Google
This is a digital copy of a book that was prcscrvod for gcncrations on library shclvcs bcforc it was carcfully scannod by Google as pari of a projcct
to make the world's books discoverablc online.
It has survived long enough for the Copyright to expire and the book to enter the public domain. A public domain book is one that was never subject
to Copyright or whose legal Copyright term has expired. Whether a book is in the public domain may vary country to country. Public domain books
are our gateways to the past, representing a wealth of history, cultuie and knowledge that's often difficult to discover.
Marks, notations and other maiginalia present in the original volume will appear in this flle - a reminder of this book's long journcy from the
publisher to a library and finally to you.
Usage guidelines
Google is proud to partner with libraries to digitize public domain materials and make them widely accessible. Public domain books belong to the
public and we are merely their custodians. Nevertheless, this work is expensive, so in order to keep providing this resource, we have taken Steps to
prcvcnt abuse by commcrcial parties, including placing technical restrictions on automatcd qucrying.
We also ask that you:
+ Make non-commercial use ofthefiles We designed Google Book Search for use by individuals, and we request that you use these files for
personal, non-commercial purposes.
+ Refrain from automated querying Do not send aulomated queries of any sort to Google's System: If you are conducting research on machinc
translation, optical character recognition or other areas where access to a laige amount of text is helpful, please contact us. We encouragc the
use of public domain materials for these purposes and may be able to help.
+ Maintain attributionTht GoogX'S "watermark" you see on each flle is essential for informingpcoplcabout this projcct andhclping them lind
additional materials through Google Book Search. Please do not remove it.
+ Keep it legal Whatever your use, remember that you are lesponsible for ensuring that what you are doing is legal. Do not assume that just
because we believe a book is in the public domain for users in the United States, that the work is also in the public domain for users in other
countries. Whether a book is still in Copyright varies from country to country, and we can'l offer guidance on whether any speciflc use of
any speciflc book is allowed. Please do not assume that a book's appearance in Google Book Search mcans it can bc used in any manner
anywhere in the world. Copyright infringement liabili^ can be quite severe.
Äbout Google Book Search
Google's mission is to organizc the world's Information and to make it univcrsally accessible and uscful. Google Book Search hclps rcadcrs
discover the world's books while hclping authors and publishers reach new audiences. You can search through the füll icxi of ihis book on the web
at|http : //books . google . com/|
Google
IJber dieses Buch
Dies ist ein digitales Exemplar eines Buches, das seit Generationen in den Realen der Bibliotheken aufbewahrt wurde, bevor es von Google im
Rahmen eines Projekts, mit dem die Bücher dieser Welt online verfugbar gemacht werden sollen, sorgfältig gescannt wurde.
Das Buch hat das Urheberrecht überdauert und kann nun öffentlich zugänglich gemacht werden. Ein öffentlich zugängliches Buch ist ein Buch,
das niemals Urheberrechten unterlag oder bei dem die Schutzfrist des Urheberrechts abgelaufen ist. Ob ein Buch öffentlich zugänglich ist, kann
von Land zu Land unterschiedlich sein. Öffentlich zugängliche Bücher sind unser Tor zur Vergangenheit und stellen ein geschichtliches, kulturelles
und wissenschaftliches Vermögen dar, das häufig nur schwierig zu entdecken ist.
Gebrauchsspuren, Anmerkungen und andere Randbemerkungen, die im Originalband enthalten sind, finden sich auch in dieser Datei - eine Erin-
nerung an die lange Reise, die das Buch vom Verleger zu einer Bibliothek und weiter zu Ihnen hinter sich gebracht hat.
Nu tzungsrichtlinien
Google ist stolz, mit Bibliotheken in partnerschaftlicher Zusammenarbeit öffentlich zugängliches Material zu digitalisieren und einer breiten Masse
zugänglich zu machen. Öffentlich zugängliche Bücher gehören der Öffentlichkeit, und wir sind nur ihre Hüter. Nie htsdesto trotz ist diese
Arbeit kostspielig. Um diese Ressource weiterhin zur Verfügung stellen zu können, haben wir Schritte unternommen, um den Missbrauch durch
kommerzielle Parteien zu veihindem. Dazu gehören technische Einschränkungen für automatisierte Abfragen.
Wir bitten Sie um Einhaltung folgender Richtlinien:
+ Nutzung der Dateien zu nichtkommerziellen Zwecken Wir haben Google Buchsuche für Endanwender konzipiert und möchten, dass Sie diese
Dateien nur für persönliche, nichtkommerzielle Zwecke verwenden.
+ Keine automatisierten Abfragen Senden Sie keine automatisierten Abfragen irgendwelcher Art an das Google-System. Wenn Sie Recherchen
über maschinelle Übersetzung, optische Zeichenerkennung oder andere Bereiche durchführen, in denen der Zugang zu Text in großen Mengen
nützlich ist, wenden Sie sich bitte an uns. Wir fördern die Nutzung des öffentlich zugänglichen Materials für diese Zwecke und können Ihnen
unter Umständen helfen.
+ Beibehaltung von Google-MarkenelementenDas "Wasserzeichen" von Google, das Sie in jeder Datei finden, ist wichtig zur Information über
dieses Projekt und hilft den Anwendern weiteres Material über Google Buchsuche zu finden. Bitte entfernen Sie das Wasserzeichen nicht.
+ Bewegen Sie sich innerhalb der Legalität Unabhängig von Ihrem Verwendungszweck müssen Sie sich Ihrer Verantwortung bewusst sein,
sicherzustellen, dass Ihre Nutzung legal ist. Gehen Sie nicht davon aus, dass ein Buch, das nach unserem Dafürhalten für Nutzer in den USA
öffentlich zugänglich ist, auch fiir Nutzer in anderen Ländern öffentlich zugänglich ist. Ob ein Buch noch dem Urheberrecht unterliegt, ist
von Land zu Land verschieden. Wir können keine Beratung leisten, ob eine bestimmte Nutzung eines bestimmten Buches gesetzlich zulässig
ist. Gehen Sie nicht davon aus, dass das Erscheinen eines Buchs in Google Buchsuche bedeutet, dass es in jeder Form und überall auf der
Welt verwendet werden kann. Eine Urheberrechtsverletzung kann schwerwiegende Folgen haben.
Über Google Buchsuche
Das Ziel von Google besteht darin, die weltweiten Informationen zu organisieren und allgemein nutzbar und zugänglich zu machen. Google
Buchsuche hilft Lesern dabei, die Bücher dieser Welt zu entdecken, und unterstützt Autoren und Verleger dabei, neue Zielgruppcn zu erreichen.
Den gesamten Buchtext können Sie im Internet unter|http: //books . google .corül durchsuchen.
V .
\l
- : 'a'-v^-'
*"
'."V-;,
?^
./L.r*.
V "
_«, •
' ..; -J'
■ ,-_ "
''*
>
- * r ■
-
I
FÜHRER
DURCH DEN KONZERTSAAL
VON
HERMANN KRETZSCHMAß
n. ABTEILUNÖ
BAND I
KIRCHLICHE WERKE
PASSIONIN, MESSEN, HYMNEN, PSALMEN, MOTETTEN, KANTATEN
FÜNFTE AUFLAGE
LEIPZIG
*DRÜOK UND VERLAG VON BRBITKOPP & HÄRTEL
1921
I
Alle ßeohte, auch das der Übersetzung, vorbehalten. <
Das Recht des Einzelabdruckes und dessen Weitervergebung
steht ausschließlich den Verlegern Breitkopf & Härtel
in Leipzig zu.
Copyright 1916 by Breitkopf & Härtel, Leipzig.
Vorwort zur dritten Auflage.
Die Erweiterung der dritten Auflage wurde hauptsächlich
durch die zahlreichen im letzten Jahrzehnt erschienenen
Neudrucke alter Kirchenmusik nötig; zur Vervollständigung
des geschichtlichen Bildes ist auch eine größere Anzahl
weiterer Handschriften herangezogen worden. Zweck
und Anlage des Buches sind unverändert geblieben.
Schlachtensee bei Berlin, Juni 1905.
H« Kretzsehmar.
Vorwort zur vierten Auflage.
Diese neue Auflage gleicht in der Anlage der voran-
gegangenen. Erweiterungen wurden durch die in Messen
und Motetten beträchtlichen Neudrucke alter Werke nötig,
in zweiter Linie waren Kompositionen aus neuester Zeit
aufzunehmen, jedoch nur solche, die sich bereits weiter
eingebürgert haben.
Das Ausland gab äußerst geringe Veranlassung zur
Berücksichtigung. Ich schließe mit dem Danke für das
Wohlwollen, das auch dieser Band erfahren hat.
Schlachtensee bei Berlin, Juli 1916.
H. Kretzschmur.
INHALT.
Seite
Vorwort III
Erstes Kapitel. Passionen . * B
Zweites Kapitel. Messen 135
Drittes Kapitel. Hymnen, Psalmen . . . 340
Viertes Kapitel. Motetten nnd Kantaten ....... 447
Register 611
\ ■
BAND I
KIRCHLICHE WERKE
I
PASSIONEN, MESSEN, HYMNEN, PSALMEN,
MOTETTEN, KANTATEN
II, 4.
Üi-stes Kapitel.
Passionen.
Kfflffiler Konzertsaal hat in neuerer Zeit von einer Reihe
I^wSm größerer Gesan'gwerke Besitz ergriFFen, welche ur-
■=3™ aprünglich Dicht für ihn, sondern für den Gottes-
dienst bestimmt waren.
Hach der Bedeutung des Teirtes nehmen in dieser
Klasse die Passionen die erste Stelle ein.
Die neuere Zeit kannte bis vor kurzem, wenn wir
von den einschlagenden Werken Grauns und F. Schnei-
ders absehen, nur die Passionsmusiken von Seb. Bach;
erat kürzlich trat zu diesem in einsamer Höhe thronen-
den Meister in Heinrich Schütz ein ebenbürtiger Name.
Die Verschiedenheit, in welcher diese beiden gleich
großen Kübsüer die Leidensgeschichte Christi musikäliach
dargestellt haben, drängt allein schon dazu, nach der
Geschichte der Gattung zu fragen. Wir dürfen aber auf
diesem Wege anch noch darauf rechnen, unsere Einsicht
in die herrlichen, aber rein künstlerisch nicht völlig ver-
ständlichen Passionen Seb. Bachs zu vertiefen, and
zweitens darauf, daß wir einzelne Werke oder ganze
Gruppen aas der Familie der Passionsmusiken kennen
lernen, welche verdienen — entweder wegen ihres noch
ungebrochenen Gebrauchswertes oder wegen der Auf-
fassung und Durchführung der Aufgabe — , der Ver-
gessenheit entrissen zu werden.
— * 4 ^ —
Unter der großen Menge von Passionsmusiken, welche
im Druck oder in Handschrift vorhanden sind, unter-
scheiden wir drei Hauptgruppen: die Ghoralpassion,
die Motettenpassion und die oratorische Passion.
Die erstgenannte Gruppe hat den Altersvortritt Nach
dem gegenwärtigen Standpunkt der Forschung gehen die
direkten Nachrichten üher Ghoralpassionen allerdings nur
bis ins 45. Jahrhundert zurück; das von Mone*} beschrie-
bene Exemplar ist das älteste in Noten vorhandene, von
dem wir wissen. Aber Charakter und Form der Musik
in den Ghoralpassionen des 45., 4 6., 4 7. Jahrhunderts
tragen die deutlichsten Spuren einer viel früheren Ent-
stehungszeit. Der Altargesang, wie er in den ersten
Jahrhunderten unserer Kirche war, bildet ihre Seele.
Es war im 43. Jahrhundert**), als man aus den
allgemeinen Evangelienlektionen, welche als eins der
wichtigsten Glieder in dem wi^derbaren Kunstbau der
altchristlichen Liturgik bis in die apostolischen Zeiten
zurückreichen***), die Passionslektionen loslöste. Während
jene der Diakon allein sang, zeichnete man die letzteren
dadurch aus, daß man sie von nun ab mit verteilten
Rollen vortrug. Der Diakon behielt nur den Evangelisten,
ein zweiter Kleriker sang den Ghhstus, ein dritter alle
übrigen Einzelpersonen. Diese drei Solisten oder >Soli-
loquenten« (deren Zahl dann in protestantischer Zeit ver-
mehrt wurde) traten bei den Worten der Menge — turbae:
Jünger, Hohepriester, jüdisches Volk, Soldaten msw. — als
Ghor zusammen und wurden als solcher bald auch durch
die Gesamtheit der anwesenden Kleriker verstärkt.
Bekanntlich ging aus dieser Lesungsform der Pas-
sionsgeschichte auch das geistliche Schauspiel des Mittel-
alters hervor. Während aber in diesem letzteren das
dramatische Element den kirchlichen Ursprung und Zu-
*) Mone, F. L., Schauspiele des Mittetalten, I, 60.
**) Kienle, Ohorahcliule, I, 79.
***) SchSberleln, Schatz des liturgischen Chor- und Ge-
meindegesanges, I, 192, 236.
sammeDhang bald vergaß und vernichtete, erhielten sich
Geist und Form der alten Passionslektion bei den Choral-
passionen in ursprünglicher Reinheit und Einfachheit noch
lange fort. An ihnen hat die Kirche ihre konservierende
Natur mit besonderer Macht erwiesen. Die im 4 8. Jahr-
hundert geschriebenen, sogar die auf evangelischem Boden
verfaßten Nachzügler dieser Gattung, sehen im Rezitativ-
teile wenigstens noch genau so aus, wie die zwei Jahr-
hundert älteren, und die dem i 6. Jahrhundert an gehörigen
bringen uns wie in einer Versteinerung die Gesangformen
eines Zeitalters vor die Augen, welches noch nicht die
Sequenzen. Notkers, ja nicht einmal die Hymnen des
Ambrosius gekannt hat.
Mit dem evangelischen Kirchenliede hat die Choral-
passion keine Blutsbeziehungen. Sie leitet ihren Namen
von dem sogenannten Gregorianischen Choral, d. i. von
jener Stilgattung liturgischen Gesanges ab, welche, in
der frühesten Zeit der christlichen Kirche im absichts-
vollen und weisen Gegensatz zu den sinnlichen Formen
heidnischer Musik ausgebildet, angeblich durch Gregor
den Großen Gesetzesgeltung für die abendländischen
Gemeinden erhielt. Sie ist heute noch, oder vielmehr
heute wieder, das Fundament kirchlicher Musik auf
römisch-katholischer Erde. Die Gesänge des Gregoria-
nischen Chorals zerfallen in zwei Gruppen: concentus
und accentus. Der concentus umfaßt wirkliche Gesänge,
kleine und große Melodien im neueren Sinne dieses
Wortes, in denen musikalischer Reichtum, Schönheit
und Charakter die denkbar höchsten Maße erreichen.
Einzelne dieser ausdrucksvollen, köstlichen und eingäng-
lichen Melodien aus dem Schatze des Gregorianischen
Gesangs haben Jahrhunderte lang den Meistern der Poly-
phonie immer von neuem wieder Anlaß und StofT zu
herrlichen, mehrstimmigen Kunstsätzen geboten. Die
Sätze des accentus sind weniger Gesang als Deklamation,
Seine einfachen Tonreihen unterscheiden sich von ge-
sprochener Deklamation nur dadurch, daß die Stimme
eine musikalisch kontrollierbare Höhe einhält und daß
die grammatische Einteilung durch bescheidene Hülfsmit-
tel melodischer und rhythmisdher Natur verschärft wird.
Der accentus weist auf eine besonders frühe Entstehungs-
zeit hin , auf eine Zeit, in welcher singen (canere) und laut
sprechen (alte dicere) als gleichbedeutend gelten durften,
wie es tatsächlich in den Büchern der Kirchenväter auch
für gleich genommen wird. Zu dieser zweiten Gruppe
des Gregorianischen Rezitativgesanges gehören nun mit
den Lektionen im allgemeinen auch die dramatisierten
Passionslektionen im besonderen, und aus letzteren gingen
die Choralpassionen hervor. Der Beweis hierfür liegt eben
in der Tatsache, daß die Solopartien dieser Choralpassio-
nen den vorgeschriebenen Stil der Lektion strengstens ein-
halten.
Protestantische Leser, welchen der Lektionston der
katholischen Liturgie fremd ist, können sich von dem
Rezitativstil in diesen Choralpassionen einen Begriff
machen, wenn sie an den Gesang ihrer Versikeln und
Kollekten denken. Wie hier, so wird dort der Hauptteil
des Textes auf demselben Ton (Tenor, Reperkussion,
Akzentton) deklamiert, das musikalische Element ist nur
durch wenige schlichte melodische Formeln vertreten,
welche an denselben grammatischen Stellen immer wieder-
kehren. Manche ältere Agenden schicken den verschiede-
nen Akzentstücken eine Tabelle ihrer Formeln voraus. Da
haben dann alle Interpunktionen, das Komma, das Kolon,
das Semikolon, der Punkt, das Fragezeichen, das Aus-
rufungszeichen, besondere Tonfälle, die der Sänger im
Kopfe haben und richtig einsetzen muß. Bei einem Teil
der Akzentstücke wird der Anfang der Sätze im Haupt-
ton gegeben. Zu denjenigen, die auch für den Anfang
eine Formel (das initium) verlangen, gehört die Lektion.
Das gebräuchlichste Initium der Passionslektionen bildet
die aufsteigende kleine Terz. Mit ihr beginnt der Evange-
list in der Tenorlage '^ J -fj yj p p Christus bringt
alle seine Einsätze: "«^i^ i be.gtb iL ' sie, in der Baß-
lage, wenigstens zum An- >ji j i* (* i* ^ p=
fang der Nebensätze immer: *-~J [ J J ^ J~ ^^
^ Dms ib du Vu.Mf bal
nnd die übrigen Soliloquenten machen von ihr ebenfalls
einen sehr weitgehenden Gebrauch: Der Falsettist (Petrus,
Pilatus) in der Form d f eine Oktav höher als Christus und
der spätere Soprc^nist (Magd usw.) in der Form a c uin eine
Oktav höher als der Evangelist. Mehr noch als durch
die verschiedene Stimmlage unterscheiden sich aber der
Evangelist und von ihm und unter einander die im Evan-
gelium auftretenden Personen durch die melodischen Wen-
dungen am Ende der Satzteile, d. i. durch die Schlußfor-
meln. Der Evangehst schließt kleine Abschnitte in der
Regel mit -^j^ ^ ■ ■ t . i ■ ■ » ^ ^^ J i sein musikali-
C a wie ^ DaWdie.eR«de.<,Ue»dctlL.U. ' ^Ches Stich-
satz des Christus ist: ff * ^ '^'^^ ^ f y j
odsr
wie
in
f ^ '} \\ ['■ r ^ O ^; für den Choreinsatz :
spraeh er sn sd.nea Jlin « gcra
i i tT\ n m-
Sie -tpr» . chto t.lHNr:
Die wesentlichsten Schlußwendungen für die anderen
Soliloquenten sind c d e f und f e d c, z. B. : Judas
i f f " '' ^ \ \ ^ \ n \
Ww tiolk ihr mir ye . b«n, m will idi iha tndi ver . ra . dwü
und Petrus:
*Wnin sie «odi liUi» ddi an & är.gerii, m viU ich midido<hnimmcnndur ir^ra
"Die erste der beiden letzterwähnten Formeln kommt auch
in den Reden Christi vor und ist im Lektionston der vor*
geschriebene musikalische Ausdruck der Fragesätze. Da
die Reden der Nebenpersonen durchschnittlich nur kurz
sind, so haben sie mehr Formeln als eintönige Dekla-
mationsstellen und sehen musikalisch belebter aus. Aber
nichtsdestoweniger stehen sie im Eindruck hinter den
Partiein Christi und des Evangelisten weit zurück, vor-
ausgesetzt, daß dieselben mit der ganzen Kunst musi-
kalischer Deklamation ausgeführt werden.
8
An einer Stelle geben alle Choralpassionen das wür-
dige Einerlei des Akzentensystems auf. Das ist beim »Eli,
Eli lama asabthani«. Hier setzt auf einmal Concent, ecbter,
warmer Gesang ein und im Gegensatz zu der Einfach-
heit einer halbstündigen Deklamation wirken die letzten
Worte Christi wie eine Stimme aus der ^anderen Welt.
Unter den drei nachweisbaren Hauptmelodien des ȣli<
ist die am meisten gebrauchte:
zugleich die er-
^ greifen dste und
' £, ift.m» a.Mb. tb* . I I . aU feierlichste, faie
anderen haben nicht die schone, weit gesch\9rungene Ton-
linie, aber schon in der bloßen Wiederholung des Namens
Eli besitzen auch sie ein starkes musikalisches Macht-
mittel. Die Übersetzung der hebräischen Worte über-
nimmt in der Regel der Evangelist, zuweilen auch merk-
würdiger Weise Christus selbst; ausnahmsweise fehlt die
Verdeutschung. Einzelne der späteren Motettenpassionen
haben das hier angeführte schöne Eli ebenfalls als Ober-
stimme im vielstimmigen Satze, und der Hinblick auf die
gewaltige Wirkung, welche der Choralpassion an dieser
Stelle eigen ist, hat auch die Komponisten in den ora-
torischen Passionen immer gezwungen, für das Eli etwas
ganz Außerordentliches zu tun: die einen, indem sie den
Kunststil aufs höchste anspannen, die anderen — und
sie bilden die Mehrzahl — indem sie, im umgekehrten
Verfahren der Choralpassion, ihn hier mit Tönen von
der größten Einfachheit vertauschen.
Der Solopartien wegen hätte man kaum Veranlassung
gehabt, Choralpassionen aufzuschreiben und zu drucken.
Solche Halbgesänge, die sich in ganz glatten und fest-
geränderten Geleisen bewegen, zu behalten, reicht die
Oberlieferung von Ohr zu Ohr ziemlich aus. Karl Löwe,
der Balladenkomponist, erzählt in seiner Selbstbiogra-
phie, daß in seiner Heimat Löbejun noch am Anfang des
49. J<ahrhunderts die Solisten in der Karfreitagspassion,
Schnlknaben und Männer aus der Gemeinde, ihre Partien
improvisierten. Allerdings wichen die einzelnen Provinzen
der Kirche trotz Gregor in den Kirchenakzenten schon früh
wieder vielfach von einander ab, und für die Passions-
lektionen im besonderen gesellte sich zu dem Römischen
bald ein Kölnischer, Münsterscher und noch mancher
andere. Unter den späteren gelangte der Passionston
Luthers (nach welchem die obigen Zitate gegeben sind)
im Protestantischen Gebiet schnell zu allgemeiner Gel-
tung; auch katholische Komponisten ver\^enden ihn als
»gewöhnliche Passionsmelodey«. Aber alle diese Ab-
weichungen in den Akzenten sind bis weit ins 47. Jahr-
hundert hinein nicht so wesentlich.
^ Es ist nicht zufällig, daß uns notierte Ghoralpassionen
erst vom 4 5. Jahrhundert ab vorliegen. Da kam bekannt-
lich der mehrstimmige, der » Figuralgesang c auf und von da
ab reizten die Chorsätze die Tonsetzer nun immer häufiger,
Choralpassionen aufzuschreiben. Fast jeder biographische
Gang in die Kantorengeschichte des 4 6. und 4 7 . Jahrhunderts •
bringt weitere Passionskomponisten ans Licht*). Beson-
ders eifrig waren die Thüringer Musiker**). In der vorher-
liegenden Zeit waren die Chöre nichts als einstimmige
Tonsätze, die nur in rbehrfacher Besetzung vorgetragen >
wurden. Die Massigkeit des Stimmklangs unterschied sie
von den Soloreden; in der melodischen Beschränkung
gingen sie noch weiter als die letzteren. Solche ein-
fach unisono, dahin rezitierte »Chöre« finden sich noch
in der Zeit, wo die Kunst des mehrstimmigen Satzes
bereits hochentwickelt war. So in der Passion (nach
Matthäus) des Luc. Lossius (4 570}, so auch in den beiden L. Lossins.
ersten Matthäuspassionen, welche das Vesperale des Matth.
Ludecus (4 588) bringt. Der Brauch hatte das Alter und die M. Lndeous.
*) Vgl. ans jüngster Zeit: K. Held, Das Kreuzkantorat in
Dresden.
**) Fr. Zainke in »0. Reuter als Passionsdichter« gibt
hierüber ausführliche Mitteilungen«
Bequemlichkeit für sich. Aber Ghoralpassionen mit solchen
Scheinchören bilden Ausnahmen. Die Regel ist ein gleich-
mäßiger vierstimmiger Satz: Note gegen Note. Freilich
blieben diese mehrstimmigen Ghorsätze bei vielen Kom-
ponisten, — in einigen untergeordneten Punkten wie Fest-,
halten an Einsatzakkord und Tonart: bei allen, — in den
Banden des Ghoraltons. Die wenigen Takte über, welche
G. Stepkani. diese Chöre überhaupt dauern, haben wir es bei C. Ste-
K. Sehieooer. phani (4 570^, bei Selneccer (4587), in der bei Welak ge-
Welak. druckten Wittenberger Passion vom Jahre 4 590, auch
Yopelias. noch bei Vopelius (4 684) fast ausschließlich mit dem
Fdur- Akkord zu tun. Die Oberstimme weicht, um ihre
wenigen Akzente zu geben, von a nur nach g und b; es
ist ein großer Schluß, wenn sie (zuweilen über h) das
obere c aufsucht ; in der Harmonie begegnen uns nur noch
C- und B dur. Fast ist, wie in der Jugendzeit der mehr-
stimmigen Komposition überhaupt, die rhythmische Aus-
beute ergiebiger als die melodische und harmonische: in
Synkopen und Fermaten sucht sich die durch die mecha-
nische und unfreie Gesamtbewegung der zugleich sin-
genden Stimmen gefesselte Macht der natürlichen Rede
einen notdürftigen Ausdruck.
Die Kunst schritt über die hier geschilderte Stufe der
Choralpassion weiter; die Kirche hatte eine gewisse Be-
rechtigung, bei ihr zu beharren. Noch heute werden nich t blos
in der Sixtina zu Rom, sondern auchin anderen katholischen
Domen die Passionsevangelien in jener altertümlichen
Schlichtheit vorgetragen: die Soloreden im Lektionston, die
Chöre in einem von L. da Vittoria herrührenden Satze,
welcher im wesentlichen noch der Kinderzeit der Harmonie,
dem alten System der Falsobordone angehört. Ähnlich ist
auch die Matthäuspassion des Francesco Soriano (4 649)
gehalten*). Als F. Mendelssohn im Jahre 4832, voll Bach-
scher Erwartungen, einer Passions- Aufführung in Rom bei-
wohnte, war er natürlich enttäuscht, wie das Jedermann
*) Die Chöre aus Yittorias Passionen nnd aus der von Soriano
sind in Haberls »Kiichenmudkalischem Jahrbuch < neugedrackt.
ergehen muß, welcher eine solche Chörälpassion aus dem
liturgischen Zusammenhang herausgenommen betrachtet.
Aus diesem Grunde erscheint auch der von Schöberlein
a. a. 0. gemachte Vorschlag, den Gottesdienst der protestan- ^
tischen Kirche am Karfreitage oder an einem andern Tage
der stillen Woche durch Aufnahme der Choralpassion des
Mancinus [i 620) oder eines anderen Werkes der gleichen Gat* Th. Manoinne.
tung zu bereichern, so lange gewagt, als nicht die protestan-
tische Liturgie zum Lektionsgesang iiberhaupt zurückkehrt.
Nur wenn, wie im katholischen Kultus, das Akzentsystem
noch vollständig lebt, erklärt ein Lektionston den anderen
auch geistig. Vergleicht man das Hauptmotiv des Evan-
gelisten in der Passion , das früher schon angeführte
£ J ' p- vJ '• sprechenden in .^ J^^ '^ ,. ? [' ^=,
*'' T der Osterhistorie da *«» s»b . baSh
so nehmen die starren Formeln Leben und Charakter an: das
eine wird zur Klage, das andere zum Jubelausdruck -der Freu-
de. In die verarmte Liturgie der heutigen protestantischen
Kirche hineingestellt, müßte die alte Choralpassion befrem-
den. Es ist aber das glänzendste Zeugnis für die Macht, •
welche sie in alter Zeit auf die Gemüter geübt haben muß»
daß sie auch in der stockfremden Umgebung des protestan-
tischen Kultus zur Zeit der Pietisten und der Rationalisten
sich noch behauptete, wenn auch nicht gerade in den großen
Städten. Die in den Rezitativen dem Choralsystem vollstän-
dig angehörende Passion des Kantor Kram er (1735) enjt- Chr. Sramer*
stand in Dosdorf bei Arnstadt, eine andere *), deren Autor
unbekannt, aber nach dem Buxtehudesche Spuren tragen-
den Stile der Chöre zweifellos ebenfalls ein Musiker des
4 8. Jahrhunderts ist, weist in Reimen wie »Werk« — » stark <
und anderen Spracheigentümlichkeiten die deutsche Ostsee-
küste als Heimat auf. Eine dritte gleichartige, über welche
J. Richter **) berichtet, fand sich in Glashütte. In Leipzig
*) Früher im Besitze des Herrn Geh.-R. Ph. Spitta in
Berlin. BibUotheksnummer 2099.
*♦) Monatshefte für Musikgeschichte, Jahrgang 1879, S. 72.
hielten sich die Choralpassionen, wie Spitta mitteilt (J. S.
Bach, II, 908) bis zum Jahre 1 766. Das weitere Zeugnis Karl
Lowes wurde bereits erwähnt Im Harz und im Mannsfeldi-
schen hat sich die evangelische Ghoralpassion sogar bis
in die Gegenwart behauptet"*).
Den ersten Anlaß, von der geschilderten alten Grundart
der Ghoralpassion abzuweichen, gaben die bereits berührten
landschaftlichen Unterschiede in den Kirchenakzenten selbst.
Wenn aber die Tonsetzer mit der Zeit viel tiefer in das Wesen
der Ghoralpassion eingri£fen, sich von ihr und der Kirche
schUeßhch trennten, so lag der Anstoß hierfür in der Ent-
wickelung der Musik. An der Leidensgeschichte des Herrn,
als an dem höchsten Gegenstande christlichen Denkens, ver-
suchten Dichter und Musiker mit besonderem Stolze, was
an geeigneten Formen neuer Kunst zutage kam. So wird
die Passionsgeschichte später noch dem Liede und der Kan-
tate angepaßt. Zunächst aber galt es, das musikalische
Wunderwerk des i 6. Jahrhunderts, di^Kunst der Harmonie,
an der Passionsgeschichte voll zu erproben. Bei der be-
scheidenen Umwandelung der Partien der turbae aus
Unisonorezitativen in einfache Chorsätze, welche den Lek-
tionenton einhielten und das Wesen der Choralpassion
in Geltung ließen, blieb man nicht lange stehen; das
4 6. Jahrhundert schuf die Motetten passion.
In der Motettenpassion ist der ge s am te Text des Pas-
sionsevangehums mehrstimmig komponiert. Der Evangelist,
Christus, die Nebenpersonen, die Scharen der Jünger, der
Priester, des Volks usw. — alle Partien singt der Chor.
Auch der innere Stil der Choralpassion ist hier einer viel
reicheren Musikweise gewichen. Das ist die Sprache und der
Geist einer neuen Zeit und eines neuen Geschlechts, welches
das Evangelium nicht länger nur mit regungsloser Ehrfurcht
entgegennehmen, nein, welches auch zeigen will, daß es mit
Herz und mit Phantasie den Worten folgt. An Stelle der al-
ten, ruhig vornehmen, liturgischen Deklamation tritt nun
*) M. Schneider, Die. alte Ghoralpassion in der Gegenwart
(Zeltschrift der Internationalen Musikgesellschaft VI, S. 491 ff.).
durchweg ein bewegtes, oft von Gefühl überquellendes Singen.
Die Seele ladet die Bilder, welche sie schaut und fühlt, in
Melodien aus, die mit Koloraturen und anderen Mitteln musi*
kalischer Malerei bemerkens^i^ert ausgestattet sind. Be-
deutungsvolle Worte, bedeutungsvolle Tonfiguren werden
wiederholt und zu gesteigertem Ausdruck geführt. Was Har-
monie und Rhythmus innerhalb der Grenzen der mehrstim-
migen Gesangmusik zu leisten vermögen, das wird benutzt,
um die Personen und die Szenen auch in ihrem Charakter
und in ihrem Kolorit erscheinen zu lassen. Kurzum, die Mo-
tettenpassionen sind als Ganzes genommen Hauptleistungen
aus der Blütezeit dßr mehrstimmigen, unbegleiteten Gesang-
musik, und es wäre den gegenwärtigen Ghorinstituten, welche
sich der Wiedererschließung jener wichtigen Kunstperiode
gewidmet haben, nur zu empfehlen, daß sie sich dieser Mo-
tettenpassionen annehmen. Diese stehen auch ihrer ganzen
Natur nach dem modernen geistlichen Konzert nicht so fem
und lassen einen leichten Zusammenhang mitChoralpassio-
nen und Gottesdienst nur an den Stellen erkennen, wo die
Menge spricht. Hier sind die Bibelworte mit absichtlicher Ein-
fachheit und mit einer geringeren Charakteristik komponiert.
Alle Motettenpassionen sind in drei Teile gegliedert: der
erste schließt in der Regel mit dem Verhör beim Hohen-
priester, der zweite mit der Verspottung Christi, der dritte
bringt Kreuzigung und Tod. In einer ähnhchen Welse findet
sich die Leidensgeschichte auch in der Form von Hymnen
für den Gebrauch bei den Hören, bei Vigilien undMatutinen
in 1 2 Szenen zerlegt, und diese Ähnlichkeit läßt darauf sdiHe-
ßen, daß die Motettenpassionen ausschließlich für Andachten
und Nebengottesdienste bestimmt waren. Die Kirche sprach
ihnen also den Lektionencharakter gerade so ab, wie denspä-
deren oratorischen Passionen. Auch diese kamen zuweilen
auf mehrere Tage zerstückelt zur Aufführung. Dem moder-
nen nur halbliturgischen Charakter der Motettenpassion
^derspricht es nicht, daß sie lateinischen, der Vulgata
entnommenen Text haben. Auch die protestantischen.
Hält ja doch der ganze evangelische Figuralgesang, im
Gegensatz zum Gemeindeüed, noch bis weit ins 4 7. Jahr-
hundert hinein grundsätzUch die lateinische Sprache fest.
So wird in Frankfurt a. d. 0. noch im Jahre 1607 eine la-
teinische Motettenpassion (nach dem Evangelisten Mat-
thäus) von der Komposition des Barth. Gesius gedruckt.
Die Zahl der augenblicklich bekannten Motettenpassio-^
nen gibt ö. Kade *), der spezielle Geschichtsschreiber der
Gattung, mit sechzehn erstaunlich gering an**). Nach dem
J. Obreokt. Niederländer Ol) recht, dessen vierstimmige, gegen 4305
komponierte Matthäuspassion, die 1538 in G. Rahws »Har-
moniae selectäe« gedruckt und in der Zusammenstellung
des Textes aus allen vier Evangelien vorbildlich wurde***),
stellt das Ausland nachweislich freilich blos in dem Italiener
Cypr. de Eore. Cy p rian de Rore (i 557) noch einen bekannten Namen für
die Gattung. Aber Italiener und Spanier, wahrscheinlich auch
Franzosen und Engländer werden das ganze 4 6. Jahrhundert
hindurch diese neue Art musikalischer Passionskunst ge-
pflegt haben. Allerdings scheinen die Deutschen auf diesem
Gebiet besonders fleißig gewesen zu sein. Die deutschen
J. T. Bnrgk. Hauptwerke sind: zwei Passionen von Joachim v. Burgk
i 568 und 1 574 (deutsch), ferner die Johannespassion von Lu d.
L. Daser. Daser4578 (lateinisch), ein Werk, welches wegen seines rei-
chen und schwungvollen Ausdrucks ganz besonders hervor-
gehoben zu werden verdient, die Johannespassion (lateinisch)
Jac. Öallns. von Jac. Gallu s 1 587, eine achtstimmige Komposition, wel-
che als das äußerlich wirkungsvollste und interessanteste
Exemplar der Gattung angesehen werden darf, eine (deut-
J. Machold. sehe) Matthäuspassion von Machold 1593, die schon er-
B. GeilQB. wähnte (lateinische) Passion nach Matthäus von B. Gesius
1 607, und die sechsstimmige (deutsche) Johannespassion von
*) 0. Kade, Die ältere Passionskomposition bis zum Jahre
1631, Gütersloh 1893.
**) Diese Annahme ist inzwischen durch Adolf Sandbergers
Mitteilangeu über Passionen von Stephan, Meiland und Haupt
verstärkt worden. (Denkmäler der Tonkunst In Bayern, V,
S. XXVI, XXXYI, LXn.)
***) Sie ist außer von Kade auch von der »Vereeniging voör
Koord-Nederlands Muzickgeschiedenisc neu herausgegeben.
Chr. Dem'antius 1634. Der Umstand, daß alle diese ge-Chr. Bemantivi.
nannten Werke sich in sehr großer Entfernung von ihren
Heimatsorten vorgefunden haben, läßt auf eine weite Ver-
breitung der Motettenpassion als Gattung schließen. Eine der
Passionen desThüringer Burgk war ganz besonders berühmt.
Machold schickt seine Passion mit dem Wunsche hinaus,
daß man sie abwechselnd mit der des Burgk aufführen
und »nicht stets auf einer Saite geigen möge«. Welche
dies igewesen, ist nicht festzustellen. Von Burg]cs Jo-
hannespassion besitzt die Gymnasialbibliothek zu Brieg
ein unvollständiges Exemplar, welches nur drei Stimmen
enthält Soweit sich daraus die Komposition übersehen
läßt, beruht ihre musikalische Wirkung hauptsächlich
auf dem Wechsel der Stimmgruppen und auf einer frap-
panten Verwendung schneller Rhythmen. Wie die Kom-
ponisten der niederländischen Schule liebt B. kleine
Malereien. Der Ausdruck ist knapp, besonders- gelungen
in dem Spottchor: >Sei gegrüßet, lieber Judenkönig«.
Merkwürdigerweise folgt der durchaus deutschen Passion
nach der Gonclusio -^ letztere hat den abweichenden
Wortlaut: »Wir glauben, lieber ;Herr, mehre unseren
Glauben! Amen!« — noch ein Anhang aus der latei-
nischen Vulgata. Es ist die Erzählung von den Marien,
die zum Grabe gehen, den Herrn zu salben. Den sechs-
stimmigen Tonsatz hat Joachim Kn«fel komponiert. Auch j. Knefel.
die Geschichte der Motettenpassion gibt einen neuen
Beweis dafür, wie hoch das Deutschland des il. Jahr-
hunderts in der Kunst des Ghorgesanges stand. Die Fund-
orte von einem großen Teile der genannten schwierigen
Werke sind die Kirchenbibliotheken kleiner Städte.
Die Motettenpassion ist geschichtlich als ein Vor-
läufer und Seitenstück zu der der Oper vorhergehenden
Madrigalenkomödie zu betrachten, welche der Anfipar-
nasso des Orazio Vecchi in allen unseren Handbüchern
der Musikgeschichte zu vertreten pflegt. Beide Gattungen
waren kurzlebig. Das Geschick der Motettenpassion ver-
mögen wir zur Zeit nicht über das Werk des Demantius
und über das Jahr 4 634 hinaus zu verfolgen. Aber klar
läßt sich erkennen, daß sie über ihre nächste Bestim-
mung hinaus einen großen künstlerischen Einfluß übte:
die Motettenpassion bereitete der oratorischen den Boden
und sie zog die Ghoralpassion in den Kreis der leben-
digen Kunst hinein.
Es sieht wie der Versuch eines gütlichen Ausgleichs
zwischen zwei Interessengruppen aus, wenn wir von der
Mitte des 4 6. Jahrhunderts ab Passionsmusiken begegnen,
in welcher Elemente der Ghoralpassion neben denen der
Motettenpassion stehen. Aus der ersteren sind die' Reden
des Evangelisten, zuweilen auch die des Heilands im Lek-
tionston herübergenommen, alle übrigen Solopartien sind
wie die Ghorpartien im vielstimmigen Satze komponiert.
Noch heute kommt die Passion in italienischen und an-
deren katholischen Kirchen in diesem Mischstil zum Vor-
trag. Auf protestantischer Seite begegnet uns als erste
Frucht der Verschmelzung von Ghoral- und Motetten -
passion die (von Gommer in der Musica sacra neu
herausgegebene) Johannespassion des bereits genannten
I B. Gesius (Wittenberg 1658). Von katholischen Kom-
I ponisten scheint diese vermittelnde Form schon früher
I Orlando Lasso, angewendet zu sein. Zu Orlando Lasso und Jacob
Jao. Beiner. Reiner ist hier noch der Breslauer Kantor Samuel
8. Besler. Besler zuzufügen, welcher i. J. 4621 die choraliter ge-
A. Scandelli. haltene Johannespassion des Ant. Scandelli »mit der
GR^rstimme vermehrte«. Der Evangelist singt in einem
mit freien und ausdruckvolien Wendungen allerdings be.
risicherten Lektionston, Ghristus vierstimmig, die Magd in
einem Satze von drei hohen Stimmen, Petrus von drei
tiefen, der Diener zweistimmig, Pilatus bald in zwei bald
in drei Stimmen. Alle mehrstimmigen Sätze sind knapp
aber charaktervoll. Einzelne Stellen wie »Siehe, das ist
deine Mutter«, »Mich dürstet« und andere in der Ghristus-
nartie machen einen außerordentlich mächtigen und schör
nen Eindruck.
Wichtiger als diese bloße Vermischung von Ghoral-
und Motettenstil, welche in der Passion nur selten
gebraucht, dagegen aber bei der Komposition der
/
Auferstehungsgeschichte die normale Forhi wurde, war die
Wirkung, welche die Motettenpässioh im eigenen Hause
der Cboralpassicm selbst äußerte. Am stärksten macht
sich dieselbe zunächst in den Sätzen der turbae, den ^
eigentlichen Ghorsätzen, bemerkbar. Besonders wird die
Melodik viel reicher. Der erste Komponist, an dessen
Ghoralpassionen man diese Beobachtung machen kann,
ist der Freund und musikalische Mitarbeiter Luthers:
der Torgauer Kapellmeister Joh. Walther, Seine dritte Joh. Walther.
Passion, im Jahre 4 5 52 komponiert, im Text der sogenannten
seit Obrecht für die Passion gern benutzten Evangelien-
harmonie folgend, bringt namentlich in den Sätzen
»Gott grüss dich, lieber Judenkönig«, »Kreuzige« und
»Andren hat er geholfen« Tonbilder, die in ihrer An-
schaulichkeit jeden Vergleich mit dem Stile in der alten
Ghoralpassion verbieten. Auf einer ähnlichen Stufe,
welche man immerhin schon dramatisch nennen könnnte,
stehen die meisten Ghorsätze in der Matthäuspassion
des Keuchenthalschen Gesangbuchs (4 573). Nur in Eenohenthal
den Schlüssen folgen sie einer fertigen Schablone.
Auch der vorhin schon genannte S. Besler^) hat in 8. Bflsler.
seinen vier Passionen, welche i. J. 4 644 gedruckt sind,
einzelne Ghöre im' freieren Stile. Bemerkenswert sind
in der Matthäuspassion die Nummern: »Herr, bin
ichs?«, »Weissage uns«, »Wer ist's, der dich schlug«, in
denen große Intervalle und Pausen in der Deklamation
viel wirken , und neben diesen die ganz kurzen Sätze :
»Barrabam« und iEr rufet den Elias«. Wie schon aus
der Ober- a^ I I l ■ jp „ ■ ■ ^ i ^^* Besler in
stimme zu ^ ^ i|» f i ^ ^ \ f f I « I n^ den letzteren
ersehen: Er rupfet den b . u . m. einen Zug des
*) Nach Kade (a. a. 0.) ist es wahrscheinlich, daß Besler
diese Pafsionen nicht selbständig komponiert, sondern aju aus
älteren Werken, Drucken und (mittlerweile Tcrloren gegangenen)
Handschriften entnommen und bearbeitet hat. Neben Besler
wird auch Stephan! Ton Kade aus der Reihe der Komponisten
In die der »Herausgeber und Kompilatoren« verwiesen.
II. 4. 2
18
Bedauerns gelegt In der Passion nach Markus ist eben-
falls der Chor »Herr, bin Ichs« beachtenswert, in der nach
Lukas besonders die Nummer >Herr, sollen wir mit dem
' Schwerte dreinschlagen?«, welcher durch rhythmische
Mittel (Pausen und Synkopen) ein trotziger Ausdruck
gegeben ist. In der Passion nach Johannes wirkt das
»Kreuzige« durch die spannenden Fermaten mächtig.
Das bedeutendste, was vor den entsprechenden
Werken von Heinrich Schütz innerhalb der Choralpas-
sion an Naturwahrheit und Lebendigkeit des Ausdrucks
im Ghorsatz bis je^t bekannt geworden ist, das haben
zwei Thüringer Kantoren geleistet, der Weimarsche M.
Kt Volpini. Vulpius in seiner Matthäuspassion (1643) und Christoph
Chr. Sohvlts. Schultz in Delitzsch in einer Lukaspassion vom Jahre
1 653. Beide lösen schwierige Deklamationsaufgaben mit
großer Leichtigkeit. Einfach und natürlich trifft Vulpius
z. B. den Ton gleichgiiltiger Frivolität in dem Sätzchen
der Hohenprister und Ältesten:
6opnA.
Alt.
IBM».
m
Schultz den der
naiven Verwun-
derungin der Re-
de des versam-
melten Rates:
IMst dB deaa OoT", ■ ' , u% Sda?
4l
3P^
^^
1^
Vi/
Besonders auffallend ist aber die Sicherheit, mit welcher
diese Tonsetzer in ihren kurzen Choralsätzen den Fanatismus
der Menge gezeichnet haben. Daß »Barrabam« bei Vulpius
jagt in hoher Stimmlage in überstürzenden Rhythmen hin.
Noch bedeutender ist sein »Laß ihn kreuzigen«, für das er
Diskant und Tenor verdoppelt, wie er nach der anderen
19
Seite seinen von vornherein vierstimmigen Satz gegebenen
Falls auch zusammenzieht, bei der Vernehmung der fal;
sehen Zeugen z. B. in einen zweistimmigen. Der sechs-
stimmige Satz: »Laß ihn kreuzigen« sieht aus wie folgt:
LDiseant.
».DiMiSk
Alt.
Btss.
l«MBa^eadge9t
las» Dm knii«i9n,UMilmfa«Qfi.gnI
LusOiikivQagaBtlus QmkreosifenJbtfsQm
Lmk Dmkwqiigen.kttDuitreiiiiya,h«Bml
Mit einer noch wilderen Entschiedenheit herrschen die
Juden bei Schultz dem Landpfieger zu:
LDiseuii
2.DiiBeaiit.
Alt
LTttor.
Siss.
Knoilg», lawiuig«,knniigeQm!Kreiizlge,l(reiuige, kravxLge Qm!
^ Kreiingo, lDMasig*,ltfeuigeilmJiUeQkigo. knotige, kreiiA^e ita!
Kraisige, UBnsige.lcreiuigefluiiKreittige, kreuzige, kreniLg» Ihnl
Etwas gemächUcher und kaltblütiger ist das dem letzten
Satze vovausgehende
20
LDiseant.
^.OisöaAt.
ßi.
t.Tenor.
;9.Tenor.
Bass.
jt»T J)p J?r r^ ip {■ f
Hinweg, hiiLweg, hin . weg mit dem.
i
Hinweg, hin .weg, Üii . wegmftdem,
r» ^7. 1.. hin-weg,hin_weg, hin .
M J' |) J' r r. i
hb.weg,fain.%eg, hin .
I ,.. ^ ^1 p J'l
Hin.weg,lün.w8g,
Hin . weg.Unjveg,
^^tf^ p p r
Hin . weg,)iinjve|
^»n P P l' =
Hin . weg,lun.weg,
Hin . weg.hin.weg,
Un.weg, hin .
.11 .HM' , ^
hin 1 weg.l^n.weg,
p' f p I) i'i" 1" r " ' inir i"'i
^
hinweg mit die.sem tmd gieb uns
m
-gieb
Bar.rabam , IobI
inwesmit die.sem nnd gieb vns Bar.fftbnm loi!
hinweg
wegmitdnn,hinweg,hinwegmit die.sem nndgiebnnsBar.rnbam losl
temnndgleb «ns Bar.ra.bam losl
weg, Ain . ireg,mnweg'mu ue.aemnnagMD xaa ov.Ta.ouu wsi
^n^ 2>p j^pfiFj r I I I'I I 'I i^^i
hinweg, hinweg.hinweg mit die.sem und gieb uns Bar.rabam losl
Es ist nicht alles reif und schön in diesen Sätzchen. Die
einzehien Stimmen gehen zuweilen steif und gezwungen,
und uns, die wir der lateinischen Zeit fern stehen,
stören undeutsche Silhenbetonungen wie die am Schlüsse
des Vulpiusschen Satzes empfindlich. Aber es liegt doch
entschiedener Situationscharakter in diesen Chören, und
wir glauben nichts hinein zu interpretieren, wenn wir in der
etwas übertriebenen Beweglichkeit auch das besondere
jüdische Element angedeutet erblicken. Diese Gabe, sich
«1
realistisch auszudrückea, welche die Mehrzahl der deut-
schen Musiker in Italien aufsuchten, erwarben sich jene
Thüringer in ihrer Heimat. In den thüringischen Kur-
rendengesängen in jener Zeit bildet dieser weltliche, realir
stische Zug ein kennzeichnendes Merkmal. Auch Sebastian
Bach ist durch diese Schule gegangen, und es wird wohl
mehr als bloßer Zufall sein, wenn seine Matthäuspassion
in den Chorstellen >So steig herab vom Kreuz«, > Anderen
hat er geholfen«, »Er rufet den Elias« in kleinen und
größeren Zügen mit Vulpius ÄhnHchkeit zeigt.
Außer den durch den Bibeltext selbst gegebenen
Ghorsätzen, haben die spätem Choralpassionen in der
Regel noch zwei mehrstimmige Nummern: den »Introitus«
und die >Conclusio«. Der Introitus, auch Präfation
genannt, ist eine kurze feierliche Einleitung mit dem
Wortlaut , »Das Leiden unseres Herrn Jesu Christi, wie es
St. Matthäus (Markus, Lukas, Johannes — oder die vier
Evangelisten) beschreibet«. Dieser Überschriftenstil wird
zuweilen durch ein vorausgeschicktes »höret an« in
einen Aufforderungssatz umgestaltet. In der lakonischen
Fassung sowohl, wie in der erweiterten kommt der Introir
tus bekanntlich auch vor anderen liturgischen Stückep
vor. Händel hat diesen feierlichen Brauch im »Israel in
Ägypten« bei dem Lobgesang der Kinder Israel ins Ora-
torium hinübergenommen. Die Conclusio oder Gratiarum
actio ist ein die Stelle des Respons vertretender Schluß-
gesang über die Worte »Dank sei unserem Herrn Jesu Christo,
der uns erlöset hat durch sein Leiden von der Hölle« oder
ähnliche. Die Gratiarum actio fehlt häufig, in katholischen
Choralnassionen sehr oft; der Introitus dagegen nie. Wohl
aber ist er häufig dem Evangelisten allein im Choralton
übertragen, so auch in der Waltherschen Passion vom
Jahre 4 552. Wenn aber in den Choralpassionen, welche
in den biblischen Chören den alten Stil verlassen haben,
die beiden Zusätze da und mehrstimmig komponiert sind,
so zeigen sie ebenfalls die Einwirkung der Motettenpassion
und zwar sie ganz besonders durch reichere Einmischung
von Koloraturen und Melismen.
n
Diejenigen Komponisten, welche in den Chorsäizen
der Choralpassion über den alten Stil hinausgingen,
haben auch in den Partien der >Soliloquenten€ sich
mannigfache sinnreiche Abweichungen vom Lektionston
erlaubt. Auch hier ist Walther, vielleicht von Luther be-
einflußt, wieder der Erste*). Manche neue Wendungen,
die er dem Evangelisten und den Nebenpersonen gibt,
können auf Rechnung des römischen Passionstons ge-
setzt werden. Die ganze Haltung der Ghristuspartie geht
aber über den Einfluß eines bestimmten Vorbildes hinaus;
sie ist das Werk einer starken eigenen künstlerischen An-
schauung und einer allgemeinen Zeitströmung. Das Stre-
ben nach Individualisierung ergreift im 16, Jahrhundert
auch den Accent und modernisiert seinen Stil. Wir dür-
fen Walther noch nach einer anderen Richtung einen refor-
matorischen Schritt in der Geschichte der Choralpässion
ztischreiben.. Er fügte den herkömmlichen drei Solisten
einen vierten hinzu: einen Sopran, welcher dem ehemaligen
Vertreter der sämtlichen Nebenpartien, dem falsettieren-
den Succentor die Mägde, die Türhüterin und seltsamer
Weise auch den Hohenpriester abnahm. Es ist nicht das
einzige Mal, daß in der Geschichte der Musik gegen die
dramatische Wahrscheinlichkeit verstoßen worden ist. Da
die Kunstmusik des 1 6. Jahrhunderts weit davon ent-
fernt war, Männer und Frauen nach dem Stimmklang
zu scheiden, fand Walthers Passionssopran durchaus
nicht schnelle Zustimmung; die Magd blieb bis tief ins
siebzehnte Jahrhundert hinein noch Eigentum des Fal-
settisten.
Vereinzelte liebevolle Züge im Accent fehleij auch
in solchen Choralpassionen nicht, die im allgemeinen
streng im vorgeschriebenen Tone gehalten sind. So hat
z. B. Lossius eine unverkennbar freundliche Wendung am
Anfang seines Werkes für das Wort discipuli (Schüler).
*) Yergl. Walthers Bericht über die Einsetzungsworte von
Lnthers »Deutscher Messe« im Syntagma des Prätorius.
(I, 449 u. fif.)
«
Auch bei Keachenthal stellt sich an demselben Orte »sprach
er zvL seinen Jüngern c ein vollständiger Abschnitt herz-
lichen deut- ,Jl >**, i>i > i I I .M,) y , i Und fast
sehen Lied- 'ff^^ F \j P f ■' If '^^^^. genau
gesangesein: '^'^ •* « »d.ae« JVa.g«» g^ ^^^^
auch S. Besler in seiner Matthäuspassion diese Worte. Bei
ihm ist das Bestreben, wichtige Einzelheiten in Handlung
und Rede der Solopersonen aus dem Choraltone heraus-
zuheben, schon ein grundsätzliches. Er verläßt bei be-
deutenden Worten wie »töten« und »kreuzigen € den
gleichen Ton der Deklamation, er läßt den Evangelisten
die Betrübnis der Jünger mit einem kurzen melodischen
Striche malen, sein Pilatus (in der Johannespassion) ruft
von Rührung und Bewunderung ergriffen: »Sehet, welch
ein Mensch« ; Besler sagt sich sogar von den Schlußfällen
des Evangelisten los, welche andere nie antasten. Nament-
lich die Ghristuspartie hat in allen Passionen Beslers Ab-
schnitte, in denen der Choralton ganz vergessen ist Das
»Petre, ich sage dir« in der Lukaspassion, die Einsetzungs-
worte in dieser, wie auch in Beslers Matthäuspassion sind
musterhafte Beispiele eines schönen, gehaltvollen, einfach
würdigen Gesangstils.
Auch Vulpius und Schultz bauen den Choralton
melodisch aus, sie geben logische Accente mit Wechsel-
noten und gestalten in Schlüssen und auch in Einsätzen
frei ohne Rücksicht auf das Herkommen. Letzteres tut
besonders Schultz, der bereits im Begriffe steht, Äußerlich-
keiten der Geschichte ^ , , I , > Gerade für
malen zu wollen, z. B. ,y J J ■* -Lf , =. Petrus zeigt
wenn er anfängt: «^ •» •«•«* «^ sich in den
Sünden gegen den Choralton ein besonderes guther-
slges Interesse. Bei ^ ^ _, _ , ,, , , j . In der
Schultz heißt es: »Der y p, p f M rL i ,H =. Lukas-
Herr wandte sich »4 •»- »»• f» - tn» « passion
von Schütz ist dieselbe Stelle (mit Ausnahme einer un-
bedeutenden Note im Auftakt) genau so komponiert; doch
aber bleibt die Wirkung gering, weil das Motiv schon vor-
her verbraucht ist,
— * 24 -9»—
Es iist nicht zufällig, daß die Choralpassionen mit
dem Anfang des 4 7. Jahrhunderts sich so merkbar von
dem einfachen Accentton abwenden. Zu den früheren
Gegnern seines Systems, dem Gefühlsbedürfnis und dem
Einfluß des Volkslieds, war da ein mächtiger Verbündeter
gekommen: Der neue begleitete Sologesang mit seinem
Rezitativstil. Von ihm geleitet führt nun Heinrich
Et Schütz. Schütz alle die bisherigen Versuche, im Schema der
Ghoralpassion musikalisch reicheren Ausdruck zu ge-
winnen, bis ans Ende. Die Passionen von Schütz hängen
mit den Choralpassionen äußerlich noch zusammen. Sie
beschränken sich auf die zwei hergebrachten musikalischen
Formen, den unbegleiteten Einzelgesang für den Evange-
listen und die Soliloquenten und den unbegleiteten Chor-
satz für die turbae. Innerlich aber hat Schütz mit der Gat-
tung nahezu gebrochen. Seine Einzelgesänge stehen dem
modernen Rezitative viel näher als dem vorgeschriebenen
Lektionston, seine Chöre sind schlechtweg dramatisch
und nicht etwa blos, wie bei Vulpius, Schultz und anderen
Vorgängern hier und da, sondern grundsätzlich vom An-
fang des Evangeliums bis zum Schluß. Sie sind im
engsten Anschluß an Charakter von Personen und Situ-
ation ersonnen, sie zeichnen aufs feinste und schärfste
- alles, was bei den augenblicklichen Äußerungen der
Parteien in Betracht kommt, sie geben Leidenschaften
und Stimmungen mit fortwährendem Hinblick auf den
Zusammenhang des Ganzen wieder, sogar mit Berück-
sichtigung äußerlicher Dinge, wie die gesellschaftliche
Stellung der Sprecher und der Angesprochenen. Sie
lassen endlich den Grundton, durch welchen sich die
Berichte der einzelnen Evangelisten unterscheiden, jedes-
mal in besonderen Färbungen der Musik durchklingen.
Und das alles in einem einfach belebten Stile, wie er für
den vierstimmigen Chorsatz kaum natürlicher sein kann.
In der von Ph. Spitta redigierten Gesamtausgabe
der Werke von Heinrich Schütz*), von deren praktischer
•) Leipzig, Breitkopf & Härtel.
25
Benutzung wir viel Segen für die weitere Entwickelung
der Tonkunst erwarten dürfen, stehen die vier Passionen
im ersten Bande gedruckt. Aber gerade die Passionen
sind schon fast zwei Jahrzehnte vor dieser Gesamtausgabe,
allerdings nicht originalgetreu und vollständig, wieder be-
kannt und in die Praxis eingefügt worden und zwar in
einer Bearbeitung von Carl Riedel*), welcher nach Art der
Evangelienharmonie Sologesänge und Chöre aus allen
4 Passionen zu einem neuen Ganzen aneinandergereiht
und mit Orgelbegleitung versehen hat. Trotz der berechtig-
ten Bedenken, welche gegen ihre Methode — am stärksten
von M. Hauptmann — erhoben worden sind, ist diese Be-
arbeitung für zahlreiche Aufführungen benutzt worden; in
ihr und durch sie ist Schütz in großen und kleinen Städten
Deutschlands wieder als eine bedeutende Erscheinung der
deutschen Musikgeschichte bekannt geworden, und Carl
Riedel wird das Verdienst bleiben, daß er in einer Zeit,
in welcher der historische Sinn noch schlummerte, für
einen unserer besten alten Tonmeister einen zwar nicht
korrekten, aber erfolgreichen Sieg gewonnen hat. Dabei
darf picht unerwähnt bleiben, dass Riedel selbst auf
Schütz durch v. Winterfelds und namentlich durch Chry-
sanders Arbeiten hingeführt worden ist. Die Matthäus-
passion allein ist neuerdings von Arnold Mendelssohn
in einer nach Riedelscher Art modernisierenden Bearbeitung
herausgegeben worden. Mendelssohn hat die Schützsche
Choralrezitation in begleitetesRezitativ verwandeltund auch
bei den Chören gehen Orgel oderKlavier mit. Diesen Ver-
suchen •♦) ist zuerst Bernhard Richter entgegengetreten
und hat, bald von andren gefolgt, seit 4 892 in der Leip-
ziger Lutherkirche Schützsche Passionen originalgetreu
im Gottesdienst aufgeführt und an dieser Stelle, für
•) Leipzig, E. W. Fritzsch.
**) Auch Friedrich Spitta (der Brudei des Baohbiographen),
der die Passionen von Schütz in einer besonderen Monographie
bebandelt hat, hält die Beigabe einer Begleitung für ein not-
wendiges »Zugeständnis« an die Gegenwart.
26
H. Bohflti,
MatthSas-
pasBion.
die sie bestimmt sind, haben sie erbaulich gewirkt Ins Kon-
zert, auch ins Kirchenkonzert gehören sie nicht, sondern
nur in die Liturgie. Deren Anforderungen entspricht ihre
Knappheit und ihr Eigenstes liegt darin, daß sie Oestalt
und Zeitdauer der alten Lektion einhalten und doch den
-Text zum reichsten Ausdruck bringen. Dieser wesent-
lichste Zug witd durch Orgelbegleitung und eingelegte
Choräle vernichtet Das Riedeische Experiment hat seine
Schuldigkeit getan; es mag nun ruhen! Die Hauptaufgabe,
die jetzt diesen Werken gegenüber gelöst werden muß, ist:
die Solisten im richtigen Vortrag des Redegesangs auszu-
bilden.
Aus dem Lebenslauf, welchen der Oberhofprediger
Geier in Dresden der Leichenrede auf den Komponisten
hinzufügte, wissen wir, daß Schütz drei seiner Passionen
im hohen Alter geschrieben hat Zwei von diesen drei
sind in der Matthäuspassion und der Johannespassion
der Gesamtausgabe festgestellt. Für die erstere ist hand-
schriftlich 4 666, für die andere 4 665 als Entstehungsjahr
angegeben. Aus guten Gründen wird die Lukaspassion
ein gutes Stück vor diese beiden Werke gesetzt werden
müssei^. Die Matthäuspassion gilt unter diesen dreien
für die bedeutendste wegen ihrer »Rezitative«. Dem mo-
dernen Hörer, welcher für den unbegleiteten Sologesang
mangelhaft oder garnicht geschult ist, werden allerdings
diese Rezitative zunächst mehr fremdartig und eintönig
als gehaltvoll vorkommen. Sie sind auch kunstgeschicht-
lich eine Ausnahme, sie suchen zwischen zwei ganz ent-
gegengesetzten Stilarten, der neuen Monodie der Italiener
und dem alten Choralton, einen Mittelweg zu finden. Es
ist neuer Geist in alter Form! Das ist wohl sicher:
Jeder, der sich in diese Sologesänge tiefer einlebt, sie
im richtigen, nicht im verschleppten Tempo hört, der
wird in ihnen den Qriffel eines großen Künstlers spüren
und mit Bewunderung sehen, wie viel Schütz mit den
erweiterten Mitteln des Accents angedeutet oder klar
ausgedrückt hat. Erweiterter Accent! Das ist die ge-
gebene Bezeichnung für diese Art von Sologesang. Die
t7 ♦^
Erweiterung geschieht nach der Methode Luthers und
Walthers durch Einmischung von Wendungen, die zum
Concent gehören, aber viel reicher, als bei allen Vor-
gängern. Dennoch stehen diese Sologesänge auf dem
Boden der unbegleiteten Monodie, beigegebene Harmonie
macht ihre Melodik schwerfällig und zerstört ihren Cha-
rakter. Dadurch unterscheiden sie sich vom neueren
Rezitativ. Indes ist es kein Schaden, wenn man sie Re-
zitative nennt Geht man den Zielen nach, die Schütz
zu seinem erweiterten Accent geführt haben, so fallen
am schnellsten die malerischen Einzelheiten ins Auge,
welche der bildliche Gehalt von Worten und Sätzen dem
Tonsetzer unterbreitete. Tiefer liegen die bedeutenden
Züge bewegten Mitempfindens, an welchen namentlich
die Partie des Evangelisten außerordentlich reich ist. Er
weiß uns zu rühren und zu spannen. Einmal unterbricht
er den Qioralton mit wenigen herzlichen Gesangnoten,
ein andermal verläßt er ihn ganz, um in motivischen
Steigerungen, die den speziellen Einfluß Monteverdis deut-
lich zeigen, die besondere Wichtigkeit eines dramatischen
Vorgangs entsprechend wiederzugeben. Interessant ist
besonders, wie der Evangelist in vielen Schlüssen seiner
Erzählung den inneren Ton der folgenden Reden vorbe-
reitet Die übrigen Einzelpersonen der Leidensgeschichte
sind mit kurzen aber scharfen Strichen hingestellt Christus
in der Matthäuspassion: ernst, in edler Wehmut, trauernd;
Petrus: weich, erreglich; Pilatus: freundlich gemessen;
Caiphas: gespreizt; Judas keck, vordringlich frivol.
Deutlicher als Besler und andere Tonsetzer, welche
die Passion mehrmals nach den verschiedenen Berichten
der Evangelisten komponiert haben, versteht Schütz jedes
Evangelium durch eine besondere Tonart zu zeichnen.
Seine Passion nach Matthäus hat die dorische. Der In-
troitus bringt deren Wesen eindringlich zum Ausdruck:
hervorstechend ist die Verwendung des CmoU- Akkords:
sein schmerzlicher Klang wird durch die eingefügte Vor-
haltsdissonanz noch herber. Schützens Einleitungsgesänge
;nnd in deo anderen Passionen länger als bei seinen
--♦ 28
Vorgängern; der nach Matthäus macht hierin eine Aus-
nahme, zßigt aber im Charakter die allen gemeinsame
Mischung von choralartig anklingender kirchlicher Musik
und beschreibender Beweglichkeit ebenfalls.
Der Evangelist beginnt nur wenig von dem Stile
des Choraltons verschieden. Erst am Schlüsse wird
seine Erzählung individuell belebt. Christi Rede klingt
trüb, an einzelnen . Stellen klagend. Nach ihr nimmt
das Rezitativ des Evangelisten einen lebhafteren Cha-
rakter an: er sieht die Dämonen des Passionsdramas
pahen; die Hohenpriester und Schriftgelehrten beginnen
ihren ersten Chor »Ja nicht auf das Fest«. Schütz zeichnet
sie als kluge, wohl berechnende Männer. Wie in den
meisten der Passionschöre stützt sich Ausdruck und
Charakter auf ein kurzes Hauptmotiv, welches die Stim-
men sehr frei, lebendig und natürlich untereinander ver-
teilen: Es j welches der Tenor zuerst an-
ist hier ^V ♦ i T f . 1^ hebt. Anfang und Schlußteil
das kurze : ^» ^^^ des nur \ 5 Takte betragenden
Satzes sind über diese zwei Noten aufgebaut, in der Mitte
steht eine Episode erregterer Natur, in welcher die Hohen-
priester und Gelehrten ihrer Besorgnis wegen des Auf-
standes einen halb launigen Ausdruck geben. Ihr Motiv
kehrt in dem gleichen Chore der Markuspassion bei dem
Worte »Aufruhr« wieder. In dem folgenden Rezitative
ist die Stelle von besonderer Schönheit, an welcher der
Evangelist malt, wie das Weib das köstliche Wasser auf
Jesus Haupt ausgießt. Die jetzt anschließenden zwei
Chöre der Jünger: »Wozu dienet dieser Unrat«, »Wo
willst du, dass wir dir bereiten«, haben einen harten,
trockenen, nahezu unfreundlichen Zug, der gegen den
innigen Ton, welchen Schütz den Jüngern in den anderen
Evangelien gegeben hat, ganz auffällig absticht. Der
Grund für diese Auffassung des Komponisten liegt in der
Gethsemaneszene. Denn gerade Matthäus schildert in
dieser mit viel grösserem Nachdruck als die anderen
Evangelisten das Verhalten der Jünger als unrühmlich,
gleichgültig und lieblos. Der dritte Chor »Herr, bin ichs«
bringt eine Wendung; aus seinem Schlüsse klingt die Liebe.
Er ist trotz seiner Kürze (7 Takte) ein Meisterstück der
Seelenmalerei nud schildert ergreifend den Übergang von
Verlegenheit zu herzlichster Wärme. Aus den Rezitativen,
welche diesen Chören vorausgeheil , tritt besonders die
Stelle des Judas hervor, >Was wollt ihr mir gebenc. Der
Verräter macht den Hohenpriestern sein Angebot in der
freudigen, prahlerischen Aufregung eines eitlen Patrons,
der einen besonders glücklichen Gedanken zu haben glaubt.
Die Wiederholung des 9lchc ist hierfür bezeichnend. Nur
ganz am Schlüsse lässt er merken, daß er in dem
Handel doch etwas Dunkles fühlt. Den herausfordernden
Ton tragen auch die Worte, mit denen Judas die feier-
hche trübe Anklage gegen den »Menschen, durch welchen
des Menschen Sohn verraten vnrd< beantwortet: »Bin
ichs, bin Ichs, Rabbi?« Die Wiederholungen von Worten
und Sätzen und so entschiedene Melodieschritte wie in
der Partie des Judas kommen bei keinem der übrigen
Soläoquenten. vor. Den Schluß dieser Szene bilden
die Einsetzungsworte, deren liturgischer feierücher Ton
in den Erläuterungssätzen Jesu »Ich sage Euch, ich
werde von nun an von dem Gewächs des Weinstocks
nicht mehr trinken« ein wehmütiges Nachspiel erhält.
In der kurzen Szene am ölberg sind die innig herz-
lichen Worte des Petrus »Und wenn ich mit dir sterben
müßte etc.« von besonderem Eindruck. Der nun fol-
gende längere Abschnitt: Jesus auf Gethsemane, ist
eine der bedeutendsten Partien in dem Rezitativteile
der Matthäuspassion. Der Evangelist schildert hier ein-
zelne Züge (wie Christus zum Gebete hinfällt, wie
er enttäuscht ist, die Jünger schlafend zu finden)
in besonders anschaulichen Tonwendungen, und aus
seinem ganzen Vortrage spricht die tiefste und leben-
digste Teilnahme. Aus den Reden Christi klingt eine
schmerzliche Resignation; von hervorragendem Ein-
druck ist der Schluß »Stehet auf, laßt uns gehen«,
in welchem die mutige Fassung mit der Verzweiflung
ringt.
Aus der Szene, wo Jesus verhaftet und zu Caiphas
geführt wird, ist die Stelle in der Erzählung des Evan-
gelisten hervorzuheben, welche von dem Angriff auf den
Knecht des Hohenpriesters berichtet.
Die Worte der beiden falschen Zeugen sind in einem
Kanon wiedergegeben, welcher in der ersten Hälfte die
obere Sekunde, in der zweiten die untere einhält. Ohne
Zweifel hat Schütz die Form des Kanons als ein scharfes
Mittel der Charakteristik gewählt. Die übertrieben feier-
lich einsetzende und dann zwischen Schwulst und Leicht-
fertigkeit einherschwankende Aussage wird durch das
mechanische Mit- und Nachplappern des zweiten Zeugen
doppelt widerwärtig und lächerlich.
Die Antworten , ' welche Christus dem Hohenpriester
Caiphas gibt, tragen einen Ton vornehmer Ruhe und
Hbheit, welcher, verglichen mit der Stimmung, die in
Jesu Reden auf Gethsemane zum Ausdruck .kam, sofort
verständUch sein muss. Der Chor der Schriftgelehrten
und Ältesten, »Er ist des Todes schuldig« zeigt nichts
von der Erregung und der Bitterkeit, welche man in
diesen Worten erwarten könnte. Dieses Urteil wird
vielmehr in dem leichten Tone eingesetzt, mit dem man
etwas ganz Selbstverständliches zu sagen pflegt. Schützens
Absicht geht hier, wie das auch schon in der Nummer
der falschen Zeugen der Fall war, darauf hin, in dem
Verhalten der Ankläger das abgekartete Spiel durch-
merken zu lassen. Das ganze Verhör über nehmen sie
die Sache vorwiegend leicht, kurz und mit einem bru-
talen Humor. Am stechendsten drückt diesen der nächste
Chor aus: »Weissage uns, Christe, wer ist es, der dich
schlug?« In roher Lustigkeit tänzelnd fängt er an, dann
wird der Titel »Christe« höhnisch feierlich in breiten Rhyth-
men gegeben. In quälerischen Steigerungen wiederholen
sie die trocken stilisierte Frage »wer ist es, der dich
schlug«, und um dem Ganzen die Krone aufzusetzen;
heucheln sie aufhörend auch noch Mitleid. Man wäre
kaum verwundert, diesen Chor noch durch einen Takt
nackten Gelächters verlängert zu sehen. Das zwischen
diesen beiden Chören liegende k;urze Rezitativ des Evan-
gelisten hat den Ton tiefer Betrübnis.
Die Szene von Fetri Verleugnung ist als besondere
Episode auch in der Tonart kenntlich gemacht Der
F dur-Einsatz bei den Worten »Petrus aber saß draußen«
nach dem A dur-Schluss des letzten Chors führt anschau-
lich aus dem Palast hinaus. Über der Partie des Evan-'
gelisten liegt in dieser ganzen Szene ein Tön der Ver-
wunderung und des Bedauerns. Das letztere findet seinen
größten Ausdruck am Schlüsse, wo der Hahn gekräht
hat und Petrus bitterlich weint. In den Reden Petri
wird man die steigende Aufregung beobachten können;
seine dritte Beteuerung: »Ich kenne des Menschen nicht«
setzt er forziert mit hohem Ton ein. . Aus der Reihe
der Belastungszeugen des Jüngers tritt natürlich der Chor
am meisten hervor. Er setzt das »Wahrlich« mit breitem
und entscheidendem Nachdruck ein, die Worte »du bist
auch einer von denen« sind leicht hingegeben, wie des
Beweises und der Erörterung nicht bedürftig.
In der kurzen Episode, welche die Reue' und den
Selbstmord des Judas enthält, sind zunächst die Worte
des Judas selbst sehr bemerkenswert. Wie kleinlaut klingt
das »Ich habe übel getan« gegen das frühere »Was wollt
ihr mir geben« des unglücklichen Tors. Der Ausdruck
auf dem Worte »übel« und der Schluss hat etwas Ver-
söhnendes. Die Hohenpriester behandeln den Zwischenfall
mit mühsam erheuchelter Gleichgültigkeit Das schnelle
vorzeitige Abschliessen auf »Was geht uns das an«, die
Fortsetzung, die sich in übereinanderstürzenden kurzen
Imitationen des »Da siehe du zu« weiter hilft, sind be-
zeichnend. In dem zweiten Chor »Es taugt nichts« ist die
Verlegenheit noch ersichtlicher; aus dem halb schauer-
lichen Schlüsse »denn es ist Blutgeld« spricht das böse
Gewissen.
Der langen Szene, wo Christus vor Pilatus steht
und der Landpfleger mit den Juden über Freigebung ver-
handelt, hat Schütz durch die Tonschlüsse in den Partien
des Evangelisten und des Pilatus einen spannenden
t!harakter zu geben versucht. Eiaen für Uneingeweihte
faßlicheren Anhalt gewinnt sie mit dem Eintritt der
Chöre, in denen zum ersten Male das Volk der Juden
das Wort nimmt Schätz schreibt: »der ganze Haufe«.
Der erste Chor »Barrabam« hat nichts von Fanatismus,
aber etwas Uebermut und er gibt das unruhige 'Bild
einer Menge, in welcher der Eine vom Änderen gereizt
und in einen äußerlichen Eifer hineingedrängt wird. In^
dem nach einem kurzen Rezitative wiederholten >Laß
ihn kreuzigen« tritt dieser Obermut noch stärker her-
vor; besonders frivol und hart klingt das kurz und schnell
herausgestoßene Wort »kreuzigen«. Nachdem Pilatus
sehr ausdrucksvoll und bewegt erklärt »Ich bin un-
schuldig an dem Blut dieses Gerechten«, nimmt der Haufe
das eigene Wort des Pilatus »Sein Blut« mit einem Nach-
druck auf, der in seiner höhnischen Breite etwas Belei-
digendes hat. Die parodierende Absicht wird durch den
hastig hingeworfenen Vortrag des Nachsatzes »komme
über uns« noch deutlicher. Die Partie des Evangelisten,
welche den Spottchor der Kriegsknechte einleitet, ist
hervorragend reich an malerischen Wendungen: Das
Geißeln, das Kreuzigen ist in kurzen Tonbiegungen ange-
deutet, das Umlegen des Purpurmantels, das Flechten
und Aufsetzen der Domenkrone, das Kniebeugen in
breiteren Melodiezügen ausgeführt. Der Spottchor selbst
bewegt sich wieder in Kontrasten: gesuchte Feierlichkeit
wechselt im »Gegrüßet« mit lächerlicher Beweglichkeit;
mit nicht mißzu verstehender Realistik saust das »du, du«
schneidend hinein. Von hier an bis zum Ende Jesu nimmt
der Bericht des Evangelisten eine^ aufgeregten Ton an;
die Melodik hebt die Einzelheiten der Vorgänge nach-
drücklich heraus und wird zuweilen ganz modern. Voll-
ständig leiden schafthch, wie vom wilden Schmerz ge-
packt, singt der Evangelist namentlich die Worte: »Aber
Jesus schrie abermals laut und verschied«. Ein guter
Sänger, welcher die nötigen Pausen einschaltet, wird
mit dieser Stelle erschüttern. Auch die Schilderung von
dem Zerreißen des Vorhangs und dem Erdbeben ist
— ^ 33
höchst dramatisch. Den Höhepunkt in dem rezitativi-
schen Teil der Kreuzigungsszene , ja, wohl der ganzen
Matthäuspassion bildet aber, dem alten Brauch der Cho-
ralpassion entsprechend, das »Eli« Christi*]:
II 'ü'l \i\^\
fr . K. £ . II« £ ■ lii U . ma a . c - sab.th» , - nil
Es kann kein einfacheres und sprechenderes Bild der
Seelennot geben, als diese mühsame Melodie: der natur-
wahre Ausdruck der letzten um Hilfe ringenden Kraft-
anstrengung und des letzten stoßweisen Ermattens und
Erlöschens.
In den Chören, welche die Hohenpriester, Schrift-
gelehrten und die Juden während der Kreuzigungsszene
singen, ist der leichtfertige Ton einem ernsteren gewichen.
Am freiesten treiben sie ihren Spott noch am Schlüsse
von »Anderen hat er geholfen« mit den parodierenden
Wiederholungen des »^Ich«. Am schärfsten kommt die in der
Stimmung und Gesinnung der Menge eingetretene Wen-
dung zum Ausdruck in dem Chor des »Hauptmann samt
den Kriegsknechten« bei den Einsatzworten: »Wahrlich,
dieser ist Gottes Sohn gewesen«. Der Schreck des Erd-
bebens läßt sie ihr Glaubensbekenntnis in wirren Tönen
sprechen. Auch die Haltung der Hohenpriester gegen!
den Pilatus ist eine andere geworden, als sie in der
Verhörszene war. Ohne jeden herausfordernden Bei-
klang, aber mit wohlstudierter Betonung und künstlicher
Ruhe, tragen sie ihm das Verlangen, das Grab zu ver-
wahren, vor.
An Stelle der üblichen Qonclusio, der Gratiarum actio
mit ihren stehenden Textworten: »Dank sei unsrem
Herrn etc.« hat Schütz einen Gesangbuch vers genommen,
die letzte Strophe des Liedes: »Ach, wir armen Sünder!«
Die Melodie dieses Chorals hat er jedoch nicht benutzt,
sondern zu dem »Ehre sei dir, Christe« etc. eine freie
*) Dynamik und Rhythmik u ach A. Mendelssohn.
n, 1. a
und sehr reiche Musik gesetzt, wie man sie in keinem
Schlußsatze der früheren Choralpassionen kennt und wie
man sie an dieser Stelle auch in den anderen Passionen
von Schütz selbst nicht wiederfindet. Die erste Hälfte
des, mit dem bisherigen Brauch verglichen, außergewöhn-
lich langen Satzes ist deklamatorisch mit kurzer Beto-
nung einzelner Textbilder: wie Todesleiden, ewige Herr-
schaft. Mit den liitaneiworten »»Hilfuns armen Sündern«
schlägt aber der Chor einen innigen melodischen Weg
ein, der über die Höhe freudiger Glaubensbegeisterung
in das Gebiet frommer Zuversicht und Hoffnung aus-
mündet.
HiSohüts, Schützens Lukas passion ist wahrscheinlich be-
Lttkaspassion. deutend älter als die Passionen nach Matthäus und Jo-
hannes! Wenn die inneren Eigenschaften eines Musik-
werks genügten, um sein Alter zu bestimmen, so dürfte
man geneigt sein, diese Passion in die Jugendzeit des
Komponisten zu setzen, wenigstens soweit es sich um
die Partie des. Evangelisten handelt; denn dessen Hezi-
tative halten mit denen in der Johannes- oder gar Mat-
thäuspassion keinen Vergleich aus; ja, sie verfehlen so-
gar vielfach den Charakter der Erzählung. Schützens
^ unleugbar feines Gefühl für Stil und Wesen der einzel-
nen Evangelisten und die Tatsache, daß Lukas grelle
Einzelheiten der Leidensgeschichte übergeht, daß er
freundliche Episoden berichtet, welche die anderen Evan-
gelisten nur flüchtig berühren oder gar nicht, daß im
ganzen über seinem Berichte ein Ton der Milde liegt, —
diese Umstände alle reichen nicht aus, um das halb ver-
gnügliche, verbindliche Gesicht zu erklären, mit welchem
der Evangelist in Schützens Lukaspassion seinen Bericht
vorträgt. Schütz ist hier auf halbem Wege stehen ge-
blieben. Er glaubte im wesentlichen den Choralton bei-
behalten zu dürfen und hielt es für genügend, wenn er
demselben noch einige typische Züge hinzufügte. Diese
Zutat von Typen hat aber mehr entstellend als berei-
chernd gewirkt; namentlich ist es der dem alten choral-
mäßigen a-c neu angetritute höhere Terzengang c d e c,
-—fr 35 *—
der in seiner übermäßig häufigen Verwendung dem Vor-
trag des Evangelisten einen unpassenden wohlbefriedigten
Grundton gibt. Einzelne Stellen in dem Berichte des Evan-
gelisten stehen über dieser geringen Stufe. Es sind vorwie-
gend solche, die kleinere Malereien bei geeigneten Worten
(fürchten, kreuzigen etc.) enthalten. Ein größerer Abschnitt
freien und bewegten Vortrags findet sich bei der Gebets- %
szene am ölberg: »Es erschien ihm aber ein Engel usw.«
Ganz anders als der Evangelist sind die anderen
Soliloquenten ausgearbeitet« Über alle ragen die Reden
Jesu hervor, obwohl auch sie an einzelnen Choralschlüssen
festhalten. Sie sind in einem weichen liebevollen Ton
gehalten, welcher namentlich in den Gesprächen mit den
Jüngern rührend wirkt. So spricht der ältere Bruder,
wenn er in der Stunde des Abschieds denen noch einmal
die ganze Herzlichkeit erweisen will, die seiner Sorge an-
vertraut waren. Dieser weiche zusprechende Ton macht
einem ernsteren Platz, wenn Christus dem Petrus den
Abfall und den Verrat vorhersagt. Wehmut und Trauer
klingt aus Jesu Gebet zum Vater, Vorwurf aus der An-
rede an Judas, Hoheit aus den Worten, mit denen er den
Hohenpriestern entgegentritt. Aber von der düstern und
schwülen Stimmung, welche in der Matthäuspassion die
Reden des Heilands beherrscht, ist hier nirgends eine
Spur. Der bedeutendste und reichste Abschnitt der
Christuspartie in der Lukaspassion ist die Rede an die
nach Golgatha folgenden Weiber: »Ihr Töchter von
Jerusalem usw.«
Bei den Nebenpersonen ist der größte Teil ausdrucks-
voller Deklamation auf Pilatus gefallen. Hervorragend
ist die Stelle, wo er auf das erregte »Kreuzige« der Juden
ebenso erregt fragt: »Was hat denn dieser Übels getan?«
Daß Schütz auf diesen Abschnitt besonderen Wert gelegt,
ersieht man daraus, daß er ihm ausnahmsweise eine
Vortragsbezeichnung (bei den Worten: »des Todes« steht:
adagio) überschrieb.
Als den wertvollsten Teil der Lukaspässion wird man
jedoch die Chöre zu betrachten haben.
z*
36 ^—
Diejenigen der Jünger bilden mit den Heden Jesu
zusammengefaßt eine liebliche Idylle. Diese Jünger sind
Gestalten, welche in dem ganzen Zauber liebenswürdiger,
jugendlicher Naivetät vor uns hintreten: Es klingt etwas
Kindliches aus der Zuneigung und Anhänglichkeit, mit
fragen: »Wowillt 1|6 " rl U ^M J «1 J «1 I ^^^ J J i
du, daß wir usw.« ^° V^^^ *»• dass wir d» b« , rei . . ten.
aus der ahnungslosen Einfachheit, mit ■ welcher sie ver-
sichern, daß ^ niokei.nen.mc' kei.Bep gelittejtt«.
sie »Nie kei- jfc if , 'J ri ^M 6 8 o I Und als
nen Mangel ^ ni« keLnen. nie ^i.Mn. GhlistUS
ihnen die kommende Gefahr angedeutet hat, da äußern sie
in: »Herr, siehe, j _ _ i i _ K.' _ K l i i ' i
hier sind zwei ^ f ■:^ P' I ^ f ^' p. '^LJ^N■ i,
. »■■ »w • 1. V* !_• i-s • a » o i_
Schwert« nicht ^"' Harr. sie. bD>lüer,bierJ)iv und 9«äS«bwert,
Sorge, sondern lediglich einen fröhlichen Mut; ja, als die
Schar, die Jesum gefangen nehmen will, schon vor ihnen
steht, fassen sie die Situation in ihrem munter rüstigen:
»Herr, sollen wir mit g_ __ _ ___ k,_
dem Schwert drein schla- ^ \ ^P'P ppp «^Hrrrfr
gen« nicht von einer ^^^^ Herr, «ol-len "wir mit dem Sdnrert
gefährlichen Seite auf, sondern wie ein erfreuliches ritter-
liches Abenteuer.
Die Juden, welche Jesum mit ihrem: i Weissage, wer
ist's, der dich schlug« verhöhnen, machen den Eindruck
irregeleiteter Tölpel. Ihr Spott kommt in schwerfälligem
Rhythmus zu Tage. In der Matthäuspassion fallen die-
selben Worte auf einen späteren Zeitpunkt und finden
eine bereits erregte Masse.
Die Chöre der Hohenpriester und Schriftgelehrten,
welche, fünf an der Zahl, nur durch kurze Rezitatrve
auseinandergehalten werden, sind als eine geschlossene
Gruppe zu betrachten. Mit scheinheiliger Freundlichkeit,
wie unverfänglich und wie mit wohlwollender Dringlich-
keit fragen sie zuerst: »Bist du Christus, sage es uns«:
Ober die Antwort Christi verwundert und leicht ge-
ärgert, stellen sie dieselbe Frage nochmals, aber in
-— ^ 37 •
einem umständlicheren und wichtigeren Ton mit dem
zweiten Chor: »Bist du denn Gattes Sohn?« Als Christus
bejaht hat, . kommt der wahre Charakter dieser bisher
liebenswürdigen Fragesteller zum Vorschein: Mit platter
und gemeiner Heftigkeit setzt der dritte Chor ein: »Was
dürfen wir weiter Zeugnis« und in gleichem Tone geht es
nun weiter. Mit prahlerischer Entschiedenheit erklären sie
dem Landpfleger: »Diesen finden wir, daß er das Volk
abwende«, und als Pilatus sich eine Einwendung erlaubt
hat, vergessen sie ganz, daß sie den Statthalter des
Kaisers vor sich haben. Der betreffende Schlußchor:
»Er hat das Volk erregt« setzt im Ton des sich über-
stürzenden Eifers ein. Der Trugschluß im zweiten Takte
drückt das sehr anschaulich aus. Nun erst bemühen sich
die Aufgeregten um eine passendere Redeweise und über-
bieten sich in ruhigen Versicherungeu. Am Schlüsse des
vierten Chors dieser Gru^ipe fällt es auf, daß bei den
Worten »und spricht: er sei Christus, der König« ein
feierlicher Stil eintritt. Friedrich Spitta*) hat mit Glück
den Grund dieser Wendung in der von Schütz dem grie-
chischen Text entnommenen Lesart »der König« aufge-
funden. , »Ein König«, wie Luther übersetzt hat, würde den
spottenden Ton vertragen haben, aber »der König« war den
Juden etwas Heiliges : der erwartete und ersehnte Messias.
Von den beiden Chören der Menge ragt der zweite:
»Kreuzige ihn« durch Schärfe des Ausdrucks hervor.
Namentlich der Einsatz, wo der Tenor eine ganze Oktav
hinaufsteigt, während die andern Stimmen kurze Motive
wild dagegenstoßen, hat etwas Dämonisches. Man kann
auf den Gedanken kommen, daß das »Kreuzige« in der
Johannespassion Bachs nach, diesem Vorbild entworfen
sei. Der erste der betreffenden Chöre gleicht in der Be-
handlung des Wortes »Barrabam« ganz dem entsprechen-
den in Schützens Matthäuspassion. Auch für die beiden
letzten ddramatischen Chöre der Lukaspassion, den Chor
der Obersten: »Andern hat er geholfen« und de^ grausam
♦) Friedrich Spitta a. a. 0.
38
H. Sohüts,
JolianneB-
passlon.
höhnenden der Kriegsknechte : >Bist du der Juden K&nig«,
finden sich in der Matthäuspassion Seitenstücke.
Sämtlichen Chören der Lukaspassion, auch dem In-
troitus und dem Schlußchor, liegt die lydische Tonart zu
Grunde. Der Introitus hat in allen Schütz'schen Passionen
ziemlich denselben Zuschnitt: einen feierlichen Anfang
und dann einen lebhaften Ton, wenn der Satz an das
Wort >beschreibet« und an den Namen des Evangelisten
heranrückt. Es ist eine ähnliche Stimmungsfolge wie in
der' gleichzeitigen Orchesterpaduane. Der >Beschluß<, wie
Schütz die alte Gratiarum actio nennt, wird in der Lukas-
passion mit dem 9. Verse des Gesangbuchliedes: »Da Jesu
an dem Kreuze stand« gemacht: Auch hier hat Schütz
nicht die Ghoralmelodie benutzt, sondern die Worte: »Wer
Gottes Marter in Ehren hat« mit einer eignen Musik ver-
sehen, die zwischen gehaltenem altkirchlichen Stile und
frohem Liedton merkwürdig abwechselt.
Die Johannespassion steht in der phrygischen
Tonart. Wenn es bei der Matthäuspassion und bei der
Lukaspassion ein geringeres Interesse hat zu wissen, wel-
ches System des Kirchentons zu Grunde liegt, so ist das
bei der Johannespassion anders ; denn in ihr machen sich
die Eigentümlichkeiten in Melodie- und Harmoniebildung,
die aus der phrygischen Skala hervorgehen, viel stärker
geltend, als in jenen beiden Werken, welche dem Gesetze
ihrer besonderen Tonart vorwiegend nur in den Chören
gehorchen. Die spezifisch phrygischen Schlüsse treten
aber in der Johannespassion nicht blos in den Chören
sehr merklich hervor. Auch in den sämtlichen Rezitativ-
partien kehren bestimmte phrygische Melodiewendungen
immer wieder; am häufigsten der bekannte und bezeich-
nende Gang zum Grundton über die kleine Sekund: g f e e.
Das gibt sämtlichen Teilen des Werkes eine gleichmäßigere
Färbung, als wir sie in den Übrigen Passionen Schützens
gefunden haben. Daß unter diesem gedämpfteR Licht,
das sich Über das ganze Werk ohne Unterschied ergießt,
die Vorgänge aber klar dargestellt sein und die Personen
als gesonderte Gestalten erscheinen können, lehrt ein
— -* 39
kurzer Blick auf die Hauptfiguren. Der Evangelist nähert
sich in Bezug auf Mitempfinden und Lebhaftigkeit des
Vortrags wieder dem in der Matthäuspassion; der Christus
der Johannespassion unterscheidet sich von dem der
anderen beiden Passionen durch einen gebieterischen,
abweisenden Zug. Fast nimmt der Pilatus das größte
Interesse in Anspruch; so abweichend ist seine Haltung
hier im Vergleich zu der in den andern Evangelien.
Nicht blos, daß er jetzt im Tenor singt; seine Reden
sind so reich mit melodischen Illustrationen geschmückt,
daß er den Evangelisten an Teilnahme und Christo zu-
gewandtem erregten Gefühle oft zu übertreffen scheint.
Ein Teil der dramatischen Chöre bekommt durch
den phrygischen Halbschluß (A : E) einen finsteren Zug.
Eigen ist auch der Mehrzahl die Neigung zu einem ver-
haltenen, fast möchte man sagen: phlegmatischen Aus-
druck, der die Entschiedenheit durchBreite ersetzt. In diese
Gruppe gehören die Nummern: »Jesum von Nazarethc,
>Wäre dieser nicht ein Übeltäter«, »Nicht diesen, sondern
Barrabam«, »Wir haben ein Gesetz« und mit Ausnahme des
erregten Eingangs und des stark auftragenden Motivs:
• .1»^"^ ^ ^ p auch noch der Chor: »Läs-
■"^ r r '^ I ' ^^~^— ' j ' ' *= sest du diesen los«. Einen
das ist MTi^ der den Kai.ser leidenschaftlichen Gegen-
satz zu dieser Gruppe bilden der in schneidenden Kontra-
sten geführte Chor der Kriegsknechte: »Sei gegrüßet«, das
immer wilder anlaufende »Kreuzige« des ganzen Haufens,
dessen Musik in dem »Weg, weg« variiert wiederkehrt,
und die beiden Nummern der Hohenpriester: »Wir haben
keinen König« und »Schreibe nicht der Judenkönig«. Die
beiden kleinen Chöre: »Bist du nicht« und »Wir dürfen
Niemand töten« haben sehr deutlich sprechende Wen-
dungen in den Grundmotiven: im i p -fr^ ^^^ l^^z-
jener in der einsetzenden, -"^ ^ ■ ^- ==fe=> tere in den
Erstaunen malenden Oktav: ^^^ ^ "^*^* naiv ab-
den Quar- .j^ rl f p I p jtJ J. I |^.
tenfällen : ^^ dOr-fon Nlenund tSd . teiu
In dem Chore: »Wäre dieser uicht ein Übeltäter«
finden wir bei dem Worte »überantworten« ein Lieblings-
motiv von Schütz, den in gelirochenem Rhythmus hinab-
steigenden, von
Gegenstimmen £ 'j) U L * _hA iil'^v - .'/^J
bald aufgehalte-
nen, bald fortgezo-
genen Skalengang:
der noch von der Barrabasstelle in Matthäus und Lukas
erinnerlich sein wird. Der Chor: »Schreibe nicht der
Judenkönig« hat den in den Psalmen und den Cantioni-
bus sacris sehr häufig angewandten Effekt einer gegen
die lebhafte Bewegung sämtlicher andern allein in langen
Tönen anliegenden Stimme. Bekannt ist die wunder-
bare Wirkung dieses Schütz'schen Choraufbaues wohl
am meisten aus der großartigen phantastischen Szene:
»Saul, Saul, was verfolgst du mich?«
Der Introitus der Johannespassion ist länger als der
zu Matthäus und Lukas; mit einer wahrhaft schwär-
merischen Innigkeit, die ganz am Schlüsse nochmals im
Tenor und Sopran in verzückten Zuruf ausbricht, wird
hier der Name des geliebten Evangelisten angestimmt
und immer wieder lang hinklingend hinausgesungen. Der
»Beschluß« hat den Choralvers: »0 hilf, Christe, Gottes
Sohn« zum Text und führt ihn auf die Melodie des Kir-
chenliedes, Strophe für Strophe in dem kurzen motetten-
artigen Stile durch, in welchem man zu der Zeit
Schützens eben die Charalmelodien zu behandeln be-
gann. Von hervortretender Schönheit sind die Stellen,
wo die Stimmen zu zwei, paarweise, sich die Motive
abnehmen.
Noch auffallender als in der Lukaspassion ist die
H. Sohtttt, ^7) Ungleichheit der Teile in der Markuspassion von
Markus- Schütz. Sie ist so stark, daß man neuerdings dahin
passion. neigt, die Echtheit dieser Passion überhaupt in Frage
zu stellen, obwohl das Werk von demselben Musiker,
dem nachmaligen Kantor der Dresdner Kreuzschule,
J. Z. Grundig, dem wir auch die Handschrift*) der
andern drei Passionen verdanken, zu gleicher Zeit wie
diese letzteren, nämlich am Ende des 17. Jahrhunderts,
aufgeschrieben und mit ihnen in demselben Bande zu-
sammengestellt ist.
Für den Evangelisten, für Christus und die einzelnen
Nebenpersonen ist in dieser Markuspassion vollständig
auf den alten Choralton zurückgegriffen worden. Nur
bei dem Verscheiden Christi sind Erzählung, und Rede in
mehr rezitativartigem Stile gehalten und in Wendungen
deklamiert, die mit ähnlichen in der Lukaspassion über-
einstimmen.
Die Chöre, welche in der jonischen Tonart, dem
modernen F dur, stehen, weichen von der sonstigen Weise
Schützens bedeutend ab. Auf einzelne Äußerlichkeiten,
wie die, daß die Soprane, die Schütz in seinen andern
Werken nur ausnahmsweise bis T oder g^ führt, sich hier
viel häufiger in den hohen Lagen bewegen, ist weniger
Gewicht zu legen; denn die hohen Soprane kommen bei
den deutschen Komponisten am Anfang des 47. Jahr*
hunderts vor, wie wir bei Vulpius sehen können. Ge-
setzt den Fall, daß Schütz seine Markuspassion als sehr
junger Mann geschrieben, könnte er sich diesem Brauche
angeschlossen haben. Aber die Harmonik in den Chören
weist nicht auf .den Anfang, sondern auf das Ende des
4 7. Jahrhunderts; namenthch* die Verwendung der Domi-
nantseptime und die Bevorzugung der weichen Dominant-
harmonie an den Satzschlüssen ist hierfür entscheidend.
Ferner sind einzelne Sätze in der Erfindung der Themen
so nichtssagend und ersichtlich nur aufs Formelle gerich-
tet, daß man das Konto von Schütz damit nicht gern
belasten möchte. In diese Gruppe gehören vor allen der
Chor der Jünger Jesu: >Wo willt du, daß wir hingehen<
und der auf äußerliche Abrundung und guten Klang
*} Sie befindet sich in der Leipziger Stadtbibliothek. Von
der Jobannespassion allein bat Wolfenbüttel eine von Scbütz
selbst hergestellte mit mancherlei Abwelcbungen.
49
H. Sohtttii.
Die sieben
Worte.
angelegte, aber im Hinblick auf Situation und Inhalt ganz
unpassende Chor der falschen Zeugen: >Wir, wir haben
gehört«. Trotzdem wird man sich nur schwer entschlie-
ßen können, die Markuspassion ganz aus der Liste der
SchÜtzschen Werke zu streichen; denn sie enthält zu
viel Material, das in Form und Geist das Gepräge
Schützens trägt. Der größte Teil des Introitus und des
Beschlusses, ferner der Chöre: »Ja nicht«, »Was soll
doch dieser Unrat«, »Bin ich's«. »Wahrlich, wahrlich«,
»Pfui dich«, »Andern hat er geholfen« könnte von ihm
sein. Wir sagen, der größte Teü dieser Nummern, weil
sie in einem Reste die Zeichen einer eingreifenden frem-
den Hand tragen. Es wäre möglich, daß ein Bearbeiter
vielleicht schon bald nach dem Tode von Schütz, sich
überdessen Markuspassion gemacht und sie einem neueren,
aufs Gefällige des Ausdrucks und auf breitere Formen
gerichteten Geschmack angepaßt hat. Der größte
Teil der Schütz'schen Motive blieb, wurde aber in der
Ausführung in die Länge gezogen und sämtliche Sätze
erhielten ganz neue Schlüsse. Daß dieser Bearbeiter
kein Stümper war, zeigen die Chöre »Weissage« und
»Kreuzige«, an denen nichts Schütz^sches ist, die man
aber trotzdem als meisterlich geformte, wirkungsvolle
und auch im Ausdruck treffende Tonbilder wird müssen
gelten lassen.
Seine Hinneigung zu äem modernen italienischen
Rezitativ, welche den Solosatz der Passionen so bemer-
kenswert macht, hat Schütz in zwei andern Werken,
welche mit der Leidensgeschichte des Herrn in nahem
Zusammenhang stehen,, offen und formell unzweideutig
bekannt. Es sind dies die ebenfalls durch Riedel zuerst
wieder veröffentlichten und in die Kirchenkonzerte ein-
geführten »Sieben Worte« und die »Historia von der Auf-
erstehung Jesu Christi.«*)
Die »Sieben Worte Jesu Christi am Kreuz«
beginnen mit einem fünf stimmigen Introitus (zwei Tenöre)
*) Beide Werke iu Bd. I der Geäamtausgabe.
über den Choral: >Da Jesus an dem Kreuze stund<.
Schütz hat für die durch ihre dorische Färbung inter-
essante, aus dem alten Volkslied: »Wer das Elend bauen
will« herstammende Choralmelodie eine Vorliebe. Sie
klingt in verschiedenen seiner Werke leicht an: unter
anderen auch in dem Introitus seiner Johannespassion.
In dem Introitus der »Sieben Worte« führt er sie ziem-
Uch vollständig durch, in einfachen, aber aus vollem
Herzen heraus deklamierten Kontrapunkten. Es ist oft
als ob eine Stimme die andere in Hingebung überbieten
wollte. Besonders schön ist am Eingang, wie der Sopran,
während die andern in ihren Betrachtungen schon weiter-
gehen, gar nicht von dem Gedanken und dem Bilde los-
lassen kann: »Da Jesus an dem Kreuze stund«; höchst
eindringlich auch die scharfe Dissonanz an der Stelle,
wo die Stimmen mit den Worten »bittere Schmerzen«
nach langem Einzelgehen wieder zusammentreten. Von
dem Passionenstil weicht dieser Introitus, außer durch
seine Länge, auch noch dadurch ab,^ daß ihm eine In-
strumentalbegleitung beigegeben ist. Sie ist für den so-
genannten Continuo (in Generalbaßnotierung) skizziert
und für ihre Ausführung müssen wir uns nach dem
Brauche des 47. Jahrhunderts einen ganzen Chor von
verschiedenartigen Tasteninstrumenten und lauten- oder
harfenartigen Spielwerken denken. Diese Continuostimme
wirkt in allen Teilen der »Sieben Worte« mit, ein sicheres
Zeichen, daß dieses Werk in seiner Form auf italienischem
Boden steht.
Von dem Introitus geht Schütz nicht direkt ins Evan-
gelium, sondern es folgt — ebenfalls nach italienischem
Vorbild, — noch ein zweiter Prolog: eine instrumentale
»Symphonia« für fünf Stimmen, deren Besetzung dem
freien Ermessen der Direktoren überlassen ist. Dem
Charakter nach ist diese Symphonie eine Trauermusik.
Während die spätem Italiener für solche Instrumental-
prologe an der dreisätzigen Form festhalten, gibt hier
Schütz eine freie einsätzige Phantasie. Sie gehört for-
mell mit den Orchestersätzen in den »österreichischen
Kaiserwerken«*) zu den ersten deutschen Nachkommen der
Gabrieli'schen Sonate und schheßt sich auch im inneren
Stile der bei Gabrieh und andern Venetianern für feier-
liche Gelegenheiten eingehaltenen Weise an. Schützens
Symphonia beginnt in dem Tone eines schwermütigen
Liedes:
^^^^^^^
'Aus dem zögernden Schritt geht sie bald in einen lebhaf-
teren Gang über, spricht einige warme Worte der liebenden
Begeisterung und sinkt in dem Moment, wo das Drama
beginnen muß, wieder in Trauer zurück.
Der Evangelist, welcher zunächst als hoher Tenor
(im Altschlüssel notiert) auftritt, vollzieht im Laufe des
Werkes einige musikalische Metamorphosen. Nach dem
dritten Worte Jesu erscheint er als Sopran; als aber die
bedeutungsvolle Stelle des »EH« kommt, da verwandelt er
sich in einen vierstimmigen Chor. Noch einmal, nachdem
Christus das letzte Wort gesprochen, findet sich in der
Partie des EvangeUsten dieses Übergreifen in den Stil
der Motettenpassion. Die Wirkung ist tief mystisch. Als
Nebenpersonen haben die »Sieben Worte« nur die beiden
Schacher. Der erste ist dem Altfalsettisten, der andere
dem Baß gegeben. Die Partie des Christus ist äußerlich
dadurch ausgezeichnet , daß bei ihr zur Begleitung des
Continuo noch zwei (nicht näher bezeichnete) Instrumente,
unter denen wir uns Violen denken können, hinzutreten.
Die Anregung hierzu mag Schütz wie später Bach der
Oper entnommen haben, in welcher bereits bei Monte-
verdi besonders wichtige Reden der Hauptpersonen außer
mit dem Continuo auch noch durch Streichinstrumente
begleitet werden. In der zweiten Hälfte des 4 7. Jahr-
hunderts findet man in der altvenetianischen Oper als
ständige Erscheinung, daß die Rezitative der in den
*) Musikalische Werke der Kaiser Ferdinand III. etc. heraus-
gegeben von Guido Adler.
'
häufigen Beschwörungsszenen auftretenden Geister (om-
brae) von hohen und äusgehaltenen Geigenakkorden ge-
stützt werden. Auch Steffani hat in seinem »Trionfo di
fato« diese geheimnisvollen Violintöne, da wo sich die
Schatten des Hektor und des Anchises treffen. Als in
die Passion Instrumentalmusik eingeführt war, entnahm
sie der Oper diese wirksame Begleitungsformel als ein
willkommenes Mittel des feiertichen Ausdrucks. So fin-
det es sich zuerst bei Sebastiani, später gleichzeitig mit
Seb. Bach, der es in der Matthäuspassion ganz besonders
eindringlich verwertete, in Passionen von Keiser und
Telemann, welche es jedoch nicht für alle Reden Christi
verwenden.
Man hat den treffenden Vergleich gemacht, daß Bach
und die mit ihm genannten Passionskomponisten die be-
sondere Klangfarbe der Violinfen wie einen Heiligenschein
um die Gestalt Christi legen. Schütz verwendet seine
begleitenden Instrumente anders, in einer lebhafteren
Weise. Als der Herr zum Sterben kommt und in den
überwältigenden Sätzen, welche Schütz über die Worte:
>Es ist vollbrachte und »Vater, ich befehle meinen Geist
in deine Hände« geschrieben hat, seine Stimme ins
Stocken kommt^ da tönt aus den Melodien und aus den
kurz hingetropften Rhythmen der Begleitung Klagen und
Zittern. An andern Stellen vervielfältigen die Instru-
mente die Worte Christi in bedeutungsvollem Echo und
zuweilen hüllen sie dieselben wie in feierliche Dämme-
rung.
Der tiefe Eindruck, welchen die eigenen Reden Christi
in der Komposition von Schütz machen, wird noch ver-
stärkt durch die sie umgebenden Rezitative des Evan-
gelisten. Dieser edel ruhige Ton erhabener Ergriffenheit,
welcher die meisten Sätze des Erzählers kennzeichnet,
ist nie wieder übertroffen und nur selten erreicht worden.
Wer nicht Musterstücke aus der Jugendzeit des begleiteten
Sologesanges kennt, wie den Schluß des Combattimento
von Monteverdi, seinen Klagegesang der Arianna, die
Eingangsszene seiner >Incoronazione«, wird an Stellen
t
46
■
wie »Es stund aber bei dem Kreuze Jesu Mutter und
seiner Mutter Schwester, Maria, Gieophas^ Weib« sich
ganz modern berührt fühlen. Das Pathos dieser Deklama-
tion ist von einem Gehalt, welcher alle Zeiten überdauert.
Nachdem Jesus verschieden, deckt das Orchester mit
derselben Symphonia, die wir am Anfange hörten, das
kurze, ergreifende Passionsbild wieder zu, und eine fünf-
stimmige Conclusio, welche im Anfang dem Introitus
ähnelt, im Tone frommer Hoffnung mit nachdrücklichem
Verweis auf das »Dort« des ewigen Lebens ausklingt,
schließt die andächtige Feierlichkeit.
Das Entstehungsjahr der »Sieben Worte« kennen wir
E. Sohflts. nicht. Für die »Historia von der Auferstehung
Die Historia Christi« steht 4623 als Datum des von Schütz selbst
von der Auf- veranstalteten Druckes fest. Wir dürfen aber aus der
erstehang. Musik schließen, daß die »Sieben Worte« das spätere
Werk sind; denn wo sie sich mit der Auferstehungsge-
schichte in den gleichen Formen begegnen, zeigen sie eine
unvergleichlich größere Reife. Die »Sieben Worte« können
als dasjenige Werk bezeichnet werden, welches am besten
geeignet ist, die Bekanntschaft mit Schütz zu vermitteln:
es zeigt auf einmal viele Seiten seiner Kunst und es zeigt ihn
in allen alsMeister. Auf die »Auferstehung« hat Schütz selbst,
wenigstens in dem Augenblicke, wo er sie vollendet hatte,
viel gehalten. An ihrem Schlüsse stehen die beiden Verse:
OhrlBte, Resurrexit, cecinit,
mea Musica,
Christa, beatiflcum, dicquoqne,
Sarge, mllii.
Sic nunc mortall cecini qnod
voce, resargens
Voce immortali tunc tibi Christe
canam,<
Herr Christ, hienieden hat mirs
gelungen
Das ich dein' Urständ hab ge-
sungen,
Herr Christ, heiß mich am
jüngsten Tag
Auch auferstehen aus meinem
Grab,
So will ich dich mit ewiger
Stimm'
Im Himmel loben mit Sera
phim.
Aber das Werk als Ganzes ist für die praktische Wieder-
belebung verloren. Es ist ein unfertiges Gemisch von alten
und neuen Formen. Der Evangelist singt Choralton in
der für die Osterlektion hergebrachten (oben, S. 41, im
Hauptmotiv skizzierten) Formel. Das ist das Alte. Das
Neue in der Partie des Evangelisten besteht darin, daß
vier Gambenviolen diesen Choralton mit Akkorden beglei-
ten. Eine oder die andere soll (nach niederländischer Or-
ganistenweise) Passagen in die ruhende Harmonie hinein-
spielen dürfen. Auch ohne diese Improvisationen sind
schon Dissonanzen genug da. An bedeutenden Schluß-
stellen der Erzählung, oder auch wenn ein malerisches
Bild lockt, verläßt der Evangelist mit seinen Gamben den
Choralton und begibt sich ins Bereich der rhythmisierten
Melodik. Christus, Maria Magdalena und der Jüngling
im Grabe sind im Stil der Motettenpassion gehalten und
singen der eipe, wie die andere zweistimmige Sätze.
Doch ist. in der Vorrede das moderne Zugeständnis
gemacht, daß die zweite Stimme durch ein Instrument er-
setzt werden oder wegbleiben kann. Der untergeschrie-
bene Viadan ansehe Generalbaß erlaubt auch diese zweite
Form. In den Gesängen der drei Marien haben wir rich-
tige dramatische Terzette, in den Reden des Cleophas
und seines Gesellen, in denen der zwei Engel, der zwei
Männer im Grab ebensolche Duette. Sie und diejenigen
Sätze, in welchen sich Christus, ebenso die kürzeren
Abschnitte, in welchen sich der Evangelist auf den
Boden des neuen Sologesanges stellt, sind aber nichts
weniger als Muster der Gattung. Vielmehr stehen sie
auf der untern Stufe der Entwickelung, die wir in der
Florentinischen Oper ungefähr bei Gagliano antreffen.
Der Melodienbau bewegt sich in Extremen: Trockenheit
und Überschwang. Unvermittelt geht es aus regelrechten,
aber sehr stückweise zusammengesetzten Kantilenen in
Koloraturen und Läufe, für welche im Text gar keine
Veranlassung vorliegt. Wenn die Oper »Daphne«, welche
Schütz vier Jahre nach dieser Auferstehungsgeschichte
komponierte, nicht besser gewesen ist, so haben wir ihren
Verlust nicht sehr zu bedauern. Es ist selbstverständlich,
daß bei einem Genie, wie das Schützens, auch in einem
im Ganzen verfehlten Werke doch noch sehr viel Packen-
des und Bedeutendes übrig bleibt. Es findet sich nament-
lich in dem herrlichen Tone, der in den Gesprächen herrscht,
welche Cleophas und sein Geselle mit Jesu halten. Auch
die Reden des Letzteren enthalten Stellen von mächtiger
Hoheit. Eine solche ist z.B. das erste >Friede sei mit Euch«.
Geniale Detailmalereien ziehen sich in reicher Zahl durch
das Werk: Eine der bedeutendsten ist in dem Gesang der
Hohenpriester »Saget, seine Jüng6r kamen« bei dem Worte
»schliefen« zu finden, eine andere noch bedeutendere in
der Rede Jesu, auf dem Wege nach U 4 l^ /^
Emmaus. Die Modulation, in der er die Vi _ '^ y^ 1*^^^ ^
beiden Jünger wegen ihrer Traurig- f f ' ** ' t»
keit be&agt^jzeigt wieder ganz direkt ^** "
den Einfluß, den die Werke Monteverdi's auf Schütz geübt
haben.
Wirklich groß sind in der »Historie der Auferstehung«
die Stücke, welche der alten Kunst angehören : der Chor-
komposition. Das Werk hat nur einen dramatischen Chor,
die Rede der elf Jünger: »Der Herr ist wahrhaftig auf-
erstanden usw.« Schütz hat in ihm, ähnlich wie in sei-
nen Psalmen, versucht die einfache Deklamationsweise des
Choraltons auf den Chorgesang zu übertragen, und dieser
halb wie Stammeln wirkende Vortrag paßt hier ganz
treffend zu der Lage der mehr erschrockenen als er-
freuten Jünger. Außer diesem dramatischen Chor hat
die Auferstehung nur noch die beiden üblichen betrach-
tenden Chöre, den Introitus und die Conclusio. Der In-
troitus hat die aus den Passionsevangelien bekannte An-
lage, nur am Schlüsse ist die Freude über die »Beschrei-
bung« bis zu einem naiven Übermut gesteigert, der in
einer Kette leichter Dissonanzen dahinspringt. Die Con-
clusio des AuferstehungseVangeliums hat auch bei den-
jenigen Komponisten, welche dasselbe, wie Scandelli
und Besler,im Motettenstile behandeln, einen sehr reah-
stischen Zug: Der Evangelist ruft von Anfang an in das
"-< 49 ♦—
fromme: »Dank sei Gott, der uns den Sieg gegeben hat,
durch unsren Herrn Jesum Christum« immer kräftig »Vic-
toria« hinein, bis der ganze Chor in diesen Freudenruf
mit einstimmt. Diesen Zug, welcher wohl aus den alten
verweltlichten Osterspielen in die Osterlektionen hinüber-
gerettet ist, hat Schütz mit ersichtlicher Lust durchge-
führt. Die ganze zweite Hälfte seiner Gonclusio ist ein
allgemeines Victoriajubeln und führt die Phantasie aus
den feierlichen Hallen der Kirche hinaus in das unge-
zwungen fröhlich laute Treiben eines Volksfestes. Wir
sind bei diesem Stück mitten auf dem Weg von Palestrina
zu Händel.
In der von Schütz in den Passionen vorgeniommenen
Annäherung des Ghoraltons der Soliloquenten an das
Rezitativ, in der vollen Einführung des modernen Solo-
gesangs in den »Sieben Worten», in* der durchgeführ-
ten Instrumentalbegleitung, welche diesem Werke mit
der Auferstehungsgeschichte gemeinsam ist, haben wir
Elemente zu erblicken, welche der italienischen Oper und
dem italienischen Oratorium entstammen. Beide Kunst-
arten entstanden am Ende des 4 6. Jahrhunderts zu glei-
cher Zeit und unterschieden sich in\ihrer späteren Jugend-
periode im wesentlichen nur durch die verschiedenen
Stoffgebiete. Das des Oratoriums war die biblische Ge-
schichte, mehr noch die Heiligenlegende und das allego-
rische Drama. Als die Florentiner Hellenisten die durch
die Ausbildung des begleiteten Sologesanges umgestaltete
Musik zur Mitwirkung im Drama herbeizogen, leitete sie
die Illusion, daß die enge Verbindung des Dichterwortes
mit dem Geniuis der neuen Tonkunst das sichere Mittel
sei, das italienische Drama von Rohheit und Unnatur zu
reinigen und dasselbe der Form und dem Geiste des an«
tikeii Schauspiels zu nähern.
Doch es kam anders. Herrschsüchtig und unreif
zugleich, bahnte sich die Musik bald bequemere und
dankbarere Wege neben dem Drama her und brachte
es bald dahin, daß durch ihre ununterbrochene Mit-
wirkung die Führung der Handlung mehr geschädigt als
U, 4. 4
50 «=> —
gefördert wurde. Schon um die Mitte des 17. Jahrhunderts
dringt dieGommediadeirarte, die Stegreifposse, in das welt-
liche und geistliche Musikdrama ein. Opern und Oratorien
füllen sich mit kleinen und großen Liedern, mit arienartigen
und anderen Neubildungen des vorwärtssttirmenden und
von der Menge in seiner Selbstherrlichkeit begünstigten
Sologesanges. Ihr Textinhalt bildet zum größten Teil nur
einen Mißbrauch der dramatischen Gelegenheit. Das Vor-
drängen des betrachtenden und empfindsamen Elements,
das überwuchern einer in vielfache Gestalt gekleideten
Lyrik bildet von da ab einen wesentlichen Grundzug
auch der Passionen. Bibeltext und biblische Handlung
werden in Oratorienart lyrisch ausgeschmückt oder er-
drückt. Es entsteht im 18. Jahrhundert dieoratorische
Passion und tritt nicht blos musikalisch, durch Instru-
mentalbegleitung und Rezitativ, sondern noch vielmehr
textlich in Gegensatz zu ihren Vorgängern: der Choral-
und Motettenpassion. Dieser Grundzug kennzeichnet die
oratorische Passion. Nicht blos Rezitativ und Instrum eutal-
begleitung unterscheidet sie von den beiden andern Grup-
pen der Passionskompositionen, sondern vor allem die
lyrische Ausschmückung der biblischen Handlung.
In Deutschland hatte sich der Passionstext sowohl
in der Choralpassion wie auch in der Motettenpassion
bisher streng auf das Bibelwort beschränkt. Introitus
und Conclusio stehen wie Rahmenleisten außerhalb des
Evangelienbildes. An der letzteren fing man schon frü-
her an zu ändern : Zusätze zu machen, wie mit dem >Ecce
quomodo« des Gallus, welches siph bei Vopelius findet,
oder wie Burgk und Schütz ein liturgisches Stück von
ganz anderem Inhalt an ihre Stelle zu Bringen. Daser
hat gar statt der Danksagung ein » Miserere <. In die Er»
Zählung und Darstellung der Leidensgeschichte selbst aber
drängt sich nirgends ein fremdes Wort. Es sei denn das
> Pater noster«, welches in katholischen Passionen regel-
mäßig nach dem Verscheiden des Herrn vorgeschriel)en
ist Ähnlich sind noch Hammerschmidts Passionen
gehalten. Auch Schütz hat in seihen > Sieben Worten« und
in der Auferstehungsgeschichte nur die musikalischen
Elemente des Oratoriums zugelassen , der Text dieser
Werke ist rein biblisch; immer den Einleitungs- und
Schlußchor abgerechnet. Die erste deutsche Passion,
in welcher zu der biblischen Darstellung oratorienmäßige
Text-Zutaten treten, ist, soweit bis jetzt bekannt, die des
Königsberger Kapellmeisters Joh. Sebastiani*), eines Joh, Sebastiasi,
aus Weimar gebürtigen Thüringers. Sie ward in dem Matthäus-
I Jahre gedruckt, in welchem Schjltz starb: 4 672. In diesem passlon.
Werke begegnet uns zum ersten Male fest nachweislich
das Luthersche Kirchenlied. Die Choräle nehmen hier in
erster Linie die Stelle ein, welche die Arie im italienischen
I Oratorium hat, nicht bloß in dem Sinne der Dichtung,
I sondern auch nach der musikalischen Form. Es sind
i Sologesänge für den Sopran, der vom Continuo**) und
4 Violen begleitet wird. Jedoch sollte, wie in dem 1686
erschienenen Auszug bemerkt wird, die Gemeinde, we-
nigstens bei einigen, mitsingen können. Die benutzten
Kirchenlieder sind: >0 Welt, ich muß dich lassen«,
»Gott sei gelobt und gebenedeiet«, »Vater unser im
j Himmelreich«, »0 Lamb Gottes« (dreimal an verschiedenen
! Stellen), »Erbarm dich mein « , »Führ uns, Herr, in Versuchung
nicht«, Herr Jesu Christ, wahr'r Mensch und Gott«, »Herr,
' meinen Geist befehl ich dir«, »Mit Fried' und Freud' fahr
I ich dahin«, »0 Traurigkeit, o Herzeleid«. Dem Sopran sind
außer der Chorallyrik auch dramatische Partien, nämlich
das »Weib des Pilati« und die »zwei Mägde« übertragen.
Der Evangelist, vom Continuo begleitet, stützt sich in seiner
*) Handschriftlich Berlin : Kgl. Bibliothek, Ein gedrucktes
Exemplar (Königsberg 1672 bei Reußer) in der Universitätsbib-
liothek zu Königsberg. 1686 wnrde eine Fassung veröffentlicht :
»DerGemeine zum Besten, woraus sie selbst mit lesen und singen
kann«. Das Werk liegt seit kurzem als Band 17 der »Denk-
mäler deutscher Tonkunst« im Neudruck vor.
••) Für seine Besetzung sind außer Orgel, Positiv und
Oembalo aach noch als »subtilere Instrumente« Lauten und
Theorben vom Komponisten gewünscht.
5«
Rezitation allerdings auf gewisse stereotype Schlußformeln,
wie ja auch in Italien die Bezitative in der ersten Periode
die Madrigalenreste noch mit sich herum tragen. Aber
er deklamiert doch im Ganzen immer mit einfachem Aus-
druck und hebt einzelne Details der Erzählung sehr ein-
dringlich hervor. Besonders bemerkenswert ist die Stelle
i T 1^ .fi J) >i I h. ii| II I ii I I
und f is , gen an su ttan . orn vaä n i» , gßu
und die Episode bei der Gefangennahme Jesu, wo der
eine Jünger dem Knecht des Hohenpriesters das Ohr ab-
schlägt.. Die Partie Christi ist in dem zuweilen unbehol-
fenen häufiger aber sehr machtvollen Stile gescturieben,
der für die Baßgesänge in der ganzen Anfangszeit der
Monodie bis auf Carissimi hin beliebt war : Der singende
Solobaß ist an den Harmoniebaß gekettet. Mit anderen
Deutschen pflegt ihn auch Schütz z. B. in der Aufersteli-
ungfthistorie und in den »Sieben Worten c. Freier stilisierte
Stellen, in denen zugleich der Ausdruck leichter zu ver-
stehen ist, finden sich bei »Ich werde den Hirten schlagen«
und bei »Ehe denn der Hahn krähet«. Das »Eli« läßt in
eignen Wendungen — die Oktaven sind eigentümlich —
einen Typus erkennen, der dem in der Schütz^schen
Matthäuspassion verwandt ist:
Langsam.
&. iL E . 1i. E . U.
Die VioUnen begleiten außer Christus keinen zweiten
Solisten, aber sie spielen noch in den Chören mit. Soweit
letztere zur Handlung gehören, sind sie einfach und
knapp, jedoch scharf gezeichnet und entschieden im Aus-
druck. Wir geben eine Probe:
^
Sopran.
Alt.
Tenor.
Baas
Sein Blut koi
%.. ber «BS
vaA ^A>n
S«b Blut
fi . Mr sn» md va^fjn Kin
'<^ 53
IB
se . te
Klo . derl
I '^'' I
i^
V
^^m
M/
Der Gonclasio »Dank sei dem Herrn« folgt noch ein
zweites Danksagungslied, »welches ganz zum Beschluß
nach den Kollekten kann gesungen werden.«
Der Introitus wird durch folgende Sinfonie der 4 Violen
mit dem Gontinuo eingeleitet:
Unmittelbar an den letzten Akkprd schließt sich der
Chor an-
— ^ 54 ^^—
HS . ret das Lei
•den und Ster .. ben «n.serjiHer.
(4.VioIa und Cotatintto gleieUaatend mit Singbass.)
ren Je.sa Chri
sti nadi dem hei. liegen Mat . thä
Ol
1^
Mk ,- I n 1 . ■ , I . ,-Ä-,
Prri|n-| I ,1 ij 1 1 i| ni ii.i j II'' r^i
pr if I I iJ jifyi.^— 1^ V'-^m
hl! ifrri . ir j j ii ^'i ji
Ä
— -<^ 5 5 -o^—
Das Gahrieli'sche Muster ist in diesen beiden Stücken
ebenso deutlich zu erkennen wie in der Einleitung der
»Sieben Worte« von Schütz. Sebastiani folgt der ita-
lienischen Schule weiter als der Dresdner Meister » er
folgt ihr bis in die Vorrede seiner Passion, welche nach
dem Vorbilde in den venetianiscfhen Öpernlihrettis in
zwei Teilen gegeben wird. Der zweite, an den Leser
gerichtete, welcher nebenbei auch mitteilt, daß der
Komponist auf dieselbe Manier wie diese Passion einen
ganzen Jahrgang Evangelien ausgesetzt und mit Kirchen-
liedern versehen habe, ist besonders interessant durch
die Notiz, daß an zwei Stellen der Passion Pausen ein-
treten und während derselben auf die Leidensgeschichte
bezügliche Bibelabschnitte verlesen werden sollen. Daraus
geht hervor, daß der Zusammenhang der Passionsmusik
mit dar alten Evangelienlektion ganz aus dem Bewußt-
sein geschwunden war, und daß das ernstlichste Hinder-
nis für die weitere oratorienmäßige Ausgestaltung der
ersteren, wenigstens in Königsberg, als beseitigt gelten
konnte.
Ton einigen steifen Stellen abgesehen, darf die Pas-
sion ^bastianis auch heute noch für musikalisch lebens-
fähig erklärt werden. Höher ist ihr kunstgeschichtlicher
Wert Mit ihr ist der Obergang zur oratorischen Passion,
zu welcher am Ende des 47. Jahrhunderts die Neigung
in allen Musikländern, auch in Frankreich, drängte, gegen
welchen aber Schütz noch seine Einwände und Bedenken
haben mochte, für Deutschland grundsätzlich vollzogen.
Schon das Jahr 1673 brachte eine Passion von Th eile*),
in der ebenfalls Choräle unter dem Titel »Arien« einge-
legt sind. Derartige Werke mehren sich; gegen das Ende
des Jahrhunderts finden wir in den Gesangbüchern Pas-
sionstexte mit eingelegten Liedern, ein weiteres Zeichen,
daß die Gemeinde diese Lieder mit sang. Daneben bleibt
aber der Choral auch für eine Solostimme, als Ersatz der
*) In den »Denkmälern deutscher Tonkunst« mit der von
Sebastiani in demselben Band neugedruckt.
kunstvollen Arie bestehen. Drittens machen die Choräle
der wirklichen Kunstarie Platz. Sie wird in den ^ßeren
Städten die herrschende Form für die Passionseinlagen;
aber ganz mochte man auch auf dem Dorfe und in der
Provinz nicht auf sie verzichten.
Die Motettenpassion hatte die einfachen musikali-
schen Formen der Ghoralpassion nur vorübergehend in
Schatten gestellt Die oratörische Passion untergrub sie
oder wandelte sie völlig um. Aber sie gefährdete auch
das- Bibelwort, verdrängte es überhaupt oder setzte es
an zweite Stelle. Lyrische und dramatische Umschrei*
bungen von geringem Geschmack treten an die Stelle
des Evangelientextes. Es gibt aus den Jahren 4700 — 80
eine ziemliche Reihe von Passionsmusiken, die ganz aus
gereimten Betrachtungen bestehen. Der Text der Evan-
gelien wird npi in der Form von Oberschriften verwendet,
die die einzelnen Teile, häufig als »Actus« nummeriert,
trennen, oder aber er wird zwischen diesen einzelnen
Teilen verlesen. Die Betrachtungen sind den Personen
der Leidensgeschichte in den Mund gelegt, aber nicht
ihnen allein. Man gesellt ihnen aus den P assions spielen
und aus anderen Quellen, dem italienischen Oratorium
z. B., alttestamentliche, frei erdichtete und allegorische
Figuren hinzu. Besonders beliebt sind unter ihnen die
Sulamith des Hohenliedes, die gläubige Seele imd die
Tochter Zions. Die letzteren wirken bekanntlich auch
noch bei S. Bach mehr verwirrend als bereichernd mit.
In der Musik über diese Texte herrscht der Sologesang ;
ganz wie in der italienischen Oper ist der Chor abgesetzt
Die Instrumentalmusik tritt breiter vor, aber nicht blos
in der Form von guten Lamentos, sondern auch unpassend
mit Virtuosensätzen. Diese Art von Passionen waren
ursprünglich für außerliturgische Andächten bestimmt;
sie drängten sich aber auch in den Gottesdienst Das
Telemann, Hauptstück dieser Gattung ist Telemanns dreiteiliges
Seliges Erwägen. Passionsoratorium: »Seliges Erwägen des Leidens und
Sterbens unseres Herrn usw.«, welches sich besondere
Berühmtheit erworben hatte. Es ist durchweg Solomusik,
y
welche Ansprüche an die Ausführung stellt. Nach dem
Plane -Telemanns, dem Gerber 44 Passionsmusiken zu-
schreibt, der also auf diesem Gebiet schon durch seine
Fruchtbarkeit eine Autorität war, arbeiteten die Lokal-
komponisten hier und da etwas Ähnliches für die vor-
handenen Krsifte zurecht.'*') Teile der Leidensgeschichte,
welche sich den gegebenen musikalischen Mitteln nicht
anpassen wollten, ließ man sprechen. So entstanden
Passionsmusiken mit verbindendem Text. ^ Einen Anteil
der Zuhörerschaft oder Gemeinde an diesen Mischwerken
künstlerisch-liturgischer Passionsfeier geben hier und da
ausgeschriebene oder nur angemerkte Choräle kund.
Schon in diese betrachtenden Umschreibungen des
Evangelientextes mischen sich hie und da dramatisch auf
das italienische Oratorium weisende Liebhabereien. Es
kommen Dialoge zwischen Christus und ^> dem Passions-
schüler« vor; die Hauptpersonen, Petrus besonders, halten
lange Monologe (Soliloquien). Bald bemächtigte sich diese
theatralische Richtung der ganzen Leidensgeschichte und
zwängte sie in Opernform. ]>as erste Werk dieser Gattung
ist »Der blutige und sterbende Jesus«, von Hunold in
Hamburg gedichtet, von R. Keiser in Musik gesetzt und fi. Xeiser,
in der Karwoche 4704 aufgeführt. Der Evangelist ist PasBion von
hier einfach gestrichen, alles Bibelwort umgedichtet und Hanold.
die ganze Handlung vollständig bühnengerecht ausgeführt.
In den alten Passionsspielen, die am -Anfange des 18. Jahr-
hunderts noch in lebhafterer Erinnerung des Volks waren,
hatte man es ebenso gemacht und kein Bedenken ge-
tragen, noch weiter zu gehen. War doch in ihnen sogar
die lustige Person der Stegreifkomödie eingeschoben
worden : man übertrug sie dem Knecht Malchus, der sich
das abgehauene Ohr besah, oder einem ganz frei zuge-
*) Johannespassion (Dnrlach 1719): »Seliges Erwägen« von
Ph. Müller, 1727 der Henogin EliBabetb von Würtemberg ge-
widmet. Seliges Erwägen, Schwerin (ohne Prnckjahr). Seliges
Erwägen, Passionsandacht in der geistlichen Seelenmnslk von
St Gallen -^727). Passion in sechs Teilen, Lndwigslnst 1770.
dichtetei^ Quacksalber, der den weinendei^ Frauen steinen
Kram anpries. Außerdem war diese theatralische 'Zurich-
tung der Passionsmusik nur der letzte, folgerichtige Schritt,
der aus dem Vergessen ihres Lektionscharakters und
ihrer Verbindung mit dem Oratorium hervorging. Denn
in seiner Heimat Italien wurde das Oratorium lange ganz
opernmäßig behandelt; selbst Carissimi folgt im Grunde
dieser Anlage. Gleichwohl drang aber die oratorische
Passion in der Form der Oper nicht durch. Es üanden
sich in Benjamin Neukirch und Ulrich König nur zwei
Dichter, welche sich Hunold anschlössen. Des letzteren:
»Tränen unter dem Kreuze Jesu« kamen, ebenfalls wieder
mit Musik von R. Keiser, in der stillen Woche des Jahres
'47H zu Hamburg zur Aufführung. Seebach und Bricau,
zwei weitere Poeten, wdche die Passion ebenfalls als
Theaterstück behandelten, lassen insofern schon den Rück-
zug merken, als sie das ßibelwort wenigstens in der Form
szenischer Bemerkungen'*'} mit hereinziehen. In dieser
Form begegnet uns, weit weg von Hamburg, eine Passions-
oper: »Der leidende und sterbende Jesus« im Jahre 4749
zu Durlach in der Komposition des dortigen badischen
J. P. Käfer, Hofkapellmeisters Joh. Philipp Käfer. Dieses Werk ist
Der leidende auf mehrere Tage verteilt , jeden Tag ein Abschnitt in
und sterbende zwei Hälften aufzuführen, die eine vor der Predigt, die
Jesus. andere nach der Predigt. Interessant ist, daß in sie
Solochoräle hineingezogen sind: Christus singt zu ver-
schiedenen Malen passende Gesangbuchverse, Petrus ein-
mal ein ganzes choralisches Bußlied von acht Versen.
Die Geistlichkeit in Hamburg erhob gegen die voll-
ständige Umwandlung der oratorischen Passion in die
Oper entschiedenen Widerspruch und sie ward darin durch
Dichter und Musiker praktisch unterstützt. Zu gleicher
Zeit mit dem Hunold-Keiserschen »Blutigen und sterben-
den Jesus« vom Jahre 1704, möglicherweise noch vorher,
wurde in Hamburg eine »Passion nach dem Evangelisten
*) Diese szenischen Bemerkungen sind auf das italienisehe
Oratorium des 16. Jahrhunderts zurückzuführen.
-— ^ 59
Johannes« aufgeführt, welche de^r zu jener Zeit in der
Stadt weilende junge G. F. Händel komponiert hatte. 0. F. Bündel,
In ihr ist das Bibelwort und der Evangelist in seinem Johannes-
Rechte belassen; der Dichter, der Lizentiat Postel, hat passion yon
das oratorische Element auf frei gedichtete Verse be- Postel.
trachtenden Inhalts beschränkt. Diese Verse sind oft
geschmacklos genug: Als die Kriegsknechte die Kleider
Jesu verteilen, empfängt der erste von ihnen den ihm
zufallenden Teil mit den durch mehrfache Wiederholung
immer lächerlicher werdenden Worten: »Du mußt den
Rock verlieren«. Sie erhalten musikalisch die Form der
Arie. Choräle kommen in dieser Passion nicht vor. Die
Musik im Werke setzt ziemlich schwach ein. Die Arien,
auch wenn sie der Taktzahl nach kurz erscheinen, sind
durch unnötige Zwischenspiele ins Breite gezogen, die
Chöre ermangeln des dramatischen Ausdrucks, sie haben
in der Mehrzahl kaum einen erkennbaren Charakter.
Gegen die Mitte des Werkes zu erhebt sich aber der wahre
Händel. Man merkt ihn zuerst an der Baßarie: »Er-
schüttere mit Krachen«, einer seltsamen und großartigen
Nummer, vor der man erschrecken kann. Wo die Unter-
handlungen zwischen Pilatus und dem Volke erregter
werden, kommt auch in die Chöre Leben und Feuer.
Christus singt Baß und durchweg in einem edel gehaltenen
Tone. Nur an der Stelle: »Es ist vollbracht« erscheint
eine ausgeführte Koloratur, die in der Intention schön ge-
nannt werden muß, schlecht ausgeführt aber wohl leicht
mißverstanden werden und als Abfall vom Stil getadelt
werden kann. Mit besonderer musikahscher Kunst ist
der Pilatus behandelt. Von den tonmalerischen Zügen,
an denen später Händeis Musik immer reich ist und für
welche die Passionsmusik herkömmliche Gelegenheit bot,
findet sich in dieser Johannespassion wenig. Hervor-
tretend ist in dieser Beziehung nur eine Stelle am Ein-
gang, wo Händel das Geißeln zeichnet. Das tremolierende
Streichorchester nach Venetianischem Vorgang, zum Aus-
druck stark bewegter Affekte von dem späteren Händel
gern benutzt, findet sich in einer Nummer des Soprans:
»Bebet, ihr Bergec. Der Schlaßchor: »Schlafe wohl nach
deinen Leiden« ist hervorragend durch die schöne Be-
handlung der Singstimmen: Sopran und Alt lösen sich
abwechselnd vom Tutti der anderen mit tief ausdrucks-
vollen Melodien los. Lange Zeit war die^e Passion nur
durch eine sehr hämische Rezension Mattiiesons, welche
in der »Gritica musica« fast soviel Seiten einnimmt, als
das Notenwerk selbst enthält, bekannt. Die Gesamtaus-
gabe der Deutschen Händelgesellschaft bringt es im neun-
ten Bande, und Ghrysander hat sehr Recht, wenn er dort
im Vorwort den musikalischen Gehalt dieses kleinen Pas-
sionsoratoriums als erheblich, bedeutend und von echt
Händelschem Gepräge bezeichnet '*').
Wir begegnen Händel in der Geschichte der Passion
noch zweimal. Zuerst mit einem kleinen Osteroratorium
0. F. Händeli »La Resurrezione«, welches beim zweiten Aufenthält des
Resnrrezione. Komponisten in Rom, im Frühjahr 4 708, entstand und
vollständig im Stil der damaligen italienischen Oper
gehalten ist. Nur zwei kurze Chöre finden sich darin.
Die »Resurrezione« hat zwei Teile; der erste spielt in
der Ostemacht: Johannes verkündet der trauernden Mad-
dalena, daß Christus am kommenden Morgen sein Grab
verlassen werde. Der zweite Teil führt an das Grab:
Der Herr ist auferstanden. Als dramatische Füllperson
ist der sehr schönen Dichtung noch die Figur des Lucifer
eingefügt worden. Händel stellt ihn in mehreren furiosen
Baßarien dar, welche von bedeutender Wirkung aber
auch sehr schwierig sind. Noch mehr als Polyphem in
»Aci e Galatea« bewegt sich der Fürst der Hölle in Riesen-
intervallen, — auf dem Worte >abisso<d-Gis, gleichlautend
mit einer Stelle in dem Rezitative des Claudio in Hän-
deis > Agrippina« — wie sie die damaligen Italiener liebten,
um musikalisch anzudeuten. Auf »lunghi« setzt Scarlatti
einmal eine Undecime, und an ähnlichen Beispielen ist
die Kantatenkomposition der damaligen Zeit reich. Das
*) Ihm widersprechend hat neuerdings Ed. D. Rendall die Echtheit
der Johannespassion bestritten (Zeitsch. d. I. M. G. VI, S. 143 ff.).
musikalische Hanptstück der »Resurrezione« ist die Arie der
Maddalena: '»Ferma Tali«. Ihr Hauptsatz ruht auf einem
Orgelpunkte, freundliche Melodien ziehen kanonisch darüber
hin ; der Klang gedämpfter Violinen, sanfter Flöten und weich
arpeggierender Gambenviolen vollendet das eigentümliche,
nächtliche Kolorit Überhaupt ist die Instrumentierung dieses
Oratoriums s«hr bemerkenswert. Man sieht ihr das Bestreben
an, außergewöhnlich zu sein; das Orchester hat zuweilen
förmlichen Konzertcharakter und glänzt durch die Fülle (vier-
fache Violinen) und die Art der Besetzung. Das Werk kam
in der Kapelle des Kardinal P. Ottoboni zur Aufführung.
Die dritte Passionsmusik Händeis entstand im Jahre
^716 zu Hannover, wo ihm »Der für die Sünde der Welt -
gemarterte und sterbende Jesus« des Hamburger Ratsherrn
Brockes in die Hände kam. Der Unnatur in der Dichtung, Ch< F. E&ndel,
wie in der Oper so auch hier kühl gegenüberstehend, hat Passion von
Händel in diesem Werke einen großen Teil gewöhnlicher Brockes.
Musik geschrieben. Aber mit der Situation wird auch die
Musik groß. Sehr bedeutend ist die ganze Szene von dem
Gebet in Gethsemane an bis zur Verleugnung des Petrus.
Besonders treten daraus hervor : Christi Arie: »Mein Vater,
schau, wie ich mich quäle«, eine Arie der Tochter Zion:
»Brich, mein Herz, zerfließ in Tränen« und ganz beson-
ders die (später für »Esther« verwertete) Nummer: »Er-
wachet doch« — ein ganz merkwürdiger Vorläufer einer
erst später zur Ausbildung gekommenen Musikform: des
dramatischen Ensembles. Sebastian Bach hat sich die
erste Hälfte dieser Passion, Händeis letzte größere deutsche
Vokalkomposition, eigenhändig abgeschrieben; die Abend-
mahlsszene in der Matthäuspassion ist aber das Einzige,
was auf dieses genaue Studium hinweist.
Die genannte Dichtung von Brockes hat in der Ge-
schichte der Passionsmusiken eine große Bedeutung. Sie
schlug alle weiteren Versuche zu einer rein opemmäßigen
Behandlung der Leidensgeschichte einstweilen in Nord-
deutschland aus dem Felde und söhnte die Vertreter der
Kirche mit der oratorischen Passion wieder aus. Uns
kommt die Dichtung von Brockes, der in G. Reuter,
dem Verfasser des »Scbelmuffsky«, einen Vorgänger hat*),
allerdings noch opemhaft genug Yor. Ganz nach dem
Muster des italienischen Dramas erdrückt eine Unmasse
empfindender Betrachtungen die Handlung. Die Sprache
jagt nach Bildern und verliert sich in ihrer Sucht nach
Deutlichkeit bis ins Ekelhafte. Die Leidensgeschichte ist
dargestellt im Lichte einer krankhaften Phantasie, die zwi-
schen Rohlieit und Überfeinerung hin- und herschwankt
und der Gesamteindruck ist der einer prunkenden und
' übertreibenden Geschmacklosigkeit. Nichtsdestoweniger
galt die Dichtung von Brockes lange Zeit für ein
Muster. Dem kirchlichen Sinne kam sie dadurch ent-
gegen, daß sie den Evangelisten beibehielt, der den Bibel-
text in freier Umdichtung vorträgt, und daß sie unter
die madrigalischen für den Ariengesang bestimmten Ein-
lagen auch bekannte choralische Kirchenlieder einflocht.
Den Musikern aber bot sie in der Einteilung der Hand-
lung in abgeschlossene Szenen dankbare Aufgaben
moderner Natur. Die Fassionsdichtung von Brockes wurde
wahrhaft populär: man las sie und erbaute sich an ihr
auch ohne Musik. Sie war mehr verbreitet, als später
Klopslocks »Messias«; im Süden wie im Norden kannte
man und zitierte den berühmten Brockes, und wie sehr
»Der gemarterte und sterbende Jesus« allenthalben ge-
läufig war, kann man daraus ersehen, daß er an sehr
vielen Orten ohne Nennung eines Dichters aufgeführt
und neu gedruckt wurde. Er ward zum Gemeingut, und
wenn irge'ndwo für eine in der Hauptanlage biblische
Passionsmusik ein paar Arieneinlagen gebraucht wurden^
nahm man die Verse am einfachsten aus Brockes. Auch
Bach hat das bekanntlich in seiner Johannespassion
getan.
Der erste Komponist, welcher die Passion von Brockes
&. Kelter, in Musik setzte, war R.K eiser im Jahre 4 71 2. Man kann
Passion yon dieses Werk nicht schlechtweg ungenügend nennen. Die
Brockes. ganze Eingangsszene bis zur Einsetzung des Abendmahles
*) F. Zarnke, a. a. 0.
y
— ^ 63 ^—
ist würdig und charaktervoll: der Einleitungschör; »Mich
voih Stricke meiner Sünden« klingt ernst und schwer;
die Reden Jesu sind weihevoll und stellen sich über den
weichlichen und süßlichen Ton, der aus der breiten
Sprache des Dichters hervordringt; hinreißend und rüh-
rend, an die ähnlichen Nummern der Schützschen Lukas-
pasadon erinnernd, wirken die kindlich liebevpllen Chöre
der Jünger. Gut ist auch die Arie der Tochter Zion:
»Brich, mein Herz«, ein Stück von schwerer Empfindung
beherrscht. Schwächer sind die Arien oder Arietten der
gläubigen Seele (Sopran), weil zu leicht im Ton, und die
Rezitative des Evangelisten weil zu sehr nach dem Reim
deklamiert und deshalb zerstückelt. Von dem Punkte
an, wo die Leidensgeschichte einen erregteren Charakter
annimmt, von der Gefangennahme ab', wird die Kompo-
sition hahnebüchen und roh. Das Quartett Christi und
der drei Jünger: »Erwachet doch«, der Chor der Schergen:
»Greift zu, schlagt tot«, auch die Arie des Petrus: »Gift und
Blut« sind Nummern, die in einer komischen Oper wegen
ihrer Realistik Lob verdienen würden; in die Umgebung
von Chorälen und gläubigen Bekenntnissen passen sie
nicht. Die Hauptschuld an dieser Stillosigkeit des Werkes
trägt freilich Brockes, und er hat dafür gesorgt, daß der
Komponist bis ans Ende nicht wieder aus ihr heraus kann.
Auch die Tochter Zion verfällt mit in die Sprache des
Hamburger Janhagel : »Was Bärentatzen — Löwenklauen«.
Nach der Verleugnung Petri wird der Ton in Dichtung
und Musik für eine Weile wieder feiner. Mit der Arie des
Judas: »Laßt diese Tat nicht ungerochen, zerreißt mein
Fleisch, zerquetscht die Knochen usw.« tritt ein heftiger
Rückfall ein.
In demselben Jahre 1746, wo Händel diese Passion
vonlBrockes komponierte, wurde sie noch von Mattheson J.JCattheson n.
und Telemann in Musik gesetzt. Proben aus diesen und Ot, F. Telemuin,
anderen oratorischen Passionen derselben Periode findet Passion von
der Leser zahlreich in Winterfelds »Evangelischem Kir- Brockes.
chengesang« und m Bitters »Beiträgen zur Geschichte des
Oratoriums«. Am berühmtesten und verbreitetsten war
Telemanns Komposition der Passion von Broekes. Wir
finden sie 4719 in Durlach, auf Früh- und Abendgoties-
dienst in vier Abschnitten verteilt, mit der Bemerkung
aufgeführt, daß Se. Hochfürstliche Durchlaucht an diesem
Werke nach dem Vorgang von Hamburg und Frankfurt
(a. M.) ein besonderes Seelenvergnügen gefunden. An
letztgenanntem Orte war das Werk entstanden.
Dem . fiSrockesschen Werke wurden viele Passionen
nachgedichtet; zuweilen mit noch geringerem Geschmacke,
als ihn das Original zeigt In einer der vielen Passionen
0. H. Btsiiel, des Gothaischen Kapellmeisters Stölzel — ihre Zahl wird^
Passion vom auf 14 geschätzt — wird die ffgLUze Leidensgeschichte in
Jal&ie 1727. Form einer Unterhaltung abgehandelt, welche Christus und
die anderen aktiven Personen des Evangeliums mit einer
Reihe von Schafen (dem gläubigen, dem demütigen, dem
reuigen usw.) führen. Ein ungeheuerlicher allegorischer
Apparat dringt auch in diejenigen Passionen ein, welche
im wesentlichen an dem Texte der Evangelien festhalten.
G. H. Telemann So finden wir in der zweiten Markuspassion von Tele-
Matkus- mann [vom Jahre i 759) die Andacht, den Eifer, die Treue,
passionen vondie Klugheit, die Nachahmung, den Mut, die Liebe, die
1729 u. 1769. Gerechtigkeit, die Stimme Gottes; daneben noch den
Christ und den Sünder. In seiner ersten Markuspassion
vom Jahre 4729 begnügt sich Telemann noch mit der
gläubigen Seele allein. Sie singt da zärtliche, zuweilen
schmachtende Baßarien. Auch Christus ist in diesem
Werke mehr anmutig, als würdig behandelt. Seine Worte
zum Schutze des Weibes, welches das Wasser auf sein
Haupt gegossen: »Laßt sie mit Frieden«, tänzeln im Vs-Takt.
Die Einsetzungsworte _ , f. ^_.f . ^, . . ^
fangen mit übertrie- .^1*'' \ LT I ' f ^ T P ?P P ^^.
benem Pathos an: KeiL-Äet. «s.tet ^a» u% »rf» LeJbi
Die Stelle: »Ich werde den Hirten schlagen« ist der von
S. Bach in der Matthäuspassion gewählten Fassung ähn-
lich. Eine plötzliche Beweglichkeit bei diesen Worten darf
für die oratorische Passion als tra- ^^i""^ W
ditionell angenommen werden. Von 3
hervorragender Schönheit ist das x . . lu.
Zu der aus diesem Motive gebildeten, wie in Bedräng-
nis und ans umdämmertem Sinn, aus überirdischer
Sehnsucht heraus fragenden und suchenden Melodie
gibt das^ Orchester, in Achteln zitternd, spannende yer-
minderte Akkorde. Die Chöre nähern sich der Realistik
Keisers. Die der Juden sind alle im Presto zu dng:en.
Hervorragend ist das »Kreuzige« durch ein mächtiges
Unisono aller vier Stimmen, welches dann in kurze har-
monisierte Motive übergebt, welche die Massen als vor
Wut bebend hinmalen. Hasse in Dresden schrieb sich
diese Markuspassion Telemanns eigenhändig ab. In der
dreißig Jahre später vorgenommenen zweiten Bearbei-
tung desselben Evangeliums hat Telemann den Haupt-
nachdruck auf eine dramatische Wirkung seiner Arien
gelegt Alle die personifizierten Tugenden, welche die
Besetzung dieses Werkes bilden, singen in einem auf-
geregten Stile, der durch die wiederholt vorkommenden
Vortragsbezeichnungen: »plötzlich«, »hurtig«, »aufgebracht«
auch äußerlich kenntlich gemacht wird. Sie treten da-
durch in einen schön Wirkenden Gegensatz zu den Redea
Christi, welche durchweg in einem ruhigen und edlen
Rezitativton gehalten sind, der die frühere Markuspassion
weit hinter sich läßt. Sehr fein an die alte Weise
Hammerschmidts anknüpfend, ist am Ende des Werkes
der Choral: »Lobt Gott, ihr Christen, allzugleich« als
Instrumen^almelodie in die Arie der »Stimme Gottes« und
in die der »Religion« eingewebt, bei der ersten durch die
Flöte, bei der letzten durchs Fagott.
Als Sebastian Bach in die Fassionskomposition ein-
trat, war die ganze Gattung, wie wir aus dem Vorher-
gehenden ersehen, in einem Zustande des Schwankens
begriffen und in einen Kampf verwickelt, in welchem die
geistigen Anschauungen verschiedener Zeitalter und ganz
entgegengesetzte Richtungen der musikalischen Kunst auf
einander stießen. Di^ Choralpassion bestand noch in
doppelter Gestalt: in der alten ursprünglichen und in
einer modernisierten. Neben ihr drang die oratorische
Passion vor, noch unklar darüber, ob als das Hauptziel
II, 4. 5
die Kirche oder das Theater ins Auge zu fassen sei.
Auch Bachs Passionen tragen die Zeichen schwankenden
Wesens an sich; aber was sie außer der musikalischen
Genialität aus der Menge der gleichzeitigen Werke her-
aushebt — das ist die Klarheit und Entschiedenheit, mit
welcher Bach für die kirchlichen Elemente der Passion
eingetreten ist.
S. Bach hat fünf Passionen geschrieben: vier nach
den Evangelisten und eine nach einem Text von Pican-
der, in welcher dieser bekannte dichterische Mitarbeiter
des Leipziger Thomaskantors die Leidensgeschichte in
ähnlicher Weise wie Brockes behandelt hatte. Diese Pi-
candersche Passion ist ganz verloren gegangen; von
der Passion nach dem Evangelisten Markus sind nur
fünf lyrische Stücke in Bachs Trauerode auf den Tod'
der Königin Christiane Eberhardine erhalten.
8. Baoh (?) Von den drei andern ist die Lukaspassion erst in
LukaspMBion. jüngster Zeit in einem von Alfred Dörffel gearbeiteten
Klavierauszug gedruckt worden. Es steht aber dahin, ob
das ein Bachsches Werk ist. Sie ist handschriftlich nicht
beglaubigt*): in der Musik aber ist manches, was Verwun-
derung erregt. Daß sich Bach im Ton hie und da, wie im
Einleitungschor »Furcht und Zittern« mit geringeren Mu-
sikern begegnet, ist weniger hoch anzuschlagen ; denn das
ist ihm auch noch in Werken passiert, die wie das Weih-
nachtsoratorium, zu seinen reichsten zählen. Auch die Ein-
fachheit der Harmonie und Stimmführung, in den Chorälen
namentlich, findet sich ähnlich in Bachschen Jugendarbeiten
vor der Weimarschen Zeit. Aber befremdend ist die Tat-
sache, daß diese Lukaspassion in holprigen Baßgängen und
unreifen Modulationen manche Elemente birgt, welche
man sich mit Bach nur schwer zusammendenken kann.
Jedenfalls nicht mit einem 25jährigen Bach. Auf den
kommt man jedoch, wenn man mit Spitta die Entstehung
*) Max Schneider hat in einem Aufsatz über Bachs Lukas-
passion (Bach -Jahrbuch 1911) nachgewiesen, daß die Handschrift
des Werks (Berlin, Kgl. Bibliothek) kein Autograph S. Bachs ist.
des Werkes gegen das Jahr 474 0 setzt. Auf der andern
Seite enthält aber diese Passion auch Nummern und
Stellen, die Bachs nicht blos würdig, sondern die spezi-
lisch Bachisch sind. Sie berechtigen zu der Annahme,
daß wir es in dieser Lukaspassion doch vielleicht mit
einer Arbeit aus der Schulzeit zu tun haben, auf die
der Autor in den Jahren, aus welchen die Handschrift
stammt (4 732 bis 4 734], zurückgriff. Die Ansprüche des
Kircheudienstes waren nicht immer mit lauter neuen
und lauter Meisterwerken zu decken. So gut Bach Pas-
sionen von Keiser und Stölzel kopierte und aufführte,
konnte er in einer Zeit der Verlegenheit sich auch seiner
alten Lukaspassion erinnern. ,
Ein von der Johannes- oder Matthäuspassion Bachs
abgenommener Maßstab paßt auf diese Lukaspassion
gar nicht. Sie vertritt die Kindheit der oratorlschen
Passion und gehört in den Sebastianischen Kreis. Ist
sie unecht, was man mit sogenannten inneren Gründen
allein in diesem Fall nicht für bewiesen halten darf, so
ist sie doch wahrscheinlich Thüringisch. Dafür spricht
die Verwendung des evangehschen Kirchenlieds und des
protestantischen Altargesangs als Ersatz der Kunstarie,
welche die bescheidenen Mittel kleiner Kantoreien nicht
immer zuließen. Eine solche oratorische Landpassion
von Christian Wolff z. B., der von 4 730-— 63 in dem Christ. Wolff,
sächsischen Städtchen Dahlen wirkte, ein sehr anständiges MaTkuspusion«
und für den Zustand der Musikpflege Sachsens im 4 8. Jahr-
hundert rühmlich zeugendes Werk, hat nur 3 kurze Arien
und alle für Sopran. Die Lukaspassion hat 6 Arien
gegenüber 84 Chorälen. Unter den Arien sind einige nicht
unbedeutend; von den 3 Tenorarien kann die letzte
>Laßt mich ihn nur noch einmal küssen« entschieden
als hervorragend, gehaltvoll und originell bezeichnet
werden. Die Altarie >Du gibst mir Blut« erinnert leise
an das »Esurientes« in Bachs »Magnificat«. Aber auch
die schwächeren haben in der Instrumentation Bachsche
Züge. Zu den Arien tritt, ~ eine für die Zeit höchst
seltene Erscheinung — noch ein Terzett für i Soprane
5*
— ^ 68 4—
und Alt, welches auch für Chor gedacht sein kann: »Weh
und Schmerz in dem Gehären«. £s ist eine Nummer
von sehr einfachem Ausdruck, aher von großer Wir-
kung, zu welcher namentlich das Kolorit der des Baß-
tons entbehrenden Begleitung beiträgt. In diesem seinem
fahlen haltlosen Klang gleicht es ganz unverkennbar der
wunderbaren Sopranarie »Es zittern und schwanken« der
Bachschen Kantate: »Herr, gehe nicht ins Gericht«.
In der Chorpartie der Lukaspassion ist das orato-
rische Element nur in dem Einleitungschor »Furcht und
Zittern« bemerklich, welcher an die Stelle des alten halb-
biblischen Introitus getreten ist, und in den eingelegten
Chorälen. ^ Die biblisch dramatischen Chöre haben das
knappe Maß, wie es in der modernisierten Choralpassion
übhch ist. Von den Chören der Jünger stimmen beson-
ders die beiden letzten »Herr, hier sind zwei Schwert«
und »Herr, sollen wir mit dem Schwert dreinschlagen«
mit Schütz in der Auffassung überein. Sie bringen
nicht den Grimm, sondern den jugendlichen Mut zum
Ausdruck. In den Chören der Schriftgelehrteu und Juden
tritt die Erregung in den Vordergrund; stilistisch haben
sie ein starkes Bachsches Gepräge.
Was die Lukaspassion aber ganz besonders aus-
zeichnet — das ist die poetische Verwendung der Choräle
und der kleinen Einlagen, welche aus der Litanei, dem
Tedeum und dem Vaterunser entnommen sind. Nament-
lich mit den kurzen liturgischen Zitaten, in denen sie
einem Brauche folgt, der in Thüringer Passionen wieder-
holt vorkommt, werden sehr große Wirkungen erzielt.
Wenn an der Stelle, wo auf Gethsemane Christi Seelen-
angst beginnt, der Chor an Stelle der schlafenden
Jünger zu beten anfängt und aus der Litanei die weni-
gen Takte einsetzt: »Wir armen Sünder bitten«, wenn
er da, wo Petrus seinen Herrn verleugnen will, aus
dem Vaterunser singt »Führe uns nicht in Versuchung«,
so ist das, was die Situation zu empfinden gibt, «o fein
und eindringlich angedeutet, als es mit den glänzendsten
Mitteln der oratorischen Kunst nur immer geschehen
—^ 69 ^^—
kann und ohne daß die Darstellung der Handlung lange
aufgehalten wird. Von den Chorälen, die in der Lukas-
passion verwendet sind, haben drei eine Hauptbedeutung.
Es sind solche, die heute nicht mehr gebraucht werden
und die auch zu ihrer Zeit nur eine beschränkte Ver-
breitung genossen: Der erste ist: »Ich hab^ mein Sach^
Gott heimgestellt«. Er erklingt zum erstenmal in der
Form einer an Schütz und Sebastiani erinnernden Trauer-
Sinfonie nach dem Verscheiden Christi. Gleich darauf
nimmt ihn der Chor auf zu den Worten: »Derselbe mein
Herr Jesu Christ, vor air mein Sund gestorben ist«. Zum
letztenmal tritt er in die Tenorarie »Laßt mich ihn«
hinein. Der zweite ist: »Stille, stille ist die Losung«.
Stil . le, ttU . le Ut die Lo.tung dex Gott.lo . a«ii in derWtlt
Der dritte ist das Flittnersche Lied »Jesu, meines
Herzens Freud'«, welches wegen seiner freieren Rhyth-
mik niemals eigentliche kirchliche Geltung erlangt hat.
Zum ersten Male setzt es ein, wo Christus den Auftrag
ZU eSäen* ^ei. de mich und uuidk midi satt,, Himmels, tpei . sei
und zwar in einer Solostimme, die deutlich auf Sebastiani
hinweist Dieser Flittnersche Halbchoral durchzieht die
Lukaspassion, besonders erkenntlich und gibt ihr, wenn
man so sagen darf, einen gewissen traulichen Charakter.
Es ist nichts Großartiges in diesem Werke, aber ungemein
viel Sinniges. Kein »Barrabam« erschüttert uns, kein »Sind
Blitze, sind Donner« macht uns beben ; aber wenn der letzte
Akkord dieser Lukaspassion
vorüber ist, dann singt es A v' f ^ f T \ f* ^ (' l-
in uns noch lange nach: '^ ^ ' • ' ^" '
Von den ausführenden Kräften verlangt das Werk nur
wenig.
Die Lukaspassion, ob von Bach oder nicht, ist jeden-
falls ein liebenswürdiges Denkmal aus der Jugendzeit
der oratorischen Passion. Bachs Johannespassion und
Matthäuspassion stehen in der £nt£altung eigentlich ora-
torischer Anpassung und Kunst weit höher. Aber in einem
Zuge gleichen sie ihr. So hoch Bach in ihnen als Musiker
aufwärts schreitet, immer hält er die Richtung aufs Kirch-
Uch- Volks tümUche ein; seine in der Heimat eingesogene
liebe zum Choral und zum Bibelwort unterscheidet ihn
von den Passionskomponisten der Hamburger Schule. In
dieser Beziehung stehen sich die zweifelhafte Lukaspassion
und die Bachsche Matthäuspassion ganz nahe ; aus beiden
blickt dasselbe Auge, dort das des Kindes, hier das des
Mannes. Die Johannespassion ist musikalisch wohl eben-
so bedeutend wie die nach Matthäus. Ja, Schumann
und andere haben sie der letzteren voranstellen wollen.
Aber wenn sie in einem Punkte einen Schritt hinter der
Matthäuspassion zurückbleibt, so ist das eben in ihrem
Verhältnis zu den kirchhch volkstümhchen Elementen.
8. Bach, Bach hat dem Vermuten nach die Johannespassion
Johannes- in Aussicht auf den Antritt des Thomaskantorats schon
passion. im letzten Jahre söines Cöthner Aufenthalts komponiert.
In Leipzig kam das Werk erst am Karfreitag 4 724 zur
Aufführung*) und erlebte während der Amtszeit des Kom-
ponisten mehrere Wiederholungen. Noch einige Jahrzehnte
nach Bachs Tode kannten, wie wir aus einem Berichte von
Rochhtz schließen, der selbst Alumnus war, die Thömas-
schüler die Johannespassion. Dann verschwand sie mit
der Mehrzahl der Bachschen Vokalkompi)sitionen auch aus
dem Gesichtskreise der Leipziger und kam erst im Gefolge
der wiederentdeckten Matthäuspassion aufs neue zum
Vorschein; zuerst in einer Ausgabe bei Trautwein, nach
welcher die erste Aufführung des Werkes durch die Ber-
liner Singakademie (21. Febr. 4 833) erfolgte. Die Gesamt-
ausgabe der Bach-Gesellschaft veröffentUchte das Werk
im Jahre 4 863 (Bd. XH) in der Redaktion von W. Rust.
Von der Form, in welcher die Johannespassion an
dieser letztgenannten Stelle vorliegt, war die ursprüngliche
*) So Spitta; nach B. F. Richter (Bach-Jahrbuch I90ö,
S. 49) schon 1723,
Fassung einigermaßen verschieden. Der Einleitungschor,
der ScUaßchor und die Hälfte der Arien waren andere
als jetzt Die lyrische Partie hat dem Komponisten in
dieser Passion ersichtlich viele Schwierigkeiten gemacht
Lag ihm doch für diesen Teil, welchen er zum erstenmal
in größeren Formen zu behandeln hatte, kein fertiges Gre-
dicht vor, wie später bei der Matthäuspassion. Bach half
sich mit Bibelzitaten und Gesangbuchversen; wo es ihm
passend schien, griff auch er zu Brockes: Aber die wieder-
holten Umarbeitungen scheinen darauf hinzudeuten, daß
iBach selbst mit der lyrischen Ausstattung der Passion nicht
recht zufrieden war, und sicher ist es, daß in diesem
Funkte die Mängel des ersten Entwurfs noch bis heute
sich empfindbar machen. Ein Teil der Arien, so vortrefflich
sie an sich sein mögen, steht nicht an der richtigen Stelle.
Der Einleitungschor der Johannespassion >Herr unser
Herrscher zeig* uns durch deine Passion, daß du der
wahre Gottessohn usw.«, welcher erst mit der zweiten Be-
arbeitung, gegen das Jahr 4 727, in das Werk kam, ist unter
allen Karfreitagsbildern, welche in der Tonkunst geschaffen
worden sind, eins der eigentümlichsten und gewaltigsten.
Eine merkwürdig dunkle Färbung zeichnet ihn aus, und durch
das Gebet der Menge, die hier unterm Kreuze zusammentritt,
geht ein zagender und klagender Grundton. Der Preis des
Herrschers, »dessen Ruhm in allen Landen herrlich ist«, klingt
wie aus gepreßter Brust: er setzt mit schweren stockenden
Akkorden ein und untermischt die Figuren des Jubels mit
schmerzlidien und wehmütigen Wendungen, bricht sie ab
im Tone der Resignation. Über allen den Partien, in wel-
chen der Chor in immer wieder wechselnden Motiven nach
dem Ausdruck freudiger Bewunderung sucht, herrschen die
Holzinstrumente (Flöten und Andante
Oboen) mit der Durchföh- X^H i rJOl p,.!^.
rung des klagenden Motivs: ^ ' ■
Unsere heutigen starken Chöre und unsere Geigenmassen
überdecken diese geblasene Melodie allerdings; Bach aber
schrieb für einen nur dünn besetzten Chor und rechnete
damit, daß auf je 2 VioUnen i Oboe kam. Wer demnach^
— ^ 72
heute seine Werke mit i 0 oder 1 6 ersten Geigen aufführt,
muß ihnen 5 oder 8 erste Oboen usw. gegenübersteHen.
Die Harmonie liegt in langen Orgelpunkten fest; in dem
Geigenchor drängt unaufhörlich eine wogende Sech-
zehntelfigur von unten nach oben. Erst mit dem Thema:
^ kA ^ Ct^ setzt sich die
P r M [L/ ^n^ schwankende
Stimmung fest.
on
Zeig mdanh dei .. bo Pas . . . . sl
Schon im ersten Teil des Chors (als Oberdominant: Ddur)
kurz berührt, wird dieses Thema beim zweiten Auftreten
(Esdur) zu einem längeren Satze, den man als Mittelteil '
der Nummer, jedenfalls als ihren geistigen Mittelpunkt be-
trachten kann. Er ist ganz in Passionsbetrachtung getaucht :
die Stimmen überbieten einander in der , ^
Inbrunst, mit welcher sie zum Kreuze *^ ^l» p T Cj |P",
blicken und klagen. Daß das Motiv, "™ "^
welches diese warmen, ausdrucksvollen Melodien trägt,
symbolische Bedeutung hat, lehrt der Vergleich. Immer
wenn Bach das Bild des Kreuzigens vor die Phantasie
stellt, in dem Motiv a (S. 79) des Kreuzigungschors der
J^hannespassion, in dem Hauptthema von »Laßt ihn
kreuzigen« in der Matthäuspassion, an zahlreichen Rezi-
tativstellen beider Werke, tut er dies in der eigentüm-
lichen Verbindung von Synkope und Quart (oder einem
höheren Intervall). Als Kunstwerk betrachtet ist der Pro-
log der Johannespassion eine der großartigsten Leistungen;
keine der Hamburger Passionen hat eine Einleitung, die
mit dieser nur verglichen werden könnte. Und Bach
selbst hat diesen Chor kaum überbieten können. In allen
Gruppen, die sich an seiner Durchführung beteiligen —
Chor, Streichorchester, Bläser — ist ein derartiger Reich-
tum und eine solche Selbständigkeit der Ideen und des
Ausdrucks, daß, wie man aus den vorhandenen Klavier-
auszügen sieht, selbst geübte Musiker sich zwischen Haupt-
nnd Nebenstimmen geirrt haben. Und bei der größten Ein-
heit der Form und dem Festhalten an der Grundstimmung
hat Bach doch noch so viele Einzelheiten rührend betont.
Man sehe nur die Wiedergabe des BegrifiTs »Niedrigkeit«.
Im ersten Teil der Johannespassion wird der Chor
sonst nur für dramatische Sätze und für Choräle ver-
wendet. Unter den ersteren ist der an den leugnen-
den Petrus gerichtete: »Bist du nicht« von längerer
Ausdehnung, eine den Ton der Verwunderung sehr
lehendig wiedergebende Durchführung des Themas:
u > p r ±-^ Die beiden anderen sind
y^h p p-'T PNI r ^^^- kurze dramatische Ant-
But do niehft seLae» J8a.g«? «i.nw? worteu der neugierigen
Menge auf die Frage des Heilandes >Wen suchet
ihr«. In verschiedenen Tonarten liegt beiden dasselbe
gründe: Je-»um, Je-»oin, .Je.ram tod Nft.swflOu chesters,
welches die ^ ^ ^ kehrt auch in Chö-
Singstimmen A b!' h f ^^JjJ/JN ren des zweiten Teils
umspielt: *" ■■*=■■■■== ^^g^j^j.^ ^^ ^^^ ^^^^
fen Niemand töten«, »Nicht diesen, sondern Barrabam«
und »Wir haben keinen König denn den Kaiser«. Die
Choräle, deren dieser erste Teil vier hat, zeichnen sich
vor denen aller anderen Komponisten durch ausdrucks-
vpUe, kunstreiche Harmonien und durch eine Melodik
aus, welche in der \yeise Eccards auch die Nebenstimmen
in hervortretenden kurzen Wendungen, manches Eigene
und Schöne sagen läßt. Ob in Leipzig zu Bachs Zeiten
die Gemeinde die Oberstimme dieser einfachen Choräle
mitsang, steht urkundlich nicht fest, aber die Wahr-
scheinlichkeit spricht dafür. Darauf, daß die Gemeinde
auch bei kunstvoller gesetzten Chorälen doch mitsingen
sollte, haben einzelne Komponisten selbst aufmerksam
gemacht, Eccatd z. B. und M. Altenburg. Für die Passions-
choräle liegen noch besondere Zeugnisse vor. Dem be-
reits (S. 54) angeführten aus Königsberg ist ein weiterer
aus Mecklenburg'*') hinzuzufügen. In der Dresdener
Kreuzkirche wurden bei den Karfreitagspassionen die
*) Bachmann , J. : Geschichte des evapgelischen Kirchen-
gesanges in Mecklenburg 93, 122.
vorkommenden Choräle auf der Liedtafel mit ihrer Gesang-
bnchsnummer noch heute vor fünfzig Jahren ausgesteckt,
und sogar in Haydns »Sieben Worte« und Beethovens
»Christus« Gemeindelieder eingelegt. Nur waren die in
der Partitur enthaltenen Choräle, ebenso wie di« Arien,
>ad libitum« gemeint. Sie bei einer Aufführung sämt-
lich zu bringen, verstößt gegen Usus und Verstand.
Der Hauptchoral der Johannespassion, das Stock-
mann'sche Passionslied »Jesu Leiden, Pein und Tod«, er-
scheint zum erstenmal ganz am Schlüsse des ersten
Teiles zu den Worten »Petrus, der nicht denkt zurück«.
Eine kunstvollere Bearbeitung desselben Chorals in der
Form eines Duetts zwischen Sopran und Baß »Himmel
reiße, Welt erbebe«, die in der ersten Fassung der Jo-
hannespassion unmittelbar auf den Choral »Wer hat dich
so geschlagen« folgte, hat Bach später gestrichen.
Mit der Wahl des Stockmannschen Passionsliedes
hat es seine besondere Bewandtnis. Wie noch bis in
die neueste Zeit die Evangelien Dichtern und Dichter-
lingen immer wieder StofT zu schönen oder gutgemeinten
Paraphrasen geboten haben, so war es auch im Mittel-
alter. Insbesondere wurde die Leidensgeschichte, in der
lateinischen wie in der deutschen Zeit, allen^ Formen der
freien Dichtung angepaßt; zuweilen allerdings mit mehr
Gelehrsamkeit als Geschmack. So begann noch Enoch
Klitzing im Jahre 4708 seine lange »Karfreitagsbetrach-
tung einer gläubigen Seele« mit der Blasphemie »Der
große Pan ist tot«. Selbstverständlich übertrug man
die Darstellung der Passion auch bald in die Form des
evangelischen Kirchenliedes. Alle Gesangbücher vom An-
fang des 16. Jahrhunderts ab enthalten solche Lieder,
mit oder ohne beigedruckte Musik, Zum Unterschiede
von den bloßen »Passionsandachten«, — Liedern be-
trachtenden Inhalts, unter denen die von Rist, komponiert
von Martin Colerus (Köhler], dem »einzig wahren Phöbus
unsers ganzen Deutschland« (Hamburg 4 664), besondere
Beachtung verdienen -^ tragen sie den Titel »Historie
des Leidens' .... nach den Evangelisten« , also genau
/
75
denselben wie die Passionslektionen und Choralpassionen,
als deren Ersatz sie gemeint waren. Die Zahl der
Verse in diesen in Liedform gegebenen Passionshistorien
schwankt zwischen 20 und 40;- sie ist bei allen sehr groß.
Die größere Anzahl dieser dem proteistantischen Choral
angepaßten Passionsgeschichten fand keine Verbreitung,
aber einige wurden zum Gemeingut des evangelischen
Deutschlands. Unter ihnen sind die wichtigsten »Da
Jesus an dem Kreuze stund«, >0 Mensch bewein' dein
Sünden groß«, >Ö Gottes Lamm unschuldig« und unser
>Jesu Leiden, Pein und Tod«. Es war demnach ein
sinniges und poetisches Verfahren, wenn S. Bach diese
drei letztgenannten Choräle, den einen in der Johannes-
passion, die anderen in der Matthäuspassion so außer-
ordenthch bevorzugte: ein Schritt der Liebe zu Heimat
und Volk, der auf Bach den Künstler und den Menschen
ein helles und herrliches Licht wirft.
Arien hat der erste Teil der Johannespassion nur
drei. Die erste setzt an der Stelle ein, wo Jesus ge-
bunden zu Hannas geführt wird. An dieses Binden
knüpft der Text an >Von den Stricken meiner Sünden
mich zu entbinden, wird mein Heil gebunden«. Er ist
von Brockes und bildet den Eingang seiner Passions-
dichtung. Die meisten Komponisten haben ihn als Chor
behandelt und sich dabei mit Synkopen und schleifen-
den Dissonanzen eine anschauliche Wiedergabe der
Mechanik des Bindens angelegen sein lassen. Bach hat
nichts auszudrücken gesucht als das Mitleid und ' die
dankbare Rührung, welche der Anblick der ersten
Marter des Herra in dem Christen erwecken muß.
Zum Hauptträger dieses Gefühls nimmt er das Thema
Andante. ^^ ^ dessen Durcharbei-
^F ^ ' [ I f "p^ ±^!^aUsiJ I r stimme und . zwei
Oboen ziemlich gleichmäßig teilen. Erstere hat vor den
Instrumenten nur einige kurze Stellen voraus, in wel-
chen sie die Stimmung in schneidenden Interjektionen
äußert. Der klare Vortrag ist ebensowenig leicht vwie
— ^ 76 *>—
das Verständnis des vielleicht etwas zu langen Stückes.
Doch aber tut man sehr unrecht, wenn man es lediglich
für kontrapunktisch wertvoll hält*
Dieser Altarie schickt Bach sofort, nach nur 3 Takten
Rezitativ eine zweite Arie nach, deren Zusammenhang
mit der Erzählung auf die Worte des Evangelisten ge-
stützt ist: »Simon Petrus aber folgte Jesu nach«. Der
Sopran setzt sie mit den Worten ein »Ich folge dir gleich-
falls mit freudigen Schritten«. Die dramatische Begrün-
dung dieses Stückes ist also ersichtlich schwach; es soU
wahrscheinlich auch nur für den Notfall verwandt werden,
daß die Altarie mangels eines guten Solisten wegbleiben
muß. Musikalisch ist die Komposition vorzüglich. Die
Singstimme »folgt« naiv und tändelnd wie ein Rind in
Sechzehntelfiguren, welche die Flöte vorspielt und zu sehr
interessanten Gebinden erweitert. Auch hat die Arie
Stellen, an welchen sie aus dem leichten Ton in die Tiefe
der Empfindung übergeht, und einige Malereien, nament- .
lieh auf die Worte »ziehen und schieben«, die merk-
würdig genug sind. Aus den K!onzertaufführungen der
Johannespassion wird man die Arie wegen des Wider-
spruchs der Sopranistin nur schwer beseitigen können.
In England soll si» eine besondere Popularität erlangt
haben. Ganz anders steht die Tenorarie »Ach, lüein
Sinn!« an ihrem Platze, welche das letzte Stück vom
ersten Teil der Johannespassion bildet. Mit ihr hat Bach
der Szene der Verleugnung Petri, welche er aus dem
Matthäus- in das Johannesevangelium dichterisch ergän-
zend herübergenommen, einen rührenden und versöhnen-
den Abschluß gegeben. Der weiche, suchende, fragende
und klagende Ton, in welchen diese unablässigen und
eifrigen Vorwürfe gekleidet sind, bildet die schönste Ver-
teidigung des reuigen und irrenden Jüngers und die Arie
ist eins der schönsten Solostücke nicht bloß der Johannes-
passion, eine Probe feinster Seelenmalerei. Sie schließt
viel trefflicher an den vorausgehenden Schluß des Rezi-
tativs, an die Worte »er weinte bitterlich« an, als die
Arie »Zerschmettert mich, ihr Felsen und ihr Hügel«,
77 ♦—
welche in der ersten Fassung der Johannespassion an
dieser Stelle stand. Letztere malt einen zornigen, die
jetzige Arie aher den weinenden Petrus. Es ist übrigens
ein weiterer Beweis für die große Pietät, mit welcher
Bach dem Bibelwort gegenübersteht, daß diese Arie, die
doch ganz aus der. Seele des Petrus heraus gedacht ist,
in einen neutralen Mund gelegt wird. Ein Tenor singt
sie; Petrus aber, wo er im Rezitativ selbst auftritt, hat
Baß. Die Stelle, wo der Evangelist von dem Weinen
Petri berichtet, ist eine der glänzendsten in dem an
Malereien und empfindungsvollem Ausdruck reichen Rezi-
tativ der Johannespassion. In seinen Passionsrezitativen
ist Bach ganz frei schöpferisch vorgegangen. In ihrer
Tendenz berührt er sich einigermäßen mit Schütz, und
für gewisse Einzelheiten der Form, den schnellen und
häufigen Wechsel zwischen Deklamation und Gesang,
mögen ihm seine Studien Albinonis und anderer früh-
venetianischer Meister einige Anregungen geboten haben.
Aber das meiste beruht auf eigener Auffassung und
Erfindung. Die Rezitativpartie ist voll von kleinen und
sinnigen Randzeichnungen, zu deren klarer Wiedergabe
vonfi Sänger und vom Zuhörer liebevolles Eingehen,
namentlich aber von dem den Continuo ausführenden
Begleiter Elastizität im Auffassen und Ausführen voraus-
gesetzt wird. Viele der schönsten Züge , wie der beim
Krähen des Hahnes, sind der Phantasie des letzteren fast
ganz allein anvertraut Auch für die Charakteristik der
Personen müssen die Vortragenden das Entscheidende
tun. Das gilt insbesondere, und auch für den zweiten
Teil der Passion von den Reden Jesu, den der Evan-
gelist selbst sehr wortkarg vorgestellt hat. Bach hat nur
an wenigen Stellen, mit Wiederholung bei den Worten
»soll ich den Kelch nicht trinken«, mit dezenten Kolora-
turen bei den Worten »wäre mein Reich von dieser Welt,
ineine Diener würden darob käinpfen« nachgeholfen.
Im zweiten Teile der Johannespassion treten die
dramatischen Chöre bedeutend in den Vordergrund, so-
wohl durch ihre Menge, wie auch durch die breite Anlage,
welche einzelnen von ihnen gegeben ist. Im ersten
Abschnitt, welcher durch die Geißelung markiert ist,
haben wir ihrer drei: Der dritte: »Nicht diesen, son-
dern Barrabam« ist ein kurzes, dramatisches Stück,
welches die heftige Entschiedenheit der fordernden
Menge in knappen, schärfen Strichen wiedergibt. Die
ersten beiden: »Wäre dieser nicht ein Übeltäter« und
»Wir dürfen Niemand töten« hat Bach wie selbständige
Szenen breit ausgeführt. Die Juden sind sich, nach Bachs
Auffassung, der Schwäche ihrer Gründe bewuBt und
helfen durch eine aufdringhche Deutlichkeit und Um-
ständlichkeit des Vortrags nach. Die Musik beider Num-
mern ist ziemlich dieselbe. Sie ruht auf zwei Hauptmotiven
1^ > J) J>ip p p p T \ l.r T Fe und» wirhätten dirihn
Wtf^n di«.^er nicht ein Ü.bel. tä ,t6r.
Im zweiten Chor ist auf das chromatische Motiv und die
Koloratur, wo sie vorkommt, das entscheidende Wort
»töten« eingesetzt. Durch die Harmonien und die Dekla-
mation dieser beiden Nummern geht ein unheimlich dä-
monischer Zug. Es liegt der in Heuchelei verhaltene
Fanatismus darin ; im ersten bricht er häufig in . den
zischend herausgeschleuderten Achteln auf das Wort
»nicht« offen hervor.
Den ersten kleinen Ruhepunkt in dem Abschnitt
bildet der Choral: »Herzliebster Jesu, was hast du ver-
brochen«, dem hier die Worte: »Ach großer König, groß
zu allen Zeiten« untergesetzt sind. Sie knüpfen an die
Erklärung Christi an: »Mein Reich ist nicht von dieser
Welt«. Das Ende des Abschnitts ist Weiter markiert durch
das Arioso des Basses: »Betrachte meine SeeF«, eine
herrliche tiefgehende Nummer aus jener mild erhabenen
Gattung von Baßgesängen, die bei Bach und Händel
vielfach vertreten, in neuerer Zeit höchst selten geworden
ist. Den Text hat Bach aus Brockes mit Änderungen
genommen, die keine Verbesserungen sind. Dem Arioso
folgt in der Partitur noch eine große Tenorarie: »Er-
wäge, wie sein blutgefärbter Rücken«, die mit Recht ge-
wöhnlich übergangen wird. Sie arbeitet im wesentlichen
nur das Motiv der Geißelung, -mit welchism der Evangelist
seine Erzählung naiv malend abgeschlossen hat, zu einem
großen, selbständigen Instrumentalbild aus.
Die zweite Szene der zweiten Abteilung ist fast rein
chorisch. Die langen Sätze der turbae sind nur durch kurze
Rezitative des Evangehsten und des Pilatus, zu denen an
einer einzigen Stelle auch Christus tritt, unterbrochen.
Die erste Nummer des Chors ist der Spottchpr
der Kriegsknechte (die Bach in alter Weise auch mit
Sopran und Alt auftreten läßt): »Sei gegrüßet, lieber
Judenkönig«. Um das höhnische Element des Textes
zum Ausdruck zu bringen, muß hier der Vortrag
der Chorstimmen das beste tun: es empfiehlt sich
ein leiserer Anfang, crescendo beim Einsatz jeder
weiteren Periode, staccato auf die kurzen Noten und
ein nicht über- _^, > . ^ -^ ^ ^ >^
treibender Accent jl ^'' Jt f ^ If T P P T f [}' I rp
auf die langen : Sei ge . grft.sstC UeJb« la . dm . KB.oi(i
und scharfes Hervorheben des gegen den Schluß ein-
tretenden mun- ^ l'* ft' - I * . : ^^ Orchester unter-
teilen ausgelas- .fli ^ r p I T f .. stützt die Absichten
senen Motivs: ••* ««- fö^»«ü des Textes nur in den
Blasinstrumenten: Flöten, Oboen reden in scharf absetzen-
den, lachenden Figuren eine deutliche Gebärdensprache:
•^^^^^^ /T-^. rr^, ^^ ^^* interessant den
jh ^ ^^^T^^T^tfJ I Cil^^- z^^i^^^ Chor: »Kreu-
. "■ ' *^^*= 2jgg^ Kreuzige ihn« mit
dem über die ähnlichen Worte: »Laß ihn kreuzigen«
in der Matthäuspassion zu vergleichen. Der letztere
ist in seiner Kälte teuflischer, der der Johannes-
passion bringt die Wut der sinnlos empörten Menge mit
elementarer Gewalt zum Aus- ^ , ^ a j^j J j t !
druck: greulich in Dissonan- a) -A i l ii« |I p ^ ^ |
zen heulend die eine Partei: lUtu . li^fti
/
I
die an(}ere wie im Fieber wetternd und schnatternd:
I&' fi n ji I fl h. h. n JL - f^ l -r" Und diese Motive immer
h) ff ^ r ■■ P. (? M f /f? r P p r feg mit einander und durch
xre«u.ge, kreaiL«».kreittLg«.itteuiLcoJ einander! Zum Schlusse
hat Bach durch Verlängerungen des zweiten Motivs noch
eine erschreckende Steigerung angebracht, die in dem
durch den verwirrenden Lärm der übrigen durchdröh-
nenden, von Mißklängen gekreuzten langen und hohen
Machtschrei der Bässe (auf d) ihre Spitze findet.
