis  pacem«  ist  erst  im  späteren 
Mittelalter  hineingekommen  und  heute  noch  nicht  als  allge- 
mein gültig  anerkannt,  z.  B.  nicht  im  Lateran,  wo  noch  drei- 
mal »miserere  nobis«  gesungen  wird.  Diese  fünf  Hauptsätze 
des  Messentextes  sind  zwar  alle  sehr  alt  (am  ältesten  das 
Sanctus),  aber  doch  zu  verschiedenen  Zeiten  entstanden. 
Erst  später  faßte  man  sie  zu  einem  zusammenhängenden 
Ganzen  zusammen,  welches  als  das  Ordinarium  der  Messe, 
d,  h.  der  im  Text  stets  gleichbleibende  Teil,  bezeichnet  wird. 
Vervollständigt  wird  dieses  Ordinarium  durch  Introitus,  Gra- 
duale,  Alleluja,  Tractus,  Sequenz  und  Communio,  Gesänge, 
welche  im  Text  je  nach  den  Festzeiten  {de  tempore]  wech- 
seln*). Mit  Rücksichten  auf  den  Text,  seine  Geschichte  und 
sein  Wesen,  läßt  sich  demnach  ein  Einspruch  gegen  den 
Konzertgebrauch  von  bedeutenden  Messen  nicht  begründen. 
Ganz  anders  aber  verhält  es  sich  mit  der  Frage,  ob  ihre 
Musik  die  Verpflanzung  in  den  fremden  Boden  erlaubt? 
Diese  Frage  kann,  soweit  es  sich  um  ganze  Messen  han- 
delt, nicht  für  sehr  viele  Werke  bejaht  werden.  Sie  muß 
für  alle  unbegleiteten  Messen  verneint  werden.  Auch 
die  besten  Meister  der  a  capella-Periode,  auch  die  Dufay 
und  die  Palestrina,  auch  die  Gabrieli,  Haßler,  die  mit 
sechzehn  Stimmen  operierenden  Venetianer  und  auch 
ihre  neuesten  Nachläufer  vertragen  es  nicht,  daß  voll- 
ständige Messen  von  ihnen  im  Konzert  aufgeführt  werden. 
Nur  der  Lehrzweck  kann  es  entschuldigen,   wenn  in  der 


♦)  Näheres  bei  Peter  Wagner,    Geschichte    der  Messe 
(I.  TeU  bis  1600),  Leipzig,  1913. 


Gegenwart   der   Versuch    doch   2uweilen    gewagt   wird. 
Wirklich  erhauea  kann  man  immer  nur  mit  der  Vorfüh- 
rung einzelner,  bedachtsam  ausgewählter  Sätze.  Will  man 
den  organischen  Zusammenhang  zwischen  den  Teilen  des 
Ordinariums,  der  ja  ein  wesentlicher  Zug  in  der  Meister- 
schaft der  alten  a  capella-Messe  ist,  zeigen,  so  hat  man 
sich  auf  zwei  Sätze,  etwa  ein  Kyrie  und  das  dazu  ge- 
j  hörige  Gloria,  ein  Credo  und  das  dazu  gehörige  Sanctus 
S  oder  Agnus  Dei  zu  beschränken.    Schon  drei  Sätze  sind 
i  zuviel;  ein  ganzes  Ordinarium  ermüdet  aber  auch  den 
X  willigsten  Zuhörer  und  gibt  dem  Un  gelehrten  einen  ganz 
falschen  Begriff  von  den  alten  Meistern.   Denn  die  Musik 
des  Ordinariums  ist  nur  Stückwerk.    Zum  musikalischen 
Ganzen  gehören  noch  die  oben  genannten  »de  tempore« 
wechselnden  Einleitungs-  und  Zwischengesänge,  die  vom 
Introitus  ab  die  Stimmung  des  kirchlichen  Festtags  immer 
wieder  beleben,  immer  anders  aber  doch  einheitlich  auf 
das  zu  feiernde  Ereignis  zurückkommen.    Damit  rechnet 
die  Musik  des  Ordinariums.     Sie  rechnet  ferner  mit  den 
zuweilen    sehr   langen    Unterbrechungen   zwischen    den 
einzelnen  Sätzen,  mit  den  heiligen  Zeremonien,  mit  den 
einfachen  litmrgischen  Intonationen  der  Priester,  mit  den 
Glöckchen  und  Glocken,  die  in  die  stillen  Gebete  von 
Priester  und  Gemeinde  hineinklingen.  Daran  können  sich 
Fantasie   und  musikalische  Aufnahmefähigkeit   der  Ge- 
meinde immer  wieder  erfrischen.    Die « Liturgie  ist  also 
!    die  Seele  und  die  unentbehrliche  Stütze  jeder  a  capella- 
;  Messe.    Sobald  sie  fehlt,   reichen  die  natürlichen  Mittel 
(   des  unbegleiteten  Ghorsatzes  für  eine  halbstündige  Be- 
i  lastung  nicht  aus  und  daran  vermag  die  größte  Virtuosi- 
.   tat  der  Komposition  und  des  Vortrags  nichts  wesentliches 
zu  ändern.     Eine  andere  Schwierigkeit  für  die  Verwen- 
dung von  a  capella- Messen  im   heutigen  Konzert  liegt 
daran,  daß  sie  für  ganz  andere  Chöre  gedacht  sind,  als 
wir  hei^e  besitzen.    Sie  wollen  in  allen  Stimmen  solistisch 
geschulte  Sänger,  sie  wollen  den  Alt  mit  Männern  besetzt 
sehen  und  im   Sopran  höchstens  Knaben  aber  niemals 
Frauenstimmen.    Auch  aus  diesem  Grunde  tun  Dutzende 


( 


—<♦     U9     ♦— ' 

von  Aufführangen  bester  Chorvereine  für  das  volle 
Verständnis  einer  Palestrinaschen  Messe  nicht  ein  Zehn- 
tel von  dem,  was  hierzu  ein  einziges  Hochamt,  etwa  im 
Regensbnrger  Dom,  beiträgt 

Die  begleitete  Messe,  der  die  reichen  und  mannig- 
faltigen Darstellungsmittel  des  modernen  Orchesters  zu 
Gebote  stehen,  ist  musikalisch  selbständiger  und  zur 
vollständigen  Verwendung  im  Konzert  geeigneter,  als 
die  reine  Vokalmesse.  Aber  auch  hier  sind  die  Aus- 
nahmen  zahlreich  und  viele  bedeutende  Werke  der  Gat- 
tung schöpfen  einen  beträchtlichen  Teil  ihrer  Lebens- 
kraft aus  der  Szenerie  des  Gottesdienstes.  Dahin  gehört 
z.  B.  Gherubinis  Requiem  für  Männerstimmen. 

Im  katholischen  Gottesdienste  begegnen  wir  noch 
einer  dritten  Stilart  der  musikalischen  Messe:  der  Messe 
im  gregorianischen  Choralton.  Sie  ist  die  älteste  Form 
des  Messengesangs  und  hat  vor  den  beiden  jüngeren  den 
Vorzug,  daß  sie  den  Text  knapp  und  deutlich,  nämlich 
in  einstimmigen,  unbegleiteten  Melodien  wiedergibt  Von 
dem  Choralton  der  Passion  unterscheidet  sich  aber  der 
der  Messe  dadurch,  daß  er  nicht  accentus,  sondern  con- 
centus,  nicht  Deklamation,  sondern  wirklicher  Gesang  ist, 
daß  er  aus  Melodien  besteht,  die  durch  Intervallenwechsel 
zwischen  Worten  und  Silben,  durch  kürzere  oder  längere 
Tonfiguren  auf  bedeutungsvollen  Wort-  und  Satzteilen 
die  inneren  seelischen  Eindrücke  des  Textes  äußern,  die 
Empfindung  und  Phantasie  des  Hörers  beleben.  Der 
gregorianische  Choral  hat  das  Schönste  und  Reichste, 
was  seine  Melodik  bietet,  in  den  Rezitationen  der  Meß- 
texte. Mit  Recht  wehren  darum  die  päpstlichen  Bestim- 
mungen der  neuesten  Zeit  der  Vernachlässigung  der 
Choralmesse.  Auch  Luther  suchte  die  innigen  und  feu- 
rigen Messintonationen  wenigstens  zum  Teil  seiner  Kirche 
zu  erhalten  und  nach  seinem  Sinn  sind  sie  von  einigen 
wenigen  protestantischen  Reformagenden  jüngst  wieder 
aufgenommen  worden.  Bei  einem  Vergleich  der  drei 
Stilarten  wird  die  kirchliche  Glanzpartie  der  Messen- 
^lusik  von  der  Vok^messe  gebildet;  im  engeren  Sinne 


— ^      440      ♦— 

von  den  für  den  a  capella-Chor  geschriebenen  Messen, 
welche  in  der  großen  Vokalperiode  des  4  5.  und  i  6.  Jahr- 
hunderts entstanden  sind.  Eine  durch  den  fortwährenden 
Wettbewerb  auf  gleichem  Gebiete  immer  wieder  ergänzte 
Reihe  großer  Meister,  eine  Fantasie  und  gestaltende 
Hand  fast  ausschließlich  im  kirchlichen  Dienst  festhaltende 
Schulung,  eine  glückliche  Übereinstimmung  im  Grund- 
wesen der  musikalischen  Mittel  und  der  dichterischen 
Ideen  kommen  zusammen,  um  den  Werken  dieser  Periode 
einen  Vorsprung  zu  geben,  welcher  von  der  späteren 
Zeit  noch  nicht  wieder  hat  eingeholt  werden  können. 
Der  Kenner  dieser  Zeit  wird  einem  Bach  und  Beethoven 
seine  Bewunderung  nicht  versagen;  aber  er  wird  von 
ihren  Messen  immer  wieder  mit  Liebe  und  Sehnsucht  zu 
seinem  Palestrina  zurückkehren.  Nur  in  dieser  Periode 
erscheint  ihm  kirchliches  und  künstlerisches  Ideal  voll- 
ständig sich  deckend.  Ihre  Musik  kommt  aus  dem  Himmel; 
in  den  Werken  der  späteren  Meister  drängt  sich  das 
Menschliche,  der  irdische  Jammer  und  die  irdische  Leiden- 
schaft stark  vor. 

Die  Menge  der  in  jener  großen  Vokalperiode  ent- 
standenen Messen  ist  erstaunlich  bedeutend.  Wir  haben 
Anekdoten,  welche  die  Fruchtbarkeit  der  alten  Meister 
auf  diesem  Gebiete  beleuchten,  wir  sehen  sie  tatsächlich 
bestätigt,  wenn  wir  in  den  Bibliotheken  Urtischau  halten 
nach  den  Notendrucken  aus  jener  Periode.  Die  Petrucci 
in  Venedig,  die  Petrejus  in  Nürnberg,  Moderne  in  Lyon, 
di^  Druckerpressen  in  allen  Ländern  waren  unablässig 
beschäftigt,  in  groß  Folio  Stimmbücher  von  Messen  her- 
zustellen. Vorher  und  daneben  her  ging  aber  das  Ab- 
schreiben mit  der  Feder,  das  Malen  jener  fast  finger- 
großen Noten,  deren  Tintenreichtum  im  Laufe  der  Zeit 
nicht  selten  das  Papier  zerfressen  hat.  Die  Messe  galt 
den  Tonsetzern  als  Hauptziel  ihres  Ehrgeizes ;  die  Meister 
verö£fentlichten  die  Werke  dieser  Gattung  bändeweise, 
und  unternehmende  Verleger  stellten  aus  den  Bänden 
verschiedener  Meister  wieder  neue  als  Mustersammlungen 
her.  Wir  übersehen  heute  den  Reichtum  immer  noch  nicht 


U4      ♦— 

vollständig;  erst  eine  Durchforschung  sämtlicher  Archive 
in  den  Kulturländern  kann  ein  genaues  statistisches 
Bild  ergeben.  Sie  sowohl  als  der  weitere  Teil  der  Auf- 
gabe: die  Übertragung  der  alten  Vorlagen  aus  der  Men- 
suralnote in  die  neue,  aus  den  Stimmen  in  Partitur,  setzt 
eine  Arbeitsteilung  nach  gemeinsamem  Plane  voraus 
Bis  ans  Ende  des  4  9.  Jahrhunderts  gingen  die  Unter- 
nehmer von  Neudrucken  ohne  Fühlung  untereinander 
vor.  Dabei  erhielten  wir,  um  nur  ein  Beispiel  anzuführen, 
die  herrliche  Messe:  »Assumpta  est  Maria«  von  Palestrina, 
seit  4  850  in  drei  verschiedenen  Ausgaben.  Dagegen  war 
ein  Meister  wie  Clemens  non  papa,  welcher  in  den 
Mustersammlungen  des  4  6.  Jahrhunderts  eine  erste  Stelle 
einnimmt  und  wegen  seiner  frischen,  kecken  Themen 
verdient,  als  Komponist  von  Messen  in  keiner  Sammlung 
vertreten;  ja  selbst  Ambros  scheint  ihn  als  solchen  nur 
wenig  zu  kennen.  Ähnlich  verhielt  es  sich  mit  Morales 
und  anderen  Lieblingskomponisten  der  alten  Sammel- 
werke von  Messen. 

Den  Anstoß  zu  Neuausgaben  haben  die  musikalischen 
Geschichtsschreiber  gegeben:  Martini,  Forkel,  Burney, 
Kiesewetter,  denen  neuere,  wie  Ambros  und  Schlecht 
gefolgt  sind.  Auch  Theoretiker,  wie  H.  Bellermann, 
schlössen  sich  dem  Vorgang  der  älteren  Fachgenossen: 
Glarean,  L.  Heyden,  Kircher,  getreu,  dieser  Veröffent- 
lichung von  Bruchstücken  aus  alten  Messen  an.  Als 
erste  selbständige  Sammlung  alter  Musik  erschien  von 
4  760  ab  in  London  die  von  Boyce  und  Arnold  redigierte 
»GathedralMusic«.  In  Deutschland  beginnt  die  Geschichte 
der  Wiederbelebung  alter  Tonkunst  durch  Partitur  drucke 
mit  Kirnbergers  Ausgabe  Haßlerscher  Kirchengesänge  im 
Jahre  4774,  in  Frankreich  ein  Menschenalter  später  mit 
den  verschiedenen  Veröffentlichungen  Kt  Chorons  (4808: 
Principes  de  composition,  4  827:  Journal  de  Chant  usw.). 
Fr.  Rochlitz,  B.  Braune,  St.  Lück,  F.  Commer,  F.  Proske, 
Niedermayer,  Eslava,  Maldeghem,  H.  Expert,  haben  dann 
die  Arbeit  mit  verschiedenen  Zielen  fortgesetzt;  als 
sie  immer  weitere  Beachtung  fand,  widmeten   sich  ihr 


große  besondere  Interessen  verbände,  wie  die  Eitnersche 
Gesellschaft  für  Musikforschung,  die  »Vereeniging  for 
Nord-Nederlands  Muziekgeschiedenis«,  die  Musical  Anti- 
quarian  Society,  die  Plainsong  and  Mediaeval  Musical 
Society,  die  Gesellschaft  zur  Herausgabe  dänischer  Musik 
usw.  Einen  wichtigen  Aufschwung  machte  die  Bewe- 
gung unter  dem  Einfluß  der  Gesamtausgabe  von  Werken 
einzelner  Großmeister.  Wiederum  waren  hier  die  Eng- 
länder für  Händel,  für  Purcell  vorgegangen,  die  Deutschen 
brachten  mit  der  Bachausgabe  die  Entscheidung.  Sie 
hat  bewirkt,  daß  Palestrina,  Lasso,  Schütz,  Händel,  Ra- 
meau.  Gluck  mit  ihren  gesamten  erhaltenen  Werken  in 
kritisch  zuverlässigen  Ausgaben  vor  uns  stehen.  Die  Wohl- 
tat dieses  Verfahrens  kommt  bereits  auch  Komponisten 
der  neueren  Zeit  zu  gute.  Für  die  ältere  Musik  hat  es 
die  weitere  Folge  gehabt, .  daß  ihre  Interessen  jetzt  in 
einem  großen  Stil  uns  nach  einheitlichem  Plan  gesichert 
sind.  Deutschland  und  Österreich  haben  die  Veröffent- 
lichung bedeutender  Komponisten  aus  früheren  Jahr- 
hunderten zur  Staatssache  gemacht,  die  Gesellschaften, 
die  in  diesen  beiden  Ländern  »Denkmäler  detr  Tonkunst« 
aufstellen,  arbeiten  im  Auftrag  und  mit  Unterstützung 
der  Kultusministerien  von  Berlin,  München  und  Wien. 
Es  kann  nicht  ausbleiben,  daß  die  übrigen  Kulturstaaten 
diesem  Beispiele  folgen  und  damit  die  Musikgeschichte  in 
den  Stand  setzen,  der  Geschichte  der  bildenden  Künste 
überall  ebenbürtig  zu  sein.  Zu  wünschen  ist  nur,  daß 
das  Tempo  der  Nachfolge  nicht  gar  zu  langsam  ge- 
nommen wird. 

Immerhin  ist  die  Masse  der  in  hundertjähriger  Arbeit 
zu  Tage  geförderten  Neuausgaben  alter  Musik  eine  statt- 
liche Leistung  und  sie  reicht  schon  heute  dazu  aus,  dem 
höher  strebenden  Musikfreunde  auch  ein  halbwegs  ge- 
nügendes Bild  von  der  Entwicklung  der  Messe  zu  geben. 
Eine  Hauptlücke  besteht  hier  noch  für  die  jerste  Periode 
der  mehrstimmigen  Vokalmesse.  Die  Gradualien,  die 
Allelujagesänge,  also  die  Nebenstücke  des  Messentextes, 
waren   es,    an   denen    zuerst    der    neue   Stil    probiert 


wurde  ♦)  und  zwar  vorwiegend  in  der  Weise  des  Perotinus, 
der  zwar  mehrstimmig  anfängt  und  schließt,  die  Mitte  aber 
einstimmig  hält.  Was  das  für  eine  Art  von  Mehrstimmig- 
keit war,  läßt  sich  aus  den  Proben,  die  Coussemaker  in 
seiner  »Historie  de  l'Harmonie«  nach  dem  Codex  von 
Montpellier  gibt,  nicht  sicher  genug  beurteilen.  Auch 
wenn  man  mit  dam  berüchtigten  Organum  rechnet,  bleibt 
in  dieser  Quelle  harmonisch  zu  vieles  befremdlich.  Melo- 
disch hingegen  wirken  die  einzelnen  Stimmen,  nament- 
lich die  oberste  (das  Triplum)  auch  bei  Coussemaker 
reich  und  fesselnd,  ipiteinander  verglichen  bilden  sie 
scharf  unterschiedene  Individuen,  Mitglieder  eines  fast 
dramatisch  gedachten  Ensembles.  Was  für  Gründe  da- 
für gesprochen  haben  mögen,  die  Hauptsätze  der  Messe 
zunächst  noch  dem  einstimmigen  Vortrag  vorzubehalten, 
wissen  wir  nicht.  Tatsächlich  hat  es  in  einzelnen  Gegen- 
den sehr  lange  gedauert,  ehe  sich  auch  für  die  eigent- 
liche Messe  der  Figuralgesang  einbürgerte,  in  Lübeck 
z.  B.  bis  zum  Jahre  4  486,  in  Lüneburg  bis  4  546**). 

Die  miehrstimmige  Komposition  des  Ordinariums  be- 
ginnt im  Anfang  des  U.  Jahrhunderts,  ihr  frühestes  bis 
jetzt  bekanntes  Dokument  ist  die  sogenannte  »Messe 
von  Tournai«,  die  ebenfalls  Coussemaker  in  Partiturform 
(Tournai  4  864)  und  in  einer  Übertragung  veröffentlicht  hat, 
die  wiederum,  am  meisten  wegen  der  ununterbrochen 
tänzelnden  Triolen,  sehr  bedenklich  erscheint. 

Für  die  weiteren  Leistungen  auf  diesem  Gebiete 
lagen  bis  vor  kurzem  nur  französische,  mittel-  und  ober- 
italienische, sowie  englische  Handschriften  vor.  Nachdem 
Davey,  Stainer,  Wooldridge  u.  a.  in  den  letzten  Jahren 
Proben    aus    ihren    heimischen    Quellen    veröffentlicht 


*)  Fr.  Ludwig:  Die  mehrstimmige  Musik  des  ^4.  Jahr- 
hunderts (SammeU>ände  der  Internationalen  Mnsikgesellschaft 
IV,  6)  und  derselbe:  Studien  über  die  Geschichte  der  mehr- 
stimmigen Musik  im  Mittelalter  (ebenda  Y,  2). 

**)   G.  Stiehl:    Zur  Geschichte  des  Kirchenchors   usw.   in 
Lübeck  (Lübecksche  Blätter  1886). 


hatten,  gab  dann  Johannes  Wolf*)  mit  wohlgewählten 
Auszügen  über  dieses  gesamte  Material  einen  Über- 
blick, der  die  Wichtigkeit  der  Pariser  und  Florentiner 
Schule  voll  aufdeckt,  die  Bedeutung  Dunstables  für  die 
Polyphonie  neu  bestätigt.  Mit  drei-  und  vierstimmigen 
Meßsätzen  sind  neben  diesem  »Vater  der  Polyphonie« 
nun  auch  G.  de  Machaut,  B.  de  Padua,  C.  de  Feltre,  A.  de 
Givitate,  J.  B.  Anglicus  vertreten  und  zwar  mit  wenigstens 
sinnvollen  Arbeiten.  Auch  de  Vitry  und  Matteo  de  Perugia 
können  jetzt  nicht  lange  mehr  fremd  bleiben. 

Die  früher  genannten  neuen  Sammelwerke  kommen 
erst  für  die  Messen  der  Dufay sehen  Zeit  zu  Hülfe.  Mit  ihm, 
mit  Ockeghem  und  Obrecht  treten  bekai^ntlich  die  Nieder- 
länder, die  Hauptträger  damaliger  Kultur,  die  Führung  in 
der  Musik  an  und  liefern  4  50  Jahre  lang  den  Residenzen 
und  Metropolen  aller  Länder  die  Sänger  und  Komponisten. 
Mit  den  Messen  dieser  Meister  zuerst  weitere  Kreise  be- 
kannt gemacht  zu  haben,  ist  das  Verdienst  Rochlitzens.  Er 
brachte  in  seiner  » Sammlung  vorzüglicher  Gesangstücke 
der  anerkannt  größten  ....  Meister  usw.«  (Leipzig  4833  bis 
4  840)  kürzere  und  längere  Bruchstücke  aus  Messen  jener 
Meister.  Sie  sind  indessen  wenig  benutzt  worden.  Wohl 
äußert  sich  in  ihnen  ein  starkes  poetisches,  gern  ans  Volks- 
tümliche anknüpfendes  Vermögen  in  herzlichen  Gesang- 
wendungen^  aber  man  stieß  sich  an  die  scheinbar  leeren 
und  ungelenken  Harmonien.  Wurden  doch  seit  Forkel  die 
Leistungen  der  ersten  Niederländischen  Periode  in  den 
Handbüchern  der  Musikgeschichte  als  Vorstufe  der  Kunst, 
als  abschreckendes  Beispiel  einer  in  bloßen  Künsteleien 
steckengebliebenen  Richtung  behandelt.  Auch  die  be- 
geisterten Darstellungen,  in  denen  Kiesewetter  und  sein 
Neffe  Ambros  für  die  Bedeutung  dieser  Werke  eintraten, 
vermochten  das  Vorurteil  nicht  zu  brechen.  Selbst  Männer, 
wie  Carl  Riedel,  gingen  an  Dufay  und  Genossen  vorbei. 

Diese  Ansicht  hat  sich  erst  geändert,  als  im  Jahre 
4  892    ein    von   Daniel    de   Lange    in   Amsterdam    aus 

•)  J.  Wolf:  Geschichte  der  Mensnralnotatlon,  1904. 


U5      ♦— 

wirklichen  Solisten  und  Kunstsängern  gebildeter  Elitechor 
sich  mit  Dufay  und  Genossen  auf  die  Reise  begab.  Die 
Leistungen  dieses  Amsterdamer  Kirchenchores  haben  wohl 
überall,  wo  sie  in  deutschen  Städten  gehört  wurden,  den 
Schleier  weggezogen  und  die  Niederländische  Musik  des 
15.  Jahrhunderts  in  ihrem  wahrem  Lichte  gezeigt,  —  in 
dem  Lichte  einer  vollen  Kunst,  einer  Kunst,  in  der  nichts 
von  Archaismus,  von  Anfängerschaft,  von  unfertiger  Ent- 
wicklung und  Experiment  zu  bemerken  ist.  Im  Gegen- 
teil, diese  Werke  und  diese  Meister  bedeuten,  soweit  es 
natürliche  und  wirksame  Ausnützung  der  Menschenstimme, 
Macht,  Freiheit  und  Schöheit  der  Melodik  betrifft,  die 
höchste  Blütezeit  der  mehrstimmigen  Vokalmusik.  Nach 
dieser  Richtung  ist  die  erste  niederländische  Zeit  nie- 
mals übelrtroffen,  nur  hie  und  da  von  Einzelnen,  wie  von 
S.Bach  (z.B. in  »Komm  Jesu,  komm«)  annähernd  erreicht 
worden.  Dieser  ihr  Vorzug  hängt  eng  zusammen  mit 
der  Natur  der  sogenannten  »Chöre«,  für  welche  diese 
Kompositionen  geschrieben  worden  sind.  -  Komponisten 
wie  Dufay,  Ockeghem  waren  Sänger  in  diesen  Chören. 
Für  Bachsche  Motetten,  Beethovensche  Messen,  für  die 
Mehrzahl  der  neueren  Chorwerke  möchten  wir  unsere 
starken  Dilettantenvereine  nicht  missen,  sie  sind  außer- 
dem für  die  musikalische  Volkserziehung  unersetzlich. 
Aber  wollen  wir  die  a  capella- Musik  der  frühesten  Peri- 
oden nicht  bloß  gelegentlich  kosten,  sondern  wirklich 
wieder  aufleben  und  den  musikaüschen  Geist  unsrer  Zeit 
von  ihr  befruchten  sehen,  so  müssen  wir  wieder  nach 
Chören  streben,  die  jenen  de  Langeschen  Chor  zum 
Muster  haben.  Daß  das  möghch  ist  und  was  dabei  er- 
reicht wird,  beweist  heute  wieder  in  Amsterdam  A.  Aver- 
kamps bekannter  »Klein-Koor  ä  Cappella«. 

Von  dem  heutigen  Gebrauchswert  der  Werke  dieser 
ersten  Niederländer  abgesehen,  haben  sie  geschichtlich 
bedeutend  gewirkt.  Sie  beherrschen  zwei  Jahrhunderte 
hindurch  fast  ausschli^lich  die  Gestaltung  des  kunst- 
ra^ßigen  Tonsatzes  mit  dem  Gesetze,  welches  sie  für  die 
Gedankenentwicklung  ausgebildet  hatten.    Dieses  Gesetz 

II,  1.  <0 


—^      U6      *— 

hieß:  Einheit  in  der  Mehrheit,  Festhalten  am  gegebenen 
Thema,  gründliche  Ausnutzung  seiner  wesentlichen  Züge. 
Von  diesem  Gesichtspunkte  gingen  auch  die  viel  ge- 
tadelten Künsteleien,  die  ausgeklügelten  und  ausgetiftelten 
Nachahmungen  aus,  welche  von  den  Messen  der  Ockeghem 
und  Obrecht  aus  den  Sinn  der  auf  Josquin  folgenden  Nie- 
derländer so  ungebührüch  gefangen  nehmen.  In  dieser 
Periode  wurde  es  der  höchste  Triumph,  mit  einer  einzigen 
Notenzeile  sämtliche  mit  einander  singende  Stimmen  ver- 
sorgen zu  können.  Die  erste  singt  das  Thema,  wie  es 
geschrieben  steht,  die  zweite  schneller  oder  langsamer 
in  einem  ganz  anderen  Rhythmus,  eine  dritte  läßt  alle 
Pausen  weg,  fängt  das  Thema  beim  Ende  an,  die  vierte 
kehrt  vom  Anfang  aus  alle  Intervalle  um  usw.  Zur  An- 
deutung dieser  Kunstgriffe  bildete  man  ein  verwickeltes 
Zeichensystem  aus,  welches  die  Notenlehre  dieser  Zeit 
mit  den  Schwierigkeiten  einer  raffinierten  Geheimschrift 
umgibt.  Wir  haben  es  bei  dieser .  Satzweise  mit  einer 
Übertreibung  eines  an  und  für  sich  vorzüglichen  Prinzips 
zu  tun.  Die  Auswüchse  schwinden  am  Ende -des  4  6.  Jahr- 
hunderts wieder.  Aber  auf  dem  Grunde  des  Systems,  wel- 
chen jene  Niederländer  des  45.  Jahrhunderts  gelegt  haben, 
stehen  auch  Orlando  die  Lasso  und  ebenfalls  Palestrina. 
Es  ist  bekannt  genug,  daß  den  Messen  der  hier  in  Rede 
stehenden  Vokalperiode  Gesangmelodien  zu  Grunde  gelegt 
wurden,  welche  offen  oder  versteckt  alle  einzelnen  Sätze 
des  Werkes  durchziehen.  Diese  Merkmelodien  —  cantus 
finnus  ist  ihr  Name  —  waren  ursprünglich  dem  gre- 
gorianischen Choral  entnommen.  Bald  aber  trat,  bis 
zum  Trienter  Konzil,  neben  diese  Quelle  das  Volkslied, 
dessen  einfachere  und  bekanntere  Weisen  den  Hörern 
mehr  entgegenkamen  und  auch  den  Sängern  die  Ent- 
zifferung der  Notenrätsel  erleichterten.  Gerade  die  un- 
scheinbarsten und  leichtesten  Weisen  aus  der  letzteren 
Klasse  wurden  am   häufigsten  benutzt.     Über  das  The- 

»l'homme  arm^«  W  '  '  '         ■    ^'   -^ 

haben    fast    alle  Komponisten   ihre  Messe  geschrieben; 


U7     «-— 

einzelne  mehrere*;.  Ähnlich  belieht  waren  die  sogenannten  ■ 

yoces  musicales,  die  sechs  ersten  Töne  unserer  heutigen  '       | 

Durtonleiter   (das    Hexachord)   als    cantus    firmus.     Von 
diesem  cantus  firmus  bekamen  die  Messen  ihren  Namen.  ' 

In  alten  Sammlungen  sind  oft  nur  diese  Titel  >Si  bona 
suscepimus«,  »Mort»ma'  priv^«  usw.  angegeben  und  die 
Namen  der  Tonsetzer  nicht.  Es  leuchtet  ein,  wie  das  Fest- 
halten an  einem  solchen  Grundthema  dem  einheitlichen 
Charakter  eines  vielsätzigen  Werkes  zugute  kommen 
konnte.  Die  Weise,  in  welcher  der  cantus  firmus  in  den 
Messen  behandelt  wurde,  ist  außerordentUch  mannig- 
faltig. In  der  früheren  Zeit  vorwiegend  dem  Tenor 
zugewiesen,  rückt  er  später  auch  in  andere  Stimmen, 
besonders  gern  in  den  Sopran  vor.  Den  einen  dient 
der  cantus  firmns  nur  als  mechanischer  Anhalt.  Die 
Notenreihe  wird  so  ins  Breite  gezogen,  daß  von  einer 
melodischen  Wirkung  .  keine  Rede  sein  kann.  Von 
anderen  wird  das  Grundthema  geistig  ausgenutzt:  bald 
in  der  Art  der  Bachschen  Choralfigurationen ,  bald  in 
dem  Stile  unserer  neuesten  Motiveniwicklung  und  the- 
matischen Umgestaltung,  welcher  gerade  in  den  Messen 
der  Vokalperiode  einen  bedeutenden  Vorläufer  hat.  Man 
trifft  da  Arbeiten*  in  reicher  Anzahl,  die  den  Uneingeweih- 
ten durch  die  völlige  Übereinstimmung  mit  der  neuesten 
Instrumentalperiode  Beethoven -Liszt  in  der  Gedanken- 
technik überraschen.  Kaum  unterliegt  es  auch  dem  Zweifel, 
daß  die  ganze  Satzkunst  der  Niederländer,  vonDufay  bis  zu 
Sweelinck,  von  instrumentalen  Einflüssen  mitbeherrscbt 
worden  ist**).  Daß  in  der  zweiten  Hälfte  des  4  6.  Jahrhun- 
derts für  die  Sängerchöre  Positive  angeschafft  wurden,  ist 
sicher  belegt***),  die  Mitwirkung  von  Zinken  und  Posaunen 

*)  Baini   gibt  in   seiner  Palestrinabiogiaphle  ein  vollstan- 
diges  Verzeichnis. 

**)  Davon  ausgebend,  hat  Arnold  Schering  die  Messenkom- 
position der  Niederländer  im  -wesentlichen  für  Orgelmusik  er-* 
klirt  (Die  niederländische  Orgelmesse  usw.,  Leipzig,  1912). 

***)  ü.  a.  durch    0.  Stiehl  a.  a.  0.,   durch  PedreU  In  der 
Einleitung  zur  Victoria-Ausgabe. 

40* 


— -♦      148     ♦— 

steht  schon  für  frühere  Zeiten  fest.  Die  in  großen  und 
kleinen  Zügen  in  vielen  Werken  der  ganzen  Periode  her- 
vortretende Gleichgültigkeit  gegen  Wort  und  Text,  die  Hin- 
neigung zu  kompakteren,  massigen  und  derhen  Wirkungen, 
das  Vordringen  des  akkordischen  Elements,  hängt  mit  jenen 
instrumentalen  Einflüssen  zusammAi.  Die  Unterlegung 
d^s  Textes  nach  bestimmten  Regeln  war  Sache  der 
Sänger*),  denen  .nur  der  liturgische  Anfangswortlaut 
hingeschrieben  wurde.  Von  ihm  lenkten  sie  dann  oft  in 
Improvisationen  ab,  die  profan  und  unpassend  waren. 
Daß  in  das  Gloria  an  Marientagen  eine  Stanze  an  die 
heilige  Jungfrau  hineingesungen  wurde,  an  anderen  Hei- 
ligenfesten Entsprechendes,  erregt  kaum  Anstoß.  Den 
gewählten  cantus  firmus,  wenn  er  aus  dem  Volkslied 
entnommen  war,  mit  seinen  eigenen  Worten  zu  geben, 
war  allgemein  gebräuchlich:  Es  kommt  in  den  früheren 
Werken  Palestrinas  noch  vor:  z.  B.  in  seiner  Messe: 
»Ecce  sacerdos«.  An  sich  war  diese  Textm engerei  eine 
Konsequenz  der  Mehrstimmigkeit:  andre  Weisen,  andre 
Worte!  Wie  sie  heute  noch  im  dramatischen  Ensemble 
herrscht,  war  sie  die  Norm  in  der  Motette  des  H.  Jahr- 
hunderts gewesen.  Die  berühmte  Reform  der  Kirchen- 
musik durch  das  Trienter  Konzil  suchte  vor  allem  den 
hierbei  eingerissenen  Mißbrauch  in  der  Textbehandlung, 
soweit  die  Komponisten  dazu  durch  die  Benutzung  von 
Volksliedern  Veranlassung  gaben,  zu  steuern.  Trotzdem 
kehrt  die  Einmischung  fremder  Worte  in  den  Meßtext  und 
der  Aufbau  der  Sätze  über  Volkslieder,  auch  später,  wie 
Ambros  in  seiner  > Geschichte  der  Musik«  belegt,  ver- 
einzelt wieder.  Die  guten  Messen  des  4  5.  Jahrhunderts 
lassen  sich  jedenfalls  mit  reinem  und  einfachem  Text 
singen.  Geschah  dies  nicht,  so  war  es  Schuld  der  Sänger. 
Die  Komponisten  haben  die  Aufgabe  höchstens  hie  und 
da  im  Tenor  dadurch  erschwert,   daß  sie  dessen  Sätze 


*)  Siebe  J.  Qaadflieg:  Über  Textanterlage  und  Textbehand- 
lung in  kirchlichen  Vokalwerken  (Haberls  Kirchenmusikalisches 
Jahrbuch  1903.  S.  95.  u.  ff.). 


-U9 


durcli  Pausen  zerreißen.  Ein  »Qui«  fängt  an,  erst  zwölf 
Takte  später  folgt  dann  »toUis  peccata  mundi«.  Oder  aber 
sie  unterbrechen  im  Credo  von  Heiligenmessen  durch  ein 

»Sancte'' ora  pro  nobisc,  wohl  auch  durch  Einschaltung 

eines  Stückes  der  dem  Festtag  gewidmeten  Antiphon.  Auch 
die  kontrapunktischen  Künste  drängen  sich  bei  den  frühe- 
ren Niederländern  noch  nicht  vor.  Der  Tenor  singt  in 
jedem  der  fünf  Sätze  wieder  dieselbe  Grundmelodie  voll- 
ständig durch,  im  Gloria  und  Credo  sogar  zwei-  und  dreimal, 
aber  in  so  breiten  Rhythmen,  daß  sie  als  Ganzes  gar  nicht 
melodisch  wirken  kann.  So  isf  s  wenigstens  die  Regel. 
Ausnahmen  finden  sich,  wenn  in  den  langen  Sätzen  der 
cantus  firmus  zum  drittenmal  angestimmt  wird.  Da  kommt 
er  gewöhnlich  in  seiner  natürlichen  Gestalt,  als  Solo- 
stimme und  als  Hauptstimme  und  wirkt  durch  seinen 
geistigen  Gehalt  unmittelbar.  Im  allgemeinen  aber  wurde 
diese  Grundmelodie  in  erster  Linie  als  technisches  Gerüst 
der  Komposition  verwendet,  in  zweiter  gab  sie  motivisches 
Material  für  die  kontrapunktierenden  Stimmen  ab.  Die 
Melodien,  mit  denen  der  Sopran  die  Hauptsätze  anfängt, 
sind  dem  cantus  firmus  fast  immer  wörtlich  oder  häufiger 
durch  Umb&dungen  entnommen.  In  D u f  ay  s  Messe  über  »Se  Dnfay. 
la  face  ay  pale«  heißt  die  erste  Strophe  des  Cantus  firmus : 
A  TeBÄR ^ Ihre        letzten 

^ft."('°'Jirrr'^"ri"^"f 


5E  Noten        kehrt 


Ky.  ri .  e     e  .  lei 
(Be  la/aceay    pa    . 


son    der  Komponist 
'*^    zu    dem  Motiv 


^ 


f 


JüC. 


m 


um  und  mit  diesem  Motiv  an  der  Spitze 
beginnen  nun  alle  Teile   entweder  mit: 
oder  mit: 


iiitnurpiii  ri|ijE,|«i^i  pjji  ^fJUk 


Auch  Motive  aus  der  Mitte  und  dem  Ende  des  Grundgesangs 
werden  von  den  Nebenstimmen  übernommen  und  verarbei- 
tet. So  erhalten  in  der  zitierten  Messe  fast  ^  ^ 
alle  Satzschlüsse  ein  naives  Gepräge  durch  fe  ^  j  |  J: 
die     Verwendung    der    Dreiklangsnoten:   *'•    "*     . 


— ^      «50-    ♦— 

Gewiß  also  ist  die  Mehrstimmigkeit  in  den  Messen  von 
Dufay  und  Genossen  sinnvoll  und  kunstvoll.  Aber  trotz- 
dem ist  das  nicht  der  Hauptzug,  durch  den  jene  Musik 
fesselt  und  musterhaft  wirkt.  Sondern  der  liegt,  wie  schon 
erwähnt,  in  der  Melodik  der  einzelnen  Stimmen.  Aus 
diesen  langen,  schönen  Gängen  strömt  eine  Fülle  von  Fan- 
tasie und  Empfindung;  natürlich  und  einfach  setzt  sich  Ton 
an  Ton  und  doch  in  lauter  gewählten,  mit  immer  wieder 
überraschenden  und  eigenen  Wendungen.  Es  ist,  als  wolle 
dieser  Dufay  der  neuen  Zeit  noch  einmal  den  ganzen  Wert 
der  früheren  Kunst  zeigen,  den  Segen  der  tausendjährigen 
Arbeit  um  die  Ausbildung  des  unbegleiteten  einstimmigen 
Gesangs,  der  sich  in  dem  Namen  »Gregorianischer  Choral« 
birgt.  Die  neuen  Mittel  verwendet  er  schlicht  und  sekundär, 
aber  nichtsdestoweniger  oft  mit  durchschlagender  Wirkung. 
Am  erstaunlichsten  da,  wo  er  den  Vortritt  im  Ensemble 
wechseln  läßt.  Es  sind  fast  immer  Augenblicke  köstlicher 
Spannung,  wenn  die  neue  Führerin  einsetzt!  Auch  seine 
Nachahmungen,  insbesondere  die  zahlreichen  Kanons  ha- 
ben den  Reiz  der  Ursprünglichkeit  und  entsprechen  dem 
unwillkürlichen  Verlangen  des  Zuhörers,  einem  schönen 
Gedanken  nachzusinnen.  Ebenso  ist  seine  Harmonie,  wo 
sie  von  der  Ruhe  und  dem  Zusehen  zur  Tätigkeit  über- 
geht, Ausdruck  inneren  Lebens.  Sie  unterstützt  die  Be- 
tonung der  führenden  Stimme  und  die  Wiedergabe  der 
Stimmung.  Dahin  gehören  auch  die  zahlreichen  Akkord- 
schlüsse ohne  Terz.  Ihre  geschlechtslose  N|itur  schärft 
namentUch  am  Ende  großer  Sätze  den  Eindruck  einer 
erhabenen  Gottes  Verehrung.  Nimmt  man  hinzu,  was  Du- 
fays  Messen  auch,  für  die  Vergrößerung  der  Satzformen, 
somit  für  die  Erweiterung  des  musikalischen  Gedanken- 
lebens bedeuten,  so  ergibt  sich,  daß  er  als  ein  Meister 
erster  Ordnung  zu  betrachten  und  zu  behandeln,  als  solcher 
aber  in  dei^  musikalischen  Geschichtsschreibung,  ge- 
schweige denn  in  der  Praxis,  noch  nicht  zu  seinem  Rechte 
gekommen  ist.  Er  leidet  immer  noch  unter  dem  Irrtum 
des  Hermann  Fink  und  des  Goclicus,  die  ihn  bekanntlich 
unter  die  Mathematiker  gestellt  haben.  Die  österreichischen 


\ 


Denkmäler  der  Tonkunst  haben  sich  darum  durch  den 
Druck  zweier  vollständigen  Messen  Dufays  ein  Verdienst 
erworben*).  Mit  der  ersten,  der  hier  eben  behandelten  über 
>Se  la  face  ay  pale«,  teilt  die  zweite,  die  sog.  Caput- 
Messe  a.  d.  Jahre  4  463  den  formellen  Aufbau  der  Sätze 
über  denselben  cantus  firmus,  ein  Lied,  oder  ein  Hymnus, 
von  dessen  Text  nur  das  erste  Wort  »caputc  feststeht. 
Ferner  fangen  auch  in  ihr  alle  Sätze  mit  dem  gleichen 
Motive  an  und  drittens  ist  die  oberste  Stimme  wieder  in 
einem  Grade  Hauptstimme,  daß  viele  Stücke  wie  beglei- 
teter Sologesang  wirken.  Neu  ist  aber,  daß  an  ihrer  Be- 
weglichkeit und  Bevorzugung  auch  der  Alt  (Contra  I)  teil- 
nimmt. Von  der  ersten  weicht  die  zweite  Messe  weiter 
darin  ab,  daß  sämtliche  fünf  Abteilungen  und  auch  ein- 
zelne Unterabteilungen  zweistimmig  (Sopran  und  Alt) 
beginnen  und  erst  nach  4  6  oder  mehr  —  einmal  nach 
40  —  Takten  der  cantus  firmus  (Tenor)  nebst  unterster 
Stimme  (Contra  II)  und  damit  der  volle  vierstimmige  Chor 
einsetzt.  Auch  dkrin  unterscheidet  sich  die  Caput-Messe 
von  der  vorigen,  daß  die  Motive  des  durchaus  gesanglich 
und  flüssig  gehaltenen  cantus  firmus  nur  wenig  für  die 
Kontrapunkte  benutzt  werden  und  daß  Nachahmungen 
spärlich  auftauchen.  Die  Arbeit  zeigt  also  wenig  hohe 
Kunst,  aber  um  so  mehr  Andacht  und  Hingabe  an  den 
Text.  Hierin  ragen  besonders  das  Christe  eleison,  das 
Qui  tollis,  Crucifixus,  Benedictus  und  im  allgemeinen  die 
Stellen  hervor,  an  denen  Demut  und  Bitte  herrschen. 

Unter  den  an  derselben  Stelle  mitgeteilten  Bruchstücken 
aus. Messen  Dufays  fesselt  am  stärksten  ein  Gloria  mit  der 
Bezeichnung  »ad  modum  tubae«.  Die  beiden  obern  Stimmen 
(Sopran)  singen  im  Kanon  breite  Melodien  über  den  liturgi- 
schen Text,  die  zwei  Unterstimmen  werdeirgeblasen  und  lö- 
sen einander  mit  dem  Ostinato-Motiv  c  cg  |  c  g  |  ab.  Das  Kunst- 
stück erinnert  etwas  an  die  berühmte  vox  regis  des  Josquin, 
in  der  Wirkung  gleicht  es  einem  Gesang  mit  Glockengeläute. 


*)  Denkmäler  der  Tonkunst  in  Östeneicb.    Siebenter  und 
neunzehnter  Jahrgang. 


—^      152      ^— 

Die  Trienter  Handschriften,  denen  die  Österreichischen 
Denkmäler  die  Dufkyschen  Stücke  entnommen  haben, 
enthalten  noch  sehr  viele  Messen  des  4  5.  Jahrhunderts, 
darunter  neben  Arbeiten  von  Dunstable,  Binchois  und 
Ockeghem  auch  solche  von  ungenannten  Komponisten. 
In  letztere  Kategorie  hineinzublicken,  hat  ein  großes 
Interesse.  Denn  sie  bildet  in  der  Regel  die  Folie  zu 
den  Meisterwerken  und  enthüllt  Können  und  Methode 
des  Durchschnitts.  Es  ist  daher  sehr,  willkommen,  daß 
die  genannten  Denkmäler  auch  drei  Messen  aus  dieser 
Klasse  veröffentlichten*).  Sie  haben  alle  drei  als  can- 
tus,  firmus  das  im  4  5.  Jahrhundert  sel^r  beliebte  Lied 
>0  rosa  bella*;  die  erste  und  zweite  ist  im  dreistimmigen, 
die  dritte,  hiernach  wohl  die  jüngere,  im  vierstimmigen 
Satz  durchgeführt.  Auch  diese  Messen  schöpfen  noch 
aus  der  melodisch  reichen  Vergangenheit,  aber  sie  stehen 
in  der  Kunst,  Maß  zu  halten,  unendlich  weit  hinter 
Dufay  zurück.  In  diesem  Stimmkolleg  versteht  niemand, 
sich  unterzuordnen,  die  besten  Gedanken  Verden  durch  die 
geschäftigen  Begleitstimmen  und  ihre  unruhige  Harmonie^ 
meistens  verdorben.  Die  dritte  Messe  wird  außer  nach 
dem  Trienter  Codex  noch  in  einer  zweiten,  einer  Mode- 
neser  Handschrift  entnommenen  Lesart  mitgeteilt.   In  der 

ersten  setzt  die  0  ,|.  ,,  i  r-,  ■  r-.i  i  1  R  n  ^^  ^^^ 
oberste  Stimme  ^V  j  J*  Jj J  JJlJ  J  f'^JJ  l  Modene- 
das  Kyrie  mit:  *^  Ky.ri'T  ~  .  .^«  ser  mit: 
Q  \  .  ,  I  _-, ,  I  u.  k  I  ■  ^i^  uiid  so  bis  ans  Ende  des 
ro  ^''  j^  J  J  JD I J«  J^f  JU  I  Agnus  weiter.    Vielleicht  sang 


J^y-"  •  •  -  ®  man  die  Melodie  auch  in  Mo- 
dena  so,  wie  man  sie  in  Trient  schrieb.  Daß  aber  die 
Trienter  Handschrift  die  Existenz  der  später  als  »wesent- 
liche Manieren«  allgemein  gebräuchlichen  melodischen 
Improvisationen,  aus  denen  der  begleitete  Sologesang 
mit  hervorging,  schon  für  das  15.  Jahrhundert  nachweist, 
ist  wichtig. 
Ookegbem,         Daß   mit    Ockeghem   eine  Verschiebung   der  Satz- 


")  Denkmäler  der  Tonkunst  in  Österreich.    Elfter  Jahrgang. 


—^      103      ♦— 

technik  zu  Gunsten  verwickelterer  Nachahmungen  und 
eifrigerer  Ausnutzung  von  Themen  und  Motiven  eintritt, 
ist  unbestreitbar.  Ookeghem  bewegt  sich  in  diesem  Stil- 
gebiet mit  einem  zuweilen  dem  Übermut  nahen  Selbst- 
bewußtsein und  Kraftgefühl  und  würde  sich  darüber  ge- 
freut haben,  daß  die  Theoretiker  seit  Glarean  immer 
wieder  diese  Seite  seiner  Kunst  betont  und  mit  Beispielen 
aus  seinen  Messen  belegt  haben.  Sie  ist  aber  trotzdem 
nicht  die  wesentliche,  und  Josquin  hätte  die  schöne 
»Deploration«  auf  den  Tod-Ockeghems  nicht  komponiert, 
wenn  Ockeghem  sich  nicht  tief  ins  Herz  und  ins  Gemüt 
seiner  Zeit  eingesungen  hätte.  De  Lange,  auch  Aver- 
kamp haben  mit  den  Aufführungen  Ockeghemscher  Sätze 
die  Gegenwart  hierüber  wiederholt  belehrt,  und  seit  kurzem 
liegen  endlich  auch  zwei  vollständige  Messen  Ockeghems 
im  Neudruck  vor*).  Die  erste  zwingt,  weil  ihr  cantus 
firmus  ebenfalls  aus  der  Melodie  des  »Caput  usw.«  be- 
steht, zum  Vergleich  mit  Dufay.  Dabei  ergibt  sich  als 
hauptsächlichster  äußrer  Unterschied,  daß  der^weistimmige 
Satz  zu  Gunsten  des  vierstimmigen  beschränkt  ist.  An 
planmäßiger  Führung  der  Stimmen,  Ausnutzung  der  Motive, 
an  sinnvoller  Kunst  bietet  sie  sehr  wenig;  mit  Ausnahme 
des  weichen  und  vertrauensvollen  Kyrie  ist  sie  auch  an 
Stellen  zwingenden  Ausdrucks  sehr  arm.  Der  einzige  eigen- 
tümliche Zug,  der  durch  die  ganze  Messe  festgehalten 
wird,  besteht  in  einer  Schrulle :  der  cantus  firmus  setzt  im 
Schlußtakt  der  einzelnen  Sätze  unerwartet  nach  kürzeren 
und  längeren  Pausen  noch  einmal  mit  dem  Grundton  ein. 
An  Gehalt  steht  diese  Caput-Messe  tief  unter  der  des 
Dufay.  Sie  kann  kaum  echt  und  nicht  die  Frucht  dessel- 
ben Baumes  sein,  von  dem  die  an  derselben  Stelle  ver- 
öffentlichte Serviteur-Messe  Ockeghems  stammt.  Dort 
die  tastende  Mittelmäßigkeit,  hier  der  Meister,  wie  er  in 
der  Geschichte  seit  Jahrhunderten  gelebt  hat.  Schon  im 
ersten  Kyrie  beginnen  die  Nachahmungen  und  Kanons  und 
durchziehen  nun   alle  Sätze  des  Werks   in   wechselnder 


♦)  Denkmäler  der  Tonkunst  in   Österreich,  Jahrgang  XIX. 


Gestalt,  im  Einklang,  in  der  Oktave  und  der  Quint,  hie  und 
da  auf  lange  Melodieperioden,  häufiger  auf  kurze  Motive 
gestellt,  hald  auf  zwei  Stimmen  beschränkt,  bald  von  allen  . 
vieren  eng  hintereinander  aufgenommen.  Wir  stehen  vor 
einem  Künstler,  der  die  Form  in  der  Gewalt  hat  und  durch 
sie  fesselt  Diese  Form  aber  belebt  ein  Geist  von  ent- 
schiedener Eigentümlichkeit,  eine  überraschend  leidenschaft- 
liche und  feurige  Auffassung  des  Textes,  die  sich  mit 
Vorliebe  rhythmisch  äußert.  Die  dunkle  Glutj  die  so  oft 
die  Musik  dieser  Messe  durchleuchtet,  beruht  in  den  meisten 
Fällen  auf  dem  einfachen  Mittel  einer  Ausweichung  nach  ' 
dem  unteren  Halbton.  Namentüch  der  Schluß  des  Gloria 
wirkt  dadurch  erhaben,  auch  die  zahlreichen  Einschnitte 
steigern  die  Feierhchkeit.  Das  an  Kanons  besonders  reiche 
Credo  bringt  diesen  Schluß  ziemlich  wörtlich  wieder.  Im 
Sanctus  überrascht  der  Einsatz  des  Osanna  mit  einem 
naiv  weltlichen,  an  leicht  beschwingten  Reigen  «mkhngenden 
Ton.  Das  durch  Innigkeit  ausgezeichnete  Agnus  Dei  greift 
am  Ende  abrundend  auf  den  Schluß  des  Kyrie  zurück. 

Der  gleiche  Band  der  Österreichischen  Denkmäler  bringt 
über  das  Lied  vom  »Serviteurc  noch  eine  zweite  Messe 
von  einem  ungenannten  Komponisten,  der  dem  Stil  nach 
der  Übergangszeit  zwischen  Dufay  'und  Ockeghem  anzu- 
gehören scheint.  Sie  ist  nur  dreistimmig,  ziemlich  kraftlos, 
im  Ausdruck  ungleich,  aber  durch  die  reichere  Verwendung 
sogenannter  Sequenzen  im  Melodienbau  bemerkenswert. 

Der  letzten  an  derselben  Stelle  veröffentlichten,  ebenfalls 
dreistimmigen  Messe,  deren  Komponist  wieder  unbekannt 
ist,  liegt  als  cantus  firmus  ein  hübsches  deutsches  Lied  von 
der  »grünen  Linde«  zugrunde.  Im  »Confiteor«  stimmen 
es  die  drei  Stimmen  im  unverfälschten  Volkston  an.  Es 
ist  aber  auf  den  Stil  der  ganzen  Messe  etwas  vom  Wesen 
des  Volksliedes  übergegangen,  besonders  eine  ungewöhn- 
liche Knappheit  der  Perioden  und  Einfachheit  des  melodi- 
schen Ausdrucks.  Im  Gloria  und  Credo  verzichtet  der 
Komponist  fast  auf  alle  Melismen,  weiß  aber  auch  hier  mit 
sinnigen  Nachahmungen  zu  fesseln.  Die  merkwürdigste 
Stelle  ist  das  »Et  homo  factus  est«.    Sie  ist  syllabisch  und 


homophon  gesetzt,  aber  Fermaten  über  jedem  Akkord  be- 
kunden das  Wunder  und  die  Ergriffenheit. 

Ockeghems  Messen  sind  von  dem  der  Entstehungszeit 
nähen  Verlag  nicht  und  erst  seit  Glarean  von  den  Theore- 
tikern beachtet  worden*). 

Sein  Nachfolger  Jakob  Obrecht  ist  dagegen  gleich  obreoht 
in  den  ersten  Meßdrucken  Petruccis  und  den  weitem 
Sammelwerken  verhältnismäßig  reich  vertreten.  Dem  ent- 
spricht es,  daß  die  »Vereeniging  voor  Noord-Nederlands 
Muzickgeschiedenis«  seit  Jahren  mit  einer  auf  zwanzig 
Werke  berechneten  Gesamtausgabe  der  Messen  Obrechts**), 
die  gegenwärtig  bis  zum  i  5.  Stück  gediehen  ist,  vorgeht.  Da 
erregt  im  ersten  Band  die  Messe  über  »Fortuna  desperata« 
das  Interesse,  weil  ihr  noch  heute  eine  große  geschicht- 
liche Bedeutung  als  Denkmal  einer  Übergangszeit  zukommt. 
Sie  weist  deutlich  mit  einer  Menge  schön  geschwungener, 
stimmungsmächtiger,  klar  und  frei  dahinziehender  Me- 
lodien auf  Dufay  hin.  Die  schönsten  stehen  im  Credo 
beim  »Deum  verum«,  beim  »Confiteor«,  dann  im  »Pleni 
sunt  coeU«  und  im  zweiten  »Agnus  Dei«.  Der  Sinn 
für  die  gewaltige  poetische  Wirkung  der  einzelnen 
Stimme  äußert  sich  bei  Obrecht  zuweilen  ganz  originell. 
Eine  Hauptstelle  dieser  Art  ist  das  Osanna,  wo  der  Tenor 
ganz  unerwartet  in  den  Akkord  der  anderen  dreimal  das 
»in  exelsis«  hineinruft.  Mit  der  Schule  Ockeghems  hat  sie 
die  fugierenden  Satzanfange  und  eine  Reihe  von  Kunst- 
stücken gemein,  die  ausnahmsweise  sich  auch  einmal 
dem  Barocken  nähern.  Das  Äußerste  ist  in  dieser  Be- 
ziehung im  Benedictus  getan,  wo  die  Oberstimme  des 
»qui  venit  in  nomine  Domini«  siebenmal,  immer  von 
demselben   Ton   aus    ansetzt.     Das    erstemal   heißt   es: 


ji  -J»J  J  I  „^,  das   zweitemal:  ^.JjJ  JJ  J^ 


*)  Über  Münchner  Aufführungen  Ockeghemscher  Messen  unter 
Lasso  siehe   Jahrbuch  der  Musikbibliothek  Peters  1910,  S.  55. 
♦♦}  Unter  Leitung  von  Professor  Dr.  Johannes  Wolf, 


-^     4  56       ♦— 

und  so  geht  es  allmählich  die  ganze  Skala  hinab  in  immer 
längeren  Strecken,  bis  endUch  das  kleine  f  erreicht  ist. 
Dazu  kommen  aber  ganz  neue  Stilprinzipi^n;  das  wich- 
tigste ist  die  Wirkung  mit  Kontrasten:  Feierliche,  breite 
Rhythmen  wechseln  mit  kurzen,  lebhaften,  und  ähnlich  löst 
homophoner  Vollklang  des  ganzen  Chors  häufig  plötzHch 
einzeln  singende  Stimmen  ab.  Man  trifft  auch  Steige- 
rungen im  Ausdruck  durch  das  später  so  allgemein  ange- 
wendete Mittel  der  Sequenz.  Besonders  schön  wirkt  hier- 
durch das  >misererec  im  zweiten  Agnus  Dei.  Hier  folgt  auch 
der  Steigerung  der  Gegensatz  der  Abtönung.  Die  Messe  ist 
nicht  bloß  ein  Denkmal  der  Zeit,  sondern  mehr  noch  zeigt 
sie  den  besonderen  Komponisten  als  eine  durchaus  selb- 
ständige, bedeutende  und  liebenswürdige  Persönhchkeit. 
Eine  Neigung  zur  Überschwenglichkeit  ist  ihr  markantester 
Zug.  Aus  ihr  kommen  die  freudevollen  Wiederholungen 
naiver  Motive,  die  sich  durch  alle  Sätze  ziehen.  Einer 
rechnerischen  Kunst  ganz  fremd  sind  sie  nur  der  Begeiste- 
rung und  Kindlichkeit  möghch.  Im  q  j.  jr_  "  _ .  jr 
dritten  Agnus  Dei  singt  der  zweite  Te-  fef^rTl'  Tp^ 

■rtfw   oi rt  11  nrl7tirnn  viermal    1iint«»rckinaTir1ar  •      V    '    '  <• 


nor  einundzwanzigmal  hintereinander: 
und  sonst  nichts.  Eine  Schwäche  der  Messe  hegt  in  der 
Menge  und  Gleichheit  der  Kadenzen.  Die  Wirkung  scheitert 
aber  hieran  nicht.  Schwierig  wird  sie  durch  die  Besetzung. 
Der  Alt,  der  ihre  höchste  Stimme  bildet,  ist  ein  Männer- 
alt. Wir  werden  um  solcher  Werke  willen  die  Kunst  des 
Falsettierens  wieder  lernen  müssen. 

Die  weiteren,  mittlerweile  neu  veröffentlichten  Messen 
Obrechts  überraschen  äußerlich  dadurch,  daß  in  jeder  der 
cantu$  firmus  anders  behandelt  ist.  In  der  einen  erscheint 
er  vollständig,  in  der  anderen  stückweise,  bald  dienen 
seine  Motive  dem  Ausdruck,  bald  vermag  sie  das  Ohr 
überhaupt  nicht  zu  fassen.  Das  Vorrecht  des  Tenors  ist 
grundsätzUch  gebrochen,  und  besonders  zahlreich  sind  die 
Stellen,  an  denen  die  Grundmelodie  von  der  Oberstimme 
in  langen,  breiten  Noten  vorgetragen  und  von  den  Begleit- 
stimmen iii  bewegten  Rhythmen  umkreist  wird.  Sie  weisen 
sowohl  auf  den  Gemeindegesang,  wie  auf  die  spätere  Kunst- 


r 


form  des  »Chorals  mit  Motiven«  hin  und  bilden  einen  der 
volkstümlichen  Züge,  die  in  der  Kunst  Obrechts  mehrfach 
hervortreten.  Zu  ihnen  gehören  auch  di6  Parallelbewe- 
gungen, die  in  jeder  Art  von  mehrstimmigem  Satz  bei  ihm 
häufiger  sind  als  bei  seinen  Vorgängern,  ganz  besonders 
aber  äußern  sie  sich  in  seiner  exemplarischen  Neigung  zu 
^  melodischen  Sequenzen.  Nur  ausnahmsweise  beruhen  sie 
auf  Übermut  oder  gar  Lässigkeit,  meistens  sind  sie  der  Aus- 
druck kühner,  schwärmerischer,  inbrünstiger  Empfindung, 
üriter  den  weiteren  formellen  Neuerungen  Obrechts  ist  noch 
die  Zurt^ckstellung  des  ungeraden  Taktes  zu  erwähnen,  in 
einzelnen  Messen  nimmt  er  mit  einem  ganz  bescheidenen 
Anteü  vorlieb,  in  anderen  steht  er  mit  dem  geraden  gleich. 
Die  musikalisch  geistige  Bedeutung  der  neu  veröffent- 
lichten Obrecht-Messen  ist  verschieden,  aber  keiner  fehlt 
in  der  Auffassung  größerer  oder  kleinerer  Textgruppen 
der  Stempel  einer  phantasiereichen  und  trotz  der  reichen 
Verwendung  zeitücher  Formeln  ursprüngUchen  Persönlich- 
keit. In  derMissa  »Je  ne  dem  an  de«,  wo  im  Kyrie  und 
Gloria  schon  die  leittonlosen  Schlüsse  so  eigen  wirken, 
tritt  sie  zuerst  mächtiger  beim  Qui  tollis  mit  der  Über- 
schwenglichkeit der  vom  Tenor  und  Alt  gebrachten  Se- 
quenzen hervor:  Beim  Et  incarnatus  überrascht  der  Auf- 
schwung, mit  dem  das  De  spiritu  sancto  einsetzt,  beim 
Confiteor  der  schwere  Ernst  des  Bekenntnisses,  im  Agnus 
Dei  die  Bedrücktheit  der  immer  nach  unten  fallenden 
Melodie,  beim  Qui  tollis  peccata  mundi  die  Feierlichkeit 
der  langgehaltenen  Akkorde.  Mehr  als  diese  knüpft  die 
folgende,  die  wohl  nach  der  griechischen  Herkunft  ihres 
cantus  firmus  als  MissaGraecorum  bezeichnete  an  den 
Stil  der  Vorzeit  an.  Ihren  schönen  und  tiefen  Eindruck 
bestimmen  die  in  Dufays  Art  sich  vom  Stimmennetz  ab- 
lösenden ausdrucksvollen  Einzelmelodien.  Zuerst  und 
am  höchsten  zeichnet  sich  hierdurch  das  Miserere  nobis 
im  Gloria  aus  und  von  da  ab  beruht  namentlich  die 
Schönheit  der  Satzschlüsse  darauf,  daß  eine  rührige  Mittel- 
etimme  in  den  ausklingenden  Chorakkord  einen  letzten 
sindringlichen  Spruch  hineinsingt    In  der  Auffassung  tritt 


das  Suscipe  deprecationem  durch  den  schuldbeladenen 
Ton,  das  Altissimus,  Jesu  Christe  durch  die  siebenmahge 
Wiederholung  desselben  Motivs^  hervor.  Nahe  verwandt 
mit  dieser  Stelle  ist  im  Credo  das  Visibilium  omnium. 
Am  wärmsten  kommt  das  Dankgefühl,  das  die  ganze  Messe 
durchströmt,  im  Agnus  Dei  zum  Ausdruck.  Beim  cum 
sancto  spiritu  (dem  Schlußsatz  des  Gloria)  begegnet  uns 
zum  ersten  Male  die  Obrechtsche  Eigenheit,  wichtige  Text- 
teile als  kurzen  Anhang  zu  geben. 

Die  MessQ  über  > Malheur  me  batc  gipfelt  im  ersten 
Agnus  Dei,  eine  der  schönsten  und  frömmsten  Komposi- 
tionen des  Textes.  Das  Christe  eleison,  dem  ein  durch 
Kürze  und  phrygische  Bedrücktheit  eigenes  Kyrie  vorher- 
geht, zeichnet  sich  durch  den  drängenden ,  Charakter  der 
Bitte  aus.  Im  übrigen  ist  diese  Messe  reicher  als  andere 
an  Akkordwirkungen,  die  bedeutendsten  enthalten  Credo, 
und  Osanna. 

Auch  die  folgende  Messe,  der  die  Hymne  »Salvfe 
dive  parens«  zugrunde  liegt,  schließt  mit  einem  außer- 
ordentlich eindrucksvollen  Agnus  Dei.  Besonders  wirkt  es 
durch  die  Klarheit,  mit  der  die  drei  Sätze  über  den  gleichen 
Text  sich  von  einander  abheben;  fragend  der  erste,  zu- 
sprechend der  zweite,  der  dritte,  in  dem  zum  ersten  Male 
an  Stelle  des  Miserere  das  Dona  nobis  pacem  gesungen 
wird,  im  seligen  Ton  der  Erhörung,  der  Ruhe  und  des 
Friedens.  Reicher  als  andere  ist  diese  Messe  an  Stellen 
ungewöhnücher  Textauffassung.  Dahin  gehört  vor  allem  der 
Eingang  des  Gloria,  bei  dem  die  oberen  Stimmen  gegen  die 
Starrheit  des  orgelpunktartig  (auf  e)  festliegenden  Basses 
fast  wild  in  synkopierten  Rhythmen  anrüttehir  Im  Credo 
zeichnet  sich  der  Abschnitt  von  Et  incarnatus  bis  zum 
Sepultus  est  durch  eine  stille  Feierlichkeit  aus,  zu  der  das 
Qui  cum  Patre  usw.  einen  sehr  kräftigen,  eine  längere 
Strecke  als  Kanon  zweier  Bässe  verlaufenden  Gegensatz 
bildet.  Im  Sanctus  äußert  sich  beim  Pleni  sunt  coeli  die 
Freude  in  einem  liebenswürdig  tändelnden  Ton^  von  dem 
wieder  die  feierliche  Ergriffenheit  des  Osanna  stark  absticht. 
Das  Klangbild  des  ganzen  Werkes  erhält  sein  besonderes 


-^      159      ♦— 

Gepräge  durjch  den  ziemlich   orgelmäßigen  Wechsel  von 
zweistimmigem  und  vierstimmigem  Satz. 

Die  Messe  »Sub  tuum  praesidium«,  die  dreistim- 
mig beginnt  und  siebenstimmig  schließt,  unterscheidet 
sich  von  anderen  durch  die  durchgehenden  motettenartigen, 
Uturgiewidrigen  Textmischungen.  Der  erste  Sopran  singt 
in  alle  Sätze  des  Ordinariums  das  Sub  tuum  praesidium, 
andere  Stimmen  singen  weitere  Hymnentexte  hinein.  Hier- 
durdi  und  durch  das  Vorwalten  des  ungeraden  Taktes  wird 
es  wahrscheinlich,  daß  diese  Messe  eine  der  frühesten 
Arbeiten  Obrechts  ist.  Auch^  an  Gehalt  der  Erfindung  und 
Arbeit  steht  sie  hinter  anderen  zurück  und  ist  besonders 
reich  an  instrumentalen  Wendungen. 

Dagegen  ist  die  ihr  in  der  Gesamtausgabe  folgende 
Messe  über  das  deutsche  lied  »Maria  zart«  eine  der 
bedeutendsten  Leistungen  des  Meisters,  besonders  ergreift 
sie  durch  den  tiefen  Ernst  in  der  Textauffassung.  Mit 
einzelnen  Stellen,  dem  Schluß  des  Credo  besonders,  auch 
mit  den  schwärmerisch  schweifenden  Melodien  des  Sanctus 
schlägt  sie  hierdurch  eine  unmittelbare  Brücke  hinüber 
zum  19.  Jahrhundert  und  zu  Cherubini.  Diesem  Sanctus 
verwandt  und  ebenbürtig  ist  das  der  Messe  >De  sancto 
Marti no,  ihr  Agnus  Dei  dagegen  ist  vom  gleichen  Stamm, 
wie  das  in  »Salve  dive  parens«.  Zu  den  leichter  wiegen- 
den Messen  gehört  wieder  die  über  »Si  dedero«.  For- 
mell eigen  ist  ihr  die  häufig  fugenartige  Behandlung  des 
cantus  firmus  und  die  Menge  instrumentaler  Stellen.  Die 
Messe  über  »  0  quam  suayis  est«  hat  ihren  besonderen 
Zug  in  dem  lieblichen  und  fröhlichen  Grundton.  Nach- 
denklichkeit, Ernst  und  Tiefe,  die  in  ihr  auf  das  Qui  toUis 
(des  Gloria)  und  das  Et  resurrexit  beschränkt  sind,  herr- 
schen in  der  nächsten  Messe,  der  über  »Sicut  spina 
rosam«  wieder  vor.  Besonders  fallen  in  ihr  die  Ver- 
wandtschaft von  Kyrie  und  Sanctus  und  der  sehr  wirk- 
same Kanon  bei  Ex  Maria  Virgine  (Sopran  und  Alt)  auf. 

Zu  Obrechts  reichsten  Leistungen  gehören  die  beiden 
Messen  über  »Ave  Regina  Coelorum«  und  über 
> Petrus  Apostolicus«.    Die  letztere  enthält  den  an 


—-*      4  60     ^^— 

Stimmung  und  Erfindung  bedeutendsten  Gloriasatz,  den 
wir  von  Obrecht  besitzen,  die  andere  zeigt  die  Gegensätze 
seiner  merkwürdigen  und  großen  Künstlernatur  ungewöhn- 
lich dicht  beieinander.  Schon  das  Kyrie  überrascht  durch 
seine  Unruhe  und  Aufregung.  Das  Gloria  folgt  in  einer 
freudigen  Kraft,  die  beim  Laudamus  te  zu  einem  förmUchen 
Sequenzenerguß  führt.  Dann  setzen  beim  Domine  fili 
herrliche  und  verschiedenthch  geformte  Kanons  dreier 
Stimmen  ein.  Ihr  bewegtes  Sinnen  und  Preisen  geht  beim 
Qui  tollis  in  einen  durch  Ruhe  rührenden  Ton  des  Mit- 
leids über.  Das  Credo,  das  mit  dem  Gloria  gleichlautend 
als  von  Tenor  und  Baß  wiederholter  Zwiegesang  von 
Sopran  und  Alt  anfangt,  kargt  in  dem  Abschnitt  der 
Menschwerdung  und  der  Passion  aufs  äußerste  mit  Aus- 
druck, um  so  begeisterter  kUngt  dann  das  Et  iterum,'bei 
cujus  regni  non  erit  finis  sind  sogar  —  für  Obrecht  eine 
große  Ausnahme  —  malerische  Wendungen  eingestreut. 
AußerordentUch  schön  wirkt  auch  das  »Et  unam  sanctam 
catholicam  ecclesiam«,  das  ist  unverkennbar  der  Ton  der 
innigsten  liebe  und  Hingabe.  Im  Sanctus,  das  mit  einem 
gewissen  Eigensinn  an  bestimmten  Formeln  festhält,  ent- 
faltet die  Musik  ihr  Herz  heiid  Osanna.  Der  Kanon,  den 
hier  die  beiden  Mittelstimmen  ausführen,  ist  eine  der 
schönsten  und  wärmsten,  Sopran  und  Baß  scheinen  in- 
strumentale Begleitstimmen  zu  sein. 

Das  vorläufig  letzte  Stück  der  Gesamtausgabe,  die 
Messe  > Adieu,  mes  amoursc,  der  das  Kyrie,  das 
Benedictus  und  das  Agnus  Dei  fehlen,  neigt  zu  einem 
gleichmäßig  vollen  Satz,  bevorzugt  in  ihm  auffällig  die 
oberste  Stimme  und  tritt  nach  Kunst  und  Ausdruck  unter 
den /Werken  des  Meisters  zurück. 

Der  Hauptwert  von  Obrechts  Messenschatz  liegt  darin, 
daß  in  den  besten  Stücken  außer  der  reichen  und  eigenen 
Persönlichkeit  des  Komponisten  sich  auch  die  Stimme  einer 
musikalisch  bedeutenden  und  besonderen  Zeit  ausspricht. 
Der  reiche  melodische  Segen  der  gregorianischen  Periode 
lebt  in  ihnen  nochmals  auf  und  gelangt  durch  die  neu 
hinzugetretene  Kunst,  insbesondere  die  des  kanonischen 


Satzes  zu  gesteigerter  Geltung.  Etwas  geschichtlichen 
Sinn  verlangt  allerdings  die  Obrechtsche  Kunst.  Wer  sie 
voll  würdigen  will,  muß  auf  die  harten  Dissonanzen  und 
die  scharfen  Sprachmittel  der  neueren  Musik  verzichten 
können,  muß  sich  in  den  religiösen  Geist  des  Mittelalters 
und  sogar  in  die  weiten  Domeshallen  zu  versetzen  wissen, 
für  die  diese  Messen  geschrieben  wurden.  Auch  ihre 
lebensvolle  Aufführung  begegnet  heute  beträchtlichen 
Schwierigkeiten  bezüglich  der  Besetzung  und  des  Vortrags. 
Mit  Ausnahme  von  »Malheur  me  batc  und  »Salve  diveparens« 
schließen  sie  die  Mitwirkung  von  eigentlichen  Sopranstim- 
men aus,  verlangen  überall  Sänger  mit  leichter  Technik 
und  vollendeter  Beherrschung  des  melodischen  Ausdrucks, 
hie  und  da  deren  Ersatz  durch  Instrumente. 

Von  Dufay  bis  Obrecht  ist  die  Vokalmesse  wesentlich 
Solistenmesse,  am  besten  mit  einem  Terzett,  einem  Quar- 
tett vollendeter  Gesangskünstler  zu  besetzen.  Nach  Obrecht 
wird  sie  allmählich  Chormesse,  Chor  nicht  im  heutigen, 
sondern  im  Sinne  des  i  6.  Jahrhunderts  verstanden.  Zum 
vorläufigen  Abschluß  gelangt  dieser  Prozeß  mit  Jos  quin  JoBquin  de  Pr6s. 
de  Pr6s.  Er  ist  den  modernen  Chorvereinen  bekannter. 
Mit  seinem  großen  »Stabat  mater«  hat  seiner  Zeit  Carl 
Riedel  in  Berlin  und  Dresden  große  Erfolge  gehabt.  Sie  sind 
auch  den  beiden  Messen  »Pahge  lingua«  und  »l'homme 
arm6«,  den  einzigen,  welche  bis  jetzt  im  Neudruck  voll- 
ständig vorliegen  (Ambros,  Gesch.,  5.  Bd.,  und  Eitner,  Publi- 
kationen usw.,  6.  Bd.),  sicher.  Bei  den  Kennern  gelten  sie 
als  die  bedeutendsten  unter  den  ungefähr  zwanzig  Messen, 
welche  von  Jos  quin  erhalten  sind  (alte  Drucke:  Petrucci, 
Petrejus),  und  bringen  die  eigentümlichen  Züge  des  Mei- 
sters zu  deutlicher  Anschauung,  dessen  Kunst  Dr.  Martin 
Luther  dem  Lerchenschlag  zu  vergleichen  pflegte,  dem 
seine  Zeit  ohne  weiteres  jedes  schöne  Stück  Musik,  des- 
sen Autor  nicht  genannt  war,  zuschrieb.  Noch  stärker 
als  bei  Obrecht  treffen  wir  in  diesen  Messen  jene  herz- 
liche Naivität,  jene  Neigung  zum  Genre  und  zur  Natur- 
idylle, die  die  Tonsetzer  der  Niederlande  mit  den  Malern 
ihrer  Heimat   teilen.     Im    zweiten    Kyrie   und   auch   im 


— ^      462 

Gloria  von  »Fange  lingua«  kommen  wir  an  Stellen,  wo 
die  Musik  plötzlich,  wider  den  üblichen  Brauch,  sich  auf 
einem  freundlichen  Motive  festsetzt  und  in  seligem  Be- 
hagen die  liebe  Wendung,  stehen  bleibend,  auf-  und  ab- 
steigend, wiederholt.  Es  wirkt  wie  ein  Anklang  von 
Wiegengesang  und  fernem  Glockerigeläute.  Viele  rührt 
diese  trauliche  Einmischung  einfach  menschlicher  Poesie 
und  erinnert  sie  an  die  vorraphaelischen  Maler  der 
heiligen  Geschichte,  die  gelegentlich  dem  Christkind 
drollige  und  harmlose  Kinderstreiche  anzudichten  pflegen. 
Daß  aber  ein  solcher  Abfall  vom  strengsten  Stile  mit 
sehr  scharfen  Augen  angesehen  und  hart  verdammt  wer- 
den kann,  lehrt  ein  Blick  in  den  Artikel,  welchen  das  eng- 
Usche  Musiklexikon  von  Grove  über  >Maß«  bringt.  Diese 
freundlichen  Episoden  in  den  Messen  Josquins  sind  doch 
etwas  ganz  anderes  als  die  fröhliche  Kirchenmusik 
Haydns.  Es  sind  Äußerungen  jenes  »übersprudelnden 
Genies«,  von  dem  Glarean  spricht.  Dann  wirft  aber  Jos- 
quin  in  den  munteren  Fluß  seiner  Chorstimmen  wieder 
Sätze  von  einer  schauerlich  erhabenen,  ruhigen  und 
dunklen  Feierlichkeit,  wie  das  »Incarnatus  est«  im  Credo 
von  >Pange  lingua«*).  Dieses  »Incarnatus«  fst  im  Zu- 
sammenhang zugleich  ein  Beispiel  für  die  Meisterschaft, 
mit  welcher  Josquin  die  Mittel  des  Chores  zu  großen 
Wirkungen  verwendet.  Daß  seine  zweistimmigen  und 
dreistimmigen  Sätze  z.  B.  in  dem  Agnus  seiner  Messe 
»l'homme  arm^«  nicht  immer  formell  vollendet  sind,  war 
schon  dem  i  6.  Jahrhundert  klar.  Aber  der  Eintritt  seiner 
Chorregister  wirft  stets  schlagende  Lichter  auf  den  Text. 
Die  Messe  »Fange  lingua«  kann  noch  dazu  dienen,  zu 
zeigen,  wie  die  Tonsetzer  jetzt  den  cantus  firmus  ergiebiger 
ausnutzten.  Der  Anfang  der  Ritualmelodie  der  Hymne 
.  r-^  r^         steht  am  Eingang  aller 

^ii         J    I  j    J    J  J  I  J"7^  [M  Hauptsätze,     melodisch 


Pan-ge    lin-gua  gio-ri  -  o   -   sa     Und  rhythmisch  jedesmal 
frei  behandelt,   von   den   vier    Stimmen   des   Chores    in 


*)  Für  sich  gedruckt  auch  bei  Rochlitz. 


—^      463      ^>>— 

Nachahmungen  durchgeführt,  ähnlich  also,  wie  es  schon 
Dufay,  Ockeghem  und  Obrecht  hielten.  Aber  Josquin  ver- 
wendet die  Nebenmotive  eifriger  und  wirksamer  als  seine 
Vorgänger.  Hier  sind  es  die  unter  a  und  b  eingezeichneten 
Melodieteile.  Der  Hymnus  gibt  somit  der  ganzen  Messe 
ihre  Signatur  und  einen  hohen  Grad  geistiger  Einheit. 

Daß  heute  auch  Musiker  und  Musikfreunde,  ohne 
Spezialisten  der  Mensuralforschung  zu  sein,  sich  über 
die  weitere  Entwicklung  der  Niederländischen  Messe  ein 
Bild  machen  können,  haben  J.  v.  Maldeghem  und  H.  Expert*) 
dadurch  ermöglicht,  daß  sie  in  ihren  Sammelwerken  von 
P.  de  laRue,  J.  F6vin,  J.  Mouton,  Ph.  Rogier,  Fr. 
Säle  je  eine,  von  Ant.  Brumel,  J.  de  Cleve  je  zwei, 
von  Jacob  de  Kerle  sechs  und  von  Philipp  de  Monte, 
acht  vollständige  Messen  veröffentlichten.  Die  Lücke,  die 
in  dem  allgemein  zugänglichen  Anschauungsmaterial  zwi- 
schen Josquin  und  Lasso  bestand,  ist  mit  Hülfe  dieser 
Steinchen  nun  einigermaßen  passierbar,  und  von  den 
sich  bietenden  Beobachtungen  hat  wenigstens  ein  Teil 
allgemeine  Gültigkeit. 

Josquins  Auftreten  brachte  Unruhe  in  die  Nieder- 
ländische Kunst.  Das  melodische  Prinzip  ändert  seinen 
Charakter  und  seine  Stellung.  Die  Volksmusik  drängt 
sich  mit  ihren  kurzgeschürzten  Weisen  heran,  die  präch- 
tigen langen  Melodien  werden  seltener  und  wollen  nicht 
mehr  recht  gelingen.  Neben  der  melodischen  versuchen 
es  einzelne  Tonsetzer  mit  iei  akkordischen  Wirkung  oder 
mit  Ansätzen  dazu.  Um  die  Mitte  des  16.  Jahrhunderts 
erfolgt  dann  die  Reaktion:  Riickkehr  zur  Polyphonic^  und 
da  beginnt  allerdings  die  Übertreibung,  die  mit  Unrecht 
der  ganzen  Niederländischen  Schule,  auch  der  Zeit  der 
Dufay,  Obrecht,  Josquin  vorgeworfen  wird. 

Die  Zusammenstellung  der  gemeinsam  singenden 
Stimmen  büßt  an  Übersichtlichkeit  ein,  alle  möch- 
ten  zugleich   Hauptstimmen   sein.     Die  Unfähigkeit  zur 


*)  A.  J.  ▼.  M&ideghem:  »Ti^sor  Mu8ical«^und  Henry  Expert: 
»Maitres  Musioiens  de  la  Renaissance  fian^aise«. 

ii* 


464 


Unterordnung  wächst  mit  der  Zahl  der  verwendeten  Stim- 
men. Man  überladet  namentlich  die  fünfstimmigen  Sätze 
so  mit  kunstvollen  Kombinationen,  daß  eine  die  andere 
erdrückt.  Auch  Themen  und  Motive,  die  zum  erstenmal 
aufgestellt  werden,  die  überhaupt  wenig  eindringlich  sind, 
kommen  sofort  in  Engführungen  aller  Stimmen  und  es 
wird  allmählich  zur  Regel,  daß  die  Komponisten  ihre 
Einfälle  in  erster  Linie  auf  die  kontrapunktische  Ver- 
wendbarkeit hin  prüfen.  Die  Durchschnittskomposition 
des  1 6.  Jahrhunderts  wird  wirklich  und  besonders  in  der 
Messe  von  einer  Polyphonie  beherrscht,  die  nicht  auf  das 
Konto  der  Renaissance,  sondern  auf  das  der  Scholastik 
gehört.  Die  krankhafte,  maßlose  Sucht  nach  Tiefsinn 
charakterisiert  sie. 

Doch  konnte  dieser  polyphone  Überschwang  sich  auf 
die  Dauer  nicht  allein  behaupten.  Vor  allem  ließen  sich 
diejenigen  Klangphänomene  und  Ausdrucksmittel  nicht 
abweisen,  die  sich  unwillkürlich  eingebürgert  hatten^ 
seit  man  mit  mehr  als  drei  Stimmen  arbeitete:  Grup- 
pierung, Antiphonie,  völler  Akkordsatz.  Auch  die  nähe- 
ren Zeitgenossen  Josquins  bringen  sie.  J.  F4vin  führt 
in  der  Messe  über  »Mente  tota«  mit  Teilung  und  Samm- 
lung der  Chorgruppen  ein  System  durch:  Sopran  und  Alt 
beginnen,  Tenor  und  Baß  folgen,  der  vierstimmige  Chor 
schließt  die  Abschnitte.  Gar  zu  oft  wiederholt,  wie  im 
Gloria,  wirkt  dieses  Verfahren  mechanisch,  maßvoll  an- 
gewendet belebt  es  Geist  und  Fotm.  Auch  im  gleich- 
zeitigen Chorlied  ist  paarweises  Ablösen  und  Zusammen- 
gehen der  Stimmen  beliebt.  Brümel  greift  in  die  alte  Zeit 
der ,  Fauxboudons  damit  zurück,  daß  er  ganze  Textzeilen 
schlicht  auf  den  Akkord  hin  deklamiert,  genau  so  wie  es 
in  der  gleichzeitigen  Motettenpassion  und  wie  es  in  der 
Psalmenkomposition  noch  später  üblich  ist. 

Zu  einer  Umbildung  des  Niederländischen  Stils  von 
innen  heraus  führten  allerdings  diese  Methoden  nicht, 
seine  Herrschaft  wurde  von  außen  her  gebrochen  durch 
die  Venetianische  Schule  Willaerts  und  ihren  sinnlich 
zwingenden    Effekt    der    Wechselchöre.      Daß    die    alte 


— ^      165      *— 

Polyphonie  zeitweilig  bereit  war  yqx  dieser  neuen  Kunst 
gänzlich  abzudanken,  zeigt  sehr  interessant  die  Messe 
»Exultandi  tempus«  von  Fr.  Säle,  die  gegen  1589  in  Hall  F.  Säle, 
(bei  Innsbruck)  geschrieben  worden  ist.  Darin  ist  nur  das  . 
Christe  eleison  Niederländisch,  den  übrigen  Text  tragen  zwei 
Chöre  antiphonisch,  von  vier  zu  vier  oder  sechs  zu  sechs 
Takten  wechselnd,  an  den  Hauptstellen  zusammentretend, 
vor.  Liedergeist  beherrscht  die  Melodik,  die  Harmonie  be- 
wegt sich  im  einfachen  akkordischen  Satz.  Weil  aber  in 
Hall  die  Gesangkräfte  nicht  zur  Bildung  zweier  eben- 
bürtiger fünf-  und  sechsstimmiger  Chöre  ausreichten,  be- 
setzt Säle  den  ersten  nur  mit  drei  oder  vier  Solisten,  die 
mit  Orgelbegleitung  singen.  Wieder  einmal  ein  Stück 
Vorgeschichte  von  Monodie  und  Generalbaß!  Das  Prin- 
zip der  niederländischen  Polyphonie  vollständig  fallen 
zu  lassen,  hinderten  zwei  Tatsachen:  Die  natürliche  Be- 
rechtigung, die  es  für  jede  Art  von  Mehrstimmigkeit  immer 
wieder  erweist^und  die  ausgezeichneten  Leistungen,  welche 
die  Schule  auch  noch  in  der  nach  Josquin  beginnenden 
Obergangszeit  hervorgebracht  hatte. 

Solche  Meistersätze  sind  in  Brümels  unbenannter  A.  Brtimel. 
Messe  das  Gloria,  das  Credo  und  das  Osanna.  Allerdings 
wird  in  ihrem  Kolorit,  in  der  äußerlichen  Malerei  ein- 
zelner Wortbegriflfe,  die  Berechnung  bemerkbar,  aber  im 
Ganzen  sind  diese  Kpmpo'sitionen  Produkte  einer  feurigen 
Empfindung,  die  unwillkürlich  originell  gestaltet.  Die  zu- 
weilen, namentlich  an  Hauptschlüssen,  echoartig  gedach- 
ten Wiederholungen  gelungener  Stellen  zeigen  das  im 
kleinen;  die  Wirkung  im  großen  beruht  auf  der  Energie, 
mit  der  Brümel  besondre  bedeutende  Motive  dem  Hörer 
einprägt^  und  auf  der  Einheithchkeit  des  technischen  Mate- 
rials. Im  Credo  ist  sie  am  gewaltigsten:  ein  kurzer,  freu- 
diger Tonspruch  durchklingt  die  verschiedensten  Vor- 
stellungen. 

In  Brümels  Messe  »de  Beata  virgine«  ist  der  Schluß- 
teil vom  Sanctus  ab  für  Aufführungen  im  geistlichen  Kon- 
zert durch  sofort  und  allgemein  verständliche  Schönheit 
sehr  geeignet.    Das  ist  eine  Musik  im  Munde  seliger  Engel 


— ^      166      ^— 

gedacht.  Sie  schweben  im  Chore  daher,  sie  teilen  sich 
und  vereinen  sich  wieder.  Sie  schwelgen  in  schwärmeri- 
schen, überschwenglichen  Melodien,  die  an  Dufay  er- 
innern, aber  die  alte  Form  der  bicinia  ist  durch  einen 
neuen,  Sequenz  und  Steigerung  reichlich  verwendenden 
Periodenbau  verjüngt.  Auch  die  vorderen  Sätze  dieser 
Messe  sind  dadurch  ausgezeichnet,  daß  sie  bei  kunst- 
vollster Technik  übersichtlich  bleiben.  Das  ganze  Werk 
gehört  zur  besten  niederländischen  Kunst.  Die  »Ave 
P.  delaRue.  Maria« -Messe  P.  de  la  Rue's  bereichert  das  heutige 
Bild  der  Zeit  Josquins  nach  einer  andern  Richtung.  Sie 
weist  besonders  deutlich  auf  den  Einfluß  hin,  den  die 
Volksmusik  auf  die  geistliche  Komposition  nahm.  Er 
äußert  sich  hier  architektonisch  in  den  liedmäßigen 
Wiederholungen  kleiner  Abschnitte,  in  dem  Festhalten 
plastischer  gewinnender  Motive,  noch  mehr  aber  melo- 
disch und  rhythmisch  in  der  Hinneigung  zu  großen  unge- 
wöhnlichen Intervallen  und  zu  symmetrischen  Taktformen. 
Das  Gloria  hat  zeitweilig  die  Entschiedenheit  eines  Mar- 
sches. Dabei  läßt  de  laRue  keinen  Zweifel  darüber,  daß 
er  die  hohe  Kunst  versteht;  aber  er  bringt  auch  die 
schwierigsten  Nachahmungen  zu  klarer  Wirkung  und  er- 
findet originell. 

J.  F^Tin.  J.  Fövins  Messe  über  »Mente  tota«,  deren  Eigen- 

heiten der  Stimmführung  schon  erwähnt  wurden,  zeigt 
diese   volkstümliche  Richtung   eben-    p      1 1 J.  |  J  1 1 J  i 
falls,  am  stärksten  in  den  zweistim-   ^tf  pT'rrr  l  P" 


migen    Abschnitten.      Themen    wie:  ' 

sind  da  die  Regel  und  auch  die  Nachahmungen  steuern 
kurz  J  iJ  I.  *^^  einfachste  Verständlichkeit 

und    fe^  ^'     g|^^'»r  Jl    ^^°*  ^^  ^®*  wirklich Renaissance- 
ßut:     •y^  r'rn  r'     aeist.  da  ist   die  Nähe  Josauins 


^   gut:    «n*^  r  I   n  r      geist,  da  ist  die  Nähe  Josquins 

zu  spüren  und  da  beginnt  der  naive  Kirchenton,  zu  dem 
sich  mit  Händel  und  Bach  das  Deutschland  des  i  8.  Jahr- 
hunderts bekennt.    Wie  bei  Brümel  ist  auch  an  der  Archi- 
tektur F6vins  die  Sequenz  stark  beteiligt. 
J.  Itootott,  Aus  J.  Moutons   Messe    »Alma  Redemptorisc    wäre 

den  Chören  besonders  das  Agnus  Dei  zu  empfehlen.    Es 
i 


bringt  den  Text  nach  dem  Brauch  des  46.  Jahrhunderts 
in  drei  selbständig  durchgeführten  Sätzen.  Der  erste  be« 
ginnt  mit  der  Musik  des  ersten  Kyrie  als  voller  Chor,  der 
zweite  ist  Duett,  der  dritte  ein  Chorlied  von  wunder- 
schöner Einfachheit,  auch  in  den  Nachahmungen  lebendig 
und  auf  jene  ruhige  Andacht  abgestimmt,  die  der  Vor- 
zug glaubenssichrer  Zeiten  und  Seelen  bleibt.  Vielleicht 
wirkt  dieses  Agnus  noch  ergreifender,  wenn  man  ihm 
das  Kyrie,  das  Gloria  oder  das  Credo  der  Me$se  voraus- 
gehen läßt.  Denn  in  diesen  Sätzen  zeigt  Mouton  heißes 
Blut,  drängt  und  stürmt  vorwärts,  immer  auf  kurze  mäch- 
tige Kontraste  hin.  Am  bedeutendsten  wirkt  seine  wild- 
kräftige Natur  im  Kyrie.  Da  wartet  er  mit  dem  demütigen 
kleinlauten  Grundton,  den  der  Text  voraussetzt,  bis  zu 
den  letzten  Akkorden.  , 

^u  den  schwierigeren  Proben  niederländischer  Kunst 
gehören  die  beiden  Messen  J.  deCleves.  Die  über  >Dum  J.  de  GIoto. 
transisset«  kommt  dem  Hörer  noch  etwas  durch  glückliche 
Motive  und  durch  Festhalten  an  wenigen  entgegen,  die 
andere  aber  über  »Tribulatio  et  angustia«  ist  ein  Para- 
digma für  die  Exzesse  der  Reaktion.  Der  Grundsatz 
»Omnes  ex  una<  ist  die  Seele  dieses  Kunstwerks;  man 
freut  sich,  wenn  wenigstens  einmal  ein  zwei-  oder  drei- 
stimmiger Satz  kommt 

Viel  eingängliclier  ist  Ph.  Rogiers  Messe  über  »Jus-    Ph.  Bogier. 
ta  stirps- Jesse«.     Sie  bleibt  trotz  schwerer  Künste  meist 
frisch  und  übersichtlich,   weil  Rogier  seine  eignen  Ein- 
fälle ganz  hinter  den  cantus  firmus  versteckt  und  dessen 
schönste  Wendungen  immer  vorklingen  läßt. 

Wie  unendlich  viel  wissenschaftlich  noch  für  Auf- 
hellung der  niederländischen  Periode  zu  tun  bleibt,  zeigt 
sich  wieder  daran,  daß  der  bedeutendste  unter  den  von 
Maldeghem  vorgestellten  Komponisten  -bisher  deshalb  so 
gut  wie  unbekannt  war,  weil  ihn  Glarean  nicht  kennt. 
Nur  Proske  hat  ihn  mit  zwei  kleinen  Motettensätzen  be- 
rücksichtigt, auch  bessre  Handbücher,  wie  das  von  A.  von 
Dommer  nennen  ihn  nicht;  unter  den  neueren  Lexikogra- 
phen tritt  allein  F^tis  auf  Grund  von  Notenbekanntschaft 


,    — *      V68     ^ — 

J,  de  Kerle,  warm  für  ihn  ein.  Es  ist  Jacob  de  Kerle,  ein  Künst- 
ler, dessen  Wert  dem  Josquins  wenig  nachsteht.  Nur 
liegt  er  im  Stil  nicht  so  offen  zutage.  Die  Originalität 
seiner  Einfälle  ist  geringer,  sorglose  Keckheit  ist  ihm 
ganz  fremd.  Mit  großen  Melodien  in  Dufays  Art  ist  er 
ebenso  sparsam  wie  mit  vollem  Chorklang,  er  sucht  sinn- 
liche Wirkungen  nirgends  auf  und  hält  sich  in  der  Motiv- 
,  bildung,  in  Modulationen  und  Kadenzen  in  der  Regel  im 
engen  Kreise  und  ans  Übliche.  In  der  Regel!  Um  so  ge- 
waltiger wirkt  er  mit  den  Ausnahmen  und  fast  jeder  Satz 
seiner  Messen  enthält  solche.  Vor  allem  lassen  sie  de 
Kerle  als  einen  Deklamator  bewundern,  der  mit  kurzen, 
einfachen  Wendungen  eigne  Bilder  hinstellt.  Das  ge- 
waltigste Beispiel  von  Inspirationsstärke  enthält  die  fünf- 
stimmige Messe  über:  »Resurrexit  Pastor  bonusc  im 
Credo  beim  >Incarnatus  est«.  Schon  die  Feierlichkeit, 
mit  der  bei  diesem  Einsatz  die  Homophonie  wirkt,  ist 
außerordentlich,  noch  eindrucksvoller  ist  die  Ausprägung 
der  beiden  Wunder:  der  unbefleckten  Empfängnis  (ex 
Maria  virgine)  und  der  Menschwerdung  des  Gottessohnes 
(homo  factus  est).  An  der  ersten  Stelle  bricht  die  Musik 
den  Schluß  mit  einer  Generalpause  ab,  an  der  zweiten 
weicht  sie  in  fremde  Harmonie,  wie  ins  Reich  des  Un- 
begreiflichen aus  und  in  ihr  singt  Stimme  nach- Stimme 
ergriffen  und  dankvoll:  »Homo  factus  est«.  So  wie  hier  ist 
de  Kerle  überall  ein  Virtuos  der  kleinen  Mittel.  Wenn  er 
in  der  Motivbildung  weite  Intervalle  verwendet,  wenn  er 
die  Perioden  aus  häufigeren  Wiederholungen  desselben 
Motivs  in  denselben  Stimmen  aufbaut,  wenn  er  die  Me- 
thode des  Zusammenklangs  wechselt  —  stets  haben  diese 
Kleinigkeiten  viel  für  den  Ausdruck  zu  bedeuten.  Immer 
unterscheiden  sich  die  Abschnitte,  die  läagern  Sätze  und 
die  ganzen  Teile  der  Messen  in  der  Stimmung  klar  von- 
einander, ja  auch  die  einzelnen  Messen  prägen  sich  deut- 
lich durch  einen  besonderen  Grundcharakter  ein.  Seine 
vierstimmige  Messe  über  ut  re  mi  fa  sol  la  von  1362,  eine 
der  reichsten  und  geistig  bedeutendsten  Fantasien,  die 
über  die  Skala  geschrieben  worden  sind,  ist  erregt,  die 


— ^      169     ^— 

über  »Lauda  Sion  Salvatorem«  herb  und  wie  bei  ihnen, 
drängt  sich  für  jede  weitere  ein  kurzes  bezeichnendes 
Stichwort  auf. 

Und  doch  ist  mit  all  diesem  Lob  die  Hauptseite  der 
Kunst  de  Kerles  nocji  kaum  berührt.  Sie  liegt  in  der 
Reinheit,  in  der  bei  ihm  das  Wesen  der  niederländischen 
Polyphonie  erscheint.  Auch  er  kennt  und  verwendet  die 
Monaden  und  Dyaden,  die  dreißigerlei  Arten  von  Kanons 
und  beherrscht  alle  die  verschlungenen  Wege  der  Nach- 
ahmungen, auf  denen  seine  Landsleute  und  Zeitgenossen 
zuhause  sind.  Aber  er  ist  nie  zügellos  und  ausgelassen, 
sondern  immer  ein  Muster  im  Maßhalten.  Vom  Stand- 
punkte des  kontrapunktischen  Technikers  kann  man 
häufig  genug  bedauern,  daß  die  nachkommenden  Stim- 
men den  führenden  nur  auf  eine  kurze  Strecke  folgen; 
vom  ästhetischen  aus  liegt  in  dieser  Beschränkung  die 
Größe  de  Kerles.  Leicht  zu  genießen  ist  er  deshalb 
noch  lange  nicht,  er  mach ts  den  Hörern  sogar  schwerer 
als  Josquin,  weil  die  homophonen  und  die  klanghch 
einschlagenden  Episoden  bei  ihm  seltener  sind.  Er  setzt 
in  noch  höherem  Grade  als  seine  Vorgänger  und  Neben- 
männer Verständnis  für  das  Nachsingen,  für  das  Ver- 
weben und  Verstellen  einfach  sinniger  Motive  und  The- 
men voraus.  Er  bedeutet  einen  Höhepunkt  dieser  Kunst, 
überschreitet  aber  nie  die  Linie,  bei  der  die  Künstelei 
beginnt  und  ist  deshalb  mehr  als  andre  geeignet  in  der 
Gegenwart  eine  Schule  zu  vertreten,  die  zur  Vertiefung 
musikalischen  Empfindens  außerordentlich  viel  beige- 
tragen hat. 

Auch  bei  de  Kerle  wird  die  Aufführung  ganzer  Messen 
nur  in  Ausnahmsfällen  ratsam  sein.  Wohl  aber  sollten 
auf  Bildung  bedachte  Gesanginstitute  Teile  aus  solchen 
in  ihre  ständigen  Aufgaben  einziehen.  Da  empfehlen 
sich  außer  den  bereits  genannten  Bruchstücken  beson- 
ders noch  Gloria  und  Credo  der  Messe  über  »ut  re  mi«, 
Kyrie  und  Osanna  aus  der  über  >Beate  virgine«,  das 
Gloria  aus  der  über  »Resurrexit  Pastor«.  Einen  äußern 
Eindruck  hat  man  immer  sicher,  wenn  man  zu  einem 


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Satz  aus  einem  der  vordren  Teile  des  Ordinariums  das 
Agnus  Dei  fügt.  Denn  im  Agnus  treten  wie  bei  den 
Messenkomponisten  des  i  6.  Jahrhunderts  gewöhnlich  neue 
Stimmen  hinzu.  Kleine,  auserlesene  Männerchöre  seien 
auf  die  Messe  »Regina  coelic  verwiesen. 

J.  de  Kerle  steht  außerhalb  der  Sphäre  Josquins. 
Er  ist  von  ihrer  Volksfreundlichkeit,  aber  auch  von  dem 
Wirrwarr,  der  ihr  folgte,  unberührt  geblieben  und  hat 
als  maßvoller,  aristokratischer  Vertreter  späterer  nie- 
derländischer Kunst  kaum  seines  gleichen.  Auch  der 
Pb.  de  Monte,  berühmte  Philipp  de  Monte  erreicht  diese  Vornehm- 
heit und  Abgeklärtheit  nur^  ausnahmsweise.  Die  Mehr- 
zahl seiner  Messen  kultiviert  in  der  Stimmführung  die 
Kunstfertigkeit  auf  Kosten  von  Eindruck  und  Ausdruck, 
das  Ohr  müht  sich  meistens  mit  einem  gleichmäßig 
dicken,  aus  langen  Themen  entwickelten  Satz  ab,  die 
nach  den  ersten  Tönen  schon  in  drei-,  vier-  und  fünf- 
fache Engführungen  verschlungen  werden.  Das  ist  der 
Stil,  der  die  Messe  über  »Quomodo  dilexi«,  auch  die 
»ad  modulum:  Benedicta  est«  beherrscht.  ^ 
Nur  ist  er  in  letzterer  durch  das  überall  ^  J  JJ|^^ 
durchklingende   freundliche   Grundmotiv:  " «^  ^^ 

gemildert.  Hauptbeispiele  dieser  papierenen  Polyphonie 
bietet  die  Messe  »Emitte  Domine«.  Ihr  »Qui  tolhs  usw.« 
beginnt: 


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Qui     toi .  lispeccata  mundiinu.M .  re.re  no. 


Auf  der  andern  Seite  überzeugt  aber  auch  gerade 
dieses  Werk  vollständig  von  der  Größe  de  Montes.  Ein- 
mal durch  außergewöhnlich  gewaltige,  zum  andern  durch 
elementar  einfache  Stellen  herzlichen  innigen  Ausdrucks. 
Das  Credo  ist  der  Satz,  in  dem  der  Komponist  den  gan- 
zen Reichtum  seiner  Natur  ausbreitet,  die  höchste  Kraft 
der  Empfindung  und  Fantasie  an  der  Stelle  «Et  in  unum 
Dominum«,  die  äußerste  Zartheit  beim  »Deum  verum 
de  Deo  vero«.  Noch  stärker  als  die  große  vielseitige  Be- 
gabung spricht  aus  der  Musik  de  Montes  ein  romanti- 
scher Geist,  derselbe,  den  wir  auch  aus  Lassos  Werken 
hören,  den  wir  verhüllter  auch  in  den  Bildern  Dürers 
und  andrer  Reformationszeugen  sehen,  der  in  allen  inner- 
lich erregten  Zeiten  wiederkehrt.  Kein  Wunder  darum, 
daß  de  Monte  und  Lasso  sich  auch  in  den  äußeren 
Mitteln  begegnen.  Romantisch  ist  bei  de  Monte  die 
reiche  Modulation,  die  Wiederholung  derselben  Worte  im 
entgegengesetzten  Sinn,  das  plötzliche  Wechseln  und  Um- 
schlagen von  Stimmung  uf  d  Kolorit,  das  unvermittelte 
Nebeneinander  von  hell  und  dunkel;  romantisch  sind 
die  Trugschlüsse,  die  raschen  Obergänge  von  Moll  nach 
Dur,  von  polyphoner  und  homophoner  Stimmführung, 
die  überraschenden  akkordischen  Akzente.  Durch  alle 
diese  Einzelheiten  wirken  de  Montes  Messen  ausgeprägt 
germanisch  und  eben  dadurch  kommen  sie  dem  modernen 
Empfinden  entgegen.  Die  Probe  darauf  zu  machen,  würde 
sich  am  meisten  das  Incarnatus  est  und  das  Agnus  Dei 
der  eben  erwähnten  Messe  über  »Emitte  Domine«,  das 
Kyrie  und  das  Agnus  Dei  aus  >Si  ambulavero«,  das  Gloria 
und  das  Grucifixus  aus  der  Messe  »Confiteor  tibi«  eignen. 

Für  Orlando  di  Lasso  selbst,  mit  dem  die  Nieder-  Orlando  di 
länder  als  selbständige  Schule  verschwinden,   sind  wir     Lasso, 
augenblicklich  noch  in  der  Hauptsache  auf  die  »Musica 
divina«  Proskes  und  auf  Commers  »Operum  Batavorum 
CoUectio«  angewiesen. 

Orlandos  Werke,  unter  welchen  die  Magnificats  und 
die  Bußpsalmen  am  höchsten  stehen,  sind  die  Spitzen 
gereinigter   und    neugetränkter    niederländischer   Kunst. 


47«      *— 

Wenn  erst  die  soeben  (ebenfalls  von  Breitkopf  &  Härtel)  in 
Angriff  genommene,  von  A.  Sandberger  redigierte  kolossale 
Gesamtausgabe  seiner  Kompositionen  vorliegt,  wird  des 
Staunens  über  die  Vielseitigkeit,  den  Reichtum  und  die  fast 
schroffe  Originalität  dieser  Künstlernatur  kein  Ende  sein. 
Namentlich  in  der  weltlichen  Vokalmusik  wird  es  Über- 
raschungen genug  geben.  In  seinen  Mensen  jedoch  ist  er,  der 
technisch  vielseitig  und  frei  über  die  Stilarten  aller  Schulen 
schaltet,  geistig  außerordentlich  ungleich  und  oft  zur  Be- 
quemhchkeit  geneigt.  Die  Erfahrung,  daß  unter  den  Meister 
werken  der  Vokalperiode,  besonders  unter  den  Messen,  auch 
viele  handwerksmäßige  Arbeiten  unterlaufen,  bleibt  uns 
auch  in  den  Messen  Orlandos  nicht  erspart.  Er  pflegt  allzu- 
häufig den  trägen  Stil  der  sogenannten  »missae  familiäres«, 
und  auf  solche  Unterlagen  gestützt,  mag  Baini,  Palestrinas 
Biograph,  dazu  gekommen  sein,  den  genialen  Orlando  als 
»arm  an  schönen  Gedanken,  ohne  Seele,  ohne  Feuer«  ab- 
zutun.  Seine  vierstimmige  Messe  octavi  toni  (im  i .  Bd.  d. 
»M.  d.«)  ist  in  ihren  ersten  drei  Sätzen  ein  solcher  dürftiger 
Mißwachs:  kunstlos  in  der  Form,  leblos:  alle  vier  Stimmen 
immer  Note  gegen  Note  hindeklamiert,  im  Ausdruck  auf  das 
AUernotwendigste  beschränkt,  nur  hier  und  da  an  Stellen 
wie  »Domine  Jesu  Chris te«  und  »et  homo  factus  est«  von 
.  dem  Blitze  einer  großen  Fantasie  durchleuchtet.  Erst  von 
dem  Sanctus  an,  in  welchem  die  Stimlnen  auf  Senflschen 
Leitern  nebeneinander  hinauf-  und  hinuntergleiten,  verrät 
dieses  Werk  seinen  Meister.  Bedeutender  ist  die  Messe  über 
»Puisque  j'ai  perdu«,  und  das  bedeutendste  Stück,  welches 
die  Proskesche  Sammlung  von  Messen  Orlandos  bringt,  die 
über  das  Thema:  »Qual  donna  attende  usw.«  (fünfstimmig). 
Aus  den  von  Commer  veröffentüchten  Messen  Orlandos  wer- 
den ungefähr  sechs  regelmäßiger  gesungen,  an  erster  Stelle: 
»Gredidi«,  »Doulce  memoir«.  »II  me  suffit«,  »Je  ne  mange«. 
Lassos  Stil  weist  auf  neue  nationale  Schulen  hin,  die, 
von  den  Niederländern  ausgehend,  im  Laufe  des  i  6.  Jahr- 
hunderts zu  selbständiger  Bedeutung  gelangten.  Zu  ihnen 
gehört  auch  eine  deutsche,  deren  Hauptvertreter  A.  von 
Fulda,  A.  Agricola,H.Finck,L.  Senfl  und  L.  Lechner 


-^      473      «^~ 

sind.  Heinrich  Isaak  steht  ihr  ebenfalls  nahe,  obwojil 
ihij  die  neuesten  Forschungen  als  gebürtigen  Niederländer 
zeigen.  Was  diese  Schule  in  der  Messe  geleistet  hat, 
werden  binnen  kurzem  die  Publikationen  der  deutschen 
und  österreichischen  Denkmäler  weiteren  Kreisen  ersicht- 
lich machen.  Bisher  haben  die  Neudrucke  davon  eben- 
sowenig mitgeteilt,  wie  von  der  früheren  Messenkomposition 
der  italienischen  Schulen,  welche  der  Herrschaft  der 
Niederländer  ein  Ende  mächten.  Nur  die  von  Goudimel*) 
begründete  römische  Schule  war  von  jeher  in  den  Sam- 
melwerken mit  Messen  G.  P.  da  Palestrinas  reicher 
vertreten,  und  seit  zwanzig  Jahren  liegen  sie  in  der  von 
X.  F.  H  a  b  e  r  1  durchgeführten  Gesamtausgabe  dieses  größten 
römischen  Meisters  vollständig  in  Partiturform  vor. 

Aus  alten  Bibliotheksvei;zeiQhnissen  ergibt  sich,  daß 
Palestrinas  Werke  in  Deutschland  sich  weit  weniger  ein  G.  P.  da  Pale- 
bürgerten,  als  die  der  venetianischen  Hauptkomponisten.  strlna. 
In  Italien  dagegen  würdigte  man  sie  sofort  in  ihrer  vollen 
Bedeutung.  Mit  Ausnahme  von  zweien  wurden  alle  Messen 
Palestrinas  zu  seinen  Lebzeiten  (13  Bücher  in  Stimmen) 
gedruckt  und  einzelne  Lieblings  werke  aller  Kirchenchöre. 
Unter  ihnen  nimmt  die  schon  erwähnte  Messe  »Assumpta 
est  Maria«  die  erste  Stelle  ein.  Diese  herrliche,  von  Ra- 
phaelscher  Milde,  Lieblichkeit  und  Klarheit  erfüllte  Kom- 
position vereinigt  stilistische  Vorzüge  —  Baini,  der  das 
Schaffen  P.s  in  nicht  weniger  als  zehn  Stilperioden  zerlegt, 
weist  die  >Assumpta  est«  der  achten  zu  —  verschiedener 
Meisterwerke  P.s  in  sich:  die  Lebendigkeit  des  Ausdrucks, 
welche  das  »Hoheüed«  auszeichnet,  und  die  Großartigkeit 
und  Einfachheit  der  Farbengebung,  welche  der  berühmten 
Preismesse  »Papae  Marcelli«  eigen  ist.  Baini,  der  lang- 
jährige Direktor  der  päpstlichen  Kapelle,  erzählt,  daß  das 
Werk,  welches  bei  Maria  Himmelfahrt  1585  zum  erstenmal 
zu  Gehör  kam,  allemal,  so  oft  er  es  bei  dem  gleichen  Feste 
selbst  wieder  zur   Aufführung    brachte,    ununterrichtete 


*)  In  M.  Brenets  Studie  über  Ooudimel   wird  das  in  Ab- 
rede gestellt. 


-— *      Mi     ♦— 

Zuhörer  nach  einem  lebenden  Komponisten  fragen  ließ. 
Es  bleibt  immer  unverwüstlich  frisch  und  neu.  Einen  Teil 
dieser  unversieglichen  Jugendkraft  dankt  es  dem  eignen 
musikalischen  Grundgehalt  seiner  Leitmelodie,  der  schönen 
lebendigen  Antiphone :  >Assumpta  est«,  derselben  Melodie, 
welche  auch  Mendelssohn  zu  der  anmutigen  Motette :  »Lau- 
date  pueri«  (für  die  Nonnen  zu  St.  Trinitä  de'  Monti  ge- 
schrieben) benutzt  hat.  Neben  dieser  Messe  stehen  als 
gleichberühmt  und  durch  die  Bewunderung  der  Zeitgenossen 
ausgezeichnet,  die  Missa  >Papae  Marcelli«  vom  Jahre  1 565, 
die  Missa  »super  voces  musicales«  vom  Jahre  4  562  und 
»Ecce  Johannes«  (zwischen  1585  und  1590  entstanden).  Die 
Missa  »Papae  Marcelli«,  die  dritte  von  drei  Werken,  welche 
Palestrina  auf  Veranlassung  der  zur  Abstellung  von  Miß- 
bräuchen in  der  Kirchenmusik  vom  Trienter  Konzil  einge- 
setzten Kommission  verfajßte*),  gehört  in  ihrem  Gedanken- 
fluge zu  den  bescheideneren  Messen  des  Tonsetzers.  Mit 
Ausnahme  des  Kyrie,  welches  in  klarer  Weise  dem  nach- 
ahmenden Stil  der  Niederländer  folgt,  wiegt  in  ihren  sämt- 
lichen Sätzen  eine  ähnlich  einfach  deklamatorische  Behand- 
lung der  Worte  vor,  wie  wir  sie  in  einem  anderen,  wohl 
dem  bekanntesten  Hauptwerke  des  Meisters  finden :  seinem 
»Stabat  mater«.  Nur  die  mit  wenigen  Stimmen  besetzten 
kürzeren  Zwischensätze  (»Crucifixus«  und  »Benedictus«) 
greifen  melodisch  weiter  aus.  Aber  diese  thematische  Zu- 
rückhaltung läßt  die  Überlegenheit,  mit  welcher  Palestrina 
von  dieser  Messe  ab  ein  altes  stilistisches  Mittel  verwendet, 
um  so  wirksamer  und  mächtiger  hervortreten.  Es  ist  der 
Klangwechsel  und  die  Gruppierung  der  Chorstimmen.  Durch 
sie  erhalten  die  Tonbilder  der  Messe  eine  Schärfe  des  Um- 
risses, wie  sie  kaum  vorher  gekannt  war;  die  Deutlichkeit, 
mit  welcher  die  Worte  in  dem  einfach  deklamierenden  Stile 
hörbar  waren,  ließ  den  Meßtext  selbst  eindringlicher  als  je 
zum  Gemüt  dringen  und  umgab  das  ganze  Werk  mit  dem 
Schimmer  eines  feierlichen  Ernstes.    Die  Gruppierung  der 


*)  In   Haberls   Kirchenmasikalischem    Jahrbuch    für   189*2 
wird  diese  Annahme  bestritten. 


— ♦      476      «— 

Stimmen  zu  antiphonierenden  Teilchören  war  ja  vor  der 
Missa  Marcelli  längst  bekannt,  aber  neu  war  diese  vir- 
tuose Handhabung.  In  der  Missa  »super  voces  musicales«, 
die  den  Improperien  vom  Jahre  1 560  als  das  zeitlich  nächste 
Hauptwerk  folgte,  ist  es  ein  Chor  von  vier  hohen,  das  »Cru- 
cifixus«  singenden  Stimmen,  der  mit  seinem  seraphischen 
Klang  das  Entzücken  des  Papstes  und  der  Kardinäle  bildete. 
Dieses  »Crudfixus«,  neben  welchem  die  anderen  Sätze  mit 
bedeutenden  Gedanken  und  mannigfaltiger  sinnlicher  Wir- 
kung als  gleich  fesselnd  stehen,  war  die  Hauptveranlässung 
mit,  daß  Palestrina  den  erwähnten  Reformauftrag  erhielt. 
Als  gleichbedeutend  mit  diesen  genannten  Hauptmessen  P.s 
ist  vor  allem  noch  die  Messe  »l'homme  arm^«  aus  der  Aus- 
gabe von  4  570  (im  zwölften  Band  der  Gesamtausgabe  mit- 
geteilt) zu  nennen*).  Bedeutend  sind  wohl  alle  Messen  dieses 
Meisters :  eine  Fülle  heiliger  Klänge,  das  höchste  Ideal  kirch- 
licher Tonkunst!  In  Italien  ist  dieser  Tatsache  jederzeitRech- 
nung  getragen  worden.  Palestrina  war  und  blieb  der  popu- 
lärste Kirchenmusiker.  In  Florenz  hört  Burney  tagtäglich 
Palestrina,  in  Rom  beherrschte  er  noch  anfangs  des  4  9.  Jahr- 
hunderts auch  die  Hausmusik.  Allwöchentlich  werden  bei 
Frau  von  Bunsen  von  päpstlichen  Kapellsängern  Palestrina- 
sehe  Messen  und  wie  in  der  alten  Zeit  in  kleiner  Besetzung 
aufgeführt.  Die  Zahl  der  von  ihm  heute  in  den  katholischen 
Kirchenchören  gesungenen  Messen  ist  verhältnismäßig  be- 
deutend. Es  sind  außer  den  durch  Proske  eingeführten 
folgende:  »Tu  es  Petrus«,  »Ecce  ego  Joannes«,  »Alma  redemp- 
toris«,  »Viri  Galilaei«,  »0  magnum  mysterium«,  »0  admirabile 
commercium«,  »0  sacrum  convivium«,  »Beatus  Laurentius«, 
femer  die  durch  die  abfallige  Kritik  Sixtus  V.  bedeutungsvoll 
gewordene  »Tu  es  pastor  ovium«,  sowie  die  zwei  vierstimmi- 
gen Messen  »sine  nomine«  und  »Quem  dicunt  homines«.  Das 
geistliche  Konzert  der  Gegenwart  arbeitet  mit  einem  sehr  Mei- 
nen Palestrinarepertoire,  die  Männerchöre  beschränken  sich 
fast  ganz  auf:  »Ohone  Jesu«.  Sie  seien  auf  das  »Plenisunt« 

*)  Sie  wird  In  der  Autobiographie  Zacconis  als  Studien weik 
ersten  Ranges  hervorgehoben. 


— ♦      476      ^>— 

in  der  Messe:  »Ecce  sacerdos«,  in  »Virtudo  magna«,  in  »Ad 
coenam  agni« ,  in  »Ad  fugam « ,  auf  die  Cnicifixussätze  in  »0  re- 
gem coeli«  und  in  »Spem  inalium«,  auf  das  Benedictus  in  der 
»Missa  de  feria«,  in  der  Messe  »Iste  confessor«  hingewiesen. 
Ähnlich  wie  200  Jahre  später  in  der  neapolitanischen, 
ragen  in  der  römischen  Schule  spanische  durch  Ignaz  von 
Loyola  nach  der  ewigen  Stadt  gezogene  Musiker  hervor. 
L.  de  Victoria.  Unter  ihnen  ist  Tomas  Luis  de  Victoria,  als  Messenkom- 
ponist bereits  durch  Proskes  »Musica  divina«  reichlicher 
bedacht,  heute  mit  zehn  vier-  und  fünfstimmigen  Messen 
vertreten,  die  den  zweiten  Band  der  von  Ph.  Pedrell 
redigierten  Gesamtausgabe  der  Werke  Victorias  bilden. 
Weitere  mit  mehr  Stimmen  und  wohl  auch  Messen  von 
M orales  und  Guerrero  werden  folgen.  Die  von  Victoria 
vorgelegten  gehören  zu  den  bedeutendsten  Leistungen  der 
Vokalmesse  überhaupt  und  stehen  den  Arbeiten  Palestrinas 
im  Gehalt  nicht  nach.  Die  Unterschiede  beider  Meister 
sind  teils  nationalen,  teils  persönlichen  Ursprungs.  Dem 
Palestrina,  welcher  das  weiche,  liebenswürdige,  anmutige, 
klare  Wesen  italienischer  Kunst  in  einer  besonders  rei- 
chen und  für  die  sinnliche  Wirkung  äußerst  begabten 
Individualität  zeigt,  steht  Victoria  als  die  männliche 
Natur  gegenüber.  Die  knappe  Behandlung  der  Kyrie- 
sätze,  die  scharfe  Gegensätzlichkeit,  in  denen  er  den 
Text  des  Christe  zu  dem  Hauptsatz  stellt,  läßt  das  so- 
fort deutlich  merken.  Der  Spanier  liebt  tiefe  Lagen, 
dunkle  Modulationen,  breite  und  verschlungene  Kaden- 
f  zen;  aus  der  Form  und  aus  der  Seele  seiner  Messenkom- 

position spricht  der  ungewöhnliche  Ernst,  mit  dem  er 
den  Text  überdenkt  Keine  seiner  Einzelheiten  übergeht 
er,  aber  er  bringt  sie  streng  und  ganz  schlicht  zum  Aus- 
druck. Seine  Hauptstärke  liegt  in  einer  gehaltvollen  Me- 
lodik, deren  Eigenheit  darin  besteht,  daß  sie  oft  ganz  plötz- 
lich die  Wärme  zur  Glut  steigert.  Außer  in  der  Art  der 
Begabung  unterscheidet  sich  Victoria  aber  auch  durch  die 
Schule  von  Palestrina.  Er  wurzelt  viel  tiefer  in  nieder- 
ländischem Boden.  Vom  Jahre  4  583  ab  wendet  er  sich 
allerdings  der  Homophonie  mehr  zu,  bleibt  aber  in  diesem 


-^      177.     ^k— 

Stil  mit  dem  Sinn  für  das  Kolorit  hinter  Palestrina  zurück. 
Victorias  Messen  sind  darum  mehr  für  die  Kenner,  als  für 
die  Menge,  alle  aber  reich  an  Stellen  von  unmittelbarer 
Wirkung,  einzelne  auch  des  Gesamteindrucks  sicher. 
Aus  der  letzten  Klasse  wäre  die  vierstimmige  Messe  über 
»Ave  Maria  Stella«  mit  ihrer  Choralfeierlichkeit,  die  über 
»0  quam  gloriosum«,  eine  der  frischsten  und  erfindungs- 
reichsten Arbeiten  des  Komponisten,  ferner  die  durch  Weich- 
heit und  Mannigfaltigkeit  ausgezeichnete  fünfstimmige 
Messe:  >Trahe  me«  und  die  (von  Proske  gebrachte)  sechs- 
stimmige kraft-  und  klangvolle  Messe:  >Vidi  speciosam« 
nachzusehen.  Das  hervorragendste  Beispiel  für  die  Be- 
handlung einzelner  Stellen  dürfte  das  Gloria  der  Messe: 
»Simile  est  regnum  coelorum«  sein.  Wie  Victoria  da  im 
»Qui  toUis«  die  Bitten  »Miserere«  und  »Suscipe  usw.«  zur 
einschneidendsten  Wirkung  einfach  dadurch  bringt,  daß 
er  sie  dem  Sopran  vorbehält,  das  genügt  um  darüber 
aufzuklären,  daß  man  es  mit  einem  außerordentlichen 
Meister  zu  tun  hat.  Unter  den  weiteren  Musterstücken 
sei  auf  das  Sanctus  in  »de  beata  Maria«  aufmerksam 
gemacht.  Ohne  weitere  Wahl  wird  man  sich  mit  jedem 
behäbigen  Agnus  Dei  von  Victorias  Bedeutung  über* 
zeugen  können,  am  stärksten  mit  dem  aus  »Simile  est 
regnum«. 

Im  übrigen  ist  auch  die  römische  Schule  mit  Neu- 
drucken von  Messen  nur  ungenügend  vertreten.  Proske 
bringt  noch  eine  schöne,  kunstreiche  Arbeit  »super  voces 
musicales«  des  im  vorhergehenden  Kapitel  als  Passions- 
komponist  erwähnten  Fr.  Suri an 0.  Als  Beispiel  dessen,  Ft  Snriano. 
was  sich  auf  einem  technisch  so  schwierigen  Grunde  an 
eigentümlicher  Poesie  entwickeln  läßt,  sind  besonders 
das  Sanctus  und  noch  mehi:  der  mit  dem  Motto: 
»Justitia  et  pax  osculatae  sunt«  bezeichnete,  in  Gegen- 
bewegung gehaltene  Kanon  des  Agnus  beachtenswert 
Eine  für  die  Zeit  der  Entstehung  ganz  seltene  Kühn- 
heit bringt  der  Schluß  des  Gloria  in_dem  gegen  die 
F  dur-  und  D  ^ur-Harmonie  anliegenden  g^  des  i .  Soprans. 
F.  Anerio,  der  Nachfolger  Palestrinas  im  Amte,  ist  mit     T.  Anorioi 

n,  i.  \^ 


—— <^ 


1.78 


einer  Messe  >sine  nomine«  vertreten,  welche  im  Stile  der 
frührömischen  Schule  gehalten  ist. 

Alle  italienischen  und  sonstigen  Schulen  wurden  gegen 
das  Ende  des  4  6.  Jahrhunderts  von  der  venetianischen 
an  Einfluß  übertrofifen.  Sie  J)rachte  auf  drei  Generationen 
die  Führung  in  geistlicher  und  weltlicher  Musik  an  sich 
und  machte  Oberitalien  zum  Herd  aller  jener  Neuer- 
ungen, auf  denen  Chor-  und  selbständige  Instrumental- 
musik, auf  denen  die  ga^ze  moderne  Tonkunst  ruht. 
Ihre  erste  Tat  war  die  prinzipielle  Steigerung  der  Mehr- 
stimmigkeit und  die  Ausbildung  einer  Chorantiphonie 
größten  Stils.  Dazu  halten  frühere  Zeiten  und  andere 
Länder  schon  angesetzt:  wir  hören  von  einer  sechsund- 
dreißigstimmigen  Motette  Ockeghems  und  von  Kompo- 
sitionen für  vier  Chöre,  die  in  Spanien  um  die  Mitte  des 
4  6.  Jahrhunderts  geschrieben  wurden,  wir  besitzen  von 
englischen  um  dieselbe  Zeit  geschri^bnen  Monstrechören 
ein  Hauptstück,  ThomasTalli  s' vierzigstimmige  Motette : 
»Spem  in  alium«  im  Neudruck.  Durch  die  Venetianer 
wurden  solche  Versuche  allmählich  zur  Norm  für  den 
festhchen  Chorstil  und  insbesondere  in  der  Messe.  Daß 
die  niederländische  Art  der  Polyphonie  zunächst  auch 
in  Venedig  weiter  gepflegt  wurde,  ergibt  sich  aus  den 
(in  Proskes  »Musica  divina«  enthaltenen)  kurzen  Messen 
A.  Gabrioli.  Andrea  Gabrielis,  ebenso  wie  aus  denen  Giovanni 
G.  Croce.  Croces*),  frischen,  klaren  zur  satzweisen  Konzertver- 
wendung wohl  geeigneten  Kompositionen.  Die  des  Neu- 
J.  Qallns.  drucks  noch  harrenden  Messen  des  J.  Gallus  gehören  in 
dieselbe  Kategorie  und  ebenso  die  Leo  Haßlers,  der 
bekanntlich  Andreas  Schüler  war.  Zur  größeren  Hälfte 
bereits  durch  Neudrucke  von  Proske  und  Genossen  seit 
längerer  Zeit  allgemeiner  zugänglich,  sind  sie  jüngst  sämt- 
lich veröffentlicht  worden**)  und  haben  dadurch  eine 
Auszeichnung  erfahren,    die  ihnen  wohl  gebührt.    Hier 


♦)  In   autographierten  Partituren    von   F.  X.  Haberl   Ter- 
Vffentlißlit. 

**)  Denkmäler  Deutscher  Tonkunst,  Bd.  VU. 


r 


— ♦      479      ^>— 

vereinigen  sich  Reichtum  und  Schlichtheit  der  Form,  Adel     L.  Häßler. 

und  Gemeinverständlichkeit  der  Gedanken,  alte  und  neue 

Zeit  ungewöhnlich  frei  und  innig.     Stärker  als  die  Ge-* 

meinsamkeit  ist  zwischen  Andrea  Gabrieli  und  Haßler 

die  Verschiedenheit.    Es.  klingt  nicht  bloß  der  deutsche 

Liederton  herzhaft  in  den  Messen  des  Jüngern  mit,  sondern 

er  ist  auch  viel  ungebundener  im  Stil.   Wie  später  Haydn 

in  der  Symphonie,  so  verschmilzt  Haßler  in  der  Vokalmesse 

die  Eigenheiten  verschiedener  Schulen   zu  einem  neuen 

Organismus.    Man  kann,  ohne  ^gewaltsam  zu  werden,  mit 

vier  Stimmen  nicht   mannigfaltiger  und  wirkungsvoller 

schreiben,  als   er  es  tut.    Das  ist  ein  Punkt  mehr,   der 

seine  Messensätze  für  das  Konzert  empfiehlt.   Das  Sanctus 

aus  »Dixit  Maria«,  das  Gloria  aus  der  ersten  Messe  sine. 

nomine,  auch  das  Credo,  ja  so  ziemlich  alle  Sätze  aller 

Messen  wären  geeignet.    Es  ist  ein  Unrecht,  auszulesen, 

wo  überall  Charakter,  Fantasie,  Fülle  der  Empfindung 

und  Originalität  des  Ausdrucks  so  außerordentlich  sind. 

Venetianisch  zweichörig  ist  nur  die  letzte  Messe. 

Auch  die  nur  in  alten  Stimmendrucken  vorliegenden 
Messen  Monteverdis  sind  in  ihrer  rücksichtslosen  mo-  C.  MonteTerdi. 
tivischen  Konsequenz  ganz  Niederländisch.  Erst  von 
Giovanni  Gabrieli  ab  wird  die  Auftürmung  von  Q.  &sbrioli. 
Stimmen,  die  Menge  getrennter  Chorscharen  häufiger  und 
verbreitet  sich  über  andere  Länder.  Im  17.  Jahrhundert 
erreicht  der  Stil  wahrscheinlich  mit  Orazio  Benevolis 
Salzburger  Messe  von  4  628  seinen  Gipfel.  Die  Österreich- 
ischen Denkmäler  haben  dieses  Werk,  das  mit  dreiund- 
fünfzig Stimmen  arbeitet,  jüngst  veröffentlicht  *"),  und  da- 
mit jedermann  eine  bequeme  Bekanntschaft  mit  dieser 
erstaunlichen  Meßkunst,  die  bisher  nur  mit  bescheidenen 
Proben  in  Rochlitz  und  anderen  Neudrucken  vertreten 
war,  ermöglicht.  Von  der  kontrapunktisch  technischen 
Seite  betrachtet,  sehen  derartige  Leistungen  allerdings 
größer  aus,  als  sie  sind.  In  Wirklichkeit  haben  wir  es 
bei  Benevoli  mit  einem  zweichörigen  Werke  zu  tun,  bei 


*)  DenkmUer  der  Tonkunst  In  Österreich,  Bd.  X. 


— CO       180      ^— 

0.  BeneToll.  dem  jeder  Chor  aus  acht  Singstimmen  und  einem  Orchester 
von  Streichern,  Bläsern  und  Orgel  besteht.  Diese  Masse 
wird  in  einem  vorwiegend  vierstimmigen,  jedenfalls  immer 
so  einfachen  Satze  geführt,  daß  sich  jeder  Vergleich  mit 
den  Niederländern  oder  auch  nur  mit  Seb.  Bach  ver- 
bietet. Der  künstlerische  Schwerpunkt  der  Komposition 
liegt  nicht  in  der  meisterhaften  Verkettung  verschiedener 
Gedanken,  sondern  im  Klang  und  im  Kolorit.  Durch  die 
Teilung  der  Chöre  in  kleine  und  kleinste  Gruppen,  durQh 
ihren  Wechsel,  durch  ihre  variationenreiche  Zusammen- 
führung, durch  die  beständige  Ausnutzung  räumlicher 
Wirkung  —  ein  Darstellungsmittel,  das  die  heutige  Musik 
fast  nicht  mehr  kennt  —  ist  Benevoli  originell  und  mächtig. 
Die  Kirchenhalle  ist  als, ein  Ausschnitt  des  Weltalls  ge- 
dacht; jedes  Stückchen  Gotteswort,  das  in  ihr  ertönt, 
wird  wie  von  Engeln  nach  allen  Enden  getragen,  erweckt 
aus  allen  Richtungen,  aus  Höhen  und  Tiefen  geheimnis- 
vollen Widerhall.  Auf  dieses  unablässige  Widerklingen 
und  Nachklingen,  auf  die  Verständlichkeit  im  verschlun- 
gensten  und  fernsten  Echo  ist  alle  Erfindung  gerichtet 
Vor  allem  ist  der  Charakter  der  Motive  darauf  berechnet; 
sie  nähern  sich  in  äußerster  Schlichtheit  Naturlauten  und 
Signalen  und  vertreten  in  ihrer  Einfachheit  zugleich  den 
reinsten  und  höchsten  Geist  der  Renaissance.  In  ihren 
Kunstkreis  gehört  die  Messe  vielmehr  als  in  den  der  Barock- 
periode. Sie  ist  ein  Denkmal  kühnen  und  gewaltigen  Sinnes 
schon  durch  das  ungeheure  und  prachtvolle  äußere  Gerüst. 
Es  entsprechend  auszubauen  setzte  Tonsetzer  von  majestä- 
tischer Fantasie  voraus.  Die  hat  Benevoli  nicht  überall  zur 
Verfügung  gestanden,  aber  einzelne  Stellen  seiner  Messe  sind 
auch  geistig  kolossal.  Dem  Bild  z.  B.,  das  er  von  der  Macht 
der  »una  sancta  catholica  ecclesiat  im  Credo  gibt,  hat  viel- 
leicht die  ganze  Geschichte  der  Messe  nichts  an  die  Seite 
zu  setzen.  Die  Einbürgerung  dieser  Messe  würde  der  gegen- 
wärtigen Musik  eine  neue  Welt  erschließen.  Doch  sind 
die  Aussichten  dazu  sehr  gering,  weil  wir  ganz  verlernt 
haben,  uns  um  Aufstellung  und  Herrichtung  von  Emporen 
und  ähnliche  wesentliche  Außendinge  Mühe  zu  geben. 


— ^      184      ^— 

i 
\ 

Gleichzeitig  mit  der  Vermehrung  der  obligaten 
Stimmen  des  Chorsatzes  wird  auch  die  selbständige 
Instrumentalbegleitung  üblich.  Sie  entwickelt  sich  zu- 
erst um  die  Mitte  des  i  6.  Jahrhunderts  als  Notersatz  bei 
Sängermangel;  der  Klangreiz  hebt  sie  aber  schnell  zu 
eigner  Bedeutung,  auf  einer  dritten  Stufe  wird  sie  ein  ge- , 
waltiges  Mittel  des  Ausdrucks.  Bereits  vom  Anfang  des 
4  7.  Jahrhunderts  ab  ist  bei  jedem  Ghorstück  der  General- 
baß —  um  mit  R.  Ahle  zu  sprechen  —  >aus  Notwendig- 
keit oder  Gewohnheit«  d.  h.  der  Mode  halber  zu  finden. 

Die  Stimmenvermehrung  vertrug  sich  selbst  in  den 
übertriebenen  Fällen  mit  dem  Wesen  kirchlicher  Musik. 
Bedenkliche  Stöße  erhielt  es  erst,  als  s^us  der  Oper  Solo- 
gesang und  dramatischer  Geist  herüberdrangen.  Sie 
drängten  die  Fantasie  der  Komponisten  von  der  Grund- 
linie frommer  verklärter  Andacht  nach  rechts  und  links 
ab:  Auf  der  einen  Seite  zu  einer  bis  zum  Erschrecken  / 

aufgeregten  Wiedergabe  der  Textstellen,  auf  der  andern 
zu  einer  bis  ans  Selbstgefällige  streifenden  Ausbreitung 
der  subjektiven  Gefühls-  und  Empfindungskraft.  Als 
Beispiel  für  die  erste  Klasse  kirchlich  fraglicher  Musik 
kann  das  bekannte  an  und  für  sich  ausgezeichnete  sechs- 
stimmige »Crucifixus«  von  A.  Lotti  gelten.  Lotti,  der  auch  A.  Lotti. 
sehr  gute  Messen  im  rein  kirchlichen  Stile  geschrieben'*') 
—  eine  begleitete  (in  GmoU)  hat  S.  Bach  eigenhändig 
kopiert  — ,  hat  die  dramatische  Kraft,  mit  welcher  die 
ersten  Takte  dieses  »Crucifixus«  das  Bild  einer  unter 
dem  Eintreffen  einer  Schreckensnachricht  aufschreienden 
Menge  wiedergeben,  in  keiner  seiner  Opern  auch  nur 
annähernd  erreicht.  Dieser  Anfang  und  das  ganze  Stück 
ist  als  plastisches  Tonbild  ein  Treffer  ersten  Ranges;  als 
Teil  eines  Credo  so  passend,  wie  ein  Pistolenschuß  von 
der  Kanzel.  Für  die  zweite,  die  im  empfindsamen  Ge- 
biete sich  ausbreitende  Klasse  von  Messen,  bieten  die 
Tonsetzer  der  neapolitanischen  Schule  zahlreiche  Bei- 
spiele.    Sie  gab  sich    den  Einflüsseti  des  Musikdramas 

*)  Binnen  kurzem  steht  ein  Neudruck  in  den  Denkmälern  D.T.bevor. 


— ^      182      ^ — 

nach  andern  Richtungen  ziemlich  unbeschränkt  hin  und 
schrieb  Meßsätze,  in  denen  an  Stelle  des  kirchlichen 
Geistes  der  Kultus  der  Melodie  und  das  sinnliche  Ton- 
vergnügen getreten  ist 

Dieser  Vor\vurf  trifft  nicht  alle  Messen  und  Messen- 
H,  Scarlatti.  sätze  der  Neapolitaner.  A.  Scarlattis  Arbeiten  sind, 
wie  man  sich  in  den  Sammelwerken  von  Rochlitz, 
Choron,  Braune  und  Proske  überzeugen  kann,  ebenso 
würdig  als  frisch.  Auch  die  von  Commer  mitgeteilte, 
Fadre  Martini,  für  Männerstimmen  gesetzte  Messe  des  Padre  .Martini 
beweist,  daß  in  Italien  der  alte  Stil  und  Geist  des  musi- 
kalischen Hochamts  in  der  Blütezeit  der  neapolitanischen 
Oper  noch  lebte.  Aber  im  allgemeinen  war  für  die  geist- 
liche Komposition  die  Gefahr  der  Verweltlichung  schon 
durch  das  Prinzip  der  Renaissancemusik  nahegerückt. 
Palestrinastll ,  Luthersches  Kirchenlied,  die  frühesten 
Produkte  des  Madrigals,  die  unbegleitete  Monodie  gleichen 
sich  darin,  daß  sie  die  Forderung  der  Gemeinverständ- 
lichkeit, der  äußern  und  Innern  Einfachheit  voranstellen. 
Wie  diese  volkstümliche  Tendenz  in  den  dem  Jubel  und 
der  Freude  gewidmeten  Sätzen  der  Messe  schon  im 
47.  Jahrhundert  nahe  an  die  Trivialität  heranführen 
konnte,  das  zeigt  im  Osanna  die  Missa  angelica  des 
Leopold  I.  Kaisers  Leopold  I.*)  Durch  die  Einflüsse  der  neapo- 
litanischen Oper  kam  aber  der  kirchliche  Geist  der  Musik 
in  eine  immer  schwierigere  Lage;  gleich  am  Anfang  des 
i  8.  Jahrhunderts  und  selbst  in  Werken  von  Meistern  wie 
Leo,  Durante,  Pergolesi  ist  in  der  Messe  die  Ver- 
weltlichung weit  vorgerückt. 
J.  Füx.  Weil  er  das  klar  erkannte,  stellte  Joseph  Fux  mit 

seinem  berühmten  »Gradus  ad  Pamassum«  in  das 
i  8.  Jahrhundert  Palestrinas  Vorbild  hinein.  In  seinen 
a  capella-Messen  geht  Fux  noch  weiter,  nämlich  zu  den 
Niederländern  zurück  und  bildet  ihren  Stil  in  einer  ganz 
bewundernswerten    Weise    nach.      Höhere    Leistungen 


•)  »Musikalische  Werke  der  Kaiser     Ferdinand  111.  usw.« 
herausgegeben  von  Guido  Adler. 


archaisierender  Kunst  hat  die  neuere  Zeit,  auch  mit 
Einbezug  von  Poesie  und  Bildnerei,  wohl  kaum  auf- 
zuweisen. Da  paart  sich  Strenge  mit  Freiheit,  alte  Form 
mit  frischester,  lebendiger  Erfindung  aufs  vollkommenste. 
Voran  steht  die  vierstimmige  >Missa  canonica«,  die  auf 
den  österreichischen  Kirchenchören  jederzeit  ihre'  ge- 
bührende Stellung  behauptet,  in  Norddeutschland  aber, 
obgleich  sie  am  Anfang  des  49.  Jahrhunderts  zwei  Par- 
titurausgaben erfuhr,  sich  nicht  verbreitet  hat.  Die 
Denkmäler  der  Tonkunst  in  Österreich  legen  sie  noch- 
mals und  in  Gesellschaft  einer  andern  vierstimmigen 
Vokalmesse  Fuxens,  einer  Missa  Quadragesimalis, 
d.  i.  Fastenmesse,  und  zweier  Instrumentalmessen  vor"*). 
Diese  Missa  canonica  ist  wieder  einmal  ein  Studienwerk 
und  eine  Fundgrube  für  schwierigere  und  leichtere  For- 
men des  Kanons,  die  Fastenmesse  bevorzugt  die  Fugen- 
methode. Aber  das  alte  Gewand  erhält  durch  Fux  neue 
Aufschläge  durch  Modulationen,  die  den  Kirchentönen 
fremd  sind.  An  größern  Satzschlüssen  angebrachte  Aus- 
weichungen nach  der  Unterdominante  zeichnen  sich 
darunter  besonders  aus.  Der  Vergleichstoff,  den  die 
Messen  auf  Verwandtschaft  und  Verschiedenheit  mit  den 
ersten  Niederländern,  auf  Vorzüge  und  kleine  Nachteile 
bieten,  ist  bedeutend  genug.  Aber  sie  haben  auch  einen 
über  alle  Schulinteressen  hinausreichenden  Kunstwert, 
durch  die  Fülle,  Klarheit  und  Anschaulichkeit  der  musi- 
kalischen Gedanken,  in  denen  Text  und  Situation  auf- 
leben. Wo  die  Vokalmesse  durch  Meisterwerke  illustriert 
werden  soll,  darf  deshalb  Fux  nicht  übergangen  werden. 
Er  bringt  im  Herbst  noch  einmal  den  Glanz  der  schönen 
Jahreszeit  zurück. 

Die  Instrumentalmesse  vertritt  er  neben  J.  Kerll  als 
einer  der  frühesten  Deutschen,  er  ist  aber  in  ihr  keineswegs 
ein  bloßer  Vorläufer  größerer  Meister,  sondern  ein  selbstän- 
diger, geistig  durchaus  eigner  Verwalter  neuen,  reicheren 
Gutes.     Die  »Missa  Purificationis«   ist  zwar  nur  knapp 


*)  Denkmäler  der  Tonkunst  in  Österreich,  Bd.  I. 


— «-      184 

durchgeführt ,  aber  wie  geschmackvoll  und  'mit  welcher 
sicheren  und  schönen  Wirkung  sind  Sologesang  und 
instrumentale  Zwischenspiele  benutzt  Was  aber  den 
Ausdruck  betrifft,  so  genügt  der  Schluß  des  ersten  Kyrie, 
die  Einführung  des  Septimenakkords  der  vierten  Stufe 
dai^ber  aufzuklären,  daß  dieser  Komponist  mehr  als 
Durchschnittliches  zu  bieten  hat. 

Bedeutender  in  Anlage  und  Wirkung  ist  die  achtstim- 
mige »Missa  Sanctissimae  Trinitatis«.  Fux  gleicht  auch 
darin  den  Größen  ersten  Ranges,  daß  fast  jedes  seiner 
Werke  seinen  StÜ  für  sich  hat.  Hier  tritt  namentlich  die 
Kunst  hervor,  bei  breit  gelagerter,  ruhiger  Harmonie 
durch  die  Stimmführung  zu  fesseln.  Es  ist  gewaltig  und 
erhaben,  wie  die  Motive  durcheinanderfluten,  wie  die  Chöre 
sich  zusammenballen.  Die  Soli  fesseln  durch  die  schönen 
Nachahmungen  und  durch  die  Farben,  welche  die  Instru- 
mente hereintragen.  Besonders  tief  prägt  sich  da  das  >In- 
carnatus«  durch  die  Zwischenspiele  der  Posaunen  ein^  Der 
Aufbau  der  Formen  zeigt  venetianischen  Operneinfluß  in, 
der  Hinneigung  zu  scharfen  Tempogegensätzen.  Auch  in 
dieser  Messe  sind  Kunststücke  versteckt.  Durch  alle  Sätze 
geht  ein  dem  Komponisten 


von  einem  Freund  gegebe-  (h^^  V*  " 


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ja: 


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nes  Thema  von  fünf  Tönen:  ^ 

als   cantus  firmus.     Hoffentlich   berücksichtigen   unsere 
Chorvereine  in  Zukunft  dieses  Meisterwerk. 

Es  hat  sich  in  der  Messe  Österreichs  und  Süddeutsch- 
lands im  4  8.  Jahrhundert  an  Fux  eine  Schule  gebildet. 
I.  Holzbaner.  Einen  tieferen  Einfluß  hat  Fux  auf  Ignaz  Holzbauer 
ausgeübt,  dessen  Werke  (größtenteils  handschriftlich  in  Mün- 
chen) zum  Teil  eines  Neudrucks  wert  sind.  Antonio  Cal- 
dara  dagegen,  von  dessen  30  Messen  die  Missa  dolorosa 
(Emoll)  neuerdings  veröffentlicht  worden  ist*),  arbeitet  zwar 
sehr  geschickt  und  leicht;  seiner  Erfindung  fehlt  aber  Tiefe 
und  Wert.  Bedeutend  ist  nur  sein  i  6  stimmiges  Crucifixus. 
Fux  selbst  hielt  sich,  wie  bereits  bemerkt,  als  a  capella-Kom- 
ponist,  seine  Instrumentalmessen  müssen  aber  schnell  ver- 
gessen worden  sein.  Die  Wiener  »Spiritualkonzerte«,  die  von 


♦)  Denkmäler  der  Tonkunst  in  Österreich,  XIII,  1. 


■  .\' 


4  84  9  verhältnismäßig  viele  begleitete  Messen  aufführen, 
bringen  Werke  von  Seyfried,  Cherubini,  Hummel,  Haydn,  An- 
dre, Winter,  Hasse,  Beethoven,  Vogler,  Sßchter;  Fux  kennen 
sie  nicht.  Dasjenige  Werk,  welches  in  unseren  Konzerten  als 
das  erste  die  Periode  der  Instrumentalmesse  vertritt,  ist  die 
»HoheMesse«  von  Seb.Bach,  dieArbeit  eines  Protestanten. 
Die  Abkehr  von  der  katholischen  Kirche  bedeutete  keines- 
wegs überall  die  Abschaffung  der  Me9se  im  allgemeinen,  der 
Figuralmesse  insbesondere.  Sie  wird  in  England,  wie  die 
(neugedruckte)  sechsstimmige  Messe  von  Chr.  Tye  beweist, 
noch  das  ganze  4  6.  Jahrhundert  weiter  gepflegt,  noch  viel 
länger  behauptet  sie  sich  im  evangelischen  Deutschland. 
Nur  halten  es  schon  im  4  7.  Jahrhundert  die  einzelnen  Länder 
und  Orte  sehr  verschieden  mit  ihr.  Sie  ist  da  bei  Med  er, 
bei  H.  Prätorius,  bei  Scheidt  und  Hammerschmidt  . 
noch  mit  Kompositionen  des  ganzen  Textes,  bei  Stob  aus, 
Schein,  Schütz,  Sebastiani  gar  nicht  oder  nur  mit 
Bruchstücken  vertreten.  Im  4  8.  Jahrhundert  weicht  sie  dann 
der  Kantate,  die  zur  eigentlichen  »Kirchenmusikc  wird,  immer 
mehr.  Da  ist's  um  so  merkwürdiger,  daß  diese  Bachsche 
Messe  die  ganze  Gattung  so  unvergleichlich  überragt. 

In  der  Hauptsache  hält  sich  auch  die  Bachsche  Hmoll-  s.  Baoh, 
oder  Hohe  Messe  an  die  bekannten  fünf  Abteilungen,  an  H  moll-Mess. 
das  sogenannte  Ordinarium  des  Hochamts.  Was  sie  aber  von 
allen  bekannten  Kompositionen  des  uralten  Kirchentextes 
unterscheidet,  das  ist  die  kolossale  Breite  in  der  Anlage 
fast  aller  Abteilungen,  welche  mit  den  in  der  Vokalmesse 
üblichen  Maßen  jeden  Vergleich  ausschließt  und  auch  alles 
das  weit  hinter  sich  läßt,  was  die  sich  schon  mehr  aus'brei- 
tenden  neapolitanischen  Vertreter  der  Instrumentalmesse 
geboten  haben.  An  die  praktische  Verwendung  bei  der  Litur- 
gie, welche  die  letzteren  doch  immer  im  Auge  hatten,  ist 
bei  dieser  H moll-Mess e  gar  nicht  zu  denken.  Eine  oder  zwei 
ihrer  Abteilungen  an  einem  Sonntage,  wie  sie  Bach  tatsäch- 
lich auch  in  Leipzig  zu  Gehör  brachte,  nehmen  die  musi- 
kalische Tragfähigkeit  eines  Gottesdienstes  schon  vollständig 
in  Anspruch.  Die  Form,  welche  Bach  bei  der  Komposition 
der  einzelnen  Sätze  dieser  Messe   zugrunde  legte,   war 


— ^      486      ^ — 

die  ihm  geläufige  der  aus  Solo-  und  Chorgesängen 
zusammengesetzten  Kantate.  Aber  jede  der  einzelnen 
Abteilungen  wurde  ihm  zu  einer  Kantate  im  Riesenfor- 
mat. Das  Gloria  und  Credo  mit  ihren  je  acht  Nummern 
übersteigen  alle  bekannten  Kantatenverhältnisse.  Ganz 
kurze  Textgruppen,  oft  bloße  Nebensätze,  sind  hier  zu 
selbständigen  und  abgeschlossenen  Tonbildem  entwickelt: 
zu  Sologesängen  in  ausgeführter  Arienform  oder  zu 
Chören,  die  ihre  Themata  wiederholt  durchfugieren.  In 
keinem  andern  Werke  hat  Bach  wieder  so  sich  selbst 
zur  Lust,  aller  praktischen  Rücksichten  ledig,  für  die 
Kirche  komponiert:  In  der  Erschöpfung  der  musikalischen 
Grundgedanken  kann  er  sich  zuweilen  gar  nicht  Genüse 
tun.  Wenn  wir  glauben,  nun  sei  er  der  ganzen  Aus- 
drucksfähigkeit der  Worte  bis  in  ihre  letzten  Spitzen  und 
Tiefen  nachgegangen,  da  nimmt  er  sie  frisch  weg  von 
einer  andern  ^eite  und  entwirft  ein  neues,  ergänzendes 
und  packendes  Bild,  welches  in  der  Regel  als  ein  Meister- 
stück von  Fantasie  und  Kunst  das  vorangegangene  noch 
überbietet 

Die  naheliegende  Vermutung,  daß  Bach  mit  dieser 
Messe  etwas  Außerordentliches  habe  leisten  wollen,  wird 
durch  ihre  Entstehungsgeschichte  bestätigt.  Er  schrieb 
zunächst  i.  J.  4  783  Kyrie  und  Gloria  und  überreichte 
sie  dem  Kurfürsten  in  Dresden  mit  der  Bitte,  ihni,  der 
»in  Leipzig  beim  Direktorium  der  Musik  ein  und  andre 
Bekränkung  empfinden  müssen«  —  wie  es  im  Dedikations- 
schreiben  heißt  —  »ein  Prädikat  von  Dero  Hofkapelle 
konferieren  zu  wollen«.  Das  »Prädikat«  eines  Hofkompo- 
siteurs ließ  drei  Jahre  auf  sich  warten.  Bis  4738  wurden 
dann  die  andern  Sätze  vollendet  und,  mit  Ausnahme  des 
Agnus  Dei,  in  dem  grandiosen  Stile  der  ersten  beiden 
Abteilungen  weitergeführt. 

Neben  der  breiten  Anlage,  welche  die  HmoU-Messe 
ganz  ungewöhnlich  erscheinen  läßt,  ist  es  eine  zweite 
Eigenschaft,  welche  die  HmoU-Messe  so  bedeutend  und 
ergreifend  macht.  Das  ist  die  eindringliche  und  anschau- 
liche Beredtsamkeit  ihrer  Tonsprache,  welche  in  erster 


— ^      187     * — 

Linie  auf  der  glücklichen  Gestaltung  der  Grundthemen  der 
Sätze  beruht.  Auch  wer  vom  Texte  keine  Notiz  nimmt, 
kann  nicht  mißverstehen,  was  die  Seufzerketten  des  ersten 
Kyrie,  was  der  friedliche  uhd  kindUche  Weihnachtston  des 
>Et  in  terra  pax€,  was  der  Jubel  des  »Gloria  in  excelsis 
Deo€,  des  »cum  sancto  spiritu«,  des  »Et  resurrexit«, 
des  zweiten  »Et  vitam  venturi  saeculi«  und  des  »Pleni 
sunt  coeli«  sagen  wollen.  Das  sind  Musikstücke,  welche 
bei  all  ihrer  kunstreichen  Ausführung  einen  vollständig 
volkstümlichen  Zuschnitt  besitzen,  und  in  Orten,  wo,  wie 
in  Leipzig,  die  HmoU-Messe  eingedrungen  ist,  haben  diese 
Chöre  auch  ihre  populäre  Kraft  drastisch  bewiesen.  Aber 
auch  die  Arien  und  Duette  mit  ihren  breiten,  herzlichen 
und  naiven  Melodien  teilen  diesen  Zug  edler  Gemein- 
verständlichkeit selbst  in  Fällen,  wo  sie,  wie  in  »Domine^ 
rex  coelesiis«  im  »Et  in  unum«  ausgesucht  tiefsinnig 
gestaltet  sind.  Wenn  er  an  ihnen  schwerer  heraus- 
gefunden wird,  so  liegt  das  in  der  Regel  an  der  mangel- 
haften Ausführung,  insbesondere  des  ohne  eine  gute  Orgel- 
stimme oft  verwirrenden  Akkompagnements.  Wieviel  hier 
die  Praxis  noch  zu  lernen  hat,  zeigen  die  platten  undx 
miserablen  Bearbeitungen,  in  welchen  einzelne  der  vor- 
handenen Klavier auszüge  der  HmoU-Messe  die  von  Bach 
nur  skizzierte  Begleitung  der  bekanhten  Arien:  »Benedic- 
tus€  und  »Agnus  Deic  wiedergeben.  Sogar  an  durchaus 
falschen  Harmonien  fehlt  es  da  nicht. 

Der  häßliche  Begriff  der  »gelehrten  Musik«  —  wenn 
überhaupt  jemals  bei  Bach  zutreffend  —  ist  auf  diese 
Hohe  Messe  nirgends  anzuwenden.  Wohl  aber  verlangt 
das  Werk,  wie  alle  Musik,  in  der  große  Strecken  aus 
demselben  Grundgedanken  entwickelt  sind,  eine  gewisse 
Fertigkeit  im  Hören.  Doch  beschränkt  sich  diese  Fertig- 
keit auf  ein  Geringes:  darauf,  daß  man  ein  Thema  merken 
und  verfolgen  kann,  und  diese  Aufgabe  wird  durch  den 
packenden  und  verständlichen  Charakter  der  Themen  selbst 
wesentlich  erleichtert. 

Den  Zusammenhang  und  die  Einheitlichkeit  der 
24  Nummern,  in  die  wir  die  Hmoll-Messe  teilen,  hat  Bach 


188 


; 


im  Sinn  und  Brauch  seiner  Zeit  nicht  äußerlich  markiert, 
etwa  so,  wie  es  die  Meister  der  Vokalperiode  mit  dem 
durchgehenden  Cantus  firmus,  neuere  Tonsetzer  durch 
Anwendung  von  Leitmotiven  versucht  haben.  Wer  aher 
dem  Gedankengang  genauer  folgt,  wird  das  Bund,  das 
sich  durch  das  Innere  der  Sätze  durchzieht,  wohl  finden. 
Nur  ist  es  unbedingt  nötig,  daß  der  Vortrag  Nummern, 
die  zu  derselben  Abteilung  gehören,  nicht  durch  Pausen 
auseinanderreißt. 

Die  erste  Abteilung,  das  Kyrie,  besteht  aus  drei 
Nummern,  von  denen  die  eröte  und  dritte  Ghorfugen  sind 
über  den  Text:  »Kyrie  eleison«.  Vor  dem  Anfang  des  ersten 
Chors  stehen  vier  Takte  Adagio :  eine  lapidare  Überschrift, 
aus  welcher  der  Hilferuf  zum  Herrn  wie  der  Notschrei 
eines  schwerbelasteten  Volkes  klingt.  Dann  beginnt  zu- 
nächst im  Orchester  das  sprechende  Thema: 


Laxgo  ed  an  poco  piano.  .^..«^ 

f tti^ttiImi  nr rrrr 


,  eine  Klageszene  einzuleiten,  deren  gewaltige  Anlage  in 
der  gesamten  musikalischen  Literatur  nur  wenige  Seiten- 
stücke hat:  Der  Introitus  der  Matthäuspassion,  der 
Einleitungschor  zu  Händeis  Israel  *sind  verwandte 
Leistungen.  Was  das  Bachsche  Bild  schwerster  Seelen- 
betrübnis so  eigentümlich  macht,  das  ist  der  durchaus 
aktive  Zug,  in  der  sie  der  Komponist  aufgefaßt  und  dar- 
gestellt hat:  das  mühsame  und  verzweifelte  Ringen  und 
Aufraffen,  welches  die  in  kleinen  chromatischen  Schritten 
aufsteigenden  und  mit  den  Seufzern  der  Oboenarie  der 
Matthäuspassion  zurückfallenden  Urmotive  des  Themas 
schon  andeuten.  Dieses  Verhältnis  wiederholen  die  Satz- 
gruppen der  riesigen  Fuge  nur  in  größeren  Proportionen. 
Der  unaufhaltsame  Zug,  mit  dem  die  Klage  zum  Aus- 
druck dringt,  findet  erst  nach  einer  doppelten  Durch- 
führung des  Themas  in  den  fünf  Stimmen  seinen  Halt 
in  einem  großen  Cis  moU-Schluß.  Er  führt  zu  einer  in  der 
Stimmung  heller  beginnenden  Episode  über  das  Thema: 


<89 


fl  t„  rT-  .  ■  "T^  ^^®  jedoch  schon  bald  wieder, 
*  'ff  p  8J},.r  ^J  I  EJ/  f  '  nach  einer  aufregenden  Be- 
5 .  w  -  T  -  .-  »in.  gegnung  mit  dem  chromati- 
schen Motiv  des  Hauptthemas,  in  das  letztere  zurücklenkt. 
Mit  Tönen  der  Resignation  endet  der  Satz.  Da  seine  zweite 
Hälfte  im  wesentlichen  nur  Wiederholung  der  ersten  ist, 
empfiehlt  es  sich,  diese  nur  solistisch  zu  besetzen  und  den 
vollen  Chor  der  Stimmen  und  Instrumente  auf  jene  aufzu- 
sparen. Durch  einen  ähnlichen  Wechsel  gewinnen  auch 
andere  Chöre  außerardentlich,  z.  B.  Anfang  und  Schluß- 
satz des  Gloria.  Der  zweite  Chor  der  ersten  Abteilung 
über  denselben  Text  > Kyrie  eleison«  und  über  das  Thema: 


Andante 


Ky  .  ri   .  .  e,        a    .    lei 


.    soa,    « 


bi     .     «on, 


klingt  trotz  der  kleinlauten  verminderten  Terz  im  Einsatz 

doch  ruhiger  und  ge-  

faßter   und   wirft   na-  tw,»*  t    ß  .tV>  ^  ^h#T^  . 
mentlichandenSteUen,  ^ V' ^    T  [V  f  T  ^  T Vf  r  |  f 
wo    das   Nebenthema:  kt-'^^^  ••     *  -^  w  -      -  «o». 

die  Führung  hat,  einige  hoffnungsvollere  Blicke  in  die 
Zukunfl.  Die  Vermittlung  zwischen  den  beiden  Chören 
bildet  das  >Christe  eleison«,  ein  Duett  zwischen  Sopran 
und  Alt,  dem  Bach  den  zutraulichen,  der  Erhörung 
gewissen  Ton  gegeben  hat,  in  welchem  Kinder  sich 
von  einem  lieben  Freunde  etwas  Besonderes  erbitten. 
Von  hervorragender  Schönheit  ist  in  dieser  Nummer 
auch  die  lange  Melodie,  welche  Bach  den  einleitenden 
und  zwischenspielenden  Violinen  (I  und  l\  im  unisono) 
gegeben  hat. 

Die  erste  der  acht  Nummern  des  Gloria  ist  einer  der 
freudevollsten  Chöre,  die  wir  haben.  Er  beginnt  unter 
Trompetengeschmetter,  wie  eine  schwungvolle  Volksszene 
über  das  Thema: 

Vivace. 


|i'"iiLJir.im;ii'i  !\^^^^u 


190 


^       ^     welches  Bach  auch  in  anderen  Werken, 

lCüiX£/  11^     ^'  ^*    ^™    Gloria    seiner   kleinen  Fdur- 

Mosse,  anklingen  läßt.  Der  Chor  endigt 
mit  einer  Doppelfuge,  in  welcher  das  beschauliche, 
friedlich  dahinglei-  AUegro  moderato.  und  das 

tende,    bei   seinem    f  »n     |^>^  TiH  n._n  Tl  J  anf- 

ersten Einsatz  un-  1!P^""OT!f  '''ü  CJ    T  —  jauch- 
endlich    rührende:  ^      ^       ter.»»  p«x.       zende 


sinnreich  und  wirkungsvoll  ineinander  gewoben  sind. 
Darauf  folgt  in  einer  Sopranarie  das  »Laudamus  tec  — 
eine  musikalische  Naturstudie,  zu  welcher  Vogelgesang 
das  Modell  gegeben  zu  haben  scheint.  Nach  einer  Rich- 
tung kann  sie  als  Typus  für  die  meisten  Sologesänge  der 
Hmoil-Messe  dienen.  Sie  haben  in  der  Mehrzahl  etwas 
Idyllisches  und  erscheinen  den  Chören  gegenüber,  zwi- 
schen welche  sie  gesetzt  sind,  mit  Spitta  zu  reden,  wie 
die  freundlichen  Täler  im  Hochgebirge.  Der  an  die  Arie 
anknüpfende  Chor:  >Gratias  agimusc  weicht  von  dem 
Stile,  in  welchem  diese  Worte  in  der  Instrumentalmesse  üb- 
licher Weise  wiedergegeben  werden,  merkbar  ab.  Von  den 
Zeitgenossen  leicht  und  anmutig  behandelt,  trägt  der  Satz 
bei  Bach  einen  zurückhaltenderen,  ernsteren  Charakter 
frommer  Demut.  Wir  haben  Anzeichen  dafür,  daß  gerade 
dieses  Stück,  welches  auch  die  HmoU-Messe  auf  die  Worte 
des  »Dona  nobis  pacem«  abschließt,  dem  Komponisten  be- 
sonders lieb  war.  Die  vierte  Nummer  des  Gloria  ist  das 
Duett:  (Sopran  und  Tenor)  >Domine,  rex  coelestis,  domine, 
Uli  unigenite!«    Ein  lieb-         Apdante^ 

HchesFlötensolomitdem  /*  (^t^frf}r^rt\f^ 
bedeutungsvollen  Motiv:  ff  "**■.'  y^kd  UM  ' '  ^r" 
einsetzend,  führt  den  Chor  der  Instrumente;  die  Sing- 
stimmen tragen  dicht  hintereinander  dieselbe  Melodie 
(im  Kanon)  vor.  Der  Begriff  der  Einheit  von  Gott  Vater 
und  Gott  Sohn,  den  die  Worte  >fili  unigenitec  enthal- 
ten, hat  ersichtlich  zu  dieser  niederländischen  Form  des 


Gesangsatzes  die  Veranlassung  gegeben.  Von  Kennern  ist. 
es  bereits  häufig  bemerkt  worden,  daß  gerade  die  Hmoll- 
Messe  von  Bach  an  ähnlichen  Zügen  musikalischer  Sym- 
bolik reich  ist.  Einen  der  schärfsten  bringt  das  Credo 
in  dem  Duett:  »Et  in  unum«.  Der  hier  im  Gloria  zur 
Rede  stehende  Zweigesang:  »Domine,  rex  usw.«  besteht 
im  Text  nur  aus  Titulaturen.  Zum  Satze  ergänzt  werden 
sie  erst  durch  den  unmittelbar  anschließenden  Chor:  »Qui 
toUis  peccata  mundi«,  welcher  in  tiefer  Ergriffenheit  über 
den  Versöhnungstod  Christi,  die  Bitte  um  Erbarmen  aus- 
spricht Das  ist  eins  der  Hauptbeispiele,  wo  der  nummer- 
weise trennende  Vortrag  alter  Musik  zum  schweren  Ver- 
gehen wird.  DieNummerierung  gilt  nur  für  das  Einstudieren. 
Das  Duett:  »Domine«  (No.  7)  wird  erst  durch  den  Chor 
»Qui  toUis«  (No.  8)  zu  einem  Ganzen.  Die  Altarie:  »Qui 
sedes  ad  dexteram  Patris«  und  die  Baßarie:  »Quoniam« 
setzen  die  Darstellung  des  Wesens  Christi  fort.  Die  erstere, 
im  Klange  durch  die  obligate  Oboe  besonders  gezeichnet, 
legt  ded  Nachdruck  mehr  auf  eine  rüstig  freudige  Schil- 
derung der  Würde  des  zur  Rechten  des  Vaters  sitzenden 
Christus,  als  auf  die  Bitte.  Das  »Miserere  nöbis«  wird  mehr 
nebensächlich  behandelt.  Da  muß  der  Vortrag  nachhelfen. 
In  der  Baßarie,  welcher  Bach  durch  das  durchgeführte  Hom- 
solo  und  die  mitgehenden  obligaten  Fagotte  ebenfalls  einen 
eigentümlichen  Beiklang  gegeben  hat,  ist  ein  stolzer  Zug 
unverkennbar.  Sie  ist  das  feierlichere  Seitenstück  zu  der 
bekannten  Arie  des  Weihnachtsoratoriums:  »Großer  Gott 
und  starker  König«,  setzt  aber  für  ihre  Wirkung  noch 
entschiedener  als  diese  eine  schwere,  in  der  Mittellage 
namentlich  mächtige  und  volle  Baßstimme  voraus.  Auch 
das  Akkompagnement  der  Blasinstrumente  macht  diese 
Arie  zu  einem  Stück  schwerer  Sorge  für  den  Dirigenten. 
Ohne  eine  gute  ergänzende  Orgelstimme  wird  es  immer 
befremdend,  unverständlich  bleiben.  Wer  den  Charakter 
der  Musik  in  den  drei  letztgenannten  Sätzen  auf  sein  Ver- 
hältnis zu  den  Textworten  prüft,  wird  mit  Bewunderung 
gewahren,  wie  diese  Nummern  doch  und  mit  größter 
Feinheit  in  dem  Hinblick  auf  den  Zusammenhang  unter- 


— *     i9t      <^ — 

einander  und  als  Teile  einer  größeren  Gruppe  von  Sätzen 
entworfen  sind.  Das  schließende  Glied  bringt  Gipfel  und 
Krone.  Diesen  Abschluß  der  Gruppe  und  zugleich  auch 
des  ganzen  Gloria  bildet  der  fünfstimmige  Chor:  »Cum 
sancto  spiritu«,  einer  der  mächtigsten  und  schwungvoll- 
sten Sätze  der  ganzen  Messe:  jauchzend,  lachend  und 
zugleich  erhaben;  überaus  kunstvoll  und  doch  auch 
vöUig  gemeinverständhch  und  fortreißend.  Nach  einer 
präludierenden,  die  späteren  Hauptmotive,  jetzt  aus  dem 
Granit  schwerer  Akkordmassen,  jetzt  aus  den  mächtigen 
Fluten  mehrstimmiger  Figuren  auftauchen  lassenden  Ein- 
leitung  lenkt    der    Satz   mit    dem    Einsatz    der   Tenöre 

Vivace .  ,  _^ 


if'i"  ^  "'iiifl  püpip^.rM'lffrfrrn 


Cum  Mn.cto-    ipi  .        .   ri .  tn  In      glo 

in  die  Form  der  Fuge  ein. 

Er  wahrt   aber   innerhalb 

UA  ft-trit»   A  .  meni      derselben    die   Freiheit  in 

ganz  außerordentlicher  Weise.  Wenn  das  Motiv  a  über 
die  Tonmassen  hinwegjauchzt,  wenn  mit  dem  anderen  (b) 
die  Stimmen  in  die  höchsten  Regionen  steigen,  nimmt 
der  Satz  den  Charakter  einer  übermütig  kräftigen  und 
grandiosen,  zwanglosen  Freude  an.  Niemand  denkt  hier 
an  musikalische  Form  und  an  die  Strenge  des  Stils  aber 
auch  niemand  an  die  bloße  Möglichkeit  Bach  für  den 
Pietismus  in  Anspruch  zu  nehmen. 

In  den  Vokalmessen  und  auch  in  den  meisten  Instrumen- 
talmessen wird  die  Anfangszeile  vom  Gloria  und  vom  Credo 
dem  Liturgen  am  Altar  allein  überlassen;  der  Chor  setzt 
in  dem  ers.ten  Satz  mit  >Et  in  terra«,  in  dem  andern  mit 
>Patrem«  ein.  Bach  hat  diese  liturgische  Intonation  mit  in 
den  Kunstsatz  hineingezogen  und  beide  Male  dem  Chor 
übergeben,  — beim  Credo  aber  in  einer  sehr  eignen  Weise; 
denn  das  Thema,  welches  zu  den  Worten  »Credo  in  unum 
deum«  gesetzt  ist,  stammt  aus  dem  Gregorianischen 
Choral.  Es  hat  namentUch  in  dem  breiten  Rhythmus, 
welchen  ihm  Bach  gegeben  hat,  einen  sehr  ehrwürdigen, 


— ^      <93     ^— 

altertümlichen  Charakter,  der  durch  die  strenge  Art  der 
Durchführung,  an  welcher  sich  außer  den  fünf  Sing- 
stimmen auch  noch  die  beiden  Violinen  beteiligen,  noch 
erhöht  wird.  Das  Gewebe  dieses  Satzes  ist  nach  nieder- 
ländischem Rezept  mit  einigen  Kunststücken;  Ver- 
längerungen, und  mehrfachen  Engführungen  des  Themas, 
versehen.  Der  Instrumentalbaß  pendelt  in  unveränderten 
gleichmäßigen  Schlägen  darunter  hin.  Die  starre  Feier- 
lichkeit des  Satzes  will  daran  erinnern,  wie  das  Bekennt- 
nis seit  ewigen  Zeiten  gilt  und  weiter  gelten  soll.  In  einem 
unmittelbar  anschließenden  Chore,  der  in  rüstigen,  ent- 
schiedenen Rhythmen  einsetzt,  nimmt  Bach  die  Worte 
> Credo  in  unum  deum«  noch  einmal  auf,  bringt  die 
Fortsetzung  >Patrem  usw.«  gleich  mit  und  feiert  den 
Schöpfer  Himmels  und  der  Erden  mit  der  vollen  Freudig- 
keit, welche  das  gläubige  Bekenntnis  einem  echt  christ- 
lichen Herzen  gibt.  Hieran  schließt  sich  das  bereits  er- 
wähnte Duett:  »Et  in  unum«.  Die  Symbolik  des  »unum« 
gibt  Bach   da-  Andante.  zwischen  Bläsern  (stac- 

mit  wieder,  daß  •£  ^  j  f  })  S^  cato)  und  Geigern  (le- 
er das  Motiv  *?  gato)  und  zwischen 
beiden  Duettstimmen  (Sopran  und  Alt)  in  der  denkbar 
engsten  Nachahmung,  nämlich  in  der  Entfernung  eines 
einzigen  Viertels,  abwechseln  läßt?  Auch  andere  Teile 
der  Gesangthemen  werden  in  Imitationen  durchgeführt. 
Zuweilen  treten  die  Singstimmen  zusammen  und  Hand 
in  Hand  den  Instrumenten  gegenüber.  Am  Schluß  der 
sehr  sinnreichen  Nummer,  bei  den  Worten  »descen- 
dit  de  coelis«  legen  sich  überraschende  Schatten .  über 
die  Harmonien  und  bereiten  die  Mystik  der  folgenden 
Nummer  vor,  d.  i.  des  Chors:  »Et  incarnatus  est«. 
Dieser,  in  welchem  die  Menschwerdung  Christi  geschil- 
dert wird,  gehört  mit  dem  »Qui  tollis«  des  Gloria  und 
mit  dem  unmittelbar  folgenden  »Crucifixus«  zu  den  ein- 
fachsten Chören  der  Messe,  was  den  Stil  betrifft:  vor- 
wiegend Deklamation,  aus  der  kleine  Melodiebiegungeu 
herausragen,  in  den  Singstimmen;  das  Orchester  bildet 
einen  Schleier  darüber,  der  aus  einer  in  Dissonanzen 
II,  4.  4  3 


« 

schillernden  und  immer  nach  der  Tiefe  suchenden  Figur 
gewoben  ist:  Alle  vier  Takte  Periodenschluß!  Aber  was 
für  ein  Reichtum  an  Ausdruck  und  Stimmung  unter  die- 
ser einfachen  Hülle!  Alles,  was  der  Gegenstand  einer 
tiefen  Seele  entlocken  kann,  das  ist  in  diesem  kurzen 
Stücke  zusammengedrängt  und  verschmolzen.  Und  nun 
folgt  der  vielleicht  bewundernswerteste  Satz  der  Hmoll- 
Messe,  das  »Crucifixus«.    Starr  —  das  kurze  Baßthema 

Largo. 

von  Bach  auch  in  anderen  Werken  gebraucht,  bei  ande- 
ren Komponisten  in  der  chromatischen  Zeit  um  4  600  bis 
1650  ebenfalls  sehr  beliebt,  kehrt  dreizehnmal  wieder  — 
das  Auge  auf  das  halbverschleierte  Bild  des  Gekreuzigten 
gerichtet,  klagt  der  Chor  in  Wendungen,  welche  das  Un- 
erhörte fühlen  lassen,  ohne  die  Leidenschaft  zu  streifen, 
welche  Schmerz  und  tiefe  Trauer  in  die  edle  Form  eines 
Gebets  fassen.  Am  Schlüsse  stirbt  der  Gesang,  der  sich 
erst  allmählich  aus  der  Vorstufe  von  einzelnen  Inter- 
jektionen entwickelt  hat,  wieder  hin;  der  Mund  versagt: 
unhörbares  pia-  ywace  .^-— r**^ 

^ SrLt  i'"i  'i'i  iiriiMi 

über  die  Worte:  »Et  resurr exit  tertia  diec  im  hellsten 
Glänze  von  vollem  Chor  und  Orchester.  Es  ist  der 
schärfste  Gegensatz,  der  sich  denken  läßt,  um  Charfrei- 
tag  und  Ostern  zu  sondern.  Die  Auferstehung  wird  hier 
in  einem  Chore  gefeiert,  welcher  reinste  Volksmusik  ge- 
nannt werden  kann  und  dessen  Freudigkeit,  in  der  Triole 
gehörig  gekennzeichnet,  die  Ausgelassenheit  zuweilen 
berührt.  Auch  in  der  Instrumentation  sind  Elemente, 
deren  populäre  Herkunft  sich  nachweisen  läßt,  —  so 
das  durch  LuUy  aus  der  alten  französischen  Instru- 
mentalmusik in  die  Oper  gebrachte  Trio  von  Flöten, 
Hoboen  und  Violinen  (letztere  als  Baß),  welches  Bach 
den  Ritornellen  dieses  Satzes  wiederholt  auf  einen  flüch- 
tigen Augenblick  einschaltet.     Der  naive  Zug,  welcher 


<95 

der  kirchlichen  Kunst  der  Bachschen  Zeit  eigen  war,  in 
welchen"  sich  aber  Bach  wie  auch  Händel  von  den 
Neapolitanern  dadurch  unterscheidet,  daß  er  nie  ge- 
wöhnhch  wird,  —  dieser  Zug  kommt  in  der  Schluß* 
nummer  des  Credo  noch  einmal  und  zwar  nach  einem 
ganz  ähnlichen  Plane,  wie  er  hier  zwischen  »Crucifixus« 
und  dem  »Et  resurrexit«;  vorher  zwischen  den  beiden 
Credosätzen  besteht,  zum  Ausdruck.  £s  handelt  sich  bei 
diesem  Schlüsse  um  die  Worte:  »Et  e^specto  vitam  ven- 
turi  saeculi«,  welche  Bach  zuerst  von  dem  Standpunkte 
des  vor  dem  Tode  bangenden  Menschen  in  einem  schwer- 
mütigen, thematisch  strengen  Adagio  behandelt  Dann 
aber  nimmt  er  sie  als  der  gläubige  Christ,  der  den  Freu- 
den des  besseren  Lebens  entgegengeht,  in  einem  über- 
wältigenden zuversichtlichen  Vivace  auf.  Zwischen  diesen 
beiden  Hauptchören,  dem  »Et  resurrexit«  und  dem  »Et 
exspecto«  steht  die  Baßarie:  »Et  in  spiritum  sanctum«, 
welche  in  kindlich  glücklichen  Melodien  schwelgt.  —  Beim 
Sanctus  rollt  uns  eine  Tonflut  entgegen,  die  man  sich 
kaum  erklären  kann.  Die  Tonsetzer  des  4  8.  Jahrhunderts 
verstanden  durch  rhythmische  Mischungen  und  andere 
einfache  Mittel  dem  Chorsatze  Wirkungen  zu  entlocken, 
welche  heute  nicht  so  zur  Hand  liegen.  Bei  dem  Ent- 
würfe der  Stimmenverteilung  mag  auch  Bach  die  Stelle 
aus  dem  Jesaias  vorgeschwebt  haben,  in  der  es  von  dem 
Seraphim  heißt:  »Und  einer  rief  zum  andern«.  Selig 
dahinschwebend  tragen  die  Gruppen  einander  das  »Sanc- 
tus« entgegen,  um  sich  dann  auf  langen,  prächtigen  und 
glänzenden  Vollklängen  zu  vereinen.  Dieselbe  Grundidee 
hat  Bach  auch  in  dem  »Pleni  sunt«  und  dem  »Osanna« 
festgehalten.  Letzteres  ist  ein  sehr  stattlicher,  nicht 
gerade  kirchlich,  aber  festlich  wirksamer  Doppelchor,  In 
dem  vollen  Glänze  des  »Pleni«  bilden  kleine,  für  die  Auf- 
führung sehr  heikle,  dreistimmige  Sätzchen,  die  über  die 
Sechzehntelmotive  des  Hauptthemas  dahintrillem,  freund* 
*•  liehe  Idyllen.  Das  »Benedictus«,  eine  Tenorarie,  deren 
poetische  Begründung  weniger  in  der  Singstimme  als  in 
den  dieselbe  umschwebenden,  zarten  und  hohen  Klängen 

43* 


— ^     496      ^-T 

der  Soloviolme  zu  suchen  ist,  steht,  abweichend,  nach 
dem  >Osanna«.  Bach  grappierte  überhaupt  die  Schluß- 
teile der  Messe  vollständig  gegen  den  kathoHschen  Brauch. 
Aus  >Sanctus«  und  »Pleni«  bildete  er  eine  Gruppe;  ihre 
Musik  wurde  zur  Einleitung  der  Abendmahlsfeier  ver- 
wendet, ^u  eigentUcher  Abendmahlsmusik  benutzte  er 
die  folgenden  Sätze,  stellte  aber  das  >Osanna«  an  die 
Spitze  dieser  Gruppe,  weil  es  den  freudig  danksagenden 
Charakter,  welcher  der  letzteren  nach  ihrem  liturgischen 
Zwecke  eigen  sein  sollte,  entschiedencfr  hinstellt,'  als  das 
»Benedictus«.  Die  Altarie,  in  welcher  Bach  das  ganze 
Agnus  dei  wiedergibt,  ist  eins  der  klassischen  Zeug- 
nisse für  die  Möglichkeit,  daß  auch  in  den  Formen  der 
neuen  Musik  dem  reinen  Geist  der  alten  Messe  Gerechtig- 
keit widerfahren  kann.  Bach  hat  diese  Möglichkeit  durch- 
schnittlich in  allen  Nummern  seiner  »Hohen  Messe c  be- 
wiesen; unter  denjenigen,  welche  sich  in  dieser  Hinsicht 
noch  besonders  auszeichnen,  ist  aber  das  Agnus  dei 
eine  der  ersten.  Erfreulicherweise  ist  diese  Arie  auch 
ein  populärer  Sologesang  geworden  und  dies  trotz  des 
schweren  Stils,  in  welchem  in  ihr,  ebenso  wie  in  den 
anderen  Sologesängen,  die  Singstimme  mit  den  Instru- 
menten zusammengekoppelt  ist  Den  Umstand,  aus  einer 
früheren  Komposition  für  die  Verwendung  in  der  Messe 
umgearbeitet  zu  sein,  teilt  das  Agnus  mit  einer  Reihe 
der  hervorragendsten  Partien  des  )Yerkes:  mit  dem  >Gra- 
tias  agimus«,  dem  »Qui  tollis«,  dem  zweiten  >  Credo  c,  dem 
»Crucifixusc  und  dem  »Osanna«. 

Bach  hat  seine  Hmoll-Messe  stückweise  doch  beim 
Leipziger  Gottesdienste  verwendet.  Daß  das  Werk  in  der 
Dresdner  Hofkapelle  oder  sonstwo  in  einer  katholischen 
Kirche  aufgeführt  worden  sei,  ist  nicht  anzunehmen. 
Trotzdem  war  sie  in  dem  Kreis  der  Bachschen  Schüler 
und  Enkelschüler  so  berühmt,  daß  im  Jahre  4818  zwei 
Verleger  zugleich  ihre  Veröffentlichung  ankündigen*). 
Erst  durch  die  Bachgesellschaft  ist  diese  Absicht  würdig 


")  Gesamtausgabe  der  Werke  S.Bachs,  46.  Jahrgang,  S.  XXIII, 


verwirklicht,  dem  praktischen  Musikhetrieh  aber  das  unver- 
gleichliche, durch  die  Macht  und  Universalität  der  religiösen 
Empfindung,  der  poetisch  künstlerischen  Durchführung  über 
Jahrhunderte  hinweg  leuchtende  Werk  schon  bald  nach  der 
neuen  Bekanntwerdung  der  Matthäuspassion  wiedergewon- 
nen worden.  Schelble  in  Frankfui^,  Mendelssohn,  nach  ihm 
Hauptmann  in  Leipzig,brachten  einzelne  Sätze  des  ungeheuer 
schwierigen  Werkes  zu  Gehör.  Vollständige  Aufführungen 
der  ganzen  Messe,  denen  die  Berliner  Singakademie  bereits 
1 835  die  Bahn  zu  brechen  suchte,  haben  sich  in  den  letzten 
Menschenaltern  eingebürgert.  Neben  dem  Berhner  Institut 
hat  daran  der  Leipziger  Riedelverein  ein  Hauptverdienst. 
Auch  neben  und  nach  S.Bach  haben  protestantische  Ton- 
setzer, wie  der  ältre Fas ch ,  wie  S  t ölz el ,  wie  derMeininger 
Ludwig  Bach,  von  dem  heute  vor  hundert  Jahren  eine 
zweichörige  Messe  als  Sebastians  Werk  galt*),  das  Ordinarium 
einmal  öder  vielmals  durchkomponiert.  Es  wird  aber  immer 
seltener.  Einzelne  Teile  desselben  dagegen  sind  auch  von 
Protestanten  noch  sehr  oft  und  sehr  lange  in  Musik  gesetzt 
worden.  Ein  solches  berühmtes  Bruchstück  war  das  zwei- 
chörige »Sanctus«  des  Hamburger  Ph.  Em.  Bach**).  In 
Sachsen  und  Thüringen,  dem  alten  Stammgebiet  der  Kanto- 
reien, erhielt  sich  der  Brauch  wenigstens  an  Festtagen,  außer 
der  gewöhnlichen,  vor  das  Hauptlied  gestellten  Kirchenmusik 
auch  noch  Kyrie  und  Gloria>solemniterc  aufzuführen,  bis  über 
die  Mitte  des  4  9.  Jahrhunderts  und  bis  in  die  kleineren  Städte. 
Die  beiden  Sätze  nannte  man  »KleineMesse«  oder  die  >Mis  s  a 
b  r  e  vi  s«.  Solche  protestantische  Missae  breves  sind  hand- 
schriftlich noch  in  Menge  vorhanden.  Im  Neudruck  hegt  aus 
dem  i  7.  Jahrhundert  eine  sehr  schwache  von  R.  A  h  1  e  **♦)  und 
eine  weit  gehaltvollere  von  F.W.  Zachowf)  vor;  für  das 


♦)  B.  W.,  Ebenda. 
**)  Mit    deutschem  Text   in   der  Sammlung   Ton  Rochlitz 
Teröffentllchtr 

»♦♦)  Denkmäler  Deutscher  Tonkunst,  Bd.  V. 
f)  Ebenda.    Bd.  XXH.    Ihre  beiden  Sätze  ftind  über  den 
Choral:  »Christ  lag  in  Todesbandenc  gearbeitet. 


