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Full text of "Führer durch den Konzertsaal. II. Abteilung: [Vokalmusik]"

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FtMER 
DURCH  DEN  KONZERTSAAL 


VON 


HEBMANN  ^RETZSCHMAR 


L  ABTEILUNG:    ' 

SINFONIE  UND  SUITE 

BAND  I/U 

SECHSTE  AUFLAGE 


LEIPZIG 

DRUCK  UND  VERLAG  VON  BREITKOPF  &  HÄRTEL 

1921 


Alle  Rechte,  auch  das  der  Übenetznng,  vorbehalten. 


Das  Recht  des  Einzelabdiuckes  and  dessen  Weitervergebang 
steht  anssohließlicb  den  Verlegern  Breitkopf  ftETärtel 

in  Leipzig  so. 


Copyright  1919  by  Breitkopf  &  Hartel,  Leipsig. 


Der  Buchschmuck  ist  von  Roland  Anheisser. 


VORWORT 

zur  ersten  Auflage. 

T\er  vorliegende  ^Führer  durch  den  Konzertsaal^  ging 
-LFaus  einzelnen  Aufsätzen  hervor,  welche  ich  im 'Laufe 
der  Jahre  für  die  von  mir  geleiteten  Konzerte  geschrieben 
habe,  um  die  Zuhörer  auf  die  AuffÖhrungen  unbekannter 
oder  schwierig  zu  verstehender  Kompositionen  vorzu- 
bereiten. 

Für  die  Buchform  sind  diese  Artikel  umgearbeitet 
und  dahin  ^vervollständigt  worden,  daß  die  erläuterten 
Werke  in  geschichtlicher  Folge  erscheinen.  Da  Historie 
und  Kritik  unzertrennlich  sind,  wird  man  entschuldigen, 
daß  die  Kompositionen  und  die  Komponisten  auch  be- 
urteilt werden.  Ich  hoffe  jedoch  mich  in  dieser  Beziehung 
durchschnittlich  in  den  gebotnen  Grenzen  gehalten  zu 
haben.  Den  ersten  Gesichtspunkt  fär  Aufnahme  oder 
Weglassung,  kürzere  oder  ausführliche  Behandlung  der 
Werke  und  Künstler  bildet  ihre  Stellung  im  heutigen 
Repertoire,  den  ^zweiten  ihre  kunstgeschichtliche  Be- 
delitung.  Aus  ersterem  Grunde  mußten  unter  anderen 
einige  Kompositionen  aus  der  jüngsten  Gegenwart  zur- 
zeit noch  unberücksichtigt  bleiben. 

Rostock,  26.  September  1886. 

Dr.  Hermann  Kretzschmar, 

Akademischer  Lehrer  der  Musik  an  der  Landesoiiiversität 
Großherzogh'  n.  st&dtiscber  Musikdirektor  xu  Rostock. 


Zar  zweiten  Auflage. 

Das  Erscheinen  einer  zweiten  Auflage  bietet  mir 
willkommene  Gelegenheit,  für  die  freundliche  Aufnahme, 
die  mein  „Führer"^  gefunden  hat,  herzlich  zu  danken. 

Im  wesentlichen  ist  das  Buch  geblieben,  wie  es  war. 
Ich  konnte  mich  darauf  beschränken,  einzelne  Irrtümer 
zu  berichtigen  und  da  und  dort  das  geschichtliche  Bild 
zu  ergänzen. 

Leipzig,  September  1890. 

Dr.  Hermann  Kretzschmar, 

AuOerordenUicher  Professor  an  der  Universität  Leipzig 
nnd  UniversiULtsmusikdirektor. 


Zur  dritten  Auflage. 

Wegen  Überbürdung  und  Krankheit  des  Verfassers 
hat  diese  Abteilung  des  „Führers^  seit  Jahren  im  Handel 
fehlen  müssen.  Jetzt  erscheint  sie  beträchtlich  verändert. 
Die  Händeischen  Concerti  grossi,  S.  Bachs  Brandenburger 
Konzerte,  die  sinfonischen  Dichtungen  Liszts  und  seiner 
Nachfolger  sind  weggelassen  und  für  den  in  Vorbereitung 
begriffenen  Schlußteil  des  Werkes  (Konzerte,  Ouvertüren 
usw.)  zurückgestellt  worden.  Trotzdem  ist  die  neue  Auf- 
lage doppelt  so  stark  wie  die  vorhergehende  und  der 
besseren  Handlichkeit  wegen  in  zwei  Bände  zerlegt 
worden.  Die  Vermehrung  kommt  eines  Teils  auf  die  ältere 
Geschichte  von  Suite  und  Sinfonie;  zum  andren  waren 
eine  große  Anzahl  von  Werken  aus  jüngster  Zeit  ganz 
neu  aufzunehmen.  Wenn  die  meisten  von  diesen  sehr 
ausführlich  behandelt  worden  sind,  so  zwangen  dazu 
äußre,  praktische  Grüude.  Grundsätzlich  bin  ich  nach 
wie  vor  der  Meinung:  daß  der  Erklärer  sich  vor  allem 
der  Kürze  befleißigen  und  bei  denen,  welche  sich  mit 
Sinfonien  beschäftigen,  einige  Kenntnis  in  der  musikali- 
schen Formenlehre,  mindestens  die  Fähigkeit,  Türen  und 


Fenster  zu  unterscheiden,  voraassetzen  soll.   Ich  habe  es 
deshalb  trotz  gütiger  Aufforderungen  abermals  vermieden, 
immer  wieder  zti  sagen,  aus  wieviel  Takten  die  und  die 
Melodien   bestehen,  in  welchen  Tonarten  sie  beginnen 
und  schließen,  und  mich   darauf  beschränkt,  den  Leser 
mit  Dingen  des  äußren  Mechanismus  hur  so  weit  zu  be-  . 
helligen,  als  sie  besondre  Wichtigkeit  haben.    Mein  Be-  , 
streben  ging  dahin:  anzuregen,  ins  Innre  und  Intime  der 
Werke  und  der  Künstlerseele  zu  führen  und  womöglich 
den  Zusammenhang  mit  der  Zeit,  mit  ihren  besondren    . 
musikalischen  Verhältnissen,  mit  ihren  geistigen  StrÖ-    ! 
mungen  aufzudecken. 

Daß  mein  9,Führer^  auch  andere  zu  gleichen  Ver- 
suchen veranlaßt  hat,  ist  mir  sehr  schmeichelhaft;  daß 
er  zuweilen  ohne  weitres  benutzt  wird,  noch  mehr.  Doch 
erlaube  ich  mir  darauf  aufmerksam  zu  machen,  daß  in 
Fällen  wörtlicher  Entlehnung  schweigende  Dankbarkeit 
oder  verlegne  Gänsefüßchen  nicht  genügen,  sondern  daß 
dann  der  literarische  Anstand  vollständige  Quellenangabe 
verlangt. 

Zum  Schlüsse  spreche  ich  den  Vorständen  von  Biblio- 
theken und  Archiven,  sowie  den  Herren  Verlegern  —  ins- 
besondere den  Herren  Breitkopf  &  Härtel  —  die  auch  die 
Arbeit  an  dieser  Auflage  bereitwilligst  durch  Überlassung 
von  Materialien  unterstützt  haben,  herzlichsten  Dank  aus. 

Leipzig,  Oktober  1898. 

Dr.  Hermann  Kretzschmar, 

Außerordentlicher  Professor  an  der  Universität  Leipzig. 


Zur  vierten  Auflage. 

Obwohl  auch  die  dritte  Auflage  seit  einem  Jahrzehnt 
vergriffen  war,  bin  ich  erst  jetzt  imstande,  eine  neue  vor- 
zulegen. Sie  unterscheidet  sich  von  der  Vorgängerin  durch 
die  Aufnahme  einer  großen  Anzahl  weitrer  Werke  aus 
ilter  und  neuer  Zeit. 


Für  Zuweisung  von  Handschriften  bin  ich  Herrn  o. 
oe.  Universitätsprofessor  Dn  Guido  Adler  in  Wien  und 
meinem  Berhner  Kollegen  Professor  Dr.  Jqhannes  Wolf,  * 
von  Drucken  den  Herren  Breitkopf  &  Härtel,  sowie  der 
Deutschen  Musiksammlung  der  Königl.  Bibliothek  zu  Berlin, , 
insbesondere  ihrem  Vorsteher,  Herrn  Oberbibliothekar 
Professor  Dr.  Altnuann,  und  ihrem  Bibliothekar,  Herrn 
Dr.  H.  Springer,  zu  außerordentlichem  Dank  verpflichtet. 

Schlachtensee,  November  1912. 

Dr.  Hermann  Kretzschmar, 

Geheimer  Regierungira^  Professor  an  der  Universität 
Berlin,  Direktor  der  Königlichen  Hochschule  fOr  Musik 
und    des  Königlichen   Akademischen   Institutes  für 

Kirchenmusik. 


Zur  fünften  Auflage. 

Da  neue  deutsche' Werke  von  Belang  nicht  vorliegen, 
der  Zuwachs  des  Auslandes  zur  Zeit  zu  schwer  zugäng- 
lich ist,  wurde  von  Änderungen  des  Textes  abgesehen. 

Schlachtensee,  März  1919. 

Dr.  Hermann  Krebschmar. 


INHALT. 


I.  Band. 

Ton  Otbrieli  Ms  Biuch.    Blütezelt  der  Orchestenonate  und 

der  Suite,  Entwicklung  der  Sinfonie 1 

J.  Haydn,  Mocart,  Beethören 109 

Nebenminner  und  Gefolge  der  Klassiker.    Vorläufer  und 

Hauptvertreter  der  Bomantik .     261 

II.  Band. 

Die  Programmusik  und  die  nationale  Blchtung   in  der 

Sinfonie 888 

Die  moderne  Suite  .und  die  neueste  Entwickelung  in  der 

kUsdscken  Sinfonie 668 

Namenveneiehnls S63 


I. 
Von  Gabriel!  bis  Bach. 

Blütezeit  der  Orchestersonate  und  der  Suite, 
Entwicklung  der  Sinfonie. 


|euii  wir  nach  'den  Anfängen  unsrer  heutigen  Kon- 
zertmasik  fQr  Orchester  suchen,  so  müssen  wir  eine 
beträchtliche  Strecke  zurückwandern  und  ein  Gebiet 
betreten,  das  wir  zur  Zeit  mit  wissenschaftlicher  Sicherheit 
höchstens  in  den  Umrissen  übersehen.  Für  die  Beantwor- 
tung der  Frage:  wie  entstand  und  wie  entwickelte  sich 
das  Orchester,  sind  wir  vorwiegend  auf  indirektes  Material 
angewiesen.  Solche  Hilfsquellen  bieten  sich  in  Mitteilungen, 
welche  ältere  Musikschriftsteller  über  Instrumente  und 
Spielleute  machen,  in  gelegentlichen  musikalischen  No- 
tizen bei  Dichtem,  in  Briefen,  Reisebeschreibungen, 
Biographien  von  Laien,  in  Darstellungen  zeitgenössischen 
Musiktreibens  auf  alten  Bildern  und  Skulpturen,  viertens 
in  Bestallungen,  Rechnungen,  Verordnungen  und  anderen 
auf  Musiker  und  Musik  bezüglichen  Erlassen  in  den  Akten 
von  Staats-,  Kirchen-,  Schul-  und  Gemeindebehörden, 
von  Innungen  und  Gesellschaften  und  endlich  in  alten 
Instrumenten.  Erst  verhältnismäßig  spät  treten  zu  diesen 
Auskunflsstellen  über  Bestand,  Aufgaben  und  Tätigkeit 
von  Orchestern  als  wichtigste  Zeugnisse  geschriebene  oder 
in  Stimm büchern  gedruckte  Noten. 

Die  Mitteilungen  der  älteren  Musikschriftsteller  haben 
bisher  nur  einen  geringen  Ertrag  gegeben,  weil  das 
Mittelalter,  auch  das  spätere,  die  Spielmusik,  die  Volks- 


Irtiischniar.  Ffthrer.    1,1. 


l 


musik  und  die  ganze  Profanxnusik  grundsätzlich  ignoriert 
Die  bemerkenswerteste  Ausnahme  bildet*  dßr  erst  Id 
neuerer  Zeit  (durch  Johannes  Wolf)  ans  Licht  gezogene 
Joannes  de  Grocheo*);  unter  seinen  Nachfolgern  sind  be- 
sonders Sebastian  Virdung  (Musica  getutscht  1611)  und 
Michael  Prätorius  (Syntagma  musicum  1618)  hervorzu- 
heben. Eine  zusammenfassende  und  kritische  Durch* 
arbeitung  des  gesamten  zu  dieser  Gruppe  gehörenden 
Materials  steht  noch  aus. 

Noch  weniger  ist  fQr  die  Ausnutzung  der  Laien- 
literatur geschehen,  obwohl  sie  sehr  wertvolle  Auskunft 
über  die  Verwendung  der  Spielleute  und  Über  die  Stellung 
der  Instrumentalmusik  im  öffentlichen  und  privaten  Leben 
verspricht.  Mit  guten  Ergebnissen  hat  unlängst  H.  J.  Moser 
diese  Quelle  nach  den  sozialen  Verhältnissen  der  mittel- 
alterlichen Musiker  befragt**). 

Die  Wichtigkeit,  die  alte  Instrumente  fQr  eine  Ge- 
schichte des  Orchesters  haben,  bedarf  keiner  Auseinander- 
setzung, leider  aber  reicht  der  Besitz  unserer  Instru-, 
mentensammlungen,  von  wenigen  Ausnahmen  abgesehen, 
nirgends  über  das  15.  Jahrhundert  zurück. 

Daß  die  Bilderquellen,  die  sich  für  die  Musik  des  alten 
Orients  als  die  wichtigsten,  zuweilen  als  die  einzigen 
Zeugen  erwiesen  haben,  audi  von  der  Musik  des  Mittel- 
alters und  der  ihm  folgenden  Zeit  wertvolle  Berichte  geben, 
hat  zuerst  Scheurleer  erkannt,  Edward  Buhle  und  Hugo 
Leichtentritt***)  haben,  seinen  Anregungen  folgend,  den 


*)  Sammelb&nde   der  Internationalen  MuslkgeaellBcbaft  I, 
65  und  ff. 

**)  Hans  Joachim  Moser:  Die  Muslkergenossenschaften  im 
deutschen  Mittelalter.     1910. 

***)  Scheurleer,  D.  F.:  Oude  Musikinstrumenten  en 
Pienten  en  Fotografien  usw.  1898.  Buhle,  De.  Edw.:  Die 
musikalischen  Instrumente  in  den  Miniaturen  des  frühen  Mittelb- 
auers. 1903.  Leichten  tritt,  Hugo:  Was  lehren  uns  die 
Bildwerke  des  14. — 17.  Jahrhunderts  über  die  Instrumental- 
musik?   (Sammelbände  d.  L  M.  G.  VII,  315  u.  ff.) 


Beweis  erbracht,  daß  aus  den  Werken  der  bildenden  Kunst  | 
noch  reiche  mnsilcgeschichtliche  Ausbeute  zu  schöpfen  ist  { 

Verhältnismäßig  am  fleißigsten  und  dazu  am  frühesten  ' 
ist  unter  den  genannten  Hilfsquellen  die  vierte,  die  Akten* 
<iuel]e  benutzt  worden.  Schon  Forkel  gibt  in  der  Ein- 
leitung seiner  Universalgeschichte  wertvolle  Mitteilungen 
ftber  die  Stadtpfeifereien  und  die  Schulchöre  seiner  Zeit, 
nach  ihm  hat  dann  August  Reißmann  seiner  Musikge- 
schichte einige  verdienstvolle  Aktennotizen  über  erste 
Orchesiergründungen  in  deutschen  Reichsstädten  einge- 
fügt Die  Hauptarbeit  hat  sich  hier  in  den  großen  und 
kleinen  Beiträgen  zur  musikalischen  Landes-  und  Orts- 
geschichte vollzogen,  die  seit  der  Mitte  des  neunzehnten 
Jahrhunderts  erfreulicher  Weise  sich  fortwährend  bei 
allen  Nationen  vermehrt  haben  und  bereits  heute  eine 
solche  Menge  bilden,  daß  hier  nicht  einmal  die  wichtigsten 
angeführt  werden  können*}.  Zu  ihnen  kommt  noch  eine 
Reihe  von  Arbeiten,  die  in  den  Archiven  und  Jahrbüchern 
allgemeiner  Geschichts-  und  Altertums  vereine  Unterkunft 
gefunden  haben,  wie  z.  B.  Grulls  Beiträge  zur  Geschichte 
der  Stadt  Wismar  im  Mecklenburgischen  Urkundenbuch 
von  1879.  Nur  das  reichste  und  bedeutendste  Stück  der 
ganzen  Gruppe  soll  hervorgehoben  werden :  Es  sind  Adolf 
Sand  bergers  »Bemerkungen  zur  Biographie  Hans  Leo 
Haßlers  und  seiner  Brüder,  sowie  zur  Musikgeschichte 
von  Nürnberg  und  Augsburgc**)  Mit  den  mannigfaltigen 
und  lebendigen  Bildern,  die  hier  vom  Spielmannswesen 
der  beiden  Reichsstädte  entrollt  werden,  wird  zugleich 
musterhaft  bewiesen,  wie  eine  scheinbar  unlösbare  Auf* 
gäbe  zu  einem  guten  Ende  geführt  werden  kann,  wenn 
der  Autor  sich  nicht  die  Mühe  verdrießen  läßt,  verborgenen 
Wegen  nachzuspüren. 

Trotz    dieses     mangelhaften    Zustandes    der    Vor- 
arbeiten lassen  sich  immerhin    einige  Richtpunkte  für 

*)  Der  Leser  kann  sich  leicht  in  dem  Katalog  der  Musik- 
bibliothek Peters  näher  orientieren. 

*^  Deokmller  der  Tonkunst  in  Bayern  V,  1,  Einleitung. 

1* 


die  Frühgeschichte  des  Orchesters  feststellen.  Sicher 
scheint  es,  daß  den  ersten  Anstoß,  einzelne  moralisch 
und  technisch  würdigere  Spielleute  aus  der  unehrlichen 
Kaste  der  Gaukler  herauszuziehen  und  in  öffentlichen 
Dienst  zu  nehmen,  schon  früh  im  Mittelalter  die.diva 
necessitas,  die  Notwendigkeit,  für  die  Sicherheit  von 
Städten  und  Burgen  gegen  Überfälle,  gegen  Wassers-  und 
.  Feuersnot  zu  sorgen,  gegeben  hat  Der  einzelne,  einfache 
f  türmer,  der  die  Stadt  bewacht,  mit  Hom,  Tuba,  Trom- 
pete  warnt  und  alarmiert,  bildet  überall  den  Grundstock 
der  sogenannten  Stadtpfeifereien,  auf  den  Kirchtürmen  ver- 
läuft ein  großer  Teil  ihrer  Geschichte.  Auf  ihnen  haben 
in  den  meisten  kleinen  Städten  bis  weit  ins  neunzehnte 
Jahrhundert  die  Meister  mit  Gesellen  und  Lehrlingen  ge- 
haust, und  auch  in  größeren  Stadtorchestern,  dem  Leipziger 
z.  B.,  haben  noch  zur  Zeit  der  Gründung  des  neuen  deut- 
schen Reichs  einzelne  Mitglieder  —  zuweilen  waren  es 
hervorragende  Virtuosen — TÜrmerposten  bekleidet.  Bis  auf 
den  heutigen  Tag  hat  sich  in  mancher  Stadt,  die.  ihre 
Stadtmusik  der  Gewerbefreiheit  geopfert  hat,  doch  der 
Türmer  erhalten,  namentlich  im  alten  Hansagebiet  ruft 
er  noch  hier  und  da  die  Nachtstunden  mit  Signalen  und 
Weisen  ab,  die  ihres  hohen  Alters  wegen  schleunigst  ge- 
sammelt werden  sollten. 

An  den  Fürstenhöfen  war  der  musikalische  Wächter 
in  der  Regel  ein  Trompeter,  der  auch  als  Herold,  als 
Kourier  und  zu  vielen  anderen  Zwecken  des  Hofdienstes 
verwendet  und  ziemlich  bald  durch  Kollegen  unterstützt 
wurde.  Bereits  um  1400  zieht  Karl  VI.  in  Reims  mit 
30  Trompetern  ein,  Ludwig  XL  hat  gar  54  im  Dienst*). 
Auch  in  Italien  gibt  es  solche  große  Trompeterorchester: 
Lucrezia  Borgia  z.  B.  wird  1501  in  Ferrari  mit  13  Trom- 
petern und  8  Schalmeienbläsern, '  ein  andermal  mit  84 
Trompetern  und  entsprechend  vielen "  Schalmeibläsern 
eingeholt.    Für  Deutschland  haben  wir  präzisere  Angaben 

*)  M.  B  re  n  e  t :  Les  concerU  en  France  sous  Tancien  regime. 
1900  (S.  11). 


erst  aus  der  zweiten  Hälfte  des  16.  Jahrhunderts.  Da 
h&lt  sich  der  Herzog  von  Liegnitz,  einer  der  kleineren 
Fürsten  (nach  den  Denkwiürdigkeiten  Hans  von 
Schweinichens)  12  Trompeter.  Diese  Hoftrompeter  nahmen 
eine  angesehene  Stellung  ein,  an  einzelnen  Plätzen  mögen 
sie  sogar  Offiziersrang  gehaht  haben*),  überall  bildeten 
sie  eine  eigne  stolze,  von  den  gewöhnlichen  Spielleuten 
beneidete  Gilde.  Wirkten  sie  mit  letzteren  zusammen, 
wurde  ihnen  eine  besondere  Empore  eingeräumt,  ior  ein- 
zelnen alten  Musiksälen  hat  sich  diese  erhöhte  Trompeter- 
loge noch  bis  heute  erhalten.  Diese  Sonderstellung  und 
diese  Sonderrechte  wurden  auch  von  den  Städten  an- 
erkannt Nur  die  eigentlichen  Patriziergeschlechter  durften 
zur  Hochzeitsmusik  Trompeter  bestellen,  und  noch  zu 
den  Zeiten  Sebastian  Bachs  war  die  Erlaubnis»  eine  so- 
genannte Trompetensuite  spielen  zu  lassen,  mit  beson- 
deren Kosten  verknüpft.  In  neuerer  Zeit  ist  dfe  Ansicht, 
daß  sich  das  Ansehen  der  alten  Trompeter  auch  auf  her- 
vorragende musikalische  Leistungen  gestützt  habe,  zwar 
bezweifelt  worden**),  doch  verbieten  allein  schon  die 
Trompetenpartien  Bachs  und  Händeis  hierüber  zu  streiten. 
Nicht  bloß  die  Trompeten,  sondern  alle  Blasinstrumente 
hatten  im  17.  und  18.  Jahrhundert  konzertierenden  Charak- 
ter und  mußten,  namentlich  die  Oboe,  technisch  weit 
mehr  leisten,  als  der  heutige  Orchesterdienst  verlangt; 
erst  die.  Wiener  Schule  entband  sie  von  den  virtuosen 
Verpflichtungen. 

Am  Ende  des  15.  Jahrhunderts  begegnen  wir  auch 
den  ersten  Militärmusikern.  Georg  Frunsberg,  der  Vater 
der  Landsknechte,  war  es,  der  für  jedes  Fähnlein  zwei 
oder  drei  Spielleute,  hauptsächlich  für  den  Signaldienst 
einstellte.  Erst  im  18.  Jahrhundert  entwickeln  sich  dar- 
aus,  und   wie   es  scheint  nach  preußischem   Vorgang, 

*)  L  £.  Altenbuig:  Versuch  einer  Anleitung  zur  heroisch- 
musikalischen  Trompeter-  und  Paukerkunst.     1795. 

*   **)  H.  Eichborn:  Dte  Trompete  in  alter  und  neuer  Zeit. 
1881. 


\ 


stattliche  OboistenchOre.  Die  bürgerliche  Instrumental- 
musik hat  lange  an  dem  einzigen  Spielmann  festgehalten, 
in  Dresden  beschränkte  sich  noch  1572  die  Stadtmusik 
anf  einen  Kopf*).  Aber  die  Aufgaben  des  Türmers  scheinen 
sich  bald  erweitert  zu  haben.  Zur  Bewachung  tritt  die 
Begrüßung,  die  Unterhaltung  und  Erbauung  .der  Bürger- 
schaft, die  für  diese  Zwecke  vordem  lediglich  auf  die 
Bedienung  durch  wandernde  und  vagabundierende  Musi- 
kanten angewiesen  war.  Nach  dem  Ausweis  von  Ver- 
ordnungen und  Bildern  gibt  der  amtlich  bestellte  Pfeifer 
vom  14.  Jahrhundert  ab  zur  Morgen-,  Mittags-  und  Abend- 
stunde von  seinem  Turm  herab,  oder  von  einer  andren 
geeigneten  Stelle  aus  ein  geistliches  oder  weltliches  Stück 
zum  besten,  er  erscheint  bei  Festen  und  Aufzügen,  hei 
Hochzeiten,  Taufen  und  andren  Ehrentagen  der  Familie, 
er  spielt  an  Sonn-  und  Festtagen  und  bei  weiteren  guten 
Gelegenheiten  auf  dem  Markt,  auf  einer  Empore  oder 
Nische  des  Stadthauses,  auf  dem  Plan,  dem  Anger  —  in 
Basel  auf  der  Rheinbrücke  —  auf,  er  fehlt  bei  keinem 
Tanz  im  Grünen,  auf  der  Tenne  oder  im  Saal.  Noch 
aus  der  zweiten  Hälfte  des  17,  Jahrhunderts  haben  wir 
viele  Tanzbilder,  namentlich  von  Teniers,  auf  denen  nur 
ein  einziger  Spielmann  tätig  ist,  und  auf  dem  Land,  im 
Spreewald,  in  entlegenen  Gebirgsdörfern  ists  auch  heute 
nicht  selten,  daß  das  ganze  Tanzorchester  aus  einem 
einzigen  Klarinettisten  oder  einem  Fiedler  besteht  Neben 
der  Trompete  tritt  f&r  solche  Gelegenheiten  schon  in  der 
Zeit  der  Miniaturen  die  Geige  auf,  in  der  Zeit  der  Bilder 
auch  die  Gambe,  die  Laute  und  die  Viola,  besonders  be- 
liebt wird  (nach  Dürer,  Raffael,  auch  Teniers)  für  den 
Volksbedarf  der  Dndelsack;  auf  den  Handwerksbildern 
des  Jost  Amanns  (16.  Jahrh.)  stellt  sich  dann  die  Guitarre 
mit  ein.  Die  Hausmusik  kennt  vom  15.  Jahrhundert  ab 
kleine  um  den  Hals  gehangene  Orgeln,  sogenannte  Por- 
tative, die  besonders  gern  von  vornehmen  Damen  und 

*]  G.  Wustmaiiu :    Aus    Leipzigs    Vergangenheit   (Artikel: 
Die  Leipziger  Sudtmusikanten).     1885. 


beibgeo  Fraueu  gespielt  werden.  In  Holbeins  Totentanz 
tntt  auch  der  Tod  als  Kavalier  mit  einem  Psalterium 
auf.  Schlagzeug  fehlt,  nur  auf  italienischen  Bildern  des 
16.  Jahrhunderts  kommt  ausnahmsweise  der  Triangel  vor, 
in  Deutschland  gilt  er  damals  noch  als  »fremdes  Instru« 
ment€. 

Der  vermehrte  Bedarf  und  die  Notwendigkeit,  für  * 
Nachwuchs  zu  sorgen,  die  zur  Vererbung  des  Gewerbes 
in  derselben  Familie  und  später  zu  förmlichen  Musiker- 
dynastien fährte,  erklären  es  einfach  genug,  daß  aus 
dem  einen  Spielmann  bald  mehrere  wurden.  So  begegnen  ^ 
wir.  schon  in  den  Miniaturen  des  12.  Jahrhunderts  zwei 
Spielleuten,  das  erste  Bild  —  es  ist  aus  der  Schule  Meister 
Wilhelms  —  mit  zwei  Instrumentalisten  stammt  aus  dem 
14.  Jahrhundert  und-  befindet  sich  im  Dom  zu  Aachen. 
Zwei  Engel  musizieren  da,  der  eine  auf  der  Bratsche, 
der  andre  auf  einer  Lautenharfe.  Einen  Violaspieler  und 
einen  Harfner  zeigt  d^nn  auch  die  Gruppe  der  Seligen 
im  Campo  santo  zu  Pisa.  Bratsche  und  Psalterium 
kommen  auf  den  frühesten  italienischen  Bildern  häufig 
vor,  wie  noch  heute  das  Endemble  von  Geige  und  Guitarre 
in  der  italienischen  Volksmusik  heimisch  ist.  Aiich  Geige 
und  Laute,  Gambe  und  Laute,  Flöte  und  Harfe,  Flöte 
und  Laute  zeigen  sich  auf  italienischen  Bildern  des 
16.  Jahrhunderts,  z.  B.  bei  Giov.  Bellini  (in  der  Kirche 
de'Frari  in  Venedig)  zusammen.  Memling  bringt  eine 
heilige  Katharine  mit  Portativ  und  Harfe,  und  auf  dem 
gegen  1500  entstandenen  Konzert  des  Giorgione  (Florenz, 
Pitti)  erscheint  zum  erstenmal  neben  der  Gambe  ein 
kleines  Kl^ivier.  Zwischen  dem  Instrumentalsolo  und 
dem  Instrumentalduett  gibt  es  noch  eine  merkwürdige 
Zwischenstufe:  das  ist  der  zu  gleicher  Zeit  zwei  Instru- 
mente spielende  'Musiker.  Er  findet  sich  schon  in  den 
von  Riano*)  beschriebenen  spanischen  Teppichgemälden 
des  13.  Jahrhunderts  und  vorher   auf  Miniaturen  Flöte 


♦)  Juan  Riano:  Gritical  and  bibllographical  notes  on  Early 
Spanish  Music.     1887. 


und  Trommel  handhabend ,  Uolbein  bringt  ihn  in  den 
Illustrationen  zum  Alten  Testament  wieder  zu  Ehren,  von 
da  kehrt  er  bis  ins  17.  Jahrhundert  häufiger  wieder  und 
lebt  ja  heute  noch  in  dem  auf  Märkten  und  Volksfesten 
Affen,  Bären,  Kamele  vorführenden  und  dabei  Dudelsack 
und  trommel  zugleich  regierenden  Italiener.  Am  Hofe 
des  Herzogs  Anton  von  Lothringen  hat  dieser  Doppel- 
spieler unter  dem  Titel  >Grand  joueur  du  tabourin«  einen 
hohen  musikalischen  Posten  mit  den  Befugnissen  eines 
Generalmusikdirektors  gebildet*). 
I         Ensembles  von  drei  Instrumentalisten  tauchen  erst 

■  im  15,  Jahrhundert  auf,  bei  Carpaccio  mit  Laute,  Bratsche, 
)  Zinken,  bei  Giov.  Bellini  und  andren  Malern  mit  zwei 

Lauten  und  kleiner  Geige,  mit  Laute,  Gambe,  Flöte,  mit 
Flöte,  Harfe,  Portativ,  mit  Hörn,  Laute,  Orgel.  Noch  von 
Teniers  besitzen  wir  (Alte  Pinakothek  in  München)  ein 
,  Bauernbild  mit  Flöte,  Laute  und  Geige.  Darnach  hat 
sich  also  das  selbständige  Instrumentaltrio  weit  in  die 
Zeit  hinein  erhalten,  wo  für  Gesang  und  Instrumente 
längst  der  vierstimmige  Satz  die  Regel  war.  Für  das 
18.  Jahrhundert  bezeugt  das  Goethe  (in  Wahrheit  und 
Dichtung)  mit  der  Beschreibung  des  Einzugs  des  soge- 
nannten Pfeifergerichts  bei  der  Kaiserkrönung  im  Frank- 
furter Römer.  Das  stellten  drei  Nürnberger  Stadtmusi- 
kanten, und  Sandberger  teilt  (4.  a.  0.)  eine  der  alten  für 

■  dessen  Zweck  bestimmten  Intraden  mit.  Noch  größere 
Wichtigkeit  hat  das  Ensemble  dreier  Spieler  als  Episode 
und  Gruppe  im  größeren  Ganzen,  in  der  Sinfonie  noch 
bei  Haydn,  in  der  Oper  bei  LuUy  und  andren  Kompo- 
nisten, in  der  Kirchenmusik  in  S.  Bachs  Hmoll-Messe; 
die  größte  Bedeutung  hat  es  als  Concertino  bei  Corelli 
und  im  Concerto  grosso  seiner  Schule  erlangt.  Auf- 
fällig ist,  daß  auf  den  Bildern  die  drei  Instrumente  nie 
zur  gleichen  Gattung  gehören.  Dagegen  kann  es  ein  Zu- 
fall sein,  daß  in  dieser  Quelle  Quartette  und  Quintette 
von  Instrumenten  bedeutend  früher  auftreten   als   das 


*)  Albert  Jacquot:  La  musique  eii  Lorraine.     1S82. 


Trio,  nämlich  schon  im  14.  Jahrhundert.  So  bringt  Casen- 
tino  (Florenz,  üffiden)  Harfe,  Laute,  Zither,  Portativ, 
Pietro  Äretino  (Florenz,  Akademie)  Bratsche,  Flöte, 
Laute,  kleine  Pauke  und  Dudelsack,  Raffael  ist  (Galerie 
des  Vatikan)  mit  einem  Quartett  von  zwei  Geigen,  Harfe, 
Tamburin  und  (Perugia,  Pinakothek)  mit  einem  Quintett 
von  Flöte,  Ge^ige,  Kniegeige,  Laute  und  Zinken  vertreten. 
Das  interessanteste  der  späteren  Quartettbilder  ist  Paolo 
Yeroneses  Hochzeit  von  Kana  (Venedig,  Akademie),  denn 
die  zwei  Bratschisten  sind  Veronese  und  Tintoretto,  der 
Flötist  ist  Bassano,  der  Baßgeiger  Tizian. 
,  In  den  deutschen  Stadtorchesterh  scheint  die  Drei- 
jzahl  eine  Zeitlang  die  Norm  gewesen  zu  sein:  Mit  Hans 
'•  Nail  und  seinen  zwei  Söhnen  beginnt  1479  die  Geschichte 
1  der  Leipziger  Stadtmusik,  1600  wird  sie  auf  vier  Köpfe 
erhöht  und  bleibt  nun  bis  zum  Jahre  1738,  wo  den 
vier  Bläsern  endlich  noch  drei  Kunstgeiger  zugeführt 
'  werden,  auf  diesem  Bestand*).  Auch  Nürnberg  und 
Augsburg  halten  sehr  lange  an  einer  vier-  oder  fünf- 
köpfigen Stadtmusik  fest**),  und  Deutschland  wird  wäh- 
rend des  16.  Jahrhunderts  in  seinen  kommunalen  Or- 
chestern rückständig.  Bartholomäus  Sastrow,  der  Stral- 
sunder Bürgermeister,  ist  erstaunt,  als  er  1593  auf  dem 
Reichstag  zu  Speier  zum  erstenmal  in  der  Kapelle  des 
Kurfürsten  von  Sachsen  Bläser  und  Streicher  zusammen- 
spielen hört***),  und  noch  zwölf  Jahre  später  ist  den 
Stralsundern  kunstmäßige  Geigenmusik  ein  fremdes  Phä- 
noihen.  Ganz  andre  Verhältnisse  bestanden  in  Italien- 
Zur  selben  Zeit,  wo  Luther  bei  uns  von  den  »bösen 
Geigern  und  Fiedlernc  spricht,  findet  Albrecht  Dürer  in 
Venedig  Instrumentalisten  und  insbesondere  Violinisten 
als-  angesehene  Glieder  der  besten  Gesellschaft  Auch  in 
'  den  Niederlanden  gehören  sie  damals  zu  den  vornehmen 

*)  G.  Wustmann  (a.  a.  0.). 
**)  A.  Sandberger  (a.  a.  0). 

***)  Bartbolomii  Sastrows  Herkunft  etc.  (Ausgabe  von  1823) 
I,  S.  298. 


--»    10    «^ 

f 

Leuten.  Weil  Italien  das  klassische  Land  aach  der  Or. 
chestermusik  ist,  schickt. der  Nürnberger  Pfeifer  Gans 
nm  1550  seine  SOhne  zum  letzten  Schliff  nach  Ferrara. 
Auch  mit  der  stärkeren  Besetzung  der  Orchester  ist  Italien 
vorangegangen.  Die  ersten  Belege  hierfür  bilden  Engels- 
bilder des  14.  Jahrhunderts.  Auf  einem  solchen  (München, 
Alte  Pinakothek)  bringt  z.  B.  Lippo  Memmi  zwölf  Instru- 
mente. Indes  muß  bei  diesen  Engelsbildern  angenommen 
werden,  daß  die  Phantasie  der  Maler  um  des  Himmels 
willen  von  der  Wirklichkeit  abgewichen  ist.  Aber  auch 
als  Phantasiebilder  haben  sie  dadurch  geschichtlichen 
Wert,  daß  sie  die  in  der  Zeit  gebräuchlichen  Instrumente 
in  einer  Obersicht  zusammenfassen:  Portativ,  Bratsche, 
.Laute,  Harfe,  Flöte,  große  und  kleine  Trommel,  Hand- 
trommel, Pauke  und  Cymbeln.  Diese  Zahl  wird  in  einer 
ziemlich  gleichzeitigen  französischen  Ballade  auf  den 
Tod  Machaul ts  bis  zur  13,  in  einem  Bericht  des  Juan 
Ruiz  von  1352  sogar  auf  28*)  gebracht.  Nur  einmal,  in  der 
isländischen  Sage  von  Sigurd  dem  Schweiger,  wird  er- 
zählt, daß  eine  größere  Anzahl  von  Instrumenten,  es  sind 
acht,  Flöte,  Posaune,  Symphon,  Psalterium,  Harfe,  Geige. 
Quinterna  und  Orgel,  bei  einem  Gastmahl  auch  wirklich 
zusammenspielen**].  Es  kann  sich  da  aber  nur  um  Aus- 
nahmefälle und  um  Unisono-Spiel  handeln,  ähnlich  wie 
bei  den  Vokalchören  des  Gregorianischen  Chorals.  Doch 
lag,  wie  bei  diesen,  Teilung  in  Gruppen  und  der  Reiz  der 
Antiphonie  nahe.  Tatsächlich  kommen  auch  auf  zahl- 
reichen Engels-  und  Heiligenbildern  des  14.  Jahrhunderts 
Doppelorchester  vor,  und  da  ists  interessant,  daß  an  der 
Zahl  der  Instrumente  immer  die  Akkordinstrumente  einen 
großen  Anteil  haben,  in  der  Regel  die  größere  (fünf  von 
neun)  oder  die  kleinere  Hälfte  (sechs  von  vierzehn)  des 
ganzen  Ensembles  bilden.  Dieser  Reichtum  an  Akkord- 
instrumenten dauert  auf  den  Bildern  bis  ins  17.  Jahr- 


*)  W.  Ambros:  Musikgeschichte  II,  50S. 
**}  Angal  Hammerich:  Studien  über  isländische  Musik (Sam* 
melbindd  d«L  M.  G.  I,  351). 


hundert  fort  und  wird  durch  •  weitere  Quellen  bestätigt, 
durch  Inrentarverzeichnisse  nämlich  und  durch  gelegent- 
liche Angaben  Über  Orchesterbesetzung.  So  enthielt  (nach 
Sandberger)  die  »Musikkammer«  der  Fugger  in  Augsburg 
mehrere  hundert  Lauten.  Die  praktische  Verwendung  derlei 
Instrumente  zeigt  die  der  Partitur  des  Monteverdischen 
Orfeo  Yorgedrückte  Orchesterliste,  die  außer  großen  Cem- 
balis  Harfen,  Orgeln,  Regale  und  Chitaroni  verlangt.  Ans 
einer  Rechnung  vom  Jahre  1664  wissen  wir,  daß  auch 
im  Venetianischen  Opernorchester  drei  Cembali  und  The- 
orben  mitwirkten*),  ja  auch  noch  die  Händeischen  Parti« 
turen  verlangen  zur  Ausführung  der  als  Baßstimmen 
skizzierten  Harmonie  eine  Mehrzahl  von  Akkordinstru- 
menten, außer  Cembalo  und  Orgel  oft  noch  Harfen  und 
Lauten,  und  leiden,  wenn  das  übersehen  wird,  im  Klang. 
Auf  den,  im  Gegensatz  zu  den  Engelsbildern  zuver- 
lässigeren Prozessibnsbildern  tritt  die  stärkere  Besetzung 
erst  mit  Guido  Reni  ein  und  fällt  mit  den  höchsten 
Zahlen  auf  Akte,  wo  die  Instrumente  mit  Sängern  zu- 
sammenwirken. Es  muß  aber  damals  auch  für  die  reine, 
selbständige  Orchestermusik  eine  stärkere,  koloristisch  er- 

,  giebigere  Besetzung  Platz  gegriffen  haben.  Hatten  sich 
bis  dahin  die  Stadtpfeifer  mit  dem  ja  die  volle  Har> 
monie  deckenden  Quartett  begnügt  und  der  Abwechslung 
nur  soweit  Rechnung  getragen,  daß  sie  mit  Quartetten 

.  der  einzelnen  Blasinstrumente,  Schalmeienquarletten,  Po- 
saunenquartetten, ja  auch  Flötenquartetten  aufwarten 
konnten,  wie  das  teils  Kompositionen  wie  Scheins  Suite 
für  4  Krummhörner,  teils  alte  Inventarverzeichnisse,  in 
denen  die  Blasinstrumente  nach  Fudern,  d.  h.  Futteralen 

,  mit  je  vier  gleichartigen,  aber  in  der  Größe  registerartig 
verschiedenen  Stücken  angeführt  werden,  beweisen,  so 
wachsen  am  Ende  des  16.  Jahrhunderts,  als  von  Italien 
her  neue  Instrumentenkombinationen,  darunter  das  Zu- 
sammenwirken von  Bläsern  und  Geigern,  bekannt  werden 
und  sich  der  Sinn  für  Klänge  und  ihre  Mischungen  frisch 

*)  Jahrbuch  der  Musikbibliothek  Peters  für  1900,  S.  58. 


— •     12     «^ 

belebt,  die  Stadtpfeifereien* in  den  größeren  Orten  Dentsch- 
lands  auf  sechs  und  sieben  Köpfe.  Dazu  kommen  Expek- 
tanten  und  Lehrlinge  und  bei  besonderen  Anlässen  Ver- 
stärkung durch  auswärtige  Kollegen.  Die  Leipziger 
Stadtmusikanten  z.  B.  wurden  am  Anfang  des  17.  Jahr- 
hunderts ab  und  zu  nach  Dresden  beistellt,  die  Leipziger 
wiederum  laden  die  durch  ihre  guten  Trompeten  be- 
rühmten Naumburger  Stadtpfeifer  zu  Gast.  Der  Baum 
auf  den  Kirchtürmen  reicht  zur  Herberge  für  die  ver- 
größerte Stadtmusik  nicht  mehr  aus,  von  Ratswegen 
wird  ihr  deshalb  ein  eigenes  Haus  zur  Verfugung  gestellt, 
als  dessen  Verwalter  das  Haupt  der  Pfeifer  fortan  häufig 
den  Titel  »Hausmann«  führt  Die  Erinnerung  an  diese 
Zeit  lebt  noch  heute  in  zahlreichen  Pfeifergassen  und 
Pfeifergäßchen.  Fürstlichem  Brauche  folgend  halten  sich 
jetzt  auch  manche  Patrizier  ihre  Hauskapellen,  die  Freude 
iim  Orchesterklang  verbreitet  sich  durch  alle  Schichten 
so  stark,  daß  an  vielen  Orten  die  städtisch  bestellten 
Spielleute  für  Nachfrage  und  Aufträge  nicht  mehr  aus- 
reichen. In  Augsburg  haben  sich  infolgedessen  schon 
bis  zum  Jahre  16C6  vierzig  »fremde  Spielleute«  ohne  Kon- 
zession und  ohne  Bürgerrecht  angesiedelt.  Die  Stadt- 
pfeifer überlassen  ihnen  das  Spiel  beim  Tanz,  nur  wenn 
im  Rathaussaal  Ball  gehalten  wird,  beanspruchen  sie  das 
Recht  auf  den  »Pfeiferstuhl«,  die  kleine  Empore,  die  ja 
heute  noch  hie  und  da  erhalten  ist.  Ihre  Hauplfunktion, 
die  Mitwirkung  beim  Gottesdienst,  hei  öffentlichen  Feier- 
lichkeiten und  das  sogenannte  »Abblasen«  am  Morgen, 
am  (frühen)  Mittag  und  am  Abend  wird  ihnen  meistens 
sehr  angemessen  vergütet,  dazu  kommt  noch  ein  reich- 
licher Nebenverdienst  bei  Familienfesten,  insbesondere 
bei  den  verschiedenen  Zeremonien  der  Verlobung,  bei  den 
»Handschlagen«  und  den  »Lautmerungen«,  beim  »Hofieren« 
des  Bräutigams  und  selbstverständlich  bei  der  Hochzeit 
selbst  Nur  wird  in  der  Zeit  der  Kleiderordnungen  bei 
den  Hochzeitsmusiken  streng  auf  Unterschiede  gehalten. 
Je  nach  dem  Stand  des  Bräutigams  werden  Posaunen  — 
im  Singular  oder  Plural  —  zugestanden    oder  versagt. 


Iq  Nürnberg  muß  1600  ein  dreichöriges  Hochzeitsstück 
Leo  Haßlers  nnaufgefü^rt  bleiben,  weil  der  Bräutigam 
kein  Privilegierter,  sondern  Kaufmann  ist. 

Nicht  bloß  der  Kirchendienst,  sondern  auch  die  neu- 
modische, die  Mitwirkung  von  Cembalis  und  Lauten  for- 
dernde Proianmusik  führte  zu  einer  engeren  Verbindung 
der  Stadtpfeifer  mit  den  Organisten,  die  ja  immer  zu- 
gleich Cembalisten  und  häufig  auch  gute  Lautenspieler 
waren.  Infolgedessen  begründen  jetzt  Kandidaten,  die 
sich  für  die  Stelle  eines  Pfeifers  oder  Zinkenisten  melden, 
ihre  Bewerbung  damit,  daß  sie  auch  Orgel  spielen  können, 
die  Organisten  wiederum  rücken  mit  in  die  Reihe  der 
Stadtmusikanten  oder  an  ihre  Spitze.  Es  erscheinen  ge- 
meinsame Verordnungen  »für  die  Organisten  und  Stadt- 
Efeiferc,  bei  dem  Organisten  werden  die  »Aufwartungen« 
estellt,  er  bestimmt  bei  -den  sogenannten  »stillen  Mu- 
siken« wie  viele  und  welche  Spieler  zur  Laute  und  zum 
Cembalo  zugezogen  werden,  er  wird  hier  und  da  als 
» Archimusicus«  angeführt  Nürnberg  beruft  1600  L.  Haßler 
als  »Oberhaupt  der  Stadtpfeifer c  und  schließt  in  diese 
Bestallung  den  Organisten  dienst  ein,  Leipzig  räumt  einige 
Menschenalter  später  dem  Organisten  der  Neuen  Kirche 
das  Recht  ein,  unabhängig  vom  Thoraaskantor,  als  dem 
obersten  Direktor  der  Stadtmusik,  ein  eigenes  Orchester 
zu  gründen  und  zu  leiten.  Studenten  bilden  es,  und 
damit  sind  wir  bei  dem  wichtigen  Prozeß  der  Verstärkung 
der  alten  Stadtmüsiken  durch  Laienkräfte,  bei  der  letzten 
Vergrößerung  der  Orchester  durch  mehrfache  Besetzung 
der  Streichinstrumente  und  bei  modernen  Verhältnissen 
angelangt. 

Da  die  treibende  Hauptkraft  für  diese  Wandlung  in 
der  äußeren  Geschichte  der  Orchester  die  Entwicklung 
der  Komposition  war,  so  ist  die  Frage  wichtig:  was  haben 
die  alten  Orchester  gespielt?  Bis  vor  kurzem  war  die 
Musikgeschichte  geneigt,  den  Anfang  einer  selbständigen 
Orchesterkomposition  erst  an  das  Ende  des  16.  Jahr- 
hunderts zu  setzen,  aber,  wie  neuere  Untersuchungen, 
bei  denen  sich  namentlich  Hugo  Riemann   hervorgetan 


hat,  ergaben,  daß  die  alte,  scheinbar  unbegleitete,  mehr- 
stimmige Vokalmusik  in  Messe,  Motette  und  weltlichem 
Chorlied  stark  und  wesentlich  auf  die  Mithilfe  von 
Orchesterinstrumenten  nnd  Orgeln  rechnet,  so  hat  sich 
auch  herausgestellt,  daß  die  Orchesterkomposition  fast 
bis  in  die  Zeit  zurückreicht,  wo  der  Minnegesang  begann. 
Sie  hat  heute  ebenso  alte  Dokumente  vorzulegen  wie  die 
Lauten-  und  Orgelmusik;  die  Zeit,  wo  auf  den  Bildern 
noch  der  Spielmann  im  Singular  überwiegt,  ist  da  zuerst 
mit  einer  einzigen  vom  Ende  des  12.  Jahrhunderts  stammen- 
den estampida,  im  13.  Jahrhundert  schon  mit  mehreren 
Stücken  in  englischen  Handschriften  und  im  14.  Jahr- 
hundert endlich  mit  ganzen  Sammlungen  französischer 
und  italienischer  Kompositionen,  die  sich  in  der  Pariser 
Nationalbibliothek  und  im  Britischen  Museum  finden, 
vertreten.  Es  sind  durchweg  einstimmige  Tanzstücke,  die 
in  der  Mehrzahl  zu  der  Familie  der  eben  erwähnten 
estampida,  im  französischen  estampies  genannt,  zum 
kleineren  Teil  zu  den  danses  royales  gehören*).  Schon 
Grocheo  kennt  die  estampie  als  stantipes  und  berichtet, 
daß  sie  mit  dem  cantus  coron  atus  und  dem  rondellus 
eine  besonders  beliebte  Form  von  Instrumentalmusik  sei, 
bei  Festen  spielten  die  Jongleurs  damit  reichen  Leuten 
auf.  Was  in  der  Zeit  der  einstimmigen  Musik,  wo  sich 
die  Ausführenden  im  wesentlichen  auf  Gedächtnis  und 
Improvisation  verlassen  durften,  veranlaßt  haben  mag, 
gerade  estampies  aufzuschreiben,  ist  der  ihnen  eigene 
Mangel  an  Symmetrie,  der  das  Behalten  und  Wiedergeben 
verhältnismäßig  erschwert.  Es  wechseln  acht-  und  sechs- 
taktige  Perioden,  vier-  und  zweitaktige  Abschnitte.  Die 
isolierten  Zweitakter  markieren  die  Hauptschlüsse  und 
geben  ihnen  metrisch  und  modulatorisch  einen  eigen* 
sinnigen  Zug,  zu  dem  sich  die  sanft  und  leicht  hin* 
gleitende  Melodie  in  Gegensatz  stellt.  Das  Ganze  wird 
eine  Mischung   von   Anmut  und  Keckheit,  aus  der  der 


*)  Pierre  Aabry :  Las  plus  anciens  textes  de  mnalque  instni- 
mentale  (Mercure  musical,  September  1906). 


16 


Geist  der  Tronbadooneit  spricht    Die  folgenden  Takte: 

pi  I  Millij 


I'  J.lj.Ujjjli.'j'i'JJjj^'^.'j.Uj^ 


bringen  die  ersten  2  Abschnitte  einer  solchen  esiampie, 
das  ganze  Stück  hat  ihrer,  je  nachdem  4,  6  oder  7.  Die 
danse  royale  oder  estampie  royale  unterscheidet  sich 
▼on  der  gewöhnlichen  estampie  hauptsächlich  durch  einen 
Reichtum  an  größeren  Intervallen,  der  ihren  Charakter 
ins  Kräftige  und  Heroische  hebt,  und  durch  geringeren 
umfang  der  Satzteile: 


Diese  Satzteile  oder  Perioden  heißen  puncta,  genau 
so  wie  in  den  gleichalterigen  zwei-  und  dreistimmigen 
englischen  Orgelkompositionen,  mit  denen  uns  unlängst 
Wooldridge  bekannt  gemacht  hat*).  Das  Punktum  ist  ein 
oCTenes  (apertum),  wenn  der  Schluß  in  die  Höhe,  ein 
festes  (clausum).  wenn  er  in  die  Tiefe  geht.  Bei  dem 
Vergleich  zwischen  den  estampies  und  den  Orgelsätzen 
fällt  zuerst  auf,  daß  die  ersteren  melodisch  viel  reifer 
and  wertvoller  sind.  Kein  Wunder:  auf  die  Beweglich- 
keit und  Freiheit  der  Melodie  drückte  in  den  Orgelsätzen 
zunächst  noch  die  Mehrstimmigkeit.  Noch  stärker  ist 
zwischen  den  beiden  Arten  der  Unterschied  in  der  metri- 
schen Struktur:  die  OrgelstQcke  ziehen  in  durchschnitt- 
lich längeren  Perioden  vorüber,  die  estampies  sind  kurz 
nnd  scharf  gegliedert.  Dieser  von  ihrer  Tanzbestimmung 
herkommende  Zug  behauptet  sich  auch  in  der  mehr- 
stimmigen Orchestermusik,  soweit  sie  weltlicher  Natur 
ist,  noch  auf  lange  hin,  bis  ins  16.  Jahrhundert  wird  ihm 
sdbst  in  den  überwiegenden  Fällen  Rechnung  getragen, 

*)  H.  £.  Wooldridge :  Early  £ngli8h  harmony  from  the  1 0  th 
to  the  l&th  Century.     1897.    ' 


^ 


--^     16     «^ 

wo  die  zwei-^  drei-  und  fünfstimmigen  Sätze  imitieren, 
fugieren  oder  sonstwie  kunstvoll  kontrapunktieren.  Die 
Metrik  ist  gradezu  das  sicherste  Kriterium,  nach  dem  man 
in  zweifelhaften  Fällen  feststellen  muß,  ob  eine  mehr- 
stimmige Komposition  für  Singstimmen  oder  für  Instru- 
mente gemeint  ist. 

Die  ältesten  zweistimmigen  Kompositionen  für  Or- 
chesterinstrumente sind  uns  in  den  eben  erwähnten 
englischen  Handschriften  des  13.  Jahrhunderts  erhalten. 
Der  zweistimmige  wurde  von  dem  volleren  Satz  nicht 
verdrängt.  Johann  Walther  bringt  1542  unter  seuden 
26  Fugen  für  Zinken  ein  reichliches  Drittel,  9  Stück  für 
zwei  Zinken,  und  John  Morley  1595  eine  ganze  Samm^ 
lung  zweistimmiger,  zum  Teil  instrumentaler  Canzonetten; 
im  Aufwartungsdienst  der  Stadtmusikanten  gab  es  kleine 
Ständchen  im  Zimmer  und  andere  Fälle,  für  die  nur 
zwei  Spielleute  vorgesehen  waren.  Erst  als  mit  dem 
17.  Jahrhundert  die  volle  akkordische  Klavierbegleitung 
beliebt  wurde,  litt  die  Freude  am  reinen  Duo  und  die 
Produktion  der  Gattung  wurde  mehr  und  mehr  auf 
Unterrichtszwecke  eingeschränkt.  Mit  welchem  Unrecht, 
lehrt  jede  gute  Aufführung  etwa  eines  Spohrschen 
Violinduos.  Jene  ältesten  englischen  Kompositionen  für 
zwei  Instrumente  entsprechen  den  heutigen  Forderungen 
an  einen  reinen  Satz  vielfach  nicht.  In  einem  von  Wool- 
dridge  (a.  a.  0.)  gedruckten  Duett  fängt  beispiel&weise  der 
Quintus  punctus  folgendermaßen: 


i  ;j  ^,i  ii"J  'i,J  J  li  j  ij  JiJ  I.,  I 


r  ftp    p  ^    f^r      TpffTf 

an.  Die  Stelle  steht  durchaus  nicht  allein,  sondern  eine 
große  Zahl  ganz  ähnlicher  beweisen,  daß  unter  den 
Simultanharmonien  der  Zeit  die  Quinten  parallelen  ebenso 
beliebt  waren  wie  die  S^xtenparallelen  und  die  Oktaven, 
Terzengänge  merkwürdigerweise  viel  weniger.  Auch  an 
kühnen  Dissonanzen  sind  die  Sätze  so  reich,  daß  man 
an  Schreibfehler  denkt.     Der  Entwurf  der  Stücke  geht 


gewöhnlich  von  der  Unterstimme  aas.  Diese  besteht  ent- 
weder ans  einem  langsam  vorgetragenen  Bruchstück  der 
Skala,  das  mit  primitiv  Instigen,  raschen  Motiven  kontra- 
punktiert  wird,  z.  B.: 


^^'  ll-l  IlljilljJjlijJljJiU  jlj  Jlj.  I 


oder  sie  ist  einer  Tanzweise  entnommen,  deren  einzelne 
Abschnitte  ostinatoartig  durchgeführt  werden: 


■^tf,.r^if'  r\f  hr  Hy  y\\^  hj'Pvf  i  i«te. 


Es  steht  im  Einklang  mit  der  Bilderqnelle,  daß  die 
ältesten  Kompositionen  für  drei  Orchesterinstrumente  dem 
15.  Jahrhundert  angehören.  Bamberger,  Berliner,  Floren- 
tiner Handschriften  enthalten  allerdings  .schon  aus  früherer 
Zeit  dreistimmige  Instmmentalsätze,  aber  als  reich  und 
ständig  gepflegte  und  dabei  auch  voll  entwickelte  Kunst 
begegnen  sie  uns  erst  in  der  niederländischen  Schule,  in 
dep  sie  mit  Arbeiten  Obrechts,  P.  de  la  Rues,  Brumels, 
ILAgricolas,  Hofhaimers  und  Senfls  belegt  werden  können. 
Sie  haben  dem  Anschein  nach  einen  besonders  eifrigen 
Vertreter  in  Heinrich  Isaac  gefunden,  dessen  drei- 
stimmigen Sätze,  24  an  Zahl,  vor  einigen  Jahren  in  Neu- 
druck erschienen  sind'**),  mit  ihnen  zusammen  auch 
33  vierstimmige  und  1  fünfstimmiges,  die  mit  den  ersteren 
in  Technik  und  Charakter  übereinstimmen.  Ob  diese 
Arbeiten  auch'  wirklich  sämtlich  für  Instrumente  be- 
stimmt sind,  ist  noch  nicht  ganz  ausgemacht;  einen  Teil 
wird  man  auch  jetzt  noch,  wie  es  früher  mit  allen  ge- 
schah, als  Vokalkompositionen  ansehen  dürfen,  denen  nur 
deshalb'  kein  Text  beigegeben  worden  ist,  weil  er  sich 
als  so  bekannt  voraussetzen  ließ,  daß  eine  kurze  Über- 

_  » 

*)  Aas  London:  Harleiana  978,  gütigst  mitgeteilt  von  Herrn 
Professor  Johannes  Wolf. 

*♦)  Denkmäler  der  Tonkunst  In  Österreich  XIV,1.     Heraus- 
gegeben von  Johannes  Wolf. 

Kretsrebraar,  FOiirer.    1,  I.  2 


18 


Schrift  (Wohl  auf  gut  GseH,  Süfier  Vetter,  Si  dormiero 
Poar  vous  plaisir  u.  a.)  genügte.  Gründliche  Unter- 
suchungen der  Liedliteratur  der  Isaacschen  Zeit  haben 
diese  Frage  weiter  zu  klären.  Bei  einer  Gruppe  der 
dreistimmigen  Sätze  liegt  die)  vokale  Natur  sehr  nahe. 
Das  sind  die  Stücke,  bei  denen  der  Tenor  einen  breiten 
cantus  firm  US  vorträgt»  den  Oberstimmen  und  Baß  mit 
bewegten,  wechselnden  und  kanonisch  oder  frei  imitieren- 
den Motiven  umspielen.  Doch  ist  ihre  Zahl  nur  klein, 
die  überwiegende  Menge  der  Isaacschen  Sätze,  der  drei- 
stimmigen wie  der  vierstimpiigen,  erweist  sich  schon 
durch  die  kurze  Gliederung  in  vier-  und  zweitaktige  Ab- 
schnitte grade  so  als  inst^mental,  wie  das  hundert  Jahre 
früher  bei  den  estampies  der  Fall  war.  Dazu  kommt  ein 
zweites,  schon  von  den  Schriftstellern  des  13.  Jahr- 
hunderts hervorgehobenes  Merkmal  instrumentaler  Kon- 
struktion. Das  ist  die  Sequenz:  Von  ihr  macht  Isaac, 
wie  die  folgenden  zwei  Proben  zeigen  mögen: 


jnn.M''  f 


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^m 


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(Vivace) 


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f  n[iif  I  pn 


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einen  reichen  Gebrauch.    Auf  das  instrumentale  Konto 


— •     19 

ist  femer  auch  eine  freiere 
Behandloog  der  Dissonanz  zu 
setzen,  z.  B.  in  0  Venus  bunt: 

Die  vorstehenden  kurzen  Auszüge  veranschaniichen 
zur  Genüge,  daß  die  Orchesterkomposition  des  15.  Jahr- 
hunderts trotz  einzelner  Züge  formelJer  Verwandtschaft 
sich  über  den   Charakter  der   einstimmigen   Estampies 
und  der  ersten  englischen  Versuche  im  zweistimmigen 
Instnunentalsatz  sehr  hoch  gehoben  hat.    Das  sind  keine 
Tänze  mehr,  sondern  das  ist  eioe  Unterhaltungsmusik, 
die  zwar  an  volkstümliches  Material  anknüpft,  aber  um  ( 
es  höchst  individuell  und  mit  einem  stattlichen  Aufwand  \ 
von  Kunst  und  Geist  zu  entwickeln.  Es  ist  ein  Kammer-  t 
stiL,  der  sich  an  einen  sehr  gebildeten  Kreis  wendet  und  ' 
Zohöier  voraussetzt,  welche  die  Beziehungen  zwischen 
den    Stimmen    sofort    erfassen    und    die   Reize   dieses 
Stimmenspiels  zu  würdigen  wissen.    Diese  Musik  ist  die  > 
Blüte   meisterlichster    Kontrapunktik,    leicht   und   ohne 
Tüfteln  entworfen,  aber  genau  auf  Abwechslung  und  deut- 
liche   Wirkung  berechnet.     Das  sieht  man   namentlich 
daran,  wie  Isaac  die  Nachahmungen  bald  aus  der  Höhe 
nach  der  Tiefe,  bald  umgekehrt  führt,  bald  wörtlich,  bald 
in   Umkehrung  und   anderen  Varianten  antwortet.    Die 
Mehrzahl   seiner  Sätze   wird   man  als  Paraphrasen  be- 
kannter Lieder  zu  deuten  haben,  bei  etlichen  (La  Marti- 
nella, Morra  u.  a.)  hat  er  sich  aber  Programm  aufgaben 
gestellt.     Es   kommen    auch    in    den    Liedparaphrasen 
Tonmalereien  vor,  eine  sehr  hübsche  in  der  Nummer  36: 
»Si    dormiero«.     Da   wird   mit   der   variiert   mehrmals 
wiederkehrenden  Stelle : 


^^ 'l7^  ^  ^  id:^ }  i  ilg-U-j:^^^^^^^^^^ 


auf  das  Schwanken  von  Bildern  und  Vorstellungen  ange- 
spielt, das  dem  Einschlafen  gern  vorhergeht. 

Die  Grundzüge  der  Isaacschen  Arbeiten  kehren  nun 
auch  in  dem  »Libro  I  delle  canzoni  da  sonar«  von  Flo- 

2* 


^ 


-^     20 


<► — 


rentio  Maschera  wieder,  das  1084  zu  Brescia  in  vier 
Stimmbüchern  erschien  und  das  lange  Zeit  als  der  Anfang 
selbständiger  Orchesterkomposition  angesehen  worden 
ist.  Davon  zu  überzeugen,  genügen  die 'Anfänge  der 
beiden  Canzonen,  die  Wasielewski  aus  diesem  Werke  zum 
Neudruck  gebracht  hat*): 


Le  Capriola.  Canzone. 


eto. 


Die  Themen  haben  den  Charakter  des  Tanzliedes, 
allerdings  eines  herb  und  elegisch  gestimmten,  aber  doch 
die  rhythmische  Bestimmtheit  und  Knappheit  der  Gattung, 
und  sie  haben  die  zahlreichen  und  scharfen  Gäsuren,  die 
schon  die  estampies  auszeichneten.  Die  Ausführung  ge- 
langt zu  Dimensionen,  wie  sie  das  15.  Jahrhundert  für 
Orchesterstücke  noch  nicht  kennt,  zu  einem  Umfang  von 
107  und  143  Takten  und  sie  folgt  dabei  noch  demselben 
Prinzip,  nach  dem  auch  Isaac,  de  la  Rue  und  die  an- 
deren Niederländer  verfuhren:  kunstvolle  Arbeit,  jedoch 
mit  verminderter  Kraft  und  Energie.  Die  Kunst  besteht 
für  Maschera  fast  ausschließlich  im  Fugieren,  dabei  macht 
er  die  Fuge  zu  einer  auffällig  leichten,  auch  dem  ein- 
fachsten Volk  verstSipdlichen  Form.  In  der  ersten  C&n- 
Zone  erreicht  er  das  durch  beständige  wörtliche  Wieder- 
holung kleiner  und  großer  Abschnitte;  die  ganze  Capriola 
besteht  aus  zwei  Teilen  und  jeder  Teil  wieder  aus  zwei 
völlig  gleichlautenden  Hälften.  Ein  und  derselbe  Ganz- 
schluß (Gmoll)  kommt  deshalb  in  hundert  Takten  sechs- 
mal und  verbreitet  über  die  Komposition  ein  Einerlei,  das 
nur  deshalb  nicht  als  hilflos  wirkt,  weil  es  augenschein- 


*)  W.  J.  von  Wasielewski :  Instrnmentalsätze  todi  Ende  des 
16.  bis  Ende  des  17.  Jalirhunderts.     1874. 


' 


— •     21     «^ 

lieh  beabsichtigt,  wahrscheinlich  in  dem  Text  der  Gapriola 
begründet  ist.  In  der  zweiten  Caüzone  erleichtert  Ma- 
schera  das  Zahören  und  Folgen  durch  fortwährendei^ 
Gredankenwechsel.  Dem  ungraden  Anfang  folgt  im 
22.  Takt  ein  Allabreve,  und  in  ihm  bringt  er  nacheinander 
fünf  verschiedene  Themen,  die  auch  nicht  mehr  streng 
fugenroäßig,  sondern  nur  in  zwanglosen  Imitationen  ver- 
arbeitet werden.  . 

Der  durch  die  große  Verschiedenheit  der  beiden  Stücke 
Mascheras  nahe  gelegte  Schluß,  daß  mit  der  Bezeich- 
nung Canzone  ein  bestimmtet  Formenbegriff  nicht  ver- 
bunden sei,  ist  richtig  und  gilt  nicht  bloß  für  die  Can- 
zonen,  sondern  für  alle  Arten  Orchestermusik  des  17. 
Jahrhunderts.  Mascheras  Sammlung,  die  schon  1598 
zum  zweiten  Male  aufgelegt  wurde,  hatte  den  Druckern 
das  Signal  zur  fleißigen  Bestellung  der  Orchesterkom- 
positioD  gegeben.  Noch  vor  Schluß  des  16.  Jahrhunderts 
traten  dem  Maschera  andere  Oberitaliener  mit  Canzonen 
und  Ricercares  zur  Seite,  noch  viel  stärker  regt  sich  aber 
neues  Leben  in  dem  Gebiete  von  dem  Augenblicke  ab,  wo 
durch  Einfuhrung  der  Oper  und  namentlich  auf  Grund  von 
Monteverdis  Orfeo  die  Instrumentalmusik  gewissermaßen 
die  höheren  Weihen  erhält.  Da  veröffentlichen  Marini, 
Fontana,  Monte  Albano,  Tarqu.  Merula,  Neri, 
AUegri,  Mezzaferrata,  Bassani,  Vitali  und  andere 
angesehene  Musiker  neue  Sammlungen  von  vier-  und 
mehrstimmiger  Orchestermusik  und  mit  Legrenzi  treten 
auch  die  Opemkomponisten  mit  in  die  Konkurrenz  ein*). 
Auch  die  Zahl  der  Kompositionsarten  wächst,  neben  der 
Canzone  erscheint  die  Fantasie,  die  Sonate,  die  Sinfonie, 
das  Capriccio.  Die  Canzone  legt  es  jetzt  auf  Gegensätz- 
lichkeit an,  es  lösen  sich  schon  durch  die  Taktart  streng 
geschiedene  Themen  ab,  oder  sie  wird  zu  einer  drama- 
tbch  erregten  Szene,  in  der  Charakter  und  Tempo,  sich 
drei-,  vier-  und  fünfmal  ändern.    Diese  zweite  Art  ver- 

*)  Zar  Orientierung  wird  empfohlen  Wasieiewskis  bereits  ge- 
nannte Samrolnng. 


-—f^     22     «^ 

treten  Merula  und  Neri.  Die  Fantasie  macht  schon  durch 
ihren  Namen  auf  Formenfreiheit  Anspruch.  Es  gibt 
Fantasien,  die  vollstAndig  den  mehrthemigen  Canzonen 
gleichen,  und  andere,  die  einfache  Fugen  mit  einer  breiten, 
homophonen,  im  Takt  mit  dem  Hauptsatz  kontrastieren- 
den Episode  sind.  Eins  der  schönsten  Beispiele  dieser 
zweiten  Art  ist  Banchieris  >Fantasia  in  Eco  movendo 
un  Registro»,  die  in  der  Episode  das  alte  Echo  zu  Ehren 
bringt.  Am  reichsten  an  Spielarten  ist  in  der  Orchester- 
musik des  17.  Jahrhunderts  die  Sonate.  Der  Aufbau 
variiert  von  der  Einsätzigkeit  bis  zu  siebenteiligen  Satz- 
kränzen;  die  dreisätzige  Kammersonate  wie  die  vier- 
sätzige  Kirchensonate  treten  in  dieser  gemischten  Gesell- 
schaft schon  verhältnismäßig  früh  auf,  aber  die  herr- 
schenden Formen  werden  sie  erst  gegen  den  Anfang  des 
18.  Jahrhunderts  von  der  durch  die  Mitwirkung  des  Cem- 
*  balo  gestempelten  Kammermusik  aus,  Ähnlich  bunt  ver- 
läuft die  erste  Entwicklung  der  Sinfonie,  doch  erhält  sie 
vom  Anfang  an,  den  wir  nach  dem  von  Riemann  ge- 
brachten Beispiel  ins  15.  Jahrhundert  verlegen  können, 
eine  einheitliche  Marke  durch  den  Verzicht  auf  strengen 
Stil  und  Imitationskünste.  Das  Hauptfeld  ihrer  Ausbildung 
wird  die  Oper. 

Neben  dem  leidenschaftlichen,  feurigen  Vitali,  der  aber 
mehr  von  der  Kammer  aus  in  die  Geschichte  der  Instru- 
mentalmusik eingriff,  ragt  unter  den  auf  Maschera  folgen- 
den Orchesterkomponisten  am  bedeutendsten  Giovanni 
Gabriel  i,  der  Neffe  jenes  Andrea  Gabrieli,  der  als  Or- 
ganist von  San  Marco  1686  die  ersten  fünfstimmigen 
Sonaten  veröffenUicht  hat,  hervor. 

Mit  ihm  beginnt  die  goldene  Zeit  einer  eigentümlich 
feierlichen,  erhabenen  und  edlen  Orchestermusik,  der 
wir  aus  unserer  neueren  Literatur  nichts  an  die  Seite  zu 
setzen  haben.  Sie  wurzelt  in  dem  Geiste,  in  welchem 
.  während  des  16.  und  17.  Jahrhunderts  Kirchen,  Staaten, 
.  Städte  und  Korporationen  große  Feste  begingen.  Sie  hat 
insbesondere  das  Gepräge  Venetianischer  Kunst:  der  Glanz 
and  die  Pracht,  der  Ernst  und  die  Hoheit,  die  uns  in  den 


-^    23 

Meisterwerken  des  Montagna,  des  Paolo  Veronese  und 
des  Tizian  ergreifen  und  erheben,  die  uns  masikalisch 
in  den  Madrigalen  des  L.  Marenzio  so  tief  berühren,  sie 
kennzeichnen  auch  die  Canzonen  und  Sonaten  des 
Giovanni  Gabriel!.  Seine  Hauptarbeiten  sind  die  in  den  GtoTtani 
»Sinfoniae  sacrae«  von  1597  (zweite  Auflage  1616)  ent-  Q»bneU. 
haltenen  Stücke:  nämlich  vierzehn  Canzonen  und  zwei 
Sonaten. 

Aus  dieser  Sammlung,  die  durch  46  Chormotetten 
vervollständigt  wird,  hat  Wasielewski  (a.  a.  0.)  einige 
Nummern  veröffentlicht,  von  denen  namentlich  die  eine, 
die  Sonate  mit  dem  Titel  »Pian  e  forte<,  neuerdings  in 
geistlichen  und  in  historischen  Konzerten  häufiger  ver- 
wendet wird.  Auch  in  dieser  Isoliertheit  und  in  der 
fremden  Umgebung  scheint  die  Komposition  überall  mächtig 
gewirkt  zu  haben.  Nicht  unpassend  zieht  ein  Bericht- 
crslatter*)  Wagners  »Parsifal«  heran,  um  den  Eindruck 
der  Sonate  zu  beschreiben. 

Alle  diese  Gabrielischen  Orchestersätze  haben  einen 
Terhältnismäßig  bescheidenen  Umfang:  durchschnittlich 
70  bis  80  Doppeltakte.  Weil  aber  ihr  Aufbau  sehr  scharf 
gegliedert  ist,  wirken  sie  breit  und  imposant.  Es  ist  das 
eine  ähnliche  Erscheinung,  wie  bei  den  Händeischen 
Chören,  wie  bei  der  Architektur  der  Antike  und  der 
Renaissance.  Das  Geheimnis  liegt  wohl  in  dem  gluck- 
lichen Verhältnis  einer  an  und  für  sich  bedeutenden  Er- 
findung zu  einer  ebenso  bedeutenden,  klaren,  bestimmten, 
in  jedem  Gliede  abschliessenden  und  vollen  Ausfüh- 
rung. £ä  ist  eine  Musik,  die  ein  Goethe  bewundert 
haben  würde. 

Einige  dieser  Gabrielischen  Orchester kompositionen 
sind  auf  zwei  Instrumentenchöre  verteilt.  Der  erste 
Chor  beginnt  in  der  Regel  mit  einem  längeren  Thema 
feierlicher,  zuweilen  auch  elegischer  oder  freudiger  Natur. 
Das  wiederholt  der  zweite  Chor  wörtlich.  Dann  treten 
beide  zu  einem  freien  Abschluß  im  majestätischen  Klang 

♦)  Leipriger  Neueste  Nachrichteu,  3.  November  1S92, 


--^    24     •-« 

zusammen.  Im  weiteren  Verlauf  wird  der  Charakter  der 
Musik  erregter;  die  Chöre  ziehen  in  engen  Nachahmungen 
dahin,  in  belehten^  zuweilen  verwickelten  Rhythmen  das 
Eingangsthemä  umspielend.  Oder  auch:  es  folgt  ein 
zweiter  Satz,  der  sich  in  Charakter  und  Form  vom  ersten 
scharf  abhebt,  dem  geraden  einen  ungeraden  Takt  gegen- 
überstellt. Entschiedenen  und  häufigen  Taktwechsel  liebt 
ja  die  ältere,  an  Impulsen  reiche  Zeit  auch  in  der  Vokal- 
musik. Oft  läßt  es  Gabrieli  bei  diesen  zwei  Sätzen  eines 
Stücks  bewenden  und  schließt  mit  einem  freien  Anhang, 
in  dem  die  Oberstimmen  beider  Chöre  mit  virtuosen  Wen- 
dungen hervortreten,  um  nach  altem,  klugem  Brauch  den 
Schluß  hervorzuheben,  auszuzeichnen,  eindringlich  und 
packend  zu  gestalten.  Manche  der  Gabrielischen  Kom- 
positionen gehen  aber  über  dieses  zweisätzige  Schema 
weit  hinaus  und  stellen  motettenartig  nach  dem  ersten 
Tutti  oder  dem  zweiten  Thema  noch  eine  lange  Reihe 
großer  und  kleiner  Gedanken  auf,  als  gälte  es  einen  ge- 
heimen Text  zu  erschöpfen.  Zu  dieser  zweiten  Klasse 
gehört  die  Sonate  »pian  e  forte  c. 

Sie  vertritt  ihre  Familie  und  die  ganze  Gabrielische 
Instrumentalmusik  äußerst  vorteilhaft,  weil  sie  sehr  über- 
sichtlich und  regelmäßig  aufgebaut  ist  und  weil  sie 
zweitens  den  Klangbesitz  des  Gabrielischen  Orchesters  in 
seiner  Eigentümlichkeit  und  in  seinem  Reichtum  vor- 
führt Aus  den  piano  gehaltenen  Abschnitten,  in  denen 
der  zweite  Chor  den  ersten  ablöst,  klingt  es  wie  Char- 
freitag;  aus  den  mit  leichten  Obergängen  erreichten 
Stellen  im  forte,  bei  denen  die  Chöre  zusammentreten, 
wie  Ostern.  Namentlich  der  elegischen  Eingangsstimmung 
gibt  der  reiche  Harmonieappi^rat  der  alten  Tonarten  einen 
seltsam  beweglichen  Ausdruck.  Die  Besetzung  des  Or- 
'  chesters,  die  nicht  bei  allen  Stücken  angegeben  ist,  be- 
steht in  dieser  Sonate  aus  einem  Quartett  von  Cometten 
(Zinken)  und  drei  hohen  Posaunen  für  den  ersten 
Chor,  für  den  zweiten  aus  Bratsche  und  drei  tiefen  Po- 
saunen. In  einzelnen  protestantischen  Orten  besteht 
heute   noch   die  Sitte,   daß  an  hohen  Ji'esten,  bei  vor- 


--♦     25    ^ 

nehmen  Trauungen  und  anderen  außerordentlichen  Ge- 
legenheiten ein  Posaunenquartett  den  Choralgesang  be- 
gleitet Dieser  Brauch  ist  ein  ehrwürdiger  Nachklang  der 
Musik  früherer  Zeiten,  in  denen  er  sich  bis  ins  16.  Jahr- 
hundert zurück  verfolgen  l&ßt  Dem  ausgehenden  16.  und 
dem  ganzen  17.  Jahrhundert  war  die  Posaune  das 
Normalinstrument  aller  Feierlichkeit.  So  wie  hier  stehen 
wir  auch  noch  in  den  Instrumentalsätzen,  die  z.  B.  Monte- 
▼erdi  und  Schütz  in  ihren  Vokalkompositionen  einlegen, 
oder  bei  selbständigen  Stücken  wie  der  achtstimmigen 
Caozone  des  Tiburtio  Massaini  (1606)  vor  vollständigen 
Posaunenorchestem.  Die  neuere  Zeit  kenn:;eichnet  der 
Violinenklang;  sie  gibt  in  den  Gabrielischen  Sonaten  ein 
erstes  Lebenszeichen  mit  der  Oberstimme  des  zweiten 
Chors.  Noch  aber  sind  es  nicht  die  hohen  Violinen, 
sondern  die  Bratschen.  Der  Sinn  für  Klangfarben  und 
die  Gabe,  mit  ihnen  auf  Empfindung  und  Phantasie  zu 
wirken,  hebt  Gabrieli  hoch  über  die  vorhergehenden  und 
gleichzeitigen  Orchesterkomponisten,  durch  die  Pracht 
des  Koloritd  wirkt  er  modern  und  vertritt  zugleich  einen 
Gmndzug  venetianischer  Kunst  Wie  fein  bedacht  ist  in 
der  Sonate  »pian  e  forte«  das  Verhältnis  der  beiden 
Chöre!  Der  zweite  setzt  immer  eine  Quinte,  Sexte,  meistens 
eine  Oktav  tiefer  ein  als  der  erste.  Dadurch  klingea  seine 
Wiederholungen  immer  viel  ernster,  dunkler,  geheimnis- 
voller. Um  so  mehr,  als  die  heiden  Chöre  im  Freien  weit- 
voneinander,  in  der  Kirche  auf  verschiedenen  Emporen 
aufgestellt  waren.  Den  großen  Raum  setzen  auch  die 
Tuttis  voraus;  in  unseren  heutigen  Konzertsälen  klingen 
diese  Kirchen-  und  Festsinfonien  zu  stark.  Sie  haben 
noch,  eine  große  Anzahl  wenigstens,  eine  andere  Schwierig- 
keit für  den  modernen  Hörer:  Sie  entwickeln  nicht,  wie 
die  neuere  Instrumentalmusik  vorzugsweise  tut,  ihre 
Perioden  und  Sätze  mit  Wiederholungen  und  Verwand- 
lungen eines  Themas  oder  eines  Motivs,  sondern  die 
Musik  strömt  daher  in  der  Form  »unendlicher  Melodie«, 
um  einen  Wagnerschen  Ausdruck  zu  gebrauchen.  Auch 
in  den  einchörigen  Kompositionen  dieser  Gattung  mochte 


--^    26    ♦^ 

man  auf'  den  Reiz  des  Chorwechsels  nicht  ganz  ver- 
zichten. Man  ersetzte  und  deut9te  ihn  dadurch  an,  daß 
einzelne  Stimmeix  mit  dem  vollen  Chor  wechselten,  man 
brachte  zweitens  gern  das  sogenatinte  >Echo<  an.  Eine 
kleine  Gruppe  von  Spielern  in  einem  Nebenraum,  jeden- 
falls entfernt  und  möglichst  versteckt  aufgestellt,  wieder- 
holt sparsam  oder  reichlicher  kleinere  und  größere  Ab- 
schnitte der  Musik  des  Hauptchors.  Unter  den  Liebhabern 
des  Orchesterechos  verdient  neben  dem  schon  erwähnten 
Banchieri.  Banchieri  der  Bologneser  Domkapellmeister  Bassani 
BasMl.  genannt  zu  werden.  Eine  viel  größere  Bedeutung. hat 
das  Echo  aber  in  der  mehrstimmigen  Gesangsmusik  des 
16.  Jahrhunderts.  Viele  Wiederholungen  in  den  Chören 
jener  Zeit,  die  uns  befremden,  sind  sofort  verständlich  uud 
schön,  wenn  man  sie  dem  Echo  gibt.  Ein  naheliegendes 
Beispiel  bietet  das  weltbekannte  >£cce  quomodoc  von  Jacob 
Handl  (Gallus)  mit  der  Refrainstelle :  »Et  erit  in  pace«. 

Das  zweichörige  Orchester  G.  Gabrielis  hat  sich  weit 
ins  18.  Jahi hundert  hinein  erhalten,  wir  finden  es  in 
S.  Bachs  Matthäuspassion,  Hasse  hat  es  in  der  Oper, 
Cannabich  in  der  Sinfonie.  , 

Die  eiüchörigen  Orchesterkompositionen  des  G.  Ga- 
brieli  haben  offenbar  eine  andere  Bestimmung  als  seine 
doppelchörigen;  sie  setzen  andere  Räume  und  andere 
Stimmung  voraus.  Die  Violinen  kommen  in  ihnen  mehr 
zur  Geltung,  die  Musik  ist  weltlichen  Charakters  und 
mischt  nach  venetianischer  Art  Heiterkeit  mit  Würde. 
Man  kann  an  Vermählungsfeiern  und  andere  Familien- 
feste in  hohen  Patrizierhäusern  denken.  Ein  Glanzstück 
dieser  Art  ist  die  als  Nr.  VUI  in  der  Wasielewskischen 
Sammlung  mitgeteilte  sechsstimmige  Canzone  für  zwei 
Viohnen,  zwei  Cornetten  und  zwei  Posaunen,  eine  Kom- 
position, interessant  durch  den  Wechsel  fröhlicher  und 
frommer  Stimmung.    Ein  munter  bewegtes  Thema: 

^  Allegro  maestoso.    Coragtt-p.yp.^        setzt     ein     UUd      läuft 

^M  "_        iJ  J3JjN"Jj  durch  die  Stimmen ;  ein 

^    w  rTf^rt  f  T   ^       7^  breiter,  ernster  Gesang 

Tenorposanne.  des  vollen  Orchesters, 


27     <i~ 

durch   den   Rhythmus   allein   schon   scharf  geschieden: 
#«.^..         ^^11^  /w^^^%        tritt  ihm  entgegen.    Dieser 
^^^      __  ,  "  p  fc  I   m^u  I  Wechsel     wiederholt    sich 
'"t  ^^~  I  ii-  '  ^3  "  ^  y*   '  fünfoQ&l  iii^d   so,   daß  die 
^  fl       **  T       Gruppen  immer  breiter,  und 

namentlich  die  Abschnitte  im  Tripeltakt  immer  majestä- 
tischer werden.  Dann  krönt  ein  freier  Schluß,  die  Freu- 
digkeit des  Stücks  zur  Ausgelassenheit  steigernd  —  im 
kleinen  ein  Vorläufer  Beethovenscher  Finalaasgänge  —  das 
Ganze.  Will  jemand  —  und  unsere  Musikschulen  müßten 
das  wollen  —  die  Gegenwart  wieder  mit  G.  Gabrielis 
Orchesterkompositionen  bekannt  machen,  so  eignen  sich 
die  beiden  hier  geschilderten  Stücke  ganz  besonders  dazu. 
Auch  wohl  deshalb  noch,  weil  ihre  Besetzung  mit  den 
modernen  Mitteln,  sonst  so  häufig  ein  Stein  des  Anstoßes 
für  die  Wiederbelebung  alter  Tonkunst,  keine  Schwierig- 
keit macht.  Vergleicht  man  die  eben  erwähnte  Canzone 
mit  Canzonen  Mascheras  und  anderer  Oberitaliener,  so 
überragt  Gabrieli  die  Mitarbeiter  unverkennbar  an  innerer 
Lebendigkeit  und  feinem  Geschmack.  Der  letztere  zeigt 
sich  namentlich  in  seiner  Behandlung  der  kontrapunk- 
tischen Formen.  Die  Nachahmungen  werden,  auch  wenn 
sie  sich  mit  Leichtigkeit  viel  weiter  führen  ließen,  immer 
bei  Zeiten  abgebrochen,  auf  die  übliche  Fuge  verzichtet 
Gabrieli.  Darin  liegt  ein  allgemeiner  formeller  Fort- 
schritt, die  Emanzipation  vom  streng  polyphonen  Stil. 
Aber  der  Orchestersatz  hat  dem  Gabrieli  auch  nach  an- 
d.eren  Seiten  eine  selbständige  Entwicklung  zu  danken. 
J.  V.  Wasielewski  irrt,  wenn  er  meint,  die  Instrumental- 
musik Gabrielis  habe  einen  ganz  vokalen  Charakter. 
Nein,  Gabrieli  hat  zuerst  die  eigenen  natürlichen  Mittel 
des  Orchesters,  seine  Überlegenheit  im  Klanglichen  be- 
merkt und  zur  Geltung  gebracht.  Die  frühere  und  gleich- 
zeitige Vokalkomposition  hat  nirgends  einen  so  impo- 
santen Wechsel  von  Farbe  und  Klangstärke,  wie  ihn  die 
Sonate  >pian  e  fortec  zeigt,  sie  kennt  auch  die  Mischung 
konträrer  Stimmungen  in  der  Freiheit  und  Raschheit,  die 
wir  in  Gabrielis  Canzonen  begegnen,  nicht. 


-^     28 

Die  Orcbestermusik  G.  Gabrielis  hat  auf  einen  weiten 
Umkreis  in  der  ferneren  Geschichte  der  instrumentalen 
Komposition  nachgewirkt,  namentlich  mit  seinen  Fest- 
sonaten. Ihren  Ton  und  Geist. finden  wir  noch  lange  in 
den  kurzen  einsätzigen  Instrumentalsinfonien,  die  in  den 
geistlichen  Vokalkonzerten  und  Kantaten  des  17.  und 
18.  Jahrhunderts  vorkommen.  Allgemein  zugängliche  Bei- 
Kalfltr  spiele  bieten  da  die  Kompositionen  Kaiser  Leopolds  I.*). 
Leopold  I.  Dann  geboren  hierher  viele  Schütz  sehe  Stücke,  so  die  Ein- 
leitungen zu  den  7  Worten  und  zu  der  Historie  von  Absa- 
Ion.  Hervorragend  weihevolle  Sinfonien  stehen  an  der 
Spitze  der  Kantaten  Franz  Tunders,  auch  der  Buxte- 
hudes und  Zachows.  Noch  Bach  hat  der  überhaupt 
altertümlich  gehaltenen  Osterkantate  »Christ  lag  in  Tödes- 
banden«  eine  Sinfonie  im  Gabrielischen  Stil  vorausge- 
schickt. Auf  das  Gabrielische  Muster  stützt  sich  eine  ganze 
selbständige  Literatur  einsätziger  Festsonaten  für  Bläser- 
orchester, die  in  den  Musikschränken  aller  Instrumental« 
kapeilen  ausreichend  vertreten  war.  Den  ganzen  Umfang 
dieses  Kunstgebietes  festzustellen,  bedarf  es  noch  beson- 
derer Untersuchung.  Gepflegt  wurde  es  von  hervorragen- 
den und  von  unbekannten  Komponisten;  denn  es  war  in 
der  Sitte  der  Zeit  begründet.  Wir  können  es  auch  heute 
nicht  ganz  entbehren,  obwohl  unser  öffentliches  Leben 
auf  musikalischen  Schmuck  und  musikalische  Weihe  bis 
zu  einem  bedenklichen  Grade  verzichtet  hat.  Fast  will 
es  scheinen,  als  sollte  die  Tonkunst  ins  Konzert  gesperrt 
und  da  stranguliert  werden!  Tatsache  ist,  daß  die  heu- 
tigen Komponisten  für  Feierlichkeiten,  wie  sie  sich  bei 
Einweihungsakten,  bei  solennen  Empfängen  und  Be- 
grüßungen vollziehen,  wenig  komponieren,  und  wenn  sie 
es  tun,  treffen  sie  nur  selten  den  richtigen  Stil.  Beethovens 
Ouvertüre  »Zur  Weihe  des  Hauses«  und  C.  M.  v.  Webers 
Jubelouvertüre  in  allen  Ehren,  aber  man  hört  sie  jetzt 
an  Stellen  und  bei  Gelegenheiten,  wo  sie  keinesfalls  hin- 

*)  Musikalische  Werke  der  Kaiser  Ferdinand  UI.,  I.«opold  I. 
und  Joseph  I.     Herausgegeben  von  Guido  Adler.     Bd.  I. 


~-#    29    «-^ 

passen!  So  empfehlen  wir  denn  den  Dirigenten,  die  um 
ein  feierliches  Stück  in  Verlegenheit  sind,  einen  GrifiT  in 
die  alte  Zeit  der  einsätzigen  Gabrielischen  Sonate.  Unter 
dreierlei  Titeln  bergen  die  Archive  die  Reste  dieser  Ton- 
familie: als  Sonaten,  Sinfonien  und  als  geistliche  Kon- 
zerte (Sacri  concerti).  Bei  dieser  dritten  Gruppe  tritt 
zuweilen  zu  den  Orct^esterinstrun^enten  noch  Begleitung 
der  Orgel  oder  eines  ^anderen  Harmonieinstruments.  Sie 
lassen  sich  daher  in  der  Regel  nur  in  Kirchen  oder  groBen 
Sälen  Terwenden.  Die  Mehrzahl  der  hierhergehörigen 
Kompositionen  ist  aber,  ganz  ähnlich  wie  bei  der  älteren 
Suite,  für  Bläserchöre  bestimmt  und  alle  sind  nur  in 
Stimmdrucken  vorhanden;  zu  einer  neuen  Ausgabe  in 
Partitur  haben  es  bisher  nur  die  von  Wasielewski  mit- 
geteilten Stücke  gebracht  So  finden  sich  z.  B.  aus  un- 
serer Klasse  in  der  königlichen  Bibliothek  zu  Berlin 
(olgende  Nummern:  D.  Castello:  Sonate  concertate  (Ve- 
nedig 1621) ;  F.  S.  Ertelins,  Symphoniae  sacrae  (Mündien 
1611);  Gabr.  Fattorini,  Sacri  concerti  (Venedig  1600); 
Fr.  Giuliani,  Sacri  concerti  (Venedig  1619;;  G.  Picchi, 
Canzoni  da  sonar  (Venedig  1626).  Aus  italienischen 
Bibliotheken  wären  da  noch  hinzuzufügen:  Fiore,  Sin- 
fonie da  chiesa  (Modena  1699)  und  Bergonzi,  Sinfonie 
da  chiesa  (1708j.  Um  die  Mitte  des  17.  Jahrhunderts 
kommt  in  Italien  der  Gabrielische  Stil  aus  der  Mode  und 
wird  von  der  mehrsätzigen  Kirchensonate,  die  in  der 
Regel  drei-  und  vierstimmige  Violinmusik  ist,  verdrängt. 
Aber  Nachfolger  der  Gabrielischen  Sinfonie  finden  sich 
auchMn  Italien  noch  bis  ins  19.  Jahrhundert.  Der  Vene- 
tianer  B  u  z  z  o  1  a  ist  einer  ihrer  letzten  Vertreter.  Seine 
»Piccole  Sinfonie  ad  uso  dell^  Basilica  di  San  Marco  € 
haben  Meyerbeerschen  Geist,  aber  die  einsätzige  Form 
Gabrielis. 

In  Deutschland  finden  wir  einen  der  letzten  Meister 
im   Sonatenstil  in   Gottfried   Reiche,  jenem   Leipziger  Gottfried 
Stadtmusikus,  für  den  Seb.  Bach  seine  gefürchteten  Trom-     Kelche, 
petenpartien  geschrieben  bat.  Aus  seinem  Hauptwerk:  >24 
neue  Quatricinia«    (Leipzig  1696)  empfehlen  wir  zur 


— »    30    «— 

Einführung  namentlich  das  Bdur-Stück  über  das  Themas 

^  ,  Pompoao.    _  Damit  beginnt  in  markiger  Har- 

i£r  il  fe  J Tp'frpl-^^  monie  der  erste  Teil.  Ein  mittlerer 

ff-  Jir  I  ifi-  r»  wendet  die  Melodiein  geradenTakt : 

^  ^ ^  und   führt   sie   in    Fugen  form 

'JLv'^  ^  \  f?pp|  J^*ifi>    durch    die    Instrumente,   hier, 
ff     ^  r  "'  r'  '  r'    r      •  ^ie  überall  ein  Bläserquartett 

von  Gornett  und  drei  Posaunen.  Jedermann  kann  nur 
über  die  formelle  Tüchtigkeit  und  die  wirklich  hohen 
Gedanken  in  dieser  und  in  ähnlichen  Arbeiten  des 
schlichten  Mannes  erfreut  sein.  Sie  zeigen ,  wie  sich 
auch  bescheidene  Kräfte  auf  diesen  Kunstzweig  verstan- 
den. Noch  vor  Reiche  gehört  der  ebenfalls  Leipziger 
Sladtpfeifer  Joh.  Päzel  mit  seiner  »Hora  decimac 
von  1670  hierher.  Auch  das  ist  eine  Sammlung  feier- 
licher Sonaten,  wie  sie  vor  Tische  vom  Leipziger  Rat- 
hausturm tagtäglich  abgeblasen  wurden,  einsätzig,  aber* 
schon  vom  Muster  der  venetianischen  Opernsinfonie  be- 
einfluGt  Das  wohl  letzte  Lebenszeichen  Gabrielischer 
Kunst  in  Deutschland  dürften  die  »Turmsonaten«  Fr. 
Schneiders  sein,  die  der  Komponist  des  »Weltgerichts« 
alsl7jähriger  Gymnasiast  in  Zittau  geschrieben  hat.  Nach 
seiner  C  dur-Sinfonie  zu  schließen,  hat  wahrscheinlich 
R.  Schumann  diese  Turmsonaten  Schneiders  gekannt 
Der  Plaßsche  Bläserchor  in  Berlin  spielt  sie  heute  wieder 
mit  großer  Wirkung,  und  in  der  Lausitzer  Heimat  des 
Komponisten  sollen  sie  nie  vergessen  worden  sein,  in  einem 
Bauer  namens  Schönfelder  hat  Schneiderdort  sogar  noch 
am  Ausgang  des  19.  Jahrhunderts  einen  Nachfolger  ge- 
funden*). Den  indirekten  Einfluß  der  Gabrielischen 
Sonate  kann  man  noch  in  den  Oratorienouvertüren  Leos, 
Hasses,  J.  Haydns  (»Sieben  Worte <)  spüren,  aber  er  wird 
im  18.  Jahrhundert  unter  der  Herrschaft  der  neapolita- 
nischen Schule,  der  der  feierlich  gehaltene  Ton  selbst  in 
der  eigentlichen  Kirchenmusik  fremd  war,  immer  geringer.« 
Wie  schnell  aber  die  alte  Orchestersonate  in  jener  über- 

*)  Mitteilung  des  Herrn  Professor  Paul  Stöbe  in  Zittau. 


— ^     31     «— 

produktiven  Zeit  vergessen  wurde,  das  kann  man  daraus 
ersehen,  daß  Gerber  in  seinem  so  vortrefflichen  Lexikon 
die  großen  Gabrielis  gar  nicht  erwähnt. 

Die  Orchestercanzone  trat  ihre  Stellung  im  Laufe 
des  17.  Jahrhunderts  an  eine  neue  Gättang  weltlicher 
Musik  ab:  die  Suite.  Unter  diesem  Namen,  der  sich 
im  18.  Jahrhundert  mehr  und  mehr  verbreitete,  verstehen 
wir  heute  eine  Folge  von  mehreren  in  sich  abgeschlossenen 
Stucken,  in  deren  Inhalt  und  Form  die  Tanz-  und  Lied- 
musik überwiegt.  Die  Sonate  war  eine  freie  und  neue 
Schöpfung  der  höchsten  und  gebildetsten  Künstlerkreise; 
die  Heimat  der  Suite  ist  die  Volksmusik.  Wahrscheinlich 
ist  sie  so  alt^  wie  das  Instrumentenspiel  überhaupt.  Denn 
wenn  Spielleute  zwei  im  Charakter  verschiedene  Stücke 
—  einen  Choral  und  gleich  darauf  einen  Tanz  z.  B.,  wie 
wir  das  in  Deutschland  bei  Umzügen  und  Morgen  Ständchen 
noch  tagtäghch  hören  können  —  unmittelbar,  ohne  längere 
Pause,  hintereinander  spielen,  so  ist  die  Suite  fertig. 
Geschrieben  und  gedruckt  zeigt  sie  sich  zuerst  in  der 
LautenUteratnr  des  16.  Jahrhunderts'*';.  Bald  darauf  aber, 
nämlich  1571,  kommt  aach  schon  (in  Löwen  bei  Peter 
Pfaalesius)  eine  Sammlung  von  Suitensätzen  für  Or- . Saiten  des 
ehester  heraus.  Sie  bringt  unter  dem  Titel  »liber  primus  Phaiesius. 
leviorum  carminum  etc«  Paduanen,  Passamezen,  Älle- 
manden,  Galliarden,  Branles  und  ähnliche  Stücke,  dazu 
aber  auch  Sätze  mit  programmatischen  Oberschriften, 
z.B.  Den  Post: 


^'*mmm^^Him^^i!f^m 


^^^^^321 


r  F       '    ^  r 

Wi,e  hier  durch  rhythmische  Umbildung  dem  Haupt- 
satze noch  eine  »Reprise«  abgewonnen  w^ird,  so  kommen 


«)  Wolf  Heckeis  Untenbucb  1562. 


--•     32     ♦>— 

bei  anderen  Stücken  solche  Variationen  als  »Volten«. 
Immer  wird  aui^  diese  Weise  die  Galliarde  aus  der  Pa- 
duane  gewonnen,  aber  auf  diese  Fälle  und  auf  den  Zu- 
sammenhang nur  zweier  Sätze  beschränkt  sich  die 
Variationskanst  in  dieser  Phalesiusschen  Saitensamm- 
lung. Schon  sie  zeigte  daß  in  der  internationalen,  durch 
die  Namen  der  Sätze  belegten  Arbeitsgemeinschaft,  unter 
deren  Obhut  die  Orchestersuite  ihre  erste  Entwicklung 
fand,  dem  englischen  Anteil  eine  besonders  gute  Zensur 
gebührt.  Das  frischeste  Stück  unter  allen  ist  ein  »Bransle 
d'eccose«,  der  gleich  metrisch  apart  beginnt: 


ji'ii  I  i|  iMiil  I  II  I  ilMfi  I  M  IM  lli]l  j  I 


Englische  Die  Engländer  haben  sich  auch  weiterhin  bei  den 
Suiten.  Jugen  die  istungen  der  Orchestersuite  ausgezeichnet.  Sie 
Horley.  eröffnen  1599  mit  Thomas  Morleys  »Goncert  lessons. 
made  by  divers  exquisite  authors  for  six  instruments 
etc.«  die  Zeit  des  regelmäßigen  Suitendrucks  und  stehen 
in  ihm  jahrzehntelang  im  erfolgreichen  Wettbewerb  mit 
den  Deutschen.  In  der  Elisabethischen  Periode  waren 
nicht  bloß  englische  Chorlieder  und  Komödianten,  son- 
dern im  Gefolge  der  letzteren  aucji  englische  Spi^eute 
über  den  Kanal  gekommen.  Diese  waren  es,  die  Ton 
Hamburg,  an  zweiter  Stelle  von  Frankfurt  und  Lübeck 
aus  den  deutschen  Markt  mit  zahlreichen  Sammlungen 
von  Orchestersuiten  ihrer  Landsleute  beschickten,  an  der 

Simptoii.  Spitze    die   Komponisten   Theodor    Simpson    (1607*<, 
Brmde.  1611,  1617  und  1621)  und  William  Brade  (1609,  1614, 
1617,  1621). 

In  der  Form  und  dem  Ausbau  der  mehrsätzigen  Suite 
halten  die  englischen  Arbeiten  mit  den  gleichzeitigen 
deutschen  nur  eben  Schritt.  Sie  bleiben  länger  als  diese 
bei  den  zwei  Sätzen:  Paduane  und  Galliarde  und  be- 
quemen sich  ersichtlich  erst  unter  deutschem  Einfluß  zur 

■ 

♦)  Diese  erste  Sammlung  ist  von  den  Verlegern  Hildebrand 
und  Füllsack  gezeicbnet. 


— ♦    33    4^ 

Aufnahme  von  Allemande  and  Corrente.  Bin  eigner  and 
konservativer  Zag  ist  nor,  daß  sie  die  Padaane  zuweilen 
durch  eine  Canzone  ersetzen.  Meistens  teilt  diese,  homo- 
phon gehalten,  mit  dem  italienischen  Master  bloß  den 
Namen;  nur  einmal  bringt  Simpson  (in  der  Hamburger 
Sammlung  von  1617)  eine  Canzone,  die 


zretc. 


beginnt,  dann  in  ungraUen  laKt  übergeht  und  weiter  mit 
dem  mehrmaligen  Wechsel  beider  Themen  sich  als  eine 
gutgemeinte  Nach bildang  des  oben  zitierten  Meisterstücks 
6.  Gabrielia  erweist  Aber  originell  und  bis  zu  einem 
gewissen  Grad  bedeutend  sind  diese-  englischen  Suiten 
durch  einen  starken  Zug  von  Volkstümlichkeit  Er  äußert 
sich  stilistisch  in  ruhigen  und  bewegten  Sätzeh  ziemlich 
gleichmäßig  dadurch,  daß  Nachahmungen  fast  ausschließ- 
lich in  die  beiden  obersten  Stimmen  gelegt  werden,  wo 
sie  auf  den  Laien  am  leichtesten  wirken.  Thematisch 
kommt  er  vorzugsweise  in  den  schnelleren  Sätzen  zum 
Ausdruck  und  zwar  durch  Marschweisen,  denen  zum  Tei< 
durch  Oberschriften  ein  heimatticher  Ursprungsstempei 
aufgedrückt  ist    So  steht  bei  Brade  über  dem  Thema. 


I  I ,  ||i|i  r  f  I  ^^^ 


»Comwallscher  Aufzug«  bei  einem  anderen  liest  man: 
9MyIady  Wrath's  Maskerade«.  Auch  in  Deutschland  scheinen 
die  Engländer  charakteristischen  Weisen  nachgegangen  zu 
sein,  Bateman  wünscht  bei  einem  seiner  Sätze,  daß  man  &n 

>Näglein  (Nelken?)  Blumen «  ^  

denke,  ein  anderer  sucht «»^  f  p  ^' ^^^m^^z;^f-i^^= 


»den  alten  Hildebrand«  mit 
vorzustellen. 

Unter  den  weiteren  Merkmalen  der  gemeinverständ- 
lichen Tendenz  tritt  die  Beliebtheit  von  wörtlichen  Motiv- 
wiederholungen hervor:    es  ist  keine     d^ 


Seltenheit,    daß    eine    Formel    wie: 
vier  Takte  nacheinander  füllt. 


rr-t 


34 


Daß  die  Suiten  der  Engländer  in  Deutschland  bekannt 

waren,   ist  wenig-      n  

stens    wahrschein-    ^H  f  T  I  f~  T  f    1^'  f  f*    i' 
lieh:  Simpsons: 
findet  sich  im  Flori- 
legium    Georg    Muf- 
fats  in   der  Gestalt: 

In  Deutschland  bürgert  sich  die  Orchestersuite  nach 
1600  rasch  ein  tind  durchläuft  in  vier,  chronologisch  nicht 
streng  geschiedenen  Stufen  ihre  erste  bedeutende  Ent- 
wicklung. Nürnberg  ist,  sowie  für  das  deutsche  Chorlied 
des  16.,  so  auch  für  diese  alte  deutsche  Orchestersuite 
des  17.  Jahrhunderts  der  Hauptdruckort. 

Auf  der  ersten  jener  vier  Stufen  begegnen  wir  Suiten 
als  Sammlungen  von  Tänzen  ein  und  derselben  Sorte, 
HanftiDAiiB.  wie  z.  B.  in  Valentin  Haußmanns  »Neuen  Intraden« 
von  1604  oder  in  Erasmus  Widmanns  »Neuer  musikalischer 
Kurzweil  €  von  1618.  Wie  bei  diesem  letztgenannten 
Autor,  so  finden  sich  auf  dieser  ersten  Stufe  überhaupt 
häufig  den  Melodien  Texte  beigegeben.  Hier  lebt  also 
noch  entschieden  die  Zeit,  in  der  beim  Tanzen  auch  ge- 
subgen  wurde;  in  der  späteren  Suite  macht  sie  sich  durch 
Verwendung  alter  Liedmelodien  noch  bemerklich. 

Dann  kommen  Hefte  mit  zweierlei  Tänzen;  in  der 

Regel  erst  eine  Anzahl   gravitätischer  Paduanen,   dann 

genau  oder  annähernd  ebensoviele  neckische,  muntere 

L.  HaAier.  GalUarden.     Beispiel:    L.  Haßlers    »Neuer  Lustgarten« 

von  1601. 

Auf  der  dritten  Stufe  gesellen  sich  zu  den  Paduanen 

und  GalUarden  noch  Intraden.    Das  sind   marschartige 

Stücke,    die    den    Paduanen    nahe    stehen.      Beispiel: 

M.  Fraock.  Melchior  Francks  Pavanen,  GalUarden  und  Intraden. 

Coburgk  1603. 

Den  Abschluß  jener  ersten  Entwicklung  der  deutschen' 
Orchestersuite  bilden  Werke  in  vier  Sätzen.  Die  Wahl 
und  Folge  der  Sätze  ist  bei  dieser  Stufe  verschieden ;  doch 
haben  die  meisten  zu  ihr  gehörigen  Suiten  Paduauen  und 
GalUarden  behaltet).    Valentin  Hausmann  z.  B.  ordnet  so 


-^    35    ♦^ 

an:  Intraden.  Passainezzen,  Paduanen«  Galliarden  1604, 

Paul  Bäwerl  (Pearl)  bringt  Padnanen,  Intraden,  Dantz  P.  PMrt* 

und  Galliarden  (1611)  hintereinander. 

Erst  hier  an  dieser  vierten  Stufe  stehen  wir  vor  der 
Saite  im  modernen  Sinn:  Dort,  an  den  vorhergehenden 
Stufen,  schüttet  der  Komponist  gewissermaßen  jede  Sorte 
massenweiß  vor  nns  hin,  zur  behebigen  Auswahl.  Hier 
aberreicht  er  uns  fertige  Sträusschen.  Die  Wahl  und 
Zusammenstellung  der  Blumen  ist  das  Werk  des  Geistes 
und  des  Geschmacks  eines  bestimmten  Künstlers,  und  es 
kann  nicht  fehlen,  daß  sich  das  Walten  einer  höheren 
Kunst  in  dieser  neuen  Suite  noch  in  weiteren  Merkmalen 
äaßert.  Am  meisten  ins  Auge  fällt  unter  ihnen  der 
Gebrauch  der  Variationenform.  Sib  findet  sich  bereits  bei 
Hausmann  in  der  Weise,  daß  der  Passamezzo  als  Thema 
aufgestellt  und  dann  noch  in  fünf  bis  sechs  namentlich 
rhythmisch  bedeutend  und  sinnvoll  erfundenen  Verwand- 
lungen, die  ausdrücklich  als  Variationen  bezeichnet  sind, 
vorgeführt  wird.  Dadurch  gewann  die  Suite  breite  Formen 
und  die  Möglichkeit,  einen  bedeutenden  Gedanken  näher 
auszulegen.  Sie  hat  aber  davon  immer  nur  bescheidenen 
Gebrauch  gemacht  und  sich  in  der  Regel  auf  eine  Varia- 
tion beschränkt  Man  überließ  solche  Kunst  der  Orgel- 
komposition und  blieb  mit  der  Suite  in  den  Grenzen  der 
Volksmusik  und  in  erster  Linie  immer  darauf  bedacht, 
kleine  aber  sinnfällige  Tonbilder  zu  erfinden. 

Daneben  gibt  es  noch  eine  zweite  Art  von  Varia- 
tionssuiten, bei  der  aber  die  Variationen  undeklariert 
unter  den  üblichen  Satznamen  passieren.  Sie  entsteht 
dadurch,  daß  das  Thema  des  Anfangsstücks,  vielleicht 
einer  Paduane,  auch  für  Allemande,  Courante  und 
Galliarde  benutzt  wird,  natürlich  nicht  wörtlich,  sondern 
rhythmisch  und  metrisch  umgebildet  und  mit  neuen 
Melismen  behangen.  Der  Vorgang  ist  ein  ähnlicher,  wie 
in  der  Vokalmesse  des  16.  Jahrhunderts,  durch  deren 
Sätze  sich  bekanntlich  leitende  Themen  ziehen.  Diese 
Art  von  Variation  beschränkt  sich  oft  auf  die  Umbildung 
der  beiden  Mittelstücke.    Bei  Peurl,  dem  Hauptvertreter 

3* 


--•    36    *^ 

dieser  zweiten  Variierangsart  finden  wir  die  thematische 
Einheit  der  vier  Stücke  verhältnismäßig  am  häofigsten, 
zuweilen  allerdings  nur  in  sehr  zarten  Andeutungen  er- 
kennbar.   Die  zweite  seiner  Suiten  beginnt 

in  der  Faduane:  m^  f  t^^TT^ 

in  der  Intrade:    JLm  p  H"  f  [Mp  J  fjJ  I  ■■*  I  "■  1 

im  Dantz:    j»  f  "^rr^'fJlA 

in  der  Galliarde:    ^  »«■  p  |  ['  fff  I  Jj  .J  |  J. 

Die  3.  Paduane:     i  bft  JJ3^p  J  I  ^   T 
Intrade:    ^l'W  |'  iJjJpf  T  f  I 
Dantz:     j^ap   iJj  tr^^^ 
Galliarde : 

Die  6.  Padaane  -.jit  ff  \?'f\\f  flUf  ('  I  f 
Intrade:     ^»»n  f  T  r    f'J^  l|'7''''*^ 
Dantz:    JH  f  \fi  J  „  I  I  ;;^  |7  I' I  11*'^=!^= 
Galliarde:    j^g«  f  [{'rffif}  {•  IjE 


37 


Die  7.  Paduane:     iif  f'n'rp  I-Qf  .1 
Intrade:    ijhi|lll  rT^J^^^^^-tfny-\ 


Dante:    ^Yt  ^   ifffr  f  iJJl^l 


Galiüirde: 


Wm 


Die  10.  Paduane: 


Intrade: 


Dantz: 


Galliarde:    |^»8I  ^  \\"^rf  \^  ^  *f   1= 


A. 


Die  Einheit  der  Saite  als  Ganzes,  die  Zusammen- 
gehörigkeit der  vier  Teile  ist  von  einzelnen  Künstlern  der 
vierten  Stufe  stärker  betont,  schärfer  zum  Ausdruck  ge- 
bracht worden.  Es  waren  aber  Ziele,  denen  man  allge- 
mein und  von  jeher  zustrebte;  allerdings  mit  einem  viel 
bescheideneren  Mittel:  Man  hielt  die  Sätze  in  derselben 
Tonart,  und  bei  dieser  Gleichheit  der  Tonart  ist  die  Suite 
bekanntlich  immer  geblieben.  Das  ist  nach  modernen 
Anschauungen  fast  ein  Fehler.  Denn  wir  können  in  der 
Kunst  von  Abwechslung,  Gegensätzlichkeit,  Steigerung 
und  dramatisch  anregenden  Elementen  aller  Art  kaum 
genug  haben.  Das  geht  in  unserer  Tanzmusik  bisweilen 
bis  an  die  Karikatur.  Ganz  anders  die  ältere  Zeit.  Die 
suchte,  wenn  es  sich  nicht  gerade  um  Heiligen-  und 
Märtyrerbilder  handelte,  in  der  Kunst  ruhige  Sammlung 


— ♦    38    ^— 

und  Erhebung,  reihte  gern  Verwandtes  aneinander  und 
verweilte,  den  Standpunkt  immer  nur  schrittweise  ver- 
schiebend, gerne  lange  in  Betrachtung  desselben  Themas; 
Diesem  Zuge  ruhigen  Eindringens  kam  die  Fuge  beson- 
ders entgegen;  er  kommt  aber  auch  in  dem  Tonarten- 
verhältnis der  Suitensätze  zum  Ausdruck.  Die  Tonart 
bleibt  immer  dieselbe ;  sie  weist  gewissermaßen  dem  Zu- 
hörer die  Stellung  an,  die  er  dieser  Kunst  gegenüber 
einnehmen  soll:  wie  vor  der  laterna  magica  leidenschafts^ 
los  genießend,  erfreut,  erwärmt,  aber  nie  hingerissen  und 
im  seelischen  Gleichgewicht  gestört. 

Noch  in  einem  anderen  Punkte  stand  die  Orchester- 
suite, vom  ersten  Auftreten  an,  künstlerisch  bis  zur 
Musterhaftigkeit  fertig  da.  Das  ist  die  sogenannte  Stimm- 
führung. Ob  man  die  Suite  für  4,  Ö,  6  oder  7  Instrumen- 
talstimmen schneb,  diese  Stimmen  waren  alle  als  leben- 
dige Individuen  gedacht,  an  den  Motiven,  Themen, 
Melodien  der  Musikstücke  ziemlich  gleichmäßig  beteiligt, 
die  Hauptgedanken  in  freien,  leichten  Nachahmungen 
aufnehmend  oder  mit  eignen,  zierlichen,  anfeuernden 
Erfindungen  umspielend.  Von  den  KlangefiFekten  ihres 
Orchestersatzes  verwendet  auch  die  alte  Suite  mit  eben- 
soviel Vorliebe  als  Geschick  das  Echo,  ohne  das  ja  — 
es  sei  nochmals  bemerkt  —  weder  die  Gesang-  noch  die 
Instrumentalkomposition  des  17.  Jahrhunderts  zu  denken 
ist.  Ihm  am  nächsten  kommt  der  Wechsel  von  Solo  und 
Chor.  Mit  diesem  Mittel  geht  sie  unvergleichlich  weit 
über  das  in  der  mehrstimmigen  Gesangkomposition  der 
früheren  Zeit  übliche  Maß  hinaus  und  gibt  dem  geist- 
lichen Vokalkonzert  ihres  Jahrhunderts  unverkennbar 
Anregungen  und  Vorbilder.  Diese  innere  Einrichtung, 
dieses  innere  Leben  innerhalb  der  Stimmen  ist  eine  der 
bedeutendsten  Züge  der  alten  Orchestersuite:  er  setzt  die 
Phantasie  des  Hörers  fortwährend  in  Bewegung,  stellt 
sie  vor  Szenen,  als  wenn  die  Menge  dem  voran  schreiten- 
den Helden  zustürmte,  in  seinen  Ruf  einstimmte. 

Die  oben-  aus  Peurl  beigebrachten  Zitate  vermögen 
vielleicht  einen    kleinen    Begriff    vom    Geist   und    vom 


--5    39    «^ 

Charakter  der  Orchestersuite  in  ihrer  ersten  Periode  zu 
geben.  Es  ist  eine  Kunst  nach  dem  Motto:  fromm  und 
fröhlich.  Der  Fröhlichkeit  dienen  die  drei  letzten  Stücke 
mit  sich  steigerndem  Eifer.  Aber  auc!i  die  Galliarde  geht 
nie  bis  zur  Ausgelassenheit;  sinnige  Anmut  bleibt  das 
Gebiet,  auf  dem  die  einzelnen  Sätze  einander  zu  über- 
bieten suchen.  So,  wie  wir  es  aus  diesen  Tönen  hören, 
so  fühlten  und  so  gaben  sich  die  deutschen  Bürgerkreise 
am  Anfang  des  17.  Jahrhunderts  in  ihren  frohen  Stunden : 
aittig  und  liebenswürdig.  Als  das  eigentümlichste  Stück 
dieser  alten  Orchestersuite  darf  man  die  Paduane  be- 
zeichnen. Auch  sie  ist  dem  Humor  nicht  unzugänglich; 
ihren  Hauptzug  bildet  aber  der  Ernst  und  die  feierliche 
Sonntagsstimmnng.  Sie  hat  wie  die  Gabrielische  Or* 
chestersonate  von  Haus  aus  kirchlichen  Geist.  Einzelne 
Tonsetzer,  wie  der  süddeutsch-gemütliche  Peurl,  setzen 
sich  über  ihn  hinweg,  ja,  es  gibt  sogar  »lustige  Padu- 
anenc;  aber  bei  der  Mehrzahl  der*  Suitenkomponisten 
unserer  Periode  bleibt  doch  der  gehobene  Feiertagston 
so  sehr  das  wesentliche  Merl^mal,  daß  M.  Prätorius  in 
seinem  Syntagma  die  Paduanen  unter  die  im  Gottes- 
dienst brauchbaren  Musikstücke  einreihen  konnte.  Die 
schönsten  Muster  solcher  erhaben  und  kirchlich  anklingen- 
den Paduanen  hat  Melchior  Franck  geschrieben*).  Der 
äußere  Aufbau  der  Paduane  vollzieht  sich  in  drei  scharf 
und  klar  geschiedenen  Teilen.  (Die  Dreiteilung  bildete 
auch  bei  den.  übrigen  Sätzen  der  Suite  die  Regel,  Zwei- 
und  Vierteilung  sind  Ausnahmen.)  Der  Umfang  des  ersten 
Teils  wechselt  von  acht  oder  neun  bis  zu  20  Takten,  der 
zweite  ist  häufig  sehr  kurz  (vier  Takte),  der  dritte  wieder 
ausgedehnter.  Die  Paduane  setzt  immer  ruhig,  breit  und 
gehalten  ein,  in  einem  Ton,  der  im  Anfang  von  Wagners 
Meistersinger -Vorspiel  merkwürdig  getreu  auflebt.  Dann 
regt  es  sich  in  Figuren,  Sequenzen  bescheiden  aber  plan- 

*]  Aasgewählte  Instromentalwerke  von  Melchior  Franck  und 
Valentin  HanBmann  Im  16.  Band  der  Penkmäler  Pontpcher  Ton- 
kunst 


40 


voll  and  fest,  zuweilen  in  einer  etwas  steifen  Anmnt. 
Der  zweite  Teil  schließt  entweder  an  den  Anfang  an  oder 
stellt  sich  mit  Motiven  der  Energie  und  Kraft  in  Gegen- 
satz zu  ihm.  Der  letzte,  der  dritte  Teil,  bringt  neue  über- 
raschende Einfälle  in  schnellen  Noten,  die  aus  allen  Ecken 
widerklingen.  Mit  diesem  Ende  reicht  die  Paduane  der 
Weltlust  und  Fröhlichkeit  die  Hand.  Die  ursprüngliche 
und  alleinige  Vertreterin  dieser  Empfindungselemente  in 
der  Suite  ist  die  Galliarda  (Gagliarda  italienisch,  Gaillarde 
französisch).  Sie  steht  immer  im  ungeraden  Takt  und 
hat  in  der  Regel  drei  gleich  große  Teile,  deren  Umfang 
von  vier  bis  zu  16  Takten  steigt.  Der  äußeren  Form 
nach  ist  die  Galliarda  der  modernste  unter  den  Sätzen 
der  alten  viersätzigen  Suite.  Sie  liebt  die  Symmetrie  wie 
die  Wiederholung  im  Satzbau,  und  sie  zeichnet  zweitens 
die  Oberstimme  vor  den  andern  durch  reichere  Beweg- 
lichkeit aus.  Zwei  reizende  Beispiele  für  diesen  ersten 
Zug  finden  sich  bei  M.  Franck: 


**''     (Nr.  27  in  den  Pavanen  etc.  von  1603) 
und  bei  Haußmann: 


i 


HfrpOf  i'i  /^iij I  II 


L'JiLÜ  JJ 


0.  G—   G-  D 


B 


B  — 


I    J*    I    J«  «Irtc 


Zugleich  auch  geben  diese  beiden  Bruchstücke  ein 
Bild  von  dem  Durchschnittscharakter  der  Galliarde.  Ihn 
beherrschen  sichtlich  noch  dieselben  mittelalterlichen  An- 
schauungen Über  die  Grenzen  weltlicher  Kunst,  denen 
sich  auch  Dichtung  und  Malerei  lange  genug  zu  beugen 


*)  Der  Takt  ist  hier  in  moderner  Form  übersetst. 


hatten.  Der  Ausdruck  aller  Empfindungen,  auch  der  der 
Freude,  stand  unter  dem  Gesetz  der  geseUschafUichen 
Ehrharkeit.  Im  Madrigal  noch  schüchtern,  entschiedener 
in  der  Oper  ging  die  Musik  eben  erst  daran,  diese  Fesseln 
der  Sitte  zu  durchbrechen  und  sich  in  der  naturtreuen 
Darstellung  mächtiger  Leidenschaften  zu  versuchen.  Die 
Instrumentalmusik,  die  bei  dieser  Aufgabe  bald  die  wich- 
tigsten Dienste  leistete,  blieb  in  der  Suite  durchaus  noch 
zurückhaltend.  Es  sind  nur  einzelne  Stellen  in  den  alten 
Orchestergalliarden,  bei  denen  der  Ton  einer  neuen  Zeit 
sich  vernehmlich  macht,  hauptsächlich  in  der  Form  er- 
regter Rhythmen,  die,  als  sie  neu  waren,  außerordentlich 

übermütig  und  komisch  gewirkt  haben  -     .   

müssen.    So  fährt  z.  B.  die  Francksche  -JJJ  J  J'^.rfT^ 
Galliarde,  deren  erster  Teil  eben  an-  y^^^^p^^. 
gegeben  wurde,  folgendermaßen  fort:        ^    ' 

Der  Galliardengeist  lebt  auch  in  der  späteren  Suite 
unter  andren  Formen  und  Namen,  unter  denen  nament- 
lich Gigue  und  Menuett  hervorzuheben  sind,  fort,  und 
noch  die  neueste  Instrumentalmusik  sucht  ihn  festzu- 
halten, z.  B.  die  Brahmssche  Sinfonie  in  ihren,  das  Scherzo 
ersetzenden  Allegrettis.  Aber  am  mächtigsten  wirkt  er 
doch  da,  wo  er  zu  Hause  ist,  nämlich  in  der  Orchester- 
suite aus  dem  Anfang  des  17.  Jahrhunderts.  Sie  ver- 
körpert altdeutsches  Leben  und  Empfinden  von  einer 
Seite,  mit  der  die  Gegenwart  jeden  Augenblick  wieder 
eine  unmittelbare  und  segensreiche  Verbindung  anknüpfen 
kann.  Es  sind  deshalb  nicht  bloß  kulturgeschichthche, 
sondern  auch  künstlerisch  menschliche  Gründe,  die  die 
Wiederbelebung  und  Wiederbenutzung  dieser  alten  Or- 
chestersuiten empfehlen.  Mindestens  ebenso  schnell,  wie 
die  alten  Armeemärsche  es  getan  haben,  würde  sie  sich 
heute  wieder  einbürgern,  und  wenn  sie  in  unseren  Volks- 
konzerten der  vielfach  köstlichen,  aber  ebenso  vielfach 
überreifen  Walzer-  und  Operetlenmusik  von  Job.  Strauß 
und  seiner  Schule  den  Platz  etwas  streitig  machte,  so 
würden  tiefer  blickende  Kunstfreunde  damit  nur  zufrieden 
sein  dürfen.   Bisher  ist  von  dem  ungeheuren  Vorrat  von 


--»    42     «— 

Stimmendrucken  alter  Orchestersaiten  nur  wenig  in  Par- 
titur vorgelegt  worden.  Da  bietet  sich  also  dem  deatschea 
Musikverlag  mit  den  Saiten  von  Demantias,  Moller,  Stade, 
Pearl  etwa  eine  lohnende  Aufgabe. 

Unter  den  übrigen  Stücken,  die  in  der  viersätzigen 
Saite  zwischen  Paduane  und  Galliarde  entweder  vermit- 
teln oder  den  zwischen  diesen  beiden  Hauptstücken  be- 
stehenden Gegensatz,  bald  abgeschwächt,  bald  gesteigert, 
wiederholen,  kommt  die  Intrade  am  häufigsten  vor;  man 
kann  sagen,  sie  bildet  die  Regel.  Das  ist  deswegen  auf- 
fällig, weil  sie  der  Paduane  so  sehr  gleicht,  daß  man  sie 
fast  für  einen  Konkorrenten  von  andrer  geographischer 
Herkunft  halten  kann.  Auch  sie  hat  von  Hans  aus  einen 
feierlichen  Ouvertürencharakter.  Deshalb  wird  sie  von 
vielen  Komponisten  und  zwar  bis  ans  Ende  des  17.  Jahr- 
hunderts an  die  Spitze  der  Suiten  gestellt.  Doch  hat  sie 
sich  im  Laufe  der  Zeit  als  ganz  besonders  verwandlungs- 
fähig und  für  kurzgefaßte,  eindeutige  Definitionen,  wie 
sie  nach  dem  Vorbilde  Matthesons  noch  heute  in  musi- 
kalischen Wörterbüchern  beliebt  sind,  schlecht  geeignet 
erwiesen.  Wir  haben  ebensoviel  Intraden  im  geraden, 
wie  im  ungeraden  Takt;  ja  es  kommt  häufig  bei  den  in 
AlTabreve  geschriebenen  vor,  daß  der  dritte  Teil  in  ^/t 
umsetzt.  Job.  Grob  baut  seine  Intraden  in  dreitaktigen 
Abschnitten  auf,  V.  Haußmann  in  zweitaktigen ,  Franck 
mischt  beide  Arten.  Die  Freiheit  und  Mannigfaltigkeit  der 
Form  und  des  Charakters,  in  der  sie  auftritt,  hängt  sicher- 
lich damit  zusammen,  daß  die  Komponisten  an  die  Gelegen- 
heit und  den  Zweck  dachten,  für  den  sie  diese  EröITnungs- 
musiken  schrieben.  So  sind  die.  Intraden  von  M.  Franck 
alle  ganz  besonders  lebhaft  und  glänzend:  sie  waren  für 
die  Hochzeit  des  Landgrafen  Moritz  von  Hessen  bestimmt. 

Der  Haußmannsche  Typus  der  viersätzigen  Suite 
herrscht  ein  reichliches  Jahrzehnt,  dann  wird  sie  zu- 
nächst fünfsätzig.  Paduane  und  Galliarde  fangen  an, 
als  dritter  Satz  folgt  eine  Gorrente,  d.  i.  ein  ^VTakt, 
bei  den  Franzosen  etwas  unruhig,  leidenschaftlich  ge- 
halten, bei  den  Italienern  mit  reichlichem  Figurenwerk 


— ♦    43     •— 

Tersehen,  bei  den  Deatscheu  weich  und  anmutig,  unge- 
fähr im  Menuettenton  von  Mozarts  Don  Juan.  Den  vier- 
ten and  fünften  Satz  bilden  AUemande  und  Tripla. 
Die  AUemande  ist  wie  der  »Dantzc  Peurls  ein  Vierviertel- 
takt im  Charakter  eines  Heldenlieds  entschieden  und 
kräftig,  die  Tripla  nichts  als  eine  Variation  der  AUemande, 
eine  Umbildung  in  ungeraden,  in  der  Regel  ein  ^s-l^&kt 
Wie  die  Allemande  durch  ihren  Liedton  auf  die  Zeit  ver- 
weist, in  der  beim  Tanzen  gesungen  wurde,  so  führt  auch 
die  Tripla  auf  eine  alte  Sitte,  auf  den  beim  Volk  schon  seit 
dem  Altertum  beliebten  Nachtanz,  der  ja  auch  in  die 
Xünste  der  Mebtersinger  hineingewirkt  hat-,  /.urück.  Die 
Tripla  bildet  einen  durch  Steigerung,  durch  Einsetzen 
der  letzten  Kraft  ausgezeichneten  Abschluß  der  Suite. 
Auch  in  der  Zeit  der  fünfsätzigen  Suite  steht  der  Cha- 
rakter, ja  sogar  der  Rhythmus  der  einzelnen  Sätze  keines- 
wegs unbedingt  fest,  noch  weniger  aber  bleibt  er  im 
Wechsel  der  Zeiten  derselbe.  Wenn  Mattheson  also  z.  B. 
die  AUemande  als  »das  Bild  eines  zufriedenen  oder  ver- 
gnügten Gemütes,  das  sich  an  guter  Ruhe  und  Ordnung 
ergötzt«,  beschreibt,  so  trifft  das  auf  die  Allem anden  des 
18.  Jahrhunderts  meist,  für  die  des  17.  nur  wenig  zu. 

Di<^  ausgezeichnetsten  Arbeiten  in  der  fünfsätzigen 
Orchestersuite  hat  Johann  Hermann  Schein  in  seinen  h. SekelB. 
Banchetto  musicale  (1617)  geliefert.  Diese  Sammlung 
enthält  20  Nummern,  dazu  noch  eine  Intrada  für  Zinken, 
Viglin^  Flöte  und  Baß  und  eine  Paduane  für  vier  Krumm- 
hOmer.  Der  Wert  dieser  Scheinschen  für  allerlei  Instru- 
mente, >bevorau's  auf  Violen«  zu  gebrauchenden  Suiten 
beruht  einmal  darauf,  daß  die  Sätze  durch  motivische 
Verwandtschaft  sich  enger  zum  Ganzen  zusammen- 
schließen, zweitens  auf  der  Beweglichkeit  von  Scheins 
Phantasie.  Sie  äußert  sich  durch  den  ganz  ungewöhnlichen, 
eigentlich  stilwidrigen  Tempowechsel  innerhalb  der  Sätze 
und  durch  Einführung  keck  naiver  Motive  an  Stellen,  wo  sie 
nicht  erwartet  wurden: 

So  beginnt  z.B.  eine  ^^rJJ  i  i-i-<^-"  ^~^^^*^ 
seiner   Paduanen    mit  *^  ~  TtTTf  T 


^ 


Mit  solchen,  weit  über  das  von  M.  Franck  Versuchte  hin- 
ausgehenden Freiheiten  nimmt  Schein  gewissermaßen  Ein- 
fälle voraus,  mit  denen  nach  zweihundert  und  mehr  Jahren 
sein  Erzgebirgischer  Landsmann  Robert  Schumann  die 
Würde  des  zeitgenössischen  Sinfoniestils  durchbrach.  Aber 
daß  die  Suiten  Scheins  auch  an  einfacher  Anmut  und 
Innigkeit  reich  sind,  geht  schon  aus  dem  ersten  besten 
Griff  in  seine  Thematik,  z.  B. 

Courante         ^^  Allemande. 


hervor. 

Die  Händeischen  Klaviersuiten,  auch  ein  Teil  der 
S.  Bachs  haben  noch  die  fünfsätzige  Anordnung,  aber 
die  Sätze  bringen  ziemlich  viele  neue  Namen:  Prelu- 
dien,  Sarabanden,  Airs,  Paßcpieds,  Gavotten,  Bouröes, 
Gavotten,  Menuetten,  Giguen.  Sie  sind  zum  Teü  die 
Folgen  des  dreißigjährigen,  die  Völker  durcheinander- 
schüttelnden Krieges,  er  hat  in  die  Instrumentalmusik 
etwas  Kosmopolitismus  hereingetragen.  Das  zeigt  sich 
zuerst  in  der  Klaviersuite  .bei  Ebner  und  Froberger,  aber 
bald  wird  auch  die  Orchestersuite  veränderungslustig, 
greift  nach  neuen  Tanzarten  und  sucht  sich  zweitens 
der  höheren  Kunst  zu  nähern. 

Mit  dieser  Annäherung  sind  am  ersten  und  ent- 
schiedensten die  Engländer  vorgegangen,  bei  denen 
W.  Lawes  schon  1645  eine  fünfsätzige  Orchestersuite  mit 
Continuo  veröffentlicht*).  In  Deutschland  beginnt  zu 
gleicher  Zeit  der  Obergang  mit  dem  ersten  Suitenwerke 
j.RotenmfiUer. Johann  Rosenmüllers,  seinen  Paduanen,  Alle- 
manden,  Couranten,  Balletten,  Sarabanden.  Die 
Galliarde  und  die  Tripla  Scheins  sind  hier  verschwunden, 
neu  erscheinen  Ballette  und  Sarabanden  und  mit  ihnen 
französischer  und  spanischer  Einfluß.  1654  kommt  eine 
zweite  Sammlung  Rosenmüllerscher  Orchestersuiten,  seine 
»Studentenmusik«.  Der  Vorrede  nach  schon  in  früherer 


*)  Exemplar  Hamburger  Stadtbibliothek. 


— &     45     0^ 

Zeit  för  die  Akademische  Jugend  von  Leipzig  komponiert, 
bringt  sie  zu  Anfang  sieben  einzelne  Paduanen  und  dann 
zehn  Suiten  mit  der  Satzordnung:  Paduane,  Allemande, 
Courante,  Ballo,  Sarabanda,  stimmt  also  mit  den  Suiten 
von  1646  überein.  Aber  neu  ist,  wenigstens  ffir  Deutsch- 
land, daß  zu  den  Orchesterinstrum enten  auch  ein  Basso 
continuo  hinzutritt.  Das, bedeutet  Mitwirkung  eines  Cem- 
balo oder  eines  ähnlichen  Akkordinstruments,  Umzug  aus 
der  frischen  Luft  in  den  geschlossenen  Raum  der  Kammer 
oder  des  collegium  musicum.  Rosenmtiller  besteht  dem 
Anschein  nach  nicht  auf  diesem  Basso  continuo,  sondern 
will  ihn  wohl  nur  für  den  Fall  empfohlen  haben,  daß 
die  Suiten,  wie  er  anheimstellt,  statt  mit  fünf  nur  mit 
drei  obligaten  Instrumenten  (Violen)  besetzt  werden.  Er 
schwankt  also,  kurz  gesagt,  zwischen  italienischer  und 
deutscher  Praxis;  nach  lezterer  war  die  Suite  für  Instru- 
mente Orchestermusik,  nach  ersterer  Kammermusik,  von 
einem  Geiger,  einem  Flötisten,  oder  von  einem  Geiger- 
paar mit  Unterstützung  eines  Cembalisten  ausgeführt. 
Die  Italiener  des  17.  Jahrhunderts  veröffentlichen  deshalb 
auch  ihre  Suiten  nicht  wie  die  Deutschen  unter  dem 
Namen  des  Anfangssatzes,  als  Paduanen  oder  Intraden, 
sondern  sie  heißen  bei  ihnen  in  der  Regel  Sonate  da 
camera.  Diesen  Titel  trägt  nun  auch  die  nächste 
Sammlung  von  Suiten,  die  Rosenmüller  1670  zu  Venedig 
veröffentlicht:  Sonate  da  camera  cioe:  Sinfonie,  Alle- 
in an  de,  Correnti,  Balleti,  Sarabande  da  sonare  con  6  strö- 
men ti  da  arco  ed  altri  etc.*).  Hier  ist  also  Rosenmüller 
einen  Schritt  weiter  gegangen:  er  stellt  es  nicht  ins  Be- 
lieben, ob  die  Suiten  fünfstimmig  ohne  Continuo  oder 
dreistimmig  mit  Continuo  gespielt  werden  sollen,  sondern 
er  kombiniert  deutsche  und  italienische  Praxis,  diese 
vertritt  der  Continuo,  jene  die  fünfstimmige  Besetzung, 
die  nach  dem  Schluß  des  Titels  >ed  altri«  sogar  noch 
—  etwa  durch  Beigabe  von  Bläsern  —  gesteigert  werden 


*]  Neudruck  (herausgegeben   von  K.  Nef)  in    Denkmäleru 
D.  T.     Bd.  XVUI. 


_^     46    V- 

darf.  •  Noch  wichtiger  aber  ist  an  diesem  Hefte  Rosen- 
miillers  der  Ersatz  der  Paduane  durch  eine  Sinfonie  und 
zwar  durch  eine  breit  entwickelte  umfangreiche  Sinfonie, 
die  deutlich  aus  dem  Typus  der  spezifisch  Venetianischen 
'  Opernsinfonie  herausgearbeitet,  feierlich  und  spannend 
mit  breiten  Akkorden,  Fermaten  und  Generalpausen  be- 
ginnt, dann  erregt  mit  scharfem  Wechsel  langsamer  und 
schneller  Perioden  fortfährt  und  als  Mittelpunkt  des  Ton- 
bildes eine  der  für  die  Venetianische  Oper  so  charakte- 
ristischen volkstumlichen  Barkarolenmelodien  (V2  Takt' 
hinstellt,  die  ja  noch  Händel  so  liebt  Sie  macht  noch 
einmal  der  Reprise  des  Adagio-Allegro  Platz,  schließt 
aber  dann  die  ganze  Sinfoäie.  Mit  den  Violinsonaten 
Franz  Bibers  bilden  also  diese  Sonate  da  camera  Rosen- 
mtUIers  das  erste  Beispiel  von  der  Einwirkung  des  Musik- 
dramas auf  die  Instrumentalmusik:  Formen,  die  aufs 
engste  mit  dem  Theater  und  mit  ganz  besonderen  dra- 
matischen Eigenheiten  zusammenhängen,  und  die  nur  in 
diesem  Zusammenhang  einen  Sinn  haben,  werden  im  Ver- 
trauen auf  die  sichere  und  starke  äußere  Wirkung  in 
einen  ganz  fremden  Boden  verpflanzt.  Mit  der  Rosen- 
müllerschen  Sinfonie  war  in  der  Suite  die  Einheit  des 
Stils  und  der  volkstümliche  Grundcharakter  vernichtet, 
die  Gattung  bezahlte  die  scheinbare  Bereicherung  mit 
einem  frühzeitigen  Untergang. 

Mit  Rosenmüllers  Sonate  da  camera  ist  die  Zeit  der 
alten  deutschen  Orchestersuite  im  Stile  Haußmanns  vor- 
bei; unter  den  vereinzelten  Nachzüglern,  die  sie  noch 
i.  Fexel.  vertreten,  verdient  Johann  Pezel  besondere  Beachtung. 
Auch  das  Leben  dieses  Tonsetzers  scheint  sehr  bewegt 
verlaufen  zu  sein :  er  war  in  Präg  Augustinermönch,  ehe  er 
als  Stadtpfeifer  erst  in  Bautzen,  dann  in  Leipzig  zur  Musik 
kam,  Seine  Suiten  waren  neben  denen  von  Peurl  und  dem 
Hamburger  J.  Schop  bis  ins  18.  Jahrhundert  hinein  die 
beliebtesten  und  verbreitetsten.  Wenigstens  für  die  deutsche 
Schweiz  ist  das.  durch  Karl  Nef  nachgewiesen   worden  ♦]. 

'*')  Karl  Nef,  Die  Oollegla  muslca  in  der  dentscben  lefor- 
mierten  Schweiz  ...  St.  Gtllen  1897. 


-♦     47     «^ 

Es  sind  frische  und  anmutige  Kompositionen,  die  sich 
besonders  durch  Schlichtheit  des  Ausdrucks  empfehlen; 
sie   halten    am   Variieren    der  alten   viersätzigen   Suite 

noch  soweit       AlleniAiide 

\{    |i||  illflTi  IM  I  l|  II 

^ern  je  zwei  ^  ^ 

benachbar-       Coannte.        j.      _ 

teSätzever.  ig  f  |  r  f  F^f  iP  [    |l  |         I  |    I    Jl|  I  |gi 

binden,  Z.B.  ** 

oder  .  Ebensoviel  Interesse  wie  die 

^  Bau«.  ^^  Musik  verdienen  die  Titel  von 

w  "  f*  1*  (*'  Ü"!  1*  1^  p=p=f^-  Pezels  Hauptwerken:  »Leip- 
^      I    I   I     •    LI  taf  ^.g^^   Abendmusik*    (1669) 

Sawtonda.     ^^^-^     .  ,^  -  '^"^  »Fünfstimmige 

f '  f  M  ^^f  *  P  r-f-i^'        blasende  Mjisik 


(1686).  Denn  sie  zeigen 
uns  den  gesellschaftlichen  Boden,  auf  dem  die  Suite 
zar  Blüte  kam  und  zugleich  das  musikalische  Kleid, 
in  dem  sie  am  liebsten  einherging.  Die  ältere  Zeit  ver- 
brauchte viel  mehr  Musik  unter  freiem  Himmel,  als 
ansere  Gegenwart,  die  sich  nerven  mörderischen  Ma- 
schinen- und  Wagenlärm  ruhig  gefallen  läßt,  aber  jede 
Art  von  Musik,  von  Kunst  überhaupt,  prinzipiell  in  die 
Häuser  sperrt.  Wo  es  in  früheren  Jahrhunderten  in  der 
Gemeinde  oder  in  der  Familie  etwas  zu  feiern  gab,  den 
Einzug,  den  Aufenthalt  von  Standespersonen,  bei  Um- 
zügen, Volksfesten;  Kindtaufen,  Hochzeiten,  Geburtstagen, 
Jubiläen,  da  schickte  man  nach  den  Stadtmusikanten, 
den  Pfeifern,  nach  dem  »Hausmannc  und  seinen  Leuten, 
die  von  den  »Aufwartungen«  auf  Plätzen,  Straßen  und 
Gärten,  bei  Festen  und  Schmausen  ihre  Haupteinnahmen 
hatten,  und  ließ  Suiten  spielen.  Weil  die  Orchestersuite 
in  erster  Linie  Platz-,  und  Straßenmusik  und  nicht  Kammer- 
musik war,  blieb  sie  im  Gegensatz  zur  Klaviersuite  bei 
den  volkstümlichen  Satzformen,  deshalb  setzte  man  sie 
auch  vorzugsweise  für  Blasinstrumente,  am  liebsten  Cor- 
netten  und  Posaunen.  Peurl,  Haußmann  und  andre  Ver- 
treter de/  viersätzigen  und  fünfsätzigen  Suite  bemerken 


^ 


--♦    48    «^ 

allerdings  aaf  den  Titeln  gern  »sonderlich  auf  Violen  zu 
gebrauchen«.  Aber  diese  Bemerkung  ist  wohl  meistens 
nur  eine  captatio  beneyolentiae,  ein  frommer  Wunsch, 
vom  Ehrgeiz  eingegeben.  Denn  die  Streichmusik  war  am 
Anfang  des  17.  Jahrhunderts  das  Neueste  und  galt  fQr 
etwas  Besonderes.  Der  Stil  der  Stimmen  zeigt  nur  selten 
eine  ausgesprochene  Violinennatur.  Das  sind  die  Ver- 
hältnisse,  die  Pezel  noch  einmal  in  seiner  »Blasenden 
Musik«  veranschaulicht;  die  »Leipziger  Abendmusik«,  ob- 
wohl sie  17  Jahre  älter  ist,  steht  dagegen  unter  moder- 
neren Einflüssen,  vielleicht  unter  demselben  fortschritt- 
lichen Lokalgeist,  der  wie  vordem  auf  RosenmOUer  noch 
bis  auf  Bach  und  Hiller  auf  die  Leipziger  Musiker  gewirkt 
hat.  Die  zwölf  Suiten  der  Abendmusik  haben'  Basse 
continuo  und  sind  mit  Ausnahme  der  letzten,  bei  der 
Pezel,  wie  das  auch  bei  andren  vorkommt,  seinen  ganzen 
noch  vorhandenen  Vorrat  an  geeigneten  Tänzen,  in  der 
Höhe  von  17  Stück  ausschüttet,  in  sieben  Sätze  geteilt, 
nämlich  Sonata,  Allemande,  Courante,  Ballett,  Sarabande, 
Brandle,  Gigue.  Neu  und  möglicherweise  eine  Nachwir- 
kung der  englischen  Führung  in  der  deutschen  Orchester- 
suite ist  die  Brandle;  ihr  künstlerisches  Gepräge  erhält 
die  Abendmusik  durch  den  Ropfsatz,  die  Sonata,  die  wie 
bei  Rosenmüller  von  der  Venetianischen  Opemsinfonie 
ausgeht,  aber  die  Gegensätzlichkeit  im  Aufbau  etwas 
übertreibt. 

Zwei  wichtige  Suilensammlungen,  die  ebenfalls  in  den 

Rosenmüllerschen  Kreis  gehören,  sind  die  »Deliciae  musi- 

cales«  des  Regensburger  auch  durch  Lieder  bekannten  Kan- 

II.  KradMthAiUr.  tors  Hieronymus  Kradenthaller  und  Jakob  Scheiffel- 

J.  Seheiireihiit.  jj  u  ts  »Lieblicher  Frühlingsanfang«.  Die  Suiten  des  ersteren, 

I67Ö  neun  Nummern,  und  1676  zwölf  Nummern  stark  in 
Nürnberg  erschienen,  bestehen  aus  Sonatina,  Arie,  Sara- 
bande, Aria  und  Gigue,  die  Scheiffelhuts,  1685  in  Augs- 
burg, acht  an  Zahl,  veröffentlicht,  haben  Preludium,  Alle- 
mande, Courante,  Ballo,  Sarabande,  Ana,  Gigue.  Das 
Preludium  Scheiffelhuts  und  die  Sonatina  KradenthaUers 
bringen  unter  andrem  Namen  die  Rosenmüllersche  Sin- 


49 


<te-- 


fonie.  nea  ist  in  den  beiden  Sammlungen  die  Aria,  unter 
der  Scheiftelhut  einen  langsamen,  Kiadenthaller  einen 
achaellen  Satz  versteht,  aber  beide  Komponisten  bauen 
ihre  Arien  auf  ausgeprägt  französische  Rhythmen,  in 
denen  sich  zum  erstenmal  in  der  deutschen  Orchester- 

.  soite  der  Einfluß  Lullys  und  seiner  »Airs«  äußert. 

Scheinbar  gehört  in  die  Gruppe  der  Sonaten- Suite 
auch  der  undatierte,  aber  nach  den  Lebensumständen  des 
Komponisten  zeitlich  in  die  Nähe  Rosenmüllers  fallende 
Hortus  musicus  des  Hamburger  Adam  Reincken'*').  A. Reinckcn. 
Denn  die  Suiten  dieser  Sammlung  beginnen  ebenfalls 
mit  einer  Sonata  und  lassen, ihr  AUemand,  Courant  und 

.Saraband  folgen,  eine  Gigue  schließt.  Aber  Reincken 
überrascht  uns  mit  einer  ganz  neuen  Art  von  Sonate: 
Sie  besteht  aus  drei  Teilen,  einem  Adagio  von  ungefähr 
20  Takten,  einer  durchschnittlich  50  Takte  langen  Allegro- 
fuge  und  einem  gegen  40  Takte  betragenden  Satz,  in 
dem  zweimal  ein  langsames  mit  einem  schnellen  Tempo 
wechselt.  Dieser  dritte«  Teil,  bei  allen  sechs  Suiten  des 
hortus,  der  schönste,  ists  allein,  der  noch  am  Zusammen- 
hang mit  Rosenmüller  und  der  Venetianischen  Musik  fest- 
hält, im  übrigen  sind  die  Sonaten  Reinckens  der  Opern- 
ouverture  Lullys  nachgebildet.  Die  deutsche  Orchester- 
suite  begnügt  sich  nicht  mehr  mit  der  Einfügung  einzelner 
französischer  Elemente,  sondern  sie  begibt  sich  ganz  unter 
die  Herrschaft  der  französischen  Musik.  Bald  folgt  ihr 
auch  das  deutsche  Lied  auf  diesem  Wege.  Das  deutlichste 
Merkmal  der  neuen  Herrschaft  bildet  die  dreiteilige  Ouver- 
türe als  Kopfstück  der  Suite,  aber  darüber  hinaus  hat 
sich  in  allen  Sätzen  ein  vollständiger  Wechsel  des  Stils 
vollzogen.  Die  Gigue  ist  ein  Fugensatz,  alle  andren  Tanz- 
sätze sind  kunstvoller  und  reicher  an  kontrapunktischer 
Arbeit  geworden,  vor  allem  aber  sind  die  Suiten  Reinckens 
Musik  für  Streichinstrumente  und  wurzeln  mit  der  Er- 
findung ganz  in  der  Natur  der  Violine.    Am  deutlichsten     * 

*)  Nengednickt  als  13.  Stück  der  Maatschappij   asw.,  her- 
ansgegeben  von  Riemsdijk. 

Kretzschmar,  Fahrer.    I,  1.  4 


-^    50    <w- 

zeigen  das  die  Schluß  teile  der  Sonate,  in  denen  Solo- 
violine und  Solocello  konzertieren,  erst  innig  singend, 
dann  in  glänzender  Technik  dahinsansend.  Eine  ganz 
individuelle  Marke  trägt  der  Hortns  in  der  Neigung  zu 
ostinaten  Stellen. 

Das  erste  Werk,  das  sich  offen  zum  französischen 
A.  steffavi.  Stil  bekennt,  sind  AgostiniSteffanis  »Sonate  da  camera« 
von  1679.  Sie  stellen  an  die  Spitze  eine  französische 
Ouvertüre  in  Lnllys  Stil.  Dann  folgt  mit  16,  zum  Teil 
j.  B.  K«iser.  zehnsätzigen  Suiten,  Johann  SigismundKusser  für 
acht  Streichinstrumente.  Sie  sind  1682  in  Stuttgart  als 
»Composition  de  musique  suivant  lamäthode  fran^aise 
contenant  Ouvertures  etc.«  veröffentlicht  worden.  Alle 
beginnen  mit  dreiteiligen  Ouvertüren  im  Stile  LuUys 
und  zeigen  dessen  Einfluß  auch  in  der  Bevorzugung 
Von  Air  und  Chaconne,  wahren  aber  motivisch  und  im 
Charakter  eine  so  bedeutende  Selbständigkeit,  daß  sie, 
wie  fast  jede  Note  Kussers,  durch  einen  Neudruck  all- 
gemein bekannt  gemacht  zu  werden  verdienen.  Unter 
seinen  Nachfolgern  muß  der  Rudolstädter  Kapellmeister 
ph. Erlcb»eli.  Philipp  Erlebach  hervorgehoben  werden.  Seine  1693 
zu  Nürnberg  veröffentlichten  Suiten  tragen  den  Titel: 
Sechs  Ouvertüren  nach  französischer  Art.  Wie  in  der 
Haußmannschen  Zeit  Pavanen  oder  Intraden,  werden  von 
jetzt  ab  auf  hundert  Jahre  die  deutschen  Orchestersuiten 
auf  dem  Markt  —  wiederum  nach  dem  Namen  des  An- 
fangssatzes —  als  Ouvertüren  ausgeboten.  Die  Ouver- 
türen im  modernen  Sinne  heißen  in  der  Regel  Sinfonie. 

Besiegelt  und  allgemein  gültig  wurde  der  Obergang 
ins  französische  Lager  durch  die  Orchestersuiten'  von 
Georg  ttttirftt.  Georg  Muffat.  Sie  füllen  zwei  Sammlungen,  von  denen 
die  erste  als  »Florilegium  primum«  in  Augsburg  169ö,  die 
zweite  als  »Florilegium  secundum«  in  Passau,  wo  der 
Komponist  am  bischöflichen  Hofe  als  Kapellmeister  und 
Pagenhofmeister  angestellt  war,  1698  erschien.  Der  erste 
Band  enthält  sieben,  der  zweite  acht  Suiten  oder,  wie  sich 
Muffat,  als  Sohn  seiner  Zeit,  auch  hier  poetisch  ausdrückt: 
Fasciculi,  d.  i.  Bündel.    Der  Name,  den  die  deutschen 


Musiker  am  liebsten  für  die  Orchestersuite  brauchten,  war: 
Parthey  oder  Partie.  Die  16  Saiten  umfassen  112  Sätze, 
in  der  Regel  bilden  sieben  einen  Faszikel.  Die  Besetzung 
ist  für  alle  funfstimmiges  Streichorchester:  Violine,  Viola, 
Baß,  dazu  Violetta  und  Quinta  Parte,  jenes  eine  kleinere, 
dieses  eine  größere  Sorte  Bratsche  als  die  heute  gebräuch- 
liche. Zu  diesen  Streichinstrumenten  kommt  noch  der 
bezifferte  Basso  continuo,  also  die  Begleitung  des  Cem- 
balo, die  ja  seit  Rosenmüller  schon  eingebürgert  war. 
Mit  Ausnahme  von  zweien  steht  an  der  Spitze  aller  Fas- 
ciculi  eine  regelmäßige  französische  Ouvertüre,  drei- 
sätzig, wie  sie  Lully  eingeführt  hatte:  Anfang  und  Ende 
langsam,  in  der  Mitte  eine  bewegte  Fuge.  Einmal  ist 
dieser  Typus  der  französischen  Ouvertüre  durch  einen 
Rivalen,  eine  italienische  Sinfonie  ersetzt.  In  den  Tänzen 
selbst  zeigt  die  Muffatsche  eegen  die  alte  deutsche  Or- 
chestersuite der  ersten  Periode  einen  künstlerischen  Rück- 
gang: Von  thematischer  Verbindung  sich  folgender  Sätze. 
vom  Variieren  ist  keine  Rede  mehr;  nicht  um  Einheit 
handelt  es  sich,  sondern  um  eine  Vielheit  scharf  geson- 
derter Gestalten.  Mit  einigem  Rechte  darf  man  die  Buite 
Georg  Muffats  Renaissancesuite  nennen.  Eines  der  Haupt- 
ziele aller  Renaissance,  die  Steigerung  des  individuellen 
Gehalts  im  Kunstwerk,  erscheint  als  ihr  Hauptziel.  Des- 
halb liegt  es  Muffat  fern,  wie  seine  Vorgänger  eine  be- 
schränkte Anzahl  von  Tanzarten  immer  zu  wiederholen: 
Er  hat  die  gebräuchlichsten  Arten  seiner  Zeit,  Gaillarde, 
Courante,  Sarabande,  Gavotte,  Passacaille,  Bour^e,  Me- 
nuett, Gigue  —  die  zweite  Suite  des  zweiten  Florilegium 
bringt  sie  in  der  angegebenen  Reihenfolge  zusammen  — ; 
es  treten  zu  ihnen  noch  Allemande,  Canaries,  Chaconne, 
Contredanse,  Rigaudon,  Rondeau,  Traquenard,  Entröe, 
Ballett,  Air.  Aber  in  der  Mehrzahl  von  Muffats  Suiten- 
sätzen wird  auf  jedes  bekannte  Schema  verzichtet,  der 
Komponist  geht  neuen,  oft  verwegenen  Aufgaben  nach 
und  sucht  sie  mit  den  besten  Mitteln  zu  lösen.  Besonders 
das  zweite  Florilegium  entrollt  ein  äußerst  buntes  Stück 
Programmusik,   einen   Ausschnitt   aus   den  Flegeljahren 

4* 


-^    52     4^ 

dieser  Richtung,  der  alles  überbietet,  was  sonst  aas 
Frobergers  nnd  Couperins  Zeit  bekannt  ist.  Spanier, 
Holländer,  Engländer,  Italiener,  Franzosen,  Kavaliere, 
Bauern,  Dichter,  Tänzer,  Fechtmeister,  Gendarmen,  Köche, 
Schornsteinfeger,  Genien  und  Gespenster  —  alles  will 
diese  Musik  malen  können,  auch  körperliche  Gebrechen, 
die  dem  Ton  und  dem  Rhythmus  ersichtlich  keinen  Än> 
knüpfungspunkt  bieten :  Einen  Lahmen  kann  der  Kompo- 
nist andeuten,  aber  einen  Bucklichteh?. 

An  solchen  Mißgriffen  hat  die  Renaissance  weniger 
Schuld,  als  die  französische  Oper.  Durch  die  Bedeutung, 
die  in  ihr  die  Balletts  hatten,  kam  die  choreographische 
Kunst  auf  den  geschichtlichen  Gipfel  ihrer  Leistungsfähig- 
keit und  ihres  Selbstvertrauens  und  mutete  folgerecht 
auch  ihrer  Gehilßn,  der  Musik,  gelegentlich  unmögliche 
Dienste  zu.  Den  Zusammenhang  mit  Ballett  und  Tanz 
bekennt  Muffat  in  den  —  in  lateinischer,  deutscher,  ita- 
lienischer und  französischer  Sprache  geschriebenen  — 
Vorreden  seines  Florilegiums.  Die  Fasciculi  seien,  sagt 
er,  bei  den  Festen  des  Passauer  Hofs,  beim  Konzert 
(»Instrumenten-Zusammenstimmung«  übersetzt  er  das-, 
beim  glänzenden  Empfang  hoher  Gäste,  vornehmlich 
aber  auch  bei  den  Tanzübungen  der  adligen 
Jugend  aufgeführt  worden.  Die  Stücke  des  zweiten 
Florilegiums  nennt  er  geradezu  Balletts,  und  man  siebt 
ihnen  in  der  Mehrzahl  die  Herkunft  vom  Theater,  von 
der  Pantomime  nicht  bloß  an  einem  Punkte  an.  Hier 
Verrats  die  Überschrift  der  ganzen  Suite,  sie  ist  der  Titel 
eines  Schauspiels  oder  eines  Balletts,  dort  wird  an  einer 
Stelle  gesungen,  dort  gar  mit  Pistolen  geschossen. 

Wir  haben  es  also  bei  diesem  Suitenwerk  Muftats  mit 
Ballettmusik  nach  französischem  Muster  zu  tun.  Wieder- 
holt nennt  er  Lully  als  sein  besonderes  Vorbild.  Ihn  er- 
reicht er  auch  ziemlich,  übertrifft  ihn  in  der  Arbeit,  aber 
mit  Händel  und  Gluck  darf  man  ihn  nicht  vergleichen, 
wie  das  neuerdings  geschehen  ist*);  am  allerwenigsten 

*)  L.  StoUbrock:  Georg  und  Gottlieb  Muffst.  Rostocker 
Dissertation  18SS. 


--•     53     «^ 

mit  Rameau.    Das  deutsche  Element  überwiegt  in  seiner 
Musik  mit  seinen  Vorteilen  und  Nachteilen!    Seine  Kunst 
braucht  etwas  Platz.    Darum  sind  die  längeren  Sätze  die 
besten,  wie  die  vereinzelte  Passacaille  in  der  3.  Suite  des 
zweiten,  der  Rigaudon  in  der  nächsten  Suite  desselben 
Bandes.    Desgleichen  zeichnen  sich  auch,  wie  man  es 
Ton  dem  Verfasser  des  Apparatus  musico-organisticus  er- 
warten darf,  die  Fugen  in  den  Ouvertüren  durch  eine 
vollendete   Natürlichkeit  und  Leichtigkeit  aus.    Muffats 
Talente  liegen  auf  der  Seite  des  Gemüts  und  der  an- 
mutigen Heiterkeit.    Als  einer  der  vorzüglichsten  Melo- 
diker des  melodienreichen   17.  Jahrhunderts,   Lully  an 
diesem  Punkt  weit  überragend,  schreibt  er  in  den  Ein- 
leitungen xler  Ouvertüren,  in  der  Form  von  Sarabanden 
nnd  Airs  langsame  Sätze,  die  sich  in  die  Seele  des  Hörers 
auf  lange  hineinsingen.    In  den  Giguen,  Menuetts  und 
den  ihnen  verwandten  Satzarten  hat  er  wenig  Neben- 
buhler; in  den  Giguen  namentlich  ist  er  oft  völlig  neu, 
erinnert  an  das  19.  Jahrhundert  mit  der  phantastischen  Be- 
weglichkeit und  der  ungewöhnlichen  Metrik  seiner  Weisen. 
'*'S?^    .— L  Aber  die  Kunst 

des  Pointieren s, 
der  frappanten 
Erfindung,  in  der  die  Größe  und  die  Eigentümlichkeit  der 
Franzosen  ruht,  ist  MnfTats  Sache  nicht.  Kleine  Malereien 
gelingen  ihm  manchmal:  Ganz  ergötzlich  gibt  er  z.  B. 
einmal  das  Lärmen  der  Messer  wieder,  mit  denen  Fleisch 
geklopft  und  gehackt  wird,  trefflich  ist  an  derselben  Stelle 
—  zweite  Suite  des  zweiten  Florilegiums  —  die  Lustigkeit 
der  Küchenjungen  gezeichnet.  Aber  viel,  viel  häufiger 
sind  die  Beispiele  verfehlter  Ähnlichkeit:  Die  Bauern 
baben  dieselben  Züge  wie  die  Kavaliere  und  Gespenster. 
um  unter  die  Größen  der  Tonmalerei  sich  zu  erheben, 
ist  die  Rhetorik  des  Komponisten  zu  bescheiden  und  zu 
sehr  auf  Wiederholungen  in  allen  drei  Elementarreichen 
der  Musik  angewiesen. 

Noch  weniger,  wie  zwischen  den  Titeln  der  Einzel- 
sätze und  ihrer  Musik,  läßt  sich  eine  Obereinstimmung 


--♦    54     ♦^ 

zwischen  den  ÜberschriXten  der  ganzen  Saiten  und  ihrem 
musikalischen  Charakter  feststellen.  Es  ist  schon  erwähnt 
worden,  daß  diese  Überschriften  im  zweiten  Florilegium 
oft  Namen  von  Theaterstücken  sind;  im  ersten  sind  sie 
in  der  Mehrzahl  reine  Rätsel.  Nur  bei  dem  vierten  und 
dem  sechsten  Stücke,  die  Impatientia  und  Blanditiae 
heißen,  lassen  sich  ohne  Gewalt  einige  Beziehungen 
zwischen  den  Werken  und  den  Namen  nachweisen. 

Auf  die  Enttäuschungen,  denen  der  moderne  Hörer 
der  Muffatschen  Suiten  entgegengeht,  hinzuweisen,  ist 
deshalb  zeitgemäß,  weil  die  beiden  Florilegien  unlängsl 
in  Partiturform  neugedruckt  worden  sind*}.  Schon  vor- 
her sind  in  den  Leipziger  Akademischen  Orchesterkon- 
zerten die  Blanditiae  aufgeführt  worden  und  nach  andern 
Stellen  weiter  gedrungen.  Die  MufTatsche  Musik  ist  trotz 
der  nötigen  Einschräixkungen  geschichtlich  und  künst- 
lerisch wert  gekannt  zu  sein.  Wer  sie  aufführt,  muß 
aber  wissen,  wie  weit  die  Notep  wörtlich  bindend  sind 
und  wo  sie  der  Ergänzung  bedürfen.  Von  sonstigen  Frei- 
heiten des  Vortrags  alter  Musik  abgesehen,  arbeiten  die 
Suiten  MufTats,  wie  die  Instrumentalmusik  und  der  Solo- 
gesang ihrer  Zeit  im  allgemeinen,  mit  einem  sehr  großen 
Apparat  von  Verzierungen  und  Spielmanieren,  die  nicht 
gedruckt  wurden  und  die  die  heutige  Musik  nicht  mehr 
kennt.  In  der  Vorrede  des  zweiten  Florilegiums  gibt 
MufTat  darüber  den  deutschen  Musikern,  denen  dieser 
Zierrat  noch  etwas  fremd  und  neu  war,  genaue  An- 
weisungen. Nach  ihnen  muß  der  Dirigent  die  StimüTen 
erst  ausarbeiten.  Der  ganze  Charakter  dieser  Musik  wird 
durch  diese  »Agrements«  und  Ornamente  mit  bestimmt 
Aus  ihnen  spricht  der  an  Kleinleben  unerschöpflich  reiche, 
vermittelnde,  glättende,  allezeit  graziöse  Geist  des  Rokoko. 
Der  heute  so  beliebte  große  Ton,  die  langen  Noten,  die 
weiten  Intervalle  waren  ihm  raube  und  rohe  Erscheinun- 
gen ;  durch  eingelegte  Gänge,  durch  ein  beständiges  Gleiten, 

*)  Denkm&ler  der  Tonkunst  In  österieicb,  Band  I,  2  und 
II,  2.     Wien  1S94  und  1S95. 


— •    65    ♦— 

Schleifen  und  Trillern  setzte  er  ihre  Wirkungen  außer  Kraft 
Aii€h  ein  guter  Klavierauszug  der  Florilegien  müßte  mit 
dieser  Stileigentömlichkeit  rechnen. 

Muifat  verfolgte  mit  der  Veröffentlichung  seines  Floh- 
legiums  noch  höhere,  kunstgeschichtliche  Zwecke.  Es 
sollte  in  Deutschland  d^r  französischen  Schule  die  Herr- 
Schaft  über  die  italienische  gewinnen.  Die  Italiener  pfleg- 
ten seit  dem  Anfang  des  Jahrhunderts  mit  großem  Eifer 
das  Konzert  Von  ihm,  namentlich  von  dem  ihm  inne- 
wohnenden Hang  zu  »unmäßigen  Läufen  und  Sprüngen«, 
zu  virtuosen  Äußerlichkeiten  und  zu  allerhand  Blendwerk, 
fürchtete  Mafifat  für  den  musikalischen  Geist  der  Zukunft 
mit  Recht  ernste  Gefahren  und  suchte  ihm,  allerdings  viel 
SU  spät,  durch  die  nach  seiner  Meinung  viel  solidere  und 
gesündere  Kunst  der  französischen  Charakterballetts  den 
Weg  nach  Deutschland  zu  versperren.  Das  gelang  nicht; 
bereits  1701  hat  Muffat  selbst  zwölf  Instrumentalkonzerte 
nach  italienischem  Muster  drucken  lassen,  aber  es  unter- 
liegt keinem  Zweifel,  daß,  soweit  es  sich  um  Violinen, 
Cembalo  und  französische  Ouvertüre,  also  um  die  An- 
näherung an  die  höhere  Kunst,  an  Konzert  und  Kammer- 
musik handelt,  das  Florilegium  für  die  Orchestersuite  in 
Deutschland  vorbildlich  geworden  ist 

Es  hat  sich  bis  nach  Schweden  verbreitet  und  ist 
erst  durch  das  Exemplar  in  Upsala  wieder  bekannt  ge- 
worden, es  wird  in  der  Vorrede  des  bald  zu  erwähnen- 
den Zodiacus  neben  dem  »Journal  du  printemps«  und 
neben  des  »Pythagoreischen  Schmidts  Fünklein«  als  die 
bedeutendste  Sammlung  von  Orchestersuilcn  hervor- 
gehoben. 

Der  Komponist  jenes  »Journal  du  printempst  ist 
der  in  alter  und  neuer  Zeit  wegen  seiner  Klavierstücke 
gefeierte  Badische  Hofkapellmeister  Kaspar  Fischer,  k.  Fischer. 
Die  1695  zu  Schlackenwerth  veröfTenllichte,  seit  kurzem 
nengedruckte*)  Sammlung  enthält  acht  Suiten,  die  alle 
mit  einer  französischen  Ouvertüre  beginnen  und  dieser, 

*)  Denkmller  D.  T.,  10.  Band  (herausgegeben  v.  £.  v.  Werra). 


je  nachdem  drei  bis  sieben  Tänze  bekannter  Art  oder 
Ballettsätze  mit  eignen  Oberschriften  folgen  lassen.  Von 
letzterer  Art  kommen  vor:  Air  des  Corobattants,  Trac- 
quenard.  Fischer  hält  seine  Sätze  auffallend  kurz,  selbst 
die  Ouvertüren ;  nur  die  Chaconnen  und  Passacaille,  die 
,  fast  in  keinem  Stücke  fehlen,  macheu  eine  Ausnahme.. 
Von  allen  Suitenkomponisten,  die  zum  Kreise  Muffats 
gehören,  ist  er  der  am  stärksten'  französisch  gefärbte, 
selbst  für  die  Instrumente  wählt  er  gallische  Bezeich- 
nungen, und  der  leichte,  galante  Charakter  seiner  Musik 
geht  nicht  über  die  Ansprüche  hinaus,  denen  die  durch- 
schnittlichen Kostgänger  der  LuUy sehen  Oper  gewachsen 
waren.  Jedoch  erfmdet  er  frisch,  entwickelt  fließend  und 
hat  koloristisch  besonderes  zu  bieten.  Seine  Suiten  sind 
sämtlich  Trompetensuiten,  sie  verwenden  die  Trompeten 
glänzend  und  sind  überhaupt  im  Klanglichen  außerordent- 
lich reich  an  Abwechslung  und  an  natürlichen,  wirkungs- 
vollen Einfällen.  Ersichtlich  hat  ihm  hierfür  die  Bekannt- 
schaft mit  dem  Konzert  genützt,  nach  dessen  Muster  ist 
in  allen  Sätzen  die  Ablösung  von  großer  und  kleiner  Be- 
setzung, von  Trio  und  vollem  Chor  durchgeführt. 

Die  das  »Pythagorische  Schmids  Füncklein« 'i' 
repräsentierenden  sieben  Suiten,  deren  Komponist  der 
B.  Mftyr.  Münchner  Hofrausiker  Rupert  May r  ist,  gehören  eigent- 
lich zur  Avantgarde  Muifats,  denn  sie  sind  schon  1692 
(zu  Augsburg)  erschienen  und  bekennen  sich  in  der  Mehr- 
zahl noch  zu  Rosenmüller  und  zur  Venetianischen  Sin- 
fonie, wie.  Mayr  in  einem  1678  erschienenen  »Arion 
sacer«,  einer  Art  Pendant  zu  Kuhnaus  biblischen  Historien, 
sogar  noch  ganz  im  Haußmannschen  Typus  arbeitet  Die 
Satzzahl  in  Mayrs  Füncklein  reicht  von  vier  bis  sieben, 
in  der  Benennung  der  Sätze  tritt  der  Ballettcharakter 
sehr  zurück,  im  Stil  herrscht  eine  solide  Polyphonie,  im 
Charakter  Innigkeit  und  deutsches  Wesen.  In  dieser 
letzteren  Beziehung  berührt  er  sich  mit  dem  eben  ange- 


♦)  Vgl.  Beruh.  Ulrich:  Die  » Pytbagoriachen  Schmids  Fünck 
lein«  (SammelbSnde  der  I.  M.  G.  IX,  7 5 IT.) 


--»     57     ft>- 

führten  Zodiacus,  derjenigen  Sammlung  von  Orchester- 
saiten, welche  die  größte  Ausbeute  treuherzigen  und 
naiven  Humors  ergibt.  Sie  ist  1698,  ebenfalls  zu  Augs- 
burg, mit  bloßer  Andeutung  des  Verfassers  durch  I.  A.  S. 
erschienen.  Neuerdings  erst  ist  festgestellt  worden*},  daß 
sich  unter  diesen  Buchslaben  ein  im  übrigen  unbekannt 
gebliebener  Musiker  namens  Schmierer  birgt.  Die  Zahl  J.  a.  Schmierer, 
seiner  Suiten,  die  er  Parthyen  nennt,  beti'ägt  sechs,  jede 
hat  acht  Sätze,  an  der  Spitze  immer  eine  französische 
Ouvertüre  und  die  Allemande  in  der  Regel  im  langsamen 
Tempo.  Die  letzte  Suite  bringt  ein  schönes,  gesang- 
mäßiges  Stuck  unter  dem  Titel  »Melodie«.  Fischern  ähnelt 
Schmierer  in  der  Ausnutzung  konzertierenden  Stils. 

.  Noch  gehört  in  die  Umgebung  des  Florilegiums  eine 
Suitensammlung,  die  169ö  (in  Nürnberg)  als  »Goncorso 
discordia«  veröffentlicht  worden  ist  Ihr  Komponist  ist 
Anton  Aufschnaiter,  der  Ende  des  17.  Jahrhunderts  a.  Anftchnaiter. 
zu  Passau  als  Kapellmeister  lebte  und  darnach  sehr  wohl 
zu  Muffat  direkte  Beziehungen  gehabt  haben  kann.  Auf- 
schnaiter spricht  nicht  wie  seine  Kollegen  von  Komödien 
und  Balletten,  sondern  bestimmt  seine  Suiten  ausdrück- 
lich zu  Serenaden,  zu  Ständchen  im  Freien  zu  spielen. 
Deshalb  haben  sie  keinen  Continuo.  Die  Suiten  sind 
sämtlich  fünfsätzig,  vier  haben  am  Kopf  eine  französische 
Ouvertüre,  je  ein^  eine  Chiaconne  und  ein  Entröe.  Musi- 
kalisch erfreuen  sie  durch  sehr  gute  melodische  Quali- 
täten. Daß  die  deutsche  Orchestersuite  sich  im  letzten 
Viertel  des  17.  Jahrhunderts  unter  die  französische  Füh-  FranzSsische 
rung  stellt,  ist  das  Werk  Lullys.  Allerdings  hat,  wie  man  Suiten. 
sich  aus  der  Sammlung  Ecorchevilles*'^)  überzeugen  kann, 
die  französische  Orchestersuite  schon  früher  in  Musikern 
wie  G.  Dumanoir,  Mazuel  und  andren  Mitgliedern  der 
sogenannten  petits  violons  sehr  begabte  Vertreter  und  in 
der  Menge  der  Sätze  und  deren  vorwiegend  zweiteiligem 

*]  A.  .Göbler:   Die  Moßkataloge   im  Dienste  der  musikali- 
schen GeschichtsfOTSchnng  (SammelbSnde  d.  I.  M.  G.  III,  29  \  f!.). 
♦♦)  Jules  Ecorcheville:  Vingt  Suites  d'Orcbestre  1906. 


— ^    58    ♦— 

Aufbau  ihre  besonderen  Züge  gehabt  Aber  sie  kann 
weder  durch  ihr  Wesen  noch  durch  ihre  Entwicklung 
einen  Vorrang  beanspruchen:  die  Tänze  sind  die  auch 
in  Deutschland  gebräuchlichen  öder  bekannten  und  ihre 
Aneinanderreihung  hält  sich  in  .Frankreich  sogar  länger 
auf  einer  dem  HauGmannschen  Typus  entsprechenden 
Stufe,  als  in  Deutschland,  der  Venetianische  Einfluß  be- 
rührt sie  gar  nicht.  Erst  Lully  lenkt  die  Aufmerksamkeit 
der  deutschen  Suitenkomponisten  auf  Frankreich  und 
bekehrt  sie  zu  den  Ouvertüren.  Im  übrigen  ist  die  Stelle, 
an  der  sich  das  national  französische  Suitentalent  am 
glänzendsten  zeigt,  der  Balletteil  der  Opern.  Da  braucht 
man  sie  nur  herauszunehmen  und  zusammenzustellen. 
Oft  bietet  eine  einzige  Szene  das  gesamte  Material  zu 
einer  vollständigen  Suite;  denn  Charaktertänze  und  Bal- 
letts bilden  den  Grundstock  und  oft  die  reichliche  Hälfte 
der  Musik  in  der  älteren  französischen  Oper.  So  sind 
denn  früher  schon  einzelne  Sätze  aus  Lullys  und  Ra- 
meaus  Opern  mit  Erfolg  ins  Konzert  gebracht  worden*). 
Neuerdings  ermöglicht  die  Ausgabe  von  drei  »Balletl- 
J .  P.  BaneM.  suiteuc**}  R  a  m  e  a u s  ein  bequemes  Studium  dieses  Meisters. 
Sie  sind  dazu  bisher  noch  wenig  benutzt  worden,  wahr- 
scheinlich deshalb  nicht,  weil  nur  sehr  wenige  Musiker 
und  Musikfreunde  eine  Ahnung  von  der  Bedeutung  Ra- 
meaus  haben.  Wie  er  im  allgemeinen  ohne  jedes  Be- 
denken der  größte  Tonsetzer  Frankreichs  und  ein  eben- 
bürtiger Zeitgenosse  von  Händel  und  Bach  genannt 
werden  darf,  so  ist  er  auf  dem  besonderen  Gebiet  der 
Suite,  des  poetischen  Charakterstücks,  der*  geschmack- 
vollen Programmusik  geradezu  unvergleichlich.    Er  ver- 

*)  Lully:  »G^ldbre  Gavotte«  and  Menuet  de  Bourgeois 
Gentilbomme;  Rameau:  Musette  et  Tambourin  des  »Petes 
d'H<n)tf<,  Rigaudon  de  >Dardanus«,  fragments  de  »Castor  et 
Pollnxc    in  Gevaerts  Repertoire  des  SocUttfs  phübarmonlques. 

**)  Drei  Ballettsuiten  aus  Acante,  Zoroaster  und  Platte. 
Leipzig,  Rieter-Biedermann.  Den  hier  versuchten  Titel  »Balleti- 
suite«  hat  sich  inzwischen  auch  Felix  Mottl  zu  eigen  gemacht 


— ♦    59    4>^ 

tritt,  gegen  Lülly  und  Muffat  gehalten,  eine  nene  Zeit 
und  eine  Kunst,  die  die  Schönheitsideale  der  Claude 
Lorrain  und  Poussin  mit  dem  Realismus  der  Niederländer 
zu  verbinden  weiß.  Groß  und  vielseitig  im  Erfinden, 
besonders  originell  im  Humoristischen,  im  Anmutigen  und 
Innigen,  ist  er  im  Gestalten  ein  echter  Virtuos.  Er  spielt 
mit  der  Form  und  gewinnt  ihr  nach  allen  Seiten  voll- 
endete, hier  durch  Breite  und  Umfang,  da  durch  Feinheit 
der  Verschlingungen  überraschende  Neubildungen  ab.  In 
seiner  Melodik,  in  seiner  Rhythmik,  überall  wimmelt  es 
von  ganz  eigenen,  schönen  und  fesselnden  Einfällen; 
nicht  am  wenigsten  in  seiner  Instrumentation,  in  der  wir, 
bdspielsweise  m  der  Pizzicato-Gavotte  von  Ȁcanthe  et 
Cephisec,  Klangwirkungen  begegnen,  die  vor  ihm  nie- 
mand gehabt  hat  und  die  heute,  nach  hundertundfünfzig 
Jahren,  von  ihrer  Frische  nicht  das  geringste  eingebüßt 
haben.  Hier  kommt  er  in  der  Zeit  und  im  Rang  unmittel- 
bar nach  Monteverdi.  Wenn  die  Franzosen  noch  heute 
in  ihrer  Oper  der  Ballettmusik  eine  Stellung  einräumen, 
die  die  Deutschen  nicht  begreifen,  so  ist  das  die  Nach- 
Wirkung  Rameaus.  Wagners  Ballettmusik  zum  Pariser 
Tannhäuser  war  ein  Opfer,  nicht  dem  Jockeyklub,  son- 
dern einer  großen .  historischen  Tradition  dargebracht. 
Auch  Gluck  hat  sich  ihr  beugen  müssen,  und  erbat  sie  c.w.v.Gluck. 
heb  gewonnen.  Waren  lange  Zeit  der  »Furientanz c  und 
der  »Reigen  seliger  Geister«  aus  Orpheus  die  einzigen 
Beiträge  zur  Suite,  die  man  von  ihm  kannte,  so  ist  das 
neuerdings  anders  geworden.  Wur  haben  da  u.  a.  die 
Ballettmusik  aus  >Paris  und  Helena«  von  ihm  vor- 
liegen, Mottl  hat  als  >Ballettsuite«  Stücke  aus  ver- 
schiedenen Opern  GIiTcks  zusammengestellt;  auch  der 
größte  Teil  seines  1761  geschriebenen  Balletts  >D  o  n  Ju  an« 
ist  vor  einigen  Jahren  in  Form  einer  viersätzigen  Orchester- 
suite  dem  Konzert  zugeführt  worden*}.  Dieses  Ballett 
brachte  pantomimisch  dieselbe  Handlung  mit  denselben 
Personen  und  in  derselben  Szenenfolge  zur  Darstellung, 

*)  Leipzig,  Breitkopf  &  HaxteL 


' 


— ^     HO     <>>- 

die  später  Mozart  als  Oper  komponiert  hat.  Gluck  hat 
viele  Sätze  ans  diesem  Ballett  für  nachfolgende  Opern 
benutzt,  die  HöUenfahrtmusik  z.  B.  ist  der  »Furientanz« 
geworden.  Mehrere)  namentlich  unter  den  kleinen  und 
kleinsten  Stücken  des  »Don  Juan«  haben  einen  hohen 
Klangreiz,  so  das  Pizzicatoständchen  der  Bauern.  Neben 
Wien  war  Stuttgart  unter  Karl  Eugen  ein  Hauptplatz  für 
solche  Ballettpantomimen:  von  den  hier  entstandenen 
F.  Deller,  Arbeiten  Dell  er  s  und  Rudolphs*)  haben  neuerdmgs  die 
J.  Bvdolph;  Denkmäler  Deutscher  Tonkunst  reichere  Proben  gebracht 

Neben  der  neuen  Mulfatschen  Violinensuite  bestand 
natürlich  die  alte  Bläsersuite  noch  weiter  und  so  lange 
fort,  als.es  noch  Ständchen  und  allerhand  »Aufwartungen« 
im  Freien  gab.  Sie  begegnet  uns  noch  in  den  Divertisse- 
ments, Cassationen  und  ähnlichen  Kompositionen  Haydns 
und  Mozarts.  Auch  G.  F.  Händeis  Feuer-  und  Wasser- 
musik gehörten  ursprünglich  zu  dieser  Klasse  von  Suite. 
Die  Violinen  und  die  Ouvertüren  sind  ihnen  erst  später 
zugesetzt;  die  Feuermusik  hat  heute  noch  kein  Cembalo. 
Handel,  Die  Feuermusik  kam  bei  einem  Hoffest,  das  sich 

Feoermiuik.  durch  ein  brillantes  Feuerwerk  auszeichnete,  am  27.  April 
1749  zur  ersten  Aufführung.  Was  den  Londonern  an  der 
Musik  gefiel,  war  die  außerordentlich  starke  Besetzung 
der  Blasinstrumente,. welche  die  Feuerwerks-Musik  aus- 
zuführen hatten.  Nur  selten  mochte  bis  dahin  eine  solche 
Harmoniemusik  aufgestellt  worden  sein:  9  Hörner,  9  Trom- 
peten, 24  Oboen,  12  Fagotte,  3  Pauken.  Das  Hauptstück 
der  Suite  ist  jetzt  die  glänzende  Ouvertüre,  mit  ihrem 
freudelachenden,  farbenprächtigen  Allegro,  welches  über- 
raschender Weise  nach  dem  zweiten  Lento  nochmals 
einsetzt.  Die  übrigen  Sätze  haben  einfachen  Tanz-  und 
Liedstil:  Im  Anschluß  an  die  entsprechenden  Bilder  des 
Feuerwerks  tragen  einzelne  Überschriften:  der  schöne, 
weiche  Sicihano  heißt  »la  paix«,  der  darauf  folgende 
Marsch,  in  dem  die  Trompeten  wieder  an  die  Spitze 
HMiidel,  treten  »lar^jouissancet.  Die  Wassermusik,  eine  Suite 
Wassemausik.  von  nicht  weniger  als  20  kleinen  Stücken,  ist  mit  einer 

*)  Herausgegeben  von  Herrn.  Abert.     D.  D.  T.     Bd.  43/44. 


61     ^^ 

Anekdote  verknüpft:  Freunde  Händeis,  der  bei  Georg  I. 
in  Ungnade  gefallen  war,  veranlaßten,  daß  der  König 
bei  einer  abendlichen  Vergnügangsfahrt  auf  der  Themse 
mit  dieser  Musik  überrascht  wurde.  Der  König  erriet 
den  Verfasser  der  vielstimmigen  Ovation*  und  wendete 
dem  Komponisten  seine  Huld  von  neuem  zu.  Noch  weniger 
als  die  Feuermusik  darf  man  die  Wassermusik  so  ohne 
weiteres  ia  unsem  heutigen,  an  -  philosophische  Offen- 
barungen  gewöhnten  Konzertsaal  verpflanzen.  Das -sind 
durchweg  leichtere  Unterhaltungsstückchea  heiterer  oder 
anmutiger  Natur ,  aber  durchaus  für  den  Zweck  entworfen, 
einer  fröhlichen  Gesellschaft)  die  abends  auf  der  breiten 
Themse  fuhr,  in  gehörigen  Zwischenpausen  zum  besten 
gegeben  zu  werden;  bei  gehöriger  Kürzung  und  Einrich- 
tung wird  jedoch  die  Suite  mit  dem  Reize  ihrer  Horn- 
und  Trompetenklänge  ein  einsichtiges  Publikum  auch 
heute  noch  staunen  machen  und  erfreuen. 

Lange  Zeit  waren  Feuer-  und  Wassermusik  nur  aus 
alten,  unglaublich  verstümmelten,  englischen  Ausgaben 
bekannt.  Der  47.  Band  der  Händelausgabe  Chrysanders 
bringt  die  Werke  zum  ersten  Male  in  reiner  Form. 

Wenn  einer  von  den  vielen  Kunstmusikern,  die  sich 
von  der  Mitte  des  17.  Jahrhunderts  ab  der  Suite  zuwen- 
deten, berufen  war,  in' dieser  von  Hause  aus  so  volks- 
mäßigen Gattung  etwas  Ausgezeichnetes  zu  leisten,  so  war 
es  sicherlich  Seb.  Bach,  dessen  Familie,  durch  die  vielen 
tüchtigen  Rats-  und  Stadtmusikanten,  die  sie  den  thürin- 
gischen Ländern  Generationen  hindurch  stellte,  mit  dem 
alten  anheimelnden  Pfeifertum  verwachsen  erscheint, 
Bach,  der  selbst  in  seinen  verschlungensten  Kunstwerken 
die  Neigung  zum  Volkstümlichen  bald  mit  grandiosem 
Humor,  bald  in  kindlicher  Naivität  durchblicken  läßt. 
Bach  hat  bekanntlich  sehr  viele  Klaviersuiten  geschrieben, 
Orchesterpajrtiten  haben  sich  bis  jetzt  leider  nur  vier*) 
gefunden,  was  wir  um  so  mehr  bedauern  müssen,  als  in 


♦)  Sie  sindlm  3 1  .Jahrg.  d.  Ges.- Ausg.  v.  Bachs  Werken  (durch  die 
Bachgesellsebaft)  unter  dem  übl. Titel  »Onvertiirent  veröflFentlicht. 


— •     62     «^ 

der  Mehrzahl  derselben  der  alte  einfache  Saiten geist  in 
einer  Reinheit  und  Stärke  zum  Ausdruck  kommt,  die 
andern  Tonsetzem  nicht  erreichbar  war. 

Entschieden  lehnt  sich  Bach  in  seinen  Orchestersuiten 
an  die  Tanzformen:  Nur  der  erste  Satz  —  eine  regel- 
rechte französische  Ouvertüre  von  drei  S&tzen  mit  der 
Fuge  in  der  Mitte  —  gehört,  nach  MufTatschem  System, 
j.  s.  Baeh,  der  Runstmusik  an.   Dann  kommen  Gavotten,  Menuetten, 
Suiten.     Bouröes,  Giguen,  Tanzweisen  aus  aller  Herren  Ländern 
in  voller  Naturtreue,  kaum  ein  wenig  idealisiert:  fippige 
Melodien  und  gebieterische,  markante  Rhythmen. 
j.  8.  Baeh,  Die  erste  dieser  Saiten  in  Cdur  hat  außer  der  Ouver- 

C  dur-Suite  t^re  eine  Courante,  Gavotte  I  und  11,  Forlane,  Menuett  I 
^'*  ^''     und  II,  Bour^e  I  und  II  und  2  Passepieds. 