Nach diesem wilden Ausbruch plötzlicher Roheit
gibt der nächste Chor in seinem gesetzten, gemessenen
Gang einen eigenen Gegensatz: Mit künstlicher Ruhe und
gesucht deutlicher Betonung stellen die Juden dem über
den Fanatismus verwunderten und für Christus eintreten-
den Pilatus streng abweisend ihr:
wir hahm dnCteLset«, undnaAdemOejeti soll «r stw .... ^b
entgegen. Das Thema wird in Fugenform regelrecht
durchgeführt. Der demonstrativ bedauernde Ausdruck
auf »sterben« tritt darin besonders hervor und wird ganz ,
am Schlusse auch auf das zweite, leichtgehaltene Motiv
auf die Worte »denn er hat sich selbst zu Gottes Sohn
gemacht« übertragen.
Der Choral: »Durch dein Gefängnis, Jesu Christ«,
der den Worten folgt: »Von da an trachtete Pilatus, wie
er ihn losließe«, stört die Einheit der Szene. Wird die
Passion beim Gottesdienste benutzt, so ist er an seinem
Platze. In Konzertaufführungen, wo nur eine zuhörende
Gemeinde vorhanden ist, wird besser in der Erzählung
und zu den beiden Chören : »Lassest . du diesen lo$« und
»Weg, weg mit dem« fortgegangen werden. Ersterer ist
identisch mit: »Wir haben ein Gesetz«, letzterer bringt
mit einer verschärfenden Einleitung die Musik des »Kreu-
zige« wieder. Mögen auch prosaische Gründe und Tra-
ditionen (vgl. Schütz) Bach zu diesen Repetitionen mit
veranlaßt haben; sicher ist, daß sie passen. Die Szene
schließt mit einem kurzen Chor: »Wir haben keinen
König, denn den Kaiser<, in dem die BetonuAß des »Wir«
sehr wirksam ist.
Zwischen ihr und dem nun auf Golgatha spielenden
Abschnitt hat Bach eine madrigalische Nummer einge-
schoben: »Eilt, ihr angefochtenen Seelen«, einen Dialog
zwischen dem Solobaß und dreistimmigen Chor (Sopran,
Alt, Tenor). Dem Text (aus Brockes* Passion entnommen)
liegt ein ähnliches dramatisches Bild zugrunde, wie dem
großen Eingangschor der Matthäuspassion: Die Tochter
Zion fordert die gläubigen Seelen auf, sie auf dem Gang
dort nach dem Kalvarienberg, hier in der Johannespassion
nach Golgatha, zu begleiten. Es ist ein Wechselgesang,
im letzten Falle einfachster Art. Der Baß führt lange,
eifrige, erregte Reden; der Chor, in die Hast mit hinein-
gerissen, wirft in höchster Spannung nur immer wieder
die kurze Frage: »Wohin?« dazwischenT Keiser hat das
Bild dieses in phantastischer Begeisterung hinstürmenden
Zuges ähnlich wie Bach in rollenden Figuren wiedergegeben,
nur sind die Maße ' kürzer. Was aber die Komposition
Bachs so groß macht, das ist die geniale Deklama-
tion der Worte »Nach Golgatha« mit denen die Tochter
Zion (Baß) den gläubigen Seelen (Frauenchor) geheimnisvoll,
wuchtig und gebieterisch antwortend die Richtung bestimmt.
Die dritte, Kreuzigung und Tod des Herrn umfassende
Szene hat nur zwei dramatische Chöre, den der Hohen-
priester: »Schreibe nicht der Juden König«, welcher in
wenig passender Weise einfach die Musik des Spott-
chors: »Sei gegrüßet« aus der vorigen Szene wiederholt,
und den Chor der Kriegsknechte: »Lasset uns den nicht
zerteilen«. Aus letzterem hat Bach eine Fuge gemacht
über folgendes, das platte Behagen der Landsknechte sehr
gut zeichnende Thema:
1=M=^^ ^ I {"^"^^{i I ' II II I
Lu.Mt u» d» sieht ser , tbei . , . Im, toiudera da.riUB
«««^A ^^ # Zum Schluß wird
r^^=£££a=fl I * ' r [f r^. aer Ton immer
lo . . tm. wMs «r s«ia loui lebhafter und
II, 1. 6
ausgelaßne^ Naturlaute schlagen dämonisch daraus
hervor Qct Anfang des Chores ist ein realistisches
Genrebild im Hamburger Stil, zu welchem die Vor-
würfe aus dem 48. Jahrhundert, aus dem gemütlich
philiströsen Kreise der fürstlichen Torwachen und städti-
schen Söldner genommen scheinen. Den schönen Ab-
schnitt der Erzählung, wo Jesus seine Mutter dem Jo-
hannes übergibt, zeichnet Bach durch den Eintritt des
Chorals: > Jesu Leiden, Pein und Tod« aus [zu den Worten:
>Er nahm alles wohl in Acht«). Bald darauf, wo es
heißt: »Und neigte das Haupt und verschied«, kommt
dieser selbe Choral wieder. Diesmal in einer kunstvollen
Bearbeitung. - Er ist, im Munde des Chors, einer Arie ein-
geflochten, welche der Baß auf die der Brockesschen
Passion nachgedichteten Worte: >Mein teurer Heiland,
laß dich fragen« singt. Es sind ungemein liebevolle und
hingebende Weisen. Zwischen dem einfachen Choral und
der Choralfantasie steht noch eine weitere Arie, welche
an Jesu letztes Wort anknüpft. Es ist die schönste der
ganzen Johannespassion, die Altarie: »Es ist vollbracht«.
Sie besteht aus zwei Teilen, einem schwermütigen Adagio,
in welchem die Altstimme sich mit der Viola da gamba
(gewöhnlich durch Violoncello ersetzt) in klagenden und
trauernden Melodien vereint und ablöst. Der Allegro-
satz erhält durch den Zutritt des vollen Streichorchesters
einen bedeutenden Glanz. In visionärem und entzücktem
Ton feiert er den Sieg des Helden aus Juda. Statt des
üblichen da capo — der Wiederholung des ersten Teils —
klingt nach dem Schlüsse des Mittelteils der Hauptsatz
nur wieder an. Der Übergang in diese Reprise zeigt
ganz besonders den freien und lebendigen Geist, mit
welchem Bach innerhalb der Johannespassion sich in
den hergebrachten Formen bewegt.
Nach dem Verscheiden Christi und der Fantasie über
den Stockmannschen Choral fuhr die Johannespassion
in der ersten Bearbeitung mit einer Instrumentalsinfonie
fort. Diese ist später durch die (aus dem Matthäus ent-
lehnte) Erzählung von dem Erdbeben durch ein im Stile
des begleiteten Rezitativs gehaltenes, im Inhalt stark be«
wegtes, sehr eigentümlich abschließendes Arioso (Tenor:
»Mein Herzt In dem die ganze Welt«) und durch eine
Sopranarie: »Zerfließe, mein Herze, in Fluten der Zähren«
ersetzt worden. Zu beiden Stücken lieh wieder Brockes
den Text. Die Sopranarie ist eins der eigentümlichsten
Stücke der Passion: Rokoko in den zierlichea feinen For-
men und die bewegteste Romantik in dem Ausdruck der
Trauer. Kindliche und tragische Töne spielen hier in-
einander. Namentlich der ganze Schluß des Mittelteils
mit der Stelle »dein Jesus ist tot« ist hierdurch tief er-
greifend.
An Stelle der alten Gratiarum actio war schon in
der moderhisierten Choralpassion eine sogenannte Chor-
arie getreten, deren Text in den meisten Werken der
gleiche ist: Die Sänger nahmen am Grabe von dem Ent-
schlafenen Abschied und bitten für ihr eigenes einstiges
Ende um eine sanfte Ruhe. Auch die Musik dieser Chor-
arien stimmt im allgemeinen Charakter überein. Sie
wollen einen milden, versöhnenden Abschluß geben. Die
beiden in den Bachschen Passionen zu Johannes und
Matthäus stehen mit dieser Absicht ebenfalls in der all-
gemeinen Reihe, aber sie sind wie die Eingangschöre
dieser Werke durch ihre großen Dimensionen ohne Glei-
chen. Untereinander teilen sie auch Taktart und Tonart
und gleichen sich überdies in den Themen des Mittel-
satzes ziemlich genau. Der Schlußchor der Johannes-
passion ist aber etwas leidenschaftlicher. Der Zug einer
im tiefsten Grunde noch sehr erregten Empfindung tritt
namentlich an den Stellen offen hervor, wo es heißt:
»Und bringt auch mich zur Ruh«. Dieser Umstand und
nicht der kirchliche Brauch allein mag Bach veranlaßt
haben, seine Johannespassion nicht mit dieser Chorarie
zu schließen, sondern ihr noch den Choral: »Herzlich
lieb hab ich dich, o Herr« auf die Worte: »0 Herr, laß
dein lieb Engelein« zuzugeben. 8« Baoh«
Die Matthäuspassion stimmt im wesentlichen der Matthius-
Anlage und Richtung mit Bachs Passion nach Johannes passion.
6*
— ^ 61 ^ —
überein. Auch sie ist in diesen Punkten als ein Werk
der Reform zu betrachten, als ein Versuch Bachs, die
oratorische Passion auf altkirchlichem und volkstümlichem
Boden aufzubauen. Im musikalischen Wert der einzelnen
Sätze steht die Johannespassion der späteren wohl nicht
nach. Aber es ist nicht zu verkennen, daß. Bach in der
Matthäuspassion das oratorische Element sowohl als da?
kirchlich volkstümliche breiter entfaltet und beide in
innigere Verbindung gebracht hat als in der Johannes-
passion. Auch im Text der Matthäuspassion stört uns
der starke allegorische und lyrische Ballast, den die Ent-
stehungszeit verlangte. Abier, soweit es die Musik be-
trifft, kann diese Passion als die ideale Lösung der Auf-
gabe gelten, die Leidensgeschichte zugleich mit höchster
Kunst und in größter Einfachheit und Verständlichkeit
darzustellen. Manches andere hat die Matthäuspassion
auch noch durch den Bericht des Evangelisten selbst
voraus, der den des Johannes an Lebendigkeit und durch
die Menge spannender Episoden übertrifft. Sein größter
Vorzug liegt darin, daß er die Gestalt des Heilands so
herrlich hervortreten läßt. Bach hat diesen Vorzug durch
die Musik verstärkt. Die Rezitative des Evangelisten und
der Nebenpersonen werden in der üblichen Weise vom
Cembalo und Streichbaß begleitet. Sobald aber Christus
spricht, setzt das volle Streichquartett mit langgezogenen
Tönen ein, >webt< wie man gesagt hat, um Jesu Haupt
einen »Heiligenscheine. Allerdings ist dieser »Heihgen-
schein« weder eine Originalerfindung noch ein Monopol
Bachs, sondern, wie schon erwähnt, eine Entlehnung aus
der Venetianischen Oper. Diese unbekannte Tatsache
nimmt aber den Christusrezitativen nichts von ihrer Wir-
kung und Bach nichts von seinem Verdienste. Schließlich
gibt auch der reiche musikalische Apparat: die Teilung in
zwei Chöre, die größere Mannigfaltigkeit, die in den Formen
der Arie, des Chorals und auch des Rezitativs herrscht,
der Matthäuspassion einen weiteren äußeren Vorsprung.
So wie wir die Matthäuspassion heute aufführen, ist
sie das Produkt einer Umarbeitung, welche nicht vor 4 740
— '^ 85 ^Gt~
erfolgt sein kann. Als Bach das Werk zum erstenmal
im Nachmittagsgottesdienste des Karfreitags 4 729 — es
war der 45. April — hören ließ, war die Ghoralfantasie
über: >0 Mensch, bewein« noch nicht drin. An Stelle
dieses ursprünglich als Eingang zur Johannespassion
komponierte^ überschwanglichen Satzes schloß ein sehr
einfacher Choral: >Jesum laß ich nicht von mir« den
ersten Teil der Matthäuspassion.
Der Dichter der Matthäuspassion, oder besser ihres
oratorischen Teils, wan der schon erwähnte Picander,
ein Leipziger Postbeamter, welcher mit seinem bürger-
lichen Namen Henrici hieß. Picander, dem Bach manche
eigene Winke gab — der Text zu »Am Abend, da es
kühle ward« scheint*) auf diesem Wege einem Lied des
von Bach besonders geliebten Franck nachgebildet zu
sein — war einfacher und natürlicher in seiner Sprache
als Brockes, hat sich aber diesem in der Motivierung
seiner oratorischen Zutaten angeschlossen. Auch er ver-
mehrt die Personen der Leidensgeschichte um die wesen-
lose Figur der »Tochter Zion« und des zu ihr gehörigen
Chors der »gläubigen Seelen«. Bach unterscheidet sich
in der Matthäuspassion noch mehr als in der zu Johannes
in der Behandlung dieser Tochter Zion von den Ham-
burger Komponisten. Er löst ihren persönlichen Charakter
vollständig auf, indem er ihr musikalisch eine eigene
Stimme verweigert. Die Tochter Zion singt ihre Reden
als Einzelstimme in Alt, Sopran, Tenor und Baß; sie
singt in Form von Duetten und als Chor. In letzterer
Gestalt eröffnet sie die Passion mit dem großen Dialog:
»Kommt, ihr Töchter, helft mir klagen«.' Mit ganz ähn-
lichen Worten luden die sogenannten Leichenbitter noch
bis in die Mitte des 49. Jahrhunderts auf dem Lande zu
großen BegräbnisfeierUchkeiten ein. Bach führt nun das
Bild in der Weise durch, daß die Tochter Zion (4. Chor)
als nächste Leidtragende die Klage um das Leiden und
den Tod des Herrn in beweglichen Melodien anstimmt
•) Ph. Spltta, J. S. Bach, II, 386.
86 <f>
und durchführt. Die Hauptthemen, welche er der Klage
unterlegt) sind:
und das vom Eintritt der Singstimmen als ständiger Ge-
nosse mit ihm bald zur Rechten» bald zur Linken gehende
(im System des doppelten Kontrapunktes entworfene)
Gegenthema:
Es wird auf diesen einfachen Unterlagen eine große Skala
des Schmerzes durchgespielt; von dem stillen wehmütigen
Betrachten geht sie über in langen Tränengujß und in
Ausbrüche des lauten leidenschaftlichen Jammers, eines
Jammers, der in den Dissonanzen, in welchen das Motiv
•f^r\ fT) r vorzudringen sucht, die Hände zu ringen
■fr iM "T I scheint. Immer bricht die Tochter Zion
dann mit einer kurzen Wendung der Niedergescfilagen-
heit ab, um in ruhigerer, hellerer Fassung denen, welche
geladen sind, klagen zu helfen und das Geleit zu geben,
zu sagen, für wen sie zur Trauer entboten sind: »Seht
ihn, den Bräutigame Die gläubigen Seelen (2. Chor] stehen
den Mitteilungen der Tochter Zion zunächst wie fassungs-
los gegenüber und antworten mit kurzen heftigen Fragen :
»Wen, Wie«, die als vereinzelte Akkorde hervorgestoßen
werden -^ Bach hat extra ein forte vorgeschrieben —
und aus denen Überraschung und Entsetzen deutlich
spricht. Erst nach längerer Zeit werden sie wortreicher,
um am Schlüsse endlich mit der Tochter Zion in die
lang hinströmenden Melodien der Klage einzustimmen.
Bach hat diese rührende und reiche dramatische Szene
allein noch nicht genügt. Wie Rafael in der Sixtinischen
Madonna läßt er aus dem Himmel, der sich über dem
Bilde dieses heihgen Begräbnisses wölbt, noch eine Schar
Engelsköpfe herausbHcken. Als die Tochter Zion den
gläubigen Seelen zuruft: »Seht ihn als wie ein Lamm«,
stimmt ein Chor von Knabenstimmen im unisono den
alten Passionschoral: >0 Gottes Lamm nnschuldig« an.
Er geht in seinen sieben Zeilen durch und steht in seiner
feierlichen Einfachheit über den kunstvollen Gebilden der
fugierenden Stimmen wie eine lichte Erscheinung aus
der andern Welt. Wir haben es also auch bei' diesem
Satz, wie bei der Mehrzahl der madrigalischen Chor-
nummem der Mattbäuspassion, formell mit einer Choral-
bearbeitung zu tun.
Den hierauf einsetzenden ersten Teil der Matthäus-
passion kann man in drei Hauptbilder teilen: a) Jesus
mit seinen Jüngern und die Einsetzung des Abendmahls,
b) Jesus auf Gethsemane, c) Die Gefangennehmung.
Die erste Szene ;st zum größten Teil mit den Reden
von Jesus und den Reden der Jünger ausgefüllt. Der
erste Chor, der uns begegnet, ist der der Hohenpriester
und Schriftgelehrten: ein geteilter achtstimmiger Satz,
dessen kluge, ruhige Berechnung zeigender Ausdruck
hauptsächlich auf dem Quartintervall ruht, mit welchem
das »Ja nicht« betont ist. Mit der Malerei auf das
Wort »Aufruhr« hat sich Bach älteren Mustern ange-
schlossen, wie sich eine ähnliche Rücksicht auf die ein-
gebürgerten Züge der älteren Choralpassion durch die
ganze Matthäuspassion hindurch ver- j
folgen läßt. Das Motiv, in dem die ^ J f "f 2^)^=,
Jünger in ihrem letzten Chore fragen Herr, bb ieUtt
ist ein solches Zitat, welches wir fast wörtlich in einer
großen Zahl älterer Choralpassionen treffen. Aber
nirgends ist es innerhalb weniger Takte mit einer so
reichen Modulation des Ausdrucks durchgeführt. Wie
wunderbar schön der Übergang aus der steigenden Un-
ruhe und Erregung in die demütig klagende Ergebung
des Schlusses! Der Chor: »Wo willst du, daß wir dir be-
reiten das Osterlamm?« klingt mild und fromm. Das
erste Auftreten der Jünger in »Wozu dienet dieser Un-
rat?« hat einen unfreundlichen Charakter in der Heftig-
keit der ein- , ^ _ p^ _ ^ einen altklugen in der
setzenden ^ ^ r ^ f p trocken gespreizten De-
Sechzehntel Wo.xud»jiet ' klamation des Mittel-
t
Satzes (»Dieses Wasser hätte mögen teuer verkauft«) und
einer übertriebenen Weichherzigkeit bei den Worten »den
Armen«.
An den zänkischen Ton dieses Chors knüpft die
Tochter Zioh ihre erste Einmischung in die Handlung an.
Sie will das »törichte Streiten der Jünger« durch den
Ausdruck ihrer eigenen Liebe wett machen und bringt
ihm ein Herz voll Büß' und Reue dar. Denn — das ist
der Zwischengedanke, der zum Verständnis dieser Arie
ins Auge gefaßt werden muß — durch die Sünde der
Tochter Zion, das ist: der Menschheit im Allgemeinen,
muß der Heiland leiden. Die Mehrzahl der Sologesänge
in der Matthäuspassion besteht außer der Arie noch aus
einem Vorgesang, den Bach einfach mit Rezitativ be-
zeichnet hat. Es ist das sogenannte Recitativo accom-
pagnato: die von den Italienern in Oper und Oratorium
für die Wiedergabe hochpathetischer Empfindungen be-
stimmte Sonderform des Sologesanges, von der Arie durch
das Hervortreten des deklamatorischen Elements unter-
schieden. In der Johannespassion erscheint diese Rezi-
tativform unter dem Titel Arioso und zwar nur an zwei
Stellen. In der Matthäuspassion sind diese zahlreichen
kurzen Ariosos ein Hauptschmuck, durchweg so voll
Musik und Ausdruck, daß man viele der an sich auch
schönen und bedeutenden Arien, welche durch jene nur
eingeleitet werden sollen, in Anbetracht der Länge des
Werkes in der Regel wegläßt und auch weglassen kann.
Die zweite Arie unserer Szene, mit welcher die Tochter
Zion die Nachricht von den verräterischen Absichten
des Judas begleitet (Sopran »Blute nur«), ist eine der
wenigen, welchen kein solches Arioso vorhergeht. Eine
dritte Arie (ebenfalls des Soprans) schließt die erste
Szene ab: »Wie wohl mein Herz in Tränen schwimmt«.
Auch sie hat den wehmütig liebevollen Grundton, in
welchem in diesem Abschnitte der Passion alle Arien
gehalten sind. Bach instrumentiert sie alle mit Flö-
ten und sanften Instrumenten und läßt die Worte
mit Figuren umspielen, welche zärtlichen Gebärden
t
V
gleichen, wie sie Rinder und Mutter unter einander aus-
tauschen. Die eigentliche Arie dieser hier in Rede
stehenden Soprannummer: >Ich will dir mein Herze
schenken« kommt selten zum Vortrag. Sie ist eine der
wenigen madrigalischen Nummern des Werks, in welchen
der Passionston ganz zurücktritt: es ist die freudige Er-
klärung der gläubigen Seele an den Bräutigam, an
Christum als Seelenbräutigam. Das Arioso >'Wie wohU
nimmt seinen Bezug auf die in der Handlung eben vor-
geführte Einsetzung des Abendmahls, welches sie als das
> Testament Christi« in einer eigentümlichen Mischung
von Entzücken^ und Abschiedstrauer feiert.
Die eben erwähnte Einsetzung des Abendmahls ist
auch musikalisch der hervorragendste Abschnitt in den
Reden Christi, weniger wegen des Reichtums in den
Einzelheiten des Ausdrucks als wegen der Form, welche
an dieser Stelle ausnahmsweise einen bewegten Cha-
rakter annimmt und einhält. Während Christus «sonst
deklamiert, singt er hier, und die begleitenden Instrumente
— vorher, wenn Christus spricht, auf langen Tönen fest-
gebannt — singen mit. Das gesangliche Element, welches
die Einsetzungsworte ganz durchdringt, kommt in den
vorhergehenden Reden des Herrn nur an vereinzelten
Funkten zum Ausdruck bei Worten, welche geeignet sind,
die Fantasie lebhafter aufzurütteln: >gekreuzigt«, »begra-
ben«, »verraten«. Ganz in derselben Methode, nur ohne
den verklärenden Schimmer des Geigenklangs sind auch die
Reden der Nebenpersonen und die Erzählung des Evan-
gelisten behandelt. Es ist eine lebhafte, den Einzelheiten
des Textbildes nachgehende Deklamation, die an wichtigen
Punkten in musikalische Figuren übergeht, um zu malen.
Auch dafür haben die Venetianer das Muster gegeben.
Mit einem ähnlichen geschlossenen, aber auf wenige
Takte beschränkten selbständigen musikalischen Bilde,
wie es die Einsetzungsworte enthalten, beginnt auch die
zweite Szene: »Jesus am ölberg imd auf Gethsemane«.
Es ist die kurze Stelle: »Ich werde den Hirten schla-
gen«. Sie besonders herauszuheben und durch Mittel der
-^ 90
Tonmalerei anschaulich zu machen, ist eine alte Tradi-
tion, die sich in der oratorischen Passion Deutschlands
bis zu Sebastiani zurückverfolgen läßt. Auch in Choral-
passionen aus dem Anfang des 4 7. Jahrhunderts ist sie
schon, und mit ihr die Einsetzung des Abendmahls,
durch reichere Bewegung ^.i:o^?zeichnet. Speziell mit
der Schützschen Matthäuspassion stimmt Bach nament-
lich in der feierlichen Behandlung der Worte: »Wenn ich
aber auferstehe < ganz auffallend über ein.
Wenn irgendwo die oratorischen Hilfsmittel am Platze
sind, so ist es in der Szene auf Gethsemane: Der Herr
in höchster Seelennot, von Verzweiflung gefaßt, bittet
seine Jünger wieder und wieder ihn nicht zu verlassen,
mit ihm zu wachen — und sie schlafen. Niemand wird
an dieser Stelle ruhig weiter lesen, ruhig weiter hören
können. Hier ist es zu viel der schonungsvollen Objek-
tivität des Evangelienberichtes. Das Herz will dazwischen
reden. Diesem Gefühle hat Bach in der schönsten
Weise Rechnung getragen. Den größten Teil der Geth-
semaneszene füllt er mit einem betrachtenden Stücke,
welches zu den empfindungsvollsten und eindringlichsten
der ganzen Matthäuspassion gehört. Es zählt in seiner
Form wieder zu jenen für die Matthäuspassion bezeich-
nenden Doppelarien, von welchen bereits gesprochen
worden ist. Der Vorgesang: >0 Schmerz, hier zittert
das gequälte Herz< besteht aus einer Ghoralbearbeitung
von jener einfacheren Art, wie wir ihr bereits in der
Tenorarie der Lukaspassion: »Laßt mich ihn nur noch ein-
mal küssen < begegnet sind und wie sie Bach in der
früheren Zeit häufiger pflegte. Dort spielte das Orchester
den Choral, hier singt ihn ein Singechor. Die Melodie
ist die in der Matthäuspassion mehrmals (im einfachen
Satze) wiederkehrende von »Herzliebster Jesu«, die Worte
dazu: »Was ist die ürsach aller solcher Plagen«. Der Ab-
schnitt beginnt mit einem ^;-s^ auch die
Vorspiel, dessen schwer ' £ ^\ n % T\^ \ f ; Form und
klagendes Hauptmotiv iX ^^^ Stim-
mung der längeren Zwischenspiele trägt, in welchen Solist
91
und Orchester die einzelnen Strophen des Chorals trennen,
und ebenso das heißen Ausdrucks volle Nachspiel. Auch
in der eigentlichen Hauptarie : »Ich will bei meinem Jesus
wachen« ist die Zweiteilung des einleitenden Ariosos weiter
geführt. Der Solist gelobt dem Heiland Treue und der Chor
malt wie aus der Feme den Erfolg dieses Gelöbnisses. Der
Tenor, der vorhin so mächtig klagte, singt jetzt eine
Melodie ernster Freudigkeit, — noch beredter als er
spricht die Solooboe ihm die Weise vor und mit eigen-
tümlichen schweren und trüben Akzenten gemischt — ;
aus dem Chor tönt über die Worte: >So schlafen unsere
Sünden ein« eine sanfte und zarte Schlummermusik.
Zwei Bilder in der Form streng gesondert und im Inhalt,
das eine der Reflex des anderen; in beiden eine Einfachheit
der Motive, eine schaffe und leidenschaftliche Gruppierung
wie im Volkslied! Den ersten Augenblick der Entrüstung, wo
Christus die Jünger schlafend findet, hat Bach durch eine
kürzere Einlage markiert: eine Baßarie mit vorausgehendem
Recitativo accompagnato: »Der Heiland fällt vor seinem
Vater nieder« die gewöhnlich wegbleibt, da sie, nur im
ernsteren und gedrängteren Ton, dasselbe sagt, wie der
vorausgehende große Satz von Tenor und ' Chor. Den
Schluß des großen Kampfes, die Stelle, wo Christus sich
in den Willen des Vaters ergibt, verdeutlicht der Choral :
»Was mein Gott will, das g'scheh allzeit«.
Den Akt der Gefangennehmung, die Schlußszene des
ersten Teils, führt Bach in einem Tonsatze aus, in wel-
chem wir eins der gewaltigsten dramatischen Bilder zu
erblicken haben, welche die Musik kennt. Dieser Satz
ist ein Meisterstück eines genialen Realisten, in großen
und kühnen Freskozügen hingeworfen und doch reich an
fein beobachteten und naturgetreu wiedergegebenen Ein-
zelheiten. Man täuscht sich kaum, wenn man in diesem
von elementarem Schwung erfüllten Bilde auch Äußer-
lichkeiten veranschaulicht glaubt, welche der biblische
Bericht nur im Vorbeigehen streift. Sie betreffen das
Orchesterkolorit des Satzes. In dem gedämpften Klang
der unisono spielenden Geigeninstrumente, in ihren jetzt
— ^ 92 ^ —
stockenden, jetzt unheimlich flutenden Rhythmen liegt
wohl ein Hinweis auf das unheimliche Leben am
nächtlichen Himmel. Der Mond verbarg sich, als sie
Christum banden und fortführten. So will auch das
Licht äes Klanges in diesem Satze mehrmals erlöschen,
bis in dem Schlußteil (S/g-Takt: >Sind Blitze und Don-
ner«) in den dröhnenden und rollenden Baßfiguren und
den zischenden und bebenden Violinen alle Wetter los-
brechen. Im Gesangsatze vereinigen sich die Toch-
ter Zion und der Chor der gläubigen Seelen. Jene
spricht (in Form eines Zwiegesanges von Sopran und Alt)
in heftig ^ ^^^ die in das
klagenden r^ ' ,, p ,» ^ | J, J) J. ^fT^^ , ^^ere, dro-
Melodien: ÜP ^ ' P' V ^^ hende Dun-
kel des Instrumentensatzes schneidend hineinklingen,
und in weinenden Gängen. Der Chor steht der Szene
in entgegengesetzter Haltung gegenüber: er donnert
den Schergen kurze Zurufe zu, deren empörter und
entrüsteter Inhalt sich in dem schon bezeichneten
Schlußteile des Satzes zu einer zusammenhängenden
und erschreckenden Tonflut verdichtet. Hier wird der
Chorsatz achtstimmig, die beiden Gruppen treiben sich
zur höchsten Spitze der Wut, wo eine Generalpause das
»Nicht weiter« bezeichnen muß. Von da an lenkt der
Satz in seinem Charakter etwas um und ganz am Schlüsse
in den Ton der Klage ein. Dieser Satz ist derjenige, wo
Bach sich der Opernnatur des italienischen Oratoriums
um einen bemerkbaren Schritt genähert hat Man
würde durch Text und Musik berechtigt sein, den Chor-
satz dieser Nummer in den Mund der Jünger zu legen.
Den kirchlichen Charakter der Passion am Schlüsse ihres
ersten Teils nochmals nachdrücklich festzustellen, hat
deshalb Bach an diese Stelle eine seiner umfangreichsten.
Ghoralfantasien hingesetzt: die große Komposition über
den altklassischen Passionschoral: >0 Mensch, bewein
dein Sünde groß«. Die Melodie singt der Sopran, die
übrigen Stimmen umschreiben mit selbständigen Themen
und geben ab und zu auch einen ausdrucksvollen Anhang.
9
Das Orchester vervollständigt das großartige Stimmungs-
bild mit einem sehr beweglichen Gewinde über die Figur:
deren* einfaches Grund-
motiv alle Stufen der
Klage von dem zarten
wehmütigen Sinnen bis
zum pathetischen Ausbruch des bitteren Schmerzes durch-
wandert.
>. Die rasch, und reich bewegte Handlung im zweiten
Teile der Matthäuspassion ist in vier Abschnitte geglie-
dert. Der erste, die Vernehmung Christi vor dem Hohen-
priester umfassend, wird durch eine madrigalische Ein-
lage (Altsolo und Chor) eingeleitet, welche an den Punkt
der Handlung anknüpft, bei welchem sie am Ende des
ersten Teils verlassen wurde. Die Tochter Zion sucht
den Herrn und klagt in tiefbekümmerten Melodien »nun
ist mein Jesus hin«. Es ist eine der rührendsten Szenen
der Passion, ein Bild, über dessen tiefe Traurigkeit eine
wunderbare Anmut gebreitet ist. Wie die Tochter Zion
so dasteht und, während die Instrumente spielen, in einem
langen Ton Umschau hält, wie die gläubigen Seelen als
liebevolle Gefährten in den kurzen fugierten Chorsätzen
ihr freundlich zusprechen und sich regen eifrig mitzu-
suchen — eine herzhchere Idylle im Kreise leidtragender
Menschen läßt sich nicht denken. Es ist nicht unwich-
tig, daß Bach die Solostimme dem ersten Chor entnom-
men haben will, den Chorsatz selbst dem zweiten Chor
zuweist. Mit dieser Vorschrift, die uns ähnlich noch bei
anderen Nummern begegnet, ist augenscheinlich eine
gewisse szenische Wirkung beabsichtigt. Der erste ge-
schlossene dramatische Tonsatz in dem Abschnitte ist
das Duett der beiden falschen Zeugen: »Er hat gesagt«,
ein kleiner Kanon in der Oktav, durch welchen ähnlich wie-
bei Schütz das mechanische gedankenlose Hinplappern
angedeutet werden soll. Mit beabsichtigter Übertreibung
ist das Bild des »Aufbauens« koloriert. Die Wichtigkeit
der Aussage hat zur Einlage' einer Arie für Tenor »Mein
Jesus schweigt zu falschen Lügen stille« Veranlassung
04 ^—
gegeben, die in der Regel übergangen wird. In ihrem
Rezitativ ist das Orchester in leisem Staccato geführt,
jeder Akkord dfirch eine Pause gefolgt, die Span-
nung anzudeuten, welche das Schweigen Christi erregt.
Die Arie selbst wirkt mit der Deklamation des Wortes
> Gedulde und greift durch ihren helleren l'on über den
Kreis der Passionsstimmung hinaus. Als Christus end-
lich spricht, beginnen die Violinen zu den Worten von
»dem Sitze zur Rechten der Kraftt ein myst^ches Figuren-
spiel. Auch hierfür liegt ältere Tradition vor. Der Doppel-
chor >Er ist des Todes schuldig«, mit welchem die an-
gebliche Gotteslästerung von den Hohenpriestern beant-
wortet wird, zeigt eine gewisse freudige Aufregung: End-
lich ist ein Anhalt gefunden. Nur die SchluBtakte haben
einen drohenden GbarakteK Der ebenfalls sehr kurze
Chor »Weissage, wer ist es, der dich schlugt offenbart
den frechen Übermut der Pfa£fenpartei. In seinen Sech-
zehntelfiguren ist das höhnische Gelächter, in den kurzen
Rhythmen, mit denen sich die Chöre ablösen, das grau-
same Necken und Spielen gezeichnet. Mit ihm schließt
dieser erste Abschnitt des zweiten Teils, ^d der ein-
fache Choral »Wer hat dich so geschlagen« markiert
diesen Schluß.
Als Anhang sind ihm zwei Episoden beigegeben : die
Verleugnung des Petrus und der Tod des Judas. Die
Episode der Verleugnung des Petrus war ein Abschnitt
der Leidensgeschichte, welchem die Zuhörer besonderes
Interesse entgegenbrachten. Hier wirkte die Erinnerung
an die handgreifliche Natürlichkeit der alten Passions-
spiele noch lebendig weiter. Wenn die Kurrenden in den
mitteldeutschen Städten ihren Passionsumzug hielten •—
und dieser blieb bis ins 4 9. Jahrhundert hinein noch ge-
bräuchlich — da warteten die Leute unter den Türen
und auf der Gasse mit Spannung auf das Auftreten der
beiden Mägde und auf das Krähen des Hahnes*). Auch
*) Th. Kiiebitzsch: Du Oiatoiium (Muslkal. Wochenblatt,
1870).
Bach hat auf diese naiven Kunstansprüche der großen
Masse freundlich Rücksicht genommen. In seiner Johannes-
passion, wie in der zu Matthäus ist das Krähen des
Hahnes leicht angedeutet; ernster ausgeführt ist das
Weinen Petri — eine von den Darstellern des Evange-
listen gefürchtete Stelle, für welche die Kunst des Fal-
settierens in einem Grade vorausgesetzt wird, wie er im
48. Jahrhundert noch allgemein verbreitet war. Ein Zug
ironischer Art äußert sich am Anfatige dieses nach dem
kurzen Chor: »Wahrlich, du bist auch Einer etc.« ein-
setzenden Rezitativs. Bach setzt die Worte des Evan-
gelii^en:»Und alsbald krähete der Hahn« auf genau die-
selbe Tonreihe, in der Petrus unmittelbar vorher be-
teuert: >Ich kenne des Menschen nicht«. Wenn Bach
hier und auch in der Johannespassion den Evangelisten
das Weinen des Petrus so geflissentlich verbildlichen
läßt, so war ihm dabei um mehr als eine wirkungsvolle
Tonmalerei zu tun. In anderen oratorischen Passionen
verurteilt die Tochter Zion den Abfall des Petrus mit
einem zornigen Erguß; in den beiden genannten Bach-
schen Passionen aber spricht sie ihn frei um seines Wei-
nens willen. In der herrlichen Arie »Erbarme dich«,
welche den Schluß der Petrusepisode bildet, weint sie
mit Es ist wohl kein Zufall, daß dieses kunstvolle
Duett der Altstimme und der Solovioline, trotz seiner
langgemessenen schwierigen Melodieperioden, einer der
populärsten Sologesänge geworden ist. Der Naturton
darin ist unwiderstehlich.
Die Episode von der Reue und dem Tode des Judas
bringt in dem Satze: >Was gehet uns das an« wieder
einen kurzen Doppelchor, dessen anfänglich gleichgül-
tiger Ton am Schlüsse den Ärger und die Gereiztheit
zu Tage treten läßt, und ein Duett zweier Bässe, welche
Bach als »Pontifex primus« und >P. secundus« bezeichnet
hat, über die Worte: >Es taugt nicht, daß wir sie in den
Gotteskasten legen«. Bei dem Worte »Blutgeld« äußert
diese vorher absichtlich etwas bombastisch gehaltene
Musik deutlich den Schauder. Den Abschluß dieser
Judasepisode macht die Tochter Zion mit einer Baßarie
— ohne Rezitativ — »Gebt mir meinen Jesum wieder c,
welche sehr breit ausgeführt ist und auffällig behagliche
Bestandteile enthält.
Der zweite Abschnitt, Christi Verhörung durch Pila-
tus umfassend, hat den musikalischen Schwerpunkt in
den dramatischen Chören, den erregten Äußerungen
der Volksmassen. Da ist das in seiner plötzlichen, bhtz-
artigen Wucht niederschmetternde: »Barrabam«. Seine
Kürze dankt es wahrscheinlich der Erinnerung Bachs an
die alten Choralpassionen. Die in ihrer Bedeutung einen
ganzen langen Satz überbietende Dissonanz, in welche
der Ruf gekleidet wird, ist Bachs eigenste Idee. Da ist
femer das dämonisch kalte »Kreuzige« mit dem unge-
duldig und ungebärdig wie eine Drohung gegen den Land-
pfleger abbrechenden Schlüsse: und da ist das leichtfertig
verwegene »Sein Blut komme über uns und unsere Kinder«;
Bach hat in diesem letzten Stück die törichte Verblen-
dung der Menge hervorgehoben, nicht ihren Fanatismus :
die tänzelnden Rhythmen, die auf Tonleitergängen hinr
tändelnde Melodik, würden auf einen Text ganz fröhlichen
Inhalts schließen lassen, wenn nicht in der Harmonie
der Mollcharakter vorherrschte. In Bezug auf malerische
Kraft in der Motiverfindung und in scharfer Durchführung
der bildlichen Vorstellung ist der Spottchor der Kriegs-
knechte »Gegrüßet seist du« eins der hervorragendsten
Stücke unter den dramatischen Chören der Passion. In
diesen vier Takten steht alles, was zu dem Bilde gehört,
die grotesken Verbeugungen, das Kichern und Lachen
und das hart herausfahrende verächtliche Schimpfen.
Diesen Höhepunkt der Schmach hat Bach in für ihn be-
zeichnender Weise nicht mit einer Arie oder einer anderen
Art des oratorischen Kunstgesanges ausgestattet, sondern
mit dem Choral »0 Haupt voll Blut und Wunden« und
zwar in der einfachsten Satzform. — Es sind in diesem
Abschnitte nur noch zwei Stellen, an welchen der bibli-
sche Text durch oratorische Einlagen unterbrochen wird.
Das erste Mal singt der Sopran auf die Frage des Land-
pflegers: »Was hat er dfenn Übles getan« eine Arie mit
vorausgeheadem Arioso: »Er hat uns Allen wohlgetan«.
Das Wort des Pilatus zwang nicht zum Verweilen, aber
dem Komponisten war es wünschenswert, zwischen dem
Chor »Laß ihn kreuzigen« und seiner Wiederholung etwas
Zeit vergehen zu lassen. Zudem ist die Arie in ihrem
fahlen, wie von Flor bedeckten Kolorit un^ in ihrem auf
Fermaten absetzenden Bau eine der eigentümlichsten
Nummern der Passion. Die andere Stelle, an welcher
die Tochter Zion mit einer Arie einsetzt, ist die, wo das
Verhör durch den Beschluß beendigt wird, daß Jesus ge-
kreuzigt werde. Die Arie (Alt: »Erbarm es Gott«) besteht
wieder aus Einleitung, Arioso und Hauptsatz. Beiden
Sätzen ist die unruhige Sprache der erschütterten, aus
der Fassung gebrachten Seele gegeben. Im Arioso folgt
Bach dem tonmalerischen Zuge seiner Zeit und führt im
Orchester das Bild des Geißeins durch.
Der dritte Abschnitt des zweiten Teils, welcher die
Kreuzigung' auf Golgatha enthält, wird mit einer Arie
eingeleitet »Ja freilich will in uns das Fleisch und Blut
zum Kreuz gezwungen sein«, in welcher ein Solobaß mit
der Viola da Gamba konzertiert. Der Teit knüpft an die
Stelle der Erzählung an, wo Simon von Kyrene dem
Herrn das Kreuz abnimmt. Die Tochter Zion erklärt,
daß sie dem Heiland, der das Kreuz der Menschheit ge-
tragen, einen gleichen Liebesdienst mit süßer Lust* er-
weisen will. Die Musik hat jene Mischung von Ernst
und inniger Schwärmerei, die Bach eigen ist; das Solo-
instrument drückt Kraft und Freudigkeit in freundlichen
und lieblichen Figuren aus. In den beiden Chören »Der
du den Tempel Gottes zerbrichst« und »Andern hat er
geholfen« wechselt der leicht scherzende und spöttelnde
mit einem harten verweisenden und barschen Ton. Eine
Stelle, deren höhnischer Ausdruck leicht verkannt wird,
ist in dem letztgenannten bei den Worten: »Er hat Gott
vertrauet«. Beide Chöre sind voll absichtlich gespreizter
Malereien; besonders wird das »Herabsteigen vom Kreuze«
ausgeführt. An der Stelle, wo der Evangelist erzählt, daß
II, 4. 7
auch die Mörder, die mit gekreuzigt wurden, den Heiland
schmäheten, klagt die Tochter Zion in einem ausdrucks-
vollen Aribso: >Ach Golgatha«. Namentlich das Ende
dieses Satzes bringt eine Schwere der Empfindung zum
Ausdruck, welche die Grenzen der musikalischen Form
fast überschreitet. Die Singstimme schreit ihr: »Ach
Golgatha« noch einmal laut auf und sinkt dann wie ge«
brochen hinab, um auf einer Dissonanz zu verklingen,
welche die Instrumente allein aufzulösen haben. Die
darauffolgende Arie: »Sehet, Jesu hat die Hand uns zu
fassen ausgespannt«, wird in der Regel ausgelassen. Sie
wirkt* auf den naturalistischen Ausbruch des herben
Schmerzes, mit dem das Arioso zu Ende ging, wie ein
weicher Balsam. Der Zutritt des Chors der gläubigen
Seelen, welche hier genau so wie in der schönen Baß-
arie der Johannespassion »Eilt usw.« der Tochter Zion
mit ihren kurzen Fragen »Wie, Wo« entgegentreten, stört
den Charakter des Satzes mehr als daß er ihn hebt. Die
ergreifenden Worte Christi: »Eli usw.« sind ohne das ob-
ligate Streichquartett begleitet, welches bis dahin den
Reden Christi beigegeben war. Auf den Zusammenhang,
in welchem diese einfachere Behandlung mit der alten
Choralpassion steht, ist schon früher hingewiesen worden.
Die beiden Chöre, in welchen die Menge diesen Scheide-
ruf Christi auslegt, sind sehr kurz gehalten, der erste im
Töne der einfachen Verwunderung, der zweite mit einem
Beisatz gehässiger Kritik. Der dramatische Hauptpunkt
auch dieses Abschnittes, die Stelle wo es heißt: »Jesus
schrie abermals laut und verschied« ist wieder mit einem
einfachen Choral bezeichnet: »0 Haupt voll Blut und
Wunden« jetzt mit dem Text »Wenn ich einmal soll
scheiden« und diesmal — das erste und einzige Mal, so
oft der Choral in der Passion vorkommt — nicht in der
Durtonart, sondern in der alten phrygischen Weise, die
unsrem Moll etwas verwandt ist.
Die Szene der Kreuzigung hat in der Erzählung von
dem Erdbeben und in dem kurzen frommen Satze des
Hauptmanns und seiner Gefährten »Wahrlich, dieser ist
Gottes Sohn gewesen« ein aufregendes und feierliches
NachspieL In der Darstellung des Erdhehens ist, der
Skizze des Continuo nach zu schließen, auf eine reichere
Entfaltung der Orgelkünste gerechnet. Manche alte Orgeln
fiatten für das »terraemoto« ein besonderes Register.
Der vierte Abschnitt des zweiten Teils, der letzte der
' Passion überhaupt, enthält nur drei ausgeführtere Stücke:
Das mittlere allein ist dramatischen Charakters: der
Chor der Hohenpriester: »Herr, wir haben gedacht«,
einer derjenigen Sätze unter den dramatischen Chören,
welche inbezug auf Charakteristik in zweiter Linie
stehen. Die beiden anderen Sätze sind madrigalische
Ergänzungen des Bibeltextes und in der Stimmung ein-
ander verwandt. Der erste ist ein Sologesang des Basses:
Arioso und Arie: »Am Abend, da es kühle ward«. Unter
den vielen Ariosos der Matthäuspassion ist dieses das-
jenige, welches am meisten singt und von dem Charakter
eines pathetisch deklamierenden Yorbereitungssatzes sich
am weitesten entfernt. Ein bedeutendes Stück roman-
tischen Sinnes liegt in ihm in den warmen lyrischen
Akzenten, mit welchen die Singstimme der »schönen Zeit«
der Abendstunde gedenkt, und in den zart und sanft
in die Tiefe hingleitenden Figuren, mit welchen die
Geigen die Schatten der nahenden Nacht vor . der Fan-
tasie aufsteigen lassen. Gleich schön und von eigener
Schwärmerei erfüllt ist die zu diesem Arioso gehörige
Arie. Wie schade, daß sie, von deren edel populärer Melo-
dik schon der .,.,,„, , - ^ ■■ ^ , so gut wie
Anfang einen }^V' ^^ ' ? r P f-TI^ I^S unbekannt
Begriff gibt, Ma-«te dich mein ar^ie, refail jg^
Oft liest und hört man: es sei unpassend, daß der
Sänger, welcher die Partie des Christus durchgeführt hat,
nachdem der Heiland verschieden ist, wieder auftritt und
das »Am Abend, da es kühle ward« vorträgt. Diese Be-
merkung macht der feinen dramatischen Empfindung
unserer Zeit Ehre, aber sie geht über die eigenen An-
sprüche des Komponisten hinaus, der nicht blos bei dieser
Arie, sondern auch bei zwei anderen, die noch in die
7*
— ♦ 400 <^ —
Abschnitte vor der Kreuzigung fallen, denselben Sänger
aus dem Coro I, der den Christus singt, zu verwenden
erlaubt. In den alten Choralpassionen war man so wenig
bedenklich in dergleichen Fällen, daß Christus auch ruhig
den Baß in den Judenchören mitsang. Eine strenge
Trennung in der Besetzung der dramatischen Partien
der Passion und der madrigalisch -oratorischen würde
wenigstens für die Chöre einen zurückschreckenden Auf-
wand von Personal und von Aufstellungsplatz erfordern.
Vielleicht gelangt man aber noch einmal dahin. Wenn
die Tochter Zion und der Chor der gläubigen Seelen auf
einen Raum für sich unten im Orchester, oben Christus,
die Soliloquenten und die dramatischen Chöre, der Evan-
gelist mit dem Dirigenten in neutraler Mitte untergebracht
werden könnten und die einfachen Choräle von der Ge-
meinde oder Zuhörerschaft mitgesungen würden, so wäre
das Ideal von Deutlichkeit erreicht und manchem Miß-
verständnis vorgebeugt, dem ein unvorbereiteter Besucner
einer Passionsaufführung öfters unterliegen kann.
Die alte Gtatiarum actio der Choralpassion ist in der
Matthäuspassioti ebenso wie in der zu Johannes durch
eine lange, wehmütig mild gestimmte Chorarie ersetzt.
In der Matthäuspassion geht ihr wie der Mehrzahl der
Soloarien des Werkes ein rezitativisches Arioso voraus:
>Nun ist der Herr zur Ruh gebrachte, in dessen Vortrag
sich die Solisten der vier Stimmen teilen.
Man weiß allgemein, daß die Matthäuspassion erst
dem 49. Jahrhundert zugute gekommen ist Sie gehört
heute in allen deutschen Städten, wo die musikalischen
Zustände geordnet siiid, zu den regelmäßigen Erschei-
nungen der Charwoche: Jahr für Jahr oder Jahr um Jahr.
Auch im Ausland beginnt sie sich einzubürgern. Wir
verdanken dies dem jungen Mendelssohn, der das Werk
aus dem Archive hervorzog und kühn und frisch mit
der Berliner Singakademie (4 4. März 4 829) aufführte.
Der Erfolg war in Berlin schnell entschieden. In anderen
Städten fand man die Stellung zu dem Werke nicht so-
fort. Aus Königsberg, dem vierten Ort, wo man sich {im
Jahre 4 832 unter Musikdirektor Saemann) an das Werk
wagte, wurde berichtet: »Ein Teil der Zuhörer lief schon
in der ersten Hälfte zur Türe heraus, andere nannten
das Werk veralteten Trödel«. Der Referent schließt sich
der dritten Gruppe an, weljche Bachs Passion einer kolos-
salen ägyptischen Pyramide vergleicht, der sie den »Tod
Jesu« von Graun als den anmutigen griechischen Tempel
vorzieht. Nach der ersten Dresdner Aufführung (4 833
Palmsonntag) heißt es ziemlich schüchtern: »Bachs
Passionsmusik kann neben jeder neueren Tondichtung
bestehen«. Nach und nach erkannte man ihr dann wohl
auch die Überlegenheit zu. Das Wiedererscheinen der
Matthäuspassion bezeichnet einen der wichtigsten Wende-
punkte in der neueren Musikgeschichte und eröffnete zu-
nächst für Deutschland, allmählich dann für die gesamte
Kulturwelt eine Periode der musikalischen Renaissance,
in der wir noch mitten drinne stehen. Die Matthäus-
passion hat uns' den ganzen Bach, sie hat uns die Werke
von Schütz, Palestrina und eine ganze Reihe eigentüm-
licher und bedeutender Meister wiedergebracht, die bis
dahin fast nur in den Wörterbüchern fortlebten; dem
Studium uüd dem Genuß ist eine große Kunstwelt neu
erschlossen worden, das geistige Band zwischen ' Gegen-
wart und vergangnen Zeiten wieder festgeknüpft.
Gänzlich unbekannt blieb übrigens die Matthäus-
passion den Zeitgenossen Bachs nicht. Abgesehen von
Leipzig, wo nach Rochlitz am Ende des 4 8. Jahrhunderts
die Aufführung Bach scher Passionen allemal ein »künst-
leriscli christliches. Fest« für die ganze Stadt gewesen
sein soll, muß das Werk auch nach außen gedrungen
sein, wenigstens in die Kreise der Kollegen. Stölzel hat
in einer seiner Passionen ein Seitenstück zu d^m Arioso
»Am Abend, da es kühle ward« in Bachs Matthäuspassion,
das zu diesem in einer Verwandtschaft steht, die nicht
auf bloßer zufälhger Gedankenbegegnung beruhen kann,
sondern auf das Studium des Bachschen Originals zurück-
geführt werden muß. Ähnlich wird es sich mit einzelnen,
schon früher berührten Zügen der zweiten Markuspassion
— * \0t *—
Telemanns (vom Jahre 4759) verhalten. Eine Anspielung
in Mizlers Musikalischer Bibliothek (Bd. IV, S. 4 09) auf
eine »unvergleichliche Passionsmusik, welche wegen der
allzuheftigen in ihr ausgedrückten Affekte in der Kammer
eine gute, in der Kirche aber eine widrige Wirkung ge*
habt habe«, könnte auf die Matthäuspassion bezogen
werden, auch eine Bemerkung Marpurgs (in »Legende
einiger Musikheiligen«) über »ein gewisses sehr künst-
liches Passionsoratorium eines gewissen großen Doppel-
kontrapunktisten« geht wahrscheinlich auf sie*). Mögen
aber diese Sticheleien gelten, wem sie wollen — eine
weite und allgemeine Verbreitung der Matthäuspassion
wäre im 4 8. Jahrhundert auch dann nicht möglich ge-
wesen, , wenn Bachs musikalischer Stil überall geliebt
worden wäre. Die großen technischen Schwierigkeiten,
die das Werk den mutigen und erleuchteten Dirigenten
noch verursachte, welche dem Beispiele Mendelssohns
zunächst folgten — aus dem Bericht von Mosevius lassen
sie sich ersehen — existierten für die kleinen, aber sichren
Schulchöre des 48. Jahrhunderts zwar nicht; auch der
vermeintHchen Länge des vierstündigen Werkes, wielche
die gegenwärtige Generation in Verlegenheit setzt, wurde
die daihallge Praxis einfach Herr. Aber die Zeitgenossen
Bachs hatten für das, was sein Ideal war, die Verbindung
alter und neuer Kunst, die Mischung von Elementen, die
noch mit der Ghoralpassion in Zusammenhang standen,
und solchen des Oratoriums, wenig Sinn. Der allgemeine
Geschmack war bereits zu bestimmt in die Bahnen des
italienischen Oratoriums eingelenkt. Bachs Werke büe-
ben, kaum als Merkwürdigkeit erkannt und beachtet, bei
Seite stehen, und von den Passionen seiner Schüler, die
nach den Grundsätzen des Leipziger Meisters gebaut
habensollen, wie Krebs, ging noch weniger Wirkung aus.
Die Bachschen Passionen bilden Enklaven in der
Geschichte der Passion, Inseln im großen Entwicklungs-
strome der Gattung. Von der Mitte des 4 8. Jahrhunderts
*) Vgl. Ph. Spitta a. a. 0.
—^ 403 ♦—
ab kommt das nach den ersten Hamburger Versuchen
zeitweilig zurückgedrängte italienische Element in den
Passionsmusiken deutscher Komponisten wieder und als-
bald ausschließlich zur Geltung. Von dieser Zeit ab wird
die Leidensgeschichte vorwiegend in zwei Formen dar-
gestellt, welche beide den Zusammenhang mit der alten
Passionslektion fallen lassen und, die eine im Geist, die
andere auch in der äußeren Anlage, der Oper vollständig
folgen. Die Passion wird als Kantate behandelt, oder als
freies, opernmäßiges Oratorium.
Die Passionskantate gibt den Inhalt der Leidens-
geschichte in Form einer lebhaften Betrachtung wieder,
die in den Mund eines frommen Zuschauers gelegt ist.
Dieser äußert in Rezitativ, Arie und Chor, was er sieht
und was er fühlt. Der Hauptnachdruck liegt aber im
Ausdruck des Gefühls. Mit dem Evangelisten und dem
Bibelwort sind auch die redenden und handelnden Per^
sonen des Evangeliums beseitigt. Die Erzählung der
Vorgänge, die Wiedergabe der Reden sind aufs äußerste
zusammengedrängt, das Rezitativ, welches sie enthält,
ist im Text mit zählreichen »Achs« und »Obs« unter-
mischt, und mit diesem Text wetteifert die Musik in
Empfindsamkeit. Wie die Oper und das italienische
Oratorium des 4 8. Jahrhunderts ist auch die Passions-
kantate ein eigenstes und treuestes Kind der Zeit der
»schönen Seelen« und ganz und gar dem Drang ent-
sprungen in unaufhörlichen lyrischen Ergüssen den Reich-
tum der weichen Herzen an den Tag zu bringen. Die
Ereignisse der Leidensgeschichte selbst werden dem Zu-
hörer nur in halber Deutlichkeit vorgeführt, der Dichter
eüt durch die Rezitative hindurch, um sobald als mög-
lich in breiten Formen, für Arien und Chöre bestimmt,
die Grefühle zu entladen, in welche er sich aus dem be-
treffenden Anlaß eifrig, oft sehr mühsam und gekünstelt,
versenkt hat. Ein Zug von Eitelkeit und Heuchelei liegt
in der ganzen Methode, und wenn er irgendwo unan-
genehm berührt, so ist es bei einem Gegenstande wie
die Passion. Die Passionskantate entsprach aber nicht
— ♦ 104 ♦—
bloß dem allgemeinen Geschmack der Periode, sondern
auch dem musikalischen, und sie war selbst kirchlidi
durch den Pietismus vorbereitet. Dem Wesen der alten
auf den schUchten, aller Reflexion baren Vortrag der
Leidensgeschichte gerichteten Ghoralpassion diametral
entgegengesetzt, näherte sie sich dieser doch von einer
Seite: in der Brauchbarkeit für den Gottesdienst. Sie
war verhältnismäßig kurz und sie hatte außerdem noch,
mit den an Brockes anknüpfenden Reformversuchen
verglichen, den Vorzug größerer Einheitlichkeit.
Die Anfänge der Passionskantate finden wir schon in
den ersten Jahrzehnten des 48. Jahrhunderts. Einer der
frühesten Tonsetzer, welche sie pflegten, war C.H. Graun,
der Kapellmeister Friedrichs des Großen. Als Schüler hat
Graun noch eine Lukaspassion iAi Stile der Hamburger ger
schrieben. Von 1730 ab wendete er sich der Passions-
kantate zu. Fünf Werke, die zu ihr gehören, sind von
C. Hl Qrann, ihm bekannt. Das letzte, »Der Tod Jesu«; wurde zum
Der Tod Jesu. Hauptdenkmal der ganzen Gattung und erlangte eine
unvergleichliche Berümtheit. In Berlin, wo dieser »Tod
Jesu« mit Spannung erwartet, den 26. März 4 755 zur ersten
Aufführung kam, ist er bis in die neuere Zeit ein Lieb-
lingswerk geblieben und früher in der Charwoche zu-
weilen mehrfach aufgeführt worden. Er kam schnell in
Druck, erlebte in Partitur und Klavierauszug Auflage
um Auflage und fand die allgemeiijste Verbreitung. Der
»Tod Jesu« trat an die Stelle von Telemanns »Seligem
Erwägen« und wurde auf Jahrzehnte in Nord und Süd
die beliebteste Passionsmusik; in vielen Orten die stän-
dige, zu der man Jahr für Jahr wiederkehrte. Das
Werk ist aus dieser Stellung erst im 49. Jahrhundert
und nur langsam durch die Matthäuspassion von
S. Bach verdrängt worden. Wenn heute vollständige
Aufführungen der Graunschen Kantate seltener sind, so
gibt es doch- auch jetzt nur wenige Musikfreunde, welche
nichts von dem »Tod Jesu« gehört haben und nicht
wenigstens das eine oder das andere Bruchstück daraus
kennen.
Der Text zu dem Werk, welcher von dem bekannten
und angesehenen Ästhetiker Ramler herrührt, ist stark
getadelt worden. Herder hat ihn zum Gegenstand eines
Angriffs gemacht. Ramlers Dichtung leidet an dem
Familienfehler aller oratorischen Passionsgedichte: dem
Mangel an Anschaulichkeit tind Plastik, an klarer Aus-
prägung von Ort, Zeit und Personen der Geschichte.
Man weiß nie, wer spricht: der Vortrag eines Augen-
zeugen der Leidensszenen und die Betrachtungen, die
ein gläubiger Christ achtzehn Jahrhunderte später über
das Ereignis anstellt, laufen ungesondert durcheinander.
Aber Ramlers Kantate hat den doppelten Vorzug einer
einfachen Gruppierung, und eines ausgezeichneten musi-
kalischen Gusses. Sie ist mit einem feinen Sinn für
Alles das entworfen, was die Generation, für welche
diese Passion bestimmt war, in der Musik suchte und
für das, was Graun besonders konnte. Ramler ent-
wickelt die Leidensgeschichte in sieben Bildern, und ob-
wohl für die Anlage und Ausführung dieser einzelnen
Bilder immer ziemlich dasselbe Verfahren eingeschlagen ist,
so erscheinen doch die Formen mannigfaltig und wechselnd.
So ist der Eingang der Dichtung sehr geschickt ge-
dacht. Der Erzähler tritt mit der Frage auf: »Wo ist
das Tal, die Höhle, die, Jesu, dich verbirgt? Verfolger
seiner Seele, habt Ihr ihn schon erwürgt ?€ Das ist dra-
matisch, — aufregend. Um des rein kirchlichen Effekts
willen hat aber Graun diesen Eingang als Choral, auf
die Melodie: »0 Haupt voll Blut und Wunden« für vier-
stimmigen Chor (und Gemeinde) komponiert. Der Chor
fährt in der Nummer 2 (Largo: >Sein Odem ist schwach«)
in der Rolle des pathetischen Erzählers fort und schil-
dert, daß er Jesus gefunden und wie elend er ihn ge-
funden hat. Am Anfang und Schluß von schüchtern er-
greifenden Ausdruck, fugiert dieser Satz zwischen den
genannten Endpunkten über zwei Themen von denen
man das erstere sowohl in bezug auf seinen Charakter
wie seine Durchführung vorziehen wird. Nach dieser
Nummer geht die Partie des Erzählers an den SoUsten
— ^ 406 ♦—
über und wird Rezitativ: »Gethsemane! Gethsemane!
Wen hören deine Mauern usw.« Von hier ab bleibt die
vom Dichter vorwiegend in die Form hochbewegter Fra-
gen und Ausrufungssätze gekleidete Erzählung musikaUsch
in den Händen der Solisten. Graun wählte für ihre Wieder-
gabe die Form des Recitativo accompagnato, welches er
wie überhaupt die musikalische Deklamation, meisterhch
beherrschte. Auch seine Opern, von denen der »Monte-
zumac seit kurzem gedruckt vorliegt*), sind darin muster-
haft. Die Rezitative von Grauns >Tod Jesu« gehören zu
den gehaltvollsten Lebenszeichen der Musik in Händeis
und Bachs Zeit; sie sind in der Begleitung reich an fan-
tasievollen und von tiefer Empfindung getränkten Zügen;
in der Singstimme herrscht ein bewegter, aber immer
edler und maßvoller Ausdruck. Das Publikum' wurde
nicht zum geringsten durch diese Rezitative an den »Tod
Jesu« gefesselt, und die Sänger beneideten einander um
die schönen Stellen, die in diesem Teile ihrer Partien
jedem Einzelnen zufielen: In einer Mannheimer Partitur,
die zur Zeit, wo die berühmte Wendling und der Bassist
Gern der dortigen Hofoper angehörten, dem Dirigenten
als Handexemplar gedient hat, ist das kurze eben hier
in Rede stehende Rezitativ > Gethsemane« auf drei So-
Usten verteilt worden. An wichtigen Stellen, wo Reden
Jesu eintreten, geht Graun aus dem Rezitativton in einen
gesangmäßigen über. So bei den Worten Jesu: >Meine
Seele ist betrübt bis in den Tod«. Der Dichter schreitet
von solchen Höhepunkten der Situation regelmäßig zu
einer breiten Betrachtung fort, deren Inhalt entweder
darauf zielt, den Zuhörern zu sagen: Nehmt euch ein
Beispiel an dem, was der Heiland hier für uns getan,
oder: Sehet, das ist geschehen, weil wir gesündigt haben.
Nur ausnahmsweise schwingt sich Ramlers Fantasie aus
diesen beiden, Gleisen hinaus. Noch klarer ist der musi-
kalische Zweck dieser Einschaltungen ersichtlich. Sie
sollen dem Komponisten Gelegenheit zu einer ausgeführten
♦) Denkmäler Deutscher Tonkunst, 16. Band.
--♦ 407
Arie geben. So erhalten wir an der hier in Betracht
kommenden Stelle eine Arie »Du Held, auf den die Köcher
des Todes ausgeleert usw.«, deren Inhalt die Bitte an
Christus bildet: unser Schutzgeist in der Stunde des Todes
zu sein. Der erste und Hauptteil der Musik in dieser Arie
stützt sich auf den Begriff des Helden,, der dem Kompo-
nisten Veranlassung und Vorwand zur Ausführung bra-
Youratmender Motive wird; dei: Schlußteil, welcher ziem-
lich spät kommt, bringt die Bitte allein. Ein Choral »Wen
hab ich sonst, als dich allein c, von Chor und Gemeinde
auf die Melodie »Nun ruhen alle ^älder« gesungen, bildet
noch eine Ergänzung des Gebetsteils und schließt dieses
erste Bild des Graunschen »Tod Jesu«.
Den weiteren sechs Bildern liegt in Dichtung und
Musik so ziemlich genau dasselbe Modell unter, wie
dem hier geschilderten ersten. Das zweite fi;hrt die
Erzählung im Rezitativ bis zu dem Punkte, wo Christus
seine Jünger bittet, mit ihm zu beten, und knüpft
hieran eine mit milder Musik umgebene Arie, die den
Segen des Gebets behandelt. Das dritte Bild schildert
weiter bis zur Verleugnung Petri. Auch Graun hat eine
kleine Malerei für das Weinen dieses Jüngers, und Ramler
hat das Weinen des Petrus zu einer Betrachtung über
den Unterschied benutzt, welcher zwischen den Vergehen
»weichgeschaffner Seelen« und den Verbrechen der »hart-
gesottnen Sünder« besteht. Dieser Gegensatz, dem Kom-
ponisten von Haus aus willkommen, hat in dem weichen
Hauptteile Graun Veranlassung geboten, sein Bestes zu
geben. Das lag nicht in dem Gebiet der starken Affekte,
sondern da, wo Mitleid und zarte Regungen auszudrücken
waren. Doch war er sehr wohl befähigt, jene glücklich
zu skizzieren. Einen Beweis davon bildet der mächtig
am Herzen rütteliide Aufschrei: »0 wehei in dem
Chore: »Unsere Seele ist gebeugt, daß wir so gesün-
digt«, welcher den Schluß des Petribildes und eine
der schönsten, in der^erbindung von Tiefe und Ein-
fachheit eigensten Nummern der Graunschen Passion
bildet.
—^ 108 ^ —
Das vierte Bild trägt in der ersten Hälfte der Solo-
baß. Die Erzählung geht bis an die Stelle, wo Christus
den Frajien, die ihn nach Golgatha begleiten, zuruft:
»Ihr Töchter Zions, weinet nicht«. Ramler erscheint diese
Anrede als Akt des Heroismus, und er schreibt eine Arie
über den Held aus Kanaan, der wie ein Fels im Unge-
witter steht. Grauns Komposition dieser Verse ist eine
Huldigung an den Bravourgesang, ein sehr schwieriges
und für einen guten Virtuosen auch wirkungsvolles,
d. h. äußerlich wirkungsvolles Stück. Wenn Friedrich
der Große wirklich den »Tod Jesu« für Grauns »beste
Oper« erklärt hat, so liegt die Berechtigung zu dieser
zweideutigen Kritik, die schon in der ganzen Anlage des
Werkes ihre Stütze findet, in solchen Nummern, wie
dieser Baßarie, noch besonders vor. Ergänzt wird der
Textinhalt der Arie noch durch den Chor: »Christus hat
uns ein Vorbild gelassen«, eine flüssige, an Ausdruck
nicht eben reiche Doppelfuge, die wegen ihrer gut voka-
len Natur und trotz der Banalität ihrer Themen einen
ganz ungemeinen Privaterfolg davongetragen hat. Das
Stück ist heute noch auf dem Repertoire vieler Kirchen-
und Schulchöre, es ist in Fantasien und anderen freien
Bearbeitungen für Orgel usw. verherrlicht worden und ist
selbst in Lehrbüchern des Kontrapunkts als Muster der
Fugengattung behandelt worden! Der Choral: »Herz-
Uebster Jesu« auf die Worte: »Ich werde dir zu Ehren
Alles wagen« schließt den Abschnitt.
Dasselbe Schema, welches bisher die Grundlage für
die Dichtung und die Musik des »Tod Jesu« bildet, können
wir bis zum Schlüsse des Werkes weiter verfolgen. Es
ist das Schema der Szene in der italienischen Oper des
48. Jahrhunderts, nur ist der ewige eintönige Wechsel
zwischen Rezitativ und Arie dadurch gemildert, daß den
Zwecken der Betrachtung außer den Arien auch noch
Chöre gewidmet sind, und dadurch, daß die Rezitative
an und für sich höheren Wert besitzen, als er dem
trockenen Redegesang, dem sogenannten Seccorezitativ,
der wirklichen Oper jener Zeit durchschnittlich zukommt.
-—4 109 *—
Auch an Holzbauers > Günther«'*') kann man sehen, daß die
deutschen Musiker der Graunschen Zeit über diesen Durch-
schnitt hinauszukommen suchten. In den Arien der Passion
bewegt sich Graun in einem ziemlich kleinen Kreise see-
lischen Lebens, und dieser Kreis erscheint noch kleiner,
als er wirklich ist, weil der Komponist im Ausdruck un-
frei auf von vornherein gegebene Formen und auf eine
bestimmte Stilart hinarbeitet. Es waren daher auch die
Arien, denen gegenüber die unbedingte Verehrung für
den »Tod Jesu« zuerst erschüttert wurde. Bereits im
Jahre \ 820 befahl der Großherzog von Hessen-Darmstadt,
der ebenfalls diese Graunsche Passion in jeder Ghar-
woche auffuhren ließ, seinem Kapellmeister Wagner, die
Arien sämtlich zu kürzen. Und diesen Darmstädter
Strichen, die in der Allgemeinen Musikalisc^ien Zeitung
veröffentlicht wurden, folgten von da ab die meisten
Aufführungen. Eine jener Arien, die den rein virtuosen
Zwecken zu Liebe den Geist des Tiextes vollständig ver-
nichten, ist das Duett: »Feinde, die ihr mich betrübet«.
In der Richtung verwandt, aber Dichtung und Musik
doch einigermaßen in Ober einstimmun g haltend, ist die
große Sopranarie: »Singt dem göttlichen Propheten«,
welche zu ihrer Zeit zu den berühmtesten Nummern der
Passion 'Zählte und noch bis an die Gegenwart heran
unter den unentbehrlichen Paradestücken aller Koloratur-
sängerinnen ihren Platz behauptet hat. Auch sie steht
mit der Erzählung in einem nur schwachen Zusammen-
hang. Besser schließt sich an das Stichwort: »Heute
noch wirst du mit mir im Paradiese sein« der Chor:
»Freuet euch Alle, ihr Frommen«, der die Worte: »Und
^as er zusagt, das hält er gewiß« in einer jener platten,
und handwerksmäßigen Fugen durchführt, welche lange
Zeit und auch bis in unsere Zeit herein für das notwen-
dige Kennzeichen des oratorischen Stils gehalten worden
sind. Eine der wenigen Nummern der letzten Hälfte
des »Tod Jesu«, welche von wirklicher Poesie getragen
/
*) Denkmäler Deutscher Tonkunst, Bd. 8 u. 9.
— -* HO ^^—
erscheinen, und zugleich ein kirchlich gerichtetes Stück ist
das Quartett: »Ihr Augen, weint«. Die drei oheren Stimmen
führen in ihm, von den Streichinstrumenten mit tropfenden
Tönen umspielt, die Ghoralmelodie: >0 Traurigkeit, o Herze-
leid« durch. Der Baß singt zwischen den einzelnen Strophen
freundlich tröstende Weisen. Der Schlußchor : »Hier liegen wir
g^hrte Sünder« hat in der Dichtung noch einen leichten Zu-
sammenhang mit der alten Gratiarum actio. Die Musik bringt
noch einmal sehr entschieden und würdig den Charakter eines
pathetischen und ergreifenden Trauerakts zum Ausdruck.
Auch andere Tonsetzer haben das Gedicht Ramlers kom-
poniert, darunter Telemann und Ph. E. Bach. Neue Dichter
fanden sich gleichfalls. So schrieb die bekannte Karschin eine
Ph. E. Baoh. Passionskantate, welche ebenfalls der Hamburger Bach in
Musik setzte. Unter den 21 Passionsmusiken, welch dieser
Komponist geschrieben, gilt sie für eine der besten. Nament-
lich die Trauermusik, mit welcher in ihr das Orchester nach
dem Verscheiden des Heilands einsetzt, machte einen grollen
Eindruck'*'). Die nächste Passionskantate, welche nach dem
»Tod Jesu« in Druck erschien — und zwar auf Veranlassung
6. A. Homüiiu. J. A. Hillers — war die Ton G. A. Ho m i li u s , deren Text von
dem Dresdener Magister Buschmann herrührt. Dichter und
Komponist sind in derAusbreitung der gefühlvollen Elemente
etwas übereifrig; die Chöre des Werkes haben in ihrer mÜden
Schönheit bleibenden Wert. Wie überall in diesen Passionen,
sind die Rezitative voll Malereien und gleichfalls wie immer
ragt unter diesen das Weinen Petri hervor. Von Homilius,
einem der begabtesten Schüler S. Bachs, existieren hand-
schriftlich noch M Passionskompositionen*'*'), unter denen
eine Markuspassion und das frei gedichtete Passionsorato-
rium » So gehst du nun, mein Jesu, hin « mit vorzügüchen dra- .
matischen Chören besonders hervorragen. Die Hauptmasse
der in der zweiten Hälfte des 4 8. Jahrhunderts verfaßten
*) Von einem andern Mitglied der Bachschen Familie, dem
iBisenacher Job. Ernst B., ist ein nach Grannschem Muster ge-
staltetes »Passlonsoratoriom« (1762) unl&ngst als 48. Bd. der
Denkmäler D. T. veröffentllcbt worden. **) K. Held a. a. 0.
Passionskantaten ist un gedruckt geblieben und über den
Kreis des Entstehungsorts nicht weit hinausgedrungen.
Darunter gehören auch zwei Arbeiten des Kopenhagener
Johann Ernst Hartmann*). Erst ziemlich spät haben
wir erfahren, daß auch Mozart in seiner Jugend ein Werk
in dieser Gattung geschrieben hat; Rochlitz**) nennt als
Passionskantaten von großer, von gleicher oder höherer
Bedeutung als der Graunsche »Tod Jesu« die Werke von
Seifert in Augsburg, von den beiden Opemkomponisten
Schweitzer in Gotha, Wolf in Weimar und von dem
Magdeburger Rolle. Aus der Passion des letzteren J. H. Soll«.
Tonsetzers sind die beiden ausdrucksvollen Rezitative:
>Noch ringt im Todesschweiß« und »Wen seh ich dort
am Kreuze angespannt« noch heute zuweilen zu hören.
Eine Altistin, welche die Kunst der Deklamation beherrscht,
wird mit ihnen einen tieferen Eindruck erzielen. Doch ist
diese Passion nicht unter die Kantatengattung zu rechnen,
der Dichter Patzke nennt sie sogar ein Musikdrama. Außer
den biblischen Personen treten darin auch noch frei hin-
zugefügte Figuren auf. Das Gespräch eines Fremdlings,
der verwundert nach dem Grund der Aufregung in der
Stadt Jerusalem fragt, mit einem Blindgeborenen, den
der Heüänd geheilt hat, leitet dieses Passionsdrama ein.
Bibelworte und, Choräle finden sich nicht in ihm.
In Norddeutschland taucht das frei dramatische Pas-
sionsoratorium erst gegen das Ende des Jahrhunderts
wieder aut Zwischen Hunold-Keiser und Patzke-Rolle
liegt eine große Lücke. In Italien und an denjenigen
deutschen Höfen, wo Komponisten der italienischen
Schule wirkten, wurde seine Geschichte niemals unter-
brochen. Besonders berühmt waren die Passionen von
A. Scarlatti, Jomelli, f^aisiello. Die Dresdener
Kapellmeister zum Teil, die Wiener, von Fux bis auf
Weigl sämtlich, sind mit einer Reihe solcher italienischer
*) August Hammerich: J. P. £. Hartmaun (Sammelbände
der I. M. G. 1901, S. 466).
♦♦) Allg. MuB. Ztg. 1831, S. 297.
-— ♦ Ht ♦ —
Passionsoratorien vertreten,, welche sich von den Opern
der Periode nur durch eine reichere Einflechtung von
Chor und Ensemblenummern unterscheiden. Über die
oft erwähnten Hamburger Versuche ragen sie sämtlich
durch die Würde der dichterischen Sprache hervor: Me-
tastasio, der Gottsched "der italienischen Oper, gab auch
hier den Ton an.
Das einzige Werk dieser Gattung, welches für unsere
L. T. Beethoven. Zeit noch nähere praktische Bedeutung hat, ist Beet-
ChiiBtosam hovens > Christus am ölbergc. Dieses kleine Ora-
Ölberg. torium, von F. X- Huber, wahrscheinlich dem italienischen
»Gesu al Calvariot (u. A. von Zelenka komponiert) nach-
gedichtet, behandelt nur einen Abschnitt aus der Leidens-
geschichte: Christi Gebet und Seelennot am ölberge und
seine Gefangennahme. In dem Augenl^licke, wo die
Schergen den Heiland vor Gericht schleppen, fällt der
Engelchor ein und zieht mit der Apotheose: »Welten
singen Dank und Ehre dem erhabnen Gottessohn« den
Schlußvorhang über den grausamsten Teil des Dramas.
Die Komposition ist 1803 entstanden und in demselben
Jahre in Wien wiederholt aufgeführt wordeü. Erst 484 0 ge-
langte sie in den Druck, ward aber von da ab die stärkste
Stütze für Beethovens Stellung in Deutschland. Sie ist
neben dem »Tod Jesu« lange genug eine der bevorzugte-
sten Passionsmusiken gewesen. Auch ihre Glanzzeit erlosch
nach dem Wiedererscheinen von Bachs Matthäuspassion;
aber trotzdem wurde sie noch bis in die Wagnersche Zeit
hinein häufig aufgeführt und siBlbst hier und da im Char-
freitagsgottesdienst verwendet. Beethoven selbst soll in
seinen späteren Jahren auf den »Christus« nicht gerade
stolz gewesen sein, und gewiß kann man dieses Oratorium
heute nicht mehr zu seinen Hauptwerken zählen. Aber
es trägt in vielen Stellen die Züge des großen Meister^,
und die Vorwürfe, die man früher halblaut, später mit
großem Nachdruck gegen Beethovens Behandlung der
Passion erhoben hat, beruhen wohl alle auf der Natur
der Dichtung; denn. bei Huber hat Jesus den größten
Teil der Würde und Erhabenheit eingebüßt, in welcher
-— * H3 ♦—
er bei den Evangelisten erscheint, und auch die Jünger
des Herrn sind sehr klägliche Gestalten.
Eine der bedeutendsten Partien des »Christus« bildet
das Instrumentalvorspiel, mit welchem das Werk eröfibiet
und die erste Szene eingeleitet wird. Es ist ein Seelen-
gemälde, in welchem die schmerzliche Klage mit der
Ergebung rin^. ^ , Adagio . ^
f ärMit ^^^^^^^
in den Streichinstrumenten durchgeführt, ist der Haupt-
träger dieser ergreifenden Musik, in deren Fugen überall
die Verzweiflung rüttelt. Die Hörner rufen heftig Wehe;
in zitternden Akkorden bäumt sich das ganze Orchester
auf und bricht in Pausen ab, welche die Pauken schauer-
lieh mit dumpfen Tönen füllen. Es sind einige kleine
Episoden von zwei Takten Länge darin, in denen die
Hoffnung unter Klängen, die an Florestan erinnern,
das Haupt erheben will. Aber ß 'ia. , r » . ... . - - i
sie endigen in einem resig- % ^\i\^ L^^^j-^^ .
nierten Motiv der Holzbläser ^- T^. b
Der erste Monolog des Christus ist vom Dichter in dem
^yortreichtum gehalten, den wir als im Widerspruch
mit dem in der Bibel eingehaltenen göttlichen Wesen
des Heilands an diesem Oratorium zu allererst störend
empfinden. Beethoven steht hier zum größten Teil be-
deutend über dem Text. Sein Rezitativ ist im großen
Stile gehalten und hat einzelne Stellen, die in ihrer
Einfachheit geradezu erschüttern. Eine ist der rhyth-
misch und harmonisch feierlich markierte Satz der
Blasinstrumente bei den Worten: »Des Seraphs Donner-
stimme«, der wie eine überirdische Erscheinung herein-
tritt. Eine andere liegt an dem Schlüsse des Rezitativs,
wo Christus nach dem erregten Tremolo der Streich-
instrumente sein Klagelied zum Vater: »Ach sieh, wie
Bangigkeit usw.« in die Nacht hinaussendet. Die darauf-
folgende Arie: »Meine Seele ist erschüttert« gibt ein
Bild gährender Erregung, das vom musikalischen Stand-
punkt aus wegen der Geniahtät, mit der die Farben
n, 4. 8
— * f i 4 ^ —
gewählt und gemischt sind, Bewunderung verdient.
Aber dieser furchtbare Ausdruck der Seelenangst ist für
den Heiland zu menschlich leidenschaftlich; der göttliche
Christus, wie wir ihn aus der Bibel kennen, erscheint
erst in der zweiten Hälfte der Arie: von da ab, wo die
Holzbläser das herrliche, mild erhabene und fromme
Thema zu den Worten: > Vater, tief gebeugt und klägliche
intonieren. — Wie die Dichter dieser Art Passions-
oratorien in der Regel mit dem dramatischen Apparat
des Evangelienberichtes allein nicht ausreichen, S9 ver-
stärkt ihn auch Huber. um einen Seraph und den zu
diesem gehörigen Chor der Engel. Ihnen gehört die
zweite Szene. Ein Paukenwirbel kündet den Seraph an,
unter rauschenden Geigenfiguren schwebt er zur Erde.
Sein Gesang ist streng geteilt: der erste Teil an die Er-
> lösten gerichtet: »0, Heil euch, ihr Erlösten«, der andere
Teil ruft denen Fluch und Wehe zu, welche das Blut
entehren, das für sie floß. Diese zweite drohende Hälfte
kommt zu ihrer gewaltigen Bedeutung erst gegen den
Schluß der Szene, wo §ich der Chor der Engel mit dem
Seraph vereint: Fluch und Weh sind hier von der Orchester-
masse mit einer erschreckenden, finsteren Entschiedenheit
deklamiert. Und wunderbar schön ist es, wie von dieser
unheimlichen Stelle ganz sanft und schnell die Musik in
den freundlich milden Hauptteil: »Doch Heil euch« zurück-
geleitet wird. Sehr reich ist die ganze Szene an schön
gestimmten Klangwirkungen: die hohen Töne der Engel-
stimmen, die Verbindung des Solosoprans mit dem Chor,
über welchen er sich hoch hinauf erhebt und in ein-
samer Höhe dahinschwebt, genügen allein schon, die
Fantasie des Hörers zu fesseln und Bilder sehen zu
lassen. — Nun erscheint Jesus wieder und der Engel
kündet ihm in einem hochfeierlichen, ganz mystisch
wirkenden Satze, den die Blasinstrumente wieder aus-
zuführen haben: den Willen des himmlischen Vaters.
Christus erwidert hierauf in einem Adagio: »So ruhe
denn mit ganzer Schwere auf mir, mein Vater, dein Ge-
richt!«, welches in einfachen herrlichen Gesangtönen
ausspricht, daß der Heiland bereit ist, zu leiden und zu
sterben. Wenn in einem der Sätze seines >Christus<, so
hat Beethoven in diesem Adagio etwas von der himm-
lischen Größe, in der wir uns die Seele des Erlösers
denken, niedergelegt. Daß der Engel gerührt und hin-
gerissen in die Weisen Jesu mit einstimmt, ist an und
für sich motiviert, auch mit besonderen musikalisch
malerischen Erfolgen ausgeführt. Doch aber wäre die
Wirkung dieses Adagios reiner, wenn es nicht in ein
Duett ausliefe. Mit ihm schließt der erste Teil des Ora-
toriums und dier Akt der Gefangennahme beginnt. Seine
Musik hat die genaue Form eines Opemfinales und auch
den Geist eines gewöhnlichen, tumultreichen und spannen-
den Bühnenstückes. Ein pikanter Marsch, der wie der
bekannte Derwischmarsch in den > Ruinen von Athen«
leise wie aus der Ferne einsetzt, meldet den Anmarsch
der Krieger, welche Jesum fangen sollen. Man hört und
sieht sie ebenso geschäftig als vorsichtig suchen. Bald
kommen sie näher, bald schlagen sie wieder die ent-
gegengesetzte Richtung ein. Gewiß ist es ein großer
Effekt, als sie endlich den betenden Heiland vor sich er-
blickend, in das triumphierende: >Hier ist er« ausbrechen.
Aber es ist der Fehler dieser Art von Oratorien, daß sie
Äußerlichkeiten, die an und für sich nicht weiter wichtig
sind, mit soviel Behagen und Aufwand von Zeit und
Kunst ausmalen. Es ist dieselbe künstlerische Unreife,
die uns so häufig an instrumentaler Programmmusik
stört. Zu dem wilden Jubel der Krieger bildet das un-
männliche Jammern der Jünger einen Gegensatz, der
sich fast an die Lachmuskeln wendet. Dann tritt Petrus
stark bramarbasierend auf. Jesus und der Seraph ver-
einen sich mit ihm zu einem längeren, ganz opern-
mäßigen und im Ausdruck verfehlten Terzett, dem erst
der endlich wieder einsetzende Chor der Krieger: »Auf,
ergreifet den Verräter« ein Ende macht. Als ein Situa-
tionsbild ist diese ganze musikalische Szene gar nicht
übel, manche Abschnitte sind packend in der Wirkung.
Aber es ist nichts darin, was uns zwingt, dieses Bild in
8*
L. .
— * H6 ♦—
die Passion hineinzudenken, und es ist eine für dieses
Verhältnis bezeichnende Tatsache, daß die Reden Jesu,
welche in diesem Finale vorkommen, nirgends auch nur
annähernd an den weihevollen Ton anklingen, welchen
sie in dem ersten Teile des Oratoriums, wenn auch nicht
immer, so doch vorwiegend haben. Mit einer ziemlich
gewaltsamen Wendung reißt sich Beethoven efndlich aus
dem Kreise der Alltäglichkeit heraus und lenkt in den
fugierenden Chor der Engel ein, dessen dithyrambische
Stimmung in dem auf wogenden Violin figuren ruhenden
Mittelteile: > Welten singen Dank und Ehre< einen sehr
schönen, der Sammlung und dem neuen Aufschwung
gewidmeten Mittelpunkt hat. '
Andere Werke aus der Gattung des frei dramatischen
Passionsoratoriums, welche zur Zeit und in der Periode
ihrer Entstehung hochgewürdigt waren, sind heute gänz-
lich verschwunden. Wir nennen aus dieser Klasse vor
J, 0. Sobioht, allem: »Das Ende des Gerechten« von J.G.Schicht,
Das Ende des einem der bedeutendsten Musiker, welche nach J. S. Bach
Qerechten. das Kantorat der Leipziger Thomasschule bekleidet haben.
Besonders ausgeführt, von mächtiger äußerer Wirkung
in den knappen Ghorsätzen, ist in diesem Oratorium die
Szene der falschen Zeugen. Sie bekräftigen ihre Aus-
sagen mit feierlichen Schwüren; immer neue Ankläger,
geführt von dem alten fanatischen Philo (einer eigenen
Erfindung des Textverfassers Rochlitz), treten hinzu; die
Menge wiederholt die Versicherung der einzelnen Kläger
und allemal schließt die Vernehmung mit dem Satze.-
>Ich bekräftige mit heiligem Eid, daß ichs vernommen
aus seinem Munde«. Der Partei der Feinde ist eine
Partei von Freunden und Freundinnen Jesu gegenüber-
gestellt. Eine Hauptfigur des Oratoriums ist Johannes
der Jünger. Er berichtet die Vorgänge, welche sich nicht
im Oratorium selbst abspielen, und er interpretiert sie
ahnungsvoll. Aus seinem Munde erfahren wir gleich am
Eingang des Werkes, daß dem Judas nicht getraut wird.
Judas selbst ist originell, aber nach dem Brauche der
rationalistischen Schule, als leichtsinniger Spekulant
aufgefaßt. Als er sieht, daß sich der Herr wider Be-
rechnung den Händen der Feinde übergibt, ist seine
Verzweiflung groß. Außer den sehr wirksamen drama-
tischen Chören hat >Das Ende des Gerechten < auch viele
sinnige Stellen. Der Dichter schreibt nach den Worten:
»Es ist vollbracht« einen Instrumentalsatz vor, »der die
letzten Augenblicke des schwindenden Lebens« bezeich-
nen soll. Schicht hat in seine fugierende Motive den
Choraji: >0 Traurigkeit« eingewoben. (Siehe: Graun.)
Noch bis in die jüngste Zeit konnte man den Schluß-
chor des Oratoriums: »Wir drücken dir die Augen zu«
hier und da als Begräbnischor hören. Als Ganzes
scheint das i^Ende des Gerechten« nur wenige Jahrzehnte
lang festen Fuß gefaßt zu haben. Im Jahre 4 806 zum
ersten Male aufgeführt, erst nach dem Tode des Kom-
ponisten in den Druck gebracht, wurde das Oratorium
schon im Jahre 1838 wieder verdrängt und zwar durch *
Spohrs Passionsoratorium: »Des Heilands letzte L, Spohr,
Stunden«, welchem ganz dieselbe Dichtung von Roch- Des Heilands
litz zu Grunde liegt, wie dem Werke von Schi chtJetzte Stunden.
Spohrs Oratorium enthält in den Chören der Freunde
und Freundinnen Jesu, in den Ariosos der Maria viel
schöne weiche Musik, in der Partie des Johannes vor-
trefflich deklamierte Rezitative. Von größerer eindring-
licher Bedeutung ist der letzte Abschnitt des Werkes,
von dem Augenblick ab, wo der sterbende Heiland die
Worte ruft: »Mein Gott, warum hast du mich verlassen«.
Der in feierlicher Stille hingebetete vierstimmige Kanon:
>Iti seiner Todesnot dich zu ihm wende, gib ihih ein
sanftes Ende«, das Oktett: »Wir sinken in den Staub
und feiern deinen Tod«, die geistreich auf die Gerichts-
szene zurückgreifende Schilderung des »Erdbebens« sind
Stücke einer grandiosen Stimmung und eines wirklieh
großen Stils; ihr Eindruck ist tief und bleibend.
Zu diesen beiden Passionsoratorien von Schicht und
Spohr tritt als ein Werk von gleicher Anlage und ahn- Pr. Schneider,
lieh starker Verbreitung das Charfreitagsoratorium: Gethsemane
»Gethsemane und Golgatha« von Fr. Schneider, und Golgatha«
— ♦ H8
Das Werk hat sich von seinem Erscheinen (1838) an
mehrere Jahrzehnte hindurch behauptet und ist nament-
lich häufig im Gottesdienst verwendet worden. Die
reichliche Einlage von Chorälen, bei denen die Gemeinde
mit einstimmen soll, macht es dazu geeignet Sie ist
ihm eigen und bedeutet einen Abfall von dem rein dra-
matischen Prinzip, zu welchem wahrscheinlich ebenfalls
die mittlerweile erfolgte Verbreitung von Bachs Matthäus-
passion Veranlassung gegeben hat. Der Dichter, Prediger
Schubert in Zerbst, hat zu den dramatischen Personen
des Evangeliums noch einen Chor der Bekenner und
Stimmen von oben hinzugedichtet Dadurch ist dem
Komponisten Gelegenheit zu Doppelchören und zur Ent-
faltung starker Gegensätze *^egeben. . Sehr wirkungsvoll
ist sie in dem Nacheinander des Judenchors: »Sein Blut
komme über uns< und des Bekennerchors: »Wehe, die
ihr Zion bauet mit Blut« benutzt worden. Im letzeren
ist eine aus Mitleid und Grausen gemischte Stimmung
sehr anschaulich wiedergegeben. Unter den Doppel-
chören zeichnet sich der Chor der Jesum suchenden
Wächter aus; zu ümen treten die Stimmen von oben in
einfachen edilen Weisen. — Gemeinsam ist diesen drei
letztgenannten Passionsoratbrien die Annäherung ans
Bibelwort. In dem Schneiderschen Werke erfolgt sie
auch in einzelnen Chören; die anderen geben wenigstens
die Reden Jesu getreu nach den Evangelien wieder und
beschränken sich auf die dort beglaubigten Worte. Im
musikalischen Ausdruck der Reden Jesu erstreben die
Komponisten eine feierliche Einfachheit und heben sie
durch die Begleitung bestimmter Blasinstrumente in
einen besonderen Klangkreis. Alle haben dadurch die
Ähnlichkeit mit der Oper wenigstens in der Christus-
partie glücklich vermieden. Das würdigste Bild von
Jesus gibt unter den dreien Schicht. Das zu derselben
Klasse, wie die Werke von Schicht, Spohr, Schneider,
gehörige Passionsoratorium »Das Sühnopfer des neuen
Bundes« von Karl Löwe hat wenig Beachtung ge-
funden.
Wie Beethovens > Christus am Ölbergc sich auf einen
Abschnitt der Leidensgeschichte beschränkt, so gibt es in
derselben oratorischen Gattung Werke, die für den Ge-
brauch in der Charwoche bestimmt waren, obwohl sie
auf die Leidensgeschichte nur einen indirekten Bezug
nehmen. Die einen knüpfen im Text, z. B.. die von
vielen namhaften Tonsetzern komponierte Dichtung >la
deposizione della croce«, noch unmittelbar an die Vor-
gänge der Passion an. In anderen handelt es sich um
Vorgänge, die von dem großen Ereignis des Kreuzes-
todes Jesu Christi durch Jahrhunderte getrennt sind.
Im wesentlichen besteht, gerade so wie im »Tod Jesu<
Ramlers, ihr Inhalt in Passionsbetrachtungen. Nur sind
sie in die Form einer Geschichte geflochten und dra- ,
matisiert. Die beiden berühmtesten Werke aus dieser
zweiten Klasse sind Hasses >Sant* Elena al Calvarioc J. A. Hasse,
und seine >Pellegrini al sepolcro di nostro Salvatore«. Sant' Elena al
Die Dichtung in beiden Werken ist von Metastasio. Die Galvaiio und
>Sant' Elena« ist die Dramatisierung der Legende von Ipellegrini.
der Kaiserin Helena, die bei dem Besuche von Jerusalem
auf wunderbare Weise das Kreuz entdeckt, an welches
der Heiland geschlagen war. Der Schluß der Dichtung
preist die Monarchen. Schon früher ist diese Geschichte
bearbeitet und komponiert worden. So von L. Leo. Die
>Pellegrini al sepolcro« schildern die Ankunft von vier
Pilgern in der heiligen Stadt und ihren Aufenthalt da-
selbst in Gesprächen und Betrachtungen, die das Passions-
drama zum Gegenstand haben. Beide Werke, für Dres-
den geschrieben, waren am Wiener Hofe und anderen
Residenzen italienischer Richtung ein behebter Bestand-
teil der Charfreitagmusik; die »Pilgrimme« wurden auch
ins Deutsche übersetzt und von J. A. Hiller im Klavier-
auszug veröffentlicht. An ihrer Musik fesselten die
schönen ausdrucksvollen Rezitative mit Begleitung und
noch mehr als etwas Neues und Ungewöhnliches die
Wechselgesänge, in welchen in den Ensemblenummern
die Frauen- und die Männerstimmen sich ablösten. Der J. Qt» Naumann,
Amtsnachfolger Hasses, J. G. Naumann, komponierte Die Pilger.
J. &. Sohioht,
Die Feier der
Christen auf
Golgatha.
8. Neakomnii
DieGrablegung
Christi.
Ji Haydiii
Die sieben
Worte.
no
die »Pilgrimme« ebenfalls. Aus seiner Komposition hat
sich der traulich fromme Chor: >Zagt nicht auf dunklen
Wegen«, in welchem die Knabenstimmen gleichfalls mit
den Tenören und Bässen wechseln, bis nahe an die
Gegenwart im Repertoire einzelner Kirchenchöre erhalten.
Auch Schicht hat ein Oratorium: »Die Feier der Christen
auf Golgatha« geschrieben, weleheä die Passion in Form
stimmungsvoller, mitleidender und verzückter Rückblicke
darstellt. Von der Musik die mehr veraltet ist, als in dem
»Ende des Gerechten«, hat der Schlußchor des ersten
Teils: »Vor deinem Angesicht, Erlöser, stehen wir« seiner
Zeit besonderen Erfolg davongetragen. Da in dem Werke
keine dramatischen Personen auftreten, wird man es
besser der Gattung der Kantate zuweisen. In dieselbe
Kategorie fällt »Die Grablegung Christi« von S. Neu-
komm, nach einem Abschnitt aus Klopstocks Messiade
komponiert. Ein gehaltvolles Werk: namentlich in der
Instrumentalpartie die bedeutendste Leistung, welche wir
von dem einst sehr gefeierten Komponisten besitzen;
reicher als sein viel gesungener »Ostermorgen«.
Auch »Die sieben Worte« von J. Haydn oder
wie der vollständige Titel heißt: »Die Worte des Erlösers
am Kreuz«, sind von dem Komponisten selbst als Ora-
torium bezeichnet worden. Sie gehören zu der Gattung
nur dann, wenn man den Begriff des Wortes in jenem
allgemeinsten Sinne zuläßt, wie wir ihn in der ersten
Hälfte des 1 8. Jahrhunderts hier und da bräuchlich ge-
funden haben. Man nannte da jede Art geistlicher An-
dachten, bei der die Musik, gleichviel in welchen Formen,
einen wesentlichen Bestandteil bildete, ein Oratorium;
darunter finden sich auch Werke, welche die Passion
als Melodram behandeln, z. B. eins von Baron Dal-
berg. Die sieben Worte des Erlösers am Kreuze sind
als besondere Episode der Leidensgeschichte oft kompo-
niert worden; aber in der Regel nur im Zusammenhange
mit dem Text des Evangelisten. So behandelt sie Schütz (s.
S. 43), so sind sie von Vorgängern dieses Meisters wie Senfl
und auch von späteren Komponisten aller Länder (Lutz,
121 , ^>—
Mercadante, Gounod) in Musik gesetzt worden. Im 17. Jahr-
hundert kommen sie in der Komposition von Joh. Glück
(Leipzig 1 666) auch als Madrigale mitBasso continuo vor*).
Die Form, in welcher sie Haydn bringt, hat ihre eigen-
tümliche Entstehungsgeschichte. Ein Domherr in Cadix
bestellte bei dem auch in Andalusien berühmten Haydn
sieben langsame Instrumentalsätze mit Vorspiel und
Schluß zur Verwendung in der Passionsandacht der
dortigen Kathedrale. Den Gang dieser Passionsandacht,
Oratorium genannt, beschreibt Haydn selbst in dem
Vorbericht der i. J. 1804 veröffentlichten Partitur fol-
gendermaßen: »Nach einem zweckmäßigen Vorspiel be-
stieg der Bischof die Kanzel, sprach eins der ^ sieben
Worte aus und stellte eine Betrachtung darüber an. So
wie sie geendigt war, stieg er von der Kanzel herab und
fiel knieend vor dem Altare nieder. Diese Pause wurde
von der Musik ausgefüllt. Der Bischof betrat und ver-
ließ zum zweiten, drittenmal usw. die Kanzel und jedes,
mal fiel das Orchester nach dem Schlüsse der Rede
wieder ein.< Im Jahre 1785 waren die Adagios fertig.
Der Komponist nannte sie Sonaten und hat sie mit dieser
Bezeichnung in einem Arrangement für Streichinstrumente
bekanntlich auch unter seine Originalquartette aufgenom-
. men. In dieser Gestalt, die später der Mailänder Graf von
Castelbarco nachgeahmt hat**), als reine Instrumental-
musik, — nur ein gesungenes Baßrezitativ, welches das
betreffende Wort enthielt, ging jedem Satze voraus —
drangen bald die > Sieben Worte« von Wien aus, wo sie
im Jahre 1787 zuerst aufgeführt wurden, hinaus ins Reich
und ins Ausland: nach Bonn, Breslau, Berlin, London,
Paris und Neapel. Die Umarbeitung in ein Chorwerk
erfolgte, nachdem Haydn (1794) auf der Reise nach
• London begriffen, in Passau einet Aufführung seiner
»Sieben Worte« beigewohnt hatte, zu welcher der dortige
•) Albert Göhler, Verzeichnis usw.
•♦) F^tis: Biographie ngw. und 0. F. Pohl: Haydn und
Mozart in London, II, 136. .
\
— *^ \f^ * —
Kapellmeister Joseph Friebert Singstimmen hinzukompo-^
niert hatte. Haydn fühlte/ daß er das selbst besser
machen könnte, scheint aber den Text des Passauer
Kollegen bei dieser Umarbeitung, nachdem ihn van Swie-
ten einer Redaktion unterzogen, und nach neuen Unter«
suchungen*] auch einen großen Teil des Vokalsatzes
Frieberts beibelialten zu haben. Außerdem übertrug
Haydn die Solorezitative auf den Chor, fügte nach dem
vierten Worte einen neuen selbständigen Orchestersatz
ein und änderte an einzelnen Stellen die Instrumen-
tierung. Klarinetten und Posaunen sind durchaus n^u.
In diesei; neuen Form kamen die »Sieben Worte« zuerst
i. J. 1796 in Wien zu Gehör und erwarben sich bald
zahlreiche Freunde und Bewunderer. In Konzert und
Kirch« ist das Werk bis heute eine der angesehensten
Passionsmusiken geblieben. Die Methode, aus der >Die
sieben Worte« hervorgingen, ist weiter verfolgt worden:
Chr. Schulz veröffentlichte i. J. 184 4 ein Passions-
oratorium: »Der Versöhnungstod«, welches mit Hin-
zufügung von Chorälen aus Haydnschen Adagios kompo-
niert war.
Die Introduktion der »Sieben Worte« ist eine kurze
Fantasie Maestoso. ^ Mitleid, Klage, Trauer,
über das !j|^ Ir h | T J^^rJ^^' ^^^^ werden nur kurz
Motiv "ff J L— 3 'l— ' . =2= gestreift. Der Haupt-
inhalt dieses gedrungenen Prologs ist ehrfurchtsvolles
Staunen, und durch den Ton und Stil, in dem . er dies
ausdrückt, ist er ein Meisterstück, das in der neueren
Musik fast ganz vereinzelt steht. Die nächsten geschicht-
lichen Anknüpfungspunkte bieten Oratorienouvertüren
L. Leos.
In der Konstruktion der einzelnen Chorsätze leuchtet
der instrumentale Ursprung noch deutlich durch. Sie sind
in der Grundform sämtlich langsame Rondos: In jedem
*) Ad. Sandberger: Zur Entstehungsgeschichte von Haydns
»Sieben Worten« (Jahrbuch der Musikbibliothek Peters für
1903).
— * 123 ^>—
herrscht ein regelmäßig und symetrisch gebautes Haupt-
thema, dessen Wiederkehr durch selbständige, unterein-
ander verschiedene Zwischensätze unterbrochen wird.
Der nach dem ersten Worte: > Vater, vergib ihnen usw.«
eintretende Satz hat folgendes Hauptthema:
welches die Orchesterstimmen mit Betonung des Anfangs-
motivs mannigfach variieren. Die Ghorstimmen über-
decken in der Regel gerade dieses bezeichnende Motiv
oder pausieren, während es in kleinen Sätzchen durch-
geführt wird. Mit dem milden Gesamtcharakter des
Satzes" stimmen die Episoden mit ihren sanft klagen-
den und bittenden Melodien überein. Einer der gewal-
tigsten Zwischensätze tritt mit den Worten auf: »Das
Blut des Lammes schreit nicht um Räch«. Das chro-
matische Motiv der mittleren und unteren Instrumente
und die überraschende Modulation von ,F nach Des
heben ihn heraus. Der zweite Satz: »Ganz Erbarmen,
Gnad und Liebe usw.« ruht auf einer breiten, wehmütig
freundhchen Liedmelodie, deren Hauptglieder das Motiv
undsei- ^^^ -^ bilden,
^^^^^^ne Va.- ibVrfltrr A«s_ dem
•«T ' ^^ ' nante ^ elegischen
Gesamtton treten die beiden mit Fermaten gekennzeich-
neten Gdur-Schlüsse bei den Worten »kommst du in
mein Reich, so denke mein« und »heute wirst du mit
mir im Paradiese sein« hervor. Die feierliche Hoheit
der Musik geht hier mit den Worten so schön zu-
sammen, daß man die nachträgliche Entstehung des
Textes kaum glauben mag. Der zweite Teil des Satzes
vertauscht das Cmoll mit Cdur und bringt an der
Stelle: »Gib uns auch zur letzten Stunde« einen melo-
dischen Gang, der äußerlich wenigstens mit: »Gott er-
halte Franz den Kaiser« genau übereinstimmt. Densel-
ben Anklang hat auch ein noch früheres Werk Haydns:
— '^ U4 ♦ —
seine achte Messe. Das Hauptthema im dritten Satze:
> Mutter Jesu, Grare.
die du trost. IHh » JjiV. |J |u -| j .rnn 1^^.
los usw.c ist^J^ ^ ^ ^— ^ CT
Seine ersten beiden Noten durchklingen den Satz wie
freundliche Zurufe, die zwischen Mutter und Sohn
gewechselt werden. Wunderbar ergreifend ist nament-
lich die Stelle, wo der Satz nach dem in Grabesstille
beginnenden Zwischensatze: »Wenn wir mit dem Tode
ringen < diesem freundlichen Motive wieder zustrebt.
Die schöne Idylle der Passion, in der der sterbende
Christus die Mutter unter den Schutz seines Lieblings-
jüngers stellt, hat in diesem rührenden Tonbilde Haydns
eine Wiedergabe gefunden, deren Einfachheit und Herz-
lichkeit kaum übertroffen werden kann. Der Satz ist
einer der beliebtesten der ganzen Literatur der Ps^ssions-
musik; er ist zugleich in den »Sieben Worten c einer der-
jenigen, welche in der Behandlung der Ghorstimmen
voranstehen. Sie machen durchaus nicht den Eindruck
nachkomponierter, und auf den fertigen Satz aufgelegter
Partien, sondern einen natürlichen und selbständigen«
Der melodische Segen hat sich nicht bloß auf die Ober«
stimme, sondern über alle vier ziemlich gleichmäßig er-
gossen. Dex vierte Satz »Warum hast du mich verlassen«
schließt sich an das »Eli, Eli«,, die Hauptstelle der Pas-
sionsmusiken von alters her, an. Er ist dunkler gefärbt
als die vorhergehenden und schlägt einen lauteren Klage-
ton an. Aber auch ihn beherrscht der Grundgedanke, in
welchem Haydn die ganze Leidensgeschichte in diesem
Werke zur Darstellung bringen wollte: Dankgefühl für die
Erlösungstat. Nur in einem Zwischenspiele, welches (vor
dem Abschnitt in Gesdur) die Instrumente allein haben,
kommt der Schmerz auf einen Augenblick zu einem leiden-
schaftlichen Ausdruck. Möglicherweise fehlt an dieser
Stelle (S. 50 der Partitur] vor dem Quartsextakkord auf des
ein Takt. Der von Haydn erst bei der Bearbeitung einge-
fügte Instrumentalsatz (für Blasinstrumente), welcher das
Werk in zwei Teile zu scheiden bestimmt erscheint, ist eine
— ^ ns ♦ —
ernste Trauermusik über das zuerst von Posauuea vorge-
tragene, dann von Gruppe zu Gruppe wandernde Thema:
^ ][«"gg- , . I ^-i I ■ i-H Stärker als aus irgend
.fc i j J i j J| J |/^ ^J.-^ ^' einem anderen Satze der
^^ >Sieben Worte« spricht
aus ihm eine tief schmerzliche Passionsstimmung. Den
fünften Satz, der sich an diese Instrumentalnummer un-
mittelbar anschließt: > Jesus rufet: ^ Adagig>^
Ach, mich dürstet« durchklingt wie [ £ *tr " pp - S
ein großer Seufzer das kurze Motiv : ' •^ " '
Dieser Satz ist der erregteste des ganzen Werkes: Der
Unwille spricht namentlich von den Worten ab: >Kann
Grausamkeit noch weiter gehn?« in dramatischer Deut-
lichkeit und in mannigfaltigen lebendigen und anschau-
lichen Melodiege]}ärden. Besonders eindrucksvoll sind
die chromatischen Gänge an der Stelle: >Ihm reicht
man Wein, den man mit Galle mischt«. Der sechste
Satz >£s ist vollbracht« will dem Gefühle der Freude
Ausdruck geben, daß nun das Leiden des Heilands be-
endet und die Erlösung der Menschheit vollzogen ist.
Seine Musik mischt deshalb zwischen schwere und ernst
sinnende auch solche Motive, die eine edle Heiterkeit
ausdrücken. Aber für diese letzteren sind die Worte
nicht immer glücklich untergelegt, namentlich nicht an
der Stelle: >Weh euch Bösen«. Wer den Zusammenhang,
das Verhältnis von Text und Musik nicht kennt und seine
Auffassung von ersterem aus bestimmt, wird hier dem
Komponisten leicht den Vorwurf der Trivialität machen.
Selbst C. F. Pohl, der verdienstliche Biograph Haydns,
hat sich zu dieser Ungerechtigkeit verleiten lassen. Aus
derselben milden und verklärenden Auffassung her-
aus, die Haydn in den meisten Sätzen des ersten Teils
leitete, die ihm auch die friedlich freudigen Motive des
Chors »Es ist vollbracht« an die Hand gab, ist auch die
Musik zu dem letzten der sieben Worte >In deine Hand
o Herr, befehP ich meinen Geist« geschrieben. Sie ist
aus dem Grund einer Seele heraus empfunden, die ihren
.Frieden mit Gott gemacht hat. Daher das bewegliche
—^ 126 V —
kosende Figurenleben in der ersten Violine, und daher
, die unschuldig pastorale Hornmelodie, die den Eingang
und den Schluß des Satzes bildet. Als Finale bringen
die »Sieben Worte« eine Schilderung des Erdbebens, wie
wir sie in vielen Passionen und in manchen viel besser
finden. Den Text zu diesem Satze »Er ist nicht mehr«,
der nicht recht paßt, nahm Haydn kurzer Hand aus
Pamlers »Tod Jesu«.
Schneiders »Golgatha und Gethsemane« war für lange
Zeit die letzte Passionsmusik von Bedeutung. Unsere pro-
testantische Liturgie wenigstens hat ihre musikalischen
Bedürfnisse auf das Geringste eingeschränkt, und unser
modernes Kopzert, auch das geistliche, vermeidet die
Berührung wenn nicht mit der Religion, so doch die
mit dem Dogma. Mendelssohn und Liszt haben einen
»Christus« komponiert, aber bei ihnen bildet wie in Händeis
»Messias« die Leidensgeschichte nur einen Teil im Ganzen.
Genau so verhält es sich mit G. Schrecks »Christus der
Auferstandene« und mit Edgar Elgars »Aposteln«. Beide,
der neuesten Zeit angehörende Werke, sind ebenso wie
die genannten Vorgänger besser unter den Oratorien zu
buchen. Die Passionen von Eisner und Fr. v. Roda aber,
sind nicht über die Entstehungsorte hinausgekommen und
Manuskript geblieben. Die einzige wirkliche Passions-
mnsik, die in Deutschland am Ende des 1 9. Jahrhunderts
in Druck und auch in Umlauf bei den Chorvereinen ge-
F. Cial, kommen, ist der »Christus« von F. Kiel.
OhiiBtns. Dieses Oratoriums eigentliche musikalische Originali-
tät beschränkt sich auf einzelne Nummern und einzelne
Stellen. In den Motiven Hegt oft ein Mendelssohnscher
Zug, in ihrer Durchführung wechselt Heichtum mit
Trockenheit, und selbst in der äußeren Form mancher
Stücke, in der Art der gemeinschaftlichen Bewegung der
Stimmen lehnt sich der Komponist an bekannte Vor-
bilder, besonders gern an Bach. Gleichwohl ist aber
der »Christus« Kiels durch den Geist in Anlage und
Aufbau, durch die Feinheit und Schärfe der Auffassung,
das Temperament in der Deklamation ein Werk von
-^ 127 o>—
Bedeutung: eine Passionsmusik die nicht einen Musiker
ersten Ranges, aber eine vornehme, reiche und fesselnde
Künstlerseele zum Verfasser hat.
Kiels »Christust gehört zur dramatischen Gattung.
Er stellt ohne Evangelisten die Handlung dar; unter-
scheidet sich aber von früheren Werken derselben Klasse
dadurch, daß der dramatische Dialog ganz mit dem Evan-
gelientext übereinstimmt. Auch die lyrischen Einlagen,
die der Komponist in den Mund eines Mezzosoprans
und des Chors gelegt hat, sind der* heiligen Schrift ent-
nommen. Kiel selbst hat sie aus den Psalmen, den Epi-
steln und der Offenbarung sehr treffend ausgesucht.
Eingeteilt wird das Werk in Szenen. Die erste trägt
die Überschrift: »Christi Einzug in Jerusalem«. Ein
sehr glücklicher Gedanke: der Darstellung der Passion
das helle und grelle Gegenbild, den Empfang des Hei-
lands am Palmsonntag, vorauszuschicken! Die Szene
beginnt mit Klängen, die unbestimmt von der Tiefe
heranwogen; man lauscht erwartungsvoll und hört in
Abständen und noch wie aus der Ferne mild festliche
Weisen. Sie klingen näher und rücken mit dem Auf-
treten des Sblotenors, der wie ein Herold der wartenden
Menge zuruft: »Bereitet dem Herrn den Weg«, zum ge-
schlossenen Gesang zusammen. Da mit einem Male
wendet sich die Harmonie von A nach Gdur: der fest-
liche Zug ist allen sichtbar auf den freien Platz einge-
schwenkt und wird von hier, von dort, immer lauter
und stärker, je mehr ihn sehen, mit »Hosianna« begrüßt,
bis endlich zwei Chöre zu je vier Stimmen feierlich »Ge-
lobt sei der da kommt im Namen des Herrn« anstimmen.
Es geht ein hoher Schwung durch die Seele der Menge,
der in dem breiten Chor natürhch und anschaulich zum
Ausdruck kommt. Mit den Weisen der frommen Ehrfurcht
wechseln die fröhlichen lustigen Motive des Volksfestes.
Eine Solostimme (Mezzosopran:^ »Das zerstoßene Rohr
usw.«) spricht die Erwartungen aus, die das Volk auf
den Messias als den Retter aus Elend setzt. Der Chor
schließt sich mit dem milden Satze ^Wenn der Herr die
— ♦ 428 ^^-
Gefangenen«, der auf »Träumen« prächtig malt, diesem
Ausdruck von Hoffnung und Bitte an und leitet in ein
bewegtes Bild von Frieden, Glück und Freude über, wel-
ches schließlich zu dem Ausgangspunkt der Szene, dem
»Hosianna«, zurückkommt und, hier angelangt, dem Jubel
und der Freude einen neuen energischen Ausdruck in der
Doppelfuge »Singet dem Herrn ein neues Lied« gibt. Eine
kurze Episode, in Welcher die Interpellation eines Phari-
säers die Existenz einer feindlichen Partei ahnen läßt,
hebt die Wirkung dieses hochgestimmten Schlußteils
wesentlich. Jetzt ergreift Christus wieder das Wort und
zwar zum ersten Male zu einer längeren ernsten Rede,
die auf eine trübe Zukunft hinweist. Der Chor antwortet
mit »Unser Reigen ist in Wehklagen Verkehret«, einer
Nummer, die die festlich und jubelnd begonnene Einzugs-
szene mit einem eigentümlich traurigen Tone abschließt.
Es ist eine große Macht der Stimmung in diesem Chore,
der einfach melodisch dahinfließt. In den ruhigen Gang
der Klage si^hlagen die Akzente bei »0 Wehe« auf-
schreckend hinein. Kaum eine andere Nummer des
»Christus« prägt sich dem Gemüt so tief ein wie dieser
umflorte Gesang. Kenner werden bemerken, daß die
Erfindung darin etwas von Grauns »Tod Jesu« (»Unsere
Seele ist gebeuget«) beeinflußt ist.
Die zweite Szene »Christi Abendmahl mit seinen
Jüngern« geht über den Inhalt ihres Titels hinaus bis
zum Verrate des Judas und zur Gefangennahme des
Herrn. Einen längeren musikalischen Ruhepunkt findet
sie erst in dem altertümlich gefärbten, sechsstimmig
fugierenden Schlußchor: »Wir gingen Alle in der Irre«.
An Umfang ihm nachstehend, an Gehalt und Entschie-
denheit der Tonsprache aber überragend ist der Chor
»Wehe, wehe, sie haben ein Bubenstück usw.« zu be-
zeichnen. Die Szene wechselt sehr lebendig zwischen
dramatischen und betrachtenden Sätzen. Die biblischen
Reden der Jünger sind in ausdrucksvoller Kürze ein-
gereiht. Unter den knapperen betrachtenden Num-
mern ist die eigentümlichste der Chor »Siehe, ich
— ^ U9 ^—
stehe vor der Tür usw.«, den die Altstimmen allein vor-
tragen.
Mit der folgenden Szene »Petrus verleugnet Chris-
tum« beginnt Kiel die zweite Abteilung seines Oratoriums.
Die Szene der Verleugnung ist nur kurz ausgeführt aber
sehr geistvoll. Nach dem Chor »Wahrlich usw.« spielen
die Instrumente eine Reihe von Motiven, mit welchen
die Jünger in der vorhergehenden Abendmahlszene die
Versicherung der Treue und des Todesmuts — »Und
wenn ich mit dir sterben müßte«, »Herr, sollen wir mit
dem Schwert dreinschlagen?« — gaben. In der nächsten
Szene »Christus vor dem Hohenpriester« hat Kiel zwei
Priesterchöre: »Er ist des Todes schuldig« und »Weis-
sage,' wer ist es, -^ der dich schlug« in einen Satz zu-
sammengefaßt und in einer eigentümlichen Kombination
diesen in den Männerstimmen spielenden Ausbrüchen
der Wut und des rohen Spottes in dem Unisono von
Sopran und Alt einen choralartigen Gesang gegenüber-
gestellt, welcher diese Szene der Grausamkeit mit einem
heiligen, verklärenden Licht überstrahlt. Die nun fol-
gende Szene »Christus vor Pilato« ist die imposanteste
des ganzen Werkes und muß als Meisterstück moderner
Passionsrealistik angesehen werden. Nur bei Schicht ist
ein ähnlicher Aufbau der langen Gerichtsszene versucht
worden: Es ist ein einziger großer Satz, der in den er-
öffnenden Akkorden der Bläser die Feierlichkeit des Hoch-
gerichts kurz andeutet und dann in einer wahren Flut
von leidenschaftlicher Erregung, in einem gewaltigen un-
aufhaltsamen Zuge dahinstürmt. Kiel folgt hier nicht
dem Matthäus oder Johannes allein; alle die Züge, wel-
che diese beiden Evangelisten, und die anderen dazu,
von dem Fanatismus des Volkes mitteilen, sind in das
Bild aufgenommen. Aber Kiel hat sie nicht in geson-
derten Nummern der Reihe nach ausgeführt, sondern
genial zusammengedrängt, hier kurz skizzierend, dort
einen Augenblick verweilend. Die Einheit der Szene
sichert der Hauptsatz, das »Kreuzige, kreuzige«, zu wel-
chem die Menge in allen Lagen der Verhandlungen, im
II, 4. 9
Übermut wie in der Verlegenheit, immer wieder zurück-
kehrt wie zu .einem ausgegebenen Losungswort. Den
Höhepunkt bildet der Satz: »Sein Blut komme über
uns*, der mit einer dämonischen Entschiedenheit ge-
geben ist. Von da ab beruhigt sich der Ton der Szene;
der Spott und die Wut flackern n^ch dem Arioso von
Christus nur noch einmal auf in »Der du den Tempel
Gottes zerbrichst«. Für lyrische Einlagen war diese
Szene nicht der Ort; nur ein* kurzer Choräatz, der wie
von Eccard klingt: »Siehe, das ist Gottes Lamm«, taucht
in der zweiten Hälfte auf. Erst ganz am Schlüsse
kommt die hochgeschwellte Stimmung des christlichen
Herzens zum Wort. Es ist in dem Choral: »Mein Jesu
stirbt, die Felsen beben« nach der Stelle »es ist voll-
bracht«. Während die Stimmen die Weise in ihrer
schlichtesten Form hinsingen, grollt in dem Orchester
ein Nachklang des Erdbebens, welches nach der Bibel
das Scheiden des Herrn begleitete. Dann wird der
Choral zum zweiten Male zu einem kunstvolleren Satze
mit fugierenden Stimmen, in Bachscher Weise, aufge-
nommen. Die Originalmelodie des Chorals ist die alte
Neumarksche von »Wer nur den lieben Gott läßt walten«.
Wie Kiel der Passion als Vorgeschichte den Einzug
am Palmsonntag vorausgeschickt hat, so läßt er zu ihr
auch als Epilog eine Skizze der ihr nächstfolgenden
wunderbaren Ereignisse hinzutreten: Auferstehung und
Himmelfahrt. Aus diesem dritten Teile des »Christus«
sind besonders das Duett der beiden Marien, hervor-
zuheben und der nachkomponierte an innigen Wen-
dungen reiche Dialog zwischen Christus und Petrus.
Kurz ehe das Werk mit dem »Hallelujah« und der auf
ein seltsam weit ausschreitendes Thema »Das ist der
Stein« aufgebauten Fuge abschließt, klingen nochmals
die friedlichen Motive seiner Einleitung an.
Nach Kiel hat es Felix ^Woyrsch versucht, den
Bann zu durchbrechen, in den Bachs Matthäuspassion den
neueren Anbau der Gattung unverkennbar gelegt hat.
Das Riesenwerk drückt auf den Mut der musikalischen
Passionstalente noch weit mehr wie Beethovens >Neunte<
auf den der Symphoniker. Bach zu überbieten, wird man
besser garnicht erst versuchen. Daß es möglich ist,
trotz der unvermeidlichen Berührungspunkte mit ihm,
doch die Leidensgeschichte selbständig und bedeutend
musikalisch darzustellen, hat Kiel bewiesen.
An Kiel schließt sich nun Woyrsch mit seinem >Pas- F, Woyrioli,
sionsoratoriumc (op. 45) für gemischten Chor, Soli, Or- Passions-
ehester und Orgel, wohl unbeabsichtigt, aber tatsächlich Oratorium,
sehr eng an. Der entscheidende Verwandtschaftszug liegt
darin, daß beide die für die oratorische Form notwendigen
Textergänzungen der Bibel entnehmen. Dieses Verfahren,
von dem S. Bach beachtenswerterweise trotz seines Eifers
für Kirche und Bibel abgesehen hat, ist durch Mendels-
sohns »Paulus« in die neue Passionskomposition hinein-
gekommen. Es würde ^ sich leicht nachweisen lassen, daß
auch Kiel durch diese Schranke beengt worden ist.
Woyrsch ist aber in der Wahl der eingelegten Bibel-
worte noch viel weniger glücklich gewesen als sein Vor-
gänger. Seine Einschaltungen kommen häufig zur Un-
zeit und sie sagen nicht das, was die Situation verlangt.
Insbesondere fällt in dieser Beziehung auf, daß Woyrsch,
da wo die Vorgänge empören und entrüsten, nur Klage
und Trauer hat. Der dramatischen Schärfe der biblischen
Passionsschilderung ist hierdurch mehr als einmal die Spitze
abgebrochen. So fehlt, obgleich der Komponist nicht einem
einzelnen Evangelisten, sondern der sogenannten Evan-
gelienharmonie folgt, die Episode mit Barrabas, die die
Worte' »Laß ihn kreuzigen« so entsetzlich macht. So
wird die Erklärung der Juden »Wir haben keinen König
usw.« des beißenden Charakters, den sie als Antwort auf
die Frage des Pilatus hat, dadurch entkleidet, daß sie in
Verkoppelung mit »Laß ihn kreuzigen« eintritt.
Zum Teil sind diese Abschwächungen der allgemeinen
Unklarheit darüber entsprungen, ob die Passion als litur-
gisches oder als dramatisches Kunstwerk aufzufassen ist;
die Erinnerung an die Bachschen Choräle hat in den
Entwurf mit hineingespielt, obwohl der Komponist auf
9*
132
L.-Perosi,
Markus-
passion.
Choräle verzichtet. Zum Teil beruhen sie auf individuellen
Mängeln. Bei einer besseren Anlage des Textes hätte
dieses Passionsoratorium wahrscheinlich viel mehr Ver-
breitung gefunden, als das der Fall gewesen ist. Denn
seine musikalischen Quahtäten sind nach mehreren Rich-
tungen bedeutend. Ernste Hingabe, warme Empfindung,
schöne einfache Erfindung fehlen fast nirgends. Der
Chorsatz ist mannigfaltig, reich, frei und immer reif und
meisterlich. Auch die Soli sind gehaltvoll; nur haben
die Rezitative des Evangelisten zu viel Ausdruck und die
Reden des Heilands treten nicht genug hervor. An ein-
zelnen Stellen schädigt sie der Komponist dadurch, daß er
den Instrumenten die Hauptstimme gibt, obgleich das Wort
den ersten Anspruch hat, gehört zu werden. An andern
Stellen vermißt man die selbständige Betätigung des
Orchesters. Einen solchen Fall bietet namentlich der
Augenblick, wo auf Gethsemane die Jünger fliehen. Da
galt es den Seelenzustand des Herrn so zu malen, wie
es nur die Instrumente können. Statt auf diesem moder-
nen Wege seine Aufgabe zu lösen, betritt der Komponist
mit dem Chor: »Jerusalem, die du tötest usw.« einen
Gemeinplatz. Mit sinnreichen und beziehungsvollen Nach-
spielen, mit der Verwendung des Chorals »0 Gottes Lamm
unschuldig«, hat aber auch Woyrsch auf die Mittel hin-
gewiesen, die es der zukünftigen Passionskomposition er-
möglichen werden, sich neben S. Bach zu behaupten.
Daß das heutige, über L. v. Beethoven und über
Wagner gegangene Orchester als lyrischer Dolmetsch
auch für die Passion vortrefflich verwertet werden kann,
zeigt der jüngste, weiter bekannte Vertreter der Gattung
Lorenzo Perosi. Seine Markuspassion — la Pas-
sione di Cristo secondo S. Marco, Trilogia sacra lautet
der ausführliche Titel — fällt durch die Menge selb-
ständiger Orchestersätze auf, die als längere und ktlrzere
Vorspiele, Nachspiele und Zwischenspiele die Passions-
vorgänge einleiten oder schließen. Sie bewähren sich
als Mittel den Gefühlsgehalt der Szene, unter Um-
ständen eindringlicher und reicher, jedenfalls aber in
U3 ^ —
viel kürzerer Zeit und ohne den Fortgang der Handlang
wesentlich aufzuhalten, auszusprechen als durch ein-
gelegte Gesänge, seien es nun Chor- oder Solosätze.
Perosi, dem das große Verdienst nicht abgesprochen
werden kann, in Italien den abgestorbenen Sinn für das
Oratorium wieder erwefckt zu haben, hat auch für die
Passionskomposition durch diese freie Anwendung eines
Prinzips des neuen Musikdramas eine für alle Länder
bedeutende Anregung gegeben. Die reformatorischen
Wendungen seiner Markuspassion gehen jedoch noch
viel weiter. Es kommt ihm nicht bloß auf die Zu-
ziehung modernster Ausdrucksmittel an, sondern in der
Form eines praktischen Experiments stellt er den Grund-
satz auf: der Komponist soll die Kunst aller Zeiten, auch
der ältesten, kennen und alles benützen, was sich er-
probt hat. Ein zweiter Garissimi versucht er mit außer-
ordentlicher Kühnheit die Verschmelzung jetziger und
früherer Kunst an einem der bedeutendsten Kompositions-
entwürfe. Es ist ihm dabei gelungen zu zeigen, daß die
musikalische Darstellung der Passion auch heute noch
den Rahmen der alten Lektion und den liturgischen
Charakter einhalten und dabei doch den Forderungen
des modernen Empfindungslebens Rechnung tragen kann.
Die Aufführung der drei Abteilungen, in die der Kompo-
nist das ganze Werk zerlegt: — das Abendmahl, das
GQbet Christi am ölberg, der Tod des Erlösers — nimmt
nur soviel Zeit in Anspruch, als es der Gottesdienst er-
laubt Die wichtige Frage, ob eine Passionskomposition
streng kirchlich und doch modern gehalten sein könne,
ist also von Perosi durchaus befriedigend gelöst und
darin liegt der Wert seiner Markuspassion und zugleich
der Hinweis darauf, daß sie mit den Ansprüchen einer
Konzertpassion nicht gemessen werden darf. Sie würde
aber auch als solche Bedeutung erlangt haben, wenn
dem nicht beträchtliche Schwächen des innern Stils ent-
gegenständen. Man bemerkt sie sofort, wenn man nur die
Behandlung der Erzählerpartie prüft. Diese ist bald einem
Solisten, bald dem Chor übergeben. Die erzählenden
Solisten wechseln, sie singen bald im Ghoralton, bald in
der modernen Weise der begleiteten Monodie. Der er-
zählende Chor ist ein Stück aus der Rnnst der Motetten-
passion, aber innerhalb dieser Sphäre wandelt er die
Physiognomie höchst wunderlich. Bald singt er harmo-
nisierten Akzent und Falsobordoni, bald fugiert er und
bald folgt er ganz frei den Impulsen des natürUchen Aus-
drucks. Nicht der Wechsel der musikalischen Mittel an
sich ist das Anstößige an diesem Verfahren, sondern der
befremdende Eindruck ruht darauf, daß diesem Wechsel
keine klar erkennbaren Prinzipien zugrunde liegen, daß
er sich nicht aus dem Charakter der Situation erklärt
und somit willkürlich erscheint.
Es kommt ein zweiter Umstand hinzu, die Zensur
der Leistung Perosis herabzudrücken. Das ist die Un-
gleichheit im Wert der Erfindung. In den Orchester-
sätzen und noch mehr in den Reden Christi kommen
Passionstöne ergreifendster Art vor, Äußerungen des
Schmerzes, die dem »Parsifal« zur Zierde gereichen
würden. Daneben stehen aber mehr als einmal Motive,
die zu leicht wiegen, ja, selbst offenbare Floskeln.
Eine weitblickende, auf breiter Bildung stehende
Persönlichkeit, ein großes, sowohl musikalisch, als all-
gemein künstlerisch großes Talent zeigt diese Markus-
passio^ Perosis. Kommt der Komponist über den Ek-
lektizismus hinweg zur Reife und Geschlossenheit, so
wird die italienische und die internationale Musik-
geschichte seinen Namen an einen hervorragenden Platz
zu stellen haben.
r
* Zweites Kapitel
Messen.
Liturgisch wichtiger als die Passion ist die Messe.
Passionsmusiken kommen nur in der Charzeit vor, Mes-
sen das ganze Kirchenjahr hindurch bei jedem Haupt-
«gottesdienst. Die Messe ist in der katholischen Kirche
das >Hochamt« und dazu bestimmt, den wichtigsten,
erhebendsten und geheimnisvollsten religiösen Akt, die
Darbringung des Opfers, vorzubereiten und zu begleiten.
Die Protestanten haben diesen Zweck der Messe ih die
Feier des Abendmahls gelegt. Auf ihrer Seite begann die
Trennung der Meßmüsik von den heiligen Zeremonien, zu
welchen sie gehört, am Ende des 48. Jahrhunderts. In
katholischen Ländern hat man sich erst später entschlos-
sen Messen ganz oder in Bruchstücken im Konzert zuzu-
lassen. Als Beethoven im Jahre 4808 in einer Akademie
zwei Sätze seiner C dur-Messe, und noch 4 824, als er drei
Stücke seiner »Missa solemnist aufführte, mußte er sie
hinter den Titel »Hymnen im kirchlichen Stile« verstecken.
Auch in Norddeutschland haben sich am Beginn des
4 9. 'Jahrhunderts Stimmen erhoben, welche die Aufführung
von Messen außerhalb des Gottesdienstes als eine »Ent-
weihung« verurteilten*). Diese Auffassung ist wohl zu
i^treng. Gewiß wird ein »Agnus dei« den gläubigen
*) Allgemeine Musikal. Zeitung, Jahrgang 1814: Alte und
neue Eiichenmusik.
\
4^6 ♦>—
Christen in dem Augenblicke am mächtigsten ergreifen,
in welchem er zur heiligen Handlung am Altare nieder-
kniet. Wenn er aber zu.^iner anderen Zeit denselben
Satz wieder hört und sich durch ihn an die gehoben-
sten Stunden erinnert und ermahnt fühlt, die er im
Gottesdienst erlebt hat — ist das Entweihung? Das
Agnus dei und wie dieses alle Me^sätze haben einen
selbständigen Inhalt, der auch dann noch erhebend, die
Frömmigkeit erweckend, die Menschengedanken auf die
göttliche Gnade und Herrlichkeit, aufs Ewige .fahrend,
wirken wird, wenn der liturgische Zusammenhang dieser
Sätze ganz vergessen sein sollte. Dieses Kyrie, Gloria,
Credo, Sanctus und Agnus dei enthalten Gedanken,
welche der Christ zu jeder Zeit und an jedem Orte
versteht. Das Kyrie bringt in spruchartiger Kürze
ein Gebet um die Hülfe Gottes und seines Sohnes.
Wie die des Sanctus und Agnus dei, kehren seine
Worte außer in der Messe auch in anderen liturgischen
Stücken wieder. Das Gloria, ursprünglich zur Morgen-
hymne bestimmt und leim Aufgang der Sonne ange-
stimmt, ist ein Lobgesang. Sein jubelnder und dankender
Grundcharakter erhält nur in dem Abschnitt: >Qui tollis
peccata mundi usw.« einen Gegensatz demütig bittender
Art: »miserere nobis« und »suscipe deprecationem nos-
tram«. Das Credo ist der wortreichste und längste,'
für die Komposition der schwierigste der Meßsätze.
Seinen Inhalt bildet das christliche Glaubensbekenntnis
in der Fassung des Nicäischen Konzils. Die Tonsetzer
gaben ihm in der Regel eine feste, feierliche und schwung-
volle Musik; besonders tritt in ihr der Abschnitt hervor,
welcher Christi Menschwerdung und sein Leiden und
Sterben behandelt. An den Stellen: »et incarnatus est«,
»et homo factus est«, »crucifixus est« darf man in der
besten Zeit der musikalischen Messe das Erhabenste
suchen, was sich musikalisch denken läßt. Das Sanc-
tus, welches den Eingang zur eigentlichen Kommum^,
zur heiligen Wandlung bildet, ist das dreimalige »Heilig«,
der bekannte Gesang, welchen Jesaias aus dem Munde
—^ U7 ^—
der den Thron Gottes umschwebenden Seraphim hörte. An-
gefügt sind die Jabebrufe,mit welchen die Juden Christum am
Palmsonntage bei seinem Einzüge in Jerusalem begrüßten:
das »Benedictus« und »Osanna«. Das Agnus deiwar in der
ältesten Zeit der eigentliche Kommuniongesang. Es enthält in
wenigen schlichten Worten den Ausdru^ demütigster, liebe-
vollster Hingebung zu dem Heiland, der sich für die Mensch-
heit geopfert hat, und die Bitte um Gnade und Frieden. In
älteren Messen wird der Satz in dreifach verschiedener Mu-
sik wiederholt. Das >Dona nobis pacem« ist erst im späteren
Mittelalter hineingekommen und heute noch nicht als allge-
mein gültig anerkannt, z. B. nicht im Lateran, wo noch drei-
mal »miserere nobis« gesungen wird. Diese fünf Hauptsätze
des Messentextes sind zwar alle sehr alt (am ältesten das
Sanctus), aber doch zu verschiedenen Zeiten entstanden.
Erst später faßte man sie zu einem zusammenhängenden
Ganzen zusammen, welches als das Ordinarium der Messe,
d, h. der im Text stets gleichbleibende Teil, bezeichnet wird.
Vervollständigt wird dieses Ordinarium durch Introitus, Gra-
duale, Alleluja, Tractus, Sequenz und Communio, Gesänge,
welche im Text je nach den Festzeiten {de tempore] wech-
seln*). Mit Rücksichten auf den Text, seine Geschichte und
sein Wesen, läßt sich demnach ein Einspruch gegen den
Konzertgebrauch von bedeutenden Messen nicht begründen.
Ganz anders aber verhält es sich mit der Frage, ob ihre
Musik die Verpflanzung in den fremden Boden erlaubt?
Diese Frage kann, soweit es sich um ganze Messen han-
delt, nicht für sehr viele Werke bejaht werden. Sie muß
für alle unbegleiteten Messen verneint werden. Auch
die besten Meister der a capella-Periode, auch die Dufay
und die Palestrina, auch die Gabrieli, Haßler, die mit
sechzehn Stimmen operierenden Venetianer und auch
ihre neuesten Nachläufer vertragen es nicht, daß voll-
ständige Messen von ihnen im Konzert aufgeführt werden.
Nur der Lehrzweck kann es entschuldigen, wenn in der
♦) Näheres bei Peter Wagner, Geschichte der Messe
(I. TeU bis 1600), Leipzig, 1913.
Gegenwart der Versuch doch 2uweilen gewagt wird.
Wirklich erhauea kann man immer nur mit der Vorfüh-
rung einzelner, bedachtsam ausgewählter Sätze. Will man
den organischen Zusammenhang zwischen den Teilen des
Ordinariums, der ja ein wesentlicher Zug in der Meister-
schaft der alten a capella-Messe ist, zeigen, so hat man
sich auf zwei Sätze, etwa ein Kyrie und das dazu ge-
j hörige Gloria, ein Credo und das dazu gehörige Sanctus
S oder Agnus Dei zu beschränken. Schon drei Sätze sind
i zuviel; ein ganzes Ordinarium ermüdet aber auch den
X willigsten Zuhörer und gibt dem Un gelehrten einen ganz
falschen Begriff von den alten Meistern. Denn die Musik
des Ordinariums ist nur Stückwerk. Zum musikalischen
Ganzen gehören noch die oben genannten »de tempore«
wechselnden Einleitungs- und Zwischengesänge, die vom
Introitus ab die Stimmung des kirchlichen Festtags immer
wieder beleben, immer anders aber doch einheitlich auf
das zu feiernde Ereignis zurückkommen. Damit rechnet
die Musik des Ordinariums. Sie rechnet ferner mit den
zuweilen sehr langen Unterbrechungen zwischen den
einzelnen Sätzen, mit den heiligen Zeremonien, mit den
einfachen litmrgischen Intonationen der Priester, mit den
Glöckchen und Glocken, die in die stillen Gebete von
Priester und Gemeinde hineinklingen. Daran können sich
Fantasie und musikalische Aufnahmefähigkeit der Ge-
meinde immer wieder erfrischen. Die « Liturgie ist also
! die Seele und die unentbehrliche Stütze jeder a capella-
; Messe. Sobald sie fehlt, reichen die natürlichen Mittel
( des unbegleiteten Ghorsatzes für eine halbstündige Be-
i lastung nicht aus und daran vermag die größte Virtuosi-
. tat der Komposition und des Vortrags nichts wesentliches
zu ändern. Eine andere Schwierigkeit für die Verwen-
dung von a capella- Messen im heutigen Konzert liegt
daran, daß sie für ganz andere Chöre gedacht sind, als
wir hei^e besitzen. Sie wollen in allen Stimmen solistisch
geschulte Sänger, sie wollen den Alt mit Männern besetzt
sehen und im Sopran höchstens Knaben aber niemals
Frauenstimmen. Auch aus diesem Grunde tun Dutzende
(
—<♦ U9 ♦— '
von Aufführangen bester Chorvereine für das volle
Verständnis einer Palestrinaschen Messe nicht ein Zehn-
tel von dem, was hierzu ein einziges Hochamt, etwa im
Regensbnrger Dom, beiträgt
Die begleitete Messe, der die reichen und mannig-
faltigen Darstellungsmittel des modernen Orchesters zu
Gebote stehen, ist musikalisch selbständiger und zur
vollständigen Verwendung im Konzert geeigneter, als
die reine Vokalmesse. Aber auch hier sind die Aus-
nahmen zahlreich und viele bedeutende Werke der Gat-
tung schöpfen einen beträchtlichen Teil ihrer Lebens-
kraft aus der Szenerie des Gottesdienstes. Dahin gehört
z. B. Gherubinis Requiem für Männerstimmen.
Im katholischen Gottesdienste begegnen wir noch
einer dritten Stilart der musikalischen Messe: der Messe
im gregorianischen Choralton. Sie ist die älteste Form
des Messengesangs und hat vor den beiden jüngeren den
Vorzug, daß sie den Text knapp und deutlich, nämlich
in einstimmigen, unbegleiteten Melodien wiedergibt Von
dem Choralton der Passion unterscheidet sich aber der
der Messe dadurch, daß er nicht accentus, sondern con-
centus, nicht Deklamation, sondern wirklicher Gesang ist,
daß er aus Melodien besteht, die durch Intervallenwechsel
zwischen Worten und Silben, durch kürzere oder längere
Tonfiguren auf bedeutungsvollen Wort- und Satzteilen
die inneren seelischen Eindrücke des Textes äußern, die
Empfindung und Phantasie des Hörers beleben. Der
gregorianische Choral hat das Schönste und Reichste,
was seine Melodik bietet, in den Rezitationen der Meß-
texte. Mit Recht wehren darum die päpstlichen Bestim-
mungen der neuesten Zeit der Vernachlässigung der
Choralmesse. Auch Luther suchte die innigen und feu-
rigen Messintonationen wenigstens zum Teil seiner Kirche
zu erhalten und nach seinem Sinn sind sie von einigen
wenigen protestantischen Reformagenden jüngst wieder
aufgenommen worden. Bei einem Vergleich der drei
Stilarten wird die kirchliche Glanzpartie der Messen-
^lusik von der Vok^messe gebildet; im engeren Sinne
— ^ 440 ♦—
von den für den a capella-Chor geschriebenen Messen,
welche in der großen Vokalperiode des 4 5. und i 6. Jahr-
hunderts entstanden sind. Eine durch den fortwährenden
Wettbewerb auf gleichem Gebiete immer wieder ergänzte
Reihe großer Meister, eine Fantasie und gestaltende
Hand fast ausschließlich im kirchlichen Dienst festhaltende
Schulung, eine glückliche Übereinstimmung im Grund-
wesen der musikalischen Mittel und der dichterischen
Ideen kommen zusammen, um den Werken dieser Periode
einen Vorsprung zu geben, welcher von der späteren
Zeit noch nicht wieder hat eingeholt werden können.
Der Kenner dieser Zeit wird einem Bach und Beethoven
seine Bewunderung nicht versagen; aber er wird von
ihren Messen immer wieder mit Liebe und Sehnsucht zu
seinem Palestrina zurückkehren. Nur in dieser Periode
erscheint ihm kirchliches und künstlerisches Ideal voll-
ständig sich deckend. Ihre Musik kommt aus dem Himmel;
in den Werken der späteren Meister drängt sich das
Menschliche, der irdische Jammer und die irdische Leiden-
schaft stark vor.
Die Menge der in jener großen Vokalperiode ent-
standenen Messen ist erstaunlich bedeutend. Wir haben
Anekdoten, welche die Fruchtbarkeit der alten Meister
auf diesem Gebiete beleuchten, wir sehen sie tatsächlich
bestätigt, wenn wir in den Bibliotheken Urtischau halten
nach den Notendrucken aus jener Periode. Die Petrucci
in Venedig, die Petrejus in Nürnberg, Moderne in Lyon,
di^ Druckerpressen in allen Ländern waren unablässig
beschäftigt, in groß Folio Stimmbücher von Messen her-
zustellen. Vorher und daneben her ging aber das Ab-
schreiben mit der Feder, das Malen jener fast finger-
großen Noten, deren Tintenreichtum im Laufe der Zeit
nicht selten das Papier zerfressen hat. Die Messe galt
den Tonsetzern als Hauptziel ihres Ehrgeizes ; die Meister
verö£fentlichten die Werke dieser Gattung bändeweise,
und unternehmende Verleger stellten aus den Bänden
verschiedener Meister wieder neue als Mustersammlungen
her. Wir übersehen heute den Reichtum immer noch nicht
U4 ♦—
vollständig; erst eine Durchforschung sämtlicher Archive
in den Kulturländern kann ein genaues statistisches
Bild ergeben. Sie sowohl als der weitere Teil der Auf-
gabe: die Übertragung der alten Vorlagen aus der Men-
suralnote in die neue, aus den Stimmen in Partitur, setzt
eine Arbeitsteilung nach gemeinsamem Plane voraus
Bis ans Ende des 4 9. Jahrhunderts gingen die Unter-
nehmer von Neudrucken ohne Fühlung untereinander
vor. Dabei erhielten wir, um nur ein Beispiel anzuführen,
die herrliche Messe: »Assumpta est Maria« von Palestrina,
seit 4 850 in drei verschiedenen Ausgaben. Dagegen war
ein Meister wie Clemens non papa, welcher in den
Mustersammlungen des 4 6. Jahrhunderts eine erste Stelle
einnimmt und wegen seiner frischen, kecken Themen
verdient, als Komponist von Messen in keiner Sammlung
vertreten; ja selbst Ambros scheint ihn als solchen nur
wenig zu kennen. Ähnlich verhielt es sich mit Morales
und anderen Lieblingskomponisten der alten Sammel-
werke von Messen.
Den Anstoß zu Neuausgaben haben die musikalischen
Geschichtsschreiber gegeben: Martini, Forkel, Burney,
Kiesewetter, denen neuere, wie Ambros und Schlecht
gefolgt sind. Auch Theoretiker, wie H. Bellermann,
schlössen sich dem Vorgang der älteren Fachgenossen:
Glarean, L. Heyden, Kircher, getreu, dieser Veröffent-
lichung von Bruchstücken aus alten Messen an. Als
erste selbständige Sammlung alter Musik erschien von
4 760 ab in London die von Boyce und Arnold redigierte
»GathedralMusic«. In Deutschland beginnt die Geschichte
der Wiederbelebung alter Tonkunst durch Partitur drucke
mit Kirnbergers Ausgabe Haßlerscher Kirchengesänge im
Jahre 4774, in Frankreich ein Menschenalter später mit
den verschiedenen Veröffentlichungen Kt Chorons (4808:
Principes de composition, 4 827: Journal de Chant usw.).
Fr. Rochlitz, B. Braune, St. Lück, F. Commer, F. Proske,
Niedermayer, Eslava, Maldeghem, H. Expert, haben dann
die Arbeit mit verschiedenen Zielen fortgesetzt; als
sie immer weitere Beachtung fand, widmeten sich ihr
große besondere Interessen verbände, wie die Eitnersche
Gesellschaft für Musikforschung, die »Vereeniging for
Nord-Nederlands Muziekgeschiedenis«, die Musical Anti-
quarian Society, die Plainsong and Mediaeval Musical
Society, die Gesellschaft zur Herausgabe dänischer Musik
usw. Einen wichtigen Aufschwung machte die Bewe-
gung unter dem Einfluß der Gesamtausgabe von Werken
einzelner Großmeister. Wiederum waren hier die Eng-
länder für Händel, für Purcell vorgegangen, die Deutschen
brachten mit der Bachausgabe die Entscheidung. Sie
hat bewirkt, daß Palestrina, Lasso, Schütz, Händel, Ra-
meau. Gluck mit ihren gesamten erhaltenen Werken in
kritisch zuverlässigen Ausgaben vor uns stehen. Die Wohl-
tat dieses Verfahrens kommt bereits auch Komponisten
der neueren Zeit zu gute. Für die ältere Musik hat es
die weitere Folge gehabt, . daß ihre Interessen jetzt in
einem großen Stil uns nach einheitlichem Plan gesichert
sind. Deutschland und Österreich haben die Veröffent-
lichung bedeutender Komponisten aus früheren Jahr-
hunderten zur Staatssache gemacht, die Gesellschaften,
die in diesen beiden Ländern »Denkmäler detr Tonkunst«
aufstellen, arbeiten im Auftrag und mit Unterstützung
der Kultusministerien von Berlin, München und Wien.
Es kann nicht ausbleiben, daß die übrigen Kulturstaaten
diesem Beispiele folgen und damit die Musikgeschichte in
den Stand setzen, der Geschichte der bildenden Künste
überall ebenbürtig zu sein. Zu wünschen ist nur, daß
das Tempo der Nachfolge nicht gar zu langsam ge-
nommen wird.
Immerhin ist die Masse der in hundertjähriger Arbeit
zu Tage geförderten Neuausgaben alter Musik eine statt-
liche Leistung und sie reicht schon heute dazu aus, dem
höher strebenden Musikfreunde auch ein halbwegs ge-
nügendes Bild von der Entwicklung der Messe zu geben.
Eine Hauptlücke besteht hier noch für die jerste Periode
der mehrstimmigen Vokalmesse. Die Gradualien, die
Allelujagesänge, also die Nebenstücke des Messentextes,
waren es, an denen zuerst der neue Stil probiert
wurde ♦) und zwar vorwiegend in der Weise des Perotinus,
der zwar mehrstimmig anfängt und schließt, die Mitte aber
einstimmig hält. Was das für eine Art von Mehrstimmig-
keit war, läßt sich aus den Proben, die Coussemaker in
seiner »Historie de l'Harmonie« nach dem Codex von
Montpellier gibt, nicht sicher genug beurteilen. Auch
wenn man mit dam berüchtigten Organum rechnet, bleibt
in dieser Quelle harmonisch zu vieles befremdlich. Melo-
disch hingegen wirken die einzelnen Stimmen, nament-
lich die oberste (das Triplum) auch bei Coussemaker
reich und fesselnd, ipiteinander verglichen bilden sie
scharf unterschiedene Individuen, Mitglieder eines fast
dramatisch gedachten Ensembles. Was für Gründe da-
für gesprochen haben mögen, die Hauptsätze der Messe
zunächst noch dem einstimmigen Vortrag vorzubehalten,
wissen wir nicht. Tatsächlich hat es in einzelnen Gegen-
den sehr lange gedauert, ehe sich auch für die eigent-
liche Messe der Figuralgesang einbürgerte, in Lübeck
z. B. bis zum Jahre 4 486, in Lüneburg bis 4 546**).
Die miehrstimmige Komposition des Ordinariums be-
ginnt im Anfang des U. Jahrhunderts, ihr frühestes bis
jetzt bekanntes Dokument ist die sogenannte »Messe
von Tournai«, die ebenfalls Coussemaker in Partiturform
(Tournai 4 864) und in einer Übertragung veröffentlicht hat,
die wiederum, am meisten wegen der ununterbrochen
tänzelnden Triolen, sehr bedenklich erscheint.
Für die weiteren Leistungen auf diesem Gebiete
lagen bis vor kurzem nur französische, mittel- und ober-
italienische, sowie englische Handschriften vor. Nachdem
Davey, Stainer, Wooldridge u. a. in den letzten Jahren
Proben aus ihren heimischen Quellen veröffentlicht
*) Fr. Ludwig: Die mehrstimmige Musik des ^4. Jahr-
hunderts (SammeU>ände der Internationalen Mnsikgesellschaft
IV, 6) und derselbe: Studien über die Geschichte der mehr-
stimmigen Musik im Mittelalter (ebenda Y, 2).
**) G. Stiehl: Zur Geschichte des Kirchenchors usw. in
Lübeck (Lübecksche Blätter 1886).
hatten, gab dann Johannes Wolf*) mit wohlgewählten
Auszügen über dieses gesamte Material einen Über-
blick, der die Wichtigkeit der Pariser und Florentiner
Schule voll aufdeckt, die Bedeutung Dunstables für die
Polyphonie neu bestätigt. Mit drei- und vierstimmigen
Meßsätzen sind neben diesem »Vater der Polyphonie«
nun auch G. de Machaut, B. de Padua, C. de Feltre, A. de
Givitate, J. B. Anglicus vertreten und zwar mit wenigstens
sinnvollen Arbeiten. Auch de Vitry und Matteo de Perugia
können jetzt nicht lange mehr fremd bleiben.
Die früher genannten neuen Sammelwerke kommen
erst für die Messen der Dufay sehen Zeit zu Hülfe. Mit ihm,
mit Ockeghem und Obrecht treten bekai^ntlich die Nieder-
länder, die Hauptträger damaliger Kultur, die Führung in
der Musik an und liefern 4 50 Jahre lang den Residenzen
und Metropolen aller Länder die Sänger und Komponisten.
Mit den Messen dieser Meister zuerst weitere Kreise be-
kannt gemacht zu haben, ist das Verdienst Rochlitzens. Er
brachte in seiner » Sammlung vorzüglicher Gesangstücke
der anerkannt größten .... Meister usw.« (Leipzig 4833 bis
4 840) kürzere und längere Bruchstücke aus Messen jener
Meister. Sie sind indessen wenig benutzt worden. Wohl
äußert sich in ihnen ein starkes poetisches, gern ans Volks-
tümliche anknüpfendes Vermögen in herzlichen Gesang-
wendungen^ aber man stieß sich an die scheinbar leeren
und ungelenken Harmonien. Wurden doch seit Forkel die
Leistungen der ersten Niederländischen Periode in den
Handbüchern der Musikgeschichte als Vorstufe der Kunst,
als abschreckendes Beispiel einer in bloßen Künsteleien
steckengebliebenen Richtung behandelt. Auch die be-
geisterten Darstellungen, in denen Kiesewetter und sein
Neffe Ambros für die Bedeutung dieser Werke eintraten,
vermochten das Vorurteil nicht zu brechen. Selbst Männer,
wie Carl Riedel, gingen an Dufay und Genossen vorbei.
Diese Ansicht hat sich erst geändert, als im Jahre
4 892 ein von Daniel de Lange in Amsterdam aus
•) J. Wolf: Geschichte der Mensnralnotatlon, 1904.
U5 ♦—
wirklichen Solisten und Kunstsängern gebildeter Elitechor
sich mit Dufay und Genossen auf die Reise begab. Die
Leistungen dieses Amsterdamer Kirchenchores haben wohl
überall, wo sie in deutschen Städten gehört wurden, den
Schleier weggezogen und die Niederländische Musik des
15. Jahrhunderts in ihrem wahrem Lichte gezeigt, — in
dem Lichte einer vollen Kunst, einer Kunst, in der nichts
von Archaismus, von Anfängerschaft, von unfertiger Ent-
wicklung und Experiment zu bemerken ist. Im Gegen-
teil, diese Werke und diese Meister bedeuten, soweit es
natürliche und wirksame Ausnützung der Menschenstimme,
Macht, Freiheit und Schöheit der Melodik betrifft, die
höchste Blütezeit der mehrstimmigen Vokalmusik. Nach
dieser Richtung ist die erste niederländische Zeit nie-
mals übelrtroffen, nur hie und da von Einzelnen, wie von
S.Bach (z.B. in »Komm Jesu, komm«) annähernd erreicht
worden. Dieser ihr Vorzug hängt eng zusammen mit
der Natur der sogenannten »Chöre«, für welche diese
Kompositionen geschrieben worden sind. - Komponisten
wie Dufay, Ockeghem waren Sänger in diesen Chören.
Für Bachsche Motetten, Beethovensche Messen, für die
Mehrzahl der neueren Chorwerke möchten wir unsere
starken Dilettantenvereine nicht missen, sie sind außer-
dem für die musikalische Volkserziehung unersetzlich.
Aber wollen wir die a capella- Musik der frühesten Peri-
oden nicht bloß gelegentlich kosten, sondern wirklich
wieder aufleben und den musikaüschen Geist unsrer Zeit
von ihr befruchten sehen, so müssen wir wieder nach
Chören streben, die jenen de Langeschen Chor zum
Muster haben. Daß das möghch ist und was dabei er-
reicht wird, beweist heute wieder in Amsterdam A. Aver-
kamps bekannter »Klein-Koor ä Cappella«.
Von dem heutigen Gebrauchswert der Werke dieser
ersten Niederländer abgesehen, haben sie geschichtlich
bedeutend gewirkt. Sie beherrschen zwei Jahrhunderte
hindurch fast ausschli^lich die Gestaltung des kunst-
ra^ßigen Tonsatzes mit dem Gesetze, welches sie für die
Gedankenentwicklung ausgebildet hatten. Dieses Gesetz
II, 1. <0
—^ U6 *—
hieß: Einheit in der Mehrheit, Festhalten am gegebenen
Thema, gründliche Ausnutzung seiner wesentlichen Züge.
Von diesem Gesichtspunkte gingen auch die viel ge-
tadelten Künsteleien, die ausgeklügelten und ausgetiftelten
Nachahmungen aus, welche von den Messen der Ockeghem
und Obrecht aus den Sinn der auf Josquin folgenden Nie-
derländer so ungebührüch gefangen nehmen. In dieser
Periode wurde es der höchste Triumph, mit einer einzigen
Notenzeile sämtliche mit einander singende Stimmen ver-
sorgen zu können. Die erste singt das Thema, wie es
geschrieben steht, die zweite schneller oder langsamer
in einem ganz anderen Rhythmus, eine dritte läßt alle
Pausen weg, fängt das Thema beim Ende an, die vierte
kehrt vom Anfang aus alle Intervalle um usw. Zur An-
deutung dieser Kunstgriffe bildete man ein verwickeltes
Zeichensystem aus, welches die Notenlehre dieser Zeit
mit den Schwierigkeiten einer raffinierten Geheimschrift
umgibt. Wir haben es bei dieser . Satzweise mit einer
Übertreibung eines an und für sich vorzüglichen Prinzips
zu tun. Die Auswüchse schwinden am Ende -des 4 6. Jahr-
hunderts wieder. Aber auf dem Grunde des Systems, wel-
chen jene Niederländer des 45. Jahrhunderts gelegt haben,
stehen auch Orlando die Lasso und ebenfalls Palestrina.
Es ist bekannt genug, daß den Messen der hier in Rede
stehenden Vokalperiode Gesangmelodien zu Grunde gelegt
wurden, welche offen oder versteckt alle einzelnen Sätze
des Werkes durchziehen. Diese Merkmelodien — cantus
finnus ist ihr Name — waren ursprünglich dem gre-
gorianischen Choral entnommen. Bald aber trat, bis
zum Trienter Konzil, neben diese Quelle das Volkslied,
dessen einfachere und bekanntere Weisen den Hörern
mehr entgegenkamen und auch den Sängern die Ent-
zifferung der Notenrätsel erleichterten. Gerade die un-
scheinbarsten und leichtesten Weisen aus der letzteren
Klasse wurden am häufigsten benutzt. Über das The-
»l'homme arm^« W ' ' ' ■ ^' -^
haben fast alle Komponisten ihre Messe geschrieben;
U7 «-—
einzelne mehrere*;. Ähnlich belieht waren die sogenannten ■
yoces musicales, die sechs ersten Töne unserer heutigen ' |
Durtonleiter (das Hexachord) als cantus firmus. Von
diesem cantus firmus bekamen die Messen ihren Namen. '
In alten Sammlungen sind oft nur diese Titel >Si bona
suscepimus«, »Mort»ma' priv^« usw. angegeben und die
Namen der Tonsetzer nicht. Es leuchtet ein, wie das Fest-
halten an einem solchen Grundthema dem einheitlichen
Charakter eines vielsätzigen Werkes zugute kommen
konnte. Die Weise, in welcher der cantus firmus in den
Messen behandelt wurde, ist außerordentUch mannig-
faltig. In der früheren Zeit vorwiegend dem Tenor
zugewiesen, rückt er später auch in andere Stimmen,
besonders gern in den Sopran vor. Den einen dient
der cantus firmns nur als mechanischer Anhalt. Die
Notenreihe wird so ins Breite gezogen, daß von einer
melodischen Wirkung . keine Rede sein kann. Von
anderen wird das Grundthema geistig ausgenutzt: bald
in der Art der Bachschen Choralfigurationen , bald in
dem Stile unserer neuesten Motiveniwicklung und the-
matischen Umgestaltung, welcher gerade in den Messen
der Vokalperiode einen bedeutenden Vorläufer hat. Man
trifft da Arbeiten* in reicher Anzahl, die den Uneingeweih-
ten durch die völlige Übereinstimmung mit der neuesten
Instrumentalperiode Beethoven -Liszt in der Gedanken-
technik überraschen. Kaum unterliegt es auch dem Zweifel,
daß die ganze Satzkunst der Niederländer, vonDufay bis zu
Sweelinck, von instrumentalen Einflüssen mitbeherrscbt
worden ist**). Daß in der zweiten Hälfte des 4 6. Jahrhun-
derts für die Sängerchöre Positive angeschafft wurden, ist
sicher belegt***), die Mitwirkung von Zinken und Posaunen
*) Baini gibt in seiner Palestrinabiogiaphle ein vollstan-
diges Verzeichnis.
**) Davon ausgebend, hat Arnold Schering die Messenkom-
position der Niederländer im -wesentlichen für Orgelmusik er-*
klirt (Die niederländische Orgelmesse usw., Leipzig, 1912).
***) ü. a. durch 0. Stiehl a. a. 0., durch PedreU In der
Einleitung zur Victoria-Ausgabe.
40*
— -♦ 148 ♦—
steht schon für frühere Zeiten fest. Die in großen und
kleinen Zügen in vielen Werken der ganzen Periode her-
vortretende Gleichgültigkeit gegen Wort und Text, die Hin-
neigung zu kompakteren, massigen und derhen Wirkungen,
das Vordringen des akkordischen Elements, hängt mit jenen
instrumentalen Einflüssen zusammAi. Die Unterlegung
d^s Textes nach bestimmten Regeln war Sache der
Sänger*), denen .nur der liturgische Anfangswortlaut
hingeschrieben wurde. Von ihm lenkten sie dann oft in
Improvisationen ab, die profan und unpassend waren.
Daß in das Gloria an Marientagen eine Stanze an die
heilige Jungfrau hineingesungen wurde, an anderen Hei-
ligenfesten Entsprechendes, erregt kaum Anstoß. Den
gewählten cantus firmus, wenn er aus dem Volkslied
entnommen war, mit seinen eigenen Worten zu geben,
war allgemein gebräuchlich: Es kommt in den früheren
Werken Palestrinas noch vor: z. B. in seiner Messe:
»Ecce sacerdos«. An sich war diese Textm engerei eine
Konsequenz der Mehrstimmigkeit: andre Weisen, andre
Worte! Wie sie heute noch im dramatischen Ensemble
herrscht, war sie die Norm in der Motette des H. Jahr-
hunderts gewesen. Die berühmte Reform der Kirchen-
musik durch das Trienter Konzil suchte vor allem den
hierbei eingerissenen Mißbrauch in der Textbehandlung,
soweit die Komponisten dazu durch die Benutzung von
Volksliedern Veranlassung gaben, zu steuern. Trotzdem
kehrt die Einmischung fremder Worte in den Meßtext und
der Aufbau der Sätze über Volkslieder, auch später, wie
Ambros in seiner > Geschichte der Musik« belegt, ver-
einzelt wieder. Die guten Messen des 4 5. Jahrhunderts
lassen sich jedenfalls mit reinem und einfachem Text
singen. Geschah dies nicht, so war es Schuld der Sänger.
Die Komponisten haben die Aufgabe höchstens hie und
da im Tenor dadurch erschwert, daß sie dessen Sätze
*) Siebe J. Qaadflieg: Über Textanterlage und Textbehand-
lung in kirchlichen Vokalwerken (Haberls Kirchenmusikalisches
Jahrbuch 1903. S. 95. u. ff.).
-U9
durcli Pausen zerreißen. Ein »Qui« fängt an, erst zwölf
Takte später folgt dann »toUis peccata mundi«. Oder aber
sie unterbrechen im Credo von Heiligenmessen durch ein
»Sancte'' ora pro nobisc, wohl auch durch Einschaltung
eines Stückes der dem Festtag gewidmeten Antiphon. Auch
die kontrapunktischen Künste drängen sich bei den frühe-
ren Niederländern noch nicht vor. Der Tenor singt in
jedem der fünf Sätze wieder dieselbe Grundmelodie voll-
ständig durch, im Gloria und Credo sogar zwei- und dreimal,
aber in so breiten Rhythmen, daß sie als Ganzes gar nicht
melodisch wirken kann. So isf s wenigstens die Regel.
Ausnahmen finden sich, wenn in den langen Sätzen der
cantus firmus zum drittenmal angestimmt wird. Da kommt
er gewöhnlich in seiner natürlichen Gestalt, als Solo-
stimme und als Hauptstimme und wirkt durch seinen
geistigen Gehalt unmittelbar. Im allgemeinen aber wurde
diese Grundmelodie in erster Linie als technisches Gerüst
der Komposition verwendet, in zweiter gab sie motivisches
Material für die kontrapunktierenden Stimmen ab. Die
Melodien, mit denen der Sopran die Hauptsätze anfängt,
sind dem cantus firmus fast immer wörtlich oder häufiger
durch Umb&dungen entnommen. In D u f ay s Messe über »Se Dnfay.
la face ay pale« heißt die erste Strophe des Cantus firmus :
A TeBÄR ^ Ihre letzten
^ft."('°'Jirrr'^"ri"^"f
5E Noten kehrt
Ky. ri . e e . lei
(Be la/aceay pa .
son der Komponist
'*^ zu dem Motiv
^
f
JüC.
m
um und mit diesem Motiv an der Spitze
beginnen nun alle Teile entweder mit:
oder mit:
iiitnurpiii ri|ijE,|«i^i pjji ^fJUk
Auch Motive aus der Mitte und dem Ende des Grundgesangs
werden von den Nebenstimmen übernommen und verarbei-
tet. So erhalten in der zitierten Messe fast ^ ^
alle Satzschlüsse ein naives Gepräge durch fe ^ j | J:
die Verwendung der Dreiklangsnoten: *'• "* .
— ^ «50- ♦—
Gewiß also ist die Mehrstimmigkeit in den Messen von
Dufay und Genossen sinnvoll und kunstvoll. Aber trotz-
dem ist das nicht der Hauptzug, durch den jene Musik
fesselt und musterhaft wirkt. Sondern der liegt, wie schon
erwähnt, in der Melodik der einzelnen Stimmen. Aus
diesen langen, schönen Gängen strömt eine Fülle von Fan-
tasie und Empfindung; natürlich und einfach setzt sich Ton
an Ton und doch in lauter gewählten, mit immer wieder
überraschenden und eigenen Wendungen. Es ist, als wolle
dieser Dufay der neuen Zeit noch einmal den ganzen Wert
der früheren Kunst zeigen, den Segen der tausendjährigen
Arbeit um die Ausbildung des unbegleiteten einstimmigen
Gesangs, der sich in dem Namen »Gregorianischer Choral«
birgt. Die neuen Mittel verwendet er schlicht und sekundär,
aber nichtsdestoweniger oft mit durchschlagender Wirkung.
Am erstaunlichsten da, wo er den Vortritt im Ensemble
wechseln läßt. Es sind fast immer Augenblicke köstlicher
Spannung, wenn die neue Führerin einsetzt! Auch seine
Nachahmungen, insbesondere die zahlreichen Kanons ha-
ben den Reiz der Ursprünglichkeit und entsprechen dem
unwillkürlichen Verlangen des Zuhörers, einem schönen
Gedanken nachzusinnen. Ebenso ist seine Harmonie, wo
sie von der Ruhe und dem Zusehen zur Tätigkeit über-
geht, Ausdruck inneren Lebens. Sie unterstützt die Be-
tonung der führenden Stimme und die Wiedergabe der
Stimmung. Dahin gehören auch die zahlreichen Akkord-
schlüsse ohne Terz. Ihre geschlechtslose N|itur schärft
namentUch am Ende großer Sätze den Eindruck einer
erhabenen Gottes Verehrung. Nimmt man hinzu, was Du-
fays Messen auch, für die Vergrößerung der Satzformen,
somit für die Erweiterung des musikalischen Gedanken-
lebens bedeuten, so ergibt sich, daß er als ein Meister
erster Ordnung zu betrachten und zu behandeln, als solcher
aber in dei^ musikalischen Geschichtsschreibung, ge-
schweige denn in der Praxis, noch nicht zu seinem Rechte
gekommen ist. Er leidet immer noch unter dem Irrtum
des Hermann Fink und des Goclicus, die ihn bekanntlich
unter die Mathematiker gestellt haben. Die österreichischen
\
Denkmäler der Tonkunst haben sich darum durch den
Druck zweier vollständigen Messen Dufays ein Verdienst
erworben*). Mit der ersten, der hier eben behandelten über
>Se la face ay pale«, teilt die zweite, die sog. Caput-
Messe a. d. Jahre 4 463 den formellen Aufbau der Sätze
über denselben cantus firmus, ein Lied, oder ein Hymnus,
von dessen Text nur das erste Wort »caputc feststeht.
Ferner fangen auch in ihr alle Sätze mit dem gleichen
Motive an und drittens ist die oberste Stimme wieder in
einem Grade Hauptstimme, daß viele Stücke wie beglei-
teter Sologesang wirken. Neu ist aber, daß an ihrer Be-
weglichkeit und Bevorzugung auch der Alt (Contra I) teil-
nimmt. Von der ersten weicht die zweite Messe weiter
darin ab, daß sämtliche fünf Abteilungen und auch ein-
zelne Unterabteilungen zweistimmig (Sopran und Alt)
beginnen und erst nach 4 6 oder mehr — einmal nach
40 — Takten der cantus firmus (Tenor) nebst unterster
Stimme (Contra II) und damit der volle vierstimmige Chor
einsetzt. Auch dkrin unterscheidet sich die Caput-Messe
von der vorigen, daß die Motive des durchaus gesanglich
und flüssig gehaltenen cantus firmus nur wenig für die
Kontrapunkte benutzt werden und daß Nachahmungen
spärlich auftauchen. Die Arbeit zeigt also wenig hohe
Kunst, aber um so mehr Andacht und Hingabe an den
Text. Hierin ragen besonders das Christe eleison, das
Qui tollis, Crucifixus, Benedictus und im allgemeinen die
Stellen hervor, an denen Demut und Bitte herrschen.
Unter den an derselben Stelle mitgeteilten Bruchstücken
aus. Messen Dufays fesselt am stärksten ein Gloria mit der
Bezeichnung »ad modum tubae«. Die beiden obern Stimmen
(Sopran) singen im Kanon breite Melodien über den liturgi-
schen Text, die zwei Unterstimmen werdeirgeblasen und lö-
sen einander mit dem Ostinato-Motiv c cg | c g | ab. Das Kunst-
stück erinnert etwas an die berühmte vox regis des Josquin,
in der Wirkung gleicht es einem Gesang mit Glockengeläute.
*) Denkmäler der Tonkunst in Östeneicb. Siebenter und
neunzehnter Jahrgang.
—^ 152 ^—
Die Trienter Handschriften, denen die Österreichischen
Denkmäler die Dufkyschen Stücke entnommen haben,
enthalten noch sehr viele Messen des 4 5. Jahrhunderts,
darunter neben Arbeiten von Dunstable, Binchois und
Ockeghem auch solche von ungenannten Komponisten.
In letztere Kategorie hineinzublicken, hat ein großes
Interesse. Denn sie bildet in der Regel die Folie zu
den Meisterwerken und enthüllt Können und Methode
des Durchschnitts. Es ist daher sehr, willkommen, daß
die genannten Denkmäler auch drei Messen aus dieser
Klasse veröffentlichten*). Sie haben alle drei als can-
tus, firmus das im 4 5. Jahrhundert sel^r beliebte Lied
>0 rosa bella*; die erste und zweite ist im dreistimmigen,
die dritte, hiernach wohl die jüngere, im vierstimmigen
Satz durchgeführt. Auch diese Messen schöpfen noch
aus der melodisch reichen Vergangenheit, aber sie stehen
in der Kunst, Maß zu halten, unendlich weit hinter
Dufay zurück. In diesem Stimmkolleg versteht niemand,
sich unterzuordnen, die besten Gedanken Verden durch die
geschäftigen Begleitstimmen und ihre unruhige Harmonie^
meistens verdorben. Die dritte Messe wird außer nach
dem Trienter Codex noch in einer zweiten, einer Mode-
neser Handschrift entnommenen Lesart mitgeteilt. In der
ersten setzt die 0 ,|. ,, i r-, ■ r-.i i 1 R n ^^ ^^^
oberste Stimme ^V j J* Jj J JJlJ J f'^JJ l Modene-
das Kyrie mit: *^ Ky.ri'T ~ . .^« ser mit:
Q \ . , I _-, , I u. k I ■ ^i^ uiid so bis ans Ende des
ro ^'' j^ J J JD I J« J^f JU I Agnus weiter. Vielleicht sang
J^y-" • • - ® man die Melodie auch in Mo-
dena so, wie man sie in Trient schrieb. Daß aber die
Trienter Handschrift die Existenz der später als »wesent-
liche Manieren« allgemein gebräuchlichen melodischen
Improvisationen, aus denen der begleitete Sologesang
mit hervorging, schon für das 15. Jahrhundert nachweist,
ist wichtig.
Ookegbem, Daß mit Ockeghem eine Verschiebung der Satz-
") Denkmäler der Tonkunst in Österreich. Elfter Jahrgang.
—^ 103 ♦—
technik zu Gunsten verwickelterer Nachahmungen und
eifrigerer Ausnutzung von Themen und Motiven eintritt,
ist unbestreitbar. Ookeghem bewegt sich in diesem Stil-
gebiet mit einem zuweilen dem Übermut nahen Selbst-
bewußtsein und Kraftgefühl und würde sich darüber ge-
freut haben, daß die Theoretiker seit Glarean immer
wieder diese Seite seiner Kunst betont und mit Beispielen
aus seinen Messen belegt haben. Sie ist aber trotzdem
nicht die wesentliche, und Josquin hätte die schöne
»Deploration« auf den Tod-Ockeghems nicht komponiert,
wenn Ockeghem sich nicht tief ins Herz und ins Gemüt
seiner Zeit eingesungen hätte. De Lange, auch Aver-
kamp haben mit den Aufführungen Ockeghemscher Sätze
die Gegenwart hierüber wiederholt belehrt, und seit kurzem
liegen endlich auch zwei vollständige Messen Ockeghems
im Neudruck vor*). Die erste zwingt, weil ihr cantus
firmus ebenfalls aus der Melodie des »Caput usw.« be-
steht, zum Vergleich mit Dufay. Dabei ergibt sich als
hauptsächlichster äußrer Unterschied, daß der^weistimmige
Satz zu Gunsten des vierstimmigen beschränkt ist. An
planmäßiger Führung der Stimmen, Ausnutzung der Motive,
an sinnvoller Kunst bietet sie sehr wenig; mit Ausnahme
des weichen und vertrauensvollen Kyrie ist sie auch an
Stellen zwingenden Ausdrucks sehr arm. Der einzige eigen-
tümliche Zug, der durch die ganze Messe festgehalten
wird, besteht in einer Schrulle : der cantus firmus setzt im
Schlußtakt der einzelnen Sätze unerwartet nach kürzeren
und längeren Pausen noch einmal mit dem Grundton ein.
An Gehalt steht diese Caput-Messe tief unter der des
Dufay. Sie kann kaum echt und nicht die Frucht dessel-
ben Baumes sein, von dem die an derselben Stelle ver-
öffentlichte Serviteur-Messe Ockeghems stammt. Dort
die tastende Mittelmäßigkeit, hier der Meister, wie er in
der Geschichte seit Jahrhunderten gelebt hat. Schon im
ersten Kyrie beginnen die Nachahmungen und Kanons und
durchziehen nun alle Sätze des Werks in wechselnder
♦) Denkmäler der Tonkunst in Österreich, Jahrgang XIX.
Gestalt, im Einklang, in der Oktave und der Quint, hie und
da auf lange Melodieperioden, häufiger auf kurze Motive
gestellt, hald auf zwei Stimmen beschränkt, bald von allen .
vieren eng hintereinander aufgenommen. Wir stehen vor
einem Künstler, der die Form in der Gewalt hat und durch
sie fesselt Diese Form aber belebt ein Geist von ent-
schiedener Eigentümlichkeit, eine überraschend leidenschaft-
liche und feurige Auffassung des Textes, die sich mit
Vorliebe rhythmisch äußert. Die dunkle Glutj die so oft
die Musik dieser Messe durchleuchtet, beruht in den meisten
Fällen auf dem einfachen Mittel einer Ausweichung nach '
dem unteren Halbton. Namentüch der Schluß des Gloria
wirkt dadurch erhaben, auch die zahlreichen Einschnitte
steigern die Feierhchkeit. Das an Kanons besonders reiche
Credo bringt diesen Schluß ziemlich wörtlich wieder. Im
Sanctus überrascht der Einsatz des Osanna mit einem
naiv weltlichen, an leicht beschwingten Reigen «mkhngenden
Ton. Das durch Innigkeit ausgezeichnete Agnus Dei greift
am Ende abrundend auf den Schluß des Kyrie zurück.
Der gleiche Band der Österreichischen Denkmäler bringt
über das Lied vom »Serviteurc noch eine zweite Messe
von einem ungenannten Komponisten, der dem Stil nach
der Übergangszeit zwischen Dufay 'und Ockeghem anzu-
gehören scheint. Sie ist nur dreistimmig, ziemlich kraftlos,
im Ausdruck ungleich, aber durch die reichere Verwendung
sogenannter Sequenzen im Melodienbau bemerkenswert.
Der letzten an derselben Stelle veröffentlichten, ebenfalls
dreistimmigen Messe, deren Komponist wieder unbekannt
ist, liegt als cantus firmus ein hübsches deutsches Lied von
der »grünen Linde« zugrunde. Im »Confiteor« stimmen
es die drei Stimmen im unverfälschten Volkston an. Es
ist aber auf den Stil der ganzen Messe etwas vom Wesen
des Volksliedes übergegangen, besonders eine ungewöhn-
liche Knappheit der Perioden und Einfachheit des melodi-
schen Ausdrucks. Im Gloria und Credo verzichtet der
Komponist fast auf alle Melismen, weiß aber auch hier mit
sinnigen Nachahmungen zu fesseln. Die merkwürdigste
Stelle ist das »Et homo factus est«. Sie ist syllabisch und
homophon gesetzt, aber Fermaten über jedem Akkord be-
kunden das Wunder und die Ergriffenheit.
Ockeghems Messen sind von dem der Entstehungszeit
nähen Verlag nicht und erst seit Glarean von den Theore-
tikern beachtet worden*).
Sein Nachfolger Jakob Obrecht ist dagegen gleich obreoht
in den ersten Meßdrucken Petruccis und den weitem
Sammelwerken verhältnismäßig reich vertreten. Dem ent-
spricht es, daß die »Vereeniging voor Noord-Nederlands
Muzickgeschiedenis« seit Jahren mit einer auf zwanzig
Werke berechneten Gesamtausgabe der Messen Obrechts**),
die gegenwärtig bis zum i 5. Stück gediehen ist, vorgeht. Da
erregt im ersten Band die Messe über »Fortuna desperata«
das Interesse, weil ihr noch heute eine große geschicht-
liche Bedeutung als Denkmal einer Übergangszeit zukommt.
Sie weist deutlich mit einer Menge schön geschwungener,
stimmungsmächtiger, klar und frei dahinziehender Me-
lodien auf Dufay hin. Die schönsten stehen im Credo
beim »Deum verum«, beim »Confiteor«, dann im »Pleni
sunt coeU« und im zweiten »Agnus Dei«. Der Sinn
für die gewaltige poetische Wirkung der einzelnen
Stimme äußert sich bei Obrecht zuweilen ganz originell.
Eine Hauptstelle dieser Art ist das Osanna, wo der Tenor
ganz unerwartet in den Akkord der anderen dreimal das
»in exelsis« hineinruft. Mit der Schule Ockeghems hat sie
die fugierenden Satzanfange und eine Reihe von Kunst-
stücken gemein, die ausnahmsweise sich auch einmal
dem Barocken nähern. Das Äußerste ist in dieser Be-
ziehung im Benedictus getan, wo die Oberstimme des
»qui venit in nomine Domini« siebenmal, immer von
demselben Ton aus ansetzt. Das erstemal heißt es:
ji -J»J J I „^, das zweitemal: ^.JjJ JJ J^
*) Über Münchner Aufführungen Ockeghemscher Messen unter
Lasso siehe Jahrbuch der Musikbibliothek Peters 1910, S. 55.
♦♦} Unter Leitung von Professor Dr. Johannes Wolf,
-^ 4 56 ♦—
und so geht es allmählich die ganze Skala hinab in immer
längeren Strecken, bis endUch das kleine f erreicht ist.
Dazu kommen aber ganz neue Stilprinzipi^n; das wich-
tigste ist die Wirkung mit Kontrasten: Feierliche, breite
Rhythmen wechseln mit kurzen, lebhaften, und ähnlich löst
homophoner Vollklang des ganzen Chors häufig plötzHch
einzeln singende Stimmen ab. Man trifft auch Steige-
rungen im Ausdruck durch das später so allgemein ange-
wendete Mittel der Sequenz. Besonders schön wirkt hier-
durch das >misererec im zweiten Agnus Dei. Hier folgt auch
der Steigerung der Gegensatz der Abtönung. Die Messe ist
nicht bloß ein Denkmal der Zeit, sondern mehr noch zeigt
sie den besonderen Komponisten als eine durchaus selb-
ständige, bedeutende und liebenswürdige Persönhchkeit.
Eine Neigung zur Überschwenglichkeit ist ihr markantester
Zug. Aus ihr kommen die freudevollen Wiederholungen
naiver Motive, die sich durch alle Sätze ziehen. Einer
rechnerischen Kunst ganz fremd sind sie nur der Begeiste-
rung und Kindlichkeit möghch. Im q j. jr_ " _ . jr
dritten Agnus Dei singt der zweite Te- fef^rTl' Tp^
■rtfw oi rt 11 nrl7tirnn viermal 1iint«»rckinaTir1ar • V ' ' <•
nor einundzwanzigmal hintereinander:
und sonst nichts. Eine Schwäche der Messe hegt in der
Menge und Gleichheit der Kadenzen. Die Wirkung scheitert
aber hieran nicht. Schwierig wird sie durch die Besetzung.
Der Alt, der ihre höchste Stimme bildet, ist ein Männer-
alt. Wir werden um solcher Werke willen die Kunst des
Falsettierens wieder lernen müssen.
Die weiteren, mittlerweile neu veröffentlichten Messen
Obrechts überraschen äußerlich dadurch, daß in jeder der
cantu$ firmus anders behandelt ist. In der einen erscheint
er vollständig, in der anderen stückweise, bald dienen
seine Motive dem Ausdruck, bald vermag sie das Ohr
überhaupt nicht zu fassen. Das Vorrecht des Tenors ist
grundsätzUch gebrochen, und besonders zahlreich sind die
Stellen, an denen die Grundmelodie von der Oberstimme
in langen, breiten Noten vorgetragen und von den Begleit-
stimmen iii bewegten Rhythmen umkreist wird. Sie weisen
sowohl auf den Gemeindegesang, wie auf die spätere Kunst-
r
form des »Chorals mit Motiven« hin und bilden einen der
volkstümlichen Züge, die in der Kunst Obrechts mehrfach
hervortreten. Zu ihnen gehören auch di6 Parallelbewe-
gungen, die in jeder Art von mehrstimmigem Satz bei ihm
häufiger sind als bei seinen Vorgängern, ganz besonders
aber äußern sie sich in seiner exemplarischen Neigung zu
^ melodischen Sequenzen. Nur ausnahmsweise beruhen sie
auf Übermut oder gar Lässigkeit, meistens sind sie der Aus-
druck kühner, schwärmerischer, inbrünstiger Empfindung,
üriter den weiteren formellen Neuerungen Obrechts ist noch
die Zurt^ckstellung des ungeraden Taktes zu erwähnen, in
einzelnen Messen nimmt er mit einem ganz bescheidenen
Anteü vorlieb, in anderen steht er mit dem geraden gleich.
Die musikalisch geistige Bedeutung der neu veröffent-
lichten Obrecht-Messen ist verschieden, aber keiner fehlt
in der Auffassung größerer oder kleinerer Textgruppen
der Stempel einer phantasiereichen und trotz der reichen
Verwendung zeitücher Formeln ursprüngUchen Persönlich-
keit. In derMissa »Je ne dem an de«, wo im Kyrie und
Gloria schon die leittonlosen Schlüsse so eigen wirken,
tritt sie zuerst mächtiger beim Qui tollis mit der Über-
schwenglichkeit der vom Tenor und Alt gebrachten Se-
quenzen hervor: Beim Et incarnatus überrascht der Auf-
schwung, mit dem das De spiritu sancto einsetzt, beim
Confiteor der schwere Ernst des Bekenntnisses, im Agnus
Dei die Bedrücktheit der immer nach unten fallenden
Melodie, beim Qui tollis peccata mundi die Feierlichkeit
der langgehaltenen Akkorde. Mehr als diese knüpft die
folgende, die wohl nach der griechischen Herkunft ihres
cantus firmus als MissaGraecorum bezeichnete an den
Stil der Vorzeit an. Ihren schönen und tiefen Eindruck
bestimmen die in Dufays Art sich vom Stimmennetz ab-
lösenden ausdrucksvollen Einzelmelodien. Zuerst und
am höchsten zeichnet sich hierdurch das Miserere nobis
im Gloria aus und von da ab beruht namentlich die
Schönheit der Satzschlüsse darauf, daß eine rührige Mittel-
etimme in den ausklingenden Chorakkord einen letzten
sindringlichen Spruch hineinsingt In der Auffassung tritt
das Suscipe deprecationem durch den schuldbeladenen
Ton, das Altissimus, Jesu Christe durch die siebenmahge
Wiederholung desselben Motivs^ hervor. Nahe verwandt
mit dieser Stelle ist im Credo das Visibilium omnium.
Am wärmsten kommt das Dankgefühl, das die ganze Messe
durchströmt, im Agnus Dei zum Ausdruck. Beim cum
sancto spiritu (dem Schlußsatz des Gloria) begegnet uns
zum ersten Male die Obrechtsche Eigenheit, wichtige Text-
teile als kurzen Anhang zu geben.
Die MessQ über > Malheur me batc gipfelt im ersten
Agnus Dei, eine der schönsten und frömmsten Komposi-
tionen des Textes. Das Christe eleison, dem ein durch
Kürze und phrygische Bedrücktheit eigenes Kyrie vorher-
geht, zeichnet sich durch den drängenden , Charakter der
Bitte aus. Im übrigen ist diese Messe reicher als andere
an Akkordwirkungen, die bedeutendsten enthalten Credo,
und Osanna.