4  8.  Jahrhundert  ist  die  Gattung  durch  vier  Kompositionen 
S.  Bachs  vertreten.  Die  dem  Leipziger  Bedarf  gegenüber  ge- 
ringe Zahl  erklärt  sich  vielleicht  daraus,  daß  Bach  sich  für  ge- 
wöhnlich mit  fremden,  besonders  mit  italienischen  Komposi- 
tionen behalf.  Auch  mit  den  vier  eignen  kleinen  Messen  hat 
er  es  sich  leicht  gemacht,  zwei  setzt  er  gänzlich,  zwei 
zum  Teil  aus  älteren  Kantaten  zusammen.  Die  Ton- 
art«i  sind  Fdur,  Gdur,  GmoU  und  Adur,  die  Ent- 
stehungszeit liegt  in  der  Nähe  der  HmoU-Messe.  Der 
achte  Band  der  Bachgesellschaft  bringt  sie  zusammen;  die 
in  Gdur  und  Adur  sind  bereits  in. den  zwanziger  Jahren 
einzeln  bei  Simrock  veröffentlicht  worden.  Die  einzige 
von  ihnen,  welche  uns  häufiger  in  Kirchenkonzerten 
begegnet,  ist  die  in  Adur.  Von  besonderer  Bedeutung 
ist  ihr  »Christe  eleisonc  als  eines  der  ältesten  und  mächtig- 
sten Chorrezitative,  welche  wir  besitzen.  Annähernd 
originell  und  ungemein  zart,  rührend  wirken  in  dem  Chor- 
satze, welcher  das  Gloria  eröffnet,  die  das  brausende 
AUegro  unterbrechenden  langsamen  Episoden  (Adagio  3/4). 
Unter  der  sanften  Musik  zweier  Flöten  deklamieren  die 
Chorstimmen,  reihum,  in  jedem  Abschnitt  immer  nur 
eine.  Es  ist  nur  ein  spärliches  Singen  in  diesen  Stellen 
mehr  ein  verzücktes  und  ergriffenes  Lauschen  und  Auf- 
blicken. Kaum  wird  jemand  auf  die  Idee  kommen,  daß 
diese  Musik  nicht  zu  dem  Texte  entworfen  sei.  Und  doch 
ist  der  Satz  nur  eine  fast  wörtliche  Übertragung  aus  der 
Kantate:  >Halt  im  Gedächtnis  Jesum  Christ«,  in  welcher 
allerdings  die  originelle  Idee  Bachs  noch  ursprünglicher 
zum  Ausdruck  Jcommt.  Unter  den  Sätzen,  die  eigens 
für  die  Meßtexte  komponiert  sind,  ist  das  Kyrie  der 
Fdur-Messe  der  interessanteste.  Er  bildet  eine  Choral- 
fuge. Die  fugierenden  Stimmen  sind  Sopran,  Alt  und 
Tenor,  der  Baß  hat  sein  Thema  für  sieb:  die  Schluß- 
zeilen der  Litanei;  der  [Choral,  welcher  der  Fuge  (in 
Hörnern  und  Oboen)  gegenüber  gestellt  wird,  ist:  »Christe, 
du  Lamm  Gottes«.  Der  Gedanke,  das  evangelische  Kir- 
chenlied in  die  ^ößeren  Kunstformen  der  protestantischen 


499      ^ — 

Kirchenmusik  hereinzuziehen,  den  Bach  in  seinen  Kan- 
taten am  glänzendsten  durchgeführt  hat,  läßt  sich  in 
der  Messe  bis  auf  Hammerschmidt  zurückverfolgen.  Die 
Namen  der  Vertreter  dieser  Methode  wolle  man  in  Ghry- 
Sanders  >Händelc  und  Spittas  »Bache  nachlesen. 

Von  Bach  geht  das  heutige  Konzert  in  der  Auswahl 
der  aufgeführten  Messen  sogleich  zu  Beethoven  über. 
Und  es  tut  mit  diesem  Sprunge  recht.  Will  man  in 
Zukunft  auf  diesem  Gebiete  den  Kreis  der  Tonsetzer 
des  48.  Jahrhunderts  mehr  erweitern,  so  wird  das 
in  der  Hauptsache  nur  mit  Werken  geschehen  können, 
deren  Schöpfer  der  ersten  Hälfte  dieses  Zeitabschnittes 
angehören,  mit  kritisch  ausgewählten  Messen  von  Leo, 
Durante,  Pergolesi,  Perti  vielleicht.  Nach  4750  bilden 
Messen  in  einem  guten,"  heute  erträglichen  Stile  für 
längere  Zeit  nur  Ausnahmeerscheinungen.  Solche  finden 
sich  bei  F.  Tuma,  bei  Michael  Haydn,  dem  Bruder  F.  Tnma. 
des  Symphonienmeisters,  bei  J.  G.  Naumann.  Den  M.  Haydn« 
durch  0.  Schmidt  Wieder  zu  Ehren  gebrachten  Böhmen  J.  0.  Vanmann. 
F.  Tuma  zeichnet  Strenge  der  Arbeit  und  Ernst  in  den  Ge- 
danken, die  andren  beiden  vor  ihren  Zeitgenossen  das 
Maßhalten  in  der  Redefreiheit  der  Instrumente  aus. 
Den  Salzburger  noch  mehr  als  den  Dresdner,  welcher 
dem  herrschenden  Geschmack  in,  wenn  auch  kurzen  und 
meist  sinnvollen  Solls  der  Holzbläser,  vor  allem  der 
Flöten,  kleine  Opfer  bringt.  Auch  spiegelt  Naumann  in 
dem  weichen  Grundtone  seiner  Messen,  von  denen  die 
schöne  klargefbrmte  in  As  als  die  bedeutendste  gelten 
kann,  den  empfindsamen  Geist  des  48.  Jahrhunderts 
in  ähnlicher,  aber  reinerer  Weise  wieder,  wie  auf  dem 
Gebiete  der  Passion  dies  Grauns  >Tod  Jesu«  tut.  Nau- 
manns Vorgänger  im  Amte,  der  bedeutende  Opemkom- 
ponist  A.  Hasse,  steht  an  der  Spitze  einer  Richtung  der  A.  Hasse. 
Instrumentalmesse,  die  eine  der  größten  in  der  Kunst- 
geschichte vorkommenden  Verirrungen  bedeutet.  Der 
ganze  geistige  Kreis  dieser  in  zahllosen  Einzelwerken  ver- 
tretenen Richtung  ist  so  textwidrig  als  möglich:  die  An- 
lage der  Sätze  auf  äußerliche  Wirkungen,  namentlich,  auf 


— ♦     200      *— 

Sologesang  und  Solospiel,  gerichtet.  Die  Erfindung  in 
den  Themen  nimmt  häufig  gar  keine  Rücksicht  auf  den 
Charakter  der  Worte  und  erscheint  formell  durchschnitt- 
lich ebenso  einseitig  wie  billig.  Die  Singstimmen  arbeiten 
mit  kurzen  Motiven  vorwiegend  munterer  Art;  werden 
sie  breiter,  so  sind  es  in  der.  Mehrzahl  schmachtende 
Phrasen  oder  handwerksmäßige,  nichtssagende  Fugen- 
leisten. In  dem  Orchester  hört  man  mehr  Eingebungen 
der  komischen  Oper  und  wohl  auch  des  Tanzsaals,  als 
solche  einer  kirchlichen  Fantasie.  Der  Gesamteindruck 
der  Messen  dieser  Schule  erinnert  an  die  Wechslertische 
im  Tempel  und  an  die  korbbeladenen ,  auf  Viktualien 
sinnenden  Weiber,  die  den  Weg  zum  Markt  durch  den 
Dom  nehmen,  um  schnell  auch  ein  wenig  ziu  beten. 
Heute,  wo  diese  Richtung,  in  Deutschland  wenigstens, 
für  überwunden  gelten  kann  und  nur  noch  in  obskuren 
Lan<knessen  *  nachspukt,  können  wir  kaum  begreifen, 
wie  sie  möglich  gewesen.  Sie  hat  verschiedene,  zum 
Teil  äußerliche  Ursachen,  die  wichtigste  in  der  Vernach- 
lässigung der  Kirchenchöre  und  in  der  Stilverschiebung 
der  kirchlichen  Instrumentalmusik.  Der  Bachsche  Thoma- 
nerchor, der  häufig  als  Muster  von  Mangelhaftigkeit  an- 
gesehen wird,  erscheint  als  Eliteinstitut,  wenn  man  den 
Durchschnittszustand  der  gleichzeitigen  Kirchenchöre  in 
Italien  und  im  katholischen  Deutschland  nach  den  Be- 
richten von  Gr^try,  Burney  und  Schubart  kennt.  Eine 
Besetzung  des  Soprans  mit  einem  oder  zwei  ganzen 
Knaben  war  die  Regel;  nimmt  man  dazu,  daß  an  Orten 
wie  Mailand  ein  einziger  Kapellmeister  (San  Martini]  die 
Hälfte  aller  Kirchen  zu  versorgen  hatte,  so  ergibt  sich 
der  Schluß  «auf  die  Leistungen  allein.  Eine  erträgliche 
Chormusik  fand  man  nur  ausnahmsweise,  etwa  in  Padua 
und  München,  solchen  Ausnahmen  steht  die  Tatsache 
gegenüber,  daß  der  römische  Chorgesang  als  > Geschrei« 
bezeichnet  wird,  daß  in  Ulm  beim  Beginn  der  Figural- 
musik  die  Gemeinde  davonging.  Was  war  natürlicher 
als  daß  da  die  Komponisten  in  ihren  Messen  den  Schwer- 
punkt auf  den  Sologesang  und  in  den  instrumentalen  Teil 


legten?  Für  jenen  konnten  sie  auf  die  Kunst  der  Kastra- 
ten, für  diesen  mindestens  auf  eine  fertige  Technik  rech- 
nen. Beide  standen,  nachdem  die  Kirchensonaten  und 
das  Kirchenkonzert  iJIre  Selbständigkeit  aufgegeben  und 
sich  in  Form  und  Charakter  der  Kammermusik  ange- 
schlossen, im  Zeitgeschmack  gleich  hoch,  insbesondere 
nahmen  in  der  Meßmusik  Symphonien  und  Konzerte 
einen  sehr  breiten  Platz  als  Eingangs-,  Ausgangs-  und 
Zwischenstücke  ein.  Ihre  Ausstaffierung  mit  Konzerten 
wird  am  reichlichsten  durch  die  Autobiographien  von 
Dittersdorf  und  Gyrowetz  belegt,  die  Rolle,  die  die  Sym- 
phonie darin  spielte,  ergibt  sich  aus  Burney,  der  in 
Venedig  mehrere  Messensymphonien  für  zwei  Orchester, 
von  Galuppi  sogar  eine  für  sechs  Orchester  hörte.  Bruch- 
stücke solcher  Symphonien  aus  Messen  Habermanns 
sind  kürzlich  veröffentlicht  worden*).  Wie  die  selb- 
ständige Instrumentalmusik  in  Kirche  und  Messe,  ver- 
weltlichte folgerichtig  auch  die  Orchesterbegleitung  in 
den  Messen.  Das  lag  schon  in  dem  Übergewicht  der 
Violinen.  In  Deutschland  ist  es  der  jüngere  G.  Reutter, 
der  alle  diese  Elemente  der  Entkirchlichung  in  der  Messe 
sammelte  und  damit  die  Arbeit  von  Fux  vernichtete. 
Auch  Joseph  Haydn  und  W.  A.  Mozart  sind  von  seinem 
Einfluß  soweit  ergriffen  worden,  daß  ihre  Messen  weder 
zu  ihren  noch  zu  den  Hauptwerken  der  Gattung  gezählt 
werden  können. 

J.  Haydn  den  Symphoniker  gegen  Unterschätzung  J,  Haydn. 
zu  verteidigen  ist  eine  zeitgemäße  Pflicht,  aber  sich  für 
Haydn  den  Messenkomponisten  zu  ereifern,  darf  füglich 
den  blinden  Verehrern  des  großen  Meisters,  darf  Leuten 
überlassen  bleiben,  die  es  an  der  Ordnung  finden,  wenn 
Messen  ohne  Kenntnis  des  Textes  angehört  und  beur- 
teilt werden,  für  die  an  Festtagen  ein  Kyrie  aufhört  ein 
Kyrie  zu  sein.  Es  ist  viel  hebenswürdige,  kindliche  und 
rührende  Musik  in   diesen  Haydnschen  Messen,    durch 


♦)  M.  Seiffert:  F.  J.  Habermann   (in   F.  X.  Haberls  Jahr- 
buch für  1903). 


—^     202     ♦— 

die  Naivität  und  die  Herzenseinfalt  des  gebomen  Volks- 
mannes  sind  sie  alle  köstlich.  Aus  Menschenfreundlichkeit 
und  um  den  Ungelehrten  entgegenzukommen,  schreibt 
Haydn«  wo  es  nur  angeht,  liedmäfifg,  bevorzugt  die  jeder- 
mann vertrauten  Formen  der  Arie  und  der  Sonate  und 
hält  auch  die  Fugen  schlicht  und  sinnfällig.  Mit  diesen 
Fugen  sind  Haydns  Messen  in  der  Auffuhrungszeit  stark 
populär  geworden  uüd  es  in  England,  auch  in  Osterreich 
bis  heute  geblieben.  In  ihrem  Verhältnis  zu  den  kirch- 
lichen Forderungen  lassen  sie  sich  in  zwei  Gruppen 
scheiden;  die  vom  Jahre  4782  ab  geschriebenen  sind 
durchschnittlich  ernster  und  weniger  ungeniert  Aber 
auch  die  besten,  die  Cäcilienmesse,  die  Nelsonmesse,  die 
Theresienmesse  sind  in  sich  ungleich.  Diese  Ungleichheit 
zeigt  sich  zunächst  einmal  darin,  daß  die  Solosätze  durch- 
schnittlich hinter  den  Chören  zurückstehen.  Auch  bei 
letzteren  ist  zuweilen,  z.  B.  in  der  heroischen  Kyhefuge 
der  Theresienmesse,  der  Ton  vergriffen,  aber  durchschnitt- 
lich sind  sie  freier  von  anstößigen  Stellen.  Zweitens  sind 
die  Abschnitte  des  Lobens,  Preisens,  Dankens  besser  als 
die  des  Mitleides,  des  Klagens  und  Trauerns.  Zwar  ist 
Haydns  Gottesfreude  der  stärkste  Jubel  und  die  tiefste 
Ehrfurcht  versagt,  sie  variiert  am  liebsten  den  Ton  der 
Chöre  der  »Schöpfung,«  deren  Arien  klingen  sogar  direkt 
an.  Aber  er  bleibt  hier  doch  der  Aufgabe  nirgend  soviel 
schuldig,  wie  so  oft  bei  der  Wiedergabe  der  dogmatisch 
tiefsinnigen  und  ergreifenden  Stellen:  Wie  äußerlich 
kontrapunktisch  das  »Qui  tolhs«  in  der  Messe  »in  tem- 
pore belUc  und  in  der  Theresienmesse!  Was  für  ein 
oberflächliches  »Et  incarnatus«  hier  und  in  der  Nelson- 
messe! Der  Haydn,  der  die  »Sieben  Worte«,  der  so  schöne 
Motetten  wie  »Insanae  vanae  curae«  komponiert  hat,  ist  in 
den  Messen  nicht  recht  zu  erkennen.  Wir  müssen  es  ihm 
aufs  Wort  glauben,  wenn  er  seinem  Griesinger*)  ver- 
sichert, daß  ihm  die  Messe  zu  schreiben  nahe  gehe  und 
das  Höchste  sei.    Wir  müssen  uns  über  das  Gelungene 


♦)  Giie»inger,  A:  BiograpMBche  Notizen,  S.  116,  118. 


-^      203     ♦— 

und  Geniale,  was  auch  diese  Werke  enthalten,  gerade 
so  freuen  wie  in  der  Architektur  über  den  Wunderbau 
des  Markusdoms.  Aber  wie  diesen  niemand  als  Muster 
eines  christlichen  Gotteshauses  ansieht,  so  müssen  wir 
auch  dem  Erzbischof  von  Hohenwarth  recht  geben  und 
ihn  dafür  loben,  daß  er  kurzerhand  seinerzeit  für  die 
Wiener  Kirchen  die  Aufführung  Haydnscher  Messen 
verbot!  Unter  diejenigen,  welche  mit  dem  Erzbischof 
gegen  die  Wende  unseres  Jahrhunderts  die  Schwächen 
der  Messen  Haydns  und  der  ganzen  Hasse-Reutterschen 
Schule  erkannten,  gehört  Tieck.  Im  zweiten  Teile  des 
»Phantasus«  verwirft  er  alle  zeitgenössische  Kirchen- 
musik und  stellt  (vor  Thibaut)  die  alten  Italiener  als  Vor- 
bild auf. 

Mozarts  Messen,  welche  jetzt,  4  6  an  der  Zahl,  in  Wi  Ai  Uoiaitt 
der  Gesamtausgabe  von  Breitkopf  &  Härtel  vorhegen, 
sind  bis  auf  einzelne  Ausnahmen  Jugendarbeiten.  Bio- 
graphisches Interesse  bieten  alle,  entweder  durch  rührende 
Naivität,  oder  durch  Anklänge  an  Mozartsche  Meister- 
werke. Wird  aber  ihr  Stil  an  der  Hoheit  des  Textes  ge- 
messen, so  genügt  er  nur  zum  Teil.  Denn  Mozart  stand 
bei  seinen  Massen  unter  den  Überiieferungen  der  neapo- 
litanischen Schulen  und  war  auch  innerhalb  dieser  Gren- 
zen noch  an  den  persönlichen  Geschmack  seines  Salz- 
burger Brotherrn  gebunden.  Selbst  die  verhältnismäßig 
reifste  unter  seinen  Jugendmessen  (Nr.  6,  Fdur),  die  durch 
kontrapunktische  Arbeit  durchweg  auf  eine  höhere  Stufe 
gelangt,  vergreift  hie  und  da  den  Ton,  am  auffälligsten 
im  Kyrie. 

Die  hervorragendste  Arbeit  ist  eine  unvollendet  ge- 
bUebene  CmoU-Messe,  die  Mozart  im  Jahre  1782  begann 
und  als  eine  Art  Votivmesse  in  Salzburg  aufführen  wollte, 
wenn  er  Constanze  als  Frau  dahin  brächte.  Sie  ist  am 
25.  August  des  folgenden  Jahres  auch .  wirklich  in  der 
dortigen  Feterskirche  *-  in  den  Lücken  durch  ältere 
Arbeiten  ergänzt  —  gesungen  und  von  Mozart  später 
zum  größten  Teil  für  den  »Davide  penitente«  benutzt 
worden.  Die  früheren  Messen  überragt  dieser  Torso  durch 


—^      204 

die  größere  Anlage  der  Sätze  >  durch  einen  strengeren 
an  Bach  und  Händel  genährten  Stil.  Den  Chören  ist  er 
allen  zugute  gekommen,  und  einzelne  (das  Kyrie,  das 
»Gratias,«  das  »Qui  tollis«)  sind  Perlen  Mozartscher  Kunst, 
die  den  Vergleich  mit  der  Kantate  »Misericordias  Dominic, 
mit  den  >Confutatis,  maledictisc  und  ähnlichen  Sätzen 
seines  Requiems  wohl  aushalten.  An  andern  Sätzen  aber 
zeigt  sichs,  daß  der  Meister  noch  nicht  durch  die  Schule 
des  Lebens  gegangen  war,  am  deutlichsten  an  den  Sologe- 
sängen. Die  Sopranarien  »Laudamus  te<  und  »Incamatus 
estc  fallen  sogar  nicht  bloß  aus  dem  Gesamtton  der  Messe 
heraus,  sondern  in  den  altmodischsten  äußerUchen 
Bravourstil  herein.  Es  ist  somit  auch  diese  Messe  eine 
stark  ungleiche  Arbeit.  Indes  enthält  sie  soviel  schönes 
und  eigenes^  daß  der  Versuch  Alois  Schmitts,  diese  Messe 
zu  vervollständigen  und  dem  geistlichen  Konzert  zuzu- 
führen, Anerkennung  verdient.  Der  Bearbeiter  hat  für 
das  fehlende  »Agnus  Dei<  nach  dem  auch  von  Süßmayer 
im  Requiem  Mozarts  benutzten  Verfahren  einzelner  Ver- 
treter der  alten  Vokalmesse  einfach  die  Musik  des  Kyrie 
wiederholt,  für  das  Credo,  das  Mozart  vor  dem  »Cruci- 
fixus«  abbricht,  unbekanntere  Kirchenstücke  des  Meisters 
benutzt.  Freilich  bleibt  auch  jetzt  noch  zwischen  dieser 
Messe  Mozarts  und  seinem  Requiem  oder  gar  zwischen 
ihr  und  der  Hmoll-Messe  S.  Bachs  und  der  Beethoven- 
schen  Festmesse  ein  Abstand,  auf  den  man  nicht  erst 
durch  herausfordernde  Vergleiche  aufmerksam  machen 
sollte. 
BeethoTen,  Beethoven    hat    zwei   Messen    geschrieben,    von 

Messe  in  G.  welchen  die  erste  (Cdur,  op.  80)  zwar  nicht  von  den 
Chorvereinen,  aber  von  der  Kritik  in  einem  ähnlichen 
Grade  hintangesetzt  zu  werden  pflegt,  wie  des  Meisters 
zwei  erste  Symphonien  und  andere  Jugendwerke.  Diese 
Cdur-Messe  hat  allerdings  an  Beethovens  >Missa  solem- 
nis€  einen  unüberwindlichen  Nebenbuhler;  aber  sie  ist 
keineswegs  ein  unbedeutendes,  sondern  vielmehr  ein  in 
der  Geschichte  der  Instrumentalmesse  vollgültiges  und 
merkwürdiges   Werk.     In    den   Einzelheiten    läßt   diese 


.    -^     205     ♦— 

Messe  berechtigte  Wünsche  offen,  aber  in  der  musika- 
lischen Stimmung  der  einzelnen  Sätze,  in  der  Wahl  der 
meisten  ihnen  zugrunde  gelegten  Tongedanken  darf  sie 
ein  würdiges  und  herrliches  Werk  genannt  werden.  Die 
Messe  in  C  ist  Beethovens  erste  Arbeit  in  dem  eigentlich 
großen  Stüe  geistlicher  Chorkomposition.  Wir  wissen 
nicht,  ob  Beethoven,  sei  es  durch  die  Praxis  der  Bonner 
Hofkapelle,  sei  es  durch  den  weiten  Blick  seines  hoch* 
gebildeten  Lehrers  Neefe,  in  diesem  Stile  auf  bessere 
Muster  als  die  in  der  Zeit  herrschenden  hingeführt 
wurde.  Oder  war  es  die  Kraft  des  eignen  Geistes,  welche 
ihn  hier,  ähnlich  wie  in  der  »Trauerkantate  auf  den  Tod 
Josephs  des  Zweiten«  und  in  den  geistlichen  Liedern  auf 
einen  höheren  Weg  hob?  Tatsache  ist  es,  daß  sich 
Beethoven  mit  dieser  Gdur-Messe  auf  einen  ganz  anderen 
Boden  stellte,  als  der  war,  auf  welchem  die  Messen  seiner 
Zeit,  auch  die  Haydns  und  Mozarts,  zu  entstehen  pflegten. 
Diese  Abweichung  von  dem  Hasse-Wienerischen  Kirchen- 
stile ist  dem  Werke  lange  Zeit  übel  vermerkt  worden. 
Der  Fürst  Esterhazy,  in  dessen  Kapelle  Beethoven  die 
Messe  zur  nachträglichen  Feier  des  (^eburtstags  der 
Fürstin,  an  Maria  Namensfest  am  45.  September  4  807 
zum  erstenmal  aufführte,  empfing  den  Komponisten  nach 
beendigtem  Gottesdienst  mit  der  Frage:  »Aber,  lieber 
Beethoven,  was  haben  Sie  denn  da  wieder  gemacht?« 
und  den  zur  Seite  dabei  stehenden  fürstlichen  Kapell- 
meister (Hummel)*  sah  Beethoven,  nach  Schindlers  Bericht, 
lachen.  Noch  viel  später  war  es  Brauch,  den  kirchlichen 
Charakter  dieser  Messe,  und  zwar  immer  im  Hinblick  auf 
die  Werke  Haydn^s,  zu  bemängeln.  Der  Erste  j  welcher 
unter  den  musikalischen  Schriftstellern  entschieden  für 
die  absolute  und  relative  geistige  und  religiöse  Über- 
legenheit dieser  Cdur-Messe  eingetreten  ist,  verdient 
rtÜ^mend  hier  angeführt  zu  werden.  Es  ist  Dr.  F.  P.  Graf 
Laurencin*). 


*)  Dr.  F.  P.  Graf  Laurencin,  Zui  Geschichte  der  Kiichen- 
miiglk.     Leipzig  18Ö6* 


Wie  an  einem  Geiste,  der  in  der  Messe  lange  nicht 
so  nachdrücklich  gesprochen,  so  ist  die  Cdor-Messe 
Beethoveh's  auch  an  neuen  Formen. reich.  Am  meisten 
tritt  unter  ihnen  die  enge  Verbindung  von  Chor  und  Solo 
hervor,  welche  Beethoven  hier  angewendet  hat.  Ein 
Wechsel  von  Chorsätzen  und  Solopartien,  bald  in  längeren, 
bald  in  kürzeren  Abständen,  war  in  der  Instrumental- 
messe von  Anfang  an  üblich,  aber  das  Ineinandergreifen 
und  Zusammenwirken  beider  Gruppen,  wie  es  Beethoven 
hat,  ist  eine  taktisch  viel  reichere  und  belebtere  Form, 
deren  Vorbilder  auf  dramatischem  Boden,  wenn  auf  dem 
geistlicher  Musik:  in  weiter  zurückliegenden  Zeiten  zu 
suchen  sind:  den  antiphonischen  Chorbauten  der  vene- 
tiaüischen  Schule.  Das  durchgehende  Soloquartett,  V9[elches 
mit  dem  Chor  addiert,  den  Vokalsatz  der  C  dur-Messe  als 
einen  achtstimmigen  erscheinen  läßt,  hat  die  letztere  mit 
der  >Missa  solemnisc  gemein. 

Das  Kyrie  hat  die  Anlage  einer  dreiteiligen  Arie. 
Die  Sonderung  dieses  Teils  in  drei  getrennte,  selbst- 
ständige und  thematisch  verschiedene  Sätze,  wie  sie  in 
der  alten  Vokalmesse  üblich  war  und  wie  wir  sie  noch 
in  den  Messen  Bachs  treffen,  war  in  der  Instrumental- 
messe schon  lange  vor  Haydn  aufgegeben.  Sie  kommt 
noch  vor,  z.  B.  bei  Cherubini,  aber  nicht  als  Regel.  Der 
Hauptsatz  und  die  mit  ihm  gleichlautende  Wiederholungs- 
partie des  dritten  Teils  im  Kyrie  der  .Cdur-Messe  be- 
ginnen mit  einem  liedartigen  viertaktigen  Thema  von 
frommem,  hoffnungsvollem  Ausdruck.  Er  schließt  mit 
einer  Wendung  ins  höhere  Pathos  und  bringt  am  Ende 
eine    schöne    und      ,   Andante.  taucht    in    der 

kühne  Modulation.  jE  18  J  T  "J  1  -I  :  Orchesterpartie 
Sein   erstes  Motiv     ™  ^   ''       *   der  Messe  wie- 

derholt auf  und  dient  im  Hauptsatze  des  Kyrie  den 
Singstimmen  noch  weiter  dazu,  die  angeschlagene  Ge- 
betsstimmung weiter  zu  entwickeln.  Sie  wird  unruhige]: 
und  trüber,  bis  die  Bläser  das  Wort  ergreifen  und  mit 
einigen  wenigen  Takten  in  den  schönen  warmen  Mittel- 
teil  des    »Christe   eleison  c    (Edur)    einlenken.      Er    ist 


—^    toi 

einfach,  innig  und  kurz.  Nach  wenigen  Perioden^  an 
deren  Schluß  die  Zuversicht  auf  die  Hilfe  des  Gottes- 
sohnes mit  echt  Beethoven^scher  Entschiedenheit  und 
Dringlichkeit  ausgesprochen  ist,  steigt  das  ohen  mitge- 
teilte Anfangsmotiv  d^s  Kyriesatzes  aus  der  Tiefe,  zu- 
nächst aus  den  Fagotten  und  nach  ihnen  den  Männer- 
stimmen, wieder  auf  und  führt  uns  hald  in  den  Haupt- 
satz zurück,  der  —  his  auf  eine  dunkle  Äkkordnuance 
am  Schluß  und  ein  sehr  s.chön  gedachtes  Unisono  der 
still  vor  sich  hinhetenden  Sin^stimmen  —  wörtlich  wie- 
derholt wird.  Das  Gloria  hat  ebenfalls  dreiteilige  An- 
lage. Der  erste  Teil,  vor  dem  »Qui  toUis«  abschließend, 
ist  ein  AUegro  im  raschen  C- Takte.  Seine  erste 
Hälfte  rauscht  in  freudigem  Drange  vorüber;  Aufent- 
halt wird  nur  bei  »bonae  voluntatis«  genommen  und 
beim  >Glorificamus  te«.  Die  Musik  des  Chors  hat  den 
Charakter  eines  schwungvollen,  feierlichen  Anrufens 
der  Gottheit,  durch  kürze  Stellen  frommer  Demut 
sehr  packend  unterbrochen:  Die  bedeutendste  letztere]^ 
Art  ist  die  von  den  Hörnern  eingeleitete  bei  »Et 
in  terra  pax«.  Die  Einheit  des  ganzen  Abschnittes 
wird  formell  durch      e  '  j.  .  ,      ausgeprägt, 

das    immer    wie-     ^"  j    ^  J  JJ  J  '  J  ^  ^   Die   zweite 


derkehrende  Motiv  Hälfte    des 

ersten  Teils  besteht  aus  einem  innig  und  ruhig  ge- 
haltenen Tenorsolo  auf  die  Worte:  »Gratias  agimus 
tibic,  in  dessen  Satzendungen  der  Chor  bekräftigend 
einfällt  Der  zweite  Teil  des  Gloria  ift  ein  Andante 
mosso  im  ^/^-Taki  (Fmoll),  vom  Soloquartett  mit  herr- 
lichen Gebetsmelodien,  aus  denen  Hingebung  und  auch 
ein  leises  Zagen  spricht,  ausgeführt.  Der  Chor  schließt 
sich  nur  einmal  psalmodierend  an  und  tritt  erst  in 
der  zweiten  Hälfte,  von  dem  feierlich  erstaunten  >Qui 
sedes«  an,  in  Wirksamkeit.  Nachdem  er  zuerst  das 
»Misererec  in  angstvoller  Steigerung  ausgesprochen  hat, 
führt  er  es  in  dem  vertrauensvollen  kindlichen  Tone 
weiter,  mit  welchem  das  Kyrie  begann,  auch  mit 
Benutzung    des   Hauptmotivs    desselben.      Den    dritten 


208 


Teil,  d.  i.  den  Schluß  des     ^^__^_. 

Gloria  bildet  ein  kräftiger  A  n  p*   p  |  J    p  ■  |  p  |i  j  und 
Satz;  in  welchem  die  Motive         qlao.al.  «d  tn    to.£u 


I  I  I    7|  I  I 


'M  r  1 1  r  I  I  r  r  f  p  MT  r 

CiuB  tui^t«     ipi.ri.ta    bfio.ci.s     Oe.l    P».fr{s. 

in  engen  kontrapunktischen  Verbindungen,  in  einzelnen 
Abschnitten  fugenartig,  durchgeführt  werden.  Das  »Amen« 
erhält  eine  besondere  Auszeichnung  durch  Harmonien, 
Deklamation  und  eigenen  thematischen  Nachgesang. 

Im  Credo,  dem  gefürchtetsten  Text,  den  die  geist- 
liche Vokalkomposition  überhaupt  bietet,  tritt  das 
Beethoven  von  seinen  unmittelbaren  Vorgängern  und 
Mitarbeitern  unterscheidende  Prinzip  des  musikalischen 
Entwurfs  der  Messe  am  klarsten  hervor.  Es  ist  die  Be- 
achtung des  Sinns  aller  einzelnen  Sätze,  Satzteile  und 
bedeutungsvoller  Einzelworte.  Während  andre  sich 
darauf  beschränken,  die  Hauptstimmung  eines  ganzen 
Abschnitts  wiederzugeben  und  auch  diese  Aufgabe  wohl 
der  Bequemlichkeit  des  formellen  Entwurfs  unterordnen, 
geht  Beethoven  an  keinem  Begriffe  vorbei,  welcher  eine 
eigne  Geltung  hat.  Die  Folge  davon  ist,  daß  der  Chor- 
satz im  ersten  Teile  des  Credo  (bis  zum  »Et  incamatus 
est«),  dem  Hörer  keinen  thematischen  Anhalt  bietet.  So- 
viel Motive,  als  der  Text  Begriffe  bietet.  Doch  ist  der 
Empfindungsgrund,  aus  welchem  sie  geschöpft  sind,  der 
gemeinsame  einer  des  Staunens  vollen,  manchmal  in 
scheuem  Tone  sich  äußernden  Bewunderung.  Im  Orchester 
hat  Beethoven  die  Zusammengehörigkeit  dieser  vielzah- 
ligen Deklamationsab-  Aüegro.  auszudrücken 
schnittchen  durch  das  '^  i|  J^J  |  J  J  |  n  =  gesucht.  In 
Festhalten  des  Motivs  ff  *  i  V  den  Biogra- 
phien des  Tonsetzers  wird  über  den  Ursprung  dieses  Mo- 
tivs eine  Anekdote  erzählt.  Mit  dem  Eintritt  der  Worte: 
»Qui  propter  nos  homines«  wird  der  etwas  starre  Dekla^ 
mationston  des  Satzes  weicher,  und  leitet  sehr  schön  in 
den  Mittelteil  des  Credo,  den  Abschnitt  von  »Et  incar- 
natus<    bis   zum    »Et   sepultus    est«    über.     Die    ganze 


-3^     t09     * — 

Partie,  an  der  das  Soloquartett  wieder  hervorragend  be- 
teiligt ist,  klingt  wie  in  Andacht  getaucht.  Besonders 
treten  die  schmerzlichen  Rufe  beim  »passus«  hervor; 
femer  die  eingeschalteten  Klagemotive  der  Instrumente 
und  der  mit  einer  stechenden  Dissonanz  der  Altstimme 
gefärbte,  hinsterbende  Schluß  des  Chors.  Mit  dem  »Et 
resurrexit«,  welches  den  Schlußteil  des  Credo  beginnt, 
wird  der  Ausdrux^k  wieder  freudig,  zuweilen  bis  zu  einem 
stürmischen  Grade.  Die  Deklamation  hat  stellenweise 
einen  geradezu  streitbaren  Charakter.  Ruhiger  gehalten, 
breiter  aussingend,  ist  fast  nur  der  Abschnitt  des  Solo- 
quartetts: »Et  in  spiritum  sanctum«.  Auch  in  diesem 
dritten  Teile  des  Credo  bleibt  die  Genialität  wieder  zu 
bewundern,  mit  welcher  Beethoven  die  Einzelheiten  im 
Text  mit  einem  einzigen  Strich  eindringlich  veranschau- 
Ucht.  Man  vergleiche  die  Töne  und  Farben  beim  Er- 
scheinen der.Propheten  (»Qui  locutus  est  usw.«)  und  dann 
wieder  an  der  Stelle,  wo  der  Toten  gedacht  wird.  Die 
herkömmliche  Fuge  beim  »Et  vitam  venturi  saeculi«  be- 
setzt Beethoven  mit  einem  rollenden  Thema  und  bedient 
sich  in  seiner  Ausführung  verschiedener  Mittel  der  Span- 
nung; namentlich  am  Schlüsse  des  Ganzen. 

Das  Sanctus  ist  ein  sehr  kurzer  Satz.  Die  Bläser 
eröffnen  ihn  mit  einer  erwartungsvollen  zarten  Musik, 
welche  von  den  Singstimmen  aufgenommen  und  mit 
feierlich  fremdartigen  Modulationen  weitergeführt  wird. 
Das  »Pleni«  ist  festlich  mit  schmetterndem  Ausklang, 
ebenfalls  sehr  kurz;  das  »Osanna«  ein  fugierender  Satz 
über  ein  Thema,  welches  Glück  und  Dankbarkeit  zu  atmen 
scheint.  Während  in  diesem  Teile  alle  Weisen  rasch  ab- 
brechen, hat  das  »Benedictus«  eine  außerordentlich  breite 
Anlage.  Es  beginnt  im  Soloquartett  in  sehr  einfacher, 
frohfrommer  Stimmung,  die  allmählich  in  ein  Schwelgen 
von  Se]:inen  und  Begrüßen  übergeht.  Der  Chor  summt 
erst  leise  nach,  gerät  dann  aber  in  Begeisterung  und  Ver- 
zückung. Beethoven  führt  ihn  in  diesem  Satze  vorwiegend 
in  Unisonos.  Die  Wiederholung  des  »Osanna«  schließt  die 
Abteilung. 

II,  1.  U 


Das  Agnus  dei  beginnt  mit  zitterndem  Orchester, 
der  Chor  ruft  in  heftiger  Angst:  die  Stimmung  des  Satzes 
ist  außerordentlich  unruhig  und  gedrückt;  fast  das  einzige 
freundliche  Element  in  ihm  die  Achtelfigur  der  Instru- 
mente. Mit  letzterer  leitet  die  Oboe  den  Übergang  ein  zu 
dem  »Dona  nobis«.  *  Der  Einsat?  des  unbegleiteten  Solo- 
quartetts, der  ruhige  Ton  sicherer  Hoffnung,  der  daraus 
klingt,  läßt  dieses  einfache  Sätzchen  wirken  wie  reinen 
Himmel  nach  schwarzen  Wolken.  Lang  hin  breiten  sich 
die  Akkorde  auf  das  »pacem«  aus;  der  Chor  wiederholt 
den  Friedensklaiig,  zuweilen  heftig,  wie  von  einem  Rest 
der  Beklommenheit  getrieben.  Sie  bricht  auch  wirklich 
nochmals  hervor  und  äußert  sich  bei  der  Wiederholung 
des  »Agnus  dei,  qui  toUisc  noch  einmal  kurz  in  dem 
Schreckenscharakter,  mit  dem  der  Satz  anfing. 

Im  Jahre  4  813  erschien  eine  Partitur  ausgäbe  der 
Cdur-Messe  (bei  Breitkopf  &  Härtel)  mit  dem  Nebentitel 
»Drei  Hymnen  usw.<.  Diese  Bezeichni^ng,  ersichtlich  auf 
die  Verwendung  des  Werkes  im  Konzert  berechnet,  läßt 
sich,  bezüglich  der  Dreiteilung,  wenigstens  aus  dem 
liturgischen  Verhältnis  der  Sätze  rechtfertigen.  Denn  im 
Hochamte  bilden  Kyrie  und  Gloria,  und  ebenso  Sanctus 
und  Agnus  dei  geschlossene  und  zusammenhängende 
Akte.  Die  dieser  Ausgabe  beigegebene  deutsche  Ober- 
setzung —  »Tief  im  Staub  anbeten  wir  dich,  den  ew'gen 
Weltenherrscher  usw.«  —  wird  den  Deklamationseigen- 
tümlichkeiten  der  Beethovenschen  Musik  sehr  wenig  ge- 
recht und  ist  glücklicherweise  gegenwärtig  wieder  außer 
Brauch  gesetzt. 
L.  y.  Beeihorea,  Die  zweite  Messe  Beethovens,  seine  ebenso  bewun-» 
Missa  derte  als  gefürchtete  »Missa  solemnis«  (Ddur,  op.  128),  ist 
solemnis.  das  Werk  des  in  doppelter  Schule  von  Leben  und  Kunst 
zu  vollster  Eigentümlichkeit  ausgereiften  Meisters.  Zeit- 
lich und  geistig  eine  Art  Nachbarin  der  neunten  Sinfonie 
(op.  125),  steht  sie  über  der  Vorgängerin  in  C  durch  die 
Freiheit  und  Bestimmtheit,  mit  welcher  Beethoven  in 
dem  neuen  Werke  seine  IndividuaUtät  walten  läßt,  durch 
die  Größe  und  Fülle  der  musikalischen  Formen.   Aber  im 


2n    ^^ 

technischen  Plane  und  in  den  geistigen  Anschauungen 
zeigen  sich  heide  Werke  als  Geschwister.  Gemeinsam  ist 
ihnen  der  hohe  Ernst  in  der  Erfassung,  des  Textes  im 
ganzen,  gemeinsam  die  Richtung  auf  anschauliche  Aus- 
gestaltung aller  einzelnen  Worte  von  Bedeutung.  Die 
verwandtschaftliche  Ähnlichkeit  läßt  sich  bis  auf  die 
ziemlich  wörtliche  Übereinstimmung  in  der  Wiedergabe 
bestimmter  Züge  verfolgen.  Beim  Vergleich  deir  Stelle 
»passusc  in  beiden  Messen  dürfte  sie  am  klarsten  hervor- 
treten. 

Beethovens  Messe  in  D  gehört  unter  den  auf  Er- 
neuerung der  Kunst  gerichteten  Werken  seiner  dritten 
Periode  zu  denjenigen,  bei  welchen  es  sich  der  so  wie 
S3  kritischste  aller  Tonsetzer  ganz  besonders  hat  sauer 
werden  lassen.  Schindler,  dem  wir  in  diesem  Punkte 
.  Glauben  schenken  dürfen,  schildert  drastisch  den  Zustand 
der  Aufregung,  in  welchem  sich  der  Meister  zu  wieder- 
holten Malen  während  der  Zeit  befunden  hat,  in  welcher 
das  neue  Hochamt  in  seinem  Innern  nach  Gestaltung 
rang.  Die  Skizzen  zu  dem  Werke,  wie  sie  uns  neuer- 
dings aus  Nottebohms  Nachlasse*)  vorgelegt  worden  sind, 
bilden  klassische  Zeugnisse  für  die  einzelnen  Stationen 
dieses  heißen  Mühens  und  bestätigen  wieder  die  ganz 
eigentümliche  Art,  in  welcher  Beethoven  die  Form  dem 
Geist  unterzwang.  Wie  in  einer  poetischen  Vision 
leuchtete  ihm  der  Punkt  voraus,  welcher  der  geistige 
Mittelpunkt  eines,  großen  Gebildes  werden  sollte.  Ihn 
festhaltend,  steuerte  er  sein  Schiff  in  tausend  Wendungen, 
kreuzte  und  kämpfte  wie  ein  Cohimbus,  bis  der  sichere 
Weg  gefunden  war.  Eine  Stelle,  die  dieses  Verfahren  in 
ähnlicher  Deutlichkeit  und  Besonderheit,  wie  -die  be- 
rühmte Hornstelle  in  der  »Eroicac  veranschaulicht,  ist  in 
der  Ddur- Messe  die  Einführung  der  Kriegsmusik  im 
Agnus  dei.  Sie  wurde  zur  fixen  Idee  bei  dem  Entwurf 
dieses  Satzes,  der  Pol,  um  den  die  Fantasie  des  Meisters 
in  immer  neuen  Versuchen  kreiste.    Die  Skizzen  zu  der 


•)  Nottebohm,  G.,  Zweite  Beethovenlana,  Leipzig  1887. 

U* 


— ♦     242      ♦>— 

»Missa  solemnis«  umfassen  die  Jahre  4  848  bis  4822,  eine 
Zeit,  die  in  der  äußeren  Geschichte  des  Meisters  sich 
ziemlich  schm.erzlich  auszeichnet.  Beethoven  begann 
die  Komposition,  als  die  Ernennung  des  Erzherzogs 
Rudolf,  seines  Schülers,  zum  Erzbischof  von  Olmütz  be- 
kannt wurde.  Sie  sollte  als  Festmesse  bei  der  Einführung 
im  nächsten  Jahre  dienen,  wurde  aber  erst  Ende  des 
Jahres  4  822  >  fertig.  Von  der  Aufführung  einzelner  Sätze 
des  Werkes  i.  J.  4  823  ist  oben  schon  die  Rede  gewesen. 
Vollständig  kam  die  Messe  zuerst  im  Jahre  4  824  zu  Gehör 
ui^  zwar  in  Petersburg,  wo  Fürst  Galitzin  das  Werk  für 
ein  Konzert  der  Musikerwitwenkasse  erworben  hatte,  — 
ein  Ereignis,  welches  aber,  abgesehen  von  einem  kurzen,, 
entzückten  Bericht  in  der  Allgemeinen  musikalischen 
Zeitung  für  jene  Zeit  spurlos  vorüberging!  Die  nächste 
nachweisbare  Aufführung  fand  in  einem  jener  stillen,, 
musikalisch  aber  schwungvollen  und  reichen  Winkel 
statt,  an  denen  Deutschland  auch  jetzt,  in  der  Zeit  der 
hereinbrechenden  Zentralisation  glücklicherweise  noch 
nicht  ganz  verwaist  ist:  in  der  böhmischen  Lausitz  zu 
Warnsdorf,  i.  J.  4830  unter  Leitung  des  Kantors  J.  V.  Richter. 
Weihnachten  4  832  dirigierte  sie  Moscheies  in  einem  Privat- 
konzert des  Mr.  Alsager  zu  London.  Die  Aufmerksam- 
keit größerer  Kreise  und  die  Popularität,  welche  Beethoven, 
trotz  der  hohen  Meinung,  die  er  von  seiner  »Missa  so- 
lemnisc  hegte,  selbst  erst  von  einer  späteren  Generation 
erwartete,  kam,  nachdem  das  Werk  i.  J.  4  844  auf  einem 
rheinischen  Musikfeste  durch  H.  Dorn  vorgeführt  worden. 
Gleich  im  folgenden  Jahre,  4845,  brachte  sie  E.  F.  Richter, 
der  spätere  Thomaskaiitor,  einer  der  trefflichsten  unter 
den  Musikern,  welche  prunklos  in  dieser  Stadt  gewirkt 
haben,  in  Leipzig  zu  Gehör.  Es  kann  nicht  die  Aufgabe 
sein,  hier  die  langsamen  Schritte  in  der  Statistik  der 
praktischen  Einführung  der  »Missa  solemnis«  alle  nach- 
zuzeichnen. Einen  Wendepunkt,  von  dem  aus  es  rascher 
ging,  bildet  das  Jahr  4868  dadurch,  daß  von  jetzt  ab 
Carl  Riedel  mit  seinem  Verein  für  das  Werk  in  regel- 
mäßigen Aufführungen   nicht  bloß  in  Leipzig,   sondern 


--^     2U     >— 

auch  auf  den  Festen  des  AllgemeinenDeutschenMusikvereins 
eintritt.  Heute  ist  es  allen  bedeutenden  Chorvereinen  pflicht-  , 
mäßig  bekannt.    Die  einzige  Stelle,  wo  es  alljährlich  auch 
im  Gottesdienst  erscheint,  ist  der  Dom  zu  Preßburg*). 

Dem  Vergleich  von  Beethovens  >Missa  solemnis«  mit 
Bachs  »Hoher  Messe«  ist  wohl  jeder  Leser  schon  begegnet. 
Die  beiden  Werke  haben  Äußerlichkeiten  gemein:  die 
Schwierigkeit  der  Ausführung  und,  in  verschiedenem 
Grade,  auch  des  Verständnisses,  die  große  Länge,  welche 
sie  für  die  Liturgie  ungeeignet  macht  Aber  die  inneren 
Berührungspunkte  sind  nicht  zahlreich.  Schon  der  Ent- 
wurf der  Form,  das  musikalische  Gewebe  beider  Werke, 
zeigt  auf  einen  ganz  verschiedenen  Geistesgrund:  Bach 
vertieft  sich  ruhig  in  breiten  Einzelbildern,  die  er  zu 
großen  Zyklen  aneinanderreiht,  Beethoven  drängt  Ereig- 
nisse und  Figuren  in  große  Gemälde  zusammen  und  sucht 
die  Massen  durch  scharfe  Charakteristik  aller  einzelnen 
Erscheinungen  und  Gruppen  zu  sondern  und  zu  klären. 
Die  Methode  des  Entwurfs  unterscheidet  sich  bei  beiden 
Meistern  wie  Stollen  und  Schacht.  Der  Vortrag  der  Ge- 
danken ist  bei  Bach  durchaus  melodisch-kontrapunktisch, 
bei  Beethoven  zur  guten  Hälfte  deklamatorisch.  Beethovens 
Messe  macht  nach  Anschauung  und  Ausdruck  an  die 
geistige  Mitarbeit  des  Zuhörers  größere  Ansprüche  als  die 
Bachs  und  setzt  namentlich  in  den  großen  Sätzen:  Gloria 
und  Credo  einen  schnellen  und  beweglichen  Geist  und 
ein  scharfes  Tonverständnis  voraus. 

Diejenigen  Sätze,  welche  die  wenigsten  Schwierigkeiten 
bieten,  sind  Kyrie  und  Sanctus. 

Das  Kyrie  ist,  wie  in  dei^  Cdur-Messe,  dreiteilig; 
erster  und  dritter  Teil  sind  nahezu  gleichlautend.  Der 
Satz,  welchem  Beethoven  die  Vortragsbezeichnung  »Mit 
Andacht«  gegeben  hat,  beginnt  mit  einem  Vorspiel  des 
Orchesters,  in  welchem  die  Blasinstrumente  das  Haupt- 
thema  des   Kyriesatzes   vortragen.     Beethoven   hat  in 

*)  Hans  Volkmann:  B.  Volkmann,  S.  109.  Um  1845  scheint 
sie  anch  Moritz  Hauptmann  Tersnchsweise  für  die  Leipziger  Kirchen 
benatzt  zu  haben  (Hauptmanns  Briefe  an  F.  Hauser,  II,  28). 


t 

seiner  D  dur-Messe  den  Blasinstrumenten  besondere  Auf^ 
merksamkeit  geschenkt;  hier  im  Kyrie  beruht  ein  Teil 
der  feierlichen  Wirkung  des  Satzes  auf  der  Verwendung 
ihrer  Klänge.  In  dem  Band  von  Skizzenheften ,  welche 
den  Jahren  4  819  bis  4822  angehören,  befindet  sich  eine 
Bemerkung:  »Das  Kyrie  in  der  Neuen  Messe  bloß  mit 
blasenden  Instrumenten  und  Orgel«.  Wir  wissen  nicht, 
ob  sie  sich  auf  das  Kyrie  einer  etwaigen,  geplanten 
dritten  Messe  oder  auf  das  Kyrie  der  >solemnis«  bezieht. 
In  letzterem  Falle  müßte  dieses  später  entstanden  sein 
als  die  ihm  folgenden  Sätze.  Jedenfalls  beweist  sie,  daß 
Beethoven  den  Blasinstrumenten  in  der  Kirchenmusik  eine 
außerordentliche  Bedeutung  beilegte. 

Nachdem  das  Orchester  so  den  Grundton  für  die 
Stimmung  des  Kyrie  gegeben  hat ,  naht  sich  die  Sänger- 
schar, Chor  und  Soli,  in  ehrfurchtsvollem  Schritt.  Dreimal 
wird  der  Name  des  Herrn,  wie  unter  langen  Verbeugungen, 
angerufen,  sie  treten  dem  Throne  in  gemessenen  Absätzen 
näher  und  nun  erst  spricht  der  Führer  die  Bitte  aus: 
»eleison«.  Es  ist  ein  Gnadenruf  aus  frommen  guten  Herzen, 
aus  reiner,  aber  demütiger  Seele.  Das  ganze  Thema  sieht 
folgendermaßen  aus: 

Assai  sostenvto.     Jen.Soio     '  S«p.Soto 

Chor  Ky  -       -     .-    ri  .  e,        Choj_  Ky_ 


AltSdo 
»i  -  •.       Ckor  Ky  .        .        .     ri  .   e     •   .    lel   .       .     »<»|. 


Ky  .     .   ti  . 

Es  ist  wieder  in  ganz  eigner,  lebendiger  Art  aus  dem 
Zusammenwirken  von  Chor  und  Soli  entwickelt  Für  den 
thematischen  Aufbau  des  Satzes  ist  das  eingehakte  Motiv 
wichtig,  namentlich  die  Quar-   .  ...'-^^'''■■■"'"'"Vr"^ 

tenwendung.  Aus  ihr  ist  auch  j^  r^ljT  T  Fl 
das  herzliche  Zwischenspiel  HF  '  '        '     '  "^       ' 


gezogen,  mit  welchem  die  Bläser  der  auf  einem  gemein- 
schaftlichen Ton  schlicht  hinhetenden  Chorgemeinde 
wiederholt  im  Satze  Vertranen  und  freudige  Zuversicht 
.  zuzusingen  scheinen.  Und  tatsächlich  beherrschen  diese 
Empfindungen  den  Satz  und  heben  sich  zum  Ausdruck 
einer  unverhohlenen  naiven  Freude,  als  sich  der  Gebetsakt 
mit  dem  »Ghriste  eleisonc  dem  Sohne  Gottes  zuwendet. 
£s  liegt  in  diesem  mit  dem  frischen,  muntern  Rhythmus 
einsetzenden  Teil  des  Kyrie,  in  diesen  unaufhörlichen, 
freundlich  lebendigen  Zurufen,  in  diesen  kosenden  Figuren 
etwas  vom  Reize  einer  Kinderszene.  Doch  bleibt  der 
ehrfürchtige  Charakter  gewahrt  und  kommt  namentüch 

,  in  dem  leisen,  auch  den,  Abschiedsschmerz  andeutenden 

I  Schlüsse  zum  bestimmten  Ausdruck. 

Das  Gloria  hat  vier  Hauptteile:  die  mittleren  sind 
kürzer,  der  anfangende  und  schließende  sehr  ausgedehnt 
und  gliederreich.  Der  erste  Teil,  dessen  letztes  Glied  das 
»Domine  Dens  rex  Christe«  bildet,  ruht  auf  dem  jubelnden 
Thema,  mit  welchem  die  ^  ^  Aüegro  vivace.  ^.  ^  •^^  .^ 
Anfangsworte  des  Glo-  [ft'^H  (*  p  p  |P  P  T  P  |  1  |^g 
ria  selbst  einsetzen:  oio.ri.»  iB«ueei.us  O0 .  *  oi 
Es  gleicht  in  seiner  einfachen  Fassung  mancher  alt- 
kirchüchen  Intonation  und  hat  vielleicht  eine  wirkliche 
liturgische  Quelle.  Beethoven  hat  ihm  eine  elementar 
fortreißende  Kraft  entlockt  und  verwendet  es  oft  wie 
einen  unwiderstehlichen  Lockruf  der  Begeisterung.  Mit 
ihm  schwingen  sich  die  Chorstimmen  von  Höhe  zu  Höhe, 
mit  ihm  rufen  die  Stimmen  des  Orchesters,  die  es  zu- 
gleich häufig  erweitern  und  umspielen,  von  den  Stellen 
andächtiger  Sammlung  wieder  hinweg  zu  mächtigen 
Ausbrächen  der  Freude  an  Gott.  Die  Episoden,  welche 
von  diesem  Grundcharakter  des  ersten  Teils  des  Gloria 
sich  absondern,  sind  das  freundlich  ruhige:  »Et  in  terra 
pax«,  das  auf  festem  Motiv  fugierende  »Glorificamus  te< 
und  das  »Gratias  agimus  tibi«.  Letzteres  bildet  den  längsten 
Zwischensatz  in  diesem  Teile.  Es  ist  eine  langsamer  ein- 
setzende Musik,  mit  dem  Charakter  zarter  Anmut,  wie  er 
in  den  Messen  der  Beethovenschen  Zeit  für  diese  Worte 


—^     2<6      ^>— 

üblich,  geworden,  war.  Die  Alten,  denen  sich  auch 
S.  Bach  in  der  »Hohen  Messe«  angeschlossen  hat,  ziehen 
in  der  Regel  eine  feierliche  Weise  des  Dankes  vor.  Den 
höchsten  Grad  von  Weihe  zeigt  hier  z.  B.  Palestrinas 
»Assumpta  est  Maria«.  Eine  der  Beethovensohen  Auf- 
fassung näherstehende  Ausnahme  findet  sich  in  der 
fünfstimmigen  Fdur-Messe  des  Orlando  di  Lasso.  Beim 
»Domine  deus«  nimmt  das  Orchester  das  Gloriathema 
wieder  auf,  der  Chor  deklamiert  die  Anreden  des  Höchsten 
mit  nachdrücklicher  Betonung  dazwischen,  namentlich 
von  dem  Begriffe  des  »omnipotens«  aufs  Höchste  er- 
griffen. Eine  kurze  Wendung  weicherer  Art  tritt  wieder 
ein,  als  sich  die  Soli  dem  Sohne  Gottes' mit:  »Domine 
fiU  unigenite«  zuwenden.  —  Den  zweiten  Hauptteil  des 
Gloria  bildet  das  »Qui  tollis  peccata  mundi«,  ein  Satz, 
der  durch  Tempo  und  Tonart  (Larghetto  2/4,  Fdur)  sich 
scharf  von  dem  vorhergehenden  abhebt.  Der  Verstoß 
gegen  Grammatik  und  Sinn,  welcher  darin  liegt,  daß  der 
Relativsatz  ganz  vom  Subjekt  getrennt  ist,  war  allem 
Anscheine  nach  durch  die  Tradition  selbst  für  den 
scharfen  Kopf  Beethovens  geheiligt.  Mit  schwerem 
Herzen  wird  hier  des  Leidens  Christi  und  der  Sünden 
der  Menschheit  gedacht,  um  Erbarmen  und  Erhörung 
geheten.  Instrumente  und  Singstimmen  fangen  be- 
klommen an,  die  Töne  fallen  wie  Lasten,  die  Melodien 
teilen  sich  zwischen  Zagen  uhd  Inbrunst,  und  der  Chor 
steht  oft  wie  scheu  und  mit  gelähmter  Zunge  in  der 
Ferne  und  stammelt  nach,  was  die  Solostimmen  für  ihn 
gesprochen.  Besonders  rührend  sind  die  Stellen  des 
»suscipe  deprecationem  nostram«.  Merkwürdig,  .ja  ab- 
sichtlich gewaltsam  sticht  gegen  diesen  Ton  der  Zer- 
knirschung und  des  Kleinmutes  der  kräftig  imposante 
Ausruf  ab:  »qui  sedes  ad  dexteram  patris«.  Die  Szene 
verklingt  wie  eine  ungelöste  Frage,  die  Pauken  geben 
noch  einige  Tropfen  Schauer  hinzu,  dann  richtet  sich 
das  Orchester  plötzlich  fest  auf:  der  dritte  Hauptteil,  das 
»Quoniam«,  beginnt.  Es  ist  ein  kurzer  Satz,  mehr 
deklamiert  als  gesungen,  technisch  interessant  durch  die 


— ^     217     ♦— 

scjiarf  berechnete  Verteilung  der  Akzente,  von  denen 
die  harmonisch  ausgedrückte  Betonung  des  »tu«  schon 
häufig  erwähnt  worden  ist.  Der  vierte  Hauptteil  enthält 
nur  die  Worte  »in  glori'a  dei  patris,  Amen!«  Er  zerfällt 
wieder  in  drei  Abschnitte.  Der  erste  ist  eine  Fuge  über 
das  Thema: 


AUegjo  ma  non  troppo  ^^,^  ^^^.^^  ^ 


tD       glo  .         .         .         .         .     rL»    De.i    pa   ■   Uris,  a  . 

das  in  seinem  Achtelteil  und  in  dem  aus  Vierteln  ge- 
bildeten Motiv  gesondert  durchgeführt  wird.  Der  zweite 
Abschnitt  ist  im  wesentlichen  nur  eine  Fortsetzung  des 
ersten,  gesteigert  durch  schnelleres  Tempo  und  das  Zu- 
sammenwirken von  Soloquartett  und  Chor,  im  Inhalt  da- 
durch erweitert,  daß  das  Thema  des  »Quoniam«  rhythmisch 
mit  anklingt.  Von  besonäerer  Gewalt  sind  die  wenigen 
Takte,  wo  die  sämtlichen  Stimmen  das  Achtelmotiv 
unisono  singen.  Beethoven  ließ  sich  mit  diesem  mäch- 
tigen Ausdruck  himmlischer  Freude  noch  nicht  genügen 
und  nahm  noch  einen  frischen  Aufschwung  zu  einem 
dritten  Abschnitt.  Dieser  bringt  die' Worte  und  das  Thema 
vom  Anfang  des  ganzen  Gloriasatzes,  aber  im  Presto, 
wie  in  einem  Rausche  des  Entzückens,  ebenso  kurz  als 
kühn  und  fast  verblüffend.  Die  ÄhnUchkeit  mit  dem 
Ende  des  Finale  der  neunten  und  fünften  Symphonie  ist 
nicht  zu  verkennen.  Das  ganze  Gloria  verlangt  von  den 
Ausführenden  sehr  viel.  Im  Chor  hohe  Töne  ohne  Zahl, 
im  Orchester  namentlich  für  die  Posaunen  Figuren,  dife 
fast  unerhört  sind. 

Noch  schwieriger  ist  aber  das  Credo.  Dem  Chor 
mutet  es  große  Anstrengung  zu;  dieiSoprane  sind  gerade- 
zu rücksichtslos  behandelt.  Aber  auch  dem  Hörer  wird  • 
es  wenigstens  in  der  ersten  Hälfte  des  Satzes  nicht  leicht 
gemacht,  da  die  AU9manontropp*.  beherrscht  den  Satz 
Motive  sehr  viel  ib.i.  f*  r  if  j  ~  ^^^  ^^^  ^^  ^®^  Stelle 
wechseln.  Das  ""'^  K  '  I  I  '  f  =  »ante  omnia  saecu- 
Eingangsthema  cro.do.  «0.40.     j^^   ^^^  tj.j^  ^^^j^^^ 


erst  nahe  am  Schlußteile  wieder  hervor.  Es  spricht  den 
festen  und  freudigen  Ton  des  Bekenners.  Marx  hat  aKer 
wohl  etwas  hineingehört,  was  nicht  darin  liegt:  ein  »Muß«, 
einen  Kampf  und  Trotz  gegen  den  Zweifel.  Weder  der  Auf- 
bau dieser  vier  Noten,  noch  ihre  Durchführung  ist  so  ganz 
und  gar  ohne  Vorbild,  wie  dieser  Erklärer  meint.  Wir  wer- 
den in  beiden  Beziehungen  unmittelbar  an  das  Credo  in 
Mozarts  Fdur-Messe  (Nr.  6)  erinnert,  in  welcher  das  — 
auch  aus  dem  Finale  der  Jupitersymphonie  bekannte  — 
Hauptthema  eine  ähnliche  Behandlung  erfährt  Festig- 
keit, Kraft  und  Entschiedenheit  kennzeichnet  die  ganze 
Eingangspartie  von  Beethovens  Credo.  An  der  Stelle, 
wo  Gott  als  Vater  betrachtet  wird,  sänftigt  sich  der  Ton 
auf  einen  Augenblick  und  wir  hören  aus  dem  Orchester 
einige  Takte  lang  liebliche  Motive.  Der  erste  tiefere  Ein- 
schnitt in  dem  Strom  des  Bekenntnisses  wird  bei  der  Stelle 
»etinvisibilium«  gemacht.  Ein  piano  —  das  oft  gebrauchte 
koloristische  Mittel  zur  Auszeichnung  des  Wunderbaren 
und  Geheimnisvollen  —  hebt  diesen  Schluß  noch  deut- 
licher hervor.  Ein  zweiter,  ähnlich  gehaltener,  kommt 
an  der  Stelle  »ante  omnia  saecula«.  Nun  bringt  Beethoven 
die  Haupteigenschaften  des  Gottessohns  mit  besonderen 
Motiven,  freudig  staunend  »Deum  de  deoc  und  »non 
factum«  aber  kurz;  länger  und  mit  breitem  Nachdruck 
auseinandersetzend  das  »consubstantialem  per  quem 
omnia  facta  sunt«.  Wie  in  der  Cdur-Messe  ist  der  Ge- 
danke, daß  Christus  für  uns  vom  Himmel  herabgekommen: 
»qui  propter  nos  homines  usw.«  mit  einer  rührenden 
Musik  wiedergegeben,  in  der  jedoch  auch  die  Wortmalerei 
hervortritt  (auf  »descendit«].  Sie  ist  noch  einfacher  und 
inniger  als  in  dem  Schwesterwerke  und  leitet  zu  dem 
schönen  Mittelteile  des  Credo  über,  der  die  Mensch- 
werdung des  Gottessohnes,  sein  Leiden  und  Sterben  be- 
handelt. Seine  beiden  Abschnitte,  das  so  fremdartig  und 
leer  begleitete  »et  incarnatus  est«  und  das  aus  echtesten 
und  edelsten  Schmerzenstönen  zusammengesetzte  »Cruci- 
fixus«  gehören  zu  den  ergreifendsten  Leistungen  der 
Tonkunst.    Der  Chgr  gibt  auch  wirklich  an  mehreren 


Stellen  dieses  Mittelteils  das  Bild  der  schmerzei^griffenen 
und  in  Trauer  stumm  gewordenen  Gemeinde  wieder:  Er 
flüstert  in  kaum  bewegtem  Tonsatz.  Den  großen  Gegen- 
satz der  Auferstehung:  »et  resurrexit«  leitet  Beethoven 
wie  eine  Verkündigung  aus  Priestersmunde  ein.  Die 
Stelle  wird  a  capella  und  in  den  altertümlichen  Harmonien 
des  a  capella-Stils  gesungen.  Erst  mit  dem  »ascenditc 
tritt  das  Orchester  wieder  seine  schwungvollen  Gänge  an 
und  streut  freudige  Motive  aus.  Zu  den  Besonderheiten 
Beethoven  scher  Däklahiation  gehört  die  Stelle,  wo  der 
Sopran  am  Schlüsse  des  Auferstehungsteils  nochmals  für 
sich  das  »cum  gloria«  hinausjauchzt.  Furchtbar,  ernst 
und  hart  ist  die  Erscheinung  des  jüngsten  Gerichts,  des 
»judicare«,  in  Instrumentierung  und  Harmonie  hingestellt. 
An  letzterer  hat  Beethoven,  laut  Skizze,  mit  einem  kaum 
zu  verstehenden  Eifer  sich  gemüht.  Nach  diesem  Ab- 
schnitt kehrt  das  Credothema  wieder  und  leitet  zu  dem  Ge- 
danken an  das  ewige  Leben  über.  Als  er  zum  erstenmal 
auftritt,  unterbrechen  vielsagende  Pausen  zwischen  »et« 
und  »et«  die  Deklamation.  Die  himmlische  Herrlichkeit 
schildert  Beethoven  auf  Grund  des  Thema: 

Alleg^retto  ma  dod  troppo  ^^^ 

fipr  ir  r  I  n  I  iilTT  I  ,  iiiiTrrirrr 


Et      vi.  tarn  *ao  .  tu .  rl    sa«  .       .«u.U.      a...    men,   «  .    ai«n. 

Es  atmet  jene  fromme  Sehnsucht  nach  Ruhe  und  Frieden, 
in  deren  Ausdruck  Bach  der  größte  Meister  ist;  der 
Fugensatz,  welcher  darüber  gebaut  ist,  führt  das  schöne 
Bild  eines  leidenschaftslosen  Glücks  aus.  Es  sind  aber 
auch  leise  Anklänge  der  Traurigkeit  hineingemischt;  an- 
gesichts deren  es  sehr  zu  verwundern  ist,  daß  sich  Aus- 
leger*) dieses  Satzes  haben  verleiten  lassen,  diese  Musik 
heiter  scherzend  und  ein  Allegretto  aus  »lachendem 
Munde«  zu  nennen.  Die  Schuld  an  diesem  Mißver- 
ständnis trägt  wohl  Beethovens  unleserliche  Handschrift. 
Der  Drucker  hat  an    einer  Stelle,   wo  Beethoven   den 


*)  Helmsoetli :  L.  v.  Beethoveni  Missa  solemnis,  Bonn  1845. 


—-fr     220 

Einsatz  des  Altes  mit  »sforzando«  sehr  deutlich  wünschte, 
»scherzandoc  gelesen  und  gesetzt.  Nach  einem  solchen 
elegischen  Abschluß  der  Fuge  ist  es,  wo  Beethoven  den 
Ton  seiner  Schilderung  ändert:  AUo.  con  moto  tritt  ein, 
das  Thema  kommt  in  der  Verkürzung  und  der  Satz 
wird  zum  Gemälde  einer  übermenschlichen^  gewaltigen 
Himmelslust.  So  klingt  er  aus;  nur  ganz  kurz  vor  dem 
Schluß  blinken  aus  der  Höhe  noch  einmal  mildere 
Sterne. 

In  der  älteren  Messe  bildet  das  »ßehedictus«  nur- einen 
kurzen  Zwischensatz  im  Sanctus;  in  der  weiteren  Ent- 
wicklung der  Instrumentalmesse  wurde  es  aber  mehr  und 
mehr  der  Hauptteil.  Mit  den  Wienern  hat^  Beethoven 
schon  in  seiner  Cdur-Messe  das  >Benedictus<  so  breit 
ausgeführt,  daß  die  eigentlichen  Hauptsätze  des  Textes 
nur  wie  kleine  Eingangssäulen  vor  demselben  stehen.  In 
der  >Missa  solemnis«  aber  hat  er  nicht  nur  ein  sehr  langes, 
vielleicht  das  längste  »Benedictus«  unter  allen  vorhande- 
nen, geschrieben^  sondern  auch  das  anerkannt  und  denk- 
bar schönste.  Der  Satz  hat  einen  eigentümlich  erheben- 
den und  fesselnden  Klang,  als  tönte  er  in  der  Nacht  aus 
den  Himmelshöhen  herab.  Palestrina  hat  manchmal  ähn- 
liche Wirkungen  durch  Sopranensembles.  Die  Solovioline, 
welche  aus  den  höchsten  Lagen  sich  in  ruhigen  Schritten 
herabsenkt,  strahlt  einen  sanften  Glanz  aus;  wieder  spie- 
len in  der  Begleitung  die  Blasinstrumente  eine  besondere 
Rolle.  Die  Melodie,  welche  die  Geige  singt,  ist  von  einer 
Einfachheit  und  Anmut,  welche  unmittelbar  zum  Herzen 
dringt  und  Echos  weckt  Wir  ünden  nichts  natürhcher, 
als  daß  die  anderen  Instrumente,  die  Sänger  im  Quartett 
und  im  Chor  dieäe  süße  Tonerscheinung  mit  verhaltenem 
Atem  nur  in  leisen,  murmelnden  Lauten  wie  ein  Wunder 
begrüßen  und  wenn  sie  singen,  nichts  tun,  als  die  Weisen 
dieses  wunderbaren  Violinspiels  in  immer  neuen  Wen- 
dungen zu  wiederholen.  Besonders  hervorzuheben  ist 
aus  dem  Vokalsatz  die  Stelle,  wo  das  Soloquartett  auf 
der  Fermate  ausruht.  Von  da  beginnt  ein  begeisterter 
Ton,  der  in  den  kurzen  parlando-Stellen  des  Chors  — 


* 

forte  vorgezeichnet!  —  den  stärksten  Ausdruck  findet; 
und  ferner  eine  andere  dem  Schlüsse  näher  stehende  in 
welcher  der  Chor  von  der  sanften  Macht  der  Violin- 
melodie gebannt,  in  ihr  das  »Osanna«  intoiüert,  Aus- 
druck eines  höchsten  Entzückens,  das  der  Verwirrung 
die  Hand  reicht.  Zum  Beweise,  wie  Beethoven  das 
Schönste  und  scheinbar  Natürlichste  nicht  über  Nacht 
kam,  sei  mitgeteilt,  daß  den  Skizzen  nach  das  >Bene- 
dictus«  mit  einem  konzertierenden  Satz  von  vier  Solo- 
instrumenten ausgestattet  werden,  sollte.  •  Ein  dem  Grund- 
motiv der  Violinmelodie  ähnliches  war  ursprünglich  der 
Flöte  im  >et  incarnatus  est«  gegeben.  In  dem  sehr  kurzen 
Hauptsatz  des  Sanctus,  welcher  durch  die  Posaunen  seine 
Klangfarbe  erhält,  ist  eine  eigentümliche  Stelle  am  Schlüsse. 
Die  Solostimmen,  welche  das  Sätzchen  allein  zu  singen 
haben,  fangen  hier  auf  einmal  an  zu  zittern  und  zu 
stocken:  eine  drastische  Andeutung  der  überfallenden 
Scheu  und  Angst  vor  dem  Heiligen.  Das  »Pleni«  und 
>Osanna<  weichen  gar  nicht  von  dem  lauten  und  kräfti- 
gen Stil  ab,  der  in  Übereinstimmung  mit  dem  Text  in 
diesen  Sätzen  bei  allen  Instrumentalmessen  der  Periode 
Beethovens  üblich  ist.  Er  schließt  die  Möglichkeit,  das 
»Pleni«  von  den  Solostimmen  allein  singen  zu  lassen  — t 
wie  die  Partitur  und  wohl  nur  auf  Grrund  eines  Schreib- 
fehlers verlangt  —  vollkommen  aus.  Wie  im  Eingang  des 
Sanctus  schlägt  Beethoven  auch  nach  dem  energisch 
abbrechenden  >Osanna«  den  Ton  ritueller  Feierlichkeit 
an:  Es  ist  ein  besonderer  Instrumentalsatz  von  über- 
leitendem Charakter. 

Das  Agnus  dei  beginnt  Beethoven  mit  einer  er- 
greifenden Bitte  um  Erbarmen.  Sie  klingt  schlicht  aus 
einem  gnadenbedürftigen  Herzen  heraus  und  wirkt  doppelt 
ernst,  weil  sie  zuerst  aus  dem  Munde  des  Basses  uns  ent- 
gegentritt Ihm  sekundiert  der  Männerchor.  Die  anderen 
Solisten  führen  das  Thema,  vom  vollen  gemischten  Chor 
gefolgt,  breiter  aus.  Der  Satz  ist  eines  jener  scheinbar  ein- 
fachen Adagios,  wie  sie  nur  ein  Meister  schreibt.  Aus  Anrede 
und  Bitte  ist  eine  Szene  geworden,  halb  Beichte  und  halb 


--^   nt    ♦^ 

Gericht.  Bangen  spricht  ans  dem  einsetzenden  Bläsermotiv, 
inbrünstiger  und  doch  verhaltener  Büßerton  aus  den 
Singstimmen.  Die  Übersichtlichkeit  des  Aufbaus  tut  das 
übrige  um  diese  Einleitung  des  Agnus  tief  einzuprägen  und 
unter  den  gewaltigsten  Abschnitten  der  Messe  obenan  zu 
stellen.  Mit  dem  Themeneinsatz  im  Solosopran  wird  der 
Satz  erregter,  kritisch;  besonders  das  Orchester  ist  be- 
wegt. Die  Entscheidung  fällt  plötzlich  mit  einer  Modu- 
lation, nach  Gmoll.  Das  fällige  Bläsermotiv  bleibt  aus, 
an  seine  Stelle  tritt  ein  traumhaft  leiser  kurzer  Anruf 
des  »Agnus  Dei<  in  Ddur.  Der  Sopran  setzt  izum  ersten- 
mal das  »Dona  nobis  pacemc  ein,  es  ändert  sich  die 
Szene.  Das  Adagio  geht  in  ein  Allegretto  (^/g-Takt)  über, 
das  die  Oberschrift  »Bitte  um  innern  und  äußern  Frieden« 
zeigt.  Beethoven  entwirft  in  ihm  ein  Bild  des  Friedens, 
welches  uns  mit  seinen  kindlich  glückhchen,  volkstüm- 
lichen Melodien,  mit  seinem  unschuldigen  Spiel  auf-  und 
absteigender  Skalengänge,  in  die  Gefilde  der  Seligen 
führen  zu  wollen  scheint.  Nun  kommt  aber  eine 
überraschende  Wendung,  an  Stelle  einer  Fortsetzung 
ein  Kontrast,  der  vielfach  zur  Ablehnung  des  Agnus 
dei  Veranlassung  gegeben  ^  ai  J>«c«°  P* 
hat.  Die  Stimmen  haben  das 
Allegretto  mit  einer  Art  Doppel- 
fuge über  die  beiden  Thymen :  ""  '  pa 
begonnen,  setzen  es  aber  bald  unruhig,  episodisch  fort. 
Eben  stimmen  die  Bässe  des  Orchesters  das  Thema  eines 
himmlischen  Reigens  an,  da  wird  in  fremder  Tonart  ab- 
gebrochen, (B  dur)  auch  der  Takt  wechselt  (AUegro  assai,  C)  • 
Pause,  Paukenwirbel,  erregte  Violinphrasen.  Dann  eine 
leibhaftige  Kriegsmusik  in  den  Trompeten,  zuerst  pp,  noch 
wie  aus  der  Ferne;  hierauf  angstvolle  Rezitative  im  Solo- 
quartett! Beethoven  will  dem  Frieden  sein  Gegenbild  zur 
Seite  stellen:  die  Störung  des  äußeren  Friedens,  den  Krieg. 
Solche  Anspielungen  kommen  im  Agnus  Dei  und  im  Gloria 
—  hier  bei  »et  in  terra  pax<  —  vieler  Messen  vor,  die  in 
Kriegszeiten  entstanden  sind,  in  der  Nähe  Beethovens  u.  a. 
bei  J.  Haydn  und  bei  Holzbauer.    In  der  »Missa  solemnis« 


^    paeem  pa   . 

{/iiijTiiii  j jj 


erklärt  sie  sich  durch  die  Erinnerung  an  Napoleon.  Lange 
hält  sich  indessen  Beethoven  nicht  dahei  auf.  Nachdem 
der  Chor  den  Solostimmen  mit  einem  verzweifelten  »Mi- 
serere nohis«  beigesprungen,  kehrt  die  Musik  in  die  Frie- 
densbahnen,  zunächst  im  Tempo  und  Rhythmus,  bald 
auch  in  der  ToAart  zurück.  Als  Ddur  wieder  erreicht 
ist,  folgt  eine  Dankesszene.  Das  ist  die  Absicht,  die 
Beethoven  bewog  die  Worte  >Dona  nobis  pacem«  jetzt 
auf  ein  Thema  aus  Händeis  »Messiashallelujah«  durch- 
zufugieren.  Die  Entlehnung,  die  durch  das  Skizzenbuch 
noch  ausdrücklich  belegt  wird,  will  sagen:  >Er  hat  uns 
den  Frieden  wiedergegeben.  Er,  »der  regiert  von  nun  an 
auf  ewig«.  Und  daß  dieses  Zitat  verstanden  werden  konnte, 
ist  jedem  einleuchtend,  der  über  die  Geschichte  der  Hän- 
deischen Oratorien  nach  den  Freiheitskriegen  unterrichtet 
ist.  Bis  hierher  kann  also  der  Gedankengang  Beethovens 
wohl  frappieren,  aber  er  hat  keine  erhebliche  Schwierigkeit. 
Aber  nun  kommt  eine.  Nämlich  nach  der  Durchführung 
des  Messiasthema  wird  der  Ton,  in  dem  die  Stimmen  ihr 
»pacem«  aussprechen,^  nochmals  unruhig,  leidenschaft- 
lich. Sie  brechen  nochmals  ab  und  ein  zweites  Orchester- 
intermezzo beginnt.  Es  pre«to.yy 
dauert  viel  länger  als  das  f  j^i  /^^iJ^  JJ?|  j  ^=P 
erste  und  entwickelt  sich  S^r  p  r  f ' RAf  P^r  f  (ll 
über   die   beiden  Themen:         «)^I-^'     ^^  ' 

Der  Umstand,  daß  sie  Umbildungen  und  Verzerrungen 
der  (oben  angeführten)  Friedensweisen  sind,  mit  denen  das 
AUegretto  begann,  daß  sich  die  Gruppen  des  Orchesters 
immer  hitziger  und  stürmischer  um  sie  streiten,  bis  end- 
lich Homer,  Trompeten  und  Pauken  mit  ausgesprochenen 
militärischen  Marschklängen  einschreiten ,  soll  auf  den 
Unfrieden  der  menschlichen  Seele  deuten,  kaum  wohl 
aber   ein   Bild   des   Bürgerkriegs   bieten*).     Wie    in   der 


*)  Diese  Ansicht  ist  zum  erstenmal  von  Dr.  Rudolf 
Heißig  in  einer  als  Manuskript >^ gedruckten  Broschüre:  »Zum 
Dona  nohis  pacem  in  Beethovens  Missa  solemnis«  (1903)  aus- 
geführt worden. 


>Eroica<  und  im  >Fidelio<  klängen  nach  dieser  Auffassung 
auch  in  der  Missa  solemnis  noch  einmal  die  Schrecken 
der  französischen  Revolution  nach.  Daß  das  Intermezzo 
als  Seitenstück  und  als  Steigerung  zu  der  ersten  Kriegs- 
episode gedacht  ist,  geht  auch  daraus  hervor,  daß  es 
Beethoven  ganz  ähnlich  beendet:  mit  Angstru(en  der 
Singstimmen,  die  zu  dem  AUegretto  vivace  und  seinem 
Friedenston  zurückführen.  Sie  herrschen  nun  bis  ans 
Ende  vor,  aber  doch  nicht  ganz  unbestritten.  Da  gibt 
namentlich  das  Paukensolo,  das  den  letzten  drei  kurzen 
Chorintonationen  vorhergeht,  viel  zu  denken,  und  auch 
der  Umstand,  daß  die  letzten  Takte  mehr  bloß  aufhören, 
als  innerlich  schließen,  weist  darauf  hin,  daß  Beethoven 
den  ewigen  Frieden  vorwiegend  als  Gegenstand  der  Sehn- 
sucht ansah.  Unter  den  großen  zeitgenössischen  Musikern 
begegnet  er  sich  darin  mit  Cherubini. 

In  dem  Falle  der  >Missa  solemnis«  hat  die  Geschichte 
einmal  gerecht  gerichtet  Das  Werk  verdient  es,  seine 
Epoche  allein  zu  vertreten.  Keine  einzige  der  vielen  ' 
Messen,  welche,  während  Beethoven  noch  lebte  und  in 
den  nächsten  Jahrzehnten  nach  seinem  Tode  gedruckt 
und  geschrieben  wurden,  kann  sich  mit  der  »Missa  so- 
lemnis« messen.  Das  Urteil,  welches  M.  Hauptmann  in 
seinen  Briefen  an  Hauser  über  die  kirchliche  Komposition 
vom  Anfang  des  49.  Jahrhunderts  bis  zu  Mendelssohn, 
mit  Betonung  von  Hummel  und  Reißiger  fällt,  ist  hart, 
aber  nicht  unbillig.  Von  der  Mehrzahl  aller  in  diese 
Periode  fallenden  Messen  kann  man  sagen,  daß  ihre 
Musik  auch  einen  andern  Text  vertragen  würde.  Es  ist 
keine  zufällige,  sondern  eine  dieser  Tatsache  entspre- 
chende Erscheinung,  wenn  Haslinger  in  Wien  unter  dem 
Titel  »Aus  Domeshallen«  ein  Sammelwerk  herausgab, 
welches  beliebte  und  angesehene  Messen  aus  den  ersten 
Jahrzehnten  in  einem  Arrangement  für  Klavier  allein 
herausgab.  Der  Text  blieb  weg,  die  Chorstimmen  waren 
eingearbeitet  Da  paßte  Beethoven  freilich  nicht  hinein. 
Die  zweifelhafte  Ehre,  in  diesem  Museum  aufgestellt  zu. 
werden,  genossen  als  die  ersten  K.  M.  v.  Weber  mit  seiner 


-^     225     ^.— 

ersten  Messe  in  G  und  Cherubini  mit  der  vierten  Messe 
(Cdur).    Einige  Tonsetzer  ragen  mit  einzelnen  Werken 
über  die  philiströse  Musikanten anschauung  dieser  Klavier- 
messen empor.    Mit  besonderer  Auszeichnung  ist  unter 
diesen  besseren  Messen  die  in  Esdur  von  K.  M.  v.  Weber,  £,  K.  ▼.  Wel>er, 
die  sogenannte  »Jubelmesse«  (zur  goldnen  Hochzeit  des  Es dui- Messe. 
Königs  von  Sachsen  komponiert)  zu  nennen.    Sie  ist  ein 
würdiges   Werk,    eines  seiner  bedeutendsten  überhaupt 
und  zeigt  uns  den  Komponisten  des  »Freischütz«  auch 
auf  dem   Gebiete   der  Gottesverehrung   als  eine  große, 
dem  Profanen  abholde  Persönlichkeit.    In  den  kürzlich 
veröffentlichten  Briefen  Webers  an  seinen  Berliner  Freund 
Lichtenstein  bestätigt  der  Komponist,  was  man  aus  der 
Musik  allein  schon  sieht,  noch  ausdrücklich,  daß  er  näm- 
lich in  seinen  Messen  das  Beste  gegeben  hat,  was  er  geben 
konnte.   Aus  dem  kirchlichen  Dienst  ist  diese  Messe  glück- 
licherweise noch  nicht  gänzlich  verbannt.   Als  ein  ähnUch 
gelungenes  Einzelwerk  eines  fleißigen  Messenkomponisten 
wäre  dem  eben  genannten  vielleicht  die  FmoU-Messe  von 
S.  Molique  an  die  Seite  zu  stellen.   Einige  wenige  Kom-     8.  Koliqne, 
ponisten  schlagen  in  allen  ihren  Messen  bewußtvoll  eine  Fmoll^  Messe, 
höhere  Richtung  ein.     Zu  ihnen   gehört  als  einer  der 
ersten  Tomasch  ek,  der  leider  über  Prag  nicht  nachhaltig 
hinausgedrungen  ist.    Zu  ihnen  gehört  auch  Abt  Yogi  er ,     Abt  Vogler, 
der  sich  jedoch  den  guten  Eindruck  durch  musikalische 
Effekthaschereien  immer  wieder  verdirbt    Am  höchsten 
sind  in   dieser  Klasse   die   beiden  Münchener  Ett  und     K.  £tt  and 
Aiblinger   zu   stellen.     Sie   wurden   mit   ihren,   einer  J.  E.  Aiblinger 
weiteren  Verbreitung   durch   Neudrucke   durchaus  wür- 
digen Werken,   die  praktischen  Führer  einer  heilsamen 
Reaktion,  »welche  endlich  zur  Rückkehr  zur  alten  Vokal- 
messe geführt  hat.    Ihnien  haben  wir  es  in  erster  Linie 
zu  danken,  daß  die  Messe  in  Deutschland  nicht  so  tief 
sank  wie  in  Italien,  wo  man  allmählich  dahin  gelangte,  "^ 

die  heilige  Handlung  mit  aus  den  neuesten  Modeopern 
genommener  Schmacht-  und  Tanzmusik  zu  begleiten. 
Als  die  Bestrebungen  dieser  Männer  zur  Gründung  eines 
besonderen  Vereins,  des  Cäcilienvereins,  geführt  hatten, 

II,  4.  40 


— <fr     «26     -»>— 

siegte  ihre  Sache  schneller.  Es  vergingen  aber  viele 
Jahre,  ehe  sie  nur  eine  kleine  Partei  um  sich  sammeln 
konnten.  Ihre  Gesinnungsgenossen  waren  Bischöfe  schon 
früher  gewesen;  die  musikalische  Welt  hatten  sie  lange 
gegen*  sich.  Als  man  im  Anfang  der  dreißiger  Jahre  sich 
von  München  aus  entschieden  gegen  die  Haydnsche  Rich- 
tung der  Instrumentalmesse  und  ihren  immer  nüchterner 
gewordenen  Nachtrab  wendete,  da  passierte  es  denn,  daß 
in  der  Hitze  des  Aufräumens  auch  Beethoven  mit  in  den 
Bann  getan  wurde.  Uns  fällt  es  sehr  auf,  in  jener  Pro- 
scriptionsliste  Cherubini  in  gleiche  Linie  mit  Beethoven  ge- 
stellt und  mit  denselben  Urteln  »fantastisch,  träumerische 
belegt  zu  sehen.  Wir  achten  Cherubini  sehr  hoch  und 
bedauern,  daß  ihn  unsere  Zeit  vorwiegend  nur  plato- 
nisch bewundert.  Aber  wir  teilen  die  Oberschätzung 
nicht  mehr,  die  er  in  Deutschland  im  Anfang  unsers 
Jahrhunderts  genoß.  Speziell  seine  Messen  halteiv  mit 
der  Beethovenschen  »Missa  solemnis«,  ja  auch  mit  der 
Cdur-Messe  keinen  Vergleich  aus,  soweit  es  sich  um 
Vertiefung  und  um  den  hingebenden  Ernst  handelt. 
Was  sie  in  den  Augen  der  Zeitgenossen  so  hoch  hob, 
war  die  häufig  auftretende  Originalität  im  musikalischen 
Ausdruck.  In  der  geistigen  Stellung  zum  Meßtext  erreicht 
Cherubini  oft  nicht  die  unterste  Schicht  der  Beethoven- 
schen Sphäre.  Er  bleibt  in  dieser  Beziehung  ein  Kind 
seiner  Zeit  und  ein,  allerdings  taktvoller,  Anhänger  der- 
selben neapolitanischen  Schule,  aus  welcher  am  letzten 
Ende  auch  die  Landmessen  und  noch  schlimmere  Dinge 
hervorgegangen  sind.  Um  Cherubini  nicht  Unrecht  zu 
tun,  muß  man  ferner  berücksichtigen,  daß  die  Mehrzahl 
seiner  Messen  Gelegenheitswerke  sind,  ähnlich*  wie  M^huls 
neu  aufgefundene  Krönungsmesse,  wie  Berlioz*  Requiem, 
wie  ein  großer  Teil  der  bekannten  französischen  Kirchen- 
musik überhaupt,  im  Hof-  oder  Staatsauftrag  komponiert. 
Daher,  aus  der  nationalen  Tradition  kommt  der  theatra- 
lische Stil,  den  Spohr  an  Cherubinis  Messen  tadelt,  und 
aus  ihrem  Festcharakter  erklärt  es  sich  auch,  daß  in 
den   Kyrie s  verschiedener   Messen   Cherubinis   sich  die 


-^     227     ^.— 

aufschlagenden  Marsch-  und  Einzugsmotive  vordrängen. 
Aber  sein  eigenes  Unrecht  war  es,  daß  er  die  Gelegen* 
heit  über  den  Hauptzweck  setzte.  \Wenn  Heinse  in  seiner 
bösen  »Hildegard  von  Hohenthal«  in  einer  Zeit,  wo  es 
hoch-  gar  keine  gab,  die  Konzerte  für  Museen  des  sittlich 
und  technisch  Besten  ansah,  was  in  der  Tonkunst  zutage 
gefördert  wird,  so  hat  sich  diese  Prophezeihung  an  Che- 
rubinis  Messen  bewährt.  Aber  negativ:  Sie  sind  von  der 
Tagesordnung  abgesetzt  worden.  Von  allen  elf  (fünf  ge- 
druckt), die  sämtlich  an  einfach  großen  Zügen  und  an 
Beispielen  genialer  Verwendung  auch  bescheidener  Ton- 
mittel reich  sind,  erscheint  nur  die  Dmoll-Messe,  und 
auch  diese  nur  selten,  auf  den  Programmen. 

Diese  Dmoll-Messe  Cherubinis,  ein  Werk  vom  Jahre    L.  CheraUni, 
4  824,  aus  der  besten  Periode  des  Meisters,  steht  hoch  Dmoll-Messe. 
über  dem  oben  gezeichneten  Durchschnitt   der  übrigen' 
und  darf  in  ihrem^  geistigen  und  in  ihrem  musikalischen 
Gehalt    den    beiden   berühmten  Totenämtern   des  Ton- 
setzers gleichgestellt  werden. 

Für  den  Eindruck  des  Kyrie  ist  das  kurze  Orchester- 
vorspiel, welches  dem  Einsatz  des  Chors  vorangeht,  be- 
stimmend. Es  kündet  einen  dramatischen  Gebetsakt:  ein 
finsterer  Zug  beherrscht  ihn  und  schreitet  mit  leisen  Mo- 
tiven schauerlicher  Feierlichkeit,  mit  Klagerufen  und  mit 
chromatischen  Gängen  der  Verzagtheit  über  die  Töne  des 
innigen  Bittens  und  des  freundlichen  Hoffens  hinweg.  Die 
vom  Chore  einfach  repetierte  Skizze  ist  in  ihrer  Kürze, 
in  ihrer  Strenge,  in  ihrem  hochgespannten  Pathos  ein 
Meisterstück,  welches  Hand  und  Geist  des  Komponisten 
der  »Medea«  so  deutlich  zeigt,  daß  man  auch  ohne  Titel- 
angabe nur  auf  Cherubini  raten  würde.  Im  dritten  ^Teile 
der  Nummer,  einer  in  dem  leisen  Anfang  sehr  schön 
wirkenden  Fuge  über  das  Thema: 

Allegro  moderAto. 

fii  i|ii  UM  an,ijij  Jjiij[jif  ■MiohJ 

Ky  .     .   p|»  •  .  la   .      .    .    ^*^    ira.  e    .     \m  ^  \    .    coa.  Kj  .  ri  .   • 

kehrt    die    dumpf    erwartungsvolle    Anfangspartie    der 

4  5* 


^28     ^-— 

Einleitung  als  Anfang  und  als  Schluß/ wieder.  Aus  dem 
breiten  Fluß  dieser  Fuge  ragen  die  Stellen  mächtig  ein- 
drucksvoll hervor,  wo'die  Musik  unvermutet  zagend  ab- 
bricht. Die  eine  ist  durch  Fermate  und  unvollkommnen 
Schluß  auf  dem  Dominantseptakkord,  eine  andere,  gleich 
bedeutungsvolle  durch  einen  einsamen  dahin  irrenden 
Gang  der  Violinen  gekennzeichnet.  Das  »Christe  eleisonc 
ist  den  Solostimmen  übergeben,  welche  in  dieser  Messe 
eine  größere  Reihe  von  Sätzen  allein ,  durchführen.  In 
der  Stimmung  geht  dieses  Quartett  von  Regungen  des 
Vertrauens  und  der  Zuversicht  aus  und  berührt  nur  an 
einzelnen  Stellen  —  mit  mächtig  ausgreifender  Melodik 
an  den  einen,  mit  in  ratloser  Kürze  sich  verlierenden 
Motiven  an  den  anderen  —  das  Gebiet  einer  düsteren 
Fantasie.  Die  Entwicklung  der  Gedanken  ist  sehr  be- 
wegt; die  Form  trotz  der  nachahmenden  Führung  der 
Stimmen  italienisch  klar.  Die  innere  Empfindung  und 
die  harmonische  Modulation  sind  reich  an  entschiedenen 
Absätzen  und  Einschnitten. 

Das  Gloria  der  Dmoll- Messe  hat  drei  Hauptteile. 
Der  erste  umfaßt  den  Text  bis  zu  den  Worten  »glori- 
ficamus  te«.  Der  Eingang  ist  enthusiastisch,  nicht  ge- 
rade im  kirchlichen  Tone:  aber  die  elementare  Kraft, 
mit  welcher  die  Violinen  heranrauschen,  die  Gewalt  der 
einfachen  Gesangsmotive,  der  große  Zug,  in  dem  die 
Harmonie  sich  auf  dem  klarsten  Grunde  aufbaut,  reißen 
alle  Bedenken  mit  fort.  Diese  erste  Intonation  hat  den 
Charakter  einer  großartigen  Fanfare.  Das  »laudamus« 
bildet  einen  Anhang  dazu,  flüssiger  in  der  Melodik  und 
mit  kühnen  Harmonien  den  Ausdruck  noch  steigernd. 
Beim  >et  in  terra  pax<  bricht  Cherub ini,  der  Freund 
scharfer  Gliederung,  plötzlich  ab.  Über  die  friedliche 
Stille  des  Orchesters  gleitet  von  Instrument  zu  Instru- 
ment das  AUegro.  dahin.  Man  wird  unwill- 
beschau-    A^  ^  J    T}')  n  1  p  kürlich  an   Beethovens 

ir.Vie  Motiv   C  "-' "  *  ^  «l  N      «««♦ «  c. 


liehe  Motiv  ^  ^"^  •'     erste  Symphonie  und  an 

den  Eintritt  des  zweiten  Themas  im  Hauptsatze  erinnert. 
Auch  Haydn  glättet  mit  diesen  fünf  Noten  so  oft  die 


I 
l 


229 

hohen  Wogen  des  Gefühls.  Die  Singstimmen  deklamieren 
dazu  ruhig  freundlich  ihre  Friedenswünsche.  Dann  er- 
scheint das  >laudamus<  wieder  mit  seinen  Achtelgängen. 

Ganz  eigen  ist  der  Ge-  Aüegro.      ^ ^ 

danke  der  Anbetjing  aus-  i^a^ippirr  ppjP'pr 
gedrückt,  nämlich  mit:  ^^  >  L  r«  nnu.  U  «■  ^  **  ^^ 
Das  kindlich  heitere  Motiv  ist  der  unbefangene  und 
stärkste  Ausfluß  der  im  >et  in  terra«  angeschlagenen 
Stimmung.  Cherubini  hat  nicht  versäumt,  ihm  unmittel- 
bar Töne  von  höherem  Pathos  nachzusenden.  Mit  ihnen 
leitet  er  in  die  Eingangsworte  >gloria  in  excelsis  deo« 
zurück  und  damit  in  eine  Wiederholung  der  ganzen 
Jubelszene  über.  Die  Reihenfolge  ihrer  Abschnitte  ist 
jedoch  frei  geändert. 

Der  zweite  Hauptteil  des  Gloria  besteht  aus  dem 
»Gratias«  und  dem  >Qui  tollis«.  Das  »Gratias«  gleicht 
dem  Andante  einer  Haydnschen  Sinfonie:  es  ließe  sich 
zur  Not  ohne  Singstimmen  aufführen.  Die  Instrumente 
tauschen  Motive  frommer  Anmut  aus,  das  Soloterzett 
deklamiert  dazwischen;  hier  und  dk  vereinigen  sich 
Sänger  und  Spieler  zu  längeren  Melodien  voll  warmen 
Ausdrucks.  Das  >Qui  tollis«  (Hmoll,  Largo),  der  be- 
deutendste Satz  im  Gloria,  ist  ungefähr  gedacht:  als 
ob  die  sündige  Menschheit  das  Strafgericht  nahen  sähe: 
Es  naht  in  rollenden,  tief  dumpfen  Figuren  der  Violinen, 
zu  denen  andere  Instrumente  schwere  Akkorde  lang 
lastend  aushalten.  Man  glaubt  den  drohenden  Ton 
eines  fernen  Gewitters  zu  hören.  Ein  feierlich  modu- 
herender  Takt  endet  die  Spannung  und  nun  stimmen 
aus  der  Leere  heraus  die  Menschenstimmen  zagend  ihr 
>miserere«  an. 

Der  dritte  Hauptteil  enthält  das  »Quoniam«  und  das 
»Cum  sancto  spiritu«.  Alles  ist  hell  in  der  Stimmung; 
die  Form  fugierend,  aber  leicht,  weil  reich  gegliedert. 
Eine  sehr  große  Wirkung  macht  der  erste  Eintritt  des 
»Cum  sancto  spiritu«  in  den  breiten  Rhythmen  und  der 
fast  geisterhaften  Instrumentierung.  Man  denkt,  wenn 
nach  dem  feierlich  langen  Hmoll- Akkord  auf  einmal  unter 


— *      «30      *~ 

plötzlicher  Todesstille  die  beiden  Solostimmen  (Tenor  und 
Baß)  das  steinerne  Thema  hineinrufen,  unwillkürlich  an 
die  Bibelstelle:  »Denn  der  Geist  spricht  usw.«.  Die  Schluß- 
steigerungen des  >Amen«  haben  auf  Beethovens  Behand- 
lung dieser  Worte  in  der  »Missa  solemnis«  vielleicht  ein- 
gewirkt. 

Einen  Berührungspunkt  mit  dem  letztgenannten 
Werke  bietet  auch  das  Credo.  Dieses  und  das  Gloria 
Beethovens  haben  die  hinstürmende  Begleitungsfigur  der 
Violinen  fast  wörtlich  gleich.  In  der  Ablegung  des 
Glaubensbekenntnisses  selbst  ist  aber  zwischen  beiden 
Komponisten  ein  himmelweiter  Unterschied.  Cherubini 
tut  dies  mit  einer  wahren  Bravour,  die  von  jeder  Ver- 
tiefung entfernt  ist  und  auch  kaum  den  richtigen  Ton 
trifft.  Aber  die  Kraft  und  die  Naivität  in  diesem  6e- 
kennteis  sind  doch  so  stark,  daß  sie  die  Verwunderung 
verstummen  machen.  Über  Skrupel  und  Bedenken  ist 
dieser  Glaube  niemals  gestrauchelt.  Es  kommen  Stellen 
vor,  welche  die  Gedankenlosigkeit  und  die  TriviaUtät 
streifen;  aber  der  ahnungslose  Eifer,  mit  dem  auch  sie 
hinausgepredigt  werden,  macht  sie  wieder  liebenswürdig. 
Eine  solche  Stelle  ist  das  »patrem  omnipotentem«,  % 
welches  namentlich  beim  ersten  Male  vom  Sopran  —  es 
sind  unverkennbar  Knabenstimmen  gedacht  —  auf  dem 
hohen  f  hingeschmettert,  ganz  merkwürdig  klingt.  Bis 
zu  den  Worten  »descendit  de  coelis«  ist  der  ganze  Text- 
vorrat in  einem  festen  und  um  Details  unbekümmerten 
Zuge  übertüncht;  erst  bei  dem  Bilde  des  vom  Himmel 
herabsteigenden  Gottessohnes  erinnert  sich  Cherubini, 
daß  die. Musik  nicht  bloß  färben,  sondern  auch  malen 
und  zeichnen  kann.  :—  Bei  dem  »et  incamatus  est« 
haben  Cherubini  vielleicht  Jugendeindrücke  widerge- 
klungen, Töne  aus  der  besseren  Zeit  der  italienischen 
Dome.  Palestrina,  die  einfachen  Melodien  dieses  Meisters, 
die  seraphischen  Klänge  seiner  Knabenchöre,  seine  Kunst, 
die  Gruppen  des  Chores  wechseln  zu  lassen,  zu  trennen 
und  zu  verbinden,  leben  in  diesem  klassisch  schönen 
Sätzchen  wieder   auf!    Cherubinis  Fantasie   ist  hier  in 


einer  eignen  Weise  ergriffen,  ganz  unzweifelhaft  durch 
persönliche  Erinnerungen  gefesselt  worden.  Im  gewissen 
Sinne' ist  er  nur  lialb  bei ,  der  Sache,  als  er  des  Herrn 
Kreuzigung,  Leiden,  Sterben  und  Begräbnis  schildert 
Das  ist  wie  im  Traume  erzählt,  wie  eine  verschleierte 
Vision;  aber  so  eigen  und  schön,  daß  man  es  mit  nichts 
vergleichen  kann.  Unter  einem  Gewinde  von  dankbaren 
und  bewundernden  Gedanken,  die  alle  leise  wie  nur  nach 
innen  gesprochen  vorbeiziehen,  steht  der  Chor  und  dekla- 
miert ebenfalls  im  pp  die  ganze  Passionshistorie  auf 
einen  Ton  hin.  Alle  vier  Stimmen  etliche  fünfzig  Takte 
lang  nichts  als  ihr  C.  Das  ist  unter  den  vielen  magischen 
Effekten,  die  von  neueren  Meistern  mit  dem  Kunstmittel 
der  sogenannten  liegenden  Stimme  in  großen  und  kleinern 
Tonbildern  (Beethoven,  Schubert,  Nicolai,  Gurschmann, 
Cornelius,  Boito)  erzielt  worden  sind,  einer  der  be- 
deutendsten und  einer,  den  man  als  solchen  gar  nicht 
zu  bemerken  braucht!  Cherubini!  Großer,  sublimer 
Meister!  —  Die  Szene  der  Auferstehung  ist  wieder  in 
dem  Stile  gesetzt,  in  welchem  das  Credo  begann:  das 
>ascendit«  mit  der  Umkehrung  desselben  Motivs  wieder- 
gegeben, welches  dort  am  Schluß  das  »descenditc  auf- 
nahm. Mit  Beethovenscher  Entschiedenheit  und  Schwung- 
kraft deklamiert  Cherubini  das  »cujus  regni  non  erit 
finis«.  Den  ganzen .  Schlußteil ,  das  »et  vitam  venturi 
saeculic  inbegriffen,  hat  Cherubini  aus  dem  Sinne  einer 
Seele  heraus  gefaßt,  welche  ihren  Frieden  gefunden.  Es 
ist  eine  sanfte  Arie,  deren  4Iauptthema  die  einzelnen 
Stimmen  des  Soloquartetts  nacheinander  aufnehmen.  Wie, 
als  ob  es  nun  genug  der  Rührung  sei,  packt  dann  der 
Meister  das  »Amen«  für  sich  mit  gewaltiger  Faust  und 
treibt  es  durch  eine  Doppelfuge,  deren  kräftig  kurzer,  un- 
gestümer Ton  fast  bedrohlich  wirkt. 

Das  Sanctus  zeichnet  sich  durch  große  Knappheit 
aus.  In  Anlage  und  Erfindung  hat  sich  Cherubini  hier, 
wie  er  manchmal  tut,  auf  das  Nötigste  beschränkt;  Das 
»Pleni  sunt«  ist  mit  dem  »Sanctus  dominus  deus  Saba- 
hot«  in  einen  Satz  zusammengezogen,  dessen  Charakter 


«3«     ^— 

getragen  und  feierlich  ist.  Das  Eigentümliche  an  dem,  wie 
üblich,  in  froher  Bewegung  vorüberziehenden  »Osanna« 
ist  der  Einsatz  in  fremder  Tonart:  Gdur  in  A!  In  >Bene- 
dictusc  gebraucht  Cfaerubini  ein  in  seinen  Messen  häufig 
vorkommendes  Mittel  vokaler  Instrumentation:  rezitati- 
vische Intonationen  einzelner  Solostimmen,  denen  das 
vierstimmige  Ensemble  dann  nachfolgt,  wie  der  Gemeinde- 
respons  dem  liturgischen  Rufe  des  Altarpriesters. 

Das  Agnus  dei  besteht  aus  zwei  Teilen:  einem  lang- 
samen Satz  (Andante  moderato)  und  einem  AUegro.  Der 
erste  setzt  im  Tone  des  ruhigen  Glückes,  des  seligsten 
Vertrauens  ein.  Man  kann  an  ein  Kind  denken,  welches 
im  Arm  der  Mutter  eingewiegt  wird.  Allmählich  wird  aber 
der  Ausdruck  unruhiger  und  trüber;  am  Schluß,  wo  das 

Orchester  an     p   pj  ii    j festhält,   sogar  leidenschaft- 

dem  Motive  ■fl'  ^'  "*  ^T  —  lieh  und  Aufregend.  Der  Chor 
schreit  ängstlich; auf  in  langen  Akkorden,  nachdem  er 
eben  vorher  noch  leise,  wie  inf  Innern,  lange  einem 
freundlichen  Bilde  nachgesonnen.  Schnell,  wie  die 
schrecklichen  Gedanken  gekommen,  verschwinden  sie 
auch  wieder.  Die  Stelle,  wo  Cherubini  aus  dem  tumul- 
tuarischen  Abschnitt  in  den  liebenswürdigen  Anfang  des 
Satzes  zurückmoduliert  und  schließt,  ist  eine  der  schön- 
sten in  dieser  an  Schönheiten  ersten  Ranges  reichen  Messe. 
In    dem   zwei-         ^egro. ' 

eher  dasieier-  ff^^»  U  I  «  I  ^  I  "  I  JljJ  I  "  I J  "  I 
hebe     Thema:  ^* "  ^    "'*'*••    "^ '  ^^      «*'*••" 

zur  Hauptgrundlage  hat,  sind  die  Rollen  zwischen  Solo- 
quartett und  Chor  dramatisch  verteilt:  Das  erstere  singt 
Frieden  und  Seligkeit;  der  Chor  haftet  noch  am  Zweifel. 
Den  herrlichen  Augenblick,  wo  auch  in  ihm  der  Glaube 
gesiegt  hat,  bezeichnet  der  durch  eine  zweitaktige  Pause 
vorbereitete,  leise  Einsatz  des  »Dona  nobis«  auf  dem 
übermäßigen  Dreiklang  von  D. 

Während  diese  Dmoll-Messe  Cherubinis  in  der  Praxis 
nicht  in  dem  Verhältnisse  berücksichtigt  wird,  wie  sie  es 
ihrer  Bedeutung    nach   verdient,    erscheint   eine   andre 


233      ♦— 

Meßkomposition  desselben  Tonsetzers  in  neuerer  Zeit 
häufiger  auf  den  Repertoiren,  als  sie  nach  ihrem  Gehalt 
beanspruchen  kann.  Es  ist  dies  das  »achtstimmige«  Credo  ^i  Chefablnii 
(a  capella),  eins  der  vielen  Messenfragmente,  zu  welchen  Credo 
Cherubini  durch  die  eigentümliche  Liturgie  am  französi-  (aehtstimmig 
sehen  Hofe  veranlaßt  wurde.  Wir  haben  dieses  Werk  a  eapella). 
als  eine  Studie  im  alten  Vokalstile  zu  betrachten.  Sie 
unterscheidet  sich  als  solche  von  den  ähnlichen  nennens- 
werten Arbeiten  gleichzeitiger,  früherer*)  und  späterer 
Musiker  dadurch,  daß  sie  in  erster  Linie  technische 
Zwecke  verfolgt.  Man  könnte  sie  für  die  Nebenfrucht 
einer  größeren  theoretischen  Arbeit,  vielleicht  des  be- 
kannten Lehrbuches  vom  Kontrapunkt  halten,  wäre  das 
Entstehungsjahr  nicht  schon  4  806.  Cherubini  nahm  den 
Credotext,  um  an  ihm  ein  Beispiel  für  die  Anwendung 
des  achtstimmigen  Satzes  (a  eapella)  zu  geben.  Uhd  er 
gab  dies  ohne  einen  großen  Aufwand  von  Geist  und 
höherem  Fleiß.  Eine  Vertiefung  in  den  heihgen  Text, 
ein  Bemühen,  die  Geheimnisse  des  Glaubens  in  ergrei- 
fende und  mächtige  Tonbilder  zu  fassen,  spricht  aus  die- 
sem Credo  ebensowenig,  als  eine  tiefere  Kenntnis  der 
Meister  des  4  6.  Jahrhunderts  und  eine  fruchtbar  ge- 
wordene Vertrautheit  mit  ihren  Formen.  Wir  können 
sogar  nicht  umhin,  Cherubini  den  Vorwurf  zu  machen, 
daß  er  die  alten  Muster  in  manchem  Punkte  nur  halb 
verstanden  hat.  Dahin  gehört  die  Behandlung  des  cantus 
firmus,  aus  welchem  er  ein  blindes  Fenster  macht;  dahin 
gehört  zweitens  auch  die  übermäßige  Bedeutung,  welche 
er,  dem  Beispiel  der  früheren  Niederländer  folgend,  den 
kontrapunktischen  Kunststücken  beilegt.  Der  achtstim- 
mige Satz  ist  vorwiegend  kompakt  behandelt  und  der 
geistige  Gehalt  der  Erfindung  und  Ausführung  übersteigt 
nicht  ein  gewöhnliches  Mittelmaß.  Über  diese  Durch- 
schnittsstufe treten  einzelne  Partien  allerdings. hinaus: 
Es  ist  dies  der  kleine  Abschnitt:   »visibilium  omnium  et 


•)  Unter  ihnen  auch  G.  Sarti,  Oherubinis  Lehrer,  mit  einem 
>Fuga«  betitelten  achtstimmigen  »Kyrie«. 


--^     «34     ♦^ 

invisibilium«.  Ferner  die  ganze  Partie,  Ixrelche  die  Ge- 
schichte des  Gottessohnes  umfaßt:  das  >£t  incarnatus  est« 
und  das  >Grucifixus<  bis  zu  seinem  Schiasse:  »et  sepultus 
est«.  Sie  finden  wir  wiederholt  auch  allein  auf  den 
Konzertprogrammen.  Endlich  ist  noch  als  außerordent- 
lich hervorragend  der  Schlußteil:  »Et  vitam  venturi 
saeculi«  zu  bezeichnen.  Während  alle  übrigen  Abschnitte 
des  Gredo  bei  dem  Vergleich  mit  den  Originalwerken 
der  großen  Vokalperiode  eine  niedere  Zensur  erhalten, 
müssen  wir  diesem  kontrapunktischen  Meisterstück  eine 
Überlegenheit  zuerkennen.  Nirgends  im  4  6.  Jahrhundert 
begegnen  wir  über  diese  Worte  einem  kunstvollen  Ge- 
mälde von  so  großer  und  kolossaler  Formanlage.  Aber 
wir  können  auch  nicht  verkennen,  daß  mit  der  Länge 
auch  zugleich  geistiger  Schwung  diese  außerordentliche 
Fuge  auszeichnet.  Es  ist  darin  etwas  von  dem  unerschöpf- 
lichen Geist  der  Beethovenschen  >Missa  solemnis«.  In 
einer  Zeit,  wo  Palestrina  und  seine  Neben-  und  Vormänner 
ungekannt  waren,  mußte  dieses  Gredo  als  ein  Wunder- 
werk wirken;  denn  es  bringt  die  Naturreize  der  Gattung,- 
wenn  auch  nur  einseitig  und  nur  mäßig  belebt,  doch  immer 
noch  stark  genug  zur  Geltung. 

Einer  der  liebenswürdigsten  Vertreter  der  Instru- 
F.  Schabert,  mentalmesse  ist  Franz  Schubert.  Seine  sieben  Messen, 
Messe  in  G.  welche  jetzt  in  der  stattlichen  Gesamtausgabe  der  Werke 
F.  Schuberts*)  zwei  Bände  der  4  3.  Serie  ausfüllen,  sind 
zurzeit  ihrer  Entstehung  wenig  bekannt  geworden.  Schu- 
bert schrieb  auch  diese  Werke,  wie  seine  Symphonien 
und  die  anderen,  im  sorglosesten  Schaffensdrange.  Die 
drei  ersten  wurden  in  der  Zeit  von  zwölf  Monaten  (4  84  4 — 4  5] 
fertig  und  der  Komponist  war  vollständig  zufrieden,  wenn 
eine  der  Wiener  Vorstadtkirchen  Gelegenheit  zu  einer 
Aufführung  bot.  Wir  schreiben  diese  Bescheidenheit  mit 
auf  das  persönliche  Konto  Schuberts  —  wir  sollten  aber 
nicht  vergessen ,  daß  in  der  Zeit  des  unentwickelten 
Musikalienhandels  die  Wirkung  im  engsten  Kreise  das  Los 


•)  Breitkopf  &  Härtel. 


N. 


— ♦     «35     ♦— 

der  meisten  Tonsetzer  war.  Über  einen  Lokalerfolg 
hinauszudringen,  bedurfte  es  einea  bereits  fertigen  Namens 
oder  eines  Werkes  von  überragender  Bedeutung.  Unter 
diese  Gattung  aber  die  Jugendmessen  Schuberts  ein-  . 
zureihen,  dürfte  auch  den  eifrigsten  Schwärmern  kaum  \ 
einfallen.  Einen  interessanten  und  individuellen  Zug  der 
ersten  vier  Messen  (F,  B,  G,  C,  4  »4  4— 4  84  6)  erblicken  wir 
in  ihrer  Hinneigung  zum  Liedton.  Die  reifste  unter 
ihnen  ist  die  in  G,  welche  wir  auch  heute  noch  im 
katholischen  Gottesdienste  häufiger  benutzt  sehen.  Sie 
hat  den  kurzen,  alle  Wortwiederholungen  und  alles  Ver- 
weilen und  Eingehen  vermeidenden  Stil,  welchen  der 
oben  erwähnte  G.  K.  Reutter,  der  Lehrer  Haydns,  in  Auf- 
nahme brachte,  and  den  später  namentlich  Gänsbacher 
zu  dem  seinigen  machte.  Während  aber  diese  Tonsetzer 
und  ihre  Schule  die  in  dem  Stile  liegende  Gefahr  eines 
geschäftsmäßigen  und  nüchternen  Ausdrucks  zeigen,  dient 
die  Kürze  für  Schubert  zum  Ansporn  genialer  Ideen.  In 
dieser  Hinsicht  ist  das  choralartige  Credo  der  Gdur-Messe* 
besonders  merkwürdig  und  in  diesem  wieder  hervorragend 
der  Abschnitt:  >in  unum  dominum  usw.c  und  der  mit  ihm 
gleichlautende:  >qui  cum  patre  et  filio  usw.«. 

Das  Konzert  beschränkt  sich  auf  zwei  von  den 
späteren  Messen  Schuberts,  die  in  As  (4  822)  und  die  in 
Es  (4  828) ,  und  pflegt  und  kennt  beide  noch  nicht  so 
lange;  erst  Herbeck  und  Brahms  haben  sie  mit  dem 
Wiener  Musikverein  eingeführt.  Schubert  hat  in  diesen 
Kompositionen  der  musikalischen  Welt  zwei  Werke  zu- 
geführt, die  wir  ohne  Bedenken  den  Spitzen  der  Gattung 
zuzählen  und  welche  für  die  ganze  Eigenart,  Tiefe  und 
Kraft  seiner  Natur  die  glänzendsten  Zeugnisse  bilden. 
In  keiner  seiner  Symphonien,  —  mit  Ausnahme  des 
DmoU-Quartetts  können  wir  sagen:  in  keinem  seiner 
Instrumentalwerke  —  hat  Schubert  die  geistige  Größe 
wieder  erreicht,  in  welcher  er  in  diesen  zwei  Messen 
vor  uns  steht.  Man  darf  ruhig  behaupten:  wer  die 
As dur -Messe  nicht  kennt,  kennt  die  volle  Bedeutung 
Schuberts  überhaupt  nicht.      Nur  das  Eine    bleibt    an 


236      <J>— 

dem  Werke  zu  bedauern,  daß  nicht  alle  Abschnitte  voi^ 
gleicher  Güte  sind.  1 

F.  Sohnbezt,  Das  Kyrie    dieser  As  dur  -  Messe   ist  ein   sehr   ein-  { 

Messe  in  As.  f acher  Satz  von  echt  Schuber tschem  Ton.  Beide  Ab- 
teilungen, die  Anrufung  Gottes  des  Vaters  und  die  Gottes 
des  Sohnes,  sind  kurz  ausgeführt  und  eng  verbunden. 
Nach  dem  »Christe  eleison«  beginnt  der  Satz  von  vorn,  : 

wird  ziemlich  wörtlich  wiederholt  und  mit  einem  im  An-  ' 

fang  etwas  dunkel  ausbiegenden  Anhang  versehen.  Der 
Charakter  der  Musik  ist  der  des  kindlichen  Vertrauens. 
Als  belebendes  Gegenelement  kommen  wiederholt  Wen- 
dungen der  Wehmut  vor,  zuweilen  stärker  akzentuiert. 
Namentlich  ist  dies  im  »Christe  eleison«  der  Fall.  Sie 
scheinen  aber  nur  da  zu  sein,  um  den  freundlichen  Refrain 

iJ^>i|ir    |fTTYTT~  hervorzuheben. 

Das  Gloria,  in  den  Abschnitten  des  Lobens  und 
-'Preisens  sehr  wuchtig  und  energisch  geführt,  hat  seinen 
genialsten  Teil  im  »Gratias«.  Duftige  von  einem  Gefühl 
des  Glückes  durchhauchte  Melodien  der  Solostimmen; 
der  Chor  schließt  sie  kurz  geheimnisvoll  ab!  Das  »Domine 
deus,  domine  fili  usw.«  ist  in  den  zarten  Bau  der  Dank- 
sagung originell  hineingezogen.  Das  »Qui  tollis«  und 
das  »Quoniam«  sind  thematisch  gleichlautend  und  bilden 
geistig  eine  Art  Fortsetzung  der  Danksagungsszene, 
gleichsam  ihren  zweiten,  weiter  ins  Innere  des  Heiligtums 
hinein  verlegten  Abschnitt.  Dieser  Abschnitt  hat  einen 
mächtigen  Schluß.  Wie  aus  dem  leisfen*  Ton  der  Bitte 
die  Stimmen  im  Unisono  zusammentreten  und,  wie  der 
Erhörung  und  des  Sieges  gewiß,  ihr  »Quoniam«  in  allem 
Glanz  in  die  Welt  hinausrufen,  das  ist  eine  der  gewal- 
tigsten Ideen  und  einer  der  gewaltigsten  Effekte,  welche 
in  der  gesamten  Messenliteratur  an  dieser  Stelle  vor- 
kommen. Auch  im  Detail  der  Deklamation  wächst  Schu- 
berts Geist  an  dieser  Stelle  auf  einmal  ins  Großartige. 
Das  »te<  vor  der  letzten  Periode  ist  Beethovensch.  In 
seiner  Stellung  auf  dem  plötzlich  und  im  ff  eintretenden, 


237      ^>-^ 

verminderten  Septakkord  erinnert  es  unwillkürlich  an 
das  >Barrabam«  der  Bachschen  Matthäuspassion.  Das 
Glori^  schließt  mit  einer  kräftigen  und  glänzenden 
Fuge  über:  »cum  sancto  spirituc.  Als  Eybler,  selbst 
ein  sehr  fruchtbarer  und  noch  heute  ein  viel  gepflegter 
Komponist  von  Messen,  die  Aufführung  von  Schuberts 
Asdur- Messe  in  der  Hofkapelle  wegen  zu  großer 
Länge  ablehnte  (siehe  Kreisle),  mochte  er  wohl  Sätze 
wie  dieses  »cum  sancto  spifitu«  im  Auge  haben.  Das 
Thema  dieser  Fuge  ist  eines  der  leichtesten.  Es  scheint 
Schubert  nicht  gefallen  zu  haben.  In  einer  vorhandenen 
zweiten  Fassung  dieses  Abschnitts,  die  in  der  Gesamt« 
Wirkung  hinter  der  ersten  steht,  ist, es  etwas  veredelt 
worden.  Das  Credo  hat*  eine  einfache  dreiteilige  An- 
lage. Der  erste  Teil  geht  bis  zum  »per  quem  omnia 
facta  sunt«  (Cdur,  AUegro  maestoso).  Der  zweite,  kurze 
(Asdur,  8/2  Grave)  behandelt  die  Menschwerdung  Christi 
und  seine  Passion;  der  dritte  (Cdur,  Tempo  I)  ist  Wieder- 
holung des  ersten  mit  einem  kurzen  Anhang.  Der  erste 
Teil  stellt  das  Bekenntnis  außerordentlich  ernst  und 
streng  hin.  Das  Thema  mit  seinen  altertümhchen  Har- 
monien hat  Choralcharakter,  ähnlich  wie  der  gleiche  Satz 
in  der  Gdur-Messe,  und  wird  später  auch  so  wie  dort  mit 
den  straffen  Vierteln  der  Orchesterbässe  kontrapunktiert. 
Nur  ist  es  in  viel  finstereren  Farben  gehalten.  Von  ge- 
waltiger Wirkung  ist  es,  wenn  nach  jedem  Abschnitt  des 
Bekenntnisses,  welches  die  Stimmen  zu  zwei  unterein- 
ander verteilen,  das  Orchester  mit  aller  Kraft  das  Motiv 

AUegi«  maestoso  «Ti^ce.      umsetzt     Das  fällt  immer  wie 
^         ^^^^f        ein      bekräftigender     Schwert- 
schlag darein.     Das  »Et  incar- 
^    I     •    •■       1-         natus  est«  und  das  »Crucifixus« 
»  sind    von    großer    Einfachheit. 

Das  erstere  erreicht  die  hochfeierliche  Wirkung  durch 
die  Teilung  der  Chöre  und  die  Instrumentierung,  das 
letztere  greift  mit  knappen  aber  sicheren  Biegungen  der 
Melodie  ins  Herz.  Nur  selten  trifft  man  Schubert  in  dieser 
vielsagenden,  männlichen  Wortkargheit,  mit  welcher  er 


— ^      238     «>— 

hier  einen  t^alestrinensischen  Eindruck  erreicht.  Der  dritte 
Teil,  immer  noch  wirkungsvoll  und  an  großen  Stellen 
reich,  ist  nicht  mit  derselben  Inspiration  geschrieben,  wie 
die  vorhergehenden.  Befremdend  ist  die  Zurückhaltung, 
mit  welcher  das  »et  vitam  usw.«  und  das  »Amen«  aas- 
geführt sind. 

Dem  Sanctus  der  Messe  liegt  im  ersten  Teile  (An- 
dante, ^/s  Fdur)  die  Absicht  zu  Grunde,  die  Erscheinung 
des  Wunderbaren  zu  versinnbildlichen.  Daher  die  flat- 
ternden Rhythmen,  der  langsame  Aufbau  des  Akkords; 
daher  der  fremdartige  Eintritt  des  übermäßigen  Drei- 
klangs und  zum  Schluß  der  im  langen  Staunen  hin- 
gehaltene mächtige  Aufschrei  des  Chors!  Das  »Pleni«, 
in  den  Hauptsatz  eingezogen,  bietet  ein  liebUches  Gegen- 
bild. Das  »Osanna«,  auch  ganz  abweichend  von  der 
gewöhnlichen  Wiedergabe  dieses  Abschnittes,  steht  unter 
der  gleichzeitigen  Wirkung  der  beiden  berührten  Fantasie- 
gebiete: Es  schwebt  dem  Gesalbten  mit  zarten  Grüßen 
entgegen  und  steht  dann  vor  der  Majestät  wie  fest- 
gebannt. Auch  von  ihm  existiert  eine  zweite  Fassung, 
welche  keine  Verbesserung  bedeutet  Die  Stimmung 
kommt  erst  im  »Benedictus«  zur  ruhigen  Sammlung.  An 
und  für  sich  würde  der  einfach  friedliche  Satz  un- 
bedeutend sein;  der  Zusammenhang  gibt  ihm  seine 
Wirkung.  Das  Agnus  dei  ist  im  zweiten  Teile,  dem 
»dona  nobis  pacem«  (Allegretto,  (^  Asdur),  dem  Stile 
nach  dem  »Benedictus«  sehr  ähnlich.  Es  ist  der  lied- 
mäßige Schlußge^ang  einer  der  Erhörung  sicheren,  durch 
das  eigene  Gebet  beruhigten  Gemeinde.  Der  erste  Teil 
(Andante,  3/4  Fmoll)  ist  dem  Soloquartett  übergeben,, 
welches  eine  einfache,  Himmelssehnsucht  und  Erden- 
müdigkeit  streifende  Melodie  durchführt.  Der  Chor  stimmt, 
wie  auf  den  Knien  liegend,  sein  »miserere«  an.  Der  An- 
fang ist  leise  psalmodierend,  der  Schluß  des  kurzen  Chor- 
abschnittes melodisch  warm. 
F.  Bohabert,  Schuberts  Messe  in  Es,    einer    seiner  Schwanenge- 

£s  dar -Messe,  sänge,  trägt  ein  starkes  persönliches  Gepräge.   Eigentüm- 
lich ist  ihr  eine  große  Erregtheit,  der  zufolge  sich  die 


239 

Musik  ebenso  der  Weichheit,  wie  ein  andermal  der  Leiden- 
schaftlichkeit hingibt,  da  wo  wir  es  dem  Text  nach  nicht 
erwarten.^  Um  ein  Beispiel  anzuführen:  Was  soll  dieser 
wehmütig  schmerzliche  Ausdruck  bei  dem  Bekenntnis: 
>Ich  glaube  an  die  heilige  Taufe?«  Und  doch  ist  er 
schön  und  aus  dem  Grundton,  in  welchem  dieses  ganze 
Werk  gestimmt  ist,  wohl  zu  verstehen.  Sehr  viel  haben 
in  dieser  Messe  die  Instrumente  zu  sagen.  Diese  Neigung, 
aus  dem  Munde  des  Orchesters  wesentliche  Gedanken  in 
der  Messe  sprechen  zu  lassen,  zeigt  Schubert  schon  in 
der  Asdur-Messe;  er  teilt  sie  mit  Beethoven.  Im  Kyrie 
sind  es  die  Blasinstrumente,  welche  die  freundlichen  Ge- 
danken des  Satzes  dem  Chore  soufflieren.  In  der  Ge- 
sangpartie  lebt  eine  mühsam  versteckte  Aufregung  der 
Empfindung.  Sie  äußert  sich  in  den  fiebrisch  wechseln- 
den Modulationen,  in  der  mehr  akkordisch  deklamierenden 
als  wirklich  singenden  Führung  der  Stimmen.  Kommen 
dann  die  melodischen  Züge,  so  ergreifen  sie  mit  doppelter 
Kraft. 

Auch  in  der  Esdur-Messe  wird  man  das  Gloria  für 
den  bedeutendsten  Satz  halten  müssen.  Wie  in  der  As  dur- 
Messe  ist  auch  hier  der  äußere  Vortrag  der  preisenden 
und  jubelnden  Abschnitte  außerordentlich  energisch;  in 
der  stürmenden  Triolenfigur  der  VioHnen  kommt  diese 
Energie  zum  schärfsten  Ausdruck.  Aber  gerade  in  ihnen 
ist  der  subjektive  Grundzug  der  ganzen  Messe  sehr  deut- 
lich ersichtlich.  Ein  Tropfen  Zagen  und  Traurigkeit 
hängt  in  jeder  Periode:  hier  in  dem  übermäßigen  Sext- 
akkord auf  dem  zweiten  »excelsis«,  dann  in  den  ver- 
minderten Septimenakkorden,  welche  die  ersten  Nach- 
ahmungen des  Gloriathema  schließen.  Wie  niedergeschlagen 
klingt  das  »Adoramus  te«.  Beim  »Gratias«  beginnen 
wieder  die  Instrumente  hold  zu  spielen  und  darauf  wird 
der  Satz  mit  Wiederholung  des  Eingangs  abgerundet. 
Das  »Qui  toUis«  hat  ebenfalls  die  Hauptgedanken  im 
Orchester.  Die  Blasinstrumente  spielen  den  ganzen 
Abschnitt  hindurch  eine  liturgische  Melodie  von  tief 
traurigem  Charakteh    Das  Streichorchester  tremoUert  in 


240 


F.  Sohabert, 

Deutsche 

Messe. 


absetzenden  Rhythmen;  die  Singstimmen  singen  aus- 
drucksvoll in  kurzen  Motiven.  Der  Teil  gleicht  einem 
großartigen  Rezitativ.  Das  »cum  sancto  spirituc  und 
das  »Amen«  ist  in  Form  einer  Fuge  wiedergegeben,  die 
wiederholt  zu  einem  zweiten  Thema  ansetzt 

Im  ersten  Teile  des  Credo  herrscht  eine  rührend 
weiche  Stimmung  vor.  Das  auf  »Credo  in  unum  do- 
minum« einsetzende,  feste  und  durch  Nachahmungen 
noch  mehr  gehärtete  Thema  vermag  nicht  dieselbe  zu 
durchbrechen.  Das  »et  incarnatus  est«  drückt  das 
Wunder  der  Menschwerdung  in  Melodien  von  sich  aus- 
breitender Anmut  aus.  Das  »Crucifixus«  bildet  einen 
starken  Gegensatz  dazu.  Es  schildert  finster,  manchmal 
wie  mit  einer  Art  von  Abscheu.  An  einer  Stelle  scheint 
die  Fantasie  des  Tonsetzers  aufs  leidenschaftlichste  in 
das  Bild  der  Kreuzigung  vertieft  zu  sein.  Der  Chor 
deklamiert  nicht  »etiam  pro  nobis«,  wie  der  Text  lautet, 
sondern  nach  dem  »etiam«  schreit  er  ohne  weiteres 
noch  einmal  mit  aller  Kraft:  »crucifixus«.  Nach  der 
Passion  sind  die  weiteren  Textabschnitte  auf  die  Musik 
des  ersten  Teils  vom  Credo  gesetzt.  Die  Worte :  »et  vitam 
venturi«  bilden  einen  fugierten  Anhang. 

Im  Sanctus  greift  Schubert  mit  Ausnahme  des  im 
konventionellen  Fugenstile  komponierten  »Osanna«  auf 
dieselbe  Auffassung  und  Behandlung  zurück,  die.  wir  in 
der  Asdur-Messe  als  eine  eigentümliche  kennen  gelernt 
haben.    Nur  die  formellen  Mittel  sind  teilweise  andre. 

Das  Agnus  dei  ist  wieder  ein  Satz  von  großer  Er- 
regung. Das  Hauptthema  der  ersten  Anrufung  hat  Utur- 
gischen  Charakter;  seine  Stimmung  ist  trüb  und  schwer. 
Die  Instrumente  verzieren  den  Gesangsatz  mit  leidenschaft- 
lichen Motiven.  Das  »dona  nobis«  tritt  naiv,  vertrauensvoll 
und  unschuldig  dagegen.  Seine  breite  Durchführung  wird 
einmal  durch  die  Rückkehr  des  düsteren  »Agnus  dei«  ge- 
waltig wirkungsvoll  unterbrochen. 

Im  kirchlichen  Diienste  und  bei  geistlichen  Kon- 
zerten kleinerer  Chorvereine  begegnen  wir  häufiger 
einer  »deutschen  Messe«  F.  Schuberts.    Der  Text  (von 


— ^    tu     ♦— 

J.P.  Neumann  verfaßt)  ist  keine  eigentliche  Obersetzung  des 
lateinischen  Originals,  sondern  ein  freier,  etwas  rationa- 
listisch gehaltener  Ersatz.  Die  Musik,  welche  Schubert 
i.  J.  4837  für  das  Polytechnikum  in  Wien  geschrieben 
hat,  schlägt  den  Ton  gehaltvoller  Anmut  an  und  be- 
schränkt sich  auf  liedmäßige  Formen.  Von  der  Gesang- 
partie existiert  eine  doppelte  Bearbeitung,  die  eine  für 
Männerchor,  eine  zweite,  welche  von  Ferdinand  Schubert 
herrührt,  für  dreistimmigen  Knabenchor.  Das  Orchester 
kann  durch  Orgel  ersetzt  werden.  Ähnlicher  »deutscher 
Messen c  oder  »deutscher  Ämter«  haben  wir  aus  den 
ersten  Dezennien  des  4  9.  Jahrhunderts  sehr  viele.  Be- 
sonders beliebt  waren  die  des  melodisch  sehr  deutlichen 
J.  Frei  ndl. 

Nach  Schubert  haben  wir  diejenigen  Messen,  welche 
eine  höhere  künstlerische  Bedeutung  beanspruchen  kön- 
nen und  welche  demzufolge  im  Konzert,  wenn  auch  nur 
vorübergehend,  Beachtung  gefunden  haben,  eine  Zeit 
lang  —  ziehen  wir  die  wenig  bekannten  Arbeiten  des 
Breslauer  B rosig  ab  —  fast  ausschließlich  auf  pro- 
testantischem Boden  zu  suchen.  Es  kommen  hier  zu- 
nächst die  Messen  B.  Kl  eins  in  Betracht:  ernste,  B.  Klein, 
würdige  Werke,  denen  nur  etwas  mehr  musikalische 
Sonne  zu  wünschen  wäre.  Unter  den  Meistern  von  her- 
vorragenderem Namen  ist  L.  Spohr  zu  nennen,  dessen  L*  Spohr. 
Vokalmesse  in  allen  den  Sätzen,  wo  die  Wehmut  herrschen 
darf,  einen  tieferen  Eindruck  hinterläßt  Unter  den  um 
die  Mitte'  des  4  9.  Jahrhunderts  entstandenen  Messen  war 
eine  Zeitlang  Moritz  Hauptmanns  G moll-Messe  die  M.  Htaptinftiiii. 
verbreitetste.  Das  Werk  ist  außerordentlich  fließend  ge- 
schrieben und  hat  viele  feine  und  besondere  Züge  in 
seiner  Form.  So  überrascht  uns  im  ersten  Satze,  ähnhch 
wie  in  dem  ersten  Satze  des  Requiem  von  Brahms,  ein 
Orchester  ohne  Violinen.  Geistig  wurzelt  es,  wie  auch 
die  Vokalmesse  (FmoU)  desselben  Tonsetzers,  in  d,er 
weichen  und  gleichmäßigen  Anschauung  einer  älteren 
Periode.  Die  bedeutendste  Messe  der  romantischen  Pe- 
riode ist  die  Instrumentalmesse  (CmoU)  R.  Schumanns.    Ä.  Bohumann. 

II,  4.  46 


«4t      <io— 

Sie  geht  durchweg  auf  feierliche  und  erhabene  Wirkung 
aus  und  sucht  diese  mit  einfachen,  immer  geradeaus 
steuernden  Mitteln  zu  erreichen.  Wir  bleiben  dabei 
manchmal  unter  dem  Eindruck  einer  etwas  trotzigen 
Gottesverehrung  stehen;  wir  werden  aber  auch  durch 
Stellen  einer  gewaltigen  Größe  und  Kraft  aufgerüttelt. 
Derjenige  Abschnitt,  in  welchem  Schumann  seinem  Ideale 
einer  musikalischen  Messe  am  nächsten  gekommen  zu 
sein  scheint,  ist  das  Sanctus:  ein  ahnungsvoll  und  ge- 
heimnisvoll gedachter,  von  sehnender  und  schwelgender 
Empfindung  umrankter,  dabei  aber  doch  fest  und  ein- 
fach gebauter  Satz.  Im  Kyrie  ist  das  edle,  kummer- 
volle erste  Thema  hervorzuheben;  im  Gloria  der  inter- 
essanten Anlage  wegen  das:  »Domine  deusc  und  das 
>cum  sancto  spiritu«.  Im  Credo  berührt  der'  Abschnitt 
von  >qui  propter  nos<  bis  »sepultus  est«  sehr  eigentüm- 
lich. Der  Chor  rezitiert  hier  ohne  Aufhalten,  mit  be- 
deutenden Akzenten,  allerdings  aber  das  meiste  wie  in 
dem  Streben,  über  diese  schauerlichen  Bilder  hinweg- 
zukommen. Das  Wunderbare  in  dem  Textberichte  { 
deuten  die  Orchesterbässe  mit  einer  ihre  kleinen  Kreise  1 
immer  wieder  zurücklegenden  und  in  Dissonanzen  schil-  I 
lern  den  Figur  an. 

Die  rückläufige  Bewegung  zur  Vokalmesse,  deren  wir 
oben  mit  dem  Namen  Aiblinger  und  Ett  gedacht  haben, 
fand  auch   auf  der  protestantischen  Seite  fleißige  An- 
hänger.   Aus  der  Menge  der  seit  dem  zweiten  Jahrzehnt 
des  4  9.  Jahrhunderts  für  gemischten  Chor  gesetzten,  un- 
begleiteten  Messen  genügt  es,  die  sechzehnstimmigen  Mes- 
E.  Grelli      sen  von  C.  F.  Fasch  und  namentlich  die  von  E.  Grell  zu 
Sechzehn-    nennen.    Grells  in  Berlin  sehr  oft,  in  Leipzig  und  in  an- 
stimm.  Messe  deren  Städten  hin  und  wieder  aufgeführte  Messe  ist  ein 
.a  capella^     Werk  von  ungesuchter  Originalität.    Auf  den  glatten  und 
natürlichen   Fluß    dieser   Komposition    passen    Goethes 
Worte:  »Es  trägt  Verstand  und  rechten  Sinn  mit  wenig 
Kunst  sich  selber  vor«  wie  auf  wenig  neue  Kunstwerke. 
An  und  für  sich  ist  ja  die  Aufgabe,  für  sechzehn  reale 
Stimmen  zu  schreiben,  in  der  alten  Vokalmusik  schon 


--*     243      ^— 

• 

oft  gelöst  worden  und  wird  in  den  Kompositionen  für 
Orchester  tagtäglich,  auf  eine  leichte  äu|3erliche  Art 
wenigstens,  gelöst.  Man  muß  aber  die  viei*  Chöre  (oder 
Soloensembles),  welche  Grell  aus  seinen  sechzehn  Stim- 
men bildet,  einzeln  und  in  diesen  vier  Gruppen  wieder 
die  einzelnen  Stimmen  jede  für  sich  durchgehen,  um  das 
Eigene  in  der  Leistung  Grells  würdigen  zu  können.  Da 
ist  keine  Spur  von  Füllstimmen  im  gewöhnlichen  Sinne. 
Auch  die  begleitenden  und  untergeordneten  deklamieren 
und  singen  immer  in  sinnvollen  und  formell  selbständigen 
Tonreihen.  Die  ganze  Erfindung  ist  der  Natur  der  mensch- 
lichen Sprache  und  dem  Wesen  des  Gesanges  in  einer  so 
ausgezeichneten  Weise  angepaßt,  wie  sie  selbst  bei  den 
Alten  nicht  besser  gefunden  wird.  Der  Ausgang  von  diesen 
natürlichen  Grundlagen  gibt  der  Messe  Grells  eine  unbe- 
streitbare formelle  Drsprünglichkeit.  Sie  darf  in  dieser 
Beziehung  als  ein  Muster  ersten  Ranges  dienen.  Die 
Farben  sind  reich  und  mannigfach  gemischt.  Grell  kennt 
die  Kunstgriffe  der  Alten  alle  und  formt  mit  spielender 
Leit^htigkeit  ein  neues  Klangbild  nach  dem  andern.  Wo 
es  der  Text  nicht  geradezu  fordert,  geht  er  aber  den 
scharfen  Gegensätzen  von  Licht  und  Schatten  Ueber  aus 
dem  Wege  und  wirkt  mit  milderen  Übergängen.  In  der 
Farbengebung  des  ganzen  Werkes  herrscht  das  weiche 
Element  vor.  In  Übereinstimmung  damit  liebt  die  Em- 
pfindung das  ruhige  Ausbreiten.  Sätze,  welche  auf 
wenige  Worte  gebaut  sind,  vereinen  diese  drei  Elemente : 
Betonung  der  Sangbarkeit,  Weichheit  der  Farbengebung 
und  Gleichmäßigkeit  der  Empfindung,  zu  einer  Übermacht, 
welche  den  geistigen  Gehalt  und  die  Gedankenbewegung 
der  Komposition  etwas  niederdrückt.  Bei  dem  nach  alter 
Art:  in  drei  selbständigen  Sätzen  gehaltenen  Kyrie  und 
beim  Osanna  tritt  diese  Erscheinung  wohl  am  deutlich- 
ßten  zutage.  Wo  der  Text  schneller  von  Vorstellung  zu 
Vorstellung  weiter  schreitet,  blitzt  dagegen  die  Fantasie 
häufig  mit  überraschender  Energie  dramatisch  auf. 
Auch  in  die  rein  musikalische  Erfindung  kommt  dann 
mehr  Leben  und  Deutlichkeit.    Das  Gloria  enthält  solche 

16* 


—-♦     244     ♦— 

Beispiele  anschaulicheren  Ausdrucks  schon  beim  »et  in 
terra«  und  beim  »gratias«.  Die  Auffassung  des  »Quoniam« 
mit  dem  lieblichen  Anfang  ist  abweichend,  aber  mit  der 
erhabenen  Wendung  durch  die  Tutti- Einsätze,  da  wo 
Christus  als  »Herr«  angerufen  wird,  äußerst  wirksam. 
An  solch  eigentümlich  poetischer  Anschauung  ist  die 
Messe  reich.  Am  imposantesten  wirkt  durch  dieselbe 
das  Credo,  dem  in  einzelnen  Abschnitten  durch  die 
einfache  Verwendung  von  plötzlichen  Tutti  -  Eintritten 
eine  geradezu  szenische  Lebendigkeit  gegeben  wird. 
Besonders  tritt  die  Einführung  des  »Crucifixus«  hervor. 
Eine  einzelne  Chorstimme  ruft  die  Schreckensnachricht 
unerwartet  herein  und  die  Massen  fahren  in  Bewegung 
durcheinander.  Als  Credo  -  Thema  hat  Grell  dieselbe 
liturgische  Melodie  verwendet,  wie  S.  Bach  in  der  Hmöll- 
Messe. 

In  der  Stimmenzahl  bescheidener,  im  geistigen  Ge- 
halt aber  keineswegs  geringer  als  die  Grellsche  Messe, 
£.  F.  Biohter.  sind  die  Vokalniessen  von  E.  F.  Richter  der  Beach- 
tung sehr  wert.  Die  achtstimmige  sowohl  wie  die  vier- 
stimmige gehören  zu  den  fantasievollsten  und  abgeklär- 
testen Kompositionen  des  Meßtextes,  welche  wir  aus 
neuerer  Zeit  haben.  Ihr  Vokalsatz  ist  modern,  aber 
schön,  natürUch  und  an  stimmungsvollen  Klängen  reich. 
In  den  Kirchenchören  sind  von  neueren  Vokalmessen  die 
J.  Bheinberger  von  J.  Rheinbergeram  bekanntesten.  Sie  gehören  in  die 
Schule  Etts  und  zeigen,  wie  alle  kirchlichen  Kompositionen 
Rheinbergers,  einen  modernen  Musiker  groß  im  Können, 
noch  größer  aber  in  der  Resignation  und  der  liturgischen 
Reinheit.    Für  das  Konzert  kommen  sie  nicht  in  Betracht. 

Ziemlich  vergessen  scheint  es  zu  sein,  daß  auch  der 
Männergesang  in  seiner  von  hohem  Streben  erfüllten 
Jugendzeit  kräftig  in  die  Bewegung  mit  eintrat,  welche 
sich  auf  den  Neubau  der  Vokalmesse  richtete.  Die' 
Lehrer  der  Volksschulen  Deutschlands  waren  es  beson- 
ders, die  in  der  ersten  Hälfte  des  4  9.  Jahrhunderts  bei  ihren 
periodischen  Zusammenkünften  sich  und  Andere  mit  der 
Ausführung  solcher  höher  angelegten  Werke  erbauten. 


— ^      245     ♦— 

Messen  für  Männerstimmen  finden  sich  wie  erwähnt  schon 
bei  den  Niederländern,  bei  Palestrina  und  andern  Frtih- 
italienern,  neben  vollständigen  Werken  noch  zahlreiche 
Bruchstücke.  Von  Padre  Martini  ab  hat  die  Gattung  ihre 
ununterbrochene  Geschichte.  In  ihr  treten  im  4  9.  Jahrhun- 
dert neben  B.  Klein:  Haßlinger  und  Diabelli  hervor. 
Über  letzteren  beiden  stehen  F.  Schneider,  A.  Zöllner  und 
J.  0  tt  0.  Als  der  bedeutendste  Ausläufer  dieser  letztenReihe 
ist  Robert  Volkmann  zu  betrachten.  Bekanntlich  ging  B^  Velkmann. 
er  aus  Lehrerkreisen  hervor  und  empfing  in  ihnen  die 
ersten  stärkeren  musikalischen  Eindrücke.  Seine  beiden 
Messen  (op.  26  und  29)  stehen  einander  in  der  Zeit  der 
Veröffentlichung  sehr  nahe:  im  inneren  Stile  jedoch  be- 
deutend ferne.  Die  erste  ist  eine  Art  Klaviermesse:  die 
vier  Stimmen  immer  zusammengekoppelt  ^nd  unfrei  und 
damit  auch  meistens  die  Gedanken.  Nur  das  Credo  er- 
hebt sich  wesentlicher  über  die  Stufe  von  Klang  und 
Geist,  welche  wir  mit  dem  Namen  Liedertafelmusik  zu 
belegen  pflegen.  Die  zweite  Messe,  di6  Frucht  einer 
Wiener  Preiskonkurrenz,  für  die  im  Jahre  1852  vierund- 
siebzig Messen  eingesandt  und  zurückgewiesen  wurden, 
hat  noch  einige  ungesangliche  Stellen  im  kleinen.  Aber 
über  den  Stil,  der  für  einen  Chor  von  Menschenstimmen 
natürlich  ist,  scheint  inzwischen  dem  Komponisten  das 
Licht  aufgegangen  zu  sein.  Sie  hat  die  Freiheit  der  Be- 
wegung, die  namentlich  für  den  Männerchor  ganz  wesent- 
lich ist,  in  den  Stimmen.  Sie  wirkt  farbenreich  und  ist 
ideenreich.  Unter  diesen  Ideen  sind  sehr  feine  und  eigen- 
artige Einfälle.  Besonders  tritt  im  Gloria  das  »Miserere« 
welches  erste  Tenöre  und  zweite  Bässe  in  Oktavengängen 
singen,  im  Benedictus  der  Einsatz  des  »Osanna«  hervor. 
Um  die  Zeit,  wo  Volkmanns  Messen  erschienen,  ging 
nun  endlich  auch  auf  der  katholischen  Seite  die  Frucht 
Etts  und  Aiblingers  auf  und  führte  zur  Gründung  des 
Gäcilien Vereins.  Er  ist  in  der  Musik  ein  ähnliches  Stück 
romantischer  Reaktion,  wie  in  der  Malerei  die  Schule 
der  Nazarener  und  der  Prärafaeliten.  Den  Bildern  der 
Veit  und  Overbeck,  Rossetti  entsprechen  die  Messen  der 


546 


M.  Haller, 

I.  Mitterer, 

F.  Witt. 


Ji  El  Habertl 


F.  Lisit, 

Messe  für  vier- 

gtimmigen 

Männercbor 

und  Orgel. 


M.  Haller,  J.  Mitterer,  Fr.  Witt.  Dort  Holbein,  Dürer, 
Perugino  als  Ideale,  hier  Palestrina!  In  beiden  Künsten 
auch  dieselben  Folgen:  größere  Stilreinheit  und  Würde 
der  Arbeiten,  aber  auch  mehr  Trockenheit  und  Schwung- 
losigkeit.  Die  selbständigen  Geister  schütteln  das  Joch 
wieder  ab.  Unter  diesen  Sezessionisten  ist  zuerst 
J.  E.  Habert  zu  nennen,  der  zwar  nicht  im  Konzert, 
aber  im  Gottesdienste  schon  durch  die  Zahl  seiner 
Messen  —  23  in  der  Breitkopfschen  Gesamtausgabe  — 
sich  Beachtung  erzwungen^  hat. 

Auch  Franz  Liszt  ist  mit  den  Cäcilianern  ein  gutes 
Stück  Wegs  gegangen  und  von  ihnen  auf  die  alten  sti- 
listischen Elemente  und  die  liturgischen  Grenzen  der 
Messen  hingewiesen  worden.  Aber  er  ist  sofort  über 
seine  Lehrer,  ähnlich  wie  seinerzeit  J.  Fux  über  seinen 
eignen  >Gradus  ad  Parnassum«,  hinausgegangen  und 
hat  ihrem  Darstellungsapparat  ganz  alte  und  ganz  mo- 
derne Mittel  hinzugefügt.  Das  zeigt  schon  seine  Messe 
für  Männerchor.  Sie  ist  ein  sehr  knappes  Werk,  zum 
großen  Teil  mehr  stimmungsvoll  deklamiert  als  ge- 
sungen. Die  Art,  in  welcher  aber  Deklamation  und  Ge- 
sang gemischt  sind,  macht  den  einen  Teil  ihrer  unleug- 
baren Genialität  aus.  Man  braucht  hierfür  nur  auf  den 
Schluß  des  >Christe  eleison«  zu  verweisen,  eine  Stelle, 
an  der  eine  lange  Steigerung  inbrünstiger  Zurufe  mit 
ein  paar  Takten  einfachster  Melodie  gekrönt  wird.  Der 
andere  Teil  des  geistigen  Wertes  dieser  Messe  liegt  in  der 
Schärfe  mit  welcher  die  Textbegrifife  musikalisch  ausge- 
drückt sind.  Gleichviel  mit  welchen  Mitteln  und  gleichviel, 
ob  wir  die  Auffassung  allemal  billigen;  aber  diese  Schärfe 
ist  immer  da.  Derjenige  Satz  der  Messe,  welcher  sich 
den  überkommenen  musikalischen  Formen  am  getreuesten 
fügt,  ist  das  Gloria.  Sein  durchgeführtes  leitendes  Thema 
j^e-Po  stammt      aus      Gregorianischer 

i  i  .L'^'-^rn^.  Quelle.     Der   in   der   Stimmbe- 

•gjr    ip  J    rJ     I  [-•  p  [-.      handlung  eigentümlichste,  dabei 

Gio  .     .     .  ri.»      sgjjy  eindringliche  Abschnitt  ist 

das  »Miserere«.     Befremdend  ist  das  Credo    und    zwar 


---<^     247     ^ — 

befremdend  durch  seine  Einfachheit.  Es  geht  im  Stile  ent- 
schieden hinter  die  Zeit  des  ausgebildeten  Kunstgesanges 
zurück  und  trägt  den  größteÄ  Teil  des  Textes  in  der ' 
primitiven  Form  der  älteren  priesterlichen  Intonationen 
vor:  in  einem  harmonisierten  und  harmonisch  nur  aufs 
nötigste  ausgezierten  Lektionenton.  •  Häufig  ist  in  dieser 
Messe  der  Effekt  einer  singenden  und  von  den  drei  an- 
deren nur  akkordisch  begleiteten  Chorstimme  angewen- 
det; am  ausgedehntesten  im  Agnus  dei.  In  diesem  Satze 
ist  auch  die  Orgelbegleitung,  welche  in  dem  größten  Teile 
der  Messe  entbehrt  werden  kann,  wesentlich.  'Sie  leitet 
hier  sehr  schon  selbständig  die  friedlichen  Weisen  des 
>dona  nobis«  ein. 

Die  Missa  choralis  Liszts  für  gemischten  Chor  be-  F.  Liest, 
ginnt  mit  einem  Kyrie  von  sehr  strengem  Charakter.  Missa  choralis. 
Der  herbe  Zug,  der  schon  im  Thema  und  in  seiner  Tonik 
liegt,  *wird  durch  die  fugierende  Durchführung  noch 
schärfer  ausgedrückt.  Es  sind  in  dem  Tonbilde  Augen- 
blicke der  Verlegenheit  (in  den  Baßkantilenen)  und  der 
Verzweiflung  (bei  dem  steigenden  Aufbau  des  kurzen 
Motivs)  angedeutet  und  über  den  Wendungen  der  Hoff- 
nung im  >Christe<  (bei  dem  wiederholten  Schluß  auf  der 
Dominantseptime)  liegt  der  Druck  einer  müden  Seele.  Im 
Gloria  wird  die  erste  Intonation  (der  in  der  Messe  für 
Männerstimmen  verwandt)  an  den  Stellen  des  Lobgesangs 
thematisch  durchgeführt.  Von  eigenem  gebrochenen  Aus- 
druck im  Bitten  ist  das  >Miserere<.  Das  Credo  beginnt 
wieder  mit  dem  auch  in  Bachs  HmoU-Messe  verwendeten 
Gregorianischen  Thema.  Ein  großer  Teil  der  Abschnitte 
des  Satzes  ruht  auf  kontrapunktischen  Bildungen  aus 
dieser  Melodie  gewonnen.  Von  hervorragender  Origina- 
lität, mit  ähnlichem  Schauder  deklamiert  wie  in  Händeis 
»Messias«,  ist  die  Leidensgeschichte.  Ganz  wie  in  Er- 
staunen getaucht  beginnt  das  Sanctus.  Der  Satz  be- 
hält bis  ans  Ende  einen  visionären  Ton,"  welchen  nur 
das  »Benedictus«  ein  wenig  variiert.  Der  Schluß  ver- 
klingt in  der  Höhe.  Nach  einem  sehr  schwermütigen 
Anfang  des  Agnus  Dei  lenkt  das  >dona  nobis«   in  das 


J48     ^-—        ♦ 

Kyrie  zurück  und  geht  in  dem  Tone  der  Ruhe,  aber  mit 
freudigem  Aufschwung  zu  Ende.  Die  beigegebene,  viel 
aussetzende  Orgelbegleitong  kann  einem  ungeübten 
Chore  leicht  gefährlich  werden. 

Für  Liszts  prinzipielle  Stellung  zur  Messe,  als  Kir- 
chenkpmponist  überhaupt,  würde  die  in  ihrer  kleinen. 
Form  voll  und  gesund  ausgewachsene,  geistig  bedeutende 
und  musikalisch  gediegene  Messe  für  Männerchor  genügen. 
Seine  ungewöhnliche,  das  meiste  aus  der  Zeit  überragende 
Begabung  für  das  Gebiet  ersieht  man  aber  erst  aus  den 
beiden  großen  ungarischen  Instmmentalmessen.  Die  erste 
F,  Liut,  derselben,  die  sogenannte  Graner  Messe,  entstand  zur 
Graner  Messe.  Feier  der  Einweihung  des  Graner  Doms  und  wurde  in 
diesem  im  Jahre  4856  zuerst  aufgeführt.  Die  Partitur 
dieses  Werkes  ist  infolge  schlechter  Ökonomie  in  der 
Aufzeichnung  der  Stimmen  und  der  Zugabe  eines  ganz 
überflüssigen  Klavierauszuges  zu  einem  so  kolossalen 
Format  angelangt,  daß  man  sie  bei  Tage  nicht  gern 
über  die  Straße  trägt.  Man  glaubt  beim  ersten  Anblick 
vor  einem  Werke  zu  stehen,  in  welchem,  wie  zur  Zeit 
der  Venetianer  und  Engländer,  die  Chöre  zu  einer  maß- 
losen Polyphonie  aufgetürmt  sind.  Tatsächlich  hat  aber 
die  Graner  Messe  eine  Reihe  ganz  einfacher  Sätze,  welche 
sich  ebenso  leicht  hören  als  lesen  lassen.  Darunter  ge- 
hört gleich  das  Kyrie,  eine  schlichte  zweiteilige  Kom- 
position. In  ihrem  ersten  Teile  steht  die  Andacht  unter 
dem  Banne  einer  schaudernden  Ehrfurcht:  Die  Farbe 
des  Orchesters  ist  dämmernd;  in  Harmonie  und  Dyna- 
mik ruckt  und  zuckt  es  heftig.  Das  »Christe«  singt 
in  lieblichen  und  innigen  melodischen  Weisen,  die 
.  von  Stimme  zu  Stimme  wandern.  Dem  Gloria  wohnt 
eine  mächtige  malerische  Kraft  in  der  Instrumentation 
inne.  Es  flimmert  im  Orchester  wie  durch  die  Glas- 
fenster einer  Kathedrale.  Zuweilen,  beim  >Laudamus« 
und  beim  >Quoniam«,  hören  wir  Motive,  wie  wenn 
Glocken  läuteten,  und  der  Wechsel  der  Instrumenten- 
chöre erweckt  die  Vorstellung  von  großen,  hohen, 
weiten   Räumen.     Ein   Ton,    als  wollte    ein   glänzend, 


festlicher  Tag  anbrechen,  geht  durch  den  größten  Teil 
dieses  Satzes,  und  man  kann  sich  des  Eindrucks  nicht 
erwehren,  als  habe  Liszt  an  die  älteste  Bestimmung  des 
Gloria  gedacht;  an  die  Zeiten,  wo  es  als  Morgenhymne 
den  Sonnenaufgang  zu  begrüßen  pflegte.  Die  musika- 
lische Form  entwickelt  sich  überwiegend  instrumental 
und  neben  dem  schon 

berührten  Glockenmo-  ^  »..  ^  .  ""SSi' .  .  .  (^  .  . — 
tiv  (in  halben  Noten)  ist  ^   kH  *  J.  "'  I  [■   *   M.  "^ 


der   muntere  Weckruf  *'®* 

der  Hauptträger  dieser  Entwicklung.  Ein  breit  geführter 
und  sehr  tief  empfundener  Gesang  zeichnet  namentlich 
den  Abschnitt  aus,  dessen  Mittelpunkt  das  »Qui  toUis  usw.c 
bildet.  Die  Gesangmelodie  kennen  wir  aus  dem  >Christe 
eleison c,  welches  das  ganze  Werk  als  wesentliches  Merk- 
mal seiner  Physiognomie  durchzieht.  Das  »Cum  sancto 
spirilu€  hat  die  Gestalt  einer  Fuge  über  ein  einfach 
freudiges  Thema. 

Das  Credo  besteht  aus  einer  großer  Reihe  kurzer 
Bilder:  durch  Verwendung  von  Leitthemen  wird  die  Ein- 
heit des  Ganzen  ge-      .  .    *         .  .   .i.^i«**       Liszt     ge- 

,    -       Tk  '1.        Andante  maestoso,  risomto.  _  &, 

wahrt.    Das  wich-^^4— ..         ,    ,    i   i  1  J     1        braucht 
tigste  unter  diesen  gg  f^il  j_0^  '  ^"^      ^^  instru- 

ist    das    folgende:       '^  ' mental 

wie  vokal;  vorzugsweise  für  die  feierlichen  und  pathe- 
tischen Abschnitte  des  Textes  in  rhythmischen  Umbil- 
dungen, welche  seinen  Charakter  ins  Gewaltige  erweitem. 
In  dieser  Beziehung  erscheint  es  beim  »Et  in  unam  sanc- 
tam  usw.€  Doch  hat  er  ihm  auch  eine  intime  Seite  ab- 
gewonnen. Ganz  auf  die  letztere  gestellt,  tritt  es  uns 
als  Klarinettenmelodie  (Fisdur)  bei  dem  Abschnitte  ent- 
gegen, welcher  der  irdischen  Geschichte  des  Heilands 
gewidmet  ist.  Man  wird  geneigt  sein,  diesen  Teil  als 
die  Krone  des  ganzen  zu  bezeichnen.  Von  einfach  voller 
Empfindung  durchströmt,  bietet  er  namentlich  deklama- 
torische Wendungen  von  genialster  Bedeutung.  Die  her- 
vorstechendste ist  bei  »Et  homo  f actus  est«.  Sein  Ende 
geht  in  einen  naturalistisch  wirksamen  Stil  über,  welcher 


--^      260      ♦.— 

Interjektionen  steigernd  aneinander  knüpft.  Nach  den 
schneidendsten  Wehrufen  beim  »Grucifixus«  haucht  der 
Chor  die  letzten  Worte  von  Tod  und  Begräbnis  ins  Leere 
hin.  —  Neben  dem  oben  in  erster  Linie  angeführten  Leit- 
thema erscheint  noch  das  Glockenmotiv  aus  dem  Gloria. 
Zunächst  nur  versteckt;  breiter,  wenn  auch  nur  leise  ge- 
geben zum  erstenmal:  beim  »Deum  de  deo,  lumen  de 
lumine«.  Die  Solostimmen  singen  darüber  ruhig  edle 
Melodien,  in  welche  der  Chor  bescheiden  einfällt.  Ein 
andres  Thema,  der  kurz  rhythmisierte  Weckruf  des 
Gloria  (siehe  oben),  tritt  beim  >Resurrexit<  wieder  auf. 
Eine  der  grandiosesten  Orchesterwirkungen  des  Werkes 
dient  zur  Schilderung  des  jüngsten  Gerichts.  Sie  klingt 
noch  einmal  wieder  an,  als  der  Auferstehung  der  Toten 
gedacht  wird.  Mit  eigentümlich  kurzen,  großen  Strichen 
endet  der  Satz. 

Sehr  schön  und  leicht  übersichtlich  ist  das  Sanctus 
behandelt:  Eine  weiche,  in  feierlich  stiller  Erwartung 
hinschwebende  Hauptmelodie  für  den  ersten  Abschnitt: 
»Sanctus«.  Ein  geheimnisvoll  leises  Wechseln  hoher  und 
tiefer  Akkorde  für  das  >Pleni«,  für  das  >Osanna«  Zurück- 
greifen auf  den  Weckruf  des  Gloria  einmal,  das  andere 
Mal  auf  die  (den  blasenden  Instrumenten  übertragene) 
Hauptmeiodie  des  Sanctus  selbst.  Das  »Benedictus« 
ist  eine  Paraphrase  über  das  eingängliche  Thema  des 
>Christe  eleison«.  Das  Soloquartett  singt  allein;  der  Cho« 
schweigt  und  das  Orchester  ist  .in  der  zartesten  Weise 
behandelt.  Auch  das  Agnus  dei  ruht  wieder  auf  dem 
»Christe  eleison«,  welches  nach  einem  von  Angst  erfüll- 
ten Eingang  den  Horizont  für  die  Beter  aufhellt  Das 
»Dona  nobis«  wird  schlicht  hingesungen;  darauf  kehrt 
das  Ende  des  Werkes  zu  dem  Weckruf  des  Gloria  zu- 
rück und  wendet  sich  von  ihm  weiter  dem  Anfang  der 
Messe  zu,  Thema  nach  Thema  berührend  und  das  Ganze 
sinnig  abrundend. 

Als  die  Messe  neu  war,  wurde  eifrig  darüber  gestritten : 
Ist  sie  Beethovenschen  Geistes  oder  nicht?  Man  kann 
darauf  ohne  Bedenken  bejahend  antworten.    Nicht  bloß 


t54 


die  Graner  Messe,  sondern  die  ganze  Methode  der  Liszt* 
sehen  Komposition  ist  eine  Frucht  des  Beethoven  der 
dritten  Periode.  Ihr  Ziel  ist:  Aufgehen  der  künstlerischen 
Formen  und  Mittel  in  dem  unmittelbaren  Natureindruck. 
Das  fertige,  planvoll  gestaltete  Werk  soll  mit  der  ünge- 
bundenheit,  Freiheit  und  Lebendigkeit  einer  begeisterten 
Improvisation  wirken.  Das  tut  diese  Messe;  sie  scheint 
wirklich  —  um  Liszts  Wort  zu  gebrauchen  —  mehr  ge- 
betet, wie  komponiert  und  dringt  mit  ihren  weichen 
Motiven,  das  des  »Christe  eleison«  voran,  tief  in  fromme 
Herzen  ein.  Noch  näher  als  dem  letzten  Beethoven  steht 
die  »Graner  Messe«  aber  Richard  Wagner.  Dessen  Me- 
thode, die  Instrumente  mitsprechen  und  Beziehungen 
knüpfen  zu  lassen,  durchs  Orchester  die  Grundgedanken 
des  Kunstwerks  immer  wieder  zu  betonen  und  zu  variieren, 
ist  hier  zum  erstenmal  in  der  Kirchenmusik  durchgeführt. 
Das  ist  ein  Gewinn  für  die  äußere  Einheitlichkeit  und  das 
innere  Leben  der  Werke  dieses  Gebiets,  der  irrt  Laufe  der 
Zeit  erst  voll  anerkannt  werden  wird.  Dadurch,  daß  sie 
hier  Bahn  gebrochen  hat,  wird  die  »Graher  Messe«  Liszts 
zum  geschichtlichen  Denkmal. 

Daß  Liszts  Hauptbegabung  in  der  religiösen  Kompo- 
sition Hegt,  zeigen  auch  sein  Adur-Konzert  und  seine 
Dante-Sinfonie,  die  Graner  Messe  beweist  es  vollständig. 
Es  war  nur  natürlich,  wenn  er  dieses  Feld  von  der 
Zeit  ab,  wo  er  Priester  geworden  war,  eifriger  bebaute. 
Indes  bilden  die  Werke  der  römischen  Periode  keine 
Steigerung  gegen  die  früheren.  Die  ungarische  Krö- 
nungsmesse von  1867  steht  hinter  der  Graner  Fest- 
messe sogar  etwas  zurück.  Sie  ist  ungleichmäßiger,  hie 
und  da  flüchtiger  gearbeitet,  aber  doch  mit  einem  Geist, 
der  überall  die  Hauptwege  richtig  trifft.  Es  bleibt  in 
dieser  Messe  noch  genug,  was  genial  und  der  Bewunde- 
rung wert  ist,  wenn  es  vorwiegend  auch  nur  einzelne 
Stellen  sind.  Dahin  rechnen  wir  die  Themen  des  Kyrie 
und  seines  Mittelsatzes:  des  »Christe  eleison«,  die  in  einer 
eignen  Nachdrücklichkeit  und  Reumütigkeit  bitten;  auch 
den  in  immer  stillerem  Grollen  ausgehenden  Schluß  des 


F.  Liszt, 

ungarische 

Krönungs- 

messe. 


-^      252      ♦^ 

ganzen  Satzes.  Fortreißend  durch  den  fast  wild  freudi- 
gen Naturklang  der  auf  einen  langen  Triller  vereinigten 
Geigen  ist  der  Anfang  des  Gloria.  Die  mit  leichtem 
Material  gebauten  Steigerungen  von  >laudamus<  ab, 
finclen  in  dem  »Domine  deus<  mit  seinen  mächtigen 
Akkorden  einen  großartigen  Abschluß.  Einer  ähnlich 
wuchtigen  Harmoniewirkung,  wie  an  dieser  Stelle  be- 
gegnen wir  dann  wieder  kurz  vor  dem  Ende  des  Gloria, 
bei  den  Worten:  »cum  sancto  spiritu«.  Wie  Schumann 
schon  seiner  GmoU-Messe,  und  wie  viele  andere  Kompo- 
nisten vorher,  hat  auch  Liszt  seiner  Krönungsmesse  die 
Komposition  des  »Gradualec  und  »Offertoidum«  beige- 
geben. Letzteres  ist  ein  Instrumentalsatz.  Ihm,  wie 
dem  »Gradualec  liegen  Weisen  aus  dem  Schatze  des 
katholischen  Kirchenliedes  zu  Grunde.  Das  Credo  ist 
durchweg  gregorianisch;  ein  Unisonogesang  sämtlicher 
Stimmen,  voll  Würde  und  Schwung  in  antiker  Gangart. 
Die  Orgel. begleitet.  Das  Sanctus  ist  in  seinen  vorde- 
ren Abschnitten  nur  Vorbereitung  auf  das  »Benedictus« 
und  sammelt  mit  Motiven,  die  spannend  in  die  Höhe 
zeigen,  einmal  auch,  beim  »Pleni«,  mit  freundlich  mild 
hinziehenden  Melodien  die  Stimmung  bis  zur  Dichtigkeit 
der  feierlichen  Erwartung.  An  diesem  Punkte  setzt  das 
Benedictus,  ähnlich  wie  in  Beethovens  »Missa  solem- 
nis€,  mit  einem  Violinsolo  ein.  Nur  bis  auf  diese  äußer- 
liche Übereinstimmung  in  der  Instrumentierung  geht  die 
Ähnlichkeit  der  beiden  Sätze.  Die  Motive  der  Lisztschen 
Benedictus -Violine,  welche  nachher  vom  Cello  und 
dann  von  allen  Instrumenten  der  Reihe  nach  aufgenom- 
men werden,  khngen  ganz  unverkennbar  an  ungari- 
sche Nationalmusik,  insbesondere  an  Racoczyweisen 
an.  Das  tun  auch  schon  vorher  einzelne  Stellen, 
und  es  ist  nicht  ausgeschlossen,  daß  die  Absicht, 
solche  volkstümliche  Zitate  zu  bringen,  Liszts  Fantasie 
etwas  gelähmt  hat.  Das  Agnus  dei  setzt  mit  dem- 
selben Thema  ein,  welches  im  Gloria  die  Worte  »Qui 
toUis«  trug,  und  kehrt  dann  ähnlich,  wie  dies  in  der 
Graner    Messe    der    Fall,   war,    schrittweise    bis    zum 


J53     ^J«— 

ersten  Kyrie-Einsatz,  also  bis  zum   Anfang   der  Messe, 
zorück. 

Eigentümlich  ist  beiden  Instrumentalmessen  Liszts 
die  Menge  von  Stellen,  an  denen  die  Singstimmen  uni* 
sono  geführt  isind.  Es  entspringen  aus  dieser  Manier 
höchst  gewaltige  Wirkungen.  Ihren  Grund  mag  sie  aber 
in  äußeren  Verhältnissen  gehabt  haben. 

Im  Jahre  4  869  kam  im  Th^ätre  ItaUen  zu  Paris  eine 
«Missa  solemnisc  von  Rossini  zur  Aufführung.  Man  G,  Bossinii 
hat  in  Deutschland  diesem  einige  Jahre  vor  dieser  öffent-  Missa  solem- 
liehen  Aufführung  bereits  entstandenen  Werke  wenig  Be-  nis. 
achtung  geschenkt.  Ganz  im  Gegensatz  zu  den  Italienern, 
bei  welchen  die  Wortführer  der  komischen  Oper,  die  Conti, 
Galuppi,  Gasparini  und  deren  Nachfolger  bis  auf  Donizetti, 
sehr  fleißig  und  erfolgreich  auf  dem  Gebiete  der  Messen- 
komposition tätig  waren,  pflegen  wir  denjenigen  kirch- 
lichen Werken  mit  Mißtrauen  zu  begegnen,  welche  aus 
den  Händen  dramatischer  Komponisten  hervorgehen. 
Dieses,  durch  manche  frivole  Anekdote  belegte  Vor- 
urteil, wird  durch  Rossinis  Stabat  mater  bis  zu  einem 
gewissen  Grade  gutgeheißen.  Das  Stabat  mater  hat 
der  Messe  den  Weg  verlegt.  Wer  sie  studiert,  wird  von 
dem  Ernst  ergriffen  sein,  mit  welchem  der  melodien- 
reiche Meister  an  die  Aufgabe  herangetreten  ist.  Der  Geist 
dieser  Messe  stimmt  mit  der  Tatsache,  daß  Rossini  sich 
für  S.  Bach  interessierte  und  als  einer  unter  den  wenigen 
großen  Komponisten  der  Zeit  der  Bachgesellschaft  ange- 
hörte. Eine  der  schönsten  Stellen  in  dem  Werke  ist  das 
»Et  in  terra  paxc  im  Gloria,  eine  Art  L.  Richtersches 
Weihnachtsbild  in  Tönen:  Tiefklingende  Glocken  hoch 
vom  Turm  herab  in  die  dunkle  Nacht  hinein  läutend! 

Unter  den  neueren  Messen,  welche  weniger  beachtet 
worden   sind,    obwohl   sie   von   namhaften   Tonsetzern 
herrühren,   nennen   wir    weiter:   die    »Missa   solemnist 
von  F.  Kiel.    In  diesem  Werke  hat  der  geistvolle  Kom-       Pi  Eleli 
ponist   den    Begriff   der    Solemnität    besonders    auszu-  Missa  solem« 
prägen    gesucht    Die   Sätze,    welche    im   Texte    einen         nis. 
frohen,  freudigen  Charakter  tragen,  sind  reich  an  kurzen, 


—^     254      <*>—-    ■ 

signalartigen  Motiven,  ^yie  sie  das  große  Volk  \  als  Aus- 
druck seiner  festlichen  Stimmung  liebt  Namentlich  im 
Gloria  reden  die  Trompeten  diese  populäre  Sprache. 
Der  Verbreitung  dieser  Messe  mag  es  hinderlich  gewesen 
sein,  daß  der  Verfasser  den  Schwerpunkt  der  Komposition 
allzu  fest  in  die  kontrapunktische  Arbeit  gelegt  hat.  Im 
allgemeinen  hat  dabei  die  Freiheit  und  der  Gehalt  der 
geistigen  Bewegung  etwas  gehtten.  Aber  einzelne  Sätze 
sind  trotz  der  strengen  Form  eindringliche  und  reizende 
Tonstücke:  In  erster  Linie  ist  aus  dieser  Gattung  »Do- 
mine deus«  zu  erwähnen.  Der  Einfluß  größerer  Vorbilder 
zeigt  sich  hier  und  da:  Bach  ist  im  »Qui  toUis«  und  im 
>Osanna«,  Beethoven  im  »Et  vitam  venturic  deutlich 
durchzumerken.  Auf  der  andern  Seite  begegnen  uns 
aber  auch  wieder  Sätze  von  ganz  selbständiger  und  in 
ihrer  Neuheit  bedeutender  Auffassung.  Das  »Quoniamc 
gehört  dahin ;  auch  das  Agnus  dei  verdient  wegen  seiner 
dramatischen  Entwicklung  und  wegen  der  sinnigen  Ver- 
knüpfung mit  dem  Kyrie  in  dieser  Gruppe  einen  hervor- 
tretenden Platz. 

Einzelne  Messensätze  sind  in   der  neueren  Periode 
verhältnismäßig  nur  wenige  veröffentlicht  worden  und 
noch  weniger  in  Umlauf  gekommen.     Als   die  hervor- 
ragendsten Arbeiten  dieser  Art  aus  jüngerer  Zeit  sind  zu 
M.  Braoh,     nennen:  Kyrie,  Sanctus  und  Agnus  dei  von  Max  Bruch. 

Kyrie,  Sanctus,  Sie  gehören  zu  den  gediegensten  und  gehaltvollsten  Wer- 
Agnus  dei.  ken  des  jungen  Bruch  und  stehen  an  Frische  und  Reich- 
tum der  Fantasie  und  Erfindung  seinem  »Frithjofc  und 
dem  ersten  Violinkonzert  nahe.  Hätte  Bruch  sich  ent- 
schließen können,  die  Messe  durch  Gloria  und  Credo  zu 
vervollständigen,  wäre  ihm  eine  führende  Stellung  in  der 
neuen  Kirchenmusik  sicher  gewesen. 

Eine  praktische  Bedeutung  für .  das  geistliche  Konzert 
A.  Becker,'    hat  die  Große  Messe  in  Bm oll  für  achtstimmigen  Chor, 

GioBe Messe  in  Soloquartett,  Orchester  und  Orgel  von  Albert  Becker 

BmoU.        (op.  4  6)  erlangt.    Mit  der  ersten  Aufführung  dieser  Messe 

—  i.  J.  4  879  durch  den  Riedelverein  in  Leipzig  —  wurde 

der    deutschen    Musik    ein    sehr    geistvoller   Tonsetzer 


— ^      255 

gewonnen,  welcher  bis  dahin  ziemlich  unbeachtet  gestrebt 
hatte.  Noch  weniger  als  Kiel  zeigt  Becker  eigentliche 
Originalität  in  der  musikalischen  Erfindung  und  die 
Führung  der  manchmal  zerstückelten,  manchmal  zu 
breiten  Formen  entbehrt  noch  der  vollen  Reife  und 
Freiheit.  Aber  Becker  besitzt  als  Musiker  einen  starken 
Sinn  für  Wohlklang,  für  eingängliche  Motive  und  ver- 
steht sich  mit  einer  Sicherheit,  die  auf  das  Theater  hin- 
weist, auf  scharfe  und  klare  Effekte.  Als  Künstler  liebt 
er  vor  allem  poetische  Beziehungen.  Eine  glückliche 
Folge  dieser  Neigung  ist  in  Beckers  BmoU-Messe  die  Ver- 
wendung des  evangelischen  Kirchenliedes.  Becker  scheint 
—  nach  der  Schlußbemerkung,  die  der  Komposition  an- 
gefügt ist,  zu  urteilen  —  nicht  gewußt  zu  haben,  daß 
schon  S.  Bach  und  noch  frühere  Meister  den  lutherischen 
Choral  für  ihre  Messen  benutzt  haben.  Für  die  neuere 
Messe  hat  aber  Becker  das  Verfahren  ähnlich  erneuert, 
wie  P.  Cornelius  in  seinen  >  Weihnachtsliedern  €  den 
Choral  wieder  der  kunstmäßigen  Hausmusik  zugeführt 
hat.  Für  den  Erfolg  der  Beckerschen  Messe  ist  diese 
Verwendung  der  Choräle  wesentlich  entscheidend  ge- 
worden. Was  den  Messen  eines  Cherubini,  Schubert, 
Weber,  Schumann,  Liszt  versagt  blieb,  das  hat  die 
Beckersche  erreicht.  Sie  ist  ins  Volk  gedrungen,  wenig- 
stens ins  protestantische,  für  das  sie  bestimmt  ist.  Durch 
die  Choräle  wird  sie  für  alle  Grade  musikalischer  Bildung 
gleichmäßig  verständlich,  den  Geistlichen  besonders  lieb. 
Es  ist  bekannt,  daß  Luther  fast  sämtliche  Sätze  der 
lateinischen  Messe  in  die  Form  des  Kirchenliedes  über- 
tragen ließ,  ganz  ähnlich,  wie  dieses  auch  die  Passions- 
geschichte sich  angeeignet  hat.  Da  hat  das  Gloria 
seinen  liedmäßigen  Ersatz  in  »Allein  Gott  in  der  Höh^ 
sei  Ehre,  das  Qtedo  in  »Wir  glauben  AIP  an  einen 
Gott«,  das  Agnus  dei  in  »0  Gottes  Lamm  unschuldig« 
erhalten.  Nicht  diese  eigentlichen  Messenchoräle  sind 
es,  welche  Becker  in  sein  Kunstwerk  einflicht,  sondern 
er  läßt  Choräle  anklingen,  um  gelegentlich  den  Be- 
griffsgehalt einzelner  Textbilder  zu  bereichern   und  zu 


256 


schärfen.  So  setzt  im  Credo  nach  der  Stelle  »descendit 
de  coelis«  der  Passionschoral  »Ein  Lämmlein  geht  und 
trägt  die  Schuld«  ein,  hei  der  Schilderung  des  zukünftigen 
Lebens  >Et  vitam  venturi  saeculi«  spricht  der  Choral 
»Jesus,  meine  Zuversicht<  die  freudige  Hoffnung  aus,  mit 
welcher  die  Gemeinde  das  Bild  der  künftigen  Seligkeit 
betrachtet.  Das  »Osanna  in  excelsis«  erhält  eine  volks- 
tümliche Bekräftigung  durch  »Allein  Gott  in  der  Höh*  sei 
Ehrt.  In  der  Regel  treten  die  Choräle,  wo  sie  erscheinen, 
in  den  Vordergrund  der  musikalischen  Form.  Im  Munde 
von  Orchester  und  Orgel  bilden  sie  einen  cantus  firmus, 
den  die  Singstimmen  fugierend,  zuweilen  auch  frei  bis 
zum  rezitativischen'  Ton,  umkreisen.  Es  ist  ein  Nachteil, 
daß  der  Komponist  die  Melodien  meistens  in  regelrechter 
Vollständigkeit  durchführt.  Nur  an  einer  Stelle,  beim 
»cujus  regni  non  erit  finist  hat  er  sich  —  es  ist  hier 
»Wachet  auf,  ruft  uns  die  Stimme <  —  auf  ein  kurzes 
Zitat  der  Orgel  beschränkt. 

Das  erste  Kyrie   spricht  eine   gedrückte   Stimmung 
in  zusammengedrängter  Form  aus.    Die  beiden  Themen: 


Grave. 


^Ky.  ri.0      «    .     lei   .        ,.    «on,    e    .     ^    «   le    •  ^1    •    son 


und 


^ 


S 


Ky  . 


rio    o 


►  .  le  -         -     .   -    i  .  son,    Ky.  .  ^ri     .     e 


welche  zu  diesem  Zwecke  sich  vereinigen,  haben  einen 
Bachschen  Zug  und  setzen  ein  für  die  Symbolik  chro- 
matischer Melodieführung  eingeschultes  Ohr  voraus.  Er- 
leichtert wird  aber  die  Aufgabe,  den  Gehalt  des  Satzes 
zu  erfassen,  durch  eine  scharfe  Einteikmg  in  nicht  zu 
große  Perioden.  Der  Eintritt  des  »Christe  eleison c  ist 
eigen  durch  seine  Einfachheit.  Die  zwei  halben  Noten, 
in  denen  Christus  angerufen  wird,  wirken  sehr  tief  und 
durchklingen  den  Satz  als  freundliches  Signal.  Es  ist  eins 
der  Kennzeichen  der  Kunst  Beckers,  so  ganz  naheliegende 


257 


und  gewöhnliche  Mittel  an  einem  Punkt  einzusetzen,  wo 
sie  ins  hellste  Licht  fallen.  Den  Glanzpunkt  der  ganzen 
ersten  Abteilung  bildet  der  Schlußsatz:  das  zweite  Kyrie. 
Die  Instrumente  führen  hier  den  Choral:  »Aus  tiefer  Not 
schrei*  ich  zu  äirc  durch.  Die  Singstimmen  werfen  die 
Gebetsworte  beweglich  drein,  bald  frei  deklamatorisch,  bald 
im  gebundenen  Gesangsstil. 

Der  erste ,  rauschende  Teil  des  Gloria '  wird  von 
folgendem  in  seinen  Anfangsworten  ganz  leicht  an  Beet- 
hoven und  seine  »Mis-  Aiiegro.       ^ 

sa  solemnis«  erinnern-  <fiHi  n  J.  j)  J>|  ^  J  ^f-  f  l^f  ^ 
den  Thema  beherrscht:  oio-h.»    L  «c.eai.m    öe.li 

Dasselbe  kehrt  am  Schluß  der  ganzen  Abteilung  im 
»cum  sancto  spirituc  wieder.  Eine  längere  E|)isode  von 
ruhigem  Charakter  bildet  in  diesem  anfangenden  Ab- 
schnitt das  »Et  in  terra  paxc.  Das  Aufhören  der  har- 
monischen Bewegung  kennzeichnet  ihren  Ausdruck  des 
Friedens  eigentümlich. '  Das  »Gratias  agimus  tibi«  setzt 
im  Liedton  ein,  fast  wie  ein  anmutiges  Ständchen,  und 
geht  bei  den  Worten  »propter  magnam  gloriam  tuamc 
aus  dem  zutraulichen  Ton  in  einen  ehrfurchtsvollen 
über.  Hauptsächlich  vollzieht  sich  dieser  Übergang  mit 
koloristischen  Mitteln:  in  neuen  Farben  aufrauschenden 
Tonfiguren!  Der  Gebetsabschnitt  im  Gloria  ist  wohl 
die  in  der  Erfindung  bedeutendste  Partie  der  ganzen  Ab- 
teilung. Besonders  ragen  aus  ihr  hervor  das  c^urch  alle 
Gruppen  tönende  mitleidige  »Agnus  dei«  und  das  zweite 
»Misereret.  Dieses  ist  durch  die  Harmonie  in  mächtiger 
Spannung  gefesselt  und  aus  ihr  streben  die  Stimmen  im 
innigen  eifrigen  Ringen  heraus.  Nach  einem  kurzen, 
stolzen  »Quoniam«  beginnt  die  Schlußabteilung  mit  einer 
^  knappen  Fuge  über  »Cum  sancto  spiritu«.  Jauchzend 
setzt  das  sehr  eindringliche  Thema  ein.  Bald  mischt  sich 
das  Thema  des  »Quoniam«  mit  drein,  und  auf  einem 
weiteren  Höhepunkt  angelangt,  nimmt  die  Fuge  einen 
dritten  Arm  in  ihren  Freudenstrom  mit  auf:  das  oben 
aufgezeichnete  Anfangsthema  der  Abteilung.  Becker 
waltet  maßvoll  mit  diesen  Mitteln;  statt  sich  allzulange 


U,  4. 


17 


-^     258      ^^— 

auszubreiten^  nparkiert  er  seinen  Schluß  mit  einigen  be- 
deutungsvollen Einbiegungen  und  der  Entwicklung  mäch- 
tiger Klangwirkungen. 