Die  Forlane  ist  ein  venetianischer  Tanz  in  gleich- 
'    mäßig  ruhiger,  breiter  Bewegung.    Hier  wird  die  führende 
Melodiestimme: 


von  einem  Perpetuum  mobile  der  zweiten  Violinen  und 
Bratschen  begleitet;  die  Bässe  stehen  wie  Zuschauer 
daneben  und  tun  nur  das  Nötigste  um  Harmonie  und 
Rhythmus  zu  skizzieren.  Die  Besetzung  der  Suite  geht 
über  MulTat  hinaus,  sie  besteht  aus  Streichquartett  und 
dem  bekannten  Bläsertrio:  2  Oboen  und  Fagott.  Letzteres 
ist  in  alter  Weise  häufig  solistisch  und  konzertierend  ver- 
wendet. In  bezug  auf  die  Erfindung  gehört  diese  Cdur- 
Suite  nicht  zu  den  hervorragenden  Werken  Bachs.  Sie 
charakterisiert  mehr  die  Zeit  als  den  speziellen  Meister. 
Die  Biographen  setzen  sie  in  Bachs  Köthener  Periode. 
J.S.  Back,  Dieser  gehört  auch  die  Hmol^-Suite  an,  deren  eigen tüm- 
Hrooll-Suite  ücher  Zug  in  der  Verwendung  der  Flöte  besteht,  welche 
^' *^*  als  einziger  Vertreter  der  Bläserfamilie  dem  Streichor- 
chester gegenübergestellt  ist.  Doch  hat  man  sich  nach 
alter  Praxis,  mit  Ausnahme  der  speziell  als  Solo  bezeich- 
neten konzertierenden  Stellen,  eine  chorweise,  jedenfalls 
mehrfache  Besetzung  dieses  Instruments  zu  denken  oder 


63 


aber,  man  f&hrt  die  Saite  als  Kammennusik  auf,  nimmt 
nar  eine  Flöte  und  doppeltes  Streichquartett*).  In  der 
HmoU-Suite  lebt  sehr  viel  Grazie.  Das  Thema  ihrer  Fuge  ist: 


4  J  B  r  II  r  M  r  r  c  1 

r     r    1 

'  t    r  \r  '-rr=r- 

1 i LJ 

Dem  ersten  Satze  folgt,  ein  Rondeau,  das  einigermaßen 
kunstmäßig  durchgeführt  ist  und  die  einfachen  Suiten- 
maße äberschreitet  Seine  Grundmelodie  malt  aber  das 
bestimmte  Tanzbild  handgreiflich  genug: 


ii**n  u  fr  1,1  rrrr 


In  der  darauf  folgenden  Sarabande  f&hren  die  Ober- 
stimmen mit  dem  Basse  einen  Kanon  in  der  Unterquinte 
durch.  Die  weitern  Sätze  sind  2  Bour^es,  eine  Polonaise, 
bei  der  Bach,  da  Polonaisen  noch  ziemlich  neu  und  un- 
bekannt waren,  ausnahmsweise  eine  Tempobezeichnung 
angibt:  »Moderato«,  ein  Menuett  und  eine  keck  dahin- 
flattemde  Badinerie.  Die  Hmoll-Suite  hat  als  künstleri- 
scher Beitrag  zur  Kulturgeschichte  noch  ihren  Neben- 
wert Das  geschniegelte,  fein  abgezirkelte  Wesen  der 
eigentlichen  >Gesellschaft«  in  der  Zeit  des  Reifrocks  und 
der  Perücke  mit  Zöpfchen  ist  hier  so  fein  und  mit  einem 
so  behaglichen  Humor  gezeichnet,  als  es  nur  jemals  ein 
Chodowiecki  gekonnt  hätte.  Den  Verfasser  der  Matthäus- 
passion, den  Schöpfer  der  protestantischen  Kirchenkantate 
zeigt  die  Hmoll-Suite  von  einer  selteneren  Seite,  als  einen 
vollendeten  Kenner  und  Darsteller  höfischen  Geistes  und 
höfischer  Künste,  als  einen  Weltkundigen,  der  die  Eti- 
quette  bis  auf  den  unscheinbarsten  pas  beherrschte. 

Die  beiden  andcen  Suiten  Bachs  stehen  in  Ddur  und 
sind  beide  in  Leipzig  geschrieben,  möglicherweise  für  den 
Telemannschen   Musik  verein,    einen    der  Vorläufer   des 

*)  Es  gibt  von  diesem  Werk  eine  Ausgabe  von  H.  ▼.  Biilow, 
die  aber  der  fiaebschen  Musik  dorch  unnatürliche  Phrasiening 
Gewalt  antut 


--♦    64    41^ 

jetzigen  Gewandhauskonzerts,  den  Bach  von  1729—36 
dirigierte.  Es  sind  S0.genannte  Trompetensuiten,  Suiten 
mit  dem  vollen  Orchester  der  Bachschen  Zeit.  Sie  waren 
eine  Zeitlang  das  Neueste  und  Vornehmste,  was  in  dieser 
Art  Musik  zu  haben  war.  Wie  das  große  Geläute,  mußten 
sie,  wie  schon  bemerkt,  besonders  bestellt,  bewilligt  und 
bezahlt  werden.  Daß  Bach  in  Leipzig  als  Suitenkompo- 
nist volkstümlich  geworden  war,  beweist  die  von  Spitta 
dem  »Tableau  von  Leipzig  im  Jahre  1783«  entnommene 
Mitteilung,  in  der  es  bei  der  Schilderung  der  Kirmes  zu 
Eutritzsch  heißt:  >Daß  Chor  Musikanten  streicht  wacker 
zu;  debiitiert  mit  Sonaten  von  Bach  und  s(5hließt 
mit  Gassenhauern«.  Diese  Sonaten  können  nur  die  Or- 
chestersuiten oder  Teile  daraus  gewesen  sein.  Bei  den 
Laien,  und  auch  bei  den  gewöhnlichen  Orchestermusikern 
war  und  blieb  »Sonate«  der  Uuiversahiame  für  mehr- 
sätzige  Kompositionen  jedweder  Art. 
J.S.Bach,  -Die  erste-  dieser  beiden  Ddur-Suiten  ist  auch  heute 
D  dar  Suite  wieder  populär.  Wir  wollen  nur  die  Anfangstakte  ihrer 
(Nr. 8).      Ouvertüre  hersetzen: 

.       Gravc.  ^  

Das  Weitere,   die  in      Aiie^ro 
heiterster    Kraft     dahin- ,|L,ppJ3^^p^^|[j;;^^ 
schäumende    Fuge,     die  v  uu  k-u 

entzückende,  in  selige  Abendstimmung  getauchte  Air'^), 
Lentg.  f  ^       .  <ii6  energischen  Gavotten  und 

<   '"     |T  r-l^  r  r  r  r  r  ^ ^    l  ^^^  ^^^  no(i\i  dazu  gehört : 

Bour^e  und  Gigue,  das  alles 
steht  jedem  Musikfreund  mit  der  losen  Skizze  vollständig 
vor  der  Erinnerung.  Es  ist  fast  unvermeidlich,  diese 
Musik,  die  aus  dem  frischsten  Quell  entsprungen  ist,  sich 
zu  merken.    Ein  äußerst  glücklicher  Griff  war  es,  daß 

*}  Sie  vird  in  der  bekannten  WilhelmjscTien  Bearbeitnng 
für  SoIovioUne  darch  die  Transposition  auf  die  tiefen  Saiten 
im  Oharakter  eiitatellt. 


« 


Mendelssohn  (im  Jahr  1838}  gerade  mit  diesem  Werke 
den  als  Orchesterkomponisten  ganz  vergessenen  Groß- 
meister in  den  Gewandhanssaal  und  damit  in  ^as  Konzert- 
leben der  Gegenwart  znrückfährte.  »Er  wiegt  uns  samt 
and  sonders  auf  dem  kleinen  Finger«  schrieb  Schumann 
unter  dem  frischen  Eindruck  der  Aufftihrung  dieser  Suite.  * 

Die  andre  Suite  in  Ddur  hat  entweder  unter  der  Be-  J.  8.  Dteh, 
rühmtheit  ihrer  Schwester  oder  aber  unter  der  Bequem-  ^^''®^*** 
lichkeit  der  Dirigenten  bisher  zu  leiden  gehabt.  Noch  ehe  ^''  ** 
sie  in  der  Bachausgabe  erschien,  hat  sie  (1881)  Roitzsch 
bei  Peters  in  Partitur  herausgegeben.  Trotzdem  ist  sie 
so  gut  wie  unbekannt  geblieben.  Brenet,  der  französische 
Geschichtsschreiber  der  Sinfonie  nennt  sie  gar  nicht.  Und 
doch  ist  sie  in  doppelter  Beziehung  sehr  interessant: 
einmal  durch  ihren  Eigenwert,  zweitens  durch  den 
Vergleich  mit  der  andern  Ddur-Suite,  der  in  der  Ouver- 
türe wenigstens  sich  aufzwingt.  Hier  ist  die  Verwandt- 
schaft der  beiden  Werke  eine  eminent  nahe;  im  lang- 
samen Satze  sind  die  Motive  nahezu  identisch, -nur  in 
der  Behandlung  unterscheiden  sie  sich.  Wie  die  erste 
Ddur- Suite  in  ihrer  Air,  so  hat  diese  zweite  in  der 
zweiten  Bouröe  einen  Treffer,  der  nie  versagen  wird. 
Das  ist  ein  ganz  eigenes  Stückchen  Bachscher  Melancho- 
lie;   in   heite-        ^^ 

y»'L"r^r ^dr  nf  r  i'i 

ge  der  Oboe: 

um  sie  herum  der  beunruhigte  Solofagott  und  der  lau- 
schende und  aufmunternde  Chor! 

Die  Fuge  in  der  Ouvertüre  mit  dem  Thema: 


<JB"iii'rnfT>irf7f1^iT?if.rfj'f-nffi^a 


E 


ist  von  Badi  in  der  Weihnachts-Kantante  »Unser  Mund 
sei  voll  Lachens«  zum  Chore  umgebildet  Bach  ließ  die 
Instrumente  wie  sie  waren  und  komponierte  Singstimmen 
darüber  hinzu.  Die  weiteren  Sätze  dieser  zweiten  Ddur- 
Suite  sind,  soweit  sie  nicht  schon  erwähnt  wurden: 
Bouröe  I,  Gavotte,  Menuette  con  Trio  und  ein  »Röjouis- 

Krttssehmar,  FUhnr.    I,  1.  6 


-^    66    ♦— 

sance«  benannter  Finalsatz.  Die  Instrumentierung  ist 
in  dem  ganzen  Werke  mit  besonderem  Bedacht  ausge- 
führt; ein  Teil  der  Wirkung  der  Komposition  fällt  in  ihren 
Bereich  allein.  Für  die  moderne  Praxis  macht  allerdings, 
abgesehen  von  der  Notwendigkeit,  die  drei  Oboen  jede 

*  mehrfach  zu  besetzen,  der  Trompeten chor  große  Schwierig- 
keiten, Schwierigkeiten,  die  noch  bedeutender  sind,  als 

.  die  (in  den  Originalstimmen  wenigstens]  gefärchteten  der 
bekannten  Ddur-Suite  Nr.  3. 

Trotz  des  starken  Verbrauchs  an  Orchestersuiten  sind 
im  18.  Jahrhundert  keine  mehr  gedruckt  worden.    Auch 
die  Bachschen  lagen  bis  auf  unsere  Zeit  nur  handschriftlich 
vor.    Unter  den  Zeitgenossen  Bachs,  die  sich  der  Suite 
widmeten,   ist  der  Weißenfelser  Philipp  Krieger  mit 
seiner  >  Feldmusik  <  (1704)  "*)  hervorzuheben.    Der  frucht- 
U.  P.  TeUMftBv.  barste  ist  Q.  P.  Telemann,  der  unter  dem  Pseudonym        | 
Melante  ganze  Bände  gedruckter  oder  handschriftlicher 
Suiten  —  man  spricht  von  600  —  hinterlassen  hat,  die 
sich  auf  zahlreiche  Bibliotheken  unter  der  Rubrik  »Ouver-        | 
türen«    verteilen.     Viele    davon   sind   Programmusiken,        I 
eine  hat  den  Titel  »Musique  de  table«.    Neben  ihm  ver-        { 
dient  der  als  kirchlicher  Tonsetzer  wohl  heute  noch  be-        | 
J.D.Selemk».  kannte  Job.  Dismas  Zelenka,  ein  geborener  Böhme  und 
mit  S.  Bach  zugleich  zum  Hof-  und  Kirchenkomponisten 
der  Kapelle  in  Dresden  ernannt,  Beachtung.    Die  vor- 
malige musikalische  Privatsammlung  Sr.  Majestät  des 
Königs  von  Sachsen  besitzt  von  Zelenka  eine  Trompeten- 
suite in  F,  über  deren  Humor  wohl  schon  das  Fugen- 
thema der  Ouvertüre: 


unterrichtet.  Was  ist  das  fQr  ein  drolliger  Ein- 
fall, sich  auf  dem  Sechzehntel-Motiv  festzu- 
rennen, und  was  gibt  das  für  einen  grotesken  Scherz,  wenn 

*)  Zwei  Partien  daraus  neagedrackt  In  Eitnen  Monats- 
heften (29.  Jahrgang^. 


--♦    67    4^ 

die  Oboen  in  Terzen  sich  mn  die  Stelle  abmühen!  In  dem 
guten  Blick  und  der  Vorliebe  für  lustige  Nebenmotive  haben 
wir  einen  Zag,  an  dem  die  slavische  Musik  noch  heute  zu  er- 
kennen ist.  Mit  der  Ouvertüre  teilt  ihn  auch  der  Schlußsatz 
▼onZelenkas  Suite,  eine  »Folie«,  mit  folgendem  Hauptthema: 
AUegro  •  aus  dem  im  Ver- 

<^M  r  J  J]73|rrfMr?^' I^ljy  ^^"^  ^^^  ^^i^^ 

ir  ■  «J^      i|  u  i    I  I  yQj^  Anfang  des 

dritten  Taktes  bevorzugt  wird.  Diese  Folie  ist  sehr  lang 
und  eifrig  durchgearbeitet,  ein  Zeichen,  daß  die  höhere 
Kunst  in  der  Suite  sich  nicht  mehr  mit  der  Ouvertüre 
begnügen  wollte,  daß  man  das  Wesen  der  Suite  nicht 
mehr  recht  verstand.  Freilich  war  bereits  die  Ouvertüre 
ein  Fremdkörper  in  der  Gattung,  und  es  war  nur  folge- 
richtig, daß  man  wie  den  Kopfsatz  auch  andre  Teile  der 
Suite  auf  ein  höheres  Niveau  zu  heben  suchte.  Das 
Journal  du  prinptemps  und  derZodiacus  fuhren  zu  diesem 
Zweck  in  den  Tanz-  und  Ballettsätzen  das  konzertierende 
Element,  den  Wechsel  von  Soli  und  Tutti,  von  Triobeset- 
zung und  vollstimmigen  Orchester  ein.  Der  erste  Kompo- 
nist, der  einen  entschiedenen  Schritt  weiter  geht,  ist  wohl 
der  berühmte  Verfasser  des  Gradus  ad  Parnassum,  der 
Wiener  Oberkapellmeister  Josef  Fux  in  seinem  »Con-  joief  F«z. 
centus  mu5;iro  instrumentalisc  von  1701.  Die  in  diesem 
Werk  enthaltenen  Orchestersuiten  folgen  Fischer  und 
Schmierer  im  Konzertieren  und  variieren  sogar  diese  Vor- 
bilder u.  a.  mit  virtuosen  Fagottsolis,  aber  sie  greifen 
darüber  hinaus  tief  in  den  Aufbau  und  in  die  Natur  der 
Suite  ein,  indem  sie  die  Einheit  der  Tonart  aufgeben, 
Bdur  z.  B.  mit  GmoU,  Dmoll  mit  Ddur  abwechseln,  vor 
allem  aber  dadurch,  daß  sie  gelegentlich,  sei  es  in  der 
Mitte  "oder  am  Ende  der  Suite,  einen  Tanzsatz  oder  ein 
Lied  durch  eine  regelrechte  muntere  Fuge  ersetzen.  Im 
übrigen  gehören  die  Suiten  von  Fux*)  zu  den  köstlichsten 
und  interessantesten  Leistungen  im  Bereich  des  Mufifat- 

*)  Eine  In  D  moU  nnd  eine  in  B  dm  in  den  DenkmElern 
der  Tonkunst  in  östeirelch  IX,  2. 

6* 


^ 


--•     68    ♦— 

sehen  Typus.  Fax  belebt  die  Form,  indem  er  ein  Ällegro 
mit  einigen  Takten  Adagio  unterbricht,  fQr  den  Klang 
sorgt  er  darch  eine  ausgearbeitete  Dynamik,  in  der 
reizende  Echos  eine  Hauptrolle  spielen;  was  er  aber 
nach  der  volkstümlichen  Seite  bietet,  mag  der  Anfang 
des  Passepieds  in  der  Bdur-Suite,  das  die  Beischrift: 
»Der  Schmiede  trägt, 


i^'V  \ftl\t  r[  ll'liifili   l*^-«- 


veranschaulichen. 

Die  Weiterbildung  des  Muffatschen  Suitentypus  ist 
demnach  schon  vor  Zelenka  da,  er  erfährt  aber  bald 
auch  eine  Rückbildung,  die  mit  seiner  Auflösung  und  mit 
dem  vorläufigen  Ende  der  Suite  abschließt.  Bedeutungs- 
voll f&r  diesen  Prozeß  sind  zunächst  die  Suiten  (Ouver- 
PantftleoB.  türen)  Pantaleons.  Das  ist  der  Dresdner  Klavier-  und 
Violinspieler  Pantaleon  Hebenstreit,  der  durch  die  Er- 
findung einer  neuen  Art  von  Hackebrett,  die  er  mit  seinem 
Vornamen  belegte,  weltbekannt  wurde.  Bei  ihm  verliert 
die  Ouvertüre  den  französischen  Charakter,  er  gibt  die  Fuge 
auf   und    hält  den  Ouvertüre. 


Mittelsatz   als   ein-  ,_^h^-    J_  >  |J     J.  J^  |  >) 
faches,  lustiges  AI-     Vr       ^   "      V    y         s 


legro.    Dafür  kehrt 
er  zu  der  Methode       ^  ,  Air  de  Chaconne. 
Peurls  und  Scheins  2.  A'ttlf  »  J  J  |  J  J  -^   T  J  "^   I  ^ 
zurück    und     ver-     ^        f  f*  f'  f 

knüpft  dieOuvertüre 

motivisch  mit  den  „    Pluu  i,  J    j  JH  |  il    I   J    | 
beiden      folgenden     Vr    *  p     ♦    -«       »  -  y 
Suitensätzen,zB*):  *     ^       fr' 

Den  Schluß  bildet  eine  Bouröe  mit  Menuett  als  Mittel- 
satz, die  ihr  eigenes  thematisches  Material  hat  Ver- 
knüpfungen aber  zwischen  den  drei  ersten  Sätzen  der 
Suite  finden  sich  auch  bei  Zeitgenossen  Hebenstreits. 

*)  Dartnstädter  Hofbibliothek  in  Mms.  3895,  Nr.  1. 


— •    69    ♦— 

• 

Auch  Johann  Friedrich  Fasch,  der  Zerbster  Hof-  F.  FMch. 
kapellmeister,  einer  der  bedeutendsten  Saitenmeister, 
schreibt  neben  vollständig  französisch  gehaltenen  Onver- 
tfiren  andre,  die  wie  die  Hebenstreitschen  die  Fuge  fallen 
lassen,  and  drittens  solche,  die  aus  einem  einzigen  Satze, 
einem  freien  AUegro  bestehen.  In  diesem  letzten  Falle  liegt 
eine  Abwendung  von  französischer  und  Hinwendang  zu  ita- 
lienischer Kanst,  insbesondere  zu  dem  Konzert  der  Italiener 
vor.  Eine  B  dar- Suite*;  Faschs  bestätigt  das  gewisser- 
maßen thematisch,  denn  das  Hauptthema  ihrer  Ouvertüre: 

Alle^ro         V  igt    inj    italieni- 


ji't'Mli ffjjuijii 


sehen  .  Konzert 
eine    Art  Aller- 


weitslhema  and  als  solches  unter  andren  auch  von 
Seb.  Bach  für  das  dritte  Brandenburgische  Konzert  auf- 
gegriffen worden.  Es  verdankt  die  noch  bis  Mendels- 
sohn nachweisbare  BeUebtheit  augenscheinlich  seiner 
Wandlungsfähigkeit  Die  folgenden  Sätze  haben  bei 
Fasch  teils  Ballettüberschriften,  wie  »Jardiniers«,  teils  ver- 
zichten sie  auf  jede  Bezeichnung  ihres  Charakters.  In 
ihrer  Instrumentierung  machen  sich,  wie  bei  Fux  die 
begleiteten  Fagottsoli,  romantische  Stellen  für  das  Hörn 
bemerkbar;  auch  das  ist  eine  Annäherung  an  die  alte 
Haußmannsche  Suite,  der  Serenadencharakter  macht  sich 
wieder  geltend.  Die  Satzzahl  schwankt  bei  Fasch,  er 
bevorzugt  einen  Aufbau  von  sechs  und  acht  Sätzen,  hat 
aber  auch  kürzere,  und  bei  seinen  Mitarbeitern  taucht 
wieder  die  alte  viersätzige  Suite  auf.  Von  dem  Nürn- 
berger Johann  Pfeiffer  haben  wir  eine  solche  vier-  joh. Pfeiffer, 
sätzige  Homsttite,  die  fo'gendermaßen  anordnet:  a)  Ouver- 
türe, b)  Andante,  c)  Allegrezza,  d)  Ailegro  e  Vivace.  Setzt 
man  da  statt  der  Allegrezza  einen  Menuett  ein,  so  ist  die 
Haydnsche  Sinfonie  fertig.  Als  interessanterVertreter  dieser 
Suite  am  Ende  derGattung  ist  noch  Christoph  Förster*'*'; 

•)  Ebenda:  Mms.  3871,  Nr.  1.. 
^  S.  Hugo  Biemann:  Die  französische  Oavertüre  (Cr- 
chestersüite)  in  der  ersten  Hälfte  des  achtzehnten  Jahrhanderts 
(MusikaUsches  Wochenblatt  1899). 


--•    70    «^ 

ZU  nenneD.  In  Norddeutschland  und  Mitteldeutschland 
wird  in  der  zweiten  Hälfte  des  18.  Jahrhunderts  die 
Orchestersuite  auch  in  den  Handschriften  immer  sel- 
tener. In  Süddeutschland  und  Osterreich  lebt  sie  weiter, 
aber  auch  hier  wird  der  Muffatsche  Typus  nur  von 
einer  Minderheit,  in  der  sich  in  freierer  Weise  der  Böhme 

Frani  Ton».  Franz  Tum a*)  hervortat,  vertreten.  Die  Mehrzahl 
der  Komponisten'  pflegeii  die  Gattung  in  einer  neuen 
Mischung  von  Volks-  und  Kunstmusik,  bei'  der  französi- 
sche Ouvertüre,  Cembalo  und  großes  Streichorchester 
gefallen  sind.  Salzarten  und  Instrumente  deuten  noch 
entschiedener  als  in  der  Hanßmannschen  Zeit  auf  den 
Gebrauch  im  Freien  und- bei  Aufwartungen  und  Ständ- 
chen hin.  Den  Aufmarsch  der  Musikanten  markiert  eine 
einsätzige  Introduzione,  die  zuweilen  gleich  als  Marcia 
bezeichnet  ist,  das  Ende  der  Huldigung  und  den  Abzug 
der  Spieler  meldet  ein  Finale,  das  immer  aus  einem 
besonders  flotten  Allegro  besteht.  Die  Zahl  der  Sätze 
schwankt  zwischen  vier  und  acht,  fast  nie  fehlt  unter 
ihnen  ein  Menuett,  zuweilen  findet  sich  dieser  Lieblings- 
tanz der  W«rther-  und  Luisen  zeit  auch  zweimal  an  seiner 
Seite  die  Polonaise.  Einen  weiteren  Unterschied  gegen 
die  Haußmannsche  Periode  bildet  die  Verwendung  obli- 
gater Soloinstrumente  und  die  Einlage  virtuos  konzer- 
tierender Episoden,  zu  denen  gelegentlich  auch  der  Kontra* 
baß  herangezogen  wird.  Ferner  ist  die  Einheit  der 
Tonart  gefallen,  mindestens  in  einem  Satz  kommt  die 
Unterdominante  zu  Ehren.  In  der  Führung  der  Instru- 
mente zeigt  sich  der  Einfluß  des  Quartetts  und  der  neuen 
Kammermusik,  Nachahmungen  sind  sehr  beliebt,  und  zu- 
weilen wird  ein  hübsches  Allegretto  in  einem  ganzen 
Zyklus  von  Variationen  ausgekostet.  Diese  neuen  Suiten 
haben  verschiedene  Gattungsbezeichnungen:  Kassation, 
.  Serenata,   Divertimento.     Mit  dieser  letzten  ist  ihr 

•  Wesen  am  besten  bezeichnet,  denn  immer  sind  sie  eine 


*)  Proben   aus  Tnmaschen  Suiten   bat  In  KlaTleraupzfigeD 
0.  Mimidt  veroffentUckt 


Quelle  feinsten  Vergnügens  und  Behagens  für  Gemüt  and 
Phantasie,  kleine  Feste  der  Anmut,  der  Liebenswürdigkeit, 
des  Scherzes  und  der  Schäkerei  Träumerei,  Pathos  und 
Innigkeit  liegen  ihnen  femer,  aber  als  Bilder  artigen  Froh^ 
Sinns  gehören  sie  zu  den  Dokumenten  der  Zeit  und  bilden 
eine  Ergänzung  der  Haydnschen  Sinfonie  nach  der  Seite 
■chlichten  Bürgertums.  Waren  sie  bis  jetzt  in  unseren 
Notenschränken  nur  durch  die  ziemlich  unbeachteten 
Betträge  Wolfgang  Mozarts  vertreten,  so  steht  mit 
der  eben  beginnenden  Gesamtausgabe  der  Werke  Jos. 
Haydns  eine  sehr  beträchtliche  Vermehrung  zu  erwarten. 
Aus  einem  solchen  Haydnschen  Divertimento  für  Blfiser 
ist  der  originelle  Chorale  St  Antoni  entnommen ,  über 
den  Brahms  seine  bekannten  Orchestervariationen  ge- 
schrieben hat  Auch  der  Salzburger  Michael  Haydn 
ist  ein  meisterlicher  Vertreter  dieser  neuen  Suite,  sein 
Divertimento  in  6  aus  dem  Jahre  1785 "*)  kann,  wenn  man 
seinen  beschaulich  biederen  Humor  mit  den  gleichzeitigen 
Scherzgedichten  vergleicht,  wieder  einmal  als  Beleg  da- 
für dienen,  daß  man  das  echte  Deutschland  des  18.  Jahr- 
hunderts nicht  bei  seinen  Vor-Goelheschen  Poeten,  sondern 
bei  seinen  Musikern  suchen  muß.  Auch  Leopold  Mozart 
hat  über  dreißig  solche  »große  Serenafen  darinnen  für 
verschiedne  Instrumente  Solos  angebracht  sindc  geschrie- 
ben, doch  sind  sie  verschollen. 

Eine  besonders  reich  angebaute  Klasse  bilden  unter 
den  Divertimentis  des  ausgehenden  18.  Jahrhunderts  die 
»Divertimenti  a  tret.  Mit  ihrer  kleinen  Besetzung 
kamen  sie  auf  der  einen  Seite  den  Verhältnissen  der 
untersten  Gassen-  und  Schenkenmusik  entgegen,  auf  der 
andren  reizten  sie  die  höhere  Komposition,  sich  an  be- 
scheidenen Mitteln  zu  erproben,  und  fanden  so  den  Weg 
in  die  Kammermusik.  Hier  vertritt  sie  heute  noch  Beet- 
hovens Streicherserenade. 

Neben  die  Gabrielische  Orchestersonate  und  neben 
die  Suite  tritt  schon  bald  im  17.  Jahrhundert  als  eine 


*)  Denkm&ler  der  Tonkansi  in  Österreich  XIV,  2. 


72    ♦-- 

dritte   Gattung   Belbständiger  Orchestermusik   die  Sin- 
fonie. 

Das  Wort  Sinfonie  führt  uns  einige  Jahrtausende  za- 
rück:  Die  griechischen  Theoretiker  gebrauchen  es  zuerst 
in  dem  Sinne  eines  melodischen  Intervalls;  bei  den  mittel- 
alterlichen Musikschrifistellern  erhält  es,  von  Hncbald, 
von  Guido  von  Arezzo  ab,  die  Bedeutung  des  Zusammen- 
klangs, des  Akkords.  Zur  Bezeichnung  eines  wirklichen 
Musikstücks  kommt  es  wohl  zum  ersten  Male  im  16.  Jahr- 
hundert auf  der  von  Riemann*)  mitgeteilten  »Leipziger 
Symphonia«,  einer  auf  den  Gegensatz  von  Andante  und 
Allegro  gebauten,  für  Instrumente  und  Singstimme  be- 
stimmten Komposition  vor.  Im  16.  Jahrhundert  endlich 
erscheint  das  Wort  auf  den  Titeln  von  Kompositionen 
allgemein  poetisierend:  Waelrant  1594:  Symphonia  an- 
gelica,  Engelsklänge,  G.  Gabriel!  1597:  Sacrae  symphoniae, 
fromme  Klänge,  Adr.  Banchieri  1607 :  Ecclesiastische  Sin- 
fonie, geistliche  Klänge.  Es  bergen  sich  zunächst  unter 
diesen  Sinfonien  Sätze  von  ganz  verschiedener  Form, 
vokale  und  instrumentale.  Erst  in  der  Oper  wird  die 
sionteverdii  Sinfonie  ausschließlich  Orchestermusik.  In  Monteverdis 
Siafoniw.  Qrfeo  werden  Szenen  und  Akte  durch  Orchestersätze  von 
mäßiger  Länge  (6,  10,  12  Doppelakte]  eingeleitet  und  ab* 
geschlossen,  die  als  Sinfonien  bezeichnet  sind  im  Gegen- 
satz von  andern,  die  Strophen  eines  Gesangs  vorbereiten- 
den Instrumentalsätzchen,  die  Ritornello  heißen**). 
Wir  haben  also  hier  Sinfonien  zum  ersten  Male  im  Sinne 
kurzer,  instrumentaler  Einleitungen.  So  wird  das  Wort 
bekanntlich  noch  lange,  bis  in  die  Zeiten  der  Bachschen 
Kantaten  gebraucht.  Mattheson  kennt  es  fast  nur  von 
dieser  Seite.  Diese  Monteverdischen  Sinfonien,  die  zum 
Teil  in  ihrem  feierlichen  und  erhabenen  Charakter  noch 
einen  deutlichen  Zusammenhang  mit  der  Kirche  und  mit 


*)  Hugo  Riemann:  Handbuch  der  Masikgesehlchte H,  1, 
S.  207  u.  ff. 

**)  Alfred  Heaß:  Die  Instramentalstücke  de«  »Orfeoc 
(SammelWnde  d.  I.  M.  G.  lY,  176  u.  fj. 


--^    73    *^ 

Galnieli  haben,  gehören  mit  zu  den  bedeutendsten  M5he- 
pankten  in  der  Kunst  des  groBen  italienischen  Meisters. 
Ein  solches  Mittel  zur  Beseelung  der  Handlung  hatte  bis 
dabin  keine  Art  von  Drama  besessen.  Auch  der  Chor 
der  griechischen  Tragödie  bleibt  dahinter  zurück.  Denn 
diese  Monteverdischen  Sinfonien  gaben  nicht  bloß  der 
Stimmung  an  wichtigen  Stellen  mächtigen  Ausdruck, 
sondern  sie  verknüpften  auch  entfernte  Szenen  in  einer 
innigen  poetischen  Weise,  die  neu  war,  die  später  ver- 
gessen und  erst  durch  Komponisten  unsrer  Zeit,  ins- 
besondere durch  R.  Wagner  wieder  entdeckt  wurde.  Eins 
der  schönsten  Beispiele  für  diese  Verwertung  der  Instru- 
mentalmusik bietet  Monteverdis  Orfeo*]  im  dritten  Akt: 
Qie  Sinfonie,  unter  deren  schauerlichen  Posaunenklängen 
hier  Orfeo  zum  Hades  hinabsteigt,  hören  wir  in  dem 
Augenblick,  wo  Charon  den  Bitten  des  Sängers  weicht 
zum  zweitenmal:  jetzt  aber  gedämpften  Tons  im  Brat- 
schenkolorit Unter  den  nächsten  Nachfolgern  Monte- 
verdis ist  Giulia  Caccini  als  Vertreterin  dieser  kleinen 
szenischen  Sinfonien  zu  bemerken;  in  der  Venetianischen 
Schule  zeichnet  sich  Cavalli  darin  besonders  aus.  Ihm  CaTalUi 
gelingen  namentlich  malerische  Aufgaben,  die  Schilde*  Sinfonien. 
rang  eines  Sonnenaufgangs,  einer  Fahrt  auf  ruhigem 
Meer  (Sinfonia  navale  in  »Didone«)  ganz  herrlich. 

Eine  Hauptbedeutung  gewann  die  Oper  für  die  Sin- 
fonie von  dem  Augenblick  ab,  wo  die  Sinfonie  zur  Er- 
öffnung der  Mosikdramen  verwendet  wurde.  Schon  Monte- 
verdi  hat  diesen  Versuch  gemacht.  Doch  blieb  man  noch 
lange  dabei,  die  Handlungen  mit  einem  gesungenen  Pro- 
log einzuleiten.  Erst  in  der  Venetianischen  Schule,  etwa 
▼on  16fiO  ab,  haben  alle  Opern  Instrumentalprologe  und 
zwar  mit  dem  Titel  Sinfonie.  Mit  diesen  Venetianischen  Venetianischc 
Opemsinfottien  —  auf  sie  wird  in  dem  Bande  über  die  Sinfonie. 
Ouvertüre  näher  einzugehen  sein  —  beginnnt  dieGe- 


*)  Der  Orfeo  Monteverdis  ist  teilweise  im  10.  Bande  der 
»Pablikationen  der  Gesellschaft  für  Musikforschungc  veröffent- 
licbt  worden. 


— »    74    4^ 

schichte  der  modernen  Sinfonie  und  zwar  ist  diese 
Jagendzeit  einer  ihrer  rtthmlichsten  und  gehaltvollsten 
Abschnitte.  Es  sind  Kompositionen  von  mäßigem  Um* 
fang  —  von  35  bis  zu  70  Takten  —  und  nur  einsätzig; 
aber,  durch  Wechsel  von  Takt  und  Tonart  scharf  und 
reichgegliedert,  bergen  sie  innerhalb  dieses  einen  Satzea 
einen  mannigfaltigen  Inhalt,  eine  verhältnismäßig  große 
Reihe  von  Bildern,  die  in  der  Regel  ebenso  wirkungsvoll 
wie  natürlich  aneinanderschUeßen.  Im  Vergleich  zar 
Gabrielischen  Sonate  führen  sie  in  eine  viel  buntere  und 
gestaltenreichere  Welt  und  schildern  neue  Aufgaben  mit 
neuen  Mitteln.  Die  ge-  ••.•••  mit  denen  noch  Händel 
brochenen  Rhythmen:  LLLT  und  das  18.  Jahrhundert 
Erregung  und  Unruhe  wirkungsvoll  zeichnen,  die  General- 
pausen  und  Fermaten  sind  hier  heimisch.  Denn  wie  sie 
anekdotenhall  und  unruhig  waren,  so  waren  diese  Vene- 
tianischen  Opern  auch  an  Wundern  und  Schrecken,  an 
Spannung,  Entsetzen  und  Überraschungen  aller  Art  mehr 
als  reich.  Allen  diesen  Eröffnungssinfonien  war  auch 
ein  feierlicher,  langsamer,  breiter  Anfang  gemeinsam,  der 
zuweilen  in  der  Mitte  und  sehr  häufig  am  Ende  wieder- 
kehrt, ein  Tribut  von  dem  Komponisten  der  Verwandte 
Schaft  zwischen  Musikdrama  und  griechischer  Tragödie 
gezollt! 

Aber  viel  stärker  als  die  typischen  treten  an  diesen 
Venetianischen  Sinfonien  die  individuellen  Zöge  hervor. 
Gerade  darin  liegt  ihr  Hauptwert,  daß  sie  immer  ein  Bild 
von  dem  Drama  geben,  dem  sie  vorangestellt  sind;  das 
macht  sie  unter  einander  so  verschieden,  gibt  den  ein- 
zelnen ihr  scharfes,  charaktervolles  Gesicht.  Man  weiß 
aus  diesen  Sinfonien  ohne  weiteres,  was  im 'Drama  zu 
erwarten  ist:  ob  Krieg  und  Kampf,  Schauer  und  Unglück, 
oder  ob  heitre  und  elegische  Elemente  die  Oberhand 
haben.  In  knapper  Form  entwickeln  sie  einen  reichen 
Inhalt,  aus  dem  deutlich  und  beherrschend,  wie  der  Berg 
aus  der  Ebene,  ein  Hauptstück  hervortritt.  Diesen  Mittel- 
punkt bildet  in  der  Sinfonie  von  Luzzos  »Medoroc  z.  B. 
die  wilde  und  alarmierende  Episode,  die  gleich  nach  den 


--♦    75    <^ 

Einleitüngstakten  einsetzt,  in  der  von  ^avalHs  »Ercole« 
der  Abschnitt,  wo  die  Sextakkorde  in  ungestümer  Hast 
und  Kraft  dahinjagen,  eine  kühne  Anwendung  der  alten 
Faaxbourdon-Harmonie;  in  der  Sinfonie  von  Sartorios 
»Selenco«  prägt  sich  die  heimliche,  zarte  Melodie  ein, 
die  auf  das  Tranmbild  in  der  Oper  deutet;  aus  der  von 
Cestis  >Pomo  d'oroc  begleiten  uns  lange  die  freudigen 
Lieder,  die  das  Orchester  dem  Eingangschor>di  feste,  edi 
giabili«  entnimmt*).  In  der  Regel  sind  die  wichtigsten 
Themen  in  den  Venetianischen  Sinfonien  ganz  so  wie 
heute  in  der  Freischütz-,  in  der  Oberon-,  in  der  Tann- 
häuserouvertüre den  Hauptszenen  der  Oper  entnommen. 
Die  wahre  Heimat  der  modernen  Programm- 
ouvertüre, die  einzelne  Schriftsteller  mit  Gluck,  andre 
mit  Händel  und  Rameau  einsetzen  lassen,  liegt  also  in 
der  Venetianischen  Oper.  Sie  ist  bis  heute  spurlös 
vergessen  gewesen,  nur  ihre  Orchesterbesetzung  lebte  in 
der  Sinfonie  der  folgenden  Zeit  weiter.  Diese  Besetzung 
besteht  ans  Streichinstrumenten  und  Akkordipstrumenten, 
Cembalis,  Regfilen  etc. ;  von  Blasinstrumenten  kommt  fast 
nur  die  kriegerische  Trompete  vor. 

Die  Neapolitanische  Schule,  die  am  Ende  des  17.  Jahr- 
hunderts die  Führung  in  der  Oper  übernimmt,  stellt  eine 
neue  Sinfonieart  auf.  Die  Sinfonie  erscheint  bei  ihr  zum 
ersten  Male  in  der  modernen  Form  und  Bedeutung  einer 
mehrsätzigen  Komposition,  eines  höheren  Gegenstücks 
znr  Suite.  Diese  Neapolitanische  oder  italienische  italienischo 
Sinfonie  besteht  aus  drei  kurzen  Sätzen  in  der  Folge:  Sinfonie. 
Allegro,  Largo,  Presto  oder  einer  ähnlichen.  Immer  bildet 
ein  langsamer  Satz  die  Mitte  zwischen  zwei  bewegten. 
Kurze,  häufig  taktmäßig  ausgezählte  Pausen  trennen  ihn 
in  der  Regel  vom  vorhergehenden  und  dem  folgenden 
Allegro;  zuweilen  wird  er  an  den  ersten  Satz  durch  einen 
Trugschluß  näher  herangezogen.  Das  erste  Allegro  steht 
im  geraden,  das  zweite  im  ungeraden  oder  im  ^/s  und 

*)  Diese  Oper  Ist  in  den  > Denkmälern  der  Tonkunst  in 
Österreich«  veröffentlicht  (Jahrg.  III,  2). 


--^     76     *-^ 

18^8  Takt.  Beide  sind  in  der  ersten  Zeit  verhältnismäßig 
knapp  gehalten,  zwischen  15  und  80  Takten  schwankt 
ihr  Umfang.  Der  langsame  ist  meistens  der  kürzeste 
von  den  drei  Sätzen,  zugleich  aber  der  stattlichste  im 
Klang:  in  der  Regel  zeichnet  ihn  ein  schönes  Solo  der 
Oboe  oder  der  Flöte  aus. 

Die  Gesamtform  dieser  italienischen  Sinfonie  ist  ein 
sehr  glückliches  Stück  bester  Renaissancekunst.  Die  drei 
Sätze  bilden  ein  leicht  übersichtliches,  scharf  gegliedertes 
und  durch  den  einfachen,  klaren  Gegensatz  zwischen  Be- 
wegung und  Ruhe  ästhetisch  voll  befriedigendes  und  wirk- 
sames Ganze,  eine^  im  Grunde  einheitlich  oder  einsätzig 
gedachte  fröhliche,  glänzende  Festmusik,  die  nur  in  der 
Mitte  elegisch  unterbrochen  wird,  um  ein  rauschenderes, 
im  Ton  der  Freude  gesteigertes  Ende  zu  finden.  Muster 
für  diesen  Typus  bot  bereits  die  Vokalkomposition  z.  B. 
im  Kyrie  der  Messe;  auch  in  dem  großen  Wirrwarr  ver- 
schiedenster Sonaten-  und  Canzonenformen,  den  die  Ent- 
wicklung der  jungen  Instrumentalmusik  im  17.  Jahrhundert 
bildet,  taucht  er  mit  auf.  Es  ist  das  Verdienst  des  großen 
▲ .  Searlattl.  AIessandroS'carlatti,ihn  ge wisserm aßen  zum  zweiten 
Male  erfunden  zu  haben.  Soweit  es  sich  übersehen  läßt, 
hat  dieser  Meister  in  seinen  Opern  die  italienische  Sin- 
fonie ausschließlich  verwendet  und  sie  damit  und  mit 
der  Wucht  seines  Namens  für  den  ganzen  Bereich  der 
italienischen  Schule  durchgesetzt.  Sie  hat  sich  bis  heute 
behauptet  —  denn  streichen  wir  aus  unserer  modernen 
Sinfonie  das  Scherzo,  so  steht  der  Grundriß  der  alten 
itahenischen  Sinfonie  vor  uns;  ausnahmsweise  haben  ein- 
zelne neue  Sinfoniker,  Liszt,  Raff,  Tschaikowsky  für  be- 
stimmte Werke  auf  die  unverfälschte  Dreisätzigkeit  zu- 
rückgegriffen. Sie  ist  aus  der  italienischen  Sinfonie  in 
das  virtuose  Konzert  hinübergegangen  und  hat  sich  da 
bekanntlich  bis  auf  die  Gegenwart  rein  erhalten. 

Durch  die  innere  Einrichtung  steht  uns  unter  den 
drei  Sätzen  der  italienischen  Sinfonie  der  erste  am 
nächsten,  weil  er  sich  zwar  nicht  immer,  aber  doch 
meistens  in  drei  Teilen  ausspricht    Nehmen  wir  z.  B.  das 


77 


erste  Allegro  von  Scftrlattis  Sinfonie  zu  »II  thonfo  delF 
Onore«*).  Es  ist  ein  Satz  von  17  Takten.  Die  ersten 
Violinen  leiten  ihn  mit  folgendem  Thema  ein: 

Allegro. 


ijrnjrn  f-fffre  i 


rf  r  y,  [£fe£££4^   Daran  schließt  sich  ein  zweiter 

Abschnitt,  in  dem  die  Bässe  und 
nach       ihnen  ^        durch  die  Tonarten  tragen. 

die  Violinen  fiCf  p^f^  ^^  S^^^  ^^^  Cdur  über  Ddur, 
nur  das  Motiv:  '  ^"^     EmoII,  Gdur  nach  C  zurück 

und  schließt  mit  dem  zwölften  Takte,  der  uns  wieder  vor 
den  Anfang  des  Satzes  führt.  Wir  haben  also  in  diesem 
lliniatnrsatz  doch  schon  ganz  deutlich  das  Gerippe  des 
ersten  Satzes  der  Haydn-Beethovenschen  Sinfonie,  oder 
wie  man  gewöhnlich  sagt,  das  Sonatenschema  vor  uns: 
a)  Themengruppe,  b)  Durchführung,  c)  Wieder- 
holung, und  was  das  wichtigste  ist,  den  Durchführungs- 
teil  nach  den  Prinzipien  gestaltet,  die  noch  heute  gelten. 

Der  langsame  Satz  hat  häufig  die  einfache  zweiteilige 
Liedform;  zuweilen  bringt  er  gar  kein  Thema,  sondern 
markiert  nur,  präludienartig  modulierend,  die  Stelle,  wo 
das  Gemüt  ruhen  und  träumen  will  und  darf.  Der 
schließende  schnelle  Satz  zerfällt  in  der  Regel  in  zwei 
Teile,  die  thematisch  verwandt  sind  und  beide  wiederholt 
werden.  Obwohl  die  angeführte  Sinfonie  (und  die  zu 
»Amor  volubile«)  Hauptbeispiele  von  Scarlattis  klanglicher 
Bescheidenheit  sind,  indem  sie  von  Blasinstrumenten  nur 
die  Flöte  (im  langsamen  Satz)  verwenden,  lassen  sie  doch 
erkennen,  was  er  für  die  Technik  und  den  Glanz  der 
Violinen  im  Orchester  bedeutet. 

Im  letzten  Drittel  des  17.  Jahrhunderts  war  zu  der 
italienischen  eine  französische  Oper  gekommen  und  auch 

*)  E«  ist  die  114.  Oper  des  Komponisten,  ihr  Entatebnogi- 
JAkr  1718. 


--♦    78    *— 

die  Franzosen  entschieden  sich  für  eine  Instrumental- 
Fruizösische  sinfonie  als  Einleitungsstück  der  Oper.  Diese  franzdsi- 
Sinfonie,  g^j^^  Sinfonie  oder  Ouvertüre,  die  sehr  häufig  die 
J.  B.  Lnilj.  Lullysche  genannt  wird,  obschon  sie  bereits  bei  Cambert 
vorkommt,  besteht  ebenfalls  aus  drei  Sätzen,  aber  in  der 
Anordnung  Grave,  Allegro,  Grave.  Auch  darin  unter- 
scheidet sich  die  Form  dieser  französischen  Shifonie,  der 
wir  in  der  Suite  der  MufTat,  Händel,  Bach,  Zelenka  be- 
reits begegnet  sind,  von  der  der  italienischen,  daß  der 
erste  Satz  in  der  Regel  ohne  Pause  in  den  zweiten  und 
ebenso  dieser  in  den  dritten  übergeht.  Nimmt  man  noch 
hinzu,  daß  der  dritte  Satz  (das  zweite  Grave)  zuweilen 
eine  wörtliche  und  vollständige,  oder  aber  abgekürzte 
•  Wiederholung  des  ersten  langsamen  Satzes  ist,  so  ergibt 
sich  für  die  französische  Sinfonie  eine  größere  Abrundung 
und  Geschlossenheit  Sie  neigt  noch  mehr  als  die  itali- 
enische zur  Einsätzigkeit;  das  in  der  Mitte  stehende,  in 
der  Regel  fugierte  Allegro  ist  nicht  bloß  örtlich  der  Mittel- 
punkt des  Ganzen,  sondern  auch  dem*  Umfang  und  dem 
Geist  nach,  und  das  zweite  Grave  bleibt  so  oft  weg,  daß 
es  neuere  Historiker  überhaupt  nicht  zum  Schema  rechnen. 
In  der  Tat  ist  auch  aus  jener  französischen  Sinfonie  des 
17.  und  18.  Jahrhunderts  die  einsätzige,  langsam  ein- 
geleitete Ouvertüre  der  Cherubini  und  Beethoven  hervor- 
gegangen; ja  selbst  die  langsamen,  so  beliebten  und  so 
dummen  Einleitungen  des  modernen  Walzers  stammen 
aus  dieser  Quelle. 

Sowohl  die  italienische,  wie  die  französische  Sinfonie 
stellen  sich  eine  ganz  andre  Aufgabe,  als  die  Venetiani-  I 

anische.  Diese  sucht  möglichst  viele  und  möglichst  ge- 
treue Miniaturbildchen  aus  dem  folgenden  Musikdrama 
vorauszuwerfen.  Jene  beiden  wollen  weniger  ein  bestimm- 
tes Theaterstück,  als  vielmehr  ein  Fest  einleiten.  In 
Venedig  waren  die  Opernbühnen  Volkstheater,  in  Neapel 
und  Paris  Hofinslitute.  Diesem  Charakter  der  Opernauf- 
führung tragen  die  neuen  Sinfonietypen  Rechnung;  die 
italienische  betont  dabei  die  heiteren  und  glänzenden 
Seiten  des  Festes,  die  französische  die  feierlichen  und 


— ♦    79    ♦^ 

majestätischen.  Fehlte  doch  der  Roi  Soleil  bei  keiner  wich- 
tigen Vorstellung  seiner  Acad^mie  Royale  de  musiquel 

Musikalisch  haben  die  italienische  und  die  französi- 
sche Sinfonie  vor  der  Venetianischen  die  stattlichere  Form 
und  die  Möglichkeit  voraus,  eine  gewählte  Idee  eingehen- 
der ra  verfolgen.  Aber  der  Verzicht  auf  die  Anregungen, 
die  der  Phantasie  des  Komponisten  aus  dem  Drama  zu- 
strömten, ist  der  Entwicklung  der  beiden  Typen  unheil- 
▼oU  geworden.  Die  französische  Sinfonie  hat  dabei  weniger 
gelitten.  Dank  Lully,  der  sich  darauf  verstand,  in  seinen 
Allegris  trotz  des  steifen  Einerleis  der  ewigen  Fugen^ 
doch  einigermaßen  den  Charakter  des  kommenden  Dramas 
anzuktitnden  und  wenigstens  klar  zu  machen,  ob  die  Oper 
heroisch  oder  pastoral  sein  werde,  waren  in  der  franzö- 
sischen Sinfonie  CharaktergemälHe  ersten  Ranges  möglich, 
wie  sie  jederfnann  in  Glucks  Iphigenienonverlüre  c.w.T.Oluek. 
kennt  und  in  Händeis  herrlicher  Ouvertüre  zu  »Agrip-  O.F.  Hindel. 
pinac*)  kennen  sollte.  Seitenstücke  zu  diesen  Meister- 
werken wolle  man  in  den  Opern  Rameaus  aufsuchen,  J.  p.  Bsneaii. 
▼on  denen  auch  jede  bescheidenere  Musikbibliothek  einige 
Exemplare  zu  besitzen  pflegt.  Rameau  war  es,  der  den 
Obergang  aus  der  dreisätzigen  Sinfonie  zur  einsätzigen 
Ouvertüre  mit  langsamer  Einleitung  anbahnte.  Freilich 
scheinen  die  bedeutendsten  Sinfonien  nicht  immer  die 
beliebtesten  gewesen  zu  sein.  Das  zeigt  jene  Anekdote 
von  Friedrich  dem  Großen,  der  es  Graun  sehr  verdachte, 
daß  er  in  der  Ouvertüre  zu  »Papirioc  die  Fuge  durch  ein 
charaktervolles,  frei  geformtes  Allegro  ersetzt  hatte  **). 

Die  Vorlagen,  die  Scarlatti  den  Italienern  gab,  waren 
geringer.  Die  Musik  seiner  Sinfonien  ist  sinnig,  anmutig, 
munter  und  geistvoll,  aber  Größe  und  Tiefe  streift  sie 
nur.  Das  Beste,  was  seine  Sinfonien  bieten,  liegt  auf  der 
sinnlichen  Seite  in  einem  glänzenden,  geistreichen  Kon- 
zertieren, in  einer  sinnigen  Figuren bildung,  im  blenden- 

*)  57.  Lieferang  der  deutschen  B&ndelaii«gabe. 
**)  L.  Sehneider,  Geschichte  der  Oper  in  Berlin  (1852), 
S.  111  iteUt  den  SaohTerhalt  verkehrt  dar. 


^«    80    «— 

den  Kolorit,  Eigenschaften,  die  e.  D.  die  OuTertöi«  zn 
>1I  prigioniero  fortno  ato<  {1709;  mit  ihren  TrompeleD- 
Chören  und  ihrem  Solocello  aufs  schönst«  vereint  Was 
Hohes  in  der  italienischen  Sinfonie  mOglich  war,  daa 
L.  Lm.  zeigen  die  Oratorieneinleitnngen  Leonardo  Leos,  ron 
denen  die  zu  >St.  Elena  al  Calvario«*)  seit  etlichen 
Jahreo  in  Partiturdruck  vorliegL  Daa  ist  große  nnd  edle 
Trauer  in  unvergänglichem,  für  alle  Zeiten  rnnsteriiaFten 
Toni  Solche  Werke  sind  aber  leider  in  der  italienischen 
Schale  die  Ausnahme.  Mit  L.  da  Vinci  beginnt  in  ihrer 
Sinfonie  ein  Verfall,  der  die  Mehrzahl  ergriff  nnd  dem 
die  VersDche  einzelner  ernster  Tonsetzer  danemd  Einhalt 
SD  tun  nicht  vermochten.  Äußerlich  wachs  sie.  Die  Satz« 
wnrden  alle  drei  langer  und  reicher  im  Ausbau.  Der 
erste  ffigte  ~  das  Beispiel  gab  auch  fOr  die  franzSsische 
Sinfonie  das  virtuose  Konzert  —  ein  zweites  Thema  ein, 
der  dritte  wendete  sich  der  vielgliedrigen  und  die  Er- 
findung reizenden  ßondoform  zu.  Aber  das  innere  Wesen 
der  italieniscben   Sinfonie  ward  immer  leerer  nnd  Up- 

nun  »rfreulichen  Teil  bilden  die  langsamen  SAtze. 
um  die  Hilte  des  18.  Jahrhunderts  in  der  Begel 
dreiteilige  Liedform  —  a)  Maoplthema  als 
ode  zweimal,  Ewischen  dem  ersten  und  zweiten 
t  Figuren  ausgestaltetes  Seiten thema;  bi  zweites 
n  Hauptthema  in  Tongeschlecht  und  Charakter 
tz gebracht;  c]  Wiederholung  von  a  in  gekftrzter 
md  bringen  in  ihr  die  eigentümliche,  weiche, 
ndsamkeit  des  18.  Jahrhunderts  in  freandlicfa- 
n  Melodien  und  in  einer  Reinheit  zur  Anschau- 
en anderen  Künsten  jeoer  Zeit  nicht  erreichbar 
venigsten  der  durch  moroliscbe  und  mytholo- 
<te  gefesselten  Dichthnnst  Zuweilen  waren  die 
en  hier  noch  zu  sQßen  Erlindungen  durch  die 
en  angeregt,  die  in  der  Uper  nnd  dem  Ora- 
3  18.  Jahrhunderts  einen   sehr  br«iteD  Raum 

Breitkopf  *  HlrteL 


81 


einnehmeD.  Um  so  schlimmer  stand  es  in  der  Regel  am 
dea  ersten,  den  Hauptsatz  der  Sinfonie.  Einige  Zitate 
werden  gentjgen,  einen  Begriff  von  der  hier  flblichen 
Thematik  zu  geben: 


AlliS^o. 


a) 


fi  irrri 


M 


ete. 


AUegTO. 


(R&ckkehr  zum  Anfang  in  einer  ein 
Takt  langen  Fignr) 


(ähnlich  wie  bei  a) 


e) 


.      AUegro. 

Jp'  JJJJ  I 


ete. 


Altej^io. 


etc. 


jvfrc^Ojjirfrf.f^ 


Beispiel  a  ist  der  Anfang  zu  der  Sinfonie,  mit  der  L.  d  a 

Vinci  seine  »Semiramis«  einleitet;   b  und  c  sind  von  l.  da  tibcI. 

Pergolesi,  das  eine  ist  der  Anfang  zur  Sinfonie  der  Oper  fi.B.rergoUtl. 

Kretsselimar,  Fftlirtr.    I,  1.  Q 


— ♦    82    6— 

»Sallustiac,  das  andere  vom  Oratorium  »San  Gugllelmo«. 
Diese  Sinfonie  hat  der  Komponist  nochmals  für  seine  letzte 
N.  Jomelll.  Oper  >OiYmpia«  verwendet.  Mit  d  beginnt  Jomellidie 
Sinfonie  seines  Oratoriums  »Abramo«,  mit  e  Leonardo 
Leo  seine  Olympiade,  mit  f  Perez  den  »Demofoontec,  mit  g 
Terradellas  den  ^Artaserse«,  mit  h  Tra€tta  den  »Farnacec. 
Diese  Beispiele  ließen  sich  endlos  vermehren.  Die  Methode 
bleibt  dieselbe .  lustige,  tändelnde,  stets  Qnbedeutende 
Motive  mit  stumpfem  Behagen  oder  mit  gespreiztem  hohlen 
Pathos  wiederholt.  Und  dabei  handelt  es  sich  um  lauter 
große  Namen,  zum  Teil-  um  Meister,  die  der  Oper  im 
übrigen  reformatorische  Dienste  geleistet  haben.  Genau 
wie  der  Aufbau  der  Themen  ist  auch  die  Entwicklung  der 
Sätze:  mechanisch,  bequem  und  geistlos!  Fluß  haben 
die  Allegri,  und  weiß  man,  was  das  verschwenderisch 
verwendete  Echo  darin  für  eine  Rolle  spielt,  so  klingen 
sie  meistens  auch  ganz  hübsch,  und  viele  wären  als  Lust- 
spielouvertüren ganz  annehmbar.  Aber  der  Aufgabe,  ernste 
Dramen  einzuleiten,  bleiben  sie  so  ziemlich  alles  schuldig 
und  bieten  kaum  mehr  als  eine  vergnügliche  Portiers- 
musik. Die  Entwicklung  der  Sinfonie  bei  den  Neapolitanern 
zeigt  geradezu  erschreckend,  was  aus  der  Instrumental- 
musik werden  kann, wenn  sie  selbstherrlich  den  Zusammen- 
hang mit  Poesie  und  höherem  Geistesleben  verschmäht. 
Den  Zeitgenossen  entging  dieser  Verfall  der  Opemsinfonie 
nicht.  Schon  Mattheson  mahnt  im  »Kern  der  melodischen 
Wissenschaft«  (§  97)  die  Komponisten,  daß  die  Sinfonie 
einen  kurzen  Begriff  und  »eine  kleine  Abbildung«  einer 
Handlung  geben  soll,  und  Quantz  verlangt  in  seinem 
bekannten  »Versuch  etc«  (18.  Hauptstück,  §  43)  dasselbe. 
Der  Zusammenhang  mit  dem  Inhalt  der  Oper  sei  viel 
wichtiger  als  die  dreisätzige  Form,  es  genügten  wohl 
auch  2  Sätze  oder  einer.  Die  Sinfonien  sähen  eben  so 
aus  wie  bei  den  schlechten  Malern  Luft  und  Licht,  zu 
denen  passend  oder  nicht,  in  der  Regel  die  übriggebliebenen 
Farben  benutzt  werden. 
1  Hatte.  Eine  Besserung  setzt  mit  Ad.  Hasse  ein.  Die  AUegri 
gewinnen  unter  dem  Einfluß  des  Konzerts  an  Gehalt. 


— »    Ö3    V- 

Die  Form,  früher  von  der  Etüde  beherrscht,  wendet  sich 
der  Sonatine  zu, .  ein  zweites  Theima,  meist  kurz  und 
hübsch,  wird  die  Regel,  und  man  versucht  kleine  Durch- 
fübiTingen.  Manche  Komponisten  legen  dabei  auf  einen 
sehr  scharfen  Gegensatz  zwischen  erstem  und  zweitem 
Thema  das  Gewicht,  andere  versuchen  der  ganzen  Sinfonie 
einen  neuen  Grundriß  zu  geben.  So  ziehen  L.  Leo  in  der 
Einleitung  zur  Olympiade,  Minoja  in  einer  B  dur-Sinfonie 
das  Andante  in  die  Mitte  des  ersten  AUegro  hinein  und 
verzichten  auf  den  dritten  Satz.  Damit 'ist  die  einsätzige 
Sinfonie,  die  Opernouvertüre  der  neuen  Zeit  bei  den 
Italienern  eher  fertig  als  bei  den  Franzosen.  Prüft  man 
aber  die  Thematik  Hasses  und  seiner  Genossen  auf  das 
Verhältnis  zum  Drama,  so  steht  man  noch  lange  vor  dem 
Neapolitanischen  Leichtsinn.  Die  Sinfonie  zu  Hasses 
Dido  z.  fi.  fängt  folgendermaßen  an: 

n   [II  ^  ^^1  rm  l^3^|  rm  R?^,  rm ... 


daszweitiift  "  '^  \ ,       J^t^^f         ■*  nicht 

Thema:  *       BfiT  •  überdie 

Grazie   hinaus;   erst  in   der  sehr  kurzen  Durchführung 
dnnkelts  ein  wenig  von  der  Unterdominant  her.    Eine 
gründlichere  Änderung  vollzieht  sich  erst  unter  dem  Ein- 
fluß der  Franzosen.    Porpora  und  Perez  leiten  ein-  Porpora. 
zelne  Opern  mit  französischen  Sinfonien  ein,   und  bei  D. Pereai. 
Piccini  zeigt  sichs  endlich,  daß  die  Italiener  wieder  im  Pieoinl. 
Stande  sind,  in  der  Sinfonie,  wenn  nicht  tragische,  doch 
ernste  Töne  anzuschlagen.    Unter  den  Deutschitalienern 
hat  sich  schon  früher  Heinrich  Graun  durch  eine  würdige  H.  Graon. 
und  inhaltreiche  Thematik  ausgezeichnet. 

An    dieser   Entwicklung    eines    neuen    Sinfonietyps 
liaben  auch  die  italienischen  Akademien  ein  Verdienst. 
Schon   früh  im    18.  Jahrhundert  schreiben   angesehene 
Komponisten,  unter  ihnen  B.  Mar  cell  o,  für  den  Aka-  B.  Harcelio. 
demiegebrauch  Sinfonien,  die  neue  poetische  Aufgaben 

6* 


-»    84    «^ 

in  zum  Teil  neuer  Form  durchführen.    Hier  wird,  z.  B.  in 

Loefttelli.  Locatellis  Trauersinfonie,  die  Sinfonie  zuerst  viersätzig, 

ealimbertl.  bei  Ga  1  im  b  e  r  ti  sogar  schon  mit  dem  Menuett  als  zweiten 

Tutini.  Satz.   Er  wird  auch,  bei  T artin i  z.  B.,  in  der  dreisätzigen 

Äkademiesinfonie  verwendet/ da  als  Schlußsatz.     Die 

Viersätzigkeit  kommt  allerdings  auch  in  der  gleichzeitigen 

Oper  vor,  z.  B.  in  L.  Leos  Sinfonie  zum  Famace:  AUegro, 

Andante,  Menuetto,  Marcia. 

Noch  viel  günr*tigere  Aussichten  fär  die  Unabhängig- 
keit von  Oper  und  Theater  boten  sich  aber  der  Sinfonie 
in  Deutschland. 

Vom  Anfang  des  18.  Jahrhunderts  ab  mehren  sich 
hier  die  Orchester  schnell  und  beträchtlich.  Der  hohe 
und  niedere  Adel  tut  es  den  Fürstenhöfen  nach;  gut 
oder  schlecht,  aber  so  ziemlich  jedes  Schloß  hat  seine 
Hauskapelle.  Schüldr  und  Studenten,  dem  Beispiel  der 
italienischen  Akademien  folgend,  gründen  freiwilh'ge  coUe- 
gia  musica,  die  Bürgerkreise  ihnen  nach.  Um  die  Mitte  des 
Jahrhunderts  ist  das  ganze  Land  mit  einem  dichten  Netz 
von  Musikvereinen  überzogen,  die  alle  in  »wöchentlichen 
Konzerten«,  einmaligen  und  doppelten,  ungemein  viel 
Instrumental-  und  Orchestermusik  verbrauchen.  Komödien 
und  Konzerte  sind  die  Haupthindernisse  derGelehrsamkeit, 
klagt  1763  der  musikfeindliche  Ernesti"').  Es  ist  niemals 
vorher  und  nachher  wieder  soviel  Instrumentalmusik  kom- 
poniert, gespielt  und  angehört  worden,  als  in  jenen  Tagen. 
Die  Zeugnisse  dafür  liegen  in  den  Briefen  Mozarts  und 
in  den  Lebensbeschreibungen  von  Quantz,  Dittersdorf, 
Gyrowetz  und  anderen  namhaften  Musikern  jener  Zeit 
vor,  in  den  Archivresten  der  Bibliotheken  und  in  den  Ver- 
lagsverzeichnissen. Sinfonien,  Konzerte  werden  immer 
bündelweise  angeführt.  Im  quantitativen  Sinn  ist  die  Mitte 
des  18.  Jahrhunderts  die  Glanzzeit  der  Instrumentalmusik 
in  Deutschland;  dort  liegen  die  Anfänge  und  Ursachen 
ihrer  Vorherrschaft. 


*)  G.  Wustmann,   »Aus  Leipzigs  Vergangenheit«  (Leipzig 
1885),  S.  289. 


--^    85    •— 

Daß  in  der  ersten  Hälfte  jener  Periode  die  Sinfonie 
zurücktritt,  könnte  nicht  wundernehmen,  auch  wenn  sie 
besser  gewesen  wäre.  Denn  sie  hatte  an  dem  neuen 
Virtuosenkonzert  einen  übermächtigen  Nebenbuhler.  Wie 
hundert  Jahre  frQher  Monodie,  Solo-  und  Bühnen gesang 
die  eigentliche  »nuove  musiche«  der  Generation  waren,  die 
den  dreißigjährigen  Krieg  erlebte,  so  schienen  för  die, 
welche  mit  Friedrich  dem  Großen  jung  waren,  die  Wunder 
des  Orpheus  in  den  Violinkonzerten  der  Torelli,  Vivaldi, 
Corelli  wieder  aufzuleben.  Unter  allen  Erwerbungen,  die 
die  Musik  in  den  letzten  Jahrhunderten  gemacht  hat,  war 
die  des'virtuosen  Konzerts  die  bedeutendste;  keine  andere 
hat  den  inneren  und  äußeren  Wirkungskreis  der  Tonkunst 
so  gewaltig  erweitert.  Indes  den  Dilettantenkräften  der 
neuen  CoUegia  musica  mußte  den  virtuosen  Anforderungen 
des  Konzerts  gegenüber  ein  Erdenrest  von  Technik  zu 
tragen  peinlich  bleiben  und  den  Wunsch  nach  einer  andren 
Gattung  von  instrumentaler  Ensemblemusik  nahe  legen. 
Da  fiel  denn  der  Blick  naturgemäß  auf  die  im  Aufbau 
mit  dem  Konzert  ganz  identische  italienische  Sinfonie  und 
sie  begann  allmählich  jenem  zur  Seite  zu  treten,  es  zu  er- 
setzen. Wir  können  diesen  Prozeß  mit  einer  interessanten 
Arbeit  S.  Bachs  belegen.  Derselbe  Band  der  Bach-  s.  Bach, 
ausgäbe*),  der  die  Orchestersuiten  enthält,  bringt  als  Sinfonie  in  F. 
Anhang  eine  Sinfonie  in  F,  aus  drei  Sätzen  bestehend, 
Allegro,  Adagio,  als  Schlußsatz  ein  Menuett  (mit  2  Trios). 
Diese  Sinfonie  ist  aber  nichts  als  eine  Umarbeitung  von 
Bachs  erstem  brandenburgischen  Konzert;  der  ^/^  Takt, 
der  dort  (ad  libitum)  dem  Menuett  vorausgeht,  ist  wegge- 
lassen und  der  nur  spärlich  konzertierende  Violino  piccolo, 
das  Soloinstrument  des  Konzerts,  ist  einfach  gestrichen. 
Sonst  stimmt  alles  wörtlich.  Auch  wenn  Bach  selbst 
nicht  der  Bearbeiter  dieser  Sinfonie  sein  sollte,  bleibt 
sie  ein  wichtiges  Dokument  für  einen  geschichtlichen 
Hergang:  die  Entstehung  und  das  Empordringen  einer 
selbständigen  Konzertsinfonie.    Für  Frankreich  läßt 

*]  81  Jahrgang,  Ente  Lieferung. 


--^    86    4^ 

sich  dieser  Übergangsprozeß  dokumentarisch  belegen: 
M.  labert  Der  Pariser  Violinist  M.  Aubert  veröffentlicht  1730  ein 
Heft  Sinfonien  im  italienischen  Stil,  die  er  »Concert  d^ 
Simphonies«  nennt,  mit  der  Begründung,  die  Konzerte 
Gorellis  und  Vivaldis  seien  wider  den  französischen  Gfe- 
schmack  und  vor  allem  sie  seien  für  die  Dilettanten- 
zu  schwer*).  Die  selbständige  Sinfonie  verdankt  ihre 
Existenz  der  Einrichtung  regelmäßiger  Konzerte,  insbe- 
sondere den  coUegiis  musicis  der  Studenten  und  anderer 
Dilettanten,  und  befestigt  sich  außerordentlich  schnell  in 
ihrer  Stellung. 

«  Schon  um  die  Mitte  des  18.  Jahrhunderts  sehen  wir 
die  Sinfonie  unabhängig,  das  alte  Veihältnis  zur  Oper 
gelöst;  es  wird  allmählich  möglich,  daß  sich  begabte  Ton- 
setzer vorwiegend  oder  ausschließlich  der  Komposition 
fürs  Konzert,  für  die  Instrumente  widmen,  die  Orchester- 
sinfoiiie  wird  jetzt  in  Stimmen  gedruckt  und  schnell  ein 
ganz  bedeutender  Handelsartikel.  In  dem  Breitkopfschen 
Katalog  von  1762  finden  wir  fünfzig  Sinfoniekomponisten, 
bekannte  Meister  wie  Gluck,  Hasse,  Galuppi,  Jomelli, 
Graun,  Hiller  und  heute  vergessene  Lokalgrößen  durch- 
einander; keiner  hat  es  unter  einem  halben  Dutzend  ge- 
tan. Als  Beweise  höchster  Fruchtbarkeit  finden  sich  in 
den  Bibliotheken  aus  jener  Zeit  auch  Sinfonien  von 
Dilettanten  komponiert:  Friedrich  der  Große,  Max  Joseph 
von  Bayern,  der  Baron  von  Münchhausen  erscheinen 
unter  dieser  Autorengruppe.  Das  Ausland  tritt  mehr  und 
mehr  zurück  und  kommt  qualitativ  bald  ganz  außer  Be- 
tracht. Die  deutsche  Produktion  aber  verteilt  sich  auf 
folgende  drei  Bezirke :  die  Wiener,  die  Mannheimer  und 
die  Norddeutsche  Schule. 
Wiener  Schale.  In  Wien  beginnt  die  Konzertsinfonie  mit  Antonio 
A.  Caldftrft.  Caldara,  der  bekanntlich  1716  in  den  kaiserlichen 
Dienst  trat. 

Seine  noch  erhaltenen   Sinfonien,  12  an  Zahl,  sind 
für   vierstimmiges    Streichorchester    mit    Continuo   ge- 

*)  Michel  Brenet:  Les  concerts  en  France  (1900),  S.  152. 


--♦    87    4^ 

schrieben  und  —  bis  auf  eine  zweisätzige  Ausnahme  — 
nach  dem  bekannten  Grundriß  Soarlattis  aufgebaut  Je- 
doch weichen  die  langsamen  Sätze,  denen  in  der  Mehr- 
zahl acht,  zweien  nur  sechs  und  einem  einzigen  vierzehn 
Takte  eingeräumt  sind,  durch  diese  Kürze  und  den  da- 
durch bedingten  Charakter  einer  hloßen  Episode  oder 
Oberleitung  von  der  Norm  ab. 

Drei  Sinfonien  schicken  auch  dem  ersten  Allegro 
eine  getragene  und  breitere  Einleitung  voraus  und  nähern 
sich  damit  dem  französischen  Typus.  Im  allgemeinen 
steht  Caldara  abseits  von  jeder  Art  gleichzeitiger  Opern- 
sinfonie und  geht  in  seinen  Gedanken  und  seiner  Arbeit 
die  Wege  eines  Originalgeistes. 

Vor  den  Italienern  zeichnet  er  sich  namentlich  durch 
eine  ernste,  wQrdige  Thematik  und  durch  einen  ge- 
diegenen, fesselnden  Orchesterstil  aus.  Mit  freudigem 
Staunen  begegnet  man  in  der  Zeit  der  Vinci  und  Pergcr- 
lesi  Sinfonieanfängen  wie: 

Allegro  moderato.  _       rt  J 

Allegro.  __ 

^.  CH  molMUnfonie) 


e)p^ 


Sinfonie) 


*>j"j  f^\S^d^\M}Q  ^^'' 


Hinter  der  Freude  an  Fuge  und  Kanon,  die  den  Satz 
bestimmt,  die  zuweilen  auch  Augenblicke  stockender  Er- 
findung verdeckt  oder  billigere  Einfälle  adelt,  steht  wohl 
das  Beispiel  Joseph  Fuxens,  des  Freundes  und  Vorge- 
setzten Caldaras.  Aber  auch  venetianische  Traditionen, 
die  fiber  Sartorio,  Cesti,  Cavalli  bis  auf  G.  Gabrieli 
zurückgehen,  tauchen  in  seinem  Sinfoniesatz  in  der  Form 
plötzlicher  Tempokontraste  auf.   Einige  Takte  Adagio  sind 


-^    98    ^^ 

keine  Seltenheit  in  Caldaras  Allegris.  Am  überraschendsten 
äußert  sich  dieser  dramatische  Geist  im  Larghetto  der 
fünften  Sinfonie,  wo  die  erste  Violine  ähnlich  wie  in 
Albertis  Bdur- Konzert  oder  in  Spohrs  Gesangszene  un- 
begleitete  Rezitative  anstimmt,  im  ersten  Satz  der  zwölften 
Sinfonie  begegnet  uns  sogar  ein  erregter  Wortwechsel 
sämtlicher  Stimmen  über  ein  kurzes,  zweitöniges  Motiv. 
In  den  Allegris  sind  die  Stellen  derartiger  Exknrse  die 
Zwischensätze,  mit  denen  Caldara  gern  die  Regelmäßig- 
keit der  Fuge  und  des  strengen  Satzes  unterbricht  Die 
elfte  Sinfonie  beginnt  sogar  mit  einer  solchen  drama- 
tischen Stelle: 

Allegro. 


Pp  l'-T^ 


f 


etc. 


Sie  weist  zugleich  durch  die  Entschiedenheit,  mit  der  die 
erste  Violine  das  Wort  führt,  auf  eine  weitere  Eigentüm- 
lichkeit des  Caldaraschen  Sinfoniestils  hin:  wie  zum  Rezi- 
tativ führt  ihn  der  Drang  nach  sprechendem  Ausdruck 
wiederholt  zu  konzertierenden  Episoden,  zu  Solis  und 
Duetten  hin,  die,  zwischen  den  eigentlichen  Durchfüh- 
rungen des  Themas  eingeschaltet,  Stimmungskrisen,  Mo- 
mente gewaltiger  Erregung  und  Versuche  zum  Aus- 
weichen bezeichnen.  Dieses  konzertierende  Element 
Caldaras  hat  in  der  Wiener  Schule  und  Itber  sie  hinaus 
am  nachhaltigsten  fortgewirkt,  doch  sind  auch  andere 
von  ihm  gegebene  Anregungen  nicht  unbeachtet  ge- 
blieben. 

In  die  Caldarasche  Zeit  fällt  eine  als  Partita  betitelte 
Sinfonie  (in  •  B)  des  Wiener  Hofklaviermeisters  Matteo 
H.  Schioger.  Schlug  er,  die  deshalb  beachtenswert  ist,  weil  sie,  mit 
1722  datiert,  den  dreisätzigen  Aufbau  der  italienischen 
Sinfonie  durch  einen  zwischen  Largo  und  Finale  einge- 
schobenen vierten  Satz  erweitert  und  zwar  durch  einen 
Menuett  (Bdur)  mit  Trio  (Gmoll).-  Auch  ein  Cembalo- 
konzert (Adur)  Schlögers,  das  seine  romantische  Natur 
und  seine  moderne  Richtung  noch  deutlicher  zeigt,  als 


— ^    89    ♦^ 

die  Sinfonie,  hat  als  dritten  Satz,  als  Finale  ein  Tempo 
di  Minnetto«  Es  scheint  sich  demnach  die  in  allen  Läii- 
dern  nnd  von  Meistern  wie  Corelli  und  Händel  angebahnte 
Verbindung  von  Sinfonie  und  Suite  in  Wien,  dem  klassi- 
schen Boden  der  Volkskunst,  der  Heimat  der  Waldmüller, 
Schubert,  Strauß  und  An  zen  gruber  schon  im  ersten 
Drittel  des-  achtzehnten  Jahrhunderts,  gleich  in  der 
Form  vollzogen  zu  haben,  an  der  dann  von  J.  Haydn  ab 
fünf  Generationen  festgehalten  haben. 

Da  Wien  zugleich  die  wichtigste  deutsche  Eingangs- 
stelle für  italienische  Musik  war,  kann  es  nicht  befremden, 
daß  der  höhere  Geist  Caldaras  und  der  venetianische 
Einfluß  in  der  Wiener  Konzertsinfonie  schon  bald  dem 
neapolitanischen  Tone  weicht.  Er  wird  zuerst  bei  Georg 
von  Reutter  stark  Vernehmlich.  Nur  seine  Einleitung  g.  f.  Ueatter. 
zum  »Ritomo  di  Tobia«  (1733)  macht  als  einsätzige 
französische  Ouvertüre  eine  Ausnahme,  seine  übrigen 
Sinfonien,  die  je  nach  der  Verwendung  als  Sonaten,  In- 
traden,  als  Servizio  di  Tavola  betitelt  sind,  haben  bis 
auf  eine  Tafelmusik  von  1757,  die  aus  Intrade,  Lar- 
ghetto,  Menuetto  con  Trio  und  Finale  besteht,  auch 
da,  wo  mau  Suitenform  erwartet,  die  drei  Sätze  der 
neapolitanischen  Schule  und  werfen  in  deren  Art  vor- 
wiegend leichte  und  flotte  Gelegenheits-  und  Unterhal- 
tungsmusik hin,  bald  spektakelnd,  bald  rührsam,  hier 
durch  renommistische  Sprünge  und  abgerissene  Rhythmen, 
dort  durch  verwegene  Läufe  der  Bässe  reizend.  Wie 
Hasse  und  andere  Deutsche  geizt  auch  Reutter  darnach, 
das  neueste  Italienisch  zu  sprechen,  läßt  aber  überall 
Beweise  einer  höheren  und  besseren  Bildung  einfließen, 
einmal  das  direkte  Muster  Caldaras,  nämlich  einen  sehr 
hübschen  Kanon  zwischen  Violine  und  Cello  im  Andante 
einer  Cdur-Sonate  von  1741,  die  nach  dem  für  Orgel  ge- 
setzten Continuo  für  die  Kirche  bestimmt  gewesen  sein 
muß.  Diese  Sonate  ist  noch  dadurch  beachtenswert,  daß 
sie-  uns  AI.  Scarlatti  als  Reutters  Lehrmeister  zeigt 
Das  Konzert  zweier  Bläserchöre,  mit  dem  sie  beginnt  und 
schließt: 


90 


:^5 


1.  Satt. 


Pinftle 


ete. 


etc. 


darf  man  direkt  oder  indirekt  auf  die  früher  ange- 
führte Sinfonie  zum  Prigioniero  fortnnato  zurQckf&hren. 
Nicht  hloß  die  konzertierenden  Bläserchöre  des  Scar- 
latti  kehren  bei  Reutter  wieder,  sondern  er  hat  sich  f&r 
seine  Konzertsinfonie  den  ganzen  technischen  Apparat*) 
angeeignet,  auf  dem  der  glänzende  und  festliche  Charakter 
der  Orchestermusik  des  neapolitanischen  Meisters  beruht^ 
Die  in  Sechzehnteln  und  Sextolen  in  die  Höhe  rauschen- 
den oder  einfache  Themen  umspielenden  und  verzieren- 
den Violinen  haben  daran  einen  Hauptanteil.  Unter 
diesen  Themen  kommt  das  Hexachord,  das  ja  auch  von 
FuK  und  Caldara  gern:  benutzt  wird  und  sogar  noch  bei 
Haydn  und  Beethoven  auftaucht,  sehr  häufig  vor.  Daß 
aber  Reutter  auch  etwas  von  der  Liebenswürdigkeit  und 
Schalkhaftigkeit  Scarlattis  besitzt,  zeigen  namentlich  die 
zweiten  Themen  seiner  Allegri.  Immer  sind  sie  über- 
raschend eingeführt,  zuweilen  auch  originell  gestaltet,  das 
der  vorhin  angeführten  Intrade  z.  B.  durch  die  Verzögerung 
in  der  Wie- 
derholung : 


#■  s 


h^'d  ^  p  Ef  et» 


Auch  bei  Heulter  fehlen  die  Anklänge  an  die  hei- 
mische Volksmusik  nicht  ganz,  6«s  Andante  einer  Ddnr- 


oiDionie Z. D. .JPjIm.    a  m  _^m  *  \ 

beginnen  du  <y  *  tf  IfUff  Ig  r  f 
Oboen    mit:  O  u 


ete. 


Oboen    mit: 


die  Bratschen 

antworten 
gleichlautend. 


*)  In  dem  Servizlo  dl  Tavola  sind  die  Partien  der  Oboen 
und  Fagotte  nicht  in  die  Partitur  aufgenommen  sondern  als 
Anhang  beigegeben. 


— ♦    91    «^ 

Aber  die  italienischen  theatralischen  Elemente  fiberwiegen 
die  landsmannschaftlichen  traniichen  Regungen  voll- 
ständig. 

Eine  stärkere  Osterreichische  Färbang  zeigen  die 
Sinfonien  des  Klaviermeisters  Christoph  Wagensäil.  Chr.WAgenfell. 
Zur  guten  Hälfte  haben  sie,  auch  wenn  sie  dreisätzig 
sind  und  wenn  sie  zur  Einleitung  von  Opern,  zu 
Clemenza  di  Tito  z.  B.,  bestimmt  sind,  Menuetts.  Selbst 
in  einem  viersätzigen  Concerto  grosso  votf  1765  kommt 
ein  Menuett  vor.  Aber  auch  seine  langsamen  Salze 
schlagen  zuweilen  Töne  ein,  die  den  einfachen  Mann  an 
seine  Abendlieder  erinnern  konnten,  das  Andante  einer 
Gmoll- Sinfonie  von  1766  beginnt  z.  6.  folgendermaßen: 

Solche  Heimatsklänge  haben  mit  dazu  beigetragen, 
daß  die  Sinfonien  Wagenseils  sich  ungewöhnlich  weit  ver- 
breiteten und  bis  nach  Bayern  hinüber  in  die  Stifte  und 
Klöster  drangen.  Die  Thematik  seiner  Allegri  läßt  in- 
dessen keinen  Zweifel  darüber,. daß  auch  Wagenseil  in 
erster  Linie  Italienisch  sprechen  will  Der  Anfang  der 
eben  angefahrten  Gmoll-Sinfonie: 
Allegro.      JB)^     r'w^ 

i '' "  / ';  I  7^  I  .Tg  J  miiij^^ 

oder  der  zur  Clemenza  di  Tito: 


'J'lLfLÜ[>Cf'^'^-^t^^ 


iete. 


sind  Vincischen  Geistes.  Jedoch  erreicht  er  auch  von 
aolchen  Themen  aus  immer  ein  höheres  Niveau  und  führt 
die  Sätze  in  einer  vollentwickelten  modernen  Sonaten- 
form  mit  einer  Themengruppe,  die  außer  einem  schönen 
zweiten  Thema  in  der  Regel  noch  mehrere  Nebenmotive 
bringt  und  namentlich  mit  Durchführungen  durch,  welche 
verkleinert  BeethovenscheMaßverhäitnisse  vorausspiegeln. 


--♦    92    «-^ 

Von  den  76  Takten,  aus  denen  der  erste  Satz  der  vor- 
hin zitierten  Gmoll- Sinfonie  besteht,  fallen  40  auf  die 
Durchführung.  Auch  in  der  Detailarbeit,  in  der  Gestaltung 
der  Obe'rgänge,  in  den  bewegten  Mittelstimxnen,  in  der 
lebendigen,  reich  mit  Dissonanzen  gewürzten  Harmonie,  in 
den  aparten  und  feinen  Wandlungen  kleii^er  Einfälle  erhebt 
sich  Wagenseil  bedeutend  über  die  Neapolitaner.  Mit  den 
konzertierenden  Ändantes  tritt  er  in  die  Spuren  Caldaras. 
Am  weitesten  nähert  sich  dem  weltbekannten  Cha- 
rakter der  Wiener  Sinfonie  der  Organist  der  Karlskirche, 
0.  M.  aoiiB.  Georg  Matthias  Monn  (1717— 1750) ♦).  Das  Reich  hat.  von 
diesem  Komponisten  erst  lange  nach  seinem  Tode  durch 
sechs  Quatuors  erfahren,  die  1808  gedruckt  und  in  der 
Allgemeinen  Musikalischen  Zeitung  sehr  anerkennend 
rezensiert  wurden.  Aber  auch  seine  Landsleute  scheinen 
sich  nur  wenig  um  ihn  gekümmert  zu  haben;  Hanslicks 
Geschichte  des  Wiener  Kon zertwesens  kennt  seinen  Namen 
nicht,  und  seine  großen  Werke,  von  denen,  nach  dem 
Traegschen  Katalog,  im  Jahre  1799  Opern,  ein  Oratorium, 
Messen  (auch  eine  Generalbaßschule)  vorhanden  waren, 
sind  von  den  großen  Instituten  der  Kaiserstadt  nicht  be- 
obachtet worden.  Damit  hängt  wahrscheinlich  auch  die 
bescheidene  Besetzung  seiner  Sinfonien,  Ton  denen  in 
jüngster  Zeit  wieder  sechzehn  zum  Vorschein  gekommen 
sind,  zusammen.  Nur  eine  D  dur-Sinfonie  aus  dem  Jahre 
1740  und  eine  Es  dur-Sinfonie  hat  Flöten,  Oboen,  Fagotte 
und  Hörner,  von  den  übrigen  sind  neun  für  vierstimmiges, 
fünf  für  dreistimmiges  Streichorchester  mit  Continuo  ge- 
schrieben, so  daß  wenn  nicht  im  allgemeinen  der  Chor- 
charakter der  Stimmen  zu  deutlich  wäre,  gefragt  werden 
könnte:  ob  hier  Kammermusik  oder  Orchestermusik  vor- 
liegt. Sicher  verlangt  auch  die  zierliche  Thematik  in 
einigen  seiner  langsamen  Sätze,  wie  in  dem  altneapoli- 
tanisch anklingenden  Andante  der  H dur-Sinfonie: 

*)  Einige  Stücke  von  Monii,  Reutter  u.  a.  sliid  iii  den 
Denkm  ilern  der  Tonkunst  in  Österreich  (XV.  Jahrg.,  2.  Haibbd.) 
gedruckt,  das  übrige  Material  bat  Herr  Prof.  Dr.  G.  Adler  freund- 
lich zur  YerfüguDg  gestellt. 


93 


eine  Solovioline,  wie  das  noch  bis  zu  Ditter sdorf  häufiger 
▼orkommL 

Nur  drei  der  Monnschen  Sinfonien  sind  viersätzig 
nnd  bringen  als  dritten  Satz  den  Menuett,  der  bei  den 
dreisätzigen  sich  nur  in  einer  Esdur-Sinfonie  und  da  an 
zweiter  Stelle  findet  Monn  hat  darnach  auf  deii  Menuett, 
als  nächstliegendes  und  daher  in  seiner  Bedeutung  gern 
überschätztes  Symptom  einer  neuen  vermeintlich  anti- 
italienischen Sinfoniekunst  einen  wesentlichen  Wert  nichf 
gelegt.  DafOr  ergießt  sich  aber  bei  ihm,  ähnlich  wie  später 
bei  J.  Haydn,  der  volkstümliche  Musikgeist  über  alle  Sätze, 
die  Fugensätze  der  französischen  Ouvertüren  einge- 
schlossen. In  einer  (Sonata  überschriehenen)  Adur-Sin- 
fonie  folgt  nach  einer  wundervoll  schönen  und  natürlich 
kontrapunktierten  Einleitung  folgendes  Fugenthema: 


f'*ll|ll|l|ll  I    i'lLJIiiIII    i|,^ff 


^ 


:0to. 


In  seiner  drolligen  Beschaulichkeit  hätte  es  leicht 
in  die  Trivialität  führen  können,  Monn  aber  spottet  ihrer 
durch  Engführungen  und  andere  Mittel  geistreicher  Kunst 
mit  einer  Sicherheit,  die  an  Bürgersche  Balladen  erinnert. 
Wie  'die  andren  Sätze  zu  diesem  Eingang  harmonieren, 
mögen  ihre  Anfangstakte  zeigen: 

Andimte. 


^^ 


f  V  V 


JP,J|j^jj  I 


1 


•ta 


MenoAtt. 


Pinsle. 


^»    94    <^ 

• 

Jedenfalls  ist  in  diesem  Ideenensemble  keine  Spur 
italienischer  Sinfonie,  dafür  aber  in  dem  ans  dem  Ton  des 
18.  Jahrhunderts  ganz  herausfallenden  Andante  ein  deut- 
licher Anklang  neuer,  fremder  Musikquel}ei\.  Im  allge- 
meinen sind  die'  Andantes  ijnd  die  langsamen  Sätze  der 
Monnschen  Sinfonien  diejenigen  Stellen^  an  denen  sich 
noch  starker  italienischer  Einfluß  zeigt.  Das  Andante- 
thema der  Esdur-Sinfonie: 


schließt  sogar  mit  der  Lombardischen  Manier.  Daß  auch 
"die  Allegri,  besonders  in  den  Kopftheroen  noch  häufig 
italienisch  anklingen,  kann  nicht  befremden,  erst  Haydn 
und  Beethoven  haben  die  deutsche  Sinfonie  von  diesem 
Tribut  vollständig  befreit.  Frei  von  allem  Italienischen  sind 
unter  Monns  ersten  Sätzen  alle  die,  welche  dem  Schema  der 
Lullyschen  Ouvertüren  angehören.  Sie  interessieren  im 
AUegroteile,  meist  einer  Doppelfuge,  durch  die  Beherr- 
schung der  Form,  eigner  ist  Monn  in  der  Behandlung 
der  langsamen  Einleitungen.  An  Stelle  d^r  gewohnten, 
in  punktierten  Rhythmen  und  rauschenden  Skalenfiguren 
einherscjireitenden  Gravität  und  Feierlichkeit  bringt  er 
da  beschaulich  sinnende  und  singende  Motive  oder  aber 
er  wendet  sich  von  suchenden  und  fragenden  Anfängen 
aus,  die  an  Astorgasche  Rantaten  erinnern,  schnell  ins 
Leidenschaftliche,  wirft  wilde  Figuren  hin,  unterbricht  das 
Adagio  mit  einem  plötzlichen  Allegro,  wQhlt  in  Nach- 
ahmungen und  macht  dem  erstaunten  Zuhörer  warm. 
Eine  dieser  langsamen  Einleitungdh  kommt  von .  B  dar 
aus  im  fünften  Takt  nach  Hdur.  Mit  dieser  Umbildung 
der  langsamen  Einleitung  hat  sich  Monn  an  einer  Arbeit 
beteiligt,  die  auch  Ramoau,  Händel  und  Gluck  in  die 
Hand  genommen  hatten  und  die  dann  Haydn  zum  Ab- 
schluß gebracht  hat.  Die  anderen  ersten  Sinfoniesätze 
Monns,  die  in  der  Scarlattischen  Art  lediglich  aus  einem 
längeren  Allegro  bestehen,  beschränken  das  italienische 
Element  in  der  Regel  auf  die  bekannten  Poch-  und  Akkord- 


.— »    95    ♦— 

motive  des  ersten  Taktes  (1  j  j  2  etc.),  und  auch  da,  wo 
es  einen  weiteren  Raum  einnimmt,  bestimmt  es  niemals 
den  Gesamteindruck,  sondern  dieser  ergibt  sich  aus  dem 
Wiener  Ton  der  Monnschen  Thematik,  aus  den  Klängen 
naiver  Lebensfreude,  die  in  mannigfachen  Spielarten, 
▼om  ruhig  sinnigen  Behagen  und  fröhlicher  Anmut  bis 
zu  feuriger,  aber  liebenswürdigen  Keckheit,  die  lebhaften 
Sätze  Monns  durchziehen.  Die  sanftere  Gruppe  vertreten 
die  ersten  Sätze  der  D  dur-Sinfonie  von  1740  und  der 
Esdur-Sinfonie,  die  energischere,  zuweilen  stürmische  und 
wilde  am  entschiedensten  eine  6  dur-Smfonie,  die  von 
dem  Anfang: 
Allegro. 

eto« 


aus  ein  zwölftaktiges  Haupttbema  aufbaut. 

Noch  ursprünglicher  und  neuer  als  in  den  ersten 
Allegris  ist  Monn,  wenn  auch  nicht  überall,  in  den  leb- 
haften Schlußsätzen  seiner  Sinfonien.  Charakteristisch' sind 
da  Themen  wie  die  folgenden: 

Presto. 


h^A^^Tt^   f    \'t   '"*  P  I  '^"JT^    I  J  namentlich 


b)    und   c) 
Prestd.  mit     ihren 


•> ij^''Uirfrri[^Mrnjijj4  i;;/,°<^ti 


Ritterlichkeit  dahinhastenden  ZweivierteJtakten  bringen 
<äe  ersten  Lebenszeichen  einer  ganz  bodenständigen 
Wiener  >Aufgeknöpftheit«  in  den  Sinfonien.  Auf  diesen 
Boden  stellt  sich  von  den  späteren  Meistern  besonders  gern 
W.  Mozart  in  seinen  besten  Salzburger  und  in  den  Wiener 
Sinfonien,  die  aus  der  Zeit  des  jungen  Eheglücks  und  der 
»Entführung«  stammen,  alles  Vorherige  aber  überbietend 
Beethoven  mit  dem  Finale  der  Achten.  Daß  Monn  zu 
diesem  Ton  feurigen  und  doch  artigen  Obermuts  wie  zu 


96 


dea  andren  Äußerungen  Wiener  Wesens  in  seinen  Sin- 
fonien von  der  Suitenmusik,  insbesondere  von  den  Divers 
timentis  her  gekommen  war,  zeigt  sich  in  der  Verwen- 
dung der  Bläser  in  den  beiden  mit  Blasinstrumenten  ver- 
sehenen Sinfonien.  Namentlich  die  wirkungsvollen  Soli 
der  H5rner~  sind  in  der  damaligen  Sinfonie  eine  ange- 
nehme 'Neuerscheinung. 

Obwohl  Monn  im  Kontrapunkt,  wie  seine  Fugen,  wie 
es  auch  die  zahlreichen  Beispiele  schöner  Imitationen  be- 
weisen, mehr  als  ausgelernt  hat,  hat  er  eine  Bedeutung 
für  die  Weiterentwicklung  der  sinfonischen  Form  nicht 
erlangt.  Wohl  zeichnen  sich  seine  Obergänge  vom  ersten 
zum  zweiten  Thema  durch  Gediegenheit,  durch  Verzicht 
auf  Figurenphrasen  aus,  wohl  überrascht  er  hier  und  da 
durch  einen  Reichtum  an  Nebengedanken  und  ab  und 
zu  auch  durch  Ansätze  zu  motivischer  Arbeit.  Aber  die 
Durchführungen  seiner  ersten  Sätze  sind  im  alten  Bequem- 
lichkeitstil  nichts  als  Transpositionen  der  Themengruppe 
ohne  vertiefende,  eingehende  und  erweiternde  Ziele.  Er 
hat  der  Sinfonie  einen  neuen  Ideenkreis*  erschlossen,  es 
aber  anderen  überlassen,  dessen  Gehalt  auszuspüren  und 
zu  erschöpfen. 

Von  wetteren  Vertretern  der  Wiener  Schule  sind  noch 
F.  eftSrnsnn.  Florian  G aß m  ann  und  Joseph  Starzer  hervorzuheben, 
j.  Starser.  Gaßmann,  weil  er  Themen  bringt,  die  wie: 

Alle^ro. 


Mannheimer 
Schale. 


schon  in  den  Kreis  der  Mozartschen  Kantabihtät  ge- 
hören, Starzer  wegen  der  Bedeutung  seiner  Quartette. 
Sie  lassen  es  bedauern,  daß  seine  Sinfonien  sich  nicht 
erhalten  haben. 

Mannheim,  das  unter  Karl  Theodor  durch  Schweitzers 
»Alceste«  und  Holzbauers  »Günther«  für  die  deutsche 
Oper,  durch  Schillers  »Räuber«  für  das  deutsche  Schau- 
spiel zum  Vorort  wurde,  hat  unter  dem  genannten  Kur- 
fürsten auch  für  die  Geschichte  der  vorhaydnschen  Kon- 
zertsinfonie besondere  Bedeutung  erlangt.  Die  Mannheimer 


-— 1^    97     «^ 

hat  von  den  drei  in  Betracht  kommenden  Schulen  die 
schärfste  äußere  Physiognomie,  ihre  Sinfonien  unter- 
scheiden sich  nicht  hloß  von  den  anderen  deutschen, 
sondern  auch  von  allen  italienischen  und  französischen 
durch  ihre  ungewöhnliche  Dynamik  und  Ornamentik; 
in  jener  sind  sie  absolut,  in  dieser  wenigstens  scheinbar 
neu.  Das  gewöhnliche  Notenbild  der  Akademie-  und 
Konzertsinfonien  um  die  Mitte  des  18.  Jahrhunderts  ist 
dasselbe  wie  das  der  Bachschen  Passionen  und  der 
Händeischen  Oratorien:  es  ist  arm  an  Yortragszeichen: 
Es  gibt  nun  Komponisten,  deren  Werke,  wie  die  Kantaten 
des  Darmstädter  Hofkapellmeisters  Graupner,  mit/  und  p 
reicher  und  sehr  reich  aasgestattet  sind,  die  in  dem- 
selben Takte  mit  den  Stäikegraden  einmal  oder  mehrere 
Male  wechseln  und  damit  bekunden,  d^ß  die  Dynamik 
nicht  länger  dem  freien  Ermessen  der  Dirigenten  und 
Virtuosen  überlassen  werden  kann.  Sie  bilden  indessen 
Ausnahmen.  Den  Mannheimern  gebührt  nun  das  Ver- 
dienst, daß  sie  die  Ausnabme  zur  Regel  gemacht  haben. 
Sie  sind  die  ersten,  die  ihre  Sinfonien  so  durchbezeichnen, 
wie  sie  klingen  sollen,  und  sie  haben  damit  nicht  allein 
die  Sicherheit  des  Vortrags  unendlich  erleichtert,  sondern 
auch  für  den  musikalischen  Durchschnitt  den  Sinn  för 
Farbenspiel  und  Klangschattierung  gesteigert  und  neu 
belebt;  sie  sind  die  Bahnbrecher  des  modernen  Orchester- 
kolorismus  geworden.  Es  war  nur  natürlich,  daß  die 
Mannheimer  Sinfoniker  selbst  diesem  Aasdrucksmittel 
auch  neue  Wendungen  abzugewinnen  suchten.  Unter 
ihnen  ist  das  sogenannte  Mannheimer  crescendo  durch 
Bumey  und  Schubart  hervorgehoben  und  besonders  be- 
rühmt geworden.  Nun  ist  das  crescendo  allerdings 
schon  in  der  venetianischen  Oper  vereinzelt,  es  ist 
im  18.  Jahrhundert  bei  vielen  Tonsetzern,  bekanntlich 
auch  bei  S.  Bach,  nachweisbar.  Aber  wenn  auch  ein 
Mozart  dieseip  Mannheimer  crescendo  eigne  Worte 
widmet,  so  muß  es  doch  wohl  eine  Spezialität  sein,  und 
80  ist  es.  Die  Mannheimer  Sinfonien  bringen  das  cres- 
cendo einmal  unvergleichhch  häufiger  als  es  Vorgänger 

Kretxie^nftr,  Ffthrer.    I,  1.  7 


i 


— »    98    «— 

und  Zeitgenossen  verlangen  oder  voraussetzen,  sie  legen 
-zweitens  ihre  Kompositionen  auf  die  größtmögliche  Wir- 
kung dieses  Effektes  an,  indem  sie  häufig  mit  ihm  -^  ge- 
nau wie  die  nachmaligen  Stretti  Rossinis  —  das  Auf- 
steigen eines  Motives  begleiten : 

Presto. 


y'fM^ilil 


Man  muB  sich  bei  dieser  Mannheimer  Reform  der  Dynamik 
daran  erinnern,  daß  zu  der  Zeit,  wo  sie  vollzogen  wurde, 
bei  den  Komponisten  Überhaupt  der  Verlaß  auf  die  alten 
Künste  des  Improvisierens  und  Ergänzens  zu  schwinden 
beginnt.  Händel  und  Bach  schreiben  bei  einzelnen  Sonaten, 
Sperontes  füllt  bei  einzelnen  Liedern  das  Akkompagne- 
ment  aus.  Auch  die  Mannheimer  Sinfoniker  scheinen 
dem  alten  Continuo-Spiel  nicht  mehr  recht  zu  trauen 
und  suchen,  allerdings  nicht  ganz  konsequent,  die  obli- 
gaten Orchesterinstrumente  auf  volle  Harmonie  zu  bringen. 
Ganz  gründlich  dagegen  räumen  sie  mit  dem  alten  Ver- 
fahren der  freien  melodischen  Ergänzung  auf  und  schreiben 
in  ihren  Sinfonien  konform  den  dynamischen  Vortrags- 
zeichen zum  ersten  Male  auch  alle  die  sogenannten 
wesentlichen  Manieren  aus.  So  bietet  die  Mannheimer 
Schule  auch  nach  Seite  der  verschiedenen  Arten  von 
Vorschlägen,  Vorhalten  und  Verzierungen  ein  ganz  neues 
Notenbild,  das  den  nichtein geweihten  Zeitgenossen  — 
unter  ihnen  sogar  ein  Burney  —  wohl  gar  als  neuer 
Stil,  als  neue  Musik  erscheinen  mochte,  zumal  die  Kom- 
ponisten, gerade  so  natürlich  wie  von  den  dynamischen 
EfTekten,  auch  von  den  alten  wesentlichen  Manieren  einen 
reicheren  Gebrauch  machten.  Auch  diese  Mannheimer 
Neuerung  drang  bald  durch  die  ganze  deutsche  Musik, 
womit  noch  lange  nicht  gesagt  ist,  daß  jeder,  der  sich 
ihr  anschloß,  damit  überhaupt  auf  den  Boden  der  Mann- 
heimer Schule  trat.  Darüber,  wie  sich  die  Mannheimer 
Sinfonien  über  Deutschland  verbreiteten,  wird  sich  Be- 
stimmtes erst  dann  berichten  lassen,  wenn  wir  das  Reper- 


— ♦    99    ♦^ 

toir  unserer  collegia  musica  näher  kennen  gelernt  haben. 
Dagegen  stehen  ihre  Erfolge  im  Ausland  durch  englische 
und  französische  Verlagsverzeichnisse  fest;  auf  Frank- 
reich, wo  sie  durch  Mich.  Brenet  noch  weiter  bestätigt 
werden,  mußte  bei  den  starken  koloristischen  Neigungen 
der  heimischen  Musik  die  Mannheimer  Dynamik  allein 
schon  unwiderstehlich  wirken. 

Mit  dieser  eingreifend  praktischen  und  modernen 
Einkleidung  der  Mannheimer  Sinfonien  verbindet  sich, 
wenigstens  bei  einigen  Komponisten,  ein  erfreulicher  und 
fesselnder  innerer  Gehalt.  Da  die  Gründer  und  ersten 
Vertreter  der  Mannheimer  Schule  in  der  Mehrzahl  ein- 
gewanderte Österreicher  sind,  besteht  hier  Wesensver- 
wandtschaft mit  der  Wiener  Schule.  Auch  ihr  —  nicht 
ganz  erreichtes  —  Ziel  ist  Freiheit  vom  italienischen  Joch, 
Ersatz  der  Theaternichtigkeiten  durch  seelische  Erleb- 
nisse aus  dem  Gebiete  des  Frohsinns  und  der  Beschau- 
lichkeit. Den  bedeutendsten  Meister  bierfür  stellt  die 
Mannheimer  Schule  in  Johann  S  t  a  m  i  t  z  (1717^67)*),  einen  Job.  Stamitx, 
der  wenigen  deutschen  Instrumentalkomponisten,  die 
Arteaga  kennt.  Wenn  auch  Stamitz  die  eigensten  Proben 
seines  Wesens  und  Könnens  nicht  in  seinen  Sinfonien, 
sondern  in  seinen  Triosonaten  niedergelegt  hat,  so  sind 
doch  jene  immerhin  natürlich  liebenswürdige  Äußerungen 
einer  schwungvollen,  ebenso  optimistischen  wie  revolu- 
tionären Persönlichkeit,  einer  Karl  Moor-Natur  und  einer 
in  Dichtung  und  Kunst  Kraft  und  Freiheit  verherrlichen- 
den Zeit.  Die  Mannheimer  Reform  der  Dynamik  paßt 
sich  so  sehr  den  persönlichen  Anlagen  Stamitzens  an, 
daß  sie  sehr  wohl  auf  ihn  zurückgehen  kann.  Die  erup- 
tiven, unbedeutende  Motive  in  glänzende  Beleuchtung 
emporhebenden  fortes  entspringen  bei  ihm  einer  Mozar- 
tisch feurig  glühenden  Seele,  die  langen  und  häufigen 
Crescendi  einem  mächtigen  Willen  und  demselben  weiten 

*)  Sinfonien  der  Mannheimer  Schale  in  den  Bayrischen 
Denkmälern  der  Tonkunst  (3.  Jahrg.  Bd.  I,  7.  Jahrg.  Bd.  II  und 
8.  Jahrg.  Bd.  II). 

7* 


.-f     100    ^^ 

und  sicheren  Blick,  der  überall  aus  der  Führung  der  Form 
hervortritt  Hier  namentlich  in  der  Erweiterung  der  Haupt- 
themen zu  großen  Themengruppen, in  der  ZerteUung  größe- 
rer Gedanken  und  der  Umstellung  und  Entwicklung  solcher 
Teile.  Zum  Signalement  von  Johann  Stamitz  gehören  noch 
die  häufigen  dreimaligen,  herrischen,  ungenierten,  humo- 
ristischen Wiederholungen  desselben  Taktes,  z.  B.: 

'        Presto. 


Ferner     der 
Reichtum  an 

Einfälleu  lür  Nebensätze,  Obergänge,  seltener  für  den 
Durchführungsteil.  Nach  der  Gesamtheit  seiner  sinfo- 
nischen Eigenschaften  verdient  Johann  Stamitz,  so  wie 
es  Gerber  (im  alten  Lexikon)  tut,  unter  den  Vertretern 
des  Obergangs  zwischen  der  italienischen  Opernsinfonie 
und  Joseph  Haydn  ausgezeichnet  zu  werden;  ihn  als 
Schöpfer  eines  neuen  Typs  zu  feiern,  hindert  aber  schon 
die  altmodische  Natur  seiner  Durchführungen. 

Eine  ähnlich  hervorragende  Stellung  wie  Johann 
Stamitz  nimmt  in  der  Frühzeit  der  Mannheimer  Franz 
F.  X. Riehtor.  Xaver  Richter  (1709— 17H9)  ein.  Eigen  ist  Richter 
erstens  durch  seine  Vorliebe  für  eine  der  Sinfonie,  bis  auf 
Ausnahmen  wie  Caldara,  grundsätzlich  fremde  Polyphonie, 
zweitens  durch  einen  ernsten,  tiefsinnigen  Zug,  der  sich 
weniger  in  den  Themen  selbst,  als  in  ihrer  Entwicklung 
geltsnd  macht,  da  besonders  durch  merkwürdig  unbe- 
stimmte, fragende,  ja  desperate  Schlüsse  auf  vermmderten 
Sept-  und  auf  Sekundakkorden  mit  Fermaten  und  Gene- 
ralpausen, Äußerungen  einer  ergreifenden  Resignation, 
'  die  mit  ganz  ähnliphen  Mittein  in  den  letzten  Smfonien 
J.  Haydns  wiederkehren.  Auch  in  anderen  rhetorischen 
Eigenheiten  äußert  sich  die  kontrastierende  Regsamkeit 
von  Richters  Phantasie.  Da  verstummt  plötzlich  das  volle 
Orchester,  nur  die  Violinen  musizieren  mit  einem  vier 
Takte  langen  festgehaltenen  hohen  T  weiter;  hier  gibt  er 


^-^     101     ♦— 

anversehens  einer  sinnigen  Melodie  durch  Verlegung  in 
die  tieferen  Saiten  einen  ganz  fremden  Charakter,  dort 
tritt  ein  zweites  Thema  ganz  anders  ein,  als  man  er^ 
wartet  Kurz  er  ist  ein  Dichter,  der  sich  mit  den  her- 
gebrachten Reimen  nicht  begndgt  und  in  dessen  Hand 
sich  das  Tonmaterial  fortwährend  neu  belebt,  der  mit  Nach- 
sätzen, Nachspielen,  Kombinationen  mehrerer  Themen, 
Zerlegung  der  Hauptgedanken  technisch  wie  geistig  fesselt, 
den  Verstand  und  die  Empfindung  des  Hörers  gleichmäßig 
beschäftigt  und  zuweilen  mächtig  packt  Die  volkstümliche 
Richtung  der  Zeit  vertritt  Richter  deutlicher  als  Stamitz, 
zuweilen  mit  förmlichen  Liedanklängen.   In  seiner  Fdur- 

Sinfonie    (op.   IV,  ^^ • 

Nr.  2}  z.  B.  hören  ft^'M^  fJJ  I  rff  ^  f  T  T  It^eto. 
wir    im   Andante  "^ 

im  Trio   ^  ,     .    ^    j        Mit  dem  HauptteU  seiner 

des  Me>  ^feg|  f  ff  |  F'  ^^  Thematik  knüpft  aber 
nuett:     •^        '  t"  «    '  Rjc^ter  an   die  heitere 

Tändelei  des  italienischen  Ideenkreises,  an  Sinfonien  wie 
sie  für  die  Oper  Traätta,  für  das  Konzert  Sammartini 
geschrieben  hat,  an.  Daß  er  darüber  hinauskommt,  ver- 
dankt er  außer  dem  angeborenen  Naturell,  der  Solidität 
der  alten  Schule,  in  der  er  aufgewachsen  «st  und  die  sich 
zuweilen  auch  noch  in  Spezialitäten  wie  die  Solmisations- 
themen  bekundet 

< 

Es  liegt  in  der  äußerlichen  Natur  der  Mannheimer 
Reformen,  daß  schon  bald  nach  dem  Tode  von  Johann 
Stamitz  ein  Verfall  eintritt    Zuerst  wird  er  bei  Anton 
Filtz  (1726—60)  sichtbar  und  zwar  in  Hauptthemen,  die  a^fiUb. 
wie  das  im  ersten  Satze  der  Adur-Sinfonie: 


^  AllegTO 


P 

einen  argen  Rückfall  in  die  neapolitanische  Windigkeit 
der  Vinci  und  Genossen  bedeuten.  Doch  hat  Filtz  auch 
bessere  Sinfonien  geschrieben,  zu  denen  namentlich'  die 
in  Es  (op.  2,  Nr.  6)  gehört,  und  seine  Menuetts  sind  so 


102 


ziemlich  alle  sehr  erfreulich.  Ähnlich  verhält  sichs  mit 
Joseph  Toeschi  mit  Franz  Beck,  Ernst  Eichner  und 
anderen  Vertretern  der  Schule.  Zam  Teil  läßt  sich  ihren 
Sinfonien  gute  fleißige  Arbeit  nachrühmen,  aber  der  Ideen- 
gehalt ist  unselbständige  und  erinnert  an  die  Nichtigkeit 
der  italienischen  Opernsinfonie.  Die  frischeste  Kraft  der 
Gruppe  ist  noch  Karl  Stamitz,  der  ältere  Sohn  Johanns, 
dessen  Werke  sich  auch  ziemlich  stark  verbreitet  zu 
haben  scheinen.  Ein  neuer  Aufschwung  zeigt  sich  in 
der  Mannheimer  Schule,  als  in  den  siebziger  Jahren 
Caanableli.  Christian  Cannabich  und  andere  das  koloristische 
Problem,  durch  das  die  Schule  zu  eigner  Bedeutung  ge- 
langt war,  vom  Frischen  aufgreifen  und  weiter  gestalten. 
Den  Anstoß  hierzu  hat  möglicherweise  die  neue  öster- 
reichische und  süddeutsche  Suite  gegeben,  denn  mit 
deren  Serenaden  und  Divertimentis  teilt  die  Mannheimer 
Sinfonie  der  zweiten  Periode  die  Neigung  zum  Konzer- 
tieren der  Instrumente  und  den  Aufmarsch  und  Wechsel 
zahlreicher,  voran  blasender  Solisten."  Die  neue  Sinfonie- 
arbeit der  Schule  gipfelt  in  Sinfonien  für  Doppelorchester, 
einer  Gattung,  die  sich  nur  spärhch  entwickelt  hat  und 
unsrer  Zeit  nur  aus  Versuchen  L.  Spohrs  bekannt  ge- 
worden ist  Cannabich  muß,  obwohl  er  ungleich  ist 
und  sichs  bei  einzelnen  Sinfonien  im  italienischen  Fahr- 
wasser bequem  macht,  den  bedeutenden  Mannheimern 
beigezählt  werden.  Seine  Durchführungen  gehören  zu 
den  freiesten,  an  Inhalt  und  Überraschungen  reichsten,  er 
gelangt  in  interessanter  Arbeit  zu  eigenen  Wendungen, 
wie  es  seine  Themen  in  den  Baßstimmen  sind,  und  hat 
namentlich  mit  Ghromatik,  mit  der  Figurenbildung  und 
den  Modulationen  seiner  Andantes  stark  auf  W.  Mozart 
gewirkt. 

Auch  der  bekannte  Ignaz  Holzbauer  hat  noch  in 
dieser  zweiten  Periode  fleißig  mitgearbeitet.  Sein  Nach- 
laßverzeichnis spricht  von  206  Sinfonien  und  Konzerten 
verschiedener  Art  Darunter  läßt  sich  wenigstens  eine  Sin- 
fonie für  die  neue  Cannabichsche  Richtung  reklamieren: 
es  ist  ein  in  Schwerin  aufbewahrtes  Fdur-Stück  für  zwei 


J.  Holsliftier. 


— »    103    «— 

konzertierende  Fagotten.  Die  Mehrzahl  der  Holzbauer- 
schen  Sinfonien  ist  dreisätzig  und  überhaupt  nach  älterem 
Master,  daher  auch  ohne  die  berühmten  Mannheimer 
Crescendi  durchgeführt.  Ihre  bedeutendsten  Teile  sind 
die  geistreichen  Reprisen  in  den  ersten  Sätzen« 

In   der  Norddeutschen  Schule  sind  die  Arbeiten  Norddeotsche 
derjenigen  Berliner  Komponisten  maßgebend,  die   7um       Schule, 
größten  Teile  als  Hofmusiker  Friedrichs  des  Großen  ihre 
Konzertsinfonien  für  die  hinter  dem  Jägerhofe  tagende 
»Musikalische  Gesellschaftc   von  Janitzsch  und  für  die 
bürgerlichen  Collegia,  von  Schale  und  Sack  schrieben. 
An  ihrer  Spitze  stehen  die  Gebrüder  Graun,  der  Kapell- 
meister Heinrich  und  der  Konzertmeister  Johann  Gottlieb 
Graun.    Heinrich  Graun  hat  allerdings  nur  Opernsm-  Heinrich 
fonien  geschrieben,  aber  sie  sind  ebenso  wie  die  Opern-    ß""»« 
Sinfonien  Hasses  sehr  viel  in  Konzei'ten  aufgeführt  worden 
und  haben  den  Stil  der  Sinfonie  dadurch  weiter  gefördert, 
daß  sie  den  ersten  Satz  grundsätzlich   über  ein  Haupt- 
motiv des  ersten  Themas  entwickeln.    Die  Sinfonie  zum 
Ezio  fängt  z.  B.  an : 


j»BMjjiqj^CQjiivrrrrr.,f|ffff 


Da  fährt  nun  gleich  nach  diesem  Schluß  die  Musik  mit  dem 
Motiv  des  ersten  Taktes  im  Baß  —  erst  in  D,  dann  in  h, 
in  G  etc.  —  fort  Das  war  eine  Methode,  die  der  Einheit 
eines  längeren  Satzes  zu  gute  kam,  die  aber  auch  die 
Komponisten  auf  ernste  und  strengere  Arbeit  verwies,  eine 
Methode,  die  Phantasiereich tam  sowie  Lust  an  Arbeit  und 
Kunst  voraussetzend,  die  Harmlosigkeit  der  italienischen 
Sinfonieallegris  ebenfalls  ausschloß.  Daraus,  daß  sich 
Graun  hierin  mitMonn,  Job.  Stamitz  und  anderen  Wienern 
und  Mannheimern  begegnet,  ersieht  man,  daß  der  Drang, 
den  Geist  der  Sinfonie  zu  heben,  in  Deutschland  gegen  die 
Mitte  des  18.  Jahrhunderts  allgemein  war  und  daß  keiner 
der  drei  Schulen  der  alleinige  Anspruch,  eine  neue  Zeit 
herbeigeführt  zu  haben,  zugestanden  werden  kann.    Jo- 


-^    104    ♦— 

Oottlieb  bann  Gottlieb  Graun  fußt  auf  den  Anregungen  seines 
tirauu  Bruders  und  baut  sie  in  seinen  für  die  Zeit  ungewöbnlich 
▼ollstimmig  besetzten  Konzertsinfonien  zu  einem  Konzer- 
tieren der  einzelnen  Orcbestergruppen  aus,  bierin  ein 
Vorläufer  der  zweiten  Mannheimer  Schule.  Hiller  meint 
Gottlieb  Graun,  wenn  er  in  den  »Wöcbentlichen  Nach- 
richten« (1770)  schreibt: 

»Die  deutschen  Sinfoniesetzer  . . .  sehen  nicht  sowohl 
darauf,  ein  simples  Thema  zu  erfinden,  als  schöne  Wir- 
kungen durch  die  große  Menge  verschiedener, Instrumente 
zu  erhalten,  die  sie  anbringen,  und  durch  die  Art,  wie  sie 
dieselben  nacheinander  arbeiten  lassen  . . .  Ihre  Sinfonien 
sind  eine  Art  von  Konzerten,  wo  die  Instrumente  sich 
wechselweise  zeigen,  wo  sie  sich  auffordern  und  antworten 
und  miteinander  streiten  und  sich  wieder  vereinen.«  Die 
kunstvolle  Arbeit  wurde  durch  beide  Graun  ein  Merk- 
mal der  Berliner  und  weiterhin  der  Norddeutschen 
Schule.  Von  der  VerwenJung  von  Kopfmotiven,  vom 
Konzertieren  der  Orchestergruppen  aus,  steigert  sie  sich 
bis  zu  einer  förmlichen  »Fugen-  und  Kanon technik«,  wie 
sich  M.  Flueler*)  ausdrückt.  Die  Lust  am  Fugieren  und 
Imitieren  hat  sich  bei  den  Berlinern  und  Norddeutschen 
bis  in  die  Zeit  der  ersten  Romantik  behauptet  Nicht 
bloß  in  den  Sinfonien  C.  M.  v.  Webers,  sondern  auch  noch 
in  denen  Robert  Schumanns  ist  die  Fuge  eine  bevorzugte 
Form  der  Satzentwicklung,  und  es  darf  hinzugefügt  werden, 
eine  von  Natur  aus  sehr  berechtigte.  In  der  Thematik 
gleichen  die  Norddeutschen.  Sinfoniker  zunächst  den 
Wienern  und  Mannheimern.  Auch  sie  bemühen  sich^  an 
Steile  des  bloßen  italienischen  Klingklangs  heitre,  zu 
einer  guten  gesellschaftlichen  Unterhaltung  geeignete 
Tongedanken  zu  setzen.  Später  tritt  bei  ihnen  mehr 
und  mehr  ein  ernsterer  Zug  hervor  und  unterscheidet 
die  Berliner  Sinfonien  von  der  leichten  Beweglichkeit  der 
Süddeutschen.    Von  ihm  aus  lehnen  sie  den  Menuett  ab 


*)  Max  Flueler,    Die   Norddeutsche   Sinfonie    zur   Zeit 
Friedrichs  des  Großen.     Berlin  1908. 


_^    106    »^ 

« 

und  greifen  J.  Haydn  an.  Das  war  nicht  bloße  Philistro- 
sität  sondern  auch  die  gesunde  Empfindung,  daß  der  neue 
vierte  Satz  eine  ästhetische  Einheit  sprengte. 

Nach  den    beiden  Grauns   ist  unter  den  Vertretern 
der  Berliner  Schale  Franz  Benda  zu  nennen.     Seine  Frau Bemtfa. 
fast  nur  für  Streichinstrumente  geschriebenen  Sinfonien 
sind  denen  von  Gottlieb  Graun  zürn  Verwechseln  ähnlich, 
and  tatsächlich  haben  Bibliothekare  Graunsche  Sinfonien 
dem  Benda  zugeschrieben.     Zu  den  talentvolleren  Sin- 
fonikern der  Berliner  Schule  gehört  dann  noch  Christoph 
Schaffrath,  eine  graziöse  frohgemute  Musikantennatur.  Ch^  Schafl^tli. 
Bei  weitem  schwächer  sind  Christian  Friedrich  Schale,  k.  Schale, 
ein  Trabant  Heinrich  Grauns,  und  Carl  Joseph  Rode- J.Bodewald. 
wald,    der  sich   von    einem    Italiener    gewöhnlichsten 
Schlags  kaum   unterscheidet.    Auch  die   Sinfonien  der 
beiden   bekannten   Theoretiker  Marpurg   und   Kirn- 
berger  können   nur  wenig  interessieren,  höher  stehen 
Christoph  Nichelmann,   von   dem   sich  aber  nur  ein c. NtehelmMn. 
Stuck  erhalten  hat,  Georg  Benda,  Heinrich  Rolle  und G^org Bend«. 
Friedemann  Bach.    Von  Sachsen,  die  in  der  Norddeut- H.  Kolle. 
sehen  Schule  hervorgetreten  sind,  .müssen  der  Dresdner  "^'^Bach*"" 
Georg  Ner ad a  und  der  Leipziger  Thomaskantor  Gottlob  q,  Hemda^ 
Harrer,  der  in  seinen  Sinfonien  viel  höher  steht  als  ine, üurrer. 
seinen    Volcalkom Positionen,    angeführt  werden.     Auch 
Job.  Adam  Hill  er   gehört   anter   die    besseren   Nord-j.A.HiUer. 
deutschen. 

Der  der  Gegenwart  am  meisten  bekannte  Vertreter 
der  Norddeutschen  Sinfonieschule  ist  Philipp  Emanuel 
Bach,  der  sogenannte  Hamburger  Bach.  Ph.  Em.  Bach Phil. Em. Bach, 
ist  weder  durch  Größe,  noch  durch  Menge  der  Gedanken 
ausgezeichnet;  er  hat  aber  nichtsdestoweniger  für  die 
Geschichte  der  Musik  als  Stilist  eine  Bedeutung  ersten 
Ranges.  Er  erfand  eine  neue  Art  der  thematischen 
Durchführung,  die  hinter  der  Fuge  und  den  andern 
strengen  Formen  der  Nachahmung  an  Gründlichkeit  zu- 
rückstand, sie  aber  an  Schmiegsamkeit  und  Beweglichkeit 
bei  weitem  übertraf  und  dem  Spiele  der  Laune  und  des 
Augenblicks   auch   in  den   größeren  Formen  einen  be- 


— •     106    >•- 

qnemeii^und  allezeit  offnen  Zutritt  gestattete,  ohne  daß 
dabei  die  Darstellung  —  wie  dies  in  der  nordisch  nieder- 
ländischen Instrumental  schule  früherer  Zeit  der  Fall  war 
—  der  Gefahr  phantastischer  Willkür  verfiel.  Bach  ist 
in  dieser  seiner  Art  einer  der  ersten  und  bemerkens- 
wertesten Vertreter  französischer  Bildungsideale  in  der 
deutschen  Instrumentalmusik.  Richteten  doch  in  der 
zweiten  Hälfte  des  vorigen  Jahrhunderts  selbst  die  Lieder- 
komponisten (der  Berliner  Schule)  ihre  Augen  auf  die  in 
Frankreich  gebotenen  Muster.  Neben  seinem  Lehrbuch 
>yersuch  über  die  wahre  Art  das  Klavier  zu  spielen«  hat 
Bach  am  nachhaltigsten  durch  die  Pianofortekomposi- 
tionen gewirkt,  die  in  großen  und  kleinen,  schweren  und 
leichten  Formen  seiner  fleißigen  Feder  in  Menge  ent- 
flossen. Aber  System  und  Geist  seiner  Kunst  kommen 
in  den  Sinfonien,  die  er  schrieb,  immer  noch  fühlbar 
zum  Ausdruck.  Überdies  enthalten  sie  in  der  Orchester- 
behandlung Elemente,  die  für  die  weitere  Entwicklung 
der  Gattung  von  Wichtigkeit  wurden.        ^ 

Gerber  schreibt  in  seinem  Lexikon  dem  Ph.  E.  Bach 
>ein  paar  Dutzend  Sinfonien«  zu.  Davon  sind  zu  Bachs 
Zeiten  höchstens  nur  10  in  Stimmen  gedruckt  worden, 
vier  davon  im  Jahre  1780  (bei  Schwickert  in  Leipzig). 
Diese  sind  es,  welche  Espagne  im  Jahre  1860  bei  Peters 
in  Leipzig  neu  herausgab.  Die  erste  derselben  wird  heute 
wieder  gespielt:  Das  Hauptthema  ihres  ersten  Satzes  ist 
dieses 

.  AUe^A  di  molto^ 

■:>  Ipf  TP  r/  '  1  m\  \  f\'  J  -  von  emigen  ziem- 
'  t^  ^ÜJT  tXl7  ^^^  ^^  lieh  unbedeuten. 
den  Seitenmotiven,  zu  einem  Satze  von  ungefähr  200 Takten 
Länge  ausgeführt,  in  welchem  sich  die  drei  Teile  des 
Sonatensatzes:  Themengruppe,  Durchführung.  Repetition, 
klar  unterscheiden.  Dieser  erste  Satz  moduliert  in  den 
Schlußtakten  nach  Es  dur,  der  Tonart  des  zweiten  Satzes, 


--♦    107    <^^ 

einem  Larghetto  in  dem  weichen,  zu  Tränen  bereiten 
Stile  des  18.  Jahrhunderte.  Mit  dem  Klange  der  geliebten 
Flöten  tritt  das  Thema  des  Satzes  ein: 

f 

Ein  Presto 
in  8/4  Takt 

j,m^rrfiNij|iii||j  I 

sausenden  Laufs,  nur  selten  durch  einen  ernsteren  Einfall 
gehemmt,  führt  die  Sinfonie  zu  Ende.  Diese  Scarlattische 
Grundform  und  auch  der  seelische  Typus  der  D  dur- 
Sinfonie  kehrt  in  den  anderen  wieder:  geistreiches,  leben« 
diges  und  sprühendes  Finale,  anziehendes  oder  erträgliches 
Larghetto  und  ein  verwunderlicher  Hauptsatz.  Denn  es  ist 
verwunderlich,  wie  diese  Hauptsätze  der  Sinfonien  —  und 
auch  der  Konzerte  —  des  Hambargeir  Bach  doch  ziemlich 
inhaltlos  verlaufen.  Sie  setzen  alle  mit  einem  wunderbaren 
Schwung  ein;  mit  gewaltiger  Kraftanstrengung  stürmen 
sie  von  Anlauf  zu  Anlauf,  geberden  sich  in  Trillern  und 
allerhand  ungewöhnlicher  Melodik  nicht  selten  ganz  apart 
und  absonderlich.  Aber  sie  zerplatzen  wie  Seifenblasen 
ohne  Spur  und  Resultate.  Es  stellt  sich  diesen  heroischen 
Versuchen  nichts  Wichtiges  entgegen,  der  Zug  gerät  in 
Tändeleien  und  streift  am  Bedeutenden  flüchtig  vorüber; 
das  Ganze  kommt  nicht  über  das  Phantastische  hinaus 
und  bleibt  Feuilleton  und  Strohfeuer.  Nur  die  gedank- 
lich bedeutendste  der  vier  Sinfonien,  die  zweite  in  F  dur, 
erhebt  sich  über  diese  Stufe.  Beim  unmittelbaren  Hören 
der  Bachschen  Sinfonie  findet  jedoch  die  Kritik  keine 
Zeit  zu  ihren  Bedenken;  die  Sätze  gehen  unmittelbar 
ineinander  über  und  das  Ganze  rauscht,  angeregt  und 
anregend,  verhältnismäßig  schnell  vorüber. 

Die  Besetzung  der  vier  Sinfonien  (Streichorchester, 
2  Flöten,  2  Oboen,  2  Hörner,  2  Fagotts  und  Flügel)  weist 
auf  spezifisch  hamburgische  Verhältnisse  jener  Zeit  hin: 
ein  starkes,  mit  virtuosen  Kräften  ausgestattetes  Violinen- 
ensemble und  ziemlich  mäßige  Bläser.  Der  Flügel  ist 
in  jener  Zeit  bereits  eine  entbehrliche  Zutat.    Interessant 


— »    108    ♦— 

ond  Schale  machend  wirkte  Bach  durch  die  Behandlung 
der  Instrumente.  Unter  ihnen  herrscht  im  Vergleich  zur 
älterep  Weise  volle  Freizügigkeit,  und  sein  Orchester 
formiert  sich  fortwährend  anders  und  vollzieht  die  Evo- 
lutionen der  neuen  Aufstellung  mit  einer  Leichtigkeit, 
die  der  älteren  Praxis  fremd  war.  Auch  Bach  kennt  das 
»Concertino«  des  Konzertorchesters  noch,  er  gibt  dem  be- 
kannten Bläsertrio  gern  die  zweiten  Themen  im  Haupt- 
satz. Aber  auch  jedes  andere  Instrument  besitzt  bei  ihm 
die  Solistenqualifikalion  und  ist  jeden  Augenblick  bereit, 
von  ihr  Gebrauch  zu  machen.  Die  solistische  Führung 
geht  taktweise  von  der  Oboe  zur  Flöte,  von  einem  Chor 
zum  andern,  während  man  früher  bei  solchem  Wechsel 
etwas  umständlicher  war. 

Durch  die  Arbeit  der  drei  Schulen  kam  es  im  letztto 
Drittel  des  18.  Jahrhunderts  zu  einer  Scheidung  von 
Opernsinfonie  und  Konzertsinfonie.  Die  erstere  wurde 
einsätzig,  die  Konzertsinfonie  behielt  drei  oder  vier  Sätze 
und  wird  daher  häufig  als  Sinfonie  p^riodique  d.h. 
als  mehrsätzige  Sinfonie  angezeigt. 


II. 

J.  Haydn,  Mozart,  Beethoven. 


*t  große  Aufschwung,  den  die  Pflege  der  Sinfonie 
in  Deutschland  um  die  Mitte  des  18  Jahrhunderts 
nahm,  brachte  ihre  innere  Entwicklung  wohl  in 
Gährung,  aber  zu  keinem  bedeutenden  Abschluß.    Die  ge- 
m*einsame  Arbeit  der  drei  Schulen  hat,  wie  noch  Ph.E.  Bach 
zeigt,  weder  die  italienische  Thematik  vollständig  aus- 
schalten können,  noch  weniger  ist  es  ihr  gelungen,  die  Form 
der  Sinfonie  auch  nur  in  dem  Grade  mit  deutschem  Geist  zu 
fallen,  wie  er  sich  anderwärts  schon  längst,  in  den  Sonaten 
S.  Bachs  etwa,  geltend  gemacht  hat    Auch  diejenigen 
Sinfoniekomponisten,  die  wie  die  beiden  Böhmen  Mysli- J«  Hrtllwceiek 
weczek  und   Zach,   wie  Gottwald,    Camerloher,  ^•«''     , 
Schwanberger,  Rosetti  und  wie  der  viel  gespielte  ^®][J^*J,j'^^^ 
Londoner  Bach  außerhalb  bestimmter  Schulen  stehen,  gchwauberger. 
tragen  zwar  zum  Teil  in  die  Ideenrichtung  oder  in  die  Roietti. 
Formbehandlung  der  Sinfonie  interessante  Einzelzüge  hin-  ^^'  ****** 
ein,  aber  das  Gesarotergebnis  ändern  sie  nicht.     Erst 
Josef  Haydn  wandelte  sie  um  und  zwar  so  gründlich 
und  gewaltig,  daß  seine  Reform   der  Sinfonie  eine  der 
bedeutendsten  Taten  der  gesamten  Kunstgeschichte  ge- 
nannt werden  darf. 

Wenn  wir  auf  die  Frage,  worin  bestand  Haydns 
Reform  der  Sinfonie,  mit  unseren  Handbüchern  der 
Musikgeschichte  und  mit  den  musikalischen  Lexicis  ant- 
worten: in  der  Einführung  des  Menuetts,  so  bleiben  wir 


--*     110    H>^ 

allerdings   den   Tatsachen   das   meiste   und   das  beste 
schuldig. 

Haydn  hat  den  Mennett  nicht  in  die  Sinfonie  einge- 
führt, sondern  ihm  nur  in  der  internationalen  Sinfonie 
allgemeines  Burgerrecht  erworben.  Es  handelt  sich  dabei 
im  Menuett  um  ein  Stück  volkstQml icher  Musik  im  all- 
gemeinen. Die  Wiener  Schule  näherte  sich  mit  der  Auf- 
nahme dieses  Tanzsatzes  in  die  Sinfonie  der  Suite,  und 
Haydn  war  es,  der  die  von  andern  großen  Meistern,  von 
Corelli  und  namentlich  von  Händel  auf  dem  Gebiete  des 
Konzerts  versuchte  Aussöhnung  der  höheren  Tonkunst 
mit  der  einfachen  gesunden  und  reichen  Volksmusik 
auf  dem  Gebiete  der  Sinfonie  zu  einen  in  seiner  Art 
ganz  vollendeten  und  wundervollen  Abschluß  brachte. 
Ihm  gelang  es,  in  den  Formen  der  italienischen  Sinfonie 
den  Suitengeist  heimisch  zu  machen;  für  diejenigen  — 
kann  man  sagen  —  die  diesen  neuen  Geist  im  alten 
Hanse  nicht  merkten,  wurde  der  Menuett,  der  moderni- 
sierte, ländlerartige,  österreichische  Menuett,  noch  be- 
sonders drein  gegeben;  Im  letzten  Allegro,  im  Schluß- 
satz, hielt  auch  die  italienische  Sinfonie  auf  eine  gemein- 
verständliche, un gesuchte,  an  Tanz  anklingende  Fröhlich- 
keit. Aber  in  den  anderen  Sätzen  ist  zwischen  ihr  und 
Haydn  ein  elementarer  Unterschied:  Der  erste  Satz  hat 
bei  den  Italienern  weit  ausholende,  umständliche,  bei 
aller  Trivialität  auf  Theaterfüßen  einherstolzierende 
Themen;  bei  Haydn,  bei  dem  späteren  Haydn  wenigstens, 
dem  Haydn,  den  heute  alle  Leute  meinen,  wenn  sie 
seinen  Namen  nennen  —  knappe,  sofort  fertige,  unge- 
küQstelte,  lustige,  gemütlich  beschauliche  Weisen,  die 
wie  aus  dem  Volksmund  genommen  klingen,  sicher  f&r 
ihn  wie  geschaffen  und  doch  dabei  immer  so  edel  sind, 
daß  sie  auch  die  vornehmen  und  hohen  Geister  erfreuen, 
erwärmen  und  fesseln.  Seine  langsamen  Sätze,  seine 
Adagios,  Andantes,  Larghettos  entwickeln  oft  den  Tief- 
sinn S.  Bachs,  die  Empfindungsgröße  Händeis,  sind  erregt 
ohnegleichen;  aber  ihren  Ausgang  nehmen  sie  meistens 
von  dem  Boden  des  Kinderliedes.    Wer  denkt  da  nicht 


--♦   111   ♦^ 

an  das  Andante  mit  dem  Paukenschlag?  Es  führen  ge- 
rade von  diesen  Sätzen  goldene  Fäden  nach  dem  Rohr- 
aner  Eiternbans  Haydns,  zu  den  Abendstunden,  da  der 
.  Vater  die  Harfe  schlug  und  die  Kfnder  sangen.'  Familien- 
abkunft  und  Heimat  haben  einen  großen  Anteil  an  der 
Sinfonie  Haydns;  sie  haben  zum  Teil  ihre  Richtung  auf 
den  Gedankenkreis  der  Suite  bestimmt,  ihre  schnelle  und 
weite  Verbreitung,  ihre  ungeheure,  bis  heute  bewährte 
Popularität  begründet. 
y^  Aber  der  volkstümliche  Charakter  der  Haydnschen 
'  Sinfonie  ist  nur  der  eine  Teil  ihrer  Neuerung.  Er  ruht 
auf  der  Erfindung  der  Gedanken.  Wichtiger  noch  ist,  wie 
das  sch6n  frühzeitig  bemerkt  worden  ist*),  der  andere: 
die  Auslegung,  Verwendung  des  thematischen  Materials, 
das,  was  Theologen  und  Philologen  die  Exegese  nennen. 
Hierfür  standen  der  älteren  Zeit  in  der  Instrumentalmusik 
vor  allem  Fuge  und  Variation  zur  Verfügung.  Beide 
Formen  arbeiteten  fast  ausschließlich  mit  dem  Thema 
in  seiner  ganzen  Ausdehnung  und  Länge.  In  zweiter 
Linie  erst  kam,  namentlich  durch  das  Konzert,  die  Ent- 
wicklung eines  Tonsatzes  auf  Grund  von  Bruchstücken 
des  Themas,  auf  Grund  sogenannter  Motive  in  Brauch. 
Haydn  machte  nun  diese  motivische  Entwicklung  zum 
Prinzip  des  Satzbaues,  und  eine  besondere  Eigenheit  von 
ihm  war  es,  daß  er  solche  Teile  des  Themas,  solche 
Motiye  zu  dem  Zweck  gern  heranzog,  die  im  Zusammen- 
hang der  thematischen  Periode  zurücktreten,  denen  man 
nichts  Bemerkenswertes  ansieht.  Ein  Hauptb^ispiel  für 
dieses  Haydnsche  Verfahren  bietet  die  Ddur- Sinfonie 
Nr.  2  (der  neuen  Partiturausgabe  von  Breitkopf  &  Härtel), 
die  zweite  der  Londoner  Sinfonien,  in  ihrem  ersten  Satz. 
Da  ist  der  ganze,  große  Durchführungsteil  und  auch  ein 
gutes  Stück  der.  Übergangspartien  in  der  Themengruppe 
aus  dem  3.  und  4.  Takte  des  Hauptthemas,  aus  dem  zweiten 

*)  L.  Gerber:  Über  gearbeitete  Instramsntalmnslk,  be- 
sonders über  Sinfonie.  Allgemeine  Musikalische  Zeitung  1813, 
S.  457  n.  ff. 


--♦     112    «^ 

Abschnitt  des  Vordersatzes  hergestellt,  der  also  lautet: 

Nun  vergleiche  man  ein- 

4^yA  J  J  J  J   I  ■»    J    I      mal, wie  unbedeutend  diese 
ff^T  ip    "    ■      jj^.j^^   ^^,.j^    .^   Thema. 

selbst  bleiben,  andererseits  was  für  eine  Skala  von  Emp- 
findungen Haydn  mit  ihnen  durchspielt.  Das  geht  von 
der  entzückten  Träumerei  bis  zum  entsetzten,  verzweifelten 
Toben. 

Dieses  neue  Haydnsche  Verfahren  i  ließ  die  Grund- 
linien der  in  der  italienischen  Sinfonie  herrschenden 
Formen  im  Anfangs-  und  Schlußsatz  unberührt.  Wir 
haben  im  ersten  Sinfoniesatz  bei  Haydn  nach  wie  vor 
die  drei  Hauptteile:  Themengruppe,  Durchführung,  Re- 
prise: das  Schema  also  des  sogenannten  Sonaten satzes. 
Seine  Schlußsätze  bleiben  bei  der  bisher  üblichen  Rondo- 
form —  eine  Art  Instrumentalübertragung  des  Rundge- 
sangs —  oder  sie  verwenden,  wie  der  erste  Satz,  eben- 
falls das  Sonatenschema.  Aber  die  Teile  selbst  sind  be- 
trächtlich erweitert.  Ganz  besonders  gilt  das  von  der 
Durchführung  des  ersten  Satzes,  die  dessen  wichtigsten 
und  spannendsten,  in  der  Regel  auch  längsten,  umfang- 
reichsten Teil  bildet.  Gleicht  die  Themengruppe  der  Ex- 
position im  Drama,  so  bringt  die  Durchführung  die 
Katastrophe,  enthält  das  bewegteste  Stück  aus  dem  in- 
der  Romposition  vorgeführten  Lebensbild.  Dem  lang- 
samen Satz  gab  Haydn  eine  ganz  neue,  dem  Sonaten- 
charakter des  ersten  Satzes  nachgebildete,  in  der  Durch- 
führung l^ürzer  gehaltene,  oder  aber  aus  Variationen 
herausgewachsene  Gestalt.  Die- Variationenform  verdankt 
die  Stellung,  die  sie  in  der  modernen  Sinfonie,  im  Quartett 
und  in  allen  Zweigen  des  Sonatengebietes  einnimmt,  dem 
Meister  Haydn.  Zwischen  ihm  und  der  alten  Orchester- 
suite der  Haußmann  und  Genossen  liegt  eine  Zeit,  da  sie 
ihr  Dasein  bescheiden tl ich  auf  dem  Klavier  und  im  Schul- 
dienst fristete.  Der  Menuett  allein  bewahrt  den  Charakter 
der  Volksmusik,  den  die  anderen  Sätze  der  Haydnschen 
Sinfonie  im  Anfang,  in  den  Themen,  zeigen,  auch  im 
weitem  Verlauf.    Er  besteht  aus  einem  in  zwei  Klauseln 


--♦     113    ♦— 

geteilten  Hauptsatz,  einem  Trio  als  Gegensatz  und  der 
Wiederholung  des  Hauptsatzes.  Im  äußeren  Gefüge  wie 
im  Inhalt  verliert  er  die  praktischen  Zwecke  des  Tanzes 
nie  ganz  aus  den  Augen  und  verzichtet  deshalb  auf 
Durchfahrongi  thematische  Arbeit  und  alle  Künste  der 
Auslegung. 

Eine  erstaunlich  große  Anzahl  von  Musikfreunden 
und  Musikern  —  unter  diesen  Namen  von  gewichtigstem 
Klang  —  glaubt,  den  >Papa  Haydn«,  den  »gemütlichen«, 
den  » kindlichen  €  Haydn,  mit  einem  Beisatz  von  Her* 
ablassung  verehren  zu  dürfen,  weil  Qr  in  den  Themen 
seiner  bekannten  Sinfonien  sich  sehr  ungeniert  als  Bruder 
Lustig  gibt  und  in  demselben  Kreise  harmloser,  von  der 
Oberfläche  geistigen  Lebens  geschöpften  Ideen  dreht. 
Sie  übersehen  ganz  den  inneren  Zusammenhang,  der 
zwischen  der  Thematik  der  Haydnschen  Sinfonie  und 
den  Werken  der  Berliner  Liederschule,  noch  mehr  aber 
den,  der  zwischen  den  Themen  und  der  Methodik  ihrer 
Entwicklung  besteht  Die  Methode,  in  der  Haydn  seine 
Gedanken  entwickelt,  ausnutzt,  zum  großen  Tonsatz  aus- 
führt und  erweitert,  liebt  bedeutende,  durch  eigne  Wen- 
dungen ausgezeichnete  Themen  nicht;  sie  kann  sie  nur 
selten  gebrauchen.  Auch  die  Macht  und  Unmittelbarkeit 
der  ersten  Erfindung,  der  immer  von  neuem,  frisch  ein- 
setzenden Inspiration  hat  für  sie  wenig  Wert.  Tonge- 
danken, die  sich  für  die  Haydnsche  Methode  eignen  sollen, 
müssen  klar  und  reich  gegliedert  sein,  vor  allem  unbe- 
schränkte Verwand lungsfähigkeit  besitzen.  Das  Wesen 
der  Haydnschen  Sinfonie,  ihre  Eigentümlichkeit  beruht 
nicht  auf  den  Themen  und  Ideen,  ihrem  Eigenwert  und 
ihrem  ersten  Eindruck,  sondern  auf  dem  Grad  von  Kunst, 
mit  dem  der  Komponist  sie  behanddlt,  darauf,  was  er 
aus  ihnen  zu  machen  weiß.  Haydn  schuf  seine  Sinfonien 
aus  einem  ähnlichen  Glauben,  aus  dem  heraus  Aeschylus 
und  Sophokles  ihren  Tragödien  Volkssagen  zu  Grunde 
legten,  Schütz  und  Händel  AllerweUsmotive  und  nach- 
weislich fremde  Erfindungen  für  ihre  Kompositionen  be- 
nutzten:   aus   dem  Glauben  und  der  Anschauung:  die 

Kroizflchmar,  Fftkrer.    I,  1.  8 


--^     114    ♦^ 

Originalität  und  der  Gehalt  der  Grundideen  ist  fiir  große 
Kunstwerke  weniger  wichtig,  als  die  Begabung  des 
Känstlers.  Ein  Sinfoniker,  der  in  der  Methode  Haydns 
etwas  leisten  will,  muß  einen  außerordentlich  reichen 
beweglichen  Geist,  er  muß  die  Fähigkeit  besitzen,  ein 
und  dasselbe  Thema  mit  tausend  verschiedenen  Lichtem 
zu  beleuchten,  mit  ihm  in  alle  Türen  und  Tore  seines 
Phantasie-  und  Gemütslebens  einzudringen.  Er  muß  eine 
Persdnhchkeit  sein,  die  sich  ihrer  Falle  und  Eigenart 
frechen  darf  und  daraus  mit  yoUendeter  Freiheit  mitzu- 
teilen weiß,  was.  am  Platze  ist  War  die  Sinfonie  vor 
Haydn  eine  Festmusik,  so  wurde  sie  durch  ihn  eine  -Ton- 
dichtung intimster  Art:  der  Subjektivität  des  Komponisten 
wurde  ein  größerer  Anteil  i^n gewiesen,  als  ihn  bisher  die 
Orchestermusik  gekannt  hatte.  Es  war  fortan  —  um 
mit  Brahms  zu  sprechen  —  »kein  Spaß«  mehr,  Sinfonien 
zu  schreiben. 

Zu  dem  Suiten geist,  zu  der  durch  die  Betonung  thema- 
tischer Arbeit  erweiterten  Satzform  der  Haydnschen  Sin- 
fonie tritt  als  eine  dritte  Neuerung  die  Beseitigung  des 
Cembalo  aus  dem  Orchester,  aber  erst  von  seiner  mittleren 
Zeit  ab.  Man  kann  diese  Maßregel  auf  die  Anregung 
der  Gluckschen  Oper  oder,  was  wohl  das  Richtigere  ist, 
auf  das  Beispiel  der  alten  Orchestersuite  und  ihrer  süd- 
deutschen Rechtsnachfolger,  der  Cassationen,  Serenaden, 
zurückführen.  Im  letzteren  FnUe  bedeutet  sie,  wie  die 
Einführung  des  Menuett,  wie  die  Thematik  der  Haydnschen 
Sinfonie,  ebenfalls  eine  Annäherung  an  die  Bräuche  der 
gleichzeitigen  Volksmusik.  In  dem  Augenblick,  wo  die  In- 
strumente des  Haydnschen  Orchesters  von  dem  Cembalo 
Abschied  nehmen,  richten  sie  untereinander  eine,  über  alle 
bisherige  Konvention  hin  ausschreiten  de  Freiheit  des  Ver- 
kehrs ein.  Das  Konzertieren  und  das  Solospiel  wechselt  in 
einer  Beweglichkeit,  die  wohl  von  Händel  z.  B.  in  den 
Oboenkonzerten,  von  Ph.  E.  Bach,  von  den  Mannheimern 
vorbereitet,  aber  in  der  Haydnschen  Weise  bisher  noch 
von  niemandem  durchgeführt  war.  Indem  das  Solorecht 
von  jetzt  ab   allen  Instrumenten  ohne  Ausnahme  ver- 


^    115     «--  . 

liehen  and  in  buntester  Reihe,  unter  Umständen  takt- 
weise von  einem  zum  andern  wandernd,  ausgeübt  wurde, 
gewann  das  Orchester  mit  Haydn  einen  Reichtum  und 
einen  Reiz  des  Kolorits,  der  die  Wirkungen  seiner  Sin- 
fonien auf  die  Zeitgenossen  mächtig  förderte.  Wir  aller- 
dings haben  von  der  Schönheit  und  Eigenheit  des  Haydn- 
schen  Orchesterklanges  in  vielen  Fällen  gar  kerne  Ahnung, 
weil  wir  sie  durch  das  Mißverhältnis  zwischen  der  Be- 
setzung der  Geigen  und  der  der  Holzbläser  gründlich  ver- 
derben. Das  vernichtet  namentlich  die  Haydnsche  Kunst 
der  Farbenmischung.  Ein  Beispiel:  In  der  hübschen 
Gdur- Sinfonie  Nr.  13  (Partiturausgabe  von  Breitkopf  & 
Härtel)  kommt  im  ersten  Satz  mehrmals  eine  Stelle 
vor,  an  der  zu  den  von  den  Bässen  gebrauchten  Vari- 
ante des 
Haupt- 
themas: 

die  hohen  In- 
strumente mit 
der  Figur: 

kontrapunktieren.  Diese  Figur  klingt  außerordentlich 
schelmisch,  weil  die  Oboen  mitspielen  und  in  den  Geigen- 
ton eine  drollige  Färbung  hineintragen.  Diese  Nuance 
muß  aber  verloren  gehen,  wenn,  wie  das  bei  unseren 
Orchesteraufführungen  anstandslos  passiert,  die  ersten 
Geigen  zehn-  bis  zwanzig  fach,  die  Oboen  aber  einzeln 
besetzt  sind.  Der  Dirigent  muß  notwendigerweise  die 
Besetzung  des  Orchesters  kennen,  die  zur  Zeit  Haydns 
üblich  war,  und  danach  seine  Einrichtungen  treffen.  Ohne 
etwas  historisches  Wissen  geht's  eben  auch  den  soge- 
nannten Klassikern  gegenüber  nicht! 

Nur  wenige  Musiker  sind  sich  darüber  klar,  daß  die 
Beseitigung  des  Cembalo  aus  dem  Sinfonieorchester  auch 
mit  einem  künstlerischen  Nachteil  verbunden  war.  Er 
liegt  darin,  daß  wir  jetzt  zur  Füllung  der  Harmonie, 
Angabe  des  Rhythmus  und  anderer  elementarer  und 
mechanischer  Aufgaben,  für  die  vor  Haydn  das  Akkord- 
instrument da  war,  eine  Anzahl  von  Künstlern  in  Betrieb 

8* 


4 


I 


116     *^ 

setzen  müssen.  Wie  sehen  die  Stimmen  der  Bläaer,  der 
zweiten  besonders,  in  modernen  Orchesterwerken  oft  ans! 
Zwei,  drei  Fülltöne,  dann  wieder  zehn,  oder  anch  zehn- 
mal zehn  Takte  Pansen,  selten  eine  melodische,  thema- 
tische, für  sich  sinnvolle  Stelle.  —  Es  ist  ein  geradezu 
demoralisierender  Färberdienst,  der  trefflichen  Künstlern 
zugemutet  wird,  und  Über  kurz  oder  lang  wird  es  dahin 
kommen,  daß  wir  das  Cembalo  oder  einen  Ersatz  dafür 
wieder  zurückholen.  In  London  mußte  übrigens  Haydn 
wohl  oder  übel  bei  Aufführungen  eigner  oder  fremder 
Sinfonien  sich  das  Klavier  gefallen  lassen,  wohl  auch 
selbst  spielen*). 

Unter  den  Neuerungen  der  Haydnschen  Sinfonie  ist 
das  Prinzip  der  motivischen  Entwicklung,  der  thematischen 
Arbeit  die  wichtigste.  Sie  hat  die  Zukunft  der  Sinfonie 
bis  heute  beherrscht.  Ihr  Geist,  ihr  Charakter  war  mit 
der  Individualität  Haydns  auf  eilgste  verbunden.  Haydn 
war  mit  seinem  Scharfsinn,  seiner  Schlagfertigkeit,  seinem 
Witz  für  diese  Methode  geschalTen.  Und  doch  hat  er 
sich  ihr  erst  zugewendet,  nachdem  er  die  Mitte  seines 
Lebens  längst  überschritten,  —  ähnlich  wie  im  Oratorium, 
auch  beim  Betreten  dieses  seines  eigensten  und  glänzend- 
sten Gebietes  ein  Kunktator! 

Von  den  vielleicht  160  Sinfonien,  die  Haydn  kom- 
poniert hat,  ist  die  gute  Hälfte  unverüffentlicht  geblieben, 
nicht  einmal  in  Stimmenausgaben  gedruckt  worden. 
Namentlich  die  Arbeiten  aus  den  ersten  beiden  Jahr- 
zehnten seiner  Tätigkeit  ab  Sinfoniker  waren  bisher 
schwer  zugänglich.  Dem  ist  endlich  durch  die  ersten 
drei  Bände  der  im  Jahre  1909  begonnenen  Gesamtaus- 
gabe der  Werke  Haydns  abgeholfen  worden,  welche  die 
zwischen  1769  und  1770  entstandenen  vierzig  Sinfonien 
vorlegen.  Haydn  ist  ähnlich  wie  Beethoven  erst  beim 
Eintritt  ins  Mannesalter  an  die  Sinfonie  herangegangen, 
aber  dann  auch  vom  ersten  —  für  die  von  ihm  geleitete 

*)  OriesiDger,  6.  A.:  Biographische  Notizen  über  J.  HAydn 
(1810),  S.  60. 


--»     117    ♦^ 

Gräflich  Morzinsche  Kapelle  geschriebenen  —  Stück  ab  in 
der  Regel  seine  eigene  Straße  gezogen  and  hat  dabei 
eine  enorme  Wandlungsfähigkeit  be^vlesen.  Schon  beim 
Vergleich  der  ersten  mit  der  zweiten  Sinfonie  tritt  sie  Die  «nten 
hervor.  Dort  walten  komische  Einfälle,  Künste  der  Ober-  Sinfonien. 
raschong,  der  Übertreibung,  des  grotesken  Humors  her- 
vor, hier  in  der  C  dur-Sinfonie,  mit  der  er  in  Eisenstadt 
antritt,  ist  er  eine  ganz  andere,  feinere  Natur,  ein  Künstler, 
der  den  Witz  und  seinen  Stolz  darin  sucht,  aus  wenig 
viel  zu  machen.  Man  fühjt  sich  bei  diesem  Werke  bereits 
in  die  Londoner  Sphäre  versetzt  und  steht  schon  hier 
dem  großen  Meister  der  motivischen  Entwicklung  und 
der  thematischen  Arbeit  gegenüber.  Mit  einem  Teil  dieser 
früheren  Sinfonien  gab  Haydn  Beiträge  zur  Programmusik. 
Die  Richtung  war  zu  Haydns  Zeit  unter  den  Instrumental- 
komponisten noch  von  MufTats  Suiten,  Frobergers  und 
Kuhnaus  Klavierstücken  her  beliebt  und  in  der  Sinfonie 
durch  Männer  wie  Dittersdorf  (Sinfonien  zu  Ovids  Meta- 
morphosen) Mysliweczek  (6  Sinfonien  über  die  Monate 
Januar  bis  Juni),  G<  Stamitz  (la  chasse),  Tessarini  (la 
stravaganza),  Rosetti  (Sinfonien:  »Galypso  und Telemach«» 
»Der  Sturz  Phaetons«),  Pichel  (neun  Sinfonien  über  die 
neun  Musen)  u.  a.  vertreten.  Er  selbst  hat  seine  Neigung 
zu  ihr  noch  in  späteren  Jahren  bekannt,  als  er  dem  Hof- 
rat Griesinger  bemerkte,  daß  er  in  seinen  Sinfonien  gern 
einen  »moralischen  Charakter«  geschildert  habe*).  Wie 
sehr  das  Publikum  Haydns,  namentlich  das  französische, 
einen  poetischen  Anhalt  in  den  Sinfonien  liebte,  das 
sagen  uns  die  Beinamen,  mit  denen  es  die  Werke  Haydns 
belegte:  Wir  haben  da  einen  Philosoph,  einen  »Zer- 
streuten« (il  distratto),  einen  Schulmeister,  eine  Lamenta- 
tion, eine  Passion,  eine  Maria  Theresia  einen  Laudon, 
eine  la  Reine,  la  chasse,  la  poule,  einen  Tours,  eine 
Feuersinfonie,  eine  Militärsinfonie,  eine  Kindersinfonie 
und  noch  eine  ganze  Reihe  merkwürdiger  Namen.  Car- 
pani,  der  italienische  Biograph  Haydns,  der  Librettist  der 

♦)  Griesinger.     S.  117. 


— ♦    118    «^ 

italieniscben  »Schöpfangc  behauptet,  daß  Haydn  diesen 
Sinfonien  allen  ausgeführte  Novellen  und  Geschichten 
untergelegt  habe*)>  Soweit  es  sich  um  Kompositionen 
aus  späterer  Zeit  handelt,  stehen  jedoch  diese  Titel  dem 
Wesen  der  Kunstwerke  meistens  sehr  fem  und  heften 
sich  nur  an  Kleinigkeiten  und  Äußerlichkeiten  der  im 
übrigen  vollkommen  normalen  und  formgerechten  Sin- 
fonien. Die  ersten  wirklichen  Beiträge  Haydns  zur  Pro- 
grammusik sind  die  1761  komponierten  Sinfonien  le 
Die  matin,  le  midi,  le  soir,  die  Tei^ie  eines  die  »Tageszeiten € 
Tagesaeiten.  benannten^Zyklus,  dessen  viertes  Stück,  la  nuit,  wabr- 
scheinlicb  verloren  gegangen  ist.  Haydn  hat  sich  an 
dem  Thema  der  Tageszeiten,  das  im  18.  Jahrhundert 
auch  von  Dichtern  und  Malern  bebandelt  worden  ist, 
sinnig  und  witzig  die  der  Musik  zugänglichen  Seiten 
j.Haydtt,  herausgesucht  Der  Morgen  (le  matin)  gibt  ihm  in  den 
le  matin.  Ecksätzen  und  im  Menuett  Gelegenheit  zu  stimmungs- 
reichen Wanderbildem  mit  Lerchengesang  und  anderer 
Naturmusik,  mit  Wechsel  von  Sonnenschein  und  Wolken, 
stillem  Träumen  und  lautem  Jubel.  Da  der  Morgen  aber 
auch  die  Zeit  des  Lernens  ist,  bringt  der  zweite  Satz  die 
Parodie  einer  Musikstunde,  eine  der  in  der  älteren  Vokal- 
musik so  beliebten  Solmisationsszenen.  Die  Schüler 
(Geigerchor)  tragen  von  D  aus  die  Gdur-Skala  vor  und 
spielen  fälschlich  b,  da  fällt  der  Lehrer  (Solovioline) 
heftig  ein  und  zeigt  ihnen,  daß  es  h  sein  muß.  Nach 
dieser  Korrektur  greift  eine  freie  und  anmutige  Unter- 
haltung Platz, 
le  midi.  Der  Grandgedanke  von  le  midi  ist  eine  in  die  Form 
eines  Concerto  grosso  gekleidete  solenne  Tafelmusik.  Im 
ersten  Satz  erinnert  sie,  sich  an  ein  Glucksches  Thema  an- 
lehnend, an  das  Festmahl,  von  dem  Don  Juan  zur  Hölle 
weggeführt  wurde.  Mit  diesem  Bild  im  Kopfe  wird  Haydns 
Zuhörern  das  merkwürdige  Adagio  verstäiidlich  gewesen 
sein,  das  mit  vorausgehendem  Rezitativ  als  zweiter  Satz 
folgt   Der  genannte  Carpani  erzählt,  daß  Haydn  in  einer 

*)  Carpani,  Giuseppe:   Le  Uaydlne  (Milano  lhl2),'S.  69. 


--♦    119    ♦— 

seiner  ältesten  3infonien  sich  einen  Dialog  zwischen  Gott 
und  einem  verstockten  Sünder  gedacht  habe.  Nan:  der 
zweite  Satz  von  le  midi  ist  dieser  Dialog.  Im,  Rezitativ 
spricht  Gott- Vater  zum  Sünder,  im  Adagio  spricht  (in  der 
Stimme  des  Cellos)  der  Sünder  mit  und  wird  zn  Gnaden 
aufgenommen.  Der  Glanzpunkt  der  Versöhnungsszene 
ist  die  vor  dem  Schluß  eingelegte  Kadenz  von  Violine 
und  Cello,  ein  Unikum  unbegleiteten  Duettspiels.  Menuett 
und  Finale  halten  ohne  Bezug  auf  .besondere  Vorgänge 
an  der  Idee  der  konzertierenden  Tafelmusik  fest. 

Le  soir  ist  eine  Art  sinfonisches  Seitenstück  zu  le  soir. 
Dittersdorfs  Doktor  und  Apotheker  und  ähnlichen  Kunst- 
werken des  bürgerlichen  Behagens  und  anspruchslosen 
Glücks,  von  traulichen  Tanzweisen  und  Kinderliedern  be- 
lebt. Auch  die  Wandermotive  aus  le  matin  tauchen 
wieder  auf,  und  den  Schluß  bildet,  wie  in  so  vielen  Kon- 
zerten und  Sinfonien  der  Zeit,  eine  »Tempesta«,  die 
Schilderung  eines  schweren  Unwetters,  die  in  Frieden 
JEtusklingt. 

Wie  in  den  »Tageszeiten«,  die  nur  in  dem  Rezitativ 
des  »midie  einen  unregelmäßigen  Einleitungssatz  bringen, 
hält  sich  Haydu  auch  in  seinen  anderen  Programmsin- 
fonien innerhalb  der  gewohnten  viersätzigen  Sinfonieform, 
aber  er  macht's  mit  seinem  Gedankengang  den  Zuhörern 
nicht  leicht.    Seine  Weihnachtssinfonie  z.B.  (Nr.  26}  WeihnaohU- 
ivlrd  man  nur  verstehen,  wenn  man  daran  denkt,  daß      einfonie. 
die  Kirche  die  Adventszeit  als  ernst  und  trübe  auffaßt. 
Ohne  weiteres  zugänglich  ist  die  Programmsinfonie  (Nr.  31) 
»Mit  dem  Hornsignal«,  »Auf  dem  Anstand«,  mii    Mit  dem 
dem  durchgehenden  Hörnerklang  und  den  reizenden,  ge-  Hornsignal! 
müt-  und  phantasievollen,  brillant  abschließenden  Varia- 
tionen des  Finale. 

Die  bekannteste  Programmsinfonie  Haydns  ist  die  j.  Baydn, 
sogenannte  Abschiedssinfonie  geworden,  vermutlich  Abschiods- 
ihrer  JEntstehungsgeschichte  wegen.    Dem  Fürsten  Ester-    »"*^°°*«- 
hazy  fiel  es  im  Jahre  1772  plötzlich  ein,  die  Kapelle  zwei 
Monate  länger  als  gewöhnlich  auf  seinem  Sommerschloß 
behalten  zu  wollen.   Da  entschloß  sich  Uaydn,  für  seine 


— ♦     122    ^>— 

führt,  im  Ganzen  jedoch  nur  Eigenheiten  zweiter  Klasse 
ergibt  Die  Themengruppe,  der  Haydn  in  späterer  Zeit 
sehr  oft  nicht  einmal  ein  zweites  Thema  gönnt,  ist  in 
diesen  Werken  der  bedeutendste  unter  den  drei  Teilen 
des  ersten  Satzes.  Dagegen  ist  die  Durchführung  in  der 
Regel  nur  sehr  obenhin  in  einem  gewissen  al  fr^sco-StU 
behandelt.  Sie  zeigt  Charakter,  aber  keinen  eigentlichen 
geistigen  Inhalt  Alles  in  allem  ist  dieser  frühere  Haydn 
das  reine  Gegenteil  von  dem,  den  seine  späteren,  die  noch 
heute  weltbekannten  Sinfonien  zeigen. 

j.  UftydB,  Weil  sie  in  Klavierauszügen  vorliegen,  geben  auch 

Sinfonie  »Maria  »der  Schulmeister«  und  »Maria  Theresia«,  die  der  Periode 

Thercsiac.  ^^^  Abschiedssinfonie  angehören,  bequeme  Gelegenheit» 
einen  Blick  auf  Haydn  in  der  Zeit  seines  ersten  Stils 
zu  werfen. 

Die  Sinfonie  »Maria  Theresia«  wurde  bei  einem 
Besuch,  den  die  Kaiserin  im  September  1773  in  Esterhäz 
abstattete,  aufgeführt  und  erhielt  daher  ihren ,  Namen. 
Haydn  wird  das  Werk  aus  dem  Vorrat  fertiger  Sinfonien 
in  der  Erwartung  hervorgeholt  haben,  damit  Ehre  ein- 
legen zu  können.  Sie  ist  so  freigebig  erfunden,  daß  man 
aus  dem  mitgeteilten  Material  gut  zwei  Sinfonien  her* 
stellen  könnte,  die  selbständige  und  eigne  thematische 
Ausstattung  der  Übergangsgruppen  erinnert  mehr  an  den 
jungen  Beethoven  als  an  den  fertigen  Haydn.  Die 
plötzliche  Ausweichung  nach  Cmoll  im  13.  Takte  des 
ersten  Satzes  z.  B.  ruft  unwillkürlich  eine  frappante 
Stelle  in  Beethovens  erster  Sinfonie  (Themenpruppe : 
das  plötzliche  pp  nach  der  Gdur-Cadenz)  vor  die 
Phantasie. 

Der  Ton,  in  dem  sonst  Majestäten  begrüßt  zu  werden 
pflegen,  kommt  in  dieser  Sinfonie  der  Kaiserin  nicht  vor, 
aber  das  »Willkommen«,  das  sie  bietet,  kann  an  Herzlich- 
keit, an  Frische  und  Kindlichkeit  nicht  übertroffen  werden. 
Ein  so  begrüßter  Gast  kann  nicht  zweifeln,  daß  er  unter 
liebenswürdige,  glückliche  und  auch  interessante  Menschen 
gekommen  ist.  Wer  die  Sinfonie,  ohne  den  Namen  des 
Autors  zu  wissen,  hört,  wird  hie  und  da  auf  Mozart  raten 


— ♦     123    <>— 

wollen,  namentlich  wenn  das  Haui^tthema  des  ersten  Satzes 
-f^^  Oboen  oder      wenn 

<^LLf  r    f       "    'UU-^    '^  Abschluß  der 
cojrni  In  «w  sab.  ersten  großen 

Periode,  ^^  yiomtgn.     ^  y-^    ^  trillern .  Beide,  Hay dn 

in  der  die  tm  j*  ji-ft  J  J  J  J  I    fe    I  wie  Mozart ,  hatten 
Violinen:  ü    ^    «  f^r  solche  Fälle  eine 

gemeinsame  Quelle:  die  italienische  Schule.  Den  flotten, 
temperamentvollen  Zug,  der  sich  in  den  guten  Opernsin- 
fonien der  Italiener  findet,  hat  diese  >Maria  Theresia«  sich 
wohl  zu  eigen  gemacht:  das  wird  der  Monarchin  nach  der 
musikalischen  Erziehung,  die  ihr  zu  teil  geworden  war, 
sehr  wohl  gefallen  und  sie  empfänglich  und  freundlich 
for  die  Menge  neuer  Humore  gestimmt  haben,  die  Haydn 
aus  seinem  eigensten  Innern  dreingab.  Sie  finden  sich 
in  allen  Sätzen:  Die  hervorragendsten  sind  im  ersten 
di»  poltern- 
den und  bär- 
beißigen Uni- 
sonofiguren : 

die  die  zarten  Klänge  des  zweiten'  Themas  verjagen. 
Im  zweiten  Satze  liegen  sie  im  Anfang  des  Haupt- 
themas selbst,  in  dem  Widerspruch  zwischen  dem  leich- 
ten Charak-  AdAgio..  «««-—  ,  t 
»?'  der  Ver- 11.11  I  |  ^J^l  FT^]  m^^ 
Zierungsfigur :  «^  ^  ^^  '•—■  '-^  ^ 
und  dem  etwas  schweren  ICIang  der  tiefen  Violinsaiten: 
noch  mehr  in  den  Stellen,  die  die  Obergänge  vom  ersten 
zum  zweiten  Thema,  von  der  Durchführung  zur  Wieder- 
holung bilden.  Es  ist,  als  wenn  diese  paar  Takte  mit 
dem  plötzlichen  Hörnerklang,  mit  dem  Vogelgezwitscher, 
das  aus  den  Violinen  tönt,  in  die  philosophischen  Träume- 
reien des  Satzes  hin  ein  mahnten:  Siehst  du  nicht,  wie 
schön  die  Welt  ist!  Der  Träumer  aber  fällt  wieder  in 
Tiefsinn  und  Grübelei  und  stellt  in  dem  Trugschluß  bei 
der  Fermate  —  hier  darf  man  an  den  Hamburger  Bach 


126 


Knie  gebrochene  Schlüsse  —  Symptome  des  Zornes  — 
geben  ihm  sein  besonderes  Gepräge.  Pohl  (II,  262j  führt 
den  Beinamen  der  Komposition  auf  den  zweiten  Satz, 
das  Adagio^  zurück,  auf  den  »abgemessenen  Gang«  seines 
Themas: 


ßtemplice 

J  J  J  J  I  f]  ^  ,n|  JTTT-+4^  Das   würde   der 
,.■1  j  j  j  I  T  7   -.-,  r    7  ?  :   I  J,,  ^jstgQ  Annahme 

nicht  widersprechen  im  Gegenteil:  Wir  erwarten  bei 
einem  Programm,  daß  alle  Sätze  der  Sinfonie  an  seiner 
Durchführung  teilnehmen. 

Die  hier  mitgeteilte  achttaktige  Periode  wird  sofort 
in  variierter  Form  wiederholt  und  nochmals  im  Halb- 
schluß beendet;  dann  erst  kommt  der  Nachsatz,  der  das 
Thema  in  die  Haupttonart  B  dur  zurückführt.  Auch  diesem 
gleichfalls  achttaktigen  Nachsatz  iolgt  seine  Variation 
auf  dem  Fuße. 

Wir  haben  also  ein  Thema,  das  in  breiter  Anlage 
32  Takte  umspannt.  Diese  Äußerlichkeit  ist  zu  beachten, 
weil  in  den  folgenden  Variationen  über  dieses  Thema, 
aus  denen  sich  das  Adagio  bildet,  die  zweiten  Perioden  — 
als  wörtliche  Wiederholungen  der  ersten  —  nicht  aus- 
geschrieben, sondern  nur  durch  Wiederholungszeichen  an- 
gegeben sind.  Es  wäre  in  diesem  Falle  ein  Verstoß  gegen 
die  Metrik  und  das  Ebenmaß  der  Komposition,  wenn  man, 
was  sonst  ja  zuweilen  statthaft  oder  geboten  ist,  diese 
Wiederholungszeichen  ignorieren  wollte. 

Auch  das  Finale  der  Sinfonie  ist  ein  Variationensatz 
und  zwar  über  das  Thema: 


Presto. 


Zwar  liegt  dem  Ganzen  das  Rondoschema  zu  Grunde; 
doch  treten  die  Zwischensätze  ganz  zurück.  —  In  die 
sorgenfreie    Gemütlichkeit    dieses    Schlußsatzes    platzt 


--♦     127     «^ 

(hinter  dem  siebenten  Teilstrich)  nach  dem  Dialog,  den 
die  hohen  und  die  tiefen  Instrumente  über  das  Motiv: 

fähren,  eine  sehr  aufgeregte 
Szene  herein.  Wieder  einer 
jener  Zwischenfälle,  an  denen 
diese  Schalmeistersinfonie  so  reich  ist!  Diesmal  scheint 
er  erfreulicher  Natur  gewesen  zu  sein,  denn  das  Sätz- 
chen schUeßt  ganz  still  entzückt  auf  einer  Fermate  auf 
dem  unerwarteten  f-as-ces-des.  Wie  alle  Sätze  des 
»Schulmeister«  ungewöhnlich  mit  einem  kleinen  Stich 
inä  Karikierte  ausklingen,  so  auch  das  Finale.  Aber  das 
Kindliche  und  Rührende,  der  milde  Glanz  des  Abendrots 
überwiegt  doch  ganz  entschieden.  Es  ist  eine  Stelle  von 
jener  Poesie  und  Schönheit,  mit  der  uns  eine  andere  Perle 
der  Schulmeister-Literatur,  Jean  Pauls  Schulmeister  Wuz, 
entzückt. 

Was  bei  Haydn  zu  dem  schroffen  Wechsel  der  künst- 
lerischen Anschauungen  geführt  hat,  läßt  sich  nur  ver- 
muten. Zum  Teil  scheinen  ihn  die  Werke  Ph.  Em.  Bachs 
beeinflußt  zu  haben.  Als  ihm  einmal*}  von  der  Ver- 
wandtschaft seiner  Musik  mit  der  des  bereits  erwähnten 
Mailänder  Tonsetzers  Sammartini  gesprochen  wurde, 
wies  er  diesen  vielzitierten  Lehrer  Glucks  als  einen 
»Schmierer«  heftig  zurück  und  nannte  ausdrücklich  den 
Hamburger  Bach  sein  Vorbild.  Wohl  konnte  er  sich  von 
diesem  Tonsetzer  angezogen  fühlen :  denn  er  glich  ihm 
an  Temperament,  an  Munterkeit  und  Heiterkeit  des  Geistes. 
Dann  mußten  ihn  aber  auch  die  modernen  Elemente  in 
Bachs  Musik  mächtig  erregen.  Die  neue  Zeit,  die  Zeit 
der  Roasseausche^  Natürlichkeit  und  des  französischen 
Esprit,  sprach  aus  keines  Zweiten  Tönen  so  deutlich, 
wie  aus  den  Klaviersonaten  Bachs  mit  ihrer  Freiheit 
des  Ausdrucks,  der  Beweglichkeit  und  Zwanglosigkeit, 
mit  der  sie  den  Satzbau  betrieben  und  allerband  bis 
dahin,  streng  getrennte  Stile  durcheinander  mischten. 
Man  kann  schon  in  den  ersten  Sinfonien  Haydns  ver- 


*)  Griesinger.     S.  15. 


--^     128    ♦^ 

einzelte  Anregungen  Ph.  Em.  Bachs  annehmen.  Näher 
kennen  gelernt  und  eingestanden  studiert  hat  er  ihn 
aber  wahrscheinlich  erst  in  späteren  Jahren,  wo  er 
reif  genug  war,  sich  vor  den  Ausschreitungen  Bachs 
zu  hüten. 

Auch  an  die  äußere  Lebensgeschichte  Haydns  knüpft 
sein  neuer  Sinfoniestil  merkbar  an.  Im  Jahre  1773  hatte 
sein  »Stabat  Mater«  den  Beifall  Hasses  und  der  italie- 
nischen Schule  gefunden.  Haydn  war  mit  einem  Schlag 
ein  berühmter  Mann  geworden  und  schrieb  nun  auch 
seine  Sinfonien  nicht  mehr  für  den  kleinen  Eisenstadter 
Kreis,  sondern  für  das  ganze  musikalische  Europa«  Mit 
der  Weltklugheit,  die  schon  aus  Haydns  Bildern  spricht, 
trug  er  dieser  Tatsache  Rechnung,  verzichtete  auf  die 
melancholischen  und  schwer  verständlichen  Sonderlieb- 
habereien seiner  Phantasie,  wenn  er  fortan  an  Sinfonien 
ging  und  suchte  statt  dessen  dem  Geschmack  der  tonan- 
gebenden Gesellschaft  seiner  Zeit  Rechnung  zu  tragen. 
Hierbei  war  es  von  entschiedener  Bedeutung,  daß  die 
ersten  und  dann  die  meisten  auswärtigen  Bestellungen 
auf  Haydnsche  Sinfonien  von  Paris  einliefen.  Von  1779 
ab,  wo  das  Concert  de  la  Loge  Olympique,  die  Nach- 
folgerin der  alten  Concerts  spirituels  von  1724,  die  heute 
noch  in  den  Concerts  du  Conservatoire  fortleben,  Haydn 
einfahrte,  war  er  der  populärste  Instrumentalkomponist 
der  französischen  Hauptstadt.  Der  Verleger  Sieber  in 
Paris  gab  nach  und  nach  63  Haydnsche  Sinfonien  in 
Auflagestimmen  heraus,  man  handelte  wie  etliche  Jahre 
früher  mit  unechten  Phil.  Em.  Bach*)  so  jetzt  mit  ge- 
fälschten Haydn**),  1810  veröffentlichte  Leduc  sogar 
Partituren  von  26  Haydnschen  Sinfonien.  Von  Paris  aus 
drang  dann  der  Ruf  der  Haydnschen  Sinfonie  nach  Wien, 
nach  Deutschland  und  England  und  erzeugte  jenen  Haydn- 
kuliu^,  der  bis  ins  19.  Jahrhundert  hinein  durch  Anlegen 
von  Sammlungen,  Errichtung  von  Konzertsälen,  Gründung 


*)  H.  Bitter:  Die  Söhne  Bachs  186S,  II.,  S.  332. 
**)  Siehe  GyroveU'  Selbstbiographie  S.  45. 


-^     129     ♦^ 

▼on  Yereinsverbänden  das  allgemeine  Masikwesen  mannig- 
fach förderte.  Die  Vergleiche  Haydns  gingen  vom  »Geliert 
der  Mnsik«  vom  musikalischen  Ariost  bis  zum  Phöbos 
Apollo  und  entsprangen  einer  völlig  angekünstelten  Be- 
geisterung, die  nicht  zum  kleinsten  Teil  mit  darauf  be- 
ruhte, daß  die  Zeit  Haydns  den  besten  Teil  ihrer  Bildung, 
ihres  geistigen  Wesens  in  den  Sinfonien  dieses  Meisters 
wiederfand.  Sie  waren  in  vollendeter  Weise  aqf  den  Ton 
jener  Klasse  gestimmt,  die  vor  der  fran^ösichen  Revo- 
lution, unter  dem  sogenannten  ancien  regime,  an  der 
Spitze  der  europäischen  Menschheit  stand.*  Darum  klingt 
aus  den  Themen  dieser  Sinfonien  des  zweiten  Stils  immex 
wieder  derselbe  anacreontische  Grundton  heraus,  der 
Ton  der  Anmut,  Heiterkeit  und  Sorglosigkeit,  der  denen 
ein  f&r  allemal  vorgeschrieben  war,  die  auf  den  Adels- 
schlossern  und  in  den  Salons  der  höheren  Bürgerschaft 
verkehrten.  Jener  Ton,  in  dem  die  Frivolität  des  »Morgen 
wieder  lustikc,  die  überschäumende  Lebenskraft  des  »Carpe 
.  diemc  mit  den  Gefühlen  edelster  Humanität,  des  »Seid  um- 
schlungen Millionenc  zusammentraf. 

Nicht  minder  finden  wir  aber  in  den  Haydnschen 
Sinfonien  jene  Kunst  der  Konversation,  jene  Virtuosität 
im  geistreichen  Gedankenaustausch  wieder,  die  während 
des  18.  Jahrhunderts,  soweit  französische  Bildung  reichte, 
also  innerhalb  des  ganzen  zivilisierten  Europa  unter  den 
höchsten  innern  Gütern  obenanstand.  Man  lese  nur  die 
nnübertrefifliche  Schilderung,  -die  Frau  von  Staöl  in  ihrem 
bekannten  Buche  »De  TAllemagne«  von  dieser  franzö- 
sischen Konversation  entwirft,  und  suche  dann  die  her- 
Torragendsten  ihrer  Merkmale  in  der  Haydnschen  Musik. 
Wer  die  Kultur  des  vergangenen  Jahrhunderts  getreu  und 
vollständig  übersehen  will,  darf  an  den  Haydnschen  Sinfo- 
nien ebensowenig  vorbeigehen,  als  an  den  französischenEn- 
eyclopädisten.  Sie  führen  die  Gegenwart  vor  das  Bild  eines 
gesellschaftlichen  Geistes,  der  dem  heutigen  in  mancher 
Hinsicht  überlegen  ist  und  zum  Muster  dienen  kann. 

Daß  die  Sinfonien  Haydns  ihrer  Zeit  auch  Schwierig- 
keiten machten,  erfahren  wir  aus  England,  wo  man  sich 

Kretisch  mar,  Fftkrtr.    I,  1.  9 


r* 


-^    180    ♦— 

1792  beklagte)  daß  die  deutsche  Instnimentalmusik  afu* 
geartet  sei*).  Es  ist  nicht  zu  leugnen,  daß  auch  das 
heutige  Publikum  dem  vielfachen  Gehalt  der  Haydnschen 
Sinfonien  und  der  großen  Bedeutung  Haydns  volle  Ge- 
rechtigkeit nicht  widerfahren  läßt.  Zum  Teil  aus  Un- 
fähigkeit. Denn  die  Haydnsche  -Sinfonie  verlangt  eine 
größere  Kunst  im  Folgen  und  Hören,  als  die  alte  italie- 
nische und  der  größte  Teil  der  modernen  Werke«  Mit 
der  unvergleichlichen  Beweglichkeit  ihrer  Gedanken  setzt 
sie  die  Fähigkeit  schnellen  Verstehens  und  des  scharfen 
Erfassens  auch  der  kleinsten  und  feinsten  Wendungen 
voraus.  Weil  sie  diese  nicht  besitzen,  kommen  soviele 
Dilettanten,  Kritiker,  Spieler,  Dirigenten  ül^er  die  Be- 
wunderung des  Haydnschen  Humors  nicht  hinaus.  Daß 
Haydn  auch  tief,  leidenschaftlich  und  dämonisch  ange- 
legt ist,  entgeht  ihnen,  weil  er  diese  Gebiete,  außer  in 
den  langsamen  Sätzen,  immer  nur  kurz  —  in  Einleitungen, 
in  den  Generalpausen,  Fermaten  seiner  Allegrosätze,  an 
den  Schlüssen  der  Durchführungen  —  streift. 

Den  Noten  nach  darf  man  das  Jahr  1780  als  die 
Zeitgrenze  hinstellen,  in  der  der  neue  Sinfoniestil  Haydns 
seine  Ausbildung  abgeschlossen  hat.  Diese  Annahme  hat 
neuerdings  ihre  diplomatische  Bestätigung  durch  einen 
Brief**^)  gefunden,  in  dem  der  Komponist  dem  Fürsten 
von  Oettin gen- Wallerstein  eine  Partie  frischer  Quartette 
mit  dem  Bemerken  anbietet:  >sie  sind  auf  eine  ganz  neue 
besondere  Art«.  Von  den  Pariser  und  den  in  ihre  Nähe 
gehörigen  Sinfonien,  in  denen  sich  dieser  neue  Stil  zu- 
nächst zeigt,  sind  La  Chasse,  L^ours,  La  Poule,  La  Reine 
und  die  Oxfordsinfonie  wenigstens  dem  Namen  nach  all- 
gemein bekannt.  Keine  von  ihnen  gehört  zur  eigentlichen 
Programmusik,  und  Haydn  ist  an  den  Titeln,  die  sie 
tragen,  mit  Ausnahme  der  ersten,  wie  schon  bemerkt, 
vollständig  unschuldig.    Es  sind  Kosenamen,  die  mehr 

*)  F.  Pohl:  Haydn  und  Mozart  in  London  n,  S.  180. 
**)  Adolf   Sandberger:    Zar    Geschichte    des   Haydnschen 
Streichquartetts.    Nördlingen  1899. 


— ♦    131    ♦^ 

an  zufällige  Einzelheiten,  als  an  das  Wesen  der  Wetke 
anknüpfen,  mehr  die  musikalischen  Liebhabereien,  des 
französischen  Volks,  das  diese  Beinamen  erfand,  be< 
leuchten,  als  den  Inhalt  der  Sinfonien.  Sie  entstanden 
in  den  Jahren  1781—1788  und  zeigen  so,  wie  sie  hinter- 
einander iolgen,  dass  auch  Haydn  auf  dem  Weg  zur 
vollen  Meisterschaft  gelegentlich  gestrauchelt  und  rück- 
wärts geglitten  ist.  Nach  ihrem  Wert  aufgestellt,  würden 
die  genannten  Sinfonien  die  Reihe  geben:  La  Poule, 
L'ours,  La  Reine,  La  Chasse,  Oxford-Sinfonie. 

In  der  Zeit  der  Pariser  Sinfonien  bewegt  sich  Haydn 
noch  in  dem  reicheren  und  weiteren  Stimmungskreise 
seines  ersten  Stils  und  nimmt  wohl  in  der  Ausführung 
seiner  Themen,  aber  nicht  bei  ihrer  Erfindung  auf  den 
Geschmack  der  großen  Welt  Rücksicht.  Wenn  die  Kom- 
positionen dieser  Periode  im  allgemeinen  den  Charakter 
von  Gelegenheitsdichtungen,  Herzensergießua^en  und 
Äugenblicksbildern  aus  dem  Leben  ihres  Schöpfers  haben, 
so  ist  das  bei  La  Poule  ganz  besonders  der  Fall.  Diese  J.  ifayda, 
Sinfonie  erzählt  von  unruhigen,  trüben  und  ernsten  La  Poule, 
Stunden.  Ein  Rest  von  Sorge  und  Furcht  wohnt  auch 
in  ihrem  Menuett  und  ihrem  Finale,  wächst  in  diesem 
sogar  zur  Leidenschaft  und  Erregung  an.  So  hat  sie 
denn  den  Vorzug  der  geistigen  Einheit  und  Zusammen- 
gehörigkeit sämtlicher  Sätze,  die  ja  so  häufig  in  der 
neueren  Sinfonie  fehlt;  auf  der  andern  Seite  läßt  sie, 
namentlich  in  den  Ecksätzen,  nicht  verkennen,  daß  der 
Komponist  seinem* Stoff  noch  nicht  mit  der  menschlichen 
Freiheit  gegenüberstand,  die  das  Kunstwerk  nicht  ent- 
behren kann. 

Der  erste  Satz  ruht  auf  einem  Hauptthema  von  16  Takten, 
▼on  denen  dreiviertel  durch  freie  Wiederholung  der  Periode 
AUi^fo  oonsgiriio.  gebildet  sind, 

f. Sie     spricht 

*    f'J  I  |=Schmerz und 
Unwillen  aus; 

bei  der- nächsten  Weiterführung  des  Themas  bleibt  kein 
Zweifel,  daß  die  Elemente  des  zweiten  Abschnitts,  die 

9* 


132 


der  Kraft  und  Energie,  Anstalt  machen,  das  Feld  zu  be^ 
hanpten.  Beim  33.  Takt,  nachdem  das  Thema,  Tariiert, 
zum  zweiten  Male  vorbei  gezogen,  tritt  ein  munteres, 
lebensfreudiges  Motiv: 


in  seine  Fußtapfen.  Nach  einigen  Gängen,  die  es  tut, 
verliert  es  sich  aber  unerwartet  ins  piano  und  pianissimo, 

tritt  wie  aiif  den  Fußspitzen  (nämlich  inj^«fj^«y/^tyj^«y! 
bei  Seite, um  einer  wichtigen  Erscheinung  Platz  zu  machen. 
Das  sogenannte  zweite  Thema  ists,  das  als  höherer  Ver- 
bündeter gegen  die  dunkle  Macht  des  Hauptthemas  eintritt: 


Der  Dichter  ist  an  den  Busen  der  Natur  geflüchtet 
Wenigstens  haben  die  Franzosen  nach  diesem  Thema 
und  einer  gleich  darauf  folgenden  Stelle,  wo  die  Oboe 
ziemlich  lange  auf  demselben  Ton  den  Rhythmus 
j  j  [  j  k  angibt,  die  Sinfonie  als  La  Foule  getauft 
J-  J  J«  J  #  ^uf  die  Dauer  vermag  jedoch  dieser  naive 
Freund  nichts  gegen  die  Not  der  Situation.  Vergebens 
erhebt  er  seine  Stimme  noch  einmal  am  Anfang  der 
Durchführung.  Diese  seihst  gehört  ganz  den  bedroh* 
liehen  Tönen,  mit  denen  das  Hauptthema  beginnt  Sie 
suchen  mit  besonderem  Eifer  aus  den  tiefen  Regionen 
her,  in  den  Baßinstrumenten  zu  schrecken.  Doch  ist 
ihre  gespenstische  Kraft  geringer  als  der  Komponist  be^ 
abfiichtigt  hat.  Sie  verstehen  sich  so  wenig  zu  ver- 
wandeln und  zu  entwickeln,  daß  wir  den  ganzen  ersten 
Satz  unserer  Sinfonie  trotz  der  ansehnlichen  und  klaren 
Intentionen,  die  ihm  zu  Grunde  liegen,  zu  den  schwächsten 
Leistungen  Haydns  rechnen  müssen.  Mit  L^ours,  La  Reine 
steht  La  Foule  in  Bezug  auf  die  Durchführung  auf  der 
Stufe  von  Versuchsarbeiten;  nur  das  Prinzip  erhebt  sie 
über  die  Sinfonien  des  ersten  Stils. 


— »     133    *^ 

Ein  schöner,  reicher  und  interessanter  Satz  ist  das 
Andante.  Was  er  will,  sagt  das  Hauptthema  schon  ge- 
nügend in  seiner  ersten  Hälfte: 

Nämlich  bernbigen.  Wie  es  aber  in  der  Lösung  dieser 
Aufgabe  nach  den  besten  Wegen  suchend  die  Richtung 
ändert,  wie  es  dabei  erschreckt,  gehindert  und  gestört 
wird,  das  hat  Haydn  in  einem  Tonbilde  ausgeführt, 
welches  wir  unter  die  unmittelbarsten,  dramatisch  be- 
deutendsten Leistungen  der  Instrumentalmusik  überhaupt 
zfthlen  müssen.  Wenn  wir  uns  die  vier  Sätze  unserer 
Sinfonie  als  die  Hauptteile  einer  spannenden  Geschichte 
denken  wollen,  so  enthält  das  Andante  das  Kapitel  der 
Entscheidung.  Ganz  überwältigend  hat  darin  Haydn  den 
Zustand  der  äußersten  Seelenspannung  geschildert:  wie 
die  Erwartung,  die  das  Schlagen  des  Herzens  unter- 
drücken möchte,  dem  lauten  Aufschrei  weicht  und  ein 
Gefühl  ins  andere  stürzt,  das  ist  mit  einem  wunderbaren 
Realismus  dargestellt. 