Auch die folgende Messe, der die Hymne »Salvfe
dive parens« zugrunde liegt, schließt mit einem außer-
ordentlich eindrucksvollen Agnus Dei. Besonders wirkt es
durch die Klarheit, mit der die drei Sätze über den gleichen
Text sich von einander abheben; fragend der erste, zu-
sprechend der zweite, der dritte, in dem zum ersten Male
an Stelle des Miserere das Dona nobis pacem gesungen
wird, im seligen Ton der Erhörung, der Ruhe und des
Friedens. Reicher als andere ist diese Messe an Stellen
ungewöhnücher Textauffassung. Dahin gehört vor allem der
Eingang des Gloria, bei dem die oberen Stimmen gegen die
Starrheit des orgelpunktartig (auf e) festliegenden Basses
fast wild in synkopierten Rhythmen anrüttehir Im Credo
zeichnet sich der Abschnitt von Et incarnatus bis zum
Sepultus est durch eine stille Feierlichkeit aus, zu der das
Qui cum Patre usw. einen sehr kräftigen, eine längere
Strecke als Kanon zweier Bässe verlaufenden Gegensatz
bildet. Im Sanctus äußert sich beim Pleni sunt coeli die
Freude in einem liebenswürdig tändelnden Ton^ von dem
wieder die feierliche Ergriffenheit des Osanna stark absticht.
Das Klangbild des ganzen Werkes erhält sein besonderes
-^ 159 ♦—
Gepräge durjch den ziemlich orgelmäßigen Wechsel von
zweistimmigem und vierstimmigem Satz.
Die Messe »Sub tuum praesidium«, die dreistim-
mig beginnt und siebenstimmig schließt, unterscheidet
sich von anderen durch die durchgehenden motettenartigen,
Uturgiewidrigen Textmischungen. Der erste Sopran singt
in alle Sätze des Ordinariums das Sub tuum praesidium,
andere Stimmen singen weitere Hymnentexte hinein. Hier-
durdi und durch das Vorwalten des ungeraden Taktes wird
es wahrscheinlich, daß diese Messe eine der frühesten
Arbeiten Obrechts ist. Auch^ an Gehalt der Erfindung und
Arbeit steht sie hinter anderen zurück und ist besonders
reich an instrumentalen Wendungen.
Dagegen ist die ihr in der Gesamtausgabe folgende
Messe über das deutsche lied »Maria zart« eine der
bedeutendsten Leistungen des Meisters, besonders ergreift
sie durch den tiefen Ernst in der Textauffassung. Mit
einzelnen Stellen, dem Schluß des Credo besonders, auch
mit den schwärmerisch schweifenden Melodien des Sanctus
schlägt sie hierdurch eine unmittelbare Brücke hinüber
zum 19. Jahrhundert und zu Cherubini. Diesem Sanctus
verwandt und ebenbürtig ist das der Messe >De sancto
Marti no, ihr Agnus Dei dagegen ist vom gleichen Stamm,
wie das in »Salve dive parens«. Zu den leichter wiegen-
den Messen gehört wieder die über »Si dedero«. For-
mell eigen ist ihr die häufig fugenartige Behandlung des
cantus firmus und die Menge instrumentaler Stellen. Die
Messe über » 0 quam suayis est« hat ihren besonderen
Zug in dem lieblichen und fröhlichen Grundton. Nach-
denklichkeit, Ernst und Tiefe, die in ihr auf das Qui toUis
(des Gloria) und das Et resurrexit beschränkt sind, herr-
schen in der nächsten Messe, der über »Sicut spina
rosam« wieder vor. Besonders fallen in ihr die Ver-
wandtschaft von Kyrie und Sanctus und der sehr wirk-
same Kanon bei Ex Maria Virgine (Sopran und Alt) auf.
Zu Obrechts reichsten Leistungen gehören die beiden
Messen über »Ave Regina Coelorum« und über
> Petrus Apostolicus«. Die letztere enthält den an
—-* 4 60 ^^—
Stimmung und Erfindung bedeutendsten Gloriasatz, den
wir von Obrecht besitzen, die andere zeigt die Gegensätze
seiner merkwürdigen und großen Künstlernatur ungewöhn-
lich dicht beieinander. Schon das Kyrie überrascht durch
seine Unruhe und Aufregung. Das Gloria folgt in einer
freudigen Kraft, die beim Laudamus te zu einem förmUchen
Sequenzenerguß führt. Dann setzen beim Domine fili
herrliche und verschiedenthch geformte Kanons dreier
Stimmen ein. Ihr bewegtes Sinnen und Preisen geht beim
Qui tollis in einen durch Ruhe rührenden Ton des Mit-
leids über. Das Credo, das mit dem Gloria gleichlautend
als von Tenor und Baß wiederholter Zwiegesang von
Sopran und Alt anfangt, kargt in dem Abschnitt der
Menschwerdung und der Passion aufs äußerste mit Aus-
druck, um so begeisterter kUngt dann das Et iterum,'bei
cujus regni non erit finis sind sogar — für Obrecht eine
große Ausnahme — malerische Wendungen eingestreut.
AußerordentUch schön wirkt auch das »Et unam sanctam
catholicam ecclesiam«, das ist unverkennbar der Ton der
innigsten liebe und Hingabe. Im Sanctus, das mit einem
gewissen Eigensinn an bestimmten Formeln festhält, ent-
faltet die Musik ihr Herz heiid Osanna. Der Kanon, den
hier die beiden Mittelstimmen ausführen, ist eine der
schönsten und wärmsten, Sopran und Baß scheinen in-
strumentale Begleitstimmen zu sein.
Das vorläufig letzte Stück der Gesamtausgabe, die
Messe > Adieu, mes amoursc, der das Kyrie, das
Benedictus und das Agnus Dei fehlen, neigt zu einem
gleichmäßig vollen Satz, bevorzugt in ihm auffällig die
oberste Stimme und tritt nach Kunst und Ausdruck unter
den /Werken des Meisters zurück.
Der Hauptwert von Obrechts Messenschatz liegt darin,
daß in den besten Stücken außer der reichen und eigenen
Persönlichkeit des Komponisten sich auch die Stimme einer
musikalisch bedeutenden und besonderen Zeit ausspricht.
Der reiche melodische Segen der gregorianischen Periode
lebt in ihnen nochmals auf und gelangt durch die neu
hinzugetretene Kunst, insbesondere die des kanonischen
Satzes zu gesteigerter Geltung. Etwas geschichtlichen
Sinn verlangt allerdings die Obrechtsche Kunst. Wer sie
voll würdigen will, muß auf die harten Dissonanzen und
die scharfen Sprachmittel der neueren Musik verzichten
können, muß sich in den religiösen Geist des Mittelalters
und sogar in die weiten Domeshallen zu versetzen wissen,
für die diese Messen geschrieben wurden. Auch ihre
lebensvolle Aufführung begegnet heute beträchtlichen
Schwierigkeiten bezüglich der Besetzung und des Vortrags.
Mit Ausnahme von »Malheur me batc und »Salve diveparens«
schließen sie die Mitwirkung von eigentlichen Sopranstim-
men aus, verlangen überall Sänger mit leichter Technik
und vollendeter Beherrschung des melodischen Ausdrucks,
hie und da deren Ersatz durch Instrumente.
Von Dufay bis Obrecht ist die Vokalmesse wesentlich
Solistenmesse, am besten mit einem Terzett, einem Quar-
tett vollendeter Gesangskünstler zu besetzen. Nach Obrecht
wird sie allmählich Chormesse, Chor nicht im heutigen,
sondern im Sinne des i 6. Jahrhunderts verstanden. Zum
vorläufigen Abschluß gelangt dieser Prozeß mit Jos quin JoBquin de Pr6s.
de Pr6s. Er ist den modernen Chorvereinen bekannter.
Mit seinem großen »Stabat mater« hat seiner Zeit Carl
Riedel in Berlin und Dresden große Erfolge gehabt. Sie sind
auch den beiden Messen »Pahge lingua« und »l'homme
arm6«, den einzigen, welche bis jetzt im Neudruck voll-
ständig vorliegen (Ambros, Gesch., 5. Bd., und Eitner, Publi-
kationen usw., 6. Bd.), sicher. Bei den Kennern gelten sie
als die bedeutendsten unter den ungefähr zwanzig Messen,
welche von Jos quin erhalten sind (alte Drucke: Petrucci,
Petrejus), und bringen die eigentümlichen Züge des Mei-
sters zu deutlicher Anschauung, dessen Kunst Dr. Martin
Luther dem Lerchenschlag zu vergleichen pflegte, dem
seine Zeit ohne weiteres jedes schöne Stück Musik, des-
sen Autor nicht genannt war, zuschrieb. Noch stärker
als bei Obrecht treffen wir in diesen Messen jene herz-
liche Naivität, jene Neigung zum Genre und zur Natur-
idylle, die die Tonsetzer der Niederlande mit den Malern
ihrer Heimat teilen. Im zweiten Kyrie und auch im
— ^ 462
Gloria von »Fange lingua« kommen wir an Stellen, wo
die Musik plötzlich, wider den üblichen Brauch, sich auf
einem freundlichen Motive festsetzt und in seligem Be-
hagen die liebe Wendung, stehen bleibend, auf- und ab-
steigend, wiederholt. Es wirkt wie ein Anklang von
Wiegengesang und fernem Glockerigeläute. Viele rührt
diese trauliche Einmischung einfach menschlicher Poesie
und erinnert sie an die vorraphaelischen Maler der
heiligen Geschichte, die gelegentlich dem Christkind
drollige und harmlose Kinderstreiche anzudichten pflegen.
Daß aber ein solcher Abfall vom strengsten Stile mit
sehr scharfen Augen angesehen und hart verdammt wer-
den kann, lehrt ein Blick in den Artikel, welchen das eng-
Usche Musiklexikon von Grove über >Maß« bringt. Diese
freundlichen Episoden in den Messen Josquins sind doch
etwas ganz anderes als die fröhliche Kirchenmusik
Haydns. Es sind Äußerungen jenes »übersprudelnden
Genies«, von dem Glarean spricht. Dann wirft aber Jos-
quin in den munteren Fluß seiner Chorstimmen wieder
Sätze von einer schauerlich erhabenen, ruhigen und
dunklen Feierlichkeit, wie das »Incarnatus est« im Credo
von >Pange lingua«*). Dieses »Incarnatus« fst im Zu-
sammenhang zugleich ein Beispiel für die Meisterschaft,
mit welcher Josquin die Mittel des Chores zu großen
Wirkungen verwendet. Daß seine zweistimmigen und
dreistimmigen Sätze z. B. in dem Agnus seiner Messe
»l'homme arm^« nicht immer formell vollendet sind, war
schon dem i 6. Jahrhundert klar. Aber der Eintritt seiner
Chorregister wirft stets schlagende Lichter auf den Text.
Die Messe »Fange lingua« kann noch dazu dienen, zu
zeigen, wie die Tonsetzer jetzt den cantus firmus ergiebiger
ausnutzten. Der Anfang der Ritualmelodie der Hymne
. r-^ r^ steht am Eingang aller
^ii J I j J J J I J"7^ [M Hauptsätze, melodisch
Pan-ge lin-gua gio-ri - o - sa Und rhythmisch jedesmal
frei behandelt, von den vier Stimmen des Chores in
*) Für sich gedruckt auch bei Rochlitz.
—^ 463 ^>>—
Nachahmungen durchgeführt, ähnlich also, wie es schon
Dufay, Ockeghem und Obrecht hielten. Aber Josquin ver-
wendet die Nebenmotive eifriger und wirksamer als seine
Vorgänger. Hier sind es die unter a und b eingezeichneten
Melodieteile. Der Hymnus gibt somit der ganzen Messe
ihre Signatur und einen hohen Grad geistiger Einheit.
Daß heute auch Musiker und Musikfreunde, ohne
Spezialisten der Mensuralforschung zu sein, sich über
die weitere Entwicklung der Niederländischen Messe ein
Bild machen können, haben J. v. Maldeghem und H. Expert*)
dadurch ermöglicht, daß sie in ihren Sammelwerken von
P. de laRue, J. F6vin, J. Mouton, Ph. Rogier, Fr.
Säle je eine, von Ant. Brumel, J. de Cleve je zwei,
von Jacob de Kerle sechs und von Philipp de Monte,
acht vollständige Messen veröffentlichten. Die Lücke, die
in dem allgemein zugänglichen Anschauungsmaterial zwi-
schen Josquin und Lasso bestand, ist mit Hülfe dieser
Steinchen nun einigermaßen passierbar, und von den
sich bietenden Beobachtungen hat wenigstens ein Teil
allgemeine Gültigkeit.
Josquins Auftreten brachte Unruhe in die Nieder-
ländische Kunst. Das melodische Prinzip ändert seinen
Charakter und seine Stellung. Die Volksmusik drängt
sich mit ihren kurzgeschürzten Weisen heran, die präch-
tigen langen Melodien werden seltener und wollen nicht
mehr recht gelingen. Neben der melodischen versuchen
es einzelne Tonsetzer mit iei akkordischen Wirkung oder
mit Ansätzen dazu. Um die Mitte des 16. Jahrhunderts
erfolgt dann die Reaktion: Riickkehr zur Polyphonic^ und
da beginnt allerdings die Übertreibung, die mit Unrecht
der ganzen Niederländischen Schule, auch der Zeit der
Dufay, Obrecht, Josquin vorgeworfen wird.
Die Zusammenstellung der gemeinsam singenden
Stimmen büßt an Übersichtlichkeit ein, alle möch-
ten zugleich Hauptstimmen sein. Die Unfähigkeit zur
*) A. J. ▼. M&ideghem: »Ti^sor Mu8ical«^und Henry Expert:
»Maitres Musioiens de la Renaissance fian^aise«.
ii*
464
Unterordnung wächst mit der Zahl der verwendeten Stim-
men. Man überladet namentlich die fünfstimmigen Sätze
so mit kunstvollen Kombinationen, daß eine die andere
erdrückt. Auch Themen und Motive, die zum erstenmal
aufgestellt werden, die überhaupt wenig eindringlich sind,
kommen sofort in Engführungen aller Stimmen und es
wird allmählich zur Regel, daß die Komponisten ihre
Einfälle in erster Linie auf die kontrapunktische Ver-
wendbarkeit hin prüfen. Die Durchschnittskomposition
des 1 6. Jahrhunderts wird wirklich und besonders in der
Messe von einer Polyphonie beherrscht, die nicht auf das
Konto der Renaissance, sondern auf das der Scholastik
gehört. Die krankhafte, maßlose Sucht nach Tiefsinn
charakterisiert sie.
Doch konnte dieser polyphone Überschwang sich auf
die Dauer nicht allein behaupten. Vor allem ließen sich
diejenigen Klangphänomene und Ausdrucksmittel nicht
abweisen, die sich unwillkürlich eingebürgert hatten^
seit man mit mehr als drei Stimmen arbeitete: Grup-
pierung, Antiphonie, völler Akkordsatz. Auch die nähe-
ren Zeitgenossen Josquins bringen sie. J. F4vin führt
in der Messe über »Mente tota« mit Teilung und Samm-
lung der Chorgruppen ein System durch: Sopran und Alt
beginnen, Tenor und Baß folgen, der vierstimmige Chor
schließt die Abschnitte. Gar zu oft wiederholt, wie im
Gloria, wirkt dieses Verfahren mechanisch, maßvoll an-
gewendet belebt es Geist und Fotm. Auch im gleich-
zeitigen Chorlied ist paarweises Ablösen und Zusammen-
gehen der Stimmen beliebt. Brümel greift in die alte Zeit
der , Fauxboudons damit zurück, daß er ganze Textzeilen
schlicht auf den Akkord hin deklamiert, genau so wie es
in der gleichzeitigen Motettenpassion und wie es in der
Psalmenkomposition noch später üblich ist.
Zu einer Umbildung des Niederländischen Stils von
innen heraus führten allerdings diese Methoden nicht,
seine Herrschaft wurde von außen her gebrochen durch
die Venetianische Schule Willaerts und ihren sinnlich
zwingenden Effekt der Wechselchöre. Daß die alte
— ^ 165 *—
Polyphonie zeitweilig bereit war yqx dieser neuen Kunst
gänzlich abzudanken, zeigt sehr interessant die Messe
»Exultandi tempus« von Fr. Säle, die gegen 1589 in Hall F. Säle,
(bei Innsbruck) geschrieben worden ist. Darin ist nur das .
Christe eleison Niederländisch, den übrigen Text tragen zwei
Chöre antiphonisch, von vier zu vier oder sechs zu sechs
Takten wechselnd, an den Hauptstellen zusammentretend,
vor. Liedergeist beherrscht die Melodik, die Harmonie be-
wegt sich im einfachen akkordischen Satz. Weil aber in
Hall die Gesangkräfte nicht zur Bildung zweier eben-
bürtiger fünf- und sechsstimmiger Chöre ausreichten, be-
setzt Säle den ersten nur mit drei oder vier Solisten, die
mit Orgelbegleitung singen. Wieder einmal ein Stück
Vorgeschichte von Monodie und Generalbaß! Das Prin-
zip der niederländischen Polyphonie vollständig fallen
zu lassen, hinderten zwei Tatsachen: Die natürliche Be-
rechtigung, die es für jede Art von Mehrstimmigkeit immer
wieder erweist^und die ausgezeichneten Leistungen, welche
die Schule auch noch in der nach Josquin beginnenden
Obergangszeit hervorgebracht hatte.
Solche Meistersätze sind in Brümels unbenannter A. Brtimel.
Messe das Gloria, das Credo und das Osanna. Allerdings
wird in ihrem Kolorit, in der äußerlichen Malerei ein-
zelner Wortbegriflfe, die Berechnung bemerkbar, aber im
Ganzen sind diese Kpmpo'sitionen Produkte einer feurigen
Empfindung, die unwillkürlich originell gestaltet. Die zu-
weilen, namentlich an Hauptschlüssen, echoartig gedach-
ten Wiederholungen gelungener Stellen zeigen das im
kleinen; die Wirkung im großen beruht auf der Energie,
mit der Brümel besondre bedeutende Motive dem Hörer
einprägt^ und auf der Einheithchkeit des technischen Mate-
rials. Im Credo ist sie am gewaltigsten: ein kurzer, freu-
diger Tonspruch durchklingt die verschiedensten Vor-
stellungen.
In Brümels Messe »de Beata virgine« ist der Schluß-
teil vom Sanctus ab für Aufführungen im geistlichen Kon-
zert durch sofort und allgemein verständliche Schönheit
sehr geeignet. Das ist eine Musik im Munde seliger Engel
— ^ 166 ^—
gedacht. Sie schweben im Chore daher, sie teilen sich
und vereinen sich wieder. Sie schwelgen in schwärmeri-
schen, überschwenglichen Melodien, die an Dufay er-
innern, aber die alte Form der bicinia ist durch einen
neuen, Sequenz und Steigerung reichlich verwendenden
Periodenbau verjüngt. Auch die vorderen Sätze dieser
Messe sind dadurch ausgezeichnet, daß sie bei kunst-
vollster Technik übersichtlich bleiben. Das ganze Werk
gehört zur besten niederländischen Kunst. Die »Ave
P. delaRue. Maria« -Messe P. de la Rue's bereichert das heutige
Bild der Zeit Josquins nach einer andern Richtung. Sie
weist besonders deutlich auf den Einfluß hin, den die
Volksmusik auf die geistliche Komposition nahm. Er
äußert sich hier architektonisch in den liedmäßigen
Wiederholungen kleiner Abschnitte, in dem Festhalten
plastischer gewinnender Motive, noch mehr aber melo-
disch und rhythmisch in der Hinneigung zu großen unge-
wöhnlichen Intervallen und zu symmetrischen Taktformen.
Das Gloria hat zeitweilig die Entschiedenheit eines Mar-
sches. Dabei läßt de laRue keinen Zweifel darüber, daß
er die hohe Kunst versteht; aber er bringt auch die
schwierigsten Nachahmungen zu klarer Wirkung und er-
findet originell.
J. F^Tin. J. Fövins Messe über »Mente tota«, deren Eigen-
heiten der Stimmführung schon erwähnt wurden, zeigt
diese volkstümliche Richtung eben- p 1 1 J. | J 1 1 J i
falls, am stärksten in den zweistim- ^tf pT'rrr l P"
migen Abschnitten. Themen wie: '
sind da die Regel und auch die Nachahmungen steuern
kurz J iJ I. *^^ einfachste Verständlichkeit
und fe^ ^' g|^^'»r Jl ^^°* ^^ ^®* wirklich Renaissance-
ßut: •y^ r'rn r' aeist. da ist die Nähe Josauins
^ gut: «n*^ r I n r geist, da ist die Nähe Josquins
zu spüren und da beginnt der naive Kirchenton, zu dem
sich mit Händel und Bach das Deutschland des i 8. Jahr-
hunderts bekennt. Wie bei Brümel ist auch an der Archi-
tektur F6vins die Sequenz stark beteiligt.
J. Itootott, Aus J. Moutons Messe »Alma Redemptorisc wäre
den Chören besonders das Agnus Dei zu empfehlen. Es
i
bringt den Text nach dem Brauch des 46. Jahrhunderts
in drei selbständig durchgeführten Sätzen. Der erste be«
ginnt mit der Musik des ersten Kyrie als voller Chor, der
zweite ist Duett, der dritte ein Chorlied von wunder-
schöner Einfachheit, auch in den Nachahmungen lebendig
und auf jene ruhige Andacht abgestimmt, die der Vor-
zug glaubenssichrer Zeiten und Seelen bleibt. Vielleicht
wirkt dieses Agnus noch ergreifender, wenn man ihm
das Kyrie, das Gloria oder das Credo der Me$se voraus-
gehen läßt. Denn in diesen Sätzen zeigt Mouton heißes
Blut, drängt und stürmt vorwärts, immer auf kurze mäch-
tige Kontraste hin. Am bedeutendsten wirkt seine wild-
kräftige Natur im Kyrie. Da wartet er mit dem demütigen
kleinlauten Grundton, den der Text voraussetzt, bis zu
den letzten Akkorden. ,
^u den schwierigeren Proben niederländischer Kunst
gehören die beiden Messen J. deCleves. Die über >Dum J. de GIoto.
transisset« kommt dem Hörer noch etwas durch glückliche
Motive und durch Festhalten an wenigen entgegen, die
andere aber über »Tribulatio et angustia« ist ein Para-
digma für die Exzesse der Reaktion. Der Grundsatz
»Omnes ex una< ist die Seele dieses Kunstwerks; man
freut sich, wenn wenigstens einmal ein zwei- oder drei-
stimmiger Satz kommt
Viel eingängliclier ist Ph. Rogiers Messe über »Jus- Ph. Bogier.
ta stirps- Jesse«. Sie bleibt trotz schwerer Künste meist
frisch und übersichtlich, weil Rogier seine eignen Ein-
fälle ganz hinter den cantus firmus versteckt und dessen
schönste Wendungen immer vorklingen läßt.
Wie unendlich viel wissenschaftlich noch für Auf-
hellung der niederländischen Periode zu tun bleibt, zeigt
sich wieder daran, daß der bedeutendste unter den von
Maldeghem vorgestellten Komponisten -bisher deshalb so
gut wie unbekannt war, weil ihn Glarean nicht kennt.
Nur Proske hat ihn mit zwei kleinen Motettensätzen be-
rücksichtigt, auch bessre Handbücher, wie das von A. von
Dommer nennen ihn nicht; unter den neueren Lexikogra-
phen tritt allein F^tis auf Grund von Notenbekanntschaft
, — * V68 ^ —
J, de Kerle, warm für ihn ein. Es ist Jacob de Kerle, ein Künst-
ler, dessen Wert dem Josquins wenig nachsteht. Nur
liegt er im Stil nicht so offen zutage. Die Originalität
seiner Einfälle ist geringer, sorglose Keckheit ist ihm
ganz fremd. Mit großen Melodien in Dufays Art ist er
ebenso sparsam wie mit vollem Chorklang, er sucht sinn-
liche Wirkungen nirgends auf und hält sich in der Motiv-
, bildung, in Modulationen und Kadenzen in der Regel im
engen Kreise und ans Übliche. In der Regel! Um so ge-
waltiger wirkt er mit den Ausnahmen und fast jeder Satz
seiner Messen enthält solche. Vor allem lassen sie de
Kerle als einen Deklamator bewundern, der mit kurzen,
einfachen Wendungen eigne Bilder hinstellt. Das ge-
waltigste Beispiel von Inspirationsstärke enthält die fünf-
stimmige Messe über: »Resurrexit Pastor bonusc im
Credo beim >Incarnatus est«. Schon die Feierlichkeit,
mit der bei diesem Einsatz die Homophonie wirkt, ist
außerordentlich, noch eindrucksvoller ist die Ausprägung
der beiden Wunder: der unbefleckten Empfängnis (ex
Maria virgine) und der Menschwerdung des Gottessohnes
(homo factus est). An der ersten Stelle bricht die Musik
den Schluß mit einer Generalpause ab, an der zweiten
weicht sie in fremde Harmonie, wie ins Reich des Un-
begreiflichen aus und in ihr singt Stimme nach- Stimme
ergriffen und dankvoll: »Homo factus est«. So wie hier ist
de Kerle überall ein Virtuos der kleinen Mittel. Wenn er
in der Motivbildung weite Intervalle verwendet, wenn er
die Perioden aus häufigeren Wiederholungen desselben
Motivs in denselben Stimmen aufbaut, wenn er die Me-
thode des Zusammenklangs wechselt — stets haben diese
Kleinigkeiten viel für den Ausdruck zu bedeuten. Immer
unterscheiden sich die Abschnitte, die läagern Sätze und
die ganzen Teile der Messen in der Stimmung klar von-
einander, ja auch die einzelnen Messen prägen sich deut-
lich durch einen besonderen Grundcharakter ein. Seine
vierstimmige Messe über ut re mi fa sol la von 1362, eine
der reichsten und geistig bedeutendsten Fantasien, die
über die Skala geschrieben worden sind, ist erregt, die
— ^ 169 ^—
über »Lauda Sion Salvatorem« herb und wie bei ihnen,
drängt sich für jede weitere ein kurzes bezeichnendes
Stichwort auf.
Und doch ist mit all diesem Lob die Hauptseite der
Kunst de Kerles nocji kaum berührt. Sie liegt in der
Reinheit, in der bei ihm das Wesen der niederländischen
Polyphonie erscheint. Auch er kennt und verwendet die
Monaden und Dyaden, die dreißigerlei Arten von Kanons
und beherrscht alle die verschlungenen Wege der Nach-
ahmungen, auf denen seine Landsleute und Zeitgenossen
zuhause sind. Aber er ist nie zügellos und ausgelassen,
sondern immer ein Muster im Maßhalten. Vom Stand-
punkte des kontrapunktischen Technikers kann man
häufig genug bedauern, daß die nachkommenden Stim-
men den führenden nur auf eine kurze Strecke folgen;
vom ästhetischen aus liegt in dieser Beschränkung die
Größe de Kerles. Leicht zu genießen ist er deshalb
noch lange nicht, er mach ts den Hörern sogar schwerer
als Josquin, weil die homophonen und die klanghch
einschlagenden Episoden bei ihm seltener sind. Er setzt
in noch höherem Grade als seine Vorgänger und Neben-
männer Verständnis für das Nachsingen, für das Ver-
weben und Verstellen einfach sinniger Motive und The-
men voraus. Er bedeutet einen Höhepunkt dieser Kunst,
überschreitet aber nie die Linie, bei der die Künstelei
beginnt und ist deshalb mehr als andre geeignet in der
Gegenwart eine Schule zu vertreten, die zur Vertiefung
musikalischen Empfindens außerordentlich viel beige-
tragen hat.
Auch bei de Kerle wird die Aufführung ganzer Messen
nur in Ausnahmsfällen ratsam sein. Wohl aber sollten
auf Bildung bedachte Gesanginstitute Teile aus solchen
in ihre ständigen Aufgaben einziehen. Da empfehlen
sich außer den bereits genannten Bruchstücken beson-
ders noch Gloria und Credo der Messe über »ut re mi«,
Kyrie und Osanna aus der über >Beate virgine«, das
Gloria aus der über »Resurrexit Pastor«. Einen äußern
Eindruck hat man immer sicher, wenn man zu einem
no
Satz aus einem der vordren Teile des Ordinariums das
Agnus Dei fügt. Denn im Agnus treten wie bei den
Messenkomponisten des i 6. Jahrhunderts gewöhnlich neue
Stimmen hinzu. Kleine, auserlesene Männerchöre seien
auf die Messe »Regina coelic verwiesen.
J. de Kerle steht außerhalb der Sphäre Josquins.
Er ist von ihrer Volksfreundlichkeit, aber auch von dem
Wirrwarr, der ihr folgte, unberührt geblieben und hat
als maßvoller, aristokratischer Vertreter späterer nie-
derländischer Kunst kaum seines gleichen. Auch der
Pb. de Monte, berühmte Philipp de Monte erreicht diese Vornehm-
heit und Abgeklärtheit nur^ ausnahmsweise. Die Mehr-
zahl seiner Messen kultiviert in der Stimmführung die
Kunstfertigkeit auf Kosten von Eindruck und Ausdruck,
das Ohr müht sich meistens mit einem gleichmäßig
dicken, aus langen Themen entwickelten Satz ab, die
nach den ersten Tönen schon in drei-, vier- und fünf-
fache Engführungen verschlungen werden. Das ist der
Stil, der die Messe über »Quomodo dilexi«, auch die
»ad modulum: Benedicta est« beherrscht. ^
Nur ist er in letzterer durch das überall ^ J JJ|^^
durchklingende freundliche Grundmotiv: " «^ ^^
gemildert. Hauptbeispiele dieser papierenen Polyphonie
bietet die Messe »Emitte Domine«. Ihr »Qui tolhs usw.«
beginnt:
i
JSS.
TT.
^
cta
1^
^bf»
f
XE
U
-&»-
:mx.
tf
no . bis
Qui toi . lis pec .
^m
catamunLdi,
mi . 6e.rere
EC
Qui
^^
«-
XE
m
■&*-
£
^
xz
a
^
Qui
ol.ÜB pecca.ta
man
di.
mi . se.re . re
st
^
i
m
no
^^
o «
e
xr
?
t
P
Qui
toi. He pecxata mun.dtiini .
zt
i^
^
8e.re .
. rfr no.
^
—4t k
P
noc
xx:
f rJ
&t
Qui
ol.Iiß,
qui
toUis pec . cata inun.di, ini.M.re
m
^
re no.
2Z
rr
t
w
"■■ ^J
Qui toi . lispeccata mundiinu.M . re.re no.
Auf der andern Seite überzeugt aber auch gerade
dieses Werk vollständig von der Größe de Montes. Ein-
mal durch außergewöhnlich gewaltige, zum andern durch
elementar einfache Stellen herzlichen innigen Ausdrucks.
Das Credo ist der Satz, in dem der Komponist den gan-
zen Reichtum seiner Natur ausbreitet, die höchste Kraft
der Empfindung und Fantasie an der Stelle «Et in unum
Dominum«, die äußerste Zartheit beim »Deum verum
de Deo vero«. Noch stärker als die große vielseitige Be-
gabung spricht aus der Musik de Montes ein romanti-
scher Geist, derselbe, den wir auch aus Lassos Werken
hören, den wir verhüllter auch in den Bildern Dürers
und andrer Reformationszeugen sehen, der in allen inner-
lich erregten Zeiten wiederkehrt. Kein Wunder darum,
daß de Monte und Lasso sich auch in den äußeren
Mitteln begegnen. Romantisch ist bei de Monte die
reiche Modulation, die Wiederholung derselben Worte im
entgegengesetzten Sinn, das plötzliche Wechseln und Um-
schlagen von Stimmung uf d Kolorit, das unvermittelte
Nebeneinander von hell und dunkel; romantisch sind
die Trugschlüsse, die raschen Obergänge von Moll nach
Dur, von polyphoner und homophoner Stimmführung,
die überraschenden akkordischen Akzente. Durch alle
diese Einzelheiten wirken de Montes Messen ausgeprägt
germanisch und eben dadurch kommen sie dem modernen
Empfinden entgegen. Die Probe darauf zu machen, würde
sich am meisten das Incarnatus est und das Agnus Dei
der eben erwähnten Messe über »Emitte Domine«, das
Kyrie und das Agnus Dei aus >Si ambulavero«, das Gloria
und das Grucifixus aus der Messe »Confiteor tibi« eignen.
Für Orlando di Lasso selbst, mit dem die Nieder- Orlando di
länder als selbständige Schule verschwinden, sind wir Lasso,
augenblicklich noch in der Hauptsache auf die »Musica
divina« Proskes und auf Commers »Operum Batavorum
CoUectio« angewiesen.
Orlandos Werke, unter welchen die Magnificats und
die Bußpsalmen am höchsten stehen, sind die Spitzen
gereinigter und neugetränkter niederländischer Kunst.
47« *—
Wenn erst die soeben (ebenfalls von Breitkopf & Härtel) in
Angriff genommene, von A. Sandberger redigierte kolossale
Gesamtausgabe seiner Kompositionen vorliegt, wird des
Staunens über die Vielseitigkeit, den Reichtum und die fast
schroffe Originalität dieser Künstlernatur kein Ende sein.
Namentlich in der weltlichen Vokalmusik wird es Über-
raschungen genug geben. In seinen Mensen jedoch ist er, der
technisch vielseitig und frei über die Stilarten aller Schulen
schaltet, geistig außerordentlich ungleich und oft zur Be-
quemhchkeit geneigt. Die Erfahrung, daß unter den Meister
werken der Vokalperiode, besonders unter den Messen, auch
viele handwerksmäßige Arbeiten unterlaufen, bleibt uns
auch in den Messen Orlandos nicht erspart. Er pflegt allzu-
häufig den trägen Stil der sogenannten »missae familiäres«,
und auf solche Unterlagen gestützt, mag Baini, Palestrinas
Biograph, dazu gekommen sein, den genialen Orlando als
»arm an schönen Gedanken, ohne Seele, ohne Feuer« ab-
zutun. Seine vierstimmige Messe octavi toni (im i . Bd. d.
»M. d.«) ist in ihren ersten drei Sätzen ein solcher dürftiger
Mißwachs: kunstlos in der Form, leblos: alle vier Stimmen
immer Note gegen Note hindeklamiert, im Ausdruck auf das
AUernotwendigste beschränkt, nur hier und da an Stellen
wie »Domine Jesu Chris te« und »et homo factus est« von
. dem Blitze einer großen Fantasie durchleuchtet. Erst von
dem Sanctus an, in welchem die Stimlnen auf Senflschen
Leitern nebeneinander hinauf- und hinuntergleiten, verrät
dieses Werk seinen Meister. Bedeutender ist die Messe über
»Puisque j'ai perdu«, und das bedeutendste Stück, welches
die Proskesche Sammlung von Messen Orlandos bringt, die
über das Thema: »Qual donna attende usw.« (fünfstimmig).
Aus den von Commer veröffentüchten Messen Orlandos wer-
den ungefähr sechs regelmäßiger gesungen, an erster Stelle:
»Gredidi«, »Doulce memoir«. »II me suffit«, »Je ne mange«.
Lassos Stil weist auf neue nationale Schulen hin, die,
von den Niederländern ausgehend, im Laufe des i 6. Jahr-
hunderts zu selbständiger Bedeutung gelangten. Zu ihnen
gehört auch eine deutsche, deren Hauptvertreter A. von
Fulda, A. Agricola,H.Finck,L. Senfl und L. Lechner
-^ 473 «^~
sind. Heinrich Isaak steht ihr ebenfalls nahe, obwojil
ihij die neuesten Forschungen als gebürtigen Niederländer
zeigen. Was diese Schule in der Messe geleistet hat,
werden binnen kurzem die Publikationen der deutschen
und österreichischen Denkmäler weiteren Kreisen ersicht-
lich machen. Bisher haben die Neudrucke davon eben-
sowenig mitgeteilt, wie von der früheren Messenkomposition
der italienischen Schulen, welche der Herrschaft der
Niederländer ein Ende mächten. Nur die von Goudimel*)
begründete römische Schule war von jeher in den Sam-
melwerken mit Messen G. P. da Palestrinas reicher
vertreten, und seit zwanzig Jahren liegen sie in der von
X. F. H a b e r 1 durchgeführten Gesamtausgabe dieses größten
römischen Meisters vollständig in Partiturform vor.
Aus alten Bibliotheksvei;zeiQhnissen ergibt sich, daß
Palestrinas Werke in Deutschland sich weit weniger ein G. P. da Pale-
bürgerten, als die der venetianischen Hauptkomponisten. strlna.
In Italien dagegen würdigte man sie sofort in ihrer vollen
Bedeutung. Mit Ausnahme von zweien wurden alle Messen
Palestrinas zu seinen Lebzeiten (13 Bücher in Stimmen)
gedruckt und einzelne Lieblings werke aller Kirchenchöre.
Unter ihnen nimmt die schon erwähnte Messe »Assumpta
est Maria« die erste Stelle ein. Diese herrliche, von Ra-
phaelscher Milde, Lieblichkeit und Klarheit erfüllte Kom-
position vereinigt stilistische Vorzüge — Baini, der das
Schaffen P.s in nicht weniger als zehn Stilperioden zerlegt,
weist die >Assumpta est« der achten zu — verschiedener
Meisterwerke P.s in sich: die Lebendigkeit des Ausdrucks,
welche das »Hoheüed« auszeichnet, und die Großartigkeit
und Einfachheit der Farbengebung, welche der berühmten
Preismesse »Papae Marcelli« eigen ist. Baini, der lang-
jährige Direktor der päpstlichen Kapelle, erzählt, daß das
Werk, welches bei Maria Himmelfahrt 1585 zum erstenmal
zu Gehör kam, allemal, so oft er es bei dem gleichen Feste
selbst wieder zur Aufführung brachte, ununterrichtete
*) In M. Brenets Studie über Ooudimel wird das in Ab-
rede gestellt.
-— * Mi ♦—
Zuhörer nach einem lebenden Komponisten fragen ließ.
Es bleibt immer unverwüstlich frisch und neu. Einen Teil
dieser unversieglichen Jugendkraft dankt es dem eignen
musikalischen Grundgehalt seiner Leitmelodie, der schönen
lebendigen Antiphone : >Assumpta est«, derselben Melodie,
welche auch Mendelssohn zu der anmutigen Motette : »Lau-
date pueri« (für die Nonnen zu St. Trinitä de' Monti ge-
schrieben) benutzt hat. Neben dieser Messe stehen als
gleichberühmt und durch die Bewunderung der Zeitgenossen
ausgezeichnet, die Missa >Papae Marcelli« vom Jahre 1 565,
die Missa »super voces musicales« vom Jahre 4 562 und
»Ecce Johannes« (zwischen 1585 und 1590 entstanden). Die
Missa »Papae Marcelli«, die dritte von drei Werken, welche
Palestrina auf Veranlassung der zur Abstellung von Miß-
bräuchen in der Kirchenmusik vom Trienter Konzil einge-
setzten Kommission verfajßte*), gehört in ihrem Gedanken-
fluge zu den bescheideneren Messen des Tonsetzers. Mit
Ausnahme des Kyrie, welches in klarer Weise dem nach-
ahmenden Stil der Niederländer folgt, wiegt in ihren sämt-
lichen Sätzen eine ähnlich einfach deklamatorische Behand-
lung der Worte vor, wie wir sie in einem anderen, wohl
dem bekanntesten Hauptwerke des Meisters finden : seinem
»Stabat mater«. Nur die mit wenigen Stimmen besetzten
kürzeren Zwischensätze (»Crucifixus« und »Benedictus«)
greifen melodisch weiter aus. Aber diese thematische Zu-
rückhaltung läßt die Überlegenheit, mit welcher Palestrina
von dieser Messe ab ein altes stilistisches Mittel verwendet,
um so wirksamer und mächtiger hervortreten. Es ist der
Klangwechsel und die Gruppierung der Chorstimmen. Durch
sie erhalten die Tonbilder der Messe eine Schärfe des Um-
risses, wie sie kaum vorher gekannt war; die Deutlichkeit,
mit welcher die Worte in dem einfach deklamierenden Stile
hörbar waren, ließ den Meßtext selbst eindringlicher als je
zum Gemüt dringen und umgab das ganze Werk mit dem
Schimmer eines feierlichen Ernstes. Die Gruppierung der
*) In Haberls Kirchenmasikalischem Jahrbuch für 189*2
wird diese Annahme bestritten.
— ♦ 476 «—
Stimmen zu antiphonierenden Teilchören war ja vor der
Missa Marcelli längst bekannt, aber neu war diese vir-
tuose Handhabung. In der Missa »super voces musicales«,
die den Improperien vom Jahre 1 560 als das zeitlich nächste
Hauptwerk folgte, ist es ein Chor von vier hohen, das »Cru-
cifixus« singenden Stimmen, der mit seinem seraphischen
Klang das Entzücken des Papstes und der Kardinäle bildete.
Dieses »Crudfixus«, neben welchem die anderen Sätze mit
bedeutenden Gedanken und mannigfaltiger sinnlicher Wir-
kung als gleich fesselnd stehen, war die Hauptveranlässung
mit, daß Palestrina den erwähnten Reformauftrag erhielt.
Als gleichbedeutend mit diesen genannten Hauptmessen P.s
ist vor allem noch die Messe »l'homme arm^« aus der Aus-
gabe von 4 570 (im zwölften Band der Gesamtausgabe mit-
geteilt) zu nennen*). Bedeutend sind wohl alle Messen dieses
Meisters : eine Fülle heiliger Klänge, das höchste Ideal kirch-
licher Tonkunst! In Italien ist dieser Tatsache jederzeitRech-
nung getragen worden. Palestrina war und blieb der popu-
lärste Kirchenmusiker. In Florenz hört Burney tagtäglich
Palestrina, in Rom beherrschte er noch anfangs des 4 9. Jahr-
hunderts auch die Hausmusik. Allwöchentlich werden bei
Frau von Bunsen von päpstlichen Kapellsängern Palestrina-
sehe Messen und wie in der alten Zeit in kleiner Besetzung
aufgeführt. Die Zahl der von ihm heute in den katholischen
Kirchenchören gesungenen Messen ist verhältnismäßig be-
deutend. Es sind außer den durch Proske eingeführten
folgende: »Tu es Petrus«, »Ecce ego Joannes«, »Alma redemp-
toris«, »Viri Galilaei«, »0 magnum mysterium«, »0 admirabile
commercium«, »0 sacrum convivium«, »Beatus Laurentius«,
femer die durch die abfallige Kritik Sixtus V. bedeutungsvoll
gewordene »Tu es pastor ovium«, sowie die zwei vierstimmi-
gen Messen »sine nomine« und »Quem dicunt homines«. Das
geistliche Konzert der Gegenwart arbeitet mit einem sehr Mei-
nen Palestrinarepertoire, die Männerchöre beschränken sich
fast ganz auf: »Ohone Jesu«. Sie seien auf das »Plenisunt«
*) Sie wird In der Autobiographie Zacconis als Studien weik
ersten Ranges hervorgehoben.
— ♦ 476 ^>—
in der Messe: »Ecce sacerdos«, in »Virtudo magna«, in »Ad
coenam agni« , in »Ad fugam « , auf die Cnicifixussätze in »0 re-
gem coeli« und in »Spem inalium«, auf das Benedictus in der
»Missa de feria«, in der Messe »Iste confessor« hingewiesen.
Ähnlich wie 200 Jahre später in der neapolitanischen,
ragen in der römischen Schule spanische durch Ignaz von
Loyola nach der ewigen Stadt gezogene Musiker hervor.
L. de Victoria. Unter ihnen ist Tomas Luis de Victoria, als Messenkom-
ponist bereits durch Proskes »Musica divina« reichlicher
bedacht, heute mit zehn vier- und fünfstimmigen Messen
vertreten, die den zweiten Band der von Ph. Pedrell
redigierten Gesamtausgabe der Werke Victorias bilden.
Weitere mit mehr Stimmen und wohl auch Messen von
M orales und Guerrero werden folgen. Die von Victoria
vorgelegten gehören zu den bedeutendsten Leistungen der
Vokalmesse überhaupt und stehen den Arbeiten Palestrinas
im Gehalt nicht nach. Die Unterschiede beider Meister
sind teils nationalen, teils persönlichen Ursprungs. Dem
Palestrina, welcher das weiche, liebenswürdige, anmutige,
klare Wesen italienischer Kunst in einer besonders rei-
chen und für die sinnliche Wirkung äußerst begabten
Individualität zeigt, steht Victoria als die männliche
Natur gegenüber. Die knappe Behandlung der Kyrie-
sätze, die scharfe Gegensätzlichkeit, in denen er den
Text des Christe zu dem Hauptsatz stellt, läßt das so-
fort deutlich merken. Der Spanier liebt tiefe Lagen,
dunkle Modulationen, breite und verschlungene Kaden-
f zen; aus der Form und aus der Seele seiner Messenkom-
position spricht der ungewöhnliche Ernst, mit dem er
den Text überdenkt Keine seiner Einzelheiten übergeht
er, aber er bringt sie streng und ganz schlicht zum Aus-
druck. Seine Hauptstärke liegt in einer gehaltvollen Me-
lodik, deren Eigenheit darin besteht, daß sie oft ganz plötz-
lich die Wärme zur Glut steigert. Außer in der Art der
Begabung unterscheidet sich Victoria aber auch durch die
Schule von Palestrina. Er wurzelt viel tiefer in nieder-
ländischem Boden. Vom Jahre 4 583 ab wendet er sich
allerdings der Homophonie mehr zu, bleibt aber in diesem
-^ 177. ^k—
Stil mit dem Sinn für das Kolorit hinter Palestrina zurück.
Victorias Messen sind darum mehr für die Kenner, als für
die Menge, alle aber reich an Stellen von unmittelbarer
Wirkung, einzelne auch des Gesamteindrucks sicher.
Aus der letzten Klasse wäre die vierstimmige Messe über
»Ave Maria Stella« mit ihrer Choralfeierlichkeit, die über
»0 quam gloriosum«, eine der frischsten und erfindungs-
reichsten Arbeiten des Komponisten, ferner die durch Weich-
heit und Mannigfaltigkeit ausgezeichnete fünfstimmige
Messe: >Trahe me« und die (von Proske gebrachte) sechs-
stimmige kraft- und klangvolle Messe: >Vidi speciosam«
nachzusehen. Das hervorragendste Beispiel für die Be-
handlung einzelner Stellen dürfte das Gloria der Messe:
»Simile est regnum coelorum« sein. Wie Victoria da im
»Qui toUis« die Bitten »Miserere« und »Suscipe usw.« zur
einschneidendsten Wirkung einfach dadurch bringt, daß
er sie dem Sopran vorbehält, das genügt um darüber
aufzuklären, daß man es mit einem außerordentlichen
Meister zu tun hat. Unter den weiteren Musterstücken
sei auf das Sanctus in »de beata Maria« aufmerksam
gemacht. Ohne weitere Wahl wird man sich mit jedem
behäbigen Agnus Dei von Victorias Bedeutung über*
zeugen können, am stärksten mit dem aus »Simile est
regnum«.
Im übrigen ist auch die römische Schule mit Neu-
drucken von Messen nur ungenügend vertreten. Proske
bringt noch eine schöne, kunstreiche Arbeit »super voces
musicales« des im vorhergehenden Kapitel als Passions-
komponist erwähnten Fr. Suri an 0. Als Beispiel dessen, Ft Snriano.
was sich auf einem technisch so schwierigen Grunde an
eigentümlicher Poesie entwickeln läßt, sind besonders
das Sanctus und noch mehi: der mit dem Motto:
»Justitia et pax osculatae sunt« bezeichnete, in Gegen-
bewegung gehaltene Kanon des Agnus beachtenswert
Eine für die Zeit der Entstehung ganz seltene Kühn-
heit bringt der Schluß des Gloria in_dem gegen die
F dur- und D ^ur-Harmonie anliegenden g^ des i . Soprans.
F. Anerio, der Nachfolger Palestrinas im Amte, ist mit T. Anorioi
n, i. \^
—— <^
1.78
einer Messe >sine nomine« vertreten, welche im Stile der
frührömischen Schule gehalten ist.
Alle italienischen und sonstigen Schulen wurden gegen
das Ende des 4 6. Jahrhunderts von der venetianischen
an Einfluß übertrofifen. Sie J)rachte auf drei Generationen
die Führung in geistlicher und weltlicher Musik an sich
und machte Oberitalien zum Herd aller jener Neuer-
ungen, auf denen Chor- und selbständige Instrumental-
musik, auf denen die ga^ze moderne Tonkunst ruht.
Ihre erste Tat war die prinzipielle Steigerung der Mehr-
stimmigkeit und die Ausbildung einer Chorantiphonie
größten Stils. Dazu halten frühere Zeiten und andere
Länder schon angesetzt: wir hören von einer sechsund-
dreißigstimmigen Motette Ockeghems und von Kompo-
sitionen für vier Chöre, die in Spanien um die Mitte des
4 6. Jahrhunderts geschrieben wurden, wir besitzen von
englischen um dieselbe Zeit geschri^bnen Monstrechören
ein Hauptstück, ThomasTalli s' vierzigstimmige Motette :
»Spem in alium« im Neudruck. Durch die Venetianer
wurden solche Versuche allmählich zur Norm für den
festhchen Chorstil und insbesondere in der Messe. Daß
die niederländische Art der Polyphonie zunächst auch
in Venedig weiter gepflegt wurde, ergibt sich aus den
(in Proskes »Musica divina« enthaltenen) kurzen Messen
A. Gabrioli. Andrea Gabrielis, ebenso wie aus denen Giovanni
G. Croce. Croces*), frischen, klaren zur satzweisen Konzertver-
wendung wohl geeigneten Kompositionen. Die des Neu-
J. Qallns. drucks noch harrenden Messen des J. Gallus gehören in
dieselbe Kategorie und ebenso die Leo Haßlers, der
bekanntlich Andreas Schüler war. Zur größeren Hälfte
bereits durch Neudrucke von Proske und Genossen seit
längerer Zeit allgemeiner zugänglich, sind sie jüngst sämt-
lich veröffentlicht worden**) und haben dadurch eine
Auszeichnung erfahren, die ihnen wohl gebührt. Hier
♦) In autographierten Partituren von F. X. Haberl Ter-
Vffentlißlit.
**) Denkmäler Deutscher Tonkunst, Bd. VU.
r
— ♦ 479 ^>—
vereinigen sich Reichtum und Schlichtheit der Form, Adel L. Häßler.
und Gemeinverständlichkeit der Gedanken, alte und neue
Zeit ungewöhnlich frei und innig. Stärker als die Ge-*
meinsamkeit ist zwischen Andrea Gabrieli und Haßler
die Verschiedenheit. Es. klingt nicht bloß der deutsche
Liederton herzhaft in den Messen des Jüngern mit, sondern
er ist auch viel ungebundener im Stil. Wie später Haydn
in der Symphonie, so verschmilzt Haßler in der Vokalmesse
die Eigenheiten verschiedener Schulen zu einem neuen
Organismus. Man kann, ohne ^gewaltsam zu werden, mit
vier Stimmen nicht mannigfaltiger und wirkungsvoller
schreiben, als er es tut. Das ist ein Punkt mehr, der
seine Messensätze für das Konzert empfiehlt. Das Sanctus
aus »Dixit Maria«, das Gloria aus der ersten Messe sine.
nomine, auch das Credo, ja so ziemlich alle Sätze aller
Messen wären geeignet. Es ist ein Unrecht, auszulesen,
wo überall Charakter, Fantasie, Fülle der Empfindung
und Originalität des Ausdrucks so außerordentlich sind.
Venetianisch zweichörig ist nur die letzte Messe.
Auch die nur in alten Stimmendrucken vorliegenden
Messen Monteverdis sind in ihrer rücksichtslosen mo- C. MonteTerdi.
tivischen Konsequenz ganz Niederländisch. Erst von
Giovanni Gabrieli ab wird die Auftürmung von Q. &sbrioli.
Stimmen, die Menge getrennter Chorscharen häufiger und
verbreitet sich über andere Länder. Im 17. Jahrhundert
erreicht der Stil wahrscheinlich mit Orazio Benevolis
Salzburger Messe von 4 628 seinen Gipfel. Die Österreich-
ischen Denkmäler haben dieses Werk, das mit dreiund-
fünfzig Stimmen arbeitet, jüngst veröffentlicht *"), und da-
mit jedermann eine bequeme Bekanntschaft mit dieser
erstaunlichen Meßkunst, die bisher nur mit bescheidenen
Proben in Rochlitz und anderen Neudrucken vertreten
war, ermöglicht. Von der kontrapunktisch technischen
Seite betrachtet, sehen derartige Leistungen allerdings
größer aus, als sie sind. In Wirklichkeit haben wir es
bei Benevoli mit einem zweichörigen Werke zu tun, bei
*) DenkmUer der Tonkunst In Österreich, Bd. X.
— CO 180 ^—
0. BeneToll. dem jeder Chor aus acht Singstimmen und einem Orchester
von Streichern, Bläsern und Orgel besteht. Diese Masse
wird in einem vorwiegend vierstimmigen, jedenfalls immer
so einfachen Satze geführt, daß sich jeder Vergleich mit
den Niederländern oder auch nur mit Seb. Bach ver-
bietet. Der künstlerische Schwerpunkt der Komposition
liegt nicht in der meisterhaften Verkettung verschiedener
Gedanken, sondern im Klang und im Kolorit. Durch die
Teilung der Chöre in kleine und kleinste Gruppen, durQh
ihren Wechsel, durch ihre variationenreiche Zusammen-
führung, durch die beständige Ausnutzung räumlicher
Wirkung — ein Darstellungsmittel, das die heutige Musik
fast nicht mehr kennt — ist Benevoli originell und mächtig.
Die Kirchenhalle ist als, ein Ausschnitt des Weltalls ge-
dacht; jedes Stückchen Gotteswort, das in ihr ertönt,
wird wie von Engeln nach allen Enden getragen, erweckt
aus allen Richtungen, aus Höhen und Tiefen geheimnis-
vollen Widerhall. Auf dieses unablässige Widerklingen
und Nachklingen, auf die Verständlichkeit im verschlun-
gensten und fernsten Echo ist alle Erfindung gerichtet
Vor allem ist der Charakter der Motive darauf berechnet;
sie nähern sich in äußerster Schlichtheit Naturlauten und
Signalen und vertreten in ihrer Einfachheit zugleich den
reinsten und höchsten Geist der Renaissance. In ihren
Kunstkreis gehört die Messe vielmehr als in den der Barock-
periode. Sie ist ein Denkmal kühnen und gewaltigen Sinnes
schon durch das ungeheure und prachtvolle äußere Gerüst.
Es entsprechend auszubauen setzte Tonsetzer von majestä-
tischer Fantasie voraus. Die hat Benevoli nicht überall zur
Verfügung gestanden, aber einzelne Stellen seiner Messe sind
auch geistig kolossal. Dem Bild z. B., das er von der Macht
der »una sancta catholica ecclesiat im Credo gibt, hat viel-
leicht die ganze Geschichte der Messe nichts an die Seite
zu setzen. Die Einbürgerung dieser Messe würde der gegen-
wärtigen Musik eine neue Welt erschließen. Doch sind
die Aussichten dazu sehr gering, weil wir ganz verlernt
haben, uns um Aufstellung und Herrichtung von Emporen
und ähnliche wesentliche Außendinge Mühe zu geben.
— ^ 184 ^—
i
\
Gleichzeitig mit der Vermehrung der obligaten
Stimmen des Chorsatzes wird auch die selbständige
Instrumentalbegleitung üblich. Sie entwickelt sich zu-
erst um die Mitte des i 6. Jahrhunderts als Notersatz bei
Sängermangel; der Klangreiz hebt sie aber schnell zu
eigner Bedeutung, auf einer dritten Stufe wird sie ein ge- ,
waltiges Mittel des Ausdrucks. Bereits vom Anfang des
4 7. Jahrhunderts ab ist bei jedem Ghorstück der General-
baß — um mit R. Ahle zu sprechen — >aus Notwendig-
keit oder Gewohnheit« d. h. der Mode halber zu finden.
Die Stimmenvermehrung vertrug sich selbst in den
übertriebenen Fällen mit dem Wesen kirchlicher Musik.
Bedenkliche Stöße erhielt es erst, als s^us der Oper Solo-
gesang und dramatischer Geist herüberdrangen. Sie
drängten die Fantasie der Komponisten von der Grund-
linie frommer verklärter Andacht nach rechts und links
ab: Auf der einen Seite zu einer bis zum Erschrecken /
aufgeregten Wiedergabe der Textstellen, auf der andern
zu einer bis ans Selbstgefällige streifenden Ausbreitung
der subjektiven Gefühls- und Empfindungskraft. Als
Beispiel für die erste Klasse kirchlich fraglicher Musik
kann das bekannte an und für sich ausgezeichnete sechs-
stimmige »Crucifixus« von A. Lotti gelten. Lotti, der auch A. Lotti.
sehr gute Messen im rein kirchlichen Stile geschrieben'*')
— eine begleitete (in GmoU) hat S. Bach eigenhändig
kopiert — , hat die dramatische Kraft, mit welcher die
ersten Takte dieses »Crucifixus« das Bild einer unter
dem Eintreffen einer Schreckensnachricht aufschreienden
Menge wiedergeben, in keiner seiner Opern auch nur
annähernd erreicht. Dieser Anfang und das ganze Stück
ist als plastisches Tonbild ein Treffer ersten Ranges; als
Teil eines Credo so passend, wie ein Pistolenschuß von
der Kanzel. Für die zweite, die im empfindsamen Ge-
biete sich ausbreitende Klasse von Messen, bieten die
Tonsetzer der neapolitanischen Schule zahlreiche Bei-
spiele. Sie gab sich den Einflüsseti des Musikdramas
*) Binnen kurzem steht ein Neudruck in den Denkmälern D.T.bevor.
— ^ 182 ^ —
nach andern Richtungen ziemlich unbeschränkt hin und
schrieb Meßsätze, in denen an Stelle des kirchlichen
Geistes der Kultus der Melodie und das sinnliche Ton-
vergnügen getreten ist
Dieser Vor\vurf trifft nicht alle Messen und Messen-
H, Scarlatti. sätze der Neapolitaner. A. Scarlattis Arbeiten sind,
wie man sich in den Sammelwerken von Rochlitz,
Choron, Braune und Proske überzeugen kann, ebenso
würdig als frisch. Auch die von Commer mitgeteilte,
Fadre Martini, für Männerstimmen gesetzte Messe des Padre .Martini
beweist, daß in Italien der alte Stil und Geist des musi-
kalischen Hochamts in der Blütezeit der neapolitanischen
Oper noch lebte. Aber im allgemeinen war für die geist-
liche Komposition die Gefahr der Verweltlichung schon
durch das Prinzip der Renaissancemusik nahegerückt.
Palestrinastll , Luthersches Kirchenlied, die frühesten
Produkte des Madrigals, die unbegleitete Monodie gleichen
sich darin, daß sie die Forderung der Gemeinverständ-
lichkeit, der äußern und Innern Einfachheit voranstellen.
Wie diese volkstümliche Tendenz in den dem Jubel und
der Freude gewidmeten Sätzen der Messe schon im
47. Jahrhundert nahe an die Trivialität heranführen
konnte, das zeigt im Osanna die Missa angelica des
Leopold I. Kaisers Leopold I.*) Durch die Einflüsse der neapo-
litanischen Oper kam aber der kirchliche Geist der Musik
in eine immer schwierigere Lage; gleich am Anfang des
i 8. Jahrhunderts und selbst in Werken von Meistern wie
Leo, Durante, Pergolesi ist in der Messe die Ver-
weltlichung weit vorgerückt.
J. Füx. Weil er das klar erkannte, stellte Joseph Fux mit
seinem berühmten »Gradus ad Pamassum« in das
i 8. Jahrhundert Palestrinas Vorbild hinein. In seinen
a capella-Messen geht Fux noch weiter, nämlich zu den
Niederländern zurück und bildet ihren Stil in einer ganz
bewundernswerten Weise nach. Höhere Leistungen
•) »Musikalische Werke der Kaiser Ferdinand 111. usw.«
herausgegeben von Guido Adler.
archaisierender Kunst hat die neuere Zeit, auch mit
Einbezug von Poesie und Bildnerei, wohl kaum auf-
zuweisen. Da paart sich Strenge mit Freiheit, alte Form
mit frischester, lebendiger Erfindung aufs vollkommenste.
Voran steht die vierstimmige >Missa canonica«, die auf
den österreichischen Kirchenchören jederzeit ihre' ge-
bührende Stellung behauptet, in Norddeutschland aber,
obgleich sie am Anfang des 49. Jahrhunderts zwei Par-
titurausgaben erfuhr, sich nicht verbreitet hat. Die
Denkmäler der Tonkunst in Österreich legen sie noch-
mals und in Gesellschaft einer andern vierstimmigen
Vokalmesse Fuxens, einer Missa Quadragesimalis,
d. i. Fastenmesse, und zweier Instrumentalmessen vor"*).
Diese Missa canonica ist wieder einmal ein Studienwerk
und eine Fundgrube für schwierigere und leichtere For-
men des Kanons, die Fastenmesse bevorzugt die Fugen-
methode. Aber das alte Gewand erhält durch Fux neue
Aufschläge durch Modulationen, die den Kirchentönen
fremd sind. An größern Satzschlüssen angebrachte Aus-
weichungen nach der Unterdominante zeichnen sich
darunter besonders aus. Der Vergleichstoff, den die
Messen auf Verwandtschaft und Verschiedenheit mit den
ersten Niederländern, auf Vorzüge und kleine Nachteile
bieten, ist bedeutend genug. Aber sie haben auch einen
über alle Schulinteressen hinausreichenden Kunstwert,
durch die Fülle, Klarheit und Anschaulichkeit der musi-
kalischen Gedanken, in denen Text und Situation auf-
leben. Wo die Vokalmesse durch Meisterwerke illustriert
werden soll, darf deshalb Fux nicht übergangen werden.
Er bringt im Herbst noch einmal den Glanz der schönen
Jahreszeit zurück.
Die Instrumentalmesse vertritt er neben J. Kerll als
einer der frühesten Deutschen, er ist aber in ihr keineswegs
ein bloßer Vorläufer größerer Meister, sondern ein selbstän-
diger, geistig durchaus eigner Verwalter neuen, reicheren
Gutes. Die »Missa Purificationis« ist zwar nur knapp
*) Denkmäler der Tonkunst in Österreich, Bd. I.
— «- 184
durchgeführt , aber wie geschmackvoll und 'mit welcher
sicheren und schönen Wirkung sind Sologesang und
instrumentale Zwischenspiele benutzt Was aber den
Ausdruck betrifft, so genügt der Schluß des ersten Kyrie,
die Einführung des Septimenakkords der vierten Stufe
dai^ber aufzuklären, daß dieser Komponist mehr als
Durchschnittliches zu bieten hat.
Bedeutender in Anlage und Wirkung ist die achtstim-
mige »Missa Sanctissimae Trinitatis«. Fux gleicht auch
darin den Größen ersten Ranges, daß fast jedes seiner
Werke seinen StÜ für sich hat. Hier tritt namentlich die
Kunst hervor, bei breit gelagerter, ruhiger Harmonie
durch die Stimmführung zu fesseln. Es ist gewaltig und
erhaben, wie die Motive durcheinanderfluten, wie die Chöre
sich zusammenballen. Die Soli fesseln durch die schönen
Nachahmungen und durch die Farben, welche die Instru-
mente hereintragen. Besonders tief prägt sich da das >In-
carnatus« durch die Zwischenspiele der Posaunen ein^ Der
Aufbau der Formen zeigt venetianischen Operneinfluß in,
der Hinneigung zu scharfen Tempogegensätzen. Auch in
dieser Messe sind Kunststücke versteckt. Durch alle Sätze
geht ein dem Komponisten
von einem Freund gegebe- (h^^ V* "
-^
f
*j
ja:
xr
nes Thema von fünf Tönen: ^
als cantus firmus. Hoffentlich berücksichtigen unsere
Chorvereine in Zukunft dieses Meisterwerk.
Es hat sich in der Messe Österreichs und Süddeutsch-
lands im 4 8. Jahrhundert an Fux eine Schule gebildet.
I. Holzbaner. Einen tieferen Einfluß hat Fux auf Ignaz Holzbauer
ausgeübt, dessen Werke (größtenteils handschriftlich in Mün-
chen) zum Teil eines Neudrucks wert sind. Antonio Cal-
dara dagegen, von dessen 30 Messen die Missa dolorosa
(Emoll) neuerdings veröffentlicht worden ist*), arbeitet zwar
sehr geschickt und leicht; seiner Erfindung fehlt aber Tiefe
und Wert. Bedeutend ist nur sein i 6 stimmiges Crucifixus.
Fux selbst hielt sich, wie bereits bemerkt, als a capella-Kom-
ponist, seine Instrumentalmessen müssen aber schnell ver-
gessen worden sein. Die Wiener »Spiritualkonzerte«, die von
♦) Denkmäler der Tonkunst in Österreich, XIII, 1.
■ .\'
4 84 9 verhältnismäßig viele begleitete Messen aufführen,
bringen Werke von Seyfried, Cherubini, Hummel, Haydn, An-
dre, Winter, Hasse, Beethoven, Vogler, Sßchter; Fux kennen
sie nicht. Dasjenige Werk, welches in unseren Konzerten als
das erste die Periode der Instrumentalmesse vertritt, ist die
»HoheMesse« von Seb.Bach, dieArbeit eines Protestanten.
Die Abkehr von der katholischen Kirche bedeutete keines-
wegs überall die Abschaffung der Me9se im allgemeinen, der
Figuralmesse insbesondere. Sie wird in England, wie die
(neugedruckte) sechsstimmige Messe von Chr. Tye beweist,
noch das ganze 4 6. Jahrhundert weiter gepflegt, noch viel
länger behauptet sie sich im evangelischen Deutschland.
Nur halten es schon im 4 7. Jahrhundert die einzelnen Länder
und Orte sehr verschieden mit ihr. Sie ist da bei Med er,
bei H. Prätorius, bei Scheidt und Hammerschmidt .
noch mit Kompositionen des ganzen Textes, bei Stob aus,
Schein, Schütz, Sebastiani gar nicht oder nur mit
Bruchstücken vertreten. Im 4 8. Jahrhundert weicht sie dann
der Kantate, die zur eigentlichen »Kirchenmusikc wird, immer
mehr. Da ist's um so merkwürdiger, daß diese Bachsche
Messe die ganze Gattung so unvergleichlich überragt.
In der Hauptsache hält sich auch die Bachsche Hmoll- s. Baoh,
oder Hohe Messe an die bekannten fünf Abteilungen, an H moll-Mess.
das sogenannte Ordinarium des Hochamts. Was sie aber von
allen bekannten Kompositionen des uralten Kirchentextes
unterscheidet, das ist die kolossale Breite in der Anlage
fast aller Abteilungen, welche mit den in der Vokalmesse
üblichen Maßen jeden Vergleich ausschließt und auch alles
das weit hinter sich läßt, was die sich schon mehr aus'brei-
tenden neapolitanischen Vertreter der Instrumentalmesse
geboten haben. An die praktische Verwendung bei der Litur-
gie, welche die letzteren doch immer im Auge hatten, ist
bei dieser H moll-Mess e gar nicht zu denken. Eine oder zwei
ihrer Abteilungen an einem Sonntage, wie sie Bach tatsäch-
lich auch in Leipzig zu Gehör brachte, nehmen die musi-
kalische Tragfähigkeit eines Gottesdienstes schon vollständig
in Anspruch. Die Form, welche Bach bei der Komposition
der einzelnen Sätze dieser Messe zugrunde legte, war
— ^ 486 ^ —
die ihm geläufige der aus Solo- und Chorgesängen
zusammengesetzten Kantate. Aber jede der einzelnen
Abteilungen wurde ihm zu einer Kantate im Riesenfor-
mat. Das Gloria und Credo mit ihren je acht Nummern
übersteigen alle bekannten Kantatenverhältnisse. Ganz
kurze Textgruppen, oft bloße Nebensätze, sind hier zu
selbständigen und abgeschlossenen Tonbildem entwickelt:
zu Sologesängen in ausgeführter Arienform oder zu
Chören, die ihre Themata wiederholt durchfugieren. In
keinem andern Werke hat Bach wieder so sich selbst
zur Lust, aller praktischen Rücksichten ledig, für die
Kirche komponiert: In der Erschöpfung der musikalischen
Grundgedanken kann er sich zuweilen gar nicht Genüse
tun. Wenn wir glauben, nun sei er der ganzen Aus-
drucksfähigkeit der Worte bis in ihre letzten Spitzen und
Tiefen nachgegangen, da nimmt er sie frisch weg von
einer andern ^eite und entwirft ein neues, ergänzendes
und packendes Bild, welches in der Regel als ein Meister-
stück von Fantasie und Kunst das vorangegangene noch
überbietet
Die naheliegende Vermutung, daß Bach mit dieser
Messe etwas Außerordentliches habe leisten wollen, wird
durch ihre Entstehungsgeschichte bestätigt. Er schrieb
zunächst i. J. 4 783 Kyrie und Gloria und überreichte
sie dem Kurfürsten in Dresden mit der Bitte, ihni, der
»in Leipzig beim Direktorium der Musik ein und andre
Bekränkung empfinden müssen« — wie es im Dedikations-
schreiben heißt — »ein Prädikat von Dero Hofkapelle
konferieren zu wollen«. Das »Prädikat« eines Hofkompo-
siteurs ließ drei Jahre auf sich warten. Bis 4738 wurden
dann die andern Sätze vollendet und, mit Ausnahme des
Agnus Dei, in dem grandiosen Stile der ersten beiden
Abteilungen weitergeführt.
Neben der breiten Anlage, welche die HmoU-Messe
ganz ungewöhnlich erscheinen läßt, ist es eine zweite
Eigenschaft, welche die HmoU-Messe so bedeutend und
ergreifend macht. Das ist die eindringliche und anschau-
liche Beredtsamkeit ihrer Tonsprache, welche in erster
— ^ 187 * —
Linie auf der glücklichen Gestaltung der Grundthemen der
Sätze beruht. Auch wer vom Texte keine Notiz nimmt,
kann nicht mißverstehen, was die Seufzerketten des ersten
Kyrie, was der friedliche uhd kindUche Weihnachtston des
>Et in terra pax€, was der Jubel des »Gloria in excelsis
Deo€, des »cum sancto spiritu«, des »Et resurrexit«,
des zweiten »Et vitam venturi saeculi« und des »Pleni
sunt coeli« sagen wollen. Das sind Musikstücke, welche
bei all ihrer kunstreichen Ausführung einen vollständig
volkstümlichen Zuschnitt besitzen, und in Orten, wo, wie
in Leipzig, die HmoU-Messe eingedrungen ist, haben diese
Chöre auch ihre populäre Kraft drastisch bewiesen. Aber
auch die Arien und Duette mit ihren breiten, herzlichen
und naiven Melodien teilen diesen Zug edler Gemein-
verständlichkeit selbst in Fällen, wo sie, wie in »Domine^
rex coelesiis« im »Et in unum« ausgesucht tiefsinnig
gestaltet sind. Wenn er an ihnen schwerer heraus-
gefunden wird, so liegt das in der Regel an der mangel-
haften Ausführung, insbesondere des ohne eine gute Orgel-
stimme oft verwirrenden Akkompagnements. Wieviel hier
die Praxis noch zu lernen hat, zeigen die platten undx
miserablen Bearbeitungen, in welchen einzelne der vor-
handenen Klavier auszüge der HmoU-Messe die von Bach
nur skizzierte Begleitung der bekanhten Arien: »Benedic-
tus€ und »Agnus Deic wiedergeben. Sogar an durchaus
falschen Harmonien fehlt es da nicht.
Der häßliche Begriff der »gelehrten Musik« — wenn
überhaupt jemals bei Bach zutreffend — ist auf diese
Hohe Messe nirgends anzuwenden. Wohl aber verlangt
das Werk, wie alle Musik, in der große Strecken aus
demselben Grundgedanken entwickelt sind, eine gewisse
Fertigkeit im Hören. Doch beschränkt sich diese Fertig-
keit auf ein Geringes: darauf, daß man ein Thema merken
und verfolgen kann, und diese Aufgabe wird durch den
packenden und verständlichen Charakter der Themen selbst
wesentlich erleichtert.
Den Zusammenhang und die Einheitlichkeit der
24 Nummern, in die wir die Hmoll-Messe teilen, hat Bach
188
;
im Sinn und Brauch seiner Zeit nicht äußerlich markiert,
etwa so, wie es die Meister der Vokalperiode mit dem
durchgehenden Cantus firmus, neuere Tonsetzer durch
Anwendung von Leitmotiven versucht haben. Wer aher
dem Gedankengang genauer folgt, wird das Bund, das
sich durch das Innere der Sätze durchzieht, wohl finden.
Nur ist es unbedingt nötig, daß der Vortrag Nummern,
die zu derselben Abteilung gehören, nicht durch Pausen
auseinanderreißt.
Die erste Abteilung, das Kyrie, besteht aus drei
Nummern, von denen die eröte und dritte Ghorfugen sind
über den Text: »Kyrie eleison«. Vor dem Anfang des ersten
Chors stehen vier Takte Adagio : eine lapidare Überschrift,
aus welcher der Hilferuf zum Herrn wie der Notschrei
eines schwerbelasteten Volkes klingt. Dann beginnt zu-
nächst im Orchester das sprechende Thema:
Laxgo ed an poco piano. .^..«^
f tti^ttiImi nr rrrr
, eine Klageszene einzuleiten, deren gewaltige Anlage in
der gesamten musikalischen Literatur nur wenige Seiten-
stücke hat: Der Introitus der Matthäuspassion, der
Einleitungschor zu Händeis Israel *sind verwandte
Leistungen. Was das Bachsche Bild schwerster Seelen-
betrübnis so eigentümlich macht, das ist der durchaus
aktive Zug, in der sie der Komponist aufgefaßt und dar-
gestellt hat: das mühsame und verzweifelte Ringen und
Aufraffen, welches die in kleinen chromatischen Schritten
aufsteigenden und mit den Seufzern der Oboenarie der
Matthäuspassion zurückfallenden Urmotive des Themas
schon andeuten. Dieses Verhältnis wiederholen die Satz-
gruppen der riesigen Fuge nur in größeren Proportionen.
Der unaufhaltsame Zug, mit dem die Klage zum Aus-
druck dringt, findet erst nach einer doppelten Durch-
führung des Themas in den fünf Stimmen seinen Halt
in einem großen Cis moU-Schluß. Er führt zu einer in der
Stimmung heller beginnenden Episode über das Thema:
<89
fl t„ rT- . ■ "T^ ^^® jedoch schon bald wieder,
* 'ff p 8J},.r ^J I EJ/ f ' nach einer aufregenden Be-
5 . w - T - .- »in. gegnung mit dem chromati-
schen Motiv des Hauptthemas, in das letztere zurücklenkt.
Mit Tönen der Resignation endet der Satz. Da seine zweite
Hälfte im wesentlichen nur Wiederholung der ersten ist,
empfiehlt es sich, diese nur solistisch zu besetzen und den
vollen Chor der Stimmen und Instrumente auf jene aufzu-
sparen. Durch einen ähnlichen Wechsel gewinnen auch
andere Chöre außerardentlich, z. B. Anfang und Schluß-
satz des Gloria. Der zweite Chor der ersten Abteilung
über denselben Text > Kyrie eleison« und über das Thema:
Andante
Ky . ri . . e, a . lei
. soa, «
bi . «on,
klingt trotz der kleinlauten verminderten Terz im Einsatz
doch ruhiger und ge-
faßter und wirft na- tw,»* t ß .tV> ^ ^h#T^ .
mentlichandenSteUen, ^ V' ^ T [V f T ^ T Vf r | f
wo das Nebenthema: kt-'^^^ •• * -^ w - - «o».
die Führung hat, einige hoffnungsvollere Blicke in die
Zukunfl. Die Vermittlung zwischen den beiden Chören
bildet das >Christe eleison«, ein Duett zwischen Sopran
und Alt, dem Bach den zutraulichen, der Erhörung
gewissen Ton gegeben hat, in welchem Kinder sich
von einem lieben Freunde etwas Besonderes erbitten.
Von hervorragender Schönheit ist in dieser Nummer
auch die lange Melodie, welche Bach den einleitenden
und zwischenspielenden Violinen (I und l\ im unisono)
gegeben hat.
Die erste der acht Nummern des Gloria ist einer der
freudevollsten Chöre, die wir haben. Er beginnt unter
Trompetengeschmetter, wie eine schwungvolle Volksszene
über das Thema:
Vivace.
|i'"iiLJir.im;ii'i !\^^^^u
190
^ ^ welches Bach auch in anderen Werken,
lCüiX£/ 11^ ^' ^* ^™ Gloria seiner kleinen Fdur-
Mosse, anklingen läßt. Der Chor endigt
mit einer Doppelfuge, in welcher das beschauliche,
friedlich dahinglei- AUegro moderato. und das
tende, bei seinem f »n |^>^ TiH n._n Tl J anf-
ersten Einsatz un- 1!P^""OT!f '''ü CJ T — jauch-
endlich rührende: ^ ^ ter.»» p«x. zende
sinnreich und wirkungsvoll ineinander gewoben sind.
Darauf folgt in einer Sopranarie das »Laudamus tec —
eine musikalische Naturstudie, zu welcher Vogelgesang
das Modell gegeben zu haben scheint. Nach einer Rich-
tung kann sie als Typus für die meisten Sologesänge der
Hmoil-Messe dienen. Sie haben in der Mehrzahl etwas
Idyllisches und erscheinen den Chören gegenüber, zwi-
schen welche sie gesetzt sind, mit Spitta zu reden, wie
die freundlichen Täler im Hochgebirge. Der an die Arie
anknüpfende Chor: >Gratias agimusc weicht von dem
Stile, in welchem diese Worte in der Instrumentalmesse üb-
licher Weise wiedergegeben werden, merkbar ab. Von den
Zeitgenossen leicht und anmutig behandelt, trägt der Satz
bei Bach einen zurückhaltenderen, ernsteren Charakter
frommer Demut. Wir haben Anzeichen dafür, daß gerade
dieses Stück, welches auch die HmoU-Messe auf die Worte
des »Dona nobis pacem« abschließt, dem Komponisten be-
sonders lieb war. Die vierte Nummer des Gloria ist das
Duett: (Sopran und Tenor) >Domine, rex coelestis, domine,
Uli unigenite!« Ein lieb- Apdante^
HchesFlötensolomitdem /* (^t^frf}r^rt\f^
bedeutungsvollen Motiv: ff "**■.' y^kd UM ' ' ^r"
einsetzend, führt den Chor der Instrumente; die Sing-
stimmen tragen dicht hintereinander dieselbe Melodie
(im Kanon) vor. Der Begriff der Einheit von Gott Vater
und Gott Sohn, den die Worte >fili unigenitec enthal-
ten, hat ersichtlich zu dieser niederländischen Form des
Gesangsatzes die Veranlassung gegeben. Von Kennern ist.
es bereits häufig bemerkt worden, daß gerade die Hmoll-
Messe von Bach an ähnlichen Zügen musikalischer Sym-
bolik reich ist. Einen der schärfsten bringt das Credo
in dem Duett: »Et in unum«. Der hier im Gloria zur
Rede stehende Zweigesang: »Domine, rex usw.« besteht
im Text nur aus Titulaturen. Zum Satze ergänzt werden
sie erst durch den unmittelbar anschließenden Chor: »Qui
toUis peccata mundi«, welcher in tiefer Ergriffenheit über
den Versöhnungstod Christi, die Bitte um Erbarmen aus-
spricht Das ist eins der Hauptbeispiele, wo der nummer-
weise trennende Vortrag alter Musik zum schweren Ver-
gehen wird. DieNummerierung gilt nur für das Einstudieren.
Das Duett: »Domine« (No. 7) wird erst durch den Chor
»Qui toUis« (No. 8) zu einem Ganzen. Die Altarie: »Qui
sedes ad dexteram Patris« und die Baßarie: »Quoniam«
setzen die Darstellung des Wesens Christi fort. Die erstere,
im Klange durch die obligate Oboe besonders gezeichnet,
legt ded Nachdruck mehr auf eine rüstig freudige Schil-
derung der Würde des zur Rechten des Vaters sitzenden
Christus, als auf die Bitte. Das »Miserere nöbis« wird mehr
nebensächlich behandelt. Da muß der Vortrag nachhelfen.
In der Baßarie, welcher Bach durch das durchgeführte Hom-
solo und die mitgehenden obligaten Fagotte ebenfalls einen
eigentümlichen Beiklang gegeben hat, ist ein stolzer Zug
unverkennbar. Sie ist das feierlichere Seitenstück zu der
bekannten Arie des Weihnachtsoratoriums: »Großer Gott
und starker König«, setzt aber für ihre Wirkung noch
entschiedener als diese eine schwere, in der Mittellage
namentlich mächtige und volle Baßstimme voraus. Auch
das Akkompagnement der Blasinstrumente macht diese
Arie zu einem Stück schwerer Sorge für den Dirigenten.
Ohne eine gute ergänzende Orgelstimme wird es immer
befremdend, unverständlich bleiben. Wer den Charakter
der Musik in den drei letztgenannten Sätzen auf sein Ver-
hältnis zu den Textworten prüft, wird mit Bewunderung
gewahren, wie diese Nummern doch und mit größter
Feinheit in dem Hinblick auf den Zusammenhang unter-
— * i9t <^ —
einander und als Teile einer größeren Gruppe von Sätzen
entworfen sind. Das schließende Glied bringt Gipfel und
Krone. Diesen Abschluß der Gruppe und zugleich auch
des ganzen Gloria bildet der fünfstimmige Chor: »Cum
sancto spiritu«, einer der mächtigsten und schwungvoll-
sten Sätze der ganzen Messe: jauchzend, lachend und
zugleich erhaben; überaus kunstvoll und doch auch
vöUig gemeinverständhch und fortreißend. Nach einer
präludierenden, die späteren Hauptmotive, jetzt aus dem
Granit schwerer Akkordmassen, jetzt aus den mächtigen
Fluten mehrstimmiger Figuren auftauchen lassenden Ein-
leitung lenkt der Satz mit dem Einsatz der Tenöre
Vivace . , _^
if'i" ^ "'iiifl püpip^.rM'lffrfrrn
Cum Mn.cto- ipi . . ri . tn In glo
in die Form der Fuge ein.
Er wahrt aber innerhalb
UA ft-trit» A . meni derselben die Freiheit in
ganz außerordentlicher Weise. Wenn das Motiv a über
die Tonmassen hinwegjauchzt, wenn mit dem anderen (b)
die Stimmen in die höchsten Regionen steigen, nimmt
der Satz den Charakter einer übermütig kräftigen und
grandiosen, zwanglosen Freude an. Niemand denkt hier
an musikalische Form und an die Strenge des Stils aber
auch niemand an die bloße Möglichkeit Bach für den
Pietismus in Anspruch zu nehmen.
In den Vokalmessen und auch in den meisten Instrumen-
talmessen wird die Anfangszeile vom Gloria und vom Credo
dem Liturgen am Altar allein überlassen; der Chor setzt
in dem ers.ten Satz mit >Et in terra«, in dem andern mit
>Patrem« ein. Bach hat diese liturgische Intonation mit in
den Kunstsatz hineingezogen und beide Male dem Chor
übergeben, — beim Credo aber in einer sehr eignen Weise;
denn das Thema, welches zu den Worten »Credo in unum
deum« gesetzt ist, stammt aus dem Gregorianischen
Choral. Es hat namentUch in dem breiten Rhythmus,
welchen ihm Bach gegeben hat, einen sehr ehrwürdigen,
— ^ <93 ^—
altertümlichen Charakter, der durch die strenge Art der
Durchführung, an welcher sich außer den fünf Sing-
stimmen auch noch die beiden Violinen beteiligen, noch
erhöht wird. Das Gewebe dieses Satzes ist nach nieder-
ländischem Rezept mit einigen Kunststücken; Ver-
längerungen, und mehrfachen Engführungen des Themas,
versehen. Der Instrumentalbaß pendelt in unveränderten
gleichmäßigen Schlägen darunter hin. Die starre Feier-
lichkeit des Satzes will daran erinnern, wie das Bekennt-
nis seit ewigen Zeiten gilt und weiter gelten soll. In einem
unmittelbar anschließenden Chore, der in rüstigen, ent-
schiedenen Rhythmen einsetzt, nimmt Bach die Worte
> Credo in unum deum« noch einmal auf, bringt die
Fortsetzung >Patrem usw.« gleich mit und feiert den
Schöpfer Himmels und der Erden mit der vollen Freudig-
keit, welche das gläubige Bekenntnis einem echt christ-
lichen Herzen gibt. Hieran schließt sich das bereits er-
wähnte Duett: »Et in unum«. Die Symbolik des »unum«
gibt Bach da- Andante. zwischen Bläsern (stac-
mit wieder, daß •£ ^ j f }) S^ cato) und Geigern (le-
er das Motiv *? gato) und zwischen
beiden Duettstimmen (Sopran und Alt) in der denkbar
engsten Nachahmung, nämlich in der Entfernung eines
einzigen Viertels, abwechseln läßt? Auch andere Teile
der Gesangthemen werden in Imitationen durchgeführt.
Zuweilen treten die Singstimmen zusammen und Hand
in Hand den Instrumenten gegenüber. Am Schluß der
sehr sinnreichen Nummer, bei den Worten »descen-
dit de coelis« legen sich überraschende Schatten . über
die Harmonien und bereiten die Mystik der folgenden
Nummer vor, d. i. des Chors: »Et incarnatus est«.
Dieser, in welchem die Menschwerdung Christi geschil-
dert wird, gehört mit dem »Qui tollis« des Gloria und
mit dem unmittelbar folgenden »Crucifixus« zu den ein-
fachsten Chören der Messe, was den Stil betrifft: vor-
wiegend Deklamation, aus der kleine Melodiebiegungeu
herausragen, in den Singstimmen; das Orchester bildet
einen Schleier darüber, der aus einer in Dissonanzen
II, 4. 4 3
«
schillernden und immer nach der Tiefe suchenden Figur
gewoben ist: Alle vier Takte Periodenschluß! Aber was
für ein Reichtum an Ausdruck und Stimmung unter die-
ser einfachen Hülle! Alles, was der Gegenstand einer
tiefen Seele entlocken kann, das ist in diesem kurzen
Stücke zusammengedrängt und verschmolzen. Und nun
folgt der vielleicht bewundernswerteste Satz der Hmoll-
Messe, das »Crucifixus«. Starr — das kurze Baßthema
Largo.
von Bach auch in anderen Werken gebraucht, bei ande-
ren Komponisten in der chromatischen Zeit um 4 600 bis
1650 ebenfalls sehr beliebt, kehrt dreizehnmal wieder —
das Auge auf das halbverschleierte Bild des Gekreuzigten
gerichtet, klagt der Chor in Wendungen, welche das Un-
erhörte fühlen lassen, ohne die Leidenschaft zu streifen,
welche Schmerz und tiefe Trauer in die edle Form eines
Gebets fassen. Am Schlüsse stirbt der Gesang, der sich
erst allmählich aus der Vorstufe von einzelnen Inter-
jektionen entwickelt hat, wieder hin; der Mund versagt:
unhörbares pia- ywace .^-— r**^
^ SrLt i'"i 'i'i iiriiMi
über die Worte: »Et resurr exit tertia diec im hellsten
Glänze von vollem Chor und Orchester. Es ist der
schärfste Gegensatz, der sich denken läßt, um Charfrei-
tag und Ostern zu sondern. Die Auferstehung wird hier
in einem Chore gefeiert, welcher reinste Volksmusik ge-
nannt werden kann und dessen Freudigkeit, in der Triole
gehörig gekennzeichnet, die Ausgelassenheit zuweilen
berührt. Auch in der Instrumentation sind Elemente,
deren populäre Herkunft sich nachweisen läßt, — so
das durch LuUy aus der alten französischen Instru-
mentalmusik in die Oper gebrachte Trio von Flöten,
Hoboen und Violinen (letztere als Baß), welches Bach
den Ritornellen dieses Satzes wiederholt auf einen flüch-
tigen Augenblick einschaltet. Der naive Zug, welcher
<95
der kirchlichen Kunst der Bachschen Zeit eigen war, in
welchen" sich aber Bach wie auch Händel von den
Neapolitanern dadurch unterscheidet, daß er nie ge-
wöhnhch wird, — dieser Zug kommt in der Schluß*
nummer des Credo noch einmal und zwar nach einem
ganz ähnlichen Plane, wie er hier zwischen »Crucifixus«
und dem »Et resurrexit«; vorher zwischen den beiden
Credosätzen besteht, zum Ausdruck. £s handelt sich bei
diesem Schlüsse um die Worte: »Et e^specto vitam ven-
turi saeculi«, welche Bach zuerst von dem Standpunkte
des vor dem Tode bangenden Menschen in einem schwer-
mütigen, thematisch strengen Adagio behandelt Dann
aber nimmt er sie als der gläubige Christ, der den Freu-
den des besseren Lebens entgegengeht, in einem über-
wältigenden zuversichtlichen Vivace auf. Zwischen diesen
beiden Hauptchören, dem »Et resurrexit« und dem »Et
exspecto« steht die Baßarie: »Et in spiritum sanctum«,
welche in kindlich glücklichen Melodien schwelgt. — Beim
Sanctus rollt uns eine Tonflut entgegen, die man sich
kaum erklären kann. Die Tonsetzer des 4 8. Jahrhunderts
verstanden durch rhythmische Mischungen und andere
einfache Mittel dem Chorsatze Wirkungen zu entlocken,
welche heute nicht so zur Hand liegen. Bei dem Ent-
würfe der Stimmenverteilung mag auch Bach die Stelle
aus dem Jesaias vorgeschwebt haben, in der es von dem
Seraphim heißt: »Und einer rief zum andern«. Selig
dahinschwebend tragen die Gruppen einander das »Sanc-
tus« entgegen, um sich dann auf langen, prächtigen und
glänzenden Vollklängen zu vereinen. Dieselbe Grundidee
hat Bach auch in dem »Pleni sunt« und dem »Osanna«
festgehalten. Letzteres ist ein sehr stattlicher, nicht
gerade kirchlich, aber festlich wirksamer Doppelchor, In
dem vollen Glänze des »Pleni« bilden kleine, für die Auf-
führung sehr heikle, dreistimmige Sätzchen, die über die
Sechzehntelmotive des Hauptthemas dahintrillem, freund*
*• liehe Idyllen. Das »Benedictus«, eine Tenorarie, deren
poetische Begründung weniger in der Singstimme als in
den dieselbe umschwebenden, zarten und hohen Klängen
43*
— ^ 496 ^-T
der Soloviolme zu suchen ist, steht, abweichend, nach
dem >Osanna«. Bach grappierte überhaupt die Schluß-
teile der Messe vollständig gegen den kathoHschen Brauch.
Aus >Sanctus« und »Pleni« bildete er eine Gruppe; ihre
Musik wurde zur Einleitung der Abendmahlsfeier ver-
wendet, ^u eigentUcher Abendmahlsmusik benutzte er
die folgenden Sätze, stellte aber das >Osanna« an die
Spitze dieser Gruppe, weil es den freudig danksagenden
Charakter, welcher der letzteren nach ihrem liturgischen
Zwecke eigen sein sollte, entschiedencfr hinstellt,' als das
»Benedictus«. Die Altarie, in welcher Bach das ganze
Agnus dei wiedergibt, ist eins der klassischen Zeug-
nisse für die Möglichkeit, daß auch in den Formen der
neuen Musik dem reinen Geist der alten Messe Gerechtig-
keit widerfahren kann. Bach hat diese Möglichkeit durch-
schnittlich in allen Nummern seiner »Hohen Messe c be-
wiesen; unter denjenigen, welche sich in dieser Hinsicht
noch besonders auszeichnen, ist aber das Agnus dei
eine der ersten. Erfreulicherweise ist diese Arie auch
ein populärer Sologesang geworden und dies trotz des
schweren Stils, in welchem in ihr, ebenso wie in den
anderen Sologesängen, die Singstimme mit den Instru-
menten zusammengekoppelt ist Den Umstand, aus einer
früheren Komposition für die Verwendung in der Messe
umgearbeitet zu sein, teilt das Agnus mit einer Reihe
der hervorragendsten Partien des )Yerkes: mit dem >Gra-
tias agimus«, dem »Qui tollis«, dem zweiten > Credo c, dem
»Crucifixusc und dem »Osanna«.
Bach hat seine Hmoll-Messe stückweise doch beim
Leipziger Gottesdienste verwendet. Daß das Werk in der
Dresdner Hofkapelle oder sonstwo in einer katholischen
Kirche aufgeführt worden sei, ist nicht anzunehmen.
Trotzdem war sie in dem Kreis der Bachschen Schüler
und Enkelschüler so berühmt, daß im Jahre 4818 zwei
Verleger zugleich ihre Veröffentlichung ankündigen*).
Erst durch die Bachgesellschaft ist diese Absicht würdig
") Gesamtausgabe der Werke S.Bachs, 46. Jahrgang, S. XXIII,
verwirklicht, dem praktischen Musikhetrieh aber das unver-
gleichliche, durch die Macht und Universalität der religiösen
Empfindung, der poetisch künstlerischen Durchführung über
Jahrhunderte hinweg leuchtende Werk schon bald nach der
neuen Bekanntwerdung der Matthäuspassion wiedergewon-
nen worden. Schelble in Frankfui^, Mendelssohn, nach ihm
Hauptmann in Leipzig,brachten einzelne Sätze des ungeheuer
schwierigen Werkes zu Gehör. Vollständige Aufführungen
der ganzen Messe, denen die Berliner Singakademie bereits
1 835 die Bahn zu brechen suchte, haben sich in den letzten
Menschenaltern eingebürgert. Neben dem Berhner Institut
hat daran der Leipziger Riedelverein ein Hauptverdienst.
Auch neben und nach S.Bach haben protestantische Ton-
setzer, wie der ältre Fas ch , wie S t ölz el , wie derMeininger
Ludwig Bach, von dem heute vor hundert Jahren eine
zweichörige Messe als Sebastians Werk galt*), das Ordinarium
einmal öder vielmals durchkomponiert. Es wird aber immer
seltener. Einzelne Teile desselben dagegen sind auch von
Protestanten noch sehr oft und sehr lange in Musik gesetzt
worden. Ein solches berühmtes Bruchstück war das zwei-
chörige »Sanctus« des Hamburger Ph. Em. Bach**). In
Sachsen und Thüringen, dem alten Stammgebiet der Kanto-
reien, erhielt sich der Brauch wenigstens an Festtagen, außer
der gewöhnlichen, vor das Hauptlied gestellten Kirchenmusik
auch noch Kyrie und Gloria>solemniterc aufzuführen, bis über
die Mitte des 4 9. Jahrhunderts und bis in die kleineren Städte.
Die beiden Sätze nannte man »KleineMesse« oder die >Mis s a
b r e vi s«. Solche protestantische Missae breves sind hand-
schriftlich noch in Menge vorhanden. Im Neudruck hegt aus
dem i 7. Jahrhundert eine sehr schwache von R. A h 1 e **♦) und
eine weit gehaltvollere von F.W. Zachowf) vor; für das
♦) B. W., Ebenda.
**) Mit deutschem Text in der Sammlung Ton Rochlitz
Teröffentllchtr
»♦♦) Denkmäler Deutscher Tonkunst, Bd. V.
f) Ebenda. Bd. XXH. Ihre beiden Sätze ftind über den
Choral: »Christ lag in Todesbandenc gearbeitet.
4 8. Jahrhundert ist die Gattung durch vier Kompositionen
S. Bachs vertreten. Die dem Leipziger Bedarf gegenüber ge-
ringe Zahl erklärt sich vielleicht daraus, daß Bach sich für ge-
wöhnlich mit fremden, besonders mit italienischen Komposi-
tionen behalf. Auch mit den vier eignen kleinen Messen hat
er es sich leicht gemacht, zwei setzt er gänzlich, zwei
zum Teil aus älteren Kantaten zusammen. Die Ton-
art«i sind Fdur, Gdur, GmoU und Adur, die Ent-
stehungszeit liegt in der Nähe der HmoU-Messe. Der
achte Band der Bachgesellschaft bringt sie zusammen; die
in Gdur und Adur sind bereits in. den zwanziger Jahren
einzeln bei Simrock veröffentlicht worden. Die einzige
von ihnen, welche uns häufiger in Kirchenkonzerten
begegnet, ist die in Adur. Von besonderer Bedeutung
ist ihr »Christe eleisonc als eines der ältesten und mächtig-
sten Chorrezitative, welche wir besitzen. Annähernd
originell und ungemein zart, rührend wirken in dem Chor-
satze, welcher das Gloria eröffnet, die das brausende
AUegro unterbrechenden langsamen Episoden (Adagio 3/4).
Unter der sanften Musik zweier Flöten deklamieren die
Chorstimmen, reihum, in jedem Abschnitt immer nur
eine. Es ist nur ein spärliches Singen in diesen Stellen
mehr ein verzücktes und ergriffenes Lauschen und Auf-
blicken. Kaum wird jemand auf die Idee kommen, daß
diese Musik nicht zu dem Texte entworfen sei. Und doch
ist der Satz nur eine fast wörtliche Übertragung aus der
Kantate: >Halt im Gedächtnis Jesum Christ«, in welcher
allerdings die originelle Idee Bachs noch ursprünglicher
zum Ausdruck Jcommt. Unter den Sätzen, die eigens
für die Meßtexte komponiert sind, ist das Kyrie der
Fdur-Messe der interessanteste. Er bildet eine Choral-
fuge. Die fugierenden Stimmen sind Sopran, Alt und
Tenor, der Baß hat sein Thema für sieb: die Schluß-
zeilen der Litanei; der [Choral, welcher der Fuge (in
Hörnern und Oboen) gegenüber gestellt wird, ist: »Christe,
du Lamm Gottes«. Der Gedanke, das evangelische Kir-
chenlied in die ^ößeren Kunstformen der protestantischen
499 ^ —
Kirchenmusik hereinzuziehen, den Bach in seinen Kan-
taten am glänzendsten durchgeführt hat, läßt sich in
der Messe bis auf Hammerschmidt zurückverfolgen. Die
Namen der Vertreter dieser Methode wolle man in Ghry-
Sanders >Händelc und Spittas »Bache nachlesen.
Von Bach geht das heutige Konzert in der Auswahl
der aufgeführten Messen sogleich zu Beethoven über.
Und es tut mit diesem Sprunge recht. Will man in
Zukunft auf diesem Gebiete den Kreis der Tonsetzer
des 48. Jahrhunderts mehr erweitern, so wird das
in der Hauptsache nur mit Werken geschehen können,
deren Schöpfer der ersten Hälfte dieses Zeitabschnittes
angehören, mit kritisch ausgewählten Messen von Leo,
Durante, Pergolesi, Perti vielleicht. Nach 4750 bilden
Messen in einem guten," heute erträglichen Stile für
längere Zeit nur Ausnahmeerscheinungen. Solche finden
sich bei F. Tuma, bei Michael Haydn, dem Bruder F. Tnma.
des Symphonienmeisters, bei J. G. Naumann. Den M. Haydn«
durch 0. Schmidt Wieder zu Ehren gebrachten Böhmen J. 0. Vanmann.
F. Tuma zeichnet Strenge der Arbeit und Ernst in den Ge-
danken, die andren beiden vor ihren Zeitgenossen das
Maßhalten in der Redefreiheit der Instrumente aus.
Den Salzburger noch mehr als den Dresdner, welcher
dem herrschenden Geschmack in, wenn auch kurzen und
meist sinnvollen Solls der Holzbläser, vor allem der
Flöten, kleine Opfer bringt. Auch spiegelt Naumann in
dem weichen Grundtone seiner Messen, von denen die
schöne klargefbrmte in As als die bedeutendste gelten
kann, den empfindsamen Geist des 48. Jahrhunderts
in ähnlicher, aber reinerer Weise wieder, wie auf dem
Gebiete der Passion dies Grauns >Tod Jesu« tut. Nau-
manns Vorgänger im Amte, der bedeutende Opemkom-
ponist A. Hasse, steht an der Spitze einer Richtung der A. Hasse.
Instrumentalmesse, die eine der größten in der Kunst-
geschichte vorkommenden Verirrungen bedeutet. Der
ganze geistige Kreis dieser in zahllosen Einzelwerken ver-
tretenen Richtung ist so textwidrig als möglich: die An-
lage der Sätze auf äußerliche Wirkungen, namentlich, auf
— ♦ 200 *—
Sologesang und Solospiel, gerichtet. Die Erfindung in
den Themen nimmt häufig gar keine Rücksicht auf den
Charakter der Worte und erscheint formell durchschnitt-
lich ebenso einseitig wie billig. Die Singstimmen arbeiten
mit kurzen Motiven vorwiegend munterer Art; werden
sie breiter, so sind es in der. Mehrzahl schmachtende
Phrasen oder handwerksmäßige, nichtssagende Fugen-
leisten. In dem Orchester hört man mehr Eingebungen
der komischen Oper und wohl auch des Tanzsaals, als
solche einer kirchlichen Fantasie. Der Gesamteindruck
der Messen dieser Schule erinnert an die Wechslertische
im Tempel und an die korbbeladenen , auf Viktualien
sinnenden Weiber, die den Weg zum Markt durch den
Dom nehmen, um schnell auch ein wenig ziu beten.
Heute, wo diese Richtung, in Deutschland wenigstens,
für überwunden gelten kann und nur noch in obskuren
Lan<knessen * nachspukt, können wir kaum begreifen,
wie sie möglich gewesen. Sie hat verschiedene, zum
Teil äußerliche Ursachen, die wichtigste in der Vernach-
lässigung der Kirchenchöre und in der Stilverschiebung
der kirchlichen Instrumentalmusik. Der Bachsche Thoma-
nerchor, der häufig als Muster von Mangelhaftigkeit an-
gesehen wird, erscheint als Eliteinstitut, wenn man den
Durchschnittszustand der gleichzeitigen Kirchenchöre in
Italien und im katholischen Deutschland nach den Be-
richten von Gr^try, Burney und Schubart kennt. Eine
Besetzung des Soprans mit einem oder zwei ganzen
Knaben war die Regel; nimmt man dazu, daß an Orten
wie Mailand ein einziger Kapellmeister (San Martini] die
Hälfte aller Kirchen zu versorgen hatte, so ergibt sich
der Schluß «auf die Leistungen allein. Eine erträgliche
Chormusik fand man nur ausnahmsweise, etwa in Padua
und München, solchen Ausnahmen steht die Tatsache
gegenüber, daß der römische Chorgesang als > Geschrei«
bezeichnet wird, daß in Ulm beim Beginn der Figural-
musik die Gemeinde davonging. Was war natürlicher
als daß da die Komponisten in ihren Messen den Schwer-
punkt auf den Sologesang und in den instrumentalen Teil
legten? Für jenen konnten sie auf die Kunst der Kastra-
ten, für diesen mindestens auf eine fertige Technik rech-
nen. Beide standen, nachdem die Kirchensonaten und
das Kirchenkonzert iJIre Selbständigkeit aufgegeben und
sich in Form und Charakter der Kammermusik ange-
schlossen, im Zeitgeschmack gleich hoch, insbesondere
nahmen in der Meßmusik Symphonien und Konzerte
einen sehr breiten Platz als Eingangs-, Ausgangs- und
Zwischenstücke ein. Ihre Ausstaffierung mit Konzerten
wird am reichlichsten durch die Autobiographien von
Dittersdorf und Gyrowetz belegt, die Rolle, die die Sym-
phonie darin spielte, ergibt sich aus Burney, der in
Venedig mehrere Messensymphonien für zwei Orchester,
von Galuppi sogar eine für sechs Orchester hörte. Bruch-
stücke solcher Symphonien aus Messen Habermanns
sind kürzlich veröffentlicht worden*). Wie die selb-
ständige Instrumentalmusik in Kirche und Messe, ver-
weltlichte folgerichtig auch die Orchesterbegleitung in
den Messen. Das lag schon in dem Übergewicht der
Violinen. In Deutschland ist es der jüngere G. Reutter,
der alle diese Elemente der Entkirchlichung in der Messe
sammelte und damit die Arbeit von Fux vernichtete.
Auch Joseph Haydn und W. A. Mozart sind von seinem
Einfluß soweit ergriffen worden, daß ihre Messen weder
zu ihren noch zu den Hauptwerken der Gattung gezählt
werden können.
J. Haydn den Symphoniker gegen Unterschätzung J, Haydn.
zu verteidigen ist eine zeitgemäße Pflicht, aber sich für
Haydn den Messenkomponisten zu ereifern, darf füglich
den blinden Verehrern des großen Meisters, darf Leuten
überlassen bleiben, die es an der Ordnung finden, wenn
Messen ohne Kenntnis des Textes angehört und beur-
teilt werden, für die an Festtagen ein Kyrie aufhört ein
Kyrie zu sein. Es ist viel hebenswürdige, kindliche und
rührende Musik in diesen Haydnschen Messen, durch
♦) M. Seiffert: F. J. Habermann (in F. X. Haberls Jahr-
buch für 1903).
—^ 202 ♦—
die Naivität und die Herzenseinfalt des gebomen Volks-
mannes sind sie alle köstlich. Aus Menschenfreundlichkeit
und um den Ungelehrten entgegenzukommen, schreibt
Haydn« wo es nur angeht, liedmäfifg, bevorzugt die jeder-
mann vertrauten Formen der Arie und der Sonate und
hält auch die Fugen schlicht und sinnfällig. Mit diesen
Fugen sind Haydns Messen in der Auffuhrungszeit stark
populär geworden uüd es in England, auch in Osterreich
bis heute geblieben. In ihrem Verhältnis zu den kirch-
lichen Forderungen lassen sie sich in zwei Gruppen
scheiden; die vom Jahre 4782 ab geschriebenen sind
durchschnittlich ernster und weniger ungeniert Aber
auch die besten, die Cäcilienmesse, die Nelsonmesse, die
Theresienmesse sind in sich ungleich. Diese Ungleichheit
zeigt sich zunächst einmal darin, daß die Solosätze durch-
schnittlich hinter den Chören zurückstehen. Auch bei
letzteren ist zuweilen, z. B. in der heroischen Kyhefuge
der Theresienmesse, der Ton vergriffen, aber durchschnitt-
lich sind sie freier von anstößigen Stellen. Zweitens sind
die Abschnitte des Lobens, Preisens, Dankens besser als
die des Mitleides, des Klagens und Trauerns. Zwar ist
Haydns Gottesfreude der stärkste Jubel und die tiefste
Ehrfurcht versagt, sie variiert am liebsten den Ton der
Chöre der »Schöpfung,« deren Arien klingen sogar direkt
an. Aber er bleibt hier doch der Aufgabe nirgend soviel
schuldig, wie so oft bei der Wiedergabe der dogmatisch
tiefsinnigen und ergreifenden Stellen: Wie äußerlich
kontrapunktisch das »Qui tolhs« in der Messe »in tem-
pore belUc und in der Theresienmesse! Was für ein
oberflächliches »Et incarnatus« hier und in der Nelson-
messe! Der Haydn, der die »Sieben Worte«, der so schöne
Motetten wie »Insanae vanae curae« komponiert hat, ist in
den Messen nicht recht zu erkennen. Wir müssen es ihm
aufs Wort glauben, wenn er seinem Griesinger*) ver-
sichert, daß ihm die Messe zu schreiben nahe gehe und
das Höchste sei. Wir müssen uns über das Gelungene
♦) Giie»inger, A: BiograpMBche Notizen, S. 116, 118.
-^ 203 ♦—
und Geniale, was auch diese Werke enthalten, gerade
so freuen wie in der Architektur über den Wunderbau
des Markusdoms. Aber wie diesen niemand als Muster
eines christlichen Gotteshauses ansieht, so müssen wir
auch dem Erzbischof von Hohenwarth recht geben und
ihn dafür loben, daß er kurzerhand seinerzeit für die
Wiener Kirchen die Aufführung Haydnscher Messen
verbot! Unter diejenigen, welche mit dem Erzbischof
gegen die Wende unseres Jahrhunderts die Schwächen
der Messen Haydns und der ganzen Hasse-Reutterschen
Schule erkannten, gehört Tieck. Im zweiten Teile des
»Phantasus« verwirft er alle zeitgenössische Kirchen-
musik und stellt (vor Thibaut) die alten Italiener als Vor-
bild auf.
Mozarts Messen, welche jetzt, 4 6 an der Zahl, in Wi Ai Uoiaitt
der Gesamtausgabe von Breitkopf & Härtel vorhegen,
sind bis auf einzelne Ausnahmen Jugendarbeiten. Bio-
graphisches Interesse bieten alle, entweder durch rührende
Naivität, oder durch Anklänge an Mozartsche Meister-
werke. Wird aber ihr Stil an der Hoheit des Textes ge-
messen, so genügt er nur zum Teil. Denn Mozart stand
bei seinen Massen unter den Überiieferungen der neapo-
litanischen Schulen und war auch innerhalb dieser Gren-
zen noch an den persönlichen Geschmack seines Salz-
burger Brotherrn gebunden. Selbst die verhältnismäßig
reifste unter seinen Jugendmessen (Nr. 6, Fdur), die durch
kontrapunktische Arbeit durchweg auf eine höhere Stufe
gelangt, vergreift hie und da den Ton, am auffälligsten
im Kyrie.
Die hervorragendste Arbeit ist eine unvollendet ge-
bUebene CmoU-Messe, die Mozart im Jahre 1782 begann
und als eine Art Votivmesse in Salzburg aufführen wollte,
wenn er Constanze als Frau dahin brächte. Sie ist am
25. August des folgenden Jahres auch . wirklich in der
dortigen Feterskirche *- in den Lücken durch ältere
Arbeiten ergänzt — gesungen und von Mozart später
zum größten Teil für den »Davide penitente« benutzt
worden. Die früheren Messen überragt dieser Torso durch
—^ 204
die größere Anlage der Sätze > durch einen strengeren
an Bach und Händel genährten Stil. Den Chören ist er
allen zugute gekommen, und einzelne (das Kyrie, das
»Gratias,« das »Qui tollis«) sind Perlen Mozartscher Kunst,
die den Vergleich mit der Kantate »Misericordias Dominic,
mit den >Confutatis, maledictisc und ähnlichen Sätzen
seines Requiems wohl aushalten. An andern Sätzen aber
zeigt sichs, daß der Meister noch nicht durch die Schule
des Lebens gegangen war, am deutlichsten an den Sologe-
sängen. Die Sopranarien »Laudamus te< und »Incamatus
estc fallen sogar nicht bloß aus dem Gesamtton der Messe
heraus, sondern in den altmodischsten äußerUchen
Bravourstil herein. Es ist somit auch diese Messe eine
stark ungleiche Arbeit. Indes enthält sie soviel schönes
und eigenes^ daß der Versuch Alois Schmitts, diese Messe
zu vervollständigen und dem geistlichen Konzert zuzu-
führen, Anerkennung verdient. Der Bearbeiter hat für
das fehlende »Agnus Dei< nach dem auch von Süßmayer
im Requiem Mozarts benutzten Verfahren einzelner Ver-
treter der alten Vokalmesse einfach die Musik des Kyrie
wiederholt, für das Credo, das Mozart vor dem »Cruci-
fixus« abbricht, unbekanntere Kirchenstücke des Meisters
benutzt. Freilich bleibt auch jetzt noch zwischen dieser
Messe Mozarts und seinem Requiem oder gar zwischen
ihr und der Hmoll-Messe S. Bachs und der Beethoven-
schen Festmesse ein Abstand, auf den man nicht erst
durch herausfordernde Vergleiche aufmerksam machen
sollte.
BeethoTen, Beethoven hat zwei Messen geschrieben, von
Messe in G. welchen die erste (Cdur, op. 80) zwar nicht von den
Chorvereinen, aber von der Kritik in einem ähnlichen
Grade hintangesetzt zu werden pflegt, wie des Meisters
zwei erste Symphonien und andere Jugendwerke. Diese
Cdur-Messe hat allerdings an Beethovens >Missa solem-
nis€ einen unüberwindlichen Nebenbuhler; aber sie ist
keineswegs ein unbedeutendes, sondern vielmehr ein in
der Geschichte der Instrumentalmesse vollgültiges und
merkwürdiges Werk. In den Einzelheiten läßt diese
. -^ 205 ♦—
Messe berechtigte Wünsche offen, aber in der musika-
lischen Stimmung der einzelnen Sätze, in der Wahl der
meisten ihnen zugrunde gelegten Tongedanken darf sie
ein würdiges und herrliches Werk genannt werden. Die
Messe in C ist Beethovens erste Arbeit in dem eigentlich
großen Stüe geistlicher Chorkomposition. Wir wissen
nicht, ob Beethoven, sei es durch die Praxis der Bonner
Hofkapelle, sei es durch den weiten Blick seines hoch*
gebildeten Lehrers Neefe, in diesem Stile auf bessere
Muster als die in der Zeit herrschenden hingeführt
wurde. Oder war es die Kraft des eignen Geistes, welche
ihn hier, ähnlich wie in der »Trauerkantate auf den Tod
Josephs des Zweiten« und in den geistlichen Liedern auf
einen höheren Weg hob? Tatsache ist es, daß sich
Beethoven mit dieser Gdur-Messe auf einen ganz anderen
Boden stellte, als der war, auf welchem die Messen seiner
Zeit, auch die Haydns und Mozarts, zu entstehen pflegten.
Diese Abweichung von dem Hasse-Wienerischen Kirchen-
stile ist dem Werke lange Zeit übel vermerkt worden.
Der Fürst Esterhazy, in dessen Kapelle Beethoven die
Messe zur nachträglichen Feier des (^eburtstags der
Fürstin, an Maria Namensfest am 45. September 4 807
zum erstenmal aufführte, empfing den Komponisten nach
beendigtem Gottesdienst mit der Frage: »Aber, lieber
Beethoven, was haben Sie denn da wieder gemacht?«
und den zur Seite dabei stehenden fürstlichen Kapell-
meister (Hummel)* sah Beethoven, nach Schindlers Bericht,
lachen. Noch viel später war es Brauch, den kirchlichen
Charakter dieser Messe, und zwar immer im Hinblick auf
die Werke Haydn^s, zu bemängeln. Der Erste j welcher
unter den musikalischen Schriftstellern entschieden für
die absolute und relative geistige und religiöse Über-
legenheit dieser Cdur-Messe eingetreten ist, verdient
rtÜ^mend hier angeführt zu werden. Es ist Dr. F. P. Graf
Laurencin*).
*) Dr. F. P. Graf Laurencin, Zui Geschichte der Kiichen-
miiglk. Leipzig 18Ö6*
Wie an einem Geiste, der in der Messe lange nicht
so nachdrücklich gesprochen, so ist die Cdor-Messe
Beethoveh's auch an neuen Formen. reich. Am meisten
tritt unter ihnen die enge Verbindung von Chor und Solo
hervor, welche Beethoven hier angewendet hat. Ein
Wechsel von Chorsätzen und Solopartien, bald in längeren,
bald in kürzeren Abständen, war in der Instrumental-
messe von Anfang an üblich, aber das Ineinandergreifen
und Zusammenwirken beider Gruppen, wie es Beethoven
hat, ist eine taktisch viel reichere und belebtere Form,
deren Vorbilder auf dramatischem Boden, wenn auf dem
geistlicher Musik: in weiter zurückliegenden Zeiten zu
suchen sind: den antiphonischen Chorbauten der vene-
tiaüischen Schule. Das durchgehende Soloquartett, V9[elches
mit dem Chor addiert, den Vokalsatz der C dur-Messe als
einen achtstimmigen erscheinen läßt, hat die letztere mit
der >Missa solemnisc gemein.
Das Kyrie hat die Anlage einer dreiteiligen Arie.
Die Sonderung dieses Teils in drei getrennte, selbst-
ständige und thematisch verschiedene Sätze, wie sie in
der alten Vokalmesse üblich war und wie wir sie noch
in den Messen Bachs treffen, war in der Instrumental-
messe schon lange vor Haydn aufgegeben. Sie kommt
noch vor, z. B. bei Cherubini, aber nicht als Regel. Der
Hauptsatz und die mit ihm gleichlautende Wiederholungs-
partie des dritten Teils im Kyrie der .Cdur-Messe be-
ginnen mit einem liedartigen viertaktigen Thema von
frommem, hoffnungsvollem Ausdruck. Er schließt mit
einer Wendung ins höhere Pathos und bringt am Ende
eine schöne und , Andante. taucht in der
kühne Modulation. jE 18 J T "J 1 -I : Orchesterpartie
Sein erstes Motiv ™ ^ '' * der Messe wie-
derholt auf und dient im Hauptsatze des Kyrie den
Singstimmen noch weiter dazu, die angeschlagene Ge-
betsstimmung weiter zu entwickeln. Sie wird unruhige]:
und trüber, bis die Bläser das Wort ergreifen und mit
einigen wenigen Takten in den schönen warmen Mittel-
teil des »Christe eleison c (Edur) einlenken. Er ist
—^ toi
einfach, innig und kurz. Nach wenigen Perioden^ an
deren Schluß die Zuversicht auf die Hilfe des Gottes-
sohnes mit echt Beethoven^scher Entschiedenheit und
Dringlichkeit ausgesprochen ist, steigt das ohen mitge-
teilte Anfangsmotiv d^s Kyriesatzes aus der Tiefe, zu-
nächst aus den Fagotten und nach ihnen den Männer-
stimmen, wieder auf und führt uns hald in den Haupt-
satz zurück, der — his auf eine dunkle Äkkordnuance
am Schluß und ein sehr s.chön gedachtes Unisono der
still vor sich hinhetenden Sin^stimmen — wörtlich wie-
derholt wird. Das Gloria hat ebenfalls dreiteilige An-
lage. Der erste Teil, vor dem »Qui toUis« abschließend,
ist ein AUegro im raschen C- Takte. Seine erste
Hälfte rauscht in freudigem Drange vorüber; Aufent-
halt wird nur bei »bonae voluntatis« genommen und
beim >Glorificamus te«. Die Musik des Chors hat den
Charakter eines schwungvollen, feierlichen Anrufens
der Gottheit, durch kürze Stellen frommer Demut
sehr packend unterbrochen: Die bedeutendste letztere]^
Art ist die von den Hörnern eingeleitete bei »Et
in terra pax«. Die Einheit des ganzen Abschnittes
wird formell durch e ' j. . , ausgeprägt,
das immer wie- ^" j ^ J JJ J ' J ^ ^ Die zweite
derkehrende Motiv Hälfte des
ersten Teils besteht aus einem innig und ruhig ge-
haltenen Tenorsolo auf die Worte: »Gratias agimus
tibic, in dessen Satzendungen der Chor bekräftigend
einfällt Der zweite Teil des Gloria ift ein Andante
mosso im ^/^-Taki (Fmoll), vom Soloquartett mit herr-
lichen Gebetsmelodien, aus denen Hingebung und auch
ein leises Zagen spricht, ausgeführt. Der Chor schließt
sich nur einmal psalmodierend an und tritt erst in
der zweiten Hälfte, von dem feierlich erstaunten >Qui
sedes« an, in Wirksamkeit. Nachdem er zuerst das
»Misererec in angstvoller Steigerung ausgesprochen hat,
führt er es in dem vertrauensvollen kindlichen Tone
weiter, mit welchem das Kyrie begann, auch mit
Benutzung des Hauptmotivs desselben. Den dritten
208
Teil, d. i. den Schluß des ^^__^_.
Gloria bildet ein kräftiger A n p* p | J p ■ | p |i j und
Satz; in welchem die Motive qlao.al. «d tn to.£u
I I I 7| I I
'M r 1 1 r I I r r f p MT r
CiuB tui^t« ipi.ri.ta bfio.ci.s Oe.l P».fr{s.
in engen kontrapunktischen Verbindungen, in einzelnen
Abschnitten fugenartig, durchgeführt werden. Das »Amen«
erhält eine besondere Auszeichnung durch Harmonien,
Deklamation und eigenen thematischen Nachgesang.
Im Credo, dem gefürchtetsten Text, den die geist-
liche Vokalkomposition überhaupt bietet, tritt das
Beethoven von seinen unmittelbaren Vorgängern und
Mitarbeitern unterscheidende Prinzip des musikalischen
Entwurfs der Messe am klarsten hervor. Es ist die Be-
achtung des Sinns aller einzelnen Sätze, Satzteile und
bedeutungsvoller Einzelworte. Während andre sich
darauf beschränken, die Hauptstimmung eines ganzen
Abschnitts wiederzugeben und auch diese Aufgabe wohl
der Bequemlichkeit des formellen Entwurfs unterordnen,
geht Beethoven an keinem Begriffe vorbei, welcher eine
eigne Geltung hat. Die Folge davon ist, daß der Chor-
satz im ersten Teile des Credo (bis zum »Et incamatus
est«), dem Hörer keinen thematischen Anhalt bietet. So-
viel Motive, als der Text Begriffe bietet. Doch ist der
Empfindungsgrund, aus welchem sie geschöpft sind, der
gemeinsame einer des Staunens vollen, manchmal in
scheuem Tone sich äußernden Bewunderung. Im Orchester
hat Beethoven die Zusammengehörigkeit dieser vielzah-
ligen Deklamationsab- Aüegro. auszudrücken
schnittchen durch das '^ i| J^J | J J | n = gesucht. In
Festhalten des Motivs ff * i V den Biogra-
phien des Tonsetzers wird über den Ursprung dieses Mo-
tivs eine Anekdote erzählt. Mit dem Eintritt der Worte:
»Qui propter nos homines« wird der etwas starre Dekla^
mationston des Satzes weicher, und leitet sehr schön in
den Mittelteil des Credo, den Abschnitt von »Et incar-
natus< bis zum »Et sepultus est« über. Die ganze
-3^ t09 * —
Partie, an der das Soloquartett wieder hervorragend be-
teiligt ist, klingt wie in Andacht getaucht. Besonders
treten die schmerzlichen Rufe beim »passus« hervor;
femer die eingeschalteten Klagemotive der Instrumente
und der mit einer stechenden Dissonanz der Altstimme
gefärbte, hinsterbende Schluß des Chors. Mit dem »Et
resurrexit«, welches den Schlußteil des Credo beginnt,
wird der Ausdrux^k wieder freudig, zuweilen bis zu einem
stürmischen Grade. Die Deklamation hat stellenweise
einen geradezu streitbaren Charakter. Ruhiger gehalten,
breiter aussingend, ist fast nur der Abschnitt des Solo-
quartetts: »Et in spiritum sanctum«. Auch in diesem
dritten Teile des Credo bleibt die Genialität wieder zu
bewundern, mit welcher Beethoven die Einzelheiten im
Text mit einem einzigen Strich eindringlich veranschau-
Ucht. Man vergleiche die Töne und Farben beim Er-
scheinen der.Propheten (»Qui locutus est usw.«) und dann
wieder an der Stelle, wo der Toten gedacht wird. Die
herkömmliche Fuge beim »Et vitam venturi saeculi« be-
setzt Beethoven mit einem rollenden Thema und bedient
sich in seiner Ausführung verschiedener Mittel der Span-
nung; namentlich am Schlüsse des Ganzen.
Das Sanctus ist ein sehr kurzer Satz. Die Bläser
eröffnen ihn mit einer erwartungsvollen zarten Musik,
welche von den Singstimmen aufgenommen und mit
feierlich fremdartigen Modulationen weitergeführt wird.
Das »Pleni« ist festlich mit schmetterndem Ausklang,
ebenfalls sehr kurz; das »Osanna« ein fugierender Satz
über ein Thema, welches Glück und Dankbarkeit zu atmen
scheint. Während in diesem Teile alle Weisen rasch ab-
brechen, hat das »Benedictus« eine außerordentlich breite
Anlage. Es beginnt im Soloquartett in sehr einfacher,
frohfrommer Stimmung, die allmählich in ein Schwelgen
von Se]:inen und Begrüßen übergeht. Der Chor summt
erst leise nach, gerät dann aber in Begeisterung und Ver-
zückung. Beethoven führt ihn in diesem Satze vorwiegend
in Unisonos. Die Wiederholung des »Osanna« schließt die
Abteilung.
II, 1. U
Das Agnus dei beginnt mit zitterndem Orchester,
der Chor ruft in heftiger Angst: die Stimmung des Satzes
ist außerordentlich unruhig und gedrückt; fast das einzige
freundliche Element in ihm die Achtelfigur der Instru-
mente. Mit letzterer leitet die Oboe den Übergang ein zu
dem »Dona nobis«. * Der Einsat? des unbegleiteten Solo-
quartetts, der ruhige Ton sicherer Hoffnung, der daraus
klingt, läßt dieses einfache Sätzchen wirken wie reinen
Himmel nach schwarzen Wolken. Lang hin breiten sich
die Akkorde auf das »pacem« aus; der Chor wiederholt
den Friedensklaiig, zuweilen heftig, wie von einem Rest
der Beklommenheit getrieben. Sie bricht auch wirklich
nochmals hervor und äußert sich bei der Wiederholung
des »Agnus dei, qui toUisc noch einmal kurz in dem
Schreckenscharakter, mit dem der Satz anfing.
Im Jahre 4 813 erschien eine Partitur ausgäbe der
Cdur-Messe (bei Breitkopf & Härtel) mit dem Nebentitel
»Drei Hymnen usw.<. Diese Bezeichni^ng, ersichtlich auf
die Verwendung des Werkes im Konzert berechnet, läßt
sich, bezüglich der Dreiteilung, wenigstens aus dem
liturgischen Verhältnis der Sätze rechtfertigen. Denn im
Hochamte bilden Kyrie und Gloria, und ebenso Sanctus
und Agnus dei geschlossene und zusammenhängende
Akte. Die dieser Ausgabe beigegebene deutsche Ober-
setzung — »Tief im Staub anbeten wir dich, den ew'gen
Weltenherrscher usw.« — wird den Deklamationseigen-
tümlichkeiten der Beethovenschen Musik sehr wenig ge-
recht und ist glücklicherweise gegenwärtig wieder außer
Brauch gesetzt.
L. y. Beeihorea, Die zweite Messe Beethovens, seine ebenso bewun-»
Missa derte als gefürchtete »Missa solemnis« (Ddur, op. 128), ist
solemnis. das Werk des in doppelter Schule von Leben und Kunst
zu vollster Eigentümlichkeit ausgereiften Meisters. Zeit-
lich und geistig eine Art Nachbarin der neunten Sinfonie
(op. 125), steht sie über der Vorgängerin in C durch die
Freiheit und Bestimmtheit, mit welcher Beethoven in
dem neuen Werke seine IndividuaUtät walten läßt, durch
die Größe und Fülle der musikalischen Formen. Aber im
2n ^^
technischen Plane und in den geistigen Anschauungen
zeigen sich heide Werke als Geschwister. Gemeinsam ist
ihnen der hohe Ernst in der Erfassung, des Textes im
ganzen, gemeinsam die Richtung auf anschauliche Aus-
gestaltung aller einzelnen Worte von Bedeutung. Die
verwandtschaftliche Ähnlichkeit läßt sich bis auf die
ziemlich wörtliche Übereinstimmung in der Wiedergabe
bestimmter Züge verfolgen. Beim Vergleich deir Stelle
»passusc in beiden Messen dürfte sie am klarsten hervor-
treten.
Beethovens Messe in D gehört unter den auf Er-
neuerung der Kunst gerichteten Werken seiner dritten
Periode zu denjenigen, bei welchen es sich der so wie
S3 kritischste aller Tonsetzer ganz besonders hat sauer
werden lassen. Schindler, dem wir in diesem Punkte
. Glauben schenken dürfen, schildert drastisch den Zustand
der Aufregung, in welchem sich der Meister zu wieder-
holten Malen während der Zeit befunden hat, in welcher
das neue Hochamt in seinem Innern nach Gestaltung
rang. Die Skizzen zu dem Werke, wie sie uns neuer-
dings aus Nottebohms Nachlasse*) vorgelegt worden sind,
bilden klassische Zeugnisse für die einzelnen Stationen
dieses heißen Mühens und bestätigen wieder die ganz
eigentümliche Art, in welcher Beethoven die Form dem
Geist unterzwang. Wie in einer poetischen Vision
leuchtete ihm der Punkt voraus, welcher der geistige
Mittelpunkt eines, großen Gebildes werden sollte. Ihn
festhaltend, steuerte er sein Schiff in tausend Wendungen,
kreuzte und kämpfte wie ein Cohimbus, bis der sichere
Weg gefunden war. Eine Stelle, die dieses Verfahren in
ähnlicher Deutlichkeit und Besonderheit, wie -die be-
rühmte Hornstelle in der »Eroicac veranschaulicht, ist in
der Ddur- Messe die Einführung der Kriegsmusik im
Agnus dei. Sie wurde zur fixen Idee bei dem Entwurf
dieses Satzes, der Pol, um den die Fantasie des Meisters
in immer neuen Versuchen kreiste. Die Skizzen zu der
•) Nottebohm, G., Zweite Beethovenlana, Leipzig 1887.
U*
— ♦ 242 ♦>—
»Missa solemnis« umfassen die Jahre 4 848 bis 4822, eine
Zeit, die in der äußeren Geschichte des Meisters sich
ziemlich schm.erzlich auszeichnet. Beethoven begann
die Komposition, als die Ernennung des Erzherzogs
Rudolf, seines Schülers, zum Erzbischof von Olmütz be-
kannt wurde. Sie sollte als Festmesse bei der Einführung
im nächsten Jahre dienen, wurde aber erst Ende des
Jahres 4 822 > fertig. Von der Aufführung einzelner Sätze
des Werkes i. J. 4 823 ist oben schon die Rede gewesen.
Vollständig kam die Messe zuerst im Jahre 4 824 zu Gehör
ui^ zwar in Petersburg, wo Fürst Galitzin das Werk für
ein Konzert der Musikerwitwenkasse erworben hatte, —
ein Ereignis, welches aber, abgesehen von einem kurzen,,
entzückten Bericht in der Allgemeinen musikalischen
Zeitung für jene Zeit spurlos vorüberging! Die nächste
nachweisbare Aufführung fand in einem jener stillen,,
musikalisch aber schwungvollen und reichen Winkel
statt, an denen Deutschland auch jetzt, in der Zeit der
hereinbrechenden Zentralisation glücklicherweise noch
nicht ganz verwaist ist: in der böhmischen Lausitz zu
Warnsdorf, i. J. 4830 unter Leitung des Kantors J. V. Richter.
Weihnachten 4 832 dirigierte sie Moscheies in einem Privat-
konzert des Mr. Alsager zu London. Die Aufmerksam-
keit größerer Kreise und die Popularität, welche Beethoven,
trotz der hohen Meinung, die er von seiner »Missa so-
lemnisc hegte, selbst erst von einer späteren Generation
erwartete, kam, nachdem das Werk i. J. 4 844 auf einem
rheinischen Musikfeste durch H. Dorn vorgeführt worden.
Gleich im folgenden Jahre, 4845, brachte sie E. F. Richter,
der spätere Thomaskaiitor, einer der trefflichsten unter
den Musikern, welche prunklos in dieser Stadt gewirkt
haben, in Leipzig zu Gehör. Es kann nicht die Aufgabe
sein, hier die langsamen Schritte in der Statistik der
praktischen Einführung der »Missa solemnis« alle nach-
zuzeichnen. Einen Wendepunkt, von dem aus es rascher
ging, bildet das Jahr 4868 dadurch, daß von jetzt ab
Carl Riedel mit seinem Verein für das Werk in regel-
mäßigen Aufführungen nicht bloß in Leipzig, sondern
--^ 2U >—
auch auf den Festen des AllgemeinenDeutschenMusikvereins
eintritt. Heute ist es allen bedeutenden Chorvereinen pflicht- ,
mäßig bekannt. Die einzige Stelle, wo es alljährlich auch
im Gottesdienst erscheint, ist der Dom zu Preßburg*).
Dem Vergleich von Beethovens >Missa solemnis« mit
Bachs »Hoher Messe« ist wohl jeder Leser schon begegnet.
Die beiden Werke haben Äußerlichkeiten gemein: die
Schwierigkeit der Ausführung und, in verschiedenem
Grade, auch des Verständnisses, die große Länge, welche
sie für die Liturgie ungeeignet macht Aber die inneren
Berührungspunkte sind nicht zahlreich. Schon der Ent-
wurf der Form, das musikalische Gewebe beider Werke,
zeigt auf einen ganz verschiedenen Geistesgrund: Bach
vertieft sich ruhig in breiten Einzelbildern, die er zu
großen Zyklen aneinanderreiht, Beethoven drängt Ereig-
nisse und Figuren in große Gemälde zusammen und sucht
die Massen durch scharfe Charakteristik aller einzelnen
Erscheinungen und Gruppen zu sondern und zu klären.
Die Methode des Entwurfs unterscheidet sich bei beiden
Meistern wie Stollen und Schacht. Der Vortrag der Ge-
danken ist bei Bach durchaus melodisch-kontrapunktisch,
bei Beethoven zur guten Hälfte deklamatorisch. Beethovens
Messe macht nach Anschauung und Ausdruck an die
geistige Mitarbeit des Zuhörers größere Ansprüche als die
Bachs und setzt namentlich in den großen Sätzen: Gloria
und Credo einen schnellen und beweglichen Geist und
ein scharfes Tonverständnis voraus.
Diejenigen Sätze, welche die wenigsten Schwierigkeiten
bieten, sind Kyrie und Sanctus.
Das Kyrie ist, wie in dei^ Cdur-Messe, dreiteilig;
erster und dritter Teil sind nahezu gleichlautend. Der
Satz, welchem Beethoven die Vortragsbezeichnung »Mit
Andacht« gegeben hat, beginnt mit einem Vorspiel des
Orchesters, in welchem die Blasinstrumente das Haupt-
thema des Kyriesatzes vortragen. Beethoven hat in
*) Hans Volkmann: B. Volkmann, S. 109. Um 1845 scheint
sie anch Moritz Hauptmann Tersnchsweise für die Leipziger Kirchen
benatzt zu haben (Hauptmanns Briefe an F. Hauser, II, 28).
t
seiner D dur-Messe den Blasinstrumenten besondere Auf^
merksamkeit geschenkt; hier im Kyrie beruht ein Teil
der feierlichen Wirkung des Satzes auf der Verwendung
ihrer Klänge. In dem Band von Skizzenheften , welche
den Jahren 4 819 bis 4822 angehören, befindet sich eine
Bemerkung: »Das Kyrie in der Neuen Messe bloß mit
blasenden Instrumenten und Orgel«. Wir wissen nicht,
ob sie sich auf das Kyrie einer etwaigen, geplanten
dritten Messe oder auf das Kyrie der >solemnis« bezieht.
In letzterem Falle müßte dieses später entstanden sein
als die ihm folgenden Sätze. Jedenfalls beweist sie, daß
Beethoven den Blasinstrumenten in der Kirchenmusik eine
außerordentliche Bedeutung beilegte.
Nachdem das Orchester so den Grundton für die
Stimmung des Kyrie gegeben hat , naht sich die Sänger-
schar, Chor und Soli, in ehrfurchtsvollem Schritt. Dreimal
wird der Name des Herrn, wie unter langen Verbeugungen,
angerufen, sie treten dem Throne in gemessenen Absätzen
näher und nun erst spricht der Führer die Bitte aus:
»eleison«. Es ist ein Gnadenruf aus frommen guten Herzen,
aus reiner, aber demütiger Seele. Das ganze Thema sieht
folgendermaßen aus:
Assai sostenvto. Jen.Soio ' S«p.Soto
Chor Ky - - .- ri . e, Choj_ Ky_
AltSdo
»i - •. Ckor Ky . . . ri . e • . lel . . »<»|.
Ky . . ti .
Es ist wieder in ganz eigner, lebendiger Art aus dem
Zusammenwirken von Chor und Soli entwickelt Für den
thematischen Aufbau des Satzes ist das eingehakte Motiv
wichtig, namentlich die Quar- . ...'-^^'''■■■"'"'"Vr"^
tenwendung. Aus ihr ist auch j^ r^ljT T Fl
das herzliche Zwischenspiel HF ' ' ' ' "^ '
gezogen, mit welchem die Bläser der auf einem gemein-
schaftlichen Ton schlicht hinhetenden Chorgemeinde
wiederholt im Satze Vertranen und freudige Zuversicht
. zuzusingen scheinen. Und tatsächlich beherrschen diese
Empfindungen den Satz und heben sich zum Ausdruck
einer unverhohlenen naiven Freude, als sich der Gebetsakt
mit dem »Ghriste eleisonc dem Sohne Gottes zuwendet.
£s liegt in diesem mit dem frischen, muntern Rhythmus
einsetzenden Teil des Kyrie, in diesen unaufhörlichen,
freundlich lebendigen Zurufen, in diesen kosenden Figuren
etwas vom Reize einer Kinderszene. Doch bleibt der
ehrfürchtige Charakter gewahrt und kommt namentüch
, in dem leisen, auch den, Abschiedsschmerz andeutenden
I Schlüsse zum bestimmten Ausdruck.
Das Gloria hat vier Hauptteile: die mittleren sind
kürzer, der anfangende und schließende sehr ausgedehnt
und gliederreich. Der erste Teil, dessen letztes Glied das
»Domine Dens rex Christe« bildet, ruht auf dem jubelnden
Thema, mit welchem die ^ ^ Aüegro vivace. ^. ^ •^^ .^
Anfangsworte des Glo- [ft'^H (* p p |P P T P | 1 |^g
ria selbst einsetzen: oio.ri.» iB«ueei.us O0 . * oi
Es gleicht in seiner einfachen Fassung mancher alt-
kirchüchen Intonation und hat vielleicht eine wirkliche
liturgische Quelle. Beethoven hat ihm eine elementar
fortreißende Kraft entlockt und verwendet es oft wie
einen unwiderstehlichen Lockruf der Begeisterung. Mit
ihm schwingen sich die Chorstimmen von Höhe zu Höhe,
mit ihm rufen die Stimmen des Orchesters, die es zu-
gleich häufig erweitern und umspielen, von den Stellen
andächtiger Sammlung wieder hinweg zu mächtigen
Ausbrächen der Freude an Gott. Die Episoden, welche
von diesem Grundcharakter des ersten Teils des Gloria
sich absondern, sind das freundlich ruhige: »Et in terra
pax«, das auf festem Motiv fugierende »Glorificamus te<
und das »Gratias agimus tibi«. Letzteres bildet den längsten
Zwischensatz in diesem Teile. Es ist eine langsamer ein-
setzende Musik, mit dem Charakter zarter Anmut, wie er
in den Messen der Beethovenschen Zeit für diese Worte
—^ 2<6 ^>—
üblich, geworden, war. Die Alten, denen sich auch
S. Bach in der »Hohen Messe« angeschlossen hat, ziehen
in der Regel eine feierliche Weise des Dankes vor. Den
höchsten Grad von Weihe zeigt hier z. B. Palestrinas
»Assumpta est Maria«. Eine der Beethovensohen Auf-
fassung näherstehende Ausnahme findet sich in der
fünfstimmigen Fdur-Messe des Orlando di Lasso. Beim
»Domine deus« nimmt das Orchester das Gloriathema
wieder auf, der Chor deklamiert die Anreden des Höchsten
mit nachdrücklicher Betonung dazwischen, namentlich
von dem Begriffe des »omnipotens« aufs Höchste er-
griffen. Eine kurze Wendung weicherer Art tritt wieder
ein, als sich die Soli dem Sohne Gottes' mit: »Domine
fiU unigenite« zuwenden. — Den zweiten Hauptteil des
Gloria bildet das »Qui tollis peccata mundi«, ein Satz,
der durch Tempo und Tonart (Larghetto 2/4, Fdur) sich
scharf von dem vorhergehenden abhebt. Der Verstoß
gegen Grammatik und Sinn, welcher darin liegt, daß der
Relativsatz ganz vom Subjekt getrennt ist, war allem
Anscheine nach durch die Tradition selbst für den
scharfen Kopf Beethovens geheiligt. Mit schwerem
Herzen wird hier des Leidens Christi und der Sünden
der Menschheit gedacht, um Erbarmen und Erhörung
geheten. Instrumente und Singstimmen fangen be-
klommen an, die Töne fallen wie Lasten, die Melodien
teilen sich zwischen Zagen uhd Inbrunst, und der Chor
steht oft wie scheu und mit gelähmter Zunge in der
Ferne und stammelt nach, was die Solostimmen für ihn
gesprochen. Besonders rührend sind die Stellen des
»suscipe deprecationem nostram«. Merkwürdig, .ja ab-
sichtlich gewaltsam sticht gegen diesen Ton der Zer-
knirschung und des Kleinmutes der kräftig imposante
Ausruf ab: »qui sedes ad dexteram patris«. Die Szene
verklingt wie eine ungelöste Frage, die Pauken geben
noch einige Tropfen Schauer hinzu, dann richtet sich
das Orchester plötzlich fest auf: der dritte Hauptteil, das
»Quoniam«, beginnt. Es ist ein kurzer Satz, mehr
deklamiert als gesungen, technisch interessant durch die
— ^ 217 ♦—
scjiarf berechnete Verteilung der Akzente, von denen
die harmonisch ausgedrückte Betonung des »tu« schon
häufig erwähnt worden ist. Der vierte Hauptteil enthält
nur die Worte »in glori'a dei patris, Amen!« Er zerfällt
wieder in drei Abschnitte. Der erste ist eine Fuge über
das Thema:
AUegjo ma non troppo ^^,^ ^^^.^^ ^
tD glo . . . . . rL» De.i pa ■ Uris, a .
das in seinem Achtelteil und in dem aus Vierteln ge-
bildeten Motiv gesondert durchgeführt wird. Der zweite
Abschnitt ist im wesentlichen nur eine Fortsetzung des
ersten, gesteigert durch schnelleres Tempo und das Zu-
sammenwirken von Soloquartett und Chor, im Inhalt da-
durch erweitert, daß das Thema des »Quoniam« rhythmisch
mit anklingt. Von besonäerer Gewalt sind die wenigen
Takte, wo die sämtlichen Stimmen das Achtelmotiv
unisono singen. Beethoven ließ sich mit diesem mäch-
tigen Ausdruck himmlischer Freude noch nicht genügen
und nahm noch einen frischen Aufschwung zu einem
dritten Abschnitt. Dieser bringt die' Worte und das Thema
vom Anfang des ganzen Gloriasatzes, aber im Presto,
wie in einem Rausche des Entzückens, ebenso kurz als
kühn und fast verblüffend. Die ÄhnUchkeit mit dem
Ende des Finale der neunten und fünften Symphonie ist
nicht zu verkennen. Das ganze Gloria verlangt von den
Ausführenden sehr viel. Im Chor hohe Töne ohne Zahl,
im Orchester namentlich für die Posaunen Figuren, dife
fast unerhört sind.
Noch schwieriger ist aber das Credo. Dem Chor
mutet es große Anstrengung zu; dieiSoprane sind gerade-
zu rücksichtslos behandelt. Aber auch dem Hörer wird •
es wenigstens in der ersten Hälfte des Satzes nicht leicht
gemacht, da die AU9manontropp*. beherrscht den Satz
Motive sehr viel ib.i. f* r if j ~ ^^^ ^^^ ^^ ^®^ Stelle
wechseln. Das ""'^ K ' I I ' f = »ante omnia saecu-
Eingangsthema cro.do. «0.40. j^^ ^^^ tj.j^ ^^^j^^^
erst nahe am Schlußteile wieder hervor. Es spricht den
festen und freudigen Ton des Bekenners. Marx hat aKer
wohl etwas hineingehört, was nicht darin liegt: ein »Muß«,
einen Kampf und Trotz gegen den Zweifel. Weder der Auf-
bau dieser vier Noten, noch ihre Durchführung ist so ganz
und gar ohne Vorbild, wie dieser Erklärer meint. Wir wer-
den in beiden Beziehungen unmittelbar an das Credo in
Mozarts Fdur-Messe (Nr. 6) erinnert, in welcher das —
auch aus dem Finale der Jupitersymphonie bekannte —
Hauptthema eine ähnliche Behandlung erfährt Festig-
keit, Kraft und Entschiedenheit kennzeichnet die ganze
Eingangspartie von Beethovens Credo. An der Stelle,
wo Gott als Vater betrachtet wird, sänftigt sich der Ton
auf einen Augenblick und wir hören aus dem Orchester
einige Takte lang liebliche Motive. Der erste tiefere Ein-
schnitt in dem Strom des Bekenntnisses wird bei der Stelle
»etinvisibilium« gemacht. Ein piano — das oft gebrauchte
koloristische Mittel zur Auszeichnung des Wunderbaren
und Geheimnisvollen — hebt diesen Schluß noch deut-
licher hervor. Ein zweiter, ähnlich gehaltener, kommt
an der Stelle »ante omnia saecula«. Nun bringt Beethoven
die Haupteigenschaften des Gottessohns mit besonderen
Motiven, freudig staunend »Deum de deoc und »non
factum« aber kurz; länger und mit breitem Nachdruck
auseinandersetzend das »consubstantialem per quem
omnia facta sunt«. Wie in der Cdur-Messe ist der Ge-
danke, daß Christus für uns vom Himmel herabgekommen:
»qui propter nos homines usw.« mit einer rührenden
Musik wiedergegeben, in der jedoch auch die Wortmalerei
hervortritt (auf »descendit«]. Sie ist noch einfacher und
inniger als in dem Schwesterwerke und leitet zu dem
schönen Mittelteile des Credo über, der die Mensch-
werdung des Gottessohnes, sein Leiden und Sterben be-
handelt. Seine beiden Abschnitte, das so fremdartig und
leer begleitete »et incarnatus est« und das aus echtesten
und edelsten Schmerzenstönen zusammengesetzte »Cruci-
fixus« gehören zu den ergreifendsten Leistungen der
Tonkunst. Der Chgr gibt auch wirklich an mehreren
Stellen dieses Mittelteils das Bild der schmerzei^griffenen
und in Trauer stumm gewordenen Gemeinde wieder: Er
flüstert in kaum bewegtem Tonsatz. Den großen Gegen-
satz der Auferstehung: »et resurrexit« leitet Beethoven
wie eine Verkündigung aus Priestersmunde ein. Die
Stelle wird a capella und in den altertümlichen Harmonien
des a capella-Stils gesungen. Erst mit dem »ascenditc
tritt das Orchester wieder seine schwungvollen Gänge an
und streut freudige Motive aus. Zu den Besonderheiten
Beethoven scher Däklahiation gehört die Stelle, wo der
Sopran am Schlüsse des Auferstehungsteils nochmals für
sich das »cum gloria« hinausjauchzt. Furchtbar, ernst
und hart ist die Erscheinung des jüngsten Gerichts, des
»judicare«, in Instrumentierung und Harmonie hingestellt.
An letzterer hat Beethoven, laut Skizze, mit einem kaum
zu verstehenden Eifer sich gemüht. Nach diesem Ab-
schnitt kehrt das Credothema wieder und leitet zu dem Ge-
danken an das ewige Leben über. Als er zum erstenmal
auftritt, unterbrechen vielsagende Pausen zwischen »et«
und »et« die Deklamation. Die himmlische Herrlichkeit
schildert Beethoven auf Grund des Thema:
Alleg^retto ma dod troppo ^^^
fipr ir r I n I iilTT I , iiiiTrrirrr
Et vi. tarn *ao . tu . rl sa« . .«u.U. a... men, « . ai«n.
Es atmet jene fromme Sehnsucht nach Ruhe und Frieden,
in deren Ausdruck Bach der größte Meister ist; der
Fugensatz, welcher darüber gebaut ist, führt das schöne
Bild eines leidenschaftslosen Glücks aus. Es sind aber
auch leise Anklänge der Traurigkeit hineingemischt; an-
gesichts deren es sehr zu verwundern ist, daß sich Aus-
leger*) dieses Satzes haben verleiten lassen, diese Musik
heiter scherzend und ein Allegretto aus »lachendem
Munde« zu nennen. Die Schuld an diesem Mißver-
ständnis trägt wohl Beethovens unleserliche Handschrift.
Der Drucker hat an einer Stelle, wo Beethoven den
*) Helmsoetli : L. v. Beethoveni Missa solemnis, Bonn 1845.
—-fr 220
Einsatz des Altes mit »sforzando« sehr deutlich wünschte,
»scherzandoc gelesen und gesetzt. Nach einem solchen
elegischen Abschluß der Fuge ist es, wo Beethoven den
Ton seiner Schilderung ändert: AUo. con moto tritt ein,
das Thema kommt in der Verkürzung und der Satz
wird zum Gemälde einer übermenschlichen^ gewaltigen
Himmelslust. So klingt er aus; nur ganz kurz vor dem
Schluß blinken aus der Höhe noch einmal mildere
Sterne.
In der älteren Messe bildet das »ßehedictus« nur- einen
kurzen Zwischensatz im Sanctus; in der weiteren Ent-
wicklung der Instrumentalmesse wurde es aber mehr und
mehr der Hauptteil. Mit den Wienern hat^ Beethoven
schon in seiner Cdur-Messe das >Benedictus< so breit
ausgeführt, daß die eigentlichen Hauptsätze des Textes
nur wie kleine Eingangssäulen vor demselben stehen. In
der >Missa solemnis« aber hat er nicht nur ein sehr langes,
vielleicht das längste »Benedictus« unter allen vorhande-
nen, geschrieben^ sondern auch das anerkannt und denk-
bar schönste. Der Satz hat einen eigentümlich erheben-
den und fesselnden Klang, als tönte er in der Nacht aus
den Himmelshöhen herab. Palestrina hat manchmal ähn-
liche Wirkungen durch Sopranensembles. Die Solovioline,
welche aus den höchsten Lagen sich in ruhigen Schritten
herabsenkt, strahlt einen sanften Glanz aus; wieder spie-
len in der Begleitung die Blasinstrumente eine besondere
Rolle. Die Melodie, welche die Geige singt, ist von einer
Einfachheit und Anmut, welche unmittelbar zum Herzen
dringt und Echos weckt Wir ünden nichts natürhcher,
als daß die anderen Instrumente, die Sänger im Quartett
und im Chor dieäe süße Tonerscheinung mit verhaltenem
Atem nur in leisen, murmelnden Lauten wie ein Wunder
begrüßen und wenn sie singen, nichts tun, als die Weisen
dieses wunderbaren Violinspiels in immer neuen Wen-
dungen zu wiederholen. Besonders hervorzuheben ist
aus dem Vokalsatz die Stelle, wo das Soloquartett auf
der Fermate ausruht. Von da beginnt ein begeisterter
Ton, der in den kurzen parlando-Stellen des Chors —
*
forte vorgezeichnet! — den stärksten Ausdruck findet;
und ferner eine andere dem Schlüsse näher stehende in
welcher der Chor von der sanften Macht der Violin-
melodie gebannt, in ihr das »Osanna« intoiüert, Aus-
druck eines höchsten Entzückens, das der Verwirrung
die Hand reicht. Zum Beweise, wie Beethoven das
Schönste und scheinbar Natürlichste nicht über Nacht
kam, sei mitgeteilt, daß den Skizzen nach das >Bene-
dictus« mit einem konzertierenden Satz von vier Solo-
instrumenten ausgestattet werden, sollte. • Ein dem Grund-
motiv der Violinmelodie ähnliches war ursprünglich der
Flöte im >et incarnatus est« gegeben. In dem sehr kurzen
Hauptsatz des Sanctus, welcher durch die Posaunen seine
Klangfarbe erhält, ist eine eigentümliche Stelle am Schlüsse.
Die Solostimmen, welche das Sätzchen allein zu singen
haben, fangen hier auf einmal an zu zittern und zu
stocken: eine drastische Andeutung der überfallenden
Scheu und Angst vor dem Heiligen. Das »Pleni« und
>Osanna< weichen gar nicht von dem lauten und kräfti-
gen Stil ab, der in Übereinstimmung mit dem Text in
diesen Sätzen bei allen Instrumentalmessen der Periode
Beethovens üblich ist. Er schließt die Möglichkeit, das
»Pleni« von den Solostimmen allein singen zu lassen — t
wie die Partitur und wohl nur auf Grrund eines Schreib-
fehlers verlangt — vollkommen aus. Wie im Eingang des
Sanctus schlägt Beethoven auch nach dem energisch
abbrechenden >Osanna« den Ton ritueller Feierlichkeit
an: Es ist ein besonderer Instrumentalsatz von über-
leitendem Charakter.
Das Agnus dei beginnt Beethoven mit einer er-
greifenden Bitte um Erbarmen. Sie klingt schlicht aus
einem gnadenbedürftigen Herzen heraus und wirkt doppelt
ernst, weil sie zuerst aus dem Munde des Basses uns ent-
gegentritt Ihm sekundiert der Männerchor. Die anderen
Solisten führen das Thema, vom vollen gemischten Chor
gefolgt, breiter aus. Der Satz ist eines jener scheinbar ein-
fachen Adagios, wie sie nur ein Meister schreibt. Aus Anrede
und Bitte ist eine Szene geworden, halb Beichte und halb
--^ nt ♦^
Gericht. Bangen spricht ans dem einsetzenden Bläsermotiv,
inbrünstiger und doch verhaltener Büßerton aus den
Singstimmen. Die Übersichtlichkeit des Aufbaus tut das
übrige um diese Einleitung des Agnus tief einzuprägen und
unter den gewaltigsten Abschnitten der Messe obenan zu
stellen. Mit dem Themeneinsatz im Solosopran wird der
Satz erregter, kritisch; besonders das Orchester ist be-
wegt. Die Entscheidung fällt plötzlich mit einer Modu-
lation, nach Gmoll. Das fällige Bläsermotiv bleibt aus,
an seine Stelle tritt ein traumhaft leiser kurzer Anruf
des »Agnus Dei< in Ddur. Der Sopran setzt izum ersten-
mal das »Dona nobis pacemc ein, es ändert sich die
Szene. Das Adagio geht in ein Allegretto (^/g-Takt) über,
das die Oberschrift »Bitte um innern und äußern Frieden«
zeigt. Beethoven entwirft in ihm ein Bild des Friedens,
welches uns mit seinen kindlich glückhchen, volkstüm-
lichen Melodien, mit seinem unschuldigen Spiel auf- und
absteigender Skalengänge, in die Gefilde der Seligen
führen zu wollen scheint. Nun kommt aber eine
überraschende Wendung, an Stelle einer Fortsetzung
ein Kontrast, der vielfach zur Ablehnung des Agnus
dei Veranlassung gegeben ^ ai J>«c«° P*
hat. Die Stimmen haben das
Allegretto mit einer Art Doppel-
fuge über die beiden Thymen : "" ' pa
begonnen, setzen es aber bald unruhig, episodisch fort.
Eben stimmen die Bässe des Orchesters das Thema eines
himmlischen Reigens an, da wird in fremder Tonart ab-
gebrochen, (B dur) auch der Takt wechselt (AUegro assai, C) •
Pause, Paukenwirbel, erregte Violinphrasen. Dann eine
leibhaftige Kriegsmusik in den Trompeten, zuerst pp, noch
wie aus der Ferne; hierauf angstvolle Rezitative im Solo-
quartett! Beethoven will dem Frieden sein Gegenbild zur
Seite stellen: die Störung des äußeren Friedens, den Krieg.
Solche Anspielungen kommen im Agnus Dei und im Gloria
— hier bei »et in terra pax< — vieler Messen vor, die in
Kriegszeiten entstanden sind, in der Nähe Beethovens u. a.
bei J. Haydn und bei Holzbauer. In der »Missa solemnis«
^ paeem pa .
{/iiijTiiii j jj
erklärt sie sich durch die Erinnerung an Napoleon. Lange
hält sich indessen Beethoven nicht dahei auf. Nachdem
der Chor den Solostimmen mit einem verzweifelten »Mi-
serere nohis« beigesprungen, kehrt die Musik in die Frie-
densbahnen, zunächst im Tempo und Rhythmus, bald
auch in der ToAart zurück. Als Ddur wieder erreicht
ist, folgt eine Dankesszene. Das ist die Absicht, die
Beethoven bewog die Worte >Dona nobis pacem« jetzt
auf ein Thema aus Händeis »Messiashallelujah« durch-
zufugieren. Die Entlehnung, die durch das Skizzenbuch
noch ausdrücklich belegt wird, will sagen: >Er hat uns
den Frieden wiedergegeben. Er, »der regiert von nun an
auf ewig«. Und daß dieses Zitat verstanden werden konnte,
ist jedem einleuchtend, der über die Geschichte der Hän-
deischen Oratorien nach den Freiheitskriegen unterrichtet
ist. Bis hierher kann also der Gedankengang Beethovens
wohl frappieren, aber er hat keine erhebliche Schwierigkeit.
Aber nun kommt eine. Nämlich nach der Durchführung
des Messiasthema wird der Ton, in dem die Stimmen ihr
»pacem« aussprechen,^ nochmals unruhig, leidenschaft-
lich. Sie brechen nochmals ab und ein zweites Orchester-
intermezzo beginnt. Es pre«to.yy
dauert viel länger als das f j^i /^^iJ^ JJ?| j ^=P
erste und entwickelt sich S^r p r f ' RAf P^r f (ll
über die beiden Themen: «)^I-^' ^^ '
Der Umstand, daß sie Umbildungen und Verzerrungen
der (oben angeführten) Friedensweisen sind, mit denen das
AUegretto begann, daß sich die Gruppen des Orchesters
immer hitziger und stürmischer um sie streiten, bis end-
lich Homer, Trompeten und Pauken mit ausgesprochenen
militärischen Marschklängen einschreiten , soll auf den
Unfrieden der menschlichen Seele deuten, kaum wohl
aber ein Bild des Bürgerkriegs bieten*). Wie in der
*) Diese Ansicht ist zum erstenmal von Dr. Rudolf
Heißig in einer als Manuskript >^ gedruckten Broschüre: »Zum
Dona nohis pacem in Beethovens Missa solemnis« (1903) aus-
geführt worden.
>Eroica< und im >Fidelio< klängen nach dieser Auffassung
auch in der Missa solemnis noch einmal die Schrecken
der französischen Revolution nach. Daß das Intermezzo
als Seitenstück und als Steigerung zu der ersten Kriegs-
episode gedacht ist, geht auch daraus hervor, daß es
Beethoven ganz ähnlich beendet: mit Angstru(en der
Singstimmen, die zu dem AUegretto vivace und seinem
Friedenston zurückführen. Sie herrschen nun bis ans
Ende vor, aber doch nicht ganz unbestritten. Da gibt
namentlich das Paukensolo, das den letzten drei kurzen
Chorintonationen vorhergeht, viel zu denken, und auch
der Umstand, daß die letzten Takte mehr bloß aufhören,
als innerlich schließen, weist darauf hin, daß Beethoven
den ewigen Frieden vorwiegend als Gegenstand der Sehn-
sucht ansah. Unter den großen zeitgenössischen Musikern
begegnet er sich darin mit Cherubini.
In dem Falle der >Missa solemnis« hat die Geschichte
einmal gerecht gerichtet Das Werk verdient es, seine
Epoche allein zu vertreten. Keine einzige der vielen '
Messen, welche, während Beethoven noch lebte und in
den nächsten Jahrzehnten nach seinem Tode gedruckt
und geschrieben wurden, kann sich mit der »Missa so-
lemnis« messen. Das Urteil, welches M. Hauptmann in
seinen Briefen an Hauser über die kirchliche Komposition
vom Anfang des 49. Jahrhunderts bis zu Mendelssohn,
mit Betonung von Hummel und Reißiger fällt, ist hart,
aber nicht unbillig. Von der Mehrzahl aller in diese
Periode fallenden Messen kann man sagen, daß ihre
Musik auch einen andern Text vertragen würde. Es ist
keine zufällige, sondern eine dieser Tatsache entspre-
chende Erscheinung, wenn Haslinger in Wien unter dem
Titel »Aus Domeshallen« ein Sammelwerk herausgab,
welches beliebte und angesehene Messen aus den ersten
Jahrzehnten in einem Arrangement für Klavier allein
herausgab. Der Text blieb weg, die Chorstimmen waren
eingearbeitet Da paßte Beethoven freilich nicht hinein.
Die zweifelhafte Ehre, in diesem Museum aufgestellt zu.
werden, genossen als die ersten K. M. v. Weber mit seiner
-^ 225 ^.—
ersten Messe in G und Cherubini mit der vierten Messe
(Cdur). Einige Tonsetzer ragen mit einzelnen Werken
über die philiströse Musikanten anschauung dieser Klavier-
messen empor. Mit besonderer Auszeichnung ist unter
diesen besseren Messen die in Esdur von K. M. v. Weber, £, K. ▼. Wel>er,
die sogenannte »Jubelmesse« (zur goldnen Hochzeit des Es dui- Messe.
Königs von Sachsen komponiert) zu nennen. Sie ist ein
würdiges Werk, eines seiner bedeutendsten überhaupt
und zeigt uns den Komponisten des »Freischütz« auch
auf dem Gebiete der Gottesverehrung als eine große,
dem Profanen abholde Persönlichkeit. In den kürzlich
veröffentlichten Briefen Webers an seinen Berliner Freund
Lichtenstein bestätigt der Komponist, was man aus der
Musik allein schon sieht, noch ausdrücklich, daß er näm-
lich in seinen Messen das Beste gegeben hat, was er geben
konnte. Aus dem kirchlichen Dienst ist diese Messe glück-
licherweise noch nicht gänzlich verbannt. Als ein ähnUch
gelungenes Einzelwerk eines fleißigen Messenkomponisten
wäre dem eben genannten vielleicht die FmoU-Messe von
S. Molique an die Seite zu stellen. Einige wenige Kom- 8. Koliqne,
ponisten schlagen in allen ihren Messen bewußtvoll eine Fmoll^ Messe,
höhere Richtung ein. Zu ihnen gehört als einer der
ersten Tomasch ek, der leider über Prag nicht nachhaltig
hinausgedrungen ist. Zu ihnen gehört auch Abt Yogi er , Abt Vogler,
der sich jedoch den guten Eindruck durch musikalische
Effekthaschereien immer wieder verdirbt Am höchsten
sind in dieser Klasse die beiden Münchener Ett und K. £tt and
Aiblinger zu stellen. Sie wurden mit ihren, einer J. E. Aiblinger
weiteren Verbreitung durch Neudrucke durchaus wür-
digen Werken, die praktischen Führer einer heilsamen
Reaktion, »welche endlich zur Rückkehr zur alten Vokal-
messe geführt hat. Ihnien haben wir es in erster Linie
zu danken, daß die Messe in Deutschland nicht so tief
sank wie in Italien, wo man allmählich dahin gelangte, "^
die heilige Handlung mit aus den neuesten Modeopern
genommener Schmacht- und Tanzmusik zu begleiten.
Als die Bestrebungen dieser Männer zur Gründung eines
besonderen Vereins, des Cäcilienvereins, geführt hatten,
II, 4. 40
— <fr «26 -»>—
siegte ihre Sache schneller. Es vergingen aber viele
Jahre, ehe sie nur eine kleine Partei um sich sammeln
konnten. Ihre Gesinnungsgenossen waren Bischöfe schon
früher gewesen; die musikalische Welt hatten sie lange
gegen* sich. Als man im Anfang der dreißiger Jahre sich
von München aus entschieden gegen die Haydnsche Rich-
tung der Instrumentalmesse und ihren immer nüchterner
gewordenen Nachtrab wendete, da passierte es denn, daß
in der Hitze des Aufräumens auch Beethoven mit in den
Bann getan wurde. Uns fällt es sehr auf, in jener Pro-
scriptionsliste Cherubini in gleiche Linie mit Beethoven ge-
stellt und mit denselben Urteln »fantastisch, träumerische
belegt zu sehen. Wir achten Cherubini sehr hoch und
bedauern, daß ihn unsere Zeit vorwiegend nur plato-
nisch bewundert. Aber wir teilen die Oberschätzung
nicht mehr, die er in Deutschland im Anfang unsers
Jahrhunderts genoß. Speziell seine Messen halteiv mit
der Beethovenschen »Missa solemnis«, ja auch mit der
Cdur-Messe keinen Vergleich aus, soweit es sich um
Vertiefung und um den hingebenden Ernst handelt.
Was sie in den Augen der Zeitgenossen so hoch hob,
war die häufig auftretende Originalität im musikalischen
Ausdruck. In der geistigen Stellung zum Meßtext erreicht
Cherubini oft nicht die unterste Schicht der Beethoven-
schen Sphäre. Er bleibt in dieser Beziehung ein Kind
seiner Zeit und ein, allerdings taktvoller, Anhänger der-
selben neapolitanischen Schule, aus welcher am letzten
Ende auch die Landmessen und noch schlimmere Dinge
hervorgegangen sind. Um Cherubini nicht Unrecht zu
tun, muß man ferner berücksichtigen, daß die Mehrzahl
seiner Messen Gelegenheitswerke sind, ähnlich* wie M^huls
neu aufgefundene Krönungsmesse, wie Berlioz* Requiem,
wie ein großer Teil der bekannten französischen Kirchen-
musik überhaupt, im Hof- oder Staatsauftrag komponiert.
Daher, aus der nationalen Tradition kommt der theatra-
lische Stil, den Spohr an Cherubinis Messen tadelt, und
aus ihrem Festcharakter erklärt es sich auch, daß in
den Kyrie s verschiedener Messen Cherubinis sich die
-^ 227 ^.—
aufschlagenden Marsch- und Einzugsmotive vordrängen.
Aber sein eigenes Unrecht war es, daß er die Gelegen*
heit über den Hauptzweck setzte. \Wenn Heinse in seiner
bösen »Hildegard von Hohenthal« in einer Zeit, wo es
hoch- gar keine gab, die Konzerte für Museen des sittlich
und technisch Besten ansah, was in der Tonkunst zutage
gefördert wird, so hat sich diese Prophezeihung an Che-
rubinis Messen bewährt. Aber negativ: Sie sind von der
Tagesordnung abgesetzt worden. Von allen elf (fünf ge-
druckt), die sämtlich an einfach großen Zügen und an
Beispielen genialer Verwendung auch bescheidener Ton-
mittel reich sind, erscheint nur die Dmoll-Messe, und
auch diese nur selten, auf den Programmen.
Diese Dmoll-Messe Cherubinis, ein Werk vom Jahre L. CheraUni,
4 824, aus der besten Periode des Meisters, steht hoch Dmoll-Messe.
über dem oben gezeichneten Durchschnitt der übrigen'
und darf in ihrem^ geistigen und in ihrem musikalischen
Gehalt den beiden berühmten Totenämtern des Ton-
setzers gleichgestellt werden.
Für den Eindruck des Kyrie ist das kurze Orchester-
vorspiel, welches dem Einsatz des Chors vorangeht, be-
stimmend. Es kündet einen dramatischen Gebetsakt: ein
finsterer Zug beherrscht ihn und schreitet mit leisen Mo-
tiven schauerlicher Feierlichkeit, mit Klagerufen und mit
chromatischen Gängen der Verzagtheit über die Töne des
innigen Bittens und des freundlichen Hoffens hinweg. Die
vom Chore einfach repetierte Skizze ist in ihrer Kürze,
in ihrer Strenge, in ihrem hochgespannten Pathos ein
Meisterstück, welches Hand und Geist des Komponisten
der »Medea« so deutlich zeigt, daß man auch ohne Titel-
angabe nur auf Cherubini raten würde. Im dritten ^Teile
der Nummer, einer in dem leisen Anfang sehr schön
wirkenden Fuge über das Thema:
Allegro moderAto.
fii i|ii UM an,ijij Jjiij[jif ■MiohJ
Ky . . p|» • . la . . . ^*^ ira. e . \m ^ \ . coa. Kj . ri . •
kehrt die dumpf erwartungsvolle Anfangspartie der
4 5*
^28 ^-—
Einleitung als Anfang und als Schluß/ wieder. Aus dem
breiten Fluß dieser Fuge ragen die Stellen mächtig ein-
drucksvoll hervor, wo'die Musik unvermutet zagend ab-
bricht. Die eine ist durch Fermate und unvollkommnen
Schluß auf dem Dominantseptakkord, eine andere, gleich
bedeutungsvolle durch einen einsamen dahin irrenden
Gang der Violinen gekennzeichnet. Das »Christe eleisonc
ist den Solostimmen übergeben, welche in dieser Messe
eine größere Reihe von Sätzen allein , durchführen. In
der Stimmung geht dieses Quartett von Regungen des
Vertrauens und der Zuversicht aus und berührt nur an
einzelnen Stellen — mit mächtig ausgreifender Melodik
an den einen, mit in ratloser Kürze sich verlierenden
Motiven an den anderen — das Gebiet einer düsteren
Fantasie. Die Entwicklung der Gedanken ist sehr be-
wegt; die Form trotz der nachahmenden Führung der
Stimmen italienisch klar. Die innere Empfindung und
die harmonische Modulation sind reich an entschiedenen
Absätzen und Einschnitten.
Das Gloria der Dmoll- Messe hat drei Hauptteile.
Der erste umfaßt den Text bis zu den Worten »glori-
ficamus te«. Der Eingang ist enthusiastisch, nicht ge-
rade im kirchlichen Tone: aber die elementare Kraft,
mit welcher die Violinen heranrauschen, die Gewalt der
einfachen Gesangsmotive, der große Zug, in dem die
Harmonie sich auf dem klarsten Grunde aufbaut, reißen
alle Bedenken mit fort. Diese erste Intonation hat den
Charakter einer großartigen Fanfare. Das »laudamus«
bildet einen Anhang dazu, flüssiger in der Melodik und
mit kühnen Harmonien den Ausdruck noch steigernd.
Beim >et in terra pax< bricht Cherub ini, der Freund
scharfer Gliederung, plötzlich ab. Über die friedliche
Stille des Orchesters gleitet von Instrument zu Instru-
ment das AUegro. dahin. Man wird unwill-
beschau- A^ ^ J T}') n 1 p kürlich an Beethovens
ir.Vie Motiv C "-' " * ^ «l N «««♦ « c.
liehe Motiv ^ ^"^ •' erste Symphonie und an
den Eintritt des zweiten Themas im Hauptsatze erinnert.
Auch Haydn glättet mit diesen fünf Noten so oft die
I
l
229
hohen Wogen des Gefühls. Die Singstimmen deklamieren
dazu ruhig freundlich ihre Friedenswünsche. Dann er-
scheint das >laudamus< wieder mit seinen Achtelgängen.
Ganz eigen ist der Ge- Aüegro. ^ ^
danke der Anbetjing aus- i^a^ippirr ppjP'pr
gedrückt, nämlich mit: ^^ > L r« nnu. U «■ ^ ** ^^
Das kindlich heitere Motiv ist der unbefangene und
stärkste Ausfluß der im >et in terra« angeschlagenen
Stimmung. Cherubini hat nicht versäumt, ihm unmittel-
bar Töne von höherem Pathos nachzusenden. Mit ihnen
leitet er in die Eingangsworte >gloria in excelsis deo«
zurück und damit in eine Wiederholung der ganzen
Jubelszene über. Die Reihenfolge ihrer Abschnitte ist
jedoch frei geändert.
Der zweite Hauptteil des Gloria besteht aus dem
»Gratias« und dem >Qui tollis«. Das »Gratias« gleicht
dem Andante einer Haydnschen Sinfonie: es ließe sich
zur Not ohne Singstimmen aufführen. Die Instrumente
tauschen Motive frommer Anmut aus, das Soloterzett
deklamiert dazwischen; hier und dk vereinigen sich
Sänger und Spieler zu längeren Melodien voll warmen
Ausdrucks. Das >Qui tollis« (Hmoll, Largo), der be-
deutendste Satz im Gloria, ist ungefähr gedacht: als
ob die sündige Menschheit das Strafgericht nahen sähe:
Es naht in rollenden, tief dumpfen Figuren der Violinen,
zu denen andere Instrumente schwere Akkorde lang
lastend aushalten. Man glaubt den drohenden Ton
eines fernen Gewitters zu hören. Ein feierlich modu-
herender Takt endet die Spannung und nun stimmen
aus der Leere heraus die Menschenstimmen zagend ihr
>miserere« an.
Der dritte Hauptteil enthält das »Quoniam« und das
»Cum sancto spiritu«. Alles ist hell in der Stimmung;
die Form fugierend, aber leicht, weil reich gegliedert.
Eine sehr große Wirkung macht der erste Eintritt des
»Cum sancto spiritu« in den breiten Rhythmen und der
fast geisterhaften Instrumentierung. Man denkt, wenn
nach dem feierlich langen Hmoll- Akkord auf einmal unter
— * «30 *~
plötzlicher Todesstille die beiden Solostimmen (Tenor und
Baß) das steinerne Thema hineinrufen, unwillkürlich an
die Bibelstelle: »Denn der Geist spricht usw.«. Die Schluß-
steigerungen des >Amen« haben auf Beethovens Behand-
lung dieser Worte in der »Missa solemnis« vielleicht ein-
gewirkt.
Einen Berührungspunkt mit dem letztgenannten
Werke bietet auch das Credo. Dieses und das Gloria
Beethovens haben die hinstürmende Begleitungsfigur der
Violinen fast wörtlich gleich. In der Ablegung des
Glaubensbekenntnisses selbst ist aber zwischen beiden
Komponisten ein himmelweiter Unterschied. Cherubini
tut dies mit einer wahren Bravour, die von jeder Ver-
tiefung entfernt ist und auch kaum den richtigen Ton
trifft. Aber die Kraft und die Naivität in diesem 6e-
kennteis sind doch so stark, daß sie die Verwunderung
verstummen machen. Über Skrupel und Bedenken ist
dieser Glaube niemals gestrauchelt. Es kommen Stellen
vor, welche die Gedankenlosigkeit und die TriviaUtät
streifen; aber der ahnungslose Eifer, mit dem auch sie
hinausgepredigt werden, macht sie wieder liebenswürdig.
Eine solche Stelle ist das »patrem omnipotentem«, %
welches namentlich beim ersten Male vom Sopran — es
sind unverkennbar Knabenstimmen gedacht — auf dem
hohen f hingeschmettert, ganz merkwürdig klingt. Bis
zu den Worten »descendit de coelis« ist der ganze Text-
vorrat in einem festen und um Details unbekümmerten
Zuge übertüncht; erst bei dem Bilde des vom Himmel
herabsteigenden Gottessohnes erinnert sich Cherubini,
daß die. Musik nicht bloß färben, sondern auch malen
und zeichnen kann. :— Bei dem »et incamatus est«
haben Cherubini vielleicht Jugendeindrücke widerge-
klungen, Töne aus der besseren Zeit der italienischen
Dome. Palestrina, die einfachen Melodien dieses Meisters,
die seraphischen Klänge seiner Knabenchöre, seine Kunst,
die Gruppen des Chores wechseln zu lassen, zu trennen
und zu verbinden, leben in diesem klassisch schönen
Sätzchen wieder auf! Cherubinis Fantasie ist hier in
einer eignen Weise ergriffen, ganz unzweifelhaft durch
persönliche Erinnerungen gefesselt worden. Im gewissen
Sinne' ist er nur lialb bei , der Sache, als er des Herrn
Kreuzigung, Leiden, Sterben und Begräbnis schildert
Das ist wie im Traume erzählt, wie eine verschleierte
Vision; aber so eigen und schön, daß man es mit nichts
vergleichen kann. Unter einem Gewinde von dankbaren
und bewundernden Gedanken, die alle leise wie nur nach
innen gesprochen vorbeiziehen, steht der Chor und dekla-
miert ebenfalls im pp die ganze Passionshistorie auf
einen Ton hin. Alle vier Stimmen etliche fünfzig Takte
lang nichts als ihr C. Das ist unter den vielen magischen
Effekten, die von neueren Meistern mit dem Kunstmittel
der sogenannten liegenden Stimme in großen und kleinern
Tonbildern (Beethoven, Schubert, Nicolai, Gurschmann,
Cornelius, Boito) erzielt worden sind, einer der be-
deutendsten und einer, den man als solchen gar nicht
zu bemerken braucht! Cherubini! Großer, sublimer
Meister! — Die Szene der Auferstehung ist wieder in
dem Stile gesetzt, in welchem das Credo begann: das
>ascendit« mit der Umkehrung desselben Motivs wieder-
gegeben, welches dort am Schluß das »descenditc auf-
nahm. Mit Beethovenscher Entschiedenheit und Schwung-
kraft deklamiert Cherubini das »cujus regni non erit
finis«. Den ganzen . Schlußteil , das »et vitam venturi
saeculic inbegriffen, hat Cherubini aus dem Sinne einer
Seele heraus gefaßt, welche ihren Frieden gefunden. Es
ist eine sanfte Arie, deren 4Iauptthema die einzelnen
Stimmen des Soloquartetts nacheinander aufnehmen. Wie,
als ob es nun genug der Rührung sei, packt dann der
Meister das »Amen« für sich mit gewaltiger Faust und
treibt es durch eine Doppelfuge, deren kräftig kurzer, un-
gestümer Ton fast bedrohlich wirkt.
Das Sanctus zeichnet sich durch große Knappheit
aus. In Anlage und Erfindung hat sich Cherubini hier,
wie er manchmal tut, auf das Nötigste beschränkt; Das
»Pleni sunt« ist mit dem »Sanctus dominus deus Saba-
hot« in einen Satz zusammengezogen, dessen Charakter
«3« ^—
getragen und feierlich ist. Das Eigentümliche an dem, wie
üblich, in froher Bewegung vorüberziehenden »Osanna«
ist der Einsatz in fremder Tonart: Gdur in A! In >Bene-
dictusc gebraucht Cfaerubini ein in seinen Messen häufig
vorkommendes Mittel vokaler Instrumentation: rezitati-
vische Intonationen einzelner Solostimmen, denen das
vierstimmige Ensemble dann nachfolgt, wie der Gemeinde-
respons dem liturgischen Rufe des Altarpriesters.
Das Agnus dei besteht aus zwei Teilen: einem lang-
samen Satz (Andante moderato) und einem AUegro. Der
erste setzt im Tone des ruhigen Glückes, des seligsten
Vertrauens ein. Man kann an ein Kind denken, welches
im Arm der Mutter eingewiegt wird. Allmählich wird aber
der Ausdruck unruhiger und trüber; am Schluß, wo das
Orchester an p pj ii j festhält, sogar leidenschaft-
dem Motive ■fl' ^' "* ^T — lieh und Aufregend. Der Chor
schreit ängstlich; auf in langen Akkorden, nachdem er
eben vorher noch leise, wie inf Innern, lange einem
freundlichen Bilde nachgesonnen. Schnell, wie die
schrecklichen Gedanken gekommen, verschwinden sie
auch wieder. Die Stelle, wo Cherubini aus dem tumul-
tuarischen Abschnitt in den liebenswürdigen Anfang des
Satzes zurückmoduliert und schließt, ist eine der schön-
sten in dieser an Schönheiten ersten Ranges reichen Messe.
In dem zwei- ^egro. '
eher dasieier- ff^^» U I « I ^ I " I JljJ I " I J " I
hebe Thema: ^* " ^ "'*'*•• "^ ' ^^ «*'*••"
zur Hauptgrundlage hat, sind die Rollen zwischen Solo-
quartett und Chor dramatisch verteilt: Das erstere singt
Frieden und Seligkeit; der Chor haftet noch am Zweifel.
Den herrlichen Augenblick, wo auch in ihm der Glaube
gesiegt hat, bezeichnet der durch eine zweitaktige Pause
vorbereitete, leise Einsatz des »Dona nobis« auf dem
übermäßigen Dreiklang von D.
Während diese Dmoll-Messe Cherubinis in der Praxis
nicht in dem Verhältnisse berücksichtigt wird, wie sie es
ihrer Bedeutung nach verdient, erscheint eine andre
233 ♦—
Meßkomposition desselben Tonsetzers in neuerer Zeit
häufiger auf den Repertoiren, als sie nach ihrem Gehalt
beanspruchen kann. Es ist dies das »achtstimmige« Credo ^i Chefablnii
(a capella), eins der vielen Messenfragmente, zu welchen Credo
Cherubini durch die eigentümliche Liturgie am französi- (aehtstimmig
sehen Hofe veranlaßt wurde. Wir haben dieses Werk a eapella).
als eine Studie im alten Vokalstile zu betrachten. Sie
unterscheidet sich als solche von den ähnlichen nennens-
werten Arbeiten gleichzeitiger, früherer*) und späterer
Musiker dadurch, daß sie in erster Linie technische
Zwecke verfolgt. Man könnte sie für die Nebenfrucht
einer größeren theoretischen Arbeit, vielleicht des be-
kannten Lehrbuches vom Kontrapunkt halten, wäre das
Entstehungsjahr nicht schon 4 806. Cherubini nahm den
Credotext, um an ihm ein Beispiel für die Anwendung
des achtstimmigen Satzes (a eapella) zu geben. Uhd er
gab dies ohne einen großen Aufwand von Geist und
höherem Fleiß. Eine Vertiefung in den heihgen Text,
ein Bemühen, die Geheimnisse des Glaubens in ergrei-
fende und mächtige Tonbilder zu fassen, spricht aus die-
sem Credo ebensowenig, als eine tiefere Kenntnis der
Meister des 4 6. Jahrhunderts und eine fruchtbar ge-
wordene Vertrautheit mit ihren Formen. Wir können
sogar nicht umhin, Cherubini den Vorwurf zu machen,
daß er die alten Muster in manchem Punkte nur halb
verstanden hat. Dahin gehört die Behandlung des cantus
firmus, aus welchem er ein blindes Fenster macht; dahin
gehört zweitens auch die übermäßige Bedeutung, welche
er, dem Beispiel der früheren Niederländer folgend, den
kontrapunktischen Kunststücken beilegt. Der achtstim-
mige Satz ist vorwiegend kompakt behandelt und der
geistige Gehalt der Erfindung und Ausführung übersteigt
nicht ein gewöhnliches Mittelmaß. Über diese Durch-
schnittsstufe treten einzelne Partien allerdings. hinaus:
Es ist dies der kleine Abschnitt: »visibilium omnium et
•) Unter ihnen auch G. Sarti, Oherubinis Lehrer, mit einem
>Fuga« betitelten achtstimmigen »Kyrie«.
--^ «34 ♦^
invisibilium«. Ferner die ganze Partie, Ixrelche die Ge-
schichte des Gottessohnes umfaßt: das >£t incarnatus est«
und das >Grucifixus< bis zu seinem Schiasse: »et sepultus
est«. Sie finden wir wiederholt auch allein auf den
Konzertprogrammen. Endlich ist noch als außerordent-
lich hervorragend der Schlußteil: »Et vitam venturi
saeculi« zu bezeichnen. Während alle übrigen Abschnitte
des Gredo bei dem Vergleich mit den Originalwerken
der großen Vokalperiode eine niedere Zensur erhalten,
müssen wir diesem kontrapunktischen Meisterstück eine
Überlegenheit zuerkennen. Nirgends im 4 6. Jahrhundert
begegnen wir über diese Worte einem kunstvollen Ge-
mälde von so großer und kolossaler Formanlage. Aber
wir können auch nicht verkennen, daß mit der Länge
auch zugleich geistiger Schwung diese außerordentliche
Fuge auszeichnet. Es ist darin etwas von dem unerschöpf-
lichen Geist der Beethovenschen >Missa solemnis«. In
einer Zeit, wo Palestrina und seine Neben- und Vormänner
ungekannt waren, mußte dieses Gredo als ein Wunder-
werk wirken; denn es bringt die Naturreize der Gattung,-
wenn auch nur einseitig und nur mäßig belebt, doch immer
noch stark genug zur Geltung.
Einer der liebenswürdigsten Vertreter der Instru-
F. Schabert, mentalmesse ist Franz Schubert. Seine sieben Messen,
Messe in G. welche jetzt in der stattlichen Gesamtausgabe der Werke
F. Schuberts*) zwei Bände der 4 3. Serie ausfüllen, sind
zurzeit ihrer Entstehung wenig bekannt geworden. Schu-
bert schrieb auch diese Werke, wie seine Symphonien
und die anderen, im sorglosesten Schaffensdrange. Die
drei ersten wurden in der Zeit von zwölf Monaten (4 84 4 — 4 5]
fertig und der Komponist war vollständig zufrieden, wenn
eine der Wiener Vorstadtkirchen Gelegenheit zu einer
Aufführung bot. Wir schreiben diese Bescheidenheit mit
auf das persönliche Konto Schuberts — wir sollten aber
nicht vergessen , daß in der Zeit des unentwickelten
Musikalienhandels die Wirkung im engsten Kreise das Los
•) Breitkopf & Härtel.
N.
— ♦ «35 ♦—
der meisten Tonsetzer war. Über einen Lokalerfolg
hinauszudringen, bedurfte es einea bereits fertigen Namens
oder eines Werkes von überragender Bedeutung. Unter
diese Gattung aber die Jugendmessen Schuberts ein- .
zureihen, dürfte auch den eifrigsten Schwärmern kaum \
einfallen. Einen interessanten und individuellen Zug der
ersten vier Messen (F, B, G, C, 4 »4 4— 4 84 6) erblicken wir
in ihrer Hinneigung zum Liedton. Die reifste unter
ihnen ist die in G, welche wir auch heute noch im
katholischen Gottesdienste häufiger benutzt sehen. Sie
hat den kurzen, alle Wortwiederholungen und alles Ver-
weilen und Eingehen vermeidenden Stil, welchen der
oben erwähnte G. K. Reutter, der Lehrer Haydns, in Auf-
nahme brachte, and den später namentlich Gänsbacher
zu dem seinigen machte. Während aber diese Tonsetzer
und ihre Schule die in dem Stile liegende Gefahr eines
geschäftsmäßigen und nüchternen Ausdrucks zeigen, dient
die Kürze für Schubert zum Ansporn genialer Ideen. In
dieser Hinsicht ist das choralartige Credo der Gdur-Messe*
besonders merkwürdig und in diesem wieder hervorragend
der Abschnitt: >in unum dominum usw.c und der mit ihm
gleichlautende: >qui cum patre et filio usw.«.
Das Konzert beschränkt sich auf zwei von den
späteren Messen Schuberts, die in As (4 822) und die in
Es (4 828) , und pflegt und kennt beide noch nicht so
lange; erst Herbeck und Brahms haben sie mit dem
Wiener Musikverein eingeführt. Schubert hat in diesen
Kompositionen der musikalischen Welt zwei Werke zu-
geführt, die wir ohne Bedenken den Spitzen der Gattung
zuzählen und welche für die ganze Eigenart, Tiefe und
Kraft seiner Natur die glänzendsten Zeugnisse bilden.
In keiner seiner Symphonien, — mit Ausnahme des
DmoU-Quartetts können wir sagen: in keinem seiner
Instrumentalwerke — hat Schubert die geistige Größe
wieder erreicht, in welcher er in diesen zwei Messen
vor uns steht. Man darf ruhig behaupten: wer die
As dur -Messe nicht kennt, kennt die volle Bedeutung
Schuberts überhaupt nicht. Nur das Eine bleibt an
236 <J>—
dem Werke zu bedauern, daß nicht alle Abschnitte voi^
gleicher Güte sind. 1
F. Sohnbezt, Das Kyrie dieser As dur - Messe ist ein sehr ein- {
Messe in As. f acher Satz von echt Schuber tschem Ton. Beide Ab-
teilungen, die Anrufung Gottes des Vaters und die Gottes
des Sohnes, sind kurz ausgeführt und eng verbunden.