Im  Credo  ist  bis  zu  der  Stelle  »Qui  propter  nos« 
das  wunderbare  Element  der  Bekenntnisartikel  voran- 
gestellt. Die  Motive  sind  kurz,  im  Kern  oder  in  der 
Umkleidung  flüchtig  und  fantastisch  gehalten.  Die  einzig 
feste  Stütze  scheint  das  breite  langsame  Thema  zu  bilden, 
welches  die  ersten  Takte  bringen.  Es  kehrt  in  der  Ab- 
teilung häufig  wieder.  .  Das  >Qui  propter  nost  selbst 
teilt  sich  noch  zwischen  mystischen  Andeutungen  (bei 
»dbscendit«)  und  Ausdruck  eines  warmen  menschlichen' 
Dankgefühls.  Die  Schilderung  der  Inkarnation  Christi 
ruht  auf  dem  Choral  >Ein  Lämmlein  geht  usw.«.  Die 
Singstimmen  führen  darüber  ihr  eigenes  in  tiefe  Trauer 
getauchtes  Thema  durch.  Die  instrumentalen  wie  die 
vokalen  Grundideen  des  Abschnitts  sind  vortrefQich,  ihre 
Ausführung  wirkt  aber  etwas  matt.  Die  Kreuzigung  be- 
gleitet das  Orchester  mit  schwer  lastendem  Motiv,  die 
Stimmen  rufen  wie  in  Schmerz  und  Staunen  festgebannt 
ihr  »Crucifixus«  hinein.  Auch  beim  »passus«  bleiben  sie 
in  einer  vielsagenden  Kargheit  von  Ton  und  Wort.  Vor 
dem  >sub  Pontio  Pilato«  erklingen  in  den  Instrumenten 
ganz  ähnliche  Seufzer,  wie  sie  jedermann  aus  dem 
»Parsifal«  Wagners  unvergeßlich  sind.  Es  ist  eine  der 
modernsten  und  ergreifendsten  Stellen  in  Bs.  Messe.  Die 
weiteren  Glaubenszeugnisse  sind  kurz  gegeben;  aber  mit 
bedeutenden  Themen.  Am  meisten  fesselt  der  mystisch 
spannende,  visionäre  Ausdruck  bei  der  Stelle  »Et  exspecto 
resurrectionem  mortuorumc.  Alarmierend,  taucht  dieses 
Bild  aus  dem  Nichts  auf  und  ins  Nichts  verschwindet  es, 
begleitet  von  den  kurz  erregten  Rezitativzeilen  der  Sänger. 
Einen  längeren  Satz  bildet  nur  das  fugierende  »Et  vitam 
ventüri  saeculi«,  getragen  vom  Choral:  »Jesus,  meine 
Zuversicht«. 

Wenn  Beckers  Messe  im  allgemeinen  zuweilen  auch 
an  Beethovensche  Mittel  erinnert,  so  tut  dies  das 
Sanctus  besonders  in  der  Mischung   des   kolorierenden 


~-^     J59     ♦— 

Gcesangstils  mit  einfacher  Melodik  und  Deklamation.  Wie 
schön  eignen  sich  hier  die  einander  kreuzenden  zarten 
Figuren  der  Singstimmen  zum  Ausdruck  einer  in  Gottes- 
freude schwelgenden  Empfindung!  Ganz  4ibweichend  ist 
die  Wiedergabe  des  ersten  »Osanna«  in  dem  ruhigen 
Tone,  mit  welchem  man  ein  Glück  betrachtet,  das  stille 
hält.  Während  dieser  Satz  in  anderen  Messen  das  >Bene- 
dictus«  aus  einem  scharfen  Abschnitt  herausspringen 
läßt,  leitet  Beckers  »Osanna«  zum  letzteren  mild  hinüber. 
Über  beide  Sätze  breitet  der  Wechsel  und  die  Ver- 
einigung von  Chor  und  Soli  großen  sinnlichen  Rei2.  Die 
zweite  Behandlung  des  »Osanna«,  von  der  ersten  grund- 
verschieden, fesselt  durch  Hervorkehrung  eines  ernsten, 
tiefsinnigen  Elements.  In  diesem  zweiten  Osannasatz  ist 
es,  wo  auch  der  Choral:  »Allein  Gott  in  der  Höh'«  an- 
gespielt wird. 

Das  Agnus  dei  beginnt  in  einem  drohenden,  fast 
unheimlichen  Ton:  schwül  in  Klang  und  Harmonie;  tief 
unten  grollen  kurze  erregte  Figuren,  der  breite  Gesang 
der  Solostimmen  wird  von  dem  angstvoll  naturalistisch 
psalmodierenden  Chor  unterbrochen.  Die  Szene  beginnt 
mehrere  Male  von  vorn  und  steigert  den  Ausdruck  der 
düsteren  Gedanken,  schmerzliche  Klagen  erheben  sich 
im  Orchester;  an  andrer  Stelle  vernehmen  wir  wahre 
Höllentöne.  Eine  Lösung  vom  Druck  versucht  das  erste 
Andante  (VrTakt).  Aber  in  seiner  Melodik  liegt  die  volle 
Ratlosigkeit  noch  ausgesprochen.  Erst  ein  selbständiger 
Orchestersatz  (Allegretto,  V4)  löst  die  Spannung  und 
führt  zum  »Dona  nobis«  über,  welches  den  Frieden  bringt. 
Seine  vorwiegend  idyllischen  Weisen  werden  durch  freund- 
lich mystische  und  durch  hochpathetische  Streiflichter  ge- 
hoben. 

An  Selbständigkeit  und  Charakter  wird  die  Arbeit 
Beckers  von  der  jjüngst  veröffentlichten  »Großen  Messe« 
(in  FismoU)  von  Felix  Draeseke  (op.  60)  übertroffen.  Felix  Droeseke, 
Es  ist  eine  Musik  Cherubinischen  Geistes,  die  oft  ver-     FismoU- 
schlossen  und  in  sich  gekehrt,  näher  gekannt  sein  will,       Messe, 
am  verstanden  zu  werden.   Nach  keiner  Seite  leicht,  hat 

47* 


^^     260     ^.— 

sie  bisher  wenig  Verbreitung  gefunden;  wir  wissen  nur 
von  zwei  Aufführungen:  in  Leipzig  upd  Dresden.  Wer 
aber  in  dieser  Messe  die  Darstellung  der  Passion,  des 
»Benedictusc  und  namentlich  des  Agnus  dei  studiert,  wird 
darüber  nicht  in  Zweifel  sein,  daß  hier  die  Arbeit  eines 
Meisters  vorliegt. 
A.  Braokner.  Auch  die  drei  Messen  Anton  Brückners,  (Dmoll, 

FmoU-Mesee.  Emoll,  Fmoll)  die  aus  einem  wahrscheinlich  ziemlich 
reichen  und  teilweise  in  der  Jugendzeit  des  Komponisten 
geschaffenen  Vorrat  allein  in  Druck  gekommen  sind,  haben 
bisher  nur  geringes  Entgegenkommen  gefunden,  obwohl 
sie  in  mancher  Hinsicht  sehr  bemerkenswert  sind.  Eigen 
ist  ihnen  ein  außerordentlich  reges  Orchester,  das  anders 
als  bei  Liszt  nicht  auseinander  liegende  Teile  in  Bezieh- 
ungen bringt,  sondern  die  Grundstimmung  größerer  Ab- 
schnitte fixiert,  eigen  zweitens  eine  mit  klisinen  Motiven 
spielende  Kontrapunktik,  die  vom  scheinbar  eigensinnigen 
Suchen  und  Probieren  sich  oft  zu  einer  überraschenden 
Größe  der  Empfindung  aufschwingt.  Den  Symphonien  sind 
sie  durch  die  knappe,  straffe  Anlage  und  dadurch  über- 
legen, daß  sie  sich  von  Abschweifungen  fernhalten.  Die 
verhältnismäßig  bekannteste  unter  diesen  drei  Messen, 
die  Große  Messe  in  Fmoll  (als  Nr.  3  veröffentlicht), 
für  Soli,  vierstimmigen  Chor  und  großes  Orchester,  ist 
sehr  ungleich  in  der  musikalischen  Erfindung.  Einzelne 
Sätze  sind  durch  und  durch  bedeutend,  bei  andern  führt 
der  Weg  zu  gewaltigen,  unvergeßlichen  Stellen  über  ge- 
wöhnliche, zum  Teil  altvaterische  Strecken.  Der  Mangel 
an  Vokalsinn,  der  dieser  Tatsache  mit  zugrunde  liegt, 
äußert  sich  auch  häufig  in  der  technischen  Führung  der 
Singstimmen. 

Das  Kyrie  ist  der  schwächste  Satz  dieser  Messe. 
Kaum  kann  man  ihm  mehr  nachrühmen,  als  daß  der 
Ton  getroffen  ist.  ,  Nur  der  Schluß  des  Mittelsatzes,  das 
>  Chris te  eleison  c,  bei  dem  die  Solostimmen  eintreten, 
erhebt  sich  an  der  Gesdur-Stelle  zum  mächtigen  Aus- 
druck freudigen  Vertrauens.  Eine  zweite  große  einer 
Alltagsseele   unmögliche   Stelle   findet   sich   im    dritten 


— ^      261      ^ — 

Abschnitt,  in  der  Wiederholung  des  Kyrie,  da,  wo  sich 
um  das  kurze  Cisdur-Motiv  Chor-  und  Solostimmen  ab- 
lösen. 

Das  Gloria  hat  drei  Teile.  Der  erste  endigt,  auf- 
fälligerweise, mit  den  Worten :  »Domine  Deus,  agnus  Dei, 
filius  Patris<,  auffällig  deshalb,  weil  so  Subjekt  und 
Prädikat  auseinandergerissen  werden.  Seine  Musik  zeich- 
net sich  durch  feurige  Empfindung  und  durch  den 
Glanz  aus,  in  dem  sie  die  Majestät  Got-  ^^Aiiegro. 
tes  vorstellt.  Die  musikalische  Stütze 
des  Bildes  ist  eine  einfache  Achtelfigur 
die  im  Unisono  des  Streichorchesters  wie  zu  einem 
Strom  anwächst.  Dieses  gewaltige  Phänomen  wird 
durch  zwei  ruhige  Idyllen  unterbrochen,  zuerst  beim  »Et 
in  terra  pax«,  dann  noch  schöner  beim  »Gratias  agimus<. 
Diese  Episode  mit  der  wohltuenden  Stille,  aus  der  die 
Solostimme',  von  einem  Terzengang  weniger  Instrumente 
umspielt,  so  klar  und  schlicht  eindringlich  hervortritt,  ist 
ein  Geschenk  der  Inspiration.  Ober  die  Titulaturen  geht 
Brückner  im  flotten  Zug  hinweg  und  fügt  bei  ihnen  der 
leitenden  Hauptfigur  des  ti»^^ 
Orchesters  ein  ebenfalls  Mm  jJ  PfPf/ir  hinzu, 
freudevolles  Nebenmotiv:    «T  i  "    L-ö  ^ 

Der  zweite  Teil  besteht  aus  zwei  Abschnitten.  Der 
vordere  (Adagio,  3/4,  DmoUj,  der  die  Bitten:  das  miserere 
und  das  suscipe  enthält,  baut  ^  Adagio.  ^^  auf.Nach- 
sich  in  der  Hauptsache  über  (fe  b  g  p  J  1  Jp  J  dem  ihn 
dem  inbrünstigen  Gehetsruf :  •?  '  W  '  -IT  •  ^^^  Stim- 
men jede  für  sich  vorgetragen  haben,  treten  sie  zum 
Chorsatz  zusammen  und  dem  neuen  Ton,  in  dem  sie 
nun  nochmals  um  Erbarmen  und  um  Erhörung  bitten, 
ist  ein  starker  Teil  Herzensangst  beigemischt.  Er  dringt 
ins  Innere  des  Hörers.  Der  dritten  Intonation  des  (ange- 
gebenen) Gebetsrufs  folgt  der  Chorsatz  nicht  sofort,  son- 
dern Brückner  schaltet  modern  realistisch  —  man  denke  an 
Berlioz  —  einen  Abschnitt  stammelnden  Psalmodierens 
dazwischen.  Durch  sie  wirkt  der  Einsatz  des  Chors 
dann  wie  ein  elementarer  Aufschrei. 


262 


In  dem  andern  die  Worte  von  >Quoniani  tu  solus 
usw.«  bis  zum  >in  gloria  Dei  Patris,  Amen«  umfassenden 
Abschnitt  des  zweiten  Teils  wird  die  Musik  des  ersten 
Teils  wiederholt.  Der  dritte,  schließende  Teil  des  Gloria 
nimmt  den  Satz  »in  gloria  Dei  Patris,  Amen«  noch  einmal 

auf  und  vertieft  sich  in  ihn,    fl       i .  r  fl  _  .r i  \^  .  —  tr^^ 

mit  ebensoviel  Schwung  jp  /IHfl^  *  j'^  T  *  T  fT 
alsKunst  über  das  Thema:  in  fiori»    DoJ     Pa.trii  A.men 

fugierend.    Das  Schlußwort  hat    das    Orchester  auf  die 
Figur  zurückgreifend,  mit  der  das  Gloria  begann. 

Das  Credo  ist  der  in  sich  ungleichste  Satz  der  Messe. 
Fast  könnten  sich  in  seine  Komposition  zwei  ganz  ver- 
schiedene Künstlercharaktere,  ein  Naturkind  und  ein 
Grübler,  geteilt  haben.  Diesem  mißrät  mancherliei  in 
Ausführung  und  Auffassung,  jenes  übt  auf  den  Hörer 
auch  bei  fraglichen  Wegen  einen  unwiderstehlich  freund- 
lichen Bann  aus. 

Das  Naturkind  beginnt  das  Glaubensbekenntnis  mit 
folgen-      f.  Aiiegro.  Das    ist    bekannter 

dem  Xifi  f^  nr  rrN^rif.  österreichischer  Kir- 
Thema:  *^ '  Cre.do,  cre.do  in  unumDeuro  chenton,  es  erinnert 
ganz  direkt  an  das  Credo  der  Esdur-Messe  Franz  Schu- 
berts und  es  erfreut  so  oft  es  kommt,  was  ziemlich  häufig 
geschieht.  Es  beherrscht,  wenn  auch  nicht  wörtlich,  so 
doch  geistig  den  ersten  Abschnitt  des  Satzes,  der  bei  den 
Worten  >descendit  de  coelis«  endet.  Brückner  läßt  aber 
schon  hier  in  die  freudige  Hingebung  an  den  Schöpfer  und 
Vater  aller  Wesen  einen  mystischen  Ton  hineinklingen, 
und  zwar  mit  einfachen  Mitteln.  Zu- 
erst bei  »visibilium  omnium  et  invisi- 
bilium«  tritt  im  Orchester  das  Motiv: 
bei  »natum  ante  omnia  auf.    Beideinale 

saecula«  das  sehr  eifrig  "P  J  f  J„J  ^  ist  die  Chroma- 
verwendete     Baßmotiv:  *"^  tik  der  entschei- 

dende Zug.    Ihr  entspringen  romantisch  schillernde  Har- 
monien und  geisterhafte  Melodiengänge. 

Der  zweite  Abschnitt,  in  dem  die  Menschwerdung, 
das  Leiden  uud  Sterben  des  Heilands  vorgeführt  wird, 


-^     263     ^— 

macht  nun  mit  der  Mystik  Ernst.  In  dem  beginnenden 
Moderato  dient  ihr  namentlich  das  Kolorit  mit  in  j^chtel- 
noten  zitternden  und  schwebenden  Harmonien  hoher 
Holzbläser,  der  seit  Wagners  >Lohengrin«  allgemein  ge- 
wordenen Symbolik  des  Wunderbaren.  Eine  Solovioline 
und  eine  Solobratsche  werfen  eine  Art  Lerchengesang 
hinein.  Den  Text  über  »Et  incarnatus  est«  trägt  ein 
Solotenor  auf  eine  Melodie  vor,  die  durch  ihre  zarte 
Schönheit  zu  den  hervorragendsten  Stellen  der  ganzen 
Messe  gehört.  Ihre  großen  Schlüsse  böten  wir  im  dunk- 
len Echo  der  Posaunen  zweimal.  Es  fällt  der  Frauenchor 
mit  ein,  mehr  sprechend  als  deklamierend.  Das  »Homo 
factus  est«  übernehmen  die  Bässe  noch  sehr  im  Ton  des 
Geheimnisses.  Beim  Hinzutritt  der  andern  Stimmen  geht 
er  in  Ergriffenheit  über  und  nun  kommt  mit  dem  »Cruci- 
fixus«  eine  der  bedeutendsten  Stellen  der  ganzen  Kom- 
position. Die  Bedeutung  liegt  in  dem  stillen,  heimlichen 
Kampf  zwischen  'einer  fromm  dankbaren  und  einer 
schmerzlich  leidenschaftlichen  Auffassung  der  erzählten 
Vorgänge.  Der  Chor,  der  den  Hauptvortrag  hat,  bleibt 
bis  zum  »sepultus  est«  in  derselben  äußerlichen  Ruhe, 
mit  welcher  er  das  »Crucifixus«  choralartig  einfach  ein- 
setzt Aber  aus  einer  Menge  Dissonanzen  und  Akzente 
spricht  die  innere  Erregung  deutlich  genug. 

Die  Heilsgeschichte  von  der  Auferstehung  bis  zum 
Weltgericht  (»Et  resurrexit«  bis  »judicare  vivos  et  mortuos«) , 
bildet  den  dritten  Abschnitt  des  Credo.  Die  Incarnation 
und  die  Passion  hat  Brückner  im  Halblicht,  in  den  Far- 
ben des  Traumes  geschildert,  für  die  neuen  und  höheren 
Wunder  wählt  er  den  Ton  äußerster  Spannung  und  ge- 
waltigster Aufregung  und  drückt  ihn  mit  Orchester- 
motiven aus,  die  größtenteils  etwas  primitives  und 
naturalistisches  haben.  Ganze  lange  Teile  dieser  Grup- 
pen liegen  g  die,  in  allen  Lagen  zu- 
auf  der  wilden  fly  f  T  1  f  ^f  *  M  gleich,  lange  Perioden 
Streicherfiffur:     *^              4 1  f  4     hindurch    nicht    vom 


Streicherfigi 

Platze  weicht  und  wie  eine  Geistergestalt  bald  sich  hebt 

und  bald  sich  duckt.     Abgelöst  wird  sie  durch   andere 


—-^     264      #— 

ebenso  tumultuarische  Achtelgänge,  denen  Bruchstücke 
der  Skala  zugrunde  liegen.  Was  die  Bläser  und  was  die 
Singstixnmen  hinzutun,  ist  nicht  viel  mehr  ^Is  al  fresco- 
Musik,  akkordisch,  mit  großer  Kraft  gebrachte  Deklama- 
tion,  nur  hier  und  da  durch  das  ausdrucksvolle  Motiv 
eines  Horns,  einer  Posaune,  derTenöre  oder  Bässe  unter- 
brochen. Das  Ziel,  auf  das  der  Komponist  lossteuert, 
ist  ein  mit  Schrecken  gemischtes  Staunen.  Die  höchste 
Wirkung  seiner  Absicht  erreicht  er  vor  und  mit  dem 
Eintritt  des  »cum  gloria  judicare  vivos  et  mortuos«. 
Das  Gericht  über  die  Lebendigen  beschäftigt  ihn  lange, 
der  Toten  (et  mortuos)  gedenkt  er  kurz  und  leise.  Gleich 
darauf  verschwindet  die  Vision.  Die  Worte  »cujus  regni 
non  erit  finis«  sind  als  Anhang,  zu  diesem  HaÄptbild  des 
Credo  gedacht.  Ein  technischer  Zusammenhang  mit  ihm 
fehlt  zwar,  aber  die  Wiedergabe  des  »non  erit  ünis« 
nimmt  den  Geisterton  der  dort  in  andrer  Weise  bei  der 
Erwähnung  der  Toten  angeschlagen  wurde,  noch  ein* 
mal  auf. 

Der  vierte  Abschnitt  beginnt  mit  dem  Bekenntnis 
zum  heiligen  Geist  und  verwendet  dazu  zunächst  die 
Musik,  mit  der  das  Credo  anfing.  Beim  Relativsatz 
»Qui  cum  Patre  et  Filio  usw.«  aber  tritt  ein  neuer  Ton- 
satz (Moäerato,  3/4,  G  dur)  von  freundlich,  ruhig  beschau- 
lichem Charakter  ein.  Eine  logische  Berechtigung,  einmal 
Zusammengehöriges  zu  trennen,  dann  dem  heiligen  Geist 
so  menschlich  intim  und  vertraulich  gegenüber  zu  treten, 
liegt  nicht  vor,  sondern  Brückner  ist  hier  dem  musika- 
lischen Effekt  nachgegangen.  Den  hat  er  vorzüglich  er- 
reicht. Der  milde  Ton  des  Satzes  tut  nach  der  starken 
Aufregung  sehr  wohl,  der  Form  nach  ist  er  ein  Kanon 
der  Solostimmen,  den  der  Chor  nur  mit  einer  kurzen, 
ehrfurchtsvollen  Episode  auf  die  Worte:  »simul  ado- 
ratur  et  conglonficatur«  unterbricht.  Wie  der  voran- 
gegangene dritte,  wird  auch  dieser  vierte  Abschnitt  durch 
einen  Anhang  vervollständigt,  dem  der  von  »Et  unam 
sanctam  catholicam«  bis  »resurrectionem  mortuorum« 
reichende   Text    zugewiesen    ist.      Auch    er    stört    die 


Einheit  des  ganzen  Satzes  und  ist  an  sich  unbedeutend. 
Doch  bringt  er  den  ernsten  Charakter  der  Gelöbnisse 
zur  Geltung.  Bei  der  Auferstehung  der  Toten  stellt 
Brückner  auch  eine  Verbindung  mit  dem  dritten  Ab- 
schnitt her:  das  allarmierende  Achtelmotiv  des  Streich- 
orchesters setzt  wieder  ein.  Die  Worte  »resurrectionem 
mortuorum«  sind  bedeutungsvoll  getrennt,  das  erste  wird 
fest  und  begeistert  im  forte  gegeben.  Dann  folgt  nach 
zwei  Takten  Pause,  in  die  nur  die  Pauke  leise  hinein- 
wirbelt, pp  im  kleinlauten  unisono  der  Singstimmen  das 
»mortuorum«.  Die  Stelle  hat  eine  gewisse  Kulturbedeu- 
tung. Läßt  es  sich  in  der  musikalischen  Messe  im  allge- 
meinen deutlich  verfolgen,  wie  der  christlichen  Mensch- 
heit der  Gegenwärt  zu  die  Todesfurcht  mehr  und  mehr 
gewachsen  ist,  so  bildet  Brückner  den  Superlativ  des 
Todesgrauens.  Ihn  persönlich  muß  der  Gedanke  ans 
Sterben  mit  Schauder  erfüllt  haben.  Welcher  Kontrast 
zur  Todesfreudigkeit  der  Bachschen  Zeit! 

Wie  ein  freundliches  Erwachen  aus  einem  quälenden 
Traum  stellt  sich  zu  diesem  Schluß  der  nun  folgende  und 
fünfte  Abschnitt  des  Credo,  dem  die  Worte:  »Et  vitam 
venturi  saeculi,  Amen«  zufallen.  Er  ist  der  originellste 
Teil  der  ganzen  Messe,  obschon  er  nennenswertes  neues 
musikalisches  Material  nicht  bringt.  Brückner  verwendet 
das  (oben  mitgeteilte)  Eingangsthema  des  Credo  für  ihn 
in  einer  freien  Fugenform.  Aber  mit  einem  überraschen- 
den, hinreißenden  Eiilflill.  Zwischen  jede  Intonation  des 
Themas  fällt  der  volle  Chor,  einfach  homophon  mit  vier 
Akkorden  ff:  »Credo,  credo«  ein.  Das  ist  urnaiv  und  von 
elementarster  Wirkung.  Mit  diesem  Ausgang  ist  dieses 
Credo  ein  Unicum,  es  gibt  keine  Messe,  in  der  die  Glau- 
bensfreudigkeit voller  und  natürlicher  zum  Durchbruch 
kommt.    ÜJtere  Anregungen  sind  dabei  möglich. 

Das  Sanctus  ist  auffällig  knapp  und  begnügt  sich 
die  Empfindungen  in  kleinen  Stücken  zu  skizzieren. 
Nur  beim  Hosanna,  dessen  Ton  ziemlich  weltlich  an- 
klingt, wird  länger  verweilt.  Es  kehrt  auch  nach  dem 
Benedictus  wieder.    Dieses  Benedictus,  in  der  Form  der 


U. 


—^    '266     *— 

di'eiteiligen  da  capo-Arie  augelegt,  gehört  im  Hauptsatz 
zu  den  Perlen  der  Brucknerschen  Messe.  Schon  seine 
instrumentale  Einleitung,  mit  dem  Cello  als  Hauptstimme, 
ist  echte  edle  Herzensmvisik.  Der  Gesangteil,  von  Solo- 
stimmen bestellt,  erweitert  den  Inhalt  der  schönen  an- 
dächtigen Melodien  und  steigert  ihren  Ausdruck  durch 
sinnvolle  Kontrapunkte.  Noch  mehr  gewinnt  ihm  die 
Wiederholung  durch  den  Chor  ah;  bei  ihr  nähert  sich 
die  Andacht  auf  einen  Augenblick  dem  Entzücken. 
Schwächer  ist  der  als  Sopransolo  mit  Chor  beginnende 
Mittelsatz.  Das  Festhalten  an  einer  nicht  viel  sagenden 
Achtelfigur  hat  hier  den  Aufschwung  verhindert. 

Auch  dem  Agnus  Dei    legt  Brückner   eine'  techni- 
sche Stütze  Andante.  begleitet  die  drei  üblichen 
unter.        X^i^i^wf  Fj/nil-  Anrufungen    des    Gottes- 
tiv :     tJ            *    *^ii^'^   lammes  als  Basso 


Das  Motiv :     «X  '   "q*      lammes  als  Basso  ostinato. 

Aber  darüber  und  dahinter  stellen  die  Singstimmen  Motive 
von  bedeutenderem  Gehalte  und  entwickeln  sie  frei,  dra- 
matisch beweglich  und  doch  einfach  zu  ergreifenden  Ton-" 
reden.  Es  liegt  Schuldbewußtsein  in  der  Wiedergabe 
des  »qui  tollis  peccata  mundi<,  Zagen  in  den  ersten 
Soloeinsätzen  des  Miserere,  stürmisches  Gnadenverlangen 
in  seiner  Fortsetzung  durch  d^n  Chor.  Bis  zum  Schluß 
der  dritten  Anrufung  bleibt  die  Situation  bänghch,  stellen- 
weise verzweifelt,  die  Erhörung  ungewiß.  Da  kommt  plötz- 
lich das  Eingangsmotiv  des  Kyrie,  aber  in  F  dur  und  mit 
ihm  eine  Musik  des  Friedens,  die  nun  nicht  mehr  weicht. 
Auf  neue  Erfindung  verzichtet  Brückner  jetzt  und  führt 
den  Satz  mit  Reminiszenzen  zu  Ende,  die  bekannte  Ideen 
gewissermaßen  in  Verklärung  zeigen.  Außer  dem'  ersten 
Kyriemotiv  sind  es  noch  die  Ges  durstelle  aus  dem  »Christe 
eleison«  und  das  Fugenthema  vom  »cum  gloria  Dei  Pa- 
tris«.  Alles  aber  auf  >dona  nobis  pacem«  gesungen.  Gern 
hätte  jedermann  auch  nochmals  das  Credothema  gehört. 
Die  in  der  Verbreitung  die  zweite  Stelle  einnehmende 
A.  Braokner,  Emoll-Messe  Brückners  ist  halb  und  halb  eine  a  capella- 
Emoll- Messe.  Messe.  Sie  wird  zwar  von  Oboen,  Klarinetten,  Fagotten, 
Hörnern,  Trompeten  und  Posaunen  begleitet,  aber  dieses 


— ♦     267      ♦— 

Blasorchester  setzt  sehr  häufig  auf  lange  Strecken  aus. 
Aus  Schumaunschen  Romanzen  kennt  man  die  Intona- 
tionsverlegenheiten, in  welche  auch  der  beste  Chor  durch 
eine  solche  launische  Instrumentalbegleitung  geraten  kann. 
Das  mag  4er  eine  Grund  für  die-  geringe  Verbreitung  sein, 
welche  diese  Messe  Brückners  bisher  gefunden  hat,  der 
andere  liegt  darin,  daß  ein  achtstimmiger  Chor  Verlangt 
und  diesem  ein  zuweilen  schwieriger  Satz  zugemutet  wird, 
und  ein  dritter  darin,  daß  sie,  auch  wenn  alles  gelingt, 
nicht  eigentlich  dankbar  ist.  Sie  ist  eine  Vokalkomposition 
nach  dem  Prinzip  der  Renaissancemusik,  dem  scharfen 
Ausdruck  der  einzelnen  Sätze  und  Begriffe  wird  die  An- 
lage im  großen  untergeordnet.  Dieses  Prinzip  hat  aber 
bis  heute  noch  nicht  die.  Menge  für  sich  gewonnen.  An 
und  für  sich  ist  alles  in  dem  Werk  verständlich,  das 
meiste  außerordentlich  schön  und  eine  Bestätigung  der 
hohen  Erwartungen,  die  nach  den  starken  kirchlichen 
Anklängen  in  den  Symphonien  Brückners  auf  seine  litur- 
gische Begabung  gesetzt  werden  durften.  Zum  tieferen 
Eingehen  geneigte  und  befähigte  Hörer  werden  ohne  Be- 
denken diese  Emoll-Messe  höher  stellen,  als  die  in  Fmoll. 
Sie  ist  in  Auffassung,  Stimmung,  Lebenserfahrung  und 
Kunst  reicher,  die  reifere,  wahrscheinlich  auch  spätere 
Arbeit  und  noch  knapper  gehalten.  Am  weitesten  über- 
trifft sie  jene  im  Kyrie  und  Sanctus.  Anlaß  zur  Verwun- 
derung bietet  sie  nur  durch  das  Hauptthema  des  Credo, 
wie  überhaupt  dieser  Satz  auch  als  Ganzes  der  am  wenig- 
sten gleichmäßige  ist.  Bei  allen  andern  ist  das  Gesamt- 
ergebnis unbedingte  Bewunderung  und  der  Wunsch,  ein 
derartiges  Stück  wirklich  großer  Kunst  möge  bald  allge- 
mein gekannt  sein.  Fast  ganz  unbenutzt  ist  Brückners 
Dmoll-Messe  geblieben. 

Von  neuesten  Messen,  die  zwar  in  den  deutschen 
Handel,  aber  nicht  ins  Konzert  gekommen  sind,  sei  als 
gediegene,  interessante  Arbeit  die  von  Fr.  Klose,  von 
ausländischen  Beiträgen  seien  die  von  P  er  o  si,Ravanello 
und  Ed.  Smyth  genannt. 

^  Größere  Beachtung  als   sie.  hat  »Eine  deutsche 


--♦     268     ♦>— 

Messe«  für  Soli,  Chor,  Orchester  und  Orgel  von  Otto 
Taubmann  gefunden.  Ihr  der  Heiligen  Schrift  entnom- 
mener, auf  acht  Nummern  verteilter  Text  knüpft  lose  an 
das  Kyrie,  sowie  an  den  Eingang  des  Gloria  und  den  des 
Sanctus  an,  nimmt  aber  im  übrigen  auf  den  .Gang  und 
den  Inhalt  des  altliturgischen  Hochamts  keine  Rücksicht. 
Betont  wird  die  Sterblichkeit  des  Menschen  und  der 
Wandel  in  Gerechtigkeit,  es  fehlen  aber  mit  dem  Glaubens- 
bekenntnis, mit  der  Schilderung  von  Christi  Mensch- 
werdungy  Leiden  und  Sterben,  mit  der  Bitte  um  Vergebung 
der  Sünden  alle  die  Gedanken  und  Bilder,  die  im  kirch- 
lichen Text  am  meisten  ergreifen  und  erheben.  Der 
Heilige  Geist  wird  nirgends  genannt.  Es  liegt  also  kaum 
eine  Berechtigung  vor,  diese  Frucht  einer  durchaus  ratio- 
nalistischen Religiosität  als  Messe  zu  bezeichnen.  Die 
Musik  hat  ihren  besonderen  Zug  m  der  verschwenderisch 
reichen  Entfaltung  schulmäßiger  Satzkünste.  Reine  Soli 
und  einfache  Chorstellen  verschwinden  gegen  die  FiQle 
von  allerlei  Nachahmungen  und  Fugen,  zu  deren  Aus- 
führung in  der  Regel  ein  Doppelchor  und  neben  ihm 
noch  ein  Soloquartett  aufgeboten  ist.  Ein  besonderer 
Knabenchor  hat  die  Aufgabe,  in  die  Fugen  Choräle  hinein- 
zusingen.  Der  tondichterische  Gehalt  der  Komposition 
steht  mit  dieser  kontrapunktischen  Fertigkeit  und  Ge- 
schäftigkeit nicht  auf  gleicher  Höhe,  er  ist  zuweilen,  wie 
gleich  in  dem  einleitenden  Orchestervorspiel,  sogar  auf- 
fallend gering.  Jedoch  hebt  er  sich  von  der  Mitte  des 
Werkes  ab.  Unter  den  von  da  an  tiefer  wirkenden  Stellen 
ist  zunächst  der  Anfang  des  »Heilig«  wegen  der  Feierlich- 
keit seines  scharfen  Akkordwechsels  hervorzuheben,  nach 
ihm  der  Hauptsatz  der  fünften  Nummer  (Jauchzet  dem 
Herrn)  wegen  seines  rhythmischen  Feuers.  In  der 
sechsten  Nummer,  die  zunächst  auf  den  Anfang  der  Messe 
zurückgreift,  zeichnet  sich  der  schön  und  mild  gestimmte 
Chor:  »Gesegnet  sei  der  Mann«  aus.  In  der  siebenten 
Nummer  bildet  der  Einsatz  des  auch  weiterhin  bedeutungs- 
voll anklingenden  Chores:  »Christ  ist  erstanden«  einen 
Höhepunkt.  


\ 


— ♦     269      ♦-— 

.  Die  römische  Kirche  teilt  die  Messen  in  vier  Hanpt- 
grappen:  Missae  de  tempore  (Messen  für  die  gewöhn- 
lichen Sonn-  und  Festtage  des  Kirchenjahrs),  missae 
de  sanctis  (Marienmessen,  Märtyrermessen,  Heiligen- 
messen), missae  votivae  (Messen,  die  in  ihrem  Titel 
und  wohl  auch  in  einer  Variante  des  Textes  einem  be- 
stimmten lokalen  Ereignisse  freudiger  oder  trauriger 
Natur  —  einer  Fürstenkrönung,  einer  Überschwemmung 
usw.  —  Rechnung  tragen)*).  Die  hervorragendste  und 
letzte  Gruppe  bilden  die  Totenmessen,  die  missae  pro 
defunctis.  Der  Volksmund  nennt  sie  kurzweg  Re- 
quiems, nach  den  Anfangsworten  ihres  Introitus  »Re- 
quiem aetemam  dona  eis  domine«.  Die  Totenmesse  hat 
unter  allen  Klassen  der  Messe  die  bedeutendsten  als 
gültig  an^rkanniten  Abweichungen  vom  Texte  des  allge- 
meinen Hochamts.  Gloria  und  Credo  fallen  weg,  Graduale 
und  Offertorium  erhalten  ständigen  Text,  jenes  die  Sequenz: 
»Dies  irae«,  dieses  die  Hymne:  »Domine  Jesu  Christe«; 
dem  Kyrie  geht  stets  dieselbe  Einleitung  voraus:  das 
schon  erwähnte  »Requiem  aeternam<,  die  Bitte  um  Frie- 
den für  die  Toten,  das  Gebet  um  ewige  Ruhe,  welches  den 
Kern  aller  Sätze  der  Totenmesse  bildet.  Die  Dichtung  des 
Dies  irae  dem  Thomas  a  Celano  (4250)  zugeschrieben,  ist 
eine  der  wenigen  Sequenzen,  welche  aus  dem  ungeheuren 
Schatze,  den  das  Mittelalter  von  dieser  Gattung  besaß, 
heute  von  der  Kirche  noch  geduldet  werden.  Ihre  heutige 
Stellung  im  Requiem  hat  sie  sich  nur  allmählich  im  glei- 
chen Schritt  mit  dem  Vordringen  dramatischen  Geistes  in 
der  Kirchenmusik  erobert.  Daß  sie  von  den  neueren  Kom- 
ponisten in  den  Mittelpunkt  der  Messe  gestellt  wird,  wider- 
spricht dem  Zweck  des  Requiems.  Denn  das  Ganze  ist 
dichterisch  weder  auf  Trauer-  und  Klageszenen,  noch 
weniger  auf  ausgeführte  Schilderungen  von  den  Schrecken 
der  Hölle  und  des  Fegefeuers  angelegt.    Es  soll  in  erster 

*)  Die  bedeutendste  neuere  Messe  des  Auslandes,  die  yon 
Ob.  Gounod  zu  Ehren  der  Jungfrau  von  Orleans  geschiteben,  in 
Deutschland  bisher  nicht  aufgeführt,  gehört  unter  diese  Gruppe. 


/ 


-^     870     ^^^ 

Linie  nur  die  Fürbitte  um  die  ewige  Ruhe  aussprechen 
und  es  soll  sich  aufregenden  Bildern  nur  zuwenden^-um 
mit  gesteigerter  Innigkeit  immer  wieder  zu  dieser  Fürbitte 
zurückzukehren . 

Auch  die  ältere  Zeit,  insbesondere  das  4  6.  Jahrhundert, 
ist  an  Requiemkompositionen  reich.  Doch  nicht  in  dem 
Grade,  welchen  man  erwarten  sollte,  wenn  man  den  Maß- 
stab nach  der  Fruchtbarkeit  bildet,  welche  heute  auf  diesem 
Zweiggebiete  der  geistlichen  Tonkunst  herrscht.  Unsere 
neueren  Komponisten  erscheinen  von  keinem  anderen 
christlichen  Text  so  stärk  angezogen,  wie  von  dem  der 
Totenmesse.  In  der  älteren  Periode  ist  das  Vexhältnis 
der  musikalischen  Seelenämter  zu  der  allgemeinen  Messe 
ungefähr  wie  4  :  40.  Am  reichsten  ist  die  französische 
und  niederländische  Schule  mit  Totenmessen  vertreten, 
in  zweiter  Linie  steht  die  italienische  da,  weit  hinter 
ihnen  zurück  die  deutsche.  Aus  den  Requiems  der 
Zeit  vor  Palestrina ,  welche  von  den  Kennern  hervor-* 
Pierre  de la  Rue,  gehoben  werden,  führen  wir  die  an  von  Pierre  de  la 
Job.  Priori»,  Rue,  Joh.  Prioris,  Ant.  de  Fevin,  Jac.  de  Kerle, 
Ant.  de  Pevin,  C.  Moral  es  und  F.  Guerrero.  Namentlich  die  Toten- 
Jao.  de  Kerle,  messe  des  Morales  hält  streng  einen  hochernsten,  düsteren 
Chr.  Horales,  und  schaurigen  Grundton  fest.  Am  nächsten  steht  ihr 
Fr.  Guerrero.  darin  das  Requiem  de  Kerles,  zugleich  eins  der  ersten,  das 
die  Sequenz  im  Chorsatz  und  für  Hörer,  denen  die  Grego- 
rianischen Grundmelodien  vertraut  sind,  ergreifend  gibt 
Das  Urziel  der  Figuralkomposition ,  den  Choral  durch 
Variation  poetisch  zu.  beleben  und  zu  verherrlichen,  tritt 
aus  dem  Dies  irae  dieses  Niederländers  ungewöhnlich 
klar  hervor.  Die  Form  der  älteren  Requiems  ist  schein- 
bar sehr  zerstückelt.  In  dem  größeren  Teile  lier  soge- 
nannten temporellen  Stücke,  im  Introitus  (»Requiem<),  in 
der  Communio  (»Lux  aetema  luceat«),  namentlich  aber 
in  der  Sequenz  (>Dies  irae«)  wechseln  die  Chorsätze  mit 
den  Intonationen  des  Priesters.  In  der  Sequenz  geschieht 
dies  zuweilen  mit  der  Regelmäßigkeit  der  Antiphonie: 
zwei  Zeilen  singt  der  Liturg  im  Gregorianischen  Choralton, 
zwei  Zeilen  der  Chor  im  figurierten  Stil.    Im  allgemeinen 


ist  die  musikalische  Anlage  der  älteren  Totenmessen,  im 
Einklang  mit  deiti  liturgischen  Zeremoniell,  außerordent- 
lich verschieden  und  wechselt  nicht  Mos  örtlich,  sondern 
auch   nach  dem   Stand   der  Abgeschiednen,   denen  die 
Trauermessen   galten^    So   lässt  Palestrina  in  seiner  Q.  F.  da  Pale- 
Totenmesse  vom  Jahre  4  594  die  nach  heutiger  Auffassung       strina, 
für   das   Requiem   entscheidenden   Stücke    einfach  weg.     Reqaiem 
Sie    bleiben    dem    Liturgen    und    dem    Gregorianischen  (von  1591). 
Choral  allein.     Nur  beim  Offer torium  und  beim  Schluß 
des  Agnus  dei   erinnert  der  Chorsatz  im  Text  an  eine 
Totenfeier.      Auch    Orlando    di    Lassos    herrliches,    0.  di  Lasso, 
wundervoll   melodisches   Requiem  vom   Jahre   4  589   hat     Requiem 
keine  Sejquenz.    Erst  in  der  zweiten  Hälfte  des  47.  Jahr-  (von  1589}. 
hunderts  wird  die  musikalische  Form  der  Totenmessen 
breiter  und  in  den  einzelnen  Gliedern  wuchtiger.     Der 
Liturg  scheidet  aus.^    Den  Obergang  zeigt  eigentümlich 
das  Requiem  des  G.  A.  "Pitoni  vom  Jahre  4  688.    In  ihm  Qt.  A.  Pitoni. 
sind  die  frühern  liturgischen  Intonationen  in  die  Form 
dreistimmiger  Sätze   übertragen:    reihum  Knabenterzett 
und   Terzett    von    Männerstimmen.    Was -früher    Chor- 
satz  war,   ist  dem  vierstimmigen  Chor   gebUeben   und 
hat  den  Stil,  den  hierfür  die  früheren  Meister  festgestellt 
hatten.    Die  Terzette  hingegen  zeigen  die  Beweglichkeit 
in  Rhythmus  und  Ausdruck,  welche  eben  erst  infolge  von 
Monodie  und  Musikdrama  sich  entwickelte.    Pitoni  folgte 
den  neueren  Bestrebungen  in  der  Vokalmusik  bekanntlich 
eifrig  und  mittätig.    Unter  anderem  hatte  er  die  Skizze  , 
zu  einer  zwölfehörigen  Messe  entworfen.    Unter  den 
Totenmessen,    welche    sich    enger    als    das   Pitonische 
Requiem    den^  sogenannten  Palestrinastil    anschließen, 
sind  als  hervorragende  die  von  Or.  Vecchi,  Giov.  Fr. 
Anerio,  G.  Cavaccio  und  L.  Vittoria  bekannt.    Der 
allererste  Platz  in  dieser  Gruppe  gebührt  vielleicht  dem 
achtstimmigen  Requiem  von  Fr.  Cavalli,  dem  eigen t-   Fr.  Cavalli. 
liehen  Schöpfeir  der  venetianischen  Oper.    Dieser  große 
Meister  schrieb  dieses  zweichörige  Werk  für  sein  eignes 
Begräbnis  {jr  4676)  und  bestimmte   testamentarisch  und 
durch  Legate  regelmäßige   Aufführungen    desselben  zu 


seinem  Gedächtnis.  Es  ist  die  ^feierlichste  Totenmesse, 
welche  existiert,  und  wenn  jemals  von  einem  alten  nur 
handschriftlich  vorhandenen  Tonwerke  die  Drucklegung 
wünschenswert  gewesen  ist,  so  von  diesem.  Ein  Teil 
seiner  erhabenen  Größe  beruht  auf  der  Beibehaltung 
der  gregorianischen  Motive  und  der  liturgischen  Intona- 
tionen. Doch  hat  Cavalli  letztere  dem  neueren  Chorsatz 
stilgemäß  angeschlossen,  meist  in  Form  eines  zwei- 
stimmigen Satzes  für  die  Bässe  beider  Chöre.  Die  Sequenz 
ist  textlich  vollständig  aufgenommen  und  zum  erstenmal 
in  dem  aufgeregten  Stile  behandelt,  der  bis  auf  die 
Gegenwart  für  die  Komposition  dieses  Satzes  typisch 
geblieben  ist. 

Requiems  mit  Instrumentalbegleitung  begegnen  wir 
zuerst  um  die  Mitte  des  47.  Jahrhunderts.  Unter  die 
frühesten  unter  den  bekannteren  gehören  die  von  G.  P. 
Gl  P.  Colonna,  Colonna  und  G.  B.  Bassani.  In  beiden  ist  aber  die 
G.  6.  Bassani.  Erfindung  noch  wesentlich  rein  vokal  und  auch  die  Satz- 
formen gehören  mehr  der  älteren  Periode  an.  Wie  eine 
große  Überschrift  fürs  ganze  bringt  Bassani  yor  dem 
Introitus  das  erste  Wort  »Requiem<  in  den  breiten  Rhyth- 
A.  Lotti.  men  der  alten  Ritualformel.  Auch  Ä.  Lotti  setzt  mit 
dem  Unisono  der  drei  tiefen  Stimmen  seine  Totenmesse 
noch  so  ein  und  führt  auch  den  Satz  in  der  alten  Art 
über  kleine  Abschnitte  fort:  die  Bässe  vorwiegend  starr 
auf  langen  Tönen  liegend,  die  übrigen  Stimmen  ^it 
Bevorzugung  choralartiger  Wendungen.  Das  Dies  irae 
beginnt  mit  einem  breiten  mysteriösen  Instrumentalsatze, 
in  welchem  Trompetenklang,  verminderte  Septakkorde, 
Generalpausen  und  feierliche  Fugatos  eineniJIauptbestand- 
teil  bilden.'  Das  Tempo  ist  Adagio.  Das  Requiem  des 
F.  Bnrant«.  Fr.  Durante  lässt  sich  schon  bei  weitem  modemer  an. 
Ein  träumerischer  Zug  kommt  besonders  im  Introitus 
zum  Ausdruck.  Rochlitz  hat  diesen  Teil  des  Werkes  und 
das  Graduale,  welches  in  einer  bedeutend  verlängerten 
Form  erscheint,  in  seine  Sammlung  aufgenommen. 

Die  älteste  unter  den  begleiteten  Totenmessen,  welche 
noch  bis  jüngst  zuweilen  zu  hören  war,  ist  die  von  Nie. 


273      ♦ — 

Jomelli.  Sie  ist  wiederholt  gedruckt  worden;  den  K.  JotnalH. 
jüngsten  Klavieranszug  des  Werkes  veröffentlichte  Julius 
Stern  im  Jahre  4866.  Diese  aus  der  letzten,  unglücklichen 
Periode  des  Tonsetzers  stammende  Komposition  ist  eine 
der  bedeutendsten  Schöpfungen  Jomellis.  Mit  großer 
Einfachheit  vereint  sie  reiche  Eigenart  der  Auffassung. 
Wie  schön  ist  der  kurze  Introitus,  in  welchem  die  wiegen- 
den Figuren  der  Instrumentalbässe,  sich  mit  den  Violinen 
die  Hand  reichend,  den  Tod  in  dem  freundlichen  Bild 
des  Schlummers  zeigen.  Die  Mängel  des  Werkes  beruhen 
auf  einem  Familienfehler  der  neapolitanischen  Schule: 
Vorherrschen  einer  weichhchen  Empfindung.  Damit  kam 
es  aber  den  Neigungen  des  18.  Jahrhunderts  entgegen. 
Auch  durch  die  Verwendung  von  Solostimmen  übte  es 
seinen  Reiz.  Doch  sind  diese  nur  selten  äußerlich  virtuos 
behandelt.  Im  Durchschnitt  ist  ihre  Führung  würdig.  In 
ihnen  und  in  den  Chorpartien  liegt  ein  Reichtum  natür- 
licher Gesangwirkung,  wie  er  in  neueren  Werken  nur 
selten  vorkommt.  Die  von  Müller  in  Stuttgart  vorge- 
nommene Zusetzung  von  Blasinstrumenten  hat  den  Cha- 
rakter des  Werkes  geschädigt.  Ein  a  •  capella-Requiem 
(in  Es)  von  Jomelli  gehört  ebenfalls  zu  den  hervorragenden 
Kompositionen  des  Textes. 

An  Verbreitung  hinter  dem  Jom ellischen  Requiem  weit 
zurückstehend,  sind  auch  die  Totenmessen  A.  Hasses  A.  Eagsa. 
der  Beachtung  wert.  Sein  erstes  Requiem  (in  Es)  hat 
noph  alte  liturgische  Intonationen  sowohl  in  einfacher, 
wie  in  eingeairbeiteter  Form.  Unter  seinen  großen  Stellen 
ist  der  Eingang  des  Dies  irae  wegen  der  malerischen  Kraft 
des  Orchesters  besonders  bemerkenswert.  Stechend  klingt 
ans  den  Violinen  der  Schrecken.  In  dem  zweiten  (in  C) 
ist  der  Introitus  tief  eindringlich.  Ihm  liegt  die  Idee  eines 
glänzenden  Trauermarsches  zu  Grunde,  aus  dem  man 
oft  glockenartige  Motive  heraushört.  Beide  Totenmessen 
sind  reich  an  dankbaren  Solonummern. 

Goethe  hörte  4  788  im  San  Peter  zu  Rom  ein  Requiem 
für  zwei  Solosoprane  mit  Orgel.  Das  zeigt,  wie  weit 
auoh  die  Totenmesse   sich   dem    Formengeschmack   der 

II,  4.  48 


— ♦     274     ♦— 

Zeit  anpaßte.  Trotzdem  blieb  sie  im  allgemeinen  vor 
dem  Verfall,  welcher  von  der  zweiten  Hälfte  des  i  8.  Jahr- 
hunderts ab  auf  mehrere  Jahrzehnte  hinaus  die  Kompo- 
sition der  anderen  Gruppen  der  Messe  ergriff,  bewahrt. 
Der  Grundgedanke  des  Requiems  lag  menschlich  zu 
nahe  und  erfüllte  auch  die  geringeren  Geister  unter  den 
Tonsetzern  mit  demjenigen  Ernste,  welchen  leider  auch 
die  Besten  jener  Zeit  sonst  vermissen  lassen.  Nur  die  Se- 
quenz, das  Dies  irae  mit  seinem  Bilderreichtum,  verführte 
häufiger  zu  Spielereien,  von  denen  etliche  geradezu  zu 
stehenden  Typen  wurden.  Daß  bei  den  Worten  »Tuba 
mirum  spargens  sonum«  die  Posaune  im  Singular  oder 
Plural  einsetzt,  erscheint  allmählich  selbstverständlich. 
Es  kommen  auch  viel   außerordentlichere  Einfälle  vor: 

G.v.Pasterwitz.  G.  v.  Pasterwitz  z.  B.,  dessen  würdiges  aber  doch  nur 
mittelmäßiges  Requiem  Rochlitz  in  seine  Mustersamm- 
lung aufgenommen  hat,  läßt  an  der  Stelle  >Quantus 
tremor  est  futurus«  den  ganzen  Singechor  in  einem 
grotesken  Tremolo  starren  und  beben. 

Jenen  Unterschied  im  Gehalt  zwischen  Requiem  Und 

W.  A.  Mosart.  den  einfachen  Messen  auch  bei  W.  A.  Mozart  nach- 
weisen zu  wollen,  wäre  ein  ziemlich  triviales  Unternehmen. 
Zwischen  Mozarts  letzter  Messe  und  seinem  Requiem 
liegt  ein  ganzes  Leben;  der  seelische  und  künstlerische 
Reichtum,  wie  ihn  nur  das  Genie  im  Laufe  zweier  Jahr- 
zehnte erwirbt,  macht  jeden  näheren  Vergleich  zwischen 
dem  Requiem  Mozarts  und  seinen  anderen  Messen  un- 
möglich. Außerdem  wissen  wir,  daß  Mozart  die  Gedanken 
an  den  eignen  Tod  in  die  Feder  drangen,  als  er  das 
Requiem  schrieb.  Es  kamen  viele  Umstände  zusammen, 
um  dieses  Werk  aus  seiner  Zeit  herauszuheben  und  ihm 
eine  außerordentliche  Lebenskraft  einzuflößen.  Auch 
der  romantische  Reiz  wirkte  mit.  Das  Requiem  Mozarts 
wird  im  Anfang  des  <9.  Jahrhunderts  selten  erwähnt,  ohne 
daß  zugleich  des  geheimnisvollen  Boten  gedacht  würde, 
welcher  das  Werk  bestellte:  der  langen  schwarzen  Lakaien- 
figur, welche  wie  ein  Gespenst  das  Fortschreiten  der 
Partitur  umspähte.     Auch   die    unsinnigen   Vergiftungs- 


geschichten,  die  angeblichen  Intriguen  Salieris   und  der 
Italiener,  werden  bei  dieser  Gelegenheit  mit  aufgetischt. 
Als  man   später  erfuhr,  daß  Graf  Walsegg  der  geheime 
Besteller  gewesen,   daß  dieser  Mann,  der  an  dem  Wahne 
litt,  als  Komponist  glänzen  zu  wollen,  dieses  Werk  für 
sein  eignes  ausgegeben,  erhielt  jenes  romantische  Interesse 
nur  neue  Nahrung.    Endlich  erreichte  es  bei  vielen  Ver- 
ehrern des  Meisters  einen  geradezu  leidenschaftlichen  Grad 
durch  den  Streit,  welcher  sich  um  die  Echtheit  des  Werkes 
erhob.    Dieser  Streit  darf  seit  dem  Jahre  4  829  als  erledigt 
gelten.     Die    neuen   Untersuchungen   von    Brahms    und 
Schnerich*)  haben  nur  bestätigt,  was  damals  A.  Andr6  in 
Offenbach  feststellte.    Die  Partitur  des  Requiems,  welche 
dieser  Vater  der  Mozartforschung  herausgab,  zeigt  das  Werk 
genau  in  dem  Zustand,  in  welchem  es  Mozart  bei  seinem 
Tode  hinterlassen.     Danach  war  kein  einziger  Satz  der 
Totenmesse  wirklich  vollendet,  als  des  Meisters  Hand  er- 
kaltete.   Aber  der  größere  Teil  w^r  doch  so  weit  fertig, 
daß  ein  geschickter  Musiker  das  Fehlende  wohl  im  Sinne 
Mozarts  ergänzen  konnte.   Von  den  i  2  Nummern,  in  welche  ' 
Mozart  das  Requiem  eigentümlicher  Weise  zerlegte,  waren  : 
Introitus  und  Offertorium  in  den  Singstimmen   und  im  , 
Harmoniebaß  vollständig  ausgearbeitet,  für  die  Instrumen-  i 
tierung  dieser  Sätze  die  wesentlichen  Motive  und  Gesichts- 
punkte gegeben.    Desgleichen  auch  in  der  Sequenz;  doch 
hören  in  dieser  mit  dem  neunten  Takte  des  >Lacrimosa< 
Mozarts  Aufzeichnungen  plötzlich  auf.    Vollständig  fehlen 
das  Sanctus,  Benedictus  und  Agnus  dei.    Mit  der  Ergän-  i 
zung  wurde  von  Mozarts  Witwe  der  Wiener  Kapellmeister  1 
F.  X.  Süßmayer  beauftragt.     Dieser  Musiker  genoß  in  i 
der  Fachwelt  ein  ehrenvolles  Ansehen :  Sein  »Solimanll.« 
und  sein  »Spiegel  von  Arkadien«  waren  als  lieblingsopern 
jahrzehntelang  über   alle    deutschen   Bühnen    verbreitet 
und  gehören  in  dem  großen  Kreis  von  Werken,  die  als 

*)  Brahms   in  der  Gesamtaasgabe  der  Werke  Mozarts  von 
Breitkopf&Härtel,  Schnerich  in  der  faksimilierten  Partiturausgabe. 

18* 


— ^     276     ♦— 

Absenker  der  »Zauberflöte«  entstanden,  zu  den  selbstän- 
digsten und  talentvolls^ten.  Überdies  konnte  Süßmayer 
als  ein  Schüler  Mozarts  angesehen  werden.  Mit  den  Ab- 
sichten, die  Mozart  in  bezug  auf  das  Requiem  gehabt,  war 
er  speziell  vertraut  und  was  nicht  zuletzt  in  Betracht 
kam:  seine  Handschrift  glich  der  Mozartschen  so  genau, 
daß  Walsegg  und  noch  andere  sie  dafür  hielten.  Es  ist 
Tatsache,  daß  die  Sätze,  welche  Süßmayer  ganz  und  gar 
selbst  komponiert  hatte,  für  echte  Mozartsche  Leistungen 
befunden  wurden.  Das  Benedictus  wurde  sogar  noch 
im  Jahre  4802  als  eine  Perle  des  ganzen  »Requiem«  be- 
sonders ausgezeichnet*).  Wir  verwundem  uns  darüber; 
ja  es  treten  noch  heutzutage  Kritiker  hervor  und  tun 
sich  etwas  darauf  zugute,  daß  sie  die  fest  verbürgte  Mit- 
arbeit Süßmayers  bezweifeln.  Das  ist  wohl  begreiflich 
und  wird  solange  kaum  zu  ändern  sein,  als  wir  die 
Wiener  Schule  nur  durch  Haydn,  Mozart  und  Beethoven 
kennen.  Wer  mit  dep  Charakter  ihrer  Nebenmänner, 
mit  ihrem  Reichtum  an  wirklichen  Talenten  vertraut,  in 
den  Werken  der  Eberl,  Wölfl  ein  wenig  zu  Hause  ist,  wird 
über  die  Leistung  Süßmayers  nicht  weiter  erstaunt  sein. 
Daß  Mozart  bestrebt  war,  in  seiner  Totenmesse  den 
kirchlichen  Charakter  streng  und  deutlich  auszuprägen, 
zeigt  namentlich  der  Introitus  des  Werkes.  Das  in  seinem 
maßvollen  Ausdruck  der  Freude  so  eigentümliche  Thema, 
mit  welchem  der  Solosopran  hier  das  »Te  decet  hymnus« 
einsetzt,  ist  die  Melodie  des  alten  Chorals  »Meine  Seel'  er- 
hebt den  Herrn«.  Michael  Haydn  hat  sie  an  derselben  Stelle 
seines  B  dur- »Requiems«  gebracht.  Sie  war  als  Grablied  be- 
kannt, noch  neuerdings  hat      Adagio.^^       _     

sie  F.Kiel  in  seinem  zweiten  ^Vmf  f  BBfTBBT  BPri 
Requiem  als  cantus  firmus  "^       ■       r  r  •   -  r  r  ■   r  ¥=f=^ 

wieder   aufgegriffen.     Aus   einer   ahn-     t|i,  --  .^^ J  i  /Tj 
liehen  Quelle  stammt  auch  das  Thema :     -^►"fyi'fTT" 
über  welches  die  Singstimmen  die  Worte  »Requiem  aeter- 
nam«  in  Nachahmungen  durchführen.    Mit  einer  geringen 

*)  AUg.  Musikal.  Zeitung. 


f 


Wendung  des  zuerst  in  den    Ap  J  flJJjjCTlT^^ 


--♦      277     *— 

Abweichung  findet  es  sich  am  Eingang  von  Händeis  Be- 
gräbnisanthem,  das  Mozart  wahrscheinlich  gekannt  hat. 
Auch  die  refrainartige  Ver-  q  ^''*,^'*'i 
Wendung  des  zuerst  in  den  4^V  JJ 
Fagotten  auftretenden  Motivs  "^ 
feirner      die     kolorierte      Aiicgro.  endlich      die 

Führung  der  Nebenthe-  tu  f'Bf  TIbJ  iU  ^^^^  ^^^* 
men,  die  Wahl  des  Haupt-  -^^  '  KP  IH'^f  dehnung  die- 
themas  der  Kyriefuge:  *^y"-*  *•  ^^-"^^  ses  letztge- 
nannten Stückes  selbst  dürfen  wir  auf  das  Streben  Mozarts 
zurückführen,  seiner  Totenfeier  einen  objektiven  Charakter 
zu  geben  und  das  Weh  der  Trauer  durch  die  von  alters 
her  erprobte  und  geheiligte  Sprache  der  Kirche  zu  lindern. 
Es  finden  sich  nur  wenige  Stellen,  an  welchen  sich  die 
subjektive  Empfindung  einzumischen  versucht:  Die  ersten 
Einsätze  von  »et  lux  perpetua«  und  vom  »exaudi«  sind 
es.  Aber  sie  gelangen  mit  ihrem  dramatischen  Ton  nicht 
einmal  bis  ans  Ende.  Das  Eigentümliche  dieses-  ganzen 
ersten  Satzes  ist  es:  daß  er  in  seinem  thematischen 
Material  so  einfach,  fast  auf  Gemeinplätze  gestellt  ist  und 
doch  so  tief  wirkt.  Als  ungeschriebener  cantus  firmus 
klingt  der  tiefe  Ernst  der  Stimmung  durch.  Die  Instru- 
mentation trägt  auch  mit  dazu  bei,  uns  die  Farben  der 
Trauer  fest  vor  dem^Auge  zuhalten;  den  Bassetthörnern 
und  Fagotten  ist  ihre  Rolle  mit  genialer  Berechnung 
zugewiesen;  ebenso  den  Posaunen  am  Schluß  der  Ein- 
leitung. Doch  hat  diese  Süßmayer  wohl  kaum  in  Mozarts 
Sinne  weitergeführt 

Die  Sequenz,  das  Dies  irae  ist  in  sechs  gesonderten 
Nummern  behandelt  Diese  Sonderung  gilt  aber  nur  für 
Übungen  und  Proben.  In  der  Aufführung  begeht  der 
Dirigent,  welcher  an  den  Schlußstellen  länger,  als  die 
ausgezählten  Pausen  erlauben,  hält,  eine  wahre  Sünde 
gegen  Mozsurt 

Der  erste  dieser  sechs  Abschnitte  umfaßt  den  ersten 
Vers  der  Sequenz  vom  Anfang  >Dies  irae<  bis  zu  den  Wor- 
ten »cuncta  stricte  discussurus«  und  gibt  ihn  in  der  Form 
eines  Chorsatzes.     Der  Chor  singt  den  Text  dreimal  in 


278 


»■— .- 


erschrecktem  Ton,  auf  harten  Motiven,  in  einschneidenden 
Perioden  und  schroffem  Wechsel  der  Tonarten.  Zu 
diesen  reichlichen  2^eichen  des  schweren  Herzens  und 
der  Aufregung  kommt  noch  die  Unruhe  des  Orchesters. 
Poch  ist  das  Bild  der  Ankunft  des  jüngsten  Gerichtes 
trotz  dieser  naturalistischen  Elemente  künstlerisch  gefaßt 
und  abgeklärt.  An  den  Schlüssen  zieht  Mozart  die  Zügel 
an  und  mischt  in  die  Töne  des  Schreckens  die  milderen 
der  frommen  Ergebung.  Die  Hauptstelle  des  Satzes 
kommt,  als  der  Text  zum  drittenmal  in  Angriff  genommen 
wird.  Da  malen  die  Singbässe  —  am  besten  die  Tenöre 
mit  —  den  tremor  mit  einer  Trillerfigur,  die  ihre  grausige 
Wirkung  bei  richtiger,  entschiedner  Ausführung  nicht 
verfehlt.  Sie  stammt  vielleicht  aus  der  kürzlich  durch 
0.  Schmid  bekannt  gewordenen  >Missa  della  Morte< 
A.  Tumas,  mit  dem  sich  Mozart  noch  mehrmals  be- 
rührt. Der  Chor  der  übrigen  Stimmen  klagt  zweimal 
kleinlaut  —  piano  ist  gemeint  —  das  »dies  irae,  dies  illa«, 
beim  drittenmal  stimmt  er  in  die  Figur  des  Entsetzens 
mit  ein.  Von  da  ab  wird  der  Charakter  des  Satzes  ruhiger 
und  ergebungsvoller.  Seine  eilige  Entstehung  verrät  er 
in  dem  Mangel  an  Vortragszeichen.  Mit  ihnen  hat  der 
Dirigent  nachzuhelfen,  der  Geist  der  Komposition  verlangt 
an  mehreren  Stellen  Farbenkontraste. 

Die  Textes  Worte  des  »Tuba  mirum«  tragen  die  Solo- 
stimmen, eine  nach  der  anderen,  vor.  Der  Baß  betont 
die  Hoheit  und  das  Wunderbare  des  Gerichtes,  das  die 
Toten  auferweckt  und  sammelt.  Ihn  begleitet  und  unter- 
stützt die  Posaune  zum  Teil  in  Figuren,  die  der  Natur 
des  Instruments  ferner  liegen.  Auch  Tuma  hat  an  diesen 
Stellen  die  Posaune.  Der  Tenor  singt  erst  staunend,  dann 
bei  dem  Gedanken  an  das  Schuldbuch  —  »über  scriptus« 
—  gedrückt  und  bangend,  der  Alt  in  tiefer  Erregung,  mit 
großem,  leidenschaftlichem  Ausdruck.  Der  Sopran  bringt 
in  den  Satz  zum  erstenmal  einen  herzigen,  kindlichen 
Ton  des  Gottvertrauens,  der  auch  über  alle  Augenblicke 
der  Beklommenheit  hinweg  bis  zum  Ende  bleibt.  Die  - 
letzten    Worte    wiederholt    das    ganze    Quartett.      Die 


— ^      279      ^^- 

nächste,  dritte  Nummer  der  Sequenz,  das  >Rex  tremendae 
majestatisc,  hat  wieder  der  Chor.  Unter  den  kleinen  ab- 
geschlossenen Sätzen,  durch  welche  das  Requiem  Mozarts 
an  die  frühesten  Formen  der  Totenmesse  erinnert,  ist  dks 
>Rex  tremendae  loajestatisc  einer  der  knappsten.  Aber, 
welchen  Reichtum  birgt  es!  Das  Orchester  beginnt  mit 
Figuren  und  Motiven,  die  knapp,  aber  anschaulich  die 
Majestät  des  Herrn  malen  und  durch  den  ganzen  Satz 
immer  wiederkehren.  Wie  von  diesem  Bild  in  Furcht 
gebannt,  schreit  der  Chor  dreimal  das  Wort  >Rex«  allein 
auf .  schlechten  Taktteil  hin.  Dann  übernimmt  der  Alt 
die  Führung  in  ^iner  Ehrfurcht  und  Inbrunst  aus-' 
sprechenden  Melodie,  die  ihm  der  Sopran  —  eine  Quint 
höher  —  sogleich  nachsingt.  Diesem  Kanon  der  beiden 
oberen  Stimmen  folgen  Tenor  und  Baß  mit  einem 
zweiten  über  kurze  anrufende  Motive.  Dieser  Ab- 
schnitt des  Döppelkanons  wiederholt  sich  sofort  mit  ver- 
tauschten Rollen.  Und  nun  erst  kommt  die  Bitte:  »salva 
me«,  bescheiden,  aber  nach  der  schönen  Vorberei- 
tung außerordentlich  eindringlich  und  gerade  in  dieser 
Kürze  außerordentlich  vielsagend.  Das  »Recordare*, 
die  vierte  Nummer  der  Sequenz,  wieder  von  den  Solo- 
stimmen gesungen,  ist  einer  der  gehaltreichsten  Sätze 
des  Werkes.  Er  hat  Rondoform  und  als  Hauptthe- 
ma   die     from-         Allegretto.  ___ea^^^ 


volle  Melodie: 
die  von  den  Stimmen,  einer  nach  der  andern,  erst  auf 
die  Worte  »Recordare,  Jesu  pie<  dann  bei  »Juste  judex c 
und  zum  drittenmal  bei  »Preces  meae«  gebracht  wird. 
Unter  den  Zwischensätzen,  die  sämtlich  erregter  Natur 
sin4,  tritt  der  auf  die  Stelle  »Ingemisco  tanquam  reusc 
durch  seine  große  malerische  Kraft  besonders  hervor. 
Und  doch  ist  er  mit  der  erdenklichsten  Einfachheit  ent- 
worfen und  ausgeführt.  Ganz  besonders  schön  ist  hier 
und  an  ähnhchen  Stellen  die  Rückkehr  von  der  Erregung 
in  die  Ruhe.  Mit  dem  Introitus  hat  dieses  »Recordare« 
den  kirchlichen  Charakter  der  Hauptmelodie  gemein.   Der 


— %      280      ^ — 

jetzt  folgende  Chor  über  »Confutatis«  malt  in  der  ersten 
Hälfte  mit  erschreckten,  aufgeregten  Figaren  des  Streich- 
orchesters den  Zustand  der  Verdammten;  die  Männer- 
stimmen  veranschaulichen  das  Angstgeschrei  der  den 
Höllenflammen  preisgegebenen  Seelen.^  In  Sätzchen  von 
größter  Einfachheit  treten  dieser  Gruppe  die  ruhigen,  in 
Dur  gehaltenen  Bittgesänge  der  Frauenstimmen  unendlich 
rührend  gegenüber.  Der  Satz  kontrastiert  in  seinem 
Anfang  zunächst  scharf  gegen  das  »Recordare«,  dann 
aber  auch  in  sich  nochmals  durch  den  ganz  verschiedenen 
Inhalt  der  beiden  Stimmgruppen  und  wirkt  deshalb  außer- 
ordentlich tief.  Dieser  Gegensatz  des. furchtbaren  Bildes 
der  Verdammnis  und  des  Zuges  der  Bittenden  wird  ein 
zweites  Mal  aufgestellt.  Dann  vereint  die  zweite  Hälfte 
der  nur  kurzen  Nummer  unendlich  rührend  den  ge- 
samten Chor  im  frommen,  aus  zitternder  Seele  kommen- 
den Ausdruck  des  Gnadenbedürfnisses.  Dieser  Schluß- 
teil gehört  zu  den  genialstein  Stellen  (des  Requiem. 
Das  »Lacrimosa«,  die  dem  Chore  gegebene  Schluß- 
nummer des  >Dies  irae«,  hat  Mozart  zu  einem  der 
ergreifendsten  Sätze  angelegt.  In  seinen  ersten  Takten 
waltet  eine  Tonsprache  von  mäch-  ^  Urghetto. 
tigster  Anschaulichkeit:  Schluchzend  fL^  Sf  ^T C  f'^fi 
klingt  die  Sexte  des  ersten  Motivs:  •^  La'r'c^moia 
in  die  höchste  Spannung  versetzt  uns  der  Aufmarsch  der 
Stimmen  in  zagenden,  abgebrochenen,  leise  gehauchten 
Achteln  bei  den  Worten  >qua  resurget  usw.«.  Mit  er- 
schütternder Gewalt  endigt  er  im  Aufschrei/auf  den  hohen 
Tönen,  wo  der  Schuld  der  Menschheit  gedacht  wird: 
»homo  reus«.  Hier  bricht  Mozart  ab.  Süßmayer  ist  es 
gelungen,  diese  hochgespannte  Stimmung  festzuhalten. 
Besonders  schön  wirkt  der  zweite  Einsatz  des  »Dona  eis 
requiem«,  das  ist  Palestrinascher  Geist  in  moderner  Form. 
Mit  ihm  klingt  die  Sequenz  versöhnt  und  christlich  aus. 
In  Mozarts  Autograph  sind  leere  Blätter,  aus  denen  man 
schließen  kann,  daß  er  dem  Satze  eine  mäßige  Länge 
(24  bis  30  Takte)  bestimmt  hatte.  Diese  hat  der  Bearbeiter 
eingehalten. 


ts\ 


Das  OlTertorium  »Domino  Jesu  Christe<  besteht  in 
seinem  ersten  Teile  aus  einer  Reihe  kleiner  Bilder,  in  denen 
dip  dunkeln  Farben  des  Entsetzens  und  Grauens  dramatisch 
kurz  aufgetragen  sind.  Besonders  treten  die  Worte  »de 
poenis  inferni«  und  »de  ore  leonis«  hervor,  vor  allem  aber 
die  Stelle:  »ne  absorbeat  eas  tartarus«.    Über  das  Thema: 

Andante.  fugierend,  Yon  ei- 

i.l>''llPPlJ\K^iPPlJ;iJ^PPJ^PpJ^|;,p  nem  wüden  Uni- 
*T  r  ^.  .-  -  r  r  ■T  r'-^0^Y     sQno  der  Streich- 

instrumente umspielt,  zeichnen  hier  die  Singstimmen  ein 
Bild  der  Seelenverwirrung.  Am  Schluß  steht  äußerster 
Schrecken  bei  dem  viermal  'hingestoßenen  >ne  cadant« 
—  und  völlige  Gebrochenheit  —  bei  dem  leisen,  tiefen, 
langsamen  »in  obscurum«  —  unmittelbar  nebeneinander. 
Der  zweite,  knappe  Teil  (Soloquartett)  »Sed  signifer 
sanctus  Michael«  bildet  dazu  einen  freundlichen  Gegen- 
satz. Die  Schlußfuge  »Quam  olim  Abrahae«,  der  dritte  Teil 
des  Offertoriums,  hat  das  kirchlich  viel  gebrauchte  Thema: 
Andnnte.  ^  ^^  *      -      -  Mit  besonde- 

*>'l''  *  P  P  P  Pllnr  I  *  I    P'  n  *  P  P  Ppll^nsw.  rer  Liebe  sind 
^  in  ihr  die  Wor- 

te »et  semini  ejus«  bedacht.  Mit  ihnen  lenkt  Mozart  nach 
prächtigen  Modulationen  und  Steigerungen  in  die  friedvolle 
Stimmung,  die  er  für  die  Schlüsse  der  erregteren  Sätze  sei- 
nes Requiems  so  herrlich  zu  suchen  und  zu  finden  weiß. 
Die  Fuge,  bei  der  die  Mitwirkung  der  Orgel  unentbehrlich, 
ist  nur  kurz,  und  die  leeren  Blätter  im  Autograph  scheinen 
anzudeuten,  daß  ihr  Mozart  noch  einen  Teil  zufügen 
oder  hier  noch  eine  neue  Einlage  geben  wollte.  Süß- 
mayer hat,  diese  Lücke  übergehend,  unmittelbar  das 
»Hostias«  folgen  lassen,  den  letzten  Satz  des  Werkes, 
welcher  von  Mozart  selbst  herrührt.  Er  trägt  die  eigen- 
tümlichen Züge  des  kurzen,  inhaltschweren  Aufbaues, 
welcher  einen  großen  Teil  der  kirchlichen  Kompositionen 
Mozarts  auszeichi^et.  Das  Orchester  deutet  mit  seinem 
Rhythmus  den  feierlichen  Prozessionscharakter  des  Gra- 
duale  an.  Der  Chor  steht  weich  und  ergriffen  vor  der 
heiligen  Zeremonie.     Als  er  den  Text  zum  zweitenmal 


--^     28^      ♦— 

beginnt,  klingen  Schauer  der  Ehrfurcht  aus  seinen  an  das 
»Ave  verum«  erinnernden  Tönen.  Den  Abschluß  bildet  eine 
Repetition  der  Offertoriumsfuge:   >Quam  olim  Abrahae«. 

Die  von  Süßmayer  komponierten  Nummern  Sanctus, 
Osanna,  Benedictus^  Agnus  (bis  zum  >lux  aeterna«)  reprä- 
sentieren einen  durchaus  würdigen  Typus  der  katholi- 
schen Kirchenmusik  der  Mozartschen  Zeit.  Im  Osanna 
wird  dies  manchem  die  Verwandtschaft  mit  dem  ent- 
sprechenden Satz  der  Beethovenschen  Missa  solemnis 
klar  machen.  Zum  Teil  stehen  sie  aber  noch  höher, 
ganz  besonders  das  Agnus  Dei,  welches  den  Gegensatz 
zwischen  der  Angst  und  Not  des  Menschenherzens  und 
dem  Frieden  bei  Gott  in  echt  Mozartscher  Einfachheit, 
in  packenden  Steigerungen  und  ergreifend  schön  aus- 
prägt Die  Töne  zu  »dona  eis  requiem«  sind  von  einer 
Eingebung,  die  es  dem  mit  der  Zeit  Süßmayers  weniger 
Vertrauten  unglaublich  macht,  daß  sie  von  einem  andern 
als  Mozart  selbst  herrühren  können.  Es  ist  auch  mögUch, 
daß  für  diesen  Satz  Mozartsche  Skizzen  vorlagen.  Die  Idee 
im  Agnus  Dei  von  den  Worten  »Lux  aeterna  luceat«  an, 
die  Musik  des  Introitus  und  des  Kyrie  zu  benutzen  ist 
nach  dei*  Erklärung  seiner  Wittwe,  Mozarts  Eigentum. 
Sie  gibt  dem  Requiem  eine  Abrundung,  deren  schpne 
Wirkung  durch  keinen  der  im  Laufe  der  Zeit  angestellten 
sonstigen  Schlußversuche  erreicht  wird. 

Die  Auszeichnung,  mit  der,  wie  schon  erwähnt,  am 
Anfang  des  19.  Jahrhunderts  trotz  einigen  schwächeren 
Stellen,  das  »Benedictus«  (Soloquartett)  aufgenommen 
wurde,  erklärt  sich  aus  der  freudig  dankbaren  Advents- 
stimmung, die  dem  Satze  zu  Grunde  liegt,  der  Mannigfaltig- 
keit, der  dramatischen  Lebendigkeit,  in  der  sie  entwickelt 
ist,  und  der  meisterhaften  Behandlung  der  Singstimmen. 
Mit  Glück  sind  ihnen  echt  Mozartsche  Wendungen  eingefügt. 

Das  Mozartsche  Requiem  errang  in  seiner  Gattung 
eine  ähnlich  beherrschende  Stellung,  wie  die  Öeethoven- 
schen' Symphonien  auf  dem  Gebiete  der  großen  Instrumen- 
talkomposition. Es  verbreitete  sich  schnell  durch  ganz 
Deutschland  und  drang  über  dessen  Grenzen  weiter  nach 


—^     ^83      ->~ 

allen  Himmelsrichtungen:  hinunter  nach  Turin,  Florenz, 
Neapel, ,  Lissabon,    hinauf  nach  Warschau,  Petersburg, 
Lemberg,  Stockholm.     In  Wien  .\^-ar  es  zur  Beisetzung 
J.  Haydns  aufgeführt  worden,  in  Paris  überging  man  im 
Jahre  4  840  bei  der  Leichenfeier  Napoleons  ihm  zu  Liebe 
die   einheimischen   Komponisten.      Es    überschritt    den 
Ozean  und  wurde  selbst  in  Rio  de  Janeiro  aufgeführt.   In 
dieser  Glanzzeit  des  Mozartschen  Requiems  —  die  drei 
Jahrzehnte  von  4798  bis  4828  bilden  dieselbe  —  war  jede 
Totenmesse    eines   neuen    Tonsetzers    den   stillen   oder 
offenen  Vergleichen  mit  dem  Schwanengesang  des  Salz- 
burgischen   Meisters    ausgesetzt.     Kritik  und  Publikum 
gingen  kühl  an  manchem  Werke  vorüber,  welches  zu 
anderen  Zeiten  um  seiner  Selbständigkeit  willen   laute 
Anerkennung  gefunden  haben  würde.    Wir  denken  dabei 
in    erster  Linie    des    unvollendeten   Requiem   von   Mi- Michael  Haydn. 
chael  Haydn  (in  Bdur),  welches  mit  dem  von  Mozart'  Ett,  Pasch, 
auch  in  seiner  Geschichte  Berührungspunkte  zeigt.    Auch     Nenkomm, 
Haydn  rief  der  Tod  ab,  ehe  er  dies  Werk  vollendet.   Das    Tomaaohek, 
frühere  Requiem  desselben  Komponisten  (Cmoll)  schließt    Abt  Vogler, 
sich  mehr  an  die  ältere  Form   an  und  wirkt  mit  dem      Ö.  Weber, 
Choralgesang  ergreifend.    Das  »Dies  irae«  darin  ist  ruhig      WUtasek, 
feierlich.    Wir  denken  ferner  der  Totenmessen  von  Ett,       Boohsa, 
Fasch,    Neukomm*),     Tomaschek,     Abt    Vogler,      Drechsler, 
G.  Weber,  Wittasek.    In  zweiter  Linie  sind  auch  die      Drohisch, 
Requiemkompositionen      von      Bochsa,      Drechsler,  Eisner,  Eybler, 
Drobisch,   Eisner,    Eybler,    Gänsbacher,    Häser,    Gänsbacher, 
Hellwig,  Henkel   (deutsche   Seelenmessen),   Hütten- muer,  Hellwig, 
brenner,    S.  Mayr,      Moralt,   Morlacchi,   Salieri,       Henkel, 
Sechter,  Stadler,  Zelter,  Zingarelli  zu  erwähnen.  Hüttenbirenner, 
Die  Fruchtbarkeit  der  Periode  wird  durch  diese  große     S.  Mayr, 
Anzahl  Namen,  welche  nur  eine  Auslese  bedeutet,  be-       Moralt, 
wiesen.     Sie   tritt  in  ihr   volles  Licht,  wenn   man   die     Morlacchi, 
Tatsache   berücksichtigt,    daß   viele   hier /garnicht   ge- Salieri,  Seohter, 
nannte  Tonsetzer  ihre  Totenmessen  gleich  serienweise  ver-  Stadler,   Zelter, 
öffentlich ten :  in  Sammlungen  von  sechs  und  acht  Stücken.     Zingarelli. 


*^  Zum  Gedächtnis  dejr  Brüden  J,  und  M.  Haydn. 


284 


L.  GhernMni, 

Cmoll- 

Keq^uiem. 


Eiu  Franz  Schneider  ist  mit  fünfzehn  Requiems  vertreten. 
Auch  Ferdinand  Kauer^  der  Komponist  des  »Donauweib' 
chens«,  warf  drei  Requiems  auf  einmal  hinaus.  Den 
Bann  einer  relativen  Gleichgültigkeit,  welchem  diese 
Kompositionen  ohne  Ansehen  ihres  verschiedenen  Wertes 
unterlagen,  durchbrach  nur  Einer:  L.  Cherubini,  und 
zwar  mit  seinen  beiden  Requiems  dem  in  Gmoll  für  ge- 
mischten Chor  sowohl,  wie  mit  dem  für  Männerchor  ge- 
schriebenen D  moll-Requiem. 

Auch  Cherubinis  C  moll-Requiem  wurde  zunächst  mit 
einem  gewissen  Mißtrauen  aufgenolhmen  und  verbreitete 
sich  keineswegs  mit  der  gebührenden  Schnelligkeit.  Es 
^ar  im  Jahre  4816  auf  Befehl  des  fCönigs  Ludwig  XVIII. 
zu  einer  kirchlichen  Erinnerungsfeier  für  den  unglück- 
lichen Ludwig  XVL  komponiert,  aber  erst,  als  es  4  84  8 
zur  Totenfeier  M6huis  wieder  aufgeführt  wurde,  weiter  be- 
merkt worden.  Und  doch  war  es  die  bedeutendste  Toten- 
messe, die  in  Frankreich  nach  der  von  Gossec  entstanden 
war,  seit  Jahrhunderten  wieder  die  erste  Kirchenkom- 
position, die  die  französische  Landesgrenze  überschritt. 
Bei  uns  in  Deutschland  wurde  die  Aufmerksamkeit  auf 
das  Werk  durch  ein  ausgeführtes  Urteil  des  damaligen 
obersten  musikalischen  Reichsgerichts,  der  »Allgemeinen 
Musikalischen  Zeitung«  im  Jahre  4  820  gelenkt.  Auch  sie 
eijtschied  für  Mozart,  gegen  Cherubini.  Der  breite  Artikel, 
welcher  den  philiströsen  und  gespreizten  Geist  der  Fink- 
schen  Redaktionsperiode  atmet,  behandelt  Cherubini,  der 
schon  als  fünfzehnjähriger  Knabe  auf  drei  vollständige 
Messen  verweisen  konnte,  als  Neuling  auf  kirchlichem 
Gebiete  und  wirft  dem  Komponisten  der  Medea,  wirft 
dem  Tonsetzer,  der  die  Figur  des  Micheli  geschaffen, 
Mangel  an  Gemüt  vor.  Mit  dem  Vorwurf  des  mangelnden 
Gemüts  war  man  damals  schnell  bei  der  Hand,  wenn  es 
sich  um  französische  Werke  handelte.  Auch  M^huls 
Symphonien  waren  damit  zu  Tode  geschrieben  worden, 
und  das  musikalische  Deutschland  schien  in  Gefahr,  das 
Sentimentale  nur  in  sehr  handgreiflichem  und  dickem 
Auftrag  zu  verstehen.    Tatsächlich  ist  das  C  moll-Requiem 


285 

von  Cherubini  sehr  reich  an  Gemüt  und  Empfindung. 
Aber  ein  großer  Teil  dieser  Regungen  ist  mit  der  Zart- 
heit, Freiheit  und  Zurückhaltung  geäußert,  die  Cherubini 
eigen  sind,  und  ist  mit  einer  außerordentlichen  Knappheit 
des  Ausdrucks  hingestellt.  Kürze,  Schlichtheit,  Bestimmt- 
heit und  Klarheit  kennzeichnen  ja  den  Stil  Cherubinis 
überhaupt.  Er  verdankt  diese  Eigenschaften  seiner  italie- 
nischen Herkunft  ebenso  sehr  wie  der  Schule  Haydns, 
und  daß  er  mit  ihnen  nicht  bloß  große  Gedanken,  son- 
dern auch  so  innig  träumerische  auszusprechen  weiß, 
wie  in  dieser  Art  kein  anderer  vor  ihm  es  getan  hat. — 
das  gibt  ihm  seine  besondere  und  bleibende  Bedeutung 
zwischen  den  Klassikern  und  den  Romantikem.  Auch 
dieses  CmoU-Requiem  schaut  voraus  und  schaut  zurück; 
es  hat  aber  außer  den  bekannten  Cherubinischen  Familien- 
zügen noch  ganz  individuelle.  Einmal  betreffen  sie  die 
Form  des*  Werkes.  Diese  zeichnet  sich  durch  eine  Knapp- 
heit aus,  die  namentlich  im  Dies  irae  jedermann  bemerk- 
lich werden  muß.  Sie  ist  zum  Teil  ein  Zugeständnis  an 
die  Traditionen  der  französischen  Hofkirche,  noch  weit 
mehr  aber  eine  Frucht  des  vollendeten  künstlerischen 
Taktes,  der  Cherubini  angeboren  war.  Die  Sätze  des 
Werkes  sind  im  höchsten  Sinne  schön  zu  nennen,  schön 
durch  die  Zweckmäßigkeit,  die  den  Aufbau  ihrer  Formen 
dem  Inhalt  und  dem  Geist  des  Textes  anpaßt  und  unter- 
ordnet, die  die  Worte  im  ganzen  und  im  einzelnen  überall 
ins  rechte  Licht  setzt,  die  nirgends , Haupt-  und  Neben- 
gedanken verwechselt  und  verschiebt. 

—  Zum  anderen  ist  aber  das  Cherubinische  Cmoll- 
Requiem  auch  durch  die  Auffassung,  die  hindurch  geht, 
ganz  eigentümlich.  In  keinem  anderen  bekannten  Re- 
quiem wird  eine  resignierte  Stimmung  so  festgehalten 
und  herrscht  so  vor  wie  in  diesem.  Es  ist,  als  ob  der 
Komponist  allen  den  Mitteln,  mit  welchen  der  trauernde 
Mensch  sein  Herz  zu  erleichtern  pflegt,  sein  volles  Ver- 
trauen nicht  zu  schenken  vermöge.  Die  Klage  löst  seinen 
Schmerz  nicht  ganz,  der  Hinblick  auf  die  seligen  Bilder 
vom  himmlischen  Leben  kann  ihn  nicht  von  dem  Druck 


286 


des  einen  Gedankens  befreien:  von  dem  Gedanken  an 
das  unabänderliche  Schicksal,  welches  der  Menschheit 
das  Sterben  als  Ziel  gesetzt  hat.  Dieser  Gedanke  wirft 
seinen  finstern  Schatten  über  alle  Teile  des  meisterlichen 
Werkes  und  sichert  ihm  einen  Totaleindruck,  mit  dessen 
Stärke  und  Bestimmtheit  sich  nur  weüige  Totenmessen^ 
unbeschadet  ihrer  sonstigen  Vorzüge,  messen  können. 
Für  das  eingehende  Studium  ist  es  eine  interessante  Auf- 
gabe zu  verfolgen,  mit  welchem  überlegenen  Kunstverstand 
Cherubini  in  dem  Plan  der  Komposition  die  Grundidee 
der  Resignation  durchgeführt  hat.  Bald  äußert  sie  sich 
durch  die  Zeichnung,  bald  durch  die  Farbe,  bald  liegt 
sie  offen  da,  bald  ist  sie  nur  versteckt  herauszufühlen. 
Besonders  stark  ist  der  Ton  einer  Trauer,  die  männ- 
lich an  sich  hält,  aber  auf  einen  eigentlichen  Trost  ver- 
zichtet, im  ersten  Satze  dieses  Requiems  ausgedrückt,  der 
hergebrachterweise  den  Introitus  der  Messe  mit  ihrem 
Kyrie  verbindet.  Die  Instrumentation  ist  darauf  gerichtet : 
Wie  im  Graduale  und  im  Pie  Jesu  spielen  die  Violen  die 
erste  Stimme,  die  Violinen  schweigen,  die  Fagotte  treten 
in  dumpfen  Lagen  stark  hervor,  neben  ihnen  kommen 
von  Blasinstrumenten  nur  noch  Hörner  in  langen  Tönen 
der  unteren  Oktaven  zur  Verwendung.  Auch  die  Soprane 
geben  vorwiegend  Grabes-  und  Trauerklang,  sie  liegen  deli 
Damen,  die  in  unseren  heutigen  Chorvereinen  diese  Stimme 

zu    besetzen    pflegen,    höchst  Larghelto  soslenulo. 


unbequem  tief.  Cherubini  hat  i  A  i 
an  Knabenstimmen  gedacht.  ^^  "^  ^  "*' 
Das  Hauptthema  des  Satzes: 


M 


•9^ 


Re.quijem  ae  .  ter  .  nam 


kurz,  einfach,  aber  in  seinem  Quintenfalle  so  leidvoll! 
Das  durchgehende  Begleitungsthema,  das  die  Fagotte 
und  Celli  bringen: 

Larffhetto  sostennto.  „^  ^^  ^       .»^^''^v, 


^ 


'^m\^^ß\f-n 


so  schwer  fragend;  die  ganze  rhythmische  Bewegung 
verhalten,  der  Aufbau  immer  wieder  auf  Fermaten  ein- 
haltend!   Die  aufhellenden  Stellen  des  Textes,  die  Worte 


vom  ewigen  Licht,  welches  den  Seligen  leuchtet,  von  der 
Herrlichkeit  Gottes,  die  in  Hymnen  gefeiert  wird,  sind 
auf  trauernde,  kleinlaut,  ja  fast  gebrochen  klingende 
Motive  gestellt,  die  die  Stimmen  einzeln  oder  gruppen- 
weise einander  nachsingen.  An  einer  einzigen  Stelle,  wo 
der  Chorsatz  sich  wieder  zu  kompakter,  vierstimmiger 
Harmonie  zusammenschließt,  bei  den  Worten  >ad  te 
omnis  caro  venietc  leuchtet  ein  flüchtiger  Schimmer  von 
Hoffnung  durch.  Mit  ihnen  schließt  gewissermaßen  der 
erste  Vers  des  Satzes.  Das  Hauptthema  setzt  zu  einem 
zweiten  an;  doch  ist  dieser  sehr  kurz  gehalten  mit  einem 
einzigen  neuen  Motiv  auf  die  Worte  >et  lux  perpetua  luceat 
eis«  versehen.  Das  Kyrie,  das  sonst,  wie  z.  B.  bei  Mozart, 
als  der  liturgische  Hauptteil  der  ersten  Nummer  der  Toten- 
messe breit  ausgeführt  wird,  behandelt  Cherubini  fast  nur 
wie  einen  kurzen  Anhang.  Die  Stimmen  singen  das  »Kyrie 
eleison«  sowie  das  >Christe  eleison«  auf  dasselbe  Thema, 

der  Alt:  der  Sopran: 


^ 


ohne  Verweilen,  nur  mit  eiper  flüchtigen  Wiederholung. 
Doch  ist  diese  kleine  Wiederholung  der  Worte  auf  be- 
wegteren Rhythmen  und  mit  ihrer  melodischei;i  Steigerung 
außerordentUch  wichtig;  denn  sie  sagt,  was  hinter  diesem 
gefaßten  Trauerton  für  eine  gewaltige  leiden schafthche 
Herzenserregung  liegt.  Aus  ihr  verstehen  wir,  warum 
Cherubini  das  Kyrie  nur  andeutet,  nicht  ausführt.  Diese 
Trauer  ist  nicht  fähig  ordentHch  und  regelrecht  zu  beten, 
nicht  fähig  zu  sagen  >Der  Herr  hats  gegeben,  der  Herr 
hats  genommen,  der  Name  des  Herrn  sei  gelobt!«  Nur 
die  Lippen  beten,  das  Herz  will  vor  Schmerz  brechen. 
Es  hört  nicht  auf  des  Leids  zu  denken,  das  ihm  geschehen. 
Das  sehen  wir  daraus,  daß  während  des  ganzen  Kyrie 
immer  die  klagende  und  wühlende  Begleitungsfigur,  mit 
der  der  Introitus  einsetzte,  weiter  geht.  Sie  führt  auch 
(in  der  Bratsche)  von  der  erwähnten  Stelle  des  leidenschaft- 
lichen Aufschreies  weiter.   Mit  gewaltsamer  Fassung  und 


288 

Ruhe  setzen  die  Singstimmen  noch  dreimal  ihr  >eleison«  hin 
—  dann  ist  die  Nummer  zu  Ende.  Sie  ist  sicher  einer  der 
feinsten  und  eigentümlichsten  Eingangssätze,  die  zu  einer 
Totenmesse  geschrieben  worden  sind.  Berlioz  hat  die  Idee, 
nach  der  in  ihr  das  Kyrie  behandelt  ist,  in  seinem  Requiem 
aufgenommen  und  mit  schärferer  Zuspitzung  durchgefül^rt. 

Als  ein  ungewöhnlicher  Anhang  folgt  der  ersten 
Nummer  ein  kurzer  Satz  über  die  Worte  »Requiem 
aeternam  dona  eis  domine  et  lux  perpetua  luceat  eis,  in 
memoria  aetema  erit  justus«  der  die  Bezeichnung  Gra- 
duale  trägt.  In  ihm  fließt  die  Melodie  etwas  stärker  als 
vorher.  Wie  fest  aber  Cherubini  auch  in  ihm  an  der 
resignierten  Grundstimmung  festhält,  zeigt  qpwohl  der  in 
die  Entsagung  zurücklenkende  Schluß  des  Sätzchens  als 
namentlich  auch  die  Behandlung  der  Worte:  >in  memoria 
aetema  erit  justus«.  Sie  sind  in  den  wärmsten  Tönen 
der  Wehmut  ergreifend  gegeben;  aber  die  Mehrzahl  der 
Tonsetzer  würden  sich  für  sie  eine  freudenvollere  Einlage 
schon  aus  Gründen  äußerer  Wirkung  nicht  versagt  haben. 

Äußerlich  bildet  auch  in  Cherubinis  Cmoll-Requiem 
das  Dies  irae  den  Mittelpunkt,  den  Hauptsatz  der  ganzen 
Messe.  Cherubini  unterscheidet  sich  aber  in  der  Behand- 
lung dieses  Teils  von  anderen  Tonsetzem  zunächst  da- 
durch, daß  er  die  ganze  Sequenz  bis  zum  »Lacrimosa« 
in  einem  Zuge,  d.  h.  ohne  Tempowechsel  durchnimmt. 
Erst  bei  diesem  Schlußabschnitt  tritt  eine  neue  Bewegung 
ein:  ein  feierliches  Largo  ersetzt  das  bis  dahin  herr- 
schende Allegra  Dadurch  erreicht  Cherubini  zweierlei. 
In  Harmonie  mit  dem  Dichter  und  mit  dem  Geist  d'er 
Sequenz  bringt  er  dieses  »Lacrimosa«  zu  einer  so  mäch- 
tigen und  frischen  Wirkung,  daß  es  sich  als  die  Haupt- 
stelle des  ganzen  Dies  irae  einprägt.  Der  Wehruf,  mit  dem 
es  einsetzt,  erscheint  wie  die  moralische  Frucht  der  vor- 
hergehenden erregenden  Schilderung  des  jüngsten  Gerichts. 
Die  schwere  Wehmut  dieses  »Lacrimosa«,  die  einfache 
Innigkeit,  mit  welcher  in  ihm  »Pie  Jesu«  gerufen  wird, 
entscheiden  und  bestimmen  den  Schluß-  und  Gesamt- 
eindruck   der    Nummer.      Zweitens    aber    sichert    sich 


t89 


Cherubim  durch  dieses  Verfahren  alle  Vorteile  des  großen 
Stils.  So  anschaulich  und  bedrohlich  die  Bilder,  welche 
Cherubini  vom  Tage  des  Gerichts  und  seinen  Schrecken 
entwirft,  auch  vor  die  Fantasie  des  Hörers  treten,  so 
wird  doch  seine  Aufmerksamkeit  nicht  zersplittert.  Die 
Einzelheiten  sind  genügend  aber  leicht  angedeutet  und 
das  richtige  Verhältnis  zwischen  den  malenden  und  den 
bittenden  Textteilen  ist  überall  gewahrt.  Der  Kirche  und 
der  Kunst  muß  dieses  Dies  irae  gleich  lieb  sein.  Dazu 
trägt  die  einfache  und  klare  Form  des  AUegro,  die  Dis- 
position, die  der  Meister  über  den  -Text  getroffen  hat, 
wesentlich  mit  bei.  Wir  haben  da  einen  Hauptsatz,  der 
von  dem  Ahfang  bis  zu  den  Worten  >qui  salvandos 
salvas  gratis«  geht.  Das  Thema  der  Singstimmen: 
Aijegro  maestoso.  beherrscht  ihn  und  geht 

auf  verschiedenen   Text- 
zeilen '  verschiedene  Ver- 


I 


i; 


fee 


JU'^i      U 


Wandlungen  ein.  Bei  den  Worten  »Mors  stupebit«  wird 
dieser  Hauptsatz  mit  seiner  erregten,  erschreckenden 
und  gewaltigen  Melodik  auf  kurze  Zeit  unterbrochen, 
durch  ernste  Wendungen  bei  »coget  omnes  ante  thro- 
num«  und  bei  >nil  inultum  remanebit«  sehr  eindring- 
lich interpunktiert  und  mit  einfach  herzlichen  Weisen 
über  >salva  me  foijs  pietatis«  —  bei  den  Wieder- 
holungen >voca  me«  usw.  —  rührend  abgeschlossen. 
Besonders  zu  bemerken  sind  die  zwei  Takte,  mit  denen 
.Cherubini  aus  den  aufgeregten  Tönen  der  Fegefeuer- 
schilderung in  diese  ruhigen  Schlußstellen  einlenkt.  Mit 
wenigen  Tropfen  glättet  er  die  wilden  Wogen..  Der 
Mittelteil  des  Allegro,  den  der  Gebetsabschnitt  Von  >Re- 
cordare«  bis  »et  ab  hoedis  me  sequestra  statuens  in 
parte  dextra«  bildet,  schillert  in  einem  merkwürdigen 
Doppellicht:  Die  Singstimmen  ziehen  einzeln  oder  zu 
zweien  im  Unisono  gepaart,     ^  .Aiiegro. 


über     ruhige,     Vertrauens-    (L  1> >  tfi  [^-  F 


^ 


^^ 


^ 


volle   Melodien,    wie    Z.   B.:      ^  Rexor.da.re  Je.8U   pi 

wie   durch  eine   große  Leere   dahin,   immer  in  breiten 
Rhythmen.    Zuweilen  singen   sie  nicht,   sondern  liegen 

II,  i.  49 


— ^      290      ^ — 

■  ■ 

träumerisch  auf  Deklamationstönen  fest.  In  dem  Violin- 
chor züngeln  dazu  immer  die  kleinen  Flämmchen  des 
Fegefeuers   in   leicht   dahin   huschenden   Figuren   fort: 

Bei    >confutatis    maledictis« 


£  ^\,  i^  t  LJ  y  Uy  ^y  I  tffil  kehrt  der  Hauptsatz  variiert 
^'i-Tr      7"7UT'y^:  ^g^gy^  y^^  aber  nipht  voll- 


ständig wiederholt,  sondern  geht  schon  nach  ungefähr 
sechzehn  Takten  in  die  schöne  milde  Schlußwendung  des 
»voca  me«.  Die  wenigen  noch  übrigen  Zeilen  des  Textes 
sind  als  Anhang  gegeben  in  einem  ahnungsvoll  ernsten  Chor- 
satz, aus  den  Instrumenten  spricht  dazu  das  klopfende  Herz. 
Nicht  bloß  in  seinem  Mittelsatze,  sondern  in  dem 
ganzen  Allegro  ruht  die  Darstellung  zu  einem  guten  Teil 
auf  dem  Anteil  des  Orchesters.  Gleich  zum  Anfang 
deuten  die  Posaunen,  Trompeten  und  Hörner  den 
schauerlich   -  un-  Aiicgro 

heimhchen      Cha-    fl  J»  ^-^1  1   ,  .  _  hn — r 
rakter  derSituation  ^Hffo'J'J  J  J  rj\\^  j 


mit  einem  rhyth-  ^-»-^  B  P  P     ^>^-^^v^ 

mischen      Motiv:  ^ 

an,  das  an  der  Spitze  der  Abschnitte  oft  wiederkehrt 
Ein  Schlag  des  Tamtam  verstärkt  die  Wirkung  noch  bis 
zum  Erschrecken  —  doch  hat  Cherubini  dieses  unerhörte, 
naturalistisch  theatralische  Mittel  einmal  und  nicht  wieder 
verwendet.  Systematisch  und  mit  seiner  ganzen  Sippe 
hat  es  erst  Berlioz  in  der  Kirchenmusik  zu  Ehren  gebracht! 
Die  leidenschaftlich  wilde  Bewegung  der  Gerichtsszenen, 
bringen  die  Geigen  mit  einer  durchgeführten  Figur  zum 
Ausdruck,  welche  unten  wühlt,  dann  nach  oben  steigt 
und,  auf  der  Höhe  angelangt,  die  Blasinstrumente  mit  auf- 
nimmt. Die  Singstimmen  schließen  sich  nun  in  ruhigeren 
Rhythmen  der  dämonischen  Melodik  der  Violinen  mit 
an  und  steigern  den  Eindruck  der  Unruhe  noch  durch 
die  kanonische  Führung  zwischen  Sopran  und  Alt  einer- 
seits, Tenören  und  Bässen  andererseits.  Sie  geben  da- 
mit das  Bild  einer  bis  zum  Äußersten  aufgeregten  Menge, 
bei  der  die  eine  Partei  der  anderen  die  Schreckensworte 
halb  mechanisch,  mit  sinnlosem  Eifer  nachspricht.  So  wirkt 


294 


das  Dies  irae  überall  mit  künstlerisch  beherrschter  Lebens- 
wahrheit unmittelbar,  elementar,  aber  zugleich  erhebend. 
Die  beiden  Sätze  »Domine  Jesu  Christe«  und  »Hostias 
et  preces«  hat  Cherubini,  wie  sie  zusammengehören, 
auch  unter  einem  gemeinsamen  Titel  »Offertoire«  und 
als  fortlaufende  Nummer  gegeben.  Die  Schrecken,  des 
Dies  irae  und  die  Höllenstrafen,  die  noch  einmal  auf- 
tauchen, als  der  Text  des  tiefen  Sees  (»de  profundo  lacu«), 
des  Löwenrachen  (»de  ore  leonis«),  des  Tartarus  und  der 
großen  Finsternis  (»ne  cadant  in  obscurum«)  gedenkt, 
hat  Cherubini  wie  in  weiter  Ferne,  wie  hinter  einem 
Vorhang  verschleiert  dargestellt.  Die  Fantasie  eilt  mit 
leichtem  Schauer  an  ihnen  vorbei,  läßt  sich  nicht  auf  sie 
ein,  so  dankbare  Aufgaben  sie  der  Tonkunst  auch  stellen. 
Die  Musik  trägt  in  der  Hauptsache  den  Qiarakter  demüti- 
gen Vertrauens  und  bringt  die  schönsten  Klänge  bei  den 
freundlichen  Erscheinungen  des  Textes.  Um  die  Gestalt 
des  heiligen  Michael  hat  Cherubini  eine  Szene  von  Licht 
und  Güte  gebreitet,  die  tief  in  der  Erinnerung  bleibt. 
Ihr    Grund-         Andante.  die  schon  in  der  kurzen 

motivistdie  i^^\,  i'ii^f» ffTn  Einleitung  der  Nummer 
Achtelfigur:  t?'^'"^ü  LLLI  ^V ,  mit  auftritt.  In  ihrer 
Durchführung  zeigt  sich  Cherubini  wieder  als  der  große 
Meister  der  Chromatik.  Den  breitesten  Raum  im  OfTer- 
torium  nimmt  die  Behandlung  der  Worte  »Quam  olim 
Abrahae  promisisti«  ein.  Für  sie  war  eine  Fuge  her- 
kömmlich. Cherubini  hat  eine  insofern  außerordentlich 
kunstvolle  beigesteuert,  als  sie  aus  drei  Themen  besteht: 
^j     PocoAiiegro.  die  von   Anfang  an 

^X''.  ihT  Tr\T  r  rlg  rir^^l  l  sogleich  zusammen- 
■"t^i'T'    '.['■■'  .1  T  '  .11.1  1  ^  »      gebracht  werden  (a. 

vom    Baß,    b.   vom 
^3  Tenor,    c.  vom  Alt), 
so  daß  niemand  dar- 
über im  Zweifel  zu 


Quam  olim  Abrahae  promi.  sie  .  ti 


?|.,i,.rTrrir>rri'^ 


et. 


se 


rpini 


JUS 


g  f.ff rtr#.r>P.   ^®^^   braucht,    daß   wir   es   mit 

y\\  -  J^'  I'  '  ITirri  l  einer  regelrechten  Tripelfuge  zu 

-et  se.mini  e.jus    tun    haben.     Die   Achtung   vor 


4  9* 


—^     «9«     ♦— 

« 

Cherubini  verlangf  jedoch  die  Bemerkung,  daß  nach  Ton 
und  Geist  dieses  Kunststück  nicht  zu  den  Meisterstücken 
der  Gattung  gehört,  obwohl  der  Tonsetzer  sich  redlich 
um  Aufschwung  bemüht  hat.  Das  »Hostias«  bildet  den 
Sc]üuß  des  Offertoriums  und  ist  als  Larghetto  im  8/4-Takt 
und  teils  in  langhin  fließenden  Melodien,  teils  auf  kurz 
absetzende  Motive  gegeben.  Diese  Form  entspricht  dem 
Wechsel  des  Inhalts,  der  sich  zwischen  frommem  kirch- 
Uch  gläubigem  Vertrauen  und  zwischen  leisen  Regungen 
des  Herzens  teilt.  In  letzteren  wird  die  resignierte  Grund- 
stimmung der  Messe  wieder  stärker  vernehmbar.  Eine 
Repetition  der  Tripelfuge  schließt  die  Nummer. 

Das  Sanctus  ist  äußerst  skizzenhaft  gehalten  und 
begnügt  sich,  den  üblichen  Charakter  dieses  Satzes  zu 
markieren.  Dagegen  ist  das  >Pie  Jesu«,  das  ihm  als 
Anhang  folgt,  einer  der  eigentümlichsten  und  feinsten 
Sätze  des  Requiem,  in  seiner  schönen,  weichen  Stimmung 
italienische  Musik  bester  Art,  in  seiner  romantischen 
Traumnatur  echtester  Cherubini!  Gedrückt  und  tief 
wehmütig  schleicht  es  vorüber  und  knüpft  nicht  bloß 
im  Text  wieder  an  den  Charakter  der  Eingangsnummer 
an.  Besonders  rührend  ist  das  ziemlich  obHgate 
Zwischenspiel  des  Orchesters   mit  Larghetto 

der  bedeckten   Stimme  der  Klari-  ■|^|j^|>jpPp  ||^|tf^j  |  J 


nette  an  der  Spitze.  Ihre  Figur; 
gehört  zu  denen,  die  lange  im  Herzen  fortsingen. 
Das  Agnus  Dei,  der  Schlußsatz  des  Requiems,  be- 
ginnt leidenschaftlich.  Der  dreimalige  Anruf  ist  gedacht 
wie  die  Abwehr  gegen  die  gräßliche  Idee  vom  Tode,  ähn- 
lich wie  es  Süßmayer  in  Mozarts  Totenmesse  gehalten 
hat.  Da  fällt  das  Wort  »sempitemam«  Ewige  Ruhe? 
Dieser  Begriff  wird  zum  Anker  für  die  erregte  Fantasie: 
bedeckte  Pauken  erkhngen,  die  Harmonien  streifen  an 
fremdartigen  Gebilden  vorbei,  das  Reich  des  Geheimnis- 
vollen tut  sich  auf  und  bietet  der  ge-  ^  Sostenüto^  ^^^ 
quälten  Seele  eine  Zuflucht.  Immer  JL ^\, <^  ffTIT^ [ Jj*^ 
fester  windet  das  holdernste  Motiv:    •?         '  Ls       '"^^ 


das  uns  schon  mit  dem  ersten  Takt  des  Satzes  empfing 


— -♦     293     ♦^-- 

iseine  sanften  Schleier  über  des  Tondichters  Augen.  In 
Traumestönen,  welche  an  das  herrliche  Credo  seiner 
Dmoll-Messe  erinnern,  Tönen,  wie  sie  in  dieser  Art  nur 
Cherubini  hat,  entschlummert  die  Musik.  Kirchlich  ist 
vielleicht  dieser  Schluß  nicht  ganz  befriedigend,  poetisch 
ist  er  unendlich  schön  und  wohltuend. 

Das   zweite   Requiem    Cherubinis    (in   D  moll,    nach  L.  Cheralini, 
dem  eigenen  Verzeichnis  des  Verfassers  L  J.  4836  kom-      Requiem 
poniert)  gilt  heute  vielen  deshalb  als  ein  Unikum,  weil     (DmoU). 
es    ausschließlich    für   Männerstimmen   geschrieben   ist. 
Über  das  Alter  des  Männergesangs  im  allgemeinen  und 
seine   Literatur   sind   immer  noch   falsche   Nachrichten 
im   Umlauf.     Einer   dieser    eigentümlichen    Geschichts- 
schreiber  hat   die   Einführung    des   Männergesangs    in 
die   Oper  unlängst  in    ausführlichen   Zeitungsaufsätzen 
als  ein  wesentliches  Verdienst  Marschners   geschildert; 
ein   zweiter,    der    das   Thema    in   Broschürenform    be- 
handelt, besann  sich  wenigstens  auf  Gluck.     In  Wirk- 
lichkeit    verwendet     ihn     aber     schon     die     Perische 
»Euridice«   vom   Jahre   4  600    selbständig,   und   auch  in 
der   französischen    Oper    des    47.  Jahrhunderts    kommt 
er   häufig   vor.      Noch    älter   ist    er    in    der   Kirchen- 
musik.   Speziell  unter  den  Totenmessen  steht  Cherubinis 
D moll  -  Requiem   keineswegs  vereinzelt   da:   Um   einige 
der    bekannteren   Requiemkompositionen    für    Männer- 
stimmen zu  nennen,  führen  wir  aus  der  älteren  Periode 
das  Requiem  von  Asola  an:  Es  ist  zuerst  in  Venedig      L.  Aaola. 
i.  J.  4  586  gedruckt  und  gehört  unter  die  bedeutenderen 
Werke  der  großen  Vokalperiode.    Proske  hat  es  in  Par- 
titur neu  herausgegeben.    Ferner  das  dreistimmige  von 
M.  Scomparin.    Annähernde  Altersgenossen  des  Cheru-  M.  Soomparin. 
binischen  DmoU-Requiem  sind  die  für  Männerstimmen  ge- 
schriebenen Totenmessen  vom  Abb^Vogler,  G.  Weber,    Abt  Vogler, 
Eisner,  Seyfried  und  H ä s e r.    Freilich  aufgeführt  wer-     0.  Weber, 
den  diese  Werke  heute  nicht!  Einer, 

Das   zweite   Requiem    Cherubinis    hat    mit    seinem      SeTfried, 
Vorgänger   etliche   musikalische  Berührungspunkte,   die        Häiei. 
sich  namentlich  in  der  Auffassung  des  Introitus  und  des 


«94     ♦— 

Dies  irae  sehr  deutlich  zeigen.  In  diesem  letztgenannten 
Satze  begegnen  uns  sogar  bei  gleichen  Worten :  >flammis 
acribus  addictis«  z.  B.,  ziemlich  dieselben  Notenmotive. 
Man  kann  aber  trotzdem  die  zweite  Totenmesse  der  ersten 
an  Bedeutung  nicht  gleich  stellen.  Der  innere  Anteil, 
mit  dem  der  Komponist  geschrieben  hat,  war  bei  dem 
späteren  Werk  geringer.  Der  erste  Satz,  Introitus  mit 
Kyrie,  erscheint  wie  ein  Niederschlag  des  gleichen 
Abschnittes  im  CmoU- Requiem.  Der  Ton  der  Trauer 
erstreckt  sich  auch  hier  auf  die  Bilder  des  Textes  mit, 
welche  der  Fantasie  Anlaß  geben  wollen,  sich  auf- 
zurichten. Die  Motive  sind  sogar  äußerlich  breiter, 
aber  sie  haben  nicht  mehr  die  zwingende  Kraft,  wie 
in  dem  ersten  Requiem:  Doch  aber  vermögen  sie  bei 
einem  ausdrucksvollen  Vortrag  die  Idee  zu  veranschau- 
lichen. Die  Anlage  ist:  Hauptsatz  (bis  >luceat  eis«), 
Mittelsatz  (bis  »veniet«),  Repetition  des  Hauptsatzes. 
Das  Kyrie  hat  mehr  selbständigen  Gehalt,  als  im  ersten 
Requiem.  Das  Graduale  ist  ein  scharf  und  kurz 
gegliedeter,  schön  gestimmter,  aber  in  der  Ausführung 
schwieriger  a  capella-Satz.  Das  Dies  irae  ist  mit  einer 
gewissen  Härte  deklamiert.  Imposant  ist  die  Stelle,  wo 
der  Thron  des  höchsten  Richters  gezeichnet  wird  (»Judex 
ergo«  etc.).  Wie  in  Quadern  bauen  sich  die  Perioden 
der  unisono  vorgetragenen  Melodie  dort  auf.  Der  Gegen- 
satz, in  welchem  der  arme  Mensch  zu  dieser  Macht 
und  Herrlichkeit  tritt,  kommt  deutlicher  als  in  dem 
anderen  Requiem  zum  Ausdruck.  Von  diesem  Punkt 
ab  richtet  Cherubini  grundsätzUch  sein  Augenmerk  auf 
scharfe  Ausprägung  der  textlichen  Kontraste.  Dieses 
Verfahren  ergibt  eine  größere  Reihe  bedeutender  Einzel- 
bilder. Ein  zusammenfassender  Zug<  herrscht  wieder  vom 
»Lacrimosa«  ab,  welches  in  hinreißender  italienischer  Me- 
lodik durchgeführt  ist.  Dieser  Abschnitt  und  das  fromm 
demütige  Gebet  des  »Pie  Jesu«,  welches  die  Sequenz  im 
warmen  D  dur  zu  Ende  fuhrt,  sind  Höhepunkte  des  Werkes. 
Im  OfTertorium  tritt  der  Abschnitt  »Sed  signifer  sanctus 
Michael«  durch  die  malerische  Kraft  der  Instrumentation 


—«     295     H>>— 

besonders  hervor.  Der  Satz  »Quam  olim  Abrahaec '  ver- 
läßt die  Fugenform  sehr  bald  und  gibt  der  Erwartung 
über  die  himmlisphen  Freuden  einen  freieren  und  un- 
gebundenen Ausdruck.  Das  Sanctus  steht  mit  seiner 
vollen,  glänzenden  Orchesterrüstung  auffallend  außerhalb 
des  Kreises  der  Totenmesse.  Ganz  am  Ende  erst  dämpft 
es  seinen  Feiertagston.  Um  so  klarer  ist  das  »Pie  Jesu« 
aus  einem  trauernden  Gemüte  herausgebetet.  Das  Motiv 
der  langsamen  Viertel  beherrscht  seinen  Ausdruck.    Das  « 

Agnus  dei,  in  seinem  ersten  Teile  ganz  ähnlich  auf- 
gebaut und  gestimmt,  wie  der  gleiche  Satz  im  GmoU- 
Requiem,  schließt  mit  stärkerer  logischer  Betonung  des 
»lux  perpetua«.  Beantworten  in  jenem  die  letzten  Takte 
die  Frage  nach  dem  ewigen  Leben  und  dem  ewigen 
Lichte  mit  einem  »Vielleicht«  —  so  spricht  hier  Cheru- 
bini ein  freudiges  »Gewiß«! 

Das  nächste  Requiem,  welches  nach  diesem  Cheru- 
binischen die  allgemeinere  Beachtung,  zustimmend  oder 
abweisend,  auf  sich  zog,  kam  gleichfalls  von  Paris. 
Es  ist  H.  Berlioz*  Totenmesse,  im  Jahre  4837  für  die  bei  H.  Berllos, 
der  Beisetzung  des  Generals  Damr^mont  im  Invalidendom  Requiem, 
von  der  Regierung  veranstalteten  Trauerfeierlichkeit^n 
komponiert  (op.  5).  Das  Werk,  von  welchem  Berlioz  selbst 
auch  in  verschiedenen  Städten  Deutschlands  seinerzeit 
Aufführungen  veranstaltete,  hat  erst  in  den  letzten  Jahr- 
zehnten begonnen  sich  einzubürgern.  Die  Gründe,  welche 
ihm  entgegen  waren  und  immer  entgegen  bleiben  wer- 
den, sind  zunächst  äußerliche.  Dieses  Requiem  macht  an 
die  Ausführung  nach  verschiedenen  Richtungen  hin  un- 
gewöhnUche  Ansprüche.  Die  Einleitung  zum  »Tuba  mi- 
rum  spargens  sonum«  z.  B.  ist  für  vier  selbständige 
Bläserchöre  geschrieben,  welche,  jeder  in  einer  andern 
Ecke  des  Aufführungsraums  plaziert,  ihre  Fanfaren  nach 
den  verschiedenen  Himmelsgegenden  hinausschmettern. 
Es  sind  die  Engelsboten,  die  wir  von  alten  Bildern  des 
jüngsten  Gerichts  her  kennen.  Dazu  verlangt  aber  die 
Originalpartitur  —  C.  Götze  in  Weimar  hat  sie  sehr 
geschickt  vereinfacht  —   eine  Besetzung  von  sechzehn 


•—-^     «96      ♦— 

Posaunen,  ebensoviel  Trompeten,  die  andern  Messingbläser 
in  entsprechenden  Zahlen  und  eine  kleifie  Armee  von 
Schlagzeug.  Bbenaoviele  Schwierigkeiten  bietet  Berlioz 
durch  seine  Behandlung  der  Singstimmen.  Schon  die 
französische  Einteilung  des  Chors  in  Sopran,  Tenöre  und 
Bässe  ist  uns  unbequem.  Soll  der  Alt  mitsingen,  so  muß 
für  ihn  eine  Stimme  eingeschmuggelt  werden.  Carl  Riedel 
hat  eine  solche  aus  Brocken  von  den  Tischen  des  Soprans 
und  des  Tenors  zusammengemischt.  Der  Komponist  hat 
den  Stimmen  auch  Intonationen  zugemutet,  welche  nur 
nach  langer  Mühe  und  bei  peinlichster  Sorgfalt  aller  an 
der  Ausführung  beteiligten  Sänger  überwunden  werden 
können.  Zweitens  kann  nicht  geleugnet  werden,  daß  der 
künstlerische  Wert  der  Komposition,  ihr  Ideengehalt  ein 
gleichmäßiger  nicht  ist.  Sie  hat  ihre  barocken,  gewalt- 
samen und  renommistischen  Momente.  Sie  hat  nationale 
Eigenheiten,  die  der  französischen  Kirchenmusik  von  jeher, 
zuletzt  noch  bei  Cherubini,  die  Sympathie  der  Deutschen 
entzogen  oder  geschmälert  haben.  Fantasie  und  Gemüt 
haben  darin  ein  anderes  als  das  bei  uns  gewöhnte  Ver- 
hältnis. Infolgedessen  stoßen  wir  uns  —  zu  Unrecht  — 
hier  an  scheinbar  theatralischen,  dort  an  kalten  Stellen. 
Nach  solchen  Abzügen  bleibt  aber  das  Requiem 
von  Berlioz  immer  noch  seine  reifste  Arbeit  und  eine 
originelle  Komposition  von  wirklicher  und  ungewönlicher 
Bedeutung.  »Sollten  einmal«  —  schreibt  Berlioz  am 
1 1 .  Januar  4  867  ^n  seinen  Freund  Humbert  Ferrand  *) 
—  »alle  meine  Kompositionen  verbrannt  werden,  bitte 
ich  doch  für  eine  Partitur,  für  die  meiner  Totenmesse, 
um  Gnade«.  Sie  ist  ein  Werk  von  innerlich  großem 
Stile,  mit  einer  inbrünstigen  Versenkung  in  den  erhabe- 
nen Stoff,  mit  einer  Fantasie  geschrieben,  welche  immer 
dramatisch  lebendig  auffaßt  und  ihre  Auffassung  oft  in' 
großartigen,  zuweilen  in  eminent  ursprünglichen  Gestal- 
tungen äußert.  Der  musikgeschichtliche  Boden,  auf 
welchem  dieses  Werk  reifte,   ist  hauptsächlich  der  der 


')  H.  Berlioz:  Lettres  intimem  (2.  Aufl.)  1882. 


«97 


Beethovenschen  Kunst.  Aber  auch  seinem  Lehrer  Le- 
sueur  und  seinem  Antipoden  Gherubini,  namentlich  des- 
sen Gmoll-Requiem  mit  dem  Tamtamschlage,  verdankt 
Berlioz  ersichtliche  Anregungen. 

Berlioz  hat  die  fünf  Hauptteile  der  Totenmesse  in 
zehn  Nummern  geteilt.  Acht  davon  hat  der  Chor  ganz 
allein,  in  zweien  singt  mit  ihm  oder  allein  ein  Solo- 
tenor. Das  Berliozsche  Requiem  ist  demnach  in  ganz 
ungewöhnlichem  Grade  ein  Chorwerk.  Den  ernst  kirch- 
lichen Charakter,  dem  der  Komponist  damit  nachstrebte, 
verstärkte  er  noch  4urch  einen  für  sein  spezielles  Kön- 
nen an  Fugen  und  Imitationen  reichen  Stil. 

Zum  Verständnis  des  ersten  Satzes  (Requiem 
und  Kyrie)  sind  drei  Hauptmotive  zu  beachten:  Das 
erste  ist  die  breite,  schwermütige  Melodie,  mit  welcher 
die     Ghorbässe     am     Anfang     des     Werkes     eintreten: 

Andante  poeo  lento 

*j.|i>ffl'f)|fp. 


^ 


Ihre         trauernde 
Grundstimmung 
variiert  der  Kom-* 

Re.qui.em      ae     ter  .    nim        ponist  im  Verlaufe 

des  Satzes  verschiedenfach  und  führt  sie  bis  zum  glühend 
leidenschaftlichen  Ausbruch  der  Todessehnsucht.  Das 
zweite  Hauptmotiv  ist  der  eine  gemischte  Skala  in  gebro- 
chenen Achteln  hinabsteigende  Gang,  in  welchem  die  Te- 
nöre  gleich  nach  ^ 

dem  Einsatz  der   l^\^     ^^   ^^)^   ^^^ 
Bässe  neben  die-  ^^H^ 
sen  herschreiten: 


Re.q 


ui  .  em 


n^-i^V^^if  r 


ae  .  ter\  nam  do  .  na       e .  is 


Er  ruft  das  Bild  eines  in  schweren  Schritten  aufwärts  stei- 
genden Trauerzuges  vor  die  Fantasie.  Beide  Themen  bil- 
den gewissermaßen  den  Grundstock  der  Nummer ;  die  fugen- 
artigen Durchführungen,  die  die  Chorstimmen  aus  ihnen 
entwickeln  sind  das  Gerüst  und  die  Seele  der  Komposition. 
Das  dritte  wesent- 
liche Motiv  ist  das 
chromatische  The- 
ma des  Orchesters:  ^ 
das  wie  eine  schmerzliche  Frage  klingt.    Aus  ihm  ist  die 


p  cresc. 


298 


Einleitung  gebildet:  in  dreimaligem  Anlauf  steigt  es  höher 
und  wird  heftiger:  ein  Bild  des  wachsenden  Kummers,  des 
innern  Jammers.    Dann  kommt  laute  Klage  im  Orchester: 

Der  Zuhörer  weiß  aus  diesem  Vorspiel, 


^ 


1       Ip  ■  was  er  zu  erwarten  hat  und  nun  setzen 
^  die  Bässe  ein.   Besonders  reich  ist  die- 


focof    "Z    *•  p 

ser  erste  Satz  an  rührenden  und  lieblichen  Episoden,  wel- 
che das  aus  jenem  Material  aufgebaute  Arsenal  des  Ernstes 
trauhch  und  wohnlich  machen.  Auch  in  der  Form  zeich- 
nen sich  diese  Episoden  als  originell  aus.    Hierher  gehört 

die   nach    der   ersten   Durch-    .     

führung  des  großen  Requiem-  fe »    ^  .  f  f  f  1  I  T^ 
themas   einsetzende,    wie   ein   «^         [J   M   ' 
Wiegengesang  klingende  Stelle: 


uiw. 


do 


na 


mit  welcher  die  Soprane 
die  fromm  und  innig  um 
Ruhe  bittenden  Tenöre: 


^ 


«=p 


i 


IS 


umspie 

len.  Ihr 

Ende 


do.  na  do. na     e 

wech^lt  zwischen  Herzensangst  und   kindlichem  Gott- 
vertrauen: 


do  na  e        —         ig  re 


m 


em 


do  na  e        -        is  «"e  .  qui 

Da  ist  (nach  der  zweiten  Durchführung)  jene  ab- 
wechselnd, von  Tenören  und  Bässen  getragene  Melo- 
die zu  den  Worten  »Te  decet  hymnus«,  'welche  in 
der  Idee  mit  Cherubini  übereinstimmend,  aber  in 
eigenartiger  Form  den  Beisatz  von  Traurigkeit  so 
schrill  in  die  hoffnungsvollen  Ton  Wendungen  einmischt: 

Der  kleine  Abschnitt 
enthält  außerordent- 
lich viel  Fantasie,  na- 
mentlich auch  in  der 
nasse         |,-         ^  k^,  fahlou     Farbe 

*j!f  pl^f  if  f  |tf  r  PM  »^  ßl"  I  '*^^-   ^®®  Orchesters 
0/  '•  u     }  A  .     '      ,\  ^  n      ^      '  und  der  mono- 

Et   ti.bi  red.de.tur      vo.lum  in  Je    ru.salem  ^  ,  . 

ton        hmpen- 
delnden,    das    Grabgeläute    vor   die   Fantasie   rufenden 


Tenöre 


j.rFrprrr  ic?^ 


Te  de.cet  hymnus    de.us  in      Si.on 
Bässe  1^^  ^      ^-^  h 


S99 


Cellofigur.  Da  ist  ferner  nach  der  dritten  Durchführung 
des  Hauptthemas  die  Stelle  bei  »defunctis  domine  et  lux 
perpetua  luceatc,  wo  die  ganze  Musik  wie  ein  verglühen- 
des Lämpchen  dem  völligen  Erlöschen  nahe  scheint. 
Als  dann  nach  der  nächsten  Durchführung  das  Wort 
vom  ewigen  Licht  wiederkehrt,  da  zeigt  es  Berlioz  in 
seinem  Glanz:  kurz  und  einfach,  aber  mit  elementar 
großer  Wirkung  hat  er  zwei  Dur- Akkorde  (Ddur,  Gdur) 
dazu  verwendet.  In  Hoffnung  und  seligem  Traum  vom 
ewigen  Leben  schließt  der  Introitus.  Das  Kyrie  hat,  wie 
bei  Gherubini,  nur  noch  die  Bedeutung  eines  Anhangs, eines 
frommen  Brauchs.  Berlioz  gibt  es  mit  der  Mischung  von 
Poesie  und  Realistik,  die  die  französische  Musik  liebt,  die 
er  aber  besonders  virtuos  beherrscht.  Die  Worte  »Kyrie 
eleison«  werden  glatt  auf  einem  Ton  psalmodiert,  so 
daß  vor  dem  Hörer  deutlich  das  Bild  der  auf  den  Knieen 
liegenden,  dem  Vorbeter  nachbetenden  Gemeinde  er- 
scheint. Das  »Christe  eleison«  tritt  dazu  in  den  Gegensatz 
innig  empfundenen  Gesangs  auf  ein  chromatisches  Motiv: 

in  dem  Jedermann  einen  Ab- 
kömmling des  Stakkatothe- 
mas  aus  dem  Hauptsatz  er- 
kennt. So  sagt  uns  das  Ende 
des  Satzes,  daß  die  Trauer,  mit  der  wir  in  ihn  eintraten, 
noch  da  ist,  aber  ihr  gedrückter  Charakter  ist  der  Er- 
hebung durch  den  Glauben  gewichen. 

Die  Sequenz  umfaßt  die  Nummern  2  bis  7.  Die  zweite 
Nummer  (der  Anfang  des  Dies  irae  bis  zu  den  Worten 
»judicanti  responsura«)  zerfällt  in  zwei  Abteilungen.  Die 
erste  (AmoU)  beginnt  schwül  und  unheimlich  ruhig.  Die 
Soprane  singen  allein: 

Moderato 


* 


i 


^ppM'. 


* 


P 


^^ 


Chris  .  te,      e     le.  ison 


di.es  il     .     la.         tli.es 


TX. 


l 


^ 


Di  -  es 


i.rae 


I .  rae 


^pM  IJ_J  r  ir  ^  rTif?rr  <  iT  pr  .|  ■■  ipg 


di.es 


il    •    la       soi    -  vet 


saec  tum 


in  favil  -    la 


— ♦     300     ♦— 

In  gefaßter  Stimmung,  eine  leichte  Verwirrung  an- 
deutend, beginnt  diese  Klage,  in  Verzweiflung,  fassungs- 
los aufschreiend,  endet  &ie.  Damit  ist  der  Charakter  des 
ganzen  ersten  Teils  dieses  Ghorsatzes  gegeben.  Er  be- 
steht in  einer  einzigen  Steigerung  bis  zu  dem  Punkte 
hin,  wo  das  »Jüngste  Gericht«  leibhaftig  erscheint.  Wenn 
Berlioz  hier  eine  lange  Strecke  nur  einstimmige  Musik 
gibt,  erst  die  Bässe,  dann  die  Soprane  allein,  so  hat  das 
doppelte  Gründe.  Durch  solche  Vereinzelungen  der 
Stimmen  und  durch  den  altertümlichen  Bau  der  Motive 
sucht  Berlioz  wiederholt  in  seinem  Requiem  an  die 
alten  liturgischen  Intonationen  zu  erinnern.  Ebensosehr 
wie  durch  den  Text  selbst  scheint  seine  Fantasie  durch 
die  Romantik  der  kirchlichen  Zeremonie  gefesselt  ge- 
wesen zu  sein.  Die  Anspielungen  auf  bezeichnende 
Einzelheiten  des  kirchlichen  Dienstes  und  die  Szenerie 
der  alten  Feier  gehen  immer  nebenher,  ^ber  der  leere 
Klang  dieser  Stellen  ist  vor  allem  auch  ein  ausge- 
zeichnetes Ausdrucksmittel.  Er  erzeugt  im  Hörer  ein 
Gefühl  der  Öde  und  Spannung  und  versetzt  mit  un- 
widerstehlicher Gewalt  in  die  Ungewißheit  und  Bangig» 
keit  der  Situation.  Zunächst  stimmen  Tenöre  und 
Bässe  in  die  klagende  Weise  mit  ein.  Bald  aber  — 
die  Musik  wendet  sich  nach  BmoU  —  q  .i.l  f  ^  ?^^  ,^ 
geben  die  Soprane  die  Worte:  »Dies  A^l^Vt^  j^'H.pl  ^  If' 


irae«  träumerisch  erstaunt:  »^  DpeTn     la 

von  den  schweren   _^2^Tf^      ^>       =*     «^        schrei- 
Angstrufen       der 


<li.e8     il.la.     di^s     il.la 


en  sie 


äußersten  LH\,'^f^f^n\  "    I  P'  -  größer     wird 
en       auf:  ^         in  ü.  vii  .  la       die       Aufre- 


Tenöre    getrieben   ^         ^\,U    ii.fa.    diis    ii.ia        gleich 

darauf       entsetzt    ^  ^opran^  ^     _       Größer     und 

und  im 

Schrecken 

gung,     lebhafter    die     allgemeine    Bewegung     (Dmoll). 

Die     Tenöre     insbesondere     sind     von      ihr     erfaßt: 

f\  ft  r  m  -  -    m.r-i   ^   nL     ^^    ^®    Bässe    des 
k^  LU  D  ff  iJ  I  J  j  ff  ^^  Chores     bleiben     bei 


quan.tus  tre. mor    est    fu   tu.  rus     der   feierlich    emsten 


304 


Contrabäflse  u  Celli 
Moderato. 


■■■^  MlJrJ|J|.|JJlM^|p>l> 


m 


m 


Kirchen  melo- 
die,  mit  wel- 
cher die  In- 
strumente die 
Sequenz  er- 
öffneten: 

Berlioz  scheint  sie  als  musikalisches  Motto  des  ganzen 
Satzes  gedacht  zu  haben.  Und  nun  kommen  wir  vor 
die  Glanzpartie  des  Satzes  vor  das  >Tuba  mirum  spar- 
gens  sonum«  (Esdur)  mit  der  alarmierenden  und  prunken- 
den Orchestereinleitung  und  dem  grandiosen  Unisono- 
gesang  der  Männerstimmen.  Diese  in  höchste  Pracht 
getauchte  Szene  vom.  jüngsten  Gericht  und  von  Auf- 
erstehung unterscheidet  die  Totenmesse  Berlioz'  von 
jeder  andern.  Wer  dieses  Requiem  einmal  gehört  hat, 
erinnert  sich  zuerst  an  diesen  zweiten  Teil  des  Dies 
irae,  den  Mittel  und  Idee  zu  einem  unvergeßlichen  Ein- 
druck auf  Sinn  und  Seele  von  Kennern  und  Laien 
machen.  Die  Blasinstrumente  bestreiten  den  ganzen 
Aufwand  jener  nur  22  Takte  langen  Einleitung,  deren 
Wirkung  auf  einen  viel  größeren  JJmfang  schließen  läßt, 
mit  den  Schlaginstrumenten  allein.  Mit  feierlichem 
breiten  Ton  setzt  jede  der  zahlreichen  Gruppen,  die  die 
Toten  aus  allen  Himmelsrichtungen  zusammenrufen,  ein; 
dann  werden  die  Rhythmen  erregt  und  ,  schmetternd. 
Gewiß,  es  sind,  wie  Gegner  Berlioz's  bemerkt  haben, 
in  den  Weisen  dieser  Trompeten  und  Posaunen  Motive 
mit  verwendet,  die  auch  in  Kavalleriesignalen  vorkom- 
men. Aber  wer  bei  der  Entwicklung,  in  die  Berlioz 
solche  Elemente  bringt,  mit  seiner  Fantasie  nicht  höher 
kommt,  ist  zu  beklagen./  Instrument  nach  Instrument 
kommt  hinzu,  das  Ohr  steht  wie  vor  zitternden  Massen, 
vor  Blitz  und  Donner,  und  als  das  ganze  Orchester  bei- 
sammen, da  wendet  sich  die  Masse  endlich  aus  Esdur 
jreg  und  schreitet  von  melodischen  Trompeten  geführt, 
nach  B.  Dieser  Gang  nach  der  Höhe,  den  die  Bässe 
feierlichen  Schritts  beginnen,  stürmend  schließen  und 
wie  dann  auf  den  letzten  Bdur- Akkorden  sich  das  ganze 


— *     30J 

Himmelsheer  in  seiner  Gewalt  und  furchtbar  erhaben  in 
Front  stellt,  —  das  ist  der  Gipfelpunkt  des  kolossalen 
Abschnitts.  Und  nun  doch  noch  eine  Steigerung:  der 
Eintritt  der  Männerstimmen,  die  ekstatisch  deklamieren: 
J ,  56     ^  '^  Ein  Chor  von  Pauken, 

r^f  f  ff  ff  ff  ,  r*-  r  ,  ß  ß  Trommeln,    Tamtams, 


^\  '   '   y^i^  y\\     I    II    1      ^s^-  Becken  tremoliert  da- 


Tu.ba     mirurnspai^enssonum  zU.        Jedenfalls      ent- 

spricht den  außerordentlichen  Mitteln  ein  außerordent- 
Uches  Ergebnis.  Die  Majestät  und  Größe  des  jüngsten 
Gerichts  ist  in  keinem  zweiten  Requiem  so  wie  hier 
bei  Berlioz  zur  Anschauung  gekommen,  die  andern 
Totenmessen  schildern  an  der  gleichen  Stelle  nur  seinen 
Schrecken.  Bei  den  Worten  »ante  thronum«  bedeckt 
Berlioz  plötzlich  das  Bild  des  geöffneten  Himmels  und 
wendet  sich  dem  »erblaßten  Tode«  (»mors  stupebit«)  zu, 
den  er  zu  der  vorhergehenden  Herrlichkeit  und  Macht 
in  den  kläglichsten  Gegensatz  bringt:  eine  Gestalt,  erst 
zitternd,  dann  kleinlaut  klagena.  Mit  den  Worten  »judi- 
canti  responsura«  wird  der  Ton  wieder  ernst  und  groß. 
Das  Bild  des  jüngsten  Gerichts  zieht  (von  Bdur  aus) 
durch  die  Worte  »Liber  scriptus«  gerufen,  noch  einmal 
in  voller  Ausdehnung  vorbei.  Vom  Ghoreintritt  (»Judex 
ergo«  usw.)  ab  hat  Berlioz  diese  Wiederholung  dadurch 
mächtig  gesteigert,  daß  er  die  Bässe  auf  der  einen  Seite, 
Tenöre  und  Soprane  im  Unisono  auf  der  andern,  die 
Melodie  im  Kanon  durchführen  läßt.  Nicht  aber  schließt 
der  Satz  im  Glänze  des  Gerichts,  sondern  der  Chor  bringt 
die  Worte  »judicanti  responsura,  mors  stupebit  et  natura« 
noch  einmal  leise,  fast  ohne  Begleitung,  demütig  und 
fromm,  wie  um  Gnade  bittend,  wie  eingedenk  der  bangen 
Frage:  »Wer  wird  bestehen?« 

Der  dritte  Satz  »Quid  sum  miser«  (GismoU)  ist  ein 
Tenorsolo.  Aus  dem  in  absichtlicher  Dürftigkeit  geführ- 
ten Orchester  tauchen,  vorwiegend  in  den  Bässen,  An- 
klänge an  den  ersten  Teil  der  vorhergegangenen  Nummer, 
das  Dies  irae,  wieder  auf.  Die  Singstimme  klagt  und 
bittet  wie  in  einer  großen  Wüste  vereinsamt  und  verloren 


303      ^— 

Man  muß  von  dieser  fesselndeh  poetischen  Intention  des 
Satzes  beim  Anhören  ausgehen,  da  er,  als  absolutes 
Musikstück  genommen,  kaum  verständlich  ist.  Der  Satz, 
der  in  Amol!  begann,  schließt  in  Es. 

Der  Chor  der  Auferweckten  tritt  nun  vor  den  Thron 
des  Höchsten  in  dem  vierten  Satz  (>Rex  tremendae  ma- 
jestatis«,  Esdur)  mit  einer  feierlich  frommen  Anrufung, 
der  bei  den  Worten  >qui  salvandos  salvas  gratis«,  eine 
im  Satze  wiederholt  verwendete  bittende  Melodie  folgt: 

Andante  maertoso  '  ^^^  die  Stimmen  einander 


Awti'L  I    h]  luJ  r  r  flnlr  »    zunächst  ruhig  nachsingen. 
ffy  ^'^'^.J  Ji-i'lti'^  r  I   V\i\\  ^  Das  Ende    des   Abschnitts 


Qui  sal    vahdossalvasgrati.    „^^^^^  ^^^^  ^^^  ^^^       j^.^ 

Bitte  klingt  ängstlich  und  aufgeregt,  und  von  nun  an 
nimmt  der  Satz  hauptsächlich  den  Charakter  einer 
Schreckensszene,  einer  Schilderung  der  Vorstellungen, 
welche  die  Seelen  der  vor  dem  Richter  Stehenden  quä- 
len, an.  Er  ist  derjenige  des  Werkes,  welcher  den  rea- 
listischen Zug  der  Berliozschen  Romantik  am  ausge- 
prägtesten aufweist.  Die  Furcht  vor  dem  Fegefeuer  und 
den  Höllenqualen  ist  mit  einer  fast  platten  Naturtreue 
geschildert.  Diese  Tonbilder  sind  die  musikalischen 
Photographien  einer  in  Verzweiflung  schreienden  Masse, 
als  solche  große  Leistungen  des  Komponisten.  Beson- 
ders treten  darunter  die  Stellen  be>  »confutatis  male- 
dictis«  bei  >flammis  acribus  addictis«  und  bei  »ne  cadam 
in  obscurum«  hervor.  Aber  diesmal  sind  es  nicht  Farben- 
wirkungen und  Klangmittel,  mit  denen  Berlioz  wirkt, 
sondern   Rhythmen    und  Harmonien    allein.     Ein    zwei 

g 
Takte  langer  Sekundakkord:  l  z.  B.  gibt  der  Darstellung 

h 

des  Entsetzens  vor  den  Flammen  ihre  Schärfe.  Aber 
Berlioz  entwarf  diese  mächtigen  Bilder  des  Schreckens 
und  der  Majestät  nur  als  den  Hintergrund  für  die  Figur 
des  armen  ohnmächtigen  Menschen,  der  mit  seinem 
»Salva  me«  vor  den  Richter  tritt,  ganz  auf  Gnade  an- 
gewiesen.   Die  einfache  reine  Schönheit  der  Gebetstellen 


N 


— ♦     304      ^ — 

des  Satzes  entscheidet  den  Eindruck.  Die  zarten  Töne, 
mit  denen  die  Worte  »salva  me<  und  >fons  pietatis«  zum 
letztenmal  am  Schluß  des  Satzes  erklingen,  dringen  far 
immer  tief  und  friedlich  in  die  durch  die  grandiosen 
Bilder  des  Gerichts  erregte  Seele. 

Der   fünfte    Satz    »Quaerens   mec    (Adur)    ist    eine 


fugenartige  Komposition  für    q  ^j  ^f     .  k  .  i 

sechsstimmigen  Chor  a  ca-  ja  tf    J  j^"  [  p  ^  p  J)?)  rJj 


pella.        Sein     Hauptthema:    ^     Quaerensmesedisti       las     sus 

wird  zunächst  einfach  dreistimmig  —  nur  an  den 
Schlußkadenzen  mit  Verdoppelungen  —  durchgeführt. 
Erst  im  Zwischensatz,  der  über  das  erregtere  Thema: 


Q  it.i  ^ft  >/^-  ^.^1,1        gebildet  ist,  werden  die  sechs 
(^  tt    r  ^'  I r  f'^lf  iJ  I J  J  I  Stimmen  Tatsache.    Im  drit- 


In  ge.mi9 .  cd  taqquam  re.a9  ten  Teil  wird  das  Hauptthema 
wieder  aufgenommen,  aber  von  psalmodierenden  Moti- 
ven, ähnlich  wie  im  Kyrie  der  ersten  Nummer,  begleitet. 
Auch  in  rein  zweistimmigen  Stellen  hat  dieser  Satz 
fremdartige  und  archaisierende  Elemente.  Sehr  stark 
im  Gegensatz  dazu  gibt  Berlioz  den  Worten  »locum 
praesta  e^  ab  hoedis  me  sequestra«  einen  glühend  mo- 
dernen Ausdruck.  Durch  solche  stilistische  Züge  und 
durch  den  immer  interessanten,  zuweilen  äußerst  wohl- 
tuenden Klang  dieses  a  capella-Satzes  zeigt  Berlioz  die 
Stärke  seines  angeborenen  Tontalents  auch  auf  einem 
ihm  fremderen  Felde. 

Der  sechste  Satz  »Lacrimosa«  (AmoU)  hat  zu  seiner 
Grundstimmung  eine  an  dieser  Stelle  von  vielen  Kompo- 
nisten gewä}ilte  Mischung  von  Wehmut  und  Freudigkeit 
Er  schwelgt  zuweilen  in  dem  Sehnen  nach  dem  Tage  der 
Auferstehung  und  bittet  mit  der  frohen  Herzlichkeit  eines 
Kindes  um  die  ewige  Ruhe.  Ein  formell  hervortreten- 
des Merkmal  dieses  Satzes  ist,  daß  er  sich  fester  auf 
Mittel  der  Melodik  stützt,  als  dies  bei  Berlioz  sonst  üb- 
lich ist.  Er  wirkt  im  Durchschnitt  auch  in  diesem  Re- 
quiem vorwiegend  mit  rhythmischen  und  harmonischen 
Bildungen.  Über  den  Melodien  dieses  »Lacrimosa«, 
die  man  als  im  edlen  Sinne  populäre  bezeichnen  kann, 


305 


liegt   ein   Hauch   von   warmer,   italienischer   Musikluft. 
Das   Thema   des   Hauptsatzes    hat    folgenden    Anfang: 
Aiicgro  non  troppo  lento  Seine  klagenden 

i  n  f^^     f\     \  f\     pTTTp^T^    '^^^   ^i*   schwe- 
^fl  I    1  r  p  I  r  pur  Prrrrrn^'^*  rem  Ausdruck  zu 
La      cry.mo.sa  di.es  ii  la      gingendeuAchtel- 

motive  tragen  die  weitere  Entwicklung.  Für  die  Seitensätze 
des  »Lacrimosa«  kommt  das  zart  freundliche,  hoffnungsvolle: 

0  ^^'^.      \  .         L^ix^i^i.i  j,^i  ^^     BAracht, 

5*^  J  ,hM  J.  ^  ^\^~^  ^^  J^l  I  J.  "^^  indessenPau- 
*   "^'  '^  '  "^   "*■  sen    die    be- 

wegten Moti- 
ve des  Haupt- 

qua  re.su r.get. qua  re.sur.get  ex    fa.viLla      themas       wie 

aus  der  Ferne  hineinklingen.    Im  Ausdruck  noch  inniger, 

kindlicher,  vertrauensvoller       doicejissai 

ist  die  zuerst  von 'den  Te-  ^  g  ["'f 

nören   gebrachte   Melodie:  ^^ 

Das  Orches-      Baß  Houbi 

ter  begleitet  'iit.^^ifl  jpl^f  f 

im     Haupt-  ^'mlrg)^'  4 

satz       mit:     ^ 


La.cry.ino.sa 


di.es    il .  la 


4M|^JjJ)|J.|tJ^J    Jl|J.||J.J"JJ^ 


¥^ 


Pi  .  6 '   Je     SU     Do  .  mine 

YlP'u..        und  wird  damit 

^  ^  Horner 


n 


± 


der  Träger  der 
dunklen^  traurig 
erregten  Empfin- 
dungen, die  das  Ende  des  »Jüngsten  Gerichts«  hinter- 
lassen hat.  Im  übrigen  ist  die  Führung  und  der  Cha- 
rakter des  Satzes  ruhig  breit  und  groß.  Eine  Ausnahme 
macht  eine  Stelle,  die  gegen  das  Ende  eintritt  —  als  der 
erste  Seitensatz  zum  zweitenmal  wiedergekehrt  ist  — . 
Da  klingen  die  Schrecken  der  ersten  Nummer  der  Se- 
quenz noch  einmal  kurz  in  einem  Kampf  an,  den  die 
geteilten  Hälften  des  Orchesters  um  e  und  f  führen, 
e  siegt! 

Ganz  apart  ist  die  Anlage  des  Offertoriums  »Domine 
Jesu  Christe«,   der   siebenten   Num-        „  .     . 

_       _  ;  .•»%         ,1       »V       r<ii  Modcralo 

mer  des  Requiems  (Dmoll).  Der  Chor 

singt  mit  Ausnahme  der  Schlußtakte 

den    ganzen    Text     auf   das   Motiv: 

immer  im  unisono  aller  Stimmen  leicht  hinein  deklamiert. 

Es  macht  den  Eindruck  eines  Zitats  aus  dem  dürftigen 

U,  4.  20 


306 


^^,jTrlttijj,j^^j^^^ 


^^ 


osw. 


Musikschatz  jener  Völkerschaften  in  deren  Besiegung 
der  Held  dieses  Requiems,  der  Graf  Damr^mont,  sich  die 
Lorbeeren  der  Geschichte  erwarb.  Das  Orchester  ant- 
wortet jenem  stereotypen  Chorsignal  mit  einem  eben- 
so regelmäßig  wiederholten,  mysteriösen  einzigen  Ton 
aus  dem  Münde  der  Bläser.  Das  Hauptbild,  welchem 
dieses  symbolische  Bruchstück  primitiver  Naturmusik 
eingewoben  ist,  besteht '  aus  einer  Fuge  der  Streich- 
instrumente. Rhythmus  und  Charakter  ihres  Themas: 
' ^,  ihr     Aufbau, 

^ixM  JJIJ.3J.Jj  ^>)IJJ  f\^i}\ih^\  ^^^^f^}^^' 

\i       6  "^  7  iii»^ii'#iii   ^3:^L-L-'^,^^  zen  Anläufen 

immer  wieder 
von  vorn  an- 
setzt, erin- 
nern   lebhaft 

an  eine  Sisyphusarbeit.  Wie  stechender  Sehmerz  und 
fremdartig  klingen  die  sforzatos  und  die  liegenden 
Stimmen  (auf  d  und  a)  dazwischen.  Beim  »Quam 
olim  Abrahae«  tritt  Ddur  ein,  eine  einfache  elemen- 
tare Wirkung,  erlösend  nach  dem  langen  Druck  wie 
ein  Ausblick  ins  Paradies.  Nach  Berlioz^  eigener  An- 
gabe soll  der  Satz  den  Chor  der  Seelen  im  Fegefeuer 
verbildlichen.  Einen  ganz  ähnlichen  hat  er  in  seiner 
Symphonie  »Romeo  und  Julie«  für  die  Bestattung  Juliens 
geschrieben.  Das  »Hostias«  (Nr.  8),  das  der  Männerchor 
allein  singt,  hat  Berlioz  in  einer  Stimmung  gehalten,  die 
dem  Worte  »laudis«  widerspricht.  Es  ist  ein  Lobgesang 
pro  forma:  Von  Trauer  halb  erstickt  psalmodieren  und 
deklamieren  die  Stimmen  schleichend  dahin;  am  Schluß 
der  Sätze  erst,  wo  die  Worte  »memoriam  facimus«  kom- 
men, dringt  Wärme  der  Empfindung,  die  warme  Er- 
innerung an  die  Zeiten,  wo  die  lebten,  um  die  jetzt  ge- 
betet und  geopfert  wird,  aus  den  Tönen.  Wie  vom  Grab 
oder  wie  Grüße  aus  Himmelsregionen  begleiten  Orchester- 
instrumente allein,  die  sonst  nur  in  größter  Gesellschaft 
zusammenkommen:  Flöten  und  Posaunen.  Durch  dieses 
Akkompagnement  erhält  der  Satz  ein  unheimlich  fahles 


307 


4^'^^l,»,lJJlM'r^ 

•^  Hosanna  inexcel.sis,  h( 


nrrpjy 


excel.sis,  hosanna  in excel6is,ho 


? 


^ 


Kolorit.  Das  Sanctus  (Nr.  9,  Desdur)  ist  von  den  Sätzen 
des  zweiten  Teils  des  Werkes  vielleicht  der  fesselndste, 
deijenige,  in  dem  die  poetische  Absicht  musikalisch  am 
vollkommensten  ausgeführt  worden  ist.  Er  besteht  aus 
zwei  Teilen:  einem  freien  Wechselgesang  zwischen  Solo- 
tenor und  Frauen  Chor  über  die  Worte  >  Sanctus  deus 
Sabaoth,  pleni  sunt  coeli  gloria  tua«,   dem  folgendes 

Haupt-  Andante  un  poco  eostenato  e  maestosO;...,,^  MliO. 

zu  Grün-  g^^A  f  ^  P  |  f   f  ^  IT  f  T  P  1^  ^^  Chor- 

de   liefft*  Sanctus, sanctus.  <«,.sanCttus,  sano .  tus  fuge 

Über    das    »Osanna«.      Der   Sopran    beginnt   sie   mit: 

Aiifgro  non  troppo.^         ^     ^  m )^    ^     Beide  Werden 

repetiert.  Die 
Fuge      Über 

»Osanna« 
erfüllt      den 

san.na,ho.8anna,  ho  san.na  in  ex  .  ceLkjs.      Zweck   eines 

kräftigen  Lobgesangs,  beim  zweitenmal  leistet  sie  noch 
mehr  und  setzt  mit  einer  glücklichen  Steigerung  die 
Seele  des  Hörers  in  Schwung.  Das  Sanctus  aber  hat  in 
der  neueren  geistlichen  Musik  im  Ausdruck  visionären 
Entzückens  wenig  seines  gleichen.  Klangfarben,  Rhyth- 
men, Modulationen  und  Melodien  stehen  alle  unter  dem 
Zauber  einer  großen  stillen  Schönheit,  wie  von  dem  An- 
blick einer  wunderbaren  Himmelserscheinung  zugleich 
geblendet  und  erhoben.  Der  zehnte  Satz  Agnus  dei 
(Anfang  Adur,  Schluß  Gdur),  mit  einfachen,  aber  wie 
aus  höheren  Sphären  herabklingenden  Akkorden  einge- 
leitet, kehrt  mit  dem  Eintritt  der  Singstimmen  zu  dem 
»Hostias«  zurück  und  wendet  sich  dann,  ähnhch  wie 
Süßmayer  in  Mozarts  Requiem  getan,  mit  dem  Schluß- 
teü  dem  Introitus  wieder  zu.  So  ist  Anfang  und  Ende 
des  Werkes  ineinander  geschlungen  und  damit  sein 
ästhetischer  Wert  nochmals  bekräftigt.  Er  wird  die 
Totenmesse  des  französischen  Ultraromantikers  noch 
längere  Zeit  im  praktischen  Musikleben  erhalten.  In 
der   Geschichte   der   Gattung  wird  sie   ihren  Platz    für 

«0* 


— ^      308     ♦ — 

immer  behaupten,  denn  sie  bildet  in  der  dramatischen 
Richtung,  die  die  Requiemkomposition  seit  dem  4  7.  Jahr- 
hundert eingeschlagen  hat,  den  Gipfel  und  zugleich  die 
Krisis.  Wohl  hat  man  dem  Berliozschen  Requiem  nach- 
gestrebt, aber  noch  mehr  hat  es  mit  seinen  dramatischen 
Exzessen  abgeschreckt  und  eine  allmähliche  Reaktion 
nach  der  liturgischen  Seite  eingeleitet 

Der  Zeit  nach  ist  als  die  nächste  Totenmesse,  welche 
Yon  dem  Träger  eines  bedeutenden  Namens  herrührt,  das 
BiEtohumaiuif  Requiem  von  R.  Schumann  zu  erwähnen:   eins  der 
Requiem,     nachgelassenen  Werke  des  Komponisten  (op.  HS).    Auch 
die  stark  Schumannsche  Strömung,   welche  im  letzten 
Drittel  des  neunzehnten  Jahrhunderts  das  deutsche  Musik- 
^  leben  beherrscht  hat,  war  nicht  im  Stande,  diese  Kom- 

position flott  zu  machen.  Es  sind  nur  vereinzelte  Auf- 
führungen zu  verzeichnen.  Alle  Versuche  der  liebevollen 
Pietät  scheitern  an  dem  Mangel  eines  einheithchen  Stils. 
Man  kann  dem  Requiem  dasselbe  ''Streben  nach  Einfach- 
heit der  kirchlichen  Tonsprache  nachrühmen,  welche 
wir  an  der  Messe  Schumanns  anerkennen  müssen.  Aber 
die  Ausführung  trägt  die  Spuren  der  Flüclitigkeit  und 
Hast.  Die  Idiome  sind  wunderlich  durcheinander  geraten: 
auf  streng  und  ernst  durchgearbeitete  Teile  folgen  Fort- 
setzungen, die  wie  italienische  Waren  aus  der  berüchtigten 
Periode  des  Guitarrenorchesters  aussehen.  Doch  ist  auch 
in  den  Sätzen,  welche  polyphon  gehalten  sind,  die  Er- 
findung und  geistige  Richtung  zuweilen  trivial;  z.  B.  in 
»Te  decet  hymnus«.  Man  muß  diese  Sachlage  um  so  mehr 
bedauern,  als  einzelne  Partien  des  Werkes  gelungen  sind: 
so  der  Introitus;  andere  können  als  genial  bezeichnet 
werden.  Das  gilt  namentlich  von  dem  ersten  Satze  des 
Dies  irae,  der  mit  sehr  einfachen  Mitteln  —  hauptsäch- 
lich durch  ein  Motiv  aus  zwei  Akkorden  gebildet  —  den 
Di;uck  einer  eigentümlich  schwülen  und  zum  unheilvollen 
Entladen  reifen  Situation  veranschaulicht. 

Ein  Altersgenosse  des  Schumannschen  Requiem  ist 
F.  Laohner,  das  von  Franz  Lachner.  Am  Anfang  der  siebziger 
Requiem.     Jahre  einer  Umarbeitung  unterzogen,  hat  es  von  da  ab 


längere  Zeit  die  Konzertsäle  durchzogen  und  eine  sym- 
pathische Aufnahme  gefunden.  Es  ist  eine  außerordent- 
lich schlichte  und  einfache  Komposition,  welche  für  den 
Geist  des  Textes  überall  die  richtigen  musikalischen 
Grundlinien  findet.  Der  Stil  einer  älteren  Periode  lebt 
in  ihr  noch  einmal  auf:  hauptsächlich  nur  mit  seinen 
Vorzügen:  einer  verständlichen  Melodik  und  mit  an- 
mutsvollen Gesangformen.  Die  Solisten  wirken  in  her- 
vortretender Weise;  manchmal  in  gut  angelegten,  aber 
zu  breiten  Sätzen.  Die  Stelle,  wo  im  Introitus  das  »Et 
lux  perpetua«  zum  zweitenmal  eintritt,  und  der  An- 
fang des  Dies  mit  dem  übermäßigen  Sextakkord  sind 
die  hervorragendsten  Erfindungen  des  Werkes.  Sie 
hinterlassen  einen  bleibenden  und  tieferen  Eindruck. 

Wir  begegnen  zuweilen  der  Klage,  daß  unsere  Zeit 
neuen  Tonwerken  von  ernster  Richtung  nicht  günstig  sei. 
Mit  dieser  Behauptung  steht  die   Tatsache   im  Wider-    . 
Spruche,  daß  einige   unserer  hervorragendsten   neueren 
Tonsetzer  ihren  Ruf  mit  Messen  begründet  haben.    Das 
war  der  Fall  mit  A.  Becker   und   seiner  BmoU-Messe. 
Auch  J.  Brahms  trat  aus  einem  engeren  Kreise  erst  mit 
seinem  »Deutschen  Requiem«  heraus.    Das  dritte  leuch- 
tende Beispiel  bildet  F.  Kiel,  welcher  im  Jahre  <860  mit       F.  Kiel, 
seinem  ersten  Requiem  (op.  20)  die  größere  Beachtung      Requiem 
zunächst  seiner  Fachgenossen  errang.     Kiels  »Christus«      (Fmoll). 
ist  populärer  geworden  als  dieses  Requiem.     Der  Vor- 
sprung beruht  da  in  erster  Linie  auf  dem  Gegenstand 
und   der  dramatischen  Form    des  Werkes:    Auch  wird 
man   der  Musik  dieses  Passionsoratoriums   einen   selb- 
ständigeren und  durchsichtigeren  Charakter  zugestehen 
müssen.    Aber  von  dem  technischen  Können  Kiels,  von      ; 
seiner  reinen  und  edlen  künstlerischen  Natur,  von  der 
Besonderheit    seiner    schöpferischen    Fähigkeiten,     gibt 
dieses  Requiem  einen  genaueren  Begriff. 

Nach  einer  Orchestereinleitung,  welche  zur  Hälfte 
Bachisch  ist,  setzt  der  Chor  im  Introitus  sein  »Requiem 
aeternam«  im  Tone  eines  friedlich  frommen  Trauer- 
gesangs ein.    Schon  das  »dona  eis  domine«  verläßt  aber 


in  seiner  ausbiegenden  Schlußkadenz  diesen  Grundton. 
Der  Charakter/  in  welchem  Kiel  dieses  Totenamt  er- 
öffnen wollte,  ist  der-  einer  schwankenden  Stimmung. 
Diese  Musik  tönt  aus  einem  Herzen ,  welches  nicht  dar- 
über entscheiden  kann,  ob  der  Tod  ein  Verlust  oder  ein 
Gewinn  sei,  und  die  Fantasie  scheint  sich  zwischen  den 
Bildern  der  Hölle  und  des  Himmels  noch  hin-  und  her- 
zubewegen. Daß  die  Wagschale  zu  gunsten  des  ver- 
trauenden Glaubens  gestellt  werden  wird,  lassen  Ab- 
schnitte wie  >te  decet  hymnus«,  die  Einführung  und 
der  Ausdruck  des  »exaudi  usw.«  schließen.  Das  Kyrie 
besteht  aus  zwei  Abschnitten.  Der  erstere  in  gefaßter 
Stimmung  gehalten,  ruht  hauptsächlich  auf  dem  Motive 

Andante  cöBinotfl^ ^^^^  Seine  Spitze,  auch  in  der  dem 

*/tr  H  p'  p  1*  [»  [  rT^  p  1 1*-^.  Ausdruck  gegebenen  Richtung 
Kr^ti.0  e  .  lei .  .  soB  bildet  das  erste  »Christe  elei- 
son!« Nachdem  dies  geschlossen,  greift  ein  aufgeregterer 
Ton  Platz.  In  den  Orchesterbässen  erhebt  sich  ein 
wühlendes  Motiv.  Die  Bläser  gehen  über  scharf  akzen- 
tuierte Hülferufe  in  ein  chromatisch  abwärts  gleitendes 
Thema  über,  das  auch  für  die  Singstimmen  der  Träger 
der  Gedanken  des  zweiten  Abschnitts  wird.  Eine  schöne 
Beruhigungsstelle  bildet  auch-  hier  wieder  das  »Christe 
eleison«. 

Die  erste  Nummer  des  Dies  irae  geht  bis  zu  den 
Worten  »Salva  me,  fons  pietatis«.  Sie  besteht  aus  einer 
Reihe  kleinerer  Tonbilder,  in  denen  durch  selbständige 
Motive  die  vferschiedenen  Begriffe  der  Textzeilen  aus- 
gemalt werden.  Ihnen  allen  ist  ein  spannendes  und  auf- 
regendes Element  gemeinsam,  welches  von  Bild  zu  Bild 
in  einer  neuen  Verwandlung  seine  dämonische  Kraft  er- 
probt und  steigert.  Den  höchsten  Grad  malerischen  Aus- 
drucks erreicht  dabei  Kiel  an  der  Stelle  »coget  omnes« 
mit  einer  aus  Webers  Freischütz  bekannten  Akkord- 
Modulation.  Auch  äußerlich  sind  diese  einzelnen  Bilder 
zusammengehalten,  und  zwar  durch  die  Wiederkehr  eines 
fest  von  den  Blechbläsern  gegebenen,  auf  einem  einzigen 
Ton  gebauten   Weckrufes.     Cherubinis  Cmoll- Requiem^ 


* » 


benutzt  dasselbe  Mittel,  um  die  Fantasie  auf  die  »Po- 
saunen des  Gerichts«  zu  lenken.  Das  logische  Ziel  aller 
dieser  Bilder  enthält  der  demütig  fragende  Satz:  »Quid 
sum  miser  usw.«,  dessen  Musik  am  Schlüsse  der  Nummer 
auf  die  zwei  Worte :  »Salva  me«  wiederkehrt.  Die  zweite 
Nummer  ist  das  »Recordare«,  ein  Bittgesang  in  getra- 
genen Tönen,  dessen  größeren  Teil  die  Solostimmen, 
gruppenweise  abwechselnd,  ausführen.  Mit  dem  Einsetzen 
der  Chöre  zieht  in  das  Tongemälde  eine  stärkere  Erregung 
ein.  Hier  erhebt  das  Orchester  schneidend  akzentuierte 
Klagerufe;  die  sanften  Melodien  der  Solisten  umspielt  es 
nur  mit  Motiven  romantischer  Unruhe. 

Das  »Gonfutatis«,  die  dritte  Nummer,  zeichnet  sich 
durch  die  originelle  Auffassung  und  die  einfach  packende 
Ausführung  des  Textbildes  aus.  Kiel  läßt  diese  Szene 
der  Verwirrung  und  Verzweiflung  von  einem  allerdings 
dunkeln,  aber  zunächst  ziemlich  ruhigen  Grunde  aus- 
gehen. Es  sind  große  Wogen,  die  sich  in  den  Nach- 
ahmungen des  breiten  Cmoll-Motivs  anfangs  nur  streifen. 
Alimählich  rollen  die  Harmonien  heftiger.  Mit  dem  plötz- 
lichen leisen  Eintritt  |les  Edur  tritt  die  Krisis  ein.  Sie 
entfesselt  den  ganzen  Sturm  der  Seelenangst  bis  zur 
vollen  Erschöpfung.  In  die  eingetretene  Leere  und  Stille 
wird  dann  das  »Vocame«  hineingesungen.  Bei  der  Wieder- 
holung der  Szene  erfährt  der  bittende  Teil  eine  Ver- 
längerung durch  das  »orosupplex«,  die  in  ihrer  Eitifach- 
heit  und  durch  die  kurz  entschlossene  Wendung  in  das 
leise  Cdur  einen  sehr  schönen  Abschluß  des  Satzes 
gibt.  Das  »Lacrimosa«,  die  vierte  Nummer  der  Sequenz, 
singt  der  Chor  in  breiten  Melodien.  Aus  ihrem  akkor- 
dischen Gefüge  klingen  noch  die  Schrecken  der  vorher- 
gegangenen Szene  nach.  Das  Orchester  koloriert  mit 
einem  Bachschen  Motiv.  Kiels  Tonbau  verschmilzt  in 
der  Regel  Neues  und  Altes,  eigene  Individualität  und 
Anregungen  großer  Vorbilder.  So  ist  im  Ofifertorium 
»Domine  Jesu  Christe«  das  weiche,  friedliche  Violinen- 
motiv, welches  das  Erscheinen  des  heiligen  Michael  be- 
gleitet und  sehr  hübsch  schon  beim   ersten  Takte  des 


—-^      312     ♦ — 

Satzes  ankündet,  mit  der  gleichen  Cherubinischen  Stelle 
verwandt.  Der  Satz  ist  aber  mit  eigenen  Ideen  Ki^*s 
reich  ausgestattet.  Hervorragend  sind  besonders  die 
Deklamation  des  Chores  beim  Anruf  des  Herrn  und  die 
kleinen  Illustrationen,  mit  denen  das  »Löwenmaul«,  der 
»Tartarus«  und  das  »große  Dunkel«  skizziert  werden.  Die 
Fuge  über  »Quam  olim  Abrahae«,  welche  den  Satz 
schließt,  ist  geistvoll  durch  den  mit  neuen  Themen 
steigernden  Aufbau,  eigentümlich  durcti  die  Behandlung 
des  »promisisti«.  Kurz  vor  dem  Ende  kommt  dieses  im 
fragenden  Ton.  Das  einfach  aussehende,  doch  kunst- 
volle »Hostias«  verbindet  sehr  wirkungsvoll  das  Haupt- 
thema des  »Quam  olim  Abrahae«  mit  einer  im  ruhigen 
Dankgefühl  dahingleitenden,  großgespannten  Melodie, 
welche  die  Stimmen  des  Soloquartetts  nacheinander  vor- 
tragen. 

Das  Sanctus  ist  in  einer  höchst  einfachen  Feierlich- 
keit gehalten,  in  deren  erhabenen  Kreis  auch  die  Worte 
»Pleni  sunt«  hineingezogen  werden.  Das  Osanna  (Fuge) 
drückt  das  Gefühl  einer  fortreißenden  Freude  mit  einem 
Thema  aus,  welches  in  seinen  springenden  Intervallen  dem 
'  des  Schlußchores  im  »Christus«  ähnlich  ist.  Die  Wirkung 
des  Benedictus  ruht  auf  wesentlich  koloristischen  Mit- 
teln: dem  Ineinandergreifen  von  Soloquartett  und  Chor. 
Ober  Melodien  und  Motiven  liegt  ein  zarter  Glanz,  der 
aber  im  Schlußteile,  wo  das  Osanna  in  einer  neuen 
musikalischen  Variante  erscheint,  kräftigeren  Farben 
weicht. 

Das  Agnus  dei  erreicht  wohl  unter  allen  Sätzen 
dieses  Requiems  die  eindringlichste  Wirkung.  Es  ist 
ganz  kurz  und  einfach,  aber  von  außerordentlicher 
Prägnanz  in  den  Hauptmotiven.  Die  drei  Akkorde,  auf 
welchen  der  Chor  sein  »Agnus  dei«  wiederholt  intoniert, 
setzen  diesen  Anruf  in  der  Empfindung  mächtig  fest. 
Ebenso  schön  ist  auch  die  Modulation  des  »dona  nobis 
usw.«  geleitet.  Erst  mit  dem  dritten  Male  kommt  das 
As  dur,  und  mit  ihm  kommt  Ruhe  ins  Gemüt.  Das 
Werk  klingt  mit  dem  »quia  pius  es«  fromm  und  friedlich 


343     ^— 

aus.  Das  Orchester  streut  mit  der  immer  wiederkehrenden 
Sechzehntelfigur  über  die  ganze  Szene  einen  geheimnis-  ' 
vollen  zum  Träumen  und  Schlummern  ladenden  Zauber 
Einige  Jahre  vor  dem  Tode  des  Komponisten  kam 
ein  zweites  Requiem  (op.  80,  Asdur)  von  F.Kiel  in  Um-  F.  Ki»^ 
lauf.  Will  man  den  Unterschied  der  beiden  Totenmessen  Requiem  In  As; 
Kiels  kurz  feststellen,  so  hat  man  der  ersten  größere 
Beweglichkeit  der  Fantasie,  der  zweiten  aber  ein  stärkeres 
Paulos  zuzusprechen.  Die  zweite  ist  sparsamer  an  Ideen, 
hält  aber  Stimmungen  und  Motive  fester  und  führt  sie 
in  weitem  Bogen  aus:  zuweilen  allerdings  nur  formal. 
-Das  neue  Requiem  bevorzugt  breitere  Bilder  und  ent- 
wickelt in  ihrem  Aufbau  zuweilen  eine  Energie  und 
Kühnheit,  welche  an  Beethoven  erini\em.  Im  Introitus 
und  Kyrie  zeichnet  sich  die  Wiedergabe  des  >Te  decet 
hymnus«  durch  den  altkirchlichen  Ton  aus.  Er  beruht 
auf  der  Verwendung  des  alten  Grabchorals:  »Meine  Seele 
erhebt  usw.t,  derselben  Magnificatweise,  welche  auch 
Mozart  und  M.  Haydn  (im  Bdur-Requiem]  an  dieser  Stelle 
eingeführt  haben.  Im  Eingang  der  Sequenz  zeigt  das  erste 
Bild  vom  »Dies  Irae«  weniger  Aufregung,  als  in  dem  frühe- 
ren Requiem  Kiels.  Aber  der  Hintergrund  ist  dunkler  und 
spielt  verdeckt  in  unheimlichen  Farben.  Auch  der  Efnst 
der  Szene  kommt  mit  schwererem  Druck  zum  Bewußtsein. 
Das  durchgehende  Viertelmotiv  der  Instrumentalbässe  und 
die  breiten  Posaunenstellen  bilden  die  entscheidenden  Züge 
in  dem  Bilde.  Die  ganze  Auffassung  der  Sequenz  ist  litur- 
gischer, die  Stellen,  wo  die  Empfindung  des  Individuums 
den  Bildern  der  Fantasie  gegenüber  zum  Worte  kommt, 
sind  mehr  in  den  Vordergrund  gerückt,  als  im  ersten 
Requiem.  Das  »Quid  sum  miserc  macht  Kiel  in  dem 
neuen  Werke  zur  Spitze  eines  besonderen  Satzes,  wie  es 
Berlioz  in  anderer  Weise  tut.  Das  »Recordare«  und  das 
»Lacrimosa«  fließen  in  beweglicher  warmer  Melodik 
dahin.  Derjenige  Satz,  in  welchem  die  beiden  Messen 
die  Herkunft  von  demselben  Verfasser  am  deutlichsten 
zeigen,  ist  das  Offertorium.  Den  Vergleichungspunkt 
bildet  die  Cherubinische  Achtelfigur,  welche  dem  heiligen 


— ^      34  4     >— 

Michael  gilt.    Einen  der  schönsten  Abschnitte  des  zweiten 
*  Requiems  bildet  die  Einleitungspartie  (Sostenuto,-  2/4)  des 
Sanctus,  welche  an  die  feierliche  Weise  der  alten  Vokal- 
periode anklingt. 

Die  Totenmessen  von  Kiel  spiegeln  weder  eine  be- 
stimmte musikalische   Individualität  wieder,   noch  eine 
'  bestimmte  Musikperiode.   Nur  ihr  allgen^ein  künstlerischer 

Wert  hat  sie  vor  dem    Los   bewahrt,   welches  in    der 
'     Regel  Tönwerken  beschieden  ist,  die  ihren  Verfasser  und 
ihre  Zeit  nicht  in  deutlichsten  Zügen  künden.    Aus  dieser 
Gruppe    der   unbeachtet   gebliebenen   und   schnell  ver- 
gessenen neueren  Requiems  lohnt  es  sich  eines  heraus- 
Bi  8ohoh,     zuheben.   Es  ist  das  von  B.Scholz  (op.  4  6,  DmoU),  eine 
Requiem     Komposition,  welche  aus  der  liturgischen  Gruppe  beson- 
(DmoU).      ders  durch  dieKnappheit  und  Bestimmtheit  hervorragt, 
welche   ihren   ersten   Sätzen  in   Ausdruck  und  Anlage 
eigen   ist      In    dem    poetisch    besonders    bedeutenden 
Schlußsatze    dieser  Totenmesse:    im   Agnus,   wirkt  am 
Ende  eitte  in  D  gestimmte  Glocke  mit. 

Unter  die  Totenmessen  von  entschiedener  Originali- 
tät, welche  die  gegenwärtige  Generation  hat  entstehen 
sehen,    ist   auch    das   für   Männerstimmen    und   Orgel 
( —  stellenweise  treten  auch  Trompeten,  Posaunen  und 
Pauten  mit  in  die  Begleitung  ein  -^)  geschriebene  Re- 
F.  Liszt,      quiem  von  F.  Liszt  mit  einzureihen.     Nur  geht  es  in 
Requiem  für  der  beabsichtigten  Kargheit  und  Herbheit  des  Ausdrucks, 
Mäimer-      in  der  Verwendung  deklamatorischer  Aphorismen,  Inter- 
^mmen.     jektionen  und  in  skizzenhaften  Andeutungen  etwas  weit. 
Unter  den  schönen  und  eindrucksvollen  Abschnitten  des 
Werkes,  welche  auch  im  Stil  sich  gewöhnter  Kunst  nähern, 
verdient  das  »Recordare«  hervorgehoben  zu  werden. 

Dem  Requiem  liszts  folgte  als  eine  der  nächsten  Ar- 
beiten auf  dem  Gebiet  der  Totenmesse  das  »Deutsche 
Requiem«  von  Joh.  Brahms. 

Es  gibt  deutsche  Requiems  schon  von  den  »Exequieilk 
H.  Schützens  ab,  aus  dem  4  9.  Jahrhundert  haben  wir  eins 
von  Ferdinand  Schubert,  dem  Bruder  des  großen  Franz 
Schubert,    weitere   von   Henkel,    Moralt    und    anderen 


V. 


Tonsetzern.  Während  aber  diese  den  Zusammenhang 
mit  dem  liturgischen  Text  aufrecht  erhallten,  hat  Brahms 
eine  Trauerfeier  in  einem  ganz  eigenen  und  neuen  Stile 
gebildet,  die  in  ihren  Formen  gar  keine,  in  ihrem  Wort- 
inhalt nur  ganz  allgemeine  Berührungspunkte  mit  dem 
alten  Requiem  teilt.  Das  katholische  Totenamt  ist  in  sei- 
nem Ziele  eine  Fürbitte  für  die  Ruhe  der  Entschlafenen. 
Das  Requiem  von  Brahms  gleicht  einer  Predigt.  Die  Worte, 
frei  Yom  Komponisten  aus  der  Schrift  gewählt,  bilden 
eine  Reihe  feierlicher,  gemütreicher  und  fantasievoller 
/Betrachtungen  über  Diesseits  und  Jenseits,  über  Men- 
schenlos und  himmlisches  Leben.  Diesem  Thema, 
mit  seinem  ans  Herz  greifenden  Gegensatz,  hat  Brahms 
sich  auch  später  wieder  zugewandt,  im  > Schicksalslied«, 
>Näniec,  dem  »Gesang  der  Parzen«,  in  den  »Vier  ernsten 
Gesängen«!  Es  hat  schon  dem  Fünfundzwanzigj ährigen 
den  charaktervollen,  ergreifenden  »Begräbnisgesang«  ein- 
gegeben, es  klingt  auch  aus  vielen  seiner  bedeutendsten 
Instrumentalkompositionen  heraus,  am  stärksten  aus  der 
vierten  Symphonie  bis  an  die  äußersten  Grenzen  des 
Verständlichen.  Im  Requiem  ist  es  nur  in  besonders' 
breiten  Formen  und  mit  dem  ganzen  Aufgebot  der  seeli- 
schen und  künstlerischen  Kraft  des  Tonsetzers  behandelt 
Hat  es  ja  der  trauernde  Sohn  der  heimgegangenen  Mutter 
geschrieben.  Doch  dachte  Brahms  ursprünglich,  wie  der 
erste  auf  die  Rückseite  des  Manuskripts  einer  Magellonen- 
romanze  geschriebene  Textentwurf*)  beweist,  nur  an  eine 
dreisätzige  Kantate,  die  mit  »Wie  lieblich  usw.«  schließen 
sollte.  Die  andern  Nummern  sind  nachkomponiert  Das 
fertige  Werk  gab  seinem  Schöpfer  von  den  ersten  Auf- 
führungen ab  (in  Zürich  und  4868  im  Dom  zu  Bremen) 
seine  Stellung  in  der  Musikwelt;  auch  für  spätere  Zeiten 
wird  der  Name  J.  Brahms  in  erster  Linie  mit  dem  Deut- 
schen Requiem  verknüpft  bleiben. 

Die    sieben    Abteilungen    des  Deutschen    Requiems 
sind  sämtlich  Chorsätze;  nur  in  drei  von  ihnen  finden 


*)  Im  Besitz  des  Herrn  Dr.  Max  Kalbeck  in  Wien. 


34  6 


J.  Brahmi.  sich  Solopartien  eingefügt. ,  Ihrem  Inhalte  nach  bilden 
Ein  dentBcheB  die  Sätze  eins  bis  drei  die  erste,  diejenigen  vom  vierten 
Requiem,  bis  zum  letzten  die  andere  Gruppe  des  Werkes.  Die 
erste  enthält  die  Klage,  die  zweite  den  Trost. 

Der  erste  Satz:  »Selig  sind,  die  da  Leid  tragen,  denn 
sie  sollen  getröstet  werden  c  hat  die  Bestimmung  einer 
Art  Einleitung,  eines  Introitus.  Seine  Worte  sollen  die 
Richtung  der  ganzen  Trauerfeier  im  Sinne  eines  Motto 
feststellen.  Dazu  sind  [aber  die  Herzen  —  das  scheint 
die  Idee  der  Komposition  ^zu  sein  —  wohl  bereit,  aber 
noch  nicht  fähig.  Die  Botschaft  begegnet  noch  dem 
Zweifel  und  das  Gefühl  des  Leidens  macht  gegen  den 
zuversichtlichen  Ausdruck  der  frohen  Kunde  sein  Recht 
alle  Augenblicke  geltend.  An  einer  Stelle,  in  der  zwei- 
mal vorkommenden  Des dur- Episode:  »Die  mit  Tränen 
säen,  werden  mit  Freuden  ernten  €,  feiert  de?r  freudige 
Glaube  einen  kurzen  gewaltigen  Sieg;  an  den  anderen 
überwiegen  und  unterbrechen  die  Töne  des  Leids  in  ein- 
dringlichen und  eigen  geformten  Wendungen. 

Unter  ihnen  heben  sich  zwei  besonders  heraus:  die 
absetzende  Deklamation  der  Worte:  »Selig  sind,  die  da 
Leid  tragen,  denn  sie  sollen  getröstet  werden«.  Die  Be- 
griffe, »Selig  sind«,  »Leid  tragen«,  »getröstet  werden« 
kommen,  alle  durch  Pausen  unterbrochen,  stockend  und 
zögernd,  wie  aus  schwerem  Herzen,  aus  einem  Gemüt, 
das  mit  den  Tränen  kämpft.  Und  wenn  der  Satz  wirk- 
lich einmal  hintereinander  gesungen  wird,  da  wechseln 
die  Lichter,  die  die  Akkorde  darüber  werfen,  fast  un- 
stet. Der  Schluß  der  kleinen  Orchestereinleitung  gibt 
diesen  schwer  wogenden  Seelenzustand  in  drei  Takten 
wieder,  die  beim  ersten  Hören  nicht  immer  klar  werden : 


Ziemlich  langsam  und  mit  AuBdrnek. 


usw. 


TTTT 


Trrr  ff? 


Einen  Hanpt- 
teil  an  der 
musikalischen 
Wirkung  die- 
ses ersten  Sat- 
zes weist  der 
Komponist 


an 


dem  Kolorit  des  Orchesters  zu.  Wie  M^hul,  Cherubini, 
Hauptmann  u.  a.  das  in  geeigneten  Fällen  getan  haben, 
hat  Brahms  auf  die  Geigen  verzichtet.  Die  Bratschen  — 
wie  die  Celli  häufig  geteilt  —  fähren  den  Streicherchor; 
die  hellen  Farben  fehlen  also.  Einfach-  aber  hervor- 
tretend ist,  die  Harfe  verwendet. 

Der  Aufbau  des  Satzes  vollzieht  sich  fast  in  der  Art. 
der  da  capo-Arie:  dreiteilig.  Der  erste  Teil  bringt  den 
Text  bis  zu  den  Worten  »getröstet  werden«  in  Fdur  in 
sehr  einfachen,  aber  stark  in  Gefühl  getauchten  Wei- 
sen.   Ein  kleiner  Seitensatz,  von  der  Oboe  eingeleitet: 

-Q  ^,-— T":.     •^        ^®^*  ®^^^  hervor  und  ihm  zu- 

Zl>   ^  J   J  I  #  p  p  ^  I        I    nächst  das  in    der   ganzen 
•^'  -^^"^  Nummer  durch  Wiederholun- 

gen und  breitere  Entwicklungen  wichtige  Motiv,  über  das 
die  Ghorstimmen  die  Worte  »getröstet  werden«  singen:  * 

Der  zweite  Teil  bringt   den  ganzen 


\  •  ■ 


•  Aly  J  p#"|  o   IJ"     Übrigen  Text  von    »die   mit  Tränen 
•^'         '  säen«   ab  bis  zu  »und  bringen  ihre 

Garben«.  Wie  e^  von  dem  ersten  Teil  dadurch,  daß  er 
in  Desdur  steht,  sich  äußerlich  scharf  scheidet,  so  tut  er 
das  auch  im  Charakter.  Von  der  Ergriffenheit,  die  dort 
Sprache  und  Ton  zu  fesseln  und  zu  unterdrücken  droht, 
ringt  er  sich  durch 
zu      einer 

die  in  den  Abschnit 
ten  über  das  Motiv: 
sich  dem  Jubel  nähert.  Von  Tränen  gingdie  Stimmung  aus'; 
still  und  schnell  geht  sie  zur  Traurigkeit  zurück.  Noch  ein- 
mal, diesmal  eingeleitet  durch  die  Worte  »Sie  gehen  hin 
und  weinen«,  deren  Tonweise,  das  Material  für  die  Or- 
chestereinleitung des  Satzes  und  für  Zwischenspiele  gibt 

vollzieht  sich  dieser  Auf- 


ch     durch       q     /j  t._    •  .Vi-    f— i 
Erhebung,      ^fcHiJ  '^P    P  |  L  J  H  iJ 


wer.den  mit    Freu. den     ern.ten 
kommen  mit    Freuden, mit  Freuden 


^^'■^''iriifr^ 


j  17]  "^  Schwung;  dann  schließt 
der  Mittelsatz  auf  »Gar- 


ben«. Seine  Mxisik  zeichnet  ein  großer  Reichtum  an 
Bildern  aus:  Auf  »Weinen«,  auf  »Freuden«  hat  Brahms 
sprechende  und  lang  im  Herzen  nachklingende  Figuren 


3f8 


erfunden.  Ein  Motiv,  das  den  Teil  anfängt  und  lange 
Strecken  in  erster  Linie  trägt,  ist  unmittelbare  Gebärden- 
musik, ein  tö-  fl  vr^  j-pv  I  Der  dritte  Teil  der 
nendes  Bild  des  Al>  \^Z  Ct  H' H' I  Kummer  ist  Wie- 
Schluchzens:  «X  I  T  f  f  '^^'  ^  derholung  und  Va- 
riation des  ersten.  Er  setzt  in  Desdur  ein,  kommt  aber 
in  wenigen  Takten  zur  Haupttonart  herüber.  Neu  ist  in 
dieser  Wiederholung,  daß  an  einzelnen  Stellen  die  Instru- 
mente, die  Bläser,  den  Melodiesatz  haben,  während  die 
Singstimmen  dazu  frei  und  p  .  ^  .  ^  ■ 
ausdrucksvoll  deklamieren,  m^  i  1 1  |  pf  |  J  ^  . 
die  eine  nach  der  andern:        ge.tröstet wer.den 

Die  zweite  und  dritte  Abteilung  des  Werkes  sind,  auf 
den  Text  hin  angesehen,  verschiedene  Ausführungen  des- 
selben Grundgedankens,  Sie  behandeln  auf  beschränktem 
Räume  denselben  Gegensatz,  welcher  die  Generalidee  des 
ganzen  Wei^kes  bildet:  den  Gegensatz  zwischen  hier  und 
dort.  Gemeinsam  ist  beiden  in  der  Behandlung  des  Vor- 
dersatzes der  Ton  der  Klage.  Nur  hat  die  Klage  in  der 
zweiten  Abteilung  das  Wesen  einer  starren,  ins  Unver- 
meidliche sich  fügenden  Resignation;  in  der  folgenden 
aber  einen  tief  erregten  und  leidenschaftlichen  Charakter. 
In  der  Haltung  der  Nachsätze  ündet  das  entgegengesetzte 
Verhältnis  statt:  der  der  zweiten  Abteilung  ist  ein  nuancen- 
reiches bewegtes  Bild,  den  des  dritten  Satzes  kennzeich- 
net eine  großartige  Gleichmäßigkeit.  Diese  beiden  Abtei- 
lungen und  namentlich  ihre  Vordersätze  —  tief  greifende, 
düstere  Ergüsse  eines  männlich  echten  und  wahren  Welt- 
schmerzes —  sind  diejenigen  Partien  des  Requiems,  auf 
welchen  in  erster  Linie  sein  eigentümlicher  Wert  beruht. 
Die  zweite  Abteilung  »Denn  alles  Fleisch,  es  ist  wie 
Gras  usw.«  (BmoU-Bdur)  ist  in  ihrer  musikalischen 
Form  die  eingänglichste  des  ganzen  Requiems.  Sie  ^at 
in  der  ersten  Hälfte  (Bmoll)  ein  Thema,  welches  trotz 
des  Dreivierteltaktes  eine  Art  Marschcharakter  besitzt: 
t«ng««m  Von  dumpf enBaß- 

J  _n.  I  I  ^  Signalen  eingelei- 
^-^i^A,  tet,  klingt  es  aus 


^^'iMrirQ.|ir.ci. 