Die  Seberhafle  Stelle  beginnt  mit  einer  abwärts  sausen- 
den Skala  in  Zweiunddreißigsteln  im  forte,  darauf  folgen 
zwei  Takte,  wo  nur  in  den  Violinen  noch  jj^  ^  ^  ^  ^ 
ein  Schatten  von  Ton  sich  regt  —  fast  wie  4^  J;  '  j;  j 
im  1.  Satz  der  Eroica  beim  »Kumulus«  —  »' 

und  dann  durchs  ganze  Tutti  ein  fortissimo! 

Der  Menuett  gibt  der  Freude  in  ziemlich  eigensinnigen, 
Zwei-  und  Dreiviertel  untereinander  werfenden  Rhyth- 
men Ausdruck,  ^jAllegretto.         ^ 

wie  schon  der  Y/tf  P  M  p"  I  CrJ  r'f  I  il-  I  J^ 
Anfang   zeigt:  ^y  *  *^J    '  T    '  U       UT  t-  "^    r  ■■». 

Es  klingt  fast  slavisch,  deutet  in  der  massigen  Be- 
setzung und  den  stattlichen  Unisono-Figuren  auf  Volks- 
mengen und  Feste  im  Freien.  Voii  diesem  Grunde 
hebt  sich  dann  das  Trio  mit  dem  anmutigen  Flöten- 
solo: 


134 


L'onn. 


als  reizende  Idylle  ab.   Das  Finale  raht  anf  dem  Thema: 


J  I  '  "  M  II" 


.  n 


Einige  Ausgaben  schreiben  für  das  Tempo  Presto, 
andere  Vivace  vor.  Es  ist  wieder  einer  von  den  Fällen, 
der  uns  den  Mangel  einer  kritischen  Gesamtansgabe  der 
Haydnschen  Sinfonien  fühlbar  macht.  Presto  geht  ganz 
nnd  gar  nicht,  Vivace  allenfalls!  Die  Melodie  nähert  sich 
nach  Taktart  nnd  Charakter  den  Sicilianos  des  18.  Jahr- 
hunderts. Es  handelt  sich  in  ihr  nicht  um  stöi  mische 
Freude,  sondern  um  ein  besonnenes,  wonniges  Genießen 
eines  schwer  errungenen  GlQcks.  In  der  Durchfähmng 
leben  die  Stürme,  die  dem  frohen  Ende  vorausgingen 
noch  einmal  auf.  Sie  setzt  mit  dem  Thema  in'  D  moU 
ein  und  geht  dann  in  heftiges  Toben  und  Lärmen  über. 
Glücklicherweise  ist  sie  nur  kurz. 

Die  mit  dem  Beinamen  L*ours  belegte  C  dur-Sinfonie 
stammt  mit  La  Poule  aus  demselben  Jahre  1786  und  ähnelt 
ihr  darin,  daß  auch  bei  ihr  der  erste  Satz  am  wenigsten 
gelungen  ist  Auch  er  hat  ein  inhaltreiches  und  ergiebiges 
Hanptthema: 

O  vivace.         ^£  ^  U)       I 

Jii|i  ri    I  irri  II  n  \^  i' 


m  das  sich,  wie  in  die  Seele  eines  rechten  Jünglings, 
Feuer,  Kraft  und  Anmut  teilen.  Haydn  stellt  ihm  ein 
zartes,  zweites  Thema  entgegen: 

jfi^..rrrfrinrri*^r^rri 


135 


Das  Eigentümliche  an  dem  Satze  ist  aber,  daO  der  Über- 
gang von  dem  ersten  zum  zweiten  Gedanken  nicht  bloß 
sehr  lang  ist,  sondern  auch  sehr  viel  Leidenschaft  und 
Erregung  verbraucht  Es  kommt  namentlich  ah  der  Stelle, 
wo  in  der  Mitte  der  Instrumente  das  g  als  liegende 
Stimme  fortdröhnt,  zu  einer  Wirkung,  die  sich  für  den 
Verlauf  des  Satzes  als  furchtbar  einprägt  und  Schluß  und 
Ausgleich  verlangt  Damit  ist  dem  Durchfahrungsteile 
die  Spitze  abgebrochen,  und  in  der  Tat  bringt  er,  mit 
Ausnahme  des  Eingangs,  an  dem  das  Motiv  c  des  Haupt- 
themas wieder  auftaucht,  nicht  viel  anderes  als  Wieder- 
holung der  Themengruppe  in  andern  Tonarten. 

Was  dieser  erste  Satz  etwa  schuldig  bleibt,  das 
bringen  die  andern  reichlich  wieder  ein.  Das  Andante 
hat  ein  Thema  von  ganz  volkstümlicher  Natur;  es  ist 
auch  in  der  einfachsten  Art,  die  sich  denken  läßt,  auf- 
gebaut   Der  Hauptsatz  beginnt  mit: 


ein  Nachsatz  von  ebenfalls  vier  Takten  schließt  in  F  dur 
ab.  Nun  kommt  ein.  Mittelteil  -^  16  Takte  lang  -*  der 
mit  der  echt  Haydnschen  Wendung: 


^^^^ 


in  den  ersten  Teil  zurücklenkt:  Wir  haben  es  also  mit 
einem  dreiteiligen  Lied  als  Hauptsatz  zu  tun.  Das  wird 
dreimal  in  veränderter  Instrumentation  angestimmt;  vor 
die  erste  und  zweite  Wiederholung  treten  Zwischensätze 
in  BtfoU,  gehamischt  wie  Riesen,  die  alles  zerschmettern 
wollen.  Aber,  wie  es  mit  Goliath  und  David  erging,  so 
auch  hier:  die  kleine  Unschuld  wird  uns  durch  diesen 
Gegensatz  nur  immer  lieber,  behält  das  letzte  Wort  und 
benutzt  die  Gelegenheit  zu  einer  Coda,  in  der  sich  noch- 
mals ihr  Humor,  ihre  Kraft  und  ihre  Anmut  regen. 


— <^    136    *^ 

Die  Glanzpartie  der  Sinfonie  ist  ihr  Finale,  dem  nicht 
die  Rondo-,  sondern  die  Sonatenform  gegeben  ist  Sein 
Haoptthema: 


VSym«  m6*1. 


dreht  sich  lastig  und  ausgelassen  im  engen  Kreise.  Seine 
besondere  Färbung  erhält  es  darch  den  begleitenden 
Baß,  der  den  Satz  ganz  allein  beginnt  und  hartnäckig 
auf  demselben  Ton  fortbrummt.  Zuweilen  unterstützt 
ihn  als  zweite  Stimme  seine  Quinte  —  das  gibt  dann 
einen  Pastoralklang,  der  uns  mittlerweile  sehr  geläufig 
geworden  ist,  denn  neuere  Komponisten  kOnnen  ohne 
ihn  kaum  noch  die  einfachste  Tanzszene  schreiben.  Zu 
Haydns  Zeiten  war  es  eine  ganz  unerhörte  Keckheit,  in 
eine  Sinfonie  derartige  Sorten  von  Volksmusik  hinein- 
zuziehen. Wie  mögen  die  ersten  Zuhörer  gestutzt  haben, 
als  ihnen  diese  Jahrmarktskunst,  di^se  lebensgetreue 
Nachahmung  des  Dudelsacks  entgegentrat!  Der  über- 
mütige Streich  ist  aber  so  frisch,  so  geistvoll  und  hin- 
reißend durchgeführt,  daß  er  Haydn  zum  höchsten  Ruhm 
ausschlug.  Die  Pariser  fanden  ungeheuren  Gefallen  an 
dem  Brummbaß;  nach  ihm  tauften  sie  die  Sinfonie  mit 
dem  Namen  Uours  und  reihten  sie  unter  ihre  erklärten 
Lieblinge.  Die  Wirkung  eines  solchen  realistischen  Ein- 
falls, wie  er  diesem  Finale  zu  Grunde  liegt,  wird  immer 
kurz  sein,  wenn  ihn  nicht  die  Kunst,  mit  der  er  ver- 
wendet wird,  nachträglich  adelt.  Und  dieses  Glück  ist 
unserm  Bärenbaß  in  vollstem  Maß  zuteil  geworden.  Die 
Idee  des  fortklingenden  Basses  wandelt  Haydn  sofort  in 
die  der  liegenden  Stimme  um.  Wenn  die  langen  Töne  dann 
in  den  Violinen  anschlagen,  dreht  sich  in  den  Bässen 
die  drollige  Figur  des  bewegten  Motivs  wie  ein  Wirbel- 
wind. Dann  schwingt  sich  der  Komponist  auf  dem  Motiv 
1\  I  %T1F\  ^™  fröhlichen  Sturm  und  mit  der  Sicherheit 
^  Ivl^^    des  Virtuosen  nach  einer  Stelle,  wo  aUfr> 


137 


geruht  werden  kann.  G  dar  ist  erreicht  und  fest  erghlTen 
Da  setzt  ein  zartes,  behagliches,  zweites  Thema  ein  in 
den  Oboen 


„^j  I§i  .ihA  '      In  dieser  Gesellschaft  darf  es  nicht 

p|L      r  "^  '^f '  '^  ^^   ^^^^  Ansprüche  machen,   den 
^  ^*  Schlaßtakt    der   auf  8  Takte   an- 

gelegten Periode  schlägt  der  Brummbaß  nieder.  Noch 
einmal  versucht  eine  zarte  Stimme  sich  Gehör  zu  ver- 
schafTen  —  auch  sie  verschlingt  der  Sturm;  mit  einem 
wilden,  chromatischen  Zug  setzt  die  letzte  Periode  der 
Themengruppe  ein.  Die  Durchführung,  die  im  ganzen 
nur  kurz  ist,  überbietet  die  Ausgelassenheit  des  vorher- 
gehenden Teils  dadurch,  daß  sie  das  närrische  Treiben 
in  ganz  entlegenen  Tonarten  fortsetzt  Wir  sind  aus 
G  dur  plötzlich  nach  F,  von  da  nach  E  dur  gestoßen. 
Von  da  geht  es  nach  Ddur  zurück,  und  von  diesem 
Punkt  aus  wird  das  Thema  als  neckischer  Kontrapunkt 
vorwiegend  in  den  Bässen  gebracht  und  bald  die  Reprise 
erreicht.  An  Munterkeit  und  Witz  ist  dieser  Schlußsatz 
von  L*ours  eine  von  Haydns  höchsten  Leistungen. 

Die  Sinfonie  >La  Reine«  soll  der  Königin  Maria  j. Haydn, 
Antoinette  besonders  gefallen  und  daher  ihren  Beinamen  La  Reine 
eriialten  haben.  Sie  ist  eine  Altersgenossin  von  L*ours  und 
La  Poule  und  steht  mit  ihnen  auch  in  Bezug  auf  den 
Wert  des  ersten  Satzes  auf  derselben  Stufe.  Das  Inter- 
essanteste an  ihm  sind  die  Mozartschen  Züge  in  der 
kurzen,  sehr  majestätisch  einsetzenden  Einleitung  und  im 
Thema  des  Allegros: 


^^*^ 


^^^^^^ 


188 


Das  ist  das  Sinnen  und  Träumen,  das  romantische 
Z(}gem,  dem  sich  der  Meister  von  Salzburg  gern 
überläGt,  wenn  das  Spiel  beginnen  soll.  Es  ist  auch 
der  flotte,  ritterliche 
Schritt,  mit  dem  er  dann 
doch  sich  erhebt,  wenn 
Haydn    nun    fortfährt:  f 

Selten  ist  bei  einer  Sinfoniekomposition  Haydn  von  dem' 
Ausgangsgedanken  eines  Allegro  so  gefesselt  worden,  wie 
dieses  Mal.  Er  wiederholt  es  zunächst  in  B  dur  noch  ein- 
mal, dann  kommt  es  in  Fdur,  dann  in  der  Durchführung 
in  As  dur  und  zwar  immer  mit  Ausnahme  der  Tonart 
vollständig  wörtlich.  Auch  die  Zwischensätze,  die  diese 
Wiederholungen  unterbrechen,  haben  immer  denselben 
Charakter:  Es  sind  Szenen  der  Aufregung  und  zwar  fast 
alle  in  der  primitiven  Weise  von  Haydn s  erstem  Stil  aus 
dem  zuletzt  angefahrten  Viertelmotiv  gebildet  Ein  zweites 
Thema  ist  im  Satze  nicht  da,  und  erst  am  Schlüsse  der 
Durchführung  gewinnt  der  Komponist  dem  ersten  einige 
neue  und  tiefere  Wendungen  ab  durch  Nachahmungen 
und  Anwendung  weiterer  kontrapunktischer  Kunst 

Der  zweite  Satz  von  »La  Reinec  ist  ein  AUegretto, 
das  aus  einem  Yariationenzyklus  über  ein  Thema  mit 
folgendem  Anfang: 


besteht  Es  ist,  zu  einem  dreiteiligen  Lied  vervollständigt, 
die  Melodie  einer  französischen  Romanze  von  >la  gen- 
tille  et  jenne  Lisette«.  Dieser  Herkunft  des  Themas 
wegen  hat  Haydn  dem  ganzen  Satz  die  Überschrift  »Ro- 
manze c  gegeben.  Pohl  findet  in  ihr  nahe  Verwandtschaft 
mit  der  Romanze  der  MiUtärsinfonie.  Sie  beschränkt 
sich  aber  darauf,  daß  beide  Stücke  den  Rhythmus 
mmmmmä  .  benutzeu.  In  unsrer  Romanze  liegen  die 
J    JT73  I  J  Reize  der  Variationen  in  der  Instrumen- 


139 


tierung,  in  der  Färbung,  in  der  Geschicklichkeit,  mit  der 
Haydn  das  Thema,  das  immer  wörtlich  wiederkehrt,  mit 
anmutigen  Kontrapunkten  verdeckt.  Neue  Gestalten  führt 
nicht  einmal  der  Mollsatz  ins  Bild  ein. 

Der  Menuett  der  Sinfonie  hält  sich  ungewöhnlich  straff 
und  bestimmt  Wenn  er  nicht  im  Dreivierteltakt  stände, 
könnte  er  marschierende  Soldaten  begleiten.  Um  so  loser 
tändelt  daa  Trio;  fast  scheint  es,  als  sollten  hier  die  In- 
strumente nur  an-  .und  eingespielt  werden  —  so  sehr 
entschlägt  sich  die  Komposition  jeder  Gedankenlast  Das 
Finale  hat  wieder  die  Form  des  Sonatensatzes  und  singt 
einen  Hymnus  auf  Behaglichkeit  und  Zufriedenheit  Die 
Themen  sind: 


Prerto. 


MXui^iJJ 


«r 


Es  ist  das  einer  der  seltenen  Fälle,  wo  Haydn  sich  dem 
etwas  trocknen  Geiste  der  deutschen  Moraldichter  seiner 
Zeit  nähert  In  der  Durchführung,  die  mit  dem  ersten 
Thema  in  den  Bässen  einsetzt,  erhebt  er  sich  aber 
mächtig.  Sie  ist  so  bewegt  und  an  den  Stellen,  wo  sie 
von  Dmoll  aus  eine  Reihe  von  verminderten  Sept- 
akkorden  in  gewaltigen  Absätzen  anläuft,  so  gewaltig, 
daß  man  den  Satz  unter  den  merkwürdigsten  Stücken 
in  der  Haydnschen  Sinfoniekomposition  in  Ehren  hal- 
ten muß. 

Die  Sinfonie  >La  Chasse«  ist  diejenige  in  unserer  j.  lUydii, 
Reihe,  die  wenigstens  für  einen  Teil  ihren  Namen  von  La  Chasse. 
Haydn  selbst  erhalten  hat   Dieser  Teil  ist  das  Finale.   Er 
ist  im  Jahre  1781  als  Einleitung  zum  dritten  Akt  der  Oper 


-^     140    ^~ 

>La  fedelta  premiatac  komponiert.  In  diesem,  nach  der 
italienischen  Intri£:uenschablone  yerfertigten  Stücke  führt 
Diana  die  heillos  verfitzte  Handlang  zu  einem  gedeihlichen 
Ende,  und  dies  Auftreten  der  JagdgOttin  hat  Haydn  be- 
nutzt, eine  sonst  durch  den  Dichter  unendlich  gehemmte 
Phaiytasie  in  erwünschte  Bewegung  zu  setzen.  Für  die 
musikalische  Schilderung  von  Jagd  und  Jagen  hatte  sich 
in  Kantate,  Oper,  Sonate  und  Sinfonie  lange  vor  Haydn 
ein  förmlicher  Kanon  ausgebildet.  Es  war  ein  LiebUngs- 
gegenstand  der  Tonsetzer.  So  dürfen  wir  auch  von 
Haydn,  obwohl  er  bekanntlich  Jäger  von  Fach  war, 
für  die  Orchesterphantasie  in  der  er  die  Jagd  und  ihre 
Göttin  feierte,  keine  neuen  Motive  erwarten,  sondern  wir 
wollen  uns  freuen,  daß  er  alte,  zweckentsprechende  Weisen 
im  lebensvollen  Bilde  auf  uns  wirken  läßt. 

Der  Satz  beginnt  natürlich  mit  Hörnern.  Sie  tragen 
ein  Fanfaren motiv  vor,  in  das  aber  auch  Oboen,  Fa- 
gotte, sämtliche  ^^  _  __  _  /=%  J^'^^^  i^ 
Streichinstrumente^lTHI  ff  |F  ff  F  B  |  f  ^^samte  Or- 
mit      einstimmen :  »^     ""  r  " '    »^  '    »^  " '         ehester  setzt 

unmittel-     ^^    _     ^»  ♦  ^  ^ ^^ .    welches  für  den 

bar  daran  ^*ji  p  ^11^  M"  |  ^^;feDurchfübrungs- 
das  Motiv :  Jr  **    1  i  ^^.j  ^^^  Satzes 

große  Wichtigkeit  erlangt.  Es  bildet  dort  den  Träger  der 
Bewegung,  der  Jagdfreude  und  wechselt  von  zwei  zu  zwei 
Takten  mit  den  Mo-    ^  ^. 

Üven  der  Ruhe  und'ifa  II  p'  |  f  f  |  P'  |  f  |  P' 
des  Waldfriedens  als:  ^     1     •  - 

Ähnlich  wie  in  der  Jagdszene  der  »Jahreszeiten c  kommt 
am  Schluß  der  Durchführung  eine  Minute  gewaltiger  Auf- 
regung :  Es  sind  die  Augenblicke,  wo  es  sich  entscheidet, 
ob  der  Jäger  oder  ob  das  Wild  Glück  haben  soll.  Die 
letzten  Kräfte  werden  angesetzt,  der  Schuß  fällt:  Domi- 
nantseptakkord und  Fermate!  Wir  vermissen  —  die  Stelle 
der  Jahreszeiten  im  Kopf  —  hier  die  Pauke.  Aber  sie 
ist  nicht  nötig.  Haydn  versteht  es,  mit  seinen  Violinen, 
Bratschen,  Cellis,  Bässen,  mit  Flöte,  Oboen,  Fagotts  und 
zwei  Hörnern  »großes  Orchesterc  zu  spielen*  Galt  ja  doch 


-^     141     ♦— 

diese  Besetzung  für  Sinfonien  eine  Zeitlang,  in  Nord 
deutschland  wenigstens,  für  bedeutend.  Benda  nannte 
sie  ausdrücklich  in  den  Überschriften:  großes  Orchester. 
Zu  einer  ganzen,  viersätzigen  Sinfonie  wurde  La  Chasse 
im  nächsten  Jahre  vervollständigt;  als  der  Fürst  Von 
Bsterhazy  von  einer  längeren  Reise  zurückkehrte,  führte 
ihm  Haydn  das  Werk  vor.  Man  würde  nach  unseren 
beutigen  Begriffen  erwarten,  daß  die  Vordersätze  mit  dem 
Schlußsatz  in  geistiger  Verwandtschaft  stehen  und  der 
Jagd  vielleicht  eine  Reihe  vonWaldhildem  vorausschicken, 
etwa  in  der  Weise  der  Raffschen  Waldsinfonie.  Anders 
das  18.  Jahrhundert,  dem  Wald  und  Gebirge  nur  be- 
schränkt als  poetische  Gegenstände  galten.  Jedenfalls 
waren  dem  Naturfreunde  jener  Zeit  Ebenen  mit  Kanälen 
und  Pappelalleen  lieber.  Wir  müssen  auf  ein  solches 
Programmband  zwischen  den  Sätzen  von  »La  Chasse« 
vera;ichten  und  darauf:  die  Beziehungen,  die  zwischen 
ihnen  zweifellos  bestanden,  die  Gründe,  weshalb  die  Sätze 
so  sind,  wie  sie  sind,  angeben  zu  können.  Der  Fürst  hat 
den  Sinn  der  Ovation  und  der  Komposition  jedenfalls 
verstanden,  und  wir  fühlen  ohne  weiteres,  daß  die  Sin- 
fonie einen  stark  persönlichen  Zug  zeigt,  den  Charakter 
von  tiefen  Lebenseindrücken  trägt.  Sie  gehört  mit  der 
Ozfordsinfonie  zu  denjenigen  Werken  der  in  Betracht 
kommenden  Periode,  die  eine  viel  größere  Menge 
Herzenswärme  ausstrahlen,  als  das  bei  Haydn  durch- 
schnittlich der  Fall  ist.  Auch  Jagdsinfonien  aus  Haydns 
erster  Periode  haben  diesen  stärkeren  Gemütston,  die 
Erklärung  ergibt  sich  aus  ihrer  Verwendung  an  Hubertus- 
tagen, bei  denen  der  heim  gegangenen  Genossen  gedacht 
wurde.  Am  stärksten  trägt  diesen  Charakter  der  Erinnerung 
der  erste  Satz  der  Sinfonie.  Eine  herrliche  Einleitung 
empfängt  uns  mit  ernst  sinnenden  Tönen  und  zeigt  in  der 
Feme  auf  freundliche,  liebliche  Bilder.  In  ihrer  Kürze, 
ihrem  Reichtum  ist  sie  eins  der  schönsten  Beispide  dafür, 
was  Haydn  auf  diesem  Gebiete  der  Andeutungen  zu  bieten 
vermag.  Sie  schließt  in  Adur,  der  Oberdominant  von  D, 
der  Tonart  der  Sinfonie.    Und  nun  setzt  das  Allegro  ein: 


142 


AHegT«. 


^»imrpj  \f 


lautet  die  erste  Hälfte 
des  Themas. 

Ist  das  aber  nicht  seltsam,  ein  Ddur-Allegro  and  der 
Anfang  in  6,  in  der  Unterdominant?  Ja,  anßergewöhnlich 
ists,  aber  auch  sehr  bedeutungsvoll.  Die  Phantasie  des 
Tondichters  weilt  nicht  in  der  Gegenwart.  Die  Noten  sagen 
uns,  was  ein  andererPoet  jener  Zeit  in  dieWorte  gefaßt  hat 

Ich  denk*  an  euch,  ihr  himmlisch  schönen  Tage 
Dei  seligen  Vergangenheit. 

Glückliche  Stunden  und  Tage  sind  es,  die  vor  die 
Erinnerung  des  Meisters  treten;  vielleicht  hat  sie  sein 
Herr  mit  ihm  geteilt.  Später  wird  das  trauliche  Bild 
aus  der  Vergangenheit  noch  mit  einer  breiten  Melodie 
weiter  geführt,  die  folgendermaßen  Mozartisch  beginnt: 

^^  und  über 

ten,  über 
dunkle  Modulationen  zum  Ädur-Schluß  geht.  Sie  ver- 
tritt in  der  Themengruppe  die  Stelle  eines  zweiten  Themas. 
Die  Durchführung  ist  geteilt  zwischen  eine  Hälfte  des 
freudigen  Schwärmens  über  das  verkürzte  Anfangsmo- 
tiv des  Haupt- 
themas ,  das 
in  der  Form: 

in  Nachahmungen  und  Engführungen  von  allen  Stimmen 
tüchtig  durchgearbeitet  wird.  Noch  einmal,  glänzend  und 
golden,  drängen  sich  die  »himmlisch  schönen  Tage«  vor 
die  Seele :  In  der  zweiten  Hälfte  der  Durchführung  kommt 
Erkenntnis  und  die  Klage  zum  Durchbruch:  daß  es 
sich  um  Vergangenes  handelt  Die  Sätze  sind  hier  über 
das  elegi-  j  j  j  j  j  gebildet,  das  einigemal  sehr  rüh- 
sche  Motiv  %J  r.^  ^  rend,  traurig  und  schmerzlich  zu 
ans  spricht. 


--♦    148    ♦— 
JDer  zweite  Satz  ist  in  seinem  Anfang: 

eine  leibliche  Schwester  des  weltbekannten  Andante  mit 
dem  Paukenschlag.  Es  teilt  mit  ihm  Rhythmus,  Metrum 
und  den  Charakter  der  Kinderszene.  Auch  in  iden  Lie- 
dern der  »Zauberflöte«,  im  »Donauweibchen«,  in  den 
Singspielen  Wenzel  Müllers  hat  es  zahlreiche  Verwandte 
aus  dem  ersten  Grade;  in  jeder  Faser  bekundet  es  die 
Zugehörigkeit  zur  niederOsterreichischen  Volksmusik.  Ja, 
wenn  man  will,  kann  man  aus  den  Noten,  die  die 
Viertel  anfangen,  das  Kaiserlied  »Gott  erhalte  Franz 
usw.«  heraushören.  Freilich  endet  die  Melodie  nicht  so 
einfach.  Im  9.  und  10.  Takte,  die  den  Schluß  bilden, 
wendet  sie  sich  deutlich  genug  ins  Wehmütige  und  fügt 
mit  Halbkadenz  und  Fermate  dem  reizenden  Bildchen 
ein  »Ach  dahin!«  an.  Es  wiegt  aber  für  den  Kunstwert 
dieses  Andante  sehr  schwer,  daß  es  sich  dem  ersten  Satz 
innerlich  so  eng  anschließt,  so  eng,  daß  niemand  den 
Sinn  und  das  Verhältnis  mißverstehen  kann.  Es  ist,  als 
wollte  es  aus 'dem  Schatz  alter  schöner  Erinnerungen 
der  vorhin*  so  obenhin  erschlossen  wurde,  ein  besonders 
anheimelndes,  spezielles  Stück  hervorholen,  ein  Stück 
aus  der  Kinderzeit  meinen  wir.  In  der  Komposition 
kämpft  die  Freude  mit  der  Trauer.  Der  Trauer  ist  aber 
ein  Ausdruck  gegeben,  eben  so  schlicht  und  einfach,  wie 
es  das  Volkslied  ist,  von  dem  der  Satz  ausgeht.  Kurze 
Generalpausen  und  Fermaten  vermitteln  ihn.  Und  die- 
selben Eigenschaften  hat  der  Aufbau  dieses  vollendeten 
Kunstwerkchens:  a)  Thema,  24  Takte,  b)  erste  Durch- 
führung, hauptsächlich  in  Moll,  etwas  erregt  und  pathe- 
tisch, mit  wunderschönen  Anklängen  der  Hauptmelodie 
aus  der  Tiefe,  26  Takte,  c)  Thema  wie  a,  d)  zweite 
Durchführung  mit  innigen  Klagen  auf  es— eis— d  und 
kleinen,  erregteren  Nachahmungen,  20  Takte,  e)  Thema 
zum  dritten  Male,  mit  kurzem,  sanftem  Nachgesang. 


-^    144    ♦_ 

Auch  im  Menuett  finden  wir  die  Merkmale  der 
Erinnerungsfeier:  frohe  Bilder  und  der  Schatten  der 
Vergänglichkeit  darüber.  Diese  letzten  sind  der  6rund 
der  chromatisch  romantischen  Motivftthrung,  die  diesem 
Satz  eigentümlich  ist,  sowie  der  ins  Klagende,  und 
Schwermütige  übergreifenden  Haltung  der  zweiten 
Klausel: 

Allegra 


f r'ii''irii"^'i"i 


Sinfonie. 


Wir  haben  in  La  Chasse  eine  Sinfonie  von  höchster 
Vollendung.  Eigene  Grundideen  verbinden  sich  mit  einer 
Ausführung,  bei  der  alle  Teile,  gleich  gelungen  in  sich, 
sich  als  Glieder  desselben  Ganzen  erweisen.  Kein  Wunder 
darum,  daß  diese  Sinfonie  sich  besonders  schnell  und 
weit  verbreitete.  Sie  wurde,  was  viel  sagen  wollte,  auch 
in  Italien  bald  bekannt  Pohls  Biographie  gibt  die  näheren 
Daten. 
j.Haydn,  Die  Oxford -Sinfonie,  die  Haydn  im  Jahre  1788  ftbr 
P-I?-f!  Paris  schrieb,  ist  im  Zusammenhang  mit  »La  Chassec 
genannt  worden.  Sie  haben  beide  den  persönlichen  Be- 
zug auf  Haydns  eigenes  Leben,  gehen  -von  einem  ele- 
gischen Rückblick  aus,  den  der  gereifte,  alternde  Mann 
auf  die  dahingegangene  Jugend  wirft.  Die  Verwandt- 
schaft erstreckt  sich  aber  auch  auf  die  formelle  Voll- 
endung der  zwei  Sinfonien.  Haydn  vertritt  nicht  bloß 
das  Prinzip  der  thematischen  Arbeit,  der  motivischen 
Entwicklung,  der  gründlichen  Auslegung  der  Gedanken, 
sondern  er  handhabt  es  auch  als  Meister.  Ohne  Be<- 
denken  darf  man  in  dieser  Beziehung  die  Oxford-Sin- 
fonie einige  Stufen  höher  als  die  um  sechs  Jahre  ältere 
Jagdsinfonie  und  auf  eine  Linie  mit  den  besten  Londoner 
Sinfonien  stellen.  Haydn  hat  auf  seinem  Weg  zur 
Oxfordsinfonie  sich  in  einem  früher  nicht  vorhandenen 
Grade  der  Kunst  bemächtigt,  den  Inhalt  eines  Themas 
mittels  kontrapunktischen  Feinheiten  zu  erschöpfen  und 
im   spannendsten   Ton    dem   Zuhörer   vorzuführen.     Er 


-^    145    ♦— 

nähert  sich  in  der  Behandlung  von  Engführungen,  im  Reich- 
tum von  schwierigen  und  aufregenden  Nachahmungen  der 
Weise,  die  mit  Mozart  gleich  geboren  war.  Mit  dieser 
sorgfältigen  Ausarbeitung  der  Form,  mit. diesem  liebe- 
volleren Eingehen  ins  Kleinleben  der  Stimmen  ist  aber 
sichtlich  auch  die  Beweglichkeit  und  Leichtigkeit  von 
Haydns  Geist  im  allgemeinen  gewachsen.  Wir  bemerken 
das  an  der  spielenden  Sicherheit,  mit  der  er  jetzt  kleine, 
kontrapunktische  Nebenmotive  aufzunehmen  und  zur 
Gedankenverbindung  zu  benutzen  pflegt,  die  er  früher 
nach  einmaligem  Gebrauch  würde  haben  fallen  lassen. 
Das  zeigt  uns  namentlich  der  erste  Satz  der  Oxford- 
sinfonie. Er  scheint  keine  Nebenpartien,  keine  Verbin- 
dungsabschnitte,  keine  Obergänge  zu  haben.  Alle  Fugen, 
wo  die  Glieder  aneinanderstoßen,  sind  mit  organischen 
Motiven  überwachsen,  alles  schließt  eng  und  natürlich 
zusammen.  Ja,  es  ist  Erklärem  dieses  ersten  Satzes  be- 
gegnet, daß  sie  eine  begleitende  Geigenfigur  für  die 
Hauptstimme  gehalten  haben.  Dem  Lernenden  kann 
nur  ernstlich  geraten  werden,  alle  die  Stellen  aufzu- 
suchen, an  denen  Haydn  einen  nebensächlichen  Melodie- 
schluß, ein  Füllmotiv  aufnimmt  und  zum  Träger  des  Ge- 
dankenbaues macht.  Man  kann  mit  einem  gewissen 
Recht  die  Oxfordsinfonie  Haydns  Eroica  nennen.  Der 
neue  Stil  ist  hier  fertig. 

Wenn  der  erste  Satz  in  ihr  und  in  der  Jagdsinfonie 
dieselbe  poetische  Idee  haben,  ein  elegisches  Erinnerungs- 
bild vorführen  wollen,  so  tun  sie  das  doch  verschieden. 
Die  Oxfordsinfonie  zeigt  den  Komponisten  in  einer  viel 
stärkeren  Weise  erregt  und  ergriffen.  Das  sieht  man 
schon  an  der  Einleitung,  man  sieht  es  dann  besonders 
daran,  daß  er  im  Allegro  gar  nicht  von  dem  ersten  Ab- 
schnitt seines  Hauptthemas 


ifLajiJi^^^^ 


lassen   kann.     Das  Thema   erstreckt  sich,   ins   Starke 
und  Zarte  greifend,  noch  lang  hin,  bis  die  16  taktige 

KreitsGhmar,  FlUirtr.    I,  1.  10 


— •    146    »^ 

I 

Periode  fertig  ist  Aber  H^ydn  kommt  immer  wieder  auf 
die  ersten  fünf  Noten  zurück.  Bald  liegen  sie  obeoi  bald 
in  der  Mitte,  bald  unten,  bald  offen,  bald  überdeckt  da. 
Elr  kann  sich  nicht  bemhigen,  Das  zweite  .Thema  kommt 
darum  erst  ganz  am  Schlüsse  der  Themengruppe.  Es  ist 
eine  Buffogestalt,  aus  vielen  komischen  Opern,  zuletzt 
noch  aus  Rossinis  »Barbiere  bekannt.  Hier  wirkt  es  aber 
doch  wie  eine  freundliche,  heimliche  Vision:  es  spricht 
wie  ein  guter  Freund,  wie  ein  liebes  Kind: 


Durch  die  Wogen  der  Darchführung  dient  es  mehrmals  als 
helfender  Lotse  und  hilft  den  verlorenen  Weg  wieder  finden. 
So    häufig      g^^    -  ebenso      beständig 

im  ersten  Satz     ik^  P  [rj  r  ^1  ■!    >  kommt     nun     im 
gefragt  wurde :     *^        ^^^  Adagio  die  Antwort 

Adagio  cantabile. 


^^^^^m 


Das  Thema  wird  zur  8 taktigen  Periode  vervollständigt, 
dann  wiederholt.  Hierauf  folgen  6  Takte  Mittelsatz, 
dann  unser  Thema  schon  wieder,  und  mit  dieser  Ent- 
schiedenheit bleibt  es  auch  für  die  Folge  an  der  Spitze 
des  Formenbaus.  In  die  Mitte  des  Satzes  stellt  Haydn 
ein  wildes  Mollstück,  aus  dem  Dämonen  ihre  Fäuste  vor- 
strecken. Aber  der  kleine  Engel  aus  Ddur  läßt  siöb 
nicht  bange  machen,  nur  eine  kleine  Weile  kommt  er  ins 
Stocken.  Es  ist  das  eine  sehr  interessante  Stelle,  die  die  Fer- 
maten und  Septimenakkorde  genügend  kenntlich  machen. 
Die  Erregung,  die  wir  im  ersten  Satz  der  Oxford- 
sinfonie bemerken,  dauert  auch  in  dem  Menuett  noch 
an.  Synkopen  und  Generalpausen  sind  seinem  Haupt- 
satz eigen.  Erst  im  Trio  bringt  der  Gesang  den  Hörern 
den  Frieden,  dessen  wir  sonst  an  dieser  Stelle  von  An- 
fang an  sicher  zu  sein  pflegen.  Selbst  im  Finale  dürfen 
wir  dem    frohen    Ausgang   noch  nicht  ganz  unbedingt 


^^     147    ♦^ 

trauen.    Das  erste  Thema  hat  in  seinem  Gesicht  bei  aller 
Biegsamkeit  einen  launischen  Zug 


Presto. 


m 


T  {  k.  J  Jt  M  J  I      und    benimmt    sich    insofern 
f  '  t^J  ^   ■g^y=  höchst   eigentümlich,   als   es 


t:7" 

nach  Art  der  unbändigen  Tarantella  unmittelbar  hinter« 
einander  viermal  wiederkehrt.  Im  weiteren  Verlauf  ver- 
schwindet es  einige  Male  ohne  alle  Ursache,  bricht  ab, 
setzt  uns  vor  sehr  verlegene  Pausen  und  springt  wie  ein 
Kobold,  der  nicht  zu  fassen  ist,  aus  den  hohen  Bläsern 
in  die  Baßinstrumente.  In  der  Durchführung  entfaltet 
Haydn  sehr  wirksam  schwierige  Künste  des  doppelten 
Kontrapunktes.  So  bleibt  die  Oxford-Sinfonie  von  Anfang 
bis  zu  Ende  originell.  Haydn  hat  das  Werk  selbst  hoch  ge- 
stellt Als  er  im  Juli  1791  nach  Oxford  zur  Promotion  reiste, 
legte  er  für  alle  Fälle  diese  Pariser  Sinfonie  in  seinen 
Koffer.  Sie  trat  schließlich  auch  wirklich  an  die  Stelle  der 
ursprünglich  für  die  Feierlichkeit  bestimmten  Komposition 
und  wurde  seitdem  unter  dem  Namen  Oxford-Sinfonie  ein 
Liebling  der  englischen  Konzerte.  Später  hat  Haydn  ihrem 
Orchester  noch  Trompeten  und  Pauken  hinzugefügt. 

Kurze  Zeit  vor  die  sogenannte  Oxforder  fällt  eine  andere      J.  Hajdu, 
bedeutende  G  dur-Sinfonie,  die  ebenfalls  der  Pariser  Gruppe  ^  dur-  Sinfonie 
angehört    Die  bekannte  Partiturausgabe  der  Haydnschen  Nr.isiB.&H.). 
Sinfonien  von  Breitkopf  &  Härtel  bringt  sie  als  Nr.  13. 

Sie  beginnt  mit  einem  kurzen  Adagio,  daß  wie  eine 
Morgenandacht  die  lustige  Ausfahrt  einleitet,  die  im  AUegro 
sich  vollzieht.    Dieser  Allegrosatz  hat  schon  im  Thema: 


unverkennbare  Verwandtschaft  mit  dem 
Hauptthema  im  Finale  von  Beethovens  achter 
Sinfonie,  Man  woiß  ja,  daß  Beethoven,  weil  ihm  die  Auf- 
gabe reizte  oder  auch  aus  Obermut  die  Arbeiten  andrer  Ton- 
setzer zuweilen  zum  Ausgangspunkt  eigner  großer  Kompo- 

10^ 


r 


--♦    148    ♦^ 

sitionen  nahm.  So  hat  er  sich  mit  voller  Absicht  nach- 
weisbar an  Händel«  Mozart,  am  häufigsten  aber  an  nnsesn 
Haydn  angelehnt.  An  ihn  gerade,  weil  er  sich  von  diesem 
Tonsetzer  mehr  als  von  einem  andern  beeinflußt,  geschalt 
und  gefördert  wußte.  Ihn  direkt  zu  überbieten,  reizte  ganz 
besonders.  Noch  überzeugender  als  beim  bloßen  Vergleich 
der  Themen  drängt  sich  die  Verwandtschaft  des  Haydn- 
schen  AUegros  und  des  Beethovenschen  Finales  auf,  wenn 
man  Charakter  und  Durchführung  der  beiden  Sätze  prüft 
Hier  wie  dort:  der  unaufhaltsame,  stürmische  Zug,  die 
plötzlichen  verblüffenden  Stockungen  der  Modulation,  die 
polaren  Gegensätze  in  der  Dynamik!  Bei  Beethoven  ist 
der  Schwank  nur  noch  um  einige  Grade  toller  gehalten. 
Mit  der  ihr  in  der  Stimmung  ganz  fremden  Oxford-Sinfonie 
hat  die  unsre  im  ersten  Satze  einige  formelle  Züge  ge- 
mein: Auch  bei  ihr  tritt  das  zweite  Thema  sehr  zurück, 
beschwichtigt  für  den  Augenblick,  ohne  Spuren  zu  hinter- 
lassen. Auch  bei  ihr  sind  Mo-  •  -  i  ^-^  virtuos  zum 
tive  des  Hauptthemas,  besonders  UJ  '  LS  Aufbau  der 
Übergangspartien  verwendet  Auch  bei  ihr  ganz  neben* 
sächliche,  zufällige  Melodiewendungen  zum  Träger 
der  Weiterentwicklung  aufgegriffen.  Ein  schönes  Bei- 
spiel hierfür  ist  ^  ^  _  lautet  das  letzte  Wort 
der  Schluß  der  jS  r_t_fj  ^  T  der  Violinen  und  dar- 
Themengruppe:  ^^"^^^^a  an  knüpft  der  Anfang 
der  Durchführung  an,  trägt  die  Figur  im  diminuendo 
nach  es,  wo  heimlich  das  Hauptthema  anknüpft.  Die 
Durchführung  ist  besonders  meisterlich  in  der  Größe  der 
Gruppierung. 

Der  zweite  Satz  ist  ein  Meisterstück .  Haydnscher 
Variierungskunst  Er  beginnt  mit  dem  Gesang  (Oboe, 
Cello  dazu  in  8va  sub*): 

Largo. 


^^'Lls  ir  ^'PP  ^  ip^<  ' 


Diese  8  Takte  ent^ 

halten    das   voU- 

'  ständige    Thema. 


-^    149    «^ 

• 

Wir  hören  es  siebenmal  ohne  Ändemng  in  seinen  Motiven, 
nnr  einmal  nach  Adur  und  einmal  nach  Fdur  transpo- 
niert. Auch  keinen  eigentlichen  G/Bgensatz  hat  ihm  Haydn 
gegenübergestellt  Die  Wiederholungen  werden  nur  durch 
Zwischensätze  unterbrochen,  die  sich  mit  einer  einzigen 
Ausnahme  —  es  ist  die  Adur -Variation,  sie  umfaßt 
16  Takte  —  auf  vier  und  acht  Takte  beschränken  und  in 
die  Stimmung  des  Hauptthemas  einlenken,  bis  auf  einige 
ff-Takte  nicht  einmal  aus  seinem  piano  heraustreten.  In 
den  Variationen  selbst  herrscht  mit  Ausnahme  der  ersten 
und  dritten,  wo  die  ersten  Geigen,  und  der  fünften,  wo 
die  zweiten  Geigen  in  Zweiunddreissigsteln  kontrapunk- 
tieren und  begleiten,  durchaus  der  ruhige  Rhythmus 
der  Hauptmelodie.  Und  doch  würden  wir  nicht  müde, 
wenn  der  Satz  in  ähnlicher  Weise,  no^h  einige  Minuten 
fortdauerte.  Das  macht  seine  schöne  wundervolle  Stim- 
mung, die  an  Sonntage,  an  Kirchen  stunden  in  der 
Kinderzeit,  an  Träume  vom  Paradies  und  ewigen  Frieden 
erinnert.  In  England  wird  die  Melodie  wirklich,  in  den 
Kirchen  zu  der  Hymne:  »Fraise  God,  from  whom  all 
blessings  flowc  gesungen.  Daß  Beethoven  das  Thema 
wiederholt  benutzt  hat,  ist  bekannt  Außerordentlich  ist 
auch  der  unübertrefHiche  Wohlklang,  der  Reichtum  von 
Farben,  den  Haydn  seinem  doch  besqheidnen  Orchester 
hier  abgewinnt  Auch  seine  Leistung  in  der  Romanze 
von  »La  Reine«  reicht  noch  nicht  an  das  in  diesem 
Variationensatz  Gebotne  heran. 

Im  Hauptsatz  des  Menuett  geht  Haydn  mit  der  zweiten 
Klausel  tiefer  in  die  Auslegung  des  thematischen  Gehalts 
hinein,  als  es  sonst  bei  ihm  an  dieser  Stelle  üblich  ist. 
Der  originellste  Einfall  im  Satze  ist  der,  daß  an  den 
leisen  Schlüssen  der  beiden  Teile  die  Pauke  sich  wie 
von  fern  beinerklich  macht.  Auch  diese  Idee  ist  bei 
Beethoven  —  in  seiner  ersten  Sinfonie  —  auf  frucht- 
baren Boden  gefallen.  Jener  unvermutete  Eintritt  der 
Pauke  hat  für  das  Trio  des  Menuetts  seine  Folgen  ge- 
habt: Bratschen  und  Fagotte  bereiten  den  richtigen  Boden 
zum  ländlichen  Tanz  durch  immerwährendes  Anschlagen 


— ♦    150    4^ 

der  Baßquinten:  aber  die  Melodieinstramente,  Geigen, 
Flöten  und  Oboen  kommen  bei  allem  eifrigen  Drehen 
nicht  recht  von  der  Stelle. 

Erster  Satz  und  Finale  scheinen  in  dieser  Sinfonie 
die  Rollen  tauschen  zu  wollen.  Der  Schlußsatz  bleibt 
mit  seinem  Thema: 


AUegro  eoo  splrito. 


J7T3IJJ  J  J  iJTgj}in 


zunächst  hinter  der  Flo'ttheit  des  Sinfonie  an  fange  zurück. 
Aber  je  weiter  wir  in  dem  Rondo,  das  Haydn  über  diesen 
Hauptgedanken  aufbaut,  vordringen,  desto  größer  wird 
unser  Erstaunen,  unser  Vergnügen  über  die  Fülle  von 
guter  Laune,  von  Witz,  die  uns  auf  Schritt  und  Tritt 
entgegensprüht  Eine  Wendung  immer  kecker  und  drol- 
liger als  die  andere,  jeder  Themeneintritt  eine  Ober- 
raschung  und  eine  Lust!  Nach  dem  dritten  Einsatz  des 
Hauptthemas  kommt  im  jT  ein  Kanon,  in  welchem  sich 
über  20  Takte  lang  Violinen  und  Bässe  in  Entfernung 
eines  Viertels  um  das  Thema  streiten,  erst  die  einen 
dann  die  anderen  an  der  Spitze.  Nach  dieser  tollen 
Hetzpartio  folgt  ein  um  so  dezenterer  Obergang:  die 
Instrumente  tröpfeln  die  Töne  nur  noch  leicht  hin.  Dann 
das  Thema  zum  letzten  Male:  Generalpause  mit  Fermate 
und  ein  freier  Schluß  im  dithyrambischen  Stil! 

Als  die  klassischen  Vertreter  des  Haydn  sehen  Stils 
gelten  die-  sogenannten  12  englischen  Sinfonien, 
welche  Haydn  für  die  von  ihm  selbst  geleiteten  Konzerte 
in  Hannover  Square  Room  zu  London  in  den  Jahren  1791 
und  1794  —  jeden  Monat  eine*)  —  komponierte.  Die 
bereits  angeführte  Partitur- Ausgabe  von  Breitkopf  & 
Hättel  bringt  sie  in  den  Nummern  1 — 9,  11,  12  und  14. 

Bilden  sie  an  und  für  sich  schon  eine  Elite,  so  tun, 
wir  doch  gut,  auch  noch  unter  ihnen  eine  engere  Wahl 
zu  treffen.  »Echter  Haydn«  sind  sie  wohl  alle;  aber 
um  sich  den  richtigen  Begriff  auch  vom  »ganzen  Haydn« 

♦)  Griesinger  a.  a.  6.,  S.  117. 


161 


ZU  bilden,  muß  man  unter  ibu^n  unterscheiden.  Da  sind 
denn  die  Nummern  1,  2,  6,  11  und  12  den  übrigen  be- 
deutend voranzustellen.  Sie  sind  die  inhaltlich  reicheren, 
diejenigen,  in  welchen  der  Tcmpoet  den  Weg  zum  Para> 
dieise  sich<wenigef  leicht  macht,  wo  er  kämpft  und 
zweifelt  und  wo  der  heitere  Grundton  seiner  lebensvollen 
Bilder  durch  tiefe  und  bedeutende  Schatten  die  vollere 
und  nachhaltigere  Resonanz  erhall.  Sie  sind  mit  einem 
kurzen  Wort  —  das  man  nicht  mißverstehen  wolle  — 
moderner  als  die  andern,  in  welchen  die  Skala  der 
Freude  virtuos  und  mit  immer  neuen  Nuancen' aber  doch 
so  abgespielt  wird,  daß  wir  uns  ab  und  zu  nach  einem 
Gegenmotiv  sehnen.  Letztere  sind  —  und  wie  wir 
glauben  mit  Unrecht  —  in  der  Kunstgeschichte  zum 
Träger  der  Hay dnschen  Kunst  gemacht  worden  und 
haben  zu  dem  schon  berührten  Mißverständnis  vom 
»Papa  Haydn«  geführt.  Haydn,  der  immer, die  Frische 
des  Jünglings  bewahrt  und  von  Schwächen  in  seinen 
Werken  nur  die  der  Jagend  zeigt!  Formell  stehen  sich 
die  beiden  Gruppen,  in  welche  wir  seine  Elitesinfonien 
teilen,  ungefähr  ebenbürtig  gegenüber.  Namentlich  auf 
dem  Gebiete,  welches  Haydn  der  Sinfonie  entdeckt,  er- 
obert und  ausgebildet  hat:  der  Kunst  der  motivischen 
Arbeit,  der  Auflösung  der  ganzen  Gedanken  in  ihre 
kleinsten  selbständigen  Bestandteile  und  der  Entwicklung 
neuer  großer  Bilder  aus  diesen  Fragmenten  —  hier  zeigen 
jene  volleren  und  die  leichteren  Sinfonien,  als  ganze 
Gruppen  verglichen,  keine  wesentlichen  Unterschiede. 

An  der  Hand  jener  Breitkopfschen  Partitur-Ausgabe, 
und  ihrer  Reihenfolge  nachgehend,  durchschreiten  wir 
kurz  die  erste  Gruppe: 

Die  erste  Sinfonie  in  ihr  ist  eine  von  mehreren  in  Es. 
Ihr  Hauptsatz  hat  eine  Einleitung,  ein  Adagio  mit  folgen- 
dem Thema: 


J.  Haydn, 

Sinfonie  Nr.  1 
^Breitk.  &  H.). 


Adftgio. 
PtaLk.  C^ 


PI. 

Ob. 


P 


i.    J 


ftuk.  CeUi  Bässe  Fkgotto  Ob.  Ig:^ 

fff  iTjjijfjijriMJiiil: 


^ 


^ 


-^    152    ♦^ 

Die  Mehrzahl  der  Uaydnschen  Sinfonien  der  späteren 
Zelt  hat  vor  dem  ersten  Allegro  eine  solche  feierliche, 
gedankenvolle,  sinnende,  träumende,  romantische  Ein* 
leitung.  Das  Tiefste,  was  an  seiner  Phantasie  vorbeizog, 
wenn  er  das  ihm  vorschwebende  oder  acbon  fertige 
Werk  mit  einem  eindringenden  Seherblick  maß,  das  faßte 
er  in  den  Klängen  solclier  Einleitungen  zusammen.  Sie 
sind  meist  nach  dem  Charakter  der  Sinfonie,  welche  sie 
eröffnen,  verschieden  —  sie  haben  sich  auch  von  ihren 
eigentlichen  Vorbildern,  den  immer  im  gleichen  Typus 
auftretenden  Einleitungslargis  der  französischen  Ouver- 
türe weit  entfernt.  Auf  Cherubini  namentlich  haben  sie 
tief  eingewirkt  Unter  vielen  solchen  schönen  Einleitungs- 
sätzen hat  aber  der  hier  in  Betracht  kommende  zur 
Esdur-Sinfonie  noch  seine  besondere  Bedeutung:  Haydn 
kommt  auf  ihn  im  ersten  Allegro  zweimal  zurück.  Das 
erste  Mal  erscheinen  die  ernsten  Züge  des  Themas 
nach  der  ersten  Fermate  in  der  Durchführung  im 
schnellen  Tempo  und  nur  für  einen  flüchtigen  Augen- 
blick; nach  der  Reprise  föhrt  es  aber  der  Komponist 
noch  einmal  in  seiner  Originalgestalt  vor.  Solches  Zu- 
rückgreifen ist  bei  Haydn  äußerst  selten:  es  beweist  in 
diesem  Falle,  wie  wichtig  das  Thema  an  sich  ist.  Der 
Komponist  stand  unter  dem  Banne  desselben  und  gab 
sich  infolgedessen  den  heiteren  Ideen,  welche  die  eigent- 
lichen Themen  ^  ^  axa.-^^  ^  mm.  und 
des  Allegro  an-i 
schlagen,erstlich:' 


::trr\ffrfrf^^Uu!rr\ 


nur  bis  zu  einem  gewissen  Grade  hin.  Der  Satz  bleibt 
viel  stärker  auf  das  Ernste  und  Große  gerichtet,  als  man 
nach  der  ausgesprochen  leichten  und  launigen  Natur 
dieser  beiden  Führer  erwarten  sollte.  In  formeller  Be- 
ziehung ist  dieses  Allegro  der  Normaltypus  eines  Sonaten- 
satzes, wie  er  in  dieser  Regelmäßigkeit  bei  Haydn  nicht 
oft  vorkommt.     Da  haben  wir  ein  vollkommen  ausge- 


--♦      1&3      4^ 

bildetes  zweites  Thema:  aach  da^  obligatorische  Tonali- 
tätsverhältnis  der  beiden  Themen  ^  Ton^a:  Dominant 
-*-  ist  genau  eingehalten.  Im  zweiten  Teile,  dem  soge- 
nannten Durchf&hrangsteil  des  ersten  Satzes,  neckt  sonst 
Haydn  die  Zuhörer  gern,  bringt  das  Hauptthema  z.  B.  so, 
als  wollte  er  die  sogenannte  Reprise  beginnen,  während 
es  damit  noch  gute  WeOe  hat  Hier  aber  hält  er  sich, 
unbeschadet  aller  Tiefe  und  Genialität,  Tollkommen  schul- 
gerecht. Ebenso  normal  verläuft  der  dritte  Teil:  die  so- 
genannte Reprise  dieses  ersten  Satzes.  Es  ist  .einfache 
Wiederholung  des  ersten  Teils  mit  der  üblichen  Änderung, 
daß  das  zweite  Thema  nun  ebenfalls  in  die  Haupttonart 
tritt,  und  sogar  eine  gek&rzte  Wiederholung.  Nur  die 
Einführung  der  Coda,  der  Moment,  wo  das  Einleitungs- 
thema wie  ein  Geist  in  die  heitere  Gesellschaft  eintritt, 
steht  außerhalb  und' über  jedem  Usus  und  lehrt  uns  die 
Freiheit  des  Genies  bewundem  und  respektieren.  Eine 
Eigentümlichkeit  von  Haydns  Gedankenbau  —  das  plötz- 
liche Absetzen  —  die  pointenreiche  eindringliche,  oft 
verblüffende  Rhetorik,  eine  Frucht  französischer  Musik- 
studien —  zeigt  dieser  Satz  in  besonderer  Stärke:  Er 
hat  nicht  weniger  als  sechs  beredte  Fermaten  l  In  der 
Instrumentierung  sind  die  Klarinetten  zu  bemerken, 
mit  welchen  sich  Haydn  erst  in  England  näher  be- 
freundete. 

Der  zweite  Satz  ist  ein  Andante.  Es  beginnt  mit 
folgendem  Gedanken  von  dunkler  Schönheit  und  einem 
im  übermäßigen  S^kundenschritte  liegenden  aparten  Zug: 


Andante. 


J  jl  I  J.||i^J. !  J^ 


Aus  ihm  entwickelt  sich  ein  längerer  Gesang  in  der 
zweiteiligen  Liedform,  dem  hierauf  ein  Alternativ  mit 
marschartigem  Charakter  folgt.  Durch  Versetzung  der 
obigen  Melodie  ins  Dur  und  durch  kleine  rhythmische 
Varianten  hat  hier  Haydn  den  eben  angeführten  Themen 
ein  vollständig  anderes  Bild  abgewonnen. 


164 


Hauptsatz  und  Alternativ  werden  hierauf  zweimal  variiert 
In  der  ersten  Variation  des  Alternativs  macht  sich  ein 
Violinsolo  sehr  bemerklich.  Die  zweite  Variation  im- 
poniert durch  einen  gewaltigen  Einsatz;  zum  ersten  Male 
tritt  hier  in  diesem  Andante  die  gesamte  Blasmusik,  von 
Pauken  begleitet ,  im  kräftigsten  Ton  auf  den  Platz. 
Nach  dem  leise  verhauchenden  Ausgang  des  Violinsolos 
von  doppelter  Wirkung!  Der  Satz  belegt  wieder,  daß  die 
Kunst  der  Variation  mit  Haydns  Sinfonien  in  ein  neues 
Stadium -tritt.  Ganz  genial  ist  an  dem  Andante  unsrer 
Sinfonie  der  Abschluß,  die  sogenannte  Coda,  welche  nach 
der  Fermate  beginnt.  Sie  bildet  ein  freies  Nachspiel  zu 
den  Variationen,  ein  poetisches  A\)schiedswort  an  die 
vorausgehenden  Szenen,  in  welchem  alles,  was  an  Ge- 
danken und  Empfindungen  vorübergezogen  ist,  noch  ein- 
mal kurz  zusammengefaßt  und  potenziert  erscheint.  Die 
16  Takte  von  der  überraschend  einsetzenden  Dominant- 
harmonie auf  A  bis  zum  Wiedereintritt  des  Alternativs 
dürfen  wir  zu  dem  Genialsten  und  Eigenartigsten  rechnen, 
was  in  der  musikalischen  Komposition  jemals  erdacht 
worden  ist.  Nicht  mit  Unrecht  haben  andere  darauf  hin- 
gewiesen, daß  dieses  Andante,  und  namentlich  die  hier 
erwähnte  Episode  der  Coda,  Beethoven  beim  Entwurf  vom 
Trauermarsch  seiner  Eroica  höchst  wahrscheinlich  als 
Muster  vorgeschwebt  hat. 

Der  dritte  Satz  dieser  Sinfonie  ist  der  Menuett:  Sein 
erstes  Thema 


W^ 


läßt  schon  in  ungewöhnlichen  Wendungen  der  Melodik 
und  Rhythmik  ahnen,  daß  dieser  Satz  über  den  ein- 
fachen Tanzcharakter  hinausgehen  wird;  tatsächlich  ist 
er  ein  Charakterstück  höheren  Schlags  und  macht  bei 
allem  Fluß  und  aller  Einfachheit  der  Form  eindringliche 


-— »    166    •— 

Abstecher  in  das  Gebiet  des  Tiefsinnigea  und  Pathetischen, 
sich  ungewöhnlicher  Modnlationsn^ittel  bedienend.  Die 
außerordentliche  Freiheit  der  Erfindung  ist  noth  mehr 
als  im  Hauptsatze  in  dem  Trio  zu  bemerken,  hier  nament- 
lich an  der  Stelle,  wo  die  Violinen,  sohr  launig  aufgelegt, 
das  Wort  der  HÖrner  weiterführen. 

Das  Finale  ruht  auf  einem  einzigen  Thema: 

Presto. .  i.   ^  .    Ganz      erstaunlich, 

f/v^ni  I  r  r  )■  if  f  p  I  rTf  rT  iT       weiche  Menge  wech- 
•^  1   ■  j  Lj  ■      -         selnder   und   schön 

aneinander  schliessender  Bilder  aus  diesen  wenigen  Noten 
entwickelt  werden!  Es  ist  eine  der  größten  Leistungen 
kontrapunktischer  Kunst!  Im  Geist  dieses  Satzes  sind  ent- 
schieden Mozartsche  Züge  bemerkbar.  Wir  begegnen  sol- 
chen auch  noch  in  andern  von  Haydns  englischen  Sinfonien. 
Sie  legen  in  einer  rührenden  Weise  von  der  Tiefe  und  Echt- 
heit der  edelsten  Herzensfreundschaft  und  Liebe  Zeugnis 
ab,  welche  der  alte  Meister  zu  dem  jungen  gefaßt  hatte. 
Der  Tod  Mozarts  scheint  sie  nur  noch  innig-er  zu  machen. 

Besonders  in  der  Sinfonie  Nr.  2  (D  dur)  verweilt  Haydn      j.  Haydu. 
bei  Mozarts  Andenken  unverkennbar.    Er  beginnt  mit  Don  Sinfonie  Nr.  2 
Juan  und  schließt  feiit  Figaros  Hochzeit  seinen  ersten  Satz.  (B'^itk.  &  H ) 
Es  sind  flüchtige  sinnige  Anklänge,  wörtlich  k8iu,m  nach- 
weisbar, aber  für  das  Gefühl  nicht  mißzuverstehen. 

Die  Einleitung  des  ersten  Satzes  ist  diesmal  nur 
kurz,  hat  aber  einen  wunderbaren,  plötzlich  verschleierten 
Schluß.  Darauf  Generalpause,Ver8tummen  und  Schweigen, 
als  müßte  der  Dichter  schwere  Gefühle  niederkämpfen. 
War  es  die  frische  Nachricht  vom  Tode  Mozarts?  Der  An- 
fang des  Allegro  läßt  diese  Annahme  zu,  denn  es  setzt  aus- 
gesprochen elegisch,  leicht  klagend  ein,  tritt  auffällig  aus 
deb  Phantasiekreis  der  englischen  Sinfonien  heraus.  Sein 
Hauptthema,  das  ein  ruhiges  Tempo  verlangt,  ist  folgendes: 

Allegro. 


.§  j<  t  .1  j )  1  jj  ffl  I  j  j  j  j  I  f-,]  I  n- 1  f^jj 


&r  \  -j^ 


-1  !■  I  ■  j    L      II   Erst  der  fröhlich  kräftige  Nachsatz 
^  f*  j  I  iij^i  '  I  bringt  das  eigentliche  rasche  Zeit- 


-^    156    «-- 

maß.  Das  ei)dlich  folgende  zweite  Thema  (Adur)  scheint 
nur  pro  forma  da  zu  sein  und  kehrt  im  ganzen  Satze  ein 
einziges  Mal,  an  der  gehörigen  Stelle  in  der  Reprise, 
wieder.  Die  Durchführung,  zum  größten  Teil  von  dem 
oben  eingeklammerten  Motive  des  Hauptthemas  getragen, 
ist  schon  früher  als  Musterbeispiel  Haydn scher  Art 
erwähnt  worden.  Sie  erhält  durch  die  entschiedenen 
Rhythmen  des  zugrunde  liegenden  Motivs  einen  ziem- 
lich streitbaren  Charakter.  Nicht  ausgeschlossen  ist,  daß 
dieses  Motiv  eine  Reminiszenz  war.    Ein  Klavierkonzert 

vo'n nSbeJnt  ^nf  J  ^  J^;fJ  Jl  J  J  ^^ 
Das  Andante  dieser  Sinfonie  ist  eins  der  interessan- 
testen und  für  die  Auffassung  von  Haydns  geistiger 
Persönlichkeit,  für  das  Verständnis  seines  Runstglaubens 
ein  wichtiger  Beitrag.  Zu  Grunde  liegt  dieser  Romposition 
ein  etwas  erweiterter  Liedsatz  mit  folgendem  Hauptvers: 

Andante.  ^—.^       ■— p»»»        ^  . 

Er  wird  verschiedentlich  variiert  Doch  nicht  diese 
Variationspartien  sind  das  Hauptelemeut  der  Komposition, 
sondern  die  freien  Zwischensätze,  in  denen  sich  ein 
Fond  von  Leidenschaft  auslebt,  welcher  die  Bekenner 
des  »gemüUichen  Vater  Haydnt  einigermaßen  erschrecken 
muß.  Immer  wieder  werden  diese  stürmischen  Ausbrüche 
einer  heftigen  trüben  Empfindung  unterdrückt,  zurück- 
gedrängt und  abgebrochen.  Beschwichtigend,  zuweilen 
gewaltsam  und  halb  ironisch  kehrt  der  Komponist  zu 
dem  oben  zitierten  Friedensmotiv  zurück.  War  es  Furcht 
vor  dem  Dämonischen,  Respekt  vor  der  künstlerischen 
Etiquette,  die  Haydn  zu  dieser  Führung  dieses  Satzes 
bestimmten,  oder  war  sie  durch  einen  besonderen  Pro- 
grammvorwurf bedingt,  der  verschwiegen  blieb?  £s 
liegen  Rätsel  in  diesem  Satze,  die  aber  glücklicher- 
weise die  rein  menschliche  und  künstlerische  Wirkung 
des  lebensvollen,  erregten  Seelen gemäldes  nicht  beein- 
trächtigen. 


r 


--♦     157    ♦^ 

Der  Menuett  dieser  Sinfonie  ist  einer  der  wuchtigsten, 
die  vorkommen,  und  sehr  mannigfaltig  in  seinen  Bil- 
düngen:  grotesk  und  intim,  drohend  und  neckisch  zu- 
gleich; reich  an  formell  ungewöhnlichen  Erscheinungen: 
Riesenintervallen,  Paukenwirbeln  mit  Crescendo,  Gene* 
ralpausen  und  Generaltrillern.  Das  Trio  bleibt  durch- 
aus zart,  mädchenhaft  im  Blick  und  fröhlich  einfach  ge- 
schmückt. ^ 

Das  Finale  beginnt  k  la  Musette  wie  die  Bärensinfonie 


A.  Kuhacz  weist  nach,  daß  diesem,  sowie  das  Thema  vom 
Andante  und  vom  Finale  der  vorhergehenden  Esdur- 
Sinfonie  in  kroatischen  Volksliedern  vorkommen*).  Ob- 
wohl die  Prioritätsfrage  nicht  entschieden  ist,  spricht 
vieles  dafür,  daß  sie  Haydn  daher  entnommen  hat. 
Gegen  das  sehr  fröhliche  Treiben,  welches  sich  auf 
Grund  dieses  Themas  im  Finale  entwickelt,  bildet  das 
bedeutsam  ausgestaltete  zweite  Thema  einen  herrlichen 
Kontrast. 


J|l  dM  I  "  II  I  ll   ij  II    ij'M  -If  ■I-' 


Es  wirkt,  als  wenn  ein  glucklicher  Mensch,  mitten  in  der 
rauschenden  Festesfreude,  einen  frommen  und  dankbaren 
Blick  nach  dem  Sternenhimmel  würfe,  und  erscheint  uns 
als  die  Perle  in  der  durch  und  durch  genialen  Sinfonie! 

Die  Sinfonie  Nr.  6  (G  dur)  wird  mit  einer  Einleitung     j.  uaydn, 
eröffnet,  in  welcher  die  »Jahreszeiten«  ihren  Schatten  Sinfonie  Nr.  6 
voranswerfen.   Das  erste  Allegro  dieser  Sinfonie  ist  knapp  (B"itk.  A  H). 
und  gedrungen.    Sein  erstes  Thema 

*)  Siehe  darüber  IL  Reimanu  in  Allg.  Mnsik-Zeitang  1893, 
&  525  a.  ff. 


168 


**— f 


fjiiniLü  nnuj  I II  1^1  ^.11 


läuft  schon  nach  vier  Takten  aus  dem  üblichen  leisen 
Anfang  in  den  sausenden  und  brausenden  Chor  ein,  der 
in  den  meisten  Fällen  bei  Haydn  das  zweite  Glied  oder 
die  Reserve  des  Hauptthemas  •  zu  bilden  pflegf.  Das 
zweite  Thema,  im  Satz  zu  keiner  Bedeutung  gelangend, 
wird  wieder  mit  emigen  Geigen akkorden  präludiert,  die 
uns  in  die  idyllische  Sphäre  der  Harfen-  und  Guitarren- 
musik versetzen.  Die  Durchführung  ist  knapp  gehalten ;  das 
oben  eingeklammerte  Achtelmotiv  liefert  ihr  den  größten 
Teil  des  Materials.  Der  berühmteste  Satz  dieser  Sinfonie  ist 
das  Andante.  Sie  heißt  nach  ihm  die  Sinfonie  mit  dem 
Paukenschlag,  bei  den  Engländern  »the  surprise«.  Haydn 
schließt  hier  eine  sanfte,  erstp,  dannpj?  gehaltene  Melodie 
mit  einem  kräftigen 

^4  •" -^^i^     Orchesters,  wie  Gy- 

rowetz*)  behauptet,  aus  Schelmerei,  wie  Haydn  selbst 
sagte**),  um  das  Publikum  mit  etwas  Neuem  zu  über- 
raschen. Der  an  und  für  sich  sehr  billige  Scherz  gefiel 
ganz  ungemein  und  ist  wiederholt  nachgebildet  worden, 
u.  a.  von  Carl  M.  v.  Weber  in  der  Ouvertüre  seines  eben- 
falls für  London  bestimmten  »Oberon«.  Das  Thema  wird 
dann  in  vier  Variationen  durchgeführt,  die  ausgezeichnet 
untereinander  verbunden  sind.  Besondere  Aufmerksam- 
keit verdient  der  unvermutete  Übergang  nach  Esdur  in 
der  zweiten  und  der  schöne  Gesang,  welchen  in  der 
dritten  Oboen  und  Flöten  dem  in  den  Geigen  her- 
schreitenden Hauptthema  entgegenstellen.  Die  Coda  hat 
wieder  einschlummernden  Charakter. 

In  dem  sehr  gestaltenreichen  Menuett  ist  das  Trio 
diesmal  nicht  als  Gegensatz,  sondern  als  Ergänzung  be- 
handelt Seine  anmutig  hinflatternde  Hauptmelodie  tragen 

*)  Gyrowetz,  Selbstbiographie  S.  59. 
♦*)  Griesinger  S.  55. 


— »    159    ♦^ 

Violin«  und  Fagott  zusammen  vor,  eine  Oktavverdoppelung, 
die  Haydn  namentlich  in  dem  Menuett  und  in  den  zweiten 
Themen  der  Ecksätze  auch  in  andern  Formen  gern  an- 
W€nde4.  Die  Heimat  dieser  Instrumentationsweise  ist  eine 
entschieden  volkstümliche. 

Das  Finale  gibt  sich  der  fröhlichen  Laune  anfangs 
nur  mit  Vorbehalt  hin:  sein  Hauptthema 

AUe^o  di  molto. 

hat  einige  sentimentale  Elemente.  In  der  Führung  des 
Satzes  ist  die  Oberleitung  zur  Reprise  bemerkenswert; 
das  Hauptthema  kommt  einigermaßen  unvermutet,  aber 
als  willkommener  Retter  aus  Irrfahrt  und  Öde. 

Die  11.  Sinfonie  (Gdur)  ist  die  sogenannte  Militär-«     J.  Baydn, 
Sinfonie.    Sie  verdankt  diesen  Beinamen  ihrem  zweiten  ^^**.^i*  ?J;^^ 
Satze:    einem   Allegretto,    das    auf   Grund   einer   (von    ^'®*   '       '' 
Haydn  bearbeiteten)  französischen  Romanzenmelodie 

^^ ^ ^.^-^--^^    ^^^        ein      inhalt- 

A^  ^    f  ^  f  T  \r  **  ir  r  r^^f'^  TM  reiches  Ton- 
"^      '  bild  entrollt, 

dem  man  kriegerische  Unterlagen  wohl  ansehen  kann. 
Es  ist  eine  Art  Abschiedsstimmung  in  der  freufidlich 
sinnigen  Marschweise,  welche  die  Chöre  des  Orchesters 
nicht  müde  werden  einander  zuzusingen.  Dann  kommt 
plötzlich  das  Thema  in  Moll;  der  Satz  erhält  einen  Mittel- 
teil, durch  welchen  große  Schatten  ziehen,  der  ernst 
stimmt  und  die  Trauer  streift;  »Heute  rot  —  morgen  tot!« 
Unverkennbar  ausgeprägt  tritt  der  militärische  Charakter 
des  Satzes  gegen  den  Schluß  vor:  Abendstimmung:  die 
Romanze  verklingt:  Da  ein  Trompetensignal,  das  im  • 
Orchester  augenscheinlich  großes  Aufsehen  und  Alarm 
erregt  In  der  Instrumentierung  dieses  Andante  ist  der 
große  Apparat  von  Schlaginstrumenten  für  die  besondern 
Tendenzen  Haydns  an  dieser  Stelle  bezeichnend:  Außer 
den  Pauken:  Triangel,  Becken  und  große  Trommel!  Einen 
eigentlichen  langsamen  Satz  enthält  diese  Sinfonie  nicht, 
ähnlich  wie  Beethovens  achte. 


-^    160    ♦— 

Der  Hauptsatz  beginnt  nach  einer  prächtigen  Ein- 
leitung, die  auch  eine  Stelle  pathetischer  Erregung  hat,  mit 
folgendem  Thema,  von  Oboen  und  Flöte  allein  vorgetragen : 


ii  n  rii  lujii-  i'  MV  11 1, 


Yrrf\7fTrr"'^ 


Ehe  es  noch  zu  einem  zweiten  Thema  kommt,  pas- 
sieren wir  bereits  Partien  eigenartigster  Erfindung.  Die 
Stelle,  wo  nach  der  Reprise  des  Themas  in  der  Domi- 
nant, Geiger  und  Bläser  echt  träumerisch  unschlüssig 
mit  den  zwei  Noten  spielen  und  sich  dann  im  Forte 
heroisch  aufraffen,  gehört  dahin.  Darauf  unmittelbar  setzt 
das  zweite  Thema,  wieder  wie  von  Guitarrenklängen  prä- 
ludiert, ein.  Es  ist  eine  Melodie  von  echtem  Wiener  Blut, 
die  zum  flotten  Marsch  einer'  Infanteriekolonne  ganz 
gut  paßt: 


|j'   fl"  u ^'1  i^^^'^^'"''- 


Dieses  bis  auf  den  Radetzkymarsch  in  der  östreichischen 
Kunst-  und  Volksmusik  immer  wiederkehrende  Thema 
läßt  aber  den  Schwung  nicht  ahnen,  der  im  Orchester 
losbricht,  nachdem  sich  die  Bässe  der  tändelnden  Weise 
bemächtigt  haben.  Die  Durchführung  des  Hauptsatzes 
ruht  wesentlich  auf  diesem  zweiten  Thema  und  erhebt 
sich  mit  ihm  ins  Großartige.  Der  Menuett  dieser  Sinfonie 
nähert  sich  dem  alten  Stile  und  wiegt  sich  in  schwer- 
fälliger Grazie.  Haydn  schreibt  ausdrücklich  »Moderato« 
vor.  Im  Trio  scheint  sich  ein  Solopaar  zu  produzieren. 
Das  Haaptthema  des  Schlußsatzes 

y  i.   Presto. 

jjiijMjJ  rri  iLü  '  1  IlJüJ  'U'' 

scheint  auf  leichten  Scherz  und  Tändelei  hinzudeuten. 
Haydn  gibt  ihm  aber  durch  Modulationen  und  kontra- 


--(►     161     «^ 

punktische  Umarbeitungen  einen  schwereren,  energischen 
Charakter  nnd  flicht  erregtere  Szenen  und  Momente 
dunkler  Spannung  ein;  alles  mit  wenigen  Noten,  und  in 
einer  Karze,  die  eine  Meisterleistung  an  sich  bildet.  Die 
Mintärsinfonie,  die  bis  heute  eine  der  beliebtesten  ge- 
blieben ist,  gilt  in  England  als  die  Krone  der  Haydnschen 
Sinfonien,  in  London  wurde  sie  binnen  Jahresfrist  sieben- 
mal aufgeführt*). 

Die  letzte  Sinfonie  in  unserer  ersten  Gruppe,  Nr.  12      j.  Hftjdn, 
(Bdur),  beginnt  ebenfalls  mit  langsamer  Einleitung  vor  Sinfonie  Nr.  12 
dem  Allegro:    Die   beiden   Themen    des   letzteren   sind   (Bf«»*^.  4  H.). 
folgende: 
a)  Allegro. 


•Jii'f'  I  liiJ  J  J^fil^ 


Das  erste  setzt  ausnahmsweise  gleich  stark  und  mit 
dem  vollen  Orchester  ein  und  läßt  dann  das  Piano  nach- 
folgen. Das  zweite  Thema  hat  in  dem  Satze  größere 
Bedeutung,  als  'es  durchschnittlich  bei  Haydn  der  Fall 
ist  Gleich  sein  erster  Eintritt  ist  ungewöhnlich:  es  steht 
mit  einem  gewaltigen  Schlage  da,  fertig  wie  aus  der 
Erde  emporgezaubert.  An  der  Durchführung  nimmt  es 
einen  wichtigen  Anteil.  Doch  stehen  ihm  andere  Motive 
hier  ebenbürtig  zur  Seite;  neben  dem  Achtelrhyth- 
mus des  Hauptthemas  ±  ^.^-^  .^  ^ 
noch  das  diesem  fol-  i  v''  1  |  \\^  7  f  [  r  ^ 
gende  kurze  Seitenmotiv:    ^                 «^ 

An  Reichtum  und  Mannigfaltigkeit  des  Materials 
zeichnet  sich  somit  die  Durchführung  dieses  Satzes  aus 
und  gestaltet  ihn  zu  einem  der  imposantesten  in  bezug 

♦)  0.  F.  Pohl:  Haydn  n.  Mozart  in  London  II,  233,  269,  289. 
Kretzsclimar,  Ffthrer.    1,1.  H 


-^    162    ^^ 

auf  den  Aufbau.  Dem  entspricht  eine  Fülle  innerer  Be- 
wegung und  Energie.  Unter  den  Allegrosätzen  Haydns, 
welche  Beethoven  zum  Anknöpfen  dienen  konnten,  muß 
dieser  an  erster  Stelle  genannt  werden. 

Der  zweite  Satz,  von  Haydn  auch  in  einem  Klavier- 
trio verwendet,  mit  folgendem  Hauptthema 


jjinj^r%fYi^^;iHrir>^ji 


ist  auffallend  kurz.  Mehrmals  streift  er  das  leidenschaft- 
lichere und  schwermütige  Gebiet,  zieht  sich  aber  immer 
mit  absichtlicher  Eile  und  in  genialen  Wendungen  auf 
das  Ausgangsterrain  der  elegischen  Träumerei  zurück. 
Er  gleicht  einer  Skizze. 

In  dem  Menuett  treten  dem  behäbigen  Tanzcharakter 
des  Hauptthemas 
-    AUogrro.  fc        #  mehrfach  be- 

genüber;  namentlich  ein  pochendes  Unisonomotiv  J  |  J  J 
bringt  eine  fast  dramatische  Bewegung  in  der  Szene 
hervor.  Das  Trio  sucht  mit  einer  unwiderstehlichen, 
spezifisch  Wienerischen  Herzlichkeit  zu  beschwichtigen: 
AI  ,—....  Die  Melodie,  welche  durch 

^  ►   y  J   I  f^TJr^^  mp    r  I  (  die    chromatische   SteUe 

ihre  Signatur  erhält,  wird 
wieder  in  der  Oktave  von  Oboe  und  Fagott  zusammen 
gespielt. 

Das  Finale  ist  auf  das  Material  eines  sehr  possier- 
lichen, augenscheinlich  der  Volksmusik  entnommenen 
Trällerliedchens  gebaut: 

Presto.  ^^m  ^^  In  seinem  An- 

Gelegenheit  zu  humoristischen  Episoden,  denen  er  freie 
Zwischensätze  von  zuweilen  trotziger  Kraft  gegenüber- 
stellt. Im  ganzen  ist  dieses  Finale  eins  der  wechsel- 
vollsten und  inhaltlich  mannigfaltigsten. 


168 


Von  den  Sinfonien  der  rweiten  Grappe  gehöil  die     ^.  ■«y««» 
Nr.  3  (Es  do^  zn  den  schwächeren.    Der  erste  S&U  ent-  SinfonM  Nr.  s 
behrt  der  bei  Haydn  gewöhntichen  Inspiration  nnd  er-  (^^^^  *  ■^  >* 
scheint  vorwiegend  als  ein  Produkt  der  Arbeit    Seinen 
vergnüglichsten  Teil  bildet  das  zweite  Thema 


Im  zweiten  Satze,  Adagio  (Gdnr),  wird  ebenfalls  das 

zweite  Thema,  znm  Hauptgedanken  nnd 

mit  folgendem  pdf  TH-f — g'^^  ^^  Komposition  einen 
Gmodmotiv      ^  '  '     hymnen artigen   Ansdrack. 

Wenn  bei  Haydn  die  zweiten  Themen  hervortreten,  so  ist 
dies  in  den  meisten  Fällen  eine  nicht  unbedenkliche  Er- 
scheinung. Seine  besten  Sätze  sind  vorwiegend  die- 
jenigen, wo  er  ein  zweites  Thema  gar  nicht  braucht 

Der  Menuett  der  Sinfonie  erhebt  sich  in  der  Erfin« 
düng  über  die  vorhergehenden  Sätze.  Er  gehört  zu  der 
Gattung  Haydnscher  Menuette,  welche  den  Übwrgang 
zum  Scherzo  Beethovens  bilden.  Noch  höher  steht  das 
Finale,  in  welchem  die  gute  Laune  Haydns  an  dem  fol- 
genden kurzbeinigen  Thema 

j!i^b ü^  ir  r  r  0  I  f\7''^ '  \" '=^^^rf 

sich  wieder  in  ihrer  ganzen  Frische  aufrichtet  Nament- 
lich an  kostbaren  InstrumentalefTekten  ist  der  Satz  reich. 

In  der  Sinfonie  Nr.  4  iDdur)  macht  sich  eine  gewisse     jr.Harda, 
Gleichförmigkeit  sowohl  innerhalb  der  einzelnen  Sätze  als  Sinfonie  Nr.  4 
auch  im  Verhältnisse  der  Sätze  unter  einander  geltend.  <Br«tt  AH,). 
Hier  sind  die  Hauptthemen. 

xau..j'irj,7j_jjjiiiLii  ii  II  iuj|jrir;7 


Anduie 


]L8««s. 


11* 


164 


m.Sa|s. 


Allegretto 


Den  interes-' 
I  r  f  f  I  p=  santestea  Ein- 
'  *  *  ^  fall  der  ganzen 
Sinfonie  bildet 


PiBtie.  i^H,|J  |rl  JjTJIf  rrri^  ^er  im  Andan. 
jr te  die  zahlrei- 

chen Wiederholungen  des  Hauptthema  einleitende,  ein- 
geschobene Takt. 
j.  Baydsy  Die  Sinfonie  Nr.  6  (Ddur)  hat  ebenso  wie  die  vorletzte 

Sinfonie  Nr.  6  ihren  schönsten  Teil  in  der  zweiten  Hälfte.  Mit  dem  Einsatz 
(Breitk.  A  H.)   ^^^  rj^j^  ^^  ^^^  Menuett,  da  wo  die  Bläser  alle  zusammen 
alarmierende  Triolen  anstinmmen,  verläßt  der  Tondichter 
endlich  die  Idylle,  in  der  er  uns  etwas  lange  festgehalten 

hat.  Der  beden-         ^  Presto  mt  non  ireppo. 


tendste      Satz  jf^j  ^  ^^ 
ist  das  Finale  ^^    ^ 


dessen  Thema  schon  unverkennbar  romantisch  anklingt 
Seine  ersten  3  Noten  bald  wie  ritterlicher  Weckruf  alles 
alarmierend,  bald  wie  geheimnisvolle  Stimmen  aus 
Waldesdunkel  erschallend,  jetzt  näher,  jetzt  ferner  klin- 
gend —  haben  im  Bau  dieses  Finale  besondere  Be- 
deutung. Es  ist  reich  an  Bildern;  die  Gruppe  vor  der 
Einfdhrung  des  zweiten  Thema  in  der  Reprise  gehört  zu 
den  phantastischsten  Eingebungen.  Ihre  Pausen,  Ferma- 
ten, ihre  schnell  abbrechenden  Schlüsse  geben  der  Er- 
klärungskunst voll  zu  tun.  Vor  anderen  trägt  die  Fröh- 
lichkeit dieses  Satzes  ein  -männlich  schönes  Gepräge. 
Ganz  am  Schluß  taucht  Don  Juans  Bild  auf:  >Viva  la 
liberta !« 
j.  HA^dn^  Die  Sinfonie  Nr.  14  (Ddur)  gehört  der  zweiten  Gruppe 

Sinfonie  Nr.  u  vollständig  an.    Der  erste  Satz,  dem  ein  leichtes  Thema 

(Breitk.  &  H.).   zu  Grunde  liegt: 

AiUgTo. --rt    ^    -.   -  kontrapunk- 

:f±iU  P  y-Jd    tiert  einige- 


male  stren- 
ger und  verausgabt  einen  großen  Vorrat  gewaltig  aus- 
holender Gänge;  er  bleibt  aber  in  seiner  Fröhlichkeit 
etwas  äußerlich  und  theatralisch.    Das  Andante: 


165 


JTtjglp^gf'J' 


f 


^  schwärmt  dahin  wie  vom  Glück  beflügelt; 
=  zuweilen  bricht  der  Jubel  mit  Elementar- 
gewalt heraus,  dann  wieder  zittert  es  in 


allen  Gliedern  wie  von  heimlicher  Freude.  Auch  in  dem 
dunkleren  Mittelsatz,  der  ein  Mollthema  fugenartig  durch- 
führt, lebt  ein  schwelgender  Klang.  Der  Schlußteil  des 
Andante  wird  zum  Konzert,  wo  den  beiden  Soloviolinen 
alle  anderen  Instrumente  lauschen.  Der  Mißnuett  ist  von  der  > 

aristokratischen  Familie  und  neigt  dem  Zarten  zu.  Das 
Trio  bringt  reizende  Soli  der  Flöte  und  des  Fagotts,  letz- 
teres von  der  ersten  Violine  unterstützt.  Das  Finale  ist 
ein  Rondo  mit  folgendem  kurzgeschürzten  Hauptthema: 
,      viTace  assat.         _^  ^  Namentlich  die 

^^^^^^*  Sf  ^e£ 
die  Rückkehr  in  dieses'Thema  einleiten,  sind  von  eigen- 
artiger Wirkung. 

Die  drei  übrigen  Sinfonien  (Nr.  7,  8,  9)  nehmen  eine 
Art  Mittelstellung  zwischen  beiden  Gruppen  ein.    In  der 
Tendenz  ihrer  Hauptsätze,  die  dem  Heroischen  und  Pa- 
thetischen zuneigen,  haben  sie  etwas  Gemeinsames  und 
würden  ohne  weiteres  den  Sinfonien  der  ersten  Gruppe 
anzureihen  sein,  wenn  sie  sich  mit  diesen  an  musika- 
lischem Reichtum  der  Ausführung  messen  könnten.   Die 
bedeutendste  unter  ihnen  ist  die  Nr.  9  (CmoU),  wohl     LHiiyda, 
auch  die  bekannteste.    Sie  beginnt  ohne  Einleitung  mit  Sinfonie  Nr.  9 
einem  Thema,  dessen  Doppelnatur  weniger  auf  eine  So-  ^"*'^  *  ^•)- 
nate  als  auf  die  freiere  Form  der  Fantasie  hinzuweisen 
scheint: 


'Ü  J^T^ii'  \t^^ 


--^     164    «^ 
u^tktto.  Den  inleres-' 

▼ivaca.         ^  Sinfonie  bildet 

PiMie.  ftd"  fl  -1  ^  Ir]  JjT]||*  r  r  nr^^  l  der  im  Andan- 
^^      y^       ^ — -^  te  die  zahlrei- 

chen Wiederholungen  des  Hauptthema  einleitende,  ein- 
geschobene Takt. 
j.  Haydn,  Die  Sinfonie  Nr.  5  (Ddur)  hat  ebenso  wie  die  vorletzte 

Sinfonie  Nr.  5  ihren  schönsten  Teil  in  der  zweiten  Hälfte.  Mit  dem  Einsatz 
(Breitk.  ft  H.)   ^^g  j*^^  ^  ^^^  Menuett,  da  wo  die  Bläser  alle  zusammen 
alarmierende  Triolen  anstinmmen,  verläßt  der  Tondichter 
endlich  die  Idylle,  in  der  er  uns  etwas  lange  festgehalten 

hat.  Der  bedeu-  Presto  m«  non  troppo.    ^_^^^^— — _^ 

tendste      ^-''ihrrff  fl    l.m  I  '  iJ  l'^^^T* 
ist  das  Fmale  "»"*       i^  ^     ^^ 

dessen  Thema  schon  unverkennbar  romantisch  anklingt 
Seine  ersten  3  Noten  bald  wie  ritterlicher  Weckruf  alles 
alarmierend,  bald  wie  geheimnisvolle  Stimmen  aus 
Waldesdunkel  erschallend,  jetzt  näher,  jetzt  ferner  klin- 
gend —  haben  im  Bau  dieses  Finale  besondere  Be- 
deutung. Es  ist  reich  an  Bildern;  die  Gruppe  vor  der 
Einführung  des  zweiten  Thema  in  der  Reprise  gehört  zu 
den  phantastischsten  Eingebungen.  Ihre  Pausen,  Ferma- 
ten, ihre  schnell  abbrechenden  Schlüsse  geben  der  Er>. 
klärungskunst  voll  zu  tun.  Vor  anderen  trägt  die  Fröh- 
lichkeit dieses  Satzes  ein  *männhch  schönes  Gepräge. 
Ganz  am  Schluß  taucht  Don  Juans  Bild  auf:  »Viva  la 
libertalc 
j«  Haydny  Die  Sinfonie  Nr.  14  (Ddur)  gehört  der  zweiten  Gruppe 

Sinfonie  Nr.  14  vollständig  an.    Der  erste  Satz,  dem  ein  leichtes  Thema 

(Breitk.  &H.).   zu  Grunde  liegt: 

AUcgro^ __jf0^         -V    ->  kontrapunk- 

I^B  I  .^>^£JjJf.-f-n-rt=<    tiert  einige- 


male  stren- 
ger und  verausgabt  einen  großen  Vorrat  gewaltig  aus- 
holender Gänge;  er  bleibt  aber  in  seiner  Fröhlichkeit 
etwas  äußerlich  und  theatralisch.    Das  Andante: 


165 


W 


^  schwärmt  dahin  wie  vom  Glück  beflügelt; 

z  zuweilen  bricht  der  Jubel  mit  Elementar- 
gewalt heraus,  dann  wieder  zittert  es  in 
allen  Gliedern  wie  von  heimlicher  Freude.  Auch  in  dem 
dunkleren  Mittelsatz,  der  ein  Mollthema  fugenartig  durch- 
führt, lebt  ein  schwelgender  Klang.  Der  Schlußteil  des 
Andante  wird  zum  Konzert,  wo  den  beiden  Soloviolinen 
alle  anderen  Instrumente  lauschen.  Der  M,ßnuett  ist  von  der  « 

aristokratischen  Familie  und  neigt  dem  Zarten  zu.  Das 
Trio  bringt  reizende  Soli  der  Flöte  und  des  Fagotts,  letz- 
teres von  der  ersten  Violine  unterstützt.  Das  Finale  ist 
ein  Rondo  mit  folgendem  kurzgeschürzten  Hauptthema: 
▼iTMe  Msai.  ^  _  Namentlich  die 

Solostellen  der 
Violine,  welche 
die  Rückkehr  in  dieses 'Thema  einleiten,  sind  von  eigen- 
artiger Wirkung. 

Die  drei  übrigen  Sinfonien  (Nr.  7,  8,  9)  nehmen  eine 
Art  Mittelstellung  zwischen  beiden  Gruppen  ein.    In  der 
Tendenz  ihrer  Hauptsätze,  die  dem  Heroischen  und  Pa- 
thetischen zuneigen,  haben  sie  etwas  Gemeinsames  und 
würden  ohne  weiteres  den  Sinfonien  der  ersten  Gruppe 
anzureihen  sein,  wenn  sie  sich  mit  diesen  an  musika- 
lischem Reichtum  der  Ausführung  messen  könnten.   Die 
bedeutendste  unter  ihnen  ist  die  Nr.  9  (Cmoll),  wohl     J.Haydi, 
auch  die  bekannteste.    Sie  beginnt  ohne  Einleitung  mit  Sinfonie  Nr.  9 
einem  Thema,  dessen  Doppelnatur  weniger  auf  eine  So-  ^'®**^  *  ^•)- 
nate  als  auf  die  freiere  Form  der  Fantasie  hinzuweisen 
scheint: 


■}j  j?TPi|-  iiit\  ir 


eben  Wiederholungen  des  Hanptthema  einleitende,  ein- 
geschobene Takt. 
J.  HkjrlB,  Die  Sinfonie  Nr.  6  (Ddnr)  hat  ebenso  wie  die  vorletzte 

^nfsniaNc.s  ihren  schönsten  Teil  in  der  zweiten  HälRe.  Mit  dem  Einsatz 
(BMitit.4  H.)  jgg  ^^  jij  jgjjj  Menuett,  da  wo  die  Bläser  alle  zusammen 
alarmierende  Triolen  anstinmmen,  verlSGt  der  Tondichter 
endlich  die  Idylle,  in  der  er  uns  etwas  lange  festgehalten 
hat.  Der  bedeu- 
tendste Satz  § 
ist  das  Finale  ^ 
dessen  Thema  schon  unverkennbar  romantisch  anklingt. 
Seine  ersten  3  Koten  bald  wie  ritterlicher  Weckruf  alles 
alarmierend,  bald  wie  geheimnisvolle  Stimmen  aus 
Waldesdunkel  erschallend,  jetzt  näher,  jetzt  ferner  klin— 


Sinfonie  Nr.  U 
<Bt<:ilk.  &  HO- 


_  schwärmt  dahin  wie  vom  Glück  beflügelt; 
=  zuweilen  bricht  der  Jubel  mit  Elementar- 
gewalt heraus,  dann  wieder  zittert  es  in 
allen  Gliedern  wie  von  heimlicher  Freude.  Auch  in  dem 
dnnMeren  Mittelsatz,  der  ein  Mollthema  tugenartig  durch- 
Itlhrt,  lebt  ein  schwelgender  Klang.  Der  ScMußteil  des 
Andante  wird  zum  Konzert,  wo  den  beiden  Soloviolinen 
alle  anderen  Instrumente  lauschen.  Der  &lpnuett  ist  von  der 
aristokratischen  Familie  und  neigt  dem  Zarten  zu.  Das 
Trio  bringt  reizende  Soli  der  Flute  und  des  Fagotts,  letz- 
teres von  der  ersten  Violine  unterslQtzt.  Das  finale  ist 
eio  Rondo  mit  folgendem  kurzgeschürzten  Haupttliema: 
viTue  Ulli.  Namentlich  die 

~  SoloEtellen  der 
Violine,  welche 
die  Rückkehr  in  dieses'Thema  einleiten,  sind  von  eigen- 
artiger Wirkung. 

Die  drei  übrigen  Sinfonien  (Nr.  7,  8,  9)  nehmen  eine 
Art  Hittelalellung  zwischen  beiden  Gruppen  ein.  In  der 
Tendenz  ihrer  Hauptsätze,  die  dem  Heroischen  und  Pa- 
thetischen zuneigen,  haben  sie  etwas  Gemeinsames  und 


_^  164    ♦^ 

"55i?**?tto  ^^^  intere»- 

ma.4.  J  ^4  n  I  I  »  ^'  ,  I  fi  Sm^    iffßif    santesten  Ein- 

ar      ■ "  ■*     I  I  ■  I     I      ■■  I  -^^^J^  ■            ■  I      I     -S  roll  HAv<*oVt9Av« 


fall  der  ganzen 
Sinfonie  bildet 


Ftaie.  i|«*,|>  |J JjTJIf  rrni^  ^^^j^  Andan- 
^        M te  die  zahlrei- 

chen Wiederholungen  des  Hauptthema  einleitende,  ein- 
geschobene Takt. 
j.  HaydB,  Die  Sinfonie  Nr.  6  (D  dur)  hat  ebenso  wie  die  vorletzte 

Sinfonie  Nr.  6  ihren  schönsten  Teil  in  der  zweiten  Hälfte.  Mit  dem  Einsatz 
(Breitk.  ft  H.)   ^^g  rp^^  -^^  ^^^  Menuett,  da  wo  die  Bläser  alle  zusammen 
alarmierende  Triolen  anstinmmen,  verläßt  der  Tondichter 
endlich  die  Idylle,  in  der  er  uns  etwas  lange  festgehalten 

hat.  Der  bedeu-  Presto  m*  non  troppo. 

tendste      Satz  j  m    H  l"^^ 
ist  das  Fmale  ^^^       ?  ^"^ 

dessen  Thema  schon  unverkennbar  romantisch  anklingt. 
Seine  ersten  3  Noten  bald  wie  ritterlicher  Weckruf  alles 
alarmierend,  bald  wie  geheimnisvolle  Stimmen  aus 
Waldesdunkel  erschallend,  jetzt  näher,  jetzt  ferner  klin- 
gend —  haben  im  Bau  dieses  Finale  besondere  Be- 
deutung. Es  ist  reich  an  Bildern;  die  Gruppe  vor  der 
Einführung  des  zweiten  Thema  in  der  Reprise  gehört  zu 
den  phantastischsten  Eingebungen.  Ihre  Pausen,  Ferma- 
ten, ihre  schnell  abbrechenden  Schlüsse  geben  der  Er- 
klärungskunst voll  zu  tun.  Vor  anderen  trägt  die  Fröh- 
lichkeit dieses  Satzes  ein  *  männlich  schönes  Gepräge. 
Ganz  am  Schluß  taucht  Don  Juans  Bild  auf:  >Viva  la 
liberta!« 
j.  Hajdn,  Die  Sinfonie  Nr.  14  (D  dur)  gehört  der  zweiten  Gruppe 

Sinfonie  Nr.  14  vollständig  an.    Der  erste  Satz,  dem  ein  leichtes  Thema 

(Breitk.  &  H.).   ^u  Grunde  liegt: 

^      Aiiegro.  ^^         ^   ^  kontrapunk- 

Ifii  ^  iJl}^^y^\ff^H\UiPE^    tiert  einige- 
**  '  '^^^^    ^^ —  -.,,..—  r  ^^j^  stren- 

ger und  verausgabt  einen  großen  Vorrat  gewaltig  aus- 
holender Gänge;  er  bleibt  aber  in  seiner  Fröhlichkeit 
etwas  äußerlich  und  theatralisch.    Das  Andante: 


165 


4  ^^^. 


f 


^  schwärmt  dahin  wie  vom  Glück  beflügelt; 
znweilen  bricht  der  Jubel  mit  Elementar- 
gewalt heraus,  dann  wieder  zittert  es  in 


allen  Gliedern  wie  von  heimlicher  Freude.  Auch  in  dem 
dunkleren  Mittelsatz,  der  ein  Mollthema  fugen  artig  durch- 
führt, lebt  ein  schwelgender  Klang.  Der  Schlußteil  des 
Andante  wird  zum  Konzert,  wo  den  beiden  Soloviolinen 
alle  anderen  Instrumente  lauschen.  Der  Menuett  ist  von  der 
aristokratischen  Familie  und  neigt  dem  Zarten  zu.  Das 
Trio  bringt  reizende  Soli  der  Flöte  und  des  Fagotts,  letz- 
teres von  der  ersten  Violine  unterstutzt.  Das  Finale  ist 
ein  Rondo  mit  folgendem  kurzgeschürzten  Hauptthema: 
.      ViVace  aisai.         __,  _  Namentlich  die 

die  Rückkehr  in  dieses  Thema  einleiten,  sind  von  eigen- 
artiger Wirkung. 

Die  drei  übrigen  Sinfonien  (Nr.  7,  8,  9)  nehmen  eine 
Art  Mittelstellung  zwischen  beiden  Gruppen  ein.    In  der 
Tendenz  ihrer  Hauptsätze,  die  dem  Heroischen  und  Pa- 
thetischen zuneigen,  haben  sie  etwas  Gemeinsames  und 
würden  ohne  weiteres  den  Sinfonien  der  ersten  Gruppe 
anzureihen  sein,  wenn  sie  sich  mit  diesen  an  musika- 
lischem Reichtum  der  Ausführung  messen  könnten.    Die 
bedeutendste  unter  ihnen  ist  die  Nr.  9   (Gmoll),  wohl     j.HaydB, 
auch  die  bekannteste.    Sie  beginnt  ohne  Einleitung  mit  Sinfonie  Nr.  9 
einem  Thema,  dessen  Doppelnatur  weniger  auf  eine  So-  (B"itk.ÄH.). 
nate  als  auf  die  freiere  Form  der  Fantasie  hinzuweisen 
scheint: 


'U  I'^U'  ^gJ^^f 


-^     172     <i^ 

Moitrt,       haben.    Dahin    rechnen   wir  die  Ddor- Sinfonie  Nr.  31, 

Ddup-Sinfonie,  welche  in  der  äußern  Geschichte  Mozarts  eine  gewisse 

(NrUderO-A)  Bedeutung  hat.   Mit  ihr  glaubte  Mozart  in  Paris  Position 

"fassen  zu  können.    Er  schrieb  sie  für  die  dortigen  Gon- 

certs  spirituels  des  Direktor  le  Gros  (i.  J.  1778}  und  fand 

damit  großen  Beifall.    Sie  beginnt: 

.  ^|"^JJl^frrr^fn^lfnl^m^T| 

Die  ersten  drei 

^^^^^^^Takte     bUden 


•**■  den  berühmten 


»Premier  coup  d^archet«»  auf  welchen  die  Franzosen  so 
stolz  waren.  Das  war  nichts  weiter  als  der  gemeinsame 
Einsatz  des  gesamten  Orchesters,  der  allerdings  bei  der 
außerordentlich  vollen  Besetzung  des  Streicherchors  einen 
Effekt  machte,  dessen  Natur  die  Pariser  Dilettanten  einer 
besondern  Überlegenheit  in  der  Präzision  zuschreiben 
wollten.  Diesen  coup  d'archet  hat  Mozart  im  ersten  Satze 
weidlich  ausgenutzt  und  ihm  noch  eine  Reihe  ähnlicher 
dynamischer  Raritäten  beigesellt,  wie  er  sie  selbst  nagel- 
neu aus  der  Mannheimer  Kapelle  mitgebracht  hatte.  Das 
allgemeine  Crescendo  auf  einem  einzigen  Akkord  spielt 
darunter  eine  große  Rolle.  In  der  Entwicklung  des 
Stimmungs-  und  Gedankenmaterials  herrscht,  obwohl  Mo- 
zart in  dieser  Sinfonie  dem  »langen  Geschmack«  aus- 
weichen wollte,  eine  große  Umständlichkeit.   Das  Andante 

Andante.  ^.  ^.    g'gyg^    ist  ganz  acht- 

i  i  II  i'"^rt  ■'  '  I^JTJ  Jl^  M  t"  '  I '  J"t"J?  zehntes  Jahr- 
•'  "    vToiio«         ^  ^  hundert;     nur 

eine  stolze  Unisonofigur  der  Streichinstrumente  unterbricht 
die  Ruhe  dieser  Gessn ersehen  Idylle.  Das  Finale  fängt 
ausnahmsweise  einmal  so  an,  wie  Haydn  in  der  Regel 
seine  schnellen  Sätze  einzusetzen  pflegt:  die  erste  Periode 
leise  und  dann  ein  tüchtiges  Forte.  »Weil  ich  hörte« 
—  schreibt  Mozart  an  seinen  Vater  —  »daß  sie  alle  letzte 
Allegros,  wie  die  ersten,  mit  allen  Instrumenten  zugleich, 
und  meistens  unisono  anfangen,  so  fing  ichs  mit  den 


173 


zwey  Violinen  piano  nur  acht  Takte  an  —  darauf  kam 
gleich  ein  Forte,  mithin  machten  die  Zuhörer  (wie  ich 
es  erwartete]  heim  Piano  seh!  ~  dann  kam  gleich  das 
Forte.  —  Sie  das  Forte  hören  und  in  die  Hände  zu 
klatschen  war  eins.  Ich  ging  also  gleich  vor  Freude  nach 
der  Sinfonie  ins  Palais  Royal,  nahm  ein  gutes  Gefrornes, 
betete  den  Rosenkranz,  den  ich  versprochen  hatte,  und 
ging  nach  Haus.c 

Man  kann  die  Sinfonien  Mozarts  in  solche   teilen, 
bei  denen  der  Ouverturencharakter  vorwiegt,  und  in  eine 
andere  Klasse,  welche  sinfonisch  in  der  modernen  Be- 
deutung des  Wortes  genannt  werden  können.    Daneben 
gibt  es  noch  eine  kleinere  Gruppe,  welche  den  Kassa- 
tionen und    andern    suitenartigen    Gelegenheitsmusiken 
nahesteht.     Zu    letzterer    gehört    die   Sinfonie    (in   D)       Mosart, 
Nr.  8  der  alten  Ausgabe  von  Breitkopf  &  Härtel.    Sie  jj^^^^l'^jj®"*** 
hat  ö  Sätze,  unter  ihnen  zwei  Menuetts,  die  durch  ein  ^'•®<^-      -> 
sehr  langes  Andante  getrennt  sind.    Es  ist  eine  Kompo- 
'  sition,  die  ganz  und  gar  nichts  Mozartsches  hat  und  durch 
ihren  altvaterischen  Charakter  Zweifel  erregt  bezüglich 
der  Echtheit. 

Es  gibt  dann  noch  eine  Obergangsklasse,  bei  der  die 
Hauptthemen  des  ersten  Satzes  beide  festlich  dekorativ 
und  oavertiirenmäßig  gehalten,  aber  durch  gesangvolle 
und  oft  breit  ausgeführte  Nebenmotive  in  der  Wirkung 
beschränkt  sind.  Unter  den  bekannteren  Werken  Mozarts 
gehört  zu  dieser  Klasse  die  Salzburger  C  dur-Sinfonie  Hoiart, 
von  1780  Nr.  34  der  Gesamt-Ausgabe.  Allerdings  verläßt  Cdur-Sinfonie 
bei  ihr  das  Hauptthema  das  Ouvertüren  gebiet:  *^"  "'  "^ 


Nr.  84  (G.-A.: 


^^^ 


Seine  elegi- 
sche Schluß- 
wendung   in 


174 


das  Moll  weist  über  die  Mozartsche  Zeit  sogar  hinaus. 
Das  zweite  Thema  aber  trägt  das  Gepräge  der  der  Ouver- 
türe unbekannten  Kantabilität  ganz  besonders  stark. 

<f^ri"r7?-'N--^irrTi  i^  "J  Li  iffl 

Nur  die  Durchführung  widerstrebt  in  ihrer  Ungebundenheit 
und  in  ihrem  starken  Verbrauch  neuen  und  verschiedenen 
Ideenmaterials  den  neuen  sinfonischen  Bedingungen.  Inter- 
essant ist  im  Bau  dieses  ersten  Satzes  die  doppelte  Reprise 
des  Hauptthemas.  ^  ..Jfff^^ffi 

Das'  Andante   ist  ^  '  "      »^    ■  <*  --^-^ 
ein  echter  Mozart: 

Die  resolute  Schlußwendung  zum  Männlichen  kennzeich- 
net ihn.    Im  Finale,  einem  ^  AllegroTW. 
rauschenden  Allegro  im  S/g- 
Takt  mit  folgendem  Anfang:  *'     / 
herrscht    die   energische,    dramatische   Bewegtheit   der  • 
Jupitersinfonie:  Stellen,  wie  die  folgende,  geben  einen 
Begriff  von  der  Deutlichkeit  des  instrumentalen  Dialogs 
und  dem  bilderreichen  Charakter  dieses  Finale: 


?e^feij^ 


Noch  entschiedeneren  Sinfoniencharakter  als  in  der 

vorhergenannten  haben  die  Themen  im  ersten  Satze  der 

Moiftrt,       Bdur-Sinfonie  Nr.  83,  die  im  Jahre  1778  zu  Salzburg  ge- 

Bdor-Sinronie  schrieben  ist    In  dem  Hauptthema  ist  keine  Spur  mehr 

Nr.  88  (a.-A.).  YQn  der  Ouvertüren feierlichkeit  früherer  Sinfonien,  es  zieht 

voll  Hay dnschen  Geistes  daher,  zum  Malen  deutlich  eine 

Originalfigur  aus  einem  lustigen  Genrestück: 

AUerro  aMaL 


-^    176     ♦— 

Ganz  Zärtlichkeit  and  muntere  Annut  tritt  ihm  dann 
seine  Ge-     ^^^^  ^  Die    Durchführung   küm- 

fährlin     ^t  '  'PiTy  f  |  'm  |  mert  sich  um  das  liebens- 
entgegen:    *  '       '   1        würdige  Paar  leider  nicht 

Sie  bringt  ein  anderes,  in  der  Kunstmusik  seit  der  Nieder- 
ländischen Schule  ^  ^  T  ■  /^^^^^^^  ^™ 
heimisches  Lieb-^3EE  j_  \  d'  I  fT'-J«  jzum  ersten 
lingsthehia  Mozarts  *^"^  *  Male  in  seiner 
Fdur-Messe  vom  Jahre  1774  erschienen  ist  und  dem  er 
später  in  der  Jupitersinfonie  einen  weit  sichtbaren  Ehren- 
platz zuwies.  Eine  andere  Vorausnähme  der  Zukunft 
bietet  dieselbe  Durchführung  in  einer  Obergangsepisode, 
welche  in  Melodie  und  Harmonie  auf  einer  Wendung  ruht, 
die  mit  der  Zauberflöt^  und  dem  Terzett  der  drei  Damen 
weltbekannt  wurde.  Nach  einem  weichen  Andante  folgt 
ein  Menuett,  der  schärfer  als  die  vorhergehenden  in  großen 
Intervallen  und  festen  Rhythmen  die  Züge  zum  Ausdruck 
bringt,  welche  Mozart  für  diese  Tonstücke  mit  Vorliebe 
einhält.  Mozarts  Menuetts  lehnen  sich  durchschnittlich 
mehr  an  die  alte  Schule  an  als  die  Haydns.  Sie  sind 
nicht  so  witzig  und  nicht  so  beweglich,  als  die  letzteren, 
ihr  Humor  ist  schwerer,  zuweilen  finster,  streift  auch  wohl 
ans  Groteske.  Immer  aber  trägt  ihn  em  kraftvolles  Ele- 
ment. Das  Finale  ist  die  Krone  des  Ganzen:  ein  Erguß 
bacchantisch  dahinstürmender,  aber  gutmütiger  Heiterkeit. 
Jugendliche,  ritterliche  Männergestalten  sind  die  Führer 
dieses  fröhlichen  Schwanns,  dem  alles  zuzuströmen  scheint 
vom  Adel  und  vom  Volk,  was  Fröhlichkeit  im  Blute  fühlt 
Bleibt  der  Zug  einen  Augenblick  bei  einem  schönen  Auge 
stehen,  so  braust  er  dann  nur  um  so  flotter  weiter.  Im 
Hauptthema: 

•     Presto  astal. 

erkennt  man  unschwer  Fleisch  und  Blut  aus  dem  Er- 
ÖfTnungssatz  der  Sinfonie.  Unter  den  zahlreichen  Seiten- 
themen verdient  namentlich  die  drollige  volkstümhche. 
Gruppe  hervorgehoben    zu   werden,   welohe   die   Bläser 


— »     176    •— 

(Oboen  und  Fagott  als  Anklang  an  das  alte.  Trio],  bald 
nachdem  das  zweite  Thema  passiert  ist,  aufstellen: 


i^' UU  ^\r  tl\UiAHjU  u\^  ^^^^^^ 


Die  unvermuteten  f  darin  weisen  auf  Mannheim. 

Äußere  Veranlassungen  haben  wahrscheinlich  sehr 
stark  auf  die  Haltung  eingewirkt,  welche  Mozart  defi  Haupt- 
sätzen seiner  Sinfonien  gab.  Wie  die  Haydnsche  Sinfonie 
aus  einer  Kreuzung  mit  der  Suite  hervorging,  so  scheint 
man  am  Ausgang  des  18.  Jahrhunderts  in  Osterreich  über- 
haupt den  Begriff  der  Sinfonie  nicht  so  streng  genommen 
und  ihn  auf  mehrsätzige  Orchestermusik  jeglichen  Cha- 
rakters angewendet  zu  haben.  So  erklärt  sich  bei  Mozart 
das  scheinbare  Schwanken  in  den  Grundsätzen  und  in 
seiner  Entwicklung  als  Sinfoniekomponist.  Der  eben  be- 
Hosart,  trachteten  B  dur-Sinfonie  folgt  eine  Arbeit,  die  D  dur-Sin- 
Ddur-Sinfonie  fonje  Nr.  36,  die  zum  Teil  wie  eine  Art  Rückfall  in  den 
85  (G-  •)•  Serenadenstil  aussieht.  Sie  ging  auch  aus  einer  Serenade, 
einer  Festmusik  hervor,  die  eine  freudige  Feierlichkeit 
in  der  mit  Mozarts  in  freundschaftliclben  und  musikali- 
schen Beziehungen  stehenden  Familie  Hafner  in  Salzburg 
schmücken  half.  Als  Serenade  begann  sie  mit  einem 
Marsch  und  hatte  zwei  Menuetts.  Als  sie  nun  Mozart  in 
ein  Wiener  Konzert  als  Sinfonie  brachte,  strich  er  den 
Marsch  und  den  einen  Menuett  Aber  ihrem  jetzigen  ersten 
Satz  ist  das  unbestimmte  Pathos  geblieben,  welches  solche 
musikalische  Gelegenheits-  und  Festdichtungen  in  der 
älteren  Zeit  einzuhalten  pflegten.  Dieser  erste  Satz  hat 
nur  das  eine  erstaunlich  groß  ausholende  Thema: 

AUeg^ro  eon  splrito 

welches  mit  einer  außergewöhnlichen  kontrapunktischen 
Konsequenz  durchgeführt  wird.  Gewiß  wußte  Mozart, 
daß  die  Arbeit  vor  Kenner  kam.  Das  Andante  gleicht 
einem  dramatisierten  Liede,  seine  simple  Grundgestalt: 


^ 


177 


wird  bald  durch  Zwi- 
schensätze, in  denen 
es  sich  wunderbar  and 
heimlich  regt,  verdrängt,  bald  durch  Zutaten  der  Dynamik 
und  Harmonie,  durch  Akkompagnement  und  wechselnde 
Seitenglieder  mächtig  gehoben.  Menuett  und  Trio  sind 
einfach,  aber  wirksam  kontrastierend.   Das  Finale  zeigt  in 

seinem  j-n-.x  *^T"Tn  ^'°^  starke  Ver- 

Haupt- ]£^^^f  n  fTi  l  J  j  ■  l-g^pj  J  I  Jj  wandtschaftmit 
thema  ^  Osmins>Ha,wie 

will  ich  triumphieren«.  In  der  Tat  schrieb  auch  Mozart 
diese  Sinfonie  i.  J.  1782  mitten  unter  den  drängenden  Nach- 
arbeiten der  »Entführung«. 

Zeigt  sie  schon  in  den  Allegrosätzen  Haydnsche  Ele- 
mente, in  dem  ersten  bezüglich  der  Durchführung,  im 
letzten  in  der  thematischen  Erfindung  selbst,  so  trägt  die 
nächste  Sinfonie  (Nr.  36,  Cdur)  den  Haydnschen  Einfluss  Hosart, 
noch  offener  zur  Schau.  Unter  den  Musikern  ist  dieses  C  dar-Sinfonie, 
Werk  als  »Linzer-t- Sinfonie  bekannt.  Wahrscheinlich  ist  „*h^I^^!^\ 
es  diejenige  Sinfonie,  welche  Mozart  i.  J.  1783,  auf  der 
Durchreise  durch  Linz  begriffen,  in  kurzer  Zeit  für  den 
dortigen  Musikverein  komponierte.  Nicht  eben  tief,  aber 
ein  liebenswürdiges  frisches  Werk,  erfreut  sie  den  Musik- 
freund durch  vielfache  Vorklänge  der  größten  Zeit  des 
Meisters  und  deren  Hauptschöpfungen:  Don  Juan  und 
Jupitersinfonie,  und  durch  Klangwirkungen,  welche  ebenso 
durch  ihre  Eigenart  wie  durch  ihre  Einfachheit  frappieren. 
Wir  machen  in  letzterer  Beziehung  namentlich  auf  die 
Bläserharmonien  im  ersten  Satze  aufmerksam.  Die  Haupt- 
themen der  Sinfonie  sind: 

Allagro  spiritoBo. 


Aiwlawlfr 


Nr.  86  (G.-A.). 


«•-»tf  ■  iinO->\r^*\ff^\rt . 


Krttiiokmar,  Ffthrer.    l,  L 


la 


-^    178 

Pr«ftto. 


Final«. 

Haydn  merkt  man  im  ersten  Satz:  außer  in  der  lang- 
'  samen,  träumerisch  gedankenvollen  Einleitung,  nament- 
lich in  der  Durchführung,  die  hier  in  Haydns  Weise  ein- 
gehender hei  demselhen  Motive  bleibt  und  aus  ihm  ent- 
wickelt. Dieselbe  Methode  finden  wir  im  Andante.  Dann 
sind  auch  noch  kleinere  Züge  Haydns  nachgebildet:  die 
Einsätze  der  Ällegri  vom  p  zum  forte  schreitend:  kecke, 
überraschend  in  der  Modulation  wechselnde  Perioden- 
anfänge: Hay dusche  Lieblingswendungen  der  Melodie,  wie 
der  Schluß  des  Themas  im  Andante:  Eigenheiten  der  In- 
strumentierung, wie  im  Trio  die  Verdoppelung  der  Melodie- 
stimme: in  der  Dynamik  unerwartete  Akzente  und  Gegen- 
sätze. Es  ist  aber  noch  genug  von  Mozarts  besonderem 
Wesen  in  dieser  Sinfonie.  Nicht  bloß  in  der  Gesamt- 
haltung, in  dem  ihm  eigenen  raschen,  kräftig  elastischen 
Schritt  kommt  es  zum  Ausdruck;  wir  können  es  bis  in 
seine  kleinen  charakteristischen  Geberden  und  Angewohn- 
heiten hinein  verfolgen,  j     '  ^     . ^kommtwie- 

Sein  beliebtes  chromati-  ^  1  I  I  M  J'  l'"J  =derholt  vor. 
sches Überleitungsmotiv:      *   l»    •  Zwischen 

dieser  Gdur-Sinfonie  und  der  ihr  folgenden  Nr.  38  (Ddur) 
liegt  ein  Zeitraum  von  drei  Jahren  und  eine  künstle- 
rische Entwicklung  Mozarts,  die  wir  in  das  eine  Wort 
»Figaros  Hochzeitc  fassen  wollen.  Mit  dieser  Sinfonie 
ist  Mozart  als  Sinfoniker  eine  fertige  Größe.  In  ihr  und 
den  ihr  folgenden  Schwestern  —  es  sind  leider  nur 
drei  — -  steht  er  in  bestimmter  und  abgeschlossener  Indi- 
vidualität vor  uns:  in  der  ihm  ganz  eigenen  Mischung 
von  Kindlichkeit  und  Ernst,  ein  Meister,  dessen  Geiste 
sich  die*  Form  gebeugt  hat,  ein  Mensch,  dessen  Anmut 
und  Liebenswürdigkeit  die  Tiefe  und  den  Reichtum  seines 
Seelenlebens  mehr  zu  verhüllen  als  zu  offenbaren  suchen. 
In  der  Form  zeigen  die  vier  letzten  Sinfonien  eine  Wand- 
lung vollbracht,  die  sich  in  etlichen  früheren  Werken  be- 
reits vorbereitete.    Sie  betrifft  die  Methode  in  dem  Durch- 


179 


führungsteil  des  ersten  und  letzten  Satzes.  Wenn  hier 
Mozart  in  den  früheren  Sinfonien  vorwiegend  ganz  nenes 
Gedankenmaterial  aufwarf,  so  nähert  er  sich  jetzt  dem 
Haydnschen  Weg  und  nimmt  Themen  und  Motive  aus 
dem  ersten  Teile  des  Satzes.  Eigen  ist  ihm  dabei,  daß 
er  nicht  die  eigentlichen  Hauptthemen,  sondern  Nehen- 
motive  aus  Seiten-  und  Obergangsgruppen  benutzt  und 
sich  bei  sekundären  Ideen  ausruht  und  sammelt.  Diesen 
außerordentlich  merkwürdigen,  man  kann  sagen  scheuen 
Zug  hat  er  einzig  bei  der  subjektivsten  seiner  Sinfonien, 
der  berühmten  GmoU-Sinfonie,  aufgegeben. 

Die  Ddur-Sinfonie  Nr.  38  geschrieben  für  die  Wiener       Mosart, 
Winterkonzerte  im  Dezember  1786)  hat  eine  bedeutende  Ddur-Sinfonie 
Einleitung:  im  Tone  freundlicher  Ahnung  beginnend,  in  («.-A.). 

der  Mitte  düster,  zum  Schlüsse  über  Seufzer  und  Bitten 
in  demütige  Resignation  einlenkend.  Der  Allegrosatz  ist 
zwischen  eine  fragend  bange  Stimmung  und  die  Regungen 
eines  ringenden  Kraftgefühls  geteilt.  Diese  Momente  treten 
schon  im  Hauptthema  direkt  nebeneinander: 

Allegro. 


ij<"N!j^j  j. Jii^)j  j  j  j.ijy  J-J)'j>y  J  J>' 


f 


Das  zweite  Thema 


bildet  nur  einen 
flüchtigen  Licht- 
'bück:  es  repe- 
tiert sofort  in  Moll  und  verschwindet  dann  auf  lange.  In 
der  Durchführung  erscheint  aus  den  Themen  allein  das 
oben  eingehakte  Motiv,  dem  noch  zwei  andere,  heftig 
angdegte  Figuren,  den  Obergangsperioden  der  Thema- 
gruppe entnommen: 

12* 


180 


I  yj  üii  f  tcxif^ 


zur  Seite  treten.  Es  herrscht  unter  ihnen  die  engste 
Reibung:  das  eine  kommt  nie  ohne  das  andere,  und  wie 
in  der  Mehrzahl  der  späteren  Instrumentalwerke  Mozarts 
geschieht  die  ganze  Ideen-  und  Formenentwicklung  nach 
den  Prinzipien  des  doppelten  Kontrapunkts.  Ein  Höhe- 
punkt oder  ein  Resultat  dieser  Ideengärung  ist  nicht  zu 
bemerken,  der  Schluß  zieht  sich  wie  tastend  und  suchend 
nach  dem  Hauptthema  zurück,  welches  vor  der  eigent- 
lichen Reprise  in  harmonischen  und  melodischen  Um- 
stellungen erscheint,  die  einen  feinen  poetischen  Zug 
bedeuten.  Ein  Merkmal  der  letzten  Sinfonien  Mozarts 
ist  der  engere  Anschluß  in  den  Charakteren  der  einzelnen 
Sätze.  Diesen  Zusammenhang  zeigt  unsere  Ddur-Sinfonie 
besonders  stark.  Wie  er  innerhalb  des  ersten  Satzes  die 
Gestaltung  und  das  Wesen  von  Einleitung  und  Allegro  be- 
einflußt, so  bestimmt  er  auch  das  Verhältnis  dieses  ersten 
Satzes  zum  Andante.  Schon  im  Hauptthema  dieses  Andante 
^    ^^"^ft;        ^         p-p^  ist  die  Verwandt- 

'^  •  nen.  In  ihm  liegt 

noch  etwas  von  der  gedrückten  Stimmung,  mit  welcher 
der  erste  Satz  begann;  nur  die  Nuance  ist  eine  mil- 
dere. Mit  dem —^^^^^^^^^^  das  in  der  Entwicklung 
Seitenmotive  fr  ?  ^^  '^  ^  "*  >  J)  des  Satzes  eine  bedeu- 
tende Stelle  einnimmt  und  gern  in  kanonischer  Stimm- 
führung erscheint,  strebt  das  Andante  freundlichen  Re- 
gionen entschiedener  zu.  m,  ^.^  ±±±  f  kommt  der 
Durch  das  rnrr[rinrhr  ffl  j  ^  111^^^^^^=  energische 
und  finstere  Gegenthema     ^  ^     und     dra- 

matische Charakter,  der  dem  ganzen  Satz  eigentümlich 
ist,  äußerlich  am  deutlichsten  zum  Ausdruck.  Er  be- 
herrscht den  Geist  des  ganzen  Satzes  in  dem  Grade, 
daß  alle  die  Stimmung  aufklärenden  und  freundlichen 
Abschnitte  nur  Versuche  bleiben.  Daraus  erklärt  es 
sich,  daß  das  süße  zweite  Thema  des  Andante  (in  Ddur] 


181 


auf  dessen  Verlauf  nicht  die  geringste  Wirkung  übt 
Ihre  größte  Macht  entfalten  die  dunklen  Seelenmächte 
in  der  Durchführung,  wo  sie  seihst  das  Hauptthema 
ins  Trübe  und  Bange  (DmoU,  EmoU)  wenden.  Der 
Schluß  ist  überraschend  in  seiner  sich  still  verlierenden 
Form  sowohl  als  in  dem  halb  humoristischen  Ausdruck. 
Daß  diese  D  dur-Sinfonie  auf  die  alte  dreisätzige  ita- 
lienische Form  zurückgreift,  scheint  kein  Zufall  zu  sein, 
sondern  das  ist  ein  Ergebnis  der  Innerlichkeit  dieser  Musik, 
der  Stärke  und  Echtheit,  mit  der  sie  die  Spannung  des 
Gemüts  widerspiegelt,  in  der  sich  Mozart  zur  Zeit  dieser 
Komposition  befand.  Ein  Menuett,  der  Tanzsatz  des  äußer- 
lichen Herkommens  wegen,  wäre  Mozart  in  jenen  Stun- 
den mehr  als  bloße  Yerirrung  des  Stils,  wäre  ihm  eine 
Lüge  gewesen.  Eine  Szene  der  Gemütlichkeit  paßt  in  das 
Seelenbild,  das  diese  Sinfonie  gibt,  nicht;  eher  geht  es 
mit  einem  gewaltsamen  Humor.  Ihm  wendet  sich  der 
Schlußsatz  zu.  Sein  Hauptthema  soll  und  will  Fröhlich- 
keit bringen,  zum  Aufraffen  helfen. 

'   Presto. 


Ober  Abschnitte  der  Nachdenklich- 
keit und  stürmischen  Erregung  ge- 
langt die  Darstellung  zu  dem  zwei- 
ten Thema  (in  Adur),  das  mit  einem  Anflug  von  Resig- 
nation ein  fröhliches  Behagen,  eine  Art  Glück  in 
der  Besdiränkung  ausspricht  Die  Kämpfe,  die  der 
Ideengang  der  Sinfonie  erwarten  läßt,  sind  in  der  Durch- 
führung und  im  ersten  Teil  der. Reprise  enthalten,  in- 
dessen mehr  nur  angedeutet  als  vorgeführt.  Schon 
hieraus  ergibt  sich,  daß  das  Finale  an  Ursprünglichkeit 
und  seelischer  Macht  die  beiden  ersten  Sätze  nicht  er- 
reicht 

Die  drei  letzten  und  berühmtesten  Mozartschen  Sin- 
fonien entstanden  anderthalb  Jahre  nach  dieser  D  dur- 
Sinfonie  und  zwar  in  der  Reihenfolge:  Esdur  (26.  Juni), 
Qmoll  (25.  Juli)  und  Gdur  (10.  August  1788). 


— *    182    ^^ 

■oiart,  Die  Es  dar-Sinfonie  (Nr.  39),  welche,  wir  wissen 

^J^'S^nfoiMe  nicht  von  wem,  den  Beititel  »Schwanengesang«  erhalten 

gesaa^)"     ^**»  ^^*  unter  den  letzten  Sinfonien  Mozarts,  vielleicht 

Nr.  89  (G.-A.).  unter  seinen  sämtlichen  Sinfonien,  die  Haydn  am  nächsten 

stehende.    Sie  ruft  das  Bild  dieses  Vormeisters  nicht  bloß 

in   formalen  Nachbildungen  wach,   sondern  namentlich 

durch  das  geistige  Lebenselement,  welches  sie  bewegt. 

Sie  ist  entschieden  dem  Frohsinn  gewidmet,  und  wenn 

wir  sie  als  Ausdruck  von  Mozarts  persönlicher  Stimmung 

betrachten  dürften,  so  war  die  Zeit,  wo  er  diese  Sinfonie 

schrieb,  eine  sehr  glückliche. 

Die  Einleitung  des  ersten  Satzes  beginnt  in 
t^racht  und  Spannung.  X]lanz  am  Schlusses  nur  kommt 
ein     schwer-      ^  ,    Adagio. 

mutiger  Don 

Juan -Klang:     ^         ^f 

Das  Allegro  stellt  ihm  ein  beruhigendes  Bild  entgegen: 

ii  ij  jii  f^wl  ir^rir 

Der  Wiederholung  dieses  freundlich  zusprechenden 
.  Gesangs  folgt    ^  |^        ^       ^       ^  Es  ist  der  Aus- 

das  Haydn-  m  f  n  j,  I  J  j  ^  J  JJtl  Ü  '  ^^^^^  stolzen 
sehe     Forte:  7  -^  ^g^  ^       Kraftgefuhls, 

welches  von  nun  an  im  Satze  herrscht.  Er  ist  eine  Art 
Mozartscher  Eroica,  zwar  ohne  Kampf  und  Sturm;  aber 
in  dem  knappen,  energischen,  wuchtigen,  bis  zum  Heraus- 
fordernden hingehenden  und  doch  immer  der  Selbstbe- 
herrschung sichern,  männlichen  Ausdruck  der  Freude  liegt 
etwas  entschieden  Heldenmäßiges.  Was  Haydnsch  ist  im 
Satze,  das  erscheint  aus  dem  Klangregister  des  Jünglings 
auf  die  Stimme  des  Mannes  übertragen.  Die  tändelnd 
anmutigen  Elemente  sind  ferngehalten.  Der  in  glücklicher 
Erinnerung  schwelgenden  Schwärmerei 'ist  ein.  dunkler 
Ton  beigemischt: 


168 


r  ini  ^Trii  I 


1 1 1  ir'n^i  I  |iTi  ii^"if7M  ij  ii  "iii   I 

so  lautet  das  zweite  Thema  in  bedeutsamer  Kantabilität. 
Für  die  Durchführung,  wel- 
che sehr  kurz  ist,  hat  folgen- 
des Nebenmotiv  Wichtigkeit 
Mit  einer  Generalpau^e  wird  sie  abgebrochen,  und  in  der 
genialen  Kürze,,  mit  welcher  Mozart  an  diesem  Punkte 
h&ufig  verfährt,  leiten  3  Takte  der  Bläser  in  die  Reprise 
über.     Dem  zweiten  Satze  der  Sinfonie,  dem  Andante, 

liegt    folgen-  Andaate.  .gn.^      ""^»^^ 

desHauptthe-  liHl  J  J.JHl  J.t J.i  J-airy fVl  Jg 


i 


ma  zugrunde 

in  seiner  marschartigen  Natur  an  Haydnsche  Vorbilder 
erinnernd.  Im  zweiten  Teile  stellt  ihm  Mozart  zunächst 
ein  heftiges  Motiv  entgegen,  das  den  Frieden  des  Satzes 
wiederholt  in  Frage  stellt.  Nach  Abschluß  dieser  Fmoll- 
Episode  beginnen  die  Bläser  ein  beschwichtigendes  Sätz- 
chen, das  in  seiner  harmonischen  Einführung  und  in 
seinem  imitatorischen  Stile  sich  außerordentlich  eindrucks- 
voll bemerklich  macht  Der  Menuett  setzt  sehr  kräftig  ein: 

tf       y^^f '^*^*^'  _  #<Tl^    ^'    ™^*  prächtiger  Aus- 

^rby    r  IjJ  jJJJIjTJ^*^     M     jnutzungderNatur 


der  untern  Violin- 
saiten. Das  Trio,  von  der  Klarinette  gesungen  und  ge- 
schwärmt, ist  eine  der  lieblichsten  Idyllen,  die  musikalisch 
gedichtet  worden  sind.  Das  Finale,  über  folgendes  Thema 
gebaut: 


AUegTOw 


ist  Haydnsch  im  Material  und  im  Geist,  neckisch,  leicht, 
scherzend  und  tändelnd.  Auch  die  Überraschungen  mit 
Generalpausen,     dynamischen    Kontrasten,     plötzlicher 


— »    184    «^ 

t 

R&ckkehr  des  Themas  fehlen  nicht.  An  einzehien  Stellen 
klingei^  ans  spezifisch  Mozartsche  Töne  entgegen;  aber 
es  sind  nur  kurz  eingeworfene  Motive.  Zur  Ausgestaltung 
eines  zweiten  Themas  kommt  es  nicht;  vielmehr  wird 
der  ganze  Satz  mit  jenen  wenigen  Grundtakten  bestritten, 
welche  oben  zitiert  sind.  Es  ist  nicht  genug  zu  be- 
wundem, welches  bunte  Leben  Mozarts  Kunst  und  dra- 
matische Phantasie  ihnen  abgewinnt.  Es  tummelt  sich 
in  diesem  Finale  wie  auf  den  Marktbildem  der  nieder- 
ländischen Schule:  die  komischen  Gruppen  umsteht  und 
belohnt  eine  lebendige,  froh  erregte  Menge  mit  fort- 
reißendem Gelächter;  die  Komik  ist  von  der  feinsten 
Art  bis  zur  unfreiwilligen  vertreten,  und  auch  der  der- 
beren Lustigkeit  der  Yolksmässe  ist  ein  Plätzchen  mit 
eingeräumt.   Siehe  im  ersten  Forte  die  _f  f  ,  _f  f  , 

plump  drollige,  dem  Anfang  des  Menü-  ^  fcl  sJ  '  I  |;J  '  I 
etts  verwandte  Fröhlichkeit  der  Bässe:  «^ 

Wie  mit  einem  plötzlichen  Windstoß  ist  der  ganze  Kar- 
neval verschwunden. 

Im  direktesten  Gegensatz  zu  dieser  Esdur-Sinfonie 

■oBarty      steht  die  in  GmoU  in  Bezug  auf  Inhalt    Man  kann  nur 

ßmoU-Siaroiiie  wünschen,  daß   Mozart  einen  solchen  seelischen  Kon- 

-  r.  40  (Gw-A.).  ^g^gj^   ^g   gj  jjjQ   in   di.esen  beiden  Werken  innerhalb 

Monatsfrist  darstellte,  nicht  auch  persönlich  an  seinem 
eignen  Schicksal  hat  durchleben  müssen.  GmoU  ist  eine 
Tonart,  die  bei  Mozart  immer  etwas  Besonderes  zu  be- 
deuten hat.  Wir  denken  an  das  Klavierquartett  und  an 
das  Quintett  Aber  hier  in  dieser  GmoU-Sinfonie  vom 
Jahre  1788  ist  er  doch  noch  anders,  als  er  jemals  vorher 
gewesen.  Eine  dergleichen  leidenschaftliche  Hingabe  an 
eine  einseitige  Stimmung,  und  noch  dazu  an  eine  so 
düstere,  kommt  in  der  ganzen  Kunst  überhaupt  nur  selten, 
sie  kommt  bei  Mozart  nicht  wieder  vor.  Vielen  erscheint 
allerdings  heute  dieses  Werk  in  Bezug  auf  seinen  Aus- 
druck gar  nicht  weiter  der  Rede  wert,  denn  es  ist  Jahr- 
zehnte lang  in  Zwischenaktsmusiken  geschmacklos  ver- 
braucht worden.  Aber  noch  iih  Jahre  1802  wird  diese 
Sinfonie  von  Leipzig  aus  eine  »schauerliche«  genannt 


185 


Diese  Bezeichnung  kommt  der  eigentlichen  Natur  der 
Gmo]]- Sinfonie  vielleicht  doch  näher  als  die  imitierte 
Begeisterung,  mit  welcher  neuere  Mozart  Verehrer  uns 
immer  wieder  und  immer  wieder  nur  auf  die  Anmut  des 
Werkes  aufmerksam  machen. 

Es  ist  wohl  nicht  bloß  zufällig,  daß  die  6  moU- Sin- 
fonie keine  Einleitung  hat.  Mozart  steht  hier  sofort 
mitten  in  der  Sache  drin: 


Allepro. 


Das  ist  allerdings  anmutig  in  der  Form,  aber  in  ihrem 
Verhältnisse  zum  Inhalt  erinnert  diese  Form  an  das  be- 
kannte Wort  von  der  »guten  Miene  zum  bösen  Spielec. 
Der  tiefere  Zug  des  Leidens,  welcher  sich  schon  in  dem 
Sexttoschluß  des  ersten  Abschnitts  vom  Thema  verrät, 
kommt  in  der  Ifachsatzperiode  noch  deutlicher  zum 
Ausdruck: 


und  in  dem  un-         |^ 
mittelbar  zugef Qg- '  ^j^  ^^ 


1 


1 


bricht  die 
innerliche 
Erregung 


ten    Schlußmotiv '«' *  (LT  "  f *  {LT  '  f 

dämonisch  durch.  Das  zweite.  Thema  bringt  keinen 
Gegensatz  zum  ersten,  sondern  es  erweitert  und  begrün- 
det den  erregten  und  düstem  Charakter  der  dort  ausge- 
sprochenen Stimmung         '^^   ok    ^.....^^ 

ir ^ är.!;s; f'Ti'i  luiiiMiii^i 

Trotzige  Kraft  lehnt  sich  dann  auf,  sie  wechselt  aber 
sofort  mit  rührender  Klage.  In  der  Durchführung  werden 
die  Versuche,  den  Bann  drückender  Ideen  zu  durchbrechen, 
mit  großer  Kühnheit,  aber  erfolglos  erneuert.  Nach 
schneidenden  Dissonanzen,  nach  gewaltigen  Ausbrüchen 
der  Heftigkeit  endet  der  Kampf  mit  einem  von  den  Holz- 
bläsern gedeckten  kleinlauten  Rückzug  in  die  Reprise. 
Bemerkenswert  ist,    daß  in  dieser  Durchführung   alles 


186 


thematisch  ist,  ein  hei  Mozart  ganz  seltener  Fall.  Er 
greift  weder  zn  neuen  Motiven,  noch  zu  Gängen  und 
Passagen,  die  Phantasie  bleibt  an  das  erste  Thema 
gefesselt.  Das  Andante  hat  zum  Hauptthema  folgendes 
Sätzchen: 


Sein  zögernder,  immer  wieder  ansetzender  Aufbau  kün- 
det den  suchenden  und  fragenden  Grundcharakter  des 
ganzen  Satzes  an.  Das  nächste  fegenmotiv,  welches 
ihm  Mozart  zuschickt,    stellt  sich    kraftvoll  einsetzend 

in  den  Weg  und  ver-    ß  ^  f  

flattert    ebenfalls    bei  ^>    '    f  [^TMJf  g/f  tf  <f '»■  y 
seinem  zweiten  Schritt  /* 

Seine  Zweiunddreißigstel-Figur  bildet  mit  dem  Achtelmo- 
tiv des  ersten  Themas  im  Satze  zahlreiche     .  jtn     jps 
sinnvolle    Kombinationen.     Ein    kurzes  yV  I    (}  ^ '  =^ 
drittes  Thema  dieses  Andante,  beginnend:*^    ' 
ist  außerordentlich  inniger  Natur. 

Der  j^.t.  11       ,   I        I       pirr  !  I  I  nimmt    den 

Menuett  ff  ^  *  J  1^  T  'T  ^^ji^l^^M  Kampf  wie- 
der entschieden  auf;  er  ist  mit  den  harten  Dissonanzen 
seines  zweiten  Teils  einer  der  streitbarsten  Sätze,  die  auf 
Grund  jener  alten  zierlichen  Tanzform  jemals  gebildet 
wurden.  Das  Trio  klingt  süß  und  in  kindlicher  Unschuld 
dazwip^  ,  ,  j  ,  _  ,  I  Seine  zweite  Klausel  enthält  eine 
schen.y^  fl  I  ^    f  T  ^  ^    der  gefürchtetsten  Hornstellen. 

Im  Finale  herrscht  eine  einigermaßen  unheimliche 
Lustigkeit.  In  Unruhe  und  Aufregung  stürmt  es  dahin 
süt  seinem  Hauptthema: 


187 


unvorbereitete  Septimen  und  anderlei  bösartige  Elemente 
ergreifend.  Mit  verzweifeltem  Humor  jagen  die  Stimmen 
in  der  Durchführung  emsig  ^ontrapunktierend  das  ver- 
wegene Thema  durch  die  Tonarten  —  das  zweite  Thema 
bietet  kaum  einen  Ruhepunkt  in  der  Hast  des  Satzes. 
Seiner  Natur  getreu  geht  er  ungestüm  und  ungeklärt 
zu  Ende. 

Mozarts  letzte  Sinfonie,  die  Cdur-Sinfonie  Nr.  41, 
führt  den  Beinamen  der  »Jupitersinfonier.  Sie  darf  in 
mancher  Beziehung  für  Mozarts  größte  Leistung  im  Sin- 
fonienfache gelten  und  bildet  eines  der  schönsten  Denk- 
mäler seines  freien,  starken  und  reichen  Geistes.  Keine 
andere  der  Sinfonien  Mozarts  hat  diesen  breiten  Wurf 
der  Themen,  keine  andere  verbindet  mit  dem  gleichen 
Reichtum  wahrhaft  goldener  Ideen  die  Einheit  im  Cha- 
rakter und  die  Harmonie  der  Darstellung.  Es  lebt  etwas 
Antikes  in  ihr:  eine  erhabene  Heiterkeit  und  ein  Schön- 
heitsgefühl, das  auch  ihre  vollsten  Lustausbrüche  adelt. 
Ihr  erster  Satz  klingt  mit  seinem  Eingangsthema  wieder 
an  den  festlichen  Ouvertürenton  der  früheren  Sinfonien 
Mozarts  an;  aber  schon  nach  dem  ersten  Komma  wird 
der  Charakter  innerlich 


und  so  bildet  nicht  bloß  dieses  Thema  —  es  hat  bis  zu 
seinem  vollständigen  Abschluß  die  beträchtliche  Länge 
von  23  Takten  —  sondern  der  ganze  Allegrosatz  eine 
meisterhafte  und  erquickende  Verbindung  von  äußerer 
glänzender  Schilderei  und  edlem  Seelen  ausdruck.  Es  ist 
im  allgemeinen  nicht  so  schwer,  Programme  zu  den 
Meisterwerken  unserer  klassischen  Instrumentalmusik  zu 


Moiftrt) 

Jnpiter'Sinfbnie 
Cdar  iNr.il). 


188 


schreiben;   bei  der  Japitersinfonie   kann  man  der  Ver* 

lockung  kaum  widerstehen.    Man  sieht  die  einzelnen  in 

ihren  stillen  Gedanken  dahingehen,  die  Massen  in  lauter 

Freude  aufschäumen ;  es  wechseln  Bilder  und  Szenen  in 

ruhiger  Steigerung  und  Folgerichtigkeit,   aber  auch  mit 

erschreckenden  Zwischenfällen.  Merkwtkrdig,  wie  trotz  des 

festlichen  Grundtons  ^  ^.^^ 

die  Motive  des  inti-  ^  ^'  ^ 

men    Gemütslebens 

und  der  naiven 

volkstümlichen 

Fröhlichkeit : 

den  Gesamtausdruck  des  Satzes  bestimmen! 

Im  Andante  stellt  Mozart  drei  Führer  auf.    Sein  erstes 
Thema  lautet: 


Ihm  tritt  in  gewohnter  Weise  ein  zweiter  Satz  entgegen  von 
drohender,  gegensätzlicher  Haltung.  Er  ist  diesmal  nur  kurz 
skizziert  und  geht  in  einen  erhaben  friedevollen  Gesang  über 


dessen  bewegliches  Nachspiel  (s.*)  im  weiteren  Verlauf  Anlaß 
zu  Kombinationen  und  Wendungen  gibt,  die  in  ihrer  geni- 
alen Mischung  von  Tiefsinn  und  leichtem  Spiel  ganz  einzig 
sind.  Der  Menuett  dieser 
Sinfonie  ruht  auf  sinnigj 
beschaulichem  Boden. 
Sein  Trio  hat  in  der  Achtelmelodie  und  in  der  Instrumen- 
tierung Uaydnsche  Elemente.  Der  berühmteste  Satz  der 
Sinfonie  ist  das  Finale.  Man  nennt  das  ganze  Werk  zu- 
weilen mit  bezug  auf  diesen  letzten  Satz  die  Cdur-Sinfonie 
mit  der  Schlußfuge,  und  noch  neulich  hat  ein  Musikschrift- 


-^    189    4^ 

steller,  der  sich  in  Spekulationen  gefällt,  nachzuweisen 
gesucht,  wie  sich  in  diesem  Finale  Faust  und  Helena  ver- 
mählen, wie  hier  die  vermeintlich  ganz  konträren  Stilarten 
der  Fuge  und  Sonate  ihre  erstmalige  Verbindung  eingehen. 
Von  alledem  ist  wenig  wahr.  Um  diese  Sinfonie  von  andern 
Gdur-Sinfonien  Mozarts  zu  unterscheiden,  mag  man  sie  die 
Sinfonie  mit  der  Schlußfuge  nennen.  In  Wirklichkeit  aber 
spielt  die  Fugenform  darin  eine  untergeordnete  Rolle.  Das 
Hauptthema  des  ^  ^^^  ^  ^^  wird  nach  dem  er- 
Satzes,  ein  altes  J»  »n  ^  I  ^  I  "  j  sten  Halbschluß,  den 
Allerweltsmotiv  ^  der  Satz  macht,  in 

einer  einfachen  Fuge  durchgeführt,  die  nach  21  Takten 
zu  Ende  ist  Nach  der  Reprise  des  Satzes  schließt  Mozart 
nicht  einfach,  sondern  setzt  noch  eine  Coda  an,  die  eben- 
falls wieder  mit  einer  Fuge  beginnt  und  zwar  mit  einer 
sogenannten  Tripelfuge,  bei  weicher  zu  dem  schon  an- 
gegebenen Hauptthema  noch  folgende  2  Sujets  hinzutreten 

if'  iii  ni[Tiiii,ijijf'c  if  I  II yj  rrni^i  >  i 

Nach  34  Takten  ist  auch  diese  Fuge  wieder  zu  Ende. 
Bas  an  letzter  Stelle  angefahrte  Motiv  fungiert  Im  Satze 
von  vornherein  als  sogenanntes  zweites  Thema.  Daß  es 
wie  auch  die  übrigen  Motive  und  Themen  in  diesem  Fi- 
nale mit  Rücksicht  auf  kontrapunktische  Brauchbarkeit 
erfunden  ist  und  daß  der  Ausdrucksgehalt  dieser  Rück- 
sicht nachgesetzt,  worden  ist,  braucht  nicht  erst  nach- 
gewiesen zu  werden.  Der  Schlußsatz  der  Jupitersinfonie 
ist  und  bleibt  ein  Meisterstück  der  kontrapunktischen 
Kunst,  die  sich  namentlich  in  Engführungen  und  kano- 
nischen Nachahmungen  im  vollen  Glänze  zeigt,  aber,  wie 
sich  im  folgenden  Kapitel  zeigen  wird,  ist  er  darin  in  der 
Periode  der  Klassiker  kein  Unikum.  Jedoch  in  der  Haupt- 
sache erhebt  er  sich  Über  alle  verwandten  Arbeiten  in 
der  gleichzeitigen  Sinfonik:  nämlich  unser  Finale  ist  auch 
im  Charakter,  im  Ausdruck  eines  kraftbewegten  festlichen 
Leben»  ein  Meisterstück,  würdig  eines  Jupiter,  eines  Olym- 
piers der  Kunst. 


UUk 


-^    190    «^ 

I 

Mozart  und  Haydn  waren  persönlich  befreundet, 
liebten  einander  als  Künstler;  aber  wie  das  bei  starken 
Individualitäten  natürlich  ist,  keiner  wirkte  auf  den  an- 
dern künstlerisch  wesentlich  ein.  Haydn  bringt  zuweilen 
einige  kantabile  Wendungen,  Mozart  eignet  sich  bei  guter 
Laune  humoristische  Effekte  Haydns  an,  aber  im  Wich- 
tigsten, in  dem  neuen  Prinzip  der  motivischen  Gredanken- 
entwicklung  folgt  er  ihm  nur  ausnahmsweise.  Wie  jahr- 
zehntelang italienische  und  französische  Sinfonien  neben- 
einander hergegangen  waren,  so  ließ  sich  die  weitere 
Geschichte  der  Sinfonie  bereits  auf  eine  neue  und  feind- 
selige Teilung  in  eine  Haydnsche  und  eine  Mozartsche 
Schule  an.  Da  ereignete  sich  eine  jener  glücklichen 
Fügungen,  wie  sie  die  Kunstgeschichte  in  ihren  größten 
Zeiten  mehrfach  zeigt.  Es  kam  ein  Dritter,  der  die 
«  Lebenstaten  seiner  beiden  großen  Vormänner  zusammen- 

L.T*Be«tlioTeB9 faßte.    Ludwig  van  Beethoven  erschien  und  gab  mit 
Cdur-sinfonie  neun  Sinfonien  einem  vollen  Jahrhundert  zu  tun!    Und 
(Nr.  1).       noch  immer  nicht  können  wir  sagen,  daß  das  richtige 
Verhältnis  zu  diesen  Ausn ahm s werken  gefunden  sei. 

An  die  Sinfoniekomposition,  den  Hauptteil  seiner  Un- 
sterblichkeit, trat  Beethoven  verhältnismäßig  spät  und 
bescheiden  heran.  Seit  kurzem  liegt  allerdings  in  der 
Jenaer  Sinfonie,  sogenannten  Jenaer  Sinfonie  ein  Werk  vor,  das  ihn  der 
äußern  Beglaubigung  nach  zum  Verfasser  habe^  kann. 
Ihr  Stil  ist  aber  für  Beethoven,  auch  wenn  wir  eine  sehr 
frühe  Entstehungszeit  annehmen,  auffallend  glatt  und. 
läßt  eher  auf  einen  Komponisten  aus  der  Gruppe  Van- 
hall-Pleyel-Rosetti  schließen.  Derjenigen  Sinfonie,  die  der 
Meister  selbst  als  seine  erste  bezeichnet  hat,  gehen  in 
den  Klaviersonaten  des  op.  2,  in  der  Trauerkantate  auf 
Joseph  IL  viel  bedeutendere  und  ältere  Werke  voraus. 
Jedoch  leicht  hat  er  das  neue  Gebiet  nicht  genommen. 
Wir  können  bei  ihm  nicht  nur  die  fertigen  Kompositionen, 
sondern  auch  die  Entwürfe  und  Vorarbeiten  dazu  stu» 
dieren.  Oberall  und  jederzeit  begleiteten  ihn  schmale  blaue 
Notenhefte,  in  die  er  alle  Einfälle  und  Versuche  eintrug. 
Sie  sind  uns  als  die  sogenannten  > Skizzenbücher«  Beet- 


— t     191     4^ 

hovens  zum  größten  Teil  erhalten  geblieben  •-  die  Kgl. 
Bibliothek  in  Berlin  besitzt  die  meisten  — ,  und  Gustav 
Nottebohm  hat  eine  Auswahl  ihres  Inhaltes  in  den  Druck 
gebracht*).  Nach  diesen  Dokumenten  hat  Beethoven  an 
seiner  ersten  Sinfonie  schon  im  Jahre  179t  angefangen, 
aber  erst  im  April  1800  kam  sie  als  Op.  25  zur  Auffuh- 
rung**). Man  sieht  mit  der  heutigen  Beethovenbrille  dem 
Werke  die  zehn  Jahre  Arbeit  nicht  an,  man  tut  ihm  aber 
Unrecht,  wenn  man  es  schlechthin,  wie  das  in  der  Regel 
geschieht,  für  eine  Kopie  im  Mozartschen  Stil  und  im 
allgemeinen  für  unbedeutend  erklärt.  Kraft  und  Lust, 
Fröhlichkeit,  leichter  Scherz,  sprühende  Heiterkeit,  ja 
auch  ein  wenig  Schwärmerei,  anmutiges  Träumen  —  aber 
nun  Empfindungen  freundlicher  Natur  bilden  den  Ideen- 
kreis, den  Beethoven  in  seiner  ersten  Sinfonie  durch- 
schreitet Es  sind  die  Stimmungen,  an  welche  sich  die 
Orchestermusik  des  Südens  in  ihren  Durchschnittsleistun- 
gen bis  auf  Beethoven  hin  fast  ausschließlich  lilelt.  Nichts 
von  dem  tiefen  Ernst  des  nordischen  Bach,  nicht  eine 
Spur  von  dem  Pathos,  welches  manche  der  Haydnschen 
Adagios  kennzeichnet,  nichts  von  der  Mozartschen  Me* 
lancholie  —  nichts  vor  allem  von  dem  Beethoven,  welcher 
die  Eroica  schrieb,  die  6.,  die  9.  Sinfonie,  die  späteren 
Quartette,  die  großen  Klaviersonaten,  eben  jener  Beet- 
hoven, den  wir  meinen,  wenn  wir  seinen  Namen  nennen! 
Und  doch  ist  er  schon  in  der  ersten  Sinfonie  als  ein 
Eigner  zu  erkennen,  in  erster  Linie  im  Ausdruck  einzelner 
Stellen,  im  kühnen  Vortrag  und  Wechsel  der  Gedanken. 
Diese  Eigenschaft  war  es,  die  G.  M.  v.  Weber  im  Auge 

*)  0.  Nottebohm:  1.  Ein  Skizzenbach  von  Beethoven  (1 862). 
2.  Ein  Skizzenbuch  B.'s  vom  Jahre  1803  (1880).  3.  Beet- 
hoveniana (1 872).  4.  Zweite  Beethoveniana  (1887).  Alle  Leipzig : 
ffieter-Biederman  n. 

*  - 

**)  Die  genauesten  Angaben  über  Vollendung  und  erste  Auf- 
führungen, Stimmen-  und  Partiturverlag  der  Beethovenschen  Sin- 
fonien bietet:  Georg  Orove:  Beethoven  and  bis  Nine  Symphonies, 
London  1896. 


192 


haben  mochte,  als  er  die  erste  Sinfonie  Beethovens  eine 
»feurig-strömendec  nannte. 

Im  ersten  Satze  der  Cdur^  Sinfonie  (Op.  21)  schließt 
sich  Beethoven  in  der  Erfindung  der  Themen  an  Mozart 
an.    Das  Hanptthema: 


mit  welchem,  nach  einem  sehr  eigenwillig  auf  dem  Sep« 
timenakkord  einsetzenden  Adagio  von  kurzem  Umfang, 
das  Allegro  beginnt,  hat  nicht  bloß  den  allgemeinen, 
spannenden  Charakter,  welchen  Mozart  f&r  seine  OuveN 
türensinfonien  gern  einhält,  es  ist  geradezu  eine  Variante 
zum  Haiiptthema  des  ersten  Satzes  der  Jnpitersinfonie. 
Es  wird  in  zweimaliger  Sequenz  weiter  getragen:  ein 
kräftiges  Forte  krönt  den  breiten  Aufbau,  ganz  so  wie 
wir  das  bei  Mozart  oft  gesehen  haben.  Auch  das  zweite 
Thema 


özn. 


^^ä 


I       I 


ist  ganz  Mo- 

zartsch.  Der 
jubelnde 

Nacbgesang 

welcher  ihm  folgt,  kommt  wörtUch  so  in  der  Jupitersin«» 
fonie  und  in  andern  Sinfonien  des  Salzburger  Meisters 
vor.  Gleich  danach  tritt  aber  Beethoven  selbst  in  das 
Orchester.  Es  ist  an  der  Stelle,  wo  die  brausende  Gdur- 
Kadenz  so  ganz  plötzlich  von  einem  pp  abgelöst  wird, 
wo  die  ßässe  still  über  das  erste  Motiv  des  zweiten  The- 
mas sinnen  und  die  andern  Instrumente  in  dunklen  und 
unruhigen  Harmonien  festliegen.  Die  Oboe  findet  den 
Ausgang  aus  der  unheimlichen  Verzauberung.  Das  ist 
zum  ersten  Male  das  dämonische  Element  Beethovens  in 
der  Sinfonie!  In  der  Durchführung  dieser  Gedanken  folgt 
Beethoven  der  Hay dnschen  Methode  der  motivischen  Ar- 
beit.   Er  geht  aber  schon  hier  im  Herausgreifen  und  Be- 


--♦     193     «— 

vorzugea  der  kleinen  und  anscheinbaren  Motive  und  in 
den  kühnen  modulatorischen  Umbildnngen,  denen  er  sie 
unterzieht,  über  seinen  Meister  hinaus.  Es  sind  beson- 
ders das  Motiv  aus  dem  vierten  Takt  des  ersten  und  aus 
dem  fünften  Takt  des  zweiten  Themas. 

Das  Andante  hat  zum  Hauptthema  eine  Melodie: 


^m 


deren  Metrum  ungewöhnlich  ist:  7  Takte.  Sie  wird  fugen- 
raäßig  kurz  durchgeführt,  dann  bewegt  sich  der  Satz  in 
Haydnscher  Weise  weiter:  auch  die  konzertierenden 
Triolenstellen  fehlen  nicht  und  nicht  die  leise  Begleitung 
der  Pauken^.  Den  Charakter  behaglich  anmutiger  Schwär- 
merei, welchen  der  Satz  trägt,  unterbricht  nur  der  An-  - 
fang  der  Durchfuhrung.  Aber  hier  ist  er  auch  schon  der 
ganze,  der  einzige,  der  erschreckend  große  Beethoven, 
den  man  aus  Tausenden  heraus  erkennt.  Mit  den  bloßen 
zwei  ersten.  Noten  des  Hauptthemas  schwingt  er  sich  da 
in  Höhen,  taucht  in  Tiefen,  die  niemand  erwartet  hat. 
Allea  geht  blitzschnell,  aphoristisch  andeutend  vor  sich. 
Es  sind  mehr  Ahnungen  als  Bilder,  Blicke  mit  dem 
Scheinwerfer  in  weite  Fernen  getan.  Aber  wer  die  Stelle 
überhaupt  versteht,  wird  sie  zu  den  ungeheuersten  Ein- 
gebungen von  Beethovens  wunderbarem  und  fruchtbarem 
Genie  rechnen. 

Den  dritten  Satz  benennt  hier  Beethoven  noch  Me- 
nuetto.    Die  Melodie: 

AU«pTO  Bolto  e  vlTaiee. 


ist,  wie  auch  die  Einleitung  zum  Finale,  eigentlich  nichts 
als  ein  alter  Solmisationsscherz,  sie  hat  in  ihrem  Rhyth- 
mus einen  Rest  von  Tanzcharakter,  in  ihrem  rastlosen, 
stürmischen,  feurigen  Wesen  geht  sie  aber  über  die  Natur 


*)  Siehe  S.  149  dieses  Bnchs. 
Eretsfcbraar,  Fahrer.    I,  \.  13 


— ♦    194    4^ 

der  alten  und  auch  der  Haydnschen  Menuetts  weit  hin- 
aus. In  ihrem  zweiten  Satze  steht  in  der  Kette  trotziger 
Sforzati,  in  dem  plötzlichen  Piano  mit  seinen  modnla- 
torischen  Irrlichtem,  in  den  eigensinnig  humoristischen 
Bildungen  um  die  drei  Noten  J  |  J  J  der  spätere  Scherzo- 
meister in  voller  Originalität  vor  uns.  Das  Trio  ist  einer 
jener  Sätze,  in  denen  der  Komponist  eine  große  Wirkung 
durch  elementare  Einfachheit  erreicht  Auf  melodische 
Gedanken  und  Themata  ist  hier  so  gut  wie  verzichtet; 
der  feierliche  Klang  der  ruhigen  Bläserharmonien  genügt. 
Als  Spohr  bei  dem  ersten  deutschen  Musikfest  zu  Fran- 
kenhausen die  erste  Sinfonie  Beethovens  in  den  großen 
Räumen  der  Kirche  aufführte,  machte  nichts  solchen 
Eindruck,  als  dieses  Trio*).  Das  Finale  ist  ein  Rondo  im 
Haydnschen  Stil,  leichthin  scherzend  und  tändelnd,  außer- 
gewöhnlich kurz.  Das  Witzigste  daran  sind  die  Stellen, 
wo  das  erste  Thema 


AIlo^o  moUo  9  Tlvacel 


repetiert.  Beethoven  läßt  ihnen  Momente  pathetischer 
Spannung  vorausgehen.  Unter  den  vier  Sätzen  der  Sin- 
fonie ist  dieses  Finale  der  am  wenigsten  eigentümliche, 
und  ohne  Zweifel  hat  Beethoven  in  den  Klaviersonaten, 
welche  in  der  Opuszahl  und  der  Entstehungszeit  unserer 
C  dur-Sinfonie  vorausgehen  —  ganz  andere  Endsätze  hin- 
gestellt Aber  harmlos  hingenommen  ^  wie  es  gemeint 
ist,  kann  auch  dieses  Finale  nur  erfreuen  und  erheitern; 
es  gehört  die  ganze  graue,  in  Programmusiktendenzen 
blind  gewordene  Rigorosität  eines  Berlioz  dazu,  um  ein 
so  lebensfrohes  und  vergnügtes  Kunstwerkchen  einfach 
als  »kindische  Musikc  abzutun**). 

*)  (Leipziger)  Allgemeine  Musikalische  Zeitung,  Jahrgang  12, 
S.  745  a.  ff. :  »Nachricht  von  einem  in  Thüringen  seltnen  Musik- 
feste  c  (verfaßt  -vom  Lexikographen  Gerber). 

*'*')  H.  Berlioz:  A  travers  chants  I  (Obersetznng  von  R.  Pohl): 
Kritische  Studie  über  die  Symphonien  von  Beethoven. 


--»    196    V- 

Wir  können  es  nnr  dem  Himmel  danken,  daß  Beet- 
hoven nicht  mit  der  neunten  Sinfonie,  mit  der  großen 
Messe  in  Ddnr  debütierte,  sondern  mit  Werken,  die,  wie 
das  erste  Klavierkonzert,  wie  die  Gdar-Messe  und  wie 
diese  C  dur-Sinfonie,  an  die  bisherige  Schule  anknüpften. 
Das  Publikum  seiner  Zeit  war  entschieden  dem  heutigen 
an^naiver  Empfänglichkeit  überlegen;  aber  bei  der  D dur- 
Sinfonie  stutzte  es  doch  schon.  Die  Referenten  der  All- 
gemeinen Musikalischen  Zeitung  hielten  sich  nach  der 
ersten  Leipziger  Aufführung  dieses  Werkes  (im  Jahre  1803} 
an  die  nicht  ganz  gelungene  Wiedergabe,  die  Berliner 
sprechen  nur  (im  Jahre  1804)  von  »den  dreiviertel  Stunden 
lang  ausgeführten  Schwierigkeiten«,  so  daß  sich  Rochlitz, 
der  erste  Kritiker  seiner  Zeit  und  einer  der  ersten  Ver- 
ehrer und  Pioniere  Beethovenscher  Kunst,  veranlaßt  sah, 
bei  der  nächsten  Gelegenheit  selbst  das  Wort  zu  ergreifen 
und  zu  versichern,  daß  diese  zweite  Sinfonie  »das  Werk 
eines  Feuergeistes  bleiben  werde,  wenn  tausend  jetzt  ge- 
feierte Modesachen  längst  zu  Grabe  getragen  sind«. 
Aber  von  der  ersten  Sinfonie  liest  man  nur,  daß  sie  ein 
Lieblingsstück  des  Konzertpublikums  sei. 

Die  zweite  Sinfonie  Beethovens  (Ddur,  Op.  36,  zu- L.T.B«ethoTea. 
erst  aufgeführt  im  Jahre  1803)  geht  einen  bei  weitem  Ddur-Sinfonio 
beträchlhcheren  Schritt  über  den  Stil  und  die  Sphäre  der       <'*'*>• 
Haydn-Mozartschen  Sinfonie  hinaus.    Der  erste  Satz  zeigt 
dies   namentlich  an  der  Einleitung  und   der  Coda,   die 
beide  in  Umfang  und  Inhalt  alles  bisher  an  dieser  Stelle 
Gewohnte  überragen.    Nur  die  siebente  Sinfonie  Beet- 
hovens hat  einen    noch  bedeutenderen  Einleitungsatz. 
Der  der  zweiten -ist  ausgezeichnet  durch  den  herrlichen 
Gesang,  mit  dem  er  beginnt.  Wie  ein  Bild  aus  der  Sternen- 
welt wirkt   diese   ebenso  erhabene  als  innige  Melodie. 
Darauf  wird  es  wolkig  und  sehr  ernst:  es  kommt  zu  einem 
drohenden  Unisono  von  unheimlicher 
Gewalt,  das  uns  später  fast  wörtlich  in 
der  neunten  Sinfonie  wieder  begegnet:  *^^^  "^  V 

Muntere  Triolen  vertreiben  das  Unwetter  und  hellen  den 
Horizont   auf  für  das  freundlich  schwungvolle  Allegro. 

18* 


196 


In  ihm  ist  das  Verhältnis  der  beiden  Themen  merkwürdig: 

das  zweite  erscheint  als  die  Hanptgestalt  des  Satzes. 

Das  erste  Thema  hat  einen  gemütlich  hmnorvollen  Ton,  er- 

erklingt  aber  vorerst  J  J         ^  ^  i    i 

nur  leise,   heimlich 

und  erwartungsvoll 

das  zweite  aber  erhebt  sich  triumphierend: 

if  i'"  I   j  -Ml    Uli  I  I  I  IM  Ml    \  U 

In  der  Durchführung  und  der 
Verbindung  der  Satzgruppen 
ist  die  Doppelschlagfigur  aus 
dem  ersten  Thema  von  großer  Bedeutung.  Neben  ihr 
sind  aber  in  Mozartscher  Weise  der  Ideenentwicklung 
auch  Motive  aus  Themen  zu- 
grunde gelegt,welche  nur  eine 
Nebenstellung  haben ,  z.  B. : 
und 


Das  erste  dieser  beiden,  das  erregte,  drohende  DmoU- 
Motiv,  verknüpft  Einleitung  und  Hauptsatz  m  ähnlicher 
Weise,  wie  das  in  der  Haydnschen  Es dur- Sinfonie  Nr.  1 
der  Fall  ist  Es  ist  der  erste  Versuch  Beethovens,  in 
seinen  Sinfonien  das  Sonatenschema  weiter  zu  bilden, 
seine  Form  dem  Charakter  und  Inhalt  der  Ideen  des 
Satzes  anzupassen. 

Die  Neigung  Beethovens,  die  Zahl  der  Themen  zu 
vermehren,  sogenannte  Nebenmotive  in  wichtiger  Weise 
zu  verwenden  und  mit  den  hergebrachten  Formen  freier 
zu  schalten,  tritt  mehr  noch,  als  im  ersten  Satze  der 
Ddur-Sinfonie,  in  ihrem  Larghetto  hervor.  Die  Stellen 
des  größten  Ausdrucks  sind  hier  geradezu  diejenigen,  an 
welchen  die  Darstel-    ^  ^  Das  Haupt- 

lung    an     winzigen  y^tlL£X-y|i4j^^=      thema 
Motiven  haftet,  wie;  **  des  Satzes: 


197 


srggg. 


em  TOD  Sehnsucht  und  Wehmut  leise  berührter  Hiawei& 
auf  Glück  und  Frieden,  wirkt  doppelt  poetisch  durch  die 
Elemente,  die  es  begleiten  und  bestreiten.  Es  dauert 
ziemlich  lange  und  der  Weg  geht  nicht  in  einfach  gerader 
Linie,  ehe  der  kindlich  trauliche  und  einfache  Spielplatz  von 

'^■i'pffffirhTrfnirt'irrm'iii'i^^ 

erreicht  wird.  Diese  schalkhafte  Weise,  die  den  Himmels- 
tönen des  Hauptthemas  die  behaglichen  Klänge  irdischen 
Glücks  gegenüberstellt,  aus  den  weiten  Weltenräuroen  die 
Phantasie  heimführt  in  den  Abendfrieden  von  Haus, 
FamUie  und  Freunden,  bildet  nur  den  Anhang  des  zweiten 
Themas: 


stellt  es  aber  in  den  Schatten. 

Der  dritte  Satz  ist  als  Scherzo  bezeichnet  Mit  diesem 
Namen  war  der  Begriff  einer  bestimmten  Form  bis  zu 
Beethoven  nicht  verbunden.  In  der  großen  Revolutions- 
zeit der  Musik,  im  17.  Jahrhundert,  taucht  auch  er  zum 
ersten  Male  auf  und  zwar  für  kleine,  in  der  Form  freie 
und  im  Inhalt  etwas  ausgelassene  und  übermütige  Liebes- 
gesänge (für  eine  Stimme  oder  mehrere,  meistens  mit 
Begleitung).  Von  da  wurde  er  auf  das  Instrumentalge- 
biet, ausnahmsweise  auch  auf  die  binfonie  übertragen, 
aber  nicht  häufig  angewendet.  Beethoven  griff  ihn  zu- 
nächst für  seine  KJaviersonaten  auf  und  machte  ihn 
klassisch.  Das  Scherzo  der  Ddur-Sinfonie  ist  eins  der 
drastischsten.    Wie  die  Motive  des  Hauptthemas 


198 


gleichsam  flüchtig  und  verirrt  im  Orchester  hin  und  her- 
flattem,  jeder  Takt  eine  andere  Instrumentierung!  Wie 
toll  es  der  lustige  Kobold,  der  sie  jagt  und  schreckt, 
treibt,  wie  übermütig  er  mit  der  musikalischen  Grammatik 
spielt:  Immer  das  ffwoÄ  dem  von  Natur  unbetonten  Takte! 
Diese  Art  Humor  ist  noch  in  keiner  Sinfonie  zum  Vor- 
schein gekommen.  Das  ist  der  grandios  barocke  Beet- 
hoven! Und  bald  darauf  wieder  etwas  Neues:  Unerhört 
ausgelassen  brüllen  sämtliche  Instrumente  14  Takte  lang 
nur  den  einen  Ton,  fis,  am  Anfang  des  zweiten  Teils 
vom  Trio. .  Das  ist  der  naturalistische  Beethoven,  derselbe 
Beethoven,  der  vor  den  Häusern  vermeintlicher  und 
wirklicher  Widersacher  die  wildesten  Injurien  in  die  stille 
Nacht  hinaustobte!  Das  Thema  des  Trios  selbst  steht 
der  Berserkerszene  wie  ein  bittendes,  zartes  Weib  gegen- 
über. Seine  Töne  bilden  dieselbe  Folge  wie  im  Trio  der 
9.  Sinfonie,  nur  die  Rhythmik  ist  anders: 

■  p^'if7|-ii  I  irTriiTi  II  I 

Das  Finale  verweist  mit  den  ersten  zwei  Noten 
parodistisch^  auf  die  Einleitung  des  ersten'  Satzes,  mit 
dem  Gegensatz  von  polternder,  bärbeißiger  Rauhheit  und 
zarter  Abwehr  nimmt  das  Hauptthema 


die  Humore  des  Scherzos  auf.    Es  hat  Haydnsches  Blut 
in  den  Adern.    Das  zweite  Thema: 


«TM«.  ^ 


--•    199    ♦— 

aber  lenkt  in  die  Bahnen  jener  Kantabilität  ein,  welche 
Mozart  in  das  Allegro  einführte.  Mit  welcher  Entschieden- 
heit Beethoven  diesen  neuen  Weg  weiter  schritt  nnd  wie 
sehr  er  den  frisch  eröffneten  Ideenkreis  zu  erweitem  be- 
rufen war,  ist  an  diesem  Thema  schon  fühlbar.  Noch 
mehr  setzt  die  Durchführung  in  Erstaunen,  die  die  heitren 
oder  innigen  Gedanken  dieser  Themen  ins  Majestätische 
und  Gewaltige  wendet  Wenn  schon  das  ganze  Finale 
sich  mit  dem  der  8.  Sinfonie  mehrfach  berührt,  so  tut 
dies  namentlich  der  Schluß.  Auch  da  wirds  vor  dem 
jubelnden  Ende  noch  einmal  abendlich  still  und  ge- 
sammelt. Groß  ist  auch  die  biographische  Bedeutung 
dieser  zweiten  Sinfonie,  einmal  wegen  der  engen  Ver- 
wandtschaft mit  der  Neunten,  zweitens  als  Dementi  des 
sogenannten  Heiligstädter  Testaments,  mit  dem  sie  gleich- 
altrig ist.  Im  Gegensatz  zu  jenem  verzweifelten  und 
stark  mißbrauchten  Ausbruch  augenblicklicher  Melan- 
cholie enthält  die  Sinfonie  ein  festes  und  gesammeltes 
Bekenntnis  zur  Kraft,  zur  Lebensfreude  und  zum  Gott- 
yertrauen. 

Die  dritte  Sinfonie  Beethovens  (Esdur,  Eroica) L.T.BeatkoTes, 
wurde  im  Jahre  1804  vollendet  und  im  nächsten  Januar  Eadtti>Sinroiü6 
zuerst  in  dem  Würthschen  Konzert  in  Wien  aufgeführt  <Nr.  8,  Brolcay. 
Nach  dem  Bericht,  welchen  die  Allgemeine  Musikalische        Op.  65. 
Zeitung  darüber  brachte,  nicht  mit  unbezweifeltem  Er- 
folge.   »Frappante  und  schöne  Stellen c  heißts  von  ihr, 
»energischer,    talentvoller   Geiste    von   ihrem   Schöpfer. 
Aber  diese  Zugeständnisse  werden  so  gut  wie  aufgehoben 
durch  Epitheta,  wie  »äußerst  lange  und  schwierige  Korn« 
Position«,  »wilde  Phantasie,  die  sich  ins  Regellose  ver- 
liert«, und  mehr  noch  durch  das  demonstrative  Lob  einer 
anderen  Esdur-Sinfonie,  die  in  demselben  Konzert  vor- 
kam.   Diese  andere  war  von  Anton  Eberl,  den  heute, 
vielleicht  mit  Unrecht,  niemand  mehr  kennt    Die  Schwie- 
rigkeit der  Eroica  lag  für  die  Ausführenden  so  gut  vor 
wie   für  die  Zuhörer.     Auf  letztem   Umstand  Gewicht 
legend,  verlangte  Beethoven  (in  einer  Bemerkung,  die  auf 
den  Stimmen  der  ersten  Auflage  steht),  daß  die  Sinfonie 


^^    200    ♦— 

möglichst  an  den  Anfang  des  Konzerts  gestellt  werde. 
Sie  wurde  bei  der  ersten  Probe  in  Wien,  der  Prinz  Louis 
Ferdinand  von  Preußen  beiwohnte,  umgeworfen;  in  Leipzig, 
und  wo  sie  sonst  in  die  Hände  eines  gewissenhaften  Diri- 
genten kam,  veranlaßte  sie  Extraproben.  Habeneck  in 
Paris  ließ  sie  sich  sogar  ein  großes  Frühstück  kosten. 
Noch  heute  ist  sie  eine  der  schwierigsten  Vorlagen,  wenn 
ein  intelligentes  Orchester  seine  Meisterschaft  zeigen  soll; 
namentlich  im  ersten  Satze,  dem  die  mechanische  Prä- 
zision allein  nicht  beizukommen  vermag.  Bei  der  ersten 
AufTührung  des  Werks  im  Leipziger  Gewandhause  war 
die  Direktion  so  vorsichtig  und  verständig,  ihre  Abon- 
nenten durch  gedruckte  Charakteristiken  der  einzelnen 
Sätze  vorzubereiten.  Im  ganzen  aber  kann  man  sich 
nur  wundem,  daß  die  Musikwelt  jener  Tage  sich  nicht 
mehr  und  länger  über  die  £roica  wunderte,  sondern  sie 
ziemlich  bald  und  allgemein  unter  die  immer  und  regel- 
mäßig wiederkehrenden  Repertoirwerke  aufnahm.  Denn 
dieses  Werk  war  den  Zeitgenossen  über  Nacht  gekommen : 
in  seiner  exotischen  Pracht  mußte  es  zunächst  eben- 
so befremden  als  entzücken.  Von  den  vorausgehenden 
Werken  zur  Eroica  fehlt  die  hinreichende  Brücke.  So- 
viel die  ersteren,  in  erster  Linie  die  Klaviersonaten, 
bieten  und  versprechen:  dem  Ideenreichtum  dieser  Sin- 
fonie gegenüber,  dem  Vollgehalt,  der  Kraft  und  Ge- 
diegenheit, der  ebenso  kühnen,  ja  übermäßigen,  als 
festgefügten  Anlage  dieses  Werkes  gegenüber  erscheinen 
sie  nur  als  kleine  Vettern  aus  einer  entfernten  Seiten- 
linie. Es  ist  ein  unbegreiflicher  Rest  um  die  Stellung 
dieses  Werkes  in  der  Geschichte  ihres  Schöpfers.  Denn 
Beethoven  hat  diesen  monumentalen  Eingangsbau  zu 
einer  neuen  Orchesterkunst  auch  nicht  überboten.  Er 
setzte  ihm  Werke  zur  Seite,  welche  die  einen  intimer, 
die  anderen  populärer  sein  mögen,  aber  nur  wenige, 
in  denen  jedes  Glied  so  wie  in  dieser  Eroica  in  Geist, 
Charakter  und  Poesie  getaucht  ist,  wo  die  Kunst  so 
sehr  wie  hier  auf  Figuren,  Passagen,  auf  Putz  und 
Ornament,   auf  allen  jeneiT  Kitt  und  Mörtel  verzichtet 


— e    201     ^- 

hat,  dessen  sich  die  Musik  zur  Verbindung  ihrer  Haupt- 
glieder gebräuchlicher-  und  erlaublermaßen  bedient.  Die 
Eroica  bleibt  fftr  die  Macht  von  Beethovens  Schöpfer* 
geist  das  stärkste  Zeugnis,  und  er  seihst  erklärte  sie  bis 
zur  Zeit,  wo  >die  Neunte«  erschien,  fflr  seine  b^te  Sin- 
fonie. 

Mian  weiß,  daß  Beethoven  seine  Eroica  »Bonaparte« 
überschrieben  hatte.  Als  aber  der  Konsul  sich  zum 
Kaiser  gemacht  hatte,  riß  der  republikanische  Tonsetzer 
den,  Umschlag  weg  und  widmete  das  Werk  nur  im  all- 
gemeinen dem  »Andenken  eines  Helden«.  Mit  diesem 
Titel  ist  weniger  ein  eingehendes  Programm  gegeben, 
als  vielmehr  nur  eine  allgemeine  Direktive.  Man  hat 
bekanntlich  den  Mittelsätzen  bestimmte  Bilder  aus  dem 
Kriegerleben  unterzulegen  versucht:  dem  Trauermarsch 
eine  feierliche  Bestattungsszene  der  Gefallenen,  dem 
Scherzo  das  geschäftige  Treiben  des  Lagers  und  der 
Beiwacht  Das  mag  gestattet  sein  und  jedenfalls  nichts 
schaden.  In  den  anderen  Sätzen  ist  aber  dieser  Ver- 
such nicht  durchführbar;  namentlich  dem  ersten  gegen- 
über erscheint  er  unbedingt  kleinlich!  Das  bt  nicht 
das  Bild  einer  Schlacht,  wie  Ausleger  behauptet  haben, 
sondern  das  einer  Heldennatur,  deren  Hauptzüge  Beet- 
hoven mit  einer  eigenen  Tiefe  des  Blicks  erfaßt  hat 
und  in  gegenseitige  Aktion  bringt.  Das  Eigentümliche 
an  dieser  Beethovenschen  Auffassung  des  Heroischen 
ist,  daß  er  den  Elementen  der  Kraft  und  des  frohen 
Tatendranges  einen  stark  elegischen  und  pathetischen 
Gegensatz  beimischt.  Es  geht  durch  den  ganzen  Satz 
ein  Zug  der  Trauer  über  die  Wunden,  welche  der  Held 
schlagen  muß;  vor  und  nach  den  gewaltigen  Streichen, 
die  er  führt,  erhebt  sich  die  Stimme  des  Mitleids,  und 
seine  großen  Entschlüsse  umringt  die  Wehmut  Dieser 
weiche  menschliche  Zug  begleitet  schon  das  Haupt- 
thema, das  in  seiner  ersten,  vielleicht  aus  Mozarts  Ouver- 
türe zu  »Bastion  et  Bastienne«  entnommenen  Hälfte 
den  Hauptträger  des  kräftigen,  fröhlichen  Heroentums 
bildet 


202 


r   r  r 


i 


Bereits   aber  im   fflnften  Takte  mit  dem  langen  ver- 
minderten Septakkord  , 

kommt    die    schmerz-    .  .  *^,    ;  -i  -i'  'i  iÄ     ^Jt"^ 


kommt    die    schmerz-   ^  ,  <;^,    -,  -j  'j'  '^  jA 
liehe  Wendung.    Noch  AV'  33  ij  lf=t}=fg 

stärker  ist  sie  im  zwei-  ******  *" 

ten Thema  ausgebildet: 
mit  dem   übermäßigen  Dreiklang;    femer  in   der  weh- 
klagenden Emoll- Episode  der  Durchfährung 

n  .h    -<rTT;r>  .irTfr  .f        ^^^^^  Episode  machte 

^\\  TT  ir'pr  lY  '  T  |^=  Beethoven,  wenn  wir 

''  die  durch  Nottebohm 

veröCTentlichten  Skizzen  zu  dieser  Sinfonie  recht  verstehen, 
geradezu  zum  Mittelpunkte  des  ersten  Satzes.  Sie  war  von 
vornherein  fertig  und  fest  beschlossen,  und  um  sie  in  die 
rechte  Wirkung  zu  setzen,  änderte  er  die  Entwürfe  zu  der 
ihr  vorhergehenden  Partie  immer  wieder,  bis  die  Rhythmen 
so  trotzig,  die  Dissonanzen  so  beängstigend,  so  realistisch 
schneidend  wurden,  wie  sie  jetzt  dastehen.  Von  ähnlicher 
Tendenz  ist  auch  das  Nachspielmotiv,  welches  den  wuch- 
tigen Schlägen  des  empörten  Orchesters  am  Schlüsse  des 
ersten  Teils  folgt: 


Es  sind  die  reinen  Klagen  und 
die   hinsterbenden   Anklänge   an 
Hauptthemas,    mit    denen    der 
ginnL    Für  die  formelle  Bildung 
den    angeführten    thematischen 
kurze   Motiv   große   Wichtigkeit, 


Seufzer;  ähnlich  auch 
das   erste   Motiv   des 

Durchführungsteil  be- 
des  Satzes  hat  außer 

Elementen  noch  das 
welches   die   Überlei- 


— ♦    203    i 

iungsgruppe  zwischen         PJ*--->. 

dem  ersten  und  zwei-  Jjk*'  t    6ff 

ten    Thema    eröffnet "S^ i'  ^^^  p  -"  p 

Es  klingt  wie  Fragen  und  Bedenken.    Deshalb  folgt  ihm 

gleich    die        ^.i,  „       ^  ,  .,f^.   ,       /^  ,,.,,,  -- 

Beschwich-     mgj  Qi  Jy  f  if  crir  r  r  ip 

tigung     in  p^ 

und  diesem  ein  Motiv  des  erneuten  Aufschwungs  nach: 

Der  Durchfahrungs- 
^j^teil    dieses    ersten 

Satzes  der  Eroica 
stellt  an  das  Zuhören  und  Verstehen  ganz  neue,  bis  dahin 
noch  nie  erhobene  Anforderungen  wegen  der  außerordent- 
lichen Beweglichkeit,  mit  welcher  der  Komponist  Ideen  und 
Empfindungen  wechselt,  wegen  der  Breite,  mit  welcher 
er  sie  ausführt  und  drittens  weil  er  zur  Themen gruppe 
ein  ganz  ungewohntes  Verhältnis  einnimmt.  Er  ist  dies- 
mal keine  Exegese,  sondern  er  hat  unverkennbar  pragma- 
tische Bedeutung,  er  bringt  die  Hauptsache:  die  Schilde* 
rung  des  Kampfes,  den  der  Held  leitet.  Diese  durchaus 
dramatisch  gehaltene,  aufregende  Schilderung  gipfelt  in 
der  Szene,  wo  sich  Bläser  und  Geigen  gewissermaßen  in- 
einander festrennen;  wo  die  Sekunde  «  so  gräßlich  durch 
die  Harmonien  schreit.  Das  ist  Schlag  und  Schmerz,  und 
darauf  kommt  naturgetreu  und  lebenswahr  die  EmoU- 
Klage.  Sie  ist  das  eigentliche  zweite  Thema  des  Satzes, 
und  wir  stehen  vor  ihr  wieder  bei  einem  gewaltigen  Ver- 
such Beethovens,  die  Sonatenform  frei  zu  beleben.  Nach- 
dem dieser  Gipfel  passiert  ist,  setzt  Beethoven  ein  zweites 
Mal  an:  Der  Feind  ist  getroffen,  aber  nicht  vernichtet. 
So  beginnt  der  Kampf  zum  zweitenmal  und  diesmal  endet 
er  bei  der  fanatischen  Cesdur-Stelle,  die  allmählich  in 
Totenstille  übergeht  und  mit  einer  Wendung  schließt,  deren 
eigentümliche  Schönheit  lange  Zeit  über  ihrer  absonder- 
lichen Form  verkannt  worden  ist.  Wir  meinen  jene  Stelle 
—  man  nennt  sie  wenig  geschmackvoll  den  Kumulus  — 

wo  über  der  tremolierenden  Sekunde  m  der  beiden  Geigen 


_^     204     «^ 

das  Solohom  leise  den  Zauberruf  intoniert,  der  alle  wieder 
aus  der  unheimlichen  Erstarrung  ruft:  das  Heldenmotiv 
esg  \e8.  In  der  ersten  Wiener  Probe  hatte  Beethoven 
dieses  as  gegen  die  Musiker  zu  schützen,  welche  meinten, 
es  sei  ein  Fehler  vorgekommen;  die  Herausgeber  der  ersten 
französischen  Partitur  korrigierten  es  als  Druckfehler  in  g\ 
auch  noch  R.  Wagner  war  dieser  Meinung.  Seit  das  Skiz- 
zenbuch Beethovens  aus  dem  Jahre  1803  bekannt  ist,  darf 
nicht  der  leiseste  Zweifel  mehr  gehegt  werden,  daß  Beet- 
hoven kaum  etwas  anderes  in  seiner  Eroica  so  bestimmt 
und  klar  gewollt  hat,  als  diese  vom  mechanischen  Har- 
moniestandpunkte aus  befremdende  und  unter  allen  Um- 
ständen gewagte,  aber  jedenfalls  mit  tondichterischer 
Kühnheit  und  Feinheit  ersonnene  Wendung.  Mit  Gewalt 
rafft  sich  der  Sieger.  Die  Reprise  beginnt  und  verläuft 
in  herrlichen  Varianten.  Da  ist  gleich  das  Thema  in  Fdur 
vom  Hom,  dann  in  Des  von  der  Flöte  gebracht.  Es  ist  als 
wenn  nach  gefallener  Entscheidung  sich  alles  freier  und 
größer  regte.  Auch  die  Coda  ist  ungewöhnlich,  am  meisten 
dadurch,  daß  der  Komponist  hier  nochmals  auf  die  Durch- 
führung zurückgreift,  wiederum  nämlich  auf  die  bereits 
berührte  Episode  in  Emoll;  ein  Beweis,  wie  wichtig  sie  für 
die  Eigenart  des  Helden  ist,  wie  ihn  sich  Beethoven  dachte. 
Der  zweite  Satz  der  Eroica,  Marcia  funebre  über- 
schrieben, die  Grenzen  eines  einfachen  Trauermarsches 
aber  in  jeder  Beziehung  überschreitend,  besteht  aus  fünf 
Teilen.    Der  erste  Teil  stellt  zunächst  das  Hauptthema 

AJaifio  18«>I. 

I     PH    ip^^i»^^—  ^™  Streichquartett  aut  Die 

'V~^^^^^^^^^\^}--j^jß  Bläser  wiederholen  es,  von 
^^^"^  V  den  Violinen  in  zitternden 

Rhythmen  begleitet,  aus  denen  es  wie  ferner  Trommelschlag 
klingt.  Dann  folgt  ein  Gegenmotiv  in  Esdur,  das  nach  dem 
Hauptthema  zurücklenkt  Auch  diese  Gruppe,  vom  Streich- 
quartett zuerst  gebracht,  wiederholt  der  Bläserchor,  und  mit 
einem  kurzen  freien  Nachspiel  in  CmoU  schließt  dieser 


-<(y    206    ^— 

erste  Teil.    Inhaltlich  verhildlicht  er  jenen  furchtbaren, 
fassungslosen  Znstand  der  trauernden  Seele,  wo  das  Ge- 
fühl nach  Ausdruck  ringt,  wo  die  Klage  mit  der  Resignation 
kämpft,  wo  die  Sprache  erstarrt,  versagt  und  bricht,  wo  die 
freundlichen  Bilder  der  Erinnerung  nur  aultauchen,  um  von 
den  Ausbrüchen  des  heftigsten  Schmerzes  veijagt  zu  wer- 
den.  Der  zweite  Teil  ruft  das  glänzende  Bild  des  Helden 
zurück.  Er  erscheint  wie  eine  ^    ^      ^'^^-^      »      ^ 
Art  Apotheose.    Das  führende  wjfT'   \^^J^:t^fX^^ 
Thema,  in  hellem  Dur  gehalten  *^  >  ob.  ■*« 
nimmt  schon  beim  ersten  Halbschluß  (in  Gdur)  einen 
ganz  triumphierenden  Ton  an.   Am  Schluß  dieses  Teils  ist 
die  Rückkehr  ins  Hauptthema,  der  stets  im  Laufe  des  Satzes 
ein  leidenschaftlicher  Akzent  vorausgeht,  von  einem  ganz 
besonders  tiefen  und  gewaltigen  Ausdruck  des  Schmerzes 
begleitet    Der  dritte  Teil,  welcher  mit  dem  Hauptthema 
(in    C  moU)    beginnt,  ^  ^         p,^         ^      ^ — ^ 
ruht  im  weaenüichen''^  Hi  l^fJ-Tf^iny^  f  I  J 
auf  folgendem  Thema:         /           ^ 
In    der    ersten    Hälfte    er-        m  \     .    _  **       _ 
scheint   es   durch  die  Ver-      A  h  ,1    I  ,J    lu.  })fU?- 
kettung    mit    dem     Motiv:      ^       V      ^     V 
in  der  Form  einer  Doppelfuge.    Sein  Ausdruck  ist  klagend, 
aber  die  Klage  hat  ihre  Herbheit  verloren  und  fließt  nun  stetig 
dahin.   Die  Wendungen  werden  mild,  fast  freudig.  Wieder 
steigt  das  Bild  des  lebenden  Helden  auf:  ein  leidenschaft- 
licher, begeister- *) 


jj,  ^^•'s^^^  'i " '  ^1 '-' 


Da  plötzlich: 
das  schreckliche  Besinnen:  »Er  ist  nicht  mehr!«  Ein  Auf- 
schrei in  den  entlegensten  Regionen  des  Orchesters,  ein 
wilder,  fast  wüster  Ausbruch  des  Schmerzes  auf  dem  Asdur- 
Akkord,  ein  Chaos,  aus  dem  die  schmetternden  Trompeten 

*)  Mit  dem  gleichen  Übergang  schließt  der  erste  Teil  von 
»Lofd  Heinrich«,  einer  bekannten  Ballade  von  Neefe,  Beethovens 
Bonner  Lehrer. 