Nach dem »Christe eleison« beginnt der Satz von vorn, :
wird ziemlich wörtlich wiederholt und mit einem im An- '
fang etwas dunkel ausbiegenden Anhang versehen. Der
Charakter der Musik ist der des kindlichen Vertrauens.
Als belebendes Gegenelement kommen wiederholt Wen-
dungen der Wehmut vor, zuweilen stärker akzentuiert.
Namentlich ist dies im »Christe eleison« der Fall. Sie
scheinen aber nur da zu sein, um den freundlichen Refrain
iJ^>i|ir |fTTYTT~ hervorzuheben.
Das Gloria, in den Abschnitten des Lobens und
-'Preisens sehr wuchtig und energisch geführt, hat seinen
genialsten Teil im »Gratias«. Duftige von einem Gefühl
des Glückes durchhauchte Melodien der Solostimmen;
der Chor schließt sie kurz geheimnisvoll ab! Das »Domine
deus, domine fili usw.« ist in den zarten Bau der Dank-
sagung originell hineingezogen. Das »Qui tollis« und
das »Quoniam« sind thematisch gleichlautend und bilden
geistig eine Art Fortsetzung der Danksagungsszene,
gleichsam ihren zweiten, weiter ins Innere des Heiligtums
hinein verlegten Abschnitt. Dieser Abschnitt hat einen
mächtigen Schluß. Wie aus dem leisfen* Ton der Bitte
die Stimmen im Unisono zusammentreten und, wie der
Erhörung und des Sieges gewiß, ihr »Quoniam« in allem
Glanz in die Welt hinausrufen, das ist eine der gewal-
tigsten Ideen und einer der gewaltigsten Effekte, welche
in der gesamten Messenliteratur an dieser Stelle vor-
kommen. Auch im Detail der Deklamation wächst Schu-
berts Geist an dieser Stelle auf einmal ins Großartige.
Das »te< vor der letzten Periode ist Beethovensch. In
seiner Stellung auf dem plötzlich und im ff eintretenden,
237 ^>-^
verminderten Septakkord erinnert es unwillkürlich an
das >Barrabam« der Bachschen Matthäuspassion. Das
Glori^ schließt mit einer kräftigen und glänzenden
Fuge über: »cum sancto spirituc. Als Eybler, selbst
ein sehr fruchtbarer und noch heute ein viel gepflegter
Komponist von Messen, die Aufführung von Schuberts
Asdur- Messe in der Hofkapelle wegen zu großer
Länge ablehnte (siehe Kreisle), mochte er wohl Sätze
wie dieses »cum sancto spifitu« im Auge haben. Das
Thema dieser Fuge ist eines der leichtesten. Es scheint
Schubert nicht gefallen zu haben. In einer vorhandenen
zweiten Fassung dieses Abschnitts, die in der Gesamt«
Wirkung hinter der ersten steht, ist, es etwas veredelt
worden. Das Credo hat* eine einfache dreiteilige An-
lage. Der erste Teil geht bis zum »per quem omnia
facta sunt« (Cdur, AUegro maestoso). Der zweite, kurze
(Asdur, 8/2 Grave) behandelt die Menschwerdung Christi
und seine Passion; der dritte (Cdur, Tempo I) ist Wieder-
holung des ersten mit einem kurzen Anhang. Der erste
Teil stellt das Bekenntnis außerordentlich ernst und
streng hin. Das Thema mit seinen altertümhchen Har-
monien hat Choralcharakter, ähnlich wie der gleiche Satz
in der Gdur-Messe, und wird später auch so wie dort mit
den straffen Vierteln der Orchesterbässe kontrapunktiert.
Nur ist es in viel finstereren Farben gehalten. Von ge-
waltiger Wirkung ist es, wenn nach jedem Abschnitt des
Bekenntnisses, welches die Stimmen zu zwei unterein-
ander verteilen, das Orchester mit aller Kraft das Motiv
AUegi« maestoso «Ti^ce. umsetzt Das fällt immer wie
^ ^^^^f ein bekräftigender Schwert-
schlag darein. Das »Et incar-
^ I • •■ 1- natus est« und das »Crucifixus«
» sind von großer Einfachheit.
Das erstere erreicht die hochfeierliche Wirkung durch
die Teilung der Chöre und die Instrumentierung, das
letztere greift mit knappen aber sicheren Biegungen der
Melodie ins Herz. Nur selten trifft man Schubert in dieser
vielsagenden, männlichen Wortkargheit, mit welcher er
— ^ 238 «>—
hier einen t^alestrinensischen Eindruck erreicht. Der dritte
Teil, immer noch wirkungsvoll und an großen Stellen
reich, ist nicht mit derselben Inspiration geschrieben, wie
die vorhergehenden. Befremdend ist die Zurückhaltung,
mit welcher das »et vitam usw.« und das »Amen« aas-
geführt sind.
Dem Sanctus der Messe liegt im ersten Teile (An-
dante, ^/s Fdur) die Absicht zu Grunde, die Erscheinung
des Wunderbaren zu versinnbildlichen. Daher die flat-
ternden Rhythmen, der langsame Aufbau des Akkords;
daher der fremdartige Eintritt des übermäßigen Drei-
klangs und zum Schluß der im langen Staunen hin-
gehaltene mächtige Aufschrei des Chors! Das »Pleni«,
in den Hauptsatz eingezogen, bietet ein liebUches Gegen-
bild. Das »Osanna«, auch ganz abweichend von der
gewöhnlichen Wiedergabe dieses Abschnittes, steht unter
der gleichzeitigen Wirkung der beiden berührten Fantasie-
gebiete: Es schwebt dem Gesalbten mit zarten Grüßen
entgegen und steht dann vor der Majestät wie fest-
gebannt. Auch von ihm existiert eine zweite Fassung,
welche keine Verbesserung bedeutet Die Stimmung
kommt erst im »Benedictus« zur ruhigen Sammlung. An
und für sich würde der einfach friedliche Satz un-
bedeutend sein; der Zusammenhang gibt ihm seine
Wirkung. Das Agnus dei ist im zweiten Teile, dem
»dona nobis pacem« (Allegretto, (^ Asdur), dem Stile
nach dem »Benedictus« sehr ähnlich. Es ist der lied-
mäßige Schlußge^ang einer der Erhörung sicheren, durch
das eigene Gebet beruhigten Gemeinde. Der erste Teil
(Andante, 3/4 Fmoll) ist dem Soloquartett übergeben,,
welches eine einfache, Himmelssehnsucht und Erden-
müdigkeit streifende Melodie durchführt. Der Chor stimmt,
wie auf den Knien liegend, sein »miserere« an. Der An-
fang ist leise psalmodierend, der Schluß des kurzen Chor-
abschnittes melodisch warm.
F. Bohabert, Schuberts Messe in Es, einer seiner Schwanenge-
£s dar -Messe, sänge, trägt ein starkes persönliches Gepräge. Eigentüm-
lich ist ihr eine große Erregtheit, der zufolge sich die
239
Musik ebenso der Weichheit, wie ein andermal der Leiden-
schaftlichkeit hingibt, da wo wir es dem Text nach nicht
erwarten.^ Um ein Beispiel anzuführen: Was soll dieser
wehmütig schmerzliche Ausdruck bei dem Bekenntnis:
>Ich glaube an die heilige Taufe?« Und doch ist er
schön und aus dem Grundton, in welchem dieses ganze
Werk gestimmt ist, wohl zu verstehen. Sehr viel haben
in dieser Messe die Instrumente zu sagen. Diese Neigung,
aus dem Munde des Orchesters wesentliche Gedanken in
der Messe sprechen zu lassen, zeigt Schubert schon in
der Asdur-Messe; er teilt sie mit Beethoven. Im Kyrie
sind es die Blasinstrumente, welche die freundlichen Ge-
danken des Satzes dem Chore soufflieren. In der Ge-
sangpartie lebt eine mühsam versteckte Aufregung der
Empfindung. Sie äußert sich in den fiebrisch wechseln-
den Modulationen, in der mehr akkordisch deklamierenden
als wirklich singenden Führung der Stimmen. Kommen
dann die melodischen Züge, so ergreifen sie mit doppelter
Kraft.
Auch in der Esdur-Messe wird man das Gloria für
den bedeutendsten Satz halten müssen. Wie in der As dur-
Messe ist auch hier der äußere Vortrag der preisenden
und jubelnden Abschnitte außerordentlich energisch; in
der stürmenden Triolenfigur der VioHnen kommt diese
Energie zum schärfsten Ausdruck. Aber gerade in ihnen
ist der subjektive Grundzug der ganzen Messe sehr deut-
lich ersichtlich. Ein Tropfen Zagen und Traurigkeit
hängt in jeder Periode: hier in dem übermäßigen Sext-
akkord auf dem zweiten »excelsis«, dann in den ver-
minderten Septimenakkorden, welche die ersten Nach-
ahmungen des Gloriathema schließen. Wie niedergeschlagen
klingt das »Adoramus te«. Beim »Gratias« beginnen
wieder die Instrumente hold zu spielen und darauf wird
der Satz mit Wiederholung des Eingangs abgerundet.
Das »Qui toUis« hat ebenfalls die Hauptgedanken im
Orchester. Die Blasinstrumente spielen den ganzen
Abschnitt hindurch eine liturgische Melodie von tief
traurigem Charakteh Das Streichorchester tremoUert in
240
F. Sohabert,
Deutsche
Messe.
absetzenden Rhythmen; die Singstimmen singen aus-
drucksvoll in kurzen Motiven. Der Teil gleicht einem
großartigen Rezitativ. Das »cum sancto spirituc und
das »Amen« ist in Form einer Fuge wiedergegeben, die
wiederholt zu einem zweiten Thema ansetzt
Im ersten Teile des Credo herrscht eine rührend
weiche Stimmung vor. Das auf »Credo in unum do-
minum« einsetzende, feste und durch Nachahmungen
noch mehr gehärtete Thema vermag nicht dieselbe zu
durchbrechen. Das »et incarnatus est« drückt das
Wunder der Menschwerdung in Melodien von sich aus-
breitender Anmut aus. Das »Crucifixus« bildet einen
starken Gegensatz dazu. Es schildert finster, manchmal
wie mit einer Art von Abscheu. An einer Stelle scheint
die Fantasie des Tonsetzers aufs leidenschaftlichste in
das Bild der Kreuzigung vertieft zu sein. Der Chor
deklamiert nicht »etiam pro nobis«, wie der Text lautet,
sondern nach dem »etiam« schreit er ohne weiteres
noch einmal mit aller Kraft: »crucifixus«. Nach der
Passion sind die weiteren Textabschnitte auf die Musik
des ersten Teils vom Credo gesetzt. Die Worte : »et vitam
venturi« bilden einen fugierten Anhang.
Im Sanctus greift Schubert mit Ausnahme des im
konventionellen Fugenstile komponierten »Osanna« auf
dieselbe Auffassung und Behandlung zurück, die. wir in
der Asdur-Messe als eine eigentümliche kennen gelernt
haben. Nur die formellen Mittel sind teilweise andre.
Das Agnus dei ist wieder ein Satz von großer Er-
regung. Das Hauptthema der ersten Anrufung hat Utur-
gischen Charakter; seine Stimmung ist trüb und schwer.
Die Instrumente verzieren den Gesangsatz mit leidenschaft-
lichen Motiven. Das »dona nobis« tritt naiv, vertrauensvoll
und unschuldig dagegen. Seine breite Durchführung wird
einmal durch die Rückkehr des düsteren »Agnus dei« ge-
waltig wirkungsvoll unterbrochen.
Im kirchlichen Diienste und bei geistlichen Kon-
zerten kleinerer Chorvereine begegnen wir häufiger
einer »deutschen Messe« F. Schuberts. Der Text (von
— ^ tu ♦—
J.P. Neumann verfaßt) ist keine eigentliche Obersetzung des
lateinischen Originals, sondern ein freier, etwas rationa-
listisch gehaltener Ersatz. Die Musik, welche Schubert
i. J. 4837 für das Polytechnikum in Wien geschrieben
hat, schlägt den Ton gehaltvoller Anmut an und be-
schränkt sich auf liedmäßige Formen. Von der Gesang-
partie existiert eine doppelte Bearbeitung, die eine für
Männerchor, eine zweite, welche von Ferdinand Schubert
herrührt, für dreistimmigen Knabenchor. Das Orchester
kann durch Orgel ersetzt werden. Ähnlicher »deutscher
Messen c oder »deutscher Ämter« haben wir aus den
ersten Dezennien des 4 9. Jahrhunderts sehr viele. Be-
sonders beliebt waren die des melodisch sehr deutlichen
J. Frei ndl.
Nach Schubert haben wir diejenigen Messen, welche
eine höhere künstlerische Bedeutung beanspruchen kön-
nen und welche demzufolge im Konzert, wenn auch nur
vorübergehend, Beachtung gefunden haben, eine Zeit
lang — ziehen wir die wenig bekannten Arbeiten des
Breslauer B rosig ab — fast ausschließlich auf pro-
testantischem Boden zu suchen. Es kommen hier zu-
nächst die Messen B. Kl eins in Betracht: ernste, B. Klein,
würdige Werke, denen nur etwas mehr musikalische
Sonne zu wünschen wäre. Unter den Meistern von her-
vorragenderem Namen ist L. Spohr zu nennen, dessen L* Spohr.
Vokalmesse in allen den Sätzen, wo die Wehmut herrschen
darf, einen tieferen Eindruck hinterläßt Unter den um
die Mitte' des 4 9. Jahrhunderts entstandenen Messen war
eine Zeitlang Moritz Hauptmanns G moll-Messe die M. Htaptinftiiii.
verbreitetste. Das Werk ist außerordentlich fließend ge-
schrieben und hat viele feine und besondere Züge in
seiner Form. So überrascht uns im ersten Satze, ähnhch
wie in dem ersten Satze des Requiem von Brahms, ein
Orchester ohne Violinen. Geistig wurzelt es, wie auch
die Vokalmesse (FmoU) desselben Tonsetzers, in d,er
weichen und gleichmäßigen Anschauung einer älteren
Periode. Die bedeutendste Messe der romantischen Pe-
riode ist die Instrumentalmesse (CmoU) R. Schumanns. Ä. Bohumann.
II, 4. 46
«4t <io—
Sie geht durchweg auf feierliche und erhabene Wirkung
aus und sucht diese mit einfachen, immer geradeaus
steuernden Mitteln zu erreichen. Wir bleiben dabei
manchmal unter dem Eindruck einer etwas trotzigen
Gottesverehrung stehen; wir werden aber auch durch
Stellen einer gewaltigen Größe und Kraft aufgerüttelt.
Derjenige Abschnitt, in welchem Schumann seinem Ideale
einer musikalischen Messe am nächsten gekommen zu
sein scheint, ist das Sanctus: ein ahnungsvoll und ge-
heimnisvoll gedachter, von sehnender und schwelgender
Empfindung umrankter, dabei aber doch fest und ein-
fach gebauter Satz. Im Kyrie ist das edle, kummer-
volle erste Thema hervorzuheben; im Gloria der inter-
essanten Anlage wegen das: »Domine deusc und das
>cum sancto spiritu«. Im Credo berührt der' Abschnitt
von >qui propter nos< bis »sepultus est« sehr eigentüm-
lich. Der Chor rezitiert hier ohne Aufhalten, mit be-
deutenden Akzenten, allerdings aber das meiste wie in
dem Streben, über diese schauerlichen Bilder hinweg-
zukommen. Das Wunderbare in dem Textberichte {
deuten die Orchesterbässe mit einer ihre kleinen Kreise 1
immer wieder zurücklegenden und in Dissonanzen schil- I
lern den Figur an.
Die rückläufige Bewegung zur Vokalmesse, deren wir
oben mit dem Namen Aiblinger und Ett gedacht haben,
fand auch auf der protestantischen Seite fleißige An-
hänger. Aus der Menge der seit dem zweiten Jahrzehnt
des 4 9. Jahrhunderts für gemischten Chor gesetzten, un-
begleiteten Messen genügt es, die sechzehnstimmigen Mes-
E. Grelli sen von C. F. Fasch und namentlich die von E. Grell zu
Sechzehn- nennen. Grells in Berlin sehr oft, in Leipzig und in an-
stimm. Messe deren Städten hin und wieder aufgeführte Messe ist ein
.a capella^ Werk von ungesuchter Originalität. Auf den glatten und
natürlichen Fluß dieser Komposition passen Goethes
Worte: »Es trägt Verstand und rechten Sinn mit wenig
Kunst sich selber vor« wie auf wenig neue Kunstwerke.
An und für sich ist ja die Aufgabe, für sechzehn reale
Stimmen zu schreiben, in der alten Vokalmusik schon
--* 243 ^—
•
oft gelöst worden und wird in den Kompositionen für
Orchester tagtäglich, auf eine leichte äu|3erliche Art
wenigstens, gelöst. Man muß aber die viei* Chöre (oder
Soloensembles), welche Grell aus seinen sechzehn Stim-
men bildet, einzeln und in diesen vier Gruppen wieder
die einzelnen Stimmen jede für sich durchgehen, um das
Eigene in der Leistung Grells würdigen zu können. Da
ist keine Spur von Füllstimmen im gewöhnlichen Sinne.
Auch die begleitenden und untergeordneten deklamieren
und singen immer in sinnvollen und formell selbständigen
Tonreihen. Die ganze Erfindung ist der Natur der mensch-
lichen Sprache und dem Wesen des Gesanges in einer so
ausgezeichneten Weise angepaßt, wie sie selbst bei den
Alten nicht besser gefunden wird. Der Ausgang von diesen
natürlichen Grundlagen gibt der Messe Grells eine unbe-
streitbare formelle Drsprünglichkeit. Sie darf in dieser
Beziehung als ein Muster ersten Ranges dienen. Die
Farben sind reich und mannigfach gemischt. Grell kennt
die Kunstgriffe der Alten alle und formt mit spielender
Leit^htigkeit ein neues Klangbild nach dem andern. Wo
es der Text nicht geradezu fordert, geht er aber den
scharfen Gegensätzen von Licht und Schatten Ueber aus
dem Wege und wirkt mit milderen Übergängen. In der
Farbengebung des ganzen Werkes herrscht das weiche
Element vor. In Übereinstimmung damit liebt die Em-
pfindung das ruhige Ausbreiten. Sätze, welche auf
wenige Worte gebaut sind, vereinen diese drei Elemente :
Betonung der Sangbarkeit, Weichheit der Farbengebung
und Gleichmäßigkeit der Empfindung, zu einer Übermacht,
welche den geistigen Gehalt und die Gedankenbewegung
der Komposition etwas niederdrückt. Bei dem nach alter
Art: in drei selbständigen Sätzen gehaltenen Kyrie und
beim Osanna tritt diese Erscheinung wohl am deutlich-
ßten zutage. Wo der Text schneller von Vorstellung zu
Vorstellung weiter schreitet, blitzt dagegen die Fantasie
häufig mit überraschender Energie dramatisch auf.
Auch in die rein musikalische Erfindung kommt dann
mehr Leben und Deutlichkeit. Das Gloria enthält solche
16*
—-♦ 244 ♦—
Beispiele anschaulicheren Ausdrucks schon beim »et in
terra« und beim »gratias«. Die Auffassung des »Quoniam«
mit dem lieblichen Anfang ist abweichend, aber mit der
erhabenen Wendung durch die Tutti- Einsätze, da wo
Christus als »Herr« angerufen wird, äußerst wirksam.
An solch eigentümlich poetischer Anschauung ist die
Messe reich. Am imposantesten wirkt durch dieselbe
das Credo, dem in einzelnen Abschnitten durch die
einfache Verwendung von plötzlichen Tutti - Eintritten
eine geradezu szenische Lebendigkeit gegeben wird.
Besonders tritt die Einführung des »Crucifixus« hervor.
Eine einzelne Chorstimme ruft die Schreckensnachricht
unerwartet herein und die Massen fahren in Bewegung
durcheinander. Als Credo - Thema hat Grell dieselbe
liturgische Melodie verwendet, wie S. Bach in der Hmöll-
Messe.
In der Stimmenzahl bescheidener, im geistigen Ge-
halt aber keineswegs geringer als die Grellsche Messe,
£. F. Biohter. sind die Vokalniessen von E. F. Richter der Beach-
tung sehr wert. Die achtstimmige sowohl wie die vier-
stimmige gehören zu den fantasievollsten und abgeklär-
testen Kompositionen des Meßtextes, welche wir aus
neuerer Zeit haben. Ihr Vokalsatz ist modern, aber
schön, natürUch und an stimmungsvollen Klängen reich.
In den Kirchenchören sind von neueren Vokalmessen die
J. Bheinberger von J. Rheinbergeram bekanntesten. Sie gehören in die
Schule Etts und zeigen, wie alle kirchlichen Kompositionen
Rheinbergers, einen modernen Musiker groß im Können,
noch größer aber in der Resignation und der liturgischen
Reinheit. Für das Konzert kommen sie nicht in Betracht.
Ziemlich vergessen scheint es zu sein, daß auch der
Männergesang in seiner von hohem Streben erfüllten
Jugendzeit kräftig in die Bewegung mit eintrat, welche
sich auf den Neubau der Vokalmesse richtete. Die'
Lehrer der Volksschulen Deutschlands waren es beson-
ders, die in der ersten Hälfte des 4 9. Jahrhunderts bei ihren
periodischen Zusammenkünften sich und Andere mit der
Ausführung solcher höher angelegten Werke erbauten.
— ^ 245 ♦—
Messen für Männerstimmen finden sich wie erwähnt schon
bei den Niederländern, bei Palestrina und andern Frtih-
italienern, neben vollständigen Werken noch zahlreiche
Bruchstücke. Von Padre Martini ab hat die Gattung ihre
ununterbrochene Geschichte. In ihr treten im 4 9. Jahrhun-
dert neben B. Klein: Haßlinger und Diabelli hervor.
Über letzteren beiden stehen F. Schneider, A. Zöllner und
J. 0 tt 0. Als der bedeutendste Ausläufer dieser letztenReihe
ist Robert Volkmann zu betrachten. Bekanntlich ging B^ Velkmann.
er aus Lehrerkreisen hervor und empfing in ihnen die
ersten stärkeren musikalischen Eindrücke. Seine beiden
Messen (op. 26 und 29) stehen einander in der Zeit der
Veröffentlichung sehr nahe: im inneren Stile jedoch be-
deutend ferne. Die erste ist eine Art Klaviermesse: die
vier Stimmen immer zusammengekoppelt ^nd unfrei und
damit auch meistens die Gedanken. Nur das Credo er-
hebt sich wesentlicher über die Stufe von Klang und
Geist, welche wir mit dem Namen Liedertafelmusik zu
belegen pflegen. Die zweite Messe, di6 Frucht einer
Wiener Preiskonkurrenz, für die im Jahre 1852 vierund-
siebzig Messen eingesandt und zurückgewiesen wurden,
hat noch einige ungesangliche Stellen im kleinen. Aber
über den Stil, der für einen Chor von Menschenstimmen
natürlich ist, scheint inzwischen dem Komponisten das
Licht aufgegangen zu sein. Sie hat die Freiheit der Be-
wegung, die namentlich für den Männerchor ganz wesent-
lich ist, in den Stimmen. Sie wirkt farbenreich und ist
ideenreich. Unter diesen Ideen sind sehr feine und eigen-
artige Einfälle. Besonders tritt im Gloria das »Miserere«
welches erste Tenöre und zweite Bässe in Oktavengängen
singen, im Benedictus der Einsatz des »Osanna« hervor.
Um die Zeit, wo Volkmanns Messen erschienen, ging
nun endlich auch auf der katholischen Seite die Frucht
Etts und Aiblingers auf und führte zur Gründung des
Gäcilien Vereins. Er ist in der Musik ein ähnliches Stück
romantischer Reaktion, wie in der Malerei die Schule
der Nazarener und der Prärafaeliten. Den Bildern der
Veit und Overbeck, Rossetti entsprechen die Messen der
546
M. Haller,
I. Mitterer,
F. Witt.
Ji El Habertl
F. Lisit,
Messe für vier-
gtimmigen
Männercbor
und Orgel.
M. Haller, J. Mitterer, Fr. Witt. Dort Holbein, Dürer,
Perugino als Ideale, hier Palestrina! In beiden Künsten
auch dieselben Folgen: größere Stilreinheit und Würde
der Arbeiten, aber auch mehr Trockenheit und Schwung-
losigkeit. Die selbständigen Geister schütteln das Joch
wieder ab. Unter diesen Sezessionisten ist zuerst
J. E. Habert zu nennen, der zwar nicht im Konzert,
aber im Gottesdienste schon durch die Zahl seiner
Messen — 23 in der Breitkopfschen Gesamtausgabe —
sich Beachtung erzwungen^ hat.
Auch Franz Liszt ist mit den Cäcilianern ein gutes
Stück Wegs gegangen und von ihnen auf die alten sti-
listischen Elemente und die liturgischen Grenzen der
Messen hingewiesen worden. Aber er ist sofort über
seine Lehrer, ähnlich wie seinerzeit J. Fux über seinen
eignen >Gradus ad Parnassum«, hinausgegangen und
hat ihrem Darstellungsapparat ganz alte und ganz mo-
derne Mittel hinzugefügt. Das zeigt schon seine Messe
für Männerchor. Sie ist ein sehr knappes Werk, zum
großen Teil mehr stimmungsvoll deklamiert als ge-
sungen. Die Art, in welcher aber Deklamation und Ge-
sang gemischt sind, macht den einen Teil ihrer unleug-
baren Genialität aus. Man braucht hierfür nur auf den
Schluß des >Christe eleison« zu verweisen, eine Stelle,
an der eine lange Steigerung inbrünstiger Zurufe mit
ein paar Takten einfachster Melodie gekrönt wird. Der
andere Teil des geistigen Wertes dieser Messe liegt in der
Schärfe mit welcher die Textbegrifife musikalisch ausge-
drückt sind. Gleichviel mit welchen Mitteln und gleichviel,
ob wir die Auffassung allemal billigen; aber diese Schärfe
ist immer da. Derjenige Satz der Messe, welcher sich
den überkommenen musikalischen Formen am getreuesten
fügt, ist das Gloria. Sein durchgeführtes leitendes Thema
j^e-Po stammt aus Gregorianischer
i i .L'^'-^rn^. Quelle. Der in der Stimmbe-
•gjr ip J rJ I [-• p [-. handlung eigentümlichste, dabei
Gio . . . ri.» sgjjy eindringliche Abschnitt ist
das »Miserere«. Befremdend ist das Credo und zwar
---<^ 247 ^ —
befremdend durch seine Einfachheit. Es geht im Stile ent-
schieden hinter die Zeit des ausgebildeten Kunstgesanges
zurück und trägt den größteÄ Teil des Textes in der '
primitiven Form der älteren priesterlichen Intonationen
vor: in einem harmonisierten und harmonisch nur aufs
nötigste ausgezierten Lektionenton. • Häufig ist in dieser
Messe der Effekt einer singenden und von den drei an-
deren nur akkordisch begleiteten Chorstimme angewen-
det; am ausgedehntesten im Agnus dei. In diesem Satze
ist auch die Orgelbegleitung, welche in dem größten Teile
der Messe entbehrt werden kann, wesentlich. 'Sie leitet
hier sehr schon selbständig die friedlichen Weisen des
>dona nobis« ein.
Die Missa choralis Liszts für gemischten Chor be- F. Liest,
ginnt mit einem Kyrie von sehr strengem Charakter. Missa choralis.
Der herbe Zug, der schon im Thema und in seiner Tonik
liegt, *wird durch die fugierende Durchführung noch
schärfer ausgedrückt. Es sind in dem Tonbilde Augen-
blicke der Verlegenheit (in den Baßkantilenen) und der
Verzweiflung (bei dem steigenden Aufbau des kurzen
Motivs) angedeutet und über den Wendungen der Hoff-
nung im >Christe< (bei dem wiederholten Schluß auf der
Dominantseptime) liegt der Druck einer müden Seele. Im
Gloria wird die erste Intonation (der in der Messe für
Männerstimmen verwandt) an den Stellen des Lobgesangs
thematisch durchgeführt. Von eigenem gebrochenen Aus-
druck im Bitten ist das >Miserere<. Das Credo beginnt
wieder mit dem auch in Bachs HmoU-Messe verwendeten
Gregorianischen Thema. Ein großer Teil der Abschnitte
des Satzes ruht auf kontrapunktischen Bildungen aus
dieser Melodie gewonnen. Von hervorragender Origina-
lität, mit ähnlichem Schauder deklamiert wie in Händeis
»Messias«, ist die Leidensgeschichte. Ganz wie in Er-
staunen getaucht beginnt das Sanctus. Der Satz be-
hält bis ans Ende einen visionären Ton," welchen nur
das »Benedictus« ein wenig variiert. Der Schluß ver-
klingt in der Höhe. Nach einem sehr schwermütigen
Anfang des Agnus Dei lenkt das >dona nobis« in das
J48 ^-— ♦
Kyrie zurück und geht in dem Tone der Ruhe, aber mit
freudigem Aufschwung zu Ende. Die beigegebene, viel
aussetzende Orgelbegleitong kann einem ungeübten
Chore leicht gefährlich werden.
Für Liszts prinzipielle Stellung zur Messe, als Kir-
chenkpmponist überhaupt, würde die in ihrer kleinen.
Form voll und gesund ausgewachsene, geistig bedeutende
und musikalisch gediegene Messe für Männerchor genügen.
Seine ungewöhnliche, das meiste aus der Zeit überragende
Begabung für das Gebiet ersieht man aber erst aus den
beiden großen ungarischen Instmmentalmessen. Die erste
F, Liut, derselben, die sogenannte Graner Messe, entstand zur
Graner Messe. Feier der Einweihung des Graner Doms und wurde in
diesem im Jahre 4856 zuerst aufgeführt. Die Partitur
dieses Werkes ist infolge schlechter Ökonomie in der
Aufzeichnung der Stimmen und der Zugabe eines ganz
überflüssigen Klavierauszuges zu einem so kolossalen
Format angelangt, daß man sie bei Tage nicht gern
über die Straße trägt. Man glaubt beim ersten Anblick
vor einem Werke zu stehen, in welchem, wie zur Zeit
der Venetianer und Engländer, die Chöre zu einer maß-
losen Polyphonie aufgetürmt sind. Tatsächlich hat aber
die Graner Messe eine Reihe ganz einfacher Sätze, welche
sich ebenso leicht hören als lesen lassen. Darunter ge-
hört gleich das Kyrie, eine schlichte zweiteilige Kom-
position. In ihrem ersten Teile steht die Andacht unter
dem Banne einer schaudernden Ehrfurcht: Die Farbe
des Orchesters ist dämmernd; in Harmonie und Dyna-
mik ruckt und zuckt es heftig. Das »Christe« singt
in lieblichen und innigen melodischen Weisen, die
. von Stimme zu Stimme wandern. Dem Gloria wohnt
eine mächtige malerische Kraft in der Instrumentation
inne. Es flimmert im Orchester wie durch die Glas-
fenster einer Kathedrale. Zuweilen, beim >Laudamus«
und beim >Quoniam«, hören wir Motive, wie wenn
Glocken läuteten, und der Wechsel der Instrumenten-
chöre erweckt die Vorstellung von großen, hohen,
weiten Räumen. Ein Ton, als wollte ein glänzend,
festlicher Tag anbrechen, geht durch den größten Teil
dieses Satzes, und man kann sich des Eindrucks nicht
erwehren, als habe Liszt an die älteste Bestimmung des
Gloria gedacht; an die Zeiten, wo es als Morgenhymne
den Sonnenaufgang zu begrüßen pflegte. Die musika-
lische Form entwickelt sich überwiegend instrumental
und neben dem schon
berührten Glockenmo- ^ ».. ^ . ""SSi' . . . (^ . . —
tiv (in halben Noten) ist ^ kH * J. "' I [■ * M. "^
der muntere Weckruf *'®*
der Hauptträger dieser Entwicklung. Ein breit geführter
und sehr tief empfundener Gesang zeichnet namentlich
den Abschnitt aus, dessen Mittelpunkt das »Qui toUis usw.c
bildet. Die Gesangmelodie kennen wir aus dem >Christe
eleison c, welches das ganze Werk als wesentliches Merk-
mal seiner Physiognomie durchzieht. Das »Cum sancto
spirilu€ hat die Gestalt einer Fuge über ein einfach
freudiges Thema.
Das Credo besteht aus einer großer Reihe kurzer
Bilder: durch Verwendung von Leitthemen wird die Ein-
heit des Ganzen ge- . . * . . .i.^i«** Liszt ge-
, - Tk '1. Andante maestoso, risomto. _ &,
wahrt. Das wich-^^4— .. , , i i 1 J 1 braucht
tigste unter diesen gg f^il j_0^ ' ^"^ ^^ instru-
ist das folgende: '^ ' mental
wie vokal; vorzugsweise für die feierlichen und pathe-
tischen Abschnitte des Textes in rhythmischen Umbil-
dungen, welche seinen Charakter ins Gewaltige erweitem.
In dieser Beziehung erscheint es beim »Et in unam sanc-
tam usw.€ Doch hat er ihm auch eine intime Seite ab-
gewonnen. Ganz auf die letztere gestellt, tritt es uns
als Klarinettenmelodie (Fisdur) bei dem Abschnitte ent-
gegen, welcher der irdischen Geschichte des Heilands
gewidmet ist. Man wird geneigt sein, diesen Teil als
die Krone des ganzen zu bezeichnen. Von einfach voller
Empfindung durchströmt, bietet er namentlich deklama-
torische Wendungen von genialster Bedeutung. Die her-
vorstechendste ist bei »Et homo f actus est«. Sein Ende
geht in einen naturalistisch wirksamen Stil über, welcher
--^ 260 ♦.—
Interjektionen steigernd aneinander knüpft. Nach den
schneidendsten Wehrufen beim »Grucifixus« haucht der
Chor die letzten Worte von Tod und Begräbnis ins Leere
hin. — Neben dem oben in erster Linie angeführten Leit-
thema erscheint noch das Glockenmotiv aus dem Gloria.
Zunächst nur versteckt; breiter, wenn auch nur leise ge-
geben zum erstenmal: beim »Deum de deo, lumen de
lumine«. Die Solostimmen singen darüber ruhig edle
Melodien, in welche der Chor bescheiden einfällt. Ein
andres Thema, der kurz rhythmisierte Weckruf des
Gloria (siehe oben), tritt beim >Resurrexit< wieder auf.
Eine der grandiosesten Orchesterwirkungen des Werkes
dient zur Schilderung des jüngsten Gerichts. Sie klingt
noch einmal wieder an, als der Auferstehung der Toten
gedacht wird. Mit eigentümlich kurzen, großen Strichen
endet der Satz.
Sehr schön und leicht übersichtlich ist das Sanctus
behandelt: Eine weiche, in feierlich stiller Erwartung
hinschwebende Hauptmelodie für den ersten Abschnitt:
»Sanctus«. Ein geheimnisvoll leises Wechseln hoher und
tiefer Akkorde für das >Pleni«, für das >Osanna« Zurück-
greifen auf den Weckruf des Gloria einmal, das andere
Mal auf die (den blasenden Instrumenten übertragene)
Hauptmeiodie des Sanctus selbst. Das »Benedictus«
ist eine Paraphrase über das eingängliche Thema des
>Christe eleison«. Das Soloquartett singt allein; der Cho«
schweigt und das Orchester ist .in der zartesten Weise
behandelt. Auch das Agnus dei ruht wieder auf dem
»Christe eleison«, welches nach einem von Angst erfüll-
ten Eingang den Horizont für die Beter aufhellt Das
»Dona nobis« wird schlicht hingesungen; darauf kehrt
das Ende des Werkes zu dem Weckruf des Gloria zu-
rück und wendet sich von ihm weiter dem Anfang der
Messe zu, Thema nach Thema berührend und das Ganze
sinnig abrundend.
Als die Messe neu war, wurde eifrig darüber gestritten :
Ist sie Beethovenschen Geistes oder nicht? Man kann
darauf ohne Bedenken bejahend antworten. Nicht bloß
t54
die Graner Messe, sondern die ganze Methode der Liszt*
sehen Komposition ist eine Frucht des Beethoven der
dritten Periode. Ihr Ziel ist: Aufgehen der künstlerischen
Formen und Mittel in dem unmittelbaren Natureindruck.
Das fertige, planvoll gestaltete Werk soll mit der ünge-
bundenheit, Freiheit und Lebendigkeit einer begeisterten
Improvisation wirken. Das tut diese Messe; sie scheint
wirklich — um Liszts Wort zu gebrauchen — mehr ge-
betet, wie komponiert und dringt mit ihren weichen
Motiven, das des »Christe eleison« voran, tief in fromme
Herzen ein. Noch näher als dem letzten Beethoven steht
die »Graner Messe« aber Richard Wagner. Dessen Me-
thode, die Instrumente mitsprechen und Beziehungen
knüpfen zu lassen, durchs Orchester die Grundgedanken
des Kunstwerks immer wieder zu betonen und zu variieren,
ist hier zum erstenmal in der Kirchenmusik durchgeführt.
Das ist ein Gewinn für die äußere Einheitlichkeit und das
innere Leben der Werke dieses Gebiets, der irrt Laufe der
Zeit erst voll anerkannt werden wird. Dadurch, daß sie
hier Bahn gebrochen hat, wird die »Graher Messe« Liszts
zum geschichtlichen Denkmal.
Daß Liszts Hauptbegabung in der religiösen Kompo-
sition Hegt, zeigen auch sein Adur-Konzert und seine
Dante-Sinfonie, die Graner Messe beweist es vollständig.
Es war nur natürlich, wenn er dieses Feld von der
Zeit ab, wo er Priester geworden war, eifriger bebaute.
Indes bilden die Werke der römischen Periode keine
Steigerung gegen die früheren. Die ungarische Krö-
nungsmesse von 1867 steht hinter der Graner Fest-
messe sogar etwas zurück. Sie ist ungleichmäßiger, hie
und da flüchtiger gearbeitet, aber doch mit einem Geist,
der überall die Hauptwege richtig trifft. Es bleibt in
dieser Messe noch genug, was genial und der Bewunde-
rung wert ist, wenn es vorwiegend auch nur einzelne
Stellen sind. Dahin rechnen wir die Themen des Kyrie
und seines Mittelsatzes: des »Christe eleison«, die in einer
eignen Nachdrücklichkeit und Reumütigkeit bitten; auch
den in immer stillerem Grollen ausgehenden Schluß des
F. Liszt,
ungarische
Krönungs-
messe.
-^ 252 ♦^
ganzen Satzes. Fortreißend durch den fast wild freudi-
gen Naturklang der auf einen langen Triller vereinigten
Geigen ist der Anfang des Gloria. Die mit leichtem
Material gebauten Steigerungen von >laudamus< ab,
finclen in dem »Domine deus< mit seinen mächtigen
Akkorden einen großartigen Abschluß. Einer ähnlich
wuchtigen Harmoniewirkung, wie an dieser Stelle be-
gegnen wir dann wieder kurz vor dem Ende des Gloria,
bei den Worten: »cum sancto spiritu«. Wie Schumann
schon seiner GmoU-Messe, und wie viele andere Kompo-
nisten vorher, hat auch Liszt seiner Krönungsmesse die
Komposition des »Gradualec und »Offertoidum« beige-
geben. Letzteres ist ein Instrumentalsatz. Ihm, wie
dem »Gradualec liegen Weisen aus dem Schatze des
katholischen Kirchenliedes zu Grunde. Das Credo ist
durchweg gregorianisch; ein Unisonogesang sämtlicher
Stimmen, voll Würde und Schwung in antiker Gangart.
Die Orgel. begleitet. Das Sanctus ist in seinen vorde-
ren Abschnitten nur Vorbereitung auf das »Benedictus«
und sammelt mit Motiven, die spannend in die Höhe
zeigen, einmal auch, beim »Pleni«, mit freundlich mild
hinziehenden Melodien die Stimmung bis zur Dichtigkeit
der feierlichen Erwartung. An diesem Punkte setzt das
Benedictus, ähnlich wie in Beethovens »Missa solem-
nis€, mit einem Violinsolo ein. Nur bis auf diese äußer-
liche Übereinstimmung in der Instrumentierung geht die
Ähnlichkeit der beiden Sätze. Die Motive der Lisztschen
Benedictus -Violine, welche nachher vom Cello und
dann von allen Instrumenten der Reihe nach aufgenom-
men werden, khngen ganz unverkennbar an ungari-
sche Nationalmusik, insbesondere an Racoczyweisen
an. Das tun auch schon vorher einzelne Stellen,
und es ist nicht ausgeschlossen, daß die Absicht,
solche volkstümliche Zitate zu bringen, Liszts Fantasie
etwas gelähmt hat. Das Agnus dei setzt mit dem-
selben Thema ein, welches im Gloria die Worte »Qui
toUis« trug, und kehrt dann ähnlich, wie dies in der
Graner Messe der Fall, war, schrittweise bis zum
J53 ^J«—
ersten Kyrie-Einsatz, also bis zum Anfang der Messe,
zorück.
Eigentümlich ist beiden Instrumentalmessen Liszts
die Menge von Stellen, an denen die Singstimmen uni*
sono geführt isind. Es entspringen aus dieser Manier
höchst gewaltige Wirkungen. Ihren Grund mag sie aber
in äußeren Verhältnissen gehabt haben.
Im Jahre 4 869 kam im Th^ätre ItaUen zu Paris eine
«Missa solemnisc von Rossini zur Aufführung. Man G, Bossinii
hat in Deutschland diesem einige Jahre vor dieser öffent- Missa solem-
liehen Aufführung bereits entstandenen Werke wenig Be- nis.
achtung geschenkt. Ganz im Gegensatz zu den Italienern,
bei welchen die Wortführer der komischen Oper, die Conti,
Galuppi, Gasparini und deren Nachfolger bis auf Donizetti,
sehr fleißig und erfolgreich auf dem Gebiete der Messen-
komposition tätig waren, pflegen wir denjenigen kirch-
lichen Werken mit Mißtrauen zu begegnen, welche aus
den Händen dramatischer Komponisten hervorgehen.
Dieses, durch manche frivole Anekdote belegte Vor-
urteil, wird durch Rossinis Stabat mater bis zu einem
gewissen Grade gutgeheißen. Das Stabat mater hat
der Messe den Weg verlegt. Wer sie studiert, wird von
dem Ernst ergriffen sein, mit welchem der melodien-
reiche Meister an die Aufgabe herangetreten ist. Der Geist
dieser Messe stimmt mit der Tatsache, daß Rossini sich
für S. Bach interessierte und als einer unter den wenigen
großen Komponisten der Zeit der Bachgesellschaft ange-
hörte. Eine der schönsten Stellen in dem Werke ist das
»Et in terra paxc im Gloria, eine Art L. Richtersches
Weihnachtsbild in Tönen: Tiefklingende Glocken hoch
vom Turm herab in die dunkle Nacht hinein läutend!
Unter den neueren Messen, welche weniger beachtet
worden sind, obwohl sie von namhaften Tonsetzern
herrühren, nennen wir weiter: die »Missa solemnist
von F. Kiel. In diesem Werke hat der geistvolle Kom- Pi Eleli
ponist den Begriff der Solemnität besonders auszu- Missa solem«
prägen gesucht Die Sätze, welche im Texte einen nis.
frohen, freudigen Charakter tragen, sind reich an kurzen,
—^ 254 <*>—- ■
signalartigen Motiven, ^yie sie das große Volk \ als Aus-
druck seiner festlichen Stimmung liebt Namentlich im
Gloria reden die Trompeten diese populäre Sprache.
Der Verbreitung dieser Messe mag es hinderlich gewesen
sein, daß der Verfasser den Schwerpunkt der Komposition
allzu fest in die kontrapunktische Arbeit gelegt hat. Im
allgemeinen hat dabei die Freiheit und der Gehalt der
geistigen Bewegung etwas gehtten. Aber einzelne Sätze
sind trotz der strengen Form eindringliche und reizende
Tonstücke: In erster Linie ist aus dieser Gattung »Do-
mine deus« zu erwähnen. Der Einfluß größerer Vorbilder
zeigt sich hier und da: Bach ist im »Qui toUis« und im
>Osanna«, Beethoven im »Et vitam venturic deutlich
durchzumerken. Auf der andern Seite begegnen uns
aber auch wieder Sätze von ganz selbständiger und in
ihrer Neuheit bedeutender Auffassung. Das »Quoniamc
gehört dahin ; auch das Agnus dei verdient wegen seiner
dramatischen Entwicklung und wegen der sinnigen Ver-
knüpfung mit dem Kyrie in dieser Gruppe einen hervor-
tretenden Platz.
Einzelne Messensätze sind in der neueren Periode
verhältnismäßig nur wenige veröffentlicht worden und
noch weniger in Umlauf gekommen. Als die hervor-
ragendsten Arbeiten dieser Art aus jüngerer Zeit sind zu
M. Braoh, nennen: Kyrie, Sanctus und Agnus dei von Max Bruch.
Kyrie, Sanctus, Sie gehören zu den gediegensten und gehaltvollsten Wer-
Agnus dei. ken des jungen Bruch und stehen an Frische und Reich-
tum der Fantasie und Erfindung seinem »Frithjofc und
dem ersten Violinkonzert nahe. Hätte Bruch sich ent-
schließen können, die Messe durch Gloria und Credo zu
vervollständigen, wäre ihm eine führende Stellung in der
neuen Kirchenmusik sicher gewesen.
Eine praktische Bedeutung für . das geistliche Konzert
A. Becker,' hat die Große Messe in Bm oll für achtstimmigen Chor,
GioBe Messe in Soloquartett, Orchester und Orgel von Albert Becker
BmoU. (op. 4 6) erlangt. Mit der ersten Aufführung dieser Messe
— i. J. 4 879 durch den Riedelverein in Leipzig — wurde
der deutschen Musik ein sehr geistvoller Tonsetzer
— ^ 255
gewonnen, welcher bis dahin ziemlich unbeachtet gestrebt
hatte. Noch weniger als Kiel zeigt Becker eigentliche
Originalität in der musikalischen Erfindung und die
Führung der manchmal zerstückelten, manchmal zu
breiten Formen entbehrt noch der vollen Reife und
Freiheit. Aber Becker besitzt als Musiker einen starken
Sinn für Wohlklang, für eingängliche Motive und ver-
steht sich mit einer Sicherheit, die auf das Theater hin-
weist, auf scharfe und klare Effekte. Als Künstler liebt
er vor allem poetische Beziehungen. Eine glückliche
Folge dieser Neigung ist in Beckers BmoU-Messe die Ver-
wendung des evangelischen Kirchenliedes. Becker scheint
— nach der Schlußbemerkung, die der Komposition an-
gefügt ist, zu urteilen — nicht gewußt zu haben, daß
schon S. Bach und noch frühere Meister den lutherischen
Choral für ihre Messen benutzt haben. Für die neuere
Messe hat aber Becker das Verfahren ähnlich erneuert,
wie P. Cornelius in seinen > Weihnachtsliedern € den
Choral wieder der kunstmäßigen Hausmusik zugeführt
hat. Für den Erfolg der Beckerschen Messe ist diese
Verwendung der Choräle wesentlich entscheidend ge-
worden. Was den Messen eines Cherubini, Schubert,
Weber, Schumann, Liszt versagt blieb, das hat die
Beckersche erreicht. Sie ist ins Volk gedrungen, wenig-
stens ins protestantische, für das sie bestimmt ist. Durch
die Choräle wird sie für alle Grade musikalischer Bildung
gleichmäßig verständlich, den Geistlichen besonders lieb.
Es ist bekannt, daß Luther fast sämtliche Sätze der
lateinischen Messe in die Form des Kirchenliedes über-
tragen ließ, ganz ähnlich, wie dieses auch die Passions-
geschichte sich angeeignet hat. Da hat das Gloria
seinen liedmäßigen Ersatz in »Allein Gott in der Höh^
sei Ehre, das Qtedo in »Wir glauben AIP an einen
Gott«, das Agnus dei in »0 Gottes Lamm unschuldig«
erhalten. Nicht diese eigentlichen Messenchoräle sind
es, welche Becker in sein Kunstwerk einflicht, sondern
er läßt Choräle anklingen, um gelegentlich den Be-
griffsgehalt einzelner Textbilder zu bereichern und zu
256
schärfen. So setzt im Credo nach der Stelle »descendit
de coelis« der Passionschoral »Ein Lämmlein geht und
trägt die Schuld« ein, hei der Schilderung des zukünftigen
Lebens >Et vitam venturi saeculi« spricht der Choral
»Jesus, meine Zuversicht< die freudige Hoffnung aus, mit
welcher die Gemeinde das Bild der künftigen Seligkeit
betrachtet. Das »Osanna in excelsis« erhält eine volks-
tümliche Bekräftigung durch »Allein Gott in der Höh* sei
Ehrt. In der Regel treten die Choräle, wo sie erscheinen,
in den Vordergrund der musikalischen Form. Im Munde
von Orchester und Orgel bilden sie einen cantus firmus,
den die Singstimmen fugierend, zuweilen auch frei bis
zum rezitativischen' Ton, umkreisen. Es ist ein Nachteil,
daß der Komponist die Melodien meistens in regelrechter
Vollständigkeit durchführt. Nur an einer Stelle, beim
»cujus regni non erit finist hat er sich — es ist hier
»Wachet auf, ruft uns die Stimme < — auf ein kurzes
Zitat der Orgel beschränkt.
Das erste Kyrie spricht eine gedrückte Stimmung
in zusammengedrängter Form aus. Die beiden Themen:
Grave.
^Ky. ri.0 « . lei . ,. «on, e . ^ « le • ^1 • son
und
^
S
Ky .
rio o
► . le - - . - i . son, Ky. . ^ri . e
welche zu diesem Zwecke sich vereinigen, haben einen
Bachschen Zug und setzen ein für die Symbolik chro-
matischer Melodieführung eingeschultes Ohr voraus. Er-
leichtert wird aber die Aufgabe, den Gehalt des Satzes
zu erfassen, durch eine scharfe Einteikmg in nicht zu
große Perioden. Der Eintritt des »Christe eleison c ist
eigen durch seine Einfachheit. Die zwei halben Noten,
in denen Christus angerufen wird, wirken sehr tief und
durchklingen den Satz als freundliches Signal. Es ist eins
der Kennzeichen der Kunst Beckers, so ganz naheliegende
257
und gewöhnliche Mittel an einem Punkt einzusetzen, wo
sie ins hellste Licht fallen. Den Glanzpunkt der ganzen
ersten Abteilung bildet der Schlußsatz: das zweite Kyrie.
Die Instrumente führen hier den Choral: »Aus tiefer Not
schrei* ich zu äirc durch. Die Singstimmen werfen die
Gebetsworte beweglich drein, bald frei deklamatorisch, bald
im gebundenen Gesangsstil.
Der erste , rauschende Teil des Gloria ' wird von
folgendem in seinen Anfangsworten ganz leicht an Beet-
hoven und seine »Mis- Aiiegro. ^
sa solemnis« erinnern- <fiHi n J. j) J>| ^ J ^f- f l^f ^
den Thema beherrscht: oio-h.» L «c.eai.m öe.li
Dasselbe kehrt am Schluß der ganzen Abteilung im
»cum sancto spirituc wieder. Eine längere E|)isode von
ruhigem Charakter bildet in diesem anfangenden Ab-
schnitt das »Et in terra paxc. Das Aufhören der har-
monischen Bewegung kennzeichnet ihren Ausdruck des
Friedens eigentümlich. ' Das »Gratias agimus tibi« setzt
im Liedton ein, fast wie ein anmutiges Ständchen, und
geht bei den Worten »propter magnam gloriam tuamc
aus dem zutraulichen Ton in einen ehrfurchtsvollen
über. Hauptsächlich vollzieht sich dieser Übergang mit
koloristischen Mitteln: in neuen Farben aufrauschenden
Tonfiguren! Der Gebetsabschnitt im Gloria ist wohl
die in der Erfindung bedeutendste Partie der ganzen Ab-
teilung. Besonders ragen aus ihr hervor das c^urch alle
Gruppen tönende mitleidige »Agnus dei« und das zweite
»Misereret. Dieses ist durch die Harmonie in mächtiger
Spannung gefesselt und aus ihr streben die Stimmen im
innigen eifrigen Ringen heraus. Nach einem kurzen,
stolzen »Quoniam« beginnt die Schlußabteilung mit einer
^ knappen Fuge über »Cum sancto spiritu«. Jauchzend
setzt das sehr eindringliche Thema ein. Bald mischt sich
das Thema des »Quoniam« mit drein, und auf einem
weiteren Höhepunkt angelangt, nimmt die Fuge einen
dritten Arm in ihren Freudenstrom mit auf: das oben
aufgezeichnete Anfangsthema der Abteilung. Becker
waltet maßvoll mit diesen Mitteln; statt sich allzulange
U, 4.
17
-^ 258 ^^—
auszubreiten^ nparkiert er seinen Schluß mit einigen be-
deutungsvollen Einbiegungen und der Entwicklung mäch-
tiger Klangwirkungen.
Im Credo ist bis zu der Stelle »Qui propter nos«
das wunderbare Element der Bekenntnisartikel voran-
gestellt. Die Motive sind kurz, im Kern oder in der
Umkleidung flüchtig und fantastisch gehalten. Die einzig
feste Stütze scheint das breite langsame Thema zu bilden,
welches die ersten Takte bringen. Es kehrt in der Ab-
teilung häufig wieder. . Das >Qui propter nost selbst
teilt sich noch zwischen mystischen Andeutungen (bei
»dbscendit«) und Ausdruck eines warmen menschlichen'
Dankgefühls. Die Schilderung der Inkarnation Christi
ruht auf dem Choral >Ein Lämmlein geht usw.«. Die
Singstimmen führen darüber ihr eigenes in tiefe Trauer
getauchtes Thema durch. Die instrumentalen wie die
vokalen Grundideen des Abschnitts sind vortrefQich, ihre
Ausführung wirkt aber etwas matt. Die Kreuzigung be-
gleitet das Orchester mit schwer lastendem Motiv, die
Stimmen rufen wie in Schmerz und Staunen festgebannt
ihr »Crucifixus« hinein. Auch beim »passus« bleiben sie
in einer vielsagenden Kargheit von Ton und Wort. Vor
dem >sub Pontio Pilato« erklingen in den Instrumenten
ganz ähnliche Seufzer, wie sie jedermann aus dem
»Parsifal« Wagners unvergeßlich sind. Es ist eine der
modernsten und ergreifendsten Stellen in Bs. Messe. Die
weiteren Glaubenszeugnisse sind kurz gegeben; aber mit
bedeutenden Themen. Am meisten fesselt der mystisch
spannende, visionäre Ausdruck bei der Stelle »Et exspecto
resurrectionem mortuorumc. Alarmierend, taucht dieses
Bild aus dem Nichts auf und ins Nichts verschwindet es,
begleitet von den kurz erregten Rezitativzeilen der Sänger.
Einen längeren Satz bildet nur das fugierende »Et vitam
ventüri saeculi«, getragen vom Choral: »Jesus, meine
Zuversicht«.
Wenn Beckers Messe im allgemeinen zuweilen auch
an Beethovensche Mittel erinnert, so tut dies das
Sanctus besonders in der Mischung des kolorierenden
~-^ J59 ♦—
Gcesangstils mit einfacher Melodik und Deklamation. Wie
schön eignen sich hier die einander kreuzenden zarten
Figuren der Singstimmen zum Ausdruck einer in Gottes-
freude schwelgenden Empfindung! Ganz 4ibweichend ist
die Wiedergabe des ersten »Osanna« in dem ruhigen
Tone, mit welchem man ein Glück betrachtet, das stille
hält. Während dieser Satz in anderen Messen das >Bene-
dictus« aus einem scharfen Abschnitt herausspringen
läßt, leitet Beckers »Osanna« zum letzteren mild hinüber.
Über beide Sätze breitet der Wechsel und die Ver-
einigung von Chor und Soli großen sinnlichen Rei2. Die
zweite Behandlung des »Osanna«, von der ersten grund-
verschieden, fesselt durch Hervorkehrung eines ernsten,
tiefsinnigen Elements. In diesem zweiten Osannasatz ist
es, wo auch der Choral: »Allein Gott in der Höh'« an-
gespielt wird.
Das Agnus dei beginnt in einem drohenden, fast
unheimlichen Ton: schwül in Klang und Harmonie; tief
unten grollen kurze erregte Figuren, der breite Gesang
der Solostimmen wird von dem angstvoll naturalistisch
psalmodierenden Chor unterbrochen. Die Szene beginnt
mehrere Male von vorn und steigert den Ausdruck der
düsteren Gedanken, schmerzliche Klagen erheben sich
im Orchester; an andrer Stelle vernehmen wir wahre
Höllentöne. Eine Lösung vom Druck versucht das erste
Andante (VrTakt). Aber in seiner Melodik liegt die volle
Ratlosigkeit noch ausgesprochen. Erst ein selbständiger
Orchestersatz (Allegretto, V4) löst die Spannung und
führt zum »Dona nobis« über, welches den Frieden bringt.
Seine vorwiegend idyllischen Weisen werden durch freund-
lich mystische und durch hochpathetische Streiflichter ge-
hoben.
An Selbständigkeit und Charakter wird die Arbeit
Beckers von der jjüngst veröffentlichten »Großen Messe«
(in FismoU) von Felix Draeseke (op. 60) übertroffen. Felix Droeseke,
Es ist eine Musik Cherubinischen Geistes, die oft ver- FismoU-
schlossen und in sich gekehrt, näher gekannt sein will, Messe,
am verstanden zu werden. Nach keiner Seite leicht, hat
47*
^^ 260 ^.—
sie bisher wenig Verbreitung gefunden; wir wissen nur
von zwei Aufführungen: in Leipzig upd Dresden. Wer
aber in dieser Messe die Darstellung der Passion, des
»Benedictusc und namentlich des Agnus dei studiert, wird
darüber nicht in Zweifel sein, daß hier die Arbeit eines
Meisters vorliegt.
A. Braokner. Auch die drei Messen Anton Brückners, (Dmoll,
FmoU-Mesee. Emoll, Fmoll) die aus einem wahrscheinlich ziemlich
reichen und teilweise in der Jugendzeit des Komponisten
geschaffenen Vorrat allein in Druck gekommen sind, haben
bisher nur geringes Entgegenkommen gefunden, obwohl
sie in mancher Hinsicht sehr bemerkenswert sind. Eigen
ist ihnen ein außerordentlich reges Orchester, das anders
als bei Liszt nicht auseinander liegende Teile in Bezieh-
ungen bringt, sondern die Grundstimmung größerer Ab-
schnitte fixiert, eigen zweitens eine mit klisinen Motiven
spielende Kontrapunktik, die vom scheinbar eigensinnigen
Suchen und Probieren sich oft zu einer überraschenden
Größe der Empfindung aufschwingt. Den Symphonien sind
sie durch die knappe, straffe Anlage und dadurch über-
legen, daß sie sich von Abschweifungen fernhalten. Die
verhältnismäßig bekannteste unter diesen drei Messen,
die Große Messe in Fmoll (als Nr. 3 veröffentlicht),
für Soli, vierstimmigen Chor und großes Orchester, ist
sehr ungleich in der musikalischen Erfindung. Einzelne
Sätze sind durch und durch bedeutend, bei andern führt
der Weg zu gewaltigen, unvergeßlichen Stellen über ge-
wöhnliche, zum Teil altvaterische Strecken. Der Mangel
an Vokalsinn, der dieser Tatsache mit zugrunde liegt,
äußert sich auch häufig in der technischen Führung der
Singstimmen.
Das Kyrie ist der schwächste Satz dieser Messe.
Kaum kann man ihm mehr nachrühmen, als daß der
Ton getroffen ist. , Nur der Schluß des Mittelsatzes, das
> Chris te eleison c, bei dem die Solostimmen eintreten,
erhebt sich an der Gesdur-Stelle zum mächtigen Aus-
druck freudigen Vertrauens. Eine zweite große einer
Alltagsseele unmögliche Stelle findet sich im dritten
— ^ 261 ^ —
Abschnitt, in der Wiederholung des Kyrie, da, wo sich
um das kurze Cisdur-Motiv Chor- und Solostimmen ab-
lösen.
Das Gloria hat drei Teile. Der erste endigt, auf-
fälligerweise, mit den Worten : »Domine Deus, agnus Dei,
filius Patris<, auffällig deshalb, weil so Subjekt und
Prädikat auseinandergerissen werden. Seine Musik zeich-
net sich durch feurige Empfindung und durch den
Glanz aus, in dem sie die Majestät Got- ^^Aiiegro.
tes vorstellt. Die musikalische Stütze
des Bildes ist eine einfache Achtelfigur
die im Unisono des Streichorchesters wie zu einem
Strom anwächst. Dieses gewaltige Phänomen wird
durch zwei ruhige Idyllen unterbrochen, zuerst beim »Et
in terra pax«, dann noch schöner beim »Gratias agimus<.
Diese Episode mit der wohltuenden Stille, aus der die
Solostimme', von einem Terzengang weniger Instrumente
umspielt, so klar und schlicht eindringlich hervortritt, ist
ein Geschenk der Inspiration. Ober die Titulaturen geht
Brückner im flotten Zug hinweg und fügt bei ihnen der
leitenden Hauptfigur des ti»^^
Orchesters ein ebenfalls Mm jJ PfPf/ir hinzu,
freudevolles Nebenmotiv: «T i " L-ö ^
Der zweite Teil besteht aus zwei Abschnitten. Der
vordere (Adagio, 3/4, DmoUj, der die Bitten: das miserere
und das suscipe enthält, baut ^ Adagio. ^^ auf.Nach-
sich in der Hauptsache über (fe b g p J 1 Jp J dem ihn
dem inbrünstigen Gehetsruf : •? ' W ' -IT • ^^^ Stim-
men jede für sich vorgetragen haben, treten sie zum
Chorsatz zusammen und dem neuen Ton, in dem sie
nun nochmals um Erbarmen und um Erhörung bitten,
ist ein starker Teil Herzensangst beigemischt. Er dringt
ins Innere des Hörers. Der dritten Intonation des (ange-
gebenen) Gebetsrufs folgt der Chorsatz nicht sofort, son-
dern Brückner schaltet modern realistisch — man denke an
Berlioz — einen Abschnitt stammelnden Psalmodierens
dazwischen. Durch sie wirkt der Einsatz des Chors
dann wie ein elementarer Aufschrei.
262
In dem andern die Worte von >Quoniani tu solus
usw.« bis zum >in gloria Dei Patris, Amen« umfassenden
Abschnitt des zweiten Teils wird die Musik des ersten
Teils wiederholt. Der dritte, schließende Teil des Gloria
nimmt den Satz »in gloria Dei Patris, Amen« noch einmal
auf und vertieft sich in ihn, fl i . r fl _ .r i \^ . — tr^^
mit ebensoviel Schwung jp /IHfl^ * j'^ T * T fT
alsKunst über das Thema: in fiori» DoJ Pa.trii A.men
fugierend. Das Schlußwort hat das Orchester auf die
Figur zurückgreifend, mit der das Gloria begann.
Das Credo ist der in sich ungleichste Satz der Messe.
Fast könnten sich in seine Komposition zwei ganz ver-
schiedene Künstlercharaktere, ein Naturkind und ein
Grübler, geteilt haben. Diesem mißrät mancherliei in
Ausführung und Auffassung, jenes übt auf den Hörer
auch bei fraglichen Wegen einen unwiderstehlich freund-
lichen Bann aus.
Das Naturkind beginnt das Glaubensbekenntnis mit
folgen- f. Aiiegro. Das ist bekannter
dem Xifi f^ nr rrN^rif. österreichischer Kir-
Thema: *^ ' Cre.do, cre.do in unumDeuro chenton, es erinnert
ganz direkt an das Credo der Esdur-Messe Franz Schu-
berts und es erfreut so oft es kommt, was ziemlich häufig
geschieht. Es beherrscht, wenn auch nicht wörtlich, so
doch geistig den ersten Abschnitt des Satzes, der bei den
Worten >descendit de coelis« endet. Brückner läßt aber
schon hier in die freudige Hingebung an den Schöpfer und
Vater aller Wesen einen mystischen Ton hineinklingen,
und zwar mit einfachen Mitteln. Zu-
erst bei »visibilium omnium et invisi-
bilium« tritt im Orchester das Motiv:
bei »natum ante omnia auf. Beideinale
saecula« das sehr eifrig "P J f J„J ^ ist die Chroma-
verwendete Baßmotiv: *"^ tik der entschei-
dende Zug. Ihr entspringen romantisch schillernde Har-
monien und geisterhafte Melodiengänge.
Der zweite Abschnitt, in dem die Menschwerdung,
das Leiden uud Sterben des Heilands vorgeführt wird,
-^ 263 ^—
macht nun mit der Mystik Ernst. In dem beginnenden
Moderato dient ihr namentlich das Kolorit mit in j^chtel-
noten zitternden und schwebenden Harmonien hoher
Holzbläser, der seit Wagners >Lohengrin« allgemein ge-
wordenen Symbolik des Wunderbaren. Eine Solovioline
und eine Solobratsche werfen eine Art Lerchengesang
hinein. Den Text über »Et incarnatus est« trägt ein
Solotenor auf eine Melodie vor, die durch ihre zarte
Schönheit zu den hervorragendsten Stellen der ganzen
Messe gehört. Ihre großen Schlüsse böten wir im dunk-
len Echo der Posaunen zweimal. Es fällt der Frauenchor
mit ein, mehr sprechend als deklamierend. Das »Homo
factus est« übernehmen die Bässe noch sehr im Ton des
Geheimnisses. Beim Hinzutritt der andern Stimmen geht
er in Ergriffenheit über und nun kommt mit dem »Cruci-
fixus« eine der bedeutendsten Stellen der ganzen Kom-
position. Die Bedeutung liegt in dem stillen, heimlichen
Kampf zwischen 'einer fromm dankbaren und einer
schmerzlich leidenschaftlichen Auffassung der erzählten
Vorgänge. Der Chor, der den Hauptvortrag hat, bleibt
bis zum »sepultus est« in derselben äußerlichen Ruhe,
mit welcher er das »Crucifixus« choralartig einfach ein-
setzt Aber aus einer Menge Dissonanzen und Akzente
spricht die innere Erregung deutlich genug.
Die Heilsgeschichte von der Auferstehung bis zum
Weltgericht (»Et resurrexit« bis »judicare vivos et mortuos«) ,
bildet den dritten Abschnitt des Credo. Die Incarnation
und die Passion hat Brückner im Halblicht, in den Far-
ben des Traumes geschildert, für die neuen und höheren
Wunder wählt er den Ton äußerster Spannung und ge-
waltigster Aufregung und drückt ihn mit Orchester-
motiven aus, die größtenteils etwas primitives und
naturalistisches haben. Ganze lange Teile dieser Grup-
pen liegen g die, in allen Lagen zu-
auf der wilden fly f T 1 f ^f * M gleich, lange Perioden
Streicherfiffur: *^ 4 1 f 4 hindurch nicht vom
Streicherfigi
Platze weicht und wie eine Geistergestalt bald sich hebt
und bald sich duckt. Abgelöst wird sie durch andere
—-^ 264 #—
ebenso tumultuarische Achtelgänge, denen Bruchstücke
der Skala zugrunde liegen. Was die Bläser und was die
Singstixnmen hinzutun, ist nicht viel mehr ^Is al fresco-
Musik, akkordisch, mit großer Kraft gebrachte Deklama-
tion, nur hier und da durch das ausdrucksvolle Motiv
eines Horns, einer Posaune, derTenöre oder Bässe unter-
brochen. Das Ziel, auf das der Komponist lossteuert,
ist ein mit Schrecken gemischtes Staunen. Die höchste
Wirkung seiner Absicht erreicht er vor und mit dem
Eintritt des »cum gloria judicare vivos et mortuos«.
Das Gericht über die Lebendigen beschäftigt ihn lange,
der Toten (et mortuos) gedenkt er kurz und leise. Gleich
darauf verschwindet die Vision. Die Worte »cujus regni
non erit finis« sind als Anhang, zu diesem HaÄptbild des
Credo gedacht. Ein technischer Zusammenhang mit ihm
fehlt zwar, aber die Wiedergabe des »non erit ünis«
nimmt den Geisterton der dort in andrer Weise bei der
Erwähnung der Toten angeschlagen wurde, noch ein*
mal auf.
Der vierte Abschnitt beginnt mit dem Bekenntnis
zum heiligen Geist und verwendet dazu zunächst die
Musik, mit der das Credo anfing. Beim Relativsatz
»Qui cum Patre et Filio usw.« aber tritt ein neuer Ton-
satz (Moäerato, 3/4, G dur) von freundlich, ruhig beschau-
lichem Charakter ein. Eine logische Berechtigung, einmal
Zusammengehöriges zu trennen, dann dem heiligen Geist
so menschlich intim und vertraulich gegenüber zu treten,
liegt nicht vor, sondern Brückner ist hier dem musika-
lischen Effekt nachgegangen. Den hat er vorzüglich er-
reicht. Der milde Ton des Satzes tut nach der starken
Aufregung sehr wohl, der Form nach ist er ein Kanon
der Solostimmen, den der Chor nur mit einer kurzen,
ehrfurchtsvollen Episode auf die Worte: »simul ado-
ratur et conglonficatur« unterbricht. Wie der voran-
gegangene dritte, wird auch dieser vierte Abschnitt durch
einen Anhang vervollständigt, dem der von »Et unam
sanctam catholicam« bis »resurrectionem mortuorum«
reichende Text zugewiesen ist. Auch er stört die
Einheit des ganzen Satzes und ist an sich unbedeutend.
Doch bringt er den ernsten Charakter der Gelöbnisse
zur Geltung. Bei der Auferstehung der Toten stellt
Brückner auch eine Verbindung mit dem dritten Ab-
schnitt her: das allarmierende Achtelmotiv des Streich-
orchesters setzt wieder ein. Die Worte »resurrectionem
mortuorum« sind bedeutungsvoll getrennt, das erste wird
fest und begeistert im forte gegeben. Dann folgt nach
zwei Takten Pause, in die nur die Pauke leise hinein-
wirbelt, pp im kleinlauten unisono der Singstimmen das
»mortuorum«. Die Stelle hat eine gewisse Kulturbedeu-
tung. Läßt es sich in der musikalischen Messe im allge-
meinen deutlich verfolgen, wie der christlichen Mensch-
heit der Gegenwärt zu die Todesfurcht mehr und mehr
gewachsen ist, so bildet Brückner den Superlativ des
Todesgrauens. Ihn persönlich muß der Gedanke ans
Sterben mit Schauder erfüllt haben. Welcher Kontrast
zur Todesfreudigkeit der Bachschen Zeit!
Wie ein freundliches Erwachen aus einem quälenden
Traum stellt sich zu diesem Schluß der nun folgende und
fünfte Abschnitt des Credo, dem die Worte: »Et vitam
venturi saeculi, Amen« zufallen. Er ist der originellste
Teil der ganzen Messe, obschon er nennenswertes neues
musikalisches Material nicht bringt. Brückner verwendet
das (oben mitgeteilte) Eingangsthema des Credo für ihn
in einer freien Fugenform. Aber mit einem überraschen-
den, hinreißenden Eiilflill. Zwischen jede Intonation des
Themas fällt der volle Chor, einfach homophon mit vier
Akkorden ff: »Credo, credo« ein. Das ist urnaiv und von
elementarster Wirkung. Mit diesem Ausgang ist dieses
Credo ein Unicum, es gibt keine Messe, in der die Glau-
bensfreudigkeit voller und natürlicher zum Durchbruch
kommt. ÜJtere Anregungen sind dabei möglich.
Das Sanctus ist auffällig knapp und begnügt sich
die Empfindungen in kleinen Stücken zu skizzieren.
Nur beim Hosanna, dessen Ton ziemlich weltlich an-
klingt, wird länger verweilt. Es kehrt auch nach dem
Benedictus wieder. Dieses Benedictus, in der Form der
U.
—^ '266 *—
di'eiteiligen da capo-Arie augelegt, gehört im Hauptsatz
zu den Perlen der Brucknerschen Messe. Schon seine
instrumentale Einleitung, mit dem Cello als Hauptstimme,
ist echte edle Herzensmvisik. Der Gesangteil, von Solo-
stimmen bestellt, erweitert den Inhalt der schönen an-
dächtigen Melodien und steigert ihren Ausdruck durch
sinnvolle Kontrapunkte. Noch mehr gewinnt ihm die
Wiederholung durch den Chor ah; bei ihr nähert sich
die Andacht auf einen Augenblick dem Entzücken.
Schwächer ist der als Sopransolo mit Chor beginnende
Mittelsatz. Das Festhalten an einer nicht viel sagenden
Achtelfigur hat hier den Aufschwung verhindert.
Auch dem Agnus Dei legt Brückner eine' techni-
sche Stütze Andante. begleitet die drei üblichen
unter. X^i^i^wf Fj/nil- Anrufungen des Gottes-
tiv : tJ * *^ii^'^ lammes als Basso
Das Motiv : «X ' "q* lammes als Basso ostinato.
Aber darüber und dahinter stellen die Singstimmen Motive
von bedeutenderem Gehalte und entwickeln sie frei, dra-
matisch beweglich und doch einfach zu ergreifenden Ton-"
reden. Es liegt Schuldbewußtsein in der Wiedergabe
des »qui tollis peccata mundi<, Zagen in den ersten
Soloeinsätzen des Miserere, stürmisches Gnadenverlangen
in seiner Fortsetzung durch d^n Chor. Bis zum Schluß
der dritten Anrufung bleibt die Situation bänghch, stellen-
weise verzweifelt, die Erhörung ungewiß. Da kommt plötz-
lich das Eingangsmotiv des Kyrie, aber in F dur und mit
ihm eine Musik des Friedens, die nun nicht mehr weicht.
Auf neue Erfindung verzichtet Brückner jetzt und führt
den Satz mit Reminiszenzen zu Ende, die bekannte Ideen
gewissermaßen in Verklärung zeigen. Außer dem' ersten
Kyriemotiv sind es noch die Ges durstelle aus dem »Christe
eleison« und das Fugenthema vom »cum gloria Dei Pa-
tris«. Alles aber auf >dona nobis pacem« gesungen. Gern
hätte jedermann auch nochmals das Credothema gehört.
Die in der Verbreitung die zweite Stelle einnehmende
A. Braokner, Emoll-Messe Brückners ist halb und halb eine a capella-
Emoll- Messe. Messe. Sie wird zwar von Oboen, Klarinetten, Fagotten,
Hörnern, Trompeten und Posaunen begleitet, aber dieses
— ♦ 267 ♦—
Blasorchester setzt sehr häufig auf lange Strecken aus.
Aus Schumaunschen Romanzen kennt man die Intona-
tionsverlegenheiten, in welche auch der beste Chor durch
eine solche launische Instrumentalbegleitung geraten kann.
Das mag 4er eine Grund für die- geringe Verbreitung sein,
welche diese Messe Brückners bisher gefunden hat, der
andere liegt darin, daß ein achtstimmiger Chor Verlangt
und diesem ein zuweilen schwieriger Satz zugemutet wird,
und ein dritter darin, daß sie, auch wenn alles gelingt,
nicht eigentlich dankbar ist. Sie ist eine Vokalkomposition
nach dem Prinzip der Renaissancemusik, dem scharfen
Ausdruck der einzelnen Sätze und Begriffe wird die An-
lage im großen untergeordnet. Dieses Prinzip hat aber
bis heute noch nicht die. Menge für sich gewonnen. An
und für sich ist alles in dem Werk verständlich, das
meiste außerordentlich schön und eine Bestätigung der
hohen Erwartungen, die nach den starken kirchlichen
Anklängen in den Symphonien Brückners auf seine litur-
gische Begabung gesetzt werden durften. Zum tieferen
Eingehen geneigte und befähigte Hörer werden ohne Be-
denken diese Emoll-Messe höher stellen, als die in Fmoll.
Sie ist in Auffassung, Stimmung, Lebenserfahrung und
Kunst reicher, die reifere, wahrscheinlich auch spätere
Arbeit und noch knapper gehalten. Am weitesten über-
trifft sie jene im Kyrie und Sanctus. Anlaß zur Verwun-
derung bietet sie nur durch das Hauptthema des Credo,
wie überhaupt dieser Satz auch als Ganzes der am wenig-
sten gleichmäßige ist. Bei allen andern ist das Gesamt-
ergebnis unbedingte Bewunderung und der Wunsch, ein
derartiges Stück wirklich großer Kunst möge bald allge-
mein gekannt sein. Fast ganz unbenutzt ist Brückners
Dmoll-Messe geblieben.
Von neuesten Messen, die zwar in den deutschen
Handel, aber nicht ins Konzert gekommen sind, sei als
gediegene, interessante Arbeit die von Fr. Klose, von
ausländischen Beiträgen seien die von P er o si,Ravanello
und Ed. Smyth genannt.
^ Größere Beachtung als sie. hat »Eine deutsche
--♦ 268 ♦>—
Messe« für Soli, Chor, Orchester und Orgel von Otto
Taubmann gefunden. Ihr der Heiligen Schrift entnom-
mener, auf acht Nummern verteilter Text knüpft lose an
das Kyrie, sowie an den Eingang des Gloria und den des
Sanctus an, nimmt aber im übrigen auf den .Gang und
den Inhalt des altliturgischen Hochamts keine Rücksicht.
Betont wird die Sterblichkeit des Menschen und der
Wandel in Gerechtigkeit, es fehlen aber mit dem Glaubens-
bekenntnis, mit der Schilderung von Christi Mensch-
werdungy Leiden und Sterben, mit der Bitte um Vergebung
der Sünden alle die Gedanken und Bilder, die im kirch-
lichen Text am meisten ergreifen und erheben. Der
Heilige Geist wird nirgends genannt. Es liegt also kaum
eine Berechtigung vor, diese Frucht einer durchaus ratio-
nalistischen Religiosität als Messe zu bezeichnen. Die
Musik hat ihren besonderen Zug m der verschwenderisch
reichen Entfaltung schulmäßiger Satzkünste. Reine Soli
und einfache Chorstellen verschwinden gegen die FiQle
von allerlei Nachahmungen und Fugen, zu deren Aus-
führung in der Regel ein Doppelchor und neben ihm
noch ein Soloquartett aufgeboten ist. Ein besonderer
Knabenchor hat die Aufgabe, in die Fugen Choräle hinein-
zusingen. Der tondichterische Gehalt der Komposition
steht mit dieser kontrapunktischen Fertigkeit und Ge-
schäftigkeit nicht auf gleicher Höhe, er ist zuweilen, wie
gleich in dem einleitenden Orchestervorspiel, sogar auf-
fallend gering. Jedoch hebt er sich von der Mitte des
Werkes ab. Unter den von da an tiefer wirkenden Stellen
ist zunächst der Anfang des »Heilig« wegen der Feierlich-
keit seines scharfen Akkordwechsels hervorzuheben, nach
ihm der Hauptsatz der fünften Nummer (Jauchzet dem
Herrn) wegen seines rhythmischen Feuers. In der
sechsten Nummer, die zunächst auf den Anfang der Messe
zurückgreift, zeichnet sich der schön und mild gestimmte
Chor: »Gesegnet sei der Mann« aus. In der siebenten
Nummer bildet der Einsatz des auch weiterhin bedeutungs-
voll anklingenden Chores: »Christ ist erstanden« einen
Höhepunkt.
\
— ♦ 269 ♦-—
. Die römische Kirche teilt die Messen in vier Hanpt-
grappen: Missae de tempore (Messen für die gewöhn-
lichen Sonn- und Festtage des Kirchenjahrs), missae
de sanctis (Marienmessen, Märtyrermessen, Heiligen-
messen), missae votivae (Messen, die in ihrem Titel
und wohl auch in einer Variante des Textes einem be-
stimmten lokalen Ereignisse freudiger oder trauriger
Natur — einer Fürstenkrönung, einer Überschwemmung
usw. — Rechnung tragen)*). Die hervorragendste und
letzte Gruppe bilden die Totenmessen, die missae pro
defunctis. Der Volksmund nennt sie kurzweg Re-
quiems, nach den Anfangsworten ihres Introitus »Re-
quiem aetemam dona eis domine«. Die Totenmesse hat
unter allen Klassen der Messe die bedeutendsten als
gültig an^rkanniten Abweichungen vom Texte des allge-
meinen Hochamts. Gloria und Credo fallen weg, Graduale
und Offertorium erhalten ständigen Text, jenes die Sequenz:
»Dies irae«, dieses die Hymne: »Domine Jesu Christe«;
dem Kyrie geht stets dieselbe Einleitung voraus: das
schon erwähnte »Requiem aeternam<, die Bitte um Frie-
den für die Toten, das Gebet um ewige Ruhe, welches den
Kern aller Sätze der Totenmesse bildet. Die Dichtung des
Dies irae dem Thomas a Celano (4250) zugeschrieben, ist
eine der wenigen Sequenzen, welche aus dem ungeheuren
Schatze, den das Mittelalter von dieser Gattung besaß,
heute von der Kirche noch geduldet werden. Ihre heutige
Stellung im Requiem hat sie sich nur allmählich im glei-
chen Schritt mit dem Vordringen dramatischen Geistes in
der Kirchenmusik erobert. Daß sie von den neueren Kom-
ponisten in den Mittelpunkt der Messe gestellt wird, wider-
spricht dem Zweck des Requiems. Denn das Ganze ist
dichterisch weder auf Trauer- und Klageszenen, noch
weniger auf ausgeführte Schilderungen von den Schrecken
der Hölle und des Fegefeuers angelegt. Es soll in erster
*) Die bedeutendste neuere Messe des Auslandes, die yon
Ob. Gounod zu Ehren der Jungfrau von Orleans geschiteben, in
Deutschland bisher nicht aufgeführt, gehört unter diese Gruppe.
/
-^ 870 ^^^
Linie nur die Fürbitte um die ewige Ruhe aussprechen
und es soll sich aufregenden Bildern nur zuwenden^-um
mit gesteigerter Innigkeit immer wieder zu dieser Fürbitte
zurückzukehren .
Auch die ältere Zeit, insbesondere das 4 6. Jahrhundert,
ist an Requiemkompositionen reich. Doch nicht in dem
Grade, welchen man erwarten sollte, wenn man den Maß-
stab nach der Fruchtbarkeit bildet, welche heute auf diesem
Zweiggebiete der geistlichen Tonkunst herrscht. Unsere
neueren Komponisten erscheinen von keinem anderen
christlichen Text so stärk angezogen, wie von dem der
Totenmesse. In der älteren Periode ist das Vexhältnis
der musikalischen Seelenämter zu der allgemeinen Messe
ungefähr wie 4 : 40. Am reichsten ist die französische
und niederländische Schule mit Totenmessen vertreten,
in zweiter Linie steht die italienische da, weit hinter
ihnen zurück die deutsche. Aus den Requiems der
Zeit vor Palestrina , welche von den Kennern hervor-*
Pierre de la Rue, gehoben werden, führen wir die an von Pierre de la
Job. Priori», Rue, Joh. Prioris, Ant. de Fevin, Jac. de Kerle,
Ant. de Pevin, C. Moral es und F. Guerrero. Namentlich die Toten-
Jao. de Kerle, messe des Morales hält streng einen hochernsten, düsteren
Chr. Horales, und schaurigen Grundton fest. Am nächsten steht ihr
Fr. Guerrero. darin das Requiem de Kerles, zugleich eins der ersten, das
die Sequenz im Chorsatz und für Hörer, denen die Grego-
rianischen Grundmelodien vertraut sind, ergreifend gibt
Das Urziel der Figuralkomposition , den Choral durch
Variation poetisch zu. beleben und zu verherrlichen, tritt
aus dem Dies irae dieses Niederländers ungewöhnlich
klar hervor. Die Form der älteren Requiems ist schein-
bar sehr zerstückelt. In dem größeren Teile lier soge-
nannten temporellen Stücke, im Introitus (»Requiem<), in
der Communio (»Lux aetema luceat«), namentlich aber
in der Sequenz (>Dies irae«) wechseln die Chorsätze mit
den Intonationen des Priesters. In der Sequenz geschieht
dies zuweilen mit der Regelmäßigkeit der Antiphonie:
zwei Zeilen singt der Liturg im Gregorianischen Choralton,
zwei Zeilen der Chor im figurierten Stil. Im allgemeinen
ist die musikalische Anlage der älteren Totenmessen, im
Einklang mit deiti liturgischen Zeremoniell, außerordent-
lich verschieden und wechselt nicht Mos örtlich, sondern
auch nach dem Stand der Abgeschiednen, denen die
Trauermessen galten^ So lässt Palestrina in seiner Q. F. da Pale-
Totenmesse vom Jahre 4 594 die nach heutiger Auffassung strina,
für das Requiem entscheidenden Stücke einfach weg. Reqaiem
Sie bleiben dem Liturgen und dem Gregorianischen (von 1591).
Choral allein. Nur beim Offer torium und beim Schluß
des Agnus dei erinnert der Chorsatz im Text an eine
Totenfeier. Auch Orlando di Lassos herrliches, 0. di Lasso,
wundervoll melodisches Requiem vom Jahre 4 589 hat Requiem
keine Sejquenz. Erst in der zweiten Hälfte des 47. Jahr- (von 1589}.
hunderts wird die musikalische Form der Totenmessen
breiter und in den einzelnen Gliedern wuchtiger. Der
Liturg scheidet aus.^ Den Obergang zeigt eigentümlich
das Requiem des G. A. "Pitoni vom Jahre 4 688. In ihm Qt. A. Pitoni.
sind die frühern liturgischen Intonationen in die Form
dreistimmiger Sätze übertragen: reihum Knabenterzett
und Terzett von Männerstimmen. Was -früher Chor-
satz war, ist dem vierstimmigen Chor gebUeben und
hat den Stil, den hierfür die früheren Meister festgestellt
hatten. Die Terzette hingegen zeigen die Beweglichkeit
in Rhythmus und Ausdruck, welche eben erst infolge von
Monodie und Musikdrama sich entwickelte. Pitoni folgte
den neueren Bestrebungen in der Vokalmusik bekanntlich
eifrig und mittätig. Unter anderem hatte er die Skizze ,
zu einer zwölfehörigen Messe entworfen. Unter den
Totenmessen, welche sich enger als das Pitonische
Requiem den^ sogenannten Palestrinastil anschließen,
sind als hervorragende die von Or. Vecchi, Giov. Fr.
Anerio, G. Cavaccio und L. Vittoria bekannt. Der
allererste Platz in dieser Gruppe gebührt vielleicht dem
achtstimmigen Requiem von Fr. Cavalli, dem eigen t- Fr. Cavalli.
liehen Schöpfeir der venetianischen Oper. Dieser große
Meister schrieb dieses zweichörige Werk für sein eignes
Begräbnis {jr 4676) und bestimmte testamentarisch und
durch Legate regelmäßige Aufführungen desselben zu
seinem Gedächtnis. Es ist die ^feierlichste Totenmesse,
welche existiert, und wenn jemals von einem alten nur
handschriftlich vorhandenen Tonwerke die Drucklegung
wünschenswert gewesen ist, so von diesem. Ein Teil
seiner erhabenen Größe beruht auf der Beibehaltung
der gregorianischen Motive und der liturgischen Intona-
tionen. Doch hat Cavalli letztere dem neueren Chorsatz
stilgemäß angeschlossen, meist in Form eines zwei-
stimmigen Satzes für die Bässe beider Chöre. Die Sequenz
ist textlich vollständig aufgenommen und zum erstenmal
in dem aufgeregten Stile behandelt, der bis auf die
Gegenwart für die Komposition dieses Satzes typisch
geblieben ist.
Requiems mit Instrumentalbegleitung begegnen wir
zuerst um die Mitte des 47. Jahrhunderts. Unter die
frühesten unter den bekannteren gehören die von G. P.
Gl P. Colonna, Colonna und G. B. Bassani. In beiden ist aber die
G. 6. Bassani. Erfindung noch wesentlich rein vokal und auch die Satz-
formen gehören mehr der älteren Periode an. Wie eine
große Überschrift fürs ganze bringt Bassani yor dem
Introitus das erste Wort »Requiem< in den breiten Rhyth-
A. Lotti. men der alten Ritualformel. Auch Ä. Lotti setzt mit
dem Unisono der drei tiefen Stimmen seine Totenmesse
noch so ein und führt auch den Satz in der alten Art
über kleine Abschnitte fort: die Bässe vorwiegend starr
auf langen Tönen liegend, die übrigen Stimmen ^it
Bevorzugung choralartiger Wendungen. Das Dies irae
beginnt mit einem breiten mysteriösen Instrumentalsatze,
in welchem Trompetenklang, verminderte Septakkorde,
Generalpausen und feierliche Fugatos eineniJIauptbestand-
teil bilden.' Das Tempo ist Adagio. Das Requiem des
F. Bnrant«. Fr. Durante lässt sich schon bei weitem modemer an.
Ein träumerischer Zug kommt besonders im Introitus
zum Ausdruck. Rochlitz hat diesen Teil des Werkes und
das Graduale, welches in einer bedeutend verlängerten
Form erscheint, in seine Sammlung aufgenommen.
Die älteste unter den begleiteten Totenmessen, welche
noch bis jüngst zuweilen zu hören war, ist die von Nie.
273 ♦ —
Jomelli. Sie ist wiederholt gedruckt worden; den K. JotnalH.
jüngsten Klavieranszug des Werkes veröffentlichte Julius
Stern im Jahre 4866. Diese aus der letzten, unglücklichen
Periode des Tonsetzers stammende Komposition ist eine
der bedeutendsten Schöpfungen Jomellis. Mit großer
Einfachheit vereint sie reiche Eigenart der Auffassung.
Wie schön ist der kurze Introitus, in welchem die wiegen-
den Figuren der Instrumentalbässe, sich mit den Violinen
die Hand reichend, den Tod in dem freundlichen Bild
des Schlummers zeigen. Die Mängel des Werkes beruhen
auf einem Familienfehler der neapolitanischen Schule:
Vorherrschen einer weichhchen Empfindung. Damit kam
es aber den Neigungen des 18. Jahrhunderts entgegen.
Auch durch die Verwendung von Solostimmen übte es
seinen Reiz. Doch sind diese nur selten äußerlich virtuos
behandelt. Im Durchschnitt ist ihre Führung würdig. In
ihnen und in den Chorpartien liegt ein Reichtum natür-
licher Gesangwirkung, wie er in neueren Werken nur
selten vorkommt. Die von Müller in Stuttgart vorge-
nommene Zusetzung von Blasinstrumenten hat den Cha-
rakter des Werkes geschädigt. Ein a • capella-Requiem
(in Es) von Jomelli gehört ebenfalls zu den hervorragenden
Kompositionen des Textes.
An Verbreitung hinter dem Jom ellischen Requiem weit
zurückstehend, sind auch die Totenmessen A. Hasses A. Eagsa.
der Beachtung wert. Sein erstes Requiem (in Es) hat
noph alte liturgische Intonationen sowohl in einfacher,
wie in eingeairbeiteter Form. Unter seinen großen Stellen
ist der Eingang des Dies irae wegen der malerischen Kraft
des Orchesters besonders bemerkenswert. Stechend klingt
ans den Violinen der Schrecken. In dem zweiten (in C)
ist der Introitus tief eindringlich. Ihm liegt die Idee eines
glänzenden Trauermarsches zu Grunde, aus dem man
oft glockenartige Motive heraushört. Beide Totenmessen
sind reich an dankbaren Solonummern.
Goethe hörte 4 788 im San Peter zu Rom ein Requiem
für zwei Solosoprane mit Orgel. Das zeigt, wie weit
auoh die Totenmesse sich dem Formengeschmack der
II, 4. 48
— ♦ 274 ♦—
Zeit anpaßte. Trotzdem blieb sie im allgemeinen vor
dem Verfall, welcher von der zweiten Hälfte des i 8. Jahr-
hunderts ab auf mehrere Jahrzehnte hinaus die Kompo-
sition der anderen Gruppen der Messe ergriff, bewahrt.
Der Grundgedanke des Requiems lag menschlich zu
nahe und erfüllte auch die geringeren Geister unter den
Tonsetzern mit demjenigen Ernste, welchen leider auch
die Besten jener Zeit sonst vermissen lassen. Nur die Se-
quenz, das Dies irae mit seinem Bilderreichtum, verführte
häufiger zu Spielereien, von denen etliche geradezu zu
stehenden Typen wurden. Daß bei den Worten »Tuba
mirum spargens sonum« die Posaune im Singular oder
Plural einsetzt, erscheint allmählich selbstverständlich.
Es kommen auch viel außerordentlichere Einfälle vor:
G.v.Pasterwitz. G. v. Pasterwitz z. B., dessen würdiges aber doch nur
mittelmäßiges Requiem Rochlitz in seine Mustersamm-
lung aufgenommen hat, läßt an der Stelle >Quantus
tremor est futurus« den ganzen Singechor in einem
grotesken Tremolo starren und beben.
Jenen Unterschied im Gehalt zwischen Requiem Und
W. A. Mosart. den einfachen Messen auch bei W. A. Mozart nach-
weisen zu wollen, wäre ein ziemlich triviales Unternehmen.
Zwischen Mozarts letzter Messe und seinem Requiem
liegt ein ganzes Leben; der seelische und künstlerische
Reichtum, wie ihn nur das Genie im Laufe zweier Jahr-
zehnte erwirbt, macht jeden näheren Vergleich zwischen
dem Requiem Mozarts und seinen anderen Messen un-
möglich. Außerdem wissen wir, daß Mozart die Gedanken
an den eignen Tod in die Feder drangen, als er das
Requiem schrieb. Es kamen viele Umstände zusammen,
um dieses Werk aus seiner Zeit herauszuheben und ihm
eine außerordentliche Lebenskraft einzuflößen. Auch
der romantische Reiz wirkte mit. Das Requiem Mozarts
wird im Anfang des <9. Jahrhunderts selten erwähnt, ohne
daß zugleich des geheimnisvollen Boten gedacht würde,
welcher das Werk bestellte: der langen schwarzen Lakaien-
figur, welche wie ein Gespenst das Fortschreiten der
Partitur umspähte. Auch die unsinnigen Vergiftungs-
geschichten, die angeblichen Intriguen Salieris und der
Italiener, werden bei dieser Gelegenheit mit aufgetischt.
Als man später erfuhr, daß Graf Walsegg der geheime
Besteller gewesen, daß dieser Mann, der an dem Wahne
litt, als Komponist glänzen zu wollen, dieses Werk für
sein eignes ausgegeben, erhielt jenes romantische Interesse
nur neue Nahrung. Endlich erreichte es bei vielen Ver-
ehrern des Meisters einen geradezu leidenschaftlichen Grad
durch den Streit, welcher sich um die Echtheit des Werkes
erhob. Dieser Streit darf seit dem Jahre 4 829 als erledigt
gelten. Die neuen Untersuchungen von Brahms und
Schnerich*) haben nur bestätigt, was damals A. Andr6 in
Offenbach feststellte. Die Partitur des Requiems, welche
dieser Vater der Mozartforschung herausgab, zeigt das Werk
genau in dem Zustand, in welchem es Mozart bei seinem
Tode hinterlassen. Danach war kein einziger Satz der
Totenmesse wirklich vollendet, als des Meisters Hand er-
kaltete. Aber der größere Teil w^r doch so weit fertig,
daß ein geschickter Musiker das Fehlende wohl im Sinne
Mozarts ergänzen konnte. Von den i 2 Nummern, in welche '
Mozart das Requiem eigentümlicher Weise zerlegte, waren :
Introitus und Offertorium in den Singstimmen und im ,
Harmoniebaß vollständig ausgearbeitet, für die Instrumen- i
tierung dieser Sätze die wesentlichen Motive und Gesichts-
punkte gegeben. Desgleichen auch in der Sequenz; doch
hören in dieser mit dem neunten Takte des >Lacrimosa<
Mozarts Aufzeichnungen plötzlich auf. Vollständig fehlen
das Sanctus, Benedictus und Agnus dei. Mit der Ergän- i
zung wurde von Mozarts Witwe der Wiener Kapellmeister 1
F. X. Süßmayer beauftragt. Dieser Musiker genoß in i
der Fachwelt ein ehrenvolles Ansehen : Sein »Solimanll.«
und sein »Spiegel von Arkadien« waren als lieblingsopern
jahrzehntelang über alle deutschen Bühnen verbreitet
und gehören in dem großen Kreis von Werken, die als
*) Brahms in der Gesamtaasgabe der Werke Mozarts von
Breitkopf&Härtel, Schnerich in der faksimilierten Partiturausgabe.
18*
— ^ 276 ♦—
Absenker der »Zauberflöte« entstanden, zu den selbstän-
digsten und talentvolls^ten. Überdies konnte Süßmayer
als ein Schüler Mozarts angesehen werden. Mit den Ab-
sichten, die Mozart in bezug auf das Requiem gehabt, war
er speziell vertraut und was nicht zuletzt in Betracht
kam: seine Handschrift glich der Mozartschen so genau,
daß Walsegg und noch andere sie dafür hielten. Es ist
Tatsache, daß die Sätze, welche Süßmayer ganz und gar
selbst komponiert hatte, für echte Mozartsche Leistungen
befunden wurden. Das Benedictus wurde sogar noch
im Jahre 4802 als eine Perle des ganzen »Requiem« be-
sonders ausgezeichnet*). Wir verwundem uns darüber;
ja es treten noch heutzutage Kritiker hervor und tun
sich etwas darauf zugute, daß sie die fest verbürgte Mit-
arbeit Süßmayers bezweifeln. Das ist wohl begreiflich
und wird solange kaum zu ändern sein, als wir die
Wiener Schule nur durch Haydn, Mozart und Beethoven
kennen. Wer mit dep Charakter ihrer Nebenmänner,
mit ihrem Reichtum an wirklichen Talenten vertraut, in
den Werken der Eberl, Wölfl ein wenig zu Hause ist, wird
über die Leistung Süßmayers nicht weiter erstaunt sein.
Daß Mozart bestrebt war, in seiner Totenmesse den
kirchlichen Charakter streng und deutlich auszuprägen,
zeigt namentlich der Introitus des Werkes. Das in seinem
maßvollen Ausdruck der Freude so eigentümliche Thema,
mit welchem der Solosopran hier das »Te decet hymnus«
einsetzt, ist die Melodie des alten Chorals »Meine Seel' er-
hebt den Herrn«. Michael Haydn hat sie an derselben Stelle
seines B dur- »Requiems« gebracht. Sie war als Grablied be-
kannt, noch neuerdings hat Adagio.^^ _
sie F.Kiel in seinem zweiten ^Vmf f BBfTBBT BPri
Requiem als cantus firmus "^ ■ r r • - r r ■ r ¥=f=^
wieder aufgegriffen. Aus einer ahn- t|i, -- .^^ J i /Tj
liehen Quelle stammt auch das Thema : -^►"fyi'fTT"
über welches die Singstimmen die Worte »Requiem aeter-
nam« in Nachahmungen durchführen. Mit einer geringen
*) AUg. Musikal. Zeitung.
f
Wendung des zuerst in den Ap J flJJjjCTlT^^
--♦ 277 *—
Abweichung findet es sich am Eingang von Händeis Be-
gräbnisanthem, das Mozart wahrscheinlich gekannt hat.
Auch die refrainartige Ver- q ^''*,^'*'i
Wendung des zuerst in den 4^V JJ
Fagotten auftretenden Motivs "^
feirner die kolorierte Aiicgro. endlich die
Führung der Nebenthe- tu f'Bf TIbJ iU ^^^^ ^^^*
men, die Wahl des Haupt- -^^ ' KP IH'^f dehnung die-
themas der Kyriefuge: *^y"-* *• ^^-"^^ ses letztge-
nannten Stückes selbst dürfen wir auf das Streben Mozarts
zurückführen, seiner Totenfeier einen objektiven Charakter
zu geben und das Weh der Trauer durch die von alters
her erprobte und geheiligte Sprache der Kirche zu lindern.
Es finden sich nur wenige Stellen, an welchen sich die
subjektive Empfindung einzumischen versucht: Die ersten
Einsätze von »et lux perpetua« und vom »exaudi« sind
es. Aber sie gelangen mit ihrem dramatischen Ton nicht
einmal bis ans Ende. Das Eigentümliche dieses- ganzen
ersten Satzes ist es: daß er in seinem thematischen
Material so einfach, fast auf Gemeinplätze gestellt ist und
doch so tief wirkt. Als ungeschriebener cantus firmus
klingt der tiefe Ernst der Stimmung durch. Die Instru-
mentation trägt auch mit dazu bei, uns die Farben der
Trauer fest vor dem^Auge zuhalten; den Bassetthörnern
und Fagotten ist ihre Rolle mit genialer Berechnung
zugewiesen; ebenso den Posaunen am Schluß der Ein-
leitung. Doch hat diese Süßmayer wohl kaum in Mozarts
Sinne weitergeführt
Die Sequenz, das Dies irae ist in sechs gesonderten
Nummern behandelt Diese Sonderung gilt aber nur für
Übungen und Proben. In der Aufführung begeht der
Dirigent, welcher an den Schlußstellen länger, als die
ausgezählten Pausen erlauben, hält, eine wahre Sünde
gegen Mozsurt
Der erste dieser sechs Abschnitte umfaßt den ersten
Vers der Sequenz vom Anfang >Dies irae< bis zu den Wor-
ten »cuncta stricte discussurus« und gibt ihn in der Form
eines Chorsatzes. Der Chor singt den Text dreimal in
278
»■— .-
erschrecktem Ton, auf harten Motiven, in einschneidenden
Perioden und schroffem Wechsel der Tonarten. Zu
diesen reichlichen 2^eichen des schweren Herzens und
der Aufregung kommt noch die Unruhe des Orchesters.
Poch ist das Bild der Ankunft des jüngsten Gerichtes
trotz dieser naturalistischen Elemente künstlerisch gefaßt
und abgeklärt. An den Schlüssen zieht Mozart die Zügel
an und mischt in die Töne des Schreckens die milderen
der frommen Ergebung. Die Hauptstelle des Satzes
kommt, als der Text zum drittenmal in Angriff genommen
wird. Da malen die Singbässe — am besten die Tenöre
mit — den tremor mit einer Trillerfigur, die ihre grausige
Wirkung bei richtiger, entschiedner Ausführung nicht
verfehlt. Sie stammt vielleicht aus der kürzlich durch
0. Schmid bekannt gewordenen >Missa della Morte<
A. Tumas, mit dem sich Mozart noch mehrmals be-
rührt. Der Chor der übrigen Stimmen klagt zweimal
kleinlaut — piano ist gemeint — das »dies irae, dies illa«,
beim drittenmal stimmt er in die Figur des Entsetzens
mit ein. Von da ab wird der Charakter des Satzes ruhiger
und ergebungsvoller. Seine eilige Entstehung verrät er
in dem Mangel an Vortragszeichen. Mit ihnen hat der
Dirigent nachzuhelfen, der Geist der Komposition verlangt
an mehreren Stellen Farbenkontraste.
Die Textes Worte des »Tuba mirum« tragen die Solo-
stimmen, eine nach der anderen, vor. Der Baß betont
die Hoheit und das Wunderbare des Gerichtes, das die
Toten auferweckt und sammelt. Ihn begleitet und unter-
stützt die Posaune zum Teil in Figuren, die der Natur
des Instruments ferner liegen. Auch Tuma hat an diesen
Stellen die Posaune. Der Tenor singt erst staunend, dann
bei dem Gedanken an das Schuldbuch — »über scriptus«
— gedrückt und bangend, der Alt in tiefer Erregung, mit
großem, leidenschaftlichem Ausdruck. Der Sopran bringt
in den Satz zum erstenmal einen herzigen, kindlichen
Ton des Gottvertrauens, der auch über alle Augenblicke
der Beklommenheit hinweg bis zum Ende bleibt. Die -
letzten Worte wiederholt das ganze Quartett. Die
— ^ 279 ^^-
nächste, dritte Nummer der Sequenz, das >Rex tremendae
majestatisc, hat wieder der Chor. Unter den kleinen ab-
geschlossenen Sätzen, durch welche das Requiem Mozarts
an die frühesten Formen der Totenmesse erinnert, ist dks
>Rex tremendae loajestatisc einer der knappsten. Aber,
welchen Reichtum birgt es! Das Orchester beginnt mit
Figuren und Motiven, die knapp, aber anschaulich die
Majestät des Herrn malen und durch den ganzen Satz
immer wiederkehren. Wie von diesem Bild in Furcht
gebannt, schreit der Chor dreimal das Wort >Rex« allein
auf . schlechten Taktteil hin. Dann übernimmt der Alt
die Führung in ^iner Ehrfurcht und Inbrunst aus-'
sprechenden Melodie, die ihm der Sopran — eine Quint
höher — sogleich nachsingt. Diesem Kanon der beiden
oberen Stimmen folgen Tenor und Baß mit einem
zweiten über kurze anrufende Motive. Dieser Ab-
schnitt des Döppelkanons wiederholt sich sofort mit ver-
tauschten Rollen. Und nun erst kommt die Bitte: »salva
me«, bescheiden, aber nach der schönen Vorberei-
tung außerordentlich eindringlich und gerade in dieser
Kürze außerordentlich vielsagend. Das »Recordare*,
die vierte Nummer der Sequenz, wieder von den Solo-
stimmen gesungen, ist einer der gehaltreichsten Sätze
des Werkes. Er hat Rondoform und als Hauptthe-
ma die from- Allegretto. ___ea^^^
volle Melodie:
die von den Stimmen, einer nach der andern, erst auf
die Worte »Recordare, Jesu pie< dann bei »Juste judex c
und zum drittenmal bei »Preces meae« gebracht wird.
Unter den Zwischensätzen, die sämtlich erregter Natur
sin4, tritt der auf die Stelle »Ingemisco tanquam reusc
durch seine große malerische Kraft besonders hervor.
Und doch ist er mit der erdenklichsten Einfachheit ent-
worfen und ausgeführt. Ganz besonders schön ist hier
und an ähnhchen Stellen die Rückkehr von der Erregung
in die Ruhe. Mit dem Introitus hat dieses »Recordare«
den kirchlichen Charakter der Hauptmelodie gemein. Der
— % 280 ^ —
jetzt folgende Chor über »Confutatis« malt in der ersten
Hälfte mit erschreckten, aufgeregten Figaren des Streich-
orchesters den Zustand der Verdammten; die Männer-
stimmen veranschaulichen das Angstgeschrei der den
Höllenflammen preisgegebenen Seelen.^ In Sätzchen von
größter Einfachheit treten dieser Gruppe die ruhigen, in
Dur gehaltenen Bittgesänge der Frauenstimmen unendlich
rührend gegenüber. Der Satz kontrastiert in seinem
Anfang zunächst scharf gegen das »Recordare«, dann
aber auch in sich nochmals durch den ganz verschiedenen
Inhalt der beiden Stimmgruppen und wirkt deshalb außer-
ordentlich tief. Dieser Gegensatz des. furchtbaren Bildes
der Verdammnis und des Zuges der Bittenden wird ein
zweites Mal aufgestellt. Dann vereint die zweite Hälfte
der nur kurzen Nummer unendlich rührend den ge-
samten Chor im frommen, aus zitternder Seele kommen-
den Ausdruck des Gnadenbedürfnisses. Dieser Schluß-
teil gehört zu den genialstein Stellen (des Requiem.
Das »Lacrimosa«, die dem Chore gegebene Schluß-
nummer des >Dies irae«, hat Mozart zu einem der
ergreifendsten Sätze angelegt. In seinen ersten Takten
waltet eine Tonsprache von mäch- ^ Urghetto.
tigster Anschaulichkeit: Schluchzend fL^ Sf ^T C f'^fi
klingt die Sexte des ersten Motivs: •^ La'r'c^moia
in die höchste Spannung versetzt uns der Aufmarsch der
Stimmen in zagenden, abgebrochenen, leise gehauchten
Achteln bei den Worten >qua resurget usw.«. Mit er-
schütternder Gewalt endigt er im Aufschrei/auf den hohen
Tönen, wo der Schuld der Menschheit gedacht wird:
»homo reus«. Hier bricht Mozart ab. Süßmayer ist es
gelungen, diese hochgespannte Stimmung festzuhalten.
Besonders schön wirkt der zweite Einsatz des »Dona eis
requiem«, das ist Palestrinascher Geist in moderner Form.
Mit ihm klingt die Sequenz versöhnt und christlich aus.
In Mozarts Autograph sind leere Blätter, aus denen man
schließen kann, daß er dem Satze eine mäßige Länge
(24 bis 30 Takte) bestimmt hatte. Diese hat der Bearbeiter
eingehalten.
ts\
Das OlTertorium »Domino Jesu Christe< besteht in
seinem ersten Teile aus einer Reihe kleiner Bilder, in denen
dip dunkeln Farben des Entsetzens und Grauens dramatisch
kurz aufgetragen sind. Besonders treten die Worte »de
poenis inferni« und »de ore leonis« hervor, vor allem aber
die Stelle: »ne absorbeat eas tartarus«. Über das Thema:
Andante. fugierend, Yon ei-
i.l>''llPPlJ\K^iPPlJ;iJ^PPJ^PpJ^|;,p nem wüden Uni-
*T r ^. .- - r r ■T r'-^0^Y sQno der Streich-
instrumente umspielt, zeichnen hier die Singstimmen ein
Bild der Seelenverwirrung. Am Schluß steht äußerster
Schrecken bei dem viermal 'hingestoßenen >ne cadant«
— und völlige Gebrochenheit — bei dem leisen, tiefen,
langsamen »in obscurum« — unmittelbar nebeneinander.
Der zweite, knappe Teil (Soloquartett) »Sed signifer
sanctus Michael« bildet dazu einen freundlichen Gegen-
satz. Die Schlußfuge »Quam olim Abrahae«, der dritte Teil
des Offertoriums, hat das kirchlich viel gebrauchte Thema:
Andnnte. ^ ^^ * - - Mit besonde-
*>'l'' * P P P Pllnr I * I P' n * P P Ppll^nsw. rer Liebe sind
^ in ihr die Wor-
te »et semini ejus« bedacht. Mit ihnen lenkt Mozart nach
prächtigen Modulationen und Steigerungen in die friedvolle
Stimmung, die er für die Schlüsse der erregteren Sätze sei-
nes Requiems so herrlich zu suchen und zu finden weiß.
Die Fuge, bei der die Mitwirkung der Orgel unentbehrlich,
ist nur kurz, und die leeren Blätter im Autograph scheinen
anzudeuten, daß ihr Mozart noch einen Teil zufügen
oder hier noch eine neue Einlage geben wollte. Süß-
mayer hat, diese Lücke übergehend, unmittelbar das
»Hostias« folgen lassen, den letzten Satz des Werkes,
welcher von Mozart selbst herrührt. Er trägt die eigen-
tümlichen Züge des kurzen, inhaltschweren Aufbaues,
welcher einen großen Teil der kirchlichen Kompositionen
Mozarts auszeichi^et. Das Orchester deutet mit seinem
Rhythmus den feierlichen Prozessionscharakter des Gra-
duale an. Der Chor steht weich und ergriffen vor der
heiligen Zeremonie. Als er den Text zum zweitenmal
--^ 28^ ♦—
beginnt, klingen Schauer der Ehrfurcht aus seinen an das
»Ave verum« erinnernden Tönen. Den Abschluß bildet eine
Repetition der Offertoriumsfuge: >Quam olim Abrahae«.
Die von Süßmayer komponierten Nummern Sanctus,
Osanna, Benedictus^ Agnus (bis zum >lux aeterna«) reprä-
sentieren einen durchaus würdigen Typus der katholi-
schen Kirchenmusik der Mozartschen Zeit. Im Osanna
wird dies manchem die Verwandtschaft mit dem ent-
sprechenden Satz der Beethovenschen Missa solemnis
klar machen. Zum Teil stehen sie aber noch höher,
ganz besonders das Agnus Dei, welches den Gegensatz
zwischen der Angst und Not des Menschenherzens und
dem Frieden bei Gott in echt Mozartscher Einfachheit,
in packenden Steigerungen und ergreifend schön aus-
prägt Die Töne zu »dona eis requiem« sind von einer
Eingebung, die es dem mit der Zeit Süßmayers weniger
Vertrauten unglaublich macht, daß sie von einem andern
als Mozart selbst herrühren können. Es ist auch mögUch,
daß für diesen Satz Mozartsche Skizzen vorlagen. Die Idee
im Agnus Dei von den Worten »Lux aeterna luceat« an,
die Musik des Introitus und des Kyrie zu benutzen ist
nach dei* Erklärung seiner Wittwe, Mozarts Eigentum.
Sie gibt dem Requiem eine Abrundung, deren schpne
Wirkung durch keinen der im Laufe der Zeit angestellten
sonstigen Schlußversuche erreicht wird.
Die Auszeichnung, mit der, wie schon erwähnt, am
Anfang des 19. Jahrhunderts trotz einigen schwächeren
Stellen, das »Benedictus« (Soloquartett) aufgenommen
wurde, erklärt sich aus der freudig dankbaren Advents-
stimmung, die dem Satze zu Grunde liegt, der Mannigfaltig-
keit, der dramatischen Lebendigkeit, in der sie entwickelt
ist, und der meisterhaften Behandlung der Singstimmen.
Mit Glück sind ihnen echt Mozartsche Wendungen eingefügt.
Das Mozartsche Requiem errang in seiner Gattung
eine ähnlich beherrschende Stellung, wie die Öeethoven-
schen' Symphonien auf dem Gebiete der großen Instrumen-
talkomposition. Es verbreitete sich schnell durch ganz
Deutschland und drang über dessen Grenzen weiter nach
—^ ^83 ->~
allen Himmelsrichtungen: hinunter nach Turin, Florenz,
Neapel, , Lissabon, hinauf nach Warschau, Petersburg,
Lemberg, Stockholm. In Wien .\^-ar es zur Beisetzung
J. Haydns aufgeführt worden, in Paris überging man im
Jahre 4 840 bei der Leichenfeier Napoleons ihm zu Liebe
die einheimischen Komponisten. Es überschritt den
Ozean und wurde selbst in Rio de Janeiro aufgeführt. In
dieser Glanzzeit des Mozartschen Requiems — die drei
Jahrzehnte von 4798 bis 4828 bilden dieselbe — war jede
Totenmesse eines neuen Tonsetzers den stillen oder
offenen Vergleichen mit dem Schwanengesang des Salz-
burgischen Meisters ausgesetzt. Kritik und Publikum
gingen kühl an manchem Werke vorüber, welches zu
anderen Zeiten um seiner Selbständigkeit willen laute
Anerkennung gefunden haben würde. Wir denken dabei
in erster Linie des unvollendeten Requiem von Mi- Michael Haydn.
chael Haydn (in Bdur), welches mit dem von Mozart' Ett, Pasch,
auch in seiner Geschichte Berührungspunkte zeigt. Auch Nenkomm,
Haydn rief der Tod ab, ehe er dies Werk vollendet. Das Tomaaohek,
frühere Requiem desselben Komponisten (Cmoll) schließt Abt Vogler,
sich mehr an die ältere Form an und wirkt mit dem Ö. Weber,
Choralgesang ergreifend. Das »Dies irae« darin ist ruhig WUtasek,
feierlich. Wir denken ferner der Totenmessen von Ett, Boohsa,
Fasch, Neukomm*), Tomaschek, Abt Vogler, Drechsler,
G. Weber, Wittasek. In zweiter Linie sind auch die Drohisch,
Requiemkompositionen von Bochsa, Drechsler, Eisner, Eybler,
Drobisch, Eisner, Eybler, Gänsbacher, Häser, Gänsbacher,
Hellwig, Henkel (deutsche Seelenmessen), Hütten- muer, Hellwig,
brenner, S. Mayr, Moralt, Morlacchi, Salieri, Henkel,
Sechter, Stadler, Zelter, Zingarelli zu erwähnen. Hüttenbirenner,
Die Fruchtbarkeit der Periode wird durch diese große S. Mayr,
Anzahl Namen, welche nur eine Auslese bedeutet, be- Moralt,
wiesen. Sie tritt in ihr volles Licht, wenn man die Morlacchi,
Tatsache berücksichtigt, daß viele hier /garnicht ge- Salieri, Seohter,
nannte Tonsetzer ihre Totenmessen gleich serienweise ver- Stadler, Zelter,
öffentlich ten : in Sammlungen von sechs und acht Stücken. Zingarelli.
*^ Zum Gedächtnis dejr Brüden J, und M. Haydn.
284
L. GhernMni,
Cmoll-
Keq^uiem.
Eiu Franz Schneider ist mit fünfzehn Requiems vertreten.
Auch Ferdinand Kauer^ der Komponist des »Donauweib'
chens«, warf drei Requiems auf einmal hinaus. Den
Bann einer relativen Gleichgültigkeit, welchem diese
Kompositionen ohne Ansehen ihres verschiedenen Wertes
unterlagen, durchbrach nur Einer: L. Cherubini, und
zwar mit seinen beiden Requiems dem in Gmoll für ge-
mischten Chor sowohl, wie mit dem für Männerchor ge-
schriebenen D moll-Requiem.
Auch Cherubinis C moll-Requiem wurde zunächst mit
einem gewissen Mißtrauen aufgenolhmen und verbreitete
sich keineswegs mit der gebührenden Schnelligkeit. Es
^ar im Jahre 4816 auf Befehl des fCönigs Ludwig XVIII.
zu einer kirchlichen Erinnerungsfeier für den unglück-
lichen Ludwig XVL komponiert, aber erst, als es 4 84 8
zur Totenfeier M6huis wieder aufgeführt wurde, weiter be-
merkt worden. Und doch war es die bedeutendste Toten-
messe, die in Frankreich nach der von Gossec entstanden
war, seit Jahrhunderten wieder die erste Kirchenkom-
position, die die französische Landesgrenze überschritt.
Bei uns in Deutschland wurde die Aufmerksamkeit auf
das Werk durch ein ausgeführtes Urteil des damaligen
obersten musikalischen Reichsgerichts, der »Allgemeinen
Musikalischen Zeitung« im Jahre 4 820 gelenkt. Auch sie
eijtschied für Mozart, gegen Cherubini. Der breite Artikel,
welcher den philiströsen und gespreizten Geist der Fink-
schen Redaktionsperiode atmet, behandelt Cherubini, der
schon als fünfzehnjähriger Knabe auf drei vollständige
Messen verweisen konnte, als Neuling auf kirchlichem
Gebiete und wirft dem Komponisten der Medea, wirft
dem Tonsetzer, der die Figur des Micheli geschaffen,
Mangel an Gemüt vor. Mit dem Vorwurf des mangelnden
Gemüts war man damals schnell bei der Hand, wenn es
sich um französische Werke handelte. Auch M^huls
Symphonien waren damit zu Tode geschrieben worden,
und das musikalische Deutschland schien in Gefahr, das
Sentimentale nur in sehr handgreiflichem und dickem
Auftrag zu verstehen. Tatsächlich ist das C moll-Requiem
285
von Cherubini sehr reich an Gemüt und Empfindung.
Aber ein großer Teil dieser Regungen ist mit der Zart-
heit, Freiheit und Zurückhaltung geäußert, die Cherubini
eigen sind, und ist mit einer außerordentlichen Knappheit
des Ausdrucks hingestellt. Kürze, Schlichtheit, Bestimmt-
heit und Klarheit kennzeichnen ja den Stil Cherubinis
überhaupt. Er verdankt diese Eigenschaften seiner italie-
nischen Herkunft ebenso sehr wie der Schule Haydns,
und daß er mit ihnen nicht bloß große Gedanken, son-
dern auch so innig träumerische auszusprechen weiß,
wie in dieser Art kein anderer vor ihm es getan hat. —
das gibt ihm seine besondere und bleibende Bedeutung
zwischen den Klassikern und den Romantikem. Auch
dieses CmoU-Requiem schaut voraus und schaut zurück;
es hat aber außer den bekannten Cherubinischen Familien-
zügen noch ganz individuelle. Einmal betreffen sie die
Form des* Werkes. Diese zeichnet sich durch eine Knapp-
heit aus, die namentlich im Dies irae jedermann bemerk-
lich werden muß. Sie ist zum Teil ein Zugeständnis an
die Traditionen der französischen Hofkirche, noch weit
mehr aber eine Frucht des vollendeten künstlerischen
Taktes, der Cherubini angeboren war. Die Sätze des
Werkes sind im höchsten Sinne schön zu nennen, schön
durch die Zweckmäßigkeit, die den Aufbau ihrer Formen
dem Inhalt und dem Geist des Textes anpaßt und unter-
ordnet, die die Worte im ganzen und im einzelnen überall
ins rechte Licht setzt, die nirgends , Haupt- und Neben-
gedanken verwechselt und verschiebt.
— Zum anderen ist aber das Cherubinische Cmoll-
Requiem auch durch die Auffassung, die hindurch geht,
ganz eigentümlich. In keinem anderen bekannten Re-
quiem wird eine resignierte Stimmung so festgehalten
und herrscht so vor wie in diesem. Es ist, als ob der
Komponist allen den Mitteln, mit welchen der trauernde
Mensch sein Herz zu erleichtern pflegt, sein volles Ver-
trauen nicht zu schenken vermöge. Die Klage löst seinen
Schmerz nicht ganz, der Hinblick auf die seligen Bilder
vom himmlischen Leben kann ihn nicht von dem Druck
286
des einen Gedankens befreien: von dem Gedanken an
das unabänderliche Schicksal, welches der Menschheit
das Sterben als Ziel gesetzt hat. Dieser Gedanke wirft
seinen finstern Schatten über alle Teile des meisterlichen
Werkes und sichert ihm einen Totaleindruck, mit dessen
Stärke und Bestimmtheit sich nur weüige Totenmessen^
unbeschadet ihrer sonstigen Vorzüge, messen können.
Für das eingehende Studium ist es eine interessante Auf-
gabe zu verfolgen, mit welchem überlegenen Kunstverstand
Cherubini in dem Plan der Komposition die Grundidee
der Resignation durchgeführt hat. Bald äußert sie sich
durch die Zeichnung, bald durch die Farbe, bald liegt
sie offen da, bald ist sie nur versteckt herauszufühlen.
Besonders stark ist der Ton einer Trauer, die männ-
lich an sich hält, aber auf einen eigentlichen Trost ver-
zichtet, im ersten Satze dieses Requiems ausgedrückt, der
hergebrachterweise den Introitus der Messe mit ihrem
Kyrie verbindet. Die Instrumentation ist darauf gerichtet :
Wie im Graduale und im Pie Jesu spielen die Violen die
erste Stimme, die Violinen schweigen, die Fagotte treten
in dumpfen Lagen stark hervor, neben ihnen kommen
von Blasinstrumenten nur noch Hörner in langen Tönen
der unteren Oktaven zur Verwendung. Auch die Soprane
geben vorwiegend Grabes- und Trauerklang, sie liegen deli
Damen, die in unseren heutigen Chorvereinen diese Stimme
zu besetzen pflegen, höchst Larghelto soslenulo.
unbequem tief. Cherubini hat i A i
an Knabenstimmen gedacht. ^^ "^ ^ "*'
Das Hauptthema des Satzes:
M
•9^
Re.quijem ae . ter . nam
kurz, einfach, aber in seinem Quintenfalle so leidvoll!
Das durchgehende Begleitungsthema, das die Fagotte
und Celli bringen:
Larffhetto sostennto. „^ ^^ ^ .»^^''^v,
^
'^m\^^ß\f-n
so schwer fragend; die ganze rhythmische Bewegung
verhalten, der Aufbau immer wieder auf Fermaten ein-
haltend! Die aufhellenden Stellen des Textes, die Worte
vom ewigen Licht, welches den Seligen leuchtet, von der
Herrlichkeit Gottes, die in Hymnen gefeiert wird, sind
auf trauernde, kleinlaut, ja fast gebrochen klingende
Motive gestellt, die die Stimmen einzeln oder gruppen-
weise einander nachsingen. An einer einzigen Stelle, wo
der Chorsatz sich wieder zu kompakter, vierstimmiger
Harmonie zusammenschließt, bei den Worten >ad te
omnis caro venietc leuchtet ein flüchtiger Schimmer von
Hoffnung durch. Mit ihnen schließt gewissermaßen der
erste Vers des Satzes. Das Hauptthema setzt zu einem
zweiten an; doch ist dieser sehr kurz gehalten mit einem
einzigen neuen Motiv auf die Worte >et lux perpetua luceat
eis« versehen. Das Kyrie, das sonst, wie z. B. bei Mozart,
als der liturgische Hauptteil der ersten Nummer der Toten-
messe breit ausgeführt wird, behandelt Cherubini fast nur
wie einen kurzen Anhang. Die Stimmen singen das »Kyrie
eleison« sowie das >Christe eleison« auf dasselbe Thema,
der Alt: der Sopran:
^
ohne Verweilen, nur mit eiper flüchtigen Wiederholung.
Doch ist diese kleine Wiederholung der Worte auf be-
wegteren Rhythmen und mit ihrer melodischei;i Steigerung
außerordentUch wichtig; denn sie sagt, was hinter diesem
gefaßten Trauerton für eine gewaltige leiden schafthche
Herzenserregung liegt. Aus ihr verstehen wir, warum
Cherubini das Kyrie nur andeutet, nicht ausführt. Diese
Trauer ist nicht fähig ordentHch und regelrecht zu beten,
nicht fähig zu sagen >Der Herr hats gegeben, der Herr
hats genommen, der Name des Herrn sei gelobt!« Nur
die Lippen beten, das Herz will vor Schmerz brechen.
Es hört nicht auf des Leids zu denken, das ihm geschehen.
Das sehen wir daraus, daß während des ganzen Kyrie
immer die klagende und wühlende Begleitungsfigur, mit
der der Introitus einsetzte, weiter geht. Sie führt auch
(in der Bratsche) von der erwähnten Stelle des leidenschaft-
lichen Aufschreies weiter. Mit gewaltsamer Fassung und
288
Ruhe setzen die Singstimmen noch dreimal ihr >eleison« hin
— dann ist die Nummer zu Ende. Sie ist sicher einer der
feinsten und eigentümlichsten Eingangssätze, die zu einer
Totenmesse geschrieben worden sind. Berlioz hat die Idee,
nach der in ihr das Kyrie behandelt ist, in seinem Requiem
aufgenommen und mit schärferer Zuspitzung durchgefül^rt.
Als ein ungewöhnlicher Anhang folgt der ersten
Nummer ein kurzer Satz über die Worte »Requiem
aeternam dona eis domine et lux perpetua luceat eis, in
memoria aetema erit justus« der die Bezeichnung Gra-
duale trägt. In ihm fließt die Melodie etwas stärker als
vorher. Wie fest aber Cherubini auch in ihm an der
resignierten Grundstimmung festhält, zeigt qpwohl der in
die Entsagung zurücklenkende Schluß des Sätzchens als
namentlich auch die Behandlung der Worte: >in memoria
aetema erit justus«. Sie sind in den wärmsten Tönen
der Wehmut ergreifend gegeben; aber die Mehrzahl der
Tonsetzer würden sich für sie eine freudenvollere Einlage
schon aus Gründen äußerer Wirkung nicht versagt haben.
Äußerlich bildet auch in Cherubinis Cmoll-Requiem
das Dies irae den Mittelpunkt, den Hauptsatz der ganzen
Messe. Cherubini unterscheidet sich aber in der Behand-
lung dieses Teils von anderen Tonsetzem zunächst da-
durch, daß er die ganze Sequenz bis zum »Lacrimosa«
in einem Zuge, d. h. ohne Tempowechsel durchnimmt.
Erst bei diesem Schlußabschnitt tritt eine neue Bewegung
ein: ein feierliches Largo ersetzt das bis dahin herr-
schende Allegra Dadurch erreicht Cherubini zweierlei.
In Harmonie mit dem Dichter und mit dem Geist d'er
Sequenz bringt er dieses »Lacrimosa« zu einer so mäch-
tigen und frischen Wirkung, daß es sich als die Haupt-
stelle des ganzen Dies irae einprägt. Der Wehruf, mit dem
es einsetzt, erscheint wie die moralische Frucht der vor-
hergehenden erregenden Schilderung des jüngsten Gerichts.
Die schwere Wehmut dieses »Lacrimosa«, die einfache
Innigkeit, mit welcher in ihm »Pie Jesu« gerufen wird,
entscheiden und bestimmen den Schluß- und Gesamt-
eindruck der Nummer. Zweitens aber sichert sich
t89
Cherubim durch dieses Verfahren alle Vorteile des großen
Stils. So anschaulich und bedrohlich die Bilder, welche
Cherubini vom Tage des Gerichts und seinen Schrecken
entwirft, auch vor die Fantasie des Hörers treten, so
wird doch seine Aufmerksamkeit nicht zersplittert. Die
Einzelheiten sind genügend aber leicht angedeutet und
das richtige Verhältnis zwischen den malenden und den
bittenden Textteilen ist überall gewahrt. Der Kirche und
der Kunst muß dieses Dies irae gleich lieb sein. Dazu
trägt die einfache und klare Form des AUegro, die Dis-
position, die der Meister über den -Text getroffen hat,
wesentlich mit bei. Wir haben da einen Hauptsatz, der
von dem Ahfang bis zu den Worten >qui salvandos
salvas gratis« geht. Das Thema der Singstimmen:
Aijegro maestoso. beherrscht ihn und geht
auf verschiedenen Text-
zeilen ' verschiedene Ver-
I
i;
fee
JU'^i U
Wandlungen ein. Bei den Worten »Mors stupebit« wird
dieser Hauptsatz mit seiner erregten, erschreckenden
und gewaltigen Melodik auf kurze Zeit unterbrochen,
durch ernste Wendungen bei »coget omnes ante thro-
num« und bei >nil inultum remanebit« sehr eindring-
lich interpunktiert und mit einfach herzlichen Weisen
über >salva me foijs pietatis« — bei den Wieder-
holungen >voca me« usw. — rührend abgeschlossen.
Besonders zu bemerken sind die zwei Takte, mit denen
.Cherubini aus den aufgeregten Tönen der Fegefeuer-
schilderung in diese ruhigen Schlußstellen einlenkt. Mit
wenigen Tropfen glättet er die wilden Wogen.. Der
Mittelteil des Allegro, den der Gebetsabschnitt Von >Re-
cordare« bis »et ab hoedis me sequestra statuens in
parte dextra« bildet, schillert in einem merkwürdigen
Doppellicht: Die Singstimmen ziehen einzeln oder zu
zweien im Unisono gepaart, ^ .Aiiegro.
über ruhige, Vertrauens- (L 1> > tfi [^- F
^
^^
^
volle Melodien, wie Z. B.: ^ Rexor.da.re Je.8U pi
wie durch eine große Leere dahin, immer in breiten
Rhythmen. Zuweilen singen sie nicht, sondern liegen
II, i. 49
— ^ 290 ^ —
■ ■
träumerisch auf Deklamationstönen fest. In dem Violin-
chor züngeln dazu immer die kleinen Flämmchen des
Fegefeuers in leicht dahin huschenden Figuren fort:
Bei >confutatis maledictis«
£ ^\, i^ t LJ y Uy ^y I tffil kehrt der Hauptsatz variiert
^'i-Tr 7"7UT'y^: ^g^gy^ y^^ aber nipht voll-
ständig wiederholt, sondern geht schon nach ungefähr
sechzehn Takten in die schöne milde Schlußwendung des
»voca me«. Die wenigen noch übrigen Zeilen des Textes
sind als Anhang gegeben in einem ahnungsvoll ernsten Chor-
satz, aus den Instrumenten spricht dazu das klopfende Herz.
Nicht bloß in seinem Mittelsatze, sondern in dem
ganzen Allegro ruht die Darstellung zu einem guten Teil
auf dem Anteil des Orchesters. Gleich zum Anfang
deuten die Posaunen, Trompeten und Hörner den
schauerlich - un- Aiicgro
heimhchen Cha- fl J» ^-^1 1 , . _ hn — r
rakter derSituation ^Hffo'J'J J J rj\\^ j
mit einem rhyth- ^-»-^ B P P ^>^-^^v^
mischen Motiv: ^
an, das an der Spitze der Abschnitte oft wiederkehrt
Ein Schlag des Tamtam verstärkt die Wirkung noch bis
zum Erschrecken — doch hat Cherubini dieses unerhörte,
naturalistisch theatralische Mittel einmal und nicht wieder
verwendet. Systematisch und mit seiner ganzen Sippe
hat es erst Berlioz in der Kirchenmusik zu Ehren gebracht!
Die leidenschaftlich wilde Bewegung der Gerichtsszenen,
bringen die Geigen mit einer durchgeführten Figur zum
Ausdruck, welche unten wühlt, dann nach oben steigt
und, auf der Höhe angelangt, die Blasinstrumente mit auf-
nimmt. Die Singstimmen schließen sich nun in ruhigeren
Rhythmen der dämonischen Melodik der Violinen mit
an und steigern den Eindruck der Unruhe noch durch
die kanonische Führung zwischen Sopran und Alt einer-
seits, Tenören und Bässen andererseits. Sie geben da-
mit das Bild einer bis zum Äußersten aufgeregten Menge,
bei der die eine Partei der anderen die Schreckensworte
halb mechanisch, mit sinnlosem Eifer nachspricht. So wirkt
294
das Dies irae überall mit künstlerisch beherrschter Lebens-
wahrheit unmittelbar, elementar, aber zugleich erhebend.
Die beiden Sätze »Domine Jesu Christe« und »Hostias
et preces« hat Cherubini, wie sie zusammengehören,
auch unter einem gemeinsamen Titel »Offertoire« und
als fortlaufende Nummer gegeben. Die Schrecken, des
Dies irae und die Höllenstrafen, die noch einmal auf-
tauchen, als der Text des tiefen Sees (»de profundo lacu«),
des Löwenrachen (»de ore leonis«), des Tartarus und der
großen Finsternis (»ne cadant in obscurum«) gedenkt,
hat Cherubini wie in weiter Ferne, wie hinter einem
Vorhang verschleiert dargestellt. Die Fantasie eilt mit
leichtem Schauer an ihnen vorbei, läßt sich nicht auf sie
ein, so dankbare Aufgaben sie der Tonkunst auch stellen.
Die Musik trägt in der Hauptsache den Qiarakter demüti-
gen Vertrauens und bringt die schönsten Klänge bei den
freundlichen Erscheinungen des Textes. Um die Gestalt
des heiligen Michael hat Cherubini eine Szene von Licht
und Güte gebreitet, die tief in der Erinnerung bleibt.
Ihr Grund- Andante. die schon in der kurzen
motivistdie i^^\, i'ii^f» ffTn Einleitung der Nummer
Achtelfigur: t?'^'"^ü LLLI ^V , mit auftritt. In ihrer
Durchführung zeigt sich Cherubini wieder als der große
Meister der Chromatik. Den breitesten Raum im OfTer-
torium nimmt die Behandlung der Worte »Quam olim
Abrahae promisisti« ein. Für sie war eine Fuge her-
kömmlich. Cherubini hat eine insofern außerordentlich
kunstvolle beigesteuert, als sie aus drei Themen besteht:
^j PocoAiiegro. die von Anfang an
^X''. ihT Tr\T r rlg rir^^l l sogleich zusammen-
■"t^i'T' '.['■■' .1 T ' .11.1 1 ^ » gebracht werden (a.
vom Baß, b. vom
^3 Tenor, c. vom Alt),
so daß niemand dar-
über im Zweifel zu
Quam olim Abrahae promi. sie . ti
?|.,i,.rTrrir>rri'^
et.
se
rpini
JUS
g f.ff rtr#.r>P. ^®^^ braucht, daß wir es mit
y\\ - J^' I' ' ITirri l einer regelrechten Tripelfuge zu
-et se.mini e.jus tun haben. Die Achtung vor
4 9*
—^ «9« ♦—
«
Cherubini verlangf jedoch die Bemerkung, daß nach Ton
und Geist dieses Kunststück nicht zu den Meisterstücken
der Gattung gehört, obwohl der Tonsetzer sich redlich
um Aufschwung bemüht hat. Das »Hostias« bildet den
Sc]üuß des Offertoriums und ist als Larghetto im 8/4-Takt
und teils in langhin fließenden Melodien, teils auf kurz
absetzende Motive gegeben. Diese Form entspricht dem
Wechsel des Inhalts, der sich zwischen frommem kirch-
Uch gläubigem Vertrauen und zwischen leisen Regungen
des Herzens teilt. In letzteren wird die resignierte Grund-
stimmung der Messe wieder stärker vernehmbar. Eine
Repetition der Tripelfuge schließt die Nummer.
Das Sanctus ist äußerst skizzenhaft gehalten und
begnügt sich, den üblichen Charakter dieses Satzes zu
markieren. Dagegen ist das >Pie Jesu«, das ihm als
Anhang folgt, einer der eigentümlichsten und feinsten
Sätze des Requiem, in seiner schönen, weichen Stimmung
italienische Musik bester Art, in seiner romantischen
Traumnatur echtester Cherubini! Gedrückt und tief
wehmütig schleicht es vorüber und knüpft nicht bloß
im Text wieder an den Charakter der Eingangsnummer
an. Besonders rührend ist das ziemlich obHgate
Zwischenspiel des Orchesters mit Larghetto
der bedeckten Stimme der Klari- ■|^|j^|>jpPp ||^|tf^j | J
nette an der Spitze. Ihre Figur;
gehört zu denen, die lange im Herzen fortsingen.
Das Agnus Dei, der Schlußsatz des Requiems, be-
ginnt leidenschaftlich. Der dreimalige Anruf ist gedacht
wie die Abwehr gegen die gräßliche Idee vom Tode, ähn-
lich wie es Süßmayer in Mozarts Totenmesse gehalten
hat. Da fällt das Wort »sempitemam« Ewige Ruhe?
Dieser Begriff wird zum Anker für die erregte Fantasie:
bedeckte Pauken erkhngen, die Harmonien streifen an
fremdartigen Gebilden vorbei, das Reich des Geheimnis-
vollen tut sich auf und bietet der ge- ^ Sostenüto^ ^^^
quälten Seele eine Zuflucht. Immer JL ^\, <^ ffTIT^ [ Jj*^
fester windet das holdernste Motiv: •? ' Ls '"^^
das uns schon mit dem ersten Takt des Satzes empfing
— -♦ 293 ♦^--
iseine sanften Schleier über des Tondichters Augen. In
Traumestönen, welche an das herrliche Credo seiner
Dmoll-Messe erinnern, Tönen, wie sie in dieser Art nur
Cherubini hat, entschlummert die Musik. Kirchlich ist
vielleicht dieser Schluß nicht ganz befriedigend, poetisch
ist er unendlich schön und wohltuend.
Das zweite Requiem Cherubinis (in D moll, nach L. Cheralini,
dem eigenen Verzeichnis des Verfassers L J. 4836 kom- Requiem
poniert) gilt heute vielen deshalb als ein Unikum, weil (DmoU).
es ausschließlich für Männerstimmen geschrieben ist.
Über das Alter des Männergesangs im allgemeinen und
seine Literatur sind immer noch falsche Nachrichten
im Umlauf. Einer dieser eigentümlichen Geschichts-
schreiber hat die Einführung des Männergesangs in
die Oper unlängst in ausführlichen Zeitungsaufsätzen
als ein wesentliches Verdienst Marschners geschildert;
ein zweiter, der das Thema in Broschürenform be-
handelt, besann sich wenigstens auf Gluck. In Wirk-
lichkeit verwendet ihn aber schon die Perische
»Euridice« vom Jahre 4 600 selbständig, und auch in
der französischen Oper des 47. Jahrhunderts kommt
er häufig vor. Noch älter ist er in der Kirchen-
musik. Speziell unter den Totenmessen steht Cherubinis
D moll - Requiem keineswegs vereinzelt da: Um einige
der bekannteren Requiemkompositionen für Männer-
stimmen zu nennen, führen wir aus der älteren Periode
das Requiem von Asola an: Es ist zuerst in Venedig L. Aaola.
i. J. 4 586 gedruckt und gehört unter die bedeutenderen
Werke der großen Vokalperiode. Proske hat es in Par-
titur neu herausgegeben. Ferner das dreistimmige von
M. Scomparin. Annähernde Altersgenossen des Cheru- M. Soomparin.
binischen DmoU-Requiem sind die für Männerstimmen ge-
schriebenen Totenmessen vom Abb^Vogler, G. Weber, Abt Vogler,
Eisner, Seyfried und H ä s e r. Freilich aufgeführt wer- 0. Weber,
den diese Werke heute nicht! Einer,
Das zweite Requiem Cherubinis hat mit seinem SeTfried,
Vorgänger etliche musikalische Berührungspunkte, die Häiei.
sich namentlich in der Auffassung des Introitus und des
«94 ♦—
Dies irae sehr deutlich zeigen. In diesem letztgenannten
Satze begegnen uns sogar bei gleichen Worten : >flammis
acribus addictis« z. B., ziemlich dieselben Notenmotive.
Man kann aber trotzdem die zweite Totenmesse der ersten
an Bedeutung nicht gleich stellen. Der innere Anteil,
mit dem der Komponist geschrieben hat, war bei dem
späteren Werk geringer. Der erste Satz, Introitus mit
Kyrie, erscheint wie ein Niederschlag des gleichen
Abschnittes im CmoU- Requiem. Der Ton der Trauer
erstreckt sich auch hier auf die Bilder des Textes mit,
welche der Fantasie Anlaß geben wollen, sich auf-
zurichten. Die Motive sind sogar äußerlich breiter,
aber sie haben nicht mehr die zwingende Kraft, wie
in dem ersten Requiem: Doch aber vermögen sie bei
einem ausdrucksvollen Vortrag die Idee zu veranschau-
lichen. Die Anlage ist: Hauptsatz (bis >luceat eis«),
Mittelsatz (bis »veniet«), Repetition des Hauptsatzes.
Das Kyrie hat mehr selbständigen Gehalt, als im ersten
Requiem. Das Graduale ist ein scharf und kurz
gegliedeter, schön gestimmter, aber in der Ausführung
schwieriger a capella-Satz. Das Dies irae ist mit einer
gewissen Härte deklamiert. Imposant ist die Stelle, wo
der Thron des höchsten Richters gezeichnet wird (»Judex
ergo« etc.). Wie in Quadern bauen sich die Perioden
der unisono vorgetragenen Melodie dort auf. Der Gegen-
satz, in welchem der arme Mensch zu dieser Macht
und Herrlichkeit tritt, kommt deutlicher als in dem
anderen Requiem zum Ausdruck. Von diesem Punkt
ab richtet Cherubini grundsätzUch sein Augenmerk auf
scharfe Ausprägung der textlichen Kontraste. Dieses
Verfahren ergibt eine größere Reihe bedeutender Einzel-
bilder. Ein zusammenfassender Zug< herrscht wieder vom
»Lacrimosa« ab, welches in hinreißender italienischer Me-
lodik durchgeführt ist. Dieser Abschnitt und das fromm
demütige Gebet des »Pie Jesu«, welches die Sequenz im
warmen D dur zu Ende fuhrt, sind Höhepunkte des Werkes.
Im OfTertorium tritt der Abschnitt »Sed signifer sanctus
Michael« durch die malerische Kraft der Instrumentation
—« 295 H>>—
besonders hervor. Der Satz »Quam olim Abrahaec ' ver-
läßt die Fugenform sehr bald und gibt der Erwartung
über die himmlisphen Freuden einen freieren und un-
gebundenen Ausdruck. Das Sanctus steht mit seiner
vollen, glänzenden Orchesterrüstung auffallend außerhalb
des Kreises der Totenmesse. Ganz am Ende erst dämpft
es seinen Feiertagston. Um so klarer ist das »Pie Jesu«
aus einem trauernden Gemüte herausgebetet. Das Motiv
der langsamen Viertel beherrscht seinen Ausdruck. Das «
Agnus dei, in seinem ersten Teile ganz ähnlich auf-
gebaut und gestimmt, wie der gleiche Satz im GmoU-
Requiem, schließt mit stärkerer logischer Betonung des
»lux perpetua«. Beantworten in jenem die letzten Takte
die Frage nach dem ewigen Leben und dem ewigen
Lichte mit einem »Vielleicht« — so spricht hier Cheru-
bini ein freudiges »Gewiß«!
Das nächste Requiem, welches nach diesem Cheru-
binischen die allgemeinere Beachtung, zustimmend oder
abweisend, auf sich zog, kam gleichfalls von Paris.
Es ist H. Berlioz* Totenmesse, im Jahre 4837 für die bei H. Berllos,
der Beisetzung des Generals Damr^mont im Invalidendom Requiem,
von der Regierung veranstalteten Trauerfeierlichkeit^n
komponiert (op. 5). Das Werk, von welchem Berlioz selbst
auch in verschiedenen Städten Deutschlands seinerzeit
Aufführungen veranstaltete, hat erst in den letzten Jahr-
zehnten begonnen sich einzubürgern. Die Gründe, welche
ihm entgegen waren und immer entgegen bleiben wer-
den, sind zunächst äußerliche. Dieses Requiem macht an
die Ausführung nach verschiedenen Richtungen hin un-
gewöhnUche Ansprüche. Die Einleitung zum »Tuba mi-
rum spargens sonum« z. B. ist für vier selbständige
Bläserchöre geschrieben, welche, jeder in einer andern
Ecke des Aufführungsraums plaziert, ihre Fanfaren nach
den verschiedenen Himmelsgegenden hinausschmettern.
Es sind die Engelsboten, die wir von alten Bildern des
jüngsten Gerichts her kennen. Dazu verlangt aber die
Originalpartitur — C. Götze in Weimar hat sie sehr
geschickt vereinfacht — eine Besetzung von sechzehn
•—-^ «96 ♦—
Posaunen, ebensoviel Trompeten, die andern Messingbläser
in entsprechenden Zahlen und eine kleifie Armee von
Schlagzeug. Bbenaoviele Schwierigkeiten bietet Berlioz
durch seine Behandlung der Singstimmen. Schon die
französische Einteilung des Chors in Sopran, Tenöre und
Bässe ist uns unbequem. Soll der Alt mitsingen, so muß
für ihn eine Stimme eingeschmuggelt werden. Carl Riedel
hat eine solche aus Brocken von den Tischen des Soprans
und des Tenors zusammengemischt. Der Komponist hat
den Stimmen auch Intonationen zugemutet, welche nur
nach langer Mühe und bei peinlichster Sorgfalt aller an
der Ausführung beteiligten Sänger überwunden werden
können. Zweitens kann nicht geleugnet werden, daß der
künstlerische Wert der Komposition, ihr Ideengehalt ein
gleichmäßiger nicht ist. Sie hat ihre barocken, gewalt-
samen und renommistischen Momente. Sie hat nationale
Eigenheiten, die der französischen Kirchenmusik von jeher,
zuletzt noch bei Cherubini, die Sympathie der Deutschen
entzogen oder geschmälert haben. Fantasie und Gemüt
haben darin ein anderes als das bei uns gewöhnte Ver-
hältnis. Infolgedessen stoßen wir uns — zu Unrecht —
hier an scheinbar theatralischen, dort an kalten Stellen.
Nach solchen Abzügen bleibt aber das Requiem
von Berlioz immer noch seine reifste Arbeit und eine
originelle Komposition von wirklicher und ungewönlicher
Bedeutung. »Sollten einmal« — schreibt Berlioz am
1 1 . Januar 4 867 ^n seinen Freund Humbert Ferrand *)
— »alle meine Kompositionen verbrannt werden, bitte
ich doch für eine Partitur, für die meiner Totenmesse,
um Gnade«. Sie ist ein Werk von innerlich großem
Stile, mit einer inbrünstigen Versenkung in den erhabe-
nen Stoff, mit einer Fantasie geschrieben, welche immer
dramatisch lebendig auffaßt und ihre Auffassung oft in'
großartigen, zuweilen in eminent ursprünglichen Gestal-
tungen äußert. Der musikgeschichtliche Boden, auf
welchem dieses Werk reifte, ist hauptsächlich der der
') H. Berlioz: Lettres intimem (2. Aufl.) 1882.
«97
Beethovenschen Kunst. Aber auch seinem Lehrer Le-
sueur und seinem Antipoden Gherubini, namentlich des-
sen Gmoll-Requiem mit dem Tamtamschlage, verdankt
Berlioz ersichtliche Anregungen.
Berlioz hat die fünf Hauptteile der Totenmesse in
zehn Nummern geteilt. Acht davon hat der Chor ganz
allein, in zweien singt mit ihm oder allein ein Solo-
tenor. Das Berliozsche Requiem ist demnach in ganz
ungewöhnlichem Grade ein Chorwerk. Den ernst kirch-
lichen Charakter, dem der Komponist damit nachstrebte,
verstärkte er noch 4urch einen für sein spezielles Kön-
nen an Fugen und Imitationen reichen Stil.
Zum Verständnis des ersten Satzes (Requiem
und Kyrie) sind drei Hauptmotive zu beachten: Das
erste ist die breite, schwermütige Melodie, mit welcher
die Ghorbässe am Anfang des Werkes eintreten:
Andante poeo lento
*j.|i>ffl'f)|fp.
^
Ihre trauernde
Grundstimmung
variiert der Kom-*
Re.qui.em ae ter . nim ponist im Verlaufe
des Satzes verschiedenfach und führt sie bis zum glühend
leidenschaftlichen Ausbruch der Todessehnsucht. Das
zweite Hauptmotiv ist der eine gemischte Skala in gebro-
chenen Achteln hinabsteigende Gang, in welchem die Te-
nöre gleich nach ^
dem Einsatz der l^\^ ^^ ^^)^ ^^^
Bässe neben die- ^^H^
sen herschreiten:
Re.q
ui . em
n^-i^V^^if r
ae . ter\ nam do . na e . is
Er ruft das Bild eines in schweren Schritten aufwärts stei-
genden Trauerzuges vor die Fantasie. Beide Themen bil-
den gewissermaßen den Grundstock der Nummer ; die fugen-
artigen Durchführungen, die die Chorstimmen aus ihnen
entwickeln sind das Gerüst und die Seele der Komposition.
Das dritte wesent-
liche Motiv ist das
chromatische The-
ma des Orchesters: ^
das wie eine schmerzliche Frage klingt. Aus ihm ist die
p cresc.
298
Einleitung gebildet: in dreimaligem Anlauf steigt es höher
und wird heftiger: ein Bild des wachsenden Kummers, des
innern Jammers. Dann kommt laute Klage im Orchester:
Der Zuhörer weiß aus diesem Vorspiel,
^
1 Ip ■ was er zu erwarten hat und nun setzen
^ die Bässe ein. Besonders reich ist die-
focof "Z *• p
ser erste Satz an rührenden und lieblichen Episoden, wel-
che das aus jenem Material aufgebaute Arsenal des Ernstes
trauhch und wohnlich machen. Auch in der Form zeich-
nen sich diese Episoden als originell aus. Hierher gehört
die nach der ersten Durch- .
führung des großen Requiem- fe » ^ . f f f 1 I T^
themas einsetzende, wie ein «^ [J M '
Wiegengesang klingende Stelle:
uiw.
do
na
mit welcher die Soprane
die fromm und innig um
Ruhe bittenden Tenöre:
^
«=p
i
IS
umspie
len. Ihr
Ende
do. na do. na e
wech^lt zwischen Herzensangst und kindlichem Gott-
vertrauen:
do na e — ig re
m
em
do na e - is «"e . qui
Da ist (nach der zweiten Durchführung) jene ab-
wechselnd, von Tenören und Bässen getragene Melo-
die zu den Worten »Te decet hymnus«, 'welche in
der Idee mit Cherubini übereinstimmend, aber in
eigenartiger Form den Beisatz von Traurigkeit so
schrill in die hoffnungsvollen Ton Wendungen einmischt:
Der kleine Abschnitt
enthält außerordent-
lich viel Fantasie, na-
mentlich auch in der
nasse |,- ^ k^, fahlou Farbe
*j!f pl^f if f |tf r PM »^ ßl" I '*^^- ^®® Orchesters
0/ '• u } A . ' ,\ ^ n ^ ' und der mono-
Et ti.bi red.de.tur vo.lum in Je ru.salem ^ , .
ton hmpen-
delnden, das Grabgeläute vor die Fantasie rufenden
Tenöre
j.rFrprrr ic?^
Te de.cet hymnus de.us in Si.on
Bässe 1^^ ^ ^-^ h
S99
Cellofigur. Da ist ferner nach der dritten Durchführung
des Hauptthemas die Stelle bei »defunctis domine et lux
perpetua luceatc, wo die ganze Musik wie ein verglühen-
des Lämpchen dem völligen Erlöschen nahe scheint.
Als dann nach der nächsten Durchführung das Wort
vom ewigen Licht wiederkehrt, da zeigt es Berlioz in
seinem Glanz: kurz und einfach, aber mit elementar
großer Wirkung hat er zwei Dur- Akkorde (Ddur, Gdur)
dazu verwendet. In Hoffnung und seligem Traum vom
ewigen Leben schließt der Introitus. Das Kyrie hat, wie
bei Gherubini, nur noch die Bedeutung eines Anhangs, eines
frommen Brauchs. Berlioz gibt es mit der Mischung von
Poesie und Realistik, die die französische Musik liebt, die
er aber besonders virtuos beherrscht. Die Worte »Kyrie
eleison« werden glatt auf einem Ton psalmodiert, so
daß vor dem Hörer deutlich das Bild der auf den Knieen
liegenden, dem Vorbeter nachbetenden Gemeinde er-
scheint. Das »Christe eleison« tritt dazu in den Gegensatz
innig empfundenen Gesangs auf ein chromatisches Motiv:
in dem Jedermann einen Ab-
kömmling des Stakkatothe-
mas aus dem Hauptsatz er-
kennt. So sagt uns das Ende
des Satzes, daß die Trauer, mit der wir in ihn eintraten,
noch da ist, aber ihr gedrückter Charakter ist der Er-
hebung durch den Glauben gewichen.
Die Sequenz umfaßt die Nummern 2 bis 7. Die zweite
Nummer (der Anfang des Dies irae bis zu den Worten
»judicanti responsura«) zerfällt in zwei Abteilungen. Die
erste (AmoU) beginnt schwül und unheimlich ruhig. Die
Soprane singen allein:
Moderato
*
i
^ppM'.
*
P
^^
Chris . te, e le. ison
di.es il . la. tli.es
TX.
l
^
Di - es
i.rae
I . rae
^pM IJ_J r ir ^ rTif?rr < iT pr .| ■■ ipg
di.es
il • la soi - vet
saec tum
in favil - la
— ♦ 300 ♦—
In gefaßter Stimmung, eine leichte Verwirrung an-
deutend, beginnt diese Klage, in Verzweiflung, fassungs-
los aufschreiend, endet &ie. Damit ist der Charakter des
ganzen ersten Teils dieses Ghorsatzes gegeben. Er be-
steht in einer einzigen Steigerung bis zu dem Punkte
hin, wo das »Jüngste Gericht« leibhaftig erscheint. Wenn
Berlioz hier eine lange Strecke nur einstimmige Musik
gibt, erst die Bässe, dann die Soprane allein, so hat das
doppelte Gründe. Durch solche Vereinzelungen der
Stimmen und durch den altertümlichen Bau der Motive
sucht Berlioz wiederholt in seinem Requiem an die
alten liturgischen Intonationen zu erinnern. Ebensosehr
wie durch den Text selbst scheint seine Fantasie durch
die Romantik der kirchlichen Zeremonie gefesselt ge-
wesen zu sein. Die Anspielungen auf bezeichnende
Einzelheiten des kirchlichen Dienstes und die Szenerie
der alten Feier gehen immer nebenher, ^ber der leere
Klang dieser Stellen ist vor allem auch ein ausge-
zeichnetes Ausdrucksmittel. Er erzeugt im Hörer ein
Gefühl der Öde und Spannung und versetzt mit un-
widerstehlicher Gewalt in die Ungewißheit und Bangig»
keit der Situation. Zunächst stimmen Tenöre und
Bässe in die klagende Weise mit ein. Bald aber —
die Musik wendet sich nach BmoU — q .i.l f ^ ?^^ ,^
geben die Soprane die Worte: »Dies A^l^Vt^ j^'H.pl ^ If'
irae« träumerisch erstaunt: »^ DpeTn la
von den schweren _^2^Tf^ ^> =* «^ schrei-
Angstrufen der
<li.e8 il.la. di^s il.la
en sie
äußersten LH\,'^f^f^n\ " I P' - größer wird
en auf: ^ in ü. vii . la die Aufre-
Tenöre getrieben ^ ^\,U ii.fa. diis ii.ia gleich
darauf entsetzt ^ ^opran^ ^ _ Größer und
und im
Schrecken
gung, lebhafter die allgemeine Bewegung (Dmoll).
Die Tenöre insbesondere sind von ihr erfaßt:
f\ ft r m - - m.r-i ^ nL ^^ ^® Bässe des
k^ LU D ff iJ I J j ff ^^ Chores bleiben bei
quan.tus tre. mor est fu tu. rus der feierlich emsten
304
Contrabäflse u Celli
Moderato.
■■■^ MlJrJ|J|.|JJlM^|p>l>
m
m
Kirchen melo-
die, mit wel-
cher die In-
strumente die
Sequenz er-
öffneten:
Berlioz scheint sie als musikalisches Motto des ganzen
Satzes gedacht zu haben. Und nun kommen wir vor
die Glanzpartie des Satzes vor das >Tuba mirum spar-
gens sonum« (Esdur) mit der alarmierenden und prunken-
den Orchestereinleitung und dem grandiosen Unisono-
gesang der Männerstimmen. Diese in höchste Pracht
getauchte Szene vom. jüngsten Gericht und von Auf-
erstehung unterscheidet die Totenmesse Berlioz' von
jeder andern. Wer dieses Requiem einmal gehört hat,
erinnert sich zuerst an diesen zweiten Teil des Dies
irae, den Mittel und Idee zu einem unvergeßlichen Ein-
druck auf Sinn und Seele von Kennern und Laien
machen. Die Blasinstrumente bestreiten den ganzen
Aufwand jener nur 22 Takte langen Einleitung, deren
Wirkung auf einen viel größeren JJmfang schließen läßt,
mit den Schlaginstrumenten allein. Mit feierlichem
breiten Ton setzt jede der zahlreichen Gruppen, die die
Toten aus allen Himmelsrichtungen zusammenrufen, ein;
dann werden die Rhythmen erregt und , schmetternd.
Gewiß, es sind, wie Gegner Berlioz's bemerkt haben,
in den Weisen dieser Trompeten und Posaunen Motive
mit verwendet, die auch in Kavalleriesignalen vorkom-
men. Aber wer bei der Entwicklung, in die Berlioz
solche Elemente bringt, mit seiner Fantasie nicht höher
kommt, ist zu beklagen./ Instrument nach Instrument
kommt hinzu, das Ohr steht wie vor zitternden Massen,
vor Blitz und Donner, und als das ganze Orchester bei-
sammen, da wendet sich die Masse endlich aus Esdur
jreg und schreitet von melodischen Trompeten geführt,
nach B. Dieser Gang nach der Höhe, den die Bässe
feierlichen Schritts beginnen, stürmend schließen und
wie dann auf den letzten Bdur- Akkorden sich das ganze
— * 30J
Himmelsheer in seiner Gewalt und furchtbar erhaben in
Front stellt, — das ist der Gipfelpunkt des kolossalen
Abschnitts. Und nun doch noch eine Steigerung: der
Eintritt der Männerstimmen, die ekstatisch deklamieren:
J , 56 ^ '^ Ein Chor von Pauken,
r^f f ff ff ff , r*- r , ß ß Trommeln, Tamtams,
^\ ' ' y^i^ y\\ I II 1 ^s^- Becken tremoliert da-
Tu.ba mirurnspai^enssonum zU. Jedenfalls ent-
spricht den außerordentlichen Mitteln ein außerordent-
Uches Ergebnis. Die Majestät und Größe des jüngsten
Gerichts ist in keinem zweiten Requiem so wie hier
bei Berlioz zur Anschauung gekommen, die andern
Totenmessen schildern an der gleichen Stelle nur seinen
Schrecken. Bei den Worten »ante thronum« bedeckt
Berlioz plötzlich das Bild des geöffneten Himmels und
wendet sich dem »erblaßten Tode« (»mors stupebit«) zu,
den er zu der vorhergehenden Herrlichkeit und Macht
in den kläglichsten Gegensatz bringt: eine Gestalt, erst
zitternd, dann kleinlaut klagena. Mit den Worten »judi-
canti responsura« wird der Ton wieder ernst und groß.
Das Bild des jüngsten Gerichts zieht (von Bdur aus)
durch die Worte »Liber scriptus« gerufen, noch einmal
in voller Ausdehnung vorbei. Vom Ghoreintritt (»Judex
ergo« usw.) ab hat Berlioz diese Wiederholung dadurch
mächtig gesteigert, daß er die Bässe auf der einen Seite,
Tenöre und Soprane im Unisono auf der andern, die
Melodie im Kanon durchführen läßt. Nicht aber schließt
der Satz im Glänze des Gerichts, sondern der Chor bringt
die Worte »judicanti responsura, mors stupebit et natura«
noch einmal leise, fast ohne Begleitung, demütig und
fromm, wie um Gnade bittend, wie eingedenk der bangen
Frage: »Wer wird bestehen?«
Der dritte Satz »Quid sum miser« (GismoU) ist ein
Tenorsolo. Aus dem in absichtlicher Dürftigkeit geführ-
ten Orchester tauchen, vorwiegend in den Bässen, An-
klänge an den ersten Teil der vorhergegangenen Nummer,
das Dies irae, wieder auf. Die Singstimme klagt und
bittet wie in einer großen Wüste vereinsamt und verloren
303 ^—
Man muß von dieser fesselndeh poetischen Intention des
Satzes beim Anhören ausgehen, da er, als absolutes
Musikstück genommen, kaum verständlich ist. Der Satz,
der in Amol! begann, schließt in Es.
Der Chor der Auferweckten tritt nun vor den Thron
des Höchsten in dem vierten Satz (>Rex tremendae ma-
jestatis«, Esdur) mit einer feierlich frommen Anrufung,
der bei den Worten >qui salvandos salvas gratis«, eine
im Satze wiederholt verwendete bittende Melodie folgt:
Andante maertoso ' ^^^ die Stimmen einander
Awti'L I h] luJ r r flnlr » zunächst ruhig nachsingen.
ffy ^'^'^.J Ji-i'lti'^ r I V\i\\ ^ Das Ende des Abschnitts
Qui sal vahdossalvasgrati. „^^^^^ ^^^^ ^^^ ^^^ j^.^
Bitte klingt ängstlich und aufgeregt, und von nun an
nimmt der Satz hauptsächlich den Charakter einer
Schreckensszene, einer Schilderung der Vorstellungen,
welche die Seelen der vor dem Richter Stehenden quä-
len, an. Er ist derjenige des Werkes, welcher den rea-
listischen Zug der Berliozschen Romantik am ausge-
prägtesten aufweist. Die Furcht vor dem Fegefeuer und
den Höllenqualen ist mit einer fast platten Naturtreue
geschildert. Diese Tonbilder sind die musikalischen
Photographien einer in Verzweiflung schreienden Masse,
als solche große Leistungen des Komponisten. Beson-
ders treten darunter die Stellen be> »confutatis male-
dictis« bei >flammis acribus addictis« und bei »ne cadam
in obscurum« hervor. Aber diesmal sind es nicht Farben-
wirkungen und Klangmittel, mit denen Berlioz wirkt,
sondern Rhythmen und Harmonien allein. Ein zwei
g
Takte langer Sekundakkord: l z. B. gibt der Darstellung
h
des Entsetzens vor den Flammen ihre Schärfe. Aber
Berlioz entwarf diese mächtigen Bilder des Schreckens
und der Majestät nur als den Hintergrund für die Figur
des armen ohnmächtigen Menschen, der mit seinem
»Salva me« vor den Richter tritt, ganz auf Gnade an-
gewiesen. Die einfache reine Schönheit der Gebetstellen
N
— ♦ 304 ^ —
des Satzes entscheidet den Eindruck. Die zarten Töne,
mit denen die Worte »salva me< und >fons pietatis« zum
letztenmal am Schluß des Satzes erklingen, dringen far
immer tief und friedlich in die durch die grandiosen
Bilder des Gerichts erregte Seele.
Der fünfte Satz »Quaerens mec (Adur) ist eine
fugenartige Komposition für q ^j ^f . k . i
sechsstimmigen Chor a ca- ja tf J j^" [ p ^ p J)?) rJj
pella. Sein Hauptthema: ^ Quaerensmesedisti las sus
wird zunächst einfach dreistimmig — nur an den
Schlußkadenzen mit Verdoppelungen — durchgeführt.
Erst im Zwischensatz, der über das erregtere Thema:
Q it.i ^ft >/^- ^.^1,1 gebildet ist, werden die sechs
(^ tt r ^' I r f'^lf iJ I J J I Stimmen Tatsache. Im drit-
In ge.mi9 . cd taqquam re.a9 ten Teil wird das Hauptthema
wieder aufgenommen, aber von psalmodierenden Moti-
ven, ähnlich wie im Kyrie der ersten Nummer, begleitet.
Auch in rein zweistimmigen Stellen hat dieser Satz
fremdartige und archaisierende Elemente. Sehr stark
im Gegensatz dazu gibt Berlioz den Worten »locum
praesta e^ ab hoedis me sequestra« einen glühend mo-
dernen Ausdruck. Durch solche stilistische Züge und
durch den immer interessanten, zuweilen äußerst wohl-
tuenden Klang dieses a capella-Satzes zeigt Berlioz die
Stärke seines angeborenen Tontalents auch auf einem
ihm fremderen Felde.
Der sechste Satz »Lacrimosa« (AmoU) hat zu seiner
Grundstimmung eine an dieser Stelle von vielen Kompo-
nisten gewä}ilte Mischung von Wehmut und Freudigkeit
Er schwelgt zuweilen in dem Sehnen nach dem Tage der
Auferstehung und bittet mit der frohen Herzlichkeit eines
Kindes um die ewige Ruhe. Ein formell hervortreten-
des Merkmal dieses Satzes ist, daß er sich fester auf
Mittel der Melodik stützt, als dies bei Berlioz sonst üb-
lich ist. Er wirkt im Durchschnitt auch in diesem Re-
quiem vorwiegend mit rhythmischen und harmonischen
Bildungen. Über den Melodien dieses »Lacrimosa«,
die man als im edlen Sinne populäre bezeichnen kann,
305
liegt ein Hauch von warmer, italienischer Musikluft.
Das Thema des Hauptsatzes hat folgenden Anfang:
Aiicgro non troppo lento Seine klagenden
i n f^^ f\ \ f\ pTTTp^T^ '^^^ ^i* schwe-
^fl I 1 r p I r pur Prrrrrn^'^* rem Ausdruck zu
La cry.mo.sa di.es ii la gingendeuAchtel-
motive tragen die weitere Entwicklung. Für die Seitensätze
des »Lacrimosa« kommt das zart freundliche, hoffnungsvolle:
0 ^^'^. \ . L^ix^i^i.i j,^i ^^ BAracht,
5*^ J ,hM J. ^ ^\^~^ ^^ J^l I J. "^^ indessenPau-
* "^' '^ ' "^ "*■ sen die be-
wegten Moti-
ve des Haupt-
qua re.su r.get. qua re.sur.get ex fa.viLla themas wie
aus der Ferne hineinklingen. Im Ausdruck noch inniger,
kindlicher, vertrauensvoller doicejissai
ist die zuerst von 'den Te- ^ g ["'f
nören gebrachte Melodie: ^^
Das Orches- Baß Houbi
ter begleitet 'iit.^^ifl jpl^f f
im Haupt- ^'mlrg)^' 4
satz mit: ^
La.cry.ino.sa
di.es il . la
4M|^JjJ)|J.|tJ^J Jl|J.||J.J"JJ^
¥^
Pi . 6 ' Je SU Do . mine
YlP'u.. und wird damit
^ ^ Horner
n
±
der Träger der
dunklen^ traurig
erregten Empfin-
dungen, die das Ende des »Jüngsten Gerichts« hinter-
lassen hat. Im übrigen ist die Führung und der Cha-
rakter des Satzes ruhig breit und groß. Eine Ausnahme
macht eine Stelle, die gegen das Ende eintritt — als der
erste Seitensatz zum zweitenmal wiedergekehrt ist — .
Da klingen die Schrecken der ersten Nummer der Se-
quenz noch einmal kurz in einem Kampf an, den die
geteilten Hälften des Orchesters um e und f führen,
e siegt!
Ganz apart ist die Anlage des Offertoriums »Domine
Jesu Christe«, der siebenten Num- „ . .
_ _ ; .•»% ,1 »V r<ii Modcralo
mer des Requiems (Dmoll). Der Chor
singt mit Ausnahme der Schlußtakte
den ganzen Text auf das Motiv:
immer im unisono aller Stimmen leicht hinein deklamiert.
Es macht den Eindruck eines Zitats aus dem dürftigen
U, 4. 20
306
^^,jTrlttijj,j^^j^^^
^^
osw.
Musikschatz jener Völkerschaften in deren Besiegung
der Held dieses Requiems, der Graf Damr^mont, sich die
Lorbeeren der Geschichte erwarb. Das Orchester ant-
wortet jenem stereotypen Chorsignal mit einem eben-
so regelmäßig wiederholten, mysteriösen einzigen Ton
aus dem Münde der Bläser. Das Hauptbild, welchem
dieses symbolische Bruchstück primitiver Naturmusik
eingewoben ist, besteht ' aus einer Fuge der Streich-
instrumente. Rhythmus und Charakter ihres Themas:
' ^, ihr Aufbau,
^ixM JJIJ.3J.Jj ^>)IJJ f\^i}\ih^\ ^^^^f^}^^'
\i 6 "^ 7 iii»^ii'#iii ^3:^L-L-'^,^^ zen Anläufen
immer wieder
von vorn an-
setzt, erin-
nern lebhaft
an eine Sisyphusarbeit. Wie stechender Sehmerz und
fremdartig klingen die sforzatos und die liegenden
Stimmen (auf d und a) dazwischen. Beim »Quam
olim Abrahae« tritt Ddur ein, eine einfache elemen-
tare Wirkung, erlösend nach dem langen Druck wie
ein Ausblick ins Paradies. Nach Berlioz^ eigener An-
gabe soll der Satz den Chor der Seelen im Fegefeuer
verbildlichen. Einen ganz ähnlichen hat er in seiner
Symphonie »Romeo und Julie« für die Bestattung Juliens
geschrieben. Das »Hostias« (Nr. 8), das der Männerchor
allein singt, hat Berlioz in einer Stimmung gehalten, die
dem Worte »laudis« widerspricht. Es ist ein Lobgesang
pro forma: Von Trauer halb erstickt psalmodieren und
deklamieren die Stimmen schleichend dahin; am Schluß
der Sätze erst, wo die Worte »memoriam facimus« kom-
men, dringt Wärme der Empfindung, die warme Er-
innerung an die Zeiten, wo die lebten, um die jetzt ge-
betet und geopfert wird, aus den Tönen. Wie vom Grab
oder wie Grüße aus Himmelsregionen begleiten Orchester-
instrumente allein, die sonst nur in größter Gesellschaft
zusammenkommen: Flöten und Posaunen. Durch dieses
Akkompagnement erhält der Satz ein unheimlich fahles
307
4^'^^l,»,lJJlM'r^
•^ Hosanna inexcel.sis, h(
nrrpjy
excel.sis, hosanna in excel6is,ho
?
^
Kolorit. Das Sanctus (Nr. 9, Desdur) ist von den Sätzen
des zweiten Teils des Werkes vielleicht der fesselndste,
deijenige, in dem die poetische Absicht musikalisch am
vollkommensten ausgeführt worden ist. Er besteht aus
zwei Teilen: einem freien Wechselgesang zwischen Solo-
tenor und Frauen Chor über die Worte > Sanctus deus
Sabaoth, pleni sunt coeli gloria tua«, dem folgendes
Haupt- Andante un poco eostenato e maestosO;...,,^ MliO.
zu Grün- g^^A f ^ P | f f ^ IT f T P 1^ ^^ Chor-
de liefft* Sanctus, sanctus. <«,.sanCttus, sano . tus fuge
Über das »Osanna«. Der Sopran beginnt sie mit:
Aiifgro non troppo.^ ^ ^ m )^ ^ Beide Werden
repetiert. Die
Fuge Über
»Osanna«
erfüllt den
san.na,ho.8anna, ho san.na in ex . ceLkjs. Zweck eines
kräftigen Lobgesangs, beim zweitenmal leistet sie noch
mehr und setzt mit einer glücklichen Steigerung die
Seele des Hörers in Schwung. Das Sanctus aber hat in
der neueren geistlichen Musik im Ausdruck visionären
Entzückens wenig seines gleichen. Klangfarben, Rhyth-
men, Modulationen und Melodien stehen alle unter dem
Zauber einer großen stillen Schönheit, wie von dem An-
blick einer wunderbaren Himmelserscheinung zugleich
geblendet und erhoben. Der zehnte Satz Agnus dei
(Anfang Adur, Schluß Gdur), mit einfachen, aber wie
aus höheren Sphären herabklingenden Akkorden einge-
leitet, kehrt mit dem Eintritt der Singstimmen zu dem
»Hostias« zurück und wendet sich dann, ähnhch wie
Süßmayer in Mozarts Requiem getan, mit dem Schluß-
teü dem Introitus wieder zu. So ist Anfang und Ende
des Werkes ineinander geschlungen und damit sein
ästhetischer Wert nochmals bekräftigt. Er wird die
Totenmesse des französischen Ultraromantikers noch
längere Zeit im praktischen Musikleben erhalten. In
der Geschichte der Gattung wird sie ihren Platz für
«0*
— ^ 308 ♦ —
immer behaupten, denn sie bildet in der dramatischen
Richtung, die die Requiemkomposition seit dem 4 7. Jahr-
hundert eingeschlagen hat, den Gipfel und zugleich die
Krisis. Wohl hat man dem Berliozschen Requiem nach-
gestrebt, aber noch mehr hat es mit seinen dramatischen
Exzessen abgeschreckt und eine allmähliche Reaktion
nach der liturgischen Seite eingeleitet
Der Zeit nach ist als die nächste Totenmesse, welche
Yon dem Träger eines bedeutenden Namens herrührt, das
BiEtohumaiuif Requiem von R. Schumann zu erwähnen: eins der
Requiem, nachgelassenen Werke des Komponisten (op. HS). Auch
die stark Schumannsche Strömung, welche im letzten
Drittel des neunzehnten Jahrhunderts das deutsche Musik-
^ leben beherrscht hat, war nicht im Stande, diese Kom-
position flott zu machen. Es sind nur vereinzelte Auf-
führungen zu verzeichnen. Alle Versuche der liebevollen
Pietät scheitern an dem Mangel eines einheithchen Stils.
Man kann dem Requiem dasselbe ''Streben nach Einfach-
heit der kirchlichen Tonsprache nachrühmen, welche
wir an der Messe Schumanns anerkennen müssen. Aber
die Ausführung trägt die Spuren der Flüclitigkeit und
Hast. Die Idiome sind wunderlich durcheinander geraten:
auf streng und ernst durchgearbeitete Teile folgen Fort-
setzungen, die wie italienische Waren aus der berüchtigten
Periode des Guitarrenorchesters aussehen. Doch ist auch
in den Sätzen, welche polyphon gehalten sind, die Er-
findung und geistige Richtung zuweilen trivial; z. B. in
»Te decet hymnus«. Man muß diese Sachlage um so mehr
bedauern, als einzelne Partien des Werkes gelungen sind:
so der Introitus; andere können als genial bezeichnet
werden. Das gilt namentlich von dem ersten Satze des
Dies irae, der mit sehr einfachen Mitteln — hauptsäch-
lich durch ein Motiv aus zwei Akkorden gebildet — den
Di;uck einer eigentümlich schwülen und zum unheilvollen
Entladen reifen Situation veranschaulicht.
Ein Altersgenosse des Schumannschen Requiem ist
F. Laohner, das von Franz Lachner. Am Anfang der siebziger
Requiem. Jahre einer Umarbeitung unterzogen, hat es von da ab
längere Zeit die Konzertsäle durchzogen und eine sym-
pathische Aufnahme gefunden. Es ist eine außerordent-
lich schlichte und einfache Komposition, welche für den
Geist des Textes überall die richtigen musikalischen
Grundlinien findet. Der Stil einer älteren Periode lebt
in ihr noch einmal auf: hauptsächlich nur mit seinen
Vorzügen: einer verständlichen Melodik und mit an-
mutsvollen Gesangformen. Die Solisten wirken in her-
vortretender Weise; manchmal in gut angelegten, aber
zu breiten Sätzen. Die Stelle, wo im Introitus das »Et
lux perpetua« zum zweitenmal eintritt, und der An-
fang des Dies mit dem übermäßigen Sextakkord sind
die hervorragendsten Erfindungen des Werkes. Sie
hinterlassen einen bleibenden und tieferen Eindruck.
Wir begegnen zuweilen der Klage, daß unsere Zeit
neuen Tonwerken von ernster Richtung nicht günstig sei.
Mit dieser Behauptung steht die Tatsache im Wider- .
Spruche, daß einige unserer hervorragendsten neueren
Tonsetzer ihren Ruf mit Messen begründet haben. Das
war der Fall mit A. Becker und seiner BmoU-Messe.
Auch J. Brahms trat aus einem engeren Kreise erst mit
seinem »Deutschen Requiem« heraus. Das dritte leuch-
tende Beispiel bildet F. Kiel, welcher im Jahre <860 mit F. Kiel,
seinem ersten Requiem (op. 20) die größere Beachtung Requiem
zunächst seiner Fachgenossen errang. Kiels »Christus« (Fmoll).
ist populärer geworden als dieses Requiem. Der Vor-
sprung beruht da in erster Linie auf dem Gegenstand
und der dramatischen Form des Werkes: Auch wird
man der Musik dieses Passionsoratoriums einen selb-
ständigeren und durchsichtigeren Charakter zugestehen
müssen. Aber von dem technischen Können Kiels, von ;
seiner reinen und edlen künstlerischen Natur, von der
Besonderheit seiner schöpferischen Fähigkeiten, gibt
dieses Requiem einen genaueren Begriff.
Nach einer Orchestereinleitung, welche zur Hälfte
Bachisch ist, setzt der Chor im Introitus sein »Requiem
aeternam« im Tone eines friedlich frommen Trauer-
gesangs ein. Schon das »dona eis domine« verläßt aber
in seiner ausbiegenden Schlußkadenz diesen Grundton.
Der Charakter/ in welchem Kiel dieses Totenamt er-
öffnen wollte, ist der- einer schwankenden Stimmung.
Diese Musik tönt aus einem Herzen , welches nicht dar-
über entscheiden kann, ob der Tod ein Verlust oder ein
Gewinn sei, und die Fantasie scheint sich zwischen den
Bildern der Hölle und des Himmels noch hin- und her-
zubewegen. Daß die Wagschale zu gunsten des ver-
trauenden Glaubens gestellt werden wird, lassen Ab-
schnitte wie >te decet hymnus«, die Einführung und
der Ausdruck des »exaudi usw.« schließen. Das Kyrie
besteht aus zwei Abschnitten. Der erstere in gefaßter
Stimmung gehalten, ruht hauptsächlich auf dem Motive
Andante cöBinotfl^ ^^^^ Seine Spitze, auch in der dem
*/tr H p' p 1* [» [ rT^ p 1 1*-^. Ausdruck gegebenen Richtung
Kr^ti.0 e . lei . . soB bildet das erste »Christe elei-
son!« Nachdem dies geschlossen, greift ein aufgeregterer
Ton Platz. In den Orchesterbässen erhebt sich ein
wühlendes Motiv. Die Bläser gehen über scharf akzen-
tuierte Hülferufe in ein chromatisch abwärts gleitendes
Thema über, das auch für die Singstimmen der Träger
der Gedanken des zweiten Abschnitts wird. Eine schöne
Beruhigungsstelle bildet auch- hier wieder das »Christe
eleison«.
Die erste Nummer des Dies irae geht bis zu den
Worten »Salva me, fons pietatis«. Sie besteht aus einer
Reihe kleinerer Tonbilder, in denen durch selbständige
Motive die vferschiedenen Begriffe der Textzeilen aus-
gemalt werden. Ihnen allen ist ein spannendes und auf-
regendes Element gemeinsam, welches von Bild zu Bild
in einer neuen Verwandlung seine dämonische Kraft er-
probt und steigert. Den höchsten Grad malerischen Aus-
drucks erreicht dabei Kiel an der Stelle »coget omnes«
mit einer aus Webers Freischütz bekannten Akkord-
Modulation. Auch äußerlich sind diese einzelnen Bilder
zusammengehalten, und zwar durch die Wiederkehr eines
fest von den Blechbläsern gegebenen, auf einem einzigen
Ton gebauten Weckrufes. Cherubinis Cmoll- Requiem^
* »
benutzt dasselbe Mittel, um die Fantasie auf die »Po-
saunen des Gerichts« zu lenken. Das logische Ziel aller
dieser Bilder enthält der demütig fragende Satz: »Quid
sum miser usw.«, dessen Musik am Schlüsse der Nummer
auf die zwei Worte : »Salva me« wiederkehrt. Die zweite
Nummer ist das »Recordare«, ein Bittgesang in getra-
genen Tönen, dessen größeren Teil die Solostimmen,
gruppenweise abwechselnd, ausführen. Mit dem Einsetzen
der Chöre zieht in das Tongemälde eine stärkere Erregung
ein. Hier erhebt das Orchester schneidend akzentuierte
Klagerufe; die sanften Melodien der Solisten umspielt es
nur mit Motiven romantischer Unruhe.
Das »Gonfutatis«, die dritte Nummer, zeichnet sich
durch die originelle Auffassung und die einfach packende
Ausführung des Textbildes aus. Kiel läßt diese Szene
der Verwirrung und Verzweiflung von einem allerdings
dunkeln, aber zunächst ziemlich ruhigen Grunde aus-
gehen. Es sind große Wogen, die sich in den Nach-
ahmungen des breiten Cmoll-Motivs anfangs nur streifen.
Alimählich rollen die Harmonien heftiger. Mit dem plötz-
lichen leisen Eintritt |les Edur tritt die Krisis ein. Sie
entfesselt den ganzen Sturm der Seelenangst bis zur
vollen Erschöpfung. In die eingetretene Leere und Stille
wird dann das »Vocame« hineingesungen. Bei der Wieder-
holung der Szene erfährt der bittende Teil eine Ver-
längerung durch das »orosupplex«, die in ihrer Eitifach-
heit und durch die kurz entschlossene Wendung in das
leise Cdur einen sehr schönen Abschluß des Satzes
gibt. Das »Lacrimosa«, die vierte Nummer der Sequenz,
singt der Chor in breiten Melodien. Aus ihrem akkor-
dischen Gefüge klingen noch die Schrecken der vorher-
gegangenen Szene nach. Das Orchester koloriert mit
einem Bachschen Motiv. Kiels Tonbau verschmilzt in
der Regel Neues und Altes, eigene Individualität und
Anregungen großer Vorbilder. So ist im Ofifertorium
»Domine Jesu Christe« das weiche, friedliche Violinen-
motiv, welches das Erscheinen des heiligen Michael be-
gleitet und sehr hübsch schon beim ersten Takte des
—-^ 312 ♦ —
Satzes ankündet, mit der gleichen Cherubinischen Stelle
verwandt. Der Satz ist aber mit eigenen Ideen Ki^*s
reich ausgestattet. Hervorragend sind besonders die
Deklamation des Chores beim Anruf des Herrn und die
kleinen Illustrationen, mit denen das »Löwenmaul«, der
»Tartarus« und das »große Dunkel« skizziert werden. Die
Fuge über »Quam olim Abrahae«, welche den Satz
schließt, ist geistvoll durch den mit neuen Themen
steigernden Aufbau, eigentümlich durcti die Behandlung
des »promisisti«. Kurz vor dem Ende kommt dieses im
fragenden Ton. Das einfach aussehende, doch kunst-
volle »Hostias« verbindet sehr wirkungsvoll das Haupt-
thema des »Quam olim Abrahae« mit einer im ruhigen
Dankgefühl dahingleitenden, großgespannten Melodie,
welche die Stimmen des Soloquartetts nacheinander vor-
tragen.
Das Sanctus ist in einer höchst einfachen Feierlich-
keit gehalten, in deren erhabenen Kreis auch die Worte
»Pleni sunt« hineingezogen werden. Das Osanna (Fuge)
drückt das Gefühl einer fortreißenden Freude mit einem
Thema aus, welches in seinen springenden Intervallen dem
' des Schlußchores im »Christus« ähnlich ist. Die Wirkung
des Benedictus ruht auf wesentlich koloristischen Mit-
teln: dem Ineinandergreifen von Soloquartett und Chor.
Ober Melodien und Motiven liegt ein zarter Glanz, der
aber im Schlußteile, wo das Osanna in einer neuen
musikalischen Variante erscheint, kräftigeren Farben
weicht.
Das Agnus dei erreicht wohl unter allen Sätzen
dieses Requiems die eindringlichste Wirkung. Es ist
ganz kurz und einfach, aber von außerordentlicher
Prägnanz in den Hauptmotiven. Die drei Akkorde, auf
welchen der Chor sein »Agnus dei« wiederholt intoniert,
setzen diesen Anruf in der Empfindung mächtig fest.
Ebenso schön ist auch die Modulation des »dona nobis
usw.« geleitet. Erst mit dem dritten Male kommt das
As dur, und mit ihm kommt Ruhe ins Gemüt. Das
Werk klingt mit dem »quia pius es« fromm und friedlich
343 ^—
aus. Das Orchester streut mit der immer wiederkehrenden
Sechzehntelfigur über die ganze Szene einen geheimnis- '
vollen zum Träumen und Schlummern ladenden Zauber
Einige Jahre vor dem Tode des Komponisten kam
ein zweites Requiem (op. 80, Asdur) von F.Kiel in Um- F. Ki»^
lauf. Will man den Unterschied der beiden Totenmessen Requiem In As;
Kiels kurz feststellen, so hat man der ersten größere
Beweglichkeit der Fantasie, der zweiten aber ein stärkeres
Paulos zuzusprechen. Die zweite ist sparsamer an Ideen,
hält aber Stimmungen und Motive fester und führt sie
in weitem Bogen aus: zuweilen allerdings nur formal.