349 


der  Ferne  heran  und  ruft  das  Bild  ein^s  gemessenen 
Schrittes  sich  nähernden  Trauerzuges  vor  die  Fantasie.  Es 
stammt  schon  aus  den  50er  Jahren  und  war  als  »langsames 
Scherzo«  für  eine  Symphonie  bestimmt,  die  ßrahms  durch 
Schumanns  Geschick  erschüttert  entwarf.  Der  harte,  resig- 
nierte Ton  dieses  Themas  ^  ,  ^-^,  ••x^ 
geht  mit  dem  bewegte-  fem  ^jj|7*  \^J  '^  fTl 
ren  Motiv  des  Nachspiels  ^  ^>  ^=- 
in  einen  weicheren,  mild  wehmütigen  über.  So  spie- 
gelt sich  im  ersien  Thema  der  romantische  Grundzug 
des  ganzen  Satzes.  Die  Melodie  des  Chores,  dem  Or- 
chestersatz aufgeschrieben,  klingt  doch  wie  eigens  für 
die  Worte  erfunden:  mächtig  ernst  und  altertümlich: 
'^  ,    Langsam. Daß  sie  vou  dem 


Denn  aLles  Fleisch  es  ist  ein  Gras  und  al.le 


^ 


r  rir'TirJ 


Stimmen  vorge- 
tragen wird,  hebt 
noch  ihren  Cha- 

Herrlichkeit  des  Menschen  wie  desGrases  Blume,   fakter.    Lieblich 

klingt  _die  kleine  Episode:  .>Das  Gras  ist  verdorret«  da- 
gegen. Der  von  dem  Marschthema  getragene  Satz  wird 
in  mehrfachen  Wendungen  wiederholt  und  über  gewaltige 
Crescendi  zur  vollen  Größe  von  Klang  und  Inhalt  auf- 
gerollt. Die  Mitte  der  langen  Entwicklung  nimmt  der 
zarte,  wie  von  oben  herab  sanft  zusprechende  Chorsatz 
(Gesdur):  >So  seid  nun  geduldig  usw.«  ein,  dessen 
Schlußhälfte  wunderbar  hübsche  und  einfache  Anspie- 
lungen auf  den  »Regen«  enthält.  Der  Achtelrhythmus 
der  Harfe  und  Flöte  und  das  pizzicato  der  Violinen  führt 
sie  aus.  Der  Chor  lauscht  in  ruhigen,  wohligen  Harmo- 
nien. Das  Hom  ruft  mit  leisen  ernsten  Tönen  aus  dieser 
Idylle  hinweg  und  nun  repetiert  der  Marschsatz.  Den 
Übergang  zum  zweiten  Hauptabschnitt  des  Satzes  hat 
Brahms  sehr  gewichtig  hingestellt.  Das  >Aber«,  wel- 
ches diesen  kurzen  Übergangssatz  einleitet  ist  mit  der 
Entschiedenheit  betont,  mit  welcher  Seb.  Bach  die 
Bindewörter  auszuzeichnen  pflegt.  Den.  wichtigsten 
Tr$lger  des  zweiten  Hauptabschnittes  bildet  das  Thema: 


3S0 


Allegto  no»  t^oppo. 


fpxjiif  r  n^^  Schluß 

lö.  seLten  des  Herrn  werden  wiedaikonimen    NaCQSJ 


andgen  Zi.un, und genZi.on  kommen  mi 


m 


mit  Jauchzen. 


Seinen  Ab- 
und 
Nachsatz  bil- 
det eine  frei 
konstruierte 
Periode  über 


die  Worte:  »Freude,  ewige  Freude  wird  über  ihrem  Haupte 
sein«.  Sie  holt  mächtig  aus  und  trägt  das  Hauptwort  von 
Akkord  zu  Akkord,  in  der  Melodie,  die  der  Tenor  führt: 

.g    ijr.p    ^  .r      r  .r  kühn  ansteigend.    Als 


y"r  J  r  |T  p  i  1 1    p  l  ll    p  M  die  spitze  erreicht  ist, 


e.wLge  Freude,       e.wLgeFreudfr         tun      Modulation     Und 

Dynamik  einen  kühnen  Ruck,  wie  das  Beethoven  zuweilen 
liebt.  Aus  dem  höchsten  Jauchzen  geht  der  Ton  in  den 
ruhigen  und  zarten  Ausdruck  innerer,  stiller  Seligkeit  über: 


^m 


« 


i'iip  I  \i^'i 


¥ 


M 


W 


t[ 


Die  Stelle  prägt  sich  unauslöschlich  ein,  sie  bleibt  für  je- 
den mit  dem  Begriffe  Brahmsscher  Musik  untrennbar  ver- 
bunden. Der  Mittelsatz,  welcher  auf  die  Worte  »FrjBude 
und  Wonne   werden    sie    ergreifen«    ein    neues    Thema 

tJ/-^  ,  0  iliF",  n-r,   ..11  ;gf-Ttnr-    das  wir  gleich  beim 
y  1    r  r  I  '  rfj't  jljj^  1^111      Eintritt  doppelt  hö- 

Preudeund  Wonne  werden  sie  er  i  grei .  fc  ren  (einfach  im  So- 
pran, in  der  Verlängerung  im  Tenor)  frei  durchführt,  ist 
an  glücklichen,  romantischen  Kontrasten,  welche  dem 
eben  geschilderten  ähnhch  sind,  reich.  Der  Komponist 
hat  sich  in  ihm  dem  Ausdruck  der  einzelnen  Worte  zu- 
gewandt: die  Freude,  der  Schmerz,  das  Seufzen  bilden 
eine  lebendig  bewegte  Gruppe  selbständiger  musikalischer 
Figuren.  Mit  Naturtreue  ist  die  Vertreibung  der  trüben 
Elemente  geschildert;  das  »weg«  und  das  »müssen«  in 
dem  Sätzchen  »und  Schmerz  und  Seufzen  wird  weg 
müssen«  ist  mit  mimischer  Entschiedenheit  und  Deut- 
lichkeit wiedergegeben.  Bei  der  Repetition  des  Haupt- 
satzes   »Die  Erlöseten  usw.«   nimmt  der  Ausdruck   der 


PP 


V 


J 


Freude  für  Augenblicke  einen  förmlich  trotzigen  Aus- 
druck an.  Die  Stimmen  setzen  nicht  in  breiten  Ab- 
ständen, sondern  in  kürzesten  Engführungen  ein,  ein 
kompakt  vierstimmiger  Satz  ist  an  die  Stelle  der  Fuge 
getreten  und  zeichnet  ein  Bild  des  Jauchzens,  in  dem 
Sopran  und  Baß  in  grimmigen  Dissonanzen  frohlocken 
und  die  Stimmung  bis  zur  äußersten  Grenze  des  Er- 
laubten treiben.  Nachdem  dieser  Teil  mit  einer  gewalti- 
gen Steigerun j^  und  in  jener  kontrastierenden  Wendung 
der  Ekstase  geschlossen,  welcher  wir  bereits  gedachten, 
kommt  noch  ein  Anhang.  Seine  träumerisch  beschwich- 
tigende Natur,  sein  Einlenken  in  ein  letztes  volles  Be- 
kenntnis glücklichen  Hoffens  sind  von  hinreißender 
Schönheit  Technisch  ruht  er  vorzugsweise  auf  dem 
Fugenthema,  das  aber  die  Instrumente  allein  durch- 
führen, die  Singstimmen  deklamieren  frei  und  aus- 
drucksvoll dazu.  Die  Anlage  ist  also  ähnlich  wie  am 
Ende  des  ersten  Satzes.  Ganz  am  Schluß  steigen  in 
den  Violinen  Tonleitern  hinauf  und  hinab,  so  wie  in 
Beethovens  »Missa  solemnis«  (im  Credo]  den  Weg  zum  . 
Himmel  zeigend. 

Die  dritte  Abteilung  »Herr^  lehre  mich  doch  usw.« 
(DmoU  —  Ddur)  steht  zu  dem  vorausgehenden  zweiten 
Satze  in  dem  logischen  Verhältnis  der  Steigerung.  Es 
ist,  als  ob  hier  die  Glieder  einer  Gemeinde  einen  in  der 
Predigt  allgemein  hingestellten  Spruch  auf  das  eigene 
Los  anwendeten.  Der  Satz  von  der  Vergänglichkeit  des 
Menschen  gilt  auch  Dir.  Auch  mit  Dir  hat  es  ein  Ende! 
Und  da  wird  das  Herz  von  Angst  ergriffen.  Es  liegt  eine  . 
starke  Beklommenheit  der  Seele  in  dem  Gesang,  mit  wel^ 
chem  der  Solobariton  den  ersten  Hauptabschnitt  (DmoU) 
dieses  dritten  Satzes  eröffnet.  Der  Rhythmus  hat  in  sei- 
ner Verteilung  der  Akzente  etwas  unsicheres,  die  Melo- 
die in  ihrem  absetzenden  Aufbau,  in  ihrem  jähen  Wechsel 
Von  Auf-  und  Abgehen  ein  unstetes  Element.  Und  wenn 
der  Chor  die  Worte  des  Vorsängers  aufnimmt,  so  gibt  er 
die  Töne  der  Niedergeschlagenheit  bloß  noch  schwerer 
wieder.      Besonders    aufregend    spricht    der    Zug    der 

ir,  I.  91 


3ÜS 


Seelenangsfaus  dem  Mittelsätzchen  (Bdur)  »Siehe,  meine 
Tage  usw.«.  An  seinem  Schlüsse  kommt  eine  erschütternde 
Stelle  vor:  da,  wo  das  Tutti,  schrittweise  zu  einem 
elementaren  Aufschrei  (Sopran  a)  gedrängt,  plötzlich 
in    die    Tiefe    sinkend    leise        Andante. 

abbricht.       Das     Orchester    j^L  -l  K^fff r^^n^lti^TT^]  i 
.bringt  in   dieser  Partie  die    ^.^  ^  1/^  l_    1 1  Tlf^  J  I 
Erregung   mit   dem  Motive:  ^        :zzi=i=«— 

zum  eigenen  Ausdrucke.  Noch  oft  zucM  dieses  echt 
Brahmssche  Signal  der  Leidenschaft  im  Satze  schmerz- 
lich auf.  Der  zweite  Abschnitt:  »Ach,  wie  gar  nichts 
sind  alle  Menschen  usw.«  (Ddur,  ^/fij  lenkt  aus  der  Angst 
ums  eigene  Ich  wieder  zurück  in  den  tröstenden  Kreis 
der  allgemeinen  Betrachtung.  Nun  fließt  die  Klage  breit 
dahin:  wehmütig  ernst  und  ergreifend.  Mit  dem  Ein- 
tritt der  Frage:  »Nun,  Herr,  wes  soll  ich  mich  trösten« 

tritt  derSo- 
lobariton 

,  mich  trösten?  ab  und  der 

Chor  führt  den  Satz  allein  bis  zum  Ende  weiter.  Mit 
diesem  weit  ausholenden  Thema  kommt  in  die  Stimmen 
wieder  ein  aufgeregter  Geist,  eine  unheimliche  Energie, 
die  am  Ende  sich  dem  Tone  der  ratlosen  Verzweiflung 
noch  einmal  nähert.  Die  Stimmen  rufen  es  mit  aller 
Gewalt  hinaus.  Dann  scheinen  sie  zu  lauschen,  und 
als  keine  Antwort  kommt,  fragen  sie  noch  einmal 
kleinlaut  und  leise  »Wes  soll  ich  mich  trösten?«  Im 
Orchester  zittert  der  ungelöste  Akkord  noch  lange  fort. 
Dann  setzt  der  entscheidende  und  erlösende  Gedanke 
»Ich  harre  auf  dich«  wie  eine  plötzliche  Eingebung  in 
Form  einer  Kadenz  ein.  Die  Stimmung  schwingt  sich 
auf  und  ergreift  von  den  Verheißungen  des  Glaubens 
einen    festen   Besitz.      Eine    Fuge    über    das    Thema: 


54-'-M*jjii  ^*f  |i  |iirT|iii|  fr I 

Nun  Herr«nttnHeriv.  wes  soll  ich  mich  trösten,  mich  tröstei 


^^^^m 


n  OottesHandund  keineQual  rQh .  ret  sie  ml 


DerO-ereohtenSeelen  sind  in 

bildet  diesen  dritten  Hauptabschnitt,  den  Schluß  des  Satzes. 
In  der  Literatur  der  kontrapunktischen  Spezialitäten  hat 


323 


diese  Fuge  bereits  eine  Berühmtheit  erlangt.  So  lange 
sie  dauert  (86  Doppeltakte)  tont  in  den  Bässen  derselbe 
Ton:  das  tiefe  D  als  sogenannter  Orgelpunkt.  Seiner 
Zeit  viel  bestritten,  belobt  und  kommentiert,  hat-  dieser 
Orgelpunkt  im  Laufe  der  Zeit  das  Schicksal  anderer 
außerordentlicher  Einfälle  erfahren:  Niemand  kann  sich 
das  Requiem  mehr  ohne  dieses  eigentümUche  Tonsymbol 
der  Ruhe  und  Stetigkeit  des  göttlichen  Thrones  denken. 
Nur  soll  der  Pauker  bei  der  Ausführung  daran  denken, 
daß  hinter  dem  f  ein  p  steht! 

Mit  dem  vierten  Satze:  »Wie  lieblich  sind  deine 
Wohnungenc  (Esdur)  ist  die  eine  Seite  der  Trauerfeier 
erledigt:  Klage  und  Schmerz  sind  bezwungen  und  die 
Fantasie  wendet  sich  nun  dem  Gewinn  zu,  welchen  der 
Tod  den  Menschen  bringt.  Der  Satz  bildet  den  Obergang 
nach  dieser  Seite.  Er  spricht  in  zarten  Tonbildern,  die 
auf  dem  Thema: 


Wie  lieblich  suid  deine  Wohnangen,Herr  Ze  ,     .  ba.oth,HerrZe.t>a.oth. 


und  seinen  reichen  und  schönen  Umbildungen  ruhen, 
von  dem  lieblichen  Leben  beim  Herrn  Zebaoth.  In  den 
mittleren  Teilen,  bei  den  -^       noch    mehr 

Worten'  »Meine  Seele  y%\  p  YfY^  f  I  '  f  bei  dem 
verlanget  und  sehnet«  verlanget  and  seimet  zweiten  Sei- 


tensatz 
»Die  lo- 
ben dich 
immer- 
dar« 


die  lo 


■^^^'''/';Wy'iL"t^ 


ben  dich  im.mer.  dar 


die  io  .  ben  dich  im.mer. 


Er 


wird  der 
Ton  ein 
begeister- 
ter. Auch 
hier  finden 


wir  jene  eigentümlichen  Züge  der  Darstellung  wieder, 
wie  in  dem  Schlußteile  des  zweiten  Satzes:  Der  höchste 
Enthusiasmus  geht  in  den  Ton  einer  seligen  Ruhe  über. 
Der  fünfte  Satz:  »Ihr  habt  nun  Traurigkeit«  (lang- 
sam, C*  Gdur)  verbindet  mit  dem  Chor  ein  Sopransolo. 
Dieses  Solo  ist  gedacht  wie  die  Stimme  einer  abgeschie- 
denen Seele  und  spricht  in  himmlischen  Klängen  vom 

21* 


—^     3«4     ♦— 

Wiedersehen  and  f  on  Freuden,  welche  niemand  nimmtr 
Brahms  hat  mit  dieser  Nummer  auf  eine  alte  deutsche 
Begräbnissitte  Bezug  genommen:  den  sogenannten  > Wie- 
derruf«.-  War  der  Sarg  hinabgesenkt,  so  trat  ein  Chor- 
knabe an  den  Rand  der  Gruft  und  sang  einen  Vers  oder 
mehrere  im  Namen  und  im  Sinne  des  Verstorbenen.  Jedes 
ältere  Gesangbuch  enthielt  hierzu  geeignete  Gedichte;  auch 
von  Simon  Dach  besitzen  wir  welche.  Ein  ungemein  herz- 
licher Ton  lebt  in  der  Melodik  dieser  fünften  Nummer, 
namentlich  in  dem  Mittelsatze  »Sehet  mich  an«.  Das  ist 
der  Ton  »wie  Einen  seine  Mutter  tröstet«,  von  dem  der 
Chor  im  leisen  Flüstern  spricht.  Dabei  ist  die  Dekla- 
mation an  bedeutenden  Einzelzügen  reich.  Wir  machen 
nur  auf  die  Betonung  des  »Aber«  und  auf  die  Tonfiguren 
aufioierksam,  in  welchem  der  Begriff  »Traurigkeit«  wieder- 
gegeben ist.  Der  Hauptsatz  an  />  i^_  ^— .  i 
hat  Stellen  von  sehr  kunst-  A^H|»  IT  I.  T  T  If  f^ 
voller  Arbeit.  Der  Chor  singt:  ^  ich  will  Eiush  tröi.ien 
das  Orchester  begleitet  ^  ^  ^^  #"rT^j>  und  doch 
mit  denselben  Noten  nur  ffc*  rrflirff*"*  i«^,  di« 
in  verkürzten  Weisen:  ^  U*  ^  " '  "  rf  J  Wirkung 
eine  sehr  einfache. 

Der  sechste  Satz:  »Denn  wir  haben  hier  usw.«  (An- 
dante, C)  Cmoll)  ist  der  Anlage  nach  der  bedeutendste.  Er 
beginnt  mit  einem  kurzen  Sätzchen  in  Dreiklängen,  wel- 
ches zwischen  Dur  und  Moll  umherirrend,  den  Begriff  des 
»Suchens«  zu  veranschaulichen  scheint!  Es  ist,  als  ob 
der  Chor  trotz  allem  wieder  in  den  Ton  der  Klage  zurück- 
fallen wollte,  welcher  den  ersten  Sätzen  des  Requiems  eigen 
ist.  Da  mischt  sich  —  die  Tonart  springt  schnell  nach 
FismoU  ^  der  Solobariton  drein:  »Siehe,  ich  sage  Euch 
ein  Geheimnis«.  In  Weisen,  deren  mystischer  Charak- 
ter   namentlich    a  *  «  hm  gu   .  rr->  •  .      .  .     . r— 

durch  die  FJgu-  ^VTf'r  if^fl J  U  J^J  J  IJJ  1  ^ 
ren    der   Bläser  ^       ^^ =  ==—  '»^-CLl   ^^^  ^i>t> 
Nachdruck  erhält,  verkündet  er  das  Wunder  der  Auf- 
erstehung.   Der  Chor  spricht  die  Worte  zunächst  nur 
mechanisch,  wie  träumend,  nach.    Erst,  als  der  Solist 


-^     325     ^— 

genau  »die  Zeit  der  letzten  Posaune«  nennt, 'wird  der 
Ton  mit  einemmal  ein  lebendiger.  Dieses  Wort  hat 
eingeschlagen  und  jetzt  kommt  der  Abschnitt,  in  welchem 
das  Deutsche  Requiem  der  alten  katholischen  Totenmesse 
'  auf  einen  Augenblick  näher  tritt.  Die  Szene  könnte  im 
Anfang  einen  Abschnitt  des  Dies  irae  bilden.  Mit  einer 
Kraft,  welche  zuweilen  die  Wildheit  streift,  versenkt 
sich  der  Chor  in  das  Bild  des  errungenen  Sieges  über 
Tod  und  Grab.  .Der  Rhythmus  ist  in  3/4-Takt  über-,  die 
Tonart  nach  CmoU  zurückgegangen.  Geschlossen  und 
fest  wie  ein  Heer,  das  zum  Sturm  anrückt,  singt  der  Chor: 

Denn  es  wird  die  Vo  .  ■aun er  .    schal  ten. 

Vivace. 


^^^ 


Den  inneren  Schwung,  der  in  diesem  Hymnus  lebt, 
sprechen  in  Eccardschen  Zungen  die  Mittelstimmen 
aus;  noch  gewaltiger,  fast  erschreckend  strömt  die 
Kraft,  die  dieser  Glaube  gibt,  aus  den  Unisonoüguren, 
in  denen  sämtliche  Streichinstrumente  begleiten.  Trotzig 
und  kühn  herausfordernd  klingen  die  Fragen:  »Wo  ist 
dein  Stachel  usw.?«  Schließlich,  fallen  die  Posaunen 
mit  ein  in  die  donnernden  Anreden  an  Tod  und  Hölle. 
In  Rhythmen,  die  wie  Stein  und  Erz  in  die  Herzen 
schlagen,  geht  der  Satz  majestätisch  über  nach  Cdur 
und  in  die  das  Ganze  krönende  Fuge  über  das  Thema: 

Allegro. 


^     Herr,  da  bist  -  wür.diff,  su     nehmen  Preis  und     Eh    .     re  andKra 


Herr,  du  bist  -wür.dig,  su     nehmen  Preis  und     Eh    .     re  and  Kraft 

Wundert  man  sich  schon,  daß  nach  einem  so  kolossa- 
len Anlauf  noch  eine  Steigerung  möglich  war,  so  gibt 
uns  der  Aufbau  dieser  Fuge  in  seinen  Steigerungen, 
in  der  Menge  von  frischem  anregender  Kontra- 
punkte immer  neuen  Anlaß  zur  Bewunderung.  Das 
Schönste  in  ihr  sind  aber  doch  die  einfachen  Episo* 
den    fromm    getragenen   Charakters   bei    den   Worten: 


i' 


326 


»Denn  Au  hast  alle  Dinge  erschaffen  usw.«    Die  erste: 

Allegro.  -^ j^^  j    ,  ^Ö"^°^^     »»<^ 


f 

Denn  du  hast 


W 


^P  f  Durchführung 
des  Fugenthe- 


le  Dinge  er.8diaffen  ^^  ^^^  ^^j. 

schwindet   sofort   wieder.      Der    zweiten    und    dritten: 

fl  ^   .       ^'"■fn/^.  ,  p.     ■     ■       ^  .  gehen  gewaltige 
^"  1°   °  |l    ['  \^A  \IV  i^f^l^^^^^  Anläufe  vorher, 


'ungen  sei-    q  .      i        ,       i      w*®  ™"  a  armen 

Schluß-  ^  J  I  J  It  J    ^J    f  I  pi|J     und  Zinnen  ge- 

ivs:  ^  Ä"' nehmen  Preis  und  fehire       krönt  ZU  schwin- 


'  Denn  du  hast    al.-.le    ^    Din.  ge  er.  schaffen     bei     denen     die 

Bildungen  über  das  Hauptthema  durch  besondere  Durch- 
führungen sei-  _Ä _j ^   wie  mit  Türmen 

nesv 
motivs 

delnden,    in    die   Wolken   reichenden    —    durch   Trug- 
schlüsse im  ff  markierten  —  Höhen  geführt  werden. 

Nach  diesem  Lokgesang  stehen  wir  am  Ende  der 
Trauerfeier.  Der  letzte  Satz  des  Requiems  (feierlich, 
C)  Fdur)  zieht  die  Konsequenz  der  vorausgehenden  mit 
den  Worten  »Selig  sind  die  Toten«  und  an  der  Seligkeit 
der  Toten  können  »die  da  Leid  tragen«,  diejenigen  also, 
von  denen  der  erste  Satz  des  Requiems  ausging,  ihren 
Trost,  ihre  eigene  Seligkeit  finden.  Das  Requiem 
schließt  auch  in  der  Musik  in  der  Zirkelform  eines  ma- 
thematischen Beweises.  Als  in  unserer  siebenten  Num- 
mer der  Hauptsatz  eben  wieder  aufgenommen  worden 
ist,  hören  wir  die  Worte:  »Selig  sind  die  Toten«  auf 
die  Melodien,  zu  denen  im  Anfang  des  ganzen  Werkes 
gesungen  wurde:  »Selig  sind,  die  da  Leid  tragen« 
und   so    schließen   sich   Ende  und  Anfang  zusammen. 

Die  Anlage  Feierlich. 


dieses     Schluß-  it^/^\f%T^^  i  I   _  a   i I   _  i 

Satzes  ist  wieder  OP^"        "   ^  f  T  '.^   T  f    '  f  T  '^   T 

drpitpiliff        Dpr  ^®   -       •   v^.    sind  die  To .  ten,die  indem 


dreiteilig.      Der 

S  :«"eiS;  Pill  r"rn-?f  r  |  ,  r^fe^ 

breiten  Melodie,  Herren  ster  .      .  ben    von  nun  an.  von  nun  aa 

die  den  Sopranen  von  den  Bässen  nachgesungen  wir^. 


327      ♦ — 

Sie  ist  in  Ruhe  und  Glaubenszuversicht  breitgestimmt 
Doch    erzählen     uns     die    Triolen 


von   einiger  Erregung,   noch  mehr    ffi|l>  Vri  IJJJJIlJ^ 
die  altertümlichen    Sammelmotive,    ^     ^iJJj-V'LJ' 


—   _,  , 

mit   denen   die    Geigen    begleiten:  «^ 

Als  alle  vier  Stimmen  dann  die  Worte  weiteren  Be- 
trachtungen unterziehen,  brechen  versteckter  Schmerz 
und  Klage  in  den  Akzenten  um  die  Worte  »Die  Toten, 
die  Toten«  offen  hervor.  *  Aber  wunderschön  führt  der 
Komponist  in  den  Ton  der  Ruhe,  der  Ergebung  und  des 
Gottesfriedens  bei  »von  nun  an«  zurück.  Es  sind  lauter 
kurze  und  doch  volle  Wendungen.  Alles  ist  da  be- 
achtenswert und  tief  gemeint,  auch  die '  kleinen  drei- 
taktigen  Nachspiele  des  Orchesters;  noch  mehr  aber  die 
mystischen  Akkorde,  mit  denen  die  Posaunen  bei  den 
Worten  »Ja,  der  Geist  spricht«  einsetzen,  eine  Stelle,  die 
den  EmpfängHchen  durchs  Leben  begleitet!  Sie  kehrt 
im  Mittelsatze  unserer  Nummer  nocl^  einmal  zurück. 

Der  Zweck  dieses  Mittelsatzes  ist,  sich  in  die  Worte 
»daß  sie  ruhen«  au  vertiefen.  Die  Musik  eilt  mit  dem 
schnellen  Schritt,  über  den  Brahms  in  geeigneten 
Fällen  verfügt,  von  den  Gräbern  hinweg.  Wir  sind  mit 
einemmale  in  Adur  und  in  ähnlichen  Regionen  wie 
die,  in  denen  sich  der  vierte  und  fünfte  Satz  des 
Requiems  bewegen.  Wir  sehen  die  Toten  im  Himmel 
bei  balsamisch  weichen  und  verklärten  Melodien,  die 
im  wesentlichen  aus  folgendem  Thema  genommen  sind: 

flA.i^^rfi>  "^.m^^     i  .T^    ^=^    ^     ^®^    Streichin- 
fe  »    rirrrrirf  f  J  IJ  J  ^Ti^  J    strumenten    deuten 


dsQ—    sie     ru.hen  von  ihrer  Ar  .  beit   durchgeführte    Ach- 

teltriolen  auf  ein  freieres  und  leichteres  Dasein.  Auch 
dieser  Mittelsatz  ist  knapp  gehalten:  Drei  oder  viermal 
fahrt  er  den  Text  vorüber,  dann  kehrt  ohne  alle  Weit- 
schweifigkeit der  Hauptsatz  wieder,  der  dritte  Teil  der 
Nummer  ist  da.    Er  verläuft  ziemlich  wörtlich  wie  der  i 

erste  bis  au  die  Stelle,  wo  dort  die  Posaunen  und  die  ] 

Worte:  »Ja,  der  Geist  spricht«  einsetzen.  Statt  ihrer 
nimmt  der  Chor  die  Worte:  »Selig  sind  die  Toten«  in 


'•».{•«tÄ.. 


.--^     3«8     "»>— 

einem  befremdend  erregten  Ton  auf:  Triolen  und  pldtz- 
lieber  Obergang  nach  Esdur.  Ist  es  ein  letztes  Auf- 
wallen des  Schmerzes?  Aber  mit  einem  Machtwort 
wird  diese  Erregung  beschwichtigt  Die  Musik  des 
ersten  Satzes  setzt  ein  und  bringt  das  Gemüt  zur  Ruhe. 
Q.  Verdi,  Im  Jahre  j874,  am  ersten-  Jahrestage  des  Todes  von 

Reqaiem.  A.  Manzoni  wurde  im  Dom  zu  Mailand  für  den  großen 
Dichter  die  offizielle  Totenfeier  gehalten.  Mit  der  Kom- 
position des  Requiem  war  von  Seiten  der  Stadt  Italiens 
größter  Musiker:  G.  Verdi  beauftragt.  In  Deutschland 
wird  zurzeit  nicht  nach  neuer  italienischer  Kirchenmusik 
gefragt.  Wenn  man  in  diesem  Falle  eine  Ausnahme 
machte,  so  war  sie  hauptsächlich  dadurch  begründet,  daß 
die  unlängst  bekannt  gewordene  Aida  Verdi  auf  einer 
neuen  und  einer  höheren  geistigen  Stufe  gezeigt  hatte. 
Das  Requiem  kam  in  Deutschland  schnell  in  Umlauf 
und  erfahr  die  verschiedensten  Beurteilungen.  Mittler- 
weile hat  scheinbar  das  Geschick  zugunsten  der  Wider- 
sacher dieses  Requiems  entschieden:  Wir  hören  nur  noch 
selten  von  ihm  und  sehen  es  nur  ausnahmsweise  auf  den 
Programmen  unserer  Chorvereine.  Die  ungeheuren  Kosten 
des  Aufführungsrechts  sind  daran  zum  Teil  schuld.  Denn 
an  und  für  sich  verdient  das  Werk  sehr  wohl  gekannt 
zu  werden.  Es  ist  eine  leichtgefügte,  durchsichtige  Kom- 
position, welche  den  Charakter  der  italienischen  Kunst 
fast  nur  von  seiner  vorteilhaften  und  beneidenswerten 
Seite  veranschaulicht.  Die  Überlegenheit,  welche  die 
Italiener  in  der  Kraft,  Schönheit  und  Bestimmtheit  des 
melodischen  Ausdrucks  vor  anderen  McTsiknationen  vor- 
aus haben,  ihre  große  Begabung  in  der  Wirkung  mit  ein- 
fachen Formen  spricht  aus  diesem  Requiem  mit  neuer 
Deutlichkeit  und  ohne  daß  wir  durch  trivialen  Miß- 
brauch dieser  Gaben  gestört  werden.  Ein  milder,  wenn 
auch  nicht  im  deutschen  Sinne  immer  kirchlicher, 
jedenfalls  aber  durchaus  frommer  und  ernster  Geist  be- 
herrscht das  Werk.  Dabei  ist  es  entschieden  modern: 
ohne  Effektsucht,  aber  mit  schöner  poetischer  Wirkung 
sind  in  seiner  Architektur  und  seiner  Instrumentierung 


—-fr     329     ^>— 

musikalische  Ausdrucksmittel  verwendet,  welche  erst  die 
neue  Zeit,  R.  Wagner  folgend,  systematisch  zu  gebrauchen 
begonnen  hat. 

Unter  denjenigen  Abschnitten  dieser  Totenmesse, 
welche  von  der  in  Deutschland  herrschenden  Auffassung 
am  ersichtlichsten  abweichen,  zeichnet  sich  der  erste 
Satz  am  meisten  aus.  Der  Ton,  in  welchem  hier  vom 
Tode  gesungen  wird,  entspricht  ganz  dem  liebenswürdigen 
kindlich  gläubigen  Zug,  welcher  dem  italienischen  Volke 
eigen  ist.  Von  jeher  finden  wir  in  dem  italienischen 
Musikdrama  die  Sterbeszenen  in  einer  rührenden  Mischung 
von  Wehmut  und  verklärter  Freundlichkeit  gehalten. 
Man  denke  an  den  Schluß  von  Monteverdis  berühmtem 
Combattimento ,  man  denke  an  Verdi  selbst,  an  den 
letzten  Gesang  seiner  Azuzena,  an  den  fünften  Akt  der 
Aida.  Aber  auch  Palestrina  und  die  Fürsten  der  alt- 
italienischen Kirchenmusik  singen  in  diesem  Ton  vom 
Himmel  und  vom  ewigen  Leben,  grundverschieden  von 
Lasso  und  von  deutschen  Zeitgenossen.  So  ist  auch 
dieser  Introitus  des  Requiems  behandelt:  ein  freundlich 
elegisches  Bild  des  Todes,  wie  wir  es  an  dieser  Stelle  in 
der  deutschen  Literatur  nicht  gewohnt  sind.  Jomelli 
bietet  das  nächste  geschichtliche  Seitenstück.  Wie  wun- 
derbar schön  teilen  sich  hier  die  Klage  und  ein  zartes 
Himmelsschwärmen  in  die  Aufgabe  und  reichen  einander 
die  Hand.  Erst  kommt  in  den  einsetzenden  Motiven  der 
Bässe,  in  dem  resignierten  Hinsprechen  der  Singstimmen, 
in  der  Melodie  der  Oboe  der  Schmerz  zu  maßvollem  Aus- 
drucke. Dann  löst  ihn  mit  den  Durtönen  des  >et  lux  usw.« 
der  Trost  sanft  ab.  Im  >Te  decet«  scheinen  die  Rollen  ge- 
tauscht zu  sein.  Beim  >in  Jerusalem«  biegt  der  Lobgesang 
traurig  zjir  Seite.  Die  Stimmung  des  Kyrie  ist  hoffnungs- 
voll bewegt.  Von  einem  kirchlich  gesetzten  Eingang  wen- 
det sich  seine  Weise  bald  leichteren  Formen  zu  und  ge- 
langt zu  einer  größeren  Erregung,  in  welcher  auf  einen 
Augenbhck  (die  DmoU-Stelle)  auch  das  leidenschaftliche 
Gebiet  gestreift  wird.  In  rasch  wechselnden  Lichtem, 
wie  ein  Traumbild,  verklingt  der  merkwürdig  schöne  Satz 


— '^      330      ^ — 

In -der  Sequenz  von  Verdis  Totenmesse  sind  aller- 
dings das  >Qaid  sum  miser«,  das  »Rex  tremendae«,  das 
>Recordare<,  das  »Ingemiscoc,  das  >Confutatis€  als  kurze, 
selbständige  Nummern  bezeichnet  und  behandelt  Doch 
sind  sie  als  zusammenhängendes  Ganzes  gedacht.  Bald  in 
erschrecktem,  bald  in  klagendem  und  zagendem  Ton  läßt 
Verdi  zwischen  alle  einzelnen  Bilder  des  Textes  wieder 
den  Ausruf:  >Dies  iraef  hineinklingen  und  am  Schlüsse 
des  >Gonfutatis<  wiederholt  er  den  Anfangs-  und  Hauptsatz 
der  Sequenz.  Das  »Lacrimosa«  wird  somit  ähnlich  wie  in 
Cherubinis  Cmoll-Requiem  der  Anhang  des  Satzes,  seine 
ideelle  Spitze.  Der  erste  Gedanke  an  den  Tag  des  Gerichts 
hat  in  der  Musik  einen  Sturm  von  Aufregung  veranlaßt, 
welcher  heulende,  stechende,  zuckende  imd  harte  Motive 
zutage  fördert.  Bald  aber  gewinnt  die  klagende  Empfin- 
dung die  Oberhand  und  beherrscht  mit  dem  kurzen  Thema 

AlK&riUio.  welches  schon  im  Introitus  ange- 

jj?V^  f  ü  J  J  |ü  J  ^  t  klungen  hat,  den  Abschnitt.  Das 
gji,-  ."•  "T,j^-J  »  _/  d    ^rp^jjj^  mirum«  gibt  die  Bläserchöre 

des  Berliozschen  Requiems  in  einer  vereinfachten  Nach- 
bildung wieder.  Das  »Mors  stupebit«  ruht  auf  einem  kur- 
zen Motiv  der  Instrumentalbässe  von  bedeutender  male- 
rischer Kraft.  Im  »Liber  scriptus«  lebt  wieder  die  Erregung 
auf,  mit  der  die  Sequenz  begann.  Zum  Teil  in  verlängerten 
Rhythmen,  wie  aus  der  Ferne  drohende  Gestalten,  ziehen 
die  charakteristischen  Motive  des  ersten  Abschnittes  des 
Dies  irae  durch  das  dunkle  Gewebe  des  Satzes  hindurch. 
Dynamik  und  Modulation  wirken  mit  schauerlichen  Kon- 
trasten. Am  Ende  kommt  die  Fantasie  wieder  bei  dem 
oben  aufgeführten  Klagemotiv  an  und  leitet  mit  ihm  in 
den  schönen  Bittgesang  über,  welchen  das  Soloquartett 
in  »Quid  sum  miser«  ausführt.  Seine  einfachen  Weisen 
sprechen  fromme  Ergebung  und  leise  Hoffnung  aus. 
Gegen  den  Schluß  hin  erklingen  Seufzer  und  die  aller- 
letzte Periode  drückt  die  verzagende  Stimmung  in  ganz  an- 
gestützten Solls  der  Sänger  aus.  Im  »Rex  tremendae«  hat 
Verdi  die  beiden  treffend  gezeichneten  Tonbüder  von  der 
Majestät  des  ewigen  Richters  und  der  gnadenbedürftigen 


— ♦      334      ^>— 

Menschheit  ganz  nahe  aneinandergestellt  und  in  enge  Rei- 
bung gebracht.  Nachdem  das  erstere  gegen  den  Schluß 
hin  im  höchsten  Glänze  erstrahlt  (Cdur-Kadenz),  entfaltet 
auch  das  bittende  Motiv  »Salva  me<  in  verlängerten 
Rhythmen  die  ganze  Fülle  seiner  Demut  und  Innigkeit. 
Das  »Recordare«  und  das  »Ingemisco«  sind  diejenigen 
Abschnitte,  in  welchen  mehr  als  sonst  der  religiöse 
Ausdruck  dieses  Requiems  sich  den  Formen  der  Oper 
zuneigt.  Jenes,  ein  Frauenduett  mit  ganz  spezifisch 
italienischen  Melodienschlüssen  und  einem  unwider- 
stehlich lieblichen  Charakter,  erinnert  an  Pergolesi, 
dieses,  ein  Tenorsolo  mit  orientalischen  Harmoniewen- 
dungen, an  Verdis  eigene  Aida.  Das  »Confutatis«  (Baß- 
solo) steht  in  der  Erfindung  hinter  allen  andern  Sätzen. 
Seine  lebendigsten  Züge  befinden  sich  am  Eingang; 
hervorragend  ist  der  Ausdruck  des  Entsetzens  in  den 
herunterrauschenden  Instrumenten.  Um  eine  gewisse 
Verwirrung  auszudrücken,  begleitet  darauf  der  Kompo- 
nist das  Gebet  des  Sängers  »Oro  supplex«  in  Quinten- 
parallelen. Das  »Lacrimosa«,  welchem  die  Schreckens- 
bilder des  Gerichts  noch  einmal  kurz  vorangehen,  wendet 
sich  gegen  diese  als  mit  dem  besten  Mittel,  mit  dem 
schlichtesten  volkstümlichen  Vortrag  frommen  Gebets. 
In  dieser  Weise  sehr  schön  gedacht,  kann  der  Satz  doch 
den  Eindruck  vollständiger  Banalität  hinterlassen,  wenn 
seiner  Wiedergabe  nicht  ein  sehr  hohes  Maß  von  Aus- 
druck zu  Hülfe  kommt.  Das  Offertorium  »Domine  Jesu 
Christe«  will  die  Gedanken  an  Gericht  und  Fegefeuer  mit 
Klängen  paradiesischer  Musik  verscheuchen.  Sein  Haupt- 
satz ist  ein  friedlich  ruhiges  Spiel  mit  zart  schwärmeri- 
schen Tonideen.  Der  Mittelsatz  »Quam  olim  Abrahae« 
bringt  ausnahmsweise  keine  Fuge.  Eine  solche  und  noch 
dazu  eine  mit  doppeltem  Thema  bildet  erst  das  Sanctus. 
Die  Begeisterung,  welche  der  Komponist  Qiit  diesem  Satze 
schildern  wollte,  muß  der  Hörer  hauptsächlich  aus  Tempo 
und  Rhythmus  entnehmen.  Der  Entwicklung  fehlt  der 
Schwung.  Das  Agnus  dei  beginnt  mit  einer  breiten 
Melodie  des  Solosoprans,  welche  der  Alt  in  der  Oktave 


— <^      332      ♦— 

mitsingt.  Diese  eigentümliche  Stimmführung  erhebt  die 
an  und  für  sich  einfache  und  beschauliche  Melodie  in 
eine  höhere  romantische  Sphäre.  Der  Satz  besteht  in 
der  Hauptsache  nur  aus  neuen  Klangbildern  über  das 
Eingangsthema.  Die  Post  -  communio  »Lux  aeterna« 
schillert  in  fremdartigem  Lichte.  Mit  Quintsextakkord 
und  schattenartig  wandelnden  Harmonien  einsetzend, 
scheint  die  Musik  Stimmung  und  Fantasie  von  jedem 
gewohnten  irdischen  Grund  hinweg  führen  zu  wollen. 
.  Sie  schließt  in  verklärten  Klängen.  Der  eigentümlichste 
Satz  des  Requiems  ist  das  Responsorium  »Libera  me« 
durch  die  große  Ausdehnung,  welche  ihm  der  Komponist 
gegeben  hat.  Bedeutend  ist  in  ihm  der  Eindruck  der 
psalmodierenden  Stellen,  bedeutend  auch  der  Eindruck 
der  Reminiszenzen  aus  dem  Introitus  und  dem  Dies 
irae.  Auch  das  Thema  zu  seiner  langen  Fu^e  ist  der 
Sequenz  entnommen. 

Das  nächste  Requiem,  welches  nach  dem  von  Verdi 
Beachtung  verdient  und  gefunden  hat,  ist  das  von  Felix 
Fl  OraeMk«!  Draeseke  (op.  22).  In  Intention  und  Arbeit  durchweg 
interessant,  hat  dieses  Werk  in  einigen  Sätzen  auch  in 
bezng  auf  Erfindung  und  Wirkung  die  Bedeutung  einer 
Originalleistung  höheren  Ranges.  Der  hervorragendste 
in  dieser  Gruppe  ist  das  Dies  irae,  ein  Tongemälde, 
welches  ebenso  sehr  durch  die  Größe  und  Frische  von 
Fantasie  und  Empfindung  fesselt,  als  es  durch  die  Kühn- 
heit und  Sicherheit  der  Ausführung  imponiert.  In  der 
Behandlung  einzelner  Textstellen  speziell,  in  der  Breite 
des  Pinsels  und  dem  Oberschwang  des  Ausdrucks  im  all- 
gemeinen zeigt  sich  dieser  Satz  mit  Berlioz  und  Beethoven 
verwandt.  Als  eine  besonders  gelungene  Idee  wird  man 
die  Trompetenstelle  des  »Tuba  mirum«  hervorzuheben 
haben.  In  bezug  auf  glückliche  Ausbeutung  formeller 
Kunst  nimmt  das  »Domine  Jesu  Christe«  den  ersten  Platz 
ein:  Es  ist  eine  Choralbearbeitung.  Zu  den  erst  figurier- 
ten, dann  fugierten  Sätzen,  welche  der  Chor  mit  immer 
höherem  Ton  durchführt,  spielt  das  Orchester  den  alten 
.   Grab-  und  Sterbechoral:  »Jesus,  meine  Zuversicht«.    Die 


— <♦     333     ^ — 

populärste  Wirkung  übt  das  Sanctus  aus,  namentlich 
das  »Benedictus«  in  ihm:  Es  ist  darin  ein  Wohlklang 
eigner  Art:  Schlüsse  in  den  höchsten  Regionen  von 
Menschen-  und  Orchesterstimmen  und  eine  viel  auf  ver- 
minderte Septimenakkorde  gestützte,,  weiche  Stimmung. 
Im  Übrigen  ist  das  Werk  von  allen  Konzessionen  frei. 
Das  Element  einer  schönen  Sinnlichkeit  tritt  in  ihm 
hinter  den  hochemsten  und  schwermütigen  Grundton 
der  Komposition  zurück.  Am  deutlichsten  zeigt  den 
letzteren  das  Agnus  dei  in  seinem  Hauptteile.  Erst  am 
Ende  löst  sieh  seine  bange  Stimmung  in  ein  kurzes, 
hoffendes  Grebet  Die  Musik,  bis  dahin  akkordisch,  wird 
jetzt  Melodie  mit  rührenden^  kindlichen  Ziagen.  Das  letzte 
Wort  behält  aber  doch  die  l^angende  Ehrfurcht:  Akkorde 
ohne  Terz. 

Auch  Draeseke  rückt  von  Berlioz  und  der  nament- 
lich durch  die  Franzosen  üblich  gewordenen  Betonung 
der  dramatischen  Elemente  der  Totenmesse  ab.  Noch 
deutlicher  spürt  man  straffere  Kirchenzügel  in  den  Kom- 
positionen des  Requiems  von  Th.  Gouvy  und  J.Rhein-  Th.  Goavy. 
berger.  Das  von  Gouvy  (mit  Orchester)  trifft  nament-J.  Bkei&berger. 
lieh  im  Introitus  den  würdigen  Stil  der  alten  Totenmesse 
sehr  gut.  Rheinberger  hat  das  Requiem  zweimal  in  Musik 
gesetzt  Die  erste  Komposition  »dem  Gedächtnis  der  im 
deutschen  Kriege  von  4  870 — 74  gefallenen  Helden  gewid- 
met« (op.  60)  ist  der  bis  dahin  entschiedenste  praktische 
Protest  gegen  die  moderne  Richtung  der  Totenmessen, 
wie  sie  in  Berlioz  gipfelt.  Rheinberger  nimmt  den  Ton 
und  den  Stil  des  alten  a  capella-»Requiems<  wieder  auf, 
hält  Stimmung  und  Fantasie  in  den  kirchlich  gezogenen 
Grenzen,  will  mit  freundlichen,  weichen  Klängen  nur  die 
Andacht  tragen,  den  Schmerz  lindern  und  trösten,  und 
weicht  allem  aus,  was  die  trauernde  Seele  erregen  muß. 
Zu  diesem  Zweck  hat  Rheinberger  seine  Mittel  mit  großer 
Folgerichtigkeit  gewählt,  ihm  zu  Liebe  nicht  bloß  auf  die 
Instrumente  verzichtet,  sondern  auch  auf  den  Teil  der 
Dichtung,  der  seit  dem  48.  Jahrhundert  von  den  Kom- 
ponisten in  der  Totenmesse  bevorzugt  worden  ist:  die 


— ^     334 

Sequenz  Dies  irae.  Das  zweite  Requiem  des  Kompo- 
ponisten  (op.  84)  hat  mit  dem  ersten  die  Besetzung  für 
a  capella-Chor  (vierstimmig),  den  liturgischen  Geist,  den 
Verzicht  auf  die  Sequenz  und  die  Knappheit  gemein,  ist 
aber  im  Stimmungsausdruck  beweglicher,  reicher  und 
moderner.  Zu  dem  fromm  bittenden  und  vertrauenden 
Grundton  klingen  in  ihm  Trauer  und  Todesfurcht  stärker 
an,  besonders  im  harmonischen,  an  verminderten  Akkor- 
den und  Trugschlüssen  reichen  Gefüge.  Durch  diesen 
seinen  ästhetischen  Charakter  und  durch  seinen  melo- 
dischen Gehalt  gehört  es  zu  den  bedeutendsten  und  ori« 
ginellsten  Leistungen  moderner  Vokalkomposition  und 
hat,  obwohl  das  geistliche  Konzert  ihm  nicht  gerecht 
geworden  ist,  die  liturgische  Richtung  in  der  Totenmesse 
ersichtlich  gefestigt. 

In  dieser  Hinsicht  ist  zunächst  das  »Requiem«  für 
H.  Ton  vierstimmigen  Chor,  und  Orchester  von  Heinrich  von 
Earzogenberg.  Herzogen berg  (op.  li)  beachtenswert.  Herzogenberg 
verwirft  zwar  weder  die  Instrumente,  noch  die  Sequenz, 
wie  Rheinberger;  er  teilt  aber  mit  ihm  die  Einfachheit, 
und  Zurückhaltung  im  Ausdruck.  Die  Sätze  der  Kom- 
position, die  origineller  berühren,  sind  das  Osanna,  in 
dem  ein  fröhlich  naiver  Ton,  der  die  Jugendarbeiten 
dieses  Künstlers  so  liebenswürdig  machte,  anklingt,  und 
das  Agnus  dei.  Dieses  verschmilzt  Gregorianische  In- 
tonationen und  antiphonischen  Aufbau  sehr  glücklich 
mit  selbständiger  Instrumentalmusik,  die  in  fahlen  trü- 
ben Klängen  eine  Art  Trauermarsch  markiert. 

Ziemlich  zu  derselben  Zeit,  wo  bei  den  katholischen 
Komponisten  sich  das  Bestreben  zeigt,  den  kirchlichen  Cha- 
rakter des  Requiems  wieder  stärker  zu  betonen,  suchen 
auch  die  protestantischen  Tonsetzer  der  musikalischen 
Trauerfeier  einen  entschiedener  konfessionellen  Charakter 
zu  geben.  Das  hat  schon  Brahms  dadurch  vorbereitet,  daß 
er  den  alten  lateinischen  Text  durch  einen  deutschen  er- 
•  setzte,  der  vom  Fegefeuer,  von  verdammten  Seelen  und 

anderen  katholischen  Vorstellungen  nichts  weiß.  Drae- 
seke  evangeUsierte  am  Geiste  der  Requiemmusik  durch 


335 


Einfügung  des  evangelischen  Chorals,  wohl  angeregt  durch 
A.Beckers  Bmoll-Messe.  Und  nun  folgte  Becker  selbst 
mit  einem  Werke,  das  die  alte  Totenmesse  ganz  ins  Pro- 
testantische umarbeitet.  Die  Arbeit  führt  den  Titel  »Selig 
aus  Gnade«  und  «ist  vom  Komponisten  als  »Kirchenora- 
torium« bezeichnet,  durch  diese  Bezeichnung,  also  in 
Zusan^menhang  gebracht  mit  den  Bestrebungen  jenes 
Kreises  von  neuen  Kirchenmusikem,  die  unserem  Gottes- 
dienste die  musikalische  Darstellung  biblischer  Ereignisse 
in  einer  Form  wieder  einfügen  wollen,  bei  der  auch  die 
Gemeinde  sich  mit  beteiligen  kann.  Sie  soll*  Choräle 
singen,  wie  sie  das  ehedem  in  der  Passion  tat.  Daß 
solche  Kirchenoratorien  während  des  i  8.  Jahrhunderts  in 
Hamburg,  Lübeck  und  andern  norddeutschen  Städten 
zahlreich  geschrieben  und  aufgeführt  worden  sind,  weiß 
heute  niemand.  Beckers  Arbeit  weicht  im  Grunde  von 
der  Gattung  völlig  ab:  ihr  Text  bringt  keine  Handlung, 
sondern  besteht  aus  Betrachtungen.  Mit  dem  Oratorium 
teilt  sie  nur  die  musikalischen  Formen,  mit  dem  »Kir- 
chenoratorium« im  besonderen  hat  sie  die  Zuziehung 
von  Gemeindegesang  gemein.  Dieser  kann  aber  auch 
wegbleiben,  wenn  das  Werk  im  Konzert  aufgeführt  wird, 
ohne  daß  dadurch  sein  Charakter  wesentlich  einbüßt. 
Der  Text  ist  aus  Bibelstellen  und  Gesangbuchversen  zu- 
sammengestellt und  in  drei  Teile  gruppiert,  von  denen 
je*der  den  Umfang  und  wohl  auch  den  Inhalt  einer  Baeh- 
schen  Trauerkantate  etwa  hat.  Die  Entwicklung  der  Ge- 
danken bewegt  sich  in  einer  ähnlich  aufsteigenden  Linie 
wie  im  »Deutschen  Requiem«  von  Brahms.  Auch  Becker 
beginnt  mit  einer  ^Einleitung:  »Selig  sind  die  Toten  usw.« 
die  dem  Introitus  der  katholischen  Totenmesse  entspricht. 
Dann  folgt  von  dem  Satze  »des  Menschen  Geist  muß  da- 
von und  er  muß  wieder  zur  Erde  werden«  aus  eine  Reihe 
ernster  Worte  über  das  Los  der  Menschheit,  die  durch 
die  Sünde  den  ^od  in  die  Welt  gebracht  hat,  über  die 
Erlösungstat  des  Heilands,  über  die  Macht  und  die  Liebe 
Gottes.  Die  Furcht  vor  dem  Tode  wandelt  sich  in  Todes- 
freudigkeit.   Mit  einem  Sehnsuchtsgruß  an  den  »Tag,  da 


A.  Beckez, 

Selig  auB 

Gnade. 


-^     336     ♦— 

ich  mit  Lust  die  Seele  gab  von  mir«,  schließt  das  Werk. 
—  Die  Musik  steht  an  Freiheit  des  Aufbaues  über  der  zu 
Beckers  Bmoll-Messe  und  spricht  fast  immer  lebendig 
und  wirksam,  in  einzelnen  Nummern  mit  vernehmlicher 
Inspiration.  Ein  Nachteil  der  Komposition  ist,  daß  sie  in 
zuviel  kleine  Stücke  zerfällt. 

Auch  das  spärlich  ins  Konzert  gedrungene  Requiem 
a.  HentBchel,  von  Georg  Hentschel  (op.  59)  gehört  in  der  Auffassung 
Requiem,  des  Textes  zu  der  im  guten  Sinne  des  Wortes  reaktio- 
nären Gruppe  neuerer  Totenmessen  und  auf  die  liturgische 
Seite.  Daß  dieses  Requiem  in  verzehrender  Trauer  be- 
gonnen ist,  zeigt  deutlich  und  ergreifend  der  Introitus  in 
seiner  unruhigen,  fieberhaft  wechselnden  und  schwanken- 
den Harmonie..  Der  Komponist  bändigt  den  Schmerz 
durch  den  Trost  der  Kirche,  der  er  sich  mit  ernsten,  aus 
der  Zeit  der  Kirchentonarten  geholten  Akkordverbindungen 
und  noch  rührender  in  Anklängen  an  einfache  liedweisen 
zuwendet  Dazu  fügt  er  in  psalmodierenden  Abschnitten 
das  Bild  der  unzähligen  Leidensgenossen,  die  seit  Jahr- 
tausenden in  Gotteshäusern  das  »Requiem  aeternam  dona 
eis  Domine«  gestammelt  und  im  »Kyrie  eleison«  sich  zu 
sammeln  gesucht  haben.  Es  ist  in  der  Seele  erlebte  Musik, 
aus  alter  und  neuer  Kunst  zusammengefügt,  die  Hentschel 
in  diesem  ersten  Satz  seines  Requiems  bietet  In  den 
folgenden  Abteilungen  ist  der  innere  Drang  geringer,  aber 
die  Hingabe  eines  ernsten,  in  kleinen  Formen  heimischen 
und  selbständig  schaltenden  Künstlers  bleibt  gewahrt  Die 
breite  Fachbildung  äußert  sich  in  der  Mannigfaltigkeit  des 
Stils,  in  der  Verwertung  von  Anregungen,  die  ebenso  wie 
auf  Berlioz  und  Verdi  auf  Gherubini  und  sogar  auf  die 
Zeit  Palestrinas  zurückgehen.  Den  Eklektiker  leitet  aber 
meistens  der  liturgische  Takt  und  sicherer  architektonischer 
Sinn.  Nicht  zum  letzten  ruht  die  Wirkung  dieses  Requiems 
auf  einem  hervorragenden  Gesangverstand.  Alles  klingt, 
alles  liegt  den  Stimmen,  nirgends  eine  Stelle,  bei  der  die 
Absicht  des  Komponisten  unklar  bliebe.  So  ist  es  ein 
dankbares  Requiem  geworden,  das  den  Sängern  lieb  sein 
könnte. 


-— ♦      337      «>— 

.Schon  im  Jahre  4  894  (für  Birmingham)  komponiert,  ist 
erst  spät,  von  den  Wiener  Gesellschaftskonzerten  her,  das 
Requiem  (für.  Soli,  Chor  und  großes  Orchester)  Anton  Anton  Dvofak. 
Dvohaks  etwas  bekannter  geworden.  Es  hat  im  Agnus 
Dei  einen  unbedingt  schönen,  im  Introitus  einen  interes- 
santen, lebenswahr  eine  innerlich  fassungslose,  äußerlich 
ruhige  Trauer  schildernden  Satz  und  bringt  wohl  in  allen 
Abteilungen  warm  empfundene,  durch  eigenen  Wohlklang 
überraschende  Stellen,  und  der  Komponist  hat  an  dieses 
Werk  ersichtlich  viel  Geist  und  sinnvolle  Arbeit  gewendet. 
Trotzdem  steht  es  Hinter  der  Ludmilla  Dvofaks,  noch  mehr 
aber  hinter  seinem  Stäbat  mater  bedeutend  zurück.  Ein- 
mal im  Stil,  der  in  die  für  große  Gesangwerke  unentbehr- 
liche, lebendige  und  freie  Polyphonie  nirgends  recht 
hineinkommt,  selbst  in  der  auf  Quam  olim  Abrahae  dem 
Usus  nach  angeschlagenen  Fuge  (und  Doppelfuge)  nicht; 
noch  mehr  aber  in  der  Selbständigkeit  der  Textauffassung. 
Es  ist  keine  zweite  Totenmesse  aus  neuerer  Zeit  in  Druck 
'  gekommen,  in  der  Berlioz  so  ungeniert  kopiert  wird.  Das 
Dies  irae  Dvofaks  ist  bis  zum  »Recordare«  eine  einzige 
blassere  Nachzeichnung  des  Berliozschen ;  nur  die  Noten  ' 
sind  von  dem  Böhmen,  die  Ideen,  der  Charakter  der 
Themen  und  Motive,  der  Gang  der  Entwicklung  —  also 
der  ganze  geistige  Teil  des  Satzes  gehört  dem  Franzosen, 
auch  dessen  bizarre  Neigungen  sind  mit  übernommen 
worden.  Sein  Vorbild  blickt  aber  auch  durch  die  andern 
Sätze,  s6hon  vom  Introitus  ab;  die  psalmodierende  Me- 
thode in  der  hier  das  Kyrie  gegeben  ist,  kehrt  bis  zum 
Ende  der  Messe  wieder.  Später  kommt  auch  Verdischer 
Einfluß  zur  Geltung;  er  in  der  Bevorzugung  des  Solo- 
gesangs und  in  der  Führung  der  Solostimmen.  Sein 
Eigenstes  hat  Dvorak  in  der  Durchführung  des  einfachen 
Klagemotivs  gegeben,  mit  dem  sein  Requiem  einsetzt: 
I  f  g  e  f  1  f .  Es  fehlt,  wörtlich  oder  umgebildet,  in  keinem 
Satz,  am  überraschendsten  tritt  es  im  Benedictus  darum 
ein,  weil  dessen  Umgebung,  das  Sanctus  und  das  Osanna, 
die  Trauer  abgelegt  haben.  Wo  es  immer  da  ist, 
wird   die   Mysik   individuell   und   fesselt.     Das    Requiem 

II,  4.  22 


— ♦     338      *— 

Dvol^aks  verdankt  also  seine  bedeutendsten  Stellen  dem 
lisztschen  Prinzip. 

Auf  katholischem  Gebiet  sind  Konzertaufführungen 
von  Requiems  und  von  normalen  Messen  deshalb  ziemlich 
überflüssig,  weil  dort  die  Gattung  noch  so  wie  vor  alters 
in  der  Kirche  feststeht  und  ohne  Unterschied  von  Zeiten 
und  Ländern  so  mannigfaltig  vertreten  ist,  als  es  die 
liturgischen  Rücksichten  erlauben.  Daß  sich  jedoch  viele 
der  dort  zu  Gehör  gebrachten  neueren  Wei*ke  auch  für 
das  Konzert  bewähren  würden,  ist  keine  Frage.  Einen 
guten  Ratgeber  hierfür  finden  die  Dirigenten  •  an  dem  Ka- 
talog des  Deutschen  Cäcilien Vereins. 

Außerhalb  dieses  Kreises  steht  das  Requiem  für  Soli, 
Josef  Reiter.  Chor,  Ordiester  und  Orgel  (60.  Werk)  von  Josef  Reiter. 
Wenn  sich  für  die  kürzlich  erfolgte  Veröffenthchung  dieses 
Werkes  ein  besonderer  Wiener  Josef  Reiter-Verein  ins 
Mittel  gelegt  hat,  so  läßt  das  auf  eine  umstrittene  und 
nicht  überall  und  schlechthin  zwingende  Leistung  schließen. 
Wir  haben  es  in  dem  Komponisten  mit  einem  Volksmann 
zu  tun,  der  aus  seiner  Einfachheit  und  Natürlichkeit  hie 
und  da  ins  Gewöhnliche  und  Lässige  verfällt,  andererseits 
auch  zii  grammatischen  Bockssprüngen  und  Sonderlich- 
keiten neigt  Aner  im  allgemeinen  wird  er  nicht  bloß  dem 
Text  gerecht,  sondern  bringt  ihn  oft  mit  ursprünglicher 
Phantasie,  mit  naturalistischer  Kühnheit- und  glänzender 
Wirkung  zum  Ausdruck.  In  Summa  also:  ein  nicht  ganz 
normales  und  einwandfreies,  aber  jedenfalls  ein  nedeuten- 
des  Talent!  Das  und  eine  immerhin  bemerkenswerte 
Satztechnik  beweisen  am  überzeugendsten  das  reiche 
Ofifertorium  »Domine  Jesu  Christe«,  nach  ihm  das  Sanctus, 
dessen  packendes  fugiertes  Osanna  im  Benedictus  der 
Frauenchor  nochmals  sehr  willkommen  ankhngen  läßt. 
Im  Agnus  Dei,  einem  der  längsten  Sätze  über  diesen 
Text,  tauchen  überraschend  und  beängstigend  nochmals 
Schreckens  Worte  aus  dem  »Dies  irae«  auf.  Die  reichüchen 
Oktaven  und  Unisonos  dieser  Nummer  zeigen  ähnlich 
wie  bei  Dvofak  den  unmittelbaren  Einfluß  von  Verdis 
Totenmesse. 


— -♦     339     ♦— 

Von  neueren  beachtenswerten  Requiemiä  des  Auslandes 
ist  das  des  Franzosen  G.  Faur^  zu  nennen.  Doch  ist  es 
in  Deutschland  nicht  bekannt  geworden.  Dagegen  hat 
hier  das  Requiem  des  Italieners  G.  Sgambati,  das  zur  &.  Sgambati. 
Totenfeier  des  Königs  Umberto  komponiert  worden  ^ist, 
einige  Auffahrungen  erlebt.  ,  Es  ist  eins  der  freundlichsten 
und  anmutigsten  Werke,  die  die  Geschichte  der  Gattung 
aufweist.  Fast  nur  beim  Anfang  des  »Dies  irae«  und  beim 
>Gonfntatis,  maledictis«  bricht  ein  aufgeregter,  finsterer 
Ton  durch,  den  ernsten  Charakter  der  Trauerfeier  bestrei- 
ten häufig  hturgische  Zitate.  Besonders  empfiehlt  sich 
das  Requiem  durch  seine  leichte  Ausführbarkeit,  da,s  Solo- 
personal beschränkt  sich  auf  einen  Baryton,  der  in  zwei 
Nummern  allein  oder  mit  dem  Chor  singt,  im  Agnus  Dei 
tritt  sehr  wirksam  noch  eine  Solovioüne  auf.  Der  Chor- 
satz ist  einfach  melodiös  und  technisch  so  anspruchslos, 
daß  ihn  ein  guter  Verein  vom  Blatte  erledigt;  auf  die 
Dauer  macht  sich  allerdings  der  Mangel  an  Polyphonie 
empfindlich.  Größere  Ansprüche  erhebt  das  Orchester; 
auf  seinen  Teil  hat  stellenweise  Berlioz  eingewirkt 


«2* 


Drittes  Kapitel. 

Hymnen,  Psalmen. 


Mit  den  Passionen  und  Messen  verglichen,  bilden  die 
übrigen  Tonwerke,  welche  das  Konzert  a.us  der  Kirche 
entlehnt,  nur  einen  Rest.  Das  wird  sich  jedoch  ändern, 
je  weiter  der  Schatz  alter  hturgischer  Nebenstücke  durch 
gute  Partiturausgaben  erschlossen  wird.  Er  ist  quanti- 
tativ unerschöpflich  und  an  Meisterstücken  ersten  Ranges 
erstaunhch  reich. 

Aus  der  Familie  der  Hymnen,  welche  wir  neben  den 
Psalmen  als  die  älteste  Klasse  kirchlicher  Tondichtung 
und  jedenfalls  als  die  reichste  und  weitestverzweigte  an- 
zusehen haben,  begegnen  wir  im  Konzerte  in  erster  Reihe 
dem  »Stabat  mater«,  dem  >Te  deum«  und  dem  »Mag* 
nificat«  als  Hauptstücken. 

Das  >Stabat  materc  gehört  einer  Seitenlinie  der 
Hymnen  an :  dem  wunderlichen  Geschlecht  der  Sequenzen^ 
welches  von  unscheinbarem  Anfang  —  Notker  BalbuluiS 
führte  sie  als  Textunterlagen  für  Koloraturen  des  >Halle- 
lujah«  ein  —  sich  allmählich  zu  der  ersten  Macht  in  der 
christlichen  Poesie  des  Mittelalters  entwickelte.  Zum 
Schutze  der  älte|*en  Formen  sah  sich  die  Kirche  schließ- 
lich genötigt,  die  Sequenzen  zurückzudrängen.  Ihre  Zahl 
ist  heute  auf  füiif  beschränkt,  von  denen  neben  dem 
»Dies  irae«  das  »Stabat  mater«  die  bekannteste  sein 
dürfte.  Seine  /  liturgische  Stellung  hat  es  am  Tage  der 
sieben    Schmerzen    Mariae   vor   dem   Evangelium.     Das 


/ 


—«0^     34<     ^—> 

Gedicht,  welches  dem  Minoriten  Jacoponus  de  Benedictis 
aus  Todi  (f  i  306)  zugeschrieben  wird,  ist  ein  inbrünstiger 
Erguß  des  Mitleidens  mit  der  unterm  Kreuze  stehenden 
Mutter  Jesu.  Es  hat  zwei  Teile.  Der  erste  'ist  betrach- 
tend und  beschreibend;  der  zweite  (von  dem  Verse  >Eja 
mater  usw.«  ab)  geht  ins  Gebet  über.  Der  schwärmerische 
und  fromme  Mönch  hat  sich  tief  und  innig  in  die  Seele 
der  Maria  hineingefühlt  und  diesen  Empfindungen  einen 
rührenden,  kindlichen  und  naiven  Ausdruck  gegeben. . 
Die  Herzlichkeit  und  der  Eifer  der  Hingabe  klingt  bis  in  [ 
die  Form  der  Verse  hinein:  ihre  Doppelreime  sind  die 
Frucht  einer  leidenschaftlichen  Erregung  von  Gemüt  und  ' 
Fantasie.  Deshalb  hat  das  ?Stabat  mater«  die  künst-  . 
lerischen  Geister  von  jeher  stark  angezogen^  Es  ist  in 
alle  Sprachen  immer  von  neuem  wieder  übersetzt  worden ; 
im  Deutschen  allein  hat  man  an  die  hundert  Male  ver- 
sucht, seinen  Sinn  und  seinen  eigentümlichen  Ton  wieder- 
zugeben. Ebenso  ist  die  Zahl  seiner  musikalischen  Bearbei- 
tungen außerordetntlich  groß.  Sie  umfaßt  das  ganze  Gebiet 
und  die  ganze  Geschichte  der  Vokalkomposition  von  den 
Ritualmelodien  des  Gregorianischen  Stils,  von  einfachen 
Liedweisen  und  Choralsätzen  (im  protestantischen  Sinne) 
an  bis  zu  den  großartigsten  Formen  der  neueren  Kantate. 
Die  älteste  Komposition  des  »Stabat  mater«,  welche, 
wie  S.  4  64  schon  erwähnt,  das  Konzert  sich  neuerdings 
angeeignet  hat,  ist  die  von  Josquin  de  Pr^s.  Dieses  Josqain de Fr^s. 
»Stabat  mater«  liegt  in  zwei  neuen  Partiturausgaben  vor:  Stabat  mater. 
von  Maldeghem  (4  867)  und  von  Ambros  (4  882),  Die  älteste 
bis  jetzt  aufgefundene  Notierung  des  Werkes  datiert  vom 
Jahre  4  480.  Uir  folgten  in  der  ersten  Hälfte  des  sech- 
zehnten Jahrhunderts  eine  ganze  B,eihe  von  gedruckten 
Stimmausgaben  i"):  der  beste  Beweis,  daß  die  Komposition 
unter  die  berühmtesten  zählte.  Auch  die  Hinweise  älterer 
Theoretiker  bestätigen  es,  daß  das  >Stabat  mater«  Jos- 
quins  für  ein  Hauptwerk  der  großen  Vokalperiode  in  dieser 


*)  Die  Nürnberger  vom  Jahre   1538  ist  nnter   denselben 
interessant  durch  die  protestantischeil  Varianten,  im  Text. 


— ^     342     ♦^ 

selbst  noch  gehalten  wurde.  Der  Ghorsatz  ist  funfstim- 
mig,  die  Anlage  im  genauen  Anschlüsse  an  die  der  Dich- 
tung zweiteilig.  Der  erste  Teil  ist  bewegt  und  erregt; 
im  zweiter!  Teile,  da  wo  das  Gebet  beginnt,  gibt  Josquin 
den  Rhythmen  einen  ruhigeren,  breiten  Grundcharakter. 
Da  setzen  die  eigentümlichen  feierlichen  Largos  ein, 
welche  wir  schon  aus  dem  »Incarnatususw.«  von  Josquins 
Messe  >Pange  lingua«  kennen.  Da  begegnen  wir  auch 
wieder  jenen  anmutigen,  anheimelnden  Idyllen,  in  denen 
Josquins  Musik  mit  wiegenden  und  läutenden  Motiven 
aus  dem  Munde  der  Ghorstimmen  den  Ton  der  lebendigen 
Natur  so  stark  anklingen  läßt.  Der  zweite  Teil  des 
»Stabat  mater«  ist  der  reichhaltigste  und  originellste. 
Der  große  Zng  der  Begeisterung,  welcher  ihn  erfüllt, 
kommt  am  mächtigsten  an  zwei  Stellen  zum  Vorschein: 
beim  Eintritt  des  »inflammatus  et  accensus«,  wo  die 
Stimmen  eine  leidenschaftliche  Bewegung  zu  ergreifen 
scheint,  und  in  der  lapidaren  Einfachheit  und  Bestimmt- 
heit, mit  welcher  die  beiden  Schlußtakte  das  »Amen« 
sagen.  Doch  ist  auch  der  erste  Teil  durchaus  gehaltvoll 
und  interessant.  Seinem  Entwürfe  liegt  dieselbe  Methode 
zugrunde,  wie  dem  des  zweiten  Teils:  Jeder  Vers  des  Ge- 
dichts wird  zu  einem  selbständigen  Tonbild  mit  eigenem 
melodischen  Motiv.  Dieses  Hauptmotiv  der  Verse  singt 
die  eine  Stimme  der  andern  nach.  Daß  die  Wiederholung 
dieses  Verfahrens  nicht  ermüdet,  dafür  sorgt  Josquin 
durch  immer  neue  dem  Charakter  des  Textes  folgende 
Zusammenstellungen  und  Färbungen  der  Stimmen,  dafür 
sorgt  er  aber  namentlich  auch  durch  die  Kraft  des  Aus- 
drucks, welche  er  den  leitenden  Themen  selbst  ein- 
gehaucht hat.  Besonders  eindringlich  zeichnen  sich  die 
Motive  von  »0  quam  tristis  usw.«  und  von  »Quis  est 
homo«  aus.  Der  rührende  Totaleindruck  der  Komposition 
wird  aber  durch  die  Abschnitte  höchster  Einfachheit  bei 
»Vidit  suum  dulcem  natum«,  bei  »fac  me  tecum  plangere« 
und  ähnlichen  Stellen  entschieden.  Im  allgemeinen  ist 
der  Stil  des  Satzes  derselbe  wie  in  den  Messen  und  in 
allen   kirchlichen   Tonwerken  jener  Zeit.     Der   Cantus 


343 


firmus,.  den  der  mittlere  Tenor  führt,  wird  in  Josquins 
»Stabat  mater«  in  jener  einfachsten  Weise  als  rein  me- 
chanisches Mittel  behandelt,  in  welcher  er  an  der  geistigen 
Entwicklung  der  Komposition  keinen  Anteil  nimmt  Für 
den  ersten  Teil  ist  er  dem  alten  lustigen  französischen 
Liede  »comme  femme«  entnommen,  dessen  flotte  Melodie, 
natürlich  in  Pfundnoten  verkleidet  und  verzerrt,  nur 
^noch  dem  Auge  des  Eingeweihten  kenntlich  bleibt. 

Das   zweite   »Stabat  mater«    aus  der  Vokalperiode,  G-.  F.  da  Pale- 
welches  im  heutigen  Konzert  eingebürgert  erscheint,  ist        strina, 
das    im  6.  Band  der  Gesamtausgabe   der   Werke  Pale-   Stabat  mater 
strinas*)  unter  den  Motetten  mitgeteilte  zweichorige  von  (achtstimmig) 
G.  P.  da  Palestrina.    Dieses  Werk,  dessen  genaue  Ent- 
stehungszeit nicht  feststeht,  ist  eine  der  verhältnismäßig;^ 
wenigen  achtstimmigen  Kompositionen,  welche  Palestrina 
geschrieben  hat.    Auch  dem  Stile  nach  vertritt  es  keines- 
wegs den  Typus  Palestrinascher  Musik,  sondern  es  nimmt 
unter  den  Kompositionen  dieses  Meisters  eine  Ausnahme- 
stellung ein.     Es  bevorzugt  die  akkordische  Schreibart, 
die  sogenannte  homophone   Stimmführung,   die  in   den 
übrigen  Werken  Palestrinas  vorwiegend  nur  episodisch 
verwendet  wird,  in   sehr  umfassender  Weise.     Für  die 
geniale  Art,  in  der  die  Harmonien  von  dem  Tonsetzer 
als  Deklamationsmittel  in   diesem  > Stabat  mater«  ver- 
wendet sind,  kann  der  Anfang  der  Komposition  als  Bei- 
spiel dienen.     Wie      /  n  J    j    \  ri    J    4^j  j  k j    I  J    ■ ' 
eigentümlich  fremd     fr    ij   j    '  §    |  131  |  j  ^^ 
und  traurig  ist  das  su.bat    m.urdo.   le^ro.» 

(mit  Änderungen  im  ersten  Teile  mehrmals  wiederholte) 
kleine  Tonbild,  welches  die  ersten  drei  Dreiklänge  geben; 
wie  trifft  der  Gmoll- Akkord  .mit  dem  logischen  Akzent 
der  Verszeile  zusammen  und  wie  schmerzlich  klingt  er! 
Man  darf  aber\  von  dieser  einen  Stelle  nicht  auf  eine 
durchgeführte  Detailmalerei  des  Tonstücks  schließen.  Die 
Musik  steht  im  Gegenteile  zu  dem  Texte  in  einem  Ver- 
hältnis bescheidener  Zurückhaltung.     Sie  begnügt  sich 


*)  Leipzig,  Breitkopf  &  Härtel. 


344 

das  Kolorit  seiner  Stimmungefi  durch  die  melodischen 
Linien  deutlicher  hervorzuheben  und  die  Hauptbegriffe 
des  Wortbaues  gewissermaßen  mit  Akkord  und  Rhythmus 
zu  unterstreichen.  Kaum  ein  zweiter  Komponist  ist  der 
eigentümlichen  Schönheit  der  Dichtung  des  »Stabat  mater«, 
welche  in  vielen  Abschnitten  selbst  schon  Musik  zu  sein 
scheint,  so  gerecht  geworden,  als  Palestrina.  Am  deut- 
lichsten wird  man  das  wohl  an  der  Behandlung  des 
Verses  »Quae  moerebat  et  dolebat«  ersehen  können.  Das 
Feuer,  welches  hier  die  Fantasie  des  Dichters  erwärmt, 
ihm  Bilder  und  Worte  drängend  eifrig  auf  die  Zunge  legt 
—  in  der  Palestrinaschen  Musik  mit  den  kurzen,  schwer 
betonten  Motiven,  mit  dem  fast  ungestümen  Wechsel  der 
beiden  Chöre,  lodert  es  in  hellen  Flammen  auf.  Wie  ernst 
und  rührend  ruft  nach  diesem  Exzeß  der  Fantasie  der 
breite  Periodenbau  des  folgenden  Abschnitts  »Quis  est 
homo«  die  gläubige  Seele  zur  inneren  Einkehr!  Es  ist 
schon  in  der  Architektur  dieser  Komposition  eine  geistige 
Kraft,  die  eine  Beschäftigung  mit  dem  Werke  allein  ge- 
nügend lohnt.  Der  eigentümlichen  Milde  seiner  klagenden 
Melodien  aber  läßt  sich  kaum  eine  andere  Komposition 
vergleichen.  Auch  bei  Palestrina  finden  wir  dieselbe 
Zweiteilung  wie  bei  Josquin.  Mit  dem  >Eja  mater  usw.« 
lenkt  er  den  Fluß  in  ein  neues  Bett:  Dreivierteltakt  setzt 
für  eine  Weile  ein,  die  Gliederung  der  Szenen  wird 
schärfer  und  der  Stil  des  Chorsatzes  mehr  polyphon. 
Wenn  im  ganzen  dieser  zweite  Teil  des  Palestrinaschen 
»Stabat  mater c  hinter  dem  ersten  etwas  zurückbleibt, 
so  ist  er  doch  immer  noch  reich  an  glänzenden  Stellen. 
Eine  der  anmutigsten  ist  der  Abschnitt  »Juxta  crucem  usw.«, 
welcher  eine  der  von  Palestrina  geliebten  Episoden  für 
die  oberen  Stimmen  allein  bildet.  Erst  bei  »flammis  ne 
urar  usw.«  ergreifen  die  Bäss^  wieder  von  ihrer  Stellung 
festen  Besitz.  Meisterlich  und  packend  ist  auch  die 
Schlußpartie  vom  »Quando  corpus«  ab.  Das  ist  ein 
unendlich  reiches  und  schönes  Bild  vom  seligen  Sterben 
und  vom  Einziehen  ins  himmlische  Paradies.  In  aller 
Kürze  sind  da  die  Regungen  der  Seele  hin  eingezeichnet, 


welche  diesen  Gedanken  lebendig  machen:  die  Trauer, 
der  Ernst,  die  freudige  Kraft  und  das  zarte,  demütige 
Hoffen.  —  Von  diesem  »Stabat  maiei*  Palestrinas  be- 
sitzen wir  schon  seit  4  774  eine  Partiturausgabe  durch 
Burney,  welcher  viele  andere  Drucke  gefolgt  sind.  Auch 
R.  Wagner,  der  in  seiner  Dresdener  Zeit  die  Komposition 
kennen  lernte,  und  in  der  Hofkirche  aufführte,  hat  eine 
Einrichtung  des  Werkes  veröffentlicht,  welche  die  vier- 
stimmigen Sätze  der  beiden  Chöre  in  Soli,  Halb-  und 
Ganztutti  teilt  und  den  Vortrag  mit  dynamischen  Zeichen 
regelt.  Sie  ist  Dirigenten,  welche  einer  derartigen  Anregung 
benötigt  sind,  zu  empfehlen.  Doch  bedarf  sie  einer 
selbständigen  Revision,  da  an  einigen  Stellen  die  vorge- 
schriebene Dynamik  mehr  Rücksicht  auf  den  akustischen 
Effekt  als  auf  Sinn  und  Logik  der  Satzglieder  nimmt. 

Eindreichöriges  »Stabat  materc  von  Palestrina^  welches 
Alfieri  und  Espagne  zuerst  auf  Bainis  Gewährschaft  hin 
in  Partitur  mitgeteilt  haben,  wird  von  anderen  Kennern, 
darunter  Ambros,  für  F.  Anerio  in  Anspruch  genommen.      F.  Anerio, 
Der  32.  Band  der  Gesamt^tusgabe  bringt  unter  den  zweifei-  Stal>at  mater. 
haften  Werken/  noch  ein  zweites  »Stabat«  zu  acht  Stimmen. 
Als  weitere  in  neuem  Partiturdruck  vorliegende  Kompo- 
sitionen des  »Stabat  mater«  aus  der  Vokalperiode  sind 
zu  nennen  die  Werke  von  Orlando  di  Lasso  (Commer), 
Agazzari,  Aichinger  (beide  in  ProskesMus.  div.)  und      Agazzari. 
G.  M.  Nanini  (Rochlitz,  Tucher  u.  a.].    Letzterem,  wel-     AioMnger. 
ches   den  Text  in    zwanzigmaliger  Wiederholung  einer  O.  M.  Kanini. 
einfachen,  lieblichen  Liedstrophe  durchnimmt,  begegnen 
wir    zuweilen   (gekürzt)    in   geistlichen  Konzerten.     Ein 
Seitenstück  dazu  ist  unlängst  von  P.  Wagner*}  veröffent- 
licht worden.     Es   stammt  aus   den    für  die  Nerischen 
Oratorien  geschriebenen   »Laudi  spirituli«  von  4  588  und 
zeigt    die    volkstümlichen   Musikbestrebungen    der  Ora- 
torien  auch  von   der  literarischen  Seite,  indem  es  den 
lateinischen  durch  italienischen  Text  ersetzt.     Das  »Sta- 
bat mater«   des  Orlando ,  ein  Zyklus  von  wechselnden     0.  di  Lmioi 


*)  Haberls  KirchenmusikaliBches   Jalirbuch,  1895,  S.  92. 


~*      346     -*— 

vierstimmigen,  im  Schußsatz  zusammentretenden  Knaben* 
und  Männerchören,  gehört  zu  den  genialsten  und  wirkungs- 
vollsten Kompositionen  dieses  großen  Meisters. 

Aus  der  früheren  Zeit  der  begleiteten  Vokalmusik 
sind  als  bedeutende  Kompositionen  des  »Stabat  mater« 
die  von  Golonna,  Steffani,  Kaiser  Ferdinand  III., 
Clari  und  Caldara  zu  nennen.  Die  letzten  beiden 
scheinen  in  ihrer  und  in  der  nächsten  Zeit  auch  ziem- 
lich verbreitet  gewesen  zu  sein.  Das  »Stabat  mater«  von 
A.  Bteffani,  A.  Stef  f  ani,  auf  welches  Ghrysander  zum  erstenmal  und 
Stabat  mater.  nachdrücklich  aufmerksam  gemacht  hat*),  ist  eine  der 
ersten  unter  allen  den  großen  »Kantaten«,  welche  über 
das  Gedicht  des  Jacoponus  komponiert  worden  sind.  Man 
darf  es  unter  den  kirchlichen  Vokalkompositionen  des 
4  7.  Jahrhunderts,  welche  dem  neuen  Stile  folgten,  ruhig 
mit  den  Schützschen  zusammenstellen.  Es  ist  ein  Meister- 
werk, welches  in  der  Verwendung  der  neuen  Formen,  in  der 
Verschmelzung  von  Chor-  und  Sologesang  seiner  Periode 
Weit  voran  ist.  Nur  einige  kleine  kolorierende  Naivitäten, 
modische  Wortmalereien  auf  »tremebat«,  auf  »inflamma- 
tus«  usw.,  die  kurze  Anlage  einer  Reihe  von  Chören  und 
Ensembles  erinnern  an  den  Stil  jener  venetianischen  und 
römischen  Komponisten,  welche  Steffanis  Zeitgenossen 
waren.  An  anderen  Abschnitten  verblüfft  sein  »Stabat 
mater«  geradezu  durch  die  kühnen,  weiten  Bogen,  in 
welche  die  Komposition  gegliedert  ist.  Im  zweiten  Teile 
haben  wir  es  mit  einer  Art  modernen  Finale  zu  tun. 
Der  große  3/2- Takt,  mit  welchem  zunächst  das  >Eja 
mater«  einsetzt,  kehrt  immer  wieder  und  nimmt  alle  die 
kleinen  Sätzchen,  welche  episodisch  herantreten,  unter 
seine  schützenden  Fittiche.  Darunter  sind  auch  einige 
der  berühmten  kanonischen  Duette,  welche  ihrer  Zeit  als 
eine  Speziahtät  Steffanis  bewundert  wurden.  Die  Theöien 
sind  schlicht  im  Ausdruck,  aber  voll  empfunden.  Ihren 
ganzen  Gehalt  zeigen  sie  in  der  Entwicklung  des 
Satzes,  von  Kontrapunkten  gekreuzt  und  angeregt.    Der 


♦)  Ohrysander:  Händel,  I  350. 


-^     347     ^k>— 

ßegleitungsapparat  der  SUeichinstnimente  fangiert  mit 
Bachscher  Gediegenheit  Immer  ist  der  Text  tief  erfaßt 
und  nicht  selten  mit  aufregender  Genialität  Zwei  solche 
St^en  offenbarer  höherer  Inspiration  sind  der  Anfiemg 
und  der  Schluß  des  Werkes.  Dort,  in  der  kurzen  Instni- 
mentaleinleitong,  knapp  vor  dem  Einsatz  des  Solo- 
soprans, sind  es  die  Harmonien,  welche  sich  gleich  den 
Lasten  in  Marias  Seele  wahrhaft  beängstigend  anftürmen 
—  hier  die  zaghaften  Pansen,  welche  den  feierlichen  Ton 
des  Chors  zwischen  »Qnando  corpus«  und  »morietur« 
unterbrechen.  -Möchte  das  bedeutende  Werk*)  das  als 
eins  von  mehreren  den  Komponisten  bei  der  Londoner 
Akademie  für  Alte  Musik  als  Ehrenpräsidenten  einführte, 
endlich  durch  den  Drude  zugänglich  werden!  Auch 
Kaiser  Ferdinands  Komposition  der  Marienklage  ist 
noch  nicht  veröffentlicht,  dagegen  (in  den  sogenannten 
»Kaiserwerken«)  eine  Kantate,  welche  Leopold' I  unter 
dem  Titel  »Motetto«  über  eine  Paraphrase  dieser  Hymne 
geschrieben  hat:  Vertatur  in  luctum  cythara  nostra.  Sie 
gehört  zu  den  ergreifendsten  kirchlichen  Dokumenten  der 
»Neuen  Kunst«.  Das  Stabat  mater  G.  M.  Claris  hat  in  G.  M.  01^1, 
dem  kurzen  ausdrucksvollen  Chor  der  Einleitung,  dem 
breiten,  fugierenden  und  sehr  schön  zu  Ende  geführten 
Schlußchor  über  »Quando  corpus  morietur«  und  in  der 
im  Orchester  sehr  geflissentlich  malenden  und  charakteri- 
sierenden Tenorarie:.  »Cujus  animam  gementem«  seine 
Hauptsätze.  Ab  und  zu  begegnen  wir  ihm  in  geistlichen 
Konzerten.  Gänzlich  unbenutzt  ist  in  Deutschland  das 
von  Eslava  mitgeteilte  Stabat  des  Spaniers  A.  Ripa  ge-  !•  Bip«. 
blieben  (achtstimmig  mit  Orgelbegleitung). 

Aus   der   Periode   Scarlatti  -  Händel   sind    zunächst 
ein  vierstimmiges  und  ein  zweistimmiges  Stabat  mater 
von  A.  Scarlatti  selbst  zu  erwähnen.    Sie  fallen  in  die  A.  Boarlatti. 
letzten  Jahre  des  zum  Sänger  edler  Trauer  prädestinierten 
Meisters  und  wurden  in  Neapel  unermüdlich  aufgeführt 


*)  Ein  handschriftliches  Exemplar  in  der  Chrysanderschen 
Bibliothek  m  3ergedorf. 


34$ 

Im  modernen  Konzert  begegnen  wir  als  den  frühesten 
Stabats  der  neapolitanischen  Schule  denen  von  Emannel 
E.  ÄBtorga.  Astorga  und  von  G.  6.  Pergolesi.  Beide  Tonsetzer 
gehören  der  besseren  neapolitanischen  Zeit  an.  Sonder- 
barerweise verdankt  die  frühere  der  beiden  Komposi- 
tionen,  die  von  Astorga,  ihre  augenblickliche  Popularität 
der  jüngeren.  Es  war  im  Verlauf  eines  längeren 
Streites,  welcher  von  Kunstrichtern  aus  dem  Kreise 
der  Kirnberger  und  Forkel  gegen  das  anmutige  Sterbe- 
lied des  jung  verschiedenen  Pergolesi  erhoben  worden 
war,  daß  Rochlitz  ihm  gegenüber  das  Stabat  von 
Astorga  auf  den  Schild  erhob.  Seitdem  ist  sein  Lob 
von  Tag  zu  Tag  gewachsen,  bis  endlich  der  Verleger 
einer  neuen  Bearbeitung  dieser  Komposition  die  Zeit 
für  gekommen  hielt,  Astorga  »unbedenklich  den  edelsten 
Meistern  der  Kunst  beizuzählen«.  Vergleichen  wir  Astor- 
gas  Stabat  mit  seiner  Oper  »Dafne«  und  mit  seinen  in 
ihrer  Zeit  von  Freunden  der  Haus-  und  Kammermusik 
viel  benutzten  Solokantaten,  so  finden  wir  die  gleichen 
Schwächen  der  Schule  und  der  Individualität:  Einför- 
migkeit, zuweilen  Mattheit  der  Stimmung  und  Formahs- 
mus.  Aber  si«  stören  uns  doch  seltner.  Seine  Vor- 
züge dagegen,  die  interessanten  Kleinigkeiten,  welche 
das  Gewebe  seiner  Sätze  zieren,  erscheinen  hier  in  eine 
höhere  Region  übertragen:  als  feine,  aus  erregter  Fan- 
tasie und  ergriffenem  Gemüte  hervorgegangene  Eigen- 
heiten der  Auffassung.  Selbst  von  dem  düsteren  Pathos 
und  der  erhabenen  Traurigkeit,  welches  schwärmerische 
s  Romanschreiber  aus  dem  dunklen  Lebenslauf  des  aristo- 
kratischen Dulders  unbesehen  auf  seine  Kompositionen 
übertragen  wollen,  finden  sich  in  diesem  Stabat  wirklich 
einzelne  Züge.  Es  ist  ein  bedeutendes  und  individuelles 
Tonwerk  und  eine  auch  ohne  jeden  persönlichen  Be- 
zug sinnreiche  Komposition. 

Der  Form  nach  der  Klasse  der  Kantaten  angehörig, 
verteilt  sie  den  Text  auf  neun  Nummern.  Ein  Chor 
beginnt,  welcher  die  formelle  Fertigkeit  Astorgas, 
eine     Hauptursache     für    die    Erfolge     seines     Stabat^ 


— ^      349      «» — 

sogleich  in  helles  Licht  setzt.  Fast  alle  .ßeine  Pe> 
riodeQ  sind  fließend  im  doppelten  und  dreifachen  Koii- 
trapunkt-  gearbeitet  (d.  h.  die  Themen  sind  so  erfun- 
den, daß  die  zugleich  singenden  Stimmen  ihre  Partien 
tauschen  können).  Den  ^  .  Largo. 
ersten  Teil  des  Satzes 

trägt  ein  Hauptthema  "  süT.  hu  m».  J  .  .  .  t»» 
von  s^nft  klagendem  Ausdruck.  Das  Motiv  zu  »juxta 
crucem«  besteht  aus  Skalenteilen;  besser,  poetischer  er- 
funden ist  ein  anderes  Nebenthema,  welches  den  Begriff  des 
»pendebat«,  sinnreich  von  der  Harmonie  unterstützt,  mit 
leichten  melodischen  "Ketten  aus  einem  Achtelmotiv  gewun- 
den, andeutet.  Der  in  kurzen  Abschnitten  und  sehr  markiert 
absetzende  Aufbau  dieses  Teils  trägt  sehr  viel  dazu  bei 
den  Eindruck  zu  vertiefen.  Der  Vortrag  kommt  wie  aus 
beklommenem  Herzen.  Im  zweiten  Teile  der  Nummer 
tritt  besonders  das  chromatische  Motiv  hervor,  welches  zu 
den  Worten  »pertransivit  gladiusc  in  die  Höhe  steigt.  Die 
chromatischen  und  enharmonischen  Tongeschlechter  er- 
lebten im  siebzehnten  Jahrhundert  eine  neue  Periode  der 
Blüte.  Astorga  (in  seinen  Kantaten)  befand  sich  unter 
ihren  eifrigsten  Anhängern.  Das  Terzett  (Nro.  2)  »0  quam 
tristisc  ist  einer  der  schönsten  Sätze  der  Komposition. 
Trotz  der  kunstvollen  Durchführung  durch  die  Stimmen 
fließt  die  wehmütige  Hauptmelodie  leicht  und  anmutig 
dahin,  bis  plötzlich  die  Fantasie  dem  regelmäßigen 
Gange  der  Form  gewaltsam  Einhalt  gebietet:  Fermate, 
itockender  Rhythmus,  schneidende  Dissonanz:  In  dieser 
Schreckgestalt  bricht  plötzlich  das  Bild  der  armen  Mutter 
durch  (bei  den  Worten  >mater  unigeniti«).  Eine  andere 
gleicherweise  bedeutsam  deklamierte  Stelle  bietet  das 
Wort  >videbat«.  Astorga  wiederholt  es  wie  gramvoll  ge- 
fesselt. In  der  nächsten  Nummer,  dem  Doppelduett: 
>Quis  est  homoc  begegnen  wir  demselben  sinnvoll  spie- 
lerischen Zuge  bei  den  Koloraturen  auf  die  Worte  >in 
tanto  supplicio«  und  »dolentem«.  Doch  muß  hier  der 
Vortrag  sehr  viel  nachhelfen.  Die  nächste  Nummer  ist 
eine  Doppelfuge,   aus  deren   Flusse  einige  merkwürdig 


nachdrücklich  betonte  Stellen  heraustreten :  Es  sind  das 
>fac«  vor  der  Fermate  und  das  >ut  sibi«.*  Für  den 
Charakter  der  Themen  und  für  die  Entwicklung  ihres 
Gehaltes  sind  die  Begriffe  der  Mutter  Jesu  als  >fons 
amoris«  und  das  »complaceam«  bestimmend  gewesen. 
Namentlich  das  erste  Thema  entspricht  der  wesentlich- 
sten Bedingung  der  Fugenform.  Es  hat  in  seinen  breiten 
Eingangsnoten  ein  eignes  und  anziehendes  Element,  wel- 
chem tiefer  nachzuspüren  den  Komponisten  ebenso  reizen 
muß,  wie  es  den  Hörer  verlangt  und  erfreut  einer  solchen 
charaktervollen  Tontype  immer  von  neuem  wieder  zu 
begegnen  und  sie  auf  ihren  kunstvollen  Gängen  durch 
Stimmen  und  Harmonien  zu  verfolgen.  Die  folgende 
Sopranarie  »Sancta  mater«  hat  einen  eigentümlichen 
Periodenbau.  Diese  Perioden  bestehen  alle  aus  einer  Reihe 
durch  Pausen  getrennter  kurzer  Abschnitte.  Es  ist  ein 
schüchternes  kindliches  Bitten  in  stoßweisen  Absätzen, 
welches  immer  erst  am  Ende  den  Mut  zu  einem  längeren 
Abschluß  gewinnt.  Der  liebenswürdige,  kindliche,  an 
Hast,  Verlegenheit  und  Hülflosigkeit  gemahnende  Zug  der 
Komposition  wird  auch  melodisch,  namentlich  durch  die 
aufschlagenden  Sechzehntel  verstärkt.  Endlich  ist  auch 
die  Instrumentierung  der  Gesangstellen,  welche  ohne  Baß 
dahin  schweben,  auf  ihn  gerichtet.  Der  nächste  Satz: 
>Fac  me  tecum  pie  flere«  ist  .eins  jener  kanonischen 
Duette,  von  welchen  bereits  früher  die  Rede  gewesen  ist. 
Das  Prinzip  dieser  durch  die  venetianische  Schule  be- 
sonders in  Umlauf  gebrachten,  auch  bei  Händel  und  Bac^ 
häufig  verwendeten  Form  ist  ein  ähnliches,  wie  das  der 
Fuge:  Die  zweite  Stimme  singt  der  ersten  mehr  oder 
weniger  genau  nach.  Der  Charakter  der  gemeinschaftlichen 
Melodie  ist  hier  innig  und  mild  traurig.  Mit  dem  Chore 
»Virgo  virginum  praeclara«  kommt  in  den  Farbeneffekt 
von  Astorgas  Stabat  eine  helle  und  kräftige  Wen- 
dung. Die  heilige  Maria  wird  beim  Anfang  der  Num- 
mer in  lautem  und  preisendem  Hymnenton  gefeiert,  sie 
erscheint  im  Glänze  der  Himmelskönigin.  Nacl^  der 
ersten  Fermate    kehrt  aber    die   Musik   dem  Text   und 


dem .  >Tag  der  sieben  Schmerzen«  entsprechend  in  den 
mitleidigen  mid  trauernden  Charakter  zurück.  Die  Baßarie 
>Fac  me  plagis  vulnerari«  (Nr.  8)  ist  derjenige  Teil  der 
Komposition,  welcher  den  meisten  Anlaß  zu  Bedenken 
gegeben  hat.  Ihre  muntren  Themen,  ihre  kolorierten  Gänge 
machen  leicht  den  Eindruck  vollständiger  Trivialität. 
Gedacht  ist  diese  zunächst  befremdende  Musik  aus  einem 
Gremilte,  welches  durch  die  Idee,  mit  dem  Heiland  zu 
leiden  und  Opfer  zu  bringen,  in  freudige  Begeisterung 
versetzt  wird.  Der  Schlußchor  »Christe  cum  jam  sit 
exire«  bringt  für  die  erste  Hälfte  vom  letzten  Vers  der 
Sequenz  eine  Variante.v  Erst  beim  >Quando  corpus«  lenkt  v 
er  in  die  iibliche  Lesart  ein.  Seiner  musikalischen  An- 
lage liegt  ein  Schema  zugrunde,  welches  mit  den  Opern 
der  Cavalli  und  Cesti  in  Aufnahme  kam:  die  Verbindung 
eines  feierlich  ruhigen  und  eines  lebendig  bewegten  Tempos. 
Händel  hat  von  demselben  häufig,  u.  a.  in  seinem  »Messias« 
bei  dem  Abschnitt  »Wie  durch  Einen  der  Tod  usw.«  sehr 
wirkungsvoll  Gebrauch  gemacht.  Die  Stimmung  des  Allegro 
mit  seinen  tänzelnden  Motiven,  wie  auch  die  der  am  Ende 
einsetzenden  Fuge  auf  »Amen«  geht  von  dem  Gedanken 
an  »paradisi  gloria«  aus.  Josquin  und  ^alestrina  streifen 
das  Bild  von  den  Freuden  des  ewigen  Lebens,  Steffani, 
Astorga  und  die  meisten  Tonsetzer,  welche  nach  ihnen 
das  Stabat  komponiert  haben,  führen  es  uns  zur  langen 
Betrachtung.vor  die  Augen  und  geben  dadurch  dem  Werke' 
einen  glänzenden  Abschluß.  —  Die  älteste  Partitur  des 
Werkes  stammt  aus  London.  Neue  Ausgaben  desselben 
erschienen  in  den  Sammlungen  von  Rochlitz  (drei  Num- 
mern), Kümmel]  femer  bei  Bote  und  Bock  und  bei  Kamrodt 
(Bearbeitung  von  R.  Franz,  welcher  die  Kontinuostimme 
für  zwei  Klarinetten  und  Fagott  ausgeschrieben  hat). 

Das  Stabat  mater  von  Pergolesi,   welches  sich  die  &•  6.  Pergolesi, 
Brüderschaft  des  heiligen  Ludwig  da  Palazzo  bei  dem  Stabat  mater. 
Komponisten  als  Ablösung  für  die  erwähnten  Arbeiten 
A.  Scarlattis  bestellte  und  dessen  Originalpartitur  noch 
heute  auf  Monte  Gassino  wie  eine  Reliquie  bewahrt  und 
verehrt  wird,  hat  Jahrzehnte  lang  in  dem  Repertoire  eine 


-^     352 

ähnliche  bevorzugte  Stellung  eingenommen,  wie  sie  in 
anderen  Zeiten  sich  nur  für  Grauns  »Tod  Jesuc  und  für 
Mozarts  »Requiem«  nachweisen  läßt.  Erschienen  doch 
nicht  lange,  nachdem  das  Werk  im  Gefolge  der  »Serva 
padrona«  sich  verbreitete,  in  Paris  fünf  verschiedeneKlavier- 
auszüge  hinter  einander.  Der  gegen  das  Ende  des  acht- 
zehnten Jahrhunderts  gegen  die  geniale  und  bestrickende 
Komposition  erhobne  Widerspruch  floß  zum  Teil  mit 
aus  der  Notlage,  in  welcher  sich  die  deutsche  Musik  im 
eigenen  Lande  gegenüber  dem  überschwänglichen  Kultus 
der  italienischen  Kunst  befand.  Unter  den  Männern, 
welche  trotzdem  für  die  Schönheit  des  Stabat  Pergolesis 
eintraten,  bemerken  wir  Wfeland,  Dittersdorf,  Reichardt 
und  J.  A.  Hiller.  Letzterer  tut  es  mit  gehamischten 
Worten.  In  der  Vorrede  zu  dem  ereten  Klavierauszuge, 
welchen  er  von  dem  Werke  veröffentlichte,  sagt  Hiller 
halb  in  der  Sprache  des  späteren  Schikaneder-Sarastro: 
wer  bei  diesen  Tönen  Pergolesis  kalt  und  ungerührt 
bleiben  kann,  »verdiente  nicht  ein  Mensch  zu  sein.« 
Gleichwohl  hat  neuerdings  wieder  ein  katholischer  Musik- 
gelehrter im  Eifer  für  die  Rechte  des  Gregorianischen 
Chorals  das  Stabat  mater  Pergolesis  als  »Musik  für 
Badekapellen«  erklärt.  Der  eine  Hauptvorwurf,  welcher 
dieser  Komposition  von  den  früheren  Gegnern  gemacht 
^  wurde,  der  der  unrichtigen  Deklamation,  ist  zum  Teil 
\' begründet.  Denn  aus  rein  musikalischem  Wohlgefallen 
/  an  bestimmten  Motiven  .wiederholt  sie  Pergolesi  zuweilen 
/auch  an  Textstellen,  wo  sie  nicht  mehr  passen.  Zum 
'  anderen  Teile  beruht  er  aber  auf  einer  falschen  Idee 
von  dem  Zwecke  des  ganzen  Stabat.  Das  ist  keine  eigent- 
liche Passionsmusik,  wie  mit  Klopstock  mehrere  deutsche 
Übersetzer  des  lateinischen  Textes  angenommen  zu  ha- 
ben scheinen,  sondern  eben  eine  Marienklage.  Auf  den 
milderen  Ton  der  letzteren  hat  Pergolesi  seine  Saiten 
gestimmt;  ihm  entspricht  auch  das  äußere  Kolorit  des 
Werkes  mit,  namentlich  die  Besetzung  der  >  Gesang- 
partien durch  ein  bloßes  Duett  zweier  hohen  Stimmen. 
Clari   hat   allerdings   aucl^   eine   ganze   Messe   bloß  für 


353      «— 

Sopran  und  Altsolo  geschrieben ;  aber  dieser  Vokalapparat 
war  in  dem  Falle  des  Stabat  doch  mehr  an  seinem  eigent- 
lichen Platze.  Wenn  unter  den  verschiedenen  Bearbeitern 
der  Komposition  Pergolesis  (Paisiello,  Salieri,  HUler,  Lwoff) 
einige  diesen  zweistimmigen  Ghorsatz  in  einen  gemischten 
vierstimmigen  umwandelten,  wozu  einige  anscheinend  fu- 
gierende  Sätze  —  das  »Fac  ut  ardeat«  und  das  »Amen« 
—  allerdings  verlocken,  so  haben  sie  ihn  damit  eines  inne- 
ren Charakterzuges  beraubt  Freilich  als  einfaches  Solo- 
duett zweier*Frauenstimmen  läßt  sich  dieses  Stabat  mater 
auch  nicht  durchweg  zur  Wirkung  bringen.  Da  kliügen 
einige  der  mächtigsten  Stellen :  —  das  sechs  Takte  lange 
Unisono  auf  g  zu  dem  Worte  »videt«  in  »Pro  peccatis  usw.«, 
dißr  Perle  des  Werks,  und  ähnliche  —  geradezu  sinnlos. 
Es  ist  für  jene  Männersoprane  der  Zeit  Pergolesis  ge- 
schrieben, welche  aus  ihrer  breiten  Brust  anschwellende 
Töne  von  der  Gewalt  der  Posaunen  hervorzuziehen  ver- 
standen. Will  man  der  Absicht  des  Komponisten  mit 
unseren  heutigen  Mitteln  entsprechen,  so  bleibt  nichts 
besseres  übrig,  als  die  zwei  Stimmen  chorweise  zu  be- 
setzen. Bei  einer  glückenden  Ausführung  wird  dann  das 
Werk  aber  noch  heute  und  immer  so  wirken,  wie  es 
J.  A.  Hiller  in  seiner  Begeisterung  gesagt  hat,  wenn  auch 
nicht  in  allen  Sätzen.  In  erster  Linie  stehen  das  Duett 
(Nr.  ^)  mit  dem  sekündenmäßig  dissonierenden  Thema, 
welches  in  der  Fdur-Messe  Pergolesis  (der  ersten  seiner 
vier  Messen)  ähnlich  im  Kyrie  vorkommt;  ferner  der 
Sopransatz  »Cujus  animam«  mit  dem  so  charakteristisch 
verwerteten  italienischen  Rhythmus,  das  Duett  »0  quam 
tristis«,  die  Altarie  »Quae  moerebat«  mit  dem  rührenden 
Terzengang,  der  zum  erstenmal  nach  dem  Worte:  »in- 
cliti«  auftritt,  und  den  schluchzend  aufschlagenden  Sexten, 
das  Duett:  »Quis  est  homo«  und  das  unmittelbar  an- 
schließende, als  eine  Fortsetzung  gedachte  »Pro  peccatis«, 
schließlich  noch  die  Nummer  M  (»Fac  ut  portem«).  An  f 
die  Kunst  der  Gedankenausführung  darf  man  auch  in  ] 
diesen  Sätzen  keine  großen  Ansprüche  stellen.  Die  ^ 
musikalische   Architektur   war   Pergolesis    starke    Seite  * 

II,  1.  23 


-^     354     ♦— 

nicht :  in  der  Mehrzahl  seiner  Arien  sind  die  einfachen  großen 
Züge  der  alten  Gattung  durch  eine  Vielheit  und  durch  einen 
Reichtum  kleinerer  Ideen  ersetzt  Aber  jeder  diespr  Einfälle 
ist  melodisch  oder  auch  in  der  Harmonie  ein  Geniehlitz. 
Dafür,  daß  Pergolesi  Schule  gemacht  hat,  zeugt  ein  Stahat 
für  zwei  Soprane  und  Alt  mit  Begleitung  von  Violinen  und 
Q.  Abos,     Orgel  von  G.  Abos  (Santinische  Bibliothek  in  Münster). 

Stabat  mater.  Vor  und  nach  der  Arbeit  Pergolesis  hat  das  A  8.  Jahr- 
hundert noch  eine  beträchtliche  Zahl  in  ihrer  Zeit  viel 
geltender  Kompositionen  des  Stabat  mater  gel)rachi  Die 
bekanntesten  sind  die  vonFux,  Caldara*),  Gasparini, 
Gaßmann,  Hasse,  Traetta,  Wagenseil,  Rodewdld, 
J.  Haydn,     J.  Haydn.     Das  letztere  ist  in    der  Geschichte  Haydns 

Stabat  mater.  deshalb  bemerkenswert,  weil  es  zuerst  seinen  Ruf  als 
Gesangskomponist  verbreitete.  Es  ging  schnell  über 
Deutschland  hinaus,  erschien  in  Paris  und  London  in 
eigenen  Ausgaben  und  hat  sich  fast  bis  in  die  Mitte  des 
1 9.  Jahrhunderts  immer  einmal  wieder  auf  den  Aufführungs- 
listen gezeigt.  Wie  man  das  ganze  Werk  im  allgemeinen 
als  eine  Studie  im  italienischen  Stile  bezeichnen  kann,  bei 
welchem  auch  alle  Untugenden  des  Vorbildes  eifrig  und 
blindüngs  nachgeschaffen  wurden,  so  verrät  es  noch  ganz 
speziell  den  Einfluß  Pergolesis,  in  dem  träumerisch  eigen- 
sinnigen Festhalten  und  Wiederholen  kurzer  Motive.  Zwei 
seiner  sechs  Solonummem,  die  Altarie  >0  quam  tristis« 
und  die  Baßarie  »Pro  peccatis«,  sind  in  neuerer  Zeit  in 
Einzelausgaben  veröffentlicht  worden.  Obwohl  die  Chöre 
von  dem  veralteten  und  unnatürüchen  Virtuosenputz, 
den  die  Arien  tragen,  frei  sind,  entstellt  doch  auch  sie 
ein  äußerhcher  und  gewaltsamer  Zug  der  Deklamation. 
Haydn  ist  aus  dieser  Komposition  schwer  heraus  zu  er- 
kennen. Daß  sie  während  der  Herrschaft  des  neapolita- 
nischen Stils  ihren  Kreis  von  Bewunderem  fand,  ist  von 
selbst  erklärlich.  Wie  aber  in  der  Regel  die  schwachen 
Partien  solcher  Tonwerke,  welche  wir  heute  als  veraltet 
erklären,  schon  in  deren  Jugendzeit  bemerkt  und  bean- 

*)  Denkmiler  der  Tonkunst  in  Österreich  XIII,  1. 


-^     355     *>— 

standet  worden  sind,  so  hat  auch  das  Stabat  i^ater 
J.  Haydns  schon  im  ^  8.  Jahrhundert  starken  Widerspruch 
erfahren.  Die  schärfste  Kritik  an  ihm  übte  J.  F.  Reichardt 
Diejenige  Nummer,  welche  in  ihrem  Wohlklang  und  in 
ihrem  Aufbau  einen  Zeit  und  Mängel  überragenden  Vor- 
zug besitzt,  ist  das  Quartett  mit  Chor:  »Virgo  virginum 
praedarac. 

Haydn   ist  nicht   der   einzige   deutsche  Komponist, 
welcher  bei  der  Arbeit  am  Stabat  mater  unter  italieni- 
schen Bann  trat.    Einer  ganzen  Reihe  von  Landsleuten, 
die  nach  ihm  kamen,  geschah  es  ähnlich,  unter  ihnen 
Schuster,  P.  vonWinter  —  von  ihm  sind  drei  »Stabatc     ßclniBter. 
vorhanden  — ,  S ey fr ied,  Neukomm.    Am  auffälligsten  P.  v.  Winter. 
ist  diese  Erscheinung  bei  Bernhard  Kl  ein.  Frei  vom  frem-     Seyfried. 
den  Einfluß,  aber  nicht  bedeutend  sind  ein  lateinisches  und    Kenkoiain. 
ein  deutsches  Stabat  F.  Schuberts.  Unter  den  gebürtigen       Klein. 
Italienern,  welche  die  Sequenz  weiter  in  Musik  setzten,  F.  Sohubert. 
ist  L.  Boccherini  zu  erwähnen,  dessen  Komposition  in  L.  Boookerini. 
England  berühmt  gewesen  zu  sein  scheint ""l.    Nach  ihm 
sind  N.  Zingarelli,   welchem  28  verschiedene  Kompo- N.  ZingarelU. 
sitionen  des  Textes  zugeschrieben  werden,  und  L.  Baini,     L.  Baini, 
von  welchem  wir  ein  Stabat  für  dreistimmigen  Männer-    Stabat  für 
chor   (a   capella)    besitzen,    zu    notieren.     Das   nächste     Männer- 
Stabat,   welches   zuerst   wieder   nach    der   Haydnschen     stimmen 
Komposition  die  Schranken  von  Ländern  und  Nationen  (a  capella). 
überwand,  war  wiederum  Italienischer  Abkunft.     Es  ist 
das   Stabat   mater   von    G.Rossini   (4  832    erste,    1844     &.  Sossini, 
zweite  Fassung),  ein  vielleicht  durchaus  fromm  gemeintes,  Stabat  mater. 
aber  streckenweise  vollständig  frivol  ausgefallenes  Werk. 
Als  glänzendes,  teilweise  geniales  Denkmal  einer  Periode 
wunderlichen  Verfalles  religiöser  Tonkunst  in  romanischen 


DU 

\ 


*)  Der  Hinweis  auf  Boccherini  ist  einem  Aufsatz  von 
0.  B.  Edgar  entnommen,  der  ohne  Ahnung  von  der  Existenz 
dieses  Führers  unter  dem  Titel:  SettiLngs  of  the  Stabat  Mater 
(im  Jahrgang  1901  der  SammelbSnde  der  J.  M.  G.)  die  Ge- 
schichte der  Stabat-Kompositionen  nochmals  (auf  4Ys  Selten) 
zu  skizzieren  sucht. 

23* 


--^     356     ^— 

Landen,  bleibt  es  von  dauerndem  Interesse.  Man  könnte 
es  in  allen  Musikschulen  aufstellen  als  warnendes  Beispiel 
dafür,  wohin  eine  falsche  Richtung  zu  führen  vermag. 
Denn  reihen  wir  dieses  Werk  geschichtlich  ein,  so  ist  es 
die  letzte  Spitze  einer  Grruppe,  zu  welcher  auch  Pergolesi 
gehört.  Freilich  zwischen  Pergolesis  Stabat  mater  und 
dem  von  Rossini  ist  noch  ein  weiter  Weg.  Aber  das 
Prinzip  teilen  die  beiden  Tonsetzer  —  das  für  die  Vokal- 
komposition unselige  Prinzip  der  schon  oft  zitierten 
;ieapolitanischen  Schule:  die  Musik  zur  freien  Herrin  zu 
machen.  Bei  Rossini  hat  es  zu  einer  vollständigen  Auf- 
lösung von  Sinn  und  Wesen  des  Wortes  geführt,  zu  Ver- 
stößen gegen  den  Geist  des  Textes  und  zur  Roheit  und 
Stumpfheit  der  Form  und  Grammatik  gegenüber.  Aus 
einer  Reihe  der  Nummern  dieses  Stabat  kann  man 
Tänze  machen:  andere  kommen  in  der  Wiedergabe  der 
Stimmung  nicht  höher  als  bis  zum  Niveau  der  beliebten 
Preghieren  in  den  Opern  der  Rossinischen  Periode  oder 
zu  dem  der  chorischen  Gespensterballaden.  Diejenigen 
Nummern,  welche  man  ungetrübter  genießen,  zum  Teil 
bewundern  kann,  sind  >Eja  m^^ter«  (Chor  mit  Rezitativ), 
»Sancta  mater«  (Quartett),  »Inflammatus«  (Sopransolo  mit 
Chor,  in  den  Violinen  das  Begleitungsmotiv  aus  dem 
Agnus  des  »CmoU-Requiems«  von  Cherubini),  »Quando 
corpus«  (Quartett,  Hauptthema  des  ersten  Abschnitts  mit 
Haydn  übereinstimmend)  und  das  »Amen«.  In  Deutsch- 
land kann  das  Werk  seit  Jahrzehnten  als  praktisch  über- 
wunden angesehen  werden.  In  anderen  Ländern,  auch 
in  England,  begegnen  wir  ihm  noch  auf  den  Program- 
men. Schon  im  Jahre  ^845,  zur  Zeit,  wo  die  Komposition 
/  ihren  Triumphzug  begann,  hat  unter  anderen  R.  Wagner 
^  volle  Schalen  des  Spottes  über  dieselbe  ausgegossen. 

Eine  auf  eine  französische  Paraphrase  komponiertes 

Stabat  mater  von  Gounod  ist  im  Ausland  unbekannt 

geblieben.    Unter  den  Kompositionen  des  Stabat  aus  der 

F.  Kiel,      neuesten  Zeit  ist  zunächst  das  von  F.  Kiel  bemerkens- 

Stabat  mater.  wert.    Kiel  folgt  Pergolesi,.  indem  er  nur  Frauenstimmen 

verwendet    (dreistimmigen    Chor    und    Solo).      In    den 


357      «— 

Solls  ist  etwas  zu  viel  an  Ausdruck  getan,     unter  den 
Chorsätzen  ragt  der  die  Traurigkeit  in  strenge  Formen 
gießende  erste  Vers  »Stabat  usw.«  nnd  der  achte  »Virgo 
virginum«    hervor.     Letzterer  ist   eine    der   trefflichsten 
Nummern   in  der  ganzen   Literatur  des   Stabat  mater, 
ein  inbrünstiger,  aber  echt  weiblich  gedachter,  schöner 
Hymnus   auf  die   Mutter  Jesu.     Auch  Franz  La  ebner     F.  Laclmer, 
hat  in  seinem  op.  4  68  das  Stabat  mater  für  zwei  Frauen^  Stabat  mater. 
stimmen    komponiert    (mit   Begleitung    von    Orgel   und   . 
Streichorchester    —    ohne    Viohnen).     Dieses   Werk   ist 
eine    der    stimmungsvollsten   Kompositionen    Lachners: 
in   der  Führung    der  Singstimmen   musterhaft,   in    den 
Formen   schlicht   und   knapp.     Seine   hervorragendsten 
Nummern  sind  die  kanonischen  Duette.     Einige  Jahre 
yorhor  hat  Lachner  die  Sequenz  in  einer  großen  doppel- 
chörigen  Komposition  (op.  164)  ausgeführt.     Die  bedeu- 
teudste  Stelle  in  dieser  bildet  die  Behandlung  der  Worte 
»dum  emisit  spiritum«.    Die  neuere  Zeit  hat  auch  einige 
bedeutende  Kompositionen   des  Stabat  mater  im   a  ca- 
pella-Stile  zu  verzeichnen,  welche  zwar  nicht  in  Umlauf 
gekommen,    aber    doch  an  einzelnen  Orten   mit  Erfolg 
aufgeführt  worden  sind.    Es  sind  di^  von  E.  F.  Richter  E.  F.  Eiohter, 
(sechsstimmig),     Franz    Wüllner     (achtstimmig)     und    F.  Wüllner, 
M.  Zenger  (zweichörig,  Manuskript).    Unter  den  neueren     M.  Zenger. 
Bearbeitungen  der  Sequenz  für  Chor  mit  Orchester  sind     ^ 
hervorzuheben    die    von    Th.  Gouvy,    welche    tüchtige     Th.  Gouvy, 
Leistungen  im  mehrstimmigen  Satze   aufweist,  und  die 
von  J.  Rheinb  erger.    Letztere,  nur  mit  Streichorchester  J.  Eheinberger. 
und  Orgel,  nimmt  Rücksichteri'  auf  leichte  Ausführbarkeit 
und   bescheidet   sich   nach  Rheinbergers  Art    auch   im 
Ausdruck  auf  die  kirchlichen  Grenzen.    In  diesen  engen 
Schranken  doch  gehaltvolle  Tonbilder  entworfen  zu  ha- 
ben, ist  ein  bedeutendes  Verdienst  Rheinbergers.    Beson- 
ders wirken   die    Abschnitte    anmutigen   Inhalts;   unter 
ihnen  in  erster  Linie  das  »Eja  mater«.    Eine  durch  Selb- 
ständigkeit der  Auffassung  und  großen  Stil  bedeutende 
Komposition  ist  das  Stabat  mater  von  Anton  Dvofak.     A.  Dvofak, 
Dieses  Werk  scheint  einer  großen  Verbreitung  sicher  zu  Stabat  mater. 


368     ♦ — 

sein  und  hat  bereits  die  Aufmerksamkeit  nachhaltiger 
erregt.  JTamentlich  auf  englischen  Programmen  begegnet 
man  ihm  verhältnismäßig  oft.  Der  tiefere  und  nach- 
haltige Eindruck  dieses  Werkes  ruht  in  erster  Linie  auf 
dem  ersten  und  letzten  Satze.  Dvoi^ak  hat  den  ersten 
Ver»  der  Sequenz  zu  einem  Tonbilde  von  so  mächtiger 
Breite  und  von  solchem  Reichtum  in  der  Gruppierung  und 
Bewegung  ausgeführt,  wie  es  vor  ihm  noch  kein  Tonsetzer 
versucht  hat.  Die  Dichtung  erlaubt  und  verträgt  diese 
Anlage,  wenn  man  sie,  wie  Dvofak  getan  hat,  vom 
romantisch-modernen  Gesichtspunkte  aus  auffaßt.  Seine 
Musik  beginnt,  als  wollte  die  Fantasie  zuerst  den  Nebel 
der  Zeiten  durchdringen,  mit  einem  immer  wieder 
nach  einer  Richtung  zeigenden,  rufenden  und  suchen- 
den Oktavenmotiv.  Dann  Andante  con  moto. 
setzt  die  chromatisch  be-    Jj  g  '^  »p   fy{^  ^   r  j'i  f   i*  "" 

wecrfA     KlacrftTTifilorlifi     Hfis     *F«    °  f     I  I     I     [    T  '  '      ' 


wegte  Klagemelodie  des 
Satzes  erst  leise,  in  mystischer  Höhe  und  von  anderen 
Stimmen  noch  verhüllt,  ein.  Sie  verkörpert  musikalisch 
die  Schmerzensgestalt  der  Mutter  Jesu  und  wird  zum 
Träger  eines  bald  rührenden,  bald  leidenschaftlich  er- 
schütternden Gemäldes  der  seelischen  Leiden,  welches 
der  Komponist  vom  Eintritt  des  Chores  ab  meisterhaft, 
mit  dramatischer  Kraft  und  Lebendigkeit  ausgeführt 
hat.  Der  zweite  Teil  der  Eingangsnummer  führt  von 
der  Leidensszene  hinweg.  Der  Tonsetzer  nimmt  von 
dem  Seufzen,  dem  Trauern,  dem  Klagen,  von  dem  die 
Seele  durchdringenden  Schwert,  von  allen  den  trüben 
Bildern  des  Textes  nur  geringe  Notiz  und  gibt  eine 
Musik,  welche  dem  lieblichen  Wesen  der  Mutter  des 
Heilands  zu  gelten  scheint.  Eine  etwas  freie  aber 
durch  den  glücklichen  Kontrast  sfihr  schöne  und  wir- 
kungsvolle Auffassung!  Das  kimhüch  kosende  The- 
ma dieser  träumerischen  J  j 
Partie  ist  instrumen-  'jR  ■)<*  B  i  )  J 
tal,  und  zwar  folgendes :  1^  f  f 
Es  verbindet  sich  bald  mit  einfach  ausdrucksvollen 
Weisen  zu  den  Worten  >0  quam  tristis  et  acclinis«,  in 


— ^     359     ^>— 

deren   Durchführung,  sich    Solo-   und   Ghorstimmen   in 
steigerndem  Wechsel  ablösen.  Der  dritte  Teil  der  Nummer 
ist  im  wesentlichen  eine  Wiederholung  des  ersten.    Die 
zweite  Nummer  umfaßt  ebenfalls  wieder  zwei  Verse  der 
Dichtung.    Ausgeführt  wird  sie  vom  Soloquartett,  welches 
für  den  dritten  Vers  »Quis  est  homo«  ein    ^    AncUsost. 
schwermütiges  Thema  durchführt,  dessen  m  j  i  jn  Ji  Ivj  J 
entscheidender  Teil  auf  das  kurze  Motiv:  "  '    oiri#Mt*hajno 
aufgebaut  ist.  Den  zweiten  Teil  zu  den  Worten  »Pro  pecca- 
tis«  trägt  auf  breiteren  ruhigeren  Rhythmen  die  Melodie: 

ß       _  L   t.  ■  t.     ...     -  ***•>  ^^^  ^®°  Stimmen  in  Nach- 

j^l|-|F":f}«Jnr'  J)  Jjp"  Hp  ^  ahmungen  fortgeführt  und 
?to  pee.of.tu  ftt.*»  gev.tis  an  den  Schlüssen  der  Ab- 
schnitte schmerzvoll  moduliert.  Sehr  interessant  ist  die 
pathetische,  rezitativartige  Einleitung  dieses  zweiten  oder 
Mittelteils.  Der  dritte,  der  Schlußteil,  gibt  mit  Verände- 
rungen eine  Wiederholung  des  ersten.  Ganz  ergreifend  in 
der  Kürze  ist  die  Behandlung  der  Worte  »dum  emisit  usw.«. 
Die  Singstimmen  stammeln  auf  .einem  Ton.  Die  Instru- 
mente malen  mit  Harmonie  und  Rhythmus  den  Vorgang. 
Die  'erste  Hälfte  des  fünften  Verses  »Eja  mater«  hat  die 
musikalische  Basis  eines  Trauermarsches.  Sein  Hauptmotiv 
And-eon  moto.        Hegt  in  den  Bässen.    Äußerst  packend 

führt  der  Tonsetzer  von  diesem  starren 
Grunde  aus  schnell  wie  hingerissen  und 
gepackt  in  die  Sprache  des  Herzens  über.  Diese  gewal- 
tige melodische  Bewegung  beschränkt  sich  vorwiegend 
auf  die  Bässe,  an  einzelnen  Stellen  ergreift  sie  aber  auch 
mächtig  die  Oberstimmen.  Der  Mittelteil,  ganz  dem 
rührenden  Gesang  gewidmet,  ist  nur  kurz.  Die  nächste, 
vierte  Nummer  der  Komposition  umfaßt  die  zweite  Hälfte 
des  fünften  und  die  erste  des  sechsten  Verses.  Wie  diese 
formelle  Anordnung  von  dem  Gewohnten  abweicht,  so 
hat  DvoiFak  ersichtUch  auch  in  dem  Charakter  der  Musik 
eine  eigene  Auffassung  erstrebt.  Seine  Behandlung  der 
Worte  »fac  ut  ardeat«,  welche  dem  Solobaß  übertragen 
sind,  bildet  in  ihrer  diisteren,  angstvoll  unruhigen  Weise 
geradezu   einen  Protest   gegen    die  weiche  Musik,   mit 


— ^     360 

welcher  die  Italiener  diese  Bitte  wiederzugeben  pflegen. 
Verstöße  gegen  die  lateinische  Prosodie,  wie  sie  am  An- 
fang des  Baßsolo  vorkommen,  tut  man  gut  zu  tibersehen. 
Sie  begegnen  uns  auch  noch  an  anderen  Stellen  dieses 
Stabat.    Auch  die  Franzosen  pflegen  sich  bekanntlich  in 
ihren  Kompositionen  lateinischer  Texte  um  die  natürliche 
Länge  und  Kürze  der  Silben  nicht  zu  bekümmern.    Eine 
Stelle  von  hervorragender  Schönheit  ist  der  Einsatz  des 
Frauenchors,  welcher  die  Worte  »Sancta  matert  kirchlich 
hedartig   durchführt.     Schon    der  Wechsel    der   Tonart 
allein  aus  Moll  nach  Dur  wirkt  hier  freundlich.    Die  fünfte 
Nummer,  welcher  die  zweite  Hälfte  des  sechste»  Verses 
als   Text  zugewiesen  ist,   scheint  an   diesen   freudigen 
Augenbhck  anzuknüpfen.     Sie   ist  ein   hebhches   Ghor- 
pastorale  im  «/g-Takt.    Nur  der  Begriff  der  »poenae«  wirft 
einige  Schatten  hinein.     Die  Stimmen  heben   das  Wort 
wiederholt  in  harten  Akzenten  heraus  und  führen  in  der 
erregten  Stimmung  dieser  Episoden  den  Text  in  einem 
eigenen  Mittelsatz  aus.    Ganz  ähnlich  hat  Dvoi^ak  in  dem 
folgenden    Satze    (Tenorsolo    mit    Chor),    welchem    der 
siebente   Vers:   »Fac  me  vere  tecum  flere«   zu  Grunde 
liegt,  die  Worte  >in  planctu  desidero«  zum  Anlaß  eines 
dramatischen     Alarms    benutzt.     Der   Hauptsatz    dieser 
Nummer  nähert  sich  mit  seiner  einfachen,  liebenswürdigen 
Melodie   ganz   dem   Typus    des  modernen  kathohschen 
Kirchenliedes.    Auch  der  nächste  Chor  »Virgo  virginum« 
knüpft  künstlerisch  verzierend  und  bildend  an  Reminis- 
zenzen aus  dem  Stile  an,  in  welchem  das  Stabat  in  der 
Praxis    der  Kirchenchöre    erscheint.     Der   bedeutendste 
unter  den  noch  übrigen  Sätzen  der  Komposition  ist  der 
zehnte,  der  Schlußsatz    Seine  Themen  greifen  vorwiegend 
auf  den  ersten  Satz  zurück*.    Es  ist  aber  manches  poetisch 
für  den  neuen  Text  gewendet  und  zugefügt.    Schön  be- 
rührt  namentlich    die    sanfte    träumerische    Weise,    in 
welcher   der    Gedanke    an    den    Tod    (»Quando    corpus 
morietur«)   vorgeführt  wird.     Der    letzte   Teil  mit  dem 
»Amen«    ist   kunstvoll-  im    doppelten    Kontrapunkt    ge- 
arbeitet und  unterstützt  den  Ausdruck  der  aufs  Paradies 


— <V      36«      ^— 

gerichteten  Stimmung  durch  bedeutende  Wirkungen  im 
Klang. 

24  Jahre  nach  dem  Requiem  trat  auch  G.  Verdi  ö,  Verdi, 
mit  einem  großen  Stabat  mater  hervor.  Es  ist  das 
zweite  Stück  in  den  berühmten  »Quattro  pezzi  sacri«, 
die  für  die  Reformbestrebungen  in  der  italienischen 
Kirchenmusik  die  Bedeutung  ^ines  Leuchtturms  haben. 
Verdi,  der  geistig  bedeutendste  Tonmeister,  den  Italien 
im  4  9.  Jahrhundert  gehabt  hat,  bekennt  sich  in  ihnen 
ohne  jeden  Abzug  zu  den  alten  strengen  Forderungen 
des  kirchlichen. Musikstils.  Er  geht  soweit  in  der  Unter- 
werfung unter  den  Text,  daß  er  ganz  auf  Wiederholung 
von  Worten  oder  kleinen  Sätzen  verzichtet.  Zweitens 
sucht  er  ähnlich  wie  F.  Liszt  zu  beweisen,  daß  die 
Grundgesetze  des  kirchlichen  Stils  sich  aüfs  treulichste 
mit  den  modernen  Mitteln  vertragen.  Sie  könnten  für 
ein  neues  Tridentiner  Konzil  geschrieben  sein.  Trotz 
aller  kunstgeschichtlichen  Beziehungen  und  Absicjiiten 
sind  aber  diese  geistlichen  Stücke  nicht  Studien-,  sondern 
vollendete  Kunstwerke.  Ihre  Schönheit  vermag  tief  zu 
eingreifen;  jedoch  äußert  sie  sich  nicht  in  den  bequem- 
sten und  jedermann  vertrauten  Formen.  Namentlich  in 
dem  Stabat  mater  und  in  dem  Te  Deum  ist  von  einem 
eigentlichen  musikalischen  Aufbau  kaum  die  Rede.  Ihre 
Teile  und  Abschnitte  sind  lose  aneinandergereiht,  ohne 
jedes  G6füge;  auf  wiederkehrende  Hauptthemen  und 
andere  Mittel  der  Ordnung  und  Übersicht  ist  fast  ganz 
verzichtet.  Die  Zusammensetzung  des  Ganzen,  die  Kom- 
position im  wörtlichen  Sinne,  erinnert  hier  an  die  frühe- 
sten Zeiten  des  begleiteten  Sologesangs.  Die  äußeren 
Zeichen  der  Einheit  fehlen;  nur  innerlich  macht  sie  sich 
fühlbar  durch  den  Anteil  der  einzelnen  Sätze  an  der  durch- 
gehenden Grundstimmung.  Den  ersten  Monodisten,  den 
Vorgängern  und  Genossen  des  Monteverdi  gleicht  Verdi 
aber  auch  in  der  Hingabe  und  Energie,  mit  der  er  den 
Gehalt  des  Wortes  zu  fassen  und  auszudrücken  sucht. 

Beim  Stabat  mater  wechselt  die  Gesangpartie  zwi- 
schen Chor  und  Solostimmen,  das  Orchester  tritt  hinzu. 


362 


Verdi  hat  den  Text  als  Kantate,  jedoch  ohne  Tempo- 
wechsel und  ohne  Rezitative  komponiert.  Die  Gliederung 
des  Ganzen  folgt  den  Versen  und  zerfällt,  wie  das  schon 
seit  Josquin  de  Pr§s  üblich,  in  zwei  Hälften:  die  erstere' 
der  Beschreibung  gewidmete,  erregter,  die  zweite  (von 
»Eja  mater,  foas  amorisc  ab)  weicher  und  ruhiger  im 
Gebetston.  Das  Ende  wirft  einen  flüchtigen  Bhck  auf 
den  Anfang:  die  Instrumente  schließen  nach  dem  Amen 
mit  den  ersten  fünf  Noten  des  ausdrucksvollen  Themas, 
mit  dem  die  Singstimmen  beginnen: 


^'i' » i  fr 


^^2 


J  I J  LI  IJ   J 


a 


ßta.bat  •  ma.  tör      do  .   lo  -  ,ro  .  sa-,   jux.ta^ 


»poeb  tenvio  rit.  dini.  monio''^ 


«cruqem  lA.cry.  mo.  «atjdiun  'peii.d^.bat    f i  .  U  i  us. 

Das  ist  alles  was  Verdi  getan  hat,  den  einheitlichen 
Charakter  seiner  Kantate  formell  zu  sichern.  Inner- 
halb der  einzelnen  Verse  dagegen  entwickelt  Verdi  die 
Tonbilder  in  der  Regel  aus  einem  kürzeren  Motiv  oder 
Thema;  nach  moderner  Art  liegt  ein  beträchtlicher  Teil 
dieser  Hauptstützen  der  Darstellung  in  den  Instrumen- 
ten.     Sie     bringen     die 


3Z~ 


ST 


>»    => 


Überschrift   des    Ganzen,  j^  y  « 

vier  Takte  lauter,   leerer    tJ 

Klage    auf    zwei   Tönen: 

die  eine  ganze  Ouvertüre  in  sich  schließen.    Sie  enthüllen 

die  seufzende  Seele  (animam  gementem)  ^-^  ^ 

der   Mater    dolorosa    mit    einer   Kette  ^fk^ 

von    Klagelauten,     aus     dem     Motiv:    «^ 

gewunden.     Das  wachsende  Herzeleid  drückt  (bei  quae 

moerebat      et      q   . .  — - — .       bis  in  eine  beäng- 

dolebat)  die  (feT  »  7J/J  p  tjf  n  I  stigende  Höhe  an- 
längere Figur:  "*^  '""  ^  steigend  aus,  und 
als  der  Text  von  der  Marter  des  Herrn  berichtet  (»Pro 


—^     363 

peccatis  suae  gentis  vidit  Jesum  in  tormentis«),  kommt 
mit         ^  I  11  I  I    I    .        *^  Orchester  eine  leiden- 

dem If^V'  vJjiJ  J  J  J  J^  schaftliche  Unruhe,  durch 
Motiv:      «^  Trompetenklang  und  ver- 

minderte Septakkorde  bis  zur  Wildheit  gesteigert.  Das 
ist  die  Stelle  in  der  Kantate,  wo  Verdi  seinem  drama- 
tischen Geist  die  vollste  Freiheit  gelassen  hat.  Nach 
den  Worten  »flagellis  subditum«  wird  es  plötzlich  still, 
nur  ein  Hornton  klingt  noch  fort;  dann  berichtet  der 
Chor  kleinlaut  und  stockend:  vidit  suum  dulcem  Na- 
tum  usw.  Einfacher  und  gewaltiger,  naturgetreuer  kann 
der  Augenblick,  wo  der  Maria  das  Herz  bricht,  nicht  ge- 
schildert werden,  als  durch  diese  Stelle.  Während  den 
Instrumenten  in  dieser  ersten  Hälfte  des  Stabat  im  All- 
gemeinen die  Situation  übertragen  ist,  haben  die  Chor- 
stimmen die  Empfindungen  auszusprechen,  die  durch  die 
berichteten  Vorgänge  hervorgerufen  werden.  Zum  größe- 
ren Teil  tun  sie  das  deklamierend  mit  dem  musikalischen 
Schwerpunkt  in  den  Harn\pnien,  innerer  Bewegung  und 
inneren  Druckes  voll  zum  häufigen  Halten  gezwungen. 
Zum  geringeren  Teil  nur  fassen  sie  das  Gefühl  in  die 
Form  melodisch  geregelten  Gesangs.  In  längerem 
Zug  ergießt  er  q  .,,  n^.  .  ,  ,  ,,.  PP  ,  t 
sich  erst  bei     A  by»  T     p  |  f  T     f     f    I  r  \'i    ^«^- 

dem       Verse:      "^  Qui  e§t_  •  ho.  mo,  qui  non     fle-.*et 

Das  ist  das  erste  Thema,  das  im  Chor  breiter  entwickelt 
wird.  Auf  seinen  Anfangsnoten  ruht  auch  das  Nachspiel, 
mit  dem  das  Orchester  die  erste  Hälfte  der  Kantate  be- 
endet. 

Ihre  zweite  Hälfte  setzt,  von  der  ersten  schon  in 
der  Tonart,  sehr  scharf  unterschieden:  Hdur  auf  Bdur 
ein.  Das  Soloquartett  stimmt  (ohne  Begleitung)  einen 
andächtigen  Gebetshymnus  an,  mild  ergeben  und  im 
Ton  einer  Rührung,  die  den  Tränenweg  gegangen  ist. 
Aber  schon  beim  Einsatz  von  Chor  und  Orchester  (Sancta 
Mater  istud  agas  usw.)  zieht  in  die  Musik  eine  Aufregung 
ein,  in  der  die  Erinnerung  an  das  Leiden  des  Heilands 
und  seiner  Mutter  wieder  lebendig  aufwacht.    Bei  den 


— -<y      364     -ft>— 

Worten:  crucifixi  fige  piagas  kehrt  das  Martermotiv  aus 
der  ersten  Hälfte  im  Orchester  leibhaftig  wieder.  Daß 
die  Erregung  der  Seele  auch  durch  das  Gebet  nicht  über- 
wunden wird,  das  ists  was  Verdis  Auffassung  des  Stabat 
mater  von  allen  neueren  Kompositionen  der  Sequenz 
scharf  unterscheidet.  In  diesem  Sinne  hat  er  den  alteii 
Kirchentext  dramatisch  behandelt  Am  deutlichsten  zeigt 
das  der  Vers:  »Fac  me  cruce  inebriari  usw.«.  Bei  den 
Worten:  »flammis  ne  urar  succensus«  und  »in  die  judicii« 
entfesselt  er  alle  Schauer  eines  Dies  irae.  Nicht  bloß  das 
Orchester  bäumt  sich  in  Schrecken,  auch  der  Chor  wird 
vom  Fieber  ergriffen,  stürzt  aus  dem  ppp  ins  ff,  aus  der 
Tiefe  plötzlich  in  die  Höhe.  Die  Trompete  bläst  Alarm 
und  als  die  Musik  (bei  Ghriste  cum  sit  hinc  exire  usw.) 
äußerlich  wieder  ruhig  geworden,  zittert  doch  der  Ton- 
körper immer  noch  eine  Weile  innerlich  fort.  Jene  dra- 
matische Auffassung  äußert  sich  schwächer,  aber  eigent- 
lich ohne  Unterbrechung  durch  fast  alle  Abschnitte  der 
zweiten  Hälfte  in  den  kurzen  Zwischenspielen,  mit  denen 
das  Orchester  die  Abschlüsse  der  so  eigen  nachdenklich 
harmonisierten  Hauptmelodie: 


j>  >i''  J'  J  I J  fi  kJJ  ItjJ.  /^  N  "J 


;u8w. 


die  von  den  Worten:  »Tui  nati  vulnerati  usw.«  ab  den 
Gesang  immer  wieder  trägt,  markiert,  in  den  rhyth- 
misch bewegten  Figuren,  mit  denen  es  begleitet.  Das  Ende 
wirkt,  auch  mit  ähnlichen  Mitteln  wie  in  der  ersten  Hälfte, 
wieder  durch  den  Gegensatz.  Mit  dem  Vers  »Quando  cor- 
pus morietur«  tritt  erhabene  Ruhe  ein.  Das  letzte  Bild  des 
Textes  erscheint  in  Farben,  die  mit  denen  Palestrinas  an 
derselben  Stelle  identisch  sind:  der  Himmel  scheint  sich 
auf  das  Wort:  Paradisi  gloria  dem  Komponisten  weit  auf- 
zutun. Nach  diesem  Blick  nur  noch  ein  seliges  Träumen 
in  dämmernden  Harmonien! 


— ♦     365 

Das  >Te  deum«,  der  sogenannte  Ambrosianische* 
Lobgesang,  ist  die  offizielle  Festhymne,  mit  welcher  die 
Kirche  Gott  dem  Vater  und  Gott  dem  Sohne  ihren  Dank 
für  außerordentliche  Gnadenakte  darzubringen  pflegt. 
Seit  dem  vierten  Jahrhundert  der  christlichen  Zeitrech- 
nung bis  heute  wird  das  Te  deum  bei  hohen  Feiertagen 
der  Kirche  und  dann  angestimmt,  wenn  außerordentliche 
freudige  Ereignisse  im  staatlichen  Leben  einen  kirchlichen 
Ausdruck  heischen.  Das  Te  deum  ist  eins  der  festesten 
Bänder,  welches  die  Kirche  mit  dem  allgemeinen  Volks- 
leben, ohne  Rücksicht  auf  Parteien  und  Konfessionen, 
verknüpft,  unter  den  Hymnen  eine  der  fantasievollsten 
und  schwunghaftesten  Dichtungen.  Sie  bringt  der  Ton- 
kunst schöne  und  dankbare  Aufgaben  entgegen  wie  kaum 
eine  zweite.  Welcher  Ktinstlergeist  würde  nicht  ent- 
flammt, wenn  er  in  den  einzelnen  Versen  die  Chöre  der 
Engel,  der  Cherubim  und  Seraphim,  die  Ch"Öre  der  Pro- 
pheten, der  Apostel  nach  einander  herschreiten  sieht,  vor 
dem  Thron  des  Vaters  und  des  Sohnes  Jubel,  Dank  und 
Bitte  vorzusingen!  Wie  greifbar  stehen  diese  Bilder  vor 
der  Fantasie  und  wie  natürlich  setzen  sie  die  musika- 
lischen Mittel  in  Bewegung!  Nach  den  neueren  Forschungen 
stammt  der  Hymnus  aus  antiker  Quelle.  Ambrosius  fand 
ihn  in  der  musikalischen  Form  vor,  welche  im  wesent- 
lichen noch  der  Fassung  der  neuesten  Liturgien  zu  Grunde 
liegt:  als  Wechselgesang.  Aber  wahrscheinlich  hat  der 
Bischof  von  Mailand  an  der  lateinischen  Übersetzung 
de& Lobgesanges  und  an  seiner  Einführung  in  die  abend- 
ländische Kirche  persönlichen  Anteil  gehabt.  Die  Melo- 
dien, in  welche  er  zu  jener  Zeit  gekleidet  war,  kennen 
wir  nur  in  Gregorianischer  Umprägung.  Die  Kirche  hat 
sich  mit  ihnen  lange  allein  begnügt,  In  der  Zeit,  wo  die 
kunstvolle  Zurichtung  der  Meßgesänge  bereits  in  hoher 
Blüte  stand,  sang  man  das  Te  deum  vorwiegend  ein- 
stimmig weiter.  Die  Zahl  bedeutender  Chorwerke  auf 
Grund  des  Ambrosianischen  Lobgesanges,  welche  aus  der 
großen  Vokalperiode  bekannt  sind,  ist  verhältnismäßig 
gering,   und  nur  sehr  wenige  sind  davon  neu  und  in 


--♦     366      ♦— 

•Partitur  gedruckt.  Unter  letzteren  nimmt  nach  Alter,  Größe 
der  Anlage  und  innerem  Wert  das  achtstimmige  Te  deum 
J.  Vaet.       von  JacobVaet,  welches  Commer  in  der » Collectio  operum 
musicorum  batavorum«  mitteilt,  die  erste  Stelle  ein.  Nach 
ihm  wäre  das  von  Maldeghem  mitgeteilte,  sehr  kompakte 
J.  de  Kerle.    Te  deum  J.  de  Kerles  darnach  das  wieder  von  Commer  (in 
0.  di  Lasso,    seiner  »Musica  sacra«)  gebrachte  des  Orlando  di  Lasso 
anzuführen.  Weiter  sind  in  den  Sammelwerken  von  Proske, 
Anerio,       Lück,  Alfieri,  Eslava  Kompositionen  von  beiden  An  er ios, 
C.  Pesta,      C.  Festa,  Gallus,Ortizzu  nennen.  Deutsche Koipposi- 
ÖalluB,  Ortiz.  tionen  in  verschiedenen  deutschen  Übersetzungen*)  von 
Haßler,  Prä-   Haßler,Prätorius,Scheinu.  a.  teilen Teschner, Tucher 
torins,  Schein,  und  Becker  mit**}.    Sie  sind  durchschnittUch  kurz,  ohne 
Ausführung  der  einzelnen  Versbilder.    Der  bekannte  Satz 
Galvisins.      des  Calvisius,  der  in  neuere  Kantionale  aufgenommen 
worden  ist,  kann  für  sie  als  Muster  gelten.   Von  größeren  im 
4  7.  Jahrhundert  berühmten  deutschen  Te  deums  würden  sich 
H.  Prätorias,    das  sechzehnstimmige  von  H.  Prätorius  und  das  sechs- 
G.  Demantiiis.   stimmige  von  G.Demantius  zum  Neudruck  empfehlen.  Am 
zahlreichsten  haben  wir  neue  Partiturdrucke  von  Te  deums 
englischer  Komponisten  des  i  6.  und  4  7.  Jahrhunderts.  Von 
Byrd,  Olbbons. Byrd  und  Gibbons  ab  sind   die  namhaften  Tonsetzer 
Englands  einer  nach  dem  andern  in  Novellos  patriotisch 
praktischer  Sammlung:  »Services,  Anthems  usw.«  in  erster 
Linie  mit  Kompositionen  des  Ambrosianischen  Lobgesanges 
vertreten.     Diese   englischen  Te    deums   pflegen   au  der 
H.  Pnroell,     Spitze   einer  Reihe  von  Meßsätzen  zu  stehen.     Henry 
Te  deum.     Purcells  achtstimmige  Komposition  ist  davon  die  bedeu- 
tendste und  wurde  die  gefeiertste.    Vom  Jahre  4  694  ab 
führte  man  es  wenigstens  in  London  an  jedem  Cädlientag 
auf,   und  noch  heute  lebt    es   in   der  Praxis    der  ,  eng- 
lischen Kirchenchöre.    Kein  Weihnachten   ohne  Purcells 
Te  deum  wenigstens  in  einer  der  Kirchen  der  Hauptstadt ! 

*)  Vgl.  W.  Biumker:  Das  deutsche  Te   deum  (in  Haberls 
K.-M.  Jahrb.  f.  1900). 

**)  Eine    weitere    von    Erasmns    Kindermann    in    den 
Denkmälern  der  Tonkunst  in  Bayern,  Bd.  XXIV. 


■— *      367 

Unter  den  großen  T<^nsetzerh  der  nächsten  Zeit, 
deren  Te  deums  besonders  angesehen  waren  und  Vet- 
breitung  fanden,  sind  zu  nennen  Lully,  Fux,  Caldara,  Te  Dennis  von 
Darante,  Leo.  Die  von  *Fax  und  Durante  sind  im  Lnlly, Fax, Gal- 
a  capella-Stile  und  in  einejn  Zuge  fugierend  durchge-  dara,  Darante, 
führt.  Das  von  Caldara  hat  Orgelbegleitung.  Zu  denen  Leo. 
von  Lully  und  Leo  begleitet  das  Orchester.  Sie  stehen 
in  Ddur  wie  die  Mehrzahl  der  weiteren  Te  deums  der 
Instrumentalperiode.  Denn  Ddur  war  die  Leibtonart  der 
alten  Trompeten,  welche  fortan  beim  Ambrosianischen 
Lobgesang  im  Chor  der  Instnmiente  eine  Hauptstimme 
erhielten.  Derjenige  Tonsetzer,  welcher  in  dieser  Periode 
das  Te  deum  am  herrlichsten  zu  singen  verstand,  war 
unser  G.  F.  Händel.  Er  nahm  von  diesem  Felde,  auf  0.  F.  Händel, 
welchem  er  bis  zur  Gegenwart  als  der  Erste  hervor-  Utrechter  Te 
ragt,  zuerst  im  Jahre  47i3  Besitz  und  zwar  mit  dem  deum. 
sogenannten  Utrechter  Te  deum.  Dieses  Werk  hat 
für  die  Lebensgeschichte  Händeis  vorübergehend  un- 
angenehme Bedeutung  gehabt.  Händeis  damaliger  Brot- 
herr, der  Kurfürst  von  Hannover,  gegen  dessen  Interesse 
die  Beschlüsse  des  Utrechter  Kongresses  gingen,  nahm 
es  seinem  Kapellmeister  übel.  Die  Ungnade  des  nach- 
maligen Königs  Georg  I.  war  die  Folge  dieser  Komposi- 
tion; erst  die  »Wassermusik«  im  Jahre  4  74  5  brachte  das 
Verhältnis  wieder  ins  gleiche.  Händel  hat,  wie  Chrysan- 
der  aus  dem  Vergleiche  der  beiden  Werke  nachweist,  bei 
der  Komposition  dieses  Te  deums  das  eben  angeführte 
von  Purcell  absichtlich  zum  Modell  genommen  und  ist 
ihm  in  der  Anlage  und  Auffassung  einzelner  Textab- 
schnitte genau  gefolgt.  Größer  als  die  Verwandtschaft 
ist  aber  der  Unterschied,  und  namentUch  ein  Punkt 
unterscheidet  Händel  in  dieser  und  in  allen  folgenden 
Vokalkompositionen  mit  Begleitung  immer  stärker  von 
diesem  und  von  anderen  Vorgängern,  —  wir  dürfen 
sagen,  auch  von  Zeitgenossen  und  Nachfolgern:  das  ist 
der  Glanz  und  der  Ideenreichtum  in  seinem  Orchester. 
Steht  das  Utrechter  Te  deum  in  dieser  Beziehung  auch 
noch  nicht  durchaus  auf  der  höchsten  Stufe,  so  entfaltet 


— *      368      ^ — 

es  doch  in  der  Mehrzahl  seiner  Sätze  diesen  Vorzug  der 
Händeischen  Kunst  deutlich  genug.  Er  kommt  in  der 
Wahl  der  Instrumentalfarben  zum  Ausdruck,  in  der  Wahl 
der  begleitenden  Motive  und  in  der  Anlage  der  Vor-  und 
Nachspiele.  Meisterhaft  weiß  Händel  den  geistigen  Strahl 
eines  dichterischen  Gedankens  zu  gleicher  Zeit  nach  zwei 
Seiten  hin  leuchten  zu  lassen  durch  ein  scheinbar  ganz 
einfaches  Mittel:  Er  teilt  die  Vokalpartie  und  die  Instru- 
mentalpartie in  die  Aufgabe.  So  sehen  wir  im  ersten 
Satze  des  Utrechter  Te  deums  mit  dem  schmetternden  und 
rauschenden  Ausdruck  des  Jubels  auf  Grund  des  Motivs: 
ji^Bgio.  d^s  Orchester  betraut,  wäh- 

'^^^ n^f  r -T f  r  r fl r  FJ '^ -  ^^^^  ^^^  Chor  zunächst  das 
IjLji:  *^=^^a  I j.  15,  ■  j^^jj  ^gg  Herrn  nur  in  feier- 
lich gemessenem  Satze  vorträgt,  aus  welchem  lange  Töne 
einzelner  Stimmen  zuweilen  wie  der  Ruf  des  begeisterten 
Herolds  heraustreten.  Erst  später  stimmt  er  auf  eine  Weile 
in  die  fröhliche  Weise  der  Instrumente  mit  ein.  Schön  ist 
besonders  das  mehr  und  mehr  verklingende  selbständige 
Nachspiel  des  Orchesters.  Es  gleicht  in  der  Idee  ganz 
dem  zu  dem '  Engelchor  im  Messias:  »Ehre  sei  Gott«. 
Nach  demselben  Prinzip:  mit  gegensätzlichen  Mitteln 
nach  dem  gleichen  Ziele  zu  steuern,  ist  auch  die  Doppel- 
fuge: Te  aeternum  patrem  (»AU  the  earth  doth  worship 
thee*)  entworfen.  Das  eine  Thema  ^spricht,  das  andere 
jubiliert.  Als  dann  die  Instrumente  in  die  Achtelgänge 
des  letzteren  einfallen,  richtet  sich  der  Chor  zu  gewaltiger 
Entschiedenheit  auf  und  deklamiert,  in  Pausen  absetzend, 
mächtig  bedeutungsvoll  ein  dreimaliges  »te«  (»thee«\  Von 
dieser  Doppelfuge  ab,  die  auch  nicht  umfangreich  ist, 
läuft  das  Utrechter  Te  deum  auf  eine  lange  Strecke  in 
lauter  kurzen  Sätzchen  weiter.  Entschiedener  als  andere 
Komponisten  dieser  Hymne  hat  in  ihnen  Händel  sich  dem 
Dichter  angeschlossen.  Es  dünkte  ihm  eine  besondere 
und  herrliche  Aufgabe,  die  Gestalten,  welche  zum  Lob- 
gesange  antreten,  klar  musikalisch  zu  personifizieren.  So 
kommt  der  Chor  der  Engel  im  Duett  zweier  Altstimmen,  in 
welches  Tenor  und  Baß  im  Einklänge  wie  eifrig  staunend 


— <e^     369     ♦— 

l^ineinrüfen  und  begleitet  von  jenem  bekannten  Rhythmus 
m  300  affi  d^s  Streichorchesters,  welchen  Händel  so  oft 
In  1  1  1  "  zum  Hintergrund  pathetischer  Situationen 
verwendet.  Die  Cherubim  und  Seraphim  werden  durch 
zwei  Solosoprane  angekündigt.  Das  Sanctus.  singt  ein 
fünfstimmiger  Chor  in  einem  einfach  ergreifenden, 
kirchlich  und  voll  klingenden  Satz.  So  ziehen,  jeder 
von  einem  eignen  Lichte  beschienen,  weiter  noch  die 
Chöre  der  Propheten,  der  Apostel  und  der  Märtyrer 
vorüber.  Die  Gestalt  der  heiligen  Kirche  vereint  wieder 
alle  singenden  Kräfte,  und  in  einem  ausdrucksvollen 
Adagio  verbeugen  sie  sich  gegen  die  hier  zuerst  in  den 
Gesichtskreis  des  Dichters  tretende  Dreieinigkeit  von 
Vater,  Sohn  und  heiligem  Geist.  In  dem  Chor  »tu  rex 
gloriae«  (»Thou  art  the  King  of  Glory«)  bilden  die  zwei 
Takte  Adagio  auf  das  Wort  »Christec  (>0  Christ t)  einen 
eindringlichen  Höhepunkt.  Der  nächste  Satz  beginnt 
ernst  mit  der  Betrachtung  über  die  Menschwerdung 
Christi:  »When  thou  tookest  upon  thee«  (»Tu  ad  liberan- 
dum  usw.<).  Beim  Eintritt  der  Worte  »thou  didst  open« 
(»tu  aperuisti«)  schlägt  im  hellen  Gegensatz  Moll  nach 
Dur  um,  Adagio  wird  Allegro,  die  SoU  löst  das  Tutti  ab. 
Das  alte  venetianische  Stilmotiv  des  Tempowechsels  ist 
hier  mit  besonderem  Glück  verwendet  und  bestimmt  den 
Bindruck  der  Stelle.  Sucht  man  nach  verwandten  Wir- 
kungen, so  liegt  der  Vergleich  mit  dem  »Et  resurrexit« 
der  großen  Messe  S.  Bachs  und  anderer  Hochämter  aus 
der  Instrumentalperiode  am  nächsten.  Kam  dieser  Ein- 
fall wie  ein  zündender  Funke,  so  bildet  die  anschließende 
Fuge  »thou  sittest  at  the  right  band«  (»tu  nd  dexteram 
dei  patris«)  da^  entfachte  große  Feuer.  Unter  den  knap- 
pen Sätzen  dieses  Te  deums  bildet  sie  einen  der  imposan- 
testen. In  der  folgenden  Nummer  »We  believe  that  thou 
shall  come«  (»Iudex  crederisc)  ist  der  Eintritt  des  vollen 
Chors,  der  ernst  und  in  ganz  einfachen  Wendungen  z^ 
beten  beginnt,  mächtig  ergreifend.  Den  festlich  volks- 
tümlichen Charakter  des  ütrechter  Te  deums  bringt 
der  Satz:   »Day  by  day«  (»Per  singulos  dies«)  besonders 

II,  i,  24 


treffend  zum  Ausdruck.  Händel  hat  den  sechsstiniinigen 
Chor  in  zwei  Gruppen  geteilt,  welche  die  munteren  Mo- 
tive der  Themen  in  unaufhörlichem  Wechsel  nach  allen 
Richtungen  des  Tongehietes  tragen.  Im  Orchester  sind 
die  Händeischen  Originaltrompeten  sehr  wichtig.  Mit  den 
Holzbläsern  konzertierend,  sich  ablösend  und  vereinend, 
vervollständigen  sie  das  bunt  und  kräftig  bewegte  Fest- 
bild, welches  der  Satz  enthält,  mit  den  Reizen  allgemein 
verständlicher  künstlerischer  Spiele.  Der  .  Adi^io. 
Satz  »Vouchsafeo Lord«  (»Dignare  domine«)  lij  f-Jr}  ' 
hat  durch  das  Festhalten  an  dem  Motiv:  ^^'  *  U  l  = 
einen  eigentümlich  besorgten  Zug.  Er  bleibt  auch  noch 
in  dem  Schlußabschnitt,  wo  der  eintretende  Chor  in  neuen 
musikalischen  Weisen  der  Hoffnung  auf  Gottes  Gnade  Aus- 
druck geben  soll.  Dem  Schlußchor  >0  Lord  in  thee  have 
Itrustedc  (»In  te  do-  Alle«o. 
mine«)  hat  Händel  das 
altliturgische  Motiv : 
—  es  kommt  bei  ihm  häufig  vor  —  als  Motto  vorange- 
stellt In  der  Verwendung  <*fcr  fröhlichen  kurzen  Gegeh- 
themen,  welche  es  bald  umschwärmen,  in  der  kühnen 
Mischung  kirchlich  feierlicher  und  kräftig  ungebundener 
populärer  Elemente  spricht  schon  der  Schöpfer  des  Lob- 
gesangs im  Israel,  des  »Hallelujah«  im  Messias.  Das 
Utrechter  Te  deum  war  eines  der  frühesten  Werke  Han- 
dels, welche  sich  in  Deutschland  verbreiteten.  J.  A.  Hiller 
brachte  es  im  Jahre  4  779  im  Konzert  spirituel  zu  Leipzig 
zur  Aufführung  und  veröffentlichte  es  bald  darauf  in  einer 
Partiturausgabe.  In  ihr  ist  der  englische  Text  durch  den 
lateinischen  «rsetzt.  Aus  den  Änderungen,  welche  Hiller 
in  der  Instrumentierung  vornahm,  ersieht  man  mit  Inter- 
esse, daß  wenigstens  in  dem  Gesichtskreis,  welchen  Hiller 
übersah,  die  Kunst  des  Klarinblasens  bereits  erlosch^^n  war; 
denn  der  Herausgeber  änderte  die  Händeischen  Trompeten 
durchweg  und  nahm  damit  dem  Werke  einen  Teil  seiner 
bezeichnendsten  Effekte.  Heute  kann  das  Prinzip  nur 
sein,  auf  das  Original  zurückzugehen  und  zwar  nicht  bloß 
diesem  Te  deum  gegenüber,  sondern  bei  allen  Werken 


/ 


Händeis  und  seiner  Zeitgenossen.  Wollen  wir  den  Geist 
der  alten  Kunst,  so  können  wir  ihre  Mittel  nicht  entbehren. 
Es  ist  ein  besonderes  Verdienst  der  Berliner  Hochschule 
und  der  Joachimschen  Bachaufföhrungen,  diesem  Grund- 
satz in  neuerer  Zeit  konsequent  Geltung  verschafft  zu 
haben. 

Was  den  künstlerischen  Charakter  von  Händeis  Ut- 
rechter  Te  deum  betrifft,  so  besteht  seine  Eigentümlich- 
keit darin,  daß  es  die  Motive  des  Gedichts  im  Anschluß 
an  die  Vorlagen  der  englischen  Tonkunst  in  einer  Knapp- 
heit ausführt,  welcher  dem  Geiste  der  musikalischen 
Grundgedanken  nicht  gerecht  wird.  Diese  Sätze  gleichen 
vorläufigen  Skizzen,  und  als  solche  scheint  sie  Händel 
selbst  betrachtet  zu  haben.  In  den  weiteren  drei  Te 
deums  (Bdur,  Adur,  Ddur),  welche  er  in  den  Jahren 
474  8—4720  in  Cannons  schrieb,  kommt  er  auf  ganze 
Sätze  und  auf  einzelne  Ideen  seines  Utrechter  Te 
deums  fortwährend  erweiternd  und  umgestaltend  zurück. 
Das  erste  in  B  dur  ist  unter  diesen  das  vollkommenste.  &.  F.  Händel, 
In  der  Anlage  und  dem  Umfang  der  Sätze  steht  es  über  Te  deum  in  B. 
jedem  Vergleich  mit  dem  Utrechter.  Es  enthält  einen 
einzigen  reinen  Solosatz:  »When  thou  tookest  upon 
thee«  (»ALs  Du  auf  dich  genommen«),  eine  sanfte  Arie, 
welche  Händel  später  für  das  Dettinger  Te  deum  be- 
nutzte. Alle  übrigen  Nummern  sind  Giöre  von  merk- 
würdiger Besetzung:  einfacher  Sopran,  drei  Tenöre  und 
Baß.  Zum  Teil  ziehen  sich  Soli*  in  diese  Ghorsätze  hin- 
ein. Wenn  man  irgendwo  die  Freiheit  und  Unbefangen- 
heit von  Erfindung  und  Haltung  bewundern  kann,  so  in 
diesem  Bdur-Te  deum.  Weltfröhliche  und  andächtig 
erhabene  Gedanken  treten  nahe  aneinander,  Volksfest 
und  Gottesdienst  scheinen  vermischt  —  und  doch:  ein 
Ganzes,  welches  hoch  über  der  Sphäre  des  Gewöhnlichen 
steht.  Nirgends  spricht  die  Kraft  Hänclels  stärker  als  aus 
dieser  Ungezwungenheit.  Leider  ist  das  Werk  bisher  ziem- 
lich unbenutzt  geblieben.  An  Reichtum  und  Glanz  der 
Instrumentation  wird  es  von  dem  weltbekannten  Dettinger 
Te  deum  übertroffen,  an  innerem  Tonleben  wohl  kaum. 


a.  F.  Handel,  Das  Dettinger  Te  de  um  schrieb  Händel  in  seiner 
Dettinger  Te  Stellung  als  Hofkomponist  zur  Feier  des  Sieges  bei 
deum.  Dettingen,  an  welchem  dem  König  von  England,  Georg  IL, 
persönliche  Verdienste  zugeschrieben  wurden.  Alle  Te 
deums  Händeis  stammen  aus  Perioden,  in  welchen  auch 
das  äußere  Leben  des  Komponisten  unter  glücklichen 
Sternen  stand.  Die  Zeit,  in  der  das  Dettinger' Te  deum 
entstand,  war  unter  diesen  sonnigen  Abschnitten  in  Han- 
dels Leben  einer  der  erquickendsten,  die  Zeit  der  Ruhe 
nach  rauhen  Stürmen,  die  Zeit,  wo  Händel  sich  der  eige- 
nen Meistertaten,  der  Vollendung  von  Israel,  Messias, 
Samson  und  Judas  Maccabäus  freuen  durfte.  Die  per- 
sönUche  Stimmung  des  Meisters  mag  wohl  den. großen 
mid  auch  flotten  Zug,  der  durch  das  Dettinger  Te  deum 
geht,  mit  begünstigt  haben.  In  einzelnen  Partien  des 
Werkes  ist  die  Aufgabe,  den  Jubel  und  die  fromme  Dank- 
barkeit eines  ganzen  Volkes  zum  Ausdruck  zu  bringen, 
mit  einer  Kraft  und  Anschauhchkeit  gelöst,  welche  ohne 
Vergleich  und  einzig  kolossal  dasteht  In  vorderster  Linie 
steht  unter  diesen  Partien  der  Eingang  des  ersten  Satzes. 
Wir  wissen  von  Te  deums,  in  welchen  die  Komponisten 
(Sarti,  Neukomm]  Kanonen  und  Glocken  zur  Mithilfe  rie- 
fen, von  anderen  (Paisiello),  in  welchen  Märsche  für 
Massencorps  von  Militärmusikern  eingelegt  waren.  Hän- 
del hat  hier  erschütternde  Wirkungen,  ohne  Theatercoup 
und  ohne  den  Stil  der  höheren  Kunst  zu  durchbrechen, 
erreicht.  Trompeten  und  Pauken  —  bei  der  ersten  Lon- 
doner Händelfeier  im  Jahre  4784  waren  die  ersteren  zu 
vierzehn  besetzt  —  mit  den  Holzbläsern  und  mit  den 
Violinen  abwechselnd  und  zusammentretend,  geben  ein 
glänzendes,  ein  berauschendes  Bild  vom  Jubel  eines 
begeisterten  Volkes  —  nebenbei  in  den  Motiven  mit 
der  Einleitung  zu  Bachs  Weihnachtsoratorium  ziemlich 
übereinstimmend.  —  Da  rauschen  breite  Töne  im  Chore 
auf  und  mit  einem  Hauch  ist  das  laute  Treiben  der 
naiven  profanen  Freude  in  die  höhere  Strömung  reli- 
giöser, weihevoller  Andacht  eingeleitet.  Kein  späterer 
Musiker   hat   den    zwingenden    Eindruck    dieser   Stelle 


— -^      373      ^— 

überboten.  Unter  denen,  welche  ihm  nahe  zu  kommen 
gestrebt  haben,  ist  Brahms  mit  der  Einleitung  seines 
Triumphliedes  zu  nennen.  Vieles  im  Dettinger  Te  deum 
erinnert  uns  an  andere  Werke  Händeis:  Der  erste  Drei- 
vierteltakt —  zu  den  Worten:  »All  the  earth«  (Alle  Welt 
usw.«)  —  an  eine  Arie  des  Israel,  eine  ganze  Perioden- 
gruppe in  >To  the  Cherubim«  (»Stimmt  an  Cherubim 
usw.«)  ist  gleichlautend  mit  einer  im  »Hallelujah« 
^es  Messias.  Händel  fragte  nicht  nach  der  Originalität 
der  einzelnen  Ideen,  sondern  nach  ihrer  Zweckmäßig- 
keit. In  diesem  Sinne  hat  er  für  dieses  Dettinger  Te 
deum  auch  die  Arbeit  eines  anderen  Komponisten,  das 
Te  deum  des  F.  A.  Urio  mU  benutzt.  Ein  besonderes 
Kennzeichen,  welches  aber  das  Dettinger  Te  deum  von 
den  anderen  Kompositionen  des  Ambrosianischen  Lob- 
gesanges aus  Händeis  eigner  Feder  noch  mit  unter- 
scheidet, liegt  darin,  daß  dem  jubelnden  Ton  ein  ernst 
sinnender,  gefaßter,  ehrfurchtsvoller  die  Wage  hält. 
Seinen  Ausdruck  findet  er  in  feierlichen  Episoden  ein- 
zelner Stimmen,  in  liturgischen  Zitaten,  namentlich  aber 
in  dem  ruhig  fromm  ausklingenden  Schlußsatze  und  in 
der  diesem  vorhergehenden  herrlichen  Baßarie  »Vouch- 
safe  o  Lord«  (»Bewahre  uns  Herr«,  im  lateinischen  Text 
»Dignare«),  einem  Meisterstück  des  Händeischen  Arioso- 
stils. 

Nach  Händel  waren  es  unter  den  namhaften  Ton- 
setzern, welche  mit  Kompositionen  des  Ambrosianischen 
Hymnus  vertreten  sind,   namentlich  Graun  und  Hasse, 
deren  Arbeiten  weiter  verbreitet  waren.     Auch  ein  Te 
deum  N.  Jomellis,  »das  römische«  genannt,  wird  mit  IT.  Jomelli. 
Auszeichnung  erwähnt,  scheint  aber  nur  selten   aufge- 
führt zu  sein.    Von  Graun  existieren  zwei.    Das  zweite  C.  H.  Grann, 
(in  Ddur),  welches  nach  dem  Tode  des  Komponisten  in     Zwei  Te 
der  Schloßkapelle  zu  Charlottenburg  im  Jahre  4  763  zur      deums. 
Feier  des  Hubertusburger  Friedens  aufgeführt  wurde,  hat 
sich  bis  in  die  dreißiger  Jahre  des  vorigen  Jahrhunderts 
in  Choraufführungen  behauptet.     Die  Chorstimmen,  die 
konzertierenden    Hörner   und   Flöten    und    die    übrigen 


371 


Orchesferin Strumente  überdecken  die  vorwiegend  wei- 
chen Grundgedanken  dieser  Komposition  mit  einer  Fülle 
A.  Hasse,  liebenswürdigen  Schmuckwerks.  A.  Hasse  werden  fünf 
Te  deum.  Te  deum»  zugeschrieben.  Das  eine  in  Ddur,  aus  der 
mittleren  Periode  des  Tonsetzers  stammend,  —  noch  im 
Jahre  4  846  bei  Peters  mit  deutschem  Text  von  G.W.Fink 
neu  gedruckt  —  erlangte  eine  außerordentliche  Berühmt- 
heit In  Dresden  war  es  das  ständige  Feststück,  die  Kan- 
toren in  den  Provinzen  strebten  nach  ihm  als  der  denk- 
bar höchsten  Zierde  ihrer  Feiertagsmusiken.  In  der  Kirche 
hat  es  bis  gegen  Ende  des  i  9.  Jahrhunderts  seinen  Platz 
behauptet.  Wenn  es  aus  dem  Konzert  schon  früher  ver- 
schwunden ist,  so  liegt  das  an  der  etwas  zu  alltäglichen 
Fröhlichkeit,  mit  welcher  in  dem  Eingangssatz  (>Te  deum 
laudamus«)  und  in  dem  fugierten  Schlußsatz  (»In  te  do- 
mine speravi«)  der  Chor  sich  mit  Lob,  Dank  und  Bekennt- 
nis zu  Gott  dem  Herrn  wendet.  In  den  übrigen  Partien  geht 
der  Ton  glänzender  Lebendigkeit,  welcher  die  Messen  Hasses 
verleidet,  nicht  über  das  beim  Te  deum  zulässige  Maß. 
Bei  diesem  Stücke  hat  die  Kirche  fast  immer  der  pro- 
fanen Tonkunst  erlaubt,  mit  einzustimmen.  In  dem  Hasse- 
schen Te  deum  macht  letz-  ^^  Aflegroassai. 
tere  von  diesem  Rechte  mit 
der  flotten  Orchesterphrase 
Gebrauch,  welche  in  der  Form  von  Zwischenspielen  und 
Begleitungsmotiven  die  ganze  Komposition  durchzieht.  Sie 
klingt  in  die  vorwiegend  einfachen,  oft  sehr  eigentümlich 
gruppierten  und  mächtig  ergreifenden  Sätze  des  Sänger- 
chors hinein,  so  wie  der  Lärm  der  jubelnden  Menge 
draußen  vom  Platze  her  ins  Innere  der  Kirchenhallen 
schallt.  Das  ganze  Te  deum  erhält  durch  die  Durch- 
führung dieses  leitenden  Motivs  den  Charakter  einer 
einzigen  großen  Szene,  seine  Form  einen  Reiz,  welcher 
Hasses  geistiges  Eigentum  allein  war.  Die  Mitte  dieses 
Te  deums  wird  von  einer  maßvollen  und  passenden  Arie 
über  die  Worte  »Salvum  fac  populum  tuum«  gebildet. 

Aus  der  großen  Menge  hausbackener  Gelegenheits- 
kompositionen,   welche     in    dem    letzten    Drittel    des 


— ♦     37B     ♦— 

48.  Jahrhunderts  von  bekannten  TonsetEem  wie  Brixi,  Brlzi|Gamplon1, 
Campioni)  Ciampi,  Gazzaniga  über  das  »Te  deum«       Ciampii 
geschrieben  wurden,  erhebt  sich  das  kleine  »Te  deum«     Oassanlga. 
Mozarts  vom  Jahre  4  770.  Es  entstand  auf  Bestellung  der  W.  A.  Mozart, 
Kaiserin  Maria  Theresia.    Merkwürdigerweise  hat  die  Be-     Te  deum. 
gleitung  keine  Blasinstrumente.  Den  Höhepunkt  des  Werks 
bildet  die  Doppelfuge  über  »In  te  domine  speravi«.    Ein 
interessantes  Te  deum  jener  Periode  ist  auch  das  von 
Ferradini.    Es  besteht,  wie  die  alten  englischen,  aus     Fenadini. 
einer  Menge  kleiner  Sätze.    AHe  diese  einzelnen  Bilder 
sind  aber  mit  ausgezeichneter  Sorgfalt  ausgeführt.  Als  ein 
Te  deum,  welches  sich  auf  den  Programmen  des  letzten 
Jahrzehntes  des  48.  Jahrhunderts  häufiger  findet,  ist  das 
von  Ehregott  Weinlig  zu  nennen.    Die  durch  Kunst-    E.  Welnlig. 
wert   und   Verbreitung   bedeutendste    Komposition    der 
Periode  ist  das  zweite  Te  deum  J.  Haydns  (vom  Jahre     J.  Haydn, 
4  809),  welches  mit  dem  —  auch  vielen  andern  Komposi-     Te  deum. 
tionen  der  Hymue  untergelegten  —  deutschen  Texte  von 
Clodius:  »Sieh  die  Völker  auf  den  Knieen«  noch  heute  bei 
Kirchen aufführungen  viel  benutzt  wird.    In  der  Behand- 
lung einzelner  Textstellen  (»Sanctus«  z.  B.)  stimmt  es  mit 
dem  Hasseschen  Te  deum  überein,  nimmt  aber  den  Fest- 
ton im  ganzen  um  einige  Grade  feierlicher.  Durch  die  Ein- 
fügung hochernster,  pathetischer  Episoden  (»Te  ergo  quae- 
sumus«,  »sine  peccato«  und  »non  confundar  in  aeternum«) 
ist  ihm  ein  Zug  von  Schönheit  gegeben,  welcher  es  dem 
Dettinger  Te  deum  Händeis  geistig  nahe  bringt. 

Von  den  vielen  Kompositionen  des  Te  deum,  zu  wel- 
chen die  Kriegsperiode  Napoleons  I.  Veranlassung  gab, 
ist  keins  zu  bleibender  Bedeutung  gelangt.     Als  solche, 
welche  wenigstens  in  der  Zeit  ihrer  Entstehung  und  in 
den  nächsten  Jahren  einen  größeren  Erfolg  ernteten,  sind 
das  erste   von  J.  v.  Seyfried  (Cdur)  zum  Einzug  des  J.  t.  Seyfriefl, 
Kaisers  von  Osterreich  im  Jahre  4  84  4  komponierte^  das 
von  G.  Weber  und  das  von  F.  Himmel  zu  erwähnen.     G,  Weber, 
Das  letztere  ist  vielleicht  die  ausführlichste  Komposition    F.  Himmel, 
der  Ambrosianischen  Hymne.    Auch  die  drei  Te  deums 
von  dem  bis  zur  Mitte  des  vorigen  Jahrhunderts  als  Kirchen- 


— *      376      ^-- 

A.  Borgt,     musiker  noch  sehr  geschätzten  August  Bergt,  welche 

in  diese  Zeit  fallen,  genossen  ein  allgemeines  Ansehen. 
Wie  die  andern  Werke  dieses  Tonsetzers,  zeigen  auch 
sie  in  den  Themen  und  ihrer  Ausführung  Mozartschen 
Einfluß;  aber  in  ihrer  Anlage  herrscht  eine  erfreuliche 
Ursprünglichkeit,  Einfachheit  und  Größe  des  Stils. 
Namentlich  das  dritte  (op.  4  9)  wirkt  mit  der  Gegen- 
überstellung '  rezitatiyartiger  Solosätze  und  Chorstellen 
sehr  glücklich.     Mit  den  Bergtschen  Kompositionen   des 

J.Q.  Schicht.  Lobgesangs  konkurrierten  die  von  J.  G.  Schicht,  der 
das  Te  deum  dreimal  komponierte,  einmal  nach  dem 
Te^t  von  Klopstock.  Gedruckt  sind  nur  ein  lateinisches 
vom  Jahre  4  824,  welches  sich  an  die  Händeische  kurz- 
sätzige  Form  anschließt  und  neben  wirklich  erhabenen 
Stellen  auch  einige  schwächliche  in  Naumanns  Weise 
enthält,  und  das  Te  deum  (nach  der  Parodie  Witscheis) 
vom  Jahre  4822.  Dieses  (dem  Universitätssängerverein 
zu  St.  Pauli  gewidmet)  gehört  mit  den  Te  deums  von 

F.  A.  Hftser,  F.  A.  Häser  und  B.  Klein  zu  den  bedeutenderen  Kom- 

B.  Klein.     Positionen  für  Männerchor,  welche  wir  aus  jener  Periode 
AbtVogleri*  besitzen.     Nach  Bergt  und  Schicht  haben  Abt  Vogler 

W.  Tomascliek. und  W.  Tomaschek  Kompositionen  des  Te  deums 
geliefert,  welche  sich  durch  Selbständigkeit  auszeichnen. 
Eine  praktische  Bedeutung  gewannen  jedoch  diese  Arbei- 
ten nicht.    In  Frankreich  sind  in  der  Periode  von  Bergt 

J.  F.  Lesnenr.  und  Schicht  die  drei  Te  deums  von  J.  F.  Lesueur,  dem 
Komponisten  der  »Barden«,  einem  auch  auf  dem  Gebiete 
der  Kirchenmusik  originellen  Tonsetzer  (fünf  Messen, 
zwei  Passionen,  ein  »Stabat«  usw.)  hervorzuheben.  Das 
H.  Berlios,  Te  deum  von  Berlioz,  welcher  in  neuerer  Zeit  häufig 
Te  deum.  mit  Lesueur  in  Zusammenhang  gebracht  wird,  ist  als 
Teil  einer  unausgeführt  gebliebenen  großen  musikali- 
schen Epopöe  auf  Napoleon  I.  entworfen.  Berlioz 
dachte  es  sich  in  dem  Augenblicke  angestimmt,  wo 
der  Konsul  vom  italienischen  Feldzug  zurückgekehrt, 
Notre  Dame  betritt.  Für  diesen  gewaltigen  Dom  sind  die 
Wechselakkorde  von  Orchester  und  Orgel,  sind  die  drei 
Chöre    (zwei   dreistimmige   und   ein   einstimmiger,   mit 


Männern  und  300  Kindern  zu  besetzender)  und  eine  Menge 
andrer  Effekte  des  Werkes  berechnet.  Die  Fantasie  des 
Tonsetzers  war  mehr  von  dem  Bilde  einer  großartigen 
kircjblichen  Zeremonie  erfüllt,  als  von  den  Worten  des 
Textes  selbst.  Dieses  te  deum  ist  noch  viel  theatra- 
lischer als  das  Requiem  von  Berlioz  und  voll  von  der 
künstlichen  Monotonie  liturgischer  Motive,  kolossaler  Psal- 
modien  und  der  Steifheit  tendenziöser  Kontrapunktik.  Bei 
allen  Eigenheiten  wird  man  ihm  aber  einen  hochfeier- 
lichen und  fesselnden  Grundton  nicht  absprechen  können. 
Der  musikalisch  schönste  Satz  ist  »Tibi  omnes  angeli«, 
ein  Stück  von»  der  besonderen,  fast  gewaltsamen  Innigkeit 
Berlioz\  Im  Jahre  4835  geschrieben,  ist  das  Werk  erst 
4  853  (zu  London),  von  da  ab  bis  1883  (Bordeaux)  nicht 
wieder  aufgeführt  worden.  Seit  4  884  hat  es  in  Deutsch- 
land die  Aufmerksamkeit  erregt.  Die  Partitur  ist  schwer 
zu  haben,  dagegen  darf  der  englische  Klavierauszug  auf 
Verbreitung  rechnen. 

Äußerst  «chwach   ist   die   jüngste    Generation    der 
Tonsetzer  mit  JCompositionen  des  Te  deums  im  Konzert- 
repertoirevertreten.     Außer  dem  für  Männerstimmen  ge-  * 
schriebenen  Te  deum  von  J.  Rietz,  einer  tüchtigen,  für      J.  Biets, 
das  Dresdener  Sängerfest   (im  Jahre   4865)   bestimmten  Te  denm  für 
Gelegenheitsarbeit,  hat  nur  das  von  Anton  Brückner  Männetchor. 
{für  gemischten  Chor,  Soli  und  Orchester)  komponierte    A.  Brnokner, 
außerhalb  des  Ortes  der  Entstehung  und  ersten  Auffüh-  Te  deula  in  0. 
rang  das  Interesse  größerer  Kreise  gefunden.     Den  Text 
behandelt  diese  Komposition  mit  einer  in  der  Geschichte 
des  Te  deums  ungewöhnlichen  Subjektivität:  Die  Elemente 
des  Zagens  und  Bangens  stehen   dermaßen  im  Vorder- 
grand der  Brucknerschen  Musik,  daß  der  Charakter  und 
Zweck  eines  Lobgesanges  ernstlich  gefährdet  erscheinen. 
Auch  der  innere  musikalische  Ausbau  dieses  Te  deums 
erregt  viele  Bedenken  und  läßt  in  der  Wahl  von  einzelnen 
Themen,  in  der  Durchführung  barocker  Begleitungsmotive, 
in  der  unmotivierten  Hingabe  an  rein  musikalische  Ideen, 
welche  zum  Teil  auch  noch  Reminiszenzen  aus  Werken 
Wagners  sind,  den  durchgebildeten  Geschmack  und  die 


— ♦     378     V— 

Reife  des  künstlerischen  Wesens  empfindlich  Termissen. 
Kein  zweiter  unter  den  neueren  Tonsetzem  zeigt  die 
fatale  Ähnlichkeit  mit  der  zwiespaltigen  Natur  des  üher- 
hildeten  Abh^  Vogler  so  stark  wie  hier  Brückner.  Aber 
Größe  der  Intentionen  und  der  Stimmung  wird  man 
diesem  Te  deum  nicht  absprechen  können.  Namentlich 
in  den  kurzen,  breit  rhythmisierten  Schlußwendungen  sei- 
ner knapp  gestalteten  Sätze  rührt  und  ergreift  das  Werk 
oft  tief.  Dem  Schlußsatz,  in  welchem  ein  Motiv  aus  dem 
Adagio  von  Brückners  eigner  £  dur-Symphonie  eine  her- 
vortretende Stellung  einnimmt,  darf  dieses  Zeugnis  im 
ganzen  Umfang  ausgestellt  werden. 

Den  vorläufigen  Abschluß  in  der  Geschichte  bedeu- 
tender und  ins  Konzert  übergegangener  Kompositionen 
G.  Verdia  des  Ambrosianischen  Lobgesangs  bildet  wieder  G.  Verdi 
mit  dem  letzten  seiner  Quattro  pezzi. 

Die  Fülle  gewaltiger  Fantasie,  die  in  dem  Ambrosia- 
nischen Lobgesang  angeregt  wird,  läßt  sich  musikalisch 
nicht  erschöpfen.  Wenn  aber  ein  Komponist  in  knapper 
Form  die  Aufgabe  annähernd  gelöst  hat,  so  ist  es  hier 
'  Verdi  gewesen;  sein  Te  deum  ist  eine  der  allerbedeu- 
tendsten  Leistungen  nicht  bloß  in  der  neueren,  sondern 
in  der  Geschichte  der  Kirchenmusik  überhaupt,  ein  Pracht- 
stück, an  dem  Inspiration  und  freie  Kunstbeherrschung 
gleicherweise  hervorragen,  auf  das  die  Liturgie  und  die 
Musik  gleicherweise  stolz  sein  dürfen.  «Auch  hier  ist 
Verdi  von  den  Gesetzen  und  Forderungen  ritueller  Musik 
ausgegangen  und  hat  sie  unausgesetzt  im  Auge  behalten, 
aber  der  Wortreichtum  des  Textes  hat  ihn  zu  einer  Ge- 
staltung in  großen  Zügen  gezwungen,  bei  der  sich  die 
Musik  der  Fesseln  entledigen  und  selbständig  bewegen 
mußte. 

Die  Komposition  beginnt  rein  liturgisch:  Die  Män- 
nerstimmen intonieren  in  Vertretung  des  Priesters  die 
erste  Zeile  in  bekannter  Gregorianischer  Melodie  und 
fahren  dann  fort  in  dreistimmigen  Wechselchören  zu 
deklamieren.  Verdi  hat  dabei  alte  Zeiten  und  alte 
Sitten  so  ernstlich  nachzubilden  gesucht,  daß  er  sogar 


379 


Quintenparallelen  anwendet.  Wie  aus  der  Feme  und 
der  Höhe  klingen  diese  Stimmen  und  vielleicht  wird 
man  hei  der  Aufführung  gut  tun,  den  ganzen  Ahschnitt 
his  »proclamant«  von  einem  kleinen,  unsichtbaren,  weit 
und  verdeckt  aufgestellten  Ensemble  singen  zu  lassen. 
Um  so  gewaltiger  wirkt  "dann  der  Einsatz  des  ersten 
Sanctus  mit  der  Pracht  des  starken  Orchesters  und  des 
Doppelchores.  Es  handelt  sich  dabei  allerdings  zunächst 
um  einen  ähnlichen  dynamischen  Effekt  wie  jenen  welt- 
bekannten j*^  bei  »Und  es  ward  Licht«  in  J.  Haydns 
Schöpfung.  Aber  die  ganze  an  dem  Punkte  einsetzende 
Periode  bleibt  auf  der  Höhe,  auf  der^-sie  eintritt.  Es  ist 
eine  der  iU)erwältigendsten  Stellen,  soweit  man  musika- 
lische Kunstwerke  überblickt,  eine  Vision,  die  Schauer 
erweckt.   Geisterhaft  verkUngt  die  Stelle  im  leisen  Stam- 


meln der  unteren 
Stimmen.  In  ihrer  Jl^^^  rf^ 
Mitte  J)ringt  sie  ein  y      Li, 
kleines     Thema : 


1^^ 


Ple 


ni  sunt  coe .  li 


das  in  ei- 
nem späte- 
ren Teil  des 
Te  deums 
Der  zweite 


wichtig,  zum  Träger  der  Lobpreisung  wird. 