-^     206     ^>~ 

den  Ausweg  suchen.  Dann  lenkt  es  mit  mühsamer  Beruhi- 
gung üher  in  den  vierten  Teil,  welcher  im  wesentlichen 
eine  Repetition  des  ersten  Teils,  aber  mit  einem  großen  Zu- 
satz von  Leidenschaftlichkeit  und  Aufregung  bildet.  Es  wird 
der  letzte  Abschied  genommen!  Der  fünfte  Teil,  die  Coda, 
schließt  das  ergreifende  Bild  versöhnend  ab.  Wie  Glocken- 
geläute,  das  Beethoven  ähnlich  auch  in  seiner  Trauerkan- 
tate auf  Joseph  IL  anklingen  läßt,  ^^'  ■  .^^^^ 
beginnt  er  in  den  Violinen,  eine  yfe=  J.  p  |  f  r  rg^t^" 
wehmütig  freundliche  Melodie  w  ^  *  *  ^^ 
klingt  wie  aus  der  Feme  herüber,  dann  geht  die  Musik 
für  einen  Augenblick  in  bloße  rhythmische  Bewegung  auf; 
in  den  Violinen  tönts  wie  Schluchzen.  Noch  einmal  er- 
scheint dann  das  Marschthema,  verflattert  aber  bald  und 
zerfällt  in  Stücke.  Als  es  verschwunden,  stoßen  die  Bläser 
noch  ein  letztes  leidenschaftlich  akzentuiertes  Lebewohl  aus, 
über  das  sich  sofort  eine  leise  Fermate  wie  Grabesruhe  legt 
Das  Scherzo  ist  von  einer  ganz  eigentümlichen  An- 
lage.   Zum  Hauptthema  hat  es  folgende  Takte: 


Aber  dieses  teilt  sich  in  die  Darstellung  mit  einem 
Motive,  das  von  Natur  nur  __^  l  Lange  Ton- 

präludierenden   und    ftn-^^^'^l  h  J  J  Ij    I     rftihAn^  aUS 

laufenden  Charakters  ist:         j^  diesen  we- 

nigen Noten  gewoben,  durchziehen  den  Satz  und  geben 
ihm  sein  phantastisches,  heimliches  Gepräge,  den  merk- 
würdigen nächtlichen  Klang,  die  Ähnlichkeit  mit  dem 
Gemurmel  einer  entfernten  Menge,  mit  dem  Getöse  einer 
geschäftigen  Stadt,  das  der  Wind  auf  Meilen  hinausträgt 
zum  Wandrer.  Die  Tonart  ist  Esdur,  aber  es  dauert  92 
Takte,  ehe  sie  mit  dem  Fortissimo  des  zum  ersten inal  ge- 
schlossen vortretenden  Orchesters  zum  Ausdruck  kommt. 
Es  ist  interessant  zu  wissen,  daß  Beethoven  als  dritten  Satz 
seiner  Eroica  einen  einfachen  Menuett  schreiben  wollte. 
Erst  im  Laufe  der  Skizzen  kam  er  auf  das  eben  angeführte 
schwankende  Motiv  und  damit  auf  die  ganz  neue  Anlage 


-^    207    ♦— 

des  Satzes.  Den  Hörnern,  welche  bekanntlich  im  Trio  des 
jetzigen  Scherzo  eine  ziemlich  gefürchtete  Aufgabe  haben, 
war  von  Anfang  an  eine  besondere  Rolle  zugedacht,  aber 
im  Hauptsätze  des  Menuett.    Der  Held  ai^  der  Jagd? 

Das  Finale  der  Eroica  ist  in  seiner  ersten  Hälfte  ein 
Variationenzyklns,  dem  folgendes  einfache  Thema  zu- 
grunde liegt: 

dasselbe,  welches  Beethoven  früher  schon  zu  den  Kiavier- 
variationen  (Op.  36J  und  zur  Musik  des  Balletts:  »Die  Ge- 
schöpfe des  Prometheus«  benutzt  hat*).  Von  der  dritten 
Variation  ab  baut  der  Komponist  über  dieses  Thema  eine 
innige  Gesangmelodie, 

welche  in  dem  Satze  als  zweites  Thema  fungiert.  Nach- 
dem sie  durchgeführt,  wird  die  Variationen  form  verlassen, 
das  Thema  erscheint  umgestaltet  in  eine  Fuge;  in  andern 
Gruppen  sind  nur  wenige  Noten  benutzt,  auf  Augenblicke 
verschwindet  es  ganz.  Mit  dem  Gmoll-Satze,  der  marsch- 
artig kräftig  einsetzt,  tritt  die  Variationenform  wieder  ein; 
die  einzelnen  Variationen  haben  freie  Schlüsse,  im  übrigen 
wiederholt  sich  der  ganze  Prozeß  der  ersten  Hälfte.  Bis 
dahin  erscheint  das  Finale  der  Eroica,  so  viele  schöne 
Momente  darin  vorkommen,  im  Verhältnis  zu  den  andern 
Sätzen  leicht  gefügt:  eine  Reihe  fröhlicher  Bilder  von  der 
Krieger  Heimkehr,  frei  nach  Bürgers  Versen:  »Und  alles 
Volk  mit  Sing  und  Klang,  geschmückt  mit  grünen  Reisern, 
zog  heim  zu  seinen  Häusem.€  Am  Ende  jedoch,  mit  der 
frommen  Episode,  in  der  das  zweite  Thema  als  Andante 
auftritt,  erhebt  es  sich  und  schließt  allerdings  etwas  kurz 
abgebrochen,  aber  mit  dithyrambischem  Schwünge. 

*)  Piiil  Bekker  weist  in  geinem  ausgezeichneten  Beethoven- 
bnch  darauf  hin,  daß  zwischen  der  Prometheussaire  und  der 
Idee  der  Eroica  ein  Zusammenbang  besteht. 


--»    208    «— 

L.T.BMtkoTeB)        Beethovens  vierte  Sinfonie  (Bdur,  Op.  60),  welche 
Bdur^mfonie  im  Jahre  1806  entstand,  wurde  im  Anfang  des  Jahres 
(Nr.  4).      2807  zuerst  in  Wien  kurz  nacheinander  zweimal  auf- 
geführt, erst  im  Theater  und  dann  im  adhgen  Liebhaber- 
konzert, und  erfreute  sich  sogleich,  wie  berichtet  wird, 
eines  reichen  Beifalls.    Heute  teilt  sie  mit  der  ihr  geistig 
verwandten  achten  Sinfonie  das  Schicksal  einer  gewissen 
Zurücksetzung.    Sie  erreicht  ihre  Nachbarn  zur  Rechten 
und  Linken,  die  Broica  und  die  Cmoil- Sinfonie  weder  in 
der  Breite  des  Aufbaues  und  der  äußeren  Dimensionen, 
noch  in   der  Großartigkeit  der   Kombinationen;   sie   ist 
aber  dennoch  eins  der  eigenartigsten  und  vollendetsten 
'  Werke  der  Beethovenschen  Kunst  und  repräsentiert  unter 

den  Sinfonien  eine  Gattung  für  sich.  Was  sie  auszeich- 
net, ist  die  Frische  und  Unmittelbarkeit  der  Gestaltung. 
Sie  gleicht  darin  einigen  der  Klaviersonaten,  daß  sie 
mehr  phantasiert  und  improvisiert,  unter  einem  fort- 
währenden Zufluß  neuer  Gedanken  entstanden,  als  ge- 
arbeitet erscheint.  Zweitens  zeichnet  sie  sich  aus  durch 
eine  andauernd  heitre  und  glückliche  Grundstimmung, 
die  sich  allerdings,  wie  bei  Beethoven  zu  erwarten,  nicht 
völlig  rein,  sondern  in  romantischer  Färbung  äußert 
Man  bemerkt  diesen  romantischen  Zug  in  dem  zögern- 
den Aufbau  der  Melodien,  in  dem  langen  Festhalten 
der  Harmonien,  in  der  versteckten  Einmischung  von 
Dissonanzen,  in  der  bald  in  scharfen  Kontrasten 
springenden,  bald  träumerischen  Dynamik:  Erschei- 
nungen, die  uns  in  keiner  zweiten  Sinfonie  Beethovens 
so  systematisch  entgegentreten  wie  in  der  Bdur- Sin- 
fonie. Sie  schattiert  auch  die  freudigen  Farben  ein 
wenig.  Aber  die  Stürme  düstrer  Leidenschaft  bleiben 
ihr  fern,  und  über  dem  Ganzen  leuchtet  eine  solche 
Menge  hellen  und  wärmenden  Sonnenscheins,  daß  man 
die  Zeit,  wo  diese  Sinfonie  entstand,  zu  den  am  we- 
nigsten getrübten,  zu  den  schönsten  Tagen  aus  Beethovens 
Leben  rechnen  möchte.  Grove  setzt  sie  geradezu  mit  einer 
Verlobung  Beethovens  (mit  Theresa  von  Brunswick)  in 
Verbindung. 


-^    909    «^ 

Nach  einer  Einleitung,  die  ganz  von  geheim nisvollei 
firwartang  und  Spannung  erfüllt  ist,  bricht  das  Allegro 
des  ersten  Satzes  mit  Schlägen  von  Urwüchsiger  Derbheit 
los.  Nach  dem  stürmischen  Einsatz  gelangen  wir  zu 
folgendem  Hauptthema:  ^ 

▼iraeo. 


^Tpf|JMp^C?^pn 


^  r      das  die  beiden  Elemente 

A^\f\\ffff\  »'^y   1^      des  Satzes:   frohes  Un- 
'^  -^      gestüm    und    heimlich- 

glückliches Sinnen  verbindet.  Ihm  folgt  _« 

ein  selbständiges  Seitenthema,  welches  ^iKn-j=-i-i-i-[-^ 
über  das  kindlicher  Freude  volle  Motiv: *^  ' 

zu  einer  Repetition  des  ersten  Themas  überleitet.  Diese 
Wiederholung  schließt  mit  einer  Synkopenstelle,  die  eine 
gewaltige  Herzenserregung  kündet.  Zauberschnell  bricht 
sie  ab.  Das  zweite  Thema,  das  nun  erscheint,  zerfällt  in 
zwei  Hauptgruppen,  ♦-rr-v  .  ..  ^  .  .  g»ü^ 
deren  GrundmoÜve  VJ'lTLrfUfrffU  ^fc^'jT^^ 
die  folgenden  sind:       vs?  «»**^      *   -^ 

Die  zweite  Gruppe  tritt  als  Dialog,  als  Kanon  (in  der  Ok- 
tav) zwischen  Klarinette  und  Fagott  auf.  Zwischen  ihnen 
stehen  noch  weitere  selbständige  Gedanken,  unter  denen 
eine  weitaosholende,  aus  Sequenzen  über  ein  Motiv  in  (stac- 
cato  gegebnen)  Halbennoten  gebildete  Passage,  die  Sam- 
meln und  Klären  bedeutet,  der  wichtigste  ist.  Üppigkeit  der 
Phantasie  zeichnet  diese  Sinfonie  aus.  Auch  die  Durchfüh- 
rung überrascht  durch  ^ — .  ^  -^-^  ,^^ 
eine  ganz  neue  Idee :  I  ^^  ^l^f  V  ^^  I  '  *^  1*  l^"  ^^ 
eine  herrliche  Melodie :  ^  ^ 
die  formell  der  Emoll-Klage  in  der  Durchführung  des 
ersten  Eroica-Satzes  entspricht.  Mit  ihr  vollführen  eine 
Strecke  lang  die  beiden  Gruppen  des  Orchesters,  Geiger 
und  Bläser,  einen  Wechselgesang.  Er  ist  für  lange  Zeit 
die  letzte  Äußerung  fertiger  Gedanken  im  Satze.  Tiefste 
Ruhe,  tiefster  Frieden  breiten  sich  über  eine  glückliche 
Seele.  Immer  leiser  huschen  durch  die  Geigen  flüchtige 

Kr«tzsehm»r,  Ffthrw.    I,  1.  14 


— »    210    ♦^- 

Schatten  des  Ht^uptthemaSy  die  Akkordnoten  nus  den 
ersten  beiden  Takten.  Diese  lange  Dämmernngsstelle 
kennzeichnet  die  vierte  Sinfonie.  Ganz  eigen  ist  der  Schluß 
dieser  Durchführung,  das  Einschlummern  der  Instrumente 
in  entlegener  Tonart,  die  Führerrolle,  welche  die  Pauke 
in  diesem  Momente  übernimmt,  und  der  eilige  Rückzug, 
den  das  verlorene  Gros  unter  ihrem  immer  lauteren 
Kommando  bewerkstelligt.  In  dem  Scherzo  der  Cmoll- 
Sinfonie  findet  sich  ein  ähnliches  und  doch  wieder  sehr 
verschiedenes  Seitenstück  zu  dieser  Stelle. 

Das  Adagio,  ein  wunderbares  Stück  verklärter  Poesie 
und  der  intimste  von  allen  langsamen  Sätzen  der  Beet- 
hovenschen  Sinfonien,  hat  folgenden  Gesang  zum  Haupt- 
thema : 

Adagio. 

creMc.         *-^» 

Die  Form  dieses  Satzes  ist  jso  rein  und  einfach,  daß 
er  keiner  Bemerkung  bedarf.  Das  zweite  Thema,  in  dem 
Momente  eingeführt,  wo  die  vom  Anfange  an  im  Satze 
lauernden  Geister  der  Schelmerei  und  des  Humors  über 
das  Maß  zu  gehen  Miene  machen,  wird  von  der  Klari- 
nette vorgetragen,  das  Fagott  bringt  einen  Nachgesang 
dazu.  In  der  Stimmung  knüpft  dieses  zweite  Thema 
an  die  leise  und  edle  Melancholie  des  Hauptthemas 
wieder  an. 

Der  dritte  Satz,  welcher  nicht  ausdrücklich  als 
Scherzo  überschrieben  ist,  hat  die  ausgesprochene  Na< 
tur  eines  Capriccio.  Er  läßt  eine  etwas  herausfor- 
dernde Lustigkeit  gegen  einige  bedächtigere  Humore  an- 
käropfen.DasAn-    .  .  ^^^^^  ,^  ^ 

fangsmotiv  sei- ^y^g^Tp^T^^f^y^^P^  |  f  r  ^  |  J= 
nes  Hauptthemas  -^ 

gibt  den  HauptstofT  zum  Bau  des  Satzes.  Der  in  den 
ersten  Takten  dieses  Themas  schon  gegebene  Gegensatz 


211 


von  ^/4  und  ^j^  Takt  gehl  durch  das  ganze  Stuck  und 
verstärkt  den  Eindruck  einer  bald  übermütigen,  bald 
eigensinnigen  Natur  eines  liebenswürdigen  Wildfangs. 
Das  Trio  ist  eins  der  köstlichsten  Bilder  naiver  und  un- 
schuldiger Freude,  eines  jener  Kunstwerke,  die  man  nicht 
hören  kann,  ohne  die  Musiker  zu  beneiden,  welche  sie 
aufführen  dürfen.    Die  Oboe  führt  das  einfache  Thema: 


j  >'■  r  I  Tf  ff-M'r  ii\ii[lt.i\f  nt  ii\ 


*  I  r  I  r  M  f  r  I  r  I  r  r  i  r  i  r  i  r  p  r  i  ^ 

In  die  Pausen  streuen  die  Violinen  allerhand  kleine 
Neckereien  hinein  —  am  Ende  des  Trios  wächst  die 
liebenswürdige  zärtliche  Melodie,  vielleicht  der  Abkömm- 
hng  einer  Walifahrtshymne,  zu  stolzer  Pracht  heran. 
Schon  der  erste  Satz  der  Sinfonie  zeigt  einige  Mozartsche 
Spuren;  sie  mehren  sich  im  Finale  so  sehr,  daß  man  die 
Vermutung  kaum  abweisen  kann,  in  den  Hauptgedanken 
gehöre  dieser  Satz  einer  früheren  Entstehungszeit  an. 
Seine  Themen  sind 


mit  dem  Nachsätze    'A^  r  p  I  *^'   J^  I  j)  ^  J>  *  I    :]     I    und 

1% 


Sie  ergeben  einen  Satz  von  brillantem,  funkelndem 
Effekt, -von  dramatischer  Lebendigkeit  und  frappantem 
Humor,  dessen  heitere  Natur  nur  durch  einige  breite, 
unbarmherzig  dissonierende  Akkorde,  die  Einfälle  einer 
rauhen  Laune,  gestört  wird. 

Die  fünfte  Sinfonie  (Cmoll)  ist  mit  der  Pastoral- L.y.BeethoTen, 
Sinfonie  zusammen  veröffentlicht  worden.  Beide  Werke,  Cmoll -Sinfonie 
welche  die  Opnszahlen  67  und  68  tragen,  wurden  auch        ^^'-  *)• 

14* 


^^    212    %^ 

Küflammen  in  demselben  Konzert  zuerst  aufgeführt,  wel- 
ches Beethoven  am  22.  Dezember  1808  im  Theater  an  der 
Wien  gab,  einem  Konzerte,  das  durch  die  Reichhaltigkeit 
seines  Programms  als  Knriosum  in  der  Konzertgeschichte 
dasteht.  Es  umfaßte  zwei  große  Chorwerke,  die  Chor- 
fantasie, das  Klavierkonzert  in  0^  eine  freie  Fantasie, 
die  Pastoralsinfonie  (als  Nr.  6),  die  Cmoll- Sinfonie  (als 
Nr.  6  bezeichnet).  Gleichwohl  sind  die  beiden  Sinfonien 
zu  verschiedener  Zeit  entstanden.  Die  ersten  Arbeiten 
an  der  CmoU-Sinfonie  reichen  bis  in  die  Jahre  18(X)  und 
1801  zurück.  Das  außerordentliche,  in  jeder  Faser  Beet- 
hovensche  Werk  hat  den  Meister  auch  außerordentlich 
intensiv  beschäftigt  and  ist  unter  denjenigen  Arbeiten, 
mit  welchen  er  sich  außergewöhnlich  lange  trug  —  ver- 
gleichen wir  nur  die  Ddur-Messe  und  die  neunte  Sinfonie 
—  vielleicht  diejenige,  bei  welcher  die  endgültige  Form 
alle  Intentionen  des  Schöpfers  ohne  stärkeren  Rest  auf- 
nahm. Von  vielen  Beurteilern  wird  die  Cmoll-Sinfonie  als 
der  Höhepunkt  nicht  bloß  der  Beethovenschen,  sondern 
überhaupt  der  Instrumentalmusik  bezeichnet,  jedenfalls  ist 
sie  eins  derjenigen  Kunstwerke,  über  deren  Gewalt  alle 
einig  sind.  Mit  der  CmoU-Sinfonie  bekehrte  der  junge 
Mendelssohn'  den  alten  Goethe  zu  Beethoven*).  Selbst 
diejenigen,  welche  amusischen  Geistes  sind,  pflegen  vor 
der  G  moll-Sinfonie  eine  leise  Regung  von  Respekt  zu 
haben.  Jeder  fühlt,  daß  aus  dieser  Sinfonie  ein  unge- 
wöhnlicher Geist  spricht  Es  liegt  etwas  Titanisches  in 
ihrem  Zorn  und  ihrem  Trotze,  in  ihrem  Schmerze  und 
auch  in  dem  Rausche  der  Begeisterung,  in  welchem  sie 
schließlich  ausmündet.  Man  könnte  sich  vor  diesem 
Kunstwerke  an  vielen  Stellen  fürchten,  wenn  nicht  ans 
dem  Hintergrunde  seiner  nächtigen  Phantasien  auch 
freundlichere  Genien  auftauchten;  es  würde  uns  trans- 
zendental und  nur  ehrwürdig  bleiben,  wenn  es  den  Blick 
nicht  außer  auf  unendliche  Stemweiten  auch  auf  tran- 
liches Erdenland  lenkte,   wo  uns  Boten  der  Sehnsucht, 

*)  F.  MendelBtohn,  Briefe  (25.  Mai  1830). 


--^    213    ♦^ 

des  Humors  und  diejenigen  Menschengeftthle  begegnen, 
welche  das  Walten  eines  guten  Gemütes  verkünden. 
Die  Darstellung  in  der  Cmoll-Sinfonie  ist  hmß  und  ur- 
sprünglich, wahr,  notwendig  einheitlich  und  dabei  so 
scheinbar  einfach  und  klar,  daß  das  Werk  trotz  der  Größe 
seines  Inhalts  populär  geworden  ist  Was  diesen  Inhalt 
der  Cmoll-Sinfonie  bildet,  wer  getraut  sich  das  ohne 
Fehler  zu  übersetzen?  Beethoven  soll  dem  ersten  Satze 
dieses  Werkes  das  Motto  gegeben  haben :  »So  klopft  das 
Schicksal  an  die  Pfortei.  Wir  betonen  aber  das  Wort 
>soll«.  Es  ist  das  Charakteristikum  musikalischer  Kunst- 
werke, daß  sie  die  Phantasie  des  Hörers  anregen,  ihn 
wohl  auch  auf  bestimmte  Bilder  führen.  Aber  es  ist  ver- 
messen, das  eine  dieser  Bilder  für  das  ausschließlich 
richtige  zu  halten  und  zu  proklamieren.  Die  Zahl  der 
benannten  Größen,  welche  derselben  algebraischen  Formel 
entsprechen,  ist  in  der  Regel  nicht  klein:  > Ratio  multi- 
plex, veritas  una<I  Aber  der  allgemeine  Gang  der  Phan- 
tasie, nennen  wir  es  die  Grundidee,  in  der  Cmoll-Sin- 
fonie ist  so  klar  ausgeprägt,  daß  man  sie  nennen  muß: 
Es  ist  der  Weg  »aus  Nacht  zum  Licht«,  per  aspera  ad 
astra,  jener  in  der  sinfonischen  Kunst  so  oft  gesuchte  und 
noch  öfters  verfehlte  Weg! 

Der  erste  Satz  ist  eine  der  glänzendsten  Bestätigungen 
für  einen  in  jeder  Kunst  sattsam  erprobten  Erfahrungs- 
satz :  daß  mit  der  Schwierigkeit  der  technischen  Aufgabe 
bei  starken  Geistern  auch  die  Phantasie  wächst,  der  Flug 
der  Gedanken  kühner  wird  und  die  Ideen  an  Macht,  Kraft 
und  Reichtum  zunehmen.  Von  der  technischen  Seite  aus 
betrachtet,  ist  der  erste  Satz  der  Cmoll-Sinfonie  eins  der 
verwegensten  Kunststücke:  Denn  sein  wesentliches  Grund- 
material besteht  aus  den  vier  Noten,  Aii^^ro  con  brio.  >^ 
welche  lapidar  und  erschreckend ^^Vy  t  J  J  J  |  i  '  | 
den  Eingang  des  Werkes  büden:^^^  f  f  f  ■  i^^ 
Schindler  behauptet  in  seiner  Biographie,  daß  Beethoven 
sie  und  ihre  gleich  folgende  Transposition  in  einem  lang- 
sameren Tempo  gewünscht  habe,  wodurch  sie  gewisser- 
maßen afs  Motto  hervorgehoben  worden.   Wenn  der  Ge- 


— ^    214    4^ 

wfthninann  hier  zuverlässig  ist,  bleibt  doch  auch  die 
andere,  die  leidenschaftlichere  Auffassung  der  Stelle  bei 
Recht  bestehen.  Nach  Czerny  soll  ein  Goldammer  Beet- 
hoven im  Walde  dieses  von  Spohr*)  wegen  Mangel  an 
»Würde«  getadelte  Motiv  zugetragen  haben.  Zwar  hat 
der  Satz  ein  zweites  Thema: 

Aber  es  ist  in  dem  großen  psychologischen  Prozeß  nur 
ein  momentanes  Beschwichtigungsmittel,  über  welches 
die  Kombinationen  jenes  Urmotivs  achtlos  hinwegschreiten. 
Es  wird  bei  seinem  ersten  Erscheinen  schon  von  den. 
Bässen  mit  jenen  vier  unruhigen  Grundnoten  drohend 
empfangen,  verfolgt  und  bald  in  den  Strudel  der  wogen- 
den Aufregung  hineingezogen.  Auch  ältere,  namentlich 
S.  Bach,  haben  mit  einem  einzigen  kurzen  Motiv  zu- 
weilen ausgeführte  Sätze  gebildet.  Aber  dies  sind  Prä- 
ludien und  kleinere  Stücke  —  hier  aber  haben  wir  einen 
ganz  kolossalen  Satz  von  gegen  600  Takten!  Dabei 
aber  ist  dieses  Kunststück  zugleich  auch  die  höchste 
Leistung  im  leidenschaftlichen  Stile,  welche  bis  dahin 
vielleicht  die  ganze  Instrumentalkomposition,  ganz  gewiß 
aber  die  Orchestermusik  aufzuweisen  hat  —  als  musica 
appassionata  eine  Leistung,  die  in  der  Folge,  fraglich  ob 
wieder  erreicht,  jedenfalls  aber  nicht  überboten  worden 
ist.  Den  Gang  des  Satzes  im  einzelnen  zu  beschreiben, 
ist  nicht  durchführbar,  wohl  auch  nicht  nötig.  Nach  so 
und  so  viel  rührenden  und  erschütternden  Versuchen 
kommt  das  Ende  auf  den  Anfang  zurück.  Es  ist  das 
Bild  eines  ergreifenden  hartnäckigen  und  verzweifelten 
Kampfes,  der  durchgeführt  wird:  Wohin  unsere  Phan- 
tasie den  Schauplatz  desselben  legen  mag,  in  die 
menschliche  Seele  oder  in  die  Natur:  seine  Phasen  sind 
mit  der  schauerlichsten  Deutlichkeit  wiedergegeben. 
Es  ist  ein  Ringen   ohne  Gnade  und  ohne   Nachgeben, 

♦)  L.  Spohr,  Selbstbiographie  I,  S.  229. 


215 


das  Seiten  stück  zum  ersten  Satz  der  Eroica,  aber  ohne 
Klage.     Den   kritischen   Mittelpunkt   bildet  jene   Partie 
im   Durchführungsteile,    ^_^  ^    ,  ■ 
wo     das     Anfangsmo-    ^"T ITI    J     I     J     ^    j    ^ 
tiv  des  zweiten  Thema        '^  ^        ?      ^^ 

entscheidend  eingreifen  will.  Die  Stelle  hat  eine  drama- 
tische Gewalt,  wie  sie  in  der  Instrumentalmusik  ganz  selten 
vorkommt.  Wirds  gelingen  oder  nicht?  Als  Streicher  und 
Bläser  mit  dem  Halbenmotiv  wechseln,  scheint  volle  Er- 
schöpfung eingetreten  und  das  Ende  nahe  zu  sein.  Aber 
der  Held  rafft  sich  wieder,  weicht  und  bebt  abermals;  doch 
schließlich  steht  er  wieder  fest  in  alter  Kraft.  Mit  einem 
plötzlichen  Ruck  stehen  wir  vor  dem  Anfang  des  dritten 
Teils:  der  Reprise.  Sie  ist  wie  immer  bei  Beethoven 
keine  wörtliche  Wiederholung.  Unter  den  Wendungen, 
die  ihren  Ausdruck  und  ihre  Wirkung  mächtig  steigern, 
sind  die  freie  Kadenz  der  Oboe  und  die  Coda  hervorzu- 
heben. Die  Oboe  spricht  wie  eine  Menschenstimme,  ganz 
unbeschreiblich  rührend  auch  deshalb,  weil  es  die  einzige 
Stelle  in  dem  durch  und  durch  männlichen  Satz  ist,  wo 
das  Herzeleid  zu  Worte  kommt.  Seit  Haydns  früheren 
Werken  war  es  das  erste  Mal,  daß  wieder  ein  Komponist 
in  der  Sinfonie  Rezitativ  verwendete.  Beethoven  hat 
mit  der  Stelle  ein  klassisches  Beispiel  für  Macht  und  Wert 
der  alten  freien  Kadenz  gegeben. 

Entschieden  der  Hoffnung  zugewendet,  doch  von 
Sorge  und  Zweifel  noch  leicht  gestreift,  setzt  der  zweite 
Satz  (Andante  con  Moto,  Asdur,  3/g  Takt)  mit  einem 
lieblichen  Thema  ein,  welches  Celli  und  Bratschen  uni- 
sono vortragen: 


X\    \     ife  ^^^  hohen  Holzbläser  fah- 
'    -    '  =^  ren    unmittelbar   fort   mit 
^T^        die  Geigen  füh- 
jET^  ren  dieses  The- 
ma zu  Ende  und 


-^    216    ♦^ 

ihm  folgt)  von  Klarinetten  und  Fagotts  eingeftthrt,  auf 
dem  Fuße  die  Marschweifie: 


doUß  -  vioii 


Y'  J^LycJf    I  r*  II  In  diesen  drei  Melodien  liegt  das 

ganze  Material  des  Andante  vor 
uns,  in  ihrer  Folge  zusammengedrängt  der  Verlauf  der 
Komposition.  Das  Thema  defr  Holzbläser  kommt  immer 
gleichlautend  wieder,  selbst  die  Tonart  wird  in  keiner  Wie- 
derholung verändert  Es  ist  der  Leitstern,  der  fest  am 
Himmel  steht  und  freundlich  blinkt.  Der  Marsch,  der  drei- 
mal mit  Pauken  und  Trompeten  in  Cdur  vorüberzieht, 
bedeutet  Triumph  und  Sieg  und  wirft:  einen  Blick  voraus 
in  die  Sphäre  des  Finales  der  Sinfonie.  Die  Grundform 
des  Andante  ist  die  einfache  eines  Variationengebildes  in 
Haydnscher  Art.  Das  Hauptthema  wird  erst  in  Sechzehntel-, 
dann  in  Zweiunddreißigstelform  gebracht,  der  leichte  Kon- 
flikt der  Gefühle,  der  in  ihm  liegt,  also  gesteigert  und  er- 
regter. Zu  dieser  Wendung  tragen  die  übrigen  Faktoren 
der  Komposition  alle  ihr  Teil  mit  bei.  Auf  der  ganzen 
Linie  wird  die  Farbengebung  leuchtender,  insbesondere 
wirkt  die  Sprache  der  Zwischensätze  immer  dringlicher, 
so  sehr:  daß  die  Neben themen  —  der  Gesang  der  Holz- 
bläser und  die  Marschmelodie  —  den  Gesamteindruck 
des  Satzes  fast  mehr  bestimmen  als  das  Hauptthema.  Un- 
ter den  Episoden  prägen  sich  namentlich  zwei  bedeutungs- 
voll ein:  Die  eine  ist  der  Obergang  aus  dem  ersten  Cdur 
des  Marschsatzes.  Die  Trom-  ^x.r\>  x./"^ 
peten  klingen  mit  der  Quinte  ilry  |  P  Rp^  |  f'  \ 
fast  herausfordernd  lang  hin  ^^^^^^^  ^    \  ■ 

Da  mahnt  j  .  t  i  ^^^^^  ^  /  -  Es  geht  nach  FmoU, 
es  in  den  ^  n^  gj  Ff  ^1  f  es  wird  plötzlich 
Streichern  *^         *-'  finster  fürs  Ohr,  und 

wie  Samiel  im  »FreischÜts«  zieht  in  der  Feme,  gespenster- 
haft zu  dem  de9  der  jBfB  P^b^  ^^^  ^^m  t  der  Bässe 
Geigen  der  Rhythmus  ^  ^  ^  444  vorüber;  die  Kampf- 


— ♦    217    «^     ' 

geister  d«s  ersten  Satzes  sind  noch  nicht  tot  Die  zweite 
Episode  t^itt  nach  der  Zweianddreißigstelvariation  des 
Hauptthemaa  mit  dem  interessanten  es  in  der  Flöte  (von 
dem  Berlioz  in  seinen  Memoiren  eine  F^tis  betreffende 
Anekdote  erzählt,  die  an  den  Kfimnlus  der  Eroica  erinnert) 
ein.  Die  Geigen  geben  Guitarrenakkorde,  ein  kleiner  Dialog 
zwischen  Klarinette  und  Fagott  variiert  den  Anfang  des 
Hauptthemas,  und  nun  beginnt  in  den  obem  Holzbläsern 
ein  träumerisch  holdes  Spiel  paarweise  in  Terzen,  die 
Paare  in  Gegenbewegung.  Die  Stelle  ist  nur  kurz,  aber 
sie  bildet  einen  der  freundlichsten  und  lieblichsten  Augen- 
blicke in  der  ganzen  C  mollrSinfonie. 

Das  thematische  Material   des    dritten   Satzes    ist 
folgendes  ftlr  den  Hanptteil: 


•^f^'j'    I     J.    f  I    I    I    I    I    p  Ml    J-If  J  Jll  ! 


f&r    den    das 


Trio   ersetzen*    ^fA  J  iJ  J  J  J  J  J  iJ  j  J  J  J^Tt^ 
den  Mittelteü!  V 


den  Mittelteil: 
Die  Teile  a  (für  dessen  vier  erste  Takte  Beethoven,  nach 
Ausweis  des  von  Nottebohm  veröffentlichten  Skizzenbuchs, 
den  Anfang  des  Finale  von  Mozarts  Gmoll-Sinfonie  be- 
nutzte) und  b  des  Hauptthema  folgen  im  Satze  unmittel- 
bar wie  oben;  für  die  Entwicklung  des  Satzes  wird  beson- 
ders das  Motiv  b  ausgenutzt.  Während  in  den  meisten 
andern  Sinfonien  Beethovens  im  dfitten  Satze  eine  aus- 
gelassene Fröhlichkeit  ihre  Feste  feiert,  will  hier  —  wo, 
wahrscheinlich  nicht  zufällig,  auch  die  Bezeichnung 
Scherzo  fehlt  —  die  gute  Laune  noch  nicht  recht  in  Gang 
kommen.  Das  nähere  Verwandtschaftsverhältnis,  in  dem 
bei  Beethoven  sehr  häufig  der  dritte  Satz  zum  ersten  steht, 
kommt  hier  mit  besonderer  Deutlichkeit  zum  Ausdruck. 
Es  zeigt  sich  äußerlich  in  der  Identität,  welche  zwischen 
dem  Hornmotiv  und  dem  Hauptrhythmus  des  ersten  Satzes 


^^    218    ♦^ 

besieht,  ferner  in  den  vielen  Fermaten,  welche  beiden 
Sätzen  gemeinsam  sind,  und  mehr  nctch  innerlich  in  dem 
vorwiegend  düstern  Charakter  dieses  »Scherzo«.  Heiter 
ist  in  seinem  Hauptsatze,  ähnlich  wie  in  den  Ecksätzen 
von  Mozarts  Gmoll-Sinfonie,  nur  der  Rhythmus,  die 
Harmonien  sind  gedrückt,  die  Melodien  fragend  und 
schwermütig,  fremdartig  durch  den  Klang  der  Instru- 
mente, welche  sie  an  den  wichtigsten  Stellen  vortragen: 
das  Motiv  a  die  sonst  nur  für  den  schweren  Dienst  ver- 
wendeten Kontrabässe,  das  Motiv  b  die  Hörner.  Auch 
der  Mittelsatz,  mit  seinen  polternden  Figuren  und  seinem 
eifrigen  Fngieren,  verwischt  den  Eindruck  des  Ängst- 
lichen, halb  Unheimlichen  noch  nicht:  Sein  Humor  ist 
etwas  forziert  und  ungeheuerlich,  er  deutet  eine  gute 
Wendung  der  Sache  mehr  an,  als  daß  er  sie  schon  bringt. 
Als  sich  —  wie  Berlioz,  dem  wir  hier  ausnahmsweise 
das  Wort  geben  wollen,  sagt*)  —  der  Lärm  seiner  ge- 
waltigen Läufe  mehr  und  mehr  verloren  hat,  erscheint 
das  Scherzomotiv  wieder:  diesmal  >pizzicato«.  Man  hört 
nichts  mehr  als  einige  von  den  Violinen  halb  hingehauchte 
Varianten  des  Motivs  6  und  dazwischen  ein  seltsames, 
halb  unterdrücktes  Schluchzen  der  Fagotte.  Dann  bricht 
der  Gedanke  ganz  ab.  Das  Orchester  macht  Miene,  den 
bösen  Traum  zu  verschlafen;  nur  die  Pauke  hält  im  pp 
noch  den  Rhythmus  wach.  Es  folgen  einige  Takte  voll 
mysteriöser  Harmonien  und  einer  Ruhe,  daß  das  Ohr 
zu  hören  zaudert,  bis  die  Paukenschläge  rascher  werden, 
die  Violinen  sich  winden  und  raffen  und  endlich  das 
ganze  Orchester  wahrhaft  fieberisch  sich  auf  den  leuch- 
tenden Cdur- Akkord  stürzt,  mit  dem  der  Triumphmarsch 
des  Finale  beginnt.  Mit  seinem  unbeschreiblichen  Jubel, 
mit  Kraft  und  Schalkheit  erstickt  er  alle  finsteren  An- 
wandlungen, die  aus  den  früheren  Sätzen  in  den  Schluß 
hineinziehen  möchten.  Die  Themen  sind  einfach  bis  zur 
Trivialität: 


*)  H.  Berlioz,    A   travers   chants    (Deutsch   von    R.  Pohl) 
S.  39. 


219 


Alle  pro 


b)  scheint,  wie  Grove  richtig  bemerkt,  von  einem  Neben- 
thema im  Andante  der  Mozartschen  Jupitersinfonie  ab- 
geleitet zu  sein,  den  ^^  das  in  der 
Nachsatz  von  c)  be-  V  f  \^f  \  •  I  f  ^  Durchführung, 
gleitet  ein  Baßmotiv  namentlich  aus 
dem  Munde  der  Posaunen  gewaltig  und  majestätisch 
wirkt  und  fast  ihrer  ganzen  ersten  Hälfte  zu  Grunde 
liegt.  Der  eigentümliche  Zug  an  dieser  Durchführung 
ist,  daß  sie,  beim  kritischen  Punkte  angelangt,  plötz- 
lich still  abbricht  und  das  Scherzo  zurückkehren  läßt. 
Die  Idee  selbst  ist,  höchst  wahrscheinlich,  einer  Cdur- 
Sinfonie  von  Dittersdorf  entnommen,  aber  die  Wirkung, 
mit  der  sie  Beethoven  hier  verwertet  hat,  so  ursprüng- 
lich als  möglich:  Bankos  Geist  an  der  Festtafel!  Damit 
war  auch  Spohr,  der  wie  C,  M.  v.  Weber  begreiflicher- 
weise an  Beethovens  Sinfonien  manches  auszusetzen 
hatte,  sehr  einverstanden. 

In  der  Instrumentierung  ist  nichts  Außerordentliches 
als  der  Zusatz  von  drei  Posaunen;  die  hier  zum  ersten 
Male  in  Beethovens  Sinfonien  erscheinen,  Piccolo  und 
Kontrafagott  —  aber  der  innere  Schwung  und  die  Kunst 
des  Komponisten  erreichen  mit  diesen  gewöhnlichen 
Mitteln  eine  elementare,  donnerähnliche  Wirkung.  Echt 
Beethovenisch  ist  die  Beharrlichkeit,  mit  welcher  das  end- 


--^    220    «^ 

liehe  Ende  immer  wieder  hinausgeschoben  und  umgangen 
wird.  Schließlich  muß  es  doch  kommen,  aber  nicht  ohne 
einen  letzten  neuen  Trumpf:  ein  freudezitterndes  Presto 
über  das  Thema  d. 

Mit  Recht  ist  die  Cmoll-Sinfonie  Beethovens  seine 

populärste.    Sie  war  das  von  allem  Anfang  ab.    Raum 

bekannt  geworden,  findet  sie  sich  in  den  Programmen 

der  Virtuosen-Konzerte  ebenso  gut  wie  auf  den  eben  ins 

Leben  tretenden  Musikfesten  —  eine  nie  versagende  pi^ce 

de  rösistance! 

fi.T.BeethoTen,        Wie  Beethoven   auf  die   Eroica  die  vierte  Sinfonie 

Fdur-Sinroiiie  folgen  ließ,  so  schickte  er  ähnlich  auf  den  schweren 

(Nr.  6.  Pastormie).  Kampf  der  C  moU-Sinfonie  sich  und  den  Freunden  seiner 

Muse  zur  Erholung  die  Pastorale  nach. 

Die  Biographen  erzählen  uns  von  des  Künstlers  leben- 
digem Gefühle  für  die  Schönheiten  von  Wald  und  Flur, 
von  seinem  unablässigen  Studium  der  Naturphilosophie 
jener  Tage.  Beethoven  hat  seinem  Wohlgefallen  an 
Wachtelschlag  und  Waldesrauschen,  seiner  Freude  und 
innigen  Liebe  zu  Gottes  freier  Schöpfung  in  vielen  Werken 
Ausdruck  gegeben;  in  keinem  glänzender  als  in  seiner 
Pastoralsinfonie. 

Sie  gehört  bekanntlich  der  Programmusik  an,  sie 
ist  aber  ein  Idealwerk  dieser  Richtung,  welche,  wie  früher 
schon  erwähnt,  um  die  Neige  des  18.  Jahrhunderts  in 
Süddeutschland  und  Wien  einen  starken  Anhang  hatte. 
Von  keinem  Lessing  geschreckt,  unbekümmert  um  die 
—  heute  noch  nicht  festgestellten  —  Grenzen  der  Musik 
suchte  ein  großer  Teil  der  damaligen  Instrumentalkom- 
ponisten die  Stoffe  mit  der  größten  Ungeniertheit  in  allen 
Gebieten  der  sichtbaren  und  der  gedachten  Welt:  in 
Philosophie  und  Geschichte,  in  den  Werken  der  Dichter 
und  den  Phänomenen  der  Natur.  Jedes  Verlagsverzeich- 
nis brachte  neue  Beiträge  zur  beschreibenden  Tonkunst: 
Thayer  zitiert  aus  2  Anzeigen  des  Verlegers  Traeg: 
6  Sinfonien  a)  Belagerung  Wiens,  b)  le  portrait  musikal 
de  la  nature,  c)  König  Lear  (im  Jahre  1792),  drei  weitere 
aus  derselben  Zeit,  a)  la  tempesta,  b]  Tharmonie  de  la 


— t    221     4— 

natare,  c)  la  bataille.  »Le  portrait  musikal  de  la  natare« 
war  eine  6 sätzige  Komposition  des  Stuttgarter  J.H.  Knecht, 
der  als  Tolimaler  großes  Ansehen  genoß.  Und  noch  größer 
war  dem  Anschein  nach  die  Zahl  der  ungednickten  Ver- 
suche, welche  auf  diesem  Felde  gemacht  wurden.  Noch 
bis  in  die  Zeit  Schumanns  und  seiner  Neuen  Zeitschrift 
hinein  lassen  sich  die  Spuren  der  reisenden  Orgelspieler 
verfolgen,  welche  wie  Böhner  und  Klotze  ständig  auf 
ihrem  Programm  ein  > Donnerwetter«  mit  sich  f&brten. 
In  einem  Konzertzettel  des  bekannten  Abt  Vogler  findet 
sich  eine  solche  Orgelmalerei,  welche  vor  der  Pastoral- 
sinfonie bereits  an  diese  erinnert:  »das  vergnügte  Hirten- 
leben, von  einem  Donherwetter  unterbrochen,  welches 
aber  wegzieht,  und  sodann  die  naive  und  laute  Freude 
deshalb«.  Beethoven  lachte  wohl  über  solche  Malereien, 
wenn  sie  kindisch  ausfielen,  aber  er  verschmähte  sie 
prinzipiell  nicht,  und  es  war  auch  hier,  wie  Thayer  richtig 
sagt,  sein  Ehrgeiz,  die  Zeitgenossen  in  der  Anwendung 
vorhandener  Kunstformen  zu  übertreffen.  Doch  hat  es 
ihm  wohl  einige  Mühe  gemacht,  bei  der  Pastoralsinfonie 
über  die  Angabe  seiner  Programmideen  ins  Reine  zu 
kommen.  Einmal  steht  im  Skizzenbuch:  wer  einen  Be- 
griff vom  Landleben  hätte,  müsse  den  Komponisten  ohne 
alle  Titelhilfen  verstehen.  Dann  gibt  er  in  der  Partitur, 
in  den  geschriebnen  und  gedruckten  Stimmen  die  Ober- 
achriften  mit  klemen  Unterschieden.  Vom  Anfang  bis  zum 
Schluß  bleibt  er  aber  bei  der  Bemerkung,  daß  die  Sinfonie 
»mehr  Ausdruck  der  Empfindung  als  Malerei«  sein  solle. 
Über  dem  ersten  Satz  steht  jetzt:  »Erwachen  hei- 
terer Empfindungen  bei  der  Ankunft  auf  dem  Lande«. 
Von  der  ersten  ausführlichen  Rezension  ab,  die  über 
die  Pastoralsinfonie  erschien*},  bis  beute  ist  immer  wieder 
die  Reserve  gelobt  worden,  mit  welcher  Beethoven  sich 
darauf  beschränkt  habe,  nur  den  Empfindungen,   den 

r      ■!  I  !■■■■■  ■  ^      ^iit  I        I 

*)  Aligemeine  Musikalische  Zeitung  1810,  S.  241.  Ebenda 
auch  über  die  OmoU-Sinfonle:  S.  630.  Der  zweite  Aufsatz  ist 
von  £.  T.  A.  HofTmann,  dem  Gespenstei-Hoffmann. 


— <^    222     ♦^ 

Innern  Gefühlen  Ausdruck  zu  geben,  welche  das  Land- 
leben erregt.  Nicht  aber  soll  er  versucht  haben,  Äußer- 
lichkeiten des  Naturbildes  nachzumalen.  So  ganz  streng 
ist  das  nicht  zu  nehmen.  Trotz  des  Titels  steht  in  dem 
ersten  Satze  manches,  was  in  die  Kategorie  der  Emp- 
findungen nicht  paßt.  Die  Triolen  der  Klarinetten  und 
der  anderen  Bläser  nach  dem  Abschluß  des  Hauptthemas, 
der  lange  Triller  der  Geigen  vor  der  Reprise  sind  doch 
zu  deutliche  Anspielungen  auf  das  Tun  und  Treiben,  das 
Zirpen  und  Zwitschern  der  Vögel.  Der  feine  Duft  in  der 
Instrumentierung,  der  durchklingende  Schalmeienton,  der 
Brummbaßklang,  die  genrehafte  kurzlebige  Metrik  —  das 
alles  ist  doch  in  diesen  ersten  Satz  als  der  musikalische 
Niederschlag  reeller  Erscheinungen  des  Naturlebens  ge- 
kommen. Uns  soll  das  Werk  darum  nur  um  so  lieber 
sein.  Was  die  technische  Struktur  des  Satzes  betrifft, 
so  zeichnet  sie  sich  durch  ihre  zarte  Beweglichkeit  aus 
und  durch  einen  gewissen  Mmiaturencharakter  des  ver- 
wendeten Materials.  Leicht  tändelnde  Themata  hat  Beet- 
hoven auch  in  der  ersten,  der  vierten,  der  siebenten  und 
achten  Sinfonie  verwendet.  Aber  sie  sind  da  weder  so 
kurz  wie  in  der  sechsten,  noch  werden  sie  so  naiv  und 
zugleich  kühn  hinter  einander  weg  wiederholt.  Kleine 
eintaktige,  einviertelige  Figuren  kommen  10,  20,  30 mal 
hintereinander.  Es  ist  neuerdings  vermutet  worden,  daß 
Beethoven  bei  der  Pastorale  unter  slavischem  Einfluß 
gearbeitet  habe'*').  Wohl  möglich:  Diese  Sinfonie  nimmt 
tatsächlich  die  ganze  Neurussische  Schule  vorweg.  Für 
Kantabilität  und  großen  Ausdruck  bietet  nur  die  zweite 
Hälfte  des  ersten  Thema  eine  bescheidene  Unterlage 


cretc. 


C^_h  [  |i   m  I  h    Der  Zusatz  von  Dankgefühl,  welcher  der 
(-    -'1^1  Heiterkeit  dieses  Gedankens  schon  mit 


*)  Vgl.  Kuhacz,  X.  Sammlung  -  Kroatischer  Volkslieder 
(Agram  1878—85)  Bd.  III,  und  den  Aufsatz:  >Da8  Kroatische 
in  der  Pastoralsinfonle«  in  Allg.  Musikzeitung  1893,  S.  538. 


223 


beigemischt  ist,  kommt  in  dem  Zwischenmotiv,  welches 
zum   zweiten  Thema  überleitet,   noch  beredter  heraus 

In  seinen  immer 
!  neuen  Wieder- 
holungen kann 
es  sich  gar  nicht  genug  tun :  es  wandert  durch  alle  Instru- 
mente, überall  das  Bewußtsein  der  glücklichen  Stunde 
weckend,  zu  ihrem  vollen  Genüsse  ladend.  In  verwandten 
Bildungen  kommt  auch  die  »Szene  am  Bach«  und  der 
»Hirtengesang«  des  Finale  darauf  zurück.  Das  zweite 
Thema  selbst  ist  nur  der  Abschluß  der  beglückten 
Schwärmerei: 


it^Tt'irrrir^^ 


In  den  formellen  Elementen  zeigt  es  sich 

r  r  f  JLJ  r  '  dem  ersten  Thema  mehr  verwandt  als  ent- 
gegengesetzt Für  die  Durchführung  hat 
der  zweite  Takt  des  ersten  Themas  Hauptbedeutung.  Aus 
ihm  entfaltet  Beethoven  breite  Bilder,  wechselnden  Szenen 
der  durchwanderten  Natur  gleich,  die  zum  Staunen  und 
Lauschen  veranlassen.  Dem  Anschein  nach  sind  sie  alle 
ähnlich  leicht  entworfen  wie  die  entsprechenden  Ab- 
schnitte der  4.  Sinfonie.  Beidemale  handelte  es  sich  um 
Ideen,  mit  denen  Beethovens  Phantasie  spielen  konnte, 
nicht  zu  ringen  brauchte.  Soll  aus  diesem  Darchführungs- 
teil  etwas  hervorgehoben  werden,  so  möchte  man  gleich 
beim  Eingang  beginnen.  Hier  sind  die  scharfen  Biegungen 
so  auffällig  und  fesselnd,  die  der  Weg  macht.  Von  B  nach 
D,  dann  nach  O  und  jE^  immer  gehts  im  scharfen  Ruck : 
Landschaftliche  Oberraschungen !  Vom  Glänzenden  wendet 
sichs  nun  zum  Intimen,  und  wie  der  Wechsel  auch  weiter- 
geht, der  Genuß  wächst  nur.  Weil  menschliche  Schwäche 
anmutige  Kunstwerke  hinter  die  leidenschaftlichen  stellt, 
sind  wir  —  England  ausgenommen  —  für  den  ersten 
Satz  der  Pastoralsinfonie  nicht  so  dankbar,  wie  ers  ver- 
dient. Steht  er  doch,  wie  es  Beethoven  auch  sichtlich 
gewollt  hat,  dem  ersten  Satz  der  fünften  an  Kunstwert 


— ♦    224    «^ 

mindestens  gleich.  Moritz  von  Schwind  und  nach  ihm 
neuere  Maler  haben  die  Pastoralsinfonie  zu  illustrieren, 
Theaterdirektoren  und  andere  Leute  von  Phantasie  haben 
sie  szenisch  und  mit  lebenden  Bildern*)  aufzufahren  ver- 
sucht Für  die  andren  Sätze  mögen  diese  Versuche  an- 
nehmbar sein ;  von  dem  Inhalt  und  Charakter  des  ersten 
geben  sie  keine  Ahnung. 

Im  zweiten  Satz  hat  Beethoven  die  malende  Tendenz 
offen  eingestanden:  er  nennt  ihn:  >Szene  am  Bache. 
Im  Vordergrunde  dieser  entzückenden  Komposition  stehen 
als  die  Hauptthemen  zwei  leicht  eingängliche  gesangvolle 
Melodien,  aus  denen*  das  ganze  glückliche  Behagen  einer 
von  allem  Tagewerk  befreiten,  der  herrlichsten  Ruhe  und 
den  lieblichsten  Träumereien  hingegebenen  Seele  spricht. 
Und  wir  dürfen  alles  mit  genießen.  Der  Tondichter 
führt  uns  an  den  sonnigen  Waldbach  hin,  wir  sehen  die 
glitzernden  Wellen  dahingleiten  und  hören  ihr  melodisches, 
fleißiges  Gemurmel.  Tausende  von  Lichtern  blitzen  durch 
die  Bäume;  von  ihren  Zweigen,  ihren  Gipfeln  schallen 
kleine  zarte  Stimmen;  es  neckt  sich,  es  lockt  sich;  es 
lebt  im  Laub  und  im  Grase;  der  Kuckuck  ruft,  die  Wachtel, 
die  Nachtigall,  der  Goldammer  und  aus  der  Schar  der 
gefiederten  noch  so  mancher  andre  ungenannte  Sänger. 
Es  ist  ein  so  lebendiges  Bild  von  dem  heimlichen  Weben 
der  Natur,  so  glücklich  gemischt  mit  menschlicher  Poesie, 
so  natürlich  in  dieser  Mischung  und  in  seinem  ganzen 
Verlaufe.  Die  Musik  des  Satzes  ist  fast  mehr  klanglich 
als  gedanklich.  Es  trillert  fortwährend  in  Viohnen, 
Flöten,  Oboen,  die  Bässe  und  Hörner  halten,  durch 
Synkopen  doppelt  bemerklich,  lange  Töne,  es  schwirrt 
von  kleinen  Motiven.  Das  erste  Thema  im  Satze  wächst 
sich  aus  solchen  verstreuten  Anätzen  ziemlich  unmerklich 
zu  einer  Melodie  aus  (B  dur],  schwärmerisch,  trttumerisch, 
mit  einem  frommen  Anklang.  Das  zweite  Thema,  das 
die  Fagotts  bringen,  spricht  Freude  und  Entzücken  etwas 

^JVgl.  Jahn,  0.  Gesammelte  Aafs&tze:  S.  260  »Beethoven 
Im  Malkasten«. 


--♦     225    ♦— 

lebhafter  aus,  aber  doch  immer  noch  zart.  Die  Durch- 
führnng  ist  kurz,  modaliert  aber  Tiel.  Da,  wo  sie  nach 
Gdur  tritt,  läßt  sich  in  einem  Arpeggio  der  Flöte 
—  wie  Beethoven  Schindler  mitteilte  —  der  Gold- 
ammer hOren.  Der  berühmte  Scherz,  wo  Nachtigall, 
Wachtel  undKncknck  zusammenwirken,  befindet  sich  in 
der  Coda. 

Im  folgenden  Satze  wird  ein  »lustiges  Zusammensein 
der  Landieutec  geschildert  Man  versammelt  sich,  sel^r 
munter  und  leichtfüßig  eilt  das  junge  Volk  herbei: 

All«|:ro. 

-jHliNN|JM'll|l||||i|l|j.ljjljjjjlj 

Sofort  wird  auch  der  Vorschlag  zu  einem  Tänzchen  ge- 
macht, zu-  ^  ^-w  Als  im- 
nächst  j(  J  If  *f  1  ^  *f  f  I  r  '  L,Jf-=>:^mermehr 
noch  leise:'6'~^'  '  '  '  ^^kommen, 
und  es  lauf  er  und  lauter  wird,  da  ist  die  Möglichkeit 
eines  Reigens  Tatsache  und  wird  mit  urkräftiger  all- 
gemeiner Zustimmung  begrüßt.  Und  nun  beginnen  jene 
drolligen  Szenen,  in  welchen  Beethoven  sich  als  Bauern- 
maler mit  vollendetem  Humor  und  mit  weitgehender 
Realistä  neben  und  über  die  Teniers,  J.  von  Ostade, 
Adrian  Bronwer  und  die  andern  Größen  des  Faches  stellt. 
In  der  Form  dieser  Schilderungen  liegt  ein  zweiter  großer 
Spaß,  denn  es  ist  darin  sehr  übermütig  die  saloppe  Art 
und  Weise  kopiert  und  parodiert,  in  welcher,  wie  heute 
noch,  auch  zur  Zeit  der  Wiener  Meister  ländliche  Orchester 
zuweilen  ihr  Pensum  Tanzmusik  absolvieren.  Das  sind 
ganz  die  richtigen,  armen,  müden  und  schlaftrunkenen 
Bierfiedler.  Man  hört  lange  Strecken  nur  begleitende 
Mittelstimmen  und  Rhythmus.  Dann  setzt  eine  Oboe 
ein,  aufs  Geratewohl.  Sie  scheint  eben  erwacht  und 
hinkt  ihre  Melodie  ein  Viertel  nach  der  Zeit  hinterher. 
Ab  und  zu  gibt  auch  ein  anderer  ein  paar  Töne  drein, 
um  gleich  wieder  zu  verschwinden.  Von  besonderer 
Komik  ist  namentlich  der  stereotype  Einsatz  des  ersten 
Fagott,  der  immer  nur  f  a  biflst.    Daß  Beethoven  spezi- 

KretzscliBar,  F&hNr.     1,  1.  15 


226 


fisch  östreichische  Vorbilder  für  diesen  ausgelassenen 
Scherz  im  Auge  hatte,  zeigt  der  zweite  Teil  dieser 
Tanzmusik:  der  Zweivierteltakt,  welcher  den  Dreiviertel 
ablöst.  Die  alte  östreichische  Tanzmusik,  ist  suiten- 
mäßig gehalten  und  liebt  den  plötzlichen  Wechsel  der 
Rhythmen.  Nimmt  man  zu  der  Melodie  dieses  neuen 
Satzes 


mit  ihrem  Lärm  und  ihren  gewaltsamen  Akzenten  noch 
die  breiten  Rhythmen  und  die  unbewegliche  Harmo- 
nie der  Begleitung,  so  ist  das  Bild  einer  plumpen  und 
schwerfälligen  Lustigkeit,  einer  Lustigkeit  in  Holzschuhen 
und  Aufschlagstiefeln,  vollendet.  Ganz  drastisch  ist  der 
Schluß  des  Mittelsatzes.  Man  tobt  zuletzt,  daß  der 
Atem  ausgeht:  eine  Fermate  mit  diminuendo  bildet 
das  überraschende  £nde  dieses  die  Stelle  des  gewöhn- 
lichen Trio  vertretenden  Teils.  Die  Repetition  des  Haupt- 
satzes beginnt,  sie  wird  aber  schon  bald  durch  eine 
Generalpause  unterbrochen.  Augenscheinlich  macht  sich 
etwas  Bedenkliches  bemerkbar.  Endlich  ist  man  wieder 
im  alten  Geleise;  schon  setzt  die  Dorf-  AUeyre. 
rousik  wieder  ein:  Da  kommt  statt  des  ,V'Ü1!'|  |  ^ 
regelrechten  kräftigen  Fdur- Akkords  ein  J^ 
in  den  Kontrabässen  und  Gellos.  Das  ist  ein  -Don- 
nerschlag in  der  Feme.  Man  flüchtet,  rettet  sich 
und  ruft  ängstlich  und  klagend  durcheinander: 

^r-H        Das '  Grollen 

P'\>''^ST2iJTf'\\\\i  ||,1'        ifi  i|  Tf       des  Donners 
**        ji. vi»i.      '  •'  V  J  '    \^^  „„^tJ    ji^  i,v»i.        wiederholt 

sich,  rückt  nä^  s       5     g*  ^.^  ^\ 

her,    und   nun 

im     Fortissimo 

bricht       das  ^   .  . 

Wetter      los.^^^p 

Blitze  zucken :  ^ 

schauer    platzen    nieder    in    mächligen    Unisonos    des 


ete. 

Windstöße 
fahren  ein- 
her,Regen- 


-^     227     ^)— 

ganzen   ^   ,  .    ^'   ^    ^,     _i«  ^^^  Momente 

Orche-^^^  1      p  |  f  ^p  p  f  f  F  P  r  I  ^1  '  =  tritt    unheim- 
sters:.  ^        iT  liehe  ^uhe  ein, 

dann  zackt  es  wieder  auf  und  schlägst  scharf  und  furcht-^ 
bar  drein.  Den  Ernst  der  Situation,  den  Höhepunkt  der 
Krisis  bezeichnen  die  Bässe  mit  ihrem  düstern  Skalen- 
gang und  sei-  j-t-  .  -tj  .  .  ^  ^°  ^^ 
nen  erschrecken-  ^  ^*'i>  T  t  I  f"  \f  \  a»  Jj^  furctt- 
den  Akzenten :  ^^v  if  ^^  bare 
Grollen  und  die  Aufregung  der  Orchestermassen  wirft 
jetzt  auch  der  Piccolo  seine  schrillen  Töne,  die  Pauke 
wirbelt  stärker,  und  zum  ersten  Male  in  der  Sinfonie 
stürmen  die  Posaunen  drejn.  Die  Harmonie  ist  auf 
einem  vier  Takte  langen  Septimenakkord  erstarrt!  Nun 
scheint  aber  auch  das  Schlimmste  vorbei  zu  sein. 
Und  so  gewaltig  Beethoven  bis  hierher  im  Auftürmen 
und  Drohen  war,  so  rührend  teilt  und  glättet  er  nun 
die  Wogen  und  lenkt  zu  dem  letzten  Teil  der  Sinfonie 
über,  dem  »Hirtengesang«,  der  unmittelbar  ohne  Pause 
an  das  »Gewitter«  anschließt.  Wenn  wir  an  diesem 
beendeten  Satz  die  Wahrheit,  die  Macht  und  die  Natur- 
treue der  Darstellung  bewundern,  wollen  wir  nicht  ver- 
gessen, auch  der  noch  schwierigeren  Kunst,  die  er  hier 
voll  bewiesen,  unser  Augenmerk  zu  schenken.  Das  ist  das 
Maß,  welches  Beethoven  bei  der  Ausführung  der  für  die 
Tonkunst  dankbaren  Aufgabe  hielt,  der  souveräne  Ge- 
schmack mit  dem  er  aufhörte,  nachdem  das  Nötigste 
aufs  treffendste  gebracht  war. 

Der  »Hirtengesang«  (Allegretto  <^/g)  soll  »frohe  und 
dankbare  Gefühle  nach  dem  Sturme«  schildern.  Er  tut 
es  mit  Motiven,  welche  von  hier  und  da  erklingen  und 
deren  pastoraler  Charakter  und  deren  volkstümliche  Ein- 
fachheit Zitate  unnötig  machen.  Er  tut  es  mit  frommem 
innigem  Gesang,  mit  Wendungen  in  das  muntere  Gebiet 
und  mit  mancher  versteckten  und  sinnigen  Anspielung 
an  Motive  des  ersten  und  zweiten  Satzes.  Aber  er  tut 
das  alles  in  einer  etwas  sehr  ausführlichen  Weise,  mit 
Variationen,  Fugatos  und  andern  Formen,  die  der  Wirkung 

16* 


^ 


n 


-^     228    ♦— 

seiner  schönen  Idee  von  jeher  etwas  Eintrag  getan  haben. 
Zu  Beethovens  Zeit  wurde  darauf  hingewiesen,  daß  Haydn 
in  seinen  Jahreszeiten  das  gleiche  Sujet,  weil  kftrser, 
effektvoller  behandelt  habe.  Der  formeU  beachtens- 
werteste Zug  an  der  Pastoralsinfonie  ist  ihre  Dreisätzig- 
keit.  Sie  zieht  ^eich  wie  die  fünfte,  die  mit  ihr  ent- 
stand, Scherzo  und  Finale  zusammen.  Wir  finden  andere 
Merkmale  eines  solchen  Parallelismus  an  Beethovenschen 
Werken  häufig. 

Die  siebente  und  achte  Sinfonie  sind  wieder  Zwillings- 
werke: beide  wurden  in  demselben  Jahre  1809  skizziert, 
beide  1812  —  diie  achte  in  Linz  —  vollendet,  bald  nach 
einander  im  Dezember  1818  und  Februar  1814  aufgeführt 
und  später  als  op.  92  und  93  veröffentlicht.  Die  Musik 
beider  Werke  trägt  die  Züge  einer  und  derselben  sonnigen 
Heimat,  beide  sind  von  grandioser  Heiterkeit,  die  eine 
mit  einem  starken  Schatten  darin,  die  andere  ganz  un- 
getrübt —  aber  merkwürdigerweise  hat  die  achte  nichts 
von  der  überreichen  Popularität  der  siebenten,  der  Adur- 
Sinfonie,  erringen  können.  Zum  Ärger  Beethovens, 
welcher  zu  sagen  pflegte:  die  achte  sei  »viel  bessere  als 
die  siebente.  In  Wien  wurde  jahrelang  die  Pastoral- 
sinfonie schlechthin  als  die  Sinfonie  in  Fdur  angezeigt, 
als  ob  die  achte  gar  nicht  existierte*}.  Erst  neuerdings 
zeigen  die  Konzertzettel  die  Tendenz,  dieses  Hohelied  des 
Humors  zu  Ehren  zu  bringen. 
li.T.BeetkoTea,  Ähnlich  wie  die  zweite  Sinfonie  eröffnet  die  sie- 
Ador-SinfoDie  beute  eine  lange  ausführliche  Introduktion,  ein  herr- 
(^T.i).  liebes,  träumerisches  Tongemälde,  in  dessen  Bann  der 
Zuhörer  ganz  vergißt,  daß  es  nur  eine  Einleitung  sein 
soll.  Auch  Beethoven  hat  mit  gleicher  Liebe  kaum  eine 
zweite  Introduktion  behandelt.    Ihre  Hauptmotive  sind 

Vöto  soitennto. 

und 


*)  £.  Hanslick:  Aus  dem  Konzertsanl  (1870),  S.  319. 


--♦    229    «--    . 

beide  zum  ersten  Male  von  der  Oboe  eingeführt;  gigan- 
tische Skalen  bilden  den  Obergang.  Ähnlich  wiegln  der 
letzten  Ouvertüre  zu  >Fidelio«,  der  in  E,  benutzt  Beet- 
hoven die  ersten  beiden  Noten  des  Adur-Themas  zu 
romantischen  Bildern,  Über  denen  jetzt  Mondschein,  jetzt 
der  Glanz  der  prangenden  Sonne  liegt.  Plötzlich,  wie 
auf  den  Wink  eines  verschwiegenen  Programms  bricht  er 
dann  diese  Szene  erhabner  Schwärmerei  ab  und  lenkt  in 
neckischer  Führung  der  Instrumente  über  ins  Vivace, 
dessen  Hauptthema 

Vivace. 


zugleich  auch  im  wesentlichen  das  einzige  des  Satzes 
ist  Derselbe  ist  in  dieser  Beziehung,  in  der  Ausbeutung 
eines  beschränkten  Qrundmaterials  mit  dem  Bingangs- 
satze  der  Gmoll-Sinfonie  verwandt,  im  Charakter  selbst- 
verständlich ganz  verschieden.  Beethoven  gewinnt  dem 
naiven  pastoralen  Grundgedanken  des  Satzes,  der  zuerst 
wie  ein  Nachklang,  ein  Supplement  der  sechsten  Sinfonie 
auftritt,  Wendungen  von  hoher  Pracht  und  Erhabenheit 
ab;  das  Gebiet  des  Leidenschaftlichen  und  des  Dunklen 
wird  nur  gestreift.  Reich  ist  der  Satz  an  langgemessenen 
Perioden,  Produkten  einer  ungewöhnlichen  Macht  und 
Größe  der  Empfindung;  eigentümlich  sind  ihm  die  schroffen 
Modulationen  und  der  unvermutete  und  unvermittelte 
Wechsel  extremer  dynamischer  Nuancen.  In  beiden  Merk- 
malen äufiert  sich  exzentrische  Stimmung.  Auch  das  kurz 
abbrechende  Element,  das  den  Schluß  der  Einleitung 
charakterisierte,  kehrt  in  diesem  Vivace  wieder:  mit 
Dissonanzlötung,  Modulationssprung  und  Wechsel  von  ff 


-~<o     230     *-- 

und  pp  verbunden,  sehr  kühn  und  neu  gegen  den  Schluß 
des  ersten  Teils,  wo  dem  lauten  Akkord:  a-cis-e-fis  vor- 
übergehend ein  stilles  —  a  c  f  —  folgt  Die  Durchführung 
beginnt  ähnlich  sprunghaft.  Wir  sind  plötzlich  in  Cdur, 
aus  wildem  Lärm  in  verschwiegner  Idylle:  tief  unten 
flüstern  und  murmeln  die  Bässe  das  Thema.  Bei  der 
Reprise  geht  es  mit  Sturm  und  Skalenlauf  in  das  pasto* 
rale  Hauptthema;  erst  später  wiederholt  es  die  Oboe  in 
seinem  angestammten  Ton.  Wie  dieses  eine  Beispiel 
so  ist  der  ganze  Verlauf  dieses  Teils  Wiederholung  in 
freister  Art;  in  der  Instrumentierung,  im  ganzen  Cha- 
rakter erscheint  das  alte  Material  neu  und  frisch 
belebt  Die  Coda  ist  mehr  als  je  Beethovenisch.  Sie 
tritt  unter  seltnen  Zeichen  ein:  mit  Generalpause»'  mit 
einer  ganz  unerwarteten  Ausweichung  der  Harmonie 
nach  A3  und  einer  langen  Satz- 

bildung  über  einem  knrzenW^^ •  sr^fT^  ||ji  J  J,^ 
Basso  ostinato  folgenden  Inhalts  *  "^'   '  ^ 

Was  uns  andere  Stellen  vernehmlich  genug  andeuten, 
das  zeigt  uns  diese  ganz  deutlich  und  unverkennbar,  daß 
nämlich  hinter  der  anscheinend  dominierenden,  manch* 
mal  grellen  Heiterkeit  dieses  Satzes  doch  höhere  und 
ernstere  Gedanken  wachen,  die  sich  nicht  übertäuben 
lassen.  Es  besteht  ein  Znsammenhang  zwischen  dieser 
Stelle  und  dem  edlen  Pathos  der  Introduktion,  ein  Zu- 
sammenhang, der  sich  auch  noch  in  der  Melancholie  des 
AUegretto  und  in  den  feierlichen  Visionen,  welche  dem 
Trio  des  Scherzo  zu  gründe  liegen,  verfolgen  läßt  Wie 
ein  leitender  Faden  geht  durch  die  ersten  Sätze  dieser 
Sinfonie  der  halb  verschwiegene  Kampf  zwischen  einer 
jetzt  harmlosen,  alltäglichen,  jetzt  wilden  Fröhlichkeit 
und  einem  höheren  Sinn.  Die  Sinfonie  erscheint  unter 
diesem  Gesichtspunkt  als  ein  Lebensbild,  aber  nicht  als  ein 
rein  freundliches.  Das  Ende  deckt  ein  ironischer  Humor. 
Der  zweite  Satz  der  Adur-Sinfonie,  AUegretto  über* 
schrieben,  ist  von  alters  her  berühmt  Die  Berichte  aus 
den  Jugendjahren  des  Werkes  teilen  fast  von  jeder  Auf- 
führung mit,  daß  dieser  Teil  zur  Wiederholung  verlangt 


231 


worden  and  gebracht  sei.  Das  Allegretto  besitzt  jene 
seltne  Art  von  Originalität,  die  sofort  verstanden  und 
sympathisch  aufgenommen  wird.  Am  Eingang  und  Aus- 
gang des  Satzes  steht  wie  eine  Erscheinung  aus  fremdem 
Lande  ein  Bläserakkord,  auf  eine  Quartsextharmonie  ktühn 
und  vielsagend  hingestellt.  Dann  heginnen  die  tiefen 
Saiteninstrumente  still  und  leise  das  merkwürdig  resig- 
nierte Thema: 


i(jiir3if 


m 


mit  dem  gehrochnen  Marschrhytfamus  hinzustammeln. 
Erst  mit  dem  Eintritt  der  Geigen  kommt  Fluß  in  die 
Sprache:  Celli  und  Bratschen  begleiten  mit  einer  Melodie 
von  innig  sehnsüchtigem  Ausdruck 


Je  mehr  sie  aus  ihrem  anfänglichen  Versteck  heraus- 
tritt, um  so  wärmer  wird  der  Ton  der  Darstellung.  Wie 
einer  Bitte  die  Verheißung,  so  folgt  diesem  edel  weh- 
mütigen Satze  eine  einfach  sanfte,  freundliche  Melodie, 
die  wie  eine  Mutterstimme  tröstend  und  zusprechend  aus 
der  Klarinette  weich  herüberklingt: 


{fi'iiTTTJ'i'  irTTf  J  uJirriM  ifiJi 


Der  einfache  Kontrast  von  Moll  und  Dur  wirkt  hier  mit 
ganz  ursprtbglicher  Elementarkraft.  Die  Bässe  klopfen 
unter  diesem  Gesang  den  alten  Marschrhythmus  leise 
weiter,  der  wie  Cerberus  unter  Orpheus*  Saitenspiel  zu 
erweichen  scheint.  Mit  einem  MaJe  aber  fährt  er  wie 
eine  Tigertatze  hervor;  schrill  und  heftig  durchsausen 
die  trotzigen  Achtel  das  Orchester  von  einem  Ende  zum 
andern.   In  veränderter  und  erweiterter  Form  beginnt  die 


Repetition.  Nachdem  die  zweite  Gruppe  wieder  vorbei- 
gezogen, folgt  das  Ende  sehr  rasch  mit  all  der  eigen- 
tümlichen und  schmerzlichen  Schönheit  eines  gewalt- 
samen Abschiedes. 

Mit  derselben  Erscheinung  eines  unbarmherzigen  Los- 
reißens von  prächtigen  Bildern  endigt  auch  der  dritte 
Satz.  Das  Trio  mit  dem,  nach  Abb6  Stadler*)  einem 
östreichischen  Wallfahrtsgesang  entnommenen  Thema: 

Astal  meno  pr«tto. 

bildet  den  paradiesischen  Teil  dieses  Satzes.  Es  ist  nicht 
auszusagen,  welch  ein  zauberhaftes  Tongebilde  Beet- 
hoven dieser  einfachen  Melodie  entlockt  hat,  wie  er 
hier  die  Bilder  steigert:  von  der  lieblichen  stillen  Idylle, 
mit  welcher  die  Holzbläser  einsetzen,  führt  er  uns  bis 
zum  Pomp  emes  großartigen  Kirchenfestes,  bis  zu  den 
im  Sonnenglanze  strahlenden  und  feierlichen  Schlüsse, 
in  dem  das  Thema  unter  Pauken  und  Trompetenklang 
mit  dem  vollen  Orchester  wie  auf  stolzem  Siegeswagen 
einherzieht.  In  einer  genial-energischen  Weise,  die  ohne 
gleichen  ist,  hat  Beethoven  in  diesem  Trio  den  Effekt 
einer  sogenannten  liegenden  Stimme  angebracht  Den 
ganzen  Triosatz  durchschimmert  der  gleiche  Klang  eines 
festgehaltenen  a;  bald  schwebt  dieser  Ton  in  den  Vio- 
linen über  den  Melodien,  bald  leuchtet  er  aus  den 
unteren  Instrumenten  in  den  Gesang  des  Orchesters  hin- 
ein; am  eigentümlichsten  an  den  Stellen,  wo  das  zweite 
Hom  ihn  murmelt.  Schärfer  als  sonst,  vielleicht  mit 
Ausnahme  seiner  ersten,  der  C  dur-Sinfonie,  wollte  Beet- 
hoven hier  das  Trio  gegen  den  Hauptsatz  kontrastieren 
lassen.  Die  Tonarten  zeigen  das  schon:  D  zu  F,  Der 
Hauptsatz  selbst  ist  ein  echter,  der  Kaprizen  voller 
Schwarmgeist. ' 


*)  Vgl  A.  W.  Tbayer:    U  v.  Beethoveng   Leben   (1879) 
III,  191. 


V 


^ 


233 


Pf  est« 


Seine  Haupttrümpfe  spielt  er  in  seinem  zweiten  Teile 
ans,  wo  auf  Grund  der  Motive  a  und  e  der  überraschendste 
Schabernack,  namentlich  auch  in  metrischen  Dingen  ge- 
trieben wird.  Der  Bau  des  ganzen  Satzes  ist  abweichend, 
aber  einfach,  nämlich:  Hauptsatz  und  Trio  zweimal.  Der 
Hauptsatz  wird  zum  dritten  Male  durchgespielt,  auch  das 
Trio  setzt  zum  dritten  Male  ein,  gelangt  aber  nicht  über 
den  zweiten  Takt  hinaus;  sondern  Beethoven  schlägt  ein 
Schnippchen  und  > spritzt  die  Feder  ans«,  wie  Schumann 
sagte. 

Das  Finale  ist  einer  der  ausgelassensten  Sätze  in 
der  ganzen  Musik:  Beethoven  nicht  bloß  »aufgeknöpft«, 
wie  er  sich  gern  sah  und  nannte,  sondern  Beethoven  in 
einer  demonstrativen,  wilden,  trotzigen  Lustigkeit,  die  zu 
einem  Teil  derselbe  >Galgenhumor«  zu  sein  scheint,  der 
in  seinen  letzten  Kammermusikwerken  öfters  wiederkehrt. 
Dieser  Satz  tollt  daher  wie  von  der  Tarantel  gestochen, 
jauchzt,  schreit  auf 


pocht  in  fU>erschäumender  Kraft 


rfiji^u  \fsm 


und  mischt  auch  in  seine  Gra- 
zie  einen   Zug   des   Grotesken: 


*)  Giove  macht  darauf  anfttierksam ,  daB  daa  Thema  auch 
in  Beetkovens  Aceompagnement  za  dem  IrUchen  Lied  »Nota 
Greina«  vorkommt 


234 


(ji   vfr  !  rl^  tj7  IJ1?i   I'iI  i|J,  |I|I  >^^  ■  1 1 /T  Tfl 


^  1  ft  1  r"''^  ''ft  ■  I  i?f  ^'ft !  iii^  ^'iH  <jTi^  <'rr  ^n 


-     ./>  ^^^  formelles  Element, 

"T  'tf  I  V  '  ^y  ^  '  Cf  Ir^^^  welches  sich  an  diesen 

^  J»^r  p  y  Themen  nicht  einfach 
beweisen  läßt,  aber  in  ihrem  Zusammenhang  ersicht- 
lich wird,  ist  die  Hereinziehnng  ungarischer  Rhythmen, 
Akzente  und  Anklänge.  Unter  den  Kombinationen,  in 
welchen  Beethoven  das  hier  skizzierte  Ideenmaterial 
entwickelt,  sei  die  Fdar-Stelle  am  Anfang  der  Durch- 
führung hervorgehoben.  Da  stößt  der  Fluß  auf  ganz 
merkwürdige  Hindemisse,  zu  deren  Beseitigung  die  Vio- 
linen und  die  Bässe  sich  grotesk  riesig  anstrengen. 
Die  Kühnheit  der  thematischen  Entwickelung  erreicht 
den  Gipfel  mit  dem  kolossalen  Orgelpunkt  der  Coda. 
Wir  stehen  hier  ganz  in  der  Nähe  des  Maßlosen  und 
tun  gut,  im  Interesse  unsrer  Jagend  zu  bemerken  und 
zu  bekennen,  daß  Beethoven  zuweilen  geneigt  war, 
seine  Intentionen  mit  übermütiger  Hartnäckigkeit  auf 
die  Spitze  zu  treiben.  Eine  >ungebändigtec  Persönlich- 
keit nennt  ihn  Goethe  in  einem  Brief  an  Zelter.  Es 
läßt  sich  nicht  leugnen,  daß  darunter  auch  die  klang- 
liche Klarheit  und  Ausführbarkeit  unsres  Finales  gelitten 
hat  Wenn  ein  Teil  unsrer  beutigen  Kritik  die  von  Fach- 
und  Zeitgenossen  Beethovens  gegen  diese  Punkte  ge- 
richteten Einwendungen  schnellfertig  auf  Neid  und  Be- 
schränktheit zurückzuführen  beliebt,  gibt  er  sich  selbst 
eine  Blöße.  Unbedingte  Bewunderung  ist  eine  erhebende 
Erscheinung,  jedoch  nur  wenn  sie  auf  zureichender  Ein' 
sieht  beruht. 
L.T.BeetboTen,  Die  ac*hte  Sinfonie  (Fdur)  beginnt  ohne  Einlei- 
Fdur-Sinfonio  tung  mit  Themen,  die  eine  laute  Fröhlichkeit »  ein  Be- 
(Nr.  8).  hagen,  aber  noch  nicht  einen  wirklichen  Humor  aus- 
drücken: 


236 


Haoptihenift. 
Allag^o  Tivaee. 


n  I^J  J  lUi 


In  dem  Abschnitt  b  des  Hauptthemas  liegt  sogar  ein 
sinnendes,  zögerndes  Element,  welches  das  zweite  Thema, 


trotz  seines  tändelnden  Eintritts,  teilt  und  in  fast  stär- 
kerem Grade  besitzt.  Der  Schalk  kommt  erst  später 
und  zwar  am  Schlüsse  der  Wiederholung  dieses  zweiten 
Themas  durch  die  Bläser.  Da  machen  die  Bässe  dem  Ritar- 
dando  und  ^^t»  .-■      ^und  wecken  Kraft  und 

Septimenakkord  v  „TJ  "J'"^    [^  Leben  in  der  Versamm- 
lung.  Doch  bleibt  dem 


ein  rasches  Ende  ^* 


ganzen  Satze  ein  elegischer  Rest  —  sehr  schönen  Aus- 
druck hat  er  in  dem  zweiten  Seitenthema  gefunden 


Der  Hauptzweck  der  Durchführung  ist,  ihm  die  weitere 
Ausdehnung  zu  bestreiten,  was  in  einer  launig  barschen 
Art  auch  ausgeführt  wird.  Beethoven  beginnt  diese 
Durchführung  mit  einer  kleinen  Bosheit  gegen  die  Brat- 
schen; sie,  die  sonst  immer  in  Deckung  marschieren, 
stellt  er,   als  hätten  sie  den  allgemeinen  Rückzug  ver- 


-^     236 

säumt,  allein  ^  ^  ,  Diese  immer  wiederhol- 
hinaus  mit  .y  [  p  [  I  Ji  .  ten  vier  Noten  sind  die 
dem    Motiv        ^■"'"^  kläglichen    Oberbleihsel  - 

des  glänzenden  Schlusses,  den  das  Tutti  dem  ersten  Teil 
des  Satzes,  der  Themengruppe  gab.  Sie  sind  zugleich  die 
variierten  Stichworte  f&r  den  Einsatz  des  zweiten  Themas. 
Doch  dieses  zweite  Thema  kommt  nicht,  sondern  Fagott, 
Klarinette,  Oboe,  Flöte  nacheinander  benutzen  die  Cre- 
legenheit,  das  erste  Motiv  des  Hauptthemas  in  sentimen- 
tale Beleuchtung  zu  bringen.  Das  Tutti  föhrt  lärmend 
dazwischen  und  setzt,  nachdem  die  Versuche  noch  einige- 
male  sich  wiederholt  haben,  auch  seine  Auffassung  durch: 
Kraft  ist  Trumpf.  Aus  den  ersten  6  Noten  werden  durch 
Sequenzen  Perioden  gebildet,  in  denen  erst  die  Bässe 
(Dmoll),  dann  die  zweiten  Geigen  (Gmoll),  die  ersten 
Geigen  (Fmoll)  die  Führung  übernehmen.  Die  Instrumente 
reißen  sich  förmlich  um  das  Motiv;  vom  Einsatz  des 
Desdur  ab  stehen  wir  vor  einer  nahezu  beängstigen- 
den Kampfszene.  Die  Bässe  bleiben  die  Sieger,  stellen 
die  Ordnung  wieder  her  und  beginnen  in  unbeschreib- 
lich stolzem  Ton  die  Reprise  des  Satzes.  Die  Coda 
fängt  nochmals  kontrapunktische  ^  ,^ 
Neckereien  an.  Doch  mit  dem  *>  f  p^pplJ  I  t  { 
heimlichen  Schluß  des  Satzes:  j»  ^"^  . 
bleibt  das  letzte  Wort  den  Grazien. 

Es  ist  interessaüt,  aus  den  Skizzenbüchern  Beethovens 
zu  ersehen,  daß  der  ganze  schöne  Ausgang  des  ersten 
Satzes  (von  der  Fermate  ab)  nachkomponieri  ist. 

Dem  stark  humoristischen  Grundzug  dieser  Sinfonie 
zuliebe  hat  Beethoven  auf  einen  langsamen  Satz  in  ihr 
verzichtet  und  infolge  dessen  den  Mitteisätzen  dieses 
Werkes  einen  von  dem  an  dieser  Stelle  Gebräuchlichen 
ganz  abweichenden  Charakter  gegeben.  Der  zweite  ist 
ein  richtiges  Allegretto;  es  hüpft  auf  Kinderfüßen  dahin, 
jugendlich  durch  und  durch,  unschuldig  und  reizend, 
scheinbar  wie  in  einem  Zuge  hingeschrieben.  Es  ist  eins 
der  genialsten  und  gewinnendsten  Stücke  im  graziösen 
Genre.   Ursprünglich  hatte  es  Beethoven  als  einen  Kanon 


r' 


237 


auf  Mäkei  nnd  sein  Metronom  entworfen.  Die  Sechzehnte!- 
Akkorde,  mit  denen  die  Bläser  einsetzen,  sollen  also  das 
Klappern  dieses  Instruments  nachahmen.  Der  dritte  Satz 
ist  ein  echter  Menuett  im  alten  Schnitt,  in  halh  liebe- 
voller, halb  humoristischer  Hingabe  an  altvaterisches 
Wesen  und  Brauch  ausgefQhrt.  Wie  getreu  ist  die  gemüt- 
liche Gravität  und  die  In-  Tcnpo  ai  km.  des  Anfangsmotivs, 
nigkeit,  mit  der  vordem  /  f  ,  j^==wie  launig  die  Um- 
getanzt wurde,  in  dem  "ir  ''  '  ständlichkeit,  mit 
der  angesetzt,  ausgeholt  und  der  Takt  probiert  wurde,  in  dem 

Traip«  dl  lUBnett«,  wiedergegeben!    Das  Trio 

"  *  ist  ein  verklärter  Ditters- 
dorf,  eine  wnnderliebliche 
IdyUe  aus  der  altwieneri- 
schen Musikantenzeit,  tiber  dessen  Charakter  der  Klavier- 
auszug keine  genügende  Auskunft  gibt.  Es  stehen  in  dem 
Satze  manche  kleine  Scherze  im  Stile  der  Dorfmusik  in 
der  Pastoralsinfonie.  —  Um  allen  Mißverständnissen  in 
der  Behandlung  dieses  dritten  Satzes  vorzubeugen,  hat 
ihn  Beethoven  »Tempo  di  Minuettoc  überschrieben,  d.  h. 
nicht  ein  blofier  Titularmenuett,  wie  ihn  Haydn  oft 
schreibt,  sondern  einen  mit  der  Poesie  und  dem  Tempo 
der  Spießbürgerzeit! 

Das  Finale,  dessen  schon  früher  erwähntes  Haupt- 
thema: 

AUefTo  Htm«. 


ebenso  wie  das  des  ersten  Satzes,  nach  Ausweis  des 
Skizzenbuchs,  zu  den  schwer  gefnndnen  gehört,  steht  mit 
seinen  thematischen  Wurzeln,  aber  auch  mit  seiner  Ent- 
wicklung, seinem  leichten,  schäumenden,  geistsprühenden 
Wesen  auf  dem  Boden  Haydnscher  Kunst  Es  ist  ein  ins 
Beethovensche  ausgebauter  und  übersetzter  Haydn;  der 
jüngere  Meister  hat  den  Pulsschlag  etwas  gesteigert,  die 


^ 


—fr     238     «>- 

Überrasch UD gen  noch  um  einige  Grade  drastischer  g^ 
macht,  die  Formen  verbreitert  und  Gegensätze  hinein- 
gestellt, die  dem  alten  fern'  lagen.  Ohne  Gegensätzlichkeit 
ist  In  Strumen  talkomposition  schwer  zu  betreiben,  insbe- 
sondere humoristische.  Hier  aber  geht  die  Gegensätzlich- 
keit bis  zur  Selbstverspottung:  Das  Hauptthema  verläuft 
sich  von  der  letzten  hier  aufgezeichneten  Note  noch 
8  Takte  weiter  in  Cdur  immer  leiser^  heimlicher.  Und 
allemal  fällt  in  die 
letzten  Töne  dann 
Lärm  ein,  der  uns 

allen  Himmeln  wirft:  ''^  "  jO^ 
Dieses  eis,  ein  humoristisches  Ungeheuer,  ein  gänzlich 
unmusikalisches  Phänomen,  ein  Schreckschuß,  ein  Ober- 
grüf  des  äußersten  Realismus  in  der  Kunst  ist  eine  Haupt- 
quelle für  die  originelle  Wirkung  des  Finales  der  8.  Sin- 
fonie. Es  hat  nirgends  wieder  seinesgleichen;  vielleicht 
glücklicherweise.  Nach  dieser  verwegnen  Aufführung  des 
Hauptthemas  setzt  nun  das  zweite  Thema  lieblicher  alsjeein 


die  ^    ^     x^ 


r  r  ^  pTf  <V  II"!    Es  schließt  mit  einem  Anhang: 

A  _  _     ■  ix-  ■  #«     I*  der    ganz    wie    leises 

•^  r^i"  Crif  r  LT  lT=€t^    Kichern    klingt     Die 


^  Themengruppe  ist  da- 

mit zu  Ende.  Der  Satz,  einer  der  längsten  Beethoven- 
sinfoniesätze, hat  modifizierte  Rondoform:  es  setzt  die 
erste  Durchführung  ein,  ernst  ,  _  ^ 
durch  die  Herrschaft  des  neuen,  <fc  ^  I  !■#>  I  "i 
sehr  einfachen  Kommandomotivs  "^^ 
und  durch  Bildungen  aus  den  Vierteln  vom  6.  bis  8.  Takte 
des  Hauptthemas  entwickelt  Am  Ende  haben  die  nek- 
kischen  Geister  wieder  die  Oberhand:  Fagotte  und  die 
(hier  in  Oktaven  gestimmten)  Pauken  pochen  ein  drolliges 
Solo.  Der  nächste  Teil  ist  eine  mit  kleinen  neuen  Zügen 
des  Humors  und  der  Grazie  bereicherte  Wiederholung  der 


— ^    239    ^»— 

Themen gruppe,  und  nun  folgt  der  eigentliche,  weit  über  200 
Ta^e  umfassende  Schluß  des  Schlußsatzes.  Nach  einem 
zögernden,  unentschlossnen  Anfang,  über  den  die  Bässe 
sich  sehr  ungebärdig  und  zornig  äußern,  folgt  eine  lyrische 
Episode  in  schönster  Abendstimmung  über  das  Ihema: 
/■s    .^,^}  ^       ■       ■  ^*^  schreckliche 

fr  ■    fJj^J    j    I  J    j    <J    il^'^1    »^^cis  kommt  bru- 
»*  ^  taler  als  je  wie- 

der, auch  die  andren  ausgelassnen  Scherze  des  Finale 
ziehen  nochmals,  am  liebsten  verschärft,  vorüber;  aber 
als  es  zum  wirklichen  Schließen  kommt,  da  behauptet 
die  müde  Schönheit,  die  mit  der  Episode  in  die  Kompo- 
sition eintrat,  den  Platz.  Von  der  ersten  Wiener  Auf- 
führung der  achten  Sinfonie  (27.  Februar  1814)  heißt  es: 
»das  Werk  machte  kein  Furore«,  aus  andern  Orten  be- 
richtete man,  daß  es  weniger  gefiel  als  die  andern. 

Wenn'  in  musikalischen  Kreisen  schlechtweg  von 
d^r  »Neunten«  gesprochen  wird,  ist  damit  die  neunte i^*v.BeetiioTeD, 
Sinfonie  von  L.  v.  Beethoven  gemeint.  In  diesem  ab-  Dmoii- Sinfonie 
gekürzten  Sprachgebrauche  spricht  sich  die  Sonder- ™**  ^fj^^^°' 
Stellung,  welche  dieses  Werk  genießt,  deutlich  genug 
aus.  Es  wird  mit  der  neunten  Sinfonie  ein  Kultus  ge- 
trieben, der  seinen  Grund  nicht  ausschließlich  in  dem 
eminenten  Kunstwerte  dieses  Werkes  findet,  sondern  er 
hat  einen  nicht  unbeträchtlichen  Teil  künstlicher  Nahrung 
in  den  Theorien  erhalten,  welche  in  neuerer  Zeit  an  den 
außerordentlichen  Charakter  der  neunten  Sinfonie  ge- 
knüpft worden  sind.  Die  bis  heute  immer  wiederholte 
Behauptung,  daß  dieses  Werk  beim  ersten  Erscheinen 
nicht  verstanden  worden  sei,  stützt  sich  im  wesentlichen 
wieder  auf  Spohr*),  der  die  ersten  drei  Sätze  die  schlech- 
testen Sinfoniesätze  Beethovens  und  das  Finale  monströs, 
geschmacklos  und  trivial  genannt  hat,  gehört  aber,  so 
allgemein  hingestellt,  ins  Reich  der  Fabel.  Aus  London 
kamen  ganz  unverständige  und  niedrige  Urteile;  in  andern 
Städten,  auch  Leipzig,  blieben  die  Meinungen  bezüglich 

*)  L.  Spohr,  Selbstbiographie  1,  202. 


#" 


-^     240     V- 

eiDzelner  Punkte  geteilt.  Aber  in  Wien  erregte  die  erste 
AuffQhrang  des  Werks  (7.  Mai  liB24),  so  roh  und  angefeilt 
sie  auch  aasfiel,  doch  den  höchsten  Grad  von  Enthosias- 
mos.  Und  gerade  der  Eingang  des  Finale  wird  ein 
Moment  des  jBsligsten  Genasses,  ein  Punkt  genannt,  an 
welchem  Kunst  und  Wahrheit  ihren  glänzendsten  Triumph 
feiern:  das  Non  plus  ultra  des  Werks*).  Ähnlich 
schreibt  noch  gelegentlich  der  ersten  Hamburger  Auf- 
führung (1836)  ein  Berichterstatter  von  >einem  Festtag« 
und  schließt:  »Soviel  ist  gewii3,  daß  diese  neunte  Sin- 
fonie das  riesenhafteste  Moonment  ist,  das  noch  im 
Reiche  der  Tonkunst  entstanden**).  Das  einzige-  und 
noch  heute  von  vielen  geteilte  Bedenken  gegen  die  Sin- 
fonie äußerte  sich  in  dem  Wunsche,  daß  es  Beethoven 
gefallen  möchte,  diesem  wahrhaft  einzigen  Finale  eine 
ungleich  konzentriertere  Gestalt  zu  geben.  Als  ihm  sein 
Freund  Droysen  mitgeteilt,  daß  er  die  neunte  Sinfonie 
gehört  habe  und  ratlos  sei,  äußert  sich  (im  Jahre  IS^l) 
Mendelssohn:  »Die Instrumentalsätze  gehören  zum  Größten, 
was  ich  in  der  Kunst  kenne;  von  da,  wo  die  Sing- 
stimmen eintreten,  verstehe  auch  ich  es  nicht,  d.  h.  ich 
finde  nur  einzelnes  vollkommen,  und  wie  das  bei  einem 
solchen  Meister  der  Fall  ist,  so  liegt  die  Schuld  wahr- 
scheinlich an  uns.  Oder  der  Ausfahrang ...  Im  Gesang- 
satz  sind  die  Stimmen  so  gelegt,  daß  ich  keinen  Ort 
kenne,,  wo  er  gut  gehen  könnte,  und  daher  kommt  viel- 
leicht bis  jetzt  die  Unverständlichkeit  <  ***}.  Wenn  also  auch 
ein  Mendelssohn  Not  hatte,  mit  diesem  Finale  fertig  zu 
werden,  kann  man  sich  nicht  wundem,  daß  es  kleinere 
Geister  kurzweg  ablehnten.  Bei  dieser  Sachlage  ist 
Czernys  Mitteilangf),  daß    Beethoven  eine  Umarbei- 

*)  Allgemeine  Matikaliscfae  Zeitung,  26.  Jahrgang,  S.  441. 
♦*)  Neue  Zeitachrift  f.  M.  IV,  81,  86. 
***)  Briefweckael  Droysen  und  Mendelssohn  (Deutsche  Rund- 
schau, Mal  1902). 

t)  0.  OzerBy,  Recollections  on  BeethoveD  in  Oocka  Musical 
Miscellany  1852  u.  1853. 


--♦    241    ♦^ 

taug  des  Schlußsatzes  beabsichtigt  habe,  nicht  unwahr- 
scheinlich. 

Der  Hauptpunkt,  in  dem  die  neunte  Sinfonie  formell 
von  den  vorausgehenden  abweicht,  besteht  darin,  daß 
ihr  Schlußsatz  ein  Gesangstück  ist.  Wie  kam  Beethoven 
dazu,  eine  Instrumentalsinfonie  mit  Singstimmen  zu 
schließen?  Die  von  R.  Wagner  zuerst  ausgesprochene 
Ansicht,  weil  er  den  Bankrott  der  reinen  Instrumental- 
musik erkannte  und  aussprechen  wollte,  scheint  ange- 
sichts der  Streichquartette  und  Klaviersonaten,  die  Beet- 
hoven dieser  Sinfonie  (opus  125)  noch  folgen  ließ,  nicht 
haltbar.  Auch  die  andere  Annahme,  daß  Beethoven  bei 
der  Komposition  seiner  neunten  Sinfonie  von  vornherein 
die  Ode  Schillers  »An  die  Freude«  zum  Ausgangspunkt 
genommen  habe,  steht  nicht  fest.  Allerdings  schreibt 
Fischenich  schon  im  Jahre  1793  an  Charlotte  v.  Schiller, 
daß  Beethoven  dieses  Gedicht  im  großen  Stile  kompo- 
nieren wollte,  und  die  Skizzenbücher  zeigen,  wie  er  wieder- 
holt dazu  ausholt,  es  in  Ouvertüren  —  z.  B.  bei  der  zur 
Namensfeier  -—  zu  verwenden.  Aber  noch  im  Jahre  1823, 
als  die  ersten  drei  Sätze  schon  so  gut  wie  abgeschlossen 
waren,  sehen  wir  ihn  zwischen  einem  vokalen  oder  in- 
strumentalen Schlußsatz  für  die  neunte  Sinfonie  schwanken. 
Wenn  Beethoven  sich  dann  doch  für  die  Zuziehung  des 
Gesangs  entschied,  so  handelte  es  sich  dabei  um  eine 
Maßregel,  die  im  Prinzip  schon  Haydn  für  zulässig  er- 
klärt hatte,  indem  er  Rezitativ  in  der  Sinfonie  verwendete. 
Beethoven  war  ihm  darin  in  seiner  FtLniten  gefolgt  und 
von  da,  zuerst  in  den  Skizzenbüchern,  dann  in  seiner 
»CSiorfantasie«,  zur  Verwendung,  wirklicher  Menschen- 
sUmmen  und  ausgeführter  Vokalmusik  weiter  geschritten. 
Aus  dem  17.  Jahrhundert  gibt  es  Kantaten,  von  denen 
man  nicht  weiß,  ob  sie  wohl  zur  Gesang-  oder  zur  In- 
strumentalmusik gehören.  Auch  zu  Beethovens  Zeiten 
war  in  der  Sinfonie  der  Chorschluß  versucht  worden.  So 
von  P.  von  Winter  in  seiner  Schlachtsinfonie,  4ie  bei 
ihrem  Erscheinen  (1814),  so  schwer  begreiflich  das  diesem 
Produkt  aus  Lärm  und  Trivialität  gegenüber  auch  sein 

Kr«itt6k«ftr,  Fftkrar.    I,  1.  16 


--^    242 

mag,  viel  Aufsehen  erregte  und  Beethovens  »Schlacht 
bei  Yittoria«  an  manchen  Orten  ans  dem  Sattel,  hob. 
Aach  eine  Sinfonie  >Sch]acht  bei  Leipzig«  des  Böhmen 
P«  Maachek  (1814)  gehört  zn  dieser  Mischgattung  von  Sin- 
fonie und  Kantate.  Freilich  war  zwischen  den  Formen 
der  Sinfonie  Beethovens  und  der  anderer  Leute  ein  großer 
Unterschied,  und-  indem  Beethoven  für  die  Sätze,  welche 
zur  Vorbereitung,  Begründung  und  Einleitung  der  Ode 
dienen  sollten,  seine  gewöhnlichen  Sinfoniemasse  des 
Allegro,  des  Scherzo  und  des  Adagio  nicht  nur  beibehielt, 
sondern  auch  noch  steigerte,  erhielt  Schillers  Tempel  der 
Freude  einen  so  kolossalen  Unterbau,  ein  Fundament 
von  solchen  Dimensionen,  solcher  Selbständigkeit  und 
solchem  Reichtum  an  eigner  Schönheit,  daß  das  Haupt- 
werk, welchem  dies  alles  dienen  soll,  leicht  darüber  ver- 
gessen werden  kann.  Sei  es.  nun  mit  der  formellen  Be- 
rechtigung wie  es  will;  keinesfalls  würde  Beethoven  die 
Ode  ins  Finale  gebracht  haben,  wenn  zwischen  ihr  und  den 
drei  ersten  Sätzen  der  Sinfonie  keine  geistigen  Beziehungen 
bestanden  hätten.  Sie  aber  aufzufinden,  ist  nicht  schwer. 
Die  Schilderung  eines  Zustandes,  dem  die  Freude  fehlt, 
ist  die  wesentliche  Idee  des  ersten  Satzes.  Mit  der  Form- 
freiheit, welche  die  Werke  von  Beethovens  letzter  Periode 
auszeichnet,  setzt  er  zunächst  ohne  Thema  ein.  Es  wogt 
und  nebelt  chaotisch  und  unbestimmt  über  den  berühmten 
leeren  Quinten.  Dann,  erst  nach  16Takten,  steigt  in  finsterer 
Majestät,  voll  Krafi  und  Trotz,  aber  durch  einen  an  die 
gleiche  Stelle  in. der  >Eroica<  erinnernden  Zug  de«  Lei- 
dens gezeichnet,  die  Heldengestalt  dieses  Allegro  zu  Tage: 

^  AUeg^ojioB  troppo  «b  ^m  auMtoto. 

n  f7f  f^  «  ^ 


243 


Welch  heroischer  Eintritt,  wie  latiggem essen  der  Weg  — 
aber  wie  sonderbar  wirr  das  Ende!  Das  Thema  setzt 
gldch  darauf  'zam  zweiten  Male  von  einer  anderen  Seite 
ein,  in  Bdor,  ohne  sich  aber   ^  ^     gebildet,  decken 

wieder  so  breit  zu  entfalten:  y  L[J  ij^  und  vort>ereiten 
Ketten,    aus    dem   Motive  ^    den   Aufmarsch 

seiner  zweiten  Hälfte.  Es  kapituliert  am  Schluß  und 
überläßt  unmittelbar  das  Terrain  an  das  zweite  Thema 
und  seine  Vorläufer 


p'l  t/irtlji^li  'irirT^Qji'rü'ifürrQ-i 


cur.         n.         ci«r.         "•  "^ 


^M 


erMO. 


iiT  rrri 


Auch  hier  das  gewaltige 
Längenmaß,  welches  alles 
/  j»w#*tt*     Gedanken-  und  Formen- 

wesen der  neunten  Sinfonie,  und  dieses  ersten  Satzes 
insbesondere,  charakterisiert.  Dieselbe  dämonische  Un- 
ruhe, welche  Empfindung  und  Phantasie  immer  wieder 
aufjagt  Sie  treibt  hier  aus  dem  Reiche  milder  Wehmut, 
freundlichen  Sehnens,tröst-  ^  _  t^  ^.^^     Unmittel- 

liehen  Erinnems  fort  in  j£  f  ^yp  *  |  [,C/P  ^bar daran 
das  Ungestüm  des  Kampfes  ^jö^  Y-^i^A« 

sich  wieder  Bilder  ^  ^^-^fTirr-;-*^  ^_ 
des  Friedens  undAtlL"^^* '^^  ■■tert 
des  seligen  Glücken  ^  '' 
AII19  Qual  schlummert  einen  Augenblick;  aber  auch  aus 
dem  sanft  wiegenden  Traumgebilde  treten  Gegensätze 
erkennbar  hervor: 


reihen 


Im  Nu  ist  ein  neuer  Ausbruch  da,  in  welchem  diesmal 

16* 


<r 


_^     244     /^^ 

die  wild  aufschlagenden  Bässe  die  Führung  übernehmen: 

^-^    ^     ^  ^ g  Die  Holzbläser  v.er- 

>  \^n  r  Jn  n  f   fTTff  '     I  etc.  suchen ^ubeschwich- 

i^  ^    ^     «^  ^    ^  f/"  tigen;      sie      bitten 

um      einen         ^^  ^  . und  erreichen 

freundliche-  /ifffffffif  p  TT^;  ^  |  es,  daß  der 
ren  Ton:  >1'^:»>  \U^  '^'j^  ^"^  erste  Teil  des 
Satzes  jnit  einer  gewissen  kräftigen  Freudigkeit  geschlossen 
wird.  Die  Durchführung  entrollt  das  Faustische  Bild 
weiter:  Suchen  und  nicht  Erreichen,  rosige  Phantasien 
von  Zukunft  und  Vergangenheit  und  die  Wirklichkeit  von 
einem  Schmerz  erfüllt,  der  seine  Rechte  plötzlich  geltend 
macht!  Der  Durchführungsteil  ist  verhältnismäßig  nur 
kurz:  thematisch  wird  er  hauptsächlich  getragen  von 
Bildungen  aus  dem  dritten  und  vierten  Takte  des  Haüpt- 
themas.  Das  trübe  Element  tritt  in  ihm  zurück,  um  mit 
vollster  Kraft  bei  der  Rückkehr  in  den  Hauptsatz  auszu- 
brechen an  jener  Stelle,  wo  die  Pauke  88  Takte  lang  ihr 
d  wirbelt,  wo  die  beiden  Teile  des  Orchesters  heftig  und 
wild  gegeneinander  angehen  —  eine  Stelle,  an  welcher 
die  Mittel  der  musikalischen  Kunst  den  dämonischen  lur 
tentionen  Beethovens  kaum  zu  genügen  scheinen.  Am 
Schlüsse  der  Coda,  in  deren  llitte  das  Hom  einen  überaus 
freundlichen  und  zuversichtlichen  Lichtblick  fallen  läßt, 
wird  die  freudlose  Grundstimmung  des  Satzes  zu  voll- 
ständiger Gebrochenheit  Dort,  wo  die  Bässe  16  Takte 
lang  ostinato  chromatisch  auf  und  ab  wogen,  glauben  wir 
in  der  Melodie  des  Homs  und  der  Oboe  einen  Trauermarsch 
zu  hören,  bis  die  Klänge  der  anderen  Instrumente  stärker 
und  stärker  werden  und  noch  einmal  kurz,  aber  lapidar, 
Schmerz  und  Trotz  nebeneinander  stehen. 

Der  zweite  Satz  nähert  sich  der  Freude  schon  mehr. 
Er    beginnt        MoUoTivao«.  welches 

über  folgen- jg-^  H  T'-j^j  i^  ■ -f-i..[t-.|L^  i  f  ■  a'm  später 
dem  Thema  ^^^^^S^^^^^^^^^^^^^=  auch  im 
Metrum  von   drei  Takten   gebraucht  wird,   ein  Fugato 
erst  heimlich  und  leise:   am  Schlüsse  im  fröhlichsten 
und  lautesten  Tumult  der  dahiojagenden  Instrumente. 


245 


Nur  anf  einen  kurzen  Augenblick  wird  dieses  muntere 
Treiben      von         .^-— ^        '^ — "^^     >•     ä^^^«     \n 
Momenten  mü-    t  V\}'  I  ^'  I  ^   I   '    I  ^1*     I  ' '^ 

abgelöst,  die  derb  fidelen  Tanzweisen  der  Bläser: 


•ta. 


denen  die  Streich- 
instrumente in  kräf- 
tigen Strichen   das 


Anfangsmotiv  des  vorigen  Themas  f*  ^  f  zujauchzen, 
ersticken  sie  sogleich.  Der  Mittelsatz,  welcher  das  Trio 
vertritt,  hat  als  Hauptgedanken  folgende,  tfiöglicherweise 
Beethovens  russischen  Musikstudien  entsprossene,  in  der 
Tonreihe  mit  dem  Anfang  des  Trios  der  zweiten  Sinfonie 
ganz  Übereinstimmende,  nur  rhythmisch  von  ihm  ver- 
schiedne  Melodie 


Pnsto 


r  r  r  r  n 


Er  schlägt  pastorale  Töne  an  und  spielt 
in  seinen  simplen  Hirtenweisen  auf  länd- 
liche Vergnügungen  an,  aber  auch  in 
seinem  zweiten  Teile,  den  Beethoven  über  eine  Umkehrung 
des  Beglei- 
tungsbas- 
ses bildet: 

in  mächtig  mystischen  Geigenklängen  auf  Sonnenauf- 
gänge und  erhabene  Freuden  herrlicher  Natur.  Die  Stelle 
wirkt  aber  nicht,  wenn  sie  zu  schnell  gespielt  wird. 
Y;  Stanford  macht  deshalb  in  der  Zeitschrift  der  I.  M.  6. 
(April  1906)  mit  Hecht  darauf  aufmerksam,  daß  das  Tempo 
dieses  Mittelsatzes  nicht  ^,  sondern  J  «s  116  sein  muß. 
Daß  die  Metronom  an  gaben  Beethovens  Überhaupt  der 
Revision  bedürfen,  ist  schon  im  18.  Jahrgang  von  Roch- 
litzens  Allg.  M.  Ztg.  nachgewiesen  worden.  Um  zu  ver- 
anschaulichen, wie  allgemein  verständlich  die  Schönheit 


246 


dieses  Scherzo  sei,  berichtet  der  Franzose  Elwart  in 
seiner  Voyage  musical  (1849),  daß  es  selbst  Rossinis  Bei- 
fall  gefunden  habe,  ähnlich  findet  Lenz  in  seiner  Beet- 
hovenbiographie  das  Entzücken  Glinkas  bemerkenswert. 
Gewiß  hat  das  Scherzo  der  9.  Sinfonie  ebensowenig 
Gegner  wie  ihr  Adagio.  Aber  Rossini  sollte  man  bei 
dem  Beweis  hierfür  verschonen.  Daß  sein  Geschmack 
nicht  gewöhnlich  war,  geht  ans  seiner  Mitgliedschaft  bei 
der  Bachgesellschaft  genügend  hervor. 

Das  Adagio,  der  dritte  Satz  der  Sinfonie,  hat  eine 
abweichende,  nichtsdestoweniger  aber  sehr  klare  Dispo- 
sition. Sein  Hanptthema,  der  inbrünstige  Ausdruck  eines 
edlen,  frommen  Sinnes,  der  in  die  andere  Welt  hinüber 
Fragen  zu  richten  scheint, 


mvtta  voce 


%lZ»er 


TioL 


l^=r^fiinrElfrLf;lC^^:i^l'^^^*f  f  \ 


hat  die  Länge  des  Periodenbaues,  welche  der  Beethoven 
der  letzten  Periode  liebt.  Es  schließt  nicht  voll  ab, 
sondern  es  schwebt  unmittelbar  in  den  Schoß  des  zweiten 
Thema  über 


Andante. 


PP     crtiC 


welches  auch  äußerlich,  nach  Tonart  und  Taktart,  die 
Kennzeichen  einer  völlig  anderen  Sphäre  trägt.  Nach 
dieser  Themengruppe  beginnen  Variationen,  zuerst  über 
beide  Hauptgedanken,  dann  über  das  erste  Thema  allein. 
D^r  ganze  Satz  strebt  einer  höheren  Art  von  Freude  zu: 
Da  scheint  ein  Mensch  zu  träumen  vom  Himmel  und 
vom  Wiedersehen,  von  seinen  Jugendtagen  und  von  seineu 


--♦    247    ^>- 

Lieben.  Aber  Träame  gehen  zu  Ende.  Am  Schlüsse  der 
ersten  ^/g- Takt-Variation  vericünden  Trompeten  nnd 
Homer  mit  einem  plötzlichen  Signal: 

ij'  Uli      '""  IT^  U  If'^a^-^H^ 

die  Nähe  des  rauhen  Tages. 

Das  schöne  Bild  verschwindet,  und  nun  kommt  im 
vierten  Satze  das,  was  Faust  meint,  wenn  er  sagt:  »Des 
Morgens  wach*  ich  mit  Entsetzen  auf«.  Gedacht  ist  wohl 
ohne  Zweifel  der  Anfang  des  Finale  im  unmittelbaren 
Kontrast  zu  den  Himmelsklängen  des  Adagio.  Im  mög- 
lichst schnellen  Anschluß  an  das  Ende  des  letzteren  ver- 
liert die  wirre  Fanfare,  der  Höllenlärm,  mit  welchem  das 
empörte,  heulende  Orchester  einsetzt,  den  Charakter  des 
Unbegreiflichen,  Capriziösen,  am  besten.  Dieser  wüste 
Anfang  bedeutet  den  Rückfall  in  die  chaotische  Stimmung 
des  ersten  Satzes.  Bässe  und  Celli  warnen  in  kühnen, 
heftigen  Rezitativen.  Jetzt  suchen  die  Geigen  und  die 
Bläser  nach  rettenden  Ideen.  Die  einen  bringen  eine 
Weise  aus  dem  ersten  Satz,  die  andern  aus  dem  zwei- 
ten, dann  kommt  ein  Zitat  aus  dem  dritten.  Nichts  ge- 
fällt den  Bässen.  Endlich  intonieren  die  Oboen  etwas 
ganz  Neues.  Das  findet  Gnade  bei  den  Vätern  des  Or- 
chesters.^  Nachdem  sie  ihre  Zustimmung  in  einem  letzten 
Rezitative  ausgesprochen,  ergreifen  sie  selbst  das  Motiv 
und  führen  es  zu  einer  breiten  Melodie  aus: 

'=vr'rtTnm^i  I  /T?  I  rl  i  i  imi'  i  r  ii  1 1 


\  fV iTnnTi  ^fFHrjr^ 


Es  ist  dieselbe,  zu  der  dann  die  Freudenode  angestimmt 
wird,  und  die,  rein  oder  varriiert,  den  leitenden  Faden 


jr\ 


— ^    248    4^ 

des  ganzen  Finale  bildet.  Zunächst  wird  sie  in  einer  Fuge 
durch  das  ganze  Orchester  gef&hrt,  ohne  aber  auf  die  Dauer 
einen  genügenden  Halt  bieten  zu  können.  Denn  es  taumelt 
nach  einem  Moment  des  Herumirrens  wieder  zu  jener 
Schreckensszene  zurück,  mit  welcher  der  Satz  begann.  Da 
kommt  weitere  Hülfe.  Es  ist  diesmal  der  S&nger  des  Bariton- 
solo, der  mit  den  von  Beethoven  selbst  eingeschobenen 
Worten  >0  Freunde,  nicht  diese  Töne  —  sondern  laßt  uns 
angenehmere  anstimmen  und  freudenvollere«  die  Ordnung 
wiederherstellt  Und  nun  beginnt  er  den  Hymnus  in 
obiger  volkstümlicher  Melodie  —  einer  der  wenigen,  die 
Beethoven  gleich  beim  ersten  Anlauf  fand  — ,  in  welche 
die  anderen  Solisten  und  der  Chor  dann  einfallen. 

Von  Schillers  Ode  hat  Beethoven  nur  einige  Strophen 
benutzt  und  aus  ihnen  eine  Reihe  musikalischer  Bilder 
entwickelt  Er  läßt  die  Kreaturen  jauchzen  um  Küsse 
und  um  Reben,  er  tritt  mit  dem  Cherub  vor  Gott,  er 
malt  die  Bahn,  die  der  Held  durchläuft,  in  einem  wilden 
stürmischen  Fugato,  dessen  Kampfgetöse  in  einem  festen, 
sieghaften  Pochen  endigt  Der  Refrain  aller  Szenen,  die 
Beethoven  ausführt  oder  skizziert,  ist  das  vom  Chor  wieder 
eingesetzte  >Freude<.  Am  ausführlichsten  hat  Beethoven 
die  Szene  des  Helden  behandelt;  die  Rücksicht  auf  die 
Dimensionen  des  Satzes  gestatteten  leider  nicht,  mit  allen 
Themen  des  Gedichts  in  gleicher  Weise  zu  verfahren. 
Es  steht  Vollendetes  und  Angefangenes  nebeneinander, 
und  bei  aller  Begeisterung  Über  die  entzückende  Schön- 
heit des  Einzelnen  empfinden  wir,  bewußt  oder  unbewußt, 
in  der  Totalform  des  Finale  einen  Mangel.  Besonders 
weihevoll  und  hinreißend  sind  die  Momente,  in  denen 
sich  Beethoven  dem  Sternenzelt  und  dem  himmlischen 
Vater  nähert,  der  darüber  wohnt  Die  Worte  » Seid  um- 
schlungen, Millionen«  hat  er  in  eine  Art  Zeremonie  ge- 
faßt, die  da  oben  am  ewigen  Throne  zu  i^pielen  scheint 
Sphärenhaft  sind  ihre  Schlußklänge.  Die  irdische  Bfusik 
vergeht  in  dieser  Nachbarschaft  ganz  in  Stille.  Nur  wie 
heimlich  setzen  die  Solostimmen  wieder  mit  ihrem  »Freude, 
Tochter  aus  Elysium«  ein;  bald  aber  gewinnt  das  Bn- 


— ♦    249    #^ 

semble  seinen  Mut  wieder  und  rauscht  in  einem  Enthusias- 
mus einher,  welcher  immer  stärker  wird  und  schließlich  in 
einen  völligen  Freudentaumel  übergeht  Dieses  Schlußbild 
hat  Beethoven  in  dem  realistisch  sdiwungvoUen  Stile  aus- 
geffthrt,  der  mit  ihm  zuerst  in  die  Tonkunst  eintrat 

Die  Entstehun^geschichte  der  neunten  Sinfonie  zeigt, 
daß  man  die  prinzipielle,  die  systematische  Bedeutung 
ihres  Finales  nicht  tiberschätzen  darf.  Anders  steht  es  um 
die  Frage,  ob  Beethoven,  wenn  er  länger  gelebt  hätte,  bei 
dem  System  der  Eroica  geblieben  wäre.  Die  letzten  sechs 
Streichquartette  genügen,  um  diese  Frage  zu  verneinen.. 
Wie  in  ihnen  würde  er  auch  in  weitereh  Sinfonien  mit 
größter  Wahrscheinlichkeit  an  die  Stelle  der  Auslegung 
und  Durchführunig  weniger  Grundideen  die  Freiheit  der 
l^hantasie,  den  Erfindungsreichtum,  die  Fülle  von  volks- 
tümlich gestalteten,  kürzeren  Bildern  gesetzt  haben.  Indes 
seiner  und  der  nächstfolgenden  Zeit  hatte  Beethoven  mit 
dem  System  der  Eroica  eine  genügende  Vorlage  hinter- 
lassen. Wir  werden  bald  sehen,  wie  sich  die  Komposition 
mit  ihr  abzufinden  suchte  und  wie  sich  die  Entwicklung 
der  Sinfonie  fast  ein  Jahrhundert  lang  um  Beethovensche 
Probleme  bewegte. 

Soweit  diese  Beethoven^chen  Probleme  auf  der  for- 
mellen Seite  der  Komposition  liegen,  laufen  sie  auf  ein 
Doppeltes  hinaus:  Erweiterung  des  Qrundrisses  und  zu- 
gleich engere  Verknüpfung  der  Hauptteile.  Den  Aufbau 
der  einzelnen  Sätze  bereichert  Beethoven  in  der  mannig- 
fachsten Weise  durch  Einfügung  neuer  Zwischenglieder, 
durch  Ausdehnung  der  Hauptthemen  zu  ganzen  Themen- 
komplexen, durch  Verwendung  des  Durchführungsprinzips 
an  ganz  ungewohnten  Stellen.  Er  steht  da  unter  dem 
dteifachen  Drang  einer  überströmenden  Phantasie,  eines 
unerschöpflichen  Ideenreichtums  und  einer  den  hetero- 
gensten Einfällen  gewachsenen,  nur  durch  Schwierigkeiten 
gereizten/  äußerst  kühnen  Gestaltungskraft  Auf  der 
anderen  Seite  verlangt  sein  überaus  klarer  Kunstver- 
stand,  sein  Sinn  für  Logik  nach  Obersichüichkeit,  Ein- 
heitlichkeit und  deuUichem  Zusammenhang  des  Ganzen. 


^ 


--t    260    «-- 

Dieses  zweite  Problem  hat  Beethoven  Id  der  5.,  6.,  in 
der  9.  Sinfonie  in  Angriff  genommen,  aber  die  Lösang 
den  späteren  Sinfonikern  übrig  gelassen,  und  von  ihnen 
ist  die  Schwierigkeit  der  Beethovenschen  Form,  wenigstens 
was  den  Kernpunkt,  den  Widerspruch  zwischen  der  FtUle 
und  Selbständigkeit  aller  vier  Sätze  und  zwischen  der 
Faßlichkeit  und  Notwendigkeit  ihres  Aneinanderschlusses 
zum  Ganzen,  betrifft,  erst  spät  erkannt  worden.  Ja  bis 
heute  fehlt  noch  die  allgemeine  Klarheit  über  die  Frage: 
ob  die  Beethovensche  Sinfonie  eine  für  jedermann  er« 
reichbare  Vorlage  bildet,  oder  ob  diese  Riesenform  als 
die  Ausnahmeleistung,  als  das  Monopol  eines  hors  de 
concours  stehenden  Riesengeistes  zu  betrachten  ist. 

Was  den  Inhalt  seiner  Sinfonie  betrifft,  so  ist  hier 
Beethoven  ein  Neuerer  nur  insofern,  als  er  in  den  Wer- 
ken, die  in  die  Klasse  der  Gesellschaftsmusik  fallen,  deren 
Charaktergrenzen  mit  einer  Ungebundenheit  übersdireitet, 
die  seine  Vorgänger  nicht  gewagt  haben.  Es  handelt 
sich  hier  um  die  erste,  die  siebente  und  achte  Sinfonie, 
Tondichtungen,  die  in  den  der  musikalischen  Welt  ge- 
wohnten heiteren  Grundton  dämonische  Elemente  und 
die  absonderlichsten  Humore  mit  einer  Freiheit  mischen, 
die  zuweilen  das  Barocke  nicht  scheut. 

Von  den  anderen  Sinfonien  bekennen  sich  die  dritte,  die 
Eroica,  und  die  sechste,  die  Pastorale,  zu  der  Gattung  der 
Programmusik  und  unterscheiden  sich  davon  den  seit  alters 
üblichen  Leistungen  nicht  im  wesentlichen,  sondern  nulr 
durch  die  individuelle  Größe  und  Originalität  Beethovens. 

Die  zweite,  die  vierte  und  die  neunte  Sinfonie  sind 
ähnlich  wie  die  letzten  Sinfonien  Mozarts  ganz  subjektive 
Kompositionen,  Augenblicksbilder  aus  Bethovens  eignem 
Leben,  Stimmungsergüsse  aus  Tagen  bewegtesten  Seelen- 
lebens. Die  neunte,  die  auf  die  zweite  absichtlich  zurück- 
greift, hat  unter  ihnen  ihre  ergreifende  und  erhebende 
Bedeutung  als  Ausdruck  der  Weltanschauung,  mit  der 
Beethoven  aus  dem  irdischen  Leben  geschieden  ist 


^ 


ISB^iiLr. 


III. 


Nebenmänner   und   Gefolge  der   Klassiker. 
Vorläufer  und  Hauptvertreter  der  Romantik. 


|ie  allgemeine  Musikgeschichte  pflegt  bei  dem  Kapitel 
»Sinfoniec  schnellen  Schrittes  von  Beethoven  auf 
Mendelssohn  überzugehen.  Nur.Schubert  und  Spohr 
werden  als  Zwischenglieder  kurz  berührt.  Es  ist  jedoch 
interessant  und  vom  historischen  Standpunkte  aus  sogar 
notwendig,  etwas  länger  bei  dem  Kreise  sch5pferi8Cher 
Talente  zu  verweilen,  deren  Werke  für  die  hervorragenden 
Leistungen  der  klassischen  Führer  den  Hintergrund 
bildeten. 

Der  Umbau  der  Sinfonie  aus  einer  einfachen  Ge- 
legenheitsmusik zu  einer  Tondichtung  größten  Stils  hatte 
sich  in  dem  verhältnismäßig  kurzen  Zeitraum  von  sechzig 
Jahren  vollzogen.  Das  musikalische  Publikum  lebte  sich 
wunderbar  leicht  in  die  Veränderung  hinein,  und  gerade- 
zu erstaunlich  ist  es,  wie  schnell  und  richtig  das  Ver- 
hältnis zu  Beethoven  festgestellt  wurde.  Wir  hören  und 
lesen  heute  viel  von  dem  unverstandnen  Beethoven,  von 
Beethoven  dem  Märtyrer.  Diese  Auffassung  stützt  sich 
auf  kürzere  oder  längere  Verstimmungen  des  Komponisten 
selbst,  auf  herbe  und  hitzige  Urteile  der  Gegner  und  Wider- 
sacher, die  seine  Werke  im  einzelnen  oder  ganzen  natür- 
lich fanden.  Aber  ihrer  waren  im  Verhältnis  zur  Neuheit 
und  Kühnheit  seiner  Kunst  nur  wenige,  und  sie  gaben 
nicht  den  Ausschlag.  Beethoven  lebte  in  einer  Zeit,  die 
seiner  würdig;  seinem  Geiste  verwandt  war.    Man  ehrte 


4r 


--*     252    ^^ 

in  ihm  eine  Ausnahmeerscheinung.  Beethovens  Sinfonien 
sind  die  ersten  und  noch  für  lange  die  einzigen,  von 
welchen  zu  Lebzeiten  des  Verfassers  die  Partitnr  gedruckt 
wurde.  Das  Hanptbedenken,  welches  sie  verarsachten, 
war  ihre  große  Schwierigkeit:  Die  Dilettantenorchester, 
auf  welchen  die  Existenz  der  damaligen  Konzertgesell- 
schaften rnhte,  waren  diesen  Werken  gegenüber  quanti- 
tativ und  qualitativ  zu  schwach.  Ihrer  eingedenk  schreibt 
Beethoven  wohl  einmal  ail  den  Erzherzog  Rudolf,  daß 
für  seine  Sinfonien  vier  erste  Violinen  genügten,  als  aber 
in  London  die  Neunte  aufgeführt  werden  soll,  hat  er  das 
vergessen  und  verlangt  sogar  doppelte  Bläser.  Der  be- 
i\  Aadr^  kannte  Hofrat  Andrö  gab  dem  Bedenken  gegen  die  Auf- 
führungsschwierigkeiten bei  Beethoven  den  stärksten  prak- 
tischen Ausdruck,  indem  er  eine  kleine  Serie  von  »leichten« 
Sinfonien  veröffentlichte.  In  einer  derselben  folgt  in  dem 
Menuett  auf  einen  Walzer  als  Hauptsatz  das  Trio  in  Form 
eines  figurierten  Chorals.  Trotz  Andrö  und  trotz  der 
Schwierigkeit  blieben  aber  die  Beethoven  sehen  Sinfonien 
an  der  Spitze  des  Repertoires,  über  Haydn  und  Mozart 
sogar,  wenn  sie,  wie  C.  M.  v.  Weber  an  Lichtenstein 
schreibt,  auch  meistens,  namentlich  in  Virtuosenkon- 
zerten, nur  unvollständig  gespielt  wurden,  und  die  Or- 
chester wurden,  soweit  sie  in  der  Not  der  Befreiungs- 
kriege standgehalten  hatten,  ihnen  zuliebe  mit  großen 
Kosten  allmählich  umgebildet. 

In  den  Kreisen  der  Komponisten  forderte  der  Über- 
gang in  die  neue  Periode  seine  Opfer.  Die  Zahl  der 
Stimmen  im  Sängerwalde  minderte  sich  und  ganze  Ge- 
schlechter verschwanden.  Es  war  aus  mit  einer  »Sin- 
fonie mit  Guitarre«  und  mit  ähnlichen  Kuriositäten:  es 
war  aus  mit  den  alten,  rauschenden  Theatersinfonien, 
aus  mit  den  konzertierenden  Sinfonien  und  den  harm- 
losen Divertissements,  welchen  bisher  ebenfalls  der  Titel 
Sinfonie  erlaubt  war.  Wenn  jetzt  die  Brandl,  Braune, 
Blyma,  Weyse,  Küffner  und  die  andern  Matadoren  des 
leichten  Stils  an  die  Türen  der  Konzertsäle  klopften,  so 
scholl  ihnen,  wie  dem  Tamino  in  der  ZauberQöte  eiQ 


---fr    253    ♦^ 

energisches  »Zurück«  entgegen.  Es  kamen  Zeiten,  w6 
es  der  Kritik  gar  nicht  recht  zu  machen  war,  wo  die- 
jenigen^ welche  sich  in  Beethovens  Pathos  versuchen 
wollten,  schlechtweg  »schwülstig«,  die  Anhänger  Haydns 
als  »kindisch«  gescholten  wurden,  wo  man  die  Form  der 
Sinfonie  für  erschöpft  erklärte  und  wo  fast  jede  Rezension 
eines  neuen  Werkes  deil  melancholischen  Anfang:  »Wer 
jetzt  noch  mit  einer  Sinfonie  hervortritt,  der  usw.c  trug. 

Diejenigen  Männer,  welche  sich  Unter  so  erschweren- 
den Umständen  als  Sinfoniker  zu  behaupten  wußten, 
welche  neben  den  Klassikern  auf  dem  Repertoire  standen 
und  nach  Beethoven  einen  Platz  erraugeu,  verdienen 
nichts  ganz  vergessen  zu  werden.  Ohne  einen  Blick  auf 
das  Wesen  und  die  Menge  dieser  Nebenmänner  versteht 
man  die  Blütezeit  der  Wiener  Schule  und  die  Indivi- 
duahtät  ihrer  Klassiker  kaum  vollständig.  Die  Größe 
dieser  klassischen  Periode  beruht  nicht  zum  geringsten 
auf  ihrem  Reichtum  an  wirklichen,  an  bedeutenden  Ta- 
lenten. Süßmayer  hat  bekanntlich  das  Requiem  von 
Mozart  so  vollendet  ergänzt,  daß  nojch  bis  heute  Musiker 
sich  vernehmen  lassen,  die  angesichts  der  wohlverbürgten 
Tatsache  doch  die  bloße  Möglichkeit  einer  fremden  Hand 
glauben  in  Abrede  stellen  zu  dürfen.  Diese  kühnen 
Zweifler  wissen  nicht,  daß  Süßmayer  keine  vereinzelte 
Erscheinung  ist,  daß  Haydn,  Mozart,  Beethoven  nicht 
von  Zwergen,  sondern  von  hochgewachsnen  Genossen 
umgeben  wfuren,  von  denen  einzelne  heute,  in  unsrer 
musikalisch  ärmeren  Gegenwart  vielleicht  als  Größen 
ersten  Ranges  gelten  wtlrden. 

Unter  denjenigen  Nebenmännern  der  Klassiker,  welche 
in  der  Sinfonie  diesen  hohen  Maßstab  vertragen,  ist  der 
älteste  und  bedeutendste  CarlDitters  vonDittersdorf*].  G.?.mtUn- 
Einst  eintiebling  der  deutschen  Musikkreise,  ein  wieder-  '«rf« 
holt  und  besonders  gern  gesehner  Gast  der  preußischen 
Hauptstadt,  ist  dieser  Tonsetzer  heute  nur  noch  durch 
seinen  »Doktor  und  Apotheker«  bekannt.    Und  auch  da 

*)  YgL  C.  Krebs:  Dittersdorflaoa.     Berlin  1900 


--♦    264    ♦— 

nur  dem  Namen  nach.  Denn  obwohl  dieses  trauliche  Sing- 
spiel als  Kulturbild,  als  Supplement  zu  Goethes  »Hermann 
und  Dorothea«  einen  unverlierbaren  Wert  besitzt,  ist  es 
seit  mehr  als  dreißig  Jahren  vollständig  von  der  BOhne 
verschwunden.  Trotzdem  ist  es  möglich,  daß  Dittersdorf 
als  Instrumentalkomponist  wieder  Fuß  foßt.  Noch  1906 
wurde  am  Berliner  Hofe  beim  Fastnachtsball  Ditters- 
dorfsche  Orchestermusik  gespielt  und  auch  sein  Csdur- 
Quintett  hat  sofort  sich  wieder  eingebürgert  Mit  seinen 
Sinfonien  würde  er  die  Neugier  des  jetzigen  Geschlechts 
zunächst  als  Vertreter  der  Programmusik  reizen  —  aber 
schwerlich  befriedigen.  Die  Programmusik  gibt  in  Haydns 
Werken  bis  zu  seiner  Jagdsinfonie,  bei  Beethoven  in  der 
Pastorale  Lebenszeichen,  stark  und  deutlich  genug,  um 
ahnen  zu  lassen,  daß  sie  in  der  Nähe  der  Klaseiket- 
Periode  eine  Rolle  spielte.  Tatsächlich  war  der  Ausgang 
des  18.  Jahrhunderts  eine  ihrer  günstigsten  Zeiten.  In 
Sulzers  »Allgemeiner  Theorie  der  schönen  Künste«  wurde 
ihr  damals  >BOgar  der  wissenschaftliche  Segen  zuteil, 
unter  den  Praktikern  aber,  die  sich  ihr  in  allen  Ländern 
widmeten,  war  neben  Rosetti  und  seinem  »Telemach« 
Dittersdorf  der  bedeutendste.  Dittersdorfs  Hauptbeitrag 
zur  Gattung  bestand  in  12*)  charakterisierten  Sinfonien 
zu  Abschnitten  aus  Ovids  Metamorphosen.  Im  Jahre 
1786  als  Stimmdruck  veröffentlicht,  müssen  sie  einen  be- 
trächtlichen Erfolg  gehabt  haben,  denn  im  nächsten*Jahre 
schrieb  der  Probst  Hermes  Analysen  dazu.  In  Deutsch- 
land war  das  ^interessante  Werk  Jange  verschwunden* 
Brenet**),  ohne  die  Bibliotheksstellen  zu  nennen,  an  denen 
er  sie  gesehen  hat,  beschreibt  zwei  Stücke  daraus:  »Die 
vier  Zeitalter«  und  »Actaeon«,  tadelnd,  daß  sie  ganz  an 
der  viersätzigen  Sinfoniefonp  festhalten.     Hanslick***) 

*)  Diese  Zahl  und  diesen  Titel  gibt  Dittersdorf  (K.  y.  Ditters- 
dorfk  Lebensbeschreibung,  Leipzig  1804,  S.  230)  selbst  an. 
**)  Brenet,  Histoire  de  la  Symphonie,  Paris  1882,  S.  109. 
***)  Hansliek,  Geschichte  des  Wiener  Konzertwesens,  Wien 
1860,  S.  114. 


-^255    ^^ 

kennt  das  »Combattimento  deir  amane  Pässioni«.  Das 
ist  die  zehnte  Nummer  der  Sammlung,  eine  Suite,  die 
dadurch  überrascht,  daß  sie  ganz  in  Mullats  Stil  gehalten 
ist*).  Sie  besteht  aus  den  sieben  Sätzen:  II  Superbo,  il 
Umüe,  il  Matte,  U  Gontento,  il  Melancolico,  il  Vivace.  Der 
Schlußsatz  ist  ein  größeres  Musikstück,  die  andren  haben 
die  kurze  zweiteilige  Form,  die  im  Ballett  und  im  Tanz 
so  gebräuchUch  ist;  nur  ausnahmsweise  sind  geeignete 
Motive  durchgearbeitet  Die  Erfindung  ist  in  »II  Vivace« 
am  glücklichsten  gewesen;  hier  das  Hauptthema: 

AUegro  M>al, 
dJ  I 


J'JJJJJJ'7  1^'««' 


Im  Ganzen  entbehrt  sie  der 
Schärfe.  Von  dem  combat- 
timento, dem  Kampf,  den  der  Titel  ankündigt,  enthält 
die  Komposition  keine  Spur.  Einmal  nur  sprechen  zwei 
folgende  Stücke  einen  Gegensatz  im  Charakter  aus:  il 
superbo  und  il  umile.  Den  Ausdruck  des  Stolzes  hat 
aber  Dittersdorf  dabei  nicht  sicher  gefunden.  Die  Musik 
spricht  Freude,  Aufgeregtheit,  ja  Zorn  aus;  aber  es  fehlt 
ihr  die  Ruhe  und  Vornehmheit,  die  zum  rechten  Stolz 
gehört  In  eine  sonderbare  Beziehung  ist  il  amante,  der 
Verliebte,  zu  U  matto,  dem  Verrückten,  gebracht  worden. 
Er  tritt  als  Trio  im  Menuett  auf.  Nach  diesem  Menuett 
hat  sich  Dittersdorf  einen  stillen  Narren  gedacht  Ob 
nun  diese  Sätze  selbständig  als  »Sinfonie«  komponiert 
oder,  was  wahrscheinlicher  ist,  als  Einlagen  zu  einem 
Schauspiel,  als  Begleitungsmusik  zu  lebenden  Bildern 
entstanden  sind,  eine  angebome  Begabung  für  Programm- 
musik, Tonmalerei  und  Charakteristik  zeigen  sie  nicht 
Die  Plastik,  Eindringlicheit  und  Eigentümlichkeit  der 
Motivbildung,  die  die  Stärke  Rameaus  und  der  Franzosen 
ausmacht,  in  der  auch  Kuhnau  sehr  groß  ist,  kurz  die 
Eigenschaften,  mit  denen  das  Recht  der  Gattung  steht 
und  fällt,  gehen  ihnen  ab.    Und  wie  mit  dieser  einen, 

*)  Exemplar  tuf  der  Münchner  Hof-  und  Staatsbibliothek. 


-^    266    ^^ 

ists  aach  mit  den  übrigen  Programmainfonien  Ditters- 
dorfs,  wie  sich  jedermann  aus  der  Neoauagabe  der  ersten 
sechs  überzeugen  kann*).  Hübsch  ist  das. Finale  im 
Sturz  Phaetons  mit  dem  klagenden  Ausgang,  hübsch  ist 
in  Aktaeon  die  Diana  im  Bad,  drollig  ist  in  den  lykischen 
Bauern  das  Quaken  der  Frösche,  der  kleinen  in  den  Vio- 
linen, der  großen  in  deiS  Bässen,  Aber  außer  in  Einzel- 
heiten sind  diese  Sinfonien  matt. 

Ein  ganz  andrer  ist  Dittersdorf  in  seinen  programm- 
losen Sinfonien:,  da  überrascht  er  durch  einen  poe- 
tischen und  ungewöhnlich  selbständigen  Geist  und  läßt 
uns  überall  verstehen,  warum  ihn  die  Musikfreunde,  des- 
achtzehnten  Jahrhunderts  in  ihren  Orchesterkonzerten 
dicht  neben  Haydn  und  Mozart  stellten.  Er  ist  der 
erste  unter  den  Ostreichem  jener  Zeit,  welcher,  mit 
beiden  Meistern  geistesverwandt,  zwischen  ihnen  in  be- 
deutender Weise  vermittelt.  Mit  Haydn  teilt  er  als  Na- 
turgeschenk den  Humor,  lernt  von  ihm  die  Kunst  der 
motivischen  Arbeit  und  fügt  dem  die  Mozartsche  Kanta- 
bilität  bei.  So  betritt  er  mit  großer  Bestimmtheit  den 
Weg,  den  dann  Beethoven  glänzend  weiterschritt  Wir 
dürfen  Dittersdorf  in  der  Sinfonie,  soweit  es  sich  um  die 
Vermittlung  zwischen  Haydn  und  Mozart  und  um  Selb- 
ständigkeit und  Originalität  in  der  musikalischen  Archi- 
tektur, im  eigentlichen  Satzbau  handelt,  einen  Vor- 
läufer Beethovens  nennen.  Nur  Unbekanntschäft 
mit  seinen  Werken  ist  die  Ursache,  daß  die  Biographen 
Beethovens  Dittersdorf  als  Vorbild  und  Lehrer  Beet- 
hovens nicht  anführen.  Denn  daß  der  junge  Rheinländer 
die  Sinfonien  Dittersdorfis  gekannt  und  studiert  hat,  geht 
daraus  hervor,  daß  er  sie  in  einzelnen  Zügen  besondrer 
Gestaltung  nachgebildet  hat.  Der  diplomatische  Beweis 
ist  dafür  wohl  nicht  zu  erbringen,  aber  für  diejenigen, 

*)  Dittersdorfb  Metamorphosen  nach  Ovid  (die  4  Weltalter, 
der  Sturz  Phaetons,  Verwandlung  Aktaeons,  Rettung  der  Andro- 
meda,  Verwandlung  der  lykischen  Bauern  in  FrOsdie,  die  Ver- 
steinerung des  Phineus),  herausgegeben  von  Joseph  Liebeskind, 


— e     267     ♦— 

welche  noch  mit  Gründen  äußerster  Wahrscheinlichkeit 
rechnen,  auch  entbehrlich. 

Eine  der  Hanptsinfonien  Dittersdorfs  —  aus  der  im 
Jahre  1787  erschienenen  Sammlang  —  ist  unlängst  in 
Partitur  und  Stimmen  neugedruckt  worden*)  und  könnte 
berechtigte  Veranlassung  bieten,  Dittersdorf  —  und  zwar 
nidit  bloß  aus  historischem  Interesse  —  wieder  in  unsre 
Orchesterkonzerie  einzuführen. 

Sie  hat  das  große  Orchester  der  Vor-Beethovenschen 
Sinfonie,  nämlich  2  Oboen,  2  Fagotte,  2  Homer,  2  Trom- 
peten, Pauken  und  den  fünfstimmigen  Streicherchor.  Da- 
zu aber  —  ohne  daß  es  besonders  angegeben  ist  — 
Cembalo,  ein.  Beweis,  daß  die  Haydnsche  'Praxis  nicht 
mit  einem  Male  und  unabänderlich  durchdrang**).  Auf 
dem  Titelblatt  nennt  sich  der  Komponist  Carlo  di  Ditters- 
dorf. Das  ist  mehr  als  eine  bloße  Äußerlichkeit,  denn 
die  Musik  mischt  zu  den  Haydnschen  und  Mozartschen 
Elementen  drittens  noch  italienische.  Namentlich  der 
erste  Satz  hat  die  Lärm-,  Prunk-  und  Festmotive  der 
alten  italienischen  Sinfonie. 

Mit  einem  ^ugro*  »«Ito.  ^^  I)as  klingt  sehr  ent- 
solchen  setzt  rji  j,  ^  f  f  i  f  —  schlössen  und  kräf- 
das  Haupt-  {rfi  i}  B  B  B  I  £  ~  tig,  die  Fortsetzung 
thema     ein:  i     f   r        T      schlägt    aber    einen 

zögernden  Ton  an: 

b) 


ij^iji^'>JiVjLJ>i/ii^ 


"9^ 

Sie  hat  die  Mozartsche  Kantabi- 
lität  und  das  Thema  als  Ganzes 
ist  der  Ausdruck  einer  noch  un- 
geklärten Stimmung.  Es  ruft  uns  das  Bild  eines  Menschen 


oMVl 


*)  Bei  Breitkopf  &  Hirtel,  Leipzig. 

**)  Unentbehrlich  Ist  das  Oembalo  nur  im  2.  Satz  der  Sin- 
fonie, in  der  Breitkopftchen  Neoausgabe  übernehmen  die  Streich- 
instramente  seine  Partie  mit. 

Krai^Behmar,  Fftkrar.    I,  1.  17 


^ 


268 


vor  die  Phantasie,  der  vor  einem  schweren  Entschluß, 
vor  einer  schweren  Aufgabe  steht,  vor  einer  Lage,  die 
unerwartet  gekommen  ist  und  deshalb  verwirrend  wirkt. 
Aus  dem  Sinnen  wird  mit  dem  zweiten  Thema  dumpfes 
Brüten. 


Violine. 


^ 


^ 


i 


m 


^ 


i 


ete. 


Doch  schließt  die  Themengruppe  in  Jubel: 

ifjrirj7^ij;'inrl^ri^ 
t"rf|f.Pr.rrrr,  .r 


^ 


und  zuletzt  noch  mit 
Tönen  stillen  Glücks. 


Die  Durchführung  knüpft  an  das  eben  vorgeführte 
Episodenthema  an,  die  Stimmung  wird  wieder  trüb  und 
mehr  und  mehr  kleinlaut,  Pausen  unterbrechen  die  Dar- 
stellung fortwährend.  Dann  folgt  als  zweiter  ein  kräf- 
tigerer Abschnitt  innern  Kämpfens  und  Ringens,  der  un- 
verwertet  mit  dem  Eintritt  des  zweiten  Themas  endet. 
Es  verliert  sich  bald  in  Schlummer  und  Träumen.  Wir 
hOren  zuletzt  nur  immer  leisere  Sextakkorde,  Pausen  da- 
zwischen. Endlich  kommt  einer  mit  langer  Fermate  auf 
G  h  d  f.  In  diesem  Augenblick  setzt  mit  CU>erra8chender 
Wirkung  der  dritte  Teil,  die  Reprise  ein.  Wir  treten  an 
sie,  des  guten  Endes  gewiß,  heran,  und  sie  verläuft  in  aller 
Regelmäßigkeit. 

Der  zweite  Satz,  ein  Larghetto,  besteht  aus  Thema, 
drei  Variationen  darüber  und  Coda.  Das  Thema  selbst, 
ein  dreiteiliges  Lied,  von  dem  der  erste  Teil  folgender- 
maßen lautet: 


259 


Larf^bett«. 


J^[^iJ^ttrir7-'Ei&ir7^figfiü  "i 


zeigt  uns  Dittersdorf  von  seiner  bekanntesten  Seite,  als 
einen  Haaptvertreter  jener  Poesie  der  Beschaulichkeit,  der 
Zufriedenheit,  der  Zierlichkeit  und  Artigkeit,  die,  als  eine 
letzte  Verdünnung  der  Renaissance  übrig  geblieben,  von 
der  Mitte  des  achtzehnten  Jahrhunderts  ab  die  deutseben 
Liedersammlungen  und  Singstuben  beherrschte  und  bald 
dann  in  Gestalt  der  bürgerlichen  Oper  nach  jhrem  Aus- 
gangspunkt, der  Bühne,  und  zwar  auch  der  italienischen 
und  französischen  zurückkehrte.  —  Den  Ansatz  mit  dem 
Doppelschlag  liebt  Dittersdorf  außerordentlich;  aber  kaum 
wird  er  dieser  Lieblingswendung  in  einer  zweiten  Kom- 
position so  viel  Raum  zugestanden  haben  wie  hier.  In 
den  89  Takten,  aus  denen  ohne  Wiederholungen  das 
Larghetto  besteht,  fehlt  sie  nur  vlerundzwangzig  mal. 
Etwas  Monotonie,  liebenswürdige  Einförmigkeit  gehört 
zum  Charakter  einer  Idylle,  wie  sie  dieser  Satz  im  Ge- 
samtbau der  Sinfonie  bilden  soll:  eine  Szene  der  unge- 
trübtesten Anmut,  schmiegsamster  Zärtlichkeit  nach  der 
gelinden  Erregung  des  Hauptsatzes.  Die  Methode,  in  der 
die  Variationen  gearbeitet  sind,  ist  die  einfache  der  Vor- 
Haydnschen  Zeit.   In  der  ersten  begleiten  zweite  Violinen 

und  Bratschen  das  Thema  mit  einem  Triolenmotiv,  in  der 
zweiten  lösen  es  die  ersten  Viohnen  oder  besser  eine 
Sologeige  in  ein  perpetuum  mobile  in  Zweiunddreißigsteln 
auf,  in  der  dritten  treten  die  Bläser  mit  reichen  langen 
Klängen  hinzu  und   die  Bässe  bhb    t^am 

versuchen  mit  der  Melodiestim-  [  ^  ^^J  ^^s  j  1 
me  einen  rhythmischen  Dialog 

In  der  kurzen  Coda  verklingt  das  merkwürdige  Stück  auf 
einer  fremden,  entlegnen  Gdur-Harmonie,  an  die  sich 
unmittelbar  der  Menuett  anschließt.  Er  ist  dadurch 
eigen,  daß  er  uns  in  kurzen  und  in  neuen,  zusammen- 

17* 


(T 


260    ^- 


gedrängten  Formen  noch  einmal  das  Wesentliche  des 
ersten  Satzes  der  Sinfonie  vorfdhrt.    Wir  haben  da  das 

kräftig  entschlos-    j   j   J    i  J    ^^^  ^^  ^^^®  ^^^  ^^^* 
sene  Aufbrechen    ^   ^   W    1  w    ^^^^    ^^^    ^^    Jubels 

j.  ±  ±  ^,     tt  ^     A«.     ji  &11B  dem    ersten 

i  r.r  1    [1    r  I  Ur  Ff    l   r        Xeü  wörtlich  vor 
^  uns.    Der  zweite 

Teil  streift  die  Momente  des  Bangens.  Das  Trio  ist  als 
2.  Menuett  bezeichnet,  eine  reine  Äußerlichkeit  Das  Stflck 
bildet  zum  ersten  Menuett  weniger .  einen  Gegensatz  als 
eine  Ergänzung,  bringt  zum  Äußeren  das  Innere.  Dort 
eine  Freudenszene  vor  der  Öffentlichkeit,  hier  die  dank- 
bare und  friedensfrohe  Seele  mit  sich  allein  im  stillen  Käm- 
merlein:    ,  viermal  hin- 

das  schö- .m  i'-T-J  J  J    )    I   Jill  I    I    1  tereinander 
ne  Thema*^  ~— i-~   "  J    '  J  ^'J  ^     ^       mj^j  immer 

leiser,  so  schließt  der  Satz.  Er  klingt  ausgezeichnet  Den 
Hauptteil  kennzeichnen  die  tiefen  Saiten  der  Geigen,  den 
Mittelsatz  ein  mit  Lerchenklang  und  Naturton  fesselndes 
Oboensolo.  Es  kehrt  nach  Wiederholung  des  ersten  Me- 
nuetts als  Coda  wieder,  mit  einem  Halbschluß  bricht  der 
Satz  ab,  und  unmittelbar  darauf  setzt  das  Finale  ein: 
Erst  mit 


PnMlflslmo 


Dann 


Drittens: 


Diese  Themen  kommen  einzeln  hintereinander,  mit  dem 
14.  Takte  aber  stehen  wir,  wie  im  Finale  von  Mozarts 
Jnpitersinfonie,  in  einer  Tripelfuge.  Alle  Geister  der 
Neckerei  und  Heiterkeit,  feine  und  derbe,  phantastische 
und  prosaische  wirken  zusammen.  Aus  einer  Durch- 
föhrung  stürmen  die  Earnevalsgedanken  in  die  nächste, 
in  die  dritte  und  vierte,  als  endlich  ein  Orgelpunkt  auf 
G  eine  bedeutende  Wendung,  vielleicht  ein  Ende  des 
Treibens  ankündet:  Sie  kommt  zunächst  mit  einem  gro- 
tesken Unisono,  in  dem  alle  Instrumente,  Hörner  und 
Trompeten  ausgenommen,  auf  dem  ersten  Thema  for- 
tissimo  vorübersausen.  Als  der  vierte  Takt  vorbei  und 
Gdur  erreicht  ist,  fallen  die  Pauken  ein:  Halbschluß, 
Generalpause  mit  Fermate  und  —  Wiederholung  des 
Menuetts.  Genau  also  die  Wendung,  die  das  Finale 
von  Beethovens  GmoU-Sinfonie  hat.  Dieser  Einfall 
Dittersdorfs  hat  an  seiner  Stelle  die  Bedeutung  eines 
würdigeren  Schlusses  anstatt  des  tollen,  der  von  der 
Tripelfuge  zu  erwarten  wäre,  und  zugleich  auch  den 
der  Rückkehr  in  die  Stimmungssphäre  des  Hauptsatzes 
der  Sinfonie,  also  den  einer  wohltuenden  Abrundung. 
Deshalb  kommen  beide  Menuetts,  nur  ohne  Wieder- 
holungen, noch  einmal  vollständig,  und  die  Sinfonie 
schließt  auch  mit  einigen  tumultuarischen  Takten  im 
Rhythmus  des  Menuetts. 

Bei  näherer  Prüfung  ergibt  sich  für  Dittersdorf  ein 
Obergewicht  des  Mozartschen  Einflusses.  Auf  ^ie  Wiener 
Schule  im  ganzen  dagegen  übte  naturgemäß  Haydn  die 
stärkere  Anziehung  aus.  Ihre  Sinfonien  vertreten  den 
heiteren  Charakter  der  Musik.  In  ihrem  Rhythmus  und 
in  ihrem  Figurenwerk  herrscht  ein  rascher,  feuriger  Geist, 
die  Melodien  sind  in  der  Mehrzahl  flott  und  munter  und 
geben  dem  Frohsinn  und  der  Lebenslust  einen  naiven 
und  herzlichen  Ausdruck.  Es  lebt  in  der  Wiener  Schule 
ein  Bt^ker  volkstümlicher  Zug.  Ein  gewisser  Lokaldialekt 

klingt  durch,  der-       Allegro. «_._____   ^^^ 

selbe,  in  welchem  ^rirlffrf   f   \^f  T  f-fnF^  Mozart 
Haydn  —  z.  B,  in  C  U   ' '    L-l   '    '    '     :.      '    i  ä  __     ^^ 


<r 


} 


262     «^ 

zuweilen     ebenfalls 
sprecheni    und    der 
noch   heute   unver- 
fälscht in  der  östreichischen  Armeemusik  fortlebt 

.   Diese  Stammeseigenschaften  führten  die  Mehrzahl  der 
östreichischen  Sinfoniker  zunächst  auf  die  Seite  Haydns. 
eyrdweti.  Die  hervorragendsten  unter  ihnen:  Gyrowetz,  Rosetti, 
Bofttu  Pleyel,    Wranitzky,    Hoffmeister    hat    Riehl    in 
Wranu/kr.  ^^^^^^  Kapitel  über  »Die  göttlichen  Philister«  geschildert 
Hoffmeitter!  Ihnen    wären   vielleicht  noch  Neubauer,   van   Swieten, 
F.  Krommer.  jedenfalls  aber  Franz  Krommer  und  Vanhall  anzu- 
VMhaii.  reihen.   Vanhall  war  der  besondere  Liebling  Norddeutsch- 
lands,  Krommer  drang,  durch  die  unglaubliche  Popularität 
und  Verbreitung  seiner  Quartette  und  Quintette  mitge- 
tragen, auch  als  Sinfoniker  weiter  und  hielt  sich  länger 
als  die  genannten  Schulgenossen.    Seine  Sinfonien  sind 
denen  Haydns  im  allgemeinen  sehr  ähnlich,  aber  von 
einer  niedrigen  Bildungsstufe  aus  entworfen  und  durch- 
geführt  Die  Form  hat  große  Mängel,  die  Gedanken  ver- 
raten   die   derbe   Atmosphäre    der  Zauberoper.     Ältere 
Musikfreunde  haben  mit  dem  Ton   dieses  Kreises  viel- 
leicht noch  durch  die  Diabellischen  Klaviersonaten  un- 
erfreuliche Bekanntschaft   gemacht     Nur  Pleyel  und 
Gyrowetz  stehen  dem  Vorbild  auch  geistig  näher,  die 
anderen  haben  von  dem  Haydnschen  Erbe,  vom  Geist 
der  Zeit  geleitet,  nur  den  epikureischen  Teil  an  sich  ge- 
nommen: die  lustige  Thematik  seiner  Londoner  Zeit   An 
■einer  Kunst  des  Auslegens  gingen  sie  vorbei. 

Nach  dem  Anteil,  den  französischer  Geist  am  Wesen 
von  Haydns  Sinfonien  hat,  war  zu  erwarten,  daß  sich 
in  Frankreich  eine  bedeutende  Gefolgschaft  dieses  Ton- 
setzers gebildet  hätte.  Doch  fehlte  es  hierzu  an  wesent- 
lichen Bedingungen:  an  Konzertinstituten  und  Sinfonie- 
komponisten. Mit  dem  Reichtum  musikalischer  Kollegien 
und  »wöchentlicher  Konzerte«,  dessen  sich  Deutschland 
erfreute,  konnte  sich  Frankreich  nicht  messen,  und  die 
Institute  dieser  Art.  die  sich  in  Paris  und  den  Provinz- 
hauptstädten  aufgetan   hatten,   konnten   den   Vorteilen 


— »    263     »^ 

« 

gegenüber,  die  eine  erfolgreiche  Oper  einbrachte,  nichts 
bieten.  Diese  an  und  fdr  sich  ungünstige  Lage  wurde 
durch  Haydn  noch  verschlimmert.  Denn  —  so  sagt  ein 
Artikel  des  Moniteur  im  Jahre  1808*}  —  nachdem  Haydns 
Sinfonien  die  erste  Schwierigkeit  der  Einführung  über- 
wunden hatten,  konnte  sie  bald  jedermann  auswendig 
und  wollte  keine  anderen  h^ren.  Beklagenswerter  Weise 
ist  hierüber  auch  Fr.  J.  Gosse c  um  die  Anerkennung  f.  J.Ooiiee. 
gekommen,  die  ihm  die  Musikgeschichte  Frankreichs 
schuldig  ist.  Er  war  der  erste  Tonsetzer  von  Bedeutung, 
der  sich  der  neuen  Gattung  der  Konzertsinfonie  nach- 
haltig und  mit  voller  Hingabe  widmete.  Schon  als 
Zwanzigjähriger  trat  er  mit  Sinfonien  hervor,  die  in 
italienischer  Folge  dreisätzig  und  vielleicht  die  ersten 
überjiaupt  sind,  in  denen  Klarinetten  vorkommen.  Denn 
damals,  Anfang  der  fünfziger  Jahre,  hatte  sie  außer 
Rameau  und  J.  Stamitz  wohl  noch  niemand  ins  Or- 
chester gebracht;  Haydn  ließ  sich  damit  fast  noch 
vierzig  Jahre  lang  Zeit.  Das  allen  Franzosen  gemein- 
same Klangtalent  ist  bei  ihm  überhaupt  noch  besonders 
hervorragend  entwickelt  Deshalb  waren  seine  konzer- 
tierenden Sinfonien  auch  seine  angesehensten.  Doch 
auch  durch  einen  stark  nationalen  Zug  von  Eleganz  und 
Anmut  fesseln  seine  Werke.  So  war  er  in  den  sieb- 
ziger Jahren  der  unbestrittene  Herrscher  in  den  von  ihm 
gegründeten  Concerts  des  amateurs  sowohl  wie  in  den 
Goncerts  spii ituels.  Da  kam  Haydn  und  verdunkelte  auch 
Gossec  dermaßen,  daß  das  Ausland  von  ihm  überhaupt 
keine  Notiz  nahm. 

Die  wenigen  französischen  Musiker,  die  in  der  Periode 
der  Wiener  Klassiker  Sinfonien  schrieben,  schlössen  sich 
Haydn  an.    Unter  ihnen  ist  Cherubini  zu  nennen  mit  l. Chernblui, 
einer  Ddnr- Sinfonie,  die  auch  nach  Deutschland  kam,  aber  ^  dur« Sinfonie, 
bald  vor  den  viel  freieren  und  bedeutenderen  Ouvertüren 
ihres  Verfassers  verschwand.  Obwohl  Haydn  selbst  Gheru- 

*)  Abgedruckt  in  A.  Pougins  M^hul-Biographie  (Paris  1889), 
S.  301. 


_<»    264    *— 

bini  als  »seinen  musikalischen  Sohn<  bezeichnet  hat*), 
sind  in  diesem  Werke,  mit  Ausnahme  des  Larghetto  can- 
tabile,  die  eigentlichen  Haydnschen  Künste  nicht  zu 
vollem  Recht  gekommen.  Die  Sinfonie  ist  wieder  wie 
fast  jede  Orchesterkomposition  Gherubinis  ein  Muster  des 
Klangs  und  auch  in  der  Satztechnik  anziehend  und  be- 
lehrend, unter  anderm  durch  schöne  Kanons.  Ihr  poetisch 
bedeutendstes  und  eigentfimlichstes  Stück  ist  die  träume- 
rische Einleitung  zum  ersten  Satz.    Der  Anfang: 

l!i'"''"^ir(ji;inrfri^  r  n^g^rffn  T 


gibt  einen  Begriff  von  ihrem  Charakter.  Daß  Cherubini 
im  darauffolgenden  Allegro  das  zweite  Thema  in  vor- 
haydnischer  Art  in  der  Molldominante  bringt,  hat  einen 
tieferen  Grund,  die  Absicht,  die  Gegensätze  zu  schärfen. 
Sie  ist  in  sämtlichen  Sätzen  festgehalten,  immer  wieder 
wechselt  eine  wilde  Stimmung  mit  einer  gebrochnen.  Am 
stärksten  kommt  der  Pessimismus  im  Menuett  zum  Aus- 
druck, wo  dem  zögernden,  suchenden,  unentschlossnen 
Ton  des  Hauptsatzes  mit  den  vielen  leeren  Quinten,  ein 
ganz  finsteres,  abgerissen  klingendes  Trio  entgentritt 
Die  Sinfonie  hat  trotz  Cherubinis  großen  Namen  nicht 
viele  Freunde  gefunden,  das  Leipziger  Gewandhaus  hat 
sie,  trotz  seines  starken  Sinfonieverbrauchs,  nur  ein  einziges 
Mal  gebracht,  aber  ein  eignes,  kennenswertes  Werk  ist 
B«M6]iil.  sie  dennoch.  AuchM^huls  Sinfonien  gehören  ganz  zur 
Haydnschen  Schule;  man  kann  Möhul  den  interessan- 
testen und  selbständigsten  Schüler  Haydns  nennen.  Er 
folgt  ihm,  ohne  sein  Vorbild  in  der  Virtuosität  der  thema- 
tischen Arbeit,  der  Beweglichkeit  der  Gedanken  ganz  zu 
erreichen,  in  der  Methode;  das  übrige  bestreitet  er  aus 
eignem  Vermögen.  Die  ganze  JluffassuDg  von  Zweck  und 
Wesen  der  Sinfonie  ist  bei  Möhul  etwas  andres  als  bei 
Haydn  und  den  Deutschen:  Man  merkt  zuweilen,  daß 
seine  Kunst  sich  an  ein  großes  Volk  richten  will,  von 

*)  Grietinger,  S.  104. 


--»    265    «>- 

einem  großen  Volke  kommt:  es  ist  ihr  Pathos  und 
Stolz  eingemischt  und  anch  eine  Dosis  Glanz  und  Kraft, 
die  mehr  an  Glnck  und  Händel  als  an  Haydn  erinnert. 
Anmut  und  Eleganz  geben  sich  etwas  zugespitzt,  so  wie 
das  die  Franzosen  von  Ramean  ab  und  in  ihrer  Volks- 
musik von  jeher  gern  gehabt  haben.  Von  den  vier  Sin*  Hihii, 
fonien  M^huls,  die  sich  nachweisen  lassen,  sind  nur  die  Sinfonie,  Gmoii 
in  Gmoll  und  die  in  Ddur  nach  Deutschland  gekommen. 
Die  erstere,  in  der  der  Menuett  wegen  des  Pizzicato  des 
Hauptsatzes  besonders  wirkte,  kehrt  bis  in  die  sechziger 
Jahre,  wenn  auch  nicht  häufig,  wieder.  Mendelssohn,  der 
durch  historischen  Sinn  alle  nachgekommnen  Dirigenten 
unvergleichbar  überragte,  suchte  sie  in  Leipzig  im  Jahre 
1838  wieder  aus  dem  Archiv  hervor:  Schumann,  von  dem 
man  bei  dieser  Gelegenheit  ein  besondres  Wort  erwarten 
durfte,  mengte  sie  —  absichtlich  oder  versehentlich?  ~~ 
unter  die  Werke  »bekannter  Meistere*).  Bei  ihrer  ersten 
Auff&hrung  im  Jahre  1810  hatte  sie  ein  Meßfremder  in 
der  Allgemeinen  Musikalischen  Zeitung**)  als  eine  Sin- 
fonie in  >J.  Haydns  Weise,  frei  ins  Französische  über- 
setzt« bezeichnet.  Nach  diesem  richtigen  Anfang  fährt 
der  Verfasser  fort:  »So  gut  das  gelingen  kann,  war  es 
M6hul  wirklich  gelungen.  Der  melodische  Teil  war  un- 
streitig der  schwächste:  der  harmonische  aber  auch  nicht 
selten  grell  und  gesucht:  Die  Arbeit  übrigens  sorgsam 
und  mit  Streben  nach  Gründlichkeit;  die  Instrumen- 
tierung sehr  gut  und  effektvoll.«  Von  der  dreifachen  Be- 
fangenheit, die  dieses  Urteil  trübt,  kommt  ein  Teil  auf 
die  musikalisch  mechanische  Richtung  des  Schreibers, 
die  beiden  andren  Teile  muß  man  der  Zeit  Napoleons 
und  Beethovens  zu  Gute  halten.  Die  Gmoll-Sinfonie 
vergleicht  Schumann  mit  Beethovens  Fünfter***),  auch 
Fink  lobt  ihr  Feuer  und  ihre  Klarheit f).   Die  Gegenwart 

*)  Neue  Zeitschrift  für  MasU,  8.  Bd.,  S.  107. 
**)  Allg.  Mnsik.  Zeitmig,  12.  Jahrgang,  S.  561. 

)  Ges.  Schriften  (Reclam)  II,  169. 
f )  AUg.  Musik.  Zeitung,  40.  Jahrgang,  S.  287. 


-^    266    ♦>- 

ist  in  der  Lage,  M^uls  Sinfonien  ohne  Eingenommenheit 
zu  würdigen;  gibt  man  ihr  dazu  Gelegenheit,  wird  sie  ihn 
lieb  gewinnen:  mehr  noch  als  in  der.Gmoll-Sinfonie  in 
der  in  Ddnr. 

Die  Italiener,  auf  eine  Herrschaft  der  Instrumental- 
musik noch  weniger  vorbereitet  als  die  Franzosen,  streichen 
allmählich  die  Pflege  der  Sinfonie  so  gut  wie  ganz  aus 
ihrem  musikalischen  Pensum.  Unter  den  Gründen,  mit 
denen  sie  diesen  schweren  Fehler  zu  beschönigen  suchten, 
hat  der  bis  auf  den  heutigen  Tag  immer  wiederholte  Vor- 
wurf, daß  die  deutsche  Musik  gelehrt  und  wissenschaft- 
lich geworden  sei,  daß  sie  sich  zu  sehr  an  den  Verstand 
wende,  Gemüt  und  Phantasie  vernachlässige,  deshalb 
für  uns  Interesse,  weil  etwas  Wahres  an  diesem  Vor- 
wurf ist  Mozart,  G.  M.  von  Weber  haben  in  ihren  Sin- 
fonien, Beethoven  hat  mit  seinen  letzten  Quartetten  gezeigt, 
daß  es  neben  der  Haydnschen  Methode,  in  der'  sich  Geist 
und  Witz  am  besten  entfalten  können,  andere  gibt,  die 
Erfindung,  Phantasie,  Inspiration  zu  einem  größern  Recht 
kommen  lassen.  Die  Bevorzugung  des  Haydnschen  Stils 
hat  uns  eine  große  Menge  pedantisch  langweiliger  In- 
strumentalkompositipnen  eingebracht  und  der  spätem 
Entwicklung  der  Sinfonie  geschadet.  Die  wenigen  italie- 
nischen Komponisten,  die  von  jetzt  ab  noch  Sinfonien 
versuchten,  schlössen  sich  jedoch  ebenfalls  Haydn  an. 
I..  Boeeherlnt.  Unter  ihnen  ist  L.  Boccberini  für  lange  Zeit  der  einzige, 
der  in  Deutschland  und  wohl  auch  in  Frankreich  Be- 
achtung gefunden  hat.  Wenigstens  sind  in  Paris  um 
1799  zwei  seiner  Sinfonien  (in  Stimmendrucken)  veröffent- 
licht worden.  Beide  haben  vier  Sätze,  den  Menuett  als 
dritten.  Die  erste  (in  D)  kommt  im  Finale  auf  das 
erste  Allegro  zurück  und  erreicht  dadurch  eine  Einheit 
und  Abrundung,  die  dem  Durchschnitt  der  Sinfonien 
jener  Zeit  nicht  eigen  ist.  Die  zweite  (in  C)  gehört  zur 
Gattung  der  konzertierenden  Sinfonien,  sie  verwendet 
das  alte  Corellische  und  Händeische  Konzertino:  2  Solo- 
violinen und  Solocello.  Letzteres  tritt  im  Andante  sehr 
schön  hervor. 


--*    287    ♦— 

Unter  den  Sinfonikern,  welche  zuerst  auf  Mozarts 
Seite  traten,  gebührt  der  Altersvorrang  Michael  Haydn, Mich AeiiUjdii. 
dem  Salzburger  Bruder  von  Joseph  Haydn.  Von  den 
52  Sinfonien,  die  von  ihm  nachweisbar  sind,  sind  zu 
Lebzeiten  des  Komponisten  nur  drei  in  Stimmdrucken 
erschienen  (1793  Wien);  zwei  davon,  eine  Cdnr-Sinfonie 
und  eine  in  Es,  liegen  aber  seit  kurzem  in  den  öst- 
reichischen  Denkmälern*)  vor,,  eine  dritte,  ebenfalls  in 
C,  hat  0.  Schmid  herausgegeben**).  Die  Musik  würde 
jedem  Jüngling  Ehre  machen;  sie  hat.  Frische,  Freudig- 
keit, Kraft,  alle  Merkmale  eines  jugendlichen  gesunden 
Geistes  und  zeigt  dabei  in  jeder  Wendung  der  Form  die 
Sicherheit  und  Klarheit  des  reifen  Meisters,  jene  Mozart* 
sehe  Abgeklärtheit,  die  auch  in  Vokalwerken  des  Salz- 
burger Haydn  so  wohltuend  berührt. 

Die  Schmidsche  Cdur-Sinfonie  fängt  mit  denselben 
Noten  wie  Mozarts  Linzer  Cdur-Sinfonie,  aber  sogleich 
im  andren  Charakter  an.  Noch  ehe  der  zweite  Takt 
schließt,  ist  von  Kantabilität  keine  Rede  mehr,  das  Herz, 
aus  dem  diese  Töne  kommen,  ist  voll  lauter  Sonnenschein: 

AUefTO  ipirltttotfo. 
VloUnen. 


ganz  besonderes  Wohlgefallen  hat  der  Komponist  an  der 
aufschlagenden  Sext  des  letzten  Taktes  gehabt.  Wer 
noch  nicht  klar  darüber  ist,  mit  wem  er  es  zu  tun  hat, 
dem  müssen  alle  Zweifel  schwinden,  wenn  (mit  dem 
15.  Takt)  die  Ergänzung  des  ersten  Themas  kommt: 


Miixrjftff'^j^ 


*)  XIV,  2.    . 
**)  Leipzig,  Breitkopf  ft  HirteL 


_^    268    *~ 

Das  ist  Musik  vom  Geblüt  des  Don  Giovanni  und  des 
Grafen  im  >Figaro€.  Der  ritterliche,  junge,  ins  Leben 
stürmende,  stolze  Mozart  ist  es,  an  den  sich  wie  die  Mehr- 
zahl der  Wiener  Mozartschüler  auch  Michael  Haydn  an- 
schließt. Zweites  Thema  und  Übergangspartien  bieten 
geringres  Interesse,  in  letztren  macht  sich  eine  gewisse 
Umständlichkeit  bemerkbar.  Sonst  hat  der  Satz  den 
großen  Vorzug  yöUendeter  Natürlichkeit  und  Schlicht- 
heit. Die  Durchführung  verarbeitet  das  1.  Motiv  des 
Nachsatzes  vom  Hauptthema,  das  erst  in  Nachahmubgen 
zwischen  Violinen  und  Bässen,  dann  in  letztren  allein 
erscheint.  Gefühl  der  Kraft  äußert  sich  in  kunstvollen 
Formen.  Das  Hauptfeld  seiner  kontrapunktischen  Meister- 
schaft verlegte  Haydn  in  das  Finale,  bei  dem  wir  wie  in 
Mozarts  Jupitersinfonie,  in  Dittersdorfs  gleichaltriger  G  dur- 
Sinfonie  wieder  vor  einer  Tripelfuge  stehen.  Haydns 
Priorität  ist  unbestreitbar. 
Das  erste  Thema: 

Vlvaco  amai. 

ijliiin'iiirir  !■  lf^llJ^l^lff^^ 

dem  16  Takte  spannende  Einleitung  vorangehen,  nimmt 
mit  seinen  Durchführungen  den  ersten  Abschnitt  (bis 
zum  67.  Takt)  allein  ein  und  führt  uns  ein  Stimmungs- 
bild vor,  in  dem  leises  ahnungsvolles  Behagen  sich  bis 
zu  lauter  Fröhlichkeit  steigert  Da  setzt  auf  dem  Höhe- 
punkt (Halbschluß  in  O)  eine  neue  beweglichere  Freuden- 
wöise  ein,     ^  f  r  rJj  f  s  _   _    .  oder  viel- 

das  zwei-  jR  f  l^-U  \Jl=i=t:^=i=f=:  mehr  sein 
te  Thema:    *^  y  Vorläufer. 

Denn  der  kurze  Gedanke  wird  zunächst  mehr  versuchs- 
weise begleitend  in  den  ersten  und  zweiten  Violinen  pro- 
biert, das  Kommando  bleibt  beim  ersten  Thema.  Neue 
Durchführungen,  Engführungen,  Zwischensätze  aus  Um- 
bildungen dieses  ersten  Themas  oder  ganz  frei  gestaltet, 
bilden  den  Inhalt  des  zweiten  Abschnitts  des  Finale  (bis 
zum  Takt  162),  der  dem  Ausruhen  und  Genießen  gewid- 


— ♦    269    «^ 

met  ist    Seine  schönsten,  lauschigsten  Stellen  sind  die 
ans  den  Umbildungen  des  Themas  gewonnenen: 

K    f  '  I  M  f  '  f    r  r    r    r  r  ' 

und     namentlich    die 

heimlich  humoristische    "^^  ff    ^  ^   geben. 

wo  die  Bässe  viennal       iS^  v 

Am  Ende  des  Abschnitts  wird  ans  Weitergehen  ge- 
mahnt: Ein  neues,  fortdrängendes  Thema: 


läßt  ^ich  vernehmen.  Der  dritte  Abschnitt  beginnt.  In 
ihm  zeigt  sich  das  zweite  Thema  in  seiner  vollen  Gestalt, 
nämlich: 

f  f  rffrnrajLuj ii  1 1  i^i  ir 

das  neue  dritte  ist  hierbei  sofort  wie  ein  Nachsatz  ver- 
wendet. Zunächst  ziehen  nun  die  beiden  Hälften  dieses 
kombinierten  Themas  Arm  in  Arm  durch  die  Instrumente, 
dann  hat  der  Nachsatz  —  (oder  das  dritte  Thema)  allein 
die  Satzbildung  zu  bestreiten.  Die  Stimmung,  die  sich  in 
dem  Abschnitte  ausspricht,  ist  im  Verhältnis  zum  Vorher- 
gehenden die  einer  größeren  Erregung.  Als  er  zum  Schluß 
(Takt  202)  ausholt,  sehen  wir  mit  ungeduldiger  Erwartung 
nach  der  Fortsetzung  aus.  Sie  tritt  als  Repetition  des 
ersten  Abschnittes  vor  uns  hin.  Aber  es  ist  keine  wört- 
liche, gewohnheitsmäßige,  sondern  eine  Wiederholung  mit 
den  stattlichsten  Varianten.  Wir  sind  noch  gar  nicht 
weit  in  dem  neuen  Abschnitt  vorgedrungen,  da  bringt 
Haydn  zum  ersten  Male  alle  3  Themen  miteinander.  So 
hat  die  Anlage  seines  Finale  Ähnlichkeit  mit  einem 
Spaziergang,  der  uns  immer  höher  hinauf,  von  einem 
schönen  Aussichtspunkt  zum  andern  fährt;  der  letzte  ver- 
einigt die  einzelnen  Augenweiden  zu  einem  mächtigen 


<n 


-^    270    »^ 

Gesamtbild.  Es  ist  in  dem  Finale  dieser  Sinfonie  mit- 
hin gehaltvoller  Plan  und  meisterliche  Formbeherrschong 
nicht  zü  verkennen.  Doch  geht  ihm  die  Fälle  von  sinnigen 
Details,  die  der  mächtigen  Persönlichkeit  entsprießen,  es 
geht  ihr  auch  der  gewaltige  Zug  ab.  Es  ist  zu  lang  und 
zu  reich  an  Formalismen,  an  Wendungen,  die  von  Größren 
geborgt  sind.  Man  wolle  diese  Schwäche  nicht  der  Zeit, 
sondern  nur  der  Individualität  ihres  Schöpfers  zur  Last 
legen  und  ihrer  niederdrückenden  Wirkung  bei  etwaigen 
Auftührungen  durch  gehörige  Striche  vorbeugen.  —  Einen 
Menuett  hat  die  Sinfonie  nicht;  sie  ist  dreisätzig,  wie  es 
die  italienischen  Sinfonien  waren.  Der  hier  noch  zu  er- 
wähnende Satz,  der  langsame,  an  der  zweiten  Stelle  im 
Werke  enthalten,  ist  aber  der  eigenste  in  der  ganzen 
Komposition.  Er  hat  die  hier  ungewöhnliche  Form  des 
Rondo.  Der  Hauptsatz,  der  dreimal  vorClberzieht,  ist  ge- 
mütlich beschaulicher  Natur,  fast  in  Dittersdorfscher  ktt 
Außerordentlich  schön  und  lebendig  sind  aber  die 
Zwischensätze.  Beim  zweiten  namentlich  wills  einen  an- 
muten, als  wenn  die  Flut  des  großen  Weltenlaufs  in  ein 
stilles  Gebirgsdorf  hineinwogt.  Im  ersten  ist  eine  Stelle, 
die  sich  klanglich  sehr  hervortut:  Hörner,  Trompeten  und 
Pauken  allein. 

Die  beiden  in  den  östreichischen  Denkmälern  ver- 
öffentlichten, gleichfalls  menuettlosen  Sinfonien  Michael 
Haydns  ergeben  ein  ähnliches  Bild,  wie  die  hier  be- 
schriebene Cdur- Sinfonie,  das  Bild  eines  Mozartianers 
mit  dem  doppelten  Einschlag  derberer  Lebenslust  und  ge- 
lehrter Neigungen. 

Auch  der  für  die  Klavierstudien  unsrer  Jugend  noch 
X.  cipmentl.  heute  sehr  wichtige  M uz io  Clementi  gehört  unter  die- 
jenigen hervorragenden  Nebenmänner  der  Wiener  Klas- 
siker, die  sich  an  Mozart  anreihen  und  zwar  an  den  feu- 
rigen, nicht  an  den  Sänger  der  Schwermut  und  des  Welt- 
schmerzes. Die  fatale  thematische  Abhängigkeit  von  seinem 
Vorbild,  die  schon  in  Klavierkompositionen  Glementis  vom 
Plagiat  schwer  zu  unterscheiden  ist,  tritt  uns  aber  auch  in 
den  Sinfonien  wieder  entgegen.  Die  in  B  dur  z.  B.  fängt  an 


— ^     271     «^ 

Aiiegro  agsai.  _   _   _  Nun    vergleiche 

man  damit  das 
Presto  der  Mo-" 
zartschen  Salzburger  B  dar-Sinfonie  von  1778!  Zu  diesem 
ersten  Verdruß  tritt  ein  zweiter  noch  stärkrer  über  die 
Affektiertheit  Giemen tis.  Was  einen  so  sicheren  und  in 
sich  abgeschlossenen  Künstler  bewogen  haben  kann,  den 
natürlichen  Gang  seiner  Modulationen  fortwährend  durch 
fremde  Harmonieeinschübe  und  gewaltsame  Quersprünge 
zu  unterbrechen  —  wenn  es  nicht  das  Bestreben  war,  sich 
neben  den  großen  Meistern  als  ein  noch  größeres  Ori- 
ginal zu  zeigen  — ,  läßt  sich  schwer  begreifen.  Wie  sie 
infolge  dieser  Gebrechen  zu  ihrer  Entstehungszeit  nicht 
fest  einzuwurzeln  vermochten ,  so  ists  auch  aussichtslos, 
mit  den  Clementischen  Sinfonien,  obwohl  sie  durch  das 
allgemeine  Können  ihres  Verfassers  ziemlich  hoch  stehen, 
heute  Wiederbelebungsversuche  anzustellen.  Ehrlich  währt 
am  längsten  —  gilt  auch  für  die  Komponisten! 

Weitere  Mozartianer  unter  den  Sin fonikern  der  Wiener 
Schule  sind:  St.erkel,  Witt,  Wölfl,  Wilms.  Das  sterkel, Wut, 
Ostreichische  vertritt  unter  ihnen  am  ausgeprägtesten  ^^^*^»  Wlims. 
Wölfl,  Mozarts  Salzburger  Landsmann:  anmutig,  gemüt- 
lich, zuweilen  intim;  auf  der  Kehrseite  nachlässig  und 
unselbständig.  Bei  Sterkel  tritt  noch  der  italienische  Bil- 
dungsgang in  Melodien  und  Formen  hervor.  Diesem  Um- 
stand verdankt  er  den  Triumph,  einmal  Beethoven  ge- 
schlagen zu  haben.  Das  war  bei  einer  Konkurrenz  um 
die  Komposition  von  >In  questa  tomba  oscura«.  Sterkel 
erhielt  den  Preis;  Beethovens  Musik  wurde  als  »neu- 
deutsche  abgelehnt  Deshalb  braucht  man  sich  aber  Sterkel 
noch  nicht  gleich  als  eine  Null  zu  denken;  dem  wider- 
sprechen seine  Lieder.  Witt  ist  ein  kleiner  Berlioz,  ausge- 
zeichnet durch  Experimente  und  Künste  der  Instrumen- 
tierung: ganze  Adagios  mit  Pizzicato,  in  den  Allegros: 
große  Trommel  und  türkische  Musik!  Wilms  überragt 
die  Genossen  durch  seine  leidenschaftlichere  Natur,  welche 
sich  musikalisch  in  großen,  kühnen  Crescendos  und  breiten 
Zwischensätzen  äußert.    Der   bedeutendste  Wiener  aus 


— »    272    ♦— 

A«Ki>eri.  der  Blfitezeit  der  Klassiker  ist  Anton  Eberl.  Ihn  nannte 
man  unter  den  Größen  der  Gattung  und  verglich  ihn  mit 
Beethoven,  mit  dem  er  die  Gewohnheit  teilte,  auf  Spazier- 
gängen zu  komponieren.  Eberls  thematische  Erfindung 
ist  wenig  originell,  vielfach  auf  Mozart  direkt  gestfltzt, 
die  Figurenbildnng  altvaterisch  und  schablonenhaft.  Aber 
in  seiner  Harmonik,  in  der  Steigerung  des  A^Lsdrucks,  im 
gewaltigen  Aufbau  der  Perioden,  in  den  zarten  Einschal- 
tungen der  Schlußteile,  in  der  ganzen  Handhabung  der 
Form  lebt  ein  eigenes  und  starkes  poetisches  Talent 
Eberl  starb  jung;  sein  Ruhm  als  Sinfoniker  ruht  nur  auf 
wenigen  Werken,  von  denen  die  Sinfonie  in  Ddur 
ihren  Schöpfer  lange  überdauerte,  auch  draußen  >im 
Reich«.  In  ihrer  dreisAtzigen  Form,  in  dem  Violinsolo 
des  Adagio  hängt  sie  noch  mit  der  alten  Vor-Haydnschen 
Periode  zusammen ;  originell  ist  sie  in  der  Disposition  des 
ersten  Satzes,  welcher  zwischen  der  langsamen  Einleitung 
und  dem  eigentlichen  AUegro  in  anziehenden  Nuancen 
.   einen  sehr  hübschen  Marsch  vorüberführt: 

^  AUegro  moderato.  ^  ,  ^^^ 

Er  zeigt  vor  dem  Eintritt  in  den  Kampf,  daß  Hülfe  naht. 
Das  liebenswürdige  Adagio  weist  in  seinem  Hauptthema 

«Adagio. 


mit  den  schmachtenden  Vorhalten  auf  die  Zeit  Naumanns 
zurück  und  voraus  auf  die  Bellinische.  Dieser  weichliche 
Schmerz  rührt  uns,  weil  er  erlebt  ist,  —  der  männlichen 
Sprache  der  Klassiker  war  er  aber  fremd.  So  bietet  dieses 
Beispiel  und  ebenso  das  vorhergehende  eine  Ergänzung  zu 
dem  Ideenkreis  der  drei  Hauptmeister.    Sie  zeigen  uns 


—♦    273    ♦— 

die  Stellen  der  Wiener  Schale,  von  denen  Männer  wie 
Franz  Lachner  nnd  Lonis  Spobr  ihren  Ausgang  nahmen. 
Wenn  das  Wiener  Pablikom  seiner  Zeit  der  Eberischen 
Bsdnr-Sinfonie  den  Vorzng  gab  vor  Beethovens  Broica, 
so  schenkte  es  wenigstens  seine  Gunst  keinem  gewöhn- 
lichen und  unbedeutenden  Werke.  Es  ist  eine  mit  allen 
Vorzügen  des  Komponisten  ausgeführte  sehr,  leidenschaft- 
liche Komposition;  selbst  in  dem  Menuett  grollt  es  noch 
heftig,  erst  das  zweite  Trio  bringt  Ruhe  in  die  Stimmung. 
Der  langsame  Satz  hat  mit  dem  Trauermarsch  der  Eroica 
in  der  Verteilung  auf  eine  Cmoll-  und  eine  Gdurhälfte 
und  in  den  kriegerischen  Triolen  einige  zufällige  Äußer- 
lichkeiten gemeinsam. 

Der  geistige  Einfluß  Beethovens  läßt  in  der  Wiener 
Schule  sehr  lange  auf  sich  warten.  Nur  Wilms  und 
Eberl  zeigen  unter  den  Genannten  leise  Beziehungen  zu 
ihm.  S.  Neukomm,  ein  direkter  Schüler  J.  Haydns,  in  8.V6«keMM* 
den  Konzertsälen  Deutschlands  bis  in  die  dreißiger  Jahre 
hinein  eine  gern  gesehene  Erscheinung  —  namentlich 
seine  Orchesterphantasie  in  D,  eine  zweisätzige  Kompo- 
sition, in  der  das  konzertierende  Element  viel  zur  Gel- 
tung kommt,  war  sehr  beliebt  — ,  schrieb  noch  im  Jahre 
1818  eine  Sinfonia  eroica.  In  ihren  Schlußsatz  ist  Händeis 
»Seht  er  kommt  etc.«  eingearbeitet.  Als  endlich  Beet- 
hoven von  den  Wienern  eifriger  studiert  wurde,  wirkten 
zunächst  die  Äußerlichkeiten  des  großen  Vorbildes.  So 
wurden  von  Wien  aus,  dann  weit  und  breit,  die  Posaunen 
in  den  Sinfonien  endemisch.  Die  Dotzauer,  Reicha, 
Maurer,  Moralt  —  allerlei  Talente,  voran  die  kleinen, 
(Riffen  zu  den  großen  Instrumenten.   Als  typisch  für  die  j 

einreißende  Tonverschwendung  können  die  Sinfonien  von  I 

C.  Gzerny  betrachtet  werden.    Diese  beiden  platt  be-  C^Cieraf.  | 

haglichen,  lärmenden  Werke  tragen  die  Opusziüilen  750  * 

und  7811    Aus  dem  großen  Zitaten  verrat  der  ersten  (in  > 

Cmoll)  ist  eine  Reminiszenz  von  Schuberts  »Erlkönig« 
kunstgeschichtlich  bemerkenswert!  Ein  anderer  direkter  ;| 

Schüler  Beethovens,  der  bekannte  Ferdinand  Ries,  f.eIm* 
kopiert  stilistische  Eigentümlichkeiten  des  Meisters,  be-  ' 

Kreistehmar,  Ffihrer.    I,  1  lg 


-^     274    ^^ 

sonders  seine  Überraschungseffekte,  and  vermischt  sie 
mit  Rossinischen  Scherzen:  Plötzliche  Unterbrechungen 
der  Fortepartien  —  die  Geigen  schaukeln  Takte  lang 
auf  leisen  Akkordnoten,  italienisches  Guitarrenorchester 
— ,  dann  eine  unvermutete  starke  Dissonanz,  aus  der  sich 
aber  nichts  Beethovensches  entwickelt:  >Parturiunt  ipon- 
tes  etc.l€  Trotzdem  feierte  die  Kritik  in  den  zwanziger 
Jahren  Ries  als  >  geistreichen  €  Komponisten.  Selbst 
Schumann  fand  seine  Eigentümlichkeit  >nur  durch  die 
Beethovensche  verdunkeltt  *). 

Der  erste  Tonsetzer,  welcher,  obwohl  er  auf  einem 
wesentlich  realistischen  Bildungsboden  steht,  im  höheren 
Sinne  als  Beethovens  Schüler  bezeichnet  werden  kann, 
und  welcher  zugleich  die  Wiener  Schule  und  ihren  Lokal- 
ton als  einer  der  Letzten  und  als  der  Glänzendste  ver- 

F. Schubert,  tritt,  ist  Franz  Schubert.  Wiener  und  östreicher  ist 
er  in  der  Erfindung  und  Phantasie  bis  zu  einem  Grad, 
daß  seine  Kompositionen  an  die  Wiener  Landschaft,  an 
Ländlerton  und  an  Czardasklang  erinnern,  Beethovenianer 
in  der  breiten,  zuweilen  maßlos  breiten  Führung  der 
Form. 