-Das neue Requiem bevorzugt breitere Bilder und ent-
wickelt in ihrem Aufbau zuweilen eine Energie und
Kühnheit, welche an Beethoven erini\em. Im Introitus
und Kyrie zeichnet sich die Wiedergabe des >Te decet
hymnus« durch den altkirchlichen Ton aus. Er beruht
auf der Verwendung des alten Grabchorals: »Meine Seele
erhebt usw.t, derselben Magnificatweise, welche auch
Mozart und M. Haydn (im Bdur-Requiem] an dieser Stelle
eingeführt haben. Im Eingang der Sequenz zeigt das erste
Bild vom »Dies Irae« weniger Aufregung, als in dem frühe-
ren Requiem Kiels. Aber der Hintergrund ist dunkler und
spielt verdeckt in unheimlichen Farben. Auch der Efnst
der Szene kommt mit schwererem Druck zum Bewußtsein.
Das durchgehende Viertelmotiv der Instrumentalbässe und
die breiten Posaunenstellen bilden die entscheidenden Züge
in dem Bilde. Die ganze Auffassung der Sequenz ist litur-
gischer, die Stellen, wo die Empfindung des Individuums
den Bildern der Fantasie gegenüber zum Worte kommt,
sind mehr in den Vordergrund gerückt, als im ersten
Requiem. Das »Quid sum miserc macht Kiel in dem
neuen Werke zur Spitze eines besonderen Satzes, wie es
Berlioz in anderer Weise tut. Das »Recordare« und das
»Lacrimosa« fließen in beweglicher warmer Melodik
dahin. Derjenige Satz, in welchem die beiden Messen
die Herkunft von demselben Verfasser am deutlichsten
zeigen, ist das Offertorium. Den Vergleichungspunkt
bildet die Cherubinische Achtelfigur, welche dem heiligen
— ^ 34 4 >—
Michael gilt. Einen der schönsten Abschnitte des zweiten
* Requiems bildet die Einleitungspartie (Sostenuto,- 2/4) des
Sanctus, welche an die feierliche Weise der alten Vokal-
periode anklingt.
Die Totenmessen von Kiel spiegeln weder eine be-
stimmte musikalische Individualität wieder, noch eine
' bestimmte Musikperiode. Nur ihr allgen^ein künstlerischer
Wert hat sie vor dem Los bewahrt, welches in der
' Regel Tönwerken beschieden ist, die ihren Verfasser und
ihre Zeit nicht in deutlichsten Zügen künden. Aus dieser
Gruppe der unbeachtet gebliebenen und schnell ver-
gessenen neueren Requiems lohnt es sich eines heraus-
Bi 8ohoh, zuheben. Es ist das von B.Scholz (op. 4 6, DmoU), eine
Requiem Komposition, welche aus der liturgischen Gruppe beson-
(DmoU). ders durch dieKnappheit und Bestimmtheit hervorragt,
welche ihren ersten Sätzen in Ausdruck und Anlage
eigen ist In dem poetisch besonders bedeutenden
Schlußsatze dieser Totenmesse: im Agnus, wirkt am
Ende eitte in D gestimmte Glocke mit.
Unter die Totenmessen von entschiedener Originali-
tät, welche die gegenwärtige Generation hat entstehen
sehen, ist auch das für Männerstimmen und Orgel
( — stellenweise treten auch Trompeten, Posaunen und
Pauten mit in die Begleitung ein -^) geschriebene Re-
F. Liszt, quiem von F. Liszt mit einzureihen. Nur geht es in
Requiem für der beabsichtigten Kargheit und Herbheit des Ausdrucks,
Mäimer- in der Verwendung deklamatorischer Aphorismen, Inter-
^mmen. jektionen und in skizzenhaften Andeutungen etwas weit.
Unter den schönen und eindrucksvollen Abschnitten des
Werkes, welche auch im Stil sich gewöhnter Kunst nähern,
verdient das »Recordare« hervorgehoben zu werden.
Dem Requiem liszts folgte als eine der nächsten Ar-
beiten auf dem Gebiet der Totenmesse das »Deutsche
Requiem« von Joh. Brahms.
Es gibt deutsche Requiems schon von den »Exequieilk
H. Schützens ab, aus dem 4 9. Jahrhundert haben wir eins
von Ferdinand Schubert, dem Bruder des großen Franz
Schubert, weitere von Henkel, Moralt und anderen
V.
Tonsetzern. Während aber diese den Zusammenhang
mit dem liturgischen Text aufrecht erhallten, hat Brahms
eine Trauerfeier in einem ganz eigenen und neuen Stile
gebildet, die in ihren Formen gar keine, in ihrem Wort-
inhalt nur ganz allgemeine Berührungspunkte mit dem
alten Requiem teilt. Das katholische Totenamt ist in sei-
nem Ziele eine Fürbitte für die Ruhe der Entschlafenen.
Das Requiem von Brahms gleicht einer Predigt. Die Worte,
frei Yom Komponisten aus der Schrift gewählt, bilden
eine Reihe feierlicher, gemütreicher und fantasievoller
/Betrachtungen über Diesseits und Jenseits, über Men-
schenlos und himmlisches Leben. Diesem Thema,
mit seinem ans Herz greifenden Gegensatz, hat Brahms
sich auch später wieder zugewandt, im > Schicksalslied«,
>Näniec, dem »Gesang der Parzen«, in den »Vier ernsten
Gesängen«! Es hat schon dem Fünfundzwanzigj ährigen
den charaktervollen, ergreifenden »Begräbnisgesang« ein-
gegeben, es klingt auch aus vielen seiner bedeutendsten
Instrumentalkompositionen heraus, am stärksten aus der
vierten Symphonie bis an die äußersten Grenzen des
Verständlichen. Im Requiem ist es nur in besonders'
breiten Formen und mit dem ganzen Aufgebot der seeli-
schen und künstlerischen Kraft des Tonsetzers behandelt
Hat es ja der trauernde Sohn der heimgegangenen Mutter
geschrieben. Doch dachte Brahms ursprünglich, wie der
erste auf die Rückseite des Manuskripts einer Magellonen-
romanze geschriebene Textentwurf*) beweist, nur an eine
dreisätzige Kantate, die mit »Wie lieblich usw.« schließen
sollte. Die andern Nummern sind nachkomponiert Das
fertige Werk gab seinem Schöpfer von den ersten Auf-
führungen ab (in Zürich und 4868 im Dom zu Bremen)
seine Stellung in der Musikwelt; auch für spätere Zeiten
wird der Name J. Brahms in erster Linie mit dem Deut-
schen Requiem verknüpft bleiben.
Die sieben Abteilungen des Deutschen Requiems
sind sämtlich Chorsätze; nur in drei von ihnen finden
*) Im Besitz des Herrn Dr. Max Kalbeck in Wien.
34 6
J. Brahmi. sich Solopartien eingefügt. , Ihrem Inhalte nach bilden
Ein dentBcheB die Sätze eins bis drei die erste, diejenigen vom vierten
Requiem, bis zum letzten die andere Gruppe des Werkes. Die
erste enthält die Klage, die zweite den Trost.
Der erste Satz: »Selig sind, die da Leid tragen, denn
sie sollen getröstet werden c hat die Bestimmung einer
Art Einleitung, eines Introitus. Seine Worte sollen die
Richtung der ganzen Trauerfeier im Sinne eines Motto
feststellen. Dazu sind [aber die Herzen — das scheint
die Idee der Komposition ^zu sein — wohl bereit, aber
noch nicht fähig. Die Botschaft begegnet noch dem
Zweifel und das Gefühl des Leidens macht gegen den
zuversichtlichen Ausdruck der frohen Kunde sein Recht
alle Augenblicke geltend. An einer Stelle, in der zwei-
mal vorkommenden Des dur- Episode: »Die mit Tränen
säen, werden mit Freuden ernten €, feiert de?r freudige
Glaube einen kurzen gewaltigen Sieg; an den anderen
überwiegen und unterbrechen die Töne des Leids in ein-
dringlichen und eigen geformten Wendungen.
Unter ihnen heben sich zwei besonders heraus: die
absetzende Deklamation der Worte: »Selig sind, die da
Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden«. Die Be-
griffe, »Selig sind«, »Leid tragen«, »getröstet werden«
kommen, alle durch Pausen unterbrochen, stockend und
zögernd, wie aus schwerem Herzen, aus einem Gemüt,
das mit den Tränen kämpft. Und wenn der Satz wirk-
lich einmal hintereinander gesungen wird, da wechseln
die Lichter, die die Akkorde darüber werfen, fast un-
stet. Der Schluß der kleinen Orchestereinleitung gibt
diesen schwer wogenden Seelenzustand in drei Takten
wieder, die beim ersten Hören nicht immer klar werden :
Ziemlich langsam und mit AuBdrnek.
usw.
TTTT
Trrr ff?
Einen Hanpt-
teil an der
musikalischen
Wirkung die-
ses ersten Sat-
zes weist der
Komponist
an
dem Kolorit des Orchesters zu. Wie M^hul, Cherubini,
Hauptmann u. a. das in geeigneten Fällen getan haben,
hat Brahms auf die Geigen verzichtet. Die Bratschen —
wie die Celli häufig geteilt — fähren den Streicherchor;
die hellen Farben fehlen also. Einfach- aber hervor-
tretend ist, die Harfe verwendet.
Der Aufbau des Satzes vollzieht sich fast in der Art.
der da capo-Arie: dreiteilig. Der erste Teil bringt den
Text bis zu den Worten »getröstet werden« in Fdur in
sehr einfachen, aber stark in Gefühl getauchten Wei-
sen. Ein kleiner Seitensatz, von der Oboe eingeleitet:
-Q ^,-— T":. •^ ^®^* ®^^^ hervor und ihm zu-
Zl> ^ J J I # p p ^ I I nächst das in der ganzen
•^' -^^"^ Nummer durch Wiederholun-
gen und breitere Entwicklungen wichtige Motiv, über das
die Ghorstimmen die Worte »getröstet werden« singen: *
Der zweite Teil bringt den ganzen
\ • ■
• Aly J p#"| o IJ" Übrigen Text von »die mit Tränen
•^' ' säen« ab bis zu »und bringen ihre
Garben«. Wie e^ von dem ersten Teil dadurch, daß er
in Desdur steht, sich äußerlich scharf scheidet, so tut er
das auch im Charakter. Von der Ergriffenheit, die dort
Sprache und Ton zu fesseln und zu unterdrücken droht,
ringt er sich durch
zu einer
die in den Abschnit
ten über das Motiv:
sich dem Jubel nähert. Von Tränen gingdie Stimmung aus';
still und schnell geht sie zur Traurigkeit zurück. Noch ein-
mal, diesmal eingeleitet durch die Worte »Sie gehen hin
und weinen«, deren Tonweise, das Material für die Or-
chestereinleitung des Satzes und für Zwischenspiele gibt
vollzieht sich dieser Auf-
ch durch q /j t._ • .Vi- f— i
Erhebung, ^fcHiJ '^P P | L J H iJ
wer.den mit Freu. den ern.ten
kommen mit Freuden, mit Freuden
^^'■^''iriifr^
j 17] "^ Schwung; dann schließt
der Mittelsatz auf »Gar-
ben«. Seine Mxisik zeichnet ein großer Reichtum an
Bildern aus: Auf »Weinen«, auf »Freuden« hat Brahms
sprechende und lang im Herzen nachklingende Figuren
3f8
erfunden. Ein Motiv, das den Teil anfängt und lange
Strecken in erster Linie trägt, ist unmittelbare Gebärden-
musik, ein tö- fl vr^ j-pv I Der dritte Teil der
nendes Bild des Al> \^Z Ct H' H' I Kummer ist Wie-
Schluchzens: «X I T f f '^^' ^ derholung und Va-
riation des ersten. Er setzt in Desdur ein, kommt aber
in wenigen Takten zur Haupttonart herüber. Neu ist in
dieser Wiederholung, daß an einzelnen Stellen die Instru-
mente, die Bläser, den Melodiesatz haben, während die
Singstimmen dazu frei und p . ^ . ^ ■
ausdrucksvoll deklamieren, m^ i 1 1 | pf | J ^ .
die eine nach der andern: ge.tröstet wer.den
Die zweite und dritte Abteilung des Werkes sind, auf
den Text hin angesehen, verschiedene Ausführungen des-
selben Grundgedankens, Sie behandeln auf beschränktem
Räume denselben Gegensatz, welcher die Generalidee des
ganzen Wei^kes bildet: den Gegensatz zwischen hier und
dort. Gemeinsam ist beiden in der Behandlung des Vor-
dersatzes der Ton der Klage. Nur hat die Klage in der
zweiten Abteilung das Wesen einer starren, ins Unver-
meidliche sich fügenden Resignation; in der folgenden
aber einen tief erregten und leidenschaftlichen Charakter.
In der Haltung der Nachsätze ündet das entgegengesetzte
Verhältnis statt: der der zweiten Abteilung ist ein nuancen-
reiches bewegtes Bild, den des dritten Satzes kennzeich-
net eine großartige Gleichmäßigkeit. Diese beiden Abtei-
lungen und namentlich ihre Vordersätze — tief greifende,
düstere Ergüsse eines männlich echten und wahren Welt-
schmerzes — sind diejenigen Partien des Requiems, auf
welchen in erster Linie sein eigentümlicher Wert beruht.
Die zweite Abteilung »Denn alles Fleisch, es ist wie
Gras usw.« (BmoU-Bdur) ist in ihrer musikalischen
Form die eingänglichste des ganzen Requiems. Sie ^at
in der ersten Hälfte (Bmoll) ein Thema, welches trotz
des Dreivierteltaktes eine Art Marschcharakter besitzt:
t«ng««m Von dumpf enBaß-
J _n. I I ^ Signalen eingelei-
^-^i^A, tet, klingt es aus
^^'iMrirQ.|ir.ci.
349
der Ferne heran und ruft das Bild ein^s gemessenen
Schrittes sich nähernden Trauerzuges vor die Fantasie. Es
stammt schon aus den 50er Jahren und war als »langsames
Scherzo« für eine Symphonie bestimmt, die ßrahms durch
Schumanns Geschick erschüttert entwarf. Der harte, resig-
nierte Ton dieses Themas ^ , ^-^, ••x^
geht mit dem bewegte- fem ^jj|7* \^J '^ fTl
ren Motiv des Nachspiels ^ ^> ^=-
in einen weicheren, mild wehmütigen über. So spie-
gelt sich im ersien Thema der romantische Grundzug
des ganzen Satzes. Die Melodie des Chores, dem Or-
chestersatz aufgeschrieben, klingt doch wie eigens für
die Worte erfunden: mächtig ernst und altertümlich:
'^ , Langsam. Daß sie vou dem
Denn aLles Fleisch es ist ein Gras und al.le
^
r rir'TirJ
Stimmen vorge-
tragen wird, hebt
noch ihren Cha-
Herrlichkeit des Menschen wie desGrases Blume, fakter. Lieblich
klingt _die kleine Episode: .>Das Gras ist verdorret« da-
gegen. Der von dem Marschthema getragene Satz wird
in mehrfachen Wendungen wiederholt und über gewaltige
Crescendi zur vollen Größe von Klang und Inhalt auf-
gerollt. Die Mitte der langen Entwicklung nimmt der
zarte, wie von oben herab sanft zusprechende Chorsatz
(Gesdur): >So seid nun geduldig usw.« ein, dessen
Schlußhälfte wunderbar hübsche und einfache Anspie-
lungen auf den »Regen« enthält. Der Achtelrhythmus
der Harfe und Flöte und das pizzicato der Violinen führt
sie aus. Der Chor lauscht in ruhigen, wohligen Harmo-
nien. Das Hom ruft mit leisen ernsten Tönen aus dieser
Idylle hinweg und nun repetiert der Marschsatz. Den
Übergang zum zweiten Hauptabschnitt des Satzes hat
Brahms sehr gewichtig hingestellt. Das >Aber«, wel-
ches diesen kurzen Übergangssatz einleitet ist mit der
Entschiedenheit betont, mit welcher Seb. Bach die
Bindewörter auszuzeichnen pflegt. Den. wichtigsten
Tr$lger des zweiten Hauptabschnittes bildet das Thema:
3S0
Allegto no» t^oppo.
fpxjiif r n^^ Schluß
lö. seLten des Herrn werden wiedaikonimen NaCQSJ
andgen Zi.un, und genZi.on kommen mi
m
mit Jauchzen.
Seinen Ab-
und
Nachsatz bil-
det eine frei
konstruierte
Periode über
die Worte: »Freude, ewige Freude wird über ihrem Haupte
sein«. Sie holt mächtig aus und trägt das Hauptwort von
Akkord zu Akkord, in der Melodie, die der Tenor führt:
.g ijr.p ^ .r r .r kühn ansteigend. Als
y"r J r |T p i 1 1 p l ll p M die spitze erreicht ist,
e.wLge Freude, e.wLgeFreudfr tun Modulation Und
Dynamik einen kühnen Ruck, wie das Beethoven zuweilen
liebt. Aus dem höchsten Jauchzen geht der Ton in den
ruhigen und zarten Ausdruck innerer, stiller Seligkeit über:
^m
«
i'iip I \i^'i
¥
M
W
t[
Die Stelle prägt sich unauslöschlich ein, sie bleibt für je-
den mit dem Begriffe Brahmsscher Musik untrennbar ver-
bunden. Der Mittelsatz, welcher auf die Worte »FrjBude
und Wonne werden sie ergreifen« ein neues Thema
tJ/-^ , 0 iliF", n-r, ..11 ;gf-Ttnr- das wir gleich beim
y 1 r r I ' rfj't jljj^ 1^111 Eintritt doppelt hö-
Preudeund Wonne werden sie er i grei . fc ren (einfach im So-
pran, in der Verlängerung im Tenor) frei durchführt, ist
an glücklichen, romantischen Kontrasten, welche dem
eben geschilderten ähnhch sind, reich. Der Komponist
hat sich in ihm dem Ausdruck der einzelnen Worte zu-
gewandt: die Freude, der Schmerz, das Seufzen bilden
eine lebendig bewegte Gruppe selbständiger musikalischer
Figuren. Mit Naturtreue ist die Vertreibung der trüben
Elemente geschildert; das »weg« und das »müssen« in
dem Sätzchen »und Schmerz und Seufzen wird weg
müssen« ist mit mimischer Entschiedenheit und Deut-
lichkeit wiedergegeben. Bei der Repetition des Haupt-
satzes »Die Erlöseten usw.« nimmt der Ausdruck der
PP
V
J
Freude für Augenblicke einen förmlich trotzigen Aus-
druck an. Die Stimmen setzen nicht in breiten Ab-
ständen, sondern in kürzesten Engführungen ein, ein
kompakt vierstimmiger Satz ist an die Stelle der Fuge
getreten und zeichnet ein Bild des Jauchzens, in dem
Sopran und Baß in grimmigen Dissonanzen frohlocken
und die Stimmung bis zur äußersten Grenze des Er-
laubten treiben. Nachdem dieser Teil mit einer gewalti-
gen Steigerun j^ und in jener kontrastierenden Wendung
der Ekstase geschlossen, welcher wir bereits gedachten,
kommt noch ein Anhang. Seine träumerisch beschwich-
tigende Natur, sein Einlenken in ein letztes volles Be-
kenntnis glücklichen Hoffens sind von hinreißender
Schönheit Technisch ruht er vorzugsweise auf dem
Fugenthema, das aber die Instrumente allein durch-
führen, die Singstimmen deklamieren frei und aus-
drucksvoll dazu. Die Anlage ist also ähnlich wie am
Ende des ersten Satzes. Ganz am Schluß steigen in
den Violinen Tonleitern hinauf und hinab, so wie in
Beethovens »Missa solemnis« (im Credo] den Weg zum .
Himmel zeigend.
Die dritte Abteilung »Herr^ lehre mich doch usw.«
(DmoU — Ddur) steht zu dem vorausgehenden zweiten
Satze in dem logischen Verhältnis der Steigerung. Es
ist, als ob hier die Glieder einer Gemeinde einen in der
Predigt allgemein hingestellten Spruch auf das eigene
Los anwendeten. Der Satz von der Vergänglichkeit des
Menschen gilt auch Dir. Auch mit Dir hat es ein Ende!
Und da wird das Herz von Angst ergriffen. Es liegt eine .
starke Beklommenheit der Seele in dem Gesang, mit wel^
chem der Solobariton den ersten Hauptabschnitt (DmoU)
dieses dritten Satzes eröffnet. Der Rhythmus hat in sei-
ner Verteilung der Akzente etwas unsicheres, die Melo-
die in ihrem absetzenden Aufbau, in ihrem jähen Wechsel
Von Auf- und Abgehen ein unstetes Element. Und wenn
der Chor die Worte des Vorsängers aufnimmt, so gibt er
die Töne der Niedergeschlagenheit bloß noch schwerer
wieder. Besonders aufregend spricht der Zug der
ir, I. 91
3ÜS
Seelenangsfaus dem Mittelsätzchen (Bdur) »Siehe, meine
Tage usw.«. An seinem Schlüsse kommt eine erschütternde
Stelle vor: da, wo das Tutti, schrittweise zu einem
elementaren Aufschrei (Sopran a) gedrängt, plötzlich
in die Tiefe sinkend leise Andante.
abbricht. Das Orchester j^L -l K^fff r^^n^lti^TT^] i
.bringt in dieser Partie die ^.^ ^ 1/^ l_ 1 1 Tlf^ J I
Erregung mit dem Motive: ^ :zzi=i=«—
zum eigenen Ausdrucke. Noch oft zucM dieses echt
Brahmssche Signal der Leidenschaft im Satze schmerz-
lich auf. Der zweite Abschnitt: »Ach, wie gar nichts
sind alle Menschen usw.« (Ddur, ^/fij lenkt aus der Angst
ums eigene Ich wieder zurück in den tröstenden Kreis
der allgemeinen Betrachtung. Nun fließt die Klage breit
dahin: wehmütig ernst und ergreifend. Mit dem Ein-
tritt der Frage: »Nun, Herr, wes soll ich mich trösten«
tritt derSo-
lobariton
, mich trösten? ab und der
Chor führt den Satz allein bis zum Ende weiter. Mit
diesem weit ausholenden Thema kommt in die Stimmen
wieder ein aufgeregter Geist, eine unheimliche Energie,
die am Ende sich dem Tone der ratlosen Verzweiflung
noch einmal nähert. Die Stimmen rufen es mit aller
Gewalt hinaus. Dann scheinen sie zu lauschen, und
als keine Antwort kommt, fragen sie noch einmal
kleinlaut und leise »Wes soll ich mich trösten?« Im
Orchester zittert der ungelöste Akkord noch lange fort.
Dann setzt der entscheidende und erlösende Gedanke
»Ich harre auf dich« wie eine plötzliche Eingebung in
Form einer Kadenz ein. Die Stimmung schwingt sich
auf und ergreift von den Verheißungen des Glaubens
einen festen Besitz. Eine Fuge über das Thema:
54-'-M*jjii ^*f |i |iirT|iii| fr I
Nun Herr«nttnHeriv. wes soll ich mich trösten, mich tröstei
^^^^m
n OottesHandund keineQual rQh . ret sie ml
DerO-ereohtenSeelen sind in
bildet diesen dritten Hauptabschnitt, den Schluß des Satzes.
In der Literatur der kontrapunktischen Spezialitäten hat
323
diese Fuge bereits eine Berühmtheit erlangt. So lange
sie dauert (86 Doppeltakte) tont in den Bässen derselbe
Ton: das tiefe D als sogenannter Orgelpunkt. Seiner
Zeit viel bestritten, belobt und kommentiert, hat- dieser
Orgelpunkt im Laufe der Zeit das Schicksal anderer
außerordentlicher Einfälle erfahren: Niemand kann sich
das Requiem mehr ohne dieses eigentümUche Tonsymbol
der Ruhe und Stetigkeit des göttlichen Thrones denken.
Nur soll der Pauker bei der Ausführung daran denken,
daß hinter dem f ein p steht!
Mit dem vierten Satze: »Wie lieblich sind deine
Wohnungenc (Esdur) ist die eine Seite der Trauerfeier
erledigt: Klage und Schmerz sind bezwungen und die
Fantasie wendet sich nun dem Gewinn zu, welchen der
Tod den Menschen bringt. Der Satz bildet den Obergang
nach dieser Seite. Er spricht in zarten Tonbildern, die
auf dem Thema:
Wie lieblich suid deine Wohnangen,Herr Ze , . ba.oth,HerrZe.t>a.oth.
und seinen reichen und schönen Umbildungen ruhen,
von dem lieblichen Leben beim Herrn Zebaoth. In den
mittleren Teilen, bei den -^ noch mehr
Worten' »Meine Seele y%\ p YfY^ f I ' f bei dem
verlanget und sehnet« verlanget and seimet zweiten Sei-
tensatz
»Die lo-
ben dich
immer-
dar«
die lo
■^^^'''/';Wy'iL"t^
ben dich im.mer. dar
die io . ben dich im.mer.
Er
wird der
Ton ein
begeister-
ter. Auch
hier finden
wir jene eigentümlichen Züge der Darstellung wieder,
wie in dem Schlußteile des zweiten Satzes: Der höchste
Enthusiasmus geht in den Ton einer seligen Ruhe über.
Der fünfte Satz: »Ihr habt nun Traurigkeit« (lang-
sam, C* Gdur) verbindet mit dem Chor ein Sopransolo.
Dieses Solo ist gedacht wie die Stimme einer abgeschie-
denen Seele und spricht in himmlischen Klängen vom
21*
—^ 3«4 ♦—
Wiedersehen and f on Freuden, welche niemand nimmtr
Brahms hat mit dieser Nummer auf eine alte deutsche
Begräbnissitte Bezug genommen: den sogenannten > Wie-
derruf«.- War der Sarg hinabgesenkt, so trat ein Chor-
knabe an den Rand der Gruft und sang einen Vers oder
mehrere im Namen und im Sinne des Verstorbenen. Jedes
ältere Gesangbuch enthielt hierzu geeignete Gedichte; auch
von Simon Dach besitzen wir welche. Ein ungemein herz-
licher Ton lebt in der Melodik dieser fünften Nummer,
namentlich in dem Mittelsatze »Sehet mich an«. Das ist
der Ton »wie Einen seine Mutter tröstet«, von dem der
Chor im leisen Flüstern spricht. Dabei ist die Dekla-
mation an bedeutenden Einzelzügen reich. Wir machen
nur auf die Betonung des »Aber« und auf die Tonfiguren
aufioierksam, in welchem der Begriff »Traurigkeit« wieder-
gegeben ist. Der Hauptsatz an /> i^_ ^— . i
hat Stellen von sehr kunst- A^H|» IT I. T T If f^
voller Arbeit. Der Chor singt: ^ ich will Eiush tröi.ien
das Orchester begleitet ^ ^ ^^ #"rT^j> und doch
mit denselben Noten nur ffc* rrflirff*"* i«^, di«
in verkürzten Weisen: ^ U* ^ " ' " rf J Wirkung
eine sehr einfache.
Der sechste Satz: »Denn wir haben hier usw.« (An-
dante, C) Cmoll) ist der Anlage nach der bedeutendste. Er
beginnt mit einem kurzen Sätzchen in Dreiklängen, wel-
ches zwischen Dur und Moll umherirrend, den Begriff des
»Suchens« zu veranschaulichen scheint! Es ist, als ob
der Chor trotz allem wieder in den Ton der Klage zurück-
fallen wollte, welcher den ersten Sätzen des Requiems eigen
ist. Da mischt sich — die Tonart springt schnell nach
FismoU ^ der Solobariton drein: »Siehe, ich sage Euch
ein Geheimnis«. In Weisen, deren mystischer Charak-
ter namentlich a * « hm gu . rr-> • . . . . r—
durch die FJgu- ^VTf'r if^fl J U J^J J IJJ 1 ^
ren der Bläser ^ ^^ = ==— '»^-CLl ^^^ ^i>t>
Nachdruck erhält, verkündet er das Wunder der Auf-
erstehung. Der Chor spricht die Worte zunächst nur
mechanisch, wie träumend, nach. Erst, als der Solist
-^ 325 ^—
genau »die Zeit der letzten Posaune« nennt, 'wird der
Ton mit einemmal ein lebendiger. Dieses Wort hat
eingeschlagen und jetzt kommt der Abschnitt, in welchem
das Deutsche Requiem der alten katholischen Totenmesse
' auf einen Augenblick näher tritt. Die Szene könnte im
Anfang einen Abschnitt des Dies irae bilden. Mit einer
Kraft, welche zuweilen die Wildheit streift, versenkt
sich der Chor in das Bild des errungenen Sieges über
Tod und Grab. .Der Rhythmus ist in 3/4-Takt über-, die
Tonart nach CmoU zurückgegangen. Geschlossen und
fest wie ein Heer, das zum Sturm anrückt, singt der Chor:
Denn es wird die Vo . ■aun er . schal ten.
Vivace.
^^^
Den inneren Schwung, der in diesem Hymnus lebt,
sprechen in Eccardschen Zungen die Mittelstimmen
aus; noch gewaltiger, fast erschreckend strömt die
Kraft, die dieser Glaube gibt, aus den Unisonoüguren,
in denen sämtliche Streichinstrumente begleiten. Trotzig
und kühn herausfordernd klingen die Fragen: »Wo ist
dein Stachel usw.?« Schließlich, fallen die Posaunen
mit ein in die donnernden Anreden an Tod und Hölle.
In Rhythmen, die wie Stein und Erz in die Herzen
schlagen, geht der Satz majestätisch über nach Cdur
und in die das Ganze krönende Fuge über das Thema:
Allegro.
^ Herr, da bist - wür.diff, su nehmen Preis und Eh . re andKra
Herr, du bist -wür.dig, su nehmen Preis und Eh . re and Kraft
Wundert man sich schon, daß nach einem so kolossa-
len Anlauf noch eine Steigerung möglich war, so gibt
uns der Aufbau dieser Fuge in seinen Steigerungen,
in der Menge von frischem anregender Kontra-
punkte immer neuen Anlaß zur Bewunderung. Das
Schönste in ihr sind aber doch die einfachen Episo*
den fromm getragenen Charakters bei den Worten:
i'
326
»Denn Au hast alle Dinge erschaffen usw.« Die erste:
Allegro. -^ j^^ j , ^Ö"^°^^ »»<^
f
Denn du hast
W
^P f Durchführung
des Fugenthe-
le Dinge er.8diaffen ^^ ^^^ ^^j.
schwindet sofort wieder. Der zweiten und dritten:
fl ^ . ^'"■fn/^. , p. ■ ■ ^ . gehen gewaltige
^" 1° ° |l [' \^A \IV i^f^l^^^^^ Anläufe vorher,
'ungen sei- q . i , i w*® ™" a armen
Schluß- ^ J I J It J ^J f I pi|J und Zinnen ge-
ivs: ^ Ä"' nehmen Preis und fehire krönt ZU schwin-
' Denn du hast al.-.le ^ Din. ge er. schaffen bei denen die
Bildungen über das Hauptthema durch besondere Durch-
führungen sei- _Ä _j ^ wie mit Türmen
nesv
motivs
delnden, in die Wolken reichenden — durch Trug-
schlüsse im ff markierten — Höhen geführt werden.
Nach diesem Lokgesang stehen wir am Ende der
Trauerfeier. Der letzte Satz des Requiems (feierlich,
C) Fdur) zieht die Konsequenz der vorausgehenden mit
den Worten »Selig sind die Toten« und an der Seligkeit
der Toten können »die da Leid tragen«, diejenigen also,
von denen der erste Satz des Requiems ausging, ihren
Trost, ihre eigene Seligkeit finden. Das Requiem
schließt auch in der Musik in der Zirkelform eines ma-
thematischen Beweises. Als in unserer siebenten Num-
mer der Hauptsatz eben wieder aufgenommen worden
ist, hören wir die Worte: »Selig sind die Toten« auf
die Melodien, zu denen im Anfang des ganzen Werkes
gesungen wurde: »Selig sind, die da Leid tragen«
und so schließen sich Ende und Anfang zusammen.
Die Anlage Feierlich.
dieses Schluß- it^/^\f%T^^ i I _ a i I _ i
Satzes ist wieder OP^" " ^ f T '.^ T f ' f T '^ T
drpitpiliff Dpr ^® - • v^. sind die To . ten,die indem
dreiteilig. Der
S :«"eiS; Pill r"rn-?f r | , r^fe^
breiten Melodie, Herren ster . . ben von nun an. von nun aa
die den Sopranen von den Bässen nachgesungen wir^.
327 ♦ —
Sie ist in Ruhe und Glaubenszuversicht breitgestimmt
Doch erzählen uns die Triolen
von einiger Erregung, noch mehr ffi|l> Vri IJJJJIlJ^
die altertümlichen Sammelmotive, ^ ^iJJj-V'LJ'
— _, ,
mit denen die Geigen begleiten: «^
Als alle vier Stimmen dann die Worte weiteren Be-
trachtungen unterziehen, brechen versteckter Schmerz
und Klage in den Akzenten um die Worte »Die Toten,
die Toten« offen hervor. * Aber wunderschön führt der
Komponist in den Ton der Ruhe, der Ergebung und des
Gottesfriedens bei »von nun an« zurück. Es sind lauter
kurze und doch volle Wendungen. Alles ist da be-
achtenswert und tief gemeint, auch die ' kleinen drei-
taktigen Nachspiele des Orchesters; noch mehr aber die
mystischen Akkorde, mit denen die Posaunen bei den
Worten »Ja, der Geist spricht« einsetzen, eine Stelle, die
den EmpfängHchen durchs Leben begleitet! Sie kehrt
im Mittelsatze unserer Nummer nocl^ einmal zurück.
Der Zweck dieses Mittelsatzes ist, sich in die Worte
»daß sie ruhen« au vertiefen. Die Musik eilt mit dem
schnellen Schritt, über den Brahms in geeigneten
Fällen verfügt, von den Gräbern hinweg. Wir sind mit
einemmale in Adur und in ähnlichen Regionen wie
die, in denen sich der vierte und fünfte Satz des
Requiems bewegen. Wir sehen die Toten im Himmel
bei balsamisch weichen und verklärten Melodien, die
im wesentlichen aus folgendem Thema genommen sind:
flA.i^^rfi> "^.m^^ i .T^ ^=^ ^ ^®^ Streichin-
fe » rirrrrirf f J IJ J ^Ti^ J strumenten deuten
dsQ— sie ru.hen von ihrer Ar . beit durchgeführte Ach-
teltriolen auf ein freieres und leichteres Dasein. Auch
dieser Mittelsatz ist knapp gehalten: Drei oder viermal
fahrt er den Text vorüber, dann kehrt ohne alle Weit-
schweifigkeit der Hauptsatz wieder, der dritte Teil der
Nummer ist da. Er verläuft ziemlich wörtlich wie der i
erste bis au die Stelle, wo dort die Posaunen und die ]
Worte: »Ja, der Geist spricht« einsetzen. Statt ihrer
nimmt der Chor die Worte: »Selig sind die Toten« in
'•».{•«tÄ..
.--^ 3«8 "»>—
einem befremdend erregten Ton auf: Triolen und pldtz-
lieber Obergang nach Esdur. Ist es ein letztes Auf-
wallen des Schmerzes? Aber mit einem Machtwort
wird diese Erregung beschwichtigt Die Musik des
ersten Satzes setzt ein und bringt das Gemüt zur Ruhe.
Q. Verdi, Im Jahre j874, am ersten- Jahrestage des Todes von
Reqaiem. A. Manzoni wurde im Dom zu Mailand für den großen
Dichter die offizielle Totenfeier gehalten. Mit der Kom-
position des Requiem war von Seiten der Stadt Italiens
größter Musiker: G. Verdi beauftragt. In Deutschland
wird zurzeit nicht nach neuer italienischer Kirchenmusik
gefragt. Wenn man in diesem Falle eine Ausnahme
machte, so war sie hauptsächlich dadurch begründet, daß
die unlängst bekannt gewordene Aida Verdi auf einer
neuen und einer höheren geistigen Stufe gezeigt hatte.
Das Requiem kam in Deutschland schnell in Umlauf
und erfahr die verschiedensten Beurteilungen. Mittler-
weile hat scheinbar das Geschick zugunsten der Wider-
sacher dieses Requiems entschieden: Wir hören nur noch
selten von ihm und sehen es nur ausnahmsweise auf den
Programmen unserer Chorvereine. Die ungeheuren Kosten
des Aufführungsrechts sind daran zum Teil schuld. Denn
an und für sich verdient das Werk sehr wohl gekannt
zu werden. Es ist eine leichtgefügte, durchsichtige Kom-
position, welche den Charakter der italienischen Kunst
fast nur von seiner vorteilhaften und beneidenswerten
Seite veranschaulicht. Die Überlegenheit, welche die
Italiener in der Kraft, Schönheit und Bestimmtheit des
melodischen Ausdrucks vor anderen McTsiknationen vor-
aus haben, ihre große Begabung in der Wirkung mit ein-
fachen Formen spricht aus diesem Requiem mit neuer
Deutlichkeit und ohne daß wir durch trivialen Miß-
brauch dieser Gaben gestört werden. Ein milder, wenn
auch nicht im deutschen Sinne immer kirchlicher,
jedenfalls aber durchaus frommer und ernster Geist be-
herrscht das Werk. Dabei ist es entschieden modern:
ohne Effektsucht, aber mit schöner poetischer Wirkung
sind in seiner Architektur und seiner Instrumentierung
—-fr 329 ^>—
musikalische Ausdrucksmittel verwendet, welche erst die
neue Zeit, R. Wagner folgend, systematisch zu gebrauchen
begonnen hat.
Unter denjenigen Abschnitten dieser Totenmesse,
welche von der in Deutschland herrschenden Auffassung
am ersichtlichsten abweichen, zeichnet sich der erste
Satz am meisten aus. Der Ton, in welchem hier vom
Tode gesungen wird, entspricht ganz dem liebenswürdigen
kindlich gläubigen Zug, welcher dem italienischen Volke
eigen ist. Von jeher finden wir in dem italienischen
Musikdrama die Sterbeszenen in einer rührenden Mischung
von Wehmut und verklärter Freundlichkeit gehalten.
Man denke an den Schluß von Monteverdis berühmtem
Combattimento , man denke an Verdi selbst, an den
letzten Gesang seiner Azuzena, an den fünften Akt der
Aida. Aber auch Palestrina und die Fürsten der alt-
italienischen Kirchenmusik singen in diesem Ton vom
Himmel und vom ewigen Leben, grundverschieden von
Lasso und von deutschen Zeitgenossen. So ist auch
dieser Introitus des Requiems behandelt: ein freundlich
elegisches Bild des Todes, wie wir es an dieser Stelle in
der deutschen Literatur nicht gewohnt sind. Jomelli
bietet das nächste geschichtliche Seitenstück. Wie wun-
derbar schön teilen sich hier die Klage und ein zartes
Himmelsschwärmen in die Aufgabe und reichen einander
die Hand. Erst kommt in den einsetzenden Motiven der
Bässe, in dem resignierten Hinsprechen der Singstimmen,
in der Melodie der Oboe der Schmerz zu maßvollem Aus-
drucke. Dann löst ihn mit den Durtönen des >et lux usw.«
der Trost sanft ab. Im >Te decet« scheinen die Rollen ge-
tauscht zu sein. Beim >in Jerusalem« biegt der Lobgesang
traurig zjir Seite. Die Stimmung des Kyrie ist hoffnungs-
voll bewegt. Von einem kirchlich gesetzten Eingang wen-
det sich seine Weise bald leichteren Formen zu und ge-
langt zu einer größeren Erregung, in welcher auf einen
Augenbhck (die DmoU-Stelle) auch das leidenschaftliche
Gebiet gestreift wird. In rasch wechselnden Lichtem,
wie ein Traumbild, verklingt der merkwürdig schöne Satz
— '^ 330 ^ —
In -der Sequenz von Verdis Totenmesse sind aller-
dings das >Qaid sum miser«, das »Rex tremendae«, das
>Recordare<, das »Ingemiscoc, das >Confutatis€ als kurze,
selbständige Nummern bezeichnet und behandelt Doch
sind sie als zusammenhängendes Ganzes gedacht. Bald in
erschrecktem, bald in klagendem und zagendem Ton läßt
Verdi zwischen alle einzelnen Bilder des Textes wieder
den Ausruf: >Dies iraef hineinklingen und am Schlüsse
des >Gonfutatis< wiederholt er den Anfangs- und Hauptsatz
der Sequenz. Das »Lacrimosa« wird somit ähnlich wie in
Cherubinis Cmoll-Requiem der Anhang des Satzes, seine
ideelle Spitze. Der erste Gedanke an den Tag des Gerichts
hat in der Musik einen Sturm von Aufregung veranlaßt,
welcher heulende, stechende, zuckende imd harte Motive
zutage fördert. Bald aber gewinnt die klagende Empfin-
dung die Oberhand und beherrscht mit dem kurzen Thema
AlK&riUio. welches schon im Introitus ange-
jj?V^ f ü J J |ü J ^ t klungen hat, den Abschnitt. Das
gji,- ."• "T,j^-J » _/ d ^rp^jjj^ mirum« gibt die Bläserchöre
des Berliozschen Requiems in einer vereinfachten Nach-
bildung wieder. Das »Mors stupebit« ruht auf einem kur-
zen Motiv der Instrumentalbässe von bedeutender male-
rischer Kraft. Im »Liber scriptus« lebt wieder die Erregung
auf, mit der die Sequenz begann. Zum Teil in verlängerten
Rhythmen, wie aus der Ferne drohende Gestalten, ziehen
die charakteristischen Motive des ersten Abschnittes des
Dies irae durch das dunkle Gewebe des Satzes hindurch.
Dynamik und Modulation wirken mit schauerlichen Kon-
trasten. Am Ende kommt die Fantasie wieder bei dem
oben aufgeführten Klagemotiv an und leitet mit ihm in
den schönen Bittgesang über, welchen das Soloquartett
in »Quid sum miser« ausführt. Seine einfachen Weisen
sprechen fromme Ergebung und leise Hoffnung aus.
Gegen den Schluß hin erklingen Seufzer und die aller-
letzte Periode drückt die verzagende Stimmung in ganz an-
gestützten Solls der Sänger aus. Im »Rex tremendae« hat
Verdi die beiden treffend gezeichneten Tonbüder von der
Majestät des ewigen Richters und der gnadenbedürftigen
— ♦ 334 ^>—
Menschheit ganz nahe aneinandergestellt und in enge Rei-
bung gebracht. Nachdem das erstere gegen den Schluß
hin im höchsten Glänze erstrahlt (Cdur-Kadenz), entfaltet
auch das bittende Motiv »Salva me< in verlängerten
Rhythmen die ganze Fülle seiner Demut und Innigkeit.
Das »Recordare« und das »Ingemisco« sind diejenigen
Abschnitte, in welchen mehr als sonst der religiöse
Ausdruck dieses Requiems sich den Formen der Oper
zuneigt. Jenes, ein Frauenduett mit ganz spezifisch
italienischen Melodienschlüssen und einem unwider-
stehlich lieblichen Charakter, erinnert an Pergolesi,
dieses, ein Tenorsolo mit orientalischen Harmoniewen-
dungen, an Verdis eigene Aida. Das »Confutatis« (Baß-
solo) steht in der Erfindung hinter allen andern Sätzen.
Seine lebendigsten Züge befinden sich am Eingang;
hervorragend ist der Ausdruck des Entsetzens in den
herunterrauschenden Instrumenten. Um eine gewisse
Verwirrung auszudrücken, begleitet darauf der Kompo-
nist das Gebet des Sängers »Oro supplex« in Quinten-
parallelen. Das »Lacrimosa«, welchem die Schreckens-
bilder des Gerichts noch einmal kurz vorangehen, wendet
sich gegen diese als mit dem besten Mittel, mit dem
schlichtesten volkstümlichen Vortrag frommen Gebets.
In dieser Weise sehr schön gedacht, kann der Satz doch
den Eindruck vollständiger Banalität hinterlassen, wenn
seiner Wiedergabe nicht ein sehr hohes Maß von Aus-
druck zu Hülfe kommt. Das Offertorium »Domine Jesu
Christe« will die Gedanken an Gericht und Fegefeuer mit
Klängen paradiesischer Musik verscheuchen. Sein Haupt-
satz ist ein friedlich ruhiges Spiel mit zart schwärmeri-
schen Tonideen. Der Mittelsatz »Quam olim Abrahae«
bringt ausnahmsweise keine Fuge. Eine solche und noch
dazu eine mit doppeltem Thema bildet erst das Sanctus.
Die Begeisterung, welche der Komponist Qiit diesem Satze
schildern wollte, muß der Hörer hauptsächlich aus Tempo
und Rhythmus entnehmen. Der Entwicklung fehlt der
Schwung. Das Agnus dei beginnt mit einer breiten
Melodie des Solosoprans, welche der Alt in der Oktave
— <^ 332 ♦—
mitsingt. Diese eigentümliche Stimmführung erhebt die
an und für sich einfache und beschauliche Melodie in
eine höhere romantische Sphäre. Der Satz besteht in
der Hauptsache nur aus neuen Klangbildern über das
Eingangsthema. Die Post - communio »Lux aeterna«
schillert in fremdartigem Lichte. Mit Quintsextakkord
und schattenartig wandelnden Harmonien einsetzend,
scheint die Musik Stimmung und Fantasie von jedem
gewohnten irdischen Grund hinweg führen zu wollen.
. Sie schließt in verklärten Klängen. Der eigentümlichste
Satz des Requiems ist das Responsorium »Libera me«
durch die große Ausdehnung, welche ihm der Komponist
gegeben hat. Bedeutend ist in ihm der Eindruck der
psalmodierenden Stellen, bedeutend auch der Eindruck
der Reminiszenzen aus dem Introitus und dem Dies
irae. Auch das Thema zu seiner langen Fu^e ist der
Sequenz entnommen.
Das nächste Requiem, welches nach dem von Verdi
Beachtung verdient und gefunden hat, ist das von Felix
Fl OraeMk«! Draeseke (op. 22). In Intention und Arbeit durchweg
interessant, hat dieses Werk in einigen Sätzen auch in
bezng auf Erfindung und Wirkung die Bedeutung einer
Originalleistung höheren Ranges. Der hervorragendste
in dieser Gruppe ist das Dies irae, ein Tongemälde,
welches ebenso sehr durch die Größe und Frische von
Fantasie und Empfindung fesselt, als es durch die Kühn-
heit und Sicherheit der Ausführung imponiert. In der
Behandlung einzelner Textstellen speziell, in der Breite
des Pinsels und dem Oberschwang des Ausdrucks im all-
gemeinen zeigt sich dieser Satz mit Berlioz und Beethoven
verwandt. Als eine besonders gelungene Idee wird man
die Trompetenstelle des »Tuba mirum« hervorzuheben
haben. In bezug auf glückliche Ausbeutung formeller
Kunst nimmt das »Domine Jesu Christe« den ersten Platz
ein: Es ist eine Choralbearbeitung. Zu den erst figurier-
ten, dann fugierten Sätzen, welche der Chor mit immer
höherem Ton durchführt, spielt das Orchester den alten
. Grab- und Sterbechoral: »Jesus, meine Zuversicht«. Die
— <♦ 333 ^ —
populärste Wirkung übt das Sanctus aus, namentlich
das »Benedictus« in ihm: Es ist darin ein Wohlklang
eigner Art: Schlüsse in den höchsten Regionen von
Menschen- und Orchesterstimmen und eine viel auf ver-
minderte Septimenakkorde gestützte,, weiche Stimmung.
Im Übrigen ist das Werk von allen Konzessionen frei.
Das Element einer schönen Sinnlichkeit tritt in ihm
hinter den hochemsten und schwermütigen Grundton
der Komposition zurück. Am deutlichsten zeigt den
letzteren das Agnus dei in seinem Hauptteile. Erst am
Ende löst sieh seine bange Stimmung in ein kurzes,
hoffendes Grebet Die Musik, bis dahin akkordisch, wird
jetzt Melodie mit rührenden^ kindlichen Ziagen. Das letzte
Wort behält aber doch die l^angende Ehrfurcht: Akkorde
ohne Terz.
Auch Draeseke rückt von Berlioz und der nament-
lich durch die Franzosen üblich gewordenen Betonung
der dramatischen Elemente der Totenmesse ab. Noch
deutlicher spürt man straffere Kirchenzügel in den Kom-
positionen des Requiems von Th. Gouvy und J.Rhein- Th. Goavy.
berger. Das von Gouvy (mit Orchester) trifft nament-J. Bkei&berger.
lieh im Introitus den würdigen Stil der alten Totenmesse
sehr gut. Rheinberger hat das Requiem zweimal in Musik
gesetzt Die erste Komposition »dem Gedächtnis der im
deutschen Kriege von 4 870 — 74 gefallenen Helden gewid-
met« (op. 60) ist der bis dahin entschiedenste praktische
Protest gegen die moderne Richtung der Totenmessen,
wie sie in Berlioz gipfelt. Rheinberger nimmt den Ton
und den Stil des alten a capella-»Requiems< wieder auf,
hält Stimmung und Fantasie in den kirchlich gezogenen
Grenzen, will mit freundlichen, weichen Klängen nur die
Andacht tragen, den Schmerz lindern und trösten, und
weicht allem aus, was die trauernde Seele erregen muß.
Zu diesem Zweck hat Rheinberger seine Mittel mit großer
Folgerichtigkeit gewählt, ihm zu Liebe nicht bloß auf die
Instrumente verzichtet, sondern auch auf den Teil der
Dichtung, der seit dem 48. Jahrhundert von den Kom-
ponisten in der Totenmesse bevorzugt worden ist: die
— ^ 334
Sequenz Dies irae. Das zweite Requiem des Kompo-
ponisten (op. 84) hat mit dem ersten die Besetzung für
a capella-Chor (vierstimmig), den liturgischen Geist, den
Verzicht auf die Sequenz und die Knappheit gemein, ist
aber im Stimmungsausdruck beweglicher, reicher und
moderner. Zu dem fromm bittenden und vertrauenden
Grundton klingen in ihm Trauer und Todesfurcht stärker
an, besonders im harmonischen, an verminderten Akkor-
den und Trugschlüssen reichen Gefüge. Durch diesen
seinen ästhetischen Charakter und durch seinen melo-
dischen Gehalt gehört es zu den bedeutendsten und ori«
ginellsten Leistungen moderner Vokalkomposition und
hat, obwohl das geistliche Konzert ihm nicht gerecht
geworden ist, die liturgische Richtung in der Totenmesse
ersichtlich gefestigt.
In dieser Hinsicht ist zunächst das »Requiem« für
H. Ton vierstimmigen Chor, und Orchester von Heinrich von
Earzogenberg. Herzogen berg (op. li) beachtenswert. Herzogenberg
verwirft zwar weder die Instrumente, noch die Sequenz,
wie Rheinberger; er teilt aber mit ihm die Einfachheit,
und Zurückhaltung im Ausdruck. Die Sätze der Kom-
position, die origineller berühren, sind das Osanna, in
dem ein fröhlich naiver Ton, der die Jugendarbeiten
dieses Künstlers so liebenswürdig machte, anklingt, und
das Agnus dei. Dieses verschmilzt Gregorianische In-
tonationen und antiphonischen Aufbau sehr glücklich
mit selbständiger Instrumentalmusik, die in fahlen trü-
ben Klängen eine Art Trauermarsch markiert.
Ziemlich zu derselben Zeit, wo bei den katholischen
Komponisten sich das Bestreben zeigt, den kirchlichen Cha-
rakter des Requiems wieder stärker zu betonen, suchen
auch die protestantischen Tonsetzer der musikalischen
Trauerfeier einen entschiedener konfessionellen Charakter
zu geben. Das hat schon Brahms dadurch vorbereitet, daß
er den alten lateinischen Text durch einen deutschen er-
• setzte, der vom Fegefeuer, von verdammten Seelen und
anderen katholischen Vorstellungen nichts weiß. Drae-
seke evangeUsierte am Geiste der Requiemmusik durch
335
Einfügung des evangelischen Chorals, wohl angeregt durch
A.Beckers Bmoll-Messe. Und nun folgte Becker selbst
mit einem Werke, das die alte Totenmesse ganz ins Pro-
testantische umarbeitet. Die Arbeit führt den Titel »Selig
aus Gnade« und «ist vom Komponisten als »Kirchenora-
torium« bezeichnet, durch diese Bezeichnung, also in
Zusan^menhang gebracht mit den Bestrebungen jenes
Kreises von neuen Kirchenmusikem, die unserem Gottes-
dienste die musikalische Darstellung biblischer Ereignisse
in einer Form wieder einfügen wollen, bei der auch die
Gemeinde sich mit beteiligen kann. Sie soll* Choräle
singen, wie sie das ehedem in der Passion tat. Daß
solche Kirchenoratorien während des i 8. Jahrhunderts in
Hamburg, Lübeck und andern norddeutschen Städten
zahlreich geschrieben und aufgeführt worden sind, weiß
heute niemand. Beckers Arbeit weicht im Grunde von
der Gattung völlig ab: ihr Text bringt keine Handlung,
sondern besteht aus Betrachtungen. Mit dem Oratorium
teilt sie nur die musikalischen Formen, mit dem »Kir-
chenoratorium« im besonderen hat sie die Zuziehung
von Gemeindegesang gemein. Dieser kann aber auch
wegbleiben, wenn das Werk im Konzert aufgeführt wird,
ohne daß dadurch sein Charakter wesentlich einbüßt.
Der Text ist aus Bibelstellen und Gesangbuchversen zu-
sammengestellt und in drei Teile gruppiert, von denen
je*der den Umfang und wohl auch den Inhalt einer Baeh-
schen Trauerkantate etwa hat. Die Entwicklung der Ge-
danken bewegt sich in einer ähnlich aufsteigenden Linie
wie im »Deutschen Requiem« von Brahms. Auch Becker
beginnt mit einer ^Einleitung: »Selig sind die Toten usw.«
die dem Introitus der katholischen Totenmesse entspricht.
Dann folgt von dem Satze »des Menschen Geist muß da-
von und er muß wieder zur Erde werden« aus eine Reihe
ernster Worte über das Los der Menschheit, die durch
die Sünde den ^od in die Welt gebracht hat, über die
Erlösungstat des Heilands, über die Macht und die Liebe
Gottes. Die Furcht vor dem Tode wandelt sich in Todes-
freudigkeit. Mit einem Sehnsuchtsgruß an den »Tag, da
A. Beckez,
Selig auB
Gnade.
-^ 336 ♦—
ich mit Lust die Seele gab von mir«, schließt das Werk.
— Die Musik steht an Freiheit des Aufbaues über der zu
Beckers Bmoll-Messe und spricht fast immer lebendig
und wirksam, in einzelnen Nummern mit vernehmlicher
Inspiration. Ein Nachteil der Komposition ist, daß sie in
zuviel kleine Stücke zerfällt.
Auch das spärlich ins Konzert gedrungene Requiem
a. HentBchel, von Georg Hentschel (op. 59) gehört in der Auffassung
Requiem, des Textes zu der im guten Sinne des Wortes reaktio-
nären Gruppe neuerer Totenmessen und auf die liturgische
Seite. Daß dieses Requiem in verzehrender Trauer be-
gonnen ist, zeigt deutlich und ergreifend der Introitus in
seiner unruhigen, fieberhaft wechselnden und schwanken-
den Harmonie.. Der Komponist bändigt den Schmerz
durch den Trost der Kirche, der er sich mit ernsten, aus
der Zeit der Kirchentonarten geholten Akkordverbindungen
und noch rührender in Anklängen an einfache liedweisen
zuwendet Dazu fügt er in psalmodierenden Abschnitten
das Bild der unzähligen Leidensgenossen, die seit Jahr-
tausenden in Gotteshäusern das »Requiem aeternam dona
eis Domine« gestammelt und im »Kyrie eleison« sich zu
sammeln gesucht haben. Es ist in der Seele erlebte Musik,
aus alter und neuer Kunst zusammengefügt, die Hentschel
in diesem ersten Satz seines Requiems bietet In den
folgenden Abteilungen ist der innere Drang geringer, aber
die Hingabe eines ernsten, in kleinen Formen heimischen
und selbständig schaltenden Künstlers bleibt gewahrt Die
breite Fachbildung äußert sich in der Mannigfaltigkeit des
Stils, in der Verwertung von Anregungen, die ebenso wie
auf Berlioz und Verdi auf Gherubini und sogar auf die
Zeit Palestrinas zurückgehen. Den Eklektiker leitet aber
meistens der liturgische Takt und sicherer architektonischer
Sinn. Nicht zum letzten ruht die Wirkung dieses Requiems
auf einem hervorragenden Gesangverstand. Alles klingt,
alles liegt den Stimmen, nirgends eine Stelle, bei der die
Absicht des Komponisten unklar bliebe. So ist es ein
dankbares Requiem geworden, das den Sängern lieb sein
könnte.
-— ♦ 337 «>—
.Schon im Jahre 4 894 (für Birmingham) komponiert, ist
erst spät, von den Wiener Gesellschaftskonzerten her, das
Requiem (für. Soli, Chor und großes Orchester) Anton Anton Dvofak.
Dvohaks etwas bekannter geworden. Es hat im Agnus
Dei einen unbedingt schönen, im Introitus einen interes-
santen, lebenswahr eine innerlich fassungslose, äußerlich
ruhige Trauer schildernden Satz und bringt wohl in allen
Abteilungen warm empfundene, durch eigenen Wohlklang
überraschende Stellen, und der Komponist hat an dieses
Werk ersichtlich viel Geist und sinnvolle Arbeit gewendet.
Trotzdem steht es Hinter der Ludmilla Dvofaks, noch mehr
aber hinter seinem Stäbat mater bedeutend zurück. Ein-
mal im Stil, der in die für große Gesangwerke unentbehr-
liche, lebendige und freie Polyphonie nirgends recht
hineinkommt, selbst in der auf Quam olim Abrahae dem
Usus nach angeschlagenen Fuge (und Doppelfuge) nicht;
noch mehr aber in der Selbständigkeit der Textauffassung.
Es ist keine zweite Totenmesse aus neuerer Zeit in Druck
' gekommen, in der Berlioz so ungeniert kopiert wird. Das
Dies irae Dvofaks ist bis zum »Recordare« eine einzige
blassere Nachzeichnung des Berliozschen ; nur die Noten '
sind von dem Böhmen, die Ideen, der Charakter der
Themen und Motive, der Gang der Entwicklung — also
der ganze geistige Teil des Satzes gehört dem Franzosen,
auch dessen bizarre Neigungen sind mit übernommen
worden. Sein Vorbild blickt aber auch durch die andern
Sätze, s6hon vom Introitus ab; die psalmodierende Me-
thode in der hier das Kyrie gegeben ist, kehrt bis zum
Ende der Messe wieder. Später kommt auch Verdischer
Einfluß zur Geltung; er in der Bevorzugung des Solo-
gesangs und in der Führung der Solostimmen. Sein
Eigenstes hat Dvorak in der Durchführung des einfachen
Klagemotivs gegeben, mit dem sein Requiem einsetzt:
I f g e f 1 f . Es fehlt, wörtlich oder umgebildet, in keinem
Satz, am überraschendsten tritt es im Benedictus darum
ein, weil dessen Umgebung, das Sanctus und das Osanna,
die Trauer abgelegt haben. Wo es immer da ist,
wird die Mysik individuell und fesselt. Das Requiem
II, 4. 22
— ♦ 338 *—
Dvol^aks verdankt also seine bedeutendsten Stellen dem
lisztschen Prinzip.
Auf katholischem Gebiet sind Konzertaufführungen
von Requiems und von normalen Messen deshalb ziemlich
überflüssig, weil dort die Gattung noch so wie vor alters
in der Kirche feststeht und ohne Unterschied von Zeiten
und Ländern so mannigfaltig vertreten ist, als es die
liturgischen Rücksichten erlauben. Daß sich jedoch viele
der dort zu Gehör gebrachten neueren Wei*ke auch für
das Konzert bewähren würden, ist keine Frage. Einen
guten Ratgeber hierfür finden die Dirigenten • an dem Ka-
talog des Deutschen Cäcilien Vereins.
Außerhalb dieses Kreises steht das Requiem für Soli,
Josef Reiter. Chor, Ordiester und Orgel (60. Werk) von Josef Reiter.
Wenn sich für die kürzlich erfolgte Veröffenthchung dieses
Werkes ein besonderer Wiener Josef Reiter-Verein ins
Mittel gelegt hat, so läßt das auf eine umstrittene und
nicht überall und schlechthin zwingende Leistung schließen.
Wir haben es in dem Komponisten mit einem Volksmann
zu tun, der aus seiner Einfachheit und Natürlichkeit hie
und da ins Gewöhnliche und Lässige verfällt, andererseits
auch zii grammatischen Bockssprüngen und Sonderlich-
keiten neigt Aner im allgemeinen wird er nicht bloß dem
Text gerecht, sondern bringt ihn oft mit ursprünglicher
Phantasie, mit naturalistischer Kühnheit- und glänzender
Wirkung zum Ausdruck. In Summa also: ein nicht ganz
normales und einwandfreies, aber jedenfalls ein nedeuten-
des Talent! Das und eine immerhin bemerkenswerte
Satztechnik beweisen am überzeugendsten das reiche
Ofifertorium »Domine Jesu Christe«, nach ihm das Sanctus,
dessen packendes fugiertes Osanna im Benedictus der
Frauenchor nochmals sehr willkommen ankhngen läßt.
Im Agnus Dei, einem der längsten Sätze über diesen
Text, tauchen überraschend und beängstigend nochmals
Schreckens Worte aus dem »Dies irae« auf. Die reichüchen
Oktaven und Unisonos dieser Nummer zeigen ähnlich
wie bei Dvofak den unmittelbaren Einfluß von Verdis
Totenmesse.
— -♦ 339 ♦—
Von neueren beachtenswerten Requiemiä des Auslandes
ist das des Franzosen G. Faur^ zu nennen. Doch ist es
in Deutschland nicht bekannt geworden. Dagegen hat
hier das Requiem des Italieners G. Sgambati, das zur &. Sgambati.
Totenfeier des Königs Umberto komponiert worden ^ist,
einige Auffahrungen erlebt. , Es ist eins der freundlichsten
und anmutigsten Werke, die die Geschichte der Gattung
aufweist. Fast nur beim Anfang des »Dies irae« und beim
>Gonfntatis, maledictis« bricht ein aufgeregter, finsterer
Ton durch, den ernsten Charakter der Trauerfeier bestrei-
ten häufig hturgische Zitate. Besonders empfiehlt sich
das Requiem durch seine leichte Ausführbarkeit, da,s Solo-
personal beschränkt sich auf einen Baryton, der in zwei
Nummern allein oder mit dem Chor singt, im Agnus Dei
tritt sehr wirksam noch eine Solovioüne auf. Der Chor-
satz ist einfach melodiös und technisch so anspruchslos,
daß ihn ein guter Verein vom Blatte erledigt; auf die
Dauer macht sich allerdings der Mangel an Polyphonie
empfindlich. Größere Ansprüche erhebt das Orchester;
auf seinen Teil hat stellenweise Berlioz eingewirkt
«2*
Drittes Kapitel.
Hymnen, Psalmen.
Mit den Passionen und Messen verglichen, bilden die
übrigen Tonwerke, welche das Konzert a.us der Kirche
entlehnt, nur einen Rest. Das wird sich jedoch ändern,
je weiter der Schatz alter hturgischer Nebenstücke durch
gute Partiturausgaben erschlossen wird. Er ist quanti-
tativ unerschöpflich und an Meisterstücken ersten Ranges
erstaunhch reich.
Aus der Familie der Hymnen, welche wir neben den
Psalmen als die älteste Klasse kirchlicher Tondichtung
und jedenfalls als die reichste und weitestverzweigte an-
zusehen haben, begegnen wir im Konzerte in erster Reihe
dem »Stabat mater«, dem >Te deum« und dem »Mag*
nificat« als Hauptstücken.
Das >Stabat materc gehört einer Seitenlinie der
Hymnen an : dem wunderlichen Geschlecht der Sequenzen^
welches von unscheinbarem Anfang — Notker BalbuluiS
führte sie als Textunterlagen für Koloraturen des >Halle-
lujah« ein — sich allmählich zu der ersten Macht in der
christlichen Poesie des Mittelalters entwickelte. Zum
Schutze der älte|*en Formen sah sich die Kirche schließ-
lich genötigt, die Sequenzen zurückzudrängen. Ihre Zahl
ist heute auf füiif beschränkt, von denen neben dem
»Dies irae« das »Stabat mater« die bekannteste sein
dürfte. Seine / liturgische Stellung hat es am Tage der
sieben Schmerzen Mariae vor dem Evangelium. Das
/
—«0^ 34< ^—>
Gedicht, welches dem Minoriten Jacoponus de Benedictis
aus Todi (f i 306) zugeschrieben wird, ist ein inbrünstiger
Erguß des Mitleidens mit der unterm Kreuze stehenden
Mutter Jesu. Es hat zwei Teile. Der erste 'ist betrach-
tend und beschreibend; der zweite (von dem Verse >Eja
mater usw.« ab) geht ins Gebet über. Der schwärmerische
und fromme Mönch hat sich tief und innig in die Seele
der Maria hineingefühlt und diesen Empfindungen einen
rührenden, kindlichen und naiven Ausdruck gegeben. .
Die Herzlichkeit und der Eifer der Hingabe klingt bis in [
die Form der Verse hinein: ihre Doppelreime sind die
Frucht einer leidenschaftlichen Erregung von Gemüt und '
Fantasie. Deshalb hat das ?Stabat mater« die künst- .
lerischen Geister von jeher stark angezogen^ Es ist in
alle Sprachen immer von neuem wieder übersetzt worden ;
im Deutschen allein hat man an die hundert Male ver-
sucht, seinen Sinn und seinen eigentümlichen Ton wieder-
zugeben. Ebenso ist die Zahl seiner musikalischen Bearbei-
tungen außerordetntlich groß. Sie umfaßt das ganze Gebiet
und die ganze Geschichte der Vokalkomposition von den
Ritualmelodien des Gregorianischen Stils, von einfachen
Liedweisen und Choralsätzen (im protestantischen Sinne)
an bis zu den großartigsten Formen der neueren Kantate.
Die älteste Komposition des »Stabat mater«, welche,
wie S. 4 64 schon erwähnt, das Konzert sich neuerdings
angeeignet hat, ist die von Josquin de Pr^s. Dieses Josqain de Fr^s.
»Stabat mater« liegt in zwei neuen Partiturausgaben vor: Stabat mater.
von Maldeghem (4 867) und von Ambros (4 882), Die älteste
bis jetzt aufgefundene Notierung des Werkes datiert vom
Jahre 4 480. Uir folgten in der ersten Hälfte des sech-
zehnten Jahrhunderts eine ganze B,eihe von gedruckten
Stimmausgaben i"): der beste Beweis, daß die Komposition
unter die berühmtesten zählte. Auch die Hinweise älterer
Theoretiker bestätigen es, daß das >Stabat mater« Jos-
quins für ein Hauptwerk der großen Vokalperiode in dieser
*) Die Nürnberger vom Jahre 1538 ist nnter denselben
interessant durch die protestantischeil Varianten, im Text.
— ^ 342 ♦^
selbst noch gehalten wurde. Der Ghorsatz ist funfstim-
mig, die Anlage im genauen Anschlüsse an die der Dich-
tung zweiteilig. Der erste Teil ist bewegt und erregt;
im zweiter! Teile, da wo das Gebet beginnt, gibt Josquin
den Rhythmen einen ruhigeren, breiten Grundcharakter.
Da setzen die eigentümlichen feierlichen Largos ein,
welche wir schon aus dem »Incarnatususw.« von Josquins
Messe >Pange lingua« kennen. Da begegnen wir auch
wieder jenen anmutigen, anheimelnden Idyllen, in denen
Josquins Musik mit wiegenden und läutenden Motiven
aus dem Munde der Ghorstimmen den Ton der lebendigen
Natur so stark anklingen läßt. Der zweite Teil des
»Stabat mater« ist der reichhaltigste und originellste.
Der große Zng der Begeisterung, welcher ihn erfüllt,
kommt am mächtigsten an zwei Stellen zum Vorschein:
beim Eintritt des »inflammatus et accensus«, wo die
Stimmen eine leidenschaftliche Bewegung zu ergreifen
scheint, und in der lapidaren Einfachheit und Bestimmt-
heit, mit welcher die beiden Schlußtakte das »Amen«
sagen. Doch ist auch der erste Teil durchaus gehaltvoll
und interessant. Seinem Entwürfe liegt dieselbe Methode
zugrunde, wie dem des zweiten Teils: Jeder Vers des Ge-
dichts wird zu einem selbständigen Tonbild mit eigenem
melodischen Motiv. Dieses Hauptmotiv der Verse singt
die eine Stimme der andern nach. Daß die Wiederholung
dieses Verfahrens nicht ermüdet, dafür sorgt Josquin
durch immer neue dem Charakter des Textes folgende
Zusammenstellungen und Färbungen der Stimmen, dafür
sorgt er aber namentlich auch durch die Kraft des Aus-
drucks, welche er den leitenden Themen selbst ein-
gehaucht hat. Besonders eindringlich zeichnen sich die
Motive von »0 quam tristis usw.« und von »Quis est
homo« aus. Der rührende Totaleindruck der Komposition
wird aber durch die Abschnitte höchster Einfachheit bei
»Vidit suum dulcem natum«, bei »fac me tecum plangere«
und ähnlichen Stellen entschieden. Im allgemeinen ist
der Stil des Satzes derselbe wie in den Messen und in
allen kirchlichen Tonwerken jener Zeit. Der Cantus
343
firmus,. den der mittlere Tenor führt, wird in Josquins
»Stabat mater« in jener einfachsten Weise als rein me-
chanisches Mittel behandelt, in welcher er an der geistigen
Entwicklung der Komposition keinen Anteil nimmt Für
den ersten Teil ist er dem alten lustigen französischen
Liede »comme femme« entnommen, dessen flotte Melodie,
natürlich in Pfundnoten verkleidet und verzerrt, nur
^noch dem Auge des Eingeweihten kenntlich bleibt.
Das zweite »Stabat mater« aus der Vokalperiode, G-. F. da Pale-
welches im heutigen Konzert eingebürgert erscheint, ist strina,
das im 6. Band der Gesamtausgabe der Werke Pale- Stabat mater
strinas*) unter den Motetten mitgeteilte zweichorige von (achtstimmig)
G. P. da Palestrina. Dieses Werk, dessen genaue Ent-
stehungszeit nicht feststeht, ist eine der verhältnismäßig;^
wenigen achtstimmigen Kompositionen, welche Palestrina
geschrieben hat. Auch dem Stile nach vertritt es keines-
wegs den Typus Palestrinascher Musik, sondern es nimmt
unter den Kompositionen dieses Meisters eine Ausnahme-
stellung ein. Es bevorzugt die akkordische Schreibart,
die sogenannte homophone Stimmführung, die in den
übrigen Werken Palestrinas vorwiegend nur episodisch
verwendet wird, in sehr umfassender Weise. Für die
geniale Art, in der die Harmonien von dem Tonsetzer
als Deklamationsmittel in diesem > Stabat mater« ver-
wendet sind, kann der Anfang der Komposition als Bei-
spiel dienen. Wie / n J j \ ri J 4^j j k j I J ■ '
eigentümlich fremd fr ij j ' § | 131 | j ^^
und traurig ist das su.bat m.urdo. le^ro.»
(mit Änderungen im ersten Teile mehrmals wiederholte)
kleine Tonbild, welches die ersten drei Dreiklänge geben;
wie trifft der Gmoll- Akkord .mit dem logischen Akzent
der Verszeile zusammen und wie schmerzlich klingt er!
Man darf aber\ von dieser einen Stelle nicht auf eine
durchgeführte Detailmalerei des Tonstücks schließen. Die
Musik steht im Gegenteile zu dem Texte in einem Ver-
hältnis bescheidener Zurückhaltung. Sie begnügt sich
*) Leipzig, Breitkopf & Härtel.
344
das Kolorit seiner Stimmungefi durch die melodischen
Linien deutlicher hervorzuheben und die Hauptbegriffe
des Wortbaues gewissermaßen mit Akkord und Rhythmus
zu unterstreichen. Kaum ein zweiter Komponist ist der
eigentümlichen Schönheit der Dichtung des »Stabat mater«,
welche in vielen Abschnitten selbst schon Musik zu sein
scheint, so gerecht geworden, als Palestrina. Am deut-
lichsten wird man das wohl an der Behandlung des
Verses »Quae moerebat et dolebat« ersehen können. Das
Feuer, welches hier die Fantasie des Dichters erwärmt,
ihm Bilder und Worte drängend eifrig auf die Zunge legt
— in der Palestrinaschen Musik mit den kurzen, schwer
betonten Motiven, mit dem fast ungestümen Wechsel der
beiden Chöre, lodert es in hellen Flammen auf. Wie ernst
und rührend ruft nach diesem Exzeß der Fantasie der
breite Periodenbau des folgenden Abschnitts »Quis est
homo« die gläubige Seele zur inneren Einkehr! Es ist
schon in der Architektur dieser Komposition eine geistige
Kraft, die eine Beschäftigung mit dem Werke allein ge-
nügend lohnt. Der eigentümlichen Milde seiner klagenden
Melodien aber läßt sich kaum eine andere Komposition
vergleichen. Auch bei Palestrina finden wir dieselbe
Zweiteilung wie bei Josquin. Mit dem >Eja mater usw.«
lenkt er den Fluß in ein neues Bett: Dreivierteltakt setzt
für eine Weile ein, die Gliederung der Szenen wird
schärfer und der Stil des Chorsatzes mehr polyphon.
Wenn im ganzen dieser zweite Teil des Palestrinaschen
»Stabat mater c hinter dem ersten etwas zurückbleibt,
so ist er doch immer noch reich an glänzenden Stellen.
Eine der anmutigsten ist der Abschnitt »Juxta crucem usw.«,
welcher eine der von Palestrina geliebten Episoden für
die oberen Stimmen allein bildet. Erst bei »flammis ne
urar usw.« ergreifen die Bäss^ wieder von ihrer Stellung
festen Besitz. Meisterlich und packend ist auch die
Schlußpartie vom »Quando corpus« ab. Das ist ein
unendlich reiches und schönes Bild vom seligen Sterben
und vom Einziehen ins himmlische Paradies. In aller
Kürze sind da die Regungen der Seele hin eingezeichnet,
welche diesen Gedanken lebendig machen: die Trauer,
der Ernst, die freudige Kraft und das zarte, demütige
Hoffen. — Von diesem »Stabat maiei* Palestrinas be-
sitzen wir schon seit 4 774 eine Partiturausgabe durch
Burney, welcher viele andere Drucke gefolgt sind. Auch
R. Wagner, der in seiner Dresdener Zeit die Komposition
kennen lernte, und in der Hofkirche aufführte, hat eine
Einrichtung des Werkes veröffentlicht, welche die vier-
stimmigen Sätze der beiden Chöre in Soli, Halb- und
Ganztutti teilt und den Vortrag mit dynamischen Zeichen
regelt. Sie ist Dirigenten, welche einer derartigen Anregung
benötigt sind, zu empfehlen. Doch bedarf sie einer
selbständigen Revision, da an einigen Stellen die vorge-
schriebene Dynamik mehr Rücksicht auf den akustischen
Effekt als auf Sinn und Logik der Satzglieder nimmt.
Eindreichöriges »Stabat materc von Palestrina^ welches
Alfieri und Espagne zuerst auf Bainis Gewährschaft hin
in Partitur mitgeteilt haben, wird von anderen Kennern,
darunter Ambros, für F. Anerio in Anspruch genommen. F. Anerio,
Der 32. Band der Gesamt^tusgabe bringt unter den zweifei- Stal>at mater.
haften Werken/ noch ein zweites »Stabat« zu acht Stimmen.
Als weitere in neuem Partiturdruck vorliegende Kompo-
sitionen des »Stabat mater« aus der Vokalperiode sind
zu nennen die Werke von Orlando di Lasso (Commer),
Agazzari, Aichinger (beide in ProskesMus. div.) und Agazzari.
G. M. Nanini (Rochlitz, Tucher u. a.]. Letzterem, wel- AioMnger.
ches den Text in zwanzigmaliger Wiederholung einer O. M. Kanini.
einfachen, lieblichen Liedstrophe durchnimmt, begegnen
wir zuweilen (gekürzt) in geistlichen Konzerten. Ein
Seitenstück dazu ist unlängst von P. Wagner*} veröffent-
licht worden. Es stammt aus den für die Nerischen
Oratorien geschriebenen »Laudi spirituli« von 4 588 und
zeigt die volkstümlichen Musikbestrebungen der Ora-
torien auch von der literarischen Seite, indem es den
lateinischen durch italienischen Text ersetzt. Das »Sta-
bat mater« des Orlando , ein Zyklus von wechselnden 0. di Lmioi
*) Haberls KirchenmusikaliBches Jalirbuch, 1895, S. 92.
~* 346 -*—
vierstimmigen, im Schußsatz zusammentretenden Knaben*
und Männerchören, gehört zu den genialsten und wirkungs-
vollsten Kompositionen dieses großen Meisters.
Aus der früheren Zeit der begleiteten Vokalmusik
sind als bedeutende Kompositionen des »Stabat mater«
die von Golonna, Steffani, Kaiser Ferdinand III.,
Clari und Caldara zu nennen. Die letzten beiden
scheinen in ihrer und in der nächsten Zeit auch ziem-
lich verbreitet gewesen zu sein. Das »Stabat mater« von
A. Bteffani, A. Stef f ani, auf welches Ghrysander zum erstenmal und
Stabat mater. nachdrücklich aufmerksam gemacht hat*), ist eine der
ersten unter allen den großen »Kantaten«, welche über
das Gedicht des Jacoponus komponiert worden sind. Man
darf es unter den kirchlichen Vokalkompositionen des
4 7. Jahrhunderts, welche dem neuen Stile folgten, ruhig
mit den Schützschen zusammenstellen. Es ist ein Meister-
werk, welches in der Verwendung der neuen Formen, in der
Verschmelzung von Chor- und Sologesang seiner Periode
Weit voran ist. Nur einige kleine kolorierende Naivitäten,
modische Wortmalereien auf »tremebat«, auf »inflamma-
tus« usw., die kurze Anlage einer Reihe von Chören und
Ensembles erinnern an den Stil jener venetianischen und
römischen Komponisten, welche Steffanis Zeitgenossen
waren. An anderen Abschnitten verblüfft sein »Stabat
mater« geradezu durch die kühnen, weiten Bogen, in
welche die Komposition gegliedert ist. Im zweiten Teile
haben wir es mit einer Art modernen Finale zu tun.
Der große 3/2- Takt, mit welchem zunächst das >Eja
mater« einsetzt, kehrt immer wieder und nimmt alle die
kleinen Sätzchen, welche episodisch herantreten, unter
seine schützenden Fittiche. Darunter sind auch einige
der berühmten kanonischen Duette, welche ihrer Zeit als
eine Speziahtät Steffanis bewundert wurden. Die Theöien
sind schlicht im Ausdruck, aber voll empfunden. Ihren
ganzen Gehalt zeigen sie in der Entwicklung des
Satzes, von Kontrapunkten gekreuzt und angeregt. Der
♦) Ohrysander: Händel, I 350.
-^ 347 ^k>—
ßegleitungsapparat der SUeichinstnimente fangiert mit
Bachscher Gediegenheit Immer ist der Text tief erfaßt
und nicht selten mit aufregender Genialität Zwei solche
St^en offenbarer höherer Inspiration sind der Anfiemg
und der Schluß des Werkes. Dort, in der kurzen Instni-
mentaleinleitong, knapp vor dem Einsatz des Solo-
soprans, sind es die Harmonien, welche sich gleich den
Lasten in Marias Seele wahrhaft beängstigend anftürmen
— hier die zaghaften Pansen, welche den feierlichen Ton
des Chors zwischen »Qnando corpus« und »morietur«
unterbrechen. -Möchte das bedeutende Werk*) das als
eins von mehreren den Komponisten bei der Londoner
Akademie für Alte Musik als Ehrenpräsidenten einführte,
endlich durch den Drude zugänglich werden! Auch
Kaiser Ferdinands Komposition der Marienklage ist
noch nicht veröffentlicht, dagegen (in den sogenannten
»Kaiserwerken«) eine Kantate, welche Leopold' I unter
dem Titel »Motetto« über eine Paraphrase dieser Hymne
geschrieben hat: Vertatur in luctum cythara nostra. Sie
gehört zu den ergreifendsten kirchlichen Dokumenten der
»Neuen Kunst«. Das Stabat mater G. M. Claris hat in G. M. 01^1,
dem kurzen ausdrucksvollen Chor der Einleitung, dem
breiten, fugierenden und sehr schön zu Ende geführten
Schlußchor über »Quando corpus morietur« und in der
im Orchester sehr geflissentlich malenden und charakteri-
sierenden Tenorarie:. »Cujus animam gementem« seine
Hauptsätze. Ab und zu begegnen wir ihm in geistlichen
Konzerten. Gänzlich unbenutzt ist in Deutschland das
von Eslava mitgeteilte Stabat des Spaniers A. Ripa ge- !• Bip«.
blieben (achtstimmig mit Orgelbegleitung).
Aus der Periode Scarlatti - Händel sind zunächst
ein vierstimmiges und ein zweistimmiges Stabat mater
von A. Scarlatti selbst zu erwähnen. Sie fallen in die A. Boarlatti.
letzten Jahre des zum Sänger edler Trauer prädestinierten
Meisters und wurden in Neapel unermüdlich aufgeführt
*) Ein handschriftliches Exemplar in der Chrysanderschen
Bibliothek m 3ergedorf.
34$
Im modernen Konzert begegnen wir als den frühesten
Stabats der neapolitanischen Schule denen von Emannel
E. ÄBtorga. Astorga und von G. 6. Pergolesi. Beide Tonsetzer
gehören der besseren neapolitanischen Zeit an. Sonder-
barerweise verdankt die frühere der beiden Komposi-
tionen, die von Astorga, ihre augenblickliche Popularität
der jüngeren. Es war im Verlauf eines längeren
Streites, welcher von Kunstrichtern aus dem Kreise
der Kirnberger und Forkel gegen das anmutige Sterbe-
lied des jung verschiedenen Pergolesi erhoben worden
war, daß Rochlitz ihm gegenüber das Stabat von
Astorga auf den Schild erhob. Seitdem ist sein Lob
von Tag zu Tag gewachsen, bis endlich der Verleger
einer neuen Bearbeitung dieser Komposition die Zeit
für gekommen hielt, Astorga »unbedenklich den edelsten
Meistern der Kunst beizuzählen«. Vergleichen wir Astor-
gas Stabat mit seiner Oper »Dafne« und mit seinen in
ihrer Zeit von Freunden der Haus- und Kammermusik
viel benutzten Solokantaten, so finden wir die gleichen
Schwächen der Schule und der Individualität: Einför-
migkeit, zuweilen Mattheit der Stimmung und Formahs-
mus. Aber si« stören uns doch seltner. Seine Vor-
züge dagegen, die interessanten Kleinigkeiten, welche
das Gewebe seiner Sätze zieren, erscheinen hier in eine
höhere Region übertragen: als feine, aus erregter Fan-
tasie und ergriffenem Gemüte hervorgegangene Eigen-
heiten der Auffassung. Selbst von dem düsteren Pathos
und der erhabenen Traurigkeit, welches schwärmerische
s Romanschreiber aus dem dunklen Lebenslauf des aristo-
kratischen Dulders unbesehen auf seine Kompositionen
übertragen wollen, finden sich in diesem Stabat wirklich
einzelne Züge. Es ist ein bedeutendes und individuelles
Tonwerk und eine auch ohne jeden persönlichen Be-
zug sinnreiche Komposition.
Der Form nach der Klasse der Kantaten angehörig,
verteilt sie den Text auf neun Nummern. Ein Chor
beginnt, welcher die formelle Fertigkeit Astorgas,
eine Hauptursache für die Erfolge seines Stabat^
— ^ 349 «» —
sogleich in helles Licht setzt. Fast alle .ßeine Pe>
riodeQ sind fließend im doppelten und dreifachen Koii-
trapunkt- gearbeitet (d. h. die Themen sind so erfun-
den, daß die zugleich singenden Stimmen ihre Partien
tauschen können). Den ^ . Largo.
ersten Teil des Satzes
trägt ein Hauptthema " süT. hu m». J . . . t»»
von s^nft klagendem Ausdruck. Das Motiv zu »juxta
crucem« besteht aus Skalenteilen; besser, poetischer er-
funden ist ein anderes Nebenthema, welches den Begriff des
»pendebat«, sinnreich von der Harmonie unterstützt, mit
leichten melodischen "Ketten aus einem Achtelmotiv gewun-
den, andeutet. Der in kurzen Abschnitten und sehr markiert
absetzende Aufbau dieses Teils trägt sehr viel dazu bei
den Eindruck zu vertiefen. Der Vortrag kommt wie aus
beklommenem Herzen. Im zweiten Teile der Nummer
tritt besonders das chromatische Motiv hervor, welches zu
den Worten »pertransivit gladiusc in die Höhe steigt. Die
chromatischen und enharmonischen Tongeschlechter er-
lebten im siebzehnten Jahrhundert eine neue Periode der
Blüte. Astorga (in seinen Kantaten) befand sich unter
ihren eifrigsten Anhängern. Das Terzett (Nro. 2) »0 quam
tristisc ist einer der schönsten Sätze der Komposition.
Trotz der kunstvollen Durchführung durch die Stimmen
fließt die wehmütige Hauptmelodie leicht und anmutig
dahin, bis plötzlich die Fantasie dem regelmäßigen
Gange der Form gewaltsam Einhalt gebietet: Fermate,
itockender Rhythmus, schneidende Dissonanz: In dieser
Schreckgestalt bricht plötzlich das Bild der armen Mutter
durch (bei den Worten >mater unigeniti«). Eine andere
gleicherweise bedeutsam deklamierte Stelle bietet das
Wort >videbat«. Astorga wiederholt es wie gramvoll ge-
fesselt. In der nächsten Nummer, dem Doppelduett:
>Quis est homoc begegnen wir demselben sinnvoll spie-
lerischen Zuge bei den Koloraturen auf die Worte >in
tanto supplicio« und »dolentem«. Doch muß hier der
Vortrag sehr viel nachhelfen. Die nächste Nummer ist
eine Doppelfuge, aus deren Flusse einige merkwürdig
nachdrücklich betonte Stellen heraustreten : Es sind das
>fac« vor der Fermate und das >ut sibi«.* Für den
Charakter der Themen und für die Entwicklung ihres
Gehaltes sind die Begriffe der Mutter Jesu als >fons
amoris« und das »complaceam« bestimmend gewesen.
Namentlich das erste Thema entspricht der wesentlich-
sten Bedingung der Fugenform. Es hat in seinen breiten
Eingangsnoten ein eignes und anziehendes Element, wel-
chem tiefer nachzuspüren den Komponisten ebenso reizen
muß, wie es den Hörer verlangt und erfreut einer solchen
charaktervollen Tontype immer von neuem wieder zu
begegnen und sie auf ihren kunstvollen Gängen durch
Stimmen und Harmonien zu verfolgen. Die folgende
Sopranarie »Sancta mater« hat einen eigentümlichen
Periodenbau. Diese Perioden bestehen alle aus einer Reihe
durch Pausen getrennter kurzer Abschnitte. Es ist ein
schüchternes kindliches Bitten in stoßweisen Absätzen,
welches immer erst am Ende den Mut zu einem längeren
Abschluß gewinnt. Der liebenswürdige, kindliche, an
Hast, Verlegenheit und Hülflosigkeit gemahnende Zug der
Komposition wird auch melodisch, namentlich durch die
aufschlagenden Sechzehntel verstärkt. Endlich ist auch
die Instrumentierung der Gesangstellen, welche ohne Baß
dahin schweben, auf ihn gerichtet. Der nächste Satz:
>Fac me tecum pie flere« ist .eins jener kanonischen
Duette, von welchen bereits früher die Rede gewesen ist.
Das Prinzip dieser durch die venetianische Schule be-
sonders in Umlauf gebrachten, auch bei Händel und Bac^
häufig verwendeten Form ist ein ähnliches, wie das der
Fuge: Die zweite Stimme singt der ersten mehr oder
weniger genau nach. Der Charakter der gemeinschaftlichen
Melodie ist hier innig und mild traurig. Mit dem Chore
»Virgo virginum praeclara« kommt in den Farbeneffekt
von Astorgas Stabat eine helle und kräftige Wen-
dung. Die heilige Maria wird beim Anfang der Num-
mer in lautem und preisendem Hymnenton gefeiert, sie
erscheint im Glänze der Himmelskönigin. Nacl^ der
ersten Fermate kehrt aber die Musik dem Text und
dem . >Tag der sieben Schmerzen« entsprechend in den
mitleidigen mid trauernden Charakter zurück. Die Baßarie
>Fac me plagis vulnerari« (Nr. 8) ist derjenige Teil der
Komposition, welcher den meisten Anlaß zu Bedenken
gegeben hat. Ihre muntren Themen, ihre kolorierten Gänge
machen leicht den Eindruck vollständiger Trivialität.
Gedacht ist diese zunächst befremdende Musik aus einem
Gremilte, welches durch die Idee, mit dem Heiland zu
leiden und Opfer zu bringen, in freudige Begeisterung
versetzt wird. Der Schlußchor »Christe cum jam sit
exire« bringt für die erste Hälfte vom letzten Vers der
Sequenz eine Variante.v Erst beim >Quando corpus« lenkt v
er in die iibliche Lesart ein. Seiner musikalischen An-
lage liegt ein Schema zugrunde, welches mit den Opern
der Cavalli und Cesti in Aufnahme kam: die Verbindung
eines feierlich ruhigen und eines lebendig bewegten Tempos.
Händel hat von demselben häufig, u. a. in seinem »Messias«
bei dem Abschnitt »Wie durch Einen der Tod usw.« sehr
wirkungsvoll Gebrauch gemacht. Die Stimmung des Allegro
mit seinen tänzelnden Motiven, wie auch die der am Ende
einsetzenden Fuge auf »Amen« geht von dem Gedanken
an »paradisi gloria« aus. Josquin und ^alestrina streifen
das Bild von den Freuden des ewigen Lebens, Steffani,
Astorga und die meisten Tonsetzer, welche nach ihnen
das Stabat komponiert haben, führen es uns zur langen
Betrachtung.vor die Augen und geben dadurch dem Werke'
einen glänzenden Abschluß. — Die älteste Partitur des
Werkes stammt aus London. Neue Ausgaben desselben
erschienen in den Sammlungen von Rochlitz (drei Num-
mern), Kümmel] femer bei Bote und Bock und bei Kamrodt
(Bearbeitung von R. Franz, welcher die Kontinuostimme
für zwei Klarinetten und Fagott ausgeschrieben hat).
Das Stabat mater von Pergolesi, welches sich die &• 6. Pergolesi,
Brüderschaft des heiligen Ludwig da Palazzo bei dem Stabat mater.
Komponisten als Ablösung für die erwähnten Arbeiten
A. Scarlattis bestellte und dessen Originalpartitur noch
heute auf Monte Gassino wie eine Reliquie bewahrt und
verehrt wird, hat Jahrzehnte lang in dem Repertoire eine
-^ 352
ähnliche bevorzugte Stellung eingenommen, wie sie in
anderen Zeiten sich nur für Grauns »Tod Jesuc und für
Mozarts »Requiem« nachweisen läßt. Erschienen doch
nicht lange, nachdem das Werk im Gefolge der »Serva
padrona« sich verbreitete, in Paris fünf verschiedeneKlavier-
auszüge hinter einander. Der gegen das Ende des acht-
zehnten Jahrhunderts gegen die geniale und bestrickende
Komposition erhobne Widerspruch floß zum Teil mit
aus der Notlage, in welcher sich die deutsche Musik im
eigenen Lande gegenüber dem überschwänglichen Kultus
der italienischen Kunst befand. Unter den Männern,
welche trotzdem für die Schönheit des Stabat Pergolesis
eintraten, bemerken wir Wfeland, Dittersdorf, Reichardt
und J. A. Hiller. Letzterer tut es mit gehamischten
Worten. In der Vorrede zu dem ereten Klavierauszuge,
welchen er von dem Werke veröffentlichte, sagt Hiller
halb in der Sprache des späteren Schikaneder-Sarastro:
wer bei diesen Tönen Pergolesis kalt und ungerührt
bleiben kann, »verdiente nicht ein Mensch zu sein.«
Gleichwohl hat neuerdings wieder ein katholischer Musik-
gelehrter im Eifer für die Rechte des Gregorianischen
Chorals das Stabat mater Pergolesis als »Musik für
Badekapellen« erklärt. Der eine Hauptvorwurf, welcher
dieser Komposition von den früheren Gegnern gemacht
^ wurde, der der unrichtigen Deklamation, ist zum Teil
\' begründet. Denn aus rein musikalischem Wohlgefallen
/ an bestimmten Motiven .wiederholt sie Pergolesi zuweilen
/auch an Textstellen, wo sie nicht mehr passen. Zum
' anderen Teile beruht er aber auf einer falschen Idee
von dem Zwecke des ganzen Stabat. Das ist keine eigent-
liche Passionsmusik, wie mit Klopstock mehrere deutsche
Übersetzer des lateinischen Textes angenommen zu ha-
ben scheinen, sondern eben eine Marienklage. Auf den
milderen Ton der letzteren hat Pergolesi seine Saiten
gestimmt; ihm entspricht auch das äußere Kolorit des
Werkes mit, namentlich die Besetzung der > Gesang-
partien durch ein bloßes Duett zweier hohen Stimmen.
Clari hat allerdings aucl^ eine ganze Messe bloß für
353 «—
Sopran und Altsolo geschrieben ; aber dieser Vokalapparat
war in dem Falle des Stabat doch mehr an seinem eigent-
lichen Platze. Wenn unter den verschiedenen Bearbeitern
der Komposition Pergolesis (Paisiello, Salieri, HUler, Lwoff)
einige diesen zweistimmigen Ghorsatz in einen gemischten
vierstimmigen umwandelten, wozu einige anscheinend fu-
gierende Sätze — das »Fac ut ardeat« und das »Amen«
— allerdings verlocken, so haben sie ihn damit eines inne-
ren Charakterzuges beraubt Freilich als einfaches Solo-
duett zweier*Frauenstimmen läßt sich dieses Stabat mater
auch nicht durchweg zur Wirkung bringen. Da kliügen
einige der mächtigsten Stellen : — das sechs Takte lange
Unisono auf g zu dem Worte »videt« in »Pro peccatis usw.«,
dißr Perle des Werks, und ähnliche — geradezu sinnlos.
Es ist für jene Männersoprane der Zeit Pergolesis ge-
schrieben, welche aus ihrer breiten Brust anschwellende
Töne von der Gewalt der Posaunen hervorzuziehen ver-
standen. Will man der Absicht des Komponisten mit
unseren heutigen Mitteln entsprechen, so bleibt nichts
besseres übrig, als die zwei Stimmen chorweise zu be-
setzen. Bei einer glückenden Ausführung wird dann das
Werk aber noch heute und immer so wirken, wie es
J. A. Hiller in seiner Begeisterung gesagt hat, wenn auch
nicht in allen Sätzen. In erster Linie stehen das Duett
(Nr. ^) mit dem sekündenmäßig dissonierenden Thema,
welches in der Fdur-Messe Pergolesis (der ersten seiner
vier Messen) ähnlich im Kyrie vorkommt; ferner der
Sopransatz »Cujus animam« mit dem so charakteristisch
verwerteten italienischen Rhythmus, das Duett »0 quam
tristis«, die Altarie »Quae moerebat« mit dem rührenden
Terzengang, der zum erstenmal nach dem Worte: »in-
cliti« auftritt, und den schluchzend aufschlagenden Sexten,
das Duett: »Quis est homo« und das unmittelbar an-
schließende, als eine Fortsetzung gedachte »Pro peccatis«,
schließlich noch die Nummer M (»Fac ut portem«). An f
die Kunst der Gedankenausführung darf man auch in ]
diesen Sätzen keine großen Ansprüche stellen. Die ^
musikalische Architektur war Pergolesis starke Seite *
II, 1. 23
-^ 354 ♦—
nicht : in der Mehrzahl seiner Arien sind die einfachen großen
Züge der alten Gattung durch eine Vielheit und durch einen
Reichtum kleinerer Ideen ersetzt Aber jeder diespr Einfälle
ist melodisch oder auch in der Harmonie ein Geniehlitz.
Dafür, daß Pergolesi Schule gemacht hat, zeugt ein Stahat
für zwei Soprane und Alt mit Begleitung von Violinen und
Q. Abos, Orgel von G. Abos (Santinische Bibliothek in Münster).
Stabat mater. Vor und nach der Arbeit Pergolesis hat das A 8. Jahr-
hundert noch eine beträchtliche Zahl in ihrer Zeit viel
geltender Kompositionen des Stabat mater gel)rachi Die
bekanntesten sind die vonFux, Caldara*), Gasparini,
Gaßmann, Hasse, Traetta, Wagenseil, Rodewdld,
J. Haydn, J. Haydn. Das letztere ist in der Geschichte Haydns
Stabat mater. deshalb bemerkenswert, weil es zuerst seinen Ruf als
Gesangskomponist verbreitete. Es ging schnell über
Deutschland hinaus, erschien in Paris und London in
eigenen Ausgaben und hat sich fast bis in die Mitte des
1 9. Jahrhunderts immer einmal wieder auf den Aufführungs-
listen gezeigt. Wie man das ganze Werk im allgemeinen
als eine Studie im italienischen Stile bezeichnen kann, bei
welchem auch alle Untugenden des Vorbildes eifrig und
blindüngs nachgeschaffen wurden, so verrät es noch ganz
speziell den Einfluß Pergolesis, in dem träumerisch eigen-
sinnigen Festhalten und Wiederholen kurzer Motive. Zwei
seiner sechs Solonummem, die Altarie >0 quam tristis«
und die Baßarie »Pro peccatis«, sind in neuerer Zeit in
Einzelausgaben veröffentlicht worden. Obwohl die Chöre
von dem veralteten und unnatürüchen Virtuosenputz,
den die Arien tragen, frei sind, entstellt doch auch sie
ein äußerhcher und gewaltsamer Zug der Deklamation.
Haydn ist aus dieser Komposition schwer heraus zu er-
kennen. Daß sie während der Herrschaft des neapolita-
nischen Stils ihren Kreis von Bewunderem fand, ist von
selbst erklärlich. Wie aber in der Regel die schwachen
Partien solcher Tonwerke, welche wir heute als veraltet
erklären, schon in deren Jugendzeit bemerkt und bean-
*) Denkmiler der Tonkunst in Österreich XIII, 1.
-^ 355 *>—
standet worden sind, so hat auch das Stabat i^ater
J. Haydns schon im ^ 8. Jahrhundert starken Widerspruch
erfahren. Die schärfste Kritik an ihm übte J. F. Reichardt
Diejenige Nummer, welche in ihrem Wohlklang und in
ihrem Aufbau einen Zeit und Mängel überragenden Vor-
zug besitzt, ist das Quartett mit Chor: »Virgo virginum
praedarac.
Haydn ist nicht der einzige deutsche Komponist,
welcher bei der Arbeit am Stabat mater unter italieni-
schen Bann trat. Einer ganzen Reihe von Landsleuten,
die nach ihm kamen, geschah es ähnlich, unter ihnen
Schuster, P. vonWinter — von ihm sind drei »Stabatc ßclniBter.
vorhanden — , S ey fr ied, Neukomm. Am auffälligsten P. v. Winter.
ist diese Erscheinung bei Bernhard Kl ein. Frei vom frem- Seyfried.
den Einfluß, aber nicht bedeutend sind ein lateinisches und Kenkoiain.
ein deutsches Stabat F. Schuberts. Unter den gebürtigen Klein.
Italienern, welche die Sequenz weiter in Musik setzten, F. Sohubert.
ist L. Boccherini zu erwähnen, dessen Komposition in L. Boookerini.
England berühmt gewesen zu sein scheint ""l. Nach ihm
sind N. Zingarelli, welchem 28 verschiedene Kompo- N. ZingarelU.
sitionen des Textes zugeschrieben werden, und L. Baini, L. Baini,
von welchem wir ein Stabat für dreistimmigen Männer- Stabat für
chor (a capella) besitzen, zu notieren. Das nächste Männer-
Stabat, welches zuerst wieder nach der Haydnschen stimmen
Komposition die Schranken von Ländern und Nationen (a capella).
überwand, war wiederum Italienischer Abkunft. Es ist
das Stabat mater von G.Rossini (4 832 erste, 1844 &. Sossini,
zweite Fassung), ein vielleicht durchaus fromm gemeintes, Stabat mater.
aber streckenweise vollständig frivol ausgefallenes Werk.
Als glänzendes, teilweise geniales Denkmal einer Periode
wunderlichen Verfalles religiöser Tonkunst in romanischen
DU
\
*) Der Hinweis auf Boccherini ist einem Aufsatz von
0. B. Edgar entnommen, der ohne Ahnung von der Existenz
dieses Führers unter dem Titel: SettiLngs of the Stabat Mater
(im Jahrgang 1901 der SammelbSnde der J. M. G.) die Ge-
schichte der Stabat-Kompositionen nochmals (auf 4Ys Selten)
zu skizzieren sucht.
23*
--^ 356 ^—
Landen, bleibt es von dauerndem Interesse. Man könnte
es in allen Musikschulen aufstellen als warnendes Beispiel
dafür, wohin eine falsche Richtung zu führen vermag.
Denn reihen wir dieses Werk geschichtlich ein, so ist es
die letzte Spitze einer Grruppe, zu welcher auch Pergolesi
gehört. Freilich zwischen Pergolesis Stabat mater und
dem von Rossini ist noch ein weiter Weg. Aber das
Prinzip teilen die beiden Tonsetzer — das für die Vokal-
komposition unselige Prinzip der schon oft zitierten
;ieapolitanischen Schule: die Musik zur freien Herrin zu
machen. Bei Rossini hat es zu einer vollständigen Auf-
lösung von Sinn und Wesen des Wortes geführt, zu Ver-
stößen gegen den Geist des Textes und zur Roheit und
Stumpfheit der Form und Grammatik gegenüber. Aus
einer Reihe der Nummern dieses Stabat kann man
Tänze machen: andere kommen in der Wiedergabe der
Stimmung nicht höher als bis zum Niveau der beliebten
Preghieren in den Opern der Rossinischen Periode oder
zu dem der chorischen Gespensterballaden. Diejenigen
Nummern, welche man ungetrübter genießen, zum Teil
bewundern kann, sind >Eja m^^ter« (Chor mit Rezitativ),
»Sancta mater« (Quartett), »Inflammatus« (Sopransolo mit
Chor, in den Violinen das Begleitungsmotiv aus dem
Agnus des »CmoU-Requiems« von Cherubini), »Quando
corpus« (Quartett, Hauptthema des ersten Abschnitts mit
Haydn übereinstimmend) und das »Amen«. In Deutsch-
land kann das Werk seit Jahrzehnten als praktisch über-
wunden angesehen werden. In anderen Ländern, auch
in England, begegnen wir ihm noch auf den Program-
men. Schon im Jahre ^845, zur Zeit, wo die Komposition
/ ihren Triumphzug begann, hat unter anderen R. Wagner
^ volle Schalen des Spottes über dieselbe ausgegossen.
Eine auf eine französische Paraphrase komponiertes
Stabat mater von Gounod ist im Ausland unbekannt
geblieben. Unter den Kompositionen des Stabat aus der
F. Kiel, neuesten Zeit ist zunächst das von F. Kiel bemerkens-
Stabat mater. wert. Kiel folgt Pergolesi,. indem er nur Frauenstimmen
verwendet (dreistimmigen Chor und Solo). In den
357 «—
Solls ist etwas zu viel an Ausdruck getan, unter den
Chorsätzen ragt der die Traurigkeit in strenge Formen
gießende erste Vers »Stabat usw.« nnd der achte »Virgo
virginum« hervor. Letzterer ist eine der trefflichsten
Nummern in der ganzen Literatur des Stabat mater,
ein inbrünstiger, aber echt weiblich gedachter, schöner
Hymnus auf die Mutter Jesu. Auch Franz La ebner F. Laclmer,
hat in seinem op. 4 68 das Stabat mater für zwei Frauen^ Stabat mater.
stimmen komponiert (mit Begleitung von Orgel und .
Streichorchester — ohne Viohnen). Dieses Werk ist
eine der stimmungsvollsten Kompositionen Lachners:
in der Führung der Singstimmen musterhaft, in den
Formen schlicht und knapp. Seine hervorragendsten
Nummern sind die kanonischen Duette. Einige Jahre
yorhor hat Lachner die Sequenz in einer großen doppel-
chörigen Komposition (op. 164) ausgeführt. Die bedeu-
teudste Stelle in dieser bildet die Behandlung der Worte
»dum emisit spiritum«. Die neuere Zeit hat auch einige
bedeutende Kompositionen des Stabat mater im a ca-
pella-Stile zu verzeichnen, welche zwar nicht in Umlauf
gekommen, aber doch an einzelnen Orten mit Erfolg
aufgeführt worden sind. Es sind di^ von E. F. Richter E. F. Eiohter,
(sechsstimmig), Franz Wüllner (achtstimmig) und F. Wüllner,
M. Zenger (zweichörig, Manuskript). Unter den neueren M. Zenger.
Bearbeitungen der Sequenz für Chor mit Orchester sind ^
hervorzuheben die von Th. Gouvy, welche tüchtige Th. Gouvy,
Leistungen im mehrstimmigen Satze aufweist, und die
von J. Rheinb erger. Letztere, nur mit Streichorchester J. Eheinberger.
und Orgel, nimmt Rücksichteri' auf leichte Ausführbarkeit
und bescheidet sich nach Rheinbergers Art auch im
Ausdruck auf die kirchlichen Grenzen. In diesen engen
Schranken doch gehaltvolle Tonbilder entworfen zu ha-
ben, ist ein bedeutendes Verdienst Rheinbergers. Beson-
ders wirken die Abschnitte anmutigen Inhalts; unter
ihnen in erster Linie das »Eja mater«. Eine durch Selb-
ständigkeit der Auffassung und großen Stil bedeutende
Komposition ist das Stabat mater von Anton Dvofak. A. Dvofak,
Dieses Werk scheint einer großen Verbreitung sicher zu Stabat mater.
368 ♦ —
sein und hat bereits die Aufmerksamkeit nachhaltiger
erregt. JTamentlich auf englischen Programmen begegnet
man ihm verhältnismäßig oft. Der tiefere und nach-
haltige Eindruck dieses Werkes ruht in erster Linie auf
dem ersten und letzten Satze. Dvoi^ak hat den ersten
Ver» der Sequenz zu einem Tonbilde von so mächtiger
Breite und von solchem Reichtum in der Gruppierung und
Bewegung ausgeführt, wie es vor ihm noch kein Tonsetzer
versucht hat. Die Dichtung erlaubt und verträgt diese
Anlage, wenn man sie, wie Dvofak getan hat, vom
romantisch-modernen Gesichtspunkte aus auffaßt. Seine
Musik beginnt, als wollte die Fantasie zuerst den Nebel
der Zeiten durchdringen, mit einem immer wieder
nach einer Richtung zeigenden, rufenden und suchen-
den Oktavenmotiv. Dann Andante con moto.
setzt die chromatisch be- Jj g '^ »p fy{^ ^ r j'i f i* ""
wecrfA KlacrftTTifilorlifi Hfis *F« ° f I I I [ T ' ' '
wegte Klagemelodie des
Satzes erst leise, in mystischer Höhe und von anderen
Stimmen noch verhüllt, ein. Sie verkörpert musikalisch
die Schmerzensgestalt der Mutter Jesu und wird zum
Träger eines bald rührenden, bald leidenschaftlich er-
schütternden Gemäldes der seelischen Leiden, welches
der Komponist vom Eintritt des Chores ab meisterhaft,
mit dramatischer Kraft und Lebendigkeit ausgeführt
hat. Der zweite Teil der Eingangsnummer führt von
der Leidensszene hinweg. Der Tonsetzer nimmt von
dem Seufzen, dem Trauern, dem Klagen, von dem die
Seele durchdringenden Schwert, von allen den trüben
Bildern des Textes nur geringe Notiz und gibt eine
Musik, welche dem lieblichen Wesen der Mutter des
Heilands zu gelten scheint. Eine etwas freie aber
durch den glücklichen Kontrast sfihr schöne und wir-
kungsvolle Auffassung! Das kimhüch kosende The-
ma dieser träumerischen J j
Partie ist instrumen- 'jR ■)<* B i ) J
tal, und zwar folgendes : 1^ f f
Es verbindet sich bald mit einfach ausdrucksvollen
Weisen zu den Worten >0 quam tristis et acclinis«, in
— ^ 359 ^>—
deren Durchführung, sich Solo- und Ghorstimmen in
steigerndem Wechsel ablösen. Der dritte Teil der Nummer
ist im wesentlichen eine Wiederholung des ersten. Die
zweite Nummer umfaßt ebenfalls wieder zwei Verse der
Dichtung. Ausgeführt wird sie vom Soloquartett, welches
für den dritten Vers »Quis est homo« ein ^ AncUsost.
schwermütiges Thema durchführt, dessen m j i jn Ji Ivj J
entscheidender Teil auf das kurze Motiv: " ' oiri#Mt*hajno
aufgebaut ist. Den zweiten Teil zu den Worten »Pro pecca-
tis« trägt auf breiteren ruhigeren Rhythmen die Melodie:
ß _ L t. ■ t. ... - ***•> ^^^ ^®° Stimmen in Nach-
j^l|-|F":f}«Jnr' J) Jjp" Hp ^ ahmungen fortgeführt und
?to pee.of.tu ftt.*» gev.tis an den Schlüssen der Ab-
schnitte schmerzvoll moduliert. Sehr interessant ist die
pathetische, rezitativartige Einleitung dieses zweiten oder
Mittelteils. Der dritte, der Schlußteil, gibt mit Verände-
rungen eine Wiederholung des ersten. Ganz ergreifend in
der Kürze ist die Behandlung der Worte »dum emisit usw.«.
Die Singstimmen stammeln auf .einem Ton. Die Instru-
mente malen mit Harmonie und Rhythmus den Vorgang.
Die 'erste Hälfte des fünften Verses »Eja mater« hat die
musikalische Basis eines Trauermarsches. Sein Hauptmotiv
And-eon moto. Hegt in den Bässen. Äußerst packend
führt der Tonsetzer von diesem starren
Grunde aus schnell wie hingerissen und
gepackt in die Sprache des Herzens über. Diese gewal-
tige melodische Bewegung beschränkt sich vorwiegend
auf die Bässe, an einzelnen Stellen ergreift sie aber auch
mächtig die Oberstimmen. Der Mittelteil, ganz dem
rührenden Gesang gewidmet, ist nur kurz. Die nächste,
vierte Nummer der Komposition umfaßt die zweite Hälfte
des fünften und die erste des sechsten Verses. Wie diese
formelle Anordnung von dem Gewohnten abweicht, so
hat DvoiFak ersichtUch auch in dem Charakter der Musik
eine eigene Auffassung erstrebt. Seine Behandlung der
Worte »fac ut ardeat«, welche dem Solobaß übertragen
sind, bildet in ihrer diisteren, angstvoll unruhigen Weise
geradezu einen Protest gegen die weiche Musik, mit
— ^ 360
welcher die Italiener diese Bitte wiederzugeben pflegen.
Verstöße gegen die lateinische Prosodie, wie sie am An-
fang des Baßsolo vorkommen, tut man gut zu tibersehen.
Sie begegnen uns auch noch an anderen Stellen dieses
Stabat. Auch die Franzosen pflegen sich bekanntlich in
ihren Kompositionen lateinischer Texte um die natürliche
Länge und Kürze der Silben nicht zu bekümmern. Eine
Stelle von hervorragender Schönheit ist der Einsatz des
Frauenchors, welcher die Worte »Sancta matert kirchlich
hedartig durchführt. Schon der Wechsel der Tonart
allein aus Moll nach Dur wirkt hier freundlich. Die fünfte
Nummer, welcher die zweite Hälfte des sechste» Verses
als Text zugewiesen ist, scheint an diesen freudigen
Augenbhck anzuknüpfen. Sie ist ein hebhches Ghor-
pastorale im «/g-Takt. Nur der Begriff der »poenae« wirft
einige Schatten hinein. Die Stimmen heben das Wort
wiederholt in harten Akzenten heraus und führen in der
erregten Stimmung dieser Episoden den Text in einem
eigenen Mittelsatz aus. Ganz ähnlich hat Dvoi^ak in dem
folgenden Satze (Tenorsolo mit Chor), welchem der
siebente Vers: »Fac me vere tecum flere« zu Grunde
liegt, die Worte >in planctu desidero« zum Anlaß eines
dramatischen Alarms benutzt. Der Hauptsatz dieser
Nummer nähert sich mit seiner einfachen, liebenswürdigen
Melodie ganz dem Typus des modernen kathohschen
Kirchenliedes. Auch der nächste Chor »Virgo virginum«
knüpft künstlerisch verzierend und bildend an Reminis-
zenzen aus dem Stile an, in welchem das Stabat in der
Praxis der Kirchenchöre erscheint. Der bedeutendste
unter den noch übrigen Sätzen der Komposition ist der
zehnte, der Schlußsatz Seine Themen greifen vorwiegend
auf den ersten Satz zurück*. Es ist aber manches poetisch
für den neuen Text gewendet und zugefügt. Schön be-
rührt namentlich die sanfte träumerische Weise, in
welcher der Gedanke an den Tod (»Quando corpus
morietur«) vorgeführt wird. Der letzte Teil mit dem
»Amen« ist kunstvoll- im doppelten Kontrapunkt ge-
arbeitet und unterstützt den Ausdruck der aufs Paradies
— <V 36« ^—
gerichteten Stimmung durch bedeutende Wirkungen im
Klang.
24 Jahre nach dem Requiem trat auch G. Verdi ö, Verdi,
mit einem großen Stabat mater hervor. Es ist das
zweite Stück in den berühmten »Quattro pezzi sacri«,
die für die Reformbestrebungen in der italienischen
Kirchenmusik die Bedeutung ^ines Leuchtturms haben.
Verdi, der geistig bedeutendste Tonmeister, den Italien
im 4 9. Jahrhundert gehabt hat, bekennt sich in ihnen
ohne jeden Abzug zu den alten strengen Forderungen
des kirchlichen. Musikstils. Er geht soweit in der Unter-
werfung unter den Text, daß er ganz auf Wiederholung
von Worten oder kleinen Sätzen verzichtet. Zweitens
sucht er ähnlich wie F. Liszt zu beweisen, daß die
Grundgesetze des kirchlichen Stils sich aüfs treulichste
mit den modernen Mitteln vertragen. Sie könnten für
ein neues Tridentiner Konzil geschrieben sein. Trotz
aller kunstgeschichtlichen Beziehungen und Absicjiiten
sind aber diese geistlichen Stücke nicht Studien-, sondern
vollendete Kunstwerke. Ihre Schönheit vermag tief zu
eingreifen; jedoch äußert sie sich nicht in den bequem-
sten und jedermann vertrauten Formen. Namentlich in
dem Stabat mater und in dem Te Deum ist von einem
eigentlichen musikalischen Aufbau kaum die Rede. Ihre
Teile und Abschnitte sind lose aneinandergereiht, ohne
jedes G6füge; auf wiederkehrende Hauptthemen und
andere Mittel der Ordnung und Übersicht ist fast ganz
verzichtet. Die Zusammensetzung des Ganzen, die Kom-
position im wörtlichen Sinne, erinnert hier an die frühe-
sten Zeiten des begleiteten Sologesangs. Die äußeren
Zeichen der Einheit fehlen; nur innerlich macht sie sich
fühlbar durch den Anteil der einzelnen Sätze an der durch-
gehenden Grundstimmung. Den ersten Monodisten, den
Vorgängern und Genossen des Monteverdi gleicht Verdi
aber auch in der Hingabe und Energie, mit der er den
Gehalt des Wortes zu fassen und auszudrücken sucht.
Beim Stabat mater wechselt die Gesangpartie zwi-
schen Chor und Solostimmen, das Orchester tritt hinzu.
362
Verdi hat den Text als Kantate, jedoch ohne Tempo-
wechsel und ohne Rezitative komponiert. Die Gliederung
des Ganzen folgt den Versen und zerfällt, wie das schon
seit Josquin de Pr§s üblich, in zwei Hälften: die erstere'
der Beschreibung gewidmete, erregter, die zweite (von
»Eja mater, foas amorisc ab) weicher und ruhiger im
Gebetston. Das Ende wirft einen flüchtigen Bhck auf
den Anfang: die Instrumente schließen nach dem Amen
mit den ersten fünf Noten des ausdrucksvollen Themas,
mit dem die Singstimmen beginnen:
^'i' » i fr
^^2
J I J LI IJ J
a
ßta.bat • ma. tör do . lo - ,ro . sa-, jux.ta^
»poeb tenvio rit. dini. monio''^
«cruqem lA.cry. mo. «atjdiun 'peii.d^.bat f i . U i us.
Das ist alles was Verdi getan hat, den einheitlichen
Charakter seiner Kantate formell zu sichern. Inner-
halb der einzelnen Verse dagegen entwickelt Verdi die
Tonbilder in der Regel aus einem kürzeren Motiv oder
Thema; nach moderner Art liegt ein beträchtlicher Teil
dieser Hauptstützen der Darstellung in den Instrumen-
ten. Sie bringen die
3Z~
ST
>» =>
Überschrift des Ganzen, j^ y «
vier Takte lauter, leerer tJ
Klage auf zwei Tönen:
die eine ganze Ouvertüre in sich schließen. Sie enthüllen
die seufzende Seele (animam gementem) ^-^ ^
der Mater dolorosa mit einer Kette ^fk^
von Klagelauten, aus dem Motiv: «^
gewunden. Das wachsende Herzeleid drückt (bei quae
moerebat et q . . — - — . bis in eine beäng-
dolebat) die (feT » 7J/J p tjf n I stigende Höhe an-
längere Figur: "*^ '"" ^ steigend aus, und
als der Text von der Marter des Herrn berichtet (»Pro
—^ 363
peccatis suae gentis vidit Jesum in tormentis«), kommt
mit ^ I 11 I I I . *^ Orchester eine leiden-
dem If^V' vJjiJ J J J J^ schaftliche Unruhe, durch
Motiv: «^ Trompetenklang und ver-
minderte Septakkorde bis zur Wildheit gesteigert. Das
ist die Stelle in der Kantate, wo Verdi seinem drama-
tischen Geist die vollste Freiheit gelassen hat. Nach
den Worten »flagellis subditum« wird es plötzlich still,
nur ein Hornton klingt noch fort; dann berichtet der
Chor kleinlaut und stockend: vidit suum dulcem Na-
tum usw. Einfacher und gewaltiger, naturgetreuer kann
der Augenblick, wo der Maria das Herz bricht, nicht ge-
schildert werden, als durch diese Stelle. Während den
Instrumenten in dieser ersten Hälfte des Stabat im All-
gemeinen die Situation übertragen ist, haben die Chor-
stimmen die Empfindungen auszusprechen, die durch die
berichteten Vorgänge hervorgerufen werden. Zum größe-
ren Teil tun sie das deklamierend mit dem musikalischen
Schwerpunkt in den Harn\pnien, innerer Bewegung und
inneren Druckes voll zum häufigen Halten gezwungen.
Zum geringeren Teil nur fassen sie das Gefühl in die
Form melodisch geregelten Gesangs. In längerem
Zug ergießt er q .,, n^. . , , ,,. PP , t
sich erst bei A by» T p | f T f f I r \'i ^«^-
dem Verse: "^ Qui e§t_ • ho. mo, qui non fle-.*et
Das ist das erste Thema, das im Chor breiter entwickelt
wird. Auf seinen Anfangsnoten ruht auch das Nachspiel,
mit dem das Orchester die erste Hälfte der Kantate be-
endet.
Ihre zweite Hälfte setzt, von der ersten schon in
der Tonart, sehr scharf unterschieden: Hdur auf Bdur
ein. Das Soloquartett stimmt (ohne Begleitung) einen
andächtigen Gebetshymnus an, mild ergeben und im
Ton einer Rührung, die den Tränenweg gegangen ist.
Aber schon beim Einsatz von Chor und Orchester (Sancta
Mater istud agas usw.) zieht in die Musik eine Aufregung
ein, in der die Erinnerung an das Leiden des Heilands
und seiner Mutter wieder lebendig aufwacht. Bei den
— -<y 364 -ft>—
Worten: crucifixi fige piagas kehrt das Martermotiv aus
der ersten Hälfte im Orchester leibhaftig wieder. Daß
die Erregung der Seele auch durch das Gebet nicht über-
wunden wird, das ists was Verdis Auffassung des Stabat
mater von allen neueren Kompositionen der Sequenz
scharf unterscheidet. In diesem Sinne hat er den alteii
Kirchentext dramatisch behandelt Am deutlichsten zeigt
das der Vers: »Fac me cruce inebriari usw.«. Bei den
Worten: »flammis ne urar succensus« und »in die judicii«
entfesselt er alle Schauer eines Dies irae. Nicht bloß das
Orchester bäumt sich in Schrecken, auch der Chor wird
vom Fieber ergriffen, stürzt aus dem ppp ins ff, aus der
Tiefe plötzlich in die Höhe. Die Trompete bläst Alarm
und als die Musik (bei Ghriste cum sit hinc exire usw.)
äußerlich wieder ruhig geworden, zittert doch der Ton-
körper immer noch eine Weile innerlich fort. Jene dra-
matische Auffassung äußert sich schwächer, aber eigent-
lich ohne Unterbrechung durch fast alle Abschnitte der
zweiten Hälfte in den kurzen Zwischenspielen, mit denen
das Orchester die Abschlüsse der so eigen nachdenklich
harmonisierten Hauptmelodie:
j> >i'' J' J I J fi kJJ ItjJ. /^ N "J
;u8w.
die von den Worten: »Tui nati vulnerati usw.« ab den
Gesang immer wieder trägt, markiert, in den rhyth-
misch bewegten Figuren, mit denen es begleitet. Das Ende
wirkt, auch mit ähnlichen Mitteln wie in der ersten Hälfte,
wieder durch den Gegensatz. Mit dem Vers »Quando cor-
pus morietur« tritt erhabene Ruhe ein. Das letzte Bild des
Textes erscheint in Farben, die mit denen Palestrinas an
derselben Stelle identisch sind: der Himmel scheint sich
auf das Wort: Paradisi gloria dem Komponisten weit auf-
zutun. Nach diesem Blick nur noch ein seliges Träumen
in dämmernden Harmonien!
— ♦ 365
Das >Te deum«, der sogenannte Ambrosianische*
Lobgesang, ist die offizielle Festhymne, mit welcher die
Kirche Gott dem Vater und Gott dem Sohne ihren Dank
für außerordentliche Gnadenakte darzubringen pflegt.
Seit dem vierten Jahrhundert der christlichen Zeitrech-
nung bis heute wird das Te deum bei hohen Feiertagen
der Kirche und dann angestimmt, wenn außerordentliche
freudige Ereignisse im staatlichen Leben einen kirchlichen
Ausdruck heischen. Das Te deum ist eins der festesten
Bänder, welches die Kirche mit dem allgemeinen Volks-
leben, ohne Rücksicht auf Parteien und Konfessionen,
verknüpft, unter den Hymnen eine der fantasievollsten
und schwunghaftesten Dichtungen. Sie bringt der Ton-
kunst schöne und dankbare Aufgaben entgegen wie kaum
eine zweite. Welcher Ktinstlergeist würde nicht ent-
flammt, wenn er in den einzelnen Versen die Chöre der
Engel, der Cherubim und Seraphim, die Ch"Öre der Pro-
pheten, der Apostel nach einander herschreiten sieht, vor
dem Thron des Vaters und des Sohnes Jubel, Dank und
Bitte vorzusingen! Wie greifbar stehen diese Bilder vor
der Fantasie und wie natürlich setzen sie die musika-
lischen Mittel in Bewegung! Nach den neueren Forschungen
stammt der Hymnus aus antiker Quelle. Ambrosius fand
ihn in der musikalischen Form vor, welche im wesent-
lichen noch der Fassung der neuesten Liturgien zu Grunde
liegt: als Wechselgesang. Aber wahrscheinlich hat der
Bischof von Mailand an der lateinischen Übersetzung
de& Lobgesanges und an seiner Einführung in die abend-
ländische Kirche persönlichen Anteil gehabt. Die Melo-
dien, in welche er zu jener Zeit gekleidet war, kennen
wir nur in Gregorianischer Umprägung. Die Kirche hat
sich mit ihnen lange allein begnügt, In der Zeit, wo die
kunstvolle Zurichtung der Meßgesänge bereits in hoher
Blüte stand, sang man das Te deum vorwiegend ein-
stimmig weiter. Die Zahl bedeutender Chorwerke auf
Grund des Ambrosianischen Lobgesanges, welche aus der
großen Vokalperiode bekannt sind, ist verhältnismäßig
gering, und nur sehr wenige sind davon neu und in
--♦ 366 ♦—
•Partitur gedruckt. Unter letzteren nimmt nach Alter, Größe
der Anlage und innerem Wert das achtstimmige Te deum
J. Vaet. von JacobVaet, welches Commer in der » Collectio operum
musicorum batavorum« mitteilt, die erste Stelle ein. Nach
ihm wäre das von Maldeghem mitgeteilte, sehr kompakte
J. de Kerle. Te deum J. de Kerles darnach das wieder von Commer (in
0. di Lasso, seiner »Musica sacra«) gebrachte des Orlando di Lasso
anzuführen. Weiter sind in den Sammelwerken von Proske,
Anerio, Lück, Alfieri, Eslava Kompositionen von beiden An er ios,
C. Pesta, C. Festa, Gallus,Ortizzu nennen. Deutsche Koipposi-
ÖalluB, Ortiz. tionen in verschiedenen deutschen Übersetzungen*) von
Haßler, Prä- Haßler,Prätorius,Scheinu. a. teilen Teschner, Tucher
torins, Schein, und Becker mit**}. Sie sind durchschnittUch kurz, ohne
Ausführung der einzelnen Versbilder. Der bekannte Satz
Galvisins. des Calvisius, der in neuere Kantionale aufgenommen
worden ist, kann für sie als Muster gelten. Von größeren im
4 7. Jahrhundert berühmten deutschen Te deums würden sich
H. Prätorias, das sechzehnstimmige von H. Prätorius und das sechs-
G. Demantiiis. stimmige von G.Demantius zum Neudruck empfehlen. Am
zahlreichsten haben wir neue Partiturdrucke von Te deums
englischer Komponisten des i 6. und 4 7. Jahrhunderts. Von
Byrd, Olbbons. Byrd und Gibbons ab sind die namhaften Tonsetzer
Englands einer nach dem andern in Novellos patriotisch
praktischer Sammlung: »Services, Anthems usw.« in erster
Linie mit Kompositionen des Ambrosianischen Lobgesanges
vertreten. Diese englischen Te deums pflegen au der
H. Pnroell, Spitze einer Reihe von Meßsätzen zu stehen. Henry
Te deum. Purcells achtstimmige Komposition ist davon die bedeu-
tendste und wurde die gefeiertste. Vom Jahre 4 694 ab
führte man es wenigstens in London an jedem Cädlientag
auf, und noch heute lebt es in der Praxis der , eng-
lischen Kirchenchöre. Kein Weihnachten ohne Purcells
Te deum wenigstens in einer der Kirchen der Hauptstadt !
*) Vgl. W. Biumker: Das deutsche Te deum (in Haberls
K.-M. Jahrb. f. 1900).
**) Eine weitere von Erasmns Kindermann in den
Denkmälern der Tonkunst in Bayern, Bd. XXIV.
■— * 367
Unter den großen T<^nsetzerh der nächsten Zeit,
deren Te deums besonders angesehen waren und Vet-
breitung fanden, sind zu nennen Lully, Fux, Caldara, Te Dennis von
Darante, Leo. Die von *Fax und Durante sind im Lnlly, Fax, Gal-
a capella-Stile und in einejn Zuge fugierend durchge- dara, Darante,
führt. Das von Caldara hat Orgelbegleitung. Zu denen Leo.
von Lully und Leo begleitet das Orchester. Sie stehen
in Ddur wie die Mehrzahl der weiteren Te deums der
Instrumentalperiode. Denn Ddur war die Leibtonart der
alten Trompeten, welche fortan beim Ambrosianischen
Lobgesang im Chor der Instnmiente eine Hauptstimme
erhielten. Derjenige Tonsetzer, welcher in dieser Periode
das Te deum am herrlichsten zu singen verstand, war
unser G. F. Händel. Er nahm von diesem Felde, auf 0. F. Händel,
welchem er bis zur Gegenwart als der Erste hervor- Utrechter Te
ragt, zuerst im Jahre 47i3 Besitz und zwar mit dem deum.
sogenannten Utrechter Te deum. Dieses Werk hat
für die Lebensgeschichte Händeis vorübergehend un-
angenehme Bedeutung gehabt. Händeis damaliger Brot-
herr, der Kurfürst von Hannover, gegen dessen Interesse
die Beschlüsse des Utrechter Kongresses gingen, nahm
es seinem Kapellmeister übel. Die Ungnade des nach-
maligen Königs Georg I. war die Folge dieser Komposi-
tion; erst die »Wassermusik« im Jahre 4 74 5 brachte das
Verhältnis wieder ins gleiche. Händel hat, wie Chrysan-
der aus dem Vergleiche der beiden Werke nachweist, bei
der Komposition dieses Te deums das eben angeführte
von Purcell absichtlich zum Modell genommen und ist
ihm in der Anlage und Auffassung einzelner Textab-
schnitte genau gefolgt. Größer als die Verwandtschaft
ist aber der Unterschied, und namentUch ein Punkt
unterscheidet Händel in dieser und in allen folgenden
Vokalkompositionen mit Begleitung immer stärker von
diesem und von anderen Vorgängern, — wir dürfen
sagen, auch von Zeitgenossen und Nachfolgern: das ist
der Glanz und der Ideenreichtum in seinem Orchester.
Steht das Utrechter Te deum in dieser Beziehung auch
noch nicht durchaus auf der höchsten Stufe, so entfaltet
— * 368 ^ —
es doch in der Mehrzahl seiner Sätze diesen Vorzug der
Händeischen Kunst deutlich genug. Er kommt in der
Wahl der Instrumentalfarben zum Ausdruck, in der Wahl
der begleitenden Motive und in der Anlage der Vor- und
Nachspiele. Meisterhaft weiß Händel den geistigen Strahl
eines dichterischen Gedankens zu gleicher Zeit nach zwei
Seiten hin leuchten zu lassen durch ein scheinbar ganz
einfaches Mittel: Er teilt die Vokalpartie und die Instru-
mentalpartie in die Aufgabe. So sehen wir im ersten
Satze des Utrechter Te deums mit dem schmetternden und
rauschenden Ausdruck des Jubels auf Grund des Motivs:
ji^Bgio. d^s Orchester betraut, wäh-
'^^^ n^f r -T f r r fl r FJ '^ - ^^^^ ^^^ Chor zunächst das
IjLji: *^=^^a I j. 15, ■ j^^jj ^gg Herrn nur in feier-
lich gemessenem Satze vorträgt, aus welchem lange Töne
einzelner Stimmen zuweilen wie der Ruf des begeisterten
Herolds heraustreten. Erst später stimmt er auf eine Weile
in die fröhliche Weise der Instrumente mit ein. Schön ist
besonders das mehr und mehr verklingende selbständige
Nachspiel des Orchesters. Es gleicht in der Idee ganz
dem zu dem ' Engelchor im Messias: »Ehre sei Gott«.
Nach demselben Prinzip: mit gegensätzlichen Mitteln
nach dem gleichen Ziele zu steuern, ist auch die Doppel-
fuge: Te aeternum patrem (»AU the earth doth worship
thee*) entworfen. Das eine Thema ^spricht, das andere
jubiliert. Als dann die Instrumente in die Achtelgänge
des letzteren einfallen, richtet sich der Chor zu gewaltiger
Entschiedenheit auf und deklamiert, in Pausen absetzend,
mächtig bedeutungsvoll ein dreimaliges »te« (»thee«\ Von
dieser Doppelfuge ab, die auch nicht umfangreich ist,
läuft das Utrechter Te deum auf eine lange Strecke in
lauter kurzen Sätzchen weiter. Entschiedener als andere
Komponisten dieser Hymne hat in ihnen Händel sich dem
Dichter angeschlossen. Es dünkte ihm eine besondere
und herrliche Aufgabe, die Gestalten, welche zum Lob-
gesange antreten, klar musikalisch zu personifizieren. So
kommt der Chor der Engel im Duett zweier Altstimmen, in
welches Tenor und Baß im Einklänge wie eifrig staunend
— <e^ 369 ♦—
l^ineinrüfen und begleitet von jenem bekannten Rhythmus
m 300 affi d^s Streichorchesters, welchen Händel so oft
In 1 1 1 " zum Hintergrund pathetischer Situationen
verwendet. Die Cherubim und Seraphim werden durch
zwei Solosoprane angekündigt. Das Sanctus. singt ein
fünfstimmiger Chor in einem einfach ergreifenden,
kirchlich und voll klingenden Satz. So ziehen, jeder
von einem eignen Lichte beschienen, weiter noch die
Chöre der Propheten, der Apostel und der Märtyrer
vorüber. Die Gestalt der heiligen Kirche vereint wieder
alle singenden Kräfte, und in einem ausdrucksvollen
Adagio verbeugen sie sich gegen die hier zuerst in den
Gesichtskreis des Dichters tretende Dreieinigkeit von
Vater, Sohn und heiligem Geist. In dem Chor »tu rex
gloriae« (»Thou art the King of Glory«) bilden die zwei
Takte Adagio auf das Wort »Christec (>0 Christ t) einen
eindringlichen Höhepunkt. Der nächste Satz beginnt
ernst mit der Betrachtung über die Menschwerdung
Christi: »When thou tookest upon thee« (»Tu ad liberan-
dum usw.<). Beim Eintritt der Worte »thou didst open«
(»tu aperuisti«) schlägt im hellen Gegensatz Moll nach
Dur um, Adagio wird Allegro, die SoU löst das Tutti ab.
Das alte venetianische Stilmotiv des Tempowechsels ist
hier mit besonderem Glück verwendet und bestimmt den
Bindruck der Stelle. Sucht man nach verwandten Wir-
kungen, so liegt der Vergleich mit dem »Et resurrexit«
der großen Messe S. Bachs und anderer Hochämter aus
der Instrumentalperiode am nächsten. Kam dieser Ein-
fall wie ein zündender Funke, so bildet die anschließende
Fuge »thou sittest at the right band« (»tu nd dexteram
dei patris«) da^ entfachte große Feuer. Unter den knap-
pen Sätzen dieses Te deums bildet sie einen der imposan-
testen. In der folgenden Nummer »We believe that thou
shall come« (»Iudex crederisc) ist der Eintritt des vollen
Chors, der ernst und in ganz einfachen Wendungen z^
beten beginnt, mächtig ergreifend. Den festlich volks-
tümlichen Charakter des ütrechter Te deums bringt
der Satz: »Day by day« (»Per singulos dies«) besonders
II, i, 24
treffend zum Ausdruck. Händel hat den sechsstiniinigen
Chor in zwei Gruppen geteilt, welche die munteren Mo-
tive der Themen in unaufhörlichem Wechsel nach allen
Richtungen des Tongehietes tragen. Im Orchester sind
die Händeischen Originaltrompeten sehr wichtig. Mit den
Holzbläsern konzertierend, sich ablösend und vereinend,
vervollständigen sie das bunt und kräftig bewegte Fest-
bild, welches der Satz enthält, mit den Reizen allgemein
verständlicher künstlerischer Spiele. Der . Adi^io.
Satz »Vouchsafeo Lord« (»Dignare domine«) lij f-Jr} '
hat durch das Festhalten an dem Motiv: ^^' * U l =
einen eigentümlich besorgten Zug. Er bleibt auch noch
in dem Schlußabschnitt, wo der eintretende Chor in neuen
musikalischen Weisen der Hoffnung auf Gottes Gnade Aus-
druck geben soll. Dem Schlußchor >0 Lord in thee have
Itrustedc (»In te do- Alle«o.
mine«) hat Händel das
altliturgische Motiv :
— es kommt bei ihm häufig vor — als Motto vorange-
stellt In der Verwendung <*fcr fröhlichen kurzen Gegeh-
themen, welche es bald umschwärmen, in der kühnen
Mischung kirchlich feierlicher und kräftig ungebundener
populärer Elemente spricht schon der Schöpfer des Lob-
gesangs im Israel, des »Hallelujah« im Messias. Das
Utrechter Te deum war eines der frühesten Werke Han-
dels, welche sich in Deutschland verbreiteten. J. A. Hiller
brachte es im Jahre 4 779 im Konzert spirituel zu Leipzig
zur Aufführung und veröffentlichte es bald darauf in einer
Partiturausgabe. In ihr ist der englische Text durch den
lateinischen «rsetzt. Aus den Änderungen, welche Hiller
in der Instrumentierung vornahm, ersieht man mit Inter-
esse, daß wenigstens in dem Gesichtskreis, welchen Hiller
übersah, die Kunst des Klarinblasens bereits erlosch^^n war;
denn der Herausgeber änderte die Händeischen Trompeten
durchweg und nahm damit dem Werke einen Teil seiner
bezeichnendsten Effekte. Heute kann das Prinzip nur
sein, auf das Original zurückzugehen und zwar nicht bloß
diesem Te deum gegenüber, sondern bei allen Werken
/
Händeis und seiner Zeitgenossen. Wollen wir den Geist
der alten Kunst, so können wir ihre Mittel nicht entbehren.
Es ist ein besonderes Verdienst der Berliner Hochschule
und der Joachimschen Bachaufföhrungen, diesem Grund-
satz in neuerer Zeit konsequent Geltung verschafft zu
haben.
Was den künstlerischen Charakter von Händeis Ut-
rechter Te deum betrifft, so besteht seine Eigentümlich-
keit darin, daß es die Motive des Gedichts im Anschluß
an die Vorlagen der englischen Tonkunst in einer Knapp-
heit ausführt, welcher dem Geiste der musikalischen
Grundgedanken nicht gerecht wird. Diese Sätze gleichen
vorläufigen Skizzen, und als solche scheint sie Händel
selbst betrachtet zu haben. In den weiteren drei Te
deums (Bdur, Adur, Ddur), welche er in den Jahren
474 8—4720 in Cannons schrieb, kommt er auf ganze
Sätze und auf einzelne Ideen seines Utrechter Te
deums fortwährend erweiternd und umgestaltend zurück.
Das erste in B dur ist unter diesen das vollkommenste. &. F. Händel,
In der Anlage und dem Umfang der Sätze steht es über Te deum in B.
jedem Vergleich mit dem Utrechter. Es enthält einen
einzigen reinen Solosatz: »When thou tookest upon
thee« (»ALs Du auf dich genommen«), eine sanfte Arie,
welche Händel später für das Dettinger Te deum be-
nutzte. Alle übrigen Nummern sind Giöre von merk-
würdiger Besetzung: einfacher Sopran, drei Tenöre und
Baß. Zum Teil ziehen sich Soli* in diese Ghorsätze hin-
ein. Wenn man irgendwo die Freiheit und Unbefangen-
heit von Erfindung und Haltung bewundern kann, so in
diesem Bdur-Te deum. Weltfröhliche und andächtig
erhabene Gedanken treten nahe aneinander, Volksfest
und Gottesdienst scheinen vermischt — und doch: ein
Ganzes, welches hoch über der Sphäre des Gewöhnlichen
steht. Nirgends spricht die Kraft Hänclels stärker als aus
dieser Ungezwungenheit. Leider ist das Werk bisher ziem-
lich unbenutzt geblieben. An Reichtum und Glanz der
Instrumentation wird es von dem weltbekannten Dettinger
Te deum übertroffen, an innerem Tonleben wohl kaum.
a. F. Handel, Das Dettinger Te de um schrieb Händel in seiner
Dettinger Te Stellung als Hofkomponist zur Feier des Sieges bei
deum. Dettingen, an welchem dem König von England, Georg IL,
persönliche Verdienste zugeschrieben wurden. Alle Te
deums Händeis stammen aus Perioden, in welchen auch
das äußere Leben des Komponisten unter glücklichen
Sternen stand. Die Zeit, in der das Dettinger' Te deum
entstand, war unter diesen sonnigen Abschnitten in Han-
dels Leben einer der erquickendsten, die Zeit der Ruhe
nach rauhen Stürmen, die Zeit, wo Händel sich der eige-
nen Meistertaten, der Vollendung von Israel, Messias,
Samson und Judas Maccabäus freuen durfte. Die per-
sönUche Stimmung des Meisters mag wohl den. großen
mid auch flotten Zug, der durch das Dettinger Te deum
geht, mit begünstigt haben. In einzelnen Partien des
Werkes ist die Aufgabe, den Jubel und die fromme Dank-
barkeit eines ganzen Volkes zum Ausdruck zu bringen,
mit einer Kraft und Anschauhchkeit gelöst, welche ohne
Vergleich und einzig kolossal dasteht In vorderster Linie
steht unter diesen Partien der Eingang des ersten Satzes.
Wir wissen von Te deums, in welchen die Komponisten
(Sarti, Neukomm] Kanonen und Glocken zur Mithilfe rie-
fen, von anderen (Paisiello), in welchen Märsche für
Massencorps von Militärmusikern eingelegt waren. Hän-
del hat hier erschütternde Wirkungen, ohne Theatercoup
und ohne den Stil der höheren Kunst zu durchbrechen,
erreicht. Trompeten und Pauken — bei der ersten Lon-
doner Händelfeier im Jahre 4784 waren die ersteren zu
vierzehn besetzt — mit den Holzbläsern und mit den
Violinen abwechselnd und zusammentretend, geben ein
glänzendes, ein berauschendes Bild vom Jubel eines
begeisterten Volkes — nebenbei in den Motiven mit
der Einleitung zu Bachs Weihnachtsoratorium ziemlich
übereinstimmend. — Da rauschen breite Töne im Chore
auf und mit einem Hauch ist das laute Treiben der
naiven profanen Freude in die höhere Strömung reli-
giöser, weihevoller Andacht eingeleitet. Kein späterer
Musiker hat den zwingenden Eindruck dieser Stelle
— -^ 373 ^—
überboten. Unter denen, welche ihm nahe zu kommen
gestrebt haben, ist Brahms mit der Einleitung seines
Triumphliedes zu nennen. Vieles im Dettinger Te deum
erinnert uns an andere Werke Händeis: Der erste Drei-
vierteltakt — zu den Worten: »All the earth« (Alle Welt
usw.«) — an eine Arie des Israel, eine ganze Perioden-
gruppe in >To the Cherubim« (»Stimmt an Cherubim
usw.«) ist gleichlautend mit einer im »Hallelujah«
^es Messias. Händel fragte nicht nach der Originalität
der einzelnen Ideen, sondern nach ihrer Zweckmäßig-
keit. In diesem Sinne hat er für dieses Dettinger Te
deum auch die Arbeit eines anderen Komponisten, das
Te deum des F. A. Urio mU benutzt. Ein besonderes
Kennzeichen, welches aber das Dettinger Te deum von
den anderen Kompositionen des Ambrosianischen Lob-
gesanges aus Händeis eigner Feder noch mit unter-
scheidet, liegt darin, daß dem jubelnden Ton ein ernst
sinnender, gefaßter, ehrfurchtsvoller die Wage hält.
Seinen Ausdruck findet er in feierlichen Episoden ein-
zelner Stimmen, in liturgischen Zitaten, namentlich aber
in dem ruhig fromm ausklingenden Schlußsatze und in
der diesem vorhergehenden herrlichen Baßarie »Vouch-
safe o Lord« (»Bewahre uns Herr«, im lateinischen Text
»Dignare«), einem Meisterstück des Händeischen Arioso-
stils.
Nach Händel waren es unter den namhaften Ton-
setzern, welche mit Kompositionen des Ambrosianischen
Hymnus vertreten sind, namentlich Graun und Hasse,
deren Arbeiten weiter verbreitet waren. Auch ein Te
deum N. Jomellis, »das römische« genannt, wird mit IT. Jomelli.
Auszeichnung erwähnt, scheint aber nur selten aufge-
führt zu sein. Von Graun existieren zwei. Das zweite C. H. Grann,
(in Ddur), welches nach dem Tode des Komponisten in Zwei Te
der Schloßkapelle zu Charlottenburg im Jahre 4 763 zur deums.
Feier des Hubertusburger Friedens aufgeführt wurde, hat
sich bis in die dreißiger Jahre des vorigen Jahrhunderts
in Choraufführungen behauptet. Die Chorstimmen, die
konzertierenden Hörner und Flöten und die übrigen
371
Orchesferin Strumente überdecken die vorwiegend wei-
chen Grundgedanken dieser Komposition mit einer Fülle
A. Hasse, liebenswürdigen Schmuckwerks. A. Hasse werden fünf
Te deum. Te deum» zugeschrieben. Das eine in Ddur, aus der
mittleren Periode des Tonsetzers stammend, — noch im
Jahre 4 846 bei Peters mit deutschem Text von G.W.Fink
neu gedruckt — erlangte eine außerordentliche Berühmt-
heit In Dresden war es das ständige Feststück, die Kan-
toren in den Provinzen strebten nach ihm als der denk-
bar höchsten Zierde ihrer Feiertagsmusiken. In der Kirche
hat es bis gegen Ende des i 9. Jahrhunderts seinen Platz
behauptet. Wenn es aus dem Konzert schon früher ver-
schwunden ist, so liegt das an der etwas zu alltäglichen
Fröhlichkeit, mit welcher in dem Eingangssatz (>Te deum
laudamus«) und in dem fugierten Schlußsatz (»In te do-
mine speravi«) der Chor sich mit Lob, Dank und Bekennt-
nis zu Gott dem Herrn wendet. In den übrigen Partien geht
der Ton glänzender Lebendigkeit, welcher die Messen Hasses
verleidet, nicht über das beim Te deum zulässige Maß.
Bei diesem Stücke hat die Kirche fast immer der pro-
fanen Tonkunst erlaubt, mit einzustimmen. In dem Hasse-
schen Te deum macht letz- ^^ Aflegroassai.
tere von diesem Rechte mit
der flotten Orchesterphrase
Gebrauch, welche in der Form von Zwischenspielen und
Begleitungsmotiven die ganze Komposition durchzieht. Sie
klingt in die vorwiegend einfachen, oft sehr eigentümlich
gruppierten und mächtig ergreifenden Sätze des Sänger-
chors hinein, so wie der Lärm der jubelnden Menge
draußen vom Platze her ins Innere der Kirchenhallen
schallt. Das ganze Te deum erhält durch die Durch-
führung dieses leitenden Motivs den Charakter einer
einzigen großen Szene, seine Form einen Reiz, welcher
Hasses geistiges Eigentum allein war. Die Mitte dieses
Te deums wird von einer maßvollen und passenden Arie
über die Worte »Salvum fac populum tuum« gebildet.
Aus der großen Menge hausbackener Gelegenheits-
kompositionen, welche in dem letzten Drittel des
— ♦ 37B ♦—
48. Jahrhunderts von bekannten TonsetEem wie Brixi, Brlzi|Gamplon1,
Campioni) Ciampi, Gazzaniga über das »Te deum« Ciampii
geschrieben wurden, erhebt sich das kleine »Te deum« Oassanlga.
Mozarts vom Jahre 4 770. Es entstand auf Bestellung der W. A. Mozart,
Kaiserin Maria Theresia. Merkwürdigerweise hat die Be- Te deum.
gleitung keine Blasinstrumente. Den Höhepunkt des Werks
bildet die Doppelfuge über »In te domine speravi«. Ein
interessantes Te deum jener Periode ist auch das von
Ferradini. Es besteht, wie die alten englischen, aus Fenadini.
einer Menge kleiner Sätze. AHe diese einzelnen Bilder
sind aber mit ausgezeichneter Sorgfalt ausgeführt. Als ein
Te deum, welches sich auf den Programmen des letzten
Jahrzehntes des 48. Jahrhunderts häufiger findet, ist das
von Ehregott Weinlig zu nennen. Die durch Kunst- E. Welnlig.
wert und Verbreitung bedeutendste Komposition der
Periode ist das zweite Te deum J. Haydns (vom Jahre J. Haydn,
4 809), welches mit dem — auch vielen andern Komposi- Te deum.
tionen der Hymue untergelegten — deutschen Texte von
Clodius: »Sieh die Völker auf den Knieen« noch heute bei
Kirchen aufführungen viel benutzt wird. In der Behand-
lung einzelner Textstellen (»Sanctus« z. B.) stimmt es mit
dem Hasseschen Te deum überein, nimmt aber den Fest-
ton im ganzen um einige Grade feierlicher. Durch die Ein-
fügung hochernster, pathetischer Episoden (»Te ergo quae-
sumus«, »sine peccato« und »non confundar in aeternum«)
ist ihm ein Zug von Schönheit gegeben, welcher es dem
Dettinger Te deum Händeis geistig nahe bringt.
Von den vielen Kompositionen des Te deum, zu wel-
chen die Kriegsperiode Napoleons I. Veranlassung gab,
ist keins zu bleibender Bedeutung gelangt. Als solche,
welche wenigstens in der Zeit ihrer Entstehung und in
den nächsten Jahren einen größeren Erfolg ernteten, sind
das erste von J. v. Seyfried (Cdur) zum Einzug des J. t. Seyfriefl,
Kaisers von Osterreich im Jahre 4 84 4 komponierte^ das
von G. Weber und das von F. Himmel zu erwähnen. G, Weber,
Das letztere ist vielleicht die ausführlichste Komposition F. Himmel,
der Ambrosianischen Hymne. Auch die drei Te deums
von dem bis zur Mitte des vorigen Jahrhunderts als Kirchen-
— * 376 ^--
A. Borgt, musiker noch sehr geschätzten August Bergt, welche
in diese Zeit fallen, genossen ein allgemeines Ansehen.
Wie die andern Werke dieses Tonsetzers, zeigen auch
sie in den Themen und ihrer Ausführung Mozartschen
Einfluß; aber in ihrer Anlage herrscht eine erfreuliche
Ursprünglichkeit, Einfachheit und Größe des Stils.
Namentlich das dritte (op. 4 9) wirkt mit der Gegen-
überstellung ' rezitatiyartiger Solosätze und Chorstellen
sehr glücklich. Mit den Bergtschen Kompositionen des
J.Q. Schicht. Lobgesangs konkurrierten die von J. G. Schicht, der
das Te deum dreimal komponierte, einmal nach dem
Te^t von Klopstock. Gedruckt sind nur ein lateinisches
vom Jahre 4 824, welches sich an die Händeische kurz-
sätzige Form anschließt und neben wirklich erhabenen
Stellen auch einige schwächliche in Naumanns Weise
enthält, und das Te deum (nach der Parodie Witscheis)
vom Jahre 4822. Dieses (dem Universitätssängerverein
zu St. Pauli gewidmet) gehört mit den Te deums von
F. A. Hftser, F. A. Häser und B. Klein zu den bedeutenderen Kom-
B. Klein. Positionen für Männerchor, welche wir aus jener Periode
AbtVogleri* besitzen. Nach Bergt und Schicht haben Abt Vogler
W. Tomascliek. und W. Tomaschek Kompositionen des Te deums
geliefert, welche sich durch Selbständigkeit auszeichnen.
Eine praktische Bedeutung gewannen jedoch diese Arbei-
ten nicht. In Frankreich sind in der Periode von Bergt
J. F. Lesnenr. und Schicht die drei Te deums von J. F. Lesueur, dem
Komponisten der »Barden«, einem auch auf dem Gebiete
der Kirchenmusik originellen Tonsetzer (fünf Messen,
zwei Passionen, ein »Stabat« usw.) hervorzuheben. Das
H. Berlios, Te deum von Berlioz, welcher in neuerer Zeit häufig
Te deum. mit Lesueur in Zusammenhang gebracht wird, ist als
Teil einer unausgeführt gebliebenen großen musikali-
schen Epopöe auf Napoleon I. entworfen. Berlioz
dachte es sich in dem Augenblicke angestimmt, wo
der Konsul vom italienischen Feldzug zurückgekehrt,
Notre Dame betritt. Für diesen gewaltigen Dom sind die
Wechselakkorde von Orchester und Orgel, sind die drei
Chöre (zwei dreistimmige und ein einstimmiger, mit
Männern und 300 Kindern zu besetzender) und eine Menge
andrer Effekte des Werkes berechnet. Die Fantasie des
Tonsetzers war mehr von dem Bilde einer großartigen
kircjblichen Zeremonie erfüllt, als von den Worten des
Textes selbst. Dieses te deum ist noch viel theatra-
lischer als das Requiem von Berlioz und voll von der
künstlichen Monotonie liturgischer Motive, kolossaler Psal-
modien und der Steifheit tendenziöser Kontrapunktik. Bei
allen Eigenheiten wird man ihm aber einen hochfeier-
lichen und fesselnden Grundton nicht absprechen können.
Der musikalisch schönste Satz ist »Tibi omnes angeli«,
ein Stück von» der besonderen, fast gewaltsamen Innigkeit
Berlioz\ Im Jahre 4835 geschrieben, ist das Werk erst
4 853 (zu London), von da ab bis 1883 (Bordeaux) nicht
wieder aufgeführt worden. Seit 4 884 hat es in Deutsch-
land die Aufmerksamkeit erregt. Die Partitur ist schwer
zu haben, dagegen darf der englische Klavierauszug auf
Verbreitung rechnen.
Äußerst «chwach ist die jüngste Generation der
Tonsetzer mit JCompositionen des Te deums im Konzert-
repertoirevertreten. Außer dem für Männerstimmen ge- *
schriebenen Te deum von J. Rietz, einer tüchtigen, für J. Biets,
das Dresdener Sängerfest (im Jahre 4865) bestimmten Te denm für
Gelegenheitsarbeit, hat nur das von Anton Brückner Männetchor.
{für gemischten Chor, Soli und Orchester) komponierte A. Brnokner,
außerhalb des Ortes der Entstehung und ersten Auffüh- Te deula in 0.
rang das Interesse größerer Kreise gefunden. Den Text
behandelt diese Komposition mit einer in der Geschichte
des Te deums ungewöhnlichen Subjektivität: Die Elemente
des Zagens und Bangens stehen dermaßen im Vorder-
grand der Brucknerschen Musik, daß der Charakter und
Zweck eines Lobgesanges ernstlich gefährdet erscheinen.
Auch der innere musikalische Ausbau dieses Te deums
erregt viele Bedenken und läßt in der Wahl von einzelnen
Themen, in der Durchführung barocker Begleitungsmotive,
in der unmotivierten Hingabe an rein musikalische Ideen,
welche zum Teil auch noch Reminiszenzen aus Werken
Wagners sind, den durchgebildeten Geschmack und die
— ♦ 378 V—
Reife des künstlerischen Wesens empfindlich Termissen.
Kein zweiter unter den neueren Tonsetzem zeigt die
fatale Ähnlichkeit mit der zwiespaltigen Natur des üher-
hildeten Abh^ Vogler so stark wie hier Brückner. Aber
Größe der Intentionen und der Stimmung wird man
diesem Te deum nicht absprechen können. Namentlich
in den kurzen, breit rhythmisierten Schlußwendungen sei-
ner knapp gestalteten Sätze rührt und ergreift das Werk
oft tief. Dem Schlußsatz, in welchem ein Motiv aus dem
Adagio von Brückners eigner £ dur-Symphonie eine her-
vortretende Stellung einnimmt, darf dieses Zeugnis im
ganzen Umfang ausgestellt werden.
Den vorläufigen Abschluß in der Geschichte bedeu-
tender und ins Konzert übergegangener Kompositionen
G. Verdia des Ambrosianischen Lobgesangs bildet wieder G. Verdi
mit dem letzten seiner Quattro pezzi.
Die Fülle gewaltiger Fantasie, die in dem Ambrosia-
nischen Lobgesang angeregt wird, läßt sich musikalisch
nicht erschöpfen. Wenn aber ein Komponist in knapper
Form die Aufgabe annähernd gelöst hat, so ist es hier
' Verdi gewesen; sein Te deum ist eine der allerbedeu-
tendsten Leistungen nicht bloß in der neueren, sondern
in der Geschichte der Kirchenmusik überhaupt, ein Pracht-
stück, an dem Inspiration und freie Kunstbeherrschung
gleicherweise hervorragen, auf das die Liturgie und die
Musik gleicherweise stolz sein dürfen. «Auch hier ist
Verdi von den Gesetzen und Forderungen ritueller Musik
ausgegangen und hat sie unausgesetzt im Auge behalten,
aber der Wortreichtum des Textes hat ihn zu einer Ge-
staltung in großen Zügen gezwungen, bei der sich die
Musik der Fesseln entledigen und selbständig bewegen
mußte.
Die Komposition beginnt rein liturgisch: Die Män-
nerstimmen intonieren in Vertretung des Priesters die
erste Zeile in bekannter Gregorianischer Melodie und
fahren dann fort in dreistimmigen Wechselchören zu
deklamieren. Verdi hat dabei alte Zeiten und alte
Sitten so ernstlich nachzubilden gesucht, daß er sogar
379
Quintenparallelen anwendet. Wie aus der Feme und
der Höhe klingen diese Stimmen und vielleicht wird
man hei der Aufführung gut tun, den ganzen Ahschnitt
his »proclamant« von einem kleinen, unsichtbaren, weit
und verdeckt aufgestellten Ensemble singen zu lassen.
Um so gewaltiger wirkt "dann der Einsatz des ersten
Sanctus mit der Pracht des starken Orchesters und des
Doppelchores. Es handelt sich dabei allerdings zunächst
um einen ähnlichen dynamischen Effekt wie jenen welt-
bekannten j*^ bei »Und es ward Licht« in J. Haydns
Schöpfung. Aber die ganze an dem Punkte einsetzende
Periode bleibt auf der Höhe, auf der^-sie eintritt. Es ist
eine der iU)erwältigendsten Stellen, soweit man musika-
lische Kunstwerke überblickt, eine Vision, die Schauer
erweckt. Geisterhaft verkUngt die Stelle im leisen Stam-
meln der unteren
Stimmen. In ihrer Jl^^^ rf^
Mitte J)ringt sie ein y Li,
kleines Thema :
1^^
Ple
ni sunt coe . li
das in ei-
nem späte-
ren Teil des
Te deums
Der zweite
wichtig, zum Träger der Lobpreisung wird.
Abschnitt der Komposition umfaßt den Text von »Te
gloriosus Apostolorum Chorus« ab bis zu »Paraclitum
Spiritum«. Er ist musi-
kaiisch in einer Andacht 0 ^>.u [^ j^T^y/^ß-^
gehalten, die über das ^^^^' f F l.l ' ' > E
innig anbetende Motiv: ^
staunt und träumt. Nur die Worte »Patrem immensae
majestatis« heben sich kräftig und glänzend aus diesem
Halbdunkel hervor.
Den dritten Abschnitt, der von »Tu Rex gloriae«
bis »in saeculum saeculi« reicht, beginnt ein dem
Gregorianischen ^ ,
Choral entnom- fe *> f Tf 1 1' ^''^^ T ^fe^
menes Thema: %r - ' ' ' L J T I
das die Trompeten einführen, die Stimmen frei fugieren
und mit jubelnden Kontrapunkten umkleiden. Von den
Worten an »Te ergo quaesumus« teilt es sich mit dem
vorhin angeführten Motiv der Anbetung in die Herrschaft.
— ^ 380 ♦—
Den Mittelpunkt bildet eine a capella- Stelle über die
Gebetsworte: »Salvam fac populnm, Domine«.
Dire Musik kehrt, vom Orchester gestützt, in dem
Schloßabschnitt der Komposition bei »Fiat misericordia«
wieder. Begonnen wird dieser Schlußteil mit einer ein-
fachen, echt italienischen, an Verdis Reqniem erinnernden
Melodie, die mit den Worten: »Dignare Domine« im sanf-
ten Unisono aller Stimmen vorbeizieht Eigentümlich
poetisch stellt der Komponist dem Gedanken an die ewige
Verdammnis die Hoffnung auf den allmächtigen Herrscher
Himmels und der Erden entgegen. Während die Stimmen
in dunklen Harmonien »non confundar in aetemum«
singen, stimmt das Orchester das Thema von »Pleni sunt
coeli« an. Mit ihm klingt die Komposition auch leise
und geheimnisvoll aus. Der für ein Te deum ungewöhn-
liche Schluß erinnert ganz an die Art, wie Cherubini
seine beiden »Requiems« schließt. Auch die seehsche -Ur-
sache dieser eigentümlichen Wendung wird bei Verdi die
gleiche sein.
Die letzten aus den Händen angesehener Komponisten
hervorgegangene Te deums sind die von Edgar Tinel
und Friedrich Gernsheim.
El TineL Das von Tinel (op. 46) gibt in einer längeren Reihe
knapper, innerlich nur lose, durch einige Uturgische In-
tonationen verbundener Sätze die Umrisse der einzelnen
Textbilder, ohne auf ihren Inhalt tiefer einzugehen. Lang-
sames Tempo, mächtig schwerer Orchesterklang und ge-
bundener Stil des in eine tiefe und hohe Gruppe geteilten
Chores herrschen vor, häufige Schlüsse und allgemeine
Pausen verstärken die feierliche Spannung, auf die der
Komponist in erster Linie ausgeht. Es ist ein altertümeln-
des Te deum, bei großen Kirchenfesten am Platz, für das
Konzert weniger geeignet
F. Gernslieim. Der vollständige Titel des Gernsheim sehen Werkes
(op. 90) lautet: »Te deum nach Worten der heihgen Schrift«,
und es beginnt mit den Worten »Jauchzet dem Herrn
alle Welt«. Es ist also ein freier Lobgesang, dem litur-
gisch die Bezeichnung als Te deum nicht zukommt. Nach
.--^ 38< *—
dem musikalischen Wert aber, der Selbständigkeit und
Anschaulichkeit, mit den Stellen • wie »Kommt vor sein
Angesicht«, und namentlich nach der Wärme, die aus den
Hauptstellen, am stärksten aus dem später und nochmals
am Ende wiederkehrenden Einsatz, strahlt,, gehört es
unter die hervorragendstep und packendsten Leistungen
der neuen geistlichen Komponisten.
Der größte Teil der frei gedichteten kirchlichen
Hymnen, zu welcher Gruppe »Stabat« und »Te deum«
gehören, fand seine Verwendung beim Gr aduale,
beim Offertorium und in den mannigfaltigen Gruppen
der Nebengottesdienste. Graduale und Offertorium sind
nach den Festzeiten (de tempore) verschiedene Einlage-
stücke in der Messe. Jenes steht zwischen »Gloria« und
>Credo«, dieses zwischen »Credo« und »Sanctus«. Das
Graduale wurde gesungen, während der Lector die Stufen
(gradus) zu dem Lesepult hinaufstieg, das Offertorium
während die Gemeindeglieder ihre Gaben und Opfer vor
dem Altar niederlegten (offere). Der fromme Brauch der
früheren Ghristenzeit ist längst erloschen, das begleitende
Musikstück aber und sein Name sind im Hochamt erhal-
ten geblieben. In der Regel sind Graduale und Offer-
torium kurz, inhaltlich je nach dem kirchlichen Charakter
bald ernst, bald freudig. Einzelne besonders beliebte
Texte sind unzählbar oft komponiert worden: »Tantum
ergo«, »0 salutaris hostia«, »Ave Maria« und andere
Marienhymnen in erster Linie. Wie die liturgischen Haupt-
stücke haben auch Offertorium und Graduale an allen
Wandlungen des musikalischen Stils teil genommen, doch
mit einem großen Unterschied: beim Übergang aus der
anbegleiteten Einstimmigkeit in den Chorsatz bilden sie
die Nachhut, beim Eintritt in die begleitete Vokalmusik
zogen sie voran. Schon 4 647 gibt der Salzburger Abraham
Megerle drei Bände Offertorien mit Instrumenten heraus.
Im Ordinarium der Messe ist der neue Stil damals noch
eine Seltenheit. Seitdem sind Graduale und Offertorium
besonders häufig als Gesangsoli komponiert worden, in
— * 382 *>—
schlechten Perioden bravourmäßig auf äußerliche Musik-
wirkung und' Konzerteffekte gerichtet; ihnen gegenüber
drückte die Kirche nur zu oft beide Augen zu. Es gab
bis vor kurzem große, gebildete Städte, in deren Zeitungen
man Sonnabend lesen konnte, welche Gradualen und
Offertorien an^ nächsten Tage in den einzelnen Kirchen
aufgeführt wurden, wer dabei das Solo sang, wer das
obligate Soloinstrument dazu und wer die Orgel spielte.
Doch überwiegen in beiden Gattungen die Kleinode der
kirchUchen Tonkunst. Um Bekanntes zu nennen: Pale-
strinas >0 hone Jesuc, »Adoramus tec, ääydns »Insanae
vanae curaec, Mozarts >Ave verum corpusc sind als
Gradualen und Offertorien entstanden. Soweit aus der
Gattung Chorwerke in Betracht kommen, welche im
heutigen Konzert eingebürgert sind, sollen sie in den
Rubriken Motette und Kantate ihren Platz mit er-
halten.
Der Gruppe der frei gedichteten Hymnen steht eine
andere gegenüber: die der biblischen Hymnen. Ihr Text
ist Wort der heiligen Schrift. Die Psalmen (cantica Da-
vidis) bilden den größten Teil dieser Gattung. Im Rang
stehen ihnen die dem neuen Testament entnommenen
Cantioa majora. Hymnen : die sogenannten cantica majora: der Lob-
gesang der Maria, der Lobgesang des Zacharias und der
Lobgesang des Simeon jedoch voran. Der erste dieser
drei cantica majora, das sogenannte »Magnificat« ist
die unter den Hymnen jeglicher Art am häufigsten
komponierte. Zunächst wird man die Gründe für diese
Bevorzugung in der Poesie des Magnificat suchen dürfen.
Das Wunder der Engelserscheinung, aus welcher es her-
vorgegangen, der Grundton schlichter kindlicher Demut
in den Worten der durch die Verkündigung so plötzlich
zu unvergleichhchen Ehren berufenen Jungfrau, machen
diesen Lobgesang zu einem der eigentümlichsten und
schönsten unter den Hymnen aller Literaturen. Die mu-
sikalische Fantasie wird noch dazu durch den Reichtum
anschaulicher und zueinander kontrastierender Einzel-
bilder in Bewegung gesetzt, welche der Lobgesang einfach
•— * 383 *— '
zusammenstellt. Da stehen die Schicksale der Armen
und der Hoffärtigen dicht nebeneinander. Diesen poeti-
schen Stützen ' verdankt das Magnificat nicht bloß eineMagniflcatsTon
hervorragende Stellung in der katholischen Vesperliturgie. F. Airarlo,
Auch die Protestanten, die den volkstümhchen Marien- &, Ciooe,
kultus bekämpften, behielten das Magnißcat noch lange 0. Bnfay,
bei. In den Nürnberger Nebengottesdiensten war es noch 0. Qabrie|li,
bis ins 4 7. Jahrhundert hinein mindestens einmal jede J. Fnzi
Woche zu hören *). So sehen wir denn die Komponisten P. Chuorrero,
der Vokalperiode, mit Dufay angefangen, immer wieder L. Häßler,
zum Magnificat zurückkehren und die acht Psalmentöne J. K. Kerll,
(Ritualmelodien, welche die Gregorianische Liturgie für 0. dl Lasso,
die verschiedenen Festzeiten, in welchen der Lobgesang Lemaiatre,
gesungen werden konnte, bot) von neuem bearbeitet. Lotti,
Viele veröffentlichten ihre\ Magnificats in Folgen von L. Marenalo,
Büchern, eines nach dem andern. Von Orlando diLasso Ch. B. Martini,
wurden in Stimmen hundert gedruckt, von Palestrina B. y. Melle,
drei Bücher. Verhältnismäßig viele dieser Magnificats der L. da Monte,
Vokalperiode liegen heute in Partiturausgabe vor. Wir O. Morales,
nennen nach dem Alphabet F. An erio, G. C r oce , G. Dufay , M. ITavarro,
G. Gabrieli (ein achtstimmiges und ein zwölfstimmiges), D. Orti«,
J. Fux, F. Guerrero, L. Haßler, J. K. Kerll, 0. di(j. p. da Pale-
Lasso (etliche fünfzig in Proske und Commer), Lemais- strinai »
tre, Lotti, L. Marenzio, G. B. Martini, R. v. Melle, B. de Pareja,
L. da Monle, C. Morales, M. Navarro, D. Ortiz, ö, Pitoni,
G. P. da Palestrina**), R. de Pareja, G. Pitoni, H. Praetorins,
H. Praetorius, B. Ribera, H. Schütz, L Senfl, B. Eibera.
F. Suriano, A. de Torrentes, H. de Vargas, H. Sohiit«,
C. Verdonck, A. Willaert,'C. de Zaccariis. Aus L. Senfl,
Novellos Sammlung würde sich diese Liste mit einer F. Snriano,
Reihe von Magnificats englischer Tonsetzer, unter denen A. de Torrentes,
auch H. Pur cell, vervollständigen lassen. Unter den H. de Vargas,
nur in Stimmausgaben erhaltenen scheinen die von 0. Verdonck,
Pinelli besonders verbreitet gewesen zu sein. Magni- a, Willaert,
ficats älterer deutscher Tonsetzer und auf deutschen C. de Zaccariis.
*) Herold: Alt-Nomberg in seinen Gottesdiensten. 1890.
**1 35 in der Gesamtausgabe von Breitkopf & HärteL
— ^ 384 4.—
Text komponiert, besitzen wir in neuer Partiturfonn nur
von L. Haßler und H. Schütz. Die von J. H. Schein
und Chr. Demantius wären der gleichen Auszeichnung
wert. Die Zahl von alten Stimmenausgaben ist auch
bei uns bedeutend groß. Die Magnificats der Vokal-
periode sind ausnahmlos antiphonisch gehalten; nur in
der Art des Antiphonierens unterscheiden sie sich. Die
älteste Form ist der Wechsel zwischen einstimmigem
Gregorianischen Gesang und mehrstimmigem Chorsatz,
Vers um Vers. Die Gregorianischen Verse sind dem Li-
turgen zugedacht und behalten immer dieselbe Melodie,
die Chorverse sind freie, der Stimmung und dem Gehalt
des einzelnen Wortes nachgehende Kompositionen, was
nicht ausschließt, daß sie in der Mehrzahl spärlicher oder
reichlicher, loser öder fester die liturgische Melodie mit
benutzen. Zu den für die verschiedenen Festzeiten be-
stimmten acht Haupttönen des Magnificat treten noch
eine Reihe von Varianten, die nur in einzelnen Ländern
oder für kurze Zeiten Geltung gehabt haben. Auch sie
gleichen den Fsalmentönen und sind wie diese Akzent-
weisen mit melodischen Formeln für den Anfang und für
den Schluß der Verse. Das naturgemäße und wirkungs-
vollere Verfahren mit der liturgischen Intonation zu be-
ginnen und ihr den Chorsatz folgen zu lassen, war
durchaus nicht die Regel, wir haben, wenigstens in der
früheren Zeit, ebensoviele Magnificats, in denen die un-
geraden als solche, in denen die geraden Verse figuraUter
komponiert sind.
Mit der zweiten Hälfte des 4 6. Jahrhunderts hört
der versweise Wechsel von Liturg und Chor auf, die
Hauptform für den Vortrag des Magnificat zu sein. Die
hturgische Intonation wird auf den ersten Vers beschränkt,
die andern elf singt der Chor. Oder aber: es tritt an
Stelle des Liturgen ein zweiter Chor. Von Willaert ab
sind die Magnificats einer der ansehnlichsten Posten in
der die Zeit beherrschenden Kunst der doppelchörigen
Komposition und zugleich wächst damit die Zahl der in
Druck gebrachten Magnificats bedeutend. Hierzu kommt
— «- 385 «—
nun noch eine dritte Art des Alternierens, nämlich : Wechsel
voa Gregorianischer Intonation und selbständigem Orgel-
spiel. Darüber, dajß in der älteren Zeit die Aufgabe der
Orgel weit mehr darin bestand, den Gesang zu ersetzen,
als ihn zu begleiten, .sind wir durch Rietschel*) gründ-
lich unterrichtet worden. Die Orgel nimmt in der Messe
schon am Anfang des 1 5. Jahrhunderts dem Chor kleinere
und größere Abschnitte ab, sie spielt, die Melodie poetisch
variierend und paraphrasierend, in den fast endlosen
evangelischen Kirchenliedern des 47.. Jahrhunderts die
gute Hälfte der Verse allein, während Chor und Gemeinde
still den Text nachlasen, und sie leistet einen ähnlichen
Ersatz und Hilfsdienst auch im Magnificat. Hier finden Orgelmagni-
sich sogenannte Orgelmagnificats bereits seit der Mitte flcats von
des 4 5. Jahrhunderts **) und sie gehen bis ins 48. weiter. 8. Soheidt,
Von den hierher gehörenden Arbeiten bedeutender Meister J. E. Kerll.
seien die von S. Scheidt, J. K.Kerll und Job. Pachelbel J. Paohelbel.
deshalb hervorgehoben, weil sie durch Neudrucke bequem
zugänglich sind***).
Von den in moderner. Partitur heute vorliegenden
vokalen Magnificats mag vielleicht das von R. Schlecht
(Geschichte der Kirchenmusik S. 265) mitgeteilte das älteste
sein. Es geht auf den fünften Ton:
r ir r r ir f if" r I " I
II. mA ».aLm» n»-^ Öo.mi . nun.
*) G. Rietsohel: Die Aufgabe der Orgel im Gottesdienst
des 16. nnd 17. Jahxlranderts. Leipzig 1893.
**) A. Sandberger: Einleltong zur Aasgabe der Klayierwerka
von Job. und W. H. Pachelbel (Denkmiler deutscher Tonknnst
in Bayern, Bd. IVV
***)S. Scheidt (Tabnlatora nnova) in den Denkmälern
deutscher Tonkunst, Jahrg. I, Pachelbel in den DenkmUern
der Tonkunst In Österreich, YIII, 2; Kerlls Modulatio orga-
nica wird von den Österreichern für den Druck vorbereitet.
II, 1. 23
-^ 386 ♦—
und gibt das »Exultavitc, das »Quia fecit«, das »Fecit
potentiamc und die andern geraden Verse als Chorsätze.
Da findet sich denn an einem Teil dieser Ohorsätze als
eine Spur hohen Alters, die aus der Geschichte der Messe
und Motette bekannte Mehrtextigkeit. Das liturgische
Grundthema wird am Anfang in der bekannten nach-
ahmenden Weise durch alle vier Ghorstimmen geführt,
aber schon, nach der ersten Durchführung einer von ihnen
allein überlassen, welche es in rhythmischer Dehnung
breiter, melodisch tot, zu Ende singt. Die andern drei
stimmen dazu bekannte Weihnachtslieder an, im »Et
exultavit« das »Resonet in laudibus«, im >Quia fecitc
das: >In dulci jubilo, nun singet und seid froh« usw.:
lateinisch und deutsch durcheinander. Ja die Naivität
geht, ähnlich wie in der Malerei des Mittelalters, welche
Passionsbilder mit Storchnestern und andern Volks-
späßen belebte, wiederholt bis zu Zitaten aus der Cou-
pletmusik jener Zeit: Takte lang erklingen in allen drei
oder in nur einer Stimme die wohlbekannten Refrains:
»Bombon«, >Cucu< und andere. Es ist nicht gleichgültig,
daß dieses Sohle chtsche »Magnificat« für die Weihnachts-
zeit bestimmt ist. Denn gerade die Weihnachtsmusiken je-
der Art hielten am zähesten am Volkstümlichen fest, und
der Brauch im mehrstimmigen Satz jeder Stimme ihren
besondem Text zu geben, der heute in die komische und
die dramatische Musik verbannt ist, war in der älteren
Zeit auch für die Kirchenmusik ganz nach dem Sinne
des Volkes.
Die nächstältesten neugedruckten Chormagnificats
L. 8«iiiL sind die .von Ludwig Senfl*), acht im ganzen, für jeden
Ton eins, mit vorwiegendem vierstimmigen Satz auf die
geraden Verse, zuerst im Jahre 4 587 veröffentlicht. Auch
sie wurzeln in der niederländischen Kunst und setzen
wie die Messen, die Motetten und die weltlichen Chor-
lieder des damaligen Deutschlands eine liebevolle Ver-
trautheit mit Gregorianischen Weisen voraus. Wie
*) Denkmäler der Toukunst in Bayern, III, 2.
3a7
später wieder im Bachschen Konzert, in der Haydnschen
Symphonie, im Wagnerschen Musikdrama, nur in noch
höherem Grade gilt dem Umbilden, Auslegen, dem Kom-
binieren der Noten. die Hauptarbeit auch in diesen Chor-
Sätzen. Aber die Magnificats Senfls weisen daneben auch
und viel deutlicher und entschiedener als andere Werke
selbst der bedeutendsten Landsleute Lassos auf den An-
bruch einer neuen Zeit, auf die kommende Monodie hin.
Eine neue Melodik tritt in ihnen auf, die aus frisch ent-
deckten, reichen seelischen Quellen, aus dem gesteigerten
Innenleben von Renaissance und Reformation entsprungen
und in besonders eigner Formenarbeit, der mehrstimmigen
Vertonung antiker Metren geschult ist. Die Melodik von
Senfls Magnilicat steht in einem ganz direkten Zusam-
menhang mit der seiner vierstimmigen Kompositionen
horazischer Oden von 4 534. Das Lob, das Minervini
diesen (in der Vorrede] spendet: Senil habe >seinen
Tönen den Geist der Worte .... einzuhauchen gewußte,
kann für diese Magnificats nur wiederholt werden. Um
sich von der Natur dieses neuen Geistes zu überzeugen,
genügt es, den achten Vers des »Esurientes« usw.c in dem
Magnificat primi toni aufzuschlagen. Nach einem Satze,
wie ihn dessen erste neun Takte bringen:
ß . 8u.ri . en
B . su.riC en -
tes
te.il.
e.aiLri . ob »
teft
XXVK.
UBW.
-— ♦ 388 ♦—
hat man in der früheren und gleichzeitigen Kirchenmusik
lange za suchen; hei Senil aber finden sich ähnliche, ja
wörtlich gleiche Stellen genug. Wenn moderne Augen
an ihr überhaupt etwas bemerkenswertes finden, so ist
es der im cantus firmus und in der kanonischen Stimm-
führung liegende Teil alter niederländisdier Kunst. Für
die Senflsche Zeit War dieses das Selbstverständliche: das
überraschende Element lag dagegen für sie in der Wort-
wiederholung, im Aufbau der Periode aus Sequenzen,
nicht zuletzt auch in der melodischen Kühnheit und
Fülle eines bloß kontrapunktischen Motivs. Solchen
Stellen verdankt nicht bloß der Ghorsatz Palestrinas
manche Schönheit, sie haben die Musik auch zu Osiander
und Monteverdi weiter geführt. In der besondem Ge-
schichte des Magnificats kehren Senflsche Eigenheiten
noch lange wieder, namentlich seine Behandlung des
»Esurientes usw.«, das immer der bedeutendste Satz bei
ihm bleibt, ist in dem mitleidsvollen Ton, in dem Ver-
weilen bei >inanes« und »dimisit« typisch geworden.
Wo deshalb das geistliche Konzert belehren und der ge-
schichtlichen Bildung dienen will, müssen die Magnificats
Senfls Repertoirewerke sein. Zur Einführung erweist sich
wohl das fünfte als das geeignetste.
Oaß zum cantus firmus statt der liturgischen Weise
ein weltliches Lied gewählt wurde, wie man in der Messe
häufig tat, kam beim Magnificat nur ausnahmsweise vor.
Einen sehr häufigen Gebrauch von dieser Ausnahme
Orlando di hat Orlando di Lasso gemacht, dessen Kompositionen
Lasso, des Marianischen Lobgesanges zu den reizvollsten Ton-
Magniflcats. werken gehören, welche wir im a capella-Stile besitzen.
Eigen ist ihnen ein freier Stil, der sich an den kirchlichen
Ton nicht bindet, eine freie Mischung von tiefsinnigem
und kindhchem Wesen und ein Reichtum an fantasievollen
Motiven, welche die einzelnen Textbegriffe natürlich und
höchst anschaulich beleben. Lassos Magnificats sind
eine Fundgrube von treffenden Zügen musikalischen
Kleinlebens. Darin und in der freien Entfaltung großer
Persönlichkeit gehen sie über die Arbeiten Senfls hinaus.
, 389
Doch hat auch Lasso diesen seinen Vorgänger für einzelne
> Wendungen (dimisit, jdispersit) zum Muster genommen.
Der frische angeregte Zug, welcher Lassos Magnificats
von Grund aus erfüllt, erstreckt sich auch auf den häu-
figen Wechsel zwischen volleren und dünnen , Sätzen.
Unter den letzteren ragen durch die bedeutende Dekla-
mation die sogenannten Bicinia herVor, die in andern
Chorwerken jener Periode oft seltsam berührenden Duette,
durch welche die Tonsetzer ihre kirchlichen Bauten zu
kolorieren suchten. In den katholischen Kirchen des
Cäcilienbereichs sind diese Magnificats des Orlando heute
nicht fremd. Auch im geistlichen Konzert würden sie
sich bewähren. Als zur Einführung in dieses Kunstgebiet
des Münchner Meisters besonders geeignetes Stück kann
das Magnificat quarti toni genannt werden, das Gomm^r
als 24. Nummer des II. Bandes seiner >Musica sacra«
veröffentlicht hat. Der phänomenale Wechsel zwischen
Moll und Dur an der Stelle »spiritus mens« im ersten Satz
gibjt von dem kühnen Harmoniegebrauch des Lasso, durch
den er sich in erster Linie von Palestrina und den Ita-
lienern unterscheidet, einen hellen Begdff und prägt das
Bild dieses wunderbar kraftvollen Tonsetzers ein für alle-
mal ein. Bemerkt sei, daß auch für Konzertaufführungen
alle liturgischen Intonationen zu geben sind und am
besten dem Unisono sämtlicher Männerstimmen übertragen
werden. Eins von den Magnificats Lassos, dessen Wir-
kung keinem Zweifel unterliegt, ist ferner das über
»Bean le Gristal«, eins von den mehreren,' in welchen
Orlando tiefe Lagen der unteren Stimmen vermieden
hat. Auch andere Tonsetzer der Vokalperiode haben
Magnificats ohne eigentliche Bässe geschrieben. Man
kann in diesem Punkte vielleicht eine Rücksicht auf die
geschichtliche Persönlichkeit der Sängerin dieses Lob>
gesanges erblicken. Sie war aber jedenfalls weit davon
entfernt, eine Regel zu sein. Es stehen diesen hochliegenr
den Magnificats auch solche für Männerstimmen gegen-
über. Selbst in der Zeit des begleiteten Sologesangs haben
die Komponisten ihre Magnificats nur sehr selten persön-
390
lieh oder, wenn man so will, dramatisch gehalten. Die
kleine Gruppe von Kompositionen, welche den Lobgesang
der Maria in Form von reinen oder vom Chor unter-
stützten Solokantaten (für Sopran oder, Alt) behandeln,
besteht vorwiegend aus Arbeiten des 49. Jahrhunderts.
Morlacchi, Neukomm ^ Fröhlich, Klein sind die be-
kanntesten unter den betreffenden Tonsetzern. Unter
den ältesten Meistern wird S. Bach ein kleines Magni-
ficat für eine Solostimme zugeschrieben. Es ist jedoch
neuerdings verschollen. Die Soloform tritt beim Magni-
ficat viel mehr zurück als beim »Stabat«. Von den litur-
gischen Rücksichten abgesehen, waren es die kräftigen
Bilder im Texte und die außerordentliche Schönheit der
Ritualmelodien, welche die Komponisten bei der Be-
arbeitung dieses Lobgesangs ganz unwillkürlich zum
Chore drängten. Als besonders ausgezeichnete Chor-
magnificats, die zum größeren Teil in Neudrucken «in-
gesehen werden können, seien die von G. Verdonck,
J. B. Pinelli, Lambert da Monte, R. v. Melle,
G. Morales, L. Marenzio, G. Groce, G. Demantius
genannt.
Zwei der schönsten Magnificats aus der Blütezeit der
L. Haßler. a capella-Musik sind die L. Haßlers*). Ihre Schönheit
liegt in der Mannigfaltigkeit und Natürlichkeit des Stils, in,
einer Erfindung, die, gleichviel ob in den einfachsten For-
men des Volksliedes oder in den schwersten Künsten des
Kontrapunkts ausgedrückt, immer anschaulich, lebendig
und zwingend bleibt. Haßler komponiert die geraden Verse
und läßt von den ungeraden nur den I. und 11. intonieren.
H. Bchüti. Heinrich Schütz hat in seinem Lobgesang der Maria
(als vierstimmige Ghormotette mit Orgel) durch Einfach-
heit und unwiderstehliche Liebenswürdigkeit das Bild
einer Madonna aus dem Volke festgehalten. Die Kom-
position **) gehört unter die köstlichsten Stücke der
Magnificatkunst.
*) Denkmäler deutscher Tonkunst, Bd. IL
*♦) Schützens Werke, Bd. XH.
391 ♦—
Von den Komponisten de^ Magificat aus dem
Ende der Vokalperiode wurde in früheren Jahrzehnten
verhältnismäßig ^ am häufigsten das ' vierstimmige von
A. Lotti aufgeführt, ein Werk, welches der Poesie und A. Lottl,
Plastik im Ausdruck zwar entbehrt, aber durch formelle Magniflcat
Vorzüge, Verbindung von Anfang und Endsatz, feine (Cdur).
geist- und kunstvolle, dabei fließende Verknüpfung der
Stimmen sehr schön wirkt. Besonders .gelungen ist in
dieser Arbeit die Einfügung der schönen Gregorianischen
Grundmelodi^ (Es ist abermals der fünfte Ton des Magni-
flcat.) Die dem Ghorsatz in der Breitkopfschen Ausgabe
beigegebene Orgelstimme ist entbehrlich, wie bei vielen
Chorwerken des 4 7. (Tahrhunderts.