Abschnitt  der  Komposition   umfaßt  den  Text  von   »Te 

gloriosus  Apostolorum   Chorus«   ab  bis  zu  »Paraclitum 

Spiritum«.    Er  ist  musi-  

kaiisch  in  einer  Andacht  0  ^>.u  [^  j^T^y/^ß-^ 
gehalten,  die  über  das  ^^^^'  f  F  l.l  '  '  >  E 
innig  anbetende  Motiv:  ^ 

staunt  und  träumt.  Nur  die  Worte  »Patrem  immensae 
majestatis«  heben  sich  kräftig  und  glänzend  aus  diesem 
Halbdunkel  hervor. 

Den  dritten  Abschnitt,  der  von  »Tu  Rex  gloriae« 
bis  »in  saeculum  saeculi«  reicht,  beginnt  ein  dem 
Gregorianischen  ^    , 

Choral  entnom-  fe  *>     f   Tf  1 1'   ^''^^  T  ^fe^ 

menes    Thema:  %r  -     '     '  '  L  J  T  I 

das  die  Trompeten  einführen,  die  Stimmen  frei  fugieren 
und  mit  jubelnden  Kontrapunkten  umkleiden.  Von  den 
Worten  an  »Te  ergo  quaesumus«  teilt  es  sich  mit  dem 
vorhin  angeführten  Motiv  der  Anbetung  in  die  Herrschaft. 


— ^      380     ♦— 

Den  Mittelpunkt  bildet  eine  a  capella- Stelle  über  die 
Gebetsworte:  »Salvam  fac  populnm,  Domine«. 

Dire  Musik  kehrt,  vom  Orchester  gestützt,  in  dem 
Schloßabschnitt  der  Komposition  bei  »Fiat  misericordia« 
wieder.  Begonnen  wird  dieser  Schlußteil  mit  einer  ein- 
fachen, echt  italienischen,  an  Verdis  Reqniem  erinnernden 
Melodie,  die  mit  den  Worten:  »Dignare  Domine«  im  sanf- 
ten Unisono  aller  Stimmen  vorbeizieht  Eigentümlich 
poetisch  stellt  der  Komponist  dem  Gedanken  an  die  ewige 
Verdammnis  die  Hoffnung  auf  den  allmächtigen  Herrscher 
Himmels  und  der  Erden  entgegen.  Während  die  Stimmen 
in  dunklen  Harmonien  »non  confundar  in  aetemum« 
singen,  stimmt  das  Orchester  das  Thema  von  »Pleni  sunt 
coeli«  an.  Mit  ihm  klingt  die  Komposition  auch  leise 
und  geheimnisvoll  aus.  Der  für  ein  Te  deum  ungewöhn- 
liche Schluß  erinnert  ganz  an  die  Art,  wie  Cherubini 
seine  beiden  »Requiems«  schließt.  Auch  die  seehsche -Ur- 
sache dieser  eigentümlichen  Wendung  wird  bei  Verdi  die 
gleiche  sein. 

Die  letzten  aus  den  Händen  angesehener  Komponisten 
hervorgegangene  Te  deums  sind  die  von  Edgar  Tinel 
und  Friedrich  Gernsheim. 
El  TineL  Das  von  Tinel  (op.  46)  gibt  in  einer  längeren  Reihe 

knapper,  innerlich  nur  lose,  durch  einige  Uturgische  In- 
tonationen verbundener  Sätze  die  Umrisse  der  einzelnen 
Textbilder,  ohne  auf  ihren  Inhalt  tiefer  einzugehen.  Lang- 
sames Tempo,  mächtig  schwerer  Orchesterklang  und  ge- 
bundener Stil  des  in  eine  tiefe  und  hohe  Gruppe  geteilten 
Chores  herrschen  vor,  häufige  Schlüsse  und  allgemeine 
Pausen  verstärken  die  feierliche  Spannung,  auf  die  der 
Komponist  in  erster  Linie  ausgeht.  Es  ist  ein  altertümeln- 
des  Te  deum,  bei  großen  Kirchenfesten  am  Platz,  für  das 
Konzert  weniger  geeignet 
F.  Gernslieim.  Der  vollständige  Titel  des  Gernsheim  sehen  Werkes 

(op.  90)  lautet:  »Te  deum  nach  Worten  der  heihgen  Schrift«, 
und  es  beginnt  mit  den  Worten  »Jauchzet  dem  Herrn 
alle  Welt«.  Es  ist  also  ein  freier  Lobgesang,  dem  litur- 
gisch die  Bezeichnung  als  Te  deum  nicht  zukommt.  Nach 


.--^     38<      *— 

dem  musikalischen  Wert  aber,  der  Selbständigkeit  und 
Anschaulichkeit,  mit  den  Stellen  •  wie  »Kommt  vor  sein 
Angesicht«,  und  namentlich  nach  der  Wärme,  die  aus  den 
Hauptstellen,  am  stärksten  aus  dem  später  und  nochmals 
am  Ende  wiederkehrenden  Einsatz,  strahlt,,  gehört  es 
unter  die  hervorragendstep  und  packendsten  Leistungen 
der  neuen  geistlichen  Komponisten. 

Der  größte  Teil  der  frei  gedichteten  kirchlichen 
Hymnen,  zu  welcher  Gruppe  »Stabat«  und  »Te  deum« 
gehören,  fand  seine  Verwendung  beim  Gr aduale, 
beim  Offertorium  und  in  den  mannigfaltigen  Gruppen 
der  Nebengottesdienste.  Graduale  und  Offertorium  sind 
nach  den  Festzeiten  (de  tempore)  verschiedene  Einlage- 
stücke in  der  Messe.  Jenes  steht  zwischen  »Gloria«  und 
>Credo«,  dieses  zwischen  »Credo«  und  »Sanctus«.  Das 
Graduale  wurde  gesungen,  während  der  Lector  die  Stufen 
(gradus)  zu  dem  Lesepult  hinaufstieg,  das  Offertorium 
während  die  Gemeindeglieder  ihre  Gaben  und  Opfer  vor 
dem  Altar  niederlegten  (offere).  Der  fromme  Brauch  der 
früheren  Ghristenzeit  ist  längst  erloschen,  das  begleitende 
Musikstück  aber  und  sein  Name  sind  im  Hochamt  erhal- 
ten geblieben.  In  der  Regel  sind  Graduale  und  Offer- 
torium kurz,  inhaltlich  je  nach  dem  kirchlichen  Charakter 
bald  ernst,  bald  freudig.  Einzelne  besonders  beliebte 
Texte  sind  unzählbar  oft  komponiert  worden:  »Tantum 
ergo«,  »0  salutaris  hostia«,  »Ave  Maria«  und  andere 
Marienhymnen  in  erster  Linie.  Wie  die  liturgischen  Haupt- 
stücke haben  auch  Offertorium  und  Graduale  an  allen 
Wandlungen  des  musikalischen  Stils  teil  genommen,  doch 
mit  einem  großen  Unterschied:  beim  Übergang  aus  der 
anbegleiteten  Einstimmigkeit  in  den  Chorsatz  bilden  sie 
die  Nachhut,  beim  Eintritt  in  die  begleitete  Vokalmusik 
zogen  sie  voran.  Schon  4  647  gibt  der  Salzburger  Abraham 
Megerle  drei  Bände  Offertorien  mit  Instrumenten  heraus. 
Im  Ordinarium  der  Messe  ist  der  neue  Stil  damals  noch 
eine  Seltenheit.  Seitdem  sind  Graduale  und  Offertorium 
besonders  häufig  als  Gesangsoli  komponiert  worden,  in 


— *      382      *>— 

schlechten  Perioden  bravourmäßig  auf  äußerliche  Musik- 
wirkung und' Konzerteffekte  gerichtet;  ihnen  gegenüber 
drückte  die  Kirche  nur  zu  oft  beide  Augen  zu.  Es  gab 
bis  vor  kurzem  große,  gebildete  Städte,  in  deren  Zeitungen 
man  Sonnabend  lesen  konnte,  welche  Gradualen  und 
Offertorien  an^  nächsten  Tage  in  den  einzelnen  Kirchen 
aufgeführt  wurden,  wer  dabei  das  Solo  sang,  wer  das 
obligate  Soloinstrument  dazu  und  wer  die  Orgel  spielte. 
Doch  überwiegen  in  beiden  Gattungen  die  Kleinode  der 
kirchUchen  Tonkunst.  Um  Bekanntes  zu  nennen:  Pale- 
strinas  >0  hone  Jesuc,  »Adoramus  tec,  ääydns  »Insanae 
vanae  curaec,  Mozarts  >Ave  verum  corpusc  sind  als 
Gradualen  und  Offertorien  entstanden.  Soweit  aus  der 
Gattung  Chorwerke  in  Betracht  kommen,  welche  im 
heutigen  Konzert  eingebürgert  sind,  sollen  sie  in  den 
Rubriken  Motette  und  Kantate  ihren  Platz  mit  er- 
halten. 

Der  Gruppe  der  frei  gedichteten  Hymnen  steht  eine 
andere  gegenüber:  die  der  biblischen  Hymnen.  Ihr  Text 
ist  Wort  der  heiligen  Schrift.  Die  Psalmen  (cantica  Da- 
vidis)  bilden  den  größten  Teil  dieser  Gattung.  Im  Rang 
stehen  ihnen  die  dem  neuen  Testament  entnommenen 
Cantioa  majora. Hymnen :  die  sogenannten  cantica  majora:  der  Lob- 
gesang der  Maria,  der  Lobgesang  des  Zacharias  und  der 
Lobgesang  des  Simeon  jedoch  voran.  Der  erste  dieser 
drei  cantica  majora,  das  sogenannte  »Magnificat«  ist 
die  unter  den  Hymnen  jeglicher  Art  am  häufigsten 
komponierte.  Zunächst  wird  man  die  Gründe  für  diese 
Bevorzugung  in  der  Poesie  des  Magnificat  suchen  dürfen. 
Das  Wunder  der  Engelserscheinung,  aus  welcher  es  her- 
vorgegangen, der  Grundton  schlichter  kindlicher  Demut 
in  den  Worten  der  durch  die  Verkündigung  so  plötzlich 
zu  unvergleichhchen  Ehren  berufenen  Jungfrau,  machen 
diesen  Lobgesang  zu  einem  der  eigentümlichsten  und 
schönsten  unter  den  Hymnen  aller  Literaturen.  Die  mu- 
sikalische Fantasie  wird  noch  dazu  durch  den  Reichtum 
anschaulicher  und  zueinander  kontrastierender  Einzel- 
bilder in  Bewegung  gesetzt,  welche  der  Lobgesang  einfach 


•— *      383      *— ' 

zusammenstellt.     Da   stehen   die  Schicksale   der  Armen 
und  der  Hoffärtigen  dicht  nebeneinander.    Diesen  poeti- 
schen Stützen '  verdankt  das  Magnificat   nicht  bloß  eineMagniflcatsTon 
hervorragende  Stellung  in  der  katholischen  Vesperliturgie.     F.  Airarlo, 
Auch  die  Protestanten,  die  den  volkstümhchen  Marien-      &,  Ciooe, 
kultus  bekämpften,  behielten  das  Magnißcat  noch  lange      0.  Bnfay, 
bei.    In  den  Nürnberger  Nebengottesdiensten  war  es  noch    0.  Qabrie|li, 
bis  ins  4  7.  Jahrhundert  hinein  mindestens   einmal  jede       J.  Fnzi 
Woche  zu  hören  *).    So  sehen  wir  denn  die  Komponisten    P.  Chuorrero, 
der  Vokalperiode,  mit  Dufay  angefangen,  immer  wieder     L.  Häßler, 
zum  Magnificat  zurückkehren  und  die  acht  Psalmentöne    J.  K.  Kerll, 
(Ritualmelodien,    welche    die  Gregorianische  Liturgie   für    0.  dl  Lasso, 
die  verschiedenen  Festzeiten,  in  welchen  der  Lobgesang     Lemaiatre, 
gesungen   werden   konnte,   bot)    von   neuem   bearbeitet.        Lotti, 
Viele    veröffentlichten    ihre\  Magnificats   in   Folgen   von    L.  Marenalo, 
Büchern,  eines  nach  dem  andern.   Von  Orlando  diLasso  Ch.  B.  Martini, 
wurden  in  Stimmen  hundert  gedruckt,  von  Palestrina    B.  y.  Melle, 
drei  Bücher.   Verhältnismäßig  viele  dieser  Magnificats  der   L.  da  Monte, 
Vokalperiode  liegen  heute  in  Partiturausgabe  vor.     Wir     O.  Morales, 
nennen  nach  dem  Alphabet  F.  An  erio,  G.  C  r  oce ,  G.  Dufay ,    M.  ITavarro, 
G.  Gabrieli  (ein  achtstimmiges  und  ein  zwölfstimmiges),      D.  Orti«, 
J.  Fux,  F.  Guerrero,  L.  Haßler,  J.  K.  Kerll,   0.  di(j.  p.  da  Pale- 
Lasso  (etliche  fünfzig  in  Proske  und  Commer),  Lemais-        strinai    » 
tre,  Lotti,  L.  Marenzio,  G.  B.  Martini,  R.  v.  Melle,   B.  de  Pareja, 
L.  da  Monle,   C.  Morales,    M.  Navarro,   D.  Ortiz,      ö,  Pitoni, 
G.   P.   da  Palestrina**),   R.  de   Pareja,   G.  Pitoni,  H.  Praetorins, 
H.   Praetorius,   B.   Ribera,   H.   Schütz,    L   Senfl,     B.  Eibera. 
F.    Suriano,    A.    de    Torrentes,    H.    de    Vargas,     H.  Sohiit«, 
C.  Verdonck,   A.  Willaert,'C.  de  Zaccariis.     Aus      L.  Senfl, 
Novellos   Sammlung  würde  sich    diese  Liste  mit   einer     F.  Snriano, 
Reihe  von  Magnificats  englischer  Tonsetzer,  unter  denen  A.  de  Torrentes, 
auch   H.  Pur  cell,   vervollständigen    lassen.     Unter   den  H.  de  Vargas, 
nur   in    Stimmausgaben    erhaltenen    scheinen    die    von    0.  Verdonck, 
Pinelli  besonders  verbreitet  gewesen  zu  sein.    Magni-    a,  Willaert, 
ficats    älterer    deutscher  Tonsetzer    und   auf   deutschen  C.  de  Zaccariis. 


*)  Herold:  Alt-Nomberg  in  seinen  Gottesdiensten.     1890. 
**1  35  in  der  Gesamtausgabe  von  Breitkopf  &  HärteL 


— ^      384     4.— 

Text  komponiert,  besitzen  wir  in  neuer  Partiturfonn  nur 
von  L.  Haßler  und  H.  Schütz.  Die  von  J.  H.  Schein 
und  Chr.  Demantius  wären  der  gleichen  Auszeichnung 
wert.  Die  Zahl  von  alten  Stimmenausgaben  ist  auch 
bei  uns  bedeutend  groß.  Die  Magnificats  der  Vokal- 
periode sind  ausnahmlos  antiphonisch  gehalten;  nur  in 
der  Art  des  Antiphonierens  unterscheiden  sie  sich.  Die 
älteste  Form  ist  der  Wechsel  zwischen  einstimmigem 
Gregorianischen  Gesang  und  mehrstimmigem  Chorsatz, 
Vers  um  Vers.  Die  Gregorianischen  Verse  sind  dem  Li- 
turgen  zugedacht  und  behalten  immer  dieselbe  Melodie, 
die  Chorverse  sind  freie,  der  Stimmung  und  dem  Gehalt 
des  einzelnen  Wortes  nachgehende  Kompositionen,  was 
nicht  ausschließt,  daß  sie  in  der  Mehrzahl  spärlicher  oder 
reichlicher,  loser  öder  fester  die  liturgische  Melodie  mit 
benutzen.  Zu  den  für  die  verschiedenen  Festzeiten  be- 
stimmten acht  Haupttönen  des  Magnificat  treten  noch 
eine  Reihe  von  Varianten,  die  nur  in  einzelnen  Ländern 
oder  für  kurze  Zeiten  Geltung  gehabt  haben.  Auch  sie 
gleichen  den  Fsalmentönen  und  sind  wie  diese  Akzent- 
weisen mit  melodischen  Formeln  für  den  Anfang  und  für 
den  Schluß  der  Verse.  Das  naturgemäße  und  wirkungs- 
vollere Verfahren  mit  der  liturgischen  Intonation  zu  be- 
ginnen und  ihr  den  Chorsatz  folgen  zu  lassen,  war 
durchaus  nicht  die  Regel,  wir  haben,  wenigstens  in  der 
früheren  Zeit,  ebensoviele  Magnificats,  in  denen  die  un- 
geraden als  solche,  in  denen  die  geraden  Verse  figuraUter 
komponiert  sind. 

Mit  der  zweiten  Hälfte  des  4  6.  Jahrhunderts  hört 
der  versweise  Wechsel  von  Liturg  und  Chor  auf,  die 
Hauptform  für  den  Vortrag  des  Magnificat  zu  sein.  Die 
hturgische  Intonation  wird  auf  den  ersten  Vers  beschränkt, 
die  andern  elf  singt  der  Chor.  Oder  aber:  es  tritt  an 
Stelle  des  Liturgen  ein  zweiter  Chor.  Von  Willaert  ab 
sind  die  Magnificats  einer  der  ansehnlichsten  Posten  in 
der  die  Zeit  beherrschenden  Kunst  der  doppelchörigen 
Komposition  und  zugleich  wächst  damit  die  Zahl  der  in 
Druck  gebrachten  Magnificats  bedeutend.   Hierzu  kommt 


— «-     385      «— 

nun  noch  eine  dritte  Art  des  Alternierens,  nämlich :  Wechsel 
voa  Gregorianischer  Intonation  und  selbständigem  Orgel- 
spiel.   Darüber,  dajß  in  der  älteren  Zeit  die  Aufgabe  der 
Orgel  weit  mehr  darin  bestand,  den  Gesang  zu  ersetzen, 
als  ihn  zu  begleiten,  .sind  wir  durch  Rietschel*)  gründ- 
lich unterrichtet  worden.    Die  Orgel  nimmt  in  der  Messe 
schon  am  Anfang  des  1 5.  Jahrhunderts  dem  Chor  kleinere 
und  größere  Abschnitte  ab,  sie  spielt,  die  Melodie  poetisch 
variierend  und  paraphrasierend,   in   den  fast  endlosen 
evangelischen  Kirchenliedern  des   47..  Jahrhunderts  die 
gute  Hälfte  der  Verse  allein,  während  Chor  und  Gemeinde 
still  den  Text  nachlasen,  und  sie  leistet  einen  ähnlichen 
Ersatz  und  Hilfsdienst  auch  im  Magnificat.     Hier  finden   Orgelmagni- 
sich  sogenannte  Orgelmagnificats  bereits  seit  der  Mitte     flcats  von 
des  4  5.  Jahrhunderts  **)  und  sie  gehen  bis  ins  48.  weiter.     8.  Soheidt, 
Von  den  hierher  gehörenden  Arbeiten  bedeutender  Meister    J.  E.  Kerll. 
seien  die  von  S.  Scheidt,  J.  K.Kerll  und  Job.  Pachelbel    J.  Paohelbel. 
deshalb  hervorgehoben,  weil  sie  durch  Neudrucke  bequem 
zugänglich  sind***). 

Von  den  in  moderner.  Partitur  heute  vorliegenden 
vokalen  Magnificats  mag  vielleicht  das  von  R.  Schlecht 
(Geschichte  der  Kirchenmusik  S.  265)  mitgeteilte  das  älteste 
sein.    Es  geht  auf  den  fünften  Ton: 


r  ir  r  r  ir  f  if"  r  I "  I 


II. mA     ».aLm»     n»-^      Öo.mi  .  nun. 


*)  G.  Rietsohel:  Die  Aufgabe  der  Orgel  im  Gottesdienst 
des  16.  nnd  17.  Jahxlranderts.    Leipzig  1893. 

**)  A.  Sandberger:  Einleltong  zur  Aasgabe  der  Klayierwerka 
von  Job.  und  W.  H.  Pachelbel  (Denkmiler  deutscher  Tonknnst 
in  Bayern,  Bd.  IVV 

***)S.  Scheidt  (Tabnlatora  nnova)  in  den  Denkmälern 
deutscher  Tonkunst,  Jahrg.  I,  Pachelbel  in  den  DenkmUern 
der  Tonkunst  In  Österreich,  YIII,  2;  Kerlls  Modulatio  orga- 
nica  wird  von  den  Österreichern  für  den  Druck  vorbereitet. 

II,  1.  23 


-^     386     ♦— 

und  gibt  das  »Exultavitc,  das  »Quia  fecit«,  das  »Fecit 
potentiamc  und  die  andern  geraden  Verse  als  Chorsätze. 
Da  findet  sich  denn  an  einem  Teil  dieser  Ohorsätze  als 
eine  Spur  hohen  Alters,  die  aus  der  Geschichte  der  Messe 
und  Motette  bekannte  Mehrtextigkeit.  Das  liturgische 
Grundthema  wird  am  Anfang  in  der  bekannten  nach- 
ahmenden Weise  durch  alle  vier  Ghorstimmen  geführt, 
aber  schon,  nach  der  ersten  Durchführung  einer  von  ihnen 
allein  überlassen,  welche  es  in  rhythmischer  Dehnung 
breiter,  melodisch  tot,  zu  Ende  singt.  Die  andern  drei 
stimmen  dazu  bekannte  Weihnachtslieder  an,  im  »Et 
exultavit«  das  »Resonet  in  laudibus«,  im  >Quia  fecitc 
das:  >In  dulci  jubilo,  nun  singet  und  seid  froh«  usw.: 
lateinisch  und  deutsch  durcheinander.  Ja  die  Naivität 
geht,  ähnlich  wie  in  der  Malerei  des  Mittelalters,  welche 
Passionsbilder  mit  Storchnestern  und  andern  Volks- 
späßen  belebte,  wiederholt  bis  zu  Zitaten  aus  der  Cou- 
pletmusik jener  Zeit:  Takte  lang  erklingen  in  allen  drei 
oder  in  nur  einer  Stimme  die  wohlbekannten  Refrains: 
»Bombon«,  >Cucu<  und  andere.  Es  ist  nicht  gleichgültig, 
daß  dieses  Sohle chtsche  »Magnificat«  für  die  Weihnachts- 
zeit bestimmt  ist.  Denn  gerade  die  Weihnachtsmusiken  je- 
der Art  hielten  am  zähesten  am  Volkstümlichen  fest,  und 
der  Brauch  im  mehrstimmigen  Satz  jeder  Stimme  ihren 
besondem  Text  zu  geben,  der  heute  in  die  komische  und 
die  dramatische  Musik  verbannt  ist,  war  in  der  älteren 
Zeit  auch  für  die  Kirchenmusik  ganz  nach  dem  Sinne 
des  Volkes. 

Die  nächstältesten  neugedruckten  Chormagnificats 
L.  8«iiiL  sind  die  .von  Ludwig  Senfl*),  acht  im  ganzen,  für  jeden 
Ton  eins,  mit  vorwiegendem  vierstimmigen  Satz  auf  die 
geraden  Verse,  zuerst  im  Jahre  4  587  veröffentlicht.  Auch 
sie  wurzeln  in  der  niederländischen  Kunst  und  setzen 
wie  die  Messen,  die  Motetten  und  die  weltlichen  Chor- 
lieder des  damaligen  Deutschlands  eine  liebevolle  Ver- 
trautheit   mit    Gregorianischen    Weisen    voraus.      Wie 

*)  Denkmäler  der  Toukunst  in  Bayern,  III,  2. 


3a7 


später  wieder  im  Bachschen  Konzert,  in  der  Haydnschen 
Symphonie,  im  Wagnerschen  Musikdrama,  nur  in  noch 
höherem  Grade  gilt  dem  Umbilden,  Auslegen,  dem  Kom- 
binieren der  Noten. die  Hauptarbeit  auch  in  diesen  Chor- 
Sätzen.  Aber  die  Magnificats  Senfls  weisen  daneben  auch 
und  viel  deutlicher  und  entschiedener  als  andere  Werke 
selbst  der  bedeutendsten  Landsleute  Lassos  auf  den  An- 
bruch einer  neuen  Zeit,  auf  die  kommende  Monodie  hin. 
Eine  neue  Melodik  tritt  in  ihnen  auf,  die  aus  frisch  ent- 
deckten, reichen  seelischen  Quellen,  aus  dem  gesteigerten 
Innenleben  von  Renaissance  und  Reformation  entsprungen 
und  in  besonders  eigner  Formenarbeit,  der  mehrstimmigen 
Vertonung  antiker  Metren  geschult  ist.  Die  Melodik  von 
Senfls  Magnilicat  steht  in  einem  ganz  direkten  Zusam- 
menhang mit  der  seiner  vierstimmigen  Kompositionen 
horazischer  Oden  von  4  534.  Das  Lob,  das  Minervini 
diesen  (in  der  Vorrede]  spendet:  Senil  habe  >seinen 
Tönen  den  Geist  der  Worte  ....  einzuhauchen  gewußte, 
kann  für  diese  Magnificats  nur  wiederholt  werden.  Um 
sich  von  der  Natur  dieses  neuen  Geistes  zu  überzeugen, 
genügt  es,  den  achten  Vers  des  »Esurientes«  usw.c  in  dem 
Magnificat  primi  toni  aufzuschlagen.  Nach  einem  Satze, 
wie  ihn  dessen  erste  neun  Takte  bringen: 


ß .  8u.ri  .  en 


B  .  su.riC  en  - 


tes 


te.il. 


e.aiLri  .   ob    » 


teft 


XXVK. 


UBW. 


-— ♦      388      ♦— 

hat  man  in  der  früheren  und  gleichzeitigen  Kirchenmusik 
lange  za  suchen;  hei  Senil  aber  finden  sich  ähnliche,  ja 
wörtlich  gleiche  Stellen  genug.  Wenn  moderne  Augen 
an  ihr  überhaupt  etwas  bemerkenswertes  finden,  so  ist 
es  der  im  cantus  firmus  und  in  der  kanonischen  Stimm- 
führung liegende  Teil  alter  niederländisdier  Kunst.  Für 
die  Senflsche  Zeit  War  dieses  das  Selbstverständliche:  das 
überraschende  Element  lag  dagegen  für  sie  in  der  Wort- 
wiederholung, im  Aufbau  der  Periode  aus  Sequenzen, 
nicht  zuletzt  auch  in  der  melodischen  Kühnheit  und 
Fülle  eines  bloß  kontrapunktischen  Motivs.  Solchen 
Stellen  verdankt  nicht  bloß  der  Ghorsatz  Palestrinas 
manche  Schönheit,  sie  haben  die  Musik  auch  zu  Osiander 
und  Monteverdi  weiter  geführt.  In  der  besondem  Ge- 
schichte des  Magnificats  kehren  Senflsche  Eigenheiten 
noch  lange  wieder,  namentlich  seine  Behandlung  des 
»Esurientes  usw.«,  das  immer  der  bedeutendste  Satz  bei 
ihm  bleibt,  ist  in  dem  mitleidsvollen  Ton,  in  dem  Ver- 
weilen bei  >inanes«  und  »dimisit«  typisch  geworden. 
Wo  deshalb  das  geistliche  Konzert  belehren  und  der  ge- 
schichtlichen Bildung  dienen  will,  müssen  die  Magnificats 
Senfls  Repertoirewerke  sein.  Zur  Einführung  erweist  sich 
wohl  das  fünfte  als  das  geeignetste. 

Oaß  zum  cantus  firmus  statt  der  liturgischen  Weise 

ein  weltliches  Lied  gewählt  wurde,  wie  man  in  der  Messe 

häufig  tat,  kam  beim  Magnificat  nur  ausnahmsweise  vor. 

Einen   sehr   häufigen  Gebrauch   von    dieser  Ausnahme 

Orlando  di    hat  Orlando  di  Lasso  gemacht,  dessen  Kompositionen 

Lasso,       des  Marianischen  Lobgesanges  zu  den  reizvollsten  Ton- 

Magniflcats.  werken  gehören,  welche  wir  im  a  capella-Stile  besitzen. 

Eigen  ist  ihnen  ein  freier  Stil,  der  sich  an  den  kirchlichen 

Ton  nicht  bindet,  eine  freie  Mischung  von  tiefsinnigem 

und  kindhchem  Wesen  und  ein  Reichtum  an  fantasievollen 

Motiven,  welche  die  einzelnen  Textbegriffe  natürlich  und 

höchst   anschaulich   beleben.     Lassos  Magnificats   sind 

eine  Fundgrube    von    treffenden   Zügen    musikalischen 

Kleinlebens.    Darin  und  in  der  freien  Entfaltung  großer 

Persönlichkeit  gehen  sie  über  die  Arbeiten  Senfls  hinaus. 


,  389 

Doch  hat  auch  Lasso  diesen  seinen  Vorgänger  für  einzelne 
>  Wendungen  (dimisit,  jdispersit)  zum  Muster  genommen. 
Der  frische  angeregte  Zug,  welcher  Lassos  Magnificats 
von  Grund  aus  erfüllt,  erstreckt  sich  auch  auf  den  häu- 
figen Wechsel  zwischen  volleren  und  dünnen ,  Sätzen. 
Unter  den  letzteren  ragen  durch  die  bedeutende  Dekla- 
mation die  sogenannten  Bicinia  herVor,  die  in  andern 
Chorwerken  jener  Periode  oft  seltsam  berührenden  Duette, 
durch  welche  die  Tonsetzer  ihre  kirchlichen  Bauten  zu 
kolorieren  suchten.  In  den  katholischen  Kirchen  des 
Cäcilienbereichs  sind  diese  Magnificats  des  Orlando  heute 
nicht  fremd.  Auch  im  geistlichen  Konzert  würden  sie 
sich  bewähren.  Als  zur  Einführung  in  dieses  Kunstgebiet 
des  Münchner  Meisters  besonders  geeignetes  Stück  kann 
das  Magnificat  quarti  toni  genannt  werden,  das  Gomm^r 
als  24.  Nummer  des  II.  Bandes  seiner  >Musica  sacra« 
veröffentlicht  hat.  Der  phänomenale  Wechsel  zwischen 
Moll  und  Dur  an  der  Stelle  »spiritus  mens«  im  ersten  Satz 
gibjt  von  dem  kühnen  Harmoniegebrauch  des  Lasso,  durch 
den  er  sich  in  erster  Linie  von  Palestrina  und  den  Ita- 
lienern unterscheidet,  einen  hellen  Begdff  und  prägt  das 
Bild  dieses  wunderbar  kraftvollen  Tonsetzers  ein  für  alle- 
mal ein.  Bemerkt  sei,  daß  auch  für  Konzertaufführungen 
alle  liturgischen  Intonationen  zu  geben  sind  und  am 
besten  dem  Unisono  sämtlicher  Männerstimmen  übertragen 
werden.  Eins  von  den  Magnificats  Lassos,  dessen  Wir- 
kung keinem  Zweifel  unterliegt,  ist  ferner  das  über 
»Bean  le  Gristal«,  eins  von  den  mehreren,'  in  welchen 
Orlando  tiefe  Lagen  der  unteren  Stimmen  vermieden 
hat.  Auch  andere  Tonsetzer  der  Vokalperiode  haben 
Magnificats  ohne  eigentliche  Bässe  geschrieben.  Man 
kann  in  diesem  Punkte  vielleicht  eine  Rücksicht  auf  die 
geschichtliche  Persönlichkeit  der  Sängerin  dieses  Lob> 
gesanges  erblicken.  Sie  war  aber  jedenfalls  weit  davon 
entfernt,  eine  Regel  zu  sein.  Es  stehen  diesen  hochliegenr 
den  Magnificats  auch  solche  für  Männerstimmen  gegen- 
über. Selbst  in  der  Zeit  des  begleiteten  Sologesangs  haben 
die  Komponisten  ihre  Magnificats  nur  sehr  selten  persön- 


390 


lieh  oder,  wenn  man  so  will,  dramatisch  gehalten.  Die 
kleine  Gruppe  von  Kompositionen,  welche  den  Lobgesang 
der  Maria  in  Form  von  reinen  oder  vom  Chor  unter- 
stützten Solokantaten  (für  Sopran  oder, Alt)  behandeln, 
besteht  vorwiegend  aus  Arbeiten  des  49.  Jahrhunderts. 
Morlacchi,  Neukomm ^  Fröhlich,  Klein  sind  die  be- 
kanntesten unter  den  betreffenden  Tonsetzern.  Unter 
den  ältesten  Meistern  wird  S.  Bach  ein  kleines  Magni- 
ficat  für  eine  Solostimme  zugeschrieben.  Es  ist  jedoch 
neuerdings  verschollen.  Die  Soloform  tritt  beim  Magni- 
ficat  viel  mehr  zurück  als  beim  »Stabat«.  Von  den  litur- 
gischen Rücksichten  abgesehen,  waren  es  die  kräftigen 
Bilder  im  Texte  und  die  außerordentliche  Schönheit  der 
Ritualmelodien,  welche  die  Komponisten  bei  der  Be- 
arbeitung dieses  Lobgesangs  ganz  unwillkürlich  zum 
Chore  drängten.  Als  besonders  ausgezeichnete  Chor- 
magnificats,  die  zum  größeren  Teil  in  Neudrucken  «in- 
gesehen werden  können,  seien  die  von  G.  Verdonck, 
J.  B.  Pinelli,  Lambert  da  Monte,  R.  v.  Melle, 
G.  Morales,  L.  Marenzio,  G.  Groce,  G.  Demantius 
genannt. 

Zwei  der  schönsten  Magnificats  aus  der  Blütezeit  der 

L.  Haßler.  a  capella-Musik  sind  die  L.  Haßlers*).  Ihre  Schönheit 
liegt  in  der  Mannigfaltigkeit  und  Natürlichkeit  des  Stils,  in, 
einer  Erfindung,  die,  gleichviel  ob  in  den  einfachsten  For- 
men des  Volksliedes  oder  in  den  schwersten  Künsten  des 
Kontrapunkts  ausgedrückt,  immer  anschaulich,  lebendig 
und  zwingend  bleibt.  Haßler  komponiert  die  geraden  Verse 
und  läßt  von  den  ungeraden  nur  den  I.  und  11.  intonieren. 

H.  Bchüti.  Heinrich  Schütz  hat  in  seinem  Lobgesang  der  Maria 
(als  vierstimmige  Ghormotette  mit  Orgel)  durch  Einfach- 
heit und  unwiderstehliche  Liebenswürdigkeit  das  Bild 
einer  Madonna  aus  dem  Volke  festgehalten.  Die  Kom- 
position **)  gehört  unter  die  köstlichsten  Stücke  der 
Magnificatkunst. 

*)  Denkmäler  deutscher  Tonkunst,  Bd.  IL 
*♦)  Schützens  Werke,  Bd.  XH. 


391      ♦— 

Von     den    Komponisten     de^    Magificat     aus    dem 
Ende  der  Vokalperiode  wurde  in  früheren  Jahrzehnten 
verhältnismäßig  ^  am   häufigsten    das '  vierstimmige   von 
A.  Lotti  aufgeführt,  ein  Werk,  welches  der  Poesie  und      A.  Lottl, 
Plastik  im  Ausdruck  zwar  entbehrt,  aber  durch  formelle    Magniflcat 
Vorzüge,  Verbindung  von  Anfang  und  Endsatz,  feine      (Cdur). 
geist-  und  kunstvolle,  dabei  fließende  Verknüpfung  der 
Stimmen  sehr  schön  wirkt.    Besonders  .gelungen  ist  in 
dieser  Arbeit  die  Einfügung  der  schönen  Gregorianischen 
Grundmelodi^  (Es  ist  abermals  der  fünfte  Ton  des  Magni- 
flcat.)   Die  dem  Ghorsatz  in  der  Breitkopfschen  Ausgabe 
beigegebene  Orgelstimme  ist  entbehrlich,  wie  bei  vielen 
Chorwerken  des  4  7.  (Tahrhunderts. 

Für  die  begleiteten  Magnificats  des  47.  Jahrhundert 
sind  wir  in  der  Hauptsache  zur  Zeit  auf  Handschriften 
angewiesen.  Wenn  aus  dieser  Masse  eins  der  Veröffent» 
lichung  wert  erscheint,  so  ist  es  das  G  dur-Magniflcat 
K.  Kerlls,  das  sich  in  dem  als  MMs.  4  4  564  signierten  J.  E.^Eerll. 
Kantatenband  der  Königlichen  Bibliothek  zu  Berlin  be- 
flndet  Es  gehört  zu  den  bedeutendsten  Kompositionen 
K.  Kerlls  und  macht  sofort  in  den  ersten  Takten  seine 
Originalität  geltend.  Die  breit  liturgischen  Chorinto- 
nationen der  ersten  Textzeilen  werden  nämlich  aufs  an- 
mutigste von  kurzen  Kadenzen  des  ersten  und  dann  des  ' 
zweiten  Solosoprans  unterbrochen  und  belebt.  Unter 
den  Magnificats  aus  dem  Anfang  der  Instrumentalperiode 
ragen  ferner  die  des  Sweelinkschen  Schülers  P.  Siefert  F.  Siefert. 
hervor.  Das  älteste  neugedruckte  Magnificat  ist  das  acht- 
stimmige von  Rudolf  Ahle  (aus  dem  »Neugepflanzten  B.  Ahle. 
Thüringischen  Lustgarten«  von  4  657)"').  Es  besteht  aus 
zehn  lose  nebeneinandergestellten,  zum  Teil  durch  die 
Zwischenspiele  eines  Instrumentenquartetts  unterbroche- 
nen Sätzchen,  die  ebenso  schwach  erfunden,  als  durch- 
geführt sind.  Nur  als  Bild  der  Naivität  und  Unfertigkeit 
erregt  es  Interesse.  Dagegen  haben  die  Kompositionen  des 
Lobgesanges  von  A.  Caldara  und  Fr.  Durante  hohen  A.  Oaldara. 

♦)  Denkmäler  deutscher  Tonkunst,  Bd.  V. 


392     ♦— 

Kunstwert.  Von  Caldera  waren  zwei  Magnificats  in 
Umlauf,  von  denen  namentlich  das  zweite  (in  D  mit 
großem  Orchester)  Bedeutendes  Ansehen  erlangte.  Auch 
Seb.  Bach  hat  es  eigenhändig  abgeschrieben.  Das  Werk 
ist  heute  noch  auf  vielen  Bibliotheken  handschriftlich  zu 
finden,  aus  der  Praxis  aber  leider  verschwunden.  Dieses 
Bedauern   darf  auf  Galdara    als   Komponist  kirchlicher 

^  Musik  im  allgemeinen  ausgedehnt  werden.    Er  ist  hier 

eine  ungleiche  Kraft,  ■  afier  doch  eine  hcheitsvolle  Er- 
scheinung, namentlich  in  der  ßehandlui^  des  alten 
antiphonischen  Stils. 

Fr.  Durante.  Das   Magnificat   von    Fr.  Durante    liegt    in    ver- 

schiedenen neueren  Partiturausgaben  vor  und  erscheint 
in  der  Bearbeitung  von  R.Franz,  welche  das  nur  aus 
zwei  Violinen  bestehende  Originalorchester  an  der  Hand 
der  Orgelstimme  zweckmäßig  erweitert,  nicht  selten  auf 
den  heutigen  Programmen.  Das  Werk  steht  in  seinem 
Stile  noch  vorwiegend  auf  dem  vokalen  Boden;  die  In- 
strumente tragen  keine  wesentlichen  Ideen  hinzu,  und 
der  Einfluß  der  neuen  Periode  äußert  sich  im  Chorsatz 
hauptsächlich  nur  durch  eine  größere  rhythmische  Be- 
weglichkeit. Das  Magnificat  Durantes  ist  aber  eins  der 
liebenswürdigsten;  im  gewissen  Sinne  darf  es  als  das 
Ideal  einer  Komposition  des  Lobgesanges  betrachtet 
werden.  Die.  Verschmelzung  eines  bräutlich  frohen,  hei- 
tern, naiven  Tones  mit  einer  gehobenen  kirchhch  heiligen 
Stimmung  gibt  ihm  seine  Eigenart.  Formell  ist  es  aus- 
gezeichnet durch  die  Plastik  der  Themen,  die  zum  Teil 
sofort  wie  Volkslieder  in  Ohr  und  Herzen  haften,  und 
durch  die  meisterhafte  Ausnutzung  des  thematischen 
Materials.  Die  schönen  Weisen  kommen  allen  Stimmen 
zugute.  Dem  ersten  sehr  breit  ausgeführten  und  dem 
letzten  Satze  liegt  als  Grundthema  der  erste  Ton  des 
»Magnificatsc  unter: 


—^     393      ♦— 

Nach  immer  andern  und  immer  froh  bewegten  Serten- 
biicken,  welche  die  Stimmen  einander  nachtun,  kehren 
sie  stets  freudig  pathetisch  zu  dieser  Hauptmelodi« 
zurück.  Namentlich  den  ersten  Satz  gruppiert  und  be- 
herrscht sie  in  einer  großartigen  Entschiedenheit.  Wenn 
Durante  mit  einer  bezwingenden  und  eigenen  Meisterschaft 
den  Ton  des  Lobgesanges  festhält,  so  ist  er  doch  von 
Eintönigkeit  weit  entfernt.  Das  Bild  hat  die  frappantesten 
Schatten;  aber  sie  sind  mit  einer  überlegenen  Kürze 
punktiert  Wir  finden  solche  belebende  Kontraste  bei 
d^r  Erwähnung  der  »humilitas«  (im  ersten  Satz],  der 
»Misericordiae«  im  zweiten  usw.  Dasjenige  der  aus  dem 
Ganzen  hervortretenden  Einzelbilder,  welches  der  Kom- 
ponist am  ausführlichsten  und  mit  besonderer  Hin- 
gabe ausgeführt  hat,  ist  die  Stelle  >dispersit  superbosc 
Die  stolz  wegstreifende  Baßfigur,  die  klägliche  Harmonie 
(eis  es  g),  mit  der  das  Tutti  darauf  antwortet,  wirken 
ungemein  malerisch.  Solosätze  hat  Durante  nur  zwei 
und  zwar  in  Gestalt  von  Duetten:  den  ersten  kurz,  aber 
in  einem  eigenen  Ausdruck  von  Ernst  bei  den  Worten:  . 
>et  misericordiae  ejus«,  der  andere  ausgeführtere  zu  den 
Worten    »suscepit  Israel«    vertritt   in    dem  Hauptthema 

^     ^       -m-t  tt>____      }.    am  stärksten  die 

l^il  P  iP  p  M^  r    ^  P'P  tl  p  C/fi^     volkstümliche 

SB.Me.pit  b.n.fi,  •  n^ sM-pH  Seite  der  Kom-- 

Position.  Wie  in  der  Instrumentalzeit  im  allgemeinen 
das  Antiphonieren  und  die  genaue  Übereinstimmung  von 
Musiksätzen  und  Versen  aufhört,  so  auch  bei  Durante. 
Die  Anlage  seines  Magnificats  ist  im  wesentlichen  drei- 
teilig. Das  >Magnificat  anima  mea«  und  das  >Sicut  erat« 
bilden  große,  einander  entsprechende  Seitenflügel :  der 
Mittelbau  umfaßt  klargegliedert,  aber  ohne  trennende 
Einschnitte,  den  ganzen  Textteil  von  >et  misericordia« 
bis  zum  »Gloria  patri«. 

Im  Jahre  4  904  ist  durch  eine  Pariser  Aufführung  die 
Aufmerksamkeit   auch    auf  ein   Magnifitat   des   großen 
Ph.  R am eau  zurückgelenkt  worden,   das  seinerzeit  die  Fht  Bameau. 
französische  Grenze  nicht  überschritten  hat. 


— *     394     ♦— 

Die  heute  aus  dem  48.  Jahrhundert  bekannteste 
und  am  häufigsten  zur  Aufführung  gelangende  Kom- 
position des  Lobgesangs  Mariae  ist  das  sogenannte 
J.  8.  Baoh,  große  Magnificat  von  J.  S.  Bach.  Wir  besitzen  das 
Magniflc&t  Werkj  welches  Spitta  in  das  Jahr  1723  setzt,  in  einer 
(in  D).  ersten  und  einer  zweiten  Bearbeitung.  Jene  hat  Pölchau 
schon  im  Jahre  4  844  im  Druck  herausgegeben,  die  letz- 
tere wurde  von  der  Bachgesellschaft  im  Jahre  4862  ver- 
öffentlicht und  sie  wird  neueren  Aufführungen  (häufig 
mit  Einrichtung  des  in  den  Trompeten  schweren  Or- 
chesters) in  der  Regel  zugrunde  gelegt.  Das  Magnificat 
Bachs,  welches  als  Ganzes  schon  wegen  der  Kürze  seiner 
Formen  nicht  mit  den  Passionen,  der  Hmoll-Messe  oder 
den  bedeutendsten  Kantaten  in  eine  Reihe  gestellt  werden 
kann,  nimmt  doch  unter  den  Werken  des  Tonsetzers  einen 
eigenen  Platz  durch  die  Kraft  seiner  knappen  Chöre  eiq. 
Unter  den  Arien  ist  die  für  Alt  gesetzte:  >£surientes  im- 
plevit  bonis«  von  hervorragender  Schönheit.  Der  erste 
Chor  ist  wie  ein  festlicher  Reigen,  zu  dem  die  Instru- 
mente (das  Bachsche  Feiertagsorchester:  Orgel,  Streich- 
quintett^  Flöten,  Oboen,  drei  Trompeten  und  Pauken)  ein 
Wettspiel  vollführen.  Die  Singstimmen  rufen  nur  die 
Erklärung  in  die  rauschende  und  konzertierende  Sympho- 
nie hinein:  In  unaufhörlicher  Wiederholung,  als  sei  des 
Jubeins  kein  Ende,  erschallt  von  allen  Seiten  ihr :  »Magni- 
ficat, magnificatc.  Sie  singen  es  auf  dieselben  Motive, 
aus  welchen  die  Instrumente  ihre  Freudenkränze  winden. 
Die  beiden  Hauptthemen  dieses  stürmischen  Präludiums 
sind  die  Figuren: 


.   gn1.fl.Mit 

In  dem  ersteren  ist  besonders  das  Quartenintervall  wirk- 
sam. In  dieser  Auffassung  des  ersten  Verses  begegnet 
sich  Bachs  Magnificat  mit  dem  von  Levini,  einer  durch 
charaktervolle  Thematik  überhaupt  hervorragenden,  na- 
mentlich im  »Fecit  potentiam«  ganz  gewaltigen  Komposi- 


395 


tion"'}.  Nur  schickt  Levini  dem  rauschenden  Ausdruck 
der  Freude  eine  kurze  feierliche  Einleitung  voraus. 
Bach  hat  unter  den  deutschen  Komponisten,  welche  das 
Magnificat  in  der  italienischen  Kantatenform  kompo- 
nierten den  Sologesang  besonders  stark  zur  Ausführung 
der  Hymne  herbeigezogen.  Die  erste  dieser  Soloarien 
tritt  schon  beim  »Et  exultavit«  ein.  Der  Sopran  singt  sie. 
Der  Bau  der  Nummer  zeichnet  sich  durch  kurze  Gliede- 
rung aus.  Zum  Ausdruck  des  >exultarec,  des  Jauchzens 
der  Seele,  dient  ein  Zweiunddreißigstel -Rhythmus,  der 
wie  eine  Schaumflocke  'wirB  jfff  p/ .j  zuweilen  auch 
den  Begleitxmgsfiguren:  i*^  1  H . T  Mn^^d  den  Gängen  der 
Singstimme  selbst  entsteigt.  Ein  ähnliches  Motiv  bei 
denselben  Worten  gebraucht  von  den  Früheren  Lotti  (im 
Chorsatze),  von  den  Späteren  Fischietti  (im  Solo).  Ein 
zweiter  Solosopran  nimmt  die  Worte:  >Quia  respexit« 
auf.  Das  Ritornell  zu  dieser  Nummer  ist  eine  jener  aus 
Sequenzen  kühn  aufgetürmten  langatmigen  und  tief  ge- 
schöpften Melodien,  wie  sie  Bach  eigentümlich  sind.  In 
der  Deklamation  des  Textes  hat  Bach  den  Begriff  der 
»humilitasc  doppelt  hervorgehoben  durch  das  dunkle 
Kolorit  der  Modulationen  sowohl,  als  auch  durch  Wieder- 
holungen des  Wortes.  Schon  die  Komponisten  der  Vokal- 
periode gaben  diesem  Begriff,  wenigstens  einzelne,  einen 
besondern  Ausdruck ;  die  der  ersten  Instrumentalzeit  taten 
dies  in  der  Regel.  Manche,  wie  Geremia,  entwickeln  an, 
dieser  Stelle  eine  ganz  ungewöhnliche  Weichheit  der  Mo- 
dulation. Auch  daß  Bach  die  Schlußworte  des  Satzes: 
»omnes  generationes«  dem  Solosopran  durch  das  Tutti 
abnehmen  läßt,,  kommt  bei  andern  Tonsetzern  in  der 
frühen  Instrumentalperiode  vor:  So  beiRuggiero  Fedeli 
und  namentlich  bei  Albinoni,  dessen  Magnificat  Bach 
höchst  wahrscheinhch  gekannt  hat.  Was  aber  bei  dieser  Be- 
handlung der  Stelle  »omnes  generationes«  besonders  auf- 
fällt, das  ist  erstens  der  Umstand,  daß  Bach  aus  diesen 
Schlußworten  des  Verses  einen  neuen  großen  Satz  ent- 

*)  Königliche  Bibliothek  zu  Berlin,  MMs.  12460. 


— ♦      396     ♦— 

wickelt,  das  ist  zweitens  der  deklamatorisch  prunken- 
de Charakter,  mit  welchem  sein  Hauptthema  einsetzt: 

Wenn  Bach  in 
dieser  bei  Händel 
häufig  vorkom- 
menden Weise  eine  Melodie  baut,  so  hat  er  seine  symbo- 
lischen Absichten,  welche  in  diesem  Falle  keiner  weitem 
Erklärung  bediirfen.  In  dem  wiederholt  vom  neuen  und 
von  andern  Seiten  beginnenden  Aufmarsch,  den  die  Stim- 
men auf  dem  Grund  jenes  Themas  vollziehen,  ist  die  Stelle 
(kurz  vor  dem  Schlüsse)  sehr  merkwürdig,  wo  der  ganze 
Zug  bei  Trugkadenz  und  Fermate  plötzlich  Halt  macht. 
Auch  Albinoni  geht  hier  über  verminderten  Septimen- 
akkord aus  Dur  nach  Moll,  in  breite  Rhythmen,  aucb 
ihm  fährt  es  wehmütig  durch  den  Sinn,  wie  die  Ge-< 
schlechter  kommen  und  gehen,  wie  der  Tod  des  Menschen 
Los  ist.  Sollte  Bach  hier  seinem  Lieblingsitaliener  eine 
Anregung  verdanken,  so  ist  die  Art,  wie  er  sie  aus- 
führt, das  eigenste  Produkt  seiner  genialen,  großartigen 
Melancholie  und  bietet  ein  lehrreiches  Seitenstück  zu 
den  bekannten  Fällen,  wie  er  selbst  Vivaldische,  oder 
wie  Händel  Stradellasche  Ideen  verwertet  hat.  Das 
»Quia  fecit<  ist  als  Baßarie  behandelt.  Ebenfalls  sehr 
kurzgliederig,  ruht  sie  technisch  in  erster  Linie  auf  dem 
mit  Kol(Mratu-         ^,     ^  ^  ^    ^  ^        »  und    hat    in 

ren  umwobe-    V  V  n  P 
nen    Motive :  .Qsi 

stolzen  Charakter  wenig  ihresgleichen.  Doch  kommt 
dieser  nur  dann  zur  Geltung,  wenn  die  der  Orgel  (oder 
dem  Cembalo)  allein  übertragene  Begleitung  den  Sänger 
ordentlich  stützt  und  trägt  Es  ist  eine  Hauptaufgabe  für 
den  Dirigenten,  hier  aus  der  Bachschen  Skizze  eine  gute 
Kontinuostimme  herauszuarbeiten.  Die  Worte:  »Etmisericor- 
diäe  ejus€  werden  in  einem  liebenswürdig  nachdenklichen 
Siciliano  ausgeführt,  dessen  Harmonien,  im  wesentlichen 
mit  denselben  Baßnoten  (basso  ostinato),  alle  fünf  oder 
sechs  Takte  repetieren.  Der  Zwiegesang,  welchen  Alt  und 
Tenor  darüber  anstimmen,  ruht  auf  der  anmutigen  Melodie: 


und  hat  in 
P  P  p/-P  ft  I  J^R  ihrem  freu- 
•  tudUaiii  BMM.     dig,  kraftvoll 


397 


Ähnlich  wie  beim 
»EsurieQtes<  die 
Flöten,  gehen  hier 
erste  und  zweite  Violinen  im  Vortrage  dieser  volkstüm- 
lichen Weise,  wie  Arm  in  Arm,  vorwiegend  in  Terzen 
einher.  Die  Worte  »timentibus  eum<  hebt  Bach  wieder- 
um in  Obereinstimmung  mit  Albinoni  auf  alle  Weise 
hervor:  einmal  indem  er  sie  zwischen  bedeutende  Pau- 
sen stellt,  das  andere  Mal  durch  melodische  und  har- 
monische Akzente.  Das  »Fecit  potentiamc  gibt  Bach 
mit  jenem  alten  Kunstgriff  der  Kräftetßilung  wieder,  der 
vielen  seiner  Chorsätze  und  denen  seiner  Zeitgenossen 
eine  so  erstaunliche  Wirkung  verleiht.  Die  Mehrheit  des 
Chores  deklamiert  die  Worte  in  energisch  frischen 
Rhythmen,  eine  der  Stimmen  jubiliert  dazu  in  breiten 
Koloraturen.  Bei  dem  Worte  »dispersit«  bedient  sich 
Bach  des  Motivs,  welches  seit  Senfl  und 
Lasso  für  diese  Stelle  üblich  war.  DasBild 
von  der  Vertreibung  der  Hoffärtigen  hat  wie 
kein  zweites  im  Magnificat  die  Komponisten  gefesselt 
Sie  halten  sich  manchmal  ungebührlich  lange  bei  ihm 
auf,  am  auffälligsten  Samuel  Fr.  Heine.  Auch  Seb. 
Bach  verweilt  einen  Augenblick,  aber  maßvoll  dabei. 
Wodurch  er  es  aber  auszeichnet,  das  ist  die  letzte  Into- 
nation des  Wortes  »superbos«.  Der  Trugschluß  und  die 
Pause  darnach  machen  einen  Eindruck,  als  wenn  ein 
Windstoß  die  Stolzen  vertrieben  hätte.  Dann  setzt  der 
Abschnitt  >mente  cordis  sui<  ein,  durch  das  tiefernste 
Adagio  von  dem  Vorhergehen^den  scharf  und  fast  schauer- 
lich gesondert.  Bach  bezog  ersichtlich  die  betreffenden 
Textesworte  nicht  auf  >superbos«,  sondern,  wie  es  das 
>8Ui«  der  Vulgata  erlaubt,  auf  den  >dominus  qui  dis- 
persit«, den  Herrn,  welcher  die  Hoffärtigen  vertrieben  hat. 
Bach  folgt  mit  dieser  Auffassung  einem  herkömmhchen 
Brauche.  Die  Mehrzahl  der  Komponisten,  schon  in  der 
Vokalperiode,  geht  bei  den  Worten  »meute  usw.«  in  eine 
feierliche,  pathetische  Wendung  über.  Die  besondere 
Form  aber,  in  der  sie  Bach  ausdrückt,  weist  nochmals 


—-^      398      «^- 

auf  Albinoni  hin.  Nur  dieser  hat  Generalpause  und  Adagio. 
Von  den  Späteren  ist  Ferradini  als  derjenige  zu  nennen, 
welcher  die  Auffassung,  von  welcher  sich  Bach  und  seine 
Vorgänger  an  dieser  Stelle  leiten  ließen,  am  glänzend- 
sten zum  Ausdruck  gebracht  hat.  Bei  ihm  wirkt  nach 
einem  trotzigen  Chorsatz  zu  den  Worten  »dispersit  usw.« 
der  Eintritt  einer  von  oben  herab  in  .majestätischen 
Rhythmen  »mente  cordis  sui<  singenden  Solostimme  be- 
sonders schön.  Die  folgende  Tenorarie  »Deposuit  potentes« 
ist  eins  der  schwierigsten  Vortragstücke.  Die  Seele  ihrer 
Tonreihen  bildet  ^ine  eigentümliche  Mischung  von  Be- 
dauern, triumphierender  Freude  und  auch  Hohn.  Mitleid 
(mit  den  arm  gewordenen  Reichen)  tief  und  kurz,  Freude 
(über  die  Sättigung  der  Hungrigen)  weich  und  liebens- 
würdig ausgesprochen,  liegen  auch  der  schönen  Altarie: 
»£surientes<  zugrunde.  Der  populäre  Zug,  welchen  diese 
Nummer  in  der  Melodik  der  Singstimme  sowohl  als  in  dem 
naiven  Konzertieren  der  beiden  Flöten  trägt,  war  bei  der 
Wiedergabe  dieser  Worte  althergebracht.  Dur  ante  hat 
in  dem  entsprechenden  Chorsatze  dieselben  neapolita- 
nischen Sexten-  und  Terzenparallelen,  welche  uns  hier 
in  den  Flöten  so  charakteristisch  vorkommen.  Am  wei- 
testen geht  in  diesem  Anspielen  auf  Bilder  aus  dem  Volks- 
leben bei  den  Worten  >Esu- 
rientes<  Leo,  der  sie  mit  fol- !_ 
gender  Melodie  wiedergibt :  •-«-»!  .«*-!••  im-jii-^  ii».au 
Das  >Suscepit  Israel<  hat  Bach,  ähnlich  wie  das  >Et  in- 
carnatus<  der  Hmoll-Messe  in  den  Linien  und  Farben 
des  Wunderbaren  gehalten.  Die  drei  oberen  Stimmen, 
welche  den  Satz  ausführen,  kreuzen  und  streifen  einander 
so  eng  und  eifrig,  daß  ihre  unscheinbaren  Melodien  unter 
dem  feierlich  und  zart  wogenden  Klange  die  bestimmte 
Gestalt  verheren.  Der  eigentliche  Baßton  fehlt,  wie  ziem- 
lich oft,  wenn  Bach  Gebilde  des  Geheimnisvollen  und 
Visionären  vor  die  Fantasie  treten  läßt.  Den  letzten 
Strich,  um  den  mystischen  und  prophetischen  Charakter 
des  kleinen  Tonbildes  auszuprägen,  tun  die  Oboen,  welche 
in  hoher  Lage  zwei  Zeilen  des  (variierten)  ersten  Magni- 


— *     399     * — 

ficattons  anstimmen,  desselben,  welchen  Bach  in  der  Kan* 
täte  »Meine  Seel*  erhebte  bringt.  Die  Instrumente  singen 
also  Segen  und  Dank,  während  die  Singstimmen  von  der 
Menschwerdung  Christi  in  Passionsstimmung  berichten. 
Durch  diese  tiefsinnige,  romantische  Auffassung  der  Worte 
zeichnet  sich  das  >Suscepit<  des  Bachsohen  Magnificat 
besonders  aus.  Es  ist  derjenige  Satz,  welcher  den  per- 
sönlichen Stempel  seines  Tonsetzers  am  ausgeprägtesten 
trägt.  Wie  in  andern  Werken  Bachs  auf  ein  liturgi- 
sches Zitat,  so  folgt  auch  hier  auf  die  Magnificat- 
melodie  im  »Suscepit«  das  »Sicnt  locutus  est«  in  den 
Formen  einer  altern  Zeit:  im  a  capella- Stile.  Dem 
Schweigen    aller   Instrumente    —    mit   Ausnahme    des  V 

Continuo  —  liegt  in  diesem  Satze,  ganz  ähnlich  wie  im 
»Confiteor«  der  HmoU-Messe,  ohne  Zweifel  eine  sym- 
bolische Absicht  unter.  »Suscepit«  und  »sicut  locutus 
est«  bilden  ein  Ganzes  und  als  solches  eine  der  vielen 
Huldigungen,  welche  Bach  in  meinen  geistlichen  Kompo- 
sitionen in  mittelbarer,  sinnvoller  Beziehung  dem  ehr- 
würdigen und  ewigen  Charakter  von  Kirche  und  Glauben 
dargebracht  hat.    Um  so  glänzender  wirkt  der  Chor  der  ^ 

Instrumente  bei  seinem  Wiedereintritt  im  »Gloria«,  wel- 
ches mit  seinen  Triolengängen  und  dem  mächtigen 
Schwünge  seiner  kurzen  Perioden  an  das  »Sanctus«  der 
Hmoll-Messe  erinnert.  Den  Schlußsatz  »Sicut  erat  in 
principio«,  welchem  das  »Gloria«  als  Einleitung  dient,  läßt 
Bach  im  Anschluß  an  Lotti,  Durante  und  andere  auf 
die  Themen  des  ersten  Satzes  zurückgreifen.  Wie  das 
oben  angeführte,  von  Schlecht  mitgeteilte  Magnificat  des 
Anonymus  mit  allerlei  Weihnachsliedern  durchsetzt  ist,  so 
gehören  auch  zu  dem  B achschen  Magnificat  noch  einige 
Weihnachtstücke.  Doch  treten  sie  als  selbständige  Sätze 
zwischen  die  einzelnen  Nummern  des  Magnificat. 

Als  ein   hervorragendes  Magnificat   aus   der  Bach- 
schen   Zeit   ist    das   in   D    von  Nie.   Jörne  111   hervor*      F.  Jomelli. 
zuheben.     Anlage   und    Satz    sind   höchst  einfach,   die 
Komposition  geht  ohne  Aufenthalt  in  einem  Zuge  vor- 
über;  ein  und  dasselbe  bewegte  Begleitungsmotiv  der 


--^     400     ♦— 

Violinen  verbindet  sämtliche  Abschnitte.  Was  aber  das 
Werk  auszeichnet,  ist  seine  ernste,  gemessene  Stimmung. 
Nur  bei  der  Schlußfuge  auf  das  Wort  »Amen<  läßt 
Jomelli  das  Antlitz  der  Madonna  in  begeisterter  Freude 
aufleuchten.  Das  letzte  Wort  bleibt  aber  dem  Moll, 
dem  gedämpften  Ton.  Haben  dem  Komponisten  die 
Worte  vorgeschwebt,  welche  Simeon  zu  Maria  spricht: 
»Siehe,  es  wird  ein  Schwert  durch  deine  Seele  dringen«? 
Eine  der  beliebtesten  und  verbreitetsten  Kompositionen 
Flu  El  Baoh.  des  Magnificat  war  die  von  Ph.  E.  Bach;  sie  gehörte 
mit  seinem  zweichörigen  »Heilig«  zu  den  berühmtesten 
Vokalwerken  des  Hamburger  Tonsetzers.  Das  Werk 
ist  außerordentlich  breit  angelegt:  einzelne  Vor-  und 
Zwischenspiele  scheinen  gar  nicht  enden  zu  wollen.  Den 
Zeitgenossen  gefiel  es  besonders  wegen  der  dankbaren 
Solonummern,  unter  welchen  das  Duett  über  »Deposuit 
potentes«  die  gehaltvollste  ist.  Seinen  positiven  Wert 
besitzt  es  in  der  brillant  durchgeführten  Doppelfuge  zu 
den  Worten  »Sicut  erat«  und  in  der  liebevollen  Ausfüh- 
rung einzelner  kleiner  Textbildet.  Unter  den  Komponisten 
vom  Ende  des  48.  Jahrhunderts,  welche  Magnificats  in 
0.  Fasterwitz.  größerer  Zahl  komponiert  haben,  ist  G.  Pasterwitz 
hervorzuheben;  im  Konzert  kamen  früher  auch  die  von 
J.  Schuster  und  F.  Seydelmann  häufiger  vor.  Außer- 
ordentlich frische  und  einfach  lebendig  aufgefaßte  Kom- 
positionen des  Magnificat  hat  G.  A.  Homilius  im  a  ca- 
pella-Stil  geschrieben.  Leider  sind  sie  nicht  gedruckt. 
Von  neueren  Bearbeitungen  des  Marianischen  Lobgesangs 
F.  Mendelaiohn,  ist  nur  die  von  F.  Mendelssohn  zuweilen  auf  den 
Mein  Herz  er-  Konzertprogrammen  zu  finden,  und  zwar  unter  dem  Titel 
hebet.  der  Motette  »Mein  Herz  erhebet  Gott  den  Herrn«.  Die- 
ses Magnificat  ist  eine  der  bedeutendsten  Chorkomposi- 
tionen Mendelssohns,  eine  der  bedeutendsten  Leistungen 
der  neueren  Zeit  im  a  capella- Stile  überhaupt.  Durch 
kunstvolle  Arbeit  ragen  unter  seinen  (ohne  Pause  auf- 
einanderfolgenden) Sätzen  besonders  hervor  der  erste: 
»Mein  Herz  erhebet«  und  der  sechste:  »Er  gedenket  der 
Barmherzigkeit«.     Im  ersteren  ist  eine  dem   feierlichen 


iO\ 


Charakter  der  alten  liturgischen  Intonation  nachgebildete 
Melodie  als  Hauptthema  eingelegt.  Der  andere  entwickelt  von 
den  Worten  ab:  *Wie  er  zugesagt«  einen  hohen  Grad  kon- 
trapunklischer  Virtuosität:  Die  Fuge  wird  aus  einer  ein- 
fachen zur  doppelten,  zum  Hauptthema  tritt  das-  zweite,  erst 
gerade,  dann  umgekehrt.  Dieses  Leben  und  dieser  Reich- 
tum der  Form  entfaltet  sich  in  schlichtester  Natürlichkeit ; 
dem,  der  nicht  Fachmann,  wird  nur  eine  Steigerung  des 
Ausdrucks  fühlbar.  Der  Anlage  dieses  Magnificats  als  Granzes 
ist  eine  große  Mannigfaltigkeit  der  Stimmung  eigen.  Die 
herrschende,  welche  namentlich  durch  den  einfachen  Schluß 
nachdrücklich  besiegelt  wird,  ist  die  frommer  Demut. 

Mendelssohn  schrieb  dieses  schöne'  Werk  für  England.  F.  Mendelnolm, 
Wie    die  englischen  Komponisten  des  47.  und  4  8.  Jahr- Lobget&ng  des 
hunderts  in  der  Regel  alle  drei  Lobgesänge  des  Neuen      Simeon. 
Testaments  zusammen  in  Musik  setzten,  so  hat  Mendels- 
sohn dem  Hefte  (op.  69],  welches  dieses    Magnificat   ent- 
hält, wenigsten^  noch  den  Lobgesang  des  Simeon, 
das  ist  das  dritte  Stück  der  cantica  majora,  beigegeben: 
»Herr,  nun  lassest  du  deinen  Diener  in  Frieden  fahrenc,  eine 
Komposition,  di,e  in  der  Form  eines  crescendo-decrescendo 
aufgebaut  ist.    Sie  hebt  mild,  ganz  im  Charakter  der 
Rede  eines  würdigen  Greises  an  und  klingt  auch  fried- 
lich und  freudig  ergeben  wieder  aus.    In  der  Mitte  aber 
bei  den  Worten:   »daß   er  ein  Licht  sei«  schlägt  sie  in 
einfachem  Satze  den  kräftigen  Ton  der  Begeisterun"^  an. 
In  dieser  Mischung  von  abgeklärter  milder  Freude  und 
feurigem  Prophetentum  haben  die  Komponisten  von  jeher 
das  Wesen  des  Simeon  gesucht.    In  der  Gestaltung  des 
Verhältnisses  und  im  Ausdruck  der  beiden  Züge  unter- 
scheiden sie  sich.    Da  vertritt  wohl  L.  Haßlers  fünf-      L,  Haßler. 
stimmige  a  capella-Ko^position  des  Satzes  (a.  a.  0.  Nr.  25) 
am  entschiedensten  die  ruhige  Gemessenheit.    Nur  mit 
zwei  kurzen  Episoden  unterbricht  sie  ein  jubelnder  Ton. 
Der  abgeklärten  herzlichen  Freude  hat  Franz  Tun  der      F.  Tonder, 
den  schönsten  Ausdruck  mit  einem  Duett  zweier  Bässe'*') 

*)  Denkmäler  deutscher  Tonkunst,  Bd.  III. 

II,  4.  26  ^ 


lOS 


gegeben,  das  mit  den  Vokalwerken  Tunders  überhaupt 
zu  den  erfreulichsten  und  traulichsten  Jugendäußemngen 
desx  »geistlichen  Konzerts«  in  Deutschland  gehört.  Ein 
Chi,  Bernhard,  anderer  Deutscher  des  47.  Jahrhunderts,  Ch.  Bernhard, 
der  die  Hymne  für  zehnstimmigen  Chor,  Soli  und  Or- 
chester gesetzt  hat*),  läßt  sehr  ergreifend  in  Simeons 
Reden  das  Alter  und  die  Nähe  des  Grabes  merken. 
H.  Sohttti.  Heinrich  Schütz  hat  den  Lobgesang  des  Simeon  öfters 
komponiert,  einmal  als  Kantate  für  Baßsolo  mit  Beglei- 
tung von  zwei  Violinen  und  Orgel,  die  Singstimme 
mit  dem  Instrumentalbaß  zusammengekoppelt,  ein  zwei- 
tes Mal  als  sechsstimmige  Chormotette  zur  Beisetzung 
des  Kurfürsten  Johann  Georg  L  feierlich  und  streng;  am 
schönsten  endlich  als  eingelegte  zweichörige  Motette 
zu  der  Begräbnismesse,  die  er  Heinrich  Posthumus 
von  Reuß  widmete.  Der  Zusatz  eines  Engelchores  zu 
dem  normalen  Text  ist  hier  ein  poetischer  Einfall  ohne- 
gleichen. 

In  der  älteren  Zeit  wurde  das  »Magnificat«  mit  in 
die  Psalmenmusik  eingereiht  und  seine  liturgischen  Into- 
nationen wurden  noch  lange  nach  Palestrina  ohne  alld 
Wortwiederholung  in  der  Kürze  gehalten,  in  welcher  man 
die  Psalmenverse  zu  komponieren  pflegte.  Nur  der  in- 
nere Stil  dieser  Sätze,  ihre  Melodik  und  Harmonik  wurde 
frühzeitig  reicher. 
Psalmen.  Um  die  liturgische  Qualifikation  der  Psalmen  zu 

verstehen,  genügt  es  an  Sätze  wie :  >Ehe  denn  die  Berge 
wurden  und  die  Erde  und  die  Welt  geschaffen  worden 
usw.€  zu  denken.  An  Tiefe  und  Größe  religiöser  Welt- 
anschauung überragen  die  Psalmen  alle  anderen  bibli- 
schen Gesänge  und  darauf  gründet  sich  ihre  Stellung  als 
quantitative  Hauptgruppe  der  Kirchenmusik.  Der  Psalm 
ist  insbesondere  von  alters  her  das  regelmäßige  Ein- 
leitungsstück für  alle  Arten  von  Gottesdiensten  und  für 
deren  einzelne  Teile  gewesen,  sie  haben  aber  auch  noch 
der  selbständigen  Psalmodie  einen  breiten  Platz  ein- 


*)  Denkmäler  dentscher  Tonknnst,  Bd.  VI. 


— -♦     403     ♦— 

geräumt.  Die  katholische  Kirche  ist  diesem  Brauch  bis 
heute  treu  geblieben,  der  evangelischen  ist  er  mit  dem 
Verfall  der  Liturgie  fremd  geworden.  Aber  soweit  sie  in 
den  schlechtesten  Zeiten  noch  Kirchenmusik  kannte,  be- 
vorzugte auch  sie  dafür  Psalmtexte,  und  ihre  neuen  Reform- 
agenden versuchen  zum  Teil  den  Psalm  wieder  in  seine 
Rechte,  namentlich  als  Introitus  einzusetzen. 

Wie  bei  Passionen  und  Messen  hat  die  musikalische 
Komposition  auch  bei  den  Psalmen  alle  die  Kunstmittel 
versucht,  die  ihr  die  Zeiten  zuführten.  Auch  die  Psal- 
menkomposition beginnt  als  unbegleiteter,  einstimmiger 
(Gregorianischer)  Gesang,  wird  auf  der  nächsten  Stufe 
unbegleitete  Ghormusik  und  endet  als  begleitete  Vokal- 
musik. Doch  macht  sich  in  der  Psalmenkomposition 
ein  stärkerer  konservativer  Zug  geltend,  dessen  Ursache 
man  vielleicht  in  der  besonderen  Pietät  vor  den  ^altehr- 
würdigen  Texten  suchen  darf.  Mehr  als  bei  anderen  Psalmakzent. 
Texten  ist  bei  den  Psalmen  der  musikalische  Vortrag  ge- 
neigt gewesen,  an  alten  Formen  festzuhalten.  Im  katho- 
lischen Ritus  hat  noch  heute  der  Gregorianische  Ton 
beim  Psalmengesang  seinen  bi^eitesten  Platz,  und  zwar 
in  seiner  einfachsten  Gestalt  als  Akzent.  Wie  seinerzeit 
Spohr  und  Mendelssohn,  befremdet  das  immer  wieder 
musikalische  Angehörige  anderer  Kulte,  weil  sie  nur  eine 
Kirchenmusik  kennen,  bei  der  das  Wort  im  reichen  Ton- 
gewand auftritt.  Aber  auch  die  Protestanten  haben  am 
alten  Psalmakzent  sehr  lange  festgehalten,  an  einzelnen 
Orten  nachweislich  bis  weit  ins  47.  Jahrhundert'*'),  also 
zu  einer  Zeit,  wo  die  Psalmenmotette  in  höchster  Blüte 
stand  und  die  Psalmenkantate  schon  stark  konkurrierte. 
Es  ist  nicht  ausgeschlossen,  daß  bei  weiterer  Klärung 
liturgischer  Begriffe  auch  die  evangelische  Kirche  für 
gewisse  Zwecke  wieder  auf  diese  urälteste  Weise.  (\es 
Psalmengesanges  zurückkommt. 

*]  K.  Held:  Das  Kreuzkantoiat  In  Dresden,  S. 255.  A.  Harne« 
lick :  Die  Mnsik  am  Hofe  Christians  IV.  von  Dänemark  (Viertel- 
Jahrsschr.  f.  M.  W,,  1893,  S.  67). 

26* 


— ♦      404     ♦— 

Der  mehrstimmige  Psalmensatz  mag  wohl  gleich  mit 
den  Anfängen  der  Harmonie  begonnen  haben.  Sicher 
ist,  daß  er  besonders  lange  die  ursprünglichsten,  mit  Im- 
provisation zn  beherrschenden  Formen  der  Harmonie  be- 
vorzugt hat.  Unter  ihnen  ganz  besonders  die  sogenannten 
Falsobordoni.  Falsobordoni.  Darunter  versteht  man  eine  Methode  des 
mehrstimmigen  Satzes,  bei  welcher  auf  eine  ganze  Reihe 
von  Worten  ein  und  derselbe  Akkord  wiederholt  wird, 
eine  Form,  die  ja  auch  die  protestantische  Liturgie  in 
den  Responsen  der  Intonationen  nodji  heute  spftren  läßt. 
Diese  Psalmodien  sind  die  Tonbildungen  einer  Zeit, 
in  welcher  die  Musik  mit  dem  geistigen  Ausdruck  des 
Wortes  noch  wenig  zu  tun  hatte  und  sich  darauf  be- 
schränkte, der  äußerlichen  akustischen  Deutlichkeit  des 
Wortes  zu  Hilfe  zu  kommen.  Für  die  kirchlichen  Zwecke 
ist  jedoch  diese  Weise  des  Psalmen  Vortrages  sehr  wir- 
kungsvoU;  auf  katholischem  Gebiet  und  in  England  kann 
man  sich  noch  heute  davon  überzeugen.  Eins  kam  und 
kommt  hinzu,  diesen  halb  musikalischen,  halb  rezitieren- 
den Vortrag  der  Psalmentexte  zu  beleben:  die  Ver- 
teilung der  einzelnen  Verse  unter  verschiedene  Sänger-, 
gruppen,  die  sich  ablösen.  Dieses  sogenannte  anti- 
phonische Prinzip,  der  Wechselgesang  zwischen  zwei 
Chören  oder  zwischen  Liturg  und  Chor,  beruhte  gerade 
bei  den  Psalmen  auf  ehrwürdigen  Überlieferungen  und 
galt,  wie  die  deklamatorische  Form  der  Tonreihen  selbst, 
für  eine  Erbschaft  aus  Davids  Zeiten.  Der  Psalmentext 
erhielt  auch  sogar  noch  antiphonierende  Einleitungen 
.  zur  Vorbereitung  des  besonderen  Psalmentones.  Daß 
vom  Psalmengesang  aus  die  antiphonische  Anlage  auch 
auf  weitere  liturgische  Texte,  auf  Te  deum,  Magnificat 
und  andere  übertragen  wurde,  ist  bekannt. 

Da  die  Falsobordoni  im  Durchschnitt  das  Aufschreiben 
nicht  wert  waren,  liegen  heute  nur  wenige  vor.  Unter' 
den  Neudrucken  gibt  Proskes  >Musica  divina«  reichere 
Proben.  Sie  sehen  sich  alle  sehr  ähnlich  bis  auf  die 
Schlüsse.  Bei  diesen  werden  die  Stimmen  selbständig 
und  melodisch  und  von  ihnen  aus  entwickelt  sich  all- 


mählich  auch  für  den  Psalmensatz  eine  individuelle 
Kunst.  Die  nächste  Stufe  in  dieser  Weiterentwicklung  ver- 
tritt die  sogenannte  Psalmodiamodulata.  In  ihr  be-  Psalmodia 
hält  die  Oberstimme  die  aus  der  alten  Zeit  überlieferten  mpdulata. 
deklamatorischen  Tonreihen,  die  unteren  Stimmen  sind 
melodisch,  zuweilen  einander  nachahmend  geführt.  Die 
Ari)eiten  dieser  Gattung  bilden  den  Übergang  zu  dem 
kontrapunktischen  Psalmenstil.  Die  Form  der  Psalmodia 
modulata  bot  hinreichende  Mittel,  dem  geistigen  Sotider- 
gehalt  der  einzelnen  Psalmen  und  auch  den  Einzel- 
begriffen  des  musikalischen  Textes  gerecht  zu  werden. 
Deshalb  wandten  sich  Italiener,  Deutsche,  Spanier  ihr 
mit  der  Zeit  fleißiger  zu.  Allmählich  wird  auch  die 
Oberstimme  mehr  und  mehr  aus  dem  deklamatorischen  ^ 
in  den  musikalisch  melodisch  beweglichen  Ton  hinüber- 
gezogen, bis  endlich  von  dem  al^en  Psalmenstil  nichts 
mehr  übrig  ist  und  die  fagierende  Form  wie  die 
Messen,  Motetten  und  Hymnen,  so  auch  die  Psalmen-  Psalmmotette. 
komposition  beherrscht.  Daraus,  daß  dieser  Prozeß  erst 
um  die  Mitte  des  4  6.  Jahrhunderts  zum  Abschluß  kommt, 
erklärt  es  sich,  daß  in  der  ganzen  Dufayschen  Periode 
die  Psalmenkomposition,  wie  die  Trienter  Codices  zeigen, 
noch  sehr  zurücktritt.  Auch  jetzt  sind  die  alten  Falso- 
bordoni  wie  die  aus  ihnen  entwickelte  Psalmodia  modu-  } 

lata  noch  lange  nicht  abgetan.  Wir  haben  eine  Psalmen- 
komposition, welche  uns  die  genannten  drei  Stilarten 
verschmolzen  zeigt:  ein  Werk  von  klassischer  Berühmt- 
heit,   welches    auch    in    unseren    heutigen    geistlichen 
Konzerten  heimisch  und  Gegenstand  immer  neuer  Be-     * 
wunderung  ist.    Es  ist  das  »Miserere«  von  G.  Allegri.     G.  Allegrii 
Ein  fünfstimmiger  und  ein  vierstimmiger  Chor  lösen  sich      Miserere, 
im  Vortrage  der  einzelnen  Verse  ab:  Jeder  Vers  beginnt 
mit  Falsobordonen,  berührt  an   deren  Ende  nur  kurz, 
mit  einem  einzigen  Takte,  den  modulierten  Psalmenstil 
und  lenkt  dann  in  die  Form  der  musikalischen  Kunst- 
sprache ein.    Die  melodischen  und  harmonischen  Wen- 
dungen  dieses  Schlußabsbhnittes,    welche   den   Chören 
beim  ersten  Einsatz  zugewiesen  sind,  bleiben  ihnen  auch 


—^     i06 

bei  den  anderen  Versen.  Man  wird  aber  nicht  müde, 
diese  Töne  zu  hören,  so  rührend,  spricht  aus  ihnen  das 
Herz  und  das  Gewissen  dieses  von  Bußstimmung  voll- 
getränkten  Psalmes.     Namentlich  der  erste  Chor  wirkt 

mit  dem  vom  Alt  in-  j^  i  ,.i  t  .  .  ■  ■  ?  ■  i*— i 
tonierten,  vom  Sopran  i^^  lUJ.jgJ  J  jjiJijj?'  9  SB 
nachgeahmten    Motive:  «*•    -  •••*  •"  •      -  «-*■ 

mächtig    auf   die    Empfindung;    aber   auch   der   zweite 
Chor  schlägt  mit  seinem,  einem  Gnadenblicke  gleichen- 
den  Dur-Schlusse    das    Gemüt    in    gewaltige    Fesseln. 
Diese   Mischung    von    Deklamation,    schlichtester    De- 
klamation und  herzwarmem  Gesang,   die  geniale  Ver- 
bindung einfacher   alter  Weisen  mit  neueren  hochent- 
wickelten Kunstformen  ist  das  Entscheidende  in  diesem 
»Miserere«.    Bekannt  ist,  daß  AUegri  bei  der  Sixtinisc];»en 
Kapelle  mit  dieser  Arbeit  alle  im  fugierenden  Stile  ge- 
haltenen Kompositionen    desselben  Psalms   verdrängte. 
Darunter  waren  Arbeiten  von  Guerrero,  Palestrina  und 
F.  Anerip.   Das  Allegrische  wurde  des  päpstlichen  Chores 
ständiges  Miserere  für  die  Mittwoch  und  den  Freitag  der 
Gharwoche   und   die  Kompositionen  von  Bai  und  von 
Baini,  welche  endlich  mit  ihm  abwechseln  durften,  folgten 
seinem  Stile.    Auch  in  Florenz  und  im  übrigen  Italien 
wurde  Burney*)   auf  die  Frage  nach  dem  berühmtesten 
»Miserere«  auf  das  von  AUegri  verwiesen.    Goethe  nennt 
es  (4  788)  »undenkbar  schön«  und  noch  Spohr  horte  es 
(4  847)  von  Kennern  als  den  »Triumph«  der  Sixtinischen 
Gharfreitagsmusik   bezeichnet.     Es  gibt  vielleicht  keine 
zweite   Form,    in    welcher   die   Grundstimmung   dieses 
54.  Psalmes,  das  Gefühl  der  tiefsten  Zerknirschung,  so 
überwältigend  hervortreten  könnte,  als  die  von  Allegri 
gewählte.    Als  Gharfreitagsmusik  ist  diese  Komposition 
unübertrefflich.      Für    andere    Zeit    erlaubt    der   Text 
eine  andere  Behi^ndlung  und  hat  tatsächlich   in    ver- 
schiedenen Perioden  und   von   verschiedenen  Meistern 


u.  ff.). 


•)  Ch.  Bumey:  The  present  State  usw.,  1771  (I,  182,  206 


-^      407      >— 

derselben  Epochen  immer  andere  Au^ssungen  erfahren. 
Allegris  Stil  entsprach  zunächst  wahrscheinlich  mehr 
dem  konservativen  Sinn  der  päpstlichen  Kapelle  als 
dem  Zeitgeschmack.  Aber  das  von  ihm  gegebene  Bei- 
spiel hat  die  Wirkung  gehabt,  daß  auch  die  Kompo- 
nisten der  späteren  Zeit  die  Falsobordoni  nicht  zu  den 
abgetanen  Dingen  rechneten.  Sie  werden  gelegentlich 
wieder  einmal  für  einen  einzelnen  Vers  einer  größeren 
Psalmkomposition  verwendet  So  namentlich  bei  den 
Venetianern.  In  rechten  Fluß  kommt  die  Produktion  in 
der  Psalmenmotette  nicht  vor  dem  ersten  Drittel  des 
1 6.  Jahrhunderts.  Aus  den  Neudrucken  der  niederländi- 
schen Schule  (bei  Maldeghem)  mögen  da  als  hervor- 
ragende Leistungen  imitatorischer  Stimmführung  hervor- 
gehoben sein  Ant.  Brumels:  La^date  Dominum  de 
coelis,  J.  de  Cleves  einfach,  aber  sehr  herzlich  ge- 
haltene Kompositionen  des  82,  und  85.  Psalms  und  der 
3.  Psalm  in  dem  innerlich  außerordentlich  erregten  und 
äußerlich  sehr  wirkungsvollen  Satz  J.  de  Kerles.  Die 
Deutschen  halten  länger  an  der  Ghorantiphonie  fest, 
nur  wechselt  die  antiphonische  Gruppierung  etwas 
freier.  Ein  Hauptvertreter  dieser  antiphonierenden  Tsal- 
menmotette  ist  Thomas  Stoltzer,  auch  dadurch  be- Thomas  Stoltzer 
merkenswert,  daß  er  als  einer  der  ersten  den  deut- 
schen Psalmen text  komponiert.  Seine  beste  Arbeit  ist: 
>Hüf  Herr,  die  Heiligen  haben  abgenommen«.  Bald  wird 
dann  das  Antiphonieren  verschiedener  Chöre  durch  das 
Antiphonieren  oder  Fugieren  verschiedener  Stimmen  in 
einem  Chore  ersetzt  und  mit  dem  imitatorischen  wech- 
selt, je  nachdem  es  dem  Charakter  des  Textes  entspricht, 
ein  einfacher  homophoner  Satz.  Der  Chorpsalm  ver- 
zichtet also  auf  einen  besonderen  Stil  und  folgt  dem  all- 
gemeinen der  Motette  überhaupt.  In  dieser  Gruppe  stehen 
mit  Kompositionen  deutscher  Texte  deutsche  Komponisten 
wie  der  Zwickauer  David  Köler*)  voran.    Der  Gebrauch     David  Eölet. 

*)  Zwei  Psalmen   yon  Köler  hat  G.  Göhler  bei  Bieitkopf 
&  Härte]  veröffentlicttt. 


— «-     408      ♦— 

der  Muttersprache  scheint"  bei  ihnen  der  Unmittelbarkeit 
und  Kraft  der  Musik  zugute  zu  kommen.  Daß  sie  aber  auch 
bei  lateinischem  Text  die  Psalmenmotette  zu  meistern 
Ladwig  Senfl.  wissen,  zeigt  als  einer  der  ersten:  Ludwig  Senfl'*';.  Seine 
Psalmen  sind  nicht  bloß  durch  den  virtuosen  Satz  bedeu- 
tende Kunstwerke.  Wohl  vermag  der  allein  schon  außer- 
gewöhnlich zu  fesseln,  denn  Probleme,  wie  sie  Senfl  bei 
der  sechsmal  verschiedenen  Bearbeitung  desselben  The- 
mas '  in  »Laudate  Dominum  omnes  gentes  <  stellt .  und 
löst,  werden  dem  Musikfreund  auch  in  der  Geschichte 
der  größten  Meister  nur  selten  geboten.  Aber  noch  größer 
sind  seine  Psalmen  durch  die  eingängliche,  sichtlich  aus 
Volksquellen  schöpfende  Motiverfindung,  durchi  die  eigene 
Art,  wie  sie  die  Stimmung  der  Texte  erfassen  und  er- 
schöpfen. In  der  Inbrunst  der  Empfindung,  der  Selb- 
ständigkeit und  Kühnheit  des  Ausdrucks,  sind  sie  mit  den 
Kompositionen  Lassos  nahe  verwandt  und  haben  vielleicht 
auf  diesen  einen  Einfluß  ausgeübt.  Das  Hauptstück  ist 
in  dieser  Hinsicht  die  zweite  Bearbeitung  des  Psalms 
>Deus  in  adjutoriumc  (Nr.  42  der  angeführten  Ausgabe). 
Immer  mannigfach  und  reich  an  innerer  und  äußerer 
.  Gliedenmg  hat  hier  Senfl  die  Stelle,  wo  der  Büßer  seinen 
Gegensatz  zu  den  Kindern  des  Herrn  beklagt,  die  Worte : 
>Ego  vero  egenus  et  pauper  sumc  so  rührend  und  er- 
schütternd wiedergegeben,  daß  alle  Magdalenenbilder 
dagegen  nicht  ankommen.  Die  Einführung  und  die 
Sprachgewalt  des  im  macht  es.  Es  ist 

Alt   und   Sopran   je    '^  g  f ^  ^ ^  ^  |  zugleich  eine  je- 


einmal  wiederholten    -y^  '■  '    '    '   o  >   ner  SteUen,  an 
einfachen    Motivs:  der  man  tech- 

nisch und  psychisch  die  Nähe  des  Sologesangs  fühlt. 

Die  berühmtesten  unter  den  älteren  Psalmenkompo- 
sitionen  im   Motettenstile   sind   die   sieben   Davidschen 
0.  di  LasBo,      Bußpsalmen    von    Orlando    di    Lasso,    die    vor 
Baßpsalmen,    dem   Jahre    4565   komponiert    wurden.      Diese   Jahres- 
angabe muß  gegenüber  der  noch  heute  immer  wieder 


*)  Denkmäler  dej  Tonkunst  in  Bayern,  Bd.  III S. 


-^     409     ♦— 

gedruckten  Anekdote,  welche  diese  Werke  mit  der  Pari- 
ser Bartholomäusnacht  in  Zusammenhang  bringt,  betont 
werden.  Des  Anekdotenschmucks  bedürfen  Orlandos 
Baßpsalmen  nicht.  Sie  gehören  unter  die  bedeutendsten 
Denkmäler  der  Vokalperiode:  in  eine  Reihe  mit  dem 
Stabat,  mit  der  Messe  »Assumpta  est«  Palestrinas,  mit 
dem  Requiem  des  Orlando  selbst  und  dem  des  Cavalli. 
Man  kann  nur  darüber  im  Zweifel  sein,  ob  man  diesen 
Psalmen  nicht  den  allerersten  Platz  anzuweisen  hat. 
Der  ganze  Reichtum  an  Farbe,  über  welchen  der  Stil 
verfügt,  ist  hier  entfaltet,  an  Ausdruck  soviel  als  der 
Geist  der  Dichtungen  zuläßt.  Fest  ausgeprägter  Gharaktet 
in  allen  Sätzen,  in  ihrer  Folge  eine  geniale  Ökonomie, 
die  mit  den  Mitteln  der  Steigerung  oder  des  Kontrastes 
das  Cremüt  und  die  Fantasie  des-  Hörers  immer  von 
frischem  und  immer  stärker  fesselt  Die  Melodik,  Or- 
landos Hauptstärke  überall,  wirkt  hier  doppelt  gewaltig, 
namentlich  da,  wo  er  einfache  •  Motive  in  Sequenzen 
weiter  führt.  Zuweilen  setzt  sie  mit  wahren  Herzens- 
tönen ein:  Stellen,  wie  der  Eintritt  des  >Laboravic  in 
dem  ersten  Psalm  ergreifen  auch  vom  Texte  losgelöst 
In  der  Auffassung  des  Textes  Eingebungen  von  wa]brhaft 
heiliger  Weihe.  Feierlich,  als  wenn  ein  geheimes  Wunder 
verkündet  wird,  tritt  in  demselben  Psalm  das  >Exaudivit€ 
ein.  Wie  eine  Stimme  in  der  Wüste,  in  der  Öde  klingt 
das  »Discedite«.  Daneben  wieder  Abschnitte,  in  denen 
eine  wahrhaft  Josquinsche  Naivität  waltet.  Alles  ist  in 
diesen  Psalmen  von  lebendiger  Anschauung  durchtränkt 
Ihre  höchste  Macht  liegt  aber  in  dem  Ausdruck  der 
Grundstimmung.  Nicht  die  Zerknirschung  und  das  Fla- 
gellantengefühl beherrscht  diese  Musik,  sondern  die  rüh- 
renden und  demütigen  Klagen  des  reuigen  Sünders 
werden  von  Tönen  des  Gottvertrauens  und  der  der  Gnade 
sichern  Hoffnung  umrahmt  und  aufgenommen.  Am  klarsten 
zeigt  sich  diese  Tendenz  im  Anfang  der  beiden  Psalmen 
»Miserere«  und  »De  profundis«.  Für  die  Aufführung 
bieten  diese  klassischen  Kompositionen  verhältnismäßig 
nur  geringe  Schwierigkeiten.     Der  Satz  übersteigt  die 


Sechsstimmigkeit  nicht,  die  kontrapunktischen  Formen 
drängen  sich  nirgends  auf  und  sind  kurz  und  gedrängt 
behandelt.  Die  Bekanntschaft  mit  diesen  Meisterwerken  zu 
vermitteln,  eignet  sich  am  besten  der  zweite  Psalm:  »Beati 
quorum  remissae  sunt  iniquitates<  und  zwar  um  etliche 
Sätze  verkürzt.  Wenn  im  ersten  Abschnitt  auf  »remissae« 
die  Harmonie  von  Es-  nach  Adur  wechselt,  wird  jeder- 
mann klar,  mit  welcher  Gewalt  und  Freiheit  dieser 
Künstler  über  die  Tonmittel  herrscht.  Aus  den  demü- 
tigen Bitten  des  »Delictum  meum  cognitum  tibi  feci« 
spricht  rührend  und  ergreifend  die  ganze  Fülle  seines 
melodischen^  Vermögens,  und  das  kanonische  Bicinium 
der  Bässe  und  Tenöre  auf  die  Worte  der  Stimme  Gottes: 
>Intellectum  tibi  dabo«  zeigt  die  wunderbaren  poetischen 
Eingebungen,  über  die  Lassos  Fantasie  und  Geist  verfügten. 

Palestrinft.  Von  Palestrina  gibt  es  ein  einziges,   als  solches 

betiteltes  Psalmen  werk,  die  »Sacra  ....  Psalmodia  usw.« 
von  4  596.  Doch  hat  er  für  seine  Motettensammlungen  viele 
Psalxpentexte  benutzt  und  grade  seine  Psalmenkompo- 
sitionen sfeichnen  sich  durch  malerische  Einzelzüge  und 
durch  den  engen  Anschluß  der  musikalischen  Erfindung 
an  den  Wortgehalt  aus.  Als  ein  Hauptstück  ist  »Sicut 
cervus«  zu  nennen.    Aus  der  römischen  Schule  und  aus 

F.  Anerio.  Palestrinas  unmittelbarer  Umgebung  ist  hier  Feiice  A  n  e  r  i o 
mit  der  Komposition  des  Psalms  »Beatus  vir«  anzureihen. 
Sein  Schlußsatz  fällt  aus  dem  Tone  der  Palestrinaschule 
durch  die  Erregung  und  die  fast  schauerliche  Realistik 
heraus,  mit  welcher  das  endliche  Schicksal  des  Sünders 
geschildert  wird.  Das  ergreifende  Werk  ist  eines  der 
spärlichen  Vorläufer  jener  kühnen  Psalmenmotetten,  durch 
die  Schützens  cantiones  sacrae  Aufsehen  erregten.  Zeit- 
lich steht  dieser  Komposition  als  ein  andres  italienisches 

0.  QabrielL  Meisterstück  das  sechsstimmige  »Miserere«  G.  Gabrielis 
(von  4597)  nähe.  Es  verläuft  in  einem  einzigen  Satz,  der 
den  Bau  der  Dichtung  mit  bescheidenen  Modulations- 
einschnitten wiedergibt  und  auch  der  Ausdruck  hält  sich 
einfach  an  die  Demut.  Aber  gerade  durch  den  Verzicht 
auf  Dramatik  und  auf  jede  Wirkung  nach  außen  ist  es 


— ♦      114      ^- 

ein  Bußgebet  von  vollendeter  Zartheit  und  Feinheit.  Mit 
unscheinbaren  Mitteln  wird  GabrieU  allen  Wallungen  des 
Gemüts  gerecht.  Eine  Pause  und  ein  extra  breiter  Akkord 
beim  Einsatz  des  >Dele  iniquitatem«  —  und  doch  spricht 
eine  Fülle  von  Inbrunst  aus  der  Stelle!  Beim  >quoniam 
iniquitatemc  ein  ungesuchtes  chromatisches  Motiv  —  aber 
wieviel  Scham  und  Rene  liegt  darin!  .Welcher  Ernst  in 
dem  E  dur-Einsatz  bei  »tibi  soli  peccavitc  Und  sowie  an 
diesen  Punkten  ist  die  ganze  Komposition  durch  Klein- 
arbeit ununterbrochen  meisterUch. 

Als     ein    weiterer    viel    nachgefragter    Venetiani- 
scher  Vertreter  der  Gattung  ist  noch  Giovanni  Groce      G*  OroM. 
mit    seinen    'achtstimmigen    Vesperpsalmen     (1592)    zu 
nennen.  » 

Die  Geschichte  des  musikalischen  Psalms  ähnelt  dem  PsalmUed. 
Gang  der  Passionskomposition  darin,  daß  sie  schnell  alle 
neu  auftauchenden  Satzformen  versucht.  Der  Grund  ist 
in  beiden  Fällen  derselbe :  die  poetische  Gewalt  der  Texte, 
die  starke  Anziehung,  die  sie  auf  jede  Art  musikalischer 
Gemüter  äußern.  So  macht  denn  auch  in  demselben 
Augenblick,  wo  sich  eben  die  Psalmenmotette  durchsetzt, 
das  neu  in  Schwung  gekommene  Chorlied,  das  in 
der  Messe  zu  künstlerischer  Bedeutung  nicht  gelangt, 
erfolgreiche  Ansprüche  auf  die  Psalmentextie.  Sie  waren 
in  derselben  Sehnsucht  nach  einfacher,  gemeinverständ- 
licher Musik  begründet,  die  zuerst  wohl  in  den  sogenannten 
>Plenarien<  den  Gregorianischen  Introitus  -  Melodien 
deutsche  Texte  zum  Nachlesen  für  die  Laien  beifügt,  die 
dann  mit  dem  Anfang  des  1 6.  Jahrhunderts  in  der  ganzen 
Vokalkomposition  der  Alleinherrschaft  des  Kontrapunkts 
entgegentritt,  die  unter  Tritonius  und  Genossen  zu  den 
homophonen  Kompositionen  Horazischer  Oden,  die  schließ-  . 
lieh  über  > Generalbaß c  und  »Generaldiskant«  zur  Monodie 
und  zu  einer  »nuove  musiche«  führt.  Wie  diese  Bewe- 
gung ihren  größten  Triumph  im  Lutherschen  Gemeinde- 
lied erlebt,  so  war  es  auch  Luther,  der  sie  mit  aufs 
Psalmengebiet  hinüberwies.  Denn  der  Reformator  hat 
][>ekanntlich    dem  Schatz    des  protestantischen  Chorals 


—-^      412      *— 

eine  Reihe  Psalmentexte  eingefügt,  von  denen  »Aus  tiefer 
Not  schrei  ich  zu  dirc  der  bekannteste  sein  wird.  Dieses 
Beispiel  und  die  zeitgenössische  Odenkomposition  mögen 

Ol.  Gondimel.  Claude  Goudimel  hauptsächlich  angeregt  haben,  die 
sämtlichen  Psalmen  nach  dem  französischen  Text  Ma- 
rots  und  Bedas  in  einfachen  vierstimmigen  Liedsatz  zu 
bringen.  Dieser  zuerst  4565  veröffentlichte  (unlängst 
in  allen  4  50  Stücken  originalgetreu  von  Expert  in 
Partitur  herausgegebene)  Goudimelsche  Psalter  ist  den 
Reformierten  noch  mehr  geworden  und  geblieben  als  den 
Lutheranern  ihr  Choral:  nicht  bloß  das  Hauptstück,  son- 
dern fast  das  einzige  Lebenszeichen  der  Musik  in  der 
Liturgie.  Wie  Luther  viele,  so  hat  Goudimel  fast  alle  — 
•  meist  noch  in  den  Tenor  gelegten  —  Melodien  dem  Volks* 
gesang  entnommen.  Mitarbeiter  und  Nachfolger  fand 
er  auf  reformiertem  Boden  einzelne:  den  ersten  in  dem 
G.  LBJ61UL6*  großen  Chansonisten  Claudin  Le j  eun e ,  dann  niederländi- 
sche Musiker,  unter  ihnen  den  hervorragendsten  in  dem 

Eoolealaotioiub  sogenannten  >Ecclesiacticusc*).  Im  ganzen  sind  es 
nicht  viele,  weil  durch  die  von  Goudimel  selbst  vorge- 
legte Masse  der  Bedarf  gedeckt  war.  Fast  eifriger 
nahmen  sich  die  protestantischen  Tonsetzer,  nachdem 
Lobwasser  die  Marotschen  Texte  übersetzt,  Buchanau 
die  Davidschen  Gesänge  paraphrasiert  hatte,  des  neuen 
mehrstimmigen  Psalmenliedes  an,  da  es  sie  rhythmisch 
und  malerisch  reizte.  Ihre  Reihe  reicht  von  dem  Rostocker 
Olthofi  Olthof  über  Hammerschmidt  bis  zu  dem  Eislebener 
Epimef-  Uthr edecerus  (7  Bußpsalmen  mit  Kirchenmelodien,  4  684 ). 
lohmidt.      Auch  ein  Däne,  A.  Arebbo,  ti^tt  in  ihr  mit  >König  Davids 

TTtlmd^oenu.  Psalterc  (Kopenhagen,  4683)  auf**).  Besonders  ragt  Her- 

Arebbo.       mann  Schein  mit  den  Psalmennummern  seines  »Gan- 

H.  Boheia.     tioiiale«  und  seiner  >opella  novac  hervor.    Schein  läßt, 

indem  er  diese  Arbeiten  >Liederlein  und  Psälmlein«  nennt, 

durchblicken,  daß  die  eigentlichen  Musiker  auf  das  ganze 

Gebiet  keinen  großen  Wert  legten.   Ganz  ähnlich  wie  den 


*)  Neu  herausgegeben  Ton  D.  F«  Scheurleer. 
**)  A.  Hamerich  a.  a.  O. 


Gemeindechoral  und'  das  neue  Sololied  überläßt  man  es 
den  Dilettanten.  Anch  darin  kommt  es  noch  einmal  zu 
einer  Parallele  zwischen  Choral  und  Psalmenlied,  daß 
sich  auch  aus  letzterem  wieder  eine  neue  Gattung 
höherer  Kunst  entwickelt':  vokale  und  instrumentale 
Psalmenbearbeitungen  in  großer  Form.  • 

Dazu  hatte  Goudimel  selbst  den  Anstoß  mit  einem 
(schon  4562  erschienenen)  Heft  von  Chorpsalmen  gegeben, 
in  welchem  sechzehn  volksmäßige  Psalmmelodien  im  Mo- 
tettenstil durchgeführt  werden.  Von  den  Werken,  welche 
nach  diesem  Vorgang  die  einfachen  Psalmen  Goudimels 
zu  großen  Orgelkompositionen  ausführen,  ist  das  hervor- 
ragendste das.  Tabulaturen  Boeck  des  Anthoni 
van  Noordt*)  (von  4  659)  ein  getreues  Pendant  zu  den  A.  van  Voordt. 
ebenfalls  aus  Sweelincks  Schule  stammenden  Choral-  Orgelqsalmen. 
Variationen  S.  Scheidts,  xZu  den  späteren  Seh.  Bachs  und 
der  diese  Meister  umgebenden  deutschen  Orgelkompo- 
nisten. Es  zeigt  auch  auf  eine  gleiche  hturgische  Be- 
handlung der  Psalmen  bei  den  Reformierten,  wie  sie 
bereits  bei  den  lutherischen  Chorälen,  bei  den  Messen 
and  Hymnen  der  Katholiken  erwähnt  worden  ist:  Ge- 
legentlich ließ  man  sich  auch  den  Psalm  in  poetischer 
Variation  der  einzelnen  Verse  vorspielen  und  las  still 
den  Text  dazu. 

Als  erster  Meister  der  vokalen  Psalmvariation  ist  der 
niederländische  »Phönix  der  Musikc,  der  große  Peter 
Sweelinck  anzuführen.  Zwar  herrscht  noch  keine  voll-  Peter Sweelinok. 
ständige  Klarheit  über  den  Umfang  seiner  Psalmenarbeit, 
aber  sicher  ist,  daß  er  die  4  50  Psalmen  Davids  minde- 
stens jeden  einmal  komponiert,  und  daß  er  mindestens 
vier  große  Bücher  Chorpsalmen  zu  vier  bis  acht  Stim- 
men herausgegeben  hat**;.  Einzelne  dieser  Sammlungen 
erlebten  mehrfache  Auflagen,  sie  wurden  außer  in  der 

*)  Als  19.  Stuck  der  Publikationen   der  niederländischen 
»Vereeniging  usw.«  in  Übertragung  neu  herausgegeben. 

*•)  Vgl.  H.  A.  Viotta:  Einleitung  zum  Neudruck  von  Swee- 
lincks »Regina  coeli«  (Publikationen  der  »Yeereeniging  usw.«,  I.). 


iii    ♦— 

Heimat  des  Komponisten  auch  in  Deutschland  (Frank- 
furt, Berlin)  gedruckt,  aus  dem  Französischen  (des  Marot) 
ins  Deutsche  übersetzt  und  von  den  Landsleuten  Swee- 
lincks  als  die  Krone  seiner  Leistungen  angesehen.  Biblio- 
thekspuren bezeugen  noch  heute  ihre  große  Verbreitung 
im  i  7.  Jahrhundert.  Gelegenheit,  sich  über  ihr  Wesen  und 
ihren  Wert  bequem  zu  orientieren,  bietet  der  Neudruck, 
der  von  der  vierstimmigen  Fassung  des  achten,  des  vier- 
undzwanzigsten, des  fünfundsiebzigsten,  des  neunzigsten, 
des  hundertzweiundzwanzigsten  und  des  hundertachtnnd- 
dreißigsten  Psalms  vorliegt  *}.  Dam  ach  sind  die  vier- 
stimmigen Psalmen  Sweelincks  vorwiegend  sehr  lange 
drei-  und  vierteilige,  gegen  zwanzig  Partiturseiten  und 
mehr  umfassende  Paraphrasen  der  Goudimelschen  Weisen. 
In  jedem  Teil  hat  in  der  Regel  eine  andere  Stimme  die 
Grundmelodie  als  breit  rhythmisierten  cantus  firmus.  Die 
Nebenstimmen  sind  zuweilen  in  der  Einfacheit  Eccard- 
scher  Ghoralsätze,  häufiger  aber  in  kunstvollen,  mitunter 
strengen  Nachahmungen  von  Motiven  dagegengestellt 
und  grundsätzlich  dem  cantus  firmus  entnommen. 
Auch,  fugenmäßige  Führung  sämtlicher  Stimmen  kommt 
vor.  Die  Methode  knüpft  hiernach  locker  an  die  alt- 
niederländische Schule,  enger  an  den  gleichzeitigen  Orgel- 
choral an.  Daß  trotz  dieses  instrumentalen  Vorbildes 
die  Wirkung  dieser  Chorpsalmen  Sweelincks  stark  und 
unmittelbar  ist,  danken  sie  der  Wahl  der  kontrapunktie- 
renden Motive,  die  das  Wort,  die  Situation  und  ebenso 
die  Natur  der  Menschenstimme  in  ihrer  Reinheit,  und 
Eigenart  wahrt.  Besonders  glücklich  und  reich  ist  der 
vierundzwanzigste  Psalm  erfunden.  Da  hat  Sweelinck 
in  der  Fülle,  der  Eindringlichkeit  und  dem  Fluß  des  Aus- 
drucks die  Fessel  des  cantus  firmus  ganz  überwunden, 
und  es  kommen  Stellen,  die  durch  Kühnheit  der  Dekla- 
mation geradezu  in  Erstaunen  setzen;  die  frappanteste 
ist  wohl  der  Eintritt  der  Worte:  »Mais  sa  montagne«. 
Er  gehört  mit  zu  den  Stücken,   in  denen  erregte  Vor- 

*)  Publikationen  der  »Vereeniging  usw.«,  XII. 


i<5 


Stellungen  und  Bilder  überwiegen.  Sie  sind  es,  bei  denen 
die  Fantasie  Sweelincks  am  stärksten  ist  und ,  die  am  mei- 
sten wirken.  Bei  d^n  Aufgaben  ruhiger  Darstellung  fesselt 
er  feinere  Hörer  durch  die  •  Klarheit  des  Abtönens  und 
Unterscheidens,  mit  einem  Wort,  durcK  seine  künstlerische 
Bildung,  aber  die  Begabung  tritt  dagegen  zurück.  Auch 
in  den  mehr  als  vierstimmigen  Psalmen  bleibt  er  in  erster 
Linie  der  Meister  der  hellen  Farben,  der  Sänger  für  Lob 
und  Freude.  Leider  liegt  von  ihnen  nur  ein  einziger 
Neudruck,  der  des  hundertundfünfzigsten  Psalms  für  acht 
Stimmen  vor'*').  Dafür  ist  das  aber  auch  ein  Prachtstück 
begeisterter,  festlich  glänzender,  rauschender  und  schwung- 
voller Musik,  dem  die  Kunst  der  Sweelinckschen  Zeit  nur 
wenig,  ihre  Dichtkunst  jedenfalls  nichts  an  die  Seite  zu 
stellen  hat.  Für  die  Aufführung  tut  man  gut,  die  acht  Stim- 
men in  zwei  getrennte  vierstimmige  Chöre  zu  gruppieren,  da 
nach  alter  Psalmenweise  meist  regelrecht  und  hinreißend 
ajitiphoniert  wird.  Deutschen  Chorvereinen  sollte  dieser 
Sweelincksche  Psalm  sobald  als  mögUch  durch  eine  Ein- 
richtung mit  deutschem  Text  zugänglich  gemacht  werden. 
Durch  ihn  müßte  es  der  Gegenwart  mit  einem  Schlag 
klar  werden,  daß  Sweelinck  auch  zu  den  größten  Vokal- 
meistern seiner  Zeit  gehört. 

In  Deutschland  findet  sich  zu  dem  über  Goudimel- 
sche  Weisen  entwickelten  Chorpsalm  Sweelincks  schon 
4  607  ein  Seitenstück  in  den  auf  Choraltnelodien  basierten 
Psalmenmotetten  Leo  Häßlers  (4607),  die  bekanntlich 
4  774  als  der  erste  deutsche  Neudruck  alter  Musik  ver- 
dientermaßen wieder  herausgegeben  wurden.  Dem  Vor- 
gang Haßlers  sind  bis  zu  Valentin  Meder  und  bis 
zum  Anfang  des  48.  Jahrhunderts  viele  Komponisten 
gefolgt  Engern  Anschluß  an  Sweelinck  zeigen  die 
stimmreichen  und  »konzertweis«  mit  Instrumenten  be- 
gleiteten Psalmen  seines  Schülers  Paul  Siefert  in 
Danzig  dadurch,  daß  sie  Goudimelsche  Melodien  als 
Grundlage    nehmen.     Sie   gehören   in   eine   technische 


L.  Haßler. 


Val.  Meder. 


Paul  Siefert. 


♦)  Publikationen  der  >Vereeniging  usw.«,  XVII. 


-•-♦     iU    ♦-- 

I 

Oratorischer  Grappe^  die  man  als  o rat ori sehen  Psalm  bezeidinen 

Ptfalm  oder    könnte, 
^salmkantate.         Seit  Anfang  des  4  7.  Jahrhunderts  schon  hatte  sich  der 
Psalmentexte  auch  die  neue*  Kunst  der  Vokalmusik  mit 
selbständiger  Begleitung  bemächtigt.   Das  erste  Werk,  mit 

L.  Viadana,  dem  die  »niiöve  musichec  in  die  Kirche  einzieh t,  L.  Via- 
danas »Cento  Concerti  ecclesiastici  usw.«  (4  602)  enthält 
auch  Psalmentexte.  Bald  kamen  aber  auch  spezielle  Psal- 
mensammlungen für  eine  und  für  mehrere  Solostimmen 
mit  Begleitung.  Eine  der  frühesten,  die  jedoch  auch  un- 
begleitete  antiphonierende  Chorsätze,  u.  a.  einen  auf  »Ein* 
feste  Burg«  enthält,  ist  die  unsers  Landsmanns  Thomas 

Th.  Walliser.  Wallis  er  mit  dem  Titel:  »Kirchengesänge  oder  Psalmen 
Davids«  (45U).  Ähnlich  mischen  sich  alte  Motetten-  und 
neue  Kantatenmusik  in  den  sechzehn  Kompositionen  des 
44  6.  Psalms,  die  Großmann  in  Jena  etwas  später  ver- 
öffentlicht hat.  An  der  Konkurrenz  haben  Schütz,  Schein, 
M.  Prätorius,  Altenburg,  Demantius  Teil  genommen. 
Im  Laufe  des  4  7.  Jahrhunderts  wird  der  Sologesang 
in  den  Psalmen  immer  beliebter.  Besonders  beweis- 
kräftig sind  für  diese  Annahme,  weil  sie  von  Laien 
^  herrühren,  die  beiden  Kompositionen  des  »Miserere«,  die 
wir  vom  Kaiser  Ferdinand  IIL  und  von  Kaiser  Le^opold  L 

Kalger  Ferdi-  besitzen*).  Bei  Ferdinand  merkt  man  das  gesunkene  An- 
rftad  IIT.  sehen  der  Chormusik  schon  an  der  Textverteilung:  4.  Vers 
Miflorerc.  Chor,  2.  Vers  Solo  für  ersten  Sopran,  3.  Vers  Solo  für  zwei- 
ten Sopran,  4.  Vers  Solo  für  dritten  Sopran,  5.  Vers  Terzett 
der  drei  Solosoprane,  6.  Vers  Chor,  7.  Vers  Solo  für  ersten 
Tenor,  8»  Vers  Solo  für  zweiten  Tenor,  9.  Vers  Solo  für 
dritten  Tenor,  4  0.  Vers  Terzett  für  die  drei  Solotenöre, 
4  4.  Vers  Chor.  So  geht  es  weiter  mit  den  drei  Alt-  und 
den  drei  Baßsolisten  bis  zum  »Gloria  Patri«  in  das  sich 
Solistenensemble  uud  Chor  endlich  einmal  ehrlich  teilen. 
Die  numerische  Zurücksetzung  des  Chors  wird  dadurch 
noch  verschärft,  daß  seine  Sätze,  wenn  auch  voll  von 
Ausdruck  und  gut  musikalischen  Zügen,  doch  auffallend 

*)  G.  Adler:  »Musikalische  Werke  der  Kaiser  usw.«,  Bd. !• 


--♦     417     *^ 

kurz  und  im  einfachsten  homophonen  Stil  gehalten  sind. 
Dem  »Miserere«  Leopolds  I.  liegt  das  naive  Prunken KaiterLeoiloldL 
mit  dem  SoHstenbestand  der  Kaiserlichen  Kapelle  fern.  "^  Miseieie. 
Es  reicht  der  alten  Kunst  nicht  bloß  in  der  Menge  der 
Chöre,  sondern  auch  in  den  Soli^  die  Hand,  bei  jenen 
sogar  mit  Anklängen  an  die  Falsobordoni.  Aber  es  läßt 
trotzdem  keinen  Zweifel  darüber,  daß  der  Sologesang  mit 
seinen  akustischen  und  sinnlichen  Reizen  die  Psalmen- 
komposition stärker  beherrschte,  als  es  der  Text  zuließ. 
Das  sonst  meisterliche,  durch  tiefe  Empfindung,  kühne 
Sprache,  sichre  und  freie  Form  fesselnde,  die  musikalische 
Dilettantenkraft  der  Monodieepoche  frappant  beleuchtende 
Habsburger  Werk  zeigt  in  der  selbstherrlichen  ^ Koloratur- 
freudigkeit seiner  Solosätze  eine  nicht  bloß  iildividuelle, 
sondern  auch  zeitliche  Schwäche. 

Die  Gefahr  war  nicht  ausgeschlossen,  daß  der  Psalm 
ähnlich  wie  die  italienische  weltliche  Lyrik  ganz  und  gar 
dem  Sologesang  ausgeliefert  wurde.  Für  die  geisthche 
Musik  Italiens  diese  Gefahr  beseitigt  und  einen  Ausgleich 
neuer  und  alter  Musik  herbeigeführt  zu  haben,  ist  be- 
kanntlich das  Verdienst  Cari'ssimis:  Noch  früher  und  a.  Oarlssimi* 
entschiedener  wurde  ihr  in  Deutschland  vorgebeugt  und 
zwar  von  Heinrich  Schütz,  ganz  insbesondere  auch  H.  Schfits, 
durch  seine  Leistungen  in  der  Psalmenkomposition.  Schon 
durch  seine  Fruchtbarkeit  auf  diesem  Gebiet  gehört  Schütz 
unter  die  größten  Psalmenmeister  aller  Zeiten.  Auch  er  hat 
nur  einen  kleinen  Teil  seiner  Psalmen  al&  solche  betitelt, 
der  größere  birgt  sich  unter  verschiedenen  musikalischen 
Formennamen:  Geistliche  Konzerte,  Sinfoniae:  sacrae, 
Motetten,  Geistliche  Chormusik.  Die  Spittasche  Gesamt- 
ausgabe seiner  Werke  gibt  ja  hierüber  bequeme  Auskunft 
und  zeigt  zunächst,  daß  auch  Schütz  allen  in  seiner  Zeit 
bekannten  Richtungen  der  Psalmenkompositionen  ihr 
Recht  zu  geben  strebte.  Wir  haben  da  als  erste  Gruppe 
Psalmen  in  der  Form  der  einstimmigen,  oder  auch  zwei- 
und  dreistimmigen  Solokantate  komponiert.  Sie  sind  es, 
die  obenhin  betrachtet,  am  meisten  den  Eindruck  von 
Modesachen  machen.    Denn  hier  ist  auch  Schütz  musi- 

II,  \.  27 


— <^      4«8      ^>— 

kalischen  Worten,  wie  psallare,  jubilare,  cantare,  und  er 
ist  allen  Bewegungsbegriffen  gegenüber  mit  malenden 
Gesangfiguren  freigebiger,  als  unsere  Zeit  für  notwendig 
erachtet.  Aber  er  opfert  der  Manier  des  vokalen  Kolo- 
rierens  mit  mehr  Maß  und  Geschmack  xmd  auch  sinn- 
voller und  geistreicher  als  der  Durchschnitt  seiner 
Kollegen.  Sein  Figurensingen  rückt  in  der  Regel  durch 
die  Nachahmungen  der  Instrumente,  durch  umbildende 
und  verdichtende  Polyphonie  aus  dem  Sinnlichen  hinauf 
in  den  Kreis  beziehungsvoller  Kunst.  Noch  wichtiger  ist 
es,  daß  diese  Alterspuren  quantitativ  weit,  weit  hinter 
die  bleibende  Größe  zurücktreten,  die  allen  wesentlichen 
Elementen  dieser  Solopisalmen  eigen  ist.  Es  genügt,  den 
ersten  Teil  der  »Sinfoniae  sacraec  (von  4  629)  oder  den 
ersten  Teil  der  »Geistlichen  Konzertec  (von  4  636)  aufs 
geratewohl  aufzuschlagen.  In  Stücken  von  der  Herz- 
lichkeit des  »In  te  Domine  speravi«,  von  der  Fülle  und 
Originalität  der  Erfindung  des  »Jubilate  Deo«,  von  der 
Natürlichkeit  der  Deklamation  des  »Eile^  mich,  Herr 
usw.«  zeigt  sich  ein  Psalmist  von  königlicher  Art.  Für 
Hausandachten,  für  Gottesdienst  mit  bescheidenen  Mitfein 
sind  diese  Schützschen  Solopsalmen  wie  geschaffen  und 
sie  zunächst  praktisch  bekannt  zu  machen,  ist  eine  der 
dankbarsten  Aufgaben  des  heutigen  geistlichen  Kon- 
zerts. Die  Mithilfe  des  Musikverlags  kann  dabei  aller- 
dings nicht  entbehrt  werden;  es  braucht  Übertragungen 
und  Einrichtungen  der  Originalausgabe,  welche  die  Rhyth- 
mik modernisieren,  die  Dynamik  einfügen  und  vor  allem 
das  nur  skizzierte  Akkompagnement  für  Orgel  (oder  Kla- 
vier) vervollständigen. 

Diejenigen  deutschen  Komponisten,  die  sich  mit  Psal- 
men für  Solo  oder  Soloensemble  am  engsten  an  Schütz 
N.  Stronck.  anschließen,  sind  N.  Strunck  und  Ad.  Krieger.  Kriegers 
A.  Erleger.  Terzett  über:  »An  den  Wassern  zu  Babel  usw.«  ist  eins 
der  ausdrucksreichsten  Stücke  aus  der  Entwicklungszeit 
des  geistUchen  Konzerts,  in  der  Form  allerdings  etwas 
sprunghaft.  Breiter  angelegt  ist  seine  vierstimmige 
Psalmkantate:    »Ich  preise  dich,    Herr«,    sie   hält    auch 


den  einheitlichen,  wunderschön  gehaltenen  Grundton,  den 
des  fröhlichen  Herzens,  fester*). 

Die  zweite  Hanptgruppe  der  Schützschen  Psalmen- 
werke,  die  die  Chorpsalmen  umfaßt,  zerfällt  in  mehrere 
Unterahteilungen.  Wie  schon  in  den  Solopsalmen  ein 
Teil  der  besten  auf  Einflüsse  des  Chorstils  zurückgeht, 
1^0  steht  diese  Gruppe  als  Ganzes  über  der  anderen,  je- 
doch .  mit  beträchtlichen  Gradunterschieden.  Ihren  be- 
scheidensten Teil  bilden  der  Form  nach  die  Komposi- 
tionen zu  den  von  Cornelius  Becker  gedichteten  deutschen 
Psalmenparaphrasen,  die  von  4628  bis  4  665  auf  hundert 
und  fünfzig  Stick  gebracht  wurden.  Es  sind  vierstimmige 
Chorlieder  mit  (ad  libitum)  beigefügtem  Basso  continuo, 
Beiträge  zur  Geschichte  des  Goudimelschen  Psalters  auf 
evangelischem  Boden.  Wie  Schein  von  seinen  >Psälm- 
lein«,  so  hat  auch  Schütz  von  diesen  Arbeiten  keine  hohe 
Meinung:  Es  sei,  sagt  er,  »fast  kein  Musikus,  welcher 
nicht  etwa  eine  solche  Melodey  aufsetzen  könnte«,  und 
gegen  die  von  Luther  stammenden  Psalmenweisen  ver- 
hielten sich  seine  Erfindungen  wie  Menschen  zu  den 
himmlischen  Seraphim.  Man  biaucht  sich  aber  dadurch 
nicht  von  dieser  einfachen  Musik  abschrecken  zu  lassen, 
auf  ihren  Gemütswert  weist  Schützens  eigene  Mitteilung 
hin,  daß  sie  sein  Trost  bei  dem  »unverhofften  Todesfall 
seines  weyland  lieben  Weibes«  gewesen  seien.  Man  merkt 
ihnen  sehr  wohl  noch  die  Blütezeit  des  Kirchenliedes 
an.  Bedeutend  eigner  sind  die  Psalmenmotetten,  die  — 
fünfzehn  an  Zahl  —  unter  den  vierzig  Nummern  der 
»Cantiones  sacrae«  (von  1625)  enthalten  sind.  Ihre  An- 
lage ist  vorwiegend  kurz  und  einsätzig,  nur  dreimal  hat 
Schütz  solche  einzelne  Sätze  zu  einem  zwei-  und 
dreiteiligen  Zyklus  aneinandergereiht.  In  diesem  knappen 
Rahmen  wird  aber  soviel  Kunst  und  bewegtes  Innenleben 
zusammengedrängt,  daß  diese  vierstimmigen  Chorpsal- 
men als  Unica  bezeichnet  werden  müssen.  Spitta  macht 
in  der  Vorrede  des  betreffenden  Bandes  darauf  aufmerk- 

*)  Königliche  Bibliothek  zu  Berlin,  MMs.  11661. 

27* 


-^      42d      4»— 

sam,  daß  nach  Kaspar  Printz  (historische  Beschreibung 
der  edlen  Sing-  und  Klingkunst  4690)^er  Ruhm  Schützens 
an  diese  cantiones  zuerst  angeknüpft  hat.  Das  begreift 
sich  sehr  leicht.  Denn  diese  Psabnenmotetten  treten  im 
Wesen  und  in  den  Mitteln  aus  jeder  bekannten  Reihe 
heraus.  Soviel  ungewöhnliche  Intervalle  und  Akkorde 
(übermäßige  Dreiklänge  namentlich),  solche  Kühnheit  in 
der  Rhythmik,  solche  Schlagfertigkeit  in  der  Nachahmung 
mußten  an  und  für  sich  auffallen.  Sie  verbanden  sich 
aber  hier  mit  einer  vollendeten  Sicherheit  und  Natürlich- 
keit des  Ausdrucks  und  sie  überschütteten  mit  Proben 
des  neuen  dramatischen  Musikgeistes  an  einer  Stelle,  wo 
ihn  niemand  erwartete,  in  der  alten,  gedrängten  einsätzigen 
Motette.  Dadurch  wurden  und  sind  sie  das  eigenthche 
Meisterstück  Schützens,  in  ihrer  Art  bis  heute  noch  von 
niemandem  überboten.  Davon  zu  überzeugen  sind  be- 
sonders die  Nummern  4  4  (»In  te  Domine  speravic)  und 
38  (Domine,  ne  in  furore  tuo  anguas  me<)-  geeignet 
Was  für  eine  ungeheure  Empfindung  spricht  in  diesem 
letzten  Stück  allein  schon  aus  dem  Einsatz  des  »Mise- 
rere«, aus  der  Mischung  von  inbrünstigem  Vertrauen  und 
furchtbarer  Angst,  aus  der  verblüffenden  Melodik  des 
Motivs!  Zugleich  aber  wird  aus  diesen  Beispielen  eine 
andere  Eigentümlichkeit  dieser  Schützschen  Psalmen- 
motetten klar:  ihi'e  ganz  außerordentliche  Schwierigkeit. 
Wenn  sich  überhaupt  ein  Chor  an  ihnen  versucht^  darfs 
nur  einer  von  den  allerbesten  sein.  Sicherer  geht  man 
mit  einem  Soloquartett.  Bei  vielen  ist  das  durch  den 
Basso  continuo  angedeutete  Akkompagnement  wesent- 
lich. 

Die  höchste  Stufe  der  von  Schütz  getanen  Psalmen- 
arbeit bezeichnen  aber  auch  diese  Motettenpsalmen  noch 
nicht,  sondern  sie  findet  sich  erst  in  den  mehr  chörigen 
Psalmen  mit  Instrumenten,  die  im  dritten  Teü  der  »Sin- 
foniae  sacrae«,  in  der  »Geistlichetn  Ghormusik«  und  in 
den  von  4  619  ab  veröffentlichten  »Psajmen  Davids 
samt  etlichen  Motetten  und  Konzerten«  enthalten  sind. 
Bei  ihnen  kommt,  verghchen  mit  den  Psalmenmotetten, 


f 


die  bedeutende,  äußere  Wirkung  hinzu,  die  in  der 
großen,  breiten  Form  dieser  Kompositionen  begründet 
ist.  Wie  bei  den  Solopsalmen,  ist  diese  Form  die  neu 
eingeführte  der  Kantate.  Schütz  hat  sie  aber  bei  diesen 
mehrchörigen  Psalmen  mit  einer  ganz  außergewöhnlichen 
Beweglichkeit  der  Sätze  und  des  Tempowechsels  gehand- 
habt. Die  Musik  der  einzelnen  Psalmen,  auch  der  läng- 
sten, wie  der  44  6.,  der  424.,  fließt  immer  frisch  dahin,  und 
der  Gesamteindruck  ist  einheitlich  und  stark.  Sieht  man 
genau  hin,  bemerkt  man  als  Eigentümlichkeit  des  Schütz- 
schen  Kantatenauf  baus,  daß  er  zur  rechten  Zeit  sich  mit 
sehr  kurzen  Sätzchen  als  Zwischengliedern  begnügt,  daß 
er  zweitens  geeignete  kleine  und  größere  Stücke  durch 
Wiederholung  einprägt.  Durch  diese  mehrchörigen  Psalmen 
von  Schütz  ist  die  Kantate  ein  für  allemal  eine  Haupt- 
form  der  Psalmenkomposition,  sie  ist  die  Form  des 
eigentlichen  Fe§tpsalms  geworden.  Spätere  Meister,  wie 
Händel,  haben  die  Schützsche  Grundform  individuell  aus- 
gefüllt, im  wesentlichen  aber  nur  wenig  geändert.  Selbst 
bei  Franz  Liszt  ist  sie  noch  zu  spüren,  bei  ihm  —  neben- 
bei bemerkt  —  auch  Schützsche  Wortauffassung,  wie  der 
Vergleich  zwischen  den  Kompositionen  ergibt,  in  die 
beide  Tonsetzer  den  4  3.  Psalm  gebracht  haben.  Am 
meisten  weichen  spätere  Psalmenkantaten  von  den 
Schützschen  darin  ab,  daß  sie  neben  dem  Chor  auch 
dem  Sologesang  einen  breiteren  Platz  geben.  Doch, 
fehlt  der  in  den  mehrchörigen  Psalmen  dieses  Meisters 
keineswegs,  wenn  er  auch  nur  bescheiden  auftritt.  Schütz 
hat  die  Solostellen  nicht  als  solche  bezeichnet.  Trotz- 
dem ist  es  verkehrt  keine  anzunehmen  und  immer  nur 
den  Chor  singen  zu  lassen.  Die  Punkte,  an  denen 
gewechselt  werden  darf  oder  nicht,  ergeben  sich  aus 
dem  Stil. 

Zu  der  Klassizität  der  Kantatenform  tritt  bei  diesen 
mehrchörigen  Psalmen  von  Schütz  noch  die  erstaunliche 
Fülle,  die  Mannigfaltigkeit  und  der  poetische  Wert  der 
Gedanken  und  der  Mittel.  Durch  das  alles  sind  sie 
Gipfel  der  Musikgeschichte,  ähnlich  wie  auf  ihren  Ge- 


— <&      422     ^— 

bieten  die  Orgelfantasien  Bachs  und  die  Symphonien 
Beethovens.  Sie  erst  zeigen  den  ganzen  Schütz  mit 
seinem  Bilderreichtum  und  seiner  sicheren  Gestaltungs- 
kraft. Altes  und  Neues  verschmilzt  bei  ihm'  organischi 
die  Zeiten  der  Falsobordoni  und  des  modernen  Motivs 
begegnen  sich  in  natürlichster  Freundschaft.  Untersucht 
man  diese  SO  mehrchörigen  Psalmen  auf  Binzelzüge  hin, 
so  steht  man  wie  bei  den  B  achschen  Kantaten  vor  un- 
erwarteten Überraschungen.  Nicht  wenige  entspringen 
einem  liebenswürdigen  ReaUsmus,  so  wenn  in  dem 
Choralpsalm  »Nun  danket  alle  6ott€  plötzlich  eine  Solo- 
trompete mit  einem  ganz  volkstümUchen  Refrain  herein- 
spielt, wenn  er  in  >Wo  der  Herr  nicht  das  Haus  baut« 
bei  den  Worten  voq.  der  behüteten  Stadt  ein  leibhaftiges 
Türmersignal  blasen  läßt.  Hier  schreibt  er  noch  extra 
darüber:  >ad  imitationem  cornu  vigilis«.  Unter  die  beson- 
deren Eigenheiten  Schützens,  die  aus  diesen  mehrchörigen 
Psalmen  hervortreten,  gehört  auch  eine  Stimmführung, 
die  gegebenen  Falls  die  Konsequenz  über  den  Wohl- 
klang setzt  und  ohne  Bedenken  ganz  ungewohnte  Disso- 
nanzen streift.  Monteverdis  Einfluß  spricht  daraus.  Als 
ein  Hauptparadigma  hierfür  bietet  sich  die  Komposition 
von  >Die  mit  Tränen  säen«.  Sie  bietet  Gelegenheit  einen 
praktischen  Punkt  zu  berühren.  Sie  gehört  nämlich  zu 
den  zweichörigen  Psalmen,  bei  denen  in  jedem  Chor  ein 
Teil  der  Stimmen  Instrumenten  übertragen  ist.  Hier  treten 
je  drei  Posaunen  mit  je  zwei  Chorstimmen  und  der  Orgel 
zusammen.  Diese  eigentümliche  Mischung,  ursprünglich 
ein  Notbehelf  kleiner  Kapellen  bei  den  stimmreichen 
Werken  der  venetianischen  Schule,  wurde  als  ein  neues 
GehörspHänomen  allmählich  beliebt  und  findet  sich  auch 
bei  den  Zeitgenossen  von  Schütz.  Sie  bietet  aber  bei 
der  Aufführung  große  Schwierigkeiten  für  das  reine  Zu- 
sammenklingen und  der  Dirigent  wird  gut  tun,  den 
Posaunen  reichere  Gelegenheit  zum  Einspielen  mit  der 
Orgel  und  zum  Ausgleich  temperierter  und  natürlicher 
Stimmung  zu  geben.  Bei  den  mehrchörigen  Psalmen  mit  vol- 
lerem Orchester  ist  diese  Schwierigkeit  bedeutend  geringer. 


•     / 


Wie  durch  Schütz  in  Deutschland,  so  wurde  auch  in 
andern  Ländern  durch  ihm  verwandte  Geister  das  drohende 
Monopol  des  Sologesangs  ferngehalten,  doch  erhalten  von 
der  Mitte  des  47.  Jahrhunderts  ab  die  Psalmen  für  ein, 
zwei,  seltener  für  mehr  Solostimmen  mit  Begleitung  von 
Cembalo,  Orgel  und  Orchesterinstrumenten  einen  breiten 
Platz  in  der  Praxis.  Auch  die  architektonische  An- 
lage dieser  Solopsalmen  folgt  der  Kantate:  Rezitative 
wechseln  mit  geschlossenen  Sätzen.  In  den  letzteren 
erscheint  zuweilen  auch  der  Chor  abwechselnd  mit 
dea  Solisten.  Der  Klassiker  und  Spezialist  dieses  solisti- 
schen Psalmens  ist  Benedetto  Marcello.  *  Seine  B<  MaroeU«, 
50  Psalmen,  denen  Paraphrasen  des  italienischen  Dich-  Solopsalmen. 
ters  G.  A.  Giustiniani  unterliegen,  Nachdichtungen  der 
biblischen  Texte  im  Zeitgeschmack,  wie  sie  in  Italien 
schon  4  554  auftauchen,  waren  überall  verbreitet.  Die  erste 
Hälfte  (4  724  veröffentlicht)  wie  die  zweite  (4  726—27  her- 
ausgegeben)  erlebten  mehrfache  Auflagen,  Nachdrucke, 
Übersetzungen  und  Bearbeitungen  und  standen  lange  im 
Weltrufe  fest.  Noch  4  86 5  wurde  in  Stuttgart  eine  lindpaint- 
nersche  Neuinstrumentierung  von  zwölf  dieser  Psalmen 
veröffentlicht,  und  der  letzte  französische  Auszug  aus  dem 
acht  splendide  Foliobände  umfassenden  Werke  ist  noch 
zwanzig  Jahre  jünger.  Marcello  ging  an  seine  Aufgabe  mit 
dem  doppelten  Rüstzeug  des  Forschers  und  Musikers. 
In  dier  mit  Lobgedichten  seiner  Bewunderer,  mit  Be- 
glückwünschungsschreiben  angesehener  Kollegen  ge- 
schmückten Vorrede  des  ersten  Bandes  stellt  er  in  dem 
unfehlbaren  Tone,  welchen  wir  an  theoretisierenden 
Künstlern  gewohnt  sind,  die  Grundsätze  fest,  nach  wel- 
chen nicht  bloß  seine,  nach  welchen  die  Psalmen  über- 
haupt und  immerdar  komponiert  werden  sollen.  In  der 
alten  Musik,  der  der  Hebräer  uud  Griechen,  suchte  Mar- 
cello das  Kolorit,  in  dem  Musikdrama  seiner  Zeit  aber 
Seele  und  Leib  seiner  Psalmenmusik.  In  der  Tat  hat 
Marcello  mit  großem  "Geschick  in  seine  Psalmen  alter- 
tümliche Tonelemente  eingeflochten,  originale  oder 
imitierte     lydische     und     andere     griechische    Weisen, 


— «      424      ^ — 

namentlich  aber  viele  Synagogengesänge,  welche  er  bei 
spanischen  und  deutschen  Jaden  sammelte.  In  dieser 
Hinsicht  sind  die  Psalmen  Marcellos  geschichtlich  märk- 
würdig: sie  sind  einer  der  ersten  Versuche  archaisieren- 
den Sologesangs.  Im  £ffekt  ist  dieser  Versuch  verschieden 
ausgefallen:  hie  und  da  —  z.  B.  im  9.  Psalm,  wo  die 
drei  Stimmen  bei  den  alten  hebräischen  Intonationen  in 
breiten  Unisonos  zusammentreten  —  großartig,  an  ande- 
ren Orten  noch  opernhaftec  als  die  späteren  Versuche  in 
Verdis  »Aidac  oder  in  Meyerheers  »Prophetc.  Auch  sonst 
ist  der  Wert  der  einzelnen  Psalmen  nicht  gleich.  Wenn 
die  neuere  deutsche  Kritik  jedoch  die  Psalmen  Marcellos 
im  allgemeinen  etwas  geringschätzig  zu  behandeln  be- 
gonnen und  sogar  versucht  hat  —  verleitet  durch  die 
bürgerliche  Stellung  des  Komponisten  —  diese  Werke  als 
dilettantische  Produkte  hinzustellen,  so  schlägt  sie  einen 
Irrweg  ein.  An  einer  gewissen  Unruhe  in  der  Gesamt- 
haltung, an  einem  beim  Vergleich  mit  den  Meisterwerken 
der  Vokalperiode  hervortretenden  Mangel  an  Harmonie, 
und,  wenn  man  will,  auch  an  kirchlichem  Geiste  leiden 
sie.  Aber  die  kontrapunktische  Geschicklichkeit  ist 
keineswegs  gering.  Und  die  Erfindung  zeigt  in  den 
Psalmen,  welche  für  mehrere  Solostimmen  (gewöhnlich 
mit  hinzutretendem  Chore)  geschrieben  sind,  einen  mehr 
als  gewöhnlichen,  einen  fantasie vollen,  dichterischen 
Musikgeist.  Unter  den  Duetten  namentlich  finden  sich 
liebenswürdig  und  freundlich  feine  Abschnitte  in  Menge. 
Besonders  ragen  in  dieser  Klasse  der  32.  (für  zwei  Alt- 
stimmen), der  34.  (Baß  und  Tenor)  und  der  25.  Psalm  (Baß 
und  Alt)  hervor.  Die  für  eine  Solostimme  geschriebenen 
sind  alle  schwächer.  In  ihnen  fällt  Marcellos  Melodik 
sehr  häufig  in  den  kurzen  tänzelnden  Tontrab,  welchen 
die  venetianische  Oper  für  ihre  Ariette,  die  theatralische 
Schwester  des  Gassenhauers,  liebte.  Auf  der  andern  Seite 
sucht  er  apart  zu  sein  und  verunziert  seinen  sonst  muster- 
haft gesanglichen  Stil  durch  unnötige  Ausnahmeintervalle 
und  barocke  Wendungen.  Bei  alledem  bleibt  auch  in  die- 
sen einstimmigen  Psalmen  noch  viel  zu  bewundern:  die 


geistvolle  Anlage,  der  Anschluß  an  die  Poesie,  die  vor- 
zügliche Deklamation  und  der  bedeutende  Ausdruck  der 
Rezitative.  Der  Begleitungsapparat  dieser  Psalmen  be- 
schränkt sich  bei  den  meisten  auf  ein  Generalbaßinstru- 
ment  (Orgel,.  Cembalo,  Klavier),  so  daß  sie  sich  gut  zur 
geistlichen  Hausmusik  eignen.  An  obligaten  konzertieren- 
den Instrumenten  finden  sich  beigegeben  Cello  im  4  5., 
zwei  Bratschen  im  24.  Psalm.  Von  den  Komponisten, 
welche  auf  dem  Felde  der  Psalmenmusik  Marcello  als 
Muster  nahmen,  ist  G.  B.  Martini  (Miserere),  später  der  Qt,  B.  Martini. 
Abb^  Stadler  zu  nennen.  Weiter  im  49.  Jahrhundert  Abb6  Stadler., 
wird  der  reine  Solopsalm  wieder  seltener. 

Die  Reihe  der  in  neuen  Sammelwerken  vertretenen 
Hauptarbeiter  in  Psalmmotette  und   chorischer  Psalm- 
kantate beginnt  mit  dem  Münchener  Ercole  Bern  ab  ei    S.  Bemabei 
und  mit  Paolo  Colonna,   deren  Psalmen   alten  Chor-    P.  Colonna. 
Verzeichnissen  nach  früher  viel  gesungen  worden  sind. 
Von  A.  Scarlatti  sind  die  beiden  Stücke  »Dixit  Dominus<    A.  Soarlattl. 
und  »Laudate  pueri«  zu  nennen.    Wie  diese  drei,  widmet 
die  Mehrzahl  der  mit  ihnen  lebenden  italienischen  Ton- 
setzer die  Hauptkraft  der  Psalmenmotette  mit  unvergäng- 
licher Frische,  aber  ohne  den  Typus  zu  verändern.    Als 
dne  hervorragende  Psalmkantate  aus  dieser  Epoche  ist 
C.  M.  C 1  ar i s  »De  profundisc  noch  heute  allgemein  bekannt.    G.  M.  Glari. 
Unser  Landsmann  J.  Fux  vertritt  wieder  die  Psalmen-      J.  Fax. 
motette,  ebenso  A.  Lotti  und  Fr.  Gasparini.    Die  bei     A.  Lotti. 
Scarlatti  genannten  beiden  Psalmen  kehren  auch  bei  den  F.  Gasparini. 
anderen  immer  als  die  Hauptstücke  wieder;  dazu  noch 
das   »Misererec    und    sie   werden    von    allen   Musikern 
ziemlich  ähnlich  behandelt.    Die  liturgische  Brauchbar- 
keit ist  der  Leitstern   für   Anlage  und  Erfindung:   die 
thematischen  Ideen  erfahren  nur  eine  knappe  Ausführung, 
reiche  Wortwiederholungen,  breitere  Formen  der  Nach- 
ahmungen, wie  wirkliche  Kanons  und  Fugen  sind  ver- 
mieden, in  rein  deklamatorischen  Stellen  klingt  die  erste 
Zeit  des  mehrstimmigen  Psalmengesangs  häufiger  wieder 
an.   Am  weitesten  geht  in  dieser  Richtung  Ant.  Caldara,    A.  Caldara, 
der  erste  Komponist  der  nach  Schütz  wieder  eine  ganz     Psalmen. 


—0      426      ^— 

besondere  Auffassung  der  Psalmenmotette  durchsetzt 
Nor  ist  der  Stil  Schützens  auch  in  seinen  Ghorpsahnen 
trotz  ,der  wenigen  eingestreuten  Falsobordonen  und  der 
konsequenteren  Durchführung  des  Wechselgesanges  vor- 
wiegend modern.  Galdara  dagegen  erstrebt  ähnlich  wie 
Marcello  einen  altertümlichen  Eindruck.  Die  Falso- 
bordoni  erhalten  bei  ihm  einen  breiteren  Platz,  und  das 
erste  Gebot,  dem  seine  Melodien  und  Harmonien  fol- 
gen, ist  das  der  Würde  und  Feierlichkeit.  So  sehr  seine 
Motive  an  Charakter  und  an  Treue  gegen  das  Wort  hervor- 
ragen, die  volle  Freiheit  der  Erfindung  versagt  sich  Galdara 
einem  alttestamentarischen  Pathos  zuLiebe.  Seine  Psalmen 
sind  nicht  in  dem  Geiste  beweglicher  Harfengesänge,  wie 
sie  David  anstimmen  konnte,  gedacht,  sondern  als  eine 
Musik,  welche  die  erhabenen  Hallen  des  Salomonischen 
Tempels  zu  tüllen  hätte.  Auch  dieser  Standpunkt  kann 
als  eins  von  mehreren  Idealen  der  Psalmenkomposition 
gelten.  Ein  ganz  besonderer  Meister  ist  Galdara  in  der 
Behandlung  der  Antiphonie.  Die  Mannigfaltigkeit,  mit 
welcher  er  den  Wechsel  bestellt,  bald  die  Gruppen  näher 
zusammenzieht,  bald  weiter  voneinander  rückt,  trennt 
und  eint,  die  Rhythmen  und  die  melodischen  Linien  der 
Motive  nach  dem  Geist  des  Textes  bildet,  das  alles  zeigt 
einen  höchsten  Grad  von  Kunstbeherrschung»  Man  wird 
die  Zeit  liegrüßen  dürfen,  wo  diese  Psalmen  Galdaras 
der  Praxis  der  Ghöre  zugeführt  werden.  Die  »Denkmäler 
der  Tonkunst  in  Osterreich«  planen  die  baldige  Veröffent- 
lichung. In  einer  anderen  Gruppe  von  Psalmenkompo- 
sitionen hat  Galdara  sich  der  modernen  Weise,  der 
Psalmenkompositionen  mit  Sologesang  und  Begleitung 
zugewendet.  Das  daraus  bekannteste  Werk,  ein  »Miserere«, 
ist  gut,  aber  nicht  hervorragend*). 

Unter  den  zahlreichen  Kompositionen  des  i  4  2.  Psalms, 
der  ein  Jahrhundert  lang  geradezu  ein  Pflicht-  und  Fa- 
voritstück der  Tonsetzer  ist,  befindet  sich  auch  eine 
sehr    schwierige    Solokantate    für    Sopran    voji    G.  F. 


*)  Denkmäler  der  Tonkunst  in  Österreich,  XIII  i. 


Händel.  Sie  ist  dadurch  besonders  interessant,  daß  sie 
als  ein  Werk  aus  der  Knabenzeit  für  die  musikalische 
und  persönliche  Frühreife  des  Komponisten  ein  ge-  0.  F.  Handel, 
wichtiges  Zeugnis  ablegt  Während  seines  ersten  Psalmen  und 
römischen  Aufenthaltes  hat  Händel  (nach  Chrysander)^  Anthems. 
diesen  Psalm  umgearbeitet  und  noch  zwei  weitere  dazu 
geschrieben,  von  denen  der  eine  »Dixit  dominus«  schon 
Händeis  ganze  Eigentümlichkeit:  —  die  berühmten  Uni- 
sonos in  breiten  Noten,  die  kurzen  schmetternden  Jubel- 
motive -^  zeigt.  Dann  benutzte  er  das  »Laudate  pueri« 
wieder  für  die  Komposition  des  4  0a.  Psalms  >Jubilate<, 
welcher  mit  dem  Utrechter  Te  deum  zugleich  aufgeführt 
wurde.  In  diesen  drei  Bearbeitungen  derselben  Grund- 
ideen tut  man  einen  tiefen  Blick  in  Händeis  Studiengang, 
in  seine  Entwicklung  und  in  die  ganz  wunderbare  Be- 
anlagung  dieser  gesegneten  Künstlernatur.  Ein  so  reiches 
Maß  von  Bildungsfähigkeit,  gesundem  Gefühl  und  Takt, 
wie  uns  bei  dem  Vergleiche  dieser  drei  Arbeiten  entgegen- 
tritt, wird  in  der  Kunstgeschichte  nicht  zu  überbieten 
sein.  Aber  die  besondere  Bedeutung,  die  Händel  für  die 
Psalmenkomposition  hat,  bringen  sie  noch  nicht  zum 
Ausdruck.  Dies  geschieht  erst  in  den  viel  gerühmten, 
aber  —  wenigstens  in  Deutschland  -^  wenig  aufgeführten 
Anthems. V  Die  erste  Reihe  bilden  die  sogenannten 
Chan  dos- Anthems,  welche  Händel  während  seiner 
Kapellmeisterzeit  beim  Herzog  James  von  Ghandos 
für  den  Gottesdienst  zu  Cannons  in  den  Jahren 
4  746 — 18  schrieb.  Diese  Anthems  sind  Kantaten  großen 
Stils  für  Soli,  Chor,  Orchester  und  Orgel.  Ihre  Gesamt- 
zahl beträgt  —  abzüglich  der  doppelten  Bearbeitungen 
einzelner  und  des  ersten  Anthems,  welches  nur  ein  Ar- 
rangement des  >Jubilate<  vom  Jahre  4  74  3  ist  —  zehn. 
Davon  sind  die  ersten  sechs  für  dreistimmigen,  die  fol- 
genden für  vierstimmigen  Chor  gesetzt.  Auf  die  Zeit  des 
antiphonischen  Kirchengesangs  zurückdeutend,  lyar  der 
Name  Anthem  zu  Händeis  Zeit  in  England  Allgemein- 
begriff für  jede  Art  kunstvoller  Kirchenmusik  geworden, 
welche  wirklich  für  die  Ausführung  im  Gottesdienst  be- 


— ^      488      ^^- 

stimmt  war  und  ist  das  bis  heute  geblieben.  Dem  Text 
nach  sind  Händeis  Chandos-Anthems  Psalmenmusik  und 
ak  solche  außerordentlich  breit  angelegt;  einzelne  be- 
stehen —  die  Ouvertüren  nicht  mitgezählt  —  aus  acht 
oder  mehr  Sätzen.  Auch  die  einzelnen  Sätze  sind  um- 
fangreich, namentlich  unter  den  Ghorsätzen  haben  viele 
eine  Ausdehnung  und  Länge,  wie  sie  bisher  bei  Händel 
noch  nicht  vorgekommen  war  und  sich  später  nur  selten 
wiederfindet.  Die  ungewöhnliche  Form  hängt  damit  zu- 
sammen, daß  Händel  sich  in  diesen  Anthems  eine  neue 
Aufgabe  gestellt  hat.  Das  war  die  Schilderung  der  Natur 
und  der  göttlichen  Wunder.  Wenn  er  darin  eine  Haupt- 
seite der  Psalmpoesie  sah,  so  war  das  ohne  Zweifel  eine 
ähnliche  einseitige  Auffassung,  wie  sie  Ernst  Bach  und 
Valentin  Herbing  bald  darauf  den  Gellertschen  Fabeln 
gegenüber  vertraten.  Aber  es  war  eine  grandiose  Ein- 
seitigkeit und  ihre  Folgen  gaben  der  Musikgeschichte 
eine  neue  Wendung.  Denn  mit  seinen  Ghandos-Anthems 
hat  Händel  zuerst  mit  Entschiedenheit  den  großen  Stil 
betreten,  welcher  das  Merkmal  seiner  Oratorien  bildet. 
In  letztere  ist  mancher  Satz  aus  den  Ghandos-Anthems 
wörtlich  oder  umgebildet  übergegangen.  Für  berühmte 
Partien  des  »Messias«  und  des  »Israel«  enthalten  die 
Ghandos-Anthems  die  ersten  Skizzen.  Namentlich  zu  den 
großen  Tonmalereien  des  letztgenannten  Oratoriums 
bieten  die  Anthems  Nr.  4  und  4  0  mit  ihren  Schilderungen 
von  Meeresbrausen,  von  Blitz  und  Donner,  vom  Beben 
und  Schüttern  der  Erde,  eigentümliche  Seitenstücke. 
Diesen  und  anderen  großen  Leistungen  einer  ebenso 
kühnen  und  mächtigen  als  sichern  Fantasie  treten  aber 
in  den  Anthems  auch  solche  der  Empfindung  ebenbürtig 
entgegen.  Die  bedeutendste  Arbeit  in  dieser  zweiten 
Klasse  ist  das  dritte  Anthem  »Have  mercy  upon  me«, 
eine  Komposition  des  bekannten  Bußpsalms  von  er- 
greifender Innigkeit  und  Schönheit  und  zwar  auch  in 
den  Sologesängen,  welche  im  allgemeinen  die  Höhe  der 
Ghöre  und  Ensembles  in  diesen  Anthems  nicht  erreichen. 
Dem   dritten   steht   das   sechste   nah:    »Wie   der  Hirsch 


-^      429      ^"^ 

Bchreit« ,  von  welchem  drei  Bearbeitungen  vorhanden 
sind,  deren  dritte  in  die  Zeit  vor  Ghandos  zu  gehören 
scheint.  Durch  Originalität  der  Anlage  und  der  Stimmung 
ist  das  neunte  Anthem  »0  praise  the  Lord«  (Psalm  4  35) 
4)esonders  ausgezeichnet.  Sein  erster  Satz  hat  die  Händel 
eigene  Verbindung  von  choralartigen  Motiven  mit  kon- 
zertierenden; der  große  8/2-Takt  über  »With  cheerful. 
notes«  auf  dieselbe  Mischung  frommer  und  hell  jubelnder 
Gefühle  gebaut,  bringt  ganz  eigene  Ausklangseffekte  in 
den  breiten  Unisonos,  zu  welchen  die  Stimmen  an  vielen 
Periodenschlüssen  zusammentreten. 

Die  zweite  Reihe  der  Händeischen  Anthems,  die 
Krönungsanthems,  gehört  durch  die  Mehrzahl  der 
Texte  ebenfalls  zu  den  Psalmenkompositionen.  Händel 
schrieb  sie,'  vier  an  Zahl,  im  Jahre  4  727  zur  Krönung 
Georgs  IL,  welche  im  Westminster  mit  besonderer 
Pracht  vor  sich  ging.  Auch  fürten  musikalischen  Teil 
wurde  Außerordentliches  aufgewendet.  Händel  ließ  ein 
neues  Podium  errichten  und  eine  besondere  Orgel  bauen. 
Ein  sechszehn  Fuß  langes  Riesenfagott,  welches,  ebenfalls 
nach  Händeis  Angabe,  für  diese  Gelegenheit  hergestellt 
wurde,  konnte  niemand  spielen.  Es  blieb  bis  zu  der 
großen  Gedächtnisfeier,  welche  im  Jahre  4784  zu  Ehren 
des  verstorbenen  Komponisten  stattfand,  unbenutzt. 

Es  gibt  in  diesen  Krönungsanthems  einzelne 
Sätze,  welche  weiter  nichts  als  ihre  musikalische  Schul- 
digkeit tun.  Von  dem  Anthem  »Let  Thy  band«  gilt  das 
fast  durchaus.  Der  überwiegend  größere  Teil  dieser 
Anthems  ist  aber  von  einer  wunderbaren  Inspiration 
durchzogen,  hier  fortreißend  und  rauschend,  wie  das 
ganze  knappe  Anthem  »Zadock,  der  Priester«,  dost  lieblich 
kindlich  und.  innig,  wie  der  erste  Satz  von  »My  heart  is 
inditing«.  Letzteres  ist  für  die  Krönung  der  Königin  be- 
stimmt. Daß  Händel  sich  die  Krönungsfeierlichkeit  als 
einen  Akt  dachte,  bei  welchem  das  ganze  Volk  dabei 
sein  müßte,  ist  gar  nicht  zu  verkennen.  Namentlich 
das  Anthem  »The  king  will  rejoice«  trägt  diesen  Stempel 
einer  —  im  besten  Sinne  des  Wortes  —  für  alle  Welt 


— *      430 

passenden  Musik.  Man  kann  es  für  das  vorzüglichste 
halten.  Der  Zweck,  für  welchen  die  Anthems  geschrieben 
wurden,  kommt  auch  in  der  pompösen  Besetzung  des 
Orchesters,  in  welchem  die  Trompetenfarbe  hervorsticht, 
zum  Ausdruck.  In  diesem  Punkte  unterscheiden  sie  sich 
zunächst  von  den  Ghandos- Anthems.  Für  Musikfeste 
eignen  sie  sich  besonders  und  sind  auch  nach  4  870  vorüber- 
gehend dafür  benutzt  worden.  Händel  selbst  beutete 
auch  diese  Anthems  später  für  größere  Werke  aus,  z.  B.  füt 
das  »Gelegenheitsoratorium«  und  für  >Deborah<. 

Eine  dritte  Reihe  Händelscher  Anthems  besteht  aus 
Gelegenheitsarbeiten,  welche  Händel  für  Hochzeiten  im 
königlichen  Hause  uild  andere  öffentliche  Zwecke  fertigte. 
Die  Ausgabe  der  deutschen  Händelgesellschaft  bringt 
diese  letzten,  im  Gehalte  zurückstehenden  und  von  der 
Praxis  der  Konzerte  bis  heute  gänzlich  übergangenen 
Anthems  in«,  der  36.  Lieferung. 
0.  F.  Hftndel,  Es  darf  an  dieser  Stelle  gleich  der  »Trauerhymne« 

Frauerliymne.  mit  gedacht  werden,  welche  Händel  im  Jahre  4  737  als 
eine  Art  Requiem  für  die  Beisetzung  (4  7.  Dezember)  der 
Königin  Karoline  schrieb,  da  der  Text  auch  dieses  Werkes 
zum  überwiegenden  Teile  aus  Psalmenstellen  besteht. 
Diese  Komposition,  welche  Burney  in  seiner  Geschichte 
der  Musik  etwas  übertreibend  an  die  Spitze  aller  Werke 
Händeis  stellt,  ist  eine  durch  Weichheit,  Zartheit  und  edle 
Herzlichkeit  ausgezeichnete  Nänie,  ganz  dem  Charakter 
der  guten,  milden  wohltätigen  Frau  entsprechend,  zu 
deren  Ehren  sie  gesungen  wurde.  In  keinem  andereil 
von  den  größeren  Vokalwerken  des  Tonsetzers  stehen 
so  viel  rührende  Stücke.  Händel  scheint  bei  der  Arbeit 
eine  gewisse  persönliche  Ergri£fenheit  nicht  überwunden 
zu  haben.  Er  flocht  Erinnerungen  hinein,  welche  in 
seine  eigene  Jugend  zurückreichen:  einen  Anklang  an 
das  »Ecce  quomodo«  seines  Namensvetters  Handl  (Jakob 
Gallus)  in  den  Satz:  »Their  bodies«  (»Ihr  Leib  kommt  im 
Grabe  zur  Ruh«);  den  in  Halle  und  in  ganz  Sachsen  als 
Grabgesang  gebräuchlichen  Choral:  »Herr  Jesu  Christ, 
du  höchstes  Gut«  in  dem  großen  Eingangssatz  »The  ways 


-— *      431      *— 

of  Zionc  (»Ganz  Zion  trauert  usw.«!.  Er  bildet  in  diesem 
Satze  das  Fundament  eines  der  reichsten  und  vollendet- 
sten Kunstbauten,  die  wir  besitzen.  Das  kirchliche 
Element,  welches  hier  unbestritten  herrscht,  tritt  in  den 
anderen  Sätzen  vermittelnd  und  erhebend  dazwischen. 
Die  knappe,  eine  übervolle  Stimmung  hinter  Wortkarg- 
heit bergende  Ouvertüre  der  »Trauerhymne«  entstand  erst, 
als. Händel  das  Werk  zur  Einleitung  seines  Oratoriums 
»Israel«  umarbeitete.  Ober  die  Besetzung  bei  der  Auf- 
führung berichten  die  Zeitungen:  achtzig  Sänger  und 
hundert  Instrumentalisten. 

Die  »Trauerhymne«  war  eines  der  ersten  Werke, 
welches  sich  von  den  Händeischen  großen  Ghorkompo- 
sitionen  in  Deutschland  verbreitete,  leider  in  entstellter 
Form.  Man  machte  so  unpassend  als«  möglich  ein  Ora- 
torium: »Empfindungen  am  Grabe  Jesu«  daraus;  der  erste 
herrliche  Satz  wurde  dabei  grausam  zerschnitten  und 
büßte  seine  eigentliche  Schönheit  vollständig  ein. 

In  der  späteren  Psalmenkomposition  haben  Händeis 
Anthems  erst  auf  Mendelssohn  eingewirkt.  Von  den  in  der 
Händeischen  Zeit  angesehensten  Psalmenkomponisten  ist 
die  Mehrzahl  in  der  Gegenwart  vergessen.    Das  gilt  von 
dem  älteren  Fasch,  es  gilt  von  Feo;  es  gilt  auch  von    J.  FiFasoh, 
J.  A.  Hasse,  der  unter  andern  das  »Miserere«   viermal  Feo,  J.A. Hasse, 
komponiert  hat,  einmal  nur  für  Männerstimmen,  ein  ander- 
mal für  Knabenstimmen  allein.    Nur  von  LeonardoLeo       L.  Leo. 
bringt  das  Konzert  zuweilen  noch  die  Kantate  »Dixit  domi-  Dixit  Pomlniu 
nusc  und  häufiger  bringt  es  sein  achtstimmiges  »Misererec.  und  Miserere. 
Beide  sind  ausgezeichnet  durch  breites  Maß.    Längere 
Psalmenkompositionen  gibt  es  nicht.  Das  »Dixit  dominus« 
(in  der  Kümmeischen  Sammlung  gedruckt)  prägt  sich  schon 
durch  die  Faßlichkeit  der  Themen  ein;  der  Eindruck  wird 
noch  durch  die  an  vielen  Stellen  hervortretende  Origi- 
nalität der  Auffassung  und  des  Ausdrucks  befestigt.   Die 
Wiederkehr  des  Schlußmotivs  vom  Ritornell  des  ersten 
Satzes,  die  gewaltige  Deklamation  der  Worte:   »sedet  a 
dextris«  durch  die  Bässe  an  demselben  Orte  sind  solche 
subjektive,  aber  wirkungsvolle  Eigentümlichkeiten.    Das 


— ♦      432      ^^ 

achtstimmige  »Miserere«  Leos  gehörte  zu  den  berühm- 
testen Tonwerken  seiner  Zeit  and  ist  heute  noch  eines .  der 
geschichtlich  interessantesten.  Der  Charakter  einer  Über- 
gangsepoche mit  ihren  fremdartigen  Versuchen  und  merk- 
würdigen Bildungen  ist  kaum  einem  zweiten  Tonwerke 
schärfer  aufgeprägt  als  diesem  »Miserere«.  Seiner  Form 
nach  ist  es  eine  begleitete  Motette,  geistig  steht  es  auf  dem 
Boden  des  Musikdramas ;  es  ist  in  der  Konzeption  vorwiegend 
theatralisch,  —  theatralisch  in  jenem  von  Marcello  und 
Caldara,  neuerdings  besonders  von  Berlioz  vertretenen 
Sinne  genommen,  in  welchem  die  Fantasie  sich  mehr  in  das 
Zeremoniell  des  Gebets  versenkt,  als  in  den  Sinn  der  Gebets- 
worte selbst  Daher  die  von  Stimme  zu  Stimme  wandernden 
einstimmigen  Episoden,  welche  die  Intonationen  des  Litur« 
gen  nachahmen,  daher  die  Wiederkehr  derselben  Formeln 
und  Manieren  in  den  meist  kurzen  vielstimmigen  Sätzchen. 
Wenn  es  auch  nicht  immer  die  richtige  ist,  so  ist  doch  die 
Stimmung  und  Begeisterung  in  der  Komposition  bedeutend. 
Musikalisch  ist  das  »Miserere«  reich  an  genialen  Einzel- 
heiten. Eine  der  merkwürdigsten  dieser  Stellen,  vollständig 
romantisch  geartet,  ist  der  Anfang  des  »Averte  faciem«  mit 

dem   in   den    unte- 

ren  Stimmen  durch-  <h  ►_'»  *  K  Jj  K  'J'   /J  Ip- 
geführten     Motive:  iT   -  -    M  '^  4> 

Aus  der  Psalmenkantate  jener  Epoche  taucht  äu- 
C.  W.  T.  Qluok,  weilen  Glucks  »De  profundis«  auf.  Diese  Kompo- 
De  profundif .  sition  markiert  den  Ernst  der  Stimmung  mehr,  als  daß 
sie  ihn  ausführt.  Einzelne  Stellen  treten  aus  dem  Geist 
der  Skizze  heraus,  namentlich  das  einfach  herzliche 
»Quia  apud  te«.  Oft  glauben  wir  Mozart  zu  hören,  so 
in  dem  Abschnitt:  »Misericordia«.  Vollständig  eigen  und 
Gluckisch  ist  das  Kolorit  des  Orchesters:  der  vorwiegende 
Klang  der  Posaunen  und  tiefen  Hörner.  Von  den  Streich- 
instrumenten fehlen  die  Violinen.  Die  Gesamtwirkung  der 
kleinen  Komposition,  der  einzigen,  mit  welcher  der  Refor- 
mator der  Oper  heute  auf  dem  kirchlichen  Gebiete  er- 
scheint, ist  hochfeierlich. 

Zu   den   gegenwärtig    übergegangenen  Psalmenkoto- 


—^     433     ^— 

ponisten  gehören  ferner  J.  Haydn,  Sarti,  Naumann  J.Haydn,  Sarti, 
und  Ph.  E.  Bach  mit  Psalmenkantaten,  welche  fast  alle     üTaamsiin, 
eine  Neigung  zur   Umständlichkeit  kennzeichnet.     Von    FL  £•  BaoL 
Mozart  besitzen  wir  Psalmen  in   der,  Bündelform   der       Mosarti 
Vespern.     Zur  musikalischen  Ausstattung  der  Vesper     Vespern, 
gehören   fünf  Psalmen  und  das  Magnificat  als   Schluß. 
Diese  Bestimmung  bedingt  eine  kurze  Ausführung  der 
einzelnen   Psalmen.      Die   Mozartschen    sind    einsätzig. 
Die  schon  längere  Zeit   (durch  Peters)   herausgegebene 
Vesper  vom  Jahre  4  77ö  hat  in  den  Nummern  2  (»Confi- 
tebor«)  und  4   (»Laudate  pueri«)  Nummern  von  hervor- 
ragender    geistiger    Bedeutung.      Die    letztere    ist    im 
strengen  fugierenden  Stile  und  altertümlichen  Tone  ge- 
halten.    In  Süddeutschland  kommt  zuweilen  noch  eine 
einzelne  Mozartsche  Bearbeitung  des  »De  profundis«  usw. 
zu  Gehör,  eine  knappe,  häufig  bloß  deklamierende  Kom- 
position.    Von   den   Wiener  Klassikern    erscheint  merk- 
würdigerweise  ziemlich   oft  Franz   Schubert  in    den    F.  Schiibert, 
Aufführungen    der  Ghorvereine   mit   einer  Komposition  Der  ^3.  Psalm, 
des  23.  Psalms  für  vier  aequale  Stimmen  (Quartett  oder 
Chor    von   Frauenstimmen    oder    Männerstimmen)    mit 
Klavierbegleitung.    Das  liebenswürdige,  aber  sehr  harm- 
lose Werk  verdankt  diese  Bevorzugung  seiner  einfachen 
Form,  welchfe  über  das  Lied  nicht  weit  hinausgeht,^  seiner 
leichten    Ausführbarkeit    und   seinem    Wohlklang.     Als 
weitere  Tonsetzer,  welche  vor  einigen  Generationen  auf 
dem  Gebiete  der  Psalmenkomposition  Ansehen  genossen, 
sind  zu  nennen  Abb^  Vogler,  der  mit  Stadler  in  die   Abb^ Vogler, 
Schule  Marcellos  gehört,  Andreas  Romberg,  der  Kom-    A.  Bomberg, 
ponist  der  » Glocke «,  und  Peter  v.  Winter,  von  welchem   F.  ▼.  Winter, 
fünfzig  Psalmen  vorhanden  sind.    Die  Mehrzahl  der  Kom- 
positionen   dieser  und  verwandter  Tonsetzer  derselben 
Epoche  verläuft  ungemein  breit,  ermangelt  aber  der  Merk- 
male eines  besonderen  Psalmenstils. 

Der   erste   Komponist  Im   49.  Jahrhundert,    dessen 
Psalmen  wieder  einen  tieferen  und  nachhaltigeren  Ein- 
druck erreichten,  war  Felix  Mendelssohn.    Verschie-  F.  Mendelssohn, 
deutlich  ist  in  der  Zeit,  wo  seine  Psalmen  zuerst  er- 

II,  4.  28 


— *      434      «»— 

schienen,  die  Meinung  ausgesprochen  worden,  ob  nicht 
auf  dem  Gebiete  der  kirchlichen  Komposition  Mendels- 
sohns größte  Stärke  zu  suchen  sei.  Und  diese  Meinung 
mag  wohl  die  richtige  sein.  Wir  stehen,  ermüdet  durch 
den  Eifer  einer  maßlosen  Nachahmerschaft,  auch  ihnen 
heute  etwas  kühler  gegenüber  als  die  Musikwelt,  welche 
vor  60  und  70  Jahren  lebte.  Eine  kurze  Zeit  der  Ruhe  wird 
sie  wieder  in  ihrer  ganzen  Frische  erstehen  lassen.  Sie 
sind  einer  langen  Zukunft  gewiß,  wie  alle  Kunstwerke,  in 
welchen  sich  eine  wirkliche  Individualität,  sei  es  auch  eine 
beschränkte,  meisterhch  äußert.  In  Mendelssohns  Psal- 
men dringt  der  weiche  Gruhdton  vielleicht  .allzu  stark 
hervor,  ihre  Andacht  bedient  sich  etwas  häufig  derselben 
Wendungen,  und  im  Ausdruck  der  erhabensten,  der 
düsteren  und  schauerlichen  Ideen  erscheinen  ihre  Töne 
etwas  matt.  Aber  Mendelssohns  Bitten  und  Beten,  sein 
Bekenntnis  des  Gottvertrauens  ruht  nicht  auf  kalten 
Musikformeln;  ein  warmer  Strom  herzlichen  Gefühls  und 
gläubiger  Hingebung  durchdringt  seine  musikaHschen 
Gebete  und  wenn  er  Gott  lobt  und  dankt,  schwingt  sich 
seine  Musik  zu  einer  Kraft  und  Begeisterung  auf,  welche 
uns  erhebt  und  einzustimmen  zwingt.  Mendelssohns 
Jugend  fiel  in  eine  Zeit,  in  welcher  auf  allen  Gebieten 
ein  Aufleben  des  religiösen  Gefühls  bemerkbar  wurde. 
Von  den  Künstlern  folgten  die  einen,  unter  ihnen  viele 
Maler,  dieser  Bewegung  mit  der  Fantasie,  die  andern, 
von  Schleiermacher  angeregt,  mit  dem  Herzen.  Auf 
letzterer  Seite  fand  der  junge  Mendelssohn  seine  Stellung. 
Die  direkten  musikalischen  Quellen  für  Mendelssohns 
Psalmenstil  liegen  viel  weniger  in  den  Werken  mid  der 
Weise  von  Bach  und  Händel,  als  häufig  behauptet  wird. 
Bei  den  Oratorien  ist  das  anders,  aber  bei  seinen  Psalmeü 
zeigt  sich  Bachscher  Einfluß  fast  gar  nicht,  Händelscher 
allerdings,  aber  nicht  stark.  Seine  Hauptvorbilder  sind 
hier  bei  den  Italienern  zu  suchen:  in  Marcello  für  die 
Kantaten,  in  den  Meistern  der  Vokalperiode  für  die 
Psalmenmoütetten. 

Unter  den  Psalmenkantaten   des  Tonsetzers   ist  die 


— ^      435 

bekannteste  und  am  häufigsten  aufgeführte  die  Kompo- 
sition des  42.  Psalms:  >Wie  der  Hirsch  schreit«^  Diese  F.  MendeliBolm. 
Arbeit  (op.  42),  auf  der  Hochzeitsreise  entstanden,  ist  Wie  der  Hirsch 
unter  den  größeren  Vokalwerken  Mendelssohns  diejenige,  schreit 
welche  den  sentimental -romantischen  Grundzug  seines 
Wesens  am  stärksten  zum  Ausdruck  bringt.  In  alle 
Farben  dieser  Musik  ist  ein  gemeinsamer  Beiklang  milr 
der  Schwärmerei  gemischt  und  der  leidenschaftliche, 
äußerste  Seelennot  kündende  ^  Ton  des  Textes  ist  zu 
einem  empfindungsvoll  elegischen  gedämpft.  Das  Dich- 
terwort von  der  >  Wonne  der  Wehmut  <  ist  wie  ge- 
schaffen für  diese  Komposition.  Die  Unterschiede  in 
den  Äußerungen  der  verschiedenen  Empfindungen: 
Sehnsucht,  Bußgefühl  und  Hoffnung  sind  außerordent- 
lich fein.  Sie  würden  unbemerkt  bleiben,  wenn  nicht 
die  Form  der  musikalischen  Mitteilung  in  ihrer  Leben- 
digkeit und  in  ihrem  Reichtum  ein  Gegengewicht  böte, 
welches  Eindruck  und  Wirkung  sichert.  In  der  Gestal- 
tung dieser  Form  verrät  sich  jene  Fülle  von  kunstge- 
schichtlichem Wissen  und  kunstgeschichtlicher  Bildung, 
welche  an  der  hervorragenden  Stellung  Mendelssohns 
keinen  geringen  Anteil  hat.  Der  Bekanntschaft  Mendels- 
sohns mit  der  alten  Psalmenkomposition  verdankt  sein 
»42.  Psalm«  einige  seiner  schönsten  poetischen  Vorzüge: 
die  Einschaltung  von  Rezitativen,  den  das  antiphonische 
Verfahren  nachbildenden  W-echsel  von  Frauen-  und 
Männerchören,  die  Vereinigung  von  Solo-  und  Chor- 
gesang in  sogenannten  Ensemblesätzen,  die  durch  Wie- 
derholung des  Thema  »Harre  auf  Gott«  herbeigeführte 
Abrundung  der  zweiten  Hälfte.  Auch  die  Erweiterung 
des  Textes  durch  den  Schlußabschnitt  »Preis  sei  dem 
Herrn«  ist  auf  eine  Nachbildung  alter  Tradition  zurück- 
zuführen: daß  Psalmen  und  Hymnen  von  alters  her  mit 
dem  »Gloria  Patri«  abschlössen,  war  im  Laufe  der  Zeit 
wenigstens  auf  der  protestantischen  Seite  vergessen 
worden.  Unter  den  Chorsätzen  des  Psalms  ist  der  erste 
»Wie  der  Hirsch  schreit«  der  bedeutendste.  Ihn  zeichnet 
ein  großer  und  freier  Ton  im  Ausdruck  der  Sehnsucht 

28* 


— ^      436      ♦— - 

nach  Gott  aus,  sein  Aufbau  gelangt  zu  bedeutenden  Höhe- 
punkten. Der  zweite  dieser  Höhepunkte,  der  Schluß  des 
Mittelteils,  ist  musikalisch  durch  eine  geniale  Wendung, 
die  kühne  und  feine  Rückkehr  in  die  Haupttonart  Fdor, 
gekennzeichnet.  Der  Schlußchor  schlägt  energisch  volle 
Saiten  der  Freude  an,  so  daß  der  Hörer  durch  einen  frischen 
ynd  festlichen  Eindruck  gehoben  von  dem  Werke  scheidet. 
F.  Mendelssohn,  Der  nicht  lange  Zeit  nach  dieser  Komposition  ent- 
96.  Psalm,  standene  95.  Psalm  »Kommt,  laßt  uns  anbeten«  (op.  46) 
verwendet  den  Solisten  (Tenor)  als  geistigen  ^Führer  der 
Menge.  Dadurch,  daß  der  Chor  seine  Worte  nachsingt, 
erhalten  sie  eine  verdoppelte  und  verstärkte  Bedeutung. 
Aus  der  Anlage  der  Komposition  spricht  ein  hohes  Pathos. 
Sie  beginnt  im  Charakter  demütig  frommer  Andacht  (Nr.  4 , 

Tenorsolo  mit  Chor),    ^  Ailegro. durchzogenen 

geht  dann  mit  dem  von  Ä  n  m»  r  n  v  ^^  Chor  in  den 
dem  festlichen  Signale  ^    Kom-mether.itti  Ton  drängen- 

der Begeisterung  über  und  endet  nach  zwei,  denselben 
Stimmungdkreis  nochmals  durchkreuzenden  Zwischen- 
nummern, dem  lieblichen,  dankbar  ergebenen  Duett: 
»Denn  in  seiner  Hand«  und  dem  kraftvollen  Chor  »Denn 
sein  ist  das  Meer«  mit  ernster  Mahnung;  die  Schluß- 
nummer »Heute,  so  ihr  seine  Stimme  höret«  (Tenorsolo 
und  Chor)  ist  eins  der  schönsten  Ensemblestücke,  welche 
Mendelssohn  erfunden  hat,  im  Ausdruck  eines  tiefen 
Ernstes,  einer  edel  wehmütigen  und  besorgten  Stimmung, 
eine  ideale  Leistung.  Hoheit  und  Traurigkeit  teilen  sich 
in  seinen  Eindruck  so  eigen,  daß  man  zum  Vergleich  am 
besten  Seitenstücke  von  Mendelssohn  selbst  heranzieht 
Die  Sopranarie  »Jerusalem,  die  du  tötest  usw.«  aus 
»Paulus«  steht  diesem  Schlußsatz  geistig  am  nächsten, 
doch  ist  in  ihm  die  Empfindung  in  eine  viel  größere  und 
mächtiger  erregte  Form  geleitet.  Die  Chorsätze  des  Psalms 
kennzeichnet  eine  große  Einfachheit  und  Entschiedenheit 
der  Melodik.  Das  Bild,  welches  Mendelssohn  hier  von 
der  Psalmenkomposition  vorschwebte,  trug  den  Wahl- 
spruch: kernig  und  würdig.  Auf  diesen  Eindruck  hin 
arbeitet  die  Behandlung  der  Vokalpartie,  sie  erreicht  ihn 


--<^      437      ♦-- 

namentlich  mit  den  wohlberechneten  Unisonostellen,  v 
Daneben  finden  sich  Einzelheiten  von  größter  Feinheit 
der  Auffassung.  Besonders  schön  ist  die  Pianostelle  im 
ersten  Chor  zu  den  Worten  »und  niederfallen«.  Es  ist 
auch  unbeschadet  des  Strebens  nach  großem  und  ein- 
fachem Stil  viele  kunstvolle  Arbeit  eingesetzt.  Den  Schluß 
des  zweiten  Chors  bildet  ein  Kanon  zwischen  Frauen- 
und  Männerstimmen  über  die  Worte  »Denn  der  Herr  ist 
ein  großer  Gott«.  Am  Schluß  der  Nr.  4  kehrt  die  Musik 
des  Eingangs  wieder. 

Die  andren  Psalmenkantaten  Mendelssohns  erscheinen 
im  heutigen  Konzerte  seltener.  Sein  »Nisi  dominus«  (op.  3l),  F.  MendelBsohiL, 
der  Erstling  Mendelssohns  in  der  Gattung,  während  des  Nisi  dominas 
ersten  römischen  Aufenthalts  geschrieben,  ist  eine  durch         und 
die   in   den  Sätzen   herrschenden   Gegensätze    mächtige  Da  Israel  aus 
Komposition.    In  seiner  erregten  Grundstimmung,  welche  Ägypten  zog. 
mit  der  der  Hauptarien  der  Glaubenshelden  Paulus  und 
Elias  verwandt  ist,  mag  er  aber  den  Ideen,  welche  sich 
Mendelssohn  später  selbst  von  der  Psalmenmusik  gebildet 
hatte,  nur  wenig  entsprochen  haben.  Unter  den  Vorbildern, 
welchen  Mendelssohn   in  diesem  Werke  nachfolgte,   ist 
ausnahmsweise  S.  Bach  zu  bemerken.     Von  ihm   rührt 
die  wiederholt  versuchte  Annäherung   an  den  Ton  des 
Choralliedes  her. 

Wenn  dieser  Psalm  von  dem  Konzert  mit  einigem 
Rechte  übergangen  wird,  so  bleibt  dies  bei  der  großen 
Psalmenkantate,  welche  Mendelssohn  über  »Da  Israel  aus 
Ägypten  zog«  (o^.  51)  geschrieben  hat,  sehr  zu  bedauern. 
Das  einzige  Bedenken,  welches  man  dieser,  namentlich 
auch  durch  auf  Händeis  Stil  fußende  Tonmalereien  im- 
posanten Komposition  gegenüber  äußern  kann,  ist  ein 
Lob:  die  Bemerkung,  daß  ein  überreicher  Musikinhalt 
etwas  zu  gleichmäßig  gedrängt  zum  Vortrag  gelangt. 
Die  Form  dieses  Vortrags  war  aber  für  Mendelssohn  sicht- 
lich eine  Prinzipienfrage.  Es  galt  ihm  die  starken  Ein- 
schnitte der  Kantate  zu  vermeiden.  Auf  die  Komponisten 
hat  dieses  Mendelssohnsche  Werk  einen  bedeutenden 
Einfluß  ausgeübt,  der  besonders  darin  sichtbar  wird,  daß 


— -^      438  <   -ft^- 

in  der  Periode  nach  Mendelssohn  dieser  in  der  älteren 
Literatur  nicht  gerade  bevorzugte  Text  eine  Lieblings- 
vorlage der  kirchlichen  Tonsetzer  geworden  ist. 
F.  MendalsBoliii,  Auf  dem  Gebiete  der  unbegleiteten  Psalmenmotette 
Psalmen-  hat  Mendelssohn  sehr  nachdrücklich  wieder  das  alte 
motetten.  antiphonische  Stilprinzip,  den  Wechselgesang  der  Chöre, 
zur  Geltung  gebracht.  Unter  den  Kompositionen  dieser 
Gattung  ist  das  Hauptwerk  die  große  achtstimmige  Mo- 
tette >Richte  mich,  Gott«.  Die  vierstimmige  Motette 
»Aus  tiefer  Not«,  welche  nicht  selten  in  geistlichen 
Konzerten  vorkommt,  hat  Mendelssohn  ersichtlich  nicht 
als  Psalm  betrachtet,  sondern  als  Ghorallied.  Sie  besteht 
aus  einer  Reihe  Chorvariationen  über  die  Luthersche 
Kirchenmelodie,  welche  an  einer  Stelle  von  einem  freien 
und  begleiteten  Tenorsolo  unterbrochen  werden. 

Mit  seinen  Psalmenkompositionen  hat  Mendelssohn 
eine   Schule   gegründet,   deren  Blüte   heute   noch   fort- 
dauert.   Auch  auf  die  Anhänger  älterer  Richtung  wirkten 
seine  Arbeiten   anregend.     Sehr  deutlich  läßt  sich  das 
in  der  Literatur  der  für  Männerchor  geschriebenen  Psal- 
B.  Klein,      men  verfolgen,  auf  welchem  Gebiete  vorher  B.  Klein  mit 
seinen  kurz  und  geradeweg  gehaltenen  Kompositionen  die 
Führung  hatte.    Schon  in  den  vierziger  Jahren  wird  hier 
das  Mendelssohnsche  Muster  maßgebend,  und  ihm  folgend 
und  doch  eigene  Freiheit  wahrend,  schrieben  Männer,  wie 
F.  Schneider,  P«  Schneider,  H.  Marschner,  J.  Otto,  F.  Lachner, 
H.  Marsohner,  F.  Hill  er  und  I.  Faißt  sehr  schöne  Psalmenkantaten  für 
J.  Otto,       Männerstimmen ,  von  vielen  anderen  Tonsetzern  (Adam, 
F.  Lachner,    Erfurt,  Stade  usw.)  begleitet  und  nachgeeifert. 
F.  Hiller,  ^^®  Mehrzahl  der  bisher  genannten  Tonsetzer  hat  bei 

I,  Faißt,  ^^r  Komposition  der  Psalmen  nicht  an  den  König  David, 
sondern  an  die  betende  Tempelgemeinde  gedacht  und  die 
Worte  und  Gefühle  der  Dichtungen  von  der  Lage  und 
Stimmung  der  Einzelperson  losgelöst  und  auf  das  allge- 
meine Verhältnis  der  Menschheit  zu  Gott  übertragen. 
Nur  eine  kleinere  Gruppe  von  Musikern  hält  im  Gegensatz 
zu  dieser  kirchlichen,  für  den  Allgemeingebrauch  zurecht 
gelegten  Auffassung  an  dem  subjektiven ,  persönlichen 


-^     439     ^-~ 

Urspruftg  der  Psalmen  fest  und  gibt  ihm  Vin  der  Regel 
^  durch  einen  stärkeren  Auftrag  der  Elemente,  welche  das 
Kolorit  und  die  Stimmung  behandeln,  Ausdruck.  Als 
frühere  Hauptvertreter  dieser  Richtung  kennen  wir  B. 
Marcello  und  k.  Stadler.  In  neuerer  Zeit  hat  mit  beson- 
derer Entschiedenheit  Fr.  Liszt  diesen  Standpunkt  ver-  Fr.  Liszt, 
treten.  Seine  Psalmenkompositionen  —  fünf  sind  ver-  Psalmen, 
öffentlicht  —  haben  aus  diesem  Grunde  und  weil  sie  in 
einem  auf  kirchlichem  Gebiete  ungebräuchlichen  Grade 
moderne  Musikmittel  verwenden,  die  öffentliche  Auf- 
merksamkeit in  hervorragender  Weise  erregt.  Das 
Konzert  hat  von  vier  derselben  Notiz  genommen.  Am 
seltensten  erscheint  der  f8.  Psalm  »Die  Himmel  er- 
zählen«, eine  kräftig  gehaltene  Komposition  für  Männer- 
stimmen, in  welcher  von  dem  Unisonosatz  sehr  geistvoll 
und  wirksam  reicher  Gebrauch  gemacht  wird.  Der 
23.  Psalm  ist  in  der  erweiterten  Form  des  dreiteiligen 
Sololiedes  (Sopran  oder  Tenor)  gehalten.  Der  Textab- 
schnitt von  «Und  auch  im  Tal  der  Nacht«  ab  —  Herders 
gereimte  Paraphrase  liegt  zugrunde  —  bis  >Gut  Heil  wird 
stets  um  mich  sein«  bildet  den  erregten,  pathetisch  de- 
klamierten Mittelsatz.  Der  Hauptteil,  der  durch  einige 
feierlich  präludierende  Takte  eingeleitet  wird,  verläuft  im 
Tone  einer  Begeisterung,  die  sich  im  Ausdruck  zarter 
Schwärmerei  kaum  genug  tun  kann.  Das  Kolorit  der 
Komposition  wird  durch  die  Mitwirkung  der  Harfe  stark 
mitbestimmt.  Im  Konzert  haben  sich  am  festesten  ein- 
gebürgert Liszts  Kompositionen  des  1 37.  und  4  3.  Psalms. 
Jener,  für  eine  Solostimme  (Sopran  oder  Tenor)  und  Frauen- 
chor mit  Begleitung  von  Violine,  Harfe  und  Pianoforte 
(Orgel)  geschrieben,  hält  ebenso  wie  der  23.  eine  einfache 
dreiteilige  Form  ein.  Der  erste  Teil  erzählt  ohne  Verweilen 
von  den  Leiden  der  Gefangenschaft  und  tut  dies  in 
einem  Tone,  welcher  durch  seine  romantische  Mischung 
merkwürdig  fesselt.  Das  klingt  resigniert,  müde  und  zu- 
gleich kraftvoll  und  stolz,  apathisch  traurig  und  auch 
zornig  erregt.  In  den  Gang  schlichter  Deklamation  fließen 
ausdrucksvolle  Akzente,    gefühlvolle  Gesangstellen  und 


\ 


) 


440 


Wendungen, 'welche  orientalisch  gefärbt  sind.  Bt  erhebt 
sich  vor  uns  eine  Gestalt,  vom  Alter  halb  gebrochen, « 
aber  mit  dem  Adel  und  der  Würde  des  Prophetentums 
angetan,  eine  musikalische'  Übertragung  Bendemann- 
scher  Figuren.  Technisch  ruht  die  Einleitungsszene  des 
4  87.  Psalms  hauptsäch-  .  Der  zweite, nur 

lieh  auf  dem  von  Liszt  fe  H  jrJ  ^ll'^  ^  ^  1  kurze  Teil  des 
unzertrennlichen  Motive  Psalms     lenkt 

'plötzlich  ins  Dramatische  hinüber.  Mit  Bitterkeit  und 
parodierender  Ironie  führt  der  Sänger  die  Szene  vor,  in 
welcher  die  Babylonier  die  heiligen  Lieder  Zions  als  Unter- 
haltung zu  hören  begehren.  Grimm  und  tiefste  Trauer 
löst  er  dann  in  einen  Ausbruch  von  Sehnsucht  und  Liebe 
auf,  in  den  gewaltigen  Ruf:  »Jerusalem«.  Dieses  Wort  in 
diesem  Augenblick  reißt  die  Genossen  mit  fort:  Der  Chor 
stimmt  heißen  Herzens  mit  ein  in  das  Wort  »Jerusalem«. 
Ein  begeistertes  und  inniges  Gedenken  an  die  Stadt  der 
Väter,  in  welches  Solo  und  Chor  sich  teilen,  füllt  den 
dritten  Teil  der  Komposition. 