F.  Schubert,  Das  Hauptwerk  unter  Franz  Sciiuberts  Sinfonien  ist 

C  dur-Sinfonie  die  große  Sinfonie  in  Cdur,  welche  in  der  Reihe  der 
(Nr.  7).  übrigen  die  Nummer  7  trägt  Sie  ist  ein  Ausnahme- 
werk: in  ihrer  kolossalen  Anlage,  in  den  unaufhörlichen 
Wiederholungen  ihres  Perioden baues,  in  ihrer  »himm- 
lischen Länget,  wie  sich  R.  Schumann  euphemistisch 
ausdrückte,  etwas  monströs;  meisterhaft  und  genial,  wie 
keine  andere  seit  Beethoven,  in  der  musikalischen  Er- 
findung, in  der  Stärke  des  melodischen  Stromes,  in  der 
Fülle  schwärmerischer  Weisen,  in  der  Ursprünglichkeit 
und  dem  Reichtum  origineller  Tongedanken,  die  auf 
Schritt  und  Tritt  in  diesem  Werke  entgegensprossen: 
liebenswürdig  und  unwiderstehlich  wie  eine  heitere,  herr^ 
liehe,   großartige  Frühlingslandschaft  nach  der  Natur. 

*)  H.  Schamanns  GeMmmelte  Schriften  (Ausgabe  Jansen) 
I,  135. 


•^    27b    ^ 

ihre^  Phantasie  und  Stimmung.  Alles  in  allem  kann 
man  sie  vielleicht  die  schönste,  die  musikalisch  reichste 
Sinfonie  des  19.  Jahrhunderts  nennen;  sicher  hat  sie  in 
der  Laien  weit  mehr  Freunde  als  irgendeine  andere. 

Die  Sinfonie  beginnt  mit  einer  ausgeftkhrten  Einlei- 
tung, welche  die  Homer  romantisch  eröffnen: 

Andante.       >.  *  »  > 

'f  "I  I'  I  '■'■fi  n'i  I  iTi  I  1 1  [II  ij;^-  ri    i 

Die  Holzbläser  nehmen  diese  fragende  Melodie  zunächst 
auf,  die  Celli  setzen  sie  fort  Dann  beginnt  eine  Durch- 
führung über  die  zwei  ersten  Takte  des  Themas.  Dieser 
Diskurs,  von  den  Holzbläsern  schüchtern  und  zagend,  von 
dem  Gros  des  Orchesters  mit  starker  Entschiedenheit  und 
einer  gewissen  robusten  Pracht  geführt,  endigt  mit  einem 
Schlußresultat,  welches  in  dem  ersten  Satze  zu  großer  Be- 
deutung gelangt.   Es  ist  das  freudig  zuversichtliche  Motiv 

das  nach  Mozartscher,  Ditter&- 
_  _  _  dorfscher,  wir  können  sagen 
1^  '  "  "  "  '  "  nach  Wienerischer  und  italie- 
nischer Art  der  triumphierende  Refrain  in  der  Dichtung  des 
ersten  Satzes  wird.  Mit  ihm  scheint  der  Berg  überstiegen. 
Ohne  Aufenthalt,  mit  förmlichem  Ungestüm  geht  es  über 
in  das  Allegro,  das  wie  in  den  Strahlen  der  Morgensonne 
vor  uns  glitzert  und  flimmert.  Ritterlich  stolz  die  Geigen: 
■  ^  An<gro..  vor  freudiger  Erwartung 

P  *i.  J)j:  J>'j.  J)J.  J)lj -bebend   die  Holzbläser 

X   ^  *  mit  dem  m  der  ersten 

Zeit  von  den  Spielern  als  unausführbar  erklärten  Rhythmus : 

^         ,  ,         ,  i. «  s^  bauen  die  bei- 

if  rrr"'irrrrrrir  f^'  Tea« des or- 

^'^  j  chesters  das  lange 

Thema  vor  uns  stückweise  auf.  In  seiner  zweiten  Hälfte 
gibt  es  einer  großen  Freude  immer  kühneren  und  rau- 
schenderen  Ausdruck: 


18* 


— ♦    276    #— 

Bcht  SchnbertBch  ist  der  Abschluß  dieses  Bildes  und  der 
Obergang  ins  nächste.  Zwei  Takte  im  Decrescendo  ge- 
halten  -*-  und  wir  sind  ans  dem  Cdnr  und  dem  Sturme 
des  ToUen  Orchesters  in  Emoll!  Das  zweite  Thema  setzt 
beschaulich  und  mit  jenem  kleinen  Anflug  von  Melan- 
cholie und  Sehnsucht  ein,  der  Schubert  gleich  einen 
musikalischen  Lenau  immer  begleitet:  Die  stark  be- 
schäftigten, in  dieser  Sinfonie  fast  überbürdeten  Holz- 
bläser tragen  es 


■  >  r^f'-Q.rTM    ** -     _'n  Erst  nach  88  Takten 

"T  rr  Pif^pü  p^T  I  Mi  Ai^  *r  I  [»  gelangt  es  ans  Ende 
'  '  Jj,  y  '^  k'  '  "  i  und  in  die  für  diese 
Stelle  zu  erwartende  normale  Tonart  Gdur.  Eigentümlich 
ist,  daß  Schubert  schon  hier  eine  Durchführung,  wenn 
auch  nur  eine  kleinere,  einschaltet.  Darin  zeigt  sich 
deutlich  der  Einfluß  Beethovens.  In  dieser  Durchführung 
durchstreift  der  Komponist  einen  außerordentlich  weiten 
Ideenkreis.  Die  Holzbläser  und  das  Streich-  [P  ä  lä  j=a: 
Orchester    bringen    mit    dem    munteren:  i^  f  IT  ^^ 


naiv  fröhliche  Klänge ;  die  ^^ — r^    Es  ist  wie  Vo- 

Posaunen  dicht  daneben  =fcj»  »»^  ^f '  ^^^s  gelzwitschem 
mysteriös      schauerliche""^"*^ '  '       und   Waldes- 

rauschen in  einer  Stunde,  wo  die  Natur  einschläft.  Die 
beiden  Motive  sind  durch  kurz  zugesetzte  Auftakte  aus 
früher  aufgestellten  Themen  gebildet;  das  erste  aus  dem 
zweiten  Thema,  das  Posaunenmotiv  aus  dem  zweiten 
Takte  der  Einleitung.  Es  ist  also  alles  höchst  einfach 
und  natürlich  zugegangen,  und  doch  stehen  wir  hier 
wie  vor  einer  übernatürlichen  Wirkung,  vor  dem  ganzen 
Schubert  in  seiner  fast  erschreckenden  Größe.  Er,  der 
eben  noch  wie  ein  Kind  mit  Kindern  spielte,  pflegt  jetzt 
geheimen,  priesterlichen  Verkehr  mit  der  Qeisterwelt. 
Der  gewaltige  Eindruck  der  Stelle  läßt  sich  weit  in  der 
modernen  Komposition  verfolgen,  z.  B.  Schumanns  D  moU-, 
Brahms  D  dur-Sinfonie  zeigen  die  Spuren.   Ein  ganz  eig- 


277 


ner  und  neaer  Zug  an  diesem  Sinfoniesatze  ist  die  innige 
Verbindung  des  Allegro  mit  der  Einleitung.  Dies  oben 
unter  b)  gegebene  Refraintbema  aus  der  Einleitung  schließt 
die  kleine  Durchführung,  von  welcher  hier  die  Rede  ist. 
Es  schließt  auch  die  große,  die  eigentliche  Durchführung, 
welche  nach  ihr  beginnt  —  etwas  düster  und  in  Moll  ge« 
halten  — ,  und  am  Schlüsse  des  ganzen  ersten  Satzes 
steht  herrlich  und  in  vollem  Glänze  die  Melodie  vor  uns, 
mit  welcher  die  Hörner  die  Sinfonie  begannen.  In  der 
großen  Durchführung  des  ersten  Sat-  /  i  ^  I  i*  «'» 
zes  ist  eine  Kombination  des  Motivs  fr  T  f  f  F  i  T  f  f  ■ 
mit  einem  andern  aus  dem  ersten  Thema  des  Allegro 

zu  bemerken. 
Nach  der  Re- 
prise    kommt 

eine  Coda,  welche  in  gesteigerter  Empfindung  noch  ein- 
mal auf  den  fremden-  und  erwartungsvollen  Eingang 
des  Allegro  einen  Blick  wirft. 

Das  Andante  der  Sinfonie,  ihr  zweiter  Satz  (Amoll,  ^/i), 
besteht  aus  zwei  großen  Gruppen.  In  der  ersten  trägt 
alles  den  Charakter  von  genial,  frei  und  sicher  zusam- 
mengestellten Impromptus.  Das  führende  Thema  ist 
folgendes: 


ji  |ii^' 


trübten  Friedens  weist: 


Es  hat  einen  Abschluß 

f=F==  in  Dur,  der  ins  Land 

des  Glücks  und  unge- 


Zu  diesem  Hauptthema  tritt  ein  zweites,  in  welchem 
die  Gegensätze  des  erstem  gesteigert  und  näher  anein- 
ander ge- W  g  ^  ^  ^  A'^M'tJis  «afc«€  $$ 
rückt  er-  ITT  11111^1  1111  Kff  ■Prrrr-r 

scheinen : 


^  Violinca 


f  »tut«! 


^^     278    ♦-- 

Der  zweiten  Gruppe  ist  ein  rahigerer  Charakter  eigen. 
Ans  ihr  klingen  Töne  der  frommen  Andacht  nnd  einer 
erhabnen  Feierlichkeit,  und  an  einzelnen  Stellen  herrschen 
ein  Ernst  und  eine  Resignation,  aus  denen  die  Gedanken 
an  das  Jenseits  zu  sprechen  scheinen.  Wir  stehen  wie 
durch  Magie  vor  diesem  neuen  Bilde.  Mit  einem  jener 
kleinen  Harmoniewnnder,  an  denen  Schubert  so  reich 
ist,  fahrt  er  uns  von  A-  nach  Fdur.  Das  Hauptthema 
dieser  zweiten  Gruppe  ist  das  folgende : 


I.VloL 


JV 


Es  wird  sofort,  nachdem  es  aufgestellt  ist,  in  kleinen 
Sätzchen  motivisch  entwickelt.  Der  Wechsel  zwischen 
den  zwei  Chören  des  Orchesters,  den  Bläsern  und  den 
Geigern,  gibt  diesen  Sätzchen  ihre  charakteristische 
ForuL  Von  einer  besonderen  Schönheit  ist  die  Schluß- 
partie dieser  zweiten  Gruppe,  ihr  sanfter  wehmütiger 
Abschiedscharakter,  das  fast  übersinnliche  Klangbild,  in 
welchem  Schubert  hier  mit  den  immer  leiser,  immer 
stockender  gebrachten  Tönen  des  Homes  und  des  Streich- 
orchesters das  Verschwinden  der  himmlischen  Vision 
veranschaulicht. 

Die  beiden  Gruppen  des  Andante  werden  fiach  diesem 
Momente  ein  zweites  Mal  vorübergeführt.  Bei  dieser  Re- 
Petition  besteht  eine  Hauptveränderuog  darin,  daß  die 
wilden  Elemente  des  oben  mit  b)  bezeichneten  Themas 
der  ersten  Gruppe  einen  breiten  Spielraum  erhalten.  Sie 
treiben  es  bis  zu  einer  sehr  bedenklichen  Spitze.  Von 
ihr  aus  finden  die  Celli  mit  einer  rührenden  Variante 
des  Thema  a)  den  Obergang  nach  der  zweiten  Gruppe, 
welche  diesmal  in  Adur  gehalten  ist.  —  Trotz  der  un- 
endlich vielen  Wiederholungen  im  kleinen  ist  die  Dis- 
position des  Andante  knapp  und  einfach. 

Das  Scherzo,  der  dritte  Satz,  erscheint  bei  weitem 
komplizierter.  Namentlich  der  zweite  Teil  seines  Haupt- 
satzes übertrifTt  in  der  Menge  der  hier  zusammentreten- 


279 


den  Ideen  und   in   der  Länge  seiner  Ausführung  auch 
die  kühnsten  Beethovenschen  Vorbilder. 

Den  Anfang  des  Si^tzes  macht  ein  Wechselspiel  zwi- 
schen Bläserchor  und  Streichorchester,  welchem  folgendes 
Motiv   /AiiegTovirace.  Die  Vio- 

Iinen,zu- 


zugrun-i 
de  liegt 


^m 


if  erst  et- 
was barsch  und  burschikos,  lenken  dann  in  den  zärt- 
licheren Ton  der  Blasinstrumente  ein  und  schlagen 
schmeichelnd  eine  liebenswürdige  Wienerische  Tanz- 
melodie vor 


t/r 


-  /^f    f  u  welche  jene  mit  Achtelgewinden 

/  f  '    i  '     1^  "1  ^^^*  aus  dem  Hauptthema  umkränzen. 
Der  zweite  Teil  des  Hauptsatzes  setzt  die  reizenden  Schel- 
mereien des  ersten  fort;  neu  hinzugetragen  erscheint  ein 

kurzer  Gedanke  von      ,  -f-*"J — p>^    . 

großer  Innigkeit:  eini    f    i  f  f  T   iV  ^f  y    i^p^^TTSisa 
veredelter   Ländler^^     I  I  ■    '   T    M    ^^ 

Das  bewegte  Treiben  des  Scherzo  erhält  durch  das 
Trio  eine  köstliche  Unterbrechung.  Die  Bläser  tragen 
einen  langen,  gefühlvollen  Gesang  vor,  dessen  Hauptteil 
auf  folgender,  in  ihrer  Binfachheit  und  Wärme  echt 
Wienerischen  Melodie  ruht: 


AUe^o  tivace. 


Von  al- 
len Sei- 
ten wird 


Das  Finale  setzt 
mit  einem  humoristi- 
schen   Alarmsignal     _ 

folgendermaßen  ein**     ^  ^  * '  zum  Auf- 

bruch gerufen,  eine  große  glänzende  Menge  ist  in  Be- 
wegung: ein  herrlicher  Tag,  eine  herrliche  Landschaft! 
Aus  der  zweiten  Hälfte  des  Hauptthemas: 


280 


■jrF-rirrmif7rM7^7firif  irS^ 

spricht  vergnügt,  ungeduldig  drängend  die  Freude  der 
Erwartung  oder  der  ErfQUung. 

Im  zweiten  Thema  nimmt  die  frohe  Stimmung  des 
Satzes  einen  beruhigten,  festlichen  Ausdruck  an:  es  ist, 
als  ob  sie  nun  kämen,  die  lang  Ersehnten  im  stolzen 
langen  Zug.  Ein  Siegesfest  ließe  sich  mit  dieser  herr- 
lichen, reichen  Musik  feiern. 


f  jTT  \[T\  \\  I  irjil'lLL'l  fTi  I 


An  dieser  Melodie  hat  Schubert  ein  ersichtliches 
besonderes  Wohlgefallen  gehabt;  namentlich  auf  den 
breit  daher  schlendernden  Anfang  in  halben  Noten  greift 
er  immer  wieder  zurdck:  Dröhnend  und  mit  mächtigem 
Nachklang  schlagen  sie  uns  aus  den  Bässen  entgegen 
und  fdbren  die  Gedanken  von  dem  dunkleren  Wege,  den 
sie  in  der  Durchführung  streiften,  wieder  in  heitere 
Sphären  zurück.  Außergewöhnlich  frei  tritt  die  Reprise 
ein:  mit  dem  ersten  Thema  in  Esdur  anstatt  in  der 
Haupttonart  0,  Namentlich  das  Finale  ist  derjenige  Satz 
der  Sinfonie,  an  welcher  sich  das  Übermaß  breiter  Aus- 
führung, welches  dem  Werke  eigen  ist,  empfindtich  macht. 
Ohne  irgendeinen  neuen  Zug  zu  bringen,  setzt  der  Schluß 
dieses  Satzes  immer  wieder  an  und  wiederholt  in  immer 
andern  Tonarten  die  zur  Genüge  oft  vorgetragnen  Ge- 
danken.   Es  ist  dies  ein  Mangel,  der  von  der  Ober- 


--♦    281     ^^ 

schwäDglichkeit  Schuberts,  die  ans  häufig  genug  seiige 
Momente  bereitet,  nicht  zu  trennen  ist.  Die  Gdur- Sin- 
fonie bleibt  trotzdem  eins  der  reichsten  und  beliebtesten 
Kunstwerke.  Aber  man  würde  sie  wahrscheinlich  häu- 
figer auffflhren,  wenn  sie  kfirzer  wäre. 

Schubert  schrieb  diese  Sinfonie  im  Jahre  1828,  wenige 
Monate  vor  seinem  Tode;  aber  erst  10  Jahre  später  wurde 
sie  der  Öffentlichkeit  bekannt  und  zwar  auf  Schumanns 
Veranlassung*).  Eine  noch  viel  längere  Wartezeit  haben 
die  Übrigen  Sinfonien  Schuberts  durchmachen  müssen. 
Brst  im  Jahre  1866  kamen  die  beiden  Sätze  zur  Auf- 
führung, welche  von  der  HmoU- Sinfonie  vorhanden  F.  S^habert, 
sind**).  Daß  das  Werk  ursprünglich  vollendet  werden  ""»«"Sinfonie 
sollte,  geht  daraus  hervor,  daß  die  Originalpartitifr  noch 
9  Takte  als  Anfang  des  Scherzo  enthält  Mit  Recht  ist 
aber  neuerdings  darauf  hingewiesen  worden***),  daß 
Schubert  diese  Absicht  möglicherweise  aufgegeben  hat 
und  daß  die  beiden  Sätze  eine  Fortsetzung  nicht  ver- 
langen. Der  Entstehungszeit  nach  dem  Jahre  1822  an- 
gehörend, also  6  Jahre  älter  als  die  große  Cdur-Sinfonie, 
ist  sie  dieser  doch  an  künstlerischer  Vollendung  überlegen: 
gedrungen  in  der  Darstellung  und  frei  von  den  formellen 
Mängeln  der  berühmten  Schwester.  Es  ist  eine  Eigen- 
heit der  künstlerischen  Entwicklung  Schuberts,  daß  sie 
in  Sprüngen  auf-  und  abwärts  ging.  Dem  Inhalt  nach 
ist  die  HmoU -Sinfonie  mit  der  großen  in  0  gar  nicht 
zu  vergleichen.  Hier  steht  der  schwermütige  Schubert 
vor  uns  und  entrollt  uns  in  kurzen  und  ergreifenden  Zügen 
das  Bild  einer  leidenden  Seele.  Manche  Stellen  im  ersten 
Satze  weisen  direkt  auf  »Gretchen  am  Spinnrade  c  hin, 

*)  Die  Entdeckungsgeschichte  hat  Schumann  zuerst  ans- 
fQhrlich  in  der  Neuen  Zeitschr.  f.  Musik,  Bd.  XU,  8.  81  mit- 
geteilt: Yon  da  ist  der  Aufsatz  in  seine  »Gesammelten  Schriften«* 
übergegangen, 

**)  Ober  die  Aulflndung  durch  J.  Herbeck  siehe:  Ed.  Hans« 
llck,  Aus  dem  Konzertsaal.    Wien  1870,  S.  350 
***)  W.  Dahms:  F.  Schnbert,  1911. 


282 


sogleich  das  erste  Thema,  in  weichem  unter  dem  sehn- 
flüchtigen  Gesang  von  Klarinette  nnd  Oboe  (unisono) 


die  Geigen  auf  träumerisch  belebtem  SechzehntelmotiT*) 
hin-  und  herschaukeln.  Das  zweite  Thema,  eine  lindler- 
artige  Melodie,  setzt  dann  mit  unbeschreiblichem  Wohl- 
klang, aber  wie  aus  fernster  Feme  in  den  Cellis  ein 


pp 


Es  nimmt  die  ganze  £r- 
innerung  in  Beschlag:  es 
ist  f&r  seine  Stelle  fast 
zu  schön  und  macht  uns  die  erschfittemden  Gemütsaus- 
brüche vergessen,  welche  doch  seine  Fortsetzung  bilden: 

Der  zweite  Satz,  Andante  con  moto  (B  dur  s/g)  bringt 
»himmlischen  Balsam«  in  einfachster  Schale.  Die 
Melodie,  auf  welcher  sein  Hauptthema  im  wesent- 
lichen ruht,  ist  ein  schlichter  frommer  Kindergesaug: 

.  And^tejsflLS!«^  Das  zweite  Thema  tritt  mit 

'/  X  H  ^'  I  ^  it-Cr  I  V  iP'  ^®°  Fragen  eines beschwer- 
fr  » '  "jy  '  ^  ^  '  *  ■  ten  Gemüts  dagegen  hia 
Sie  haben  in  der  harmonischen  Führung  dieser  Partie 
einen  bewunderungswürdigen  Ausdruck  erhalten.  Der 
ganze  Satz  ist  das  glänzendste  Dokument  für  die  Tiefe 
des  Schubertschen  Geistes,  für  den  erstaunlichen  Reich- 
tum einer  Natur,  in  welcher  neben  der  vollen  Naivität 
des  Rindes  aus  dem  Volke  auch  jene  Größe  der  Empfin- 
dung wohnte,  die  Beethovens  Teil  war. 

*)  In  der  Ptrtituraiisgabe  lind  an  dieser  Stelle  mit  be- 
merkenfwerter  Pietit  auch  einige  offenbare  Schreibfehler  Schu- 
berts konierylert  worden. 


288 


Seit  kurzer  Zeit  liegen  uns  in  der  verdienstvollen 
Schubert-Ausgabe*)  auch  die  Partituren  der  übrigen  sechs 
Sinfonien  vor,  welche  Schubert  außer  den  beiden  hier 
geschilderten  und  in  der  Praxis  eingebürgerten  geschrie- 
ben hat  Von  einer:  der  Cdur-Sinfonie  Nr.  6,  welche  in  v.  SehDk«rt, 
ihrem  ersten  Satze  Weberschen  Einfluß,  im  letzten  Ver-  Cdur-Sinfonie 
wandtschaft  mit  dem  Finale  der  siebenten  zeigt,  wissen  '*  '' 

wir  das  Entstehungajahr  nicht  genau,  wir  dürfen  es  aber 
nach  1822  setzen.    Die  andern  fünf  fallen  in  die  Zeit 
von  1818  bis  1816,  ohne  daß  sich  in  der  Reihenfolge, 
in  der  sie  entstanden,  eine  fortschreitende  Entwickelung 
verfolgen  ließe.     Dem   großen  Sinfoniestile  Beethovens 
nähert  sich  Schubert  am  meisten  in  der  B  dur-Sinfonie    F.Sehibert, 
(Nr.  2)  vom   Jahre  1814.     Hier  strebt   er   dem   großen  Bdw.  Sinfonie 
Meister  in  dem  breiten  Entwurf  der  Perioden  nach;  ja       (Nr.>). 
das  Hauptthema  des  ersten  Satzes  ist  direkt  aus  einem 
ähnlichen  im  Finale   von  Beethovens   vierter  Sinfonie 
hervorgegangen.    Gleichzeitig  zeigt  auch  diese  Sinfonie 
das  Eigene  und  das  Wienerische  in  Schubert  am  stärk- 
sten, vornehmlich        •*  Andists^  .^-^ 
das  Andante  mit: ^  '»    *  *  -^^^ ^-^  .ßßßfr, 


den   Variationen:  •>' 

und  das  keck  dahinsprühende  Finale: 

Prett6. 


Diese  B  dur-Sinfonie  hat  von  allen  den  nachgefun- 
denen die  ersten  Aussichten  im  Konzertsaale  heimisch 
zu  werden.  Diese  Sinfonien  haben  sämtlich  ihre  inter- 
essanten Einzelheiten  in  Beziehungen  auf  andere  be- 
rühmte Werke  Schuberts:  die  erste  (Ddur  v.  J.  1813)  in  F.  Selivbort, 
dem  zweiten  Thema  des  Finale,  das  mit  dem  Lied  von  Sinfonie  Nr.  i 
der  Forelle  bestimmte  Ztge  teilt,  die  dritte  (Ddur  vom 
J.  1816)  durch  einen  Anklang  an  die  große  in  Gdnr. 
Gemeinsam  ist  ihnen  die  Meisterschaft  im  Kolorit,  die 
angeborene  Genialität  in  der  Mischung  und  Verwendung 


und  8. 


^)  Leipzig,  Breitkopf  A  Härtel. 


--^     284    ^^ 

der  Instrumente  und  ein  ausgeprägter  Zug  von  Lebens- 
frende. Eine  Ausnahme  von  der  letzten  Eigenschaft 
macht  nur  die  vierte  Sinfonie  (Gmoll  v.  J.  1816).    Sie 

r.8«kmberty  ist  »tragische  Sinfonie«  überschrieben  und  als  ein  Ver- 
TragiMhe  Sin-  gxich  in  diesem  Stile  zu  betrachten ,  wobei  Muster  wie 

>  (Hilf*).  Beethovens  Ouvertüren  zum  Coriolan  und  zum  Egmont 
und  die  Gherubinis  zur  Medea  zu  Grunde  gelegen  haben. 
Vom  eigentlichen  Wesen  tragischer  Musik  enthält  sie  je- 
doch weniger  als  die  unvollendete  Sinfonie  in  Hmoll. 


Die  Norddeutsche  Schule,  die  noch  zu  den  Zeiten 
des  Hamburger  Bach  der  Wiener  Schule  innerlich  ziem- 
lich nahe  steht,  wird  sich  mit  deren  Erfolgen  eines  Gegen- 
satzes bewußt  und  bemüht  sich  eine  eigene  Art  zu  äußern. 
Sie  gibt  sich  pathetisch,  ruhiger  und  ernster  als  die 
Wiener,  zuweilen  etwas  trocken.  In  Form  und  Stil  über- 
trifft sie  jene  durch  Gediegenheit  und  Solidität  und  ver- 
rät einen  Zusammenhang  mit  jener  Berliner  Kontrapunk- 
tistenpartei ,  welche  unter  der  Führung  Rirnbergers  den 
ersten  Triumphen  Haydns  mit  dem  Feldgeschrei  »Seba- 
stian Bach«  entgegentrat  Die  Opposition  n^ag  etwas 
Lächerliches  gehabt  haben.  Spottet  doch  Marpurg*)  ein- 
mal über  einen  Philister,  der  eine  Partitur  »mit  der  fin- 
stren Miene  eines  Erzdoppelkpntrapunktisten,  der  den 
galanten  Haydn  zu  Boden  schlagen  will«  prüft  Die 
norddeutschen  Sinfonien  sind  reich  an  Imitationen  und 
Umkehrungen  und  an  Fugenpartien.  Fugen  sind  auch 
den  Wiener  Sinfonien  nicht  fremd;  aber  die  Norddeut- 
schen tragen  die  strenge  Arbeit  gern  zur  Schau;  ja  es 
gibt  Werke,  in  welchen  das  gelehrte  Element  sich  ganz 
zum  Herrn  macht  Das  am  meisten  charakteristische 
Produkt  dieser  Richtung  ist  eine  Cdur-Sinfonie  des  Abt 
Abt  Vogler.  Vogler,  seine  sogenannte  »Bayrische  Nationalsinfonie«, 
in  deren  Finale  sich  noch   einmal  die  Zeit  der  alten 


*)  Legeade  einiger  Ma8ikheiUgeD(C81n  a.  Rh.  1786),  3.  200. 


— ♦    286    *^ 

Solmisationskünste  regt:  sein  Hauptthema  ist  die  Cdur- 
Skala,  auf  deren  geistige  Verwendbarkeit  Vogler  bei  der 
Bekanntschaft  mit  russischer  Hommusik  gekommen  sein 
soD.  Das  Werk  genoß  von  seinem  Entstehungsjahre  1815 
zwei  Menschenalter  lang  großes  Ansehen  und  kann,  wie 
SchalhAutl  und  J.  Simon*)  wollen,  als  Beweis  dafür  dienen, 
daß  Vogler  unterschätzt  wird.  Bekanntlich  war  auch 
R.  Schumann  dieser  »Meinung. 

Mit  dem  Auftreten  Mozarts  nähert  sich  die  Nord- 
deutsche der  Wiener  Schule  wieder.  Mozart  wird  das 
Ideal  ihrer  Tonsetzer.  Um  BeethoYen  aber  erwarb  sie 
sich  die  größten  Verdienste.  Seine  Musik  fand  ihre 
Hauptstütze  in  Norddeutschland,  namentlich  durch  das 
Eintreten  des  von  Fr.  Rochlitz  wohl  beratnen  Leipziger 
Gewandhauses,  eines  der  wenigen  Institute,  die  aus  der 
Periode  der  »wöchentlichen  Konzerte«  heil  in  die  neue 
Zeit  herüberkamen.  An  guten  Grundsätzen  und  Ab- 
sichten reich,  blieb  die  Norddeutsche  Schule  an  über- 
ragenden Talenten  lange  arm  und  hinter  der  Wiener 
beträchtlich  zurück,  bis  Mendelssohn  und  Schumann  er- 
schienen. 

Die  ersten  namhaften  Vertreter  der  norddeutschen 
Sinfonie  sind  die  beiden  R  o  m  b  e  r g  und  Fr.  S  c  h  n  e  i  d  e  r.  a.  Bonl^«rf . 
Andreas  Romberg,  der  Komponist  der  > Glocke«,  galt  als 
der  anerkannte  Führer.  Von  seinen  Sinfonien,  unter  denen 
sich  auch  eine  mit  Janitscharenmusik  befindet,  ist  die  in 
Z>,  welche  Jahre  lang  ein  Liebling  der  Orchester  war,  be- 
sonders hervorzuheben.  In  ihrem  ersten  Satze,  welcher 
in  freier  und  selbständiger  Weise  an  die  tragischen  Mo- 
tive des  Don  Juan  anklingt,  zeigt  sie  die  der  Schule 
eigentümlichen  ernsten  Züge  außerordentlich  deutlich. 
Sein  Vetter  Bernhard  Rom  borg,  einer  der  größten  Cello-  b.  Bonberg. 
Spieler  seiner  Zeit,  heute  noch  durch  seine  Kindersinfonie 
weit  bekannt,  hat  sich  in  der  Gattung  der  höheren  Sin- 
fonie durch  die  >Trauersinfonie  auf  den  Tod  der  Königin 

♦)  K.  E.  V.  SchafhEutl:  Abt  Vogler,  1888;  J.  Simon: 
Abt  Voglers  kompoBitortschefl  Wirken,  1904. 


—fr    286    0-- 

Lx)uise«  ein  rühmliches  Denkmal  gesetzt.  Ohne  Choräle, 
Begräbnisgesänge  und  äußerliche  Hilfsmittel  wird  hier 
eine  erhebende  Totenfeier  vollzogen,  der  leidenschaft- 
liche Schmerz  und  die  sanfte  Klage  haben  denselben 
natürlichen  schlichten  Ausdruck  gefunden;  wahres,  echtes 
Gefühl  und  edle  Handlung  machen  diese  Sinfonie  zu 
einem  hervorragenden  Kunstwerk.  Nach  Geist  und  Stil 
erinnert  es  an  Mozarts  »Maurerische  Trauermusikc.  Fried- 
Fr.  Scbueidar.  rieh  Schneider  war  einer  der  ersten,  welche  in  Beet- 
hovens Fußstapfen  zu  treten  suchten.  Vom  Jahre  1808 
ab  hat  er  über  vier  Jahrzehnte  lang  das  Gebiet  der  Sin- 
fonie gepflegt  und  in  den  Scherzis  seiner  ungefähr  zwanzig 
Sinfonien  oft  eine  bedeutende  Höhe  erreicht. 

Als  der  letzte  und  bedeutendste  Vertreter  des  ursprüng- 
w.  Kalllwod».  liehen  Stiles  der  Norddeutschen  Schule  ist  W.  Kalli- 
woda  zu  betrachten,  der  von  der  Mitte  der  zwanziger 
Jahre  ab  ein  Vierteljahrhundert  hindurch  einen  bedeu- 
tenden Platz  im  Repertoire  einnahm.  In  ihm  schien  das 
Geschick  wieder  einen  Meister  ersten  Ranges  bescheren 
zu  wollen.  Vielseitig,  auf  jedem  Gebiete  sicher,  oft  neu, 
originell,  und  doch  natürlich  und  einfach,  macht  er 
wiederholt  den  Eindruck  eines  Auserlesenen  und  nähert 
sich  der  letzten  Stufe  zur  Unsterblichkeit.  Obwohl  das 
eminente  Talent  Kalliwodas  nicht  zu  voUer  Entfaltung 
gelangt  ist  und  in  fast  jedem  seiner  Werke  ein  unfertiger 
Rest  bleibt  —  hier  die  übermäßige  Breite  der  Ausführung, 
dort  die  Ungleichheit  der  Teile  — ,  ist  doch  das  Studium 
seiner  Sinfonien  sehr  genußreich.  Jede  enthält  Perlen  und 
Proben  einer  musikalischen  Urkraft  In  der  ersten  Sinfonie 
Kalliwodas  (Fmoll)  machen  wir  auf  die  schüne  Einleitung 
und  das  naiv  kräf-  Aüegro. 

tige (zweite) Thema i  *"'"'"  "   '  ^ 
des  ersten  Satzes: 
aufmerksam.  Ihr  tiTte«.  •  eine  auf- 

Scherzo  hat  in  ^b^i>|  p   K  P  f  li  f  P  I   f  I  ftllige 
demHauptthema  l»^  '  Ahnlich- 

keit  mit  dem  entsprechenden  Satze  der  Schumannschen 
DmoU-Sinfonie.     Die   zweite  Sinfonie  Kalliwodas  zeigt 


287 


bedeutende  Fortschritte  in  der  Form.  Die  Verbindungs- 
gmppen  sind  gedankenvoller  geworden  und  können  der 
Stdtze  durch  Figurenwerk  entraten.  Der  poetische  Glanz- 
punkt des  Werkes  liegt  in  der  kleinen  Coda  des  Larghetto, 
welche  der  scheinbar  schon  geschlossenen  Darstellung 
noch  einen  ganz  neuen  traulich  herzlichen  Gedanken  in 
Kanonform  nachsendet  Auch  dafär  findet  sich  eine 
Analogie  bei  R.  Schumann,  in  der  Bdur-Sinfonie.  Die 
dritte  Sinfonie  Ralliwodas  darf  im  allgemeinen  als  ein 
Hauptwerk  aus  der  Periode  ihrer  Entstehung  (1831)  be- 
zeichnet werden.  Leider  ist  der  letzte  Satz  den  vorher- 
gehenden nicht  ebenbürtig,  und  in  allen  wünscht  man 
die  Darstellung  etwas  gedrungener.  Ohne  diese  Mängel 
würde  sie  für  alle  Zeiten  die  Repertoires  zieren  können. 
Viele  Partien  haben  Beethavens  großen  und  kühnen 
Zug;  im  zweiten  Thema  des  ersten  Satzes  glauben  wir 
uns  direkt  in  die  Sphäre  der  Rassumowsky-Quartette 
dieses  Meisters  versetzt.  Der  erste  Satz  ist  einer  der 
charaktervollsten  Sinfoniesätze,  die  je  geschrieben  worden 
sind;  in  seiner  blütenlosen  Starre  und  Strenge  hat  er 
kaum  seines  gleichen.  Aiiegro. 
Sein  kahles  und  stei-  f^ 
nemes  Hauptmotiv 
welches  schon  fremdartig  in  die  Einleitung  hineinklingt, 
gehört  zu  jener  Klasse  von  Themen,  mit  welchen  es  nur 
ein  Genie  wagen  darl  Die  vierte  Sinfonie  (CmoH)  zeigt 
den  Komponisten  in  Formen  und  Gedanken  wieder  als 
einen  ganz  anderen.  Ihr  erregtes  Wesen  deutet  auf  per- 
sönliche Erlebnisse;  namentlich  das  Finale,  wo  nach 
einem  außerordentlich  leidenschaftlichen  Eingang  plötz- 
licli  das  sinnende  Andante  wieder  erscheint,  legt  diese 
Vermutung  nahe.  Die  fünfte  Sinfonie  Kalliwodas  (HmoU), 
welche  im  ganzen  etwas  leichter  wiegt,  hielt  sich  durch 
das  den  langsamen  Satz  vertretende,  einschmeichelnde 
und  etwas  böhmisch  anklingende  Allegretto 

ASagretto. 


^ 


-^    .288    ^^ 

lange  in  der  Gunst  desPablikams.  Die  sechste  und  siebente 
Sinfonie  Kalliwodas  stehen  gegen  ihre  Vorgängerinnen 
zurück  und  erlangten  in  den  Konzertprograxnmen  keine 
feste  Position. 

Zur  Bedeutung  gelangte  die  Norddeutsche  Schule  mit 
dem  Anwachsen  der  romantischen  Bewegung,  die  sie  in 
die  Sinfonie  hineintrug. 

Jean  Paul  nennt  bekanntlich  die  Musik  die  roman- 
tischste, d.  h.  von  Natur  aus  und  von  jeher  romantische 
unter  den  Künsten.  Und  in  früherer  wie  in  neuerer  Zeit 
ist  mit  Recht  darauf  aufmerksam  gemacht  worden,  daß 
schon  die  Werke  S.  Bachs  wie  die  D.  Buxtehudes  und 
anderer  älterer  Meister  romantische  Züge  tragen.  Ge- 
schichtlich datiert  aber  der  Begriff  der  musikalischen 
Romantik  erst  seit  dem  Anfang  des  neunzehnten  Jahr- 
hunderts. Zwiespältigkeit  und  Mischung  galt  als  Wesen 
der  Romantik.  In  diesem  Sinne  wurden  Mozart  und 
Beethoven  im  Gegensatz  zu  Haydn  als  romantische  Kom- 
ponisten bezeichnet:  Mozart,  n^eil  er  in  seinen  Allegro- 
sätzen die  Instrumente  ohne  weiteres  aus  bewegtem 
Figurenspiel  in  ruhigen  Gesang  übergehen  ließ,  Beet- 
hoven, weil  er  Scherzi,  d.  i.  heitere  Sätze  schrieb,  bei 
denen  man  sich  ängstigen  konnte,  und  weil  er  auch  sonst 
in  demselben  Atem  Dinge  verband,  welche  im  schärfsten 
Gegensatze  zueinander  standen.  Haydn  tat  eins  nach 
dem  anderen  und  hielt  seine  Gedanken  und  Stimmungen 
einfach  und  frei  von  Mischungen.  Die  Wiener  Schale, 
die  ihm  vorzugsweise  folgte,  versagte  sich  der  Romantik 
nicht  grundsätzlich,  aber  sie  ging,  Franz  Schubert  aus- 
genommen, kaum  über  den  Punkt  hinaus,  bis  zu  dem 
Mozart  vorangeschritten  war.  An  A.  Eberl  läßt  sich« 
wahrnehmen,  wie  sie  die  romantischen  Wendungen  auf 
die  eigentlichen  Adagiogefühle  beschränkt  In  der  nord- 
deutschen Schule  durchdringt  dagegen  der  romantische 
Geist  schon  frühzeitig  auch  das  AUegroleben. 

Wir  begegnen  seinen  Spuren  z.  B.  bei  A.  Romberg 
in  kleinen  chromatischen  Durchgängen  und  Wechsel- 
noten : 


--»     289 

Allcgro  moderato. 


Durch  sie  werden  die  im  Grande  muntren  Weisen  seiner 
Ddur-Sinfonie  sentimental  durchblitzt.  Die  Heimat  dieser 
Art  romantischer  Musikelemente  ist  vornehmlich  die  fran- 
zösische Oper.  In  den  durch  ihre  Herbheit  der  Nord- 
deutschen Schule  nahestehenden  Sinfonien  von  Toma- 
schek,  dem  böhmischen  »Schiller  der  Musik«,  und  von 
M^hul  greift  die  Romantik  schon  tiefer  in  den  Satzbau 
und  in  die  Gedankenentwicklung  hinein.  Vom  Jahre  1816 
ab  wird  der  romantische  Stil  allmählich  det  herr- 
schende, und  alle  die  Sinfoniker,  welche  neben  Beethoven 
etwas  bedeuten,  repräsentieren  eine  Seite  des  roman- 
tischen Geistes.  Die  musikalische  Romantik  hat  mit  der 
Romantik  in  Literatur,  Poesie  und  bildender  Kunst  fortan 
mehrere  Jahrzehnte  lang  hervorragende  Berührungspunkte. 
Auch  die  musikalischen  Romantiker  kennzeichnet  das 
Festhalten  an  Lieblingsstimmungen,  das  Hervortreten  der 
Persönlichkeit  des  Darstellers  in  der  Darstellung,  der  sub- 
jektive Ton  und  die  aus  diesen  Erscheinungen  hervor- 
gehende Einseitigkeit  und  Gleichförmigkeit  der  Werke. 
Die  musikalischen  Romantiker  pflegen  Spezialitäten  des 
Gemütslebens  und  der  .Phantasie  und  haben  in  der 
Form  Manieren,  die  immer  wiederkehren  und  für  welche 
sie  schnell  Nachahmer  und  Schüler  finden.  Wie  die  all- 
gemeine Romantik  läuft  auch  die  Geschichte  der  musi- 
kalischen im  Zickzack.  Sie  springt  von  dem  phantasti- 
schen Gebiete  auf  das  sentimentale  über,  von  da  auf 
das  naturfrohe  und  naive,  und  läuft  endlich  von  dieser 
letzten  Station,  von  der  Hingabe  an  das  Genre  und  an 
das  Rleinleben,  in  eine  Periode  der  Realistik  und  des 
Naturalismus  aus.  Die  romantische  Epoche  hat  in  der 
Musik  sehr  belebend  und  anregend  gewirkt,  Ideen  einei^ 
früheren  Zeit  vertiefend  ausgeführt,  neue  Klang-  und 
Ausdrucksmittel  zum  Vorschein  gebracht  und  die  Lite- 
ratur mit  Werken  bereichert,  welche  allgemeinen  bleiben- 
den KuQStwert  haben.    Sie  bedeutet  eine  zweite  Blüte- 

Kretzschmar,  Führer.    I,  1.  1<) 


^ 


-_^    290    ♦— 

zeit  in  der  Geschichte  der  Sinfonie  und  hat  in  Mendels- 
sohn and  Schumann  zwei  Meister  hervorgebracht,  welche 
sich  an  Originalit&t  und  Reichtum  der  musikalischen  Er- 
findung den  großen  Klassikern  der  Wiener  Periode  nähern. 
Die  phantastische  Richtung  der  Ronlantik  vertritt  in 
CK.?. Weber*  der  Sinfonie  zuerst  C.  Maria  von  Weber.  Von  seinen 
zwei  Sinfonien,  die  beide  in  Cdur  stehen,  ist  die  erste 
(im  Jahre  1807  für  die  Kapelle  des  Herzogs  von  Württem- 
berg geschrieben)  die  bedeutendere.  Sie  war  (vom  Jahre 
1814  ab)  längere  Zeit  bei  den  Orchestern  sehr  beliebt 
und  dürfte  auch  heute  noch  einer  freundlichen  Aufnahme 
gewiß  sein.  Es  ist  ein  bescheidenes,  liebenswtlrdiges  und 
sehr  mannigfaltiges  Werk,  heute  doppelt  interessant  durch 
die  vielen  Einzelheiten,  welche  direkt  auf  den  Schöpfer 
des  Freischütz  hinweisen.  Das  Andante,  das  poetische 
Hauptstück  der  Sinfonie,  hat  Wolfsschluchtsbässe  und 
Agathekantilenen.  In  seiner  düster  feierlichen  Pracht,  in 
der  stillen  Schwermut,  welche  aus  den  schmelzenden 
Klängen  der  Blasinstrumente  spricht,  ist  es  einer  der 
schönsten  langsamen  Sätze,  welche  zur  Zeit  Beethovens, 
und  ganz  unabhängig  von  diesem  Meister,  geschrieben 
worden  sind.  Die  freie  Disposition  macht  es  einer  dra- 
matisierten Erzählung  ähnlich.  Der  Schauplatz  ist  nächt- 
lich, zu  den  handelnden  Personen  stellt  die  Qeisterwelt 
Mitwirkende.  Im  ersten  Satze,  welcher  im  Stile  die  kon* 
trapunktischen  Merkmale  der  Norddeutschen  Schule  trägt, 
überwiegt  der  muntere  ritterliche  Ton;  die  spannenden 
phantastischen  Momente  liegen  in  den  leisen  Solostellen- 
der Kontrabässe.  Malerisch  und  bilderreich  ist  er  im 
hohen  Grade;  der  herrschenden  Haydnschen  Methode 
weicht  er  aus.  Weber  selbst  war  später  mit  diesem  aller- 
dings etwas  zerfahrnen  Satze  am  wenigsten  zufrieden. 
Er  entschuldigt  sich  bei  Gottfr.  Weber,  dem  die  Sinfonie 
gewidmet  ist,*  und  bei  Fr.  Rochlitz  damit,  daß  er  hier 
mehr  auf  eine  Ouverttlre  ausgegangen  sei*).    Dagegen 

*)  F.  W.  Jlhns:  0.  M.  ▼.  Weber  in  seinen  Werken  (1871), 
&  64. 


291    %^ 

erkannte  er  Menuett  und  Adagio  voll  an.  Beim  Publi- 
kunü  und  bei  dem  Orchester  war  das  Finale,  in  welchem 
immer  die  Hörner  mit  komischer  Befließenheit  voraus- 
stürmen,  als  einer  der  drolligsten  Sätze  seiner  Zeit  be- 
sonders beliebt. 

Ein  späterer  Vertreter  derselben  Richtung  ist  0  n  s  -  H.  ObiIoiv. 
low,  ein  geistreicher,  temperamentvoller  Komponist  und 
einer  unter  den  Ersten,  deren  Adagios  den  Beethovenschen 
Maßen  nachatreben.  Onslow  ist  apart«  elegant,  reich 
an  Ideen,  in  Figuren  und  Rhythmen  vielfach  neu;  in  den 
DurchfQhrungssätzen  verraten  leider  triviale  Episoden  den 
Mangel  an  musikalischer  Durchbildung,  welcher  den  Wer- 
ken Onslows  eine  schnelle  Vergessenheit  bereitet  hat. 
Die  verbreitetste  seiner  Sinfonien  war  die  in  Adur.  Die 
Hauptthemen  ihres  ersten  Satzes 


,^  Alleyro  gpfartt^oto 


I  ■  ■  11  ■  mögen  den  romantischen  Charakter 
^  ■'^'  ^^  von  Onslows  musikalischer  Erfindung 
erläutern.  Wie  die  Romantiker  der  phantastischen  Rich- 
tung von  der  französischen  Oper  im  allgemeinen  viele 
Impulse  empfingen,  so  zeigen  diese  und  andere  Melodien 
Onslows  speziell  den  Einfluß  der  Romanzen  Boieldieus. 

Die  sentimentale  Richtung  der  Romantiker  ist  durch 
Mozart  und  Cherubini  vorbereitet  und  auch  in  den  Sin- 
fonien der  Wiener  Schule  reichlich  vertreten.  Ihre  eifrigste 
Pflege  findet  sie  in  den  Sinfonien  von  L.  Spohr  und 
F.  Mendelssohn  Bartholdy. 

Die  Sinfonien  von  Louis  Spohr  sind  in  ihrer  Mehr- 
zahl der  heutigen  Generation  bereits  wieder  fremd  ge- 
worden. Fast  zwei  Menschenalter  hindurch  war  dieser 
unermüdlich  strebende  Künstler  auf  diesem  Gebiete  tätig 
und  nahm  an  allen  den  Bestrebungen  tätigen  Anteil, 
welche  von  Beethoven  bis  auf  Liszt  der  Weiterentwicke- 
lung des  sinfonischen  Stils  galten.  Die  erste  unter  Spohrs  l.  gpohr, 
gedruckten  neun  Sinfonien  (in  Esdur)  wurde  für  das  zweite  Es  dur-Sinfonie 
Frankenhauser  Musikfest  (1811)  komponiert  und  erfreute  ' 

19* 


— »    292    *^ 

Sich  bald  allgemeiner  Anerkennung*).  Sie  zeigt  bereits 
die  fertige  Individualität  des  merkwürdigen  Künstlers':  die 
Zeitgenossen  fanden  in  ihrer  ruhigen  Würde  einen  Gegen- 
satz zu  dem  Feuer  Mozarts  und  Beethovens,  lobten  die 
weniger  gedanklich  bedeutenden  als  angenehmen  Melo- 
dien und  tadelten  die  allzuhäufige  Wiederkehr  seiner 
chromatischen  Gänge  und  die  unruhige  Modulation.  Bis 
gegen  das  Jahr  1830  kehrt  das  Werk  in  den  Konzerten 
immer  wieder.  Seine  zweite  Sinfonie  (DmoU)  schrieb 
Spohr  im  Jahre  1820  für  die  philharmonische  Gesellschaft 
in  London,  die  durch  ihn  kurz  zuvor  die  erste  Bekannt- 
schaft mit  dem  Taktstocke  gemacht  hatte.  Sie  wirkte 
besonders  durch  die  virtuosen  Stellen  des  Streichor- 
chesters ♦♦).  Spohrs  dritte  Sinfonie  (CmoU),  seine  vierte 
(»Weihe  der  Tönet)  und  seine  fünfte  (Cmoll)  bilden  den 
Höhepunkt  in  der  sinfonischen  Tätigkeit  ihres  Verfassers 
und  waren  bis  vor  kurzem  noch  in  den  Programmen  zu 
L.  spohr,  finden.  Namentlich  seine  dritte  Sinfonie  (vom  Jahre  1829' 
Cmoll- Sinfonie  ist  eins  der  liebenswürdigsten  Denkmäler  der  ersten,  un- 
(Nr.  S).  schuldigen  Jugendzeit  der  musikalischen  Romantik.Manche 
Zeilen  in  dieser  Dichtung  —  wir  denken  an  das  zweite 
Thema  des  ersten  Satzes  —  sind  veraltet,  aber  aus  dem 
Ganzen  spricht  der  überschwängliche  Geist  milder,  weicher 
Schwärmerei,  dem  Spohr  zuerst  einen  eignen  Ausdruck 
verlieh,  noch  in  erster  Frische.  Die  musikalischen  Wur- 
zeln dieser  Spohrschen  Kunst  reichen  bis  in  die  Opern 
Paisiellos,  Piccinis,  Galuppis  zurück;  in  der  Sinfonie  er- 
starkte sie  namentlich  durch  Eberl  und  jene  Wiener  * 
Rührungsmänner,  deren  letzte  Spuren  sich  in  den  Liedern 
H.  Prochs  finden.  Schubert  kannte  Spohr  nicht,  als  er 
seine  ersten  Sinfonien  schrieb,und  von  Beethovenschen  An- 
regungen macht  er  nur  einen  sehr  vorsichtigen  Gebrauch; 
der  italienischen  und  französischen  Oper  seiner  Zeit,  Che- 
rubini  namentlich,  verdankt  er  einiges.  Wie  bedeutend 
aber  Spohr  die  Sprache  der  Sentimentalität  selbständig 

*)  L.  Spohr,  Selbstbiographie  I,   161. 
♦♦)  Ebenda  II,  89. 


293 


weitergebildet  hat,  und  wie  viel  von 
den  verminderten  Schlußintervallen: 
und  von  anderen  Wendungen  seines  romantischen  Idioms 
in  die  Werke  roitlebender  und  folgender  Künstler  über- 
gegangen ist,  wird  man  mit  Staunen  bei  Betrachtung 
dieser  C  moU-Sinfonie  gewahr.  Ihr  Larghetto  namentlich, 
der  vollendetste,  gedankenreichste  und  mannigfaltigste 
Satz  des  Werkes,  hat  in  den  Sinfonien  gleichzeitiger  und 
späterer  Sinfoniker  mächtig  nachgewirkt. 

Am  ersten  Satze  ist  das  Beste  die  Einleitung  mit 
dem     charakteri-  _  und    der    Schluß    der 

stischen.  suchen-  JL  ^  f  ^  T  ^~  Durchführung,  an  wei- 
den Quintenmotiv  •  chem  diese  Einleitung 
wieder  erscheint.  Auch  das  erste  Thema  des  Allegro,  in 
seinem  Anfang  nicht  hervorragend,  erhält  durch  die 
poetische  Anknüpfung  an  das  zitierte  Motiv  der  Einleitung 
einen  wertvollen  Schluß. 

Das  schon  erwähnte  Larghetto  (F  dur,  ^/s)  hat  zum 
Hauptthema  eine  lange,  behaglich  ausgeführte  Melodie, 
das  Rind  eines  Her-        L&rgh«tto.  Nur  leich- 

zens,welches seinen^^  g  y-^p  ff  r  '-iM  J.  J-  ^^^  Schat- 
Frieden     gefunden™  '     i    IM       '  -■-   ■      ^^^^      g^. 

den  hier  ei-: 


nen  Zutritt: 


ten 
Der     Glanzpunkt     des 


Satzes  ist  das  Kantabile 


i  I  Jj.J>  J^J  J  j  1 4^  ,J<  J.  3  J  l^j 


bei  dem  Spohr  einen  neuen  Instrumentationse£fekt  an- 
wendete: Sämtliche  Geigen,  Bratschen  und  Celli  tragen 
die  Melodie  im  Unisono  vor.  Die  Wirkung  ist  grandios ! 
Das  Scherzo  dieser  Sinfonie  ist  in  seiner  Herkunft 
verwandt  mit  dem  in  Beethovens  fünfter: 


'>l'Mjl;IJjj<lj^j| 


In  der  Ausführung  bleibt  es  etwas  gleichförmig.    In 
lauter  kleine  Züge   zerlegt,  eines   lebendigeren  drama- 


294 


tischen  Impulses  bar,   bildet  es  ftkr  den  Zuhörer  einen 
einigermassen  mühsamen  Genuß. 

Der  Humor  Spohrs  vergräbt  sich   mit  Vorliebe    in 

Miniaturen.     So   streiten    auch   im   Finale    gegen   die 

großem  Intentionen  des  kühn  scherzenden  Hauptthemas, 

das   an   das  Finale   von   Beethovens  Zweiter  erinnert, 

allerhand  kleine 

ft  "  Jnr  i^jn^  J  '  *J)I  J  J  '  ^J)IJ   I  Arabesken,  un- 
/        ^  p      9*  9  ter    denen   na- 

mentlich folgende  echt  Spohrsche  Figur 


Nr.  6. 


einen  breiteren  Raum  einnimmt. 
L.  Bpoiir,  Die  andere  CmoU-Sinfonie  Spohrs  (geschrieben  im 

C"*»^J|;,^jf'^'^*  Jahre  1838  für  die  Wiener  Concerts  spirituels)  hat  eine 
pathetischere  Tendenz.  Sie  begibt  sich,  allerdings  nicht 
sehr  weit,  direkt  ins  Gebiet  der  Leidenschaften  hinein. 
Spohr  war  sich  der  Einseitigkeit  seiner  musikalischen 
Natur  bewußt  und  strebte  zeitlebens  ernstlich  darnach, 
seine  Phantasie  auch  außerhalb  der  elegischen  Grenzen 
heimisch  zu  machen.  Es  ist  aber  nicht  zu  verkennen, 
daß  ihm  bei  solchen  Versuchen  die  Originalität  des  Aus- 
drucks versagt  und  daß  er  sobald  wie  möghch  den  Rück- 
zug auf  vertrautes  Terrain  anzutreten  pflegt  Für  die 
erstere  Tatsache  bildet  das  Hauptthema  im  ersten  Ällegro 
dieser  Sinfonie  eine  genügende  Illustration: 

Allem.  •  _^r^_ 


^^ 


3^.^  Einen  schönen  poetischen  Zug  teilt 
f  t  t  iV'  T^  dieser  erste  Satz  der  fünften  Sin- 
fonie mit  dem  der  dritten:  das 
Thema  der  langsamen  Einleitung,  die  wie  eine  Verheißung 
in  Dur  steht,  tritt  plötzlich  in  die  Durchführung  hinein 
und  kehrt  dann  bis  zum  Ende  des  Satzes  mehrmals  wieder. 
Vielleicht  hat  dazu  Haydns  bekannte  Esdur-Sinfonie  an- 
geregt   Der  Schluß  des  Allegro  sticht  durch  Macht  des 


— •    296    «^ 

« 

Ausdrucks  hervor  und  schließt  das  ganze  Bild  mit  den 
Klängen  edler  Trauer  ab.  Man  hat  den  Eindruck,  daß 
das  Werk  einer  Fortsetzung  nicht  bedarf  und  tatsächlich 
ist  auch  dieser  Satz  selbständig  im  Jahre  1836  als  Ouver- 
türe zu  Raupachs  >Tochter  der  Luft«  entstanden. 

Das  Larghetto  dieser  Sinfonie  kommt  im  Geiste  und 
auch  in  der  thematischen  Erfindung  Beethoven  sehr  nahe; 
es  ist  einer  der  schönsten  langsamen  Sätze,  die  Spohr 
geschrieben  hat,  und  bei  der  ersten  Auffdhrung  in  Wien 
mußte  er  wiederholt  werden.  Der  Mittel^atz  dieses 
Larghetto  kontrastiert  mit  dem  Hauptteile,  führt  aber 
seine  Aufgabe,  eine  unruhige  Szene  dar;Eustellen ,  in 
einer  namentlich  nach  Seite  der  Instrumentation  hin 
bemerkenswert  originellen  Weise  aus.  Wir  geben  hier 
das  Hauptthema  dieses  Larghetto: 


Larg:hetio. 


Das  Scherzo,  ein  für  Spohr  außergewöhnlich  kräftiger  Satz, 
stützt  sich  im  Hauptthema  auf  ein  chromatisches  Motiv 
welches,  von  den  Hörnern  aus  durch  die  Bläser 
wandernd,  ein  heitres  Leben  im  Orchester  wach 
hält.   Der  zweite  Teil  des  Hauptsatzes  verdankt 


k 


dem  Ännchen  aus  Webers  Freischütz  (»Grillen  sind  mir 
böse  Gäste«)  einiges.  Das  graziös  elegische  Trio  ist  den 
Holzbläsern  in  der  Hauptsache  allein  überwiesen. 

Im  Finale  herrscht  der  Ton  einer  milden  Heiter- 
keit. In  kunstvollen  Formen  fugierend  und  imitierend, 
bilden  sich  fröhliche  Spiele  um  das  dem  Hauptthe- 
mafolgen- AUegrö.  *.  sk^^    Als  zweites 

scheint  die  Melodie  der  Einleitung  zum  ersten  Satz. 
Die  Sinfonie  erhält  dadurch  in  Form  und  Idee  eine  sehr 
schöne  Abrundung.  Mehr  als  beachtet  wird,  sind  die 
Sinfonien  Spohrs  reich  an  solchen  geist-  und  sinnreichen 
Wendungen. 


-^    2^)6     ^1^ 

Zwischen  den  beiden  Cmoll -Sinfonien  steht  die 
L.Sitohr,  »Weihe  der  Töne«.  Dieses  »charakteristische  Tpngemälde 
»Die  Weihe  der  jn  Form  einer  Sinfonie«,  wie  es  der  Komponist  nennt, 
°^*'  erschien  im  Jahre  1834,  fällt  also  in  eine  Periode,  in 
welcher  die  Tendenz,  die  Instrumentalkomposition*  an 
poetische  Vorwürfe  zu  binden,  wieder  einmal  entschieden 
aufgelebt  war.  Diese  Periode,  welche  zufällig  mit  der 
Blütezeit  der  Romantik  in  der  Literatur  zusammenfällt, 
datiert  von  dem  Franzosen  H.  Berlioz,  dem  sich  Mendels- 
sohn und  Gade  in  ihren  poetisierenden  Konzertouver- 
türen auf  dem  Gebiete  des  Orchesters  in  besonnener 
Distanz  anschlössen;  Schumann  vertrat  eine  ähnliche 
Tendenz  in  der  Klaviermusik  mit  seinen  Charakterstücken. 
Auch  auf  Spohr  übte  diese  Richtung  einen  großen  Reiz, 
und  in  seiner  energischen  Art  ging  er  gleich  praktüsch 
und  mit  großem  äußren  Erfolg  ans  Werk.  Denn  diese 
Komposition  wurde  eine  Lieblingssinfonie,  die  man  eine 
Zeit  lang  in  den  stehenden  Konzerten  jedes  Jahr  zu 
hören  verlangte.  Der  »Weihe  der  Töne«  liegt  ein  ziem- 
lich langes,  ursprünglich  zu  einer  Kantate  bestimmtes 
Gedicht  von  Carl  Pfeiffer,  einem  Casseler  Freunde  des 
Komponisten,  zu  Grunde,  welches  bei  der  Aufführung  der 
Sinfonie  entweder  verteilt  oder  laut  vorgetragen  werden 
soll.  Die  Konzertdirektionen  begnügen  sich  indessen  mit 
einem  kurzen  Auszug,  einer  Art  Inhaltsangabe,  die  den 
Tempis  der  einzelnen  Sätze  beigeschrieben  wird  und  die 
Intentionen  von  Dichter  und  Komponist,  wenn  auch  nicht 
immer  ganz,  so  doch  annähernd  trifft.  Etwas  unglück- 
lich gewählt  erscheint  sofort  die  Bezeichnung  des  ersten 
Largo:  »Starres  Schweigen  der  Natur  vor  dem  Erschaffen 
des  Tons«.  Tatsächlich  will  Spohr  hier  nur  etwas  Ähn- 
liches schildern  wie  J.  Haydn  im  Chaos  der  Schöpfung, 
wie  Beethoven  im  Anfang  der  neunten  Sinfonie:  eine 
Welt,  der  die  Freude  fehlt,  in  der  das  Leben  noch  nach 
Formen  ringt.  Das  tut  er  in  der  Einleitung  durch  träge, 
lastende  Melodien  in  den  Bässen  und  andern  tiefen  In- 
strumenten und  durch  wühlende  Harmonien.  Der  er- 
lösende Jubal  ist  sehr  bald  geboren :  Schon  nach  23  Tak- 


297     »^ 

ten  begiiuit  das  Allegro.    Es  bringt  als  Hauplthema  eine 
echt  Spohrsche  Melodie: 


Ein  zweites  Thema  besitzt  dieser  Satz  nicht  An  seiner 
Stelle  erscheint  eine  lange  konzertierende  Partie,  in  wel- 
cher die  Holzbläser  das  Vogelgezwitscher  nachzubilden 
suchen.  Dergleichen  Äußerlichkeiten,  Künsteleien  und 
unreife  Stelleji  sind  in  Programmsinfonien  nichts  Sel- 
tenes. Aber  in  der  »Weihe  der  Töne«  scheinen  sie  nicht 
ausschließlich  aus  dem  Prinzipe  hervorgegangen,  sondern 
aus  einer  augenblicklichen  Schwäche  der  musikalischen 
Erfindungskraft,  die  im  allgemeinen  nötigt,  das  Werk  — 
so  viel  Liebenswürdiges  es  enthält  —  hinter  die  beiden 
Cmoll- Sinfonien  zurückzustellen.  Namentlich  die  Über- 
gangspartien von  Bild  zu  Bild,  von  einem  Thema  zum 
andern,  entbehren  der  Gedankenkraft  und  behelfen  sich 
mit  leerem  Figurenwerk.  Auch  die  Dichtung  zwang  nicht 
zu  den  kleinlichen  Malereien,  in  welchen  Spohr  die 
Stimmen  der  gefiederten  Sänger  wiederzugeben  glaubte; 
sie  bringt  in  dem  Verse,  welchen  das  Allegro  illustrieren 
will,  eine  Reihe  höherer  Momente,  welche  der  Kom- 
ponist beiseite  liegen  ließ.  Dagegen  hat  Spohr  in 
diesen  Satz  eine  Szene  hinein  eskamotiert,  von  welcher 
der  Dichter  nichts  weiß:  einen  Aufruhr  der  Elemente. 
Mit  seinen  heftigen  Akzenten  bildet  er  zu  der  musika- 
lischen Idylle  der  Themengruppe  einen  nicht*  unwill- 
kommenen Gegensatz. 

Im  zweiten  Satze  sucht  Spohr  Wiegenlied,  Tanz  und 
Ständchen  zu  vereinigen.  Namentlich  das  Wiegenlied 
ist  mit  einer  sehr  gelungenen  Melodie  wiedergegeben, 
von  der  man  fast  bedauert,  daß  wir  sie  so  wenig  un- 
vermischt  genießen  können 

Andantino. 


--•    298    ♦^ 

Der  Tanz,  ein  französischer  Zweivierteltakt,  vertreibt 
diese  Melodie  schnell,  nnd  ihn  löst  später  das  Ständchen 
ab,  dessen  Ausführnng  dem  Solocello  tibertragen  ist  Es 
steht  im  VieTakt: 


N^iftji'njJi^^ 


Diese  drei  Melodien  sind  ähnlich  wie  in  der  Ballszene 
des  Don  Juan  zusammengestellt  und  bilden  in  ihren 
Kombinationen  für  den  Vortrag  bedeutende  Schwierig- 
keiten. Bei  der  ersten  Frankfurter  Aufführung  der  Sin- 
fonie mußte,  wie  Mendelssohn  erzählt,  Guhr  hier  drei- 
mal abklopfen. 

Der  dritte  Satz:  »Kriegsmusik,  Fortziehen  in  die 
Schlacht,  Gefühl  der  Zurückbleibenden,  Rückkehr  der 
Sieger,  Dankgebet«  beginnt  mit  einem  Marsch  (in  Dj. 
Mit  ihm  kehren  die  Krieger  auch  nach  dem  Siege  zurück. 
In  der  Zwischenzeit  stimmt  die  Klarinette  in  einer  sehr 
sprechenden,  beklommenen  Weise  eine  klagende  Melodie 
an:  in  den  Cellis  banges  Sinnen,  das  volle  Orchester 
bringt  leidenschaftliche  Ausbrüche  des  Schmerzes.  In 
der  Ferne  hört  man  ab  und  zu  abgerissene  Motive  des 
Marsches.  Nach  der  Rückkehr  der  Krieger  wird  als 
Dankgebet  der  Ambrosianische  Lobgesang:  »Herr  Gott, 
Dich  loben  wir«  geblasen,  die  Violinen  umspielen  ihn  mit 
jubelnden  Figuren. 

Der  letzte  Satz:  »B^gräbnismusik,  Trost  in  Tränen« 
überschrieben,  wird  durch  ein  Larghetto  (Fmoll  O)  ein- 
geleitet, 'welches  in  seiner  Form  dem  Schlüsse  des  vor- 
hergehenden Satzes,  dem  »Dankgebet«  ähnlich  ist:  Der 
Choral  »Nun  lasset  uns  den  Leib  begraben«,  von  den 
Gellis  und  den  beiden  Klarinetten  vorgetragen,  wird  von 
den  andern  Instrumenten  mit  Motiven  begleitet.  Nament- 
lich die  Zwischenspiele,  in  dumpfen  Paukenwirbel  ge- 
hüllt, sind  außerordenüich  ergreifend  und  eindrucks- 
voll. Nach  dieser  Trauerszene  folgt  der  Trost  in 
Tränen  als  Allegretto  (Fdur  V4)  ™i^  folgendem  Haupt- 
thema: 


299 


a^     _  Es  schließt  mit  dem  Qaintenmotiv 

T  f  rjlp    (M^i)-^  '^  ^)  welches  schon  im  ersten  Satze- 
^  eine  wichtige  Stelle  im  Thema  ein- 

nimmt. Spohr  hat  diese  ihm  in  allen  Werken  sehr  liebe 
Wendnng  in  allen  Sätzen  dieser  Sinfonie  untergebracht: 
Hier  erscheint  sie  wie  der  bescheidene  Haus*  ^  .^■t->>. 
geist  in  einer  Ecke  versteckt,  dort  offen  im  jt  f  T  |^§ 
Vordergründe;  vielfach  in  folgender  Form:  *'^-*==^ 
Immer  elegisch,  friedvoU  und  a^uch  an  den  Stellen  des 
Aufschwungs  so  maßhaltend,  wie  es  der  fromme  Grund- 
ton der  Stimmung  verlangt,  ist  dieser  Schlußsatz  dcfr 
»Weihe  der  Töne«  nicht  immer  verstanden  worden.  Von 
der  gebräuchlichen  Haltung  eines  Sinfoniefinales  weicht 
er  völlig  ab;  zum  Charakter  des  Tongemäldes,  welches 
mit  dem  Ausblick  auf  das  Jenseits  abschließt,  paßt  er 
sehr  wohl. 

Spohr  hat  später  nur  noch  eine  rein  musikalische      L.  Spohr, 
Sinfonie  geschrieben.    Es  ist  die  Nr.  8  (Gdur),  welche  Gdnr-Sinfouie 
nach  der  instrumentalen  Seite  manches  Neue  und  In-        (Nr.  8). 
teressante  enthält.     Das  Scherzo,  im  Trio  mit  einem 
Violinsolo  ausgestattet,  ist  in  der  Erfindung,  welche  sich 
ganz  auf  das  virtuose  Element  lehnt,  der  eigenartigste 
ihrer  vier  Sätze.    In  den  übrigen  Sinfonien  blieb  er  von 
der  > Weihe  der  Töne«  ab  beim  Prinzip  der  Programm- 
musik.   Zunächst  kam  im  Jahre  1839  seine  »historische    l.  Spobr, 
Sinfonie  im  Stile  und  Geschmack  vier  verschiedener  Zeit-  Historische 
alter«.   Der  erste  Satz  soll  die  Periode  Händel  und  Bach    Sinfonie. 
oder  die  Zeit  um  1720  veranschaulichen.     Er  versucht 
das  in  einer  aus  trockenen  Sequenzen  zusammengebauten 
Fuge,  mit  einem  Pastorale  in  der  Form  des  Siciliano 
(is/sTakt)  als  Mittelsatz.   Der  zweite  Satz  gilt  der  Periode 
Haydn- Mozart  (1780).    Dieser  stand  Spohr  selbst  geistig 
am  nächsten,  und  darum  ist  wohl  dieses  Andante  der 
gelungenste  Satz   der  Sinfonie.     Auch  hier  schaut  der 
chromatische  Spohr  überall  hervor:  aber  er  tut  nichts, 


-^    300  . 

was  seine  Modelle  entstellt:  Einiger  Spaße  und  Derb- 
heiten, welche  Spohr  den  beiden  Wiener  Meistern  in- 
sinuiert, wären  sie  fähig  gewesen,  wehn  auch  gerade 
nicht  im  Andante.  Die  Beethovensche  Periode  (1810), 
als  die  dritte,  ist  durch  ein  Scherzo  vertreten,  welches 
mit  einem  Solo  von  drei  Pauken  beginnt.  Sie  geben 
das  Motiv 

^  I  j  I  f  j  r  I  j  f  j  IT  j  r  u  r  j  I 

Im  übrigen  schiebt  Spohr  dem  Beethoven  einen  Eigen- 
sinn zu,  welcher  selbst  für  diesen  über  alle  Möglichkeit 
hinausgeht:  In  einem  Satze,  der  gegen  400 Takte  um- 
faßt, ein  einziger  thematischer  Qedanke  von  8  Takten 
Länge!  Wider  allen  Beethovenschen  Brauch  bleibt  auch 
das  Trio  an  dieser  fixen  Idee  haften  l  Noch  schlimmer 
kommt  »die  allerneueste  Periode«  (1840),  welche  den 
vierten  Satz  einnimmt,  weg:  Ein  Hexengebräu  aus 
Nonen,  Septimen  und  freien  Dissonanzen,  winselnden 
und  schmachtenden  Vorhalten!  So  wild  ist  auch  Berlioz' 
nie  gewesen,  so  sehr  haben  auch  die  Pacini,  Mercadante 
und  Meyerbeer  nicht  gelärmt,  so  süßlich  und  zerflossen 
waren  Rossini  und  Bellini  niemals!  Und  wer  in  aller 
Welt  mag  zu  den  ewigen  und  tollen  Gedankensprüngen 
dieses  Satzes  gesessen  haben!  Ist  die  Historie  in  den 
andern  Sätzen  dieser  Sinfonie  nur  unzulänglich  —  so 
wird  sie  hier  zur  Parodie,  zur  härtesten  Kritik  von  Spohrs 
Beobachtungstalent  und  seinem  *Kunstverstand!  Nur  in 
Wien,  wo  man  bei  der  Aufführung  bloß  die  Jahreszahlen 
angab,  die  Namen  wegließ,  wurde  diese  Sinfonie  bei- 
fällig und  besonders  im  letzten  Satz  aufgenommen.  Über- 
all sonst  blieben  die  Meinungen  mindestens  geteilt*). 
L.  Spoiir,  Die  nächste  Programmsinfonie  Spohrs  (im  Jahre  1842 

»Irdisches  und  veröffentlicht]  heißt  >Irdisches  und  Göttliches  im  Men- 

^Mew^iT*   schenleben«  und  ist  betitelt  als  »Doppelsinfonie«!    Wie 
f^enc'^      dies  in  der  altem  Zeit  dann  und  wann  (s.   Cannabich) 

(Nr.  7  cdw).    versucht  wurde,  sind  hier  wieder  einmal  zwei  Orchester 

*J  L.  Spohr  a.  a.  0.  II,  231. 


--•    301    ♦— 

* 

aufeestelli,  die  sich  in  der  Regel  ablösen,  hie  und  da 
auch  vereinen.  Das  erste  Orchester  hat  nach  Art  des 
alten  Konzertino  im  Streichquartett  nur  einfache  Be* 
setzung.  Diese  Anordnung  führt  zu  einer  Reihe  schöner 
Klangwirkungen,  deren  häufige  Wiederkehr  allerdings  den 
Endeindruck  schwächt.  Sie  ist  ein  weiterer  Beweis,  wie 
Spohr  sich  immer  etwas  Neues  ausdachte  und  in  seiner 
Art  auch  ins  Werk  setzte.  Die  Idee  zu  dem  Doppel- 
orchester erhielt  Spohr  durch  einen  Scherz  seiner  Frau 
auf  der  Rückreise  vom  Musikfest  zu  Luzem.  Sofort 
war  auch  die  Sinfonie  entworfen.  Der  erste  Satz  gilt 
der     Kinder-       AUe^etto. 

Freilich:  ein  ungetrübtes  Glück  schildert  er  nicht;  auch 
ihn  drücken  chromatische  Schmerzen. 

Der  zweite  Satz  schildert  die  Zeit  der  Leidenschaften. 
Diese  nahen  in  chromatischen  Sech  zehn  telgän  gen  der 
Bässe,  stören  die  friedvollen  Melodien  der  Holzbläser  und 
schwellen  zu  einem  Sturm  an,  der  sich  in  einem  AUegro 
(C-Takt)  austobt,  das  in  seinem  Hauptteil  mit  Sechzehntel- 
läufen angefüllt  ist.  Eine  Art  kräftiger  Marschmusik  bildet 
einen  Widerpart  dagegen. 

Der  dritte  Satz  ist  überschrieben :  Endlicher  Sieg  des 
Göttlichen.  Ein  Presto  in  e/^Takt  (GmoU)  beginnt  auf- 
geregt und  lenkt  dann  in  freundlich  muntere  Melodien 
über.  Sie  führen  zu  einem  Adagio,  welches,  pompös  in- 
strumentiert, mit  einem  feierlich  gehobenen  Gesang  ein- 
setzt, und,  ähnlich  wie  der  Schlußsatz  in  der  »Weihe  der 
Töne«  mild  und  leise  ausklingt. 

Den  Vorwurf  zu  Spohrs  letzter  Sinfonie  (Nr.  9,  HmoU)     l.  Spohr, 
bilden  »Die  Jahreszeiten«.  Dieses  der  musikalischen  Kunst  »Die  Jahres, 
viel  bietende  Thema  wird  hier  in  zwei  Abteilungen  ab-      *^^^^* 
gehandelt,  deren  erste  den  Winter,  den  Frühling  und  den     ^^^'  ^^'*" 
Übergang  zwischen  beiden  enthält,  die  zweite  den  Som- 
mer und  Herbst.  Das  dichterische,  allgemein  künstlerische 
Talent  Spohrs  und   noch    mehr   sein  musikalisches  — 
beide  haben  sich  der  reizenden  Aufgabe  gegenüber  sehr 


— ^     302  .  ♦^ 

kühl  yerhalten.  Nur  der  letzte  Satz  erhebt  sich  an  ein- 
zelnen Stellen,  mit  einer  Paraphrase  des  alten  Andröschen 
Rhein weinliedes  (»Bekränzt  mit  Laub  etc.c),  über  eine 
mittlere  Temperatur. 

Mitten  in  die  Blütezeit  Spohrscher  Romantik  fällt 
B. ivagner»  eine  C dur-Sinfonie  Richard  Wagners,  die  im  Winter 
C  dur-Sinfonie.  1832/33  im  Leipziger  Gewandhaus  zwar  mit  Erfolg  auf- 
geführt, aber  nur  wenig  beachtet  und  erst  kurz  vor 
dem  Tode  des  Meisters  von  den  Angehörigen  wieder  ans 
Licht  gezogen  worden  ist  Der  ersten,  Weihnachten  1882 
noch  Ton  Wagner  selbst  geleiteten  Neuaufführung  sind 
weitere  in  vielen  deutschen  Musikstädten  gefolgt,  und  seit 
die  Sinfonie  in  einer  stattlichen  Partiturausgabe  vorliegt, 
hat  sie  alle  Anwartschaft  darauf,  nicht  wieder  vergessen 
zu  werden.  Denn  sie  hat  nicht  bloß  die  Pietätsrücksichten 
und  das  biographische  Interesse  für  sich,  sondern  sie  ist 
auch  geschichtlich  merkwürdig  und  drittens  eine  durchaus 
ernste  Arbeit,  der  wenigstens  in  einem  Teil  Originalität 
und  bleibender  Wert  zugesprochen  werden  m.uB. 

Der  geschichtliche  Schwerpunkt  der  Wagnerschen 
Sinfonie  liegt  darin,  daß  der  junge  Komponist  sich  um 
die  Romantik  der  zeitgenössischen  Sinfonie  nicht  kümmert, 
sondern  sich  fest  und  dem  altväterischep  Schein  zum 
Trotz  auf  den  Boden  Beethovenscher  Kunst  stellt  Von 
Wagners  jugendlicher  Beethovenschwärmerei,  die  er  selbst 
wiederholt  humoristisch  geschildert  hat,  gibt  namentlich 
der  erste  Satz  der  Sinfonie  ein  sehr  anschauliches 
Bild:  er  lehnt  direkt  an  Beethovensche  Ideen  an  und 
nimmt  seine  Methode  der  Satzentwicklung  auf.  Der  Ein* 
leitung  (Sostenuto  e  maestoso]  dient  Beethovens  Siebente 
al^  Vorbild,  jedoch  nur  für  die  poetische  Tendenz,  der  Um- 
bildung einer  träumerischen  zu  einer  energischen  Stim- 
mung, die  musikalischen  Mittel  sind  Wagners  Eigentum. 

Unter   ihnen   tritt   als  Hauptstütze    das   durch   die 

Instrumente     wandernde,     ernst    alarmierende    Motiv: 

Sostenuto^  hervor;  es  wird  von  eben- 

Afi  \    fJp^W*   ^['     I  f    '  ^aßs  treibenden  und  aufrich- 

YF    ^^'  """  tenden    Nebenmotiven    be- 


--♦    303    ♦-- 

gleitet  and  ergänzt,  von  denen  sich  namentlich  ein  Hornraf, 
Q  der  immer  höher  steigt,  wie  das  erste  . 

A  p    j    s^  Lebenszeichen  des  zukünftigen  Wagner 
if    "^^        ausnimmt.   Das  Haupttbema  des  Ällegro: 


Jdr 

Alle^ro  eon  brio. 


g 


:eto. 


von  Gellis,  Bratschen  und  Hörnern  begonnen,  im  fünften 
Takt  vom  ganzen  Orchester  fortgeführt,  hat  seine  Hei- 
mat im  Finale  von  Beethovens  Fünfter  und  seinen  Ge- 
fühlssturm. Diesen  sucht  aber  Wagner  durch  eine  Ab- 
lenkung zu  überbieten:  er  schließt  im  9.  Takte  auf  C 
und  begibt  sich  mit  dem  Kopfmotiv  in  eine  Dissonanzen- 
wolke. So  bringt  gleich  der  Eingang  neben  der  An- 
lehnung doch  auch  viel  Selbständigkeit,  als  ihre  be- 
deutendste Äußerung  den  großen  Klangefifekt,  mit  dem 
{bei  •!-)  das  volle  Orchester  eintritt.  Eine  dem.  spätren 
Wagner  eigne  Wendung  bringt  das  zweite,  marsch- 
artig be-   ^       _  ^. 

ginnende  A  ti  J  f-f 4f~r C^CfgH^H'-xJTf 
Thema:  *  p 
in  dem  lang 
hinaus  verscho-  \ 
benen  Schluß: 
mit  dem  Doppelschlag.  Die  hier  mitgeteilten  Themen 
sind  ebensowenig  bedeutend  wie  der  Phantasiegehalt, 
der  aus  ihnen  im  Laufe  des  Satzes  entwickelt  wird,  ins- 
besondere bleibt  der  Durchführungsteil,  das  Probestück 
für  die  Beherrschung  Beethovenschen  Stils,  ohne  tiefere 
Wirkung  und  zwar  wegen  rhythmischer  Monotonie.  Der 
Satz  ist  eine  Anfängerarbeit,  aber  eine  durchaus  erfreu- 
liche, einmal  durch  die  Klarheit  der  Grundidee,  die  ein 
großes  Hoffen  und  Wollen  mit  Zweifeln  und  epikuräischem 
Behagen  schattiert,  zweitens  durch  den  Ernst  der  Arbeit. 
Dieser  äußert  sich  am  schönsten  in  den  Partien,  die  von 


r-r'mr'T  f^^-M^^ 


_^     304    ^^ 

einem  Hauptabschnitt  zum  andren  überleiten;  sie  sind 
sämtlich  mit  Verzicht  auf  Figurenwerk  und  sonstiges 
billiges  Material  thematisch  und  motivisch  behandelt  und 
können  darin  noch  heute  als  Muster  bezeichnet  werden. 
Außerdem  aber  überragt  die  Arbeit  im  Satze  die  zeit- 
genössische Sinfonie  noch  durch  eine  starke  Kombina- 
tionsgabe, welche  die  Hauptthemen  und  ihre  Teile  über- 
raschend und  sinnreich  verbindet  und  geistreiche  Be- 
ziehungen entdeckt  und  klar  macht,  die  einem  gewöhn- 
lichen Auge  entgehen.  In  jeder  Beziehung  steht  dieser 
Satz  turmhoch  über  der  bekannten  an  Haydn  an- 
schließenden Klaviersonate  Wagners,  die  ihm  um  wenige 
Jahre  vorausgegangen  ist.  Derjenige  Teil  der  Sinfonie, 
dessen  ungewöhnliche  Lebenskraft  ernsthaft  nicht  be- 
stritten werden  kann,  ist  ihr  zweiter  Satz,  ein  Andante 
ma  non  troppo,  un  poco  maestoso  (Amoll,  s/4).  In  diesem 
Meisterstück  hat  sich  Wagner  von  Beethoven  ganz  frei 
gemacht.    Sein  durch  das  Hauptthema: 


<j'<  jj^jjji^  i^ü^dtiiiulk^^ 


ietc 


festgestellter  und  durch  alle  Tonregionen  und  Stärkegrade 
getragener  Balladencharakter  weist  auf  Mendelssohns 
italienische  Sinfonie  und  avf  die  Schumannsche  in  Dmoll 
voraus.  Die  gemeinsame  Quelle  ist  die  Norddeutsche 
Schule  der  zwanziger  Jahre,  die  im  Gegensatz  zu  den 
gefühlvollen  Wienern  und  zu  Spohr  im  langsamen  Satze 
gern  einen  volkstümlichen  Erzählerton  anschlägt.  Das 
hat  Wagner,  den  Dramatiker,  auf  ihre  Seite  gelockt  und 
der  Sinfonieliteratur  eine  der  schönsten  Orchesterballaden 
eingebracht,  die  es  gibt.  Sie  berichtet  vielleicht  von  ^em 
Helden  oder  einem  Heldenstamm,  der  zur  Eroberung  aus- 
zog und  unverrichteter  Sache  heimkehren  mußte,  jeden- 
falls schildert  sie  —  im  logischen  Anschluß  an  den  ersten 
Satz  —  ein  fehlgeschlagenes  Unternehmen  und  tut  dies 
ebenso  klar  als  eigen.  Das  Eigene  liegt  in  dem  beson- 
deren Kolorit  des  ersten  Teils  des  Satzes.  Die  Bolero- 
rhythmen  seines  eben  angeführten  Hauptthemas  tragen 


.^^    305    ^►— 

die  Phantasie  nach  Spanien  und  klingen  an  exotische 
Stücke  an,  wie  sie  der  junge  Wagner  bei  G.  M.  v.  Weber 
gehört  haben  mochte.  Im  Programm  des  Satzes  bedeutet 
dieser  Teil  den  Auszug,  er  beginnt  heimlich,  .wächst  sich 
voll  aus  und  verschwindet  wieder  im  diminuendo,  es  ist 
die  Anlage  des  Lohen grinvorspiels.  Der  nächste  Teil 
(Pdur),  den  Augenblick  des  Gelingens  bezeichnend,  zeigt 
das  Orchester  mit  Kontrafagott,  3  Posannen  und  4  Hörnern 
in  glänzender  Kriegsrüstung,  melodisch  gleicht  er  einetn 
Siegesgesang.  Dann  kommt  im  dritten  Teil  Kampf  und 
Umschlag,  das  warnende  Terzenmotiv  a  c,  das  den  »Satz 
einleitete,  dringt  vor,  und  es  folgt  als  letzter  Teil  die  Reprise, 
bei  der  die  Momente  des  Glücks  —  aus  dem  Fdur- Abschnitt 
—  nur  kurz  und  erinnerungsartig  berührt  werden. 

Im  dritten  Satze  (Allegro  assai,  Cdor,  9/^  haben  wir 
wieder  den  reinsten  Beethovenianer  mit  einem  Scherzo 
vor  uns,  dessen  überschäumendes  Kraftgefühl  sich  fast 
lieber  als  in  Melodien  in  Interjektionen  und  Naturlauten 
äußert  Als  Anweisung  auf  die  im  Komponisten  steckende 
Kühnheit  und  Unbefangenheit  der  Erfindung  steht  es  be- 
sonders hoch.  In  seiner  zweiten  Klausel  überrascht  der 
Hauptsatz  durch  ein  Seitenthema  der  Streicher,  das 
rhythmisch  an  die  gleiche  Stelle  von  Schuberts  großer 
Cdur-Sinfonie  erinnert.  Wagner  hat  das  Motiv  wahr- 
scheinlich von  einer  der  Schfilerreisen  nach  Prag  und 
Böhmen  mitgebracht,  bei  denen  seine  Autobiographie  mit 
sichtlichem  Gefallen  weilt 

Der  Schlußsatz  (Allegro  molto  e  vivace,  Cdur,  O) 
ergibt  sich  einer  ähnlich  leichten  Heiterkeit,  wie  sie  in 
Beethovens  Tripelkonzert  herrscht,  ist  aber  durch  zahl- 
reiche Momente  des  ZOgerns  und  Bedenkens  einerseits, 
andererseits  des  Aufschwungs  zu  größter  Innigkeit  und 
Wärme  eigen.  Noch  entschiedener  als  der  erste,  steht 
dieser  letzte  Satz  mit  kleinen  Kanons,  Imitationen  und 
anderen  Formen  strenger  Kunst  unter  dem  Einfluß  der 
Norddeutschen  Schule  und  bestätigt  nochmals  den  Ein- 
druck, daß  Wagner,  wenn  er  dem  Gebiete  treu  geblieben 
wäre,  heute  auch  als  großer  Sinfoniker  dastünde. 

Kratiichraar,  Führer.    I,  1.  20 


306 


V,  Meudelssohn, 

\  moll-Sinfonie 

(schottische). 


Dazu,  daß  dieser  erste  und  letzte  Versuch  bei  den 
Musikfreunden  außerhalb  Leipzigs,  mit  Ausnahme  von 
Wüfzburg*)  und  Prag,  unbeachtet  blieb,  kann  sehr  wohl 
der  Umstand  beigetragen  haben,  daß  der  junge  und 
gänzlich  unbekannte  Komponist  in  dem  sehr  bekannten 
Darmstädter  Kapellmeister  J.  Carl  Wagner  einen  Na- 
mensvetter besaß,  dessen  nach  Mozartscher  Observanz 
angelegte  Sinfonien  sich  durch  ungewöhnlich  starke  In- 
strumentierung, aber  durch  nichts  weiter  auszeichneten 
und  deshalb  nicht  besonders  beliebt  waren. 

Die  sentimentale  Richtung  der  Romantik  erreicht  in 
Mendelssohn  ihre  Spitze,  kommt  mit  ihm  ungefähr  auf 
die  Stufe,  die  in  der  Dichtkunst  Lord  Byron  einnimmt 
Der  romantische  Beiklang,  welcher  viele  Kompositionen 
Schuberts  wehmütig  färbt,  welcher  alle  Werke  Spohrs 
wie  mit  einem  Hauche  von  Sehnsucht  überzieht,  nimmt 
bei  Mendelssohn  einen  energischeren  Charakter  an  und 
äußert  sich  schwermütig  und  klagend.  Mendelssohn  ist 
eine  vielseitigere,  beweglichere  und  reichere  Natur  als 
Spohr  und  wirft  häufig  jede  romantische  Fessel  ab.  Aber 
die  Nachfolger  ergriffen  die  romantische  Sentimentalität 
seiner  Werke  als  Hauptseite  seines  Wesens. 

Mendelssohns  sinfonisches  Hauptwerk  ist  die  A  moll- 
Sinfonie.  Sie  ist  unter  dem  Beinamen  »die  schottische« 
bekannt:  die  Hauptmelodie  des  munteren  Satzes,  welcher 
in  ihr  die  Stelle  des  Scherzos  einnimmt,  soll  dem  reichen 
Volksliederschatz  Schottlands  entstammen.  Aber  die  Be- 
ziehungen zwischen  dem  Werke  und  seinem  Titel  sind 
tiefer:  Mendelssohn  schreibt,  daß  ihm  die  ersten  Themen 
an  den  Stätten  Maria  Stuarts  kamen**).  Die  Sinfonie  ent- 
stammt der  künstlerisch  reifsten  Periode  des  Komponisten, 
einem  Abschnitt  derselben,  wo  auch  die  Frische  und  der 
Reichtum  seiner  Phantasie  die  Höhe  jener  Jugendtage 


*)  A.  Sandberger,  B.  Wagner  in  Würzbnrg  (Neue  Zeit- 
ochrift  für  Musik  1888). 

**)  S.  Henselt,  Die  Familie  Mendelssohn  (5.  Aufl.)  1886. 


307    «^ 

behaupteten,  in  denen  die  Sommernachtstraum-OuvertÜre 
entstand.  Die  »Walpurgisnacht«,  die  mit  dieser  Sinfonie 
zugleich  das  Licht  der  Welt  erblickte,  schickt  in  dieselbe 
manche  Grüße  hinein.  Das  Werk  trägt  in  den  gemachten 
Stimmungen,  welche  es  wiedergibt,  in  seiner  Hinneigung 
zum  naiv  Volkstümlichen  die  Kennzeichen  der  Früh- 
romantik. Es  ist  unter  den  Werken,  welche  diese  Rich- 
tung in  Poesie  und  Kunst  hervorgebracht  hat,  eins  der 
individuellsten  und  zugleich  abgeklärtesten.  An  neuen, 
melodisch  eindringlichen,  eigenen  Gedanken  reich,  besitzt 
die  Sinfonie  in  der  Darstellung  den  zugänglichen  Cha- 
rakter, welcher  den  Werken  Mendelssohns  gemeinsam 
ist,  im  hohen  Grade.  Im  Periodenbau  herrscht  ein  Maß- 
halten und  eine  Regelmäßigkeit,  die  uns  fast  zu  groß 
dünkt  und  die  auch  tatsächlich  von  Anfang  an  Wider- 
spruch erregt  hat  Ein  andrer  Grund  dafür,  daß  das 
Werk  bei  seiner  ersten  AufTührung  (im  Jahre  1842)  nur 
einen  mäßigen  Anklang  fand,  lag  in  der  Neuerung,  daß 
Mendelssohn  die  vier  Sätze  der  Sinfonie  attacca,  d.  h. 
ohne  die  gewöhnlichen  Unterbrechungen  auf  einander 
folgen  läßt.  Diese  Anordnung,  welche  auf  einen  engem 
poetischen  Zusammenhang  der  Sätze  hinweist,  schien  die 
Zuhörer  zu  ermüden.  In  der  Folgezeit  hat  sie  außer 
Schumann  in  seiner  DmoU-Sinfonie  kein  Komponist  adop- 
tiert In  den  kleinen  Sinfonien  der  Vor-Haydnschen 
Periode  lassen  sich  die  Pausen  zwischen  den  einzelnen 
Sätzen  entbehren,  nicht  aber  in  den  Werken  Beethoven- 
schen  Stils. 

Das  Thema  der  Introduktion  der  Amoll-Sinfonie 

ijij  '^ifLii  'ifi'ri  II  n'"i  ^i'ii'   I 

gehört  zu  den  Lieblingsgedanken  Mendelssohns:  Paulus 
in  der  Stunde  der  Reue,  der  lebensmüde  Elias  intonieren 
diese  schwermütige  Melodie.  In  der  Schule  des  Meisters 
ist  sie  vielfach  variiert  worden.  Mendelssohn  hat  das 
tiefsinnige  Introduktionsthema  in  der  Sinfonie  noch  einige 
Male   benutzt:   im  Adagio  nimmt    er  einen  flüchtigen 

20* 


308 


<^— 


Bezug  darauf,   im  ersten  Allegro   knüpft  er   direkt  an 
seine  vier  ersten  Noten  an.    Das  Hauptthema  lautet: 

»)    AUogro  un  pQco  «f  Itato.  ^     t.      '        . .         .— 


fi» 


Die  Erregung,  welche  in  dieser  Wendung  halbverdeckt 
durchscheint,  wird  mit  dem  Schlüsse  des  Hauptgedankens: 


r  n  .-  fl  I  r    h  I   ■  I  -^i*^'  I  *=  zunächst  zu  melancho- 
i    pr  P  II    ■'^■'  P  If    r  p^^  üscher  Ruhe   gebracht 
Bald  aber  bricht  sie  in  dem  Seitengedanken: 


mit  den  heftigen,  kurzen  Stößen  aus,  durch  welche  sich 
Mendelssohns  Sprache  der  Leidenschaft  von  denen  an- 
derer Künstler  unterscheidet.  Das  zweite  Thema  geht 
mit  innigen  Tönen 


in  die  klagende  tragische  Sphäre  der  In- 
troduktion zurück. 
Ein  äußerst  liebenswürdiger,  rührender  Nebengedanke, 
den    man   ebenso  wie   den  vorausgegangenen  Themen 
die    Herkunft    vom 
Lied  ansieht,  schließt 
die    Themengruppe : 

Besonders  schön  wirkt  er,  als  er.  gegen  den  Schluß 
der  Durchführung  hin  sich  unmittelbar  neben  die  wilde 
Gestalt  des  oben  mit  e)  bezeichneten  Themas  stellt  Diese 
Durchführung  ist  musikalisch  formell  vielleicht  nicht  ganz 
vollendet,  aber  ein  poetisches  Meisterstück,  genial  in 
Aufbau  und  Ausdruck  der  Stimmung.  Dieser  Eingang, 
der  Ruhe  und  Vergessenheit  in  neuen  Träumen  sucht, 
die   allmähliche  Einführung  des  Konflikts,   der  nicht  zu 


309    «^ 

vermeiden  war  —  die  wiederholten  Versuche  abzubreGhen 
— ,  der  endliche  Ausgang  mit  der  Trost  und  Resignation 
predigenden  Melodie  der  Celli  —  das  wirkt  alles  mit 
einer  Unmittelbarkeit,  wie  sie  an  dieser  Stelle  in  Sinfonien 
nur  selten  erreicht  wird !  Wie  ergreifend  auch  der  letzte 
Abschluß  des  ganzen  AUegro  —  als  nach  allen  Stürmen 
die  Melodie  der  Introduktion  ihr  freudlich  bleiches  Antlitz 
wieder  zeigt!  In  seiner  harmonischen  Mischung  von 
menschlicher  Tiefe  und  Anmut  mit  freier  Dichtersprache 
würde  der  Satz  allein  hinreichen,  die  Bewunderung  zu 
erklären,  welche  Mendelssohn  bei  seinen  Zeitgenossen 
erregte.  Es  hat  jedoch  auch  nicht  an  —  vorwiegend 
süddeutschen  —  Stimmen  gefehlt,  die  den  allzu  starken 
Liedcharakter  der  Mendelssohnschen  Sinfoniethemen  be- 
anstandeten und  in  ihm  einen  Hemmschuh  für  die  Frei- 
heit und  Mannigfaltigkeit  des  Satzbaues,  insbesondere 
eine  Gefahr  für  den  Gehalt  und  die  Natürlichkeit  der 
^  Durchführung  sahen. 

Auf  einem  andern  Grundcharakter  basiert  ist  der 
zweite  Satz  der  Amoll- Sinfonie,  das  Vivace.  Von  dem 
phantastischen  Elemente,  welches  Mendelssohn  für  seine 
Scherzi  bevorzugt,  hat  es  nichts.  Es  ist  ein  künstlerisch 
vollendetes  Genrebild  pastoraler  Natur,  welches  uns  nur 
bedauern  läßt,  daß  Mendelssohn  dieses  Gebiet  so  selten 
betreten  hat.  Die  Themen,  welche  in  teilweise  strengerer 
Arbeit  durchgeführt  werden,  sind  folgende: 


Einen  das  Trio  vertretenden  Mittelsatz  hat  das  Vivace 
nicht,  aber  eine  kleine  Einleitung  von  wenigen  Takten, 
in  der  fröhliche  Signale  auf  das  bevorstehende  lustige 
Treiben  hinweisen.  Auch  das  Adagio  beginnt  mit  einer 
kurzen  Einleitung,  die  den  Zusammenhang  mit  der  Intro- 
duktion mit  einigen,  allerdings  sehr  feinen  Strichen  her- 


310 


stellt.    Das  Hauptthema  hat  in  seiner  ersten  Hälfte  fol- 
gende Gestalt: 

Unmittelbar  nachdem  es  abgeschlossen,  tritt  das  zweite 
Thema: 


^m 


^ 


SUl 


^n 


r^    Ll^iJJ 


ein,  fremdartig  und  feierlich  wie  Hamlets  Gebt.  Im  gan- 
zen weitern  Verlauf  des  Satzes  geht  es  mit  dem  andern, 
von  dem  die  Celli  bevorzugten  Besitz  ergreifen,  keine 
nähere  Verbindung  ein,  sondern  stellt  sich  ihm  nur,  immer 
wieder  überraschend,  wie  mahnend  und  warnend,  ent- 
gegen. Diese  ungewöhnliche  Disposition  der  Themen  gibt 
dem  Satze  einen  dramatischen  Charakter. 

In  dem  letzten  Satz  verschwindet  das  romantische 
Kolorit  einigermaßen.  Die  Themen  stürmen  einer  be- 
haglichen Sphäre  zu 


Allegro  coli  tplrite 


erete. 


erreichen  sie  'i  j  |  J  J  J  J  IJ-.JiJTT?  |  F  i,  aW^ 

und    geben    den   Gefühlen    heroischer   Kraft  freudigen 
Ausdruck : 

frw  ^ujiiPf  ^Us\^r  ^'m^ 


tis.  «ad 


^nuLi  iiiiiiiM  ^r.Ä/1*^'^"^ ''"^ 


ifif  ilM'f  j'h'i  r'iu'r  I  I,  I  r|i|V,  i 


811 


7T-nii^  r'i'  iff  r  I 


das  rücken  liegende  Stim- 
men, Orgelpunkte  und  an« 
dere  Hilfsmittel   der  In- 


strumentation und  der  Harmonie  in  eine  verklärende 
Feme. 

Die  hier  angeführten  Themen  gehören  dem  ersten, 
dem  Hauptteile  des  Schlußsatzes  zu.  Mendelssohn  nennt 
diesen  ersten  im  (7- Takt  geschriebenen  Teil  AUegro 
guerriero  —  und  bietet  damit  der  Erklärungskunst  einen 
verlockenden  Stoff.  Der  zweite,  kürzere  Teil  des  Finale  be- 
steht aus  einem  Satze  im  o/g  Takte,  in  dessen  Hauptmotiv: 
f  i  ,  I  h  1  J~  ^^^  schottische  Element  der  Sin- 
ff  1^1  J'  ■  «^  '  '^=  fonie  noch  einmal  zu  entschieden- 
ster Geltung  kommt.  Diese  Wendung  bildet  in  der  Melodik 
der  schottischen  Volksmusik  eine  stereotype  Schlußformel. 
Bekanntlich  fehlt  der  schottischen  Skala  die  Septime. 

Der  schottischen  Sinfonie  steht  unter  den  andern 
Sinfonien  Mendelssohns  die  vierte  (Op.  90],  die  Adur-  F.  Headeiaaohu, 
Sinfonie,  an  Popularität  am  nächsten.  Sie  heißt  die  A  dur-sinfonie 
italienische  und  gilt  als  die  künstlerische  Frucht  der 
längeren  italienischen  Reise,  welche  der  junge  Mendels- 
sohn im  Jahre  1830  unternahm.  Direkt  erkennbare  süd- 
liche Elemente  bringt  die  Sinfonie  in  ihrem  Schluß- 
satze: einer  ausgelassenen,  bacchantisch  lustigen  Szene, 
welcher  eine  neapolitanische  Tanzform,  der  wilde  Salta- 
rello,  zu  Grunde  liegt.  In  den  andern  Sätzen  sind  Be- 
ziehungen zum  Süden  nicht  nachzuweisen.  Der  erste 
Satz  mit  seinem  heiteren  Grundton  hat  gleichwohl  zu 
vielen  schwärmerischen  Parallelen  mit  dem  »ewig  blauen 
Himmel  des  Landes,  wo  die  Zitronen  blühen«  Veranlassung 
gegeben.  Es  herrscht  in  ihm  eine  kräftig  glückhche 
Phantasie,  die  wohl  an  die  Stimmung  eines  Jünglings 
denken  läßt,  der  fröhlich  und  jubelnd  hinauszieht  in 
die  schöne  Welt.  Das  erste  Thema,  welches  ohne  Ein- 
leitung einsetzt: 

Aües^TO  vivace. 


(italienische). 


312 


beginnt  kräftig,  ungeduldig;  das 
zweite: 


ist  ruhiger,  hat  etwas  vom   sentimental  romantischen 

Element;  aber  ein  freudiger  Schwung  lebt  auch  in  ihm. 

In  der  Durchführung  tritt  ein  neuer  dritter  Gedanke  auf: 

-  I-  ..^m  p^t=i  welcher  dann 
»"■  -    '    -i^-iLä   M    nr  ^LfJI   '^*  I  auch    in    den 

Schlußteil  des  ersten  Satzes  aufgenommen  wird. 

Der  zweite  Satz  (Andante  con  moto,  DmoU)  beginnt 
als  schwermütige  Ballade  mit  folgendem  Hauptthema, 
zunächst  von  Bratschen,  Klarinette  und  Fagott  vorge- 
tragen : 

Anduite  con  moto 


dem  dann  ein  freundlicher  Gesang  entgegentritt: 


Diese  anheimelnde  Begegnungsszene  wiederholt  sich  mit 
kleinen  Intermezzos  einige  Male:  Die  trauernde  Grestalt 
hat  das  letzte  Wort,  und  wie  mit  leisen  Seufzern  ver- 
schwindet der  Satz  in  die  umwölkte  Ferne.  Sind  in 
diesem  langsamen  Satze  schon  nordische  Anklänge  nicht 
zu  verkennen,  so  tritt  in  dem  folgenden  Satze,  einem 
9/4  Takt  ohne  weitere  Gattungsbezeichnung,  das  deutsche 
Element  mit  der  größten  Bestimmtheit  vor. 

Der  Hauptsatz  dieses  traulichen  Stückes  knüpft  mit 
seinem  Ländlerthema: 


Con  moto  moderalo 


313 


an  die  gemütlichsten  Bilder  an,  welche  die  Wiener 
Meister  von  deutscher  Fröhlichkeit  und  Geselligkeit  ent- 
worfen haben.  In  dem  Mittelteil  dieses  Satzes  lebt  die 
Romantik  unsrer  Wälder  in  der  Seele  des  jungen  Men- 
delssohn auf:  CM.  V.Weber,  die  musikalische  Jugend- 
liebe Mendelssohns,  scheint  vor  seine  Phantasie  zu 
treten,  und  in  dessen  Hornklängen  spricht  der  junge 
Tondichter  einige  der  herrlichsten  Zeilen  seiner  italie- 
nischen Sinfonie. 

Der  letzte  Satz,  mit  einem  fanatischen  Unisono  seinen 
unbändigen  Charakter  ankündend,  bringt  als  erstes  Thema 
folgende  unverkennbare  Volksmelodie:  » 


Presta 


rijtrffP'i^'^^ 


Es  zieht  in  einer  langen  Entwicklung  auf,  durch- 
streift die  Nuancen  seelischen  Ausdrucks  von  der  zarten 
Anmut  bis  zum  wilden  Toben  und  bringt  alle  Kräfte  des 
Orchesters,  die  Solisten  und  die  Massen  in  immer  hef- 
tigere Aktion.  Dem  Aufmarsch  dieses  Hauptthema  folgt 
eine  Nachhut  aus  derben  Elementen,  aus  stampfenden 
und  pochenden  Figuren,  wie: 


—  eine  Reminiszenz  an  dieRüpelszene  des>Somroernachts- 
traums«  —  gebildet  Die  weicheren  und  feineren  Geister 
haben  in  den  Kreisen  dieses  Satzes  nur  einen  beschei- 
denen Platz.  Das  zweite  Thema,  in  dem  ein  leises  Zitat 
an  die  Durchführung  des  ersten  Satzes,  gleichsam  wie  an 
den  Anfang  der  Reise  erinnert,  sucht  sie  einzuführen: 
^7-  _  _^ Ein     erneutet 

ir  K  Ljj  ■  -  «i  I  I  I      •-  -„s;-  '      LU  *  ==  Versuch,    die 

ins  Bedrohliche  steigenden  Wogen  der  Fröhlichkeit  zu  glät- 
ten, Wird  in  der  Durchführung  dieses  Satzes  mit  der  Figur 


/" 


314    ♦— 

unternommen.  Wie  der  erste 

I  Satz  der  A  dar-Sinf onie  man- 

w»'  ^"^  ches  aus  der  Notturnosphäre, 

so  bringt  dieser  letztere  außer  der  schon  angeführten 
Stelle  noch  weitere  wörtliche  Einzelheiten  aus  den  gro- 
tesken Partien  der  So^nmemachtstraummusik,  speziell  aus 
der  Ouvertüre. 

Die  italienische  Sinfonie  ist  als  Nr.  4  erst  nach  dem 
Tode  des  Komponisten  veröffentlicht  worden;  der  Ent- 
stehungszeit nach  geht  sie  der  schottischen  um  mehrere 
Jahre  voran:  sie  wurde  von  Mendelssohn  zuerst  im  Jahre 
,  1833  in  .  der  Philharmonischen  Gesellschaft  zu  London 
r.  HeadelMokB»  aufgeführt.   Zwischen  diesen  beiden  Hauptsinfonien  Men- 
aih^^f^^\     delssohns  liegt  sein  »Lobgesang«,  den  er  als  »Sinfonie- 
(Sinfoniekantate).  ^^^^^^  ^ach  Worten  der  heUigen  Schriftc  bezeichnet 

'  ^'^  ^'  Die  Mischung  von  Sinfonie  und  Kantate,  wie  sie  in 
diesem  Werke  sich  2eigt,  ist  älter  als  Beethoven  und 
seine  neunte  Sinfonie.  Die  eigentümliche  Anlage  dieses 
Lobgesangs  ist  jedoch  mit  Berufung  auf  ältere  Vorlagen 
noch  nicht  recht  zu  verstehen.  Während  die  schottische 
und  die  italienische  Sinfonie  'ziemlich  langsam  reiften, 
entstand  diese  Sinfoniekantate  als  rasche  Gelegenheits- 
arbeit zum  Leipziger  Gutenbergfest  des  Jahres  1840. 
Für  die  Instrumentalsätze  benutzte  Mendelssohn  eine 
seiner  Zeit  für  London  geschriebene  Jugendsinfonie,  deren 
Charakter  sich  der  Idee  der  gewönschten  Festmusik  ohne 
Gewalt  anpassen  ließ:  Zu  der  Dankfeier,  welche  einem 
der  wichtigsten  Kulturereignisse,  einem  Wendepunkt  in 
der  Geschichte  der  Menschheit  galt,  soll  die  ganze  Ton- 
kunst beisteuern.  Voran  schreiten  die  spielenden  Massen. 
Sie  loben  den  Herrn  (im  ersten  Satze)  mit  Posaunen: 

Dann  lobt  man  ihn  mit  Psal- 
ter  und  Harfen,   in  einem 
y  »feinen  Ton<.    Dieser  feine 

Ton  ist  der  Kern  des  ersten  Teils  des  Allegretto  der  Sin- 
fonie (Gmoll,  8  s);  seinen  Ausgang  bildet  eine  Choralpara- 
phrase. Dem  dritten  Satze,  dem  Adagio  (Ddur,  s/^),  dem 
frommsten    und   ehrfurchtsvollsten    Teile    der  Sinfonie, 


— *    816    ♦— 

scheint  der  Gedanke  zn  Gründe  su  liegen:  »Betet 
an  den  Herrn  in  seinem  heiligen  Schmuckec.  Er  bildet 
den  Schluß  des  Sinfonieteüs  im  Lobgesang.  Nun  setzt 
die  Kantate  ein.  In  ihrem  ersten  Chor  sucht  sie  die 
Verbindung  mit  dem  Vorausgehenden,  indem  sie  das 
oben  angegebene  Thema  des  ersten  Sinfoniesatzes  zu 
den  Worten  »Alles  was  Odem  hat,  lobet  den  Herrnc 
aufnimmt  Der  Höhepunkt  dieser  Kantate  ist  das  dra- 
matische Rezitativ  des  Tenors:  »Hüter,  ist  die  Nacht 
bald  um?c 

Weniger  bekannt,  im  Drucke  erst  seit  dem  Jahre  1868 
vorliegend,  ist  Mendelssohns  »Reformationssinfonie.«.  F.  ■•■delisohn, 
Das  Werk  ist  interessant  als  ein  halb  deklarierter  Bei-    ^•f^^"'' 
trag  Mendelssohns  zur  Programmusik.     Auf  die  Refor-        «»«>»•' 
mation  selbst  nimmt  es  den  klarsten  Bezug  im  letzten 
Satz,  dessen  Mittelpunkt  der  Choral  »Eine  feste  Burg« 
bildet.    Um  ihn  herum  treten  noch  kriegerische  Lied-     <ifr.  ft^Ddnr 
weisen,  die  den  Charakter  der  Volkslieder   des  Mittel-       Op.io?). 
alters  tragen.    Der  religiösen,  ernsten  Seite  der  Refor- 
mation selbst,  ihrer  streitbaren  Natur,  ihrer  Freudigkeit 
am  Kampfe,  ihrer  Festigkeit  im  Glauben  und  im  Gottver- 
trauen  ist  der  erste  Satz  gewidmet.    Mit  einer  gewissen 
Starrheit  und  Unbeugsamkeit  hält  er  ein  kurzes  Motiv  fest: 
An«rro.  ^^    ^^^    ^®'   Einleitung   bis   zum 

'£^  II  kl'^  '  ^^^1^^^^»  ^^  ^^^  ^®3^®  Wächter- 
B*  "''  J  J»  J^ '  "  rof  in  der  Nacht,  den  Satz  durch- 
schallt Wie  das  Kleinod,  dem  das  Mühen  gilt,  ist  die  Melodie 
des  Lutherischen  Amen  (das  sogenannte  »Dresdner  Amen«, 
das  auch  Wagner 
in  seinem  Parsifaljs  j8  >J  Je 
aufgenommen  hat): 

in  die  erste  Abteilung  der  Sinfonie  hineingestellt.  Der 
Zeit  der  Reformation  gilt  der  zweite  Satz,  ein  Allegro 
vivace,  die  musikalische  Verkörperung  einfachen,  alt- 
väterisch  schlichten  und  kräftigen  Frohsinns.  Seine  Melo- 
die erscheint  als  metrische  Umbildung  des  zweiten  Thema 
im  Vivace  der  schottischen  Sinfonie.  Das  Trio  besitzt 
Weihnachtsklang.   Das  Andante  hat  nach  der  Kürze  des 


^ 


_^    316    «^    . 

Umfangs  und  nach  seiner  erregten  Haltung  Ähnlichkeit 
mit  einem  Rezitativ. 

Im  melodischen  Stile  weicht  die  Reformationssinfonie 
von  •  den  drei  vorhergenannten  Werken  ab.  Nichts  von 
den  weichen  Sext-  und  Terzvorhalten,  welche  in  den 
Weisen  der  mittleren  Periode  immer  wiederkehren,  und 
wenig  von  der  RQcksicht  auf  das  Violinmäßige,  welche 
in  der  Motivbildung  der  andern  Orchesterwerke  häufig 
in  den  Vordergrund  tritt.  Es  geht  ein  herber,  aber  cha- 
raktervoller Zug  durch  die  Melodik  der  Reformations- 
sinfonie, der  allein  dazu  berechtigen  würde,  diese  Kom- 
position .der  Jugendzeit  Mendelssohns  zuzuweisen.     Sie 

V,  Heudeliiokn,  teilt  ihn  mit  seiner  ersten  Sinfonie,  der  in  C moll. 

CmoU-Sinfonie.  Diese  ist  (als  Opus  11)  der  Philharmonischen  Gesellschaft 
in  London  gewidmet,  vor  längerer  Zeit  schon  durch 
Schlesinger  in  einer  gestochenen  Ausgabe  veröffentlicht, 
aber  für  Aufführungen  so  gut  wie  nicht  benutzt  worden. 
Der  Stoff,  welchen  sie  der  Vergleichung  und  der  bio- 
graphischen Betrachtung  bietet,  ist  nicht  unbeträchtlich, 
(m  Stile  steht  sie  auf  dem  Boden  der  »Hochzeit  des 
Camacho«,  der  »Heimkehr  aus  der  Fremdec  und  läßt 
gar  nichts  von  der  eigentümlich  phantastischen  und 
reich  beweglichen  Natur  des  Komponisten  der  Sommer- 
nachtstraummusik ahnen.  In  den  Gedanken  folgt  sie 
namentlich  der  Führung  Beethovens;  der  erste  Satz 
knüpft  direkt  an  Ideen  des  Gdur- Konzerts,  der  Coriolan- 
ouvertüre  und  der  Waldsteinsonate  dieses  großen  Vor- 
bildes an.  Trotz  dieser  Unselbständigkeit  ist  aber  das 
Werk  wegen  der  Kraft,  Frische,  Knappheit  und  der  Ent^ 
schiedenheit,  mit  der  es  sich  auf  gedanklich  Wichtiges 
richtet,  sehr  erfreulich  und  besitzt  Lebensfähigkeit. 

Die  naive  Richtung  der  Romantik  tritt  mit  der  phan- 
tastischen ziemlich  gleichzeitig  in  die  Musik  herein.  Ihre 
ersten  Vertreter,  unter  welchen  wir  den  liebenswürdigen, 
lyrisch  schwungvollen  F.  E.Fes ca  (vier  Sinfonien  1817 
bis  28)  nennen,  gehören  noch  dem  Stilbereiche  der  Nord- 
deutschen Schule  an.  Ihr  Hauptmeister  ward  R.  Schu- 
mann.   In  der  großen  Reihe  hoher  Dichtergaben,  deren 


.    -^    317     f^ 

Vereinigung  Schumanns  Individualität  imposant  macht, 
sticht  sein  naiver  Zug  besonders  hervor.  Mit  ihm  vertritt 
er  in  der  Sinfonie  kräftiger ,  als  es  vor  ihm  geschehen, 
jenen  Rousseauschen  Zug  zur  Natur  und  Einfachheit, 
dessen  Aufleben  den  gesundesten  Teil  der  romantischen 
Bewegung  bildet,  denselben  Zug,  welcher  unsere  Dichter 
zum  Volkslied  zurückführte  und  unsere  Maler,  Ludwig 
Richter  voran,  den  großen  Schatz  von  Poesie  neu  ent- 
decken ließ,  der  sich  dem  sinnigen  Auge  in  der  Alltäg- 
lichkeit des  heimischen  Lebens  und  im  eigenen  Lande 
anftat  Der  jugendliche  Ton,-  die  große  Dosis  unge- 
zwungener Natürlichkeit  ist  es  in  erster  Linie,  durch  welche 
Schumanns  Musik  ihre  erfreuende  und  erfrischende  Macht 
übt.  Diesen  inneren  Eigenschaften  verdankt  sie  auch 
viele  von  ihren  eigentümUchen  formellen  Elementen:  die 
Figuren  und  Gesang  ineinanderziehende  Themenbildung, 
die  aphoristischen  und  versteckten  Melodien,  die  jetzt 
ungeniert  losen,  jetzt  seltsam  verketteten-  Rhythmen, 
die  Naturlauten  gleichenden  Dissonanzen  imd  alle  die 
neuen  Elementarbildungen,  durch  welche  Schumanns 
"Schöpfungen  für  die  weitere  Entwicklung  der  Tonkunst 
von  großer  Bedeutung  geworden  sind. 

In  die  Reihe  der  Sinfoniker  trat  Schumann  unge- 
fähr ein  Jahr  "bevor  Mendelssohns  > schottische  Sinfoniec 
erschien. 

Die  echten  Romantiker  pflegen  ihr  Bestes  gleich  beim  b.  SeiiuiaBB, 
Anfang  zu  geben.  Schumanns  sinfonischer  Erstling  war  Bdor-Smfbnie. 
die  Sinfonie  in  Bdur  (Op.  38),  eine  seiner  schönsten  Ton- 
dichtungen und  dasjenige  Werk,  welches  seinem  Namen 
mit  einem  Schlage  die  historischen  Würden  erwarb.  Die 
B  dur-Sinfonie  hält  sich  an  die  bekannten  Hauptformen 
der  Gattung  und  bewegt  sich  im  wesentlichen  in  ver- 
trauten und  jedem  Menschen  naheliegenden  und  lieben 
Ideenkreisen  —  aber  Schumann  behandelt  Idee  wie  Form 
mit  ungewöhnlicher  Freiheit  und  Kühnheit  Ja  in  der 
kurzen  ungenierten  Ausdrucksweise,  welche  er  in -einzel- 
nen Sätzen  entwickelt,  liegt  eine  Originalität,  die  nicht 
bloß  vor  70  Jahren  neu  und  befremdend  wirkte,  sondern 


--♦    318    ^— 

aie  würde  auch  heute  noch  diskutabel  sein,  wenn  nicht 
der  Grund  einer  fortreißenden  NatttrHchkeit  und  einer 
mächtigen  Phantasie,  auf  denen  sie  ruht,  zu  stark  durch- 
leuchtete. Schumann  selbst  nennt  in  einem  Briefe  an 
Ghepenkerl  seine  Bdur-Sinfonie  >in  feuriger  Stunde  ge- 
borene !)nd  nahm  es  seinem  Freunde  Wenzel  sehr  Übel, 
als  dieser  (in  der  Leipziger  Zeitung)  bei  Beurteilung  des 
Werkes  von  Hoffnungen  für  die  Zukunft  gesprochen 
hatte*}.  Sie  war  in  der  kurzen  Zeit  von  vier  Tagen  im 
Entwurf  fertig. 

Die  poetische  Idee  der  Sinfonie  soll**)  mit  dem  Ge- 
dichte »Du  Geist  der  Wolke  tr&b  und  8chwer<  von  Adolf 
Böttiger  in  Beziehung  stehen.  Die  Worte  >Im  Tale  zieht 
der  Frfihling  auft  leiteten  den  Komponisten,  der  das  Werk 
mehrmals  seine  »Frühlingssinfonie«  genannt  hat 

Dunklen  Bildern  und  Ideen  gibt  Schumann  in  ihr, 
die  den  Stempel  einer  glücklichen  Zeit  überall  trägt,  nur 
soweit  Raum,  als  es  das  Gesetz  des  Gegensatzes,  das 
Lebenselement  der  Sonaten-  und  Sinfonieform,  fordert. 

Die  Einleitung  stellt  zuerst  diesen  Gegensatz  hin. 

Feierlich   und  ernst,    auch  etwas  drohend,   erhebt  sie 

sich  in  ihrer  ersten  Hälfte  und  bringt  in  lapidarer  Form 

Andante  m  poco  maettos».^  ^      das  Motiv  voraus,  welches 

<£  A^  H  0  T  IT'  p  r'  P  If  r  F     in  dem  Gefüge  des  ersten 
^  ^      .    r       r    I    I  =  g^^^^g  ^.^  Hauptstütze  bü- 

det***).  Klagende  Weisen  tauchen  in  den  Holzbläsern  auf, 
schwer  und  kurz  schlagen  die  Massen  mit  Akkorden  drein. 
Da  mit  einem  Male,  mit  einem  Ruck  in  der  Harmonie, 
kommt  Flötenklang:  der  Horizont  hellt  sich  auf;  in  den 

*}  G.  F.  Jansen:  R.  Scbnmannb  Briefe.  Neue  Folge 
(Leipzig  1886),  S.  175. 

**)  Nach  einem  auf  der  Leipziger  Stadtbibliothek  befind- 
lichen Widmnngsblatt  Schamanns  an  den  Dicbter. 

***)  Nach  des  Komponisten  erster  Intention  bieß  das  Motiv 

'if  l^'  n  •  I  <■  j.j-  ■■  I  J  ?  r^   ^^^  ^^'  '^^  ^^^  damals  nur 
fr  ^    "  ^+f"  p'f  p  N  -"^^  fftr    Natortdne    eingerichteten 

Hömern  einen  komiseben  Effekt. 


319 


Geigen  beginnt  es  zu  rauschen,  und  in  einem  großen, 
mächtigen  Zug  geht  es  über  in  das  kräftige,  frische 
Leben  des  Allegro: 


So  lautet  das  Haupt- 
\\f  p     tbema  —  fQr  den  ersten 

Satz  einer  Sinfonie  eine 
ungewöhnlich  leicht  gefügte,  fast  wunderliche  Erschei- 
nung, die  in  ihrer  Naivität  dem  Geiste  Haydns  und 
älterer  Meister  nahesteht  Auch  das  zweite  Thema  ist 
in  seiner  Bildung  ungewöhnlich: 


r  |i  i>f  '.Ji '  I J' 


Es  gleicht  mehr  einer  Kette  von  Naturlauten  als  einem 
künstlerisch  gestalteten  Gesang.  Was  sonst  noch  an 
Melodie  in  der  Themengruppe  vorkommt,  das  reduziert 
sich  auf  Skalenmotive  und  auf  kurze  und  kecke  Andeu- 
tungen. Neben  diesen  anspruchslosen  und  bagatell artigen 
Ideen  stehen  aber  Perioden,  in  welchen  sich  die  Har- 
monie in  dem  großen  Stile  Beethovens  aufbaut,  kühn, 
sicher  und  leicht  gestaltet.  Alles  ist  vom  Leben  getragen, 
und  eine  mächtig  drängende  Stimmung  verrät  die  un- 
gewöhnliche Künstlernatur,  die  auch  aus  Kleinigkeiten 
Bedeutendes  bildet.  Die  etwas  schwächere  Durchführung 
nimmt  einen  doppelten  Anlauf.  Das  erste  Mal  geht  der 
Weg  über  die  beiden  ersten  Takte  des  Hauptthemas. 
Ihren  dunklen  Kombinationen  fügt  der  Komponist  nach 
,  dem  Muster  von  Beethovens  dritter  und  vierter  Sinfonie 
noch  eine  neue,  unbestimmt  suchende  Melodie  bei: 

if  I'  111.1  I  i^T]  I  i|"T^  l^^l^l/ 

Auf  der  Höhe  angekommen,  erhebt  die  Flöte  ihre 
Stimme  und  jubiliert  wie  eine  Lerche  mit  der  losen  Sech- 
zehntelfigur, welche  die  zweite  Hälfte  des  Hauptthemas 


320 


bildet  Das  Triangel  klingt  romantisch  drein.  Beim  zwei- 
ten Male  geht  _  und  ffihrt 
der  Weg  über  l  ^'' .  j,  LJT^j.jn  WfJr  fff  ^unmittelbar 
ein  Nebenmotiv  ^  ,  '  ^  in  den  drit- 
ten Teil  des  Satzes  über.  Die  Stelle,  wo  das  Haupt- 
thema in  den  breiten  'Rhythmen  der  Einleitung  von 
Trompeten  und  Hörnern  getragen  und  mit  dem  vollsten 
Glänze  des  Orchesters  wieder  eintritt,  ist  eine  der  herr- 
lichsten in  allen  Sinfonien!  Die  Reprise  ist  sehr  kurz 
gehalten,  der  zweite  Teil  des  Hauptthemas  sogar  über- 
gangen. Dafür  fügt  der  Komponist  eine  breite  Coda  an, 
die  sehr  viel  Neues  bringt.  Besonders  schön  und  innig 
berührt  uns  nach  den  stürmischen  und  hastigen  Anläufen, 
mit  denen  sie  beginnt,  der  fromme  und  ruhige  Gesang 


J)/  erese.  j» 

»  .^_   .  .—  _  -^    .  ^^®  rhythmischen  Stockun- 

r  irr  If^f  ip'^'pT^^  ge^i   welche   den  graden 

Gang  dieser  Melodie  auf- 
halten, sind  eine  Liebhaberei  Schumanns.  Aus  ihr  ent- 
wickelte sich  mit  der  Zeit  mehr  und  mehr  eine  erschwe- 
rende und  störende  Manier. 

Der  zweite  Satz  (Larghetto,  Esdur,  s/q)  erscheint  durch 
die  letzt  angeführte  Episode  in  der  Coda  des  ersten 
Allegro  ideell  vorbereitet  Er  redet  die  Sprache  eines 
Herzeus,  das  leise  zagt,  bittet  und  vertraut  Ein  tief  reli- 
giöser Zug  lebt  darin.  In  Geist  und  Form  dieses  Larghetto 
ist  viel  Beethovensches,  namentlich  in  den  Obergangs- 
gruppen. Als  Hauptthema  dient  dem  Satze  folgende  MelodQe: 

Larghetto. 


-^    321    <►- 

Die  Ausweichungen  ihrer  ersten  Takte  sind  ganz  Schu- 
manns Eigen.    In  der  kurzen  Gruppe,  welche  der  Repe- 
tition  des  Themas  durch  die  Celli  (in  B}  vorausgeht,  tritt 
ein  Beethovensches  Motiv  (Andante  der  fünften  Sinfonie) 
j  L-     -   ■  p-  jk-  -  .       hervoy«  Der  Gegensatz  zum  Haupt- 
ff  r     P  r     ^ij  ^^thema  besteht  aus  einer  knappen 
''"*'^=^    -  Partie,    in    welcher   das  Motiv 

durch  die  Instrumente  wandert.    Auch 
ft    f"  •  \  /j|J  •  in  diesem  Satze  bringt  der  Schluß  etwas 

****•  i^Anz  Naiias.   -onArlAr   AinAn  TTinwAia    «.nf 


ganz  Neues,  wieder  einen  Hinweis  auf 
den  folgenden  Satz:  Wir  hören  ins  Feierliche  Übertragen 
den  Anfang  des  Scherzo  von  einem  aus  der  Ferne  her- 
übertönenden  Posaunenchor.  Wie  mit  einer  stummen, 
tiefsinnigen  Frage  klingt  das  Larghetto  aus,  und  un- 
mittelbar, ohne  eigentliche  Pause,  schließt  sich  das 
Scherzo  mit  seinem  energischen  Thema  an: 

Jill  Jl  I   ll.l.ll  I    I.    I  l|M|  T Il   ]  II 

Der  zweite  Teil  des  Hauptsatzes  ist  ungewöhnlich  knapp 
gehalten.  Eingeleitet  wird  er  durch  eine  selbständige, 
liebenswürdige  Idee 


jij  if  ^r  I n  J I fO  1 1 1  ^JJJN^J  I  jj  N  ■ 


Dem  finstren  Tone,  der  den  eigentlichen  Scherzosatz  be- 
herrscht, stellt  Schumann  zwei  Trios  gegenüber,  auch 
hierin  ungewöhnlich  und,  für  seine  Zeit  wenigstens, 
neuemd.  Von  beiden  ist  das  erste  namentlich  von 
großer,  von  unerhörter  Originalität:  ein  Wiegen  auf 
weichem  Rhythmus,  ein  Klingen  und  Grüßen  lieblicher 
Akkorde,  das  aus  der  Feme  näher  und  näher  kommt 
und  wie  die  starke  Melodie  der  Winde  anschwillt!  Für  die 
rhythmische    ^  ^ — ^    liegen  in  Beet- 

Grundidee    4  li"    ^  \   ^    I  j    f   I  ^    I  f    hovens  erster, 
dieses    Trio  **"  '         '    ---^         "  für  die  Mystik 

seines  Klanges  in  desselben   Komponisten  neunter  Sin- 

Kretcschmftr,  F&hrer.    L,  1.  21 


322 


fonie   Vorbilder 

vor.  Ein  kleines, 

munteres  Motiv 

bildet    den    Abschluß    der    wunderbaren    Partie.     Das 

zweite  Trio  entwickelt  eine  harmlose,  jugendliche  Fideli- 

tät  auf  Grund  ei-  .  - 

nes  altbekannten      ^  l"  58  ,  J    I  J   J  J   I  J  J  f   I   ("  1 1* 
AUerweltsthema:  >  '"'^  '       ^ 

es  gehört  also  mit  unter  die  in  alter  Zeit  so  beliebten 
Solmisationsscherze.  Das  erste  Trio  wird  am  Schlüsse 
des  Scherzo  noch  einmal  zitiert,  es  erscheint  mit  innigen, 
sehnenden  Blicken  und  verschwindet  mit  einem  Seufzer. 
Das  Finale  der  Sinfonie  ist  aus  Heiterkeit  und  Kraft  ge- 
mischt Es  dreht  sich  wie  das  Hauptthema  des  ersten 
Satzes  in  vergnügter  Stimmung  in  originellen,  anmutig 
possierlichen  Wendungen 

AUe^o  anfm&to- 


(erstes  Thema)  und  führt  wunderliche  Dialoge,  in  welchen 
den  ausgezeichnet  gelaunten  Bläsern  von  den  (zeigen 
unwirsch  und  barsch  geantwortet  wird 


^^^ 


/f.^ 


▼w. 


TTT 


Aus  dieser  eigenartig  klin- 

3  genden  Stelle  entwickelt  sich 

dann  das  eigentliche  zweite 


Thema  des  Finale,  der  Ausdruck  eines  in  Ruhe,  Dank- 
barkeit und  Festigkeit  gesammelten  Gemütes: 


f^^f^ir\rfij^i'r^fT^?Tif?if't\Trrf\r 


Unter  den  vielen  Zügen  des  Humors,  die  sich  in  diesem 
Finale  finden,  sei  namentlich  auf  die  Stellen  aufmerksam 


— ♦    923    i 

gemacht,  wo  sich  die  Bässe  mit  den 
Cellis  und  Bratschen  des  Motivs 
bemächtigt  haben. 

Der  Entstehnngszeit  nach  liegt  die  vierte  Sinfonie 
Schumanns  (Op.  120)  nicht  weit  von  der  ersten.  Sie 
wurde  im  Jahre  1841  als  Nr.  2  aufgeführt  und  erhielt 
später  im  wesentlichen  nur  eine  neue,  f&r  geringe  Or- 
chester berechnete  Instrumentierung,  einen 'viel  dickeren 
und  plumperen  Rock,  der  viel  von  der  Grtizie  -und  den 
Farbenreizen  des  ursprünglichen,  erst  in  jüngster  Zeit 
veröffentlichten  Entwurfs  verdeckt.  Im  Kunstwert  der 
Bdur- Sinfonie  mindestens  gleich,  wenn  nicht  überlegen, 
und  ihr  auch  im  Charakter  nahe  verwandt,  bildet  Schu-  R.  SehmnABn, 
manns  DmoU-Sinfonie  in  der  Geschichte  der  Sinfonie- ^  ™o""S*n^on»« 
form  ein  wichtiges  Dokument  Wir  denken  hierbei 
weniger  daran,  daß  in  ihr  genau  wie  in  Mendelssohns 
A  moll-Sinfonie  die  vier  Sätze  des  Werkes  ohne  Unter* 
brechung  aufeinander  folgen,  also  gleichsam  einen  ein- 
zigen großen  Satz  bilden  sollen,  als  vielmehr  an  die  von 
Schumann  Altern  Vorgängern  glücklich  nachgebildeten 
Versuche,  die  einzelnen  Sätze  in  einen  engeren  materiellen 
Zusammenhang  zu  bringen  und  dem  ganzen  Werke  eine 
strengere  Einheit  zu  geben :  Die  Introduktion  ist  mit  der 
Romanze,  der  letzte  Satz  mit  dem  ersten  durch  Gemein- 
samkeit und  Verwandtschaft  der  Themen  verknüpft  Aber 
auch  innerhalb  der  einzelnen  Sätze,  namentlich  im  ersten, 
zeigt  der  formelle  Aufbau  gelungene  Neuerungen  von 
Bedeutung.  Angesichts  der  Sicherheit  und  Leichtigkeit, 
mit  welcher  sie  vollzogen  sind,  kann  man  nur  erstaunt 
sein,  daß  vormals  und  neuerdings  wieder  die  Frage  auf- 
geworfen werden  konnte,  ob  Schumann  der  großen  Form 
völlig  Herr  gewesen  sei. 

Das  Thema,  mit  welchem  nach  einer  etwas  schwer- 
mütigen Introduktion  das  erste  Allegro  einsetzt,  ist 
folgendes: 


21* 


--•     324     %^ 

allerdings  formell  eine  bloße  Figur,  aber  eine  Figur  Yoll 
Cbarakter,  aus  der  eine  starke  Erregung  spricht.  Es  ist 
{lochst  meisterlich,  wie  Schumann  dieses  schwierige  Thema 
handhabt,  jetzt  zum  Ausdruck  trotzig  stürmender  Kraft, 
jetzt  des  Zweifels  gebraucht  und  dann  mit  ihm  in  freu- 
dige Regionen  einlenkt.  In  keinem  Takte  läßt  er  es  aus 
der  Hand.  Ob  als  Hauptglied,  ob  als  Arabeske,  immer 
ist  es  da  und  beherrscht  die  ganze  Themengruppe,  so 
daß,  obgleich  alles  singt  und  lebt,  ein  zweiter  ebenbürtiger 
Hauptgedanke  in  dieser  nicht  aufkommt  Um  so  üppiger 
blühen  die  neuen  Ideen  im  Durchführungsteile.  Da  ist 
zunächst,  ähnlich  wie  in  Schuberts  großer  G  dur-Sinfonie, 
ein  geheimnisvolles         ^^  "^^    ,  welches     sich 

Motiv  der  Posaunen  '  ^  ^f  \  ^  \J  I  T^  mit  den  Umbil- 
dungen der  Hauptfigur  verbindet;  da  ist  ferner  die  feierliche, 
prächtige,  mit  Fermaten  gekrönte  Gruppe,  deren  Thema: 

p,^  später  die  Spitze 

r- JJ«li3|J?iund  den  Kern  des 


•^  Finale  der  Sinfonie 

bildet,  da  ist  vor  allem  die  schöne,  zarte,  echt  Schumann- 
sche  Gestalt,  die,  noch  post  festum  eintreffend,  den  Platz 
und  die  Bedeutung  eines  zweiten  Thema  in  dem  Satze 
erhält: 


In  der  dem  Komponisten  eigenen  Weise  ist  auch  diese 
Melodie  an  verschiedene  Instrumente  verteilt.  Der  Vor- 
trag dieses  ersten  Satzes  gehört,  obwohl  er  technisch 
verhältnismäßig  leicht  ist,  zu  den  schwierigsten  Aufgaben, 
die  an  Dirigenten  und  Orchester  gestellt  werden  können. 
Die  Schwierigkeit  liegt  in  dem  unaufhörlichen,  je  nach 
vier  oder  zwei  Takten  erfolgenden  Wechsel  von  Stimmung 
und  Motiven.  In  ihm  sind  der  Vult  und  der  Walt  Jean 
Pauls  noch  viel  entschiedener,  anspruchsvoller  und  tem- 
peramentvoller verkörpert,  als  im  Florestan  und  Eusebius 
der  Davidsbündler.  Diese  humoristische  Gegensätzlichkeit 
verlangt  eine  äußerst  elastische  Tempoführung.      ^ 


325 


Aus  der  freudigen  Sphäre,  in  welche  der  schwung« 
volle  feurige  Schluß  des  ersten  Satzes  versetzt,  ruft  uns 
der  Einsatz  des  folgenden  dämonisch  ab.  Ohne  Zweifel 
hat  dieser  akzentuierte  D  moll- Akkord,  den  die  Bläser  wie 
einen  Schmerzensruf  ausstoßen,  mit  dem  bekannten 
Quartsextakkord,  welcher  das  Allegretto  in  Beethovens 
siebenter  Sinfonie  einleitet,  eine  geistige  Verwandtschaft. 
Aber  bei  Schumann  wird  die  Wirkung  des  elementaren 
Mittels  dadurch  verschärft,  daß  die  Zwischenpause  der 
beiden  Sätze  wegfällt.  Es  ist  wie  ein  Regenschauer  bei 
blauem  Himmel!  Die  Romanze  mit  ihrem  edel  weh- 
mütigen Gesang 


Ziemlich  Unf^sam. 


LllU'  Ü\ 


gehört  zu  dem  Schönsten,  was 
die  Musik  an  Volkspoesie  be- 
sitzt Mit  der  größten  Natür- 
lichkeit schließt  ihr  Schumann  die  nachdenklichen  Ge- 
danken an,  welche  das  thematische  Material  der  Intro- 
duktion der  Sinfonie  bilden: 

iyj  iiCT  ^°^51lI>  LJjT^  fTTTcH 

Die  klagende  Melodie  hat  sie  geweckt.  Eine  außer- 
ordentlich üebenswürdige  Idee  des  Komponisten  aber 
ist  es,  aus  ihnen  den  freundlichen,  sonnigen  Ddur- 
Satz  zu  entwickeln,  welcher  die  Mitte  des  kleinen  Ton- 
bildes einnimmt.  T^m  der  Schönheit  der  Zeichnung 
und  der  Intention  kommt  hier  auch  noch  der  warme, 
milde  Klang,  den  die  Celli  der  Melodie  geben,  und  der 
Reiz,  den  der  zierliche  Schmuck  der  Solovioline  darüber 
gießt. 

Das  Scherzo  hat  einen  kräftigen  Humor,  am  Schluß 
des  Hauptthemas 


326 


spricht  der  Obermut  der  Jagendkraft,  der  Schumanns 
beste     Komposition    kenn-       ^  ...,..,..    -^ 

zeichnet  Aus  dem  Grund-  ji^ltiljjJIJJ  ^^ 
motiv     des     Hauptthemas:  * 

bildet  der  zweite  Satz  zärtliche  und  innige  Varianten. 
Das  weiche,  träumerisch  sinnige  Trio,  mit  seiner  sanft 
dahingleitenden  Melodie: 


Cl«r. 


kehrt  nach  der  Wiederholung  des  Hauptsatzes  zurQck, 
In  seine  einfache  Herzlichkeit  mischen  sich  schmerzliche 
Töne.  Es  nimmt  einen  langen  Abschied  und  klingt 
dann  noch  wie  aus  weiter  Feme,  wie  in  Traumes- 
schatten an.  Als  es  ganz  still  geworden,  intonieren  die 
ersten  Violinen  wieder  das  Sechzehntelmotiy  des  ersten 
AUegro  in  der  Form  eines  schüchternen  Vorschlags: 
^^^§*!f^-^--^^  I^iö  Posaunen  und  Hörner  sind  vor 
•  j£  h  V' TffTfrTl"  ^^'  Hand  noch  anderer  Meinung  und 
ij  ^g^^#^*""»^  wollen  bei  der  ernsten  Weise  bleiben. 
Die  Mehrheit  entscheidet  aber  zu  Gunsten  der  Violinen,  die 
Holzbläser  gehen  mit  ihrem  Antrag  sogar  noch  weiter  und 
stellen  Motive  auf,  die. dem 
freudigen  Gezwitscher  der 
Vögel  zu  gleichen  scheinen: 
So  wird  der  heitere  Charakter  des  letzten  Satzes  fest- 
gestellt. Diese  16  langsamen  Takte,  welche  den  Ober- 
gang vom  Scherzo  zum  Finale  bilden,  enthalten  einen 
Reichtum  von  Phantasie  und  von  musikalischen  Ideen, 
welcher  für  eine  eigene  neue  Kofaiposition  ausreichen 
würde.  Das  Hauptthema  Bow^rt. 

des  Finale  bt  uns  aus  fj    f{  fij        ^-^  ..t^^ 

der  Durchführung  des   ^  ^U^^  yV^¥-w-i]\inST   ^  ; 

ersten  Satzes  bekannt:  ^ 

Mit  der  Entschiedenheit,  die  der  Grundstimmung  des  Finale 
entspricht,  rückt  es  sofort  im  dritten  Takte  nach  C  dur.  Die 
Bässe  in  ihrem  schwerfälligen  Geiste  halten  noch  eine 
ganze  Weile  an  der  Sechzehntelfigur  fest   Das  Finale  hat 


327 


seine  schwülen  Momente:  Sie  finden  sich  in  dem  Motive 
•  .^^^-^^       welches  Oft  durch  das  Orchester  fährt, 
rfi'  -i^^5^   namentlich  aher  am  Eingang  der  Durch- 
jr  ■  y      «=•   führung,  wo  dem  über  das  Hauptthema 
gebildeten  Fugato  ganz  eigentümliche  Dissonanzen  —  in 
ihrem  besonderen,   schrillen  Klange  eine  eigenste  Er- 
findung Schumanns  —  vorhergehen.   Aber  immer  folgen 
diesen  flüchtigen  Trübungen  Partien  von  vollendeter  An- 
mut   Das  zweite  Thema  ist  ihr  Hauptträger: 

/iijri'iTiiiTüEii'jiniiijirn'Liüiii 

in  seiner  Mischung  von  Grazie,  Kaprize  und* jugendlich 
fröhlicher  Naivität  ein  echter  Schumann.  Es  geht  in 
eine  Periode  von  kühnetn  harmonischem  Aufbau  über, 
in  der  die  Kraft  aufbraust.  Der  Posaunenklang  kenn- 
zeichnet sie.  Nach  Beendigung  der  Reprise  lenkt  der  Satz 
noch  einmal  auf  ein  ruhigeres  Gebiet  über,  mit  einem  un- 
erwarteten neuen  Thema  freundlich  fragenden  Charakters: 

g  .  j  -■  .  i-.|      Um  so  stürmbcher  bricht  dann 

"Fi*  f  rjl  I  r  r^  r ''  I  der  jubelnde  Schluß  ein.  Erbat 
"^  die  Form  einer  Stretta,  frei  nach 

itaUenischen  Mustern!  Das  letzte  Presto  hat  noch  nie 
seine  Wirkung  verfehlt 

Mit  seiner  Dmoll-Sinfonie  zugleich  brachte  Schumann 
eine  zweite  kleine  Sinfonie,  eine  Art  Suite  in  drei  Sätzen, 
zur  ersten  Aufführung,  die  unter  dem  Titel  »Ouvertüre, 
Scherzo  und  Finale«  als  Op.  52  veröffentlicht  wurde. 
Auch  diese  Sinfoniette  zählt,  nach  der  Häufigkeit  der 
Aufführungen  zu  schließen,  unter  Schumanns  beliebteste 
Kompositionen  und  hat  den  Schülern  dieses  Meisters  be- 
sonders oft  als  Modell  gedient  Was  sie  so  anzieheüd 
und  wirkungsvoll  macht,  ist  der  stark  ausgeprägte  Ton 
ritterlich  phantastischer  Romantik.  Darin  und  in  der 
ganzen  Richtung  der  Phantasie  erscheint  sie  als  das 
Seitenstück  zu  den  vierhändigen  Märchenbildern.  Man 
könnte  ihr  eine  neuere  oder  älterere  »Aventiure«  unter- 
legen. Es  lebt  in  ihr  ein  weltfahrender,  abenteuerUcher 
und  munterer  Sinn 


B«  SelimiBamB, 

OnvertSre, 

Scherzo, 

Finale. 


-^    328 


AOe^o 


etc.  etc. 


Sie  erzählt  von  Lieben  and  Sehnen 


^ViHi.iT'r  ii  11  ir  I  I  h  I  I  r  I 


(1.  Sati.) 


Tri« -im 

und  auch  von  Fehden  und  wehrsamen  Streichen: 

Nicht  ohne  Be- 
deutung ist  es, 
daß  Schumann 
y/r^-^  f««^  am  Eingang  des" 
^  Werkes  so  deut- 

lich den  Geist  Cherubinis,  des  Komponisten  der  >Aben- 
ceragen«,  vorbeiziehen  läßt  Auch  Webers  romantische 
Harmonien  klingen  in  der  Ouvertüre  durch.  Musikalische 
Erfindungen  bietet  die  kleine  Sinfonie  von  eigenster  und 
reizendster  Art;  in  der  Ausführung  steht  sie  jedoch  hinter 
den  beiden  Sinfonien  in  B  und  D  beträchtlich  zurück. 
Die  Ungezwungenheit  des  Komponisten  artet  hier  viel- 
fach in  Lässigkeit  und  Breite  aus;  ja  der  letzte  Satz  trägt 
in  den  Mendelssohnschen  Zitaten  und  in  dem  eigensin- 
nigen Beharren  an  alltäglichen  Einfällen,  in  der  Mono- 
tonie des  Rhythmus  und  Metrums  die  unverkennbaren 
Spuren  einer  versagenden  Phantasie. 

Auf  einem  andern  Boden  als  diese  drei  Werke  steht 
B.  SehmaiMm,  Schumanns  Cdur-Sinfonie,  die  (als  Op.  61)  in  der  Yer- 
C  dar-Sinfonie.  ö£fentlichung  der  in  D  moU  vorausging  und  bekanntlich 
die  zweite  genannt  wird,  aber  nach  der  Entstehungszeit 
und  nach  der  ersten  Aufführung  Schumanns  dritte  Sin- 
fonie ist  In  dieser  Sinfonie  hat  ^  sostenuto  assaL 
Schumann  hohe  pathetische  In- 
tentionen verfolgt  Das  Motiv: 
welches  die  Trompeten  und  Hörner  an  den  Eingang  der 


.^     329    <^ 

feierlich  sinnenden  Introduktion  hinstellen,  durchzieht, 
mit  Ausnahme  des  Adagio,  alle  Sätze  des  Werkes  wie 
ein  geheimnisTolles  Geisterwort  nnd  bietet  uns  die  Richt- 
schnur für  den  außergewöhnlichen  Flug,  welchen  Schu- 
manns Phantasie  in  dieser  Tondichtung  zu  nehmen  ge- 
dachte. Es  handelte  sich  hier  für  den  Komponisten  um 
die  großen  Leidenschaften  und  die  höchsten  Ideen  einer 
Menschen seele,  um  Faustsche  Probleme:  um  den  Weiter- 
bau auf  jenem  gtausig  schönen  Terrain^,  auf  welchem 
die  neunte  Sinfonie  steht.  Es  geschah  auf  Grund  dieser 
zweiten  Sinfonie  namentlich,  daß  Schumann  von  einer 
Anzahl  treu  ergebener  Verehrer  als  der  »Erbe  Beethovens«  • 
proklamiert  wurde.  Wir  wissen,  was  Schumann  mit  diesem 
größten  Tondichter  des  Jahrhunderts  gemeinsam  hat,  und 
stellen  die  zweite  Sinfonie  um  ihrer  Intention  willen  sehr 
hoch  —  aber  wir  glauben  doch,  daß  es  eine  Irrlehre  ist, 
sie  als  die  Hauptsinfonie  ihres  Autors  zu  erklären.  Sie 
ist  sowohl  in  dem  Werte  der  musikalischen  Grundideen 
selbst  als  in  ihrer  Behandlung  ungleich;  sie  mischt  Perlen 
und  Sand  und  steht  an  Frische  und  Natürlichkeit  der 
Gkstaltungskraft  den  vorausgehenden  Sinfonien  sowohl 
in  einzelnen  Satzgruppen,  wie  auch  in  ganzen  Sätzen 
nach.  Mit  der  C  dur-Sinfonie  beginnt  ein  Abschnitt  der 
Entwickelung  Schumanns  als  Instrumentalkomponist,  in 
welcher  der  naiv-romantische,  volkstümliche  Zug  seiher 
Erfindung  die  vornehmere  künstlerische  Sphäre  häufig 
verläßt.  Namentlich  in  den  Finalsätzen  der  G  dur-Sinfonie 
nnd  in  dem  der  ihr  folgenden  Es  dur-Sinfonie  tritt  diese 
Erscheinung  zutage  und  leider  gerade  in  ihren  Haupt- 
themen. Zu  dem  Besten  der  G  dur-Sinfonie  zählt  im 
ersten  Satze  der  Abschnitt,  welcher  das  zweite  Thema 
entwickelt,  und  das  Thema  selbst,  welches  in  der  Intro- 
duktion schon  angekündigt  wird: 

Alldgroi  um  aon  troppo 


hi--i-  f|U  f-f^r-  j-tW--  ^®  ^^  eigentlich  nur  ein  Absen- 
T  CjrqiU  '      (ill^  kervomHauptlhema  desSatzes: 


330 


P  9r9»9, 


r^  j  u  I  _.  f  F"  fl  I  P      Dieses  Hauptthema,  in  seil 
"iT^t'-^pIcJ   '     P'^       kapriziösen   Charakter    a 


seinem 
aller» 

-dings  sehr  wohl  yerständlich,  leidet  schon  an  der  Mono* 
tonie  des  Rhythmus,  welche  die  schwächeren  Werke 
Schumanns  kennzeichnet.  In  der  Durchführung  ist  ein 
müder,  stockender  Schritt,  der  die  Höhe  nur  erstrebt. 
Doch  sind  darin  in  der  Gattung  des  leidenden  Aus- 
drucks große  Schönheiten.  Die  Glanzmimmern  der  Sin- 
fonie sind  der  zweite  und  dritte  Satz.  Jener  ist  ein 
Scherzo,  welches  in  dem  Hauptsatze  aus  dem  Motiv 
Attegr»  TiTftca.  entwickelt  ist  Es  dringt 

j^i  fff  IT  r  fibl  r"l  1"]  MifU-l-A-aqs  der  anfangs  be- 


wölkten  Sphäre  zu«- 
weilen  zu  einer  grandios  freien  Stimmung  vor,  nament- 
lich in  den  H dur-Schlüssen.  Die  Frühlingsklänge,  die 
sich  in  den  Holzbläsern  vereinzelt  hören  lassen,  erscheinen 
im  ersten  Trio  zu  einem  Gedichte  zusammengereiht 
Das  zweite  Trio,  welches  nach  der  Repetition  des  Haupt- 
satzes einsetzt,  gehört  zu  den  schwächeren  Partien  der 
Sinfonie.  Der  dritte  Satz  ist  ein  Adagio,  das  in  seiner 
Anlage  einer  Phantasie  über  folgendes  Thema  gleicht: 

j!>^-lij-lllp?^|)luMrflrTr>plji  i'l^J  t^l 

Dieser  tiefe,  seelenvolle  Gesang, 


P,  ^>  '  öl 
dessen  Heimat  das  Trio  in  S.  Bachs 

»Musikalischem  Opfer«  ist,  beherrscht  den  Satz;  ein  selb- 
ständiges Thema  tritt  ihm  nirgends  auf  die  Dauer  ent- 
gegen. Die  wunderbare  Melodie  scheint,  der  trauernden 
Peri  gleich,  den  Himmel  zu  suchen.  Und  sie  findet  die 
Pforte  offen.  Da,  an  den  Stellen,  wo  die  Violinen  in 
Trillern  von  der  höchsten  Höhe  wieder  herabschweben, 
kann  man  einen  Blick  hineintun.  Dieses  Adagio,  eins 
von  den  wenigen  neuen,  deren  Kürze  man  bedauert,  wirft 
noch  etwas  von  seinem  Glanz  in  den  letzten  Satz  der  Sin- 


381 

fonie  hinein.    Kurz  nach  dem  Abschlüsse  des  ersten  The- 
ma, dessen        AllegTO  molto  viTMe.  da,  WO 

Hauptkern   i  m  p  |  T    f  P  1^    T  P  M     1*    IT     ■  dieVio- 
folgender:   *^         if  linen 

ihre  Achtelfiguren  anfangen  —  ergreifen  im  Finale  die 

'Celli  den  Gesang  des  Adagio  und  bilden  aus  ihm  das 
zweite  Thema  des  Schlußsatzes.  Die  spätere  Stelle  —  sie 
ist  an  den  Generalpausen  leicht  zu  erkennen  — ,  wo  diese 
schöne  Melodie  gleichsam  unter  allgemeiner  Trauer  ins 
Grab  gelegt  wird,  ist  eine  der  ergreifendsten  im  ganzen 
Finale.  An  großgedachten  Kombinationen  ist  dieser 
Schlußsatz  reich.  Wir  rechnen  dabin  außer  der  Einfüh- 
rung des  zweiten  Themas  aus  dem  ersten  Satze  auch  die 
Aufnahme  eines  bekannten  Beethoven  sehen  Gedankens: 

^^ r-r-  ■  ^**    d®^   Eindruck    des 

jK  rP|g    I  p  J    I  jT  j  1^^  Finale  beeinträchtigt,  das 
'  hängt  mit  dem  Charakter 

des  Hauptthema  und  seiner  mehr  wiederholenden,   als 
umbildenden  Durchführung  zusammen. 

Die  dritte  Sinfonie  Schumanns  (Es  dur,  Op.  97)  rückt  B«  BehnuaBB. 
den  beiden  Vorgängen  in  B-  und  Dmoll  wieder  näher.  ^^'""S*'*'*"" 
Ihr  Grundcharakter  ist  heiter.  Wird  doch  angenommen, 
daß  sie  zu  dem  frischen  Leben  des  Rheinlandes  in  inneren 
Beziehungen  steht  Sie  ist  Schumanns  letzte  Sinfonie, 
entstand  in  Düsseldorf  und  kam  am  Anfang  der  fünf- 
ziger Jahre  zur  Veröffentlichung.  In  ihrem  Stile  unter- 
scheidet sie  sich  von  den  ersten  Sinfonien  in  Bdur  und 
Dmoll,  obgleich  sie  mit  ihnen  die  Richtung  der  Phantasie 
teilt  Eine  gewisse  Schwerfälligkeit  hat  Platz  gegriffen, 
die  sich  in  dem  ersten  Entwurf  der  Tongedanken  und  in 
ihrer  nur  Transpositionen  bietenden  Entwickelung  äußert 
Ja  sogar  bis  auf  die  Instrumentierung  erstreckt  sie  sich. 
Der  Klaüg  ist  oft  pomphaft,  aber  in  seiner  Feierlich- 
keit monoton;  vorzugsweise  marschiert  das  Orchester 
in    schwerer    Rüstung    und    breitem    Tritt     Wo    sind 

■  die  geistvollen,  lebendigen,  sprühenden,  die  so  origi- 
nell kecken  Violinfiguren  hingekommen?  Doch  hat  auch 
diese   Sinfonie    noch   sehr   schöne  Partien.     Dahin   zu 


332 


rechnen    ist    im    ersten    Satze    namentlich    das   zweite 
Thema: 


Lebhaft. 


vom  zweiten  Satze  der  Hauptteil,  der  in  einer  gewissen 
altvaterischen  Fröhlichkeit  gehalten  ist. 

Der  Mittelsatz  in  diesem  zweiten  Satze,  der  dem 
Trio  des  Scherzo  entspricht,  erhält  eine  eigentümliche 
Färbung  dadurch,  daß  die  einfache  elegische  Liedweise, 
welche  die  Holzbläser  spielen,  über  einen  großen,  tremo- 
lierenden  Orgelpunkt^  gespannt  wird.  Für  den  beschei- 
denen,  an  die  »^der-  Bahr  niMii 
Szenen«  erinnernden 
Grundstoff  des  Satzes: 
ist  die  Ausführung  sehr  reichlich  bemessen.  Nach  dem 
Andante  (Asdur,  O),  in  welchem  sich  sentimentale  Ele- 
mente mit  tändelnden  mischen,  kommt  noch  ein  zweiter 
langsamer  Satz  (Rsmoll,  C)  mit  feierlichem  Posaunen- 
klang, in  den  seltsam  aufgeregte  Figuren  hineinspielen. 
Man  denkt  an  ein  >Gretchen  im  Dom«.  Eine  kirchliche 
Szene  zu  scbildeHi,  soll  auch  in  diesem  Satze  Schumanns 
Absicht  gewesen  sein.  Er  schrieb  ihn  kurz  nachdem  er 
einer  Feierlichkeit  im  Dome  zu  Köln  beigewohnt  und  gab 
ihm  ursprünglich  eine  erklärende  Überschrift  Von  dieser 
Domszene  ist  noch  ein  Nachklang  im  Finale  zu  finden. 
In  der  Hauptsache  entrollt  es  aber  eine  Menge  launiger, 
anmutiger  und  frischer  Szenen,  in  deren  neckischer 
Leichtigkeit  wieder  der  alte  Schumann  lebt  Nur  das 
Hauptthema  und  die  zu  ihm  gehörenden  Gruppen  sind 
schwächer. 


IV, 

Die  Programmusik  und  die  nationale  Richtung 

in  der  Sinfonie. 


Ke  Mendelssohn  und  Schumann  beide  verhältnis- 
mäßig nur  wenig  Sinfonien  geschrieben  haben,  so 
war  zu  ihrer  Zeit  die  alte  Fruchtbarkeit  auf  diesem 
Gebiete  überhaupt  erloschen.  Äußere  Verhältnisse  und 
der  Gang  des  geistigen  Lebens  hatten  dazu  gleich  stark 
beigetragen.  Die  Zahl  der  neuen  Ronzertinstitute  hatte 
die  der  alten  Collegia  musica  nicht  im  entferntesten 
wieder  erreicht  Die  neuen  Sinfoniker  standen  unter 
d6n  unendlich  gesteigerten  Forderungen  Beethovens,  aber 
nicht  wie  ihre  Vorfahren  wurden  sie  vom  Ideengehalt 
der  Zeit  getragen,  kaum  unterstützt.  So  waren  die  Werke 
der  Romantiker  ein  letztes  Aufflackern  alten  Glanzes;  die 
mageren  Jahre  der  Sinfonie  begannen  und  die  bestge- 
meinten Preisausschreiben  konnten  das  nicht  ändern. 
Wenn  in  einem  Winter  vier  oder  fünf  neue  Sinfonien 
vorlagen,  die  halbwegs  brauchbar  waren,  so  bedeutete 
das  das  Höchste,  was  sich  erwarten  ließ.  Die  Namen 
dieser  Komponisten  findet  man  ziemlich  vollständig  in 
A.  Dörffels  Geschichte  der  Leipziger  Gewandhauskonzerte 
(1884),  denn  unter  dem  mit  voller  Bildung  ausgerüsteten 
Mendelssohn  machte  dieses  Institut  erfolgreich  von  der 
natürlichen  Überlegenheit  seiner  aus  dem  18.  Jahrhundert 
überkommenen  Organisation  Gebrauch  und  komman- 
dierte die  deutsche  Musik.   Die  verschiedenen  und  ehren- 


--D     334     <^-- 

werten  Müllers,  uro  die  es  sich  hierbei  handelt,  die  Mo- 

lique,  Gähring,  Möhring,  Täglichsbeck,  Markall, 

LÜhrss,  Rosenhain,    Leonhard,   HeUtedt,  Pape 

usw.,  die  die  Ehre  einer  Aufführung  in  der  Regel  nur 

einmal  erlebten,  arbeiteten  durchschnittlich  in  den  Spuren 

Mozarts  und  des  jungen  Beethoven.   Etwas  länger  hielten 

sich  die  Sinfoniker  aus  der  Schule  Spohrs.    Der  frucht- 

A.  Hetie. barste  Yon  ihnen:  A.Hesse,  der  Breslauer  Orgelmeister, 

ist  jedoch  heute  im  Konzertsaal  gleichfalls  verschwunden. 

8t.  Benaet.  St.  Ben n et,  dessen  G moU-Sinfonie  ebenfalls  zu  dieser 

Gruppe  gehört,  ist  in  England  noch  nicht  vergessen,  und 

N.  nnrgmlUer.  der  poetischste   dieser   Spohrschüler,    Norbert  Burg- 

^  m  Uli  er,  bei  uns  auch  noch  nicht,  wenigstens  nicht  mit 

seiner  Gmoll-Sinfonie. 

Beim  Beginn  dieses  deutschen  Niedergangs  greift  das 
Ausland,  das  seit  Haydn  gar  nicht  mehr  mitgezählt  worden, 
plötzlich  und  bedeutsam  in  die  weitere  Entwickelung  der 
Sinfonie  ein.  Der  Franzose  Hector  Berlioz  begründete 
eine  neue  Periode  —  vielleicht  nur  eine  Episode  —  der 
Programmusik,  der  Däne  Niels  Gade  eröffnete  eine 
Reihe  von  Versuchen,  Elemente  der  Volksmusik  zur 
Grundlage  oder  zum  Ornament  der  großen  Formen  der 
Sinfonie  zu  verwenden. 

Unter  »Programmusik«  versteht  man  bekanntlich  eine 
Musik,  welche  als  die  Darstellung  bestimmter  innerer  oder 
äußerer  Vorgänge  aufgefaßt  sein  will,  welche  Geschichten 
hl  Tönen  zu  erzählen  und  nachzumalen  versucht  und 
die  Phantasie  an  gegebene  Objekte  bindet.  Die  Tendenz 
dieser  Kunstrichtung  ist  so  alt  wie  die  Musik  und  hat 
ihre  natürliche  Stütze  in  der  Tatsache,  daß  Ton  Verbin- 
dungen wesentliche  Merkmale  geistiger  Ideen  und  körper- 
licher Erscheinungen  wiedergeben  können.  In  der  Vokal- 
musik bildet  die  Obereinstimmung  von  Ton-  und  Text- 
ideen ein  wichtiges  Kriterium  für  den  Kunstwert  der 
Kompositionen.  So  lange  es  eine  künstlerische  Instru- 
mentalmusik gibt,  sind  auch  in  dieser  zu  allen  Perioden 
Versuche  gemacht  worden,  bestimmte  Programme  durch 
die  Töne  zu  übersetzen.    Diese  Versuche  waren  in  der 


-^    338    *^ 

Regel  von  neuen,  aber  auch  von  yerwunderlichen  Resul- 
taten begleitet.  Nicht  immer,  z.  B.  nicht  in  der  Periode 
Dittersdorfs,  aber  häufig  haben  die  Programmusiker  eine 
poetische  Hinneigung  zu  Ausnahmezuständen,  zu  außer- 
gewöhnlichen Ereignissen  oder  zu  Gegenständen  gezeigt, 
welche  außerhalb  der  menschlichen  Anschauung  und  Er- 
fahrung liegen.  So  schildert  schon  Froberger  einmal 
Jacobs  Himmelsleiter,  ein  andermal  einen  Schiffbruch 
und  einen  Überfall  durch  Seeräuber,  Kuhnau  die  »Un- 
sinnigkeit« Sauls.  Für  die  neueste  Epoche  der  Programm- 
musik  ist  eine  ähnliche  Neigung  geradezu  zum  Merkmale 
gemacht  worden.  Ist  von  ihr  die  Rede,  so  erinnert  man 
sich,  mit  unrecht,  aber  doch  tatsächlich ,  in  erster  Linie 
der  gräßlichen  Stoffe,  welche  sie  zur  Behandlung  ge- 
wählt hat.  Man  denkt. an  die  Hinrichtungsszene,  an  den 
Höllensatz  in  Berlioz*  Sinfonie  fantastique,  an  die  Ban- 
ditenszene in  seinem  Harold,  an  Liszts  Mephistosatz  im 
»Faust«,  an  den  Inferno  in  der  Dantesinfonie,  an  den 
Mazeppa,  den  Prometheus  und  die  > Hunnenschlacht«  des 
letztgenannten  Komponisten.  Das  sind  Partien,  in  welchen 
die  neue 'Frogrammusik  zugleich  auch  von  dem  Stile, 
welcher  bis  dahin  in  den  Sinfonien  üblich  war,  sehr  be- 
merkbar abweicht.  Wo  die  Extreme  der  Leidenschaften, 
wo  Zustände  der  größten  Erregung,  Ereignisse  unerhörten 
Charakters,  wo  die  Superlative  der  Phantasie  berührt 
werden  sollen,  da  bauen  diese  Komponisten  wie  die  Cy- 
klopen  mit  unbehauenen  Blöcken.  Da  lassen  sie  die 
Elementarkraft  des  bloßen  Klanges  und  des  bloßen  Rhyth- 
mus wirken  und  gewähren  der  Macht  des  musikalischen 
Rohmaterials,  dem  physischen  Elemente  der  Musik  einen 
weiten  Spielraum.  Sie  stützen  ganze  Perioden  nur  auf 
das  Fundament  dissonanter  Harmonien,  auf  hin-  und 
hersausende  chromatische  Figuren,  auf  das  brutale  Trei- 
ben von  Motiven  und  Themen,  welche  die  Kunstmusik 
ab  trivial  verwirft  Man  vergißt  über  den  Produkten  ge- 
walttätiger Charakteristik  und  über  den  Befürchtungen, 
welche  ihr  naturalistischer  Stil  erregen  kann,  sehr  leicht, 
daß  die  Werke  der  Programmusiker  auch  selir  reich  sind 


-^    338    ♦^ 

an  eigenartigen  Schönheiten  freundlich  ruhiger  Natur  und 
daß  ihre  Hauptvertreter  durch  Aufstellung  neuer,  zweifel- 
los berechtigter  Prinzipien  und  durch  Ausbildung  neuer 
Ausdrucksmittel  die  allgemeine  Entwickelung  der  Ton- 
kunst gefördert  haben.  Die  Geschichte  der  Sinfonie  ist 
noch  jung,  denn  die  Kunst  zählt  nach  Jahrhunderten. 
Mag  die  Programmusik  noch  so  oft  Fiasko  machen;  ihr 
Prinzip  wird  nicht  sterben.  Nach  der  ganzen  Entwicke- 
lung der  Instumentalmusik  kann  in  der  Zukunft  ihr 
Boden  nur  breiter  und  fester  werden.  Schon  heute  liebt 
das  Publikum  einen  poetischen  Anhalt  fQr  die  sinfoni- 
schen Gebilde,  und  unter  den  Komponisten  hat  das  Pro- 
gramm mehr  Anhänger,  als  sich  öffehtlich  dazu  bekennen. 
Es  wäre  ein  Unglück,  wenn  wir  nur  Programmusik  hätten;, 
aber  es  wäre  kaum  weniger  zu  bedauern,  wenn  wir  gar 
keine  hätten! 

Die  heutige  Programmusik  ist  zum  großen  Teil  durch 
Hector  Berlioz  so  geworden,  wie  sie  ist.  Trotz  seiner 
Schwärmerei  für  Virgil  und  für  Gluck  war  Berlioz  ein 
Erzromantiker,  und  nicht  umsonst  nannten  ihn  seine 
Landsleute  schon  bald  den  Victor  Hugo  der  Musik*). 
Musikalisch  läßt  er  den  gebornen  Franzosen,  den  Lands- 
mann Rameaus,  nur  mäßig  merken;  aber  dichterisch 
war  er  ganz  von  jener  französischen  Neuromantik  be- 
sessen, der  Vischer  (in  den  »Kritischen  Gängen t)  grob 
aber  bezeichnend  eine  »Schinderphantasiec  vorwirft.  Der 
erste,  schwerste,  der  unheilbare  und  unverzeihliche  Man- 
gel von  Berlioz*  Programmusik  liegt  in  den  Programmen 
selbst,  nicht  in  der  Kolossaliiät  und  Maßlosigkeit  seiner 
poetischen  Intentionen,  wie  Ambros  sagt**),  sondern  in 
ihrer  vollständigen  Geschmacklosigkeit.  Der  Einfall:  die 
Geschichte,  die  der  Sinfonie  fantastique  zu  Grunde  liegt, 
mit  Hexen  und  Hölle,  die  des  Harold  mit  einer  Banditen- 
orgie zu  schließen,  bleibt,  auch  wenn  man  den  Maßstab 
nach  den  Verirrungen  der  Schule  Eugen  Sues  bildet,  so 

*)  F.  Hiller:  Künstlerleben,  1880,  3.  85. 
*♦)  W.  Ambros;  Bunte  Blätter,  1872,  S.  100. 


-^.    337    >— 

vereinzelt  und  ungeheuerlich,  daß  man  zu  einer  Erklä- 
rung weiterer  GrAnde  bedarf.  In  der  Tat  wirkten  auch 
auf  den  schwachen  Punkt  in  Berlioz'  Phantasie  neben 
den  literarischen  Einflüssen  noch  starke  musikalische. 
Durch  Simon  Mayr  waren  in  der  italienischen  Oper  die 
Blasinstrumente  zu  einer  neuen  Bedeutung  gelangt,  bei 
Pacini  und  Mercadante  entwickelte  sich  daraus  ein  förm- 
licher Kultus  des  Blechs.  Meyerbeer  führte  ihn  in  die 
französische  Oper  über  und  Berlioz  ward  der  Meyer- 
beer der  Sinfonie.  Er  bereicherte  sie  mit  der  Harfe 
und  dem  englischen  Hom,  aber  auch  mit  den  dritten 
und  vierten  Fagotten  und  Trompeten,  mit  den  Ophi- 
kleiden,  dem  türkischen  Schlagzeug  und  mit  dem  halben 
Orchester  der  Wachtparade.  In  den  Schlußsätzen  seiner 
Sinfonie  wird  dieser  neue  akustische  Spuk  prasselnd  los^ 
gelassen. 

Nichts  setzt  Berlioz  so  weit  unter  Beethoven  wie 
diese  Abhängigkeit  vom  gemeinen  Effekt.  Und  doch  hat 
er  sich  für  einen  Schüler  und  Nachfolger  Beethovens  ge- 
halten und  dTeses  Verhältnis  mit  dem  Vergleich  zwischen 
Golumbus  und  Ferdinand  Cortez  zu  bestimmen  versucht*). 
In  der  Tat  fand  er  für  seinen  Naturalismus  eine  kleine 
Stütze  in  der  Beethovenschen  Sinfonie  von  der  zweiten 
ab.  Aber  wer  gerecht  sein  will,  kommt  auch  nicht  um 
die  Notwendigkeit  hefum  einzusehen  und  zuzugeben,  daß 
Berlioz  auch  nach  einer  zweifellos  nützlichen  und  zu- 
kunftsreichen Richtung  hin  an  Beethoven  anknüpft  und 
ihn  fortgesetzt  hat:  Er  suchte  und  fand  geeignete  Mittel, 
den  breiten  Beethovenschen  Formen  der  Sinfonie  Ver- 
ständlichkeit zu  bewahren.  Diese  Mittel  waren  das  Pro- 
gramm und  die  Verbindung  der  einzelnen  Sätze  durch 
Wiederkehr  desselben  Themas.  So  schlecht  Berlioz*  Pro- 
gramme waren,  die  Berechtigung  und  Wirkung  des  Mittels 
an  sich  haben  sie  festgestellt,  sein  aus  dem  Schlummer 
der  Jahrhunderte  wiedererwecktes  Prinzip  des  Leitthemas 
ist  aber  von  der  ganzen  modernen  Musik,  instrumental 

♦)  F.  Hiller,  a.  a.  0.  127. 
Krettscliniar,  Ffthrer    I,  1.  22 


-^    838    4^ 

und  vokal,  von  Gegoem  and  Freunden  Berlioz*  ohne  Unter- 
schied immer  mehr  aufgenommen  worden. 
ll.B«rlUz,         Berlioz'  Debüt  bildet   die  Sinfonie  fantastique, 

fMto2^%  ^P-  ^^  ^^-  ^^^'  ■*®^'-  ^  ^®*°®°  Memoiren  {S.  95)  sagt 
^  ^^'  Berlioz,  daß  die  Bekanntschaft  mit  Goethes  »Fauste  einen 
großen  Einfluß  auf  diese  Komposition  gehabt  habe.  Das 
mag  sein  mit  Blocksberg  und  Walpurgisnacht,  vielleicht 
auch  mit  dem  Spaziergang  und  mit  den  »zwei  Seelen  in 
einer  Brust«;  die  Idee  zu  der  »Fantastique«  wäre  für  Goethe 
ein  Greuel  gewesen  und  ist  ganz  Berlioz'  eigene  Erfindung, 
als  solche  für  den  abenteuerlichen  Charakter  seiner  dich- 
terischen Neigungen  und  seiner  Ansichten  vom  Wesen 
und  Zweck  der  Kunst  überhaupt  sehr  bezeichnend: 

Ein  junger  Künstler,  liebestoU  and  lebenssatt,  nimmt  Opium. 
Die  Dosis  des  Giftes ,  zu  schwach  um  zu  töten ,  bewirkt  nur 
einen  tiefen  Rausch  und  eine  Reihe  von  Triumen,  in  denen 
die  Liebesgeschicbte  des  Künstlers  repetiert  und  zu  einem  phan- 
tastischen ungeheuerlichen  Al^hluß  weitergeführt  wird. 

Mit  andren  Auslegern  hat  auch  Schumann'^)  ange- 
nommen, daß  der  Komposition  und  ihrem  Programm  ein 
Stück  aus  dem  eigenen  Leben  von  Berlioz,  seine  Liebe 
zu  der  englischen  Schauspielerin  Miß  Smithson,  zugrunde 
liege.  Die  Musik  versucht  die  Traumbilder  in  fünf  Sätzen 
wiederzugeben. 

Der  erste  »Rßveries  —  Passions^—  (Träumereien  — 
Leidenschaften)  überschrieben ,  schildert  die  Zeit  der  «r- 
^  wachenden  Liebe  und  der  ersten  Begegnung  mit  der  Ge- 
liebten.   Das  Programm  sagt: 

»Zuerst  gedenkt  der  junge  Musiker  des  beängstigenden 
Seelenzustandes,  der  dunklen  Sehnsucht,  der  Schwermut  und 
des  freudigen  Aufwallens  ohne  besondren  Grund,  die  er  empfand, 
bevor  ihm  die  Geliebte  erschienen  war ;  sodann  erinnert  er  sich 
der  helBen  Liebe,  die  sie  plötzlich  in  ihm  entzündet,  seiner 
tut  wahnsinnigen  Herzensangst,  seiner  eifersüchtigen  Wut,  seiner 
wieder  erwachenden  Liebe,  seiner  religiösen  Tröstungen.« 

*)  R.  Schumanns  Gesammelte  Schriften  (Ausgabe  von  Jansen) 
I,  131. 


-^    339    ♦^ 

Die  in  diesen  Worten  gestellte  Aufgabe  sticht  Berlioz 
mit  einem  Satze  zu  lösen,  der  ganz  die  Form  hat,  die 
wir  seit  Ha,ydn  an  dieser  Stelle  gewohnt  Qind:  ein  im 
Sonatenschema  ausgeführtes  Allegro  mit  langsamer  Ein- 
leitung. 

Die  Einleitung  (Largo,  C*  Cmoil]  schildert  den  Seelen- 
zustand,  in  dem  sich  der  Künstler  vor  dem  Erscheinen 
der  GeÜebten  befand:  Schon  die  ersten  beiden  Takte 
suchen  das  Bild  einer  klopfenden  und  nagenden  und  im 
selben  Augenblick  vom  schweren  Dcuck  gehemmten  Emp- 
findung zu  zeichnen:  Die  »Schwermut«  und  »die  dunkle 
Sehnsucht«  des  Programms  drückt  eine  längere  Geigen- 
melodie aus,  die  folgendermaßen  einsetzt: 

Largo.  J  •  60 


y  >    I  Die  Fermaten  und  der  stockende  Gang 
c^      kennzeichnen   auch  ihren  weiteren  Ver- 


lauf. Im  achten  Takt,  am  Schluß  der  Peri- 
ode, zeigt  ein  Nonenakkord  über  der  Dominante  den  Höhe- 
punkt des  Wehgefühls.  Von  da  ab  versucht  die  spröde 
Melodik  größere  Schritte,  überläßt  aber  sehr  schnell  das 
Wort  dem  Rhythmus,  der  in  den  im  einen  Auf- 
tiefen Instrumenten  über  das  Motiv  ^  ^  ^  schwung  der 
Stimmung  einleitet.  Ähnlich  wie  au  der  berühmten 
Stelle  im  Trauermarsch  der  Eroica  lassen  die  Bässe 
ganz  allein  ein  mächtiges  Äs  hören,  das  dröhnend 
nach  0  übertritt.  Wir  stehen  vor  dem  zweiten  Abschnitt 
des  Largo,  dem  das  Programm  »das  freudige  Aufwecken 
ohne  besonderen  Grund«  zuweist  Er  malt  es  in  losen 
Figuren,  die  als  Sechzehntelsextolen  und  als  Triolen 
dahinflattern.  Zuerst  in  der  ersten  Violine  allein,  dann 
ergreifen  sie  auch  die  übrigen  Instrumente,  durchschwär- 
men rasch  von  Cdur  aus  einen  Kreis  naher  und  femer 
Tonarten,  bis  sie  im  sechsten  Takt  nach  Cdur  und  gleich 
darauf  nach  CmoU  zurückkehren.    Es  war  nur  das  Auf- 

22* 


^ 


-^    340    «— 

glQhen  des  Fiebers,  jetzt  meldet. sich  die  alte  Schwermut 
in  den  Klagen  der  Bläser  wieder.  Nach  vier  Takten 
haben  wir  wieder  die  oben  angegebene  Geigenmeiodie. 
Der  dritte  Abschnitt  des  Largo  beginnt,  verläaft  aber 
doch  nicht  ganz  gleichlautend  wie  der  erste.  Das  heitere 
Aufwallen  hat  etwas  gewirkt:  in  der  Seele  'des  verliebten 
Musikers  ist  es  heller  geworden.  Das  sagt  uns  die  Dur- 
tonart {Es),  in  die  das  Thema  jetzt  versetzt  ist,  das  sagen 
uns  die  Bläser,  die  die  Geigen  mit  den  muntren  Motiven 
des  zweiten  Abschnitts  umspielen.  Nachdem  diese  Re- 
petitionsgruppe  geschlossen  hat,  geht  in  der  Stimmung 
eine  noch  viel  entschiedenere  Wendung  zur  Hoffnung  und 
Freude  vor  sich.  Des  dur  setzt  plötzlich  ein,  das  Hom 
übernimmt  die  Föhrung  mit  Melodien,  die  trösten,  mit* 
trillernden  Figuren  und  neues  Leben  weckenden  Motiven. 
Die  Violinen  nehmen  die  Dämpfer  ab  und  stimmen  mit 
frohen  und  mutigen  Gängen  ein.  Es  ist  ein  Zögern  und 
Gähren  in  diesem  Schlußabschnitt  des  Largo,  das  den 
empfänglich  folgenden  Zuhörer  in  große  Spannung  ver- 
setzt. 

Das  AUegro  (Allegro '  agitato  e  appassionato,  Cdur), 
welches  im  erregtesten  Zucken  einsetzt,  löst  sie  bald.  Die 
Geliebte  erscheint,  das  folgende  Thema,  von  der  Flöte 
zuerst  eingeführt: 

aUei 


soll  ihre  Gestalt  bezeichnen.  Schumann  findet  in  ihm 
sogar  den  Charakter  der  »kühlen  Brittin«,  die  später 
Berlioz*  Gattin  wurde,  ausgedrückt.  Es  fängt  wohl  etwas 
glücklich  reserviert  an,  wird  aber  in  den  folgenden  Peri- 
oden der  Klage  ziemlich  warm  und  schließt  liebens- 
würdig zusprechend.  Der  hier  wiedergegebene  Anfang 
kehrt,  gewöhnlich  durch  zitternde  Rhythmen  begrüßt,  als 
Leitmotiv  in  allen  Sätzen  der  Sinfonie  wieder,  Beriioz 
nennt  es  ihre  »id^e  fixe«.  Das  ist  nicht  in  dem  Sinne 
gemeint,  in  dem  wir  Deutsche  von  der  »fixen  Idee«  ge- 
störter Geister  sprechen,  sondern  jene  acht  Takte  bilden 


--•    341     ♦— 

den  »festen  Pol  in  der  Erscheinungen  Flucht«,  das  Band, 
das  den  IiihaJt  der  Sätze  der  Sinfonie  verknüpft,  das 
äußere  Zeichen  ihrer  Zusammengehörigkeit.  Gleichviel, 
ob  man  in  Berlioz*  spezifischer  Musikbegabung  Talent 
oder  Talentlosigkeit  erblickt,  jedermann  sollte  einsehen, 
daß  die  Einführung  und  Durchführung  des  Prinzips  der 
»idöe  fixe«,  daß  der  Versuch,  durch  thematische  Einheit- 
lichkeit die  verschiedenen  Satz«  der  Sinfonie  enger  zu 
verbinden,  eine  künstlerische  Tat  von  hoher  Bedeutung 
ist.  Es  war  der  erste  und  einzige  wesentliche  Fortschritt, 
den  die  Geschichte  der  Sinfonie  nach  Beethoven  zu  ver- 
zeichnen hat,  der  Punkt,  von  dem  aus  sich  eine  Zukunft 
für  diese  Kunstgattung  eröffnete. 

Wie  Haydn,  legt  auch  Berlioz  den  zweiten  Themen ' 
nicht  viel  Wert  bei  und  zieht  ihnen  eine  freie,  aber  logisphe 
Fortsetzung  des  Hauptgedankens  vor.  So  wird  denn  hier 
in  der  Themengruppe  des  ersten  Satzes  das  Hanptthema 
mit  einem  Jubelausbruch  begrüßt,  der  von  zwei  laut  tre- 
mollerenden,  je  einen  Takt  langen  Akkorden  aus:  g-b-deB-e 
und  g-h'd-f,  in  Achtelfiguren  hinab  und  hinaufstürzt.  Er 
schließt  zunächst  mit  einem  innigen  Rückblick  auf  den 
Schluß  des  Hauptthemas,  auf  dessen  letzte  Periode: 


fi^   I  rirTiTTi  irTfr 

Dann  erneut  er  sich,aber  mit  Motiven  des  stillen  Entzückens: 

<r  gemischt ,   er- 


m 


f  ^f    I  y .  ^  f  f  yff  y  ..    weitert      und 


^^^'*    ^^    ^'^,^i   in    der   Rieh- 

tung  bestimm- 
ter. Sie  läuft  geradewegs  wieder  auf  das  Hauptthema 
zu,  das  in  G  dur  erreicht,  aber  nur  mit  den  ersten  Noten 
aufgenommen  wird: 


-*=  JT  1-«=   ^r=*-  —=  if-:^  "^ 


— ♦    342    ♦— 

Die  mit  dem  dritten  Takte  einsetzenden  neaen  Glieder 
fangieren  als  zweites  Thema  im  Satze  und  vertreten  in 
der  Durchführung  die  Stimme  des  Liebesglücks. 

Unser  AUegro  ist  in  der  seit  Haydn  üblichen  Form 
in  den  drei  Hauptteilen:  Themengruppe,  Durchführung, 
Reprise  aufgebaut.  Die  Themengruppe  schließt  bald  nadi 
dem  Auftreten  des  als  zweites  Thema  geltenden  Gedan- 
kens. Die  Durchführung  ist  die  Stelle  der  »Erinnerungen«, 
auf  die  das  Programm  zum  ersten  Satz  hinweist  Nur 
sind  sie  in  der  Musik  nicht  so  einfach  abzulesen  wie 
dort  im  Text.  Die  Reihenfolge  der  Empfindungen  ist 
anders,  aber  insofern  wohlgeordnet  und  übersichtlich,  als 
den  trüben  immer  helle  folgen.  Eine  wirkliche  Schwierig- 
*  keit  für  Folgen  und  Verstehen  liegt  darin,  daß  Berlioz  in 
der  Schilderung  der  Affekte  meist  ohne  Obergänge  schroif 
abspringt 

Die  Durchführung  beginnt  mit  einem  kleinen  Dialog 
(von  Gdur  aus).  Die  Bässe  zeigen  wie  aus  der  Ferne  im 
Halbdunkel  das  Bild  der  Geliebten  (Anfang  des  Haupt- 
themas), die  Bläser  in  neuen  eignen  Motiven  das  Herz 
des  liebenden  jungen  Künstlers.  Mit  dem  zweiten  Thema 
in  Cdur  schließt  diese  Gruppe.  Nun  kommt  als  zweite 
Gruppe  die  Darstellung  jener  »Herzensangst«,  auf  die  das 
Programm  vorbereitet.  In  den  Saiteninstrumenten  wühlt 
es  mit  chromatischen  Läufen,  die  Bläser  stoßen  lange 
KlagetOne  aus.  Die  Szene  endigt  mit  einem  aufregenden 
Sturm  nach  der  Hohe,  wie  ein  Befreiungsversuch  aus 
schwülem  luftlosem  Raum,  und  mit  einer  erlösenden 
Generalpause.  Der  dritte  Abschnitt  bringt  das  Bild  der 
Geliebten,  das  Hauptthema  in  voller  Ausdehnung,  aber 
in  Gdur  wieder.  Dim  folgt  eine  leise  beginnende  Stelle 
des  Besinnens  erst,  dann  des  Jubels,  an  die  sich  ab  fünfter 
Abschnitt  eine  kurze  Durchführung  des  zweiten  Themas, 
die  von  den  Cellis  aus  nach  oben  angetreten  wird,  schließt. 
Sie  endet  mit  der  Wiederaufnahme  vom  Ende  des  Haupt* 
themas,  das  schließlich  wie  grollend  in  den  Bässen  ver- 
schwindet. Und  nun  schließt  die  Durchführung  mit  einer 
Gruppe,  die  komplizierter  und  auch  für  die  Aufführung 


— ♦    343    «^ 

schwieriger  ist,  als  irgend  eine  der  bisherigen  Partien 
des  Allegro.  Die  Celli  nämlich  beginnen  eine  lange  Kette 
von  Imitationen  über  den  Anfang  des  Hauptthemas  erst 
mit  den  Bratschen,  später  mit  den  zweiten  Geigen.  Die 
Holzbläser  spielen  verlegne  oder  prüfende  Gegenmotive 
dazu,  die  ersten  Oeigen  wirken  nur  rhythmisch  erregt  mit. 
Das  ist  wohl  die  Schilderung  der  »eifersüchtigen  Wut« 
und  der  dunklen  Befürchtungen  im  Herzen  des  Liebhabers. 
Er  ringt  sich  durch  und  wir  gelangen  an  die  Reprise  des 
Hauptthemas  im  ff  (Cdur)  wie  in  der  Apotheose.  In  der 
Reprise  liat  Berlioz  Beethovensche  Einschübe  zur  Steige- 
rung des  Ausdrucks  des  Liebesglücks  mit  Erfolg  versucht. 
Es  ist  die  H  durstelle,  wo  die  Bässe  mit  h  a  fis  du  be- 
ginnen. Die  »religiösen  Tröstungenc  des  Programms 
kommen  in  den  letzten  Takten  des  Satzes  im  Anschluß 
an  den  leisen  Abschied  des  Hauptthemas. 

Der  zweite  Satz  (Valse,  s/g,  Adur)  hat  die  Ober- 
schrift >Un  bal«,  ein  Ballfest.  Das  Programm  sagt  zur 
Erläuterung:  »Auf  einem  Ball  inmitten  des  Geräusches 
eines  glänzenden  Festes  findet  er  die  Geliebte  wieder«. 
Berlioz  hat  namentlich  durch  den  Ball  in  Romeo  und 
Julie  die  musikalische  Welt  an  effektvolle  und  lebendige 
Festszenen  gewöhnt  wie  keiner  vor  ihm.  Die  hier  ge- 
gebene ist  bescheiden  nach  außen,  aber  durch  innerliche 
Wärme,  durch  Poesie  und  dramatisches  Leben  in  der 
Form  sehr  bedeutend.  Wie  schön  ist  beidemal  die  »id^e 
fixet  eingeführt,  das  Zusammentreffen  der  Liebenden  in 
der  festlichen  Menge  gezeichnet!  Nach  einer  kurzen  Ein- 
leitung, welche  '^düstre  Traumfiguren  enthält,  nimmt  die 
Musik  den  Charakter  eines  deutschen  Walzers  an: 


Die  Durchführung  dieses  Hauptsatzes  wird  von  er- 
regteren, tiefere  Saiten  des  Gefühls  anschlagenden,  sze- 
nischen Charakter  tragenden  Episoden  mehrin  als  unter- 


-^    344    «^ 

brochen.  In  das  rauschende  Ende  des  Satses  lächelt 
Rossini  herein. 