Für die begleiteten Magnificats des 47. Jahrhundert
sind wir in der Hauptsache zur Zeit auf Handschriften
angewiesen. Wenn aus dieser Masse eins der Veröffent»
lichung wert erscheint, so ist es das G dur-Magniflcat
K. Kerlls, das sich in dem als MMs. 4 4 564 signierten J. E.^Eerll.
Kantatenband der Königlichen Bibliothek zu Berlin be-
flndet Es gehört zu den bedeutendsten Kompositionen
K. Kerlls und macht sofort in den ersten Takten seine
Originalität geltend. Die breit liturgischen Chorinto-
nationen der ersten Textzeilen werden nämlich aufs an-
mutigste von kurzen Kadenzen des ersten und dann des '
zweiten Solosoprans unterbrochen und belebt. Unter
den Magnificats aus dem Anfang der Instrumentalperiode
ragen ferner die des Sweelinkschen Schülers P. Siefert F. Siefert.
hervor. Das älteste neugedruckte Magnificat ist das acht-
stimmige von Rudolf Ahle (aus dem »Neugepflanzten B. Ahle.
Thüringischen Lustgarten« von 4 657)"'). Es besteht aus
zehn lose nebeneinandergestellten, zum Teil durch die
Zwischenspiele eines Instrumentenquartetts unterbroche-
nen Sätzchen, die ebenso schwach erfunden, als durch-
geführt sind. Nur als Bild der Naivität und Unfertigkeit
erregt es Interesse. Dagegen haben die Kompositionen des
Lobgesanges von A. Caldara und Fr. Durante hohen A. Oaldara.
♦) Denkmäler deutscher Tonkunst, Bd. V.
392 ♦—
Kunstwert. Von Caldera waren zwei Magnificats in
Umlauf, von denen namentlich das zweite (in D mit
großem Orchester) Bedeutendes Ansehen erlangte. Auch
Seb. Bach hat es eigenhändig abgeschrieben. Das Werk
ist heute noch auf vielen Bibliotheken handschriftlich zu
finden, aus der Praxis aber leider verschwunden. Dieses
Bedauern darf auf Galdara als Komponist kirchlicher
^ Musik im allgemeinen ausgedehnt werden. Er ist hier
eine ungleiche Kraft, ■ afier doch eine hcheitsvolle Er-
scheinung, namentlich in der ßehandlui^ des alten
antiphonischen Stils.
Fr. Durante. Das Magnificat von Fr. Durante liegt in ver-
schiedenen neueren Partiturausgaben vor und erscheint
in der Bearbeitung von R.Franz, welche das nur aus
zwei Violinen bestehende Originalorchester an der Hand
der Orgelstimme zweckmäßig erweitert, nicht selten auf
den heutigen Programmen. Das Werk steht in seinem
Stile noch vorwiegend auf dem vokalen Boden; die In-
strumente tragen keine wesentlichen Ideen hinzu, und
der Einfluß der neuen Periode äußert sich im Chorsatz
hauptsächlich nur durch eine größere rhythmische Be-
weglichkeit. Das Magnificat Durantes ist aber eins der
liebenswürdigsten; im gewissen Sinne darf es als das
Ideal einer Komposition des Lobgesanges betrachtet
werden. Die. Verschmelzung eines bräutlich frohen, hei-
tern, naiven Tones mit einer gehobenen kirchhch heiligen
Stimmung gibt ihm seine Eigenart. Formell ist es aus-
gezeichnet durch die Plastik der Themen, die zum Teil
sofort wie Volkslieder in Ohr und Herzen haften, und
durch die meisterhafte Ausnutzung des thematischen
Materials. Die schönen Weisen kommen allen Stimmen
zugute. Dem ersten sehr breit ausgeführten und dem
letzten Satze liegt als Grundthema der erste Ton des
»Magnificatsc unter:
—^ 393 ♦—
Nach immer andern und immer froh bewegten Serten-
biicken, welche die Stimmen einander nachtun, kehren
sie stets freudig pathetisch zu dieser Hauptmelodi«
zurück. Namentlich den ersten Satz gruppiert und be-
herrscht sie in einer großartigen Entschiedenheit. Wenn
Durante mit einer bezwingenden und eigenen Meisterschaft
den Ton des Lobgesanges festhält, so ist er doch von
Eintönigkeit weit entfernt. Das Bild hat die frappantesten
Schatten; aber sie sind mit einer überlegenen Kürze
punktiert Wir finden solche belebende Kontraste bei
d^r Erwähnung der »humilitas« (im ersten Satz], der
»Misericordiae« im zweiten usw. Dasjenige der aus dem
Ganzen hervortretenden Einzelbilder, welches der Kom-
ponist am ausführlichsten und mit besonderer Hin-
gabe ausgeführt hat, ist die Stelle >dispersit superbosc
Die stolz wegstreifende Baßfigur, die klägliche Harmonie
(eis es g), mit der das Tutti darauf antwortet, wirken
ungemein malerisch. Solosätze hat Durante nur zwei
und zwar in Gestalt von Duetten: den ersten kurz, aber
in einem eigenen Ausdruck von Ernst bei den Worten: .
>et misericordiae ejus«, der andere ausgeführtere zu den
Worten »suscepit Israel« vertritt in dem Hauptthema
^ ^ -m-t tt>____ }. am stärksten die
l^il P iP p M^ r ^ P'P tl p C/fi^ volkstümliche
SB.Me.pit b.n.fi, • n^ sM-pH Seite der Kom--
Position. Wie in der Instrumentalzeit im allgemeinen
das Antiphonieren und die genaue Übereinstimmung von
Musiksätzen und Versen aufhört, so auch bei Durante.
Die Anlage seines Magnificats ist im wesentlichen drei-
teilig. Das >Magnificat anima mea« und das >Sicut erat«
bilden große, einander entsprechende Seitenflügel : der
Mittelbau umfaßt klargegliedert, aber ohne trennende
Einschnitte, den ganzen Textteil von >et misericordia«
bis zum »Gloria patri«.
Im Jahre 4 904 ist durch eine Pariser Aufführung die
Aufmerksamkeit auch auf ein Magnifitat des großen
Ph. R am eau zurückgelenkt worden, das seinerzeit die Fht Bameau.
französische Grenze nicht überschritten hat.
— * 394 ♦—
Die heute aus dem 48. Jahrhundert bekannteste
und am häufigsten zur Aufführung gelangende Kom-
position des Lobgesangs Mariae ist das sogenannte
J. 8. Baoh, große Magnificat von J. S. Bach. Wir besitzen das
Magniflc&t Werkj welches Spitta in das Jahr 1723 setzt, in einer
(in D). ersten und einer zweiten Bearbeitung. Jene hat Pölchau
schon im Jahre 4 844 im Druck herausgegeben, die letz-
tere wurde von der Bachgesellschaft im Jahre 4862 ver-
öffentlicht und sie wird neueren Aufführungen (häufig
mit Einrichtung des in den Trompeten schweren Or-
chesters) in der Regel zugrunde gelegt. Das Magnificat
Bachs, welches als Ganzes schon wegen der Kürze seiner
Formen nicht mit den Passionen, der Hmoll-Messe oder
den bedeutendsten Kantaten in eine Reihe gestellt werden
kann, nimmt doch unter den Werken des Tonsetzers einen
eigenen Platz durch die Kraft seiner knappen Chöre eiq.
Unter den Arien ist die für Alt gesetzte: >£surientes im-
plevit bonis« von hervorragender Schönheit. Der erste
Chor ist wie ein festlicher Reigen, zu dem die Instru-
mente (das Bachsche Feiertagsorchester: Orgel, Streich-
quintett^ Flöten, Oboen, drei Trompeten und Pauken) ein
Wettspiel vollführen. Die Singstimmen rufen nur die
Erklärung in die rauschende und konzertierende Sympho-
nie hinein: In unaufhörlicher Wiederholung, als sei des
Jubeins kein Ende, erschallt von allen Seiten ihr : »Magni-
ficat, magnificatc. Sie singen es auf dieselben Motive,
aus welchen die Instrumente ihre Freudenkränze winden.
Die beiden Hauptthemen dieses stürmischen Präludiums
sind die Figuren:
. gn1.fl.Mit
In dem ersteren ist besonders das Quartenintervall wirk-
sam. In dieser Auffassung des ersten Verses begegnet
sich Bachs Magnificat mit dem von Levini, einer durch
charaktervolle Thematik überhaupt hervorragenden, na-
mentlich im »Fecit potentiam« ganz gewaltigen Komposi-
395
tion"'}. Nur schickt Levini dem rauschenden Ausdruck
der Freude eine kurze feierliche Einleitung voraus.
Bach hat unter den deutschen Komponisten, welche das
Magnificat in der italienischen Kantatenform kompo-
nierten den Sologesang besonders stark zur Ausführung
der Hymne herbeigezogen. Die erste dieser Soloarien
tritt schon beim »Et exultavit« ein. Der Sopran singt sie.
Der Bau der Nummer zeichnet sich durch kurze Gliede-
rung aus. Zum Ausdruck des >exultarec, des Jauchzens
der Seele, dient ein Zweiunddreißigstel -Rhythmus, der
wie eine Schaumflocke 'wirB jfff p/ .j zuweilen auch
den Begleitxmgsfiguren: i*^ 1 H . T Mn^^d den Gängen der
Singstimme selbst entsteigt. Ein ähnliches Motiv bei
denselben Worten gebraucht von den Früheren Lotti (im
Chorsatze), von den Späteren Fischietti (im Solo). Ein
zweiter Solosopran nimmt die Worte: >Quia respexit«
auf. Das Ritornell zu dieser Nummer ist eine jener aus
Sequenzen kühn aufgetürmten langatmigen und tief ge-
schöpften Melodien, wie sie Bach eigentümlich sind. In
der Deklamation des Textes hat Bach den Begriff der
»humilitasc doppelt hervorgehoben durch das dunkle
Kolorit der Modulationen sowohl, als auch durch Wieder-
holungen des Wortes. Schon die Komponisten der Vokal-
periode gaben diesem Begriff, wenigstens einzelne, einen
besondern Ausdruck ; die der ersten Instrumentalzeit taten
dies in der Regel. Manche, wie Geremia, entwickeln an,
dieser Stelle eine ganz ungewöhnliche Weichheit der Mo-
dulation. Auch daß Bach die Schlußworte des Satzes:
»omnes generationes« dem Solosopran durch das Tutti
abnehmen läßt,, kommt bei andern Tonsetzern in der
frühen Instrumentalperiode vor: So beiRuggiero Fedeli
und namentlich bei Albinoni, dessen Magnificat Bach
höchst wahrscheinhch gekannt hat. Was aber bei dieser Be-
handlung der Stelle »omnes generationes« besonders auf-
fällt, das ist erstens der Umstand, daß Bach aus diesen
Schlußworten des Verses einen neuen großen Satz ent-
*) Königliche Bibliothek zu Berlin, MMs. 12460.
— ♦ 396 ♦—
wickelt, das ist zweitens der deklamatorisch prunken-
de Charakter, mit welchem sein Hauptthema einsetzt:
Wenn Bach in
dieser bei Händel
häufig vorkom-
menden Weise eine Melodie baut, so hat er seine symbo-
lischen Absichten, welche in diesem Falle keiner weitem
Erklärung bediirfen. In dem wiederholt vom neuen und
von andern Seiten beginnenden Aufmarsch, den die Stim-
men auf dem Grund jenes Themas vollziehen, ist die Stelle
(kurz vor dem Schlüsse) sehr merkwürdig, wo der ganze
Zug bei Trugkadenz und Fermate plötzlich Halt macht.
Auch Albinoni geht hier über verminderten Septimen-
akkord aus Dur nach Moll, in breite Rhythmen, aucb
ihm fährt es wehmütig durch den Sinn, wie die Ge-<
schlechter kommen und gehen, wie der Tod des Menschen
Los ist. Sollte Bach hier seinem Lieblingsitaliener eine
Anregung verdanken, so ist die Art, wie er sie aus-
führt, das eigenste Produkt seiner genialen, großartigen
Melancholie und bietet ein lehrreiches Seitenstück zu
den bekannten Fällen, wie er selbst Vivaldische, oder
wie Händel Stradellasche Ideen verwertet hat. Das
»Quia fecit< ist als Baßarie behandelt. Ebenfalls sehr
kurzgliederig, ruht sie technisch in erster Linie auf dem
mit Kol(Mratu- ^, ^ ^ ^ ^ ^ » und hat in
ren umwobe- V V n P
nen Motive : .Qsi
stolzen Charakter wenig ihresgleichen. Doch kommt
dieser nur dann zur Geltung, wenn die der Orgel (oder
dem Cembalo) allein übertragene Begleitung den Sänger
ordentlich stützt und trägt Es ist eine Hauptaufgabe für
den Dirigenten, hier aus der Bachschen Skizze eine gute
Kontinuostimme herauszuarbeiten. Die Worte: »Etmisericor-
diäe ejus€ werden in einem liebenswürdig nachdenklichen
Siciliano ausgeführt, dessen Harmonien, im wesentlichen
mit denselben Baßnoten (basso ostinato), alle fünf oder
sechs Takte repetieren. Der Zwiegesang, welchen Alt und
Tenor darüber anstimmen, ruht auf der anmutigen Melodie:
und hat in
P P p/-P ft I J^R ihrem freu-
• tudUaiii BMM. dig, kraftvoll
397
Ähnlich wie beim
»EsurieQtes< die
Flöten, gehen hier
erste und zweite Violinen im Vortrage dieser volkstüm-
lichen Weise, wie Arm in Arm, vorwiegend in Terzen
einher. Die Worte »timentibus eum< hebt Bach wieder-
um in Obereinstimmung mit Albinoni auf alle Weise
hervor: einmal indem er sie zwischen bedeutende Pau-
sen stellt, das andere Mal durch melodische und har-
monische Akzente. Das »Fecit potentiamc gibt Bach
mit jenem alten Kunstgriff der Kräftetßilung wieder, der
vielen seiner Chorsätze und denen seiner Zeitgenossen
eine so erstaunliche Wirkung verleiht. Die Mehrheit des
Chores deklamiert die Worte in energisch frischen
Rhythmen, eine der Stimmen jubiliert dazu in breiten
Koloraturen. Bei dem Worte »dispersit« bedient sich
Bach des Motivs, welches seit Senfl und
Lasso für diese Stelle üblich war. DasBild
von der Vertreibung der Hoffärtigen hat wie
kein zweites im Magnificat die Komponisten gefesselt
Sie halten sich manchmal ungebührlich lange bei ihm
auf, am auffälligsten Samuel Fr. Heine. Auch Seb.
Bach verweilt einen Augenblick, aber maßvoll dabei.
Wodurch er es aber auszeichnet, das ist die letzte Into-
nation des Wortes »superbos«. Der Trugschluß und die
Pause darnach machen einen Eindruck, als wenn ein
Windstoß die Stolzen vertrieben hätte. Dann setzt der
Abschnitt >mente cordis sui< ein, durch das tiefernste
Adagio von dem Vorhergehen^den scharf und fast schauer-
lich gesondert. Bach bezog ersichtlich die betreffenden
Textesworte nicht auf >superbos«, sondern, wie es das
>8Ui« der Vulgata erlaubt, auf den >dominus qui dis-
persit«, den Herrn, welcher die Hoffärtigen vertrieben hat.
Bach folgt mit dieser Auffassung einem herkömmhchen
Brauche. Die Mehrzahl der Komponisten, schon in der
Vokalperiode, geht bei den Worten »meute usw.« in eine
feierliche, pathetische Wendung über. Die besondere
Form aber, in der sie Bach ausdrückt, weist nochmals
—-^ 398 «^-
auf Albinoni hin. Nur dieser hat Generalpause und Adagio.
Von den Späteren ist Ferradini als derjenige zu nennen,
welcher die Auffassung, von welcher sich Bach und seine
Vorgänger an dieser Stelle leiten ließen, am glänzend-
sten zum Ausdruck gebracht hat. Bei ihm wirkt nach
einem trotzigen Chorsatz zu den Worten »dispersit usw.«
der Eintritt einer von oben herab in .majestätischen
Rhythmen »mente cordis sui< singenden Solostimme be-
sonders schön. Die folgende Tenorarie »Deposuit potentes«
ist eins der schwierigsten Vortragstücke. Die Seele ihrer
Tonreihen bildet ^ine eigentümliche Mischung von Be-
dauern, triumphierender Freude und auch Hohn. Mitleid
(mit den arm gewordenen Reichen) tief und kurz, Freude
(über die Sättigung der Hungrigen) weich und liebens-
würdig ausgesprochen, liegen auch der schönen Altarie:
»£surientes< zugrunde. Der populäre Zug, welchen diese
Nummer in der Melodik der Singstimme sowohl als in dem
naiven Konzertieren der beiden Flöten trägt, war bei der
Wiedergabe dieser Worte althergebracht. Dur ante hat
in dem entsprechenden Chorsatze dieselben neapolita-
nischen Sexten- und Terzenparallelen, welche uns hier
in den Flöten so charakteristisch vorkommen. Am wei-
testen geht in diesem Anspielen auf Bilder aus dem Volks-
leben bei den Worten >Esu-
rientes< Leo, der sie mit fol- !_
gender Melodie wiedergibt : •-«-»! .«*-!•• im-jii-^ ii».au
Das >Suscepit Israel< hat Bach, ähnlich wie das >Et in-
carnatus< der Hmoll-Messe in den Linien und Farben
des Wunderbaren gehalten. Die drei oberen Stimmen,
welche den Satz ausführen, kreuzen und streifen einander
so eng und eifrig, daß ihre unscheinbaren Melodien unter
dem feierlich und zart wogenden Klange die bestimmte
Gestalt verheren. Der eigentliche Baßton fehlt, wie ziem-
lich oft, wenn Bach Gebilde des Geheimnisvollen und
Visionären vor die Fantasie treten läßt. Den letzten
Strich, um den mystischen und prophetischen Charakter
des kleinen Tonbildes auszuprägen, tun die Oboen, welche
in hoher Lage zwei Zeilen des (variierten) ersten Magni-
— * 399 * —
ficattons anstimmen, desselben, welchen Bach in der Kan*
täte »Meine Seel* erhebte bringt. Die Instrumente singen
also Segen und Dank, während die Singstimmen von der
Menschwerdung Christi in Passionsstimmung berichten.
Durch diese tiefsinnige, romantische Auffassung der Worte
zeichnet sich das >Suscepit< des Bachsohen Magnificat
besonders aus. Es ist derjenige Satz, welcher den per-
sönlichen Stempel seines Tonsetzers am ausgeprägtesten
trägt. Wie in andern Werken Bachs auf ein liturgi-
sches Zitat, so folgt auch hier auf die Magnificat-
melodie im »Suscepit« das »Sicnt locutus est« in den
Formen einer altern Zeit: im a capella- Stile. Dem
Schweigen aller Instrumente — mit Ausnahme des V
Continuo — liegt in diesem Satze, ganz ähnlich wie im
»Confiteor« der HmoU-Messe, ohne Zweifel eine sym-
bolische Absicht unter. »Suscepit« und »sicut locutus
est« bilden ein Ganzes und als solches eine der vielen
Huldigungen, welche Bach in meinen geistlichen Kompo-
sitionen in mittelbarer, sinnvoller Beziehung dem ehr-
würdigen und ewigen Charakter von Kirche und Glauben
dargebracht hat. Um so glänzender wirkt der Chor der ^
Instrumente bei seinem Wiedereintritt im »Gloria«, wel-
ches mit seinen Triolengängen und dem mächtigen
Schwünge seiner kurzen Perioden an das »Sanctus« der
Hmoll-Messe erinnert. Den Schlußsatz »Sicut erat in
principio«, welchem das »Gloria« als Einleitung dient, läßt
Bach im Anschluß an Lotti, Durante und andere auf
die Themen des ersten Satzes zurückgreifen. Wie das
oben angeführte, von Schlecht mitgeteilte Magnificat des
Anonymus mit allerlei Weihnachsliedern durchsetzt ist, so
gehören auch zu dem B achschen Magnificat noch einige
Weihnachtstücke. Doch treten sie als selbständige Sätze
zwischen die einzelnen Nummern des Magnificat.
Als ein hervorragendes Magnificat aus der Bach-
schen Zeit ist das in D von Nie. Jörne 111 hervor* F. Jomelli.
zuheben. Anlage und Satz sind höchst einfach, die
Komposition geht ohne Aufenthalt in einem Zuge vor-
über; ein und dasselbe bewegte Begleitungsmotiv der
--^ 400 ♦—
Violinen verbindet sämtliche Abschnitte. Was aber das
Werk auszeichnet, ist seine ernste, gemessene Stimmung.
Nur bei der Schlußfuge auf das Wort »Amen< läßt
Jomelli das Antlitz der Madonna in begeisterter Freude
aufleuchten. Das letzte Wort bleibt aber dem Moll,
dem gedämpften Ton. Haben dem Komponisten die
Worte vorgeschwebt, welche Simeon zu Maria spricht:
»Siehe, es wird ein Schwert durch deine Seele dringen«?
Eine der beliebtesten und verbreitetsten Kompositionen
Flu El Baoh. des Magnificat war die von Ph. E. Bach; sie gehörte
mit seinem zweichörigen »Heilig« zu den berühmtesten
Vokalwerken des Hamburger Tonsetzers. Das Werk
ist außerordentlich breit angelegt: einzelne Vor- und
Zwischenspiele scheinen gar nicht enden zu wollen. Den
Zeitgenossen gefiel es besonders wegen der dankbaren
Solonummern, unter welchen das Duett über »Deposuit
potentes« die gehaltvollste ist. Seinen positiven Wert
besitzt es in der brillant durchgeführten Doppelfuge zu
den Worten »Sicut erat« und in der liebevollen Ausfüh-
rung einzelner kleiner Textbildet. Unter den Komponisten
vom Ende des 48. Jahrhunderts, welche Magnificats in
0. Fasterwitz. größerer Zahl komponiert haben, ist G. Pasterwitz
hervorzuheben; im Konzert kamen früher auch die von
J. Schuster und F. Seydelmann häufiger vor. Außer-
ordentlich frische und einfach lebendig aufgefaßte Kom-
positionen des Magnificat hat G. A. Homilius im a ca-
pella-Stil geschrieben. Leider sind sie nicht gedruckt.
Von neueren Bearbeitungen des Marianischen Lobgesangs
F. Mendelaiohn, ist nur die von F. Mendelssohn zuweilen auf den
Mein Herz er- Konzertprogrammen zu finden, und zwar unter dem Titel
hebet. der Motette »Mein Herz erhebet Gott den Herrn«. Die-
ses Magnificat ist eine der bedeutendsten Chorkomposi-
tionen Mendelssohns, eine der bedeutendsten Leistungen
der neueren Zeit im a capella- Stile überhaupt. Durch
kunstvolle Arbeit ragen unter seinen (ohne Pause auf-
einanderfolgenden) Sätzen besonders hervor der erste:
»Mein Herz erhebet« und der sechste: »Er gedenket der
Barmherzigkeit«. Im ersteren ist eine dem feierlichen
iO\
Charakter der alten liturgischen Intonation nachgebildete
Melodie als Hauptthema eingelegt. Der andere entwickelt von
den Worten ab: *Wie er zugesagt« einen hohen Grad kon-
trapunklischer Virtuosität: Die Fuge wird aus einer ein-
fachen zur doppelten, zum Hauptthema tritt das- zweite, erst
gerade, dann umgekehrt. Dieses Leben und dieser Reich-
tum der Form entfaltet sich in schlichtester Natürlichkeit ;
dem, der nicht Fachmann, wird nur eine Steigerung des
Ausdrucks fühlbar. Der Anlage dieses Magnificats als Granzes
ist eine große Mannigfaltigkeit der Stimmung eigen. Die
herrschende, welche namentlich durch den einfachen Schluß
nachdrücklich besiegelt wird, ist die frommer Demut.
Mendelssohn schrieb dieses schöne' Werk für England. F. Mendelnolm,
Wie die englischen Komponisten des 47. und 4 8. Jahr- Lobget&ng des
hunderts in der Regel alle drei Lobgesänge des Neuen Simeon.
Testaments zusammen in Musik setzten, so hat Mendels-
sohn dem Hefte (op. 69], welches dieses Magnificat ent-
hält, wenigsten^ noch den Lobgesang des Simeon,
das ist das dritte Stück der cantica majora, beigegeben:
»Herr, nun lassest du deinen Diener in Frieden fahrenc, eine
Komposition, di,e in der Form eines crescendo-decrescendo
aufgebaut ist. Sie hebt mild, ganz im Charakter der
Rede eines würdigen Greises an und klingt auch fried-
lich und freudig ergeben wieder aus. In der Mitte aber
bei den Worten: »daß er ein Licht sei« schlägt sie in
einfachem Satze den kräftigen Ton der Begeisterun"^ an.
In dieser Mischung von abgeklärter milder Freude und
feurigem Prophetentum haben die Komponisten von jeher
das Wesen des Simeon gesucht. In der Gestaltung des
Verhältnisses und im Ausdruck der beiden Züge unter-
scheiden sie sich. Da vertritt wohl L. Haßlers fünf- L, Haßler.
stimmige a capella-Ko^position des Satzes (a. a. 0. Nr. 25)
am entschiedensten die ruhige Gemessenheit. Nur mit
zwei kurzen Episoden unterbricht sie ein jubelnder Ton.
Der abgeklärten herzlichen Freude hat Franz Tun der F. Tonder,
den schönsten Ausdruck mit einem Duett zweier Bässe'*')
*) Denkmäler deutscher Tonkunst, Bd. III.
II, 4. 26 ^
lOS
gegeben, das mit den Vokalwerken Tunders überhaupt
zu den erfreulichsten und traulichsten Jugendäußemngen
desx »geistlichen Konzerts« in Deutschland gehört. Ein
Chi, Bernhard, anderer Deutscher des 47. Jahrhunderts, Ch. Bernhard,
der die Hymne für zehnstimmigen Chor, Soli und Or-
chester gesetzt hat*), läßt sehr ergreifend in Simeons
Reden das Alter und die Nähe des Grabes merken.
H. Sohttti. Heinrich Schütz hat den Lobgesang des Simeon öfters
komponiert, einmal als Kantate für Baßsolo mit Beglei-
tung von zwei Violinen und Orgel, die Singstimme
mit dem Instrumentalbaß zusammengekoppelt, ein zwei-
tes Mal als sechsstimmige Chormotette zur Beisetzung
des Kurfürsten Johann Georg L feierlich und streng; am
schönsten endlich als eingelegte zweichörige Motette
zu der Begräbnismesse, die er Heinrich Posthumus
von Reuß widmete. Der Zusatz eines Engelchores zu
dem normalen Text ist hier ein poetischer Einfall ohne-
gleichen.
In der älteren Zeit wurde das »Magnificat« mit in
die Psalmenmusik eingereiht und seine liturgischen Into-
nationen wurden noch lange nach Palestrina ohne alld
Wortwiederholung in der Kürze gehalten, in welcher man
die Psalmenverse zu komponieren pflegte. Nur der in-
nere Stil dieser Sätze, ihre Melodik und Harmonik wurde
frühzeitig reicher.
Psalmen. Um die liturgische Qualifikation der Psalmen zu
verstehen, genügt es an Sätze wie : >Ehe denn die Berge
wurden und die Erde und die Welt geschaffen worden
usw.€ zu denken. An Tiefe und Größe religiöser Welt-
anschauung überragen die Psalmen alle anderen bibli-
schen Gesänge und darauf gründet sich ihre Stellung als
quantitative Hauptgruppe der Kirchenmusik. Der Psalm
ist insbesondere von alters her das regelmäßige Ein-
leitungsstück für alle Arten von Gottesdiensten und für
deren einzelne Teile gewesen, sie haben aber auch noch
der selbständigen Psalmodie einen breiten Platz ein-
*) Denkmäler dentscher Tonknnst, Bd. VI.
— -♦ 403 ♦—
geräumt. Die katholische Kirche ist diesem Brauch bis
heute treu geblieben, der evangelischen ist er mit dem
Verfall der Liturgie fremd geworden. Aber soweit sie in
den schlechtesten Zeiten noch Kirchenmusik kannte, be-
vorzugte auch sie dafür Psalmtexte, und ihre neuen Reform-
agenden versuchen zum Teil den Psalm wieder in seine
Rechte, namentlich als Introitus einzusetzen.
Wie bei Passionen und Messen hat die musikalische
Komposition auch bei den Psalmen alle die Kunstmittel
versucht, die ihr die Zeiten zuführten. Auch die Psal-
menkomposition beginnt als unbegleiteter, einstimmiger
(Gregorianischer) Gesang, wird auf der nächsten Stufe
unbegleitete Ghormusik und endet als begleitete Vokal-
musik. Doch macht sich in der Psalmenkomposition
ein stärkerer konservativer Zug geltend, dessen Ursache
man vielleicht in der besonderen Pietät vor den ^altehr-
würdigen Texten suchen darf. Mehr als bei anderen Psalmakzent.
Texten ist bei den Psalmen der musikalische Vortrag ge-
neigt gewesen, an alten Formen festzuhalten. Im katho-
lischen Ritus hat noch heute der Gregorianische Ton
beim Psalmengesang seinen bi^eitesten Platz, und zwar
in seiner einfachsten Gestalt als Akzent. Wie seinerzeit
Spohr und Mendelssohn, befremdet das immer wieder
musikalische Angehörige anderer Kulte, weil sie nur eine
Kirchenmusik kennen, bei der das Wort im reichen Ton-
gewand auftritt. Aber auch die Protestanten haben am
alten Psalmakzent sehr lange festgehalten, an einzelnen
Orten nachweislich bis weit ins 47. Jahrhundert'*'), also
zu einer Zeit, wo die Psalmenmotette in höchster Blüte
stand und die Psalmenkantate schon stark konkurrierte.
Es ist nicht ausgeschlossen, daß bei weiterer Klärung
liturgischer Begriffe auch die evangelische Kirche für
gewisse Zwecke wieder auf diese urälteste Weise. (\es
Psalmengesanges zurückkommt.
*] K. Held: Das Kreuzkantoiat In Dresden, S. 255. A. Harne«
lick : Die Mnsik am Hofe Christians IV. von Dänemark (Viertel-
Jahrsschr. f. M. W,, 1893, S. 67).
26*
— ♦ 404 ♦—
Der mehrstimmige Psalmensatz mag wohl gleich mit
den Anfängen der Harmonie begonnen haben. Sicher
ist, daß er besonders lange die ursprünglichsten, mit Im-
provisation zn beherrschenden Formen der Harmonie be-
vorzugt hat. Unter ihnen ganz besonders die sogenannten
Falsobordoni. Falsobordoni. Darunter versteht man eine Methode des
mehrstimmigen Satzes, bei welcher auf eine ganze Reihe
von Worten ein und derselbe Akkord wiederholt wird,
eine Form, die ja auch die protestantische Liturgie in
den Responsen der Intonationen nodji heute spftren läßt.
Diese Psalmodien sind die Tonbildungen einer Zeit,
in welcher die Musik mit dem geistigen Ausdruck des
Wortes noch wenig zu tun hatte und sich darauf be-
schränkte, der äußerlichen akustischen Deutlichkeit des
Wortes zu Hilfe zu kommen. Für die kirchlichen Zwecke
ist jedoch diese Weise des Psalmen Vortrages sehr wir-
kungsvoU; auf katholischem Gebiet und in England kann
man sich noch heute davon überzeugen. Eins kam und
kommt hinzu, diesen halb musikalischen, halb rezitieren-
den Vortrag der Psalmentexte zu beleben: die Ver-
teilung der einzelnen Verse unter verschiedene Sänger-,
gruppen, die sich ablösen. Dieses sogenannte anti-
phonische Prinzip, der Wechselgesang zwischen zwei
Chören oder zwischen Liturg und Chor, beruhte gerade
bei den Psalmen auf ehrwürdigen Überlieferungen und
galt, wie die deklamatorische Form der Tonreihen selbst,
für eine Erbschaft aus Davids Zeiten. Der Psalmentext
erhielt auch sogar noch antiphonierende Einleitungen
. zur Vorbereitung des besonderen Psalmentones. Daß
vom Psalmengesang aus die antiphonische Anlage auch
auf weitere liturgische Texte, auf Te deum, Magnificat
und andere übertragen wurde, ist bekannt.
Da die Falsobordoni im Durchschnitt das Aufschreiben
nicht wert waren, liegen heute nur wenige vor. Unter'
den Neudrucken gibt Proskes >Musica divina« reichere
Proben. Sie sehen sich alle sehr ähnlich bis auf die
Schlüsse. Bei diesen werden die Stimmen selbständig
und melodisch und von ihnen aus entwickelt sich all-
mählich auch für den Psalmensatz eine individuelle
Kunst. Die nächste Stufe in dieser Weiterentwicklung ver-
tritt die sogenannte Psalmodiamodulata. In ihr be- Psalmodia
hält die Oberstimme die aus der alten Zeit überlieferten mpdulata.
deklamatorischen Tonreihen, die unteren Stimmen sind
melodisch, zuweilen einander nachahmend geführt. Die
Ari)eiten dieser Gattung bilden den Übergang zu dem
kontrapunktischen Psalmenstil. Die Form der Psalmodia
modulata bot hinreichende Mittel, dem geistigen Sotider-
gehalt der einzelnen Psalmen und auch den Einzel-
begriffen des musikalischen Textes gerecht zu werden.
Deshalb wandten sich Italiener, Deutsche, Spanier ihr
mit der Zeit fleißiger zu. Allmählich wird auch die
Oberstimme mehr und mehr aus dem deklamatorischen ^
in den musikalisch melodisch beweglichen Ton hinüber-
gezogen, bis endlich von dem al^en Psalmenstil nichts
mehr übrig ist und die fagierende Form wie die
Messen, Motetten und Hymnen, so auch die Psalmen- Psalmmotette.
komposition beherrscht. Daraus, daß dieser Prozeß erst
um die Mitte des 4 6. Jahrhunderts zum Abschluß kommt,
erklärt es sich, daß in der ganzen Dufayschen Periode
die Psalmenkomposition, wie die Trienter Codices zeigen,
noch sehr zurücktritt. Auch jetzt sind die alten Falso-
bordoni wie die aus ihnen entwickelte Psalmodia modu- }
lata noch lange nicht abgetan. Wir haben eine Psalmen-
komposition, welche uns die genannten drei Stilarten
verschmolzen zeigt: ein Werk von klassischer Berühmt-
heit, welches auch in unseren heutigen geistlichen
Konzerten heimisch und Gegenstand immer neuer Be- *
wunderung ist. Es ist das »Miserere« von G. Allegri. G. Allegrii
Ein fünfstimmiger und ein vierstimmiger Chor lösen sich Miserere,
im Vortrage der einzelnen Verse ab: Jeder Vers beginnt
mit Falsobordonen, berührt an deren Ende nur kurz,
mit einem einzigen Takte, den modulierten Psalmenstil
und lenkt dann in die Form der musikalischen Kunst-
sprache ein. Die melodischen und harmonischen Wen-
dungen dieses Schlußabsbhnittes, welche den Chören
beim ersten Einsatz zugewiesen sind, bleiben ihnen auch
—^ i06
bei den anderen Versen. Man wird aber nicht müde,
diese Töne zu hören, so rührend, spricht aus ihnen das
Herz und das Gewissen dieses von Bußstimmung voll-
getränkten Psalmes. Namentlich der erste Chor wirkt
mit dem vom Alt in- j^ i ,.i t . . ■ ■ ? ■ i*— i
tonierten, vom Sopran i^^ lUJ.jgJ J jjiJijj?' 9 SB
nachgeahmten Motive: «*• - •••* •" • - «-*■
mächtig auf die Empfindung; aber auch der zweite
Chor schlägt mit seinem, einem Gnadenblicke gleichen-
den Dur-Schlusse das Gemüt in gewaltige Fesseln.
Diese Mischung von Deklamation, schlichtester De-
klamation und herzwarmem Gesang, die geniale Ver-
bindung einfacher alter Weisen mit neueren hochent-
wickelten Kunstformen ist das Entscheidende in diesem
»Miserere«. Bekannt ist, daß AUegri bei der Sixtinisc];»en
Kapelle mit dieser Arbeit alle im fugierenden Stile ge-
haltenen Kompositionen desselben Psalms verdrängte.
Darunter waren Arbeiten von Guerrero, Palestrina und
F. Anerip. Das Allegrische wurde des päpstlichen Chores
ständiges Miserere für die Mittwoch und den Freitag der
Gharwoche und die Kompositionen von Bai und von
Baini, welche endlich mit ihm abwechseln durften, folgten
seinem Stile. Auch in Florenz und im übrigen Italien
wurde Burney*) auf die Frage nach dem berühmtesten
»Miserere« auf das von AUegri verwiesen. Goethe nennt
es (4 788) »undenkbar schön« und noch Spohr horte es
(4 847) von Kennern als den »Triumph« der Sixtinischen
Gharfreitagsmusik bezeichnet. Es gibt vielleicht keine
zweite Form, in welcher die Grundstimmung dieses
54. Psalmes, das Gefühl der tiefsten Zerknirschung, so
überwältigend hervortreten könnte, als die von Allegri
gewählte. Als Gharfreitagsmusik ist diese Komposition
unübertrefflich. Für andere Zeit erlaubt der Text
eine andere Behi^ndlung und hat tatsächlich in ver-
schiedenen Perioden und von verschiedenen Meistern
u. ff.).
•) Ch. Bumey: The present State usw., 1771 (I, 182, 206
-^ 407 >—
derselben Epochen immer andere Au^ssungen erfahren.
Allegris Stil entsprach zunächst wahrscheinlich mehr
dem konservativen Sinn der päpstlichen Kapelle als
dem Zeitgeschmack. Aber das von ihm gegebene Bei-
spiel hat die Wirkung gehabt, daß auch die Kompo-
nisten der späteren Zeit die Falsobordoni nicht zu den
abgetanen Dingen rechneten. Sie werden gelegentlich
wieder einmal für einen einzelnen Vers einer größeren
Psalmkomposition verwendet So namentlich bei den
Venetianern. In rechten Fluß kommt die Produktion in
der Psalmenmotette nicht vor dem ersten Drittel des
1 6. Jahrhunderts. Aus den Neudrucken der niederländi-
schen Schule (bei Maldeghem) mögen da als hervor-
ragende Leistungen imitatorischer Stimmführung hervor-
gehoben sein Ant. Brumels: La^date Dominum de
coelis, J. de Cleves einfach, aber sehr herzlich ge-
haltene Kompositionen des 82, und 85. Psalms und der
3. Psalm in dem innerlich außerordentlich erregten und
äußerlich sehr wirkungsvollen Satz J. de Kerles. Die
Deutschen halten länger an der Ghorantiphonie fest,
nur wechselt die antiphonische Gruppierung etwas
freier. Ein Hauptvertreter dieser antiphonierenden Tsal-
menmotette ist Thomas Stoltzer, auch dadurch be- Thomas Stoltzer
merkenswert, daß er als einer der ersten den deut-
schen Psalmen text komponiert. Seine beste Arbeit ist:
>Hüf Herr, die Heiligen haben abgenommen«. Bald wird
dann das Antiphonieren verschiedener Chöre durch das
Antiphonieren oder Fugieren verschiedener Stimmen in
einem Chore ersetzt und mit dem imitatorischen wech-
selt, je nachdem es dem Charakter des Textes entspricht,
ein einfacher homophoner Satz. Der Chorpsalm ver-
zichtet also auf einen besonderen Stil und folgt dem all-
gemeinen der Motette überhaupt. In dieser Gruppe stehen
mit Kompositionen deutscher Texte deutsche Komponisten
wie der Zwickauer David Köler*) voran. Der Gebrauch David Eölet.
*) Zwei Psalmen yon Köler hat G. Göhler bei Bieitkopf
& Härte] veröffentlicttt.
— «- 408 ♦—
der Muttersprache scheint" bei ihnen der Unmittelbarkeit
und Kraft der Musik zugute zu kommen. Daß sie aber auch
bei lateinischem Text die Psalmenmotette zu meistern
Ladwig Senfl. wissen, zeigt als einer der ersten: Ludwig Senfl'*';. Seine
Psalmen sind nicht bloß durch den virtuosen Satz bedeu-
tende Kunstwerke. Wohl vermag der allein schon außer-
gewöhnlich zu fesseln, denn Probleme, wie sie Senfl bei
der sechsmal verschiedenen Bearbeitung desselben The-
mas ' in »Laudate Dominum omnes gentes < stellt . und
löst, werden dem Musikfreund auch in der Geschichte
der größten Meister nur selten geboten. Aber noch größer
sind seine Psalmen durch die eingängliche, sichtlich aus
Volksquellen schöpfende Motiverfindung, durchi die eigene
Art, wie sie die Stimmung der Texte erfassen und er-
schöpfen. In der Inbrunst der Empfindung, der Selb-
ständigkeit und Kühnheit des Ausdrucks, sind sie mit den
Kompositionen Lassos nahe verwandt und haben vielleicht
auf diesen einen Einfluß ausgeübt. Das Hauptstück ist
in dieser Hinsicht die zweite Bearbeitung des Psalms
>Deus in adjutoriumc (Nr. 42 der angeführten Ausgabe).
Immer mannigfach und reich an innerer und äußerer
. Gliedenmg hat hier Senfl die Stelle, wo der Büßer seinen
Gegensatz zu den Kindern des Herrn beklagt, die Worte :
>Ego vero egenus et pauper sumc so rührend und er-
schütternd wiedergegeben, daß alle Magdalenenbilder
dagegen nicht ankommen. Die Einführung und die
Sprachgewalt des im macht es. Es ist
Alt und Sopran je '^ g f ^ ^ ^ ^ | zugleich eine je-
einmal wiederholten -y^ '■ ' ' ' o > ner SteUen, an
einfachen Motivs: der man tech-
nisch und psychisch die Nähe des Sologesangs fühlt.
Die berühmtesten unter den älteren Psalmenkompo-
sitionen im Motettenstile sind die sieben Davidschen
0. di LasBo, Bußpsalmen von Orlando di Lasso, die vor
Baßpsalmen, dem Jahre 4565 komponiert wurden. Diese Jahres-
angabe muß gegenüber der noch heute immer wieder
*) Denkmäler dej Tonkunst in Bayern, Bd. III S.
-^ 409 ♦—
gedruckten Anekdote, welche diese Werke mit der Pari-
ser Bartholomäusnacht in Zusammenhang bringt, betont
werden. Des Anekdotenschmucks bedürfen Orlandos
Baßpsalmen nicht. Sie gehören unter die bedeutendsten
Denkmäler der Vokalperiode: in eine Reihe mit dem
Stabat, mit der Messe »Assumpta est« Palestrinas, mit
dem Requiem des Orlando selbst und dem des Cavalli.
Man kann nur darüber im Zweifel sein, ob man diesen
Psalmen nicht den allerersten Platz anzuweisen hat.
Der ganze Reichtum an Farbe, über welchen der Stil
verfügt, ist hier entfaltet, an Ausdruck soviel als der
Geist der Dichtungen zuläßt. Fest ausgeprägter Gharaktet
in allen Sätzen, in ihrer Folge eine geniale Ökonomie,
die mit den Mitteln der Steigerung oder des Kontrastes
das Cremüt und die Fantasie des- Hörers immer von
frischem und immer stärker fesselt Die Melodik, Or-
landos Hauptstärke überall, wirkt hier doppelt gewaltig,
namentlich da, wo er einfache • Motive in Sequenzen
weiter führt. Zuweilen setzt sie mit wahren Herzens-
tönen ein: Stellen, wie der Eintritt des >Laboravic in
dem ersten Psalm ergreifen auch vom Texte losgelöst
In der Auffassung des Textes Eingebungen von wa]brhaft
heiliger Weihe. Feierlich, als wenn ein geheimes Wunder
verkündet wird, tritt in demselben Psalm das >Exaudivit€
ein. Wie eine Stimme in der Wüste, in der Öde klingt
das »Discedite«. Daneben wieder Abschnitte, in denen
eine wahrhaft Josquinsche Naivität waltet. Alles ist in
diesen Psalmen von lebendiger Anschauung durchtränkt
Ihre höchste Macht liegt aber in dem Ausdruck der
Grundstimmung. Nicht die Zerknirschung und das Fla-
gellantengefühl beherrscht diese Musik, sondern die rüh-
renden und demütigen Klagen des reuigen Sünders
werden von Tönen des Gottvertrauens und der der Gnade
sichern Hoffnung umrahmt und aufgenommen. Am klarsten
zeigt sich diese Tendenz im Anfang der beiden Psalmen
»Miserere« und »De profundis«. Für die Aufführung
bieten diese klassischen Kompositionen verhältnismäßig
nur geringe Schwierigkeiten. Der Satz übersteigt die
Sechsstimmigkeit nicht, die kontrapunktischen Formen
drängen sich nirgends auf und sind kurz und gedrängt
behandelt. Die Bekanntschaft mit diesen Meisterwerken zu
vermitteln, eignet sich am besten der zweite Psalm: »Beati
quorum remissae sunt iniquitates< und zwar um etliche
Sätze verkürzt. Wenn im ersten Abschnitt auf »remissae«
die Harmonie von Es- nach Adur wechselt, wird jeder-
mann klar, mit welcher Gewalt und Freiheit dieser
Künstler über die Tonmittel herrscht. Aus den demü-
tigen Bitten des »Delictum meum cognitum tibi feci«
spricht rührend und ergreifend die ganze Fülle seines
melodischen^ Vermögens, und das kanonische Bicinium
der Bässe und Tenöre auf die Worte der Stimme Gottes:
>Intellectum tibi dabo« zeigt die wunderbaren poetischen
Eingebungen, über die Lassos Fantasie und Geist verfügten.
Palestrinft. Von Palestrina gibt es ein einziges, als solches
betiteltes Psalmen werk, die »Sacra .... Psalmodia usw.«
von 4 596. Doch hat er für seine Motettensammlungen viele
Psalxpentexte benutzt und grade seine Psalmenkompo-
sitionen sfeichnen sich durch malerische Einzelzüge und
durch den engen Anschluß der musikalischen Erfindung
an den Wortgehalt aus. Als ein Hauptstück ist »Sicut
cervus« zu nennen. Aus der römischen Schule und aus
F. Anerio. Palestrinas unmittelbarer Umgebung ist hier Feiice A n e r i o
mit der Komposition des Psalms »Beatus vir« anzureihen.
Sein Schlußsatz fällt aus dem Tone der Palestrinaschule
durch die Erregung und die fast schauerliche Realistik
heraus, mit welcher das endliche Schicksal des Sünders
geschildert wird. Das ergreifende Werk ist eines der
spärlichen Vorläufer jener kühnen Psalmenmotetten, durch
die Schützens cantiones sacrae Aufsehen erregten. Zeit-
lich steht dieser Komposition als ein andres italienisches
0. QabrielL Meisterstück das sechsstimmige »Miserere« G. Gabrielis
(von 4597) nähe. Es verläuft in einem einzigen Satz, der
den Bau der Dichtung mit bescheidenen Modulations-
einschnitten wiedergibt und auch der Ausdruck hält sich
einfach an die Demut. Aber gerade durch den Verzicht
auf Dramatik und auf jede Wirkung nach außen ist es
— ♦ 114 ^-
ein Bußgebet von vollendeter Zartheit und Feinheit. Mit
unscheinbaren Mitteln wird GabrieU allen Wallungen des
Gemüts gerecht. Eine Pause und ein extra breiter Akkord
beim Einsatz des >Dele iniquitatem« — und doch spricht
eine Fülle von Inbrunst aus der Stelle! Beim >quoniam
iniquitatemc ein ungesuchtes chromatisches Motiv — aber
wieviel Scham und Rene liegt darin! .Welcher Ernst in
dem E dur-Einsatz bei »tibi soli peccavitc Und sowie an
diesen Punkten ist die ganze Komposition durch Klein-
arbeit ununterbrochen meisterUch.
Als ein weiterer viel nachgefragter Venetiani-
scher Vertreter der Gattung ist noch Giovanni Groce G* OroM.
mit seinen 'achtstimmigen Vesperpsalmen (1592) zu
nennen. »
Die Geschichte des musikalischen Psalms ähnelt dem PsalmUed.
Gang der Passionskomposition darin, daß sie schnell alle
neu auftauchenden Satzformen versucht. Der Grund ist
in beiden Fällen derselbe : die poetische Gewalt der Texte,
die starke Anziehung, die sie auf jede Art musikalischer
Gemüter äußern. So macht denn auch in demselben
Augenblick, wo sich eben die Psalmenmotette durchsetzt,
das neu in Schwung gekommene Chorlied, das in
der Messe zu künstlerischer Bedeutung nicht gelangt,
erfolgreiche Ansprüche auf die Psalmentextie. Sie waren
in derselben Sehnsucht nach einfacher, gemeinverständ-
licher Musik begründet, die zuerst wohl in den sogenannten
>Plenarien< den Gregorianischen Introitus - Melodien
deutsche Texte zum Nachlesen für die Laien beifügt, die
dann mit dem Anfang des 1 6. Jahrhunderts in der ganzen
Vokalkomposition der Alleinherrschaft des Kontrapunkts
entgegentritt, die unter Tritonius und Genossen zu den
homophonen Kompositionen Horazischer Oden, die schließ- .
lieh über > Generalbaß c und »Generaldiskant« zur Monodie
und zu einer »nuove musiche« führt. Wie diese Bewe-
gung ihren größten Triumph im Lutherschen Gemeinde-
lied erlebt, so war es auch Luther, der sie mit aufs
Psalmengebiet hinüberwies. Denn der Reformator hat
][>ekanntlich dem Schatz des protestantischen Chorals
—-^ 412 *—
eine Reihe Psalmentexte eingefügt, von denen »Aus tiefer
Not schrei ich zu dirc der bekannteste sein wird. Dieses
Beispiel und die zeitgenössische Odenkomposition mögen
Ol. Gondimel. Claude Goudimel hauptsächlich angeregt haben, die
sämtlichen Psalmen nach dem französischen Text Ma-
rots und Bedas in einfachen vierstimmigen Liedsatz zu
bringen. Dieser zuerst 4565 veröffentlichte (unlängst
in allen 4 50 Stücken originalgetreu von Expert in
Partitur herausgegebene) Goudimelsche Psalter ist den
Reformierten noch mehr geworden und geblieben als den
Lutheranern ihr Choral: nicht bloß das Hauptstück, son-
dern fast das einzige Lebenszeichen der Musik in der
Liturgie. Wie Luther viele, so hat Goudimel fast alle —
• meist noch in den Tenor gelegten — Melodien dem Volks*
gesang entnommen. Mitarbeiter und Nachfolger fand
er auf reformiertem Boden einzelne: den ersten in dem
G. LBJ61UL6* großen Chansonisten Claudin Le j eun e , dann niederländi-
sche Musiker, unter ihnen den hervorragendsten in dem
Eoolealaotioiub sogenannten >Ecclesiacticusc*). Im ganzen sind es
nicht viele, weil durch die von Goudimel selbst vorge-
legte Masse der Bedarf gedeckt war. Fast eifriger
nahmen sich die protestantischen Tonsetzer, nachdem
Lobwasser die Marotschen Texte übersetzt, Buchanau
die Davidschen Gesänge paraphrasiert hatte, des neuen
mehrstimmigen Psalmenliedes an, da es sie rhythmisch
und malerisch reizte. Ihre Reihe reicht von dem Rostocker
Olthofi Olthof über Hammerschmidt bis zu dem Eislebener
Epimef- Uthr edecerus (7 Bußpsalmen mit Kirchenmelodien, 4 684 ).
lohmidt. Auch ein Däne, A. Arebbo, ti^tt in ihr mit >König Davids
TTtlmd^oenu. Psalterc (Kopenhagen, 4683) auf**). Besonders ragt Her-
Arebbo. mann Schein mit den Psalmennummern seines »Gan-
H. Boheia. tioiiale« und seiner >opella novac hervor. Schein läßt,
indem er diese Arbeiten >Liederlein und Psälmlein« nennt,
durchblicken, daß die eigentlichen Musiker auf das ganze
Gebiet keinen großen Wert legten. Ganz ähnlich wie den
*) Neu herausgegeben Ton D. F« Scheurleer.
**) A. Hamerich a. a. O.
Gemeindechoral und' das neue Sololied überläßt man es
den Dilettanten. Anch darin kommt es noch einmal zu
einer Parallele zwischen Choral und Psalmenlied, daß
sich auch aus letzterem wieder eine neue Gattung
höherer Kunst entwickelt': vokale und instrumentale
Psalmenbearbeitungen in großer Form. •
Dazu hatte Goudimel selbst den Anstoß mit einem
(schon 4562 erschienenen) Heft von Chorpsalmen gegeben,
in welchem sechzehn volksmäßige Psalmmelodien im Mo-
tettenstil durchgeführt werden. Von den Werken, welche
nach diesem Vorgang die einfachen Psalmen Goudimels
zu großen Orgelkompositionen ausführen, ist das hervor-
ragendste das. Tabulaturen Boeck des Anthoni
van Noordt*) (von 4 659) ein getreues Pendant zu den A. van Voordt.
ebenfalls aus Sweelincks Schule stammenden Choral- Orgelqsalmen.
Variationen S. Scheidts, xZu den späteren Seh. Bachs und
der diese Meister umgebenden deutschen Orgelkompo-
nisten. Es zeigt auch auf eine gleiche hturgische Be-
handlung der Psalmen bei den Reformierten, wie sie
bereits bei den lutherischen Chorälen, bei den Messen
and Hymnen der Katholiken erwähnt worden ist: Ge-
legentlich ließ man sich auch den Psalm in poetischer
Variation der einzelnen Verse vorspielen und las still
den Text dazu.
Als erster Meister der vokalen Psalmvariation ist der
niederländische »Phönix der Musikc, der große Peter
Sweelinck anzuführen. Zwar herrscht noch keine voll- Peter Sweelinok.
ständige Klarheit über den Umfang seiner Psalmenarbeit,
aber sicher ist, daß er die 4 50 Psalmen Davids minde-
stens jeden einmal komponiert, und daß er mindestens
vier große Bücher Chorpsalmen zu vier bis acht Stim-
men herausgegeben hat**;. Einzelne dieser Sammlungen
erlebten mehrfache Auflagen, sie wurden außer in der
*) Als 19. Stuck der Publikationen der niederländischen
»Vereeniging usw.« in Übertragung neu herausgegeben.
*•) Vgl. H. A. Viotta: Einleitung zum Neudruck von Swee-
lincks »Regina coeli« (Publikationen der »Yeereeniging usw.«, I.).
iii ♦—
Heimat des Komponisten auch in Deutschland (Frank-
furt, Berlin) gedruckt, aus dem Französischen (des Marot)
ins Deutsche übersetzt und von den Landsleuten Swee-
lincks als die Krone seiner Leistungen angesehen. Biblio-
thekspuren bezeugen noch heute ihre große Verbreitung
im i 7. Jahrhundert. Gelegenheit, sich über ihr Wesen und
ihren Wert bequem zu orientieren, bietet der Neudruck,
der von der vierstimmigen Fassung des achten, des vier-
undzwanzigsten, des fünfundsiebzigsten, des neunzigsten,
des hundertzweiundzwanzigsten und des hundertachtnnd-
dreißigsten Psalms vorliegt *}. Dam ach sind die vier-
stimmigen Psalmen Sweelincks vorwiegend sehr lange
drei- und vierteilige, gegen zwanzig Partiturseiten und
mehr umfassende Paraphrasen der Goudimelschen Weisen.
In jedem Teil hat in der Regel eine andere Stimme die
Grundmelodie als breit rhythmisierten cantus firmus. Die
Nebenstimmen sind zuweilen in der Einfacheit Eccard-
scher Ghoralsätze, häufiger aber in kunstvollen, mitunter
strengen Nachahmungen von Motiven dagegengestellt
und grundsätzlich dem cantus firmus entnommen.
Auch, fugenmäßige Führung sämtlicher Stimmen kommt
vor. Die Methode knüpft hiernach locker an die alt-
niederländische Schule, enger an den gleichzeitigen Orgel-
choral an. Daß trotz dieses instrumentalen Vorbildes
die Wirkung dieser Chorpsalmen Sweelincks stark und
unmittelbar ist, danken sie der Wahl der kontrapunktie-
renden Motive, die das Wort, die Situation und ebenso
die Natur der Menschenstimme in ihrer Reinheit, und
Eigenart wahrt. Besonders glücklich und reich ist der
vierundzwanzigste Psalm erfunden. Da hat Sweelinck
in der Fülle, der Eindringlichkeit und dem Fluß des Aus-
drucks die Fessel des cantus firmus ganz überwunden,
und es kommen Stellen, die durch Kühnheit der Dekla-
mation geradezu in Erstaunen setzen; die frappanteste
ist wohl der Eintritt der Worte: »Mais sa montagne«.
Er gehört mit zu den Stücken, in denen erregte Vor-
*) Publikationen der »Vereeniging usw.«, XII.
i<5
Stellungen und Bilder überwiegen. Sie sind es, bei denen
die Fantasie Sweelincks am stärksten ist und , die am mei-
sten wirken. Bei d^n Aufgaben ruhiger Darstellung fesselt
er feinere Hörer durch die • Klarheit des Abtönens und
Unterscheidens, mit einem Wort, durcK seine künstlerische
Bildung, aber die Begabung tritt dagegen zurück. Auch
in den mehr als vierstimmigen Psalmen bleibt er in erster
Linie der Meister der hellen Farben, der Sänger für Lob
und Freude. Leider liegt von ihnen nur ein einziger
Neudruck, der des hundertundfünfzigsten Psalms für acht
Stimmen vor'*'). Dafür ist das aber auch ein Prachtstück
begeisterter, festlich glänzender, rauschender und schwung-
voller Musik, dem die Kunst der Sweelinckschen Zeit nur
wenig, ihre Dichtkunst jedenfalls nichts an die Seite zu
stellen hat. Für die Aufführung tut man gut, die acht Stim-
men in zwei getrennte vierstimmige Chöre zu gruppieren, da
nach alter Psalmenweise meist regelrecht und hinreißend
ajitiphoniert wird. Deutschen Chorvereinen sollte dieser
Sweelincksche Psalm sobald als mögUch durch eine Ein-
richtung mit deutschem Text zugänglich gemacht werden.
Durch ihn müßte es der Gegenwart mit einem Schlag
klar werden, daß Sweelinck auch zu den größten Vokal-
meistern seiner Zeit gehört.
In Deutschland findet sich zu dem über Goudimel-
sche Weisen entwickelten Chorpsalm Sweelincks schon
4 607 ein Seitenstück in den auf Choraltnelodien basierten
Psalmenmotetten Leo Häßlers (4607), die bekanntlich
4 774 als der erste deutsche Neudruck alter Musik ver-
dientermaßen wieder herausgegeben wurden. Dem Vor-
gang Haßlers sind bis zu Valentin Meder und bis
zum Anfang des 48. Jahrhunderts viele Komponisten
gefolgt Engern Anschluß an Sweelinck zeigen die
stimmreichen und »konzertweis« mit Instrumenten be-
gleiteten Psalmen seines Schülers Paul Siefert in
Danzig dadurch, daß sie Goudimelsche Melodien als
Grundlage nehmen. Sie gehören in eine technische
L. Haßler.
Val. Meder.
Paul Siefert.
♦) Publikationen der >Vereeniging usw.«, XVII.
-•-♦ iU ♦--
I
Oratorischer Grappe^ die man als o rat ori sehen Psalm bezeidinen
Ptfalm oder könnte,
^salmkantate. Seit Anfang des 4 7. Jahrhunderts schon hatte sich der
Psalmentexte auch die neue* Kunst der Vokalmusik mit
selbständiger Begleitung bemächtigt. Das erste Werk, mit
L. Viadana, dem die »niiöve musichec in die Kirche einzieh t, L. Via-
danas »Cento Concerti ecclesiastici usw.« (4 602) enthält
auch Psalmentexte. Bald kamen aber auch spezielle Psal-
mensammlungen für eine und für mehrere Solostimmen
mit Begleitung. Eine der frühesten, die jedoch auch un-
begleitete antiphonierende Chorsätze, u. a. einen auf »Ein*
feste Burg« enthält, ist die unsers Landsmanns Thomas
Th. Walliser. Wallis er mit dem Titel: »Kirchengesänge oder Psalmen
Davids« (45U). Ähnlich mischen sich alte Motetten- und
neue Kantatenmusik in den sechzehn Kompositionen des
44 6. Psalms, die Großmann in Jena etwas später ver-
öffentlicht hat. An der Konkurrenz haben Schütz, Schein,
M. Prätorius, Altenburg, Demantius Teil genommen.
Im Laufe des 4 7. Jahrhunderts wird der Sologesang
in den Psalmen immer beliebter. Besonders beweis-
kräftig sind für diese Annahme, weil sie von Laien
^ herrühren, die beiden Kompositionen des »Miserere«, die
wir vom Kaiser Ferdinand IIL und von Kaiser Le^opold L
Kalger Ferdi- besitzen*). Bei Ferdinand merkt man das gesunkene An-
rftad IIT. sehen der Chormusik schon an der Textverteilung: 4. Vers
Miflorerc. Chor, 2. Vers Solo für ersten Sopran, 3. Vers Solo für zwei-
ten Sopran, 4. Vers Solo für dritten Sopran, 5. Vers Terzett
der drei Solosoprane, 6. Vers Chor, 7. Vers Solo für ersten
Tenor, 8» Vers Solo für zweiten Tenor, 9. Vers Solo für
dritten Tenor, 4 0. Vers Terzett für die drei Solotenöre,
4 4. Vers Chor. So geht es weiter mit den drei Alt- und
den drei Baßsolisten bis zum »Gloria Patri« in das sich
Solistenensemble uud Chor endlich einmal ehrlich teilen.
Die numerische Zurücksetzung des Chors wird dadurch
noch verschärft, daß seine Sätze, wenn auch voll von
Ausdruck und gut musikalischen Zügen, doch auffallend
*) G. Adler: »Musikalische Werke der Kaiser usw.«, Bd. !•
--♦ 417 *^
kurz und im einfachsten homophonen Stil gehalten sind.
Dem »Miserere« Leopolds I. liegt das naive Prunken KaiterLeoiloldL
mit dem SoHstenbestand der Kaiserlichen Kapelle fern. "^ Miseieie.
Es reicht der alten Kunst nicht bloß in der Menge der
Chöre, sondern auch in den Soli^ die Hand, bei jenen
sogar mit Anklängen an die Falsobordoni. Aber es läßt
trotzdem keinen Zweifel darüber, daß der Sologesang mit
seinen akustischen und sinnlichen Reizen die Psalmen-
komposition stärker beherrschte, als es der Text zuließ.
Das sonst meisterliche, durch tiefe Empfindung, kühne
Sprache, sichre und freie Form fesselnde, die musikalische
Dilettantenkraft der Monodieepoche frappant beleuchtende
Habsburger Werk zeigt in der selbstherrlichen ^ Koloratur-
freudigkeit seiner Solosätze eine nicht bloß iildividuelle,
sondern auch zeitliche Schwäche.
Die Gefahr war nicht ausgeschlossen, daß der Psalm
ähnlich wie die italienische weltliche Lyrik ganz und gar
dem Sologesang ausgeliefert wurde. Für die geisthche
Musik Italiens diese Gefahr beseitigt und einen Ausgleich
neuer und alter Musik herbeigeführt zu haben, ist be-
kanntlich das Verdienst Cari'ssimis: Noch früher und a. Oarlssimi*
entschiedener wurde ihr in Deutschland vorgebeugt und
zwar von Heinrich Schütz, ganz insbesondere auch H. Schfits,
durch seine Leistungen in der Psalmenkomposition. Schon
durch seine Fruchtbarkeit auf diesem Gebiet gehört Schütz
unter die größten Psalmenmeister aller Zeiten. Auch er hat
nur einen kleinen Teil seiner Psalmen al& solche betitelt,
der größere birgt sich unter verschiedenen musikalischen
Formennamen: Geistliche Konzerte, Sinfoniae: sacrae,
Motetten, Geistliche Chormusik. Die Spittasche Gesamt-
ausgabe seiner Werke gibt ja hierüber bequeme Auskunft
und zeigt zunächst, daß auch Schütz allen in seiner Zeit
bekannten Richtungen der Psalmenkompositionen ihr
Recht zu geben strebte. Wir haben da als erste Gruppe
Psalmen in der Form der einstimmigen, oder auch zwei-
und dreistimmigen Solokantate komponiert. Sie sind es,
die obenhin betrachtet, am meisten den Eindruck von
Modesachen machen. Denn hier ist auch Schütz musi-
II, \. 27
— <^ 4«8 ^>—
kalischen Worten, wie psallare, jubilare, cantare, und er
ist allen Bewegungsbegriffen gegenüber mit malenden
Gesangfiguren freigebiger, als unsere Zeit für notwendig
erachtet. Aber er opfert der Manier des vokalen Kolo-
rierens mit mehr Maß und Geschmack xmd auch sinn-
voller und geistreicher als der Durchschnitt seiner
Kollegen. Sein Figurensingen rückt in der Regel durch
die Nachahmungen der Instrumente, durch umbildende
und verdichtende Polyphonie aus dem Sinnlichen hinauf
in den Kreis beziehungsvoller Kunst. Noch wichtiger ist
es, daß diese Alterspuren quantitativ weit, weit hinter
die bleibende Größe zurücktreten, die allen wesentlichen
Elementen dieser Solopisalmen eigen ist. Es genügt, den
ersten Teil der »Sinfoniae sacraec (von 4 629) oder den
ersten Teil der »Geistlichen Konzertec (von 4 636) aufs
geratewohl aufzuschlagen. In Stücken von der Herz-
lichkeit des »In te Domine speravi«, von der Fülle und
Originalität der Erfindung des »Jubilate Deo«, von der
Natürlichkeit der Deklamation des »Eile^ mich, Herr
usw.« zeigt sich ein Psalmist von königlicher Art. Für
Hausandachten, für Gottesdienst mit bescheidenen Mitfein
sind diese Schützschen Solopsalmen wie geschaffen und
sie zunächst praktisch bekannt zu machen, ist eine der
dankbarsten Aufgaben des heutigen geistlichen Kon-
zerts. Die Mithilfe des Musikverlags kann dabei aller-
dings nicht entbehrt werden; es braucht Übertragungen
und Einrichtungen der Originalausgabe, welche die Rhyth-
mik modernisieren, die Dynamik einfügen und vor allem
das nur skizzierte Akkompagnement für Orgel (oder Kla-
vier) vervollständigen.
Diejenigen deutschen Komponisten, die sich mit Psal-
men für Solo oder Soloensemble am engsten an Schütz
N. Stronck. anschließen, sind N. Strunck und Ad. Krieger. Kriegers
A. Erleger. Terzett über: »An den Wassern zu Babel usw.« ist eins
der ausdrucksreichsten Stücke aus der Entwicklungszeit
des geistUchen Konzerts, in der Form allerdings etwas
sprunghaft. Breiter angelegt ist seine vierstimmige
Psalmkantate: »Ich preise dich, Herr«, sie hält auch
den einheitlichen, wunderschön gehaltenen Grundton, den
des fröhlichen Herzens, fester*).
Die zweite Hanptgruppe der Schützschen Psalmen-
werke, die die Chorpsalmen umfaßt, zerfällt in mehrere
Unterahteilungen. Wie schon in den Solopsalmen ein
Teil der besten auf Einflüsse des Chorstils zurückgeht,
1^0 steht diese Gruppe als Ganzes über der anderen, je-
doch . mit beträchtlichen Gradunterschieden. Ihren be-
scheidensten Teil bilden der Form nach die Komposi-
tionen zu den von Cornelius Becker gedichteten deutschen
Psalmenparaphrasen, die von 4628 bis 4 665 auf hundert
und fünfzig Stick gebracht wurden. Es sind vierstimmige
Chorlieder mit (ad libitum) beigefügtem Basso continuo,
Beiträge zur Geschichte des Goudimelschen Psalters auf
evangelischem Boden. Wie Schein von seinen >Psälm-
lein«, so hat auch Schütz von diesen Arbeiten keine hohe
Meinung: Es sei, sagt er, »fast kein Musikus, welcher
nicht etwa eine solche Melodey aufsetzen könnte«, und
gegen die von Luther stammenden Psalmenweisen ver-
hielten sich seine Erfindungen wie Menschen zu den
himmlischen Seraphim. Man biaucht sich aber dadurch
nicht von dieser einfachen Musik abschrecken zu lassen,
auf ihren Gemütswert weist Schützens eigene Mitteilung
hin, daß sie sein Trost bei dem »unverhofften Todesfall
seines weyland lieben Weibes« gewesen seien. Man merkt
ihnen sehr wohl noch die Blütezeit des Kirchenliedes
an. Bedeutend eigner sind die Psalmenmotetten, die —
fünfzehn an Zahl — unter den vierzig Nummern der
»Cantiones sacrae« (von 1625) enthalten sind. Ihre An-
lage ist vorwiegend kurz und einsätzig, nur dreimal hat
Schütz solche einzelne Sätze zu einem zwei- und
dreiteiligen Zyklus aneinandergereiht. In diesem knappen
Rahmen wird aber soviel Kunst und bewegtes Innenleben
zusammengedrängt, daß diese vierstimmigen Chorpsal-
men als Unica bezeichnet werden müssen. Spitta macht
in der Vorrede des betreffenden Bandes darauf aufmerk-
*) Königliche Bibliothek zu Berlin, MMs. 11661.
27*
-^ 42d 4»—
sam, daß nach Kaspar Printz (historische Beschreibung
der edlen Sing- und Klingkunst 4690)^er Ruhm Schützens
an diese cantiones zuerst angeknüpft hat. Das begreift
sich sehr leicht. Denn diese Psabnenmotetten treten im
Wesen und in den Mitteln aus jeder bekannten Reihe
heraus. Soviel ungewöhnliche Intervalle und Akkorde
(übermäßige Dreiklänge namentlich), solche Kühnheit in
der Rhythmik, solche Schlagfertigkeit in der Nachahmung
mußten an und für sich auffallen. Sie verbanden sich
aber hier mit einer vollendeten Sicherheit und Natürlich-
keit des Ausdrucks und sie überschütteten mit Proben
des neuen dramatischen Musikgeistes an einer Stelle, wo
ihn niemand erwartete, in der alten, gedrängten einsätzigen
Motette. Dadurch wurden und sind sie das eigenthche
Meisterstück Schützens, in ihrer Art bis heute noch von
niemandem überboten. Davon zu überzeugen sind be-
sonders die Nummern 4 4 (»In te Domine speravic) und
38 (Domine, ne in furore tuo anguas me<)- geeignet
Was für eine ungeheure Empfindung spricht in diesem
letzten Stück allein schon aus dem Einsatz des »Mise-
rere«, aus der Mischung von inbrünstigem Vertrauen und
furchtbarer Angst, aus der verblüffenden Melodik des
Motivs! Zugleich aber wird aus diesen Beispielen eine
andere Eigentümlichkeit dieser Schützschen Psalmen-
motetten klar: ihi'e ganz außerordentliche Schwierigkeit.
Wenn sich überhaupt ein Chor an ihnen versucht^ darfs
nur einer von den allerbesten sein. Sicherer geht man
mit einem Soloquartett. Bei vielen ist das durch den
Basso continuo angedeutete Akkompagnement wesent-
lich.
Die höchste Stufe der von Schütz getanen Psalmen-
arbeit bezeichnen aber auch diese Motettenpsalmen noch
nicht, sondern sie findet sich erst in den mehr chörigen
Psalmen mit Instrumenten, die im dritten Teü der »Sin-
foniae sacrae«, in der »Geistlichetn Ghormusik« und in
den von 4 619 ab veröffentlichten »Psajmen Davids
samt etlichen Motetten und Konzerten« enthalten sind.
Bei ihnen kommt, verghchen mit den Psalmenmotetten,
f
die bedeutende, äußere Wirkung hinzu, die in der
großen, breiten Form dieser Kompositionen begründet
ist. Wie bei den Solopsalmen, ist diese Form die neu
eingeführte der Kantate. Schütz hat sie aber bei diesen
mehrchörigen Psalmen mit einer ganz außergewöhnlichen
Beweglichkeit der Sätze und des Tempowechsels gehand-
habt. Die Musik der einzelnen Psalmen, auch der läng-
sten, wie der 44 6., der 424., fließt immer frisch dahin, und
der Gesamteindruck ist einheitlich und stark. Sieht man
genau hin, bemerkt man als Eigentümlichkeit des Schütz-
schen Kantatenauf baus, daß er zur rechten Zeit sich mit
sehr kurzen Sätzchen als Zwischengliedern begnügt, daß
er zweitens geeignete kleine und größere Stücke durch
Wiederholung einprägt. Durch diese mehrchörigen Psalmen
von Schütz ist die Kantate ein für allemal eine Haupt-
form der Psalmenkomposition, sie ist die Form des
eigentlichen Fe§tpsalms geworden. Spätere Meister, wie
Händel, haben die Schützsche Grundform individuell aus-
gefüllt, im wesentlichen aber nur wenig geändert. Selbst
bei Franz Liszt ist sie noch zu spüren, bei ihm — neben-
bei bemerkt — auch Schützsche Wortauffassung, wie der
Vergleich zwischen den Kompositionen ergibt, in die
beide Tonsetzer den 4 3. Psalm gebracht haben. Am
meisten weichen spätere Psalmenkantaten von den
Schützschen darin ab, daß sie neben dem Chor auch
dem Sologesang einen breiteren Platz geben. Doch,
fehlt der in den mehrchörigen Psalmen dieses Meisters
keineswegs, wenn er auch nur bescheiden auftritt. Schütz
hat die Solostellen nicht als solche bezeichnet. Trotz-
dem ist es verkehrt keine anzunehmen und immer nur
den Chor singen zu lassen. Die Punkte, an denen
gewechselt werden darf oder nicht, ergeben sich aus
dem Stil.
Zu der Klassizität der Kantatenform tritt bei diesen
mehrchörigen Psalmen von Schütz noch die erstaunliche
Fülle, die Mannigfaltigkeit und der poetische Wert der
Gedanken und der Mittel. Durch das alles sind sie
Gipfel der Musikgeschichte, ähnlich wie auf ihren Ge-
— <& 422 ^—
bieten die Orgelfantasien Bachs und die Symphonien
Beethovens. Sie erst zeigen den ganzen Schütz mit
seinem Bilderreichtum und seiner sicheren Gestaltungs-
kraft. Altes und Neues verschmilzt bei ihm' organischi
die Zeiten der Falsobordoni und des modernen Motivs
begegnen sich in natürlichster Freundschaft. Untersucht
man diese SO mehrchörigen Psalmen auf Binzelzüge hin,
so steht man wie bei den B achschen Kantaten vor un-
erwarteten Überraschungen. Nicht wenige entspringen
einem liebenswürdigen ReaUsmus, so wenn in dem
Choralpsalm »Nun danket alle 6ott€ plötzlich eine Solo-
trompete mit einem ganz volkstümUchen Refrain herein-
spielt, wenn er in >Wo der Herr nicht das Haus baut«
bei den Worten voq. der behüteten Stadt ein leibhaftiges
Türmersignal blasen läßt. Hier schreibt er noch extra
darüber: >ad imitationem cornu vigilis«. Unter die beson-
deren Eigenheiten Schützens, die aus diesen mehrchörigen
Psalmen hervortreten, gehört auch eine Stimmführung,
die gegebenen Falls die Konsequenz über den Wohl-
klang setzt und ohne Bedenken ganz ungewohnte Disso-
nanzen streift. Monteverdis Einfluß spricht daraus. Als
ein Hauptparadigma hierfür bietet sich die Komposition
von >Die mit Tränen säen«. Sie bietet Gelegenheit einen
praktischen Punkt zu berühren. Sie gehört nämlich zu
den zweichörigen Psalmen, bei denen in jedem Chor ein
Teil der Stimmen Instrumenten übertragen ist. Hier treten
je drei Posaunen mit je zwei Chorstimmen und der Orgel
zusammen. Diese eigentümliche Mischung, ursprünglich
ein Notbehelf kleiner Kapellen bei den stimmreichen
Werken der venetianischen Schule, wurde als ein neues
GehörspHänomen allmählich beliebt und findet sich auch
bei den Zeitgenossen von Schütz. Sie bietet aber bei
der Aufführung große Schwierigkeiten für das reine Zu-
sammenklingen und der Dirigent wird gut tun, den
Posaunen reichere Gelegenheit zum Einspielen mit der
Orgel und zum Ausgleich temperierter und natürlicher
Stimmung zu geben. Bei den mehrchörigen Psalmen mit vol-
lerem Orchester ist diese Schwierigkeit bedeutend geringer.
• /
Wie durch Schütz in Deutschland, so wurde auch in
andern Ländern durch ihm verwandte Geister das drohende
Monopol des Sologesangs ferngehalten, doch erhalten von
der Mitte des 47. Jahrhunderts ab die Psalmen für ein,
zwei, seltener für mehr Solostimmen mit Begleitung von
Cembalo, Orgel und Orchesterinstrumenten einen breiten
Platz in der Praxis. Auch die architektonische An-
lage dieser Solopsalmen folgt der Kantate: Rezitative
wechseln mit geschlossenen Sätzen. In den letzteren
erscheint zuweilen auch der Chor abwechselnd mit
dea Solisten. Der Klassiker und Spezialist dieses solisti-
schen Psalmens ist Benedetto Marcello. * Seine B< MaroeU«,
50 Psalmen, denen Paraphrasen des italienischen Dich- Solopsalmen.
ters G. A. Giustiniani unterliegen, Nachdichtungen der
biblischen Texte im Zeitgeschmack, wie sie in Italien
schon 4 554 auftauchen, waren überall verbreitet. Die erste
Hälfte (4 724 veröffentlicht) wie die zweite (4 726—27 her-
ausgegeben) erlebten mehrfache Auflagen, Nachdrucke,
Übersetzungen und Bearbeitungen und standen lange im
Weltrufe fest. Noch 4 86 5 wurde in Stuttgart eine lindpaint-
nersche Neuinstrumentierung von zwölf dieser Psalmen
veröffentlicht, und der letzte französische Auszug aus dem
acht splendide Foliobände umfassenden Werke ist noch
zwanzig Jahre jünger. Marcello ging an seine Aufgabe mit
dem doppelten Rüstzeug des Forschers und Musikers.
In dier mit Lobgedichten seiner Bewunderer, mit Be-
glückwünschungsschreiben angesehener Kollegen ge-
schmückten Vorrede des ersten Bandes stellt er in dem
unfehlbaren Tone, welchen wir an theoretisierenden
Künstlern gewohnt sind, die Grundsätze fest, nach wel-
chen nicht bloß seine, nach welchen die Psalmen über-
haupt und immerdar komponiert werden sollen. In der
alten Musik, der der Hebräer uud Griechen, suchte Mar-
cello das Kolorit, in dem Musikdrama seiner Zeit aber
Seele und Leib seiner Psalmenmusik. In der Tat hat
Marcello mit großem "Geschick in seine Psalmen alter-
tümliche Tonelemente eingeflochten, originale oder
imitierte lydische und andere griechische Weisen,
— « 424 ^ —
namentlich aber viele Synagogengesänge, welche er bei
spanischen und deutschen Jaden sammelte. In dieser
Hinsicht sind die Psalmen Marcellos geschichtlich märk-
würdig: sie sind einer der ersten Versuche archaisieren-
den Sologesangs. Im £ffekt ist dieser Versuch verschieden
ausgefallen: hie und da — z. B. im 9. Psalm, wo die
drei Stimmen bei den alten hebräischen Intonationen in
breiten Unisonos zusammentreten — großartig, an ande-
ren Orten noch opernhaftec als die späteren Versuche in
Verdis »Aidac oder in Meyerheers »Prophetc. Auch sonst
ist der Wert der einzelnen Psalmen nicht gleich. Wenn
die neuere deutsche Kritik jedoch die Psalmen Marcellos
im allgemeinen etwas geringschätzig zu behandeln be-
gonnen und sogar versucht hat — verleitet durch die
bürgerliche Stellung des Komponisten — diese Werke als
dilettantische Produkte hinzustellen, so schlägt sie einen
Irrweg ein. An einer gewissen Unruhe in der Gesamt-
haltung, an einem beim Vergleich mit den Meisterwerken
der Vokalperiode hervortretenden Mangel an Harmonie,
und, wenn man will, auch an kirchlichem Geiste leiden
sie. Aber die kontrapunktische Geschicklichkeit ist
keineswegs gering. Und die Erfindung zeigt in den
Psalmen, welche für mehrere Solostimmen (gewöhnlich
mit hinzutretendem Chore) geschrieben sind, einen mehr
als gewöhnlichen, einen fantasie vollen, dichterischen
Musikgeist. Unter den Duetten namentlich finden sich
liebenswürdig und freundlich feine Abschnitte in Menge.
Besonders ragen in dieser Klasse der 32. (für zwei Alt-
stimmen), der 34. (Baß und Tenor) und der 25. Psalm (Baß
und Alt) hervor. Die für eine Solostimme geschriebenen
sind alle schwächer. In ihnen fällt Marcellos Melodik
sehr häufig in den kurzen tänzelnden Tontrab, welchen
die venetianische Oper für ihre Ariette, die theatralische
Schwester des Gassenhauers, liebte. Auf der andern Seite
sucht er apart zu sein und verunziert seinen sonst muster-
haft gesanglichen Stil durch unnötige Ausnahmeintervalle
und barocke Wendungen. Bei alledem bleibt auch in die-
sen einstimmigen Psalmen noch viel zu bewundern: die
geistvolle Anlage, der Anschluß an die Poesie, die vor-
zügliche Deklamation und der bedeutende Ausdruck der
Rezitative. Der Begleitungsapparat dieser Psalmen be-
schränkt sich bei den meisten auf ein Generalbaßinstru-
ment (Orgel,. Cembalo, Klavier), so daß sie sich gut zur
geistlichen Hausmusik eignen. An obligaten konzertieren-
den Instrumenten finden sich beigegeben Cello im 4 5.,
zwei Bratschen im 24. Psalm. Von den Komponisten,
welche auf dem Felde der Psalmenmusik Marcello als
Muster nahmen, ist G. B. Martini (Miserere), später der Qt, B. Martini.
Abb^ Stadler zu nennen. Weiter im 49. Jahrhundert Abb6 Stadler.,
wird der reine Solopsalm wieder seltener.
Die Reihe der in neuen Sammelwerken vertretenen
Hauptarbeiter in Psalmmotette und chorischer Psalm-
kantate beginnt mit dem Münchener Ercole Bern ab ei S. Bemabei
und mit Paolo Colonna, deren Psalmen alten Chor- P. Colonna.
Verzeichnissen nach früher viel gesungen worden sind.
Von A. Scarlatti sind die beiden Stücke »Dixit Dominus< A. Soarlattl.
und »Laudate pueri« zu nennen. Wie diese drei, widmet
die Mehrzahl der mit ihnen lebenden italienischen Ton-
setzer die Hauptkraft der Psalmenmotette mit unvergäng-
licher Frische, aber ohne den Typus zu verändern. Als
dne hervorragende Psalmkantate aus dieser Epoche ist
C. M. C 1 ar i s »De profundisc noch heute allgemein bekannt. G. M. Glari.
Unser Landsmann J. Fux vertritt wieder die Psalmen- J. Fax.
motette, ebenso A. Lotti und Fr. Gasparini. Die bei A. Lotti.
Scarlatti genannten beiden Psalmen kehren auch bei den F. Gasparini.
anderen immer als die Hauptstücke wieder; dazu noch
das »Misererec und sie werden von allen Musikern
ziemlich ähnlich behandelt. Die liturgische Brauchbar-
keit ist der Leitstern für Anlage und Erfindung: die
thematischen Ideen erfahren nur eine knappe Ausführung,
reiche Wortwiederholungen, breitere Formen der Nach-
ahmungen, wie wirkliche Kanons und Fugen sind ver-
mieden, in rein deklamatorischen Stellen klingt die erste
Zeit des mehrstimmigen Psalmengesangs häufiger wieder
an. Am weitesten geht in dieser Richtung Ant. Caldara, A. Caldara,
der erste Komponist der nach Schütz wieder eine ganz Psalmen.
—0 426 ^—
besondere Auffassung der Psalmenmotette durchsetzt
Nor ist der Stil Schützens auch in seinen Ghorpsahnen
trotz ,der wenigen eingestreuten Falsobordonen und der
konsequenteren Durchführung des Wechselgesanges vor-
wiegend modern. Galdara dagegen erstrebt ähnlich wie
Marcello einen altertümlichen Eindruck. Die Falso-
bordoni erhalten bei ihm einen breiteren Platz, und das
erste Gebot, dem seine Melodien und Harmonien fol-
gen, ist das der Würde und Feierlichkeit. So sehr seine
Motive an Charakter und an Treue gegen das Wort hervor-
ragen, die volle Freiheit der Erfindung versagt sich Galdara
einem alttestamentarischen Pathos zuLiebe. Seine Psalmen
sind nicht in dem Geiste beweglicher Harfengesänge, wie
sie David anstimmen konnte, gedacht, sondern als eine
Musik, welche die erhabenen Hallen des Salomonischen
Tempels zu tüllen hätte. Auch dieser Standpunkt kann
als eins von mehreren Idealen der Psalmenkomposition
gelten. Ein ganz besonderer Meister ist Galdara in der
Behandlung der Antiphonie. Die Mannigfaltigkeit, mit
welcher er den Wechsel bestellt, bald die Gruppen näher
zusammenzieht, bald weiter voneinander rückt, trennt
und eint, die Rhythmen und die melodischen Linien der
Motive nach dem Geist des Textes bildet, das alles zeigt
einen höchsten Grad von Kunstbeherrschung» Man wird
die Zeit liegrüßen dürfen, wo diese Psalmen Galdaras
der Praxis der Ghöre zugeführt werden. Die »Denkmäler
der Tonkunst in Osterreich« planen die baldige Veröffent-
lichung. In einer anderen Gruppe von Psalmenkompo-
sitionen hat Galdara sich der modernen Weise, der
Psalmenkompositionen mit Sologesang und Begleitung
zugewendet. Das daraus bekannteste Werk, ein »Miserere«,
ist gut, aber nicht hervorragend*).
Unter den zahlreichen Kompositionen des i 4 2. Psalms,
der ein Jahrhundert lang geradezu ein Pflicht- und Fa-
voritstück der Tonsetzer ist, befindet sich auch eine
sehr schwierige Solokantate für Sopran voji G. F.
*) Denkmäler der Tonkunst in Österreich, XIII i.
Händel. Sie ist dadurch besonders interessant, daß sie
als ein Werk aus der Knabenzeit für die musikalische
und persönliche Frühreife des Komponisten ein ge- 0. F. Handel,
wichtiges Zeugnis ablegt Während seines ersten Psalmen und
römischen Aufenthaltes hat Händel (nach Chrysander)^ Anthems.
diesen Psalm umgearbeitet und noch zwei weitere dazu
geschrieben, von denen der eine »Dixit dominus« schon
Händeis ganze Eigentümlichkeit: — die berühmten Uni-
sonos in breiten Noten, die kurzen schmetternden Jubel-
motive -^ zeigt. Dann benutzte er das »Laudate pueri«
wieder für die Komposition des 4 0a. Psalms >Jubilate<,
welcher mit dem Utrechter Te deum zugleich aufgeführt
wurde. In diesen drei Bearbeitungen derselben Grund-
ideen tut man einen tiefen Blick in Händeis Studiengang,
in seine Entwicklung und in die ganz wunderbare Be-
anlagung dieser gesegneten Künstlernatur. Ein so reiches
Maß von Bildungsfähigkeit, gesundem Gefühl und Takt,
wie uns bei dem Vergleiche dieser drei Arbeiten entgegen-
tritt, wird in der Kunstgeschichte nicht zu überbieten
sein. Aber die besondere Bedeutung, die Händel für die
Psalmenkomposition hat, bringen sie noch nicht zum
Ausdruck. Dies geschieht erst in den viel gerühmten,
aber — wenigstens in Deutschland -^ wenig aufgeführten
Anthems. V Die erste Reihe bilden die sogenannten
Chan dos- Anthems, welche Händel während seiner
Kapellmeisterzeit beim Herzog James von Ghandos
für den Gottesdienst zu Cannons in den Jahren
4 746 — 18 schrieb. Diese Anthems sind Kantaten großen
Stils für Soli, Chor, Orchester und Orgel. Ihre Gesamt-
zahl beträgt — abzüglich der doppelten Bearbeitungen
einzelner und des ersten Anthems, welches nur ein Ar-
rangement des >Jubilate< vom Jahre 4 74 3 ist — zehn.
Davon sind die ersten sechs für dreistimmigen, die fol-
genden für vierstimmigen Chor gesetzt. Auf die Zeit des
antiphonischen Kirchengesangs zurückdeutend, lyar der
Name Anthem zu Händeis Zeit in England Allgemein-
begriff für jede Art kunstvoller Kirchenmusik geworden,
welche wirklich für die Ausführung im Gottesdienst be-
— ^ 488 ^^-
stimmt war und ist das bis heute geblieben. Dem Text
nach sind Händeis Chandos-Anthems Psalmenmusik und
ak solche außerordentlich breit angelegt; einzelne be-
stehen — die Ouvertüren nicht mitgezählt — aus acht
oder mehr Sätzen. Auch die einzelnen Sätze sind um-
fangreich, namentlich unter den Ghorsätzen haben viele
eine Ausdehnung und Länge, wie sie bisher bei Händel
noch nicht vorgekommen war und sich später nur selten
wiederfindet. Die ungewöhnliche Form hängt damit zu-
sammen, daß Händel sich in diesen Anthems eine neue
Aufgabe gestellt hat. Das war die Schilderung der Natur
und der göttlichen Wunder. Wenn er darin eine Haupt-
seite der Psalmpoesie sah, so war das ohne Zweifel eine
ähnliche einseitige Auffassung, wie sie Ernst Bach und
Valentin Herbing bald darauf den Gellertschen Fabeln
gegenüber vertraten. Aber es war eine grandiose Ein-
seitigkeit und ihre Folgen gaben der Musikgeschichte
eine neue Wendung. Denn mit seinen Ghandos-Anthems
hat Händel zuerst mit Entschiedenheit den großen Stil
betreten, welcher das Merkmal seiner Oratorien bildet.
In letztere ist mancher Satz aus den Ghandos-Anthems
wörtlich oder umgebildet übergegangen. Für berühmte
Partien des »Messias« und des »Israel« enthalten die
Ghandos-Anthems die ersten Skizzen. Namentlich zu den
großen Tonmalereien des letztgenannten Oratoriums
bieten die Anthems Nr. 4 und 4 0 mit ihren Schilderungen
von Meeresbrausen, von Blitz und Donner, vom Beben
und Schüttern der Erde, eigentümliche Seitenstücke.
Diesen und anderen großen Leistungen einer ebenso
kühnen und mächtigen als sichern Fantasie treten aber
in den Anthems auch solche der Empfindung ebenbürtig
entgegen. Die bedeutendste Arbeit in dieser zweiten
Klasse ist das dritte Anthem »Have mercy upon me«,
eine Komposition des bekannten Bußpsalms von er-
greifender Innigkeit und Schönheit und zwar auch in
den Sologesängen, welche im allgemeinen die Höhe der
Ghöre und Ensembles in diesen Anthems nicht erreichen.
Dem dritten steht das sechste nah: »Wie der Hirsch
-^ 429 ^"^
Bchreit« , von welchem drei Bearbeitungen vorhanden
sind, deren dritte in die Zeit vor Ghandos zu gehören
scheint. Durch Originalität der Anlage und der Stimmung
ist das neunte Anthem »0 praise the Lord« (Psalm 4 35)
4)esonders ausgezeichnet. Sein erster Satz hat die Händel
eigene Verbindung von choralartigen Motiven mit kon-
zertierenden; der große 8/2-Takt über »With cheerful.
notes« auf dieselbe Mischung frommer und hell jubelnder
Gefühle gebaut, bringt ganz eigene Ausklangseffekte in
den breiten Unisonos, zu welchen die Stimmen an vielen
Periodenschlüssen zusammentreten.
Die zweite Reihe der Händeischen Anthems, die
Krönungsanthems, gehört durch die Mehrzahl der
Texte ebenfalls zu den Psalmenkompositionen. Händel
schrieb sie,' vier an Zahl, im Jahre 4 727 zur Krönung
Georgs IL, welche im Westminster mit besonderer
Pracht vor sich ging. Auch fürten musikalischen Teil
wurde Außerordentliches aufgewendet. Händel ließ ein
neues Podium errichten und eine besondere Orgel bauen.
Ein sechszehn Fuß langes Riesenfagott, welches, ebenfalls
nach Händeis Angabe, für diese Gelegenheit hergestellt
wurde, konnte niemand spielen. Es blieb bis zu der
großen Gedächtnisfeier, welche im Jahre 4784 zu Ehren
des verstorbenen Komponisten stattfand, unbenutzt.
Es gibt in diesen Krönungsanthems einzelne
Sätze, welche weiter nichts als ihre musikalische Schul-
digkeit tun. Von dem Anthem »Let Thy band« gilt das
fast durchaus. Der überwiegend größere Teil dieser
Anthems ist aber von einer wunderbaren Inspiration
durchzogen, hier fortreißend und rauschend, wie das
ganze knappe Anthem »Zadock, der Priester«, dost lieblich
kindlich und. innig, wie der erste Satz von »My heart is
inditing«. Letzteres ist für die Krönung der Königin be-
stimmt. Daß Händel sich die Krönungsfeierlichkeit als
einen Akt dachte, bei welchem das ganze Volk dabei
sein müßte, ist gar nicht zu verkennen. Namentlich
das Anthem »The king will rejoice« trägt diesen Stempel
einer — im besten Sinne des Wortes — für alle Welt
— * 430
passenden Musik. Man kann es für das vorzüglichste
halten. Der Zweck, für welchen die Anthems geschrieben
wurden, kommt auch in der pompösen Besetzung des
Orchesters, in welchem die Trompetenfarbe hervorsticht,
zum Ausdruck. In diesem Punkte unterscheiden sie sich
zunächst von den Ghandos- Anthems. Für Musikfeste
eignen sie sich besonders und sind auch nach 4 870 vorüber-
gehend dafür benutzt worden. Händel selbst beutete
auch diese Anthems später für größere Werke aus, z. B. füt
das »Gelegenheitsoratorium« und für >Deborah<.
Eine dritte Reihe Händelscher Anthems besteht aus
Gelegenheitsarbeiten, welche Händel für Hochzeiten im
königlichen Hause uild andere öffentliche Zwecke fertigte.
Die Ausgabe der deutschen Händelgesellschaft bringt
diese letzten, im Gehalte zurückstehenden und von der
Praxis der Konzerte bis heute gänzlich übergangenen
Anthems in«, der 36. Lieferung.
0. F. Hftndel, Es darf an dieser Stelle gleich der »Trauerhymne«
Frauerliymne. mit gedacht werden, welche Händel im Jahre 4 737 als
eine Art Requiem für die Beisetzung (4 7. Dezember) der
Königin Karoline schrieb, da der Text auch dieses Werkes
zum überwiegenden Teile aus Psalmenstellen besteht.
Diese Komposition, welche Burney in seiner Geschichte
der Musik etwas übertreibend an die Spitze aller Werke
Händeis stellt, ist eine durch Weichheit, Zartheit und edle
Herzlichkeit ausgezeichnete Nänie, ganz dem Charakter
der guten, milden wohltätigen Frau entsprechend, zu
deren Ehren sie gesungen wurde. In keinem andereil
von den größeren Vokalwerken des Tonsetzers stehen
so viel rührende Stücke. Händel scheint bei der Arbeit
eine gewisse persönliche Ergri£fenheit nicht überwunden
zu haben. Er flocht Erinnerungen hinein, welche in
seine eigene Jugend zurückreichen: einen Anklang an
das »Ecce quomodo« seines Namensvetters Handl (Jakob
Gallus) in den Satz: »Their bodies« (»Ihr Leib kommt im
Grabe zur Ruh«); den in Halle und in ganz Sachsen als
Grabgesang gebräuchlichen Choral: »Herr Jesu Christ,
du höchstes Gut« in dem großen Eingangssatz »The ways
-— * 431 *—
of Zionc (»Ganz Zion trauert usw.«!. Er bildet in diesem
Satze das Fundament eines der reichsten und vollendet-
sten Kunstbauten, die wir besitzen. Das kirchliche
Element, welches hier unbestritten herrscht, tritt in den
anderen Sätzen vermittelnd und erhebend dazwischen.
Die knappe, eine übervolle Stimmung hinter Wortkarg-
heit bergende Ouvertüre der »Trauerhymne« entstand erst,
als. Händel das Werk zur Einleitung seines Oratoriums
»Israel« umarbeitete. Ober die Besetzung bei der Auf-
führung berichten die Zeitungen: achtzig Sänger und
hundert Instrumentalisten.
Die »Trauerhymne« war eines der ersten Werke,
welches sich von den Händeischen großen Ghorkompo-
sitionen in Deutschland verbreitete, leider in entstellter
Form. Man machte so unpassend als« möglich ein Ora-
torium: »Empfindungen am Grabe Jesu« daraus; der erste
herrliche Satz wurde dabei grausam zerschnitten und
büßte seine eigentliche Schönheit vollständig ein.
In der späteren Psalmenkomposition haben Händeis
Anthems erst auf Mendelssohn eingewirkt. Von den in der
Händeischen Zeit angesehensten Psalmenkomponisten ist
die Mehrzahl in der Gegenwart vergessen. Das gilt von
dem älteren Fasch, es gilt von Feo; es gilt auch von J. FiFasoh,
J. A. Hasse, der unter andern das »Miserere« viermal Feo, J.A. Hasse,
komponiert hat, einmal nur für Männerstimmen, ein ander-
mal für Knabenstimmen allein. Nur von LeonardoLeo L. Leo.
bringt das Konzert zuweilen noch die Kantate »Dixit domi- Dixit Pomlniu
nusc und häufiger bringt es sein achtstimmiges »Misererec. und Miserere.
Beide sind ausgezeichnet durch breites Maß. Längere
Psalmenkompositionen gibt es nicht. Das »Dixit dominus«
(in der Kümmeischen Sammlung gedruckt) prägt sich schon
durch die Faßlichkeit der Themen ein; der Eindruck wird
noch durch die an vielen Stellen hervortretende Origi-
nalität der Auffassung und des Ausdrucks befestigt. Die
Wiederkehr des Schlußmotivs vom Ritornell des ersten
Satzes, die gewaltige Deklamation der Worte: »sedet a
dextris« durch die Bässe an demselben Orte sind solche
subjektive, aber wirkungsvolle Eigentümlichkeiten. Das
— ♦ 432 ^^
achtstimmige »Miserere« Leos gehörte zu den berühm-
testen Tonwerken seiner Zeit and ist heute noch eines . der
geschichtlich interessantesten. Der Charakter einer Über-
gangsepoche mit ihren fremdartigen Versuchen und merk-
würdigen Bildungen ist kaum einem zweiten Tonwerke
schärfer aufgeprägt als diesem »Miserere«. Seiner Form
nach ist es eine begleitete Motette, geistig steht es auf dem
Boden des Musikdramas ; es ist in der Konzeption vorwiegend
theatralisch, — theatralisch in jenem von Marcello und
Caldara, neuerdings besonders von Berlioz vertretenen
Sinne genommen, in welchem die Fantasie sich mehr in das
Zeremoniell des Gebets versenkt, als in den Sinn der Gebets-
worte selbst Daher die von Stimme zu Stimme wandernden
einstimmigen Episoden, welche die Intonationen des Litur«
gen nachahmen, daher die Wiederkehr derselben Formeln
und Manieren in den meist kurzen vielstimmigen Sätzchen.
Wenn es auch nicht immer die richtige ist, so ist doch die
Stimmung und Begeisterung in der Komposition bedeutend.
Musikalisch ist das »Miserere« reich an genialen Einzel-
heiten. Eine der merkwürdigsten dieser Stellen, vollständig
romantisch geartet, ist der Anfang des »Averte faciem« mit
dem in den unte-
ren Stimmen durch- <h ►_'» * K Jj K 'J' /J Ip-
geführten Motive: iT - - M '^ 4>
Aus der Psalmenkantate jener Epoche taucht äu-
C. W. T. Qluok, weilen Glucks »De profundis« auf. Diese Kompo-
De profundif . sition markiert den Ernst der Stimmung mehr, als daß
sie ihn ausführt. Einzelne Stellen treten aus dem Geist
der Skizze heraus, namentlich das einfach herzliche
»Quia apud te«. Oft glauben wir Mozart zu hören, so
in dem Abschnitt: »Misericordia«. Vollständig eigen und
Gluckisch ist das Kolorit des Orchesters: der vorwiegende
Klang der Posaunen und tiefen Hörner. Von den Streich-
instrumenten fehlen die Violinen. Die Gesamtwirkung der
kleinen Komposition, der einzigen, mit welcher der Refor-
mator der Oper heute auf dem kirchlichen Gebiete er-
scheint, ist hochfeierlich.
Zu den gegenwärtig übergegangenen Psalmenkoto-
—^ 433 ^—
ponisten gehören ferner J. Haydn, Sarti, Naumann J.Haydn, Sarti,
und Ph. E. Bach mit Psalmenkantaten, welche fast alle üTaamsiin,
eine Neigung zur Umständlichkeit kennzeichnet. Von FL £• BaoL
Mozart besitzen wir Psalmen in der, Bündelform der Mosarti
Vespern. Zur musikalischen Ausstattung der Vesper Vespern,
gehören fünf Psalmen und das Magnificat als Schluß.
Diese Bestimmung bedingt eine kurze Ausführung der
einzelnen Psalmen. Die Mozartschen sind einsätzig.
Die schon längere Zeit (durch Peters) herausgegebene
Vesper vom Jahre 4 77ö hat in den Nummern 2 (»Confi-
tebor«) und 4 (»Laudate pueri«) Nummern von hervor-
ragender geistiger Bedeutung. Die letztere ist im
strengen fugierenden Stile und altertümlichen Tone ge-
halten. In Süddeutschland kommt zuweilen noch eine
einzelne Mozartsche Bearbeitung des »De profundis« usw.
zu Gehör, eine knappe, häufig bloß deklamierende Kom-
position. Von den Wiener Klassikern erscheint merk-
würdigerweise ziemlich oft Franz Schubert in den F. Schiibert,
Aufführungen der Ghorvereine mit einer Komposition Der ^3. Psalm,
des 23. Psalms für vier aequale Stimmen (Quartett oder
Chor von Frauenstimmen oder Männerstimmen) mit
Klavierbegleitung. Das liebenswürdige, aber sehr harm-
lose Werk verdankt diese Bevorzugung seiner einfachen
Form, welchfe über das Lied nicht weit hinausgeht,^ seiner
leichten Ausführbarkeit und seinem Wohlklang. Als
weitere Tonsetzer, welche vor einigen Generationen auf
dem Gebiete der Psalmenkomposition Ansehen genossen,
sind zu nennen Abb^ Vogler, der mit Stadler in die Abb^ Vogler,
Schule Marcellos gehört, Andreas Romberg, der Kom- A. Bomberg,
ponist der » Glocke «, und Peter v. Winter, von welchem F. ▼. Winter,
fünfzig Psalmen vorhanden sind. Die Mehrzahl der Kom-
positionen dieser und verwandter Tonsetzer derselben
Epoche verläuft ungemein breit, ermangelt aber der Merk-
male eines besonderen Psalmenstils.
Der erste Komponist Im 49. Jahrhundert, dessen
Psalmen wieder einen tieferen und nachhaltigeren Ein-
druck erreichten, war Felix Mendelssohn. Verschie- F. Mendelssohn,
deutlich ist in der Zeit, wo seine Psalmen zuerst er-
II, 4. 28
— * 434 «»—
schienen, die Meinung ausgesprochen worden, ob nicht
auf dem Gebiete der kirchlichen Komposition Mendels-
sohns größte Stärke zu suchen sei. Und diese Meinung
mag wohl die richtige sein. Wir stehen, ermüdet durch
den Eifer einer maßlosen Nachahmerschaft, auch ihnen
heute etwas kühler gegenüber als die Musikwelt, welche
vor 60 und 70 Jahren lebte. Eine kurze Zeit der Ruhe wird
sie wieder in ihrer ganzen Frische erstehen lassen. Sie
sind einer langen Zukunft gewiß, wie alle Kunstwerke, in
welchen sich eine wirkliche Individualität, sei es auch eine
beschränkte, meisterhch äußert. In Mendelssohns Psal-
men dringt der weiche Gruhdton vielleicht .allzu stark
hervor, ihre Andacht bedient sich etwas häufig derselben
Wendungen, und im Ausdruck der erhabensten, der
düsteren und schauerlichen Ideen erscheinen ihre Töne
etwas matt. Aber Mendelssohns Bitten und Beten, sein
Bekenntnis des Gottvertrauens ruht nicht auf kalten
Musikformeln; ein warmer Strom herzlichen Gefühls und
gläubiger Hingebung durchdringt seine musikaHschen
Gebete und wenn er Gott lobt und dankt, schwingt sich
seine Musik zu einer Kraft und Begeisterung auf, welche
uns erhebt und einzustimmen zwingt. Mendelssohns
Jugend fiel in eine Zeit, in welcher auf allen Gebieten
ein Aufleben des religiösen Gefühls bemerkbar wurde.
Von den Künstlern folgten die einen, unter ihnen viele
Maler, dieser Bewegung mit der Fantasie, die andern,
von Schleiermacher angeregt, mit dem Herzen. Auf
letzterer Seite fand der junge Mendelssohn seine Stellung.
Die direkten musikalischen Quellen für Mendelssohns
Psalmenstil liegen viel weniger in den Werken mid der
Weise von Bach und Händel, als häufig behauptet wird.
Bei den Oratorien ist das anders, aber bei seinen Psalmeü
zeigt sich Bachscher Einfluß fast gar nicht, Händelscher
allerdings, aber nicht stark. Seine Hauptvorbilder sind
hier bei den Italienern zu suchen: in Marcello für die
Kantaten, in den Meistern der Vokalperiode für die
Psalmenmoütetten.
Unter den Psalmenkantaten des Tonsetzers ist die
— ^ 435
bekannteste und am häufigsten aufgeführte die Kompo-
sition des 42. Psalms: >Wie der Hirsch schreit«^ Diese F. MendeliBolm.
Arbeit (op. 42), auf der Hochzeitsreise entstanden, ist Wie der Hirsch
unter den größeren Vokalwerken Mendelssohns diejenige, schreit
welche den sentimental -romantischen Grundzug seines
Wesens am stärksten zum Ausdruck bringt. In alle
Farben dieser Musik ist ein gemeinsamer Beiklang milr
der Schwärmerei gemischt und der leidenschaftliche,
äußerste Seelennot kündende ^ Ton des Textes ist zu
einem empfindungsvoll elegischen gedämpft. Das Dich-
terwort von der > Wonne der Wehmut < ist wie ge-
schaffen für diese Komposition. Die Unterschiede in
den Äußerungen der verschiedenen Empfindungen:
Sehnsucht, Bußgefühl und Hoffnung sind außerordent-
lich fein. Sie würden unbemerkt bleiben, wenn nicht
die Form der musikalischen Mitteilung in ihrer Leben-
digkeit und in ihrem Reichtum ein Gegengewicht böte,
welches Eindruck und Wirkung sichert. In der Gestal-
tung dieser Form verrät sich jene Fülle von kunstge-
schichtlichem Wissen und kunstgeschichtlicher Bildung,
welche an der hervorragenden Stellung Mendelssohns
keinen geringen Anteil hat. Der Bekanntschaft Mendels-
sohns mit der alten Psalmenkomposition verdankt sein
»42. Psalm« einige seiner schönsten poetischen Vorzüge:
die Einschaltung von Rezitativen, den das antiphonische
Verfahren nachbildenden W-echsel von Frauen- und
Männerchören, die Vereinigung von Solo- und Chor-
gesang in sogenannten Ensemblesätzen, die durch Wie-
derholung des Thema »Harre auf Gott« herbeigeführte
Abrundung der zweiten Hälfte. Auch die Erweiterung
des Textes durch den Schlußabschnitt »Preis sei dem
Herrn« ist auf eine Nachbildung alter Tradition zurück-
zuführen: daß Psalmen und Hymnen von alters her mit
dem »Gloria Patri« abschlössen, war im Laufe der Zeit
wenigstens auf der protestantischen Seite vergessen
worden. Unter den Chorsätzen des Psalms ist der erste
»Wie der Hirsch schreit« der bedeutendste. Ihn zeichnet
ein großer und freier Ton im Ausdruck der Sehnsucht
28*
— ^ 436 ♦— -
nach Gott aus, sein Aufbau gelangt zu bedeutenden Höhe-
punkten. Der zweite dieser Höhepunkte, der Schluß des
Mittelteils, ist musikalisch durch eine geniale Wendung,
die kühne und feine Rückkehr in die Haupttonart Fdor,
gekennzeichnet. Der Schlußchor schlägt energisch volle
Saiten der Freude an, so daß der Hörer durch einen frischen
ynd festlichen Eindruck gehoben von dem Werke scheidet.
F. Mendelssohn, Der nicht lange Zeit nach dieser Komposition ent-
96. Psalm, standene 95. Psalm »Kommt, laßt uns anbeten« (op. 46)
verwendet den Solisten (Tenor) als geistigen ^Führer der
Menge. Dadurch, daß der Chor seine Worte nachsingt,
erhalten sie eine verdoppelte und verstärkte Bedeutung.
Aus der Anlage der Komposition spricht ein hohes Pathos.
Sie beginnt im Charakter demütig frommer Andacht (Nr. 4 ,
Tenorsolo mit Chor), ^ Ailegro. durchzogenen
geht dann mit dem von Ä n m» r n v ^^ Chor in den
dem festlichen Signale ^ Kom-mether.itti Ton drängen-
der Begeisterung über und endet nach zwei, denselben
Stimmungdkreis nochmals durchkreuzenden Zwischen-
nummern, dem lieblichen, dankbar ergebenen Duett:
»Denn in seiner Hand« und dem kraftvollen Chor »Denn
sein ist das Meer« mit ernster Mahnung; die Schluß-
nummer »Heute, so ihr seine Stimme höret« (Tenorsolo
und Chor) ist eins der schönsten Ensemblestücke, welche
Mendelssohn erfunden hat, im Ausdruck eines tiefen
Ernstes, einer edel wehmütigen und besorgten Stimmung,
eine ideale Leistung. Hoheit und Traurigkeit teilen sich
in seinen Eindruck so eigen, daß man zum Vergleich am
besten Seitenstücke von Mendelssohn selbst heranzieht
Die Sopranarie »Jerusalem, die du tötest usw.« aus
»Paulus« steht diesem Schlußsatz geistig am nächsten,
doch ist in ihm die Empfindung in eine viel größere und
mächtiger erregte Form geleitet. Die Chorsätze des Psalms
kennzeichnet eine große Einfachheit und Entschiedenheit
der Melodik. Das Bild, welches Mendelssohn hier von
der Psalmenkomposition vorschwebte, trug den Wahl-
spruch: kernig und würdig. Auf diesen Eindruck hin
arbeitet die Behandlung der Vokalpartie, sie erreicht ihn
--<^ 437 ♦--
namentlich mit den wohlberechneten Unisonostellen, v
Daneben finden sich Einzelheiten von größter Feinheit
der Auffassung. Besonders schön ist die Pianostelle im
ersten Chor zu den Worten »und niederfallen«. Es ist
auch unbeschadet des Strebens nach großem und ein-
fachem Stil viele kunstvolle Arbeit eingesetzt. Den Schluß
des zweiten Chors bildet ein Kanon zwischen Frauen-
und Männerstimmen über die Worte »Denn der Herr ist
ein großer Gott«. Am Schluß der Nr. 4 kehrt die Musik
des Eingangs wieder.
Die andren Psalmenkantaten Mendelssohns erscheinen
im heutigen Konzerte seltener. Sein »Nisi dominus« (op. 3l), F. MendelBsohiL,
der Erstling Mendelssohns in der Gattung, während des Nisi dominas
ersten römischen Aufenthalts geschrieben, ist eine durch und
die in den Sätzen herrschenden Gegensätze mächtige Da Israel aus
Komposition. In seiner erregten Grundstimmung, welche Ägypten zog.
mit der der Hauptarien der Glaubenshelden Paulus und
Elias verwandt ist, mag er aber den Ideen, welche sich
Mendelssohn später selbst von der Psalmenmusik gebildet
hatte, nur wenig entsprochen haben. Unter den Vorbildern,
welchen Mendelssohn in diesem Werke nachfolgte, ist
ausnahmsweise S. Bach zu bemerken. Von ihm rührt
die wiederholt versuchte Annäherung an den Ton des
Choralliedes her.
Wenn dieser Psalm von dem Konzert mit einigem
Rechte übergangen wird, so bleibt dies bei der großen
Psalmenkantate, welche Mendelssohn über »Da Israel aus
Ägypten zog« (o^. 51) geschrieben hat, sehr zu bedauern.
Das einzige Bedenken, welches man dieser, namentlich
auch durch auf Händeis Stil fußende Tonmalereien im-
posanten Komposition gegenüber äußern kann, ist ein
Lob: die Bemerkung, daß ein überreicher Musikinhalt
etwas zu gleichmäßig gedrängt zum Vortrag gelangt.
Die Form dieses Vortrags war aber für Mendelssohn sicht-
lich eine Prinzipienfrage. Es galt ihm die starken Ein-
schnitte der Kantate zu vermeiden. Auf die Komponisten
hat dieses Mendelssohnsche Werk einen bedeutenden
Einfluß ausgeübt, der besonders darin sichtbar wird, daß
— -^ 438 < -ft^-
in der Periode nach Mendelssohn dieser in der älteren
Literatur nicht gerade bevorzugte Text eine Lieblings-
vorlage der kirchlichen Tonsetzer geworden ist.
F. MendalsBoliii, Auf dem Gebiete der unbegleiteten Psalmenmotette
Psalmen- hat Mendelssohn sehr nachdrücklich wieder das alte
motetten. antiphonische Stilprinzip, den Wechselgesang der Chöre,
zur Geltung gebracht. Unter den Kompositionen dieser
Gattung ist das Hauptwerk die große achtstimmige Mo-
tette >Richte mich, Gott«. Die vierstimmige Motette
»Aus tiefer Not«, welche nicht selten in geistlichen
Konzerten vorkommt, hat Mendelssohn ersichtlich nicht
als Psalm betrachtet, sondern als Ghorallied. Sie besteht
aus einer Reihe Chorvariationen über die Luthersche
Kirchenmelodie, welche an einer Stelle von einem freien
und begleiteten Tenorsolo unterbrochen werden.
Mit seinen Psalmenkompositionen hat Mendelssohn
eine Schule gegründet, deren Blüte heute noch fort-
dauert. Auch auf die Anhänger älterer Richtung wirkten
seine Arbeiten anregend. Sehr deutlich läßt sich das
in der Literatur der für Männerchor geschriebenen Psal-
B. Klein, men verfolgen, auf welchem Gebiete vorher B. Klein mit
seinen kurz und geradeweg gehaltenen Kompositionen die
Führung hatte. Schon in den vierziger Jahren wird hier
das Mendelssohnsche Muster maßgebend, und ihm folgend
und doch eigene Freiheit wahrend, schrieben Männer, wie
F. Schneider, P« Schneider, H. Marschner, J. Otto, F. Lachner,
H. Marsohner, F. Hill er und I. Faißt sehr schöne Psalmenkantaten für
J. Otto, Männerstimmen , von vielen anderen Tonsetzern (Adam,
F. Lachner, Erfurt, Stade usw.) begleitet und nachgeeifert.
F. Hiller, ^^® Mehrzahl der bisher genannten Tonsetzer hat bei
I, Faißt, ^^r Komposition der Psalmen nicht an den König David,
sondern an die betende Tempelgemeinde gedacht und die
Worte und Gefühle der Dichtungen von der Lage und
Stimmung der Einzelperson losgelöst und auf das allge-
meine Verhältnis der Menschheit zu Gott übertragen.
Nur eine kleinere Gruppe von Musikern hält im Gegensatz
zu dieser kirchlichen, für den Allgemeingebrauch zurecht
gelegten Auffassung an dem subjektiven , persönlichen
-^ 439 ^-~
Urspruftg der Psalmen fest und gibt ihm Vin der Regel
^ durch einen stärkeren Auftrag der Elemente, welche das
Kolorit und die Stimmung behandeln, Ausdruck. Als
frühere Hauptvertreter dieser Richtung kennen wir B.
Marcello und k. Stadler. In neuerer Zeit hat mit beson-
derer Entschiedenheit Fr. Liszt diesen Standpunkt ver- Fr. Liszt,
treten. Seine Psalmenkompositionen — fünf sind ver- Psalmen,
öffentlicht — haben aus diesem Grunde und weil sie in
einem auf kirchlichem Gebiete ungebräuchlichen Grade
moderne Musikmittel verwenden, die öffentliche Auf-
merksamkeit in hervorragender Weise erregt. Das
Konzert hat von vier derselben Notiz genommen. Am
seltensten erscheint der f8. Psalm »Die Himmel er-
zählen«, eine kräftig gehaltene Komposition für Männer-
stimmen, in welcher von dem Unisonosatz sehr geistvoll
und wirksam reicher Gebrauch gemacht wird. Der
23. Psalm ist in der erweiterten Form des dreiteiligen
Sololiedes (Sopran oder Tenor) gehalten. Der Textab-
schnitt von «Und auch im Tal der Nacht« ab — Herders
gereimte Paraphrase liegt zugrunde — bis >Gut Heil wird
stets um mich sein« bildet den erregten, pathetisch de-
klamierten Mittelsatz. Der Hauptteil, der durch einige
feierlich präludierende Takte eingeleitet wird, verläuft im
Tone einer Begeisterung, die sich im Ausdruck zarter
Schwärmerei kaum genug tun kann. Das Kolorit der
Komposition wird durch die Mitwirkung der Harfe stark
mitbestimmt. Im Konzert haben sich am festesten ein-
gebürgert Liszts Kompositionen des 1 37. und 4 3. Psalms.
Jener, für eine Solostimme (Sopran oder Tenor) und Frauen-
chor mit Begleitung von Violine, Harfe und Pianoforte
(Orgel) geschrieben, hält ebenso wie der 23. eine einfache
dreiteilige Form ein. Der erste Teil erzählt ohne Verweilen
von den Leiden der Gefangenschaft und tut dies in
einem Tone, welcher durch seine romantische Mischung
merkwürdig fesselt. Das klingt resigniert, müde und zu-
gleich kraftvoll und stolz, apathisch traurig und auch
zornig erregt. In den Gang schlichter Deklamation fließen
ausdrucksvolle Akzente, gefühlvolle Gesangstellen und
\
)
440
Wendungen, 'welche orientalisch gefärbt sind. Bt erhebt
sich vor uns eine Gestalt, vom Alter halb gebrochen, «
aber mit dem Adel und der Würde des Prophetentums
angetan, eine musikalische' Übertragung Bendemann-
scher Figuren. Technisch ruht die Einleitungsszene des
4 87. Psalms hauptsäch- . Der zweite, nur
lieh auf dem von Liszt fe H jrJ ^ll'^ ^ ^ 1 kurze Teil des
unzertrennlichen Motive Psalms lenkt
'plötzlich ins Dramatische hinüber. Mit Bitterkeit und
parodierender Ironie führt der Sänger die Szene vor, in
welcher die Babylonier die heiligen Lieder Zions als Unter-
haltung zu hören begehren. Grimm und tiefste Trauer
löst er dann in einen Ausbruch von Sehnsucht und Liebe
auf, in den gewaltigen Ruf: »Jerusalem«. Dieses Wort in
diesem Augenblick reißt die Genossen mit fort: Der Chor
stimmt heißen Herzens mit ein in das Wort »Jerusalem«.
Ein begeistertes und inniges Gedenken an die Stadt der
Väter, in welches Solo und Chor sich teilen, füllt den
dritten Teil der Komposition.
Der i 3. Psalm »Herr, wie lange willst du meiner ver-
gessen«, für Tenorsolo,^ Chor und Orchester geschrieben,
geht über die einfache Anlage der beiden geschilderten
Psalmen weit hinaus und ist Liszts äußerlich und inner-
lich größter Beitrag zur Gattung. Er bringt hier seine
Anschauungen über moderne Kirchenmusik ebenso klar
wie in der Graner Messe zum Ausdruck und macht von
dem Recht, Text und Situation in unmittelbarer, in drama-
tischer Lebendigkeit aufzufassen und wiederzugeben einen
so entschiedenen Gebrauch, wie es im Psalm seit Schütz
kaum einer getan hat. Während die anderen Psalmen
des Komponisten im Aufbau sich dem Lisztschen Liede
näher anschUeßen, ist der des 4 3. Psalms mit den sym-
phonischen Dichtungen des Tonsetzers verwandt. Die
Variationenform beherrscht ihn, das Thema der Fragte:
»Herr, wie lange usw.«? ist ihr Grundstock. Den pathe-
tischen, leidenschaftlichen und feurigen Bildern, die aus
ihm entwickelt sind, hat Liszt in der lieblichen Musik zu
der Bitte: »Schaue doch usw.« einen sehr scharfen Gegen-
satz gegeben. Als Ganzes mächtig einheitlich ist auch
dieser Psalm an Einzelstellen von genialer Eingebung
reich ; unter den geschlossenen Partien ragt durch Geist
und vollendete Form das Andante con moto «/g hervor.
Liszt ist mit seiner Behandlung der Psalmen ohne
eigentliche Nachfolge geblieben. Es sei denn, daß spä-
tere Tonsetzer von diesen Arbeiten deklamatorische und
koloristische Anregungen entnommen haben. So scheint
durch ihn die Aufmerksamkeit auf die Harfe gelenkt
worden zu sein. Sehr wirksam hat dieses geschichtliche
Psalmeninstrument Müller-Hartung in seiner kräftigen Müllei-Hartnng,
und wirksamen Komposition des 90. Psalms verwendet. 90. Psalm.
In den wesentlichen stilistischen Punkten stehen die
hervortretenden neueren Psalmenkomponisten: E. Grell, E. Grell,
E. F. Richter, R. Franz (Lobet den Herrn alle Heiden, £. F, Bichter,
für zwei Chöre), W. Rust, W. Stade, G. Rebling, S. B.Prana,
Jadassohn auf der Seite Mendelssohns. Auch H.Götz W. Bast,
(4 37. Psalm) und W. Bargiel sind dieser Gruppe beizu- W. Stade, ^
zählen. Selbständig erscheint Moritz Hauptmann. Der G. Bebllng,
Ton seiner begleiteten und unbegleiteten Psalmen klingt 8. Jadassohn,
häufig sehr traulich an das 4 8. Jahrhundert und an H. Gdtx,
G.Naumann an, wo er sich vom weichen Grunde auf- W. Bargiel,
schwingt, hält er die Grenzen der kirchlichen Observanz U. Hauptmann,
und der natürlichen Vokalität inne. Joachim Raff ist J. Baff,
mit einer sehr umfangreichen, für achtstimmigen Chor und De profundis.
großes Orchester bestimmten Bearbeitung des »De pro-
fundisc unter den neueren Psalmsängern erschienen.
Ihre wirksamste Partie hat sie in der Sopranarie mit
Frauenchor »Quia apud te«, die an bedeutenden Dekla-
mationsstellen reich ist. Zwei schlichte, aber be-
merkenswerte Arbeiten auf dem Psalmenfelde besitzen
wir dann von J. Brahms. Sein 43. Psalm ist nach J, Brakmsi
Schubertschem Muster für äquale Stimmen geschrieben: 13. Psalm,
für dreistimmigen Frauen chor mit Begleitung der Orgel.
Die Anlage ist die der alten italienischen Kantate: eine
Folge von knapp gehaltenen Sätzen, die sich ohne Unter-
brechung anein anderschließen. Der Ausdruck ist einfach
aber reich, namentlich durch ungesuchte Energie aus-
442
E. Mneoke.
A. Brnokner,
F. Wüllnw,-
Fl Draeseke,
H. Bchalts-Beatheni
H. T. Hersogenberg,
C. Plntti,
Ol Taabmann.
Ml Grabert.
Pater Hartmann.
Ed. Orieg.
gezeichnet Die Komposition (op. 27) gehört zu der Reihe
von Vorarbeiten auf geistlichem Gebiete, durch welche
Brahms ^u dem Schöpfer des »Deutschen Requiems« heran-
reifte. Einzelne Partien des Psalms erinnern formell und
geistig direkt an den vierten Satz jenes großen Werkes.
Wenn wir der Komposition im Konzert so selten begegnen,
so liegt ein Grund dafür mit in der anstrengenden Führung
der oberen Sopranstimme. In größeren Verhältnissen mit
mehrfacher Benutzung der Fugenform hat Brahms den
54. Psalm »Schaffe in mir Gott« (für gemischten Chor
a capella) angelegt. Im Mittelpunkt der Komposition steht
der leidenschaftüch düstere Satz: »Verwirf mich nicht c.
In seinen späten Jahren hat sich auch noch Karl Rei-
necke mit einer Motette über »Unser Leben währet sieben,
zig Jahr« unter die Psalmenkomponisten begeben. Weiter
sind von bekannten Komponisten noch mit Psalmen auf-
getreten: A. Brückner, F. Wüllner, F. Draeseke,
H. Schultz -Beuthen (Hauptwerk: der 29. Psalm für
drei Chöre), H. v. Herzogenberg, C. Piutti und als
Neuüng 0. Taubmann mit einer Kantate für Solo, Chor
und Orchester über den i 3. Psalm, die Streben nadi Aus-
druck mit kühnem und gediegenem Kontrapunkt verbindet.
Eine spätere Psalmenmotette (»Das ist ein köstlich
Ding«) desselben Komponisten zeigt ebenfalls eine starke
Begabung für Satztechnik, aber nur wenig musikalische
Innerlichkeit. Nach letzterer Seite gehören dagegen die
drei Psalmen von Martin Grab er t (op. 30) zu den besten
Leistungen, der neuesten Zeit. Ihre einfach wirksame
Anlage wird sehr geschickt durch kleine, zum Teil rezita-
tivische Solosätze belebt, aus Erfindung und Arbeit spricht
überall schlicht und gehaltvoll der Geist eines berufenen
KünsÜers. Auch das Miserere des bekannten italienischen
Oratorienkomponisten Pater Hartmann darf hier er-
wähnt werden. Aus seinem immer geschmackvollen und
wohlklingenden sechsstimmigen Satz ragen mehrere ganz
modern gehaltene Stellen dramatischen und realistischen
Charakters hervor. Das Gebiet des Psalmliedes hat in
dem op. 74 von Edvard Grieg einen sehr eigenen Zu-
--♦ 443 ♦—
wachs erhalten. Die vier für gemischten Chor (a capella)
und Baritonsolo geschriebene Psahn'en dieses Heftes
lehnen sich an ältere norwegische Jürchenmelodien an
und fuhren damit in einen Kulturkreis, dem die Unter-
scheidung von geistlicher und weltlicher Musik noch viel
fremder ist als den sogenannten Dissenters des heutigen
Englands. An und für sich sind diese liedsätze, denen
die Harmonien und Kontrapunkte Griegs teils charakter-
volle, teils nur wunderliche Lichter aufsetzen, ganz reizend,
aber, für D^tschland wenigstens, ist eine kirchUche Ver-
wendung ausgeschlossen. Bei einzelnen macht diese schon
der Text unmöglich. In der zweiten Nummer z. B. (Mein
Jesus macht mich frei), einem behaglichen TanzUed, singt
erst der Solobariton und dann der Chor ihm nach: »Der
Sünde Glückspiel lockt nicht mehr, ich pfeife drauf«.
Diese sehr naive FsalmenbehancQung ist das reinste
Gegenstück zu dem von Goethe erzählten Erlebnis mit
Schweizer Bauern. Die sangen ihm bekanntlich im Wirts-
haus, um heimische Lieder gebeten, Stücke aus dem
Goudimelschen Psalter vor. In beiden Fällen handelt es
sich um die Verwechslung von Kirche und Schänke, bei
Grieg liegt möglicherweise auch der Einfluß Fritz von THides
und anderer demokratisch gerichteter ReUgionsmaler vor.
Verhältnismäßig am fleißigsten ist in der letzten Zeit
die Psalmenkantate bedacht worden, ohne daß aber der
Ertrag sich mit dem der Mendelssohnschen Zeit und ihres
Gefolges an Quantität und Qualität messen kann. Zu
den beachtenswerten Beiträgen gehört hier der Fest-
psalm (op. 72) Von E. Ed. Taub er t. Seine Mitte schildert E. Ed. Tanbert,
im Orchester die Meeresgewalt, nach ihr hebt sich der
Schluß auf die Worte »Aber der Herr ist noch größer«
zu erhabener Wirkung.
Die erste Stelle unter diesen Kantaten nimmt der
4 00. Psalm für Chor, Orchester und Orgel von Max M. Beger.
Reger (op. 400) ein. Seine Musik zerlegt den Text in
zwei Hauptteile, von denen der zweite, der umfangreichere,
auf wesentliche Motive des ersten zurückgreift, so daß die
Einheit des Ganzen nach innen und außen deutlich gewahrt
bleibt. Der erste Teil entwickelt sich um die beiden
Weisungen: jauchzet dem Herrn und dienet dem Herrn.
Jene wird wesentlich von einem erregten, leicht an den
ersten Satz des Bachschen Magnificats erinnernden Sech-
zehntelmotiv, diese von einer ruhigen Melodie getragen,
deren Eigentümlichkeit anf der Einmischung beklommener
Gefühlsregungen beruht. In der Entwicklung des Satzes
herrscht sehr entschieden der jauchzende, zuweilen bis
zur Verwirrung begeisterte Ton vor, er führt zu einzelnen
Modulationen, die in ihrer kräftigen Kühnheit die Empfin-
dung förmlich aufpeitschen. Doch wahrt der ganze Teil
den Charakter des Anlaufs und der Vorbereitung. Die
eigentliche Seele der Komposition enthüllt sich erst im
zweiten Teile, und ihre größte Schönheit Hegt in dessen
erster Hälfte. Da birgt sich gleich in den wenigen Takten,
mit denen das Orchester das erste Andante sostenuto
einleitet, ein tiefer Sinn ; ihre haltlosen, suchenden Akkorde
schicken den Worten des Chores >Erkennet, daß der Herr
Gott ist« das Bild der fehlenden Erkenntnis in einem
ähnlichen Gedankengang voraus, wie ihn ausführhcher
Händel in der Ouvertüre zum »Messias«, Haydn in der
Einleitung zur »Schöpfung« eingeschlagen hahen. Diesem
ersten Tempo folgt in dem Allegretto con grazia über die
Worte: »Gehet zu seinen Toren ein« das poetische Haupt-
stück des ganzen Psalms, ein freundhch, Mediich, mensch-
lich anheimelnder Satz, in dem neben dem eigenen, selb-
ständige Wege gehenden Harmoniker, der Reger immer in
erster Linie ist, auch ein Melodiker zu Wort kommt, der
dem Text und dazu den Sängern und Hörern in einfacher,
natürlicher Weise gerecht wird. Ein kurzes, aus dem
ersten Teil bekanntes Orchesterzwischenspiel (Andante
sostenuto) leitet von dieser Insel der Seligen über zu dem
groß und prunkvoll gedachten Schlußabschnitt der Kom-
position, dem Allegro maestoso über die Worte »Denn der
Herr ist freundhch«. Es vollzieht mit Benutzung von
Motiven des ersten Teils die eigentUche des Jubels volle
Anbetungsszene in Gestalt einer Doppelfuge, die in der
breiten Anlage und in der Menge der Durchführungen
445 »—
merkbar über die gebräuchlichen Maße hinausstrebt. Die
an innerer Musik reichsten Stellen bringt sie da, wo zu-
erst die Worte > Seine Gnade währet ewig* kommen. Den
Einfall, in diesen Schluß den Choral »Ein' feste Bürge
hineinzuziehen, kann man gelten lassen, die materielle
und eilige. Art aber, mit der er im unisono und ff von
Trompeten, Posaunen und Orgel abgetan wird, ist geeig-
net zu verstimmen.
Uhter den Kirchenstücken auf biblischen Text, welche
von den älteren Tonsetzern ständig komponiert wurden,
sind noch die Litaneien und die Lamentationen
zu nennen. Die Litaneien sind Bittgesänge, welche
mit den Anfangsworten der Messe, dem »Kyrie eleison«
beginnen und mit ihren Schlußworten »Agnus dei, mi-
serere nobis« enden. Der dazwischen liegende Text
wechselt nach den Veranlassungen, für welche die Lita-
nei angestimmt wird. Nimmt die Litanei die Stelle des
allgemeinen Kirchengebets ein, so kehrt das volkstümliche
»Kyrie eleison« in vielfachen Wiederholungen und Varia-
tionen wieder, in den sogenannten Lauretanischen
Litaneien (Marienbitten) oder bei Wallfahrten und Pro-
zessionen ruft man der Mutter. Maria und andern Heiligen
zahlreiche »Ora pro nobis« zu. Musikalisch sind die Lita-
neien in der Regel Wechselgesänge im einfachen und knap-
pen Stil meist bloß akzentmärßig gehalten und auf Vorbeter
(Solist oder Chor) und Volk (Chor) verteilt. Jener beginnt
die Sätze, spricht die Anreden und nennt die Gegenstände
der Bitte, dieses schließt sie mit Wunschformeln, die unter
Umständen zehn- und zwanzigmal wiederkehren. Die
Lamentationen haben Klagelieder des Jeremias zum
Text und gehören im katholischen Kultus zu dem musi-
kalischen Bestand der Karwoche. Mit den Passionen
teilen sie außer dieser Bestimmung auch manche formelle
Eigenschaften. Auch bei den Lamentationen ist die Ober-
schrift als feierlicher Introitus mitkomponiert. Noch be-
fremdlicher sind die bei einigen Tonsetzern gebräuchlichen
Zwischensätze zwischen den einzelnen Versen. Ihren Text
— ^ 446 ♦—
bilden Buchstaben des hebräischen Alphabets. Aleph nach
dem ersten, Beth nach dem zweiten, Ghimel nach dem
dritten Vers usw. Musikalisch sind diese Zwischensätze in
der Regel die Kemstellen der Komposition, von den Ton-
setzern in konzentriertester Stimmung und mit der größten
Anspannung der künstlerischen Kraft entworfei^ eine Art
Surrogat ausdrucksvollster Instrumentalmusik.
Ihr Text macht die Litaneien wie die Lamentationen
för das Konzert wenig geeignet. Es erscheinen hier
deshalb auch nur ganz wenige von ihnen. Die heute be-
kanntesten Klagegesänge sind die Improperien Palestrinas
G. Allegrl und die Lamentationen von G. Allegri (mit Schluß von
(Biordi), Biordi), seltener kommen die von M. Nanini und Fr.
Lamentationen. Durante vor. Mit Begleitung sind die Lamentationen
M. Nanini, überhaupt wenig komponiert worden. Dagegen wurden
Pr. Dnrante, dje Litaneien auch in der Zeit und in dem Stile der Kan-
Lamentationen täte noch häufig in Musik gesetzt. Das Konzert bringt zu-
und Litanei, weilen von letzterer Art die von Fr. Durante und von
W. A. Mosart, W. A. Mozart, macht dagegen von der Litanei in älterer
Litanei. Fassung keinen Gebrauch. Mit Unrecht. Denn gerade sie
mischt musikalische Eintönigkeit und Beharrlichkeit mit
dramatischer Frische des Vortrags in einer so eigenen
Weise und zu einem so mächtigen Gesamteindruck, daß
diese älteren Litaneien als bedeutende Paradigmen einer
ebenso objektiven, wie imposanten Musik wirken. Am
sichersten wird man die Probe hierauf mit den Marien-
J. de Kaoqn^, litaneien von J. deMacqu^ und von J. deFossa machen.
J, de Fossa. In letzterer spricht der Vorbeter alles zweimal, erst grego-
rianisch, dann figuraliter. Von weiteren neugedruckten
B, V. Helle, niederländischen Litaneien verdienen die von R. v. Melle,
F. Anerio, von italienischen die siebenstimmige F. Anerios*), von
H. Scliütz. deutschen die sechsstimmige von H. Schütz besondere
Beachtung.
*) Yeiöffentlicht in Haberls Kiichenmasikalischem Jahrbaeh.
Viertes Kapitel.
Motetten und Kantaten.
Neben der Ordnung und Benennung nach Text und
liturgischer Verwendung ist bei den zur Hymaenfsmilie
gehörigen, bei den erzählenden und bei den frei gedich-
teten Kirchengesängea von jeher noch eine zweite Art
der Klassifizierung einhergegangen, nämlich nach den
musikalischen Formen. Ton ihnen darf das Lied seiner
Natur nach hier überschlagen werden, dagegen vemot-
wendigt es sich von den unter dem Titel Motette und
Kantate in Umlauf gekommenen Kompositionen die-
jenigen zu erwähnen, welche fUr die Geschichte oder
für das heutige Konzert wichtig sind.
Die Abgrenzung des Motettenbegriffs hat textlich wie
musikalisch ihre Schwierigkeiten. Dort nmfaSt er nicht
bloß alle neben dem Ordinarium der Messe vorkommen-
den Arten kirchlicher Gesangteste, sondern er greift, wie
zablteiche aus dem 1 S. und 1 6. Jahrhundert erhaltene
Sängergebete und didaktische Texte beweisen, über das
eigentlich kirchliche Gebiet hinaus. Die Musik der Mo-
tette hiiwiedenim hat lange Zeit gebraucht um eine
bestimmte Hauptform durchzusetzen, und auch dann hat
diese niemals unbedingt gegolten*].
Das 44. Jahrhundert versteht unter Motetten zwei-
tritt: Oeschlcbte dei Motette,
—^ 448 ♦—
und dreistimmige Kirchengesänge, die einer gregoriani-
schen, langsam einen kurzen Spruch (mot) vortragenden
Unterstimme (Tenor) ein oder zwei frei erfundene rhyth-
misch bewegtere Oberstimmen hinzufügen. Nach dem
Vorbid der Tropen und Sequenzen erhielten diese freien
Stimmen eigene Texte und das gleichzeitige Absingen
verschiedener Texte war eine Zeitlang das wesentliche
Merkmal der Motette*). Wie die in neueren Publika-
tionen, besonders zahlreich von Wolf (a. a. 0.) mitgeteilten
Proben zeigen, unterscheidet sich die Textmengung in
der Motette von der späteren im Quodlibet und in der
Oper dadurch, dai3 die Nebentexte mit dem Haupttext
gleichen Sinnes sind, ihn weder kontrastieren noch paro-
dieren. Ein »Salve Regina« von Nik. Gombert, das mit
folgendem Textquartett anfängt:
Superius: Salve Riegina misericordiae
Altus: Ave Regina coelorum
Tenor: Inviolata, integra et casta es Maria
Bassus: Alma Redemptoris mater
mag das veranschaulichen. Es gehört in seiner Zeit unter
die seltenen Ausnahmen. Denn schon das 45. Jahr-
hundert gibt die Mengung verschiedener Texte in der
Motette grundsätzlich wieder auf. Dagegen hält es an
der deutlichen rhythmischen Unterscheidung zwischen den
frei erfundenen Stimmen und der dem Choral entlehnten
Grundstimme fest. Zahlreiche Motettensätze von Binchois,
Brasart, Dunstable, auch noch von Dufay **) zeigen, daß
den Komponisten die Oberstimme die Hauptsache ist.
Sie ist nicht bloß äußerlich, sondern auch innerlich feich
bewegt; während die untere und mit ihr die mittiere
Stimme still halten, spricht sie sich schön und ausdrucks-
voll melodisch aus. Man kann geradezu in den drei^
stimmigen Motetten des 45. Jahrhunderts eine Antizipa-
tion der späteren Monodie erblicken, bei der der Vorläufer
*) W. Meyei: Dei Ursprang der Motette (Nachrichten von
der K. Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen, 1898).
•*) Denkmäler der Tonkunst In Österreich, VII.
r-
-— ♦ 449 ♦—
dadurch im Vorteil ist, daß er statt auf Reflexion auf Tradi-
tion, auf dem Segen der Choralepoche fußt. Eine Änderung
erfährt dieser Motettenstil mit der Einbürgerung einer vierten
Stimme. Sie führt zu einer Teilung des Chorkörpers und
seiner Arbeit in ewei Gruppen. Die beiden Oberstimmen
und die beiden ünterstimmen paaren sich, hohe und tiefe
2weistimmige Sätze lösen einander ab; die entscheidende
Wendung besteht darin, daß innerhalb der einzelnen Grup-
pen die beiden Stimmen einander die Melodien vor- und
nachsingen. Damit ist das Prinzip der Ebenbürtigkeit auf-
gestellt, wenn es auch zunächst nicht vollständig durchge-
führt wird. Denn so oft beide Gruppen zusammentreten,
fällt der unteren die musikalisch bescheidene Rolle zu: sie
markiert mit langen Tönen die Harmonie und dient der
oberen nur als Hafen und Stütze. Die vollständige und wirk-
liche Ebenbürtigkeit der vier Stimmen findet sich zuerst in
Motetten durchgeführt, die wie das »Salve reginac Dufays
oder die Hymne >Omnium bonorum plena« von Loyset
Comp^rean das Ende des i 5 . Jahrhunderts fallen. Es sind
Kompositionen, die aus einer sehr großen Anzahl einzelner,
an sich.fesselnder Sätze bestehen. Der Abschluß der Motet-
tenentwicklung erfolgt dann im Laufe des 4 6. Jahrhunderts
in der Weise, daß die Texte kürzer gehalten, aber die ein-
zelnen selbständigen Abschnitte des Textes thematisch em-
gehend behandelt werden. Die der früheren Zeit ganz fremde
Wiederholung derselben Worte — drei- bis sechsmal in einer
Stimme — wird ein Merkmal des Motettenstils und ist es
bis heute geblieben. Auf Polyphonie und Textwiederholung
wollen die Verleger des 1 6. Jahrhunderts hinweisen, wenn
sie >cantiones sacrae quas vulgo motetas vocant« anzeigen.
Die hier skizzierte Entwicklung des Motettenstils stimmt
im allgemeinen mit der des Messenstils überein. Doch hat
die Motette vor der Messe einen großen Schatz von kürzeren,
einfacheren, die Kunst der Stimmführung dem seelischen .
Gehalt unterordnenden Sätzen voraus. Aus Dufays Feder 0. Dnfk/i
gehören in diese Gruppe die Hymnen: Ad coenam agni,
Christe redemptor, Conditor alme siderum, Hostis Herodis,
Iste confessor, 0 lux beata, Fange lingua, Sanctorum meritis.
üt queant laxis, Veni creator, Vexilla regis prodeunt*). In
einer Zeit, die noch der Herrschaft der Fauxbourdons und
anderer Simultanharmonien nahe steht, können sie nicht
überraschen. Daß sie sich aber auch während der Blüte
niederländischer Kontrapunktik behauptet haben, zeigt
Obrecbt. Ob rechts ins Repertoire des Amsterdamer »Klein Koor«
aufgenommenes Ave Regina, das belegt des weiteren nament-
lich Maldeghem mit zahlreichen köstlichen Proben. Der
Beachtung der Chordirigenten empfehlen sich daraus an
J. de Berohem, erster Stelle: J. de Berchems Jesu Christe, miserere,
C. Verdonok, C. Verdoncks: Ave gratia plena, J. Arcadelts: Ave Maria,
J. Aroadelt, Ad. Willaerts: 0 gemma clarissima, C. Goudimels: A
Ad. Wlllaerti la voiz de Tinnocente, Ciprian de Rores: Agimus tibi
C. Gondlmel, • gratias, Th. Cr^quillons: Ave virgo gloriosa. Ein Haupt-
C. de Eore, Vertreter dieser einfachen Motette ist R. v. Melle, ins-
Th, Cr^nillon, besondere verdienen seijie drei Hymnen: 0 Jesu Christe,
B. ▼. Helle. 0 Domine Jesu Christe, te supplices exoramus, und das
besonders schöne schwermütige Ave sanctissima, einen
festen Platz im geistlichen Konzert. Mit VorÜebe wendet
sich die Motette diesem kunstloseren, homophonen Stil bei
Marienhymnen und beim Pater noster zu. Die Chorsätze
des »Vater Unser« beschränken sich häufig darauf, dieselbe
gregorianische Melodie, die Luther in seine deutsche Messe
aufgenommen hat, mit einer vierstimmigen Harmonie ausr
zustaffieren. Ihre eigene natürliche Schönheit kann durch
selbständige Zutaten eher verlieren als gewinnen. Muster-
b^spiele solcher Niederländischer Kompositionen des »Pater
M. Le Maietre, noster« sind die von M. Le Maistre und vonN. Gombert.
Ni Gombert. Das von Le Maistre in Deutschland geschriebene paßt für
jede Dorfkirche, Gombert hat an die Kathedralen seiner Hei-
mat gedacht und trägt bei aller Schlichtheit einer höheren
kirchUchen Kunst dadurch Rechnung, daß von den fünf
Stimmen seines Satzes, wenn auch nicht gleichmäßig, jede
ihren Teil am Thema hat. Eine ebenfalls kurz und einfach
gehaltene, aber sehr eigentümUche Komposition des Gebets
des Herrn — Oratio dominica ist die übliche liturgische
*) Denkmäler der Tonkunst in Österreich. VU.
Bezeichnung — ist die von A. Willaert. Ihr finsterer,
banger, harter und unruhiger Ton weist auf Krieg, Krank-
heit, auf inneren oder äußeren Unfrieden und schlimme
Zeit hin.
Die liedartige Motettenrichtung gewinnt in der nieder-
ländischen Schule immer mehr Terrain, je näher das Ende
des 46. Jahrhunderts heranrückt und je stärker der Einfluß
von Madrigal- und weltlicher Tonkunst wird. Schon bald
im 47. Jahrhundert stellen sich dann neben die Muster-
stücke die Auswüchse. Jene vertritt am deutlichsten (bei
Maldeghem) das Brüggesche Weihnachtslied: Beata imma-
culata von 4630, diese die aus der Kommunalbibliothek
von Gambrai stammende Motette: 0 dulcis amica. Sie
hat ein Präludium von Brummstimmen (Bourdons) und
weist damit auf besondere Neigungen altniederländischer
Volksmusik hin, die im 4 9. Jahrhundert eine Zeitlang inter-
national wurden und heute noch dem französisch-belgischen
Männergesang eigen sind. Um die Zeit dieses Cambrai-
schen Satzes war jedoch die Herrschaft der niederländischen
Schule längst Vorbei. Sie hat die homophone Motette
doch nur als eine Nebenform behandelt, die mit dem
Steigen und Fallen des volkstümlichen Musikbarometers
vortritt oder zurücktritt, deren Stellung andererseits aber
auch von der Meisterschaft im Satz abhängt, über welche
Individuen und Perioden verfügen. Man braucht nur an
Mozarts »Ave verum« zu denken, um sich von dem Lebens-
recht der Gattung zu überzeugen, man wird indessen auch
im Hinblick auf die zahlreichen trivialen Leistungen, die
sie vom 47. Jahrhundert bis auf die Gegenwart gezeitigt
hat, es den Niederländern danken müssen, daß sie den
eigentlichen Motettenstil in der Polyphonie suchten und
in der großen Motette wenigstens durchweg festhielten.
Als Begründer dieses großen niederländischen Motetten -
Stils muß Ockeghem angesehen werden. Leider aber Ockeghem.
ist die Aussicht, ihn als solchen auch praktisch wieder zu
Ehren zu bringen gering, da er, als ein leistungsfähigerer
Notendruck aufkam, schon überholt war, sein handschrift-
licher Nachlaß aber an den Hauptstellen, in Rom und
89*
Tours, den Kriegs- und Revolutionszeiten zum Opfer ge-
fallen ist. Ambros, der den Spuren dieses Meisters zuletzt
und mit allem Eifer nachgegangen ist,, hat nur ein Motetten-
manuskript in der Riccardiana in Florenz, eine breit an-
gelegte und durch milden Ton eigene Komposition der
Hymne Alma Redemptoris gefunden ; in den Petruccischen
Drucken schreibt er ihm mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit,
aber doch nur vermutungsweise, die Stücke üt hermita
solus und Miles mirae probitatis zu. Von der bei Ornito-
parchus und Glarean erwähnten 3 6 stimmigen Motette
Ockeghems ist nicht einmal der Textanfang bekannt*).
ObraeH Besser steht es um Obre cht, von dessen Motetten-
kunst noch Material genug vorhanden ist. Die begonnene
Gesamtausgabe seiner Werke hat davon in der Passion
nach dem Evangelisten Matthäus bereits eine ausführ-
liche, aber keineswegs als Norm anzusehende Probe vor-
gelegt. Auch Obrecht war durch den Umfang des Textes
und seine Mischung berichtender und betrachtender Ele-
mente in der freien Entwicklung des Stils gehindert. Seine
Meisterqiotette ist die fünf stimmige > Salve crux arbor
vitae«, eins der frühesten Beispiele jener durch eine An-
sprache oder kurze Predigt in zwei Teile geschiedene
Motetten, die für Hören und andere Nebengottesdienste
bald allgemein und regelmäßig als musikalisches Haupt-
stück in Gebrauch kamen. Sie ist ebenso reich an Kunst
wie an Effekt. Den wohlberechneten Totaleindruck der
Komposition, der einer über Rast und Pause durch-
geführten Bergfahrt gleicht, beleben bunte, bald im losen,
bald im dichten Stimmengewebe gehaltene Details. Nahe
steht ihr eine andere fünfstimmige, von G. Rhau heraus-
gegebene Motette >Haec Deum coeli Dominum«. Was
Obrecht seinerzeit als Motettenmeister galt, zeigt sich am
*) Eitner und Brenet yermuten, H. Riemann (Handbach
der Musikgeschichte II \ S. 236) nimmt als sicher an, daß diese
Motette in der Schlußnummer des dritten Bandes der Psalmen -
Sammlung des Petrejus (154^2), einem kanonischen Kunststück
über die Worte: >Deo gratias« doch erhalten ist
— ♦ 453 ♦—
deutlichsten in der Tatsache, daß ihn die Drucke Petmccis
vor allen Vertretern der älteren niederländischen Schule
bevorzugen. Auch seine Motetten vermögen das heute
immer noch verbreitete Axiom von der kurzen Lebens-
kraft guter Musik kräftig zu widerlegen. - Doch aber hat
er in seiner Zeit, ähnlich wie Ockeghem, verhältnismäßig
bald anderen Größen Platz machen müssen.
Sein nächster Nachfolger ist allerdings ein Motetten-
komponist, der zuweilen das Höchste geleistet hat, was
die Gattung überhaupt erlaubt: Josquin de Pros, j, d« Pr^t
Noch mehr als für die Messe ist er mit seinem Tempe-
rament, seinem Blick für die einzelnen Bilder und Be-
griffe im Text für die Motette wichtig geworden, er hat
ihren AusdrucJusbedarf entschieden gesteigert Seit Roch-
litz sind deshalb Josquins Motetten in den Neudrucken
immer wieder, verhältnismäßig am meisten von Commer,
aber' doch noch nicht genügend und nicht durchweg mit
glücklicher Auswahl berücksichtigt worden. So gehört die
von Maldeghem gebrachte neunstimmige Motette: Cum
sancto spiritu und auch die Antiphone: Missus est Gabriel
Angelus, obwohl sie Ambros lobt, zu den unbedeutenderen,
fast nur stilistisch interessierenden Stücken. Viel höher
stehen die in Holland heute wieder bekannten Motetten:
Tu pauperum refugium und 0 virgo genetrix. Die Perle
Josquinscher Neudrucke ist das (ebenfalls von Maldeghem
mitgeteilte) vierstimmige Ave Maria, einer von vielen
Sätzen, die Josquin über diesen Text geschrieben hat,
aber unter ihnen derjenige, in dem seine ganze Meister-
schaft zusammengedrängt ist, der mit seiner himmlischen
Anmut und Unschuld zum Lieben zwingt. Die Text-
abschnitte Ave Maria und gratia plena tragen die vier
Stimmen zunächst einzeln und in so schönen, kindlich
rührenden und doch auch hoheitlichen Melodien vor,
daß niemand die Ableitung von Gregorianischer Quelle
ahnt Vom Domine tecum ab ziehen sie paarweise,
auch zu dreien streng kanonisch hin, aber nichts kann
natürlicher und einfacher klingen als diese Kanons. Bei
den Worten Maria plena gratia coelestia, terrestria,
-^ 454 ^
mundum replens laetitia sammelt sich der ganze Chor
zum erstenmal in einen schlichten ruhigen, homophonen
Satz. Noch dreimal: hei verum Solem usw.^ heim Ave
Vera virginitas und bei den Schlußworten: 0 mater Dei,
memento mei, Amen! kommen solche kunstlos harmoni-
sierte Episoden, und allemal sind sie. die Höhepunkte
der Empfindung. Elementar bricht an diesen Stellen
die Herzenswärme, mit der Josquin betet« durch, gerade-
zu fortreißend bei >Ave vera virginitasc, wo ungerader
Rhythmus eintritt, die Verehrung sich zur Begeisterung
steigert Aber auch die zu diesen Episoden hinführen-
den, streng stilisierten Hauptsätze sprechen so fesselnd
und eindringlich, daß jede Analyse dieser Komposition
zur Schwärmerei werden muß. Wenn irgendwo, so
kanil man bei ihm von einem musikalischen Raphael
reden und nur diel von der Musik nicht wegzudisputie-
renden Ansprüche an Spezialbildung hindern es, daß
sie so weltbekannt ist wie die Sixtinische Madonna.
Daran, daß die Chorvereine ein solches Juwel liegen
lassen, sind die antiquierten Notenformen Schuld, an
denen unsere Neudrucke festhalten. Nicht jeder Diri-
gent weiß, daß die langen Vierviertelnoten nur kurz ge-
meint sind.
Unter den Schülern Josquins tritt J. Mouton als
; Motettenkomponist dadurch individuell hervor,' daß er
den Stimmführungskünsten einen ''einfachen ausdruckst'
vollen Satz vorzieht. Petrucci hat ihn in seiner, wich-
tigsten Motettensammlung (de Corona) mit einundzwanzig
Nummern bedacht Besonders bedeutend sind seine Oster-
' motetten. Leider fehlt er in den Neudrucken. Dagegen
P. da la Bne. liegen von Pierre de la Rue , dem am meisten bewunder-
ten Zeitgenossen Josquins, über ein Dutzend Motetten in
Partitur (bei Maldeghem) vor, also mehr als Ambros über^
haupt erhalten glaubte und genug um von seinem Charak-
ter Und meiner Schule ein Bild zu gewinnen. Seine Motetten-
kunst fesselt besonders durch die große Menge wie beglei-
teter Sologesang wirkender Stellen, die an die Dufaysche
Zeit erinnern, aber sie ist auch von Josquin beeinflußt und
hat von ihm das Interesse für den lebendigen Ausdruck
. von Einzelheiten übernommen. Jedoch äußert sichs bei
ihm anders, mehr verstandesmäßig. Die Überlegung führt
ihn, wie in der vierstimmigen Motette: Gaude, virgo
mater zum Festhalten von Nebenmotiven, mit ihr
trotzt er trocknen Texten pqetische Wässerchen ab. Die
beiden vierstimmigen Motetten: Fama malum und Sancta
Maria succurre miseris bringen dafür' die Hauptbeispiele.
Dort gibt er von der Fama, von der anschwellenden
Velocitas Gespensterbilder, die in einer Mustersaminlung
nicht fehlen dürften, hier zeichnet er an der Stelle in-
tercede pro femin eo sexu auf femineo die Hilfsbedürftig-
keit des weiblichen Geschlechts mit einem die ganze
Oktave herablaufenden über sechs Takte ausgebreiteten
Gang als grenzenlos! In der dreistimmigen Trauer-
motette Cum coelum mutatur spielt er bei terra move-
bat durch Takte lang hin- und herrückende, in Sequen-
. zen weiter geschobene Sekunden und durch Variationen
dieses Motivs bis zum Bänglichen auf das Erdbeben an.
Das ist de la Rues Art in der Motette Josquin zu
variieren. Daß ihm dessen leichte Fantasie abgeht,
zeigt sich hie und da an dem Nebeneinander von melo-
disch blühenden und trocknen, mechanischen Stellen.
Aber er weiß letztere günstig zu beleuchten, bringt sie
als unbegleitete Solostimmen zu frappanten Gehörwir-
kungen oder fesselt durch motivische Verschlingungen
des vollen Satzes. Wie er die Technik beherrscht,
zeigt am imposantesten die sechsstimmige Motette: Ave
Sanctissima Maria mit dem dreifachen Kanon, der so
einfach und natürlich dahinfließt. Daß er eine eigene,
herbe aber reiche Natur ist, äußert sich in seiner Nei-
gung zu breiten Rhythmen, zur Würde und Gravität, in
der Sicherheit mit der er für jedweden Text die dem
Inhalt und der Stimmung gerechte Melodie findet. Eins
der schönsten Beispiele dafür ist der Rlagegesang mit
dem die Jonathanmotette: Doleo super te beginnt Um
des richtigen Ausdrucks willen scheut er keine Kühnheit.
Die sechsstiromige Motette: Pius dolor gibt dafür den
— f^ 456 ♦—
Hauptbeleg, sie ist in ihrer lapidaren Melodik, in der ehernen
Rühe der Harmonien, aus der die einzelnen Stimmen so
bedeutungsvoll und feierlich herausdeklamieren, in der
klaren Zäsierung und der einfachen Gewalt der Abschlüsse
ein Stück, wie es nur la Rue schreiben konnte, dasjenige
unter den Neudrucken, das die Stelle, die ihm in der
Motette gebührt, am sichersten klar machen muß.
Eine andere Größe aus dem Josquinschen Kreise, der
lange Zeit für einen Deutschen gehaltene Niederländer
E. Iiaao. Heinrich Isaac, ist unlängst durch die Partiturausgabe
des ersten und zweiten Teils seines Choralis Constantinus,
mit der die Denkmäler der Tonkunst in Österreich eine
Gesamtausgabe seiner Werke eröffnet haben*), in den
Vordergrund der Vertreter alter Motettenkunst gerückt
worden. Dieser Chorahs Constantinus bringt zum erstenmal
den vollständigen Jahresbedarf von Introiten, Gradualien,
Kommunionen und sonstigen das sonntägliche Ordinarium^
vervollständigenden Einleitungs-, Zwischen- und Schluß-
sätzen im mehrstimmigen Satze. Diese im Text bei jedem
Gottesdienst wechselnden Gebete und Danksagungen waren
bis dahin nicht immer, aber noch häufig im einstimmigen
Ghoralton gesungen worden, Isaac versuchte es, sie samt
und sonders für den Gebrauch der Konstanzer Liturgie —
das steht seit 4 909 fest — in die Formen der neuen,
höheren Kunst zu kleiden und entfaltete damit eine Frucht-
barkeit zunächst in der Motette, die auf das »de tempore«-
System — d. h. die Forderung, daß jeder Sonntag, mit
Ausnahme der Hauptsätze der Messe, seine eignen Gesänge
haben müsse — gestützt, durch Partikularismus und Lang-
samkeit von Verkehr und Handel gefördert, eine der er-
staunlichsten Eigenheiten der älteren kirchlichen Kompo-
sition ist. Sie läßt den Fleiß, den die Messenkomposition
bezeugt, weit hinter sich. Eine gute Messe konnte im
Jahre so und so oft wiederholt werden, ein gleich guter
Introitus oder ein Graduale, bei den Protestanten ein
geistliches Konzert, eine Kantate dagegen nicht.
*) Denkmäler der Tonkunst in Österreich, Y * und X\l K
Isaac ist mit dem kleinen innigen Lied »Innsbruck, ich
muß dich lassen« (Nun ruhen alle Wälder) schon früher
der populärste Niederländer gewesen. Die Volkstümlichkeit
kann durch seine Motetten nicht gesteigert werden, aber
wohl der Respekt vor seiner Meisterschaft. Sie äußert sich
in einer großen Mannigfaltigkeit der Formhehandlung undl
in dem Reichti^m persönlicher Züge im Textausdruck. Nach
der ersten Seite hat Isaac kaum seinesgleichen in der
Freiheit den Satzregeln und dem Tonmaterial gegenüber
und in der Sicherheit und Fülle sinnlicher Wirkung. Mit
dem cantus firmus wechseln die Stimmen der Isaacschen
Motette ähnlich lebendig, rasch und bunt wie die Instru-
mente der Haydnschen Symphonie mit dem Solospiel; bald
ist er hier, bald da, nach wenigen Takten ändert er den
Platz, ein Tenorvorrecht gibt es nicht. Auch von seiner
Doppelnatur als bloße mechanische,' technische Satzstütze
und als melodische Quelle macht Isaac einen ungewöhnlich
reichen Gebrauch. Seine eigentUche Polyphonie legt mehr
Wert auf Anregung als auf strenge Durchführung; die
Stimmen folgen einander mit kanonischen Einslitzen, aber
nach der vierten Note schon geht jede ihren eignen Weg,
der Satz ist immer kunstvoll, selten künstlich, das Trachten
Isaacs geht dahin, Hauptmotive einzuprägen. Vierstimmigkeit
ist die Norm, liturgischer Sologesang leitet die Abschnitte
ein. Hat aber Isaac die vier Stimmen einmal angesetzt, so
hält er sie ziemhch kompakt zusammen und kümmert sich
wenig, um das koloristische Kleinlebep. Dafür wirkt er um
so sicherer mit großen Kontrasten. Seine bicinia kommen
immer zur rechten Zeit und haben auch an sich viel zu sagen,
und wenn er hie und da den vierstimmigen Chor episodisch
zum sechsstimmigen erweitert, klingt es als träte ein Doppel-
chor in Aktion. In der sechsstimmigen Motette, von der die
Proben noch ausstehen, entfaltet er seine Hauptstärke.
Geistig fesseln die Motetten des GhoraHs Constantinus
den modernen Hörer am stärksten durch eine Anzahl von
Stellen, die jenen liebenswürdigen Realismus, jene Naivi-
tät äußern, die der niederländischen Kunst überhaupt,
nicht bloß der Musik, eigen sind. Jos quin ist an solchen
--^' 458 ♦—
Zügen, zwar nicht in den Motetten, aber in seinen Messen,
viel reicher; hei Isaac zeigen sie den Zusammenhang mit
dem Volkslehen deutlicher, sind urwüchsiger, nationaler
und wirken daher außerordentlich stark. In der Musik zum
Trinitatisfest kommt einer in der Mitte der Prosa zu den
Worten »Nunc omnis vox et hngua fateantur«. Da werden
auf einmal die Bässe mit Sequenzen eines Nebenmotivs
lebendig und reißen den übrigen Chor in einen neuen,
unerwarteten, nur in der Freude am Klang und Sang be-
gründeten Ton hinein. Im Introitus zum ersteü Sonntag
nach Trinitatis nimmt er aus dem Thema, das er für: >in
die damavi et nocte« erfunden hat, die Quarte, mit der
das damavi einsetzt, heraus und läßt sie die beiden Mittel-
stimmen in knappster Engführung je viermal wiederholen.
Ähnlich ruht im Introitus zum nächsten Sonntag bei »Do-
minus firmamentum \neum« die ganze Harmonie sechs
Takte lang auf dem Dmoll-Akkord. Bei einer andern
Gelegenheit läßt er auf »psaJlam« ein Paukenmotiv durch
die Stimmen gehen. Das ist ein Hauch vom Geist der
flandrischen Malerschule , aber Isaac ist unendlich weit
davon entfernt, ihm den kirchlichen Charakter seiner
Motetten zu opfern. Deren Grundzug ist vielmehr ernste,
gesetzte Andacht. Ihre dunkle Feierlichkeit erinnert an
gotische Dome, ihr Platz ist der Gottesdienst, nicht das
geistliche Konzert, für das sie zu gleichmäßig und mo-
noton sind*). Ähnlich wie mit Isaac verhält es sich in dieser
A. Bromeli Beziehung mit Ant.Brumel. Seine Motetten haben manche
interessante Episoden, vorwiegend sind sie Kunstaxbeit.
An der Satztechnik der niederländischen Motette hat
der weitere Verlauf des 4 6. Jahrhunderts wenig geändert.
Die Stimmen, kanonisch oder frei, in sinnvollen, an sich
verständhchen und sprechenden Melodien zu führen,
bleibt das oberste Gesetz, und ihm zu Liebe halten sich
die eigentlichen Niederländer von der Pflege der Mehr-
chörigkeit, die ja durch ihren Ockeghem und ihren Jos-
*) Einige nicht zum Ghoralis Gonstantlnos gehörige Motetten
Isaacs bringt der 5. Band der Musikgeschichte von Ambros.
— ♦ 459 -*>—
quin — die 24 stimmige Motette: Deus in adjatoriu^m —
zuerst versucht worden war, ziemlich fern. Sie reizt
sie erst, wenn sie der Heimatluft entrückt sind. Gom-
berts sechsstimmiges Ave Maria, Goudimels schönes
dreichöriges "Salve Regina gehören unter die wenigen
Ausnähmen. Farbenglanz gilt ihnen wenig, kunstreiche,
beziehungsvöUe Zeichnung alles, und als Vertreter der
natürlichen Ordnung in der Stimmenbehandlung sind
und bleiben sie Muster, auf die namentlich die durch
kistrumentale Einflüsse irregeleitete Gegenwart mit allem
Nachdruck hingewiesen werden muß.
Anders verhält es sich mit dem seelischen Gehalt
der niederländischen Motettenarbeit in der folgenden
Zeit, mit der Frage ob und wieviel in ihr das Wort
durch den Ton gewinnt? Da trifft man eine ganze
Klasse von Motetten, bei denen außer der vollendeten
Handwerksfertigkeit nicht viel übrig bleibt, das musika-
lische Priestertum sich auf das äußerlich Notwendigste
beschränkt. Das sind die Heiligenmotetten.* Ihr Durch-
schnitt macht um die Mitte des 4 6. Jahrhunderts den
Eindruck als sei die geistige und religiöse Kraft der
Musiker geschwächt, wenn nicht gebrochen. Nament-
lich an der physiognomielosen, auf bequemsten Sekun-
dentritt beschränkten Thematik zeigt sich die Schwäche.
Unter den Gründen für diese Erscheinung liegt es nahe
die Texte selbst mit heranzuziehen. Sie sind oft ab-
stoßend inhaltlos und bieten der Fantasie und der
Stimmung fast nur Titulaturen. Doch haben einer-
seits die Meister der a capella-Zeit dieses Hindernis
zu häufig glücklich überwunden, als daß man ihm in
diesem Falle eine Bedeutung beilegen dürfte, anderer-
seits erstreckt sich die Mattigkeit des Tons auch auf
gute Texte, nicht bloß solche zu Ehren von Heiligen
und Märtyrern, sondern auch auf sehr viele Marien-
dichtungen. Eine wirkliche Hauptursache für dieses
Versagen im Ausdruck darf in der Frische gesucht wer-
den, mit der sich die > konfessionelle Spaltung der Zeit
geltend machte. Doch haben ersichtlich auch neue
musikalische Strömungen auf die Motettenkraft der Nie-
derländer zunächst lähmend und verwirrend eingewirkt
Die wichtigste geht abermals vom Lied aus, das um
die Mitte des 4 6. Jahrhunderts in den Niederlanden in
seine höchste Blütezeit eintritt Seine ersten SpureQ in
"der großen Motette sind entstellend. An den Marsch-
Martelsere. rhythmen von Martelaeres fünf stimmigem: In nomine
Jesu zeigt sich das sehr deutlich*). Später aber erfassen
die Meister den wesentlichen Vorzug der Volksmusik,
ihre herzhafte Melodik und übertragen sie in die große
Form. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts, zum
Teil schon früher, bürgert sich in der mehrteiligen
Motette infolgedessen eine neue Th,ematik ein, die
größere Intervalle bevorzugt und sie zu eigentümlichen,
die Variationslust reizenden Motiven zusammenstellt
Auch Refrainformen und Schlußsteigerungen sieht die
große Motette jetzt dem Liede ab. Die dramatischen
Tendenzen der Zeit unterstützen dieses Streben nach
Plastik und Belebung des Ausdrucks. Leibhaftig und
M, Pipelaere. im vollen Umfang treten sie in Math. Pipelaeres sie-
benstimmigem Memorare, mater Christi, einem am
Tage der sieben Schmerzen zu singenden, im Text das
Stabat mater umschreibenden Marienhymnus vor. Nicht
bloß daß die Stimmen persönlich betitelt sind (4. Sopran
als primus doloro, 2. Sopran als secundus doloro usw.),
sie lösen sich auch in einer ganz ungewöhnlich selb-
ständigen Art, jede einzeln aus dem Ensemble los und
bringen ihre Individualität dramatisch zur Geltung und
selbst wenn sie alle sieben zusammensingen, so ge-
schieht das in neuen rhythmischen Gruppierungen und
mit ungewöhnlich rauschendem Chorklang. Andere Mo-
tetten beschränken das dramatische Element auf ein-
L. de XoAte. zelne Deklamationsstellen. * Lambertus de Monte gibt
im Anfang seiner fünf stimmigen Lambertusmotette: Mag-
num triumphum davon eine sehr wirksame Probe. Der
*) Dieses und die folgenden Beispiele sind in der Samm-
lung Maldeghems zu finden.
Name des Heiligen wixd auf Dreiklangmotiven höher
und höher gerückt, die Anrufung erhält den Charakter
eines pathetischen, inbrünstigen Gebets, die Zeremonie
wird zur naturgetreuen, Seelennot lebenswahr und dring-
lich darstellenden Szene.
Unter den Vertretern jener späteren niederländischen
Motette, die den Josquinschen Maßstab wieder verträgt,
sind heute J. de Berchem, Th. Cr^quillon, J. Richa- J. deBarohem,
fort,' A. Pevernage, F. Säle und E. de Cauroy mit Th, Cr^uillon,
einer kleineren Anzahl von Partituren bedacht. Daraus J, Biohafort,
wären von Berchem die Weihnachtsmotette: Noe, Noe, A. Peyernage^
hodie Salvator natus est und die Motetten : Ecclesiam F. Säle,
tuam Dens, 0 vos qui transitis und Veni sancte- Spiritus E. de Cauroy.
deswegen hervorzuheben, weil sie den Komponisten als s
eine gravitätische, im Reichtum und Charakter der Melo-
dien in ältere Zeit zurückweisende Individualität zeigen.
Mit den Künsten der Nachahmungen schaltet er sparsam,
aber des Effektes sicher. Von Cr 4 quill on empfiehlt
sich für das Konzert das fünfstimmige Stück aus dem
Hohenlied: Nigra sum wegen des fremilartig belebten,
nach dem Orient blickenden Tons. Von Richa fort ist
die bedeutendste Motette die Emendemus, in melius, der
schwer gedrückte Vortrag des Peccavimus, des Sünden-
bekenntnisses gibt ihr ihren Wert. A. Pevernage s
fünfstimmiges Benedictio et claritas gehört durch die
regelmäßige Wiederkehr eines Hauptthemas zu den Mo-
tetten, die an den Aufbau der Liedform anknüpfen.
Von Säle verdient die fünfstimmige Antiphone Asperges
me, eine im' ganzen an Isaac anklingende Komposition,
wegen der geschickten Wortwiederholungen Beachtung.
Bei £. deCauroy handelt es sich um eine Anzahl vor-
züglicher Weihnachtsmotetten (in Experts Sammlung).
Als größter Meister dieser Niederländergruppe ist
Jacobus Clemens (non Papa) durch die 42 Motetten J. Clemeni.
bekannt, die Commer in Partitur veröffentlicht hat.
Unter ihnen sind der Einbürgerung durchs Kon-
zert das fünfstimmige Weihnachtsstück Angelus ad
Pastores und die Marienbitte: 0 Maria, vernans rosa
am meisten darum wert, weil sie ein Stück Motetten-
geschichte, den Übergang von den Niederländern zu
Palestrina, beleuchten. Maldeghem bringt mit dem
fünfstimmigen »Ave verum corpus« einen Beitrag des
Clemens, der die neue Thematik der Niederländer sehr
deutlich veranschaulicht. Das * Thema K a F 7 ist für
die Zeit von 4 550 charakteristisch.
Daß der ganzen Schule auch das letzte, man kann
sagen entscheidende Merkmal der Größe, die Menge be-
deutender Individualitäten nicht fehlt, wird die weitere
Editionsarbeit allmählich allgemein klar zu machen haben.
Einen iätankenswerten Schritt hat für diese Aufgabe
Maldeghem durch reichere Motettenveröftentlichungen
J. de Gleves und J. de Kerles getan.
Ji de Kerle. Von de Kerle erwartet man nach seinen Messen
auch bedeutende Motetten. Hie und da, z. B. im zweiten
und dritten Teil der fünfstimmigen Motette Egressus Jesus,
hat ihn die Haltlosigkeit des Textes, in der fünfstimmigen
Motette Similitudo quattuor animalium, dessen für den
Motettenrahmen zu große Fantasie verhindert, diesen
Erwartungen zu entsprechen. Er hilft sich in solchen
Fällen mit Kunst und äußerer Beweglichkeit, läßt aber
trotzdem einen Meister merken, der jedes Bild eigen
und groß anzusetzen weiß. Ihn rückhaltlos zu bewun-
dem, zwingt das fünfstimmige Venite ad me, omnes qui
usw. durch den ungezwungenen, vollen Ausdruck des
Mitleidens, noch mehr die fünfstimmige Stephansmotette
Cum autem esset Stephanus durch ihren zweiten Teil, wo
die Begeisterung, mit der der Märtyrer den Himmel sich
öffnen sieht in einem ganz merkwürdig zarten und edlen
Ton wiedergegeben ist.
Ji de Oleye. Bei J. de Cleve stehen die Motetten beträchtlich über
den Messen, weil sie sich zu einer viel freieren Kunst
bekennen als diese. Auch sie sind reich an Meisterstücken
der Satztechnik, namentlich an kanonischen, aber frei
von der Übertreibung dieses Kunstmittels und ihr Schwer-
punkt liegt im Poetischen, im Erfassen und Auslegen des
Textes. Geringeren Wert haben die fünstinimigen Marien-
an tiphone: Regina coeli, die fünfstimmige Caecilienmotette
Gaudeamus omnes in Domino, die fünfstimmige Johannes*
motette: Inter natos mulierum. Ihnen fehlt ein aus-
geprägter Charakter, der letzteü, weil der Text keinen
hat, der zweiten, weil der Komponist am' Schluß im Aus-
druck der Freude originell sein wollte, der ersten, weil
sie unter der Tradition der thematisch matten Zeit ge-
schrieben ist. Im ersten Teil nähert sich auch die vier-
stimmige Motette: In nomine Jesu omne genu flectatur
dieser Gruppe, im zweiten wird sie durch den Ernst der
phrygischen Schlüsse bedeutend. Die anderen erbringen
alle den Beweis, daß die Wortfülyrer der italienischen
Musikrenaissance ungerecht waren, als sie der poly-
phonen Vokalmusik die Fähigkeit der Seelenmalerei ab-
sprachen, sie stellen ihrem Autor und der religiösen
Kunst seiner Zeit das rühmlichste Zeugnis aus. Jede
prägt einen eigenen Zug aus dem Gebiet christlicher
Vorstellungen und Empfindungen, oder aus dem Gebiet
menschlichen Innenlebens überhaupt, wundervoll, er-
greifend und in einer de Cleve persönlich zugehörigen
Weise aus. Am deutlichsten äußert sich der individuelle
Stil des Komponisten in den ungewöhnlichen häufigen
Wiederholungen von Worten und kleinen Textabschnitten.
Sie fließen aus seinem . Hang zum Schwärmerischen.
Das belegt am klarsten die Marienantiphone Alma Re-
demptoris mater, bei der er auf dem Anfangswort zwölf
Takte lang verweilt. Um so bedeutender tritt dann, durch
die motivische Betonung gehoben, das Subjecit redemp-
toris mater ein. Bei Gleve findet man Muster von Heiligen-
motetten. Den heiligen Andreas hat er über den gleichen
Text Doctor bonus usw. zweimal: fünfstimmig und vier-
stimmig besungen und besonders in der vierstimmigen
Andreasmotette gezeigt, wie ein echter Künstler eine
solche Aufgabe lösen muß. Die Gestalt des Märtyrers
bleibt bis nahe am Schluß der Komposition im Hinter^
grund und tritt erst bei den Worten der Kreuzbegrüßung
Salve crux mächtig hervor. Bis dahin spricht ein Be-
trachter seines Wesens und seiner Taten aus dem
\
—♦ 464 ♦—
späteren Jahrtausend Mitleid, Dank und Freude aus be-
wegtem und ergriffenem Herzen aus. Die vierstimmige
Philippsmotette Ego sum via ist ein Paradigma der neuen
Motettenthematik, die schöne milde Weise mit der sie
anfängt, zeichnet die Natur des Gefeierten mit wenigen
Noten, ein romantischer Wechsel von Dur und Moll, der,
keine Querstände scheuend, an Philipp de Monte und an
die romantischen Elemente der Zeit erinnert, führt diese
Absicht weiter. In der einschneidenden Betonung des
>nisi< bei den Worten nemo venit ad patrem nisi per
me gibt sie ein Deklamationsmuster. Die vierstimmige
Passions m otette : Filiae Jerusalem nolite flere super me, '
die die Heilandsworte in einem höheren, geisterhaften
Ernst wiedergibt, kann als Beispiel * dafür studiert wer-
den, wie die Niederländer der zweiten Hälfte des 4 6. Jahr- •
hunderts die neue charaktervollere Thematik ausnutzten.
Dem Sopran wird beim ersten Einsatz das entscheidende
Intervall des fugierten Themas vorenthalten, und erst
beim zweiten gegeb.en. Die Worte sed super vos, die J)is
zu dem zweiten Sopraneinsatz aufgeschoben worden sind,
erhalten durch diesen Kunstgriff eine außerordentliche
Wucht. Der zweite Teil der Motette schildert die Berge
versetzende Gewalt des Glaubens auf Grund eines Themas,
das Schwung und Einfachheit, musterhaft verbindet. Im
starken Gegensatz zu diesem Bilde steht die fiinfstimmige
Motette: Tribulatio i)t angustia, ein zaghaft «beginnendes,
dann wärmer und wärmer aus tiefer Not hervorströmendes
Gebet. Die gute Hälfte der Aufgabe löst Cleve gewöhnlich
durch die Eingangsthemen allein. Die besten findet er,
wenn das trauernde bedrückte Gemüt zu sprechen hat.
Obenan steht in dieser Gruppe die fünstimmige Motette :
Domine Jesu Christe, weil sie das Anwachsen des Gnaden-
bedürfnisses im weiteren Verlauf so anschaulich vorführt,
einmal durch engste Nachahmungen in Nachbarstimmen,
dann durch Ausdruckssteigerung der kleinen wesent-
lichen Motive, z. B. cT c I e 3. : d c I f e. Ins gleiche Gebiet
gehört auch die fünfstimmige Motette: Domine, cla-
mavi et exaudisti me mit dem Anfang: | cc | dg es'ä
— ♦ 465 ♦—
der nicht bloß fugenmäßig, sondern anch als Refrain
verwendet wird. Sogar im zweiten Teil des Stücks kehrt
er wieder. Es gehören ferner hierher das als Motette ver-
öffentlichte vierstimmige Miserere, die vierstimmige Fasten-
motette: Acynva nos Domine und das Gregem tuam quae-
sumus. Bei dem 50. Psalm macht die klare Scheidung der
beiden Teile, der Druck der Gewissensangst im ersten, die
Wärme der Bitte im zweiten einen tiefen Eindruck. Das
A^juva ist durch den Ausdruck der Stimmen und durch
den Aufbau des Stimmungsprozesses ein Hauptstück der
Motettenkomposition überhaupt. Wie in Tränen flehend
beginnt es, dann spricht es vertrauensvoll im Kinderton
und schließt mit libera nos gehalten und ernst. Die Motette
Gregem tuam ist ein Muster für den Ausdruck von D^nut.
Unter Cleves Motetten freudigen Charakters prägt sich am
festesten die sechsstimmige Ostermotette: Dum transisset •
Sabbatum ein. Ihr Eingangsthema g . g | g e f d | c . mag
zeigen, wie der Komponist in solchen Fällen vom Volkssinn
und dem weltlichen Lied ausgeht.
Ein Menschenalter nach Cleve haben sich die Nieder-
länder auch in der Motette der Führung begeben. Von
Peter Sweelinck existiert nur eine Sammlung von P. Sweellnok.
37 Stück (Cantiones sacrae 4 64 9), aus deren Neudruck*] ein
Regina Coeli und ein Hodie Christus natus est weit bekannt
geworden sind. Der fanfstimmige Chor singt da vom Basso
continuo (Orgel) begleitet, in einem fröhlich, etwas weltlich be-
wegten Ton, der zu der zweiten, der Weihnachtsmotette, sehr
gut4)aßt. Auch Sweelinck faßt Weihnachten als Kinderfest
und stellt wie Berchem und andere niederländische und italie-
nische Vorfahren und Zeitgenossen seine Kompositionen auf
den Boden der Volkskunst Von allen Ecken her schallt der
alte Weihnachtsgruß : No&, No^ ! Die refrainartige Wiederkehr
und die liedartige Haltung der Botschaft : Hodie Christus natus
est verstärkt die gemeinverständliche Wirkung der Motette.
Kein Wunder, daß sie überall ein Lieblingsstück geworden ist.
*) Band VHI der Veröffentiichungen der »Vereenigiog
usw.«, herausgegeben von Max Seiffert.
n, 4. 30
Unter den ausländischen von Niederländern gegrün-
deten und geförderten Schulen gelangte in der Motette
am frühesten die römische zur Bedeutung. Sie
lockerte und vereinfachte die strengen Regeln des bis-
herigen Ghorsatzes; dem Recht der Einzelstimmen stellt
sie das der Stimmengruppen an die Seite und gelangt
mit dieser Vermehrung der Ausdrucksmittel zur Aus-
prägung einer eignen geistigen Natur, deren stärkste
Züge Milde und Anmut sind. Die römischen Motetten
gehören mit den Raphaelschen Madonnen zusammen;
ein kindlich liebenswürdiges, weiches Gottesvertrauen,
das die freudige Hingebung zum schwärmerischen Ent-
zücken steigern kann, belebt sie, der Himmel, in den sie
einführen, glänzt in ewiger, sonniger Klarheit. Der
Hauptvertreter dieser römischen Motette ist von jeher G.
P. da Palestrina gewesen und wird es bleiben. Doch
sind auch unter seinen Vorläufern genug Komponisten,
die auf praktische Beachtung zu allen Zeiten Anspruch
Ol FeitA. haben. Als der erste istCostanzo Festa zu nennen, der
von seinen Landsleuten dem Josquin gleichgestellt wurde
und heute noch mit seinem Te deum in der Liturgie lebt
Von seinen Motetten, die den niederländischen Imitationen-
stil mit Falsobordonen und andern altitalienischen Satz-
traditionen variieren, sind nur zwei kurze Stücke: Quam
pulchra es amica (in Bumeys Geschichte d. M. 111} und: Tu
solus qui facis admirabilia (in der Bockschen Sammlung)
neugedruckt. Nach Stimmen drucken aus Festas Zeit zu
schließen, scheinen die sechsstimmige Motette: Tribus
miraculis und die fünfstimmige: Jerusalem quae occidis
prophetas für seine Hauptleistungen gegolten zu haben.
Zu den bedeutenderen Vorläufern Palestrinas gehören
C. Morales, femer mit ihren Motetten die Spanier Gristofano Mora-
Fi Guertro, les, Francesco Guerero und der ältere Joannes Perez.
J. Peres. Von ihren einfach gehaltnen, mehr durch Harmonien
als Stimmführungskunst wirkenden, mit einem ernsten
Zug vom Römerton abweichenden Arbeiten finden sich
Proben bei Proske, Eslava, reichere in* den Ausgaben
PedreUs. Weiter haben in der Entwicklungszeit der
j
467
römischen Schule als Motettenkomponisten hervorragende
Bedeutung die beiden Niederländer J. Ärcadelt und J. Arcadelt,
Claudio Goudimel. Ihren wenigen neugedruckten und G. Oondimel.
bereits erwähnten Motetten wären von Arcadelt nur ein
achtstimmiges Pater noster (in Commers Collectio usw.),
von Goudimel die kurzen Motetten: Domine, quid multi-
plicasti (zuerst bei Burney a. a. 0., dann u. a. auch bei
Rochlitz) 0 crux benedicta (Bellermann) hinzuzufügen.
Von 'G. Animuccia, der mit C. Festa unter den be- Ö. Animucoia.
deutenden Vorläufern Palestrinas die italienische Natio-
nalität vertritt, sind wohl Bruchstücke aus Messen, aber
keine Motetten in Partitur da. •
Die Motetten Palestrinas selbst liegen gegen zwei- Palestrina.
hundert in der großen Haberischen Gesamtausgabe seit
Jahren vollständig vor, ohne daß bisher von diesem Schatz
ein reicherer Konzertgebrauch gemacht worden ist. Diese
Vernachlässigung des größten römischen Meisters ist in
Deutschland keine neue Erscheinung. Im 4 6. und { 7. Jahr-
hundert vertraten ihm die geographisch näheren Meister
von Venedig den Weg, später und bis auf den heutigen
Tag ist seine Einbürgerung an einer gesanglichen Schwie-
rigkeit gescheitert, an den Forderungen, die die Pale-
strinaschen Chorsätze an die Kunst des legato stellen.