Der  i  3.  Psalm  »Herr,  wie  lange  willst  du  meiner  ver- 
gessen«, für  Tenorsolo,^  Chor  und  Orchester  geschrieben, 
geht  über  die  einfache  Anlage  der  beiden  geschilderten 
Psalmen  weit  hinaus  und  ist  Liszts  äußerlich  und  inner- 
lich größter  Beitrag  zur  Gattung.  Er  bringt  hier  seine 
Anschauungen  über  moderne  Kirchenmusik  ebenso  klar 
wie  in  der  Graner  Messe  zum  Ausdruck  und  macht  von 
dem  Recht,  Text  und  Situation  in  unmittelbarer,  in  drama- 
tischer Lebendigkeit  aufzufassen  und  wiederzugeben  einen 
so  entschiedenen  Gebrauch,  wie  es  im  Psalm  seit  Schütz 
kaum  einer  getan  hat.  Während  die  anderen  Psalmen 
des  Komponisten  im  Aufbau  sich  dem  Lisztschen  Liede 
näher  anschUeßen,  ist  der  des  4  3.  Psalms  mit  den  sym- 
phonischen Dichtungen  des  Tonsetzers  verwandt.  Die 
Variationenform  beherrscht  ihn,  das  Thema  der  Fragte: 
»Herr,  wie  lange  usw.«?  ist  ihr  Grundstock.  Den  pathe- 
tischen, leidenschaftlichen  und  feurigen  Bildern,  die  aus 
ihm  entwickelt  sind,  hat  Liszt  in  der  lieblichen  Musik  zu 
der  Bitte:  »Schaue  doch  usw.«  einen  sehr  scharfen  Gegen- 


satz  gegeben.     Als  Ganzes  mächtig  einheitlich  ist  auch 
dieser  Psalm   an  Einzelstellen  von   genialer  Eingebung 
reich ;  unter  den  geschlossenen  Partien  ragt  durch  Geist 
und  vollendete  Form  das  Andante  con  moto  «/g  hervor. 
Liszt  ist  mit  seiner  Behandlung  der  Psalmen  ohne 
eigentliche  Nachfolge  geblieben.    Es  sei  denn,  daß  spä- 
tere Tonsetzer  von  diesen  Arbeiten  deklamatorische  und 
koloristische  Anregungen  entnommen  haben.    So  scheint 
durch  ihn   die  Aufmerksamkeit   auf  die  Harfe   gelenkt 
worden  zu  sein.    Sehr  wirksam  hat  dieses  geschichtliche 
Psalmeninstrument  Müller-Hartung  in  seiner  kräftigen Müllei-Hartnng, 
und  wirksamen  Komposition  des  90.  Psalms  verwendet.    90.  Psalm. 
In    den    wesentlichen   stilistischen   Punkten    stehen    die 
hervortretenden  neueren  Psalmenkomponisten:  E.  Grell,      E.  Grell, 
E.  F.  Richter,  R.  Franz  (Lobet  den  Herrn  alle   Heiden,  £.  F,  Bichter, 
für  zwei  Chöre),  W.  Rust,  W.  Stade,  G.  Rebling,  S.      B.Prana, 
Jadassohn  auf  der  Seite  Mendelssohns.    Auch  H.Götz      W.  Bast, 
(4  37.  Psalm)  und  W.  Bargiel  sind  dieser  Gruppe  beizu-      W.  Stade,  ^ 
zählen.  Selbständig  erscheint  Moritz  Hauptmann.  Der    G.  Bebllng, 
Ton  seiner  begleiteten  und  unbegleiteten  Psalmen  klingt  8.  Jadassohn, 
häufig  sehr   traulich   an    das    4  8.  Jahrhundert  und   an      H.  Gdtx, 
G.Naumann  an,  wo  er  sich  vom  weichen  Grunde  auf-    W.  Bargiel, 
schwingt,  hält  er  die  Grenzen  der  kirchlichen  Observanz  U.  Hauptmann, 
und  der  natürlichen  Vokalität  inne.    Joachim  Raff  ist       J.  Baff, 
mit  einer  sehr  umfangreichen,  für  achtstimmigen  Chor  und  De  profundis. 
großes  Orchester  bestimmten  Bearbeitung  des  »De  pro- 
fundisc    unter   den    neueren    Psalmsängern   erschienen. 
Ihre   wirksamste  Partie  hat   sie   in  der  Sopranarie  mit 
Frauenchor  »Quia  apud  te«,  die  an  bedeutenden  Dekla- 
mationsstellen    reich    ist.      Zwei    schlichte,    aber    be- 
merkenswerte Arbeiten   auf  dem  Psalmenfelde  besitzen 
wir   dann   von   J.  Brahms.     Sein  43.  Psalm  ist  nach     J,  Brakmsi 
Schubertschem  Muster  für  äquale  Stimmen  geschrieben:    13.  Psalm, 
für  dreistimmigen  Frauen chor  mit  Begleitung  der  Orgel. 
Die  Anlage  ist  die  der  alten  italienischen  Kantate:  eine 
Folge  von  knapp  gehaltenen  Sätzen,  die  sich  ohne  Unter- 
brechung anein  anderschließen.    Der  Ausdruck  ist  einfach 
aber  reich,  namentlich  durch  ungesuchte  Energie  aus- 


442 


E.  Mneoke. 


A.  Brnokner, 

F.  Wüllnw,- 

Fl  Draeseke, 

H.  Bchalts-Beatheni 

H.  T.  Hersogenberg, 

C.  Plntti, 

Ol  Taabmann. 


Ml  Grabert. 


Pater  Hartmann. 


Ed.  Orieg. 


gezeichnet  Die  Komposition  (op.  27)  gehört  zu  der  Reihe 
von  Vorarbeiten  auf  geistlichem  Gebiete,  durch  welche 
Brahms  ^u  dem  Schöpfer  des  »Deutschen  Requiems«  heran- 
reifte. Einzelne  Partien  des  Psalms  erinnern  formell  und 
geistig  direkt  an  den  vierten  Satz  jenes  großen  Werkes. 
Wenn  wir  der  Komposition  im  Konzert  so  selten  begegnen, 
so  liegt  ein  Grund  dafür  mit  in  der  anstrengenden  Führung 
der  oberen  Sopranstimme.  In  größeren  Verhältnissen  mit 
mehrfacher  Benutzung  der  Fugenform  hat  Brahms  den 
54.  Psalm  »Schaffe  in  mir  Gott«  (für  gemischten  Chor 
a  capella)  angelegt.  Im  Mittelpunkt  der  Komposition  steht 
der  leidenschaftüch  düstere  Satz:  »Verwirf  mich  nicht c. 

In  seinen  späten  Jahren  hat  sich  auch  noch  Karl  Rei- 
necke mit  einer  Motette  über  »Unser  Leben  währet  sieben, 
zig  Jahr«  unter  die  Psalmenkomponisten  begeben.  Weiter 
sind  von  bekannten  Komponisten  noch  mit  Psalmen  auf- 
getreten: A.  Brückner,  F.  Wüllner,  F.  Draeseke, 
H.  Schultz -Beuthen  (Hauptwerk:  der  29.  Psalm  für 
drei  Chöre),  H.  v.  Herzogenberg,  C.  Piutti  und  als 
Neuüng  0.  Taubmann  mit  einer  Kantate  für  Solo,  Chor 
und  Orchester  über  den  i  3.  Psalm,  die  Streben  nadi  Aus- 
druck mit  kühnem  und  gediegenem  Kontrapunkt  verbindet. 

Eine  spätere  Psalmenmotette  (»Das  ist  ein  köstlich 
Ding«)  desselben  Komponisten  zeigt  ebenfalls  eine  starke 
Begabung  für  Satztechnik,  aber  nur  wenig  musikalische 
Innerlichkeit.  Nach  letzterer  Seite  gehören  dagegen  die 
drei  Psalmen  von  Martin  Grab  er  t  (op.  30)  zu  den  besten 
Leistungen,  der  neuesten  Zeit.  Ihre  einfach  wirksame 
Anlage  wird  sehr  geschickt  durch  kleine,  zum  Teil  rezita- 
tivische  Solosätze  belebt,  aus  Erfindung  und  Arbeit  spricht 
überall  schlicht  und  gehaltvoll  der  Geist  eines  berufenen 
KünsÜers.  Auch  das  Miserere  des  bekannten  italienischen 
Oratorienkomponisten  Pater  Hartmann  darf  hier  er- 
wähnt werden.  Aus  seinem  immer  geschmackvollen  und 
wohlklingenden  sechsstimmigen  Satz  ragen  mehrere  ganz 
modern  gehaltene  Stellen  dramatischen  und  realistischen 
Charakters  hervor.  Das  Gebiet  des  Psalmliedes  hat  in 
dem  op.  74  von  Edvard  Grieg  einen  sehr  eigenen  Zu- 


--♦     443     ♦— 

wachs  erhalten.  Die  vier  für  gemischten  Chor  (a  capella) 
und  Baritonsolo  geschriebene  Psahn'en  dieses  Heftes 
lehnen  sich  an  ältere  norwegische  Jürchenmelodien  an 
und  fuhren  damit  in  einen  Kulturkreis,  dem  die  Unter- 
scheidung von  geistlicher  und  weltlicher  Musik  noch  viel 
fremder  ist  als  den  sogenannten  Dissenters  des  heutigen 
Englands.  An  und  für  sich  sind  diese  liedsätze,  denen 
die  Harmonien  und  Kontrapunkte  Griegs  teils  charakter- 
volle, teils  nur  wunderliche  Lichter  aufsetzen,  ganz  reizend, 
aber,  für  D^tschland  wenigstens,  ist  eine  kirchUche  Ver- 
wendung ausgeschlossen.  Bei  einzelnen  macht  diese  schon 
der  Text  unmöglich.  In  der  zweiten  Nummer  z.  B.  (Mein 
Jesus  macht  mich  frei),  einem  behaglichen  TanzUed,  singt 
erst  der  Solobariton  und  dann  der  Chor  ihm  nach:  »Der 
Sünde  Glückspiel  lockt  nicht  mehr,  ich  pfeife  drauf«. 
Diese  sehr  naive  FsalmenbehancQung  ist  das  reinste 
Gegenstück  zu  dem  von  Goethe  erzählten  Erlebnis  mit 
Schweizer  Bauern.  Die  sangen  ihm  bekanntlich  im  Wirts- 
haus, um  heimische  Lieder  gebeten,  Stücke  aus  dem 
Goudimelschen  Psalter  vor.  In  beiden  Fällen  handelt  es 
sich  um  die  Verwechslung  von  Kirche  und  Schänke,  bei 
Grieg  liegt  möglicherweise  auch  der  Einfluß  Fritz  von  THides 
und  anderer  demokratisch  gerichteter  ReUgionsmaler  vor. 

Verhältnismäßig  am  fleißigsten  ist  in  der  letzten  Zeit 
die  Psalmenkantate  bedacht  worden,  ohne  daß  aber  der 
Ertrag  sich  mit  dem  der  Mendelssohnschen  Zeit  und  ihres 
Gefolges  an  Quantität  und  Qualität  messen  kann.  Zu 
den  beachtenswerten  Beiträgen  gehört  hier  der  Fest- 
psalm (op.  72)  Von  E.  Ed.  Taub  er t.  Seine  Mitte  schildert  E.  Ed.  Tanbert, 
im  Orchester  die  Meeresgewalt,  nach  ihr  hebt  sich  der 
Schluß  auf  die  Worte  »Aber  der  Herr  ist  noch  größer« 
zu  erhabener  Wirkung. 

Die  erste  Stelle  unter  diesen  Kantaten  nimmt  der 
4  00.  Psalm  für  Chor,  Orchester  und  Orgel  von  Max  M.  Beger. 
Reger  (op.  400)  ein.  Seine  Musik  zerlegt  den  Text  in 
zwei  Hauptteile,  von  denen  der  zweite,  der  umfangreichere, 
auf  wesentliche  Motive  des  ersten  zurückgreift,  so  daß  die 
Einheit  des  Ganzen  nach  innen  und  außen  deutlich  gewahrt 


bleibt.  Der  erste  Teil  entwickelt  sich  um  die  beiden 
Weisungen:  jauchzet  dem  Herrn  und  dienet  dem  Herrn. 
Jene  wird  wesentlich  von  einem  erregten,  leicht  an  den 
ersten  Satz  des  Bachschen  Magnificats  erinnernden  Sech- 
zehntelmotiv,  diese  von  einer  ruhigen  Melodie  getragen, 
deren  Eigentümlichkeit  anf  der  Einmischung  beklommener 
Gefühlsregungen  beruht.  In  der  Entwicklung  des  Satzes 
herrscht  sehr  entschieden  der  jauchzende,  zuweilen  bis 
zur  Verwirrung  begeisterte  Ton  vor,  er  führt  zu  einzelnen 
Modulationen,  die  in  ihrer  kräftigen  Kühnheit  die  Empfin- 
dung förmlich  aufpeitschen.  Doch  wahrt  der  ganze  Teil 
den  Charakter  des  Anlaufs  und  der  Vorbereitung.  Die 
eigentliche  Seele  der  Komposition  enthüllt  sich  erst  im 
zweiten  Teile,  und  ihre  größte  Schönheit  Hegt  in  dessen 
erster  Hälfte.  Da  birgt  sich  gleich  in  den  wenigen  Takten, 
mit  denen  das  Orchester  das  erste  Andante  sostenuto 
einleitet,  ein  tiefer  Sinn ;  ihre  haltlosen,  suchenden  Akkorde 
schicken  den  Worten  des  Chores  >Erkennet,  daß  der  Herr 
Gott  ist«  das  Bild  der  fehlenden  Erkenntnis  in  einem 
ähnlichen  Gedankengang  voraus,  wie  ihn  ausführhcher 
Händel  in  der  Ouvertüre  zum  »Messias«,  Haydn  in  der 
Einleitung  zur  »Schöpfung«  eingeschlagen  hahen.  Diesem 
ersten  Tempo  folgt  in  dem  Allegretto  con  grazia  über  die 
Worte:  »Gehet  zu  seinen  Toren  ein«  das  poetische  Haupt- 
stück des  ganzen  Psalms,  ein  freundhch,  Mediich,  mensch- 
lich anheimelnder  Satz,  in  dem  neben  dem  eigenen,  selb- 
ständige Wege  gehenden  Harmoniker,  der  Reger  immer  in 
erster  Linie  ist,  auch  ein  Melodiker  zu  Wort  kommt,  der 
dem  Text  und  dazu  den  Sängern  und  Hörern  in  einfacher, 
natürlicher  Weise  gerecht  wird.  Ein  kurzes,  aus  dem 
ersten  Teil  bekanntes  Orchesterzwischenspiel  (Andante 
sostenuto)  leitet  von  dieser  Insel  der  Seligen  über  zu  dem 
groß  und  prunkvoll  gedachten  Schlußabschnitt  der  Kom- 
position, dem  Allegro  maestoso  über  die  Worte  »Denn  der 
Herr  ist  freundhch«.  Es  vollzieht  mit  Benutzung  von 
Motiven  des  ersten  Teils  die  eigentUche  des  Jubels  volle 
Anbetungsszene  in  Gestalt  einer  Doppelfuge,  die  in  der 
breiten  Anlage  und  in    der  Menge   der  Durchführungen 


445      »— 

merkbar  über  die  gebräuchlichen  Maße  hinausstrebt.  Die 
an  innerer  Musik  reichsten  Stellen  bringt  sie  da,  wo  zu- 
erst die  Worte  >  Seine  Gnade  währet  ewig*  kommen.  Den 
Einfall,  in  diesen  Schluß  den  Choral  »Ein'  feste  Bürge 
hineinzuziehen,  kann  man  gelten  lassen,  die  materielle 
und  eilige.  Art  aber,  mit  der  er  im  unisono  und  ff  von 
Trompeten,  Posaunen  und  Orgel  abgetan  wird,  ist  geeig- 
net zu  verstimmen. 


Uhter  den  Kirchenstücken  auf  biblischen  Text,  welche 
von  den  älteren  Tonsetzern  ständig  komponiert  wurden, 
sind  noch  die  Litaneien  und  die  Lamentationen 
zu  nennen.  Die  Litaneien  sind  Bittgesänge,  welche 
mit  den  Anfangsworten  der  Messe,  dem  »Kyrie  eleison« 
beginnen  und  mit  ihren  Schlußworten  »Agnus  dei,  mi- 
serere  nobis«  enden.  Der  dazwischen  liegende  Text 
wechselt  nach  den  Veranlassungen,  für  welche  die  Lita- 
nei angestimmt  wird.  Nimmt  die  Litanei  die  Stelle  des 
allgemeinen  Kirchengebets  ein,  so  kehrt  das  volkstümliche 
»Kyrie  eleison«  in  vielfachen  Wiederholungen  und  Varia- 
tionen wieder,  in  den  sogenannten  Lauretanischen 
Litaneien  (Marienbitten)  oder  bei  Wallfahrten  und  Pro- 
zessionen ruft  man  der  Mutter.  Maria  und  andern  Heiligen 
zahlreiche  »Ora  pro  nobis«  zu.  Musikalisch  sind  die  Lita- 
neien in  der  Regel  Wechselgesänge  im  einfachen  und  knap- 
pen Stil  meist  bloß  akzentmärßig  gehalten  und  auf  Vorbeter 
(Solist  oder  Chor)  und  Volk  (Chor)  verteilt.  Jener  beginnt 
die  Sätze,  spricht  die  Anreden  und  nennt  die  Gegenstände 
der  Bitte,  dieses  schließt  sie  mit  Wunschformeln,  die  unter 
Umständen  zehn-  und  zwanzigmal  wiederkehren.  Die 
Lamentationen  haben  Klagelieder  des  Jeremias  zum 
Text  und  gehören  im  katholischen  Kultus  zu  dem  musi- 
kalischen Bestand  der  Karwoche.  Mit  den  Passionen 
teilen  sie  außer  dieser  Bestimmung  auch  manche  formelle 
Eigenschaften.  Auch  bei  den  Lamentationen  ist  die  Ober- 
schrift als  feierlicher  Introitus  mitkomponiert.  Noch  be- 
fremdlicher sind  die  bei  einigen  Tonsetzern  gebräuchlichen 
Zwischensätze  zwischen  den  einzelnen  Versen.  Ihren  Text 


— ^     446     ♦— 

bilden  Buchstaben  des  hebräischen  Alphabets.  Aleph  nach 
dem  ersten,  Beth  nach  dem  zweiten,  Ghimel  nach  dem 
dritten  Vers  usw.  Musikalisch  sind  diese  Zwischensätze  in 
der  Regel  die  Kemstellen  der  Komposition,  von  den  Ton- 
setzern in  konzentriertester  Stimmung  und  mit  der  größten 
Anspannung  der  künstlerischen  Kraft  entworfei^  eine  Art 
Surrogat  ausdrucksvollster  Instrumentalmusik. 

Ihr  Text  macht  die  Litaneien  wie  die  Lamentationen 
för   das    Konzert   wenig   geeignet.     Es  erscheinen   hier 
deshalb  auch  nur  ganz  wenige  von  ihnen.   Die  heute  be- 
kanntesten Klagegesänge  sind  die  Improperien  Palestrinas 
G.  Allegrl     und  die  Lamentationen  von  G.  Allegri  (mit  Schluß  von 
(Biordi),       Biordi),  seltener  kommen  die  von  M.  Nanini   und  Fr. 
Lamentationen.  Durante  vor.    Mit  Begleitung  sind  die  Lamentationen 
M.  Nanini,     überhaupt  wenig  komponiert  worden.     Dagegen  wurden 
Pr.  Dnrante,    dje  Litaneien  auch  in  der  Zeit  und  in  dem  Stile  der  Kan- 
Lamentationen  täte  noch  häufig  in  Musik  gesetzt.   Das  Konzert  bringt  zu- 
und  Litanei,  weilen  von  letzterer  Art  die  von  Fr.  Durante  und  von 
W.  A.  Mosart,  W.  A.  Mozart,  macht  dagegen  von  der  Litanei  in  älterer 
Litanei.      Fassung  keinen  Gebrauch.   Mit  Unrecht.   Denn  gerade  sie 
mischt  musikalische  Eintönigkeit  und  Beharrlichkeit  mit 
dramatischer  Frische  des  Vortrags  in  einer  so  eigenen 
Weise  und  zu  einem  so  mächtigen  Gesamteindruck,  daß 
diese  älteren  Litaneien  als  bedeutende  Paradigmen  einer 
ebenso  objektiven,  wie  imposanten  Musik  wirken.    Am 
sichersten  wird  man  die  Probe  hierauf  mit  den  Marien- 
J.  de  Kaoqn^,   litaneien  von  J.  deMacqu^  und  von  J.  deFossa  machen. 
J,  de  Fossa.    In  letzterer  spricht  der  Vorbeter  alles  zweimal,  erst  grego- 
rianisch, dann  figuraliter.    Von  weiteren  neugedruckten 
B,  V.  Helle,     niederländischen  Litaneien  verdienen  die  von  R.  v.  Melle, 
F.  Anerio,     von  italienischen  die  siebenstimmige  F.  Anerios*),  von 
H.  Scliütz.     deutschen  die  sechsstimmige  von  H.  Schütz  besondere 
Beachtung. 


*)  Yeiöffentlicht  in  Haberls  Kiichenmasikalischem  Jahrbaeh. 


Viertes  Kapitel. 
Motetten  und  Kantaten. 


Neben  der  Ordnung  und  Benennung  nach  Text  und 
liturgischer  Verwendung  ist  bei  den  zur  Hymaenfsmilie 
gehörigen,  bei  den  erzählenden  und  bei  den  frei  gedich- 
teten Kirchengesängea  von  jeher  noch  eine  zweite  Art 
der  Klassifizierung  einhergegangen,  nämlich  nach  den 
musikalischen  Formen.  Ton  ihnen  darf  das  Lied  seiner 
Natur  nach  hier  überschlagen  werden,  dagegen  vemot- 
wendigt  es  sich  von  den  unter  dem  Titel  Motette  und 
Kantate  in  Umlauf  gekommenen  Kompositionen  die- 
jenigen zu  erwähnen,  welche  fUr  die  Geschichte  oder 
für  das  heutige  Konzert  wichtig  sind. 

Die  Abgrenzung  des  Motettenbegriffs  hat  textlich  wie 
musikalisch  ihre  Schwierigkeiten.  Dort  nmfaSt  er  nicht 
bloß  alle  neben  dem  Ordinarium  der  Messe  vorkommen- 
den Arten  kirchlicher  Gesangteste,  sondern  er  greift,  wie 
zablteiche  aus  dem  1 S.  und  1 6.  Jahrhundert  erhaltene 
Sängergebete  und  didaktische  Texte  beweisen,  über  das 
eigentlich  kirchliche  Gebiet  hinaus.  Die  Musik  der  Mo- 
tette hiiwiedenim  hat  lange  Zeit  gebraucht  um  eine 
bestimmte  Hauptform  durchzusetzen,  und  auch  dann  hat 
diese  niemals  unbedingt  gegolten*]. 

Das  44.  Jahrhundert  versteht  unter  Motetten  zwei- 
tritt:   Oeschlcbte  dei  Motette, 


—^     448     ♦— 

und  dreistimmige  Kirchengesänge,  die  einer  gregoriani- 
schen, langsam  einen  kurzen  Spruch  (mot)  vortragenden 
Unterstimme  (Tenor)  ein  oder  zwei  frei  erfundene  rhyth- 
misch bewegtere  Oberstimmen  hinzufügen.  Nach  dem 
Vorbid  der  Tropen  und  Sequenzen  erhielten  diese  freien 
Stimmen  eigene  Texte  und  das  gleichzeitige  Absingen 
verschiedener  Texte  war  eine  Zeitlang  das  wesentliche 
Merkmal  der  Motette*).  Wie  die  in  neueren  Publika- 
tionen, besonders  zahlreich  von  Wolf  (a.  a.  0.)  mitgeteilten 
Proben  zeigen,  unterscheidet  sich  die  Textmengung  in 
der  Motette  von  der  späteren  im  Quodlibet  und  in  der 
Oper  dadurch,  dai3  die  Nebentexte  mit  dem  Haupttext 
gleichen  Sinnes  sind,  ihn  weder  kontrastieren  noch  paro- 
dieren. Ein  »Salve  Regina«  von  Nik.  Gombert,  das  mit 
folgendem  Textquartett  anfängt: 

Superius:  Salve  Riegina  misericordiae 

Altus:  Ave  Regina  coelorum 

Tenor:  Inviolata,  integra  et  casta  es  Maria 

Bassus:  Alma  Redemptoris  mater 
mag  das  veranschaulichen.  Es  gehört  in  seiner  Zeit  unter 
die  seltenen  Ausnahmen.  Denn  schon  das  45.  Jahr- 
hundert gibt  die  Mengung  verschiedener  Texte  in  der 
Motette  grundsätzlich  wieder  auf.  Dagegen  hält  es  an 
der  deutlichen  rhythmischen  Unterscheidung  zwischen  den 
frei  erfundenen  Stimmen  und  der  dem  Choral  entlehnten 
Grundstimme  fest.  Zahlreiche  Motettensätze  von  Binchois, 
Brasart,  Dunstable,  auch  noch  von  Dufay  **)  zeigen,  daß 
den  Komponisten  die  Oberstimme  die  Hauptsache  ist. 
Sie  ist  nicht  bloß  äußerlich,  sondern  auch  innerlich  feich 
bewegt;  während  die  untere  und  mit  ihr  die  mittiere 
Stimme  still  halten,  spricht  sie  sich  schön  und  ausdrucks- 
voll melodisch  aus.  Man  kann  geradezu  in  den  drei^ 
stimmigen  Motetten  des  45.  Jahrhunderts  eine  Antizipa- 
tion der  späteren  Monodie  erblicken,  bei  der  der  Vorläufer 


*)  W.  Meyei:  Dei  Ursprang  der  Motette  (Nachrichten  von 
der  K.  Gesellschaft   der  Wissenschaften   zu  Göttingen,    1898). 
•*)  Denkmäler  der  Tonkunst  In  Österreich,  VII. 


r- 


-— ♦      449     ♦— 

dadurch  im  Vorteil  ist,  daß  er  statt  auf  Reflexion  auf  Tradi- 
tion,  auf  dem  Segen  der  Choralepoche  fußt.  Eine  Änderung 
erfährt  dieser  Motettenstil  mit  der  Einbürgerung  einer  vierten 
Stimme.  Sie  führt  zu  einer  Teilung  des  Chorkörpers  und 
seiner  Arbeit  in  ewei  Gruppen.  Die  beiden  Oberstimmen 
und  die  beiden  ünterstimmen  paaren  sich,  hohe  und  tiefe 
2weistimmige  Sätze  lösen  einander  ab;  die  entscheidende 
Wendung  besteht  darin,  daß  innerhalb  der  einzelnen  Grup- 
pen die  beiden  Stimmen  einander  die  Melodien  vor-  und 
nachsingen.  Damit  ist  das  Prinzip  der  Ebenbürtigkeit  auf- 
gestellt, wenn  es  auch  zunächst  nicht  vollständig  durchge- 
führt wird.  Denn  so  oft  beide  Gruppen  zusammentreten, 
fällt  der  unteren  die  musikalisch  bescheidene  Rolle  zu:  sie 
markiert  mit  langen  Tönen  die  Harmonie  und  dient  der 
oberen  nur  als  Hafen  und  Stütze.  Die  vollständige  und  wirk- 
liche Ebenbürtigkeit  der  vier  Stimmen  findet  sich  zuerst  in 
Motetten  durchgeführt,  die  wie  das  »Salve  reginac  Dufays 
oder  die  Hymne  >Omnium  bonorum  plena«  von  Loyset 
Comp^rean  das  Ende  des  i 5 .  Jahrhunderts  fallen.  Es  sind 
Kompositionen,  die  aus  einer  sehr  großen  Anzahl  einzelner, 
an  sich.fesselnder  Sätze  bestehen.  Der  Abschluß  der  Motet- 
tenentwicklung erfolgt  dann  im  Laufe  des  4  6.  Jahrhunderts 
in  der  Weise,  daß  die  Texte  kürzer  gehalten,  aber  die  ein- 
zelnen selbständigen  Abschnitte  des  Textes  thematisch  em- 
gehend  behandelt  werden.  Die  der  früheren  Zeit  ganz  fremde 
Wiederholung  derselben  Worte  —  drei-  bis  sechsmal  in  einer 
Stimme  —  wird  ein  Merkmal  des  Motettenstils  und  ist  es 
bis  heute  geblieben.  Auf  Polyphonie  und  Textwiederholung 
wollen  die  Verleger  des  1 6.  Jahrhunderts  hinweisen,  wenn 
sie  >cantiones  sacrae  quas  vulgo  motetas  vocant«  anzeigen. 
Die  hier  skizzierte  Entwicklung  des  Motettenstils  stimmt 
im  allgemeinen  mit  der  des  Messenstils  überein.  Doch  hat 
die  Motette  vor  der  Messe  einen  großen  Schatz  von  kürzeren, 
einfacheren,  die  Kunst  der  Stimmführung  dem  seelischen  . 
Gehalt  unterordnenden  Sätzen  voraus.  Aus  Dufays  Feder  0.  Dnfk/i 
gehören  in  diese  Gruppe  die  Hymnen:  Ad  coenam  agni, 
Christe  redemptor,  Conditor  alme  siderum,  Hostis  Herodis, 
Iste  confessor,  0  lux  beata,  Fange  lingua,  Sanctorum  meritis. 


üt  queant  laxis,  Veni  creator,  Vexilla  regis  prodeunt*).   In 
einer  Zeit,  die  noch  der  Herrschaft  der  Fauxbourdons  und 
anderer  Simultanharmonien  nahe  steht,  können  sie  nicht 
überraschen.    Daß  sie  sich  aber  auch  während  der  Blüte 
niederländischer  Kontrapunktik    behauptet  haben,    zeigt 
Obrecbt.       Ob  rechts  ins  Repertoire  des  Amsterdamer  »Klein  Koor« 
aufgenommenes  Ave  Regina,  das  belegt  des  weiteren  nament- 
lich Maldeghem  mit  zahlreichen  köstlichen  Proben.    Der 
Beachtung  der  Chordirigenten  empfehlen  sich  daraus  an 
J.  de  Berohem,  erster  Stelle:  J.  de  Berchems  Jesu   Christe,  miserere, 
C.  Verdonok,    C.  Verdoncks:  Ave  gratia  plena,  J.  Arcadelts:  Ave  Maria, 
J.  Aroadelt,     Ad.  Willaerts:  0  gemma  clarissima,  C.  Goudimels:  A 
Ad.  Wlllaerti    la  voiz  de  Tinnocente,  Ciprian  de  Rores:  Agimus  tibi 
C.  Gondlmel,  •  gratias,  Th.  Cr^quillons:  Ave  virgo  gloriosa.   Ein  Haupt- 
C.  de  Eore,     Vertreter  dieser  einfachen  Motette  ist  R.  v.  Melle,  ins- 
Th,  Cr^nillon,  besondere  verdienen  seijie  drei  Hymnen:  0  Jesu  Christe, 
B.  ▼.  Helle.    0  Domine  Jesu  Christe,  te  supplices  exoramus,  und  das 
besonders  schöne  schwermütige  Ave  sanctissima,  einen 
festen  Platz  im  geistlichen  Konzert.    Mit  VorÜebe  wendet 
sich  die  Motette  diesem  kunstloseren,  homophonen  Stil  bei 
Marienhymnen  und  beim  Pater  noster  zu.   Die  Chorsätze 
des  »Vater  Unser«  beschränken  sich  häufig  darauf,  dieselbe 
gregorianische  Melodie,  die  Luther  in  seine  deutsche  Messe 
aufgenommen  hat,  mit  einer  vierstimmigen  Harmonie  ausr 
zustaffieren.  Ihre  eigene  natürliche  Schönheit  kann  durch 
selbständige  Zutaten  eher  verlieren  als  gewinnen.   Muster- 
b^spiele  solcher  Niederländischer  Kompositionen  des  »Pater 
M.  Le  Maietre,  noster«  sind  die  von  M.  Le  Maistre  und  vonN.  Gombert. 
Ni  Gombert.    Das  von  Le  Maistre  in  Deutschland  geschriebene  paßt  für 
jede  Dorfkirche,  Gombert  hat  an  die  Kathedralen  seiner  Hei- 
mat gedacht  und  trägt  bei  aller  Schlichtheit  einer  höheren 
kirchUchen  Kunst  dadurch  Rechnung,  daß  von  den  fünf 
Stimmen  seines  Satzes,  wenn  auch  nicht  gleichmäßig,  jede 
ihren  Teil  am  Thema  hat.  Eine  ebenfalls  kurz  und  einfach 
gehaltene,  aber  sehr  eigentümUche  Komposition  des  Gebets 
des  Herrn  —  Oratio  dominica  ist  die  übliche  liturgische 


*)  Denkmäler  der  Tonkunst  in  Österreich.  VU. 


Bezeichnung  —  ist  die  von  A.  Willaert.  Ihr  finsterer, 
banger,  harter  und  unruhiger  Ton  weist  auf  Krieg,  Krank- 
heit, auf  inneren  oder  äußeren  Unfrieden  und  schlimme 
Zeit  hin. 

Die  liedartige  Motettenrichtung  gewinnt  in  der  nieder- 
ländischen Schule  immer  mehr  Terrain,  je  näher  das  Ende 
des  46.  Jahrhunderts  heranrückt  und  je  stärker  der  Einfluß 
von  Madrigal-  und  weltlicher  Tonkunst  wird.  Schon  bald 
im  47.  Jahrhundert  stellen  sich  dann  neben  die  Muster- 
stücke die  Auswüchse.  Jene  vertritt  am  deutlichsten  (bei 
Maldeghem)  das  Brüggesche  Weihnachtslied:  Beata  imma- 
culata  von  4630,  diese  die  aus  der  Kommunalbibliothek 
von  Gambrai  stammende  Motette:  0  dulcis  amica.  Sie 
hat  ein  Präludium  von  Brummstimmen  (Bourdons)  und 
weist  damit  auf  besondere  Neigungen  altniederländischer 
Volksmusik  hin,  die  im  4  9.  Jahrhundert  eine  Zeitlang  inter- 
national wurden  und  heute  noch  dem  französisch-belgischen 
Männergesang  eigen  sind.  Um  die  Zeit  dieses  Cambrai- 
schen  Satzes  war  jedoch  die  Herrschaft  der  niederländischen 
Schule  längst  Vorbei.  Sie  hat  die  homophone  Motette 
doch  nur  als  eine  Nebenform  behandelt,  die  mit  dem 
Steigen  und  Fallen  des  volkstümlichen  Musikbarometers 
vortritt  oder  zurücktritt,  deren  Stellung  andererseits  aber 
auch  von  der  Meisterschaft  im  Satz  abhängt,  über  welche 
Individuen  und  Perioden  verfügen.  Man  braucht  nur  an 
Mozarts  »Ave  verum«  zu  denken,  um  sich  von  dem  Lebens- 
recht der  Gattung  zu  überzeugen,  man  wird  indessen  auch 
im  Hinblick  auf  die  zahlreichen  trivialen  Leistungen,  die 
sie  vom  47.  Jahrhundert  bis  auf  die  Gegenwart  gezeitigt 
hat,  es  den  Niederländern  danken  müssen,  daß  sie  den 
eigentlichen  Motettenstil  in  der  Polyphonie  suchten  und 
in  der  großen  Motette  wenigstens  durchweg  festhielten. 

Als  Begründer  dieses  großen  niederländischen  Motetten - 
Stils  muß  Ockeghem  angesehen  werden.  Leider  aber  Ockeghem. 
ist  die  Aussicht,  ihn  als  solchen  auch  praktisch  wieder  zu 
Ehren  zu  bringen  gering,  da  er,  als  ein  leistungsfähigerer 
Notendruck  aufkam,  schon  überholt  war,  sein  handschrift- 
licher Nachlaß  aber  an  den  Hauptstellen,  in   Rom  und 

89* 


Tours,  den  Kriegs-  und  Revolutionszeiten  zum  Opfer  ge- 
fallen ist.  Ambros,  der  den  Spuren  dieses  Meisters  zuletzt 
und  mit  allem  Eifer  nachgegangen  ist,,  hat  nur  ein  Motetten- 
manuskript in  der  Riccardiana  in  Florenz,  eine  breit  an- 
gelegte und  durch  milden  Ton  eigene  Komposition  der 
Hymne  Alma  Redemptoris  gefunden ;  in  den  Petruccischen 
Drucken  schreibt  er  ihm  mit  ziemlicher  Wahrscheinlichkeit, 
aber  doch  nur  vermutungsweise,  die  Stücke  üt  hermita 
solus  und  Miles  mirae  probitatis  zu.  Von  der  bei  Ornito- 
parchus  und  Glarean  erwähnten  3  6  stimmigen  Motette 
Ockeghems  ist  nicht  einmal  der  Textanfang  bekannt*). 
ObraeH  Besser  steht  es  um  Obre  cht,  von  dessen  Motetten- 

kunst noch  Material  genug  vorhanden  ist.  Die  begonnene 
Gesamtausgabe  seiner  Werke  hat  davon  in  der  Passion 
nach  dem  Evangelisten  Matthäus  bereits  eine  ausführ- 
liche, aber  keineswegs  als  Norm  anzusehende  Probe  vor- 
gelegt. Auch  Obrecht  war  durch  den  Umfang  des  Textes 
und  seine  Mischung  berichtender  und  betrachtender  Ele- 
mente in  der  freien  Entwicklung  des  Stils  gehindert.  Seine 
Meisterqiotette  ist  die  fünf  stimmige  >  Salve  crux  arbor 
vitae«,  eins  der  frühesten  Beispiele  jener  durch  eine  An- 
sprache oder  kurze  Predigt  in  zwei  Teile  geschiedene 
Motetten,  die  für  Hören  und  andere  Nebengottesdienste 
bald  allgemein  und  regelmäßig  als  musikalisches  Haupt- 
stück in  Gebrauch  kamen.  Sie  ist  ebenso  reich  an  Kunst 
wie  an  Effekt.  Den  wohlberechneten  Totaleindruck  der 
Komposition,  der  einer  über  Rast  und  Pause  durch- 
geführten Bergfahrt  gleicht,  beleben  bunte,  bald  im  losen, 
bald  im  dichten  Stimmengewebe  gehaltene  Details.  Nahe 
steht  ihr  eine  andere  fünfstimmige,  von  G.  Rhau  heraus- 
gegebene Motette  >Haec  Deum  coeli  Dominum«.  Was 
Obrecht  seinerzeit  als  Motettenmeister  galt,  zeigt  sich  am 

*)  Eitner  und  Brenet  yermuten,  H.  Riemann  (Handbach 
der  Musikgeschichte  II  \  S.  236)  nimmt  als  sicher  an,  daß  diese 
Motette  in  der  Schlußnummer  des  dritten  Bandes  der  Psalmen - 
Sammlung  des  Petrejus  (154^2),  einem  kanonischen  Kunststück 
über  die  Worte:  >Deo  gratias«  doch  erhalten  ist 


— ♦     453     ♦— 

deutlichsten  in  der  Tatsache,  daß  ihn  die  Drucke  Petmccis 
vor  allen  Vertretern  der  älteren  niederländischen  Schule 
bevorzugen.  Auch  seine  Motetten  vermögen  das  heute 
immer  noch  verbreitete  Axiom  von  der  kurzen  Lebens- 
kraft  guter  Musik  kräftig  zu  widerlegen.  -  Doch  aber  hat 
er  in  seiner  Zeit,  ähnlich  wie  Ockeghem,  verhältnismäßig 
bald  anderen  Größen  Platz  machen  müssen. 

Sein  nächster  Nachfolger  ist  allerdings  ein  Motetten- 
komponist, der  zuweilen  das  Höchste  geleistet  hat,  was 
die  Gattung  überhaupt  erlaubt:  Josquin  de  Pros,  j,  d«  Pr^t 
Noch  mehr  als  für  die  Messe  ist  er  mit  seinem  Tempe- 
rament, seinem  Blick  für  die  einzelnen  Bilder  und  Be- 
griffe im  Text  für  die  Motette  wichtig  geworden,  er  hat 
ihren  AusdrucJusbedarf  entschieden  gesteigert  Seit  Roch- 
litz  sind  deshalb  Josquins  Motetten  in  den  Neudrucken 
immer  wieder,  verhältnismäßig  am  meisten  von  Commer, 
aber' doch  noch  nicht  genügend  und  nicht  durchweg  mit 
glücklicher  Auswahl  berücksichtigt  worden.  So  gehört  die 
von  Maldeghem  gebrachte  neunstimmige  Motette:  Cum 
sancto  spiritu  und  auch  die  Antiphone:  Missus  est  Gabriel 
Angelus,  obwohl  sie  Ambros  lobt,  zu  den  unbedeutenderen, 
fast  nur  stilistisch  interessierenden  Stücken.  Viel  höher 
stehen  die  in  Holland  heute  wieder  bekannten  Motetten: 
Tu  pauperum  refugium  und  0  virgo  genetrix.  Die  Perle 
Josquinscher  Neudrucke  ist  das  (ebenfalls  von  Maldeghem 
mitgeteilte)  vierstimmige  Ave  Maria,  einer  von  vielen 
Sätzen,  die  Josquin  über  diesen  Text  geschrieben  hat, 
aber  unter  ihnen  derjenige,  in  dem  seine  ganze  Meister- 
schaft zusammengedrängt  ist,  der  mit  seiner  himmlischen 
Anmut  und  Unschuld  zum  Lieben  zwingt.  Die  Text- 
abschnitte Ave  Maria  und  gratia  plena  tragen  die  vier 
Stimmen  zunächst  einzeln  und  in  so  schönen,  kindlich 
rührenden  und  doch  auch  hoheitlichen  Melodien  vor, 
daß  niemand  die  Ableitung  von  Gregorianischer  Quelle 
ahnt  Vom  Domine  tecum  ab  ziehen  sie  paarweise, 
auch  zu  dreien  streng  kanonisch  hin,  aber  nichts  kann 
natürlicher  und  einfacher  klingen  als  diese  Kanons.  Bei 
den   Worten   Maria  plena   gratia   coelestia,    terrestria, 


-^     454     ^ 

mundum  replens  laetitia  sammelt  sich  der  ganze  Chor 
zum  erstenmal  in  einen  schlichten  ruhigen,  homophonen 
Satz.  Noch  dreimal:  hei  verum  Solem  usw.^  heim  Ave 
Vera  virginitas  und  bei  den  Schlußworten:  0  mater  Dei, 
memento  mei,  Amen!  kommen  solche  kunstlos  harmoni- 
sierte Episoden,  und  allemal  sind  sie.  die  Höhepunkte 
der  Empfindung.  Elementar  bricht  an  diesen  Stellen 
die  Herzenswärme, mit  der  Josquin  betet«  durch,  gerade- 
zu fortreißend  bei  >Ave  vera  virginitasc,  wo  ungerader 
Rhythmus  eintritt,  die  Verehrung  sich  zur  Begeisterung 
steigert  Aber  auch  die  zu  diesen  Episoden  hinführen- 
den, streng  stilisierten  Hauptsätze  sprechen  so  fesselnd 
und  eindringlich,  daß  jede  Analyse  dieser  Komposition 
zur  Schwärmerei  werden  muß.  Wenn  irgendwo,  so 
kanil  man  bei  ihm  von  einem  musikalischen  Raphael 
reden  und  nur  diel  von  der  Musik  nicht  wegzudisputie- 
renden Ansprüche  an  Spezialbildung  hindern  es,  daß 
sie  so  weltbekannt  ist  wie  die  Sixtinische  Madonna. 
Daran,  daß  die  Chorvereine  ein  solches  Juwel  liegen 
lassen,  sind  die  antiquierten  Notenformen  Schuld,  an 
denen  unsere  Neudrucke  festhalten.  Nicht  jeder  Diri- 
gent weiß,  daß  die  langen  Vierviertelnoten  nur  kurz  ge- 
meint sind. 

Unter  den  Schülern  Josquins   tritt  J.  Mouton    als 
;  Motettenkomponist  dadurch  individuell  hervor,'  daß  er 

den  Stimmführungskünsten  einen ''einfachen  ausdruckst' 
vollen  Satz  vorzieht.     Petrucci  hat  ihn  in  seiner,  wich- 
tigsten Motettensammlung  (de  Corona)  mit  einundzwanzig 
Nummern  bedacht  Besonders  bedeutend  sind  seine  Oster- 
'  motetten.    Leider  fehlt  er  in  den  Neudrucken.    Dagegen 

P.  da  la  Bne.  liegen  von  Pierre  de  la  Rue ,  dem  am  meisten  bewunder- 
ten Zeitgenossen  Josquins,  über  ein  Dutzend  Motetten  in 
Partitur  (bei  Maldeghem)  vor,  also  mehr  als  Ambros  über^ 
haupt  erhalten  glaubte  und  genug  um  von  seinem  Charak- 
ter Und  meiner  Schule  ein  Bild  zu  gewinnen.  Seine  Motetten- 
kunst fesselt  besonders  durch  die  große  Menge  wie  beglei- 
teter Sologesang  wirkender  Stellen,  die  an  die  Dufaysche 
Zeit  erinnern,  aber  sie  ist  auch  von  Josquin  beeinflußt  und 


hat  von  ihm  das  Interesse  für  den  lebendigen  Ausdruck 
.  von  Einzelheiten  übernommen.  Jedoch  äußert  sichs  bei 
ihm  anders,  mehr  verstandesmäßig.  Die  Überlegung  führt 
ihn,  wie  in  der  vierstimmigen  Motette:  Gaude,  virgo 
mater  zum  Festhalten  von  Nebenmotiven,  mit  ihr 
trotzt  er  trocknen  Texten  pqetische  Wässerchen  ab.  Die 
beiden  vierstimmigen  Motetten:  Fama  malum  und  Sancta 
Maria  succurre  miseris  bringen  dafür'  die  Hauptbeispiele. 
Dort  gibt  er  von  der  Fama,  von  der  anschwellenden 
Velocitas  Gespensterbilder,  die  in  einer  Mustersaminlung 
nicht  fehlen  dürften,  hier  zeichnet  er  an  der  Stelle  in- 
tercede  pro  femin  eo  sexu  auf  femineo  die  Hilfsbedürftig- 
keit des  weiblichen  Geschlechts  mit  einem  die  ganze 
Oktave  herablaufenden  über  sechs  Takte  ausgebreiteten 
Gang  als  grenzenlos!  In  der  dreistimmigen  Trauer- 
motette Cum  coelum  mutatur  spielt  er  bei  terra  move- 
bat  durch  Takte  lang  hin-  und  herrückende,  in  Sequen- 
.  zen  weiter  geschobene  Sekunden  und  durch  Variationen 
dieses  Motivs  bis  zum  Bänglichen  auf  das  Erdbeben  an. 
Das  ist  de  la  Rues  Art  in  der  Motette  Josquin  zu 
variieren.  Daß  ihm  dessen  leichte  Fantasie  abgeht, 
zeigt  sich  hie  und  da  an  dem  Nebeneinander  von  melo- 
disch blühenden  und  trocknen,  mechanischen  Stellen. 
Aber  er  weiß  letztere  günstig  zu  beleuchten,  bringt  sie 
als  unbegleitete  Solostimmen  zu  frappanten  Gehörwir- 
kungen  oder  fesselt  durch  motivische  Verschlingungen 
des  vollen  Satzes.  Wie  er  die  Technik  beherrscht, 
zeigt  am  imposantesten  die  sechsstimmige  Motette:  Ave 
Sanctissima  Maria  mit  dem  dreifachen  Kanon,  der  so 
einfach  und  natürlich  dahinfließt.  Daß  er  eine  eigene, 
herbe  aber  reiche  Natur  ist,  äußert  sich  in  seiner  Nei- 
gung zu  breiten  Rhythmen,  zur  Würde  und  Gravität,  in 
der  Sicherheit  mit  der  er  für  jedweden  Text  die  dem 
Inhalt  und  der  Stimmung  gerechte  Melodie  findet.  Eins 
der  schönsten  Beispiele  dafür  ist  der  Rlagegesang  mit 
dem  die  Jonathanmotette:  Doleo  super  te  beginnt  Um 
des  richtigen  Ausdrucks  willen  scheut  er  keine  Kühnheit. 
Die  sechsstiromige  Motette:   Pius  dolor  gibt  dafür  den 


— f^     456     ♦— 

Hauptbeleg,  sie  ist  in  ihrer  lapidaren  Melodik,  in  der  ehernen 
Rühe  der  Harmonien,  aus  der  die  einzelnen  Stimmen  so 
bedeutungsvoll  und  feierlich  herausdeklamieren,  in  der 
klaren  Zäsierung  und  der  einfachen  Gewalt  der  Abschlüsse 
ein  Stück,  wie  es  nur  la  Rue  schreiben  konnte,  dasjenige 
unter  den  Neudrucken,  das  die  Stelle,  die  ihm  in  der 
Motette  gebührt,  am  sichersten  klar  machen  muß. 

Eine  andere  Größe  aus  dem  Josquinschen  Kreise,  der 
lange  Zeit  für  einen  Deutschen  gehaltene  Niederländer 
E.  Iiaao.  Heinrich  Isaac,  ist  unlängst  durch  die  Partiturausgabe 
des  ersten  und  zweiten  Teils  seines  Choralis  Constantinus, 
mit  der  die  Denkmäler  der  Tonkunst  in  Österreich  eine 
Gesamtausgabe  seiner  Werke  eröffnet  haben*),  in  den 
Vordergrund  der  Vertreter  alter  Motettenkunst  gerückt 
worden.  Dieser  Chorahs  Constantinus  bringt  zum  erstenmal 
den  vollständigen  Jahresbedarf  von  Introiten,  Gradualien, 
Kommunionen  und  sonstigen  das  sonntägliche  Ordinarium^ 
vervollständigenden  Einleitungs-,  Zwischen-  und  Schluß- 
sätzen im  mehrstimmigen  Satze.  Diese  im  Text  bei  jedem 
Gottesdienst  wechselnden  Gebete  und  Danksagungen  waren 
bis  dahin  nicht  immer,  aber  noch  häufig  im  einstimmigen 
Ghoralton  gesungen  worden,  Isaac  versuchte  es,  sie  samt 
und  sonders  für  den  Gebrauch  der  Konstanzer  Liturgie  — 
das  steht  seit  4  909  fest  —  in  die  Formen  der  neuen, 
höheren  Kunst  zu  kleiden  und  entfaltete  damit  eine  Frucht- 
barkeit zunächst  in  der  Motette,  die  auf  das  »de  tempore«- 
System  —  d.  h.  die  Forderung,  daß  jeder  Sonntag,  mit 
Ausnahme  der  Hauptsätze  der  Messe,  seine  eignen  Gesänge 
haben  müsse  —  gestützt,  durch  Partikularismus  und  Lang- 
samkeit von  Verkehr  und  Handel  gefördert,  eine  der  er- 
staunlichsten Eigenheiten  der  älteren  kirchlichen  Kompo- 
sition ist.  Sie  läßt  den  Fleiß,  den  die  Messenkomposition 
bezeugt,  weit  hinter  sich.  Eine  gute  Messe  konnte  im 
Jahre  so  und  so  oft  wiederholt  werden,  ein  gleich  guter 
Introitus  oder  ein  Graduale,  bei  den  Protestanten  ein 
geistliches  Konzert,  eine  Kantate  dagegen  nicht. 

*)  Denkmäler  der  Tonkunst  in  Österreich,  Y  *  und  X\l  K 


Isaac  ist  mit  dem  kleinen  innigen  Lied  »Innsbruck,  ich 
muß  dich  lassen«  (Nun  ruhen  alle  Wälder)  schon  früher 
der  populärste  Niederländer  gewesen.  Die  Volkstümlichkeit 
kann  durch  seine  Motetten  nicht  gesteigert  werden,  aber 
wohl  der  Respekt  vor  seiner  Meisterschaft.  Sie  äußert  sich 
in  einer  großen  Mannigfaltigkeit  der  Formhehandlung  undl 
in  dem  Reichti^m  persönlicher  Züge  im  Textausdruck.  Nach 
der  ersten  Seite  hat  Isaac  kaum  seinesgleichen  in  der 
Freiheit  den  Satzregeln  und  dem  Tonmaterial  gegenüber 
und  in  der  Sicherheit  und  Fülle  sinnlicher  Wirkung.  Mit 
dem  cantus  firmus  wechseln  die  Stimmen  der  Isaacschen 
Motette  ähnlich  lebendig,  rasch  und  bunt  wie  die  Instru- 
mente der  Haydnschen  Symphonie  mit  dem  Solospiel;  bald 
ist  er  hier,  bald  da,  nach  wenigen  Takten  ändert  er  den 
Platz,  ein  Tenorvorrecht  gibt  es  nicht.  Auch  von  seiner 
Doppelnatur  als  bloße  mechanische,' technische  Satzstütze 
und  als  melodische  Quelle  macht  Isaac  einen  ungewöhnlich 
reichen  Gebrauch.  Seine  eigentUche  Polyphonie  legt  mehr 
Wert  auf  Anregung  als  auf  strenge  Durchführung;  die 
Stimmen  folgen  einander  mit  kanonischen  Einslitzen,  aber 
nach  der  vierten  Note  schon  geht  jede  ihren  eignen  Weg, 
der  Satz  ist  immer  kunstvoll,  selten  künstlich,  das  Trachten 
Isaacs  geht  dahin,  Hauptmotive  einzuprägen.  Vierstimmigkeit 
ist  die  Norm,  liturgischer  Sologesang  leitet  die  Abschnitte 
ein.  Hat  aber  Isaac  die  vier  Stimmen  einmal  angesetzt,  so 
hält  er  sie  ziemhch  kompakt  zusammen  und  kümmert  sich 
wenig,  um  das  koloristische  Kleinlebep.  Dafür  wirkt  er  um 
so  sicherer  mit  großen  Kontrasten.  Seine  bicinia  kommen 
immer  zur  rechten  Zeit  und  haben  auch  an  sich  viel  zu  sagen, 
und  wenn  er  hie  und  da  den  vierstimmigen  Chor  episodisch 
zum  sechsstimmigen  erweitert,  klingt  es  als  träte  ein  Doppel- 
chor in  Aktion.  In  der  sechsstimmigen  Motette,  von  der  die 
Proben  noch  ausstehen,  entfaltet  er  seine  Hauptstärke. 

Geistig  fesseln  die  Motetten  des  GhoraHs  Constantinus 
den  modernen  Hörer  am  stärksten  durch  eine  Anzahl  von 
Stellen,  die  jenen  liebenswürdigen  Realismus,  jene  Naivi- 
tät äußern,  die  der  niederländischen  Kunst  überhaupt, 
nicht  bloß  der  Musik,  eigen  sind.  Jos  quin  ist  an  solchen 


--^'     458     ♦— 

Zügen,  zwar  nicht  in  den  Motetten,  aber  in  seinen  Messen, 
viel  reicher;  hei  Isaac  zeigen  sie  den  Zusammenhang  mit 
dem  Volkslehen  deutlicher,  sind  urwüchsiger,  nationaler 
und  wirken  daher  außerordentlich  stark.  In  der  Musik  zum 
Trinitatisfest  kommt  einer  in  der  Mitte  der  Prosa  zu  den 
Worten  »Nunc  omnis  vox  et  hngua  fateantur«.  Da  werden 
auf  einmal  die  Bässe  mit  Sequenzen  eines  Nebenmotivs 
lebendig  und  reißen  den  übrigen  Chor  in  einen  neuen, 
unerwarteten,  nur  in  der  Freude  am  Klang  und  Sang  be- 
gründeten Ton  hinein.  Im  Introitus  zum  ersteü  Sonntag 
nach  Trinitatis  nimmt  er  aus  dem  Thema,  das  er  für:  >in 
die  damavi  et  nocte«  erfunden  hat,  die  Quarte,  mit  der 
das  damavi  einsetzt,  heraus  und  läßt  sie  die  beiden  Mittel- 
stimmen in  knappster  Engführung  je  viermal  wiederholen. 
Ähnlich  ruht  im  Introitus  zum  nächsten  Sonntag  bei  »Do- 
minus firmamentum  \neum«  die  ganze  Harmonie  sechs 
Takte  lang  auf  dem  Dmoll-Akkord.  Bei  einer  andern 
Gelegenheit  läßt  er  auf  »psaJlam«  ein  Paukenmotiv  durch 
die  Stimmen  gehen.  Das  ist  ein  Hauch  vom  Geist  der 
flandrischen  Malerschule ,  aber  Isaac  ist  unendlich  weit 
davon  entfernt,  ihm  den  kirchlichen  Charakter  seiner 
Motetten  zu  opfern.  Deren  Grundzug  ist  vielmehr  ernste, 
gesetzte  Andacht.  Ihre  dunkle  Feierlichkeit  erinnert  an 
gotische  Dome,  ihr  Platz  ist  der  Gottesdienst,  nicht  das 
geistliche  Konzert,  für  das  sie  zu  gleichmäßig  und  mo- 
noton sind*).  Ähnlich  wie  mit  Isaac  verhält  es  sich  in  dieser 
A.  Bromeli  Beziehung  mit  Ant.Brumel.  Seine  Motetten  haben  manche 
interessante  Episoden,  vorwiegend  sind  sie  Kunstaxbeit. 
An  der  Satztechnik  der  niederländischen  Motette  hat 
der  weitere  Verlauf  des  4  6.  Jahrhunderts  wenig  geändert. 
Die  Stimmen,  kanonisch  oder  frei,  in  sinnvollen,  an  sich 
verständhchen  und  sprechenden  Melodien  zu  führen, 
bleibt  das  oberste  Gesetz,  und  ihm  zu  Liebe  halten  sich 
die  eigentlichen  Niederländer  von  der  Pflege  der  Mehr- 
chörigkeit,  die  ja  durch  ihren  Ockeghem  und  ihren  Jos- 

*)  Einige  nicht  zum  Ghoralis  Gonstantlnos  gehörige  Motetten 
Isaacs  bringt  der  5.  Band  der  Musikgeschichte  von  Ambros. 


— ♦     459     -*>— 

quin  —  die  24 stimmige  Motette:  Deus  in  adjatoriu^m  — 
zuerst  versucht  worden  war,  ziemlich  fern.  Sie  reizt 
sie  erst,  wenn  sie  der  Heimatluft  entrückt  sind.  Gom- 
berts  sechsstimmiges  Ave  Maria,  Goudimels  schönes 
dreichöriges  "Salve  Regina  gehören  unter  die  wenigen 
Ausnähmen.  Farbenglanz  gilt  ihnen  wenig,  kunstreiche, 
beziehungsvöUe  Zeichnung  alles,  und  als  Vertreter  der 
natürlichen  Ordnung  in  der  Stimmenbehandlung  sind 
und  bleiben  sie  Muster,  auf  die  namentlich  die  durch 
kistrumentale  Einflüsse  irregeleitete  Gegenwart  mit  allem 
Nachdruck  hingewiesen  werden  muß. 

Anders  verhält  es  sich  mit  dem  seelischen  Gehalt 
der  niederländischen  Motettenarbeit  in  der  folgenden 
Zeit,  mit  der  Frage  ob  und  wieviel  in  ihr  das  Wort 
durch  den  Ton  gewinnt?  Da  trifft  man  eine  ganze 
Klasse  von  Motetten,  bei  denen  außer  der  vollendeten 
Handwerksfertigkeit  nicht  viel  übrig  bleibt,  das  musika- 
lische Priestertum  sich  auf  das  äußerlich  Notwendigste 
beschränkt.  Das  sind  die  Heiligenmotetten.*  Ihr  Durch- 
schnitt macht  um  die  Mitte  des  4  6.  Jahrhunderts  den 
Eindruck  als  sei  die  geistige  und  religiöse  Kraft  der 
Musiker  geschwächt,  wenn  nicht  gebrochen.  Nament- 
lich an  der  physiognomielosen,  auf  bequemsten  Sekun- 
dentritt beschränkten  Thematik  zeigt  sich  die  Schwäche. 
Unter  den  Gründen  für  diese  Erscheinung  liegt  es  nahe 
die  Texte  selbst  mit  heranzuziehen.  Sie  sind  oft  ab- 
stoßend inhaltlos  und  bieten  der  Fantasie  und  der 
Stimmung  fast  nur  Titulaturen.  Doch  haben  einer- 
seits die  Meister  der  a  capella-Zeit  dieses  Hindernis 
zu  häufig  glücklich  überwunden,  als  daß  man  ihm  in 
diesem  Falle  eine  Bedeutung  beilegen  dürfte,  anderer- 
seits erstreckt  sich  die  Mattigkeit  des  Tons  auch  auf 
gute  Texte,  nicht  bloß  solche  zu  Ehren  von  Heiligen 
und  Märtyrern,  sondern  auch  auf  sehr  viele  Marien- 
dichtungen. Eine  wirkliche  Hauptursache  für  dieses 
Versagen  im  Ausdruck  darf  in  der  Frische  gesucht  wer- 
den, mit  der  sich  die  >  konfessionelle  Spaltung  der  Zeit 
geltend   machte.      Doch   haben   ersichtlich   auch   neue 


musikalische  Strömungen  auf  die  Motettenkraft  der  Nie- 
derländer zunächst  lähmend  und  verwirrend  eingewirkt 
Die  wichtigste  geht  abermals  vom  Lied  aus,  das  um 
die  Mitte  des  4  6.  Jahrhunderts  in  den  Niederlanden  in 
seine  höchste  Blütezeit  eintritt  Seine  ersten  SpureQ  in 
"der  großen  Motette  sind  entstellend.     An   den  Marsch- 

Martelsere.  rhythmen  von  Martelaeres  fünf  stimmigem:  In  nomine 
Jesu  zeigt  sich  das  sehr  deutlich*).  Später  aber  erfassen 
die  Meister  den  wesentlichen  Vorzug  der  Volksmusik, 
ihre  herzhafte  Melodik  und  übertragen  sie  in  die  große 
Form.  In  der  zweiten  Hälfte  des  Jahrhunderts,  zum 
Teil  schon  früher,  bürgert  sich  in  der  mehrteiligen 
Motette  infolgedessen  eine  neue  Th,ematik  ein,  die 
größere  Intervalle  bevorzugt  und  sie  zu  eigentümlichen, 
die  Variationslust  reizenden  Motiven  zusammenstellt 
Auch  Refrainformen  und  Schlußsteigerungen  sieht  die 
große  Motette  jetzt  dem  Liede  ab.  Die  dramatischen 
Tendenzen  der  Zeit  unterstützen  dieses  Streben  nach 
Plastik  und  Belebung  des  Ausdrucks.     Leibhaftig  und 

M,  Pipelaere.  im  vollen  Umfang  treten  sie  in  Math.  Pipelaeres  sie- 
benstimmigem Memorare,  mater  Christi,  einem  am 
Tage  der  sieben  Schmerzen  zu  singenden,  im  Text  das 
Stabat  mater  umschreibenden  Marienhymnus  vor.  Nicht 
bloß  daß  die  Stimmen  persönlich  betitelt  sind  (4.  Sopran 
als  primus  doloro,  2.  Sopran  als  secundus  doloro  usw.), 
sie  lösen  sich  auch  in  einer  ganz  ungewöhnlich  selb- 
ständigen Art,  jede  einzeln  aus  dem  Ensemble  los  und 
bringen  ihre  Individualität  dramatisch  zur  Geltung  und 
selbst  wenn  sie  alle  sieben  zusammensingen,  so  ge- 
schieht das  in  neuen  rhythmischen  Gruppierungen  und 
mit  ungewöhnlich  rauschendem  Chorklang.  Andere  Mo- 
tetten beschränken  das   dramatische  Element  auf  ein- 

L.  de  XoAte.  zelne  Deklamationsstellen.  *  Lambertus  de  Monte  gibt 
im  Anfang  seiner  fünf  stimmigen  Lambertusmotette:  Mag- 
num  triumphum  davon  eine  sehr  wirksame  Probe.    Der 


*)  Dieses  und  die  folgenden  Beispiele  sind  in  der  Samm- 
lung Maldeghems  zu  finden. 


Name  des  Heiligen  wixd  auf  Dreiklangmotiven  höher 
und  höher  gerückt,  die  Anrufung  erhält  den  Charakter 
eines  pathetischen,  inbrünstigen  Gebets,  die  Zeremonie 
wird  zur  naturgetreuen,  Seelennot  lebenswahr  und  dring- 
lich darstellenden  Szene. 

Unter  den  Vertretern  jener  späteren  niederländischen 
Motette,  die  den  Josquinschen  Maßstab  wieder  verträgt, 
sind  heute  J.  de  Berchem,  Th.  Cr^quillon,  J.  Richa-  J.  deBarohem, 
fort,'  A.  Pevernage,  F.  Säle  und  E.  de  Cauroy  mit  Th,  Cr^uillon, 
einer  kleineren  Anzahl  von  Partituren  bedacht.    Daraus    J,  Biohafort, 
wären  von  Berchem  die  Weihnachtsmotette:  Noe,  Noe,  A.  Peyernage^ 
hodie  Salvator  natus  est  und  die  Motetten :   Ecclesiam      F.  Säle, 
tuam  Dens,  0  vos  qui  transitis  und  Veni  sancte-  Spiritus   E.  de  Cauroy. 
deswegen  hervorzuheben,  weil  sie  den  Komponisten  als  s 
eine  gravitätische,  im  Reichtum  und  Charakter  der  Melo- 
dien in  ältere  Zeit  zurückweisende  Individualität  zeigen. 
Mit  den  Künsten  der  Nachahmungen  schaltet  er  sparsam, 
aber  des  Effektes  sicher.     Von  Cr 4 quill on  empfiehlt 
sich  für  das  Konzert  das  fünfstimmige  Stück  aus  dem 
Hohenlied:   Nigra  sum  wegen  des  fremilartig  belebten, 
nach  dem  Orient  blickenden  Tons.    Von  Richa  fort  ist 
die  bedeutendste  Motette  die  Emendemus,  in  melius,  der 
schwer  gedrückte  Vortrag  des  Peccavimus,  des  Sünden- 
bekenntnisses  gibt   ihr   ihren   Wert.      A.   Pevernage s 
fünfstimmiges  Benedictio   et  claritas  gehört   durch  die 
regelmäßige  Wiederkehr  eines  Hauptthemas  zu  den  Mo- 
tetten,   die    an   den  Aufbau    der   Liedform    anknüpfen. 
Von  Säle  verdient  die  fünfstimmige  Antiphone  Asperges 
me,  eine  im'  ganzen  an  Isaac  anklingende  Komposition, 
wegen  der  geschickten  Wortwiederholungen  Beachtung. 
Bei  £.  deCauroy  handelt  es  sich  um  eine  Anzahl  vor- 
züglicher Weihnachtsmotetten  (in  Experts  Sammlung). 

Als  größter  Meister  dieser  Niederländergruppe  ist 
Jacobus  Clemens  (non  Papa)  durch  die  42  Motetten  J.  Clemeni. 
bekannt,  die  Commer  in  Partitur  veröffentlicht  hat. 
Unter  ihnen  sind  der  Einbürgerung  durchs  Kon- 
zert das  fünfstimmige  Weihnachtsstück  Angelus  ad 
Pastores  und  die  Marienbitte:    0  Maria,  vernans  rosa 


am  meisten  darum  wert,  weil  sie  ein  Stück  Motetten- 
geschichte, den  Übergang  von  den  Niederländern  zu 
Palestrina,  beleuchten.  Maldeghem  bringt  mit  dem 
fünfstimmigen  »Ave  verum  corpus«  einen  Beitrag  des 
Clemens,  der  die  neue  Thematik  der  Niederländer  sehr 
deutlich  veranschaulicht.  Das  *  Thema  K  a  F  7  ist  für 
die  Zeit  von  4  550  charakteristisch. 

Daß  der  ganzen  Schule  auch  das  letzte,  man  kann 
sagen  entscheidende  Merkmal  der  Größe,  die  Menge  be- 
deutender Individualitäten  nicht  fehlt,  wird  die  weitere 
Editionsarbeit  allmählich  allgemein  klar  zu  machen  haben. 
Einen  iätankenswerten  Schritt  hat  für  diese  Aufgabe 
Maldeghem  durch  reichere  Motettenveröftentlichungen 
J.  de  Gleves  und  J.  de  Kerles  getan. 

Ji  de  Kerle.  Von  de  Kerle  erwartet  man  nach  seinen  Messen 

auch  bedeutende  Motetten.  Hie  und  da,  z.  B.  im  zweiten 
und  dritten  Teil  der  fünfstimmigen  Motette  Egressus  Jesus, 
hat  ihn  die  Haltlosigkeit  des  Textes,  in  der  fünfstimmigen 
Motette  Similitudo  quattuor  animalium,  dessen  für  den 
Motettenrahmen  zu  große  Fantasie  verhindert,  diesen 
Erwartungen  zu  entsprechen.  Er  hilft  sich  in  solchen 
Fällen  mit  Kunst  und  äußerer  Beweglichkeit,  läßt  aber 
trotzdem  einen  Meister  merken,  der  jedes  Bild  eigen 
und  groß  anzusetzen  weiß.  Ihn  rückhaltlos  zu  bewun- 
dem, zwingt  das  fünfstimmige  Venite  ad  me,  omnes  qui 
usw.  durch  den  ungezwungenen,  vollen  Ausdruck  des 
Mitleidens,  noch  mehr  die  fünfstimmige  Stephansmotette 
Cum  autem  esset  Stephanus  durch  ihren  zweiten  Teil,  wo 
die  Begeisterung,  mit  der  der  Märtyrer  den  Himmel  sich 
öffnen  sieht  in  einem  ganz  merkwürdig  zarten  und  edlen 
Ton  wiedergegeben  ist. 

Ji  de  Oleye.  Bei  J.  de  Cleve  stehen  die  Motetten  beträchtlich  über 

den  Messen,  weil  sie  sich  zu  einer  viel  freieren  Kunst 
bekennen  als  diese.  Auch  sie  sind  reich  an  Meisterstücken 
der  Satztechnik,  namentlich  an  kanonischen,  aber  frei 
von  der  Übertreibung  dieses  Kunstmittels  und  ihr  Schwer- 
punkt liegt  im  Poetischen,  im  Erfassen  und  Auslegen  des 
Textes.  Geringeren  Wert  haben  die  fünstinimigen  Marien- 


an  tiphone:  Regina  coeli,  die  fünfstimmige  Caecilienmotette 
Gaudeamus  omnes  in  Domino,  die  fünfstimmige  Johannes* 
motette:  Inter  natos  mulierum.  Ihnen  fehlt  ein  aus- 
geprägter Charakter,  der  letzteü,  weil  der  Text  keinen 
hat,  der  zweiten,  weil  der  Komponist  am'  Schluß  im  Aus- 
druck der  Freude  originell  sein  wollte,  der  ersten,  weil 
sie  unter  der  Tradition  der  thematisch  matten  Zeit  ge- 
schrieben ist.  Im  ersten  Teil  nähert  sich  auch  die  vier- 
stimmige Motette:  In  nomine  Jesu  omne  genu  flectatur 
dieser  Gruppe,  im  zweiten  wird  sie  durch  den  Ernst  der 
phrygischen  Schlüsse  bedeutend.  Die  anderen  erbringen 
alle  den  Beweis,  daß  die  Wortfülyrer  der  italienischen 
Musikrenaissance  ungerecht  waren,  als  sie  der  poly- 
phonen Vokalmusik  die  Fähigkeit  der  Seelenmalerei  ab- 
sprachen, sie  stellen  ihrem  Autor  und  der  religiösen 
Kunst  seiner  Zeit  das  rühmlichste  Zeugnis  aus.  Jede 
prägt  einen  eigenen  Zug  aus  dem  Gebiet  christlicher 
Vorstellungen  und  Empfindungen,  oder  aus  dem  Gebiet 
menschlichen  Innenlebens  überhaupt,  wundervoll,  er- 
greifend und  in  einer  de  Cleve  persönlich  zugehörigen 
Weise  aus.  Am  deutlichsten  äußert  sich  der  individuelle 
Stil  des  Komponisten  in  den  ungewöhnlichen  häufigen 
Wiederholungen  von  Worten  und  kleinen  Textabschnitten. 
Sie  fließen  aus  seinem .  Hang  zum  Schwärmerischen. 
Das  belegt  am  klarsten  die  Marienantiphone  Alma  Re- 
demptoris  mater,  bei  der  er  auf  dem  Anfangswort  zwölf 
Takte  lang  verweilt.  Um  so  bedeutender  tritt  dann,  durch 
die  motivische  Betonung  gehoben,  das  Subjecit  redemp- 
toris  mater  ein.  Bei  Gleve  findet  man  Muster  von  Heiligen- 
motetten. Den  heiligen  Andreas  hat  er  über  den  gleichen 
Text  Doctor  bonus  usw.  zweimal:  fünfstimmig  und  vier- 
stimmig besungen  und  besonders  in  der  vierstimmigen 
Andreasmotette  gezeigt,  wie  ein  echter  Künstler  eine 
solche  Aufgabe  lösen  muß.  Die  Gestalt  des  Märtyrers 
bleibt  bis  nahe  am  Schluß  der  Komposition  im  Hinter^ 
grund  und  tritt  erst  bei  den  Worten  der  Kreuzbegrüßung 
Salve  crux  mächtig  hervor.  Bis  dahin  spricht  ein  Be- 
trachter  seines    Wesens   und    seiner   Taten    aus    dem 


\ 


—♦     464      ♦— 

späteren  Jahrtausend  Mitleid,  Dank  und  Freude  aus  be- 
wegtem und  ergriffenem  Herzen  aus.  Die  vierstimmige 
Philippsmotette  Ego  sum  via  ist  ein  Paradigma  der  neuen 
Motettenthematik,  die  schöne  milde  Weise  mit  der  sie 
anfängt,  zeichnet  die  Natur  des  Gefeierten  mit  wenigen 
Noten,  ein  romantischer  Wechsel  von  Dur  und  Moll,  der, 
keine  Querstände  scheuend,  an  Philipp  de  Monte  und  an 
die  romantischen  Elemente  der  Zeit  erinnert,  führt  diese 
Absicht  weiter.  In  der  einschneidenden  Betonung  des 
>nisi<  bei  den  Worten  nemo  venit  ad  patrem  nisi  per 
me  gibt  sie  ein  Deklamationsmuster.  Die  vierstimmige 
Passions m otette :  Filiae  Jerusalem  nolite  flere  super  me,  ' 
die  die  Heilandsworte  in  einem  höheren,  geisterhaften 
Ernst  wiedergibt,  kann  als  Beispiel  *  dafür  studiert  wer- 
den, wie  die  Niederländer  der  zweiten  Hälfte  des  4  6.  Jahr-  • 
hunderts  die  neue  charaktervollere  Thematik  ausnutzten. 
Dem  Sopran  wird  beim  ersten  Einsatz  das  entscheidende 
Intervall  des  fugierten  Themas  vorenthalten,  und  erst 
beim  zweiten  gegeb.en.  Die  Worte  sed  super  vos,  die  J)is 
zu  dem  zweiten  Sopraneinsatz  aufgeschoben  worden  sind, 
erhalten  durch  diesen  Kunstgriff  eine  außerordentliche 
Wucht.  Der  zweite  Teil  der  Motette  schildert  die  Berge 
versetzende  Gewalt  des  Glaubens  auf  Grund  eines  Themas, 
das  Schwung  und  Einfachheit,  musterhaft  verbindet.  Im 
starken  Gegensatz  zu  diesem  Bilde  steht  die  fiinfstimmige 
Motette:  Tribulatio  i)t  angustia,  ein  zaghaft  «beginnendes, 
dann  wärmer  und  wärmer  aus  tiefer  Not  hervorströmendes 
Gebet.  Die  gute  Hälfte  der  Aufgabe  löst  Cleve  gewöhnlich 
durch  die  Eingangsthemen  allein.  Die  besten  findet  er, 
wenn  das  trauernde  bedrückte  Gemüt  zu  sprechen  hat. 
Obenan  steht  in  dieser  Gruppe  die  fünstimmige  Motette : 
Domine  Jesu  Christe,  weil  sie  das  Anwachsen  des  Gnaden- 
bedürfnisses im  weiteren  Verlauf  so  anschaulich  vorführt, 
einmal  durch  engste  Nachahmungen  in  Nachbarstimmen, 
dann  durch  Ausdruckssteigerung  der  kleinen  wesent- 
lichen Motive,  z.  B.  cT  c  I  e  3. :  d  c  I  f  e.  Ins  gleiche  Gebiet 
gehört  auch  die  fünfstimmige  Motette:  Domine,  cla- 
mavi  et  exaudisti  me  mit   dem  Anfang:  |  cc  |  dg  es'ä 


— ♦     465     ♦— 

der  nicht  bloß  fugenmäßig,  sondern  anch  als  Refrain 
verwendet  wird.  Sogar  im  zweiten  Teil  des  Stücks  kehrt 
er  wieder.  Es  gehören  ferner  hierher  das  als  Motette  ver- 
öffentlichte vierstimmige  Miserere,  die  vierstimmige  Fasten- 
motette: Acynva  nos  Domine  und  das  Gregem  tuam  quae- 
sumus.  Bei  dem  50.  Psalm  macht  die  klare  Scheidung  der 
beiden  Teile,  der  Druck  der  Gewissensangst  im  ersten,  die 
Wärme  der  Bitte  im  zweiten  einen  tiefen  Eindruck.  Das 
A^juva  ist  durch  den  Ausdruck  der  Stimmen  und  durch 
den  Aufbau  des  Stimmungsprozesses  ein  Hauptstück  der 
Motettenkomposition  überhaupt.  Wie  in  Tränen  flehend 
beginnt  es,  dann  spricht  es  vertrauensvoll  im  Kinderton 
und  schließt  mit  libera  nos  gehalten  und  ernst.  Die  Motette 
Gregem  tuam  ist  ein  Muster  für  den  Ausdruck  von  D^nut. 
Unter  Cleves  Motetten  freudigen  Charakters  prägt  sich  am 
festesten  die  sechsstimmige  Ostermotette:  Dum  transisset  • 

Sabbatum  ein.  Ihr  Eingangsthema  g  .  g  |  g  e  f  d  |  c .  mag 
zeigen,  wie  der  Komponist  in  solchen  Fällen  vom  Volkssinn 
und  dem  weltlichen  Lied  ausgeht. 

Ein  Menschenalter  nach  Cleve  haben  sich  die  Nieder- 
länder auch  in  der  Motette  der  Führung  begeben.  Von 
Peter  Sweelinck  existiert  nur  eine  Sammlung  von P.  Sweellnok. 
37  Stück  (Cantiones  sacrae  4  64  9),  aus  deren  Neudruck*]  ein 
Regina  Coeli  und  ein  Hodie  Christus  natus  est  weit  bekannt 
geworden  sind.  Der  fanfstimmige  Chor  singt  da  vom  Basso 
continuo  (Orgel)  begleitet,  in  einem  fröhlich,  etwas  weltlich  be- 
wegten Ton,  der  zu  der  zweiten,  der  Weihnachtsmotette,  sehr 
gut4)aßt.  Auch  Sweelinck  faßt  Weihnachten  als  Kinderfest 
und  stellt  wie  Berchem  und  andere  niederländische  und  italie- 
nische Vorfahren  und  Zeitgenossen  seine  Kompositionen  auf 
den  Boden  der  Volkskunst  Von  allen  Ecken  her  schallt  der 
alte  Weihnachtsgruß :  No&,  No^ !  Die  refrainartige  Wiederkehr 
und  die  liedartige  Haltung  der  Botschaft :  Hodie  Christus  natus 
est  verstärkt  die  gemeinverständliche  Wirkung  der  Motette. 
Kein  Wunder,  daß  sie  überall  ein  Lieblingsstück  geworden  ist. 

*)  Band  VHI    der   Veröffentiichungen    der    »Vereenigiog 
usw.«,  herausgegeben  von  Max  Seiffert. 

n,  4.  30 


Unter  den  ausländischen  von  Niederländern  gegrün- 
deten und  geförderten  Schulen  gelangte  in  der  Motette 
am  frühesten  die  römische  zur  Bedeutung.  Sie 
lockerte  und  vereinfachte  die  strengen  Regeln  des  bis- 
herigen Ghorsatzes;  dem  Recht  der  Einzelstimmen  stellt 
sie  das  der  Stimmengruppen  an  die  Seite  und  gelangt 
mit  dieser  Vermehrung  der  Ausdrucksmittel  zur  Aus- 
prägung einer  eignen  geistigen  Natur,  deren  stärkste 
Züge  Milde  und  Anmut  sind.  Die  römischen  Motetten 
gehören  mit  den  Raphaelschen  Madonnen  zusammen; 
ein  kindlich  liebenswürdiges,  weiches  Gottesvertrauen, 
das  die  freudige  Hingebung  zum  schwärmerischen  Ent- 
zücken steigern  kann,  belebt  sie,  der  Himmel,  in  den  sie 
einführen,  glänzt  in  ewiger,  sonniger  Klarheit.  Der 
Hauptvertreter  dieser  römischen  Motette  ist  von  jeher  G. 
P.  da  Palestrina  gewesen  und  wird  es  bleiben.  Doch 
sind  auch  unter  seinen  Vorläufern  genug  Komponisten, 
die  auf  praktische  Beachtung  zu  allen  Zeiten  Anspruch 
Ol  FeitA.  haben.  Als  der  erste  istCostanzo  Festa  zu  nennen,  der 
von  seinen  Landsleuten  dem  Josquin  gleichgestellt  wurde 
und  heute  noch  mit  seinem  Te  deum  in  der  Liturgie  lebt 
Von  seinen  Motetten,  die  den  niederländischen  Imitationen- 
stil mit  Falsobordonen  und  andern  altitalienischen  Satz- 
traditionen variieren,  sind  nur  zwei  kurze  Stücke:  Quam 
pulchra  es  amica  (in  Bumeys  Geschichte  d.  M.  111}  und:  Tu 
solus  qui  facis  admirabilia  (in  der  Bockschen  Sammlung) 
neugedruckt.  Nach  Stimmen  drucken  aus  Festas  Zeit  zu 
schließen,  scheinen  die  sechsstimmige  Motette:  Tribus 
miraculis  und  die  fünfstimmige:  Jerusalem  quae  occidis 
prophetas  für  seine  Hauptleistungen  gegolten  zu  haben. 
Zu  den  bedeutenderen  Vorläufern  Palestrinas  gehören 
C.  Morales,  femer  mit  ihren  Motetten  die  Spanier  Gristofano  Mora- 
Fi  Guertro,  les,  Francesco  Guerero  und  der  ältere  Joannes  Perez. 
J.  Peres.  Von  ihren  einfach  gehaltnen,  mehr  durch  Harmonien 
als  Stimmführungskunst  wirkenden,  mit  einem  ernsten 
Zug  vom  Römerton  abweichenden  Arbeiten  finden  sich 
Proben  bei  Proske,  Eslava,  reichere  in*  den  Ausgaben 
PedreUs.     Weiter   haben    in    der   Entwicklungszeit   der 


j 


467 

römischen  Schule  als  Motettenkomponisten  hervorragende 
Bedeutung  die  beiden  Niederländer  J.   Ärcadelt  und    J.  Arcadelt, 
Claudio  Goudimel.    Ihren  wenigen  neugedruckten  und    G.  Oondimel. 
bereits  erwähnten  Motetten  wären  von  Arcadelt  nur  ein 
achtstimmiges  Pater  noster  (in  Commers  Collectio  usw.), 
von  Goudimel  die  kurzen  Motetten:  Domine,  quid  multi- 
plicasti  (zuerst  bei  Burney  a.  a.  0.,  dann  u.  a.  auch  bei 
Rochlitz)   0  crux  benedicta   (Bellermann)  hinzuzufügen. 
Von  'G.  Animuccia,   der  mit  C.  Festa  unter   den  be-  Ö.  Animucoia. 
deutenden  Vorläufern  Palestrinas  die  italienische  Natio- 
nalität vertritt,  sind  wohl  Bruchstücke  aus  Messen,  aber 
keine  Motetten  in  Partitur  da.      • 

Die  Motetten  Palestrinas  selbst  liegen  gegen  zwei-  Palestrina. 
hundert  in  der  großen  Haberischen  Gesamtausgabe  seit 
Jahren  vollständig  vor,  ohne  daß  bisher  von  diesem  Schatz 
ein  reicherer  Konzertgebrauch  gemacht  worden  ist.  Diese 
Vernachlässigung  des  größten  römischen  Meisters  ist  in 
Deutschland  keine  neue  Erscheinung.  Im  4  6.  und  { 7.  Jahr- 
hundert vertraten  ihm  die  geographisch  näheren  Meister 
von  Venedig  den  Weg,  später  und  bis  auf  den  heutigen 
Tag  ist  seine  Einbürgerung  an  einer  gesanglichen  Schwie- 
rigkeit gescheitert,  an  den  Forderungen,  die  die  Pale- 
strinaschen  Chorsätze  an  die  Kunst  des  legato  stellen. 
Nur  den  Improperien,  dem  Stabat  mater  und  zwei  oder 
drei  Messen  zu  Liebe  pflegt  man  sich  ihnen  zu  unter- 
ziehen. Und  doch  sind  die  Motetten  Palestrinas  der 
lohnendste  und  derjenige  Teil  seiner  Kunst,  der  den 
modernen  Anschauungen  von  Gehalt  imd  Schönheit  a^ 
meisten  entgegenkommt.  Dieses  moderne  Element  liegt 
in  dem  Reichtum  an  Details.  Diesen  haben  sie  vor  deh 
Messen  voraus;  im  Grundton  verklärter  Andacht,  in  der 
Beweglichkeit  des  Kolorits,  insbesondere  in  der  Mehg^ 
zartester  Farben  stimmen  sie  mit  ihnen  überein.  An 
kleinen  prägnanten,  das  Hauptbild  belebenden  Bildern 
fehlt  es  keiner  dieser  Motetten,  so  verschieden  sie  soilst 
unter  einander  sind.  Die  Verschiedenheit  betrifft  die  Be- 
setzung, die  vom  vierstimmigen  bis  zum  achtstimmigen 
Chor  geht  und  den  Stil,  in  dem  die  echteste  altnieder- 

30* 


— ♦     468     ^ — 

ländische  Polyphonie  so  gut  vertreten  ist,  wie  die  Homo« 
phonie  des  Liedes.  Muster  der  ersten  Gruppe  w^ren  die 
fünfstimmige  Motette:  Beatus  Laurentios  und  die  sechs- 
stimmige: Estote  fortes  in  hello,  der  zweiten  das  bekannte: 
0  ,bone  Jesu.  Diejenigen  Motetten  Palestrinas,  die  für 
das  Konzert  in  erster  Linie  in  hetracht  kommen,  sind 
die  29  Sätze  des  Hohen  Lieds,  das  ja  auch  von  den  Nie- 
derländern ganz  oder  teilweise  sehr  häufig  und  sehr  schön 
komponiert  worden  ist  Aber  kein  Tonsetzer  hat  es  so 
lieblich  mystisch  aufgefaßt  wie  Palestrina.  Gleich  hoch 
stehen  die  Marienmotetten  Palestrinas,  voran  die  für  hohe 
Stimmen.  Außerhalb .  dieser  Gruppen  wären  vor  allem 
zu  berücksichtigen:  Accepit  Jesus  calicem,  0  magnum 
mysterium,  Viri  Galilei,  0  admirabile  commercium,  Salve 
Regina  (aus  dem  fünften,  dem  letzten  Buch  der  Mor 
tetten).  Wird  nach  einem  Seitenstück  zu  den  Imprope- 
rien,  nach  einer  Komposition  verlangt,  in  der  Palestrina 
die  Stimme  herbsten  Schmerzes  laut  werden  läßt,  so  ist 
die  Motette  Super  flumina  Babylonis  zu  wählen.  Zur 
weiteren  Orientierung  können  die  Motetten  dienen,  die'*') 
von  jeher  und  auch  in  den  für  Palestrina  ungünstigen 
Zeitläuften  von  der  päpstlichen  Kapelle  gesungen  worden 
sind:  Assumpta  est  Maria,  Ganite  tuba,  Corona  aurea, 
Cum  autem  esset  Stephanus,  Cum  complerentur,  Dere- 
linquat  impius,  Exultate  Deo,  Fratres,  ego  enim  acce^pi, 
Hie  est  beatissimus  Evangelista,  Jerusalem  cito  veniet, 
Jesus  junxit  se,  0  beata  Trinitas,  Responsum  accepit 
Simeon,  Salvatorem  es^ectamus,  Salvum  me  fac,  Sorge, 
illuminare  Jerusalem,  Surrexit  pater  bonus,  Tu  es  pastor 
ovium.  Tu  es  Petrus,  Veni  Domine. 

Neuerdings  hat  Hermann  Bäuerle  die  &2  vierstimmi- 
gen Motetten  Palestrinas  in  moderne  Rhythmen  und 
Schlüssel  umnotiert,  maßvoll  mit  Vortragszeichen  ver- 
sehen und  mit  dem  Feldgeschrei :  >Palestrina  muß  .popu- 
lärer werden«  herausgegeben. 


*)  Nach  X.  F.  Habeil,  Klrcbenmusikalisehet  Jahrbuch  1897, 
8.  67. 


469     ♦^ 

Unter  den  Nachfolgern  und  Schülern  Palestrinas  ist 
dem.  Meister  der  ältere  Nahini,  Giovanni  Maria  N.  am  0.  M.  Hanijd. 
meisten  geistesverwandt.  Er  bringt  die  kindliche  und 
doeh  verklärte  Weltanschauung,  die  eine  Spezialität  der 
römischen  Schule  ist,  am  unbefangensten  zum  Ausdruck, 
namentlich  in  seinen  Weihnachtsmotetten,  deren  schönste, 
die  auf  Baßstimmen  verzichtende,  auf  das  alte  No&  hin- 
jubelnde vierstimmige:  Hodie  Christus  natus  est  erfreu- 
licherweise ja  heute  wieder  ziemlich  bekannt  ist.  Die 
größte  Zahl  Naninischer  Neudrucke  enthält  die  Proske- 
sehe  Sammlung.  Unter  seinen  nur  in  alten  Stimmdrucken 
voThandnen  Motetten  überwiegt  der  achtstimmige  Satz 
und  die  Teilung  in  Doppelchor.  Von  dem  jüngeren,  dem 
Bernardino  Nanini  existiert  ein  zwölfstimmiges  Salve  B.  Kanini. 
Regina.  In  der  Neigung  zu  solcher  vollen  Chorbesetzung 
und  in  dem  lebendigen  Dialogisieren  der  Chöre,  beginnt 
eine  neue  Zeit  auch  in  Bom  einzuziehen.  Noch  deut- 
licher wird  ihr  Vorstoß  in  der  gelegentlichen  Beigabe  von 
Orgelstimmen. 

Am  stärksten  haben  die  Neudrucke  des  4  9.  Jahr- 
hunderts aus  dem  Gefolge  Palestrinas  L.  da  Victoria  L.  da  Victoria. 
begünstigt;  seine  Improperien,  seine  Marienklage,  die  lied- 
artigen Motetten :  0  vos  omnes  und  Jesu  dulcis  memoria 
können  für  eingebürgert  gelten.  Auf  diesen  Unterbau 
hat  dann  Ph.  Pedreli  eine  Gesamtausgabe  des  spani- 
schen Tonsetzers  gestellt,  deren  erster  Band  44  Motetten, 
39  zu  vier,  8  zu  fünf,  42  zu  sechs  und  2  zu  acht  Stim- 
men vorlegt,  vorwiegend  Marien-  und  Heiligen motetten. 
Wenn  Baini  seinem  einzigen,  schlechterdings  unvergleich- 
lichen Palestrina  auch  den  Victoria  opfert,  so  hat  ihn 
hierzu  die  Tatsache  verleitet,  daß  Victoria  iti  dem  Pale- 
strinaschen  Kreise  als  ein  vollständig  fremdes  Element 
erscheint.  Seiner  hartem  Natur  und  seiner  strengen 
Schule  ist  die  schöne  Sinnlichkeit  versagt,  welche  die 
hervorragenden  Bömer  auszeichnet.  Seine  Chorbehand- 
lung  hat  er  bei  den  Niederländern  gelernt  und  in  einzel- 
nen vierstimmigen  Motetten,  am  auffälligsten  in:  Quam 
pulchri  sunt  gressus  tui,  bietet  er  gleich  den   nächsten 


Nachfolgern  Josquins  nichts  weiter  als  geschäftige  Formal- 
musik. Aber  in  der  weit  überwiegenden  Mehrzahl  zeigen 
sie  auf  einen  Künstler  vom  Schlage  der  Gorreggio,  Rem- 
brandt,  Thoma.  Die  dunkle  Glut,  die  sie  zurückgedrängt 
durchwärmt,  schlägt  in  der  Regel  in  den  Schlußteilen, 
da  wo  das  Allelm'a  einsetzt,  hell  auf.  Die  Form  hat 
ihren  Haüptvorzug  in  klarer  Periodisierung  und  charakter- 
voller Melodi^;  ein  Kontrapunktist,  der  so  schreibt,  muß 
als  Kind  reichlich  mit  Volksmusik  getränkt  worden  sein. 
^  Auch  darin  weisen  sie  auf  die  spanische  Heimlet  des 
Komponisten,  daß  sie  Instrumentalbegleitung  verlangen 
oder  vertragen.  Die  sechs-  und  achtstimmigen  Motetten 
Victorias  wirken  auch  sämtlich  äußerlich,  als  mannig- 
faltige und  reiche  Klangbilder  stark,  von  den  vierstim- 
migen vermitteln  die  Bekanntschaft  mit  dem  Komponisten 
am  besten:  0  magnum  mysterium,  Senex  puerum  por- 
tabat,  Ne  timeas  Maria  und  Sancta  Maria  succure  mi- 
seris.  Diese  die  Madonna  im  Schmerz  besingende  Hymne 
ist  eine  der  innigsten  Kompositionen  Victorias.  Fünfzehn 
von  seinen  vierstimmigen  Motetten  liegen  seit  kurzem 
ebenfalls  in  einer  Bäuerischen  Ausgabe  (in  modemer 
Notenschrift  und  mit  Vortrags-  und  Tempobezeichnungen 
ausgestattet)  vor,  die  das  Verständnis  der  Werke  wesent-> 
lieh  erleichtert. 
Fl  Anerio.  Von  Felice  Anerio,  dem  Nachfolger  Pal^strinas  an 

St.  Peter  hat  Proske  eine  verhältnismäßig  große  Anzahl 
Motetten  herausgegeben.  Häufiger  benutzt  werden  .davon 
im  Konzert  nur  die  zwei  vierstimmigen:  Christus  f actus 
est  und  Hallelujah,  insofern  mit  Recht  als  sie  den  freund- 
lich würdigen  Typus  römischer  musica  sacra  besonders 
rein  ausprägen.  Anerios  außergewöhnliche  Bedeutung, 
seine  Stärke  im  Ausdruck  widersprechender  Stimmungen 
kennen  zu  lernen,  gibt  die  Motette:  Regnum  mundi. . . . 
contempsi  die  beste  Gelegenheit,  als  Meister  im  feierlichen 
Stil  und  vollem  Ghorklang  zeigt  ihn  das  sechsstimmige 
Adoramus  te  Christe*).    Am  Anfang  des  4  7.  Jahrhunderts 


*)  Kirchenmnsikallsches  Jahrbuch  1903. 


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gehörte  Annibale  S  t  ab ile ,  der  Kapellmeiser  des  Lateran  A.  Stabile, 
za  den  in  Deutschland  bekanntesten  Römern.  Das  Flori- 
legiqm  von  Bodenschatz  enthält  von  ihm  zwei  acht- 
stimmige Motetten:  Hi  sunt  qui  venerunt  und  Nunc  di- 
mittis,  deren  derber  Stil  an  Hammerschmidt  erinnert. 
Die  Sammlungen  des  i  9.  Jahrhunderts  haben  i  ihn  mit 
Recht  übergangen. 

Derjenige  Römer,  dessen  Kunst  noch  tiefer  als  die 
Victorias  im  niederländischen  Boden  wurzelt,  ist  der  als 
Passionskomponist  bereits  , genannte  Francesco  Su-  F.  Boriano. 
riano.  Hat  er  doch  die  Hymne  Ave  maris  Stella  nicht 
weniger  als  44  0mal  in  kanonischen  und  andern  streng 
imitatorischen  Sätzen  komponiert.  In  einer  solchen 
Schule  erwarb  er  sich  die  Kraft  des  Ausdrucks,  von  der 
auch  die  wenigen  durch  Proske  edierten  kurzen  und  so 
gut  wie  nicht  benutzten  Motetten  Zeugnis  ablegen.  Die 
Veröffentlichung  und  Einbürgerung  seiner  größeren  Mo- 
tetten würde  das  gegenwärtige  Bild  der  römischen  Schule 
wesentlich  ergänzen. 

An  Zahl  der  Neudrucke  ist  seit  kurzem  LucaMa-  L.  Harensio. 
renzio,  der  nicht  durch  Geburt  aber  durch  seine  Wirk- 
samkeit der  römischen  Schule  angehört,  dem  Victoria 
^Is  Motettenkomponist  gleichgestellt.  4  5  Nummern  aus 
dem  Jahrgang  Motetten,  die  er  4  588  drucken  ließ,  hat 
Proske,  die  übrigen  27  später  das  Kirchenmusikalische 
Jahrbuch  (4  9(f0 — 4903)  veröffentlicht.  Sie  verdienen  diese 
Auszeichnung  der  Form  nach  ohne  Frage,  denn  es  gibt 
aus  der  ganzen  Vokalperiode  wenig  Kompositionen,  die 
zugleich  so  kunstvoll  und  so  durchsichtig  sind,  wenige, 
in  denen  dem  vierstimmigen  Satz  so  mannigfache  und 
immer  schöne  Wirkungen  abgewonnen  sind.  Das  Haupt- 
mittel ist  der  Wechsel  von  einzelnen  Stimmen  oder  Stim- 
menpaaren mit  dem  vollen  Chor.  Im  Erfassen  und  Aus- 
legen des  Textes  dagegen  entspricht  Marenzio  als  Motetten- 
komponist den  Erwartungen,  die  sich  an  seinen  Namen 
knqpfen,  nicht.  Einer  Anzahl  seiner  Motetten  kann  man 
nachrühmen,  daß  sie  die  Grundstimmung  zum  klaren  und 
entschiednen  Ausdruck  bringen.    So  sind  in:  Solve  ju- 


zendentale  Tendenz  läßt  sie  kalt.  Darum  sind  die  englischen 
Motetten  des  46.  Jahrhunderts  trotz  der  tüchtigen  Arbeit, 
und  trotz  der  schlicht  wahren  menschlichen  Empfindung, 
die  sie  auszeichnet,  nicht  ins  Deutsche  übersetzt  und  die 
vortrefflichen  Neudrucke  Novellos  nicht  benutzt  worden. 
Weder  Willaert  noch  Ciprian  de  Rore  haben  übrigens 
ihre  niederländische  Herkunft  als  Motettenkomponisten 
verleugnet,  die  Mehrzahl  der  von  beiden  Komponisten 
seit  den  Zeiten  Martinis  und  Burneys  vorgelegten  Neu- 
drucke*) sind  Beiträge  zur  alten  polyphonen  Kunst,  aber 

A.  Willaert.  durch  individuelle  Züge  ausgezeichnet.  Von  Willaert 
steht  aus  dieser  Klasse  die  Katharinenhymne:  Quia  devo- 
tis  laudibus  wegen  der  begeistert  andrängenden  Schlüsse, 

C.  de  Sore.  von  de  Rore  das  fünfstimmige  Da  pacem  Domine  wegen 
des  energischen  Ausdrucks  des  Gnadenbedürfnisses  be- 
sonders hoch«  Diesen  Beter  de  Rores  treibt  eine  un- 
heimliche Furcht,  die  bei  den  Worten  Nisi  tu  Domine 
am  deutlichsten  wird.  Da  steigen  vor  der  Fantasie  die 
Schrecken  der  Ungnade  auf.  Den  neuen  venetianischen, 
den  zahlreichen  Kugeln  des  Markusdomes  entsprechen- 
den, die  antike  Antiphonie  in  dramatisch  unter  einander 
verkehrenden  Doppelchören  wieder  belebenden  Stil,  den 
WiUaert  in  Aufnahme  brachte,  muß  man  aik  seinen  be* 
reits  erwähnten  Magnificats  studieren  und  bewundem, 
die  Gommer  veröffentlicht  hat.  Ähnlich  gehaltene  Mo- 
tetten, wenn  die  großen  Brände  von  4  574  und  4577  über- 
haupt welche  übrig  gelassen  haben,  sind  bis  jetzt  nicht 
herausgegeben.  Ciprian  de  Rore  würde  als  Vertreter 
des  neuen  Stils  am  glänzendsten  mit  den  achtstimmigen 
Motetten  des  bekannten  vom  Herzog  Albrecht  V.  ange- 
legten Münchner  Prachtcodex  zur  Geltung  kommen. 
0.  Porta.  Auch  von  Gostanzo  Porta  sind  hauptsächlich  nur 
Motetten  im  alten  Ghorsatz  neu  gedruckt,  daß  er  ab^ 


*)  Unter  den  nenesten  Sammelwerken,  die  venetianische 
Motettenkomponisten,  auch  solche,  die,  wie  G.  Groce,  hier  über- 
gangen sind,  bringen,  kommt  besonders  L.  Torchis  >l*arte 
mnsicale  in  Italia<  in  Betracht. 


475 


nicht  bloß  in  Italien,  sondern  auch  in  Deutschland  als 
eine  Säule  der  neuen  Kunst  angesehen  wurde,  ersieht 
man,  aus  dem  Florilegium  von  Bodenschatz,  das  eine 
achtstimmige  Motette:  Factum  est  silentium  von  ihm 
bringt.  Reichlicher  hat  zuerst  Andrea  Gabriel!  den 
mehrchörigen  Motettensatz  verwendet  In  ihm  erreicht 
die  venetianische  Kirchenmusik  zum  erstenmal  jene 
Große  und  Hoheit,  die  das  Merkmal  der  venetianischen 
Malerei  ist.  Mit  Palma  Vecchio  teilt  er  sogar  ganz  spe- 
zielle Eigenheiten  der  Gruppierung;  seine  Nebenchöre 
stehen  zu  eiüem  Hauptchor  in  demselben  harmonischen 
Verhältnis  wie  bei  jenem  die  Seitenstücke  zum  Mittelbild; 
fast  noch  mehr  als  sein  bildender  Kollege  verbindet  An- 
drea mit  der  äußern  Pracht  und  Fülle  Gehalt  und  Man- 
nigfaltigkeit des  Innern  Lebens.  Leider  sind  auch  von 
seinen  mehrchörigen  Motetten,  deren  glänzendste  die 
Quem  pastores  laudavere  ist,  keine  Neudrucke  vorhan- 
den, doch  enthüllen  die  elf  vierstimmigen  Motetten,  die 
Proske  veröffentlicht  hat,  seine  edle  Art  und  seinen  natür- 
lichen Schwung  genügend.  Besser  sind  wir  mit  mehr- 
chörigen Motetten  von  Andreas  Neffen  und  Schüler 
Giovanni  Gabrieli  in  neuer  Partiturausgabe  versehen, 
dank  der  Monographie,  die  C.  von  Winterfeld  diesem 
größten  Venetianer  vor  Monteverdi  gewidmet  und  mit 
zahlreichen  Musikbeilagen  versehen  hat*).  Von  ihnen  hat 
das  geistliche  Konzert  häufiger  einen  Messensatz:  das 
zwölfstimmige  Benedictus  qui  venit  benutzt.  Gleichen 
Anspruch  auf  Beachtung  haben  die  4  6stimmige  Motette: 
Ascendit  Deus  in  jubilo,  die  zehnstimmigen  Motetten: 
Dens  mens  ad  te  und  Domine  exaudi  orationem  meam, 
sowie  das  dreichörige  Salvator  noster.  Aber  auch  die 
ungedruckten  acht-  und  sechsstimmigen  Motetten  Ga- 
brielis  sind  Muster  edel  bewegter  Chordialoge,  Dokumente 


*)  Noch  weit  reicheres  Material  zur  Kenntnis  der  Gabrielis 
und  der  venetianischen  Motette  überhaupt,  bietet  die  der  König- 
lichen Bibliothek  zu  Berlin  gehörige,  über  130  Binde  starke 
handschriftliche  Partitnrensammlung  C.  v.  Winterfelds.. 


A.  Qftbrieli. 


0.  Gabrieli. 


476 


einer  Kunst,  deren  Erhabenheit  und  Größe  unsrer  Zeit 
aus  einer  andern,  höheren  Welt  zu  kommen  scheint.  Es 
gibt  in  der  ganzen  Kirchenmusik  keine  Arbeiten,  die  so 
mächtig  wie  diese  venetianischen  Meisterwerke  die  Fan- 
tasie ins  Wunderbare,  Oberirdische  hinaufföhren.  Dabei 
sind  sie  eigentlich  nicht  schwer  auszuführen,  sobald'  sich 
nur  der  Gesamtchor  etwas  an  die  Teilung  und  die  Selb- 
ständigkeit der  Gruppen  gewöhnt  hat. 

Schon  die  beiden  Gabrieli  haben  einer  Anzahl  ihrer 
Motetten  Instrumente  beigegeben  und  sie  als  Konzerte 
veröffentlicht.  Mit  dem  A  7.  Jahrhundert  wird  die  Vokal- 
motette auf  dem  italienischen  Boden  mehr  und  mehr 
zurückgedrängt,  und  zugleich  verwischt  sich  die  Besonder- 
heit der  Schulen.  Unter  den  Venetianem,  die  sie  weiter 
pflegen,  ist  der  in  neuen  Sammelwerken  nur  schlecht 
M.  AboU.  vertretene  M.  Asola  einer  der  populärsten  geworden;  in 
den  Städtchen  und  Dörfern  des  Pi^vegebiets  sind  seine 
Werke  noch  heute  lebendig. 

Die  italienische  Motette  hat  seit  der  Herrschaft  der 
venetianischen  Schule  an  manchen  Krisen  und  Moden 
der  dlgemeinen  musikalischen  Entwicklung  teil  genommen, 
denen  sich  die  Messe  entzog.  So  kann  man  die  vor- 
^  übergehende  Herrschaft  der  Chromatik  an  ihr  ziemlich 

genau  verfolgen.  Die  dramatischen  Bestrebungen  treten 
in  der  Motette  der  Italiener,  ähnlich  wie  bei  den  Niedeir- 
ländem  früher  auf  als  in  ihrer  Messe.  Zunächst  verdankt 
sie  ihnen  ebenfalls  viele  SteUen  bedeutender  Deklamation. 

E.  Bernabei«    Das  bekannte  Salve  Regina  des  altern  Bernabei  ist  eins 

der  schönsten  Beispiele  hierfür.    Dann  aber  führt  diese 
dramatische  Richtung  zu  einer  rein  äußerlichen  Leben- 
digkeit und  zu   einer  Verweltlichung,  von   welcher  die 
0.  Legrenii,    Motetten  Legrenzis  und   Rovettas  —  um   auf  be- 
0.  SoTetta.    kannte  Arbeiten  zu  verweisen  —  bereits  starke  Spuren 
zeigen.  Die  neapolitanische  Schule  beginnt  ihre  Motetten- 
arbeit mitten  im  Niedergang  der  Gattung  und  wie  die 
A.  8oarl%tti.    Arbeiten  eines  Meisters  von   der  Größe  A.  Sc arlattis 
zeigen ,   mit   nur   geringem   Interesse   an   der  Aufgabe. 

F.  Dnrante,    In  Motetten  wie   F.  Durantes:    Domine   Jesu   Christe 


(vierstimmig  bei  Rochlitz),  L.  Leos:  Sicat  erat  (sechzehn-      L.  Leo, 
stimmig,  Sammlmig  des  i^rmce  de  Moscawa),  in  D.  Perdz^     D«  PereS) 
Bfedia  in  nocte  (vierstimmig,  Braune)  und  Jomellis:  In     Jomolll. 
Monte  oliveti  (vierstimmig,  ebenda)  fand  sie  den  Weg  zu 
der  alten  Höhe  der  Gattung  bald  wieder.    Nur  der  Um- 
stand, daß  alle  Welt  auch  in  der  Kirche  Sologesang  mit 
Instrumentenspiel  verlangte,  hat  uns  um  eine  neue  Blüte- 
zeit der  italienischen  Chormotette  gebracht. 

In  der  Zeit  der  neuen  Kunst«  hat  Deutschland  am 
festesten  an  der  Motette  gehalten.    Auch  hier  war  sie 
eine  niederländische  Schöpfung  und  hält  sich  bis  ans 
Ende   des   iß.  Jahrhunderts    an    den    niederländischen 
Stil.    Die  frühesten  Proben  ihrer  Leistungsfähigkeit  hat 
uns   Glarean    in   Motetten    von   Adam    von   Fulda,    A«t. Fnldai 
von  Sixt  Dietrich,   Gregor  Meyer  und  Andreas    8.  XHetriohi 
Sylvanus  mitgeteilt,  Arbdten,    die  sich   im  üblichen      G.  Heyer, 
Imitationsgeleise     mit     rühmenswerter     Klarheit     und   Ai  Sylfaniii. 
Schlichtheit    bewegen.  .  Meyer   ist   aus   diesem   Grunde 
neuerdings  wieder  von  Bellermann  hervorgezogen  wor- 
dfioi.    Als  Neudrucke  liegen  vvon  dieser  niederländisch- 
deutschen Motettenkunst  Arbeiten  AI.  Agricolas  und 
Ludwig  Senfls  vor.    An  den  (wenigen  von  Maldeghem    A.  Agriool», 
herausgegebenen)  Motetten  Agricolas  ist  die  Faktur  be-       L.  Senil, 
deutender  als  der  Geist.   Als  Satzkünstler  steht  er  überall 
dadurch  hoch,  daß  seine  Stimmen  die  schwierigsten  und 
verschlungensten  Wege  leicht  und  sicher  gehen,  im  Aus- 
druck zeigt  die  Antiphonie:  Haec  dies  quam  fecit  Dominus 
in  der   Benutzung    und   Durchführung   kleiner   Neben- 
motive auf  eine  besondre,  das  innere  Feuer   fesselnd 
meisternde   Individualität.    Zur   allgemein   anerkannten 
Badeutung   gelangt  die  deutsche  Motettenschule  zuerst 
durch  Senfl,  der  in  Briefen,  Gedichten,  und  in  den  Ur- 
teilen der  Theoretiker  des  i  6.  Jahrhunderts,  ,  auch  aus- 
ländischer wie  Zacconi,  den  ersten  Meistern  des  Gebiets 
gleichgestellt  und  in  den  Sammelwerken  der  Zeit  ersieht^ 
lieh  bevorzugt  wird.    Was  von  Senfls  Motetten  durch 
Winterfeld  und  Rochlitz  bekannt  geworden  ist,  gehört  2U 
der  liedartigen  Klasse,  zu  einer,  wie  sich  Luther  ausdrückt, 


i78     ^— 

>feinen  and  lieblichen«  Kunst.  Seine  volle  Bedeutung 
wird  sich  ersV  übersehen  lassen,  wenn  die  in  den  bayri- 
schen Denkmälern  begonnene  Gesamtausgabe  seiner  Werke 
weiter  geschritten  ist.  Ihr  erster  Band  enthält  nur  eine 
Motette  großen  Stils,  die  sich  mit  den  Magnificats  und 
den  Psalmen  Senfls  vergleichen  läßt.  Das  ist  die  Kom- 
position von:  Ghriste,  qui  lux  es,  eine  Arbeit,  bei  der  die 
Größe  der  Fantasie,  die'  Wärme  und  der  Reichtum  der 
Empfindung  von  der  Meisterschaft  und  Mannich  faltigkeit 
der  Form  ganz  ablenken.  Eigentlich  ist  sie  nichts  als 
eine  lange  Choralmotette,  in  der  die  breite  Grundmelodie 
durch  alle  Stimmen  geführt  wird.  Den  Sopran,  der  an- 
fängt, umschwärmen  die  begleitenden  Stimmen  mit  einem 
wahren  Tumult  von  Freudenmotiven.  Man  sieht  sofort, 
daß  Senfl  mit  der  ganzen  Seele  bei  der  Arbeit  gewesen 
ist  Auch  im  weitern  hat  er  alles  so  ausgezeichnet  dis- 
poniert und  kontrapunktiert,  daß  jeder  Abschnitt  durch 
seinen  eignen  Charakter  den  Hörer  in  frische  Spannung 
versetzt  und  das  Interesse  sich  bis  zum  Ende  immer 
steigert.  Die  wohltuendste  Stelle  ist  der  Einsatz  des 
Precamus  sancte  domine:  Auch  die  Motette:  Colloquerunt 
Pontifices  verdient  als  Musterstück  erzählender  Chor- 
musik  hervorgehoben  zu  werden.  Sie  ist  vom  Passions- 
stil inspiriert;  der  Bericht  wird  mit  dem  Obeceifer  er- 
stattet, der  den  Deutschen  bis  zu  S.  Bach  hin  eigentüm- 
lich geblieben  ist,  die  direkte  Rede  der  hervortretenden 
Personen  feierlich  gegeben.  Aus  den  übrigen  Motetten 
des  Bandes  wird  soviel  klar,  daß  Senfl  mit  den  strengen 
Formen  der  Polyphonie  ungewöhnlich  frei  schaltet  und 
wechselt.  Bald  sind  die  Kanons  hier,  bald  da,  eine 
Künstlernatur,  die  Bequemlichkeit  und  Schematismus  nicht 
kennt,  führt  die  Zügel.  Auch  der  Freund  von  Lied  und 
Volksmusik  wird  sichtbar,  am  liebenswürdigsten  in  dem 
Bicinium,  das  wohl  als'Bruchstück  einer  verlornen  großem 
Komposition  den  Motettenteil  eröffnet:  Ego  ipse  conso- 
labor  vos.  Die  Sprachgewalt  und  die  streng  kanonische 
Führung  seines  Anfangs  erinnert  an  das  berühmte:  In- 
tellectum  tibi  dabo,  das  in  Lassos  zweitem  Bußpsalm 


(als  Duett  der  Bässe)  die  Stimme  Gottes  so  mysteriös 
verkörpert/ eine  Aufgabe  an  der  bekanntlich  alle  neueren 
Komponisten  (Mendelssohn,  Rubinstein,  Bossi  z.  B.)  ge- 
scheitert sind.  Weil  aber  dem  Text  nach  der  Herr  als 
Tröster  auftritt,  gibt  Senfl  stellenweise  den  strengen  Satz 
auf  und  läßt  die  beiden  Stimmen  kindlich  freundlich  in 
volksliedmäßigen  Terzen  dahinklingen. 

Praktische  Bedeutung  hat  von  allen  Vertretern  dieser 
niederländisch- deutschen  Schule  bisher  nur  Orlando 
Jjasso  als  Motettenkomponist  gehabt.  Schulen  sind  der  0«  Lasao« 
Sterblichkeit  viel  stärker  unterworfen  als  Persönlich- 
keiten. Als  solche,  als  eine  der  mächtigsten  und .  viel- 
seitigsten Individualitäten,  welche  die  Musikgeschichte 
kennt,  lebt  Orlando  noch  heute  nicht  blos  durch  seine 
Bußpsalmen,  durch  einzelne  Magnificats  und  Messen, 
sondern  vor  allem  sind  es  seine  Motetten,  aus  denen 
man  sich  über  den  Umfang  seiner  Begabung  und  Bil- 
dung orientieren  muß.  Denn  die  Motette  war  das  Lieb- 
lingsgebiet seiner  Tätigkeit.  Das  geht  aus  der  bloßen 
Existenz  seines  Magnum  opus  musicum  hervor,  einer 
Motettensammlung,  die  auch  in  der  Zeit,  wo  große 
Fruchtbarkeit  bei  niederen  und  hohen  Geistern  selbst- 
verständlich war,  durch  ihren  Umfang  allein  steht. 
Sie  enthält  546  zwei-  bis  zwölfstimmige  Motetten,  eine 
Ziffer,  die  aus  dienstlichen  Verhältnissen  nicht,  sondern 
nur  aus  der  Herzensneigung  zu  erklären  ist.  Es  ist  kein 
Wunder,  wenn  die  musikalische  Welt  davor  zurückschreckt 
ein  solches  Riesenwerk  studierend  zu  bewältigen,,  X.  F. 
Haberl  hat  vor  Jahren  sich  vergeblich  bemüht,  nur  ein 
Hundert  Subskribenten  für  eine  Separatausgabe  des  mag- 
num opus  zusammenzubringen;  die  große  Lassoausgabe 
hat  bis  jetzt  die  größere  Hälfte  der  in  ihm  enthaltenen 
Motetten  in  Partitur  vorgelegt.  Wer  an  sie  herantritt, 
muß  mit  der  Tatsache  vertraut  sein,  daß  die  Künstler 
der  älteren  Zeit  —  am  ärgsten  die  Poeten  —  durch- 
schnittlich viel  ungleicher  arbeiten  als  die  heutigen.  Wie 
unter  Lassos  Messen  trifft  man  deshalb  auch  unter  seinen 
Motetten  eine  nicht  gerade  kleine  Anzahl  von  trocknen 


480 


Eintagswerken.  Über  sie  hinweg  aber  wird  zweierlei  klar: 
daß  man  es  in  diesen  Motetten  mit  einem  Meister  zu  tun 
hat,  der,  ähnlich  wie  S.  Bach  für  eine  spätere  Epoche,  alles 
zusammenfaßt,  was  in  der  a  capella-Komposition  sich 
entwickelt  und  bewährt  hat,  und  daß  zweitens  diesem  Künst- 
ler an  Gewalt  der  Fantasie  kein  andrer  Musiker  der  ganzen 
Zeit,  auch  Jos  quin  und  Palestrina  nicht,  gleichkommt. 
Michelangelo  und  Rubens  sind  ihm  verwandt,  aber  ein- 
seitiger aufss  Titanische  und  Massige  gerichtet.  Die  Rezep- 
tionsföhigkeit,  die  sich  in  den  Motetten  liassos  ausspridit, 
ist  ganz  unvergleichlich.  Es  gibt  Stücke,  die,  wie  die  von 
Bodenschatz  veröffentlichte  Motette :  Confifebor  tibi  an  Pale- 
strina und  an  die  römische  Schule,  andere,  die  wie:  Estote 
ergo  misericordes  an  die  Venetianer,  und  noch  andre 
(Improperium  expectavit),  die  an  die  Weise  der  frühesten 
Niederländer  anklingen.  Aber  immer  sind  sie  in  ^ster 
Linie  Lassoisch,  durch  die  eignen  bildlichen  Wendungen, 
die  er  jedem  Texte  abgewinnt.  Madrigalenelemente  tauchen 
überall  auf,  und  doch  wird  er  nirgends  weltlich.  Er  hat 
Akzente  und  Modulationen,  die  erst  in  der  dramatischen  und 
romantischen  Musik  des  4  7.  Jahrhunderts  üblich  werden, 
sie  stören  aber  niemals  die  Harmonie  und  Natürlichkeit 
seiner  Darstellung.  Er  ist,  wenn  auch  nicht  vom  liturgischen, 
so  ganz  gewiß  vom  künstlerischen  Gesichtspunkt  der  größte 
Meister  der  älteren  Motette  neben  S.  Bach.  Seine  Zeit  hat 
ihn  als  solchen  zu  schätzen  gewußt,  Bibliotheksverzeich- 
nisse, tfüch  kleinerer  Orte,  selbst  sächsischer  Dörfer,  weisen 
das  opus  magnum  auf.  Den  heutigen  katholischen  Kirchen- 
chören gereichts  zur  Ehre,  daß  sie  sich  wieder  fleißiger 
Lasso  zuwenden.  Unsre  Dilettantenchöre  dagegen-  wagen 
sich  noch  immer  nicht  an  ihn  heran  mit  einer  bis  zu  einem 
gewissen  Grade  stichhaltigen  Entschuldigung:  Lassos  So- 
pranstimmen, zum  Teil  auch  seine  Altstimmen  wollen  ans  ' 
Prauenmund  nicht  recht  klingen.  Diesen  Schwierigkeiten 
sollte  aber  so  oder  so  begegnet  werden.  Denn  die  Mehr- 
zahl der  Lassoschen  Motetten  ist  durch  ihren  bescheidenen 
Umfang  für  das  geistliche  Konzert  sehr  geeignet,  und  ein 
kleines  Dutzend  von  ihnen  müßten  alle  die  Vereine  fest 


— -♦      481      ♦ — 

inne  haben,  die  über  die  Bedeutung  der  großen  Vokalperiode  ' 
und  über  den  Erziebungswert  des  a  capella-Gesangs  klar 
sind.  Da  käme  zuerst  das  (schon  von  Commer  veröffent- 
lichte) sechsstimmige  Pater  noster  als  Paradigma  streng 
niederländischer  Weise  in  Betracht.  Die  gregorianische 
Melodie  liegt  im  untern  Tenor,  die  andern  Stimmen  tragen 
sich  kleine  Bruchstücke  aus  ihr  nachahmend  zu  oder  er- 
gänzen sie  mit  anmutigen^  feinen  Äußerungen  der  Andacht. 
Verwandt  ist  ihr  die  Motette:  Creator  omnium  Deus,  aber 
reicher  an  subjektiven  Zügen  und  romantisch  modernen 
Tonelementen.  Den  Dramatiker  Lässo,  wie  ihn  Proske  meint, 
zeigt  am  deutÜchsten  die  Weihnachtsmotette :  Ang^lus  ad 
Pastores  mit  dem  kräftig  fröhlichen  Hallelujahschluß,  oder 
auch  das  von  heitern  Figuren  durchrollte  an  die  Madonnen 
Giov.  BeUinis.  erinnetnde  Röjgina  Coeli.  Es  liegt,  nebenbei 
bemerkt,  auch  in  einer  lisztschen  Orgeltranskription  vor. 
Eine  der  im  Stil  und  im  Gedankengang  reichsten  Motetten 
Lassos  wird  zuweilen  für  geistliche  Konzerte  benutzt,  das 
vierstimmige  (schon  von  Rochhtz  veröffentlichte)  Salve  Re- 
gina, eme  Komposition,  in  der  erhaben- rührende  und  naive 
Züge  zu  einer  ^Wunderbaren  Einheit  verschmolzen  sind,  ein 
musikalischer  Albrecht  Dürer.  Formell  interessiert  an  dem 
kleinen  Meisterwerke  besonders  die  Benutzung  von  Pausen 
und  Synkopen  an  der  Stelle:  Ad  te  suspiramus.  Auch  die 
anekdotisch  berühmte  Prozessionsmotette:  Gustate  et  videte 
gehört  zu  Lassos  wirkungsvollsten  Arbeiten.  Als  weitere 
Hauptmotetten  mögen  noch  Timor  et  tiemor,  Dixit  autem 
Maria,  Dixit  Joseph,  Tristis  est  anima  mea  und  Dominus  con- 
vertere  et  eripe  animam  meam  empfohlen  sein.  Jede  zeigt 
eine  besondere  Seite  von  des  Komponisten  Natur  und  Kunst. 
Wie  bei  Lasso  vollzieht  sich  gegen  das  Ende  des 
46.  Jahrhunderts  eine  immer  stärkere  Annäherung  an  die 
Italiener*).    Dabei  werden  in  der  Motette  die  Neuerungen 

*)  Sie  läßt  sich  buchhändlerisch  u.  a.  aus  der  von  Ad.  Sand- 
berger  (a.  a.  0.)  angeführten  Sammlung  F.  Lindners:  Oantiones 
sacrae  a  praestantissimi  Italiae  musicis,  Nürnberg  1585,  der 
1598  eine  ähnliche  von  Kaspar  Haßler  folgt,  ersehen. 

II,  i.  34 


— ♦      48«     ♦— 

» 
der  Venetianer  bevorzugt.  Die  eifersüchtige  Durchfährung 

des  gleichen  Rechts  aller  Stimmen  hört  au^  an  Stelle  der 
individuellen  tritt  die  korporative  Wirkung  in  zweierlei 
Form:  Entweder  es  wird  eine  Hauptstimme,  am  häufigsten 
der  Sopran,  von  der  andern  in  der  Betonung  einfsuih 
unterstützt,  oder  an  Stelle  der  Stimmen  imitieren  und 
konzertieren  Chöre.  Auch  in  diesen  beiden  Motettenme- 
thoden zeigt  sich  der  Riß,  der  im  4  6.  Jahrhundert  zuerst 
die  Kultur  der  Gesamtnation  in  eine  Hälfte  fürs  Yolk  und 
eine  andere  für  die  höhere  Gesellschaft  trennte.  An 
J.  Gftllu.  Jacob  G  all  US  (Handl)  lassen  sich  alle  diese  neuen  Er- 
scheinungen, seit  die  Österreicher  sämthche  Teile  seines 
opus  musicum  veröffenthcht  haben,  am  voUständigsten 
übersehen*).  Dieses  Werk  gehört  mit  seinen  374  Nummern 
an  die  Seite  von  Isaacs  Chorahs  Constantinus,  von  Lassos 
magnum  opus  musicum  und  unter  die  andern  größten 
Motettensammlungen  einzelner  Komponisten  des  4  7.  Jahr- 
hunderts. Sein  erster  Band  enthält  allein  4  03  Motetten, 
einzelne  dreiteilig  und  mehr  als  die  Hälfte  doppelchörig, 
zehn-,  zwölf-  und  sechzehnstimmige'  Stücke  dazu.  Das 
kleine:  Ecce  quomodo  moritur,  das  zuerst  am  Anfang  des 
47,  Jahrhunderts  durch  das  Gothaische  Kantionale  sieh 
allgemein  verbreitete,  ist  die  4  3.  Nummer  des  zweiten 
Bandes,  der  auch  die  drei  Motettenpassionen  des  Gallus 
enthält,  und  bleibt  auch  jetzt  noch,  wo  wir  den  Kompo- 
nisten nicht  mehr  unter  die  Kleinmeister  zählen  können, 
eine  Hauptperle  alter  geistUcher  Tonkunst.  Eine  so  lebens- 
wahre reiche  Schilderung  einer  trauernden  Seele,  die  alles 
bringt,  wodurch  ein  solcher  Zustand  ergreift  und  erhebt: 
die  Beherrschung  des  Schmerzes,  die  fließenden  Tränen, 
den  Glauben  an  ewiges  Leben  und  Wiedersehen,  gibts,  in 
dieser  Form  wenigstens,  kaum  zum  zweitenmal.  Das 
Eigentümliche  dieser  Form  liegt  in  den  Schlüssen  der 
beiden  kurzen  Teile  mit  der  Verwendung  von  Liedton  und 


*)  Denkmäler  der  Tonkunat  in  Österreich,  Jahrgang  YI^, 
XUi,  XV 1,  XXI. 


—^     483      •— 

Echo.  Die  melancholische  Saite  klingt  überhaupt  bei  GaUus 
am  stärksten,  und  in  Weihnachtsmotetten  z.  B.  steht  er 
andern  Komponisten  nach..  Das  kommt  wohl  mit  von 
seinem  äußeren  Schicksal,  das  ihn  zum  unsteten  Wan- 
dern —  man  weiß  heute  noch  nicht,  wohin  überall  — 
verurteilte.  Da  solche  Künstler  mit  Naturnotwendigkeit 
in  alle  Aufgaben  persönUche,  subjektive  und  momentane 
Eindrücke  und  Erfahrungen  passend  und  unpassend  hinein- 
tragen, ist  es  nicht  angebracht  die  Motetten  des  Gallus 
mit  dem  Maßstab  Palestrinas  zu  beurteilen.  Er  verfügt 
nicht  über  dessen  festen  Schatz  von  Andacht  und  Himmels- 
freude, fällt  auch  öfters  in  einen  weltlichen  Ton,  er  zieht 
aber  keineswegs  gegen  ihn  überall  den  kürzeren.  Sein 
Bildungskreis  ist  weiter,  und  so  oft  seine  innere  Bewegung 
sich  in  kurzen  starken  Inteijektionen  Luft  macht,  hat  er 
überhaupt  keinen  Rivalen.  Dafür  ist  gleich  die  erste 
Motette  des  opus  musicum:  Aspiciens  usw.  ein  vorzüg- 
liches Paradigma.  Wie  wird  da  gleich  am  Anfang  die 
schöne  venetianische  Antiphonie  dadurch  belebt,  daß  der 
erste  Chor  in  den  breiten  Gesang  des  zweiten  leiden, 
schaftlich  ungeduldig  sein:  Ecce,  ecce  hineinruft.  Wie 
mannigfaltig  gestaltet  Gallus  den  Wechselgesang  durch 
die  verschiedene  Metrik,  Länge  und  Stimmung  der  vor- 
und  nachgesungenen  Perioden!  Wie  ist  seine  Thematik 
bei  aller  Einfachheit  mannigfaltig  und  plastisch,  wie  reich 
sein  Satz  in  den  vier-  bis  sechsstimmigen  Motetten,  auch 
an  alter,  aber  immer  wirksam  verwendeter  niederländischer 
Kunst!  Es  wird  dank  der  Ausgabe  der  Österreicher  un- 
möglich sein,  Gallus  aus  dem  Reich  der  großen  Meister 
wieder  hinaus  zu  disputieren.  Von  seinen  kleineren  Mo- 
tetten, unter  denen  auch  einige  für  Männerchor  gesetzt 
sind  —  die  schönste:  0  magnum  mysterium  —  werden 
die  Chorvereine  mit  dem  sichersten  Erfolg  zunächst  die 
folgenden  Stücke  einführen  können:  Venite,  accendamus 
ad  montem  Domini,  Veni  Domine,  Emitte  Domine,  Laeten- 
tur  coeli,  Veni  Redemptor  gentium,  0  sapientia,  Canite 
tuba,  Obsecro  Domine,  Haec  est  dies,  Resonet  in  laudibus 
(in  dreifacher  Bearbeitung),  Vox  de  coelis,  Omnes  de  Saba 


--4      48i     ♦— 

vcnient,  Domus  pudici  pectoris.  An  der  Spitze  der  großem 
steht  die  4  6  stimmige  Laudate  Dominum  in  sanctis  ejus, 
als  eine  der  imposantesten  Motetten  im  venetianischen 
Stil.  Nach  ihr  kommen  zunächst  in  Betracht:  Quem 
vidistis  pastores,  dicite,  Quid  admiramini,  Tribus  miraculisl 
Christum  natum  und  Jerusalem  illuminare.  Als  Satz- 
künstler und  Tonmaler  glänzt  er  am  meisten  in:  Dens, 
iniqui  surrexerunt.  Zu  ihrer  erregten  Schilderung  eines 
Aufstandes  bildet  die  fromm  ruhige  Nummer:  Domine, 
ante  te  den  entschiedensten  Gegensatz.  Besonderer  Be- 
achtung wert  ist  die  Motette:  Audi  magni  maris  limbus 
wegen  ihres  didaktischen,  die  Größen  der  antiken  Welt 
vorführenden  Textes.  Sie  war  nicht  für  die  Kirche,  son- 
dern für  eine  Schulfeierlichkeit  bestimmt. 

Schwächer  sind  die  den  dritten  Teil  des  opus  musi- 
cum  eröffnenden  vierstimmigen  Lamentationen;  zum  Teil 
ist  ihre  Eintönigkeit  allerdings  beabsichtigt.  Mit  der  ersten 
Ostermotette  aber  >Haec  est  diese  steht  Gallus  sofort 
wieder  auf  sreiner  vollen  Höhe.  Sie  ist  in  ihrem  doppel- 
chörigen  Aufbau  und  dem  reichen  Leben,  das  sie  beherrscht, 
wohl  die  stattlichste  und  bedeutendste  unter  den  verhält- 
nismäßig zahlreichen  Nummern  für  Männerstimmen,  die 
in  der  zweiten  Hälfte  der  Sammlung  enthalten  sind.  Auch 
mehrere  Motetten  mit  durchgeführtem  Echo  erregen  die 
besondere  Aufmerksamkeit.  Im  Schlußband  ragen  neben 
dem  sehr  langen  Hauptstück,  dem  4  6  stimmigen  >Domine 
Dens,  exaudi«  (Nr.  56)  am  merkbarsten  die  Kirchweihmotetten 
wegen  der  Mannigfaltigkeit  der  entwickelten  Stimmungen 
hervor,  an  ihrer  Spitze  die  Nr.  38  »Fundata  esU  mit  dem 
gewaltigen  Eingangsthema.  Starke  Einlagerungen  welt- 
lichen Tones  können  bei  ihnen  nicht  überraschen,  aber 
es  bleibt  geschichtlich  beachtenswert,  daß  sie  stellen- 
weise die  Freude  in  ausgesprochen  slawischen  Rhythmen 
äußern;  am  deutlichsten  tut  das  die  Nr.  H  »In  voce 
exaltationisc. 

Von  den  weiteren  Deutschen,  die  in  Venedig  in  die 

H.  L  Haßler.  Schule  gegangen  sind,  ist  H.  L.  Haß  1er  mit  dem  Neudruck 

von  zwei  vollen  Jahrgängen  Motetten,  MB  Stück  (in  den 


-^      485      *-^ 

Denkmälern  deutscher  Torikunst)  *)  vertreten.  Auch  Haßlers 
Motetten  haben  nicht  die  hehre  Weise  der  Sätze  Pale- 
strinas,  sie  lassen  eine  unruhigere,  weltlichere  Zeit  mer- 
ken und  in  ihrem  Gefolge  einen  Rückgang  der  alten  guten 
Kantabilität.  Bei  Haßler  begegnet  man  denselben  un- 
unterbrochen in  hoher  Lage  geführten  und  schwer  rein 
zu  haltenen  Sopranen,  durch  die  unter  den  Deutschen 
am  Anfang  des  17.  Jahrhunderts  namentUch  Schein  sd 
viele  Mühe  bereitet.  Trotzdem  sind  die  Haßlerschen  Mo- 
tetten zu  ihret  Zeit  sehr  begehrt  gewesen;  das  beweisen 
die  drei  Auflagen,  die  seine  »cantiones  sacrae«  von  4  594 
bis  4607  erhieltefh,  allein  zur  Genüge.  Auch  heute  wirken 
sie  einmal  durch  ihre  zwar  kurz  angebundene,  aber  alle 
entscheidenden  Textelemente  vorzüglich  betonende  De- 
klamation, zum  andern  durch  das  außerordentlich  leben- 
dige Antiphonieren  als  Meisterwerke.  Haßler  genügen 
schon  sechs  Stimmen  zum  Doppelchor  und  er  vermehrt 
die  Farbenpracht  seiner  Sätze  dadurch,  daß  er  —  ohne 
es  hinzuschreiben  —  Solo-  und  Chorbesetzung  wechseln 
läßt.  Ganz  besonders  versteht  sich  Haßler  auf  die 
Mischung  polyphonen  und  homophonea  Stils;  der  letztere 
dient  ähnlich  wie  bei  Josquin  oder  wie  in  den  Orgelkom- 
positionen Scheidts  zur  Markierung  der  Hauptstellen.  Die 
Reihe  der  hervorragendsten  Nummern  der  cantiones 
sacrae  beginnt  mit:  Tu  es  Petrus,  eine  Komposition,  die 
durch  die  lebendige  Behandlung  der  Details,  unter  denen 
die  Malereien  bei:  aedificabo  hervortreten,  sich  auszeich- 
net. Sie  zeigt  auch  Haßlers  Kühnheit  des  Vokalstils,  am 
Ende  tritt,  4  7  Jahre  vor  Monteverdi,  die  Septime  ganz 
frei  ein.  Als  Normalbeispiel  Haßlerscher  Motettenkunst 
kann  die  vNummer  30:  Verbum  caro  factum  est  gelten. 
Darin,  daß  der  wunderbare  Vorgang,  den  der  Text  be- 
richtet ohne  allen  Schwung  und  ohne  innige  Versenkung 


*)  Band  II  enthält  die  Cantiones  sacrae  von  1591  (heraus- 
gegeben von  H.  Gehrmann)  Band  XXIV/XXV  die  Sacri  con- 
centus  TOQ  1601  mit  dem  Anhang  dei  zweiten  Auflage  yon 
1612  (herausgegeben  von  J.  Auer). 


\ 


--♦     486      ♦— 

mitgeteilt  wird,  zeigt  sie  seine  Schwäche,  in  den  schlicht 
sprechenden,  bedeutend  deklamierten  Motiven,  dem  wir- 
kungsvollen, durch  imposante  Tuttis  gekrönten  Wechsel 
der  dreistimmigen  Chöre  (oder  Terzette)  seine  Stärke. 
Auch  die  Nummer  32:  Tribus  miraculis  gehört  zu  den 
Grundstücken  Haßlerschen  Stils.  Ausgezeichnet  ist  sie 
durch  den  Eintritt  der  Stelle:  Ho  die  Stella  Magis  duxit 
ad  praecipium  und  den  fröhlichen,  volkstümlichen  Ton 
des  im  Tripeltakt  einsetzenden  Schlußteils.  Der  deutsche 
Weihnachtsgeist  hat  hier  Haßlers  Erfindung  belebt. 
Die  Nummer  34:  Converte  Domine  bezeugt  besonders 
schön  seine  architektonische  Begabung  in  dem  Charakter, 
dem  Zusammenschluß  der  Motive  und  der  harmonischen 
und  tiefen  Gesamtwirkung.  Die  Entwicklung  geht  von 
der  Trauer  zum  Trost  und  schließt  mit  einem  eignen, 
etwas  harten  Ausdruck  der  Freude.  Wichtiger  noch  als 
bei  andern  Motetten  ist  bei  dieser  die  gehörige  räumliche 
Entfernung  der  antiphonierenden  Chöre.  Aus  der  Be- 
schreibung, die  M.  Prätorius  von  der  Aufstellung  einer 
Normalkapelle  um  4  600  gibt,  erhellt  die  allgemeine  Wich- 
tigkeit dieser  Forderung,  sie  ist  die  Wurzel  des  venetia- 
nischen  Chorstils.  Trotzdem  wird  sie  in  der  Gegenwart 
meistens  nicht  beachtet.  Zu  den  Hauptmotetten  freudigen 
Charakters  gehören  noch  die  Nummern  89,  das  flotte: 
Jubilate  Deo  und  45 :  Hodie  Christus  natus  est,  ein  zehn- 
stimmiger Chor,  der  durch  den  beständigen  Wechsel  von 
geradem  und  ungeradem  Takt  außerordentlich  erfrischt. 
Haßler  in  seiner  Tiefe  und  seinem  Ernst  kennen  zu 
lernen,  kommt  die  Nummer  35:  Dens  noster  refugium 
wesentlich  in  betracht.  Der  feierliche  Ton  frommer  Er- 
gebung, den  sie  fest  hält,  kommt  aus  schwerepi  Herzen. 
Seine  aus  älteren  Neudrucken  bekannteste  Arbeit  dieser 
Klasse  ist  das  Pater  noster  (Nr.  38),  die  das  Gottvertrauen 
so  schlicht  und  schön  ausspricht.  Mit  dem  Eintritt  der 
fünften  Bitte  wird  die  Komposition  plötzlich  düster  be- 
wegt und  schließt  mit  der  Vereinigung  beider  Chöre 
glänzend  ab.  Sie  bringt  das  romantische  Element  in 
Haßler  am  deutlichsten  zum  Ausdruck  und  wirkt  äußer- 


-^     487     ♦— 

Jich  besonders  stark.  In  derselben  Abteilung  ragen  noch 
die  beiden  dreichörigen  Motetten:  Miserere  (Nr.  46)  und: 
Duo  Seraphim  clamabant  (Nr.  47),  ein  an  Lasso  anschließen- 
des Tonbild,  hervor.  Die  Schlußnummer  der  Sammlung: 
Nuptiae  factae  sunt  hat  als  Paradigma  des  erzählenden, 
von  der  Motettenpassion  befruchteten  Chorstils  ihre  Be- 
deutung för  sich. 

Aus  der  zweiten  Sammlung,  den  Sacri  «öncentus,  in 
der  die  Psalmentexte  reich  vertreten  sind,  könnten  sich 
unsere  Männerchöre  für  festliche  Gelegenheiten  die  Num- 
mern 6 — \o  zu  eigen  machen;  die  ersten  beiden  sind 
Hymnen  der  Freude,  die  letzten  Gebete,  alle  fünf  in  der 
Form  eingänglich  und  vornehm  zugleich.  Der  Dirigent 
muß  aber  etwas  vom  Echo  wissen.  Die  übrigen  vier-  und 
fünfstimmigen  Stücke  der  Sammlung  stehen  in  der  Er- 
findung unter  dem  madrigalisch  fröhlichen  Geist  der  Nürn- 
berger Gesellschaft,  für  die  sie  bestimmt  waren,  in  der 
Form  fesseln  und  erfreuen  sie  durch  zahlreiche  Proben 
seiner  Satzkunst.  Insbesondere  sind  die  Anfange  der 
Sätze  alle  fugierend  und  imitierend  gehalten.  Der  eigent- 
lich venetianische  Stil  zeigt  sich  erst  in  der  4  9.  Nummer 
(Ganite  tuba),  einem  fünfstimmigen  Satz,  dessen  obere  und 
untere  Gruppe  sich  ablösen,  und  auch  da  nur  vorüber- 
gehend. Einen  breiteren  Platz  nimmt  die  Antiphonie  von 
den  sechsstimmigen  Sätzen  ab  ein,  aber  duch  in  ihnen  hat 
sie  noch  nicht,  wie  in  den  Sacrae  cantiones,  die  Vorherr- 
schaft. Von  den  sieben-  und  noch  mehr  den  achtstimmigen 
Nummern  ab  bestimmt  dann  die  Absicht  mit  dem  Klang 
des  geteilten  und  des  vollen  Chors  zu  wechseln  die 
Schreibweise  Haßlers.  Das  längste,  äußerlich  wirksamste 
und  an  innig  empfundener  Musik  reichste  Beispiel  dieser 
Klasse  ist  die  Nr.  44,  ein  Miserere,  in  dem  auf  Soprane 
verzichtet  wird.  In  ihm  kehren  auch  die  von  Dufay  bis 
Lasso  so  beliebten,  zweistimmigen  Sätze,  die  bei  den 
Deu^chen  mit  dem  Eindringen  der  itaüenischen  Vorbilder 
schwinden,  reichlicher  wieder. 
I  Unter    den    norddeutschen    Tonsetzern    vertritt    die 

I  venetianische  Schule  in  der  Zeit  Haßlers  verhältnismäßig 

I 


-—*      iSft     ♦— 

H.  PTätoriui.  am  eifirigsten  der  Hamburger  Hieronymus  Prätorius, 
von  dessen  hundert  Motetten  seit  wenigen  Jahren  eine 
Auswahl  im  Neudruck  vorliegt*).  Doch  steht  er  mit  noch 
weitergehendem  Vorbehalt  als  sein  Nürnberger  Fachgenosse 
auf  Seiten  der  neuen  Chorbehandlung.  Die  Kompositionen 
von  Prätorius,  die  grundsätzlich  venetianisch  gehalten 
sind,  wie  seine  achtstimmige  a  capella-Messe*  wie  die 
20  stimmige  Motette  »Decantabat  populusc,  sein  Meister- 
stück, bilden  die  Minderheit  in  der  Gesamtzahl  seiner  Ar- 
beiten, und  zweitens  benutzen  sie  aus  dem  grolBen  Vor- 
rat neuer  Gabrielischer  Mittel  ziemlich  einseitig  nur  das 
Verfahren,  kurze  Motive  schnell  nacheinander  in  den  ver- 
schiedenen Chören  singen  zu  lassen.  In  zwei  Takten 
dieselben  drei  Noten  viermal  unmittelbar  hintereinander, 
jedesmal  von  einer  anderen  Stelle  zu  hören,  muß  den 
Hamburgern  der  etwas  äußerliche  Hauptreiz  an  dieser 
venetiani^chen  Kunst  gewesen  sein.  Mit  seinem  Herzen 
und  wohl  auch  seinem  eigentlichen  Können  steht  Prätorius 
auf  dem  Boden  der  alten  Kunst  und  unter  deutsch-nieder- 
ländischem Einfluß.  Das  Temperament  und  den  stolzen 
Zug,  der  seine  Künstlernatur  kennzeichnet',  kennen  zu 
lernen,  ist  nichts  geeigneter  als  der  zweite  Satz  (Aurum 
sicut  regi)  in  der  auch  im  ganzen  sehr  bedeutenden  Mo- 
tette >Ab  Oriente  venerunt  magi«.  Die  malerische  Wirkung 
und  die  Sicherheit,  mit  der  da  ein  kleines  Achtelmotiv 
durch  die  Stimmen  gedrängt  wird,  ist  packend/  Hierin 
und  auch  in  der  Neigung  gelegentlich  eine  einzelne  Stimme 
aus  dem  Chor  durch  eine  ganz  frei  deklamierte  Stelle 
hervorzuheben,  erinnert  Prätorius  an  Schütz,  mit  dem  er 
auch,  wie  die  Benedictio  mensae  und  Oratio  domenica 
zeigen,  noch  die  liebe  zum  Akzent  und  zu  anderen 
Elementen  des  Gregorianischen  Gesangs  teilt.  Endlich 
hat  Prätorius  noch  das  mit  Schütz  gemein,  daß  in  seinen 
mehrchörigen  Motetten  einzelne  Gesangstimmen,  nament- 
lich Bässe  und  Soprane,   von   Instrumenten  ausgeführt 


*)  Denkmäler  der  Tonkunst,  Band  XXIII  (herausgegeben 
von  H.  Leichtentritt). 


— ^     489     ♦— 

werden  müssen.  Der  Unterschied  ist  nur  der,  daß  Schütz 
das  ausdrücklich  hinschreibt^  Prätorius  aber  stillschweigend 
diese  Praxis  als  bekannt  annimmt  Ein  Zweifel  an  der 
Tatsache  ist  aber  ausgeschlossen,  denn  Ghorbässe,  bei 
denen  dauernd  auf  das^Kontra-B  gerechnet  werden  darf, 
Soprane,  für  die  das  c"  zu  den  bequemen  Tönen  gehört, 
hat  es  nie  gegeben. 

Im  weiteren  Verlauf  des  4  7.  Jahrhunderts  büßt  die 
deutsche  Motette  an  Reinheit  ihres  Wesens  viel  ein.  Auf 
der  einen  Seite  vermischt  sie  sich  mit  dem'  Lied,  auf  der 
andern  mit  der  Kantate.  Der  Kantateneinfluß  äußert  sich 
seltener,  bei  Prätorius  und  Schütz  z.  6.,  in  der  erwähnten 
Einmischung  von  Orchesterstimmen  in  den  Chor,  viel  allge- 
meiner kommt  er  in  der  Tatsache  zur  Geltung,  daß  die 
Motetten  mit  einer  Orgel-  oder  Positivbegleitung  versehen 
werden,  die  den  Stimmen  als  sogenannter  Kontinüo  in  Form 
einer  bezifferten  Baßstimme  beiliegt  und  deren  jeweilige  Aus- 
führung der  Einsicht  des  Organisten  oder  Dirigenten  über- 
lassen bleibt.  Das  Merkwürdige  an  dieser  deutschen 
KontinuQbegleitung  ist  der  Umstand,  daß  sie  meistens 
vollständig  entbehrlich  ist.  Die  Mehrzahl  der  deutschen 
Motetten  des  i  7.  und  4  8.  Jahrhunderts  lassen  sich  a  capella 
singen  und  klingen  unbegleitet  sogar  besser.  Nur  bei 
einer  Minderzahl  sind  die  Singbässe  auf  den  Sechzehn- 
fußton des  > Instrumentes«  berechnet.  Oft  gestehen  es 
die  Komponisten  auch  in  den  Vorreden  offen  ein,  daß 
sie  den  Generalbaß  nur  der  Mode  halber  vorgeschrieben 
haben.  Die  Instrumentalbegleitung  von  Gesangmusik  kam 
von  Italien  wie  ein  neues  Weltwunder  ins  47.  Jahrhundeijt 
herein,  aber  die  deutschen  Motettenkomponisten  verstan- 
den das  Phänomen  nur  halb. 

All  das  lied  hatten  Motette  und  Figuralgesang  im 
protestantischen  Deutschland  schon  während  des  4  6.  Jahr- 
hunderts einen  Teil  des  kirchlichen  Dienstes  abgetreten. 
Als  evangelischer  Gemeindechoral  war  es  zu  einer  solchen 
liturgischen  Bedeutung  gelangt,  daß  überall  erst  begabte 
Laien,  dann  auch  bedeutende  und  durchgebildete  Tonsetzer 
anfingen, alte  und  bekannte  weltliche  und  geistUche Melodien 


fÖr  einen  mehrstimmigen  Tonsatz    einzurichten.    Der  ge- 
meine Mann  hörte  seine  eigenen  lieben  Weisen  in   der 
Kirche  in  einer  Form,  welche  ihm  einzustimmen  erlaubte, 
deren  sinnvolle  und  kunstvolle  Harmonie  aber  sein  Denken 
und  Fühlen  höher  trugen.   Eine  verwandte  Frucht  solcher 
auf  volkstümhchem  Grund  aufgerichteten  kirchlichen  Ton- 
kunst ist  uns  bereits  in  dem  Psalter  der  Hugenotten  und 
Niederländer  begegnet.   Aber  wir  dürfen  uns  dieses  deut- 
schen Schatzes  als  eines  besonders  reichen  und  systema- 
tisch ausgebildeten  freuen  und  noch  mehr  seiner  indirekten 
Wirkungen.    Denn  mit  diesem  geistlichen  Chorlied  wurde 
die  deutsche  Kunst  zum  erstenmal  selbständig  und  eigen- 
tümlich.  Der  Wert  dieser  unscheinbaren,  aber  treuherzigen 
und    charaktervollen    Holzschnittmusik    ist    durch    ihre 
Dauerhaftigkeit  genügend  erwiesen.     Der  kleine  Satz,  in 
M,  Prätorius,    den  M.  Prätorius  den  Text :  »Es  ist  ein Ros'  entsprungene 
Schröter,      vertont  hat,  oder  Schröters:  >Puer  natus«  und  »Freut 
Bodensohatz,   Euch,  liebe  Christen«  gehören  heute  zu  den  beliebtesten 
Zenner,  Herbst,  Chorgesängen.    Das  Verdienst,  die  Bodenschatz,  Zeu- 
Jeep, M.Franok, ner,    H^erbst,    Jeep,     M.  Franck,    M.  Altenburg, 
M.  Altenbnrg,  B.  Helder,  A.  v.  Löwenstern,  J.  Stobäus,  J.  Crüger, 

B.  Helder,      J.  Hintze,  J.  Ebeling,  J.  Rosenmüller,  C.  Briegel, 
A.viLöwenfltern,  J.  Schop,  G.  Staden,  Th.  Seile,  Tb.  Flor,  E.  Kinder- 

J.  Stobftns,  mann,  J.  Löhner  und  die  mit  ihnen  verwandten  zahl- 
J.  Orüger,  reichen  weiteren  Kleinmeister  für  unsere  Zeit  wieder 
J.  Hintze,  fruchtbar  gemacht  zu  haben,  gebührt  C.  v.  Winterfeld  und 
J.  Ebeling,     seinem  Hauptwerk   vom  »evangelischen  Kirchengesang« 

J.  EosenmftUer,  Fortwährejid  noch  wird  das  von  ihm  begonnene  Werk 
G.  Briegel,  durch  Separataüsgaben  glücklich  ergänzt  und  erweitert. 
J.  Sohop,  Teschner,  Riedel  und  Eitner  haben  reichere  Bestände 
&.  Staden,  Eccard scher  Kompositionen  vorgelegt,  dem  letztge- 
Th.  Seile,  nannten  Gelehrten  verdanken  wir  auch  Neudrucke  der  ein- 
TL  Plor,      schlagenden  Arbeiten  J.  V.  Burgks  und  G.  Dreßlers.  Ein 

E.  Kindermann,  weiterer  erfreulicher  Beitrag  zur  Wiederbelebung  dieser 
J.  Löhner.  alten  volkstümlichen  Chormusik  ist  G.  GÖhlers  Ausgabe  des 
J.  ▼.  Burgk.  vom  Zwickauer  Kantor  Cornelius  F  renn  dt  aus  eigenen 
(3t.  Dreßler.     und  fremden  Kompositionen  zusammengestellten  »Weih- 

C.  Frenndt.     nachtsliederbuchs«.  C.  Riedel  hat  mit  einer  Sammlung 


wunderbar  frischer  >Altböhmischer  Weihnachts- 
lieder«, C.  F.  Scheurleer  durch  die  Neuausgabe  der  Nieder- 
ländischen »S  out  erliedekens«  Grelegenheit  gegeben  die 
Blüte  dieser  neuen  durch  die  Reformation  hervorgerufenen 
Kunst  auch  außerhalb  des  heutigen  Deutschland  zu  ver- 
folgen*). 

Wichtig  war  es,  daß  an  ihrer  Pflege  bald  auch  Meister 
der  großen   Kunst,  Männer  wie  Haßler,   Gumpeltz-  Häßler,  Gum- 
hailner,  Eccard,  Stobäus,  Schein  beteiligten.   Durch    peltihaimer. 
sie  brachte  das  einfache  volkstümliche  lied  bald  auch  .der  Eooard,8tob&iiB. 
alten  großen  Kunstmotette  neuen  Segen,  und  zwar  auf       Sohein. 
zweifachem  Wege. 

>  Erstens  entstand  die  Choralmotette,  die  in  ver- 
wandter Weise  wie  früher   die  niederländische  Motette 
gregorianische  Melodien,  nun  evangelische  KirchenUeder 
als  Grundstock  und  Baumaterial  für  breite,  polyphone  Ar- 
beiten verwendete.   In  Eccards  preußischen  Festliedern,      J.  Eooard. 
in  etlichen  (von  R.  Schwarz  herausgegebenen)   deutsche^j 
Motetten  von  Dulichius,  in  einzelnen  Stücken  R.  Ahles    ?•  Dallohlns, 
(Denkmäler  deutscher  Tonkunst,  5.  Band:  Ach  Herr,  mich      fi>  Ahle, 
armen  Sünder,  Wir  glauben   all*    an   einen  Gott)  H^en 
wertvolle  Frühproben    dieser   neuen   Choralmotette,   die 
sich  über  S.  Bach  hinaus  bis  in  die  Gegenwart  behauptet 
hat,  in  Neudruck  vor.   Sie  findet  ein  gleichzeitiges  instru- 
mentales Gegenstück  in  den  Choralfantasien  und  Choral- 
variationen für  Orgel,  die,  wie  schon  erwähnt,  S.  Scheidts 
Tavolatura  nuova  zuerst  mannigfaltiger  vertritt. 

Zweitens  aber  hat  der  im  Choral  heimische  Geist  auch 
die  freie  Motette  der  Deutschen  innerhch  merküch  erfrischt 
und  veijüngt.  Zwar  bleibts  mit  ihr  insofern  beim  alten, 
als  die  achtstimmigen  Sätze  das  venetianische,  die  vier- 
stimmigen das  niederländische  Muster  merken  lassen,  aber 


*)  Der  bedeutendste  Beitrag  zur  Geschichte  jener  geistlichen 
Kleinkunst:  G.  Rhavs  >Neue  deutsche  geistliche  Gesänge  für 
die  gemeinen  Schulen«  (Wittenberg  1644)  liegt  im  Band  XXXTV 
der  Denkmäler  Deutscher  Tonkunst  (herausgegeben  von  Joh. 
Wolf)  seit  kurzem  im  Neudruck  vor. 


i9S 


F.  Leiiring, 

Trotz  sei  dem 

Tenfel. 

H.  Franok, 

In  den  Armen 

dein. 

A.  Hammer» 

solimidt. 


A.  ScandeUng. 
L.  Leohner 


H  SohtttB. 


sie  wechselt  Motive  und  antiphonierende  Partien  rascher, 
sie  ist  in  der  Form,  gegen  jene  gehalten,  zuweilen  etwas 
stürmisch  und  unreif,  ihr  jedoch  an  Kraft  und  Herzlichkeit 
überlegen,  und  endlich  bricht  sie  der  deutschen  Sprache 
eine  Gasse. 

Für  die  Choralmotette  bietet  das  Konzert  einen  Beleg 
in  F.  Lei s rings  »Trotz  sei  dem  Teufel«,  für  die  freie  in 
Melchior  Francks  herrlicher  Motette:  »In  den  Armen 
dein«.  Andreas  Hammerschmidt,  der  seine  Dialoge 
und  Lieder  auch  zum  begehrtesten  Motettenkomponisten 
des  47.  Jahrhunderts  erhoben,  zeigt  auch  in  den  heute 
noch  gesungenen  Werken  i Schaffe  in  mir  Gott«,  »Sei  ge- 
grüßt, Jesu«  und  »Mir  hast  du  Arbeit  gemacht«  seine 
starke  Volkstümlichkeit,  allerdings  durch  einen  Zug  von 
Trockenheit  beeinträchtigt. 

Der  Beachtung  außerordentlich  würdig  sind  ferner 
Ant.  Scandellus  und  Leonh.  Lechner,  doch  kommt 
ihre  Bedeutung  für  die  Motette  in  den  wenigen  vorliegen- 
den Neudrucken  nicht  genügend  zur  Geltung. 

Den  größten  deutschen  Motettenmeister  des  4  7.  Jahr- 
hunderts haben  wir  in  Heinrich  Schütz  zu  erblicken, 
wofern  man  in  die  Gattung  seine  großen  mehrchörigen 
Psalmenmotetten,  über  die  im  vorhergehenden  Kapitel 
berichtet  wurde,  und  außer  ihnen  auch  die  Historien, 
Dialoge  und  oratorischen  Szenen  mit  einbezieht,  die  er 
zum  Teil  ja  auch,  wie  die  von  Saul,  als  Motetten  benennt. 
Hält  man  sich  aber  an  den  Motettenbegriff  im  engern  und 
althergebrachten  Sinne,  so  ist  Schütz  in  der  Motette  nur 
bescheiden  vertreten,  sowohl  was  die  Fruchtbarkeit  als 
was  die  Größe  der  Leistungen  betrifft.  Sieht  man  von 
einer  Anzahl  kunterbunt  versprengter  Stücke  ab,  so  haben 
wir  von  Schütz  nur  zwei  größere  Sammlungen  von  eigent- 
lichen und  wirklichen  Motetten :  Das  sind  die  cantiones 
sacrae  von  4625  und  die  »Geistliche  Chormusik« 
von  4  648.  Beide  liegen  schon  seit  länger  als  zwanzig 
Jahren  in  der  Gesamtausgabe  der  Werke  Schützes  in 
Partitur  vor,  aber  erst  in  der  jüngsten  Zeit  hat  man  be- 
gonnen, auf  Grund  von  praktischen  Einrichtungen  sie  auch 


--^      493     *— 

ZU  benutzen.  Da  ist  denn  aus  der  Ghormusik  zunächst 
die  Nr.  4  »Verleih'  uns  Frieden«  auf  dem  Wege  sich  ein- 
zubürgern. Sie  bezwingt  vor  allem  durch  die  Einfachheit 
und  Innigkeit,  mit  denen  Gebet  und  Bitte  zum  Ausdruck 
kommen,  erfreut  aber  noch  durch  eine  Reihe'  kleiner  Züge 
echt  Schützscher  Anschaulichkeit  und  Geradheit.  So  wird 
das  »Streiten«  von  dem  der  Text  spricht,  dadurch  wieder- 
gegeben, daß  alle  vier  Stimmen  plötzlich  einen  Takt  lang 
in  Achteln  gehen.  Auch  der  Nachbar  dieser  Friedens- 
motette, der  fünfstimmige  Begräbnisgesang  »Die  mit  Tränen 
säen«  hat  Anspruch  auf  allgemeine  Verbreitung.  Zwar 
die  tiefe  Wirkung  der  über  diesen  Text  komponierten 
Psahnenmotette  (II 8)  erreicht  sie  nicht,  aber  sie  trifft  die 
Herzen  durch  den  warmen  Ton  des  Mitleids,  mit  dem  der 
Trauernden  gedacht  wird,  und  sie  stellt  dazu  das  »Ernten 
in  Freude«  in  einen  sehr  packenden  Gegensatz.  Verwandt 
mit  ihr  ist  die  Nr.  23  (»Selig  sind  die  Toten«;,  von  über- 
irdischer Wirkung  in  ihr  die  Stelle  »Ja,  der  Geist  spricht«. 
In  der  Nr.  U  (»So  fahr  ich  hin«),  der  der  Choral  »Es  ist 
genug«  zugrunde  liegt,  erhebt  sich  der  Schlußteil,  wo  der 
Tenor  wie  aus  der  seügsten  Ruhe  heraus  ruft  »So  schlaf 
ich  ein«,  zu  wunderbarer,  tiefergreifenden  Wirkung.  Die 
sehr  kurze,  als  Aria  bezeichnete  Motette  Nr.  4  2:  »Also  hat 
Gott  die  Welt  geliebt«  hat  sich  vor  anderen  Freunde  er- 
worben durch  die  feine  und  zarte  Empfindung,  mit  der 
dem  Herrn  gedankt  wird,  durch  die  ebenso  treffende,  wie 
naive  Malerei  des  Wortes  »alle«  und  drittens  durch  das 
kindliche  Vertrauen,  mit  dem  der  letzte  Teil  verklingt 
Auch  die  Nr.  20 :  »Das  ist  ja  gewißlich  wahr«  steht  bereits 
in  der  Gunst  fest,  sie  wegen  der  Mannigfaltigkeit  und 
Kraft  der  Stimmungen.  Eine  der  größten  Motetten  der 
Ghormusik,  die  Nr.  29  »Herzlich  hab  ich  dich«  mischt  in 
ihrem  Aufbau,  Wie  in  ihren  Ausdrucksmitteln  Elemente 
des  Lieds  und  der  Motette  in  einer  Weise,  die  an  die  Art 
einzelner  Lieder  Scheins  erinnert.  Besonders  herzlich 
und  eigen  khngen  die  Anfange  der  Verse,  wo  die  choral- 
artige Intonation  in  den  trauUch  munteren  Kinderton 
übergeht.    Den  übrigen  Motetten  der  Chormusik,  die  zum 


--♦      494     ^— 

■ 

Schluß  Duette  und  Terzette  mit  Begleitung  eines  Instru- 
mentes bringt,  fehlt  es  nicht  an  fesselnden  kleinen  Zügen, 
aber  sie  prägen  die  Persönlichkeit  Schützes  nicht  voll 
aus,  sondern  stellen  sie  unter  das  Gebot  des  allgemeinen 
in  Deutschland  vorherrschenden  Motettenstils. 

Die  cantiones  sacrae  kümmern  sich  um  diesen  nur 
wenig,  sondern  sie  sind,  obwohl  viel  älter  als  die  Chor- 
musik, doch  darin  weit  modemer  als  diese,  daß  sie  den 
neuen  italienischen  Madrigalstil,  insbesondere  den  des  be- 
gleiteten Solomadrigals  unbedenklich  auf  Motettentexte 
übertragen.  Diese  durchweg  lateinischen  Texte  sind  zum 
kleineren  Teü  den  Psalmen,  zum  größeren  dem  Neuen 
Testament  und  den  >Meditationes  Divi  Augustini«  ent- 
nommen. Ihre  madrigalische  Behandlung  aber  äußert 
sich  in  der  ungewöhnlichen,  der  Chormotette  fremden 
Lebendigkeit  des  Satzes.  Er  neigt  zu  schwierigen  Inter- 
vallen und  Rhythmen,  zu  kurzen  Themen,  mischt  in  die 
Melodik  reichlich  Meine  Ghssando-Figuren  und  ähnliche 
Manieren  und  liebt  es  endlich,  bei  Nebenmotiven  zu  ver- 
weilen. Diese  cantionos  sind  zum  Teil  mehr  weltlich  als 
geistlicn  gedacht.  Insbesondere  gleichen  sie  den  Düetti 
pastorale  Hermann  Scheins  auffallend,  in  der  Nummer  4  6 
(Sicut  Moses)  bringt  Schütz  für  die  vita  umana  dieselben 
imitierenden  Achtelmotive,  mit  denen  Schein  in  der  ge- 
nannten Madrigalsammlung  die  Fillis  besingt.  Mit  diesem 
madrigalischen  Grundzug  hängt  der  Reichtum  an  scharfen 
Gegensätzen,  an  Wechsel  des  Satzcharakters  und  an  köst- 
licher Kleinmalerei  zusammen,  denen  wir  in  der  Mehrzahl 
der  cantiones  begegnen,  und  der  sie  fast  alle  trotz  des 
knappen  Umfangs  bedeutend  macht.  Wie  die  letzten  vier 
Nummern  sich  in  den  Titeln  als  Tischgesänge  ausweisen  — 
in  der  Mitte  ein  ausgezeichnetes  Pater  noster  — ,  so  hat 
Schütz  bei  der  ganzen  Sammlung  mehr  Hausandachten 
als  kirchliche  Verwendung  im  Auge  gehabt.  Doch  eignen 
sich  einige  auch  für  den  letzteren  Zweck,  sehr  gut  die 
innige  Nr.  4  7  (Ego  dormio),  ähnlich  die  Nummern  25 — 27, 
die  in .  ihrer  Mischung  von  Strenge  und  Freiheit  des 
Satzes,   in  ihrer    dramatischen  Empfindung   echte   und 


— -♦      495      «— 

auserlesene  Schütz  sehe  Leistungen  sind.   Die  an  Bewegung 
und  Schwung  reichste,  auch  an  Umfang  dem  Durchschnitt    ' 
am  meisien  überragende  Motette  des  Bandes,  das  Cantate 
Domino  (Nr.  29)  darf  als  ein  ausgesprochenes  Kirchenstück 
bezeichnet  werden. 

Von  den  weiteren  zu  den  genannten  Sammlungen 
nicht  gehörenden  Motetten  Schützes  wird  häufiger  das 
im  ersten  Teil  der  Sinfoniae  sacrae  enthaltene  »Vater 
unser«  gesungen!  Sie  wirkt  durch  die  häufige  Wieder- 
kehr des  Anruf sihotivs  »Vater«  besonders  inbrünstig.  Bei 
den  Worten  »Denn  dein  ist  das  Reich  usw.«  gruppieren 
sich  die  Singstimmen,  die  die  vorhergegangenen  Bitten  in 
imitierendem  Motettenstil  durchgeführt  haben,  in  venetia- 
nische  Wechselchöre,  und  zu  ihnen  tritt  das  Orchester. 
Zur  Berücksichtigung  sind  besonders  auch  die,  die  Be- 
gräbnismusik (Exequien)  für  Heinrich  von  Reuß  bilden- 
den Motetten  und  die  »Zwölf  geistlichen  Gesänge« 
von  4  657  zu  empfehlen.  Sie  enthalten  Meßsätze  (mit 
deutschem  Text),  Litaneien  und  andere  liturgische  Chor- 
stücke, sind  besonders  »für  kleine  Cantoreyen«  geschrieben 
und  gehören  zum  Besten,  was  Schütz  innerhalb  der 
Grenzen  einer  einfachen  und  bescheidenen  Kunst  ge- 
leistet hat. 

Die  Väter  und  Förderer  des  neuen  Motettengeschlechts 
sind  auf  protestantischer  Seite  zu  suchen.  Daß  auch 
die  katholischen  Komponisten  des  deutschen  Gebiets  von 
dem  Liedgeist  der  Periode  nicht  unberührt  blieben,  zeigen 
allerdings  Arbeiten,  wie  die  Job.  Stadlmayrs*),  die  mit  J.  Stadbnayr. 
einer  fast  epigrammatischen  Kürze  und  Eingänglichkeit 
alte  gut  polyphone,  auf  Kontinuo  verzichtende  Stimm- 
führung verbinden.  Aber  soweit  die  Chormotette  noch 
ihren  Boden  in  der  katholischen  Liturgie  behauptete,  hielt  > 

sie  an  den  alten  Künsttraditionen  fest,  wie  das  die  von 
Jos.  Fux   neugedruckten**)    oder   die   eines   Neudrucks         J.  Pux, 
überaus  würdigen  C antiones  sacrae  G.  Aichingers  zeigen .     Ot,  Aichinger. 

*)  DenkmUer  der  Tonkunst  in  Österreich,  III. 
**)  Ebenda,  U. 


496 


Auch  bei  den  Protestanten  ist  die  Praxis  lange  Zeit  mehr- 
schichtig und  zeigt  einen  besonders  scharfen  Unterschied 
zwischen  eigentlicher  Kirchenmotette  und  Kasual- 
motette.  Die  erstere,  die  ihre  Stelle  im  regelmäßigen 
Gottesdienst  hat,  wird  während  des  4  7.  Jahrhonderts  nach 
wie  vor  von  einzelnen  Komponisten  in  Bänden,  die  das 
ganze  Kirchenjahr  versorgen,  im  alten  niederländischen 
oder  venetianischen  Stil  und  mit  lateinischem  Text  ver- 
öffentlicht. Zu  den  vorzügUchsten  Mo'tettensammlongen 
dieser  Art  gehören  die  »Centuriae«  des  bereits  erwähnten 
F.  Dnliobiof«  Philipp  Dulichias,  von  denen  R.  Schwarz  zuerst  einige 
Proben  vorgelegt  hat'*'},  die  durch  die  Energie  und  das 
Feuer  ihrer  Chorföhrung  dahin  gedrängt  haben,  das  ganze 
Werk  in  Neudruck  vorzulegen**).  Dahin  gehören  femer 
die  »Corona  barmonica«  von  Demantius,  die  »Cantiones 
sacrae«  von  Job.  Stob  aus  und  das  »Cymbalum  Sionium« 
von  H.  Schein***].  Aber  im  allgemeinen  weicht  die  alte 
Kirchenmotette  der  Protestanten  schon  während  des 
30  jährigen  Krieges,  zum  Teil  wegen  der  durch  ihn  ver- 
ursachten Verarmung  der  Kirchenkassen,  zum  Teil  wegen 
der  Lust  an  den  neuen  Musikkünsten,  der  Kantate.  Die 
Kasualmotette  dagegen,  die  in  erster  linie  als  Begräbnis- 
und  Hochzeitsmusik  dient,  bleibt  beim  alten  Chorsatz, 
wenn  sie  ihn  auch  vielfach  vereinfacht  und  verdirbt.  Auch 
ihr  hat  hie  und  da,  in  Königsberg  z.  B.f),  das  neue  Sololied 


DenumtliiB, 
J.  StobäoB, 
Et  Bökeln. 


*)  Dulichius,  yier  achtstimmige  Ohöre,  Breitkopf  &  HirteL 
**)  Die  Denkmäler  deutscher  Tonkunst  (Bd.  31  und  41) 
haben  bisher  den  ersten  und  zweiten  Teil,  herausgegeben  und 
sehr  gut  eingeleitet  von  R.  Schwartz  gebracht.  Dulichius  ist 
hier  einer  der  glänzendsten  Vertreter  der  venetianischen  Schule. 
***)  A.  Prüfers  Gesamteusgahe  der  Werke  Scheins  Bd.  IV 
und  V.  Das  Oymbalum  enthält  lateinische  und  deutsehe,  fünf- 
bis  zwölfstimmige  freie  Motetten,  die  unbeschadet  vieler  eigener 
Züge  von  Tiefe  und  Beweglichkeit,  im  wesentlichen  mit  dem 
Stil  Haßlers  übereinstimmen. 

f )  Siehe  Einleitung  zu  den  Arien  H.  Alberts  (Denkmäler 
deutscher  Tonkunst,  Bd.  XII). 


— ^      497     ♦— 

den  Platz  streitig  machen  wollen,  aber  vergeblich.  Durch  ihre 
Mithilfe  ist  auch  in  derFiguralmusikder  evangelischen  Kirche 
die  deutsche  Sprache  endlich  allgemein  durchgedrungen. 

Eine  ganze  Abteilung  dieser  Kasualmotetten  hält  auch 
am  reinen,  unbegleiteten  a  capella-Stil  fest.  Das  sind 
diejenigen  Motetten,  die  für  die  Umzüge  der  Schulchöre 
und  Kurrenden  bestimmt  waren,  die  in  den  Straßen,  auf 
Plätzen,  im  freien,  großen  Raum  gesungen  wurden,  wo 
ein  Positiv  ein  unwirksamer  Ballast  gewesen  wäre. 

Besonders  in  Sachsen  und  Thüringen  haben  die 
Kurrenden  bis  an  die  Gegenwart  heran  eine  tief  ins 
Volksleben  eingreifende  Bedeutung  gehabt.  Dort  sind 
auch  im  47.  und  48.  Jahrhundert  die  meisten  a  capella- 
Motetten  geschrieben  worden:  im  Durchschnitt  Werke, 
an. welche  man  einen  streng  kirchlichen  Maßstab  nicht 
anlegen  darf.  Sie  spiegeln  aber  ein  rühmliches  Stück 
deutscher  Musikgeschichte  wieder,  ^an  sieht,  wie  viel 
musikalische  Tüchtigkeit  und  Eifer  in  diesen  Ländern 
herrschte,  man  sieht  die  Naivität  des  bloßen  Hand- 
werks, man  hört  den  Pulsschlag  des  fröhlichen  Herzens 
und  man  bemerkt  auch  in  ihnen  besondere  Strömungen 
des  religiösen  Lebens  und  der  Entwicklung  der  Tonkunst. 
Von  dem  neuen  dramatischen  Musikwesen,  welches  aus 
den  Residenzen  zu  den  Kantoren  und  Organisten  hin- 
drang, eignete  sich  die  Kurrendenmotette  Sinn  für 
Effekt,  Kontrast  und  Deklamation  an.  Tiefer  ward  sie 
nicht  berührt.  Die  Neigung  zu  rhythmischer  Lebhaftig- 
keit besaß  sie  von  allein  als  ein  Geschenk,  zu  welchem 
die  heimatliche  Volksmusik  und  zum  größeren  Teil  die 
Orgelmusik  beigesteuert  hatten.  Die  reiche  Einmischung 
von  Orgelfiguren  in  den  Vokalsatz  ist  dann  bis  auf 
Schichts  Zeit  ein  Kennzeichen  der  deutschen  Motette 
geblieben.  Erst  durch  Mendelssohn  trat  eine  gründliche 
Änderung  ein.  Hauptvertreter  der  höchsten  Art  Thüringer 
Motettenkunst  sind  die  Bachs,  voran  MichaelBach,  M.  Baoli. 
von  dessen  Werken  vor  einigen  Jahrzehnten  noch  die 
Stücke  »Nun  hab*  ich  überwundene,  »Unser  Leben  ist«, 
»Herr,  wenn  ich   dich  nur  habe«,   »Ich  weiß,  daß  mein 

n,  4.  .  32 


--*      498     *— 

Erlöser  lebt«  in  Chorkonzerten  anzutreffen  waren,  neben 
Oh.  Bm^Ii.  ihm  Christoph  Bach,  den  die  Motetten  >Ich  lasse 
dich  nicht«  und  »lieber  Herr,  wecke  mich  auf«  unter  die 
ersten  Größen  des  4  8.  Jahrhunderts  stellen*).  Auch  die 
J.  8.  Baoh.  Motetten  von  J.  S.  Bach,  diejenigen  Motetten,  an  welche 
wir  denken,  sobald  von  der  Gattung  überhaupt  gespro- 
chen wird,  haben  zum  Teil  einen  Zug  der  thüringischen 
Kurrendenmotette.  Das  ist  die  Freude  am  Singen  und 
Klingen,  die  Selbständigkeit  des  musikalischen  Elements 
im  Chorsatz.  Bach  ging  allerdings  über  den  Durchschnitt 
der  heimatlichen  Vorbilder  schon  darin  hinaus,  daß  er 
seine  Motetten  für  Begleitung  schrieb.  Diese  Tatsache 
steht  durch  das  Zeugnis  von  Ph.  E.  Bach  fest,  sie  ergibt 
sich  aus  den  harmonischen  Verhältnissen  vieler  Stellen, 
deren  Akkorde  nur  dann  richtig  sind,  wenn  man  den 
Baß  als  einen  4  6  füßigen  Orgelbaß  auffaßt.  Mit  kleinen 
Änderungen  kann  man  sie  jedoch  auch  a  capella  singen. 
Bach  faßt  in  seinen  Motetten,  man  kann  fast  sagen, 
alles  zu  einer  höheren  Einheit  zusammen,  ^sls  in  der 
Stilgeschichte  der  Motette  bis  dahin  Schönes  und  Be- 
rechtigtes zum  Vorschein  gekommen  war:  das  voll- 
endete gesangliche  Wesen  der  frühen  Vokalperiode, 
die  Bestimmtheit  und  den  Reichtum  des  Ausdrucks, 
welcher  die  dramatische  Periode  kennzeichnet,  die  Frei- 
heit  der  musikalischen  Bewegung,  den  Schmuck  und 
die  große  Anlage  des  Formenbaues,  welche  sich  mit 
dem  Konzertstil  entwickelten.  Und  er  führte  alle  diese 
Vorzüge  noch  auf  eine  höhere  Stufe.  Es  wird  auch 
von  den  Sängern,  von  den  Mitgliedern  der  Chor  vereine 
empfunden,  daß  diese  Bachschen  Motetten  eine  Krone 
der  Gattung  sind.  Sie  setzen  ihren  besonderen  Stolz 
darein,  die  Schwierigkeiten,  welche  in  dem  häufig  orgel- 


*)  Band  XLIX/L  der  Denkmäler  deutscher  Tonkunst  (herauB- 
gegeben  von  M.  Seiffert)  bringt  nahezu  ein  hundert  solcher,  meist 
anonymer  thüringischer  Motetten.  Sie  stammen  aus  der  Gott- 
holdschen  Sammlung  der  Königlichen  Bibliothek  zu  Königsberg. 
Neben  ihr  besitzen  vir  noch  eine  Beihe  ähnlicher  Handschriften. 


499     ♦ — 

artigen  Stile  dieser  Werke  liegen,  zu  überwinden,  und  e? 
gibt  nichts  in  dem  großen  Bereiche  der  Chorlitteratur, 
was  schließlich  mit  größerer  Lust  und  Freude  gesungen 
wird. 

Obwohl  nach  den  heutigen  Obliegenheiten  eines  Leip- 
ziger Thomaskantors  lange  Zeit  angenommen  worden  ist, 
daß  Bach  sehr  viele  Motetten  geschrieben  habe,  müssen 
wir  uns  doch  mit  nur  sechs,  bei  denen  die  Echtheit  ge- 
nügend verbürgt  ist,  zufrieden  geben.  Ihre  Textanfänge 
heißen:  >Singet  dem  Herrn«,  »Komm,  Jesu,  komm«, 
»Fürchte  dich  nicht«,  »Der  Geist  hilft«,  »Jesu,  meine 
Freude«  und  »Lobet  den  Herrn  alle  Heiden«. 'Dieser  durch 
die  gründlichen  Untersuchungen  F.  Wüllners'*')  festgestellte 
Tatbestand,  der  übrigens  mit  der  Erwähnung  nur  »einiger« 
Motetten  in  Mizlers.  Nekrolog  übereinstimmt,  erklärt  sich 
daraus,  daß  zu  Bachs  Zeiten  in  der  sogenannten  Sonn- 
abendsvesper vorwiegend  kurze  liedartige  Sätze,  gioße 
Motetten  in  erster  Linie  bei  Trauerfeierlichkeiten  gesun- 
gen wurden,  also  Gelegenheitskompositionen  waren.  Ohne 
Zweifel  muß  es  da  für  Bach  niederdrückend  gewesen 
sein,  daß  so  wenig  Bestellungen  an  ihn  herantraten.  Die 
Motetten  sind  beiläufig  die  einzigen  unter  den  Vokal- 
werken Bachs,  welche  den  großen  Schlaf,  in  welchem 
Jahrzehnte  lang  die  ganze  Gesangkomposition  des  Meisters 
lag,  nicht  mitgeschlafen  haben.  Sowohl  bei  den  Thomanern 
als  auch  bei  andern  sächsischen  Schülerchören  blieben 
sie  im  Gebrauch  und  wirkten  als  Ansporn  des  Ehrgeizes. 
Sie  sind  es,  welche  Mozart  bei  Doles  kennen  lernte.  Vier 
unter  diesen  Motetten  sind  achtstimmig,  doppelchörig; 
eine,  »Jesu,  meine  Freude«,  die  längste  von  allen,  ist 
fünfstimmig,  die  letzte  »Lobet  den  Herrn«  hat  vierstim- 
migen Satz  und  eine  besondere  Kontinuostimme.  Es  sind 
sämtlich  Ghoralmotetten,  doch  ist  die  Stellung  des  Cho- 
rals in  den  einzelnen  Stücken  verschieden.  Im  großen 
ganzen  tritt  er  mehr  als  Schmuck  und  Beigabe  auf,  denn 


*)  Vorrede  zam  39.  Band  der  Geaamtausgabe  von  Bachs 
Werken. 

8i* 


— ^      5P0     ♦ — 

als  Gmndstätze  der  Erfindung,  als  welche  ihn  die  altem 
Tonsetzer  in  der  Motette  gern  handhabten.  Nnr  »Jesn, 
meine  Frende«  macht  eine  grandiose  Ausnahme. 

ÜAter  den  aehtstimmigen  Motetten  Seb.  Bachs  sind 
die  bedeutendsten  die  Nr.  4  »Singet  dem  Herrn«  und  die 
Nr.  k  »Komm,  Jesu,  komm«.  Sie  tragen  am  stärksten  Züge 
Bachschen  Geistes,  die  Kraft  und  Tiefe  der  Empfindung, 
die  Kühnheit  und  Macht  des  Ausdrucks  und  die  subtfle 
Feinheit  der  Auffassung.  In  der  Behandlung  und  Wirkung 
des  Klangwerkes,  in  der  Güte  der  sogenannten  Faktur 
stehen  die  andern  ihnen  ziemlich  gleich. 
8«  Bm^,  Die  Motette  »Singet  dem  Herrn«  gehört  textlich 

Singet  dem  zum  großen  Teil  der  Psalmenkomposition  an.  Es  sind 
HexxiL  die  bekannten  Anfanggyerse  des  44  4.  Psalms,  welche  ihrem 
ersten  Satze  zu  Grunde  liegen.  Bach  läßt  sie  uns  wie 
aus  dem  Munde  einer  von  Freude  mächtig  erregten 
Menge  hören.  Ohne  alle  Einleitung  und  Vorbereitung 
führt  er  uns  mitten  hinein  in  das  bereits  im  vollen 
Schwünge  begriffene  Jubilieren  und  Konzertieren  der  be- 
geisterten Massen.  Obwohl  es  des  Anfeuems  nicht  bedarf, 
hören  wir  doch  .  AlKnoderato.  Dieses  freudige  Signal 
durch  den  ganzen  "Jt^^  j  j  belebt  die  wunderbar 
Satz  den  einen  Chor  ff  •*  T  -^ —  fließende  und  volle 
dem  andern  zurufen:  M»-gÄ      Komposition  mit  sze- 

nischer Anschaulichkeit  Der  formellen  Anlage  nach  be- 
steht dieser  große  erste  Satz  aus  zwei  Teilen.  Der  erste 
folgt  dem  herkömmlichen  Brauch  der  Motette,  daß  jeder 
selbständige  Textgedauke  sein  eignes  musikalisches  Thema 
hat.  Wir  haben  drei  Sprüche:  a)  »Singet  dem  Herrn  ein 
neues  Lied«,  b]  »Die  Gemeinde  der  HeiUgen  sollen  ihn 
loben«,  c)  »Israel  freue  sich  des,  der  ihn  gemacht  hat«  — 
infolgedessen  auch  drei  in  der  Musik  dieses  ersten  Teils 
sich  sondernde  Abschnitte.  Das  Thema  a)  »Singet  usw.« 
und  seine  Durchführung  ist  konzertierender  Natur.  In 
den  einzelnen  Stimmen  treten  gleichsam  die  Künstler 
des  Volks  hervor  und  erfreuen  die  lauschende  und  zu- 
stimmende Menge  mit  den  herrlich  hinklingenden  Figu- 
ren,  in   welche  sie  das   Lob  Gottes  kleiden.    Und   die 


— ♦     501 

Rollen  wechseln  zwischen  den  Chören.  Das  zweite 
Thema  b)  >Die  Gemeinde  der  Heiligen«  und  seine 
Gruppe  ist  ruhigerer,  ernster,  zuredender  Natur,  das 
dritte  »Israel  freue  sich«  wieder  lebhafter,  entschieden 
und  feurig.  Es  treibt  zu  einer  Spitze  und  an  dieser  setzt 
der  zweite  Teil  des  Satzes  ein:  eine  großartige  Fuge  über 
das  Thema: 


usw. 
Die  Kinder  Zi.onsseb  froh  .  lidi  fi.ber  ih.re    K8iiLge  sie  soUeit    lo  .    bea 

welches  die  acht' Stimmen  nach  und  nach  sämtlich  auf- 
nehmen. Der  Schluß  dieser  Fuge  verläuft  in  rollende 
Sechzehntelfiguren,  welchen  Bach  in  Durchführungen 
und  Episoden  eine  große  Fülle  jauchzenden,  trillernden 
und  lachenden  Naturklangs  entnimmt.  Gewiß  ist  die 
Kunst  in  diesem  zweiten  Teil  des  Satzes  eine  bewun- 
dernswerte, unvergleichlich  große,  aber  noch  größer  ist^ 
die  Freiheit,  Macht  und  Naivität  des  freudigen  Ausdrucks, 
hinter  welchem  alles  Technische  verschwindet  Im  zwei- 
ten Satze  der  Motette,  »Wie  Väter  mit  Erbarmen«,  tritt 
der  Choral  (»Nun  lob  mein  See!  den  Herrn«  ^ist  die  Me- 
lodie) ein.  Der  zweite'  Chor  singt  ihn,  der  erste  Chor 
(Soloquartett)  unterbricht  die  einzelnen  Zeilen  mit  freien 
Zwischengesängen,  die  vorwiegend  nur  eine  mäßige 
Länge  haben  und  alle  sehr  schön  ausdrucksvoll 
schließen.  Die  Hauptwirkung  des  Satzes  ruht  auf  der 
Anlage,  die  eine  Szene  im  Kirchgarten  vor  die  Fantasie 
ruft.  Vom  Innern  des  Gotteshauses  klingt  leise  der 
Choral  herüber,  außen  wird  gewartet  und  gebetet.  Der 
dritte  Satz  ist'  eine  von  beiden  Chören  im  regelmäßigen 
Wechsel  durchgeführte  Fantasie  über  das  Thema: 

Foco  Alleg^ro 


Lo  .  bet  den  Herrn  m  seinen  Theten,lo.bet  ihn  in  seiner  grossen  HerrÜchkeit. 