Der  dritte  Satz  (Adagio,  «/g,  Fdur)  hat  die  Ober- 
BChrift:  »Sc^ne  aax  champs«  (Auf  dem  Lande)  und  fol* 
gendes  Programm: 

»An  einem  Sommenbende,  auf  dem  Lande,  hört  der  Künstter 
twel  Scli&fer,  die  abwechselnd  den  Kabreigen  blasen.  Dieses 
Scbiferdueti,  der  Scbaiuplats,  das  leise  Flüstern  der  sanft  Toim 
Winde  bewegten  B&ume,  einige  Gründe  zor  Hoffnung,  die  ihm 
erst  kürzlich  bekannt  geworden,  alles  vereinigt  sich,  um  seinem 
Herzen  eine  unendliche  Ruhe  wieder  zu  geben,  seinen  Vor- 
BteUungen  ein  lachendes  Kolorit  zu  verleihen.  Da  erscheint  sie 
aufs  neue;  sein  Herz  stockt,  schmerzliche  Ahnungen  steigen  in 
ihm  auf:  jWenn  sie  ihn  hinterginge  I*  —  Der  eine  Schifer 
nimmt  die  Melodie  wieder  auf;  der  andere  antwortet  nidit  mehr 
. .  .  Sonnenuntergang  .  .  .  fernes  Rollen  des  Donners  .  . .  Ein- 
samkeit .  . .  Stille.« 

Die  Musik  beginnt  mit  einem  Dialog  zwischen  Eng> 
lisch  Hörn  und  Hoboe,  welche  sich  Motive  des  Kuhreigens 
zurufen.  Das  Gesamtorchester  stimmt  bald  in  die  länd- 
lichen Weisen  ein,  bald  vertauscht  es  sie  mit  dramatischen 
Phrasen,  welche  die  Sprache  einer  zwischen  Zweifel  und 
Hoffnung  schwankenden  Seele  reden.  An  den  Stellen, 
wo  die  »idäe  üxe«  erscheint,  wird  der  Ausdruck  wild  er- 
regt oder  rührend  schmerzlich.  Der  Satz  zeigt  eine  eigen- 
tümliche Mischung  von  Gemütsschilderung  und  Land- 
schaftsmalerei. Berlioz  verstand  in  einem  hohen  Grade 
die  Kunst,  die  dramatische  Darstellung  seelischer  Zustände 
mit  einer  anschaulichen,  poetischen  Wiedergabe  der 
äußeren  Szenerie  zu  verbinden.  Sein  Ghilde  Harold  and 
seine  Romeosinfonie  enthalten  Musterstücke  dieser  Art 
In  letzterem  Teile  erinnert  die  »Sc^ne  aux  champs«  viel- 
fach an  das  Andante  von  Beethovens  Pastoralsinfonie. 
Hier  wie  dort  das  Vogelgezwitscher,  das  Rauschen  des 
Windes,  das  Säuseln  der  Bäume,  der  Reichtum  an  natu- 
ralistischen Details  in  den  großen  Fluß  der  musika- 
lischen Darstellung  eingezogen,  zuweilen  direkte  An- 
klänge.   Das  Hauptthema  der  pastoralen  Partie  der  Szene 


345 


iat  eine   gesangvolle   Melodie,    welche   folgendermaßen 
anfingt: 


AAtiflo 


*8ffyir|)rTic7if  ifr'fr  ifpi 


«rtM. 


Sie  erscheint,  so  oft  sie  wiederkehrt,  darunter  zwei- 
mal in  Gdur,  in  immer  neuen  Reizen  des  Kolorits  und 
des  Rhythmus.  Von  großartigem  Eindruck  ist  namentlich 
die  Stelle,  wo  Bässe,  Celli  und  Bratschen,  alle  in  viel- 
stimmigen Griffen  mm  mm  begleiten.  Die  Gabe,  schOne 
mit  dem  Rhythmus  Uif^f  und  eigentamliche  Klinge 
zu  finden,  war  Berlioz  angeboren.  Kurze  Zeit,  bevor  er 
seine-  Sinfonie  fantastique  schrieb,  studierte  er  noch 
Medizin.  Die  >idöe  fixec  beherrscht  von  der  Mitte  des 
Satzes  an  die  Komposition.  Ihr  erstes  Auftreten  bereitet 
ein  in  größter  Aufregung  einsetzender  Gang  der  Celli 
und  Bässe  vor: 


i^^^^^^Ü 


^, 


poco 


ffaoo 


Die  Geigen  werden  von  seiner  verzweifelten  Energie 
erfaßt  und  helfen  das  Bild  des  in  Leidenschaft  schlagen- 
den Herzens  aufs  spannendste  ausführen.  Erst  nachdem 
das  rasende  Orchester  sich  in  langen,  auf  verminderte 
Harmonien  gestellten  Tremolos  ausgetobt  hat,  beginnt 
das  »Stocken«,  von  dem  das  Programm  spricht.  Die  Kla- 
rinette beschwich- 

sanften    Melodie :  ^ 

Ihr  folgen  die  zweiten  Geigen  mit  dem  Hauptthema, 
dessen  Vortrag  mit  einer  Wendung  des  Aufschwungs 
und  des  Ausdrucks  glQcklichster  Gefühle  schließt.    In 


^    346    ♦^ 

Gdur  begann  dieser  Abschnitt,  in  F  geht  er  ans.  Da 
setzt  die  »idöe  fixe«  nochmals  ein,  aber  diesmal  nicht 
verwirrend  und  verstörend;  Hand  in  Hand  mit  ihr, 
die  die  Bläser  einführen,  geht  in  den  Geigen  das  Haupt- 
thema  des  Satzes.  —  Den  »Sonnenuntergang«,  den  das 
Programm  verspricht,  aus  der  Musik  herauszuhören,  wird 
nur  wenigen  gelingen.  Dagegen  ist  das  »Rollen  des 
fernen  Donners«  durch  ein  kleines  Extrakonzert  auf  vier 
Pauken  sehr  deutlich  gemacht. 

In  seinen  Memoiren  (S.  95  und  110)  erzählt  Berlioz, 
daß  die  Sc^ne  aux  champs  bei  der  ersten  Aufführung 
keine  Wirkung  auf  das  Publikum  geübt,  daß  er  das  Stück, 
das  ihn  bei  der  ersten  Niederschrift  schon  drei  Wochen 
aufhielt,  im  Laufe  mehrerer  Jahre  wiederholt  umgearbeitet 
und  nach  den  Anweisungen  Ferd.  Hillers  in  seine  letzte 
Gestalt  gebracht  habe.  Es  war  also  ein  Sorgenkind  und 
läßt  auch  heute  noch  einen  Rest  von  Unfertigkeit  merken, 
der  die  Wirkung  seiner  schönen  Ideen  und  Absichten  etwas 
beeinträchtigt 

.  Dagegen  ist  der  folgende  vierte  Satz  der  Sinfonie 
(AUegretto  non  troppo,  ^,  Gmoll)  in  einer  Nacht  ge- 
schrieben, ein  Werk  aus  einem  Guß.  Er  hat  die  Ober- 
schrift: »Marche  au  supplice«  (Gang  zum  Hochgericht)  und 
wird  im  Programm  folgendermaßen  erläutert: 

»Dem  Jungen  Künstler  tr&nmt,  er  habe  seine  Geliebte  er- 
mordet, er  sei  zum  Tode  verdammt  nnd  werde  zum  Richtplatz 
geführt  Ein  bald  düaterer  und  wilder,  bald  brillanter  und 
feierlicher  Marsch  begleitet  den  Zug;  den  l&rmendsten  Aus- 
brüchen folgen  ohne  Übergang  dumpfe,  abgemessene  Schritte. 
Zuletzt  erscheint  neuerdings  die  ,id^e  flxe*  auf  einen  Augen- 
blick, gleichsam  ein  letzter  Idebeagedanke,  den  der  Todesstreicb 
unterbricht« 

Mit  diesem  Satze  nehmen  die  Opiumträume  des 
jungen  Künstlers  eine  abenteuerliche  Wendung,  eine  Wen- 
dung, welche  uns  den  eigentlichen  Traumgott  der  Sinfonie 
fantastique,  ihren  Komponisten  H.  Rerlio%  nämlich,  zum 
ersten  Male  als  Parteigänger  jener  Blut  und  Gräuel  lieben- 
den französischen  Neiiromantik  zeigt,  von  der  bereits  die 


^^    347    ♦^ 

Rede  war.  Die  Musik  zu  einem  solchen  dichterischen  Vor- 
wurf kann  nicht  anders  als  schauerlich  sein.  Dieser  Zweck 
schließt  Sparsamkeit  in  den  Mitteln  der  Instrumentation 
aus.  Kurz  vor  dem  Momente,  wo  das  Fallbeil  fällt  — 
heftiger  Schlag  des  ganzen  Orchesters,  zwei  Pizzikato- 
noten  des  Streicherchors,  ungeheurer  Wirbel  sämtlicher 
Pauken  und  Trommeln  —  taucht  der  Gedanke  an  die  Ge- 
liebte noch  einmal  auf.  Die  »id4e  fixec  erklingt  im 
Solo  einer  schrillen  C- Klarinette.  Der  Stelle  geht  ein 
schroffer  Harmoniewechsel  von  BmoU  (Bläser)  und  Gmoll 
(Geigen)  voraus,  welcher  bei  den  ersten  Aufführungen 
der  Sinfonie  in  Deutschland  die  Meinungen  beson- 
ders erhitzte.  Eine  tiefere  Auffassung  der  ganzen  Szene, 
das   tragische  AU^retto. 

Element    der-  *      a^   .  a. 

selben,  kommt  *>  |i>  m  1  [1  1  I J  |  T  \  f  *  I  P  ^ 
in  der  Melodie:  XT 

zur  Geltung,  welche  nach  einigen  einleitenden  Perioden,  in 
der  die  Kontrabässe  vierfach  geteilt  pizzicato-Akkorde 
geben,  die  Pauken  wirbeln,  die  Homer  einfach  ernste 
Marschmotive  anspielen,  zuerst  dumpf  und  schwer  durch 
die  Bässe  schreitet.  Der  rhythmische  Vortrag,  namentlich 
die  Betonung  der  einsetzenden  Halben  kann  nicht  ent- 
schieden genug  sein.  Die  Violinen  nehmen- das  Thema  (in 
Es)  auf,  eine  dritte  Klausel  fuhrt  mit  den  Bässen  als  Haupt- 
stimme wieder  nach  Gmoll  zurück  und  an  den  Schluß 
des  ersten  Teils.  Die  Fortsetzung  des  Marschbildes  ruht 
nun  auf  dem  Bdur-Thema: 

(^'i'n  r  ir  U£J  iLm-rr  irfci 

Wie  sie  rhythmisch  belebter  ist,  zieht  sie  die  Aufmerksam- 
keit von  dem  erschütternden  Charakter  des  Vorgangs  mehr 
auf  die  Äußerlichkeiten  des  Schauspiels,  auf  den  Pöbel, 
dem  jedes  Unglück  zum  Feste  wird.  Es  gibt  Stellen,  wo 
man  aus  der  Begleitung  der  Themen  das  Murmeln,  Lärmen 
und  Toben  der  Menge  hört.  Zuweilen  dringen  die  Töne 
des  tragischen  Hauptthemas  wieder  vor.    Schließlich  setzt 


_^    348    V- 

es,  von  den  Posaunen  durchgedrückt,  im  vollen  Tutti 
wieder  ein,  geht  ins  Wilde  und  zu  dem  schon  geschilderten 
Ende  über. 

Durch  die  Einlage  des  Marsches  überschreitet  die  Sin- 
fonie fantastique  zum  ersten  Male  seit  Haydn  die  her- 
gebrachte Vierzahl  der  Sätze.  Berlioz  mag  daran  gedacht 
haben,  daß,  versteckt  wenigstens,  ein  ähnhches  Verhältnis 
in  Beethovens  Pastorale  vorliegt,  oder  auch  den  Marsch 
als  eine  Art  Präludium  zum  Finale  gemeint  haben.  Dieses 
als  .fünfte  Nummer  gebrachte  Finale  hat  die  Oberschrift: 
>Songe  d*une  nuit  du  Sabbat«  (Traum  in  der  Walpurgis- 
nacht) und  folgendes  Programm: 

»Der  junge  Künstler,  glaobt  einem  HezeaUns  beizuwohnen 
inmitten  grausiger  Oespenster,  unter  Zauberern  und  vielge- 
staltigen Ungebeaem,  die  sieb  sn  seinem  Begrilbnis  eingefunden 
haben.  Seltsame  Töne,  Ächzen,  gellendes  Lachen,  /emes  Ge- 
schrei, anf  welches  anderes  Geschrei  zu  antworten  scheint  Die 
geliebte  Melodie  taucht  wieder  auf,  aber  sie  bat  ihren  edlen 
und  schüchternen  Charakter  nicht  mehr;  sie  ist  zu  einer  ge- 
meinen, trivialen  und  grotesken  Tanzweise  geworden:  sie  ists, 
die  zur  Hexenversammlong  kommt  Freudiges  Gebrüll  begrüBt 
ihre  Ankunft ....  Sie  mischt  sich  unter  die  höllische  Orgie; 
Sterbegellute  ....  burleske  Parodie  des  Dies  irae;  Hexenrund- 
tanz.    Das  Rondo  und  das  Dies  irae  zu  gleicher  Zeit« 

Die  Hauptmasse  der  Musik  des  Schlußsatzes  fällt  auf 
dies  »Ronde  du  Sabbat«,  die  Darstellung  des  Hexenfestes 
in  der  Walpurgisnacht  (Äliegro,  o/g,  Cdur).  Die  voraus- 
gehende Partie  verteilt  sich  auf  mehrere  durch  Tempo 
und  Charakter  unterschiedene  kürzere  Sätze. 

Ein  Larghetto  in  Cdur  beginnt  gleich  mit  vermin- 
derten Harmonien,  fremdartig  polternden  Baßfiguren, 
denen  die  dreifach  geteilten  Violinen  hohe  Tremolos  und 
bacchanaliscb  schlürfende  und  schleifende  Motive  ent- 
gegenstellen. Das  Larghetto  ist  der  Ort  der  im  Pro- 
gramm versprochenen  »seltsamen  Klänge«,  soweit  sie 
ruhiger  Natur  sind.  Am  bemerkbarsten  macht  sich  unter 
ihnen  eine  Nachahmung  des  Hahnenschreies.  Es  folgt  ihm 
ein  nur  acht  Takte  langes  Allegro  (<^/8,  Cdur),  in  dem  die 


--^    349    ^^ 

>id^e  fixe«,  von  der  Klarinette  ppp  gebracht,  die  erste  Ver- 
zerroog  erleidet.  So  kurz  die  Stelle  ist,  so  wirkt  sie  doch 
sehr  dämonisch  durch  die  Begleitung  der  beiden  Pauken 
und  der  großen  Trommel.  Schon  hier  zeigt  sich  das  Finale 
der  Fantastique  als  die  Fundgrube  von  Effekten,  die  mit 
Meyerbeer  und  anderen  französischen  Opernkomponisten 
auch  die  jüngsten  Programmusiker  aller  Länder  fleißig  aus- 
gemünzt haben.  Diesem  ersten  AUegro  folgt  ein  zweites, 
wildtobendes  in  Es  dur.  Es  leitet  zu  einem  längeren  Satz 
über  (Ällegro,  ^/s,  Es  dur),  den  das  Programm  eine  »ge- 
meine, triviale  und  groteske  Tanzweise«  nennt.  Die  Melodie 
der  »id^e  fixe«  erscheint  in  den  schrillen,  abscheulichen 
Tönen  einer  hohen  Es- Klarinette,  lächerlich  fratzenhaft 
und  von  Roheit  umgeben.  Die  Szene  bricht  plötzBch  ab 
und  macht  einem  ernsten  Rezitativ  der  Bässe  Platz.  Ihm 
folgen  —  noch  heute  eine  crux  für  die  Aufführung'  — 
Glocken  töne  CO,  00.  Es  ist  der  denkbar  schärfste  Kon- 
trast an  dieser  Stelle:  Aus  dem  Höllenqualm  gehts  un- 
vermittelt in  Kirchenluft  und  Weihrauchduft.  Das  Dies 
irae  setzt  auf  folgende  Melodie  ein: 

AUegro.  J.a  104 

Ophikleiden  und  Fagotte  blasen  sie,  die  Glocken  läuten 
dazu.  Sofort  wird  sie  von  Hörnern  und  Posaunen  in 
einfacher,  von  den  Geigen  in  doppelter  Verkürzung  paro- 
diert. Es  ist  ein  freches  Stückchen  Kunst.  Das  nun 
folgende  »Ronde  du  Sabbat«  ist  im  Hauptteil  eine  Fuge 
über  das  Thema: 


das  von  den  Cellis  aus  allmählich  über  das  ganze  Or- 
chester vordringt.    Es  wird  unterbrochen  von  Zwischen- 


^^    850    ♦^ 

Sätzen,  in  denen  f  und  p  diabolisch  wechseln,  von  neuen 
Motiven  der  Klage.  Nach  einem  gravitätisch-burlesken 
Zwiegespräch  von  Bässen  und  Fagotten  meldet  sich  das 
Dies  irae  wieder.  Ein  neuer  Anlauf  zur  Fuge  —  d&8 
Thema  vom  zweiten  Takt  an  chromatisch  rieselnd  — 
vertreibt  es,  bald  aber,  als  die  Fuge  am  tollsten  ge^ 
worden,  setzt  es  dominierend  ein.  Nun  folgt  ein  Abschnitt, 
der  als  Komposition  eine  Farbenorgie  ist.  '  Eine  Klang- 
teufelei folgt  der  anderen.  Auf  einen  Satz  col  legno  der 
Violinen  ein  verworren  elastisches  staccato  der  Holzbläser, 
dann  die  Ophikleiden  im  plumpen  Sturmlauf  und  bald 
fanatisch  erregt  das  Ende  des  Satzes,  den  man  nicht  un- 
recht eine  musikalische  Höllenbreugheliade  genannt  hat 
Noch  näher  liegt  der  Vergleich  mit  Würtz,  dem  Brüsseler 
Maler. 

Ästhetisch  abstoßend,  ist  er  technisch  eine  kompo- 
sitorische Virtuosenleistung,  durch  neue  Formprinzipien 
auch  historisch  wichtig. 

.  Berlioz  rühmt  (a.  a.  0.)  die  gute  Aufnahme,  die  in 
Paris  bei  der  ersten  Aufführung  der  Sinfonie  fantastique 
Bai,  Marche  und  Sabbat  fanden.  Börne*)  äußert  sich  be- 
geistert über  das  Ganze:  »Es  steckt  ein  ganzer  Beethoven 

.    in  diesem  Franzosen Alles  ist  mit  Händen  zu  greifen-«. 

Unter  den  Musikern  bildeten  sich  Parteien  für  und  wider. 
Stimmführer  der  Gegner  war  F6tis,  de]^  in  der  Revue 
musicale  dem  Komponist  alles  absprach  und  nur  einen 
Instrumentationsinstinkt  gelten  ließ.  Mendelssohn  ver- 
warf mit  befremdendem  Haß  bekanntlich  sogar  Berlioz' 
Instrumentierung**}.  Schumann  dagegen  tritt  in  seiner 
Neuen  Zeitschrift  für  Musik  mit  der  bereits  erwähnten 
Kritik  warm  für  die  wunderliche  Sinfonie  ein.  Zwei  sehr 
wichtige  Freunde  fanden  sich  in  F.  Liszt  und  N.  Pagahini. 
H  Berlioi»  »Nach  einer  sehr  gnten  Aufführung  der  Sinfonie  fantastique 

Uarold  ea  Italle.  am  22.  Dezember  1833  —  schreibt  BerUor  —  orwarUte  mich, 
nachdem  das  Publikum  fort  war,  allein  im  Saal  ein  Mann  mit 


*)  Allgemeine  musik.  Zeitung  vom  8.  Dezember  1830. 
**)  M.S  Briefe  an  Moscheies  (S.  86). 


-^    351     4^ 

langem  Hur,  durchbohrendem  Auge,  mit  einer  seltsamen  Figur, 
ein  sichtlich  vom  Genie  Besessener,  ein  Koloß  von  einem  Riesen, 
den  ich  nie  gesehen  hatte  und-  dessen  erster  Anblick  mich  voll- 
stiUidig  verwirrte.  Er  hielt  mich  beim  Vorübergehen  an,  um 
mir  die  Hand  zu  drücken,  überhäufte  mich  mit  heißen  Lobes- 
erhebungen, die  mir  im  Kopf  und  Herzen  brannten.  Es  war 
Paganinil 

Einige  Wochen  später  besuchte  er  mich.  ,Ich  habe  eine 
herrliche  Bratsche  —  s^gte  er  — ,  ein  wundervolles  Instrument 
von  Stradivarius,  und  möchte  es  gern  öffentlich  spielen.  Aber 
ich  habe  keine  Musik  dafür.  Wollen  Sie  mir  nicht  ein  Bratschen- 
solo schreiben?  Für  diese  Arbeit  habe  ich  Vertrauen  bloß  zu 
Ihnen.*  —  Gern,  antwortete  ich,  das  schmeichelt  mir  mehr  als 
ich  sagen  kann;  aber  um  Ihren  Erwartungen  .zu. entsprechen, 
um  in  einer  solchen  Komposition  eine  Gelegenheit  zum  Glinzen 
zu  geb^n,  die  eines  Virtuosen  wie  Sie  würdig  ist,  muß  man 
Bratsche  spielen  und  das  kann  ich  nicht  Sie  allein,  scheint 
mir,  könnten  die  Aufgabe  lösen.  ,Nein,  nein,  Ich  bestehe  darauf, 
—  sagte  Paganini  — ,  es  wird  Ihnen  gelingen  j  was  mich  betriift, 
'so  bin  ich  jetzt  zu  leidend  zum  Komponieren,  ich  kann  nicht 
daran  denken.* 

Ich  versuchte  nun,  um  dem  berühmten  Virtuosen  gefUllg 
zu  sein,  ein  Bratschensolo  zu  schreiben,  aber  ein  Solo,  das  der- 
artig mit  dem  Orchester  verbunden  wire,  daß  es  die  Instrumenten- 
masse In  ihrer  Äußerung  nicht  b'eeintrichtige,  dabei  war  ich 
gewiß,  daß  Paganini  durch  seine  wunderbare  Vortragskunst  dem 
BratscJiensolo  immer  die  herrschende  BoUe  behaupten  würde. 
Die  Absicht  erschien  mir  Ueu,  bald  bildete  sich  bei  mir  ein 
ziemUch  glücklicher  Plan,  und  leidenschaftlich  ging  ich  an  seine 
Ausführung.  Der  erste  Satz  war  kaum  fertig,  als  Paganini  ihn 
seilen  wollte.  Beim  Anblick  der  Pausen,  die  die  Bratsche  im 
AUegro  zu  z&hlen  hat,  rief  er:  ,Das  ist  nicht  das  Rechte:  ich 
schwelge  viel  zu  viel  darin,  ich  muß  immer  spielend  Ich  habe 
es  gleich  gesagt,  antwortete  ich.  Sie  wollen  ein  Bratschen- 
konzeit  haben,  und  Sie  sind  augenblicklich  der  einzige,  der  das 
schreiben  kann.  Paganini  erwiderte  nichts,  er  schien  enttäuscht 
und  verließ  mich  ohne  weiter  von  meinen  sinfonischen  Skizzen 
zu  sprechen  .  •  •  • 


^ 


--♦    352    ♦^ 

Nachdem  ich  mich  überzeugt  hatte,  daB  mein  Kompoeitions^ 
plan  ihm  nicht  passen  konnte,  entschloß  Ich  micb,  ihn  in  an- 
derer Richtung  und  ohne  mich  nm  die  Dankbarkeit  der  Bratscben- 
partle  zo  kümmern,  doch  auszuführen.  Ich  nahm  mir  Tor,  eine 
Reihe  Ton  Szenen  für  Orchester  zu  schreiben,  in  die  sich  die 
Solobratsche  wie  eine  mebr  oder  minder  teilnehmende  Figur, 
die  Jedocb  immer  ihre  eigene  Art  festbielt,  elnmiscben  sollte, 
leb  wollte  in  der  Solobratscbe,  indem  icb  sie  in  die  Ifitte  der 
poetischen  Erinnerungen  stellte,  die  meine  Wanderungen  in 
den  Abmzzen'  bei  mir  hinterlassen  hatten,  eine  Art  melan- 
cholischen Triumer  hinstellen,  UDgefihr  so  wie  es  Byrons  Ohilde 
Barold  ist.« 

Soweit  Berlioz  selbst  über  die  Entstehungsgeschichte 
and  den  Charakter  seiner  zweiten  Sinfonie,  die  am  23.  No- 
vember 1834  mit  vollem  Erfolg  zum  ersten  Male  aufgeführt 
und  dann  ab  op.  16  veröffentlicht  wurde.  Sie  dichtet 
einige  der  musikalischen  Behandlung  entgegenkommende 
(^ehenszenen  von  Byrons  »Childe  Harold«  in  freier  Art 
aach  und  ergänzt  und  beschließt  dieselben  mit  einem  neu 
erfundenen  Finale  im  Stile  der  französischen  Neuromantik. 
Eigen  ist  in  der  Anlage  dieser  Sinfonie  das  in  allen 
Sätzen  durchgehende  Bratschensolo,  in  welchem  das  kon- 
zertierende Element  der  alten  Vorhaydnschen  Sinfonie 
concertante  wieder  einmal  in  dichterischer  Bedeutsam- 
keit auflebt.  In  der  poetischen  Ökonomie  des  Werkes  . 
repräsentiert  es  die  Partie  Harolds,  des  Helden,  ähnlich  . 
wie  in  der  Sinfonie  fantastique  die  »id^e  fixe«  die  Geliebte 
oder  den  Gedanken  an  sie  vertritt.  Nur  tritt  diese  vor- 
Mriegend  episodisch  auf,  Harold  ist  dagegen  immer  dabei, 
führt  oder  läßt  sich  fähren.  Das  Leib-  und  Leitthema 
des  melancholischen  Ritters,  welches  diesen  bis  zu  seinem 
letzten  Atemzuge  begleitet,  ist  folgende  in  den  Anfangs 

noten  aus  Haydns  >le  matin«  bekannte  Melodie: 
Adagio. 


--♦    353    ♦— 

Der  erste  Satz  zeigt  uns  >HaroId  in  den  Bergen c. 
vUarold  aus  Montagties:  Seines  de  inölancolie,  de  bonheur 
et  de  joie.)  Er  besteht  aus  einer  langsamen  Einleitung 
(Adagio,  >/«,  GmoU-Gdur)  nnd  einem  bewegten  Satz  in 
Sonatenform  (Allegro,  Vb»  Gdur). 

Der  langsame  Satz,  der  nicht  weniger  als  94  Takte 
umfaßt,  geht  hierdurch  schon  äußerlich  über  den  Charakter 
einer  gewöhnlichen  Einleitung  hinaus.  Er  hat  die  Auf- 
gabe, uns  das  düstere,  blasierte,  aber  durch  edle  und 
liebenswürdige  Züge  Teilnahme  und  Mitleid  weckende 
Grundwesen  Harolds  zu  schildern  und  beginnt  mit  der 
Szene  der  Melancholie,  auf  die  die  Oberschrift  des  Satzes 
hinweist.  Sie  hat  die  musikalische  Form  einer  Fuge  er- 
halten, der  das  von  Bässen  und  Cellis  zuerst  aufgestellte 
Thema: 

Adagio.  J  s  78 


zu  Grunde  liegt,  ein  treffendes  melodisches  Abbild  düster 
hinbrütender,  schmerzlich^  auffahrender  Stimmung.  Die 
Bläser,  Fagotte,' Hoboe,  Klarinette  mit  Hörn,  Flöte  geben 
zunächst  nacheinander  einen  chromatisch  jammernden 
Kontrapunkt  dazu  und  vereinen  sich  dann  zum  Schluß 
der  ersten  Durchführung  (15.  Takt)  zum  Vortrag  der 
Haroldmelödie.  Aber  sie  steht  hier  in  Moll.  Die  Fuge 
hebt  jetzt  pp  vom  neuen  an,  aber  schon  mit  der  zweiten 
Stimme  hört  sie  wieder  auf  und  geht  schnell  zu  einem 
lauten  Schluß  in  GmoU.  Bei  diesem  Akkord  setzt  die 
Harfe  mit  Arpeggien  ein ,  im  zweiten  Takt  bereits  über- 
rascht sie  mit  Gdur.  Es  entsteht  eine  plötzliche  Helle,  in 
der  nun  die  Solobratsche  mit  Harold  und  seiner  Melodie  in 
der  oben  angegebenen  Originalform  hervortritt.  Sie  wird 
ganz  leise  wiederholt,  als  ob  alles  atemlos  lauschte.  Das 
veranlaßt  Harold  sich  zu  zeigen,  sich  freier  zu  geben,  er 
schließt  virtuosenmäßig  keck  und  übermütig  mit  Passagen 
einfach  und  in  Doppelgriffen,  Resten  einer  auf  Päganini 
gemünzten  Erfindung. 

Kretziclimar,  F&hrer.    I,  1.  23 


354 


Nach  dem  Schloß  dieser  brillanten  Solostelle  wird  das 
Haroldthema  vom  vollen  Orchester  aufgenommen  and 
zwar  in  der  Form  eines  Kanons,  als  wären  aDer  Seelen 
von  dem  schönen  Gesänge  voll.  Die  Trompeten,  die  Harfe, 
Cello,  Fagott  singen  vor,  die  Holzbläser  und  Solobratsche 
singen  in  eines  Viertels  Abstand  als  zartes  Echo  nach; 
in  den  Violinen  und  Tuttibratschen  erheben  sich  Zwei- 
unddreißigstelfiguren nach  oben,  als  wenn  der  Morgenwind 
den  Nebel  teilt.  Mit  dieser  Klärung  und  Aufheiterung  in 
sanften  Tönen  schließt  der  langsame  Einleitnngssatz,  eins 
der  schönsten  unter  den  vielen  schönen  Tonbildem  der 
Sinfonie.  —  Das  Allegro,  welches  ihm  folgte  ist  ein  breit 
ausgeflUirtes  Pastoralgemälde,  stilistisch  und  materiell  dem 
ersten  Satze  von  Beethovens  siebenter  Sinfonie  verwandt 
Seine  beiden  Themen  sind: 


AUeg'ro. 


nd  dasMendelssohnsche 


t  i  *  jj^U."^  \^r^m 


Den  Szenen,  welche  auf  Grund  dieser  teilweise  etwas 
spröden  Melodien  entrollt  werden,  mischt  Harold  mit  den 
Tönen  seiner  Bratsche  abwechselnd  Jubel  und  Trauer  ein. 
Der  Anfang  des  Allegro  bringt  das  Hauptthema  noch 
nicht  in  der  hier  mitgeteilten  Form,  sondern  zunächst 
noch  unfertig,  durch  Pausen  und  durch  die  Instrumen- 
tierung zersprengt.  Harold  erhebt  gegen  den  neuen  Ton 
Einspruch:  höchst  sonderbar  geigt  er  sechs  Takte  lang 
auf  dem  untersten  Ton  seiner  Bratsche,  dem  o,  dagegen 
an.  Dann  aber  ist  er  es,  der  die  vom  Orchester  ver- 
tretene Menge  in  Schwung  und  auf  den  richtigen  Weg 
bringt.  Wie  er  sie  erst  aus  dem  Zögern  fortreißt^  so  be- 
schwichtigt er  nun  bei  seinem  zweiten  Einsatz  ihren 
Sturm.   Mit  einem  langen  Ton  erbittet  er  sich  allgemeine 


— ^    355     ^ — 

Anfmerksainkeit  und  Stille;  dann  spielt  er  sich  allmäh- 
^ch  in  die  .fließende  Melodie  hinein.  Das  chromatische 
Motiv  in  ihr,  das  dem  Wesen  Harolds  so  natürlich  ent- 
springt, scheint  seinen  jetzigen  Genossen  Schwierigkeiten 
zn  machen.  Augenscheinlich  verstehen  sie  nicht  recht: 
woher  und  warum  der  trübe  Klang  mitten  in  der  Freude? 
Es  entspinnt  sich  nm  ihn  eine  kurzgegliederte  Ausein- 
andersetzung zwischen  Solo  und  Chor.  Sie  schneidet 
ganz  unvermutet,  wie  mit  einem  väterlichen  Machispruch 
der  Einsatz  des  zweiten  Themas  ab,  dessen  gemütlicher 
Inhalt  ganz  ausgezeichnet  für  den  Mund  des  —  vom  Cello 
begleiteten  —  Fagotts  paßt.  Auch  Harold  nimmt  es  mit 
seiner  Bratsche  auf  und  bringt  es  aus  fremder  Tonart 
{F,  B)  in  das  normale  Ddur.  Schon  im  ersten  Takt  aber 
reißt  er  sich  unwillig,  nach  Höherem  verlangend,  los.  Die 
Themengruppe  nimmt  ein  plötzliches  Ende  und  die  Durch- 
führung beginnt  mit  wilden  Figuren  Harolds,  denen  das 
Orchester  verwirrt  und  erschreckt  gegenübersteht.  Nach 
16  Takten  endlich  tritt  wieder  Sammlung  und  Ordnung 
ein.  Harold  intoniert  das  Hauptthema  erst  in  Desdur, 
dann  in  Dmoll.  Das  Orchester  spielt  es  nun  mit  an,  in 
Bdur,  in  Hmoll.  Endlich  ist  ein  sicherer  Boden  mit  Cdur 
erreicht  Die  Melodie  kommt  in  ihrer  vollen  Größe,  es 
wird  nach  G  dur  moduliert,  also  in  den  freundlichen  Stim- 
mungskreis des  Anfangs  zurückgekehrt  und  zwar  mit  wört- 
lichen Wiederholungen.  Auch  das  zweite  Thema  kommt 
wieder  und  wieder  unerwartet,  diesmal  in  Gdur,  und  man 
verweilt  etwas  länger,  beschaulicher  und  ruhiger  dabei 
als  vorhin  in  der  Themengruppe.  Die  Bläser  haben  es. 
Diesmal  machen  ihm  aber  die  Violinen  ein  Ende  mit 
einer  Sechzehntelfisur,  die  im  energischen  crescendo  nach 
oben  geht  und  j  j"!  mit  dem  das  Hauptthema  beginnt, 
auf  dem  Motiv  KJ^  ^  wie  in  einem  Rausch  von  Freude 
und  Kraftgefühl  bedrohlich  tobt.  Eine  General  pause.  Die 
Besonnenheit  kehrt  zurück:  Wir  hören  kurz,  aber  viel  be- 
deutend einen  Anklang  an  den  chromatischen  Teil  des 
Themas:  im  sechsten  Takt  setzt  es  selbst  ein,  in  der  Solo- 
bratsche und  den  vier  Fagotten  unisono  in  G  dur,  der  Haupt- 

23  ♦ 


^-»    356    ♦^     • 

tonaxt,  gebracht.  Die  übrigen  jßläser  nehmen  es  in  Z>  aof. 
Man  Will  verweilen,  aber  die  Perioden  und  Metren  hai>en 
etwas  Unregelmäßiges,  das  nicht  viel  verspricht,  und  siehe 
da:  bald  stehen  wir  vor  Fermaten  auf  verminderten  Akkor- 
den, unverkennbaren  Zeichen  der  Verlegenheit!  Dieser 
Punkt  würde  ungefähr  den  Schluß  der  Durchfiihrung  nach 
dem  von  den  Klassikern  beobachteten  Brauch  bilden 
müssen.  Berlioz  hat  in  dem  ersten  Satz  derHaroldsinfonie 
den  üblichen  Abschluß  durch  die  erweiterte,  aber  im  wesent- 
lichen wörtliche  Wiederholung  der  Themengruppe  ver- 
mieden, ppy  aber  mit  einer  gewaltsamen  Wendung  der 
Phantasie  geht  er  mit  einigen  Orchesterarpeggios  von 
jenem  Verlegenheitspunkt  und  dem  verminderten  &^Hfia-g 
nach  Gdur  herüber  und  bringt  die  Haroldsmelodie,  die 
wir  seit  der  Einleitung  nicht  gehört  haben,  in  einem 
Fugato  —  dem  zweiten  seiner  Art  in  diesem  Satze  — ^ 
das  die  Kontrabässe  beginnen.  In  den  Bläsern  tauchen 
dazu  noch  Brocken  des  zweiten  Themas  auf.  Der  beab- 
sichtigte Aufschwung  ist  damit  erreicht.  Von  Barolds 
Geist  —  das  will  wohl  Berlioz  sagen  und  schildern  —  ist 
ein  Hauch  in  die  Masse  gedrungen.  Dithyrambisch  stimmt 
sie  mit  ein  in  den  Hymnus  der  Lebensfreude,  zu  der  den 
hingerissenen  Melancholiker  die  Schönheit  der  Natur, 
der  Anblick  und  die  .Gesellschaft  einfacher  harmloser 
Menschen  gezwungen  hat.  So  geht  vom  Ritter  zum  Volke 
eine  beständige  Wechselwirkung,  beide  Teile  empfangen 
voneinander  und  heben  sich  gegenseitig.  Die  mächtigste 
Stelle  dieses  Schlußabschnittes  ist  wohl  das  zweimal  vor- 
überrauschende Unisono  des  vollen  Orchesters  mit  seinen 
grandios  humoristischen  Sprüngen  und  dem  Feuer  der 
Begeisterung,  das  aus  Melodien  und  Harmonien  leuchtet. 
Der  zweite  Satz  der  Sinfonie  (Allegretto,  V«!  Bdur) 
heißt  »Marche  des  P^lerins  chantant  la  priöre  du  soir« 
(Pilgermarsch  und  Abendgebet).  Sein  Hauptthema  bildet 
ein  frommes  einfaches  Marschlied: 

AUa^ratto. 


--t     357     «^ 

Alle  acht  Takte  wird  dasselbe  von  einer  Unisono- 

phrase  der^  , ,  .  .  ■  i  ■  ■  ■  ■  i-^  welche 

Bläser  nn-gfi  TTTJTTf^ JJJjjJ'JJJJJ  =anschan« 
terbrochen:         ^::^zi====aB:i^— —    jj^j^    g^. 

nng  die  ihre  Litanei  hersagende  Wallfahrerschar  vorführt. 
Das  Bild  einer  psalmodierenden  Gemeinde  suchte  Berlioz 
anch  in  seinem  Requiem,  das  der  Haroldsinfonie  zu- 
nächst folgte,  wiederholt  wiederzugeben.  Die  Mitte  des 
Satzes  nimmt  der  Vortrag  eines  feierlich  religiösen,  in 
den  ruhigen  Rhythmen  der  alten  Zeit  geführten  Hymnus 
ein,  dem  Berlioz  die  Oberschrift  »Canto  religiöse«  gibt. 
Harold,  der  vorhin,  als  die  Pilger  näher  kamen,  sie  mit 
seinem  Thema  begrüßt  und  dann  ab  und  zu  seine  Nähe 
mit  leisen  Arpeggien  bekundet  hat,  stimmt  in  das  Pilger- 
lied merkbar  ein,  die  Bässe  setzen  in  dezenten  Pizzi- 
catotönen den  Rhythmus  des  Marsches  fort.  Noch  einige- 
mal hören  wir  wie  vom  weiten  das  fromme  Wander- 
lied, dann  gehen  die  Töne  schlafen.  Nur  die  Glocken 
des  nahen  Klosters,  die  uns  am  Anfang  des  Satzes  (in 
der  Harfe:  OH)  empfingen,  treten  wieder  vor.  Es  kommt 
die  Nacht  und  stille  Sterne  blinken.  Die  kleine  Kompo- 
sition ist  ein  Meisterstück,  in  welchem  die  Realistik  der 
Darstellung  nur  dazu  dient,  die  Poesie  des  Bildes  noch 
beredter  zu  machen.  Sie  war  die  Frucht  einer  glück- 
lichen Eingebung  in  der  Dämmerstunde  am  Kaminfeuer. 
In  S  Stunden  —  erzählt  Berlioz  a.  a.  0.  -^  war  der  Marsch 
fertig  und  erntete  gleich  bei  der  ersten  Aufführung  einen 
vollen  Erfolg;  trotzdem  hat  der  Komponist  noch  6  Jahre 
lang  daran  gefeilt  und  verbessert.  Er  hat  durch  Einzel- 
aufführungen den  übrigen  Sätzen  und  der  Sinfonie  den 
Boden  und  eine  freundliche  Stimmung  auch  in  geg- 
nerischen Lagern  bereitet. 

Der  dritte  Satz:  (Allegretto  assai,  ^/g,  Cdur),  be- 
titelt: »Sörönade  d*un  montagnard  des  Abruzzes  ä  sa 
maitresse«  —  »Ständchen  in  den  Abruzzen«  — ,  beginnt 
mit  einem  kleinen  Scherzosatze,  welchem  wahrscheinlich 
eine  italienische  Originalmelodie  zu  Grunde  liegt  Die 
italienischen  PifTerarii,  die  ja  auch. Händel  in  seinem 


— •    358    *— 

»Messias«  verewi^^  hat,  waren  seit  alten  Zeiten  an  drol- 
ligen, schelmischen  Weisen  reich  und  bringen  sie  noch 
heute  auf  die  deutschen  Märkte: 

Anaf  ro  Miai. 


Piccolo  und  Hoboe  blasen  das  zusammen,  und  Bratschen 
mit  Klarinetten  geben  in  ausgehaltenen  Tönen  und  trägen 
Harmonien  das  nötige  Dudelsackkolorit  dazu.  Nun  tritt 
der  Liebhaber  auf  und  stimmt  auf  dem  englischen  Hom 
eine  schmachtende,  anmutig^,  gutgemeinte,  zuweilen 
stockende,  schflch-  ^    AiiegTetto.     ^ 

in  welche  die  Gefährten  helfend  und  hingerissen  einfallen. 
Auch  Harold  stimmt  mit  ein  und  sinnt  noch  den  rüh- 
renden Tönen  der  Liebe  nach,  als  die  Dorfmusikanten 
schon  längst  nach  Hause  gezogen  sind.  Seine  breite 
Melodie  trägt  in  das  Stückchen  italienischer  Dorfge- 
schichte, das  Berlioz  hier  mit  einem  virtuosen  Humor 
entrollt,  der  wohl  nur  in  seiner  Ouvertüre  zum  Camaval 
Romain  ein  Seitenstück  findet,  einen  edlen  und  feierlichen 
Zug  hinein. 

Die  Idee  des  Harold-Finale  müssen  wir  ebenso  wie 
die  vom  Schlußsatz  der  Fantastique  ablehnen.  Wie  man 
aus  Liszts  langem  Aufsatz  über  die  Sinfonie  ersehen 
kann*),  hat  dieses  Finale  in  Frankreich  und  in  früherer 
Zeit  doch  zuweilen  dämonisch  gewiikt.  Heute  —  und  in 
Deutschland  wohl  von  jeher  —  versetzt  es  auf  den 
Boden,  auf  den  sich  die  Räuber-  und  Rittergeschichteu 
von  Spies  und  Gramer  bewegen.  Berlioz*  Satz  schildert 
das  Ende  des  in  Gesellschaft  von  Banditen  zugrunde  ge- 
henden Harold  in  Zügen,  die  zum  Teil  rührend  sind.'  Er 
beginnt  wie  das  Finale  der  neunten  Sinfonie  mit  Remi- 
niszenzen an  die  früheren  Sätze.  Vor  Harolds  Geist  tritt 
die  fugierte  Einleitung  aus  dem  ersten  Satze,  der  Pilger- 

*)  Gesammelte  Schriften  von  Frajiz  LisKt,    lbb2,  S.  3  u.  ff. 


-^    359    0^ 

marsch  zieht  vorüber;  ala  letzte  ErinueruDg  an  reinere 
Zeiten  tönen  Fragmente  aus  dem  Ständchen:  Die  wilde, 
wäste  Orgie  mit  ihrem  brutalen,  versteckt  an  das  Harold- 
motiv  anklingenden  Hauptthema: 

AUegro  tranqnlllo. 


-^ 


Qilf  ^pfLl  N 


J^  yj  3  liJ  l]J  ^  t| j  I  r    *i  j\  i   t/'.  etc.   verschlingt  al- 
3i-    mf  -7  f  les.  Unter  ihren 


grausamen  Attacken  zerbricht  auch  Harolds  Thema  und 
verflattert  in  Brocken.  Zuweilen  werden  die  wütenden 
Triller,  die  l>acch  an  tischen  Läufe  und  die  grotesken, 
nirgends  verfahrerischen ,  frechen  Tanzweisen  der  Ban- 
ditenmusik,  die  sich  gern  auch  soldatisch  stolz  gibt: 

jhi.  r^rrrr.r^iff-^Y^*"-'^'i^rr  II 

durch  unheimliche  Klänge  unterbrochen,  welche  Gewissen, 
Reue  und  Strafgericht  zu  repräsentieren  scheinen.  Diö 
weichste  und  ergreifendste  Stelle  des  Satzes  ist  wohl 
die;  wo  nach  dem  dritten  Einsatz  des  eben  angeführten 
Themas  (in  Gdur)  der  Pilgermarsch  —  in  einem  Neben- 
saal von  Solisten  gespielt  —  erklingt.  Die  Wallfahrt 
zieht  draußen  vor  der  Grotte  vorbei.  Tannhäuser  in  ähn- 
licher Lage  flieht;  Harold  stirbt.  Zum  letztenmal  sucht 
er  stammelnd  nach  seinem  Thema;  er  findet  die  Inter- 
valle nicht  mehr. 

War  Berlioz  in  seiner  »Fantastique«  und  in  seinem 
»Harold«  darauf  ausgegangen,  unter  Einhaltung  der  Beet- 
hovenschen  Formen  den  Inhalt  der  reinen  Instrumental- 
sinfonie faßlicher  zu  gestalten,  so  hatte  er  dabei  das 
Glück  nur  zum  Teil  auf  seiner  Seite  gehabt.  Volle  Triumphe 
feierte  er  in  beiden  Werken  nur  mit  den  Mittelsätzen,  die 
sich  auf  dem  alten  Glanzgebiete  französischer  Kunst,  der 
Ballettmusik  höchsten  Sinnes,  bewegen.  In  den  langen 
Ecksätzen   dagegen   offenbaren   sich  die  Blößen   seiner 


--♦    360    ♦— 

musikalischen  Begabung  und  Bildung,  so  oft  es  auf  me- 
lodische und  motivische  Entwicklung  ankommt;  groß  sind 
hier,  von  einigen  feurigen  Obergängen  abgesehen,  nur 
die  Stellen,  wo  das  volle  Thema  wiederkehrt  Nun  ver- 
suchte er  im  Jahre  1839  mit  einem  dritten  Werke  eine 
Änderung  sowohl  jener  Formen  selbst,  als  auch  des  bis- 
herigen Sinfoni'ebegrifTs.  Es  ist  die  Sinfonie  »Romeo 
uüd  Julie«  (op.  17j,  mit  der  der  Komponist  eine  neue 
Gattung  zu  gründen  gedachte,  die  er  dramatische 
Sinfonie  nennt.  Sie  vergrößert  die  Zahl  der  Sinfonie- 
sätze und  mischt  in  ihnen  reine  Instrumentalmusik  mit 
einfacher  Gesangmusik  und  Oper.  Einen  Vorläufer  hatte 
H.  Berlloiy  Berlioz  diesem  Werk  in  seinem  »Lelio«  vor|iusgeschickt 
Leiio.  Diese  Komposition  war  ais  Ergänzung  zur  Sinfonie  fan- 
tastique,  mit  der  sie  die  Opuszahi  gemeinsam  hat,  ge- 
dacht, sollte  schildern  wie  der  junge  Künstler  aus  seinen 
schrecklichen  Träumen  erwacht  und  zum  Leben  zurück- 
kehrt. Daher  ihr  Nebentitel  »Le  retour  ä  la  vie«.  Berlioz 
gibt  ihr  die  Gattungsbezeichnung  >Monodrame«  und  fügt 
dem  Instrumentenspiel  und  dem  Gesang  als  drittes  Mittel 
der  Darstellung  noch  gesprochnen  Dialog  hinzu.  Doch 
ist  dieser  Lelio  nicht  zu  größerer  praktischer  Bedeutung 
gelangt. 
H.  Berilos,  .  Eine  Mischung  der  Kunstmittel,  wie  sie  Berlioz  in 
Romeo  und  Romeo  und  Julie  versucht,  ist  ungewöhnlich,  unbequem, 
^^^  aber  an  und  für  sich  weder  unsinnig  noch  unmöglich. 
Für  Berlioz  mag  die  nächste  Anregung  aus  dem  Finale 
von  Beethovens  neunter  Sinfonie  gekommen  sein;  das 
Verfahren,  in  der  Darstellung  einer  Idee  mit  Vokal-  und 
Instrumentalsätzen  abzuwechseln,  ist  aber  schon  älter. 
Aus  dem  17.  Jahrhundert  bieten  die  sogenannten  öster- 
reichischen Kaiserwerke*)  bequem  erreichbare  Beispiele, 
jeder  Musikfreund  weiß,  wie  Bach  und  Händel,  jener  im 
>Weihnacbtsoratorium«,  dieser  im  »Messias«,  die  Schilde- 
rung der  heiligen  Nacht  mit  den  »Hirten  auf  dem  Felde« 
in  Instrumentalsinfonien  geben.   Das  Wagnersche  Musik- 

♦)  Stelle  S.  28. 


— •    8Ö1    «U 

drama  und  das  neue  Lied  seit  Schamann  zeigen  eben- 
falls, wie  Gesang  nnd  Instrumente  sich  ebenbürtig  und 
zum  Besten  des  Gesamteindrucks  in  die  Darstellung  teilen 
können.  Werden  in  eine  Sinfonie  Gesangsätze  und  in 
ein  Chorwerk  Instrumentalsätze  eingefügt,  so  wird  es 
immer  darauf  ankommen,  daß  diese  Mischung  so  ver> 
schiedner  Elemente  Gründe  der  Notwendigkeit  für  sich 
hat,  den  Hauptabsichten  und  den  Grundideen  des  Kunst- 
werks zugute  kommt  und  seine  Wirkung  bis  zu  einer 
Stufe  hebt,  die  ohne  jenes  Mittel  nicht  erreichbar  war. 

Von  diesen  Gesichtspunkten  aus  kann  man  sich  nicht 
darüber  täuschen,  daß  auch  »Romeo  und  Julie c  ähnlich 
wie  die  Fantastique  und  Harold  nur  der  Versuch,  aber 
nicht  das  Muster  einer  neuen  Gattung  ist.  Die  »Sinfonie 
dramatique«,  die  Berlioz  mit  diesem  Werke  in  die  Or- 
chestermusik einführen  wollte,  mag  eine  Zukunft  haben 
—  aber  nur  dann,  wenn  ihre  Vertreter  kritischer  zu  Werke 
gehen,  als  das  Berlioz  getan  hat.  Ihm  bleibt  wieder  das 
Verdienst,  den  Pfad  gewiesen  zu  haben,  ihm  der  Ruhm, 
in  dem  neuen  Werke  viel  Schönes  und  Ergreifendes  und 
Merkwürdiges,  zum  Teil  in  ganz  neuer  Art  geboten  zu 
haben.  Aber  wer  sich  nicht  über  die  Schwächen  und 
Mißgriffe  in  dieser  dramatischen  Sinfonie  klar  ist,  bezahlt 
seine  unbedingte  Begeisterung  mit  einer  etwas  teuem 
Verwirrung  seines  künstlerischen  Urteilsvermögens. 

Äußere  Gründe  mögen  Berlioz  abgehalten  haben, 
Romeo  und  Julie,  wie  so  viele  Komponisten  vor  und  neben 
ihm,  einfach  als  Oper  in  Musik  zu  setzen.  An  der  Bühne 
gab  es,  wie  sich  soeben  gelegentlich  des  Benvenuto  Cellini 
gezeigt  hatte,  viel  mehr  Verdruß,  Ärger  und  Aufregung 
als  im  Konzertsaal,  wo  Berlioz  bereits  festen  Fuß  gefaßt 
hatte.  Er  selbst  sagt  in  seinen  Memoiren  über  die  Ent- 
stehung zu  dem  seltsamen  Plan  seiner  Sinfonie  drama- 
tique nichts,  erzählt  uns  nur  von  dem  Entzücken,  in  dem 
er  sich  während  der  Arbeit  befunden,  von  der  Schnellig- 
keit, mit  der  er  sie  —  innerhalb  von  7  Monaten  —  voll- 
endet habe,  und  läßt  an  mehr  als  einer  Stelle  durchbhcken, 
daß  er  mit  dieser  Komposition  dem  Geist  Shakespeares 


— ♦    362    «^ 

eine  durchaus  würdige  Huldigung  gebracht  zu  haben 
glaubte.  In  der  Meinung,  etwas  vom  Besten  gegeben  zu 
haben,  widmete  er  die  Sinfonie  Nicolo  Paganini,  der  ihn 
kurz  vorher,  nach  der  letzten  Aufführung  des  Harold, 
großmütig  —  die  böse  Welt  meinte  aus  Berechnung*)  — 
mit  dem  Zeitgemäßen  Geschenk  von  20000  fr.  überrascht 
hatte. 

Auf  dem  Titelblatt  der  Partitur  steht  »composöe 
d'apr^s  la  Tragödie  de  Shakespeare«;  diese  Wendung  läßt 
Freiheiten  und  Abweichungen  zu.  Im  ganzen  aber  haben 
wir  keinen  ausreichenden  Grund  daran  zu  zweifeln,  daß 
Berlioz  mit  seiner  Sinfonie  ein  Abbild  der  großen  eng- 
lischen Liebestragödie  geben  und,  ähnlich  wie  es  Schu- 
mann später  mit  dem  dritten  Teil  seiner  Musik  zu  Goethes 
Faust  wirklich  gelungen  ist,  die  Wirkung  dieses  Kunst- 
werks vertiefen  wollte.  Die  Aufgabe  dachte  er  sich  wohl 
so,  daß  die  gefühlsreichsten  Situationen  des  Dramas  dem 
Orchester  zugewiesen  würden,  der  Gesang  sollte  bei  der 
Darstellung  verwickelter,  an  Konflikten  reicher  Szenen 
zu  Hülfe  kommen  und  außerdem  die  Verbindung  und 
Vorbereitung  der  musikalischen  Hauptbilder  übernehmen. 
Im  großen  ganzen  hat  Berlioz  dieses  Programm  auch 
eingehalten;  nur  hat  er  es  um  rein  musikalischer  Effekte 
willen  mehrfach  getrübt  und  auch  der  Instrumentalmusik 
Leistungen  zugemutet,  deren  sie  nicht  fähig  ist.  Der 
erstere  Fehler  tritt  in  der  Stellung  des  Prologs  hervor 
und  in  der  ungeheuren  Bedeutung,  welche  in  der  Sinfonie 
der  im  Drama  ganz  unwesentlichen  Erzählung  von  der 
Fee  Mab  gegeben  ist;  der  andre  namentlich  am  Eingang 
der  Grabszene. 

Die  Sinfonie  besteht  aus  folgenden  8  Nummern: 
1.  Introduktion,  2.  Prolog,  3.  Ballszene,  4.  Gartenszene, 
5.  Fee  Mab,  6.  Juliens  Begräbnis,  7.  Grabszene,  8.  Finale, 

In  der  Natur  des  Prologs  liegt  es,  daß  er  ein  Werk 
eröffnet.   Wenn  Berlioz  den  von  Romeo  und  Julie  hinter 


*)  Ad.  Jallieo:  Berlioz,  1888,  S.  133.   F.  Ulller:  Künstler- 
leben,  1888,  S.  89. 


— ♦    363 

die  iDstrumentalintroduktioii  setzt,  so  könnte  er  sich  auf 
altvenetianiscbe  Präzedenzfälle  aus  dem  17.  Jahrhundert 
berufen,  bei  denen  bekanntlich  dem  gesungnen  Prolog 
noch  eine  gespielte  Ouvertüre  vorausging,  gleichsam  der 
Prolog  doppelt  gegeben  wurde.  Bei  Berlioz  hat  es  aber 
eine  andre  Bewandtnis:  Ihm  kam  der  Anfang  des  Werks 
mit  dem  berichtenden  Prolog  zu  ri^hig  und  zu  matt  vor. 
Er  wollte  den  Zuhörer  zunächst  erst  einmal  in  Bewegung 
bringen.  Seine  Instrumentalintroduktion  (Allegro 
fugato,  (^,  H  moll)  ist  gar  keine  Introduktion  im  üblichen 
Sinne  des  Wortes,  sondern  sie  versucht  den  Inhalt  der 
ersten  Szenen  Shakespeares  wiederzugeben,  sie  führt 
mitten  in  die  Handlung  hinein:  in  die  Straßenkämpfe  der 
Geschlechter  der  Montechi  und  Capulets.  Ein  Zusatz 
zur  Überschrift  der  Nummer:  Combats  —  Tumulte  — 
Intervention  du  Prince  (Streit  und  Auflauf,  der  Fürst  er- 
scheint) spricht  das  noch  ausdrücklich  aus. 

Die  Musik  sucht  jene  Kämpfe,  ihre  Aufregiing  und 
ihre  Zwischfälle  mit  einer  Fuge  zu  veranschaulichen, 
die  die  Bratschen  mit  dem  Thema: 

j{^»<|^j>jTl|,JJJ  IjJ^Jl^iJJjlJJI 

anfangen;  Celli,  erste, 
zweite  Violinen  folgen 
und  nehmen  sich  dabei 
mancherlei  Freiheiten  mbezug  auf  Tonart  und  Intervalle 
gegenüber  den  Gesetzen,  die  die  Schule  für  Beantwortung 
und  Aufnahme  von  Fugenthemen  stellt.  Das  Thema 
selbst  hat  in  dem  mit  scharfem  Triller  einsetzenden  Motiv 
seinen  wichtigsten  Bestandteil  und  gelangt  auf  seinen 
vollen  Umfang  durch  sogenannte  Sequenzen ,  d.  i.  w'brt- 
liehe  oder  freie  Wiederholungen  eines  Grundmotivs.  Hier- 
durch erhält  der  Satz  einen  auffallend  regehnäßigeii 
Charakter.  Berlioz  scheint  an  den  Anstand  und  das 
strenge  Ceremoniell  gedacht  zu  haben,  das  im  Mittelalter 
die  Turniere  der  Ritter   beherrschte.     Aufgyegter   und 


~-e     364     ♦^ 

eifriger  wird  die  Introduktion  erst  mit  dem  Fismoll  beim 
Zutritt  der  Blasinstrumente.  Das  ist  ungefähr  die  Stelle, 
wo  bei  Shakespeare  zu  den  Dienern  und  Angehörigen 
der  Capulets  und  Montechi  sich  die  Bürger  von  Verona 
mit  Knütteln  gesellen:  »He!  Spieß*  und  Stangen  her! 
Schlagt  auf  sie  los!«  Als  bald  darauf  die  Haupttonart 
HmoU  wiederkommt,  dröhnt  in  Hörnern  und  Kontra- 
bässen der  Grundton  in  halben  Noten :  Es  sind  dumpfe 
Schläge:  die  Glocken  läuten  Sturm,  in  fernen  Gassen  er- 
wacht das  Volk  und  sammelt  sich.  Auf  dem  Platz  sind 
die  Parteien  zum  erstenmale  hart  aneinander  geraten. 
Die  beiden  Gegner  treiben  einander  vom  /ü  bis  zum  7". 
Auf  diesem  Tone  sitzen  sie  fest  acht  Takte  lang;  be- 
drohlich steigen  von  unten  die  Bässe  nach  der  Höhe. 
Da  löst  eine  schnelle  Modulation  nach  Adnr  den  Wirr- 
warr, die  Fuge  setzt  vom  neuen  an :  das  Thema  diesmal 
in  den  ersten  Violinen  in  Ddur  aber  ^  uod  von  allen 
Instrumenten  des  Orchesters  im  stärksten  Ton  begleitet, 
die  Hörner  kurz  und  entschieden,  die  Posaunen  mit  einer 
wohlgemut  kampfesfrohen  Melodie.  Das  Thema  gelangt 
an  die  zweiten  Violinen;  noch  ehe  sie  es  an  die  Celli  ab- 
gegeben haben^  ist  mit  den  Trompeten  zugleich  der  voll- 
ständige Sturm  da;  keine  Ordnung  mehr,  kein  Sinn  fflr 
Fuge  und  Vernunft,  sondern  die  vollständige  Empörung! 
Wie  lange,  alles  vernichtende  Wogen  zischen  die  Akkorde 
des  Tutti  hin.  In  diesem  Augenblick  geschieht  etwas 
Überraschendes:  Es  wird  still,  die  Rhythmen  kommen  ins 
Schwanken,  das  Fugenthema  nimmt  Reissaus,  wir  hören 
nur  noch  wie  vom  weiten  Bruchstücke:  eine  spannende 
Fermate!  Ihr  folgt,  von  sämtlichen  Posaunen  und  der 
Ophikleide  im  Einklang  und  Oktave  vorgetragen,  eine 
seltsame  Melodie: 

n^roBein^ini  p«o  mena  et  wnc  !•  oaraeur«  du  roeltoUf. 


Sie  bezeichnet  das  Auftreten  des  Fürsten  von  Verona, 
seine  Anrede  an  die  streitenden  Haufen.    Voll  Hoheit 


--»    366    ♦^ 

und  Verwunderung  klingt  sie  in  diesem  Eingang  doch 
noch  gütig;  erst  im  weiteren  Verlauf  wird  sie  wetternd 
und  donnernd.  Shakespeares  Fürst  ist  gleich  von  An- 
fang an  ungehalten  und  aufgeregt:  »Aufrührerische  Va- 
sallen etc.« 

Die  Annahme  liegt  nahe,  daß  diesem  Rezitativ  da6 
Finale  von  Beethovens  neunter  Sinfonie  zum  Vorbild  ge- 
dient hat  Der  Prozeß  ist  beidemale  derselbe:  dem  Chaos, 
dem  Tumult  gegenüber  die  Bässe  als  Ordner!'  Verstehen 
und  richtig  deuten  läßt  sich  die  Stelle  ohne  Schwierig- 
keit, vorausgesetzt,  daß  der  Hörer  soviel  guten.  Willen  und 
Scharfsinn  mitbringt,  als  die  Programmusik  jederzeit  vor- 
aussetzen darf.  Hat  doch  Berlioz  durch  die  Oberschrift 
des  Satzes  der  Phantasie  vorgearbeitet!  Berlioz  hat  dann 
wieder  vorbildlich  auf  Liszt  und  den  ersten  Satz  seiner 
Dante-Sinfonie  gewirkt. 

Die  Rede  des  Fürsten  wiederholt  von  höhrer  Stufe 
aus  die  drei  Glieder,  in  denen  sie  zuerst  vorgebracht 
wurde,  wird  herrischer  und  strenger.  Am  Schlüsse,  da 
wo  die  Bassinstrumente  vom  vollen  Orchester  abgelöst 
werden,  wo  die  Hörner  wie  entsetzt  nachschlagen,  die 
Harmonie  immer  wieder  dasselbe  Fis  anschlägt  und  ver- 
klingen läßt,  da  wo  mit  einem  -  Worte  das  Leben  der 
Musik  erstarren  will,  da  muß  wohl  das  Wort  »Todes- 
strafe« gefallen  sein.  Ein  schnelles  Ende  folgt  dieser 
Stelle,  leise  und  kleinlaut  steht  das  Fugenthema  noch 
einmal  auf,  dann  klingt  es  nur  noch  in  Bruchstücken  an, 
zuletzt  bleibt  das  Trillermotiv  ganz  unsinnig  in  den  Cellis 
hängen;  bald  ist  alles  verschwunden.  In  diesem  Schluß 
der  Instrumentalintroduktion  von  Romeo  und  Julie  lebt 
eine  starke  Poesie.  Auch  im  ganzen  ist  der  Satz  einer 
der  besten  in  der  Sinfonie,  geeignet  und  wohl  wert  für 
sich  ^Uein  gekannt  und  aufgeführt  zu  werden,  an  male- 
rischer Kraft  und  Eigenart  ein  echter  Berlioz  ersten 
Ranges,  durch  den  Inhalt  noch  mit  der  gleichaltrigen 
Ouvertüre  »Carnaval  Romain«  nahe  verwandt. 

Der  aus  angegebenen  Gründen  auf  die  zweite  Nummer 
verschobene  Prolog  der  Sinfonie  ist  iür Solostimmen,  für 


^ 


366    •— 

dreistimmigeD  Chor  (Kontraalt,  Tenor  und  Bass)  und  Or- 
chester komponiert.  Wie  bei  allen  Gesangsnummem  von 
Romeo  und  Julie  hat  auch  hier  Berlioz  selbst  den  Text 
entworfen,  Emil  Deschamps  brachte  ihn  in  Reime,  ein 
gewisser  Freifoerg  hat  ihn  in  oft  holpriges  Deutsch 
übersetzt.  Der  Zweck  des  Prologs  ist  der:  den  Inhalt 
des  Dramas  kurz  zu  erzählen.  Der  Chor  ist  der  Träger 
dieser  Erzählung;  wichtige  Punkte  hebt  Berlioz  durch 
Sologesang  und  durch  kleine  Instrumentalsätze  hervor. 

Der  erste  Abschnitt  beginnt  mit  einem  Harfenakkord 
ifis-ais-cü).  Dann  fängt  der  Chor  an,  eine  Erklärung  zu 
geben  zu  der  Szene,  die  wir  soeben  in  der  Orchesterin- 
troduktion  erlebt  haben.  Der  Chor  singt  oder  deklamiert 
vorwiegend  im  unisono;  es.  ist  nur  wenig  Harmonie  in 
seinen  Satz  gemischt,  aber  dann  sehr  wirksam.  Der 
ganze  Abschnitt  macht  dadurch,  daß  er  an  den  litur- 
gischen Ton  erinnert,  einen  sehr  ehrwürdigen  und  alter- 
tümlichen Eindruck,  ganz  besonders  in  der  Schlußmodu- 
lation, die  uns  bei  den  Worten  »encore  recours«  (»fortan 
erkämpft«)  außerordentlich  fein  und  Phantasie  bezwingend 
nach  Dmoll  führt.  Ein  feierlich  an-  und  abschwellender 
Akkord  der  Messingbläser,  von  der  Pauke  unterstützt, 
schließt  ab. 

Der  zweite  Abschnitt  erzählt  vom  Waffenstillstand 
der  Parteien  und  vom  Fest  bei  Capulet  Hier  ist  das 
Erscheinen  Romeos  ausgezeichnet  durch  einen  unbe- 
gleiteten  Sologesang  des  Alts,  der  mit  einfachen  Mitteln 
der  Tempo  Verzögerung,  chromatischer  Melodieführung, 
des  Wechsels  der  Tonstärke  sehr  ausdrucksvoll  und  be- 
wegend wirkt.  Das  Fest  bei  Capulet  schildert  das  am 
Chorschluß  einsetzende  Orchester,  indem  es  aus  der  dritten 
Nummer  der  Sinfonie  das  Hauptthema  der  Ballmusik 
und  deren  am  Schluß  der  Nummer  eintretende  Umwand- 
lung (die  Musik  der  heimkehrenden  Gäste)  vorführt.  Ge- 
wiß üben  derartige  Anspielungen  erst  auf  solche  Zuhörer, 
welche  das  ganze  Werk  bereits  kennen,  ihre  volle  Wir- 
kung aus;  aber  unberührt  lassen  sie  auch  den  Unvorbe- 
reiteten nicht,  dank  dem  dieser  Musik  innewohnenden 


-^    367    «^ 

/ 

plastischen  Charakter.  Sie  erztthrt  unverkennbar  von 
glücklichen  Herzen. 

Der  dritte  Abschnitt  führt  zur  Gartenszene.  Spannend 
ist  die  Stelle  gehalten,  wo  berichtet  wird,  wie  Romeo  die 
Mauer  übersteigt  Eine  Generalpause  mit  Fermate  gibt 
dem  Erstaunen  Raum.  Und  nun  markiert  ein  pianissimo, 
ein  heimliches  Rauschen  der  Ghorakkorde  die  neue,  die 
größere  Überraschung:  Julia  auf  dem  Balkon.  Aufregend 
kurz,  aber  meisterhaft  führt  Berlioz  zu  dem  Schluß,  zn  den 
warmen  von  Chor  und  Orchester  gemeinsam  gesungenen 
Melodien  aus  der  Liebesmusik  der  vierten  Nummer. 

Angefügt  ist  in  diesem  dritten  Abschnitt  eine  lyrische 
Einlage,  ein  Strophenlied,  das  das  Glück  der  ersten  Liebe 
preist:  »Premiers  transports  etc.«  (>0  erste  Schwüre  etc.«). 
Der  Soloalt  singt  es  und  das  Cello  singt  mit  ihm,  so  wird 
es  zum  Dialog,  ein  einfaches  aber  gefühlreiches,  prächtiges* 
Stück  musikalischer  Poesie.  Die  Harfenbegleitung  gibt 
ihm  einen  gewissen  Troubadourcharakter,  nur  an  wenigen 
Stellen  tritt  der  Klang  von  Flöten,  Klarinetten  und  eng- 
lischem Hörn  weich  umhüllend  noch  hinzu. 

Es  folgen  nun  als  vierter  Abschnitt  die  Erzählung  von 
der  Fee  Mab  und  als  fünfter,  schließend,  der  Bericht  von 
Jnliens  Begräbnis  und  von  der  Versöhnung  der  feindlichen 
Geschlechter  an  der  Gruft. 

Die  Geschichte  von  der  Fee  Mab  ist  nicht  in  dem 
kurzen  Stil  behandelt,  der  sonst  im  Prolog  herrscht,  son- 
dern im  Detail  breit,  dramatisch  alle  Einzelheiten  be- 
lebend, vorgeführt.  Dieselbe  Aufgabe  in  einem*  Werke 
auf  zwei  verschiedene  Arten  lösen  zu  wollen,  war  eine 
Kraftprobe.  Berlioz  hat  sie  glänzend  bestanden.  Denn 
die  Schilderung  der  Fee  Mab  durch  den  Solotenor  und 
Chor  ist  ein  ähnliches  Unikum  und  ein  Meisterstück  wie 
das  berühmte  Orchesterscherzo,  das  Berlioz  dem  Gegen- 
stand als  fünfte  Nummer  der  Sinfonie  gewidmet  hat. 
Die  Fee  Mab  oder  Königin  Mab  zieht  im  Prolog  in  der 
Form  eines  »Scherzetto«  vorüber,'  wie  Berlioz  das  Ton- 
bild nennt;  es  ist  das  originellste  und  größte  im  ganzen 
Prolog  —  116  Takte  umfaßt  es.    Unter  all  den  Geister- 


— •    368    »^ 

Szenen  lustiger,  freundlicher  oder  schreckhafter  Natur,  die 
der  Musik  in  der  großen  romantischen  Epoche  von  Gr6try, 
d*Alayrac,  C.  M.  v.  Weber  bis  auf  Mendelssohn  und  Meyer- 
beer  zugewachsen  sind,  ist  mit  dieser  Berliozschen  Kom- 
position von  der  Fee  Mab  nichts  zu  vergleichen.  Das  ist 
ein  Spuk  ganz  für  sich,  flüchtiger,  leichter,  abwechslungs- 
reicher als  jeder  andere  und  auch  da,  wo  das  Treiben 
verworrener  wird,  immer  von  größter  Anmut.  Das  Haupt- 
element dieser  Musik  bilden  Rhythmus  und  Tempo.  Das 
Zeitmaß  verlangt  von  Instrumenten  und  Singstimmen 
das  äußerste,  was  sie  an  Schnelligkeit  leisten  können, 
die  Bratschen  und  die  unteren  Celhs  haben  mit  ihren 
BegleituDgsfiguren  ein  ungestümes,  aber  dodi  immer  feines 
Perpetuum  mobile  zu  leisten.  Dann  kommen  die  merk- 
würdigen schillernden  Harmonien  hinzu,  dem  Satz  einen 
fremdartigen  Charakter  zu  geben:  Jeder  einfache  Drei- 
klang wird  durch  einen  humoristisch  berechneten  Mißton 
gestreift.  Die  Einsätze  der  dürftigen  Blasinstrumente 
wirken  in  gleichen  Graden  gespenstisch  und  komisch. 
Instrumentation  und  Nuancierung  —  fast  immer  p — werfen 
über  das  Ganze  phantastische  Schleier.  Es  ist  in  der 
Geschäftigkeit,  mit  der  eine  Gestalt  nach  der  andern  vor- 
beisaust, etwas  Atemversetzendes.  Nirgends  kommt  etwas 
Faßbares;  höchstens  die  kleine  Episode  von  dem  Kriegs- 
traum  des  Pagen  mit  den  Kanonaden,  dem  Tambour  und 
der  Trompete  tritt  deutlicher  heraus  und  macht  Miene, 
dem  Zuhörer  auf  den  Leib  zu  rücken.  Im  Gesangteil  ist 
das  SätzcHen,  für  germanische  Chorzungen  namentlich, 
ganz  ausgesucht  schwierig. 

Der  Schluß  des  Prologs,  der  vom  tragischen  Ende 
des  Liebespaares  und  der  Versöhnung  der  Geschlechter 
berichtet,  ist  äußerst  kurz  geraten,  fast  als  hätte  Berlio; 
nach  der  Fee  Mab  sich  über  die  Geduld  der  Zuhörer 
und  über  ihre  hohen  Ansprüche  Gedanken  gemacht 
Angespielt  ist  nur  auf  die  Begräbnismusik  der  sechsten 
Nummer,  und  zwar  nimmt  das  Orchester  das  charakter- 
istische Liegenbleiben  des  einen  Tones  (0)  von  dort  her- 
über. 


— »    369    ^^ 

Zieht  man  die  Summe  des  Gebotenen,  so  kann  kein 
Zweifel  sein,  daß  im  Prolog  von  Romeo  und  Julie,  un- 
scheinbar in  der  Form  und  in  den  Mitteln,  doch  eine 
außerordentlich  große  und  völlig  originelle  Leistung 
vorliegt,  die  für  die  Beurteilung  von  Berlioz  schwer 
^wiegt. 

BerUoz  wendet  sich  nun  wieder  der  unmittelbaren 
Darstellung  zu  und  gibt  zunächst  ein  Bild  von  dem  BaU- 
fest  bei  Juliens  Eltern.  Im  Drama  ist  dieses  Fest  ein 
nicht  unwichtiger  Abschnitt:  er  bringt  zum  ersten  Male 
die  Liebenden  zusammen.  Dem  Komponisten  bietet  sich 
gleich  gute  Gelegenheit  zur  Seelenmalerei  wie  zur  Situ- 
ationsschilderung, er  kann  scharf  geprägte  Gestalten 
zeichnen,  ihre  Herzensbeziehungen  bloßlegen,  kann  einen 
Ausschnitt  aus  dem  Treiben  der  großen  Welt  versuchen, 
sich  im  Intimen,  ebenso  wie  im  Glänzenden  bewähren. 
Als  geborener  Freund  großer  Mittel,  mächtiger,  üppiger, 
Sinne  berauschender  Klänge,  als  Meister  in  der  Schilderung 
äußeren  Lebens  hat  Berlioz  den  festlichen  Charakter  der 
Szene,  die  Pracht  und  die  Freude,  in  der  sich  die  stolzen 
Massen  einherbewegen,  betont.  Reichlich  zwei  Drittel 
der  neuen  Nummer  sind  mit  rauschender,  pompöser  Ball- 
musik ausgefüllt  Aber  wie  in  der  Fantastique  und  im 
Harold  kommen  auch  hier  die  eigentlichen  Helden  des 
Stückes  nicht  zu  kurz  und  treten  im  rechten  Augenblick 
in  den  Vordergrund. 

Diesem  dritten  Satz,  welchen  das  Orchester  allein 
ausführt,  hat  Berlioz  die  Überschrift  gegeben: 

Bomtfo  Benl-Tristesse-Coocert  et  Bal-*Grande  Fete  chez  Oa- 
pulet  (Romeo  allein  in  Tranrigkeitj  Konzert  und  Ball;  großes 
Festibel  Gapnlet). 

Er  beginnt  mit  einem  Andante  melancolico,  C/,  Fdur, 
das  zunächst  die  Worte  Romeos  (I,  4)  zu  veranschaulichen 
scheint:  »Mich  drückt  ein  Herz  von  Blei  zu  Boden,  daß 
ich  kaum  mich  regen  kann«.  Die  ersten  Violinen  suchen 
nach  Melodie  und  Ausdruck  und  finden  nur  spärlich; 
namentlich  in  der  Unbestimmtheit  der  Tonart  spricht 
diese   Einleitung  aufs   deutlichste    einen   schwankenden 

Kiotzsehmar,  Führer.     1,  I  24 


370 


Zustand  aus.  Endlich  bietet  sich  AntoQM.  ^^ 
lin  Halt.  Die  Oboen  und  Klarinet-  J,^u  f  1  rr? 
en  setzen  (im  23.  Takt)  das  Motiv    &    '%fimsz      =»^ 


Zustand  aus.    Endlich  bietet  sich         aDa5Qte. 
ein 
ten 

ein  und  klammern  sich  daran  wie  an  eine  letzte  Rettung. 
Sechsmal  hintereinander,  nur  mit  immer  neu  tastenden 
und  wechselnden  Bässen,  hören  wir  diese  lUagend^ 
Stimme;  dann  erst  entwickelt  sich  eine  lange  Gesang- 
melodie,  die  im  Anschluß  an  das  gegebene  .Motiv  folgen- 
dermaßen lautet: 

Noch  einmal  setzt  sie  zu  einer  viertaktigen  Halbperiode 
an  und  gelangt  mit  ihr  nach  Asdur.  Diese  unerwartete 
Harmoniewendung  bestätigt  nur,  was  der  gewissermaßen 
irrende  Schritt  des  Themas  schon  verrät:  die  Unruhe  in 
Romeos  Seele,  sein  Sehnen  und  Zweifeln:  »Mein  Herz  er- 
bangt und  ahnet  ein  Verhängnis,  welches  noch  verborgen 
in  den  Sternen  . . .  das  Ziel  des  läst'gen  Lebens  . . .  mir 
kürzen  wird  durch  irgend  einen  Frevel  frühen  Todes« 
(I,  4).  In  der  neuen  Tonart  (Asdur)  schweben  freuüd- 
liche  Motive  in  Triolen  .tänzelnd  heran.  Der  kleine 
Zwischensatz  (8  Takte)  hellt  die  Stimmung  etwas  auf. 
Das  Gesangthema  mit  den  ausdrucksvollen  halben  Noten 
setzt  jetzt  in  Cdur  wieder  ein,  aber  des  Zieles  sicherer  und 
hoffnungsvoller  als  beim  ersten  Male  weiter  geführt 
Violinen,  Flöten,  Bratschen  bringen  der  Reihe  nach  das 
tröstliche  neue  Schlußmotiv.  Da  kommt  eine  plötzliche 
Unterbrechung:  Allegro  im  AUa  breve:  pp  klingen 
in  den  Geigen  zit-  -— .  ^—  j—  .  auch  die  Tonart 
temde  Rhythmen :  J  J  J  J-  J  J-  J  J^  '  Des  dur  zeigt  auf 
eine  ganz  unvermutete  Wendung.  In  Klarinetten  und 
Fagotten  taucht  das  Bruchstück  eines  Polonaisenthemas 
auf.  Dann  folgt  eine  Gruppe  von  Takten,  wo  die  Geigen 
still  auf  gehaltenen  Akkorden  tremolieren,  zuletzt  tritt  auf- 


— ♦    371     ♦^ 

regender  Pankenwirbel  hinzu.  Es  ist  eine  ganz  natnra- 
listisch  packende  Stelle,  ein  Bild  des  kalten  Fiebers,  das 
Romeo  ergrÜfen  hat  Was  Berlioz  hier  gemeint  hat,  kann 
niemand  ganz  bestimmt  sagen:  etwas  Außerordentliches 
jedenfalls.  DasWahrscheinlichste  ist:  Romeo  hat  seine  Julie 
erblickt.  Sei  es  nun  eine  äußere  Erscheinung,  sei  es  ein 
Entschluß,  dem  der  jetzt  folgende  Abschnitt  in  der  Kom- 
position —  Larghetto  expressive,  s/4,  Cdur  —  gilt,  jeder- 
mann wird  davon  ergriffen  sein,  wie  fein  erfunden  und  ge- 
dacht er  ist:  Kein  Ausbruch  des  Jubels,  lauter  Leidenschaft 
überhaupt,  sondern  ein  zarter  Gesang,  fromm  wie  ein  Gebet 
^^  ,523^  ,      Die  Oboe  trägt 

Iß  '     '  ■  dig    emfache 

Melodie  vor,  die  Erregung,  aus  der  sie  emporgewachsen 
ist,  wird  nur  in  den  Rhythmen  der  dezenten  Begleitung 
bemerkbar:  die  Cellis  umspielen  mit  rastlosen  Sextolen; 
an  den  Schlußstellen  werfen  die  Geigen  mit  den  Pauken 
schauernde  Tremolos  hinzu.  Und  nun  geht  Romeo  mitten 
hinein  ins  Fest  der  Feinde.  Der  Hauptteil  des  Satzes 
—  Alleg,ro,  (|j,  Fdur  —  beginnt 

Es  ist  im  wesentlichen  ein  Tanzsatz,  er  teilt  mit 
anderen  Arbeiten  gleicher  Gattung,  die  wir  von  Berlioz  be- 
sitzen, das  Feuer,  unterscheidet  sich  aber  von  ihnen  allen 
durch  einen  ^ug  von  Stolz  und  Pracht  Daß  es  sich  hier 
um  ein  Fest  von  Patriziern  handelt,  sagen  uns  schon  die 
einleitenden  Takte  mit  den  pompösen  Baßgängen.  Sie 
versetzen  die  heutigen  Zuhörer  unwillkürlich  in  den  dritten 
Akt  von  Wagners  »Lohengrin«,  der  allerdings  1889  noch 
nicht  geschrieben  war.  Das  Hauptthema,  über  dem 
sich  Berlioz*  Festgemälde  nun  aufbaut,  fängt  folgender- 
maßen an: 

iBgro.  Sa  108 


rVftrriTirrT^iffii  -fi^irTf 


Es  enthält  in  der  Schale  einer  Marschweise  einen  kost- 
baren Inhalt  von  Würde  und  Lebenslust    Der  letzteren 

24* 


372     ♦^ 


dient  unter  den  Motiven,  die  dem  hier  gegebenen  Anfang 

folgen,    beson-  «•  fi*^  £  « fi     e*       "^ 

ders   das  drol«  -jf-if    Frirrfir    Ptf  lO  - 
hg  ausholende:  ^  ^     '  '       '=^=ta*s4= 

Nachdem  die  glänzende  Gesellschaft  ihren  ersten 
Rundgang  vollendet  —  Ganzschluß  in  Fdur  — ,  wird  unsere 
Aufmerksamkeit  auf  eine  einzelne  Gruppe,  die  etwas  im 
Hintergrund  steht,  gelenkt.  Celli,  Bratschen  und  Fagotte 
sind  ihre  Sprecher: 


Halblaut  reden  sie  von  den  letzten  Händeln  mit  den  Mon- 
techis.  Es  sind  herrische  Leute,  und  wehe  dem  armen 
Romeo!  Andere  ziehen  mit  leichtem  Scherz  vorbei.  Dann 
kommt  das  Hauptthema  zum  zweiten  Male,  diesmal  in  den 
Holzbläsern,  die  Geigen  ziehen  ein  langes  Gewinde  von 
Achteln  darum.  Dann  wird  es  auf  allen  Seiten  lauter, 
als  stritten  sich  die  Streicher  mit  den  Bläsern  um  die 
Akkorde.  Und  siehe  da,  in  diesem  Augenblick  des  Lärms 
and  der  Aufregung  erscheint  das  Thema  aus  dem  Larg- 
hetto  wieder,  diesmal  nicht  von  der  Oboe,  sondern  von 
den  Hörnern  geführt.  Sie  behalten  es  auch  im  weiteren 
Verlauf  und  ziehen  noch  Posaunen  und  Fagotte  dazu. 
Berlioz  gibt  uns  jetzt  die  Aufklärung,  was  er  mit  der 
Larghettomelodie  gemeint  hat:  Es  ist  wirklich  Julieus 
Gestalt:  majestätisch  schreitet  sie  dahin,  und  als  der  Haupt- 
satz, die  rauschende  Ballmusik,  jetzt  wieder  wie  beim 
Anfang  des  AUegro  von  der  ganzen  großen  Masse  der 
Geigen,  von  Flöten  und  Bratschen  unterstützt,  von  den 
anderen  Instrumenten,  unter  ihnen  zwei  Harfen,  umlärmt 
wird  —  strahlt  doch  fiber  all  den  glänzenden  Wirrwarr 
hinweg  in  Hoheit  die  Larghettomelodie:  Das  Stück  könnte 
nach  genauer  Wiederholung  des  ersten  Allegroteils  —  bis 
zu  dem  Punkte,  wo  das  Baßthema  kam  —  beendet  sein. 
Berlioz  erweitert  aber  Beethovensch.  Statt  eines  Fdur- 
Schlusses  kommt  eine  Ausbiegung  über  Adur  nach  Dmoll 
und  ins  piano.    Die  Stille  der  Verlegenheit  tritt  ein,  und 


373    «^ 

in  ihr  lassen  sich  vneder  Händelsüchtige  vernehmen,  sie 
brüten  neue  Komplotte:  Diese  unfriedlichen  Gedanken 
sind  in  zwei  Themen  gegeben 


..  jii h ffiTiij  lijiTnTi  I  ■■* -^jfc'^j  ji 


P 


feB  die  das  Afaterial  zu  einer  beschei- 


denen Doppelfuge  bilden.  Sie  wird 
nicht  durchgeführt,  sondern  Berlioz  beschränkt  sich  dar- 
auf, die  chromatische  Skala  zu  einem  Basso  ostinato  zu 
verwenden,  über  den  in  wachsender  Erregung,  im  langen 
crescendo  erst  allein  die  Bläser  rhythmische  Kampfmotive 
hinschmettern.  Bald  stimmen  die  Geigen  mit  ein;  es 
reizen  die  Schlaginstrumente.  Die  festliche  Stimmung 
ist  in  eine  kriegerische  umgeschlagen.  In  allen  Gruppen 
größte  Unruhe,  ein  Anlauf  über  den  anderen  auf  das 
drängende  Motiv: 


Cresa. 


H  JT]  ItQfj.  [P#  n^  ir    >'^  <   i  über  D  moU  nach  ö, 

V     7         nach  (7,  dann  die- 


selben Wege  nochmals  in  bedrohlicherem  Tone  —  es 
schlägt  am  Ende  der  Perioden  bereits  ein  — ,  und  dann 
bricht  mit  dem  endlich  erreichten  Fdur  das  volle  Wetter 
los:  Eine  wilde  elementare  Musik,  ein  schlimmerer  Auf- 
ruhr als  in  dem  Augenblick  der  Orchesterintroduktion, 
in  dem  die  Posaunen  des  Fürsten  sich  erhüben.  Noch 
einmal  wird  Ruhe.  Wir  hören  wieder  den  chromati- 
schen Baßgang  von  Pauken  und  Trommeln  schauer- 
lich beleuchtet.  Diesen  letzten  Augenblick  benutzt 
Romeo  sich  zu  entfernen.  Die  Oboe  singt  wieder  den 
Klagegesang,  mit  dem  sich  im  Andante  melancolico 
Romeo  schwermütig  vorstellte.  Im  Toben  der  Massen 
—  eine  plötzliche  Generalpause  sagt  uns,  bis  zu  welchem 
Grad  die  Wut  gediehen  —  geht  der  Satz  schnell  zum 
Schluß. 


^ 


-—•     374    i^ 

Die  Italiener  des  17.  Jahrhunderts,  die  venetianischea 
Librettisten  voran,  die  Spanier,  die  Geschlechter  der  aus- 
gehenden Renaissance  überhaupt,  verstanden  sich  auf 
Liebesszenen.  Aber  den  Szenen,  in  denen  Shakespeare 
in  »Romeo  und  Julie«  das  Liebespaar  zusammenfüfart, 
kommt  doch  wenig  gleich.  Dieses  Urteil  läßt  sich  auch 
auf  die  Gartenszene  der  Berliozschen  Sinfonie  übertragen, 
in  der  der  Komponist  seine  Erinnerungen  an  jenen 
schönsten  Teil  des  Shakespeareschen  Dramas  in  Töne 
gebracht  hat.  Man  kann  es  ruhig  sagen:  Berlioz  hat 
die  Liebe  von  Romeo  und  Julie  schöner  geschildert  als 
der  Dichter,  um  so  viel  inniger  und  ergreifender  als  die 
Musik,  wenn  es  Gefühle  darzustellen  gilt,  der  Sprache 
überlegen  ist.  In  der  Komposition  Beriioz'  steht  auch 
das  mit,  was  bei  Shakespeare  ungesagt  bleibt;  vor  allem 
übeir  alle  Süßigkeiten  des  Augenblicks  hinweg  bringt  sie 
uns  ins  Bewußtsein,  daß  diese  Liebe  tragisch  enden  wird. 
Ein  Ton  der  Klage  und  der  Wehmut  klingt  mit  dutch 
alle  Seligkeit  hindurch. 

Mit  der  vorhergehenden  Nummer,  der  Ballszene,  ist 
die  Garten  Szene,  als  fünfte  Nummer  des  Werkes,  durch 
eine  dramatische  Einleitung  verbanden.  Die  Überschrift 
des  Stückes: 

Nnit  sereine  —  le  jardin  de  Oapulet  silencieux  et  d^sert  Les 
jeanes  Capulets  sortant  de  la  feto,  passent  en  chantant  des  rtfmi- 
niscences  de  la  mnsiqae  du  bal, 

welche  Berlioz  selbst  gegeben  hat,  enthebt  jeder  weitem 
Beschreibung  des  Verfahrens.  Ein  Allegretto  (ß/g,  A  dur  ent- 
hält diese  Einleitung.  Langgezogene  Geigenakkorde,  die 
nur  schleichend  modulieren,  beginnen.  Berlioz  schreibt 
2PPP  vor.  Das  ist  die  Stille  des  Gartens,  von  der  die 
Überschrift  sagt.  Nach  dreißig  Takten  erst  Mingt  es  im 
ersten  Hörn:  als  käme  jemand.  Und  bald  darauf  be- 
ginnen die  jungen  Kavaliere  ihr:  >0h^!  Capulets,  bon- 
soirc  (»Capulets,  schlaft  wohl«).  Gleich  darauf  kommt 
auch  die  hauptsächlichste  von  allen  Ballreminiszenzen,  auf 
die  Ulis  der  Komponist  selbst  aufmerksam  gemacht  hat: 


376 


Aiiegretio.  ^    ..         Leicht  wird  man  in  ihr 

den  Anfang  vom  Haupt- 


0  qvoii«  DOi^  «iJtl  fesUnl  thema  des  Allegros  der 
Ballszene  wiedererkennen.  Das  ganze  Stück  Einleitung  ist 
von  Humor,  wie  von  poetisch  höherer  Empfindung  gleich- 
mäßig belebt  In  ihrer  etwas  steifen  Anmut  erinnert 
seine  Melodik  namentlich  an  Berlioz*  »Flucht  der  heiligen 
Familie  nach  Ägyptenc.  Ein  Wunder,  daß  es  sich  unsre 
Männergesangvereine  fortdauernd  entgehen  lassen!  Es 
verklingt,  und  nun  beginnt  die  eigentliche  Scöne  d'Amour, 
die  Liebesszene,  in  Form  eines  mehrmals  von  belebten, 
erregten  Episoden  durchbrochnen  Adagios.  Der 'O/g  Takt 
und  die  A  dur-Tonart  bleiben.  Das  langsame  Tempo  gibt 
aber  der  Komposition  ihren  eigentümlichen  Charakter  als 
einer  Liebesszene  von  fast  religiöser  Tiefe. 

Das  Adagio  beginnt  wie  präludierend  mit  einem  Ab- 
schnitt, in  dem 'die  Bratschen  mit  den  geteilten  Cellis  in 
bald  ausdrucksvollen,  bald  spielerischen  Motiven  sich  dem 
Gesang  nähern.  Es  ist  ein  eigentümlich'volles,  gedämpft 
weiches  Kolorit,  ähnlich  dem  in  der  »Scftne  aux  champs« 
von  Berlioz'  Fantastique.  Drunter  klopfen  die  Bässe  wie 
die  Schläge  des  Herzens.  Die  zweiten,  dann  die  ersten 
Geigen  tragen  Verzierungen  und  melodische  Fragmente 
herbei;,  noch  mehr  aber  erinnern  Klarinette  und  eng- 
lisches Hom  an  die  Liebesmusik  der  Vögel,  sie  seufzen 
sehnsüchtige  Motive,  die  uns  die  Stelle  des  Dramas 
vor  die  Phantasie  bringen,  wo  es  heißt:  »Es  war 
die  Nachtigall  und  nicht  die  Lerche«.  Dann  wird  ein 
Singen  daraus,  leidenschaftlich  treiben  die  Töne  nach 

oben.    So  ^^  ji-Admfii^ ^^stt"^         ^nd   so 

setzt    die  ^l^\rM^  "  i  W    »  i    pTf   P  T'  I schließt 
Stelle  ein :  ^     PP=^  -^  =— "'     sie: 

,Bald  kehrt  sie  wörtlich  genau  wieder,  sie  umrahmt 
das  vom  Cello  und  vom  Hörn  vorgetragne  Liebesthema 
Juliens,  ihr  Geständnis,  den  Lüften  anvertraut: 


376 


Eine  der  schönsten  Melodien  der  ganzen  neneren  Musik, 
muß  dieses  Thema  in  diesem  Werk  and  in  diesem  Satz 
namentlich  mit  seinem  Schluß  fest  gemerkt  werden. 
Denn  es  taucht  wie  ein  Leit-  und  Repräsentierthema 
häufiger  in  unserm  Adagio  wieder  auf.  Die  Musik  wird 
von  dem  Einsatz  <ler  Vogelmotive  ab  wiederholt  Romeo 
lauscht  entzückt,  und  als  Julia,  nun  im  vollsten  Tonglanz 
ihr  Liebesgeständnis  (jetzt  in  Cdur)  nochmals  ablegt,  be- 
mächtigt sich  ein  großer  Sturm  seiner  Gefühle  (Allegro 
agitato).  Er  dringt  vor,  gibt  sich  zu  erkennen,  das  Cello 
hebt  ein  Rezitativ  an  und  leitet  damit  über  zu  der  zweiten 
Hälfte  der  Nummer,  dem  Liebesdialog.  Dieser  Di Alog 
hat  wieder  die  Form  eines  Adagio,  das  gegen  das  erste 
um  eine  Kleinigkeit  beschleunigt  ist  Das  in  ihm  neu 
hinzutretende  Hauptthema  ist: 


r^  r  ff"  r  ^  fy^yrj^^   Von  Flöte  und  eng- 

*  '  ^^ai^BS  lischem  Hörn  einge- 
führt, findet  es  in  einer  zweiten  Periode  den  seiner  fried- 
lich genießenden  Natur  entsprechenden  Abschluß  in  Adur. 
Daran  knüpfen  sich  heitre,  zum  Tändeln  neigende  Motive, 
bis  dann  bald  Juliens  Liebesgesang  den  Ideenkreis  ins 
innig  Pathetische  zurückleitet  Es  wechseln  nun  Augen- 
blicke der  Ruhe  und  der  Erregung :  es  kommt  die  Schwere 
des  wiederholten  Abschieds,  die  Wonne  des  Wieder- 
treffens. Mehr  als  bei  andren  Sätzen  der  Sinfonie  bietet 
die  Kenntnis  Shakespeares  für  diese  Nummer  eine  weit- 
reichende Gewähr  des  Verständnisses. 

Der  fünfte  Satz  der  Sinfonie,  das  Scherzo  (Prestis- 
simo,  Vs»  Fdur)   trägt  die  Überschrift:  »La  Reine  Mab, 


377 


ou  la  F^e  des  Songes«  (Königin  Mab,  die  Traumfee}.  Er 
bedeutet  einen  Abfall  von  Shakespeare,  eine  Uberläuferei 
zur  selbstherrlichen  Musik,  insbesondere  zu  den  Formen 
der  Beethovenschen  Sinfonie.  Berlioz  mochte  auf  die  be- 
währte Wirkung  eines  Scherzos  auch  in  »Romeo  und 
Julie«  nicht  verzichten.  Sieht  man  von  der  Entstehungs- 
UTsache  ab,,  so  bleibt  dieser  Satz  eine  bis  heule  noch 
nicht  überbotne  Glanzleistung  auf  dem  Gebiete  der  Elfen* 
musik.  Die  Komposition  gibt  den  flüchtigen  Charakter, 
den  man  von  dieser  Gattung  erwartet,  nach  ein'er  Rich- 
tung wenigstens  vollkommen  wieder,  ganz  besonders  aber 
zeichnet  sie  sich  aus  durch  ihren  Reichtum  neuer  und 
ungewohnter,  mit  ebensoviel  raffinierter  Berechnung  als 
mit  poetischem  Genie  aufgesuchter  und  erfundener  Klänge. 
Zwar  für  die  Gestalt  und  das  Treiben  des  Miniaturelfs, 
wie  sie  Shakespeare  —  vor  Ball-  und  Balkonszene  I,  4  — 
beschreibt,  ist  die  Berliozsche  Musik  immer  noch  zu  kom- 
pakt, zu  reich  an  Baßklang;  aber  man  hatte  in  einer  Sin- 
fonie ein  Scherzo  wie  dieses  doch  noch  nicht  gehört: 
Ein  ganzer  Jahrmarkt  von  seltnen,  schweren  Trillern, 
von  Pizzicatos,  Flageoletts,  ausgesuchten  Spielarten  und 
Tonlagen  tat  sich  hier  auf. 

Dem  Hauptsatz,  den  einige  akkordische,  durch  Fer- 
maten, Modulationen  und  Klangfarbe  ins  Träumerische 
erhobne  Takte  einleiten,  liegt  folgendes  Thema 


/ 


zu  Grunde.  Die  Violinen  durcheilen  mit  ihm  im  schnellsten 
Zeitmaß,  in  der  größten  Leichtigkeit,  die  möglich  ist, 
einen  ziemlich  umfangreichen  Kreis  von  Tönen  und  Ton- 
arten. Fdur  beginnt,  der  Schluß  führt  nach  cü  und 
nach  einem  dissonanten  Akkord  des-f-as-hy  demselben,  der 
den  Satz  überhaupt  begann.  Es  ist  etwas  Koboldartiges 
in  dieser  Beweglichkeit,  und  es  ist  auch  nicht  leicht  für 


(T 


--»    378    ♦— 

den  Zuhörer  genau  zu  folgen.  Um  das  zu  erleichtem, 
müssen  Spieler  und  Dirigenten  die  metrisch  betonten 
Takte  hervorheben.  Wird  damit  von  Anfang  an  — 
der  mit  *  bezeichnete  ist  der  erste  —  Klarheit  einge- 
halten, so  ist  der  Aufbau  der  Perioden  leicht  zu  be- 
greifen; er  vollzieht  sich  vorwiegend  in  zweitaktigen  Ab- 
schnitten. 

Zunächst'  stellt  Berlioz  das  angeführte  Hauptthema 
noch  zwischen  das  akkordische  Einleitungsmaterial.  Erst 
im  zweiten  Abschnitt,  dessen  Eintritt  sich  scharf  dadurch 
markiert,  daß  wir  8  Takte  lang  nur  (in  Bratschen  und 
zweiten  Violinen)  Akkordbegleitung  ohne  Thema  haben, 
erhält  es  das  Feld  für  sich  und  bestellt  es  in  Umbil- 
dungen, wie  sie  für  Menuetts,  Scherzi,  fürs  ganze  Tanz- 
gebiet von  jeher  üblich  sind:  Eine  Doppelperiode  in  der 
Haupttonart  Fdur  mit  Schluß  in  (7,  eine  zweite  in  0 
mit  Modulationen  nach  verwandten  Harmonien  und 
Schluß  in  F.  Es  ist  ein  leichtes  anmutiges  Treiben 
ohne  wichtigere  Vorfälle.  An  dem  oben  genannten 
Punkte  erst  erscheint  ein  teilweise  neues,  von  Berlioz 
auch  im  »Carna-  J   ^^^    ♦♦ti 

val  Romain«  ver-    i^  y 
wende tes   Motiv:    JT' 

in  den  Geigen,  das  ^Tt     ^^     .^^    k« 

Flöte  und  engü.  ib  fl  i  1  V  \\  V  \\  V  f^ 
sches     Hom     mit     ^         '  '  i  i  .     n 

beantworten.  Fee  Mab  wird  ausgelassner:  schärfer  tritt 
der  Pizzicäto-Klang  vor,  schärfer  wechseln  die  Tonarten 
in  diesem  kleinen  Seitensatz.  Hdur  ist  erreicht.  Da  führt 
bei  einem  allgemeinen  temperamentvollen  Crescendo  ein 
heftiger  chromatischer  Lauf  der  Mittelstimmen  nach  der 
Haupttonart  zurück  und  in  eine  große  Wiederholung  des 
Hauptsatzes  mit  einigen  Erweiterungen.  Motivisch  neu 
tritt  eine  zuweilen  auf  vier  Takte  ausgedehnte  Triller- 
figur, aus  der  Schabernack  und  Obermut  herüber- 
klingen, vor. 

Die  größten  Überraschungen  fürs  Ohr  hat  Berlioz 
für  die  Mitte  seines  Scherzos  aufgespart,  für  die  Stelle, 


-^    379    ^^ 

die  üblicherweiffe  das  Trio  einnimmt.  Gedacht  ist  wohl 
dieser  wichtigere  Teil  so:  daß  er  die  Wirkungen  der 
Schalkereien  Mabs  im  Kopf  des  Schläfers  veranschau- 
lichen soll,  während  uns  der  bewegtere  Hauptsatz  den 
Umzug  der  Fee  schildern  soll.  Das  Thema  dieses  Trios 
f  heißt: 

^    AUegrgtto.  J  =  is8 

fS^JTf  n\t  t  J'Ti'  '  r  I  'Tf  '1  rr^ 

n  ii^^^i^^riTr  iTfr  iTTfiTTit  i 

Mit  seinen  rufenden  und  ahnenden,  auch  mit  seinen 
gesanglichen  Elementen  ist  es  im  Grunde  höchst  einfach. 
Seine  Wirkung  erhält  es  durch  die  Dekoration.  Die  ersten 
Violinen  trillern  dazu  vom  ersten  Ton  der  Flöte  bis  zum 

letzten  pppp  aber  ohne  Unterbrechung  auf  ä;  die  Celli 
antworten  auf  das  Quartenmotiv;  die  andern  Saiten- 
instrumente aber  halten  hohe  Fla geol  et  töne  aus.  Von 
ihnen  kommt  der  Märchen zauber,  das  Feenlicht,  das  über 
dem  Abschnitt  liegt;  süß  wie  Liebestraum  und  ganz 
fremdartig  und  neu  erscheint  er.  Zugleich  ist  dieses 
Kolorit  zum  ersten  Mal  das,  was  sich  mit  den  von 
Shakespeare  erweckten  Vorstellungen  deckt  Die  Harfen 
fallen  bald  mit  unerhörten  Klängen  ein,  die  zur  selben 
Familie  wie  die  Flageolettöne  der  Geigen  gehören.  Die 
Phantasie  des  Hörers  wird  in  demselben  Augenblick  aus 
dem  Elegischen  hinüber  gerissen  nach  dem  Humoristischen : 
wir  hören  in  den  Bratschen  und  Cellis  Figuren,  die  an  den 
Rhythmus  des  galoppierenden  Pferds  erinnern.  Berlioz 
hat  an  die  Stelle  gedacht,  wo  bei  Shakespeare  die  Fee 
Mab  den  Soldaten  neckt. 

Noc^  breiter  ausgeführt  als  im  Trio  sind  diese  militäri- 
schen Bilder  in  der  Reprise  des  Hauptsatzes.  Hier  führen  sie 
zu  einigen  Episoden,  an  deren  Spitzen  die  Hörner  stehen: 

Prostfaffinv.  ^  Auch   das    englische 

'"fp  '        ■      ■■  j     ■         ■         ■  mitemem  Jagdmotiv.- 


380 


A  t    .    .    .  K  ■■  I  ^^"    einer   ein" 

4p    I  r     J)  1  J    iJ^  HJ    ^^^p    fachen    Wieder- 
V  holang  ist  diese 

Reprise  so  weit  als  möglich  entfernt;  sie  ist  eine  Steige- 
rung in  jeder  Beziehung,  in  den  Formen  nicht  weniger 
als  in  den  Farben.  Für  letztere  sind  auch  die  Schlag- 
instrumente meisterhaft  herangezogen. 

Stephen  Heller  lernte  die  neue  Sinfonie  Berlioz'  bald 
nach  ihrer  Entstehung  im  Manuskript  kennen  und  be- 
richtete darüber  an  die  Zeitschrift  Robert  Schumanns*)- 
Dieser  Bericht  ist  noch  heute  wichtig,  weil  er  über  die 
erste  Fassung  der  Sinfonie  Mitteilung  gibt  Unter  den 
Abweichungen,  die  sie  von  der  veröffentlichten  Form 
unterscheiden,  tritt  als  eine  der  wesentlicheren  der  Um- 
stand hervor,  daß  zum  Beginn  der  zweiten  Abteilung  die 
mit  der  Nummer  6  einsetzt,  früher  nochmals  ein  Prolog 
gesungen  wurde. 

Für  diese  sechste  Nummer,  die  Juliens  Be- 
gräbnis bringt  —  Convoi  funöbre  de  Juliette  — ,  ist  kein 
Prolog  und  kerne  Erläuterung  nötig.  Denn  es  ist  ein  ein- 
facher Satz  (Andante  non  troppo  lento,  C»  Emoll),  ein 
Trauermarsch,  wie  wir  ihn  hier  erwarten,  nur  mit  der  Be« 
Sonderheit,  daß  das  ausdrucksreiche  Hauptthema 


in  Form  einer  Fuge  durchgeführt  wird.  Die  Singstimmen 
psalmodieren  dazu  auf  einem  und  demselben  Ton  e.  Ber- 
lioz hat  denselben  und  einen  ähnlichen  Kunstgriff  in 
seinen  Trojanern   und  im  Offertorium  seines  Requiems 


*)  Nene  Zeitschrift  für  Musik,  XI,  S.  102. 


— ^    381     ♦— 

mit  großem  Glück  zum  Ausdruck  äußerster  Niederge- 
schlagenheit verwendet.  Besonders  schOn  ist  der  zweite 
Teil  der  Nummer,  der  sich  nach  E  dur  wendet  und  Chor 
und  Orchester  die  Rollen  tauschen  läßt. 

In  hohem  Grad  einer  Erläuterung  durch  Prolog  oder 
eine  sonstige  authentische  Willensäußerung  des  Kompo- 
nisten ist  dagegen  die  folgende  siebente  Nummer  der 
Sinfonie,  die  Grahszene,  bedürftig.  Berlioz  hat  das 
selbst  gefühlt.  £r  schickt  in  der  Partitur  eine  Bemer- 
kung voraus,  worin  er  den  Dirigenten  ermächtigt,  den 
Satz  zu  überspringen.  Mit  den  Worten:  >Le  public 
n^a  pas  d'imagination«  wälzt  er  die  Schuld  von  sich 
auf  den  unschuldigen  Teil:  Das  Publikum,  die  Zuhörer- 
schaft kann  diesen  Satz  nicht  verstehen  und  wenn 
neue  Erklärer*)  seinen  Schwierigkeiten  gegenüber  mah- 
nen, sich  den  fünften  Akt  von  Shakespeares  Drama 
lebhaft  zu  vergegenwärtigen,  so  empfehlen  sie  ein  un- 
zureichendes Mittel.  Berlioz  gibt  als  Inhalt  unsrer  sie- 
benten Nummer  an: 

Rom^o  au  tombeau  des  Oapulets;  Inyocatlon,  Rtfveil  de 
Jnliette,  Jole  d^Iirante,  d^sespolr,  dernieres  angoisses  et  mort 
des  denx  anxants  (Anrufung  und  J^rwachen  Juliens,  Entzücken 
tmd  Freude,  Verzweiflung,  letzte  Not  und  Tod  der  beiden 
Liebenden). 

Daraus  ergibt  sich,  daß  er  die  Ereignisse  vollständig 
umgedichtet  hat.  Bei  Shakespeare  ist  Romeo  gestorbeUi 
ehe  Julia  erwacht;  wohl  bei  Bellini,  aber  nicht  bei  Shake- 
speare gibt  es  Wiedersehn,  Anlaß  zur  Freude  und  gemein- 
samen Tod.  Der  Zuhörer  muß  sich  also  in  der  Kompo- 
sition durch  Raten  zurecht  zu  finden  suchen;  sie  ist  keine 
gute  Program musik,  sondern  Theatermusik,  die  nur  den 
Augen  will  sehen  helfen,  sie  ist  ein  an  dieser  Stelle  ver- 
fehltes Kunstwerk.    - 

Der  Satz  (Allegro  agitato  e  disperato,  (^,  Emoll)  be- 
ginnt mit  hastigen  Figuren 

'*')  F.  Weingartner  in  Allitemeine  Musik -Zeitung,  Jahrg. 
1S93,  S.  123. 


382 


f  '  J  JJ  UnJ  J  '  ■  J  JJ  IJiJ  J^"^l|l'l  I  I 

**  die  in  einem  kurzen  Satz 

das  Bild  geben,  als  wenn 
ein  Mensch  atemlos  ge- 
rannt kommt:  Romeo,  den  die  schlimme  Nachricht 
von  Jaliens  ^od  ans  dem  Mantnaner  Exil  vertrieben 
hat,  eilt  an  die  Pforte  des  Grabes.  In  langen  Noten 
4  I         I    M  I   I   i'  1  **  ^'^^   äußerste  Kraft  ge- 

j^  j^  '  3»  '  J  aiJ  J  -j)"  sammelt  »Die  Nacht  und 
«P— =^    f  ^  mein  Gemüt  sind  wütend 

wild,  viel  grimmiger  und  viel  unerbittlicher  als  durst'ge 
Tiger  und  die  wüste  See«  so  lauten  die  Worte,  mit 
denen  Romeo  bei  Shakespeare  (V,  3)  die  Türe  des  Ge- 
wölbes —  »die  morschen  Kiefern  des  Schlundes«  —  er- 
bricht Dumpf,  tief  und  schauerlich  schlagen  die  Po- 
saunen, ein  Hörn  dazu,  durch  Fermaten  gefesselte  Ak- 
korde an.  Dann  folgt  die  Invokation,  ein  längrer  Satz 
(Largo,  i^/g,  Cismoll),  in  dem  Romeo  in  feierlichen  und 
wehmütigen  Melodien  zu  der  tot  geglaubten  Geliebten 
spricht  Als  sie  zum  Schluß  kommen,  geraten  sie  ins 
Stocken.  Chromatische  Figuren  in  den  Cellis  deuten 
auf  außerordentliche  Vorgänge.    Die  Klarinette  setzt  ein: 

Wer  kennt 
diese  Motive 

JWRP  -«  =^  nicht      und 

denkt  bei  ihnen  nicht  an  den  Anfang  der  Gartenszene? 
Nun  kommt  das  volle  Thema.  Julie  ist  erwacht,  sie 
lebt,'  und  ihr  erster  Gedanke  ist  wieder:  ihre  Liebe,  ihr 
Romeo!  Das  Orchester  stürmt  voll  wie  in  der  Ballszene 
im  Freudenrausch  dahin,  eigentlich  ohne  Melodie  und  ohne 
Rhythmus, 

Allegro  vivace  od  appasgloiuito. 

zügellos,  elementar  in  Empfindung  und  Form.  Lange 
klingt  die  Stelle  wie  ein  grotesker,  riesiger  Triller.    Dann 


— ♦    388    »^ 

Teru«hmen  wir  in  den  Motiven  Reminiszenzen  an  die 
Gartenszene,  an  ihre  schönsten  Themen;  aber  in  derun- 
glanbhchsten  Extase  und  Beschleunigung.  Dazu  unheim- 
liche Dissonanzen !  Der  üherspannte  Bogen  muß  brechen, 
das  Unglück  ist  in  der  Nähe.  In  dem  reißenden  Strom 
dieser  Musiklava  entsteht  Stockung,  Verwirrung:  Romeos 
Rezitativ  aus  der  Gartenszene  klingt  nochmals  krampf- 
haft und  unnatürlich  an,  von  härtesten  Schlägen  des 
Orchesters  hegleitet,  das  e  aus  dem  Leichenbegängnis 
(Nr.  6)  läßt  sich  hören:  Romeo  stirbt  Bald,  >  mitten 
heraus  aus  der  Seligkeit,  in  der  sie  befangen,  folgt  seine 
Julie  ihm  im  Tode  nach.  Innerhalb  einer  Minute  gings 
aus  höchstem  Glück  in  die  Vernichtung.  Nur  eine 
einzige.  Oboe  hält  an  der  verödeten  Stelle  noch  Stand, 
wo  eben  noch  das  volle  Orchester  wie  für  eine  Ewigkeit 
aufspielte. 

Die  achte  Nummer,  das  Finale  der  Sinfonie,  hat  die 
Oberschrift: 

La  foale  accourt  an  cimeti&re,  Rixe  des  Capulets  et  Mon- 
tagus,  Röcitatif  et.air  da  Pdre  Lanrence,  serment  de  rtfcon- 
clliation  (Die  Menge  eilt  znm  Kirchhof,  Streit  der  Capulets  und 
Montechi,  Rezitativ  nnd  Gesang  des  Pater  Lorenzo,  Versöhnungs- 
scbwar). 

Sie  beginnt  mit  einem  AUegro  (^,  Amoll,  das  dra- 
matisch lebendig  die  Erregung  der  herbeieilenden  Volks- 
massen schildert  und  viel  Natur-  und  Herzenston  ent- 
hält Besonders  der  Schluß,  wo  das  Tempo  doppelt 
so  langsam  wird  als  es  war,  ergreift  mächtig.  Dann 
tritt  der  Pater  Lorenzo  auf  und  bemächtigt  sich  mit 
Erklärungen  und  Ermahnungen  des  Worts,  für  seine 
salbungsvolle  Weise  immer  noch  etwas  allzu  lange*]. 
Als  die  Parteien  wieder  aneinander  geraten,  wieder- 
holt Berlioz  die  Fugenmusik  aus  der  Introduktion  der 
Sinfonie,  diesmal  mit  Text  »Mais  notre  sang  rougit  etc.« 
(»Doch  unser  Blut  etc.c).    Dem  Pater  gelingt  es  zu  be« 

*)  Berlioz  hat  die  Reden  des  Paters,  laut  Memoiren,  be- 
deutend gekürzt. 


-^    384    «— 

ruhigen,  zu  rühren.  So  gelangen  wir  ganz  in  dem  StU 
der  großen  französischen  Oper  und  mit  mancher  hüb-* 
sehen,  auf  Berlioz  persönlich  weisenden  Wendung  zum 
Schluß*  und  Trumpfstück  dieses  Finale :  dem  Serment, 
der  Schwurszene,  die  ihrer  musikalischen  Natur  nach 
ein  Geschenk  Meyerbeers  an  das  Haupt  der  französischen 
Instrumentalkomposition  sein  könnte.  Wer  mit  Grund 
das  Werk  lieben  gelernt  hat,  bedauert,  daß  es  nicht  selb- 
ständiger und  in  einem  poetischeren  Stile  endet 

Der  Komponist  selbst  hat  seiner  dramatischen  Sin* 
fonie  nur  eine  Ausnahmestellung  im  Konzertsaal  zuge- 
traut. Ihre  Schwierigkeiten,  sagt  er  in  den  Memoiren, 
sind  so  groß,  daß  die  Ausführenden  das  Werk  auswendig 
können  müssen.  Als  sie  in  Petersburg  ausgezeichnet  geht, 
trübt  ihm  der  Gedanke  die  Freude,  daß  sie  für  London 
doch  unmöglich  sei.  Er  hat  sie  aber  schließlich  auch  in 
London  dirigiert,  und  im  Laufe  der  großen  Berliozbewe- 
gung,  die  sich  in  den  siebziger  Jahren  erhob,  ist  sie  erst 
in  Bruchstücken,  dann  mehr  und  mehr  in  ihrer  Vollstän- 
digkeit bekannt  geworden.  Damit  im  Einklang  mehren 
sich  in  neuester  Zeit  die  Sinfonien,  die  nach  dem  Vor- 
bild von  Romeo  und  Julie  Instrumentalstficke  und  Ge- 
sangsnummern mischen.  Lange  Zeit  stand  Fei.  David 
und  seine  »Wüstet  mit  dieser  Nachfolge  allein.  Heute 
ist  sie  mit  weitren  Sinfonien  von  F.  Liszt,  Nicod^, 
A.  Samuel,  Mahler,  Huber,  v.  Hausegger  u.  a.  ver- 
treten. 

Es  war  mehr  als  bloßer  Zufall,  daß  der  jüngste  Vor- 
stoß der  Programmusik  von  Frankreich  ausging.  Die  Zu- 
taten und  Änderungen,  die  das  Gebäude  der  Beethoven- 
sehen  Sinfonie  hierbei  durch  Berlioz  erfuhr,  lassen  im 
letzten  Grunde  den  Einfluß  der  Traditionen  Rameans 
doch  deutlich  erkennen.  Indessen  erkannte  ihn  niemand. 
Berlioz'  Programmsinfonien  trugen  in  ihren  dichterischen 
Wendungen  sehr  stark,  in  ihren  musikalischen  Mitteln 
immer  noch  erkennbar  französisch-nationalen  Charakter; 
die  Franzosen  wußten  es  ihm  keinen  Dank.  Auch  im 
Ausland  fanden  sie  mehr  Widerspruch  als  Erfolg.    Vor 


•  V 


-^    386    •— 

allem  blieb 'die  Schule  and  der  produktive  Anhang  ans, 
der  jeder  neuen  Richtung  unentbehrlich  ist.  Spohr  war 
fftr  Jahrzehnte  der  einzige  europäische  Sinfoniker,  der 
mittat.  Aber  er  vermied  sowohl  die  Stoffe,  wie  die  musi- 
kaiischen  Mittel,  welche  für  die  Berliozsche  Epoche  die 
charakteristischen  sind.  Da  trat  endlich  in  den  fünfziger 
Jahren  Franz  Liszt  mit  der  größten  Entschiedenheit  für 
die  gefährdete  Sache  ein.  - 

Liszt  ging  aber  über  seinen  Vorgänger  wesentlich 
hinaus  und  ordnete  dem  Programm  auch  die  Formen  der 
Komposition  vollständig  unter:  Seine  Sinfonien  sind  drei- 
sätzig, zweisätzig,  einsätzig,  je  nachdem;  die  dichterische 
Idee  bestimmt  den  musikalischen  Plan.  In  dieser  Freiheit, 
in  der  Kühnheit  und  Sicherheit,  mit  welcher  die  Grund* 
linien  des  Formenbaues  entworfen  und  durchgeführt  sind, 
bilden  die  Listzschen  Sinfonien  Originalleistungen  und 
repräsentieren  eine  geistige  Kraft  und  ein  künstlerisches 
Gestaltungsvermögen  von  außerordentlicher  Stärke.  Nach 
diesen  formellen  Seiten  liegt  ihre  geschichtliche  Bedeu- 
tung. Liszts  Sinfonien  führen  die  von  Berlioz  gegebene 
Anregung  zu  einer  vollen  Reform  aus,  und  brechen  die 
Alleinherrschaft  des  Hayda  -  Beethovenschen  Systems. 
Berlioz  trat  für.  die  Deutlichkeit  des  poetischen  Inhalts 
und  des  Zusammenhangs  der  Sätze  ein ;  Liszt  erweiterte 
diese  Forderungen  mit  der  dritten:  Freiheit  des  Formen- 
baues! Wohl  verstanden:  Freiheit,  künstlerische  Frei- 
heit, nicht  etwa  Anarchie  und  Formlosigkeit! 

Auch  den  internen  musikalischen  Stil  der  Lisztschen 
Musik  hat  vielfach  die  Forderung  bestimmt,  daß  Ausdruck 
und  Darstellung  in  erster  Linie  charakteristisch  und  an- 
schaulich sein  müssen,  und  eine  große  Reihe  seiner 
Eigentümlichkeiten  sind  aus  der  Treue  gegen  das  Prinzip 
hervorgegangen.  Dahin  gehören  die  bei  ihm  noch  zahl- 
reicher als  bei  Berlioz  hervortretenden  Stellen,  wo  bloße 
Klangphänomene,  rein  akkordische,  instrumentale,  dyna- 
mische und  andere  naturalische  Bildungen  die  Träger 
der  musikalischen  Entwickelung  bilden.  Dahin  gehören 
spezifische    Eigenheiten    der    Lisztschen  Rhetorik:    ihr 

Kr«txflcbiiiar,  Fflkr«r.    1,  t  26 


— ^    886    ♦— . 

Reichtum  an  IntexjelUiMien,  an  Aasraftingsaseichen  und 
Qedankanttnchen ,  an  pithetiach  fortscbieitenden  Se- 
quenzen und  anderen  prunitiven  Aaadrackemilteln  der 
musikalischen  Deklamation,  wie  sie  Liszt  namentlich  in 
den  Momenten  der  Extase  gern  verwendet 

Andere  Erscheinungen  des  Stils  mflssen  auf  die  Natur 
und  die  Schranken  der  musikalischen  Begabung  Liszts 
zurfickgeCfthrt  werden:  der  vorwiegend  eklektische  Cha* 
rakter  seiner  Melodik,  seine  Abhängigkeit  von  chroma- 
tischen Gängen,  melodischen  Ausnahmsintervallen  und 
anderen  Reizmitteln  des  Ausdrucks,  die  zu  stehenden 
Formeln  verbraucht  werden;  endlich  der  größere  Teil 
jener  Satzbildungen,  in  denen  Perioden  und  größere 
Redeteile  durch  unaufhörliche  Wiederholungen  und  bloße 
Transposition  des  ersten  Gliedes  entwickelt  werden.  Es 
kommt  zu  diesen  Eigenheiten  auch  noch  der  Umstand, 
daß  einzelne  Rompositionen  Liszts  augenscheinlich  sehr 
flüchtig  hingeworfen  sind.  Aber  eine  außerordentliche 
Gabe,  mit  wenigen  Strichen  einen  Charakter  zu  zeichnen, 
leuchtet  auch  noch  aus  den  schwächsten  unter  seinen 
Orchesterwerken.  Die  Mehrzahl  von  allen  fesselt  durch 
den  Geist  und  die  Hingabe,  welche  sich  in  der  Haltung 
des  Ganzen  aussprechen,  durch  die  Wärme  des  Aus- 
drucks, die  Macht  der  poetischen  Anschauung,  welche 
einzelne  Stellen  belebt,  durch  eine  Reihe  schöner  Mo- 
mente, deren  Genialität  selbst  vom  Standpunkte  des  ab- 
soluten Musikgenusses  nicht  geleugnet  werden  kann.  Daß 
aber  Liszt,*  ähnlich  wie  dies  Gluck  seinerzeit  bei  der 
Opemkomposition  getan,  auf  diesen  absolut  musikalischen 
Standpunkt  bei  seinen  Programmsinfonien  verzichtet,  soll 
der  Zuhörer  nie  vergessen  und  dem  Komponisten  mit 
einiger  Gutwilligkeit  —  den  poetischen  Gegenstand  der 
musikalischen  Schilderung  fest  im  Kopfe!  —  entgegen- 
kommen. In  diesem  Falle  wird  man,  wie  es  beabsichtigt 
ist,  die  Formen  und  den  Ideengang  der  Lisztschen  Or- 
chesterkompositionen leichter  finden,  als  die  anderer  pro* 
grammloser  Sinfonien,  und  ihnen  Anregung  und  Genuß 
verdanken. 


_^    387    •— 

Die  -Lfsztsclien  Orchesferwerke  umfassen  —  außer 
einigen  Bagatellen  —  8  Sinfonien  und  12  sogenannte 
trinfoniscbe  Dichtungen.  Unter  den  beiden  Sinfonien  ist 
fdde  im  Jahre  1856  geschriebene  Fan  st  Sinfonie  (nach 
Goethe),  die  durch  die  Menge  der  Ideen  and  durch  die 
Kunst,  mit  welcher  sie  entwickelt  sind,  henroiragendere. 
Sie  ist  in  drei  Sfttzen  gehalten,  weiche  Liszt  9  Charakter- 
bilder« nennt,  womit  also  ein  Anschluß  an  den  szenischen 
Verlauf  der  Goetheschen  Dichtung  von  vornherein  abge- 
wiesen wird.  Hierin  verfährt  Liszt  ungleich  mehr  musi- 
kalisch, als  Berlioz  in  »Romeo  und  Julie«. 

Der  erste  Sat^;  (Lento  und  AUegro,  C  ({:;,  s/4,  Cdur  f.lissi, 
und  GmoU)  gilt  der  Hauptfigur  des  Gedichtes,  dem  »F  aus  t«.  Faust. Sinfoni« 
W&hrend  die  Normalsinfonie  zwei  Themen  im  ersten  Satz 
aufstellt,  bringt  Liszt  hier  vier,  die  die  hervortretendsten 
Zflge  der  Faustnatur  veranschaulichen  wollen:  das  grü- 
belnde, melancholisch-dämonische  Element,  das  Ringen 
und  Streben,  das  Liebessehnen,  die  heroisch  tatenfrohe 
Seite  seines  Wesens.  Das  erste,  Zweifel,  Gram,  Gefühl 
der  Öde  ausdrückend: 


P  Celli,  Brat»eli«B 

^^..^^     ^  beruht  in  seiner  vorderen  Hälfte  auf 

Tu    'M?  l^'^^ff  *  *  I  ^^^  übermäßigen  Dreiklang.   Gewiß 
^  iotenii        ^  ist  dieser  bis  dahin  noch  niemals  in 

ähnlicher  Weise  für  ein  Sinfoniethema  verwendet  worden 
find  hat  bei  den  ersten  Aufführungen  des  Lisztschen  Werkes 
ongewöhnliches  Staunen  erregt. .  Aber  um  auf  den  über- 
spannten Zug  in  Fausts  Geist  hinzuweisen,  war  das  Mittel 
glücklidi  gewählt.  Das  Thema  findet  seine  nächste  Fort- 
setzung in  einer  Reihe  kleiner,  freier  Monologe,  die  zwischen 
den  Blftsem  wechselnd,  die  äußerste  Niedergeschlagen- 
heit tinssprechen.  Im  11.  Takte:  Stocken,  Fermate!  Darauf 
repetiert  der  Satz  von  C  aus  und  tritt  dann  in  ein  wildes 
Allegro  (Cf  'A»  V«)  ^^^')  i^  welchem  die  Klagen  des 
Hauptmotivs  von  den  Flammen  der  Verzweiflung  und 
BmpOrung  umlodert  erscheinen.    Bereits  hier  wird  eine 

2o* 


388     <w- 


Schwiengkeii  sehr  bemerkbar,  die  der  Hörer  im  ganzen 
Verlauf  der  Sinfonie  immer  wieder  zu  überwinden  hat 
Das  ist  die  metrische  Mannigfaltigkeit  der  Mosik.  Es 
findet  foftwährend  Wechsel  von  Takt  und  Rhythmus 
statt  Wer  zu  schlafen,  zu  träumen  und  nur  äußerlich 
zu  hören  gewöhnt  ist,  erhält  harte  Stöße;  nur  mit  leben- 
diger Phantasie  und  regem  Geist  erwirbt  man  sich  den 
Genuß  an  diesem  Kunstwerk!  Das  zweite  Thema,  das 
von  der  ausgeführten  Gruppe  des  ersten  durch  ein  kurzes 
Lento  getrennt  wird,  ist  weniger  original  als  das  erste, 
erinnert  an  Spohrsche  und  Schumannsche  Weisen;  aber 
wirkt  an  seiner  Stelle  warm  und  edel.  Es  repräsentiert 
lebenswüligere  Elemente  der  Faustnatur:  Ringen,  Streben, 
Hoffen.  Das  Hauptglied  seines  technischen  Organismus 
bilden  die  folgenden  Takte: 


Vl«i; 


Am  Schiasse  des  Satzes,  der  dieses  Thema  entwickelt, 
wird  die  Stimmung  wieder  trostlos:  die  Bläser  klagen 
und  bitten: 


■'nTTD'"^  ■ 


Es  folgt  eine  kurze  Episode  (Meno  mosso,  0/4  und  V4) 
traumhaft  phantastischen  Charakters,  in  welcher  schatten* 
hafte  Figuren  (Violini  con  sordini)  das  erste  Thema  flüchtig 
umschweben.  Wie  eine  freundliche  Vision  erscheint  nun, 
eingeleitet  durch  eine  Art  Rezitativ,  in  dem  Cello  und 
Violine  leidenschaftlich  die  Schlußnoten  vom  ersten  Thema 
austauschen,  als  drittes  Thema  eine  Melodie,  aus  den 
beiden  letzten  Takten  vom  Thema  a  entwickelt,  welche 
dem  schwärmerischen  Zuge  im  Faust,  seinem  Sahnen 
und  Lieben  gilt: 
aadaaU. 

,Ctor.».Soni 


389 


nst» 


Sie  setzt  im  nenen  Tempo  ein,  wechselt  die  Taktarten, 
schließt  nicht  streng  ab  und  veranschaulicht  damit  auf 
einmal  die  ganze  Reihe  Freiheiten  der  Gestaltung,  in 
denen  Liszt  zum  Zweck  einer  lebendigen,  dramatischen 
Darstellung  vom  üblichen  Gange  abweicht  Man  wird 
dieses  Thema  auch  im  zweiten  und  im  dritten  Teile  der 
Sinfonie  wiederfinden.  Ea  bildet  eins  der  wichtigsten 
»Leitmotive«  des  Werkes,  deren  Prinzip  Liszt,  wie  schon 
angedeutet,  von  BerUoz  Übernommen  hat  Faust  trennt 
sich  von  dem  beglückenden  Bilde,  wie  vom  Freuden- 
rausche ergriffen;  die  Energie  erwacht  wieder  (AUegro 
con  fuoco,  dem  das  Sechzehntelmotiv  vom  Thema  b  zu 
Grunde  liegt),  Tatkraft  und  Stolz  regen  sich  und  finden 
ihren  Ausdruck  in  dem  spannend  eingeleiteten  vierten 
Thema: 


Orandloso. 


Wer  die  Vorzeichnungen  der  hier  mitgeteilten  Themen 
ansieht,  kann  nicht  im  Zweifel  sein,  daß  Liszt  so  wie 
mit  der  Metrik  auch  mit  der  Harmonik  von  allem  Her- 
kommen abweicht  In  0  begann  die  Themengruppe;  mit 
dem  hier  zuletzt  gebrachten  vierten  Glied  schließt  sie  in 
Hdur.  Wir  treten  nun  in  den  Durchführungsteil  ein. 
Denn  der  erste  Satz  der  Faustsinfonie  hält  an  der  üb- 
lichen Gliederung  in  Themengruppe,  Durchführung,  Re- 
prise fest  Diese  Durchführung  beginnt  mit  einer  Kom- 
bination des  vierten  und  dritten  Themas,  das  letztere 
allerdings  in  Moll  und  Leidenschaft  verwandelt;  dann 
folgt  ein  zweiter  Abschnitt,  der  erstes  und  zweites  Thema 
gegeneinander  stellt,  von  jenem  durch  einen  Übergangs- 
satz heftigen  Charakters  getrennt    Der  dritte  Abschnitt 


(^ 


--#    390    ♦-^ 

der  Durchf&hnmg  zeigt^  daß  das  zweite  Thema  allein  zur 
Herrschaft  gelangt^  aber  mit  einem  Zusatz  von  Erregung 
und  Wildheit,  der  die  Physiognomie,  mit  der  es  in  der 
Them6ngmppe  auftritt,  vollständig  ändert.  Sehr  natfir- 
lich  und  folgerichtig  führt  diese  Wendung  in  die  Reprise 
hinüber.  Das  erste  Thema,  als  höchster  Ausdruck  von 
Faust?  Seelenleid,  kehrt  wieder  und  mit  ihm  die  ganze 
Themengruppe,  aber  mit  Modifikationen,  welche  als  die 
moralisdien  Wirkungen  des  Thema  c)  aufzufassen  sind: 
Die  Liebe  hat  Fausts  Wesen  verwandelt 

Das  Verhältnis  der  drei  Hauptgruppen  des  ersten 
Satzes  weicht  hiemach  in  Liszts  Faustsinfonie  vom  Her- 
kommen namentlich  dadurch  ab,  daß  der  Schwerpunkt 
aus  der  Durchführung  in  die  Reprise  verlegt  ist 

Jene  ist  sehr  kurz  gehalten,  verfolgt  nur  den  Zweck, 
den  Rückfall  von  der  heroischen  Stimmung,  mit  der  die 
Themengruppe  schloß,  in  die  verzweifelte  des  ersten 
Themas,  des  Anfangs  des  Charakterbildes  psychologisch 
zu  motivieren.  Die  Reprise  aber  ist  nichts  weniger  als 
bloße  Wiederholung  der  Themengruppe:  sie  zeigt  uns 
Fausts  Inneres  noch  einmal,  führt  noch  einmal  die  Ele- 
mente der  ersten  Hauptgruppe  vorüber,  aber  in  anderer 
Anordnung,  in  andrem  Charakter,  andren  Verbindungen, 
sie  zeigt  einen  neuen  Faust.  Mit  dieser  veränderten  Be- 
deutung der  Reprise  knüpft  Liszt,  durch  ein  musikalisches, 
poetisches  Naturrecht  bereits  genügend  gestützt,  an  An- 
regungen an,  die  Beethoven  namentlich  in  seinen  großen 
Leonoren-Ouvertüren  gegeben  hat 

Noch  in  zwei  andren  Punkten  weicht  die  Form  dieses 
Lisztschen  Faustsatzes  von  der  Sinfonik  des  19.  Jahrhun- 
derts ab:  in  der  Beschränkung  der  motivischen  Entwicke- 
lung  und  in  der  Äußerlichkeit  der  Übergangsideen.  An 
beide  Erscheinungen  haben  seine  Gegner  bis  zu  einem 
gewissen  Grad  mit  vollem  Recht  ihre  Bedenken  und  ihren 
Tadel  geknüpft  Gegen  eine  sparsamere  Verwendung  moti- 
vischer und  thematischer  Arbeit  läßt  sich  grundsätzlich 
schon  deshalb  wenig  einwenden,  weil  dieses  Erbe  einer 
philosophisch  und  poetisch  sehr  reichen  Zeit  den  geistig 


391 


ärmereu  Sinfoniekomponisten  von  heule  und  ihren  Zu- 
hSrern  in  der  Regel  Verlegenheit  bereitet. 

Der  2 weite  Satz  4er  Faustsinfonie  ist  »Gretchen« 
übeischiieben.  Dieser  Gretchensatz  ist  durch  Einzelauf- 
fühnmgen  bekannt  geworden  und  hat  auch  in  denjenigen 
Kreisen  Freunde  gefunden,  welche  der  Natur  und  der 
Form  der  Faufitsinfonie,  wie  überhaupt  der  ganzen  Lisütp 
sehen  Kunst,  apathisch  oder  feindlich  gegenüberstehen. 
Er  verdankt  diesen  Erfolg  der  gleichbleibenden  Freund- 
lichkeit des  Inhalts  und  der  gewinnenden  Einfachheit, 
mit  der  Gretchens  holde  Mädchengestalt  gezeichnet  ist 
Dieser  Gretchensatz  (Andante  soave,  Hauptzeitmaß:  s/4, 
Asdur)  zeigt  die  auch  bei  langsamen  Sätzen  bekannter* 
maßen  seit  Haydn  übliche  Dreiteilung,  das  Sonaten- 
schema, aus  Themengruppe,  Durchführung  und  Reprise 
bestehend.  Ein  kurzes,  träumerisch  und  weich  schwär- 
mendes Präludium  von  Flöten  und  Klarinetten  leitet  den 
Satz  ein,  dessen  erstes,  schlichtes  Thema  einen  lieblichen, 
zarten  Charakter  hat: 


AndAOte 


Beim  ersten  Eintritt  trägt  es  die  Oboe  vor:  nur  vo|i  einer 
Bratsche  begleitet,  ein  Meyerbeerscher  Instrumentations- 
effekt! Liszt  hat  aber  diese  dürftige  seltsame  Begleitung 
aus  Innern  Gründen  gewählt:  Es  kam  ihm  darauf  an,  die 
Gestalt  Gretchens  zwar  eigen,  aber  ganz  bescheiden  und 
unscheinbar  einzuführen.  Bei  jeder  Wiederkehr  erscheint 
uns  die  zarte  Melodie  stattlicher  und  bedeutender.  Der 
Zuhürer  hat  sie  zu  merken,  denn  im  Schlußsatz  der  Sin- 
fonie übernimmt  sie  die  poetische  Hauptrolle.  Das  zweite 
Thema: 


rfff/cr  itm6ro$» 


--♦    392    ^^ 

das  vom  |)eruh igten  Gtemüt,  vom  heimlichen  sicheren 
Liebesglück  zu  erzählen  scheint,  ist  eine  von  Liszts  ge- 
lungensten Melodien.  Eine  sehr  gewählte,  durch  nach 
oben  gehende 'Baßvorhalte  eigene  und  schöne  Harmonie 
erhöht  die  Wirkung.  Zwischen  den  beiden  Themen  liegen 
einzelne  frappante  Momente:  ein  Oboeneinsatz  auf -einer 
jähen  Modulation,  als  wenn  in  Gretchen  plötzlich  der 
Gedanke  an  Faust  erwachte:  eine  kleine  Episode,  in 
welcher  zuerst  Flöten  und  Klarinetten,  dann  die  Violinen 

mit,  erst  schüchtern  und  _ 

Jeise,  dann  laut  und  stttr-=?£=|tfi  _n  J  ^  £  ,U  f  j  ]rjj__ 
misch  erregt,  um  die  Motive  um^  ^  ^  ~  " 

wie  um  »Er  liebt  mich«  und  >er  liebt  mich  nicht« 
spielen.  Bald  nachdem  das  zweite  Thema  veiklungen, 
setzt  das  Hom  mit  dem  Liebesgesang  des  ersten  Satzes 
ein  (s.  Thema  c):  Faust  tritt  auf!  Mit  diesem  Momente 
beginnt  der  zweite  Teil  des  Andante»  verläuft  aber  sehr 
ungewöhnlich.  An  Stelle  einer  Durchführung  und  Ver- 
arbeitung der  eben  gehörten  beiden  Themen  bringt  Liszt 
Reminiszenzen  aus  dem  ersten  Satz  der  Faustsinfonie. 
Zu  dem  Liebesthema  treten  die  Klagen  Fausts,  die  Motive 
des  Ringens  und  HofTens  (Thema  b).  Zum  Teil  erscheint 
die  MuSik  als  eine  wunderschöne  Szene  des  Gefühlsaus- 
tauBChes,  über  welche  der  Instrumentenklang  magisches 
Mondlicht  leuchten  läßt  In  Fausts  Seele  wird  es  ruhiger 
und  milder,  seine  düsteren  Gedanken  überkleidet  ein  heller 
Schimmer;  Jubel  und  Jauchzen  klingen  aus  seiner  Brust 
Dann  wird  schnell  abgebrochen,  als  wenn  eine  Vision 
plötzlich  schwindet  Die  Reprise  setzt  ein,  bringt  das 
erste  Thema  mit  4  Soloviolinen,  zitiert  nochmals  kurs 
das  Liebesthema  und  geht  über  das  zweite  Asdur-Thema 
schnell  zum  Schluß. 

Der  dritte  Satz  führt  den  »Mephistopheles«  ein. 
Die  ersten  Takte  entwerfen  kurz  und  meisterlich  das 
Signalement  des  kalten,  frechen,  kecken,  frivolen  Patrons, 
geben  ein  Bild  von  seiner  herausfordernden  Geroeinheit 
ebensowohl  als  von  der  vollendeten  Sicherheit  und 
Leichtigkeit  seines  Auftretens.    Dann  beginnt  die  »Spott- 


--♦    893    ♦^ 

gebart«  ihre  Arbeit:  spotten,  verneineii  and  verhöhnen. 
Die  Themen  Fansta  ans  dem  ersten  Satz  werden  ver- 
serrt,  verrenkt  und  mit  burlesken  Schnörkeln  versehen. 
Das  erste  Thema  wird  durch  Tempo  und  angehängte 
Figuren  zur  Fratze  gemacht,  das  zweite  durch  einen 
bissigen  Rhythmus  in  folgende  Mißgestalt  verwandelt: 
Aiügro  vivac«.  Zur  besonderen  Ziel- 

£  ^\  {I   j    I  j  f  fiijgga^^=g=s=  Scheibe  seines  maliti- 


THr  Ösen  Humors  hat  sich 
Mephisto,  »der  Geist,  der  stets  verneint«,  das  Liebes- 
motiv der  Sinfonie  ausersehen.  Er  zerreißt  eä,  wirft  die 
Stücke  hin  und  her,  verfolgt  es  unaufhörlich,  zieht  ihm 
Narrenkleider  an: 

Jt^^iiir"j-»iJjgg-TTnnrri3iJj??p  MF^i 

—  tind  auf  dem  Qipfel  des  Obermutes  angelangt,  jagt 
er  es  endlich  in  einer  regelrechten  Fuge  zu  Tode..  Es 
ist  etwas  dämonisch  Fortreißendes  in  dieser  Schilderung 
der  Mephistofei ischen  Lustigkeit,  und  die  Bewunderung, 
die  wir  der  Virtuosität  zollen  müssen,  mit  welcher  Liszt 
die  Themen  der  früheren  Sätze  umgebildet  hat,  wird  in 
nichts  dadurch  vermindert,  daß  wir  uns  an  das  Muster 
erinnern,  welches  in  der  Sinfonie  fantastique  von  Berlioz 
hierfür  berei.ts  vorlag.  Denn  dieses  Muster  hat  Liszt  be- 
trächtlich überboten.  Hier  ist  die  motivische  Arbeit,  auf 
die  im  ersten  Satz  verzichtet  wurde,  glänzend  und  in 
neuer  Weise  geleistet.  Es  kommen  aber  in  diesem  Finale 
der  Faustsinfonie  auch  Momente  vor,  welche  über  ein 
Charakterbild  Mephistos  im  engeren  Sinne  hinausgehen 
und  an  den  Verlauf  der  Goetheschen  Dichtung  anknüpfen: 
Mitten  in  den  wildesten  Exzessen  der  Höllenmusik  ertönen 
feierliche  und  dumpfe  Klänge,  die  an  Grab  und  Geister- 
welt erinnern.  Die  erste  Mahnung  dieser  Art  erklingt, 
nachdem  wie  unter  Hohngelächter  Fausts  erstes  Thema 


-^    394    ♦— 

(mit  dem  ttbermäßigen  Dreiklaug;  yorflbergezogen  ist,  ernst 
und  schwer  unter  Paakenbegleitnng  von  den  Bläsern  her. 
Sie  kehrt  sofort  wieder,  als  die  Bratschen  jenes  oben  ge-^ 
gebene  Fugenthema  eingesetzt  haben,  die  warnenden  und 
drohenden  Stimmen  lassen  sich  dann  w&hrend  der  Ver- 
spottung von  Fausts  heroischem  Thema  breiter  und 
schauerlicher  vernehmen  (Gestopfte  Hörner!}.  In  seiner 
»Hunnenschlacht«,  wo  ein  ähnlicher  Creisterkampf  ge- 
schildert wird,  behandelt  Liszt  beide  Parteien  gleichmäßig 
breit.  Hier  steht  nur  Mephisto  in  voller  Tageshelle  auf 
dem  Bild;- die  Himmelsmächte  stecken  gewissermaßen 
in  den  Wolken,  aber  ftir  jeden,  der  den  Komponisten 
überhaupt  verstehen  will,  deutlich  sichtbar.  Den  Sieg 
entscheidet  schließlich  Gretchens  blasses  Bild.  Im  Haupt- 
thema des  zweiten  Satzes  schwebt  es  heran  und  wird 
nach  einem  langen  letzten  Ansturm,  in  dem  die  gesamte 
Teufelsmusik  noch  einmal  durchgenommen  wird,  zum 
Zauberschild,  vor  welchem  Mephisto  das  Feld  räumt: 
Die  Musik  geht  in  ruhigen  Orgelton  tiber,  ein  Männer- 
chor tritt  auf  und  deklamiert  in  der  alten  knappen  Weise 
der  frfihchristlichen  Psalmodie  »Alles  Vergängliche  etc.«: 
Der  Solotenor  flicht  in  diese  einfach  weihevollen,  kirch- 
lichen Klänge  zum  letztenmale  Gretchenmotive  hinein, 
und  so  klingt  das  Werk  mit  einer  mystisch  verklärten 
Wendung  aus. 
F.Mut,  Liszts  im  Jahre  18ö6  vollendete  Dante-Sinfonie 

Oantc-Sinfonie.  hat  nur  zwei  Abtheilungen  t  Inferno  und  Purgatorio,  Na- 
men, die  uns  in  Phantasiegebiete  führen,  welche  die  Musik, 
in  erster  Linie  die  kirchliche,  seit  alten  Zeiten  oft  genug 
aufgesucht  hat.  Gegen  einen  ursprünglich  geplanten 
dritten  Teil:  »Paradies«  sprach  R.  Wagner  im  Juni  1856 
lebhafte  Bedenken  aus*).  DaG  Liszt  in  seiner  Schilderung 
von  Hölle  und  Fegefeuer  der  Divina  Comedia  Dantes  folgt, 
wird  aus  einzelnen  Zügen  des  ersten  Satzes  bemerkbar, 
namentlich  durch  die  süße  Szene,  welche  der  Erscheinung 

*)  Briefwechsel  zwinchen  Wagner  und  Lltzt(1887),  I.  Band. 
8.  78. 


«^     895    ♦— 

de&  klassischen  Liebespaares,  Franzeska  und  Paolo,  ge- 
widmet ist.  Keineswegs  aber  versucht  der  Komponist  die 
ganze  Pragmatik  der  Dichtimg  ins  Musikalische  zu  fiber- 
tragen und  den  Dichter  auf  allen  Gängen  zu  begleiten, 
sondern  beschränkt  sich,  wie  in  der  Mehrzahl  seiner  Pro- 
grammkompositionen, auch  hier  dairauf,  wenige  hervor- 
ragende Ideen,  solche,  die  musikalisch  faßbar  sind, 
nachzudichten-  und  denjenigen  TeU  ihrer  Seele  bloß- 
zulegen, welchen  die  Töne  voller  und  mächtiger  wieder- 
geben können  als  die  Worte.  Das  Inferno  trägt  eine 
Art  musikalische  Oberschrift:  eine  wuchtige  Melodie  der 
Blasinstrumente,  Lento. 
die  dius  hier 
stehende  Thema 
unter  unheimlicher  Begleitung  von  Paukenwirbel  und 
Tamtamschlägen  in  dreimaligem  Anlauf  höher  und  höher 
tragen.  Diese  Melodie  soll  uns  die  Worte  vor  die  Phan- 
taue  rufen,  die  über  Dantes  Höllentor  stehen:  »Per  me 
si  va  nella  cittä  dolente  etc.«  Das  berühmte  >Laaciate 
ogni  speranza  etc.«,  von  Trompeten  und  Hörnern  in  dem 
bekannten  Stile  der  Opemorakel  und  Geistererscheinungen 
hingeschmettert,  bildet  ihren  Abschluß: 

LentD. . 

jf  iii  mm  I II  iii^ 

Der  nun  folgende  erste  Teil  gilt  der  Schilderung  der 
Hölle,  ihrer  Schrecken  und  Schauer,  und  bestreitet  diese 
Aufgabe  mit  dem  Aufgebot  aller  düsteren  und  furchtbaren 
Elemente  der  modernen  Musik :  mit  chromatischen  Figuren 
und  Motiven,  mit  freien  Nonenakkorden  und  zusammen- 
geketteten Dissonanzharmonien,  mit  einer  bald  zuckenden, 
bald  fieberisch  hastenden  Rhythmik,  mit  Instrumenten- 
kombinationen,  die  drohen  und  ängstigen,  mit  allen  Hilfs- 
mitteln der  Tonwelt  in  ihrer  doppelten  Natur,  als  Kunst 
und  als  Naturerscheinung.  Den  Abschluß  dieser  Partie 
bildet  die  erneute  Intonation  des  Themas  des  >Lasciate«, 
jetzt  noch  von  Posaunen  und  Tuben  verstärkt.  Und  nun  er- 


r 


AI 


--e     396     «^ 

klingen  doppelte  Harfen,  duftig  und  leicht  schweben  Figuren 
in  Flöten  und  Violinen  auf  und  nieder,  die  Baßklarinette 
stimmt  ein  Rezitativ  an:  Klarinetten  und  englisch  Hom 
lösen  sich  mit  schmachtenden  und  wehmütigen  Weisen  ab: 
Das  klassische  Paar  erscheint  in  der  Hülle  eines  musikali- 
sehen  Dialoges.  Das  Cello  beginnt  an  einen  kurz  vorher  ge- 
hörtenZwiege-  ^^^  ^^^^^^  

sang  der  «^ay^M  it,  ,  .  fTT^.  ■■^rVtfp  if^ 
rinetlen  an  ;yWy  t  ^  P"  "P  IT  f^L  '  ^ 
lehnend    mit:  <^o^^^  - 

Die  Violinen,  baM  von  den  Bläsern  unterstützt,  antworten: 

Andante  an»oro«o,  ^US     diesem 

m — r-^-^M    .      ^£  .       .  T  n     Material  ent- 

r   r  p  M  rrr-r  r-MM  wickelt  sich 

dolce  — =^=—      ein      breiter 

Satz,  der  zu  Liszts  sdiöa^ten  Erfind  angen  zählt  und  an 
Zärtlichkeit,  Innigkeit  und  Wärme  an  das  Beste  heran- 
reicht, was  die  moderne  Oper  auf  diesem  Gebiete  auf- 
zuweisen hat  Das  Thema  des  »Lasciate«  verscheucht 
dieses  liebliche  Bild,  und  die  Greuel  der  Hölle  vollführen 
einen  zweiten  Reigen. 

Wenn  dieser  Satz  im  Totaleindruck  Liszt  vorwiegend 
von  der  Seite  des  unerbittlichen  Charakteristikers  zeigt, 
so  ist  der  Purgatorio  dagegen  eine  Idylle  größten  Stils, 
durchaus  anheimelnd  und  mehr  als  das:  auch  erhebend. 
Der  erste  Teil  des  Purgatorio  beginnt  wie  eine  Szene 
auf  der  Bergeshöhe:  Leise  säuselnd  sammeln  sich  helle 
Akkorde  und  umwogen  uns  wie  leichte  Wolken,  anmutig 
sanfte  Melodien,    die   in   Wagners   »Karfreitagszauber« 

passen  würden  und   an  Liszts  ^      Andante.    

eignen  »Orpheus«  erinnei'n,wech--jLa-j  j  j  |J  j  j  |  ^j 
sein  mit  einer  religiösen  Weise:  **^  #  -     -= 

Mit  Rezitativen  und  einsamen  Vioiinfiguren  wird  Um- 
schau gehalten,  nach  dem  Wege  zum  Himmel  gesucht 
und  leise  der  Erde  gedacht,  die  mit  ihren  Leidenschaften 
unendlich  weit  abliegt  von  diesem  reinen  Gefilde.  Es 
gibt  kaum  eine  zweite  Orchesterkomposition,  in  der  ein 
ätherisch  verklärter,  alles  Materielle  abstreifende  Ton  so 


-^    397     «^ 

«ntschiedeu  festgehalten  wird,  wie  hier.  Das  ergibt  aber 
für  den  Vortrag  Schwierigkeiten,  die  nur  ganz  selten 
überwunden  werden.  Diese  scheinbar  so  leichte  Musik 
verlangt  die  gründlichsten  Proben  und  vollständiges  gei- 
stiges  Einleben  jedes  Blitspielenden.  Den  zweiten  Teil 
des  Purgatorio  bildet  ein  Fugensatz  über  folgendes 
Thema: 

LUB6Bt080. 


^  ^  Aus  diesem  Fugensatze  klingen  Re- 

;  J)  r]  Sp  f  A|J^     signation  und  Betrübnis.    Das  oben 
<i^  angeführte  religiöse  Thema  schließt 

ihn  ab  und  und  leitet  zum  letzten  Abschnitte  des  Pur- 
gatorio über:  einem  Chorsatz.  In  ihm  intonieren  Frauen- 
stimmen das  Magnifikat  und  führen  seine  frommen  Themen 
in  einer  einfachen  Weise  durch,  welche  sich  dem  Palestrina- 
stil  nähert.  Das  Orchester  geht  in  schimmernden  Klängen 

mit,  bald  zart  und  mystisch  wie  eine  Aeolsharfe,  bald 
mächtig  und  in  ruhiger  Pracht  dahinrauschend.  Liszt  hat 
für  diesen  Schluß  zwei  Lesarten  gegeben,  von  denen  die 
erste  leise  ahnungsvoll  verhallt,  die  andere  extatisch 
und  verzückt  im  Forte  abbricht 

Es  wird  an  anderer  Stelle*)  auszuführen  sein,  wie 
Liszt  in  seiner  weitem  Entwicklung  dazu  kam,  die  mehr- 
sätzige  Sinfonie  aufzugeben  und  sich  ausschließlich  dem 
neuen  Typus  der  sogenannten  >sinfonischeu  Dichtungen«, 
die  durchaus  einsätzig  sind,  zuzuwenden.  Im  Inland  und 
Ausland  ist  auf  diesem  Gebiete  Liszts  Gefolgschaft  der- 
art gewachsen,  daß  die  mehrsätzige  Programmsinfonie 
dagegen  zurücktritt. 

Joachim  Raff  ist  der  Tonsetzer,  welcher  sie  nach      J.Baff, 
Berlioz  und  Liszt  eine  Zeitlang  am  erfolgreichsten  ver*  *^^  Walde. 
treten  hat.  Es  kommen  hier  unter  seinen  neun  Sinfonien 
die  Sinfonie  »Im   Walde«   (Op.  163)  und  die   »Lenore« 

*)  Im  3.  Band  dieses  Werkes,  der  Konzerte,  Ouvertüreo, 
Varlatloneii  nnd  andre  einsätzigeOrchesterkompositionen  enthalt. 


} 


398 


(Op.  177)  alfl  die  verbreitetsten  in  Betracht.  Ralf  hat  m 
beiden  WeriLen  die  viersätxige  Gestalt  der  Sinfonie  etwas 
unkenntlich  gemacht,  indem  er  seine  Konipositionen  in 
drei  Abteiinngen  gruppiert;  aber  wenn  man  die  einzelnen 
Abteilungen  näher  prüft,  so  findet  sich  der  vermißte  yierte 
Satz  irgendwo  als  blinder  Passagier. 

In  der  Waldsinfo  nie  fti^t  der  erste  Satz  den 
Titel:.  »Am  Tage:  Eindrücke  und  Empfindungen«.  Er  ist 
originell  eingeleitet  durch  einige  präludierende  Takte,  in 
welchen  die  beiden  Hauptthemen  des  Satzes  verkürzt  ihre 
Schatten  voranswerfen.  Das  erste  Thema  setzt  dann  im 
munteren  Wandertone  ein: 


Allegro 


Sein  Abschluß  und  die  Über- 
leitung zum  zweiten  Thema 
dauern  etwas  lange,  dann 


aber  kommt  letzteres  als  ein  echter  Raff: 

Die  Terzenbegleitung  der  Melodie,  No- 
___  nenakkorde  als  harmonische  Stütze  der 
•*•>  Hauptpunkte  gehören  zum  Signalement 
dieses  Komponisten;  wenn  er  zum  Gemüte  sprechen 
will,  kommt  ihm  in  der  Hälfte  aller  Fälle  diese  volks- 
artige Weise  auf  die  Zunge.  Sie  folgt  ihm  wie  eine  Er- 
innerung aus  Heimat  und  Kindeijähren  und  fehlt  fast  in 
keinem  von  Raffs  größeren  Werken.  Die  Anlage  des 
Satzes  ist  die  für  ein  erstes  Allegro  der  Sinfonie  übliche. 
In  der  Durchführung  treten  zu  den  beiden  Hauptthemen 
noch  allerhand  kleine  Waldteufel;  auch  verschiedene 
niedliche  Kunststücke  (Kanons  etc.)  hat  der  Komponist 
hier  untergebracht,  welche  kaum  jemand  beachtet  Die 
schönsten  Stellen  des  Satzes  liegen  abseits  ^ 
vom  Hauptwege:  da  wo  das  Orchester  still  rf' ' j  '  I  J^ 
den  einfachen  Rufen  des  Homs  lauscht:        9        '^'   ' 


399 


Die  zweite. Abteilang,  betitelt:  »In  der  Dümmerang«, 
besteht  ans  zwei  Sätzen:  A.  »Träumerei«,  B;  >Tanz  der 
Dryaden«,  welche  dem  Adagio  nnd  dem  Scherzo  ent- 
sprechen, wie  wir  sie  sonst  in  der  Sinfonie  zu  finden 
gewohnt  sind.  Raff  hat  sie  dadurch  enger  verbunden, 
daß  er  ohne  Pause  in  das  Scherzo  übergeht  und  an 
dessen  Schlüsse  das  Hauptthema  des  langsamen  Satzes 
noch  einmal  anklingen  läßt.  In  der  »Träumerei«  ist  die 
Fflhrung  einer  Melodie  übertragen: 

Aidaffio. 
Mio 


LjiLÜJiL2:'m!''^ii='^'^^ 


.     *  ,  I  .  "■  ^^  welcher  man  die  Kunst  bewundern 

j^J  j^lJ  j\J  kann,  mit  welcher  Raff,  ein  Genie  der 
"^''"^  ^^^^  Eklektik,  Beethovensche,  Schumannsche 
und  Wagnersche  Elemente  zusammenzuschmelzen  ver- 
stand. Der  in  seiner  Wirkung  edle  Gesang  entspringt 
der  Btust  des  Träumers.  Die  Traumbilder  selbst,  welche 
sieh  diesem  zeigen,  bestehen  aus  leichten  Gaukeleien: 
konzertierenden  Figuren  und  Phrasen  der  Bläser.  Der 
»Tanz  der  Dryaden«  —  Hauptsatz  Amoll,  Trio  Adur  — 
ist  nichts  als  ein  Pflichttanz,  eine  jener  rein  handwerks- 
mäßigen Leistungen,  die  den  Genuß  der  Raffschen  Kom- 
positionen immer  wieder  erschweren.  Die  dritte  Ab- 
teilung der  Sinfonie  heißt:  »Nachts.  Stilles  Weben  der 
Nacht  im  Walde.  Einzug  und  Auszug  der  wilden 
Jagd  mit  Frau  HoUe  und  Wotan.  Anbruch  des  Tages«. 
Man  muß  fragen,  wie  kommt  auf  einmal  die  nordische 
Sage  mit  Frau  Holle  und  Wotan  in  ein  Tonwerk, 
welches  sich  —  unbeschadet  des  Dryadenzitats  —  bis- 
her in  der  Sphäre  einer  reinen  Naturdichtung  bewegt 
hat?  Indes  beginnt  der  Satz  zwar  gar  nicht  nächtlich, 
aber  musikalisch  sehr  ansprechend  mit  einer  Fuge  über 
ein  Thema* 


_^    400 

AUegro. 


welches  ziemlich  ähnlich  anch  dem  Komponisten  C. Gold- 
mark bei  seiner  Sinfonie  »Ländliche  Hochzeit«  eingefallen 
ist.  Aber  dann  überkommt  Berlioz*  böser  Geist  den 
Tonsetzer  und  auf  Konto  der  »Frau  Holle«  entfesselt  er 
ein  Spektakelstück,  das  noch  häßlicher,  dabei  aber  viel 
gewöhnlicher  und  uninteressanter  ist,  als  die  Höllenszenen 
der  Sinfonie  fantastique  und  die  Orgien  des  Childe  Harold. 
Eine  Coda,  welche  die  Fuge  wieder  aufnimmt  und  leise 
verklingen  läßt,  sucht  den  Endeindmck  zu  retten.  Heute 
ist  die  Waldsinfonie  und  der  ganze  Raff  auch  bei  den 
Musikern  im  Kurs  gesunken.  Der  spätere  preußische 
Kultusminister  Bosse  hat  sie  schon  1878  sehr  abfällig 
beurteilt*). 
j.  B»ir,  Die  Sinfonie  »Lenore«  ist  Raffs  beste  Leistung  auf 
Lenore.  dem  hier  in  Betracht  kommenden  Gebiete:  edel  gedacht, 
frei  von  den  Auswüchsen  einer  ästhetischen  Halbbildung 
und  musikalisch  das  Beste  zusammenfassend,  was  Raff 
zu  bieten  hatte.  Eine  volle  Originalität  der  motivischen 
Erfindung,  wie  wir  sie  von  den  Führern  und  Meistern 
unserer  Kunst  verlangen,  ist  auch  in  der  Lenore  nicht 
zu  finden.  Fast  jedes  ihrer  Themen  zeigt  in  einem  Teile, 
zuweilen  in  der  ganzen  ersten  Hälfte  auf  fremdes  Eigen- 
tum, hier  sind  Beethovens  Quartette  die  Quelle,  dort  tritt 
uns  Schumanns  Klavierkonzert  entgegen.  Aber  die  ein- 
mal aufgestellten  Gedanken  sind  in  dieser  Sinfonie  zu- 
weilen mit  dem  Schwung  und  der  Wärme  behandelt,  die 
den  großen  Künstler  macht,  und  verfiele  nicht  Raff  auch 
hier  hin  und  wieder  in  eine  bequeme,  unausstehliche 
Redseligkeit,  in  das  rein  formelle  »Musikmachen«  ^  so 
würde  die  »Lenore«  geeignet  sein,  den  Namen  ihres 
Schöpfers  bei  der  Nachwelt  zu  verewigen. 

Die  erste  Abteilung  der  Sinfonie  schildert  das  »Lie- 
besglück«.  Sie  besteht  aus  zwei  selbständigen  Sätzen,  die 

*)  H.  Bosse:   Erinnerungeo.     (Grenzboten,  Jahrg.  19M.} 


401 


dem  gewöhnlichen  ersten  AUegro  und  dem  Adagio  in  der 
Sinfonie  entsprechen.  In  dem  Allegro  herrscht  ein  er- 
regter Geist.  Die  Liebe  redet  in  Tonen  des  Ober- 
schwangs, in  Themen,  die  kein  Ende  finden  wollen: 


AUegro 


;LLLij  ij' '  'LL'm'  ^"JiN^^p 


^rtiLLfi 


^  ^'V^'^'^N^         Dem  Jubel  und  dem  still  glücklichen  Sin- 
*r  ff  f  ^^pj»  jf  :nen  folgen  Szenen,  aus  denen  Sehnsucht 

und    Dankbarkeit    zugleich    sprechen. 


0  jj  l|i,l_j  Mi^r  IJL^  irXl '  A  ' 


Einen  der  schönsten  Momente  des  Satzes,  einen  Augen- 
blick still  süßen  Erinnems,  zeichnet  Raff  wieder 
mit  einer  seiner  .. — ^      -^     ^^TTT^    ♦"^ 

volkstümlichen       ^h^-p-ifj^^  }   ]*  ff  P  f  I  f  P   I 
Terzenmelodien :       *^     «» 

In  dem  Durchführungsteil  dieses  Allegro  lassen  sich 
Klänge  banger  Ahnung  hören.  Der  zweite,  der  lang- 
same Satz  der  ersten  Abteilung  gleicht  einem  Gespräch 
der  Liebenden,  beherrscht  von  dem  ruhigen  Tone  der 
des  Besitzes  sicheren  Liebe.  Naive,  trauliche,  herzliche 
Gedanken,  von  der  Art  wie  das  Hauptthema  beginnt: 
Andante  largbetto.  werden  ausgetauscht;  lä- 

chelnd hält  der  Bursche 
dem  Kosen  und  Flüstern 
seines  Mädchens  still;  freundlich  bestimmt  zusprechend, 
beschwichtigt  er  die  Sorgen  Leonores,  die  in  der  rezitativ- 
artigen GismoU-Episode  des  Satzes  einen  erregten  Ans- 


Kr«txichmar,  Führer.    I,  1. 


26 


-^    402    ♦— 

druck  finden.  Die  zweite  Abteilang,  betitelt  »Trennung«, 
besteht  in  der  Haoptform  ans  einem  MaiBCh,  der  alten 
Zuschnitt  hat  und  in  manchen  Wendungen  direkt  an  den 
»Hohenfriedberger«  erinnert.  Der  Krieg  ist  ausgebrochen: 
Wilhelm  muß  fort.  Ein  Mittelsatz  (Agitato  in  Gmoll)  ent- 
hält die  Abschiedsszene  der  Liebenden;  ein  Tonbild  aus 
leidenschaftlichen,  wie  ratlos  irrenden  Figuren,  weh- 
mütig klagenden  Weisen  und  schmerzvoUen  Akzenten 
zusammengesetzt.  Dann  setzt  der  Marsch  wieder  ein, 
am  Schlüsse  hört  man  ihn  wie  aus  der  Feme.  Es  ist 
viel  poetische  Kraft  in  dem  einfachen  Entwurf  dieser 
zweiten  Abteilung.  Die  dritte  Abteilung  behandelt  die 
»Wiedervereinigung  im  Tode«  mit  Grab-  und  Ghoralmusik,  ' 
in  welche  sinn«  und  wirkungsvoll  die  Motive  des  Trennungen 
marsches  und  der  langsamen  Liebesszene  hineingezogen 
sind.  Am  Anfang  der  Abteilung  bringt  Rafif  wohl  im 
Sinne  eines  Zitats  den  Abschnitt:  »Wenn  alle  Toten 
auferstehn«  aus  der  großen  Szene  des  »Fliegenden  Hol- 
länders« in  R.  Wagners  gleichnamiger  Oper.  Den  schauer- 
lichen Geistercharakter  der  Situation  deutet  ein  in  den  tie- 
feren Instrumenten  unaufhörlich  wühlendes  kurzes  Motiv 
.  an.  Am  Schlüsse  läßt  der  Komponist  über  den 
/V7  S>  Spuk  und  Lärm  der  viel  zu  langen  Gespenster- 
szene den  Vorhang  fallen  und  spricht  einen  sanft  weh- 
mütigen und  ergreifenden  Epilog. 

Von  den  übrigen  sieben  Sinfonien  Haffs  gehören  noch 
mehrere  der  Programmusik  an:  »In  den  Alpen«,  »Jahres- 
zeiten«, »An  das  Vaterland«.  Wie  die  unbenannten 
Werke  der  Gattung  aus  der  Feder  des  Komponisten, 
anter  denen  die  GmoII-Sinfonie  die  wertvollste  ist,  teilen 
sie  unleugbare  große  Schönheiten  mit  unbedeutenden 
zierlichen  Spielereien  und  Öden  Partien  der  bloßen  Rou- 
tine. Die  Vorzüge  einer  ungewöhnlichen,  starken  Ein- 
bildungskraft, eines  warmen  Gemüts,  welche  dieser  Ton- 
setzer besaß,  wurden  wett  gemacht  durch  den  Mangel 
an  jener  Sammlung  und  Hingabe,  welche  ein  wesentlicher 
Teil  der  Poesie  selbst  ist,  durch  das  Fehlen  jener  Kritik, 
welche  Bureaudienst  vom  Dienste  der  Kunst  unterscheidet 


«^    403    #^ 

Eine  andere  Sinfonie  »Leonore«,  die  ebenfalls  der  A«if.  Kligkarii. 
Bailade  Bürgers  folgt,  ist  von  Angust  Klughardt  ver-  »Leonor««. 
öffentlicht  worden.  Sie  hat  vier  Sätze,  nnter  denen  em 
Adagio  wegen  seines  Reichtums  an-  innigem,  unge- 
künsteltem Ansdrnck  hervorragt.  Auch  in  den  anderen 
Sätzen,  wo  die  Situationsmalerei  überwiegt,  spricht  Ge- 
müt und  Herz  in  fesselnden  Partien.  Das  Werk  ist  leider 
zu  wenig  bekannt  geworden. 

Unter  dei^'enigen  neueren  Sinfonien,  welche  in  der 
hergebrachten  viersätzigen  Form  ein  Programm  durch- 
zuführen suchen,  ist  als  eine  der  frühesten  Aberts 
»Golumbus«  zu  nennen.  Eine  der  musikalisch  gehalt- 
vollsten Programmsinfonien  der  vermittelnden  Richtung 
besitzen  wir  in  dem  »Wallenstein  <  von  Jos.  Rhein-  J.  Biieiuberger, 
berger.  Der  Komponist  hat  aus  der  Schillerschen  Tri-  WalienBiein. 
logie  die  Figur  der  »Thekla«,  die  Lagerszene  mit  der 
Kapuzinerpredigt  und  den  Tod  Wallensteins  zur  musi- 
kalischen Illustration  ausgewählt  und  diese  drei  Objekte 
an  das  Adagio,  das  Scherzo  und  das  Finale  der  Sinfonie 
verteilt  Den  noch  -freien  ersten  Allegrosatz  benutzt  er 
zu  einem  »Vorspiel«.  Das  letztere  führt  uns  am  Anfang 
mitten  hinein  in  das  frische,  kräftige  Lagerleben: 

AllegTo  con  faooo.  ^ 


JÖ*  etc. 

Wallen  stein  steht  hier  noch  fest  und  herrisch  in  der 

Menge;  später  zeigt  ihn  der  Komponist  in  seinem  Schwan- 
ken zwischen  düsteren  Ahnungen  und  freundlichen  Zu- 
kunftsträumen. Auf  letztere  bezieht  sich  wohl  das  eigen- 
tümliche Thema  der  Bläser,  welches  mit  dem  langen 
Verweilen  auf  einem  Tone  beginnt  und  dann  so  traulich 
Schubertsch  schließt.  Einzelne  Melodien  des  Vorspiele 
sind  von  einer  so  ausgeprägt  weiblichen  Schönheit,  daß 
sie  uns  von  Wallenstein  weg  an  Max  und  Thekla  denken 
lassen.    Dahin  gehört  das  träumerisch  wiegende  Thema: 

^ ^     4r^         welches  auch  in 

i  i  fi  Ifrl  Ip^^j  l'r  r  r  r  I^M  dem  Adagio  der 
**     ?  -—=   ==^   /      tÜT  Sinfonie      ver- 

26* 


-^     404     «^ 

wendet  ist.  Dahin  wohl  auch  die  italienisch  anklingende, 
direkt  mit  der  (erst  später  erfundenen)  »Mandolinata« 
verwandte  Melodie: 


Pill  moderato. 


welche  die  Durchführung  einleitet  und  einen  großen  Teil 
derselben  trägt.  Die  Nähe  der  Schicksalsmächte  wird  im 
Vorspiel  in  kurzen,  schwermütigen  Motiven,  in  Fermaten, 
welche  den  lebendig  bewegten  Gang  der  Darstellung  be- 
deutsam unterbrechen,  angedeutet..  Ihnen  namentlich 
scheint  die  hymnenartige  Melodie  zu  gelten,  deren  Haupt- 
motiv A  A  A  Sie  tritt 
folgen-  Ai  ^  I '»'   I  ''"  I  S-p"*  "ptf^-pw^jy  \  immer  in 

des  ist:  •'^    ^  ^lüT  dunkler 

Instrumentierung  auf,  so  oft  sie  in  dem  Satze  erscheint 
Beim  letzten  Male  geht  ihr  eine  sehr  eindringliche  Klage 
aus  dem  Munde  der  Klarinette  voraus.  Auch  im  zweiten; 
im  langsamen  Satze  der  Sinfonie  k^hrt  sie  wieder. 

Zu  den  leicht  verständlichen  Werken  der  Programm- 
musik gehört  Rheinbergers  Tongemälde  nicht;  am  wenig- 
sten das  »Vorspiel«  mit  seiner  Fülle  von  teilweise  sehr 
vieldeutigen  Themen.  In  der  musikalischen  Behandlung 
des  Materials  macht  sich  der  Einfluß  Beethovens  in  einer 
seltenen  Stärke  bemerklich.  Durch  das  >Vorspiel<  blickt 
deutlich  die  zweite  >Leonorenouvertüre«. 

Das  Adagio  der  Sinfonie,  »Thekla«  überschrieben, 
wird  von  folgender  schönen  Hauptmelodie  getragen: 


Auch  das  zweite  Thema  ist  in  seinem  mädchenhaften 
zarten  Charakter  nicht  mißzuverstehen.  Während  es  die 
Bläser  singen,  begleiten  die  Violinen  mit  munteren  Mo- 
tiven, welche  das  träumerisch  schwärmerische  Bild  der 
Tochter  Wallensteins  mit  einem  anheimelnden  Zusatz 
von  Zierlichkeit  ergänzen.    Am  Ende  der  Themengruppe 


405 


erscheint  eine  kleine  Episode  erregter  Natur,  welche  der 
Blnmenszene  Gretchens  in  Liszts  >Faust«  ähnlich  ist 
Sie  stützt  sich  ^  p>,  f„  In  der  Schlußhälfte  des 
musikalisch  auf  Hfr4^  J  Jl  ■  Satzes  wird  Thekla  wie- 
das  kleine  Motiv:         5?  derholt  von  Gefühlen  stüi^ 

mischer  Unruhe  ergriffen.  In  einem  derartigen  Momente 
ist  es,  wo  das  früher  erwähnte  Hymnenthema  des  ersten 
Satzes  beschwichtigend  eintritt 

Das  Scherzo  >Wallensteins  Lager«  wird  viel  einzeln 
aufgeführt  Es  verdankt  diese  Bevorzugung  seiner  be« 
stimmten  Charakteristik,  der  Einfachheit  seiner  Form  und 
seiner  launigen  Natur.  Die  Stütze  seines  *  Hauptsatzes 
bildet  das  Thema: 


AXicwxtüo, 


n^^i^^a»  #  U™  dasselbe  herum  reiht  sich  eine  kleine 
^a^^y^  Suite  lebendiger  BUder,  welche  das  Sol- 
—  datenleben  von  seiner  fröhlichen  Seite 
veranschaulichen.  Der  Triangel  klingt  mit  detn  Becken; 
ab  und  zu  gibt  auch  die  große  Trommel  grotesk  einen 
dumpfen  Schlag  darein.  Man  spielt  und  tändelt  anmutig 
und  gemütlich;  zuweilen  werden  auch  die  Szenen  wilder, 
barsch  und  derb.  Unter  den  vielen  Nebenthemen,  welche 
im  Satze  erscheinen,  macht  sich  besonders  das  folgende 
bemerkbar: 


Es  ist  die  Melodie  zu  »Wilhelmus  von  Nassau«,  einem 
niederländischen,  in  der  Zeit  der  Reformation  sehr 
beliebten  Reiterlied.  In  versteckteren  und  offenen  An- 
spielungen durchzieht  dieser  Volksgesang  das  ganze 
Scherzo  von  Anfang  an.  Schließlich  intonieren  es  die 
Bläser  in  seiner  Originalgestalt  zur  Freude  des  Chorus, 
welcher  es  brausend  aufnimmt  Da  auf  einmal:  General- 
pausen, Dissonanzen  —  ein  Wirrwarr  entsteht  Der  Ka- 
puziner  ist   da!     Seine  Predigt  vertritt    das  Trio  des 


— »    406    »^ 

Scherzo.  Außerordentlich  gelangen  hat  Rheinberger  den 
bald  bissigen,  bald  larmoyanten,  bald  salbungsvollen 
Ton  nachgeahmt,  welchen  der  Pater  bei  Schiller  anschlägt, 
und  die  Drastik  der  originellen  Szene  wird  in  der  Mnsik 
noch  dadurch  erhöht,  daß  hier  auch  die  Reaktion  der 
unfreiwühgen  Zuhörer  zu  einem  treffenden  lebendigen 
Ausdruck  kommt.  Der  Haupttrumpf,  welchen  die  über- 
mütigen Landsknechte  dem  Strafredner  entgegenstellen, 
ist  das  Reiterlied. 

Der  vierte  Satz  der  Sinfonie,  »Wallensteins  Tod«, 
hat  einen  kurzen  Prolog  (Moderato,  Dmoll,  o/s),  welcher 
den  tragischen  Inhalt  des  Kommenden  in  schreckenden 
und  klagenden  Tönen  kurz  feststellt  und  dem  unglück- 
lichen Helden  einen  edlen  Trauergesang  widmet.  Dann 
beginnt  mit  dem  AUegro  vivace  (Ddur,  y^)  ouie  Schil- 
derung der  letzten  Stunden  Wallensteins.  Bin  Tonge* 
murmel,  dem  im  Scherzo  von  Beethovens  Eroica  ähn- 
lich, sagt  uns,  daß  die  Szene  in  der  Nähe  des  Soldaten- 
lagers spielt.    Wir  hören  muntere  kriegerische  Weisen: 

Auch  Wallenstein  scheint 
zu  lauschen,  bis 
allmählich  in  Träu- 
mereien versinkt,  drückender  Natur  die  einen,  liebens- 
würdig entzückend  die  anderen: 


Alleg-ro  Tivace.  AuCh 

i  |<  II  n   I  I  r  H  I  I  r'  I    l  l    amen 
^        Jr  *'^  er  al 


«(0. 

Das  Schlußbild  seiner  Visionen  (Allegro,  0}  gleicht  einem 
Triumphzuge.  Wallenstein  erwacht.  Wieder  hören  wir 
den  Lärm  des  Lagers.  Der  Fortgang  ist  wie  vorhin.  Nur 
lenkt,  die  Traumszene  jetzt  in  eine  wunderschöne  Schlum- 
merszene (Adagio,  9/8,  Hdur)  über.  Zum  dritten  Male  be- 
ginnt darauf  die  Musik  mit  der  Schilderung  des  Treibens 
im  Lager.  Wieder  träumt  Wallenstein.  Jetzt  aber  werden 
die  Motive  von  grellen  Signalen  der  Posaunen  und  Trom- 
peten, von  wilden  Figuren,  von  Dissonanzen  und  von 
einem  gräßlichen  Aufschrei  des  ganzen  Orchesters  ab- 
gelöst.    Die  Katastrophe  ist  vorbei!    Mit  einem  kurzen 


407 


Epiloge,  dessen  Knappheit  auf  die  Realistik  der  letzten 
Szene  sehr  beruhigend  wirkt,  entläßt  uns  der  Komponist 

Schiller  hat  noch  zu  anderen  Programmsinfonien 
Veranlassung  gegeben,  die  im  Publikam  wenig  bekannt 
geworden  sind:  M.  Moszkowskis  »Joanne  d*Arc<, 
J.L.  Nico  dös  »Maria  Stuart«  etc. 

Eins  derjenigen  Werke,  in  welchem  zwischen  Pro- 
gramm und  Musik  nur  ein  lockerer  Zusammenhang  be- 
steht, ist  die  frQher  viel  gespielte  Sinfonie  »Frithjof«  H.HorMaa«, 
von  Heinrich  H  o  f  m  a  n  n.  Der  Kom  ponist  beschränkt  sich  »Fritl^of«. 
auf  den  erotischen  Teil  der  bekannten  Sage  E.  Tegnörs 
und  entwirft  in  dem  ersten,  zweiten  und  vierten  Satze 
seiner  Sinfonie  von  dem  Glucke  Frithjofs  und  Ingeborgs, 
▼on  ihrer  Trennung  und  ihrem  Wiederfinden  eine  Schil- 
derung, welche  an  und  für  sich  beredt  ist,  aber  sicher 
auch  auf  jedes  andere  Liebespaar  ebenso  gut  passen 
würde.  Das  Lokalkolorit,  unter  welchem  wir  die  Bilder  nach 
dem  Titel  des  Werkes  gern  sehen  möchten,  ist  in  einem 
eingeschobenen  dritten  Satze  »Lichtelfen  und  Reifriesen« 
extra  beigegeben.  Im  ersten  Allegro  der  Sinfonie,-  »Frith« 
jof  und  Ingeborg«  überschrieben,  wechseln,  in  der  Sprache 
der  modernen  Oper  geflüsterte,  zärtliche  Geständnisse, 
schmeichelnde  und  kosende  Reden  und  überschwängliche, 
glühende  Erklärungen.  Die  beiden  Hauptgestalten  sind 
in  ihren  Themen  mit  Motiven  charakterisiert,  welche  im 
Finale    der    Sin-  Ane|M. 


(\'    Hi  iTTTj!  rrrnj'i  i  i  [  n 


Der  zweite  Satz  heißt  »Ingeborgs  Klage < 
Mädchen  ist  repräsentiert  durch: 


Das  trauernde 


-A-M- 


AAMgio. 


und    durch    das 


Pili  uiiiiiato. 


Schumannsehe         ^^I.J   M    Hf  I'   iT^.'^iU^ 
(Cdur-Smfonie):        *     »        ■■=  =*-  n-»" 


^ 


408 


la  der  sehr  kurzen  Darch- 
führang  ist  eine  Episode 


das  hoffen- 
de   durch:  

der  Erinnerung  an  Frithjof  gewidmet.    Sie  steht  auch 
motivisch  mit  dessen  Thema  in  ei- '  w  \    ______  i  f  7- 

iiem  erkennbaren  Znnnmmnnhnnc"  ^  ^"  U  ^jtl  ^^  ^" 
Die   »Lichtelfen«    des  dritten  Satzes  (>Intermezzo€) 
werden  durch  folgendes  Hauptthema  gezeichnet: 

Alltgro  »oderaio. 


P 


yf    Viol.  c.  Bord. 


Die  »Reif- 
riesenc  füh- 
ren über: 

einen  Tanz  aus,  des$en  wilder  Charakter  durch  hohe 
Triller  und  durch  kompakte  Bläsermassen  noch  verstärkt 
wird.  Die  Erfindung  und  die  Entwickelung  der  Themen 
zeigt  den  Einfluß  von  Mendelssohn  und  Gade.  Das 
Eigenste  des  Komponisten  liegt  in  der  lebendigen  Farben- 
mischungf  zu  deren  Reizen  ein  Glockenspiel  einen  außer- 
gewöhnlichen Beitrag  steuert. 

Der  vierte  Satz,  »Frithjofs  Rückkehr«,  beginnt  mit 
einer  anschaulichen  Einleitung.  Hornsignale  tönen  von 
allen  Seiten,  alarmierende  Figuren  der  Violinen  rufen 
uns,  einem  festlichen  Ereignis  zuzuschauen.  Die  heimat- 
lichen Helden  kehren  als  Sieger  zurück,  wie  uns  das 
aus  Wagnerschen  und  Weberschen  Elementen  zusammen- 
gesetzte und  mit  einem  frischen  Kopfe  gekrönte  Haupt- 
thema sagen  will: 

Allegro  vivao«. 


XT  Viol. 

Die  Seitengedanken  und  das  zweite  Thema: 


h\  i*'nMi)>"nT3i/rTriJ'].j:irfj;ri|-r^i(. 


Hochzeit 


.  _^    409    «^ 

• 

wenden  sich  intimeren  Herzensangelegenheiten  zu.  Schließ- 
lich erscheint  Ingeborg  mit  ihrem  Thema  ans  dem  ersten 
Satze  der  Sinfonie. ' 

Eine  nach  dieser  Sinfonie  veröffentlichte  Programm-  * 
-Buite  H.  Hofmanns,  >Im  Schloßhofe«,  gehört  zu  den 
besten  Leistungen  des  Komponisten. 

Ebenso  und  noch  mehr  lose  als  im  »Fritlgof«  smd 
die  Beziehungen  «wischen  Titel  und  Inhalt  in  der  Sin- 
fonie »Ländliche  Hochzeit«  von  Car}  Goldmark.  Der  C.eoUaark, 
Gegenstand  ist  für  ein  bescheideneres  Grenrebild,  etwa  im  'J'^^jD^^^ 
Umfang  und  Stil  der  »FestUänge«  von  Liszt,  sehr  ge- 
eignet, aber  für  eine  Sinfonie  odör  eine  große  Suite  — 
das  letzlere  ist  die  Goldmarksche  Komposition  eigentlich 
—  nicht  wichtig  genug.  Auch  ist  der  ländliche  Charak- 
ter des  zur  Darstellung  gewählten  Ereignisses  nicht  eben 
eindringlich  veranschaulicht;  einzelne  Partien  wieder- 
sprechen ihm  geradezu.  Aber  die  Goldmarksche  Sinfonie 
hat  ihren  musikalischen  Wert.  Sie  verbindet  Reichtum 
der  Phantasie  mit  einem  teilweise  eigentümlichen,  immer 
aber  fertigen  und  sicheren  Ausdruck. 

Der  erste  Satz  besteht  aus  12  Variationen.  Von 
F.  Lachner,  der  diese  Form  für  den  Eingangssatz  der 
Suite  eingeführt  hat,  unterscheidet  sich  Goldmark  da- 
durch, daß  er  die  Variationen  frei  durchführt  Nur  we- 
nige bringen  das  ganze  Thema;  in  einzelnen  finden  wir 
nur  kurze  motivische  Fragmente  desselben,  in  einer  dritten 
Gruppe  herrscht  nur  ein  ideelles  Verhältnis  zum  Modell. 
Der  Oberschrift  nach  bedeutet  dieser  erste  Satz  den 
»Hochzeitsmarsch«.  Im  technischen  Sinne  marschmäßig 
sind  nur  der  Anfang  und  der  zu  diesem  zurückkehrende 
Schluß.  Die  Variationen  haben  wir  uns  als  Figuren  aus 
dem  Hochzeitszug  oder  als  Stimmungsbilder  zu  denken: 
einzelne  phantastisch  oder  innig  und  beschaulich:  die 
Mehrzahl  flott,  feurig  und  freudevoll.  Das  Thema  selbst 
beginnt,  in  den  Bässen  allein,  mit  folgender  Periode: 

Moderato.  f 


Fß 


^ 


— t    410    ♦— 

welcher  der  entsprechende  Nachsatz  folgt    Es  schliefit 
mit  einem  freien  Abgesang: 


I     irifii  iri7iP^^ipMjiipf^j|yirruii 


dessen  lange  Noten  sich  sehr  hfibsch  in  den  Variationen 
bemerklich  machen.  Von  besonderem  Reize  ist  die  In- 
strumentation des  Satzes. 

Der  zweite  Satz  —  »Brantlied«  überschrieben  ~  ist 
eine  knappe  Komposition  in  der  Form  der  dreiteiligen 
Arie.  Der  Hauptsatz  hat  reizende  Elemente  Schabert- 
scher Melodik.    Sein  f&hrendes  Thema  ist  das  folgende: 

Allegretto. 


Wahl  der  Tonart  (Unterdominante)  große  Wärme. 

Der  dritte  Satz,   »Serenade«,   hält  die  kunstvollere 
Form  der  Sonate  ein.    Seine  Themen: 

Allegro  moderato. 

und  das  in  der  Durchfflhrang  bevorzugte: 

i,i  J;?l^^^p|^^^l^^^|)p^^'lLL!J^^'''^ll'l'l|l 


jTOb. 

sind  beide  leichter,  scherzender  Natur.  In  der  Instrumen- 
tierung, die  zuweilen  eine  dorfmäßige  Einfachheit  besitzt, 
und  in  der  Harmonie,  in  welcher  die  liegenden  Baßquinten 
eine  große  Rolle  spielen,  hat  der  Komponist  ländliche 
Züge  sehr  launig  eingewebt 

Der  langsame  Satz  der  Sinfonie  führt  den  Titel 
»Im  Garten«.  Die  Einleitung  dieser  Szene  und  der 
mit  ihr  identische  Ausgang  wird  mit  Recht  als  der 
schönste   Teil    der    ganzen    Sinfonie    angesehen.     Das 


— »    411    «^ 

I 

Thema,    Wel«     ^   .  Andante,  oto«     I   I   in  .       _ 

ches  ihm  zn-  ^'' "  ■  ^  If^^-Tmi  |  ,/  |  I  ^,1  | 
Gnmde  liegt:  "^  .  >  u  i    - 

bildet  in  dem  wildea  Finale  der  Sinfonie  dann  nochmals 
eine  kurze,  zarte,  tränmerische  Episode.  Den  mittleren 
Teil  des  Satzes  (Ges  dar,  »/gTakt)  bildet  ein  Liebesdialog, 
in  der  glühenden  Sprache  von  Wagners  »Tristan  und 
Isoldec  geführt 

Der  Schlußsatz  der  Sinfonie  heißt  »Tanz«.  Sein  Hanpt- 
thema: 

Allegpro  moUo. 


welches  zunächst  in  der  Form  der  Fuge  ausgeführt  wird, 
bringt  kecke  und  volkstumliche  Elemente  in  die  Kompo- 
sition hinein.  Unter  allen  Teilen  der  Sinfonie  ist  das 
Finale  derjenige,  welche  den  ländlichen  Charakter  der 
Hochzeit  am  treuesten  veranschaulicht  und  ein  wirkliches 
Stück  realistischer  Programmusik  bildet.  Eigentümlich 
und  mehrdeutig  sind  die  nach  Klang  und  Tonart  so 
fremden  Harfenakkorde,  welche  an  mehreren  Stellen  des 
Satzes  mitten  in  den  stärksten  Tumult  hineintönen.  Die 
menschenfreundliche  Richtung  der  > Ländlichen  Hochzeit« 
und  ihr  Reichtum  an  gut  volkstümlicher  Erfindung  lassen 
es  bedauern,  daß  Goldmaik  sich  auf  dem  sinfonischen 
Gebiet  nicht  entschiedner  ausgebreitet  h  at  Seine  zweite,  0.  eoid mark, 
programmlose  Sinfonie  (Bsdur,  op.  86)  ist,  weil  sie  im  Zweit«  Sinfoni«. 
Charakter  und  Stil  zu  bedenklich  schwankt,  ziemlich  un- 
beachtet geblieben.  Dieselbe  Verbindung  pastoraler  und 
heroischer  Elemente,  welche  die  zweite  Sinfonie  von 
Brahms  auszeichnet,  ist  hier  mißlungen. 