Nur den Improperien, dem Stabat mater und zwei oder
drei Messen zu Liebe pflegt man sich ihnen zu unter-
ziehen. Und doch sind die Motetten Palestrinas der
lohnendste und derjenige Teil seiner Kunst, der den
modernen Anschauungen von Gehalt imd Schönheit a^
meisten entgegenkommt. Dieses moderne Element liegt
in dem Reichtum an Details. Diesen haben sie vor deh
Messen voraus; im Grundton verklärter Andacht, in der
Beweglichkeit des Kolorits, insbesondere in der Mehg^
zartester Farben stimmen sie mit ihnen überein. An
kleinen prägnanten, das Hauptbild belebenden Bildern
fehlt es keiner dieser Motetten, so verschieden sie soilst
unter einander sind. Die Verschiedenheit betrifft die Be-
setzung, die vom vierstimmigen bis zum achtstimmigen
Chor geht und den Stil, in dem die echteste altnieder-
30*
— ♦ 468 ^ —
ländische Polyphonie so gut vertreten ist, wie die Homo«
phonie des Liedes. Muster der ersten Gruppe w^ren die
fünfstimmige Motette: Beatus Laurentios und die sechs-
stimmige: Estote fortes in hello, der zweiten das bekannte:
0 ,bone Jesu. Diejenigen Motetten Palestrinas, die für
das Konzert in erster Linie in hetracht kommen, sind
die 29 Sätze des Hohen Lieds, das ja auch von den Nie-
derländern ganz oder teilweise sehr häufig und sehr schön
komponiert worden ist Aber kein Tonsetzer hat es so
lieblich mystisch aufgefaßt wie Palestrina. Gleich hoch
stehen die Marienmotetten Palestrinas, voran die für hohe
Stimmen. Außerhalb . dieser Gruppen wären vor allem
zu berücksichtigen: Accepit Jesus calicem, 0 magnum
mysterium, Viri Galilei, 0 admirabile commercium, Salve
Regina (aus dem fünften, dem letzten Buch der Mor
tetten). Wird nach einem Seitenstück zu den Imprope-
rien, nach einer Komposition verlangt, in der Palestrina
die Stimme herbsten Schmerzes laut werden läßt, so ist
die Motette Super flumina Babylonis zu wählen. Zur
weiteren Orientierung können die Motetten dienen, die'*')
von jeher und auch in den für Palestrina ungünstigen
Zeitläuften von der päpstlichen Kapelle gesungen worden
sind: Assumpta est Maria, Ganite tuba, Corona aurea,
Cum autem esset Stephanus, Cum complerentur, Dere-
linquat impius, Exultate Deo, Fratres, ego enim acce^pi,
Hie est beatissimus Evangelista, Jerusalem cito veniet,
Jesus junxit se, 0 beata Trinitas, Responsum accepit
Simeon, Salvatorem es^ectamus, Salvum me fac, Sorge,
illuminare Jerusalem, Surrexit pater bonus, Tu es pastor
ovium. Tu es Petrus, Veni Domine.
Neuerdings hat Hermann Bäuerle die &2 vierstimmi-
gen Motetten Palestrinas in moderne Rhythmen und
Schlüssel umnotiert, maßvoll mit Vortragszeichen ver-
sehen und mit dem Feldgeschrei : >Palestrina muß .popu-
lärer werden« herausgegeben.
*) Nach X. F. Habeil, Klrcbenmusikalisehet Jahrbuch 1897,
8. 67.
469 ♦^
Unter den Nachfolgern und Schülern Palestrinas ist
dem. Meister der ältere Nahini, Giovanni Maria N. am 0. M. Hanijd.
meisten geistesverwandt. Er bringt die kindliche und
doeh verklärte Weltanschauung, die eine Spezialität der
römischen Schule ist, am unbefangensten zum Ausdruck,
namentlich in seinen Weihnachtsmotetten, deren schönste,
die auf Baßstimmen verzichtende, auf das alte No& hin-
jubelnde vierstimmige: Hodie Christus natus est erfreu-
licherweise ja heute wieder ziemlich bekannt ist. Die
größte Zahl Naninischer Neudrucke enthält die Proske-
sehe Sammlung. Unter seinen nur in alten Stimmdrucken
voThandnen Motetten überwiegt der achtstimmige Satz
und die Teilung in Doppelchor. Von dem jüngeren, dem
Bernardino Nanini existiert ein zwölfstimmiges Salve B. Kanini.
Regina. In der Neigung zu solcher vollen Chorbesetzung
und in dem lebendigen Dialogisieren der Chöre, beginnt
eine neue Zeit auch in Bom einzuziehen. Noch deut-
licher wird ihr Vorstoß in der gelegentlichen Beigabe von
Orgelstimmen.
Am stärksten haben die Neudrucke des 4 9. Jahr-
hunderts aus dem Gefolge Palestrinas L. da Victoria L. da Victoria.
begünstigt; seine Improperien, seine Marienklage, die lied-
artigen Motetten : 0 vos omnes und Jesu dulcis memoria
können für eingebürgert gelten. Auf diesen Unterbau
hat dann Ph. Pedreli eine Gesamtausgabe des spani-
schen Tonsetzers gestellt, deren erster Band 44 Motetten,
39 zu vier, 8 zu fünf, 42 zu sechs und 2 zu acht Stim-
men vorlegt, vorwiegend Marien- und Heiligen motetten.
Wenn Baini seinem einzigen, schlechterdings unvergleich-
lichen Palestrina auch den Victoria opfert, so hat ihn
hierzu die Tatsache verleitet, daß Victoria iti dem Pale-
strinaschen Kreise als ein vollständig fremdes Element
erscheint. Seiner hartem Natur und seiner strengen
Schule ist die schöne Sinnlichkeit versagt, welche die
hervorragenden Bömer auszeichnet. Seine Chorbehand-
lung hat er bei den Niederländern gelernt und in einzel-
nen vierstimmigen Motetten, am auffälligsten in: Quam
pulchri sunt gressus tui, bietet er gleich den nächsten
Nachfolgern Josquins nichts weiter als geschäftige Formal-
musik. Aber in der weit überwiegenden Mehrzahl zeigen
sie auf einen Künstler vom Schlage der Gorreggio, Rem-
brandt, Thoma. Die dunkle Glut, die sie zurückgedrängt
durchwärmt, schlägt in der Regel in den Schlußteilen,
da wo das Allelm'a einsetzt, hell auf. Die Form hat
ihren Haüptvorzug in klarer Periodisierung und charakter-
voller Melodi^; ein Kontrapunktist, der so schreibt, muß
als Kind reichlich mit Volksmusik getränkt worden sein.
^ Auch darin weisen sie auf die spanische Heimlet des
Komponisten, daß sie Instrumentalbegleitung verlangen
oder vertragen. Die sechs- und achtstimmigen Motetten
Victorias wirken auch sämtlich äußerlich, als mannig-
faltige und reiche Klangbilder stark, von den vierstim-
migen vermitteln die Bekanntschaft mit dem Komponisten
am besten: 0 magnum mysterium, Senex puerum por-
tabat, Ne timeas Maria und Sancta Maria succure mi-
seris. Diese die Madonna im Schmerz besingende Hymne
ist eine der innigsten Kompositionen Victorias. Fünfzehn
von seinen vierstimmigen Motetten liegen seit kurzem
ebenfalls in einer Bäuerischen Ausgabe (in modemer
Notenschrift und mit Vortrags- und Tempobezeichnungen
ausgestattet) vor, die das Verständnis der Werke wesent->
lieh erleichtert.
Fl Anerio. Von Felice Anerio, dem Nachfolger Pal^strinas an
St. Peter hat Proske eine verhältnismäßig große Anzahl
Motetten herausgegeben. Häufiger benutzt werden .davon
im Konzert nur die zwei vierstimmigen: Christus f actus
est und Hallelujah, insofern mit Recht als sie den freund-
lich würdigen Typus römischer musica sacra besonders
rein ausprägen. Anerios außergewöhnliche Bedeutung,
seine Stärke im Ausdruck widersprechender Stimmungen
kennen zu lernen, gibt die Motette: Regnum mundi. . . .
contempsi die beste Gelegenheit, als Meister im feierlichen
Stil und vollem Ghorklang zeigt ihn das sechsstimmige
Adoramus te Christe*). Am Anfang des 4 7. Jahrhunderts
*) Kirchenmnsikallsches Jahrbuch 1903.
47«
gehörte Annibale S t ab ile , der Kapellmeiser des Lateran A. Stabile,
za den in Deutschland bekanntesten Römern. Das Flori-
legiqm von Bodenschatz enthält von ihm zwei acht-
stimmige Motetten: Hi sunt qui venerunt und Nunc di-
mittis, deren derber Stil an Hammerschmidt erinnert.
Die Sammlungen des i 9. Jahrhunderts haben i ihn mit
Recht übergangen.
Derjenige Römer, dessen Kunst noch tiefer als die
Victorias im niederländischen Boden wurzelt, ist der als
Passionskomponist bereits , genannte Francesco Su- F. Boriano.
riano. Hat er doch die Hymne Ave maris Stella nicht
weniger als 44 0mal in kanonischen und andern streng
imitatorischen Sätzen komponiert. In einer solchen
Schule erwarb er sich die Kraft des Ausdrucks, von der
auch die wenigen durch Proske edierten kurzen und so
gut wie nicht benutzten Motetten Zeugnis ablegen. Die
Veröffentlichung und Einbürgerung seiner größeren Mo-
tetten würde das gegenwärtige Bild der römischen Schule
wesentlich ergänzen.
An Zahl der Neudrucke ist seit kurzem LucaMa- L. Harensio.
renzio, der nicht durch Geburt aber durch seine Wirk-
samkeit der römischen Schule angehört, dem Victoria
^Is Motettenkomponist gleichgestellt. 4 5 Nummern aus
dem Jahrgang Motetten, die er 4 588 drucken ließ, hat
Proske, die übrigen 27 später das Kirchenmusikalische
Jahrbuch (4 9(f0 — 4903) veröffentlicht. Sie verdienen diese
Auszeichnung der Form nach ohne Frage, denn es gibt
aus der ganzen Vokalperiode wenig Kompositionen, die
zugleich so kunstvoll und so durchsichtig sind, wenige,
in denen dem vierstimmigen Satz so mannigfache und
immer schöne Wirkungen abgewonnen sind. Das Haupt-
mittel ist der Wechsel von einzelnen Stimmen oder Stim-
menpaaren mit dem vollen Chor. Im Erfassen und Aus-
legen des Textes dagegen entspricht Marenzio als Motetten-
komponist den Erwartungen, die sich an seinen Namen
knqpfen, nicht. Einer Anzahl seiner Motetten kann man
nachrühmen, daß sie die Grundstimmung zum klaren und
entschiednen Ausdruck bringen. So sind in: Solve ju-
zendentale Tendenz läßt sie kalt. Darum sind die englischen
Motetten des 46. Jahrhunderts trotz der tüchtigen Arbeit,
und trotz der schlicht wahren menschlichen Empfindung,
die sie auszeichnet, nicht ins Deutsche übersetzt und die
vortrefflichen Neudrucke Novellos nicht benutzt worden.
Weder Willaert noch Ciprian de Rore haben übrigens
ihre niederländische Herkunft als Motettenkomponisten
verleugnet, die Mehrzahl der von beiden Komponisten
seit den Zeiten Martinis und Burneys vorgelegten Neu-
drucke*) sind Beiträge zur alten polyphonen Kunst, aber
A. Willaert. durch individuelle Züge ausgezeichnet. Von Willaert
steht aus dieser Klasse die Katharinenhymne: Quia devo-
tis laudibus wegen der begeistert andrängenden Schlüsse,
C. de Sore. von de Rore das fünfstimmige Da pacem Domine wegen
des energischen Ausdrucks des Gnadenbedürfnisses be-
sonders hoch« Diesen Beter de Rores treibt eine un-
heimliche Furcht, die bei den Worten Nisi tu Domine
am deutlichsten wird. Da steigen vor der Fantasie die
Schrecken der Ungnade auf. Den neuen venetianischen,
den zahlreichen Kugeln des Markusdomes entsprechen-
den, die antike Antiphonie in dramatisch unter einander
verkehrenden Doppelchören wieder belebenden Stil, den
WiUaert in Aufnahme brachte, muß man aik seinen be*
reits erwähnten Magnificats studieren und bewundem,
die Gommer veröffentlicht hat. Ähnlich gehaltene Mo-
tetten, wenn die großen Brände von 4 574 und 4577 über-
haupt welche übrig gelassen haben, sind bis jetzt nicht
herausgegeben. Ciprian de Rore würde als Vertreter
des neuen Stils am glänzendsten mit den achtstimmigen
Motetten des bekannten vom Herzog Albrecht V. ange-
legten Münchner Prachtcodex zur Geltung kommen.
0. Porta. Auch von Gostanzo Porta sind hauptsächlich nur
Motetten im alten Ghorsatz neu gedruckt, daß er ab^
*) Unter den nenesten Sammelwerken, die venetianische
Motettenkomponisten, auch solche, die, wie G. Groce, hier über-
gangen sind, bringen, kommt besonders L. Torchis >l*arte
mnsicale in Italia< in Betracht.
475
nicht bloß in Italien, sondern auch in Deutschland als
eine Säule der neuen Kunst angesehen wurde, ersieht
man, aus dem Florilegium von Bodenschatz, das eine
achtstimmige Motette: Factum est silentium von ihm
bringt. Reichlicher hat zuerst Andrea Gabriel! den
mehrchörigen Motettensatz verwendet In ihm erreicht
die venetianische Kirchenmusik zum erstenmal jene
Große und Hoheit, die das Merkmal der venetianischen
Malerei ist. Mit Palma Vecchio teilt er sogar ganz spe-
zielle Eigenheiten der Gruppierung; seine Nebenchöre
stehen zu eiüem Hauptchor in demselben harmonischen
Verhältnis wie bei jenem die Seitenstücke zum Mittelbild;
fast noch mehr als sein bildender Kollege verbindet An-
drea mit der äußern Pracht und Fülle Gehalt und Man-
nigfaltigkeit des Innern Lebens. Leider sind auch von
seinen mehrchörigen Motetten, deren glänzendste die
Quem pastores laudavere ist, keine Neudrucke vorhan-
den, doch enthüllen die elf vierstimmigen Motetten, die
Proske veröffentlicht hat, seine edle Art und seinen natür-
lichen Schwung genügend. Besser sind wir mit mehr-
chörigen Motetten von Andreas Neffen und Schüler
Giovanni Gabrieli in neuer Partiturausgabe versehen,
dank der Monographie, die C. von Winterfeld diesem
größten Venetianer vor Monteverdi gewidmet und mit
zahlreichen Musikbeilagen versehen hat*). Von ihnen hat
das geistliche Konzert häufiger einen Messensatz: das
zwölfstimmige Benedictus qui venit benutzt. Gleichen
Anspruch auf Beachtung haben die 4 6stimmige Motette:
Ascendit Deus in jubilo, die zehnstimmigen Motetten:
Dens mens ad te und Domine exaudi orationem meam,
sowie das dreichörige Salvator noster. Aber auch die
ungedruckten acht- und sechsstimmigen Motetten Ga-
brielis sind Muster edel bewegter Chordialoge, Dokumente
*) Noch weit reicheres Material zur Kenntnis der Gabrielis
und der venetianischen Motette überhaupt, bietet die der König-
lichen Bibliothek zu Berlin gehörige, über 130 Binde starke
handschriftliche Partitnrensammlung C. v. Winterfelds..
A. Qftbrieli.
0. Gabrieli.
476
einer Kunst, deren Erhabenheit und Größe unsrer Zeit
aus einer andern, höheren Welt zu kommen scheint. Es
gibt in der ganzen Kirchenmusik keine Arbeiten, die so
mächtig wie diese venetianischen Meisterwerke die Fan-
tasie ins Wunderbare, Oberirdische hinaufföhren. Dabei
sind sie eigentlich nicht schwer auszuführen, sobald' sich
nur der Gesamtchor etwas an die Teilung und die Selb-
ständigkeit der Gruppen gewöhnt hat.
Schon die beiden Gabrieli haben einer Anzahl ihrer
Motetten Instrumente beigegeben und sie als Konzerte
veröffentlicht. Mit dem A 7. Jahrhundert wird die Vokal-
motette auf dem italienischen Boden mehr und mehr
zurückgedrängt, und zugleich verwischt sich die Besonder-
heit der Schulen. Unter den Venetianem, die sie weiter
pflegen, ist der in neuen Sammelwerken nur schlecht
M. AboU. vertretene M. Asola einer der populärsten geworden; in
den Städtchen und Dörfern des Pi^vegebiets sind seine
Werke noch heute lebendig.
Die italienische Motette hat seit der Herrschaft der
venetianischen Schule an manchen Krisen und Moden
der dlgemeinen musikalischen Entwicklung teil genommen,
denen sich die Messe entzog. So kann man die vor-
^ übergehende Herrschaft der Chromatik an ihr ziemlich
genau verfolgen. Die dramatischen Bestrebungen treten
in der Motette der Italiener, ähnlich wie bei den Niedeir-
ländem früher auf als in ihrer Messe. Zunächst verdankt
sie ihnen ebenfalls viele SteUen bedeutender Deklamation.
E. Bernabei« Das bekannte Salve Regina des altern Bernabei ist eins
der schönsten Beispiele hierfür. Dann aber führt diese
dramatische Richtung zu einer rein äußerlichen Leben-
digkeit und zu einer Verweltlichung, von welcher die
0. Legrenii, Motetten Legrenzis und Rovettas — um auf be-
0. SoTetta. kannte Arbeiten zu verweisen — bereits starke Spuren
zeigen. Die neapolitanische Schule beginnt ihre Motetten-
arbeit mitten im Niedergang der Gattung und wie die
A. 8oarl%tti. Arbeiten eines Meisters von der Größe A. Sc arlattis
zeigen , mit nur geringem Interesse an der Aufgabe.
F. Dnrante, In Motetten wie F. Durantes: Domine Jesu Christe
(vierstimmig bei Rochlitz), L. Leos: Sicat erat (sechzehn- L. Leo,
stimmig, Sammlmig des i^rmce de Moscawa), in D. Perdz^ D« PereS)
Bfedia in nocte (vierstimmig, Braune) und Jomellis: In Jomolll.
Monte oliveti (vierstimmig, ebenda) fand sie den Weg zu
der alten Höhe der Gattung bald wieder. Nur der Um-
stand, daß alle Welt auch in der Kirche Sologesang mit
Instrumentenspiel verlangte, hat uns um eine neue Blüte-
zeit der italienischen Chormotette gebracht.
In der Zeit der neuen Kunst« hat Deutschland am
festesten an der Motette gehalten. Auch hier war sie
eine niederländische Schöpfung und hält sich bis ans
Ende des iß. Jahrhunderts an den niederländischen
Stil. Die frühesten Proben ihrer Leistungsfähigkeit hat
uns Glarean in Motetten von Adam von Fulda, A«t. Fnldai
von Sixt Dietrich, Gregor Meyer und Andreas 8. XHetriohi
Sylvanus mitgeteilt, Arbdten, die sich im üblichen G. Heyer,
Imitationsgeleise mit rühmenswerter Klarheit und Ai Sylfaniii.
Schlichtheit bewegen. . Meyer ist aus diesem Grunde
neuerdings wieder von Bellermann hervorgezogen wor-
dfioi. Als Neudrucke liegen vvon dieser niederländisch-
deutschen Motettenkunst Arbeiten AI. Agricolas und
Ludwig Senfls vor. An den (wenigen von Maldeghem A. Agriool»,
herausgegebenen) Motetten Agricolas ist die Faktur be- L. Senil,
deutender als der Geist. Als Satzkünstler steht er überall
dadurch hoch, daß seine Stimmen die schwierigsten und
verschlungensten Wege leicht und sicher gehen, im Aus-
druck zeigt die Antiphonie: Haec dies quam fecit Dominus
in der Benutzung und Durchführung kleiner Neben-
motive auf eine besondre, das innere Feuer fesselnd
meisternde Individualität. Zur allgemein anerkannten
Badeutung gelangt die deutsche Motettenschule zuerst
durch Senfl, der in Briefen, Gedichten, und in den Ur-
teilen der Theoretiker des i 6. Jahrhunderts, , auch aus-
ländischer wie Zacconi, den ersten Meistern des Gebiets
gleichgestellt und in den Sammelwerken der Zeit ersieht^
lieh bevorzugt wird. Was von Senfls Motetten durch
Winterfeld und Rochlitz bekannt geworden ist, gehört 2U
der liedartigen Klasse, zu einer, wie sich Luther ausdrückt,
i78 ^—
>feinen and lieblichen« Kunst. Seine volle Bedeutung
wird sich ersV übersehen lassen, wenn die in den bayri-
schen Denkmälern begonnene Gesamtausgabe seiner Werke
weiter geschritten ist. Ihr erster Band enthält nur eine
Motette großen Stils, die sich mit den Magnificats und
den Psalmen Senfls vergleichen läßt. Das ist die Kom-
position von: Ghriste, qui lux es, eine Arbeit, bei der die
Größe der Fantasie, die' Wärme und der Reichtum der
Empfindung von der Meisterschaft und Mannich faltigkeit
der Form ganz ablenken. Eigentlich ist sie nichts als
eine lange Choralmotette, in der die breite Grundmelodie
durch alle Stimmen geführt wird. Den Sopran, der an-
fängt, umschwärmen die begleitenden Stimmen mit einem
wahren Tumult von Freudenmotiven. Man sieht sofort,
daß Senfl mit der ganzen Seele bei der Arbeit gewesen
ist Auch im weitern hat er alles so ausgezeichnet dis-
poniert und kontrapunktiert, daß jeder Abschnitt durch
seinen eignen Charakter den Hörer in frische Spannung
versetzt und das Interesse sich bis zum Ende immer
steigert. Die wohltuendste Stelle ist der Einsatz des
Precamus sancte domine: Auch die Motette: Colloquerunt
Pontifices verdient als Musterstück erzählender Chor-
musik hervorgehoben zu werden. Sie ist vom Passions-
stil inspiriert; der Bericht wird mit dem Obeceifer er-
stattet, der den Deutschen bis zu S. Bach hin eigentüm-
lich geblieben ist, die direkte Rede der hervortretenden
Personen feierlich gegeben. Aus den übrigen Motetten
des Bandes wird soviel klar, daß Senfl mit den strengen
Formen der Polyphonie ungewöhnlich frei schaltet und
wechselt. Bald sind die Kanons hier, bald da, eine
Künstlernatur, die Bequemlichkeit und Schematismus nicht
kennt, führt die Zügel. Auch der Freund von Lied und
Volksmusik wird sichtbar, am liebenswürdigsten in dem
Bicinium, das wohl als'Bruchstück einer verlornen großem
Komposition den Motettenteil eröffnet: Ego ipse conso-
labor vos. Die Sprachgewalt und die streng kanonische
Führung seines Anfangs erinnert an das berühmte: In-
tellectum tibi dabo, das in Lassos zweitem Bußpsalm
(als Duett der Bässe) die Stimme Gottes so mysteriös
verkörpert/ eine Aufgabe an der bekanntlich alle neueren
Komponisten (Mendelssohn, Rubinstein, Bossi z. B.) ge-
scheitert sind. Weil aber dem Text nach der Herr als
Tröster auftritt, gibt Senfl stellenweise den strengen Satz
auf und läßt die beiden Stimmen kindlich freundlich in
volksliedmäßigen Terzen dahinklingen.
Praktische Bedeutung hat von allen Vertretern dieser
niederländisch- deutschen Schule bisher nur Orlando
Jjasso als Motettenkomponist gehabt. Schulen sind der 0« Lasao«
Sterblichkeit viel stärker unterworfen als Persönlich-
keiten. Als solche, als eine der mächtigsten und . viel-
seitigsten Individualitäten, welche die Musikgeschichte
kennt, lebt Orlando noch heute nicht blos durch seine
Bußpsalmen, durch einzelne Magnificats und Messen,
sondern vor allem sind es seine Motetten, aus denen
man sich über den Umfang seiner Begabung und Bil-
dung orientieren muß. Denn die Motette war das Lieb-
lingsgebiet seiner Tätigkeit. Das geht aus der bloßen
Existenz seines Magnum opus musicum hervor, einer
Motettensammlung, die auch in der Zeit, wo große
Fruchtbarkeit bei niederen und hohen Geistern selbst-
verständlich war, durch ihren Umfang allein steht.
Sie enthält 546 zwei- bis zwölfstimmige Motetten, eine
Ziffer, die aus dienstlichen Verhältnissen nicht, sondern
nur aus der Herzensneigung zu erklären ist. Es ist kein
Wunder, wenn die musikalische Welt davor zurückschreckt
ein solches Riesenwerk studierend zu bewältigen,, X. F.
Haberl hat vor Jahren sich vergeblich bemüht, nur ein
Hundert Subskribenten für eine Separatausgabe des mag-
num opus zusammenzubringen; die große Lassoausgabe
hat bis jetzt die größere Hälfte der in ihm enthaltenen
Motetten in Partitur vorgelegt. Wer an sie herantritt,
muß mit der Tatsache vertraut sein, daß die Künstler
der älteren Zeit — am ärgsten die Poeten — durch-
schnittlich viel ungleicher arbeiten als die heutigen. Wie
unter Lassos Messen trifft man deshalb auch unter seinen
Motetten eine nicht gerade kleine Anzahl von trocknen
480
Eintagswerken. Über sie hinweg aber wird zweierlei klar:
daß man es in diesen Motetten mit einem Meister zu tun
hat, der, ähnlich wie S. Bach für eine spätere Epoche, alles
zusammenfaßt, was in der a capella-Komposition sich
entwickelt und bewährt hat, und daß zweitens diesem Künst-
ler an Gewalt der Fantasie kein andrer Musiker der ganzen
Zeit, auch Jos quin und Palestrina nicht, gleichkommt.
Michelangelo und Rubens sind ihm verwandt, aber ein-
seitiger aufss Titanische und Massige gerichtet. Die Rezep-
tionsföhigkeit, die sich in den Motetten liassos ausspridit,
ist ganz unvergleichlich. Es gibt Stücke, die, wie die von
Bodenschatz veröffentlichte Motette : Confifebor tibi an Pale-
strina und an die römische Schule, andere, die wie: Estote
ergo misericordes an die Venetianer, und noch andre
(Improperium expectavit), die an die Weise der frühesten
Niederländer anklingen. Aber immer sind sie in ^ster
Linie Lassoisch, durch die eignen bildlichen Wendungen,
die er jedem Texte abgewinnt. Madrigalenelemente tauchen
überall auf, und doch wird er nirgends weltlich. Er hat
Akzente und Modulationen, die erst in der dramatischen und
romantischen Musik des 4 7. Jahrhunderts üblich werden,
sie stören aber niemals die Harmonie und Natürlichkeit
seiner Darstellung. Er ist, wenn auch nicht vom liturgischen,
so ganz gewiß vom künstlerischen Gesichtspunkt der größte
Meister der älteren Motette neben S. Bach. Seine Zeit hat
ihn als solchen zu schätzen gewußt, Bibliotheksverzeich-
nisse, tfüch kleinerer Orte, selbst sächsischer Dörfer, weisen
das opus magnum auf. Den heutigen katholischen Kirchen-
chören gereichts zur Ehre, daß sie sich wieder fleißiger
Lasso zuwenden. Unsre Dilettantenchöre dagegen- wagen
sich noch immer nicht an ihn heran mit einer bis zu einem
gewissen Grade stichhaltigen Entschuldigung: Lassos So-
pranstimmen, zum Teil auch seine Altstimmen wollen ans '
Prauenmund nicht recht klingen. Diesen Schwierigkeiten
sollte aber so oder so begegnet werden. Denn die Mehr-
zahl der Lassoschen Motetten ist durch ihren bescheidenen
Umfang für das geistliche Konzert sehr geeignet, und ein
kleines Dutzend von ihnen müßten alle die Vereine fest
— -♦ 481 ♦ —
inne haben, die über die Bedeutung der großen Vokalperiode '
und über den Erziebungswert des a capella-Gesangs klar
sind. Da käme zuerst das (schon von Commer veröffent-
lichte) sechsstimmige Pater noster als Paradigma streng
niederländischer Weise in Betracht. Die gregorianische
Melodie liegt im untern Tenor, die andern Stimmen tragen
sich kleine Bruchstücke aus ihr nachahmend zu oder er-
gänzen sie mit anmutigen^ feinen Äußerungen der Andacht.
Verwandt ist ihr die Motette: Creator omnium Deus, aber
reicher an subjektiven Zügen und romantisch modernen
Tonelementen. Den Dramatiker Lässo, wie ihn Proske meint,
zeigt am deutÜchsten die Weihnachtsmotette : Ang^lus ad
Pastores mit dem kräftig fröhlichen Hallelujahschluß, oder
auch das von heitern Figuren durchrollte an die Madonnen
Giov. BeUinis. erinnetnde Röjgina Coeli. Es liegt, nebenbei
bemerkt, auch in einer lisztschen Orgeltranskription vor.
Eine der im Stil und im Gedankengang reichsten Motetten
Lassos wird zuweilen für geistliche Konzerte benutzt, das
vierstimmige (schon von Rochhtz veröffentlichte) Salve Re-
gina, eme Komposition, in der erhaben- rührende und naive
Züge zu einer ^Wunderbaren Einheit verschmolzen sind, ein
musikalischer Albrecht Dürer. Formell interessiert an dem
kleinen Meisterwerke besonders die Benutzung von Pausen
und Synkopen an der Stelle: Ad te suspiramus. Auch die
anekdotisch berühmte Prozessionsmotette: Gustate et videte
gehört zu Lassos wirkungsvollsten Arbeiten. Als weitere
Hauptmotetten mögen noch Timor et tiemor, Dixit autem
Maria, Dixit Joseph, Tristis est anima mea und Dominus con-
vertere et eripe animam meam empfohlen sein. Jede zeigt
eine besondere Seite von des Komponisten Natur und Kunst.
Wie bei Lasso vollzieht sich gegen das Ende des
46. Jahrhunderts eine immer stärkere Annäherung an die
Italiener*). Dabei werden in der Motette die Neuerungen
*) Sie läßt sich buchhändlerisch u. a. aus der von Ad. Sand-
berger (a. a. 0.) angeführten Sammlung F. Lindners: Oantiones
sacrae a praestantissimi Italiae musicis, Nürnberg 1585, der
1598 eine ähnliche von Kaspar Haßler folgt, ersehen.
II, i. 34
— ♦ 48« ♦—
»
der Venetianer bevorzugt. Die eifersüchtige Durchfährung
des gleichen Rechts aller Stimmen hört au^ an Stelle der
individuellen tritt die korporative Wirkung in zweierlei
Form: Entweder es wird eine Hauptstimme, am häufigsten
der Sopran, von der andern in der Betonung einfsuih
unterstützt, oder an Stelle der Stimmen imitieren und
konzertieren Chöre. Auch in diesen beiden Motettenme-
thoden zeigt sich der Riß, der im 4 6. Jahrhundert zuerst
die Kultur der Gesamtnation in eine Hälfte fürs Yolk und
eine andere für die höhere Gesellschaft trennte. An
J. Gftllu. Jacob G all US (Handl) lassen sich alle diese neuen Er-
scheinungen, seit die Österreicher sämthche Teile seines
opus musicum veröffenthcht haben, am voUständigsten
übersehen*). Dieses Werk gehört mit seinen 374 Nummern
an die Seite von Isaacs Chorahs Constantinus, von Lassos
magnum opus musicum und unter die andern größten
Motettensammlungen einzelner Komponisten des 4 7. Jahr-
hunderts. Sein erster Band enthält allein 4 03 Motetten,
einzelne dreiteilig und mehr als die Hälfte doppelchörig,
zehn-, zwölf- und sechzehnstimmige' Stücke dazu. Das
kleine: Ecce quomodo moritur, das zuerst am Anfang des
47, Jahrhunderts durch das Gothaische Kantionale sieh
allgemein verbreitete, ist die 4 3. Nummer des zweiten
Bandes, der auch die drei Motettenpassionen des Gallus
enthält, und bleibt auch jetzt noch, wo wir den Kompo-
nisten nicht mehr unter die Kleinmeister zählen können,
eine Hauptperle alter geistUcher Tonkunst. Eine so lebens-
wahre reiche Schilderung einer trauernden Seele, die alles
bringt, wodurch ein solcher Zustand ergreift und erhebt:
die Beherrschung des Schmerzes, die fließenden Tränen,
den Glauben an ewiges Leben und Wiedersehen, gibts, in
dieser Form wenigstens, kaum zum zweitenmal. Das
Eigentümliche dieser Form liegt in den Schlüssen der
beiden kurzen Teile mit der Verwendung von Liedton und
*) Denkmäler der Tonkunat in Österreich, Jahrgang YI^,
XUi, XV 1, XXI.
—^ 483 •—
Echo. Die melancholische Saite klingt überhaupt bei GaUus
am stärksten, und in Weihnachtsmotetten z. B. steht er
andern Komponisten nach.. Das kommt wohl mit von
seinem äußeren Schicksal, das ihn zum unsteten Wan-
dern — man weiß heute noch nicht, wohin überall —
verurteilte. Da solche Künstler mit Naturnotwendigkeit
in alle Aufgaben persönUche, subjektive und momentane
Eindrücke und Erfahrungen passend und unpassend hinein-
tragen, ist es nicht angebracht die Motetten des Gallus
mit dem Maßstab Palestrinas zu beurteilen. Er verfügt
nicht über dessen festen Schatz von Andacht und Himmels-
freude, fällt auch öfters in einen weltlichen Ton, er zieht
aber keineswegs gegen ihn überall den kürzeren. Sein
Bildungskreis ist weiter, und so oft seine innere Bewegung
sich in kurzen starken Inteijektionen Luft macht, hat er
überhaupt keinen Rivalen. Dafür ist gleich die erste
Motette des opus musicum: Aspiciens usw. ein vorzüg-
liches Paradigma. Wie wird da gleich am Anfang die
schöne venetianische Antiphonie dadurch belebt, daß der
erste Chor in den breiten Gesang des zweiten leiden,
schaftlich ungeduldig sein: Ecce, ecce hineinruft. Wie
mannigfaltig gestaltet Gallus den Wechselgesang durch
die verschiedene Metrik, Länge und Stimmung der vor-
und nachgesungenen Perioden! Wie ist seine Thematik
bei aller Einfachheit mannigfaltig und plastisch, wie reich
sein Satz in den vier- bis sechsstimmigen Motetten, auch
an alter, aber immer wirksam verwendeter niederländischer
Kunst! Es wird dank der Ausgabe der Österreicher un-
möglich sein, Gallus aus dem Reich der großen Meister
wieder hinaus zu disputieren. Von seinen kleineren Mo-
tetten, unter denen auch einige für Männerchor gesetzt
sind — die schönste: 0 magnum mysterium — werden
die Chorvereine mit dem sichersten Erfolg zunächst die
folgenden Stücke einführen können: Venite, accendamus
ad montem Domini, Veni Domine, Emitte Domine, Laeten-
tur coeli, Veni Redemptor gentium, 0 sapientia, Canite
tuba, Obsecro Domine, Haec est dies, Resonet in laudibus
(in dreifacher Bearbeitung), Vox de coelis, Omnes de Saba
--4 48i ♦—
vcnient, Domus pudici pectoris. An der Spitze der großem
steht die 4 6 stimmige Laudate Dominum in sanctis ejus,
als eine der imposantesten Motetten im venetianischen
Stil. Nach ihr kommen zunächst in Betracht: Quem
vidistis pastores, dicite, Quid admiramini, Tribus miraculisl
Christum natum und Jerusalem illuminare. Als Satz-
künstler und Tonmaler glänzt er am meisten in: Dens,
iniqui surrexerunt. Zu ihrer erregten Schilderung eines
Aufstandes bildet die fromm ruhige Nummer: Domine,
ante te den entschiedensten Gegensatz. Besonderer Be-
achtung wert ist die Motette: Audi magni maris limbus
wegen ihres didaktischen, die Größen der antiken Welt
vorführenden Textes. Sie war nicht für die Kirche, son-
dern für eine Schulfeierlichkeit bestimmt.
Schwächer sind die den dritten Teil des opus musi-
cum eröffnenden vierstimmigen Lamentationen; zum Teil
ist ihre Eintönigkeit allerdings beabsichtigt. Mit der ersten
Ostermotette aber >Haec est diese steht Gallus sofort
wieder auf sreiner vollen Höhe. Sie ist in ihrem doppel-
chörigen Aufbau und dem reichen Leben, das sie beherrscht,
wohl die stattlichste und bedeutendste unter den verhält-
nismäßig zahlreichen Nummern für Männerstimmen, die
in der zweiten Hälfte der Sammlung enthalten sind. Auch
mehrere Motetten mit durchgeführtem Echo erregen die
besondere Aufmerksamkeit. Im Schlußband ragen neben
dem sehr langen Hauptstück, dem 4 6 stimmigen >Domine
Dens, exaudi« (Nr. 56) am merkbarsten die Kirchweihmotetten
wegen der Mannigfaltigkeit der entwickelten Stimmungen
hervor, an ihrer Spitze die Nr. 38 »Fundata esU mit dem
gewaltigen Eingangsthema. Starke Einlagerungen welt-
lichen Tones können bei ihnen nicht überraschen, aber
es bleibt geschichtlich beachtenswert, daß sie stellen-
weise die Freude in ausgesprochen slawischen Rhythmen
äußern; am deutlichsten tut das die Nr. H »In voce
exaltationisc.
Von den weiteren Deutschen, die in Venedig in die
H. L Haßler. Schule gegangen sind, ist H. L. Haß 1er mit dem Neudruck
von zwei vollen Jahrgängen Motetten, MB Stück (in den
-^ 485 *-^
Denkmälern deutscher Torikunst) *) vertreten. Auch Haßlers
Motetten haben nicht die hehre Weise der Sätze Pale-
strinas, sie lassen eine unruhigere, weltlichere Zeit mer-
ken und in ihrem Gefolge einen Rückgang der alten guten
Kantabilität. Bei Haßler begegnet man denselben un-
unterbrochen in hoher Lage geführten und schwer rein
zu haltenen Sopranen, durch die unter den Deutschen
am Anfang des 17. Jahrhunderts namentUch Schein sd
viele Mühe bereitet. Trotzdem sind die Haßlerschen Mo-
tetten zu ihret Zeit sehr begehrt gewesen; das beweisen
die drei Auflagen, die seine »cantiones sacrae« von 4 594
bis 4607 erhieltefh, allein zur Genüge. Auch heute wirken
sie einmal durch ihre zwar kurz angebundene, aber alle
entscheidenden Textelemente vorzüglich betonende De-
klamation, zum andern durch das außerordentlich leben-
dige Antiphonieren als Meisterwerke. Haßler genügen
schon sechs Stimmen zum Doppelchor und er vermehrt
die Farbenpracht seiner Sätze dadurch, daß er — ohne
es hinzuschreiben — Solo- und Chorbesetzung wechseln
läßt. Ganz besonders versteht sich Haßler auf die
Mischung polyphonen und homophonea Stils; der letztere
dient ähnlich wie bei Josquin oder wie in den Orgelkom-
positionen Scheidts zur Markierung der Hauptstellen. Die
Reihe der hervorragendsten Nummern der cantiones
sacrae beginnt mit: Tu es Petrus, eine Komposition, die
durch die lebendige Behandlung der Details, unter denen
die Malereien bei: aedificabo hervortreten, sich auszeich-
net. Sie zeigt auch Haßlers Kühnheit des Vokalstils, am
Ende tritt, 4 7 Jahre vor Monteverdi, die Septime ganz
frei ein. Als Normalbeispiel Haßlerscher Motettenkunst
kann die vNummer 30: Verbum caro factum est gelten.
Darin, daß der wunderbare Vorgang, den der Text be-
richtet ohne allen Schwung und ohne innige Versenkung
*) Band II enthält die Cantiones sacrae von 1591 (heraus-
gegeben von H. Gehrmann) Band XXIV/XXV die Sacri con-
centus TOQ 1601 mit dem Anhang dei zweiten Auflage yon
1612 (herausgegeben von J. Auer).
\
--♦ 486 ♦—
mitgeteilt wird, zeigt sie seine Schwäche, in den schlicht
sprechenden, bedeutend deklamierten Motiven, dem wir-
kungsvollen, durch imposante Tuttis gekrönten Wechsel
der dreistimmigen Chöre (oder Terzette) seine Stärke.
Auch die Nummer 32: Tribus miraculis gehört zu den
Grundstücken Haßlerschen Stils. Ausgezeichnet ist sie
durch den Eintritt der Stelle: Ho die Stella Magis duxit
ad praecipium und den fröhlichen, volkstümlichen Ton
des im Tripeltakt einsetzenden Schlußteils. Der deutsche
Weihnachtsgeist hat hier Haßlers Erfindung belebt.
Die Nummer 34: Converte Domine bezeugt besonders
schön seine architektonische Begabung in dem Charakter,
dem Zusammenschluß der Motive und der harmonischen
und tiefen Gesamtwirkung. Die Entwicklung geht von
der Trauer zum Trost und schließt mit einem eignen,
etwas harten Ausdruck der Freude. Wichtiger noch als
bei andern Motetten ist bei dieser die gehörige räumliche
Entfernung der antiphonierenden Chöre. Aus der Be-
schreibung, die M. Prätorius von der Aufstellung einer
Normalkapelle um 4 600 gibt, erhellt die allgemeine Wich-
tigkeit dieser Forderung, sie ist die Wurzel des venetia-
nischen Chorstils. Trotzdem wird sie in der Gegenwart
meistens nicht beachtet. Zu den Hauptmotetten freudigen
Charakters gehören noch die Nummern 89, das flotte:
Jubilate Deo und 45 : Hodie Christus natus est, ein zehn-
stimmiger Chor, der durch den beständigen Wechsel von
geradem und ungeradem Takt außerordentlich erfrischt.
Haßler in seiner Tiefe und seinem Ernst kennen zu
lernen, kommt die Nummer 35: Dens noster refugium
wesentlich in betracht. Der feierliche Ton frommer Er-
gebung, den sie fest hält, kommt aus schwerepi Herzen.
Seine aus älteren Neudrucken bekannteste Arbeit dieser
Klasse ist das Pater noster (Nr. 38), die das Gottvertrauen
so schlicht und schön ausspricht. Mit dem Eintritt der
fünften Bitte wird die Komposition plötzlich düster be-
wegt und schließt mit der Vereinigung beider Chöre
glänzend ab. Sie bringt das romantische Element in
Haßler am deutlichsten zum Ausdruck und wirkt äußer-
-^ 487 ♦—
Jich besonders stark. In derselben Abteilung ragen noch
die beiden dreichörigen Motetten: Miserere (Nr. 46) und:
Duo Seraphim clamabant (Nr. 47), ein an Lasso anschließen-
des Tonbild, hervor. Die Schlußnummer der Sammlung:
Nuptiae factae sunt hat als Paradigma des erzählenden,
von der Motettenpassion befruchteten Chorstils ihre Be-
deutung för sich.
Aus der zweiten Sammlung, den Sacri «öncentus, in
der die Psalmentexte reich vertreten sind, könnten sich
unsere Männerchöre für festliche Gelegenheiten die Num-
mern 6 — \o zu eigen machen; die ersten beiden sind
Hymnen der Freude, die letzten Gebete, alle fünf in der
Form eingänglich und vornehm zugleich. Der Dirigent
muß aber etwas vom Echo wissen. Die übrigen vier- und
fünfstimmigen Stücke der Sammlung stehen in der Er-
findung unter dem madrigalisch fröhlichen Geist der Nürn-
berger Gesellschaft, für die sie bestimmt waren, in der
Form fesseln und erfreuen sie durch zahlreiche Proben
seiner Satzkunst. Insbesondere sind die Anfange der
Sätze alle fugierend und imitierend gehalten. Der eigent-
lich venetianische Stil zeigt sich erst in der 4 9. Nummer
(Ganite tuba), einem fünfstimmigen Satz, dessen obere und
untere Gruppe sich ablösen, und auch da nur vorüber-
gehend. Einen breiteren Platz nimmt die Antiphonie von
den sechsstimmigen Sätzen ab ein, aber duch in ihnen hat
sie noch nicht, wie in den Sacrae cantiones, die Vorherr-
schaft. Von den sieben- und noch mehr den achtstimmigen
Nummern ab bestimmt dann die Absicht mit dem Klang
des geteilten und des vollen Chors zu wechseln die
Schreibweise Haßlers. Das längste, äußerlich wirksamste
und an innig empfundener Musik reichste Beispiel dieser
Klasse ist die Nr. 44, ein Miserere, in dem auf Soprane
verzichtet wird. In ihm kehren auch die von Dufay bis
Lasso so beliebten, zweistimmigen Sätze, die bei den
Deu^chen mit dem Eindringen der itaüenischen Vorbilder
schwinden, reichlicher wieder.
I Unter den norddeutschen Tonsetzern vertritt die
I venetianische Schule in der Zeit Haßlers verhältnismäßig
I
-—* iSft ♦—
H. PTätoriui. am eifirigsten der Hamburger Hieronymus Prätorius,
von dessen hundert Motetten seit wenigen Jahren eine
Auswahl im Neudruck vorliegt*). Doch steht er mit noch
weitergehendem Vorbehalt als sein Nürnberger Fachgenosse
auf Seiten der neuen Chorbehandlung. Die Kompositionen
von Prätorius, die grundsätzlich venetianisch gehalten
sind, wie seine achtstimmige a capella-Messe* wie die
20 stimmige Motette »Decantabat populusc, sein Meister-
stück, bilden die Minderheit in der Gesamtzahl seiner Ar-
beiten, und zweitens benutzen sie aus dem grolBen Vor-
rat neuer Gabrielischer Mittel ziemlich einseitig nur das
Verfahren, kurze Motive schnell nacheinander in den ver-
schiedenen Chören singen zu lassen. In zwei Takten
dieselben drei Noten viermal unmittelbar hintereinander,
jedesmal von einer anderen Stelle zu hören, muß den
Hamburgern der etwas äußerliche Hauptreiz an dieser
venetiani^chen Kunst gewesen sein. Mit seinem Herzen
und wohl auch seinem eigentlichen Können steht Prätorius
auf dem Boden der alten Kunst und unter deutsch-nieder-
ländischem Einfluß. Das Temperament und den stolzen
Zug, der seine Künstlernatur kennzeichnet', kennen zu
lernen, ist nichts geeigneter als der zweite Satz (Aurum
sicut regi) in der auch im ganzen sehr bedeutenden Mo-
tette >Ab Oriente venerunt magi«. Die malerische Wirkung
und die Sicherheit, mit der da ein kleines Achtelmotiv
durch die Stimmen gedrängt wird, ist packend/ Hierin
und auch in der Neigung gelegentlich eine einzelne Stimme
aus dem Chor durch eine ganz frei deklamierte Stelle
hervorzuheben, erinnert Prätorius an Schütz, mit dem er
auch, wie die Benedictio mensae und Oratio domenica
zeigen, noch die liebe zum Akzent und zu anderen
Elementen des Gregorianischen Gesangs teilt. Endlich
hat Prätorius noch das mit Schütz gemein, daß in seinen
mehrchörigen Motetten einzelne Gesangstimmen, nament-
lich Bässe und Soprane, von Instrumenten ausgeführt
*) Denkmäler der Tonkunst, Band XXIII (herausgegeben
von H. Leichtentritt).
— ^ 489 ♦—
werden müssen. Der Unterschied ist nur der, daß Schütz
das ausdrücklich hinschreibt^ Prätorius aber stillschweigend
diese Praxis als bekannt annimmt Ein Zweifel an der
Tatsache ist aber ausgeschlossen, denn Ghorbässe, bei
denen dauernd auf das^Kontra-B gerechnet werden darf,
Soprane, für die das c" zu den bequemen Tönen gehört,
hat es nie gegeben.
Im weiteren Verlauf des 4 7. Jahrhunderts büßt die
deutsche Motette an Reinheit ihres Wesens viel ein. Auf
der einen Seite vermischt sie sich mit dem' Lied, auf der
andern mit der Kantate. Der Kantateneinfluß äußert sich
seltener, bei Prätorius und Schütz z. 6., in der erwähnten
Einmischung von Orchesterstimmen in den Chor, viel allge-
meiner kommt er in der Tatsache zur Geltung, daß die
Motetten mit einer Orgel- oder Positivbegleitung versehen
werden, die den Stimmen als sogenannter Kontinüo in Form
einer bezifferten Baßstimme beiliegt und deren jeweilige Aus-
führung der Einsicht des Organisten oder Dirigenten über-
lassen bleibt. Das Merkwürdige an dieser deutschen
KontinuQbegleitung ist der Umstand, daß sie meistens
vollständig entbehrlich ist. Die Mehrzahl der deutschen
Motetten des i 7. und 4 8. Jahrhunderts lassen sich a capella
singen und klingen unbegleitet sogar besser. Nur bei
einer Minderzahl sind die Singbässe auf den Sechzehn-
fußton des > Instrumentes« berechnet. Oft gestehen es
die Komponisten auch in den Vorreden offen ein, daß
sie den Generalbaß nur der Mode halber vorgeschrieben
haben. Die Instrumentalbegleitung von Gesangmusik kam
von Italien wie ein neues Weltwunder ins 47. Jahrhundeijt
herein, aber die deutschen Motettenkomponisten verstan-
den das Phänomen nur halb.
All das lied hatten Motette und Figuralgesang im
protestantischen Deutschland schon während des 4 6. Jahr-
hunderts einen Teil des kirchlichen Dienstes abgetreten.
Als evangelischer Gemeindechoral war es zu einer solchen
liturgischen Bedeutung gelangt, daß überall erst begabte
Laien, dann auch bedeutende und durchgebildete Tonsetzer
anfingen, alte und bekannte weltliche und geistUche Melodien
fÖr einen mehrstimmigen Tonsatz einzurichten. Der ge-
meine Mann hörte seine eigenen lieben Weisen in der
Kirche in einer Form, welche ihm einzustimmen erlaubte,
deren sinnvolle und kunstvolle Harmonie aber sein Denken
und Fühlen höher trugen. Eine verwandte Frucht solcher
auf volkstümhchem Grund aufgerichteten kirchlichen Ton-
kunst ist uns bereits in dem Psalter der Hugenotten und
Niederländer begegnet. Aber wir dürfen uns dieses deut-
schen Schatzes als eines besonders reichen und systema-
tisch ausgebildeten freuen und noch mehr seiner indirekten
Wirkungen. Denn mit diesem geistlichen Chorlied wurde
die deutsche Kunst zum erstenmal selbständig und eigen-
tümlich. Der Wert dieser unscheinbaren, aber treuherzigen
und charaktervollen Holzschnittmusik ist durch ihre
Dauerhaftigkeit genügend erwiesen. Der kleine Satz, in
M, Prätorius, den M. Prätorius den Text : »Es ist ein Ros' entsprungene
Schröter, vertont hat, oder Schröters: >Puer natus« und »Freut
Bodensohatz, Euch, liebe Christen« gehören heute zu den beliebtesten
Zenner, Herbst, Chorgesängen. Das Verdienst, die Bodenschatz, Zeu-
Jeep, M.Franok, ner, H^erbst, Jeep, M. Franck, M. Altenburg,
M. Altenbnrg, B. Helder, A. v. Löwenstern, J. Stobäus, J. Crüger,
B. Helder, J. Hintze, J. Ebeling, J. Rosenmüller, C. Briegel,
A.viLöwenfltern, J. Schop, G. Staden, Th. Seile, Tb. Flor, E. Kinder-
J. Stobftns, mann, J. Löhner und die mit ihnen verwandten zahl-
J. Orüger, reichen weiteren Kleinmeister für unsere Zeit wieder
J. Hintze, fruchtbar gemacht zu haben, gebührt C. v. Winterfeld und
J. Ebeling, seinem Hauptwerk vom »evangelischen Kirchengesang«
J. EosenmftUer, Fortwährejid noch wird das von ihm begonnene Werk
G. Briegel, durch Separataüsgaben glücklich ergänzt und erweitert.
J. Sohop, Teschner, Riedel und Eitner haben reichere Bestände
&. Staden, Eccard scher Kompositionen vorgelegt, dem letztge-
Th. Seile, nannten Gelehrten verdanken wir auch Neudrucke der ein-
TL Plor, schlagenden Arbeiten J. V. Burgks und G. Dreßlers. Ein
E. Kindermann, weiterer erfreulicher Beitrag zur Wiederbelebung dieser
J. Löhner. alten volkstümlichen Chormusik ist G. GÖhlers Ausgabe des
J. ▼. Burgk. vom Zwickauer Kantor Cornelius F renn dt aus eigenen
(3t. Dreßler. und fremden Kompositionen zusammengestellten »Weih-
C. Frenndt. nachtsliederbuchs«. C. Riedel hat mit einer Sammlung
wunderbar frischer >Altböhmischer Weihnachts-
lieder«, C. F. Scheurleer durch die Neuausgabe der Nieder-
ländischen »S out erliedekens« Grelegenheit gegeben die
Blüte dieser neuen durch die Reformation hervorgerufenen
Kunst auch außerhalb des heutigen Deutschland zu ver-
folgen*).
Wichtig war es, daß an ihrer Pflege bald auch Meister
der großen Kunst, Männer wie Haßler, Gumpeltz- Häßler, Gum-
hailner, Eccard, Stobäus, Schein beteiligten. Durch peltihaimer.
sie brachte das einfache volkstümliche lied bald auch .der Eooard,8tob&iiB.
alten großen Kunstmotette neuen Segen, und zwar auf Sohein.
zweifachem Wege.
> Erstens entstand die Choralmotette, die in ver-
wandter Weise wie früher die niederländische Motette
gregorianische Melodien, nun evangelische KirchenUeder
als Grundstock und Baumaterial für breite, polyphone Ar-
beiten verwendete. In Eccards preußischen Festliedern, J. Eooard.
in etlichen (von R. Schwarz herausgegebenen) deutsche^j
Motetten von Dulichius, in einzelnen Stücken R. Ahles ?• Dallohlns,
(Denkmäler deutscher Tonkunst, 5. Band: Ach Herr, mich fi> Ahle,
armen Sünder, Wir glauben all* an einen Gott) H^en
wertvolle Frühproben dieser neuen Choralmotette, die
sich über S. Bach hinaus bis in die Gegenwart behauptet
hat, in Neudruck vor. Sie findet ein gleichzeitiges instru-
mentales Gegenstück in den Choralfantasien und Choral-
variationen für Orgel, die, wie schon erwähnt, S. Scheidts
Tavolatura nuova zuerst mannigfaltiger vertritt.
Zweitens aber hat der im Choral heimische Geist auch
die freie Motette der Deutschen innerhch merküch erfrischt
und veijüngt. Zwar bleibts mit ihr insofern beim alten,
als die achtstimmigen Sätze das venetianische, die vier-
stimmigen das niederländische Muster merken lassen, aber
*) Der bedeutendste Beitrag zur Geschichte jener geistlichen
Kleinkunst: G. Rhavs >Neue deutsche geistliche Gesänge für
die gemeinen Schulen« (Wittenberg 1644) liegt im Band XXXTV
der Denkmäler Deutscher Tonkunst (herausgegeben von Joh.
Wolf) seit kurzem im Neudruck vor.
i9S
F. Leiiring,
Trotz sei dem
Tenfel.
H. Franok,
In den Armen
dein.
A. Hammer»
solimidt.
A. ScandeUng.
L. Leohner
H SohtttB.
sie wechselt Motive und antiphonierende Partien rascher,
sie ist in der Form, gegen jene gehalten, zuweilen etwas
stürmisch und unreif, ihr jedoch an Kraft und Herzlichkeit
überlegen, und endlich bricht sie der deutschen Sprache
eine Gasse.
Für die Choralmotette bietet das Konzert einen Beleg
in F. Lei s rings »Trotz sei dem Teufel«, für die freie in
Melchior Francks herrlicher Motette: »In den Armen
dein«. Andreas Hammerschmidt, der seine Dialoge
und Lieder auch zum begehrtesten Motettenkomponisten
des 47. Jahrhunderts erhoben, zeigt auch in den heute
noch gesungenen Werken i Schaffe in mir Gott«, »Sei ge-
grüßt, Jesu« und »Mir hast du Arbeit gemacht« seine
starke Volkstümlichkeit, allerdings durch einen Zug von
Trockenheit beeinträchtigt.
Der Beachtung außerordentlich würdig sind ferner
Ant. Scandellus und Leonh. Lechner, doch kommt
ihre Bedeutung für die Motette in den wenigen vorliegen-
den Neudrucken nicht genügend zur Geltung.
Den größten deutschen Motettenmeister des 4 7. Jahr-
hunderts haben wir in Heinrich Schütz zu erblicken,
wofern man in die Gattung seine großen mehrchörigen
Psalmenmotetten, über die im vorhergehenden Kapitel
berichtet wurde, und außer ihnen auch die Historien,
Dialoge und oratorischen Szenen mit einbezieht, die er
zum Teil ja auch, wie die von Saul, als Motetten benennt.
Hält man sich aber an den Motettenbegriff im engern und
althergebrachten Sinne, so ist Schütz in der Motette nur
bescheiden vertreten, sowohl was die Fruchtbarkeit als
was die Größe der Leistungen betrifft. Sieht man von
einer Anzahl kunterbunt versprengter Stücke ab, so haben
wir von Schütz nur zwei größere Sammlungen von eigent-
lichen und wirklichen Motetten : Das sind die cantiones
sacrae von 4625 und die »Geistliche Chormusik«
von 4 648. Beide liegen schon seit länger als zwanzig
Jahren in der Gesamtausgabe der Werke Schützes in
Partitur vor, aber erst in der jüngsten Zeit hat man be-
gonnen, auf Grund von praktischen Einrichtungen sie auch
--^ 493 *—
ZU benutzen. Da ist denn aus der Ghormusik zunächst
die Nr. 4 »Verleih' uns Frieden« auf dem Wege sich ein-
zubürgern. Sie bezwingt vor allem durch die Einfachheit
und Innigkeit, mit denen Gebet und Bitte zum Ausdruck
kommen, erfreut aber noch durch eine Reihe' kleiner Züge
echt Schützscher Anschaulichkeit und Geradheit. So wird
das »Streiten« von dem der Text spricht, dadurch wieder-
gegeben, daß alle vier Stimmen plötzlich einen Takt lang
in Achteln gehen. Auch der Nachbar dieser Friedens-
motette, der fünfstimmige Begräbnisgesang »Die mit Tränen
säen« hat Anspruch auf allgemeine Verbreitung. Zwar
die tiefe Wirkung der über diesen Text komponierten
Psahnenmotette (II 8) erreicht sie nicht, aber sie trifft die
Herzen durch den warmen Ton des Mitleids, mit dem der
Trauernden gedacht wird, und sie stellt dazu das »Ernten
in Freude« in einen sehr packenden Gegensatz. Verwandt
mit ihr ist die Nr. 23 (»Selig sind die Toten«;, von über-
irdischer Wirkung in ihr die Stelle »Ja, der Geist spricht«.
In der Nr. U (»So fahr ich hin«), der der Choral »Es ist
genug« zugrunde liegt, erhebt sich der Schlußteil, wo der
Tenor wie aus der seügsten Ruhe heraus ruft »So schlaf
ich ein«, zu wunderbarer, tiefergreifenden Wirkung. Die
sehr kurze, als Aria bezeichnete Motette Nr. 4 2: »Also hat
Gott die Welt geliebt« hat sich vor anderen Freunde er-
worben durch die feine und zarte Empfindung, mit der
dem Herrn gedankt wird, durch die ebenso treffende, wie
naive Malerei des Wortes »alle« und drittens durch das
kindliche Vertrauen, mit dem der letzte Teil verklingt
Auch die Nr. 20 : »Das ist ja gewißlich wahr« steht bereits
in der Gunst fest, sie wegen der Mannigfaltigkeit und
Kraft der Stimmungen. Eine der größten Motetten der
Ghormusik, die Nr. 29 »Herzlich hab ich dich« mischt in
ihrem Aufbau, Wie in ihren Ausdrucksmitteln Elemente
des Lieds und der Motette in einer Weise, die an die Art
einzelner Lieder Scheins erinnert. Besonders herzlich
und eigen khngen die Anfange der Verse, wo die choral-
artige Intonation in den trauUch munteren Kinderton
übergeht. Den übrigen Motetten der Chormusik, die zum
--♦ 494 ^—
■
Schluß Duette und Terzette mit Begleitung eines Instru-
mentes bringt, fehlt es nicht an fesselnden kleinen Zügen,
aber sie prägen die Persönlichkeit Schützes nicht voll
aus, sondern stellen sie unter das Gebot des allgemeinen
in Deutschland vorherrschenden Motettenstils.
Die cantiones sacrae kümmern sich um diesen nur
wenig, sondern sie sind, obwohl viel älter als die Chor-
musik, doch darin weit modemer als diese, daß sie den
neuen italienischen Madrigalstil, insbesondere den des be-
gleiteten Solomadrigals unbedenklich auf Motettentexte
übertragen. Diese durchweg lateinischen Texte sind zum
kleineren Teü den Psalmen, zum größeren dem Neuen
Testament und den >Meditationes Divi Augustini« ent-
nommen. Ihre madrigalische Behandlung aber äußert
sich in der ungewöhnlichen, der Chormotette fremden
Lebendigkeit des Satzes. Er neigt zu schwierigen Inter-
vallen und Rhythmen, zu kurzen Themen, mischt in die
Melodik reichlich Meine Ghssando-Figuren und ähnliche
Manieren und liebt es endlich, bei Nebenmotiven zu ver-
weilen. Diese cantionos sind zum Teil mehr weltlich als
geistlicn gedacht. Insbesondere gleichen sie den Düetti
pastorale Hermann Scheins auffallend, in der Nummer 4 6
(Sicut Moses) bringt Schütz für die vita umana dieselben
imitierenden Achtelmotive, mit denen Schein in der ge-
nannten Madrigalsammlung die Fillis besingt. Mit diesem
madrigalischen Grundzug hängt der Reichtum an scharfen
Gegensätzen, an Wechsel des Satzcharakters und an köst-
licher Kleinmalerei zusammen, denen wir in der Mehrzahl
der cantiones begegnen, und der sie fast alle trotz des
knappen Umfangs bedeutend macht. Wie die letzten vier
Nummern sich in den Titeln als Tischgesänge ausweisen —
in der Mitte ein ausgezeichnetes Pater noster — , so hat
Schütz bei der ganzen Sammlung mehr Hausandachten
als kirchliche Verwendung im Auge gehabt. Doch eignen
sich einige auch für den letzteren Zweck, sehr gut die
innige Nr. 4 7 (Ego dormio), ähnlich die Nummern 25 — 27,
die in . ihrer Mischung von Strenge und Freiheit des
Satzes, in ihrer dramatischen Empfindung echte und
— -♦ 495 «—
auserlesene Schütz sehe Leistungen sind. Die an Bewegung
und Schwung reichste, auch an Umfang dem Durchschnitt '
am meisien überragende Motette des Bandes, das Cantate
Domino (Nr. 29) darf als ein ausgesprochenes Kirchenstück
bezeichnet werden.
Von den weiteren zu den genannten Sammlungen
nicht gehörenden Motetten Schützes wird häufiger das
im ersten Teil der Sinfoniae sacrae enthaltene »Vater
unser« gesungen! Sie wirkt durch die häufige Wieder-
kehr des Anruf sihotivs »Vater« besonders inbrünstig. Bei
den Worten »Denn dein ist das Reich usw.« gruppieren
sich die Singstimmen, die die vorhergegangenen Bitten in
imitierendem Motettenstil durchgeführt haben, in venetia-
nische Wechselchöre, und zu ihnen tritt das Orchester.
Zur Berücksichtigung sind besonders auch die, die Be-
gräbnismusik (Exequien) für Heinrich von Reuß bilden-
den Motetten und die »Zwölf geistlichen Gesänge«
von 4 657 zu empfehlen. Sie enthalten Meßsätze (mit
deutschem Text), Litaneien und andere liturgische Chor-
stücke, sind besonders »für kleine Cantoreyen« geschrieben
und gehören zum Besten, was Schütz innerhalb der
Grenzen einer einfachen und bescheidenen Kunst ge-
leistet hat.
Die Väter und Förderer des neuen Motettengeschlechts
sind auf protestantischer Seite zu suchen. Daß auch
die katholischen Komponisten des deutschen Gebiets von
dem Liedgeist der Periode nicht unberührt blieben, zeigen
allerdings Arbeiten, wie die Job. Stadlmayrs*), die mit J. Stadbnayr.
einer fast epigrammatischen Kürze und Eingänglichkeit
alte gut polyphone, auf Kontinuo verzichtende Stimm-
führung verbinden. Aber soweit die Chormotette noch
ihren Boden in der katholischen Liturgie behauptete, hielt >
sie an den alten Künsttraditionen fest, wie das die von
Jos. Fux neugedruckten**) oder die eines Neudrucks J. Pux,
überaus würdigen C antiones sacrae G. Aichingers zeigen . Ot, Aichinger.
*) DenkmUer der Tonkunst in Österreich, III.
**) Ebenda, U.
496
Auch bei den Protestanten ist die Praxis lange Zeit mehr-
schichtig und zeigt einen besonders scharfen Unterschied
zwischen eigentlicher Kirchenmotette und Kasual-
motette. Die erstere, die ihre Stelle im regelmäßigen
Gottesdienst hat, wird während des 4 7. Jahrhonderts nach
wie vor von einzelnen Komponisten in Bänden, die das
ganze Kirchenjahr versorgen, im alten niederländischen
oder venetianischen Stil und mit lateinischem Text ver-
öffentlicht. Zu den vorzügUchsten Mo'tettensammlongen
dieser Art gehören die »Centuriae« des bereits erwähnten
F. Dnliobiof« Philipp Dulichias, von denen R. Schwarz zuerst einige
Proben vorgelegt hat'*'}, die durch die Energie und das
Feuer ihrer Chorföhrung dahin gedrängt haben, das ganze
Werk in Neudruck vorzulegen**). Dahin gehören femer
die »Corona barmonica« von Demantius, die »Cantiones
sacrae« von Job. Stob aus und das »Cymbalum Sionium«
von H. Schein***]. Aber im allgemeinen weicht die alte
Kirchenmotette der Protestanten schon während des
30 jährigen Krieges, zum Teil wegen der durch ihn ver-
ursachten Verarmung der Kirchenkassen, zum Teil wegen
der Lust an den neuen Musikkünsten, der Kantate. Die
Kasualmotette dagegen, die in erster linie als Begräbnis-
und Hochzeitsmusik dient, bleibt beim alten Chorsatz,
wenn sie ihn auch vielfach vereinfacht und verdirbt. Auch
ihr hat hie und da, in Königsberg z. B.f), das neue Sololied
DenumtliiB,
J. StobäoB,
Et Bökeln.
*) Dulichius, yier achtstimmige Ohöre, Breitkopf & HirteL
**) Die Denkmäler deutscher Tonkunst (Bd. 31 und 41)
haben bisher den ersten und zweiten Teil, herausgegeben und
sehr gut eingeleitet von R. Schwartz gebracht. Dulichius ist
hier einer der glänzendsten Vertreter der venetianischen Schule.
***) A. Prüfers Gesamteusgahe der Werke Scheins Bd. IV
und V. Das Oymbalum enthält lateinische und deutsehe, fünf-
bis zwölfstimmige freie Motetten, die unbeschadet vieler eigener
Züge von Tiefe und Beweglichkeit, im wesentlichen mit dem
Stil Haßlers übereinstimmen.
f ) Siehe Einleitung zu den Arien H. Alberts (Denkmäler
deutscher Tonkunst, Bd. XII).
— ^ 497 ♦—
den Platz streitig machen wollen, aber vergeblich. Durch ihre
Mithilfe ist auch in derFiguralmusikder evangelischen Kirche
die deutsche Sprache endlich allgemein durchgedrungen.
Eine ganze Abteilung dieser Kasualmotetten hält auch
am reinen, unbegleiteten a capella-Stil fest. Das sind
diejenigen Motetten, die für die Umzüge der Schulchöre
und Kurrenden bestimmt waren, die in den Straßen, auf
Plätzen, im freien, großen Raum gesungen wurden, wo
ein Positiv ein unwirksamer Ballast gewesen wäre.
Besonders in Sachsen und Thüringen haben die
Kurrenden bis an die Gegenwart heran eine tief ins
Volksleben eingreifende Bedeutung gehabt. Dort sind
auch im 47. und 48. Jahrhundert die meisten a capella-
Motetten geschrieben worden: im Durchschnitt Werke,
an. welche man einen streng kirchlichen Maßstab nicht
anlegen darf. Sie spiegeln aber ein rühmliches Stück
deutscher Musikgeschichte wieder, ^an sieht, wie viel
musikalische Tüchtigkeit und Eifer in diesen Ländern
herrschte, man sieht die Naivität des bloßen Hand-
werks, man hört den Pulsschlag des fröhlichen Herzens
und man bemerkt auch in ihnen besondere Strömungen
des religiösen Lebens und der Entwicklung der Tonkunst.
Von dem neuen dramatischen Musikwesen, welches aus
den Residenzen zu den Kantoren und Organisten hin-
drang, eignete sich die Kurrendenmotette Sinn für
Effekt, Kontrast und Deklamation an. Tiefer ward sie
nicht berührt. Die Neigung zu rhythmischer Lebhaftig-
keit besaß sie von allein als ein Geschenk, zu welchem
die heimatliche Volksmusik und zum größeren Teil die
Orgelmusik beigesteuert hatten. Die reiche Einmischung
von Orgelfiguren in den Vokalsatz ist dann bis auf
Schichts Zeit ein Kennzeichen der deutschen Motette
geblieben. Erst durch Mendelssohn trat eine gründliche
Änderung ein. Hauptvertreter der höchsten Art Thüringer
Motettenkunst sind die Bachs, voran MichaelBach, M. Baoli.
von dessen Werken vor einigen Jahrzehnten noch die
Stücke »Nun hab* ich überwundene, »Unser Leben ist«,
»Herr, wenn ich dich nur habe«, »Ich weiß, daß mein
n, 4. . 32
--* 498 *—
Erlöser lebt« in Chorkonzerten anzutreffen waren, neben
Oh. Bm^Ii. ihm Christoph Bach, den die Motetten >Ich lasse
dich nicht« und »lieber Herr, wecke mich auf« unter die
ersten Größen des 4 8. Jahrhunderts stellen*). Auch die
J. 8. Baoh. Motetten von J. S. Bach, diejenigen Motetten, an welche
wir denken, sobald von der Gattung überhaupt gespro-
chen wird, haben zum Teil einen Zug der thüringischen
Kurrendenmotette. Das ist die Freude am Singen und
Klingen, die Selbständigkeit des musikalischen Elements
im Chorsatz. Bach ging allerdings über den Durchschnitt
der heimatlichen Vorbilder schon darin hinaus, daß er
seine Motetten für Begleitung schrieb. Diese Tatsache
steht durch das Zeugnis von Ph. E. Bach fest, sie ergibt
sich aus den harmonischen Verhältnissen vieler Stellen,
deren Akkorde nur dann richtig sind, wenn man den
Baß als einen 4 6 füßigen Orgelbaß auffaßt. Mit kleinen
Änderungen kann man sie jedoch auch a capella singen.
Bach faßt in seinen Motetten, man kann fast sagen,
alles zu einer höheren Einheit zusammen, ^sls in der
Stilgeschichte der Motette bis dahin Schönes und Be-
rechtigtes zum Vorschein gekommen war: das voll-
endete gesangliche Wesen der frühen Vokalperiode,
die Bestimmtheit und den Reichtum des Ausdrucks,
welcher die dramatische Periode kennzeichnet, die Frei-
heit der musikalischen Bewegung, den Schmuck und
die große Anlage des Formenbaues, welche sich mit
dem Konzertstil entwickelten. Und er führte alle diese
Vorzüge noch auf eine höhere Stufe. Es wird auch
von den Sängern, von den Mitgliedern der Chor vereine
empfunden, daß diese Bachschen Motetten eine Krone
der Gattung sind. Sie setzen ihren besonderen Stolz
darein, die Schwierigkeiten, welche in dem häufig orgel-
*) Band XLIX/L der Denkmäler deutscher Tonkunst (herauB-
gegeben von M. Seiffert) bringt nahezu ein hundert solcher, meist
anonymer thüringischer Motetten. Sie stammen aus der Gott-
holdschen Sammlung der Königlichen Bibliothek zu Königsberg.
Neben ihr besitzen vir noch eine Beihe ähnlicher Handschriften.
499 ♦ —
artigen Stile dieser Werke liegen, zu überwinden, und e?
gibt nichts in dem großen Bereiche der Chorlitteratur,
was schließlich mit größerer Lust und Freude gesungen
wird.
Obwohl nach den heutigen Obliegenheiten eines Leip-
ziger Thomaskantors lange Zeit angenommen worden ist,
daß Bach sehr viele Motetten geschrieben habe, müssen
wir uns doch mit nur sechs, bei denen die Echtheit ge-
nügend verbürgt ist, zufrieden geben. Ihre Textanfänge
heißen: >Singet dem Herrn«, »Komm, Jesu, komm«,
»Fürchte dich nicht«, »Der Geist hilft«, »Jesu, meine
Freude« und »Lobet den Herrn alle Heiden«. 'Dieser durch
die gründlichen Untersuchungen F. Wüllners'*') festgestellte
Tatbestand, der übrigens mit der Erwähnung nur »einiger«
Motetten in Mizlers. Nekrolog übereinstimmt, erklärt sich
daraus, daß zu Bachs Zeiten in der sogenannten Sonn-
abendsvesper vorwiegend kurze liedartige Sätze, gioße
Motetten in erster Linie bei Trauerfeierlichkeiten gesun-
gen wurden, also Gelegenheitskompositionen waren. Ohne
Zweifel muß es da für Bach niederdrückend gewesen
sein, daß so wenig Bestellungen an ihn herantraten. Die
Motetten sind beiläufig die einzigen unter den Vokal-
werken Bachs, welche den großen Schlaf, in welchem
Jahrzehnte lang die ganze Gesangkomposition des Meisters
lag, nicht mitgeschlafen haben. Sowohl bei den Thomanern
als auch bei andern sächsischen Schülerchören blieben
sie im Gebrauch und wirkten als Ansporn des Ehrgeizes.
Sie sind es, welche Mozart bei Doles kennen lernte. Vier
unter diesen Motetten sind achtstimmig, doppelchörig;
eine, »Jesu, meine Freude«, die längste von allen, ist
fünfstimmig, die letzte »Lobet den Herrn« hat vierstim-
migen Satz und eine besondere Kontinuostimme. Es sind
sämtlich Ghoralmotetten, doch ist die Stellung des Cho-
rals in den einzelnen Stücken verschieden. Im großen
ganzen tritt er mehr als Schmuck und Beigabe auf, denn
*) Vorrede zam 39. Band der Geaamtausgabe von Bachs
Werken.
8i*
— ^ 5P0 ♦ —
als Gmndstätze der Erfindung, als welche ihn die altem
Tonsetzer in der Motette gern handhabten. Nnr »Jesn,
meine Frende« macht eine grandiose Ausnahme.
ÜAter den aehtstimmigen Motetten Seb. Bachs sind
die bedeutendsten die Nr. 4 »Singet dem Herrn« und die
Nr. k »Komm, Jesu, komm«. Sie tragen am stärksten Züge
Bachschen Geistes, die Kraft und Tiefe der Empfindung,
die Kühnheit und Macht des Ausdrucks und die subtfle
Feinheit der Auffassung. In der Behandlung und Wirkung
des Klangwerkes, in der Güte der sogenannten Faktur
stehen die andern ihnen ziemlich gleich.
8« Bm^, Die Motette »Singet dem Herrn« gehört textlich
Singet dem zum großen Teil der Psalmenkomposition an. Es sind
HexxiL die bekannten Anfanggyerse des 44 4. Psalms, welche ihrem
ersten Satze zu Grunde liegen. Bach läßt sie uns wie
aus dem Munde einer von Freude mächtig erregten
Menge hören. Ohne alle Einleitung und Vorbereitung
führt er uns mitten hinein in das bereits im vollen
Schwünge begriffene Jubilieren und Konzertieren der be-
geisterten Massen. Obwohl es des Anfeuems nicht bedarf,
hören wir doch . AlKnoderato. Dieses freudige Signal
durch den ganzen "Jt^^ j j belebt die wunderbar
Satz den einen Chor ff •* T -^ — fließende und volle
dem andern zurufen: M»-gÄ Komposition mit sze-
nischer Anschaulichkeit Der formellen Anlage nach be-
steht dieser große erste Satz aus zwei Teilen. Der erste
folgt dem herkömmlichen Brauch der Motette, daß jeder
selbständige Textgedauke sein eignes musikalisches Thema
hat. Wir haben drei Sprüche: a) »Singet dem Herrn ein
neues Lied«, b] »Die Gemeinde der HeiUgen sollen ihn
loben«, c) »Israel freue sich des, der ihn gemacht hat« —
infolgedessen auch drei in der Musik dieses ersten Teils
sich sondernde Abschnitte. Das Thema a) »Singet usw.«
und seine Durchführung ist konzertierender Natur. In
den einzelnen Stimmen treten gleichsam die Künstler
des Volks hervor und erfreuen die lauschende und zu-
stimmende Menge mit den herrlich hinklingenden Figu-
ren, in welche sie das Lob Gottes kleiden. Und die
— ♦ 501
Rollen wechseln zwischen den Chören. Das zweite
Thema b) >Die Gemeinde der Heiligen« und seine
Gruppe ist ruhigerer, ernster, zuredender Natur, das
dritte »Israel freue sich« wieder lebhafter, entschieden
und feurig. Es treibt zu einer Spitze und an dieser setzt
der zweite Teil des Satzes ein: eine großartige Fuge über
das Thema:
usw.
Die Kinder Zi.onsseb froh . lidi fi.ber ih.re K8iiLge sie soUeit lo . bea
welches die acht' Stimmen nach und nach sämtlich auf-
nehmen. Der Schluß dieser Fuge verläuft in rollende
Sechzehntelfiguren, welchen Bach in Durchführungen
und Episoden eine große Fülle jauchzenden, trillernden
und lachenden Naturklangs entnimmt. Gewiß ist die
Kunst in diesem zweiten Teil des Satzes eine bewun-
dernswerte, unvergleichlich große, aber noch größer ist^
die Freiheit, Macht und Naivität des freudigen Ausdrucks,
hinter welchem alles Technische verschwindet Im zwei-
ten Satze der Motette, »Wie Väter mit Erbarmen«, tritt
der Choral (»Nun lob mein See! den Herrn« ^ist die Me-
lodie) ein. Der zweite' Chor singt ihn, der erste Chor
(Soloquartett) unterbricht die einzelnen Zeilen mit freien
Zwischengesängen, die vorwiegend nur eine mäßige
Länge haben und alle sehr schön ausdrucksvoll
schließen. Die Hauptwirkung des Satzes ruht auf der
Anlage, die eine Szene im Kirchgarten vor die Fantasie
ruft. Vom Innern des Gotteshauses klingt leise der
Choral herüber, außen wird gewartet und gebetet. Der
dritte Satz ist' eine von beiden Chören im regelmäßigen
Wechsel durchgeführte Fantasie über das Thema:
Foco Alleg^ro
Lo . bet den Herrn m seinen Theten,lo.bet ihn in seiner grossen HerrÜchkeit.
Ihrem mehr anmutigen Charakter und ihrem Umfang
nach ist sie von Bach weniger als selbständiger Satz,
— ♦ 50S ♦—
deon als Einleitang zn dem Finale der Motette gedacht,
einer Fuge Aber das Thema:
AI Inwm O. - - - -
Es hat die Händeische Art des
langen Ansholens und die regel-
mäßige Fignration, die Bach in
seinen Chorfugen liebt; die Ausfährang ist verhältnis-
mäßig kurz. Am Schlüsse tun sich die Soprane durch
einige energische Ausrufe des Entzückens hervor.
8.Bftdi|' Die Motette »Komm, Jesu, komm€ (Nr. 4) ist ein
Kamm, Jesu, Seitenstück zu jenen zahlreichen Kantaten Bachs, in
komml welchen er einer erdenmüden, nach Tod und himm-
lischem Leben sehnsuchtsvoll verlangenden Stimmung
Ausdruck gibt. Derlei Arbeiten gehören zu den gewaltig-
sten Äußerungen des Bachschen Gemütes, welches in
seiner tiefen, edlen Melancholie eine seiner eigentümlich-
sten und ergreifendsten Eigenschaften besitzt Ähnlich
dem Gang in den entsprechenden Kantaten entwickelt
sich auch die Motette »Komm, Jesu, komm« vom Klagen
und Sehnen^ zum Ausdruck einer ruhigen, die himmlischen
Wonnen vorausnehmenden frommen Heiterkeit. Dieses
Ende kommt hier in der Form eines leicht bewegten,
von bescheidenen Koloraturen durchzogenen s/g- Taktes
(»Du bist der rechte Weg«), dessen Perioden die Chöre
einander in sehr regelmäßigem Wechsel nachsingen. Nur
selten treten sich die Gruppen näher; erst bei dem kräf-
tigen Schlüsse zusammen. Den Durchgangspunkt zu
diesem Abschluß bildet ein kurzes Sätzchen: »Komm,
komm, ich will mich dir ergeben«, in welchem dem Ver-
langen nach Erlösung von diesem Leben in einem en-
thusiastischen, fast gebieterischen, trotzigen Tone Aus-
druck gegeben wird. Eine Energie, die der Wildheit
nahekommt, beherrscht den Geist dieses Abschnittes, die
Form zeigt eine bedeutungsvolle Gedrängtheit in der
Führung der Themen und Motive. Der eine Chor, welcher
das einfache, fast deklamierende Hauptthema durchführt,
— ♦ 503 ♦ —
tat dies von vornherein in sogenannten Engführungen»
cL h. ehe die eine Stimme ausgesungen , setzt schon die
andere mit demselben Thema ein. Der zweite Chor
verstärkt den Eifer, welcher die Hauptgruppe beseelt,
noch durch kurze stürmische Zurufe. Die Perle der
Motette, eine Hauptperle im musikalischen Kunstschatz
überhaupt, ist aber der erste Satz »Komm, Jesu, komm«
durch seinen Aufbau, seine Gewalt und seinen Reich-
tum des Ausdrucks und durch die wunderbar schöne
gesangliche Natur, welche in dem vielfaltig wechseln-
den, immer bedeutend beseelten Leben der einzelnen
Stimmen herrscht. Die Anlage folgt dem alten Gesetze
über Text und Themen in der Motette. Die Fülle. von
Stimmung, in welcher diese Themen erfunden sind, welche
/in der Fortschreitung des Satzes, in seinen kleinen und
großen Proportionen liegt, klarzulegen würde eine ganze
Studie erfordern. Sie fühlt sich auch unbewußt, und
wenn der Zuhörer die einzelnen Motive und Themen mit
dem Texte vergleicht, wird sie leicht klar. Wie stark in
Bach die Empfindung wogte, als er an diesen Meistersatz
ging, wird sofort an den ersten Takten ersichtlich. Der
Übergang aus den sogenannten Weckakkorden, mit wel-
chen die Chöre sich anmelden und die Tonart feststellen,
in die bittende Melodie ist der erste Meisterzug. Dann
folgt als zweiter: die rezitativartige Wiedergabe der Worte
»Das Ziel ist nah, die Kraft ist klein« und so bringt jeder
weitere Abschnitt gewaltigste Beispiele lebenswahr empfun-
dener, dramatisch warmer Musik. An Inspiration steht
dieser erste Satz von»Komm, Jesu, komm« unter Bachs Kom-
positionen ganz obenan. Der Choral kommt am Schlüsse
der Motette in der verwandten Gestalt einer geistlichen Arie.
Unter den übrigen achtstimmigen Motetten zeichnet ,
»ich »Fürchte dich nicht« formell dadurch aus, daß &• Bftohi
I sie in einem Satze ohne Unterbrechung aufgebaut ist. Fürchte dich
Diesem Umstand, welcher eine erhöhte Anstrengung für nicht,
die ausführenden Kräfte verursacht, ist es zuzuschreiben,
daß sie sehr selten aufgeführt wird. An geistigem Gehalt
und an Eigentümlichkeit des Ausdrucks steht sie den
-— ^ 504 ♦—
vorher genannten sehr nahe. Namentlich in der ersten
Abteilung, die einen Trostgesang einziger Art bildet Der
Ton , mit welchem man einer bangenden Seele zuspricht,
kann freundlicher und aufrichtender wohl kaum gedacht
werden, als ihn hier Bach anstimmt. Dieses »Fiirchte
dich nichtc stellt der Furcht eitel Freude, Festigkeit und
Kraft gegenüber und tut dies in Tönen, welche ebenso
kindlich und herzlich als entschieden klingen und in
denen sich Weichheit und Kühnheit der Empfindung
wunderbar romantisch mischen. Der ganze formelle
Apparat dieses Satzes ist mit einem Schwünge aufgestellt,
den man nicht genug bewundern kann. Die Motive zu
den neuen Textgedanken — a) »weiche nichtc, b) »ich
stärke dich«, c) »ich helfe dir auch«, d) »ich erhalte
dich« — sind alle verwandt, aber alle voll Eigenart,
einzelne, wie, »weiche nicht«, voll malerischer Elemente,
und sie bringen die Grundidee zu immer steigerndem
Ausdruck, ziehen das Gemüt, das der Furcht entrissen
werden soll, immer tiefer in die Kreise der Freude hinein.
Die Frische der Empfindung spricht sich auch in einzelnen
formellen Zügen aus, unter denen sich freie Nonen-
akkorde hervorheben. Der zweite Teil der Motette — er
beginnt mit den Worten: »Ich habe dich bei deinem Namen
gerufen« — ist geistig hinter das erreichte Ziel gelegt:
alle Furcht verschwunden. Ein ungemein inniger Ton be-
herrscht diese zweite Hälfte. Der Chorsatz ist vierstimmig
geworden, der Sopran singt in langen Zwischenräumen
die kurzen Zeilen des Chorals (»Komm, heiliger Geist«)
auf die Worte »Herr, mein Hirt«. Die übrigen drei Stimmen
fugieren sehr kunstvoll mit drei verschiedenen Themen.
Die zum Begräbnis des Rektors Ernesti (i 729) kompo-
6t Baohi nierte Motette »Der Geist hilft unsrer Schwachheit
Der Geist hilft, auf« besteht aus vier Abteilungen. Die erste hat die üb-
liche Motetten einrichtung: soviel Themen als im Text Ge-
danken. Das sind folgende: a) »Der Geist hilft«, b) »Wir
wissen nicht, was wir beten sollen, wie sichs gebühret«.
Für das erstere hat Bach ein tokkaten artiges Thema ge-
wählt, dessen rollende Sechzehntelgänge durch die Stimmen
"^ 505 ♦—
wechseln. Die Anlage weicht von der in den ersten Sätzen
der übrigen achtstimmigen Motetten darin ab, daß die Chöre
meistens zusammen singen und daß die beiden Themen
vieUach ineinander gezogen sind. Die Fortsetzung dieses
kräftig schwungvollen Eingangssatzes bildet eine, sofort
mit Engführungen An9non tanto.
beginnende Fuge j^K'Ilf P P p IT f P P P P 'P T
über das Thema: lon-dcrn der a«Ut Mlbtt ▼w-trin «m »u/i Be-ate
in wejcher sich ein sinnendes und etwas zögerndes Pathos
ausbreitet. Der Schluß nimmt malende Bezüge auf die >un-
aussprecjihchen Seufzerc des Textes. Aus dieser ernsten
und das Trübe streifenden Stimmung führt eine zweite Fuge
heraus über daä kräftig bestimmte Thema »Der aber die
Herzen erforschet, der weiß, was des Geistes Sinn sei«. Sie
ist nur vierstimmig, wird aber mit Eintritt der Worte »Denn
er vertritt die Heiligen« zurDoppeKuge. Ein einfacher Choral
schließt. Bemerkenswert ist, daß zu dem ganzen Stück
auch von Bach geschriebene Stimmen für Qeigen, Bläser
und Orgel (in der Kgl. Bibliothek zu Berlin) vorhanden sind.
Die Motette »Jesu,meineFreude«, nach Mitteilungen '8. Baoh.
von B. F.Richter*) zum Begräbnis einer Frau Reese i. J. i 723 Jesu, meine
komponiert, ist Bachs größte Leistung in der Choralmotette, Freade.
aber ein für das Verständnis und die Ausführung sehr
schwieriges Werk. Nicht selten entgeht es Sängern und -
Dirigenten, daß hier ein Zyklus freier Variationen vorüegt.
Es muß deshalb etwas näher auf sie eingegangen werden.
Der bescheidene Zug ihrer nur fünfstimmigen Be-
setzung wird durch andere Ansprüche und Vorzüge wie-
der aufgehoben. Sie ist die längste von allen, die reichst-
gegUederte und in der äußeren Wirkung mannigfaltigste.
Au.ch zeichnet ihren Aufbau eine schöne Geschlossenheit
aus. Anfang und Ende stimmen überein. Die Beibehal-
tung der gleichen Tonart für die meisten Teile gibt ihr
etwas Strenges. Sie enthält so viel Variationen des Cho-
rals, als das Francksche lied Verse hat : sechs. Aber jeder
, *) B. F. Richter: Über die Motetten Seb. Bachs (Wissen-
schaftliche Beilage der Leiziger Zeitung vom 21./9. 1912).
— -♦ 506 ♦—
Variation, die letzte ausgenommen, ist ein frei kom*-
ponierter Satz über einen der Bibel entnommenen, in das
Kirchenlied eingeschobenen Sprach angefügt. Die Varia-
tionen sind zum Teil nur verschiedene Harmonisierungen
des Themas, zum Teil große und kühne Paraphrasen.
Der erste Vers bringt den Choral in seiner einfachen
K^irchenform im Sopran, aber mit den kleinen, lebendigen,
ausdrucksvollen Biegungen der begleitenden Stimmen, an
denen man Bach vor Tausenden gleich erkennt. Napaent^*
lieh der Tenor tritt mit einer solchen echt Bachschen
Wendung in der letzten Zeile heraus. Der frejie Nach-
satz über die Worte >Es ist nun nichts« folgt dem Cho-
ral wie das Hauptstück der Einleitimg. Er enthält ernste
Betrachtungen über die zugrunde liegenden Bibelworte,
die man sich, ehe der Chor einsetzt, vom Geistlichen
verlesen denken könnte. Der Musiker übernimmt die
Rolle des Predigers und legt aus. Die erste Zeile: >£s
ist nun nichts Verdammliches an Denen, die in Christo
Jesu sind« spricht Bach wie einen Trost in Tränen. Das
außerordentlich bedeutungsvoll dreimal herausgehobene
> nichts« soll aufrichten, aus dem Sopranschluß bei
»Christo Jesu« klingt aber die Wehmut und Trauer. Die
nächsten Worte »die nicht nach dem Fleische wandeln c
hält Bach in mehrfachen, eindringlichen Wendungen ab-
weisend, warnend, am ausführlichsten über das Thema:
1 r r r r r r I r |j 'J r I r r I
die nicht nachdem Fleische wan dein
das sich vom Tenor aus zu einem Fugato der fünf Stimmen
ausbreitet. Das bessere Ziel des christlichen Wandels »son-
dern nach dem Geist« wird ganz kurz, aber außerordent-
lich fest und bestimmt dagegen gestellt. Der zweite Teil
besteht aus einer Wiederholung des ersten, aber mit dem
Einsatz von der Dominant aus und ^
mit einer bedeutenden Verlängerung, f * m f' t^ l f' :
die aus dem Anfangsmotiv des u 1 ' ' •
Satzes herausgebildet ist.
607
Der zweite Vers bringt den Choral wieder in der
Art des ersten, der Sopran singt die kirchliche Fassung.
Die begleitenden Stimmen jedoch singen hier lebendiger
als dort, der Satz >Es ist nun nichts usw.c hat den
Druck, der über der Stimmung lag, gelöst. Im Nachsatz
des Verses >denn das Gesetze, der sich wie die Mehrzahl
dieser Nachsätze vom Choral durch den ungeraden Rhyth-
mus scharf abhebt, singen nur die hohen Stimmen, beide
Soprane und der Alt. Es ist der Klang der Hoffnung
und der Glaubenszuversicht. Schon im 4 6. Jahrhundert
macht die a capella-Motette von derartigem Farbenwechsel
Gebrauch, unter anderen lieben ihn Palestrina und Lasso;
bei den Deutschen wird er aber erst mit dem 4 7. Jahr-
hundert und mit der Einführung der Motettenbegleitung
häufiger. Bei a capella- Aufführungen von >Jesu meine
Freude« ist dieser dreistimmige Satz besonders schwierig.
Der dritte Vers beginnt folgendermaßen:
Trotz,
^
^
'mjf i i
rotz dem al . . ten Dra . . chen, trotz dem al .len
Drachen.trotz,
des Ra
^^
cheo.
„h:]n\Jn^'i^^
Dieser erschreckend kühne, freie und energische
Einsatz läßt kaum glauben, daß wir es auch hier mit
einer Variation des frommen Chorals zu tun haben.
Aber schon der Gang des ersten Soprans vom dritten
zum vierten Takt (bei a) stellt die Tatsache außer Zwei-
fel. Das darauffolgende Unisono (bei b), das der zweiten
--♦ 608 ♦—
Zeile (c) vorhergeht, entspricht dem »Zwischenspiel« des
Orgelchorals. Es kehrt auch vor der dritten Zeile wie-
der und diese selbst erhält einen, einem Nachspiel glei-
chenden Zusatz. Am Schluß der Wiederholung der
ersten drei Zeilen hat gerade ihn Bach wunderschön
zur Oberleitung in die zweite Hälfte des Chorals benutzt.
Er gibt ihm da auf die Worte >in gar sichrer Ruh« den
Charakter eines Abendliedes und darauf setzt dann die
weiche Stelle ein: > Gottes Macht usw.« Aus diesen bei-
den Motiven hat Bach ein Orgelvorspiel zu dem Choral
»Jesu meine Freude« gebildet, das vielleicht zum Nach-
spiel der Motette dienen sollte. Die Wiederholungen
überraschen durch neue Änderungen des bereits ge-
änderten Notentextes. Zum Teil folgen diese ^Änderungen
dem Sinne der Liedsätze, zum größeren Teil suchen sie
einzelne Wortbilder nach der Sitte der Renaissancemusik
zu veranschaulichen. Dem Baß fällt dabei die hervor-
ragendste Rolle zu, besonders bei den Begriffen des
»Tobens« und »Brummens«. Die Kunst liegt bei diesem
Verfahren darin, über dem reichen Kleinleben der Kom-
position nicht ihren Gesamtcharakter zu schädigen. Auch
nach dieser Beziehung ist . diese dritte Variation ein
Meisterstück, die Perle der Motette. Denn die Hauptab-
sicht: darzustellen, wie ein christliches Gemüt vom Sturm
zur Ruhe gelangt, legt sie aufs deutUchste dar. Variation
und Nachsatz kehren diesmal das sonst eingehaltene
rhythmische Verhältnis um. Jene, als Sitz der Erregung,
steht im ungeraden, dieser, lösend und befreiend, im
geraden Takte. Der Hauptteil dieses Nachsatzes fugiert
frohlockend über das Thema:
^<M JUiJ-i J; p f 1\\ p p p I frrrrffi
Ihr a.ber seid Hiebt fleisch . heb aondern geist
4 gj r 'iT^JiiUffl^j^^^
lieh
r
509
Ein kleiner Zwischensatz über die Worte »so anders
Gottes Geist in euch wohnetc schaltet einen Augenblick
der Ruhe darein. Sehr sinnig ist der Schluß des Satzes,
der mit den Worten »Wer aber Christi Geist nicht hat«
sich scharf von der Fuge abhebt. Der Text legte hier
einen harten, tadelnden Ton nahe, Bach wählte aber
einen ernst klagenden: in einzelnen Wendungen klingt
leise eine Erinnerung an den Schlußsatz des ersten
Verses, an die Stelle, wo vom »Verdammlichen« ge-
sungen wird, hinein.
Diese dritte Variation bildet zwar den Höhepunkt
der seelischen Erregung in der Motette und die Empfin-
dung strebt von jetzt nach dem kirchlich friedlichen Ton
zurück, mit dem die Komposition den ersten Vers ein-
setzte. Aber dieser Rückweg ist an immer neuen Schön-
heiten reich genug. Als Bach jetzt im vierten Vers
»Weg, mit allen Schätzen« den Choral wieder im soge-
nannten stilo semplice mit der Melodie im Sopran auf-
nimmt, da wills am Anfang, wo die unteren Stimmen
zornig ihr »Weg, weg« rufen, scheinen, als wollte er
nochmals das Bild zornigen Glaubens malen. Aber sie
bekunden damit nur die Fülle der Stimmung, des An-
teils, mit dem sie der Führung des cantus firmus folgen
und lenken bald in den schwärmerischen und doch knap-
pen Ton Eccardscher Kontrapunkte ein, bald der Haupt-
stimme vorausdrängend, bald ihre Schlüsse träumerisch
umwandelnd. Geradezu elementar wirkt nach diesem Cho-
ralschluß der Einsatz des die Variation ergänzenden Ter-
zetts »So aber Christus in Euch ist«. Dieser plötzliche Cdur-
Akkordist an sich allein eine große, dichterische Eingebung;
eine Fülle von Weichheit, das Gefühl vollständigen Ge-
borgenseins entströmt ihm und wenn die drei Stimmen
auf den freund-
. -,, So a . Der Chri^uB in Euch isl
ano das Thema *" '"
anheben, so bleibt für Todesfurcht nicht der mindeste
Raum mehr, so viel auch und zwar im ernsten Ton vom
»toten Leib« die Rede ist. Eine kürzere oder längere Paiue
▼or diesem Terzett ist eine Sünde an Bach. Im zweiten
Teil des Satzes legt die Mosik ein freudiges Gewand an,
ahmungen l p flffff/P P f fP TTTP^F
S^^ das «^ jer Geist ..«».berisi das Le . . .4mi
Thema:
schwongvoU nnd figorenreich dnrch die Stimmen. Am
Schloß trübt sich die Stimmung über dem Gedanken an
>die Gerechtigkeit« und der Satz endet tiefsinnig in einer
phrygischen Kadenz.
Sie bereitet den Einsatz der fünften Variation
»Gute Nacht, ihr Wesen« vor, die nach Amoll aus-
weicht. Ihr erster Satz bringt den Choral doppelt: als
cantus firmus im Alt und
als Kontrapunkt des Te- fel^flP PlPJi
nors. Im zweiten FaU, et- ^ ~ Q^XvLM,ihrWe.^ "
was maskiert, nämlich:
freie Um- ^^ P P I p fr p J^ |
kehrung von: •^ ^
Aber auch die beiden Soprane fügen die erste
Choralzeile in dieser Fassung zuweilen in ihre Melodie
ein. Der ganze Satz ist bei sehr kunstvoller Stimm-
führung außerordentlich zart und hat auch etwas Ge-
heimnisvolles, dies schon deutlich am Anfang, wo die
zwei ersten Takte sofort als Echo wiederkehren. Bach
hat sich ihn, wozu der Text und die Bestimmung .der
Motette Anlaß gab, als sogenannten »Widerruf« gedacht
Was es mit diesen »Widerrufen« für eine Bewandnis
hat, ist beim »Deutschen Requiem« von Brahms bereits
gesagt worden.
Die Form des Satzes war durch die Anlage des
Chorals gegeben: zwei Hauptteile, im ersten zwei gleiche
Gruppen. Im zweiten benutzt Bach die Obereinstimmung
der ersten und letzten Choralzeile, auch mit den kontra-
punktischen Stimmen in den Anfang der Variation zurück-
zukehren.
Mit dem Widerruf ist die Trauerzeremonie zu Ende;
die Komposition ebenfalls. Zur formalen Abrundung
nimmt die Motette aber als Nachsatz der fünften Varia-
tion den der zweiten Variation — mit anderem Text: ■
»So nun der Geiste — auf und schließt dann wie sie
begann: mit dem Choral im einfach liturgischen Ton.
Die vierstimmige von Bach mit Continuo (d. i. Skizze
der Orgelbegleitung) versehene und zweisätzige Motette:
»Lobet den Herrn, alle Heiden« steht in der Gleich- S. Bach, .
förmigkeit ihres Verlaufs und der Alltäglichkeit ihrer The- Lobet den
men und Motive hinter den andern Motetten ähnUch zu- . Hprrn,
rück, wie etwa die Lukaspassion gegen die Passionen zu
Johannes und Matthäus. Erst gegen 'das Ende hin kom-
men einige Wendungen die an S. Bach, insbesondere an
den Schlußsatz von »Singet dem Herrn« erinnern.
Süddeutschland ist in der Bachschen Zeit, soweit sie
sich augenblicklich übersehen läßt, nur mit einem Kpm-
ponisten vertreten, der mit a capella-Motetten auf der
alten Höhe steht. Es ist der Salzburger J. E. Eberlin, J. E. Eberlin.
dessen durch Commer veröffentlichte Qrgelkompositionen
die Aufmerksamkeit auch auf seine Gesangwerke lenken
müßten. Nimmt man den Begriff der Motette in dem er-
weiterten Sinne, welchen die, Liturgie damit zeitweilig
verbunden hat, so ist aus der Zeit nach Bach doch
eine größere Anzahl motettenartiger Kompositionen in
den heutigen Chorgebrauch und das Konzert überge-
gangen. Auch unsere Klassiker sind mit vertreten.
Joseph Haydn mit dem unbegleiteten Offertorium »Du J. Saydn,
bist's, dem Ruhm und Ehre gebührt« und mit Motetten,
der Instrumentalmotette: »DesStaubes eitle Sorgen« %
(im Originaltext »Insanae vanae curae«). Das Offer-
torium gleicht in seinem milden Geist und in der from-
men Führung den rehgiösen Chören der »Jahreszeiten«.
Die Augen und die Seele der Komposition bilden die
zwei Töne, mit All?moderato. Die große Wirkung ^er
welchen ein- X v\. ^ o | j Motette »Des Staubes
gesetzt wird: ^ Da büft eitle Sorgen« beruht
wesentlich mit auf dem elementaren Gegensatz von Dur
— ♦ 5<Ä ^ —
und Moll, welcher in den beiden Teilen der Romposition
mit einer unübertrefflichen Genialität ausgenutzt ist. In
dem Zusammengehen von Tonideen und Textideen und
in der Einfachheit der Darstellung ist diese Komposition
ein Muster, eine jener wenigen Kompositionen höchsten
Ranges, in welchen die Kunst ohne Rest in der Natur der
Sache aufzugehen scheint. Und doch ist diese Motette
nichts als eine geistliche Parodie des Sturmchores aus
Haydns Oratorium : »II ritorno di Tobiac ! Ein Seitenstück
zu diesem prachtvollen Werke bietet Haydns »Schöpfung«
^n dem Chor »Verzweiflung, Wut und Schrecken« mit
dem Alternativ: »Und eine neue Welt«.
H. Haydiii Von Haydns Bruder Michael ist die edel und ruhig
TeneWae. geführte, kurze a capella-Motette »Tenebrae factae
sunt« zu nennen, eine Charfreitagskomposition , welche
ihren Ruhm namentlich den in Mozartsche Schönheit
getauchten Wendungen verdankt, mit welchen sie an
den beiden Schlußstellen des Satzes »dum emisit« dem
W. A. Mozart,^ Schmerze Ausdruck gibt. Von Mozart selbst sind hier
Motetten, drei Werke anzuführen, das »Ave verum corpus« (vom
Komponisten Motette betitelt), das Offertorium »Miseri-
cordias domini cantabo« und die Hymne »Ob fürchterlich
tobend«. Das weltbekannte »Ave verum« gehört zu
Mozarts letzten Werken und trägt als solches dea sub-
jektiven Zug sanfter Wehmut, welcher den meisten von
ihnen eigen ist. Das kurze Stück, zu welchem Orchester-
begleitung gehört, ist wahrscheinlich ^für das Fronleich-
namsfest des Sommers 4 794 bestimmt gewesen und setzt
in dem einfachen, liedartigen Stile ein, welchen die £in-
' lagen für diese volkstümliche Feierlichkeit in jener Zeit zu
tragen pflegen. In dem kurzen Rahmen hat ihnen aber
Mozart einen großen Zug gegeben. Bei der zweiten Hälfte
»esto nobis« tritt er ein. Das Offertorium »Misericordias
usw.«, welches Mozart in seinem 4 9. Jahre schrieb, ist
dadurch in erster Linie eigentümlich, daß es die zwei
Seiten, von denen aus sich das Leiden des Herrn auf-
fassen läßt, in der Musik streng und formell aufs Deut-
lichste auseinanderhält und diese Scheidung durch alle
Variationen bis ans Ende festhält. Die Trauer klingt in
dem schwermütigen Rhythmus durch, mit welchem das
»Misericordias« immer wiederkehrt, die Begeisterung
und die Dankbarkeit über das Heil, welches den Men-
schen durch Christi Tod gewonnen ist, in den Moti-
ven des »cantabo«. Das unter ihnen in Nachahmungen *
und kleineren Fugen- Moder ato. etc.
sätzeh meist verwen- *^|, w m f ImJ) i? ^THrt If =
dete ist: e^U / bo in M.tar 1 ' . wmu
Die Hymne »Ob fürchterlich tobend« wirkt durch
den Gegensatz zwischen dem drohend aufgeregten An-
fang und dem freundlichen Gebetston des Schlußsatzes.
Der ganze Charakter der Komposition hat etwas Szeni-
sches und erscheint mehr vom Geist der Bühne als dem
der Kirche erfüllt Beethoven ist in der im -Konzert Beethoyan,
heimiscl^en motettenartigen Komposition nur mit Arrange- Die Himmel
ments vertreten. Unter ihnen steht die großartig pathe- rubmen.
tisch wirkende und doch so einfache Hymne >Die Him-
mel riihmen« obenan. Namentlich die deklamatorische
Episode bei «Wer zählt usw.« hebt sie aus der Sphäre
des Lieds heraus, zu dem sie ursprünglich gehört. Auch
die übrigen Sologesänge, die Beethoven über Gellertsche
Oden komponiert hat, eignen sich für Choreinrichtung,
am meisten das erregte Bußstück: »Gott, deine Güte usw.«
Von Cherubini ist ein »Pater n oster« zu empfehlen, !•• eheratliil.
welches bis zur sechsten Bitte im Stile des Mozartschen Pater noster.
»Ave verum« gehalten ist. Dann aber beginnt ein merk-
würdig aufgeregtes Allegro, in dem die Stimmen aus
leisem Stammeln in eine ungebärdige Ekstase übergehen.
Das »Vater unser« kehrt unter den als Motetten und OfiTer-
torien in Ansehen stehenden Kompositionen der Folgezeit
noch häufig wieder, sowohl in seiner einfachen Bibelform,
als in Paraphrasen, unter denen die Mahlmannsche (»Du
hast deine Säulen dir aufgebaut«) am häufigsten benutzt
worden ist. Die am Anfang des 4 9. Jahrhunderts bekann-
testen Kompositionen des Textes waren die von Himmel, Himmel«
Fesca (a capella achtstimmig), Spohr. Aus neuerer Zeit Fetoai Bpot^r.
ragen die beiden »Pater noster« Fr. Liszts besonders Fr. Lisit
n, 4. 38
hervor. Das erste, für Männerchor ist einfach, das zweite,
für gemischten Chor und Orgel (aus dem »Christus«) ent-
wickelt sich in außerordentlicher mannigfaltiger, innerer
Bewegung. — Unter den motettenartigen Offertorien aus
dem Kreise der Klassiker, welche heute noch im Konzert
zuweilen auftauchen, ist noch des »Salve Regina« (für
F. Schultert, Solosopran und kleines Orchester) von F. Schubert als
Salve Regina, einer weichen, liebenswürdigen Komposition zu gedenken.
Das größte Ansehen als protestantische Motettenkom-
J. Q, Schicht, ponisten nach S. Bach genossen Homilius, Rolle und der
Motetten. Leipziger J. G. S c h i ch t. Den Zeitgenossen Schichts standen
seine Motetten besonders durch ihr intimes Verhältnis zur
geistlichen .Arie nahe, der sie den Kern und die Schale des
Gemütslebens entnahmen. Zu dem weichen Ton und den
bequemen Formen, welche in dieser Gattung herrschten,
kehrt Schicht namentlich in seinen kleineren Motetten
rasch und gern zurück, nachdem er eine Weile im größeren
Stile und im polyphonen Satze sich bewegt hat. Die in
derartigen Abschnitten untergebrachten Fugen mit ihren
langen Themen und ihrer peinlichen Regelmäßigkeit galten
lange als Muster. Ein andrer und bedeutender Künstler
ist Schicht in seinen größeren Motetten*), in den Psalmen-
und Choralmotetten, von welchen letzteren namentlich
die beiden .»Meine Lebenszeit verstreicht« und
»Nach einer Prüfung kurzer Tage« wirklich volks-
tümlich und bis in die Nähe der heutigen Generation
allgemein beliebt waren. Hier ist Kraft und Größe der
Empfindung, Freiheit und Mannigfaltigkeit des Stils zu
finden. Sie gehören zu den bedeutendsten musikalischen
Früchten der Gellertschen Epoche. Ihr vergänglicher Teil
liegt im allzustarken Gefühlauftrag, in der Neigung zu
trivialen Malereien und Klangeffekten. Begegnen wir doch
in der Motette »Die mit Tränen säen« einem Sopransolo
mit Brummstimmen. Schichts Schüler bildeten diese
Schwächen weiter, die Motette der zwanziger Jahre des
*) Sie waren nach F. Rochlitz (Allgemeine Mas. Ztg. Jahrg.
20, S. 853) als Ersatz der Sontagskantate gedacht
I
i 9. Jahrljunderts beginnt infolgedessen sehr äußerlich zu
werden. Stücke, in denen die vier Stimmen das Meeres-
brausen und andre Naturerscheinungen malen wollen, in
denen über einen leise von Sopran, Alt und Tenor gesunge-
nen Choral die Bässe Fanfarenmotive hinschmettern,
werden sehr beliebt. Unter den Musikern, welche dem-
gegenüber in der Motette eine edlere Richtung mit höherer
Bildung and bedeutenderem Können vertreten, ist mit
besonderer Auszeichnung Moritz Hauptmann zu M. Hauptmann,
nennen, dessen »Salve Regina« den Namen des Kom- Salve Regina,
ponisten schnell und weit bekannt machte. Von seinen
außerordentlich stimmgerechten Kompositionen, die der
schwärmerische Geist der Frühromantik beseelt, be-
gegnen wir im heutigen Konzert am häufigsten noch
den kleineren, einfachen Stücken: Salvum fac regem,
der Trauungsmotette: Ich und mein Haus, dem Morgen-
gesang: Kommt, laßt uns anbeten, dem Männerchor:
»Ehre sei Gott in der Höhe«, einer der mildesten
aber einheitlichsten Kompositionen des verdeutschten *
»Gloria«. Durch Mendelssohn, der in Rom an den
Idealen der alten Vokalperiode seine Schule gemacht
hattie, wurde dann der von Hauptmann betretene
bessere Weg auch der allgemeine.
Der Motetten Mendelssohns ist schon in dem F. Mendelssohn,
Abschnitt über di^ Psalmenkomposition gedacht worden. Mitten wir.
Unter den übrigen ist die Choralmotette »Mitten wir
im Leben sind« (achtstimmig a capella) als die im
Konzert am häufigsten vorkommende hervorzuheben.
Sie ist in drei Strophen gegliedert, von welchen die
ersten beiden in der Musik übereinstimmen und nur im
Text verschieden sind. Die erste Hälfte bringt ernst und
hochfeierUch den Choral. Von dem Abschnitt: >Hei]iger
Herr, Gott« ab gerät der Vortrag in eine leidenschaft-
liche Bewegung, die stellenweise jenen stürmischen,
düsteren Charakter annimmt, der uns die mittelalterliche
Zeit vor die Fantasie ruft, wo diese gewaltige Notkersche
Sequenz das Schlacht- und Sterbelied trotziger Lands-
knechtsscharen war. Die dritte Strophe hält den Choral-
33»
ton wieder durchweg ein. Von den begleiteten Mendels-
sohnschen Chorwerken, welche Motettenchaxakter besitzen,
ist im Konzert namentlich die Hymne (för Sopran- oder
F. Me^delstolin, Altsolo, Chor und Orgel) »Hör mein Bitten« einge-
Hör* mein bürgert. In dem formell interessanten und ilußerst wohl-
Bitten. klingenden Werke lebt dramatischer Geist Neben ihr
F. Mendelssolui, kommt noch häufig die kleine Hymne »Verleih uns
Verleih' nns. Fried en< (Text von Luther) vor, ein Werk einfachen,
natürlichen Ausdrucks, in welchem sich Instrumente und
Singstimmen in Innigkeit und Herzlichkeit des Gesanges
zu überbieten scheinen. Die Komposition, welche Men-
delssohn über »Tu es Petruse für Chor und Orchester
geschrieben hat, ist ziemlich unbenutzt geblieben. Sie
folgt auch stilistisch den altern Bearbeitungen des alten
berühmten Motettentextes. Unter den motettenartigen
Sätzen, welche Mendelssohn für den Männerchor ge-
F. tfendelsBohn, schrieben hat, sind nur die beiden Stücke »Beati mor-
Motettenfür tui« (unbegleitet) und der feurige Vespergesang »Qui
Mänrerchoi. regis Israel, intende« auf dem Repertoire. Unter den
Komponisten, welche von seiner Schule ausgingen, ver-
B. F. Biohter. dient namentlich E. F. Richter in Erinnerung zu bleiben.
Von seinen kleinen Motetten ist »Bleibe Herr, o sieh uns
flehen«, von den größeren: »Als Israel aus Ägypten zog«
ein Schmuck für jedes a capella-Konzert. Mit dem, was
der Text seelisch verlangt, sei es schlichte innige Em-
pfindung, sei es große Fantasie, verbinden sie in jedem
Fall eine trefiEliche, auch der äußern Wirkung ungewöhn-
lich sichere Satzkunst.
Mit einer neuen, eigentümUchen Leistung bereicherte
B. SohnmaAB, R. Schum ann das Gebiet in seiner für doppelten Männer-
Verzweifle chor geschriebenen Motette »Verzweifle nicht im
nicht. Schmerzenstal«. Die Komposition ist so wenig eigent-
lich kirchlich, als es der ihr zugrunde liegende Rückert-
sche Text ist, aber sie ist ein kühner Ausdruck einer
voUen Empfindung, vielfach ergreifend, durchweg fesselnd.
Die allgemeine Beachtung verdient sie schon um des Ver-
suchs willen, in die kirchlichen Kompositionen des Männer-
chors die Formen des großen Stils wieder einzufahren.
Den von Hauptmann und Mendelssohn erschlossenen
Weg, die Motette vor Experimenten durch Rückkehr zu den
alten italienischen Mustern zu bewahren, hat später die neue
Berliner Schule unter Führung von E. Grell glücklich weiter B. Qrell«
verfolgt. Die Anregungen dazu gehen auf G. v. Winterfeld und
auf die Kronpxinzenzeit des Königs Friedrich Wilhelm IV. zu-
rück. 0. Nicolai, später C Reinthaler und andere jung6
Talente wurden von der preußischen Regierung nach
Rom zum Studium alter Kirchenmusik geschickt Ähn-
lichen Bestrebungen verdanken wir die Motetten des
Russen Bortniansky, der in Nie. v. Wilm einen D. Bortnlaikaky.
glücklichen Nachfolger gefunden hat. Daß sie in der H. t. Wilm.
katholischen Motette des deutschen Sprachgebiets allge-
mein gesiegt haben, ist ein Verdienst des bereits erwähnten
Cäcilien Vereins. Von dem reichen Motettensegen, auf
den er verweisen kann, nimmt das Konzert zu seinem
Schaden keine Notiz. Es sind Arbeiten genug darunter,
die mit der Stilschönheit alter Zeiten modernen Geist
verbinden; unter ihnen seien die E. Stehles (Terra E. Stelila.
tremuit) hervorgehoben. Von den in der großen Welt
bekannten Komponisten gehört auch F. Liszt mit einigen F. Liiit. *
Kleinigkeiten in der Motette ( — die kleine Hymne »Ave
maris Stella«, ein einfach frommes Stück in der Weise
des altertümlichen Kirchenliedes, ist darunter die der all-
gemeinsten Zustimmung sicherste — ) und ebenso J. R h e i n - J. Rhelnberger.
berger zu den Cäcilianem. Nur eine leichte geistige Ver-
bindung besteht zwischen ihnen und Peter Cornelius; F. OomeUiis.
in der Form geht er neuere eigene Wege. Seine ersten
Beiträge zum geistlichen a capella -Gesang sind die unter
Lisztschem Einfluß entstandenen kleinen geistlichen
Mä n n e r ch ö r e. An ihrer Spitze steht eine rezitativartige
Komposition von »Mitten wir im Leben sind«, die an Un-
mittelbarkeit des Ausdrucks in neuerer Zeit kaum ihres-
gleichen hat. Todesangst, Gnadenbedürfnis, Gottvertrauen
strömen hier nacheinander so heiß und stark aus dem
Herzen des Komponisten, daß der Hörer leidenschaftlich
mit betet. Bei diesem Verhältnis zu Gott und den ewigen
und tiefsten Fragen des Menschentums ist GorneUus auch
—^ 518 ♦—
in den großen fGr gemischten, zum Tdl doppelten Chor
geschrieben^! Motetten des Zykins »Liebe« geblieben.
Auch diese Mnsik ist mit einer manchmal brennenden
Wärme komponiert, ist dorchans Ton gewordene Inner-
lichkeit. Die Form dieser Motetten ist anf der Grundlage
des Lieds anfgebant, ihre Dehns Schnle zeigende Stimm-
führung nicht leicht, ihr Wohlklang außerordentlich. Nach
der Glut der Empfindung, nach der Unmittelbarkeit des
Ausdrucks, nach der schrankenlosen Freiheit der Modu-
lation sind die geistlichen Chöre von Cornelius durch
und durch eine neudeutsche Frucht und standen als
A Bitter, solche lange vereinzelt In Alexander Ritter op. 41
(Hauptstück >Wohl bin ich nur ein Ton« für 4 2 stimmigen
H. Wolt Chor) und in Hugo Wolfs vierstimmigen geistlichen Lie-
dern auf Eichendorffsche Texte femden sich erst spät be-
deutende Seitenstücke dazu ein; den neuesten Zuwachs
bilden die 16stimmige Hymne: > Jakob, dein verlorner
R. Straofi. Sohn usw.« von Richard Strauß (op. 34, Nr. %) und
dessen »Deutsche Motette« (op. 62). Jene führt die
schöne, Gottvertrauen in Not predigende DichtnngF. Rückerts
in der Weise dreiteilig aus, daß der dritte Teil zum ersten
im Verhältnis gesteigerter Glaubenszaversicht steht, dem
mittleren, einer Fuge über die Worte: »Zwar bedenklich
ist unser Gang usw.« die Erregung und Sorge zugewiesen
. wird. Ihn singen die drei unteren Chöre allein, in den
beiden Ecksätzen steht ihnen der erste Chor als Personi-
fikation religiöser Seelenruhe poetisch und dramatisch
sehr wirksam gegenüber. Die hier von Strauß angewen-
dete Polyphonie beschränkt sich auf kleine, im wesent-
lichen nur das Kolorit und die Harmonie bereichernde
und belebende Nachahmungen, die Melodik nähert sich
wiederholt dem Rezitativstil. Die Wirkung der Hymne
ist bei guter Ausführung nicht bloß blendend, sondern
dank der überwiegenden Kongruenz von Inhalt und Form
auch tief. Auch die »DeutscheMotette«, der ebenfalls
eine Rückertsche Dichtung, ein frommes, schönes Abend-
gebet, zugrunde liegt, ist ein ganz eigener und bedeutender
Beitrag zur neuesten geistlichen a capella - Musik. Im
— ^ 519 *>-*
tiefen Erfassen und schwännerischen Ausbreiten der
Stimmungen, in der motivischen Erfindung, in der kunst-
vollen, an Engführungen und Neubildungen reichen und
doch einfachen, klaren Arbeit, in der Unterordnung der
köstlichen Einzelheiten unter die Hauptziele ist sie reif
und meisterliqh, ist deutsch und eine natürliche Frucht
edler Rehgiosität. Sie steht in mehr als einer Beziehung
über der Jakobhymne, teilt aber mit ihr das etwas ein-
seitige Streben nach koloristischen Wirkungen. Dieses
hat an mehr als einer Stelle die vier Solostimmen, die
zu dem i 6 stimmigen in vier Gruppen vorgehenden Chor
hinzutreten, mit zu billigen und spielerischen Einfallen
belastet, es hat den Komponisten auch zu Ansprüchen
an die Höhe der Soprane und an die Tiefe der Bässe
verleitet, an denen die Verbreitung der wertvollen Motette
scheitern muß.
Die letzten, weiter bekannten protestantischen Kom-
ponisten, die im geistlichen Konzert mit Motetten großen
Stils dauernd Fuß gefaßt haben, sindR. Volk mann und B. Volkmaan,
Job. Brahms. Von ersterem ist es das Weihnachts- J. Brahms.
lied »Er ist gewaltig und starke, eine Komposition
für Chor und Solostimmen, welcher eine Dichtung aus
dem 4 2. Jahrhundert zu Grunde liegt. Auch Volkmänns
Musik geht alten Spuren nach. Sie lenkt in den naiven,
wilde I^aft und Zartheit vereinenden, auf kleine reizende
Malereien bedachten Ton ein, welcher dem deutschen
geistlichen Volkslied im Mittelalter eigen war, und die
episodenreiche, die Baulinie mit allerlei Nischen und
Erkern durchbrechende Architektonik dieser Komposition
beruht höchstwahrscheinlich auf dem Studium des Orlando
di Lasso. Unsere Zeit hat aber auf allen Gebieten der
Kunst eine Vorliebe für diesen archaistischen Zug, wenn
er geglückt ist. Beim ruhigen, stillen Studium dieser
Motette, wo man bei Einzelheiten kritisch verweilen darf,
kann man sich einer Reihe Bedenken nicht erwehren.
' Die Komposition wurzelt vielfach im Instrumentalen —
daher auch ihre große Schwierigkeit — und die Entwick-
lung ist bunt und sprunghaft. Wenn der Gesamteindruck
--♦ 5t0 ♦—
einer lebendigen AoffQhrang trotzdem ein positiver und
starker ist, so verdankt sie das der großen geistigen Kraft,
welche das Ganze zusammenhält, und dem lebendigen
eigenartigen Ansdmck, welcher die Mehrzahl ihrer kleinen
Bilder erfüllt. In den anheimelnden, wie in den fremd-
artigen lebt etwas vom Elindergeist und der raschen
Fantasie der frühen Jugend, die schaorige Eindrücke
ebenso schnell wieder abschüttelt, als sie dieselben auf-
nimmt Der bedeuten^ßte , durch einheitliche und er-
habene Stimmung hervorragende Satz der Komposition
ist der dritte: »Ich habe lange, lange«, welcher Soli und
Chor dramatisch zusammenwirken läßt Das Ende des
außerordentlich malerischen zweiten Satzes: >Ein hohes
Haus« bereitet ihn vor.
Brahms hat auf dem Felde der Motette anhaltend und
mit bestimmten Absichten gearbeitet. Er begegnet sich
mit Mendelssohn im künstlerischen Ziele in soweit, als
auch ihm in der Rückkehr zu den älteren Mustern für
Geist und Stil der Gattung das Heil liegt Aber während
Mendelssohn seine Vorbilder in den verwandten milderen
Naturen der alten römischen und venetianiscfaen Schule
suchte, wendet sich Brahms mehr an die Meister der
&afl und Entschiedenheit, welche in der altdeutschen
und niederländischen Schule die Form zu zwingen such-
ten. Den meisten seiner Motetten ist ein gewisser Holz-
schnittcharakter, ein rauher und herber Zug eigen.
Aus den älteren Motettenwerken, welche wir von
J. Brahma, J. Brahms besitzen, hat sich das Konzert nur die Kom-
r.aB dich nur Position des Flemmingschen Liedes: »Laß dich nur
nichts. nichts nicht dauren« (für vierstimmigen Chor und
Orgel) angeeignet. Es ist wie die anderen geistlichen
Kompositionen, welche der früheren Periode dieses Ton-
setzers angehören, ein Studienwerk im strengen Stile: die
Stimmen führen einen Doppelkanon durch. Es enthält
aber dabei ebenfalls eine Fülle warmer Empfindung, einen
J. Brahmi, eigen verschleierten Ausdruck bittender Zuversicht Häu-
Zwei Motetten figer gelangen die beiden Motetten des op. 74 zur Aus-
(op. 74). führung: »Warum ist das Licht gegeben den Müh-
— ♦ 621 ♦—
seligen?« und >0 Heiland^ reiß die Himmel anf!«
Die letztere ist eine Ghoralmotette von ähnlicher Anlage
wie die im Opus 29 gegebene Komposition von >Es ist
das Heü uns kommen her«, die Choralmelodie wird in
vier Versen variiert Sie erscheint nacheinander im
Sopran, im Tenor und im B^ß, als cantus firmus in
der ursprünglichen Form ; die kontrapunktierenden Stim-
men umsingen sie mit Motiven, welche zum Teil aus ihr
selbst abgeleitet sind. Erst dat» Finale stellt die Grund-
melodie in einer leicht erkennbaren Umbildung auf. Die
Stimmung des Werkes setzt mit harter Klage ein und
mildert sich von Abschnitt zu Abschnitt mehr zu einem
trösthchen und hoffnungsvollen Ton. Im Finale, beim
Eintritt des »Amen«, entspringt aus ihm ganz plötzlich
ein kräftig energischer Ausbruch der Glaubensfreude. —
Die andere Motette des Heftes »Warum«, eine im allge-
meinen zugänglichere und moderner gehaltene Komposi-
tion, hat in dem Eingangssatze ihre geistige Spitze. Die
geniale Art, in welcher dieses schwermütige fragende
»Warum« deklamiert ist und immer wiederkehrt, ergreift
mächtig. Zuletzt ist der Motettenschatz von Brahms
um ein weiteres wertvolles Heft bereichert worden: die
drei »Fest- und Gedenksprüche« des op. 409. Inder
verschleierten Sprache der Offenbarung Johannis preisen
und mahnen diese Motetten unser deutsches Volk; ihre
Töne sind ein dreifaches Ruhmeszeugnis für die patrio-
tische Empfindung des Komponisten, für die Kraft seiner
musikalischen Seele und für die Meisterschaft, mit der er
die schwierigsten Formen des gebundenen Stiles beherrscht
Neben Volkmann und Brahms können von bekannten
Komponisten noch A. Becker, H. von Herzogenberg,
es können M. Blumner, R. Succo und andere Schüler
Grells, es können J. G. Herzog, R. Palme, G. Rebling,
F. W. Rust, R. Pappe ritz als Vertreter der neuen
Motette genannt werden, G. Schreck (Motetten für Fest-
zeiten) und sonstige Dirigenten von Kirchenchören fahren
fort, das Feld zu bebauen. Aber Museumsbedeutung, d. i.
ständige Verwendung im geistlichen Konzert, haben nur
-^ 5JJ ♦—
wenige nette Motetten erreicht nnd die Zahl namhafter
Tonsetzer, die 'dem kirchlichen Bedarf entspricht, wird
immer geringer. Hier hat sich seit der Mitte des i 9. Jahr-
^ hunderts eine bedenkliche Wendung vollzogen. Noch
Donizetti schreibt ein >Miserere€, nnd von Berlioz
werden in den französischen Kirchen noch jetzt kleine
Kirchenstücke gesungen, wir finden nicht bloß einen
Spohr, wir finden auch einen Suppä (Requiem) und
einen Kücken (Motetten) unter den geistlichen Kompo-
nisten. Und heute? Bis auf wenige Ausnahmen stehen
die Spitzen der jüngeren deutschen Tonsetzergeneration
von der Kirche abseits. Die alte Musik kann diese Lücke
nur zum Teil füllen; es steht schlimm, wenn eine ganze
Epoche die religiöse Kunst ignoriert Da die Konzert-
chöre deren weiterem AbÜEÜl durch Beachtung des Cruten
wenigstens einigermaßen steuern können, seien hier die
Namen solcher neuester Motettenkomponisten vorgefahrt,
die eine solche gleich den bereits, genannten mit einzelnen
oder mehreren Werken verdienen. Der Schwerpunkt dieser
neuesten Motettenarbeit fallt auf das geistliche ChorUed,
doch kommen auch noch Motetten im großen Stil vor
Es sind W. Berger, G.Flügel, P. Gerhardt, G.Hecht"
C. Heubner, H. Hohmann, C. Junne, F. Kauffmann'
0. Kisler, V. Schurig, F. Thieriot, 0. Thomas'
W. Voullaire.
Wie schon die Eigentümlichkeit der Motetten von
Peter Cornelius zum Teil mit auf den formellen Einfluß
seines Berliner Lehrers S. Dehn beruht, so macht sich
auch in der hier eben genannten Reihe eine Berliner
Schule und insbesondere das Vorbild Friedrich Kiels
in einer lebendigen und kräftigen Stimmführung geltend.
Besonders deutUch kommt sie in den Arbeiten W. Bergers
zum Vorschein, reicht aber über diesen Tonsetzer hinaus
und bis in die alleijüngste evangeUsche Motettenarbeit
hinein. Wichtig ist es, daß in dieser Berliner Motette der
letzten Jahre eine ausgesprochen schwermütige Gedanken-
richtung die Oberhand genommen hat. Unverkennbar
steht diese Wendung mit den »Vier ernsten Gesängen«
—4 523 ♦—
von Johannes Brahms in Zusammenhang, die ja weit-
hin in der deutschen Musik ihre Spuren hinterlassen
hahen, besonders starken aber in dieser Berliner Mo-
tette. Denn ihre Musik baut sich vorwiegend auf die
Trübsal des Buches Hiob und auf die Klagelieder Jeremiae
auf. An der Spitze der Gruppe stehen die drei Mo-
tetten für gemischten Chor und Orgel (op. 60) von
Georg Schumann, Kompositionen, die Hiobs ganz vonG. SohamafliL
Gram, Hohn und Verzweiflung erfüllte Weltauffossung
mit einer fast beispiellosen Strenge und Unerbittlichkeit
wiedergeben. Verhältnismäßig reich an weichen Zügen
ist das dritte Stück: »0, daß ich wäre wie in den
Tagen usw.«. Hier gründet der Text seine Klage auf
die Erinnerung an hellere Tage der Jugend, der Musiker
geht noch einen Schritt weiter und führt uns einen durch
seine Liebenswürdigkeit rührenden Hiob vor. Die Musik
gewinnt zum Teil durch kleine Züge, wie intime Intervalle,
schwärmerisch festgehaltene, kleine Motive, zarte, eigen
gestaltet^ Wechselakkorde. Noch mehr beruht aber ihre
ergreifende Wirkung auf der Eingänglichkeit und Freund-
lichkeit der Melodik und schließlich auf dem höchst ein-
fachen Aufbau der Form, die ganz an das zweiteilige lied
mit Wiederholungen anschließt. Die beigegebene Orgel-
begleitung unterstützt und belebt den Klang, weseniUch
ist sie nur bei der ersten Motette: »Wo ist ein Mensch,
wenn er tot?«, bei der nach der innerlich sehr erregten
Einleitung ablenkend ein Stück Tonmalerei, eine auf Orgel-
figuren gestützte Wassermusik, eintritt. In der Erfindung
geht diese erste Motette in der ersten Hälfte auf Einzel-
heiten und auf rhetorische Wirkungen aus. Dir wertvollster
Teil ist das schließende Adagio über die Worte »So ist
ein Mensch, wenn er schläft usw.«. Es stellt sich durch
den warmen melodischen Ausdruck, der alle Stimmen
• beherrscht, zu dem vorausgegangenen starren Ton in einen
schönen Gegensatz. Die äußerlich erregteste unter den
drei Motetten ist die zweite: »Muß nicht der Mensch
immer im Streit sein?«, der Hauptträger ihres leiden-
schaftlichen Tones eine sehr geschickt ausgenutzte Zwei-
chörigkeit Den Eindruck des Stückes entscheiden die
beiden Klagen: >Also hab^ ich mich gesehntc und >Also
wer in die Hölle hinunterfahrt«. Bei ihnen treten die
acht Stimmen zum einfach homophonen Satz zusammen.
Unter den weiteren von demselben Komponisten ver-
I öffentlichten geistlichen Sätzen für a capeUa-Ghor ver-
dienen die drei, über Psalmentexte geschriebene Motetten
des op. 42 besonders hervorgehoben zu werden. Sie zeigen,
welch starker Teil der besonderen Modulationskunst eines
Peter Comehus sich auf G. Schumann vererbt hat. Nach
Klang und Satzkunst fesselt am meisten die erste (acht-
stimmige) Nummer: >Komm' heiliger Geist«, die beiden
andern prägen sich durch die liebenswürdige Beweglich-
keit des Ausdrucks ein, am stärksten der Schluß der
dritten (>Herr, erhöre meine Worte«) bei der Stelle: »Ich
bin so müde vom Seufzen«.
Gleich meisterlich wie die Schumannschen sind, die
F. E. Eooli. a capella-Arbeiten Friedrich £. Kochs. Obenan stehen
unter ihnen die zehn deutschen Motetten des op. 34,
die, obwohl ihre Texte den Jeremias bevorzugen, doch
einen größeren Reichtum an Stimmungen bergen und im
ganzen mehr auf den hellen Saiten des Lobens und Dankens,
als denen der Klage und Trauer spielen. Ähnlich wie in
den Oratorien Kochs tritt auch in diesen Motetten, nament-
lich in ihrer motivischen Erfindung, ein starker Einschlag
jener Volkstümlichkeit hervor, zu dem sich die deutsche
Musik seit den Zeiten der Romantiker mehr und mehr
wiederbekennt. Auch der Aufbau dieser Motetten zeigt
in seiner Neigung zu Wechsel und Gegensatz , diesen
volkstümlichen Zug, am deutlichsten spricht er aber aus
der Melodik und ihrem Wohlgefallen an bestimmten Lieb-
lings Wendungen. Mit einer der herzigsten beginnt die
sechste Motette: »Und du, Bethlehem Ephrata«. Dieser
schlichten Anmut tut es keinen Abbruch, daß Koch auf
der andern Seite einer der entschiedensten Vertreter der
Verstandesmäßigkeit und der geistvollen Berechnung ist,
die zu den Kennzeichen der Berliner Schule gehört
Hierdurch erhalten die Kochschen Motetten ihr eigenes
Gesicht und ihren Charakter, und in der Regel gelangt
er mit sehr einüachen Mitteln, einer ungewöhnlichen, aber
berechtigten Wortbetonung, einem unerwarteten, scharfen
Rhythmus, ans Ziel. Die Stimmführung und der Chorsatz
sind verhältnismäßig reich an kleinen Fugatos und andern
älteren Nachahmungsformen, das eigene Gepräge liegt in
der großen Freiheit der Polyphonie, die um neue Wege,
die Gedanken durch schwärmerisches Versenken oder durch
schwungvolle Steigerungen zu beleben, nie verlegen ist
Eine Hauptstütze der Berliner Schule verspricht
Richard Roß 1er zu werden, der bisher nur mit vier B. Rößler.
geistlichen Chören (op. 26) hervorgetreten ist.
Diese Sätze, deren Texte aus den IQageliedern Jeremias
stammen, machen im ganzen noch einen etwas bunten und
im Stil schwankenden Eindruck, enthalten aber in aus-
drucksvollen Mittelstimmen, in der Unbefangenheit, mit
der sich alte und neue Schule, harmlose, fast primitive
und ganz eigene kühne Kunst die Hand reichen, Proben
eines starken und ungewöhnhchen Talents. Sie sind, wie
sie sind, der Beachtung wert und wohl auch des Erfolges
sicher. Denn sie führen uns zwar an verwunderliche,
aber nirgends an tote Stellen.
Zu den hervorragenden Vertretern der Berliner Schule
darf auch Martin Grabert gerechnet werden. Die Mo- M. Qrabert
tetten seines op. 3i und op. 34 zeigen dieselben Vorzüge,
die schon den a capella-Psalmen des Komponisten nach-
gerühmt werden konnten: schlichte, immer richtige Emp-
findung, geschickter, natürUcher Satz. Der Praxis,
namentlich den kleineren Chören, sind diese Arbeiten
willkommen, auf ihren Kunstwert drückt die allzu große
Zurückhaltung im Ausdruck, der Mangel an Modernität
und eigener Art.
Neben diesen jüngeren Kräften haben auch ältere
Berliner Meister zur Motette wertvolle Beiträge geliefert.
Unter ihnen zeichnen sich die von Fr. Gernsheim durch
Stellen malerischer Kraft aus. Außerhalb des Berliner
Kreises sind von evangelischen Musikern als eifrige, dem
Wert nach verschiedene Motettenkomponistea Arnold
Mendelssohn, Carl Hirsch, Uso Seifert hervorzu-
heben. Der fleißigste von allen, der Breslauer Musikdirektor
MaxGulbinSjhat ersichtlich Mühe gehabt, für kirchliche
Aufgaben, namentlich für den Ausdruck von Freude und
Kraft, den richtigen Ton zu finden.
Von neuesten Motetten für Männerstimmen halten
F. Limbert. sich die ziemlich bekannten des op. 23 von Frank Lim-
bert etwas zu bescheiden an den liedertafelton einer
, überwundenen Periode. Weit höheren Wert haben die
' M. Stange, hier einschlagenden Arbeiten von Max Stange, und mit
besonderer Auszeichnung müssen die Nummern i und %
F.y. Welngartner. des op. 44 von Felix vonWeingartner, Kompositionen
des >Neujahrshedes€ und des »Gebetsc von Ed. Mörike,
hervorgehoben werden. Namentüch der (fünfstimmige)
Neujahrschor kann sich an Noblesse, Feinheit und Reich-
tum mit den besten Leistungen von Feter Corndius
messen.
Im katholischen Gebiet, wo die a capella- Motette
vorwiegend als Einlagenmusik verwendet und deshalb von
größeren Formen abgedrängt wird, haben auch hier die
Gäcilianer mit ihren edel gemeinten, aber etwas nivellieren-
den Grundsätzen die Herrschaft. Jedoch, hat es ihnen
gegenüber nie an einer die stilistische Freiheit wahrenden
Minderheit und in dieser nicht an überragenden Original-
geistern gefehlt. Aus dieser erlesenen Gruppe ragt neben
Franz Liszt (Pater noster, Ave maris Stella, 0 salutaris
A. Biackner. hostia) am höchsten Anton Brückner hervor. Seine
Hauptleistung auf diesem Gebiete bilden die (ohne Opus-
zahl veröffentlichten) Vier Graduale (Christus factus
est. Locus iste, Os justi und Virga Jesse). Das reichste
und gewaltigste ist das erste Stück, aber auch die andern
legen für die Stärke und Selbständigkeit von Brückners
Schöpferkraft ein gewaltiges Zeugnis ab. Die knappen
Formen und der geistige Anhalt an den Texten waren
seiner Inspiration und der Entfaltung seines Könnens be-
sonders günstig. Was insbesondere die geistliche Kom-
position betrifft, so stehen diese Gradualen über seinen
weit bekannteren und berühmten Messen« sie sind
-^ bf) ^^-
zeitloser, nnd Brückner ist in ihnen niemands Vasall.
Der einzige Einfluß, der deutlicher hervortritt, ist der der
alten österreichischen Kirchenmusik besten Schlags, wie
wir sie in ihrer Mischung von italienischer Feierlichkeit
und weicher traulicher Volkstümlichkeit, in ihrer unergründ-
lich tief ernsten und doch zugleich beglückenden Wirkung
aus den besten Werken W. A. Mozarts, Haydns und ihrer i
Landsleute kennen. Bezwingend hoheitlich klingt uns
aus ihnen ein spezifisch katholischer Ton entgegen. Diese
letztere Eigenschaft teilen mit ihnen in einem starken
Grade die Offertorien (op. 24) Carl Thiels und seine C. Tkiel.
zwölf lateinischen Kirchengesänge (op. 49). Die
ersteren neigen zum strengen, durch Einfügung altlitur- .
gischer Elemente belebten und individualisierten Satz,
die Kirchengesänge sind Musterleistungen in der einfach-
sten und leichtesten Art des Motettenlieds. Das ist echte,
erzieherische Volkstümlichkeit.
Als eines bekannter gewordenen Motettenbeitrags von
katholischer Seite muß auch noch des umfangreichen
achtstimmigen Satzes gedacht werden, den SiegmundS.T. Haaiegget
vonHausegger über das sogenannte >Requiem c Fr. Heb-
bels (Seele, vergiß sie nicht usw.) geschrieben hat Die
Musik beginnt seraphisch schön, die Worte der Dichtung
in mystische Zartheit hebend. Bei dem Versuch aber,
dem Dichter folgend, die Qualen der von ihren Lieben,
vergessenen Toten anzudeuten, hat der Komponist das
Augenmaß verloren und sich zu einer »Dies irae<-Malerei
von so abstoßender Breite und Härte verleiten lassen, daß
darüber die Einheitlichkeit und der Gesamteindruck der
Arbeit trotz ihrer schönen Züge in die Brüche geht.
Der Kantate als musikalischer Satzform sind wir
wiederholt als dem vokalen Gegenstück zur Suite, als einer
Folge von textlich zusammenhängenden und ein Ganzes
bildenden Gesangstücken begegnet. Sie kommt bereits im
Minne- und Meistergesang vor, ihre erste Ausgestaltung
mit den Mitteln der neuen begleiteten Vokalmusik ver-
— ♦ 528 <^—
dankt sie den Italienern) die in ihr zunächst das von
der Bahne her Wunder wirkende Phänomen des beglei-
teten Sologesanges für Haus und Kirche fruchtbar «n
machen suchten. Der P erischen >Euridice€, die im Jahre
4 600 den Sieg der Oper entschied, folgten schon im näch-
sten Jahre die als >Nuove Musiche« stolz den Kampf
gegen das alte Ghormadrigal ankündigenden Mono-
L« ViftdanA. dien G. Caccinis. 4602 legt die neue Kunst mit L. Via-
danas >Concerti ecclesiasticic ihre herrschsüchtige Hand
auch auf die musikalische Liturgie, hier mit der Absicht,
sich des ganzem neben dem Ordinarium der Messe liegenden
Textgebietes zu bemächtigen. Die italienische Motetten-
produktion hat unter diesem Ansturm sichtlich gelitten,
der kirchliche und geistliche Sologesang selbst aber erst
allmählich eine größere Bedeutung erlangt. Alles, was
, er im ersten Jahrzehnt seiner Existenz zu Tage fördert,
fällt ins Gebiet der Kleinkunst. Beispiele dafür bieten
0. Btrtat«. die Arie devote des Ottavio Durante ebensowohl wie
die Poemata etc. unseres in Rom wirkenden Landsman-
B.Ki^btfg6r. nes Hier. Kapsberg er. Soweit sich seine Geschichte**)
augenblicklich übersehen läßt, erweist er sich anfangs
dadurch am nützlichsten, daß er in der, geistlichen Musik
das Monopol des Bibelwortes bricht und der freien reli-
giösen Dichtung von frischem zu ihrem Rechte verhilft.
Erst als sich die dramatischen Komponisten ihm zuwen-
den, wächst er über die Form und den Charakter des
Liedes hinaus, baut mehrteilig auf und spricht in gewal-
tigeren Tönen. Unter ihnen erscheint als der bedeutend -
Cl. If ont«T«rdi. std Claudio Monte verdi mit seinen in Venedig geschrie-
benen »Selve spiritualic. In ihnen hat er u. a. auch sein
weltberühmtes lamento d'Arianna, das bis auf den neuer-
lichen Fund Emil Vogels im Original nur mit dem Ein-
gangsvers bekannt war, vollständig als »Pianto della
Madonna« verwendet und parodiert. Ein Neudruck dieser
leidenschaftlich schwermütigen Komposition würde sich,
mit einer gut und kühn ausgeführten Kontinuostimme im
*) Vgl E. SchmltK. Oeschlchte der Kantate, 1913.
i
--♦ 5t9 ♦—
modernen geistlichen Konzert sicherlich bald einbürgern
und namentlich Altistinnen, die sich auf Innerlichkeit und
freien Vortrag vei;stehen, zu großem Dank verpflichten^
In Rom sind die Hauptvertreter dieses formenreicheren
und inhaltsvolleren geistlichen Sologesanges Dom. Maz-B. Hanocohi.
zocchi und Giac. Carissimi. Namentlich durch CarissimiG'. Carlssimi.
Wurde die Monodie zur Kantate ^ und dauernd in den Kreis
höherer Kunst erhoben. Alle Merkmale, die sie noch heute
von anderen Tokalformen unterscheiden: die Zusammen-
setzung aus verschieden gestimmten und geformten Sätzen,
von denen gelegentlich ein geeigneter zur äußeren Ab-
rundung und Verknüpfung des Ganzen wiederholt wird, der
Wechsel von mensuriertem Gesang, frei deklamierendem
Rezitativ und selbständiger Instrumentalmusik — alle diese
Kennzeichen der Kantate gehen auf Carissimi zurück. Es
gelang ihm zu ihrer künstlerischen Sicherung und Hebung
noch ein weiterer, unter den italienischen Verhältnissen
besonder^ schwieriger Schritt, daß nämlich in der Kantate,
wo angebracht, auch mehrstimmig musiziert, neue und
alte Kunst nach langem, verderbHchem Streit verbunden
und ausgesöhnt wurden. In dieser Caiissimischen Fassung
drang die Kantate in die Kirchenmusik aller Länder, in
die französische durch M. Lalande, in die englische
#durch H. Pu reell, sie kam auch bald in die deutsche.
Deutschland blieb dabei von der Frage: ob Chor, ob
Solo ebenfalls nicht unberührt, geriet aber darüber nicht
im entferntesten in die Aufregung, von der die italienischen
Musiker ergriffen wurden. Ain deutlichsten zeigt der
deutsche Musikalienmarkt in den ersten Jahrzehnten des
4 7. Jahrhunderts, wie friedlich sich die verschiedenen
Richtungen nebeneinander vertrugen. Da werden 4 608
die bekannten Konzerte Viadanas, mit ihnen italienische
Sologesänge und Duette von Cesena, Cesare und andern,
ziemlich gleichzeitig aber (zum Gebrauch der Wittenberger
Schule) lateinische Gesänge im alten Gregorianischen Stil,
also in anbegleiteter Einstimmigkeit angezeigt*). Deutsche
*) A. Göhler, Verzeichnis usw.
n, 4. 34
■-^ 530 «—
Komponisten, Mich. Prätorius, H. Schein, S. Scheidt legen
anter verschiedenen Titeln Sammlungen vor, in denen
der neuen Kunst mit ein- und zweistimmigen Liedern und
kleinen Kantaten, der alten mit achtstimmigen Motet-
ten gedient wird. Höchst gelassen bemerkt Hammer-
schmidt in der Vorrede zum vierten Teil seiner Musi-
kalischen Andachten: etliche hörten lieber Motetten,
etliche lieber Konzerte, beide Parteien sucht er zu be-
friedigen. Der Toleranz halber gibt H. Albert seine ein-
stimmigen Arien auch der mehrstimmigen Aufführung
preis. R. Ahle auf der andern Seite erlaubt, daß von
seinen vierstimmigen Sätzen nur eine Stimme, gleichviel
welche, gesungen und die Harmonie irgendwie instrumen-
täliter ergänzt wird. Auch in Gesangbüchern, denen
Melodien mit Baß beigegeben sind, wird die Frage nach
einstimmiger oder mehrstimmiger Ausführung von Job.
Grnger bis auf Schemelli offen gelassen. Im ganzen
standen jedoch die deutschen Komponisten, soweit sie
Musiker von Beruf waren, mit dem Herzen auf der Seite
der alten Polyphonie. Anders als die italienische ging die
deutsche Motettenkomposition während des 47. Jahrhun-
derts quantitativ durchaus nicht zurück, zweitens kennen
wir eine große Anzahl geringschätziger Urteile , die in
diesen Kreisen über den neuen Sologesang gefallt wur-
den, drittens bilde» die Komponisten, die von J. Schop
und .Sam. Beyer bis in Telemanns Zeit mit Jahr-
gängen kleiner Konzerte und musikalischer Andachten
für nur eine Stimme in Druck kamen, die Minderheit
gegen die Herausgeber stimmreicherer Konzerte. Erst von
der Mitte des 17. Jahrhunderts ab kommt der deutsche
Sologesang von der Schattenseite weg unter die Sonne.
H. Albert hat noch seine meisten Sololieder für Chor um-
gearbeitet; nach seiner Zeit begann man Eccardsche und
andere Chöre für Solo mit Begleitung zu arrangieren.
Daß schon früher die zünftige Abneigung gegen den
neuen Sologesang im Gottesdienst bekämpft und auch in
die deutsche Kirchenmusik die Kantate eingeführt wurde,
verdanken wir Männern, die die italienische Erfindung
534 ^>—
an der Quelle, öder doch im echten, reicheren Import
kennen gelernt hatten. Durch sie wurde im Gottesdienst
und in der Hausandacht der beweglichere, phantasie-
vollere Geist der Renaissancezeit mit Entschiedenheit,
aber meistens in einer Form, die Haus und Altar zu-
sammenfügte, zur Geltung gebracht. Die meisten Kompo-
sitionen dieser Art erschienen unter dem an Viadana
anknüpfenden Titel »geistliche Konzerte«; erst im
4 8. Jahrhundert wird er allgemein durch die von Österreich
und Süddeutschland vordringende Bezeichnung Kantate
ersetzt. Aber noch Bach betitelt die Mehrzahl seiner
Kantatenautographe als Konzert.
Wenn auch nicht die heutige Kenntnis des Material-
bestandes, so erlaubt doch die Wahrscheinlichkeit die
Annahme, daß die frühesten deutschen Kirchenkantaten
auf katholischem Gebiet entstanden sind. In neuen Par-
titurausgaben liegen solche allerdings erst aus der zweiten
Hälfte des 1 7. Jahrhunderts vor. Es sind die traulich an-
'mutenden Arbeiten Kaiser Leopolds! (im ersten Band Leopold I.
der österreichischen Kaiserwerke) und die Geistlichen
Konzerte von J. K. Kerll (Denkmäler der Tonkunst in j, K. Keill!
Bayern H, 2). Bilden diese Kompositionen Kerlls auch
nur eine neun Nummern starke Auswahl, so zeigen sie
doch zur Genüge, daß die Kirchenkantate innerhalb eines
reichlichen Menschenalters eine bedeutende und eigene
geistige Höhe erreicht hatte. Die Jugend der Gattung,
den Einfluß, den die venetianische Oper auf sie übte,
verraten sie durch die Lust an reichlichen Wortmalereien,
die ja der ganzen deutschen Kirchenmusik bis in die
Rezitative der Bachschen Passionen und Kantaten hinein
verblieben ist. Ihr Wert beruht aber darauf, daß sich
hier der Verkehr mit Gott eine musikalisch neue, mensch-
lich freiere und unmittelbarere Bahn gebrochen hat. Es
steht hinter dieser Musik eine selbstbewußte, kraftvolle
Generation, die nicht bei jeder kleinen Bitte und Not auf
die Knie fällt, die in der Welt mehr Großes und Wun-
derbares, als Übles sieht; vielleicht aber verdankte sie
ihren erhebenden und schwungvollen Charakter noch mehr ,
34*
— ^ 53t ♦—
der persönlichen Bedeutung Kerlls. Jedenfalls g^ören
seine geistlichen Konzerte zu den hervorragendsten des
1 7. Jahrhunderts, namentlich auch deshalb, weil Kerll der
neuen Formen und Ausdrucksmittel vollständig, selbst
mehr als Schütz, Herr ist. Selten sind bei einem Kom-
ponisten der Zeit die Koloraturen so wie bei ihm natür-
lichster Erguß der inneren Empfindungsfülle und Begeiste-
rung und dienen so dazu, den neuen Ton für die Freude
an Gott zu verstärken. Kerll ragt durch eine Tiefe der
Textauffassung hervor, die sich formell in dissonanzen-
reicher, kühner Harmonie äußert; der Mystik des Kultus
wird er durch ungewöhnlich häufige Verwendung von
Echos gerecht. Die vorzüglichsten seiner neugedruckten
geistlichen Konzerte sind die Nummern 4, 5, 6, 9. Die
Nummer 4 ist ein Baßduett über den Text »Refugit 3ol«.
Kerll scheint eine Vorliebe für Ensembles von Baßstimmen
gehabt zu haben ; sein Oratorium : Pia et fortis mulier enthält
bekanntlich ein Quartett für Bässe. In dem vorliegenden
Falle haben wir es mit einem Stück zu tun, das dem be-
rühmten Duett aus Händeis Israel >Der Herr ist der starke
Held« unbedenklich in der Wirkung zur Seite gestellt wer-
den kann. Es ist auch darin Händeischen Geistes, daß die
Naturschilderung — Sonnenaufgang — sich mit der Ab-
bildung eines bedeutenden seelischen Prozesses — Erhebung
des Herzens — ablöst und eint. Die fünfte Nummer, ein
Terzett von zwei Sopranen und Tenor (Exultate cotda devota)
wirkt durch den Wechsel zwischen Rezitativ und Gesang,
zwischen einstimmigen und dreistimmigen Sätzen, und
zeigt in der Wiederholung des Hauptsatzes: Exultate, jubi-
late auf Garissimis Einfluß. Die sechste Nummer, ein
Terzett von Sopran, Alt, Baß (Dignare me laudare te)
prägt sich durch die letzten fünf Takte bleibend ein. Bis
dahin haben die drei Sängerstimmen wetteifernd die Herr-
lichkeit Gottes gepriesen. Da, als wäre ihr Blick aufs
Kruzifix gefallen, schweigen sie auf einmal und führen
dann die Hymne im demütigen und innigen Ton zu Ende.
Eine ähnliche durch den Kontrast der Ruhe geg(Bn den
Yoraosgegangenen Jubel wirkende Stelle hat die neunte
}
-— ♦ 533 <>—
Nummer, efn fänfstimmiges »Regina coeli laetare« in der
Mitte beim Eintritt der Worte: Ora pro nobis.
Viel wichtiger als für die katholische wurde die neue
Kirchenkantate oder das geistliche Konzert im weiteren
Laufe der Zeit für die protestantische Liturgie. Sie ist
hier, als man sich von der Figuralmesse mehr und mehr
abwendete, allmählich zum musikalischen Hauptstück des .
Gottesdienstes aufgerückt und hat als solches ihren Platz
nach der zweiten Lesung oder mit de^ ersten Hälfte vor,
mit der zweiten nach der Predigt erhalten und, wo über-
haupt noch Mittel und Sinn für höhere Tonkunst im Gottes-
hause da sind, bis heute behauptet. Allerdings denkt
man sich die Kantate meist als eine Komposition, die
außer guten Solisten einen großen Chor und ein großes
Orchester verlangt, und damit ist sie zurzeit für
mittlere und kleinere Orte gar nicht oder nur selten
erreichbar. Da sind nun gerade die neugedruckten geist-
lichen Konzerte und Kantaten der protestantischen Ton-
setzer des 47. Jahrhunderts sehr geeignet eines Besseren
zu belehren. Ein großer Teil von ihnen beansprucht
weiter nichts als einen, zwei, drei oder vier leidliche
Sänger und eine Orgel. Für diese einfachen Mittel ver-
standen Heinrich Schütz und seine Zeitgenossen so viel
erbauliche und erhebende Musik zu schreiben, daß auch
die kleinen Gemeinden keinen Sonntag ihre dem Charak-
ter von Perikopen und Predigt angepaßte Kantate zu
entbehren brauchten. Es gilt heute för die Forschung
und für das geistliche Konzert diesen protestantischen
Kantatenschatz, den stattlichsten Teil der Musik des
18. Jahrhunderts, wieder bekannt zu machen. Dann
werden auch die Kirchenbehörden und ihre musikali-
schen Diener bald erkennen, wie sehr er der jetzt
ziemlich allgemein als notwendig erkannten Hebung der
musikalischen Liturgie zustatten kommen kann. Der Vor-
tritt gebührt hierbei Heinrich Schütz. Er war es, der wie H. Sohtiti.
Oper und Lied auch das neue geistliche Konzert unter
allen Deutschen seiner Zeit am meisten gefördert hat, einmal
durch seine eigenen Arbeiten, zum anderen durch den
— ^ 534 <^-
' Einfluß, den er auf Schüler und Kollegen ausüb*te. In dem
die Psalmen behandelnden Kapitel ist dieser Schützschen
Kantatenarbeit bereits gedacht worden; mit HinzufQgung
derweiteren biblischen^ der dem Gesangbuch entnommenen
oder frei gedichteten Texte übersteigt die Zahl seiner heute
in schönen Partiturdrucken vorhandenen geistlichen Kon-
zerte und Kantaten die Hundertzahl. Sie bestehen aus
kurzen und langen, aus sehr einfach besetzten Stücken
und aus anderen, die einen großen musikalischen Apparat
voraussetzen.'' Er hat sie unter den verschiedensten Titeln
und zu verschiedenen Zeiten veröffentlicht und kompo-
niert, die stärkste Sammlung, die zwei Teile der soge-
nannten »kleinen geistlichen Konzerte« erschienen 4686,
andere datieren schon aus dem Jahre 4 64 9. Die kleineren
Kantaten verwenden sehr viel Rezitative und klingen an
die frühe italienische Monodie und ganz speziell an
Monteverdi an, eine andere Klasse zeigt die Gabrielische
Schule mit der Teilung von Chören und Orchestern. Eine
dritte aber ist, von H. Schein und Genossen vorbereitet,
ausgeprägt protestantischen Charakters. Das sind die Kon-
zerte oder Kantaten, denen er evangelische Choräle
zugrunde gelegt hat, in der eben erwähnten Sammlung,
folgende nur mit Continuo zu begleitende Nummern: l . 0 hilf
Christe, Gottes Sohn (Nr. 44, für 2 Soprane); 3. Nun komm*
der Heiden Heiland (Nr. 20, Terzett für 2 Soprane und
Baß); 3. Wir glauben AIP an einen Gott (Nr. 23, Terzett
für 2 Soprane und Tenor); 4. Ich hab' mein Sach* Gott
heimgestellt (Nr. 24, ein keineswegs »kleines«, sondern
sehr langes Konzert für 2 Soprane, Tenor und Alt); 5. Ich
ruf zu Dir Herr Jesu Christ (Nr. 25, im zweiten Teil der
»kleinen geistlichen Konzerte«, Quartett für 3 Soprane
und Baß); 6. Allein Gott in der Höh* sei Ehr (ebenda,
Nr. 22, Quartett für 2 Soprane und 2 Tenöre). Unter den
verwandten, aber schwierigeren Stücken, die sich in
andern gedruckten Sammlungen Schützens finden, fesselt
das »Choralkonzert« »Wo Gott der Herr nicht bei uns
wohnt« schon durch seinen ganz eigentümlichen itlang.
Zwei vierstimmige, antiphonierende Singchöre, der erste
535 *-—
von Streichinstrumenten, der zweite von Posaunen ver-
stärkt^ konzertieren mit einem Solosopran, den allein die
Laute begleitet. Daß ^ eine Komposition wie diese die
elementaren Musikbegrifife der Gegenwart ganz wesentlich
bereichert und deshalb sich außer für ihren ursprünglichen
Zweck ganz besonders auch für das Konzert eignet, liegt
auf der Hand. Ebenfalls für di6 Verwendung im Konzert
mögen aus dem ersten Teil der Sinfoniae Sacrae noch:
Veiiite ad me, 0 Jesu nomen dulce und 0 misericordissime
Jesu als leichte, und doch Schützes Art und Reichtum
klar enthüllende Kompositionen angeführt werden. Der
Form nach gehören zu dieser Schützschen Kantatenarbeit
auch noch die zahlreichen oratorischen Szenen, über die
an anderer Stelle zu berichten ist. »
Schützes nächste Mitarbeiter waren Sachsen, der
früheste wohl der Freiberger Kantor Chr. Demantius,Cftr. Demantiu.
dessen Triades Sioniae (4649) mit zu den für die Geschichte
der Theorie interessanten Werken gehören, die neben dem
Generalbaß (Continuo) auch einen Generaldiskant aufstellen.
Die wichtige Anregung, die Schütz für die Benutzung des '
protestantischen Chorals in der Kantate gegeben hatte,
scheint namentlich bei den Leipziger Thomaskantoren auf
fruchtbaren Boden gefallen zu sein. Die (jüngst von
A. Prüfer herausgegebene) Opella nova H. Scheins
bezeugen das. Auch seine Nachfolger Sam. Knüpf er
und Job. Schelle*) dürfen als Förderer und Freunde des
Chorals in der neuen Gattung erklärt werden. An ihren
Arbeiten kann die Abstammung von der Motette kaum
verkannt werden, aber außer der Instrutnentalmusik, die
präludiert, verstärkt uiid konzertiert, verwenden sie auch
den Sologesang sehr geschickt und frei von der unreifen
Vorliebe für Malereien. So entwickelt sich in Knüpfers:
H. Sohein.
8. Knftpfer,
J. Schellet
*) Von Knüpfer sind in der Kgl. Bibliothek zu Berlin
MMs. 11,780 22, von Schelle in den MMs. 19,781 27 Kantaten
vorhanden. Noch 1748 offeriert der Weimarsche Walther
dreißig Schellesche und andere Kantaten (La Mara, Musiker-
briefe, S. 164). *
-— ♦ 536. ♦—
>Ach Herr straf mich nicht« der erste Chor aus einem
Sopransolo. Da ihre Kantaten immer nur wenige Sätze
h^en, fällt der Raum, der dem Choral darin gewährt wird,
moralisch staik ins Gewicht. Auch das erfreut, daß er
in mannigfacher Form auftritt Knüpfers eben angeführte
Kantate schließt mit einem Pseudochoral (zu den Worten :
>E8 müssen alle meine Feinde zu Schanden werden«) von
der Art, wie sie Mendelssohn in seinem Elias wieder ge-
bracht hat. In einer andern »Ach Herr, laß Dein' Iteb
Engelein« beginnt er mit Fugierung und mit durch
Zwischenspiele unterbrochenen Variationen der Choral-
melodie. Eine dritte: > Herr, wer wird wohnen in Deinem
Haus«, ein Chordialog, schließt 'mit ähnlichen Variationen
über den auf dijB Worte >Wer <Jas tut, der wird bleiben«
gesetzten Choral: »Von Gott will ich nicht lassen«. Ganz
ähnlich verfährt Schelle. Choralvariationen oder Choral-
surrogate bilden in der Regel einen der wenigen Hauptsätze,
aus denen seine Kantaten bestehen. Choralanfang zeigen
z. B. »In Dich hab' ich gehoffet« und »Nun lob' mein'
Seer den Herrn«, Cheralschluß : »Herr Deine Augen sehen«
und »Hemmt Eurer Tränen Flucht!« '*']. Eine Anzahl geist-
licher Konzerte von deutschen Komponisten des 47. Jahr-
hunderts hat 4 646 der bekannte A. Profe in Stimmdrucken
herausgegeben. Handschriftliches Material bieten die Biblio-
theken zu liegnitz und Freiberg.
Auf Grund von Neudrucken können wir uns über die
Geschichte der evangelischen Kirchenkantate bei Andreas
i. Hammer- Hamm er Schmidt orientieren. Er hat mit seinen im
Bohmidt. Jahre 1645 veröffentlichten Dialogen oder »Gesprächen
zwischen Gott und einer gläubigen Seele**) deshalb die
Stellung der neuen Kunst in der Kirche ganz wesentlich
zu fördern vermocht, weil sie als ganz unmittelbare Ab-
senker und Abzüge des allgemein angestaunten und be-
gehrten Musikdramas erschienen. Schon Schütz hat solche
*) Näheres: Arnold Scbering, Über die Kircben-
kuntaten vorbachischer Thomaskantoren (Bacb-Jahrbneb 1912).
**) Denkm&Ier der Tonkunst in Österreich,« VUI.
--♦ 537 ♦—
Dialoge komponiert; seinen schönsten: »Sei gegrüßt Maria!
Welch ein Gruß ist das?«, der mit einer Orchestersymphonie
eingeleitet, mit einem Chor geschlossen wird, besitzen wir
in deutscher und in lateinischer Sprache, von der die
Schulchöre und die protestantische Figuralmusik nicht
gern abgingen. Die Idee des Dialogs an sich läßt sich
bis in die erste Zeit der äntiphonierenden Motette zurück
verfolgen, zu einer frischen und großen Bedeutung gelangt
sie aber erst durch die römische Allegorienoper und das
geistliche Musikdrama des 47. Jahrhunderts und da ist,
es Hammerschmidts Verdienst für den den Zeitregungen
entsprechenden neuen Kunstzweig außerordentlich ent-
schieden, nämlich mit einer ganzen Sammlung von Dia-
logen eingetreten zu sein. Ihnen verdankt Hammerschmidt
in erster Linie seine hervorragende Stellung unter den
Komponisten des 47. Jahrhunderts, die Gattung selbst
behauptete sich von ihm ab bis in die Zeit S. Bachs und
darüber hinaus auf der Tagesordnung.
Von den Dialogen Hammerschmidts entspricht nur ein
Teil dem Beititel: »Gespräche zwischen Gott und einer
gläubigen Seele«,* in einem andern tauschen Sünder und
Fromme Gefühle und Gedanken aus, in einem dritten fehlt
überhaupt der innere Gegensatz der Parteien. Die Worte
der ersten kehren bei der andern einfach in Umschreibungen
und Steigerungen wieder. Nach der musikalischen Form
bestehen di6 22 Nummern des bisher neugedruckten ersten
Teiles der Dialoge aus 40 Duetten, 4 o Terzetten und 2 Quar-
tetten. Sieben Dialoge werden durch Symphonien einge-
leitet, die auf die Gabrielische Schule hinweisen, 8—20 Takte
lang und mit 2 Violinen, Streichba^, Gontinuo und einer
Tenorposaune besetzt sind. Den Gesangteil begleitet der
Gontinuo, den Harmoniebaß verstärkt in der Regel eine
Trombone; in einzelnen Nummern wird sie nur durch ein
nicht näher bezeichnetes »Instrumento« ersetzt oder ver-
mehrt, das mit seinen selbständigen Figuren auf die Viola
da Gamba deutet. In den Singstimmen begegnen wir der-
selben schlichten Melodik, die aus Hammerschmidts Chor-
musik bekannt ist; sie ist mehr die Frucht des Verstan-
— ♦ 538 *—
des und der Deklamationskunst, als des Seelenreichtums
und der inneren Bewegung. Zuweilen nähert sie sich der
Trockenheit, hei Inteijektionen , hei klagenden Texten
üherhaupt oder auch, wenn das Zusammengehen meh-
rerer Stimmen zu Sequenzen veranlaßt, wird die Empfin-
dung und ihr Ausdruck wärmer. Daß Hammerschmidt
nichts Außerordentliches, aher immer das Nötige klar sagt
und dabei vielfach an Litanei und Volksmusik erinnert,
hat zum Erfolg wesentlich beigetragen. Einen aus-
gesprochen protestantischen Charakter hat von den Dia-
logen des ersten Teils nur die zehnte Nummer, eine
Kombination der beiden Choräle »Was mein Gott will,
gescheh allzeit« und »Auf Deinen lieben Gott trau nur
in Angst und Not«. Für das Konzert eignen sich am
meisten die Nummern: 8, 4 6 und 47. Die erste gehört
unter die wirklichen Gespräche zwischen Gott und einer
gläubigen Seele und bringt den Gegensatz zwischen der
Würde des himmlischen Vaters (Baß) und der Unruhe
der bedrückten Menschenherzen (zwei Soprane) eindring-
lich zum Ausdruck. Die sechzehnte Nummer ist die dem
Entwurf nach originellste Leistung der gatizen Sammlung.
.Ein Baß singt die Einsetzungsworte: »Nehmet hin usw.«,
zwei Soprane antworten ihm mit volkstümlich gehaltenen
Dankgesängen: »Lobe den Herrn, meine Seele usw.«. Die
siebzehnte Nummer zeichnet sich dadurch aus, daß so-
wohl die Güte in der Stimme des Herrn (Baß) : »Was soll
ich aus Dir machen, Ephraim?« ebenso eigen und einfach
zum Ausdruck kommt, wie die Angst des Beters (Sopran],
der kindlich sein: »Ach Herr, straf mich nicht« ruft.
Der nächste protestantische Komponist des 4 7. Jahr-
hunderts, der mit einem neugedruckten Band von Kirchen-
F. Tiuidw. kantaten vertreten ist *), der Lübecker Franz Tunder,
Buxtehudes Schwiegervater, hat sich die Kenntnis vom
Sologesang und geistlichen Konzert direkt in Italien, als
Frescobaldis Schüler zu Rom verschafft. Seinen Namen,
den Gerber und Fötis gar nicht kennen, hat Carl Stiehl
♦) Denkmäler deutscher Tonkunst, III.
in den letzten 80 er Jahren zuerst wieder ans licht ge-
zogen *|. Der daraufhin von Max Seiffert (nach Manu-
skripten der Universitätshibliothek in Upsala) zusammen-
gestellte Band Tunderscher Kirchenkantaten ist unter dem
Material, das das alte Märchen von der musikalischen
Verödung Deutschlands im 4 7. Jahrhundert widerlegen
muß, eins der kräftigsten Stücke. Die Kompositionen
sind augenscheinlich zu verschiedenen Zeiten entstanden.
Die ersten acht, denen mit einer Ausnahme auch noch
lateinischer T^xt zugrunde liegt, zeigen in der fast gleich-
mäßigen Mischung von Gesang- und Instrumentalmusik,
in dem etwas unruhigen Wechsel von gerad- und unge-
radtaktigen Teilen, in der Überlegenheit der Kantilenen
gegenüber den Koloraturen auf das musikalische Rom der
Franqesca Gacdni und ihrer Ldberazione di Ruggiero.
Aber aus ihrem noch nicht ausgereiften Stile erhebt sich
doch eine bedeutende Individualität. Ausnahmslos macht
sie sich in den Orchestereinleitungen dieser Kantaten .
geltend, die bald unter detn Titel Sinfonia, bald Sonata, .
meistens in sechsstimmiger Besetzung trotz verhältnis-
mäßiger Kürze zu den an Erfindung vollsten Sätzen
zählen, die wir von dieser Art Orchestermusik haben. Die
Einleitungen zur zweiten und zur vierten* Kantate stehen
mit ihrer vielsagenden Kargheit des Ausdrucks, mit ihren
beredten Pausen so gut wie allein. Aber auch der Gesang-
teil der Tunderschen Kantaten zeigt in der Wiedergabe
einzelner Textstellen eine ganz ungewöhnliche Kühnheit
Das Hauptstück in dieser Beziehung ist die sechste Kan-
tate: Nisi Dominus aedificaverit domum, die Tunder als
Dialogo o Concerto a 2 Canto, Basso (Singbaß) con S Vio-
lini betitelt hat. Da kämmt bei der Stelle: »surgite . . .
qui manducaüs panem doloris« auf das Wort doloris ein
verminderter Sextakkord, der in seiner raschen Melan-
cholie sich für jedermann als der Einfall eines wirklich
berufenen Meisters darstellt. Die ersten vier dieser in
♦) C. Stiehl: Die Organisten der Marienkirche in Lübeck,
1886.
--♦ ö-fO ♦—
die früheren Jahre Tnndets zu setzenden Kantaten sind
fOr eine Solostimme geschrieben. Von der fünften ab
kommen Duette und Terzette, die siebente ist die erste
Chorkantate, aber die Chöre stehen in ihrer dramatischen
Lebendigkeit und Knappheit noch unter Opemeinfluß.
In der achten, die nochmals den Text »Nisi Dominus
aedificaverit« durchnimmt, werden sie breiter und auch
durch den Wechsel mit zum Teil sehr kurzen Solostellen
sehr wirkungsvoll.
Die Hauptbedeutung, die Tunders Band für die Praxis
und für d^n heutigen Geschichtsunterricht hat, liegt in sei-
nem zweiten Teil, der aus lauter Choralkantaten besteht;
allerdings sind einzelne der benutzten Choräle heute fremd
geworden. Tunder geht auf diesem Gebiete über Schütz,
auch über Knüpfe^ und Schelle hinaus und nimmt mit
neuer Entschiedenheit für den Aufbau seiner Choral-
kantaten den erweiterten Orgelchoral, insbesondere die
.Choralvariation zum Muster, erzieht also die Konsequenzen
aus Scheidt, in der Führung der Stimmen und dem Anteil,
den er ihnen am Thema gibt, bereitet er die Wege J. Pachel-
bels vor und schlägt mit dem Prinzip seiner Kantatenarbeit,
wie Seiffert bemerkt, die Brücke zu Seb. Bach. Nur das
größere Format der einzelnen Bilder innerhalb der Bach-
schen Kantate und die individuelle Größe der Textauslegung
unterscheidet sie von der Tunderschen. Für das Konzert
sind aus dieser Abteilung die frisch naive Solokuitate
(Sopran) >Wachet aufc und die Chorkantate »Ein feste
Bürge am meisten zu empfehlen. Beidemal besteht das
mitwirkende Orchester lediglich aus Streichinstrumenten
und OrgeL
Nicht weit von Lübeck, drüben in Hamburg^ scheint
der Choral als Grundstock der Kantatenkomposition erst
später, möglicherweise erst durch Mattheson, zu Ehren ge-
kommen zu sein. Der Band Hamburger Kantaten, in dem
M. WMkmftBii. M. Seiffert sämtliche erhaltene Arbeiten M. Weckmanns*]
Ohr. Binktid. (8 Nummern) und von denen Chr. Bernhards eine aus
*) DenkmlOer deutaeber Tonkunst, VI.
—-% 5i< ♦—
f&nf Stücken bestehende Auswahl' vorlegt, ist für diie
inneren Schwierigkeiten, mit denen die Einführung des
neuen Stils in Deutschland gerade in der Kirche zu kämpfen
hatte, außerordentlich lehrreich. Beide Komponisten ge-
hören zu den besten Schülern von Heinrich Schütz; von
Bernhard hatte er sich bekanntlich die Motette für sein
Begräbnis bestellt. Beide aber sind aus den Werken ihres
Meisters nicht darüber klär geworden, welchen Zweck der '
Figuralgesang und die Instrumentenmitwirkung eigentlich
haben. Namentlich Weckmann schwankt fast immer, ob
diese Phänomene sinnlich und selbständig wirken oder
Diener des Geistes sein sollen. Damit verdirbt er sich
einfach berichtende Stellen, in denen das Wort so klar
als möglich zu Gehör kommen sollte, die Textstellen also,
für welche die Italiener mit ihrem Rezitativ den richtigen
Musikton gefunden hatten, für den modernen Hörer emp^
findlich. Die hierin unreifsten Nummern sind die Bot-
schaft der Engel an die Hirten von der Geburt des Herrn
(Nr. 8, Duett für Sopran und Baß mit Violinen und Continuo)
und der Dialog über Mariae Verkündigung (Nr. 4: »Ge-
grüßet seist du. Holdselige« für Sopran- und Tenorsolo,
mit zwei Flöten, zwei Violinen und Continuo). Wie so
oft auf altdeutschen Wandgemälden unmögliche Perspek-
tive und herrliche Physiognomik, so verbindet sich aber
auch in, dieser Weckmannschen Marienkantate formelle
Unfertigkeit mit der liebenswürdigsten, schärfsten Natur-
beobachtung. Wie prächtig ist die sittsame Jungfrau
einfach dc^durch gezeichnet, daß in dem Satz »sintemal
ich von keinem Manne weiß«, das »sintemal ich« immer
und immer wiederholt wird, bis endlich die schwere Er-
klärung über die Lippen kommt. Auch in den Reden des
Engels hält eine Menge herzlichster Wendungen dem
Übermaß der Betonung und Ausschmückung und sogar
dem naiven Dreinzwitschem der Violinen die Wage. Als
«in ganz anderer Künstler steht Weckmann da, sobald
.m im Rüstzeug der alten Zeit auftritt und Soloensembles
oder Cäiöre! zu schreiben hat. Das bedeutendste Stück
dieser iürt ist die, wenn nicht fürs Totenfest, so für eine
solenne Begräbnisfeierlichkeit komponierte, vierstimmige,
von fünfstimmigem Streichorchester und Gontinno be-
gleitete Ghorkantate: »Wenn der Herr die Gefangenen zn
Zion erlösen wird«. Poetisch ragt besonders ihr erster
Satz hervor, der ähnlich wie Schützens Motette »Die mit
Tränen säen« eine gedämpfte Wehmut ausspricht. Er
tut das mit tiefsinnigen Wendungen aus dem Musikdialekt
der Renaissancezeit. Dem ersten »Wenn«, dann dem Be-
griff der »Träumenden« wird ungewöhnlich lang und un-
gewöhnlich ergreifend nachgesonnen. In der ganzen Kan-
tate fließt die Erfindung reich tmd mannigfaltig dahin;
zuweilen erhebt sie sich zu ganz bedeutenden Motiven,
aber auch bequemerem Material gewinnt sie eine große
äußerliche Wirkung — häufig durch steigende Sequenzen
— ab. Die Schützsche Zeit und Schule vertreten noch
imposanter die als »Motetto concertato« bezeichnete
Nummer 6: »Weine nicht« (für Alt-, Tenor- und Baßsolo
mit einem Orchester, das zu der gewöhnlichen Streicher-
und Gontinuobesetzung noch dreifache Gamben heran-
zieht) und die Nummer 5 : »Es erhub sich ein Streit« (für
naunstimmigen geteilten Chor mit Streichorchester, Gon-
tinuo und drei Posaunen). Beide Stücke verwenden,' das
eine zur Schilderung des Streits im Himmel, das andere
zur Andeutung der Löwenkraft, ziemlich die gleichen
Motive. Es sind an Trompeten und FeldmUsik erinnernde,
vom Durdreiklang abgeleitete Naturmotive, die im 4 7. Jahr-
hundert in jeder Art von Musik, bei Italienern, Deutschen
und Franzosen ähnlich wiederkehren, so oft an Kämpfe,
Wagnisse und Siege erinnert werden soll. Sie gehören
zu dem systematisch erst noch durchzuarbeitenden Ge-
biet der tonmalerischen Formeln der Zeit und sie sind
der Grund, weshalb sich z. B. die zahlreichen Kantaten über
den Michaelistext: »Es erhub sich ein Streit« thematisch
so auffallend gleichen. Genau dieselben Motive wie hier
bei Weckmann, finden sich in Garissimis Jephta. Weck-
manns »Weine nicht« hat . in dem gewaltigen Schluß-
satz über das einzige Wort Amen ein Stück, das in der
gleichzeitigen Kantate ziemlich allein steht. Für das Kon-
543
%ert würde die Kantate: >Es erhub sich ein Streit« wegen
der wirksamen Verbindung Gabrielischer Chorpolyphonie
mit monodischer Kunst am meisten zu empfehlen sein.
(regen Bernhards Kantaten, die mit Ausnahme der 0. Bernhard,
zweiten Nummer dem für Sopran und Baß gesetzten
Dialog »Wohl dem, der den Herren fürchtet«, wohl einem
Trauungsstück, ganz überwiegend aus Ghormusik mit Or-
chester bestehen, kann man die Ausstellung erheben, daß
sie in den Solosätzen der Gediegenheit zu Liebe mit Nach-
ahmungen zwischen den Singstimmen allein oder zwischen
Singstimmen und Instrumenten, hie und da etwas zu br^it
geraten. Wie seinem Lehrer Schütz ist auch ihm die
Einfachheit des italienischen Begleitungsapparats ver-
schlossen geblieben. Gegen die modisch^ Lust an male-
rischem Laufwerk verhält er sich aber viel ablehnender,
reifer und charaktervoller als Weckmann. Als hervor-
ragender Musiker zeigt er sich besonders durch einen
Sinn für Elementarwirkungen, c^^r sich in Kleinigkeiten,
wie Echos, Wechsel von Solo und Tutti, von Stimmen
und Instrumenten, noch viel stärker aber durch die Folge
der Sätze und den Aufbau der ganzen Kantaten bewährt.
Seine größte Leistung unter den von ihm vorliegenden Ar-
beiten ist die Komposition des Responsoriums: »Tribularer
si nescirem misericordias« und in ihr die Führung der bei-
den zehnstimmigen Chöre, die Anfang und Schluß bilden.
Durch möglichste Wahrung deutscher Selbständigkeit
fesselt unter den Kantatenkomponisten des ^ 7. Jahrhun-
derts Rudolph Ahle, der für seine Vaterstadt Mühlhaiisen S. Ahle,
in Thüringen eine große Anzahl von Sammlungen ver-
schiedenster Kirchenmusik komponiert und in den Druck
gebracht hat. Der fünfte Band der Denkmäler deutscher
Tonkunst (herausgegeben von Johannes Wolf) legt davon
eine verhältnismäßig reiche Auswahl vor. Für Ahle war die
Hauptsache an der neuen italienischen Musik die Gleich-
berechtigung und das Zusammenwirken von Singstimmen
und Instrumenten, und von dieser Auffassung aus schritt er
zu einer Modernisierung von Choral und Motette. Die von
ihm neu erfundenen Choräle haben meistens selbständige
-— ♦ 544 ♦—
Orchestervorspiele, die an musikalischem Wert allerding*s
kaum verlieren, wenn man sie in gewöhnlicher Weise anf
die Orgel verpflanzt. Die' Choräle selbst — Ahle nennt
sie geistliche Arien — verdienen die Aufmerksamkeit der
Gegenwart deshalb, weil sie von dem starren gleich-
mäßigen Rhythmus, in den die alten Gemeindelieder
heute entartet sind, nichts wissen. Es gibt auch eine
Anzahl, die der Einleitung entbehren und a capella zu
singen sind. Unter ihnen ist det sechsstimmige Satz
»Es ist genug« als ein großes Meisterstück in kleiner
Form für geistliche Konzerte besonders zu empfehlen.
Ähnlich wie mit den Chorälen oder Arien verhält sichs
mit den Motetten Ahles. Ein Teil von ihnen rückt ein-
fach durch die Verbindung mit dem Orchester in das
Gebiet der einsätzigen Kantaten auf, ein anderer hält
am alten a capella -Gesang höchstens mit Hinzunahme
des Continuo fest. Seine Hauptstücke knüpfen an Cho-
räle an, sehr schon und einfach tut' dies z. B. die sechs-
stimmige Aria: »Ach, Herr, mich armen Sünder«, die
Ahle wie auch viele andere Sätze, besonders Dialoge
(z. B. Nr. 28: »Wer ist, der von Eden kommt?«) in Ga-
brielischer Chorantiphonie aufgebaut hat Besonders
hervorzuheben ist die Choralmotette: »Wir glauben
all usw.«. War nun für Ahle der Sologesang auch nicht
die Hauptsache an der neuen Kunst, so hat er ihn doch
nicht ganz ignoriert, sondern in zweierlei Art benutzt,
nämlich zu ganz auf ihn gestellten Kompositionen und
zu Zwischensätzen und Einlagen in Chorkantaten. \yie
der Mehrzahl seiner deutschen Zeitgenossen steht er der
neuen Kunstart etwas unsicher gegenüber. Unter den
Stücken, wo es ihm ganz mit ihr geglückt ist, steht das
schlichte Duett »Bleib bei uns« unter denen, wo er zur
vermeintlichen Erhöhung der Andacht Pirouetten schlägt,
das zweisprachig gehaltene Duett: »Misericordias Domini
cantabo usw.« obenan.
Unter den großen mehrsätzigen Kantaten R. Ahles
verdienen die erste Stelle die zwei Weihnachtskomposi-
tionen: »Fürchtet euch nicht« und iMerk auf«. Jene ist
— ♦ 545 ♦—
als einer der für die Vorgeschichte des Oratoriums wich-*
tigen Versuche, die biblische Lektion in den neuen Musik-
formen vorzutragen, bemerkenswert. Diese wirkt durch
die sinnige Verwendung des Chorals »Vom Himmel hoch«.
Ziemlich gleich steht ihr die Kantate »Zwinget die Saiten«,
in der der Choral »Wie schön leucht uns der Morgenstern«
auf seine Verzierungsfähigkeit mehrfachen gelungenen Pro-
ben unterworfen wird. Kantaten wie die lets^enannten
(aus dem »neugepflanzten Thüringischen Lustgarten«)
kamen um die Mitte des 4 7. Jahrhunderts nur noch ganz
ausnahmsweise in Druck. Die Verleger waren um diese
Zeit zwar für Messen und Motetten, sie waren auch für
kleine einstimmige Konzerte oder Arien wie sie in G.
Briegels »Geistlichem Rosengarten« enthalten sind, zu G. Briegel«
haben, für ganze Jahrgänge anspruchsvoller Kirchenkan-
taten aber nicht. Zwei Menschenalter nach Ahle haben
die beiden Lübecker Sam. Franck und Chr. Schiefer-
decker noch einmal den Bann durchbrochen*). Derbe- Chr. Sohiefer-
deutendste Lübecker Musiker dagegen, Dietrich Buxte- deoker.
hu de, hat sich mit handschriftlicher Verbreitung seiner b. Butakado.
Kantaten begnügen müssen, obwohl sie durch die »Abend-
musiken« der Marienkirche einen weiten Ruf genossen.
Erst neuerdings ist aus den erhaltenen 440 Nummern ein >
größerer Band in Druck gekommen '*'*) ; eine Aussicht, sie
alle wie Buxtehudes Orgelkompositionen durch eine Ge-
samtausgabe der Gegenwart wieder zuzuführen, besteht
kaum. Denn sie können sich mit jenen an Gebrauchs-
wert nicht messen und sind an veralteten Elementen viel
reicher. Aber in der Übergangszeit der evangelischen
Kirchenkantate vom 4 7. zum 48. Jahrhundert verdienen sie
einen der vordersten Plätze; sie verhalten sich im Aufbau
der Sätze, in der Auslegung des aus Bibel, Gesangbuch,
madrigalischer Dichtung, also zum erstenmal aus hetero-
genen Quellen schöpfenden Textes zu den Kantaten der
7orangehenden Deutschen, auch zu denen Tunders, wie
•) A. Göhlcr, Verzeichnis.
••) Denkmäler der deutschen Tonkunst, XIV.
II, 4 35
--♦ 546 ^»—
Haydnsche Sinfonien zu Scarlattischeh und können als
eine der Grundlagen betrachtet werden, auf der sich die
protestantische Kirchenkantate des i S.Jahrhunderts weiter
entwickelte. Die Methode Buxtehudes ist in der Architektur
Wichtig; diese ist durch Buxtehude fertiger und imposanter
geworden. Buxtehude ist in der deutschen Kantate der
erste Vertreter der neapolitanischen Schule. Er zuerst
behandelt die selbständigen Abschnitte des Textes in den
breiten, mit der Oper und dem Oratorium der Italiener
korrespondierenden Formen, die der Empfindung sich zu
vertiefen, der Fantasie bei großen Bildern zu verweilen
ermöglichen, die es erlauben, den Gehalt musikalischer
Motive und Ideen nicht bloß zu streifen, sondern aus-
zuschöpfen. Solche italienische Kirchenkantaten waren
in Deutschland aus der Feder Legren zis verbreitet. An
ihn knüpft Buxtehude an. Die Größe des Gehäuses und
seiner Hauptteile ist seinen Kantaten gemeinsam, in der
besonderen Anlage jedoch herrscht Mannigfaltigkeit und
Originalität. Die letztere geht soweit, daß er gelegentlich
einmal eine Einleitungssymphonie durcH ein vokales Prälu-
dium (»Wachet auf, ruft uns die Stimme«) ersetzt. Auch
in seinem Orchester zeigt sie sich darin, daß Kornetten
und Posaunen mehr zum konzertieren herangezogen sind,
als bei seinen nächsten Vorgängern. Überall stehen wir
vor einem Musiker, der keine Note verschwendet und der
mit Händelschem Geschick und Ernst auf große, volkstüm-
liche Wirkungen bedacht ist. Damit hängt es auch zu-
sammen, daß die Kunst der Polyphonie in seinen mehr-
stimmigen Sätzen merklich zurücktritt. NamenÜich die
Chöre, unter ihnen wieder die im ungeraden Takte ge-
führten, sind vorwiegend im einfachen homophonen,
aber eindringlichen und mächtigen Stil geführt.