Ihrem   mehr  anmutigen   Charakter   und  ihrem   Umfang 
nach  ist  sie  von  Bach  weniger    als  selbständiger  Satz, 


— ♦     50S     ♦— 

deon  als  Einleitang  zn  dem  Finale  der  Motette  gedacht, 
einer  Fuge  Aber  das  Thema: 

AI Inwm  O.       -       -       -       - 

Es  hat  die  Händeische   Art   des 
langen  Ansholens  und  die  regel- 
mäßige Fignration,    die  Bach   in 
seinen  Chorfugen   liebt;  die  Ausfährang  ist  verhältnis- 
mäßig kurz.    Am  Schlüsse  tun  sich  die  Soprane  durch 
einige  energische  Ausrufe  des  Entzückens  hervor. 
8.Bftdi|'  Die  Motette  »Komm,  Jesu,  komm€  (Nr.  4)  ist  ein 

Kamm,  Jesu,  Seitenstück  zu  jenen  zahlreichen  Kantaten  Bachs,  in 
komml  welchen  er  einer  erdenmüden,  nach  Tod  und  himm- 
lischem Leben  sehnsuchtsvoll  verlangenden  Stimmung 
Ausdruck  gibt.  Derlei  Arbeiten  gehören  zu  den  gewaltig- 
sten Äußerungen  des  Bachschen  Gemütes,  welches  in 
seiner  tiefen,  edlen  Melancholie  eine  seiner  eigentümlich- 
sten und  ergreifendsten  Eigenschaften  besitzt  Ähnlich 
dem  Gang  in  den  entsprechenden  Kantaten  entwickelt 
sich  auch  die  Motette  »Komm,  Jesu,  komm«  vom  Klagen 
und  Sehnen^  zum  Ausdruck  einer  ruhigen,  die  himmlischen 
Wonnen  vorausnehmenden  frommen  Heiterkeit.  Dieses 
Ende  kommt  hier  in  der  Form  eines  leicht  bewegten, 
von  bescheidenen  Koloraturen  durchzogenen  s/g- Taktes 
(»Du  bist  der  rechte  Weg«),  dessen  Perioden  die  Chöre 
einander  in  sehr  regelmäßigem  Wechsel  nachsingen.  Nur 
selten  treten  sich  die  Gruppen  näher;  erst  bei  dem  kräf- 
tigen Schlüsse  zusammen.  Den  Durchgangspunkt  zu 
diesem  Abschluß  bildet  ein  kurzes  Sätzchen:  »Komm, 
komm,  ich  will  mich  dir  ergeben«,  in  welchem  dem  Ver- 
langen nach  Erlösung  von  diesem  Leben  in  einem  en- 
thusiastischen, fast  gebieterischen,  trotzigen  Tone  Aus- 
druck gegeben  wird.  Eine  Energie,  die  der  Wildheit 
nahekommt,  beherrscht  den  Geist  dieses  Abschnittes,  die 
Form  zeigt  eine  bedeutungsvolle  Gedrängtheit  in  der 
Führung  der  Themen  und  Motive.  Der  eine  Chor,  welcher 
das  einfache,  fast  deklamierende  Hauptthema  durchführt, 


— ♦     503     ♦ — 

tat  dies  von  vornherein  in  sogenannten  Engführungen» 
cL  h.  ehe  die  eine  Stimme  ausgesungen ,  setzt  schon  die 
andere  mit  demselben  Thema  ein.  Der  zweite  Chor 
verstärkt  den  Eifer,  welcher  die  Hauptgruppe  beseelt, 
noch  durch  kurze  stürmische  Zurufe.  Die  Perle  der 
Motette,  eine  Hauptperle  im  musikalischen  Kunstschatz 
überhaupt,  ist  aber  der  erste  Satz  »Komm,  Jesu,  komm« 
durch  seinen  Aufbau,  seine  Gewalt  und  seinen  Reich- 
tum des  Ausdrucks  und  durch  die  wunderbar  schöne 
gesangliche  Natur,  welche  in  dem  vielfaltig  wechseln- 
den, immer  bedeutend  beseelten  Leben  der  einzelnen 
Stimmen  herrscht.  Die  Anlage  folgt  dem  alten  Gesetze 
über  Text  und  Themen  in  der  Motette.  Die  Fülle. von 
Stimmung,  in  welcher  diese  Themen  erfunden  sind,  welche 
/in  der  Fortschreitung  des  Satzes,  in  seinen  kleinen  und 
großen  Proportionen  liegt,  klarzulegen  würde  eine  ganze 
Studie  erfordern.  Sie  fühlt  sich  auch  unbewußt,  und 
wenn  der  Zuhörer  die  einzelnen  Motive  und  Themen  mit 
dem  Texte  vergleicht,  wird  sie  leicht  klar.  Wie  stark  in 
Bach  die  Empfindung  wogte,  als  er  an  diesen  Meistersatz 
ging,  wird  sofort  an  den  ersten  Takten  ersichtlich.  Der 
Übergang  aus  den  sogenannten  Weckakkorden,  mit  wel- 
chen die  Chöre  sich  anmelden  und  die  Tonart  feststellen, 
in  die  bittende  Melodie  ist  der  erste  Meisterzug.  Dann 
folgt  als  zweiter:  die  rezitativartige  Wiedergabe  der  Worte 
»Das  Ziel  ist  nah,  die  Kraft  ist  klein«  und  so  bringt  jeder 
weitere  Abschnitt  gewaltigste  Beispiele  lebenswahr  empfun- 
dener, dramatisch  warmer  Musik.  An  Inspiration  steht 
dieser  erste  Satz  von»Komm,  Jesu,  komm«  unter  Bachs  Kom- 
positionen ganz  obenan.  Der  Choral  kommt  am  Schlüsse 
der  Motette  in  der  verwandten  Gestalt  einer  geistlichen  Arie. 

Unter  den  übrigen  achtstimmigen  Motetten  zeichnet  , 

»ich  »Fürchte  dich  nicht«  formell  dadurch  aus,  daß       &•  Bftohi 
I  sie  in  einem  Satze   ohne  Unterbrechung   aufgebaut  ist.  Fürchte  dich 
Diesem  Umstand,  welcher  eine  erhöhte  Anstrengung  für        nicht, 
die  ausführenden  Kräfte  verursacht,  ist  es  zuzuschreiben, 
daß  sie  sehr  selten  aufgeführt  wird.    An  geistigem  Gehalt 
und  an  Eigentümlichkeit  des  Ausdrucks  steht  sie  den 


-— ^     504     ♦— 

vorher  genannten  sehr  nahe.  Namentlich  in  der  ersten 
Abteilung,  die  einen  Trostgesang  einziger  Art  bildet  Der 
Ton ,  mit  welchem  man  einer  bangenden  Seele  zuspricht, 
kann  freundlicher  und  aufrichtender  wohl  kaum  gedacht 
werden,  als  ihn  hier  Bach  anstimmt.  Dieses  »Fiirchte 
dich  nichtc  stellt  der  Furcht  eitel  Freude,  Festigkeit  und 
Kraft  gegenüber  und  tut  dies  in  Tönen,  welche  ebenso 
kindlich  und  herzlich  als  entschieden  klingen  und  in 
denen  sich  Weichheit  und  Kühnheit  der  Empfindung 
wunderbar  romantisch  mischen.  Der  ganze  formelle 
Apparat  dieses  Satzes  ist  mit  einem  Schwünge  aufgestellt, 
den  man  nicht  genug  bewundern  kann.  Die  Motive  zu 
den  neuen  Textgedanken  —  a)  »weiche  nichtc,  b)  »ich 
stärke  dich«,  c)  »ich  helfe  dir  auch«,  d)  »ich  erhalte 
dich«  —  sind  alle  verwandt,  aber  alle  voll  Eigenart, 
einzelne,  wie,  »weiche  nicht«,  voll  malerischer  Elemente, 
und  sie  bringen  die  Grundidee  zu  immer  steigerndem 
Ausdruck,  ziehen  das  Gemüt,  das  der  Furcht  entrissen 
werden  soll,  immer  tiefer  in  die  Kreise  der  Freude  hinein. 
Die  Frische  der  Empfindung  spricht  sich  auch  in  einzelnen 
formellen  Zügen  aus,  unter  denen  sich  freie  Nonen- 
akkorde  hervorheben.  Der  zweite  Teil  der  Motette  —  er 
beginnt  mit  den  Worten:  »Ich  habe  dich  bei  deinem  Namen 
gerufen«  —  ist  geistig  hinter  das  erreichte  Ziel  gelegt: 
alle  Furcht  verschwunden.  Ein  ungemein  inniger  Ton  be- 
herrscht diese  zweite  Hälfte.  Der  Chorsatz  ist  vierstimmig 
geworden,  der  Sopran  singt  in  langen  Zwischenräumen 
die  kurzen  Zeilen  des  Chorals  (»Komm,  heiliger  Geist«) 
auf  die  Worte  »Herr,  mein  Hirt«.  Die  übrigen  drei  Stimmen 
fugieren  sehr  kunstvoll  mit  drei  verschiedenen  Themen. 
Die  zum  Begräbnis  des  Rektors  Ernesti  (i  729)  kompo- 
6t  Baohi  nierte  Motette  »Der  Geist  hilft  unsrer  Schwachheit 
Der  Geist  hilft,  auf«  besteht  aus  vier  Abteilungen.  Die  erste  hat  die  üb- 
liche Motetten  einrichtung:  soviel  Themen  als  im  Text  Ge- 
danken. Das  sind  folgende:  a)  »Der  Geist  hilft«,  b)  »Wir 
wissen  nicht,  was  wir  beten  sollen,  wie  sichs  gebühret«. 
Für  das  erstere  hat  Bach  ein  tokkaten artiges  Thema  ge- 
wählt, dessen  rollende  Sechzehntelgänge  durch  die  Stimmen 


"^     505     ♦— 

wechseln.  Die  Anlage  weicht  von  der  in  den  ersten  Sätzen 
der  übrigen  achtstimmigen  Motetten  darin  ab,  daß  die  Chöre 
meistens  zusammen  singen  und  daß  die  beiden  Themen 
vieUach  ineinander  gezogen  sind.  Die  Fortsetzung  dieses 
kräftig  schwungvollen  Eingangssatzes  bildet  eine,  sofort 
mit  Engführungen  An9non tanto. 

beginnende     Fuge  j^K'Ilf  P  P    p  IT     f    P  P  P  P  'P  T 

über     das      Thema:  lon-dcrn    der  a«Ut  Mlbtt  ▼w-trin  «m  »u/i  Be-ate 

in  wejcher  sich  ein  sinnendes  und  etwas  zögerndes  Pathos 
ausbreitet.  Der  Schluß  nimmt  malende  Bezüge  auf  die  >un- 
aussprecjihchen  Seufzerc  des  Textes.  Aus  dieser  ernsten 
und  das  Trübe  streifenden  Stimmung  führt  eine  zweite  Fuge 
heraus  über  daä  kräftig  bestimmte  Thema  »Der  aber  die 
Herzen  erforschet,  der  weiß,  was  des  Geistes  Sinn  sei«.  Sie 
ist  nur  vierstimmig,  wird  aber  mit  Eintritt  der  Worte  »Denn 
er  vertritt  die  Heiligen«  zurDoppeKuge.  Ein  einfacher  Choral 
schließt.  Bemerkenswert  ist,  daß  zu  dem  ganzen  Stück 
auch  von  Bach  geschriebene  Stimmen  für  Qeigen,  Bläser 
und  Orgel  (in  der  Kgl.  Bibliothek  zu  Berlin)  vorhanden  sind. 

Die  Motette  »Jesu,meineFreude«,  nach  Mitteilungen    '8.  Baoh. 
von  B.  F.Richter*)  zum  Begräbnis  einer  Frau  Reese  i.  J.  i  723  Jesu,  meine 
komponiert,  ist  Bachs  größte  Leistung  in  der  Choralmotette,     Freade. 
aber  ein  für  das  Verständnis  und  die  Ausführung  sehr 
schwieriges  Werk.    Nicht  selten  entgeht  es  Sängern  und  - 
Dirigenten,  daß  hier  ein  Zyklus  freier  Variationen  vorüegt. 
Es  muß  deshalb  etwas  näher  auf  sie  eingegangen  werden. 

Der  bescheidene  Zug  ihrer  nur  fünfstimmigen  Be- 
setzung wird  durch  andere  Ansprüche  und  Vorzüge  wie- 
der aufgehoben.  Sie  ist  die  längste  von  allen,  die  reichst- 
gegUederte  und  in  der  äußeren  Wirkung  mannigfaltigste. 
Au.ch  zeichnet  ihren  Aufbau  eine  schöne  Geschlossenheit 
aus.  Anfang  und  Ende  stimmen  überein.  Die  Beibehal- 
tung der  gleichen  Tonart  für  die  meisten  Teile  gibt  ihr 
etwas  Strenges.  Sie  enthält  so  viel  Variationen  des  Cho- 
rals, als  das  Francksche  lied  Verse  hat :  sechs.  Aber  jeder 

,     *)  B.  F.  Richter:  Über  die  Motetten  Seb.  Bachs  (Wissen- 
schaftliche Beilage  der  Leiziger  Zeitung  vom  21./9.  1912). 


— -♦      506     ♦— 

Variation,  die  letzte  ausgenommen,  ist  ein  frei  kom*- 
ponierter  Satz  über  einen  der  Bibel  entnommenen,  in  das 
Kirchenlied  eingeschobenen  Sprach  angefügt.  Die  Varia- 
tionen sind  zum  Teil  nur  verschiedene  Harmonisierungen 
des  Themas,  zum  Teil  große  und  kühne  Paraphrasen. 

Der  erste  Vers  bringt  den  Choral  in  seiner  einfachen 
K^irchenform  im  Sopran,  aber  mit  den  kleinen,  lebendigen, 
ausdrucksvollen  Biegungen  der  begleitenden  Stimmen,  an 
denen  man  Bach  vor  Tausenden  gleich  erkennt.  Napaent^* 
lieh  der  Tenor  tritt  mit  einer  solchen  echt  Bachschen 
Wendung  in  der  letzten  Zeile  heraus.  Der  frejie  Nach- 
satz über  die  Worte  >Es  ist  nun  nichts«  folgt  dem  Cho- 
ral wie  das  Hauptstück  der  Einleitimg.  Er  enthält  ernste 
Betrachtungen  über  die  zugrunde  liegenden  Bibelworte, 
die  man  sich,  ehe  der  Chor  einsetzt,  vom  Geistlichen 
verlesen  denken  könnte.  Der  Musiker  übernimmt  die 
Rolle  des  Predigers  und  legt  aus.  Die  erste  Zeile:  >£s 
ist  nun  nichts  Verdammliches  an  Denen,  die  in  Christo 
Jesu  sind«  spricht  Bach  wie  einen  Trost  in  Tränen.  Das 
außerordentlich  bedeutungsvoll  dreimal  herausgehobene 
> nichts«  soll  aufrichten,  aus  dem  Sopranschluß  bei 
»Christo  Jesu«  klingt  aber  die  Wehmut  und  Trauer.  Die 
nächsten  Worte  »die  nicht  nach  dem  Fleische  wandeln c 
hält  Bach  in  mehrfachen,  eindringlichen  Wendungen  ab- 
weisend, warnend,  am  ausführlichsten  über  das  Thema: 


1  r  r  r  r  r  r  I  r  |j  'J  r  I  r  r  I 


die  nicht  nachdem  Fleische  wan dein 

das  sich  vom  Tenor  aus  zu  einem  Fugato  der  fünf  Stimmen 
ausbreitet.  Das  bessere  Ziel  des  christlichen  Wandels  »son- 
dern nach  dem  Geist«  wird  ganz  kurz,  aber  außerordent- 
lich fest  und  bestimmt  dagegen  gestellt.  Der  zweite  Teil 
besteht  aus  einer  Wiederholung  des  ersten,  aber  mit  dem 

Einsatz  von  der  Dominant  aus  und  ^ 

mit  einer  bedeutenden  Verlängerung,  f  *  m  f'  t^  l  f'  : 
die     aus     dem     Anfangsmotiv     des    u      1     '     '  • 

Satzes  herausgebildet  ist. 


607 


Der  zweite  Vers  bringt  den  Choral  wieder  in  der 
Art  des  ersten,  der  Sopran  singt  die  kirchliche  Fassung. 
Die  begleitenden  Stimmen  jedoch  singen  hier  lebendiger 
als  dort,  der  Satz  >Es  ist  nun  nichts  usw.c  hat  den 
Druck,  der  über  der  Stimmung  lag,  gelöst.  Im  Nachsatz 
des  Verses  >denn  das  Gesetze,  der  sich  wie  die  Mehrzahl 
dieser  Nachsätze  vom  Choral  durch  den  ungeraden  Rhyth- 
mus scharf  abhebt,  singen  nur  die  hohen  Stimmen,  beide 
Soprane  und  der  Alt.  Es  ist  der  Klang  der  Hoffnung 
und  der  Glaubenszuversicht.  Schon  im  4  6.  Jahrhundert 
macht  die  a  capella-Motette  von  derartigem  Farbenwechsel 
Gebrauch,  unter  anderen  lieben  ihn  Palestrina  und  Lasso; 
bei  den  Deutschen  wird  er  aber  erst  mit  dem  4  7.  Jahr- 
hundert und  mit  der  Einführung  der  Motettenbegleitung 
häufiger.  Bei  a  capella- Aufführungen  von  >Jesu  meine 
Freude«  ist  dieser  dreistimmige  Satz  besonders  schwierig. 

Der  dritte  Vers  beginnt  folgendermaßen: 


Trotz, 


^ 


^ 


'mjf  i  i 


rotz    dem  al  .     .  ten  Dra  .     .  chen,  trotz  dem  al  .len 


Drachen.trotz, 


des    Ra 


^^ 


cheo. 


„h:]n\Jn^'i^^ 


Dieser  erschreckend  kühne,  freie  und  energische 
Einsatz  läßt  kaum  glauben,  daß  wir  es  auch  hier  mit 
einer  Variation  des  frommen  Chorals  zu  tun  haben. 
Aber  schon  der  Gang  des  ersten  Soprans  vom  dritten 
zum  vierten  Takt  (bei  a)  stellt  die  Tatsache  außer  Zwei- 
fel.  Das  darauffolgende  Unisono  (bei  b),  das  der  zweiten 


--♦     608     ♦— 

Zeile  (c)  vorhergeht,  entspricht  dem  »Zwischenspiel«  des 
Orgelchorals.  Es  kehrt  auch  vor  der  dritten  Zeile  wie- 
der und  diese  selbst  erhält  einen,  einem  Nachspiel  glei- 
chenden Zusatz.  Am  Schluß  der  Wiederholung  der 
ersten  drei  Zeilen  hat  gerade  ihn  Bach  wunderschön 
zur  Oberleitung  in  die  zweite  Hälfte  des  Chorals  benutzt. 
Er  gibt  ihm  da  auf  die  Worte  >in  gar  sichrer  Ruh«  den 
Charakter  eines  Abendliedes  und  darauf  setzt  dann  die 
weiche  Stelle  ein:  > Gottes  Macht  usw.«  Aus  diesen  bei- 
den Motiven  hat  Bach  ein  Orgelvorspiel  zu  dem  Choral 
»Jesu  meine  Freude«  gebildet,  das  vielleicht  zum  Nach- 
spiel der  Motette  dienen  sollte.  Die  Wiederholungen 
überraschen  durch  neue  Änderungen  des  bereits  ge- 
änderten Notentextes.  Zum  Teil  folgen  diese  ^Änderungen 
dem  Sinne  der  Liedsätze,  zum  größeren  Teil  suchen  sie 
einzelne  Wortbilder  nach  der  Sitte  der  Renaissancemusik 
zu  veranschaulichen.  Dem  Baß  fällt  dabei  die  hervor- 
ragendste Rolle  zu,  besonders  bei  den  Begriffen  des 
»Tobens«  und  »Brummens«.  Die  Kunst  liegt  bei  diesem 
Verfahren  darin,  über  dem  reichen  Kleinleben  der  Kom- 
position nicht  ihren  Gesamtcharakter  zu  schädigen.  Auch 
nach  dieser  Beziehung  ist .  diese  dritte  Variation  ein 
Meisterstück,  die  Perle  der  Motette.  Denn  die  Hauptab- 
sicht: darzustellen,  wie  ein  christliches  Gemüt  vom  Sturm 
zur  Ruhe  gelangt,  legt  sie  aufs  deutUchste  dar.  Variation 
und  Nachsatz  kehren  diesmal  das  sonst  eingehaltene 
rhythmische  Verhältnis  um.  Jene,  als  Sitz  der  Erregung, 
steht  im  ungeraden,  dieser,  lösend  und  befreiend,  im 
geraden  Takte.  Der  Hauptteil  dieses  Nachsatzes  fugiert 
frohlockend  über  das  Thema: 


^<M  JUiJ-i  J;  p  f  1\\  p  p  p  I  frrrrffi 


Ihr  a.ber  seid  Hiebt  fleisch  .   heb  aondern  geist 


4  gj  r  'iT^JiiUffl^j^^^ 


lieh 


r 


509 

Ein  kleiner  Zwischensatz  über  die  Worte  »so  anders 
Gottes  Geist  in  euch  wohnetc  schaltet  einen  Augenblick 
der  Ruhe  darein.  Sehr  sinnig  ist  der  Schluß  des  Satzes, 
der  mit  den  Worten  »Wer  aber  Christi  Geist  nicht  hat« 
sich  scharf  von  der  Fuge  abhebt.  Der  Text  legte  hier 
einen  harten,  tadelnden  Ton  nahe,  Bach  wählte  aber 
einen  ernst  klagenden:  in  einzelnen  Wendungen  klingt 
leise  eine  Erinnerung  an  den  Schlußsatz  des  ersten 
Verses,  an  die  Stelle,  wo  vom  »Verdammlichen«  ge- 
sungen wird,  hinein. 

Diese  dritte  Variation  bildet  zwar  den  Höhepunkt 
der  seelischen  Erregung  in  der  Motette  und  die  Empfin- 
dung strebt  von  jetzt  nach  dem  kirchlich  friedlichen  Ton 
zurück,  mit  dem  die  Komposition  den  ersten  Vers  ein- 
setzte. Aber  dieser  Rückweg  ist  an  immer  neuen  Schön- 
heiten reich  genug.  Als  Bach  jetzt  im  vierten  Vers 
»Weg,  mit  allen  Schätzen«  den  Choral  wieder  im  soge- 
nannten stilo  semplice  mit  der  Melodie  im  Sopran  auf- 
nimmt, da  wills  am  Anfang,  wo  die  unteren  Stimmen 
zornig  ihr  »Weg,  weg«  rufen,  scheinen,  als  wollte  er 
nochmals  das  Bild  zornigen  Glaubens  malen.  Aber  sie 
bekunden  damit  nur  die  Fülle  der  Stimmung,  des  An- 
teils, mit  dem  sie  der  Führung  des  cantus  firmus  folgen 
und  lenken  bald  in  den  schwärmerischen  und  doch  knap- 
pen Ton  Eccardscher  Kontrapunkte  ein,  bald  der  Haupt- 
stimme vorausdrängend,  bald  ihre  Schlüsse  träumerisch 
umwandelnd.  Geradezu  elementar  wirkt  nach  diesem  Cho- 
ralschluß der  Einsatz  des  die  Variation  ergänzenden  Ter- 
zetts »So  aber  Christus  in  Euch  ist«.  Dieser  plötzliche  Cdur- 
Akkordist  an  sich  allein  eine  große,  dichterische  Eingebung; 
eine  Fülle  von  Weichheit,  das  Gefühl  vollständigen  Ge- 
borgenseins entströmt  ihm  und  wenn  die  drei  Stimmen 
auf  den  freund- 


.        -,,  So  a  .  Der  Chri^uB  in    Euch     isl 


ano  das  Thema  *"  '" 

anheben,  so  bleibt  für  Todesfurcht  nicht  der  mindeste 

Raum  mehr,  so  viel  auch  und  zwar  im  ernsten  Ton  vom 


»toten  Leib«  die  Rede  ist.  Eine  kürzere  oder  längere  Paiue 
▼or  diesem  Terzett  ist  eine  Sünde  an  Bach.  Im  zweiten 
Teil  des  Satzes  legt  die  Mosik  ein  freudiges  Gewand  an, 

ahmungen    l  p    flffff/P  P  f  fP  TTTP^F 

S^^      das     «^  jer  Geist ..«».berisi     das  Le .     .     .4mi 

Thema: 

schwongvoU  nnd  figorenreich  dnrch  die  Stimmen.  Am 
Schloß  trübt  sich  die  Stimmung  über  dem  Gedanken  an 
>die  Gerechtigkeit«  und  der  Satz  endet  tiefsinnig  in  einer 
phrygischen  Kadenz. 

Sie  bereitet  den  Einsatz  der  fünften  Variation 
»Gute  Nacht,  ihr  Wesen«  vor,  die  nach  Amoll  aus- 
weicht.   Ihr  erster  Satz  bringt  den  Choral  doppelt:  als 

cantus  firmus  im  Alt  und  

als   Kontrapunkt    des    Te-      fel^flP     PlPJi 
nors.    Im  zweiten  FaU,  et-      ^  ~  Q^XvLM,ihrWe.^  " 
was     maskiert,      nämlich: 

freie  Um-       ^^  P    P    I  p    fr  p    J^  | 
kehrung  von:     •^  ^ 

Aber  auch  die  beiden  Soprane  fügen  die  erste 
Choralzeile  in  dieser  Fassung  zuweilen  in  ihre  Melodie 
ein.  Der  ganze  Satz  ist  bei  sehr  kunstvoller  Stimm- 
führung außerordentlich  zart  und  hat  auch  etwas  Ge- 
heimnisvolles, dies  schon  deutlich  am  Anfang,  wo  die 
zwei  ersten  Takte  sofort  als  Echo  wiederkehren.  Bach 
hat  sich  ihn,  wozu  der  Text  und  die  Bestimmung  .der 
Motette  Anlaß  gab,  als  sogenannten  »Widerruf«  gedacht 
Was  es  mit  diesen  »Widerrufen«  für  eine  Bewandnis 
hat,  ist  beim  »Deutschen  Requiem«  von  Brahms  bereits 
gesagt  worden. 

Die  Form  des  Satzes  war  durch  die  Anlage  des 
Chorals  gegeben:  zwei  Hauptteile,  im  ersten  zwei  gleiche 
Gruppen.  Im  zweiten  benutzt  Bach  die  Obereinstimmung 
der  ersten  und  letzten  Choralzeile,  auch  mit  den  kontra- 
punktischen Stimmen  in  den  Anfang  der  Variation  zurück- 
zukehren. 


Mit  dem  Widerruf  ist  die  Trauerzeremonie  zu  Ende; 
die  Komposition  ebenfalls.  Zur  formalen  Abrundung 
nimmt  die  Motette  aber  als  Nachsatz  der  fünften  Varia- 
tion den  der  zweiten  Variation  —  mit  anderem  Text:  ■ 
»So  nun  der  Geiste  —  auf  und  schließt  dann  wie  sie 
begann:  mit  dem  Choral  im  einfach  liturgischen  Ton. 

Die  vierstimmige  von  Bach  mit  Continuo  (d.  i.  Skizze 
der  Orgelbegleitung)  versehene  und  zweisätzige  Motette: 
»Lobet  den  Herrn,  alle  Heiden«  steht  in  der  Gleich-       S.  Bach,     . 
förmigkeit  ihres  Verlaufs  und  der  Alltäglichkeit  ihrer  The-    Lobet  den 
men  und  Motive  hinter  den  andern  Motetten  ähnUch  zu-     .  Hprrn, 
rück,  wie  etwa  die  Lukaspassion  gegen  die  Passionen  zu 
Johannes  und  Matthäus.    Erst  gegen  'das  Ende  hin  kom- 
men einige  Wendungen  die  an  S.  Bach,  insbesondere  an 
den  Schlußsatz  von  »Singet  dem  Herrn«  erinnern. 

Süddeutschland  ist  in  der  Bachschen  Zeit,  soweit  sie 
sich  augenblicklich  übersehen  läßt,  nur  mit  einem  Kpm- 
ponisten  vertreten,  der  mit  a  capella-Motetten  auf  der 
alten  Höhe  steht.    Es  ist  der  Salzburger  J.  E.  Eberlin,  J.  E.  Eberlin. 
dessen  durch  Commer  veröffentlichte  Qrgelkompositionen 
die  Aufmerksamkeit  auch  auf  seine  Gesangwerke  lenken 
müßten.    Nimmt  man  den  Begriff  der  Motette  in  dem  er- 
weiterten Sinne,   welchen   die,  Liturgie   damit  zeitweilig 
verbunden  hat,  so  ist  aus  der  Zeit   nach  Bach   doch 
eine  größere  Anzahl   motettenartiger  Kompositionen  in 
den  heutigen  Chorgebrauch  und   das  Konzert   überge- 
gangen.     Auch   unsere   Klassiker   sind    mit    vertreten. 
Joseph  Haydn  mit  dem  unbegleiteten  Offertorium  »Du     J.  Saydn, 
bist's,   dem   Ruhm   und  Ehre   gebührt«    und   mit     Motetten, 
der  Instrumentalmotette:  »DesStaubes  eitle  Sorgen«  % 
(im    Originaltext    »Insanae   vanae    curae«).     Das    Offer- 
torium  gleicht  in  seinem  milden  Geist  und  in  der  from- 
men Führung  den  rehgiösen  Chören  der  »Jahreszeiten«. 
Die  Augen  und  die   Seele  der  Komposition  bilden   die 
zwei  Töne,  mit  All?moderato.       Die  große  Wirkung  ^er 

welchen     ein-  X  v\.  ^  o    |  j  Motette   »Des  Staubes 

gesetzt     wird:    ^         Da   büft        eitle    Sorgen«    beruht 
wesentlich  mit  auf  dem  elementaren  Gegensatz  von  Dur 


— ♦     5<Ä     ^ — 

und  Moll,  welcher  in  den  beiden  Teilen  der  Romposition 
mit  einer  unübertrefflichen  Genialität  ausgenutzt  ist.  In 
dem  Zusammengehen  von  Tonideen  und  Textideen  und 
in  der  Einfachheit  der  Darstellung  ist  diese  Komposition 
ein  Muster,  eine  jener  wenigen  Kompositionen  höchsten 
Ranges,  in  welchen  die  Kunst  ohne  Rest  in  der  Natur  der 
Sache  aufzugehen  scheint.  Und  doch  ist  diese  Motette 
nichts  als  eine  geistliche  Parodie  des  Sturmchores  aus 
Haydns  Oratorium :  »II  ritorno  di  Tobiac !  Ein  Seitenstück 
zu  diesem  prachtvollen  Werke  bietet  Haydns  »Schöpfung« 
^n  dem  Chor  »Verzweiflung,  Wut  und  Schrecken«  mit 
dem  Alternativ:  »Und  eine  neue  Welt«. 
H.  Haydiii  Von  Haydns  Bruder  Michael  ist  die  edel  und  ruhig 

TeneWae.  geführte,  kurze  a  capella-Motette  »Tenebrae  factae 
sunt«  zu  nennen,  eine  Charfreitagskomposition ,  welche 
ihren  Ruhm  namentlich  den  in  Mozartsche  Schönheit 
getauchten  Wendungen  verdankt,  mit  welchen  sie  an 
den  beiden  Schlußstellen  des  Satzes  »dum  emisit«  dem 
W.  A.  Mozart,^  Schmerze  Ausdruck  gibt.  Von  Mozart  selbst  sind  hier 
Motetten,  drei  Werke  anzuführen,  das  »Ave  verum  corpus«  (vom 
Komponisten  Motette  betitelt),  das  Offertorium  »Miseri- 
cordias  domini  cantabo«  und  die  Hymne  »Ob  fürchterlich 
tobend«.  Das  weltbekannte  »Ave  verum«  gehört  zu 
Mozarts  letzten  Werken  und  trägt  als  solches  dea  sub- 
jektiven Zug  sanfter  Wehmut,  welcher  den  meisten  von 
ihnen  eigen  ist.  Das  kurze  Stück,  zu  welchem  Orchester- 
begleitung gehört,  ist  wahrscheinlich  ^für  das  Fronleich- 
namsfest des  Sommers  4  794  bestimmt  gewesen  und  setzt 
in  dem  einfachen,  liedartigen  Stile  ein,  welchen  die  £in- 
'  lagen  für  diese  volkstümliche  Feierlichkeit  in  jener  Zeit  zu 
tragen  pflegen.  In  dem  kurzen  Rahmen  hat  ihnen  aber 
Mozart  einen  großen  Zug  gegeben.  Bei  der  zweiten  Hälfte 
»esto  nobis«  tritt  er  ein.  Das  Offertorium  »Misericordias 
usw.«,  welches  Mozart  in  seinem  4  9.  Jahre  schrieb,  ist 
dadurch  in  erster  Linie  eigentümlich,  daß  es  die  zwei 
Seiten,  von  denen  aus  sich  das  Leiden  des  Herrn  auf- 
fassen läßt,  in  der  Musik  streng  und  formell  aufs  Deut- 
lichste auseinanderhält  und  diese  Scheidung  durch  alle 


Variationen  bis  ans  Ende  festhält.  Die  Trauer  klingt  in 
dem  schwermütigen  Rhythmus  durch,  mit  welchem  das 
»Misericordias«  immer  wiederkehrt,  die  Begeisterung 
und  die  Dankbarkeit  über  das  Heil,  welches  den  Men- 
schen durch  Christi  Tod  gewonnen  ist,  in  den  Moti- 
ven des  »cantabo«.  Das  unter  ihnen  in  Nachahmungen  * 
und  kleineren  Fugen-         Moder ato.  etc. 

sätzeh  meist  verwen-  *^|,  w  m  f  ImJ)  i?  ^THrt  If         = 

dete  ist:  e^U    /  bo  in   M.tar  1     '  .   wmu 

Die  Hymne  »Ob  fürchterlich  tobend«   wirkt   durch 
den  Gegensatz  zwischen  dem  drohend  aufgeregten  An- 
fang und  dem  freundlichen  Gebetston  des  Schlußsatzes. 
Der  ganze  Charakter  der  Komposition  hat  etwas  Szeni- 
sches und  erscheint  mehr  vom  Geist  der  Bühne  als  dem 
der  Kirche  erfüllt    Beethoven  ist  in  der  im -Konzert     Beethoyan, 
heimiscl^en  motettenartigen  Komposition  nur  mit  Arrange-  Die  Himmel 
ments  vertreten.    Unter  ihnen  steht  die  großartig  pathe-      rubmen. 
tisch  wirkende  und  doch  so  einfache  Hymne  >Die  Him- 
mel riihmen«  obenan.   Namentlich  die  deklamatorische 
Episode  bei  «Wer  zählt  usw.«  hebt  sie  aus  der  Sphäre 
des  Lieds  heraus,  zu  dem  sie  ursprünglich  gehört.    Auch 
die  übrigen  Sologesänge,  die  Beethoven  über  Gellertsche 
Oden  komponiert  hat,  eignen  sich  für  Choreinrichtung, 
am  meisten  das  erregte  Bußstück:  »Gott,  deine  Güte  usw.« 
Von  Cherubini  ist  ein  »Pater  n oster«  zu  empfehlen,   !••  eheratliil. 
welches  bis  zur  sechsten  Bitte  im  Stile  des  Mozartschen  Pater  noster. 
»Ave  verum«  gehalten  ist.    Dann  aber  beginnt  ein  merk- 
würdig aufgeregtes  Allegro,  in   dem   die  Stimmen  aus 
leisem  Stammeln  in  eine  ungebärdige  Ekstase  übergehen. 
Das  »Vater  unser«  kehrt  unter  den  als  Motetten  und  OfiTer- 
torien  in  Ansehen  stehenden  Kompositionen  der  Folgezeit 
noch  häufig  wieder,  sowohl  in  seiner  einfachen  Bibelform, 
als  in  Paraphrasen,  unter  denen  die  Mahlmannsche  (»Du 
hast  deine  Säulen  dir  aufgebaut«)  am  häufigsten  benutzt 
worden  ist.   Die  am  Anfang  des  4  9.  Jahrhunderts  bekann- 
testen Kompositionen  des  Textes  waren  die  von  Himmel,       Himmel« 
Fesca  (a  capella  achtstimmig),  Spohr.    Aus  neuerer  Zeit  Fetoai  Bpot^r. 
ragen  die  beiden  »Pater  noster«  Fr.  Liszts  besonders      Fr.  Lisit 

n,  4.  38 


hervor.  Das  erste,  für  Männerchor  ist  einfach,  das  zweite, 
für  gemischten  Chor  und  Orgel  (aus  dem  »Christus«)  ent- 
wickelt sich  in  außerordentlicher  mannigfaltiger,  innerer 
Bewegung.  —  Unter  den  motettenartigen  Offertorien  aus 
dem  Kreise  der  Klassiker,  welche  heute  noch  im  Konzert 
zuweilen  auftauchen,  ist  noch  des  »Salve  Regina«  (für 

F.  Schultert,  Solosopran  und  kleines  Orchester)  von  F.  Schubert  als 
Salve  Regina,  einer  weichen,  liebenswürdigen  Komposition  zu  gedenken. 

Das  größte  Ansehen  als  protestantische  Motettenkom- 

J.  Q,  Schicht,  ponisten  nach  S. Bach  genossen Homilius,  Rolle  und  der 
Motetten.  Leipziger  J.  G.  S  c  h  i  ch  t.  Den  Zeitgenossen  Schichts  standen 
seine  Motetten  besonders  durch  ihr  intimes  Verhältnis  zur 
geistlichen  .Arie  nahe,  der  sie  den  Kern  und  die  Schale  des 
Gemütslebens  entnahmen.  Zu  dem  weichen  Ton  und  den 
bequemen  Formen,  welche  in  dieser  Gattung  herrschten, 
kehrt  Schicht  namentlich  in  seinen  kleineren  Motetten 
rasch  und  gern  zurück,  nachdem  er  eine  Weile  im  größeren 
Stile  und  im  polyphonen  Satze  sich  bewegt  hat.  Die  in 
derartigen  Abschnitten  untergebrachten  Fugen  mit  ihren 
langen  Themen  und  ihrer  peinlichen  Regelmäßigkeit  galten 
lange  als  Muster.  Ein  andrer  und  bedeutender  Künstler 
ist  Schicht  in  seinen  größeren  Motetten*),  in  den  Psalmen- 
und  Choralmotetten,  von  welchen  letzteren  namentlich 
die  beiden  .»Meine  Lebenszeit  verstreicht«  und 
»Nach  einer  Prüfung  kurzer  Tage«  wirklich  volks- 
tümlich und  bis  in  die  Nähe  der  heutigen  Generation 
allgemein  beliebt  waren.  Hier  ist  Kraft  und  Größe  der 
Empfindung,  Freiheit  und  Mannigfaltigkeit  des  Stils  zu 
finden.  Sie  gehören  zu  den  bedeutendsten  musikalischen 
Früchten  der  Gellertschen  Epoche.  Ihr  vergänglicher  Teil 
liegt  im  allzustarken  Gefühlauftrag,  in  der  Neigung  zu 
trivialen  Malereien  und  Klangeffekten.  Begegnen  wir  doch 
in  der  Motette  »Die  mit  Tränen  säen«  einem  Sopransolo 
mit  Brummstimmen.  Schichts  Schüler  bildeten  diese 
Schwächen  weiter,  die  Motette  der  zwanziger  Jahre  des 


*)  Sie  waren  nach  F.  Rochlitz  (Allgemeine  Mas.  Ztg.  Jahrg. 
20,  S.  853)  als  Ersatz  der  Sontagskantate  gedacht 


I 


i  9.  Jahrljunderts  beginnt  infolgedessen  sehr  äußerlich  zu 
werden.  Stücke,  in  denen  die  vier  Stimmen  das  Meeres- 
brausen und  andre  Naturerscheinungen  malen  wollen,  in 
denen  über  einen  leise  von  Sopran,  Alt  und  Tenor  gesunge- 
nen Choral  die  Bässe  Fanfarenmotive  hinschmettern, 
werden  sehr  beliebt.  Unter  den  Musikern,  welche  dem- 
gegenüber in  der  Motette  eine  edlere  Richtung  mit  höherer 
Bildung  and  bedeutenderem  Können  vertreten,  ist  mit 
besonderer  Auszeichnung  Moritz  Hauptmann  zu M.  Hauptmann, 
nennen,  dessen  »Salve  Regina«  den  Namen  des  Kom- Salve  Regina, 
ponisten  schnell  und  weit  bekannt  machte.  Von  seinen 
außerordentlich  stimmgerechten  Kompositionen,  die  der 
schwärmerische  Geist  der  Frühromantik  beseelt,  be- 
gegnen wir  im  heutigen  Konzert  am  häufigsten  noch 
den  kleineren,  einfachen  Stücken:  Salvum  fac  regem, 
der  Trauungsmotette:  Ich  und  mein  Haus,  dem  Morgen- 
gesang: Kommt,  laßt  uns  anbeten,  dem  Männerchor: 
»Ehre  sei  Gott  in  der  Höhe«,  einer  der  mildesten 
aber  einheitlichsten  Kompositionen  des  verdeutschten  * 
»Gloria«.  Durch  Mendelssohn,  der  in  Rom  an  den 
Idealen  der  alten  Vokalperiode  seine  Schule  gemacht 
hattie,  wurde  dann  der  von  Hauptmann  betretene 
bessere  Weg  auch  der  allgemeine. 

Der  Motetten  Mendelssohns  ist  schon  in  dem  F.  Mendelssohn, 
Abschnitt  über  di^  Psalmenkomposition  gedacht  worden.  Mitten  wir. 
Unter  den  übrigen  ist  die  Choralmotette  »Mitten  wir 
im  Leben  sind«  (achtstimmig  a  capella)  als  die  im 
Konzert  am  häufigsten  vorkommende  hervorzuheben. 
Sie  ist  in  drei  Strophen  gegliedert,  von  welchen  die 
ersten  beiden  in  der  Musik  übereinstimmen  und  nur  im 
Text  verschieden  sind.  Die  erste  Hälfte  bringt  ernst  und 
hochfeierUch  den  Choral.  Von  dem  Abschnitt:  >Hei]iger 
Herr,  Gott«  ab  gerät  der  Vortrag  in  eine  leidenschaft- 
liche Bewegung,  die  stellenweise  jenen  stürmischen, 
düsteren  Charakter  annimmt,  der  uns  die  mittelalterliche 
Zeit  vor  die  Fantasie  ruft,  wo  diese  gewaltige  Notkersche 
Sequenz  das  Schlacht-  und  Sterbelied  trotziger  Lands- 
knechtsscharen war.    Die  dritte  Strophe  hält  den  Choral- 

33» 


ton  wieder  durchweg  ein.    Von  den  begleiteten  Mendels- 
sohnschen  Chorwerken,  welche  Motettenchaxakter  besitzen, 
ist  im  Konzert  namentlich  die  Hymne  (för  Sopran-  oder 
F.  Me^delstolin,  Altsolo,  Chor  und  Orgel)   »Hör  mein  Bitten«  einge- 
Hör*  mein    bürgert.    In  dem  formell  interessanten  und  ilußerst  wohl- 
Bitten.       klingenden  Werke  lebt  dramatischer  Geist    Neben  ihr 
F.  Mendelssolui, kommt  noch  häufig  die  kleine  Hymne  »Verleih  uns 
Verleih' nns.  Fried en<  (Text  von  Luther)  vor,  ein  Werk  einfachen, 
natürlichen  Ausdrucks,  in  welchem  sich  Instrumente  und 
Singstimmen  in  Innigkeit  und  Herzlichkeit  des  Gesanges 
zu  überbieten  scheinen.    Die  Komposition,  welche  Men- 
delssohn über  »Tu  es  Petruse  für  Chor  und  Orchester 
geschrieben  hat,  ist  ziemlich  unbenutzt  geblieben.    Sie 
folgt  auch  stilistisch  den  altern  Bearbeitungen  des  alten 
berühmten  Motettentextes.     Unter  den  motettenartigen 
Sätzen,  welche  Mendelssohn  für  den  Männerchor  ge- 
F.  tfendelsBohn, schrieben  hat,  sind  nur  die  beiden  Stücke  »Beati  mor- 
Motettenfür  tui«   (unbegleitet)  und  der  feurige  Vespergesang  »Qui 
Mänrerchoi.  regis  Israel,  intende«  auf  dem  Repertoire.  Unter  den 
Komponisten,  welche  von  seiner  Schule  ausgingen,  ver- 
B.  F.  Biohter.  dient  namentlich  E.  F.  Richter  in  Erinnerung  zu  bleiben. 
Von  seinen  kleinen  Motetten  ist  »Bleibe  Herr,  o  sieh  uns 
flehen«,  von  den  größeren:  »Als  Israel  aus  Ägypten  zog« 
ein  Schmuck  für  jedes  a  capella-Konzert.    Mit  dem,  was 
der  Text  seelisch  verlangt,  sei  es  schlichte  innige  Em- 
pfindung, sei  es  große  Fantasie,  verbinden  sie  in  jedem 
Fall  eine  trefiEliche,  auch  der  äußern  Wirkung  ungewöhn- 
lich sichere  Satzkunst. 

Mit  einer  neuen,  eigentümUchen  Leistung  bereicherte 
B.  SohnmaAB,  R.  Schum  ann  das  Gebiet  in  seiner  für  doppelten  Männer- 
Verzweifle     chor   geschriebenen   Motette    »Verzweifle   nicht   im 
nicht.        Schmerzenstal«.  Die  Komposition  ist  so  wenig  eigent- 
lich kirchlich,  als  es  der  ihr  zugrunde  liegende  Rückert- 
sche  Text  ist,  aber  sie  ist  ein  kühner  Ausdruck  einer 
voUen  Empfindung,  vielfach  ergreifend,  durchweg  fesselnd. 
Die  allgemeine  Beachtung  verdient  sie  schon  um  des  Ver- 
suchs willen,  in  die  kirchlichen  Kompositionen  des  Männer- 
chors die  Formen  des  großen  Stils  wieder  einzufahren. 


Den  von  Hauptmann  und  Mendelssohn  erschlossenen 
Weg,  die  Motette  vor  Experimenten  durch  Rückkehr  zu  den 
alten  italienischen  Mustern  zu  bewahren,  hat  später  die  neue 
Berliner  Schule  unter  Führung  von  E.  Grell  glücklich  weiter  B.  Qrell« 
verfolgt.  Die  Anregungen  dazu  gehen  auf  G.  v.  Winterfeld  und 
auf  die  Kronpxinzenzeit  des  Königs  Friedrich  Wilhelm  IV.  zu- 
rück. 0.  Nicolai,  später  C  Reinthaler  und  andere  jung6 
Talente  wurden  von  der  preußischen  Regierung  nach 
Rom  zum  Studium  alter  Kirchenmusik  geschickt  Ähn- 
lichen Bestrebungen  verdanken  wir  die  Motetten  des 
Russen  Bortniansky,  der  in  Nie.  v.  Wilm  einen  D.  Bortnlaikaky. 
glücklichen  Nachfolger  gefunden  hat.  Daß  sie  in  der  H.  t.  Wilm. 
katholischen  Motette  des  deutschen  Sprachgebiets  allge- 
mein gesiegt  haben,  ist  ein  Verdienst  des  bereits  erwähnten 
Cäcilien Vereins.  Von  dem  reichen  Motettensegen,  auf 
den  er  verweisen  kann,  nimmt  das  Konzert  zu  seinem 
Schaden  keine  Notiz.  Es  sind  Arbeiten  genug  darunter, 
die  mit  der  Stilschönheit  alter  Zeiten  modernen  Geist 
verbinden;  unter  ihnen  seien  die  E.  Stehles  (Terra  E.  Stelila. 
tremuit)  hervorgehoben.  Von  den  in  der  großen  Welt 
bekannten  Komponisten  gehört  auch  F.  Liszt  mit  einigen  F.  Liiit.  * 
Kleinigkeiten  in  der  Motette  ( —  die  kleine  Hymne  »Ave 
maris  Stella«,  ein  einfach  frommes  Stück  in  der  Weise 
des  altertümlichen  Kirchenliedes,  ist  darunter  die  der  all- 
gemeinsten Zustimmung  sicherste  — )  und  ebenso  J.  R  h  e  i  n  -  J.  Rhelnberger. 
berger  zu  den  Cäcilianem.  Nur  eine  leichte  geistige  Ver- 
bindung besteht  zwischen  ihnen  und  Peter  Cornelius;  F.  OomeUiis. 
in  der  Form  geht  er  neuere  eigene  Wege.  Seine  ersten 
Beiträge  zum  geistlichen  a  capella -Gesang  sind  die  unter 
Lisztschem  Einfluß  entstandenen  kleinen  geistlichen 
Mä n n  e  r ch  ö  r  e.  An  ihrer  Spitze  steht  eine  rezitativartige 
Komposition  von  »Mitten  wir  im  Leben  sind«,  die  an  Un- 
mittelbarkeit des  Ausdrucks  in  neuerer  Zeit  kaum  ihres- 
gleichen hat.  Todesangst,  Gnadenbedürfnis,  Gottvertrauen 
strömen  hier  nacheinander  so  heiß  und  stark  aus  dem 
Herzen  des  Komponisten,  daß  der  Hörer  leidenschaftlich 
mit  betet.  Bei  diesem  Verhältnis  zu  Gott  und  den  ewigen 
und  tiefsten  Fragen  des  Menschentums  ist  GorneUus  auch 


—^     518     ♦— 

in  den  großen  fGr  gemischten,  zum  Tdl  doppelten  Chor 
geschrieben^!  Motetten  des  Zykins  »Liebe«  geblieben. 
Auch  diese  Mnsik  ist  mit  einer  manchmal  brennenden 
Wärme  komponiert,  ist  dorchans  Ton  gewordene  Inner- 
lichkeit. Die  Form  dieser  Motetten  ist  anf  der  Grundlage 
des  Lieds  anfgebant,  ihre  Dehns  Schnle  zeigende  Stimm- 
führung nicht  leicht,  ihr  Wohlklang  außerordentlich.  Nach 
der  Glut  der  Empfindung,  nach  der  Unmittelbarkeit  des 
Ausdrucks,  nach  der  schrankenlosen  Freiheit  der  Modu- 
lation sind  die  geistlichen  Chöre  von  Cornelius  durch 
und  durch   eine   neudeutsche  Frucht   und   standen  als 

A  Bitter,  solche  lange  vereinzelt  In  Alexander  Ritter  op.  41 
(Hauptstück  >Wohl  bin  ich  nur  ein  Ton«  für  4  2  stimmigen 
H.  Wolt  Chor)  und  in  Hugo  Wolfs  vierstimmigen  geistlichen  Lie- 
dern auf  Eichendorffsche  Texte  femden  sich  erst  spät  be- 
deutende Seitenstücke  dazu  ein;  den  neuesten  Zuwachs 
bilden  die  16stimmige  Hymne:  > Jakob,  dein  verlorner 

R.  Straofi.  Sohn  usw.«  von  Richard  Strauß  (op.  34,  Nr.  %)  und 
dessen  »Deutsche  Motette«  (op.  62).  Jene  führt  die 
schöne,  Gottvertrauen  in  Not  predigende  DichtnngF.  Rückerts 
in  der  Weise  dreiteilig  aus,  daß  der  dritte  Teil  zum  ersten 
im  Verhältnis  gesteigerter  Glaubenszaversicht  steht,  dem 
mittleren,  einer  Fuge  über  die  Worte:  »Zwar  bedenklich 
ist  unser  Gang  usw.«  die  Erregung  und  Sorge  zugewiesen 
.  wird.  Ihn  singen  die  drei  unteren  Chöre  allein,  in  den 
beiden  Ecksätzen  steht  ihnen  der  erste  Chor  als  Personi- 
fikation religiöser  Seelenruhe  poetisch  und  dramatisch 
sehr  wirksam  gegenüber.  Die  hier  von  Strauß  angewen- 
dete Polyphonie  beschränkt  sich  auf  kleine,  im  wesent- 
lichen nur  das  Kolorit  und  die  Harmonie  bereichernde 
und  belebende  Nachahmungen,  die  Melodik  nähert  sich 
wiederholt  dem  Rezitativstil.  Die  Wirkung  der  Hymne 
ist  bei  guter  Ausführung  nicht  bloß  blendend,  sondern 
dank  der  überwiegenden  Kongruenz  von  Inhalt  und  Form 
auch  tief.  Auch  die  »DeutscheMotette«,  der  ebenfalls 
eine  Rückertsche  Dichtung,  ein  frommes,  schönes  Abend- 
gebet, zugrunde  liegt,  ist  ein  ganz  eigener  und  bedeutender 
Beitrag   zur  neuesten   geistlichen  a  capella  -  Musik.     Im 


— ^      519      *>-* 

tiefen  Erfassen  und  schwännerischen  Ausbreiten  der 
Stimmungen,  in  der  motivischen  Erfindung,  in  der  kunst- 
vollen, an  Engführungen  und  Neubildungen  reichen  und 
doch  einfachen,  klaren  Arbeit,  in  der  Unterordnung  der 
köstlichen  Einzelheiten  unter  die  Hauptziele  ist  sie  reif 
und  meisterliqh,  ist  deutsch  und  eine  natürliche  Frucht 
edler  Rehgiosität.  Sie  steht  in  mehr  als  einer  Beziehung 
über  der  Jakobhymne,  teilt  aber  mit  ihr  das  etwas  ein- 
seitige Streben  nach  koloristischen  Wirkungen.  Dieses 
hat  an  mehr  als  einer  Stelle  die  vier  Solostimmen,  die 
zu  dem  i  6  stimmigen  in  vier  Gruppen  vorgehenden  Chor 
hinzutreten,  mit  zu  billigen  und  spielerischen  Einfallen 
belastet,  es  hat  den  Komponisten  auch  zu  Ansprüchen 
an  die  Höhe  der  Soprane  und  an  die  Tiefe  der  Bässe 
verleitet,  an  denen  die  Verbreitung  der  wertvollen  Motette 
scheitern  muß. 

Die  letzten,  weiter  bekannten  protestantischen  Kom- 
ponisten, die  im  geistlichen  Konzert  mit  Motetten  großen 
Stils  dauernd  Fuß  gefaßt  haben,  sindR.  Volk  mann  und  B.  Volkmaan, 
Job.  Brahms.  Von  ersterem  ist  es  das  Weihnachts-  J.  Brahms. 
lied  »Er  ist  gewaltig  und  starke,  eine  Komposition 
für  Chor  und  Solostimmen,  welcher  eine  Dichtung  aus 
dem  4  2.  Jahrhundert  zu  Grunde  liegt.  Auch  Volkmänns 
Musik  geht  alten  Spuren  nach.  Sie  lenkt  in  den  naiven, 
wilde  I^aft  und  Zartheit  vereinenden,  auf  kleine  reizende 
Malereien  bedachten  Ton  ein,  welcher  dem  deutschen 
geistlichen  Volkslied  im  Mittelalter  eigen  war,  und  die 
episodenreiche,  die  Baulinie  mit  allerlei  Nischen  und 
Erkern  durchbrechende  Architektonik  dieser  Komposition 
beruht  höchstwahrscheinlich  auf  dem  Studium  des  Orlando 
di  Lasso.  Unsere  Zeit  hat  aber  auf  allen  Gebieten  der 
Kunst  eine  Vorliebe  für  diesen  archaistischen  Zug,  wenn 
er  geglückt  ist.  Beim  ruhigen,  stillen  Studium  dieser 
Motette,  wo  man  bei  Einzelheiten  kritisch  verweilen  darf, 
kann  man  sich  einer  Reihe  Bedenken  nicht  erwehren. 
'  Die  Komposition  wurzelt  vielfach  im  Instrumentalen  — 
daher  auch  ihre  große  Schwierigkeit  —  und  die  Entwick- 
lung ist  bunt  und  sprunghaft.  Wenn  der  Gesamteindruck 


--♦     5t0      ♦— 

einer  lebendigen  AoffQhrang  trotzdem  ein  positiver  und 
starker  ist,  so  verdankt  sie  das  der  großen  geistigen  Kraft, 
welche  das  Ganze  zusammenhält,  und  dem  lebendigen 
eigenartigen  Ansdmck,  welcher  die  Mehrzahl  ihrer  kleinen 
Bilder  erfüllt.  In  den  anheimelnden,  wie  in  den  fremd- 
artigen lebt  etwas  vom  Elindergeist  und  der  raschen 
Fantasie  der  frühen  Jugend,  die  schaorige  Eindrücke 
ebenso  schnell  wieder  abschüttelt,  als  sie  dieselben  auf- 
nimmt Der  bedeuten^ßte ,  durch  einheitliche  und  er- 
habene Stimmung  hervorragende  Satz  der  Komposition 
ist  der  dritte:  »Ich  habe  lange,  lange«,  welcher  Soli  und 
Chor  dramatisch  zusammenwirken  läßt  Das  Ende  des 
außerordentlich  malerischen  zweiten  Satzes:  >Ein  hohes 
Haus«  bereitet  ihn  vor. 

Brahms  hat  auf  dem  Felde  der  Motette  anhaltend  und 
mit  bestimmten  Absichten  gearbeitet.  Er  begegnet  sich 
mit  Mendelssohn  im  künstlerischen  Ziele  in  soweit,  als 
auch  ihm  in  der  Rückkehr  zu  den  älteren  Mustern  für 
Geist  und  Stil  der  Gattung  das  Heil  liegt  Aber  während 
Mendelssohn  seine  Vorbilder  in  den  verwandten  milderen 
Naturen  der  alten  römischen  und  venetianiscfaen  Schule 
suchte,  wendet  sich  Brahms  mehr  an  die  Meister  der 
&afl  und  Entschiedenheit,  welche  in  der  altdeutschen 
und  niederländischen  Schule  die  Form  zu  zwingen  such- 
ten. Den  meisten  seiner  Motetten  ist  ein  gewisser  Holz- 
schnittcharakter, ein  rauher  und  herber  Zug  eigen. 

Aus  den  älteren  Motettenwerken,  welche  wir  von 

J.  Brahma,  J.  Brahms  besitzen,  hat  sich  das  Konzert  nur  die  Kom- 
r.aB  dich  nur  Position  des  Flemmingschen  Liedes:  »Laß  dich  nur 
nichts.  nichts  nicht  dauren«  (für  vierstimmigen  Chor  und 
Orgel)  angeeignet.  Es  ist  wie  die  anderen  geistlichen 
Kompositionen,  welche  der  früheren  Periode  dieses  Ton- 
setzers angehören,  ein  Studienwerk  im  strengen  Stile:  die 
Stimmen  führen  einen  Doppelkanon  durch.  Es  enthält 
aber  dabei  ebenfalls  eine  Fülle  warmer  Empfindung,  einen 

J.  Brahmi,     eigen  verschleierten  Ausdruck  bittender  Zuversicht  Häu- 
Zwei  Motetten  figer  gelangen  die  beiden  Motetten  des  op.  74  zur  Aus- 

(op.  74).     führung:  »Warum  ist  das  Licht  gegeben  den  Müh- 


— ♦     621      ♦— 

seligen?«  und  >0  Heiland^  reiß  die  Himmel  anf!« 
Die  letztere  ist  eine  Ghoralmotette  von  ähnlicher  Anlage 
wie  die  im  Opus  29  gegebene  Komposition  von  >Es  ist 
das  Heü  uns  kommen  her«,  die  Choralmelodie  wird  in 
vier  Versen  variiert  Sie  erscheint  nacheinander  im 
Sopran,  im  Tenor  und  im  B^ß,  als  cantus  firmus  in 
der  ursprünglichen  Form ;  die  kontrapunktierenden  Stim- 
men umsingen  sie  mit  Motiven,  welche  zum  Teil  aus  ihr 
selbst  abgeleitet  sind.  Erst  dat»  Finale  stellt  die  Grund- 
melodie in  einer  leicht  erkennbaren  Umbildung  auf.  Die 
Stimmung  des  Werkes  setzt  mit  harter  Klage  ein  und 
mildert  sich  von  Abschnitt  zu  Abschnitt  mehr  zu  einem 
trösthchen  und  hoffnungsvollen  Ton.  Im  Finale,  beim 
Eintritt  des  »Amen«,  entspringt  aus  ihm  ganz  plötzlich 
ein  kräftig  energischer  Ausbruch  der  Glaubensfreude.  — 
Die  andere  Motette  des  Heftes  »Warum«,  eine  im  allge- 
meinen zugänglichere  und  moderner  gehaltene  Komposi- 
tion, hat  in  dem  Eingangssatze  ihre  geistige  Spitze.  Die 
geniale  Art,  in  welcher  dieses  schwermütige  fragende 
»Warum«  deklamiert  ist  und  immer  wiederkehrt,  ergreift 
mächtig.  Zuletzt  ist  der  Motettenschatz  von  Brahms 
um  ein  weiteres  wertvolles  Heft  bereichert  worden:  die 
drei  »Fest-  und  Gedenksprüche«  des  op.  409.  Inder 
verschleierten  Sprache  der  Offenbarung  Johannis  preisen 
und  mahnen  diese  Motetten  unser  deutsches  Volk;  ihre 
Töne  sind  ein  dreifaches  Ruhmeszeugnis  für  die  patrio- 
tische Empfindung  des  Komponisten,  für  die  Kraft  seiner 
musikalischen  Seele  und  für  die  Meisterschaft,  mit  der  er 
die  schwierigsten  Formen  des  gebundenen  Stiles  beherrscht 
Neben  Volkmann  und  Brahms  können  von  bekannten 
Komponisten  noch  A.  Becker,  H.  von  Herzogenberg, 
es  können  M.  Blumner,  R.  Succo  und  andere  Schüler 
Grells,  es  können  J.  G.  Herzog,  R.  Palme,  G.  Rebling, 
F.  W.  Rust,  R.  Pappe  ritz  als  Vertreter  der  neuen 
Motette  genannt  werden,  G.  Schreck  (Motetten  für  Fest- 
zeiten) und  sonstige  Dirigenten  von  Kirchenchören  fahren 
fort,  das  Feld  zu  bebauen.  Aber  Museumsbedeutung,  d.  i. 
ständige  Verwendung  im  geistlichen  Konzert,  haben  nur 


-^     5JJ     ♦— 

wenige  nette  Motetten  erreicht  nnd  die  Zahl  namhafter 
Tonsetzer,  die  'dem  kirchlichen  Bedarf  entspricht,  wird 
immer  geringer.  Hier  hat  sich  seit  der  Mitte  des  i  9.  Jahr- 
^  hunderts  eine  bedenkliche  Wendung  vollzogen.  Noch 
Donizetti  schreibt  ein  >Miserere€,  nnd  von  Berlioz 
werden  in  den  französischen  Kirchen  noch  jetzt  kleine 
Kirchenstücke  gesungen,  wir  finden  nicht  bloß  einen 
Spohr,  wir  finden  auch  einen  Suppä  (Requiem)  und 
einen  Kücken  (Motetten)  unter  den  geistlichen  Kompo- 
nisten. Und  heute?  Bis  auf  wenige  Ausnahmen  stehen 
die  Spitzen  der  jüngeren  deutschen  Tonsetzergeneration 
von  der  Kirche  abseits.  Die  alte  Musik  kann  diese  Lücke 
nur  zum  Teil  füllen;  es  steht  schlimm,  wenn  eine  ganze 
Epoche  die  religiöse  Kunst  ignoriert  Da  die  Konzert- 
chöre deren  weiterem  AbÜEÜl  durch  Beachtung  des  Cruten 
wenigstens  einigermaßen  steuern  können,  seien  hier  die 
Namen  solcher  neuester  Motettenkomponisten  vorgefahrt, 
die  eine  solche  gleich  den  bereits,  genannten  mit  einzelnen 
oder  mehreren  Werken  verdienen.  Der  Schwerpunkt  dieser 
neuesten  Motettenarbeit  fallt  auf  das  geistliche  ChorUed, 
doch  kommen  auch  noch  Motetten  im  großen  Stil  vor 
Es  sind  W.  Berger,  G.Flügel,  P.  Gerhardt,  G.Hecht" 
C.  Heubner,  H.  Hohmann,  C.  Junne,  F.  Kauffmann' 
0.  Kisler,  V.  Schurig,  F.  Thieriot,  0.  Thomas' 
W.  Voullaire. 

Wie  schon  die  Eigentümlichkeit  der  Motetten  von 
Peter  Cornelius  zum  Teil  mit  auf  den  formellen  Einfluß 
seines  Berliner  Lehrers  S.  Dehn  beruht,  so  macht  sich 
auch  in  der  hier  eben  genannten  Reihe  eine  Berliner 
Schule  und  insbesondere  das  Vorbild  Friedrich  Kiels 
in  einer  lebendigen  und  kräftigen  Stimmführung  geltend. 
Besonders  deutUch  kommt  sie  in  den  Arbeiten  W.  Bergers 
zum  Vorschein,  reicht  aber  über  diesen  Tonsetzer  hinaus 
und  bis  in  die  alleijüngste  evangeUsche  Motettenarbeit 
hinein.  Wichtig  ist  es,  daß  in  dieser  Berliner  Motette  der 
letzten  Jahre  eine  ausgesprochen  schwermütige  Gedanken- 
richtung die  Oberhand  genommen  hat.  Unverkennbar 
steht  diese  Wendung  mit  den  »Vier  ernsten  Gesängen« 


—4     523     ♦— 

von  Johannes  Brahms  in  Zusammenhang,  die  ja  weit- 
hin in  der  deutschen  Musik  ihre  Spuren  hinterlassen 
hahen,  besonders  starken  aber  in  dieser  Berliner  Mo- 
tette. Denn  ihre  Musik  baut  sich  vorwiegend  auf  die 
Trübsal  des  Buches  Hiob  und  auf  die  Klagelieder  Jeremiae 
auf.  An  der  Spitze  der  Gruppe  stehen  die  drei  Mo- 
tetten für  gemischten  Chor  und  Orgel  (op.  60)  von 
Georg  Schumann,  Kompositionen,  die  Hiobs  ganz  vonG.  SohamafliL 
Gram,  Hohn  und  Verzweiflung  erfüllte  Weltauffossung 
mit  einer  fast  beispiellosen  Strenge  und  Unerbittlichkeit 
wiedergeben.  Verhältnismäßig  reich  an  weichen  Zügen 
ist  das  dritte  Stück:  »0,  daß  ich  wäre  wie  in  den 
Tagen  usw.«.  Hier  gründet  der  Text  seine  Klage  auf 
die  Erinnerung  an  hellere  Tage  der  Jugend,  der  Musiker 
geht  noch  einen  Schritt  weiter  und  führt  uns  einen  durch 
seine  Liebenswürdigkeit  rührenden  Hiob  vor.  Die  Musik 
gewinnt  zum  Teil  durch  kleine  Züge,  wie  intime  Intervalle, 
schwärmerisch  festgehaltene,  kleine  Motive,  zarte,  eigen 
gestaltet^  Wechselakkorde.  Noch  mehr  beruht  aber  ihre 
ergreifende  Wirkung  auf  der  Eingänglichkeit  und  Freund- 
lichkeit der  Melodik  und  schließlich  auf  dem  höchst  ein- 
fachen Aufbau  der  Form,  die  ganz  an  das  zweiteilige  lied 
mit  Wiederholungen  anschließt.  Die  beigegebene  Orgel- 
begleitung unterstützt  und  belebt  den  Klang,  weseniUch 
ist  sie  nur  bei  der  ersten  Motette:  »Wo  ist  ein  Mensch, 
wenn  er  tot?«,  bei  der  nach  der  innerlich  sehr  erregten 
Einleitung  ablenkend  ein  Stück  Tonmalerei,  eine  auf  Orgel- 
figuren gestützte  Wassermusik,  eintritt.  In  der  Erfindung 
geht  diese  erste  Motette  in  der  ersten  Hälfte  auf  Einzel- 
heiten und  auf  rhetorische  Wirkungen  aus.  Dir  wertvollster 
Teil  ist  das  schließende  Adagio  über  die  Worte  »So  ist 
ein  Mensch,  wenn  er  schläft  usw.«.  Es  stellt  sich  durch 
den  warmen  melodischen  Ausdruck,  der  alle  Stimmen 
•  beherrscht,  zu  dem  vorausgegangenen  starren  Ton  in  einen 
schönen  Gegensatz.  Die  äußerlich  erregteste  unter  den 
drei  Motetten  ist  die  zweite:  »Muß  nicht  der  Mensch 
immer  im  Streit  sein?«,  der  Hauptträger  ihres  leiden- 
schaftlichen Tones  eine  sehr  geschickt  ausgenutzte  Zwei- 


chörigkeit  Den  Eindruck  des  Stückes  entscheiden  die 
beiden  Klagen:  >Also  hab^  ich  mich  gesehntc  und  >Also 
wer  in  die  Hölle  hinunterfahrt«.  Bei  ihnen  treten  die 
acht  Stimmen  zum  einfach  homophonen  Satz  zusammen. 
Unter  den  weiteren  von  demselben  Komponisten  ver- 
I  öffentlichten  geistlichen  Sätzen  für  a  capeUa-Ghor  ver- 

dienen die  drei,  über  Psalmentexte  geschriebene  Motetten 
des  op.  42  besonders  hervorgehoben  zu  werden.  Sie  zeigen, 
welch  starker  Teil  der  besonderen  Modulationskunst  eines 
Peter  Comehus  sich  auf  G.  Schumann  vererbt  hat.  Nach 
Klang  und  Satzkunst  fesselt  am  meisten  die  erste  (acht- 
stimmige) Nummer:  >Komm' heiliger  Geist«,  die  beiden 
andern  prägen  sich  durch  die  liebenswürdige  Beweglich- 
keit des  Ausdrucks  ein,  am  stärksten  der  Schluß  der 
dritten  (>Herr,  erhöre  meine  Worte«)  bei  der  Stelle:  »Ich 
bin  so  müde  vom  Seufzen«. 

Gleich  meisterlich  wie  die  Schumannschen  sind,  die 
F.  E.  Eooli.  a  capella-Arbeiten  Friedrich  £.  Kochs.  Obenan  stehen 
unter  ihnen  die  zehn  deutschen  Motetten  des  op.  34, 
die,  obwohl  ihre  Texte  den  Jeremias  bevorzugen,  doch 
einen  größeren  Reichtum  an  Stimmungen  bergen  und  im 
ganzen  mehr  auf  den  hellen  Saiten  des  Lobens  und  Dankens, 
als  denen  der  Klage  und  Trauer  spielen.  Ähnlich  wie  in 
den  Oratorien  Kochs  tritt  auch  in  diesen  Motetten,  nament- 
lich in  ihrer  motivischen  Erfindung,  ein  starker  Einschlag 
jener  Volkstümlichkeit  hervor,  zu  dem  sich  die  deutsche 
Musik  seit  den  Zeiten  der  Romantiker  mehr  und  mehr 
wiederbekennt.  Auch  der  Aufbau  dieser  Motetten  zeigt 
in  seiner  Neigung  zu  Wechsel  und  Gegensatz ,  diesen 
volkstümlichen  Zug,  am  deutlichsten  spricht  er  aber  aus 
der  Melodik  und  ihrem  Wohlgefallen  an  bestimmten  Lieb- 
lings Wendungen.  Mit  einer  der  herzigsten  beginnt  die 
sechste  Motette:  »Und  du,  Bethlehem  Ephrata«.  Dieser 
schlichten  Anmut  tut  es  keinen  Abbruch,  daß  Koch  auf 
der  andern  Seite  einer  der  entschiedensten  Vertreter  der 
Verstandesmäßigkeit  und  der  geistvollen  Berechnung  ist, 
die  zu  den  Kennzeichen  der  Berliner  Schule  gehört 
Hierdurch  erhalten  die  Kochschen  Motetten  ihr  eigenes 


Gesicht  und  ihren  Charakter,  und  in  der  Regel  gelangt 
er  mit  sehr  einüachen  Mitteln,  einer  ungewöhnlichen,  aber 
berechtigten  Wortbetonung,  einem  unerwarteten,  scharfen 
Rhythmus,  ans  Ziel.  Die  Stimmführung  und  der  Chorsatz 
sind  verhältnismäßig  reich  an  kleinen  Fugatos  und  andern 
älteren  Nachahmungsformen,  das  eigene  Gepräge  liegt  in 
der  großen  Freiheit  der  Polyphonie,  die  um  neue  Wege, 
die  Gedanken  durch  schwärmerisches  Versenken  oder  durch 
schwungvolle  Steigerungen  zu  beleben,  nie  verlegen  ist 

Eine    Hauptstütze    der    Berliner   Schule    verspricht 
Richard  Roß  1er  zu  werden,  der  bisher  nur  mit  vier  B.  Rößler. 
geistlichen  Chören  (op.  26)  hervorgetreten  ist. 

Diese  Sätze,  deren  Texte  aus  den  IQageliedern  Jeremias 
stammen,  machen  im  ganzen  noch  einen  etwas  bunten  und 
im  Stil  schwankenden  Eindruck,  enthalten  aber  in  aus- 
drucksvollen Mittelstimmen,  in  der  Unbefangenheit,  mit 
der  sich  alte  und  neue  Schule,  harmlose,  fast  primitive 
und  ganz  eigene  kühne  Kunst  die  Hand  reichen,  Proben 
eines  starken  und  ungewöhnhchen  Talents.  Sie  sind,  wie 
sie  sind,  der  Beachtung  wert  und  wohl  auch  des  Erfolges 
sicher.  Denn  sie  führen  uns  zwar  an  verwunderliche, 
aber  nirgends  an  tote  Stellen. 

Zu  den  hervorragenden  Vertretern  der  Berliner  Schule 
darf  auch  Martin  Grabert  gerechnet  werden.  Die  Mo-  M.  Qrabert 
tetten  seines  op.  3i  und  op.  34  zeigen  dieselben  Vorzüge, 
die  schon  den  a  capella-Psalmen  des  Komponisten  nach- 
gerühmt werden  konnten:  schlichte,  immer  richtige  Emp- 
findung, geschickter,  natürUcher  Satz.  Der  Praxis, 
namentlich  den  kleineren  Chören,  sind  diese  Arbeiten 
willkommen,  auf  ihren  Kunstwert  drückt  die  allzu  große 
Zurückhaltung  im  Ausdruck,  der  Mangel  an  Modernität 
und  eigener  Art. 

Neben  diesen  jüngeren  Kräften  haben  auch  ältere 
Berliner  Meister  zur  Motette  wertvolle  Beiträge  geliefert. 
Unter  ihnen  zeichnen  sich  die  von  Fr.  Gernsheim  durch 
Stellen  malerischer  Kraft  aus.  Außerhalb  des  Berliner 
Kreises  sind  von  evangelischen  Musikern  als  eifrige,  dem 
Wert  nach  verschiedene  Motettenkomponistea  Arnold 


Mendelssohn,  Carl  Hirsch,  Uso  Seifert  hervorzu- 
heben. Der  fleißigste  von  allen,  der  Breslauer  Musikdirektor 
MaxGulbinSjhat  ersichtlich  Mühe  gehabt,  für  kirchliche 
Aufgaben,  namentlich  für  den  Ausdruck  von  Freude  und 
Kraft,  den  richtigen  Ton  zu  finden. 

Von   neuesten  Motetten  für  Männerstimmen  halten 

F.  Limbert.      sich  die  ziemlich  bekannten  des  op.  23  von  Frank  Lim- 

bert   etwas   zu  bescheiden   an   den  liedertafelton  einer 

,        überwundenen  Periode.     Weit   höheren  Wert  haben   die 

'    M.  Stange,      hier  einschlagenden  Arbeiten  von  Max  Stange,  und  mit 

besonderer  Auszeichnung  müssen  die  Nummern  i  und  % 
F.y.  Welngartner.  des  op.  44  von  Felix  vonWeingartner,  Kompositionen 

des  >Neujahrshedes€  und  des  »Gebetsc  von  Ed.  Mörike, 
hervorgehoben  werden.  Namentüch  der  (fünfstimmige) 
Neujahrschor  kann  sich  an  Noblesse,  Feinheit  und  Reich- 
tum mit  den  besten  Leistungen  von  Feter  Corndius 
messen. 

Im  katholischen  Gebiet,  wo  die  a  capella- Motette 
vorwiegend  als  Einlagenmusik  verwendet  und  deshalb  von 
größeren  Formen  abgedrängt  wird,  haben  auch  hier  die 
Gäcilianer  mit  ihren  edel  gemeinten,  aber  etwas  nivellieren- 
den Grundsätzen  die  Herrschaft.  Jedoch,  hat  es  ihnen 
gegenüber  nie  an  einer  die  stilistische  Freiheit  wahrenden 
Minderheit  und  in  dieser  nicht  an  überragenden  Original- 
geistern gefehlt.  Aus  dieser  erlesenen  Gruppe  ragt  neben 
Franz  Liszt  (Pater  noster,  Ave  maris  Stella,  0  salutaris 
A.  Biackner.  hostia)  am  höchsten  Anton  Brückner  hervor.  Seine 
Hauptleistung  auf  diesem  Gebiete  bilden  die  (ohne  Opus- 
zahl  veröffentlichten)  Vier  Graduale  (Christus  factus 
est.  Locus  iste,  Os  justi  und  Virga  Jesse).  Das  reichste 
und  gewaltigste  ist  das  erste  Stück,  aber  auch  die  andern 
legen  für  die  Stärke  und  Selbständigkeit  von  Brückners 
Schöpferkraft  ein  gewaltiges  Zeugnis  ab.  Die  knappen 
Formen  und  der  geistige  Anhalt  an  den  Texten  waren 
seiner  Inspiration  und  der  Entfaltung  seines  Könnens  be- 
sonders günstig.  Was  insbesondere  die  geistliche  Kom- 
position betrifft,  so  stehen  diese  Gradualen  über  seinen 
weit    bekannteren     und    berühmten    Messen«    sie    sind 


-^    bf)    ^^- 

zeitloser,  nnd  Brückner  ist  in  ihnen  niemands  Vasall. 
Der  einzige  Einfluß,  der  deutlicher  hervortritt,  ist  der  der 
alten  österreichischen  Kirchenmusik  besten  Schlags,  wie 
wir  sie  in  ihrer  Mischung  von  italienischer  Feierlichkeit 
und  weicher  traulicher  Volkstümlichkeit,  in  ihrer  unergründ- 
lich tief  ernsten  und  doch  zugleich  beglückenden  Wirkung 
aus  den  besten  Werken  W.  A.  Mozarts,  Haydns  und  ihrer  i 
Landsleute  kennen.  Bezwingend  hoheitlich  klingt  uns 
aus  ihnen  ein  spezifisch  katholischer  Ton  entgegen.  Diese 
letztere  Eigenschaft  teilen  mit  ihnen  in  einem  starken 
Grade  die  Offertorien  (op.  24)  Carl  Thiels  und  seine  C.  Tkiel. 
zwölf  lateinischen  Kirchengesänge  (op.  49).  Die 
ersteren  neigen  zum  strengen,  durch  Einfügung  altlitur-  . 
gischer  Elemente  belebten  und  individualisierten  Satz, 
die  Kirchengesänge  sind  Musterleistungen  in  der  einfach- 
sten und  leichtesten  Art  des  Motettenlieds.  Das  ist  echte, 
erzieherische  Volkstümlichkeit. 

Als  eines  bekannter  gewordenen  Motettenbeitrags  von 
katholischer  Seite  muß  auch  noch  des  umfangreichen 
achtstimmigen  Satzes  gedacht  werden,  den  SiegmundS.T.  Haaiegget 
vonHausegger  über  das  sogenannte  >Requiem  c  Fr.  Heb- 
bels (Seele,  vergiß  sie  nicht  usw.)  geschrieben  hat  Die 
Musik  beginnt  seraphisch  schön,  die  Worte  der  Dichtung 
in  mystische  Zartheit  hebend.  Bei  dem  Versuch  aber, 
dem  Dichter  folgend,  die  Qualen  der  von  ihren  Lieben, 
vergessenen  Toten  anzudeuten,  hat  der  Komponist  das 
Augenmaß  verloren  und  sich  zu  einer  »Dies  irae<-Malerei 
von  so  abstoßender  Breite  und  Härte  verleiten  lassen,  daß 
darüber  die  Einheitlichkeit  und  der  Gesamteindruck  der 
Arbeit  trotz  ihrer  schönen  Züge  in  die  Brüche  geht. 


Der  Kantate  als  musikalischer  Satzform  sind  wir 
wiederholt  als  dem  vokalen  Gegenstück  zur  Suite,  als  einer 
Folge  von  textlich  zusammenhängenden  und  ein  Ganzes 
bildenden  Gesangstücken  begegnet.  Sie  kommt  bereits  im 
Minne-  und  Meistergesang  vor,  ihre  erste  Ausgestaltung 
mit  den  Mitteln  der  neuen  begleiteten  Vokalmusik  ver- 


— ♦     528     <^— 

dankt  sie  den  Italienern)  die  in  ihr  zunächst  das  von 
der  Bahne  her  Wunder  wirkende  Phänomen  des  beglei- 
teten Sologesanges  für  Haus  und  Kirche  fruchtbar  «n 
machen  suchten.  Der  P  erischen  >Euridice€,  die  im  Jahre 
4  600  den  Sieg  der  Oper  entschied,  folgten  schon  im  näch- 
sten Jahre  die  als  >Nuove  Musiche«  stolz  den  Kampf 
gegen  das  alte  Ghormadrigal  ankündigenden  Mono- 
L«  ViftdanA.  dien  G.  Caccinis.  4602  legt  die  neue  Kunst  mit  L.  Via- 
danas >Concerti  ecclesiasticic  ihre  herrschsüchtige  Hand 
auch  auf  die  musikalische  Liturgie,  hier  mit  der  Absicht, 
sich  des  ganzem  neben  dem  Ordinarium  der  Messe  liegenden 
Textgebietes  zu  bemächtigen.  Die  italienische  Motetten- 
produktion hat  unter  diesem  Ansturm  sichtlich  gelitten, 
der  kirchliche  und  geistliche  Sologesang  selbst  aber  erst 
allmählich  eine  größere  Bedeutung  erlangt.  Alles,  was 
,  er  im  ersten  Jahrzehnt  seiner  Existenz  zu  Tage  fördert, 
fällt  ins  Gebiet  der  Kleinkunst.  Beispiele  dafür  bieten 
0.  Btrtat«.  die  Arie  devote  des  Ottavio  Durante  ebensowohl  wie 
die  Poemata  etc.  unseres  in  Rom  wirkenden  Landsman- 

B.Ki^btfg6r.  nes  Hier.  Kapsberg  er.  Soweit  sich  seine  Geschichte**) 
augenblicklich  übersehen  läßt,  erweist  er  sich  anfangs 
dadurch  am  nützlichsten,  daß  er  in  der,  geistlichen  Musik 
das  Monopol  des  Bibelwortes  bricht  und  der  freien  reli- 
giösen Dichtung  von  frischem  zu  ihrem  Rechte  verhilft. 
Erst  als  sich  die  dramatischen  Komponisten  ihm  zuwen- 
den, wächst  er  über  die  Form  und  den  Charakter  des 
Liedes  hinaus,  baut  mehrteilig  auf  und  spricht  in  gewal- 
tigeren Tönen.    Unter  ihnen  erscheint  als  der  bedeutend - 

Cl.  If ont«T«rdi. std  Claudio  Monte verdi  mit  seinen  in  Venedig  geschrie- 
benen »Selve  spiritualic.  In  ihnen  hat  er  u.  a.  auch  sein 
weltberühmtes  lamento  d'Arianna,  das  bis  auf  den  neuer- 
lichen Fund  Emil  Vogels  im  Original  nur  mit  dem  Ein- 
gangsvers bekannt  war,  vollständig  als  »Pianto  della 
Madonna«  verwendet  und  parodiert.  Ein  Neudruck  dieser 
leidenschaftlich  schwermütigen  Komposition  würde  sich, 
mit  einer  gut  und  kühn  ausgeführten  Kontinuostimme  im 


*)  Vgl  E.  SchmltK.  Oeschlchte  der  Kantate,  1913. 


i 


--♦     5t9     ♦— 

modernen  geistlichen  Konzert  sicherlich  bald  einbürgern 
und  namentlich  Altistinnen,  die  sich  auf  Innerlichkeit  und 
freien  Vortrag  vei;stehen,  zu  großem  Dank  verpflichten^ 
In  Rom  sind  die  Hauptvertreter  dieses  formenreicheren 
und  inhaltsvolleren  geistlichen  Sologesanges  Dom.  Maz-B.  Hanocohi. 
zocchi  und  Giac.  Carissimi.  Namentlich  durch  CarissimiG'.  Carlssimi. 
Wurde  die  Monodie  zur  Kantate ^  und  dauernd  in  den  Kreis 
höherer  Kunst  erhoben.  Alle  Merkmale,  die  sie  noch  heute 
von  anderen Tokalformen  unterscheiden:  die  Zusammen- 
setzung aus  verschieden  gestimmten  und  geformten  Sätzen, 
von  denen  gelegentlich  ein  geeigneter  zur  äußeren  Ab- 
rundung  und  Verknüpfung  des  Ganzen  wiederholt  wird,  der 
Wechsel  von  mensuriertem  Gesang,  frei  deklamierendem 
Rezitativ  und  selbständiger  Instrumentalmusik  —  alle  diese 
Kennzeichen  der  Kantate  gehen  auf  Carissimi  zurück.  Es 
gelang  ihm  zu  ihrer  künstlerischen  Sicherung  und  Hebung 
noch  ein  weiterer,  unter  den  italienischen  Verhältnissen 
besonder^  schwieriger  Schritt,  daß  nämlich  in  der  Kantate, 
wo  angebracht,  auch  mehrstimmig  musiziert,  neue  und 
alte  Kunst  nach  langem,  verderbHchem  Streit  verbunden 
und  ausgesöhnt  wurden.  In  dieser  Caiissimischen  Fassung 
drang  die  Kantate  in  die  Kirchenmusik  aller  Länder,  in 
die  französische  durch  M.  Lalande,  in  die  englische 
#durch  H.  Pu reell,  sie  kam  auch  bald  in  die  deutsche. 
Deutschland  blieb  dabei  von  der  Frage:  ob  Chor,  ob 
Solo  ebenfalls  nicht  unberührt,  geriet  aber  darüber  nicht 
im  entferntesten  in  die  Aufregung,  von  der  die  italienischen 
Musiker  ergriffen  wurden.  Ain  deutlichsten  zeigt  der 
deutsche  Musikalienmarkt  in  den  ersten  Jahrzehnten  des 
4  7.  Jahrhunderts,  wie  friedlich  sich  die  verschiedenen 
Richtungen  nebeneinander  vertrugen.  Da  werden  4  608 
die  bekannten  Konzerte  Viadanas,  mit  ihnen  italienische 
Sologesänge  und  Duette  von  Cesena,  Cesare  und  andern, 
ziemlich  gleichzeitig  aber  (zum  Gebrauch  der  Wittenberger 
Schule)  lateinische  Gesänge  im  alten  Gregorianischen  Stil, 
also  in  anbegleiteter  Einstimmigkeit  angezeigt*).  Deutsche 

*)  A.  Göhler,  Verzeichnis  usw. 

n,  4.  34 


■-^     530     «— 

Komponisten,  Mich.  Prätorius,  H.  Schein,  S.  Scheidt  legen 
anter  verschiedenen  Titeln  Sammlungen  vor,  in  denen 
der  neuen  Kunst  mit  ein-  und  zweistimmigen  Liedern  und 
kleinen  Kantaten,  der  alten  mit  achtstimmigen  Motet- 
ten gedient  wird.  Höchst  gelassen  bemerkt  Hammer- 
schmidt in  der  Vorrede  zum  vierten  Teil  seiner  Musi- 
kalischen Andachten:  etliche  hörten  lieber  Motetten, 
etliche  lieber  Konzerte,  beide  Parteien  sucht  er  zu  be- 
friedigen. Der  Toleranz  halber  gibt  H.  Albert  seine  ein- 
stimmigen Arien  auch  der  mehrstimmigen  Aufführung 
preis.  R.  Ahle  auf  der  andern  Seite  erlaubt,  daß  von 
seinen  vierstimmigen  Sätzen  nur  eine  Stimme,  gleichviel 
welche,  gesungen  und  die  Harmonie  irgendwie  instrumen- 
täliter  ergänzt  wird.  Auch  in  Gesangbüchern,  denen 
Melodien  mit  Baß  beigegeben  sind,  wird  die  Frage  nach 
einstimmiger  oder  mehrstimmiger  Ausführung  von  Job. 
Grnger  bis  auf  Schemelli  offen  gelassen.  Im  ganzen 
standen  jedoch  die  deutschen  Komponisten,  soweit  sie 
Musiker  von  Beruf  waren,  mit  dem  Herzen  auf  der  Seite 
der  alten  Polyphonie.  Anders  als  die  italienische  ging  die 
deutsche  Motettenkomposition  während  des  47.  Jahrhun- 
derts quantitativ  durchaus  nicht  zurück,  zweitens  kennen 
wir  eine  große  Anzahl  geringschätziger  Urteile ,  die  in 
diesen  Kreisen  über  den  neuen  Sologesang  gefallt  wur- 
den, drittens  bilde»  die  Komponisten,  die  von  J.  Schop 
und  .Sam.  Beyer  bis  in  Telemanns  Zeit  mit  Jahr- 
gängen kleiner  Konzerte  und  musikalischer  Andachten 
für  nur  eine  Stimme  in  Druck  kamen,  die  Minderheit 
gegen  die  Herausgeber  stimmreicherer  Konzerte.  Erst  von 
der  Mitte  des  17.  Jahrhunderts  ab  kommt  der  deutsche 
Sologesang  von  der  Schattenseite  weg  unter  die  Sonne. 
H.  Albert  hat  noch  seine  meisten  Sololieder  für  Chor  um- 
gearbeitet;  nach  seiner  Zeit  begann  man  Eccardsche  und 
andere  Chöre  für  Solo  mit  Begleitung  zu  arrangieren. 

Daß  schon  früher  die  zünftige  Abneigung  gegen  den 
neuen  Sologesang  im  Gottesdienst  bekämpft  und  auch  in 
die  deutsche  Kirchenmusik  die  Kantate  eingeführt  wurde, 
verdanken  wir  Männern,  die  die  italienische  Erfindung 


534      ^>— 

an  der  Quelle,  öder  doch  im  echten,  reicheren  Import 
kennen  gelernt  hatten.  Durch  sie  wurde  im  Gottesdienst 
und  in  der  Hausandacht  der  beweglichere,  phantasie- 
vollere Geist  der  Renaissancezeit  mit  Entschiedenheit, 
aber  meistens  in  einer  Form,  die  Haus  und  Altar  zu- 
sammenfügte, zur  Geltung  gebracht.  Die  meisten  Kompo- 
sitionen dieser  Art  erschienen  unter  dem  an  Viadana 
anknüpfenden  Titel  »geistliche  Konzerte«;  erst  im 
4  8.  Jahrhundert  wird  er  allgemein  durch  die  von  Österreich 
und  Süddeutschland  vordringende  Bezeichnung  Kantate 
ersetzt.  Aber  noch  Bach  betitelt  die  Mehrzahl  seiner 
Kantatenautographe  als  Konzert. 

Wenn  auch  nicht  die  heutige  Kenntnis  des  Material- 
bestandes, so  erlaubt  doch  die  Wahrscheinlichkeit  die 
Annahme,  daß  die  frühesten  deutschen  Kirchenkantaten 
auf  katholischem  Gebiet  entstanden  sind.  In  neuen  Par- 
titurausgaben liegen  solche  allerdings  erst  aus  der  zweiten 
Hälfte  des  1 7.  Jahrhunderts  vor.  Es  sind  die  traulich  an- 
'mutenden  Arbeiten  Kaiser  Leopolds!  (im  ersten  Band  Leopold  I. 
der  österreichischen  Kaiserwerke)  und  die  Geistlichen 
Konzerte  von  J.  K.  Kerll  (Denkmäler  der  Tonkunst  in  j,  K.  Keill! 
Bayern  H,  2).  Bilden  diese  Kompositionen  Kerlls  auch 
nur  eine  neun  Nummern  starke  Auswahl,  so  zeigen  sie 
doch  zur  Genüge,  daß  die  Kirchenkantate  innerhalb  eines 
reichlichen  Menschenalters  eine  bedeutende  und  eigene 
geistige  Höhe  erreicht  hatte.  Die  Jugend  der  Gattung, 
den  Einfluß,  den  die  venetianische  Oper  auf  sie  übte, 
verraten  sie  durch  die  Lust  an  reichlichen  Wortmalereien, 
die  ja  der  ganzen  deutschen  Kirchenmusik  bis  in  die 
Rezitative  der  Bachschen  Passionen  und  Kantaten  hinein 
verblieben  ist.  Ihr  Wert  beruht  aber  darauf,  daß  sich 
hier  der  Verkehr  mit  Gott  eine  musikalisch  neue,  mensch- 
lich freiere  und  unmittelbarere  Bahn  gebrochen  hat.  Es 
steht  hinter  dieser  Musik  eine  selbstbewußte,  kraftvolle 
Generation,  die  nicht  bei  jeder  kleinen  Bitte  und  Not  auf 
die  Knie  fällt,  die  in  der  Welt  mehr  Großes  und  Wun- 
derbares, als  Übles  sieht;  vielleicht  aber  verdankte  sie 
ihren  erhebenden  und  schwungvollen  Charakter  noch  mehr  , 

34* 


— ^     53t     ♦— 

der  persönlichen  Bedeutung  Kerlls.  Jedenfalls  g^ören 
seine  geistlichen  Konzerte  zu  den  hervorragendsten  des 
1 7.  Jahrhunderts,  namentlich  auch  deshalb,  weil  Kerll  der 
neuen  Formen  und  Ausdrucksmittel  vollständig,  selbst 
mehr  als  Schütz,  Herr  ist.  Selten  sind  bei  einem  Kom- 
ponisten der  Zeit  die  Koloraturen  so  wie  bei  ihm  natür- 
lichster Erguß  der  inneren  Empfindungsfülle  und  Begeiste- 
rung und  dienen  so  dazu,  den  neuen  Ton  für  die  Freude 
an  Gott  zu  verstärken.  Kerll  ragt  durch  eine  Tiefe  der 
Textauffassung  hervor,  die  sich  formell  in  dissonanzen- 
reicher, kühner  Harmonie  äußert;  der  Mystik  des  Kultus 
wird  er  durch  ungewöhnlich  häufige  Verwendung  von 
Echos  gerecht.  Die  vorzüglichsten  seiner  neugedruckten 
geistlichen  Konzerte  sind  die  Nummern  4,  5,  6,  9.  Die 
Nummer  4  ist  ein  Baßduett  über  den  Text  »Refugit  3ol«. 
Kerll  scheint  eine  Vorliebe  für  Ensembles  von  Baßstimmen 
gehabt  zu  haben ;  sein  Oratorium :  Pia  et  fortis  mulier  enthält 
bekanntlich  ein  Quartett  für  Bässe.  In  dem  vorliegenden 
Falle  haben  wir  es  mit  einem  Stück  zu  tun,  das  dem  be- 
rühmten Duett  aus  Händeis  Israel  >Der  Herr  ist  der  starke 
Held«  unbedenklich  in  der  Wirkung  zur  Seite  gestellt  wer- 
den kann.  Es  ist  auch  darin  Händeischen  Geistes,  daß  die 
Naturschilderung  —  Sonnenaufgang  —  sich  mit  der  Ab- 
bildung eines  bedeutenden  seelischen  Prozesses — Erhebung 
des  Herzens  —  ablöst  und  eint.  Die  fünfte  Nummer,  ein 
Terzett  von  zwei  Sopranen  und  Tenor  (Exultate  cotda  devota) 
wirkt  durch  den  Wechsel  zwischen  Rezitativ  und  Gesang, 
zwischen  einstimmigen  und  dreistimmigen  Sätzen,  und 
zeigt  in  der  Wiederholung  des  Hauptsatzes:  Exultate,  jubi- 
late  auf  Garissimis  Einfluß.  Die  sechste  Nummer,  ein 
Terzett  von  Sopran,  Alt,  Baß  (Dignare  me  laudare  te) 
prägt  sich  durch  die  letzten  fünf  Takte  bleibend  ein.  Bis 
dahin  haben  die  drei  Sängerstimmen  wetteifernd  die  Herr- 
lichkeit Gottes  gepriesen.  Da,  als  wäre  ihr  Blick  aufs 
Kruzifix  gefallen,  schweigen  sie  auf  einmal  und  führen 
dann  die  Hymne  im  demütigen  und  innigen  Ton  zu  Ende. 
Eine  ähnliche  durch  den  Kontrast  der  Ruhe  geg(Bn  den 
Yoraosgegangenen  Jubel  wirkende  Stelle  hat  die  neunte 


} 


-— ♦      533      <>— 

Nummer,  efn  fänfstimmiges  »Regina  coeli  laetare«  in  der 
Mitte  beim  Eintritt  der  Worte:  Ora  pro  nobis. 

Viel  wichtiger  als  für  die  katholische  wurde  die  neue 
Kirchenkantate  oder  das  geistliche  Konzert  im  weiteren 
Laufe  der  Zeit  für  die  protestantische  Liturgie.  Sie  ist 
hier,  als  man  sich  von  der  Figuralmesse  mehr  und  mehr 
abwendete,  allmählich  zum  musikalischen  Hauptstück  des  . 
Gottesdienstes  aufgerückt  und  hat  als  solches  ihren  Platz 
nach  der  zweiten  Lesung  oder  mit  de^  ersten  Hälfte  vor, 
mit  der  zweiten  nach  der  Predigt  erhalten  und,  wo  über- 
haupt noch  Mittel  und  Sinn  für  höhere  Tonkunst  im  Gottes- 
hause da  sind,  bis  heute  behauptet.  Allerdings  denkt 
man  sich  die  Kantate  meist  als  eine  Komposition,  die 
außer  guten  Solisten  einen  großen  Chor  und  ein  großes 
Orchester  verlangt,  und  damit  ist  sie  zurzeit  für 
mittlere  und  kleinere  Orte  gar  nicht  oder  nur  selten 
erreichbar.  Da  sind  nun  gerade  die  neugedruckten  geist- 
lichen Konzerte  und  Kantaten  der  protestantischen  Ton- 
setzer des  47.  Jahrhunderts  sehr  geeignet  eines  Besseren 
zu  belehren.  Ein  großer  Teil  von  ihnen  beansprucht 
weiter  nichts  als  einen,  zwei,  drei  oder  vier  leidliche 
Sänger  und  eine  Orgel.  Für  diese  einfachen  Mittel  ver- 
standen Heinrich  Schütz  und  seine  Zeitgenossen  so  viel 
erbauliche  und  erhebende  Musik  zu  schreiben,  daß  auch 
die  kleinen  Gemeinden  keinen  Sonntag  ihre  dem  Charak- 
ter von  Perikopen  und  Predigt  angepaßte  Kantate  zu 
entbehren  brauchten.  Es  gilt  heute  för  die  Forschung 
und  für  das  geistliche  Konzert  diesen  protestantischen 
Kantatenschatz,  den  stattlichsten  Teil  der  Musik  des 
18.  Jahrhunderts,  wieder  bekannt  zu  machen.  Dann 
werden  auch  die  Kirchenbehörden  und  ihre  musikali- 
schen Diener  bald  erkennen,  wie  sehr  er  der  jetzt 
ziemlich  allgemein  als  notwendig  erkannten  Hebung  der 
musikalischen  Liturgie  zustatten  kommen  kann.  Der  Vor- 
tritt gebührt  hierbei  Heinrich  Schütz.  Er  war  es,  der  wie  H.  Sohtiti. 
Oper  und  Lied  auch  das  neue  geistliche  Konzert  unter 
allen  Deutschen  seiner  Zeit  am  meisten  gefördert  hat,  einmal 
durch  seine  eigenen  Arbeiten,  zum  anderen  durch  den 


— ^      534      <^- 

'  Einfluß,  den  er  auf  Schüler  und  Kollegen  ausüb*te.  In  dem 
die  Psalmen  behandelnden  Kapitel  ist  dieser  Schützschen 
Kantatenarbeit  bereits  gedacht  worden;  mit  HinzufQgung 
derweiteren  biblischen^  der  dem  Gesangbuch  entnommenen 
oder  frei  gedichteten  Texte  übersteigt  die  Zahl  seiner  heute 
in  schönen  Partiturdrucken  vorhandenen  geistlichen  Kon- 
zerte und  Kantaten  die  Hundertzahl.  Sie  bestehen  aus 
kurzen  und  langen,  aus  sehr  einfach  besetzten  Stücken 
und  aus  anderen,  die  einen  großen  musikalischen  Apparat 
voraussetzen.'' Er  hat  sie  unter  den  verschiedensten  Titeln 
und  zu  verschiedenen  Zeiten  veröffentlicht  und  kompo- 
niert, die  stärkste  Sammlung,  die  zwei  Teile  der  soge- 
nannten »kleinen  geistlichen  Konzerte«  erschienen  4686, 
andere  datieren  schon  aus  dem  Jahre  4  64  9.  Die  kleineren 
Kantaten  verwenden  sehr  viel  Rezitative  und  klingen  an 
die  frühe  italienische  Monodie  und  ganz  speziell  an 
Monteverdi  an,  eine  andere  Klasse  zeigt  die  Gabrielische 
Schule  mit  der  Teilung  von  Chören  und  Orchestern.  Eine 
dritte  aber  ist, von  H.  Schein  und  Genossen  vorbereitet, 
ausgeprägt  protestantischen  Charakters.  Das  sind  die  Kon- 
zerte oder  Kantaten,  denen  er  evangelische  Choräle 
zugrunde  gelegt  hat,  in  der  eben  erwähnten  Sammlung, 
folgende  nur  mit  Continuo  zu  begleitende  Nummern:  l .  0  hilf 
Christe,  Gottes  Sohn  (Nr.  44,  für  2  Soprane);  3.  Nun  komm* 
der  Heiden  Heiland  (Nr.  20,  Terzett  für  2  Soprane  und 
Baß);  3.  Wir  glauben  AIP  an  einen  Gott  (Nr.  23,  Terzett 
für  2  Soprane  und  Tenor);  4.  Ich  hab'  mein  Sach*  Gott 
heimgestellt  (Nr.  24,  ein  keineswegs  »kleines«,  sondern 
sehr  langes  Konzert  für  2  Soprane,  Tenor  und  Alt);  5.  Ich 
ruf  zu  Dir  Herr  Jesu  Christ  (Nr.  25,  im  zweiten  Teil  der 
»kleinen  geistlichen  Konzerte«,  Quartett  für  3  Soprane 
und  Baß);  6.  Allein  Gott  in  der  Höh*  sei  Ehr  (ebenda, 
Nr.  22,  Quartett  für  2  Soprane  und  2  Tenöre).  Unter  den 
verwandten,  aber  schwierigeren  Stücken,  die  sich  in 
andern  gedruckten  Sammlungen  Schützens  finden,  fesselt 
das  »Choralkonzert«  »Wo  Gott  der  Herr  nicht  bei  uns 
wohnt«  schon  durch  seinen  ganz  eigentümlichen  itlang. 
Zwei  vierstimmige,  antiphonierende  Singchöre,  der  erste 


535     *-— 


von  Streichinstrumenten,  der  zweite  von  Posaunen  ver- 
stärkt^ konzertieren  mit  einem  Solosopran,  den  allein  die 
Laute  begleitet.  Daß  ^  eine  Komposition  wie  diese  die 
elementaren  Musikbegrifife  der  Gegenwart  ganz  wesentlich 
bereichert  und  deshalb  sich  außer  für  ihren  ursprünglichen 
Zweck  ganz  besonders  auch  für  das  Konzert  eignet,  liegt 
auf  der  Hand.  Ebenfalls  für  di6  Verwendung  im  Konzert 
mögen  aus  dem  ersten  Teil  der  Sinfoniae  Sacrae  noch: 
Veiiite  ad  me,  0  Jesu  nomen  dulce  und  0  misericordissime 
Jesu  als  leichte,  und  doch  Schützes  Art  und  Reichtum 
klar  enthüllende  Kompositionen  angeführt  werden.  Der 
Form  nach  gehören  zu  dieser  Schützschen  Kantatenarbeit 
auch  noch  die  zahlreichen  oratorischen  Szenen,  über  die 
an  anderer  Stelle  zu  berichten  ist.  » 

Schützes  nächste  Mitarbeiter  waren  Sachsen,  der 
früheste  wohl  der  Freiberger  Kantor  Chr.  Demantius,Cftr.  Demantiu. 
dessen  Triades  Sioniae  (4649)  mit  zu  den  für  die  Geschichte 
der  Theorie  interessanten  Werken  gehören,  die  neben  dem 
Generalbaß  (Continuo)  auch  einen  Generaldiskant  aufstellen. 
Die  wichtige  Anregung,  die  Schütz  für  die  Benutzung  des  ' 

protestantischen  Chorals  in  der  Kantate  gegeben  hatte, 
scheint  namentlich  bei  den  Leipziger  Thomaskantoren  auf 
fruchtbaren  Boden  gefallen  zu  sein.  Die  (jüngst  von 
A.  Prüfer  herausgegebene)  Opella  nova  H.  Scheins 
bezeugen  das.  Auch  seine  Nachfolger  Sam.  Knüpf  er 
und  Job.  Schelle*)  dürfen  als  Förderer  und  Freunde  des 
Chorals  in  der  neuen  Gattung  erklärt  werden.  An  ihren 
Arbeiten  kann  die  Abstammung  von  der  Motette  kaum 
verkannt  werden,  aber  außer  der  Instrutnentalmusik,  die 
präludiert,  verstärkt  uiid  konzertiert,  verwenden  sie  auch 
den  Sologesang  sehr  geschickt  und  frei  von  der  unreifen 
Vorliebe  für  Malereien.    So  entwickelt  sich  in  Knüpfers: 


H.  Sohein. 
8.  Knftpfer, 
J.  Schellet 


*)  Von  Knüpfer  sind  in  der  Kgl.  Bibliothek  zu  Berlin 
MMs.  11,780  22,  von  Schelle  in  den  MMs.  19,781  27  Kantaten 
vorhanden.  Noch  1748  offeriert  der  Weimarsche  Walther 
dreißig  Schellesche  und  andere  Kantaten  (La  Mara,  Musiker- 
briefe,  S.  164).  * 


-— ♦     536.     ♦— 

>Ach  Herr  straf  mich  nicht«  der  erste  Chor  aus  einem 
Sopransolo.  Da  ihre  Kantaten  immer  nur  wenige  Sätze 
h^en,  fällt  der  Raum,  der  dem  Choral  darin  gewährt  wird, 
moralisch  staik  ins  Gewicht.  Auch  das  erfreut,  daß  er 
in  mannigfacher  Form  auftritt  Knüpfers  eben  angeführte 
Kantate  schließt  mit  einem  Pseudochoral  (zu  den  Worten : 
>E8  müssen  alle  meine  Feinde  zu  Schanden  werden«)  von 
der  Art,  wie  sie  Mendelssohn  in  seinem  Elias  wieder  ge- 
bracht hat.  In  einer  andern  »Ach  Herr,  laß  Dein'  Iteb 
Engelein«  beginnt  er  mit  Fugierung  und  mit  durch 
Zwischenspiele  unterbrochenen  Variationen  der  Choral- 
melodie. Eine  dritte:  > Herr,  wer  wird  wohnen  in  Deinem 
Haus«,  ein  Chordialog,  schließt  'mit  ähnlichen  Variationen 
über  den  auf  dijB  Worte  >Wer  <Jas  tut,  der  wird  bleiben« 
gesetzten  Choral:  »Von  Gott  will  ich  nicht  lassen«.  Ganz 
ähnlich  verfährt  Schelle.  Choralvariationen  oder  Choral- 
surrogate bilden  in  der  Regel  einen  der  wenigen  Hauptsätze, 
aus  denen  seine  Kantaten  bestehen.  Choralanfang  zeigen 
z.  B.  »In  Dich  hab'  ich  gehoffet«  und  »Nun  lob'  mein' 
Seer  den  Herrn«,  Cheralschluß :  »Herr  Deine  Augen  sehen« 
und  »Hemmt  Eurer  Tränen  Flucht!«  '*'].  Eine  Anzahl  geist- 
licher Konzerte  von  deutschen  Komponisten  des  47.  Jahr- 
hunderts hat  4  646  der  bekannte  A.  Profe  in  Stimmdrucken 
herausgegeben.  Handschriftliches  Material  bieten  die  Biblio- 
theken zu  liegnitz  und  Freiberg. 

Auf  Grund  von  Neudrucken  können  wir  uns  über  die 
Geschichte  der  evangelischen  Kirchenkantate  bei  Andreas 
i.  Hammer- Hamm  er  Schmidt  orientieren.  Er  hat  mit  seinen  im 
Bohmidt.  Jahre  1645  veröffentlichten  Dialogen  oder  »Gesprächen 
zwischen  Gott  und  einer  gläubigen  Seele**)  deshalb  die 
Stellung  der  neuen  Kunst  in  der  Kirche  ganz  wesentlich 
zu  fördern  vermocht,  weil  sie  als  ganz  unmittelbare  Ab- 
senker und  Abzüge  des  allgemein  angestaunten  und  be- 
gehrten Musikdramas  erschienen.   Schon  Schütz  hat  solche 

*)  Näheres:    Arnold    Scbering,     Über     die    Kircben- 
kuntaten   vorbachischer  Thomaskantoren   (Bacb-Jahrbneb  1912). 
**)  Denkm&Ier  der  Tonkunst  in  Österreich,«  VUI. 


--♦     537     ♦— 

Dialoge  komponiert;  seinen  schönsten:  »Sei  gegrüßt  Maria! 
Welch  ein  Gruß  ist  das?«,  der  mit  einer  Orchestersymphonie 
eingeleitet,  mit  einem  Chor  geschlossen  wird,  besitzen  wir 
in  deutscher  und  in  lateinischer  Sprache,  von  der  die 
Schulchöre  und  die  protestantische  Figuralmusik  nicht 
gern  abgingen.  Die  Idee  des  Dialogs  an  sich  läßt  sich 
bis  in  die  erste  Zeit  der  äntiphonierenden  Motette  zurück 
verfolgen,  zu  einer  frischen  und  großen  Bedeutung  gelangt 
sie  aber  erst  durch  die  römische  Allegorienoper  und  das 
geistliche  Musikdrama  des  47.  Jahrhunderts  und  da  ist, 
es  Hammerschmidts  Verdienst  für  den  den  Zeitregungen 
entsprechenden  neuen  Kunstzweig  außerordentlich  ent- 
schieden, nämlich  mit  einer  ganzen  Sammlung  von  Dia- 
logen eingetreten  zu  sein.  Ihnen  verdankt  Hammerschmidt 
in  erster  Linie  seine  hervorragende  Stellung  unter  den 
Komponisten  des  47.  Jahrhunderts,  die  Gattung  selbst 
behauptete  sich  von  ihm  ab  bis  in  die  Zeit  S.  Bachs  und 
darüber  hinaus  auf  der  Tagesordnung. 

Von  den  Dialogen  Hammerschmidts  entspricht  nur  ein 
Teil  dem  Beititel:  »Gespräche  zwischen  Gott  und  einer 
gläubigen  Seele«,*  in  einem  andern  tauschen  Sünder  und 
Fromme  Gefühle  und  Gedanken  aus,  in  einem  dritten  fehlt 
überhaupt  der  innere  Gegensatz  der  Parteien.  Die  Worte 
der  ersten  kehren  bei  der  andern  einfach  in  Umschreibungen 
und  Steigerungen  wieder.  Nach  der  musikalischen  Form 
bestehen  di6  22  Nummern  des  bisher  neugedruckten  ersten 
Teiles  der  Dialoge  aus  40  Duetten,  4  o  Terzetten  und  2  Quar- 
tetten. Sieben  Dialoge  werden  durch  Symphonien  einge- 
leitet, die  auf  die  Gabrielische  Schule  hinweisen,  8—20  Takte 
lang  und  mit  2  Violinen,  Streichba^,  Gontinuo  und  einer 
Tenorposaune  besetzt  sind.  Den  Gesangteil  begleitet  der 
Gontinuo,  den  Harmoniebaß  verstärkt  in  der  Regel  eine 
Trombone;  in  einzelnen  Nummern  wird  sie  nur  durch  ein 
nicht  näher  bezeichnetes  »Instrumento«  ersetzt  oder  ver- 
mehrt, das  mit  seinen  selbständigen  Figuren  auf  die  Viola 
da  Gamba  deutet.  In  den  Singstimmen  begegnen  wir  der- 
selben schlichten  Melodik,  die  aus  Hammerschmidts  Chor- 
musik bekannt  ist;  sie  ist  mehr  die  Frucht  des  Verstan- 


— ♦      538      *— 

des  und  der  Deklamationskunst,  als  des  Seelenreichtums 
und  der  inneren  Bewegung.  Zuweilen  nähert  sie  sich  der 
Trockenheit,  hei  Inteijektionen ,  hei  klagenden  Texten 
üherhaupt  oder  auch,  wenn  das  Zusammengehen  meh- 
rerer Stimmen  zu  Sequenzen  veranlaßt,  wird  die  Empfin- 
dung und  ihr  Ausdruck  wärmer.  Daß  Hammerschmidt 
nichts  Außerordentliches,  aher  immer  das  Nötige  klar  sagt 
und  dabei  vielfach  an  Litanei  und  Volksmusik  erinnert, 
hat  zum  Erfolg  wesentlich  beigetragen.  Einen  aus- 
gesprochen protestantischen  Charakter  hat  von  den  Dia- 
logen des  ersten  Teils  nur  die  zehnte  Nummer,  eine 
Kombination  der  beiden  Choräle  »Was  mein  Gott  will, 
gescheh  allzeit«  und  »Auf  Deinen  lieben  Gott  trau  nur 
in  Angst  und  Not«.  Für  das  Konzert  eignen  sich  am 
meisten  die  Nummern:  8,  4  6  und  47.  Die  erste  gehört 
unter  die  wirklichen  Gespräche  zwischen  Gott  und  einer 
gläubigen  Seele  und  bringt  den  Gegensatz  zwischen  der 
Würde  des  himmlischen  Vaters  (Baß)  und  der  Unruhe 
der  bedrückten  Menschenherzen  (zwei  Soprane)  eindring- 
lich zum  Ausdruck.  Die  sechzehnte  Nummer  ist  die  dem 
Entwurf  nach  originellste  Leistung  der  gatizen  Sammlung. 
.Ein  Baß  singt  die  Einsetzungsworte:  »Nehmet  hin  usw.«, 
zwei  Soprane  antworten  ihm  mit  volkstümlich  gehaltenen 
Dankgesängen:  »Lobe  den  Herrn,  meine  Seele  usw.«.  Die 
siebzehnte  Nummer  zeichnet  sich  dadurch  aus,  daß  so- 
wohl die  Güte  in  der  Stimme  des  Herrn  (Baß) :  »Was  soll 
ich  aus  Dir  machen,  Ephraim?«  ebenso  eigen  und  einfach 
zum  Ausdruck  kommt,  wie  die  Angst  des  Beters  (Sopran], 
der  kindlich  sein:  »Ach  Herr,  straf  mich  nicht«  ruft. 

Der  nächste  protestantische  Komponist  des  4  7.  Jahr- 
hunderts, der  mit  einem  neugedruckten  Band  von  Kirchen- 
F.  Tiuidw.  kantaten  vertreten  ist *),  der  Lübecker  Franz  Tunder, 
Buxtehudes  Schwiegervater,  hat  sich  die  Kenntnis  vom 
Sologesang  und  geistlichen  Konzert  direkt  in  Italien,  als 
Frescobaldis  Schüler  zu  Rom  verschafft.  Seinen  Namen, 
den  Gerber  und  Fötis  gar  nicht  kennen,  hat  Carl  Stiehl 


♦)  Denkmäler  deutscher  Tonkunst,  III. 


in  den  letzten  80  er  Jahren  zuerst  wieder  ans  licht  ge- 
zogen *|.  Der  daraufhin  von  Max  Seiffert  (nach  Manu- 
skripten der  Universitätshibliothek  in  Upsala)  zusammen- 
gestellte Band  Tunderscher  Kirchenkantaten  ist  unter  dem 
Material,  das  das  alte  Märchen  von  der  musikalischen 
Verödung  Deutschlands  im  4  7.  Jahrhundert  widerlegen 
muß,  eins  der  kräftigsten  Stücke.  Die  Kompositionen 
sind  augenscheinlich  zu  verschiedenen  Zeiten  entstanden. 
Die  ersten  acht,  denen  mit  einer  Ausnahme  auch  noch 
lateinischer  T^xt  zugrunde  liegt,  zeigen  in  der  fast  gleich- 
mäßigen Mischung  von  Gesang-  und  Instrumentalmusik, 
in  dem  etwas  unruhigen  Wechsel  von  gerad-  und  unge- 
radtaktigen  Teilen,  in  der  Überlegenheit  der  Kantilenen 
gegenüber  den  Koloraturen  auf  das  musikalische  Rom  der 
Franqesca  Gacdni  und  ihrer  Ldberazione  di  Ruggiero. 
Aber  aus  ihrem  noch  nicht  ausgereiften  Stile  erhebt  sich 
doch  eine  bedeutende  Individualität.  Ausnahmslos  macht 
sie  sich  in  den  Orchestereinleitungen  dieser  Kantaten  . 
geltend,  die  bald  unter  detn  Titel  Sinfonia,  bald  Sonata,  . 
meistens  in  sechsstimmiger  Besetzung  trotz  verhältnis- 
mäßiger Kürze  zu  den  an  Erfindung  vollsten  Sätzen 
zählen,  die  wir  von  dieser  Art  Orchestermusik  haben.  Die 
Einleitungen  zur  zweiten  und  zur  vierten*  Kantate  stehen 
mit  ihrer  vielsagenden  Kargheit  des  Ausdrucks,  mit  ihren 
beredten  Pausen  so  gut  wie  allein.  Aber  auch  der  Gesang- 
teil der  Tunderschen  Kantaten  zeigt  in  der  Wiedergabe 
einzelner  Textstellen  eine  ganz  ungewöhnliche  Kühnheit 
Das  Hauptstück  in  dieser  Beziehung  ist  die  sechste  Kan- 
tate: Nisi  Dominus  aedificaverit  domum,  die  Tunder  als 
Dialogo  o  Concerto  a  2  Canto,  Basso  (Singbaß)  con  S  Vio- 
lini betitelt  hat.  Da  kämmt  bei  der  Stelle:  »surgite  .  .  . 
qui  manducaüs  panem  doloris«  auf  das  Wort  doloris  ein 
verminderter  Sextakkord,  der  in  seiner  raschen  Melan- 
cholie sich  für  jedermann  als  der  Einfall  eines  wirklich 
berufenen  Meisters  darstellt.    Die  ersten  vier  dieser  in 


♦)  C.  Stiehl:  Die  Organisten  der  Marienkirche in  Lübeck, 

1886. 


--♦     ö-fO     ♦— 

die  früheren  Jahre  Tnndets  zu  setzenden  Kantaten  sind 
fOr  eine  Solostimme  geschrieben.  Von  der  fünften  ab 
kommen  Duette  und  Terzette,  die  siebente  ist  die  erste 
Chorkantate,  aber  die  Chöre  stehen  in  ihrer  dramatischen 
Lebendigkeit  und  Knappheit  noch  unter  Opemeinfluß. 
In  der  achten,  die  nochmals  den  Text  »Nisi  Dominus 
aedificaverit«  durchnimmt,  werden  sie  breiter  und  auch 
durch  den  Wechsel  mit  zum  Teil  sehr  kurzen  Solostellen 
sehr  wirkungsvoll. 

Die  Hauptbedeutung,  die  Tunders  Band  für  die  Praxis 
und  für  d^n  heutigen  Geschichtsunterricht  hat,  liegt  in  sei- 
nem zweiten  Teil,  der  aus  lauter  Choralkantaten  besteht; 
allerdings  sind  einzelne  der  benutzten  Choräle  heute  fremd 
geworden.  Tunder  geht  auf  diesem  Gebiete  über  Schütz, 
auch  über  Knüpfe^  und  Schelle  hinaus  und  nimmt  mit 
neuer  Entschiedenheit  für  den  Aufbau  seiner  Choral- 
kantaten den  erweiterten  Orgelchoral,  insbesondere  die 
.Choralvariation  zum  Muster,  erzieht  also  die  Konsequenzen 
aus  Scheidt,  in  der  Führung  der  Stimmen  und  dem  Anteil, 
den  er  ihnen  am  Thema  gibt,  bereitet  er  die  Wege  J.  Pachel- 
bels  vor  und  schlägt  mit  dem  Prinzip  seiner  Kantatenarbeit, 
wie  Seiffert  bemerkt,  die  Brücke  zu  Seb.  Bach.  Nur  das 
größere  Format  der  einzelnen  Bilder  innerhalb  der  Bach- 
schen  Kantate  und  die  individuelle  Größe  der  Textauslegung 
unterscheidet  sie  von  der  Tunderschen.  Für  das  Konzert 
sind  aus  dieser  Abteilung  die  frisch  naive  Solokuitate 
(Sopran)  >Wachet  aufc  und  die  Chorkantate  »Ein  feste 
Bürge  am  meisten  zu  empfehlen.  Beidemal  besteht  das 
mitwirkende  Orchester  lediglich  aus  Streichinstrumenten 
und  OrgeL 

Nicht  weit  von  Lübeck,  drüben  in  Hamburg^  scheint 
der  Choral  als  Grundstock  der  Kantatenkomposition  erst 
später,  möglicherweise  erst  durch  Mattheson,  zu  Ehren  ge- 
kommen zu  sein.   Der  Band  Hamburger  Kantaten,  in  dem 
M.  WMkmftBii.  M.  Seiffert  sämtliche  erhaltene  Arbeiten  M.  Weckmanns*] 
Ohr.  Binktid.  (8  Nummern)  und  von  denen  Chr.  Bernhards  eine  aus 


*)  DenkmlOer  deutaeber  Tonkunst,  VI. 


—-%     5i<      ♦— 

f&nf  Stücken   bestehende  Auswahl'  vorlegt,    ist  für   diie 
inneren  Schwierigkeiten,  mit  denen  die  Einführung  des 
neuen  Stils  in  Deutschland  gerade  in  der  Kirche  zu  kämpfen 
hatte,  außerordentlich  lehrreich.   Beide  Komponisten  ge- 
hören zu  den  besten  Schülern  von  Heinrich  Schütz;  von 
Bernhard  hatte  er  sich  bekanntlich  die  Motette  für  sein 
Begräbnis  bestellt.   Beide  aber  sind  aus  den  Werken  ihres 
Meisters  nicht  darüber  klär  geworden,  welchen  Zweck  der ' 
Figuralgesang  und  die  Instrumentenmitwirkung  eigentlich 
haben.   Namentlich  Weckmann  schwankt  fast  immer,  ob 
diese  Phänomene  sinnlich  und  selbständig  wirken  oder 
Diener  des  Geistes  sein  sollen.    Damit  verdirbt  er  sich 
einfach  berichtende  Stellen,  in  denen  das  Wort  so  klar 
als  möglich  zu  Gehör  kommen  sollte,  die  Textstellen  also, 
für  welche  die  Italiener  mit  ihrem  Rezitativ  den  richtigen 
Musikton  gefunden  hatten,  für  den  modernen  Hörer  emp^ 
findlich.    Die  hierin  unreifsten  Nummern  sind  die  Bot- 
schaft der  Engel  an  die  Hirten  von  der  Geburt  des  Herrn 
(Nr.  8,  Duett  für  Sopran  und  Baß  mit  Violinen  und  Continuo) 
und  der  Dialog  über  Mariae   Verkündigung  (Nr.  4:  »Ge- 
grüßet seist  du.  Holdselige«  für  Sopran-  und  Tenorsolo, 
mit  zwei  Flöten,  zwei  Violinen  und  Continuo).    Wie  so 
oft  auf  altdeutschen  Wandgemälden  unmögliche  Perspek- 
tive und  herrliche  Physiognomik,  so  verbindet  sich  aber 
auch  in,  dieser  Weckmannschen  Marienkantate  formelle 
Unfertigkeit  mit  der  liebenswürdigsten,  schärfsten  Natur- 
beobachtung.   Wie   prächtig   ist   die  sittsame  Jungfrau 
einfach  dc^durch  gezeichnet,  daß  in  dem  Satz  »sintemal 
ich  von  keinem  Manne  weiß«,  das  »sintemal  ich«  immer 
und  immer  wiederholt  wird,  bis  endlich  die  schwere  Er- 
klärung über  die  Lippen  kommt.   Auch  in  den  Reden  des 
Engels  hält   eine  Menge  herzlichster  Wendungen  dem 
Übermaß  der  Betonung  und  Ausschmückung  und  sogar 
dem  naiven  Dreinzwitschem  der  Violinen  die  Wage.   Als 
«in  ganz  anderer  Künstler  steht  Weckmann  da,  sobald 
.m  im  Rüstzeug  der  alten  Zeit  auftritt  und  Soloensembles 
oder  Cäiöre!  zu  schreiben  hat.    Das  bedeutendste  Stück 
dieser  iürt  ist  die,  wenn  nicht  fürs  Totenfest,  so  für  eine 


solenne  Begräbnisfeierlichkeit  komponierte,  vierstimmige, 
von  fünfstimmigem  Streichorchester  und  Gontinno  be- 
gleitete Ghorkantate:  »Wenn  der  Herr  die  Gefangenen  zn 
Zion  erlösen  wird«.  Poetisch  ragt  besonders  ihr  erster 
Satz  hervor,  der  ähnlich  wie  Schützens  Motette  »Die  mit 
Tränen  säen«  eine  gedämpfte  Wehmut  ausspricht.  Er 
tut  das  mit  tiefsinnigen  Wendungen  aus  dem  Musikdialekt 
der  Renaissancezeit.  Dem  ersten  »Wenn«,  dann  dem  Be- 
griff der  »Träumenden«  wird  ungewöhnlich  lang  und  un- 
gewöhnlich ergreifend  nachgesonnen.  In  der  ganzen  Kan- 
tate fließt  die  Erfindung  reich  tmd  mannigfaltig  dahin; 
zuweilen  erhebt  sie  sich  zu  ganz  bedeutenden  Motiven, 
aber  auch  bequemerem  Material  gewinnt  sie  eine  große 
äußerliche  Wirkung  —  häufig  durch  steigende  Sequenzen 
—  ab.  Die  Schützsche  Zeit  und  Schule  vertreten  noch 
imposanter  die  als  »Motetto  concertato«  bezeichnete 
Nummer  6:  »Weine  nicht«  (für  Alt-,  Tenor-  und  Baßsolo 
mit  einem  Orchester,  das  zu  der  gewöhnlichen  Streicher- 
und Gontinuobesetzung  noch  dreifache  Gamben  heran- 
zieht) und  die  Nummer  5 :  »Es  erhub  sich  ein  Streit«  (für 
naunstimmigen  geteilten  Chor  mit  Streichorchester,  Gon- 
tinuo  und  drei  Posaunen).  Beide  Stücke  verwenden,'  das 
eine  zur  Schilderung  des  Streits  im  Himmel,  das  andere 
zur  Andeutung  der  Löwenkraft,  ziemlich  die  gleichen 
Motive.  Es  sind  an  Trompeten  und  FeldmUsik  erinnernde, 
vom  Durdreiklang  abgeleitete  Naturmotive,  die  im  4  7.  Jahr- 
hundert in  jeder  Art  von  Musik,  bei  Italienern,  Deutschen 
und  Franzosen  ähnlich  wiederkehren,  so  oft  an  Kämpfe, 
Wagnisse  und  Siege  erinnert  werden  soll.  Sie  gehören 
zu  dem  systematisch  erst  noch  durchzuarbeitenden  Ge- 
biet der  tonmalerischen  Formeln  der  Zeit  und  sie  sind 
der  Grund,  weshalb  sich  z.  B.  die  zahlreichen  Kantaten  über 
den  Michaelistext:  »Es  erhub  sich  ein  Streit«  thematisch 
so  auffallend  gleichen.  Genau  dieselben  Motive  wie  hier 
bei  Weckmann,  finden  sich  in  Garissimis  Jephta.  Weck- 
manns »Weine  nicht«  hat .  in  dem  gewaltigen  Schluß- 
satz über  das  einzige  Wort  Amen  ein  Stück,  das  in  der 
gleichzeitigen  Kantate  ziemlich  allein  steht.   Für  das  Kon- 


543 

%ert  würde  die  Kantate:  >Es  erhub  sich  ein  Streit«  wegen 
der  wirksamen  Verbindung  Gabrielischer  Chorpolyphonie 
mit  monodischer  Kunst  am  meisten  zu  empfehlen  sein. 

(regen  Bernhards  Kantaten,  die  mit  Ausnahme  der  0.  Bernhard, 
zweiten  Nummer  dem  für  Sopran  und  Baß  gesetzten 
Dialog  »Wohl  dem,  der  den  Herren  fürchtet«,  wohl  einem 
Trauungsstück,  ganz  überwiegend  aus  Ghormusik  mit  Or- 
chester bestehen,  kann  man  die  Ausstellung  erheben,  daß 
sie  in  den  Solosätzen  der  Gediegenheit  zu  Liebe  mit  Nach- 
ahmungen zwischen  den  Singstimmen  allein  oder  zwischen 
Singstimmen  und  Instrumenten,  hie  und  da  etwas  zu  br^it 
geraten.  Wie  seinem  Lehrer  Schütz  ist  auch  ihm  die 
Einfachheit  des  italienischen  Begleitungsapparats  ver- 
schlossen geblieben.  Gegen  die  modisch^  Lust  an  male- 
rischem Laufwerk  verhält  er  sich  aber  viel  ablehnender, 
reifer  und  charaktervoller  als  Weckmann.  Als  hervor- 
ragender Musiker  zeigt  er  sich  besonders  durch  einen 
Sinn  für  Elementarwirkungen,  c^^r  sich  in  Kleinigkeiten, 
wie  Echos,  Wechsel  von  Solo  und  Tutti,  von  Stimmen 
und  Instrumenten,  noch  viel  stärker  aber  durch  die  Folge 
der  Sätze  und  den  Aufbau  der  ganzen  Kantaten  bewährt. 
Seine  größte  Leistung  unter  den  von  ihm  vorliegenden  Ar- 
beiten ist  die  Komposition  des  Responsoriums:  »Tribularer 
si  nescirem  misericordias«  und  in  ihr  die  Führung  der  bei- 
den zehnstimmigen  Chöre,  die  Anfang  und  Schluß  bilden. 

Durch  möglichste  Wahrung  deutscher  Selbständigkeit 
fesselt  unter  den  Kantatenkomponisten  des  ^  7.  Jahrhun- 
derts Rudolph  Ahle,  der  für  seine  Vaterstadt  Mühlhaiisen  S.  Ahle, 
in  Thüringen  eine  große  Anzahl  von  Sammlungen  ver- 
schiedenster Kirchenmusik  komponiert  und  in  den  Druck 
gebracht  hat.  Der  fünfte  Band  der  Denkmäler  deutscher 
Tonkunst  (herausgegeben  von  Johannes  Wolf)  legt  davon 
eine  verhältnismäßig  reiche  Auswahl  vor.  Für  Ahle  war  die 
Hauptsache  an  der  neuen  italienischen  Musik  die  Gleich- 
berechtigung und  das  Zusammenwirken  von  Singstimmen 
und  Instrumenten,  und  von  dieser  Auffassung  aus  schritt  er 
zu  einer  Modernisierung  von  Choral  und  Motette.  Die  von 
ihm  neu  erfundenen  Choräle  haben  meistens  selbständige 


-— ♦     544     ♦— 

Orchestervorspiele,  die  an  musikalischem  Wert  allerding*s 
kaum  verlieren,  wenn  man  sie  in  gewöhnlicher  Weise  anf 
die  Orgel  verpflanzt.  Die'  Choräle  selbst  —  Ahle  nennt 
sie  geistliche  Arien  —  verdienen  die  Aufmerksamkeit  der 
Gegenwart  deshalb,  weil  sie  von  dem  starren  gleich- 
mäßigen Rhythmus,  in  den  die  alten  Gemeindelieder 
heute  entartet  sind,  nichts  wissen.  Es  gibt  auch  eine 
Anzahl,  die  der  Einleitung  entbehren  und  a  capella  zu 
singen  sind.  Unter  ihnen  ist  det  sechsstimmige  Satz 
»Es  ist  genug«  als  ein  großes  Meisterstück  in  kleiner 
Form  für  geistliche  Konzerte  besonders  zu  empfehlen. 
Ähnlich  wie  mit  den  Chorälen  oder  Arien  verhält  sichs 
mit  den  Motetten  Ahles.  Ein  Teil  von  ihnen  rückt  ein- 
fach durch  die  Verbindung  mit  dem  Orchester  in  das 
Gebiet  der  einsätzigen  Kantaten  auf,  ein  anderer  hält 
am  alten  a  capella -Gesang  höchstens  mit  Hinzunahme 
des  Continuo  fest.  Seine  Hauptstücke  knüpfen  an  Cho- 
räle an,  sehr  schon  und  einfach  tut' dies  z.  B.  die  sechs- 
stimmige Aria:  »Ach,  Herr,  mich  armen  Sünder«,  die 
Ahle  wie  auch  viele  andere  Sätze,  besonders  Dialoge 
(z.  B.  Nr.  28:  »Wer  ist,  der  von  Eden  kommt?«)  in  Ga- 
brielischer Chorantiphonie  aufgebaut  hat  Besonders 
hervorzuheben  ist  die  Choralmotette:  »Wir  glauben 
all  usw.«.  War  nun  für  Ahle  der  Sologesang  auch  nicht 
die  Hauptsache  an  der  neuen  Kunst,  so  hat  er  ihn  doch 
nicht  ganz  ignoriert,  sondern  in  zweierlei  Art  benutzt, 
nämlich  zu  ganz  auf  ihn  gestellten  Kompositionen  und 
zu  Zwischensätzen  und  Einlagen  in  Chorkantaten.  \yie 
der  Mehrzahl  seiner  deutschen  Zeitgenossen  steht  er  der 
neuen  Kunstart  etwas  unsicher  gegenüber.  Unter  den 
Stücken,  wo  es  ihm  ganz  mit  ihr  geglückt  ist,  steht  das 
schlichte  Duett  »Bleib  bei  uns«  unter  denen,  wo  er  zur 
vermeintlichen  Erhöhung  der  Andacht  Pirouetten  schlägt, 
das  zweisprachig  gehaltene  Duett:  »Misericordias  Domini 
cantabo  usw.«  obenan. 

Unter  den  großen  mehrsätzigen  Kantaten  R.  Ahles 
verdienen  die  erste  Stelle  die  zwei  Weihnachtskomposi- 
tionen: »Fürchtet  euch  nicht«  und  iMerk  auf«.    Jene  ist 


— ♦      545      ♦— 

als  einer  der  für  die  Vorgeschichte  des  Oratoriums  wich-* 
tigen  Versuche, die  biblische  Lektion  in  den  neuen  Musik- 
formen vorzutragen,  bemerkenswert.  Diese  wirkt  durch 
die  sinnige  Verwendung  des  Chorals  »Vom  Himmel  hoch«. 
Ziemlich  gleich  steht  ihr  die  Kantate  »Zwinget  die  Saiten«, 
in  der  der  Choral  »Wie  schön  leucht  uns  der  Morgenstern« 
auf  seine  Verzierungsfähigkeit  mehrfachen  gelungenen  Pro- 
ben unterworfen  wird.  Kantaten  wie  die  lets^enannten 
(aus  dem  »neugepflanzten  Thüringischen  Lustgarten«) 
kamen  um  die  Mitte  des  4  7.  Jahrhunderts  nur  noch  ganz 
ausnahmsweise  in  Druck.  Die  Verleger  waren  um  diese 
Zeit  zwar  für  Messen  und  Motetten,  sie  waren  auch  für 
kleine  einstimmige  Konzerte  oder  Arien  wie  sie  in  G. 
Briegels  »Geistlichem  Rosengarten«  enthalten  sind,  zu  G.  Briegel« 
haben,  für  ganze  Jahrgänge  anspruchsvoller  Kirchenkan- 
taten aber  nicht.  Zwei  Menschenalter  nach  Ahle  haben 
die  beiden  Lübecker  Sam.  Franck  und  Chr.  Schiefer- 
decker noch  einmal  den  Bann  durchbrochen*).  Derbe-  Chr.  Sohiefer- 
deutendste  Lübecker  Musiker  dagegen,  Dietrich  Buxte-  deoker. 
hu  de,  hat  sich  mit  handschriftlicher  Verbreitung  seiner  b.  Butakado. 
Kantaten  begnügen  müssen,  obwohl  sie  durch  die  »Abend- 
musiken« der  Marienkirche  einen  weiten  Ruf  genossen. 
Erst  neuerdings  ist  aus  den  erhaltenen  440  Nummern  ein  > 
größerer  Band  in  Druck  gekommen '*'*) ;  eine  Aussicht,  sie 
alle  wie  Buxtehudes  Orgelkompositionen  durch  eine  Ge- 
samtausgabe der  Gegenwart  wieder  zuzuführen,  besteht 
kaum.  Denn  sie  können  sich  mit  jenen  an  Gebrauchs- 
wert nicht  messen  und  sind  an  veralteten  Elementen  viel 
reicher.  Aber  in  der  Übergangszeit  der  evangelischen 
Kirchenkantate  vom  4  7.  zum  48.  Jahrhundert  verdienen  sie 
einen  der  vordersten  Plätze;  sie  verhalten  sich  im  Aufbau 
der  Sätze,  in  der  Auslegung  des  aus  Bibel,  Gesangbuch, 
madrigalischer  Dichtung,  also  zum  erstenmal  aus  hetero- 
genen Quellen  schöpfenden  Textes  zu  den  Kantaten  der 
7orangehenden  Deutschen,  auch  zu  denen  Tunders,  wie 

•)  A.  Göhlcr,  Verzeichnis. 
••)  Denkmäler  der  deutschen  Tonkunst,  XIV. 

II,  4  35 


--♦     546     ^»— 

Haydnsche  Sinfonien  zu  Scarlattischeh  und  können  als 
eine  der  Grundlagen  betrachtet  werden,  auf  der  sich  die 
protestantische  Kirchenkantate  des  i  S.Jahrhunderts  weiter 
entwickelte.  Die  Methode  Buxtehudes  ist  in  der  Architektur 
Wichtig;  diese  ist  durch  Buxtehude  fertiger  und  imposanter 
geworden.  Buxtehude  ist  in  der  deutschen  Kantate  der 
erste  Vertreter  der  neapolitanischen  Schule.  Er  zuerst 
behandelt  die  selbständigen  Abschnitte  des  Textes  in  den 
breiten,  mit  der  Oper  und  dem  Oratorium  der  Italiener 
korrespondierenden  Formen,  die  der  Empfindung  sich  zu 
vertiefen,  der  Fantasie  bei  großen  Bildern  zu  verweilen 
ermöglichen,  die  es  erlauben,  den  Gehalt  musikalischer 
Motive  und  Ideen  nicht  bloß  zu  streifen,  sondern  aus- 
zuschöpfen. Solche  italienische  Kirchenkantaten  waren 
in  Deutschland  aus  der  Feder  Legren zis  verbreitet.  An 
ihn  knüpft  Buxtehude  an.  Die  Größe  des  Gehäuses  und 
seiner  Hauptteile  ist  seinen  Kantaten  gemeinsam,  in  der 
besonderen  Anlage  jedoch  herrscht  Mannigfaltigkeit  und 
Originalität.  Die  letztere  geht  soweit,  daß  er  gelegentlich 
einmal  eine  Einleitungssymphonie  durcH  ein  vokales  Prälu- 
dium (»Wachet  auf,  ruft  uns  die  Stimme«)  ersetzt.  Auch 
in  seinem  Orchester  zeigt  sie  sich  darin,  daß  Kornetten 
und  Posaunen  mehr  zum  konzertieren  herangezogen  sind, 
als  bei  seinen  nächsten  Vorgängern.  Überall  stehen  wir 
vor  einem  Musiker,  der  keine  Note  verschwendet  und  der 
mit  Händelschem  Geschick  und  Ernst  auf  große,  volkstüm- 
liche Wirkungen  bedacht  ist.  Damit  hängt  es  auch  zu- 
sammen, daß  die  Kunst  der  Polyphonie  in  seinen  mehr- 
stimmigen Sätzen  merklich  zurücktritt.  NamenÜich  die 
Chöre,  unter  ihnen  wieder  die  im  ungeraden  Takte  ge- 
führten, sind  vorwiegend  im  einfachen  homophonen, 
aber  eindringlichen  und  mächtigen  Stil  geführt. 

Im  Bilde  von  Buxtehudes  moderner  und  aufs  Reale 
gerichteten  Künstlernatur  würde  ein  wesentlicher  Zug 
fehlen,  wenn  man  nicht  des  sinnigen  Elements  seiner 
Kantaten  gedächte.  Es  kommt  durch  die  Wiederkehr 
ihm  lieber  Sätze  an  späteren  Stellen  einer  Komposition 
ähnlich,  jedoch  viel  häufiger  und  stärker  zum  Ausdruck. 


i 


-^     547 

wie  in  seinen  Instrumentalsonaten.  Noch  bedeutender 
belebt  er  seine  Kantaten  in  der  Verwendung  der  Choräle. 
Sie  fehlen  fast  in  keiner,  aber  er  versteckt  sie  gern,  hält 
sich  an  ihre  wesentlichen  Wendungen,  prüft  und  erweitert 
ihren  Inhalt  durch  Neubildungen,  die  sich  gelegentlich 
auf  das  einfache  Mittel  einer  Verzierung  beschränken.  Da- 
mit gab  er  auch  für  die  Choralbehandlung  in  der  Kantate 
neue  Anregungen. 

Das  zwischen  Buxtehude  und  Seh.  Bach  liegende  halbe 
Jahrhundert  ist  zurzeit  in  der  Hauptmasse  nur  hand- 
schriftlich vertreten,  dieser  Handschriftenbestand  läßt  sich 
jedoch  noch  nicht  übersehen,  da  außer  bekannten  öffent- 
lichen Bibliotheken,  unter  denen  die  Königliche,  die  Biblio- 
thek der  Prinzeß  Amalie  und  die  des  Grauen  Klosters  in 
Berlin  obenan  stehen,  dafür  auch  zahlreiche  Kirchen-  und 
Schularchive  kleinerer  Städte  in  Betracht  kommen,  die 
ihre  Schätze  bisher  nicht  gebucht,  vielfach  auch  nicht 
gehütet  haben.  Denn  in  der  Zeit  äußerster  musikalischer 
Dezentralisation  sorgte  jeder  deutsche  Kantor  für  seinen 
Kantatenbedarf  in  erster  Linie  mit  der  eigenen  Feder.  Daher 
kommt  es,  daß  wir  von  vielen  dieser  Kantatenkomponisten, 
von  Levini,  Kreichel,  Liebhold,  LoUfuß  z.  B.,  nicht 
einmal  die  Personalien  feststellen  können  und  uns  begnügen 
müssen,  aus  ihrem  Stil  ungefähr  Zeit  und  Schule  zu  be- 
stimmen. Auf  einzelne  von  ihnen  paßt  das  etwas  harte 
Urteil,  das  Telemann  über  den  erwähnten  Liebhold  gefällt 
hat:  >er  sammelte  Klauseln  und  leimte  sie  ungeschickt 
zusammenc'*').  Es  darf  aber  keineswegs  verallgemeinert 
werden,  sondern  in  jener  Periode  sind  auch  in  unansehn- 
lichen Orten  sehr  achtungs werte  Arbeiten  entstanden,  so  in 
Zschopau  die  Kantaten  Chr.  Lieb  er  s,  in  Hingleben  die 
J.A.  Kesselrings.  Daß  andererseits  auch  damals  in  größeren 
Städten  unbedeutende  Kompositionen  zutage  kamen,  üeße 
sich  mit  den  Kantaten  des  Bremer  V.  Lüb  eck  belegen. 

*)  Nach  einer  handschriftlichen  Bemerkung  Forkels  in  dem 
betreffenden  Band  der  Kgl.  Bibliothek  zu  Berlin.  Das  Material 
dieses  Instituts  liegt  den  hier  gegebenen  Ansführnngen  zugrunde. 

35* 


— ♦     548     ♦— 

Die  Masse  der  hier  in  Betracht  kommenden  Hand- 
schriften verteilt  sich  ziemlich  gleichmäßig  auf  Solokantaten 
und  Chorkantaten;  viele  der  ersteren  sind  nachweislich 
für  Nachmittagsgottesdienste  geschriehen.  Die  künstlerische 
Entwicklung  der  Gattung  steuert  auf  Übersichtlichkeit  und 
größere  Gruppierung  der  Form,  zweitens  auf  stärkere 
Ausprägung  des  protestantischen  Charakters.  Das  erste 
Ziel  wird  früher  erreicht  als  das  zweite.  Die  an  vene- 
tianische  Opemmuster  anknüpfende  Zusammensetzung 
aus  kleinen  Stücken,  die  noch  die  Kantaten  Sebastianis, 
auch  seine  Choralkantaten  zeigen,  weicht  vom  Anfang  des 
4  8.  Jahrhunderts  ab  ziemlich  allgemein  dem  breiteren  Auf- 
bau, den  unter  den  Neudrucken  zuerst  Buxtehude  vertritt. 
Der  Mitarbeit  von  Opernkomponisten,  wie  des  Braun- 
I  Schweigers  G.  Schürmann,  darf  hieran  ein  Verdienst  zu- 

geschrieben werden.  Der  Choral  dagegen  wird  noch 
Jahrzehnte  vorwiegend  auf  die  einfachste  kirchliche  Form 
und  den  Schluß  der  Kantaten  oder  ihrer  Teile  beschränkt, 
häufiger  erscheint  er  daneben  noch  als  unerwartete  Fort- 
setzung von  Sologesängen.  Choralfugen  dagegen  und  Ver- 
treter Tunderscher  Choralkünste  sind  selten.  An  dieser 
Stockung  trägt  das  de  tempore-System  und  der  Zwang 
der  schnellen  Arbeit  einen  Teil  der  Schuld;  sie  erklärt 
auch,  daß  die  Kantaten  an-  und  für  sich  hervorragender 
Künstler  ungleich  geraten.  Was  da  einzelne  Komponisten 
sich  zumuteten,  wird  an  dem  Nachlaß  Chr.  Graupners 
am  ersichtlichsten,  von  dem  in  Darmstadt  allein  über  4  300 
mehrsätzige  Kirchenstücke  Hegen,  die  erst  jüngst  durch- 
forscht wurden*).  Von  Gebel  sind  noch  273,  von  Homi- 
lius  4  02  Kantaten  in  Rudolstadt,  von  G.  Benda  50  in 
0.  H.  Stölsel.  Gotha  vorhanden.  G.  H.  Stolz  el  kann,  nach  den  in 
Gotha  und  Sondershausen  erhaltenen  Kantatenmassen  dem 
Darmstädter  Kollegen  an  Fleiß  nur  wenig  nachgegeben 
haben.  In  guten  Stunden,  z.  B.  in  den  Kantaten  »Segnet 
die  Tochter  Zion«,  »Deine  Gnade  muß  mein  Trost  sein«, 
»Lobt  ihn  mit  Herz  und  Munde«  ist  er  so  bedeutend  und 


*)  Fr.  Noack :  Ohristian  GraupDer  in  seinen  Kirchenkantaten« 


y 


-— ♦     549     ♦— 

^  

original,  daß  einem  modernen  Tonsetzer  der  Mut  sinken 

müßte.     Im  Verhältnis    zum    Choral   schwankt   StölzeL 

Die  eine   Gruppe  seiner   Kantaten  enthält  meist  kurze 

Choralbearheitungen,  oder  flicht  überraschend   und  sehr 

wirksam  Bruchstücke  von  Kirchenliedern  in  Rezitative  und 

Äriosos  ein.    In  einer  zweiten  Gruppe  begnügt  sich  auch 

Stölzel  mit  dem  einfachen  Choral  als  Schlußstück;  in  der 

Kantate  über  »Was  Gott  tut,  das  ist  wohlgetan«,  wo  man 

vielfache    und    eingehende   Auslegungen    über   die    alte 

Kirchenmelodie  erwartet,  wird  ihre  erste  Zeile  überhaupt 

nur  ein  einziges  Mal  solistisch  zitiert.    Eine  dritte,  wenn 

auch    kleine   Gruppe  seiner   Kirchenkantaten   verzichtet 

überhaupt  auf  Choräle.     Der  neben  Hasse  berühmteste 

aller  in  Deutschland  geborenen  und  wirkenden  Komponisten 

des  4  8.  Jahrhunderts,  G.  Telemann,  von  dessen  Kantaten G.  Telemann. 

sich  ein  Stoß  von  60  Stück  in  dem  Thüringischen  Dorf 

Goldbach   erhalten  hat,  bei   denen  auch  die  Besetzung 

(9  Sänger,  45  Musiker  und  K  Ciavierist)  angegeben  ist, 

steht  dem  Choral  sehr  launisch  gegenüber.  Am  trefflichsten 

zeigt  die  Kantate:    »Ach  Gott,  wie  manches  Herzeleid «, 

eins  von   Telemanns   zahlreichen  Adventstücken,    seine 

Art,  den  Choral  zu  zitieren.    Da  wird  ein  Baßsolo  erst 

mit  einer  Zeile  von  »Was  Gott  tut  usw.«,  dann  von  der 

zweiten  Hälfte  von  »Ein  feste  Burg«,  von  der  Stelle:  »Der 

alte  böse  Feind  usw.«  unterbrochen.  Aber  auch  Telemann 

bringt  die  Choräle  in  der  Regel  nur  in  der  Form,  wie  sie 

die  Gemeinde  zu  seiner  Zeit  sang,  bleibt  also  ebenfeQls 

hinter  dem  Herzensanteil  und  der  künstlerischen  Arbeit 

zurück,  die  Tunder  auf  sie  verwendete. 

Aus  der  vorhin  erwähnten  handschriftlichen  Kantaten- 
masse sind  in  jüngster  Zeit  einige  Bände  in  den  Druck 
gekommen,  die  es  jedermann  ermöglichen,  auf  sicherer 
Unterlage  das  Büd  der  deutschen  Kirchenkantate  am  Ende 
des  4  7.  Jahrhunderts  über  Buxtehude  hinaus  zu  verfolgen. 
Es  sind  das  42  Kantaten  von  Fr.  Wilh.  Zachpw*),  ein 


*)  Denkmäler  der  Tonkunst,  XXI/XXU. 


-^      550 

Käntatenband  Nürnberger  Meister*)  und  24  Kantaten 
des  Weißenfelser  Kapellmeisters  Philipp  Krieger**). 
Der  Nürnberger  Band,  der  von  den  Komponisten 
Hainlein,  Hainlein,  Schwemmer,  Wecker,  Pachelbel, 
Sohwommer,  Philipp  Krieger  und  Johann  Krieger  je  nur  wenige, 
Wecker,  eins  bis  drei  Probestücke  gibt,  zeigt  die  Kantate  der 
?aohelbel.  musikaUschen  Reichsstadt  unter  starkem  venetianischen 
Einfluß.  Der  Choral  tritt  sehr  zurück,  dagegen  herrschen 
im  Aufbau  der  Sätze  die  scharfen  Tempogegensätze,  in 
der  Besetzung  die  Pracht  und  die  großen  Mittel,  ^e  am 
Markusdom  beliebt  waren.  Die  meisten  Stücke,  wie  gleich 
die  ersten  von  Hainlein  und  Schwemmer  erfreuen  durch 
ihre  Frische  und  durch  eine  trauliche,  aus  Volksquellen 
genährte  Einfalt  des  Tones.  Legt  man  an  sie  einen  von 
Schein  und  Schütz  abgezogenen  Maßstab  an,  so  drängt 
sich  allerdings  der  Gedanke  an  den  dazwischen  hegenden 
dreißigjährigen  Krieg  auf.  Die  Vertiefung  in  Bibel  und 
Gesangbuch  hat  abgenommen  und  im  musikalischen  Ver- 
kehr mit  Gott  hat  eine  nicht  unbeträchtHche  Nüchternheit 
Platz  gegriffen.  Die  Handwerksfertigkeit  hat  dabjßi  wenig 
gehtten,  es  wird  fugiert  und  imitiert,  es  wechseln  Einzel- 
stimmen und  Chöre,  feierUche  und  freudige  Tempi  im 
Satz.  Nur  macht  sich  die  Schablone  und  das  Einerlei 
der  Anlage  etwas  geltend.  Der  eigentUche  Schaden  liegt 
in  der  Erfindung  der  Motive,  die  selten  etwas  Eigenes 
sagen.  Ab  und  zu  merkt  man  jedoch  an  diesen  Kantaten, 
daß  im  deutschen  Land  und  Musikerstand  immer  noch 
reichere  Seelenquellen  fließen.  Ein  solches  Ausnahmestück 
ist  in  diesem  Nürnberger  Band  die  als  Begräbnismusik 
gedachte  einsätzige  Kantate:  »Die  Gerechten  werden  weg- 
Philipp  Krieger,  gerafft«  von  Philipp  Krieger.  Von  Anfang  an  durch 
schhcht  gehaltvolle  Deklamation  fesselnd,  bringt  sie  bei 
den  Worten  »Und  ruhqn  in  ihren  Kammern«  einen  Schluß, 
der  eines  Meisters  ersten  Ranges  würdig  ist,  und  der  sich 
musikahschen  Hörern  unverherbar  einprägt.    Es  ist  nun 

*)  Denkmäler  der  Tonkunst,  2.  Folge  12  I*. 
**)  Denkmäler  der  Tonkunst,  LIV/LV. 


« 

für  die  Zeit  bezeichnend,  daß  der  eigene,  oben  angeführte 
Kriegerband  unter  seinen  21  Kantaten  keine  einzige  ent- 
hält, die  sich  mit  dieser  eben  erörterten  Tranerkantate 
auch  nur  im  entferntesten  messen  könnte.  Geschichtlich 
ist  der  Band  aber  doch  von  Wert,  namentlich  dadurch, 
daß  er  ein  Bild  von  der  Entwicklung  der  Kantatentexte 
gibt  und  den  stattlicheren  und  freieren  Ausbau  der  Gat- 
tung durch  rezitativische  und  dramatische  Elemente,  der 
schon  bei  Buxtehude  beginnt  und  mit  Neumeister  ab- 
schließt, deutlich  vorfuhrt.  Der  großen  Ungleichheit  der 
Leistungen,  die  zum  Teil  als  Folge  der  Massenproduktion 
in  allen  Künsten  des  4  7.  Jahrhunderts  wiederkehrt,  begegnen 
wir  auch  in  den  Kantaten  Friedrich  Wilhelm  Zachows.F.  W.  Zaohow 
Was  ihn  aber  in  den  Hauptstücken,  unter  denen  die 
zweite:  »Herr,  wenn  ich  nur  dich  habe«  mit  der  obligaten 
Harfenpartie  obenan  steht,  auszeichnet,  das  ist  das  wunder- 
volle, tief  melodische  Talent,  von  dem  insbesondere  die 
Baßarie,  »Ich  mag  den  Himmel  nicht«,  mit  ihrem  Reich- 
tum, ihrer  Vornehmheit  und  Natürlichkeit  ein  unübertreff- 
liches Muster  bietet.  Daß  Handel  auf  einen  solchen 
Lehrer  viel  hielt,  ist  leicht  zu  begreifen.  Auch  koloristisch 
sind  die  Kantaten  Zachows  überraschend  ergiebig. 

Zur  Hebung  der  Choralkantate  trugen  Musiker  manches 
bei,  die,  wie  der  Regensburger  Stolzenberg)  an  der  Orgel 
aufgewachsen  waren,  in  der  freien  Kantate  ragen  die 
älteren  Vettern  Seh.  Bachs  hervor,  besonders  der  Eise- 
nacher  Christoph  Bach,  dessen  Michaeliskantate  »Es 
erhub  sich  ein  Streit«,  die  eigenthch  zu  den  Historien 
gehört,  und  dessen  Lamento:  »Ach,  daß  ich  Wassers  genug« 
(Altsolo]  heute  wieder  bekannter  sind.  Das  Lamento  hat 
schnell  einen  Neudruck  erfahren. 

Durch  Seb.  Bach  ward  endlich  auch  die  Vorlage  J.  B.  Bach. 
Tunders  wieder  eingeholt  und  überholt.  Wie  den  Passio- 
nen, gab  er  auch  den  Kantaten  das  evangeUsch-litur- 
gische  Rückgrat,  mit  dem  sie  fester  den  Moden  der 
Zeiten  trotzen  konnten.  Bach  war  der  erste,  der  alle 
die  großen  Leistungen,  zu  welchen  die  Choralkunst 
während   des  47.  Jahrhunderts  in  der  Orgelkomposition 


-— ♦     652     ♦— 

vorgedrungen  war,  der  Vokalmusik  und  der  Kantate 
dienstbar  machte.  Dadurch  ist  er  der  Hauptvertreter 
der  evangelischen  Kirchenkantate  geworden  und  wird 
es,  so  verwendbar  und  wertvoll  auch  die  in  Neudrucken 
neben  ihn  tretenden  Arbeiten  seiner  Vorgänger  und  Zeit- 
genossen sind,  bleiben.  Die  Zeit  hatte  in  Neumeister 
und  den  Männern,  welche  sich  ihm  anschlössen,  inzwi- 
schen auch  die  lange  vermißten  Dichter  beschert  .  Bach 
hpb  die  Sologesänge  und  Rezitative  der  Kantate  auf  einen 
Punkt,  den  die  italienische  Kunst  in  den  Formen  wolil 
hie  und  da  übertraf,  im  Charakter  aber  nur  selten  er- 
reichte, er  stattete  sie  mit  unvergleichlichen  Chören  aus. 
Der  entscheidende  Zug  der  Bachschen  Methode  liegt  aber 
darin,  daß  das  Choralelement  zu  einem  Lebenselement 
ausgebildet  ist,  welches  den  ganzen  Organismus  seiner 
Kirchenkantaten  leuchtend  durchdringt.  Bach  hat  aber 
auch  viele  Kantaten  ohne  Choräle  geschrieben,  die 
hinter  jenen  nicht  zurücktreten.  Die  formellen  Elemente 
bilden  aber  nur  einen  Teil  des  Wertes  der  Bachschen 
Kantate.  Auch  ohne  sie  würde  die  Fülle  der  geistigen 
Persönlichkeit,  aus  welcher  diese  Musik  geflossen  ist,  äure 
bezwingende  Macht  äußern,  wie  auf  der  andern  Seite 
die  Bewunderung  dieser  Werke  die  Schranken  der  Kon- 
fessionen längst  durchbrochen  hat.  Seit  der  Leipziger 
Thomaskantor  Müller  diese  Kantaten  wieder  aus  dem 
Archive  hervorsuchte,  Rochlitz  dieses  Ereignis  begeistert 
verkündete  und  Marx  die  erste  kleine  Folge  in  den  Druck 
gab,  ist  der  Ruhm  dieser  Werke  hundertmal  beredt  an- 
gestimmt worden.  Oft  ist  es  gesagt:  wer  diese  Kantaten 
nicht  kennt,  dem  entgeht  einer  der  schönsten  und  eigen- 
sten Schätze  deutscher  Kunst  und  das  Gesamtbild  Bachs 
entbehrt  ohne  diese  Kantaten  einige  wesentliche  Züge.  Sie 
sind  die  Raritätenkammer,  in  welcher  seine  gestaltende 
Hand  ihre  feinsten  Griffe  übte.  Von  den  Passionen  und 
Messen  aus  ahnt  man  doch  nicht  all  die  Wunderdinge, 
an  denen  nur  wenige  dieser  Kantaten  ganz  leer  ausgehen. 
Namentlich  ist  jedermann  überrascht  über  die  koloristi- 
schen Mittel,  welche  Bach  hier  entfaltet,  über  die  feinen 


— ^      653      >— 

und  fesselnden  Farbenmischungen,  welche  er  für  viele 
seiner  Kantatenarien  erdacht  und  ausgeführt  hat.  Wer 
▼oll  Bewunderung  über  die  Fruchtbarkeit,  welche  unsere 
neueste  Musikperiode  auf  diesem  Spezialgebiete  ent- 
wickelt, zum  erstenmal  die  ganz  eigenartigen  und  cha- 
rakteristischen Orchesterbilder  vor  sich  sieht,  welch'e 
Bach  z.  B.  der  Arie  >Wie  zittern  und  schwanken«  in  der 
Kantate:  >Herr,  gehe  nicht  ins  Gericht«  und  dem  Alt- 
rezitativ in  der  >Trauerode«  beigegeben  hat,  wird  ge- 
neigt sein,  in  den  Ausruf  jenes  Enthusiasten  mit  einzu- 
stimmen: >Es  gibt  nichts  Neues,  was  nicht  Bach  schon 
gebracht  hat«.  Und  sehr  Vieles,  darf  man  hinzufügen, 
was  Baqh  in  den  Kantaten  bringt,  hat  noch  keiner  wie- 
der gebracht. 

Die  religiösen  Themen,  die  sie  behandeln,  erstrecken 
sich  bekanntlich  in  mehrfachen  Jahrgängen  über  den 
ganzen  Kreis  christlicher  Vorstellungen  und  Empfin- 
dungen. Bach  ist  jeder  dieser  vielfältigen  Aufgaben 
mit  einer  Superlativen,  von  Inbrunst  und  Begeiste- 
rung beschwingten  Kunst  gerecht  geworden.  Aber  doch 
ragt  ein  besonderer  Zug  seiner  Natur  aus  der  Masse 
mit  eigens  großer,  halbschauerlicher  Deutlichkeit  hervor. 
Dies  ist  die  Sehnsucht  nach  Sterben,  Tod  und  Leben 
bei  dem  Herrn.  Dieses  Thema  schlägt  er  in  seinen 
Kantaten  entschiedener  an  als  irgend  ein  anderes.  Als 
Kraftnatur  gibt  er  sich  in  allen  Situationen,  grandios  ist 
auch  seine  Freude  und  Heiterkeit  Aber  niemals  arbeitet 
seine  Empfindung  und  seine  Kunst  mit  vollerer  Energie 
und  Hingabe,  als  wenn  die  Texte  der  Erdenmüdigkeit, 
der  Sehnsucht  nach  dem  letzten  Stündlein  Ausdruck 
geben.  Die  Sprachgewalt,  welche  seine  Musik  hierfür  in 
immer  andern  Registern,  in  zarten  und  stürmischen 
Regungen  äußert,  hat  etwas  Dämonisches. 

Jeder  größeren  Stadt  wäre  ein  Verein  zu  wünschen, 
welcher  die  praktische  Bekanntmachung  dieser  Kantaten 
zu  seiner  einzigen,  besonderen  Aufgabe  machte.  Denn 
die  Summe  von  Kunst,  welche  in  diesen  Werken  nieder- 
gelegt wurde,  ist  quantitativ  und  qualitativ  zu  groß,  als 


56t     ♦— 

daß  ihr  die  Chorvereine  nebenbei  gerecht  werden  könnten. 
Immerhin  bleiben  aber  die  Verdienste,  welche  sich  einzelne 
dieser  Institute  seit  der  Wiedererweckung  Bachs  um  die 
systematische  Pflege  seiner  Kirchenkantaten  erworben 
haben,  hoch  anzuerkennen.  Voran  ging  auch  hier  die 
Berliner  Singakademie.  Dann  hat  aber  kein  zweiter  Chor- 
verein  so  viele  Bachsche  Kantaten  zur  Aufführung  gebracht 
als  die  Breslauer  Singakademie  unter  Mosewius.  Seiner 
Begeisterung  für  diesen  Kunstzweig  hat  dieser  eiMge 
Mann  in  einem  besonderen  Werke*}  Ausdruck  gegeben, 
welches  seinerzeit  sehr  anregend  gewirkt  hat  und  noch 
heute  brauchbar  ist. 

Von  den  fünf  Jahrgängen  Kirchenkantaten  t-  gegen 
300  Stück — ,  die  Bach  nachweislich  geschrieben  hat,  sind 
bekanntlich  490  erhalten.  Nur  ein  sehr  geringer  Bruch- 
teil ist' davon  bis  heute  Allgemeingut  der  musikahschen 
Welt  geworden:  die  bekanntesten  sollen  hier  nach  der 
Reihenfolge  ihrer  Entstehung  angeführt  werden. 

•  Von  den  verschiedenen  Gesichtspunkten,  nach  denen 
man  sich  in  die  Bachschen  Kantaten  vertiefen  kann,  ist 
ein  sehr  naheliegender  und  ergiebiger  die  Gruppierung 
nach  dem  Inhalt  oder  den  Festzeiten.  So  wirds  am  besten 
deutlich,  wie  Bach  Ostern,  Pfingsten,  Weihnachten  und 
andere  Feste  immer  wieder  anders,  mit  ursprünglicher 
Frische  und  doch  mit  Wahrung  bestimmter  Grundzüge 
feiert,  wie  unendlich  reich,  klar  und  wesensbestimmt  er 
ist.  Nicht  minder  reizvoll  und  notwendig  ist  es  aber 
auch  der  Entwicklung  Bachs  nachzugehen  und  seine 
Kantaten  sich  nach  der  Zeit  der  Entstehung  zu  eigen  zu 
machen.  Mindestens  die  Bekanntschaft  mit  seinen  ersten 
beiden  Kirchenkantaten  sollte  sich  kein  Bachfreund  ent- 
Arnitftdter  gehen  lassen.  Das  ist  die  Arnstädter  »Denn  du  wirst 
Kantate,  meine  Seele  nicht  in  der  Hölle  lassen«  vom  Jahre 
4  704  und  die  vielgenannte  Mühlhausener  Ratswahlkantate 
>Gott  ist  mein  König«   von  4  708.    In  jener  ist  die 

*)  >J.  S.  Bach  in  seinen  Kirchenkantaten  und  Ohoral- 
gesängen«,  Berlin  1845. 


\ 

--4     558     4—  V 

ganz  außerordentliche  Frische,  die  kindliche  Unbefangen- 
heit das  Eigene,  mit  der  Bach  die  durchweg  landläufigen 
und  meist  ausgesprochen  volkstümlichen  Motive  handhabt. 
Daneben  tritt  aber  auch,  am  stärksten  in  dem  Duett: 
»Ich  jauchze,  ich  lache«  eine  keineswegs  gewöhnliche 
Kunstfertigkeit  zutage.  Die  vielen  Rezitative  bekunden 
dazu  eine  entschieden  moderne  Richtung,  die  ja  auch 
noch  aus  der  Anlehnung  an  die  da  capo-Arie  hervortritt. 
Aber,  wäre  die  Komposition  nicht  zu  gut  beglaubigt,  könnte 
man  sie  auf  Rechnung  irgendeines ,  allerdings  sehr  be- 
gabten mitteldeutschen  Kantors  setzen.  In  der  Mühl-  Htthlhansener 
hausener  Kantate  kehren  die  Arnstädter  Züge  wieder;  Batswahlkantate. 
auch  sie  ist  reich  an  Volksmusik,  und  sie  steigert  im 
Schlußsatz  den  fröhlichen  Ton  sogar  bis  zur  kecken  Aus- 
gelassenheit Von  den  Worten:  »Glück,  Heil  und  großer 
Sieg  muß  täglich  vom  Neuen  dich,  Joseph,  er&euen«,  ab 
wird  er  zum  reinsten  Kehraus  und  läßt  ohne  jegliches 
Bedenken  in  den  Vormittagsgottesdienst  schon  die  nach- 
mittägliche Festwiese  hineinklingen.  Aber  neben  diesem 
jugendlich  lustigen  und  liebenswürdigen  Bach  steht  doch 
hier  schon  ein  anderer,  der  mehr  zu  bedeuten  hat,  als 
die  besten  und  geschicktesten  seiner  Standesgenossen. 
Gleich  nach  dem  fröhlichen  Eingang  »Gott  ist  mein  König« 
ruft  die  im  Text  eigentlich  nebensächliche  Wendung  »von 
Alters  her«  den  großen  Melancholiker  ganz  unversehens 
und  überraschend  auf  den  Plan.  Diesem  ersten  kleinen 
Zug  Bachschen  Tiefsinns  reihen  sich  dann  ganze,  große 
Stücke  an,  das  originellste  unter  ihnen  ist  der  Chor  »Du 
wollest  dem  Feinde  nicht  geben«,  der  schlagende  Natur- 
malerei —  die  Turteltauben  führen  beständig  das  Wort  — 
und  den  Ernst  eines  geängstigten  Herzens  ganz  wunder- 
bar mischt. 

Diese  beiden  Kantaten  geben  also  ein  Bild  von  dem 
Grunde  Bachschen  Wesens  und  von   seiner  raschen  und 
gewaltigen  Entwicklung.     Von  der  Mühlhausener  hat  es 
bis  zur  Zeit  der  vollen  Reife  nur  noch  kurze  Zeit  gedauert.      J.  8.  Bach, 
Denn  die  Kantate:   »Gottes  Zeit  ist  die  allerbeste     Gottes  Zelt 
Zeit«,  eine  seiner  bedeutendsten  und  bekanntesten,  schrieb  (Actus  tragicus) 


-— ♦     556     ♦— 

Bach  in  seinem  26.  Jahre  zu  Weimar  für  die  Beisetzung 
eines  angesehenen  Biirgers.  Das  war  der  »Actus  tragicus«, 
von  weldiem  sie  ihren  Nebentitel  und  för  welchen  sie  die 
sanften,  weichen  Klageweisen  ihrer  Instrumentaleinleitung 
(Sonata  benannt)  hat.  Der  Text,  mit  einer  dichterischen 
Umschreibung  des  Bibelspruchs  »Im  Herren  leben  wir,  im 
Herren  'sterben  wir«  beginnend,  geht  darauf  aus  uns 
Schritt  vor  Schritt  das  Drama  des  Todes  vorzuführen:  Es 
nahen  die  Sterbegedanken,  wir  hören  die  Botschaft  des 
Todesengels.  Bald  aber  löst  ihn  die  Stimme  des  Herrn 
und  Heilands  ab,  die  Stimme  Jesu  Christi,  der  dem  Tod 
seinen  Schrecken  genommen  und  ihn  zum  Eingang  ins 
himmlische  Paradies  gemacht  hat.  Den  Bibelspruch  des 
Eingangs  hat  Bach  in  einem  mehrstimmigen,  feierlichen 
Satz  komponiert,  von  dem  Mendelssohn  mit  Recht  sagt, 
daß  er  auch  von  einem  andern  Komponisten  herrühren 
könnte.  Nur  das  Adagio,  welches  von  den  Worten  ab: 
»In  ihm  sterben  wir«  beginnt,  hat  Bachsche  Züge.  Die 
drei  letzten  tiefen  gedeckten  Noten  »wenn  er  will«  hätte 
schwerlich  ein  Zweiter  gefunden.  Und  nun  kommen  die 
eigentlichen  Sterbegedanken  in  einem  Tenorsolo  »Ach 
Herr,  lehre  uns  bedenken«,  zu  welchem  die  Flöte  eine 
nachdenkliche  Melodie  spielt,  welche  wie  ein  Verhängnis 
nicht  vom  Platze  weichen  will  Immer  kehrt  sie  wieder 
und  bildet  musiXalisdi  den  Hauptträger  der  Nummer.  Die 
Botschaft  vom  Tode  »Bestelle  dein  Haus«  trägt  der  Baß 
in  einem  rauhen,  gewalttätigen  Tone  vor.  Sie  entlockt 
dem  Soloquartett*)  in  dem  Satze  »Es  ist  der  alte  Bund« 
eine  ernste  Klage,  deren  resignationsvoller  Charakter  noch 
nachdrücklich  durch  die  tiefe  Lage  unterstrichen  wird,  in 
welcher  Baß,  Alt  und  Tenor  einsetzen.  Sie  erklingen  in 
einem  Register,  das  Grauen  erregt.  Der  Sopran  bringt 
mit  dem  freudig  aufheiternden  Gegenthema  »Ja,  komm, 
Herr  Jesu  Christ«  die  Wendung.  Der  neue  Bund  tritt  mit 
dem  von  den  Inatrumenten  angespielten  Choral  »Ich  hab* 

*)  Die  Instnimeiitiening  verbjutet  es,  »Gottes  Zeit  usw.« 
als  Ohorkantate  avfziifaliTen. 


--♦     657     ♦— 

mein*  Sach'  Gott  heimgestellt«  dem  alten  entgegen.  Am 
Schiasse  der  Nummer  erhebt  sich  im  Orchester  eine  my- 
steriös flatternde  Figur,  welche  auch  zu  dem  nun  folgenden 
Duett  zwischen  der  abgeschiedenen  Seele  und  dem  Herrn 
selbst  einen  nicht  unwichtigen  Teil  des  motivischen  Ma- 
terials beiträgt.  Hat  Bach  an  das  Bild  von  der  hinab- 
schwebenden Taube  gedacht?  Das  Duett  ist  ein  »Dialog«, 
zwischen  der  »gläubigen  Seele«  und  dem  »Bräutigam«  ge-  / 

führt.  Der  freundlich  zusprechende  Ton  des  letzteren  (Baß) 
»Heute  wirst  du  mit  mir«  verscheucht  die  letzten  Sorgen 
um  den  Tod.  In  Ghoraltönen  versichert  die  Altstimme 
»Der  Tod  ist  mein  Schlaf  worden«.  Das  Vokalquartett 
steigert  diesen  Gedanken,  ebenfalls  an  das  Kirchenlied 
anknüpfend,  zum  Preis  und  Lob,  zuletzt  fugierend,  aber 
immer  von  Gamben  und  Flöten  umflort. 

Die  Kantate  »I ch  hatte  viel  Bekümmernis«,  gleich-  J.  8.  Back, 
falls  eine  der  durch  die  Marxsche  Ausgabe  bekannt  ge-Ich  hatte  viel 
wordenen,  ist  für  den  dritten  Trinitatissonntag  im  Jahre  4714  Bekümmernis, 
zu  Weimar  geschrieben.  Da  ihr  Text  aber  an  diesen  Tag  nicht 
weiter  anknüpft,  schrieb  Bach  darüber:  »per  ogni  tempore«. 
Es  ist  möglich,  daß  er  die  Kantate  ebenfalls  zu  gelegentlicher 
Verwendung  als  Begräbnismusik,  von  welcher  in  jener  Zeit 
noch  viel  gebraucht  wurde,  bestimmt  hatte.  Das  Thema, 
welches  die  Worte  »Ich  hatte  viel  Bekümmernis«  wiedergibt, 
wird  unter  dieser  Voraussetzung  erst  ganz  verständlich.  Es 
entspricht  mit  seinem  halb  marschartigen  Hhythmus  durch- 
aus nicht  dem  Tone,  welcher  für  solche  Worte  der  nächst- 
liegende war,  hat  aber  die  entschiedenste  Ähnlichkeit  mit 
Grab-  und  Trauerliedern,  wie  sie  die  Kurrenden  in  jener  Zeit 
und  noch  später  sangen.  Der  Gedankengang  im  Text  der 
Kantate  ist  dem  »Actus  tragicus«  sehr  verwandt:  Kurz  wird 
er  im  ersten  Chor  in  den  Satz  zusammengefaßt:  »Ich  hatte 
viel  Bekümmernis— aber  deine  Tröstungen  erquicken  meine 
Seele  « .  Bach  hat — nach  Vorausschickung  einer  von  fließen- 
der Klage  und  großer  Erregung  (Trugschlüsse,  Fermaten)  er- 
füllten Symphonie  —  diese  Worte  in  einem  großen  Eingangs- 
chor komponiert,  der  ihren  Gegensatz  aufs  schärfste  ausprägt. 
Das  »Aber«  steht  im  bedeutungsvollen  Adagio,  von  Pausen 


nmgeben,  ganz  allein.  Dann' rollt  die  Erquickung,  die  der 
Trost  des  Herrn  bringt,  in  einem  feurigen  Vivace,  auf  ge- 
sungenen Orgelmotiven,  wie  eine  gewaltige  Flut  herein.  Ihre 
Segnungen  werden  erst  zuletzt  in  einem  kurzen  Andante 
ruhig,  aber  nicht  ohne  daß  Freudentöne  hell  herausschlagen, 
betrachtet.  Es  beginnt  nun  der  Weg  wieder  von  vom:  der 
Text  wird  musikalisch  ausgelegt.  Die  Bekümmernisse  wer- 
den in  zwei  Arien  geschildert,  welche  zu  den  schönsten  ge- 
hören, die  wir  von  Bach  besitzen.  Noch  höher  als  diä  erste 
(Sopran]  steht  die  zweite  (Tenor)  mit  dem  wunderbar  aus- 
drucksvollen Recitativo  accompagnato :  »Wie  hast  du  dich, 
mein  Gott«  und  der  malerischen,  merkwürdig  reibenden  und 
stechenden  Begleitung  des  eigentlichenAriensatzes:  (»Bäche 
von  gesalzenen  Zähren«).  In  der  Mitte  geht  dieses  Rezitativ 
einmal  aus  schmerzlichem  Sinnen  in  wilde  Erregtheit  über. 
Der  Schlußchor  des  ersten  Teils  stellt  diesem  zerknirschten 
Seelenzustand  Hoffnung  und  Aussicht  auf  Heilung  gegen- 
über, die  wunderbar  fein  eingeführten  Worte«  >Harr&  auf 
Gott«  bilden  den  Kernpunkt  dieses  außerordentlich  reich 
und  lebendig  entwickelten  Satzes.  Die  ganz  frappant  de- 
klamierte Stelle  »in  mir«  ist  fast  identisch  mit  dem  »wenn  er 
will«  im  »Actus  tragicus  « .  Der  Schlußabschnitt  dieses  Chores 
greift  sichtlich  auf  Stimmung  und  Rhythmus  des  Eingangs- 
satzes zurück.  Der  zweite  Teil  der  nummemreichen  Kan- 
tate schildert  die  Erquickung  des  geängsteten  Gemüts  durch 
die  Hilfe  des  Herrn.  Es  ist  wieder  ein  Dialog  (Sopran  und 
Baß),  der  ihn  beginnt.  Der  zweite  Satz  desselben  »Komm*, 
mein  Jesu,  und  erquicke«  ist  für  die  Kirche  etwas  zu  zärt- 
lich und  süß,  eins  der  wenigen  Beispiele,  mit  denen  man 
die  unhaltbare  Ansicht  von  dem  Pietismus  Bachs  allenfalls 
stützen  könnte.  Auch  die  Tenorarie  fällt  im  Ausdruck  der 
wiederkehrenden  Freude  in  einen  weltlichen  Ton,  welcher 
dem  späteren  Bach  nicht  untergelaufen  sein  würde.  Ganz 
groß  sind  aber  die  Chöre  dieses  zweiten  Teils,  der  erste 
»Sei  nun  wieder  zufrieden«  auch  bezüglich  der  Form: 
Choral  mit  Fuge.  Der  Choral,  welcher  von  Stimme  zu 
Stimme  wandert,  ist:  »Wer  nur  den  heben  Gott  läßt 
walten <.     Der   Schlußchor    hat    Händeischen    Charakter. 


§59 


J.  8.  Baoh, 
Nun  ist  das 


Der  melodische  Zuschnitt  des  Fugenthemas  >Lob  und  Ehr* 
und  Preis«  kommt  in  späteren  Werken  Bachs  nur  selten 
wieder;  am  nächsten  unter  den  bekannten  Kantatensätzen 
steht  ihm  das  berühmte  Thema  des  gewaltigen  Kantaten- 
torso: »Nun  ist  das  Heil  und/ die  Kraft«. 

Dieser  Torso  muß  dem  Text  nach  zu  einer  Michaelis- 
kantate  gehört  haben,  von  welcher  wir  nichts  weiter  Heil  und  die 
wissen.  Spitta  setzt  ihn  in  die  spätere  Zeit  des  Kompo-  Kraft  - 
nisten.  Mit  Recht  gUt  dieses  Fragment  für  einen  der  ge- 
waltigsten Chöre,  die  Bach  überhaupt  geschrieben  hat; 
die  Wucht  seiner  Wirkung  geht  weit  über  seinen  äußern 
Umfang  —  436  Takte  —  hinaus.  Sie  beruht  nicht  bloß  auf 
einer  bedeutenden  Inspiration,  sondern  Bach  hat  diesmal, 
um  seiner  Vorstellung  von  der  Größe  und  Herrlichkeit 
Gottes  den  entsprechenden  starken  Ausdruck  zu  gebeji, 
ungewöhnliche  Mittel  gewählt,  Mittel,  die  nach  mehr  als 
einer  Richtung  das  Gigantische  streifen.  Technisch  ist 
der  Chor  eine  Tripelfuge,  an  der  in  verschiedener  Weise 
acht  Stimmen  beteiligt  sind.  Schon  die  Themenaufstellung 
greift  über  den  üblichen  Brauch  und  über  das  übliche 
Maß  hinaus,  über  den  Brauch  durch  den  melodischen 
Aufbau  des  Anfangsteils,  über  die  gebräuchlichen  Maße 
durch  seine  Länge.   Er  besteht  aus  folgenden  22  Takten : 

■^'Af  f  Ml  i'i'  ir  !■  I'  lI^^ 


Nun  ist  das     Heil  und  die    Kraft  und  .dasrxReioh  und  die 


Macht  voK  -  eers    Oot.tes  sei .  nes .  Qfiria.tas    ,vor.den«.'weU  der  ver. 


■^ytiirPfiLüTj^ 


s 


^m 


e) 


.i^l&aist»>.der-.  sie    Ter.lclai.        .2ge.te,        der  sie    ver. 
]da    ....     ire.teTaic      und  Nacht  vor      Gott 


Sicher  bleibt  der  erste  Teil  des  Themas  —  der  mit 
a)  bezeichnete  —  der  wichtigste,  aber  die  beiden  folgen- 
den Teile  sind  weit  mehr  als  freie  Kontrapunkte,  sie  wer- 
den von  den  fngierenden  Stimmen  genau  aufgenommen 
und  jeder  hat  seinen  eigenen  Charakter.  Der  zweite 
jubelt,  der  dritte,  der  überall  die  ernste  Betonung  des 
Wortes  »verklagte«  herauskehrt,  lenkt  wieder  in  den 
ersten  Ton  zurück.  An  der  ersten  Durchführung  neh- 
men die  Stimmen  des  ersten  Chores  in  der  Reihenfolge: 
Baß,  Tenor,  Alt  und  Sopran  teU,  Kontrabaß,  Violen, 
erste,  zweite  Violinen  verstärken,  die  Orgel  gibt  die 
harmonisch -rhythmische  Begleitung.  Als  der  Sopran 
den  ersten  Abschnitt  beschließt,  setzen  aber  die  beiden 
übrigen  instrumei^tengruppen  —  dreifache  Oboen  und 
dreifache  Trompeten  mit  Pauken  —  ein,  die  erste 
Trompete   mit   dem    Fugenthema,    der   Oboenchor    mit 

fröhlichen       t^  y  H  f  -TT  fflT   ^^  ^^^  °^^  ^^ 


Festsignalen :  yV  'ii*|  qJ  \  ad-i—  mit  zu  dem  Motiv- 
bestand des  Satzes  gehören.  Dazu  fällt  aber  auch  der 
zweite  Vokalchor  ein,  sein  Sopran  mit  dem  Thema  in  der 
Gegenbewegung: 


i^t  r  i"r.  r  M.f  r  r  i-i  r  r.i 


Hiim  ist  das     HieU  vani  die   .Kraft  and  das    fieidumd  die- 


ji*"!!  J  I  I  l||    jl  hl  Lfl  I  I  I  1^ 


"Macht  un  .  sers      Oot.testei. «  gwa      Chris. tus       «or.den 

seine  anderen  Stimmen  begleitend  und  füllend.    ^ 

Das  ist  der  erste  von  den  mehreren  Gipfeln  des  an 
sich  auf  ungewöhnlicher  Höhe  stehenden  Kunstwerkes. 
Alle  übrigen  Durchführungen ,  deren  die  Fuge  im 
ganzen  vier  hat,  sind  freier  gehalten.  Schon  die  zweite 
ist  unvollständig.  Nur  der  Baß  des  ersten  Chores  nimmt 
das  Thema  in  ihr  ganz  durch.  Nach  dem  Einsatz  des 
zweiten  Chores  —  mit  dem  Thema  im  Sopran  —  widmet 
Bach  der  Betrachtung  der  Verworfenen  und  Verklagten 
einen  Abschnitt,  in  dem  zuerst  noch  Glieder  des  The- 
mas verwendet  werden.   An  ihrem  Ende  jedoch  singt  er 


r 


— ♦     661 

die  Worte  »der  sie 
verklagetec  in  einer 
neuen  Weise:.  ^   ^Oereiever.  kl»  * 

Sie  mischt  in  den  großen  Hymnus  von  der  Majestät 
Gottes,  für  einen  Augenblick  nur,  aber  tief  ergreifend, 
den  Ton  des  Mitleids  und  der  Trauer.  Der  Eindruck 
der  Stelle  wird  wesentlich  dadurch  verstärkt,  daß  Bach 
darauf  verzichtet,  die  Rückkehr  in  den  Hauptton  irgend- 
wie zu  vermitteln.  Nach  einem  klagenden  Aufschrei  des 
Soprans  bricht  er  mit  einer  Generalpause  ab,  spricht  durch 
Schweigen  und  wendet  sich  dann  ohne  weiteres  der  dritten 
Durchführung  zu.  Mit  ihr  beginnt  die  zweite  Hälfte  des 
Chores.  Im  wesentlichen  gleicht  sie  der  ersten;  in  klei- 
nen Zügen  weicht  sie  auf  Schritt  und  Tritt  beziehuhgs- 
voll  ab.  So  gleich  beim  ersten  Einsatz  des  Themas,  in 
dessen  Vottrag  sich  diesmal  die  Chöre  ablösen.  Der  zweite 
Ciior,  der  In  der  ersten  Hälfte  zurückstand,  ist  jetzt  mit  > 
dem  ersten  gleichwertig  beschäftigt  Bach  gibt  nun 
meistens  das  Thema  in  zwiefacher  Fassung,  in  der  ur- 
sprünglichen und  in  der  Gegenbewegung  zusammen. 
Des  weiteren  sind  die  Farben  auch  in  dem  mitwirken- 
den Orchester  glänzender  aufgetragen,  verschiedene 
Textstellen  lebendiger,  in  bewegteren  Rhythmen  ge- 
geben als  bei  der  ersten  Fassung.  Die  Wiederholung 
gibt  also  den  Inhalt  des  ersten  Teiles  bereichert  und  im 
Ausdruck  gesteigert. 