Die  neuesten  und  bedeutendsten  Beiträge  zur  Pro- 
grammusik hat  Richard  Strauß  geliefert  Aber  dieser  Biehnrd  stmas, 
Komponist  hat  sich  bald  für  die  Form  der  einsätzigen  »Aus  Italien«. 
sinfonischen  Dichtungen  entschieden;  Programmkompo- 
sitionen von  zyklischer  Anlage,  die  dem  Bereich  der 
Sinfonie  oder  Suite  zuzuweisen  wären,  gibt  es  von  ihm 
nur  eine.    Sie  heißt  »Aus  Italien«  und  scheint  jetzt, 


^ 


\ ' 


--•    412    •— 

4 

nachdem  der  Komponist  In  »Tod  und  Verklärung«,  in 
»Till  Eulenspiegel«  in  »Also  sprach  Zarathustra«,  im 
»Heldenleben«  und  in  der  »Sinfonia  domestica«  kühnere, 
die  Aufmerksamkeit  erzwingende  Wflrfe  getan  hat,  nach* 
träglich  stärkere  Beachtung  und  Verwendung  zu  finden. 
Mit  diesem  Werke  vollzog  der  Komponist,  der  bis  dahin 
mit  einer  großen  Fmoll*Sinfonie,  mit  einer  einsätzigen 
Serenade  för  Blasinstrumente  und  andren  Beiträgen  zur 
sogenannten  absoluten  Musik,  sich  als  ein  stark  eklek- 
tisches, anlehnendes  und  für  äußere  Effekte  begabtes 
Talent  gezeigt  hatte,  seinen  Obergang  in  das  Lager  Liszts 
und  der  Tonmalerei.  Es  ist  sein  Opus  16.  Strauß  nennt 
die  Komposition  mit  der  ihm  eignen  Willkür  und  Sonder- 
sucht, die  sich  auöh  in  den  oft  geradezu  verkehrten 
Tempobezeichnungeb  des  Werkes  äußert,  eine  »Sinfonische 
Fantasie«.  Das  eigentliche  Formgebiet,  dem  sie  von 
außen  und  innen  zugehört,  ist  aber  das  der  Suite.  Sie 
ist  eine  Programmsuite  von  freundlicherer  Art,  wenn 
auch  nicht  immer  ganz  maßvoll,  so  doch  frei  von  eigent- 
lichen Exzessen  der  Phantasie  und  der  musikalischen 
Ausführung  und  nach  letzterer  Richtung  reich  an  Proben 
eines  koloristisch,  in  zweiter  Linie  auch  melodisch  her- 
vorragenden Talents.  - 

Die  Straußsche  Fantasie  oder  Suite  hat  vier  Sätze, 
und  die  Hauptbilder,  die  er  in  ihnen  vorführen  will, 
heißen:  Auf  der  Campagna,  In  Roms  Ruinen,  Am  Strande 
von  Sorrent  und  Neapolitanisches  Volksleben.  An  Ver- 
suchen, italienische  Eindrücke  wiederzugeben,  ist  die 
Musik  im  allgemeinen  nicht  arm.  Im  Orchester  allerdings 
liegen  sie,  von  der  PilTerarisinfonie  des  Händeischen 
»Messias«  angefangen,  nur  spärlich  vor  und  haben  in 
Berlioz'  »Harold«,  seinem  »Römischen  Karneval«  und  in 
Charpentiers  »Impressions  d'Italie«  die  Hauptstücke  auf- 
zuweisen. Um  so  reicher  ist  die  Kammer-  und  Klavier^ 
musik  mit  ihnen  ausgestattet.  Die  Beiträge,  die  Strauß 
in  seinem  Programm  zu  diesem  Kapitel  zu  geben  ver- 
spricht, haben  die  musikalische  Möglichkeit  für  sicL 
Wer  an  die  Gampagna,  an  Rom,  an  Sorrent,  an  Neapel 


— •    418    %^ 

denkt,  dem  erweckt  schon  jedes  dieser  Worte  eine  Stim- 
mimg  für  sich,  jede  groß  und  jede  eigen.  Und  wenn 
man  die  ungeheure  FüUe  landschaftlicher  und  historischer 
Charaktere  Italiens  in  seiner  Phantasie  aufsteigen  läßt, 
muß  man  dem  Komponisten  das  Zeugnis  geben,  daß  er 
Hauptpunkte  gewählt  hat.  Venedig  beiseite  zu  lassen, 
mag  ihn  vielleicht  Liszts  Tasso  bewogen  haben. 

Was  die  »Campagna«  (di  Roma),  die  den  Gegen- 
stand des  ersten  Satzes  (Andante,  C}  Gdur)  bildet,  poe- 
tischen Gemütern  von  Horaz  bis  auf  Moltke  und  Grego- 
rovius  immer  wieder  eingeprägt  hat,  ist  vornehmlich 
ihre  schwermutsvolle  Schönheit  Hier  der  weiße  Sorakte 
mit  den  andren  herrlich  ragenden  Bergen  und  das  nahe 
Meer,  dort  die  Lavaströme,  die  die  Fluren  verwüstet, 
menschliche  Ansiedlungen  im  Tale  und  auf  der  Höhe 
vernichtet  haben.  Eine  Natur,  die  gelockt  und  gemordet 
hat,  eine  Landschaft,  deren  Reizen  die  Tücke  der  Malaria 
gegenübersteht. 

Strauß  hat  vor  diesen  Gegensätzen  mit  dem  Gefühl 
des  Rätselhaften  und  Geheimnisvollen  gestanden.  Fast 
scheint  es,  als  wolle  er  uns  eine  verrufene  Stätte,  ein 
▼erwunschnes  Land  schildern,  wenn  er  einsetzt: 

Andante.  J  =  62 


Der  hervortretende  Bratschenklang,  die  zwischen  Moll 
und  Dur  schillernde  Harmonie,  der  schleichende  Gang 
der  Motive  geben  der  Stelle  etwas  Märchenhaftes,  tot 
Gespenstisches,  etwas  uralt  Unheim- 
liches. Das  Leben  der  Gegenwart  regt 
sich  in  dem  bescheidenen  Motiv: 
das  die  Flöten  mehrmals  leise  in  die  Oede  hinetnrufen. 
Der  Wandrer  überwindet  durch  diese  Lebenszeichen 
die  Fremdartigkeit  des  ersten  Eindrucks;  die  Starre,  die 
sich  seiner  Empfindung  bemächtigt  hatte,  weicht  einer 
Mischung  von  Neugier  und  Wehmut,  die  die  Musik  in 
folgender  Weise  ausdrückt: 


^ 


414 


''■*  jjllJllJl 


Darauf  setzt .  das  Oktavenmotiv,  das  die  Flöten  zu- 
erst einführten,  mit  größrer  Entschiedenheit,  rascher 
nacheinander  und  in  zahlreichen  Instrumenten  ein; 
die  entfachte  Bewegung  verlischt  aber  sofort  wieder. 
Klagend  steigen  die  HÖrner  die  Skala  hinab  und 
der  Wandrer  faßt  seine  Eindrücke  in  eine  Melodie,  die 
ebensoviel  von  großen  wie  von  traurigen  Erscheinungen 
erzählt: 


j  f^  rT<i 


In  ihrem  weitern  Verlauf  heitert  sie  sich  mehr  und 
mehr  auf,  und  als  sie  zum  Es  Dur-Schluß  kommt,  da  setzt 
die  Trompete  mit  dem  lebensfrohen  Motiv  ein,  das  sie 
ius  Thema  2  zuerst  einfügte.  Gleich  einem  Herolds- 
signale locken  diese  wenigen  Trompetentöne  freundliche 
Nebenmelodien  herbei,  die  drängend  und  schwungvoll 
in  dieses  zweite  Thema  selbst  auslaufen.  Sein  Endteil, 
der  vorhin  wehmütig  klang,  kommt  jetzt  in  den  Hörnern 
glänzcDd  und  triumphierend.  Er  war  ein  Aufleuchten 
der  Stimmung.  Noch  ist  der  Horizont  mit  Gewölk  be- 
deckt. Das  elegische  Oktavenmotiv  und  das  muntre  Ein- 
gangsmotiv des  K  I  |— a  k  führen  in  den  Bläsern 
zweiten  Themas  J'  I  J-  ^  «^  einen  kurzen  frischen 
Kampf  gegen  einander,  in  den  auch  die  Streichinstru- 
mente J)ald  hineingezogen  werden.  Das  Resultat  ist: 
daß  die  Sonne  und  die  Freude  siegen.  In  einem  gran- 
diosen Fortissimo  kehrt  Gdur  —  zunächst  als  Quart- 
sextakkord —  zurück  und  bringt  eine  neue  Melodie  mit 
sich,  die,  allerdings  an  Elemente  de^^  zweiten  Thema 
anknüpfend,    die    erhabene   Schönheit    der   Campagna 


416 


hymnenar- 
tig  verherr- 
licht.     So       p. 

heginntsie:             P      '  '  '     f* 

Das  ist  der  Qlaaz-  und  der  Mittelpunkt  von  dem  Cam- 
pagnabild,  das  Strauß  uns  zeigt.  Es  ist  der  musikalische 
Niederschlag  eines  jener  Augenblicke,  wo  der  entzückte 
Blick  von  den  blauen  Linien  der  Rüste  hinübereilt  nach 
der  scheinbar  oben  am  Himmel  wie  eine  Vision  auf- 
tauchenden Peterskuppel,  wo  vor  dem  geistigen  Auge 
die  Zeiten  und  die  Gestalten  vorüberziehen,  die  über 
diese  Landschaft  hinweggeschritten  sind.  Da  wogt  es 
in  der  Seele  des  Beschauers  wohlig  und  auch  ernst: 
MpTM«  Thema    3 

^  -=i=»--  =*^    ^        den  Cellis 

wieder.  Ein  weitres  erregtes  Thema  tritt  in  den  Violinen 
hinzu.  Die  Musik  spricht  in  doppelten  und  dreifachen 
Zungen  in  jener  feurigen ,  oft  sinnverwirrenden  Poly- 
phonie,  die  die  jüngere  Komponistengeneration  aller 
Länder  von  R.  Wagner  gelernt  hat.  Strauß  läßt  aber 
in  dieser  Suite  schon  merken,  was  seine  spätem  sinfo- 
nischen Dichtungen  unwiderleglich  künden,  daß  -er  in 
dieser  besondren  Kunst  den  Meister  zu  überbieten  ver- 
mag. Dieser  Abschnitt  des  ersten  Satzes  seiner  Suite, 
der  ungefähr  der  Durchführung  im  gewöhnlichen  Sonaten - 
satz  entspricht,  endet  mit  einer  neuen,  in  den  größtmög- 
lichen Glanz  gekleideten  Intonation  von  Thema  4,  bricht 
aber  mitten  drin  plötzlich  ab.  Ein  geistierhafter  Bläser- 
akkord, das  elegische  Oktavenmotiv,  ein  kurzw  Aufzug 
der  Hauptthemen,  zum  Teil  in  lungekehrter  Ordnung  — 
Ende!  Die  neuere  Kunst  überhaupt,  nicht  bloß  die 
Musik,  scheut  ja  vor  keiner  Unfreundlichkeit,  wenn  sie 
die  Naturtreue  und  die  Lebenswahrheit  für  sich  hat. 
In  diesem  Fall  kommt  aber  auch  zu  Gunsten  von 
Strauß  eine  Schönheit  hinzu,  die  ganz  aus  dem  Cha- 
rakter des  Gegenstandes  fließt:   Die  Campagna  entläßt 


-_^     416    ♦-- 

Ihre  Freunde  mit  einem  elegischen  und  mysteriösen 
Endeindruck ! 

Der  zweite  Satz  (Allegro  molto  con  brio,  ^4  '/s> 
Cdur)  fährt  die  Oberschrift  >In  Roms  Ruinen«.  Sie 
wird  durch  den  Zusatz  ergänzt:  »Phantastische  Bilder 
entschwundner  Herrlichkeit,  Gefühle  der  Wehmut  und 
des  Schmerzes  inmitten  sonnigster  Gegenwart«.  Damit 
ist  eine  Reihe  poetischer  Vorstellungen  erweckt,  denen 
die  Musik  nicht  in  dem  erwarteten  Maße  gerecht  wird. 
Den  fröhlichen  Bildern  fehlt  der  phantastische  Charakter, 
die  Gefühle  der  Wehmut  und  des  Schmerzes,  die  großen 
Eindrücke,  die  sich  für  den  gebildeten  Beschauer  an 
Kolosseum,  Kapitol,  Forum  Maximum,  Pantheon,  Hadrians- 
burg  und  die  andern  erhabnen  Reste  der  Größe  des  alten 
Roms  knüpfen,  komipen  in  diesen  Tönen  nicht  zum  Vor- 
schein; dazu  fehlt  dem  Satz  vor  allem  die  Ruhe  und 
die  scharfe  Gliederung.  Er  ist  ein  sehr  eigensinniges, 
teilweise  wildes  Capriccio,  nicht  ganz  ohne  Züge,  die  sich 
auf  Wesen  und  Charakter  der  ehemaligen  Römerwelt 
deuten  lassen;  aber  viel  mehr  als  für  das  Programm 
für  den  Komponisten  charakteristisch,  der  in  jugendlicher 
Rücksichtslosigkeit  in  der  Wahl  und  Gestaltung  meiner 
Ideen  und  Einfälle  nur  seiner  subjektiven,  augenblick- 
lichen Disposition  folgt  und  nichts  nach  der  Fassungs- 
kraft einer  unvorbereiteten  Zuhörerschaft  fragt  Sie 
muß  in  diesem  längsten  der  vier  Sätze  auf  schwierige 
Rhythmen  und  auf  Hartnäckigkeit  im  Arbeiten  und  Ver- 
fölgen spröder  Motive  gefaßt  sein. 

Der  Satz  hat  wieder  wie  der  vorhergehende  eine  Drei- 
teilung in  Themengruppe,  Durchführung  und  Wieder- 
holung. .  Die  Themen gruppe  führt  mit 

Allegro  BLoItocOQ  brlo.  J*s66 


zunächst  vor  die  phantastischen  Bilder,  von  denen  das 
Programm  spricht. 


417 


Es  ist  eine  Weise,  mit  der  sich  der  Gedanke  an 
fri^hlicbe,  kräftige  Spiele  verknüpfen  läßt.  Ein  Zug  von 
Härte  liegt  in  ihr,  der  zum  altrömischen  Wesen  gut  paßt. 
Das  Thema  wird  sofort  in  einem  selbständigen  Sätzchen 
umgebildet  und  erweitert,  das  mit  einer  sehr  breiten, 
bunten  Modulation  —  in^ Trompeten  und  Posaunenklang 
gehüllt  —  nach  C  dur  zurückkehrt.  Man  erwartet  einfache 
Wiederholung,  aber  die  Melodie  kommt  größer  und  kecker 

^        |t       und  zieht  als- 

1      I   r       bald  ein  The- 

ma  nach  sich, 


i 


das  zum  ersten  Mal  auf  die  Gefühle  der  Wehmut  anzu- 
spielen scheint,  von  denen  die  Überschrift  redet: 


Oboe 


Es  hat  einen  Hang,  sich  ins  Unscheinbare  zu  verlieren, 
und  kommt  auch  bald  auf  einem  mit  ungestümer  Energie 
erfaßten  verminderten  Septakkord  außer  Sicht,  den  wir 
wohl  als  Akzent  des  programmäßigen  Schmerzes  auf- 
zufassen haben.  Erläutert  wird  er  durch  ein  neues,  drittes 
Thema: 


das  auf  die  Kraft  und  die  Größe  hinweist,  deren  Zeugen 
diese  Römischen  Ruinen  einst  gewesen  sind.  Nun  zeigt 
der  Ton-  ^  ^  ,  ,  j 
setzer    auf  ^   ^    -^  ^ — 


die  sonnige 

Gegenwart: 

und  verweilt  bei  diesem  anmutig  friedlichen  Thema  mit 

träumerischer  Befriedigung.   Da  kommt  ihm  doch  wieder 

dör  Gedanke  an  die  Ruinen  und  die  Frage:  warum  die 

blühende  Welt  verschwunden,  zu  der  sie  gehört  haben? 

Antwort  geben  die  Motive: 


Krvtsschmar,  FQhrer.    1,  I. 


27 


— •    418    •— 

^^^^^^^ 

Unfriede  wars  und  Kleinlichkeit.  Den  Blick  immer  wieder 
flflchtig  auf  die  sonnige  Gegenwart  gerichtet,  vertieft 
sich  der  Komponist  nn  das  Treiben  dieser  Mächte.   Seine 

Betrachtun-  ■      •      .        i^ ^i       .        i     i      i      l  i 

gen  gipfeln     «■''^„J    ..r^J    J      ^J   ■  J     i^ 

in      lauten 
Wehklagen: 

heißt  es  zuerst,  beim  zweiten  Mal  durchschneidet  den  Ver- 
such des  Stimmungsaufschwungs  ein  furchtbar  grausam 
(neben  Gdur)  hingesetzter  langer  Äs dur* Akkord! 

Die  Durchfährung  verknüpft  zunächst  Motive  aus  dem 
ersten  Thema  mit  solchen  aus  dem  fünften,  als  sollte 
ein  ßild  von  dem  ethischen  Prozeß  gegeben  werden,  der 
das  Wesen  der  Römer  verdarb.  Ihren  Hauptinhalt  bilden 
Satzgebilde,  denen  das  dritte  Thema  und  seine  Vor- 
stellungen zu  Grunde  Hegen.  Die  Größe  und  Macht  der 
alten  Welt,  die  Trauer  um  ihren  Untergang  sind  in  einer 
noch  viel  stärkeren  und  tiefer  eindringenden  Weise  als 
in  der  Themengruppe  die  Gegenstände  der  musikalischen 
Darstellung  in  der  Durchführung.  Einen  kleineren  Anteil 
nimmt  an  ihr  auch  die  wehmütige  Weise  des  zweiten 
Themas. 

Der  Wiederholungsteil  führt  die  Bilder  und  Betrach- 
tungen der  Themengruppe  mit  den  gewohnten,  hergebrach- 
ten kleinen  Änderungen  noch  einmal  vorüber.  Eine  kurze 
Angefügte  Coda  stellt  das  Thema  (4)  der  »sonnigen  Gegen- 
wart« in  den  Vordergrund  und  kehrt  von  den  Ruinen  in 
das  Leben  der  Zeit  zurück. 

Der  dritte  Satz  (Andantino,  '/st  Adur)  ist  der  eigent- 
Hche  langsame  Satz  der  Suite.  Strauß  bezeichnet  ihn  mit 
Andantino  ziemlich  mißverständlich;  ein  sehr  getragnes 
Tempo  ist  gemeint.  Sein  poetischer  Gegenstand  ist  Schil- 
derung von  Eindrücken,  Stimmungen  »am  Strande  von 


--♦    419    ^^ 

Sorrent«,  die  Ausführung  arbeitet  mit  ganz  ausgesucht 
feinen  und  eignen  Farben,  sie  arbeitet  lebendig  und 
elastisch,  aber  vorwiegend  zart. 

Zuerst  läßt  der  Komponist  die  Natur  sprechen  in 
einem  auf  wesentliche  Motive  verzichtenden,  fast  rein  in 
Akkord  und  Rhythmus  gehaltnen  Präludium.  Diese  zwei- 
unddreißig Takte  überschütten  aber  den  Hörer  mit  einem 
üppigen  Segen  vollsinnlicher  Klänge.  Da  huschen  Violin- 
figuren in  höchsten  Lagen  durcheinander,  Spielarten  und 
Tonregionen,  die  in  der  Regel  unberührt  bleiben,  werden 
lebendig,  die  verschiednen  Rhythmen  kreuzen  sich,  Triller 
und  Verzierungen  aller  Art  klingen  von  obeh  und  unten, 
in  Ruhe  und  in  Eile.  Das  Sätzchen  wirkt  blendend,  über- 
wältigt wie  eine  Landschaft,  die  den  Sinnen  mehr  bietet 
als  sie  aufnehmen  können. 

Dann  beginnt  eine  Szene  der  Träumerei  Der  Dichter 
spricht,  die  Seele  voll  Dank  und  höhrer  Wonne: 


H B FiB IWis      ■h"'a  ~ 

I  p"^     I  f^    [    -=     Den  Oberschwang  der 
1  t     P    i  -_P    I  r=     Stimmung      verraten 


eis  .  H —  E —  A  schon  die  verhältnis- 
mäßig zahlreichen  Nonenakkorde,  auf  denen  die  Melodie 
ruht.  Wie  warm  sie  auch  wird,  die  Außenwelt  bringt  sie 
nicht  zum  Schweigen,  jeden  Augenblick  kontrapunktiert 
eine  reizende  Stimme  aus  der  Natur  anmutig  hinein. 
Und  diesQ  Partei  nimmt  in  dem  mit 


^b 


f   '#*?  f 


eingeleiteten  Seitensatz  das  Wort  ganz  für  sich  in  Be- 
schlag, legt  ihren  ganzen  Eeichtum  aus  und  freut  sich 
ihrer  Macht  bis  zur  Leidenschaftlichkeit.-  Das  ist,  wo  die 

27* 


-^     420     <*~ 

scharfe  Dissonanz  cis-dis  im  forte  herausgestoßen  wird. 
Wie  über  den  lauten  Ton  beschämt  und  erschreckt,  ver- 
schwindet die  Sippe  der  Naturgeister  mit  einem  Schlag,  und 
der  Dichter  gibt  sich  aufs  neue  der  Beschaulichkeit  hin 

^^1  i  n  I  p  n  ipj 

H 

Eine  auf  einer  liegenden  Stimme  festgeh altne  und  sonst 
mit  Spannungsmitteln  ausgestattete  Begleitung  hebt  diese 
Weise  aus  der  populären  Sphäre,  der  sie  angehOrti  etwas 
heraus.  OhnB  Vermessenheit  dürfen  wir  sie  auf  trauliche 
deutsche  Heimatserinnerungen  deuten.  Bald  läßt  sich 
auch  einer  der  eingebornen  Südländer  hören.  Der  Satz 
schlägt  nun  nach  Amoll,  das  Tempo  wird  bewegter,  in 
den  Gelüs,  Bratschen  und  Fagotts  treten  raschere  Figuren 
auf.  Es  ist  als  ob  der  Wind  die  See  kräuselt.  Da  kommt 
ein  Boot  und  ein  Sänger  drauf  mit  einer  echten,  aus  dem 
Land  gebornen  Melodie,  einem  Abkömmling  jener  edlen 
Siciliänos,  die  seit  dem  Ende  des  17.  Jahrhunderts  von  jener 
Sorrenter  Gegend  her  über  ganz  Europa  gedrungen  sind: 


Gefährten  antworten  bald;  so  gibt  dieser  nur  kurze  Mittel- 
satz ein  sehr  willkommnes,  belebendes  Intermezzo,  fein 
dritter  Teil,  mit  dem  Tempo  des  ersten,  mischt  dessen 
thematisch?  Elemente  frei  und  phantastisch;  noch  stärker 
als  der  Anfang  steht  er  unter  dem  Zauber  schwirrender, 
girrender,  sinnverwirrender  Klänge  und  Figuren. 

Der  vierte  Satz  (Allegro  molto,  Vi»  Odur)  führt  uns 
»Neapolitanisches  Volksleben«  vor.  Was  wir  hier 
zu  erwarten  haben,  läßt  der  tolle  Einsatz  schon  ahnen. 
Das  volle  Orchester  stürzt  auf  einem  freien  Nonenakkord 
herein,  und  in  rasendem  Lauf  schwingen  sich  von  ihm 
die  Geigen  und  Bratschen  unisono  dem  Haupttkema  des 
Satzes  entgegen: 


421 


Allasro  nolto.  J«  1)£6 


Wer  einmal  zwischen  Monte  Cassino  und  Cäpri  gereist 
ist,  wer  in  der  Schweiz  etwa  wandernden  süditalischen 
Sängern  zugehört  hat,  dem  ist  dieses  Neapolitanische 
Favoritlied  »Faniculi  etc.c  und  dem  sind  ähnliche  Melo- 
dien geläufig.  Von  den  heiden  Geistern  der  Operette  und 
der  Degeneration  getrieben,  improvisieren  die  Kinder  dieses 
musikalischen  und  leichtherzigen  Volks  derartige  Weisen 
zu  jedem  Text  und  zu  jeder  Zeit;  der  ganze  ehemals  so 
reiche  Gesangschatz  des  Königreichs  beider  Sizilien  wird 
heute  fast  ausschließlich  von  ihnen  vertreten.  Wenn 
Strauß  also  sein  Finale  mit  diesem  Gassenhauer  eröffnet» 
so  erweckt  er  großes  Vertrauen  zur  photographischen 
Treue  seines  musikalischen  Bildes.  Die  Melodie  fährt 
mit  kräftigen  Gliödern  ihrem  Schlüsse  zu,  der  zugleich 
das  Ende  des  ersten  Abschnitts  des  Satzes  ist.  £r  kommt 
rascher  als  man  vermutet,   ^  ^  ^ 

kommtinHmollundführtzu  4  ^  J^^^^^^  I  P  ^ 
einem  Seitensatz,  der  über  •'^  'HK  "  ''  ~  *"  = 

und  ähnliche  lustige  Motive  leicht  und  anmutig  tändelt 
Er  baut  klar  und  emsig  in  zweitaktigen  Abschnitten  auf, 
zum  Schluß  hin  erhält  ,  ^^  ^  einen  Stich  ins 
er  durch  das  Eingreifen  yy  jl  ^jjl^^  ^  j  grotesk  Humo- 
chrom atischer  Bässe:  ristische.     Die 

stürmischen  Einleitqngstakte  kehren  wieder  und  führen 
zum  zweiten  Hauptthema  des  Satzes: 


r  IT  r  u  I  iii 


Es  ist  in  südländischer  Art  innig,  jedenfalls  liebenswürdig, 
und  zeigt  durch  die  Verteilung  auf  zahlreiche  Instru- 
mente  auf  das  echt  gesellige  Wesen  dos  geschilderten 


422 


Phil.  Sehftr- 

»Tranm  und 
Wirklichkeit«. 


Volks.  Lange  hält  dieser  ruhigere  Ton  nicht  an.  Themen- 
reich  wie  Liszt,  stellt  Stranß  bald  in  diesen  ersten  Teil 
seines  Finales  noch  einen  vierten  Gedanken,  der  fol« 
gendermaßen  bei  den  Flöten  beginnt: 


Er  bringt  in  die  Musik  eine  ganz  eigne,  halb  komische, 
halb  dämonische  Lustigkeit,  ein  Abbild  jenes  temperament- 
vollen nervösen  Wesens,  das  dort  unten  die  Revolutionen 
macht  und  auch  dem  Spiel  und  dem  Tanz  sein  Gepräge 
gibt.  Die  Abschnitte,  die  der  Komponist  ans  diesen  krei- 
selnden Motiven  in  den  nun  folgenden  Durchführungeji 
gestaltet  hat,  bestimmen  die  Erinnerung  an  seine  Neapoli- 
tanischen Schilderungen  am  prächtigsten  und  am  ange- 
nehmsten. Im  allgemeinen  wird  man  von  den  Entwick- 
lungen, die  Strauß  gibt,  den  Eindruck  eines  vielfachen 
.Obermaßes  haben.  Die  Darstellung  ermangelt  der  Leichtig^ 
keit,  die  dem  Gegenstand  natürlich  ist;  sie  ist  zu  zäh  im 
Festhalten  der  Motive,  zu  sehr  in  der  Farbengebung  von 
Berlioz  beeinflußt.  Wozu  hier  überhaupt  Posaunen?  >yohl 
aus  demselben  Grunde,  aus  dem  unsre  modernsten  Maler 
für  zwei  kleine  Gänse  eine  ganze  volle  Stubenwand  be- 
malen. Ein  sehr  guter  poetischer  Em  fall  in  der  Reprise 
ist  die  Einführung  von  Motiven  aus  dem  ersten  Satz:  in 
dem  Lärm  und  der  Unruhe  dieses  Neapel  der  Gedanke 
an  den  Frieden  der  Gampagna! 

Den  Beweis,  daß  allermodemste  Mittel  für  die  Pro- 
grammusik  nicht  das  Wesentliche  sind,  erbringt  ein  mit 
der  Suite  von  Strauß  ziemlich  gleichaltriges  Werk,  das 
ein  würdiges  und  gehaltvolles  poetisches  Thema  mit 
ernster  Hingebung  und  innerlicher  Wirkung,  aber  ganz 
in  der  Weise  der  klassischen  und  romantischen  Schule 
durchführt.  Es  ist  die  viersätzige  Tondichtung  »Traum 
und  Wirklichkeitc  von  Philipp  Scharwenka  (Op. 
92],  dem  altern  Bruder  des  bekannten  Pianisten  Xaver  S., 
der   auch  temperamentvolle  Sinfonien   komponiert  hat. 


-^     423     ♦^ 

Ihr  Gedankengang  verfolgt  einen  Lebenslauf,  der  freund- 
lich, voller  Hoffnungen  und  Illusionen  beginnt  und  mit 
Enttäuschungen  und  in  Resignation  endet.  Ein  ausführ- 
liches Gedicht  aus  der  Feder  des  Komponisten  gibt  fiber 
die  Absichten  der  Sinfonie  eingehende  Auskunft.  Die  vier 
Sätze,  aus  denen  sie  besteht,  gehen  ohne  Pausen  einer 
in  den  andern'  über,  stehen  auch  thematisch  in  enger 
Verbindung  and  behandeln  das  Schema  der  Sinfonie 
ziemlich  frei.  Was  sie  unter  ihresgleichen  auszeichnet, 
ist  der  große  Herzensanteil  und  die  Gemütswärme,  die 
aus  der  Musik  Scharwenkas  -spricht  Unsere  heutige 
Öffentlichkeit  hat  für  Spohrsche  Naturen  nicht  das  volle 
Verständnis;  denjenigen  Kreisen  aber,  welche  sich  zu 
einem  harmonischen  und  ehrlichen  Künstler,  auch  wenn 
er  abseits  vom  Wege  steht,  hingezogen  fühlen,  kann  die 
Arbeit  nur  eifrig  empfohlen  werden. 

Der  erste  Satz  (Allegro  moderato,  Ci  D  dur)  führt 
mit  dem  Thema: 

Allegro  Boderato.  J  s  120 

PP 

eine  edle  liebenswürdige,  aber  für  die  rauhe  Wirklichkeit 
unsrer  Tage  wohl  etwas  zu  weiche  Jünglingsgestalt  ein. 
Diesem  auffallenderweise  im  Verlauf  der  Komposition  nur 
wenig  benutzten  Thema  folgt  eine  längere  Gruppe  zier- 
licher Nebengedanken,  die  —  zum  Teil  in  Wendungen,  die 
an  Hermann  Götz  und  an  die  Meistersinger  erinnern  —  sich 
in  kleinen  Schwärmereien  ergehen.  Allmählich  kommt  nach 
diesem  weniger  gelungenen  und  zersplitterten  Abschnitt 
wieder  ein  großer  Ton  in  die  Stimmung  und  bringt  neue, 
tiefer  eindringende  Weisen.    Unter  ihnen  ist  die  Melodie: 

^hipf'\ii\,mn\\f^^  II.I  ^p 

^^^  die  wichtigste.  Sie  bedeutet 

=  das  Herzens-  oder  Geistes- 

ideal    unsres   Helden    und 


ete« 


irlpipr|¥ip^ 

wuiüo  ereto.     y 


424 


koitimt    am    Schlüsse    der   Sinfonie    zu    rührender  Be- 
deutung. 

Der  zweite  Satz  (AUegretto  scherzando,  ^4^  Fdur) 
ist  eine  Art  langsamer  Walzer,  bestimmt,  die  glücklichste 
Stunde  dieses  Menschenlebens  einzuleiten.  Mit  rhyth- 
mischen Motiven  in  den  Hörnern,  melodischen  Bruch* 
stücken  in  Klarinetten,  Flöten,  Geigen  verlockend  prälu- 
dierend, gelangt  er  endlich  zu  folgendem  Hauptthema: 

Allegro  schenändjL.  •  =  160 


Der  Jüngling  schwingt  sich  im  Reigen  mit  der  Erwählten; 
heroische,  etwas  finstre  Motive  künden  seine  stolzen  Ge- 
fühle, die  Wonne  in  seiner  Brust  spricht  am  deutlichsten 
aus  folgender,  an  Raff  anklingender  Melodie: 


^P 


Dieses  Thema  leitet  über  zu  der  Szene  des  Geständnisses 
und  der  Erhörung,  die  den  Inhalt  des  dritten  Satzes 
(Andante  tranquillo,  ^/g,  B  dur)  bildet.  Sie  folgt  allerdings 
d^m  Eintritt  dieses  innigen  Themas  nicht  unmittelbar, 
sondern  die  Freuden  des  Tanzes  werden  noch  gründlich 
ausgekostet  Dann  kommt  endlich  langsames  Tempo  und 
wehmutsvoller  Klang.  Es  wird  Abend,  das  Fest  muß 
schließen.  Die  Musik  bringt  in  einem  Obergangssätzchen 
die  Stimmung  einer  gewissen  Müdigkeit  zum  Ausdruck, 
es  wird  stiller  und  stiller,  und  als  es  einsam  um  das 
liebende  Paar  geworden,  da  setzt  das  schöne  Thema  des 
Andante  zunächst  im  Hörn  ein: 


Andante  tranquiUo.  A  63 

ifl'lljj  IJ  N  I 


^m^ 


--♦     425    ♦— 

Das  i«t  die  stille  Seligkeit,  ßin  zweiter  Teil  des  Satzes, 
in  Ddur,  zeigt  erregtere  Herzen,  lebhaftes  Zwiegespräch 
von  ewigem  Glück,  zeigt  ungeduldiges  Sehnen.  Dann 
kehrt  der  Bdur^Teil  wieder,  von  einer  Coda  gefolgt,  in 
der  der  Überschwang  der  Stimmung  sich  eigens  in  einer 
Rlarinettenkadenz  Luft  macht.  Unruhige  Trompetensig- 
nale reißen  den  Zuhörer  aus  dieser  Idylle  fort.  Das  Leben 
mit  seiner  harten  Prosa  ruft.  Der  vierte  Satz  (Allegi*o, 
C)  DmoU)  beginnt.  . 

Id  seinem  ersten  Teil  stellt  er  von  den  Trompeten- 
tönen immer  wieder  unterbrochne  Sätze  unruhigen  Cha- 
rakters auf.  Das  erste  Hauptmotiv  ist  an  ein  verwand- 
tes aus  dem 
ersten  Satz 
angeknüpft: 

Steigend  und  steigernd  tritt  zu  ihm  das  feste  und  energische : 
=-  -    >y-->,  >>-s  ju.     4»        öi®  Stirn- 

^AhT  rr  ir  rrf  r  ir  r/r  T  |F    men  be- 

f  '         .  nutzen  es 

zum  Fugieren.  Und  bald  nach  der  ersten  Durchführung 
erscheint  dann  das  (oben  angeführte)  schöne  zweite  Haupt- 
thema des  ersten  Satzes,  wie  der  gute  Geist,  der  den 
Kämpfer  leitet,  des  Mühens  und  Ringens  Preis  und  Lohn. 
Umsonst,  alles  umsonst!  Noch  einige  verzweifelte  An- 
läufe, äußerster  Kraftaufwand,  Wehrufe  mit  Intonationen, 
Verlängerungen  und  Verkürzungen  des  letztzitierten 
Tagenthemas  gemischt  —  dann  setzen  die  Messingbläser 
den  Choral  »Herzlich  tut  mich  verlangen«  ein.  Der  Kom- 
ponist hat  sich  ihn  mit  dem  Text  »Wenn  ich  einmal  soll 
scheiden«  und  somit  als  Grab-  und  Trauermusik  gedacht. 
Diesem  Ende  sendet  er  einen  Epilog  nach,  der  dem  leiden- 
schaftlichen Schmerz,  mehr  noch  aber  der  süß  weh- 
mütigen Erinnerung  an  die  schönsten  Momente  der  vpr- 
ausgegangnen  Sätze  gewidmet  ist. 

Nur  noch  eine  zweite  Orchesterkomposition  Ph.  Schar- 
wenkas,  eine  »Arkadische  Suite«,  die  ebenso  wie 
seine  dreisätzige  »Sinfonia  brevis«  weniger  bekannt 
geworden  ist,  gehört  dem  Programmgebiet  an.  . 


'      -^     426     «^ 

Gleichfalls  von  Berlin  aus  führte  sich  Anfang  der 
neunziger  Jahre  auch  Friedrich  Koch  mit  einer  Pro- 
grammsinfonie ein,  die  den  Titel:  >Von  der  Nordsee« 
(Dmoll,  op.  4)  trägt.  Sie  befaßt  sich  mit  der  gewaltigen 
Seite  des  Themas  nur  im  letzten  Satz  (Auf  hoher  See), 
der  merkbar  von  einem  Hauch  des  unergr&ndUchen  Ur- 
Clements  und  seiner  Kraft  belebt  ist.  Die  andren  (Friesen- 
fahrt, Abend  am  Strande,  Spiel  der  Wellen)  gleichen  den 
sanften  und  schönen  Bildern  Douzettes  mit  Mondschein 
über  den  glatten  Wellen  und  gehören  musikalisch  zur 
Schule  Heinrich  Hofinann. 

In  neuerer  Zeit  hat  von  den  Vertretern  deutscher 
Progräm msinfonie  der  durch  seine  Beiträge  zur  Haus« 
HftttiHiber,  Und  Kammermusik  bekannte  Schweizer  Hans  Huber 
Tellsinfonie.  mehr  und  mehr  im  Konzert  Fuß  gefaßt,  zuerst  mit  einer 
DmoU- Sinfonie  (Op.  63J,  die  den  Titel  »TelN  hat.  Sie 
gibt  in  großen  Umrissen,  ohne  Anlehnung  an  Schiller  oder 
an  die  Einzelheiten  der  Sage,  ein  Bild  von  der  Unter- 
drückung und  Befreiung  des  Landes.  Auch  auf  die  Reize 
der  Heimatkunst,  etwa  durch  die  Verwendung  von 
Schweizermelodien,  verzichtet  sie  und  bestrebt  sich,  knapp 
und  allgemein  verständlich  zu  sein. 

Der  erste  Satz  (Allegro  ma  non  troppo,  Dmoll,  ^/i\ 
der  wohl  auf  die  Volksseele  unter  der  Tyrannenherrschaft 
einen  Blick  bieten  will,  tut  das,  wie  schon  das  HaUptthema: 

f, ^  ^  merken  läßt,  in  etwas 

4^8  r  l'  r  Ir'  tfr^r  '^«tc> z^  starker  Abhängig- 
•^    ^Z"  keit  vom  ersten  Satz 

des  D  moll-Konzerts  ^für  Klavier)  von  J.  Brahms. 

Weit  selbständiger  ist  der  zweite  Satz  (Adagio,  ma 

non  troppo,  BmoU,  V^)»  ^^^  <^as  Land  in  seiner  Trauer 

vorführt  und  zwar  erst  die  dumpfe,  gedrückte  Stimmung, 

'  dann  die  fließende  Klage,  letztere  in  einem  ungesucht 

volkstümlichen  Ton  mit  leisen  Anklängen  an  Edvard  Grieg. 

In  dem  die  Stelle  des  Scherzo  vertretenden  dritten 
Satz  (Allegretto,  Qdur,  3/4)  hat  sich  der  Komponist  nach 
eigener  Angabe  die  Feier  einer  Hochzeit  vorgestellt,  deren 
harmlose  Fröhlichkeit  durch   einen   plötzlichen  und  er- 


--♦    427     ♦^ 

schreckenden  Aufruhr  —  Sequenzen  aus  verminderten 
Septakkorden  fff^  Generalpause!  --  gestört  und  durch 
Grabgesang  abgelöst  wird.  Dieser  musikalisch  wunder- 
hfibsdie  Satz  zeigt  Huber  auch  als  einen  geborenen 
Instrumentationskünstler,  der  mit  einfachem  Wechsel  von 
arco  und  pizzicato,  durch  Sordinen  den  Streichinstrumenten 
die  wirksamsten  Farben  abzugewinnen  weiß. ' 

Der  vierte  Satz  beginnt  mit  einer  langsamen  Ein- 
leitung, die  auf  das  Haupthema  des  ersten  Satzes  zurück* 
greift  und  die  ganze  Geschichte  des  Befreiuilgskampfes 
in  einen  kurzem  Wechsel  von  Dur  und  Moll  zusammen- 
drängt. Das  hierauf  folgende  Ällegro  con  fuoco  (D  dar,  ^  gilt 
dem  Triumph,  der  in  der  Umgegend  des  zweiten  Themas 
und  in  der  Durchführung  zwar  etwas  ermattet,  aber  am 
Schluß  durch  Verbindung  des  führenden  Allegrothemas 
mit  dem  jetzt  in  D  dur  einherglänzenden  Haupthema  des  « 
ersten  Satzes  zu  einem  gewaltigen  Abschluß  kommt 

Die  nächste  hierher  gehörige  Arbeit  Hubers  ist  seine     ■*■■  Hsbar, 
Emoll-Sinfonie(op.ll6),  die  sogenannte  Böcklin -Sinfonie.  Böoklta-Sinfonk 
Der  Komponist  selbst  hat  allerdings  nur  den  vierten  Satz, 
das  Finale,  ausdrücklich  als  Huldigung  fär  seinen  Lands- 
mann bezeichnet.    Es   trägt  an  seiner  Spitze  den  Ver- 
merk:    »Metamorphosen,    angeregt    durch   Bilder    von 
BöcUiu«  und  bringt  über  das  Thema: 
AUerretto. 


^^^^^^m 


das  mit  dem  ersten  Takt  an  das  Alphorn,  das  charak- 
teristische Instrument  der  Schweizer,  erinnert,  eine  Reihe 
sehr  freier  Variationen,  die  geistig  an  die  »Meeresstille«, 
den  »Prometheus«,  die  »Flötende  Nymphe«,  die  »Nacht«, 
das  »Spiel  der  Wellen«,  an  die  »Gefilde  der  Seligen«, 
den  »Liebesfrühling«,  das  »Bacchanale«  des  großen  Malern 
anzuknüpfen  suchen.  Dem  »Spiel  der  Wellen«  ist  da- 
bei anhangsweise  noch  eine  Beziehung  auf  den  »geigen- 
den Einsiedler«  mitgegeben  worden.  Versuchen,  mit  Tönen 
tiefer  in  den  Stimmungs-  und  Phantasiekreis  bedeutender 
Stücke  bildender  Kunst  einzufükhren,  sind  wir  in  der  Sin- 


— »    428     »^ 

fonie  schon  bei  Haydn  begegnet;  sie  spielen  namentlich 
bei  F.  Liszt  und  seinen  sinfonischen  Dichtungen  eine 
große  Rolle,  und  auch  Hubers  BGcklinvariationen  sprechen 
wieder  für  ihre  prinzipielle  Berechtigung.  Geht  die  Sin- 
fonie in  ihrem  Schlußsatz  zugestandenermaßen  auf  ein- 
zelne Werke  Böcklins  ein,  so  sind  die  Torausgehenden 
Sätze  dem  Wesen  des  außerordentlichen  Künstlers  ge- 
widmet» der  erste  (Allegrö  con  fuoco,  Emoll,  C)  etwa 
seiner  Kraft  und  Kühnheit,  der  zweite  (Allegro  con 
fuoco  non  troppo,  Hmoll,  ^/g)  seiner  Naturfreude,  der 
dritte  (Adagio  ma,non  troppo,  Hdur,  8^^)  seiner  Tiefe 
und  Innigkeit. 
Havi Haber«  In  der  heroischen  Sinfonie  (op.  118)  inCmoll,  die 
Heroische  uQter  Hubers  Beiträgen  zum  Gebiete  das  dritte  und  letzte 
Sinfonie.    ^^^^^  j^-j^^^^  j^^^  ^.^j^  ^^  Vergleich  zur  Tellsinfonie  ein 

vollständiger  Stil  Wechsel  vollzogen:  der  vordem  so  naive 
Komponist  ist  auf  die  Seite  der  um  jeden  Preis  und  un- 
aufhörlich Leidenschaftlichen  getreten,  die  in  der  Musik 
einstweilen  die  Herrschaft  an  sich  gebracht  haben.  Der 
talentvollste  Satz  der  Huberschen  Eroica  ist  der  zweite, 
ein  Trauermarsch,  im  ersten  überrascht  das  Zitat  von 
»God  save  the  king«,  das  Scherzo  ist  ähnlich  wie  das 
Finale  der  Böcklinsin  fonie  ein  Variationszyklus -,  der,  als 
Totentanz  gedacht,  Vertreter  der  verschiedensten  Lebens- 
alter und  Stände,  das  Kind,  den  Greis,  den  Studenten, 
den  Gelehrten,  die  Tänzerin  usw.,  zuletzt  den  Helden 
vorbeiziehen  läßt.  Der  Schlußsatz  der  Sinfonie  endet  mit 
einer  Apotheose  des  Helden,  der  das  Muster  von  Liszts 
Fanstsinfonie  zu  Grunde  liegt:  die  Orgel  fällt  ein,  der 
Chor  tritt  auf  und  stimmt  Sanctus  und  Osanna  an.  Das 
in  allen  Teilen  der  Sinfonie  wiederkehrende  Hauptthema 
des  ersten  Satzes  klingt  an  ein  berühmtes  Schweizerlied, 
an  den  »Ustig«  des  alten  Gottfried  Huber,  an. 

Unter    den    wenigen   weiteren    Programmsinfonien 

deutscher  Herkunft,  die  in  den  letzten  Jahren  aufgetaucht 

s.v.HMtegter, sind ,    ist   Siegmund   von    Haus^ggers  dreisätziger 

Barbarossft.    »Barbarossa«   verhältnismäßig  am  weitesten  bekannt 

geworden. 


— »    429     •— 

Diese  Sinfonie  ist  die  noch  unreife  Arbeit  eines  ent<^ 
schiedenen  Talents.  Die  Unreife  spricht  aas  der  Un» 
gleichheit,  der  Unselbständigkeit  der  Erfindung  und  aus 
der  höchst  undkonomischen  Lust  am  Yollklang,  dem  Lärm 
des  Orchesters,  das  Talent  aus  einer  Reihe  trefflich 
charakteristischer  Themen,  ihrer  sinnreichen  Verwendung 
und  daneben  aus  zahlreichen  einzelnen  Stellen  von  un- 
yerkeun barer  Inspiration.   Dahin  gehören  im  Kleinen  ori-  , 

gineile  Modulationen  und  Instrumentationseinlälle ,  im 
Großen  eine  Anzahl  episodisch  erscheinende  Melodien 
zarter  Natur.  Ihnen  begegnen  wir  namentlich  im  ersten 
Satz,  der  »die  Not  des  Volks«  bald  erregt,  bald  ele- 
gisch, bald  in  hartem,  bald  in  weichem  Tone  zu  schildern 
sucht.  Ihm  tritt  als  scharfer  und  befreiender  Gegensatz 
der  dritte  Satz,  »dasErwachen«,  mit  einem  Bilde  der 
Kämpfe  und  Herrlichkeit  gegenüber,  die  bevorsteht,  wenn 
der  alte  Kaiser  den  Untersberg  verläßt.  Ohne  zwingenden 
Grund,  aber  als  verständliche  Konzession  an  die  Romantik 
ist  zwischen  diese  beiden  Sätze  noch  ein  weiterer,  >der 
Z  aub  e  r  b  e  rg  « ,  eingeschoben,  der  zuerst  das  Nebeltreiben 
um  den  Berg,  dann  sein  Inneres  mit  Thron  und  Kaiser 
zu  schildern  sucht.  Er  nimmt  viel  von  dem  Glöck  des 
Schlußsatzes  voraus,  hat  aber  in  dem  phantastischen 
Fugato,  das  ihn  einleitet,  seinen  großen,  eigenen  Wert. 

Von  einer  zweiten  dreisätzigen  Programmsinfonie  S.T.H»aiegger, 
des  Komponisten,  die  er  ohne  weitere  Erläuterungen  Natnrsinfonie. 
und  Oberschriften  Natursinfonie  nennt,  haben  bei  den 
wenigen  Aufführungen,  die  sie  bisher  gefunden,  die  ersten 
beiden  Sätze  Anerkennung  gefunden,  der  dritte  Satz  ist 
abgelehnt  worden.  Bei  diesem  Urteil  wird  es  wahr* 
scheinlich  auch  in  der  Folge  bleiben,  denn  die  Kompo- 
sition ist  soweit  schön  und  gehaltvoll,  als,  wie  das  in  dem 
ersten  und  zweiten  Satz  der  Fall  ist,  der  Stimmungs- 
ausdruck die  Naturmalereien  tiberwiegt,  und  besonders 
ftir  Andacht  und  Pathos  zeigt  Hausegger  eine  besondere 
Begabung.  Sie  ist  auch  in  den  ruhigen  Stellen  des 
Schlußsatzes  nicht  zu  verkennen;  wenn  dessen  Eindruck 
nicht  befriedigt,  so  liegt  das  an  der  falschen  Behandlung 


_-»    430    »^ 

des  6«8angcbor8,  der  mit  den  Worten  des  Goetheschen ' 
»ProömioDS«  (Im  Namen  dessen,  der  sieb  selbst  er* 
scbnf  etc.)  die  Sinfonie  zu  Ende  ftthrt.  Da  war  nicbi 
Kraftaufwand  und' Breite  am  Platze,  sondern  er  verlangt 
eine  äbnlicbe  Einfachheit,  wie  sie  Liszt  dem  Schlußcbor 
seiner  Faustsinfonie  gegeben  hat  und  wohl  auch  dessen 
verklärten  Ton. 

Auch  die  Programmsuite  wird  von  den  deutschen 
Komponisten  nur  mäßig  gepflegt.    Unter  den  bekannt 
gewordenen  jüngeren   Werken    dieser   Klasse    hat    die 
H.Bl«Ueh,    Tauferer  Suite  von  Heinrich  Rietsch  (op.  25)  den 
Tauf«rer  Saite.  Altersvortritt.    Sie  gibt  in  fünf  Sätzen  Wanderszenen  so- 
wie ,Bilder  aus  Landschaft  und  Geschichte,  ist  durchweg 
gut,  stellenweise  interessant  kunstvoll  gearbeitet;    ihre 
besten  Erfindungsmomente  liegen  in  den  flotten  Sätzen, 
dem  »Reifenspiel«  und  dem  »Lustig  Volk  im  Bad  Winkel«. 
Auf  diesen  letzten  hat  Smetana  glücklich  eingewirkt. 
»eorgSAiiHBiABVt        Der  wohl    originellste  Beitrag   zur  Gruppe  ist   die 
Serenad«.       Serenade  in  F  (op.  36]  von  Georg  Schumann.    Der 
Komponist  hat  sie  nämlich  als  das  Ständchen  einer  Schar 
abgewiesener  Liebhaber  gedacht  und  damit  die  Unterlage 
zu  einer  Humoreske  gewonnen,  in  der  die  Motive  und 
Künste  des- Spottes  ein  keckes  Spiel  treiben  dürfen.    Es 
gipfelt  im  Schlußsatz,  der  den  Abzug  der  Gefoppten  mit 
Benutzung  des  Volksliedes:  »Es  wohnt  ein  Muller  an  jenem 
Teich,  lauf  Müller,  lauf«  darstellt.    Das  außerordentlich 
witzige  und  geistvolle  Werk  verlangt  allerdings  ein  ganz 
virtuoses  Orchester  und  macht  es  in  den  ersten  Sätzen 
durch  eine  komplizierte  Thematik  auch  dem  Hörer  etwas 
schwer.  Neben  dem  in  fortreißender  Laune  hingeworfenen 
Finale  wirkt  am  meisten  das  Intermezzo,  das  auf  einen 
äußerst  feinen  Walzer  hinausläuft 
F. BmioiI,         Auch  Ferrucclo  Busonis  »Geharnischte  Suite« 
(lebarnischte  Iq  cis  moll  (op.  34)  ist  hier  zu  registrieren.    Sie  führt  in 
Saite,      ^i^j.  Sätzen  kriegerische  Stimmungen  und  Bilder  vor.  Einem 
»Vorspiel«,  das  etwas  gespreizt  und  mit  verbrauchten  Mit* 
lein  den  Druck  der  Gefahr  und  den  ihr  entgegentretenden 
entschlossenen  Mat  schildert,  folgt  ein  »Kriegstanz«.    Es 


— •    481     «^ 

scheint  sich  also  um  einen  KoloniaUcrieg  zu  handeln. 
Von  faßbarem  Gehalt  ist  der  dritte  Satz,  der  die  Über- 
schrift »Grabmal«  trägt,  und  der  Schlußsatz,  »Ansturm« 
betitelt,  hat  eine  wirklich  schöne  Stelle,  da,  wo  leise 
aus  der  Ferne  eine  an  Carl  Löwe  anklingende  einfache 
Melodie  einsetzt,  die  unwillkürlich  die  Gedanken  des 
Hörers  auf  Sieg  und  Heimkehr  lenkt. 

Zum  Teil  sind  die  neueren  deutschen  Programmsuiten 
aus  Kompositionen  zusammengesetzt,   die  als  Vorspiele 
und  Einlagen    in    Schauspiele   entstanden   sind.     Auch 
hier  ist  Busoni  mit  seiner  Turandot- Suite  vertreten,     p.BmomIi 
der  leider  die  musikalische  Natürlichkeit  fast  ganz  ab- Turandot^imto. 
geht.  Das  bekannteste  Werk  dieser  Klasse  ist  die  Dorn- N.HtMperdlaek, 
röschen-Suite  Engelbert  Humperdincks,  deren  Sätze    Domröschen- 
in ihrer  Knappheit  und  Klarheit  eines  Kommentars  nicht  ' 
bedürfen. 

Auch  im  Auslande  tritt  die  Programmusik  in  Sin- 
fonie und  Suite  hinter  den  Werken,  welche  bestimmte 
poetische  Ziele  nicht  angeben  und  hinter  den  einsätzigen 
sinfonischen  Dichtungen  zurück.  Nur  in  Frankreich  ist 
die  Programm  suite  geradezu  die  Normalform  für  zyklische 
Orchesterkomposilionen;  eigentliche  Programmsinfonien 
gehören  aber  auch  hier  wie  zu  den  Zeiten  von  Berlioz 
zu  den  Seltenheiten.  Als  eins  der  wenigen  Werke  dieser 
Art,  die  die  Landesgrenze  überschritten  haben,  verdient 
die  in  neuerer  Zeit  wiederholt  auch  in  deutschen  Kon- 
zerten gebrachte  Sinfonie  zu  Schillers  »Wallenstein«  TlneeBti'iiidy, 
von  Vincent  d'Indy  (op.  12j  Beachtung.  Der  Komponist  »Wairenatein«. 
nennt  diese  Arbeit,  wohl  an  Schillers  Gesamttitel  an* 
knüpfend,  eine  »Trilogie«.  Das  ist  für  Form  und  Inhalt 
des  Werks  etwas  zu  volltönend.  Es  sind  nicht  drei  Sin- 
fonien, die  er  vorlegt,  sondern  es  ist  eine  Sinfonie  — 
ähnlich  wie  die  Lisztsche  zu  »Faust«  —  in  drei  Sätzen. 
Der  erste  will  ein  Bild  des  Lagers,  der  zweite  des  Liebes- 
paars (Max  und  Thekla)  geben;  der  dritte  knüpft  an 
»Wallensteins  Tod«  an.  Ein  enger  Zusammenhang  be- 
steht nur  zwischen  dem  ersten  und  dritten  Satz;  der 
zweite,  der  auch  den  Untertitel  Piccolomini  führt,  eignet 


_^    432     V- 

sich  für  eine  Einzelaufführung.  Die  Sinfonie  zeigt,  wenn 
auch  keine  besonders  tiefe,  so  doch  eine  im  ganzen  sehr 
lebendige  Auffassung  der  deutschen  Dichtung,  eine  anr 
schauliche  musikalische  Erfindung  und  einen  auf  breiter 
Bildung  ruhenden,  geschickten  Stil.  Individuelle  Zdge 
sind  d'Indy  nicht  eigen,  sondern  er  teilt  mit  der  Mehr- 
zahl der  neu  französischen  und  neurussischen  Orchester- 
komponisten die  Vorliebe  für  Nonen  und  Undezimen- 
akkorde,  für  Orgelpunkte  und  ähnliche  harmonische 
Vergrößerungsmittel,  den  Wagnerschen  Einfluß  auf  die 
Stimmführung,  die  interessante,  dissonanzenreiche  Kon- 
trapunktik. Wie  alle  diese  Ausländer  ist  auch  V.  dlndy 
ein  hervorragender  Kolorist,  allerdings  starkem  Farben- 
auftrag etwas  einseitig  zugeneigt. 

Rheinberger  hat  mit  vollem  Recht  dem  Wallenstein 
selbst  in  seiner  Sinfonie  einen  vollen  Satz  gewidmet. 
d'Indy  begnügt  sich,  dessen  Gestalt  ab  und  zu  durch  die 
Sätze  schreiten  zu  lassen.  Es  war  ihm  nicht  um  die  Schilde- 
rung von  Charakterenzu  tun,  sondern  darum,  die  Eindrücke 
der  Schillerschen  Dramen  ins  Musikalische  zu  übertragen: 

Bei  dem  ersten  Satz,  »Le  Camp  de  Wallenslein« 
(Wallensteins  Lager),  macht  sich  die  französische  Ab- 
kunft der  Musik  am  deutiichsten  geltend.  Sie  hat  für 
die  ernsten  Figuren  und  Reden  des  Schillerschen  Lagers 
keine  Töne  und  läßt  nichts  von  der  Zeit  und  dem 
Boden  ahnen,  die  dem  Vorspiel  der  Trilogie  seinen 
Charakter  und  eine  gewisse  Größe  geben.  Das  Lager 
d'Indys  ist  ohne  Unterbrechung  munter,  ausgelassen, 
kommt  niemals  zur  Ruhe,  wimmelt  von  Spaßmachern 
und  Jongleuren,  besteht  ausschließlich  aus  leichten 
Truppen  und  leichten  Vögeln.  Seiner  formellen  An- 
lage nach  ist  es  ein  Scherzo  mit  etwas  buntem  Haupt- 
satz (Allegro,  Gdur).    Es  setzt  mit  folgendem  Thema  ein 

Allegro  giusto.  Jrieo  ^^S     ^»^8    ™it- 


Itn  f  ^iOTjt  N  „j  ^    I  f^fj-z.d^en  fröXhen 
g  *  B      *t      ,  ^    Jk  *^      '  B      ^^=^Lärm  der  Mas- 


B      ^      TT  ^    Jb  *^     ^  -' -•  — 

P  ^  ^"^  sen  führt,  froh- 


--♦     438    «^ 

lieh  und  elementar..  Denn  die  Gebilde,  die  der  Komponist 
aus  seinen  Motiven  entwickelt,  sind  unregelmäßig.  Hier 
ffihrt  er  uns  vor  eine  fünftaktige  Gruppe,  dort  kommen 
zwei-  und  dreitaktige,  hier  hält  er  an  einem  Motiv  fest, 
dort  schweißt  er  zwei  oder  mehrere  zu  bald  kürzeren, 
bald  längeren  Abschnitten  zusammen.  Unberechenbar 
und  frei  will  er  uns  das  Leben  und  Treiben  des.  Lagers 
sehen  lassen.  Der  erste  Abschnitt  Über  dieses  Haupt- 
thema schließt  in  Hdur.  Der  zweite  setzt  in  EmoU  ein 
und  geht  von  Cdur  aus  nach  Ddur  in  Modulationen  und 
mit  wilden  Trillern ,  .die  den  Walkürenritt  Wagners  fi|r 
einen  Augenblick  vor  die  Phantasie  rufen.  Ein  dritter 
Abschnitt  über  dasselbe  Hauptthema  beginnt  in  Asdur 
und  gebt  von  B  moll  aus  allmählich  nach  der  Hauptton- 
art 0  zurück,  die  in  Solopassagen  der  Violinen  (einige 
Takte  geht  die  Flöte  mit)  erreicht  wird. 

Da  beginnt  ein  erster  Seitensatz,  dem  das  ruhigere 
Thema 

zugrunde  hegt.  Es  kommt  nicht  weit  damit.  Den  Augen- 
blick, wo  die  erste  Violine  sich  ein  Motiv  zum  Schwärmen 
aussucht,  benutzt  die  derber  gesinnte  Masse,  um  mit  einem 
Walzer  einzufallen,  dessen  grob  einfache  Weise 

Allegro  moderato.  J»z7B 


durch  die  seltsamen  Humore  der  Begleitung  —  die  Bässe 
bleiben  lange  auf  den  zwei  Tönen  e  und  A  —  bedenklich 
gestört  wird.  Nach  einem  Zwischensätzchen,  in  dem  die 
Flöte  das  Solo  hat,  wird  wohl  die  übliche  Wiederholung 
erreicht,  aber  die  rechte  lustige  Stimmung  bleibt  aus,  und 
am  Ende  haben  die  Störenfriede,  die  einen  ^/sTaki  hinein- 
werfen, die  Hauptstimme.  Der  Tanz  hört  plötzlich  auf, 
und  wie  aus  der  Ferne  hören  wir  wieder  den  Lärm  dfts 

K  relz.Hi'h  mar,  Führer.     I,  t.  28 


-^     434     «>- 

Lagers,  mit  dem  der  Satz  begann.  .  Wir  haben  es  mit 
der  üblichen  Wiederholung  des  Hauptsatzes  zn  tun. 
Doch  verschmäht  es  der  Komponist,  sie  glatt  und  wört- 
lich zu  bringen.  Wie  er  den  Hauptsatz  zunächst  pp  ein- 
setzt, hat  er  ihn  auch  in  der  Tonart  verändert,  nämlich 
nach  Edur  gebracht  und  auf  den  Quartseztakkord  ge- 
stellt. Ähnlich  bringt  er  das  erste  Seitenthema,  das  beim 
erstenmal  in  Qdur  auftrat,  jetzt  in  Es  und  verteilt  seinen 
Vortrag  taktweise  auf  verschiedene  Instrumente.  Auch 
jetzt  kommt  dibses  zum  Schwärmerischen  neigende  Thema 
nicht  zu  seinem  vollen  Rechte.  Als  es  sich  ausbreiten 
will,  entsteht  unerwartet  Tumult.  In  den  Bläsern  treten 
wieder  Vertreter  des  zweiteiligen  Rhythmus  ein.  Ein 
Schreck  geht  von  ihnen  aus:  von  unten  bis  oben  mfts 
durch  das  Orchester:  cis'fia.  Dann  eine  lange  General- 
pause und  darauf 

Allegnro  moderato  e  glocoM.(Ja86)     ^  ^ 


Zu  dem  einen  Fagott  kommt  ein  zweites,  bald  ein 
drittes;  der  Satz  läßt  sich  zu  einer  Fagottfuge  an  imd 
versetzt  uns  in  die  Zeiten  R.  Keisers,  der  in  seinen 
Opern  Quartette,  Quintette  und  Sextette  für  Fagotten 
schrieb.  Wie  hat  sich  die  öffentliche  Auffassung  des 
Instruments  seitdem  geändert!  Damals  der  Lyriker 
unter  den  Blasinstrumenten,  ist  es  heute  der  un- 
freiwillige Komiker.  Hier  bei  d*Indy  vertritt  es  den 
Kapuziner  mit  seiner  Predigt,  und  der  Lohn  seiner  wohl- 
gesetzten Reden  ist,  ausgelacht  zu  werden.  Das  tun 
zuerst  die  Geigen,  bald  die  Klarinetten  mit,  in  chroma- 
tischen Sechszehntelgängen.  Dann  packt  aber  die  Oboen 
und  die  anderen  Holzbläser  eine  gewaltigere  mmm 
Heiterkeit,  sie  platzen  in  kurzen  Zwischenrufen  f /^  J 
heraus.  Das  Piston  setzt  ein  und  parodiert  das  Fugen- 
thema, das  die  Klarinette  gar  verzerrt,  während  die  Violinen, 


-^    435    «>~ 

die  Flöten  dazu,  sich  auf  einem  langen  Triller  vor  Lachen 

schütteln,  und  dem  folgt  ein  elementarer  Ausbrach  von  Aosr 

gelassenheit  in  Motiven,  die  auf  den  Walzer  zurfickgehen: 

AUe^ro  oon  fnooo.  Vergeblich ver- 

4^h  I  ?:       M  f  '  '  '  *   letcdas  Fugenthe- 

y  r  r  gegeozustellen 

der  Lärm  wächst   nur.     Da   plötzlich   klingts  in  Hör- 

nem^Trom«  Largo  o  maestoso.  JsSe  ^....--t**^ 

peten  und     'f,,\A\    \  \  j  ftVl^'?  l*f'T=f^ 
Posaunen:     ^"flJi  P  rj [J  f    i  "|    [    i  '^«^   »     b 

Das  bedeutet:  der  Feldherr,  Wallenstein  taucht  aul  Nehmt 
Euch  in  Acht!  Der  unglückliche  Kapuziner  wird  freige- 
lassen, alles  nimmt  wieder  seine  gewöhnliche  Miene  an. 
Das  Trio,  das  mit  dem  Thema  des  Fagotts  begann,  ist  zu 
Ende;  der  Hauptsatz  des  Scherzos  kehrt  wieder.  Nicht 
ganz  wörtlich,  sondern  mit  mehrfachen  Änderungen, 
deren  wichtigste  das  Kolorit  betreffen.  Im  Walzer  er- 
scheint eine  sehr  pikante  Episode  für  drei  Flöten  als 
etwas  Neues.  Am  Scliloß  kommt  das  erste  Thema  des 
Hauptsatzes  in  vergrößerten  Rhythmen  und  erweitert, 
als  wollte  es  sich  zu  einem  Hymnus  ausbreiten,  einem 
Preislied  auf  den  Helden,  den  vergötterten  Wallenstein, 
dessen  Thema  als  einer  der  letzten  Gedanken  der  Kom- 
position auftritt. 

Der  zweite  Satz  der  Sinfonie  (Andante  und  Allegro, 
C'Esdur),  MazundThekla  betitelt,  läßt  breite  gefühl- 
volle Melodien  mit  erregten  Themen  wechseln  und  zeichnet 
damit  die  tragische  Lage  des  Schillerschen  Liebespaares. 
Wie  einst  in  Verona,  so  blähen  sich  hier  zwei  Herzen  in 
kritischer  Stunde  gefunden-,  auch  ihr  Los  ist  in  die  Händel 
der  Parteien  verflochten.  Der  Komponist  hat  der  Über- 
schrift des  Satzes  noch  den  Nebentitel  »Piccolomini«  bei- 
gefügt, um  den  Zuhörer  darauf  vorzubereiten,  daß  er  bier 
unbewölkte,  ungestörte  Liebesszenen  nicht  zu  erwarten 
hat  Die  Musik  läßt  darüber  vom  ersten  Takt  ab  keinen 
Zweifel.  Die  Pauke  zeichnet  mit  dem  im  Satze  oft  und  be- 

28* 


436 


deutend  wiederkeh- 


den  kriegertscheu  Boden, 


aeuiend  wieaerKen-  sa   -—^    .   aen  Kriegertscneu  tsoaen, 

renden  Rhythmus:  «3  J  J  J  der  betreten  werden  soll; 

die   Violinen    machen    uns   mit  dem   ebenfalls   durch 

die  meisten  Abschnitte  der  Situation  klingenden  Motive 

AnäBBf.  ^^^  Trauer  und  Klage  gefaßt, 

-P  lIi  -1.  .ff"^^'    I    I     .'  uiicl  die  Hörner,  die  mit  eini- 

fr  '  ^  "  I      Cj"  '    ^    '  gen  Takten  die  Einleitung  ver- 

—  '  vollständigen,  spielen  ebenfalls 

im  resignierten  Ton.    Das  erste  Thema,  welches  nun  in 

den   Bläsern   (Hörner  und   Klarinetten)  mit   folgendem 

Anfang 

Aodant«.  JzS6  _^^        ^^„^^  ""^rv 


^  einsetzt,  ist  sehr  breit  entwickelt 
Dem  in  Gesdur  schließenden  Nach- 
satz folgen  zunächst  einige  Takte  über  das  oben  skiz- 
zierte Paukenmotiy,  dann  beginnt  die  Wiederholung' des 
Themas  in  hellerem  Klang  der  Violinen.  Sie  wird  aber 
sofort  —  vom  zweiten  Takt  ab  —  zur  Variation,  zwingt 
den  Ausdruck  zu  größerer  Wärme  und  erreicht  bald  ge- 
hoben und  freudig  das  Ende.  Doch  gerade  bei  diesem 
Ende  läßt  der  Komponist  noch  einen  starken  Schatten 
nachkommen.  Es  ist  die  Imitation,  die  die  Homer  und 
Posaunen  tiefen  und  gedämpften  Klangs  von  dem  letzten 
Takt  gaben.  Auch  der  Paukenrhythmus  tritt  wieder  in 
den  Vordergrund.  Die  ganze  Gruppe  mag  wohl  Max  und 
seine  Sehnsucht  schildern  sollen.  Jetzt  setzt  ein  neues 
Tempo:  AUegro  risoluto  mit  folgendem  Hauptthema 


AHegro  risoluto.  J  «126 


ieta 


-ir 


^Es 


f^nr 


Es 


B 


'^*'Qii• 


As  KB 


ein.  Der  Komponist  zeichnet  die  Parteien  und  die  Wirren, 
die  den  Gegenstand  von  Schillers  Piccolomini  bilden. 
Dem  einen  Thema  tritt  zunächst  ein  klagendes  zur  Seite 


437     <^  - 

das  uns  um  so 


JW,  r  |i  F]^  |V(*  p^fTT  ji-  I  ^^i^  mehr  an  das 
'^      'P  '  '    '■^'   *   '  /»>>  **5[J.   Liebespaar    er- 

innern darf,  als  es  teilweise  mit  Nachahmungen  zwischen 
Violine  and  Cello  begleitet  und  von  langsamen,  gehaltenen 
Episoden  unterbrochen  wird,  in  denen  Bruchstücke  der  spä- 
ter zu  erwähnenden  Liebesmelodie  (in  H  dur)  auftauchen. 
In  einem  zweiten  Abschnitt,  der  in  C  dur  einsetzt,  bringt 
dasÄllegro  oorno.  ^  <t^^s     das,  von  Wagners 

ein  zwei«  '*J'l^i,  J  r'Pt  T*^  '  I  Nibelungenmusik 
tes  Thema  -i^      *  sichtlich     beein- 

flußt, eine  ähnliche  Rolle  übernimmt  wie  in  der  Original- 
quelle: Es  ordnet,  klärt  und  führt  einen  Aufschwung  her- 
bei, der  sich  bei  der  Wiederkehr  des  Hauptthemas  durch 
einen  helleren,  entschiedeneren  Klang  äußert.  Nun  ist 
auch  die  Zeit,  wo  die  liebenden  Herzen  sich  öffnen  dürfen 
Ein  Andante  tranquillo  bringt  die  schöne,  etwas  Gounod- 
sche  Liebesmelodie,  deren  Anfang  folgendermaßen  lautet: 

^uM y^r^       """^^  ^^®  Klarinet- 

:ffi''Alip  \ff^  •,  .J  J  ■*  TTTJ^  to    ffihrt    Sie 

^  a^  E  ^  B--Gi3FisH  ein,  das  Cello 
nimmt  sie  ^  ihr  ab.  Noch  ehe  das  Zwiegespräch  zu 
Ende  ist,  hören  wir  versteckt  mehrmals  die  Triolen  des 
WaUensteinthemas.  Dann  tritt  die  Liebesmelodie  mit 
jenem  Thema  des  ^Andante,  das  den  Satz  begann,  zu 
einem  wirklichen  Dialog  zusammen  (jene  in  den  Holz- 
bläsern, ^dieses  in  den  Geigen).  Auch  er  schließt  mit 
den  markiert  hervortretenden  Wallensteintriolen  in  bei- 
den Violinen  und  Bratschen.  Und  nun  setzt  Maestoso 
das  Wallensteinthema  aufregend  in  Posaunen  und  Trom- 
peten ein;  aber  ^es  endet  in  Dissonanzen,  und  das 
Tremolo  der  Bratschen  kündet  nichts  Gutes.  Der  Kom- 
ponist will  unsere  Gedanken  hier  auf  den  Anschlag 
gegen  Wallenstein  lenken.  Deshalb  setzt  er  auch  das 
jetzt  wiederkehrende  AUegro  risoluto  in  Esmoll  und 
gibt  ihm  ein  Ende  in  gedämpftem  Ton.  Die  Liebes- 
melodie kommt  darin  noch  einmal  als  Adagio  und  halb 
unterdrückt. 


-^    438     «^ 

Der  Intention  nach  ist  dieser  zweite  Satz  von  d^Indya 
Wallensteinsinfonie  der  bedeutendste  des  ganzen  Werks. 
Leider  hat  den  Komponisten  im  Allegro  die  Erfindung 
nicht  geniügend  unterstützt 

Der  dritte  Satz  der  Sinfonie  (Trba  large,  Allegro, 
Maestoso,  H  moll,  ^)j  »Wallensteins  Tod«  betitelt,  beginnt 
mit  einer  langsamen  Einleitung,  die  schauerliche  Ab- 
sichten mit  Berliozschen  Mitteln  der  Modulation  (Hmoll 
und  D  moll  nebeneinander)  und  Instrumentation  (Geigen 
in  den  höchsten  Lagen  geteilt;  von  Bläsern  nur  Flöten 
und  Posaunen)  verfolgt  Natürlich  tritt  in  ihr  auch  bald 
das  Wallen  stein  thema  auf.  Nachdem  so  am  Anfang  ein 
Blick  auf  den  Ausgang  der  Komposition  geworfen  worden, 
beginnt  die  eigentliche  Darstellung  mit  einem  Allegro,  das 
wohl  Verschwörung  und  Empörung  zu  zeichnen  bestimmt 
ist  Zunächst  in  den  tiefen  Instrumenten  wühlend  und 
stechend,  erscheint  folgendes  Thema 


Allegro.  J  s  100 


das  ersichtlich  von  dem  Wallensteinthema  abgeleitet  ist 
Klopfende  Achtelrhythmen  in  Holzbläsern  und  Hörnern 
bilden  die  Begleitung.  Mit  dem  Abschluß  der  Gruppe 
(iu Hmoll)   j)|t^^       .1  .zugleich  aber  setzt  auch 

tritt  eiu  ^^^  J  J  Jl  ^  J  J  ^^  Musik  ein,  die  im 
Seitenthe-        jf  ^^         ersten  Satz  der  Sinfonie 

ma      ein  den  Lärm  und  das  frohe 

Treiben  des  Lagers  schilderte.  Dieses  Lagerthema  nimmt 
nun  im  Schlußsatz  der  Sinfonie  einen  sehr  breiten  Raum 
ein  und  beherrscht  den  Satz,  allein  oder  mit  anderen 
Motiven  vereint  oder  wechselnd,  länger  als  es  die  Be- 
deutung des  Gregenstandes  erfordert  Vincent  d'Indy  hat 
für  die  Darstellung  des  sogenannten  Milieu,  wie  das  — 
man  denke  nur  an  Raffs  Schlußsätze  von  Lenore  und 
von  der  Waldsinfonie  —  den  Programmusikem  sehr  häufig 
begegnet,  zuviel  getan  und  ohne  dadurch  eine  ganz  klare 
Darstellung  der  äußeren  Hergänge  zu  erreichen.  Niemand 


^^     439    ^^ 

wird  mit  Bestimmtheit  den  Punkt  bezeichnen  können,  an 
dem  Wallenstein  fällt. 

Zu  den  besseren  und  schönen  Teilen  der  Komposition 
gehört  der  Anfang  des  Maestoso  mit  dem  an  Schumanns 
»Manfred«  erinnernden  Thema 


Maoatoso.  0  a60 


l'lTLil'l  l>"!   '"  ITÄÄÄ 

Allegro  mil  einigen  Änderungen:  es  nimmt  z.  B.  das 
Maestosothema  mit  auf.  An  seinem  Schluß  erscheint  die 
Liebesmelodie  des  zweiten  Satzes,  und  ihr  folgt  ein  zweites 
Maestoso,  in.  das  der  Komponist  aller  Wahrscheinlichkeit 
nach  die  Katastrophe  hat  verlegen  wollen.  Ein  Largo, 
das  in  verklärten  leuchtenden  Farben  die  Harmonien  der 
RinlMtung  wiederholt,  schließt  den  Satz  ab. 

D^Indy,  dem  die  französische  Musik  als  Vorsitzenden 
der  Soci^tö  nationale  de  musique  und  als  Gründer  der 
^  Schola  cantorum  tief  verpflichtet  ist,  hat  der  Wallenstein- 
sinfonie  noch  eine  »Sinfonie  snr  un  thöme  mon- 
tagnard«  und  die  als  ein  Hauptwerk  französischer 
Sinfoniekunst  geltende  »Sinfonie  cövenolec  folgen 
lassen;  beide  sind  bisher  in  Deutschland  unbeachtet  ge- 
blieben. ' 

Die  zweite  französische  Programmkomposition,  auf 
die  hier  wenigstens  ein  kurzer  Blick  geworfen  werden 
muß,  ist  die  Sinfonie  »La  Mer«  von  Paul  Gilson  (ohne  pmI  oiibou. 
Opusangabe).  Der  Komponist  ist  zwar  Belgier,  aber  ahn-  *La  Marc, 
lieh  wie  G.  Franck,  Edgar  Tinel  und  die  flbermegende 
Mehrzahl  seiner  Landsleute  in  seiner  Kunst  durch  und 
durch  Franzose.  H.  Berlioz'  Ansprüche  an  die  Orchester- 
besetzung insbesondere  hat  bisher  niemand  mit  gleicher 
Unbefangenheit  aufgenommen  und  erweitert  wie  dieser 
Belgier.  Im  letzten  Satz  seiner  Sinfonie  verlangt  er 
außer  dem  schon  starken  Bläserchor  des  gewöhnlichen 
Konzertorchesters  noch  eine  zweite  Garnitur  Holzbläser 


/^ 


_^     440     •— 

und  ein  Dutzend  Saxhörner.  Dieser  Aufwand  und  die 
berechtige  Forcbt  vor  den  akustischen  Wirkungen  dieses 
Finale  mögen  der  Sinfonie  von  Gilson  den  Zugang  zu 
dem  deutschen  Konzert  wesentlich  erschweren.  Gekannt 
zu  werden  verdient  sie,  weil  sie  als  die  talentvolle  Leistung 
eines  Hauptvertreters  der  extremen  Koloristenpartei  ein- 
mal ein  Licht  darauf  wirft,  was  den  Formen  der  Sinfonie 
unter  der  Herrschaft  dieser  Richtung  bevorsteht.  Das  ist 
geradeso  wie  in  der  Malerei  eine  kolossale  Verarmung 
des  eigentlichen  inueren  Lebens  zugunsten  einer  neben- 
sächlichen Naturtreue. 

Am  stärksten  ist  dieser  Eindruck  im  ersten  Satz 
(Allegretto,  o/g,  F  dur},  dem  nach  einem  höchst  umständ- 
lichen, mit  mythologischen  und  sonstigen  Schemen  ar- 
beitenden Gedicht,  dem  Programme  der  Sinfonie,  die  Auf- 
gabe zufällt,  den  Sonnenaufgang  zu  schildern.  Man 
erwartet  da  eine  Einleitung,  die  der  Schatten  der  Nacht 
und  der  Dämmerung  gedenkt.  Aber  der  Komponist  setzt 
sofort  mit  einem  fertigen  Operettenthema  ein: 

AUegretto.  J.=1B0. 

m 

crese. 

CfU  I  r"rli  I  Cn  I  i  I  'im  I  I 

das  wohl  die  Stimme  des  seelenlosen  Meeres  bedeuten  soll. 
Und  diese  sowieso  schon  an  Sequenzen,  d.  h.  an 
Wiederholungen  desselben  Motivs  reiche  Weise  wird  nun 
durch  den  ganzen  Satz  unaufhörlich  wiederholt,  meist 
wörtlich  und  vollständig.  Nur  in  der  Mitte  des  Satzes, 
da  wo  sonst  die  ersten  Sätze  der  Sinfonien  die  Durch- 
führungspartie bringen,  begnügt  sich  der  Komponist  mit 
Bruchstücken  seines  Themas  und  fügt  auch  auf  einige 
Abschnitte  hin  eine  Bildung  aus  auf-  oder  absteigend  .n 
Ac-htelfiguren  hinzu,  die  man  für  eine  Art  neuer  Ge- 
danken ansehen  kann.  Sonst  aber  bleibt  er  unerbittlich 
bei  seiner  Melodie,  wie  sie  steht.  Keine  wesentliche  Ent- 
wicklung, keine  Umbildung  gibt  ihr  den  Schein  des  Neuen, 


441 


und  wenn  es  des  Komponisten  Absicht  war,  die  Eintönig- 
keit des  Meeres  vor  die  Seele  seiner  Zuhörer  zn  bringen, 
so  hat  er  diese  Absicht  bis  ZQ  einem  Grad  erreicht,  der 
außerhalb  der  Grenzen  der  Ktmst  hegt. 

Der  zweite  Satz  (AUegro,  s/4  und  Vii  Adur^  hat  die 
Überschrift  »Matrosen-Lieder  und  -Tänzec  und  bildet 
einen  Reigen  lustiger  Szenen  von  sehr  frischem  und  kräf* 
tigern  Grundton.  Es  scheint,  als  wären  für  die  fröhlichen 
Bilder  Volksweisen  mit  verwendet.  Auch  in  diesem  Falle 
bleibt  dem  Komponisten  das  Verdienst  sicherer,  klarer 
und  wirksamer  Gestaltung.  In  der  Sicherheit,  mit  der 
eine  große  Menge  bunter  Gestalten  gruppiert  ist,  gleicht 
der  Satz  dem  Scherzo  in  Svendsens  D  dur-Sinfonie,  und 
in  der  Lebendigkeit,  Unmittelbarkeit  und  in  der  freudigen 
Teilnahme,  mit  der  er  das  Glück  und  die  Lust  der  un- 
teren Schichten  schildert,  zeigt  er  sich  als  echter  Sohn 
der  Niederlande. 

Der  Satz  zerfällt  in  zwei  Hauptteile.  Dem  ersten 
liegt  folgendes  Thema: 

AUegro.  0  z  116. 

ZU  Grunde,  das,  von  unbedeutenden  Nebenmotiven  ge> 
streift,  eine  lange  Entwicklung  erfährt.  An  dem  Schluß 
wird  der  Ton  wilder:  ein  Presto  tritt  ein: 


Bald  aber  kommt  eine  ruhigere  Weise  in  ihm: 


P  r\~\  I  i?J  M  1^  I  rftt^ 


Trotz  des  Presto  ist  der  zweite  Teil  des  Satzes,  in 
den  wir  jetzt  gelangt  sind,  ein  Ersatz  des  alten  Trios. 
Es   schließt  mit    einem   noch   mehr   gesteigerten   Tem> 


/^ 


-^'    442 

po  (Molto  presto).  Aber  in  »  aMoito  presto, 
ihm  kommt,  äußerlich,  fürs  *«*= 
Auge  vielleicht  etwas  fremd: 
das  Thema  des  Hauptsatzes  wieder.  Wir  sind  also  in 
die  Wiederholung  des  ersten  Teiles  eingetreten.  Als  dann 
die  Holzbläser  im  breiten  Gesang  die  Melodie  aufnehmen, 
baut  der  Komponist  seine  Harmonie  auf  einen  langen 
basso  ostin  ato  auf,  in  den  scheinbar  leichtesten  Aufgaben 
die  größte  Kunst  entfaltend. 

Der  dritte  Satz  (AUegro  moderato,  Vi  ^^^  Vi»  ^^^ 
dur),  Dämmerung  überschrieben,  führt  uns  wieder  nach 
der  See  zurück.  Wir  hören  das  gleichmäßige  Plätschern 
ihrer  Wellen  in  Motiven,  die  dem  Hauptthema  des  ersten 
Satzes  entnommen  sind.  Erst  kommen  sie  in  den  Bläsern 
muntern  Schritts,  dann  werden  sie  langsam  und  leise  in 
den  Geigen  angespielt  Die  Nacht  kommt,  Licht  und 
Bewegung  erlischt.  Wie  ein  Abendlied  erklingt  es  aus 
dem  englischen  Hörn: 

Ua  pooo  meno  leato.  J  z  69. 


eine  Idylle  im  Satz,  Gelegenheit  zum  Träumen!  Dann 
wird  aber  die  Bewegung  lebhafter.  Die  Motive  aus  dem 
ersten  Satz  kommen  wieder;  die  dämonischen  Mächte  der 
See  regen  sich  und  messen  sich  eine  Weile  mit  den  Gei- 
stern des  Abendfriedens.  Auch  Nachklänge  aus  der  Tanz- 
szene durchziehen  den  Satz. 

Der  vierte  Satz  (Allegro  moderato,  »/«i  Vi»  F  dur), 
Sturm  Überschrieben,  beschränkt  sich  thematisch  auf 
den  ersten  Takt  des  Hauptthemas  des  ersten  Satzes.  Die 
vier  Noten  dieses  Motivs  variiert  Gilson  in  Farben  und 
Harmonien  und  wiederholt  sie  so  unermüdlich,  daß  sie 
den  Hörer  noch  Tage  lang  verfolgen,  ähnlich  wie  uns  das 
Rauschen  des  Meeres  noch  lange  auf  dem  Festland  be- 
gleitet.   Der  Komponist  erreicht  damit  eine  geisterhafte, 


~4     443     41^- 

gespenstische  Wirkung,  der  Eindruck  seiner  Meerbilder 
wird  älinlich,  wie  ihn  Haydn  von  seiner  Englandfabrt 
gehabt  haben  muß,  als  er  das  Meer  »das  große  Tier« 
nannte.  Diese  Fracht  fällt  in  Gilsons  Finale  nebenbei 
mit  ab.  Sein  Hauptziel  ist:  die  See  in  Empörung  zu 
zeigen.  Nach  dem  Programm  geht  das  Schiff,  dem  die 
Matrosen  des  zweiten  Satzes  angehörten,  in  diesem  Schluß- 
satz zu  Grunde.  Das  Heulen  des  Sturmes,  das  Krachen 
der  Wasserberge  und  alle  die  Schauer  der  wilden  furcht» 
baren  Natur  sind  in  einer  Sinfonie  so  lebensgetreu  wie 
hier  in  dem  Werke  des  Belgiers  noch  nicht  gemalt  wor- 
den. Wenn  es  ein  Triumph  der  Kunst  ist,  das  Heulen 
des  Sturmes,  die  schrecklichen  Schläge  der  Wellen,  das 
Stöhnen  des  Fahrzeugs,  die  hörbaren  Äußerungen  seines 
Kampfes  mit  den  Elementen  mit  dem  größten  Grad  von 
Täuschung  vorzuführen,  so  hat  Gilson  hier  eine  Haupt- 
leistung hinterlegt.  Zum  Teil  sind  die  Mittel  altbewährt, 
namentlich  von  Liszt  und  Wagner  eingeführt:  die  chro- 
matischen Skalen,  die  hohen  Triller,  die  hereinprasseln- 
den  Akkorde  der  schweren  Bläserharmonie;  zum  Teil  sind 
es  Kombinationen  rhythmischer  Natur,  die  Gilson  für  sich 
in  Anspruch  nehmen  kann.  In  den  kritischen  Minuten 
ist  auch  ein  Männerchor  zugezogen,  der  die  Matrosen 
darstellt,  ihre  verzweifelte  Arbeit  mit  »ho  he<  begleitend. 
Nachdem  das  Unglück  geschehen,  hören  wir  das  Thema 
des  ersten  Satzes  in  seinem  vollen  Umfang  noch  einmal. 
Das  Meer  hat  kein  Erbarmen  ^ind  kein  Qewiiuen ;  es  gibt 
sich  so  unschuldig  und  gleichgültig  wie  am  Morgen,  da 
die,  welche  jetzt  in  der  Tiefe  ruhen,  die  Sonne  aufgehen 
sahen. 

Auch  Claude  Debussy  hat  eine,  wenigstens  in  CUade DebsMj, 
Frankreich  häufiger  gespielte  Meeressinfonie  geschrieben,  ^  ^^' 
die  den  Titel  »La  Mer<  trägt  und  aus  drei  Sätzen  oder 
Skizzen  (esquisses  symphoniques)  besteht.  Im  ersten, 
»Derarbe  ä  midi  sur  la  mer«,  malt  das  Orchester  das 
Spiel  des  Wassers  mit  beständig  wechselnden,  kurz  cha- 
rakterisierenden Figuren  der  Streicher,  von  den  Bläsern 
her  hört  man  ruhigere  Motive,  welche  die  Stimmung  des 


.r^ 


.     -  -»    444     V 

im  Boote  sitzeDdeu  Beobachters  ausdräckeD.  Darin,  daß 
sie  Debussy  nicht  entwickelt  und  nicht  in  Beziehungen  zu 
einander  setzt,  zeigt  sich  seine  impressionistische  Natur, 
der  Bausteine  lieber  sind  als  Bauwerke.  Der  zweite  Satz: 
»Jeu  de  vagues«,  bringt  im  wesentlichen  die  Bilder 
des  ersten  nochmals,  aber  vergrößert,  bewegter,  erregter 
und  auch  mit  einem  stärkeren  Zusatz  von  Gemütsmotiven. 
Er  hat  da,  wo  sich  die  Dissonanzen  endlich  einmal  auf- 
lösen, Stellen  von  faszinierender  Schönheit .  Der  dritte 
Satz:  »Dialogue  du  vent  et  de  la  merc,  beginnt 
erst  das  Treiben  des  Windes,  dann  die  Reaktion  des 
Wassers  malend.  Dann  kommt  aber  als  Mittelpunkt  des 
Ganzen  ein  weihevoll  ruhiger,  gebetsartiger  Abschnitt,  der 
von  einer  zwar  chromatischen,  aber  doch  breit,  aus- 
giebigen und  sprechenden  Melodie  getragen  wird.  Es  ist 
trefQiche  Musik  im  alten  Stil. 

Die  Aufgaben,  die  sich  die  französische  Programm- 
suite stellt,  laufen  in  der  Regel  auf  Stimm ungs-  und 
Situationsbilder  allgemeiner  Natur  hinaus.  Es  sind  im 
Grunde  Charakterstöcke,  wie  sie  die  französische  Orche- 
stersuite seit  Lully  gehabt  hat,  sie  schildern  Affekte, 
deren  musikalische  Natur  anßer  allem  Zweifel  steht,  und 
gebrauchen  den  poetischen  Titelzusatz  nur  als  Sporn  und 
Hülfe,  die  Phantasie  zu  beleben  und  vor  dem  Einschlafen 
auf  Gemeinplätzen  zu  schützen.  Der  Zusammenhang  dieser 
Musik  mit  dem  Ballett  offenbart  sich  im  Charakter  der 
Sätze;  ja  ein  Teil  dieser  französischen  Prograramsuiten 
bekennt  auch  äußerlich  die  Herkunft  von  der  Bühne.  Von 
Lto  iiellbM^  L.  De  Hb  es  z.  B.  haben  wir  zwei  Ballettsuiten  aus  »Le 
Sylvia.  ^oi  s^amuse«  und  aus  »Sylvia«.  Diese  Sylviasuite, 
die  sich  in  den  deutschen  Populärkonzerten  eingebürgert 
hat,  ist  ein  Probestück  jener  französischen  Unterhaltungs- 
kunst, die  gewöhnliche  Dinge  durch  eine  gewählte  Form 
zu  heben  weiß.  Unter  ihren  vier  Sätzen,  die  Jäger, 
Nymphen  und  Bacchanten  vorführen,  zeichnet  sich  der 
dritte,  ein  langsamer  Walzer  aus.  Am  bekanntesten  sind 
aus.  der  Gruppe  dieser  für  das  Konzert  zurechtgemachten 
Schauspielmusik  die  zwei  Suiten,  die  G.  Bizet,  der  Rom- 


— •    445    »^ 

poaist  der  »Carmen«,  im  Jahre  1872  zu  A.  Daudets  Schau- 
spiel »L'ArUsienne«  geschrieben  hat. 

Von  diesen  beiden  Suiten  ist  die  erste  in  Deutsch*  e.  BUet, 
land  außerordentlich  verbreitet  und  wohl  mehr  als  L'Arlesienne  l 
irgend  eine  zweite  neuere  französische  Orchesterkom- 
position aus  den  Kreisen  der  Abonnementskonzerte  hin- 
aus in  die  Volksmusik  gedrungen.  Das  ist  nur  natür- 
lich, denn  sie  ist  eine  so  reizende  Arbeit,  wie  wir  nur 
wenige  haben,  und  bleibt  —  mannigfach  gehaltvoll  — 
leicht,  klar,  liebenswürdig  auch  da,  wo  sie  Ungewöhn- 
liches und  Außerordentliches  bietet.  Eins  wollen  wir 
Bizet  nicht  vergessen :  das  ist  die  Knappheit  seiner  Ent- 
wicklungen und  Ausführungen. 

Die  erste  Nummer  unserer  viersätzigen  Suite  (AUegro, 
C)  Cmoll),  die  die  Oberschnft  Pr^lude  hat,  bildet  in  der  , 
vollständigen  Schauspielmusik  die  Ouvertüre  und  hat  den 
doppelten  Zweck,  auf  die  Hauptzüge  und  den  Charakter 
der  ilandlung  vorzubereiten  und  uns  mit  Land  und  Leuten 
etwas  bekannt  zu  machen.  Das  zweite  Ziel  verfolgt 
Bizet  mit  dem  Thema,  das  den  Satz  eröffnet: 


AUegro  dtciflo.  Jsl04 


J    I   I   I  TT~rHI  ^s  ^*^  ®^^^  provenzalische 
f    I  ^  ^  j  s^  Volksmelodie,  als  »Marche 


de  Turenne«  in  Frankreich  bekannt.  Bizet  entwickelt  sie 
in  einer  Reihe  Variationen  ernsten  Charakters,  die  die 
Phantasie  seiner  französischen  Zuhörer  mit  ganz  be- 
stimmten geographischen  und  kulturhistorischen  Bildern 
erfüllen  müssen,  wie  wir  ähnlich  bei  »Jetzt  gang  ich  ans 
Brüunele«  an  Schwaben  denken.  Zuerst  kommt  die 
Melodie  ohne  Begleitung,  aber  in  mächtiger  Besetzung 
(alle  Streichinstrumente  mit  Ausnahme  der  Kontrabässe, 
Holzbläser,  Saxophon  und  Hörner).  Dann  wird  sie  zart 
von  der  Klarinette  gesungen,  von  der  Flöte,  englischem 
Hörn  und  beiden  Fagotten  mit  schmiegsamen  Harmonien 
begleitet.     Die   zweite  Variation  bringt  das  Thema  von 


_^     446     ♦^ 

sämtiiclien  Bläseiu  gespielt;  sämtliche  Streichtustramento 
begleiten  ebenfalls  unisono  in  Achtelfignren,  die  o  als 
Orgelpunkt  festhalten,  in  den  Nebennoten  aber  die  Skala 
emporklimmen.  Die  Perioden  setzen  pp  an  und  gelangen 
zur  selben  Zeit,  wo  die  Figuren  sich  der  Oktav  von  e 
nähern,  ins  f  und  ff. 

Die  dritte  Variation  bringt  das  Thema  im  langsamen 
Tempo  in  Cdur  vom  Cello  vorgetragen,  Hom  und  Fagott 
begleiten.  Die  vierte  Variation  hat  es  wieder  in  der  An- 
fangsbewegung und  im  großen  Glanz  des  vollen  Orche- 
sters. Mit  einem  kleinen  Anhang  schließt  die  Variationen- 
gruppe, die  dadurch  ungewöhnlich  ist,  daß  sie  auf  die 
modernen  Mittel  des  Variierens,  auf  wesentliche  Ver- 
änderungen des  Themas  selbst,  verzichtet  Bizet  wollte 
mit  R&cksicht  auf  den  Zweck  seiner  Musik  so  einfach 
und  gemeinverständlich  als  möglich  bleiben;  er  ist  trotz- 
dem nicht  in  Monotonie  verfallen. 

Die  Mitte,  oder  den         APdyne  moiio.  Jeden  zwei- 

zweiten Teil  des  Pr61ude^|^ij>  r^  j*  ff  i^  iiten  Takt  er- 
füllt fast  ganz  das  Motiv  9^~  p  •"  '  '  ^'hebt  es  sei- 
nen Klageruf.  Wie  auch  die  Musik  ihre  Wege  wählt, 
durch  alle  Harmonien  drängt  es  sich.  Wenn  je,  so  darf 
hier  an  eine  >Id6e  fixe«  gedacht  werden,  und  tatsächlich 
bedeuten  jene  vier  Noten  auch  etwas  dem  Ähnliches. 
Fr^deri,  der  Held  des  Daudetschen  Schauspiels,  muß  das 
Mädchen  Von  Arles  (rArl^sienne)  aufgeben,  weü  sie  eine 
Unwürdige  ist.  Aber  er  hört  nicht  auf  an  sie  zu  denken, 
sich  nach  ihr  zu  sehnen,  und  an  dem  Abend,  wo  seine  Ver- 
lobung mit  einer  andren  vorbereitet  wird,  stürzt  er  sich 
zumFenster  hinaus.  Der  mittlere  Teil  der  Prölude  malt 
nun  mit  der  unaufhörlichen  Wiederkehr  dieses  einen  Mo- 
tivs den  Geisteszustand  des  armen  Fr^deri,  der  so  ganz 
bis  zur  Sinnlosigkeit  von  dem  Gedanken  an  die  Verlorne 
beherrscht  wird.     Ein  dritter  Teil,  in  dem  das  Motiv 

UkipwmoiiiaieBto.Jr7e.  <^>^  haupUächliche  Entwicklung 

^-^.  /  ^    ^^^  trägt,  malt  d^s  Sorgen,  das  Hof- 

.^  r    r   p  I  r    r  ^S  fen  und  Ringen  der. Umgebung. 

3^  j»  "  Die    letzten    Takte   des    Satzes 


r 


447 


nehmen  Bezug  auf  den  traurigeD^  schrecklichen  Ausgang 
des  Stockes. 

Der  zweite  Satz  (Allegro  giocoso,  3/4,  CmoU),  als 
Minuetto  bezeichnet,  ist  als  Zwi&chenaktsrousik  zur  EröfT* 
nung  heitrer  Szenen  komponiert.  Er  hat  die  alte,  von 
Haydn  her  bekannte  Anlage.  Der  Hauptsatz  stützt  sich 
auf  ein  Thema,  das  bei  aller  Einfachheit  und  Beschrän- 
kung doch  eine  feine  wählerische  Hand  verrät.  Die  Baß- 
föhrung  zeigt  sie: 


KtoMlL        Aa«cv^  giocosow 


Jr 


:^^?7^I^JlJllhjl     I  vot  HauS 
f    ^     ^         r     ^  ^     UT  T  ^        ^satz     wird 


jedoch  das  Wesen  dieses  Minuetto  von  dem  anderen  Teil, 
dem  an  Stelle  des  Trios  stehenden  Satz  bestimmt  Er 
steht  in  Asdur  mit  folgendem  Thema: 


Mit  semem  innigen,  elegischen  Ausdruck  fesselt  es  an 
sich  schon  das  (}emüt  des  Hörers;  der  Komponist  ver- 
stärkt aber  seine  Macht  durch  die  sichtliche  Liebe,  mit 
der  er  bei  ihm  weit  fiber  die  normale  Zeit  hinaus  ver- 
weilt. 

Der  dritte  Satz  (Adagio,  *U,  Fdnr),  Adagietto  be- 
titelt, ist  kaum  mehr  als  ein  Lied  mit  einem  kleinen  selb- 
ständigen Mittelsatz,  sonst  vom  einfachstem  Bau.  Die 
Hauptstrophe  bildet  Vorder-  und  Nachsatz  und  wird  so 
viel  ausgenutzt,  als  nur  möglich  ist,  und  in  ihr  selbst  sind 
die  melodischen  Verhältnisse  so  leicht  gewählt,  als  es 
nur  sein  kann.  Größere  Schritte  kommen  fast  gar  nicht 
vor.  Diese  äußerste  Einfachheit,  die  das  innige  Stfick 
noch  rührender  macht,  als  es  an  und  für  sich  schon  ist, 
dient  hier  Zwecken  dramatischer  Charakteristik.    Es  be- 


«n 


-^     448     «-- 

gleitet  den  Dialog  zweier  alten  Leute  im  Stück:  der  Matter 
Renaud  und  des  Schäfers  Balthasar,  die  sich,  um  brav 
SU  bleiben,  vor  fünfzig  Jahren  getrennt  haben  und  jetzt 
zum  ersten  Mal  wieder  sehen.  Als  die  Musik  der  alten 
Leute  zeigt  sich  das  Adagietto  auch  in  seiner  bescheid- 
nen Besetzung  (Streichquartett)  und  im  Tempo,  das  man 
kaum  zu  ruhig  nehmen  kann. 

Der  Schlußsatz  (AUegretto  moderato,  ^/^,  Edur) 
»Carillon«  betitelt,  ist  derjenige,  welcher  den  Konzert- 
erfolg der  Suite  unter  allen  Umständen  sichert.  Eine 
Harmonie  gegen  einzelne  liegen  bleibende  Töne  (liegende 
Stimme)  zn  führen  oder  gegen  ein  im  Baß  festgehaltnes 
Motiv  (Basso  ostin  ato),  das  ist  nichts  Seltnes.  Aber  ein 
Motiv  in  einer 'Mittelstimme  ohne  Unterbrechung  sechzig 
Takte  hintereinander  wiederkehren  zu  lassen  und  darüber 
und  darunter  eine  Musik  in  Fluß  und  Charakter  zu 
bieten  —  wie  das  Bizet  hier  tut,  das  ist  ein  Kunststück. 
Dazu  kommt  aber  noch,  daß  dieses  Kunststück  sich 
ganz  natürlich  gibt  Der  Satz  Bizets  ist  wirklich  ein 
Stück  Programmusik  im  eigentlichsten  Sinn:  Malerei  Er 
macht  das  Glockenspiel  nach^  aber  Bizet  hebt  den  Effekt 
poetisch  ähnlich,  wie  er  in  seiner  Carmen  die  Äußerlich- 
keiten des  militärischen  Lebens  getreu,  aber  zugleich 
auch  in  poetischer  Verklärung  vorführt  Im  Schauspiel 
setzt  unser  Finale  in  dem  Augenblick  ein,  wo  die  jungen 
Leute  nahen,  um  die  bevorstehende  Verlobung  Fröderis 
mit  Vivette  zn  feiern.  Was  das  Dorf  nur  an  Mitteln  be- 
sitzt, um  einer  freudigen  und  hochgehenden  Stimmung 
Ausdruck  zu  geben,  das  wird  in  j 

Tätigkeit  gesetzt  NatürUch  müs-  flflg''"","^""^-.*^'!^^.. 
sen  da  die  Glöckchen  auf  demAT^it  J  J  J  I  J^ 
Turm  auch  mittun.    Sie  spielen:  JO^ 

Unter  den  Kontrapunkten,  die  ihnen  entgegentreten,  ist 
der  wichtigste  der  folgende: 

(V"[  I  r nn  I  ii'i  n  i  » 


— ♦    449     f^ 

als  der  Ausdruck  fröhlicher,  flotter  FeststimmuDg.  Unter 
den  Klängen  dieses  Themas  stürmt  die  Schar  der  jugend- 
lichen Gratulanten  heran.  Im  Mittelsatz,  der  über  folgen- 
des Thema  entwickelt  ist: 

Andantiiio. 


tritt  das  Sprecherpaar  hervor  und  stattet  sittig  und  herz- 
lieh den  Glückwunsch  ab. 

Der  außergewöhnliche  Beifall,  mit  dem  Bizets  1.  Suite 
zu  TÄrMsienne  in  allen  Ländern  aufgenommen  wurde, 
bestimmte  seine  Freunde,  die  (aus  S4  Nummern  bestehende) 
Musik  zu  dem  Schauspiel  Daudets  noch  einmal  nach 
Sätzen  durchzusehen,  die  im  Konzert  verwendbar  wären. 
Das  Ergebnis  hat  uns  Guiraud  in  einer  zweiten  Suite 
Bizets  zu  l'Arlösienne  vorgelegt,  die  ebenfalls  aus  G.  Vlut, 
vier  Nummern  besteht,  welche  den  Stücken  der  ersten  I-'ArW^ienne  U 
Suite  in  der  Wirkung  nichts  nachgeben. 

Sie   wird  mit    einem   Pastorale   eröffnet,    dessen 
Hauptsatz  auf  folgendem  Thema  ruht: 

Afidaate  Boatennto  assai.  J  =  64. 


jr 


j^2  ^  [  In  der  harmonischen  Stellung  der 
r   P     '  Achtelnoten,  in  dem  ländlich  naiven, 


freundlich  liebenswürdigen  Ausdruck  froher  Stimmung 
erinnert  es  an  Boieldieus  »Weiße  Dame«.  Ein  Nachsatz, 
von  h  aus  gebildet,  vervollständigt  es  zur  achttaktigen 
Periode,  die  von  den  Bläsern  allein,  mit  der  Flöte  als 
Soloinstrument,  sofort  und  wörtlich,  aber  im  zarten  Ton 
wiederholt  wird.  Da  schon  wird  die  ländliche  Szene  unter- 
brochen :  die  Holzbläser  rufen  einander  zu,  als  käme  je- 
mand, der  noch  mit  will:  vom  Saxophon  und  Hörn  her 
hören  wir  ein  Motiv,  das  wie  ein  Halloh  klingt.  Man 
wartet  auf  den  Nachzügler,  und  als  er  da  ist,  beginnt  ein 
kleines  Pastoralkonzert,  eine  echte  Landmusik  im  ^VsTakt: 

Krelzichmar,  Führer.    T,  1.  29 


450     <»^-' 


gtfat  t — Ü- .tf-r  j -"JT^-   ^^® ^^^^ üudelsackharmonien, 
fc*ff    J\  p  itp  i*r  Lf  r  *r  r^  von  den  Qaintenbässen  der 
mf  eta  Fagotte  begleitet.  Lange  dau- 

ert sie  nicht,  das  Adurtbema  setzt  wieder  im  ff  ein,  der 
Zug  bewegt  sich  weiter.  Bald  hat  er  aber  sein  Ziel,  den 
Spielplatz  im  Schatten  erreicht.  Noch  einmal  setzt  sich 
alles  in  Positur,  das  Messing  (Posaunen  mit)  intoniert  mit 
äußerster  Kraft  und  Würde  die  Adar-Harmonie,  die  andern 
Instrumente  fangen  Nachahmungen  des  Themas  an.  Aber 
blitzschnell  wird  das  aufgegeben,  die  Klänge  verhauchen, 
und  wir  stehen  vor  einem  ganz  veränderten  Bild:  vor 
dem  zweiten  Teil  des  Pastorale.  Dieser  zweite  Teil  ist 
in  Fismoll  und  im  3/^  Takt  gehalten,  scheidet  sich  also 
auch  äußerhch  scharf  von  dem  Hauptsatz.  Dem  Cha- 
rakter nach  ist  er  eine  Tanzszene,  und  der  Komponist 
hat  hier  sichtlich  darauf  gerechnet,  daß  der  Zuhörer  die 
sinnlichen  Haupteindrücke  darch  das  Auge  von  der  Bühne 
her  empfängt.  Denn  die  Musik  ergeht  sich  in  bloßen 
Wiederholungen.  Sie  repräsentiert  wohl  mit  provenza- 
lischen,  halb  ehrwürdigen,  halb  drolligen  Melodien  ein 
Pärchen.    Sie  singt  zierlich: 


AjadantlAO. 


er  ungestüm: 


xr 

Ein  freierer  und  ausdrucksreicher  Abgesang  schließt  die 
Szene  und  eine  abgekürzte  Wiederholung  des  Haupt- 
satzes den  ganzen  Satz,  der  durch  das  reizende  Adur« 
Thema  noch  lange  nachwirkt.  Im  Schauspiel  kontrastiert 
sein  liebenswürdig  freundlicher  Klang  aufs  schneidendste 
mit  der  augenblicklichen  Situation.  Denn  der  Aufzug  des 
Pastorale  erfolgt  unmittelbar,  nachdem  Fröderi  über  den 


461     «^ 

wahren  Charakter  der  Ärlösienne  schmerzlich  aufgeklärt 
worden  ist. 

Der  zweite  Satz  der  Suite  (Andante  moderato,  Ci 
Es  dar),  Intermezzo  überschrieben,  ist  Zwischenaktsmusik 
elegischen  Charakters.  In  der  kurzen  Einleitung,  die  am 
Schluß  der  Nummer  wiederkehrt,  wechselt  eine  starke 
ünisonofigur  mit-  zarten,  geheimnisvollen  Bläserakkorden. 
Der  Hauptsatz  gleicht  einem  Gresangstück,  dessen  gleich- 
mäßig breiter  Fluß,  nur  durch  einige  Takte  der  Erregung 
unterbrochen,  dem  Ende  zu  durch  Hinzutreten  immer 
weitrer  Instrumente  sehr  imposant  anschwillt 

Auch  der  dritte  Satz  (Andantino  quasi  allegretto, 
s/ai  Esdur),  Menuett  betitelt,  ist  ein  Stflck  Zwischen- 
aktsmusik, dem  vorigen  aber  an  Originalität  weit  Über- 
legen. In  der  Familie  der  Menuetts  läßt  es  sich 
ebenso  wenig  mit. einem  zweiten  Stück  verwechseln 
oder  auch  nur  vergleichen,  wie  Mozarts  Menuett  seiner 
letzten  Esdur-Sinfo* 
nie.  Zu  der  kecken  ^^  j_  ^  ^ 
Grazie  seiner  Melodie,  fti»Vj(  '  = 
die  von  dem  Thema:  "^^  PP 
getragen  wird,  kommt  eine  ganz  ungewöhnliche  Instru- 
mentierung: den  größten  Teil  des  Hauptsatzes  spielen 
Flöte  und  Harfe  allein.  Um  so  gewaltiger  klingt  dann,  das 
volle  Orchester  im  Mittelsatz,  der  über  das  feste  Motiv 

tfi?L  f'tf  .f  .  .  ■  8®ba^*  ist  Die  Pausen  füllen  Sech- 
■jfcPir  r  '  '  I '  i  ^  \  zehntelgänge  von  Flöten,  Oboen  und 
/  Klarinetten,  die  durch  die  Beteiligung 

der  Harfe  Härte  und  Rückgrat  erhalten. 

Ähnlich  wie  in  der  ersten,  so  ist  auch  in  Bizets  zweiter 
Suite  zu  TArlösienne  der  Schlußsatz  (Allegro  deciso, 
C>  Vij  DmoU— Ddur)  als  die  Krone  des  Ganzen  zu  be- 
zeichnen. 

Bis  zu  den  Entr^es  in  den  Balletts  Rameaus  können 
wir  die  Tatsache  zurückverfolgen,  daß  die  französischen 
Komponisten  ihre  besten  Stunden  immer  bei  der  Schil« 
derung  von  besondern  Aufzügen  haben.  So  sind  auch  in 
Bizets  Suiten  der  Carillon,  Pastorale  und  unser  Schluß- 

29* 


452     ♦>- 

satz  die  ßedeatendsten  Treffer.  Denn  auch  dieser  Schluß- 
satz ist  eine  Aufzagsmusik:  Farandole,  wie  er  über- 
schrieben ist,  bedeutet  den  Marsch  und  Tanz,  mit  dem  die 
Teilnehmer  am  Fest  des  heiligen  Eligius  (Cloi)  in  der 
Provence  vor  den  Häusern  und  Höfen  erscheinen,  von 
deren  Besitzern  sie  milde  Beiträge  erbitten  wollen. 

Bizets  »Farandole«  beginnt  wie  das  Pr^lude  der  ersten 
Suite  mit  dem  Maiche  de  Turenne.  Doch  beutet  er  die 
alte  Melodie  nicht  wieder  zu  Variationen  aus,  sondern 
bricht  sie  bald  ab  und  ersetzt  sie  durch  die  eigentliche 
Farandole.  Das  ist  ein  altertümlicher  provenzalischer  Ge- 
sang, zu  dem  auch  besondere  Instrumente  gehören:  das 
lange  schmale  Tambourin  und  das  Flageolett :  die  Melodie 
des  Farandole  ist  folgende: 

iP'i  ii  ii  1 1 1  II I  ij  h  1 1 1  iujj|i|ii 

Die  Periode  wird  wie- 


rr  p  I  r 


einen  Nachgesang: 


der  ebenfalls  zweimal  gegeben 
wird.  Dann  beginnt  der  ganze 
Reigen  von  vorn,  zwei-,  dreimal  erneuert  sich  das 
Spiel,  aber  immer  lauter.  Wie  aus  weitester  Feme  ppp 
begann  die  Farandole,  beim  zweiten  Einsatz  war  sie 
schon  im  f,  und  fortwährend  wächst  sie  an  Tonstärke, 
zieht  Instrument  um  Instrument  in  ihre  Kreise  und 
klingt  mit  jeder  Sekunde  entschiedener,  naturmächtiger. 
Nimmt  man  noch  hinzu,  wie  das  Tambourin,  noch  ehe 
die  Melodie  eingesetzt  hat,  schon  seinen  Achtelrhythmus 
begann  und  wie  es  seitdem  nicht  aufgehört  hat,  die 
Achtel  weiter  zu  klopfen,  so  kann  man  sich"  einen 
Begriff  von  der  sinnverwirrenden  Wirkung  dieser  Musik 
machen.    Endlich  kommt  eine  Abwechselung:  der  Marche 


-^    453 


tP> 


de  Turenne  tritt  eiu.  Aber  nur  für  kurze  Zeit.  Bald 
macht  er  der  Farandole  wieder  Platz,  die  bis  zum 
Ende  des  Satzes  nicht  wieder  verschwindet.  Wir  stehen 
also  dieser  Schlnßnummer  der  zweiten  Suite  gegenüber 
vor  einem  ähnlich  behandelten  Variationengebilde,  wie 
es  Glinkas  Kamarinskiga  ist.  Die  russische  Kunst,  ein 
unscheinbares  und  geistig  geringes  Thema  durch  Zähig- 
keit zu  einer  Größe,  ja  zu  einer  Naturgewait  zu  steigern, 
hat  sich  Bizet  mit  einer  Wirkung  zu  eigen  gemacht,  die 
nichts  zu  wünschen  läßt. 

Gleichfalls  nach  dem  Tode  des  Komponisten  hat  man  o.  Bis«t, 
eine  dritte  Orchestersuite  von  Bizet  veröffentlicht.  Sie  Homa. 
führt  den  Titel  Roma  und  gehört  zu  seineu  älteren  Ar- 
beiten. Nach  den  Versicherungen  Gh.  Pigots*)  hat  Bizet 
schon  i.  J.  1863  an  ihr  gearbeitet,  damals  noch  mit  der 
Absicht,  eine  Sinfonie  zu  schreiben.  Am  28.  Februar  1869 
wurde  das  Werk  bei  Pasdeloup  aufgeführt  mit  der  Be- 
zeichnung >Fantaisie  Symphonique«  und  dem  Nebentitel 
»Souvenirs  deRomec.  Der  erste  Satz  trug  die  Bemerkung 
»Une  chasse  dans  la  fordt  d'Ostie<  —  das  ist  für  eine 
Suite  mit  dem  Titel  Roma  ein  zum  Verwundern  harm- 
loses Thema  — ,  der  dritte  war  als  »Une  procession«  an- 
gegeben, der  letzte  wie  noch  heute  Carnaval  benannt. 

Der  erste  Satz  (Andante  tranquillo,  C)  Cdur  und 
Allegro  agitato,  ^/g,  C  moll)  beginnt  mit  einem  Hornquartett, 
dem  folgender,  an  den  Schlüssen  etwas  Mendelssohnisch 
gefärbter  Gesang  zu  Grunde  liegt: 

ABdanto  traaqiiUlo.  J  r  66. 


^^    ^   » ^^_ .     n      -   ^      ^^^      ^°  derselben  Sonntag- 
r  r  rfrrir^t*rr   r#ir  Y  morgenstimmung    wie 
'    ^       ^         ^  dieses     Thema     sind 
auch  die  Strophen  gehalten,  weiche  die  Geigen  ihm  ent- 
gegenstellen.   Dann  geht  die  Erwartung  in  Unruhe  über. 

*)  Oharles  Pigot:  Georges  Bizet  et  son  oenvre.     1886. 


454 


Bewegtere  Motive  treten  ein,  die  Geigen  begleiten  in 
sprüiienden  Figuren,  ans  den  Bläsern  tönen  lockende  Rufe. 
Die  ganze  Natur  beginnt  zu  leben,  es  wird  Zeit  zum  Tage- 
werk. Dessen  Schilderung  ist  die  Aufgabe  des  Allegro, 
das  den  zweiten  Teil  dieser  Nummer  bildet.  Es  ist  in* 
sofern  ganz  ungewöhnlich  angelegt,  als  es  weder  die  üb- 
liche Einteilung  eines  Sonatensatzes  noch  die  eines  Rondo 
zeigt.  Es  hat  kein  bestimmtes  Thema,  aus  dem  es  sich 
entwickelt,  sondern  es  sucht  die  augenblickliche  Lage 
mit  immer  neuen  Motiven  zu  zeichnen  und  Überläßt  es 
dem  Zuhörer,  aus  deren  Charakter  auf  den  Inhalt  der 
wechselnden  Bilder  zu  schließen.  Die  wichtigsten  dieser 
Motive  sind  folgende  drei: 


An«gro  agitato.  J>sS04 


iji''-i  IUI  |if  Jiii  u.u\aj\  ^Ni  I 

Der  Satz  hat  einzelne 
{  j  I  wenige  Idyllen,  vor- 
wiegend malt  er  ein 
lautes,  froh  erregtes  Treiben,  bei  dem  die  Homer  eine 
Hauptrolle  haben.  Im  Augenblick,  wo  die  Wogen  am 
höchsten  gehen,  geht  auch  die  Modulation  aus  Rand  und 
Band,  nämlich  in  das  ganz  unerwartete  Es  dur.  Dieser  Ab- 
schnitt hat  auch  ein  hervortretendes  Hauptmotiv,  nämlich: 

Als  er  wieder  in  Es  geschlossen , 

=  verklingt  der  Lärm;  mit  einem 

y   "  'Male   sind  die  Schatten  des 

Abends  da.  Noch  einmal  kommt  ein  Aufschwung  aus 
der  sanften  Idylle,  die  das  Allegro  geworden  ist.  Dann 
kommen  die  Motive  der  Einleitung  wieder  und  schließlich 
das  Andante  selbst 

Der  zweite  Satz  (Allegretto  vivace,  >/«>  As  dur)  ist 
als  das  Scherzo  der  Suite  anzusehen.  Seinem  Hauptsatz 
liegt  folgendes  flüchtige,  phantastische  Thema  zu  Gründe: 


455 


J-:iie. 


rr  r  I  f  r  ['"'IZJl''  I  j  -»r  '^'irTr'f  i 


Itt  iViirrfrl  If  I  IV  rH  U  1^ 


Zunächst  wird  es  zu  einer  Fuge  benutzt,  dann  aber  zu 
einer  Reihe  freier  leichter  Satzbildungen,  begnügt  sich, 
später  hie  und  da  wohl  auch  Begleitungsmotive  und  Ver- 
zierungsfiguren zu  liefern,  z.  B.  zu  folgender  Melodie: 

^^h>  ,i.j^,l.  I  [■■  I  I  I  1^^  i-i-r-^5iäji 

Der  zweite  Teil,  dem  gewöhnlichen  Trio  entsprechend, 
ist  ähnlich  wie  in  der  ersten  Suite  Bizets  zu  TArläsienne 
sehr  liebevoll  ausgeführt.  Das  warm  gesangvolle  Haupt- 
thema, das  dem  zarten  Satz  zu  Grunde  liegt,  ist: 


A^i   I  I  -l-i  -M  I  I  J.l  M  J-i,J'  I  ,)■ 


etc. 


Der  dritte  Satz  (Andante  molto,  Ci  Fdur)  gleicht  mit 
seinem  ruhigen,  Gemütsruhe  und  Frieden  verkündenden 
Thema : 


Andante  nolto.  J  1 48. 


^ — TTtTT!]  ri"^  I  ™6"'  emer  ^»zene  m  aer  h.a- 
J  J^  J  ^  ^  ^  I  p  =JiMI  pelle  als  einer  Prozession.  Nur 
'^^  -'-     ="^      die    häufigen   Wiederholungen 

führen  uns  das  Bild  des  Marsches  der  ausruhenden  und 
wieder  aufbrechenden  Pilgerschar  vor  die  Phantasie. 
Bizet  bat  diesen  Wiederholungen  ganz  im  Gegensatz  zu 


456 


dem  Verfahren,  das  Berlioz  im  Harold  einschlug ,  das 
Eintönige  dadurch  zu  nehmen  gesucht ,  daß  er  sie  har- 
monisch oder  in  der  Instrumentierung  variierte.  Nament- 
lich die  letzte  Variation  hat  durch  die  lebendigen,  inter- 
essanten Kontrapunkte  der  ersten  Violine  einen  großen 
Reiz.  Ursprünglich  war  dieses  Andante  von  Roma  ein 
Seitensttlck  zu  dem  Adagietto  in  der  ersten  Suite  zu 
TArläsienne,  einfach  und  knapp.  Der  Komponist  hat  dem 
Satz  aber  nachträglich  einen  imposanten  Charakter  da- 
durch gegeben,  daß  er  das  zweite  Thema  aus  dem  Schluß- 
satz der  Suite  in  ihn  hereinnahm  und  ausführte. 

Dieser  Schlußsatz  (AUegro  vivacissimo,  Vi«  ^  i^oU)  ist 
ein  Rondo.  Sein  Hauptthema  i&t  ein  Baßrhythmus,  der 
durch  die  Dissonanzen,  mit  denen  er  begleitet  wird,  eine 
wilde  und  ausgelassene  Natur  und  die  Fähigkeit  erhält, 
die  Stütze  einer  tollen  Karnevalsmusik  zu  bilden: 


AUeero  vivaciseiino, 


AUeero  nvaciseuiu 


.J-- 


168. 


^^ 


^ 


?ii». 


yi.'i.  B  /■  1  \h  i 


^ 


Hp  t^P  - 


^ 


P 


Eine  bunte  Schar  von  Motiven  gesellt  sich  zu  dieser 
Baßfigur;  jedes  Instrument,  das  an  der  Musik  teilnimmt, 
hat  ein  anderes.  Der  lustige  Tag  macht  die  Phantasie 
sprühen,  der  melodische  Segen  ist  fast  unerschöpf- 
lich. Hervorgehoben  seien  unter  -Aj_^fr^_  _  ^  j^*v 
ihnen    zwei,     die    später    be-    ftt*'^*  T    f  ^/  |  ["     jB 


nutzt  und  bedeutender  werden: 

und       das 

von 

abgeleitete: 


Unter  den  The- 


ihm   JiM  rUrrf  |>ir  tVfft  men   der  Zwi- 


sehen  Sätze    er- 


-- »    457 


regt  das  des  ersten  Interesse,  weil  es  beim  Einsatz  sehr 
an     Nicolais  ^-:r\      ^'r>^    $ 


Lusüge  Wei-       /^l^.  (}  \f 
ber  erinnert:     .3^ 


iJf/|Pp 


Das  eigentliche  zweite  Hanptthema  des  Schlußsatzes, 
dessen  Bekanntschaft  der  Hörer  schon  im  vorhergehenden 
Andante  gemacht  hat,  lautet:  y 


Uif\iJi\Ui^\\  IUI  I  |lil||  |||  1^ 


Es  gibt  am  tollen  Tage  edleren  Gefühlen  Ausdruck,  und 
wenn  wir  in  Betracht  ziehe^n,  wie  dieses  Thema  im  Satze 
plötzlich  unvorhergesehen  vor  uns  steht,  so  liegt  der  Ge- 
danke nicht  so  fern,  daß  der  Komponist  damit  auf  eine 
liebe  Begegnung  hat  hindeuten  wollen.  Die  innige  und 
schöne  Weise,  aus  der  schon  eine  Hauptstelle  von 
»Carmen«  herausblickt,  klingt  oft  wieder  und  wirft  in  die 
noch  folgenden  ausgelassenen  Szenen,  von  der  eine 
Fuge  über 


die  ärgste  ist,  veredelnde  Lichter.  Mehr  und  mehr  dem 
Ende  zu  wird  aber  auch  sie  ihres  Charakters  entkleidet 
und  in  den  Strudel  sinnloser  Lust  hineingezogen. 

In  Frankreich  wird  noch  eine  sogenannte  Kleine 
Orchestersuite  (op.  22)  Bizets  viel  gespielt,  die  den 
Titel  fuhrt:  jeux  d*enfants,  d.  i.  Kinderszenen.  Diese 
Kinderszenen  entstanden  als  Klaviermusik,  ein  Heft  12 
Nummern  umfassend.  Zur  Eröffnung  der  Konzerte  Cor 
lonnes  hat  der  Komponist  fünf  davon  instrumentiert  und 
als  petite  Suite  d'orchestre  veröffentlicht.  Die  erste 
Nummer  ist  ein  einfacher  Marsch,  bei  dem  Trompeten, 
Hörner,  Pauke  und  kleine  Trommel,  also  die  Instrumente, 
die  die  Aufmerksamkeit  des  Kindes  am  stärksten  er- 
wecken, sehr  hervortreten.    Es  ist  nicht  zu  verkennen, 


Jeu  d*enfants^ 


--♦    458     «-- 

daß  der  Humor  der  Komposition  im  Klavier  reiner  Wirkt. 
Der  zweite  Satz,  eine  Berceuse,  ist  die  Krön»  des 
Werkchens  durch  die  Süßigkeit  der  Kantilene.  Alle 
Instrumente  nehmen  die  schöne  Melodie  für  eine  Weile, 
das  Cello  umspielt  mit  wiegenden  Figuren.  Der  dritte 
Satz,  »Impromptu f,  ahmt  das  Brummen  des  Kreisels 
mit  einer  Trillerfigur  nach,  die  in  den  untern  Mittel- 
stimmen durchgeführt  wird.  Die  vierte  Nummer,  Duo 
genannt,  ist  ein  kurzes  Andanüno,  in  dem  erste  Violine 
und  Cello  in  zärtlichen  Melodien  das  Bild  zweier  Liebes- 
leute geben  sollen.  Der  Schlußsatz,  Galop  betitelt,  will 
zeigen,  wie  kleine  Leute  Gesellschaft  haben  und  einen 
großen  Ball  geben.  Es  geht  sehr  hoch  her.  Der  Satz 
verarbeitet  das  Thema  nach  verschiedenen  Richtungen, 
stellt  es  sogar  in  den  Baß.  Das  Ganze  ist  ein  liebens- 
würdiges Stück  Kleinkunst. 
0.  SaUt-SftfiBs,  Von  Cam.Saint-Saens besitzen  wir  eine  Programm- 
Suite  suite,  die  den  Titel  Suite  Algörienne  (Op.  60)  führt  und 
Algenenne,  ^^y  ^jg  ^^^^  ^^^  mehreren  musikalischen  Früchten  jener 
viel  besprochnen  Reise  zu  betrachten  ist,  die  seinerzeit 
das  Haupt  der  heutigen  französischen  Tonsetzer  seinen 
Pariser  Freunden  auf  längere  Zeit  entzog. 

Der  erste  Satz  (Molto  allegro,  Vs»  Cdur)  beginnt  ge- 
heimnisvoll mit  einem  leisen  Paukenwirbel.  Dann  setzen 
die  Celli  ein: 


')'UmJ'^^'^ 


Mit  dem  Eintritt  der  Bratschen  wird  aus  diesen  tastenden 
Motiven  ein  Thema: 


trH^it^ 


ma,  reichen  sich 


--•    459    «►- 

die  Hand,  um  vereint  dea  Aufmarsch  der  Stimmen  am 
stützen.  Der  ganze  Abschnitt  hat  den  Charakter  einer 
großen  Spannung:  Leonorenoavertüre  und  Rheingold- 
vorapiel  haben  Teile  von  gleicher  Anlage:  eine  Entwick- 
lung, die  über  einem  Orgelpunkt  aufbaut  und  auftürmt 
und  die  Phantasie  eifrig  mit  der  Frage  beschäftigt:  was 
wird  kommen,  wenn  die  erstrebte  Höhe  endlich  erreicht 
ist  Jener  Augenblick  nahet  sich,  als  die  ersten  Geigen 
das  Thema  nehmen.  Da  verläßt  die  Harmonie  den  lang 
festgehaltnen  Standort  auf  C  und  wendet  sich  nach  0. 
Das  neue  Bild  aber,  das  sich  jetzt  bietet,  ist  das  Thema 


das  gehegte  Erwartungen  nicht  befriedigt,  sondern  nur 
steigert.  Was  fremdartig  an  diesep  Tönen  ist,  die  wohl 
einen  Gruß,  die  ersten  Klänge  vom  afrikanischen  Land 
bedeuten,  das  wird  romantisch  gehoben  durch  die  Ein- 
kleidung, die  ihnen  St.  Saöns  gibt.  Ein  Tremolo  der  Geigen 
begleitet  sie  und  ein  Freudenschauer  des  vollen  Streich- 
orchesters folgt  ihnen.  Von  nun  an  kommf  in  die  Musik 
viel  größere  Beweghchkeit;.nur  der  Schluß  des  Satzes 
wendet  sich  wieder  ins  Zarte  und  erzählt  von  einer  Seele, 
die  sich  daükbar  still  sammelt. 

Der  zweite  Satz  (Allegretto  non  troppo,  ^^/g,  Ddur) 
bringt  nationale  Musik.  Die  Rhapsodie  mauresque,  wie 
die  Nummer  heißt,  zerfällt  in  zwei  Teile.  Der  erste  ist 
eine  kunstreiche  Phantasie  über  das  Glockenspielthema 

^1^  Allegretto  oon  troppo.  J«jg4 

Plll"j-jj7JljXjj) 


¥ 


dungen  erfährt.    Die  interessanteste  und  wichtigste  bringt 
es  in  die  Form  einer  Sechzehntel ßgur,  wodurch  der  Satz. 


460 


# 


der  in  beabsichtigter  Monotonie  gehalten  ist,  auf  eine 
Weile  bewegter  und  spannender  wird,  unter  den  Kontra- 
punkten^ die  diesem  Hauptthema  entgegengestellt  werden, 
machen  sich  in  den  Holzbläsern  einige  scharf  rhythmi- 
sierte Figuren  bemerklich,  die  wohl  der  maurischen  Volks- 
musik entnommen  sind.  Während  dieser  erste  Teil  träu- 
merisch gestimmt  ist,  bringt  der  isweite  eine  frohe  und 
fröhliche  Musik  auf  Grund  folgender  Themata: 

Alleen  moderato.  J  s  tu 


•tc 


«c 


ftn  f  II  I  I  11  urfirTfFii  i  i 

Das  erste  ist  in  seiner  Einfalt  und  seinem  Mangel  an 
Leittönen  entschieden  barbarisch.  Das  letzte  hat  St.  Saäns 
außerordentlich  wirkungsvoll  eingeführt  Als  Zweck  dieser 
Rhapsodie  könnte  man  sich  ein  Ständchen  denken. 

Dem  dritten  Satz  (Allegretto  quasi  Andante,  ^/^ 
Adur]  liegt  eine  zwanzig  Takte  lange  Melodie  zu  Grunde, 
deren  Charakter  aus  folgendem  Anfang 

.AodABtlBO.  Jl«4   a^ 

zu  erkennen  ist.  Ihr  gehen  einige  Takte  in  den  Holz- 
bläsern vorher,  die  sich  durch  den  freien,  spielfreudigen 
Rhythmus  als  eine  musikalische  Gabe  der  Eingebornen 
kennzeichnen,  während  das  hier  angegebene  Thema  melo- 
disch und  rhythmisch  die  europäische  Abkunft  zeigt  So 
haben  wir  in  den  beiden*  Melodien  zwei  Kulturen  gegen- 
übergestellt, Stoff  genug  zu  einer  Träumerei.  Denn  der 
Titel  der  Nummer  lautet  R6verie  du  soir  (ä  Blidah). 
Jene  maurische  Weise  bedeutet  den  Gebetsruf:  der  Fremd- 


461 


ling,  der  ihn  hört,  fühlt  sich  fromm  gestimmt  and  gedenkt 
dankbar  der  Herrlichkeit,  die  er  am  Tage  in  diesem  ge- 
segneten Ort  genossen.  Blidah  ist  ja  die  Gartenstadt  von 
Algier  und  auch  durch  geschichtliche  Beziehungen  aus- 
gezeichnet. Dreimal  folgt  den  maurischen  Motiven  die  lange 
abendländische  Melodie,  die  Instrumentierung  wechselt, 
und  beim  dritten  Male  treten  weitre  Modifikationen  ein. 
Die  Violinen  kommen  nicht  mit  der  Melodie,  sondern  legen 
als  Episode  einen  zweistimmigen,  dem  beschaulichen  Nach- 
sinnen gewidmeten  Satz  ein.  Als  nun  das  Adurthema 
eintritt,  bringen  es  die  Bläser;  erst  in  der  zweiten  Periode 
treten  die  Geigen  hinzu,  die  in  einem  kurzen  Nachspiel 
den  knapp  gehaltnen  Satz  zart  verklingen  lassen. 

Der  Schlußsatz  (Allegrogiocoso,  (^,  Cdur),  betitelt 
Marche  milltaire  fran^aise,  ist  eine  Probe  von  den 
Leistungen  des  Komponisten  auf  dem  Gebiete  französischer 
Volksmusik.  Denn  dazu  gehören  die  Armeemärsche;  ja 
ihre  Musik  pflegt  ganz  besonders  sich  durch  nationalen 
Charakter  auszuzeichnen.  Deshalb  tragen  in  Frankreich 
auch  die  ersten  Tonsetzer  kein  Bedenken,  dem  Marsch, 
der  bei  uns  heute  fast  ausschließlich  den  Musikmeistern 
der  Regimentskapellen  überlassen  wird,  ihre  Kraft  zu 
widmen.  So  hat  auch  St.  Sa6ns  eine  lange  Schule  auf 
diesem  Gebiete  durchgemacht  und  eine  große  Anzahl  ein- 
zelner Märsche  komponiert.  Von  der  Meisterschaft,  die 
er  für  dieses  Fach  erworben,  legt  nun  dieser  Marsch,  der 
die  Algierische  Suite  schließt,  hinlänglich  Zeugnis  ab.  Was 
für  ein  flottes  Wesen  sich  in  dem  Stück  entwickelt,  das 
verrät  schon  das  erste  Thema 


AJÜBgtO  giOOORO. 


Ihm  folgen  noch  eine  ganze  Anzahl  kecker  Springins- 
felde. Das  Trio,  das  bei  uns  innig  zu  sein  pflegt,  ist 
phantastisch. 


fS 


462 


{t-  — 


Diese  Algierische  Suite  von  St.  Saens  und  ihr  Erfolg 
wiesen  die  Phantasie  der  Komponisten  anf  eine  ergiebige 
Qnelle,    die    geographisch  -  ethnographische ,    mit  ihrem 
großen  Schatz  von  Rassen-  nnd  Charakteranterschieden, 
von  Landschaftsbildern,  von  nationalen  Sitten,  Tänzen 
und  Liedern,  und  dieser  Hinweis  ist  mittlerweile  f&r  die 
Suite  außergewöhnlich  fleißig  und  stark  ausgenutzt  wor- 
den.    Zunächst   in  Frankreich,    wo   der  allzeit  fertige 
J. flAMMet.  J.  Masse net  sofort  die  Konkurrenz  mit  St  Saäns  durch 
zwei   Suiten:    Seines   Napolitaines,   Scenes  Alsaciennes 
eröffnete.    Als  dann  Ed.  Lalo  mit  dem  bekannten  Violin- 
konzert, das   sich  Sinfonie   espagnole  nennt,  Glück  ge- 
habt  hatte,    tat'  sich  ein   französischer  Großbetrieb   in 
geographischen  Suiten  auf,  von  dem  hier  nur  die  Haupt- 
II.  M*r4eli*1.  I>6t^i^isl6i2  angeführt  werden  können,  nämlich:  U.  Mar^- 
C.  Ptrez.  chal  (Esquisses  V^nitiennes',  C.  Perez  (Suite  Mursienne), 
■•*•[•*•  M.  Ravel   (Rhapsodie    espagnole),    Tellier    (S^r^nade 
•"  •'•  espagnole).    Obwohl  der  Vorsprung,  den  die  Franzosen 
in  der  Suite,  wie  auf  dem  Gebiete  der  Ballettmusik  Über- 
haupt, durch  die  angeborene  Grazie,  durch  Formgeschick 
und  durch  mehrhundertjährige  Pflege   dieser  Gaben  be- 
sitzen, von  anderen  Nationen  kaum  jemals  wettgemacht 
werden  kann,   stellten  sich  ihnen  doch  auch  in  anderen 
Ländern  bald  zahlreiche  Mitarbeiter  zur  Seite:  die  beiden 
i.lilffiBl.  Itahener  A.  Luigini  (Egyptisches  Ballett)  und  P.  Lan- 
x'iimpk*"*'  ciani(S6r6nadeV6nitienne),  der  Russe  Rimsky-Korssa- 
keruako'ff.  ^^^^  (Capriccio  espagnol',   die  Skandinavier  H.  Kjerulf 
H.  Kj«rBir«  (nordische    Suite)    und    Asger    Hamerik    (mit    einer 
A.  Haaerlk.  ganzen  Serie  nordischer  Suiten).     Es  kamen  böhmische 
B»ek.  Suiten  von  Ruzek  und  Pittrich.    Sehr  reich  ist  das 
nttrleh.  neue  dankbare  Feld  auch  von  Deutschen  bestellt  worden, 
■. Brieh.  die  Hauptstücke  sind  von  M.  Bruch  (Suite  nach  russi- 
FiMi^mpiTdhiek.  3^gj^    ^^^^^°^^^^^®^ »    ^-   Humperdinck    (maurische 
^'nJ^Woifi  ^^psodie),  M.  Moszkowski  (aus  aller  Herren  Länder], 
c.  Frieden  AHB.  H.  Wolf  [italienische   Serenade},   Friedemann  (»Lola«, 
Sehoi^UH^.  italienische  Serenade),  Schmeling  ^»Ein  Abend  in  Aran- 
l^Acebr!  J^®2«,  spanische  Serenade»,  G.  Kamp  f  (aus  baltischen  Lan- 
e«Kr»iiiw!  den\  Jacobi  (Neger-  Serenade],  K.  Kramm  (andalusische 


Suite),  Klose   (Serenata  Veiietiaua].    Dazu  kommt  deiFr. kIom. 

Däne  Lange-Müller  (Alhambra-Saite).  P. E. Lange-HilUer 

Den  Rönigsschuß  hat  unter  diesen  zahlreichen  Mit- G;C1iarpentter, 
bewer  bern  Gustave  Charpentier  mit  seiner  fünf  sätzigen  "^«f!??'.  "* 
Suite:  »Impressions  d'Italie«  götan,  die  heute  der 
internationalen  Verbreitung  und  der  allgemeinen  Beliebt- 
heit nach  so  ziemlich  an  der  Spitze  der  neuen  Orchester- 
werke steht  Diesen  Erfolg  verdankt  der  Komponist  in 
erster  Linie  derselben  Hellhörigkeit  für  die  kleinen  Einzel- 
züge musikalischen  Lokaltons,  die  auch  seiner"  Oper 
»Louise«  das  spezifisch  Pariser  Kolorit  gegeben  und  ihr 
einen  Siegeszug  über  die  Bühnen  der  alten  und  neuen 
Welt  ermöglicht  hat.  Bei  ihm  sind  die  Anregungen,  die 
in  der  Meyerbeerschen  Zeit  der  Elsässer  Georg  Kastner 
mit  seinen  »cris  de  Paris«. und  seinem  »livres  partitions« 
gegeben,  zum  ersten  Male  auf  fruchtbaren  und  genialen 
Boden  gefallen,  und  wie  in  der  französischen  Hauptstadt 
hat  er  es  auch  in  Italien  nicht  verschmäht,  die  Straßen- 
rufer und  Hausierer,  den  Tonfall,  die  Rhythmen  und  die 
Manieren  der  Volksmelodien,  die  Klänge  der  Mandolinen 
und  Guitarren  und  der  anderen  Lieblingsinstrumente  des 
Volks  sich  scharf  zu  merken.  Das  alles  verwendet  er 
gleich  im  ersten  Satze  seiner  »Impressions«,  einer  »Sere- 
nade«, die  mit  einem  langen  Cellosolo  eröffnet  wird.  In 
ihm  läßt  er  die  kurzen  und  langen  Portamenti,  die 
kleipen  Vorschläge  und  namentlich  die  durch  zahlreiche 
Wiederholungen  desselben  Tones  so  eindringlichen,  durch 
Ausweichen  in  fremde  Tonart  so  seltsamen  Schlüsse 
hören,  die  dem  italienischen  Volksgesang  sein  Gepräge 
geben: 


^^-^j  jyg '  J  \^^^jst&^ 


f  _ 

Diese  einfachen  Mittel  verfehlen  ihre  Zaubermacht 
nicht,  jeder  fühlt  die  Echtheit  dieser  italienischen  Musik- 
probe und  ist  mit  ihr  sofort  ganz  und  gar  mitten  hinein 
in  das  eigene  Volksleben  jenseits  der  Alpen  mit  seiner 
uralten  Schönheit  und  Poesie  versetzt.     Diese  Einfach- 


^^    464     V- 

heit  der  Mittel  ist  das  andere  Geheimais  der  Kunst  Cha^ 
pentiers.  Eine  ganz  gewöhnliche  Tunzmelodie,  aber  mit 
reichen,  der  Natur  abgelauschten  Saitengeschwirr  ver- 
sehen, vervollständigt  den  Inhalt  des  ersten  Satzes;  mit 
der  Wiederholung  des  Cellosolos  schließt  er  und  all- 
gemein folgt  ihm  die  Kritik:  entztlckend. 

Fast  noch  glänzender  als  durch  diese  »Serenade«  ist 
die  französische  Kunst,  aus  nichts  etwas  zu  machen,  im 
zweiten  Satze:  »A  la  Fontaine«,  verwirklicht  Er  schildert 
eine  träumerische  Stimmung,  wie  sie  der  Anblick  stillen 
Wassers  so  leicht  erregt,  mit  Hilfe  des  bloßen  Pentachords 

Tranouülo.  Gharpentier  weiß  aber  in  dieses 

^  M  » Y  |f  f  I  r  f  f  -la  Skalenfragment  durch  Harmonie- 
^  '  '■  '  ■ '  '  änderungen,  durch  Zerteilung, 
durch  Echos,  durch  Tempomodifikationen  eine  solche  Fülle 
von  Ahnungen,  zarter  und  starker  Empfindungen  zu  legen, 
daß  es  wie  die  kostbarste  Melodie  wirkt  In  einem  kurzen 
Mittelsatz  hört  man  den  leisen  Gesang  der  Wassertropfen. 

Ähnlich  meisterlich  einfach  ist  der  dritte  Satz:  »A 
Mules«,  d.  h.  Maulesel,  entworfen:  Ein  Teil  in  Moll  mit  einer 
erst  kurzen,  dann  breiteren  Melodie  (in  Hörnern,  zweiten 
Geigen  und  Cellis),  die  durch  die  lange  Verzögerung  der 
Dissonanzauflösung  eigen  wirkt,  darüber,  fast  als  Haupt- 
sache, in  den  Holzbläsern  die  heftigen,  ungestüm  rhyth- 
mischen Motive  der  italienischen  Straßenmusik!  Dann 
ein  zweiter  Teil  im  ungraden  Takt  mit  freundlichem, 
warmem  Gesang  im  hellen  Gdur,  zum  Schluß  die  beiden 
Weisen  verbunden.  Ober  das  Ganze  eine  naturgetreue 
Nachbildung  des  Schellen-  und  Glöckchengeklingels  ge- 
gossen, unter  dem  die  Tiere  die  Karren  dahinziehen. 

Der  vierte  Satz:  »Sur  les  Cimes«  (das  bedeutet  Berges- 
gipfel), beginnt  mit  einem  sehr  breiten,  fast  nur  von  zwei 
gehaltenen  Akkorden  getragenen  Präludium,  das  Milieu  und 
Stimmung  feststellt,  und  mündet  dann  in  eine  Klage,  die 
ebenso  schlicht  wie  grandios  ist  , 

Der  letzte  Satz,  »Napoli«  betitelt,  bei  weitem  kom- 
plizierter als  die  vorangegangenen,  bietet  von  einer  aus- 
gelassenen Tarantella  aus  einen  umfassenden  Oberblick 


4H5 

ftber  neapolitanisches  Volksleben  und  führt  seine  wilden 
und  seine  elegischen  Bilder  nacheinander  und  durch- 
einander in  heimischen  Melodien  vor.  In  der  Mitte  ge- 
rät der  Komponist  auf  eine  beträchtliche  Strecke  völlig 
in  das  Geleise  von  Berlioz*  »Garnaval  Romain«,  kommt 
dann  auf  den  ersten  Satz  seiner  Impressions  zur&ck  und 
schließt  mit  einer  niederschmetternden  Verve. 

Wenn  wir  in  diesem  Überblick  die  außerfranzösischen 
Beiträge  zur  Gruppe  mit  einbeziehen,  verdient  der  Ver- 
breitung und  Beliebtheit  nach  die  nächste  Stelle  nach 
Charpentier  der  Italiener  Leone  Sinigaglia  mit  seiner  LeoBeSinigagUiy 
»Piemonte«  betitelten  viersätzigen  Suite  (opi  ä6).  Hier  Piemonte. 
sind  die  Themen  alle  Volkslieder  und  gehören  m  der 
Mehrzahl  zu  jener  lustigen  und  leichten,  musikalisch 
ziemlich  wertlosen  und  hauptsächlich  des  komischen 
Textes  wegen  gesungenen  Sorte,  die  wir  seit  alters  her 
als  Gassenhauer  zu  benennen  pflegen.  An  den  von 
Sinigaglia  gewählten  Stücken  tritt  auch  das  italienische 
Element,  was  Melodieführung,  zum  großen  Teil  auch 
was  Harmonie  betrifft,  ganz  zurück,  nur  in  den  flotten 
Rhythmen  kommt  das  feurige  Nationaltemperament  zum 
starken  Ausdruck,  und  dieses  überschäumende,  rhyth- 
mische Leben  ists  in  erster  Linie,  was  den  Erfolg  der 
Piemont-Suite  erklärt,  in  zweiter  Linie  kommt  ihm  der- 
selbe Melodienhunger  des  Publikums  zustatten,  der  den 
Potpourris  den  Boden  bereitet.  Ganz  im  Charakter  dieser 
Gattung  verläuft  der  erste  »Per  boschi  e  per  campi« 
(durch  Wald  und  Flur)  betitelte  Satz.  Es  muß  jedoch 
dem  Komponisten  oder  Bearbeiter  zugestanden  werden, 
daß.  er  die  Lieder  und  Tanzweisen,  die  alle  der  Lust  am 
Wandern  und  der  Freude  an  schöner  Natur  Ausdruck 
geben,  sehr  geschickt  auf  Abwechselung  bedacht,  zu- 
sammengestellt und  dem  Satze  in  einem  liebenswürdigen 
und  mehrmals  wiederkehrenden,  auch  das  Ende  bilden- 
den Andante  einen  festen  Mittelpunkt  gegeben,  daß  er 
drittens  mit  angeborenem  Farbensinn  immer  einfach  wirk- 
sam und  dezent  instrumentiert  hat.  Der  zweite  Satz,  mit 
der  Oberschrift  »Un  balletto  rustico«  (ein  ländliches 

KrwitscLiiiar,  F&hrttr    I,  1.  SO 


«^    4Ö6    t^ 

Tänzchen),  ist  zwar  dem  Programm  entsprechend  derb 
imd  arbeitet  viel  mit  primitiven  Mittehi,  aber  bleibt  doeb 
immerhin  maßvoll  Der  äußerste  Grad  von  Natoralismas, 
den  sich  Sinigaglia  gestattet,  besteht  darin,  daß  zwei  Takte 
die  leeren  Quinten  der  Bratschen  und  Violinen  probiert 
werden.  Der  dritte  Satz:  »In  montibas  s a er is«,  bringt 
eine  Art  Wallfahrtsmnsik.  Wie  in  Berlioz^  Pilgermarsch 
hören  wir  die  psalmodierende  Menge,  am  Schlosse  klingen 
auch  Glocken,  und  diese  Anspielungen  sind  in  fromme, 
sehr  einfach  volkstümliche  Weisen  eingewoben.  Die  Suite 
kommt  mit  dem  Garnevale  piemontese  zu  einem 
verhältnismäßig  künstlerischen  Ende.  Während  der  Kom- 
ponist die  Volksweisen  der  vorhergehenden  Sätze  kaum, 
daß  sie  hingestellt  sind,  mit  neuen  vertauscht,  bemüht 
er  sich,  den  teils  stürmischen,  teüs  naiven  Themen  dieses 
Schlußsatzes  eine  Entwickelung  abzugewinnen. 

Der  Piemont-Suite  SinigagUas  darf  hier  gleich  eine  zur 
gleichen  Gruppe  gehörige  Suite  eines  zweiten  Italieners  an- 
geschlossen werden,  es  ist  die  sizilianische  Suite  von 
>iiM«»»6>*ri*  Giuseppe  Marinuzzi,  die  aus  den  vier  Sätzen  Leggenda 
Beul,  di  Natale,  La  Ganzone  dell*  Bmigranti,  Valtzer  campestre 
SiütJr  ^^^  Festa  populäre  besteht.  Es  ist  eine  ebenfalls  sehr 
melodienreiche  Musik,  sie  bewegt  sich  aber  auf  einer 
höheren  GesellschaftsUnie  als  das  Opus  des  Piemontesen 
und  hat  vor  ihm  auch  noch  den  Vorzug,  daß  die  sizilia- 
nischen  Weisen  in  Intervallen  und  Rhythmen  viel  mehr 
eigenen  Charakter  haben  als  die  pieroontesischen.  Auch 
Marinuzzi  behandelt  die  Form  der  Sätze  sehr  einfach, 
aber  nicht  ohne  Orinnalität.  Der  erste  Satz  z.  B.,  der 
Weihnachtsmusik  bringt,  wechselt  beständig  zwischen 
frommem,  gehaltenem  Kirchenton  und  fröhlich  bewegten 
Pifferarimelodien.  Im  dritten  Satz,  einem  italienisierten 
Walzer,  wirkt  ein  Frauenchor  (unisono)  mit 

Hier  muß  auch,  obgleich  sie  nur  Bruchstück  ist,  die 
Hss^weiffltalienische   Serenade  von  Hugo  Wolf  erwähnt 
itaUenisohe  werden,  die  aus  dem  Nachlaß  des  zu  früh  gestorbenen 
'*'*^*^  Komponisten  nach  einer  von  Max  Reger  besorgten  Re- 
daktion herausgegeben  worden  ist.    Wie  bedauert  man, 


--•     467     *^ 

daß  dieses  Werk  nicht  über  den  ersten  Satz  hinans- 
gekommen  ist,  daß  es  Wolf  nicht  vergönnt  gewesen 
ist,  seine  Kraft  merkbarer  in  den  Dienst  der  Orchester- 
komposition zu  stellen!  Die  Zierlichkeit  und  Grazie  italie- 
nischen Wesens  ist  nur  selten  so  bestrickend  in  Töne 
gekleidet  worden,  wie  in  diesem  Serenadensatz.  An  Echt- 
heit des  Nationaltons  kann  sich  Wolf  mit  Charpentier 
messen,  er  unterscheidet  sich  von  ihm  dadurch,  daß  er 
streckenweise  das  italienische  Idiom  vergißt  und  gut 
deutsch  musiziert  Dafür  kommen  aber,  wie  in  der  Solo- 
stelle der  €e]los,  Einfälle,  die  man  zu  dem  Schönsten 
rechnen  muß,  was  die  heutige  Musik  hervorgebracht  hat. 

Unter  den  Werken,  die  aus  der  Masse  der  ethno- 
graphischen Suite  herausragen,  verdient  mit  besondrer 
Auszeichnung  noch  die  Suite  nach  russischen  Volks-     Ksx  Brvciis 
liedern  hervorgehoben  zu  werden,  die  Max  Bruch    ^^Jf^,. 
als  Opus  79  veröffentlicht  hat.     Ihre  fünf,  fast  in  der  ™^"^^|J^**'*" 
Knappheit  des  17.  Jahrhunderts  gehaltnen  Sätze,  erfreuen* 
ähnlich  wie  Sinigaglias  Piemont-Suile  durch  die  wirksame 
Auswahl  der  Originalmelodien,  sie  lassen  aber  in  der 
Verwertung  bei  geder  Gelegenheit,  hier  in  der  Anlage 
eines  Schlusses,  dort  in  der  Einstellung  eines  Ostinato- 
Motivs,  die  Hand  eines  Meisters  erkennen. 

Auch    die    Maurische    Rhapsodie    En gelber tB.HoMp«rdtMk, 
Hu mp erdin cks  gehört  noch  zu  den  interessantesten  ***'*'**^*  ^"P" 
Stücken  der  ethnographischen  Suitenmusik.  Nur  ists  sehr         '    ^ 
schwer  oder  unmöglich,  in  rier  Musik  das  zu  finden,  was 
die  Titel  der  drei  Sätze  (1.  Tarifa,  Elegie  bei  Sonnenunter- 
gang, 8.  Tanger,  Eine  Nacht  im  MohrenkalTee,  8.  Tetuan, 
Ritt  in  die  Wüste)  in  Aussicht  stellen  oder  gar  die  Kompo- 
sitionen mit  den  vorgedruckten  Gedichten  Gustav  Humper- 
dincks  in  Einklang  zu  bringen.   Es  steht  in  der  Musik  viel 
mehr  und  andrerseits  auch  viel  weniger  als  in  den  Versen. 
So  ist  der  erste  Satz  nicht  bloß  eine  Elegie,  sondern 
neben  dieser  gehen  lustige  Weisen  einher,  die  ebenso- 
wohl liieder  orientalischer  Schwanke  als  Lust  und  Freude 
am  Reisen  und  Genießen  bedeuten  können.    Dagegen  hat 
sich  der  Komponist  auf  die  Punier  und  Golhen  des  Ge- 

30* 


-^     468    ♦► 

dichts  nirgends  eingelassen.  Erst  in  dessen  Mitte  kommen 
die  Worte,  von  denen  die  Musik  ihren  Ausgang  nimmt, 
sie  lauten :  Wie  ist's  so  still,  so  öd*  und  «insam  rings! 
Sie  haben  Humperdinpk  zu  der  poetisch  bedeutendsten 
Partie  der  ganzen  Rhapsodie  geführt,  zu  der  schönen 
Einleitung  durch  ein  unbegleitetes  Violinsolo,  das  durch 
die  Antwort  des  englischen  Horns  bald  zum  Duett  wird. 
Auch  originell  ist  diese  Einleitung,  denn,  wenn  auch  die 
Anregungen  zum  Solo  in  Wagners  Siegfried  und  zum  Duett 
in  Berlioz'  Fantastique  vorlagen,  so  hat  doch  Humper* 
dinck  die  Idee  in  neuer,  selbständiger  Form  und  so  glück- 
lich verwirklicht,  daß  die  Nachahmung  durch  andere, 
sobald  diese  Maurische  Rhapsodie  bekannt  genug  sein 
wird,  kaum  ausbleiben  kann. 

Der  zweite  Satz  ist  in  der  Hauptsache  eine  drollige 
Schenkenszene,  die  ihren  Charakter  durch  das  im  zwan- 
zigsten Takte  einsetzende  Fagotthema  erhält,  zu  dem 
sich  bald  Reminiszenzen  aus  dem  ersten  Satz  gesellen. 
Ihnen  treten  in  der  Mitte  des  Satzes  —  am  vernehm- 
lichsten von  der  Oboe  her  —  schwermütigere  Motive  ent- 
gegen ,  die  der  Hörer  auf  das  physisehe  Elend  der  Ha- 
schischtrinker oder  auf  die  traurige  Historie  der  ganzen 
Rasse  deuten  kann.  Die  ernsten  Töne,  die  hier  nur  epi- 
sodisch auftreten,  beherrschen  die  ganze  Physiognomie 
des  dritten  Satzes,  bald  mit  kurzen,  sinnenden  oder  klagen- 
den Motiven,  bald. mit  breiten  edlen  Melodien,  die  durch 
den  Hörnerklang  noch'  besonders  eindringen.  Die  Ein- 
leitung geht  noch  weiter  und  bereitet  mit  Rufen  der  Ver- 
wunderung, der  Vereinsamung  und  des  Wehes  auf 
schwer  melancholische  Ergüsse  vor,  pariert  werden  sie 
durch  die  Motive  des  in  der  Oberschrift  versprochnen 
Wüstenritts.  Mit  der  Aufnahme  von  Wendungen  des  präch- 
tigen Violinsolos,  das  sie  eingeleitet  hatte,  schließt  die 
Suite.  Besonders  genußreich  ist  die  Orchesterbehandlung 
und  die  Farbengebung  der  Komposition. 

Neben  diesen  ethnographischen  gibt  es  vor  wie  nach 
eine  Reihe  französischer  Prograromsuiten,.  deren  Vorgänge 
und  Bilder   an   keinen   bestimmten  Ort  gebunden  sind, 


--e    469     «^ 

sondern  sich  überall  und  nirgends  denken  lassen.  Za 
den  bekanntesten  Stücken  dieser  Klasse  gehören  vor  allem 
B.  Godärds  Scönes  po^tiques,  die,  seit  sie  Franz  B.'Godar«, 
Wfillner  hier  eingeführt  hat,  auch  in  Deutschland  einen  ^^"^3 
großen  Freundeskreis  gefunden  haben.  Es  sind  kurze,  ^^  ^*^' 
Pastorale  Skizzen:  »Im  Walde«,  »Auf  der  Flur«,  »Im  Ge- 
birge«,  »Im  Dorfe«.  Ein  anmutiger,  kecker  Jugendgeist, 
der  in  der  Naturschwärmerei  nur  eine  Gastrolle  zu  göben 
scheint,  spricht  daraus.  Thematisch  sind  die  kleinen  Sätze 
loser  und  leichter  als  die  der  Bizetschen  Suiten  entworfen 
und  durchgeführt.  Ihr  Hauptreiz  liegt  in  der  Sicherheit, 
mit  der  die  Form  behandelt  ist.  Das  ist  eine  Anmut  in 
jeder  Wendung,  eine  vollendete  Harmonie  in  den  Maßen 
und  eine  Klarheit,  die  den  Genuß  wesentlich  erhöht.  Auch 
die  Instrumentation  trägt  zu  dem  Gefühl,  daß  man  vor 
einem  in  seiner  Art  vollendeten  KiTnstwerk  steht,  viel  mit 
bei.  Der  letzte  Satz,  bei  dem  die  große  Trommel  be- 
deutend mitwirkt,  ist  der  originellste  und  zeigt  das  eigent- 
liche Schelmengesicht  des  Autors. 

Auch  J.  Massenets  Seines  pittoresques  gehören  J.Mmmii«!» 
hierher.   Von  allen  Orchestersuiten,  die  dieser  als  Stütze    ..?^***" 
der  heutigen  französischen   Oper  bekannte  Komponist  ^*     ••q^es. 
geschrieben  hat,  sind  die  Seines  pittoresques  am  meisten 
verbreitet;  am  nächsten  steht  ihnen  die  viersätzige  Suite 
Bsclarmonde,  die  aus  Stücken  der  Oper Esclarmonde 
zusammengesetzt  ist. 

Die  Seines  pittoresques  beginnt  ein  Marsch  mit  fol* 
gendem  pikannt  nuanciertem  Anfang: 

AUegto  moderato.         ^.^ 


Der  Autor  zeigt  sich  nicht  als  großer  Erfinder  und  nicht 
alft  großer  Geist,  aber  als  ein  Künstler,  der  den  Effekt 
versteht  und  aufsucht.  Die  Perioden  sind  auf  Ober- 
raschungen  hin  gebildet,  das  Verhältnis  der  Sätze  ist  auf 
Kontrast  gestellt,  und  um  einen  wirksamen  Gegensatz  ziu 
bekommen,  wird  auch  ein  gewöhnlicher  oder  sehr  ge- 


--e     470     «^ 

wohnlicher  Gedanke  mit  in  den  Rauf  genommen.  Sehr 
hübsch  ist  es,  wie  Massenet  das  anmutige  Motiv,  mit  dem 
der  Marsch  beginnt,  immer  wieder  in  den  Satz  einzuführen 
weiß.  Hierin  zeigt  sich  eine  sinnige  Seite  seiner  Begabung 
und  ein  hervorragendes  formales  Talent 

Der  zweite  Satz,  Air  de  Ballet  betitelt,  besteht  aas 
zwei  Teilen:  In  demi  Hauptsatz  (HmoU,  Vs)  trägt  das  Cello 
ein  Solo  vor,  das  als  Ergänzung  von  Manricos  Partie  dem 
»Troubadoure  als  Ständchen  einverleibt  werden  könnte. 
Der  Mittelsatz  bringt  (in  Gdur)  eine  von  den  bekannten 
Ballettszenen,  wo  die  oberen  Holzbläser  eine  einfache 
Melodie  in  Staccatonoten  hinstellen.  Man  hört  derartige 
Musik  nicht,  ohne  daß  vor  die  Phantasie  die  auf  den 
Fußspitzen  trippelnden  -  Ballerinen  treten.  Die  kflnstliche 
Zartheit  dieser  Töne  wird  etwas  grob  an  den  Schlüssen 
von  einem  starken  Tuttieinsatz  des  Streichorchesters 
unterbrochen.  Im  Cello  gibt  dann  und  wann  der  Sänger 
Zeichen  von  Ungeduld.  Endlich  ist  das  Ballett  aus  und 
der  Hmollsatz  kommt  wieder. 

Der  dritte  Satz,  ein  Andante  sostenuto  mit  der  Über- 
schrift An  gel  US,  ist  die  Glanznummer  der  Suite,  ein 
Stück  großer  Kunst,  einfach  erfunden  und  tiefer  Wirkung 
.sicher.  Es  gleicht  zur  Hälfte  einer  Kirchenszene,  in  der 
fromme  Weisen  vom  Priester  zum  Volke  gehen.  Alles  er- 
innert an  den  Gottesdienst,  der  feierliche  Ton  der  Themen, 
der  Wechsel  schwacher  und  starker  Klanggruppen.  Die 
leicht  präludierenden  Motive  scheinen  auf  die  Orgel  hin- 
zuweisen. Zur  Hälfte  ist  aber  die  Musik  der  Nummer 
Volksmusik,  so  vor  allem  die  Motive  im  i^/gTakt.  Beide 
Bilder  schließen  sich  nicht  aus,  sondern  daß  des  Volkes 
Stimme  in  der  heiligen  Zeremonie  hörbar  wird,  hat  der 
Komponist  als  den  Gipfelpunkt  der  Szene  gedacht.  Der 
Schlußsatz,  >F6te  Boheme«,  ist  ein  Ballettbild,  wie  es 
jedermann  kennt.  Eine  große  Menge  Volks  stürzt  herein 
mit  wunderlichen  Sprüngen,  dann  tritt  ein  Solopaar  heraus, 
und  ihm  folgt  der  Chor  wie  zu  Anfang.  Die  Erfindung 
zeichnet  diese  Musik  nicht  aus,  ihre  Wirkung  sucht  sie 
in  massigen  Klängen. 


-—•    471     ♦^ 

Von  der  jungrussischen  Schule,  deren  Geist  der 
alten  Kunst  nur  wenig  gewogen  ist,  hätte  sich  eine  be- 
deutendere Förderung  der  Programmusik  erwarten  lassen, 
als  sie  bisher  von  dort  tatsächlich  erfahren  hat  Die 
wenif^en  russischen  Werke  dieser  Klasse,  welche  über  den 
Kontment  verbreitet  sind,  rühren  von  Rimsky-Korssakoff 
und  von  P.  Tschaikowsky  her. 

Von  Rimsky-Korssakoff  ist  es  die  sinfonische  N.  Blmtky. 
Suite  »Scheherazade«  (op.  36),  die  in  leUterZeit  hau-  i^?'J"**f' 
figer  gespielt  worden  ist.  Der  Komposition  liegt  als  Pro-  (Op'SS 
gramm  ein  Abschnitt  aus  »Tausend  und  eine  Nacht«  zu 
Grunde,  die  Erzählung  von  der  Sultanin  Scheherazade. 
Der  Sultan  Schahriar  hat  bisl^er  alle  seine  Frauen  nach 
der  ersten  Nacht  ermordet.  Scheherazade  entgeht  diesem 
Los  durch  ihre  Erzählungskunst.  Tausend  und  einen 
Abend  weiß  sie  den  Sultan  durch  ihre  Geschichten  immer 
wieder  zu  fesseln  und  nach  dieser  Zeit  steht  er  von  seinem 
blutdürstigen  Plan  ab.  Rimsky-Korssakoff  gibt  in  den  vier 
Sätzen  seiner  Suite  vier  solche  ErzählungsiJ>ende,  am 
ersten  wird  die  Geschichte  von  Sindbad  und  dem  Meer 
vorgetragen,  am  zweiten  die  vom  Prinz  Kalender,  am 
dritten  die  vom  jungeu  Prinz  und  der  jungen  Prinzessin, 
am  vierten  die  von  dem  Fest  in  Bagdad  und  vom  Schiff, 
das  an  dem  Felsen  scheitert.  Aber  man  versteht  seine 
Komposition  nur  halb  oder  gar  nicht,  wenn  man  ihre 
Bedeutung  in  der  Wiedergabe  dieser  Märchen  sucht.  Das 
Hauptziel,  das  sich  der  Komponist  gestellt  hat,  ist  viel- 
mehr: die  Charaktere  des  Sultans  und  der  Sultanin  zu 
zeichnen  und  die  Wandlang  zu  veranschaulichen,  in  der 
das  rauhe  Gemüt  des  Schahriar  allmählich  der  Grausam- 
keit entkleidet  und  mit  Milde  und  Gesittung  erfüllt  wird. 
Rimsky-Korssakoff  entfaltet  bei  der  Lösung  seiner  Aufgabe 
eine  stattliche  Erfindungsgabe  und  ein  großes  Farben- 
talent. Seine  Arbeit  hat  aber  zwei  Mängel,  die  vielen 
die  Anerkennung  ihrer  Vorzüge  erschweren:  Maßlosigkeit 
der  Formen  und  der  Farben.  Er  kann  sich  häufig  nicht 
entschließen  aufzuhören,  wo  die  Geringfügigkeit  des  Gegen- 
standes schon  längst  das  Ende  erfordert  hätte,  und  er 


472 


setzt  eiuen  schweren  utid  lärmenden  Orchesterapparat  in 
minutenlange  Tätigkeit,  wo  wir  überhaupt  keine  Not^ 
wendigkeit  für  das  Auftreten  rauher  Stimmen  einsehen 
können. 

Der  erste  Satz  hat  eine  kleine  Einleitung,  Largo 
maestoso,  in  der  die  Hauptpersonen  des  Märchens  sich 
vorstellen:  Schahriar  gebieterisch,  stolz,  rauh  und  hart: 


LUfO  e  HMauwo.  *»  ■  *»    ^  ff  />     >.     i- 


die  Sultanin  behend,  anmutig,  tiebenswürdig  und  auch 
klug  über  lange  Anschläge,  verfügend: 

Violine   LeniO;_ji 
8olo         .^-^  jl. 


Dann  folgt  ein  AUegro  non  troppo  l®/«,  E  dur),  das  das 
Sultansthema  zunächst  durchführt,  p  setzt  es  ein,  als 
wenn  Schahriar  durch  Scheberazades  Erscheinung  be- 
trofiten  und  in  seinem  Wesen  umgewandelt  oder  verwirrt 
wäre.  Nur  mühsam  gewinnt  er  die  Fassung  wieder. 
Ein  forte  in  Edur  bezeichnet  diesen  Augenblick.  Noch 
einmal  durchläuft  er  diesen  Gemütsprozeß.  Den 
zweiten  Abschnitt  markiert  eine  Modulation  in  Gdnr. 
Jetzt  fängt  die  Sultanin  zu  erzählen  an.  Es  ist  die 
Geschichte  von  Sindbad.  Daß  sie  aber  nicht  sonder- 
lich interessiert, 
sehen  wir  an 
dem  etwas  trok- 
kenen    Thema:  ^ 

wir  sehen  es  noch  deutlicher  daran,  daß  es  nicht  benutzt, 
weitergeführt  und  entwickelt  wird.  Das  Hom  macht  einige 


473 


Versuche,  dem  Sultan  das  Wort  zu  verschaffen,  bald  aber 
tritt  Scheherazade  in  den  Vordergrund  des  Bildes.  Ihre 
graziösen  Triolen  von  der  Solovioline  eingeführt,  klingen 
schnell  i^us  dem  ganzen  Orchester.  Das  scheint  don  Sultan 
zu  reizen.  In  aller  Bedeutung,  Wucht  und  Härte  kommt 
sein  Thema  wieder.  Ein  breiter,  im  ff  ausgehaltener  Edur- 
akkord  zeigt  weithin,  wer  Herr  ist.  So  wechseln  die  beiden 
Themen  noch  5fter  im  Satz.  Die  Komposition  gibt  das 
Bild  eines  Paares^  dessen  beide  Teüe  ihre  Kräfte  messen. 
Die  Sultanin  greift  auch  einmal  wieder  zur  Erzählung. 
Der  Schluß  bringt  die  Sultansmelodie  zart  und  leise. 

Den  zweiten  Satz  leitet  in  einem  kurzen  Lento 
wieder  Scheherazade  ein.  Dann  folgt  in  einem  Andantino 
(8/g,Hmoll)  eine  Musik,  die  die  Erzählung  vom  Prinzen 
Kalender  bedeuten  soll.    Das  Thema 

Anda,iitiQO.  A IIS 


zeigt,  was  für  eine  Art  Held  dieser  Prinz  ist,  eine  ko- 
mische Figur  wie  Eulenspiegel  und  Don  Quixote,  und  die 
Geschichten,  die  ihn  behandeln,  müssen  lustig  sein.  Das 
Thema  geht  von  einem  Instrument  zum  andern,  wir  sind 
unversehens  in  einen  jener  bekannten  russischen  Varia- 
tionensätze geraten,  die  durch  die  Eintönigkeit  so  auf- 
regend wirken,  als  sich  Schahriar  einmischt:  In  mehrerlei 

Gestalt  legt        ^  Molto  modTato.  ^  hnga 

er  Macht-  £t  i  MJ^^^^Wf^^^^^  und 
proben  ein    "^^      "^-tJV*  *  ""  "  ""  **5*v-J  " 

^  Aiiegro  aoito.J.t44 ^  Sie  werden  aber 

^^^^^jJ  Jm  Nt^jJ^  1  genommen.  Als 
die  Klarinette  in  Form  eines  Rezitativs  die  Melodie  der 
Snltanin  gebracht  hat,  wird  der  Ton  ausgelassen.    Ein 


^-f     474     «^ 

Vivace  scherzando  tritt  ein,  und  In  ihm  finden  wir  das 
Schahriarthema  in  folgender  Form 

VlvAM  acberaaiido.  J*a  189 


Eine  Wiederholung  des  Klarinetten-Rezitativs  bringt  eine 
neue  Wendung:  Der  s/g  Takt  mit  der  Musik  zur  ErzUiliuig 
vom  Prinz  Kalender  kehrt  zurück,  und  mit  ihr  schließt 
die  Nummer.  Kurz  vor  dem  Ende  kommt  noch  ein  sehr 
schön  berechnetes  und  gesetztes  Homsölo. 

Der  dritte  Satz,  der  die  Erzählung  von  dem  jungen 
Prinzen  und  der  jungen  Prinzessin  bringt,  ruht  auf  folgen- 
dem Thema 

Andantino  ^uaai  AUegretto.  W*  s  62 

i'lljj  IlTl  Hill.  (I 


das  für  die  Gabe  des  Komponisten,  anschaulich  zu  ge- 
stalten, das  schönste  Zeugnis  ablegt.  Wer  den  Tonfall 
genau  ansieht,  mit  dem  in  den  zweiten  Takt  eingetreten 
wird,  kann  kaum  im  Zweifel  darüber  sein,  daß  es  sich 
bei  dem  Prinzen  um  eine  richtige  Kindergeschichte  han- 
deln muß.  Das  angegebene  Thema  ist  das  einzige,  und 
infolgedessen  hören  wir  seine  Motive  sehr  oft.  Der  Kom- 
ponist hat  allerdings  viel  aufgeboten,  die  Wiederholungen 
nicht  als  solche  erscheinen  zu  lassen.  Die  Farben  wech- 
seln, die  Modulationen  unter  den  Kontrapunkten,  mit 
denen  er  Neues  zu  bieten  sucht,  sind  ganz  verwegene. 
Die  zweite  Flöte  bl&st  einmal  einen  waluren  Trommel- 
rhythmus. Auch  die  Pausen  bei  den  Periodenschlüssen 
sind  darauf  angelegt,  Spannung  zu  erzeugen.  Erfrischend 
wirkt  das  Eingreifen  der  Scheherazade,  die  dem  Ende  zu 
ihre  Melodie  bringt  und  dann  die  Prinzenmusik  eine 
Strecke  lang  in  der  Solovioline  mit  Arpeggien  verziert. 


475 


Der  Anfang  des  letzten  Satzes  (AUegro  molto)  zeigt 
den  Sultan  In  heftigster  Erregung.  Er  bietet  seine  ganze 
Kraft  auf,  um  sich  Scheherazade  gegenüber  zu  behaupten. 
Diese  schmfiekt  ihre  Melodie  mit  den  Künsten  des  Virtu- 
osen: das  Violinsolo  kommt  in  mehrstimmigen  Satz.  Ein 
noch  heftigerer  Ausbruch  des  Sultans  antwortet.  Nocli 
einmal  erhebt  die  Sultanin  ihre  liebliche  Stimme  und  be- 
ginnt dann  sofort  za  erzählen.  Es  ist  diesmal  die  Ge- 
schichte Tön  dem  Fest  in  Bagdad,  dessen  Bild  die  Musik 
auf  Grund  folgenden  Themas  entrollt: 

vivo.  Je 68 


das  sehr  oft  hintereinander  wiederholt  wird.  Dann  setzen 
Trompeten  und  Hörner  ein,  aufmerksam  zu  machen,  daß 
sich  etwas  Außerordentliches  begibt  Die  neue  Erschei- 
nung stellt  sich  musikalisch  vor  als 


So  gewichtig  sie  ist,  verschwindet  sie  doch  bald  wieder, 
und  nun  kommt  eine  sehr  schöne  Stelle:  ein  Abschnitt 
aus  der  vorhergehenden  Nummer.  Sind  der  junge  Prinz 
und  die  junge  Prinzessin  mit  auf  dem  Feste?  Die  Idylle 
entweicht,  der  Festtrubel  wirbelt  weiter  in  Bruchstücken 
und  Umbildungen  aus  dem  ersten  Thema.  Einmal  (der 
Satz  ist  nach  E  dur  gegangen)  hören  wir  die  Stimme  des 
Sultans  wie  im  Unmut  über  den  Gang  der  Erzählung. 
Das  ändert  aber  nichts  am  Plan.  Das  Thema  bleibt,  wird 
nur  um  vieles  stärker  vom  vollen  Orchester  gegeben.  Von 
einem  Bdur-Schluß  ab  beginnt  wieder  eine  Episode  für 
die  Messinginstrumente.  Wieder  folgt  das  mächtige  zweite 
Thema,  das  woM  das  gefährdete  Schiff  bedeutet  Smd 
der  Prinz  und  die  Prinzessin  darauf?  Ihre  Musik  folgt 
abermals  diesem  zweiten  Thema,  und  daß  Gefahr  vor- 
liegt, zeigt  die  Trompete,  die  ohne  Unterbrechung  hoch* 


— •     476     %^ 

notpeinliche  Rhythmen  schmettert.  Noch  einmal  geht  sie 
vorüber  tind  das  Pest  beginnt  wieder.  Aber  als  das 
Thema  nnd  der  Festtnmult  am  lantesten  wird,  da  kommt 
die  Katastrophe:  das  Schiff  scheitert  Die  Trompete  bläst 
wie  rasend  nnd  das  Schlagzeng  tnt  das  möglichste.  Ge- 
meint ist  die  Stelle  ganz  richtig,  aber  die  Anfnahmefähig- 
keit  des  gebildeten  Ohres  bt  vom  Komponisten  nicht 
richtig  geschätzt  nnd  der  Märchencharakter  ebenfalls 
nicht.  Nach  jener  entsetzlichen  Stelle  setzt  ein  0/4  Takt 
ein,  in  dem  Schahriar  nnd  Seheherazade  einen  Dialog 
aufführen.  Des  Sultans  Stimme,  die  erst  rauh  einsetzte, 
wird  sanfter  und  zarter.  Träumerisch,  mit  Akkorden,  wie 
sie  ähnlich  Mendelssohns  Sommemachtstraum  eröffnen, 
.  klingt  die  Komposition  so  aus,  wie  sie  begonnen  hatte. 
Korssakoff  kommt  die  Ehre  zu,  als  der  erste  Russe 
eine  wirkliche  Sinfonie  geschrieben  zu  haben.  Sie  wird 
allerdings  selbst  von  seinen  Verehrern  abgelehnt*}.  Da- 
gegen gelten  in  der  Heimat  des  Komponisten  die  beiden 
Programmsinfonien  viel,  welche  jenem  ersten  Versuch 
gefolgt  sind:  Sadko  und  Antar,  jene  dreisätzig,  diese  vier- 
sätzig.  Antar  fängt  in  neuester  Zeit  an,  auch  in  Deutsch- 
land bekannt  zu  werden,  in  Rußland  gehört  das  Werk  zu 
den  allerbeliebtesten  Orchesterkompositionen.  Es  bietet 
Programmusik  mildester  Art 
Kiwiky-  Wieder  führt  uns  Korssakofi  in  die  arabische  Sagen- 

^"^J^^JJ^J^jwelt,  in  den  Kreis  der  Fabeln,  die  sich  im  Volk  um 
i<^  ^' Antar,  den  Dichter  und  den  geliebten  Helden  der  Wüste, 
gebildet  haben.  Antar,  einsam  in  den  Ruinen  von  Palmyra 
weilend,  sieht  plötzlich  eine  Gazelle  und  gleich  darauf 
einen  Raubvogel,  der  sie  verfolgt.  Er  tötet  den  Vogel, 
die  Gazelle  verschwindet  Antar  schläft  ein  und  wird 
nun  im  Traum  nach  einem  prächtigen  Palast  entführt, 
wo  er  seine  Gazelle  wiedertrifft,  die  nichts  Geringeies 
war  als  die  Fee  Gul-Nazar,  die  Herrscherin  von  Pahnyra. 
Sie  fordert  Antar  auf,  drei  Wünsche  auszusprechen,  und 
Antar  wünscht  sich  1.  den  Genuß  der  Rache,  2.  unbe* 

*)  GtfMT  Oai:  La  Masiqiie  eu  Ruasie.     1880,  p.  130. 


-* 


477     <^- 


dingte  Macht,  8.  die  schönsten  Freuden  der  Liebe.  Als 
das  Gldck  der  Liebe  den  guten  Antar  zu  ermüden  be- 
ginnt, tötet  ihn  Gul^Nazar  mit  einem  Kuß. 

Es  handelt  sich  also  bei  dieser  Sinfonie  um  poetische 
Vorwürfe,  wie  sie  die  Instrumentalmusik  überall  und  zu 
jeder  Zeit  unbedenklich  in  ihr  Bereich  hat  ziehen  dürfen. 
Nur  wer  der  Musik  überhaupt  das  Recht  und  die  Möglich- 
keit des  Charakterisierens  abstreitet,  wird  sich  diesem 
Programm  entgegenstellen  dürfen.  Denn  es  handelt  sich 
in  dieser  Antarsinfonie  um  weiter  nichts  als  um  den  Ver- 
such, durch  Musik  Vorstellungen  vom  Feenleben,  vom 
Wesen  der  Rache,  der  Macht,  der  Liebe  zu  erwecken. 
Korssakofi  hat  sich  diese  vier  Bilder  als  Träume  Antars 
gedacht,  begegnet  sich  demnach  mit  der  Auffassung,  in 
der  Berlioz  ii\  seiner  Sinfonie  fantastique  die  Schilderungen 
aus  dem  Leben  eines  Künstlers  genommen  haben  wollte. 
Korssakoff  folgt  Berlioz  auch  in  der  Verwendung  von  Leit- 
motiven. 

Am  meisten  bietet  die  Sinfonie  von  Korssakofi  den 
liebhabem  einer  weichen,  in  zarten  Tönen,  süßen  und 
schmiegsamen  Harmonien  schwelgenden  Musik.  Sie  fin- 
den im  ersten  und  vierten  Satz  edles,  was  sie  erwarten 
dürfen,  und  es  zeigt  sich  auch  hier  wieder,  daß  Korssakoffs 
Musik  den  schmiegsamen  weiblichen  Zug  des  russischen 
Nationalcharakters  besonders  stark  und  deutlich  ausprägt. 
Auch  der  fast  Blinde  kann  aus  ihr  sehen,  was  asiatischer 
Geist  für  das  Zarenreich  bedeutet.  Die  Schilderung  der 
Rache  interessiert  durch  Beweise  guter,  scharfer  Seelen- 
beobachtung, das  Bild  der  Macht  überzeugt  am  wenigsten. 

Der  erste  Satz  beginnt  mit  einem  Largo  in  Fismoll 
(C  Takt],  das  in  schwer  beweglichen,  schleichenden 
Motiven  den  ernsten,  der  Einsamkeit  und  Vergangen- 
heit lebenden,  die  Menschen  meidenden  Antar  zu 
zeichnen  sucht.  imxw^^^^^^^  . 

XSLit't^    iiii'  n^  I  Tr  ii|  Ti  T I 

Es  kehrt,  den  schwermütigen  Grübler  zeichnend,  in 
allen  Sätzen  wieder.    Im  Sinnen  und  Dämmern  scheint 


-^    478    #-- 

die  Phantasie  des  Einsiedlers  auf  die  Sage  von  der  Fee 
Gnl-Nazar  zu  stoßen,  die  Töne  suchen  ebe  hoheits« 
volle,  zarte  Gestalt  vor  unser  innres  Auge  asd  stellen: 


MjJ^ijjyJj  L 


Diese   Weise   wird   das  Leitmotiv  der  Königin  in   der 

Sinfonie.     Mit    dem   Eintritt    des  Allegro  (D  moll,  s/4) 

erwacht  um  Vl^x^ 
AntarLeben:         ^•«'^  5|^^ 

Vondemver.  f^^^f  ^f  | 
zierungsrei-  y  ^  ■  ^'  ^  ' 
chen  Thema  ^ 

aus  entwickelt  sich  eine  breite,  in  einer  gewissen  tr&gen 
Munterkeit  fortschreitende  Melodie.  Dreißig  Takte  lang 
liegen  die  HÖrner  dazu  auf  Ä,  die  zweite  Violine  gibt 
einen  Tambourinrhythmus.  Korssakoff  hat  sich  vielleicht 
unter  dieser  Musik  die  Gazelle  seines  Programms  ge- 
dacht und  dabei  die  Gelegenheit  gern  ergriffen,  etwas 
orientalisch  zu  malen.  Das  volle  Streichorchester 
bringt  Aufregung  in  das  Bild.  Ober  ein  gewaltiges  an- 
wachsendes Tremolo  der  un-  ß  ^  -i.—^— J  ' 
tern  Instrumente  werfen  die  ff  ^  J^^^^j^^^^ 
obern    Violinen     das     Motiv  y^**^      '*"*L-*' 

unruhig  hin  und  her.  Bald  ertönt  schrill  in  den  Bläsexn 
der  Schrei  des  Raubvogels  und  treibt  den  ganzen  Geigen- 
chor in  einem  wütenden  Unisono  in  die  Höhe.  Ein 
kurzer  Kampf,  während  dessen  die  große  Trommel 
bebt,  dann  der  entschiedne  Streich  in  den  Violinen: 
Das  ist  der  Tod  des  Räubers,  ein  schwerer 
Seufzer  in  den  Bläsern:  als  wenn  der  Druck 
sich  löste,  den  die  Gefahr  in  Antars  Brust 
veranlaßt  hat  Bald  dann  kommt  die  Stimme 
der  Gazelle  und  der  Königin,  wie  sie  ja  zusammengehören, 
dicht  hintereinander;  die  Gestalten  scheinen  sich  in  An- 
tars Phantasie  zu  vermengen.  Er  schläft  ein,  und  nun 
tragen  ihn  die  Träume  in  den  Feenpalast,  wo  Gul-Nazar 


~-t    479    ^>-^ 

weilt  lind  seiner  Wünsche  wartet  Ein  zweites  Allegro 
(Fisdur,  Vs)  be^nt.  Sohatienhaft  haschende  Flöten- 
figuren,  süß  schneidende  Geigenakkorde,  das  Hom  mit 
langem,  liegendem  Tön  darunter  leiten  es  ein.  Dann 
fängt  der  zarte  weiche  Reigen  an,  der  von  dem  Thema 


aus  gebildet,  den  musikalischen  Hauptinhalt  der  Nummer 
ausmacht  Sein  melodischer  Teil  erinnert  an  das  schöne 
Stück  von  den  Prinzenkindern ,  das  Korssakoff  in  der 
»Scheherazadec  gegeben  hat  Harmonien,  Begleitungs- 
motive,  Klangfarben  —  alles  strebt  nach  äußerster  Zart- 
heit, und  der  Vortrag  soll  noch  das  übrige  tun,  dieses 
Ziel  zu  sichern.  Ein  gutes  Orchester  kann  sich  hier  im 
Piano  zeigeui  In  der  Periodenbildung  macht  sich  das 
Verfahren  bemerklich,  den  thematisch  melodischen  Zu- 
sammenhang durch  ruhende  Akkorde  zu  unterbrechen. 
Das  hebt  den  phantastischen  Traumcharakter  des  Ton- 
bilds sehr  wiri[sam*  Die  Wiederholungen,  deren  es  sehr 
viele  sind,  reizender  zu  gestalten,  hat  sich  Korssakoff 
kleiner  Änderungen  durch  Verzierungen  sehr  wirksam 
bedient  In  der  Mitte  ungefähr,  gerade  als  das  Hom 
wieder  das  Thema  des  Feenreigens  gebracht  hat  und  die 
Harmonie  ohne  weiteres  von  Es  nach  E  wechselt,  tritt 
das  Motiv  der  Königin  ein.  Bald  darauf  hören  wir  wie- 
der die  Figuren,  die  den  Kampf  gegen  den  Raubvogel 
veranschaulichten.  Das  soll  uns  darauf  führen,  daß  Gul- 
Nazar,  die  Königin,  jetzt  ihren  Retter  belohnt.  Und  er 
bedankt  sich:  das  Antarmotiv  folgt  unmittelbar  den  Tö- 
nen, die  die  Königin  bedeuten,  und  wird  immer  wiederholt, 
während  der  Reigen  wieder  aufgenommen  ist  Dann  er- 
zählt die  Musik  wieder  nur  vom  Schlafen  und  Träumen 
Antars  und  zeigt  noch  einmal,  wie  in  seinen  Gedanken 
die  Figuren  der  Gazelle  und  der  Königin  durcheinander 
laufen.  Unsre  letzten  Blicke  fallen  wieder  auf  die  Ruinen 
von  Palm^a,  wo  der  einsame  Antar  das  Abenteuer  hatte. 


4H() 


>-^ 


hefti-  CgwaniMn.) 

gesAuf.  *J«ltj}lt||  r 
fahren:  jf 


a^te 


Der  zweite  Satz  (AUegro,  ^/s,  Edur)  gibt  das  Bild  der 
Rache  zuerst  mit  leisen.  Motiven: 

Allegro. 

M   l',l  I  Jlj|j  J  J  J  J  J  j  I 

^     So  wühlt  (in  den  Cellis),  so 

(in  den  Fagotten,  Hör- 
nern, Posannen]  brü- 
tet der  Dämon.    Dann 
Ist     das    noch 
Antar,  der  Grub- 
_  1er?      Mit    ge- 

steigertem Tempo  geht  die  Rache  nun  zum  Handeln  über: 

Holto  AUegro.     i^o*«»!.-         «      (Horner.) 
/(Oeni.) 

Die  Energie  steigert  sich  zur  Wut,  fast  bis  zur  Sinnlosig- 
keit; wild  und  diabolisch  zischen  versprengte  Töne  durch 
das  Gewebe  der  Themen.  In  der  Mitte  des  Satzes  kommt 
das  letzte  Thema  in  langsamer  Bewegung,  als  wenn  An- 
tar,  dessen  Leitmotiv  ihm  angehangen  ist,  nach  Samm- 
lung ränge.  Dann  wiederholt  sich  der  ganze  Prozeß  des 
Anwachsens  der  Leidenschaft  in  verstärkten  Graden;  mit 
Zutat  von  neuen,  anfeuernden  Motiven  gibt  der  Kompo- 
nist ein  schreckliches  Bild  von  den  Qualen  einer  Seele, 
die  die  Herrschaft  verloren  hat.  Der  letzte  Abschnitt 
malt  Erschöpfung  und  Reue. 

Der  dritte  Satz  (Allegro  risoluto  alla  Marcia,  Vi» 
HmoU},  der  Antar  im  Besitz  der  Macht  zeigen  soll,  baut 
seinen  Hauptteil  auf  das  Thema  der  Hörner: 

/"■^jJ  l'ij'jiJ  i<i;ij.J  I'  1 1  Ijjj 

das  die  Holzblä- 
ser mit  leicht  tän- 
delnden Motiven: 


481 


umspielen.  Kraft  und  Frohmut  spricht  ans  diesen  Tönen, 
aber  nicht  was  wir  erwarten:  Größe.  Das  Thema  macht 
sehr  bald  einem  andren  Plats 


^¥i7ir^Vfii  ijii'JJi 


von  dem  es  allmählich  fast  ganz  verdunkelt  wird.  Es 
wird  auf  Individualität  und  Rasse  ankommen,  ob  man  der 
Auffassung  vom  Wesen  der  Macht,  zu  der  sich  Korssakoff 
in  dieser  Komposition  bekennt,  beistimmt  oder  wider- 
spricht Sicher  liegt  nach  dieser  Darstellung  der  "Wert 
der  Macht  nicht  in  den  Taten,  sondern  im  Genuß.  Und 
um  sie  von  dieser  Seite  zu  zeigen,  hat  Korssakoff  das  neue 
Thema  mit  Motiven  des  Scherzes  und  der  Heiterkeit  um- 
geben, die  die  Reize  des  Bildes  bedeutend  erhöhen.  Zum 
Teil  muß  sein  Charakter  auch  daraus  erklärt  werden, 
daß  es  sich  um  orientalische  Anschauung  handelt  Antar 
und  die  Königin  erscheinen  in  einem  Augenblick  beson- 
ders hoher  Lust,  den  mächtige  Trillerwellen,  Violinen  und 
Holzbläsern  entströmend,  bezeichnen. 