Im Bilde von Buxtehudes moderner und aufs Reale
gerichteten Künstlernatur würde ein wesentlicher Zug
fehlen, wenn man nicht des sinnigen Elements seiner
Kantaten gedächte. Es kommt durch die Wiederkehr
ihm lieber Sätze an späteren Stellen einer Komposition
ähnlich, jedoch viel häufiger und stärker zum Ausdruck.
i
-^ 547
wie in seinen Instrumentalsonaten. Noch bedeutender
belebt er seine Kantaten in der Verwendung der Choräle.
Sie fehlen fast in keiner, aber er versteckt sie gern, hält
sich an ihre wesentlichen Wendungen, prüft und erweitert
ihren Inhalt durch Neubildungen, die sich gelegentlich
auf das einfache Mittel einer Verzierung beschränken. Da-
mit gab er auch für die Choralbehandlung in der Kantate
neue Anregungen.
Das zwischen Buxtehude und Seh. Bach liegende halbe
Jahrhundert ist zurzeit in der Hauptmasse nur hand-
schriftlich vertreten, dieser Handschriftenbestand läßt sich
jedoch noch nicht übersehen, da außer bekannten öffent-
lichen Bibliotheken, unter denen die Königliche, die Biblio-
thek der Prinzeß Amalie und die des Grauen Klosters in
Berlin obenan stehen, dafür auch zahlreiche Kirchen- und
Schularchive kleinerer Städte in Betracht kommen, die
ihre Schätze bisher nicht gebucht, vielfach auch nicht
gehütet haben. Denn in der Zeit äußerster musikalischer
Dezentralisation sorgte jeder deutsche Kantor für seinen
Kantatenbedarf in erster Linie mit der eigenen Feder. Daher
kommt es, daß wir von vielen dieser Kantatenkomponisten,
von Levini, Kreichel, Liebhold, LoUfuß z. B., nicht
einmal die Personalien feststellen können und uns begnügen
müssen, aus ihrem Stil ungefähr Zeit und Schule zu be-
stimmen. Auf einzelne von ihnen paßt das etwas harte
Urteil, das Telemann über den erwähnten Liebhold gefällt
hat: >er sammelte Klauseln und leimte sie ungeschickt
zusammenc'*'). Es darf aber keineswegs verallgemeinert
werden, sondern in jener Periode sind auch in unansehn-
lichen Orten sehr achtungs werte Arbeiten entstanden, so in
Zschopau die Kantaten Chr. Lieb er s, in Hingleben die
J.A. Kesselrings. Daß andererseits auch damals in größeren
Städten unbedeutende Kompositionen zutage kamen, üeße
sich mit den Kantaten des Bremer V. Lüb eck belegen.
*) Nach einer handschriftlichen Bemerkung Forkels in dem
betreffenden Band der Kgl. Bibliothek zu Berlin. Das Material
dieses Instituts liegt den hier gegebenen Ansführnngen zugrunde.
35*
— ♦ 548 ♦—
Die Masse der hier in Betracht kommenden Hand-
schriften verteilt sich ziemlich gleichmäßig auf Solokantaten
und Chorkantaten; viele der ersteren sind nachweislich
für Nachmittagsgottesdienste geschriehen. Die künstlerische
Entwicklung der Gattung steuert auf Übersichtlichkeit und
größere Gruppierung der Form, zweitens auf stärkere
Ausprägung des protestantischen Charakters. Das erste
Ziel wird früher erreicht als das zweite. Die an vene-
tianische Opemmuster anknüpfende Zusammensetzung
aus kleinen Stücken, die noch die Kantaten Sebastianis,
auch seine Choralkantaten zeigen, weicht vom Anfang des
4 8. Jahrhunderts ab ziemlich allgemein dem breiteren Auf-
bau, den unter den Neudrucken zuerst Buxtehude vertritt.
Der Mitarbeit von Opernkomponisten, wie des Braun-
I Schweigers G. Schürmann, darf hieran ein Verdienst zu-
geschrieben werden. Der Choral dagegen wird noch
Jahrzehnte vorwiegend auf die einfachste kirchliche Form
und den Schluß der Kantaten oder ihrer Teile beschränkt,
häufiger erscheint er daneben noch als unerwartete Fort-
setzung von Sologesängen. Choralfugen dagegen und Ver-
treter Tunderscher Choralkünste sind selten. An dieser
Stockung trägt das de tempore-System und der Zwang
der schnellen Arbeit einen Teil der Schuld; sie erklärt
auch, daß die Kantaten an- und für sich hervorragender
Künstler ungleich geraten. Was da einzelne Komponisten
sich zumuteten, wird an dem Nachlaß Chr. Graupners
am ersichtlichsten, von dem in Darmstadt allein über 4 300
mehrsätzige Kirchenstücke Hegen, die erst jüngst durch-
forscht wurden*). Von Gebel sind noch 273, von Homi-
lius 4 02 Kantaten in Rudolstadt, von G. Benda 50 in
0. H. Stölsel. Gotha vorhanden. G. H. Stolz el kann, nach den in
Gotha und Sondershausen erhaltenen Kantatenmassen dem
Darmstädter Kollegen an Fleiß nur wenig nachgegeben
haben. In guten Stunden, z. B. in den Kantaten »Segnet
die Tochter Zion«, »Deine Gnade muß mein Trost sein«,
»Lobt ihn mit Herz und Munde« ist er so bedeutend und
*) Fr. Noack : Ohristian GraupDer in seinen Kirchenkantaten«
y
-— ♦ 549 ♦—
^
original, daß einem modernen Tonsetzer der Mut sinken
müßte. Im Verhältnis zum Choral schwankt StölzeL
Die eine Gruppe seiner Kantaten enthält meist kurze
Choralbearheitungen, oder flicht überraschend und sehr
wirksam Bruchstücke von Kirchenliedern in Rezitative und
Äriosos ein. In einer zweiten Gruppe begnügt sich auch
Stölzel mit dem einfachen Choral als Schlußstück; in der
Kantate über »Was Gott tut, das ist wohlgetan«, wo man
vielfache und eingehende Auslegungen über die alte
Kirchenmelodie erwartet, wird ihre erste Zeile überhaupt
nur ein einziges Mal solistisch zitiert. Eine dritte, wenn
auch kleine Gruppe seiner Kirchenkantaten verzichtet
überhaupt auf Choräle. Der neben Hasse berühmteste
aller in Deutschland geborenen und wirkenden Komponisten
des 4 8. Jahrhunderts, G. Telemann, von dessen Kantaten G. Telemann.
sich ein Stoß von 60 Stück in dem Thüringischen Dorf
Goldbach erhalten hat, bei denen auch die Besetzung
(9 Sänger, 45 Musiker und K Ciavierist) angegeben ist,
steht dem Choral sehr launisch gegenüber. Am trefflichsten
zeigt die Kantate: »Ach Gott, wie manches Herzeleid «,
eins von Telemanns zahlreichen Adventstücken, seine
Art, den Choral zu zitieren. Da wird ein Baßsolo erst
mit einer Zeile von »Was Gott tut usw.«, dann von der
zweiten Hälfte von »Ein feste Burg«, von der Stelle: »Der
alte böse Feind usw.« unterbrochen. Aber auch Telemann
bringt die Choräle in der Regel nur in der Form, wie sie
die Gemeinde zu seiner Zeit sang, bleibt also ebenfeQls
hinter dem Herzensanteil und der künstlerischen Arbeit
zurück, die Tunder auf sie verwendete.
Aus der vorhin erwähnten handschriftlichen Kantaten-
masse sind in jüngster Zeit einige Bände in den Druck
gekommen, die es jedermann ermöglichen, auf sicherer
Unterlage das Büd der deutschen Kirchenkantate am Ende
des 4 7. Jahrhunderts über Buxtehude hinaus zu verfolgen.
Es sind das 42 Kantaten von Fr. Wilh. Zachpw*), ein
*) Denkmäler der Tonkunst, XXI/XXU.
-^ 550
Käntatenband Nürnberger Meister*) und 24 Kantaten
des Weißenfelser Kapellmeisters Philipp Krieger**).
Der Nürnberger Band, der von den Komponisten
Hainlein, Hainlein, Schwemmer, Wecker, Pachelbel,
Sohwommer, Philipp Krieger und Johann Krieger je nur wenige,
Wecker, eins bis drei Probestücke gibt, zeigt die Kantate der
?aohelbel. musikaUschen Reichsstadt unter starkem venetianischen
Einfluß. Der Choral tritt sehr zurück, dagegen herrschen
im Aufbau der Sätze die scharfen Tempogegensätze, in
der Besetzung die Pracht und die großen Mittel, ^e am
Markusdom beliebt waren. Die meisten Stücke, wie gleich
die ersten von Hainlein und Schwemmer erfreuen durch
ihre Frische und durch eine trauliche, aus Volksquellen
genährte Einfalt des Tones. Legt man an sie einen von
Schein und Schütz abgezogenen Maßstab an, so drängt
sich allerdings der Gedanke an den dazwischen hegenden
dreißigjährigen Krieg auf. Die Vertiefung in Bibel und
Gesangbuch hat abgenommen und im musikalischen Ver-
kehr mit Gott hat eine nicht unbeträchtHche Nüchternheit
Platz gegriffen. Die Handwerksfertigkeit hat dabjßi wenig
gehtten, es wird fugiert und imitiert, es wechseln Einzel-
stimmen und Chöre, feierUche und freudige Tempi im
Satz. Nur macht sich die Schablone und das Einerlei
der Anlage etwas geltend. Der eigentUche Schaden liegt
in der Erfindung der Motive, die selten etwas Eigenes
sagen. Ab und zu merkt man jedoch an diesen Kantaten,
daß im deutschen Land und Musikerstand immer noch
reichere Seelenquellen fließen. Ein solches Ausnahmestück
ist in diesem Nürnberger Band die als Begräbnismusik
gedachte einsätzige Kantate: »Die Gerechten werden weg-
Philipp Krieger, gerafft« von Philipp Krieger. Von Anfang an durch
schhcht gehaltvolle Deklamation fesselnd, bringt sie bei
den Worten »Und ruhqn in ihren Kammern« einen Schluß,
der eines Meisters ersten Ranges würdig ist, und der sich
musikahschen Hörern unverherbar einprägt. Es ist nun
*) Denkmäler der Tonkunst, 2. Folge 12 I*.
**) Denkmäler der Tonkunst, LIV/LV.
«
für die Zeit bezeichnend, daß der eigene, oben angeführte
Kriegerband unter seinen 21 Kantaten keine einzige ent-
hält, die sich mit dieser eben erörterten Tranerkantate
auch nur im entferntesten messen könnte. Geschichtlich
ist der Band aber doch von Wert, namentlich dadurch,
daß er ein Bild von der Entwicklung der Kantatentexte
gibt und den stattlicheren und freieren Ausbau der Gat-
tung durch rezitativische und dramatische Elemente, der
schon bei Buxtehude beginnt und mit Neumeister ab-
schließt, deutlich vorfuhrt. Der großen Ungleichheit der
Leistungen, die zum Teil als Folge der Massenproduktion
in allen Künsten des 4 7. Jahrhunderts wiederkehrt, begegnen
wir auch in den Kantaten Friedrich Wilhelm Zachows.F. W. Zaohow
Was ihn aber in den Hauptstücken, unter denen die
zweite: »Herr, wenn ich nur dich habe« mit der obligaten
Harfenpartie obenan steht, auszeichnet, das ist das wunder-
volle, tief melodische Talent, von dem insbesondere die
Baßarie, »Ich mag den Himmel nicht«, mit ihrem Reich-
tum, ihrer Vornehmheit und Natürlichkeit ein unübertreff-
liches Muster bietet. Daß Handel auf einen solchen
Lehrer viel hielt, ist leicht zu begreifen. Auch koloristisch
sind die Kantaten Zachows überraschend ergiebig.
Zur Hebung der Choralkantate trugen Musiker manches
bei, die, wie der Regensburger Stolzenberg) an der Orgel
aufgewachsen waren, in der freien Kantate ragen die
älteren Vettern Seh. Bachs hervor, besonders der Eise-
nacher Christoph Bach, dessen Michaeliskantate »Es
erhub sich ein Streit«, die eigenthch zu den Historien
gehört, und dessen Lamento: »Ach, daß ich Wassers genug«
(Altsolo] heute wieder bekannter sind. Das Lamento hat
schnell einen Neudruck erfahren.
Durch Seb. Bach ward endlich auch die Vorlage J. B. Bach.
Tunders wieder eingeholt und überholt. Wie den Passio-
nen, gab er auch den Kantaten das evangeUsch-litur-
gische Rückgrat, mit dem sie fester den Moden der
Zeiten trotzen konnten. Bach war der erste, der alle
die großen Leistungen, zu welchen die Choralkunst
während des 47. Jahrhunderts in der Orgelkomposition
-— ♦ 652 ♦—
vorgedrungen war, der Vokalmusik und der Kantate
dienstbar machte. Dadurch ist er der Hauptvertreter
der evangelischen Kirchenkantate geworden und wird
es, so verwendbar und wertvoll auch die in Neudrucken
neben ihn tretenden Arbeiten seiner Vorgänger und Zeit-
genossen sind, bleiben. Die Zeit hatte in Neumeister
und den Männern, welche sich ihm anschlössen, inzwi-
schen auch die lange vermißten Dichter beschert . Bach
hpb die Sologesänge und Rezitative der Kantate auf einen
Punkt, den die italienische Kunst in den Formen wolil
hie und da übertraf, im Charakter aber nur selten er-
reichte, er stattete sie mit unvergleichlichen Chören aus.
Der entscheidende Zug der Bachschen Methode liegt aber
darin, daß das Choralelement zu einem Lebenselement
ausgebildet ist, welches den ganzen Organismus seiner
Kirchenkantaten leuchtend durchdringt. Bach hat aber
auch viele Kantaten ohne Choräle geschrieben, die
hinter jenen nicht zurücktreten. Die formellen Elemente
bilden aber nur einen Teil des Wertes der Bachschen
Kantate. Auch ohne sie würde die Fülle der geistigen
Persönlichkeit, aus welcher diese Musik geflossen ist, äure
bezwingende Macht äußern, wie auf der andern Seite
die Bewunderung dieser Werke die Schranken der Kon-
fessionen längst durchbrochen hat. Seit der Leipziger
Thomaskantor Müller diese Kantaten wieder aus dem
Archive hervorsuchte, Rochlitz dieses Ereignis begeistert
verkündete und Marx die erste kleine Folge in den Druck
gab, ist der Ruhm dieser Werke hundertmal beredt an-
gestimmt worden. Oft ist es gesagt: wer diese Kantaten
nicht kennt, dem entgeht einer der schönsten und eigen-
sten Schätze deutscher Kunst und das Gesamtbild Bachs
entbehrt ohne diese Kantaten einige wesentliche Züge. Sie
sind die Raritätenkammer, in welcher seine gestaltende
Hand ihre feinsten Griffe übte. Von den Passionen und
Messen aus ahnt man doch nicht all die Wunderdinge,
an denen nur wenige dieser Kantaten ganz leer ausgehen.
Namentlich ist jedermann überrascht über die koloristi-
schen Mittel, welche Bach hier entfaltet, über die feinen
— ^ 653 >—
und fesselnden Farbenmischungen, welche er für viele
seiner Kantatenarien erdacht und ausgeführt hat. Wer
▼oll Bewunderung über die Fruchtbarkeit, welche unsere
neueste Musikperiode auf diesem Spezialgebiete ent-
wickelt, zum erstenmal die ganz eigenartigen und cha-
rakteristischen Orchesterbilder vor sich sieht, welch'e
Bach z. B. der Arie >Wie zittern und schwanken« in der
Kantate: >Herr, gehe nicht ins Gericht« und dem Alt-
rezitativ in der >Trauerode« beigegeben hat, wird ge-
neigt sein, in den Ausruf jenes Enthusiasten mit einzu-
stimmen: >Es gibt nichts Neues, was nicht Bach schon
gebracht hat«. Und sehr Vieles, darf man hinzufügen,
was Baqh in den Kantaten bringt, hat noch keiner wie-
der gebracht.
Die religiösen Themen, die sie behandeln, erstrecken
sich bekanntlich in mehrfachen Jahrgängen über den
ganzen Kreis christlicher Vorstellungen und Empfin-
dungen. Bach ist jeder dieser vielfältigen Aufgaben
mit einer Superlativen, von Inbrunst und Begeiste-
rung beschwingten Kunst gerecht geworden. Aber doch
ragt ein besonderer Zug seiner Natur aus der Masse
mit eigens großer, halbschauerlicher Deutlichkeit hervor.
Dies ist die Sehnsucht nach Sterben, Tod und Leben
bei dem Herrn. Dieses Thema schlägt er in seinen
Kantaten entschiedener an als irgend ein anderes. Als
Kraftnatur gibt er sich in allen Situationen, grandios ist
auch seine Freude und Heiterkeit Aber niemals arbeitet
seine Empfindung und seine Kunst mit vollerer Energie
und Hingabe, als wenn die Texte der Erdenmüdigkeit,
der Sehnsucht nach dem letzten Stündlein Ausdruck
geben. Die Sprachgewalt, welche seine Musik hierfür in
immer andern Registern, in zarten und stürmischen
Regungen äußert, hat etwas Dämonisches.
Jeder größeren Stadt wäre ein Verein zu wünschen,
welcher die praktische Bekanntmachung dieser Kantaten
zu seiner einzigen, besonderen Aufgabe machte. Denn
die Summe von Kunst, welche in diesen Werken nieder-
gelegt wurde, ist quantitativ und qualitativ zu groß, als
56t ♦—
daß ihr die Chorvereine nebenbei gerecht werden könnten.
Immerhin bleiben aber die Verdienste, welche sich einzelne
dieser Institute seit der Wiedererweckung Bachs um die
systematische Pflege seiner Kirchenkantaten erworben
haben, hoch anzuerkennen. Voran ging auch hier die
Berliner Singakademie. Dann hat aber kein zweiter Chor-
verein so viele Bachsche Kantaten zur Aufführung gebracht
als die Breslauer Singakademie unter Mosewius. Seiner
Begeisterung für diesen Kunstzweig hat dieser eiMge
Mann in einem besonderen Werke*} Ausdruck gegeben,
welches seinerzeit sehr anregend gewirkt hat und noch
heute brauchbar ist.
Von den fünf Jahrgängen Kirchenkantaten t- gegen
300 Stück — , die Bach nachweislich geschrieben hat, sind
bekanntlich 490 erhalten. Nur ein sehr geringer Bruch-
teil ist' davon bis heute Allgemeingut der musikahschen
Welt geworden: die bekanntesten sollen hier nach der
Reihenfolge ihrer Entstehung angeführt werden.
• Von den verschiedenen Gesichtspunkten, nach denen
man sich in die Bachschen Kantaten vertiefen kann, ist
ein sehr naheliegender und ergiebiger die Gruppierung
nach dem Inhalt oder den Festzeiten. So wirds am besten
deutlich, wie Bach Ostern, Pfingsten, Weihnachten und
andere Feste immer wieder anders, mit ursprünglicher
Frische und doch mit Wahrung bestimmter Grundzüge
feiert, wie unendlich reich, klar und wesensbestimmt er
ist. Nicht minder reizvoll und notwendig ist es aber
auch der Entwicklung Bachs nachzugehen und seine
Kantaten sich nach der Zeit der Entstehung zu eigen zu
machen. Mindestens die Bekanntschaft mit seinen ersten
beiden Kirchenkantaten sollte sich kein Bachfreund ent-
Arnitftdter gehen lassen. Das ist die Arnstädter »Denn du wirst
Kantate, meine Seele nicht in der Hölle lassen« vom Jahre
4 704 und die vielgenannte Mühlhausener Ratswahlkantate
>Gott ist mein König« von 4 708. In jener ist die
*) >J. S. Bach in seinen Kirchenkantaten und Ohoral-
gesängen«, Berlin 1845.
\
--4 558 4— V
ganz außerordentliche Frische, die kindliche Unbefangen-
heit das Eigene, mit der Bach die durchweg landläufigen
und meist ausgesprochen volkstümlichen Motive handhabt.
Daneben tritt aber auch, am stärksten in dem Duett:
»Ich jauchze, ich lache« eine keineswegs gewöhnliche
Kunstfertigkeit zutage. Die vielen Rezitative bekunden
dazu eine entschieden moderne Richtung, die ja auch
noch aus der Anlehnung an die da capo-Arie hervortritt.
Aber, wäre die Komposition nicht zu gut beglaubigt, könnte
man sie auf Rechnung irgendeines , allerdings sehr be-
gabten mitteldeutschen Kantors setzen. In der Mühl- Htthlhansener
hausener Kantate kehren die Arnstädter Züge wieder; Batswahlkantate.
auch sie ist reich an Volksmusik, und sie steigert im
Schlußsatz den fröhlichen Ton sogar bis zur kecken Aus-
gelassenheit Von den Worten: »Glück, Heil und großer
Sieg muß täglich vom Neuen dich, Joseph, er&euen«, ab
wird er zum reinsten Kehraus und läßt ohne jegliches
Bedenken in den Vormittagsgottesdienst schon die nach-
mittägliche Festwiese hineinklingen. Aber neben diesem
jugendlich lustigen und liebenswürdigen Bach steht doch
hier schon ein anderer, der mehr zu bedeuten hat, als
die besten und geschicktesten seiner Standesgenossen.
Gleich nach dem fröhlichen Eingang »Gott ist mein König«
ruft die im Text eigentlich nebensächliche Wendung »von
Alters her« den großen Melancholiker ganz unversehens
und überraschend auf den Plan. Diesem ersten kleinen
Zug Bachschen Tiefsinns reihen sich dann ganze, große
Stücke an, das originellste unter ihnen ist der Chor »Du
wollest dem Feinde nicht geben«, der schlagende Natur-
malerei — die Turteltauben führen beständig das Wort —
und den Ernst eines geängstigten Herzens ganz wunder-
bar mischt.
Diese beiden Kantaten geben also ein Bild von dem
Grunde Bachschen Wesens und von seiner raschen und
gewaltigen Entwicklung. Von der Mühlhausener hat es
bis zur Zeit der vollen Reife nur noch kurze Zeit gedauert. J. 8. Bach,
Denn die Kantate: »Gottes Zeit ist die allerbeste Gottes Zelt
Zeit«, eine seiner bedeutendsten und bekanntesten, schrieb (Actus tragicus)
-— ♦ 556 ♦—
Bach in seinem 26. Jahre zu Weimar für die Beisetzung
eines angesehenen Biirgers. Das war der »Actus tragicus«,
von weldiem sie ihren Nebentitel und för welchen sie die
sanften, weichen Klageweisen ihrer Instrumentaleinleitung
(Sonata benannt) hat. Der Text, mit einer dichterischen
Umschreibung des Bibelspruchs »Im Herren leben wir, im
Herren 'sterben wir« beginnend, geht darauf aus uns
Schritt vor Schritt das Drama des Todes vorzuführen: Es
nahen die Sterbegedanken, wir hören die Botschaft des
Todesengels. Bald aber löst ihn die Stimme des Herrn
und Heilands ab, die Stimme Jesu Christi, der dem Tod
seinen Schrecken genommen und ihn zum Eingang ins
himmlische Paradies gemacht hat. Den Bibelspruch des
Eingangs hat Bach in einem mehrstimmigen, feierlichen
Satz komponiert, von dem Mendelssohn mit Recht sagt,
daß er auch von einem andern Komponisten herrühren
könnte. Nur das Adagio, welches von den Worten ab:
»In ihm sterben wir« beginnt, hat Bachsche Züge. Die
drei letzten tiefen gedeckten Noten »wenn er will« hätte
schwerlich ein Zweiter gefunden. Und nun kommen die
eigentlichen Sterbegedanken in einem Tenorsolo »Ach
Herr, lehre uns bedenken«, zu welchem die Flöte eine
nachdenkliche Melodie spielt, welche wie ein Verhängnis
nicht vom Platze weichen will Immer kehrt sie wieder
und bildet musiXalisdi den Hauptträger der Nummer. Die
Botschaft vom Tode »Bestelle dein Haus« trägt der Baß
in einem rauhen, gewalttätigen Tone vor. Sie entlockt
dem Soloquartett*) in dem Satze »Es ist der alte Bund«
eine ernste Klage, deren resignationsvoller Charakter noch
nachdrücklich durch die tiefe Lage unterstrichen wird, in
welcher Baß, Alt und Tenor einsetzen. Sie erklingen in
einem Register, das Grauen erregt. Der Sopran bringt
mit dem freudig aufheiternden Gegenthema »Ja, komm,
Herr Jesu Christ« die Wendung. Der neue Bund tritt mit
dem von den Inatrumenten angespielten Choral »Ich hab*
*) Die Instnimeiitiening verbjutet es, »Gottes Zeit usw.«
als Ohorkantate avfziifaliTen.
--♦ 657 ♦—
mein* Sach' Gott heimgestellt« dem alten entgegen. Am
Schiasse der Nummer erhebt sich im Orchester eine my-
steriös flatternde Figur, welche auch zu dem nun folgenden
Duett zwischen der abgeschiedenen Seele und dem Herrn
selbst einen nicht unwichtigen Teil des motivischen Ma-
terials beiträgt. Hat Bach an das Bild von der hinab-
schwebenden Taube gedacht? Das Duett ist ein »Dialog«,
zwischen der »gläubigen Seele« und dem »Bräutigam« ge- /
führt. Der freundlich zusprechende Ton des letzteren (Baß)
»Heute wirst du mit mir« verscheucht die letzten Sorgen
um den Tod. In Ghoraltönen versichert die Altstimme
»Der Tod ist mein Schlaf worden«. Das Vokalquartett
steigert diesen Gedanken, ebenfalls an das Kirchenlied
anknüpfend, zum Preis und Lob, zuletzt fugierend, aber
immer von Gamben und Flöten umflort.
Die Kantate »I ch hatte viel Bekümmernis«, gleich- J. 8. Back,
falls eine der durch die Marxsche Ausgabe bekannt ge-Ich hatte viel
wordenen, ist für den dritten Trinitatissonntag im Jahre 4714 Bekümmernis,
zu Weimar geschrieben. Da ihr Text aber an diesen Tag nicht
weiter anknüpft, schrieb Bach darüber: »per ogni tempore«.
Es ist möglich, daß er die Kantate ebenfalls zu gelegentlicher
Verwendung als Begräbnismusik, von welcher in jener Zeit
noch viel gebraucht wurde, bestimmt hatte. Das Thema,
welches die Worte »Ich hatte viel Bekümmernis« wiedergibt,
wird unter dieser Voraussetzung erst ganz verständlich. Es
entspricht mit seinem halb marschartigen Hhythmus durch-
aus nicht dem Tone, welcher für solche Worte der nächst-
liegende war, hat aber die entschiedenste Ähnlichkeit mit
Grab- und Trauerliedern, wie sie die Kurrenden in jener Zeit
und noch später sangen. Der Gedankengang im Text der
Kantate ist dem »Actus tragicus« sehr verwandt: Kurz wird
er im ersten Chor in den Satz zusammengefaßt: »Ich hatte
viel Bekümmernis— aber deine Tröstungen erquicken meine
Seele « . Bach hat — nach Vorausschickung einer von fließen-
der Klage und großer Erregung (Trugschlüsse, Fermaten) er-
füllten Symphonie — diese Worte in einem großen Eingangs-
chor komponiert, der ihren Gegensatz aufs schärfste ausprägt.
Das »Aber« steht im bedeutungsvollen Adagio, von Pausen
nmgeben, ganz allein. Dann' rollt die Erquickung, die der
Trost des Herrn bringt, in einem feurigen Vivace, auf ge-
sungenen Orgelmotiven, wie eine gewaltige Flut herein. Ihre
Segnungen werden erst zuletzt in einem kurzen Andante
ruhig, aber nicht ohne daß Freudentöne hell herausschlagen,
betrachtet. Es beginnt nun der Weg wieder von vom: der
Text wird musikalisch ausgelegt. Die Bekümmernisse wer-
den in zwei Arien geschildert, welche zu den schönsten ge-
hören, die wir von Bach besitzen. Noch höher als diä erste
(Sopran] steht die zweite (Tenor) mit dem wunderbar aus-
drucksvollen Recitativo accompagnato : »Wie hast du dich,
mein Gott« und der malerischen, merkwürdig reibenden und
stechenden Begleitung des eigentlichenAriensatzes: (»Bäche
von gesalzenen Zähren«). In der Mitte geht dieses Rezitativ
einmal aus schmerzlichem Sinnen in wilde Erregtheit über.
Der Schlußchor des ersten Teils stellt diesem zerknirschten
Seelenzustand Hoffnung und Aussicht auf Heilung gegen-
über, die wunderbar fein eingeführten Worte« >Harr& auf
Gott« bilden den Kernpunkt dieses außerordentlich reich
und lebendig entwickelten Satzes. Die ganz frappant de-
klamierte Stelle »in mir« ist fast identisch mit dem »wenn er
will« im »Actus tragicus « . Der Schlußabschnitt dieses Chores
greift sichtlich auf Stimmung und Rhythmus des Eingangs-
satzes zurück. Der zweite Teil der nummemreichen Kan-
tate schildert die Erquickung des geängsteten Gemüts durch
die Hilfe des Herrn. Es ist wieder ein Dialog (Sopran und
Baß), der ihn beginnt. Der zweite Satz desselben »Komm*,
mein Jesu, und erquicke« ist für die Kirche etwas zu zärt-
lich und süß, eins der wenigen Beispiele, mit denen man
die unhaltbare Ansicht von dem Pietismus Bachs allenfalls
stützen könnte. Auch die Tenorarie fällt im Ausdruck der
wiederkehrenden Freude in einen weltlichen Ton, welcher
dem späteren Bach nicht untergelaufen sein würde. Ganz
groß sind aber die Chöre dieses zweiten Teils, der erste
»Sei nun wieder zufrieden« auch bezüglich der Form:
Choral mit Fuge. Der Choral, welcher von Stimme zu
Stimme wandert, ist: »Wer nur den heben Gott läßt
walten <. Der Schlußchor hat Händeischen Charakter.
§59
J. 8. Baoh,
Nun ist das
Der melodische Zuschnitt des Fugenthemas >Lob und Ehr*
und Preis« kommt in späteren Werken Bachs nur selten
wieder; am nächsten unter den bekannten Kantatensätzen
steht ihm das berühmte Thema des gewaltigen Kantaten-
torso: »Nun ist das Heil und/ die Kraft«.
Dieser Torso muß dem Text nach zu einer Michaelis-
kantate gehört haben, von welcher wir nichts weiter Heil und die
wissen. Spitta setzt ihn in die spätere Zeit des Kompo- Kraft -
nisten. Mit Recht gUt dieses Fragment für einen der ge-
waltigsten Chöre, die Bach überhaupt geschrieben hat;
die Wucht seiner Wirkung geht weit über seinen äußern
Umfang — 436 Takte — hinaus. Sie beruht nicht bloß auf
einer bedeutenden Inspiration, sondern Bach hat diesmal,
um seiner Vorstellung von der Größe und Herrlichkeit
Gottes den entsprechenden starken Ausdruck zu gebeji,
ungewöhnliche Mittel gewählt, Mittel, die nach mehr als
einer Richtung das Gigantische streifen. Technisch ist
der Chor eine Tripelfuge, an der in verschiedener Weise
acht Stimmen beteiligt sind. Schon die Themenaufstellung
greift über den üblichen Brauch und über das übliche
Maß hinaus, über den Brauch durch den melodischen
Aufbau des Anfangsteils, über die gebräuchlichen Maße
durch seine Länge. Er besteht aus folgenden 22 Takten :
■^'Af f Ml i'i' ir !■ I' lI^^
Nun ist das Heil und die Kraft und .dasrxReioh und die
Macht voK - eers Oot.tes sei . nes . Qfiria.tas ,vor.den«.'weU der ver.
■^ytiirPfiLüTj^
s
^m
e)
.i^l&aist»>.der-. sie Ter.lclai. .2ge.te, der sie ver.
]da .... ire.teTaic und Nacht vor Gott
Sicher bleibt der erste Teil des Themas — der mit
a) bezeichnete — der wichtigste, aber die beiden folgen-
den Teile sind weit mehr als freie Kontrapunkte, sie wer-
den von den fngierenden Stimmen genau aufgenommen
und jeder hat seinen eigenen Charakter. Der zweite
jubelt, der dritte, der überall die ernste Betonung des
Wortes »verklagte« herauskehrt, lenkt wieder in den
ersten Ton zurück. An der ersten Durchführung neh-
men die Stimmen des ersten Chores in der Reihenfolge:
Baß, Tenor, Alt und Sopran teU, Kontrabaß, Violen,
erste, zweite Violinen verstärken, die Orgel gibt die
harmonisch -rhythmische Begleitung. Als der Sopran
den ersten Abschnitt beschließt, setzen aber die beiden
übrigen instrumei^tengruppen — dreifache Oboen und
dreifache Trompeten mit Pauken — ein, die erste
Trompete mit dem Fugenthema, der Oboenchor mit
fröhlichen t^ y H f -TT fflT ^^ ^^^ °^^ ^^
Festsignalen : yV 'ii*| qJ \ ad-i— mit zu dem Motiv-
bestand des Satzes gehören. Dazu fällt aber auch der
zweite Vokalchor ein, sein Sopran mit dem Thema in der
Gegenbewegung:
i^t r i"r. r M.f r r i-i r r.i
Hiim ist das HieU vani die .Kraft and das fieidumd die-
ji*"!! J I I l|| jl hl Lfl I I I 1^
"Macht un . sers Oot.testei. « gwa Chris. tus «or.den
seine anderen Stimmen begleitend und füllend. ^
Das ist der erste von den mehreren Gipfeln des an
sich auf ungewöhnlicher Höhe stehenden Kunstwerkes.
Alle übrigen Durchführungen , deren die Fuge im
ganzen vier hat, sind freier gehalten. Schon die zweite
ist unvollständig. Nur der Baß des ersten Chores nimmt
das Thema in ihr ganz durch. Nach dem Einsatz des
zweiten Chores — mit dem Thema im Sopran — widmet
Bach der Betrachtung der Verworfenen und Verklagten
einen Abschnitt, in dem zuerst noch Glieder des The-
mas verwendet werden. An ihrem Ende jedoch singt er
r
— ♦ 661
die Worte »der sie
verklagetec in einer
neuen Weise:. ^ ^Oereiever. kl» *
Sie mischt in den großen Hymnus von der Majestät
Gottes, für einen Augenblick nur, aber tief ergreifend,
den Ton des Mitleids und der Trauer. Der Eindruck
der Stelle wird wesentlich dadurch verstärkt, daß Bach
darauf verzichtet, die Rückkehr in den Hauptton irgend-
wie zu vermitteln. Nach einem klagenden Aufschrei des
Soprans bricht er mit einer Generalpause ab, spricht durch
Schweigen und wendet sich dann ohne weiteres der dritten
Durchführung zu. Mit ihr beginnt die zweite Hälfte des
Chores. Im wesentlichen gleicht sie der ersten; in klei-
nen Zügen weicht sie auf Schritt und Tritt beziehuhgs-
voll ab. So gleich beim ersten Einsatz des Themas, in
dessen Vottrag sich diesmal die Chöre ablösen. Der zweite
Ciior, der In der ersten Hälfte zurückstand, ist jetzt mit >
dem ersten gleichwertig beschäftigt Bach gibt nun
meistens das Thema in zwiefacher Fassung, in der ur-
sprünglichen und in der Gegenbewegung zusammen.
Des weiteren sind die Farben auch in dem mitwirken-
den Orchester glänzender aufgetragen, verschiedene
Textstellen lebendiger, in bewegteren Rhythmen ge-
geben als bei der ersten Fassung. Die Wiederholung
gibt also den Inhalt des ersten Teiles bereichert und im
Ausdruck gesteigert.
Die Kantate »Ein' feste Burg« iät unter den im J. 8. Bach,
Konzert eingebürgerten die erste, in welcher der Choral Ein' feste Buij^.
mehrere Sätze durchzieht In der heute bekannten
Fassung ist das Werk erst 4789 vollendet worden. Dem
ersten Entwurf vom Jahre 4747, in welchem sie mit dem
Texte: »Alles, was von Gott geborene zum Sonntag Oculi
bestimmt war, fehlten zwei Häuptstücke, die Chöre Nr. 4
und 5. Beide sind Choralbearbeitungen, der erste eine
größten Stils. Die vier Stimmen führen die melodisch
variierten Zeilen des Liedes in Fugenform durch. Auf die
Singstimmen türmt der kühne Bauherr noch einen Kanon
zwischen Oboen und Orchesterbässen. Schmetternde
II, 4. 36
.—^ 562
Trompetenfanfaren, welche leider nur selten originalgetrea
zur Ausführung kommen, bilden die glänzenden Spitzen
dieser gewaltigen gothischen Musikburg. In dem andern
dieser zugesetzten Chöre, der Nr. 6, singen die sämtlichen
Stimmen den Choral einfach, aber in einem wuchtigen
Unisono. Das Orchester, thematisch von der ersten
Strophe ausgehend, breitet eine Flut von Kraft und Trotz
darüber aus, deren Wirkung elementar ist Die Nh 2, ein
Duett zwischen Sopran und Baß, bereitet den stürmischen
Charakter dieser einem Abschnitt aus der Völkerwande-
nmg gleichenden Szene vor. Besonders beachtenswert
sind in diesem Duett die stolz aufpochenden Motive der
Violinen. Von den duettierenden Singstimmen, wekhe
hier ausnahmsweise am besten chorweise besetzt werden,
bringt der Sopran den Choral. Die Bässe umkleiden
den Choral mit einem Triumphgesang, dessen Akzente
wie eherne Keile fallen, dessen begeisterte Figuren der
menschlichen Atemkraft fast spotten. Den beiden noch
übrigen Sologesängen der Kantate gehen rezitativartige
Einleitungen voraus, deren Schlüsse außerordentlich
schön in den Gesang überleiten. Der letzte dieser S(^o-
gesänge, das Duett: »Wie selig sind doch die« (Alt und
Tenor) ist eine von Bachs einfachsten und zugleich innig-
sten Arbeiten dieser Gattung.
Bekanntlich war Bachs Leipziger Zeit die ergiebigste
für die Kirchenkantate. Das erste Werk, welches uns,
von dem nicht sicher datierten Chor »Nun ist das
Heil usw.« abgesehen, aus dieser Periode im Kon-
zert begegnet, ist die Osterkantate vom Jahre 47S4
J. 8. Baoki »Christ lag in Todesbanden«. Das gerade dieses
Christ lag in Werk heute zu den bekanntesten Kirchenstücken Bachs
Todesbanden. zählt, ist eine erfreuliche Tatsache. Denn von keinem
andern fällt ein gleich starkes Licht einmal auf seine
dämonische Todesverachtung, zweitens auf den deutschen
Charakter seiner Kunst. Sein weitabgewandter Sinn
scheint niemals wieder so tief erregt worden zu sein
als durch das alte Lutherlied: »Christ ist erstanden« mit
seiner lapidaren Schilderung jenes Sieges, durch den der
-"-6- 563
Heiland dem Tod die Macht genommen, der sterbenden
Menschheit das Paradies erschlossen hat. So stolz, so
herb und gewaltig hat Bach sein Lieblingsthema nicht
zum zweitenmal durchgeführt,-« wie in dieser Kantate; so
unerbittlich grimmig und düster wie hier das Bild des
zu Boden geworfenen Todes nicht wieder gezeichnet.
Mit dieser Auffassung stellt sich Bach in den ent-
schiedensten Gegensatz zu den Italienern, die von Pale-
ätrina- bis auf Verdi den Tod immer freundlich, am an-
tiken Sinn, behandelt haben. Und Bach ist sich dieses
Gegensatzes bewußt gewesen, hat den strengen, alles
Weiche ausschließenden Eindruck seines in dieser Oster-,
kantate aufgestellten Todeszuges durch die Form ver-
schärft Die Kantate »Christ lag in Todesbanden« ist
die einzige unter Bachs bekannten Kirchenkantaten, die
jeglichen italienischen Einfluß bis auf eine einzige ge-
ringe Spur abweist. Der Text hält sich ganz ausschließ-
lich an das Gesangbtichlied, kein Wort freier madsigali-
scher Züdichtung. Die Musik verzichtet völlig auf
Rezitativ, Arie, auf alle modernen Elemente und ent-
wickelt sich ausgesprochen altdeutsch und protestantisch
aus der Ghoralmelodie. Die Kantate »Christ lag in Todes-
bänden« ist unter den strengen Choralkantaten Bachs die
strengste, sie ist einer der gewichtigsten Beiträge zu jener
Kunst der Choralvariation und Choralau'slegung, die seit
Eccard und Scheidt in Chor und Orgel zur Blüte gediehen
und das rühmlichste musikalische Stück deutscher Selb-
ständigkeit geworden war.
Ph. Spitta hat darauf aufmerksam gemacht, daß Bach
für einzelne Sätze dieser Osterkantate eine Komposition
desselben Textes von seinem Amtsvorgänger Johann
Kuhn au als Vorlage im Auge gehabt hat. Bach hat
sich aber von dieser Anregung aus weit über Kuhnau
hinweg in den Geist vergangener, glaubensstarker, kräf-
tiger Zeiten seines Volkes vefsetzt. Ist doch die luthe-
rische Melodie aus einem alten deutschen Kirchenlied
hervorgegangen, das mit dem Text »Christ ist erstanden^
ins 4 2. Jahrhundert zurückweist. Besonders aber begegnet
36*
564
sich Bach in der EmpfiiaduDg und den Mitteln seiner Kan-
tate mit Holbein, Granach und mit vergessenen Vertretern
bildender Kunst aus der Reformationszeit.
Die Ghoralmelodie/ die in sieben Sätzen variiert
wird, heißt:
J7\ . . - (^
^''*Mi'i>i,rriiTi7f iJn'hf Jijjjjüi
(Christ lag In To-des . ban . den .für Qn8.re Sund ge . stör . ben,l
« Er«' ist wieder er«' 8tan. den und haiunsbradit das Xie • ben.'
A'j Ji>i jN >iiri II 'I II n\m
V T\.o _-f _ s. .^1 1.. «-:ti. i:«!. ««:^ rL.AA 1^ v.^^ ...J rUii» Ji^^kluis
1
Defl wie 1 8ol. len frölulich sein^Gfott lo. ben und ihm dankJbar
^1 HUI vif'i" '■■'■"
"^ sein und sin4ren HaLI» • lu . iah», ■* -Ual '. I0 . In • iah!
sein und sin^^en HaLI» . lu . jah»,
Bach stellt sie schon an die Spitze der Instrumental-
einleitung (EmoU, O) die er dem Ganzen vorausschickt,
einen kurzen Satz für fünfstimmiges Streichorchester und
Orgel, den er »Sinfonia< überschrieben hat. Diese Sin-
fonia ist die erwähnte einzige Spur italienischen Ein-
flusses in der Kantate. Es ist eine Symphonie nach
dem Sinn und Muster des Venetianers Giov. Gabrieli,
dessen Kirchensymphonien ja, wie bereits öfters bemerkt
wurde, in Kantaten, Oratorien, Passionen von allen Deut-
schen des 4 7. Jahrhunderts nachgebildet wurden. Selten
findet man aber diese Einleitungssymphonien in analogen
Fällen so wie hier bei Bach auf den Choral gestimmt.
Die Bachsche Symphonie gibt in der ersten Hälfte die
Hauptzeile des Chorals ziemlich wörtlich:.
i^M f'rHrüüri
Die kleinen Zusätze und Änderungen, die sie erfahren
hat, haben deutsches Gepräge in der wunderbar eindrucks-
vollen Hervorhebung eines kurzen Motivs, nämlich der
-^ 565 ♦—
zwei Noten, mit denen der Choral beginnt, in der Verwen-
dung des Echos l[zweiter und yierter Takt) wenden sie sich
absichtlich deutlich alten Zeiten zu. Die gleich kurze
zweite Hälfte des Vorspiels spricht die Ergriffenheit aus,
in die das aufgestellte Bild versetzt, am stärksten in einer
von den ersten Violinen vorgetragenen unbegleiteten Figur.
Der erste Vers ist am breitesten und zu einem
großen Chor von bald 400 Takten in der Weise ausge-
führt worden, daß der Sopran den sogenannten cantus
firmus, d. h. den Choral in Originalform singt, die unte-
ren Stimmen in wechselnden Kontrapunkten begleiten.
Kornette und Posaunen, beide Violen und Bässe ver-
stärken die Chorstimmen, die Violinen illustrieren in
selbständigen Motiven. Bach hat vorher und nachher,
z. B. in »Ein' feste Burg« und in d,er »Matthäuspassion«
sicherlich prachtvollere Eingangschöre auf Choritlmelo-
dien aufgebaut, aber keinen, der den Gehalt eines Liedes
konzentrierter zum Ausdruck bringt. Das erreicht er
hauptsächlich dadurch, daß er die Kontrapunkte immer
vom cantus firmus ableitet. Die ersten Zeilen: »Christ
lag in Todesbanden für unsre Sund* gegeben« machen
davon eine Ausnahme: in ihnen klingt die Melodie des
Chorals im Alt, Tenor und Baß nur schwach, nur mit
dem kurzen Anfangsmotiv an, der Sopran dominiert
nicht bloß formell, sondern sein trauernder, klagender
Gesang gibt dem Anfang der Kantate einen sinnigen,
auf das Bild von den »Todesbanden« gestützten Char-
freitagston. Das wird aber von der dritten Zeile ab
anders. Mit den Worten »er ist wieder erstanden«
kommt in die unteren Stimmen selbständiges Leben, sie
greifen der Führung des Soprans vor, wenden dessen
Gedanken in eigener kräftiger Weise. Der Alt setzt
die fällige Choralzeile in r^ f , , , | ( | | | ^
verkürztem, energischem =^ JyJ J ' * * *jl I j)
Rhythmus ein, erst: er Jstwie.der er.staa.den
^ Tenor und Baß
dann
J t L ■ i L Liiiriri i"C ' Tenor und Baß
• ^ Ji« J^ /U1 J > J JJJU^ nehmen diese Wen-
er !W wMarV; suaTTT^ %aL düngen auf und
566
bauen sie zu einem dreistimmigen Fugato aus; erst an
dessen Ende tritt der Sopran mit der offiziellen Fassung:
} t I.. i I T^ r I /jTjTI*"" ^®° Aufbau krönend hin-
<h p \pi f If f IfT^ zu. Dieses auf den Orgel-
'jSfi ist wi©.dßr^eri:;..BUtii.4ea.* choral Pachelbels zuriiek-
greifende Verfahren behält Bach bis zur sechsten Zeile
bei. Die Nebenstimmen bereiten die Hauptstimme vor,
der breite cantus firmus des Soprans setzt als der not-
wendige Abschluß einer dem Zuhöirer ganz vertrauten
und in freier Begeisterung vorgetragenen Gedankenreihe
ein. Bei diesen Umbildungen der Kirchenweise findet Bach
Gelegenheit, in ungesuchter Art den Charakter der em-
zelnen Textzeilen eingehender zu berücksichtigen. Am deut-
lichsten zeigt das der Abschnitt über die Worte: »deß wir
sollen fröhlich sein« mit dem Figurenstrom über »fröhlich«.
Die Anlage des Ganzen ist dabei darauf gerichtet,
den Ausdruck der Osterfreude immer kräftiger zu ge-
stalten, und daran nehmen die beiden Violinen einen
starken Anteil. Sie sind es, die bereits am Anfang des
Verses, wo die Musik im Obrigen noch im Bann trüber
Todesgedanken hinschreitet, bereits auf die »fröhliche Ur-
ständ*« hinweisen, von der die alten Dichter singen. Mit
Motiven, die organisch aus dem Choral abgeleitet sind:
Q I und ähnlichen umflattern sie die gehal-
m y r^^r T r • tenen Gänge des Chors und erwecken Er-
'^' ' * I ' ' innerungen an figurenreiche, ringsum von
Kleingestalten belebte alte Bilder des »Jüngsten Gerichts«.
Gegen den Schluß hin, je mehr sie sich dem Halle*
lujah nähert, nimmt die Musik des Satzes immermehr
den Bach eigentümlichen Charakter seliger Streitbarkeit,
eines aller Welt trotzenden, herausfordernden Glaubens-
glücks an. Da wird auch der Sopran in die allgemeine
Erregung mit hineingezogen, gibt in den beiden letzten
Zeilen seinen breiten cantus firmus auf und fugiert im
gleichen Ton mit den andern Stimmen. Zwischen den ersten
Einsätzen dieses Hallelu- ^'^ ^ k ■!' \ L "l L. l i-
jah, seinen mächtig auf- ro,hlj)T7jli)J^ Jv Jyi=j=
schlagenden Rhythmen: . Hal.le» «llttjali,Halle:k^Jiüi.
—^ 567 ♦—
und dem berühmten Hallelujah des Händelschen Messias
besteht eine innere Verwandtschaft Aus beiden spricht
die Ekstase mit einer fast dämonischen Energie. Der
Anhang des Chors — 27 Takte bloß auf das Wort Halle-
li:gah -r- entlädt den inneren Jubel in einer Form, wie
man sie nur in deutsdier Kirchenmusik, am freiesten in
Beethovens Missa sol«mnis findet, in einer Sprache, die
sich über die kirchliche Gebundenheit nahezu hinweg-
setzt Wenn das Hallelujah in der Achtelbewegung
Stimme für Stimme, auf vier Takte hin ohne anzuhalten
nach der Höhe stürmt, steht man unter dem Eindruck
einer elementaren Kunst, wie vor einem gewaltigen
Strom, der die Deiche durchbrechen will. Doch hat
Bach mit überlegener Sicherheit den liturgischen Grund-
charakter hier gewahrt Denn auch das Thema dieser
rauschenden, fast durchweg in Engführungen geführten
Fuge
AlUk
A''»rJ^JiJ)rprrl.-''-''p"lMi.l'J''^'lp'l)^
ruht auf dem Choral, auf seiner letzten Zeile. Nach der
zweiten Durchführung staut Bach die Fluten; über-
raschend, überwältigend kehren die harten, trotzigen
Rhythmen wieder, mit denen das Hallelujah zuerst ein-
setzte. Sie wollen sich behaupten, aber schließlich
endigt der Satz doch mit breit hin durch alle StimAen
fließenden Melodien eines dankerfüllten Gemüts.
Der zweite Vers, ein Zwiegesang (EmoU, C) zwi-
schen Sopran und Alt, die durch Kornett und Posaunen
verstärkt und nur von der Orgel begleitet werden, hält
sich enger und kunstloser als alle andern Variationen
an den einfachen Choral. Das erklärt sich aus dem
Texte, der die Macht schildert, die der Tod in der vor-
christlichen Zeit besaß. Er hat nur von Not und Übel
zu berichten und dazu eignet sich die einfache Choral-
weise mit ihrem traurigen Grundton am besten. Die be-
scheidenen Zusätze eigenen Geistes, die Bach mit ein-
^
—4- 568 ♦—
fügte, bestehen hauptsächlich in einigen bedeutsamen
Wortwiederholungen. Die bei dem Worte »Tod«, die
eindringlichsten, erinnern wörtlich an den Anfang der
Sinfonia. Auch das »Hallelujah« wird mehrmals ge-
sungen und seine Originalmelodie am entschiedensten
erweitert. vDas Verhältnis der beiden Stimmen ist ab-
sichtlich äußerst schlicht; kaum zeigt es bemerkenswerte
Nachahmungen. Auch diese architektonische Armut ge-
hört mit zum Charakter des Satzes; er verlangt schließ-
lich auch eine gewisse Leere des Klanges. Darauf muß
hingewiesen werden, weil sich ohne jegliche historische
Begründung bei diesem Duett, wie auch bei anderen
Solosätzen in Bachschen Werken der Brauch einzubür-
gern sucht, die Solostimmen in Ghorbesetzung vorzu-
tragen.
Auch im dritte n Vers (Emoll, O singt die Solostimme,
der Tenor, den Choral zum größten Teil ohne wesentliche
Änderungen, nur die Zeilen durch Instrumentenspiel ge-
trennt; erst beim Hallelujah greift sie in freien Bildungen,
in jubelnden Figuren aus. Aber durch den Violinenchor hat
Bach diesen Satz zu einem selbständigen Tonbild gemacht.
Er führt das eben- P^n i^^f
ZU einer Siegesmusik aus, in die der Solist den erklären-
de«^ Text hineinsingt. An zwei hervortretenden Stellen
übernehmen die Bässe die Figuren der Geigen, ^beim
Hallelujah und bei »Da bleibet nichts denn Todsgestalt<.
Die letztere hat Bach auch noch durch ein plötzlich ein-
geworfenes Adagio und durch ein allgemeines Stocken
des Vortrags vor dem entscheidenden Worte »Tods-
gestalt« ausgezeichnet.
Der vierte Vers »Es war ein wunderlicher Krieg«
ist wieder ein Chorsatz, doch wird er nur von der Orgel
begleitet. In der Anlage gleicht er dem Eingangschor
darin, daß die kontrapunktierenden Nebenstimmen —
diesmal Sopran, Tenor und Baß — ihre Themen zum
Fugieren dem vom Alt gesungenen cantus firmus ent-
nehmeir, dem sie wieder in Pachelbelscher Art voraus-
gphen. , Den Charakter des Satzes bestimmt eine auf-
fallend geschäftige Rhythmik. Sie schreitet vorzugs-
weise, ähnlich wie das Duett der falschen Zeugen in
der Mätthäuspassion, in beschleunigten Achteln dahin,
hängt aber noch sehr reichlich Sechzehntelfiguren an.
Alles mit Bezug auf die »wunderliche« Natur des Kriegs,
von dem erzählt wird. In förmlichen Hohn lenkt die
Schilderung an der Stelle ein: »wie ein Tod den andern
fraß«, die Stimmen wiederholen da ihre kleinen Figuren
übermütig und. grotesk. Auch im Hallelujah klingt noch
die Schadenfreude mit an, mit der das Bild des würde-
los gefallenen Todes gezeichnet ist.
Derselbe chromatisch abschreitende Baß, über dem
das Grucifixus der Hmoll-{kIesse sich aufbaut, eröfifnet die
fünfte Variation der Kantate: »Hier ist das rechte
Osterlamm«. Sie erzählt denn auch vom Kreuzestod
des Herrn. In ihren Vortrag teilt sich ein Solobaß mit
dem Streichorchester in der Weise, daß der Baß die
Choralzeilen vorsingt und die erste Violine sie ohne
Pause in der Quint oder Oktav nachspielt, während
jener, seine Worte in freien Kontrapunkten nochmals
wiederholt An einzelnen Stellen ist die Orginalfassung
des Chorals nach dem Beispiel der Böhmschen Orgel-
choräle erweitert. Es sind Takte mit Figuren eingelegt,
um einzelne Begriffe in Bilder zu fassen, wie z. B. das
Kreuz. Beim »Tod«, beim »Würger« sind einzelne Töne
zu demselben Zweck verlängert, die Stelle »Blut zeich-
net« wird ganz wiederholt, an einer anderen Stelle das
Wort »nicht« zum Ausdruck größter Entschiedenheit.
Wie nach dem kunstvollen, fantasiereichen ersten
Vers der zweite durch seine Schlichtheit wirkt, so hat
auch Bach im Endteil der Kantate wieder für gut ge-
funden, auf eine Reihe vollerer Bilder einfachere folgen
zu lassen. Der sechste Vers ist nach Klang und Be-
handlung der Gedanken einer der bescheideneren Sätze,
obwohl sein Text zur, Entfaltung einer in Form und In-
halt großen Kunst Veranlassung geboten hätte. Bach
— ♦ 570 *—
hat die Ghoralmelodie wieder wie im zweiten Vers in
Duettform gebracht. Doch sind diesmal die beiden Solon
stimmet — Sopran und Tenor — ebenbürtig behandelt,
• stellenweise auch sehr beziehungsvoll, einmal im soge-
nannten doppelten Kontrapunkt, geführt. Die Ände-
ruilgen am Choral bestehen in neuen Schlüssen der
einzelnen Zeilen. Sie greifen mit ihren perlenden
Triolenfiguren weit aus und tragen in die melancholisch
ernste Kirchenmelodie Osteijubel hinein. Doch bleibt es
bei Andeutungen. / Zum Teil hängt diese Beschränkung
auch damit zusammen, daß die alte Musik am Ende
mehrsätziger Kompositionen abzutönen liebt, selbst in
der Instrumentalkomposition, wenigstens in einzelnen
ihrer Zweige.
$0 besteht denn auch das Finale von > Christ lag.
in Todesbanden« wie bei der überwiegenden Mehrzahl
der Bachschen Kantaten in einem schlichten Vortrag
des Chorals durch alle Stimmen und Instrumente, 4er
sich über die gewöhnliche einfache Form des Gremeinde-
gesangs nur durch feinere Stimmführung und Harmonie
erhebt. Eine der ausdrucksvollsten dieser Wendungen
ist der Trugschluß am Ende der vorletzten Zeile.
Erst in neuerer Zeit begegnen wir zuweilen einer in
demselben Jahre (4724) aufgeführten aber noch in Cöthen
J. 8. Baoh» komponierten Kantate »Du wahrer Gott und Davids
Da^wahrer Sohn«. Der Choral, welcher ihr zugrunde liegt, ist —
Gott. zuerst mit dem Tenorrezitativ einsetzend — : »Christe)
du .Lamm Gottes«; der schönste Satz der Kantate das
Adagio mit den herrlichen Zwischenspielen, welches
nach dem Chore »Aller Augen warten auf dich« be-
ginnt. Die Dichtung knüpft an das Evangelium ; vom
Sonntag Estomihi an, in welchem erzählt wird, wie ein
Blinder am Wege durch den nach Jerusalem ziehenden
Heiland das Augenlicht wieder erhält.
Von einer großen Reihe Bachscher Kantaten läßt
sich nur die Periode der Entstehung, nicht aber das ge-
naue Jahr bestimmen. Von den bekannteren gehören
außer der oben erwähnten »Herr gehe nicht ins
574 ♦--
GerichU' hierher: »Halt im Gedächtnis Jesnin J. &• Baoli,
Ghtist«, »Es ist dir gesagt« und »Liebster Gott wann * Hen gehe
werd' ich sterben«. Sie fallen in den Zeitraum 47)3—87. nicht;
Systematische Zü^e haben sie nicht gemein. Die herr- Halt im Ge-
Hchste ist »Halt im Gedächtnis« durch die Stelle des dSchtiiiS}
Schlußsatzes , wo die Bässe als Himmelsstimmen das Es ist dir
»Friede sei mit euch« einsetzen. Der Ort, an welchem gesagt
Bach dasselbe ganz einzige Motiv in seiner Adur-Messe
anbringt, ferner die Verwendung des Chorals »Erschie-
nen ist der herrlich* Tag« weisen darauf hin, daß seine
Fantasie bei dieser Komposition mit Weihnachtsgedanken
erfüllt war. In der Kantate »Es ist dir gesagt« erregt
der harte feste Charakter des ersten Chores ebenso sehr
unser Interesse wie seine merkwürdige Disposition. Was
dem Menschmi gesagt ist, erfahren wir die erste Hälfte
des Satzes hindurch nicht Da mit einem Male kommt
das (von Bach eingeschobene) »nämlich« in lapidarer
Form. Kein zweiter Komponist hat ein Kolon so in^
seine Rechte eingesetzt. Die Wichtigkeit und Strenge
d6s Gebots zu betonen ist die geniale, zunächst aber
etwas befremdende Einteilung der Musik allerdings Wie
nichts anderes geeignet Der Choral der Kantate ist
die Melodie »0 Gott, du f^rommer Gott«. Unter der
großen Zahl von Kantaten, welche den Tod als Glück
preisen, nimmt die Kantate »Liebster Gott« eine sehr J. 8. Baohi
abweichende SteUung ein. Sie hat wenig oder gar nichts Liebster Qbtt.
von der düsteren Melancholie, welche sonst überwältigend
aus diesen Kompositionen spricht Ja ihre Freude über
die Vereinigung mit Jesu (in der Baßarie) kUngt fast zu
hell und zu profan. Dieser liebliche Grundton mag wohl
damit in Verbindung stehen, daß die Kantate für den
Sonntag bestimmt war, an welchem das Evangelium von
dem Jüngling von Nain verlesen wurde. Ein Sterben in
der Jugendzeit, Begrabenwerden im Frühling, wenn die
Vögel in das Trauergeläut hineinsingen — das sind die
Vorstellungen, welche namentlich den ersten Chor zu
erfüllen scheinen, in welchen das von Bach oft kopierte
Geläute der Trauerglocken so merkwürdig hoch und
— ♦ 57« ♦—
lebendig, fast anmutig und wie von Lerchenschlag be-
' gleitet, klingt Die Kantate hat keihen eigentlichen
Choral, sondern statt dessen eine in einfacher Form ge-
haltene geistliche Arie von der Komposition des Leipzi-
ger Organisten Vetter.
J. B. Badhi In das Jahr 4 728 gehört die Kantate »Wör nur den
Wer nur den lieben Gott läßt walten«, welcher das bekannte Ge-
Ueben Gott dicht und die dazu gehörige Melodie von G. Neumark
zugrunde liegen. Wenn allgemein bekannt, wird diese
Komposition wahrscheinlich Unter der Zahl der popu*
lären Kirchenkantaten Bachs einen der ersten Pl&tze
einnehmen. Ihr Text, eine von Picander zugerichtete
milde Geduldspredigt, ist allgemein zugänglich, ihre
Musik, im Grundwesen mehr sinnig als gewaltig, sagt
dem modernen Geschmack namenthch durch die große
Freiheit des Ausdrucks zu. Die Kantate hat formell mit
»Christ lag in Todesbanden< eine gewisse Verwandt-
schaft, insofern als sie ebenfalls für alle Nummern den
Choral benutzt. Aber währei^d jene ihre Formen streng
dm^chbildet, treibt hier Bach mit ihnen ein anmutig
fantastisches Spiel, nimmt bald ganze Teile, bald nur
kleine Anklänge aus dem cantus firmus, fährt eine
Strecke genau durch, schlägt dann wieder ganz über-
raschende rezitativische Wege ein: kurz der Komponist
bewegt sich in dieser Kantate wie in einer leichtgefdg-
ten, geistreichen Improvisation, in einer Freiheit von
Form und Ausdruck, daß man zuweilen eher an Philipp
Emanuel als an Sebastian Bach denken möchte. Der
weitest angelegte Satz ist der erste Chor. Seine Maße
schweifen aus. Schön ist die Doppelwirkung des Cho-
rals in ihm, der zum Gerüst und gleichzeitig zur Ara-
J. 8. Baoh, beske benutzt wird.
Wei da Aus dem Jahre 4 785 begegnen wir in unsern Konzert-
glanbet; aufführungen drei Kantaten: »Wer da glaubet und ge-
Wir dtnken tauft wird«, »Wir danken dir« und »Gott, der Herr,
dir; ist Sonn* und Schild«. Die erste feiert in lauter hellen
Gott, der Heir, Farben die Segnungen des Glaubens. Wunderschön ver-
ist Sonn'* bindet der erste Chor die Schilderung des Friedens und
1
— ♦ 673 ♦—
der Weihe im Herzen des Gläubigen und der begeisterten
Kraft, die ihm vom götthc&en Worte zuströmt In mehr
fließender und im Schwünge um sich greifender Form
durchlebt das letztere Element auch die Baßarie: »Der
GlaubjS schafft der Seele Flügel«, eines der schönsten
Stücke • der Gattung. In den Ghoralsätzen handelt es
sich um die Melodie %Wie schön leuchtet der Morgen-
stern«. Die zweite Kantate »Wir danken dir« ist eine
der vielen 'Rätswahlkantaten, zu deren Komposition Bach
dittch seine Amtspflichten als städtischer Musikdirektor
verbunden war. Auch seine zweite nachweisbare Kan^
täte, die einzige, welche zu des Komponisten Lebzeiten
in Druck kam, die Mühlhausener Kantate »Gott ist mein
König«, ist eine Ratswechselkantate. Als echte Fest-
musik steht die Leipziger Kantate »Wir danken dir« in
Ddur. Den ersten Satz muß man sich zum Einzug der
Ratsherrn gespielt Renken. . Es ist ein Orgelkonzert mit
Orchester: Motive, welche uns aus der bekannten Dmoll-
Toccata geläufig sind, tragen die musikalische Idee. Der ,
erste Chor »Wir danken dir« ist über dasselbe altUtur-
gische Thema aufgebaut, welches in der HmoU-Messe
dem Chore »Gratias agimus« zugrunde liegt. Einen
drastischen Effekt, wie sich ihn Bach selten erlaubt,
zeigt der Schluß des ersten Rezitativs, indem der Chor
plötzlich mit »Amen« einfällt. Die dritte der eben zu-
sammen genannten Kantaten: »Gott, der Herr, ist
Sonn* und Schild« gehört unter die freien Choral-
kantaten. Die beiden Choräle, die der Chor im ein-
fachen Gemeindestil' vorträgt, sind: »Nun danket alle
Gott« und »Wach auf, mein Herz, und singe«. Neben
ihnen enthält sie nur noch drei Kunstsätze, darunter
einen einzigen Chor. Das ist für eine Bachsche Refor-
mationskantate eine ungewöhnlich bescheidene Anlage.
Das Jahr 4735 trübte jedoch für Sachsen die Reforma-
tionsfreude» . durch die Wiener Friedenspräliminarien
schienen die Gefahren, mit denen der polnische Erb-
folgekrieg das Land bedrohte, noch nicht beseitigt.
Dieser besorgten Stimmung hat Bach in seiner Muidk
— ♦ 574 ♦—
Rechnung getragen, zum Teil mit der Absicht sie zu
überwinden.
Besonders ist der erste Satz, der stattlichste der ganzen
Kantate, der Aufrichtung gedrückter Gemüter gewidmet
Er stellt vor die Fantasie ein Bild des Friedens und der
Freude und sucht die Gefühle der Kraft und des Ifots zu be-
leben und zu erwecken. Dem ersten Ziel dient das freudig
heitere Thema, vnst^gn ««ktento.
Satz eröffnen: ä.i^B. H. 0. ab. o.
Das ist eine volkstümliche Melodie vom Schlage des
Händeischen: »Seht, er kommt mit Preis gekrönt«, eine
Anspielung auf Friedensfeiern und heimziehende Krieger.
Bedeutungsvoll wird sie von lebhaften Schlägen der
• ^^,_^ ■ Nach wenigen
Pauke begleitet: !^» ^ J J J J J ^^^u>w j^^^^ ^^^
Bach diesen Eingangssatz von »Gott der Herr usw.« für
eine seiner Kleinen Messen, die in Gdur, benutzt. Da
singt der Chor über die Hornmelodie sein Gloria, das
Paukenmotiv aber hat Bach gestrichen.
Dem Kampfesmut und dem Siegesvertrauen gibt Bach
durch ein Thema Ausdruck, das an den Rhythmus der
Pauken anschließt:
i'»rrrrf
Es wird von Streichinstrumenten
und Oboen zu einer dreistimmigen
Fuge aufgenommen, in der zweiten
Durchführung verbindet sich mit ihm der Gesang der
Homer, die Friedensklänge kehren wieder, diesmal erregt
umspielt und^ mit einem Schluß, der den Jubel streift
So weit die Einleitung des Satzes, deren Aufbau in
drei Abschnitten das beliebte Schema der dreiteiligen
Arie durchblicken läßt Genau dieselbe Anordnung, nur
in größeren Verhältnissen, wiederholt nun auch der
Hauptteil vom Ghoreinsatz ab und auch dieser Haupte
-^ 675 ♦—
teÜ bleibt im wesentlichen Orcbesterkomposition. Die
Singstimmen sind — wie der Techniker sagt — nur
darüber geschrieben, aber doch mit einem wunderbaren,
.eigenen Ausdruck. Dieses bei Bach sehr häufige, manch-
mal bis auf die wörtliche Übernahme von Konzert- und
Suitensätzen gesteigerte Verfahren war im 4 8. Jahrhun-
dert ■ weit davon eQtfernt Anstoß zu erregen. . Hatten
doch in der Liturgie reine Orchestermusik und Solospiel
noch ihren festen Platz. Den Text verteilt Bach auf
drei Gruppen. Die beiden Zeilen:
f Qtoii, der Herr, ist Sonn' und Schild,
Der Herr gibt Gnade und Ehre
bilden die erste, die Worte: »Er wird kein Gutes mangeln
lassen den Frommen« die mittlere. Die dritte Gruppe ist
im Text einfache, in der Musik erweiterte Wiederholung
der ersten. Hauptsatz und Einleitung haben aber auch
das gleiche thematische Material, denn als Hauptthema
der ersten Ghorgruppe zeigt sich der Friedensgesang (a),
mit dem der Satz begann. Zwar setzen die Singstimmen
auf die ersten Zeilen mit eigenen Melodien ein, — auf
»Gott der Herr usw.« mit dem Baß als Hauptstimme, choral-
artig breit, auf »Der Herr gibt Gnade usw.« in schönen
Nachahmungen des f r^^^ f f ^üp # I Tür 1
lundlichen Gedankens: vy f I II ' I ri!ul''"r' '
asw.
freundlichen
— aber sie führen sie nicht durch und treten, sobald
der Text ausgesprochen ist, das Wort an die Homer ab,
deren Thema den Abschnitt wie ein Refrain beherrscht,
den Spruch des Chores begründend, bekräftigend und
beweisend, lliema b) hat in dieser ersten Gruppe eine
Nebenrolle, es dient als begleitender Kontrapunkt zu den
beiden Chorstellen. Zu um so größerer Bedeutung ge-
langt es aber in der mittleren. Hier wird es ähnlich
wie an der entsprechenden Stelle der Einleitung zu
einer Fuge ausgeführt, aber diesmal zu einer eingehen-
den, mehrteiligen, die durch Engführungen, Umkehmngen,
doppelte Kontrapunkte die vertrauensvolle Stimmung der
Frommen zu sehr entschiedenem Ausdruck bringt. Vor-
wiegend klingt die Freude an Gott aus diesem Fugensatz.
An seinem Ende aber — es ist nach dem dritten Einsatz
des Basses — kommt ein düsterer, streitbarer Ton auf:
Bach hat der Feinde der Frommen gedacht. Diese Wen-
dung will eb^n — von den Sopranen her — einen" ener-
gischen Charakter annehmen. Da setzen ganz plötzlich
die Hörner mit der Friedens^ und Siegesmusik des The-
mas a) ein. Es ist die herrlichste Stelle des ganzen
Chors und ihr entspricht die ganze Natur der sich daran
anschließenden dritten Gruppe: des Wiederholungsteils,
der sogenannten Reprise. Sie ist das Ideal eines da
capo, gibt wie es sein soll, der Wiederholung des An-
fangs jetzt die Kraft eines Beweises und hebt die uns
bekannten und vertrauten Worte und Töne zu doppelter
Wirkung. D^e Mittel, durch die das Bach erreicht, sind
scheinbar einfach, jedenfalls äußerst natürlich. Die Zu-
sammenlegung des ersten choralartigen Choreinsatzes
mit den beiden Orchesterthemen und das Einfallen der
Chorstimmen in den Gesang der HÖmer tut dabei die
Hauptsache.
Die dem Chore folgende Altarie (Ddur, 0/3) nimmt
den Gedanken, daß Gott Sonn* und Schild ist, nochmals
und mit ziemlich gleichen Worten wie der Qior durch.
Aber während er sich im Chor auf erregtem Grunde ge-
staltet, Kriegs-, Sieges- und Festbilder hervorruft, wendet
ihn in der Arie ein ruhiges Gemüt zu einem einfach
frommen Danklied. Sein schUc)it volkstümlicher Cha-
rakter wird durch den Anfang des Hauptthemas bestimmt:
j fcff' L '^""" j iT I I 1^ I ^^^^ ^^®^® ^^^ ^st
<^H[ J^ J J) JJj J I i" J=^F=I dreiteülg, doch be-
Gott ist un.86r_JLL''SoiafundSchild. steht ihr mittlerer
Teil im wesentlichen nur aus einer Versetzung des Haupt-
satzes von D- nach Adur. Der Aufbau des Satzes folgt
der alten Form des Strophenliedes und dient also auch
hierin der Absicht, in der Zunge des Volkes zu sprecheuy
Die höhere Kunst hat ihren Anteil an der Komposition
auf die Mitwirkung eines in Scarlattischer Art obligat
gehaltenen Soloinstruments beschränkt, die sich Bach
•J
bekanntlich in seinen Arien nur in seltenen Fällen ver-
sagt. Nach der Originalpartitur ist dieses Soloinstru-
ment die Oboe, nach den Originalstimmen eine Flöte.
Diesmal verdient die Willensmeinung der Originalpartitur
den Vorzug, schon weil sich der Klang der Oboe dem
der Altstimme besser eint. Die Musik dieser Oboe ruht
auf dem Thema des Gesangs, trägt aber schon in das
Vorspiel anmutige Figuren hinein. An drei Stellen (Takt 8,
98, 46) hat sie Bach sehr wirksam durch den alten Echo-
effekt belebt.
Mit dem Choral »Nun danket alle Gott« (Gdur,
O schließt der erste Teil der Kantate. Der vierstimmige
Chor singt ihn im einfachen Kirchensatz, das Orchester
aber spielt die Friedensmusik des Eingangschors hinein;
Anfang und Ende des Teils sind demnach ähnlich the-
matisch verbunden, wie im zweiten Teil des Weihnachts-
oratoriums, wo Bach das Pastorale im Schlußchor wieder
aufnimmt. Je seltener dieses poetische Verfahren in der
alten Kirchenmusik vorkommt, desto wichtiger ist es für
die Erkenntnis Bachscher Kunst.
Der zweite Teil der Kantate wurde nach der Predigt
aufgeführt und scheidet sich vom ersten scharf im Cha-
rakter. Dieser ist auf Hoffnung, Freude und Dank ge-
stimmt, der zweite auf Sorge und Bitte. Das ihn ein-
leitende Baßrezitativ: »Gott Lob, wir wissen den
rechten Weg zur Seligkeit« nimmt zum erstenmal
die Idee des Reformationsfestes deuthch auf^ rühmt die
Wohltat des protestantischen Bekenntnisses, geht aber
davon sofort über auf dessen Gegner und bittet um ihre
Erleuchtung. Das Auffällige ist nun aber, daß nach
dieser Stelle nicht wieder in die Stimmung des ersten
Teils der Kantate eingelenkt wird. Das als Arie be-
zeichnete Duett von Baß und Sopran: »Gott, ach Gott,
verlaß die Deinen nimmermehr« (Hmoll, C) schlägt
einen trüben Ton an und vertieft sich in die Gefahren,
die der Kirche und dem Lande von den Feinden des
Glaubens drohen. Und unter dem Druck dieser Vor-
stellung geht die Kantate mit dem kurzen Choralvers
n, 4. 37
> Erhalt* iin& in der Wahrheit« (Gdur, 8/4) zu Ende,
nicht jubelnd, wie es der Charakter des Festes erwarten
läßt, sondern ganz demütig. Es ist wohl kaum zu be-
zweifeln, daß dieser wunderliche Ausgang den Zeitver-
hältnissen entsprach. Ein Seitenstück dazu bietet die
Kantate: >Herr Jesu Christ, du Friedensfürst«*), die von
Dörffel mit der Schlacht von Kesselsdorf in Verbindung
gebracht wird. Im ersten Teil unserer Reformations-
kantate hat Bach über die Sorgen der Gegenwart hinaus-
geführt, im zweiten hat der große Melancholiker sich
ihnen gebeugt und sucht ihnen mit Gebet zu Gott zu
begegnen. Der Hauptträger dieser Aufgabe ist das an-
geführte Duett, ein auch in der Form sehr ungewöhn-
liches Tonbild, dem Inhalt nach eine Szene, die in den
Vordergrund den geängsteten Beter, in die Mitte und auf
die Seiten drohende und drängende Feindesscharen stellt.
Sie sind vertreten durch den Chor der Violinen, der mit dem
stolz stampfenden, an den zweiten Satz von >Ein^ feste Burg«
Sr"'" y».iJiii^irjrjiiq;^irjrjir
beständig unterbricht und stört. Den Beter zeichnen die
beiden Singstimmen mit der Melodie:
fTfif I f III II lu I I'
Qott» ^^ - Gott, ver.laS die De», nen nimj&er.iiiehr.
Ti*ast in jedem Einsatz kehrt sie wieder und dadurch
erhält der Satz seine besondere Form und auch seinen
Charakter. Er ist eine freie Nachbildung der Litanei.
Aus Bachs letzter Periode, von der Mitte der dreißi-
ger Jahre ab, zählen nur wenige Kantaten zu den
heute bekannteren. Die erste ist die Choralkantate
J. S. Back, >Ach Gott, wie manches Herzeleid«, ein schwer-
Ach Gott, mutiges Werk, welches sich nur am Schluß ein wenig
wie manches, aufhellt. Bezeichnender Weise hat sich in ihm Bach der
Chromatik in der Melodiebildung sehr nachdrücklich
•) B. W. (d. 1. Gwamtausgabe der Werke Ba-hs) XXIV, 136.
bedient. Die Hauptnoten in dem durchfagierteh Thema
des eisten Chors (Choral im Baß) bilden ein Stück der
chromatischen Skala. Geradezu ans Quälerische streift
die Stimmung in der andern chromatischen Nummer der
Kantate, in der schweren Baßarie »Empfind ich Höllen-
angst usw.c. Die zweite ist die in das Jahr 4736 fallende
Kantate »Bleibe bei uns, denn es will Abend wer- j. s. Baeh,
den«. Der Text dieser Komposition knüpft an das Evan- Bleibe bei uns.
gelium von den Jüngern an, welche auf dem Wege nach
Emmaus dem auferstandenen Heiland begegnen. Die
Musik gehört unter das Schönste, was wir von Bach-
scher Kunst besitzen. Ein tiefer milder Geist tritt in
diesem Werke in besonderer Klarheit und in einer ge-
wissen patriarchalischen Hoheit hervor. Alles in wärm-
ster Empfindung ohne Leidenschaft, in bildlicher An*
schaulichkeit ohne jede Äußerlichkeit. Das Hauptstück
ist der erste Chor, aus dem im Anfang etwas von den
Weisen erklingt, welche in den beiden großen Passionen
die Grablegung Christi begleiten. Ein frommer, liebe-
voller, herzlicher Ton spricht aus den lebendigen Zu-
reden der Jünger; in ihrem Klang und in ihrer Ber
wegung liegt überdies etwas von dem Charakter der
Abendstunde. Dramatisch ist das Bild weiter geführt,
wie sie mit ihren Bitten beginnen einzudringen, zu eifern
und fast zu drohen. Und dann klingt aus dem bewegt .
gewordenen Satz das »Bleibe« in langen Noten bald aus
dieser, bald aus jener Stimme, wie ein Hilf- und Mahn-
ruf in der Finsternis.
Die Kantaten dieser letzten Periode verbindet ein
gemeinsamer Zug in der Behandlung des Chorals, den
Bach in seiner Originalform so deutlich als möglich
sprechen lassen möchte. Was diese beeinträchtigen
kann, vermeidet er. Das sprechendste Beispiel für die-
ses Bestreben bietet die Kantate »Ach wie flüchtig« J. S. Baoh,
in ihrem ersten Satz. Wie aus Stein gebildet tritt uns Ach wie
hier die Kirchenmelodie aus dem Munde des Soprans flüchtig. •
. entgegen. Die übrigen Stimmen kreuzen sie nicht, sie
fugieren nicht, sondern deklamieren: der Charakter ihrer
87*
!
— ♦ 580 ♦—
Motive spiegelt die stete Klage der Hauptstimme Yeikkiiiert
und YervielfiQtigt wider. Obwolil an sich von großer male-
rischer Kraft, stimmen doch die übrigen Satze der Kantate
nicht mit dem strengen Ton des Eingangs überein.
Unter den Bachkantaten, die erst in nener Zeit einen
breiten Boden in der Offentfichkeit gewonnen haben,
steht die 4784 geschriebene Dreikönigskamtate : »Sie wer-
den aus Saba alle kommen« obenan. Sie zeigt noch
ein letztes Mal den jnngen Badi in seiner vollen Unbe-
Cangenheit nnd Liebenswürdigkeit Wie er da auf einem
bloßen (von den Hörnern glänzend eingeführten und
immer wieder angespielten) Skalenthema den großen Ein-
gangsdbor aufbant nnd sich dabei im Aosdrack von
Frende und Jubel gar nicht genng tan kann, ja in ihn
das Jauchzen der Kinder mit hineinklingen laßt, das er-
innert an die glücklichsten Thüringer Zeiten. Gleich groß
ist aber auch die Meisterschaft im Satze, mit der dem
spärlidben thematischen Material diese Fülle von Bildern
abgewonnen ist Wie gleich der Anfang zeigt, spielen
hierbd die Künste der Engfühmng eine besondere Rolle.
Es gibt nur wenige Sätze in der ganzen Musik, die von
einem gleich einfachen Grunde aus so viel Schwung und
Kraft entwickeln. Unter den Sologesängen der Kantate steht
die Tenorarie : »Nimm mich dir zu eigen hin« diesem großen
■Chor in Stimmung und Wirkung am nächsten. In ihr ver-
dienen die Zwischenspiele der Flöten besondere Beachtung.
Mit der Zahl der Aufführungen ist gleich&Ils die
zwischen 4783 und 4 787 entstandene Kantate »Du Hirte
Israel, höre« neuerdings weit vorgerückt Sie gehört
nicht unter die gewaltigen, aber zu den anmutigsten
Leistungen Seb. Bachs, und der Hauptträger ihres Wesens
ist der Eingangschor, der die Stimmen frei fugierend ver-
wendet Mit Verzicht auf eigentlich große Stellen fuhrt
er ziemlich gleichmäßig mittelst Triolenmotiven, Orgel-
punkten und Schalmeienklang ein traulich liebenswürdiges
Fastoralbild vor, das trotz seiner Breite in jedem Abschnitt
frisch wirkt
Unter den Sologesängen ist die von zwei Oboen
—4 684 ♦—
umspielte Tenorarie wegen der ernsten Dissonanzen auf
>6angen< ^ die Baßarie >Beglückte Herde« wegen ihres
weit ausgreifenden Themas und der den »Todesschlaf«
mit tiefen Tönen malenden Wendungen bemerkenswert
Der Schlußchoral, der hier auf »Der Herr ist mein getreuer
Hirt« gesungen wird, ist: »Allein Gott in der Höh sei Ehr«.
Hier anzureihen ist noch die 4740 oder 4744 geschrie-
bene Piingstkantate »0 ewiges Feuer, o Ursprung
der Lieb Q«. In ihrem festlich rauschenden Klang, in der
Menge ihrer fröhlichen, den Ernst nur spärlich berück-
sichtigenden Motive, in der Freiheit ihrer Polyphonie steht
sie unter den Kirchenkantatien Bachs ziemlich vereinzelt.
Das erklärt sich daraus, daß sie aus einer größeren, in
der Hauptsache verloren gegangenen Hochzeitsmusik um*
gearbeitet ist. Sie hat nur drei Sätze, emen Eingangs-
un^ einen Schlußchor, dazwischen eine sehr liebenswür-
dige, an das Weihnachtsoratorium erinnernde Altarie.
Der Schlußchor, der merkwürdig homophon verläuft, ent-
hält in den Eingangstakten auf die Worte: »Friede über
Israel« die Hauptstelle der ganzen Kantate.
Die übrigen zu der hier in Betracht kommenden Gruppe
gehörenden Stücke sind sämtlich Choralkantaten nach
Pajchelbelschem Muster. Sie verfolgen den Choral nicht,
wie etwa »Ein* feste Burg« oder »Christ lag. in Todesbanden«,
durch die einzelnen Verse, sondern sie beschränken ihn
auf den ersten Satz, einen breiten Chor mit dem Sopran
als Hauptstimme und Vertreterin des cantusiinnus. Die
frühere Zeit verhielt sich zu dieser Art Choralkantaten
etwas kühler, erst im letzten Drittel des 4 9. Jahrhunderts
ist versucht worden, sie als die Spitzen der Bachschen
Kantatenkunst hinzustellen. Sie fallen alle in die spätere
Leipziger Zeit, wo Bachs Freude am Amt gedämpft war,
und lassen mehr den Meister des Satzes, als den großen
Erfinder und Menschen erkennen. Das schließt eine
glänzende äußere Wirkung einzelner Sätze nicht aus.
Mit besonderer Auszeichnung muß unter diesen Ar-
beiten die Kantate »Jesu, der du meine Seele« her-
vorgehoben werden, einmal, weil der erste Satz besonders
\
kunstvoll in den Nebenstimmen dasselbe chromatische
Thema, das allgemein aus dem Cruciiixus der Hmoll-MesBe
bekannt ist, durchführt und in der Stimniungsentwicklung
sich vom tiefsinnigen Ernst zur hoffnungsvollen Erregung
steigert, zum andern, weil diese Kantate auch in den
Nebensätzen auf einen höchst eigentümlichen KünsÜer
hinweist. Unter ihnen fällt namentlich das Duett (So
pran und Alt) »Wir eüen mit schwachen, doch emsigen
Schritten« auf. Zu ihm findet sich in dem ganzen Bach-
schen Kantatenschatz kaum ein Seitenstück; es klingt
gar nicht Bachisch und nicht kirchlich, sondern durchaus.
weltUch, wie der vertrauensvolle Zwiegesang anmutiger
Kinder. Spittas Vermutung wird wohl richtig sein, daß
Bach bei der Komposition der dritte Vers des Gesang-
buchliedes vorgeschwebt hat, der davon spricht, wie be-
törte Püger dem Höllenpfuhl entgegentänzeln. Auch die
Tenorarie >Dein Blut« ist durch die Malereien auf > Streit«,
die Baßarie >Du wirst mein Gewissen stillen« durch das
Eingreifen der beiden obUgaten Oboen fesselnd.
An Wirkung und Güte der Arbeit ist unter diesen
Choralkantaten des späteren Bach vielleicht »Wie schön
leuchtet der Morgenstern« die bedeutendste. Sie
nimmt gleich durch ihre breite, über die Motive des Chorals
entwickelte, durch den prunkenden Hörnerklang gekrönte
Orchestereinleitung gefangen. Dann folgt der Chor mit
dem cantus firmus im Sopran, der aus den Nebenstimmen
fortwährend in Verkürzungen oder Andeutungen wider-
hallt. Der Satz bedeutet das Höchste, was unter Beibe-
haltung der Originalform an Ausnutzung einer Choralmelodie
geleistet werden kann, und steht zweitens auch durch
seine Klanggewalt mit an der Spitze Bachscher Kantaten-
arbeiten. Die darauf folgende Arie des Sopran und des
Tenors stellen der Größe dieser Leistung freundliche, an-
mutige Idyllen gegenüber. Der Choral im einfachen Chor-
satz beschließt das Werk.
Die Kantate »Wachet auf, ruft uns die Stimme«,
die schon 4 734 geschrieben wurde, kann in der Anlage
und Durchführung des ersten Satzes als ein Vorläufer der
— ♦ 583 ^—
eben behandelten gelten. Sie hat einen besonderen Wert
durch die Nebensätze. Unter ihnen ist das Duett (Sopran,
Baß) >Wann kommst du, mein Heil?« eines der längsten,
die sich bei Bach finden, zugleich aber auch durch den
Ausdruck bräutlicher Inbrunst eines der schönsten. Ein
zweites Duett derselben Stimmen: >Mein Freund ist mein«,
schlägt in seiner Freundlichkeit einen weltlichen Ton an,
der an manche ältere Komposition des »Hohen Lieds«
erinnert. Zwischen beiden Nummern steht eine Tenorarie
von sehr mystischer Wirkung, in der der Sänger nichts
weiter als den einfachen Choral vorzutragen hat
Als letzte unter den heute bekannter gewordenen
Choralkantaten Bachs mag noch »0 Jesu Christ,mein's
Lebens Licht« verzeichnet werden. Sie bestehf aus
einem einzigen Satze und ist die einzige unter allen Kan-
taten Bachs, die das Orchester auf Messingbläser beschränkt.
Wahrscheinlich hat sie als Begräbnismusik gedient.
Zwei seiner Kantatenwerke hat Bach Oratorien he*
nannt: die Himmelfahrtskantate >Lobet Gott in seinen
Reichen« und den Zyklus von Weihnachtskantaten,
welcher mit »Jauchzet, frohlocket« beginnt. Mit einem
dritten Oratorium Bachs, dem Osteroratorium , hat es
eine andere Bewandtnis. Es gehört zu einer ähnliehen,
wirklich dramatischen Formengruppe, wie sie früher in
den Auferstehungshistorien der Scandellus, Besler,
Schütz und anderer Tonsetzer des 4 7. Jahrhundert, oder
in den Dialogen Hammerschmidts vertreten ist. Die
Oratorien zur Himmelfahrt und zu Weihnachten sind
aber Kantaten, welche sich von den übrigen Kirchen- .
kantaten formell nur im Rezitativte^t unterscheiden.
Dort ausschließlich betrachtender und lyrischer Natur,
nimmt er in diesen sogenannten Oratorien erzählende
Elemente in sich auf.
Das Weihnachtsoratorium, das Bach im Jahre 4 734
komponiert hat, besteht aus sechs Kantaten, je eine für
den ersten, zweiten und dritten Weihnachtsfeiertag, für
Neujahr, für Sonntag nach Neujahr und für das Epiphanias-
oder Hohneujahrsfest. Sie gehören liturgisch zusammen,
J. 8. Baohi
Welhnachts-
oratoriom.
584 «—
denn die kirchliche Weihnachtszeit erstreckt sich über die
alten Zwölfnächte. Künstlerisch bilden sie ein kaum ge-
schlossenes Ganzes: der wichtigste Teil der dargestellten
Ereignisse liegt am Anfang, die Darstellung selbst setzt
sechsmal in denselben Formen an und ab. Trotzdem
lassen wir uns das Weihnachtsoratorium nicht nehmen.
Denn Weihnachten ist unser Hauptfest, trägt von alters
her in das bürgerliche Leben eine Freude und Poesie
herein, wie sie sich das ganze Jahr nicht zum zweiten-
male bietet Die ganze Schönheit und der tiefe Gehalt
der Weihnachtszeit lebt aber in vielen Stücken jenes
Werkes so herzlich auf, daß man ihnen aus aller Kunst
wenig an die Seite setzen kann. Für Weihnachten t^rar
Bach ganz besonders begabt und geschult; eine große,
große Anzahl seiner Instrumentalstücke sind unbenannte
Weihnachtsdichtungen! So ist denn das Weihnachtsora-
torium eine der melodienreichsten, eingänglichsten und
volkstümlichsten unter seinen großen Kompositionen.
Bachs Weihnachtsoratorium im geistlichen Konzert
im ganzen einzubürgern hat zuerst (i. J. 1844) Mosewius
versucht Seitdem ist dieser Versuch zwar ab und zu
wieder erneuert worden; überwiegend haben aber die
gewonnenen Erfahrungen dahin geführt, es bei den ersten
zwei Teilen oder bei einem Auszug, der das Wichtigste
und Wertvollste aus den sechs Kantaten zusammenfaßt,
bewenden zu lassen. Derlei Auszüge und Einrichtungen
des Weihnachtsoratoriums existieren aber nur hand-
schriftlich.
Die Musik des Weihnachtsoratoriums besteht wie in
den meisten Kirchenkantaten Bachs aus Chören, Arien
und Rezitativen, den zweiten Teil eröffnet ein selbstän-
diger Orchestersatz, das aus Einzelaufführungen weltbe-
kannt gewordene Pastorale. Choralbearbeitungen in dem
großartigen Stil, wie sie in der Matthäuspassion, in einer
Reihe der bedeutendsten Kantaten die Hauptstücke bil-
den, kommen im Weihnachtsoratorium nicht vor; aber
in einfachen und kleinen Formen vertritt der Choral das
kirchliche Element genügend, besonders sinnreich und
585
überraschend in Solosätzen. Keine zweite unter den>
größeren Vokalkompositionen Bachs ist so reioh an Paro-
dien, d. h. aus weltlichen Werken übertragenen Sätzen,
wie das Weihnachtsoratorium. Der größte Teil der so-
genannten madrigalischen, der frei gedichteten, nicht
der Bibel oder dem Gesangbuch entnommenen Texte,
wurde mit Chor- und Solosätzen aus dramatischen Fest-
musiken gedeckt, die Bach kurz vorher als Direktor des
früheren Telemannschen studentischen collegium musicum
für den Geburtstag der Königin und des Kurprinzen
von Sachsen, für den Leipziger Besuch des Königs
selbst und für ähnliche Gelegenheitsakte geschrieben
hatte*)* Das Verfahren an sich war im 4 8. Jahrhundert
allgemein und bei der volkstümlichen Haltung der da-
maligen Kirchenmusik ganz natürlich. Beim Weihnachts-
oratorium legte es der fröhliche Grundton des Werkes
besonders nahe.
Gleich der große Eingangschor der ersten Kantate
»Jauchzet, frohlocket, auf, preiset die Tage« ist eine
solche Parodie. In dem >Dramma per musica« zu Ehrep
der Königin, dem sie entnommen, lautet der Text: »Tö-
net, ihr Pauken, erschallet, Trompeten«. Deshalb das
« , ^. fcvff ■ f*^ zurEröffnung des Satzes. *
Paukenmotiv : V^ f f f | ^ Jj die Trompetenfanfare :
^ ^1 ^_ gleich hinterdrein,
ylltf rHJJJlIrprrrriP deshalb die bevor-
ir " äiiä- ii- .'ii um zugte Stellung dieser
Instrumente im Orchesterteile der Nummer! Doch passen
das Trompetengeschmetter und der Paukenlärm ganz
voHrefitlich zu der Feststimmun^, die alles Volk am ersten
Weihnachtsfeiertag ergreift und auch noch in die Kirche
hinein begleitet und gerade, daß er ein wenig die Fär-
bung eines rauschenden Volksfestes zeigt, unterscheidet
den Anfangschor des Weihnachtsoratoriums von den
andern Chören, die die einzelnen Teile einleiten. Sie
^1 11 mim ■
*) Die näheren Nachwelse finden sich in der Vorrede zn
V2 der B.W. und In Philipp Splttas Baohbiographle II, S. 404 ff.
I
i
— ♦ 586 ♦^—
gleichen sich sonst sämtlich in der Form, die immer aaf
die dreisät^ige italienische Arie zurückgeht, und auch in
der Stimmung. Sie sollen alle Freude und Dank aus-
sprechen; um aber diese Hauptidee zu heben, hat Bach
immer in der Mitte dieser Chorbilder einen kleinen
Schatten angebracht Auf eine eigentliche Ouvertüre
des ganzen Werkes, wie sie die gleichzeitigen ttaliener
oder die Neueren dem Orchester geben, hat Bach
verzichtet. Die Aufgabe, im richtigen Ton vorzubereiten,
fiel in solchen Fällen dem Organisten zu, dessen Spiel den
Instrumentalisten zugleich zum Einstimmen diente. Dem
Einsatz des Chores geht in der ersten Nummer nur ein
sogenanntes Ritornell voraus, ein kurzes Orchestervor-
spiel, das den Inhalt der Nummer durch einen knappen
Hinweis auf die beiden Hauptthemen ihres Hauptsatzes
andeutet. Sie heißen: ^
Jaach.zet, froh . lok m ket, auf, preLset i» T» . g», ^ ruh
1*-^ iiiiiji PirrfT^
Tmet, was hdoie der Höchste ge . tao
•^ IH • • ; ^Brt^da» . ZaLgen,ver; banjMl diej Kla^ »er;
i"iiiiiiLiiii'i'iiiiyi min
Klage, v^r.,ban ... netdie Klage.
Vom zweiten erscheint aber im Vorspiel nur das mit +
bezeichnete Motiv aus dem Schluß. Die Stimmen singen
es einander nach. Das erste Haupttfcema tritt vorwie-
gend immer in kompakter Vierstimmigkeit, leichter stiü-
siert und auf großen Klang berechnet auf. Eingeleitet
wird es durch einen sehr spannenden Abschnitt, der das
vorhin angegebene Paukenmotiv äußerst wirksam für den
Chorsatz umbildet: in ein Unisono, bei dem der sehr tief
^p
— ♦ 687 ♦—
hinabsteigende Sopran ersichtlich auf den breiten Brüste
ton von Knabenstimmen oder Falsettisten rechnet. Das
kleine Sätzchen wirkt außerordentlich lebendig, fast dra-
matisch, namentlich als es am Schluß mit kurzen Rufen:
»jauchzet, frohlocket c kühn und heroisch die Höhe auf-
sucht So ist auch de^ ganze Aufbau des Hauptsatzes
in aller Einfachheit meisterlich. Allgemeines Jauchzen
und Freuderufen beginnt. Dann erst äußert sich die
Stimmung in klaren fortlaufenden Gedanken und diese
Gedanken stehen zu einander im Verhältnis der Steige-
rung und Vertiefung. Der Mittelsatz geht in den, ruhigen
Ton frommer Andacht über. Sein Hauptthema:
Dia not 4fim Höchsten mit berr^Iijche
ijchsn Chö .
wird von den Stimmen in Nachahmungen durchgeführt;
bei den Worten >laßt uns den Namen des Herrschers
verehren« folgt ein homophon gehaltener, wieder beweg-
ter gestimmter Nachsatz, der die Verbindung mit dem
Schlußteil des Chors, einer Wiederholung des Haupt-^
Satzes, herstellt.
Nach dem Eingangschor bjeginnt der Solotenor den
Bericht des Evangelisten in jenem dem Text im Einzel-
nen folgenden, melodisch reichen Stil, der Bach und sei-
nen deutschen Zeitgenossen im Seccorecitativ eigentüm-
lich ist. Von da ab besteht der erste Teil in Betrach-
tungen über das angekündigte Ereignis. Bedeutender als
die Musik selbst, in die sie gesetzt sind, ist die Auffas-
sung der Weihnachtsfeier, die, Bach zugrunde gelegt hat.
Es ist ein Weihnachten fast in Thomaschen Farben, für
das sich in jeglicher Art Kunst des 4 8. Jahrhunderts
schwerlich Vor- und Seitenbilder finden. Bachs Ge-
danken sind auf den Gegensatz zwischen Christi Mensch-
werdung und zwischen seiner Göttlichkeit gerichtet und
das Hauptgefühl, das ihn bewegt) ist die Rührung über
das Opfer, das der Heiland der Welt gebracht hat. Der
Glanz des Gottessohnes als Herr und König ist im wesent-
lichen auf die Baßarie: > Großer Herr und starker König«
— ♦ 688 ♦—
beschränkt; in allen anderen Sätzen klingt stärker oder
schwächer schon das Leiden und Sterben Christi an.
Bie Adventsverse : »Wie soll ich dich empfangen« läßt
Bach geradezu auf einen Passionschoral, auf den Choral
»0 Haupt voll Blut und Wunden« singen. Bas musika-
lische Hauptstück des Teils ist das Buett: »Er ist auf
Erden kommen arm«, eine außerordentlich geistreiche,
tief gedachte und tief wirkende Verschmelzung von Lied,
Rezitativ und Choral, von einfachster Volksmusik und
hoher Kunst. Wie aus der Ferne singt der Solos^pran
von Schalmeienmotiven umgehen den Choral »Gelobet
seist Bu, Jesus Christ« mit Weihnachtsworten; im
Vordergrunde fügt der Solobaß tief ergriffen fromme
Bemerkungen' hinzu. Erst am Schlüsse des Teils kommt
ein richtiger Weihnachtschoral, der Choral: »Vom Himmel
hoch«, aber zu innig liebevollen und zarten Gebetsworten:
»Ach mein herzliebes Jesulein« und ganz einfach vom
Chor vorgetragen. Nur in gedämpfter Farbe erinnert
der Trompeten- und Paukenklang im Zwischenspiel noch
einmal an den Eingangschor, an die Baßarie und an den
freudigen Charakter des ersten Feiertags.
In der ersten Kantate des Weihnachtsoratoriums
herrscht noch etwas Adventsgeist, Schwermut und Nacht
Um so heller bricht der Tag in der. zweiten Kantate
herein und bringt die Bilder und Klänge, die wir am
Christfest gewohnt sind, in höchster Schönheit und Weihe.
Bie Musik zum zweiten Feiertag ist der bedeutendste
Teil des ganzen Werkes; in den Schlußchören, in der
Altarie und in dem Pastorale enthält er Stücke, die un-
vergeßlich und in ihrer Art einzig sind.
Ganz besonders gilt das von dem Einleitungssatz,
dem als »Sinfonia« bezeichneten Pastorale. Hätte Bach
nichts weiter geschrieben als diesen Orchestersatz, er
müßte genügen, seinen Namen zu verewigen. Es ist
eine Vereinigung von Naturpoesie und hohen Christen-
gedanken, von Idylle und Offenbarung, von Fantasie und
religiöser Andacht in dieser Musik, wie wir sie so herr-
lich nicht zum zweitenmale haben. Und dabei ist die
— ♦ 589 ♦—
Anlage und Ausführung so einfach und volkstümlich
als möglich. C0b««ilma8AamrtÄJ ^, _• ^
für die i ' 'if;^'^J^\ dl J/ ÜJ^Z.^^^
Hirten: Ä^ ^^-^ "^
ein ande- ^^riaun^»;^^^
res für die i£» W irrT F JT^f f I Ul IJ.JJ I J* # mn^
p^^
Engel: "« JiJ^^ ^T^ ^
— damit wird alles bestritten. Aber was entwickelt Bach
aus diesen Mitteln und ohne die Form des Siciliano zu
verlassen für einen Reichtum an Empfindung und an
malerischen Anschauungen! Wie spielen da Erde und
Himmel, die geheimnisvolle Feierlichkeit der Stemennacht
und die unschuldige Fröhlichkeit naiver Menschen in und
mit einander! Ganz am Schluß hat Bach auch in dieses
Bild auf einen Augenblick eine leichte Passionswendung
eingemischt.
Der Bericht des Evangelisten wird wie im ganzen
Werke, so namentlich im zweiten Teile häufig durch
lyrische Einlagen unterbrochen. Es gab keine Fülle von
Ereignissen wie in den Passionen, die Mitteilungen waren
in allen Einzelheiten im voraus jedem Hörer bekannt.
Da erschien es Bach naturgemäß als die Hauptsache,
der Stimmung Ausdruck zu geben, die durch sie hervor-
gerufen wurde. So folgt dem Satz des Evangeliums,
daß die Hirten sich fürchteten, der Choral »Brich an, du <
schönes Morgenlicht«» aber sinnvoll auf die Weise von
»Er muntre dich, mein schwacher Geist«, der Verkün-
digung des Engels selbst nach einem kurzen, begleiteten
Baßrezitative die Tenorarie »Frohe Hirten eilt«. Spitta*)
stellt fest, daß mit diesen beiden Stücken Bach einer
Beziehung auf eine Sitte in den alten, zu seiner Zeit
auch bei den Protestanten noch nicht vergessenen Weih-
nachtsspiele^ entsprochen habe. Diese ließen hier einen
oder mehrere Hirten auftreten und ein Lob . des Hirten-
•) A. *. 0. IT, 4il-
— -♦ 500 ^—
Stands anstimmen. Die hiernach entbehrliche Tenorarie
gehört zu den schwierigsten Sologesängen, die Bach, so
wie so schwieriger als aller seine Zeitgenossen, überhaupt
geschrieben hat. Man tut, wenn man nicht einer ganz
vollendeten, namentlich geistig vollendeten Ausführung
sicher ist, gut sie wegzulassen. Die bedeutendste unter
den lyrischen Einlagen des zweiten Teils ist die schon
erwähnte Altarie >Schlafe, mein Liebsterc. Niemand *
sieht dieser Arie an, daß sie aus der Kantate zum Ge-
burtstage des Kurprinzen stammt, in der sie vom Sopran
(eine Terz höher) gesungen wird. Sie muß Bach beson-
ders lieb gewesen sein, denn er setzt sich auch darüber
hinweg, daß die vorausgehenden Worte des Basses den
Hirten eigentlich eine^ Chor auftragen. Die Komposition ist
ebenso ausgezeichnet durch die Wiedergabe der Situation
wie durch den Ausdruck der Stimmung. Das malerische
Element, das den Hauptteil des Stückes trägt, kommt in der
ten,^^^^^^^^ J 1 l^rr^lr ^
denMelodie:^' ^"^U >^ — --iiä^*—
und in den sich hin und her wiegenden Rhythmen des
Basses zum Ausdruck, und am schönsten, wo sie die
Instrumente still und heimlich spielen, die Empfindung
kurz, aber intensiv in den Schlußtakten der einzelnen
Abschnitte, in die die Arie sich im Hauptsatz gliedert. '
Der Mittelsatz >Labe die Brust« ist der zweiten Aufgabe
ausschließlich gewidmet.
Die noch folgenden zwei Sätze der zweiten Kantate
haben ganz oder halb dramatische Bedeutung. Den
ersten, den Chor >Ehre sei Gott« singen die Engel allein,
den andern, den Chorchoral: >Wir singen dir in deinem
Heer« Engel und Hirten, und die Gemeinde mit dazu.
Das Häuptthema des Engelchors ist eine aus
liturgischen yj^^e.
l0(]2e: Ell • lesei 0on,Eh- • . . Asei Goiv
Sie setzt gleich in Engführungen ein, an denen alle
— -♦ 591 >—
Stimmen beteiligt sind. Niemandem aber wird sich der
Eindruck kunstvoRer Arbeit aufdrängen, sondern nur
der, daß hier breit und erhaben große Freude zum Aus-
druck kotnmt. Wo immer Bach die Worte »Und Friede
auf Erden« in Töne gebracht 'hat, ist ihm das immer
wieder mit eindringlicher, eigner Schönheit gelungen,
stets hat er dafür neue überraschende Wendungen
bereit. Hier
er sie
ruhigei
Sie erhält aber durch die Harmonie des Einsatzes (Sext-
akkord vom übermäßigen Dreiklang h-dis-g) einen ganz
merkwürdig • romantischen Charakter, einen deutlichen
Hinweis auf die schmerzvollen Lagen, in denen der
Friede entbehrt wird. Mit einer einzigen Note hat da
Bach ein BUd angedeutet, das bekanntlich Beethoven im
Agnus Dei seiner Missa solemnis in breiten Zügen und
mit großen Mitteln ausführt.
Der Schluß- . ^
de in der einfach h 'V^ f * T ' ^ ^'^ P * ^ /V
ligen Weise: und Prie . . . deaUf« S;r-<ien
^^^^ '^^^'^ anddLifoLJmeinW^. ge.fiü^ . Jen.
das Thema:
Bei diesen Worten schließen sich die Instrumente dem
Ton der Singstimmen an; bis dahin haben sie durchaus
ihre Motive für sich, lauter kurze knisternde Stakkato-
Noten^aus denen der Schimmer des Wunderbaren sich
über den Gesang der Engel breitet.
In dem Choral >Wir singen dir usw.«, der zu der
weihnachtlichen Normalmelodie »Vom Himmel hoch« ge-
sungen wird, kehren in den Zwischenspielen des Or-
chesters poetisch schön und abrundend die Motive des
Pastorale wieder, das in den zweiten Feiertag hinein-
führte.
Für das Konzert zwingen schon Rücksichten auf Zeit
und Aufiiahmefähigkeit die folgenden vier Kantaten zu-
sammenzuziehen und diesen Auszug auf eine Länge zu
beschränli^en, die der der ersten beiden Kantaten ohnge-
fähr gleich ist. Für Beibehalten und Weglassen wird in
— ♦ 592
erster Linie der Lauf der Erzählung und die Wichtigkeit
der berichteten Ereignisse maßgebend sein. Damach
kann keine (Ueser Kantaten ganz überschlagen werden,
denn jede enthält ein Stück Geschichte. In der dritten
handelt es sich um die Auffindung des Heilandkindes
durch die Hirten, in der vierten um die Namensgebung,
in den beiden letzten um die Ankunft der Weisen aus
dem Morgenland und um d^ie Nachstellungen des Herodes.
Von den Chören, die die letzten vier Kantaten ein-
leiten, ist der bedeutendste der der fünften Kantate:
»Ehre sei dir Gott gesungene. Wenn man das ganze
Weihnachtsoratorium in der Weise aufführt, daß die
ersten zwei Kantaten den ersten Teil bilden und die
anderen zu einem gleichlangen zweiten vereint werden,
so wird man diesen zweiten Teil am besten mit diesem
Chor: >£hre sei dir Gottt eröffnen. Der Text eignet sich
dazu und noch mehr die Musik. Sie hat den hohen Stil
der Bachschen Chöre stärker als der Eingangschor der
dritten Kantate, »Herrscher des Himmels, erhöre das
Lallen«. Der der vierten »Fallt mit Danken, fallt mit
Loben« ist im Weihnachtskreis überhaupt ein Fremdling,
innerlich und äußerlich nähert er sich den Chorarien,
die als Ersatz der alten gratiarum actio so schön
die Passionen Bachs schließen. Von den Stücken der
dritten Kantate kommen am meisten in betracht der
dramatische Chor der Ifirten: »Lasset uns nun gehen
genBetMehe^^auf g^^^^^
sehr lebendig aufgebaut und die Altarie: »Schließe mein
Herz6, dies selige Wunder« ein Seitenstück zu der der
zweiten Kantate: »Schlafe, mein Liebster«. Sie ist in
dem Mund der Maria gedacht und gehört zu den wenigen
Originalsätzen, die der Sologesang des Weihnachtsora-
toriums enthält.
Aus der vierten Kantate wird niemand den Schluß-
choral »Jesus richte mein Beginnen« missen wollen.
Neben ihm fesselt die Aufmerksamkeit besonders die
Sopranarie »Flößt mein Heiland« und zwar als histo-
— ♦ 593
rische Kuriosität. Die Sängerin, die die Braut des Hohen-
liedes vertreten soll, stellt an den Heiland Fragen, die
von dessen Stimme aus der Ferne mit »ja« und »nein«
in denselben Tonfällen beantwortet werden, mit denen
die Hauptsolistin schließt. Wir haben es also in diesem
Stücke mit einer Verwendung des alten in Chor- und
Sologesang, auch in der Instrumentalkomposition der
vorhergehenden Jahrhunderte so wichtigen »Echos« zu tun
und zwar ist diese Bachsche Arie wohl der letzte Fall
seiner Art. In der dramatischen Kantate, aus der die
Nummer übertragen ist, fragt Herkules das Orakel. Das
Echo ist da also natürlicher an seinem Platze.
In der fünften Kantate steht unter den hervor-
ragendsten Stücken zuerst der Chor der Weisen aus dem
Morgenlande: »Wo ist der neugeborene König der Ju-
den«, eine Probe ähnlich dramatisch, kurz und schlagend
gehaltener Musik, wie sie Bach in seiner Matthäusp'assion
an vielen Stellen geboten hat. Eigen ist er aber in sei-
ner Anlage durch die Unterbrechungen mit schönen, aus-
drucksvollen begleiteten Rezitativen. An zweiter Stelle
zeichnet sich das Terzett für Sopran, Alt und Tenor:
»Ach wann wird die Zeit erscheinen« aus, schon des-
halb, weil derartige Ensemblesätze in dem Werke und
in der Zeit überhaupt selten sind. Unmittelbar vorher
geht ihm eine Stelle im Sekkorezitativ »Und du Bethle-
hem im jüdischen Lande«, die sich gleichfalls stilistisch
und durch reichen Gefühlston sehr hervorhebt.
Aus der sechsten Kantate paßt, der Eingangschor
»Herr, wenn die stolzen Feinde schnauben« sehr gut an
eine andere Stelle, nämlich dahin, wo . der Evangelist
von den tückischen Absichten des Herodes berichtet hat.
Sein Hauptsatz geht über das siegesfreudige Thema:
Herr wenn die stol.zen Fein, de sohnauA'^.
Auch der mittlere Teil des
p II ^ - _ I T— ' ^^^"^ **®^ miiuere reu aes
^^* rrrrrir^rCliCir^ ^^^^ ^^^ ^^^ diesem Thema
--^ben. abgeleitet. Die sechste
II, 4. 38
— e 594 ♦—
Kantate ist wie alle des Weihnachtsoratoriums reich an
kleinen Solosätzen, die die Formen des Rezitatives und
des Arioso frei verschmelzen, unter ihnen besonders wirk-
sam das Quartett: »Was will der Hölle Schrecken nun«,
in das sich die Stimmen, ähnlich wie in dem bekannten
Stück am. Schluß, der Matthäuspassion, teilen. Auch der
Tenorsolist hat in dieser Kantate endlich eine Nummer
von dankbarer Natur. Es ist die Arie: »So mögt ihr
stolzen Feinde«. Der letzte Satz der Kantate ist eine
breitere Choralfantasie: »So seid ihr wohl gerochen«.
Die Choralmelodie ist die von »0 Haupt voll Blut und
Wunden«, dieselbe, die in der ersten Kantate den Anfang
der Choräle machte. So rundet sich also das Ganze
schön ab, und nochmals bringt Bach seine tiefsinnige
Auffassung des Weihnachtsfestes zum Ausdruck.
Kürzlich hat der Vorgang Sr. Kgl. Hoheit des Prinzen
Friedrich Wilhelm von Preußen gezeigt, wie sich den
zahlreichen Weihnachtskantaten Bachs noch weitere Weih-
nachtsoratorien abgewinnen lassen*).
Unter den i 90 als echt beglaubigten Kirchenkantaten,
welche die große Bachausgabe mitteilt, befinden sich 53
Solokantaten. Der kleinere Teil fällt in Bachs Wei-
marsche, der größere in seine Leipziger Zeit und da
überwiegend auf die hohen Feste und andere Zeiten, die
an Kantorat und Chor besondere Ansprüche stellen. Zu-
weilen, z. B. in den Kantaten: »Ich liebe den Höchsten«
und »Er rufet den Schafen« hat sich da Bach sehr kurz
gehalten: zwei SoIOnummern, Rezitative dazwischen und
Choral. Oder er hilft sich mit fertigen langen Instrumental-
sätzen, auch solchen, die wie die Eingangssätze aus dem
ersten und dritten brandenburgischen Konzert heute kirch-
lich beanstandet würden, er erledigt ferner manches Stück
betrachtenden Textes, das Gesang verlangt, als Rezitativ
und begnügt sich endlich in den Arien selbst häufig mit
Mittelgut. Jedoch werden wie bei den Chorkantaten die
schwächeren Stücke durch die vollendeten und eigensten
♦) Bach-Jahrbuch 1913.
— ♦ 595 ♦—
aufgewogen, wie sie erfüllt und beseelt auch die Solo-
kantaten alle ein ausgeprägt evangelischer Geist; nur
ganz wenige sehen vom Gemeindelied ab. Ja ähnlich,
wie die Klavier- und Kammermusik der großen modernen
Instrumentalkomponisten zu ihren Symphonien hinzuge-
nommen werden muß, so ergänzen sie das Bild des
klassischen Meisters der Kirchenkantaten und zwar nach
zwei Seiten seiner Kunst, der poetisch-sinnigen und der
dramatischen. Jene spricht aus Ghoralzitaten und kleinen
Ghoralgebilden, wie sie das Wei|inachtsoratorium aus-
zeichnen, diese aus dem Erfassen und Schildern der Situa-
tionen, aus dem Lösen der Konflikte. Keine andere Kunst
des damaligen Deutschland hat einen Bach und auch die
Musik besitzt ihn nur einmal!
Den Zugang zu diesen Sätzen werden praktische
Ausgaben, die vor allem das Äkkompagnement stil-
gerecht vervollständigen, erleichtern müssen, eine all-
gemeine Verbreitung jedoch, wie sie Hammerschmidts
Dialoge oder Tunders und anderer Komponisten geist-
liche Konzerte beanspruchen können, ist für die Mehr-
zahl der Bachschen Solokantaten deshalb nicht zu er-
warten, weil sie in den Gesangpartien und in den
konzertierenden Instrumenten außerordentlich schwer
sind. Die Weimarschen, soweit sie sich feststellen
lassen, sind populärer gehalten, die Leipziger aber
spotten der bekannten Eingaben und Klagen Bachs
über die Armseligkeit seiner Sänger und Spieler und
setzen ein mehr als alltägliches Solistenmaterial voraus:
in der Geläufigkeit und im Ausdruck virtuos geschulte
Sopranisten, Altisten, Tenoristen und Bassisten, dazu
bei allen Stimmen einen gewaltigen Umfang, für den
Tenor insbesondere die aus den Passionen gefürchtete Höhe.
Die gesamten Stücke zerfallen in drei Gruppen:
a) Kantaten für eine Solostimme, b) Dialoge und c) Kan-
taten für drei oder vier Solostimmen.
Aus der ersten Gruppe ist heute die Altkantate: Schlage doch,
»Schlage doch, gewünschte Stunde« am bekann- gewünschte
testen, wohl durch Forkel, der sie ^ 802 in seiner Biographie Stunde.
38*
— ^ 596 « —
mit zwei anderen namentlich anführt Es ist nur das
Fragment, wahrscheinlich der zweite Satz einer im übrigen
verlorenen Kantate, die Bach entweder fQr einen Trauer-
tag oder für ein Osterfest komponiert haben wird. Der
Text enthält die Moral des Bachschen Osterglanbens : Da
Christas dem Tod die Macht genommen, ist Sterben ein
Gewinn. Sterben und Eingehen zu Jesus, zu den Lieben
im Himmel, das ist wieder der bekannte Lieblingsgedanke
des Komponisten. Immer wurde es ihm dabei warm, bis
zum Ausbruch grimmiger Freude. Aber die Naivität und
schwärmerische Inbrunst der Todessehnsucht hat er nir-
gends schöner ausgedrückt als in diesem »Schlage dochc
mit seiner lieblichen, freundlichen, frohen, kindlichen Musik.
Ihr Ton führt darauf sie einer zarten Frauengestalt, einer
»gläubigen Seele« in den Mund zu legen und die ganze
Kantate, zu der die Arie gehört hat, unter den »Dia-
logen« zu suchen. Der Höhepunkt des dreiteiligen Stücks
liegt in dem, Mittelteil »Kommt ihr Engel«. Die »Campa-
nella« d. i. die Mitwirkung zweier in H und E gestimmten
Glöckchen gehört wesentlich mit zur Staffage des kleinen
Tonbilds und zur Veranschaulichung der Spannung, mit
der der letzte Stundenschlag erwartet wird. Auf den
Orgeln der Hansestädte waren solche Glockenspiele noch
bis in die neueste^ Zeit erhalten.
Nur zwei weitere Solokantaten leisten dieser Altarie
im heutigen Konzert regelmäßiger Gesellschaft: die beiden
^ Baßkantaten: »Ich habe genug« und »Ich will den Kreuz-
stab«, jene seit dem letzten Drittel des neunzehnten Jahr-
hundierts, diese erst seit wenigen Jahren Dank dem
Programmbuch des Berliner Bachfestes und dem Eintreten
Meschaerts. Auch sie behandeln den Gegensatz zwischen
der Mühsal irdischen und der Seligkeit himmlischen
Lebens und stammen beide aus Bachs rüstigster Zeit«
Ichbabegenug Der Kantate: »Ich habe genug«, deren Text den Lob-
gesang des Simeon umschreibt, merkt man an der zweiten
Arie »Schlummert ein ihr matten Augen« die Nähe der
Matthäuspassion unmittelbar an. So meisterhaft wie
dieser Satz das stille Glück, schildert der vorausgegangene
--4 597 ♦--
>Ich habe genug« das Leiden und den Druck der Christen-
Seele. In der aufschlagenden Sext, mit der das Haupt-
thema einsetzt, tut sich ein wahrer Berg von bitterer Er-
fahrung und Weltüberdruß auf, in einer weniger frommen
Zeit würden Töne der Verzweiflung die Fortsetzung ge-
bildet , haben. Im Autographenband der Bachausgabe
(Jahrg. 44) findet sich auf dem 53. Blatt eine Fassung der
Kantate für Frauenstimme, dem Klavierbüchlein für Anna
Bach von 4725 entnommen; es ist aber kaum möglich,
sie für die ursprüngliche zu halten. Nur der Baßkläng
gibt die ganze Schwere der Empfindung wieder, die den
Satz so tief einprägt.
Die Kantate »Ich will den Kreuzstab gerne Ich will den
tragen« wendet sich wie die Altarie »Schlage doch« viel KreuzsUb
der Tonmalerei zu, im ersten Satz der Schilderung der gerne tragen.
Lasten und Mühen des Kreuzträgers, im zweiten (mit einer
Weüenfigur des obligaten Gellos] der von Meer und Schiff-
fahrt Die Größe der Komposition liegt in der Einführung
der Stelle: »Da leg* ich den Kummer auf einmal ins Grab«,
die auf leichten Triolen volkstümlich und wie ein Kinder-
lieb hingleitend zu dem vorherigen Ernst aufs lieblichste
kontrastiert. Mit dem schließenden Choral, der noch dazu
statt in GmoU in Cmoll steht, erhält die düstere Emp-
findung das letzte Wort, aber in dem vorausgehenden
Rezitativ: »Ich «tehe fertig usw.« klingt ganz unerwartet
die kindliche Triolenmelodie noch einmal an. Das ist
Bachsche Poesie im Formenbau. ^
Handelt sich*s um Bachsche Solokantaten für S opr an,
80 seien leistungsfähige Sängerinnen auf »Jauchzet Jauchzet Gott,
Gott in allen Landen«, auf »Falsche Welt, dir Falsche Welt,
trau ich nicht« und auf »Ich bin vergnügt mit Ich bin
meinemGlück« aufmerksam gemacht, insbesondere auf Tergnügt
die erste (42. Jahrgang der Bachausgabe), deren freudige
Musik eine Meisterin der Koloratur verlangt. Im ersten
und letzten Satz hat sie mit der Trompete zu konzertieren.
Der Beschaulichkeit und Gemütstiefe sind das begleitete
Rezitativ: »Wir treten zu dem Tempel an« und der vor-
letzte Satz: »Sei Lob und Preis mit Ehren« (eine Choral-
— ♦ 598 ♦—
bearbeitung, in der das Orchester über fröhliche Motive
fagiert, die Sängerin die Kirchenmelodie »Nun lob mein
Seel« mit kleinen Verzierungen vorträgt) gewidmet.
Unter den Solokantaten für Alt steht die Komposition
"Widerstehet von »Widerstehet doch der Sünde c obenan. Sie
doch der Sünde, setzt ungewöhnlich und kühn gleich mit freier Dissonanz
ein und läßt schon hierdurch keinen Zweifel darüber, daß
eine erregte Seele spricht und eine Künstlerin des Aus-
drucks verlangt wird. Die Kantate gehört mit der weitem,
sehr schön melodischen, den Lebensüberdruß ergreifend
Vergnügte Ruh. edel singenden Altkantate: »Vergnügte Ruh« zu den
wenigen Ausnahmen, in denen Bach vom Choral abgesehen
Gott allein soll hat In einer dritten Altkantate: »Gott allein soll mein
mein Herze Herze haben« ist <die Einleitung der ersten Arie durch
haben. die Mischung von Rezitativ und Gesang sehr eigen, die
Arie selbst fesselt koloristisch: die Singstimme konzertiert
mit der Orgel. Diese konzertierende Orgel kommt nach
dem Jahre 4 730 bei Bach häufig vor, so gleich in einer
Geist und Seele, weitern Altkantate: »Geist und Seele wird ver-
wirret«. In diesem sehr schweren, aber durch einen
kräftigen Grundton hervorragenden Stücke dient das Kon-
zertieren, Nachahmen und das Dazwischenspielen unter
anderm auch zum Ausdruck der Verwirrung.
Eine durch ihre Kürze zum Zwischenstück sehr ge-
Meine Seele eignete Solokantate für T e n o r ist : »M e i n e S e e 1 e r ü h m t
rühmt a. preist, und preist«. Die durch frische Erfindung und geist-
Ich weiß, daß reiche Führung bedeutendste »Ich weiß, daß mein
mein Erlöser Erlöser lebt« stammt aus der Weimarschen Zeit Eine
lebt, dritte: »Ich armer Mensch, ich Sündenknecht«, die
Ich armer Spitta um 4732 setzt, ist etwas ungleich und durch die
Mensch. enorme Höhe nur wenigen Sängern zugänglich. Den
Schluß bildet derselbe Flittnersche Choral, der in der
zweifelhaften Lukaspassion so anheimelnd hervortritt
In der zweiten Gruppe, in den »Dialogen« ist das be-
kannteste und wohl auch bedeutendste Stück die Kantate:
0 Ewigkeit, du»0 Ewigkeit, du Donnerwort«. We bei anderen
Donnerwort Komponisten sind auch bei Bach diese Dialoge durchaus
nicht immer Duette. Hier können sich »die Furcht« (Alt)
-—♦ 599 ♦—
und »die Hofihungc (Tenor) in ihrer Auffassung des Todes
nicht einigen. Da tritt eine dritte Stimme, die des heiligen
Geistes (Baß) hinzu und beruhigt mit dem Bibelwort:
»Selig sind die Toten c Streit und Zweifel, wie das in dem
in den »Actus tragicus« eingeschobenen Dialog die Stimme
des Heilands tut. J^it dem Hinzutritt des Basses endigt
dies Stück, den förmlichen Schluß gibt der Chor mit dem
Ahleschen Choral »Es ist genug«.
Bekanntlich hat Bach über den Text »0 Ewigkeit, du
Donnerwort« auch eine große Ghorkantate komponiert.
Sie ist viel leidenschaftlicher gehalten, ähnelt aber dem
Dialog darin, daß das Orchester an der Darstellung einen
wesentlichen Anteil nimmt. Im ersten Satz geschieht das
in der Weise, daß den Instrumenten die entgegengesetzten
Stimmungselemente übertragen sind: Die Streichinstru-
mente führen ein tiefgelegtes tremolierendes Sechzehntel-
motiv durch, das auch in anderen Kantaten wiederkehrt,
wenn an das Grollen des fernen Donners erinnert werden
soll, die Bläser stellen sich mit bittenden und schmeicheln-
den melodischen Figuren entgegen, die bald die Stimme
der »Hoffnung« und später die »Stimme des heiligen Gei-
stes« aufnehmen. Das ist also der Gegensatz, von Furcht
und Hoffnung. Er kommt in den Singstimmen in anderer
selbständiger Form zum Ausdruck. Der Alt (die Furcht)
singt breit und schwer gedrückt den Choral, der Tenor
(die Hoffnung) mutige, frohe Weisen. Der Eingangssatz
des Dialogs ist also der Form nach eine äußerst male-
rische, bewegte und sinnreiche Choralfantasie. In dem
Rezitativ, das die Fortsetzung dieses Duetts bildet, ragen
die Stellen hervor, an denen die Deklamation in ge-
messenen Gesang und Tonmalerei übergeht. Der Alt ver-
breitet sich auf dem Bild der »Martern«, der Tenor auf
dem »Ertragen« der Last. In dem folgenden Duett: »Mein
letztes Lager will mich schrecken« klingen aus der Oboe
und dem Instrumentalbaß die Rhythmen eines jener
langsamen Reigen, die aus der neueren Musik verschwun-
den sind. Bach will auf einen Totentanz anspielen. Um
das noch deutlicher zu machen, fügt er der Solooboe
--♦ 600 ♦--
noch eine Solovioline bei, die wie ein Gespenst immer
die Skala hinab und hinauf rennt und gleitet. Die Sing-
stimmen sind dem Instrumentalsatz »aufgeschriebene, der
Tenor mit durchaus charaktervollen Schlußstellen, der
Ältpartie, als der Stimme von Klage und Furcht, muß der
Vortrag etwas nachhelfen. Erst im nächsten Rezitativ
schlägt sie wieder deutUcher den Ton des Todesgrauens
an und da kommt schon nach der ersten Zeile die
Stimme des heiligen Geistes > Selig sind die Totenc und
damit der Höhepunkt der Komposition, vorausgesetzt,
daß die schöne, balsamisch ruhige Baßmelodie auch mit
•einem schönen und farbenreichen Akkompagnement ver-
sehen wird. Dreimal ruft die Stimme aus der andern
Welt, dann bekennt sich auch die Furcht zur Hoffnung
und zum Glauben.
Was an diesem Beispiel ergreift und entzückt, kehrt
in allen Dialogen Bachs wieder: die Meisterschaft in der
Herausarbeitung des Gegensatzes, die verklärte überirdi-
sche Schönheit, in der bei allen diesen Stücken nach
Kampf, Angst und Zweifel endlich der Seelenfrieden ein-
zieht. In der Vorbereitung und Einführung dieses drar
matischen Moments zeigt sich Bach mit seinen Dialogen
allen Vorgängern nicht musikalisch, aber persönlich über-
legen. Sollen welche herausgehoben werden, so wird die
Selig ist der Wahl auf »Selig ist der Mann« und auf »Ach Gott,
Mann, f wie manches Herzeleid« fallen müssen. Jener, ein
Ach Gott, ^e lichtiges Duett (Sopran und Baß), für den zweiten Weih-
manches nachtsfeiertag komponiert, zeichnet sich durch die Weite
Herzleid. und den Reichtum der von Schlummerfantasien bis zu
Händelscher Kraft schreitenden Stimmungsentwicklung
aus, dieser durch eine poetische Choralkunst höchster Art
Wie da der frei erfundene Baß dem im cantus firmus
bangenden Sopran zuspricht, das ist unvergeßlich lebens-
voll. Auf der Seite des Trösters stehen auch die Instru-
mente, in dem letzten Satz, wo die bangende Seele den
Choral »Ach Gott, wie manches Herzeleid« nochmals und
noch schwermütiger als am Anfang des Werkes anstimmt,
tragen sie eine geistreiche Anspielung auf »Wachet auf.
ruft uns die Stimme« hinem. Ebenfalls Duette für Sopran
und Baß und ebenfalls sehr schön sind die Dialoge:
»Liebster Jesu, mein Verlangen« und »Ich geh Liebster Jesa,
und^suche mit Verlangen«, letzterer noch formell mein Verlangen,
durch Verknüpfung von früheren und späteren Abschnitten Ich geh n. suche,
fesselnd. Auch die Kantaten »Der Friede sei mit dir« Der Friede sei
und die besonders schöne »Ich lasse dich nicht« mit dir,
(Sopran und Tenor) gehören in diese Klasse. Unter den, Ich lasse dich
dreistimmigen Dialogen ragen die Nummern: »Jesus nicht,
schläft«, »Mein liebster Jesus ist verloren« und Jesus schlaft,
»Schau, lieber Gott, wie meineFeinde« hervor, die Mein liebster Je-
erste durch die Kombination von Seelenschilderung unds^is ißt verloren,
Naturmalerei, die zweite durch die Verwaiidtschaft mit Schau, lieber
»0 Ewigkeit, du Donnerwort« und durch die Innigkeit des Gott.
Bittens. Auch sie bringt den Flittnerschen Hauptchoral
aus der strittigen Lukaspassion. Die dritte »Schau, lieber
Gott« fängt ausnahmsweise mit dem vierstimmigen Choral ich bin ein
an. In den eigentlichen Kunstsätzen fesselt der Gegen- guter Hirte,
satz zwischen der Ruhe der Stimme Gottes und der immer iVahrlich, ich
neuen Erregung der Kleingläubigen. sage euch,
Die dritte Ghippe der Bachschen Solokantaten, die Bisher habt ihr
der vierstimmigen, der noch einige dreistimmige, die nichts gegeben,
nicht Dialoge sind, eingereiht werden müssen, ist die Siehe, ich \trili
stärkste und unbekannteste. Gewiß sind vier gute Solisten viel Fisclier
schwerer zu beschaffen, als einer oder zwei, aber dieser aussenden,
Mehraufwand wird durch die Mannigfaltigkeit der in diesen Süßer Trost,
Werken enthaltenen ^Kombinationen und Klangbilder so Die in der Angst,
reich belohnt, daß gerade sie neben den Dialogen sich Ach ich sehe, da
zur Einführung in die Bachschen Solokantaten am besten ich jetzt zur
eignen. Unter den vierstimmigen sind Hauptstücke: »Ich Hochzeit gehe,
bin ein guter Hirte«, »Wahrlich, ich sage euch«, Nur jedem das
»Bisher habt ihr nichts gegeben«, »Siehe, ich will Seine,
viel Fischer aussenden«, »Süßer Trost, mein Wo gehest Du
Jesus «, »Die in der Angst nach dem Herrn rufen«, hin,
»Ach ich sehe, da ich jetzt zur Hochzeit gehe«, Ihr Menschen,
»Nur jedem das Seine«, »Wo gehest Du hin?«, rühmet,
»Ihr Menschen, rühmet Gottes Liebe«, »Meine Meine Seufzer,
Seufzer, meine Tränen«, unter den dreistimmigen: meine Tränen,
602
Sehet, wir geben
hinauf gen
Jernsalem,
Erfrente Zeit,
Schau, lieber
Gott,
Ich steh mit
einem Fuß im
Grabe,
Was soll ich aus
dir machen,
Ephraim?
^r. L. Erebi.
Ol Homilinsi
Poles, Hiller.
»Sehet, wir gehen hinauf gen Jerusalemc, »Er-
freute Zeit im neuen Bunde«, »Schau, lieber
Gott, wie meine Freunde«, »Ich steh mit einem
Fuß im Grabe«, ^Was soll ich aus Dir machen,
Ephraim?«
Wie schon erwähnt, ist von den sämtlichen Kirchen-
kantaten S. Bachs zu Lebzeiten des Komponisten nur eine
einzige, die Mühlhausener »Gott ist mein König« (4708) in
Druck gekommen. Eine besondere Zurücksetzung Bachs
darf man darin nicht erbhcken. Denn auch die Kirchen-
kantaten der G. Benda, Gessel, H. Graun, Hoffmann,
Kellner, Kirchner, Römhild, Tag, Wendel, Wir-
bach,Wundsch und andrer mit vollständigen Jahrgängen
hervortretender Mitarbeiter, überhaupt alle evangelischen
Kirchenkantaten blieben un^druckt. Das »Thematische
Verzeichnis usw.« von Breitkopf & Härtel sagt noch im
Jahre 4770 ausdrücklich, daß niemand in Deutschland
gern nach gedruckten Noten musizierte, Burneys Tagebuch
begründet ziemlich zu gleicher Zeit für ItaUen den Mangel
an gedruckter Musik mit der Wut nach Neuigkeiten und
der Kurzlebigkeit der meisten Kompositionen. Es verlohne
sich nicht, Mühe und Kosten auf Stich- und Kupferplatten
zu verwenden. Bei den protestantischen Kirchenkantaten
kamen aber als wichtigstes Hindernis die schon erwähnten
partikularis tischen Abweichungen in Text und Melodie
der Choräle hinzu.
Mit Recht aber nehmen wir daran Anstoß, daß die
wenigen Schriftsteller, die von der Mitte des 48. Jahr-
hunderts ab von Bach als Kantatenkomponisten Notiz
nahmen (Scheibe, Hiller, Schubart) ihn in eine Reihe mit
Kegel, Kramer, Pfeiffer und Genossen und nicht wie wir
obenan stellen. Die Ursachen dieser Verkennung lagen
in der Herrschaft der italienischen Musik und im Ratio-
nalismus. Der Kantatenbestand der Nach-Bachischen
Periode ist für eine eingehende Darstellung noch nicht
genügend durchgearbeitet, aber fest steht, daß die (hand-
schriftlich vorhandenen) Arbeiten seiner Schüler J.L. Krebs,
G, H 0 m i 1 i u s , oder seiner Am tsnachf olger D 0 1 e 8 und H i 1 1 e r
— ♦ 603 ^~
an kirchlicher Würde weit geringer sind. Am ersicht-
lichsten entfernen sich die späteren Kantatenkomponisten
von Bach und seinen Zeitgenossen in der Stellung zum
Choral. Wohl kömmt er in der einfachen Kirchenform
am Anfang oder am Schluß, auch etwa zu einem Duett
verarbeitet noch vor. Aber die großen Choralfantasien,
in die besonders Bach die ganze Fülle von Geist, Herz
und Kunst gelegt hatte, verschwinden und machen der
Chorarie Platz, die in den Kantaten der in italienischer
Schule erzogenen Deutschen wie G. Naumann schon Ö. Hanmann.
früher ein Hauptstück gewesen war. Ausnahmen gibt es.
Eine solche ist der Eisenacher Ernst Bach, namentlich Ernst Bach,
in seiner durchgeführten Choralkantate >Kein Stündlein
geht dahin«. Sie hat in der Altarie >Wenn Sprach', Ver-
stand und Sinn« eine Stelle von echt Bachscher Ursprüng-
lichkeit. Auf einen Cdur-Schluß setzt ohne jede Pause
und Vermittelung Cis moll auf die Worte > Wenn ich nicht
mehr weiß, wer ich bin« ein. Wenn die Kantaten nach
Bach auch beträchtlich kürzer wurden, so kann man das
vom kirchlichen Standpunkt aus kaum i^s Schuldbuch der
Aufklärungsperiode schreiben. Sie hat jedoch durch ihre
Gleichgültigkeit gegen die musikalische Liturgie indirekt
sehr stark zum Verfall der Kirchenkantate beigetragen.
Die von Fprkel mit Recht lebhaft beklagte Preisgabe von
Schul- und Kirchenchören hat auf diesem Gebiet die Frucht-
barkeit besonders stark unterbunden, und wie immer in
der Kunst ging da mit der Quantität auch die Qualität
zurück. So ist ähnlich wie die Klaviersonate nach Beet-
hoven, die Kirchenkantate nach Bach von der größten bis
dahin erreichten Höhe jäh in eine Krisis geraten, von der
sich zurzeit nicht absehen läßt, wie sie enden wird.
Es haben allerdings noch bis in die erste Hälfte des
49. Jahrhunderts sächsische Kantoren mit dem alten E. Weinllg,
Fleiß in der Kantate weitergearbeitet, es sind auch Kan- Th. Weinlig,
taten bekannter Komponisten, Ehregott W e i n 1 i g s , Theodor A. Bomberg,
Weinligs, A. Rombergs, G.Schichts, F. Schneiders G. Sohioht,
ins Konzert gedrungen. Aber länger gehalten haben sich F. Sohneideri
^ nur CM. V.Webers Kantaten: >Ernte undFriedens-G. M. ▼. Weber.
— ♦ 604 ♦—
feier<, »Kampf und Sieg«. Seit Menschenaltern sind
auch sie aus den Listen gestrichen, seine schöne Choral-
kantate >In seiner Ordnung schafft der Herr« ist überhaupt
wenig beachtet worden. Der durch Mendelssohns früher
erwähnte Psalmenkantaten gegebene Anstoß hat einigen
R. Schvnuin. Erfolg gehabt. R. Schumanns geistliche Kantaten »Neu-
jahrslied« und das »Adventslied« sind ihm zu
danken. Beiden liegen Dichtungen von F. Rückert zu-
grunde, die jedem neuen Gesangbuch zur Zierde gereichen
würden, musikalisch gehört das »Adventslied« zu den
Stücken, die allgemein gekannt zu sein verdienten.
Melodienreich und eingänglich bis' zur Volkstümlichkeit,
tut nur die z er stückte Anlage seiner Gesamtwirkung
einigen Abbruch.'
F. Draeieke. Felix Draeseke hat denselben Text einige Jahr-
zehnte später wieder und im ganzen kraftvoUier als
Schumann komponiert. Mit ihm stimmt er in dem Be-
streben überein, den Kirchenton ankhngen zu lassen.
Das Baßsolo des ersten Satzes: »Dein König kommt in
niedren Hüllen«, der Mittelsatz über die Worte »0 großer
Herrscher ohne Heere« -sind moderne Choralsurrogate
bester Art, Marschmotive' des Orchesters stellen sie in
einen szenischen Rahmen. Inspiration ist überall in dieser
Kantate zu merken, die größte äußere Wirkung liegt im
zweiten Teil. Doch ist sie von einem ährdich guten Solo-
sopran abhängig, wie ihn die Neunte Symphonie verlangt.
(. Hauptmann. Auch M. Hauptmanns früher häufiger im Konzert auf-
geführte Kantaten: »Und Gottes WilP ist dennoch
gut« und »Nicht so ganz wirst meiner du ver-
gessen« schließen an Mendelssohn an, an dessen »Ver-
leih* uns Frieden« und andere begleitete Motetten. Ihre
schhcht demütige, etwas gedrückte Frömmigkeit macht
sie eigen, ihre knappe Einsätzigkeit weist sie nicht nur
von der Bachschen Kantate weit weg, sondern widerspricht
überhaupt dem alten Kantatenbegriff. Hauptmann hat sie
deshalb »Kirchenstücke« benannt. Von solchen ähnlichen
geistlichen Miniaturkantaten der Hauptmannschen Zeit
M. Brach, ist M.Bruchs »Jubilate, Amen« (die Dichtung von
— ♦ 605 ♦—
Freiligratb) als die poetisch bedeutendste den Konzert-,
instituten in Erinnerung zu bringen. Wer diese Alters-
genossin von »Fritbjof« und > Schön Ellen c kennen gelernt
hat, behält die Refrains des über Chor und Orchester
schwebenden Solosoprans lebenslang im Gedächtnis.
Von den mehrsätzigen Kirchenkantaten der zweiten .
Hälfte des 19. Jahrhunderts verdient die »Trauerkantate
auf Friedrich VILc des Dänen J. P. E. Hartmann noch j, p. E. Hart-
heu te eine allgemeine Beachtung. Zu einer regeren Pro- mann,
duktion gab Luthers vierhundertster Geburtstag Veran-
lassung. Unter den durch ihn hervorgerufenen Festkantaten
ist A. Beckers Reformationskantate ein Werk von A.Becker,
bleibendem Wert Sie schildert dramatisch anschaulich,
wie der protestantische Trutzchor: »Ein' feste Burg ist
unser Gottc aus kleinen Keimen ins Große und Volle
wächst. Historische Treue hat der Komponist dabei nicht
angestrebt, wahrscheinlich auch nichts davon gewußt, daß
einzelne Motive dieser im heißen Guß dahinström enden
Kraftmelodie in der Niederländischen Schule und in der
Meistersingerei wurzeln. Aber seine Kantate ist eine der
geistreichsten und effektvollsten Leistungen auf diesem
Gebiete und hat vielleicht etwas dazu beigetragen, daß
auch außerhalb des Kirchendienstes stehende Musiker sich
ihm wieder zuwendeten. Unter ihnen hatH. v. Herzogen- H. ▼. Henogen«
bergs »Totenfeier«, eine edle Komposition, in der die berg.
Bachsche Choralkunst wieder auflebt, einen Platz obenan.
Gleich beachtenswert ist unter den in letzter Zeit in
Druck gekommenen Kirchenkantaten G. Schrecks sinnige, 0. Bokreck.
phantasievolle, mit strengen Formen modernen Geist und
Effekt verbindende Komposition von »Gott ist die Liebe«.
Etwas älter ist die durch ein Königsberger Musikfest
bekannter gewordene Krönungskantate von Constanz G. Berneoker.
Bernecker, ein Werk, das sich im wesentlichen auf
Mendelssohnschem Boden, aber gewählt und zugleich
natürUch bewegt und den Vorzug großen Wohlklangs hat.
Von ihm ab tritt im Druck größerer, mehrsätziger Kirchen-
kantaten eine längere Pause ein, der erst in neuester
Zeit einige bedeutende oder doch beachtenswerte Arbeiten
606
ein Ende gemacht haben. Unter ihnen muß namentlich
die als »Preis- und Danklied«, betitelte Festkantate
0. SoliQmann. (op. 47) von Georg Schumann hervorgehoben werden.
Ihr Eingang verzichtet etwas befremdend auf einige Takte
feierUcher Einleitung und gibt sofort frei nach Händel das
Bild einer jauchzenden Menge. Er tut das aber mit der
Freiheit und der Originalität, von der fast alle Komposi-
tionen dieses Tonsetzers Zeugnis ablegen, und so läßt
die Arbeit auch im weiteren durch ihren frißchen, leben-
digen Stil, durch große Stellen und Steigerungen keinen
Zweifel an ihrer Bedeutung und ihrem Gehalt Der ton-
dichterische Höhepunkt der Kantate liegt am Anfang des
zweiten Satzes, in den unbegleiteten Reden, die der
Solobariton von der Hohe herab an die Massen des Volkes
richtet.
8t. KrehlB. Eine rühmHcbe Leistung ist auch Stephan Krehls
für Soli, gemischten Chor und Orchester geschriebene
Kantate »Tröstung« (op. 83). Wäre sie in der Erfindung
etwas einfacher, so hätte sie alle Anwartschaft darauf, als
Totenfestmusik volkstümlich zu werden. Jedenfsdls zeigt
sie im Aufriß und Festhalten der Stimmungen, in der
Menge eigener Wendungen, in der kunstvollen und natür-
lichen Vokalität einen Komponisten, der neben einem
beträchtlichen Können eine selbständige Persönlichkeit
einzusetzen hat.
G. Prohaska. Auch Carl Prob askas als Motette betiteltes op. U
»Aus dem Buch Hi ob« für achtstimmigen Chor, Or-
chester und Orgel gehört unter die hervorragenden neueren
Kantatenleistungen, wenn sie auch den Mangel hat, der
Chorentwicklung zuliebe hie und da den Text zu sehr
ins Breite zu ziehen.
Überall erfreut in der Auffassung die ernste Hingabe
an den Gegenstand und der immer angemessene Ausdruck.
Der schönste Abschnitt ist der Anfang des zweiten Teils,
der die Worte »Ein Baum hat Hoffnung, wenn er schon
abgehauen ist« sehr einfach, aber mit überzeugendem
melodischen Talent gibt. Auch das Zurückgreifen des
Schlusses auf den Anfang wirkt tiefer.
--4 607 ♦—
-Einem Anlauf zu einer großen Kantatenleislung be-
gegnen wir in der »Offenbarung Johannisc für Tenor-
solo, Doppelchor und Orchester, dem op. 17 des durch
Instrumentalwerke vorteilhaft bekannt gewordenen Münch-
ner Komponisten WalterBraunfels. Vielleicht hat das W. Brannfeli
>Triumphlied< von Brahms vorgeschwebt, jedenfalls aber
sollte der moderne Stil zur Geltung kommen. Zu diesem
Zweck wird das Orchester mit einer in der Kirchenmusik
bisher nicht üblichen Regsamkeit zu ähnlichen Klein-
malereien herangezogen, wife sie sich seit Wagner in Oper
und Oratorium eingebürgert haben. Die Wirkung ist mehr
aufdringlich als eindringhch, und. die großen breiten Chöre
lassen die Anforderungen an melodisches Talent un^
vokale Schulung zum Teil unbefriedigt.
Bescheideneie Ziele steckt sich Martin Grabert in M. Oral)ert«
den beiden Kantaten »0 Tod, wie bitter bist du« (op. 25)
und >Der Pharisäer und der Zöllner« (op. 24). Namentlich
die erste ist in der Stimmung bedeutend, zuweilen Bachisch, «
und bietet auch in der melodischen Erfindung vieles
Schöne. Sie schließt mit dem Choral »Christus, der ist
mein Leben«. Die andere, die sich vorwiegend auf kleinere
Sätze beschränkt, erfreut durch sinnige Züge. Einer der
wirksamsten ist, daß am Schluß die Oboe das Haupt-
thema aus der Arie des Zöllners: »Gott sei mir Sünder
gnädig« nochmals anstimmt.
Beide Kantaten begnügen sich mit Streichorchester
und Orgel, nur in der ersten sind noch zwei Oboen hin-
zugezogen. Dieser 2ug nach Vereinfachung der Mittel
und Formen ist keine Besonderheit Graberts, sondern er
begegnet uns in der neuesten Kirchenkantate häufiger.
Zu erwähnen ist da das op. 70 von Franciscus Nagler,F. Hagler.
das unter dem Gesamttitel »Schlichte Kirchenmusik«
eine Pfingstkantate, eine Weihnachtskantate und eine
kleine Ostermusik bringt, die alle einsätzig verlaufen, aber
durch den Wechsel der Mittel in den einzelnen Abschnitten
wirksam belebt sind und das Nötige sehr eingänglich und
gut melodisch sagen.
Der Vater und Hauptvertreter dieser Richtung ist
— ♦ 608 ^—
V. Beger. Max Reger. Seine vier Chor alkantaten er&eaen sich
• einer weiten Verbreitung, die sich namentlich aus zwei
Gründen erklärt. Diese Arbeiten ermöglichen auch solchen
Kirchen Kantatenauffafarungen, die sich den sonst nötigen
Apparat von Orchester, von technisch leistungsfähigen
Solisten und schlagfertigen Chören versagen müssen. Die
Begleitung besteht in einem nicht schwierigen Orgelsatz,
der Gesangteil verlangt kaum mehr als den Vortrag be-
kannter Choralmelodien. Dieser Leichtigkeit der Aus-
führung stehen aber in diesen Kantaten große und bis
zu einem gewissen Grade neue koloristische Reize gegen-
über, die auf der Zuziehung obligater Soloinstrumente
beruhen. Der Form nach sind diese Arbeiten Choralvaria-
tionen, die Variation beschränkt sich aber im wesentlichen
darauf, daß der Vortrag der einfachen Kirchenmelodien
zwischen Solosängern, Chor und Gemeinde wechselt. Die
Beziehungen zwischen Text und Musik sind im Durch-
schnitt nur lose, der harmonische Satz neigt etwas ein-
seitig zur Chromatik. Die erste dieser vier Choralkantaten,
die Weihnachtskantate »Vom Himmel hoch«, die 4 Solo-
stimmen, 2 Soloviolinen, Gemeindegesäng und Orgel
verlangt, steht wohl auch an Wert obenan, weil hier die
Variationen tiefer in das Wesen des Chorals eindringen.
Die zweite, die Totenfestkantate »0 wie selig seid ihr
doch«, macht von den übrigen dadurch eine Ausnahme,
daß sie außer der Orgel für die Begleitung auch ein
Streichorchester verlangt. In den Vortrag der acht Verse
teilen sich Gemeinde, Sologesang und Chor. Die . dritte
über »0 Haupt voll Blut und Wunden«, die mit Soloalt,
Solotenor, gemischtein Chor, Solovioline, Solooboe und
Orgel zu besetzen ist, ist die am gediegensten gearbeitete.
Der zum cantus iirmus geschriebene Chorsatz sowohl
wie die Kontrapunkte des Halbchores haben einen höheren
künstlerischen Wert. Die vierte: »Meinen Jesum laß ich
nicht« für Solosopran, gemischten Chor, SolovioUne, Solo-
bratsche und Orgel ist die knappste und bescheidenste,
zugleich aber an Klangreiz reichste.
Die Erwartung, daß sich an den Vorgang Regers ein»
--♦ 609 ♦—
Schule anschließen werde, wird sich mit der Zeit erfüllen.
Anfange dazu liegen in 6. Schrecks »Gott rückt als 0, Sohreok.
Kriegsheld in das Feld« (mit Trompete) und in den «für
Solostimmen,- Chor, Solovioline, Soloklarinette und Orgel
geschriebenen Kantate »Herzlich lieb hab ich dich« (op. 33}
von Ernst Müller vor. In den Kontrapunktßn der In- e. Mtüler.
Strumente, wie in der Führung der Harmonie erfreulich
natürlich und gehaltvoll, macht sie namentlich durch die
Stellung des Sologesangs zum Chor großen Eindruck. Mit
großer Wahrscheinüchkeit darf außerdem das »Tränen-
krüglein« von Georg Schumann, das allerdings mehr a. Schamaim»
zu den oratorischen Szenen als zu den Kirchenkantaten
gehört, mit Regers Choralkantaten in Zusammenhang
gebracht werden. Denn es gleicht ihm in der Beschränkung
der Besetzung: Orgel, Harfe, Harmonium, Klavier. Die.
Komposition führt die Geschichte des toten Kindes, das
durch das Weinen der Mutter um seine Grabesruhe ge-
bracht wird, so zart, innig und rührend vor, daß ihm in
der neueren deutschen Komposition ein Ehrenplatz gebührt.
Als biblische Kantate hat auch Enrico B 0 s s i e. Bowi.
seine in deutschen Konzerten häufiger mit Erfolg aufge-
führte Komposition des Hohenlieds (canticum canticorum)
für Sopran- und Baritonsolo, Chor, großes Orchester und
Orgel veröffentlicht. Der begabte Italiener^ unterscheidet
sich aber von den vielen Tonsetzern, die seit den Zeiten
der Niederländer dieses merkwürdigste Stück des Alten
Testaments in Musik gebracht haben, dadurch, daß er
mit einigen vereinzelten Bibelerklärern die rätselhafte
Dichtung dramatisch auffaßt, den (lateinischen) Text an
Frau (la sposa), Mann ilo sposoj und einen Chor der
Gefährten verteilt und ihn in drei Akte gruppiert. Da-
mit rückt seine Kantate zu den oratorischen Bibelidyllen
in die Nähe von 0. Goldschmidts »Ruth«, scheidet aber
aus der Gruppe Kirchenmusik aus. Die Einflechtung der
liturgischen Hymne: Fange lingua in den zweiten und
dritten Teil ändert daran nichts.
Nach wie vor bleibt die Kantate ein wesentlich pro-
testantischer Musikzweig und ist als solcher noch immer
II, <. 39
610
gefährdet Das Konzert kann mit beitragen ihn zn er-
halten, die durchgreifende Hufe muß aber die Kirche
selbst bringen. Sie besteht in der Errichtung von Schulen
für Kirchenmusik und in der Vermehrung geschulter und
disziplinierter Eirchenchöre!
REGISTER.
AbkUrsungen.
H-Zo = Hymnen : Lobg:esang des Simeon ; B.-Mg = Hsrmnen : Magnificata ^
H-S^^ = Hymnen :Btabat mater; H-T = Hymnen: Tedeums; E = Ean
taten; La = Lamentationen; Li = Litaneien; M = Messen; M-R =
Messen : Bequiems ; Mt = Motetten ; P = Passionen ; Ps = Psalmen.
Abos, G. 354 (ß'St).
Adam 438.
Agazzari 346 (EL-St).
Agricola, A. 172, 477 (Mt).
Ahle, R. 197, 391 (H-Jlfsf),
491 (Mt), 530, 543— 545 (K),
599.
Aiblinger, J. K. 225 (M), 242,
245.
Alchinger 345 (EL-St), 495 (Mt).
Albert, H. 530.
Albinoni 77, 395 flf.
Allegri, G. 405—406 (Ps, Mi-
serere), 407, 446 (La), 472
(Mt).
Allison 473 (Mt).
Altenburg, M. 73, 416, 490.
Andrtf 185.
Anerlo, F. 177—178 (MJ, 346
{H-50)366(H-r), 383(H-
Mgl 406, 410 (Ps), 446 (Li),
470 (Mt).
Anerio, G. Fr. 271, 366 (H-T).
Anglicus, J. B. 144.
Allimaccia, G. 467 (Mt).
Arcadelt, J. 460 u. 467 (Mt).
Arebbo, A. 412 (Ps).
AsoU, L. 293 (M-Ä).
Asola, M. 476 (Mt).
Astorga, E. 348—351 (R-St).
Bach, Ohr. 498 (Mt), 651 (K).
Bach, Ernst 603 (K).
Bach, L. 197.
Bach, M. 497—498 (Mt).
Bach, Ph. E. HO (P), 197, 400
(Ei-Mgl 433 (Ps), 498, 572.
Bach, S. 3, 21, 37, 44 f., 56,
61 f., 64f., 66—102 (P;
Lokas-F. 66, Joh.-P. 70, Matth.-
P. 83), 104,106,110, 112, 116,
118, 126, 130ff., 140, 142,
145, 147, 166, 180 f., 186—
199(M), 206,213,216, 219,
237, 244, 247, 253 ff., 309,
311, 319, 336, 347, 360,
369, 372, 387, 390, 394—
399 (U'Mg), 413, 422, 434,
437, 444, 478, 480, 491,
498—611 (Mt; Singet dem
Herrn 500, Komm^ Jesu, komm
502, Fürchte dich nicht 50 :i,
Der Geist hilft 504, Jesu,
meine Freude 505, Lobet deu
Herrn 5 1 1), 614,531, 637, 640,
647, 551—602 (K; Gottes
39*
642
?
' Zeit 565, Ich hatte yiel Be-
kftmmemis 557, Nan ist das
Heil nnd die Kraft 659, Ein'
feste Sarg 561, Christ lag in
Todesbanden 662, Gott, der
Herr, ist Sonn' nnd Schild
5 7 2, Weihnachtsoratorium 583,
SolokanUten 694), 604 f., 607.
Bai, T. 406, 472 (Mt).
Baini, L. 355 (H-Ät), 406.
Bargiel, W. 441 (Ps).
Bässani, G. B. 272 (M-Ä).
Bateson 473 (Mt).
Becker, A. 254—269 (M), 309,
336—336 (M-^, Selig ans
Gnade), 521, 606 (K).
Beethoven, L. van 74,112—116
[P, Christus am ölberg), 119,
131 f., 136, 140, 146, 147,
186, 199, 204—224 (M;
Cdur-H. 204, Missa solemnis
210), 226, 228, 230 f., 234,
236, 239, 260 ff., 254, 268,
276, 282, 297, 313, 320 f.,
332, 422, 613 (Mt, Die
Himmel rühmen), 667, 691.
Benda, G. 648, 602.
Benevoli, 0. 179—180 (M).
Bennet 473 (Mt).
Berchem, J. de 450 u. 461
(Mt), 466.
Berger, W. 622.
Bergt, A. 376 (H-T).
Berlioz, H. 226, 261, 288,
290, 296—308 (M-Ä), 313,
330, 332 f., 336 f., 339,
376-377 (H-T), 432, 522.
Bemabei, E. 426 (Ps), 476 (Mt).
Bernecker, C. 606 (K).
Bernhard, Chr. 402 (H-Lo),
540-643 (K).
Besler, S. 16—18 (P), 23, 27,
48, 583.
Beyer, S. 530.
Binchois 152, 448.
Biordi 446.
Blumner, M. 621.
Boccherlni, L, 356 (H-5t).
Bochsa 283 (M-Ä).
Bodenschatz 490.
Böhm 669.
Boito 231.
Bortniansky, D. 517 (Mt).
Bossi, E. 479, 609 (K).
Brahms,' J. 241, 309, 314-
328 (M-5), 334 f., 373,
441-442 (Ps), 610, 619,
620-521 (Mt), 623, 607.
Brasart 448.
Braunfels, W. 607 (K).
Briegel, 0. 490, 646 (K).
Brixi 376 (H-T).
Brosig 241.
Brach, M. 254 (M).
Brückner, A. 260—267 (M;
Fmoll-M. 260, Emoll>H. 266),
377—378 (H-T), 442 (Ps),
626—527 (Mt).
Brumel, A. 163 f.,' 165—166
(M), 407, 468 (Mt).
Bull 473 (Mt).
Burgk, J. V. 14 (P.), 16, 60,
490.
Buxtehude 11, 638, 646—547
(K), 548f., 551.
Byrd 366 (H-T), 473 (Mt).
Cacclni, Fr. 639.
Oaccinl, G. 528.
Oaldara, A. 184, 346, 364,
367 (H-T), 391-392 (H-
Mg), 426-426 (Ps), 432.
Oalvisius 366 (H-T).
Campioni 376 (ff-T)-
Oarissimi 62, 68, 133, 417
(Ps), 629 (K), 532, 642.
613
Castelbarco 121.
Cauroy, E. de 461 (Mt).
Cavaccio, G. 271.
Cavalli, Fr. 271— "272 (M-Ä),
351, 409.
Gesare 529.
Cesena 529.
Cesti 351.
Cherubini, L. 139, 169, 185,
206, 224, 226—234 (M;
DmoU-M. 227, Credo 233),
255, 259, 284—295 (M-Ä;
Cmoll-B. 284, Dmoll-B., flir
Männerstimmen, 293), 296 if.,
310, 312f., 317, 330, 336,
356, 380, 513 (Mt).
Oiampi 375 (H-T).
Civitate, A. de 144.
Clari, 0. M. 346, 347 (H-Sft),
352, 425 (t>s).
Clemens (non papa), J. 141,
461—462 (Mtl
Cleve, J. de 163, 167 (M),
407, 462-465 (Mt).
Cobbold, 473 (Mt).
Colerus (Köhler), M. 74.
Colonna, ß. P. 272 (M-£\
346, 426 (Ps).
Gomp^re, L. 449.
Conti 253. .
Cornelius, P. 231, 255, 517
(Mt), 522, 524, 526.
Cr^quiUon, Th. 450 u.461 (Mt).
Croce, G. 178 (M), 383 (H-
Mg), 390, 411 (Ps).
Crüger, J. 490, 530.
Curschmann 231.
Dalberg 120.
Daser, L. 14 (P), 50.
Dehn, S. 518, 522.
Demantius, Chr. 15 (P), 366
(H-T), 384, 390, 416, 496
(Mt), 535 (K).
Diabelli 245.
Dietrich, S. 477 (Mt).
Doles 602 (K).
Donizettt 253, 522.
Dowland 473 (Mt).
Draeseke , F. 26Ö - 260 (M),
332-333 (H-Ä), 334, 442
(Ps), 604 (K).
Drechsler 283 (M-Ä).
Dreßler, G. 490.
Drobisch 283 (M-Ä).
Dufay 137, 144f., 147, 149—
151 (M), 152ff., 157, 161,
163, 166, 168, 383 (H-vlfp),
405, 448, 449—450 (Mtl
464, 487.
DnUchius, P. 491 u. 496 (Mt>
Dunstable 144, 152, 448.
Durante, Fr. 182, 199, 272
(M-Ä), 367 (H-T), 392—
" -Jtfö), 398 f., 446
(La, Li), 476 (Mt).
393 (H-Jlf^
Dnrante, 0. 528 (Kl.
Dvotak, A. 337—338 (M-Äl
357-361 (H.5*>
Ebeling, J. 490.
Eberl 276.
EberUn, J. E. 511 (Mt).
Eccard, J. 73, 130, 326, 414,
490—491 (Mt),509, 530, 563.
Elgar, E.126.
Elsner, 126, 283 u. 293(M-12).
Erfurt 438.
Este 473 (Mt).
Ett, K. 225 (M), 242, 244 f.,
283 (M-Ä).
Eybler 237, 283 (M-Ä).
Faißt, I. 438 (Ps).
Farmer 473 (Mt).
644
ramat 473 (Mt).
Fasck, C. F. 242. 283 (M-B).
Faack, J. F. 197, 431 (Ps).
Fautf, G. 339.
FedeM, B. 395.
Feltre. G. de 144.
Feo 431 (Ps).
Ferdinand m^ KiiBer B46f..
416 (Ps).
Femdini 375 (H-T), 39a
Fesca 513 (Mt>
Fesu, C. 366 (H-T), 466 (Mt),
467.
FeTin, A. de 270 (M-B).
F^vin, J. 163 f.. 166 (IQ.
Finck, H. 172.
Fischietti 395.
Fiittner 69, 598, 60L
Flor, Th. 490.
FlögeL G. Ö2^
Fossa. J. de 446 (Li).
Fiaack, IL 493, 492 (Mt>
Franck. S. 545.
Franz, R. 441 (Ps).
Fiescobaldi 538.
Frenndt, C. 4J0.
Friebert, J. 122.
FröhUdk 390.
FaldA, A. ▼. 172, 477 (Mt).
Fax, J. 111, 182—184 (M),
185, 354, 367 (H-T). 383
(H-lfp), 425 (Ps), 472,
495 (Mt).
GabrieU. A. 137. 178 (MTL
179, 476 (Mt), 476.
Gabricli, G. 44, 56, 137, 179
(MX383(H-lfy), 410 (Ps),
475—476 (Mt), 488, 634,
537, 5U, 564.
GAgliano 47.
GaUw (Handl), J. 14 (P), 60,
178 (M> 366 (H-T), 4^3,
482-481 (MO.
Galopp! 201, 2^.
Ginsbacher 235. 283 (M-l?).
GasparinL F. 253, 354. 425(P8>
Gaßmann 354^
Gazzani^ 376 [JBL-T).
Gebel 54a
Gereinia 395.
Geriiaidt P. 622.
Gemsheim, Fr. 380—381 (H-
T), 526.
Gesins, B. 14 (P), 16.
Gessel 602.
Gibboiis,0.366(H-T),473(Mt).
Glofik iU, 293, 432 (Ps).
Glück. J. 121.
Goldschmidt 609.
Gombeit, N. 448, 450 (Mtl
469.
Gösset 284.
Götz, H. Ul (Pft).
GoudimeL GL 173, 412 (Ps),
413 ff., 419, 443. 450 (Mtl
459. 467 (Mt).
Goonod 121. 356.
Gonvy, Th. 333 (M-B). 357
(H-5l>
Grabert, M. 442 (Ps), 525 (Mt),
607 (K).
Graan. C. H, 3. 101, 104—110
(P. Der Tod Jes»), 111, 117,
128, 199, 362, 373—374
(H-T), 602.
Graupner, Chz. 54a
Grell, Ed. 242— 2U (M), 441
(Ps), 517 (Mt> 521.
Grieg, Ed. 443 (Ps).
Gaerero. Fr. 176, 270 (M-B),
3S3 (R'Mgl 406, 466 (Mt).
Guerrero siehe Gaerero.
Gnlbins, M. 526.
Gnmpeltzhaimer 491.
1 1
615
Habermarm 201.
Habert, J. E. 246 (M>
Hainlein 560 (K).
Haller, M. 246 (M). •
Hammerschmidt, A. ÖO, 66,
185, 199, 412 (Ps), 471, 492
fMt); 530, 636—538 (K),
583, 595.'
Händel, 21, 49, 59—61 (P),
78, 106, 126, 142, 166, 188,
194, 223, 247, 277, 347,
360 f., 367—373 (H-T; üt-
rechter T. 307, Dettinger T.
372), 376,. 396, 421,427—
431 (Ps, Anthems), 434, 437,
444,002,532,546,651,558,
567,x574, 600, 606.
Hartmann, J. P. E. 111, 605 (K).
Hartmann, Pater 442 (Ps).
Häser 283 u; 293 (M-Ä), 376
(H-T).
Hasse, J. A. 65, 119 (P), 185,
199(M),203,205,273(M-Ä),
354, 373, 374 (H-T), 431
(Ps), 549.
Haßler, L. 137, 141, 178—179
(M), 366 (H-r), 383—384
u. 390 (H-%J, 401 (Lo\
415 (Ps), 484-487 (Mt),
491. ^ ^
Haßlinger 245.
Hauptmann, M. 241 (Ml 317,
441 a>s), 515 (Mt), 517,
604 (K).
Hausegger, S. v. 527 (Mt).
Haydii, J. 74, 120—126 (PI
162, 179, 185, 201-203
(M), 205f., 222,226,228f.,
276, 285, 354-356 (H-^t),
356, 375 (H-T), 379, 382,
387, 433 (Ps), 444, 457;
511—612 (Mt), 527, 546.
Haydn, M. 199 (M), 276, 283
(M-JB), 313, 512 (Mt).
Hecht, G. 522.
Heine, S. Fr. 397.
Helder, B. 490.
HeUwig 283 (M-5).
Henkel 283 (M-JS), 314.
Hentschel, G. 386 (M-Ä).
Herbst 490.
Herzog, J. G. 521.
Herzogenberg, H. v. 334 (M-JB),
442 (Ps), 521, 605 (K).
Heubner, 0. 622.
Hiller, F. 438.
Hiller, J. A. 602 (K).
HUton 473 (Mt).
Himmel, Fr. 375 (H-T), 513
(Mt).
Hiützfe, J. 490.
Hirsch, 0. 526.
HoflPmann 602.
Hohmann, H. 522.
Holzbauer, 1. 109, 184 (M), 222.
Homlüus, G. A. 110 (P), 400,
514, 648, 602 (K).
Hummel 185.
Hüttenbrenner 283 (M-Ä).
Isaak, H. 173, 466—458 (Mt),
461, 482.
Jadassohn, S. 441 (Psl
Jeep 490.
Johnson, E. 473 (Mt).
Jomelli, N. 111, 273 (M-Ä),
329, 373 (H-T), 399-400
(H-Afp), 477 (Mt).
Josquin de Pros 146, 161, 153,
161-163 (M), 164 flf.,168ff.,
341—343 (U-Stl 344, 351,
362, 409, 463—454 (Mt),
455ff.,461,466, 470, 480,485.
Junne, 0. 522.
616
Käfer, J. P. 58 (P).
Kapsberger, H. 528 (K).
Kauer, F. 284.
Kauffmann, Fr. 522.
Kegel 602.
Keiser, R. 45, 67 (P), 58, 62
—63 (P), 65, 67, 81, 111.
Kellner 602.
Kerle, J. de 163, 168-170
(M), 270 (M-Ä), 366 (H-T),
407, 462 (Mt).
Kerll, J. K. 183, 383 (B-Mg),
385 n. 391 (H-AffiF), 631—
533 (K).
Kesselring, J. A. 547.
Keuchenthai 47 (P), 23.
Kiel, Fr. 126—130 (P, Christus),
131-, 253—254 (M), 255,
276, 309-314 (M-ß), 356
—367 (H-St), 522.
Kindermann, E. 490.
Kirchner 602.
Kisler, 0. 522.
Klein, B. 241 (M), 245, 356
(H-50, 376 (H-T), 390,
438 (Ps).
Klose, Fr. 267.
Knefel, J. 15 (P).
Knüpfer, S. 535—536 (K), 540.
Koch, Fr. E. 524—625 (Mt).
Köler, D. 407 (Ps).
Kramer, Ohr. 11 (P), 602.
Krebs, J. L. 102, 602 (K).
Krehl, St. 606 (K).
KTeichel 547.
Krieger, Ad. 418—419 (Ps).
Krieger, J. 650.
Krieger, Ph. 550-551 (K).
Kücken 522.
Kuhnau, J. 563.
Lachner, Fr. 308—309 (M-Ä),
357 (H-50, 438 (Ps).
Lalande, M. 529.
Lasso, 0. (di) 16 (P), 142, 146,
163, 171-172 (M), 216,
271 (M-B), 329, 345-346
OU-StX 366 (H-n 383 (H-
Mg\ 387, 38Ö (H-Afsf), 397,
408-410 (Ps), 478, 479-
481 (Mt), 482, 487, 507, 519.
Lechner, L. 172, 492 (Mt).
Legrenzi, G. 476 (Mt), 546.
Leisring, F. 492 (Mt).
Lejeune, Ol. 412 (Ps).
Lemalstre (Le Maistre) 383 (H-
Mgl 450 (Mt).
Leo, L. 119, 122, 182, 199,
367 (H-T), 398, 431—432
(Ps), 477 (Mt).
Leopold L, Kaiser 182 (M),
347, 416, 417 (Ps), 531 (K>
Lesueur 297, 376 (H-T).
Levini 394 f., 547.
Lieber, Chr. 547.
Liebhold 647.
Limbert, Fr. 626 (Mt).
Liszt, Fr. 126, 147, 246-263
(M: GranerM. 248, Krönungt>-
M.25l),255,260,314(M-JB),
338, 361, 421, 439—441
(Ps), 513—614 u. 517 (Mt),
526.
Löhner, J. 490.
Lollfuß 547.
Lossius, L. 9 (P), 22.
Lotti, A. 181 (M), 272 (M-Ä),
383 u. 391 (H-Aff^), 395,'
399, 426 (Ps).
Löwe, K. 118.
Löwenstern, A. v. 490.
Lübeck, V. 547.-
Ludecus, M. 9 (P).
LuUy 194, 367 (H-T).
Luther 9, 17, 22, 27, 37, 51,
en
139, 161, 182, 255, 411 f.,
419, 438, 450, 477.
Lutz 120.
Machaut, G. de 144.
Machold, J. 14 (P\ 15.
Macqn^, J. de 44o (Li).
Manclnus, Th. 11 (P).
Marbeck 473 (Mt).
Marcello, B. 423—425 (Ps),
426, 432 ff., 439.
Marenzio, L. 383 (H-Jlfp), 390,
471-472 (Mt).
Marschner, H. 293, 438 (Ps).
Martelaere 460 (Mt).
Martini, G. B. 182 (M), 246,
383 (n-Myl 425 (Ps).
xMattheson 60, 63 (P), 540.
Mayr, S. ,283 (M-Ä).
Mazzocchi 529 (K).
Meder, V. 185, 415 (Ps).
Megerle, A. 381.
M^ul 226, 284, 317.
Melle, R. v. 383 (H-Afp), 390,
446 (Li), 450 (Mt).
Mendelssohn, A. 526.
Mendelssohn, F. 10, 100, 102,
126, 131, 174, 400-401
(JB.-Mg^ Hein Herz erhebet),
401 (H-Lo), 431, 433—438
(Ps;42.P8. 435, 95.P8. 436),
441, 479, 497, 516-516
(Mt), 517, 520, 636, 556,
604.
Mercadante 121.
Meyer, G. 477 (Mt).
Meyerbeer 424.
Mitterer, J. 246 (M).
Molique, S. 225 (M).
Monte, L. da (de) 383 (H-Afp),
390, 460-461 (Mt).
Monte, Ph. de 163, 170—171
(M), 464.
Monteverdi, C. 27, 44f., 48,
179(M), 329, 361,388,422,
475, 485, 528— Ö29(K), 534.
Morales, 0. 141, 176, 270
(M-Ä), 383 (H-Afy), 39Q,
466 (Mt).
Moralt 283 (M-B), 314.
Morlacchi 283 (M-Ä), 390.
Morley 473.
Mouton, J. 163, 166—167 (M),
454 (Mt).
Mozart 111, 201, 203— 204(M),
206, 218, 274—283 (M-Ä),
284, 287, 292, 307, 313,
352, 375 (H-T), 376, 382,
432, 433 (Ps), 446 (Li), 451,
512-513 (Mt), 527.
Müller, E. 609 (K).
Müller-Hartnng 441 (Ps).
Magier, Fr. 607 (K).
Nanini, B. 469 (Mt).
Nanini, G. M. 345 (nstX 446
(La), 469 (Mt).
iJaumann, J. G. 119—120 (P),
199 (M), 376, 433 (Ps), 441,
603.
Navarro, M. 383 (H-A/gf).
Neefe 206.
Neukomm, S. 120 (P), 283
(M-Ä), 355 (H-St), 372, 390.
Nenmark, G. 130, 572.
Nicolai, 0. 231, 517.
Noordt, A. van 413 (Ps).
Obrecht, J. 14 (P), 17, 144,
146, 165—161 (M), 163,
450 n. 452—453 (Mt).
Ockeghem 144 ff., 152—164
(M), 155, 163, 178, 451
(Mt), 458.
Olthof 412 (Ps).
618
Ortiz, D. 366 (H-T), 383
Oslander 388.
Otto, J. 246, 438 (Ps).
Pachelbel, J. 886 (B.'Mg)f
640, 650 (K), 566, 569, 681.
Padna, B. de 144.
PaisleUo 111, 372.
Palestrina 49, 101, 137, 139 ff.,
146, 148, 173—176 (M),
177, 182, 216, 220, 230,
234, 238, 246 f., 270 u. 271
(M-Ä), 280, 329, 336, 343—
346 (H-50, 351, 364, 382,
383 (H-itfy), 388 f., 402,
406, 409, 410 (Ps), 462,
. 466, 467—468 (Mt), 469 f.,
472 f., 480, 483, 486, 607,
563.
Palme, R. 621.
Papperltz, R. 621.
Pareja, R. de 383 (U-Mg).
Pasterwltz, G. v. 274 (M-Ä),
400 (H-Afp).
Perez, D. 477 (Mt).
Perez, J. 466 (Mt).
Pergolesi 182, 199, 831, 848,
351—354 (H-äO, 356.
Perl 293, 628.
Perosi, L. 132—134 (P), 267.
Perotinus 143.
Perti 199.
Perugia, M. de 144.
Pevemage, A. 461 (Mt).
Pfeiffer 602.
Pinelli, J. B. 383, 390.
Pipelaere, M. 460 (Mt).
Pitonl, G. 271 (M-Ä), 888
(H-Jlf^), 472 (Mt).
Piutti, 0. 442 (Ps).
Porta, C. 474 (Mt).
Pr&torius, H. 186, 366 (H-T),
383(H-Jtf^), 488— 489 (Mt).
Pritorius, M. 416, 490, 630.
Preindl, J. 241.
Prioris, J. 270 (M-Ä).
Prohaska, 0. 606 (K).
Purcell, H. 142, 366 (H-T),
367, 629.
Baff, J. 441 (Ps).
Rameau, Ph. 142, 393 (R-Mg).
Ravanello 267.
Rebllng, G. 441 (Ps), 521. .
Reger, M. 443-445 (Ps), 608
(K), 609.
Reinecke, K. 442 (Ps).
Reiner, J. 16 (P).
Relnthaler, G. 617.
Reiter, J. 338 (M- 12).
Reutter, G. 201, 203, 235.
Rheinberger, J. 244, 333—334
(M-12),857(H-50. 517 (Mt).
Ribera, B. 383 (R-Mg),
Richafort, J. 461 (Mt).
Richter, E. F. 244 (M), 367
(B-8t% 441 (Ps), 616 (Mt>
Rletz, J. 377 (H-T).
Ripa, A. 347 (H-5t).
Ritter, A. 518 (Mt).
Roda, Fr. v. 126.
Rodewald 354.
Regler, Ph. 163, 167 (M). *
Rolle, J. H. 111 (P), 514.
Romberg, A. 433 (Ps), 603 (K).
Römhüd 602.
Rore, 0. de 14 (P), 450 u.
474 (Mt). .
Rosenmüller, J. 490.
Rossini, G. 263 (M), 355—356
(H-Ät)-
Rößler, R. 625 (Mt).
Rovetta, G. 476 (Mt).
Rubinstein 479.
619
Rue, P. de la 163, 166 (M),
270 (M-Ä), 454—456 (Mt).
Rust, Fr. W. 441 (Ps), 521.
Säle, Fr. 163, 165 (M), 461 (Mt).
Salieri 283 (M-Ä).
Sarti 372, 433 (Ps).
Scandelli, A. 16 (P), 48, 492
(Mt), 583.
Scaiidellus siehe Scandelli.
Scarlatti, A. 60, 111, 182 (M),
347 (H-50, 361,^ 425 (Psl
476 (Mt), 546, 576. .
Scheidt, S. 185, 385 (H-Afp),
413,485,491,530,540,563.
Schein, J. H. 185, 366 (H-n
384, 412 (Ps), 416, 419,
486, 491 fP., 496 (Mt), 530,
534, 535 (K), 550.
Schelle, J. 535—536 (K), 540.
Schemeln 530.
Schicht, J. Gt. 116-117 (P),
118, 120 (P), 129, 376 (H-
20, 497, 514 (Mt), 603 (K).
Schieferdecker, Ohr. 545 (K).
Schneider, Franz 284.
Schneider, Friedr. 3, 117—118
(P),126,245,438(P8),603 (K).
Scholz, B. 314 (M-ß).
Schop, J. 490, 530.
Schreck, G. 126, 521, 605 u.
609 (K).
Schröter 490.
Schubert, Ferd. 314.
Schnbeit, Franz 231, 234—241
(M; Asdur-M. 236, Esdnr-M.
238), 265, 262, 355 (H-5t),
433 (Ps), 441, 614 (Mt).
Schultz, Ohr. 18—21 (P), 23 f.
Schulz, Chr. 122.
Schulz-Beuthen, H. 442 (Ps).
Schumann, G. 523—624 (Mt),
606 u. 609 (K).
Schumann, R. 70, 241—242
(M), 252, 255, 267, 308
(M^Ä), 616 (Mt), 604 (K).
Schurig, V. 522.
Schürmann, G. 548.
Schuster, J. 355 (H-fiQ» ^00.
Schütz, H. 3, 18, 23, 24-49
(P; Matth.-P. 26, Lukas-P.
34, Joh.-F. 38, Harkns-F. 40^
Die sieben Worte 42, Historia
V. d. Auferstehung 46), 50 ff.,
66, 63, 68 f., 77, 80, 90, 93,
101, 120, 142, 185, 314,
346, 383 .(H-Mp), 384, 390
(H-Mp), '402 (Lo), 416,
417—422 (Ps), 423, 425 f.,
440, 446 (Li), 488f., 492—
496 (Mt), 632, 633— 535 (K),
636, 640 ff., 560, 583.
Schweitzer 111.
Schwemmer 560 (K).
Scomparin, M. 293 (M-Ä).
Sebastian! 46, 61—66 (P), 67,
69, 90, 186, 648.
Sechter, 185, 283 (M.Ä>
Seifert 111.
Seifert, ü. 526.
Seile, Th, 490.
Selneccer, N. 10 (P).
Senfl, L. 120, 172, 383 u. 386
(H-Jlf^), 397, 408 (Ps), 477,
(Mt).
Seydelmann, F. 400.
Seyfried, J. v. 186, 293 (M-
Ä), 355 (H-/S), 376 (H-T).
Sgambati, G. 339 (M-Ä).
Shephard 473 (Mt).
Siefert,P. 391, 415-416 (Ps).
Smyth, Ed. 267.
Soriano, Fr. 10, 177 (M), 383
(H-Afgr), 471 (Mt).
Spohr, L. 117 (P), 118, 226.
241 (M), 513 (Mt), 522.
6S0
StebUe, A. 471 (Mt).
Stade, W. 438, 441 (Pi).
Stftdeh, G. 490.
Stadler 283 (M-Ä), 426 (Ps),
433 439.
Stadlmayr, J. 495 (Mt).
Stange, M. 626 (Mt).
Steflfani, A. 46, 346-347 (H-
«0, 351.
Stehle, E. 517 (Mt).
Stephan!, 0. 10 (P).
Stobäas, J. 185, 490f., 496
(Mt).
Stockmann 74, 82.
Stoltzer, Th. 407 (Ps). ,
Stölzl, G. H. 64 (P), 67, 101,
197, 648-649 (K>
Stolzenberg 651.
StradeUa 396.
Stranß, R. 618—519 (Mt).
Strunck (Strungk), N. 418 (Pi>
Sncco 521.
Supptf 522.
Snriano siehe Soriano.
Süßmayer, F. X. 204, 275 ff.,
280 ff., 292, 307.
Sweelinck, P. 147, 391, 413—
415 (Ps), 465 (Mt).
Sylvanus, A. 477 (Mt).
Tag 602.
TaUis, Th. 178, 473 (Mt).
Taubert, E. Ed. 443 (Ps).
Taubmann, 0. 268 (M), 442
^ (Ps),
Telemann, G. P. 45, 56—67
» . u. 63-65 (P), 102, 104,
HO, 530, 647, 649 (K>
Theile 65.
Thiel, 0. 627 (Mt).
Thieriot, F. 622.
Thomas, 0. 522.
Tinel, E. 380 (H-T).
Tomaschek 225, 283 (M-Ä),
376 (H-T).
Tonentes, A. de 383 (H-Afy).
Traetta 354.
Tritonius 411.
Tuma, F. 199 W. ^'?'8-
Tunder, Fr. 401-402 (Lo),
538-640 (K), 545, 548 f.,
551 596.
Tye, Ohr. 186, 473 (Mt).
ürio, F. A. 373.
üthredecenis 412 (Ps).
Vaet, J. 366 (H-ST).
Vargas, H. de 383 (H-Jlfy).
Vecchi, 0. 15, 271.
Verdi, G. 328-332 (M-iJ),
336 ff., 361—364 (R-Sti
378-380 (H-n 424, 563.
Verdonck, C. 383 (H-Af^), 390,
450 (Mt).
Vetter 572.
Viadana, L. 47, 416 (Ps), 528
(K), 529, 631.
Victoria, L. da (de) 10, 176—
177 (M), 271, 469-470
(Mt), 471.
Vitry, de 144.
Vittoria siehe Victoria.
Vivaldi 396.
Vogler 185, 226 (M), 283 u.
293(M-Ä), 376(H-r), 378,
433 (Ps>
Volkmann, R. 245 (M\ 519-
620 (Mt), 621.
Vopelius 10 (P), 60.
VouUaire, W. 522.
Vulpius, M. 18—21 (P), 23f.,
41.
Wagenseil 354.
Wagner, R. 132, 261, 258,
621
263, 329, 345, 356, 377,
387, 607. ^
Walliser, Th. 416 (Ps.).
Walther, J. 17, (P), 21 f., 27.
Weber, G. 283 u. ^93 (M-Ä),
376 (H-T).
Weber, K. M. v. 225 (M), 255,
310, 603 (K).
Wecker 550 (K).
Weckmann, M. 540—543 (K).
Weelkes 473 (Mt).
Weigl 111.
Weingartner, F. v. 526 (Mt).
Weinlig, E. 375 (U-T), 603
Weinlig, Th, 603 (K).
Welak 10 (P).
Wendel 602.
Wübye 473.
WiUaert, Ad. 164, 383 (H-Afp),
384, 450-451 u. 473-474
(Mt).
Wilm, N. V. 517 (Mt).
Winter, P. v. 185, 355 (H-Stl
433 (Ps).
Wirbach 602.
Witt, Fr. 246 (M).
Wittasek 283 (M-Ä).
Wolf 111.
Wolf, H. 518 (Mt).
Wolff, Ohr. 67 (P).
Wölfl 276.
Woyrsch,F. 130, 131— 132 (P).
Wüllner, Fr. 357 (H-Ä«), 442
(Ps).
Wundsch 602.
Zaccariis, 0. de 383 (R-Mg).
Zachau (Zachow), Fr. W. 197,
549, 551 (K).
Zelenka 112.
Zelter 283 TM-ß).
Zenger, M. 367 (R-St).
Zeuner 490.
ZingareUi, N. 283 TM-Ä), 355
(RSt),
Zöiluer, A. 245.
i
I
DATE DUE 1
MUBIC UBRARY
STANFORD UNIVERSITY LIBRARIES
STANFORD, CALIFORNIA 94305-6004
FEB 14 m.