Die  Kantate  »Ein'  feste  Burg«  iät  unter  den  im  J.  8.  Bach, 
Konzert  eingebürgerten  die  erste,  in  welcher  der  Choral  Ein' feste Buij^. 
mehrere  Sätze  durchzieht  In  der  heute  bekannten 
Fassung  ist  das  Werk  erst  4789  vollendet  worden.  Dem 
ersten  Entwurf  vom  Jahre  4747,  in  welchem  sie  mit  dem 
Texte:  »Alles,  was  von  Gott  geborene  zum  Sonntag  Oculi 
bestimmt  war,  fehlten  zwei  Häuptstücke,  die  Chöre  Nr.  4 
und  5.  Beide  sind  Choralbearbeitungen,  der  erste  eine 
größten  Stils.  Die  vier  Stimmen  führen  die  melodisch 
variierten  Zeilen  des  Liedes  in  Fugenform  durch.  Auf  die 
Singstimmen  türmt  der  kühne  Bauherr  noch  einen  Kanon 
zwischen   Oboen    und    Orchesterbässen.     Schmetternde 

II,  4.  36 


.—^     562 

Trompetenfanfaren,  welche  leider  nur  selten  originalgetrea 
zur  Ausführung  kommen,  bilden  die  glänzenden  Spitzen 
dieser  gewaltigen  gothischen  Musikburg.  In  dem  andern 
dieser  zugesetzten  Chöre,  der  Nr.  6,  singen  die  sämtlichen 
Stimmen  den  Choral  einfach,  aber  in  einem  wuchtigen 
Unisono.  Das  Orchester,  thematisch  von  der  ersten 
Strophe  ausgehend,  breitet  eine  Flut  von  Kraft  und  Trotz 
darüber  aus,  deren  Wirkung  elementar  ist  Die  Nh  2,  ein 
Duett  zwischen  Sopran  und  Baß,  bereitet  den  stürmischen 
Charakter  dieser  einem  Abschnitt  aus  der  Völkerwande- 
nmg  gleichenden  Szene  vor.  Besonders  beachtenswert 
sind  in  diesem  Duett  die  stolz  aufpochenden  Motive  der 
Violinen.  Von  den  duettierenden  Singstimmen,  wekhe 
hier  ausnahmsweise  am  besten  chorweise  besetzt  werden, 
bringt  der  Sopran  den  Choral.  Die  Bässe  umkleiden 
den  Choral  mit  einem  Triumphgesang,  dessen  Akzente 
wie  eherne  Keile  fallen,  dessen  begeisterte  Figuren  der 
menschlichen  Atemkraft  fast  spotten.  Den  beiden  noch 
übrigen  Sologesängen  der  Kantate  gehen  rezitativartige 
Einleitungen  voraus,  deren  Schlüsse  außerordentlich 
schön  in  den  Gesang  überleiten.  Der  letzte  dieser  S(^o- 
gesänge,  das  Duett:  »Wie  selig  sind  doch  die«  (Alt  und 
Tenor)  ist  eine  von  Bachs  einfachsten  und  zugleich  innig- 
sten Arbeiten  dieser  Gattung. 

Bekanntlich  war  Bachs  Leipziger  Zeit  die  ergiebigste 
für  die  Kirchenkantate.    Das  erste  Werk,  welches  uns, 
von   dem   nicht    sicher    datierten    Chor    »Nun   ist   das 
Heil  usw.«    abgesehen,    aus    dieser    Periode    im   Kon- 
zert begegnet,    ist   die    Osterkantate   vom   Jahre    47S4 
J.  8.  Baoki     »Christ  lag  in  Todesbanden«.     Das  gerade  dieses 
Christ  lag  in    Werk  heute  zu  den  bekanntesten  Kirchenstücken  Bachs 
Todesbanden.  zählt,  ist  eine  erfreuliche  Tatsache.     Denn  von  keinem 
andern  fällt  ein  gleich  starkes  Licht  einmal  auf  seine 
dämonische  Todesverachtung,  zweitens  auf  den  deutschen 
Charakter  seiner  Kunst.     Sein  weitabgewandter   Sinn 
scheint  niemals  wieder  so  tief  erregt  worden  zu  sein 
als  durch  das  alte  Lutherlied:  »Christ  ist  erstanden«  mit 
seiner  lapidaren  Schilderung  jenes  Sieges,  durch  den  der 


-"-6-     563 

Heiland  dem  Tod  die  Macht  genommen,  der  sterbenden 
Menschheit  das  Paradies  erschlossen  hat.  So  stolz,  so 
herb  und  gewaltig  hat  Bach  sein  Lieblingsthema  nicht 
zum  zweitenmal  durchgeführt,-« wie  in  dieser  Kantate;  so 
unerbittlich  grimmig  und  düster  wie  hier  das  Bild  des 
zu  Boden  geworfenen  Todes  nicht  wieder  gezeichnet. 

Mit  dieser  Auffassung  stellt  sich  Bach  in  den  ent- 
schiedensten Gegensatz  zu  den  Italienern,  die  von  Pale- 
ätrina-  bis  auf  Verdi  den  Tod  immer  freundlich,  am  an- 
tiken  Sinn,  behandelt  haben.  Und  Bach  ist  sich  dieses 
Gegensatzes  bewußt  gewesen,  hat  den  strengen,  alles 
Weiche  ausschließenden  Eindruck  seines  in  dieser  Oster-, 
kantate  aufgestellten  Todeszuges  durch  die  Form  ver- 
schärft Die  Kantate  »Christ  lag  in  Todesbanden«  ist 
die  einzige  unter  Bachs  bekannten  Kirchenkantaten,  die 
jeglichen  italienischen  Einfluß  bis  auf  eine  einzige  ge- 
ringe Spur  abweist.  Der  Text  hält  sich  ganz  ausschließ- 
lich an  das  Gesangbtichlied,  kein  Wort  freier  madsigali- 
scher  Züdichtung.  Die  Musik  verzichtet  völlig  auf 
Rezitativ,  Arie,  auf  alle  modernen  Elemente  und  ent- 
wickelt sich  ausgesprochen  altdeutsch  und  protestantisch 
aus  der  Ghoralmelodie.  Die  Kantate  »Christ  lag  in  Todes- 
bänden« ist  unter  den  strengen  Choralkantaten  Bachs  die 
strengste,  sie  ist  einer  der  gewichtigsten  Beiträge  zu  jener 
Kunst  der  Choralvariation  und  Choralau'slegung,  die  seit 
Eccard  und  Scheidt  in  Chor  und  Orgel  zur  Blüte  gediehen 
und  das  rühmlichste  musikalische  Stück  deutscher  Selb- 
ständigkeit geworden  war. 

Ph.  Spitta  hat  darauf  aufmerksam  gemacht,  daß  Bach 
für  einzelne  Sätze  dieser  Osterkantate  eine  Komposition 
desselben  Textes  von  seinem  Amtsvorgänger  Johann 
Kuhn  au  als  Vorlage  im  Auge  gehabt  hat.  Bach  hat 
sich  aber  von  dieser  Anregung  aus  weit  über  Kuhnau 
hinweg  in  den  Geist  vergangener,  glaubensstarker,  kräf- 
tiger Zeiten  seines  Volkes  vefsetzt.  Ist  doch  die  luthe- 
rische Melodie  aus  einem  alten  deutschen  Kirchenlied 
hervorgegangen,  das  mit  dem  Text  »Christ  ist  erstanden^ 
ins  4  2.  Jahrhundert  zurückweist.  Besonders  aber  begegnet 

36* 


564 


sich  Bach  in  der  EmpfiiaduDg  und  den  Mitteln  seiner  Kan- 
tate mit  Holbein,  Granach  und  mit  vergessenen  Vertretern 
bildender  Kunst  aus  der  Reformationszeit. 

Die  Ghoralmelodie/  die   in    sieben  Sätzen   variiert 
wird,  heißt: 

J7\         .    .  - (^ 


^''*Mi'i>i,rriiTi7f iJn'hf  Jijjjjüi 


(Christ  lag  In    To-des  .  ban .  den  .für  Qn8.re  Sund  ge .  stör  .  ben,l 
«  Er«' ist  wieder  er«' 8tan.  den  und  haiunsbradit  das  Xie  •  ben.' 


A'j  Ji>i  jN  >iiri  II 'I II  n\m 

V       T\.o  _-f  _  s.  .^1    1..     «-:ti.  i:«!.    ««:^  rL.AA     1^  v.^^     ...J  rUii»    Ji^^kluis 


1 


Defl  wie  1 8ol.  len   frölulich  sein^Gfott    lo.  ben   und  ihm  dankJbar 


^1 HUI  vif'i" '■■'■" 

"^  sein  und  sin4ren  HaLI»  •  lu    .     iah»,  ■*  -Ual    '.    I0  .    In  •  iah! 


sein  und  sin^^en  HaLI»  .  lu    .     jah», 

Bach  stellt  sie  schon  an  die  Spitze  der  Instrumental- 
einleitung (EmoU,  O)  die  er  dem  Ganzen  vorausschickt, 
einen  kurzen  Satz  für  fünfstimmiges  Streichorchester  und 
Orgel,  den  er  »Sinfonia<  überschrieben  hat.  Diese  Sin- 
fonia  ist  die  erwähnte  einzige  Spur  italienischen  Ein- 
flusses in  der  Kantate.  Es  ist  eine  Symphonie  nach 
dem  Sinn  und  Muster  des  Venetianers  Giov.  Gabrieli, 
dessen  Kirchensymphonien  ja,  wie  bereits  öfters  bemerkt 
wurde,  in  Kantaten,  Oratorien,  Passionen  von  allen  Deut- 
schen des  4  7.  Jahrhunderts  nachgebildet  wurden.  Selten 
findet  man  aber  diese  Einleitungssymphonien  in  analogen 
Fällen  so  wie  hier  bei  Bach  auf  den  Choral  gestimmt. 
Die  Bachsche  Symphonie  gibt  in  der  ersten  Hälfte  die 
Hauptzeile  des  Chorals  ziemlich  wörtlich:. 


i^M  f'rHrüüri 


Die  kleinen  Zusätze  und  Änderungen,  die  sie  erfahren 
hat,  haben  deutsches  Gepräge  in  der  wunderbar  eindrucks- 
vollen Hervorhebung  eines  kurzen  Motivs,  nämlich  der 


-^     565     ♦— 

zwei  Noten,  mit  denen  der  Choral  beginnt,  in  der  Verwen- 
dung des  Echos  l[zweiter  und  yierter  Takt)  wenden  sie  sich 
absichtlich  deutlich  alten  Zeiten  zu.  Die  gleich  kurze 
zweite  Hälfte  des  Vorspiels  spricht  die  Ergriffenheit  aus, 
in  die  das  aufgestellte  Bild  versetzt,  am  stärksten  in  einer 
von  den  ersten  Violinen  vorgetragenen  unbegleiteten  Figur. 
Der  erste  Vers  ist  am  breitesten  und  zu  einem 
großen  Chor  von  bald  400  Takten  in  der  Weise  ausge- 
führt worden,  daß  der  Sopran  den  sogenannten  cantus 
firmus,  d.  h.  den  Choral  in  Originalform  singt,  die  unte- 
ren Stimmen  in  wechselnden  Kontrapunkten  begleiten. 
Kornette  und  Posaunen,  beide  Violen  und  Bässe  ver- 
stärken die  Chorstimmen,  die  Violinen  illustrieren  in 
selbständigen  Motiven.  Bach  hat  vorher  und  nachher, 
z.  B.  in  »Ein'  feste  Burg«  und  in  d,er  »Matthäuspassion« 
sicherlich  prachtvollere  Eingangschöre  auf  Choritlmelo- 
dien  aufgebaut,  aber  keinen,  der  den  Gehalt  eines  Liedes 
konzentrierter  zum  Ausdruck  bringt.  Das  erreicht  er 
hauptsächlich  dadurch,  daß  er  die  Kontrapunkte  immer 
vom  cantus  firmus  ableitet.  Die  ersten  Zeilen:  »Christ 
lag  in  Todesbanden  für  unsre  Sund*  gegeben«  machen 
davon  eine  Ausnahme:  in  ihnen  klingt  die  Melodie  des 
Chorals  im  Alt,  Tenor  und  Baß  nur  schwach,  nur  mit 
dem  kurzen  Anfangsmotiv  an,  der  Sopran  dominiert 
nicht  bloß  formell,  sondern  sein  trauernder,  klagender 
Gesang  gibt  dem  Anfang  der  Kantate  einen  sinnigen, 
auf  das  Bild  von  den  »Todesbanden«  gestützten  Char- 
freitagston.  Das  wird  aber  von  der  dritten  Zeile  ab 
anders.  Mit  den  Worten  »er  ist  wieder  erstanden« 
kommt  in  die  unteren  Stimmen  selbständiges  Leben,  sie 
greifen  der  Führung  des  Soprans  vor,  wenden  dessen 
Gedanken  in  eigener  kräftiger  Weise.  Der  Alt  setzt 
die  fällige  Choralzeile  in  r^  f  ,  ,  ,  |  (  |  |  |  ^ 
verkürztem,        energischem  =^     JyJ  J  '  *  *  *jl  I  j) 

Rhythmus    ein,    erst:  er  Jstwie.der  er.staa.den 

^ Tenor     und     Baß 

dann 


J  t   L    ■    i    L   Liiiriri  i"C '  Tenor     und     Baß 

•  ^     Ji«  J^ /U1  J  >  J  JJJU^  nehmen  diese  Wen- 

er !W wMarV; suaTTT^  %aL  düngen    auf    und 


566 


bauen  sie  zu  einem  dreistimmigen  Fugato  aus;  erst  an 
dessen  Ende  tritt  der  Sopran  mit  der  offiziellen  Fassung: 

}  t       I..  i    I  T^  r  I  /jTjTI*""  ^®°  Aufbau  krönend  hin- 
<h     p  \pi   f  If   f    IfT^  zu.  Dieses  auf  den  Orgel- 


'jSfi  ist  wi©.dßr^eri:;..BUtii.4ea.*  choral  Pachelbels  zuriiek- 
greifende  Verfahren  behält  Bach  bis  zur  sechsten  Zeile 
bei.  Die  Nebenstimmen  bereiten  die  Hauptstimme  vor, 
der  breite  cantus  firmus  des  Soprans  setzt  als  der  not- 
wendige Abschluß  einer  dem  Zuhöirer  ganz  vertrauten 
und  in  freier  Begeisterung  vorgetragenen  Gedankenreihe 
ein.  Bei  diesen  Umbildungen  der  Kirchenweise  findet  Bach 
Gelegenheit,  in  ungesuchter  Art  den  Charakter  der  em- 
zelnen  Textzeilen  eingehender  zu  berücksichtigen.  Am  deut- 
lichsten zeigt  das  der  Abschnitt  über  die  Worte:  »deß  wir 
sollen  fröhlich  sein«  mit  dem  Figurenstrom  über  »fröhlich«. 
Die  Anlage  des  Ganzen  ist  dabei  darauf  gerichtet, 
den  Ausdruck  der  Osterfreude  immer  kräftiger  zu  ge- 
stalten, und  daran  nehmen  die  beiden  Violinen  einen 
starken  Anteil.  Sie  sind  es,  die  bereits  am  Anfang  des 
Verses,  wo  die  Musik  im  Obrigen  noch  im  Bann  trüber 
Todesgedanken  hinschreitet,  bereits  auf  die  »fröhliche  Ur- 
ständ*« hinweisen,  von  der  die  alten  Dichter  singen.  Mit 
Motiven,  die  organisch  aus  dem  Choral  abgeleitet  sind: 
Q  I  und  ähnlichen  umflattern  sie  die  gehal- 

m  y  r^^r T  r  •  tenen  Gänge  des  Chors  und  erwecken  Er- 
'^'  '  *  I  '  '  innerungen  an  figurenreiche,  ringsum  von 
Kleingestalten  belebte  alte  Bilder  des  »Jüngsten  Gerichts«. 
Gegen  den  Schluß  hin,  je  mehr  sie  sich  dem  Halle* 
lujah  nähert,  nimmt  die  Musik  des  Satzes  immermehr 
den  Bach  eigentümlichen  Charakter  seliger  Streitbarkeit, 
eines  aller  Welt  trotzenden,  herausfordernden  Glaubens- 
glücks an.  Da  wird  auch  der  Sopran  in  die  allgemeine 
Erregung  mit  hineingezogen,  gibt  in  den  beiden  letzten 
Zeilen  seinen  breiten  cantus  firmus  auf  und  fugiert  im 
gleichen  Ton  mit  den  andern  Stimmen.  Zwischen  den  ersten 


Einsätzen  dieses  Hallelu-  ^'^  ^     k  ■!'     \  L  "l   L.  l  i- 
jah,  seinen  mächtig  auf-  ro,hlj)T7jli)J^  Jv  Jyi=j= 


schlagenden  Rhythmen:         .  Hal.le»   «llttjali,Halle:k^Jiüi. 


—^     567     ♦— 

und  dem  berühmten  Hallelujah  des  Händelschen  Messias 
besteht  eine  innere  Verwandtschaft  Aus  beiden  spricht 
die  Ekstase  mit  einer  fast  dämonischen  Energie.  Der 
Anhang  des  Chors  —  27  Takte  bloß  auf  das  Wort  Halle- 
li:gah  -r-  entlädt  den  inneren  Jubel  in  einer  Form,  wie 
man  sie  nur  in  deutsdier  Kirchenmusik,  am  freiesten  in 
Beethovens  Missa  sol«mnis  findet,  in  einer  Sprache,  die 
sich  über  die  kirchliche  Gebundenheit  nahezu  hinweg- 
setzt Wenn  das  Hallelujah  in  der  Achtelbewegung 
Stimme  für  Stimme,  auf  vier  Takte  hin  ohne  anzuhalten 
nach  der  Höhe  stürmt,  steht  man  unter  dem  Eindruck 
einer  elementaren  Kunst,  wie  vor  einem  gewaltigen 
Strom,  der  die  Deiche  durchbrechen  will.  Doch  hat 
Bach  mit  überlegener  Sicherheit  den  liturgischen  Grund- 
charakter hier  gewahrt  Denn  auch  das  Thema  dieser 
rauschenden,  fast  durchweg  in  Engführungen  geführten 
Fuge 

AlUk 


A''»rJ^JiJ)rprrl.-''-''p"lMi.l'J''^'lp'l)^ 


ruht  auf  dem  Choral,  auf  seiner  letzten  Zeile.  Nach  der 
zweiten  Durchführung  staut  Bach  die  Fluten;  über- 
raschend, überwältigend  kehren  die  harten,  trotzigen 
Rhythmen  wieder,  mit  denen  das  Hallelujah  zuerst  ein- 
setzte. Sie  wollen  sich  behaupten,  aber  schließlich 
endigt  der  Satz  doch  mit  breit  hin  durch  alle  StimAen 
fließenden  Melodien  eines  dankerfüllten  Gemüts. 

Der  zweite  Vers,  ein  Zwiegesang  (EmoU,  C)  zwi- 
schen Sopran  und  Alt,  die  durch  Kornett  und  Posaunen 
verstärkt  und  nur  von  der  Orgel  begleitet  werden,  hält 
sich  enger  und  kunstloser  als  alle  andern  Variationen 
an  den  einfachen  Choral.  Das  erklärt  sich  aus  dem 
Texte,  der  die  Macht  schildert,  die  der  Tod  in  der  vor- 
christlichen Zeit  besaß.  Er  hat  nur  von  Not  und  Übel 
zu  berichten  und  dazu  eignet  sich  die  einfache  Choral- 
weise mit  ihrem  traurigen  Grundton  am  besten.  Die  be- 
scheidenen Zusätze  eigenen  Geistes,  die  Bach  mit  ein- 


^ 


—4-     568      ♦— 

fügte,  bestehen  hauptsächlich  in  einigen  bedeutsamen 
Wortwiederholungen.  Die  bei  dem  Worte  »Tod«,  die 
eindringlichsten,  erinnern  wörtlich  an  den  Anfang  der 
Sinfonia.  Auch  das  »Hallelujah«  wird  mehrmals  ge- 
sungen und  seine  Originalmelodie  am  entschiedensten 
erweitert.  vDas  Verhältnis  der  beiden  Stimmen  ist  ab- 
sichtlich äußerst  schlicht;  kaum  zeigt  es  bemerkenswerte 
Nachahmungen.  Auch  diese  architektonische  Armut  ge- 
hört mit  zum  Charakter  des  Satzes;  er  verlangt  schließ- 
lich auch  eine  gewisse  Leere  des  Klanges.  Darauf  muß 
hingewiesen  werden,  weil  sich  ohne  jegliche  historische 
Begründung  bei  diesem  Duett,  wie  auch  bei  anderen 
Solosätzen  in  Bachschen  Werken  der  Brauch  einzubür- 
gern sucht,  die  Solostimmen  in  Ghorbesetzung  vorzu- 
tragen. 

Auch  im  dritte n  Vers  (Emoll,  O  singt  die  Solostimme, 
der  Tenor,  den  Choral  zum  größten  Teil  ohne  wesentliche 
Änderungen,  nur  die  Zeilen  durch  Instrumentenspiel  ge- 
trennt; erst  beim  Hallelujah  greift  sie  in  freien  Bildungen, 
in  jubelnden  Figuren  aus.  Aber  durch  den  Violinenchor  hat 
Bach  diesen  Satz  zu  einem  selbständigen  Tonbild  gemacht. 
Er  führt  das   eben-  P^n  i^^f 

ZU  einer  Siegesmusik  aus,  in  die  der  Solist  den  erklären- 
de«^ Text  hineinsingt.  An  zwei  hervortretenden  Stellen 
übernehmen  die  Bässe  die  Figuren  der  Geigen,  ^beim 
Hallelujah  und  bei  »Da  bleibet  nichts  denn  Todsgestalt<. 
Die  letztere  hat  Bach  auch  noch  durch  ein  plötzlich  ein- 
geworfenes Adagio  und  durch  ein  allgemeines  Stocken 
des  Vortrags  vor  dem  entscheidenden  Worte  »Tods- 
gestalt« ausgezeichnet. 

Der  vierte  Vers  »Es  war  ein  wunderlicher  Krieg« 
ist  wieder  ein  Chorsatz,  doch  wird  er  nur  von  der  Orgel 
begleitet.  In  der  Anlage  gleicht  er  dem  Eingangschor 
darin,  daß  die  kontrapunktierenden  Nebenstimmen  — 
diesmal  Sopran,  Tenor  und  Baß  —  ihre  Themen  zum 
Fugieren  dem  vom  Alt  gesungenen  cantus  firmus  ent- 


nehmeir,  dem  sie  wieder  in  Pachelbelscher  Art  voraus- 
gphen.  ,  Den  Charakter  des  Satzes  bestimmt  eine  auf- 
fallend geschäftige  Rhythmik.  Sie  schreitet  vorzugs- 
weise, ähnlich  wie  das  Duett  der  falschen  Zeugen  in 
der  Mätthäuspassion,  in  beschleunigten  Achteln  dahin, 
hängt  aber  noch  sehr  reichlich  Sechzehntelfiguren  an. 
Alles  mit  Bezug  auf  die  »wunderliche«  Natur  des  Kriegs, 
von  dem  erzählt  wird.  In  förmlichen  Hohn  lenkt  die 
Schilderung  an  der  Stelle  ein:  »wie  ein  Tod  den  andern 
fraß«,  die  Stimmen  wiederholen  da  ihre  kleinen  Figuren 
übermütig  und.  grotesk.  Auch  im  Hallelujah  klingt  noch 
die  Schadenfreude  mit  an,  mit  der  das  Bild  des  würde- 
los gefallenen  Todes  gezeichnet  ist. 

Derselbe  chromatisch  abschreitende  Baß,  über  dem 
das  Grucifixus  der  Hmoll-{kIesse  sich  aufbaut,  eröfifnet  die 
fünfte  Variation  der  Kantate:  »Hier  ist  das  rechte 
Osterlamm«.  Sie  erzählt  denn  auch  vom  Kreuzestod 
des  Herrn.  In  ihren  Vortrag  teilt  sich  ein  Solobaß  mit 
dem  Streichorchester  in  der  Weise,  daß  der  Baß  die 
Choralzeilen  vorsingt  und  die  erste  Violine  sie  ohne 
Pause  in  der  Quint  oder  Oktav  nachspielt,  während 
jener,  seine  Worte  in  freien  Kontrapunkten  nochmals 
wiederholt  An  einzelnen  Stellen  ist  die  Orginalfassung 
des  Chorals  nach  dem  Beispiel  der  Böhmschen  Orgel- 
choräle  erweitert.  Es  sind  Takte  mit  Figuren  eingelegt, 
um  einzelne  Begriffe  in  Bilder  zu  fassen,  wie  z.  B.  das 
Kreuz.  Beim  »Tod«,  beim  »Würger«  sind  einzelne  Töne 
zu  demselben  Zweck  verlängert,  die  Stelle  »Blut  zeich- 
net« wird  ganz  wiederholt,  an  einer  anderen  Stelle  das 
Wort  »nicht«  zum  Ausdruck  größter  Entschiedenheit. 

Wie  nach  dem  kunstvollen,  fantasiereichen  ersten 
Vers  der  zweite  durch  seine  Schlichtheit  wirkt,  so  hat 
auch  Bach  im  Endteil  der  Kantate  wieder  für  gut  ge- 
funden, auf  eine  Reihe  vollerer  Bilder  einfachere  folgen 
zu  lassen.  Der  sechste  Vers  ist  nach  Klang  und  Be- 
handlung der  Gedanken  einer  der  bescheideneren  Sätze, 
obwohl  sein  Text  zur,  Entfaltung  einer  in  Form  und  In- 
halt großen  Kunst  Veranlassung  geboten  hätte.    Bach 


— ♦      570     *— 

hat  die  Ghoralmelodie  wieder  wie  im  zweiten  Vers  in 
Duettform  gebracht.  Doch  sind  diesmal  die  beiden  Solon 
stimmet  —  Sopran  und  Tenor  —  ebenbürtig  behandelt, 
•  stellenweise  auch  sehr  beziehungsvoll,  einmal  im  soge- 
nannten doppelten  Kontrapunkt,  geführt.  Die  Ände- 
ruilgen  am  Choral  bestehen  in  neuen  Schlüssen  der 
einzelnen  Zeilen.  Sie  greifen  mit  ihren  perlenden 
Triolenfiguren  weit  aus  und  tragen  in  die  melancholisch 
ernste  Kirchenmelodie  Osteijubel  hinein.  Doch  bleibt  es 
bei  Andeutungen.  /  Zum  Teil  hängt  diese  Beschränkung 
auch  damit  zusammen,  daß  die  alte  Musik  am  Ende 
mehrsätziger  Kompositionen  abzutönen  liebt,  selbst  in 
der  Instrumentalkomposition,  wenigstens  in  einzelnen 
ihrer  Zweige. 

$0  besteht  denn  auch  das  Finale  von  > Christ  lag. 
in  Todesbanden«  wie  bei  der  überwiegenden  Mehrzahl 
der  Bachschen  Kantaten  in  einem  schlichten  Vortrag 
des  Chorals  durch  alle  Stimmen  und  Instrumente,  4er 
sich  über  die  gewöhnliche  einfache  Form  des  Gremeinde- 
gesangs  nur  durch  feinere  Stimmführung  und  Harmonie 
erhebt.  Eine  der  ausdrucksvollsten  dieser  Wendungen 
ist  der  Trugschluß  am  Ende  der  vorletzten  Zeile. 

Erst  in  neuerer  Zeit  begegnen  wir  zuweilen  einer  in 
demselben  Jahre  (4724)  aufgeführten  aber  noch  in  Cöthen 
J.  8.  Baoh»    komponierten  Kantate  »Du  wahrer  Gott  und  Davids 
Da^wahrer    Sohn«.    Der  Choral,  welcher  ihr  zugrunde  liegt,  ist  — 
Gott.        zuerst  mit  dem  Tenorrezitativ  einsetzend  — :   »Christe) 
du  .Lamm  Gottes«;  der  schönste  Satz  der  Kantate  das 
Adagio   mit   den   herrlichen   Zwischenspielen,    welches 
nach   dem  Chore   »Aller  Augen  warten  auf  dich«   be- 
ginnt.    Die   Dichtung  knüpft  an   das  Evangelium  ;  vom 
Sonntag  Estomihi  an,  in  welchem  erzählt  wird,  wie  ein 
Blinder  am  Wege  durch  den  nach  Jerusalem  ziehenden 
Heiland  das  Augenlicht  wieder  erhält. 

Von  einer  großen  Reihe  Bachscher  Kantaten  läßt 
sich  nur  die  Periode  der  Entstehung,  nicht  aber  das  ge- 
naue Jahr  bestimmen.  Von  den  bekannteren  gehören 
außer   der   oben   erwähnten    »Herr   gehe    nicht   ins 


574      ♦-- 

GerichU'  hierher:     »Halt    im    Gedächtnis    Jesnin     J.  &•  Baoli, 
Ghtist«,  »Es  ist  dir  gesagt«  und  »Liebster  Gott  wann  *  Hen  gehe 
werd'  ich  sterben«.  Sie  fallen  in  den  Zeitraum  47)3—87.        nicht; 
Systematische  Zü^e  haben  sie  nicht  gemein.    Die  herr-  Halt  im  Ge- 
Hchste  ist  »Halt  im  Gedächtnis«  durch  die  Stelle  des     dSchtiiiS} 
Schlußsatzes ,  wo   die  Bässe  als  Himmelsstimmen   das      Es  ist  dir 
»Friede  sei  mit  euch«  einsetzen.    Der  Ort,  an  welchem       gesagt 
Bach  dasselbe  ganz  einzige  Motiv  in  seiner  Adur-Messe 
anbringt,  ferner  die  Verwendung  des  Chorals  »Erschie- 
nen ist  der  herrlich*  Tag«  weisen  darauf  hin,  daß  seine 
Fantasie  bei  dieser  Komposition  mit  Weihnachtsgedanken 
erfüllt  war.   In  der  Kantate  »Es  ist  dir  gesagt«  erregt 
der  harte  feste  Charakter  des  ersten  Chores  ebenso  sehr 
unser  Interesse  wie  seine  merkwürdige  Disposition.   Was 
dem  Menschmi  gesagt  ist,  erfahren  wir  die  erste  Hälfte 
des  Satzes  hindurch  nicht    Da  mit  einem  Male  kommt 
das  (von  Bach  eingeschobene)   »nämlich«  in  lapidarer 
Form.     Kein  zweiter  Komponist  hat  ein  Kolon  so  in^ 
seine  Rechte  eingesetzt.     Die  Wichtigkeit  und  Strenge 
d6s  Gebots  zu  betonen  ist  die  geniale,  zunächst  aber 
etwas  befremdende  Einteilung  der  Musik  allerdings  Wie 
nichts  anderes  geeignet     Der   Choral  der  Kantate  ist 
die   Melodie   »0  Gott,  du  f^rommer  Gott«.     Unter   der 
großen  Zahl  von  Kantaten,  welche  den  Tod  als  Glück 
preisen,  nimmt  die  Kantate  »Liebster  Gott«  eine  sehr    J.  8.  Baohi 
abweichende  SteUung  ein.   Sie  hat  wenig  oder  gar  nichts  Liebster  Qbtt. 
von  der  düsteren  Melancholie,  welche  sonst  überwältigend 
aus  diesen  Kompositionen  spricht    Ja  ihre  Freude  über 
die  Vereinigung  mit  Jesu  (in  der  Baßarie)  kUngt  fast  zu 
hell  und  zu  profan.   Dieser  liebliche  Grundton  mag  wohl 
damit  in  Verbindung  stehen,  daß  die  Kantate  für  den 
Sonntag  bestimmt  war,  an  welchem  das  Evangelium  von 
dem  Jüngling  von  Nain  verlesen  wurde.   Ein  Sterben  in 
der  Jugendzeit,  Begrabenwerden  im  Frühling,  wenn  die 
Vögel  in  das  Trauergeläut  hineinsingen  —  das  sind  die 
Vorstellungen,  welche  namentlich  den  ersten  Chor  zu 
erfüllen  scheinen,  in  welchen  das  von  Bach  oft  kopierte 
Geläute    der  Trauerglocken   so   merkwürdig   hoch   und 


— ♦     57«     ♦— 

lebendig,  fast  anmutig  und  wie  von  Lerchenschlag  be- 
'  gleitet,  klingt  Die  Kantate  hat  keihen  eigentlichen 
Choral,  sondern  statt  dessen  eine  in  einfacher  Form  ge- 
haltene geistliche  Arie  von  der  Komposition  des  Leipzi- 
ger Organisten  Vetter. 
J.  B.  Badhi  In  das  Jahr  4  728  gehört  die  Kantate  »Wör  nur  den 

Wer  nur  den  lieben  Gott  läßt  walten«,  welcher  das  bekannte  Ge- 
Ueben  Gott  dicht  und  die  dazu  gehörige  Melodie  von  G.  Neumark 
zugrunde  liegen.  Wenn  allgemein  bekannt,  wird  diese 
Komposition  wahrscheinlich  Unter  der  Zahl  der  popu* 
lären  Kirchenkantaten  Bachs  einen  der  ersten  Pl&tze 
einnehmen.  Ihr  Text,  eine  von  Picander  zugerichtete 
milde  Geduldspredigt,  ist  allgemein  zugänglich,  ihre 
Musik,  im  Grundwesen  mehr  sinnig  als  gewaltig,  sagt 
dem  modernen  Geschmack  namenthch  durch  die  große 
Freiheit  des  Ausdrucks  zu.  Die  Kantate  hat  formell  mit 
»Christ  lag  in  Todesbanden<  eine  gewisse  Verwandt- 
schaft, insofern  als  sie  ebenfalls  für  alle  Nummern  den 
Choral  benutzt.  Aber  währei^d  jene  ihre  Formen  streng 
dm^chbildet,  treibt  hier  Bach  mit  ihnen  ein  anmutig 
fantastisches  Spiel,  nimmt  bald  ganze  Teile,  bald  nur 
kleine  Anklänge  aus  dem  cantus  firmus,  fährt  eine 
Strecke  genau  durch,  schlägt  dann  wieder  ganz  über- 
raschende rezitativische  Wege  ein:  kurz  der  Komponist 
bewegt  sich  in  dieser  Kantate  wie  in  einer  leichtgefdg- 
ten,  geistreichen  Improvisation,  in  einer  Freiheit  von 
Form  und  Ausdruck,  daß  man  zuweilen  eher  an  Philipp 
Emanuel  als  an  Sebastian  Bach  denken  möchte.  Der 
weitest  angelegte  Satz  ist  der  erste  Chor.  Seine  Maße 
schweifen  aus.  Schön  ist  die  Doppelwirkung  des  Cho- 
rals in  ihm,  der  zum  Gerüst  und  gleichzeitig  zur  Ara- 
J.  8.  Baoh,     beske  benutzt  wird. 

Wei  da  Aus  dem  Jahre  4  785  begegnen  wir  in  unsern  Konzert- 

glanbet;      aufführungen  drei  Kantaten:  »Wer  da  glaubet  und  ge- 

Wir  dtnken   tauft  wird«,  »Wir  danken  dir«  und  »Gott,  der  Herr, 

dir;         ist  Sonn*  und  Schild«.    Die  erste  feiert  in  lauter  hellen 

Gott,  der  Heir,  Farben  die  Segnungen  des  Glaubens.   Wunderschön  ver- 

ist  Sonn'*     bindet  der  erste  Chor  die  Schilderung  des  Friedens  und 


1 


— ♦     673     ♦— 

der  Weihe  im  Herzen  des  Gläubigen  und  der  begeisterten 
Kraft,  die  ihm  vom  götthc&en  Worte  zuströmt  In  mehr 
fließender  und  im  Schwünge  um  sich  greifender  Form 
durchlebt  das  letztere  Element  auch  die  Baßarie:  »Der 
GlaubjS  schafft  der  Seele  Flügel«,  eines  der  schönsten 
Stücke  •  der  Gattung.  In  den  Ghoralsätzen  handelt  es 
sich  um  die  Melodie  %Wie  schön  leuchtet  der  Morgen- 
stern«. Die  zweite  Kantate  »Wir  danken  dir«  ist  eine 
der  vielen  'Rätswahlkantaten,  zu  deren  Komposition  Bach 
dittch  seine  Amtspflichten  als  städtischer  Musikdirektor 
verbunden  war.  Auch  seine  zweite  nachweisbare  Kan^ 
täte,  die  einzige,  welche  zu  des  Komponisten  Lebzeiten 
in  Druck  kam,  die  Mühlhausener  Kantate  »Gott  ist  mein 
König«,  ist  eine  Ratswechselkantate.  Als  echte  Fest- 
musik steht  die  Leipziger  Kantate  »Wir  danken  dir«  in 
Ddur.  Den  ersten  Satz  muß  man  sich  zum  Einzug  der 
Ratsherrn  gespielt  Renken. .  Es  ist  ein  Orgelkonzert  mit 
Orchester:  Motive,  welche  uns  aus  der  bekannten  Dmoll- 
Toccata  geläufig  sind,  tragen  die  musikalische  Idee.  Der , 
erste  Chor  »Wir  danken  dir«  ist  über  dasselbe  altUtur- 
gische  Thema  aufgebaut,  welches  in  der  HmoU-Messe 
dem  Chore  »Gratias  agimus«  zugrunde  liegt.  Einen 
drastischen  Effekt,  wie  sich  ihn  Bach  selten  erlaubt, 
zeigt  der  Schluß  des  ersten  Rezitativs,  indem  der  Chor 
plötzlich  mit  »Amen«  einfällt.  Die  dritte  der  eben  zu- 
sammen genannten  Kantaten:  »Gott,  der  Herr,  ist 
Sonn*  und  Schild«  gehört  unter  die  freien  Choral- 
kantaten. Die  beiden  Choräle,  die  der  Chor  im  ein- 
fachen Gemeindestil' vorträgt,  sind:  »Nun  danket  alle 
Gott«  und  »Wach  auf,  mein  Herz,  und  singe«.  Neben 
ihnen  enthält  sie  nur  noch  drei  Kunstsätze,  darunter 
einen  einzigen  Chor.  Das  ist  für  eine  Bachsche  Refor- 
mationskantate eine  ungewöhnlich  bescheidene  Anlage. 
Das  Jahr  4735  trübte  jedoch  für  Sachsen  die  Reforma- 
tionsfreude» .  durch  die  Wiener  Friedenspräliminarien 
schienen  die  Gefahren,  mit  denen  der  polnische  Erb- 
folgekrieg das  Land  bedrohte,  noch  nicht  beseitigt. 
Dieser  besorgten  Stimmung  hat  Bach  in  seiner  Muidk 


— ♦     574     ♦— 

Rechnung  getragen,  zum  Teil  mit  der  Absicht  sie  zu 
überwinden. 

Besonders  ist  der  erste  Satz,  der  stattlichste  der  ganzen 
Kantate,  der  Aufrichtung  gedrückter  Gemüter  gewidmet 
Er  stellt  vor  die  Fantasie  ein  Bild  des  Friedens  und  der 
Freude  und  sucht  die  Gefühle  der  Kraft  und  des  Ifots  zu  be- 
leben und  zu  erwecken.  Dem  ersten  Ziel  dient  das  freudig 
heitere    Thema,     vnst^gn  ««ktento. 

Satz  eröffnen:  ä.i^B.        H.  0.      ab.      o. 

Das  ist  eine  volkstümliche  Melodie  vom  Schlage  des 

Händeischen:  »Seht,  er  kommt  mit  Preis  gekrönt«,  eine 

Anspielung  auf  Friedensfeiern  und  heimziehende  Krieger. 

Bedeutungsvoll  wird  sie   von   lebhaften   Schlägen   der 

•  ^^,_^  ■  Nach  wenigen 

Pauke  begleitet:  !^»  ^  J  J  J  J  J  ^^^u>w  j^^^^      ^^^ 

Bach  diesen  Eingangssatz  von  »Gott  der  Herr  usw.«  für 
eine  seiner  Kleinen  Messen,  die  in  Gdur,  benutzt.  Da 
singt  der  Chor  über  die  Hornmelodie  sein  Gloria,  das 
Paukenmotiv  aber  hat  Bach  gestrichen. 

Dem  Kampfesmut  und  dem  Siegesvertrauen  gibt  Bach 
durch  ein  Thema  Ausdruck,  das  an  den  Rhythmus  der 
Pauken  anschließt: 


i'»rrrrf 


Es  wird  von  Streichinstrumenten 
und  Oboen  zu  einer  dreistimmigen 
Fuge  aufgenommen,  in  der  zweiten 
Durchführung  verbindet  sich  mit  ihm  der  Gesang  der 
Homer,  die  Friedensklänge  kehren  wieder,  diesmal  erregt 
umspielt  und^  mit  einem  Schluß,  der  den  Jubel  streift 

So  weit  die  Einleitung  des  Satzes,  deren  Aufbau  in 
drei  Abschnitten  das  beliebte  Schema  der  dreiteiligen 
Arie  durchblicken  läßt  Genau  dieselbe  Anordnung,  nur 
in  größeren  Verhältnissen,  wiederholt  nun  auch  der 
Hauptteil  vom  Ghoreinsatz  ab  und  auch  dieser  Haupte 


-^     675     ♦— 

teÜ  bleibt  im  wesentlichen  Orcbesterkomposition.  Die 
Singstimmen  sind  —  wie  der  Techniker  sagt  —  nur 
darüber  geschrieben,  aber  doch  mit  einem  wunderbaren, 
.eigenen  Ausdruck.  Dieses  bei  Bach  sehr  häufige,  manch- 
mal bis  auf  die  wörtliche  Übernahme  von  Konzert-  und 
Suitensätzen  gesteigerte  Verfahren  war  im  4  8.  Jahrhun- 
dert ■  weit  davon  eQtfernt  Anstoß  zu  erregen.  .  Hatten 
doch  in  der  Liturgie  reine  Orchestermusik  und  Solospiel 
noch  ihren  festen  Platz.  Den  Text  verteilt  Bach  auf 
drei  Gruppen.    Die  beiden  Zeilen: 

f  Qtoii,  der  Herr,  ist  Sonn'  und  Schild, 

Der  Herr  gibt  Gnade  und  Ehre 

bilden  die  erste,  die  Worte:  »Er  wird  kein  Gutes  mangeln 
lassen  den  Frommen«  die  mittlere.  Die  dritte  Gruppe  ist 
im  Text  einfache,  in  der  Musik  erweiterte  Wiederholung 
der  ersten.  Hauptsatz  und  Einleitung  haben  aber  auch 
das  gleiche  thematische  Material,  denn  als  Hauptthema 
der  ersten  Ghorgruppe  zeigt  sich  der  Friedensgesang  (a), 
mit  dem  der  Satz  begann.  Zwar  setzen  die  Singstimmen 
auf  die  ersten  Zeilen  mit  eigenen  Melodien  ein,  —  auf 
»Gott  der  Herr  usw.«  mit  dem  Baß  als  Hauptstimme,  choral- 
artig breit,  auf  »Der  Herr  gibt  Gnade  usw.«  in  schönen 


Nachahmungen  des       f      r^^^  f  f  ^üp  #  I  Tür  1 
lundlichen  Gedankens:   vy  f  I     II    '    I  ri!ul''"r'  ' 


asw. 


freundlichen 

—  aber  sie  führen  sie  nicht  durch  und  treten,  sobald 
der  Text  ausgesprochen  ist,  das  Wort  an  die  Homer  ab, 
deren  Thema  den  Abschnitt  wie  ein  Refrain  beherrscht, 
den  Spruch  des  Chores  begründend,  bekräftigend  und 
beweisend,  lliema  b)  hat  in  dieser  ersten  Gruppe  eine 
Nebenrolle,  es  dient  als  begleitender  Kontrapunkt  zu  den 
beiden  Chorstellen.  Zu  um  so  größerer  Bedeutung  ge- 
langt es  aber  in  der  mittleren.  Hier  wird  es  ähnlich 
wie  an  der  entsprechenden  Stelle  der  Einleitung  zu 
einer  Fuge  ausgeführt,  aber  diesmal  zu  einer  eingehen- 
den, mehrteiligen,  die  durch  Engführungen,  Umkehmngen, 
doppelte  Kontrapunkte  die  vertrauensvolle  Stimmung  der 
Frommen  zu  sehr  entschiedenem  Ausdruck  bringt.    Vor- 


wiegend  klingt  die  Freude  an  Gott  aus  diesem  Fugensatz. 
An  seinem  Ende  aber —  es  ist  nach  dem  dritten  Einsatz 
des  Basses  —  kommt  ein  düsterer,  streitbarer  Ton  auf: 
Bach  hat  der  Feinde  der  Frommen  gedacht.  Diese  Wen- 
dung will  eb^n  —  von  den  Sopranen  her  —  einen"  ener- 
gischen Charakter  annehmen.  Da  setzen  ganz  plötzlich 
die  Hörner  mit  der  Friedens^  und  Siegesmusik  des  The- 
mas a)  ein.  Es  ist  die  herrlichste  Stelle  des  ganzen 
Chors  und  ihr  entspricht  die  ganze  Natur  der  sich  daran 
anschließenden  dritten  Gruppe:  des  Wiederholungsteils, 
der  sogenannten  Reprise.  Sie  ist  das  Ideal  eines  da 
capo,  gibt  wie  es  sein  soll,  der  Wiederholung  des  An- 
fangs jetzt  die  Kraft  eines  Beweises  und  hebt  die  uns 
bekannten  und  vertrauten  Worte  und  Töne  zu  doppelter 
Wirkung.  D^e  Mittel,  durch  die  das  Bach  erreicht,  sind 
scheinbar  einfach,  jedenfalls  äußerst  natürlich.  Die  Zu- 
sammenlegung des  ersten  choralartigen  Choreinsatzes 
mit  den  beiden  Orchesterthemen  und  das  Einfallen  der 
Chorstimmen  in  den  Gesang  der  HÖmer  tut  dabei  die 
Hauptsache. 

Die  dem  Chore  folgende  Altarie  (Ddur,  0/3)  nimmt 
den  Gedanken,  daß  Gott  Sonn*  und  Schild  ist,  nochmals 
und  mit  ziemlich  gleichen  Worten  wie  der  Qior  durch. 
Aber  während  er  sich  im  Chor  auf  erregtem  Grunde  ge- 
staltet, Kriegs-,  Sieges-  und  Festbilder  hervorruft,  wendet 
ihn  in  der  Arie  ein  ruhiges  Gemüt  zu  einem  einfach 
frommen  Danklied.  Sein  schUc)it  volkstümlicher  Cha- 
rakter wird  durch  den  Anfang  des  Hauptthemas  bestimmt: 

j  fcff'  L  '^"""         j  iT  I      I      1^    I  ^^^^  ^^®^®  ^^^  ^st 
<^H[  J^  J    J)  JJj  J  I  i"  J=^F=I  dreiteülg,    doch   be- 


Gott ist  un.86r_JLL''SoiafundSchild.  steht  ihr  mittlerer 
Teil  im  wesentlichen  nur  aus  einer  Versetzung  des  Haupt- 
satzes von  D-  nach  Adur.  Der  Aufbau  des  Satzes  folgt 
der  alten  Form  des  Strophenliedes  und  dient  also  auch 
hierin  der  Absicht,  in  der  Zunge  des  Volkes  zu  sprecheuy 
Die  höhere  Kunst  hat  ihren  Anteil  an  der  Komposition 
auf  die  Mitwirkung  eines  in  Scarlattischer  Art  obligat 
gehaltenen  Soloinstruments  beschränkt,  die  sich  Bach 


•J 


bekanntlich  in  seinen  Arien  nur  in  seltenen  Fällen  ver- 
sagt. Nach  der  Originalpartitur  ist  dieses  Soloinstru- 
ment die  Oboe,  nach  den  Originalstimmen  eine  Flöte. 
Diesmal  verdient  die  Willensmeinung  der  Originalpartitur 
den  Vorzug,  schon  weil  sich  der  Klang  der  Oboe  dem 
der  Altstimme  besser  eint.  Die  Musik  dieser  Oboe  ruht 
auf  dem  Thema  des  Gesangs,  trägt  aber  schon  in  das 
Vorspiel  anmutige  Figuren  hinein.  An  drei  Stellen  (Takt  8, 
98,  46)  hat  sie  Bach  sehr  wirksam  durch  den  alten  Echo- 
effekt belebt. 

Mit  dem  Choral  »Nun  danket  alle  Gott«  (Gdur, 
O  schließt  der  erste  Teil  der  Kantate.  Der  vierstimmige 
Chor  singt  ihn  im  einfachen  Kirchensatz,  das  Orchester 
aber  spielt  die  Friedensmusik  des  Eingangschors  hinein; 
Anfang  und  Ende  des  Teils  sind  demnach  ähnlich  the- 
matisch verbunden,  wie  im  zweiten  Teil  des  Weihnachts- 
oratoriums, wo  Bach  das  Pastorale  im  Schlußchor  wieder 
aufnimmt.  Je  seltener  dieses  poetische  Verfahren  in  der 
alten  Kirchenmusik  vorkommt,  desto  wichtiger  ist  es  für 
die  Erkenntnis  Bachscher  Kunst. 

Der  zweite  Teil  der  Kantate  wurde  nach  der  Predigt 
aufgeführt  und  scheidet  sich  vom  ersten  scharf  im  Cha- 
rakter. Dieser  ist  auf  Hoffnung,  Freude  und  Dank  ge- 
stimmt, der  zweite  auf  Sorge  und  Bitte.  Das  ihn  ein- 
leitende Baßrezitativ:  »Gott  Lob,  wir  wissen  den 
rechten  Weg  zur  Seligkeit«  nimmt  zum  erstenmal 
die  Idee  des  Reformationsfestes  deuthch  auf^  rühmt  die 
Wohltat  des  protestantischen  Bekenntnisses,  geht  aber 
davon  sofort  über  auf  dessen  Gegner  und  bittet  um  ihre 
Erleuchtung.  Das  Auffällige  ist  nun  aber,  daß  nach 
dieser  Stelle  nicht  wieder  in  die  Stimmung  des  ersten 
Teils  der  Kantate  eingelenkt  wird.  Das  als  Arie  be- 
zeichnete Duett  von  Baß  und  Sopran:  »Gott,  ach  Gott, 
verlaß  die  Deinen  nimmermehr«  (Hmoll,  C)  schlägt 
einen  trüben  Ton  an  und  vertieft  sich  in  die  Gefahren, 
die  der  Kirche  und  dem  Lande  von  den  Feinden  des 
Glaubens  drohen.  Und  unter  dem  Druck  dieser  Vor- 
stellung geht  die  Kantate  mit  dem  kurzen  Choralvers 

n,  4.  37 


> Erhalt*  iin&  in  der  Wahrheit«  (Gdur,  8/4)  zu  Ende, 
nicht  jubelnd,  wie  es  der  Charakter  des  Festes  erwarten 
läßt,  sondern  ganz  demütig.  Es  ist  wohl  kaum  zu  be- 
zweifeln, daß  dieser  wunderliche  Ausgang  den  Zeitver- 
hältnissen entsprach.  Ein  Seitenstück  dazu  bietet  die 
Kantate:  >Herr  Jesu  Christ,  du  Friedensfürst«*),  die  von 
Dörffel  mit  der  Schlacht  von  Kesselsdorf  in  Verbindung 
gebracht  wird.  Im  ersten  Teil  unserer  Reformations- 
kantate hat  Bach  über  die  Sorgen  der  Gegenwart  hinaus- 
geführt, im  zweiten  hat  der  große  Melancholiker  sich 
ihnen  gebeugt  und  sucht  ihnen  mit  Gebet  zu  Gott  zu 
begegnen.  Der  Hauptträger  dieser  Aufgabe  ist  das  an- 
geführte Duett,  ein  auch  in  der  Form  sehr  ungewöhn- 
liches Tonbild,  dem  Inhalt  nach  eine  Szene,  die  in  den 
Vordergrund  den  geängsteten  Beter,  in  die  Mitte  und  auf 
die  Seiten  drohende  und  drängende  Feindesscharen  stellt. 
Sie  sind  vertreten  durch  den  Chor  der  Violinen,  der  mit  dem 
stolz  stampfenden,  an  den  zweiten  Satz  von  >Ein^  feste  Burg« 


Sr"'"  y».iJiii^irjrjiiq;^irjrjir 


beständig  unterbricht  und  stört.   Den  Beter  zeichnen  die 
beiden  Singstimmen  mit  der  Melodie: 


fTfif  I  f  III  II  lu  I  I' 


Qott»    ^^  -        Gott, ver.laS  die     De»,  nen  nimj&er.iiiehr. 

Ti*ast  in  jedem  Einsatz  kehrt  sie  wieder  und  dadurch 
erhält  der  Satz  seine  besondere  Form  und  auch  seinen 
Charakter.    Er  ist  eine  freie  Nachbildung  der  Litanei. 

Aus  Bachs  letzter  Periode,  von  der  Mitte  der  dreißi- 
ger  Jahre   ab,    zählen    nur   wenige   Kantaten   zu   den 
heute    bekannteren.     Die    erste    ist    die    Choralkantate 
J.  S.  Back,     >Ach  Gott,  wie  manches  Herzeleid«,  ein  schwer- 
Ach  Gott,     mutiges  Werk,  welches  sich  nur  am  Schluß  ein  wenig 
wie  manches,  aufhellt.    Bezeichnender  Weise  hat  sich  in  ihm  Bach  der 
Chromatik   in    der   Melodiebildung    sehr    nachdrücklich 


•)  B.  W.  (d.  1.  Gwamtausgabe  der  Werke  Ba-hs)  XXIV,  136. 


bedient.  Die  Hauptnoten  in  dem  durchfagierteh  Thema 
des  eisten  Chors  (Choral  im  Baß)  bilden  ein  Stück  der 
chromatischen  Skala.  Geradezu  ans  Quälerische  streift 
die  Stimmung  in  der  andern  chromatischen  Nummer  der 
Kantate,  in  der  schweren  Baßarie  »Empfind  ich  Höllen- 
angst usw.c.  Die  zweite  ist  die  in  das  Jahr  4736  fallende 
Kantate  »Bleibe  bei  uns,  denn  es  will  Abend  wer-     j.  s.  Baeh, 

den«.  Der  Text  dieser  Komposition  knüpft  an  das  Evan- Bleibe  bei  uns. 
gelium  von  den  Jüngern  an,  welche  auf  dem  Wege  nach 
Emmaus  dem  auferstandenen  Heiland  begegnen.  Die 
Musik  gehört  unter  das  Schönste,  was  wir  von  Bach- 
scher Kunst  besitzen.  Ein  tiefer  milder  Geist  tritt  in 
diesem  Werke  in  besonderer  Klarheit  und  in  einer  ge- 
wissen patriarchalischen  Hoheit  hervor.  Alles  in  wärm- 
ster Empfindung  ohne  Leidenschaft,  in  bildlicher  An* 
schaulichkeit  ohne  jede  Äußerlichkeit.  Das  Hauptstück 
ist  der  erste  Chor,  aus  dem  im  Anfang  etwas  von  den 
Weisen  erklingt,  welche  in  den  beiden  großen  Passionen 
die  Grablegung  Christi  begleiten.  Ein  frommer,  liebe- 
voller, herzlicher  Ton  spricht  aus  den  lebendigen  Zu- 
reden der  Jünger;  in  ihrem  Klang  und  in  ihrer  Ber 
wegung  liegt  überdies  etwas  von  dem  Charakter  der 
Abendstunde.  Dramatisch  ist  das  Bild  weiter  geführt, 
wie  sie  mit  ihren  Bitten  beginnen  einzudringen,  zu  eifern 
und  fast  zu  drohen.  Und  dann  klingt  aus  dem  bewegt . 
gewordenen  Satz  das  »Bleibe«  in  langen  Noten  bald  aus 
dieser,  bald  aus  jener  Stimme,  wie  ein  Hilf-  und  Mahn- 
ruf in  der  Finsternis. 

Die  Kantaten  dieser  letzten  Periode  verbindet  ein 
gemeinsamer  Zug  in  der  Behandlung  des  Chorals,  den 
Bach   in   seiner  Originalform  so    deutlich    als   möglich 
sprechen    lassen    möchte.     Was    diese   beeinträchtigen 
kann,  vermeidet  er.    Das  sprechendste  Beispiel  für  die- 
ses Bestreben  bietet  die  Kantate  »Ach  wie  flüchtig«     J.  S.  Baoh, 
in  ihrem  ersten  Satz.    Wie  aus  Stein  gebildet  tritt  uns      Ach  wie 
hier  die  Kirchenmelodie   aus   dem  Munde  des  Soprans      flüchtig.   • 
.  entgegen.    Die  übrigen  Stimmen  kreuzen  sie  nicht,  sie 
fugieren  nicht,  sondern  deklamieren:  der  Charakter  ihrer 

87* 


! 


— ♦     580     ♦— 

Motive  spiegelt  die  stete  Klage  der  Hauptstimme  Yeikkiiiert 
und  YervielfiQtigt  wider.  Obwolil  an  sich  von  großer  male- 
rischer Kraft,  stimmen  doch  die  übrigen  Satze  der  Kantate 
nicht  mit  dem  strengen  Ton  des  Eingangs  überein. 

Unter  den  Bachkantaten,  die  erst  in  nener  Zeit  einen 
breiten  Boden  in  der  Offentfichkeit  gewonnen  haben, 
steht  die  4784  geschriebene  Dreikönigskamtate :  »Sie  wer- 
den aus  Saba  alle  kommen«  obenan.  Sie  zeigt  noch 
ein  letztes  Mal  den  jnngen  Badi  in  seiner  vollen  Unbe- 
Cangenheit  nnd  Liebenswürdigkeit  Wie  er  da  auf  einem 
bloßen  (von  den  Hörnern  glänzend  eingeführten  und 
immer  wieder  angespielten)  Skalenthema  den  großen  Ein- 
gangsdbor  aufbant  nnd  sich  dabei  im  Aosdrack  von 
Frende  und  Jubel  gar  nicht  genng  tan  kann,  ja  in  ihn 
das  Jauchzen  der  Kinder  mit  hineinklingen  laßt,  das  er- 
innert an  die  glücklichsten  Thüringer  Zeiten.  Gleich  groß 
ist  aber  auch  die  Meisterschaft  im  Satze,  mit  der  dem 
spärlidben  thematischen  Material  diese  Fülle  von  Bildern 
abgewonnen  ist  Wie  gleich  der  Anfang  zeigt,  spielen 
hierbd  die  Künste  der  Engfühmng  eine  besondere  Rolle. 
Es  gibt  nur  wenige  Sätze  in  der  ganzen  Musik,  die  von 
einem  gleich  einfachen  Grunde  aus  so  viel  Schwung  und 
Kraft  entwickeln.  Unter  den  Sologesängen  der  Kantate  steht 
die  Tenorarie :  »Nimm  mich  dir  zu  eigen  hin«  diesem  großen 
■Chor  in  Stimmung  und  Wirkung  am  nächsten.  In  ihr  ver- 
dienen die  Zwischenspiele  der  Flöten  besondere  Beachtung. 

Mit  der  Zahl  der  Aufführungen  ist  gleich&Ils  die 
zwischen  4783  und  4  787  entstandene  Kantate  »Du  Hirte 
Israel,  höre«  neuerdings  weit  vorgerückt  Sie  gehört 
nicht  unter  die  gewaltigen,  aber  zu  den  anmutigsten 
Leistungen  Seb.  Bachs,  und  der  Hauptträger  ihres  Wesens 
ist  der  Eingangschor,  der  die  Stimmen  frei  fugierend  ver- 
wendet Mit  Verzicht  auf  eigentlich  große  Stellen  fuhrt 
er  ziemlich  gleichmäßig  mittelst  Triolenmotiven,  Orgel- 
punkten und  Schalmeienklang  ein  traulich  liebenswürdiges 
Fastoralbild  vor,  das  trotz  seiner  Breite  in  jedem  Abschnitt 
frisch  wirkt 

Unter    den  Sologesängen    ist   die  von   zwei  Oboen 


—4     684     ♦— 

umspielte  Tenorarie  wegen  der  ernsten  Dissonanzen  auf 
>6angen<  ^  die  Baßarie  >Beglückte  Herde«  wegen  ihres 
weit  ausgreifenden  Themas  und  der  den  »Todesschlaf« 
mit  tiefen  Tönen  malenden  Wendungen  bemerkenswert 
Der  Schlußchoral,  der  hier  auf  »Der  Herr  ist  mein  getreuer 
Hirt«  gesungen  wird,  ist:  »Allein  Gott  in  der  Höh  sei  Ehr«. 

Hier  anzureihen  ist  noch  die  4740  oder  4744  geschrie- 
bene Piingstkantate  »0  ewiges  Feuer,  o  Ursprung 
der  Lieb Q«.  In  ihrem  festlich  rauschenden  Klang,  in  der 
Menge  ihrer  fröhlichen,  den  Ernst  nur  spärlich  berück- 
sichtigenden Motive,  in  der  Freiheit  ihrer  Polyphonie  steht 
sie  unter  den  Kirchenkantatien  Bachs  ziemlich  vereinzelt. 
Das  erklärt  sich  daraus,  daß  sie  aus  einer  größeren,  in 
der  Hauptsache  verloren  gegangenen  Hochzeitsmusik  um* 
gearbeitet  ist.  Sie  hat  nur  drei  Sätze,  emen  Eingangs- 
un^  einen  Schlußchor,  dazwischen  eine  sehr  liebenswür- 
dige, an  das  Weihnachtsoratorium  erinnernde  Altarie. 
Der  Schlußchor,  der  merkwürdig  homophon  verläuft,  ent- 
hält in  den  Eingangstakten  auf  die  Worte:  »Friede  über 
Israel«  die  Hauptstelle  der  ganzen  Kantate. 

Die  übrigen  zu  der  hier  in  Betracht  kommenden  Gruppe 
gehörenden  Stücke  sind  sämtlich  Choralkantaten  nach 
Pajchelbelschem  Muster.  Sie  verfolgen  den  Choral  nicht, 
wie  etwa  »Ein*  feste  Burg«  oder  »Christ  lag. in  Todesbanden«, 
durch  die  einzelnen  Verse,  sondern  sie  beschränken  ihn 
auf  den  ersten  Satz,  einen  breiten  Chor  mit  dem  Sopran 
als  Hauptstimme  und  Vertreterin  des  cantusiinnus.  Die 
frühere  Zeit  verhielt  sich  zu  dieser  Art  Choralkantaten 
etwas  kühler,  erst  im  letzten  Drittel  des  4  9.  Jahrhunderts 
ist  versucht  worden,  sie  als  die  Spitzen  der  Bachschen 
Kantatenkunst  hinzustellen.  Sie  fallen  alle  in  die  spätere 
Leipziger  Zeit,  wo  Bachs  Freude  am  Amt  gedämpft  war, 
und  lassen  mehr  den  Meister  des  Satzes,  als  den  großen 
Erfinder  und  Menschen  erkennen.  Das  schließt  eine 
glänzende  äußere  Wirkung  einzelner  Sätze  nicht  aus. 

Mit  besonderer  Auszeichnung  muß  unter  diesen  Ar- 
beiten die  Kantate  »Jesu,  der  du  meine  Seele«  her- 
vorgehoben werden,  einmal,  weil  der  erste  Satz  besonders 


\ 


kunstvoll  in  den  Nebenstimmen  dasselbe  chromatische 
Thema,  das  allgemein  aus  dem  Cruciiixus  der  Hmoll-MesBe 
bekannt  ist,  durchführt  und  in  der  Stimniungsentwicklung 
sich  vom  tiefsinnigen  Ernst  zur  hoffnungsvollen  Erregung 
steigert,  zum  andern,  weil  diese  Kantate  auch  in  den 
Nebensätzen  auf  einen  höchst  eigentümlichen  KünsÜer 
hinweist.  Unter  ihnen  fällt  namentlich  das  Duett  (So 
pran  und  Alt)  »Wir  eüen  mit  schwachen,  doch  emsigen 
Schritten«  auf.  Zu  ihm  findet  sich  in  dem  ganzen  Bach- 
schen  Kantatenschatz  kaum  ein  Seitenstück;  es  klingt 
gar  nicht  Bachisch  und  nicht  kirchlich,  sondern  durchaus. 
weltUch,  wie  der  vertrauensvolle  Zwiegesang  anmutiger 
Kinder.  Spittas  Vermutung  wird  wohl  richtig  sein,  daß 
Bach  bei  der  Komposition  der  dritte  Vers  des  Gesang- 
buchliedes vorgeschwebt  hat,  der  davon  spricht,  wie  be- 
törte Püger  dem  Höllenpfuhl  entgegentänzeln.  Auch  die 
Tenorarie  >Dein  Blut«  ist  durch  die  Malereien  auf  > Streit«, 
die  Baßarie  >Du  wirst  mein  Gewissen  stillen«  durch  das 
Eingreifen  der  beiden  obUgaten  Oboen  fesselnd. 

An  Wirkung  und  Güte  der  Arbeit  ist  unter  diesen 
Choralkantaten  des  späteren  Bach  vielleicht  »Wie  schön 
leuchtet  der  Morgenstern«  die  bedeutendste.  Sie 
nimmt  gleich  durch  ihre  breite,  über  die  Motive  des  Chorals 
entwickelte,  durch  den  prunkenden  Hörnerklang  gekrönte 
Orchestereinleitung  gefangen.  Dann  folgt  der  Chor  mit 
dem  cantus  firmus  im  Sopran,  der  aus  den  Nebenstimmen 
fortwährend  in  Verkürzungen  oder  Andeutungen  wider- 
hallt. Der  Satz  bedeutet  das  Höchste,  was  unter  Beibe- 
haltung der  Originalform  an  Ausnutzung  einer  Choralmelodie 
geleistet  werden  kann,  und  steht  zweitens  auch  durch 
seine  Klanggewalt  mit  an  der  Spitze  Bachscher  Kantaten- 
arbeiten. Die  darauf  folgende  Arie  des  Sopran  und  des 
Tenors  stellen  der  Größe  dieser  Leistung  freundliche,  an- 
mutige Idyllen  gegenüber.  Der  Choral  im  einfachen  Chor- 
satz beschließt  das  Werk. 

Die  Kantate  »Wachet  auf,  ruft  uns  die  Stimme«, 
die  schon  4  734  geschrieben  wurde,  kann  in  der  Anlage 
und  Durchführung  des  ersten  Satzes  als  ein  Vorläufer  der 


— ♦     583     ^— 

eben  behandelten  gelten.  Sie  hat  einen  besonderen  Wert 
durch  die  Nebensätze.  Unter  ihnen  ist  das  Duett  (Sopran, 
Baß)  >Wann  kommst  du,  mein  Heil?«  eines  der  längsten, 
die  sich  bei  Bach  finden,  zugleich  aber  auch  durch  den 
Ausdruck  bräutlicher  Inbrunst  eines  der  schönsten.  Ein 
zweites  Duett  derselben  Stimmen:  >Mein  Freund  ist  mein«, 
schlägt  in  seiner  Freundlichkeit  einen  weltlichen  Ton  an, 
der  an  manche  ältere  Komposition  des  »Hohen  Lieds« 
erinnert.  Zwischen  beiden  Nummern  steht  eine  Tenorarie 
von  sehr  mystischer  Wirkung,  in  der  der  Sänger  nichts 
weiter  als  den  einfachen  Choral  vorzutragen  hat 

Als  letzte  unter  den  heute  bekannter  gewordenen 
Choralkantaten  Bachs  mag  noch  »0  Jesu  Christ,mein's 
Lebens  Licht«  verzeichnet  werden.  Sie  bestehf  aus 
einem  einzigen  Satze  und  ist  die  einzige  unter  allen  Kan- 
taten Bachs,  die  das  Orchester  auf  Messingbläser  beschränkt. 
Wahrscheinlich  hat  sie  als  Begräbnismusik  gedient. 

Zwei  seiner  Kantatenwerke  hat  Bach  Oratorien  he* 
nannt:  die  Himmelfahrtskantate  >Lobet  Gott  in  seinen 
Reichen«  und  den  Zyklus  von  Weihnachtskantaten, 
welcher  mit  »Jauchzet,  frohlocket«  beginnt.  Mit  einem 
dritten  Oratorium  Bachs,  dem  Osteroratorium ,  hat  es 
eine  andere  Bewandtnis.  Es  gehört  zu  einer  ähnliehen, 
wirklich  dramatischen  Formengruppe,  wie  sie  früher  in 
den  Auferstehungshistorien  der  Scandellus,  Besler, 
Schütz  und  anderer  Tonsetzer  des  4  7.  Jahrhundert,  oder 
in  den  Dialogen  Hammerschmidts  vertreten  ist.  Die 
Oratorien  zur  Himmelfahrt  und  zu  Weihnachten  sind 
aber  Kantaten,  welche  sich  von  den  übrigen  Kirchen- . 
kantaten  formell  nur  im  Rezitativte^t  unterscheiden. 
Dort  ausschließlich  betrachtender  und  lyrischer  Natur, 
nimmt  er  in  diesen  sogenannten  Oratorien  erzählende 
Elemente  in  sich  auf. 

Das  Weihnachtsoratorium,  das  Bach  im  Jahre  4  734 
komponiert  hat,  besteht  aus  sechs  Kantaten,  je  eine  für 
den  ersten,  zweiten  und  dritten  Weihnachtsfeiertag,  für 
Neujahr,  für  Sonntag  nach  Neujahr  und  für  das  Epiphanias- 
oder Hohneujahrsfest.    Sie  gehören  liturgisch  zusammen, 


J.  8.  Baohi 

Welhnachts- 

oratoriom. 


584     «— 

denn  die  kirchliche  Weihnachtszeit  erstreckt  sich  über  die 
alten  Zwölfnächte.  Künstlerisch  bilden  sie  ein  kaum  ge- 
schlossenes Ganzes:  der  wichtigste  Teil  der  dargestellten 
Ereignisse  liegt  am  Anfang,  die  Darstellung  selbst  setzt 
sechsmal  in  denselben  Formen  an  und  ab.  Trotzdem 
lassen  wir  uns  das  Weihnachtsoratorium  nicht  nehmen. 
Denn  Weihnachten  ist  unser  Hauptfest,  trägt  von  alters 
her  in  das  bürgerliche  Leben  eine  Freude  und  Poesie 
herein,  wie  sie  sich  das  ganze  Jahr  nicht  zum  zweiten- 
male  bietet  Die  ganze  Schönheit  und  der  tiefe  Gehalt 
der  Weihnachtszeit  lebt  aber  in  vielen  Stücken  jenes 
Werkes  so  herzlich  auf,  daß  man  ihnen  aus  aller  Kunst 
wenig  an  die  Seite  setzen  kann.  Für  Weihnachten  t^rar 
Bach  ganz  besonders  begabt  und  geschult;  eine  große, 
große  Anzahl  seiner  Instrumentalstücke  sind  unbenannte 
Weihnachtsdichtungen!  So  ist  denn  das  Weihnachtsora- 
torium eine  der  melodienreichsten,  eingänglichsten  und 
volkstümlichsten  unter  seinen  großen  Kompositionen. 

Bachs  Weihnachtsoratorium  im  geistlichen  Konzert 
im  ganzen  einzubürgern  hat  zuerst  (i.  J.  1844)  Mosewius 
versucht  Seitdem  ist  dieser  Versuch  zwar  ab  und  zu 
wieder  erneuert  worden;  überwiegend  haben  aber  die 
gewonnenen  Erfahrungen  dahin  geführt,  es  bei  den  ersten 
zwei  Teilen  oder  bei  einem  Auszug,  der  das  Wichtigste 
und  Wertvollste  aus  den  sechs  Kantaten  zusammenfaßt, 
bewenden  zu  lassen.  Derlei  Auszüge  und  Einrichtungen 
des  Weihnachtsoratoriums  existieren  aber  nur  hand- 
schriftlich. 

Die  Musik  des  Weihnachtsoratoriums  besteht  wie  in 
den  meisten  Kirchenkantaten  Bachs  aus  Chören,  Arien 
und  Rezitativen,  den  zweiten  Teil  eröffnet  ein  selbstän- 
diger Orchestersatz,  das  aus  Einzelaufführungen  weltbe- 
kannt gewordene  Pastorale.  Choralbearbeitungen  in  dem 
großartigen  Stil,  wie  sie  in  der  Matthäuspassion,  in  einer 
Reihe  der  bedeutendsten  Kantaten  die  Hauptstücke  bil- 
den, kommen  im  Weihnachtsoratorium  nicht  vor;  aber 
in  einfachen  und  kleinen  Formen  vertritt  der  Choral  das 
kirchliche  Element  genügend,   besonders  sinnreich  und 


585 


überraschend  in  Solosätzen.  Keine  zweite  unter  den> 
größeren  Vokalkompositionen  Bachs  ist  so  reioh  an  Paro- 
dien, d.  h.  aus  weltlichen  Werken  übertragenen  Sätzen, 
wie  das  Weihnachtsoratorium.  Der  größte  Teil  der  so- 
genannten madrigalischen,  der  frei  gedichteten,  nicht 
der  Bibel  oder  dem  Gesangbuch  entnommenen  Texte, 
wurde  mit  Chor-  und  Solosätzen  aus  dramatischen  Fest- 
musiken gedeckt,  die  Bach  kurz  vorher  als  Direktor  des 
früheren  Telemannschen  studentischen  collegium  musicum 
für  den  Geburtstag  der  Königin  und  des  Kurprinzen 
von  Sachsen,  für  den  Leipziger  Besuch  des  Königs 
selbst  und  für  ähnliche  Gelegenheitsakte  geschrieben 
hatte*)*  Das  Verfahren  an  sich  war  im  4  8.  Jahrhundert 
allgemein  und  bei  der  volkstümlichen  Haltung  der  da- 
maligen Kirchenmusik  ganz  natürlich.  Beim  Weihnachts- 
oratorium legte  es  der  fröhliche  Grundton  des  Werkes 
besonders  nahe. 

Gleich  der  große  Eingangschor  der  ersten  Kantate 
»Jauchzet,  frohlocket,  auf,  preiset  die  Tage«  ist  eine 
solche  Parodie.  In  dem  >Dramma  per  musica«  zu  Ehrep 
der  Königin,  dem  sie  entnommen,  lautet  der  Text:  »Tö- 
net, ihr  Pauken,  erschallet,  Trompeten«.     Deshalb  das 

«     ,  ^.      fcvff  ■  f*^    zurEröffnung  des  Satzes.  * 

Paukenmotiv :  V^  f  f  f  |  ^  Jj  die     Trompetenfanfare : 

^  ^1 ^_    gleich     hinterdrein, 

ylltf   rHJJJlIrprrrriP     deshalb   die  bevor- 
ir      "  äiiä-  ii-    .'ii um  zugte  Stellung  dieser 

Instrumente  im  Orchesterteile  der  Nummer!  Doch  passen 
das  Trompetengeschmetter  und  der  Paukenlärm  ganz 
voHrefitlich  zu  der  Feststimmun^,  die  alles  Volk  am  ersten 
Weihnachtsfeiertag  ergreift  und  auch  noch  in  die  Kirche 
hinein  begleitet  und  gerade,  daß  er  ein  wenig  die  Fär- 
bung eines  rauschenden  Volksfestes  zeigt,  unterscheidet 
den  Anfangschor  des  Weihnachtsoratoriums  von  den 
andern  Chören,  die  die   einzelnen  Teile  einleiten.    Sie 


^1  11  mim  ■ 

*)  Die  näheren  Nachwelse  finden  sich  in  der  Vorrede  zn 
V2  der  B.W.  und  In  Philipp  Splttas  Baohbiographle  II,  S.  404 ff. 


I 

i 


— ♦     586     ♦^— 

gleichen  sich  sonst  sämtlich  in  der  Form,  die  immer  aaf 
die  dreisät^ige  italienische  Arie  zurückgeht,  und  auch  in 
der  Stimmung.  Sie  sollen  alle  Freude  und  Dank  aus- 
sprechen; um  aber  diese  Hauptidee  zu  heben,  hat  Bach 
immer  in  der  Mitte  dieser  Chorbilder  einen  kleinen 
Schatten  angebracht  Auf  eine  eigentliche  Ouvertüre 
des  ganzen  Werkes,  wie  sie  die  gleichzeitigen  ttaliener 
oder  die  Neueren  dem  Orchester  geben,  hat  Bach 
verzichtet.  Die  Aufgabe,  im  richtigen  Ton  vorzubereiten, 
fiel  in  solchen  Fällen  dem  Organisten  zu,  dessen  Spiel  den 
Instrumentalisten  zugleich  zum  Einstimmen  diente.  Dem 
Einsatz  des  Chores  geht  in  der  ersten  Nummer  nur  ein 
sogenanntes  Ritornell  voraus,  ein  kurzes  Orchestervor- 
spiel,  das  den  Inhalt  der  Nummer  durch  einen  knappen 
Hinweis  auf  die  beiden  Hauptthemen  ihres  Hauptsatzes 
andeutet.    Sie  heißen:  ^ 


Jaach.zet,  froh  .  lok  m  ket,    auf,     preLset   i»      T»  .  g»,  ^  ruh 


1*-^  iiiiiji  PirrfT^ 

Tmet, was  hdoie  der  Höchste ge  .  tao 


•^  IH  •      •      ;  ^Brt^da»  .  ZaLgen,ver;  banjMl  diej  Kla^  »er; 


i"iiiiiiLiiii'i'iiiiyi  min 


Klage, v^r.,ban     ...     netdie  Klage. 

Vom  zweiten  erscheint  aber  im  Vorspiel  nur  das  mit  + 
bezeichnete  Motiv  aus  dem  Schluß.  Die  Stimmen  singen 
es  einander  nach.  Das  erste  Haupttfcema  tritt  vorwie- 
gend immer  in  kompakter  Vierstimmigkeit,  leichter  stiü- 
siert  und  auf  großen  Klang  berechnet  auf.  Eingeleitet 
wird  es  durch  einen  sehr  spannenden  Abschnitt,  der  das 
vorhin  angegebene  Paukenmotiv  äußerst  wirksam  für  den 
Chorsatz  umbildet:  in  ein  Unisono,  bei  dem  der  sehr  tief 


^p 


— ♦     687     ♦— 

hinabsteigende  Sopran  ersichtlich  auf  den  breiten  Brüste 
ton  von  Knabenstimmen  oder  Falsettisten  rechnet.  Das 
kleine  Sätzchen  wirkt  außerordentlich  lebendig,  fast  dra- 
matisch, namentlich  als  es  am  Schluß  mit  kurzen  Rufen: 
»jauchzet,  frohlocket c  kühn  und  heroisch  die  Höhe  auf- 
sucht So  ist  auch  de^  ganze  Aufbau  des  Hauptsatzes 
in  aller  Einfachheit  meisterlich.  Allgemeines  Jauchzen 
und  Freuderufen  beginnt.  Dann  erst  äußert  sich  die 
Stimmung  in  klaren  fortlaufenden  Gedanken  und  diese 
Gedanken  stehen  zu  einander  im  Verhältnis  der  Steige- 
rung und  Vertiefung.  Der  Mittelsatz  geht  in  den, ruhigen 
Ton  frommer  Andacht  über.    Sein  Hauptthema: 


Dia  not  4fim  Höchsten  mit  berr^Iijche 


ijchsn    Chö    . 

wird  von  den  Stimmen  in  Nachahmungen  durchgeführt; 
bei  den  Worten  >laßt  uns  den  Namen  des  Herrschers 
verehren«  folgt  ein  homophon  gehaltener,  wieder  beweg- 
ter gestimmter  Nachsatz,  der  die  Verbindung  mit  dem 
Schlußteil  des  Chors,  einer  Wiederholung  des  Haupt-^ 
Satzes,  herstellt. 

Nach  dem  Eingangschor  bjeginnt  der  Solotenor  den 
Bericht  des  Evangelisten  in  jenem  dem  Text  im  Einzel- 
nen folgenden,  melodisch  reichen  Stil,  der  Bach  und  sei- 
nen deutschen  Zeitgenossen  im  Seccorecitativ  eigentüm- 
lich ist.  Von  da  ab  besteht  der  erste  Teil  in  Betrach- 
tungen über  das  angekündigte  Ereignis.  Bedeutender  als 
die  Musik  selbst,  in  die  sie  gesetzt  sind,  ist  die  Auffas- 
sung der  Weihnachtsfeier,  die,  Bach  zugrunde  gelegt  hat. 
Es  ist  ein  Weihnachten  fast  in  Thomaschen  Farben,  für 
das  sich  in  jeglicher  Art  Kunst  des  4  8.  Jahrhunderts 
schwerlich  Vor-  und  Seitenbilder  finden.  Bachs  Ge- 
danken sind  auf  den  Gegensatz  zwischen  Christi  Mensch- 
werdung und  zwischen  seiner  Göttlichkeit  gerichtet  und 
das  Hauptgefühl,  das  ihn  bewegt)  ist  die  Rührung  über 
das  Opfer,  das  der  Heiland  der  Welt  gebracht  hat.  Der 
Glanz  des  Gottessohnes  als  Herr  und  König  ist  im  wesent- 
lichen auf  die  Baßarie:  > Großer  Herr  und  starker  König« 


— ♦     688     ♦— 

beschränkt;  in  allen  anderen  Sätzen  klingt  stärker  oder 
schwächer  schon  das  Leiden  und  Sterben  Christi  an. 
Bie  Adventsverse :  »Wie  soll  ich  dich  empfangen«  läßt 
Bach  geradezu  auf  einen  Passionschoral,  auf  den  Choral 
»0  Haupt  voll  Blut  und  Wunden«  singen.  Bas  musika- 
lische Hauptstück  des  Teils  ist  das  Buett:  »Er  ist  auf 
Erden  kommen  arm«,  eine  außerordentlich  geistreiche, 
tief  gedachte  und  tief  wirkende  Verschmelzung  von  Lied, 
Rezitativ  und  Choral,  von  einfachster  Volksmusik  und 
hoher  Kunst.  Wie  aus  der  Ferne  singt  der  Solos^pran 
von  Schalmeienmotiven  umgehen  den  Choral  »Gelobet 
seist  Bu,  Jesus  Christ«  mit  Weihnachtsworten;  im 
Vordergrunde  fügt  der  Solobaß  tief  ergriffen  fromme 
Bemerkungen'  hinzu.  Erst  am  Schlüsse  des  Teils  kommt 
ein  richtiger  Weihnachtschoral,  der  Choral:  »Vom  Himmel 
hoch«, aber  zu  innig  liebevollen  und  zarten  Gebetsworten: 
»Ach  mein  herzliebes  Jesulein«  und  ganz  einfach  vom 
Chor  vorgetragen.  Nur  in  gedämpfter  Farbe  erinnert 
der  Trompeten-  und  Paukenklang  im  Zwischenspiel  noch 
einmal  an  den  Eingangschor,  an  die  Baßarie  und  an  den 
freudigen  Charakter  des  ersten  Feiertags. 

In  der  ersten  Kantate  des  Weihnachtsoratoriums 
herrscht  noch  etwas  Adventsgeist,  Schwermut  und  Nacht 
Um  so  heller  bricht  der  Tag  in  der.  zweiten  Kantate 
herein  und  bringt  die  Bilder  und  Klänge,  die  wir  am 
Christfest  gewohnt  sind,  in  höchster  Schönheit  und  Weihe. 
Bie  Musik  zum  zweiten  Feiertag  ist  der  bedeutendste 
Teil  des  ganzen  Werkes;  in  den  Schlußchören,  in  der 
Altarie  und  in  dem  Pastorale  enthält  er  Stücke,  die  un- 
vergeßlich und  in  ihrer  Art  einzig  sind. 

Ganz  besonders  gilt  das  von  dem  Einleitungssatz, 
dem  als  »Sinfonia«  bezeichneten  Pastorale.  Hätte  Bach 
nichts  weiter  geschrieben  als  diesen  Orchestersatz,  er 
müßte  genügen,  seinen  Namen  zu  verewigen.  Es  ist 
eine  Vereinigung  von  Naturpoesie  und  hohen  Christen- 
gedanken, von  Idylle  und  Offenbarung,  von  Fantasie  und 
religiöser  Andacht  in  dieser  Musik,  wie  wir  sie  so  herr- 
lich nicht  zum  zweitenmale  haben.    Und  dabei  ist  die 


— ♦     589     ♦— 
Anlage   und   Ausführung   so   einfach    und   volkstümlich 

als  möglich.      C0b««ilma8AamrtÄJ         ^,  _•  ^ 

für  die      i  '   'if;^'^J^\  dl    J/  ÜJ^Z.^^^ 
Hirten:  Ä^  ^^-^  "^ 

ein  ande-    ^^riaun^»;^^^ 

res  für  die   i£»  W  irrT  F  JT^f  f  I  Ul  IJ.JJ  I  J*  #  mn^ 


p^^ 


Engel:        "«       JiJ^^  ^T^  ^ 

—  damit  wird  alles  bestritten.  Aber  was  entwickelt  Bach 
aus  diesen  Mitteln  und  ohne  die  Form  des  Siciliano  zu 
verlassen  für  einen  Reichtum  an  Empfindung  und  an 
malerischen  Anschauungen!  Wie  spielen  da  Erde  und 
Himmel,  die  geheimnisvolle  Feierlichkeit  der  Stemennacht 
und  die  unschuldige  Fröhlichkeit  naiver  Menschen  in  und 
mit  einander!  Ganz  am  Schluß  hat  Bach  auch  in  dieses 
Bild  auf  einen  Augenblick  eine  leichte  Passionswendung 
eingemischt. 

Der  Bericht  des  Evangelisten  wird  wie  im  ganzen 
Werke,  so  namentlich  im  zweiten  Teile  häufig  durch 
lyrische  Einlagen  unterbrochen.  Es  gab  keine  Fülle  von 
Ereignissen  wie  in  den  Passionen,  die  Mitteilungen  waren 
in  allen  Einzelheiten  im  voraus  jedem  Hörer  bekannt. 
Da  erschien  es  Bach  naturgemäß  als  die  Hauptsache, 
der  Stimmung  Ausdruck  zu  geben,  die  durch  sie  hervor- 
gerufen wurde.  So  folgt  dem  Satz  des  Evangeliums, 
daß  die  Hirten  sich  fürchteten,  der  Choral  »Brich  an,  du  < 
schönes  Morgenlicht«»  aber  sinnvoll  auf  die  Weise  von 
»Er muntre  dich,  mein  schwacher  Geist«,  der  Verkün- 
digung des  Engels  selbst  nach  einem  kurzen,  begleiteten 
Baßrezitative  die  Tenorarie  »Frohe  Hirten  eilt«.  Spitta*) 
stellt  fest,  daß  mit  diesen  beiden  Stücken  Bach  einer 
Beziehung  auf  eine  Sitte  in  den  alten,  zu  seiner  Zeit 
auch  bei  den  Protestanten  noch  nicht  vergessenen  Weih- 
nachtsspiele^  entsprochen  habe.  Diese  ließen  hier  einen 
oder  mehrere  Hirten  auftreten  und  ein  Lob .  des  Hirten- 


•)  A.  *.  0.  IT,  4il- 


— -♦     500     ^— 

Stands  anstimmen.  Die  hiernach  entbehrliche  Tenorarie 
gehört  zu  den  schwierigsten  Sologesängen,  die  Bach,  so 
wie  so  schwieriger  als  aller  seine  Zeitgenossen,  überhaupt 
geschrieben  hat.  Man  tut,  wenn  man  nicht  einer  ganz 
vollendeten,  namentlich  geistig  vollendeten  Ausführung 
sicher  ist,  gut  sie  wegzulassen.  Die  bedeutendste  unter 
den  lyrischen  Einlagen  des  zweiten  Teils  ist  die  schon 
erwähnte  Altarie  >Schlafe,  mein  Liebsterc.  Niemand  * 
sieht  dieser  Arie  an,  daß  sie  aus  der  Kantate  zum  Ge- 
burtstage des  Kurprinzen  stammt,  in  der  sie  vom  Sopran 
(eine  Terz  höher)  gesungen  wird.  Sie  muß  Bach  beson- 
ders  lieb  gewesen  sein,  denn  er  setzt  sich  auch  darüber 
hinweg,  daß  die  vorausgehenden  Worte  des  Basses  den 
Hirten  eigentlich  eine^  Chor  auftragen.  Die  Komposition  ist 
ebenso  ausgezeichnet  durch  die  Wiedergabe  der  Situation 
wie  durch  den  Ausdruck  der  Stimmung.  Das  malerische 
Element,  das  den  Hauptteil  des  Stückes  trägt,  kommt  in  der 

ten,^^^^^^^^  J 1  l^rr^lr  ^ 

denMelodie:^'  ^"^U  >^    —  --iiä^*— 

und  in  den  sich  hin  und  her  wiegenden  Rhythmen  des 
Basses  zum  Ausdruck,  und  am  schönsten,  wo  sie  die 
Instrumente  still  und  heimlich  spielen,  die  Empfindung 
kurz,  aber  intensiv  in  den  Schlußtakten  der  einzelnen 
Abschnitte,  in  die  die  Arie  sich  im  Hauptsatz  gliedert. ' 
Der  Mittelsatz  >Labe  die  Brust«  ist  der  zweiten  Aufgabe 
ausschließlich  gewidmet. 

Die  noch  folgenden  zwei  Sätze  der  zweiten  Kantate 
haben  ganz  oder  halb  dramatische  Bedeutung.  Den 
ersten,  den  Chor  >Ehre  sei  Gott«  singen  die  Engel  allein, 
den  andern,  den  Chorchoral:  >Wir  singen  dir  in  deinem 
Heer«  Engel  und  Hirten,  und  die  Gemeinde  mit  dazu. 

Das  Häuptthema  des  Engelchors  ist  eine  aus 
liturgischen  yj^^e. 


l0(]2e:  Ell  •  lesei  0on,Eh-  •      .       .  Asei  Goiv 

Sie  setzt  gleich  in  Engführungen   ein,    an  denen   alle 


— -♦     591      >— 

Stimmen  beteiligt  sind.  Niemandem  aber  wird  sich  der 
Eindruck  kunstvoRer  Arbeit  aufdrängen,  sondern  nur 
der,  daß  hier  breit  und  erhaben  große  Freude  zum  Aus- 
druck kotnmt.  Wo  immer  Bach  die  Worte  »Und  Friede 
auf  Erden«  in  Töne  gebracht  'hat,  ist  ihm  das  immer 
wieder  mit  eindringlicher,  eigner  Schönheit  gelungen, 
stets  hat  er  dafür  neue  überraschende  Wendungen 
bereit.  Hier 
er  sie 
ruhigei 

Sie  erhält  aber  durch  die  Harmonie  des  Einsatzes  (Sext- 
akkord vom  übermäßigen  Dreiklang  h-dis-g)  einen  ganz 
merkwürdig  •  romantischen  Charakter,  einen  deutlichen 
Hinweis  auf  die  schmerzvollen  Lagen,  in  denen  der 
Friede  entbehrt  wird.  Mit  einer  einzigen  Note  hat  da 
Bach  ein  BUd  angedeutet,  das  bekanntlich  Beethoven  im 
Agnus  Dei  seiner  Missa  solemnis  in  breiten  Zügen  und 
mit  großen  Mitteln  ausführt. 
Der  Schluß-      .    ^ 


de  in  der  einfach  h    'V^  f      *  T  '   ^  ^'^  P  *  ^  /V 
ligen  Weise:  und  Prie    .    .     .    deaUf«  S;r-<ien 


^^^^   '^^^'^      anddLifoLJmeinW^.  ge.fiü^  .    Jen. 

das  Thema: 

Bei  diesen  Worten  schließen  sich  die  Instrumente  dem 

Ton  der  Singstimmen  an;  bis  dahin  haben  sie  durchaus 

ihre  Motive  für  sich,  lauter  kurze  knisternde  Stakkato- 

Noten^aus  denen  der  Schimmer  des  Wunderbaren  sich 

über  den  Gesang  der  Engel  breitet. 

In  dem  Choral  >Wir  singen  dir  usw.«,  der  zu  der 
weihnachtlichen  Normalmelodie  »Vom  Himmel  hoch«  ge- 
sungen wird,  kehren  in  den  Zwischenspielen  des  Or- 
chesters poetisch  schön  und  abrundend  die  Motive  des 
Pastorale  wieder,  das  in  den  zweiten  Feiertag  hinein- 
führte. 

Für  das  Konzert  zwingen  schon  Rücksichten  auf  Zeit 
und  Aufiiahmefähigkeit  die  folgenden  vier  Kantaten  zu- 
sammenzuziehen und  diesen  Auszug  auf  eine  Länge  zu 
beschränli^en,  die  der  der  ersten  beiden  Kantaten  ohnge- 
fähr  gleich  ist.    Für  Beibehalten  und  Weglassen  wird  in 


— ♦      592 

erster  Linie  der  Lauf  der  Erzählung  und  die  Wichtigkeit 
der  berichteten  Ereignisse  maßgebend  sein.  Damach 
kann  keine  (Ueser  Kantaten  ganz  überschlagen  werden, 
denn  jede  enthält  ein  Stück  Geschichte.  In  der  dritten 
handelt  es  sich  um  die  Auffindung  des  Heilandkindes 
durch  die  Hirten,  in  der  vierten  um  die  Namensgebung, 
in  den  beiden  letzten  um  die  Ankunft  der  Weisen  aus 
dem  Morgenland  und  um  d^ie  Nachstellungen  des  Herodes. 
Von  den  Chören,  die  die  letzten  vier  Kantaten  ein- 
leiten, ist  der  bedeutendste  der  der  fünften  Kantate: 
»Ehre  sei  dir  Gott  gesungene.  Wenn  man  das  ganze 
Weihnachtsoratorium  in  der  Weise  aufführt,  daß  die 
ersten  zwei  Kantaten  den  ersten  Teil  bilden  und  die 
anderen  zu  einem  gleichlangen  zweiten  vereint  werden, 
so  wird  man  diesen  zweiten  Teil  am  besten  mit  diesem 
Chor:  >£hre  sei  dir  Gottt  eröffnen.  Der  Text  eignet  sich 
dazu  und  noch  mehr  die  Musik.  Sie  hat  den  hohen  Stil 
der  Bachschen  Chöre  stärker  als  der  Eingangschor  der 
dritten  Kantate,  »Herrscher  des  Himmels,  erhöre  das 
Lallen«.  Der  der  vierten  »Fallt  mit  Danken,  fallt  mit 
Loben«  ist  im  Weihnachtskreis  überhaupt  ein  Fremdling, 
innerlich  und  äußerlich  nähert  er  sich  den  Chorarien, 
die  als  Ersatz  der  alten  gratiarum  actio  so  schön 
die  Passionen  Bachs  schließen.  Von  den  Stücken  der 
dritten  Kantate  kommen  am  meisten  in  betracht  der 
dramatische  Chor  der  Ifirten:   »Lasset  uns  nun   gehen 


genBetMehe^^auf  g^^^^^ 


sehr  lebendig  aufgebaut  und  die  Altarie:  »Schließe  mein 
Herz6,  dies  selige  Wunder«  ein  Seitenstück  zu  der  der 
zweiten  Kantate:  »Schlafe,  mein  Liebster«.  Sie  ist  in 
dem  Mund  der  Maria  gedacht  und  gehört  zu  den  wenigen 
Originalsätzen,  die  der  Sologesang  des  Weihnachtsora- 
toriums enthält. 

Aus  der  vierten  Kantate  wird  niemand  den  Schluß- 
choral »Jesus  richte  mein  Beginnen«  missen  wollen. 
Neben  ihm  fesselt  die  Aufmerksamkeit  besonders  die 
Sopranarie   »Flößt  mein  Heiland«   und   zwar   als  histo- 


— ♦     593 

rische  Kuriosität.  Die  Sängerin,  die  die  Braut  des  Hohen- 
liedes vertreten  soll,  stellt  an  den  Heiland  Fragen,  die 
von  dessen  Stimme  aus  der  Ferne  mit  »ja«  und  »nein« 
in  denselben  Tonfällen  beantwortet  werden,  mit  denen 
die  Hauptsolistin  schließt.  Wir  haben  es  also  in  diesem 
Stücke  mit  einer  Verwendung  des  alten  in  Chor-  und 
Sologesang,  auch  in  der  Instrumentalkomposition  der 
vorhergehenden  Jahrhunderte  so  wichtigen  »Echos«  zu  tun 
und  zwar  ist  diese  Bachsche  Arie  wohl  der  letzte  Fall 
seiner  Art.  In  der  dramatischen  Kantate,  aus  der  die 
Nummer  übertragen  ist,  fragt  Herkules  das  Orakel.  Das 
Echo  ist  da  also  natürlicher  an  seinem  Platze. 

In  der  fünften  Kantate  steht  unter  den  hervor- 
ragendsten Stücken  zuerst  der  Chor  der  Weisen  aus  dem 
Morgenlande:  »Wo  ist  der  neugeborene  König  der  Ju- 
den«, eine  Probe  ähnlich  dramatisch,  kurz  und  schlagend 
gehaltener  Musik,  wie  sie  Bach  in  seiner  Matthäusp'assion 
an  vielen  Stellen  geboten  hat.  Eigen  ist  er  aber  in  sei- 
ner Anlage  durch  die  Unterbrechungen  mit  schönen,  aus- 
drucksvollen begleiteten  Rezitativen.  An  zweiter  Stelle 
zeichnet  sich  das  Terzett  für  Sopran,  Alt  und  Tenor: 
»Ach  wann  wird  die  Zeit  erscheinen«  aus,  schon  des- 
halb, weil  derartige  Ensemblesätze  in  dem  Werke  und 
in  der  Zeit  überhaupt  selten  sind.  Unmittelbar  vorher 
geht  ihm  eine  Stelle  im  Sekkorezitativ  »Und  du  Bethle- 
hem im  jüdischen  Lande«,  die  sich  gleichfalls  stilistisch 
und  durch  reichen  Gefühlston  sehr  hervorhebt. 

Aus  der  sechsten  Kantate  paßt,  der  Eingangschor 
»Herr,  wenn  die  stolzen  Feinde  schnauben«  sehr  gut  an 
eine  andere  Stelle,  nämlich  dahin,  wo .  der  Evangelist 
von  den  tückischen  Absichten  des  Herodes  berichtet  hat. 
Sein  Hauptsatz  geht  über  das  siegesfreudige  Thema: 


Herr  wenn  die  stol.zen    Fein,  de       sohnauA'^. 

Auch  der  mittlere  Teil  des 


p  II       ^  -  _  I  T— '   ^^^"^  **®^  miiuere  reu  aes 

^^*  rrrrrir^rCliCir^  ^^^^  ^^^  ^^^  diesem  Thema 


--^ben.    abgeleitet.       Die      sechste 
II,  4.  38 


— e      594     ♦— 

Kantate  ist  wie  alle  des  Weihnachtsoratoriums  reich  an 
kleinen  Solosätzen,  die  die  Formen  des  Rezitatives  und 
des  Arioso  frei  verschmelzen,  unter  ihnen  besonders  wirk- 
sam das  Quartett:  »Was  will  der  Hölle  Schrecken  nun«, 
in  das  sich  die  Stimmen,  ähnlich  wie  in  dem  bekannten 
Stück  am.  Schluß,  der  Matthäuspassion,  teilen.  Auch  der 
Tenorsolist  hat  in  dieser  Kantate  endlich  eine  Nummer 
von  dankbarer  Natur.  Es  ist  die  Arie:  »So  mögt  ihr 
stolzen  Feinde«.  Der  letzte  Satz  der  Kantate  ist  eine 
breitere  Choralfantasie:  »So  seid  ihr  wohl  gerochen«. 
Die  Choralmelodie  ist  die  von  »0  Haupt  voll  Blut  und 
Wunden«,  dieselbe,  die  in  der  ersten  Kantate  den  Anfang 
der  Choräle  machte.  So  rundet  sich  also  das  Ganze 
schön  ab,  und  nochmals  bringt  Bach  seine  tiefsinnige 
Auffassung  des  Weihnachtsfestes  zum  Ausdruck. 

Kürzlich  hat  der  Vorgang  Sr.  Kgl.  Hoheit  des  Prinzen 
Friedrich  Wilhelm  von  Preußen  gezeigt,  wie  sich  den 
zahlreichen  Weihnachtskantaten  Bachs  noch  weitere  Weih- 
nachtsoratorien abgewinnen  lassen*). 

Unter  den  i  90  als  echt  beglaubigten  Kirchenkantaten, 
welche  die  große  Bachausgabe  mitteilt,  befinden  sich  53 
Solokantaten.  Der  kleinere  Teil  fällt  in  Bachs  Wei- 
marsche,  der  größere  in  seine  Leipziger  Zeit  und  da 
überwiegend  auf  die  hohen  Feste  und  andere  Zeiten,  die 
an  Kantorat  und  Chor  besondere  Ansprüche  stellen.  Zu- 
weilen, z.  B.  in  den  Kantaten:  »Ich  liebe  den  Höchsten« 
und  »Er  rufet  den  Schafen«  hat  sich  da  Bach  sehr  kurz 
gehalten:  zwei  SoIOnummern,  Rezitative  dazwischen  und 
Choral.  Oder  er  hilft  sich  mit  fertigen  langen  Instrumental- 
sätzen, auch  solchen,  die  wie  die  Eingangssätze  aus  dem 
ersten  und  dritten  brandenburgischen  Konzert  heute  kirch- 
lich beanstandet  würden,  er  erledigt  ferner  manches  Stück 
betrachtenden  Textes,  das  Gesang  verlangt,  als  Rezitativ 
und  begnügt  sich  endlich  in  den  Arien  selbst  häufig  mit 
Mittelgut.  Jedoch  werden  wie  bei  den  Chorkantaten  die 
schwächeren  Stücke  durch  die  vollendeten  und  eigensten 

♦)  Bach-Jahrbuch  1913. 


— ♦     595     ♦— 

aufgewogen,  wie  sie  erfüllt  und  beseelt  auch  die  Solo- 
kantaten alle  ein  ausgeprägt  evangelischer  Geist;  nur 
ganz  wenige  sehen  vom  Gemeindelied  ab.  Ja  ähnlich, 
wie  die  Klavier-  und  Kammermusik  der  großen  modernen 
Instrumentalkomponisten  zu  ihren  Symphonien  hinzuge- 
nommen werden  muß,  so  ergänzen  sie  das  Bild  des 
klassischen  Meisters  der  Kirchenkantaten  und  zwar  nach 
zwei  Seiten  seiner  Kunst,  der  poetisch-sinnigen  und  der 
dramatischen.  Jene  spricht  aus  Ghoralzitaten  und  kleinen 
Ghoralgebilden,  wie  sie  das  Wei|inachtsoratorium  aus- 
zeichnen, diese  aus  dem  Erfassen  und  Schildern  der  Situa- 
tionen, aus  dem  Lösen  der  Konflikte.  Keine  andere  Kunst 
des  damaligen  Deutschland  hat  einen  Bach  und  auch  die 
Musik  besitzt  ihn  nur  einmal! 

Den  Zugang  zu  diesen  Sätzen  werden  praktische 
Ausgaben,  die  vor  allem  das  Äkkompagnement  stil- 
gerecht vervollständigen,  erleichtern  müssen,  eine  all- 
gemeine Verbreitung  jedoch,  wie  sie  Hammerschmidts 
Dialoge  oder  Tunders  und  anderer  Komponisten  geist- 
liche Konzerte  beanspruchen  können,  ist  für  die  Mehr- 
zahl der  Bachschen  Solokantaten  deshalb  nicht  zu  er- 
warten, weil  sie  in  den  Gesangpartien  und  in  den 
konzertierenden  Instrumenten  außerordentlich  schwer 
sind.  Die  Weimarschen,  soweit  sie  sich  feststellen 
lassen,  sind  populärer  gehalten,  die  Leipziger  aber 
spotten  der  bekannten  Eingaben  und  Klagen  Bachs 
über  die  Armseligkeit  seiner  Sänger  und  Spieler  und 
setzen  ein  mehr  als  alltägliches  Solistenmaterial  voraus: 
in  der  Geläufigkeit  und  im  Ausdruck  virtuos  geschulte 
Sopranisten,  Altisten,  Tenoristen  und  Bassisten,  dazu 
bei  allen  Stimmen  einen  gewaltigen  Umfang,  für  den 
Tenor  insbesondere  die  aus  den  Passionen  gefürchtete  Höhe. 

Die  gesamten  Stücke  zerfallen  in  drei  Gruppen: 
a)  Kantaten  für  eine  Solostimme,  b)  Dialoge  und  c)  Kan- 
taten für  drei  oder  vier  Solostimmen. 

Aus  der   ersten  Gruppe   ist  heute   die  Altkantate:  Schlage   doch, 
»Schlage   doch,  gewünschte  Stunde«  am  bekann-     gewünschte 
testen,  wohl  durch  Forkel,  der  sie  ^  802  in  seiner  Biographie        Stunde. 

38* 


— ^      596      « — 

mit  zwei  anderen  namentlich  anführt  Es  ist  nur  das 
Fragment,  wahrscheinlich  der  zweite  Satz  einer  im  übrigen 
verlorenen  Kantate,  die  Bach  entweder  fQr  einen  Trauer- 
tag oder  für  ein  Osterfest  komponiert  haben  wird.  Der 
Text  enthält  die  Moral  des  Bachschen  Osterglanbens :  Da 
Christas  dem  Tod  die  Macht  genommen,  ist  Sterben  ein 
Gewinn.  Sterben  und  Eingehen  zu  Jesus,  zu  den  Lieben 
im  Himmel,  das  ist  wieder  der  bekannte  Lieblingsgedanke 
des  Komponisten.  Immer  wurde  es  ihm  dabei  warm,  bis 
zum  Ausbruch  grimmiger  Freude.  Aber  die  Naivität  und 
schwärmerische  Inbrunst  der  Todessehnsucht  hat  er  nir- 
gends schöner  ausgedrückt  als  in  diesem  »Schlage  dochc 
mit  seiner  lieblichen,  freundlichen,  frohen,  kindlichen  Musik. 
Ihr  Ton  führt  darauf  sie  einer  zarten  Frauengestalt,  einer 
»gläubigen  Seele«  in  den  Mund  zu  legen  und  die  ganze 
Kantate,  zu  der  die  Arie  gehört  hat,  unter  den  »Dia- 
logen« zu  suchen.  Der  Höhepunkt  des  dreiteiligen  Stücks 
liegt  in  dem, Mittelteil  »Kommt  ihr  Engel«.  Die  »Campa- 
nella« d.  i.  die  Mitwirkung  zweier  in  H  und  E  gestimmten 
Glöckchen  gehört  wesentlich  mit  zur  Staffage  des  kleinen 
Tonbilds  und  zur  Veranschaulichung  der  Spannung,  mit 
der  der  letzte  Stundenschlag  erwartet  wird.  Auf  den 
Orgeln  der  Hansestädte  waren  solche  Glockenspiele  noch 
bis  in  die  neueste^  Zeit  erhalten. 

Nur  zwei  weitere  Solokantaten  leisten  dieser  Altarie 
im  heutigen  Konzert  regelmäßiger  Gesellschaft:  die  beiden 
^  Baßkantaten:  »Ich  habe  genug«  und  »Ich  will  den  Kreuz- 

stab«, jene  seit  dem  letzten  Drittel  des  neunzehnten  Jahr- 
hundierts,  diese  erst  seit  wenigen  Jahren  Dank  dem 
Programmbuch  des  Berliner  Bachfestes  und  dem  Eintreten 
Meschaerts.  Auch  sie  behandeln  den  Gegensatz  zwischen 
der  Mühsal  irdischen  und  der  Seligkeit  himmlischen 
Lebens  und  stammen  beide  aus  Bachs  rüstigster  Zeit« 
Ichbabegenug  Der  Kantate:  »Ich  habe  genug«,  deren  Text  den  Lob- 
gesang des  Simeon  umschreibt,  merkt  man  an  der  zweiten 
Arie  »Schlummert  ein  ihr  matten  Augen«  die  Nähe  der 
Matthäuspassion  unmittelbar  an.  So  meisterhaft  wie 
dieser  Satz  das  stille  Glück,  schildert  der  vorausgegangene 


--4     597     ♦-- 

>Ich  habe  genug«  das  Leiden  und  den  Druck  der  Christen- 
Seele.  In  der  aufschlagenden  Sext,  mit  der  das  Haupt- 
thema einsetzt,  tut  sich  ein  wahrer  Berg  von  bitterer  Er- 
fahrung und  Weltüberdruß  auf,  in  einer  weniger  frommen 
Zeit  würden  Töne  der  Verzweiflung  die  Fortsetzung  ge- 
bildet ,  haben.  Im  Autographenband  der  Bachausgabe 
(Jahrg.  44)  findet  sich  auf  dem  53.  Blatt  eine  Fassung  der 
Kantate  für  Frauenstimme,  dem  Klavierbüchlein  für  Anna 
Bach  von  4725  entnommen;  es  ist  aber  kaum  möglich, 
sie  für  die  ursprüngliche  zu  halten.  Nur  der  Baßkläng 
gibt  die  ganze  Schwere  der  Empfindung  wieder,  die  den 
Satz  so  tief  einprägt. 

Die   Kantate   »Ich   will    den   Kreuzstab   gerne  Ich  will  den 
tragen«  wendet  sich  wie  die  Altarie  »Schlage  doch«  viel     KreuzsUb 
der  Tonmalerei  zu,  im  ersten  Satz  der  Schilderung  der  gerne  tragen. 
Lasten  und  Mühen  des  Kreuzträgers,  im  zweiten  (mit  einer 
Weüenfigur  des  obligaten  Gellos]  der  von  Meer  und  Schiff- 
fahrt  Die  Größe  der  Komposition  liegt  in  der  Einführung 
der  Stelle:  »Da  leg*  ich  den  Kummer  auf  einmal  ins  Grab«, 
die  auf  leichten  Triolen  volkstümlich  und  wie  ein  Kinder- 
lieb hingleitend  zu  dem  vorherigen  Ernst  aufs  lieblichste 
kontrastiert.   Mit  dem  schließenden  Choral,  der  noch  dazu 
statt  in  GmoU  in  Cmoll  steht,  erhält  die  düstere  Emp- 
findung das  letzte  Wort,  aber  in  dem  vorausgehenden 
Rezitativ:  »Ich  «tehe  fertig  usw.«  klingt  ganz  unerwartet 
die  kindliche  Triolenmelodie  noch   einmal  an.    Das  ist 
Bachsche  Poesie  im  Formenbau.  ^ 

Handelt  sich*s  um  Bachsche  Solokantaten  für  S  opr  an, 
80  seien    leistungsfähige   Sängerinnen   auf  »Jauchzet  Jauchzet  Gott, 
Gott  in  allen  Landen«,   auf  »Falsche  Welt,   dir  Falsche  Welt, 
trau  ich  nicht«   und  auf  »Ich  bin  vergnügt  mit       Ich  bin 
meinemGlück«  aufmerksam  gemacht,  insbesondere  auf     Tergnügt 
die  erste  (42.  Jahrgang  der  Bachausgabe),  deren  freudige 
Musik  eine  Meisterin  der  Koloratur  verlangt.    Im  ersten 
und  letzten  Satz  hat  sie  mit  der  Trompete  zu  konzertieren. 
Der  Beschaulichkeit  und  Gemütstiefe  sind  das  begleitete 
Rezitativ:  »Wir  treten  zu  dem  Tempel  an«  und  der  vor- 
letzte Satz:  »Sei  Lob  und  Preis  mit  Ehren«  (eine  Choral- 


— ♦     598     ♦— 

bearbeitung,  in  der  das  Orchester  über  fröhliche  Motive 
fagiert,  die  Sängerin  die  Kirchenmelodie  »Nun  lob  mein 
Seel«  mit  kleinen  Verzierungen  vorträgt)  gewidmet. 

Unter  den  Solokantaten  für  Alt  steht  die  Komposition 

"Widerstehet     von  »Widerstehet  doch  der  Sünde c  obenan.     Sie 

doch  der  Sünde,  setzt  ungewöhnlich  und  kühn  gleich  mit  freier  Dissonanz 

ein  und  läßt  schon  hierdurch  keinen  Zweifel  darüber,  daß 
eine  erregte  Seele  spricht  und  eine  Künstlerin  des  Aus- 
drucks verlangt  wird.  Die  Kantate  gehört  mit  der  weitem, 
sehr  schön  melodischen,  den  Lebensüberdruß  ergreifend 
Vergnügte  Ruh.  edel  singenden  Altkantate:  »Vergnügte  Ruh«  zu  den 

wenigen  Ausnahmen,  in  denen  Bach  vom  Choral  abgesehen 
Gott  allein  soll  hat  In  einer  dritten  Altkantate:  »Gott  allein  soll  mein 
mein  Herze     Herze  haben«  ist  <die  Einleitung  der  ersten  Arie  durch 
haben.         die  Mischung  von  Rezitativ  und  Gesang  sehr  eigen,  die 
Arie  selbst  fesselt  koloristisch:  die  Singstimme  konzertiert 
mit  der  Orgel.    Diese  konzertierende  Orgel  kommt  nach 
dem  Jahre  4  730  bei  Bach  häufig  vor,  so  gleich  in  einer 
Geist  und  Seele,  weitern   Altkantate:    »Geist    und    Seele    wird   ver- 
wirret«.   In  diesem  sehr  schweren,  aber  durch  einen 
kräftigen  Grundton  hervorragenden  Stücke  dient  das  Kon- 
zertieren, Nachahmen  und  das  Dazwischenspielen  unter 
anderm  auch  zum  Ausdruck  der  Verwirrung. 

Eine  durch  ihre  Kürze  zum  Zwischenstück  sehr  ge- 

Meine  Seele     eignete  Solokantate  für  T  e  n  o  r  ist :  »M  e  i  n  e  S  e  e  1  e  r ü h  m  t 

rühmt  a.  preist,  und  preist«.     Die  durch  frische  Erfindung  und  geist- 

Ich  weiß,  daß   reiche  Führung  bedeutendste   »Ich  weiß,   daß   mein 

mein  Erlöser    Erlöser  lebt«  stammt  aus  der  Weimarschen  Zeit    Eine 

lebt,  dritte:  »Ich  armer  Mensch,  ich  Sündenknecht«,  die 

Ich  armer      Spitta  um  4732  setzt,  ist  etwas  ungleich  und  durch  die 

Mensch.        enorme  Höhe  nur  wenigen  Sängern   zugänglich.    Den 

Schluß  bildet  derselbe  Flittnersche  Choral,  der  in  der 

zweifelhaften  Lukaspassion  so  anheimelnd  hervortritt 

In  der  zweiten  Gruppe,  in  den  »Dialogen«  ist  das  be- 
kannteste und  wohl  auch  bedeutendste  Stück  die  Kantate: 
0  Ewigkeit,  du»0  Ewigkeit,   du  Donnerwort«.     We  bei   anderen 
Donnerwort    Komponisten  sind  auch  bei  Bach  diese  Dialoge  durchaus 
nicht  immer  Duette.   Hier  können  sich  »die  Furcht«  (Alt) 


-—♦     599     ♦— 

und  »die  Hofihungc  (Tenor)  in  ihrer  Auffassung  des  Todes 
nicht  einigen.  Da  tritt  eine  dritte  Stimme,  die  des  heiligen 
Geistes  (Baß)  hinzu  und  beruhigt  mit  dem  Bibelwort: 
»Selig  sind  die  Toten c  Streit  und  Zweifel,  wie  das  in  dem 
in  den  »Actus  tragicus«  eingeschobenen  Dialog  die  Stimme 
des  Heilands  tut.  J^it  dem  Hinzutritt  des  Basses  endigt 
dies  Stück,  den  förmlichen  Schluß  gibt  der  Chor  mit  dem 
Ahleschen  Choral  »Es  ist  genug«. 

Bekanntlich  hat  Bach  über  den  Text  »0  Ewigkeit,  du 
Donnerwort«  auch  eine  große  Ghorkantate  komponiert. 
Sie  ist  viel  leidenschaftlicher  gehalten,  ähnelt  aber  dem 
Dialog  darin,  daß  das  Orchester  an  der  Darstellung  einen 
wesentlichen  Anteil  nimmt.  Im  ersten  Satz  geschieht  das 
in  der  Weise,  daß  den  Instrumenten  die  entgegengesetzten 
Stimmungselemente  übertragen  sind:  Die  Streichinstru- 
mente führen  ein  tiefgelegtes  tremolierendes  Sechzehntel- 
motiv  durch,  das  auch  in  anderen  Kantaten  wiederkehrt, 
wenn  an  das  Grollen  des  fernen  Donners  erinnert  werden 
soll,  die  Bläser  stellen  sich  mit  bittenden  und  schmeicheln- 
den melodischen  Figuren  entgegen,  die  bald  die  Stimme 
der  »Hoffnung«  und  später  die  »Stimme  des  heiligen  Gei- 
stes« aufnehmen.  Das  ist  also  der  Gegensatz,  von  Furcht 
und  Hoffnung.  Er  kommt  in  den  Singstimmen  in  anderer 
selbständiger  Form  zum  Ausdruck.  Der  Alt  (die  Furcht) 
singt  breit  und  schwer  gedrückt  den  Choral,  der  Tenor 
(die  Hoffnung)  mutige,  frohe  Weisen.  Der  Eingangssatz 
des  Dialogs  ist  also  der  Form  nach  eine  äußerst  male- 
rische, bewegte  und  sinnreiche  Choralfantasie.  In  dem 
Rezitativ,  das  die  Fortsetzung  dieses  Duetts  bildet,  ragen 
die  Stellen  hervor,  an  denen  die  Deklamation  in  ge- 
messenen Gesang  und  Tonmalerei  übergeht.  Der  Alt  ver- 
breitet sich  auf  dem  Bild  der  »Martern«,  der  Tenor  auf 
dem  »Ertragen«  der  Last.  In  dem  folgenden  Duett:  »Mein 
letztes  Lager  will  mich  schrecken«  klingen  aus  der  Oboe 
und  dem  Instrumentalbaß  die  Rhythmen  eines  jener 
langsamen  Reigen,  die  aus  der  neueren  Musik  verschwun- 
den sind.  Bach  will  auf  einen  Totentanz  anspielen.  Um 
das  noch  deutlicher  zu  machen,  fügt  er  der  Solooboe 


--♦     600     ♦-- 

noch  eine  Solovioline  bei,  die  wie  ein  Gespenst  immer 
die  Skala  hinab  und  hinauf  rennt  und  gleitet.  Die  Sing- 
stimmen sind  dem  Instrumentalsatz  »aufgeschriebene,  der 
Tenor  mit  durchaus  charaktervollen  Schlußstellen,  der 
Ältpartie,  als  der  Stimme  von  Klage  und  Furcht,  muß  der 
Vortrag  etwas  nachhelfen.  Erst  im  nächsten  Rezitativ 
schlägt  sie  wieder  deutUcher  den  Ton  des  Todesgrauens 
an  und  da  kommt  schon  nach  der  ersten  Zeile  die 
Stimme  des  heiligen  Geistes  >  Selig  sind  die  Totenc  und 
damit  der  Höhepunkt  der  Komposition,  vorausgesetzt, 
daß  die  schöne,  balsamisch  ruhige  Baßmelodie  auch  mit 
•einem  schönen  und  farbenreichen  Akkompagnement  ver- 
sehen wird.  Dreimal  ruft  die  Stimme  aus  der  andern 
Welt,  dann  bekennt  sich  auch  die  Furcht  zur  Hoffnung 
und  zum  Glauben. 

Was  an  diesem  Beispiel  ergreift  und  entzückt,  kehrt 
in  allen  Dialogen  Bachs  wieder:  die  Meisterschaft  in  der 
Herausarbeitung  des  Gegensatzes,  die  verklärte  überirdi- 
sche Schönheit,  in  der  bei  allen  diesen  Stücken  nach 
Kampf,  Angst  und  Zweifel  endlich  der  Seelenfrieden  ein- 
zieht. In  der  Vorbereitung  und  Einführung  dieses  drar 
matischen  Moments  zeigt  sich  Bach  mit  seinen  Dialogen 
allen  Vorgängern  nicht  musikalisch,  aber  persönlich  über- 
legen.   Sollen  welche  herausgehoben  werden,  so  wird  die 

Selig  ist  der   Wahl  auf  »Selig  ist  der  Mann«  und  auf  »Ach  Gott, 
Mann,     f  wie  manches  Herzeleid«  fallen  müssen.    Jener,  ein 

Ach  Gott,  ^e  lichtiges  Duett  (Sopran  und  Baß),  für  den  zweiten  Weih- 
manches  nachtsfeiertag  komponiert,  zeichnet  sich  durch  die  Weite 
Herzleid.  und  den  Reichtum  der  von  Schlummerfantasien  bis  zu 
Händelscher  Kraft  schreitenden  Stimmungsentwicklung 
aus,  dieser  durch  eine  poetische  Choralkunst  höchster  Art 
Wie  da  der  frei  erfundene  Baß  dem  im  cantus  firmus 
bangenden  Sopran  zuspricht,  das  ist  unvergeßlich  lebens- 
voll. Auf  der  Seite  des  Trösters  stehen  auch  die  Instru- 
mente, in  dem  letzten  Satz,  wo  die  bangende  Seele  den 
Choral  »Ach  Gott,  wie  manches  Herzeleid«  nochmals  und 
noch  schwermütiger  als  am  Anfang  des  Werkes  anstimmt, 
tragen  sie  eine  geistreiche  Anspielung  auf  »Wachet  auf. 


ruft  uns  die  Stimme«  hinem.   Ebenfalls  Duette  für  Sopran 
und  Baß  und  ebenfalls    sehr  schön    sind  die  Dialoge: 
»Liebster  Jesu,  mein  Verlangen«  und  »Ich  geh  Liebster  Jesa, 
und^suche  mit  Verlangen«,  letzterer  noch  formell  mein  Verlangen, 
durch  Verknüpfung  von  früheren  und  späteren  Abschnitten  Ich  geh  n.  suche, 
fesselnd.  Auch  die  Kantaten  »Der  Friede  sei  mit  dir«  Der  Friede  sei 
und  die  besonders    schöne   »Ich  lasse   dich   nicht«        mit  dir, 
(Sopran  und  Tenor)  gehören  in  diese  Klasse.    Unter  den, Ich  lasse  dich 
dreistimmigen    Dialogen    ragen    die   Nummern:    »Jesus         nicht, 
schläft«,  »Mein  liebster  Jesus  ist  verloren«  und  Jesus  schlaft, 
»Schau,  lieber  Gott,  wie  meineFeinde«  hervor,  die  Mein  liebster  Je- 
erste  durch  die  Kombination  von  Seelenschilderung  unds^is  ißt  verloren, 
Naturmalerei,  die  zweite   durch   die  Verwaiidtschaft   mit   Schau,  lieber 
»0  Ewigkeit,  du  Donnerwort«  und  durch  die  Innigkeit  des  Gott. 

Bittens.    Auch  sie  bringt  den  Flittnerschen  Hauptchoral 
aus  der  strittigen  Lukaspassion.    Die  dritte  »Schau,  lieber 
Gott«  fängt  ausnahmsweise  mit  dem  vierstimmigen  Choral    ich  bin  ein 
an.    In  den  eigentlichen  Kunstsätzen  fesselt  der  Gegen-    guter  Hirte, 
satz  zwischen  der  Ruhe  der  Stimme  Gottes  und  der  immer  iVahrlich,  ich 
neuen  Erregung  der  Kleingläubigen.  sage  euch, 

Die  dritte  Ghippe  der  Bachschen  Solokantaten,  die  Bisher  habt  ihr 
der  vierstimmigen,   der  noch   einige   dreistimmige,   die  nichts  gegeben, 
nicht  Dialoge  sind,   eingereiht  werden  müssen,  ist  die  Siehe,   ich  \trili 
stärkste  und  unbekannteste.   Gewiß  sind  vier  gute  Solisten     viel  Fisclier 
schwerer  zu  beschaffen,  als  einer  oder  zwei,  aber  dieser     aussenden, 
Mehraufwand  wird  durch  die  Mannigfaltigkeit  der  in  diesen    Süßer  Trost, 
Werken  enthaltenen  ^Kombinationen  und  Klangbilder  so  Die  in  der  Angst, 
reich  belohnt,  daß  gerade   sie  neben  den  Dialogen  sich  Ach  ich  sehe,  da 
zur  Einführung  in  die  Bachschen  Solokantaten  am  besten    ich  jetzt  zur 
eignen.  Unter  den  vierstimmigen  sind  Hauptstücke:  »Ich  Hochzeit  gehe, 
bin  ein  guter  Hirte«,  »Wahrlich,  ich  sage  euch«, Nur  jedem   das 
»Bisher  habt  ihr  nichts  gegeben«,  »Siehe,  ich  will         Seine, 
viel   Fischer    aussenden«,    »Süßer   Trost,   mein  Wo  gehest  Du 
Jesus «,  »Die  in  der  Angst  nach  dem  Herrn  rufen«,  hin, 

»Ach  ich  sehe,  da  ich  jetzt  zur  Hochzeit  gehe«,  Ihr  Menschen, 
»Nur  jedem    das  Seine«,  »Wo   gehest   Du   hin?«,        rühmet, 
»Ihr  Menschen,   rühmet   Gottes    Liebe«,    »Meine  Meine  Seufzer, 
Seufzer,  meine  Tränen«,   unter  den   dreistimmigen:  meine  Tränen, 


602 


Sehet,  wir  geben 

hinauf  gen 

Jernsalem, 

Erfrente  Zeit, 

Schau,  lieber 

Gott, 

Ich  steh  mit 

einem   Fuß   im 

Grabe, 
Was  soll  ich  aus 
dir  machen, 
Ephraim? 


^r.  L.  Erebi. 
Ol  Homilinsi 
Poles,  Hiller. 


»Sehet,  wir  gehen  hinauf  gen  Jerusalemc,  »Er- 
freute Zeit  im  neuen  Bunde«,  »Schau,  lieber 
Gott,  wie  meine  Freunde«,  »Ich  steh  mit  einem 
Fuß  im  Grabe«,  ^Was  soll  ich  aus  Dir  machen, 
Ephraim?« 

Wie  schon  erwähnt,  ist  von  den  sämtlichen  Kirchen- 
kantaten S.  Bachs  zu  Lebzeiten  des  Komponisten  nur  eine 
einzige,  die  Mühlhausener  »Gott  ist  mein  König«  (4708)  in 
Druck  gekommen.  Eine  besondere  Zurücksetzung  Bachs 
darf  man  darin  nicht  erbhcken.  Denn  auch  die  Kirchen- 
kantaten der  G.  Benda,  Gessel,  H.  Graun,  Hoffmann, 
Kellner,  Kirchner,  Römhild,  Tag,  Wendel,  Wir- 
bach,Wundsch  und  andrer  mit  vollständigen  Jahrgängen 
hervortretender  Mitarbeiter,  überhaupt  alle  evangelischen 
Kirchenkantaten  blieben  un^druckt.  Das  »Thematische 
Verzeichnis  usw.«  von  Breitkopf  &  Härtel  sagt  noch  im 
Jahre  4770  ausdrücklich,  daß  niemand  in  Deutschland 
gern  nach  gedruckten  Noten  musizierte,  Burneys  Tagebuch 
begründet  ziemlich  zu  gleicher  Zeit  für  ItaUen  den  Mangel 
an  gedruckter  Musik  mit  der  Wut  nach  Neuigkeiten  und 
der  Kurzlebigkeit  der  meisten  Kompositionen.  Es  verlohne 
sich  nicht,  Mühe  und  Kosten  auf  Stich-  und  Kupferplatten 
zu  verwenden.  Bei  den  protestantischen  Kirchenkantaten 
kamen  aber  als  wichtigstes  Hindernis  die  schon  erwähnten 
partikularis tischen  Abweichungen  in  Text  und  Melodie 
der  Choräle  hinzu. 

Mit  Recht  aber  nehmen  wir  daran  Anstoß,  daß  die 
wenigen  Schriftsteller,  die  von  der  Mitte  des  48.  Jahr- 
hunderts ab  von  Bach  als  Kantatenkomponisten  Notiz 
nahmen  (Scheibe,  Hiller,  Schubart)  ihn  in  eine  Reihe  mit 
Kegel,  Kramer,  Pfeiffer  und  Genossen  und  nicht  wie  wir 
obenan  stellen.  Die  Ursachen  dieser  Verkennung  lagen 
in  der  Herrschaft  der  italienischen  Musik  und  im  Ratio- 
nalismus. Der  Kantatenbestand  der  Nach-Bachischen 
Periode  ist  für  eine  eingehende  Darstellung  noch  nicht 
genügend  durchgearbeitet,  aber  fest  steht,  daß  die  (hand- 
schriftlich vorhandenen) Arbeiten  seiner  Schüler J.L. Krebs, 
G,  H  0  m  i  1  i  u  s ,  oder  seiner  Am  tsnachf  olger  D  0 1  e  8  und  H  i  1 1  e  r 


— ♦     603     ^~ 

an  kirchlicher  Würde  weit  geringer  sind.  Am  ersicht- 
lichsten entfernen  sich  die  späteren  Kantatenkomponisten 
von  Bach  und  seinen  Zeitgenossen  in  der  Stellung  zum 
Choral.  Wohl  kömmt  er  in  der  einfachen  Kirchenform 
am  Anfang  oder  am  Schluß,  auch  etwa  zu  einem  Duett 
verarbeitet  noch  vor.  Aber  die  großen  Choralfantasien, 
in  die  besonders  Bach  die  ganze  Fülle  von  Geist,  Herz 
und  Kunst  gelegt  hatte,  verschwinden  und  machen  der 
Chorarie  Platz,  die  in  den  Kantaten  der  in  italienischer 
Schule  erzogenen  Deutschen  wie  G.  Naumann  schon  Ö.  Hanmann. 
früher  ein  Hauptstück  gewesen  war.  Ausnahmen  gibt  es. 
Eine  solche  ist  der  Eisenacher  Ernst  Bach,  namentlich  Ernst  Bach, 
in  seiner  durchgeführten  Choralkantate  >Kein  Stündlein 
geht  dahin«.  Sie  hat  in  der  Altarie  >Wenn  Sprach',  Ver- 
stand und  Sinn«  eine  Stelle  von  echt  Bachscher  Ursprüng- 
lichkeit. Auf  einen  Cdur-Schluß  setzt  ohne  jede  Pause 
und  Vermittelung  Cis  moll  auf  die  Worte  > Wenn  ich  nicht 
mehr  weiß,  wer  ich  bin«  ein.  Wenn  die  Kantaten  nach 
Bach  auch  beträchtlich  kürzer  wurden,  so  kann  man  das 
vom  kirchlichen  Standpunkt  aus  kaum  i^s  Schuldbuch  der 
Aufklärungsperiode  schreiben.  Sie  hat  jedoch  durch  ihre 
Gleichgültigkeit  gegen  die  musikalische  Liturgie  indirekt 
sehr  stark  zum  Verfall  der  Kirchenkantate  beigetragen. 
Die  von  Fprkel  mit  Recht  lebhaft  beklagte  Preisgabe  von 
Schul-  und  Kirchenchören  hat  auf  diesem  Gebiet  die  Frucht- 
barkeit besonders  stark  unterbunden,  und  wie  immer  in 
der  Kunst  ging  da  mit  der  Quantität  auch  die  Qualität 
zurück.  So  ist  ähnlich  wie  die  Klaviersonate  nach  Beet- 
hoven, die  Kirchenkantate  nach  Bach  von  der  größten  bis 
dahin  erreichten  Höhe  jäh  in  eine  Krisis  geraten,  von  der 
sich  zurzeit  nicht  absehen  läßt,  wie  sie  enden  wird. 

Es  haben  allerdings  noch  bis  in  die  erste  Hälfte  des 
49.  Jahrhunderts    sächsische   Kantoren    mit   dem   alten    E.  Weinllg, 
Fleiß  in  der  Kantate  weitergearbeitet,  es  sind  auch  Kan-  Th.  Weinlig, 
taten  bekannter  Komponisten,  Ehregott  W  e  i  n  1  i  g  s ,  Theodor  A.  Bomberg, 
Weinligs,  A. Rombergs,  G.Schichts,  F.  Schneiders    G.  Sohioht, 
ins  Konzert  gedrungen.   Aber  länger  gehalten  haben  sich  F.  Sohneideri 
^  nur  CM.  V.Webers  Kantaten:  >Ernte  undFriedens-G.  M.  ▼.  Weber. 


— ♦     604     ♦— 

feier<,  »Kampf  und  Sieg«.  Seit  Menschenaltern  sind 
auch  sie  aus  den  Listen  gestrichen,  seine  schöne  Choral- 
kantate >In  seiner  Ordnung  schafft  der  Herr«  ist  überhaupt 
wenig  beachtet  worden.  Der  durch  Mendelssohns  früher 
erwähnte  Psalmenkantaten  gegebene  Anstoß  hat  einigen 

R.  Schvnuin.  Erfolg  gehabt.  R.  Schumanns  geistliche  Kantaten  »Neu- 
jahrslied« und  das  »Adventslied«  sind  ihm  zu 
danken.  Beiden  liegen  Dichtungen  von  F.  Rückert  zu- 
grunde, die  jedem  neuen  Gesangbuch  zur  Zierde  gereichen 
würden,  musikalisch  gehört  das  »Adventslied«  zu  den 
Stücken,  die  allgemein  gekannt  zu  sein  verdienten. 
Melodienreich  und  eingänglich  bis'  zur  Volkstümlichkeit, 
tut  nur  die  z  er  stückte  Anlage  seiner  Gesamtwirkung 
einigen  Abbruch.' 
F.  Draeieke.  Felix  Draeseke  hat  denselben  Text  einige  Jahr- 
zehnte später  wieder  und  im  ganzen  kraftvoUier  als 
Schumann  komponiert.  Mit  ihm  stimmt  er  in  dem  Be- 
streben überein,  den  Kirchenton  ankhngen  zu  lassen. 
Das  Baßsolo  des  ersten  Satzes:  »Dein  König  kommt  in 
niedren  Hüllen«,  der  Mittelsatz  über  die  Worte  »0  großer 
Herrscher  ohne  Heere« -sind  moderne  Choralsurrogate 
bester  Art,  Marschmotive'  des  Orchesters  stellen  sie  in 
einen  szenischen  Rahmen.  Inspiration  ist  überall  in  dieser 
Kantate  zu  merken,  die  größte  äußere  Wirkung  liegt  im 
zweiten  Teil.  Doch  ist  sie  von  einem  ährdich  guten  Solo- 
sopran abhängig,  wie  ihn  die  Neunte  Symphonie  verlangt. 

(.  Hauptmann.  Auch  M.  Hauptmanns  früher  häufiger  im  Konzert  auf- 
geführte Kantaten:  »Und  Gottes  WilP  ist  dennoch 
gut«  und  »Nicht  so  ganz  wirst  meiner  du  ver- 
gessen« schließen  an  Mendelssohn  an,  an  dessen  »Ver- 
leih* uns  Frieden«  und  andere  begleitete  Motetten.  Ihre 
schhcht  demütige,  etwas  gedrückte  Frömmigkeit  macht 
sie  eigen,  ihre  knappe  Einsätzigkeit  weist  sie  nicht  nur 
von  der  Bachschen  Kantate  weit  weg,  sondern  widerspricht 
überhaupt  dem  alten  Kantatenbegriff.  Hauptmann  hat  sie 
deshalb  »Kirchenstücke«  benannt.  Von  solchen  ähnlichen 
geistlichen  Miniaturkantaten  der  Hauptmannschen  Zeit 
M.  Brach,  ist  M.Bruchs   »Jubilate,  Amen«  (die  Dichtung  von 


— ♦     605     ♦— 

Freiligratb)  als  die  poetisch  bedeutendste  den  Konzert-, 
instituten  in  Erinnerung  zu  bringen.  Wer  diese  Alters- 
genossin von  »Fritbjof«  und  >  Schön  Ellen  c  kennen  gelernt 
hat,  behält  die  Refrains  des  über  Chor  und  Orchester 
schwebenden  Solosoprans  lebenslang  im  Gedächtnis. 

Von   den  mehrsätzigen  Kirchenkantaten  der  zweiten  . 
Hälfte  des  19.  Jahrhunderts  verdient  die  »Trauerkantate 
auf  Friedrich  VILc  des  Dänen  J.  P.  E.  Hartmann  noch  j,  p.  E.  Hart- 
heu te  eine  allgemeine  Beachtung.    Zu  einer  regeren  Pro-       mann, 
duktion  gab  Luthers   vierhundertster  Geburtstag  Veran- 
lassung. Unter  den  durch  ihn  hervorgerufenen  Festkantaten 
ist  A.  Beckers  Reformationskantate   ein  Werk  von   A.Becker, 
bleibendem  Wert     Sie  schildert  dramatisch  anschaulich, 
wie  der  protestantische  Trutzchor:   »Ein'  feste  Burg  ist 
unser  Gottc   aus  kleinen  Keimen   ins  Große  und  Volle 
wächst.   Historische  Treue  hat  der  Komponist  dabei  nicht 
angestrebt,  wahrscheinlich  auch  nichts  davon  gewußt,  daß 
einzelne  Motive  dieser  im  heißen  Guß  dahinström enden 
Kraftmelodie  in  der  Niederländischen  Schule  und  in  der 
Meistersingerei  wurzeln.    Aber  seine  Kantate  ist  eine  der 
geistreichsten   und  effektvollsten  Leistungen  auf  diesem 
Gebiete  und  hat  vielleicht  etwas  dazu  beigetragen,  daß 
auch  außerhalb  des  Kirchendienstes  stehende  Musiker  sich 
ihm  wieder  zuwendeten.  Unter  ihnen  hatH.  v.  Herzogen- H.  ▼.  Henogen« 
bergs  »Totenfeier«,  eine  edle  Komposition,  in  der  die        berg. 
Bachsche  Choralkunst  wieder  auflebt,  einen  Platz  obenan. 

Gleich  beachtenswert  ist  unter  den  in  letzter  Zeit  in 
Druck  gekommenen  Kirchenkantaten  G.  Schrecks  sinnige,  0.  Bokreck. 
phantasievolle,  mit  strengen  Formen  modernen  Geist  und 
Effekt  verbindende  Komposition  von  »Gott  ist  die  Liebe«. 

Etwas  älter  ist  die  durch  ein  Königsberger  Musikfest 
bekannter  gewordene  Krönungskantate  von  Constanz  G.  Berneoker. 
Bernecker,  ein  Werk,  das  sich  im  wesentlichen  auf 
Mendelssohnschem  Boden,  aber  gewählt  und  zugleich 
natürUch  bewegt  und  den  Vorzug  großen  Wohlklangs  hat. 
Von  ihm  ab  tritt  im  Druck  größerer,  mehrsätziger  Kirchen- 
kantaten eine  längere  Pause  ein,  der  erst  in  neuester 
Zeit  einige  bedeutende  oder  doch  beachtenswerte  Arbeiten 


606 


ein  Ende  gemacht  haben.  Unter  ihnen  muß  namentlich 
die  als  »Preis-  und  Danklied«,  betitelte  Festkantate 

0.  SoliQmann.  (op.  47)  von  Georg  Schumann  hervorgehoben  werden. 
Ihr  Eingang  verzichtet  etwas  befremdend  auf  einige  Takte 
feierUcher  Einleitung  und  gibt  sofort  frei  nach  Händel  das 
Bild  einer  jauchzenden  Menge.  Er  tut  das  aber  mit  der 
Freiheit  und  der  Originalität,  von  der  fast  alle  Komposi- 
tionen dieses  Tonsetzers  Zeugnis  ablegen,  und  so  läßt 
die  Arbeit  auch  im  weiteren  durch  ihren  frißchen,  leben- 
digen Stil,  durch  große  Stellen  und  Steigerungen  keinen 
Zweifel  an  ihrer  Bedeutung  und  ihrem  Gehalt  Der  ton- 
dichterische Höhepunkt  der  Kantate  liegt  am  Anfang  des 
zweiten  Satzes,  in  den  unbegleiteten  Reden,  die  der 
Solobariton  von  der  Hohe  herab  an  die  Massen  des  Volkes 
richtet. 
8t.  KrehlB.  Eine  rühmHcbe  Leistung  ist  auch  Stephan  Krehls 

für  Soli,  gemischten  Chor  und  Orchester  geschriebene 
Kantate  »Tröstung«  (op.  83).  Wäre  sie  in  der  Erfindung 
etwas  einfacher,  so  hätte  sie  alle  Anwartschaft  darauf,  als 
Totenfestmusik  volkstümlich  zu  werden.  Jedenfsdls  zeigt 
sie  im  Aufriß  und  Festhalten  der  Stimmungen,  in  der 
Menge  eigener  Wendungen,  in  der  kunstvollen  und  natür- 
lichen Vokalität  einen  Komponisten,  der  neben  einem 
beträchtlichen  Können  eine  selbständige  Persönlichkeit 
einzusetzen  hat. 

G.  Prohaska.  Auch  Carl  Prob askas  als  Motette  betiteltes  op.  U 

»Aus  dem  Buch  Hi ob«  für  achtstimmigen  Chor,  Or- 
chester und  Orgel  gehört  unter  die  hervorragenden  neueren 
Kantatenleistungen,  wenn  sie  auch  den  Mangel  hat,  der 
Chorentwicklung  zuliebe  hie  und  da  den  Text  zu  sehr 
ins  Breite  zu  ziehen. 

Überall  erfreut  in  der  Auffassung  die  ernste  Hingabe 
an  den  Gegenstand  und  der  immer  angemessene  Ausdruck. 
Der  schönste  Abschnitt  ist  der  Anfang  des  zweiten  Teils, 
der  die  Worte  »Ein  Baum  hat  Hoffnung,  wenn  er  schon 
abgehauen  ist«  sehr  einfach,  aber  mit  überzeugendem 
melodischen  Talent  gibt.  Auch  das  Zurückgreifen  des 
Schlusses  auf  den  Anfang  wirkt  tiefer. 


--4      607     ♦— 

-Einem  Anlauf  zu  einer  großen  Kantatenleislung  be- 
gegnen wir  in  der  »Offenbarung  Johannisc  für  Tenor- 
solo, Doppelchor  und  Orchester,  dem  op.  17  des  durch 
Instrumentalwerke  vorteilhaft  bekannt  gewordenen  Münch- 
ner Komponisten  WalterBraunfels.  Vielleicht  hat  das  W.  Brannfeli 
>Triumphlied<  von  Brahms  vorgeschwebt,  jedenfalls  aber 
sollte  der  moderne  Stil  zur  Geltung  kommen.  Zu  diesem 
Zweck  wird  das  Orchester  mit  einer  in  der  Kirchenmusik 
bisher  nicht  üblichen  Regsamkeit  zu  ähnlichen  Klein- 
malereien herangezogen,  wife  sie  sich  seit  Wagner  in  Oper 
und  Oratorium  eingebürgert  haben.  Die  Wirkung  ist  mehr 
aufdringlich  als  eindringhch,  und.  die  großen  breiten  Chöre 
lassen  die  Anforderungen  an  melodisches  Talent  un^ 
vokale  Schulung  zum  Teil  unbefriedigt. 

Bescheideneie  Ziele  steckt  sich  Martin  Grabert  in M.  Oral)ert« 
den  beiden  Kantaten  »0  Tod,  wie  bitter  bist  du«  (op.  25) 
und  >Der  Pharisäer  und  der  Zöllner«  (op.  24).  Namentlich 
die  erste  ist  in  der  Stimmung  bedeutend,  zuweilen  Bachisch,  « 
und  bietet  auch  in  der  melodischen  Erfindung  vieles 
Schöne.  Sie  schließt  mit  dem  Choral  »Christus,  der  ist 
mein  Leben«.  Die  andere,  die  sich  vorwiegend  auf  kleinere 
Sätze  beschränkt,  erfreut  durch  sinnige  Züge.  Einer  der 
wirksamsten  ist,  daß  am  Schluß  die  Oboe  das  Haupt- 
thema aus  der  Arie  des  Zöllners:  »Gott  sei  mir  Sünder 
gnädig«  nochmals  anstimmt. 

Beide  Kantaten  begnügen  sich  mit  Streichorchester 
und  Orgel,  nur  in  der  ersten  sind  noch  zwei  Oboen  hin- 
zugezogen. Dieser  2ug  nach  Vereinfachung  der  Mittel 
und  Formen  ist  keine  Besonderheit  Graberts,  sondern  er 
begegnet  uns  in  der  neuesten  Kirchenkantate  häufiger. 
Zu  erwähnen  ist  da  das  op.  70  von  Franciscus  Nagler,F.  Hagler. 
das  unter  dem  Gesamttitel  »Schlichte  Kirchenmusik« 
eine  Pfingstkantate,  eine  Weihnachtskantate  und  eine 
kleine  Ostermusik  bringt,  die  alle  einsätzig  verlaufen,  aber 
durch  den  Wechsel  der  Mittel  in  den  einzelnen  Abschnitten 
wirksam  belebt  sind  und  das  Nötige  sehr  eingänglich  und 
gut  melodisch  sagen. 

Der  Vater  und  Hauptvertreter    dieser   Richtung  ist 


— ♦     608     ^— 

V.  Beger.  Max  Reger.    Seine  vier  Chor  alkantaten  er&eaen  sich 
•  einer  weiten  Verbreitung,  die  sich  namentlich  aus  zwei 

Gründen  erklärt.  Diese  Arbeiten  ermöglichen  auch  solchen 
Kirchen  Kantatenauffafarungen,  die  sich  den  sonst  nötigen 
Apparat  von  Orchester,  von  technisch  leistungsfähigen 
Solisten  und  schlagfertigen  Chören  versagen  müssen.  Die 
Begleitung  besteht  in  einem  nicht  schwierigen  Orgelsatz, 
der  Gesangteil  verlangt  kaum  mehr  als  den  Vortrag  be- 
kannter Choralmelodien.  Dieser  Leichtigkeit  der  Aus- 
führung stehen  aber  in  diesen  Kantaten  große  und  bis 
zu  einem  gewissen  Grade  neue  koloristische  Reize  gegen- 
über, die  auf  der  Zuziehung  obligater  Soloinstrumente 
beruhen.  Der  Form  nach  sind  diese  Arbeiten  Choralvaria- 
tionen, die  Variation  beschränkt  sich  aber  im  wesentlichen 
darauf,  daß  der  Vortrag  der  einfachen  Kirchenmelodien 
zwischen  Solosängern,  Chor  und  Gemeinde  wechselt.  Die 
Beziehungen  zwischen  Text  und  Musik  sind  im  Durch- 
schnitt nur  lose,  der  harmonische  Satz  neigt  etwas  ein- 
seitig zur  Chromatik.  Die  erste  dieser  vier  Choralkantaten, 
die  Weihnachtskantate  »Vom  Himmel  hoch«,  die  4  Solo- 
stimmen, 2  Soloviolinen,  Gemeindegesäng  und  Orgel 
verlangt,  steht  wohl  auch  an  Wert  obenan,  weil  hier  die 
Variationen  tiefer  in  das  Wesen  des  Chorals  eindringen. 
Die  zweite,  die  Totenfestkantate  »0  wie  selig  seid  ihr 
doch«,  macht  von  den  übrigen  dadurch  eine  Ausnahme, 
daß  sie  außer  der  Orgel  für  die  Begleitung  auch  ein 
Streichorchester  verlangt.  In  den  Vortrag  der  acht  Verse 
teilen  sich  Gemeinde,  Sologesang  und  Chor.  Die .  dritte 
über  »0  Haupt  voll  Blut  und  Wunden«,  die  mit  Soloalt, 
Solotenor,  gemischtein  Chor,  Solovioline,  Solooboe  und 
Orgel  zu  besetzen  ist,  ist  die  am  gediegensten  gearbeitete. 
Der  zum  cantus  iirmus  geschriebene  Chorsatz  sowohl 
wie  die  Kontrapunkte  des  Halbchores  haben  einen  höheren 
künstlerischen  Wert.  Die  vierte:  »Meinen  Jesum  laß  ich 
nicht«  für  Solosopran,  gemischten  Chor,  SolovioUne,  Solo- 
bratsche und  Orgel  ist  die  knappste  und  bescheidenste, 
zugleich  aber  an  Klangreiz  reichste. 

Die  Erwartung,  daß  sich  an  den  Vorgang  Regers  ein» 


--♦      609     ♦— 

Schule  anschließen  werde,  wird  sich  mit  der  Zeit  erfüllen. 
Anfange   dazu  liegen  in    6.  Schrecks  »Gott  rückt  als  0,  Sohreok. 
Kriegsheld  in  das  Feld«   (mit  Trompete)  und  in   den  «für 
Solostimmen,-  Chor,  Solovioline,  Soloklarinette  und  Orgel 
geschriebenen  Kantate  »Herzlich  lieb  hab  ich  dich«  (op.  33} 
von  Ernst  Müller  vor.    In  den  Kontrapunktßn  der  In- e.  Mtüler. 
Strumente,  wie  in  der  Führung  der  Harmonie  erfreulich 
natürlich  und  gehaltvoll,  macht  sie  namentlich  durch  die 
Stellung  des  Sologesangs  zum  Chor  großen  Eindruck.  Mit 
großer  Wahrscheinüchkeit  darf  außerdem  das  »Tränen- 
krüglein«  von  Georg  Schumann,  das  allerdings  mehr  a.  Schamaim» 
zu  den  oratorischen  Szenen  als   zu  den  Kirchenkantaten 
gehört,   mit    Regers    Choralkantaten   in    Zusammenhang 
gebracht  werden.  Denn  es  gleicht  ihm  in  der  Beschränkung 
der  Besetzung:  Orgel,  Harfe,  Harmonium,  Klavier.     Die. 
Komposition  führt  die  Geschichte  des  toten  Kindes,  das 
durch  das  Weinen  der  Mutter  um  seine  Grabesruhe  ge- 
bracht wird,  so  zart,  innig  und  rührend  vor,  daß  ihm  in 
der  neueren  deutschen  Komposition  ein  Ehrenplatz  gebührt. 

Als  biblische  Kantate  hat  auch  Enrico  B 0 s s i e.  Bowi. 
seine  in  deutschen  Konzerten  häufiger  mit  Erfolg  aufge- 
führte Komposition  des  Hohenlieds  (canticum  canticorum) 
für  Sopran-  und  Baritonsolo,  Chor,  großes  Orchester  und 
Orgel  veröffentlicht.  Der  begabte  Italiener^  unterscheidet 
sich  aber  von  den  vielen  Tonsetzern,  die  seit  den  Zeiten 
der  Niederländer  dieses  merkwürdigste  Stück  des  Alten 
Testaments  in  Musik  gebracht  haben,  dadurch,  daß  er 
mit  einigen  vereinzelten  Bibelerklärern  die  rätselhafte 
Dichtung  dramatisch  auffaßt,  den  (lateinischen)  Text  an 
Frau  (la  sposa),  Mann  ilo  sposoj  und  einen  Chor  der 
Gefährten  verteilt  und  ihn  in  drei  Akte  gruppiert.  Da- 
mit rückt  seine  Kantate  zu  den  oratorischen  Bibelidyllen 
in  die  Nähe  von  0.  Goldschmidts  »Ruth«,  scheidet  aber 
aus  der  Gruppe  Kirchenmusik  aus.  Die  Einflechtung  der 
liturgischen  Hymne:  Fange  lingua  in  den  zweiten  und 
dritten  Teil  ändert  daran  nichts. 

Nach  wie  vor  bleibt  die  Kantate  ein  wesentlich  pro- 
testantischer Musikzweig  und  ist  als  solcher  noch  immer 

II,  <.  39 


610 


gefährdet  Das  Konzert  kann  mit  beitragen  ihn  zn  er- 
halten, die  durchgreifende  Hufe  muß  aber  die  Kirche 
selbst  bringen.  Sie  besteht  in  der  Errichtung  von  Schulen 
für  Kirchenmusik  und  in  der  Vermehrung  geschulter  und 
disziplinierter  Eirchenchöre! 


REGISTER. 


AbkUrsungen. 

H-Zo  =  Hymnen :  Lobg:esang  des  Simeon ;  B.-Mg  =  Hsrmnen :  Magnificata  ^ 

H-S^^  =  Hymnen  :Btabat  mater;  H-T  =  Hymnen:  Tedeums;  E  =  Ean 

taten;  La  =  Lamentationen;  Li  =  Litaneien;   M  =  Messen;  M-R  = 

Messen :  Bequiems ;  Mt  =  Motetten ;  P  =  Passionen ;  Ps  =  Psalmen. 


Abos,  G.  354  (ß'St). 

Adam  438. 

Agazzari  346  (EL-St). 

Agricola,  A.  172,  477  (Mt). 

Ahle,  R.  197,  391  (H-Jlfsf), 
491  (Mt),  530, 543— 545  (K), 
599. 

Aiblinger,  J.  K.  225  (M),  242, 
245. 

Alchinger  345  (EL-St),  495  (Mt). 

Albert,  H.  530. 

Albinoni  77,  395  flf. 

Allegri,  G.  405—406  (Ps,  Mi- 
serere), 407,  446  (La),  472 
(Mt). 

Allison  473  (Mt). 

Altenburg,  M.  73,  416,  490. 

Andrtf  185. 

Anerlo,  F.  177—178  (MJ,  346 
{H-50)366(H-r),  383(H- 
Mgl  406, 410  (Ps),  446  (Li), 
470  (Mt). 

Anerio,  G.  Fr.  271,  366  (H-T). 

Anglicus,  J.  B.  144. 

Allimaccia,  G.  467  (Mt). 

Arcadelt,  J.  460  u.  467  (Mt). 

Arebbo,  A.  412  (Ps). 

AsoU,  L.  293  (M-Ä). 


Asola,  M.  476  (Mt). 

Astorga,  E.  348—351  (R-St). 

Bach,  Ohr.  498  (Mt),  651  (K). 
Bach,  Ernst  603  (K). 
Bach,  L.  197. 
Bach,  M.  497—498  (Mt). 
Bach,  Ph.  E.  HO  (P),  197,  400 

(Ei-Mgl  433  (Ps),  498,  572. 
Bach,  S.  3,  21,   37,  44  f.,  56, 

61  f.,    64f.,    66—102    (P; 

Lokas-F.  66,  Joh.-P.  70,  Matth.- 
P.  83),  104,106,110, 112, 116, 

118,  126,  130ff.,  140,  142, 
145,  147, 166,  180  f.,  186— 
199(M),  206,213,216,  219, 
237,  244,  247,  253 ff.,  309, 
311,  319,  336,  347,  360, 
369,  372,  387,  390,  394— 
399  (U'Mg),  413,  422,  434, 
437,    444,    478,  480,  491, 

498—611  (Mt;  Singet  dem 
Herrn  500,  Komm^  Jesu,  komm 
502,  Fürchte  dich  nicht  50 :i, 
Der  Geist  hilft  504,  Jesu, 
meine  Freude  505,  Lobet  deu 
Herrn  5 1 1),  614,531, 637, 640, 
647,    551—602    (K;    Gottes 

39* 


642 


? 


'  Zeit  565,  Ich  hatte  yiel  Be- 
kftmmemis  557,  Nan  ist  das 
Heil  nnd  die  Kraft  659,  Ein' 
feste  Sarg  561,  Christ  lag  in 
Todesbanden  662,  Gott,  der 
Herr,  ist  Sonn'  nnd  Schild 
5 7 2, Weihnachtsoratorium  583, 
SolokanUten  694),  604  f.,  607. 

Bai,  T.  406,  472  (Mt). 

Baini,  L.  355  (H-Ät),  406. 

Bargiel,  W.  441  (Ps). 

Bässani,  G.  B.  272  (M-Ä). 

Bateson  473  (Mt). 

Becker,  A.  254—269  (M),  309, 
336—336  (M-^,  Selig  ans 
Gnade),  521,  606  (K). 

Beethoven,  L.  van  74,112—116 
[P,  Christus  am  ölberg),  119, 

131  f.,  136,  140,  146,  147, 
186,    199,   204—224   (M; 

Cdur-H.  204,  Missa    solemnis 

210),  226,  228,  230 f.,  234, 
236,  239,  260  ff.,  254,  268, 
276,  282,  297,  313,  320  f., 
332,    422,    613    (Mt,    Die 

Himmel    rühmen),    667,     691. 
Benda,  G.  648,  602. 
Benevoli,  0.  179—180  (M). 
Bennet  473  (Mt). 
Berchem,    J.    de   450   u.  461 

(Mt),  466. 
Berger,  W.  622. 
Bergt,  A.  376  (H-T). 
Berlioz,    H.    226,    261,    288, 

290,  296—308  (M-Ä),  313, 

330,    332 f.,    336 f.,    339, 

376-377  (H-T),  432,  522. 
Bemabei,  E.  426  (Ps),  476  (Mt). 
Bernecker,  C.  606  (K). 
Bernhard,    Chr.   402    (H-Lo), 

540-643  (K). 
Besler,  S.  16—18  (P),  23,  27, 

48,  583. 


Beyer,  S.  530. 

Binchois  152,  448. 

Biordi  446. 

Blumner,  M.  621. 

Boccherlni,  L,  356  (H-5t). 

Bochsa  283  (M-Ä). 

Bodenschatz  490. 

Böhm  669. 

Boito  231. 

Bortniansky,  D.  517  (Mt). 

Bossi,  E.  479,  609  (K). 

Brahms,'  J.  241,  309,  314- 
328  (M-5),  334 f.,  373, 
441-442  (Ps),  610,  619, 
620-521  (Mt),  623,  607. 

Brasart  448. 

Braunfels,  W.  607  (K). 

Briegel,  0.  490,  646  (K). 

Brixi  376  (H-T). 

Brosig  241. 

Brach,  M.  254  (M). 

Brückner,  A.  260—267  (M; 
Fmoll-M.  260,   Emoll>H.  266), 

377—378  (H-T),  442  (Ps), 

626—527  (Mt). 
Brumel,  A.   163  f.,'  165—166 

(M),  407,  468  (Mt). 
Bull  473  (Mt). 
Burgk,  J.  V.  14  (P.),   16,  60, 

490. 
Buxtehude  11,  638,  646—547 

(K),  548f.,  551. 
Byrd  366  (H-T),  473  (Mt). 

Cacclni,  Fr.  639. 

Oaccinl,  G.  528. 

Oaldara,  A.  184,  346,  364, 
367  (H-T),  391-392  (H- 
Mg),  426-426  (Ps),  432. 

Oalvisius  366  (H-T). 

Campioni  376  (ff-T)- 

Oarissimi  62,  68,  133,  417 
(Ps),  629  (K),  532,  642. 


613 


Castelbarco  121. 

Cauroy,  E.  de  461  (Mt). 

Cavaccio,  G.  271. 

Cavalli,  Fr.  271— "272  (M-Ä), 

351,  409. 
Gesare  529. 
Cesena  529. 
Cesti  351. 

Cherubini,  L.  139,    169,   185, 
206,   224,    226—234   (M; 

DmoU-M.   227,     Credo     233), 

255,  259,  284—295  (M-Ä; 

Cmoll-B.    284,   Dmoll-B.,    flir 
Männerstimmen,  293),  296 if., 

310,  312f.,  317,  330,  336, 

356,  380,  513  (Mt). 
Oiampi  375  (H-T). 
Civitate,  A.  de  144. 
Clari,  0.  M.  346,  347  (H-Sft), 

352,  425  (t>s). 

Clemens  (non   papa),  J.  141, 

461—462  (Mtl 
Cleve,   J.  de   163,    167  (M), 

407,  462-465  (Mt). 
Cobbold,  473  (Mt). 
Colerus  (Köhler),  M.  74. 
Colonna,    ß.    P.   272   (M-£\ 

346,  426  (Ps). 
Gomp^re,  L.  449. 
Conti  253.    . 
Cornelius,   P.  231,  255,  517 

(Mt),  522,  524,  526. 
Cr^quiUon,  Th.  450  u.461  (Mt). 
Croce,  G.  178  (M),   383  (H- 

Mg),  390,  411  (Ps). 
Crüger,  J.  490,  530. 
Curschmann  231. 


Dalberg  120. 
Daser,  L.  14  (P),  50. 
Dehn,  S.  518,  522. 
Demantius,   Chr.  15  (P),  366 


(H-T),  384,  390,  416,  496 

(Mt),  535  (K). 
Diabelli  245. 
Dietrich,  S.  477  (Mt). 
Doles  602  (K). 
Donizettt  253,  522. 
Dowland  473  (Mt). 
Draeseke ,   F.   26Ö  -  260   (M), 

332-333  (H-Ä),  334,  442 

(Ps),  604  (K). 
Drechsler  283  (M-Ä). 
Dreßler,  G.  490. 
Drobisch  283  (M-Ä). 
Dufay  137,  144f.,  147, 149— 

151  (M),  152ff.,  157,  161, 

163, 166, 168,  383  (H-vlfp), 

405,  448,  449—450  (Mtl 

464,  487. 
DnUchius,  P.  491  u.  496  (Mt> 
Dunstable  144,  152,  448. 
Durante,   Fr.    182,    199,   272 


(M-Ä),    367  (H-T),  392— 
"        -Jtfö),    398 f.,    446 
(La,  Li),  476  (Mt). 


393  (H-Jlf^ 


Dnrante,  0.  528  (Kl. 
Dvotak,   A.  337—338  (M-Äl 
357-361  (H.5*> 

Ebeling,  J.  490. 

Eberl  276. 

EberUn,  J.  E.  511  (Mt). 

Eccard,  J.  73,  130,  326,  414, 

490—491  (Mt),509, 530, 563. 
Elgar,  E.126. 

Elsner,  126,  283  u.  293(M-12). 
Erfurt  438. 
Este  473  (Mt). 
Ett,  K.  225  (M),  242,  244  f., 

283  (M-Ä). 
Eybler  237,  283  (M-Ä). 

Faißt,  I.  438  (Ps). 
Farmer  473  (Mt). 


644 


ramat  473  (Mt). 

Fasck,  C.  F.  242.  283  (M-B). 

Faack,  J.  F.  197,  431  (Ps). 

Fautf,  G.  339. 

FedeM,  B.  395. 

Feltre.  G.  de  144. 

Feo  431  (Ps). 

Ferdinand  m^  KiiBer  B46f.. 

416  (Ps). 
Femdini  375  (H-T),  39a 
Fesca  513  (Mt> 
Fesu,  C.  366  (H-T),  466  (Mt), 

467. 
FeTin,  A.  de  270  (M-B). 
F^vin,  J.  163  f..  166  (IQ. 
Finck,  H.  172. 
Fischietti  395. 
Fiittner  69,  598,  60L 
Flor,  Th.  490. 
FlögeL  G.  Ö2^ 
Fossa.  J.  de  446  (Li). 
Fiaack,  IL  493,  492  (Mt> 
Franck.  S.  545. 
Franz,  R.  441  (Ps). 
Fiescobaldi  538. 
Frenndt,  C.  4J0. 
Friebert,  J.  122. 
FröhUdk  390. 

FaldA,  A.  ▼.  172,  477  (Mt). 
Fax,  J.   111,   182—184  (M), 

185,  354,  367  (H-T).  383 

(H-lfp),    425    (Ps),    472, 

495  (Mt). 


GabrieU.    A.    137.    178  (MTL 

179,  476  (Mt),  476. 
Gabricli,  G.  44,  56,  137,  179 

(MX383(H-lfy),  410  (Ps), 

475—476  (Mt),  488,  634, 

537,  5U,  564. 
GAgliano  47. 
GaUw  (Handl),  J.  14  (P),  60, 


178  (M>   366  (H-T),  4^3, 

482-481  (MO. 
Galopp!  201,  2^. 
Ginsbacher  235.  283  (M-l?). 
GasparinL  F.  253, 354. 425(P8> 
Gaßmann  354^ 
Gazzani^  376  [JBL-T). 
Gebel  54a 
Gereinia  395. 
Geriiaidt  P.  622. 
Gemsheim,  Fr.  380—381  (H- 

T),  526. 
Gesins,  B.  14  (P),  16. 
Gessel  602. 

Gibboiis,0.366(H-T),473(Mt). 
Glofik  iU,  293,  432  (Ps). 
Glück.  J.  121. 
Goldschmidt  609. 
Gombeit,  N.  448,   450  (Mtl 

469. 
Gösset  284. 
Götz,  H.  Ul  (Pft). 
GoudimeL  GL  173,  412  (Ps), 

413  ff.,  419,  443.  450  (Mtl 

459.  467  (Mt). 
Goonod  121.  356. 
Gonvy,  Th.  333  (M-B).  357 

(H-5l> 
Grabert,  M.  442  (Ps),  525  (Mt), 

607  (K). 
Graan.  C.  H,  3.  101,  104—110 

(P.   Der  Tod  Jes»),  111,   117, 

128,   199,   362,  373—374 

(H-T),  602. 
Graupner,  Chz.  54a 
Grell,  Ed.  242— 2U  (M),  441 

(Ps),  517  (Mt>  521. 
Grieg,  Ed.  443  (Ps). 
Gaerero.  Fr.  176,  270  (M-B), 

3S3  (R'Mgl  406,  466  (Mt). 
Guerrero  siehe  Gaerero. 
Gnlbins,  M.  526. 
Gnmpeltzhaimer  491. 


1 1 


615 


Habermarm  201. 

Habert,  J.  E.  246  (M> 

Hainlein  560  (K). 

Haller,  M.  246  (M).  • 

Hammerschmidt,  A.  ÖO,  66, 
185,  199,  412  (Ps),  471,  492 
fMt);  530,  636—538  (K), 
583,  595.' 

Händel,  21,  49,  59—61  (P), 
78,  106,  126, 142,  166,  188, 
194,  223,  247,  277,  347, 
360  f.,  367—373  (H-T;  üt- 

rechter    T.   307,    Dettinger  T. 

372),  376,. 396,  421,427— 

431  (Ps,  Anthems),  434,  437, 

444,002,532,546,651,558, 

567,x574,  600,  606. 
Hartmann,  J.  P.  E.  111, 605  (K). 
Hartmann,  Pater  442  (Ps). 
Häser  283  u;  293  (M-Ä),  376 

(H-T). 

Hasse,  J.  A.  65,  119  (P),  185, 
199(M),203,205,273(M-Ä), 
354,  373,  374  (H-T),  431 
(Ps),  549. 

Haßler,  L.  137,  141,  178—179 
(M),  366  (H-r),  383—384 
u.  390  (H-%J,  401  (Lo\ 
415  (Ps),  484-487  (Mt), 
491.  ^    ^ 

Haßlinger  245. 

Hauptmann,  M.  241  (Ml  317, 
441  a>s),  515  (Mt),  517, 
604  (K). 

Hausegger,  S.  v.  527  (Mt). 

Haydii,  J.  74,  120—126  (PI 
162,  179,  185,  201-203 
(M),  205f.,  222,226,228f., 
276,  285,  354-356  (H-^t), 
356,  375  (H-T),  379,  382, 
387,  433  (Ps),  444,  457; 
511—612  (Mt),  527,  546. 


Haydn,  M.  199  (M),  276,  283 
(M-JB),  313,  512  (Mt). 

Hecht,  G.  522. 

Heine,  S.  Fr.  397. 

Helder,  B.  490. 

HeUwig  283  (M-5). 

Henkel  283  (M-JS),  314. 

Hentschel,  G.  386  (M-Ä). 

Herbst  490. 

Herzog,  J.  G.  521. 

Herzogenberg,  H.  v.  334  (M-JB), 
442  (Ps),  521,  605  (K). 

Heubner,  0.  622. 

Hiller,  F.  438. 

Hiller,  J.  A.  602  (K). 

HUton  473  (Mt). 

Himmel,  Fr.   375  (H-T),  513 

(Mt). 
Hiützfe,  J.  490. 
Hirsch,  0.  526. 
HoflPmann  602. 
Hohmann,  H.  522. 
Holzbauer,  1. 109, 184  (M),  222. 
Homlüus,  G.  A.  110  (P),  400, 

514,  648,  602  (K). 
Hummel  185. 
Hüttenbrenner  283  (M-Ä). 

Isaak,  H.  173,  466—458  (Mt), 
461,  482. 

Jadassohn,  S.  441  (Psl 

Jeep  490. 

Johnson,  E.  473  (Mt). 

Jomelli,  N.  111,  273  (M-Ä), 
329,  373  (H-T),  399-400 
(H-Afp),  477  (Mt). 

Josquin  de  Pros  146,  161,  153, 

161-163  (M),  164  flf.,168ff., 

341—343  (U-Stl  344,  351, 

362,  409,    463—454   (Mt), 

455ff.,461,466, 470, 480,485. 
Junne,  0.  522. 


616 


Käfer,  J.  P.  58  (P). 
Kapsberger,  H.  528  (K). 
Kauer,  F.  284. 
Kauffmann,  Fr.  522. 
Kegel  602. 


Keiser,  R.  45,  67  (P),  58,  62 

—63  (P),  65,  67,  81,  111. 
Kellner  602. 
Kerle,  J.   de    163,    168-170 

(M),  270  (M-Ä),  366  (H-T), 

407,  462  (Mt). 
Kerll,  J.  K.  183,  383  (B-Mg), 

385  n.  391  (H-AffiF),  631— 

533  (K). 
Kesselring,  J.  A.  547. 
Keuchenthai  47  (P),  23. 
Kiel,  Fr.  126—130  (P,  Christus), 

131-,   253—254   (M),   255, 

276,  309-314  (M-ß),  356 

—367  (H-St),  522. 
Kindermann,  E.  490. 
Kirchner  602. 
Kisler,  0.  522. 
Klein,  B.  241  (M),  245,  356 

(H-50,    376   (H-T),    390, 

438  (Ps). 
Klose,  Fr.  267. 
Knefel,  J.  15  (P). 
Knüpfer,  S.  535—536  (K),  540. 
Koch,  Fr.  E.  524—625  (Mt). 
Köler,  D.  407  (Ps). 
Kramer,  Ohr.  11  (P),  602. 
Krebs,  J.  L.  102,  602  (K). 
Krehl,  St.  606  (K). 
KTeichel  547. 

Krieger,  Ad.  418—419  (Ps). 
Krieger,  J.  650. 
Krieger,  Ph.  550-551  (K). 
Kücken  522. 
Kuhnau,  J.  563. 

Lachner,  Fr.  308—309  (M-Ä), 
357  (H-50,  438  (Ps). 


Lalande,  M.  529. 

Lasso,  0.  (di)  16  (P),  142,  146, 
163,  171-172  (M),  216, 
271  (M-B),  329,  345-346 
OU-StX  366  (H-n  383  (H- 
Mg\  387,  38Ö  (H-Afsf),  397, 
408-410  (Ps),  478,  479- 
481  (Mt),  482, 487, 507, 519. 

Lechner,  L.  172,  492  (Mt). 

Legrenzi,  G.  476  (Mt),  546. 

Leisring,  F.  492  (Mt). 

Lejeune,  Ol.  412  (Ps). 

Lemalstre  (Le  Maistre)  383  (H- 
Mgl  450  (Mt). 

Leo,  L.  119,  122,  182,  199, 
367  (H-T),  398,  431—432 
(Ps),  477  (Mt). 

Leopold  L,  Kaiser  182  (M), 
347,  416,  417  (Ps),  531  (K> 

Lesueur  297,  376  (H-T). 

Levini  394  f.,  547. 

Lieber,  Chr.  547. 

Liebhold  647. 

Limbert,  Fr.  626  (Mt). 

Liszt,  Fr.  126,  147,  246-263 

(M:  GranerM.  248,  Krönungt>- 
M.25l),255,260,314(M-JB), 

338,   361,  421,  439—441 

(Ps),  513—614  u.  517  (Mt), 

526. 
Löhner,  J.  490. 
Lollfuß  547. 
Lossius,  L.  9  (P),  22. 
Lotti,  A.  181  (M),  272  (M-Ä), 

383  u.  391    (H-Aff^),    395,' 

399,  426  (Ps). 
Löwe,  K.  118. 
Löwenstern,  A.  v.  490. 
Lübeck,  V.  547.- 
Ludecus,  M.  9  (P). 
LuUy  194,  367  (H-T). 
Luther  9,  17,  22,  27,  37,  51, 


en 


139,   161,  182,  255,  411  f., 
419,  438,  450,  477. 
Lutz  120. 

Machaut,  G.  de  144. 
Machold,  J.  14  (P\  15. 
Macqn^,  J.  de  44o  (Li). 
Manclnus,  Th.  11  (P). 
Marbeck  473  (Mt). 
Marcello,    B.    423—425  (Ps), 

426,  432  ff.,  439. 
Marenzio,  L.  383  (H-Jlfp),  390, 

471-472  (Mt). 
Marschner,  H.   293,  438  (Ps). 
Martelaere  460  (Mt). 
Martini,  G.  B.   182  (M),  246, 

383  (n-Myl  425  (Ps). 
xMattheson  60,  63  (P),  540. 
Mayr,  S.  ,283  (M-Ä). 
Mazzocchi  529  (K). 
Meder,  V.  185,  415  (Ps). 
Megerle,  A.  381. 
M^ul  226,  284,  317. 
Melle,  R.  v.  383  (H-Afp),  390, 

446  (Li),  450  (Mt). 
Mendelssohn,  A.  526. 
Mendelssohn,  F.  10,  100,  102, 

126,   131,   174,  400-401 

(JB.-Mg^    Hein    Herz    erhebet), 

401  (H-Lo),  431,  433—438 

(Ps;42.P8.  435,  95.P8.  436), 

441,    479,    497,    516-516 

(Mt),   517,  520,  636,  556, 

604. 
Mercadante  121. 
Meyer,  G.  477  (Mt). 
Meyerbeer  424. 
Mitterer,  J.  246  (M). 
Molique,  S.  225  (M). 
Monte,  L.  da  (de)  383  (H-Afp), 

390,  460-461  (Mt). 
Monte,  Ph.  de  163,  170—171 

(M),  464. 


Monteverdi,  C.  27,  44f.,  48, 
179(M),  329,  361,388,422, 
475, 485,  528— Ö29(K),  534. 

Morales,  0.  141,  176,  270 
(M-Ä),  383  (H-Afy),  39Q, 
466  (Mt). 

Moralt  283  (M-B),  314. 

Morlacchi  283  (M-Ä),  390. 

Morley  473. 

Mouton,  J.  163,  166—167  (M), 
454  (Mt). 

Mozart  111, 201, 203— 204(M), 
206,  218,  274—283  (M-Ä), 
284,  287,  292,  307,  313, 
352,  375  (H-T),  376,  382, 
432,  433  (Ps),  446  (Li),  451, 
512-513  (Mt),  527. 

Müller,  E.  609  (K). 

Müller-Hartnng  441  (Ps). 

Magier,  Fr.  607  (K). 
Nanini,  B.  469  (Mt). 
Nanini,  G.  M.  345  (nstX  446 

(La),  469  (Mt). 
iJaumann,  J.  G.  119—120  (P), 

199  (M),  376,  433  (Ps),  441, 

603. 
Navarro,  M.  383  (H-A/gf). 
Neefe  206. 
Neukomm,   S.    120  (P),    283 

(M-Ä),  355  (H-St),  372, 390. 
Nenmark,  G.  130,  572. 
Nicolai,  0.  231,  517. 
Noordt,  A.  van  413  (Ps). 

Obrecht,  J.  14  (P),  17,  144, 
146,  165—161  (M),  163, 
450  n.  452—453  (Mt). 

Ockeghem  144  ff.,  152—164 
(M),  155,  163,  178,  451 
(Mt),  458. 

Olthof  412  (Ps). 


618 


Ortiz,    D.   366   (H-T),    383 

Oslander  388. 

Otto,  J.  246,  438  (Ps). 


Pachelbel,  J.  886  (B.'Mg)f 
640,  650  (K),  566,  569,  681. 

Padna,  B.  de  144. 

PaisleUo  111,  372. 

Palestrina  49,  101, 137, 139  ff., 
146,  148,  173—176  (M), 
177,  182,  216,  220,  230, 
234,  238,  246  f.,  270  u.  271 
(M-Ä),  280,  329, 336,  343— 
346  (H-50,  351,  364,  382, 
383  (H-itfy),  388 f.,  402, 
406,   409,    410   (Ps),   462, 

.  466,  467—468  (Mt),  469  f., 
472  f.,  480,  483,  486,  607, 
563. 

Palme,  R.  621. 

Papperltz,  R.  621. 

Pareja,  R.  de  383  (U-Mg). 

Pasterwltz,  G.  v.  274  (M-Ä), 
400  (H-Afp). 

Perez,  D.  477  (Mt). 

Perez,  J.  466  (Mt). 

Pergolesi  182,  199,  831,  848, 
351—354  (H-äO,  356. 

Perl  293,  628. 

Perosi,  L.  132—134  (P),  267. 

Perotinus  143. 

Perti  199. 

Perugia,  M.  de  144. 

Pevemage,  A.  461  (Mt). 

Pfeiffer  602. 

Pinelli,  J.  B.  383,  390. 

Pipelaere,  M.  460  (Mt). 

Pitonl,  G.  271  (M-Ä),  888 
(H-Jlf^),  472  (Mt). 

Piutti,  0.  442  (Ps). 

Porta,  C.  474  (Mt). 


Pr&torius,  H.  186,  366  (H-T), 
383(H-Jtf^),  488— 489  (Mt). 

Pritorius,  M.  416,  490,  630. 

Preindl,  J.  241. 

Prioris,  J.  270  (M-Ä). 

Prohaska,  0.  606  (K). 

Purcell,  H.  142,  366  (H-T), 
367,  629. 

Baff,  J.  441  (Ps). 

Rameau,  Ph.  142,  393  (R-Mg). 

Ravanello  267. 

Rebllng,  G.  441  (Ps),  521.  . 

Reger,  M.  443-445  (Ps),  608 

(K),  609. 
Reinecke,  K.  442  (Ps). 
Reiner,  J.  16  (P). 
Relnthaler,  G.  617. 
Reiter,  J.  338  (M- 12). 
Reutter,  G.  201,  203,  235. 
Rheinberger,  J.  244,  333—334 

(M-12),857(H-50.  517  (Mt). 
Ribera,  B.  383  (R-Mg), 
Richafort,  J.  461  (Mt). 
Richter,  E.  F.  244  (M),    367 

(B-8t%  441  (Ps),  616  (Mt> 
Rletz,  J.  377  (H-T). 
Ripa,  A.  347  (H-5t). 
Ritter,  A.  518  (Mt). 
Roda,  Fr.  v.  126. 
Rodewald  354. 
Regler,  Ph.  163,  167  (M).  * 
Rolle,  J.  H.  111  (P),  514. 
Romberg,  A.  433  (Ps),  603  (K). 
Römhüd  602. 
Rore,    0.  de    14   (P),  450  u. 

474  (Mt). . 
Rosenmüller,  J.  490. 
Rossini,  G.  263  (M),  355—356 

(H-Ät)- 
Rößler,  R.  625  (Mt). 

Rovetta,  G.  476  (Mt). 

Rubinstein  479. 


619 


Rue,  P.  de  la  163,   166  (M), 
270  (M-Ä),  454—456  (Mt). 
Rust,  Fr.  W.  441  (Ps),  521. 

Säle,  Fr.  163, 165  (M),  461  (Mt). 
Salieri  283  (M-Ä). 
Sarti  372,  433  (Ps). 
Scandelli,  A.  16  (P),  48,  492 

(Mt),  583. 
Scaiidellus  siehe  Scandelli. 
Scarlatti,  A.  60,  111,  182  (M), 

347  (H-50,  361,^  425  (Psl 

476  (Mt),  546,  576.      . 
Scheidt,  S.  185,  385  (H-Afp), 

413,485,491,530,540,563. 
Schein,  J.  H.  185,  366  (H-n 

384,   412  (Ps),   416,    419, 

486,  491  fP.,  496  (Mt),  530, 

534,  535  (K),  550. 
Schelle,  J.  535—536  (K),  540. 
Schemeln  530. 
Schicht,  J.  Gt.  116-117  (P), 

118,  120  (P),  129,  376  (H- 

20,  497,  514  (Mt),  603  (K). 
Schieferdecker,  Ohr.  545  (K). 
Schneider,  Franz  284. 
Schneider,  Friedr.  3,  117—118 

(P),126,245,438(P8),603  (K). 
Scholz,  B.  314  (M-ß). 
Schop,  J.  490,  530. 
Schreck,  G.  126,  521,  605  u. 

609  (K). 
Schröter  490. 
Schubert,  Ferd.  314. 
Schnbeit,  Franz  231,  234—241 

(M;    Asdur-M.   236,    Esdnr-M. 

238),  265,  262,  355  (H-5t), 
433  (Ps),  441,  614  (Mt). 

Schultz,  Ohr.  18—21  (P),  23  f. 

Schulz,  Chr.  122. 

Schulz-Beuthen,  H.  442  (Ps). 

Schumann,  G.  523—624  (Mt), 
606  u.  609  (K). 


Schumann,  R.  70,  241—242 
(M),  252,  255,  267,  308 
(M^Ä),  616  (Mt),  604  (K). 

Schurig,  V.  522. 

Schürmann,  G.  548. 

Schuster,  J.  355  (H-fiQ»  ^00. 

Schütz,  H.  3,  18,  23,  24-49 

(P;  Matth.-P.  26,  Lukas-P. 
34,  Joh.-F.  38,  Harkns-F.  40^ 
Die  sieben  Worte  42,  Historia 
V.  d.  Auferstehung  46),  50  ff., 

66,  63,  68  f.,  77,  80,  90,  93, 
101,  120,  142,  185,  314, 
346,  383  .(H-Mp),  384,  390 
(H-Mp),  '402  (Lo),  416, 
417—422  (Ps),  423,  425  f., 
440,  446  (Li),  488f.,  492— 
496  (Mt),  632, 633— 535  (K), 
636,  640  ff.,  560,  583. 

Schweitzer  111. 

Schwemmer  560  (K). 

Scomparin,  M.  293  (M-Ä). 

Sebastian!  46,  61—66  (P),  67, 
69,  90,  186,  648. 

Sechter,  185,  283  (M.Ä> 

Seifert  111. 

Seifert,  ü.  526. 

Seile,  Th,  490. 

Selneccer,  N.  10  (P). 

Senfl,  L.  120,  172,  383  u.  386 
(H-Jlf^),  397,  408  (Ps),  477, 
(Mt). 

Seydelmann,  F.  400. 

Seyfried,  J.  v.  186,  293  (M- 
Ä),  355  (H-/S),  376  (H-T). 

Sgambati,  G.  339  (M-Ä). 

Shephard  473  (Mt). 

Siefert,P.  391,  415-416  (Ps). 

Smyth,  Ed.  267. 

Soriano,  Fr.  10,  177  (M),  383 
(H-Afgr),  471  (Mt). 

Spohr,  L.  117  (P),  118,  226. 
241  (M),  513  (Mt),  522. 


6S0 


StebUe,  A.  471  (Mt). 
Stade,  W.  438,  441  (Pi). 
Stftdeh,  G.  490. 
Stadler  283  (M-Ä),  426  (Ps), 

433  439. 
Stadlmayr,  J.  495  (Mt). 
Stange,  M.  626  (Mt). 
Steflfani,  A.  46,  346-347  (H- 

«0,  351. 
Stehle,  E.  517  (Mt). 
Stephan!,  0.  10  (P). 
Stobäas,   J.    185,   490f.,   496 

(Mt). 
Stockmann  74,  82. 
Stoltzer,  Th.  407  (Ps).    , 
Stölzl,  G.  H.  64  (P),  67,  101, 

197,  648-649  (K> 
Stolzenberg  651. 
StradeUa  396. 
Stranß,  R.  618—519  (Mt). 
Strunck  (Strungk),  N.  418  (Pi> 
Sncco  521. 
Supptf  522. 
Snriano  siehe  Soriano. 
Süßmayer,  F.  X.  204,  275  ff., 

280  ff.,  292,  307. 
Sweelinck,  P.  147,  391,  413— 

415  (Ps),  465  (Mt). 
Sylvanus,  A.  477  (Mt). 

Tag  602. 

TaUis,  Th.  178,  473  (Mt). 
Taubert,  E.  Ed.  443  (Ps). 
Taubmann,  0.  268  (M),    442 

^     (Ps), 

Telemann,   G.  P.  45,  56—67 
»     .  u.  63-65   (P),    102,    104, 
HO,  530,  647,  649  (K> 
Theile  65. 
Thiel,  0.  627  (Mt). 
Thieriot,  F.  622. 
Thomas,  0.  522. 
Tinel,  E.  380  (H-T). 


Tomaschek  225,    283   (M-Ä), 

376  (H-T). 
Tonentes,  A.  de   383  (H-Afy). 
Traetta  354. 
Tritonius  411. 
Tuma,  F.  199  W.  ^'?'8- 
Tunder,    Fr.   401-402    (Lo), 

538-640  (K),  545,  548  f., 

551  596. 
Tye,  Ohr.  186,  473  (Mt). 

ürio,  F.  A.  373. 
üthredecenis  412  (Ps). 

Vaet,  J.  366  (H-ST). 
Vargas,  H.  de  383  (H-Jlfy). 
Vecchi,  0.  15,  271. 
Verdi,    G.    328-332    (M-iJ), 

336  ff.,    361—364    (R-Sti 

378-380  (H-n  424,  563. 
Verdonck,  C.  383  (H-Af^),  390, 

450  (Mt). 
Vetter  572. 
Viadana,  L.  47,  416  (Ps),  528 

(K),  529,  631. 
Victoria,  L.  da  (de)  10,  176— 

177    (M),    271,    469-470 

(Mt),  471. 
Vitry,  de  144. 
Vittoria  siehe  Victoria. 
Vivaldi  396. 
Vogler  185,  226  (M),  283  u. 

293(M-Ä),  376(H-r),  378, 

433  (Ps> 
Volkmann,  R.  245  (M\  519- 

620  (Mt),  621. 
Vopelius  10  (P),  60. 
VouUaire,  W.  522. 
Vulpius,  M.  18—21  (P),  23f., 

41. 

Wagenseil  354. 

Wagner,   R.    132,    261,    258, 


621 


263,   329,   345,   356,   377, 
387,  607.  ^ 

Walliser,  Th.  416  (Ps.). 
Walther,  J.  17,  (P),  21  f.,  27. 
Weber,  G.  283  u.  ^93  (M-Ä), 

376  (H-T). 
Weber,  K.  M.  v.  225  (M),  255, 

310,  603  (K). 
Wecker  550  (K). 
Weckmann,  M.  540—543  (K). 
Weelkes  473  (Mt). 
Weigl  111. 

Weingartner,   F.  v.   526  (Mt). 
Weinlig,  E.   375  (U-T),  603 

Weinlig,  Th,  603  (K). 

Welak  10  (P). 

Wendel  602. 

Wübye  473. 

WiUaert,  Ad.  164,  383  (H-Afp), 

384,  450-451  u.  473-474 

(Mt). 

Wilm,  N.  V.  517  (Mt). 


Winter,  P.  v.  185,  355  (H-Stl 

433  (Ps). 
Wirbach  602. 
Witt,  Fr.  246  (M). 
Wittasek  283  (M-Ä). 
Wolf  111. 
Wolf,  H.  518  (Mt). 
Wolff,  Ohr.  67  (P). 
Wölfl  276. 

Woyrsch,F.  130, 131— 132  (P). 
Wüllner,  Fr.  357  (H-Ä«),  442 

(Ps). 
Wundsch  602. 

Zaccariis,  0.  de  383  (R-Mg). 
Zachau  (Zachow),  Fr.  W.  197, 

549,  551  (K). 
Zelenka  112. 
Zelter  283  TM-ß). 
Zenger,  M.  367  (R-St). 
Zeuner  490. 
ZingareUi,  N.  283  TM-Ä),  355 

(RSt), 
Zöiluer,  A.  245. 


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