Der  vierte  Satz,  der  das  Walten  der  Liebe  zeichnen 
soll,  beginnt  mit  einem  Allegretto  vivace  {^1%,  Ddur),  in 
dem  wieder  die  hinabhüpfenden  Flötenfiguren  (wie  im 
ersten  Satz)  an  das  Weben  des  Traumgottes  erinnern. 
Dieses  Allegretto  geht  nach  12  Takten  bereits  in  ein  An- 
dante amoroso  Aber,  das  den  Satz  ausfüllt.  Sein  Haupt- 
thema ist  die  Melodik  eines  arabischen  Lieds  mit  folgen- 
dem Anfang: 

Aatfaitt«. 
QBDjglsflh  Hörn«) _ 


Die  Klarinette  schließt  mit 


Vrettvehnar.  FQlirer.    I.  1 


81 


482 


dajB  ist  also  mit  dinem  Anklang  an  das  Ailegro  giöcoso 
des  ersten  Satzes.  Das  Liebespaar  wird  dann  mosUcatiscb 
yervollständigt  durch  das  zuerst  von  den  Violinen  ge* 
brachte  Thema; 


Bald  sagen  ans  auch  die  Leitmotive  der  Königin  nnd 
Antars,  am  wen  es  sich  bei  diesem  Austausch  zarter 
Gefühle  handelt.  Mit  dem  Eintritt  des  Animato  wird  das 
Spiel  auf  einen  Augenblick  von  Leidenschaft  erwärmt, 
dann  zögernd.  Der  Stimme  der  Königin  gegenüber  ist 
die  Antars  kaum  noch  zu  Vernehmen.  Bin  Tarotam- 
schlag,  ein  Glissando  der  Harfe,  das  ungefähr  klingt  als 
wenn  ein  Faden  zerreißt  •—  und  mit  einigen  Tönen,  wie 
frommer  Grabgesang  aus  hohen  Sphären  herabgehört, 
schließt  die  Sinfonie. 

Diejenige  russische  Programmsinfonie,  die  sich  am 

meisten  in  den  deutschen  Konzertsälen  eingebürgert  hat, 

f  .Tickaikowikjiist  P.  Tschaikowskys  »Manfred«  (op.  68j.    Sie  will 

Manfred.       >  vier  Bilder  nach  dem  dramatischen  Gedicht  Byrons« 

bieten,  wie  auf  dem-  Titelblatt  sieht 

Im  ersten  Satsi  haben  wir  uns  Manfred  zu  denken, 
wie  er  im  Gebirge  herumirrt,  von  Seelenqualen  gefoltert, 
gegen  die  keine  Wissenschaft,  keine  HöUenkunst,  keine 
Erinnerung  hilft    Die  Musik  beginnt  mit  einem  Thema: 

Lento  Ingubr«.  JsSO 


in  das  sich  heroischer  Stolz  und  Schwermut  teflen.   Das 
ist  das  Bild  des  unseligen  Manfred,  cler  einst  so  gev^al- 


--•     483     ♦^ 

tig,  nun  gebrochen  dahinwankt  und  klagt.  Für  dieses 
Klagen  hat  der  Komponiat  ein  ganz  bestinimtes  Motiv 
ins  Tberoa  eingesetzt  Es  erscheint  da  im  ,fi  i  r  n 
siebenten  Takt,  wird  aber  anch  frei  fflr  y  ^  I  jj  8 
sich  in  dieser  ersten  Form  oder  auch  als:  ^  f^ 
oderdrit«   ^    ,  oder  endlich  in  yerkürz- 

tens  ver-  fb  J  jtJ.  \  A^^AH^  ten  Rhythmen  verwendet, 
längert:  '^       ^        Manfred  mtiht  sich  seines 

Elends  Herr  zn  werden« 
Pas  sagt  uns  die  Fort* 
Setzung    seines   Themas 
die  Kraft  und  ernstes  Bestreben  äußert    und  bald  wird 
der  Eifer,  mit  dem  Manfred  gegen 


die  Dämonen  kämpft,  noch  größer.  :^ 
Die  Celli  stellen  mit  dem  Rhythmus  JP 
ein  Gegengewicht  gegen  Fagotte  und  Klarinetten  auf,  in 
denen  das  Seufzermotiv  haust  Diese  Triolen  werden  von 
mehr  und  mehr  Instrumenten  des  Orchesters  aufgenommen, 
schließlich  auch  von  ersten  und  zweiten  Violinen.  Mit 
ihnen  kommt  der  Abschnitt  zu  "n  k  Die  Kraft  in 
einem  schroffen  Abschluß  im  ff\  *  ^  '  Manfred  hat 
sich  gegen  sein  Leiden  aufgebäumt  Kurze  Generalpause. 
Wieder  setzt  das  Manfredthema  ein,  aber  mit  h^  eine  Quint 
höher  als  beim  ersten  Male.  Der  ganze  Vorgang  wieder-, 
holt  sich  mit  Steigerung.  Das  Triolenmotiv  wandelt  sich 
in  eine  Sechzehntelfigur,  eine  besondere  Figur  des  Strebens 

II         ^11 -1        II  *-   r    -  ^f    -^"^^  ^^^^  dazu;  mit  ihr 
^   W  J  ^  jrL^    '  ^Bittrird    die  Erregung   all* 

^  gemein,  am  Ende  (beim 

Animando  un  poco)  ein  wahrer  Tumult,  und  wieder  ist  das 
Resultat  Sisyphusarbeit  gewesen.  Zum  dritten  Male  setzt 
das  Manfredthema,  aber  wie  ein  Schrei  der  Verzweif« 
lung  fff  (beim  Piü  mosso)  ein.  Die  Trompeten  führen, 
die  Bläser  stehen  an  der  Spitze  des  Orchesters,  die  Vio- 
linen markieren  mit  dissonanten  Tremolos  emen  Fieber* 
zustand.  Manfred  sucht  diesmal  die  schlimmen  Geister  in 
seiner  Seele  durch  Kraft  und  Trotz  zu  bannen.  Hart  stoßen 
die   aus   Liszts    »Fauste    und   Berlioz*   Fantastique   be- 

31  ♦ 


484 


kannten  Rhythmen  der  Verwegenheit    r-j   dann  j' j    J 
darchsganze  Orchester.  Drei-,viermal:  gar 

Auf  diesen  Triolen  rast  die  Mu^k  einen  Takt  lang.  Alle 
Instrumente  schlagen  diesen  Rhythmus  mit  der  äußersten 
Kraft  an,  das  Tamtam  fällt  ein ;  dann  zittert  der  Zorn  sogar 
in  einem  allgemeinen  Sechzehnieltakt,  wohlverstanden:  nur 
Rhythmus  in  allen  Instrumenten.  Und  abermals  umsonst, 
Manfred  kann  es  nicht  zwingen.  Da  ist  es  denn  rührend, 
wie  er  nach  diesem  letzten  großen  Mißerfolg  (beim  Mo- 
derato  con  moto]  bescheiden  und  demütig,  nicht  mit  dem 
herausfordernden  breiten  Thema,  sondern  mit  der  Fort" 
Setzung,  mit  den  Motiven  des  Strebens  wieder  anfängt 
Den  Lohn  erhält  er  aus  dem  Munde  des  Horns: 


poco  creso.       w 

So  ermuntert,  nimmt  Manfred  den  Kampf  gegen  die  innren 
Feinde  wieder  auf.  Die  Motive  des  Strebens  werden  euer* 
gisch  durchgearbeitet,  in  Nachahmungen  ineinander  ge- 
flochten und  zu  einem  lebendigen  Bild  von  Seelenkampf 
entwickelt    Die  ersten  zwei  Noten  des  Manfredthemas 

sind  auch  darin  als  leidenschaft^         :^^ ;^^ 

lieber  Wehruf,  das  Seufzermotiv  .^  Q  [  k  T  "F  •  «to> 
kommt  in  den  Hörnern  in  der  Form   IT  ■=£=*=*= 

Daß  auch  dieses  Kampfes  Ausgang  nicht  günstig,  sagen 
uns  die  Motive  des  Trotzes  und  der  Verwegenheit,    «_ 
die   am   Ende   des   Abschnittes   wieder   hart  als  '   ^ 
im  fff  einsetzen. 

Und  nun  kommen  wir  an  die  Mitte  des  Bildes,  an 
die  Stelle,  wo  der  Komponist  auf  das  Antlitz  und  in.  die 
Seele  Manfreds  einige  freundliche  Strahlen  fallen  läßt 
Ein  Andante  beginnt    Sein  Hauptthema 

.     Aadanf.  Jsee 

führt   die   Qestalt  Astartens 
vor  Manfreds  inneres  Auge, 


-^    485    «-^ 

und  der  ErinneruDg  an  die  Heißgeliebte  gilt  der  ganze 
Abschnitt.    In      .  _  nimmt    er    den 

denBüdangen  iW  HtJ-  JTl  1 -n  ■  Charakter  eines 
um  das  Thema  tf  ^  "^  '#7  ^  '     -^    traulichen    Dia- 

logs an;  freundlich  erregte  Klänge,  die  von  entzückten 
Herzen  erzählen,  tönen  dazwischen.  Ss  kommt  eine 
Stelle  (beim  Poco  piü  animato)  die  mit  dem  Anfang 

fii  i'i  '^iii  I    I  II  "fTiiri 

etwas    an    Gou- 

nod  erinnert.  Sie  ■  ^  (jj^  f 

schließt  dann  ein-  ty  ^  * 


fach  mit  Skalen :  -^  •««• 

Aber  diesen  Gängen  hat  der  Komponist  durch  Gegenmotive 
und  Harmonien  eine  solche  Wärme  gegeben,  daß  von  Oieser 
Stelle  aus  ein  Glänz  auf  die  ganze  Szene  fällt.  Nachdem  das 
Thema  derAstarte  nochmals,  aber  nicht  innigund  schüchtern 
wie  beim  ersten  Mal,  sondern  in  Pracht  und  im  Licht  der  Be- 
geisterung vorübergezogen,  schließt  die  Stunde  schöner  Er- 
innerung mit  ei-  jülegro  am  troppo.' 
nem  letzten  Aus-; 
klang  des  Jubels: 
und  der  Freude: 
Mit  dem  letzten  Takte  kommt  der  erste  Bote  von  den 
Qualen  wieder,  die  Manfreds  Gemüt  bedrohen.  Die  Bratsche 
setzt  diesen  chromatischen  Ton  fort,  und  der  Schlußteil 
des  Satzes,  ein  Andante  con  duolo,  das  mit  dem  innren 
Gang  der  Musik  das  Tempo  zuweilen  etwas  beschleunigt, 
empfängt  uns  mit  dem  Manfredthema,  vpn  Geigen,  Brat- 
schen und  Cellis  unisono  gespielt.  Es  klingt  aber  hier 
zunächst  edel,  gewissermaßen  unter  der  Nachwirkung 
der  vorausgegangenen  Szene  verklärt.  Als  es  die  Hörner 
aufnehmen,  Geigen  und  Holzbläser  mit  wilden  Trillern 
begleiten,  wird  sein  Charakter  dämonisch,  und  so  schließt 
der  Satz.  Manfreds  Kämpfen  und  Mühen  war  vergebens. 
Es  ist  dieser  erste  Satz  der  Tschaikowsky sehen  Sinfonie 
der  bedeutendste  unter  allen.     In  bezug  auf  die  Form 


0^ 


^^    486    %^ 

zeigt  er  wieder  des  Komponisten  anßergewfthnliche  Ge- 
staltungskraft Sie  erlaubt  ihm,  sich  vom  Schema  zu  ent-' 
fernen  und  frei  neue  Bildungen  zu  versuchen.  Nichts 
von  der  Einteilung  und  den  Elementen  des  üblichen  So- 
natensatzes in  diesem  Stflck,  keine  Themengruppe,  keine 
Durchführung.  Dafür  eine  schöne  Ireundlidie  Szene  als 
Mitte  des  Bildes,  zu  ihr  hinführend  eine  Reihe  von  An- 
läufen, eine  dämonisch  qualvolle  Stimmung  zu  über- 
winden, diese  Anläufe  ziemlich  gleich  in  Material  und 
Führung.  Nachdem  das  Bild  in  der  Mitte  verhangen  wor- 
den ist,  werden  die  Vorgänge  des  ersten  Teils  gekürzt 
und  gesteigert  noch  einmal  vorüber  geführt  und  zum 
baldigen  Ende  gebracht  Auch  was  den  Ausdruck-,  den 
seelischen  Charakter  betrifft,  muß  dieser  Satz  hoch  ge- 
stellt werden.  Wenn  es  sich  um  eine  Manfredk'omposition 
handelt,  so  kann  keinem  neuen  Tonsetzer  der  Vergleich 
mit  R.  Schumann  erspart  werden.  Denn  seine  Manfred- 
Ouvertüre  ist  ein  Charakterbild,  dem  man  nur  wenig  an 
die  Seite  setzen  kann:  Händeis  Agrippina,  Beethovens 
Coriolan,  Wagners  Faustouvertüre,  Volkmanns  Richard  III. 
allenfalls  noch.  Schumanns  Manfred  hat  Züge,  die  ihm 
ganz  allein  gehören;  kein  zweiter  Komponist  hätte  solche 
Töne  wie  Schumann  fQr  den  Geisterverkehr  gefunden. 
Aber  im  allgemeinen  behauptet  sich  Tschaikowsky  neben 
seinem  Vorgänger.  Auch  er  hat  ein  ergreifendes  Bild  be- 
deutender Seelenzustände  gegeben.  Zeichnet  Schumann 
die  Leidenschaften,  so  enthüllt  Tschaikowsky  die  Leiden 
seines  Helden. 

Die  oft  beklagte  Ungleichheit  in  den  Werken  des  hoch 
veranlagten  Russen  zeigt  sich  auch  in  seiner  Manfred- 
sinfonie wieder.'  Während  der  erste  Satz  eine  bedeu- 
tende geistige  Erfassung  der  Aufgabe  bekundet,  ist  der 
Komponist  dem  Gegenstand  im  zweiten  Satze  nuTyäußer- 
lich  näher  getreten.  Das  Programm  sagt:  >Die  Alpen- 
fee erscheint  vor  Manfred  unter  dem  Regenbogen  des 
Wasserfalls«  und  erregt  damit  die  Erwartung  wunderbarer 
und  in  Anbetracht  der  Gebirpnatur  jedenfalls  erhabner 
Erscheinungen.  Sonst  doch  ein  durchaus  modemer  Kunst- 


/ 


487 


ler,  hat  Tschaikowsky  diesmal  sich  um  .  das  gegebene 
»milien«  wenig  gekflmmert,  sondern,  nnt  den  Wasserfall 
und  das  Glitzern  des  Regenbogens  im  Kopf,  im  Haupt- 
satz eine  Springbmnnenmusik  gegeben.  Dieser  Satz 
von  der  Alpenfee  ist  eine  Salonkomposition  mit  äußerst 
geschickter  Orchestertechnik  dorchgefährt  und  einiger- 
maßen von  Mendelssohnschen  und  Berliozsch.en  Ideen 
inspiriert,  aber  keine  Tondichtung,  die  über  das  Alltäg- 
liche hinaushebt.  Der  Form  nach  gleicht  er  einem 
Scherzo.  Die  Bläser  tragen  den  Häuptteil  der  Darstellung 
mit  sprühenden  und  regsamen  Sechzehntelmotiven.  Sie 
führen  auch  in  das  Stück  ein.  Die  zweite  Flöte  bringt 
das  von  andren  Stimmen  ziemlich  verdeckte  Hauptmotiv 

VWaeaeoQ  tplrlto.  J*I20  ^^  d*S     ^    den 

I  y  I  Geigen  selt- 

I  ^    I  sam  und  gro- 

f      '  *r^  tesk  mit  ei- 


ner metrisch  et- 
was verrenkten 
Oktaven  figur: 


begrüßt  wird. 
Das  Bläserthe- 
ma ergänzt  sich 


dann  noch  durch  eine  Figur,  die  das  Phänomen  des  Flie- 
ßens  vor  ^^        ..^  .,  DenBUdern 

diiiPhan-=Jfci>  flff.flf  >  ^P  iffp||>jg|des  beweg- 


tasie  ruft 


ten  Wassers 


widmet  sich  dann  der  Komponist,  nachdem  die  erste 
Themengmppe  zweimal  vorgeführt  worden  ist,  für 
eine  ziemliche  Weile.    Mit  Bildungen,  die  auf  dem  Motiv 

ruhen,  zeigt  er  uns  das 
Element  im  hüpfenden 
Zustand.  Dann  bringen 
die  Celli  vier  ,^,         ihnen  nach  die  Brat- 

schen  und    die    an- 
dern     Streichinstru- 


Takte   lang 
das     Motiv 


mente  ähnliche  Figuren.  Das  ist  die  musikalische  Zeich- 
nung von  den  langhinströmenden  und  flutenden  Wellen. 
In  der  größten  Bewegung  hält  die  Musik  plötzlich  ein, 
bricht  auf  einer  Dissonanz  (cM-e-^-A)  ab.  Bratsche  und 
englisches  Hom  halten  allein  e%9  aus.    Dann  setzen  die 


-^    488    ^^, 

Geigen  mit  einer  neuen,  weit  ausholenden  Triolenfigur  ein, 
die  wie  Verwunderung  aussieht  Bs'hat  sich  etwas  er* 
eignet,  was  die  Elemente  stutzen  macht:  Manfred  ist  am 
Wasserfall  erschienen.  Wir  erfahren  das  nicht  aus  seinem 
herrischen  Thema,  das  die  Sinfonie  eröff-  ^  ^^n-^  * 
nete.  Nur  durch  das  Seufzermotiv  wird  er  £9$  j  *Y|^fe 
vertreten.  Es  durchklingt,  in  der  Form  ^  p  -*-^- 
und  immer  auf  denselben  zwei  Tönen  von  der  Oboe  ge- 
bracht, einen  längren  Abschnitt,  in  dem.es  ziemlich  still 
hergeht.  Nur  ein  leichtes  Tremolo  der  Bratschen,  dann 
der  zweiten  Violinen  erinnert  noch  an  das  Wasserrauschen 
und  an  den  Ort,  an  dem  unsre  Phantasie  weilen  soll. 
Allmählich  wird  die  Wassermusik  wieder  deutlich.^  Der 
Komponist  wiederholt  den  ganzen  Hauptsatz  mit  Ände- 
rungen. Die  Rollen  sind  vertauscht:  Die  Violinen  haben  die 
leichten  Sechzehntel,  .*— ^^^^^       _  Es  hat  sich 

die  Bläser  die  Ach-JLjLi  f  f  f  i  p  ^r-  i,_^i  über  das 
telmotive.     Ein  nen-'ft^  L  i  '  l["^ij  w«>«.,»«^np«^: 

es  Motiv  tritt  hinzu        ^  bendurchdie 

Seufzer  des  vorigen  Abschnittes  ein  Schatten  und  eine 
Lähmung  gelegt  So  hört  es  denn  auch  früher  als  zu  er- 
warten auf,  oben  in  den  Bläsern  mit  schrillen  Tönen, 
unten  in  den  Violinen  vollständig  erstarrt.  Achtundvierzig 
Takte  lang  spielen  erste  und  zweite  Geigen  abwechselnd 
immer  nur  fis  g;  schließlich  bleiben  die  ersten  Violinen 
mit  ihrem  fia  allein  übrig.  Die  Stelle  macht  einen  außer- 
ordentlich phantastischen  Eindruck,  der  Einfall  erregt 
große  Spannung,  zugleich  aber  auch  ein  gewisses  ge- 
spenstiges Grauen.  Da  setzt  denn  nun,  von  zwei  Harfen 
rauschend  begleitet,  die  erste  Violine  mit  folgender  freund- 
licher Melodie 

Mc0 


ein.  Es  ist  die  Stimme  der  Alpenfee,  die  Tschaikowsky 
mit  seiner  Musik  als  eine  Gestalt  zeichnet,  die  ganz  Güte 
und  Liebe  ist;    Das  Lied  hat  einen  zweiten  Teil,  den 


-^    489    «^ 

ebenso  wie  den  ersten  die  aufschlagenden  Achtel  als  Ge- 
birgsmusik  kennzeichnen.  Der  Gesang  wird  reichlich  wie- 
derholt und  dabei  immer  glänzender  instrumentiert.  Als 
ihn  das  Fagott  eben  durchgeführt  hat,  da  setzt  in  Hom 
und  Bratschen  das  Thema  des  unseligen  Manfred  ein. 
Manfred  erzählt  ja  nach  Byron  der  Alpenfee  seine  un- 
glückliche Liebe  zu  Astarte.  Mit  dem  Manfredthema  zu- 
sammen geht  das  Lied  der  Alpenfee  immer  weiter.  Auch 
die  Wassermusik  wird  wieder  lebhafter,  besonders  an  der 
schönen  Edur-Stelle,  wo  die  Saiteninstrumente  die  Mo- 
tive der  Alpenfeemelodie  in  Gegenbewegung  durchfahren. 
Die  Homer  haben  einen  weitern  selbständigen  Kontra- 
punkt dazu,  und  die  Musik  spricht  hier  mit  glühender 
Wärme  Mitleid  mit  Manfred  aus.  Die  freundlichen  Sorgen 
der  Alpenfee  schildert  ein  Abschnitt,  in  dem  die  hohen 
Bläser  die  Motive  des  Ddur-Themas  mit  den  Bässen  in 
Nachahmungen  bringen.  Es  scheint  aber  nichts  zu 
nützen.  Der  Satz  setzt  sich  auf  einen  Asmollakkord 
fest,  fängt  an  rhythmisch  ähnlich  zu  rasen,  wie  wir  es 
im  ersten  Satz  erlebt,  und  bricht  wie  dort  im  fff  mit 
dem  Rhythmus  j^  Darauf  in  großen  schmerzlichen  Re- 
des  Trotzes  ab :  ^  *  gungen  Manfreds  Thema  in  Violinen 
und  Holzbläsern  und  ein  Ende  dieses  Absatzes  in  Disso- 
nanzen (Q-dr»'k)  und  Verlegenheit.  Aus  dieser  Situation 
helfen  Celli  und  Fagotte  mit  einem  neutralen  Einfall  fort 

und  hinein  in  die  Wiederholung 

^_     des  Hauptsatzes.     Sie   weicht 

^^^  von  der  ersten  Ausführung  am 

Ende  ab:  Englisches  Hom  und 
Klarinette  bringen  noch  einmal  im  weichen  Ton  das 
Manfredthema,  und  die  letzten  Takte  haben  nur  noch 
einen  Schimmer  von  Klang:  Harfen  und  Violinen  in 
hohen  Trillem  sind  allein  übrig  geblieben.  So  wird  der 
Ausgang  des  Satzes  dem  Wunderbaren  der  Szene  noch 
schnell  gerecht. 

Wie  Tscfaaikowskys  Manfred  im  allgemeinen  mit 
Berlioz*  »Harold«  wichtige  Berührungspunkte  gemein 
bat,  so  erinnert  der  dritte  Satz  insbesondere  an  die 


490 


Szene  Haroldfi  in  den  Abruzzen,  wo  die  Lftndleute  das 
drollige  Ständchen  bringen.  Das  Prograipm  zu  diesem 
Satze  gibt  an:  9Pa8toraIe.  Einfaches,  freies  nnd  heitres 
Zusammenleben  der  Gebirgsbewohner«.  Den  Pastoral- 
charakter *  zu  treffen  brauchte  yor  allem  einen  o/g  Takt, 
als  Nachkömmling  des  alten  Siciliano.  Auch  Tschaikowsky 
hat  sich  dieses  gegebenen  Mittels  bedient  und  in  ihm 
folgende  Melodie  an  die  Spitze  seines  Pastorale  gestellt. 

AndMiu  con  meto.  *«48 


Sie  wird  durch  die  begleitende  Harmonie  einiger- 
maßen gehoben  und  sucht  auch  des  weiteren  das  Be- 
hagen an  ihrer  Sphäre  durch  künstliche  Mittel  zu 
steigern.  Die  Oboe  moduliert  nach  ihrem  zweiten  Ein- 
satz bereits  nach  Hdur,  und  daran  schließt  sich 
ein  Abschnitt,  j, .  ^ 
in  dem  die 
Stimmen  um 
das     Thema 

kunstvolle  Spiele  (Kanons  und  freiere  Nachahmungen) 
führen.  Der  Gdursatz  wird  darauf  mit  der  Melodie  in 
den  Holzbläsern  wiederholt.  Als  das  Ende  des  Themas 
erreicht  bt,  kommt  keine  DarchfQhrung,  sondern  das 
Bild  des  Friedens  und  der  Unschuld  verwandelt  sich. 
Eine  neue  ganze  Gesellschaft  tritt  auf,  bei  der  es  aus 
einem  andren  Ton  geht,  nämlich: 


Zu  dieser  Melodie  muß  man  sich  rustikale  Quintenbässe 
(Fagotte)  denken  und  ungenierte  Reibungen  in  den  Be- 
gleitstimmen, um  zu  begreifen,  daß  es  sich  jetzt  um  eine 
derbere  Lustigkeit  handelt.  Allenfalls  läßt  das  ja  schon 
die  rhythmische  Hast  des  Themas  ahnen.  Es  sind  gewiß 
herumziehende  Musikanten,  die  das  kleine  Sätzchen  vor* 
tragen»  Die  Episode  entfesselt  aber  einen  Freudensturm  bei 


-^     491     «^ 

der  Hirtengemeinde.  In  einem  HmolLsatz,  der  den  Mittelteil 
des  Pastorale  bildet,  kommt  er  zum  Ausdruck,  weniger  in  dem 
in  einem  grandiosen^  ^t    ,     ,  ,—  i—qn 

unisono  derStreieherSPy  J  U?  fjj  1  f  f  f  JJ^^ 
gebrachten      Thema       ^  ' 

als  in  der  Begleitung,  in  dem  lauten  Ton,  in  dem  sie  ge- 
boten ist,  und  in  den  erregten  Rhythmen,  die  immer  aus 
einzelnen  Stimmen  oder  ganzen  Orchestergruppen  da- 
zwischenfahren.  Es  schließt  sich  daran  eine  Durchführung 
des  ersten  Seitenthemas,  das  frfiher  in  Hdur  erschien,  nun 
in  der  Haupttonart  Gdur  gebracht  wird.  Es  verliert  sich 
in  einen  Schluß,  der  ähnlich  gehalten  ist  wie  der  Aus- 
gang des  zweiten  Satzes:  die  ersten  Violinen  haben  einen 
Triller  auf  hohem  h,  die  drei  Flöten  umwinden  ihn  mit 
hohen  Arpeggien.  Der  ungewöhnliche  Klang  soll  hier 
auf  Wunderbares  vorbereiten.  Das  jetzt  in  den  Cellis 
einsetzende  Thema 


'  ^  fT^  g-T  I  '^     I P  '^  "^  11^^^  °^'  ^*°°  ®*"®°  ^^"'*» 

ü  Ff  i-j    I  -^  [  r    ■    ^^^^^  ^g  einigermaßen 

visionär,  in  einer  entrückten  Stimmung  gedacht  wird.  Es 
ist  Manfreds  Traum  vom  Glück,  ein  Traum,  zu  dem  er  sich 
an  den  Bildern  des  ländlichen  Friedens  und  Behagens  be- 
rauscht hat  Schon  aber  als  die  Bläser  das  Thema  auf- 
nehmen, wird  es  getrübt  und  erregt,  und  trotz  gewaltsamer 
Anstrengungen  bricht  doch  Manfreds  verzweifelte  Stim- 
mung bald  wieder  und  schauderhaft  durch.  Die  Homer 
bringen  das  Thema,  aber  ohne  den  Anfang,  gleich  mit 
der  resigniert  herabsteigenden  Wendung,  und  dann  stehen 
sie  festgebannt  auf  dem  schließenden  C,  das  28  Takte 
hindurch  unter  wechselnden  Harmonien  immer  wieder 
angeschlagen  wird.  Diese  Beharrlichkeit  wirkt  religiös; 
in  der  Tat  stimmt  auch  eine  Glocke  mit  ein,  und  daß  der 
ganze  Vorgang  das  Herz  Manfreds  entlastet,  zeigt  die 
Melodie,  die  das  Korn  einsetzt,  während  die  Holzbläser 


-^    492     «^ 

immer  noch   am  C   und   den   dazu  gehörigen  Melodien 
festhalten: 


ii  ^'^nllJJU3lc^uJlT  ij  ij 


Sie  erinnert  an  eine  andre  Hommelodie,  die  im  ersten 
Satz  der  Szene  vorhergeht,  in  deren  Mittelpunkt  Ästarte 
steht.  Auch  hier  folgt  Sonnenschein.  Die  Pastoralmusik 
aus  dem  ersten  Teil  der  Nummer  kehrt  wieder,  in  der 
zweiten  Periode,  wo  die  Streichinstrumente  das  Thema 
nehmen,  durch  die  Kontrapunkte  der  Bifiser  in  einen 
bacchantischen  Charakter  gewandelt.  Der  hohe  Ton  hält 
an.  Nach  einer  Steigerung,  die  von  Gdur  nach  Epioli 
geführt  hat,  tritt  das  Thema  von  Manfreds  Glückstraum 
hinzu,  ohne  sich  jedoch  lange  zu  behaupten.  Es  wird 
still,  das  Hornthema  erscheint  wieder  am  Schlüsse  mit 
Harmonien,  die  wie  der  Schatten  des  Abends  wirken. 
Noch  einmal  blasen  die  wandernden  Musikanten  ihr 
Stückchen.  Nur  aus  der  Ferne  aber  wird  ihnen  gedankt; 
leise  und  immer  leiser  klingen  froh  bewegte  Figuren 
aus  den  Violinen,  aus  den  Holzbläsern  Abschieds- 
grüße  —  ein  letztes  Anspielen  des  Pastoralthemas  wie 
Einschlafen,  und  alles  ist  aus! 

In  seinem  Schlußsatz  hat  sich  Tschaikowsky  die 
Aufgabe  gestellt,  den  unterirdischen  Palast  Arimans  zu 
schüdem.  Manfred  erscheint  inmitten  des  Bacchanals. 
Der  Schatten  des  Astarte  wird  beschworen.  Sie  ver- 
kündet ihm  das  Ende  seiner  irdischen  Leiden.  Manfred 
stirbt  Durch  dieses  Programm  erklärt  sich  der  Kom- 
ponist abermals  als  einen  Schüler  Berlioz*,  der  seinen 
Harold  gleichfalls  unterirdisch  und  bei  einem  Bacchanale 
zu  Qnmde  gehen  läßt.  Und  Tschaikowsky  zeigt  sich 
auch  in  der  Ausführung  dieser  Idee  von  dem  Franzosen 
beeinflußt,  namentlich  darin,  daß  er  aus  seiner  Dar- 
stellung die  Grazien  ganz  und  gar  verbannt.   Von  Gluck 


493 


und  Wagner  hätten  diese  Programmusiker  lernen  können, 
daß  die  Hölle  durch  ihre  zarten  Künste  am  verführerisch- 
sten ist  und  die  größte  Gewalt  über  die  Geister  übt 
Ein  gewaltsames,     .„_^  «««#..««•  J    •**      Es     wird 

,     ...         ®    *•  1         j    \     Aliagro  coD  fuoco.  J  a  144       ,       ^ 

heftig     anffahrende8'^.^^^^Z-         .\  -*,-fffr     '^*'*"6 ^^^ 
Thema  kennzeichnet  ji^ün  £~y  I  f  f  "U^ '  i  leinam  gei-» 

das    Reich   Arimans^       J^  sterhaften 

Nachgesang     der     Bläser 

begleitet,    dem    folgendes 

Motiv    SU-  Grunde    liegt: 

Wenn     es    in     ^^  folgen   ihm 


m 
der  Regel  lär- 
mende Kontra- 


verkürzter Ge- 
stalt erscheint: 
punkte,  größte  Erre- 
gung hervorrufend  die 
grimmige  Baßfigur: 
Für  den  ganzen  Teil,  der  der  Schilderung  der  Arimanschen 
Herrschaft  gewidmet  ist,  hat  der  Komponist  Ungestüm  und 
Heftigkeit  als  kennzeichnende  Merkmale  gewählt  Daher 
die  immer  neuen  und  immer  kurzen  Anläufe,  auf  Grund 
des  Themas  größere  Sätze  zu  bilden.  Bald  geschehen  sie  in 
Fugenform  oder  in  andren  Arten  der  Nachahmung,  bald  mit 
Verlängerung,  bald  mit  Verkürzung  der  Anfangsnoten,  bald 
mit  gefaßten,  bald  mit  wilden  Kontrapunkten.  Diabolischer 
wird  die  Szene  mit  dem  Auftreten  der  Trompetenvariante: 

■Pftrf  tfr-     II  _  i  Geigen  und  Flöten 

;j"iln   uj  I  p    I  Jffjhj  IJ  li^Tb^i  umtrillern  sie  wie 
JBT  '    *  ^fi^v^  rasend,     brutale 

Stöße  der  Hörner  antworten  darauf.  Der  Lärm  wächst  von 
allen  Seiten,  die  Trompete  feuert  in  gemeinen  Rhythmen 
an,  und  endlich  macht  sich  das  animaUsche  Behagen  dieser 
Gesellschaft  in  einem  Reigen  Luft,  zu  dem  Englisch  Hom, 
Baßklarinette  und  beide  Fagotte  folgende  Weise  aufspielen: 


^M 


Sie  wird  sehr  breit  ausgeführt,  mit  Freuden  gehört  und 


(T 


--•     494     •-- 

begrüßt,  leidenechaftlich  von  den  einzelnen  Gruppen 
flbernommen  und  mit  Verzierungen  verseben.  Plötzlich 
—  die  Violinen  liegen  anf  g  —  bricht  die  Szene  ab.  In 
einer  Umbildung  läßt  sich  das  Manfredthema  in  den 
Bässen  hören.  Das  Bacchanaler  ist  damit  zu  Ende. 
Ein  Lento  setzt  ein.  Geheim-  ^  ^ 
nisvoll  beginnt  ein  leiser  ^Ifj}  ■■  \%^  \\^  \  tä^ 
Salz  auf  chromatischem  Motiv      «  " 

ihm  folgen  feierlich  schrecklich  laute  Bläserakkorde.  Und 
nun  tritt  Manfred  wirklich  auf  in  seiner  edlen  Art  mit  den 
Motiven  des  Slrebens.  Ihm  stellt  sich  Äriman  entgegen  mit 
einer  Fuge  über  das  erste  Thema  deil  Schlußsatzes,  dem 
aber  ein  etwas  verworrener  Abschluß  gegeben  ist  Die 
Musik  des  Bacchanale  tritt  dazu,  bald  werden  beide  The- 
men verbunden.  Ariman  zeigt  sich  in  dem  höchsten  Glanz 
über  den  er  verfügt;  der  Lärm  ist  betäubend  genug.  Da 
kommt  plötzlich  wieder  eine  jener  naturalistischen  Stellen, 
wo  das  volle  Orchester  nur  Rhythmus  gibt.  Hier  ruht 
es  Takte  lang  auf  Triolen.  Im  ersten  Satz  verwendete 
Tschaikowsky  dieses  Mittel,  um  extremste  Gemütszustände 
Manfreds,  die  Augenblicke  der  tollsten  Verzweifelung  zu 
bezeichnen.  Auch  hier  gilt  es  wieder  Manfred.  Die 
Trompete  meldet  ihn  an,  und  bald  erscheint,  ein  wenig 
beweglicher  gehalten  als  im  ersten  Satz,  sein  Thema  in 
einem  Andante,  von  der  Gesellschaft  Arimans  mit  Staunen 
empfangen.  In  einem  Adagio,  an  das  wir  kurz  darauf 
gelangen,  hören  wir  die  Klänge  der  Liebe  zart  wieder, 
die  dem  Mittelteil  des  ersten  Satzes  sein  schönes,  inniges 
Gepräge  gaben.  Astarte  wird  angerufen ;  sie  kommt  und 
mit  ihr  ein  großer  Teil  von  den  besten  Augenblicken 
des  Werkes.  Wir  durchleben,  nur  gedrängter,  noch  ein* 
mal  die  ergreifende  und  erwärmende  Szene,  die  dem 
ersten  Satz  der  Sinfonie  seine  Herzenstöne  gab.  Auch 
das  Andante  con  duolo,  das  dort  der  Szene  der  Er- 
innerung an  Astarte  folgte,  kehrt  wörtlich  wieder,  bis 
beim  Allegro  die     ^APegro.  Das  ist  die  rauhe  Hand 

Bässe  ein  neues  "JVAA  S^  ^^^  Todes,  Noch  ein 
Motiv    bringen :        jJJT  fri^^       kurzer  heftiger  Kampf^ 


-^    496    ♦^ 

dann  f&Ut  die  Orgel  ein  wie  in  Liszts  »Fanst«  als  Stixnme 
des  Himmels:  Manfred  ist  erlöst  In  einem  feierlichen, 
von  milder  Schönheit  erffllltem  Largo  wird  ihm  ein  tröst* 
liches  und  friedvolles  Requiem' gesungen.  Einigermaßen 
stimmt  es  im  Ton  mit  dem  Ende  von  RxilTs  »Lenorec 
überein.  Durch  den  schönen  versöhnenden  Abschluß 
unterscheidet  sich  das  Finale  von  Tschaikowskys  Man- 
fred vorteilhaft  von  dem  des  Berliozschen  Harold. 

Nach  diesem  »Manfrede  weicht  auch  bei  den  Russen 
die  mehrsätzige  Pro^ammsinfonie  der  s.  g.  sinfonischen 
Dichtung.    Unter  den  Nachzflglem  ist  Felix  Blumen-F«BUs6iMd, 
felds  »dem  Andenken  der  Toten«  gewidmete  Sinfonie  •^®™^f««*^«'» 
(in  C)  bemerkenswert  ^  ^•**'* 


Von  Haydn  ab  blieb  bekanntlich  die  Sinfonie  den 
Deutschen  ziemlich  allein  überlassen.  Nur  ,die  Franzosen 
stellen  in  längeren  Abständen  einzelne  nennenswerte  Mit- 
arbeiter, wie  Gossec,  M^hul,  Berlioz.  Nach  Analogie  der 
Entwickelung,  welche  die  Vokalmusik,  zuletzt  noch  in  der 
Oper,  genommen  hatte,  war  anzunehmen,  daß  eines  Tages 
auch  die  Geschichte  der  Sinfonie  wieder  den  inter- 
nationalen Xlharakfer  tragen,  und  daß  der  Wettstreit  der 
Nationen  sich  auch  dieser  Kunstgattung  bemächtigen 
werde.  Nach  80  Jahren  trat  diese  Wendung  endlich  ein. 
Doch  erfolgte  sie  mit  einer  ebenso  wichtigen  als  über* 
raschenden  Nuance.  Die  neuen  Sinfoniker  kamen  nicht 
aus  Italien,  sondern  aus  Ländern,  welche  sich  an  der 
höheren  musikalischen  Kunstarbeit  bisher  nicht  beteiligt 
hatten.  Sie  brachten  neue  Weisen,  neue  Klänge,  einen 
ganzen  Schatz  von  Naturmusik  mit,  für  welchen  die 
Stimmung  durch  die  Arbeit  der  Romantiker  aufs  günstigste 
vorbereitet  war.  Mit  den  Progrnmmsinfonien  teilen  die 
nationalen  das  realistische  Element  in  der  Darstellung; 
der  pathetische  und  hochdramatische  Zug  ist  ihnen,  bis 
auf  einzelne  neueste  Ausnahmen  russischer  Herkunft, 
fremd.  Ihr  liebstes  und  eigentümlichstes  Gebiet  ist 
das  Genre. 


'1 


_^    496    ^>>- 

Das  erste  Interesse  für  die  Musik  der  sogenannten 
Nebennationen  erwachte  schon  am  Ende  des  achtzehnten 
Jahrhunderts.  Noch  ehe  Herders  »Stimmen  der  Völker« 
erschienen  varen,  lenkte  Delabordes  »Essai  snr  la  musi- 
que  etc.«  die  Aufmerksamkeit  der  gebildeten  Mnsikwelt 
auf  die  Gesänge  und  die  Tanzweisen  der  bisher  musi- 
kalisch unbeachtet  gebliebenen  Nationen.  Die  Allgemeine 
Musikalische  Zeitung  verfolgte  auf  Anregung  des  Abt 
Vogler,  des  Lehrers  von  C.  M.  v.  Weber  und  Meyerbeer, 
vom  Anfang  ihres  Bestehens  (1798}  alle  Erscheinungen 
auf  diesem  Gebiete,  die  Sammlungen  und  die  Berichte. 
Die  wesentlichste  Beachtung  erregten  die  Skandinavier. 
Bei  ihnen  nahm  die  Pflege  der  alten  Nationalweisen  zu- 
erst wissenschaftliche  Formen  an,  und  sie  lenkten  diesen 
Schatz  zuerst  in  das  Gebiet  der  Kunst  hintlber.  Kuntzen, 
Weyse,  P.  E.  Hartmann  schrieben  die  ersten  dänischen 
Opern,  Opern,  in  welchen  der  Stofit  der  Handlung  und 
ein  Teil  der  Melodien  vaterländisches  Gut  waren.  1832 
tratP.  Hartmann  auch  mit  einer  Sinfonie,  Gmoll,  hervor, 
die  u.  a.  Franz  Lachner  sehr  beifällig  beurteilte*).  Hier- 
durch angeregt  und  ermuntert,  komponierte  der  junge 
Däne  Niels  G ade  seine  berühmte  Ouvertüre  »Nachklänge 
aus  Ossian« ,  welcher  i.  J.  1843  schon  seine  noch  heute 
N.  Gftd«!  bedeutende  G  moU-Sinfonie  folgte.  ^In  dieser  Sinfonid 
Cmon.Sinfonie.f|^jj^en  die  Kenner  und  die  Freunde  der  nordischen  Poesie 
den  Geist  der  Frithjofsage  und  der  Edda  wieder.  Sie  er- 
schien ihnen  wie  ein  nordisches  Musikepos,  welches  von 
den  alten,  gewaltigen  Recken  und  ihren  Kriegen  und 
Siegen,  von  schlichten  Jägern  und  Hirten  und  ihren  naiv 
frohen  Festen,  von  einer  Natur,  welche  unter  unschein* 
barer  Hülle  intimen  Reiz  barg  und  von  freundlichen 
Elementargeistem  belebt  war,  erzählt  Wie  der  Stoff  neu 
und  poetisch,  so  war  die  Darstellung  liebenswürdig.  Das 
nordüsche  Element  drang  sich  nirgends  äuBerlich  aui^ 
technisch  blieb  es  in  einigen  düsteren  Balladenmelodien 

*)  Angui  H&mmerich:   J.  P.  ß.  Hartmann  (Sammelbünde 
der  IMG.,  II.  Jahrg.  S.  460\ 


497 


und  in  kurzen  Dialogen  der  Bläser  versteckt.  Im  Stile 
der  Komposition  begegnete  man  dem  romantischen  Cha- 
rakter der  Zeit.  Es  war  ein  schöner  menschlicher  Zug 
in  ihm,  daß  er  der  begeisterten  Schilderung  einen  weh- 
mütigen Ton  beimischte,  einen  Ton,  welcher  der  Trauer 
darüber  Ausdruck  zu  geben  schien,  daß  jene  Welt,  die 
in  der  Tondichtung  mit  ihren  Göttern  und  Helden  auf- 
lebte, in  Wirklichkeit  längst  dahingegangen  war.  In 
diesem  Sinne  beginnt  der  erste  Satz  der  Sinfonie  mit 
einem  klagenden  Prolog:  Ein  melancholischer  Flor  liegt 
über  der  liebevollen  Melodie,  die  wie  aus  der  Ferne  wäh- 
rend der  Einleitung  durch  die  Instrumente  zieht. 

üoderato.  Viol. 


fy^  — 


:9c 


^-UllhdJ  'ij  i  i  \uJ  '4^  ^  i  ^g 


V^^/Jjj.   ^    J  '  j,  4    '  -~      Trompeten    das 


Dann  aber  ergreifen  die 

Wort 
und  leiten  eine  -  Szene 
ein,  in  der  sich  rauhe  Kräfte  machtvoll  regen.  Das  Thema 

AUcgIO.  i  B1S4W     ^  J  •      "^      J 


l  =  t 


vioi.j/r  ^  ijT  ^ijPtiS" 


:.~r-'j 


12^U 


1 


m 


^  ,-!■,,  durch  mehrfache  Wiederholungen  ge- 
steigert, bildet  den  Hintergrund  des  Bil- 
des :  Der  Held  tritt  auf  mit  seiner  Schar : 

„-^  Die  Gestalt  ist 

=  uns   aus    der 
~  Einleitung  be- 


Allogrg.  ^„-^       ^—^ 


kannt;  nur  kräftiger  und  fester  steht  sie  hier  vor  uns.  Mit 
diesem  einen  Thema  hat  Gade  den  ganzen  Satz  bestritten, 
bald  rückt  er  ihn  in  die  Feme,  bald  in  einö  düstere,  bald 
in  eine  freundlichere  Beleuchtung,  wendet  ihn  hier  ins 


Kratztchniar,  Führer.    I,  1, 


32 


498 


Träumerische,  dort  ins  Heroische.  Itur  während  der  kurzen 
Durchführung,  in  welcher  der  ^1^  Takt  der  Einleitung  wie- 
der einsetzt,  tritt  ein: 
freundlichsinnendet 
Nebengedanke  ein: 

Als  zweiter  Satz  folgt  ein  Scherzo  (G  dur,  0/a  Takt}. 
Das  Thema  hat  in  der  ersten  Hälfte  nur  rhythmisches 
Leben:  Melodielos,  fassungslos  vor  findiger  Aufregung, 
rollt  es  in  schnellen  Achteln  dahin  —  die  zweite  Hälfte 
bildet  ein  keckes  Zitat  aus  dem  Hochzeitsmarsch  der 
> Sommern achtstraum «-Musik.  Auch  im  Trio  begegnet  sich 
Gade  mit  Mendelssohn.  Seinen  motivischen  Inhalt  bildet  vor- 
wiegend eine  jener  schattenhaft  dahinhuschenden  Figuren, 
dieMendelssohn  vivaea. 
in  den  phanta-  ■j>-j 
stischen  Sätzen  W^ 
einbürgerte :  ''•  v»®*-  ^  ^^^^ 

Der  Nachsatz  treibt  ein  anmutiges  Spiel  mit  Motiven,  die 
der  Natur  abgelauscht  zu  sein  scheinen: 


«t«. 


Der  Kern  des  dritten  Satzes  (Andantino  grazioso, 
Fdur,  8/4)  ist  der  Gegensatz  zwischen  Ernst  und. Freund- 
lichkeit, die  Hauptperiode  verkörpert  ihn  folgendermaßen : 


Andantino. 


Die  kurzenZwischensätze,  welche  die  Wiederholungen  dieser 
Hauptgruppe  auseinanderhalten,  habenden  oben  berührten 
klagenden  Charak-     -     ^'• 


ter  und  ruhen  auf  ff  ^  ^  j  I  ^^  I  j;    '^\  j   j    IjJ    \ 
folgendem  Motive:  p  ^^^/^   ^     ^ 

Ein  Triolenrhythmus,  welcher  zuerst  in   der  Cellofigur 

1^    auftritt  und  dann  durchgeführt 
^fa  wird,  wirft  in  die  zweite  Hälfte 
des  SatzeshellereLichter  hinein 


--#    499    ^^ 

Der  letzte  Satz  beginnt  mit  einem  wahren  Frenden- 
alarm.  Mit  aasgela»*       möUo  AU«gTo.  Im     breiten 

senen  Dissonanzen  j{  ^  J»l  J  •  j^  J  J  J  BJS  Behagen 
setzt  das  Tutti  ein:  ff  ■"  "^ '  "  '  "  "  *  **  wiegt  essich 
J  I J  j  [  J  j  I  -  fast  endlos,  wenn  die  fröhliche,  in 
"  '  "  '  '  ifc  den  Eingangstakten  auf  den  Anfang 
der  Sinfonie  zurückgreifende  und  ein  Schobertsches  Ge- 
sicht tragende  Hauptmelodie  angestimmt  werden  soll: 


Der  Satz  ist  an  selbständigen,  schönen 
Themen  überreich.  Mit  b^8onderer  Wucht 
macht  sich  folgende  Melodie  der  Bläser  geltend: 

i*^fjT\\\  1  II  n.tii^^ri'  jT I 

die  das  gesamte  Streichorchester  mit  breit  ärpeggierten 
Akkorden  wie  mit  mächtigem  Harfenklang  umrauscht. 
Die  außerordentliche  Inslrumentierungskunst,  welche  Gade 
in  der  ganzen  Sinfonie  beweist,  feiert  hier  ihre  stärksten 
Triumphe.  Wenn  die  Trompeten  ihre  fröhlichen  Signale 
in  die  glänzend  kräftige  Szene  hineinwerfen,  welche  um 
den  eben  skizzierten  Gesang  sich  bildet,  da  steht  Bärgers 
»Lenore«  vor  uns:  »Und  jedes  Heer  mit  Sing  und  Sang 
~  Mit  Paukenschlag  und  Kling  und  Klang  —  Geschmückt 
mit  grünen  Reisern  —  Zog  heim  zu  seinen  Häusern  !c 
Besonders  sinnig  empfinden  wir  es,  daß  das  Heldenthema 
aus  dem  ersten  Satze  der  Sinfonie  in  das  Finale  hinein- 
gezogen worden  ist.  Daß  die  Menge  des  poetischen  Stoffes 
in  diesem  Schlußsätze  picht  ganz  bewältigt  worden  ist, 
läßt  sich  nicht  verkennen.  Auch  die  anderen  Sätze  kann 
man  formell  vollendet  nicht  nennen,  besonders  das 
Scherzo  ist  unverhältnismäßig  breit.  Doch  aber  bleibt 
der  Sinfonie  ein  mächtiger  Zug  in  der  Gestaltung  und 
in  ihren  nordischen  Melodien  und  Motiven  ein  originelles 
Element  von  sicherer  und  großer  Wirkung. 

32* 


-^    500    #— 

N.  Gade,  Unter  deii  übrigen  Sinfonien  Gades'  --  es  gibt  im 

B darSinfonie  ganzen  acbt  —  ist  die  vierte  (in  B dur,  1851  veröfifentlicht) 
die  verbreitetste.  Ihr  Scherzo  —  es  hat  einen  Spohrschen 
Zug  im  Hauptsatz  und  zwei  allerliebste  volksmäßige  Me- 
lodien als  Trios  —  ist  der  beliebteste  unter  den  vier  Sät- 
zen.  Im  ersten  Allegro  tritt  das  scherzende  Seitenthema : 

^^^     /j^     ^         und    die    schel- 

'  *    vor  der  letz- 

^     ^^  .  trete.  -— =«         ~    tiou  des  kräf- 

tigen Hauptthema,  im  letzten  Satze  das  rezitativartig, 
zögernd  und  fragend  in  den  Violinen  beginnende  zweite 
Thema  hervor: 


TTf-N 


Es  sind  die  wirklich  eigenartig  gedachten  Stellen  der  Sin- 
fonie. Das  ganze  Werk  ist  von  dem  abgeklärten  Geiste 
milder  Anmut  beherrscht  und  formell  eine  der  reifsten 
Arbeiten  der  neueren  Komposition.  Gleichwohl  steht  sie 
an  geschichtlicher  Bedeutung  hinter  der  weniger  abge- 
rundeten G  moll-Sinfonie  Gades  über  allen  Vergleich  weit 
zurück.  Denn  in  der  späteren  Sinfonie  ist  Gade  ein  her- 
vorragender Vasall  Schumanns  und  Beethovens,  in  jener 
ersten  aber  erscheint  er  als  die  Spitze  und  der  Führer 
einer  neuen  Epoche.  Jene  C  moll-Sinfonie  gab  der  höheren 
Instrumentalmusik  Impulse  von  jgrößter  Bedeutung.  Sie 
lenkte  mit  frischer  Schärfe  den  Blick  auf  die  nationalen 
Lieder  und  Tänze,  und  bewies,  daß  dieser  Schatz  auch 
für  die  großen  Formen  der  Komposition  nutzbar  gemachf 
werden  könne.  Sie  appellierte  an  die  Heimatsliebe  der 
Tonsetzer  in  allen  Ländern  und  leitete  eine  Bewegung 
ein,  die  jedenfalls  zu  den  wichtigsten  Erscheinungen  der 


_^     501     «-- 

• 

neueren  Musikgeschichte  zählt.  War  diese  Bewegung  im 
Liede,  in  der  iüaviennusik  (Field,  Chopin),  in  der  roman- 
tischen Oper  Webers,  Boieldieus,  Aubers  auch  schon  vor- 
bereitet, so  gebührt  Gade  doch  das  Verdienst,  sie  auf 
das  wichtige  Feld  der  Sinfonie  gelenkt  und  da  in  Fluß 
gebracht  zu  haben. 

-    Wir  haben  heute  eine  Reihe  solcher  auf  nationalen 
Elementen  ruhender  Sinfonien  und  sinfonieartiger  Werke, 
von  denen  einige  auch  im  Repertoire  Fuß  gefaßt  haben. 
Der  dänischen  Schule  gehört  zunächst  Emil  HartmannEnU  Hartuftnii. 
an,  dessen  Es  dur-Sinfonie  in  Stil  und  Stoff  unm|tielbar 
an  Gade  anschließt.    In  denselben  Kreis  sind  auch  die 
schon  erwähn teji  Nordischen  Suiten  von  A.  HamerikA.Hftmertk. 
zu  stellen,  welche  allerdings  mit  Mendelssohnschen,  Wag- 
nerschen  und  anderen  Elementen  stark  gedrängt  erschei- 
nen.   Ein  Positives  besitzen  sie  in  ihrem  eigenen  Klang- 
leben, und  dem  Verständnis  kommen  ihre  Überschriften 
entgegen.     Weniger    bekannt   geworden   sind   Hameriks 
Sinfonien,  gleichfalls  fünf,  wie  denn  überhaupt  von  der 
fleißigen  dänischen  Smfoniearbeit  des  letzten  Menschen'- 
alters  nur  wenig   über  die  Landes^renzen  hinaus  ge- 
drungen ist.   Die  Hauptkomponisten  sind:  P^ter  Heyse,  P.  H^yie« 
Aug.  Winding,  Otto  Mailing  (jeder  hat  eine  D moU- a. Wl««»». 
Sinfonie  veröffentlicht), Lange-MüUer  (Herbst-Sinfonie, pj  J."}."!! ;.MiiUei 
Alhambrasuite),  Victor  Bendix  (Sinfonie  »Zur  Höhe«, viBendlz. 
Sommerklänge  aus  Südrußland,  Amoll  -  Sinfonie),  Louis  l.  gia6. 
Glaß,  Fini  Henriques,  Axel  Schiöler  (Sinfonie  Es. f. Hearfqmei. 
Sinfonie  Napoleon  Bonaparte),  Ludolf  Nielsen,  CarlJ-Srhisur. 
Nielsen  und  A.  Enna  (Märchen,  sinfonische  Bilder)*).  JlJjJjJJJJ; 
Verhältnismäßig  am  meisten  sind  davon  die  A  molI-Sin- a]  bbb«.  * 
fonie  von  Victor  Bendix  und  »die  vier  Temperamente« 
von  Carl  Nielsen  beachtet  worden. 

Die  Sinfonie  von  Bendix  ist  im  Sinne  Philipp  Schar-     V.  Bendix, 
wenkas  eine  Sinfonia  brevis,  sie  besteht   nur  aus  dreiAmoll-Sinfonie. 
Sätzen  und  schließt  mit  dem  in  rührender  Resignation      (Op.26.) 


*)  N&beres  in:   Walter  Niemann,   Die  Musik  Skandi- 
naviens.    1906. 


-^    502 

gehaltnen  langsamen  Salz.  Das  beste  und  erfreulichste 
Stack  des  Werks  ist  der  zweite  Satz,  ein  buntes  Scherzo, 
das  den  Niederschlag  von  Landluft  und  Volksleben,  der 
sich  durch  die  ganze  Sinfonie  zieht,  besonders  reich  ent- 
hält Hier  kommt  auch  der  kräftige  und  kühne  Teil  von 
Bendix  klar  zur  Geltung.  Der  erste  Satz  zeigt  ihn  stark 
im  Bann  Mendelssohnscher  Romantik, 
c.  Nieltea,  C.  Nielsens  »Vier  Temperamentec,  einer  der  zahl- 

Vler  Tempera-  reichen  dänischen  Beiträge  zur  Programmusik,  behandeln 
^^  ein  Thema, .  das  schon  bei  den  Anhängern  der  Gattung 

im  18.  Jahrhundert  beliebt  war,  weil  es  sich  wirklich 
musikalisch  bewältigen  läßt  und  weil  es  für  einen  Kom- 
ponisten, der  über  scharfe,  charakteristische  Erfindung  ver- 
fügt, zu  den  leichten  Aufgaben  gefiört  Dieser  Voraus- 
setzung wird  Nielsen  im  ersten  Satz,  wo  er  das  Wetter- 
wendische und  Jähe  im  Wesen  des  Cholerikers  vorzüg- 
lich getroffen  hat,  vollkommen  gerecht,  auch  das  Bild 
des  t^hlegmatikers  mit  seinem  Mangel  an  Beweglichkeit 
und  seinem -Behagen  am  Beschränkten  darf  auf  allge- 
gemeinen  Beifall  Anspruch  machen.  Dagegen  läßt  die 
Auffassung  des  Melancholikers  und  des  Sanguinikers  die 
sichre  Beobachtung  und  die  Energie  in  der  Wiedergabe 
vermissen. 

Die  dänische  Musik  hat  in  Männern  wie  Winding 
und  Mailing  noch  reichere  Talente.  Wenn  von  ihren  Sin- 
fonien das  Ausland  gar  nicht  erst  Notiz  genommen  hat 
80  erklärt  sich  das  daraus,  daß  schon  bald  nach  den 
Erfolgen  Gades  die  Nachbamationen  der  Dänen  den  Wett- 
bewerb um  die  Vertretung  des  nordischen  Elements  in 
der  Tonkunst  aufnahmen:  Schweden,  Norweger,  Russen, 
Finnen.  Von  diesen  Ronkurrenten  gewannen  die  in  allen 
Künsten  regen  Norweger  für  längere  Zeit,  dank  den  Ar- 
beiten Svendsens  und  Griegs  den  Vorsprung. 

Jener  hat  die  ersten  Norwegischen  Sinfonien  ge- 
schrieben, dieser  seine  Heimat  in  der  Klaviermusik,  im 
Lied  und  der  Orchestersuite  aufs  glänzendste  vertreten. 
Die  von  ihnen  geführte  »jungskandinavische  Schule«  hat 
sich  zum  Teil  in  bewußte  Opposition  gegen  die  sanftere 


-  ^     503 

Weise  der  Dänen  gestellt,  zjam  Teil  aber  beruht  die  Ver- 
schiedenheit beider  Schulen  auf  den  benutzten  Quellen. 
Pie  dänischen  Volksweisen  haben  vorwiegend  einen 
ernsten  und  strengen  Charakter;    in  ihrer  technischen  * 

Struktur  sind  sie  jedoch  vorwiegend  abendländisch.  Die 
skandinavischen  Melodien  hingegen,  an  welche  Grieg  und 
Svendsen  anknüpfen,  weisen  auf  ein  fremdes  Tonsystexn 
hin,  das  sich  abseits  des  großen  europäischen  Runst- 
stroines  entwickelt  hat.  Stellt  man  sie,  wie  es  die  ge- 
nannten Tonsetzer  tun,  in  unser  bekanntes  Harmonie- 
gebäude ein,  so  zwingen  sie  zu  einer  freieren  Behandlung 
der  Dissonanz,  zu  manchem  grellen  Wechsel  zwischen 
Dur  und  Moll  und  zu  Akkordfolgen,  welche  uns  unge- 
wohnt berühren.  Sie  repräsentieren  eine  eigentümliche 
Empfindungswelt,  in  welcher  das  Träumerische  einen 
breiten  Raum  einnimmt.  Ein  starker  Schatten  von  Me- 
lancholie liegt  in  der  Regel  auch  noch  über  den  kurzen  , 
Tanzweisen,  an  welchen  der  norwegische  Tonschatz  be- 
sonders reich  ist.  Sie  bilden  Idyllen,  in  welchen  zu  dem 
ergötzlichen  Moment  auch  ein  rührendes  hinzutritt  Es 
liegt  in  der  Beschränktheit  der  melodischen  und  rhyth- 
mischen Kreise,  in  welchen  sich  ihre  Munterkeit  bewegt 
In  diesem  Punkte  berühren  sie  sich  mit  der  slavischen 
Volksmusik. 

Svendsen  gibt  namentlich  in   seiner  Ddur-Sinfo-j.  s.  gTABdMii, 
nie  bezeichnende  Proben  von  den  Formen   und  auch  ^  <J»'-Siafonie 
von    der   Seele    seiner   heimatlichen   Volksmusik.     Das       ^^'  *^- 
Uauptthema  des  ersten  Satzes  ruht  in  seinem  Grund- 
motiv    auf    einer         XoUo  AUee^ro. 
kurzen     skandina-    j^^  if.  f  p  f  |  f  p  ^  ^'  P  f  1 1   f=^ 
vischen  Tanzweise:    ** 

Das  zweite  Thema,  eine  suchende  und  sehnende  Gestalt, 
bildet  gegen  die  drängenden  und  heftigen  Elemente  dieser 
fröhlichen  Melodie  einen  sehr  starken  Kontrast  Es  be- 
steht nicht  aus  einer  einfachen  Melodie,  sondern  aus  einer 
Gruppe  melodischer  Sätzchen,  unter  denen  das  Motiv 

für  die  Entwickelung  des  Satzes 
die    Hauptrolle   übernimmt.     Der 


504 


I 


Entwurf  des  Satzes  zeigt  großes  Naturtalent,  besonders 
Geschick  fOr  Kontrastwirkungen,  aber,  mit  Ausnahme  das 
Kolorits,  nur  eine  geringe  Kunst.  Heute  ermüden  uns 
die  ewigen  Wiederholungen  unanfgelGster  Septimen  und 
andrer  skandinavischer  Eigenheiten. 

Ähnlich  ist  es  mit  dem  Andante  der  Sinfonie,  ob- 
wohl es  in         Andaate. ^ ^und  in  etli- 

dem Haupt-  jfiV  j}  J  J  U  J  ^  ^  ^'  ',h-^  ^  -^  ^^^^^'^  seiner 
thema:  ^  ~  v  *  ^-*ic=::  ==.i  "  ^^'  Variationen 
Stellen  von  besondrer  Schönheit  hat.  Der  lebenskräftigste 
Satz  der  Sinfonie  ist  der  dritte,  ein  Allegretto  scherzando, 
einmal  weil  er  in      i  ,  i       ^w.     j»      und  The- 

Motiven: 


semen 


men: 


^  *i^*  ^^  .    ^^^    den  nordi- 

und  ^Trr,  j  lljf-f  |-f  I    f  |ttC:£ffe8chenCha- 
^^  rakter  am 

entschiedensten  ausprägt,  dann  durch  die  Festigkeit,  mit ' 
welcher  der  Komponist  die  zahlreiche,  bunte  Schar  der 
Einfälle  rondomäßig  zusammenhält  Damit  bietet  Svend- 
sen  eine  unerwartete  und  exemplarische  Probe  von  Form- 
beherrschung. 

Das  Finale  beginnt  mit  einer  Einleitung.    Alle  The- 
men sind  nordisch.    In  der  Durchführung  überwiegt  die 
Arbeit  die  Phantasie.    Ein  sehr  schöner  Moment  der  In- 
spiration ist  der  Eintritt  des  zweiten  Themas.   Er  gebietet 
den  Wolken,   und  siehe:  es  erscheint  ein  freundlicher 
Stern.    Daß  dieses  zweite  Thema  nichts  anderes  ist,  als 
die  Melodie  der  Einleitung,  nur  in  schnellerem  Gang, 
hebt  nur  die  Wirkung, 
j.  s.  SrfBdueii,        Die   zweite  Sinfonie  Svendsens   (B  dur)  beruht  auf 
Kdur-Sinfonie.  einem  tieferen  Stimmungsgrunde  als  seine  erste.  In  allen 
<0p.  15).        ihren  Sätzen  lauert  die  Schwermut,  und  noch  im  Finale 
wechseln  die  Momente  des  gewaltsamen  Aufraffens  der 
Kraft  mit  Augenblicken  gänzlicher  Verzagtheit.    Am  frei- 
esten  von  trüben  Anwandlungen  hält  sich  der  dritte  Satz. 


f 


-^     5()5     %^ 

eine  als  Intermezzo  bezeichnete  Pastoraldichtung,  die 
Beethovensch  beginnt  und  dann  ganz  in  dem  nordischen 
neckischen  nnd  kindlichen  Schalmeienton  aufgeht.  Auch 
der  erste  Satz  hat  eine  ausgeprägt  norwegische  Melodie 
in  seinem  zweiten  Thema,  welches  in  diesem  Satz  die 
Rolle  des  guten,  tröstenden,  mit  Heimats-  und  Jngend- 
bildem  zusprechenden  Geistes  übernimmt.  Im  Andante, 
das  manchen  Brahmsschen  Zug  enthält,  hat  der  freund- 
liche Gegensatz  in  einem  kurzen,  immer  repetierenden 
—  oft  bescheiden  versteckten  —  Achtelmotiv  einen  rüh- 
rend naiven,  unschuldigen  Ausdruck  gefunden.  In  der 
Form  reifer  als  die  Ddur-Sinfonie,  zeigt  sich  Svendsen  - 
in  der  zweiten  Sinfonie  doch  weniger  originell.  Auch 
Schumann  (im  ersten  Satz)  und  Schubert  (im  dritten} 
gehören  zu  den  Komponisten,  deren  Einfluß  bemerkbar 

wird. 

Von  den  Orchestersuiten  Edv.  Griegs  darf  man  die     Kdr.  Grieg, 
ältere,  >Au8  Uolbergs   Zeitc   (op.  40),  kaum  in  die  »Aus  Hoiberg« 
Klasse  der  nationalen  Musik  stellen.    Sie  hat  nur  in  der         ^®^^*- 
Musette  und  im  Rigaudon  einige  spärliche  skandinavische 
Töne.    Aber  das  Werk  ist  unter  allen  den  neuen  Suiten, 
welche  den  Geist  des  18.  Jahrhunderts  heraufzubeschwören 
suchen,  eins  der  liebenswürdigsten.    Es  wählt  die  kopie- 
renden Mittel  mit  allzuviel  Beschränkung,  esrentfemt  sich 
in  seiner  Leidenschaftlichkeit  vom  Wesen  der  alten  Kunst; 
aber  es  ersetzt  das  alles  durch  die  poetische  Kraft,  welche 
die  knappen  Formen  erfüllt. 

Zwei  Suiten  Griegs  sind  der  Musik  entnommen,  die  Edv.  Ories, 
er  für  den  Versuch  einer  Bühnenaufführung  von  Ibsens  »Peer  Gynt<  i 
»Peer  Gynt«  geschrieben  hat  Diese  beiden  Orchester- 
suiten zu  Peer  Gynt  haben  somit  einen  ähnlichen  Ur- 
sprung wie  Bizets  Suiten  zu  TArl^siAine;  sie  können 
sich  mit  ihnen  auch  an  künstlerischer  Bedeutung  sehr 
wohl  messen,  sind  ihnen  an  Stärke  des  Nationalklangs, 
an  Reichtum  der  Empfindung  und  an  Einfachheit  sicht- 
lich überlegen.  In  letzter  Beziehung  darf  man  diese 
Griegschen  Kompositionen  sogar  für  ein  Ideal  vornehmer 
Orchestermusik  erklären.     Was   das    nordische   Kolorit 


506 

betrifft,  so  sind  in  diesem  Falle  die  eignen  starken  An- 
lagen und  Neigungen  des  Komponisten  noch  durch  die 
Dichtung  befrachtet  worden.  Lebt  doch  im  Peer  Oynt 
die  ganze  nordische  Natur;  ja:  in  dem  mit  überreicher 
Phantasie  ausgestatteten  Helden  hat  Ibsen  dem  norwe- 
gischen Volk  ein  Spiegelbild  vorhalfen  wollen. 

Der  erste  Satz  der  ersten  Suite  (op.  46)  heißt  Mor- 
genstimmung und  soll  wohl  den  zweiten  Aufzug  des 
dramatischen  Gedichts  eiRleiten,  in  dessen  erster  Szene 
Peer  mit  der  geraubten  Ingrid  bei  Tagesanbruch  ins  Ge- 
birge schreitet.  Die  Komposition  hat  durchaus  Pastoral- 
charakter.   Ihr  Haupthema: 


Anegr»tto  paatorale.  V'r 


P 

wechselt  lange  Zeit  zwischen  Flöte  und  Oboe  mit  ver- 
änderter Harmonie.  Die. beiden  Instrumente  gemahnen 
an  die  Hirten  des  Hochgebirgs,  die  von  Höhe  zu  Höhe 
sich  musikalisch  unterhalten.  Mittlerweile  ist  die  Sonne 
höher  gestiegen,  und  nun  kommt  die  Melodie  in  dem  vollen 
Glänze,  den  das  Unisono  des  gesamten  Streichorchesters 
(Bässe  ausgenommen)  geben  kann,  wenn  fortä  vorgeschrie- 
ben ist.    Eifl  kleiner  .--— — -^      r».^  ^.^ 

Z^schensatz,  der  in  .^iJ..  f  f  ■  ff.  ,  f  f  ft-r^ 
Cismoll  einsetzt,  läßt  ^Ff »  »  » '  |  '  '  |  ■  I  t^  j^ 
über  das   Cellomotiv  ^  /  V^^     f 

gewissermaßen  die  Lichter  auf  dem  Morgenbilde  wechseln: 
es  dunkelt,  es  hellt  sich  wieder  auf,  es  herrscht  reges 
Leben  am  Himmel  und  in  den  Farben  der  sonnentrunk- 
nen  Flur.  Mit  dem  Hörn,  das  das  Pastoralthema  wieder 
intoniert  (in  Fdur),  kehrt  die  ruhige  Stimmung  des  An- 
fangs zurück;  nur  ein  wenig  reicher  fühlt  sich  das  Herz. 
Die  voll  dahinströmenden  Kontrapunkte  in  Bläsern  und 
Geigen  sagen  es.  Knapp  vor  dem  Schluß  legt  der  Kom- 
ponist noch  eine  zart  muntre  Episode  ein.  Die  neuen 
Motive  der  Homer,  die  Triller  der  Holzbläser  skizzieren 
ftine  intime  Szene  aus  dem  Ti«»rlpbpn. 


-^     507     f^ 

Der  zweite  Satz  illustriert  Ases  Tod.  Die  Matter 
Peer  Gynts  stirbt  einen  schönen  sanften  Tod :  mitten  iAi 
Aufbau  von  Luftschlössern  schläft  sie  schnell  und  ruhi^ 
ein.  Das  deutet  die  Musik,  die  nur  für  Streichorchester 
bestimmt  ist,  wohl  an.  Der  erste  Teil  bringt  das  freund- 
lieh  sehnsuchtsvolle  Lied 

in  einem  crescendo,  das  über  Fismoli  nach  Hmoll  zu- 
rück und  ins  fortissimo  führt  Es  gibt  gewissermaßen  ein 
Bild  von  dem  letzten  Glück  der  Toten,  die  in  Träumen 
ihre  schönsten  und  immer  kühneren  Wünsche  befriedigt 
sah.  Der  zweite  Teil  leitet  mit  einer  Umbildung  der 
Liedweise 


in  den  Ton  der  Trauer  ein.  Der  kurze  Satz  ist  eine 
wirklich  geniale  Leistung  eines  mit  der  Harmonik  spie- 
lenden  Meisters,  und  es  läßt  sich  nicht  ahnen  und  nicht 
beschreiben,  wieviel  Tiefes  Grieg  den  ersten  drei  Noten 
des  Lieds  abgewonnen  hat 

Der  dritte  Satz,  »Anitras  Tanz«  betitelt,  bringt  uns 
nach  Marokko,  wo  Peer  Gynt  in  der  Oase,  im  Zelte  eines 
Araberhäuptlings  weilt,  dessen  Tochter  Anitra  mit  andren 
Mädchen  den  für  den  Propheten  gehaltnen  Fremdling 
durch  Tänze  und  Spiele  zu  ehren  und  zu  erheitern  sucht. 
Die  knapp  gehaltne  und  wieder  nur  für  Streichorchester 
komponierte  Nummer  hat  einen  Hauptsatz  über  das 
Thema 

Tempo  41  Mawgkfc.  ^^.«^  ^-^ 

I  f  I  r/r  F  I  -'^ 

das  nach  einigen  Takten  Akkord  gebender  Einleitung  in 
der  ersten  Violine  zierlich  trippelnd  und  mit  bestrickend 
anmutiger  Bewegung  einsetzt.   Die  Melodie  geht  schon  am 


? 


Schluß  der  ersten  Periode  in  ein  verwirrendes  Figureu- 
spiel  ttber,  und  diesem  Abschnitt  folgt  der  zweite  Teil  mit 
j    a<^  _f^  .  j^r^_  ^      Hl  .  _      M^*  diesen  schmach- 
ff   r    P  ff  I  f'  PTi   I    r '  I  T—  tendenMotivenwech- 
*^  P   »^  uj  .  ;j        ^^^"^    sai—        geln  prickelnde  pizzi- 
cato-Stellen.    Dann  kommt  der  Hauptsatz  wieder,  aber 
mit  gesteigerten  Reizen.   Seine  Melodie  wird  zum  £anon 
zwischen  erster  Violine  und  Bratsche.    So  gibt  der  Kom- 
ponist ein  Bild  von  den  immer  stärker  wirkenden  Künsten 
der  raffinierten  Beduinen tochter,  an  die  ja  im  Drama 
Peer  Gynt  sein  Herz  ernstlich  verliert,  um  Hohn  und  Spott 
zu  ernten. 

Der  vierte  Satz,  mit  dem  Titel  >In  der  Halle  des 

Bergkonigsc,  ist  ein«  Variationenreihe  tkber  das  Thema; 

Alla  marol*  molto  nttetto.  Jsias. 


Es  kommt  zuerst  ganz  leise  in  den  Kontrabässen,  geht 
von  ihnen  an  die  Fagotte,  wechselt  in  veränderter  Tonart 
längre  Zeit  zwischen  beiden  Instrumenten;  dann  betei* 
ligen  sich  die  Violinen  und  lösen  sich  mit  den  obem 
Holzbläsern  ab.  Der  Tanz  wird  lauter,  schneller  und  gibt 
das  Bild  eines  Behagens,  das  bis  zum  Fanatismus  an- 
wächst. Die  Variationen  entwickeln  sich  mit  einem 
Minimum  von  Kunst;  es  sind  nur  Wiederholungen.  Aber 
gerade  dieses  Einerlei  erhöbt  die  Wirkung  der  Dynamik, 
die  Beharrhchkeit  rückt  wie  leibhaftig  auf  uns  los,  und 
schließlich  ist  der  Eindruck  elementar  und  beängstigend. 
Grade  mit  dieser  Art  von  Kunst  haben  die  Skandinavier 
und  Slaven  ein  frappantes  neues  Element  in  unsre  euro- 
päische Musik  eingeführt  und  ihren  Vorrat  an  Natura- 
lismus gewichtig,  vielleicht  auch  gefährlich  vermehrt. 
Grieg  kann  hier,  wie  auch  bei  seinen  norwegischen 
Tänzen  fürs  Klavier  für  sich  das  Verdienst  in  Anspruch 
nehmen,  ein  interessantes,  nicht  gewöh9liches  Thema 
gewählt  zu  haben  und  mit  den  Wiederholungen  nicht 
übers  Maß  gegangen  zu  sein.  Mit  genialem  Takt  hört 
er  zur  rechten  Zeit  auf. 


-  -^ 


509 


Die  zweite  Suite  Griegs  zu  Peer  Gynl  {op.  66).  bringt  ^^^»  öri«g. 
als.  ersten  Satz  eine  Komposition, die  überschrieben  ist  »PewGynttn 
>  D  er  Brantraub«.  Peer  Gynt  hat  als  der  Tollkopf,  der 
er  ist,  als  er  das  Elternhaus  verlassen,  aus  dem  ersten 
Dorf,  in  das  er  kam,  bei  einer  Bauernhochzeit  die  Braut 
geraubt  und  ins  Gebirge  entführt.  Die  Musik  zeigt  uns 
nun  das  Entsetzen,  die  Wut  der  Hochzeitsgesellschaft,  als 
sie  bemerken,  daß  Ingrid  verschwunden  ist,  in  einigen 
Takten  wilden  Allegros.  Dann  rufen  sie  wohl  nach  ihr; 
aber  nur  dumpfe  Horntöne,  Laute  unempfindlicher  Natur 
kommen  zurück.  Ein  Andante  doloroso  führt  uns  darauf 
zu  der  Geraubten,  die  eine  lange  Klage  singt.  In  den 
tiefen  Saiten  der  Violinen  gespielt,  haben  diese  Klage- 
melodien ein  außerordentlich  individuelles  Gepräge',  sie 
lassen  an  ein  stolzes  Gesicht  denken,  und  zugleich  sind 
sie  in  einzelnen  Wendungen  sehr  rührend. 

Der  zweite  Satz,  Arabischer  Tanz  überschrie- 
ben, führt  uns  noch  einmal  in  die  Szene,  zu  der  in  der 
ersten  Suite  Anitras  Tanz  gehörte.  Während  sich  aber 
in  diesem  die  Häuptlingstochter  allein  in  den  Künsten  der 
Koketterie  erging,  haben  wir  hier  eine  ganze  Mädchen- 
schar vor  uns  und  zwar  mit  ausgeprägten  Rassenzügen, 
die  sich  namentlich  in  den  Rhythmen  der  Musik  äußern. 
Der  Anfang  des  Themas  vom  Hauptsatz  gibt  davon  mit 
den  Schlußnoten  eine  kleine  Probe: 

AI  lehret  to  vivarce.  J*  =  iss 


Zur  Melodie  gehört  in  diesem  Falle  notwendig  der 
sclmlle  Klang  des  Piccolo,  um  den  anmutigen  Teil  des 
Bildes  auch  mit  dem  abstoßenden  zu  vervollständigen. 
Mischcharakter  ist  dem  ganzen  Satze  eigen:  den  weichen 
Tönen  treten  fortwährend  wilde  auf  den  Fuß.  Sehr  schön 
zeichnet  der  Mittelsatz,  den  das  Streichorchester  allein 
spielt  (nur  Triangel  kommt  noch  dazu),  wie  aus  dem  Kreis 
der  Mädchen  eine  Schöne  heraustritt  und  mit  Tönen  des 
Gemüts,  mit  Geberden  der  Innigkeit  den  Helden  lockt. 


510 


Diese  Szene  wird  auf  einen  Augenblick  durch  den  Chor 
unterstützt,  der  sich  in  zierlichen  und  reizenden  Ballet- 
weisen  bewegt 

Um  den  dritten  Satz  zu  verstehen,  muß  man  das 
Ibsen^sche  Gedicht  kennen.  Die  Überschrift  der  Nummer: 
»Peer  Gynts  Heimkehr«,  erklärt  nicht  den  Charakter 
der  Musik.  Heimkehr  gilt  gewöhnlich  fftr  ein  freudiges 
Ereignis;  Peer  Gynt  wird  aber  hier  schlimmer  empfangen 
als  der  verlorne  Sohn:  mit  einer  düster  erregten,  mit 
einer  tobenden  Musik.  Ibsen  läßt  seinen  Helden  als 
Schiffbrüchigen  heimkehren,  und  Grieg  malt  den  Seesturm, 
dem  das  Fahrzeug  an  der  heimischen  Küste  zum  Opfer 
fällt  Der  Komposition  liegt  darnach  ein  ganz  ähnliches 
Programm  zu  Grunde,  wie  R.  Wagners  Ouvertüre  zum 
>FUegenden  Holländer«.  Mit  ihm  begegnet'  sich  Grieg 
auch  thematisch,  namentlich  der  Quintenfall  in  semem 
Hauptmotiv  bildet  eine  für  jeden  bemerkbare  Ähnlichkeit: 

Altom  a«lta*o.  Jrisa^      .  ^      ^*«  ^^^^^  ^»^«^  "^^^ 

♦      E  g      der  Gehöreindruck  des 

L  ^  r  r  =  durch  die  Segel  und 
Taue  pfeifenden  Stur- 
mes für  alle  Musiker  nahezu  derselbe  ist  Das  ist  ein 
Klang  der  unten  ansetzt  und  springend  sich  nach  oben 
immer  mehr  zuspitzt  Dann  grollt  und  wühlt  es  an  einer 
andren  Schiffsseite  wieder,  scheinbar  ruhiger: 


So  spielen  die  Elemente  lange  mit  dem  armen  Fahrzeug 
ihr  grausames  Spiel  Dann  wird  die  Lage  verschlimmert. 
Das  Wetter  heult  in  langen  Zügen,  in  bösartigem  Zischen: 


Diese  greuliche  Figur  klingt  in  allen  Registern;  nach  den 
Flöten  durchläuft  sie  die  Kontrabässe.    Erst  dann  und 


— ♦    611    4^ 

wann  auf  eines  Viertels  Pause  absetzend,  nimmt  sie  sich 
im  weiteren  Verlaufe  gar  ikeine  Zeit  mehr,  wtktet  ärger 
und  ärger;  schließlich  saust  sie  in  ganzen  chromatischen 
Chören  einher.  Einige  starke  (fff)  Akkorde,  Takte  lang' 
ausgehaltcn,  bedeuten  die  Katastrophe,  den  Untergang 
des  Schiffes.  Noch  eine  Zeitlang  sietzt  sich  das  Toben 
fort,  dann  wird  es  schwächer  und  schwächer.  Stille  tritt 
ein,  und  nachdem  die  Schilderung  beendet  ist,  fügt  der 
Komponist  als  Dichter  eine  kurze,  aber  ergreifende  Klage 
hinzu,  die  den  Holzbläsern  gegeben  ist.  Was  Realistik 
und  Naturtreue  betrifft,  wird  man  den  Satz  unter  den 
neueren  musikalischen  Gemälden  vom  Meer  mit  den 
Arbeiten  Gilsons  und  Debussys  zusammen  eine  hervor- 
ragende Stelle  einräumen  müssen. 

Der  vierte  Satz  der  Suite  heißt  >So]yejgB  Lied«. 
Solvejg  ist  die  Jugend  geliebte  des  Landfahrers  —  als 
alter,  verkommener  Mann  trifft  er  sie  nun  wieder.  Das 
Lied,  das  sie  ihm  singt,  hat  ausgeprägt  norwegischen  ' 
Charakter  in  den  Schlüssen  des  Mollsatzes  und  ist  sehr 
ernst.  Soll  es  doch^  nach  des  Dichters  Ansicht  symbo- 
lisch den  Tod  bedeuten.  Mit  dem  Hauptsatz  (in  Amoll, 
wechselt  ein  Nebensatz  (A  dur)  von  freundlich  anmutigem 
Charakter,  an  Jagend  und  an  Tanz  erinnernd.  Die  Kom- 
position hat  auch  als  Lied  für  eine  Stimme  mit  Klavier- 
begleitung weite  Verbreitung  gefunden. 

Die  nächste  Veröffentlichung  Griegs,  sein  Opus  66  ent-      Ed.  Grieg, 
hält  drei  Stücke:  Vorspiel,  Intermezzo,  Huldigungsmarsch  »SigurdJorsaiiar«. 

aus  einer  Komposition  zu  BjOrnsons  Schauspiel:  Sigurd 
Jorsalfar.  Das  Vorspiel  und  das  Intermezzo  sind 
beide  sehr  kurz  und  einfach.  Jenes,  das  noch  den  Neben- 
titel hat:  »In  der  Königs-  ^  ^  AU«gT6tto  sImpUoe.cJsM.) 
halle.,  ruht  im  Haupt-  jM  ■  ,  ,-|  ,  ,  |^^ 
satz    auf    einem   Motiv  ^  'sJ  \J  ^ 

dessen  humoristischer  Charakter  noch  dadurch  wesent- 
lich verstärkt  wird,  daß  an  seinem  Schluß  die  Bä.<»e  wie 
verlegen  und  versehentlich  ins  Leere  nachschlagen.  Mit 
dem  Eintritt  der  Violinen  nimmt  der  Satz  aber  einen 
sehr  glänzenden,  ungefähr  den  Charakter  eines  Hoffestes 


512    %^ 

au.  Die  Mitte'  der  Nummer  füllt  eiti  Dialog  zwischen 
ITlöte  und  Oboe,  dann  zwis^en  Klarinette  und  Fagott, 
in  dem  mit  elegischen,  sinnigen  Gedanken  kunstvoll  ge- 
spielt wird.  Das  Intermezzo  gibt  Einblick  in  eine  edle 
Seele  zu  kritischer  Stunde.  Es  besteht  aus  einem  Andante, 
das  nachdenklich  über  ernste  Motive  brütet,  und  einem 
düster  aufgeregten  Allegro,  in  dem  der  Schrecken  haust. 
In,  veränderter  Form  kehrt  nach  ihm  das  Andante  wieder. 
Der  Huldigungsmarsch  setzt  gleich  ungewöhnlich 
und  ähnlich  wie  Mendelssohns  »Hochzeitsmärsch«  alar- 
mierend ein:  die  Trompeten  holen  fröhlich  und  munter 
das  Orchester  herbei,  und  dies  fällt  mit  einer  Dissonanz 
^in,  die  sich  natürlich  gleich  auflöst,  aber  doch  einen 
Augenblick  das  festlich  gestimmte  Gemüt  in  Verwirrung 
bringt.  Als  Hauptthema  seines  Marsehes  gibt  Grieg  fol- 
gende Weise 

ifi'  fi  IUI  rrnn  niH  i  \T\  i 

die  zuerst  von  einem  Quartett  von  Gellis  gebracht  und 
dann  mit  manchen  überraschenden  Wendungen  ent- 
wickelt wird.  Außerordentlich  belebend  ist  der  Eintritt 
des  Zwischensatzes.  War  die  Musik  bis  dahin  kräftig, 
so  springen  jetzt  ganz  plötzlich  die  Bässe  wie  Riesen 
auf  und  führen  eine  Weile  das  Orchester,  das  gleich 
darauf  von  den  Trompeten  und  Hörnern  in  einen  außer- 
ordentlich fröhlichen  nnd  volkstümlichen  Alarm  gebracht 
wird.  '  Die  Stelle  wirkt  wie  der  Anblick  einer  unwillkür- 
lich in  Jubel  ausbrechenden  Menge.  Und  als  nun  das 
Hauptthema  wieder  aufgenommen  wird,  hat  Grieg  noch 
eine  Überraschung:  Es  setzt  als  Maestoso  mit  verlänger- 
ten Rhythmen  ein,  ähnlich  wie  Dvorak  zuweilen  seine 
Motive  in  Vergrößerung  bringt.  Das  Trio  hat  bei  aller 
Einfachheit  der  Melodien  durch  die  Harmonie  viel  Tiefe, 
so  daß  der  Marsch  als  Ganzes  als  eine  der  gehaltvollsten 
neueren  Arbeiten  seiner  Gattung  angesehen  werden  muß. 


— ♦    513    ^^ 

Eine  vierte,  eine    »lyrische  Suite«  Griegs   ist  wenig 
bekannt  geworden. 

Voi.  den  jüngeren  Mitarbeitern  Griegs  hat  am  meisten 
Christian  Sinding  die  Aufmerksamkeit  anf  sich  ge-  Ckr.  Slndlmf, 
lenkt,  zunächst  mit  einer  Dmol!- Sinfonie  (op.  21),  diel>'no"-Stafonia 
an  einigen  der  ersten  deutschen  Konzerte  zur  Aufführung 
gelangt  ist.  Der  vorher  namentlich  durch  ein  Quintett 
für  Klavier-  und  Streichinstrumente,  auch  durch  Kon- 
zerte für  Klavier  und  Violine  bekannt  gewordene  Kom- 
ponist legte  mit  dieser  Sinfonie  seine  verhältnismäßig 
reifste  und  selbständigste  Arbeit  vor.  Immerhin  steht 
sie  noch  allzustark  unter  dem  Einfluß  R.  Wagners  und 
beruht  mehr  auf  Kombination  als  auf  Inspiration.  Ihren 
stärksten  individuellen  Zug  hat  sie  in  dem  dramatischen 
Ton  des  Vortrags;  namentlich  wenn  es  gilt,  im  Lauf  eines 
Satzes  ein  neues  Bild  einzuführen,  wird  sie  schwunghaft 
und  setzt  in  ungeduldige  Spannung.  In  der  Anlage  der 
Sinfonie  zeigt  sich  ein  ernster  künstlerischer  Charakter:' 
die  Sätze  stehen  sichtlich  und  auch  äußerlich  erkennbar 
im  Zusammenhang.  Die  Grundidee  des  Ganzen  ist,  unge- 
ffthr  in  einem  Tonbild  zu  zeigen,  wie  eine  gesunde,  selbst- 
bewußte Natur  den  Lebenskampf  führt  und  gewinnt. 

Der  erste  Satz  schildert  Kampf.    Sein  Hauptthema, 
dessen  Vordersatz  folgendermaßen  lautet: 

A]l«gro  modorato. 


^ 


spricht  reckenhaften  Trotz  aus.  Ihm  folgt  ein  Abschnitt 
der  Sammlung.  Die  Streichinstrumente  bringen  im 
großen  Unisono  das  frohgemut  und  kraftvoll  ergänzende 
Zwischenthema 


4ji-/Ji'j.3Ji.U.  ^' 


■  M    ■  j       I         I    Und  nun  kommt  das 

J-^^4  Ji  I  ^Ji   I    zweite     Hauptthema 

wff        des       Satzes,      das 


Krfttziebmftr,  Fahrtr..  I.  1  33 


_-»    514    *^ 

t 

schon  in  ■  j ,  ■       _  ■ii  i  .  ■  ■  i        ^*^  Gefühl  and  die 

seinem  g^  j.  J"JJ  N^J.?J  (,^  Gewißheit  glück- 
Anfang: '     .P    -^"^    s:»-  licher  Zukunft  aus- 

drückt. Diese  Stimmung  wird  längere  Zeit  festgehalten, 
sie  schäumt,  als  die  Geigen  sich  des  Themas  bemächtigt 
haben,  brausend  auf;  aber  wie  im  Schrecken  über  das 
Obermaß  bricht  der  Jubel  plötzlich  (auf  b-^-f-gia)  ab,  und 
bald  sind  wir  in  der  Durchführung.  An  ihrem  Anfang 
bringt  Sinding  seine  beiden  Hauptthemen  zugleich,  das 
erste  in  den  Violinen,  das  zweite  in  den  Bläsern;  beide 
leise.  Dann  gewinnt  die  Kampfessthnmung  die  Ober- 
hand, schließlich  arbeitet  sie  fast  nur  noch  mit  Rhythmus. 
Eine  Stelle,  an  der  alle  Instrumente  auf  dem  Ton  /'pochen 
und  verschnaufen,  bezeichnet  die  Umkehr,  bald  beginnt 
die  Reprise.  In  ihr  zeichnet  sich  der  Eintritt  des  zweiten 
Themas,  das  jetzt  in  Ddur  steht,  merkbar  aus:  atemlos  er- 
wartet, klingt  es  geheimnisvoll  dahin.  Mit  dieser  Wendung 
ist  der  Endeindruck  des  Satzes  bestimmt:  er  spricht  Sieges- 
gewißheit aus.  Sie  zu  betonen,  führt  der  Komponist  in 
einem  Schlußanhang  noch  ^^  t  .  .  _  .  .  _ 
einen  neuen  Gedanken  ein,  y  p  J^J  Ji  3  I  J  ff~f '  j 
der  sich  von  dem  Anfang 

aus  in  einer  jener  stattlichen  Steigerungen  ergeht,  die 
wir  bei  Sinding  häufig  treffen.  Endgültig  geschlossen  wird 
mit  dem  Zwischen thema,  also  mit  dem  Ausdruck  der 
inneren  Kraft  und  des  Selbstvertrauens. 

Der  zweite  Satz  (Andante,  3/^,  Gmoll)  ist  der 
Ruhe,  dem  Frieden,  dem  behaglichen  Träumen  ge- 
widmet.        ^        Andante.  ,^  ,^ 

Er  be«i.  a)  (\U\\  [3  I  Ü  H  ■  I^TJ  ■  '  I  -«> 
6)  •  jft'- j  I  ^-I^J.I  iC^^q-l  ein  Thema 

vor,  das  einer  Volksweise  gleicht  und  wohl  eine  patrio- 


-^    515    «^ 

tische  Tendenz  hat.  Die  Darstellung  hält  lange  Zeit  an 
diesem  Gedanken  fest.  Sie  gibt  ihm  im  Laufe  der  Ent- 
wicklung einen  glühenden  Ausdruck,  einmal  auch  einen 
seltsamen.  Es  handelt  sich  um  die  Stelle,  wo  nach  einer 
langen  Reihe  von  Sequenzen  über  das  von  den  ersten 
zwei  Takten  gebildete  Glied,  der  verminderte  Septimen- 
akkord {ets-e-g-b)  dem  Ausbruch  der  Freude  und  Begeiste- 
rung ein  plotzhches  Ende  macht.  Da  blasen  zunächst 
die  beiden  Fagotte  sehr  gefühlvoll  allein.  Und  dann 
folgt  ein  Abschnitt,  in  dem,  nur  von  der  Pauke  und 
den  Kontrabässen  begleitet,  die  Tuba  und  zwar  pp 
das  Thema  vorträgt.  Die  Stelle  hat  etwas  mystisch 
Groteskes.  Mit  Zuhilfenahme 
eines  weitren  nordischen  Mo- 
tivs stürmisch  fröhUcher  Natur: 
schließt  das  Tonbild  als  Szene  der  Freude.  Ganz  am 
Ende  wird  es  aber  plötzlich  stille,  und  wir  hören  noch- 
mals, wie  verschleiert,  jenen  übergreifenden,  in  die  Zu- 
kunft, in  die  Feme  hinausweisenden  Gedanken,  den  zu- 
erst das  Hörn  als  Thema  b)  brachte. 

Der  dritte  Satz  (Vivace, ' 3/^,  Fdur)  setzt  nach  acht 
Takten  Akkordeinleitung  so  ein: 

*  P^V^  1  I  r^K  i  1   ^^^  letzten  beiden  Takte  mit  den 
,j  r    J^r  '       ^^  I   punktierten  Rhythmen  äußern  ein 
•^  übermütiges   Kraftgefühl,   und   sie 

sind  es,  die  der  Komponist  in  den  Ausführungen  des 
Themas  vor  allem  benutzt.  Bald  stehen  wir  vor  wohl- 
bekannten Klängen:  vor  dem  ersten  Hauptthema  des 
ersten  Satzes.  Diese  Reminiszenz  bedeutet:  > wieder 
Kampf«.  Aber  es  handelt  sich  nicht  so  um  die  Not  des 
Kampfes,  als  um  die  Lust  und  die  Freude  daran.  Die 
innerlich  zufriedne,  beglückte  Stimmung  zeigen  die  Themen 

des  folgenden  Seiten-    ^        «  | m  .f"  . 

Satzes:  das  von  den  "i^^  j*  ■  p  IT  d  If "  PT  M  I 
Bässen     eingeführte :  ^ 

33* 


^ 


516 


das  die 
HOrner 
mit: 


beantworten,  and 
die  erst  von  den 
Holzbläsern     et- 


was ungeschickt  nnd  eigensinnig  probierte,  bald  von  den 
Hörnern  in  Ordnung  gebrachte  Weise: 


Mit  letztrer  entwirft  Sinding  eine  längre  Reihe  kleiner 
Bildchen:  vom  Sonntag  und  züchtigen  ländlichen  Freuden 
die  einen,  von  dem  ausgelassnen  Treiben  und  der  lauten 
Lust  der  männlichen  Jugend  die  andren.  Dann  wird  der 
Hauptsatz  noch  einmal  vornbergeführt.  Die  Komposition 
hat  also  die  einfache  Anlage,  die  wir  schon  vom  Haydn- 
sehen  Menuett  her  kennen;  nur.  sind  die  Formen  etwas 
vergrößert.  Auch  das  nach  der  Wiederholung  des  Haupt- 
satzes übliche  Trio  kommt  an  der  erwarteten  Stelle  und 
zwar  als  derb  launige  Volksmelodie: 

PIA  moderttto.  ^^ 

^'''jTTirrirrirrriMTi^rirti  i 

die  sich  besser  lesen  würde,  wenn  sie  im  Vi  '^^^^  notiert 
wäre.  Nach  einer  Weile  hat  sie  sich  mit  folgender,  von 
den  Trompeten  eingeführten  Melodie: 


7>jir  jjjjji[-  MiJJif  JjJj  imi 

in  den  Platz  zu  teilen.  Nach  dem  Trio  wird  der  ganze 
erste  Teil,  wie  gebräuchlich,  wiederholt.  In  dieser  Wieder- 
holung hat  Sinding  eine  Episode  mit  erst  zögernder,  dann 
in  verblüffenden  Läufen  hinstürmender  Musik  eingelegt^ 
um  den  Eintritt  des  zweiten  Seitenthemas  glänzend  zu 
gestalten.  Es  erscheint  dadurch  als  die  Krone  des  Ganzen; 
mit  ihm  geht  auch  der  Satz  schnell  zu  Ende,  zuletzt  noch 
über  eine  ungewöhnlich  drollige  Fagottstelle  geführt.    Mit 


517 


dieser  Betonung  der  nordischen  Tanzweise  kommt  der. 
dritte  Satz  in  nähere  geistige  Berührung  mit  dem  vorher« 
gehenden.  Auch  hier  wird  ein  Bekenntnis  zu  Volk  und 
Vaterland  ausgesprochen. 

Der  letzte  Satz  (Maestoso,  V«»  DmoU}  beginnt  mit 
dem  Thema  in  den  Bässen: 


MMBtOSO. 


i 


C/E^  M  ^'Pff  If     "*^  —    die  Violinen  samt 
^^===^  ''     '  lieh  immer  d  dazu  aL 


als 

liegende  Stimme  —  sehr  ernst,  feierlich  und  auch  froipm 
gestimmt,  wie  jemandem  zu  Mute  ist,  der  vor  einer  wich- 
tigen Entscheidung  steht.  Nachdem  das  Thema  —  vor 
der  Wiederholung  ist  ein  kurzer  Abschnitt  eingelegt,  der 
gespannte,  verlegne  Erwartung  ausspricht  —  das  zweite 
Mal  verklungen  ist,  künden  heftige  Geigenfiguren  etwas 
Besondres  an:  Es  läßt  sich  der  Ton  des  Wunderbaren, 
Außerordentlichen  vernehmen  ^,  leisestes Triolenrauschen 
auf  einem  Orgelpunkt  — ,  und  darüber  setzt  wieder  eine 
Volksweise,  eine  Art  Wanderlied  ein:  ' 


Es  erregt   große  Freude   und  wirkt  gewaltig  belebend, 
wie  gleich  dar- 
auf der  Chor 
bekundet: 

Doch  wird  erst  noch  einmal  in  eine  gehaltene,  ruhige, 
dankbare  Stimmung  eingelenkt,  ihr  ist  das  zweite  Thema 
gewidmet: 

etc. 


^'jfrfett 


eresc. 


Die    bald    darauf   folgende   Durchführung  wirft   sogar 
einen  Rückblick  wie  aus  der  Erinnerung,  aus  der  Feme 


— »    518    »^ 

» 

auf  zurückliegende  trübe  Stunden.  Mit  stechenden 
Dissonanzen  setzt  das  erste  Thema  ein.  Der  Rhyth- 
mus vom  ersten  Takt  ■  t  i  und  ein  Motiv  aus  dem 
des    zweiten    Themas   « •  •*  J    Endteil    dieses  Themas 

übernehmen  es  aber  aulzuheilen, 
sie  ziehen  vorübergehend  auch  das 
Wanderlied  mit  in  ihre  Kreise  und 
bringen  es  bald  zu  einer  glänzenden  Wendung  nach  D  dur. 
Dieser  Durteil  beginnt  mit  einem  Hymnus,  der  an  das 
zweite  Thema  des  Satzes  anknüpft  und  dann  zum  ersten 
Thema  übergeht,  das  nun  die  dunkle  Farbe  ablegt.  In  der 
sogenannten  Reprise  wird  besonders  lange  beim  zweiten 
Thema  verweilt,  das  eine  der.  interessantesten  Bildungen 
in  der  Sinfonie  bedeutet  Melodisch  sehr  einfach,  erhält  es 
seinen  zwischen  Glück  und  Leid  schillernden  interessanten 
Charakter  durch  Harmonie  und  Kontrapunkte.  Hier  nun 
im  Schlußteil  seines  Finale  zieht  es  der  Komponist  ganz  in 
freudige  Sphären,  ihm  nach  am  letzten  Ende  das  Haupt- 
thema, das  aus  dem  Munde  der  sämtlichen  Blechinstru- 
mente Heimkehr  in  Jubel  und  Triumph  meldet. 
Chr.slHdlHf,  Sindings  zweite  Sinfonie  (op.  83],  die  in  Ddur  steht 
Zweit« Sinfonie. und  nur  drei  Sätze  hat,  ist  ein  vorwiegend  freundlich 
gestimmtes  Werk,  das  die  Phantasie  in  pastorale  Kreise 
und  in  einfaches  Volksleben  hineinführt  und  die  Erinne- 
rung an  schöne  Reisetage  und  fröhliche  oder  sinnige  Erleb- 
nisse der  Jugendzeit  weckt.  Sie  hat  viele  Momente  wohligen, 
stillen  Träumens  und  andere,  wo  die  Gefühle  in  hohen 
Wogen  gehen,  aber  keine  Stürme  und  Konflikte  und  kaum 
Gegensätze.  Der  bedeutendste  Satz  ist  der  erste;  klang- 
lich wird  er  durch  die  zahlreichen  Stellen  eigen,  an  denen, 
wie  aus  der  Tiefe  des  Bewußtseins  heraus  die  Bässe 
allein  sprechen  oder  den  Chor  der  Instrumente  führen. 
In  der  Erfindung  tritt  in  ihm  der  Einfluß  Wagners  her- 
vor, in  den  anderen  Sätzen  kommt  mehr,  aber  doch  nur 
bescheiden,  das  nordische  Element  zur  Geltung. 
Giir. SindtBf 9  Zwischen  beiden  Sinfonien  liegt  eine  Fdur-Suite 
Episode«  (op.  35)  des  Komponisten,  die,  dem  Titel  »Episodes  che- 
cbev&iercsqves.  raleresques«  nach ,  ins  Programmgebiet  gehört.    Es  sind 


— ♦    519    »^ 

vier  Szenen  aus  dem  Ritteilebeh,  von  denen  die  der  be- 
sonderen Oberschrift  bare  erste  ungefähr  einen  Auszug 
der  Mannen  mit  teils  lustig  flatternden,  teils  fest  und 
stolz  einherschreitenden  Marschmotiven  schildert,  die 
etwas  breit  und  mit  allzu  Wagnerischen  Steigerungen 
entwickelt  werden.  Der  zweite  Satz,  Andante  fun^bre, 
beginnt  mit  einem  trüb  erhabenen,  schmerzvoll  akzen- 
tuirten  Thema  in  BmoU,  dem  der  tröstende  Gegen- 
satz in  Desdur  folgt.  Seine  freundlichen  Weisen,  von 
den  Hörnern  in  kanonischen  Nachahmungen  eingeführt, 
sind  der  Glanzpunkt  der  ganzen  Komposition.  Der  dritte 
Satz,  ein  in  gedämpfter  Fröhlichkeit  und  erfreulich  knapp 
gehaltenes  Allegretto,  das  der  Form  des  dreiteiligen  Liedes 
folgt,  beschränkt  sich  im  Hauptteil  auf  ein  kurzes,  vier- 
taktiges  Thema,  das  wiederholt  und  variiert  wird.  Der 
Mittelteil  witkt  dadurch  eigen,  daß  die  Melodie,  so 
wie  es  auch  in  der  zweiten  Sinfonie  wiederholt  ge- 
schieht, lediglich  von  den  Bässen  gespielt  und  nur  spär- 
lich begleitet  wird.  Das  Finale  ist  nach  Idee  und  Aus- 
führung der  glücklichste  Satz  der  Suite.  Es  entwickelt 
aus  höchst  einfachem  und  knappem  thematischen  Material 
eine  naiver  Freude  volle  Heimkehrstimmung,  klingt  mit 
dem  dominierenden  Hornton  prächtig  warm  und  erfreut 
in  der  Arbeit  durch  die  energischen  ostinato-Bäße. 

Auch  der  Engländer  F.  C  o  w  e  n  hat  vor  dreißig  Jahren     f.  Cowoa, 
eine  »Skandinavische  Sinfonie c  veröffentlicht,  welche  von  Skandinavische 
der  Mehrzahl  der  deutschen  Konzertinstitute  mit  Beifall      ^p'^'^^'j!^ 
aufgeführt  worden  ist    Diese  Sinfonie  gehört  jedenfalls      ^  ^^  ^' 
unter    die     bedeutendsten     Instrumentalkompositionen, 
welche  seit  Jahrzehnten  jenseits  des  Kanals  entstanden 
sind.     Wäre   der   erste   Satz,    dessen   melancholisches 
Hauptthema 

^    ,     Koderato.  _  

j  i'^  n  j.  I  j^  jj  I  LU  ^ '  i  Ju^  J-  '^liP 

schließlich  zum  Quälgeist  wird,  etwas  reicher  an  Ideen, 
und  der  letzte  ein  total  anderer,  so  würde  diese  Sinfonie 
unter    die    hervorragendsten    neueren    Nummern   ihrer 


— ^    520    «— 

Gattung  einzureihen  sein.  Die  einf^^chen  Ideen  des  An- 
dante mit  dem  Titel  »Sommernacht  am  Fjord«,  in  welchen 
ein  (im  Nebensaal  zu  versteckendes)  Hornqartett  die 
Träumerei  der  Violinen  mit  derben  Tanzweisen  unter- 
bricht, die  ganz  wie  aus  der  Feme  herüberklingen,  haben 
die  Poesie  und  den  Effekt  für  sich.  {Ebenso  ist  das  Scherzo 
in  anderer  Art  wirksam  und  frappant:  ein  freundliches 
Gespensterstück,  in  welchem  der  flüchtige,  schattenhafte 
Charakter  mit  einer  genialen  Konsequenz  durchgeführt  wird. 
Die  Geigen  hinter  Sor.  AUe^omoito. 

dinen  mit  einem  eili-: 
gen  Motive  huschend' 
der  Mittelsatz  ein  Nebel  aus  zitternden  Rhythmen  und 
mysteriösen  Modulationen,  in  den  die  Bläser  nichts  als 
Akkordnoten  hineintropfen:  das  Ganze  getrieben  vom 
hellen  Klang  des  Triangel.  £s  ist  seit  »Fee  Mab«  von 
Berlioz  in  dieser  Art  von  Phantastik  vielleicht  kein  so 
runder  und  gelungener  Satz  komponiert  worden! 

In  Norwegen  selbst  haben  sich  die  Aussichten  für 
eine   einheimische  Sinfoniearbeit  von   allgemeiner  Be- 
deutung mittlerweile  nicht  verbessert  Das  Land  hat  nur  in 
Christiania  und  Bergen  vollwertige  Orchester  und  besitzt 
keine  große  Musikschule,  es  wird  dem  Nachwuchs  infolge- 
dessen schwer,  sich  gründlich  zu  bilden.    Das  zeigt  sich 
dann  auch  an  den  Leistungen  der  fleißigen  Mitarbeiter, 
J* HaurU«!. die  in   J.  Haarklou,  J.  Selmer,   Iver  Holter,   Ole 
J.Sdmer.  01-sen,  SigurdLie  an  die  Seite  Sindings  getreten. sind. 
*  w[e"oÜS[!^^  eine  Weihnachtssuite  G.  Schjelderups  hat  außer- 
Sigard  Ut,  balb  der  Heimat  Beachtung  gefunden. 
ti.Scbjeldervp.        In  der  Zeit,  die  für  die  Heimat  Griegs  den  Anfang 
eines  Niedergangs  bedeutet,  ist  der  musikalische  Stern 
des  skandinavischen  Bruderstammes,  des  Schwedischen, 
dagegen  gestiegen.    Schweden,  das  sich  in  der  älteren 
Zeit  damit  begnügte,   einen  vorgeschobenen,   nament- 
lich  auf  Stockholm   und  Upsala   gestützten  Vorposten 
deutscher  Musik  zu  bilden,  besitzt  eine  Volksmusik,  die, 
in  der  Grammatik  weniger  eigen  als  die  norwegische, 
vor  dieser  den  Ursprung  aus  einer  höheren  Kulturstufe 


•^    521    ^^ 

und  einem  eatwickelteren  Seelenleben  voraus  hat.    Ihre 
schönen,  durch  das  Hinabspringen  des  Leittones  und 
durch  rhythmische  Lebendigkeit  gestempelten,  in  der  Stim- 
mung meistens  etwas  umflorten  Melodien  haben  aus  dem 
Munde   der  Jenny  Lind  ganz   Europa  entzückt,   sind 
aber,  wie  neuerdings  wieder  von  Ambr.  Thomas  für  den 
Hamlet,  auch  schon  im  18.  Jahrhundert  für  die  Oper  und 
bald  auch  für  die  Instrumentalmusik  benutzt  worden.  Die 
ersten  schwedischen  Sinfonien  wxirden  noch  zur  Zeit  der 
Wasa  von  Jos.  Kraus  und  Per  Frigel  geschrieben *],J.KnM. 
anhaltender  hat  sich  Schweden  aber  an  der  sinfonischen  ^*  lMt«i. 
Arbeit  erst  auf  den  Weckruf  Gades  hin  beteiligt  und  zwair 
mit  Werken  von  Fr.  Lindblad,  dem  ausgezeichneten  F.  idadbUd. 
Liederkomponisten,  von  Franz  Berwa'ld,  Alb.  Ruhen- ^•^'^^^^ 
son,  Ludwig  Normann,  denen  Aug.  Södermann  i^it ^| HomMu!!' 
Schauspielmusiken  sekundierte.    Aus  dieser  Gruppe  ragtAisddermaBv. 
am  höchsten  FranzBerwald  hervor  und  unter  seinen FrusBcrwald, 
drei  Sinfonien  wieder  die  unter  dem  Titel  »Sinfonie  sin-      Sinfonie 
guli^rec  184Ö  komponierte  Cdur-Sinfonie,  von  der  jüngst     «N^*'«' 
erst  ein  stattlicher  Partiturdruck  veröffentlicht  worden 
ist    Das  Werk  darf  der  nationalen  Gruppe  zugewiesen 
werden,  nicht  bloß  weil  darin  Volksweisen  verwendet  sind, 
sondern   weil  es  Berwald  darüber  hinaus  verstanden 
hat,  nordischem  Wesen  technischen  Ausdruck  zu  geben, 
am  wirksamsten  durch  die  Harmoniebehandlung.  Dar- 
über gibt  die  klarste  Auskunft  das  Hauptthema  des  Finale: 

Presto. 


rT^rr.,  .Ti.fff^ 


Pis  P        EsDCH 

Das  Esdurdes  zweiten  Taktes  ist  in  der  Zeit,  wo*  die 
Sinfonie  entstand,  ein  Unikum,  und  auch  die  Rhythmik 
des  Sätzchens  ist  eigen.  Noch  schärfer  spricht  der  kräf- 
tige Wikingergeist,  den  Berwald  verkörpert,  aus  den  liegen- 
den Stimmen  des  ersten  Satzes,  die  in  der  Regel  acht- 
taktige  Perioden   lang  zu   der  Harmonie   der  anderen 

*)  Walter  Niemanu  ».  t.  0. 


-^    522    V- 

lastromente  die  schneidigsten,  trotzigsten  Dissonanzen 
bilden,  gleich  mit  c  zu  h  und  mit  anderen  unvorbereiteten 
Sekunden  einsetzen  und  erst  mit  der  letzten  Note  sich 
in  eine  rasche  Konsonanz  auflösen.  Schon  durch  diese 
Harmonietührung  ist  die  Sinfonie  Berwalds  singuliöre, 
absonderlich,  wie  der  ironische  und  bittere  Titel  sagt, 
sie  ists  aber  noch  mehr  im  ganzen.  Um  das  zu  eri^ennen, 
muß  man  an  die  gleichzeitigen  Sinfonien  Mendelssohns 
und  Schumanns  denken,  ihnen  und  anderen  Deutschen 
gegenOber  erscheint  der  Schwede  unfreundlich  und  arm, 
gleicht  einem  musikalischen  Segantini;  in  bewußten  und 
deutlichsten  Gegensatz  steÜt  er  sich  aber  zu  Niels  Gade. 
Gegen  ihn  eröffnet  die  Sinfonie  singuli^re  die  nordische 
Opposition,  die  cTann  Grieg  und  die  jüngeren  Norweger 
organisiert  und  weiter  geführt  haben,  der  Kern  ist  der 
gleiche:  Herauskehrung  der  rauheren  Seiten,  Kultus  von 
Kraft  und  Zähigkeit. 

Diese  Tendenz  kennzeichnet  besonders  den  ersten 
Satz  (Allegro  fuocoso,  Cdur,  C),  der  in  dem  Widerstand 
gegen  zarte  Regungen  an  Beethovens  C  moll-Sinfonie  er- 
innert, in  seiner  Ausfahrtsstimmung  aber  ersichtlich  den 
Wettkampf  mit  Gade  aufnimmt.  Gleich  am  Anfang  wird 
hier  die  Selbständigkeit  der  Gestaltung  klar,  die  Berwald 
auszeichnet:*  an  Stelle  eines  fertigen  und  ausgebildeten 
Hauptthemas  bringt  er  ^  _  ,  ,  .  ,  i  ,  ,  i  .  . 
das  kurze,  auf  Franz  Schu-  V»  J.  JiJi  Ji  N^  /i  i^  J  ^-J-i^- 
bert    hinweisende   Moitv        ^^ 

und  rückt  es  abschnittweise  von  den  Bässen  aus  über 
Geigen  und  Holzbläser  die  Oktave  hinauf  und  ins  forte. 
Die  Monotonie  des  Verfahrens  wird  durch  dissonant  ge- 
buifdene  Harmonien  umgangen.    Auch  das  Gegenthema: 


^Mj  j-3jj.4j.73j  j  ijj2Ji£,J  \fu 


D G-       D H —       E A 

ist  sehr  bescheiden.    Mit  diesen  beiden  Ideen  wird  der 
ganze  erste  Satz  bestritten;  unter  den  Hilfsmotiven,  die  in 
den  Entwicklungsprozeß  ein-    ^J2j|.^_g^-i^^ 
greifen,  tritt  die  Triolenfigur:    ^F^^^t— IX-        -t-^ 


^^    523    V- 

als  treibendes  Element,  P  „  ■  ^  ■  «  .  -»^  als  Sieges« 
Mozarts  Jupiterthema:  ^  *  I  I  =^  ruf  hervor 
Diesem  geringen  Material  gewinnt  aber  Berwald  mannig- 
faltige Bilder  ab  und  spannt  mit  ihm,  dank  der  Konse- 
quenz und  Logik  seiner  oft  harten  Periodenbildung  und 
dank  der  Klarheit,  mit  der  das  Endziel  der  großen  Satz- 
gruppen hervortritt,  bis  ans  Ende.  Auch  dieses  ist  ori- 
ginell: stalt  einer  langen  Reprise  nur  die  24  Takte  der 
Einleitung,  eine  Generalpause  und  als  Schluß  ein  freudiger 
Tumult  von  fünf  Vierteln!  Den  zweiten  und  dritten 
Satz  hat  Berwald  zusammengezogen.  Ein  Adagio  (Gdur, 
^4)1  mehr  suchend  als  singend,  beginnt  und  gibt  sich  lange 
Zeit  ganz  Haydnisch,  setzt  sich  aber  dann  in  dem  logisch 
so  strengen  Sequenzenstil,  der  für  Berwald  charakteri- 
stisch ist,  auf  einer  träumerischen  Melodie  fest  Unver- 
mutet fahren  in  diese  die  ersten  Violinen  mit  kurzen 
•Figuren  des  Ungestüms  hinein  und  erzwingen,  daß  der 
Satz  schon  nach  etlichen  vierzig  Takten  abgebrochen 
wird.  Die  Pauke  reagiert  darauf  mit  einem  entrüsteten 
/yjT-Schlag,  der  aber  nicht  verhindert,  daß  ganz  plötzlich 
das  Scherzo  (Gdur,  ^/g)  eintritt.  Es  ist  von  fröhlichem, 
anmutigem  Treiben  erfüllt  und  reich  an  kleinen  Künsten 
der  Nachahmung.  Der  Hauptscherz  ist,  daß  in  seinen 
heimlichen  Ton  wiederholt  harte,  kurze  Schläge  oder 
rauhe  Akkorde  hereinfahren.  Sie  sucht  Berwald  niemals 
von  weit  her:  ein  breiter  Cdur-Dreiklang,  der  ohne  Um- 
stände ein  Ddur-Motiv  bei  Seite  schiebt,  genügt.  Am 
Ende  kehrt  das  Adagio,  aber  nur  mit  der  erwähnten 
träumerischen  Melodie  wieder.  Sie  ist  ein  Zitat  aus  dem 
schwedischen  Liedschatz  und  repräsentiert  die  Heimats- 
liebe. Darum  kehrt  sie  auch  im  Finale  (Presto,  Cmoll(^) 
wieder,  neben  ihr  lassen  sich  noch  weitere  volkstüm- 
liche Anklänge  hören  und  zwar  als  die  Stimmen  der 
HofiTnung  und  des  guten  Endes  in  dem  an  Kämpfen]  ja 
an  Schrecken  reichen     a  .  „r"%   .  -    .  -<-^ 

Satz.    Das  Schlußwort  AJlLll-  IT    T   I         I  T'   f  I  ^ 

.         .       *.  -!...__     TT «3  W 


bat  die  schöne  Hymne :         «^ 

Von  den  neueren  schwedischen  Komponisten  ist  der 


-^    524    ^^ 

bedeutendste  Künstlerkopf,  Wilhelm  Stenhammar,  leider 

der  Sinfonie  ferngeblieben-  die  bekanntesten  Vertreter 

LHaUitrSm.  der  Gattung  sind:   I^er  Hallström,  A.  Hägg,  Andr. 

^•^»•Halldn,  W.  Petersen-Berger,  HugoAlfvön,  und  zu 

i^pJJlJ^eii^ibnen  kommt  noch  als  Suitenkomfponist  der  namhafte 

Berger.     Geiger  Tor  Aulin.   Er  und  Alf  von  sind  auch  ins  Ausland 

H.  Aift^H.  gedrungen,  Alfv^n  namentlich  mit  seiner  zweiten  Sinfonie, 

Tor  Anlin.  j^y  Aulin  mit  der  Programmsuite  >Meister  Oluf«. 

HvfoAlfvta,         Die   Sinfonie  Alfv^ns    zeigt    sich    schon   Äußerlich 

ZwoiteSinfonio  dadurch  Ungewöhnlich,  daß  sie  in  Ddur  beginnt  und 

(Op.  11).       £q  jy  ^^Q^  schließt,  also  den  bekannten  Weg  per  aspera 

ad  astra  umkehrt.    Die  glfickliche  Stimmung,  die  der 

erste  Satz    mit   seinem   lange   gesuchten  Hauptthema 

Moderato.  y-^     »    ^--- — *«^  ausdrückt 


bedeutungsvoll  in  fremder  Tonart  eingeführte  Gefolge  des 
zweiten  Themas: 


noch  verstärkt  wird,  erleidet  allerdings  schon  hier  mannig* 
fache  Anfechtungen,  eine  außerordentlich  aufregende, 
namentlich  in  der  Mitte  der  Durchführung,  wo  eine  vom 
Hauptthema  ausgehende  Steigerung  plötzlich  im  ff  hxxt 
dem  Septimenakkord  abbricht  und  nach  einer  General- 
pause die  Pauke  ganz  allein  den  Rhythmus  leise  wieder 
aufnimmt  Da  folgen  ihr  zwar  die  Streicher,  aber,  wie 
verwirrt,  in  ganz  fremder  Harmonie.  Die  Stelle  wirkt 
geisterhaft  wie  ein  Mene  Tekel  und  macht  den  Hörer 
auf  das  gefaßt,  was  die  folgenden  Sätze  bringen.  Schon 
die  ersten  Takte  des  zweiten  Satzes,  des  Andante,  machen 
die  schlimme  Ahnung  zur  Gewißheit  Im  Rhythmus  des 
Allegretto  von  Beethovens  Siebenter  und  gefaßten  Tons 
tragen  die  Bässe  eine  Klage  vor,  aber  schon  nach  wenigen 
Worten  wird  sie  erregt  und  sofort  von  einem  lauten, 
schneidenden  Wehruf  der  Bläser  abgeschnitten,  der  ge- 
dämpft und  gebrochen  immer  wieder  ansetzt    Der  Satz 


— »    525    ♦^ 

bleibt  80,  wie  er  begonnen,  ein  Kampf  nach  Fassang. 
Seine  rührendsten  Stellen'  sind  die,  wo  an  die  Themen 
des  ersten  Satzes  erinnert  wird,  sie  kehren  bis  zum 
Schlüsse  wieder,  ohne  das  Entsetzen  zu  bannen.  Eben- 
sowenig greift  eine  als  zweites  Thema  angeschlagene 
Choralweise  dnrch. 

Fflr  den  dritten  Satz  (Allegro)  hat  Alfv^n  ^bs  Ent- 
setzensmotiv, das  am  Anfang  des  zweiten  die  Blftser  aus- 
stießen, wörtlich  beibehalten,  nnr  kommt  es  im  raschsten 
Tempo.  Ähnlich  ist  der  ganze  Satz  eine  erregte  Variante 
des  zweiten,  und  die  ganze  Sinfonie  hat  das  Ziel,  ver- 
schiedene Phasen  eines  großen  Seelenschmerzes  zu  schil- 
dern. Charaktervoll  bleibt  der  Komponist  diesem  Pro- 
gramm anch  im  Schlußsatz  treu.  Dieser  hat  die  Form 
einer  durch  ein  Preludio  eingeleiteten  großen  Fuge.  Das 
Preludio  wirft  mit  einem  Nebenthema  aas  dem  ersten 
Satz  einen  Blick  auf  die  Zeit  vergangenen  Glücks,  die 
Fage,  die  zuerst  energisches  Aufraffen  versucht,  endet 
mit  altliturgischen  Trauermelodien,  gibt  also  dem  Werke 
einen  religiösen  Abschluß.  Die  Sinfonie  erweist  sich  in 
ihrem  Ernst  und  mit  der  vollendeten  Tüchtigkeit  der 
Arbeit  als  eine  der  bedeutendsten  Leistungen  unserer 
Zeit  und  macht  trotz  allem  Verzicht  auf  nationale  Be- 
sonderheiten dem  musikalischen  Genius  Schwedens  die 
größte  Ehre. 

Aulins  Suite  Meister  Olaf  hält  ihre  fünf  Sätze  TorAmUa, 
(1.  Der  Reformator,  2.  Sein  Weib  und  Kind,  3.  In  der  Meiner  oinf. 
Stadtkirche,  4.  Am  Totenbette  der  Mutter,  6.  Das  Fest 
am  Nordpol)  in  der  Weise  von  Griegs  Musik  zu  Peer 
Gynt  grundsätzlich  knapp,  und  benutzt  reichlich  hei- 
matliche Lieder  und  Marschweisen  ohne  merkliche  Zu- 
taten eigener  Kunst.  Nur  die  Tendenz,  in  Harmonie  und 
Rhythmus  das  Primitive  hervorzukehren,  ist  deutlich 
bemerkbar.  Dabei  kokettiert  der  Komponist  ein  wenig 
mit  Quintenparallelen,  die  ja  in  der  neuen  Orchester- 
musik  allgemein  als  erlaubt  zu  gelten  scheinen,  doch 
aber  nicht  ohne  alle  Rücksichten  auf  das  europäische 
Ohr.    Im  übrigen  beschränkt  sich  das  persönliche  Ver- 


■J 


J^    52(5    ^_ 

dienst  Aulins  darauf,  daß  alles  sehr  gut  klingt ;  als  Kolo 
rist  hat  et  allerliebste  Einfälle.   Ein  sehr  wirksamer  ist  die 
Pizzicatobegleitung  des  Streichorchesters  im  zweiten  Satze. 
Als  letztes  Glied  und  als  Filiale  der  Skandinavischen 
Schule  hat  sich,  von  schwedischer  Kultur  befrachtet,  in 
neuester  Zeit  eine  finnländische  Sinfonikergruppe  gebildet. 
Sie  entwickelte  sich  von  der  Universitätsstadt  Helsingfors 
und  von  Abo,  den  einzigen  eigentlichen  Musikstädten  des 
F.  FmIu.  Seenlandes  aus  unter  Führung  von  F.  Facius,  M.  Wege- 
M.  Weijeliu.  [ixxs^  R.  Kaj  anus  im  letzten  Drittel  des  neunzehnten  Jahr- 
^***'*  bunderts ;  die  internationale  Aufmerksamkeit  auf  sie  ge- 
lenkt zu  haben,  ist  das  Werk  von  Jean  Sibelius.    Seine 
sinfonischen  Dichtungen,  an  ihrer  Spitze  »der  Schwan 
von  Tuonela«,  schlugen  aus  ziemlich  den  gleichen  Grün- 
den ähnlich  ein,    wie    zwei  Menschenalter  vorher  die 
I  Ossian-Ouvertüre  und  die  erste  Sinfonie  N.  Gades.    Eine 
I  grenzenlose  Melancholie  bildet  ihr  nationales,  ein  ebenso 
*  plastischer,  als  freier  Stil  ihr  persönliches  Sisnalement 
Jets  SlbdlUi, Nur   die   dreisätzige   Karelia-Suite  (Op.    11}  entbehrt 
Karelia-Saite.j  diesen  Familienzug;  sie  könnte  im  ersten  Satz,  dem  Inter- 
-roezzo,  von  Dvo^ak,  im  Menuett  von  Brahms  sein,  erst 
der  Schlußsatz  (Marcia)  stellt  uns  im  Trio  eine  besondre 
künstlerische  Individualität  vor.   Dieses  Trio  besteht  näm- 
lich lediglich  aus  acht,  mit  Ausnahme  der  Instrumen- 
tierung wörtlich  übereinstimmenden  Wiederholungen  der- 
selben vier  melodiösen  Takte.    Eine  solche  regelwidrige 
Monotonie  wagt  nur  ein  Komponist,  der  mit  dem  Volk 
verwachsen  ist  und  ganz  genau  seine  Art  und  seinen 
Geschmack  kennt.     Im  übrigen   aber    schreibt  Sibelius 
hier  ganz  nach  allgemeinem,  gutem  Snitenbrauch  und  hält 
sich  dabei  ausgezeichnet  knapp  und  kurz.    Noch  mehr 
als  im  Stil,  weicht  aber  die  Kareha-Suite  von  den  sie 
umgebenden  sinfonischen  Dichtungen  im  Inhalt  ab.  Dieser 
stützt  sich  auf  ganz  ähnliche  volkstümliche  Sangweisen, 
wie  sie  in  verschiednen  Sammlungen  vorliegen,  sie  sind 
aber  sämtlich  freundlichen  Charakters,  so  liebenswürdig 
und  reizend,  daß  sie  allein  den  großen  Erfolg  der  be- 
scheidnen Komposition  erklären. 


— »    52?    ♦— 

/ 

I 

Die  erste  Sinfonie  (Emoll)   des  Komponisten,   die     J.Sibellmi, 
1899  gedruckt  worden  ist,  teilt  mit  der  Karelia-Suite  die  Ente  Sinfonie 
klassische  Klarheit  und  Einfachheit  der  Themen  und  Mo-       '^^-  ^^' 
tive,  aber  in  ihrer  vorwiegend  ernsten  und  trüben  Ge- 
dankenrichtnng  steht  sie  auf  der  Seite  von  früheren  sin- 
fonischen Dichtungen.   Insbesondre  scheint  sie  ein  Werk 
nationaler  Richtung  und  die  am  tiefsten  in  der  Heimat 
wurzelnde  Sinfonie  von  Sibelius,  sie  scheint  eine  patrio- 
tische  Betrachtung  in  Tönen  zu  sein.    Eröffnet  wird  ihr 
erster  Satz  an  Stelle  der  üblichen  langsamen  Einleitung 
mit  einem  Klarinetten  solo,  das  guten  Muts  beginnt,  am 
Ende  aber  in  einen  klagenden  Ton  fällt   Das  darauf  ein- 
setzende Allegro  (<^/4,  Gdur)  nimmt  in  größern  Dimen- 
sionen einen  ähnlichen  Verlauf:  Der  in  seinem  .Haupt- 
thema : 

f  ii'^'^irnj rrir-iiiirii  iMnirTiiffrn 

ausgesprochenen  Kraft  und  Entschlossenheit  bleibt  der 
Triumph  versagt.  Die  Ächtelrhythmen,  mit  denen  der 
erste  Abschnitt  jenes  Themas  schließt,  der  zweite  beginnt, 
gehören  zu  den  Elementarwendungen  finnischer  Musik, 
sie  sind  ähnliche  Symptome  stark  cholerischen  Wesens, 
wie  sie  auch  bei  Italienern  und  Negern  vorkommen,  die 
gehäuften  Wiederholungen  desselben  Motivs  sind  dem 
naiven  Kulturstand  des  Naturvolks  entsprungen.  Wir  sind 
also  mit  diesem  Eingang  sofort  in  eine  bestimmte  ethno- 
logische Sphäre  versetzt,  in  die  der  Verlauf  der  Kompo- 
sition dann  immer  tiefer  hineinführt.  Die  Volksseele,  von 
der  Sibelius  im  ersten  Satze  seiner  E  molI-Sinfonie  ein 
Bild  gibt,  neigt  zu  jähem  und  erschreckendem  Aufbrausen, 
ihre  Musik  ersetzt  eingehende  Ausführungen  gern  durch 
kurze  in  zwei  und  drei  Akkorden  explodierende  Natur- 
laute, an  andern  Stellen  brütet  sie  endlos  dahin,  dem 
Jammer  wehrt  sie  und  läßt  ihn  mehr  ahnen  als  wirklich 
hören,  sie  zeigt  eine  Mischung  von  Wildheit  und  Selbst- 
beherrschung, die  uns  staunen  macht,  aber  auch  er- 
greift   und  nachhaltig  fesselt.     Sie  zwingt   aber  auch, 


--»    528    ♦— 

die  Kraft  und  den  Geist  zu  bewundern,,  mit  denen  der 
Komponist  seiner  schwierigen  und  der  sinfonischen 
Form  fremden  Aufgaben  Herr  geworden  ist  Nament- 
lich der  zweite  Satz  der  Sinfonie  bietet  da  wahre 
Musterbeispiele  fQr  die  Gabe,  mit  einfachen  und  doch 
kühnen  Mitteln  der  Darstellung  den  Schein  der  Natürlich- 
keit zu  geben.  Es  handelt  sich  in  ihm  darum,  aus  einer 
augenscheinlich  wieder  auf  musikalische  Volksquellen 
aufgebauten  Wehmut  in  eine  erregte  Stimmung  über- 
zugehen. Das  erreicht  er  ohne  weiteres  dadurch,  daß  er 
den  Viervierteltakt  des  Hifuptthemas  plötzlich  von  den 
Bässen  im  Rhythmus  von  drei  Halben  begleiten  läßt 
Damit  ist  die  Unruhe  in  den  Satz  eingezogen  und  unver- 
merklich  gerät  alles  ins  Schwanken.  Ebenso  meisterhaft 
führt  Sibelius  in  diesem  Andante  aus  dem  Stimmungs- 
bild hinüber  in  ein  anheimelndes  Stück  Naturmalerei.  In 
dem  Augenblick  —  es  ist  nach  ^er  vom  Fagott  begon- 
nenen Bläserstelle  — ,  wo  der  Gesang  einen  leidenschaft- 
lichen Charakter  annehmen  will,  bricht  er  ab  und  lenkt 
die  Aufmerksamkeit  mit  bloßen,  bewegten  Rhythmen  und 
hohen  Klängen  erst  der  Bläser,  dann  der  Geiger  wie  auf 
eine  plötzliche  Erscheinung  in  der  Außenwelt  Es  schillert, 
als  ob  die  Sonne  aufgehen  wollte,  und  nicht  lange  dauerts, 
da  hören  wir  in  Flöten,  Oboen  und  Klarinetten  die  Vögel 
singen.  Ganz  köstlich  wird  dann  dieses  Bildchen  aus 
Wald  und  Flur  in  das  Seelengemälde,  das  den  Haupt- 
inhalt des  Satzes  bildet,  mit  hineingewoben.  Als  es  gilt, 
sich  von  ihm  zu  trennen,  da  äußert  sich  der  Schmerz 
wieder  einmal  in  einem  kurzen,  oft  wiederholten  Auf- 
schrei, in  dem  wieder  die  ganze  finnische  Energie  zum 
Vorschein  kommt.  Das  Scherzo  hat  von  der  an  dieser 
Stelle  üblichen  Lustigkeit  nur  die  Rhythmen,  im  Charak- 
ter bleibt  es  dissonanzenreich  und  hart  Nur  der  lang- 
same, an  die  Stelle  des  Trios  tretende  Mittelsatz,  der 
von  dem  Cdur  des  Hauptsatzes  sich  weit  weg,  nach 
Edur  flüchtet,  hat  den  weichen  Ton  der  Sehnsucht  Aus- 
nahmsweise gibt  in  ihm  Sibelius  einmal  Auskunft  über 
seinen  Studiengang  und  zeigt  uns  in  Robert  Schumann 


— »    529    «^ 

einen  seiner  Lieblingsmeister.  Das' Finale  greift  zu  Be- 
ginn auf  die  Melodie  der  Soloklarinette  zurück,  mit  wel- 
cher der  erste  Satz  der  Sinfonie  eingeleitet  wurde.  Dann 
entfesselt  es  die  Leidenschaftlichkeit  des  Mißmutes,  die 
jener  erste  Satz  ahnen  ließ,  in  voUen  Schleusen  und 
lenkt  zum  Schluß  in  einen  breiten,  großen  Hymnus  der 
Wehmut  ein. 

Dieser  seiner  ersten  und  wohl .  bedeutendsten  Sin-  J*  Sibtilvi, 
fonie  hat  Sibelius  noch  drei  weitere  folgen  lassen.    Die   ?.7***f  ?"*! 
zweite,  eine  1902  Tollendete  D  dur-Sinfonie  und  die  nur*jj***j3^^^^^^ 
aus  drei  Sätzen  bestehende  dritte  (Cdur,  Op.  62)  sind, 
wenn  man  in  jener  die  unheimlichen  Mittelsätze  ausnimmt, 
wesentlich  freundlicher  als  die  erste,  in  der  dritten  steigert 
sich  der  hellere  Grundton  sogar  zu  ganz  drolligen  Scherzen. 
Gleich  ihr  Anfang         Allegro  moderato. 

gibt  davon  mit  -^jtn  -  -HJ-lj  J  1  t,''  J  J  Jl  nJ*LI_h^ 
dem    Baßeinsatz :  *  -J  '  J'    V  j  -'-'-'-'■:  j  ■  -■•  ' 

einen  hübschen  Begrift  und  zeigt  zugleich,  wie  der  Kom- 
ponist itt  der  thematischen  Erfindung  nach  wie  vor  seiner 
Heimat  treu  geblieben  ist.  Überall  noch  die  Melodien 
mit  Halbschluß  und  in  dem  so  viel  besagenden  Frageton. 
Im  allgemeinen  jedoch  ist  der  Stil  des  Komponisten  in 
den  neuen  Sinfonien  bedeutend  komplizierter  geworden. 
Er  schreibt  häufig  rezitativisch,  neigt  zu  Unterbrechungen 
und  zu  grammatischen  Kontrasten,  etwa  in  der  Art,  daß 
vier  thematischen  Takten,  vier  Takte  bloßen  Akkords 
folgen,  namentlich  aber  ist  der  Verbrauch  von  Disso- 
nanzen so  auffallend  gewachsen,  daß  die  Komponisten- 
partei, welche  in  diesem  Punkte  das  wesentliche  Element 
der  Moderne  erblickt,  mit  gewissem  Rechte  auf  den  Ver- 
treter der  finnländischen  Sinfonie  Beschlag  legen  darf. 
Selbstverständlich  hat  mit  dieser  äußren  Verwandlung 
auch  eine  Änderung  in  der  Richtung  der  Phantasie  statt- 
gefunden. In  seiner  vierten  und  augenblicklich  letzten  '•  Slb^lUs, 
Sinfonie  (A  moll,  Op.  63)  ist  Sibelius  von  den  Impressio-  v*««**«  Sinfonie, 
nisten  kaum  noch  zu  unterscheiden.  Er  berührt  sich  in 
ihrem  ersten  Satz  ganz  direkt  und  wohl  auch  stofflich 
mit  den  Meeresskizzen  Debussys,  auch  die  fast  Zolaische 

Krstzschmar,  FQbrer.    I,  1.  34 


-^    530    ^^ 

Umst&ndlichkeit  des  Einleitens,  Vorbereitens  und  Sam- 
meln» teilt  er  mit  ihm.  Es  liegt  in  der  Natnr  seines  neuen 
Systems,  daß  Sibelius  von  der  artistischen  Seite  her 
interessanter  geworden  ist;  man  findet  da  Vorausnahmen, 
die  den  Harmonielehrer  entrüsten  können,  aber  jedenfalls 
beschäftigen,  6  Seiten  lange  liegende  Stimmen,  die  sich 
erst  im  letzten  Takt,  des  Satzes  auflösen,  andre  Stellen, 
wo  ein  kleines  Ostinato-Motiv  sechsunddreißigm^  wieder- 
kehrt, wo  auf  einem  C  dur-Akkord  sechzehn  Takte  lang 
nur .  G  und  C  wiederholt  werden ,  man  findet  Figuren, 
in  denen  Streicher  und  Bläser  von  demselben  a  aus  in 

die  Höhe  stürmen  und,  oben  ankommen,  die  einen  d,  die 

andren  des  ergreifen  usw.  Aber  man  findet  auch  wertvolle 
Malereien  vom  Glockenklang  und  andre  Produkte  feiner 
Naturbeobachtung,  und  vor  allem  findet  man  noch  gute 
und  charaktervolle  Themen.  Ein  solches  ist  das  an  der 
Spitze  des  Schlußsatzes  dieser  AmoU-Sinfonie  stehende, 
das  eine  frohe  Stimmung  mit  einem  ganz  eignen  Stich 
ins  Obermütige  ausdrückt.  Diese  Tatsache  berechtigt  zu 
der  Hoffnung,  daß  mit  der  Zeit  der  alte  Sibelius  wieder 
reicher  zu  Worte  kömmt!  ' 

Die  andern  Vertreter  der  finnländischen  Schule,  an 
ArHM  Jinefelt.  ihrer  Spitze  Järnefelt  und  Mielck,  sind  mit  Sinfonien 
RrtBt  Xlelek.  noch  nicht  über  die  Heimat  hinausgedrungen. 

Das  Böhmerland  hat  vom  achtzehnten  Jahrhundert 
ab  dank  in  erster  Linie  seinem  Adel,  der  das  vom  kaiser- 
lichen Hofe  gegebne  Beispiel  der  Musikliebe  und  Musik- 
pflege mit  Eifer,  Qpferfreudigkeit  und  Geschick  aufnahm, 
die  Tonkunst  aller  Staaten  mit  so  zahlreichen  und  vor- 
'  züglicnen  ausübenden  Kräften  versorgt,  das  man  —  es 
<  war  wohl  Bumey,  der  das  tat  —  von  Böhmen  als  dem 
Konservatorium  Europas  sprechen  konnte.  Merkwürdiger 
.  Weise  steht  aber  der  Anteil,  den  das  schöne  Land  an 
der  Komposition  nahm,  quantitativ  und  qualitativ  hinter 
der  Bedeutung  sehr  zurück,  die  es  als  Bezugsquelle  von 
Instrumentalisten  aller  Art,  von  den  einfachen  hausieren- 
den Spielbanden  über  die  Kapellmitglieder  hinauf  bis  zu 


--^    531    ♦-- 

den  großen  Virtuosen  gehabt  hat.    Insonderheit  kommt 
die  böhmische  Komposition  in  der  Sinfonie  und  den  ihr 
verwandten  Formen  nur  wenig  in  Betracht  Mit  F.  Ben  da,  F.  B«ate. 
L.  Kozeluch,  Mysliweczek,  Reicha,  V.  Ma schock J-K«««!««*- 
sind  die  Namen  erschöpft,  die  auf  diesem  Gebiete  in^^iS^ 
der  zweiten  Hälfte  des  achtzehnten  Jahrhunderts  außer-  y.  Magekeek. 
halb  ihrer  Heimat  bekannt  geworden  sind;   zu  ihnen 
kommt    noch    der    bereits   erwähnte   D.  Zelenka   als  D.  Keienfca. 
Meister   in   der  Qrchestersuite ,   neben  ihm   A.  TumaA.Ts«». 
und  Fr.  Dussek   als  Konzertkomponisten.     In   einem  Fr.  Ditiek. 
längren   Abstand   folgt   dann  W.  J.  Tomaschek   mitw. LTonasekek, 
einer  Esdur-Sinfonie,  die  in  ganz  Deutschland  fast  ein   BsdnrSiiifom«. 
Jahrzehnt  lang   gespielt   und  mit  großer  Achtung  be- 
urteilt wurde.  Sie  hat  im  dritten  Satze,  der,  för  jene  Zeit 
noch  außergewöhnlich,  als  Scherzo  betitelt  ist,  eine  durch 
einen  ausgesprochnen  Hang  zum  TrQbsinn  ungewöhnliche 
Nummer  und  zeigt  einige  tiefe  Regungen  in  der  Einlei- 
tung des  ersten  Satzes.    Im  allgemeinen  waltet  aber  in 
ihr  nur  ein  kleiner  Geist,  der  von  fremden  Tischen,  ins-- 
besondre  von  den  Mozartschen  Opern  genährt  wird.  Die 
Arbeit  zeigt  Vorliebe  für  die  kleinen  Künste  der  Kontra- 
punktik, wie   denn  Tomaschek  als  eine  Größe  in  der 
strengen  Form  und  auf  Grund  seiner  Kirchenkomposi- 
tionen, namentlich  des  Requiems,  mit  Recht  betrachtet 
wurde*).   Das  schließt  jedoch  ein  großes  auf  Ungeübtheit 
beruhendes  Ungeschick  im  Orchesterstil  nicht  aus.    Fast 
unablässig  schnörkelt  die  erste  Violine  in  schematischen 
Figuren  dahin,  während  die  andren  Instrumente  in  träger 
Ruhe  so  lange  daliegen,  bis  sie  zu  einer  Nachahmungs- 
parade befohlen  werden.    Was  uns  jedoch  am  meisten 
an  dieser  Sinfonie  interessiert,  ist  ihr  Verhältnis  zu  böh- 
mischer Nationalmusik.    Tomaschek  hat  Lieder  aus  der 
KOniginhofer  Handschrift  komponiert,  läßt  also  Liebe  für 
die  Stammeskunst  seiner  Heimat  erwarten.    Doch  bietet 
seine  Sinfonie  hierin  nichts  als  eine  Vermutung,  näm- 
lich die:   daß  das  erste  Thema  des  Finale  aus  alter 


*)  Rudolph  Freiherr  Prochazka:  Arpeggien  1S97,  S.  66. 

34* 


^ 


532 


böhmischer  Volksmusik  stammen  könnte.    Wir  teilen  es 
hier  mit: 


TlTaoe. 


und  überlassen  es  Berufenen,  den  Sachverhalt  festzu- 
stellen« Gesetzt:  es  ist  slavisch,  so  würde  doch  in  der 
Tomaschekschen  Sinfonie  das  nationale  Element  einen 
immer  noch  weit  geringeren  Anteil  haben,  als  sich  in  der 
Suite  Zelenkas  ergab. 

Auf  Tomaschek  folgt  als  der  nächste  böhmische  Sin- 
foniekomponist von  Bedeutung  Job.  Wenzel  Kalliwoda. 
Er  ist  bereits  in  einer  andren  Gruppe  behandelt  worden 
und  kann  unter  die  Vertreter  einer  spezifisch  böhmischen 
Musik  nicht  gerechnet  werden,  da  er  nur  nebenbei  Volks- 
melodien anklingen  läßt. 
j.  F.  utti,  Anders  verhält  es  sich  mit  einem  Schüler  Tomascheks, 

Jagdsinfonic.  mit  Job.  Friedrich  Kittl,  der  vom  Anfang  der  vier- 
ziger Jahre  ab  auch  mit  mehreren  Sinfonien  hervortrat, 
unter  denen  die  >Jagdsinfonie€  besonders  verbreitet  war. 
Es  ist  ein  Beitrag  zur  Programmusik;  die  vier  Sätze  heißen : 
1.  »Aufruf  und  Beginn  der  Jagdc,  2.  »Jagdruhe«  (Andante], 
3.  »Gelage«  (Scherzo),  4.  »Beschluß  der  Jagd«.'  Als  Jagd- 
musik weicht  die  Sinfonie  von  allem  früheren  Brauch,  wie 
er  in  der  Zeit  von  Stamitz,  Haydn  und  M4hul  und  weiter 
zurück  sich  feststellen  läßt,  dadurch  ab,  daß  sie  nicht  in 
Ddur,  sondern  in  Esdur  steht.  Auch  das  ist  ungewöhn- 
lich, daß  sie  nicht  bloß  Hömersignale  und  Fanfaren,  son- 
dern im  ersten  Satz  ein  ganzes  Jagdlied  gibt.  Es  eröffnet 
die  Sinfonie  in  der  Form  eines  Hornquartetts.  und  hat 
folgende  Melodie 


533 


III    I  1^1 


iii  1 1  iifi iiijiTm 


die  ihren  Taktgruppen  nach  wohl  slavischer  Abkunft  sein 
könnte.  Jedenfalls  ist  die  ganze  Sinfonie  mit  —  gleichviel 
ob  originaler  oder  nachgebildeter  —  Volksmusik  durch- 
tränkt wie  keine  andre  seit  Haydn.  Oberall  klingen  uns 
die  kurz  angebundnen,  heitren  und  frischen  Weiten  ent- 
gegen, die  der  böhmischen  Musik  eigen  sind.  Auf  ihnen 
beruht  der  lebendige,  temperamentvolle  Charakter  der  Sin- 
fonie, die  mit  Ausnahme  einiger  äußerlichen  Obergänge 
von  Gruppe  zu  Gruppe  im  ersten  Satz  sehr  sicher  und 
auch  eigen  gestaltet  ist.  Namentlich  im  Rleinverkehr  inner- 
halb der  Perioden  bewegt  sich  der  Komponist  flott,  rasch 
und  reich  an  feinen  Wendungen  und  zeigt  ein  ungewöhn- 
liches Talent  Mendelssohn  nahm  die  Widmung  der  Sin- 
fonie an,  Spohr  lobte  sie,  Schumann  hob  sie  unter  den 
Neuerscheinungen  des  Winters  1840  nachdrücklich  her- 
vor*), R.  Wagner  schätzte  den  Komponisten  hoch  genug, 
um  ihm  ein  eignes  Operngedicht  (»Die  Franzosen  vor  Nizza«) 
zu  überlassen.  Um  Kittls  Sinfonie  aber  in  ihrer  natio- 
nalen Bedeutung,  in  ihrer  Ideenrichtung  voll  zu  würdigen, 
war,  als  sie  entstand,  die  Zeit  noch  nicht  gekommen.  Weder 
bei  Deutschen  noch  bei  Böhmen  selbst.  Denn  diese  hatten 
sich  bisher,  wenn  sie  Sinfonien  schrieben,  um  ihre  Volks- 
musik doch  nur  sehr  wenig  gekümmert,  und  auch  Kittl 
wird  den  Weg  seiner  > Jagdsinfonie«  mehr  zufällig  und 
instinktiv  eingeschlagen  haben.  Erst  als  nach  den  achtund- 
vierziger  Wirren  die  nationaltschechischen  Bestrebungen 
auf  sozialem,  politischem  und  literarischem  Gebiet  mit  ver- 
stärktem Eifer  aufgenommen  wurden,  begannen  allmäh- 
lich auch  die  böhmischen  Tonsetzer  über  die  Eigen tüm- 

*)  Neoe  ZeiUchrift  für  Musik,  1840,  S.  139. 


^^    534     ♦^ 

lichkeit  ihrer  Volksmusik  und  über  ihren  Zusammenhang 
mit  dem  Wesen  und  der  Begabung  des  Stammes  klar  su 
werden.  Heute  ist  in  dem  Neuhussitentum,  dafi  sich  in 
Böhmen  gesammelt  und  zum  Sturm  bereitgestellt  hat« 
die  musikalische  Gruppe  eine  der  von  Glück,  natürlicher 
Kraft  und  Talent  begünstigsten,  einflußreichsten,  wohl  auch 
der  Oberhebung  und  der  Verblendung  am  stärksten  zu- 
r.SaeUBa«  geneigten.  Ihr  Vater  war  Fr.  Smetana,  ein  Künstler, 
dessen  seelischer  Reichtum,  dessen  klare,  einfache  Ge- 
staltungskraft nationaler  Stützen  und  Hilfen  gar  nicht  be- 
durft hätten.  Sein  Emoll-Quartett  bezeugt  das.  Smetana 
hat  in  seiner  Jugend  eine  Sinfonie  nach  Beethovenschem 
und  Inehrere  sinfonische  Dichtungen  nachXiszts  Muster 
geschrieben,  dann  aber  seine  volle  Kraft  auf  die  Kom- 
position von  zahlreichen  Opern  gelenkt,  die  alle  keinen 
Zweifel  darüber  lassen,  daß  die  heimische  Volksmusik  mit 
dem  Herzen  dieses  Tonsetzers  verwachsen  war.  Erst  als 
sich  der  Weg  ins  Weite  für  diese  Bühnenwerke  vorläufig 
als  verhauen  erwiesen  hatte,  als  Taubheit  Smetana  zwang, 
dem  Taktstock  für  immer  zu  entsagen,  wendete  er  sich 
wieder  der  Instrumentalkomposition  zu.  »Um  sich  die  Mittel 
zur  Konsultierung  berühmter  ausländischer  Spezialisten 
zu  versehaffenc  —  sagt  Wellek*^)  —  gab  Smetana  ein  Kon- 
zert am  4.  April  1876,  in  dessen  Programm  zwei  »Sinfonien« : 
—  »Visehrad«  und  »Vltava«  hervorragten.  •  Das  sind  die 
ersten  beiden  Stücke  eines  Zyklus  von  sechs  sinfonischen 
Dichtungen,  die  dem  für  die  Schönheit  und  den  Charakter 
der  heimischen  Volksweisen  empfänglichen,  schlicht  ge- 
staltenden Künstler  und  dem  für  die  Vergangenheit,  für 
die  Greschichte  und  die  Natur  seines  Geburtslandes  be- 
geisterten Patrioten  gleich  viel  Ehre  machen.  Denn  es 
war  Smetana  bei  seinem  Zyklus  nicht  bloß  um  eine  er- 
freuende, heimisch  anklingende,  Phantasie  und  Gemüt 
bewegende  Komposition  zu  tun,  sondern  es  sollte  ein 
musikalisches  Epos,  eine  monumentale  Verherrlichung  von 
Böhmens  größten  Helden  und  Zeiten,  ein  Kranz  schwärme- 

**)  BroiiisUw  Wellek:  Friedrich  Smetuia.     1895. 


— «^     535    ^^ 

rischer  und  inniger  Gesänge  zum  Preis  von  Land  und 
Leuten  werden.  Von  diesem  Gesichtspunkt  aus  wählte  er 
den  Gesamttitel  Mä  Vlaat,  d.  L  Mein  Vaterland,  und  dßn  p.  gmetM»« 
Inhalt  der  einzelnen  Stücke.  Der  Form  nach  sind  diese  »Mä  Yiast«. 
Stücke  einsätzige  Kompositionen.  Smetana  hat  sie  als 
sinfonische  Dichtungen  bezeichnet,  obwohl  sie  sich  mit 
der  Natur  dieser  von  Liszt  eingeführten  Gattung  nur  teil- 
weise begegnen.  Sie  sind  viel  einfacher  angelegt.  Sie 
hier  in .  den  Verband  von  Sinfonie  und  Suite  mit  einzu- 
reihen veranlaßt  und  berechtigt  der  Umstand,  daß  sie  ein 
zusammenhängendes,  durch  gemeinsame  Themen  ver- 
bundenes Ganzes  bilden.  Die  ersten  vier  sind  1874  und 
1875  entstanden,  die  beiden  letzten  erst  drei  und  vier 
Jahre  später  hinzugefügt,  alle  zusammen  erst  nach  der 
Wiener  Theater-  und  MusUsausstellung  weiter  bekannt  ge- 
worden. Wohl  mit  Recht  ist  dieser  Zyklus  als  Smetanas 
Hauptwerk  bezeichnet  worden.  Man  darf  bei  diesem  Ur- 
teil die  vaterländischen  Absichten  des  Komponisten  ganz 
beiseite  lassen  und  sich  auf  den  musikalischen  Wert  be- 
schränken. Da  bleiben  allerdings,  wie  überall,  die  von 
Polka,  Marsch  und  heimischen  Tanzweisen  abgeleiteten 
Abschnitte  die  anheimelndsten,  vom  stärksten,  mächtigsten 
innern  Strom  getragnen.  Aber  Smetanas  Talent  wird  hier 
doch  auch  in  seinem  weiten  Umfang  offenbar  und  zeigt 
sich  in  dem  weiten  Bereich  von  der  Schilderung  des  heim- 
lichen Naturlebens,  phantastisch  luftigen  Elfentreibens  bis 
zum  Ausdruck  der  feierlichsten  Stimmungen  und  großer, 
Welt  bewegender  Ideen  sicher  und  ergiebig.  Freilich  bleibt 
darum  zwischen  ihm  und  Mozart  immer  noch  derselbe  Ab- 
stand wie  zwischen  Dvofak  und  Beethoven.  Der  neuste 
Biograph  des  böhmischen  Tonsetzers  hätte  sich  dieses 
Vergleichs  besser  enthalten,  schon  deshalb,  weil  unsre 
Zeit  weder  eines  Haydn,  noch  eines  Mozarts,  noch  eines 
Beethovens  fähig  ist. 

Bei  der  Komposition  seiner  Tongemälde  hat  sich  Sme- 
tana in  die  Rolle  eines  Rhapsoden  alter  Zeit  hineingedacht, 
der  seinen  Zuhörern  von  großen  geschichtlichen  Begeben- 
heiten erzählt  und  sie  dazwischen  hinein  vor  liebliche 


^ 


-^    536    <^- 

Idylleu  führt.  Zu  der  ersten  Klasse  gehören  I.  Vyaehrad, 
111.  Särka,  V.  Täbor  und  VI.  Blanik;  zur  zweiten:  it  Vltava 
(Moldau)  und  IV^  Z  6eskych  luhuv  a  häjftv,  d.  i.  Aus  Böh- 
mens Hain  und  Firn. 

Zu  dem  Zyklus  gibt  es  kurze  Programme  von  V.  Zeleny, 
die  deshalb  beachtet  werden  müssen,  weü  sie  (nach  Wel- 
lek)  Smetana  selbst  beglaubigt  hat. .  Danach  ist  der  In- 
halt des  ersten  Stückes:  »Vysehrad«  folgender: 
F.  SmetftBft,  Der  Dichter  hört  beim  Anblick  des  Yysebrader  Felsens  Im 

Vyt«liTftd.    Geiste  die  Klänge  der  Leier   des  sagenhuften  Sängiers  Lumir. 

Vor  seinen  Blicken  erbebt  sich  der  VyscbUd  im  Glänze  seiner 
glorreichen  Vergangenheit  wieder.  Auf  dieser  Hochburg,  wo 
.  der  Thron  der  Herzöge  und  Könige  aus  dem  Geschlechte  der 
Pi^mysliden  stand,  versammelte  sich  die  Ritterschar  zu  Ding- 
und  Heerfahrt.  Die  Feste  dröhnte  in  ihren  Gründen  vom  Tritt 
der  einziehenden  Krieger  und  ihrem  Triumphgesang.  Bald  sieht 
der  Dichter  aber  den  Untergang  der  alten  Glorie.  Wilde  Kämpfe 
wüten  und  die  herrlichen  Hallen  des  Königssitzes  zerfallen  in 
Schutt  und  Trümmer.  Auch  diese  gewaltigen  Stürme  verstummen, 
der  Vysehrad  steht  öde  und  verlassen  da,  ein  Bild  vergangnen 
Ruhms.  Aus  seinen  Ruinen  hallt  klagend  das  Echo  des  längst 
verstummten  Saitenspiels  Lumirs  nacb. 

Nach  dieser  Angabe  haben  wir  in  der  Komposition 
drei  Bauptteile  zu  erwarten,  die  nacheinander  den  Glanz 
der  Burg,  den  Kampf,  der  um  sie  geführt  wird,  und  ihr 
Ende,  iluren  Verfall  schildern.  Sie  finden  wir  auch  in  der 
Musik  und  bemerken  dabei  sofort,  daß  Smetana  seine 
Schilderung  durch  Einfügung  begleitender  und  bereichern- 
der Züge  sehr  wirksam  zu  beleben  weiß.  Zu  jenen  drei 
Teilen  tritt  noch  anhangsweise  ein  vierter,  in  dem  aus 
den  Augen  des  beutigen  Geschlechts  noch  einmal  ein  Rück* 
blick  auf  die  vorgetragnen  Begebenheiten  geworfen  wird. 
Dabei  tritt  naturgemäß  die  Zeit  des  Glanzes  wieder  her- 
vor und  die  Perioden  des  Unglücks  bleiben  im  Dunklen. 
Die  etwas  künstliche  Vermittelung  der  Schilderungen  durch 
den  altböhmischen  Orpheus,  den  Sänger  Lumir,  hat  Sme- 
tana wahrscheinlich  nur  der  Harfeneffekte  wegen  ins  Pro- 
gramm genommen.   Bei  den  spätem  Stücken  des  Zyklus 


537 


<''^'TM'/'"/j'|'f 


fällt  sie  weg.  Hier  in  Yysehnad  gibt  sie  Gelegenheit  zu  einem 
romantischen,  stimmungsvollen  Eingang:  Von  Harfen  vor- 
getragen hören  wir  den  wichtigsten  Melodiekern  des  Satzes 

LtfnML'i      I  *.      .  d®^  Smetana 

in  verschier 
dener  Weise 
zu   Perioden 

weiterbildet.  Die  erste  Harfe  rauscht  in  die  Pausen  des  schritt- 
weise langsam  aufsteigenden,  sich  aufbauenden  Themas  Ar- 
peggien  hinein.  Bei  Harfenklängen  denkt  jedermann  gern 
an  den  König  David,  an  den  blinden  Homer  und  an  die  von 
Klopstock  geschilderten  Barden.  Sie  führen  die  Phantasie 
unwillkürlich  in.  alte  Zeiten,  und  der  Balladengeist  des  The- 
mas tut  das  Weitere,  sie  da  festzuhalten.  Nachdem  die  Me- 
lodie, die  von  vornherein  schon  elegisch  gestimmt  ist  und 
auf  verschwundne  Herrlichkeiten  hinweisen  kann,  zweimal 
durch  die  Bläser  gezogen  .fl.u  .      ^ 

ist,  spielt  die  Musik  ganz  yHi  J  "J  J  j^  j^  I  /J^^ 
kurz  auf  Rittertum  an  mit         P-P  '      ""^  =^ 

wozu  die  Trompete  noch  ein  ausdrückliches  Heersignal 
beisteuert,  und  fügt  diesem  neuen  aus  der  laterna  magica 
gesehnen  Bildchen  gleich  ein  weitres,  sofort  breiter  ausge- 
führtes Motiv  zu,  das  in  sei-  „—.—«.«—_  einen  ge wis- 
ner Zusammensetzung  aus:^^t[^  1^  ^  J  I  J^sen  Hinweis 
einfachen Dreiklanesnoten^^    J  ■*  "  »^  J  "^    ^auf  Wasser- 


einfachen Dreiklangsnoten ^^  *  "  ■  ^  -  'auf  Wasser 
musik  bietet  Es  ist  wohl  kaum  zu  bezweifeln,  daß  Sme- 
tana mit  diesem  Motiv  zunächst  auf  die  WeUen  der  Moldau 
hat  hindeuten  wollen,  die  noch  heute  den  Prager  Stadt- 
teil bespülen,  der  an  der  Stelle  entstanden  ist,  wo  ehe- 
mals die  stolze  böhmische  Fürstenburg  lag.  Doch  hat 
sich  der  Begriff  des  Stroms,  den  diese  Töne  zuerst  trugen, 
unwillkürlich  zu  dem  des  Landes  und  der  Landeskraft  er- 
weitert. So  kommt  es,  daß  Smetana,  wenn  die  Melodie 
des  Vysehrad  im  begeisterten  Ton  erklingt,  in  der  Regel 
den  größten  Schwung  der  Stimmung  in  Bildungen  über- 
leitet, die  aus  diesem  Wassermotiv  hergenommen  sind. 
Bald  kommen  wir  an  eine  solche  Stelle.  Nachdem  das 
bisher  beschriebne  Material  aufgestellt  ist,   bringen  die 


^ 


538 


Sireichinstrumente  den  Gesang  vom  Yysehrad  in  Bdur. 
Am  Schluß  dieser  Periode  fängt  es  an  zu  fluten,  und  nun 
himrot  das  volle  Orchester  im  glänzendsten  Klang  die 
Melodie  in  der  Haupttonart  durch.  Die  Melodie  klingt 
jetzt  vollständig  folgendermaßen: 


^?Sß 


7      i7~^ 


Trompeten  und  Homer  schmettern  darein  — •  das  im 
vierten  Takt  zuerst  neu  eintretende,  durch  das  Sech- 
zehntelpaar bemerkbare  Motiv  drängt  sich  hervor  und 
teilt  sich  mit  dem  Wassermotiv  in  eine  Fortsetzimg,  die 
bis  zu  Lauten  höchsten,  trunkenen  Jubels  führt  Als  er 
abbricht,  hören  wir  still  wie  mahnend  die  Klänge  vom 
Vy§ehrad  und  von  der  Moldau,  die  eine  lange  Strecke 
immer  leiser  miteinander  wechseln.  Und  als  die  Wellen 
kaum  noch  sich  bewegen  —  da  setzt  der  zweite  Teil 
ein:  die  Schilderung  der  bösen  Zeit,  der  Zeit  der  Kriege 
und  Kämpfe. 

Das  Mittel,  um  diesen  Kampf  um  Vysehrad  zu  schil- 
dern, nimmt  Smetana  aus  dem  ersten  Teil  seines  Ge- 
mäldes, indem  er  das  Burgmotiv  in  der  geistreichen 
Weise  liszts  folgendermaßen  umbildet: 


Diese  verzerrten  Rhythmen  genügen  schon  allein,  den 
häßlichen  Streit  zu  malen;  den  wachsenden  Kampfes- 
eifer bezeichnen  lange  Figuren,  in  denen  das  Streich- 
orchester sich  verworren  windet,  um  einstimmig,  atemlos 
und  wuchtig  nach  der  Höhe  zu  stürzen.  Dann  beginnt  ein 
kontrapunktisches  Spiel,  das  den  Fortgang  des  Kampfes 
sehr  gut  veranschaulicht.    Das  aus  dem  Burgmotiv  ab- 


539, 


geleitete  —  soeben   angegebene  —  Streitmotiv  wird  in 
EngfOhnuigen  voröbergetührt,  an  denen  alle  Stimmen  so 
teilnehmen,  daß  wir  Viertel  auf  Viertel  schneidige  Ak- 
zente hören,  so  als  ob  Streich  anf  Streich  herniedersanste. . 
Die  steigende  Kampfeshitze  malen  Streicherfiguren  wie 

\^_^ kp_  fn  oder  es  tre- 
ten wieder 
die  chroma- 
tisch verworrenen  Unisono-Gänge  dazwischen,  die  sich  dem 
Streitmotiv  gleich  beim  ersten  Erscheinen  anschlössen: 


cresc. 

An  einem  Höhepunkt  dieser  Schilderung  erscheint 
das  Burg-  -^  ^  ^  ^    Das  sind  die  froh- 

motiv  in  ^Lk  f  f  fT  if  f  i  fl  lockenden  Verteidi- 
folgender  ^^  ^  ir-^-  '  *^  '  ger-  der  Angriff 
Form:  «^  scheint    abgeschla- 

gen. Da  stürmen  —  und  wie  der  Anfang  des  Themas 
zu  schließen  erlaubt  —  vom  Moldautale  her  frische 
Scharen  an: 


i 


fi'i"fn°JT^iii  r  I 'i"°jr^jri|i  pff| 

JGT 

Wie  das  langsamere  Tempo  zeigt,  wird  der  Sturm  jetzt  beson- 
nener, kräftiger,  wuchtiger  geführt.  Die  Folge  hören  wir  in : 
iQariiietteB.  Das  ist  das  Burg- 

^^'l.  f  ,  f^ji    I  f^^^^:^  Zr  it 

P  "^^    ='  sen  Klage,  einer 

Warnung  gebracht.  Es  ist  die  Stimme  des  ahnenden, 
erschreckten  Hausgeistes.  Sie  spricht  zuweilen  sehr  drmg- 
lich,  aus  offener  Gefahr  heraus ;  aber  in  der  Hauptsache 
so  freundlich  bittend,  daß  man  aus  ihr  das  Lied  des 
Herolds,  der  den  Frieden  verkündet,  hören  könnte,  wenn 
nicht  die  kriegerischen  Signale  der  Trompete  uns  über- 
zeugten, daß  der  Kampf  fortgeht.    So  treten  denn  auch 


540 

die  neaen  Scharen,  die  sich  unter  dem  Moldaumotiv  ge- 
sammelt haben,  bald  zum  letzten  Sturm  an.  Kurz  darauf 
erscheint  das  Verteidigermotiv  wie  in  größter  Not,  in 
.  kurzen  Wiederholungen,  die  an  Hilfe-  und  Angstgeschrei 
gemahnen.  Daran  knüpft  sich  ein  Zurückgreifen  auf  den 
Anfang  des  Allegros!  Die  Motive  des  Streits  und  der 
Verwirrung  tauchen  in  potenzierter  Bedeutung  auf  und 
im  selbigen.  Augenblick  fällt  die  Entscheidung.  Der 
Klagegesang,  den  wir  vorhin  nur  wie  eine  leise,  ver- 
einzelte Stimme  hörten,  kommt  (beim  Piü  mosso,  Gdur) 
fff  vom  ganzen  Orchester.  Wir  sind  damit  in  den  dritten 
Teil  des  Stücks  eingetreten.  .Er  wird  zu  einer  leiden- 
schaftlichen, heißen  Siegeshymne.  Aber  an  ihr  Ende 
reihen  sich  die  Sturmmotive  noch  einmal;  sie  haben  jetzt 
den  Charakter  von  Verwünschungen,  klingen  äußerst  hef- 
tig und  stechend  und  führen  zu  einer  in  breiten  Noten 
und  auf  Tremolos  aufbauenden  Klage.  Das  bedeutet  den 
Fall  von  Vysehrad,  und  damit  schließt  der  dritte  Teil.  Mit 
Piü  lento  setzt  der  Anhang  ein.  Er  zeigt  in  leisen  Ton- 
farben wie  >in  der  Ferne  längst  vergangner  Zeiten«  und 
wesentlich  verkürzt  die  Bilder,  die  eben  lebendig  an  uns 
vorübergezogen  sind.  Zunächst  knüpft  er  an  den  Klage- 
hymnus an,  dessen  Motive  er  zwischen  Dur  und  Moll 
wechseln  und  schillern  läßt,  dann  führt  er  das  Burgmotiv 
in  der  ernst  elegischen  Fassung  vor,  in  der  es  die  Kom- 
position eröffnete.  Sehr  schön  fügt  nun  der  Koftiponist 
diesen  ruhigen  Betrachtungen  noch  einige  Zeilen  aus 
glühendem  Herzen  hinzu.  Die  Musik  wallt  auf  in  langen 
Triolengängen  und  nimmt  noch  einmal  in  Schwung  und 
Begeisterung  die  Burgmelodie  auf.  So  freut  sich  das 
neue  Geschlecht  der  herrlichen  Vergangenheit  seines 
Volkes  und  hofft.  Darauf  wird  es  still.  Leise  rauschen 
wieder  die  Wellen  der  Moldau,  wie  im  Traum  klingt 
nochmals  Rittermusik  und  Burgmotiv  an,  und  die  Harfe 
breitet  einen  Schleier  über  alle  die  Szenen  aus  Vergangen- 
heit und  Gegenwart. 

Wie  diese  Untersuchung  ergibt,  ist  die  ganze  Kom- 
position nicht  bloß  sehr  klar,  sondern  auch  poetisch  reich 


--•    541     <^^ 

entworfen  und  durchgeführt.  In  ihrem  musikalischen 
Wesen  spiegelt  sich  neben  dem  Einfluß  des  Volksliedes, 
den  der  Klagesang  am  deutlichsten  zeigt,  am  stärksten 
der  von  Beethoven  wieder. 

Das  zweite  Stück  des  Zyklus,  »Vltavac  betitelt,  ist  f.  SneUB«, 
vor  allen  den  anderen  am  frühesten  und  weitesten  be-  yiUto. 
kannt  geworden,  obwohl  es  viel  weniger  Geist  enthält 
als  z.  B.  9Vy§ehrad«.  Es  verdankt  diesen  Vorzug  seinem 
heiter  romantischen  Charakter  und  der  leicht  verständ- 
lichen Form,  in  der  es  seinen  Inhalt  entrollt.  Dieser 
besteht  aus  einer  Reihe  von  Bildern,  die  einfach  an- 
einander gereiht  sind;  nur  einzelne  sind  durch  ein  ge- 
meinsames musikalisches  Motiv  verbunden,  eine  munter 
dahingleitende  Sechzehntelfigur,  die  das  Spiel  der  Wellen 
in  ähnlicher  Weise,  wie  das  schon  seit  Jahrhunderten 
geschehen  ist,  veranschaulichen  will.  Denn  der  Gegen- 
stand des  Programms  dieser  zweiten  sinfonischen  Dich- 
tung, die  >Vltava«,  ist  die  Moldau,  der  Hauptstrom  des 
böhmischen  Landes. 

»Zwei  Qaellen  —  sagt  die  von  der  Veilagshandlnng  ¥61- 
öffentlichte  Inhaltsangabe  —  entspringen  im  Schatten  des  B5b- 
merwaldes ;  die  eine  warm  und  sprudelnd,  die  andere  kühl  and 
rnhig.  Die  lastig  in  dem  Gestein  dahlnraaschenden  Wellen 
▼ereinigen  sich  and  ergänzen  in  den  Strahlen  der  Morgensonne. 
Der  schnell  dahineilende  Waldbach  wird  zum  Flasse  Vltava, 
welcher,  immer  welter  darch  Böhmens  Gaue  dahinfließend,  za 
einem  gewaltigen  Strom  anwächst;  er  fließt  darch  dichte  Wal- 
dungen, in  denen  das  fröhliche  Treiben  einer  Jagd  immer  niher 
hörbar  wird  and  das  Waldhorn  erschallt,  er  fließt  dnrch  wiesen- 
reiche Triften  and  Niederungen,  wo  unter  lastigen  Kl&ngen  ein 
Hochzeitsfest  mit  Gesang  und  Tanz  gefeiert  wird.  In  der  Nacht 
belustigen  sich  die  Wald-  und  Wassernymphen  beim  Mond- 
scheine auf  den  glinzenden  Wellen,  In  denen  sich  die  vielen 
Burgfesten  und  Schlösser  als  Zeugen  vergangener  Herrllehkeit 
des  Rittertums  und  des  geschwundenen  Krlegsruhmi  vergange- 
ner Zelten  abspiegeln.  In  den  Johannlsstromschnellen  braust 
der  Strom,  durch  die  Katarakte  sich  durchwindend,  und  bahnt 
sich  mit  Gewalt,  mit  sch&umenden  Wellen  den  Weg  durch  die 


-^    542    ^^ 

Fel8«ii8palte  in  das  breite  Flußbett,  in  welcbem  er  mit  maje- 
sAÜscIiei  Rohe  gegen  Prag  weiter  dahinfließt  bewiUkommt  vom 
altehrwürdigen  Tysefarad,  worauf  er  in  weiter  Feme  den  Augen 
des  Dichters  entschwindet« 

In  diesem  Programm  ist  zu  dem,  was  der  Komponist 
wirklich  bietet,  einiges  hinzugedichtet  Smetana  hat  in 
der  Partitur  selbst  über  seine  Absichten  knappe  Ausknnft 
gegeben:  sobald  ein  neues  Tonbildchen  eintritt,  wird  es 
durch  eine  Überschrift  vorgestellt  Der  erste  Abschnitt 
heifit  darnach  >der  erste  Strom«,  damit  ist  gemeint:  der 
Anfang  des  Stromes.    Folgendes  Thema 

AUegro  commodo  noa  agitato.  ^^^^^ 

I  j)  g  liegt  ihm  zu  Grunde.  Mit 
spärlichen  und  kurzen  To- 
nen der  Harfe  und  der  Violine  begleitet,  tragen  es  zuerst  die 
beiden  Flöten  vor,  denen  s\ph  von  dem  Trugschluß  auf 
G  dur  ab  die  Klarinetten  gesellen.  Ob  diese  beiden  Instru- 
mente wirklich  auf  die  Zweiheit  der  Moldauquellen,  die 
in  dem  angeführten  Programm  betont  wird,  Bezug  haben 
sollen,  kann  bezweifelt  werden.  Die  Tonfarben  der  beiden 
Holzbläser  scheiden  sich  doch  nicht  wie  warm  und  kalt; 
außerdem  hat  der  Komponist  ersichtlich  an  viel  mehr 
kleine  Wässerchen  gedacht,  die  zum  Bach  und  zum  Fluß- 
chen  zusammenlaufen.  Es  rauscht  in  vierBläserstimmen, 
die  Bratsche  murmelt  ihre  langen  Triller  dazu,  es  mehrt 
sich  unermeßlich,  als  das  Streichorchester  die  Wellen- 
motive mit  aufnimmt.  Die  Wasserpoesie  Smetanas  hat 
nicht  den  träumerisch  ruhigen  Charakter,  der  uns  an 
M.  y.  Schwinds  Melusinenbilder  fesselt.  Sie  nähert  sich 
dem  mnsikalischen  Stil  von  Mendelssohns  Hebriden- 
Ouvertüre,  unterscheidet  sich  aber  von  ihr  durch  die  viel 
munterere  Natur  der  Motive.  Sie  stellen  die  junge  Moldau 
als  ein  frisches  Gebirgskind  dar,  das  es  eilig  hat  Der 
kleine  Fluß  gleitet  allmählich  etwas  gleichmäßiger  dahin, 
und  dieser  Abschnitt  seiner  Entwickelung  wird  von  einer 


r 


--♦    543    ^^ 

Melodie  dargestellt,  die,  weun  sie  nicht  Volkslied  wäre, 
zar  Hälfte  von  Mendelssohn  .stammen  könnte: 

f  9}  pTf '  f   P  I  r   >   HoIzWäaer  führen  diese  Mol- 
-*=>-  s»"—  daumelodie,  die  bereits  in 

den  Sechzehntelmotiv^n  des  Anfangs  vorausklang,  mit  den 
ersten  Violinen  ein,  in  den  anderen  Geigen  rauschen  die 
Wellenmotive  stärker  und  mit  kräftigerem  Anlauf.  In  den 
Hörnern  klingt  es  frühlingslustig  darein.  Mächtiger  wird 
der  Schwung  dieses  Gesanges,  als  er  nach  G  dur  tritt:  er 
schwillt  zum  ff  an  und  findet  —  als  träte  er  in  die  volle 
Sonne  und  in  das  blühende,  reiche  Land  hinaus  —  einen 
mächtigen,  mit  seiner  Schönheit  ergreifenden  und  doch 
einfachen,  im  volkstümlichen  Stil  bleibenden  Abschluß 
in  Edur.  Merkwürdig,  wie  dieses  Dur  einschlägt,  obwohl 
Smetana  das  gis  nur  streift  und  zum  g  zurückkehrt. 
Dem  nächsten  Abschnitt  hat  Smetana  die  Aufschrift 
»Waldjagd«  gegeben.  Daß  er  am  Strom  weiter  spielt, 
hören  wir  aus  den  Geigen,  in  denen  die  Wassermotive 
fortgeführt  werden.  Die  Bläser  aber,  natürlich  die 
Hörner  voran,  entwickeln  eine  neue  Musik  aus  Fanfaren. 
Das  neue  Bild  bringt  in  die  Komposition  ein  kräftiges 
Leben,  das  zu  der  vorhergegangenen  Wasserstimmung 
iLTk  sich  schon  eine  Steigerung  bildet,  aber  durch  die 
Entwickelung  der  Jagdthemen,  die  auf  folgendes  Motiv 
jmmfmm      s^v  zurückgeheu,  noch  viel 

i[|  Ji  3j  jTjj    I  f^Ji  =S|  mächtiger  wirkt.    Denn 
ff"  f»  41  Hl   '  A  1  i.=^  Smetana  führt  sie  in  den 
^  scharfen  Wendungen  der 

Modulation  von  Periode  zu  Periode,  (von  0  nach  0,  nach 
Ff  nach  Ej,  die  uns  allen  aus  dem  ersten  Satz  von  Beet- 
hovens Pastorale  in  Erinnerung  sind.  Es  ist  das  wieder 
eine  Stelle,  die  den  böhmischen  Komponisten  in  Beet- 
hoven tief  eingedrungen  und  von  seinem  inneren  Wesen 
gefördert  und  geleitet  zeigt.   Die  Jagdszene  verklingt  auf 


544    ♦— 

einem  langen  Edurakkord  wie  in  weiter  Ferne,  und  nun 
kommt  »die  Bauernhochzeit«,  die  vielleicht  unter  den 
kleinen  Bildern,  aus  denen  >Yltava«  besteht,  am  meisten 
bestrickt  Diese  Musik,  deren  Grundstoff  auf  d^n  vier 
Takten 


ruht,  könnte  unmittelbar  aus  einer  der  Opern  Smetanas 
genommen  sein,  Es  ist  eine  polkaartige  Tanzweise,  ein 
Stück  Volksmusik,  wie  es  in  seiner  naiven  Anmut  und 
mit  dem  kleinen  Beisatz  von  Derbheit  bei  den  Böhmen 
allein  vorkommt  Liebenswürdigere  Kunst,  als  sie  in 
dieser  kleinen  Dorfszene  vorliegt,  gibt  es  nicht;  gern 
trägt  man  so  ein  Stückchen  für  alle  Fälle  mit  sich  durchs 
Leben.  Auch  dieser  Satz  verklingt  ganz  leise;  wieder 
schiebt  der  Komponist  eine  kleine  Leiste  ein.  und  da- 
hinter zieht  er  das  nächste  Bild  auf  mit  der  Überschrift 
»Mondschein,  Nymphenreigen«.  Es  ist  mit  der  Wasser- 
szene, die  die  Komposition  einleitet,  nahe  verwandt,  wie 
es  denn  auch  am  Schluß  in  die  Moldaumelodie  ausläuft,  die 
die  zweite  Hälfte  jenes  Ab-  uq. 

sohnitts  bildet.    Bis  dahin  rAtiib»  =jgHBPj    h  . 

entwickelt  sich  die  Musikauf#^      L^J  P  ^ 

Grund   eines  Naturmotivs  2.fi. 

das  bald  in  folgender  bestimmteren  thematischen  Form 

■BüHB  PFP!  rt^HLh__  ^^^  ^^°  Flöten 
^b'l>»  jTp  ^  ■  ^  '  iTf  r  r  "1  durchgeführt  wir  1. 
^  ^— -^  '  *"*iW   p       Die  Klarinetten  be- 

gleiten in  sanften  Triolen,  die  Violinen  hauchen  einen 
breiten  Gesang  in  die  zarte  Farbenstndie  hinein,  auch  die 
Harfe  macht  sich  mit  glänzenden  Klangtropfen  bemerk- 
lich. Soviel  das  Mondlicht  auch  wechselt:  immer  bleibt 
das  Spiel  unverändert  zierlich,  die  Bewegung  der  Nymphen 
fein  bis  zum  Unerkennbaren.  Die  Dynamik  des  ganzen 
Abschnitts  hält  sich  im  pp;  nur  an  einer  Stelle,  wo  die 


_-^     545    «^ 

Mtisik  nach  Hdur  tritt,  kommt  em  crescendo,  das  dezent 
nach  einem  p  und  in  die  Wassennnsik  des  ersten  Ab- 
schnitts von  »Vltava«  zurückführt.  Schon  aus  dieser 
Wendung  läßt  sich  vermuten,  daß  der  Komposition  die 
Rondoform  zu  Grunde  liegt.  Das  Moldaulied  ist  ihr 
Hauptsatz,  die  anderen  Ideen  haben  die  Bedeutung  von 
Episoden,  Zwischensätzen.  An  den  Abschluß  des  Lieds 
reiht  sich  ein  neuer  Abschnitt,  den  Smetana  >St.  Johann- 
Stromschnellen«  überschrieben  hat.  Die  Gewalt  des 
Wassers,  das  Toben,  Wü-  -jhr-^^^^^-rz  i  0  r  n 
ten  des  Elements  ist  auf  -ffl  "  jT^zJ  [cfrf^^^^^ 
Grund  folgender  Motive  jf— ===^  ""^^  ^^^ 
_  j     Hj        II  Ml   T  II    II  veranschaulicht,  die 

'^"^    ^S  "itjjjjlM  >'    "jja  "-^  von  den  Geigen  bis 
jUr""^^^  ^  zu  den  Cellis  durch 

das  Streichorchester  unaufhörlich  erklingen.  Ruht  die  eine 
Stimme  auf  einer  Achtelpause,  rauschts  in  einer  anderen. 
Die  Kontrabässe  spielen  mit  immer  gleichem  Eifer  wieder 

nndwieder  k  .    ^^  jT^m     ia»  ß^^   i*^   *^^ 

die  wuch--yPn4|J  J)  iy*  I  [■  P  r  P  rr  iMotiven  der 
tige  Figur  "  Moldaunielo- 

die  gebildet,  dj,e  auch  während  der  ganzen  wilden,  rea- 
listisch aufregenden  Szene  in  leibhaftigen  Bruchstücken 
in  den  Bläsern  anklingt  Auch  in  anderen  kurzen  Mo- 
tiven und  sprechenden  Klängen  äußert  sich  Hilfe-  und 
Angstgeschrei  und  verzweifelte  Verlegenheit.  Endlich 
-(nach  einem  fff  des  vollen  Orchesters)  ist  die  böse  Stelle 
Überwunden.  Ein  decrescendo  und  ein  crescendo  der 
Geigen  —  und  nach  wenigen  Takten  sind  wir  wieder 
beim  Hauptsatz  des  Rondos,  bei  der  Moldaumelodie, 
die  im  glänzenden  Edur  mit  der  Oberschrift:  >Der 
breiteste  Strom«  einsetzt  und  drängend,  wie  zum  Aus- 
druck freudigster  Erregung,  varriiert  wird.  Ihr  folgt 
als  der  letzte  Abschnitt,  als  Schluß  der  Komposition 
ein  in  Edur  gehaltener,  zu  zwei  Dritteln  auf  dem 
Akkord  der  Tonica  liegender  Satz,  der  das  VySdirad- 
motiv  in  breiten  Rhythmen  zum  Thema  nimmt  und  in 
der  Art  der  Weberschen  Jubelouvertüre  umspielt.     Die 

Krot  r.Bch  in  tr,  Führer.     I,  1.  JIÖ 


-^     646    4— 

Moldau  fließt  ja  an  Prag  und  an  der  alten  Fürstenburg 
Yorbei. 
p.  gMcUsa,  Wenn  die  dritte  Nummer  des  Zyklus,»  8 ärka«,  wenig 
§drka  bekannt  geworden  ist,  ja  es  noch  nicht  einmal  zu  einer 
gedruckten  Partitur  gebracht  hat,  so  liegt  der  Grund  in 
der  Komposition.  Sie  ist  wohl  dramatisch  geplant,  aber 
sie  bleibt  zu  vorwiegend  hart  und  grausam,  und  was  die 
Hauptsache:  in  der  musikalischen  Erfindung  ist  sie  mit 
Ausnahme  von  zwei  Stellen  nur  mäßig  gut  und  ohne 
die  Reize  der  Volkstümlichkeit  Das  Programm  —  viel- 
leicht aufgedrungen  —  scheint  Smetana  nicht  erwärmt 
zu  haben. 

Dlika,  nach  deren  Nameu  auch  ein  f  al  im  Norden  Ton  Prag 
benannt  lat,  var  eine  der  Anführerinnen  in  dem  langen  Krieg, 
den  die  böhmischen  Jungfiranen  unter  dem  Oberbefehl  der  von 
Karl  Egon  Ebert  besongnen  Wlasta  gegen  die  M&nner  dea  Landes 
führten.  Der  Bitter  Gtirad  findet  sie  im  Walde  an  einen  Baum 
gebanden  und  löst,  die  List  nicht  merkend,  mitleidig  der  Tod- 
feindin die  Fesseln,  führt  sie  in  sein  Lager  und  feiert  mit  den 
Genossen  den  Liebesraab.  Als  aber  die  Bitterschar  trunken  in 
Schlaf  gefallen  ist,  mft  Sarka  die  Amazonen  herbei,  und  Otirad 
>idrd  mit  den  Seinen  niedergemacht  ^ 

Der  erste  Abschnitt  der  sinfonischen  Dichtung  schil- 
dert Krieg  und  Kämpfe  auf  Grund  des  Themas: 

AU«gro  eoa  ftiooo. 


jihP^I^^^^^ 


JffV 

sehr  energisch,  an  einer  Stelle  dramatisch  aufregend.  Es 
ist  da,  wo  den  Fluß  der  wilden  Triolengänge  plötzlich 
die    stok- 


kenden  friiji^'    *  P  ^^^^^^^i\^Ün 
Rhythmen     V  •       •        ^  . 

unterbrechen«  Deuten  sie  auf  einen  ungeheuren  Eni- 
Schluß,  auf  das  Wagnis,  zu  dem  Särka  bestimmt  wird? 
Noch  eine  andere  Stelle  fällt  durch  ihre  Weichheit  aus 
dem  Ton  dieser  Amazonenmusik: 


647 


P 

Soll  in  ihr  des  Weibes  eigentliches  Wesen  die  Amazonen; 

roaske  durchbrechen?  Der  zweite  Abschnitt  ist  eine  Marsch- 

mnsik,  die  auf  das  folgende  liebenswürdige  Thema  gestelltist : 

_.        -     .  Mit  ihm 

g"  JXJX^^  (^i  '  Ji  J  J7^  l  ^      Smetana 

S*  die    Rit- 

ter als  gutmütige,   sorglose  Leute;   etwas  fester  treten 

sie    in    den   Bläsermotiven      fi  J  i  ■   -    i    !  i 

auf,  welche  mit  dieser  Gei-     ^  ü  f  t  ■  ^  M  p  |^   J   I 
genstelle    zusammengehen:  ^      ^ 

Diese  Rittermnsik,  die  den  ersten  von  den  musikalisch 
glücklicheren  Abschnitten  in  >§ärka«  bildet,  erhält  plötz- 
lich durch  eine  klagende  Melodie  der  Klarinette  einen 
Gegensatz.  Wir  haben  uns  darin  die  Stimme  der  an  dem 
Baum  hängenden  äärka  zu  denken.  Endlich  wird  sie  von 
den  Rittern  entdeckt.  Der  Marsch  pocht  viermal  ff  und 
mit  Nonenakkorden  i— ^  i  Dann  folgt  ein  Dialog  zwi- 
auf  dem  Rhythmus  #•  •  J  sehen  Klarinette (Särka)  und 
Cello  (Gtirad)  in  beweglichen  Rezitativen  und  ihm  der 
dritte  Abschnitt.  Er  ist  ein  Adursatz,  über  das  Thema 
^ModerMo  ma  co^cilore.    ^^— 1<^         ^,^  gebildet, 

den  wir 
als  Lie- 
besszene zu  denken  haben  und  der  am  Schluß  große  Ge- 
fühlswärme entwickelt  Das  Gelage  der  Ritter  löst  ihn  ab. 
Diese  Szene,  die  von  Hörnern,  Trompeten  und  Posaunen 
ziemlich  tumultuarisch  eingeleitet  und  in  ihrem  Charakter 
bezeichnet  wird,  ruht  musikalisch  wesentlich  auf  rhyth- 
mischer Wirkung  und  erinnert  hierin,  sowie  in  der  Ge- 
staltung ihres  Grundmotivs  sehr  lebhaft  an  eine  der 
besten  Szenen  in  Smetanas  »Kuß«.  Hier  ist  die  Figur 
Moflenio.  ^  die  mit  der 

tjjnfp   ifpf-  ^'^"^^^t  .  T  .  nL  Entschie- 

'  •'   r  ^»1     1  *-  .r       r  \  rP  r  I  I    r  T^  denheit.  di 


denheit,  die 
•*c-  die  böhmi- 

36* 


^ 


— ^    548     6^ 

sehe  Volksmusik  auszeichnet,  aufpocht  und  aufschlägt.  Der 
eindringliche  Charakter  des  Motivs  an  sich  stellt  diesen 
Abschnitt  von  6ärka  unter  die  eindringlicheren  und  mu- 
sikalisch wertvolleren.  In  der  Ausführung  bietet  er  nichts 
Bemerkenswertes.  Ein  diminuendo  und  ein  pp  veran- 
schaulichen, wie  die  Ritter  müde  werden  und  schlafen. 
Da  klingt  erst  laut,  dann  leise  ein  Homruf:  die  Geigen 
malen  mit  tremolierenden  und  dissonierenden  Akkorden 
Erregung.  Wir  sind  in  den  Schlußabschnitt  eingetreten. 
Die  Amazonenmusik  aus  dem  Anfang  der  Komposition 
kehrt  wieder,  zunächst  allerdings  nur  leise  und  zGgemd 
wie  aus  der  Seele  der  schwankend  gewordenen  Sarka 
heraus;  dann  aber  wilder  und  wilder,  zuletzt  wie  ein 
Siegesrausch.  Als  es  zu  Ende  geht,  versuchen  sich  die 
Gestalten  der  Ritter  noch  einmal  in  rezitativartigen 
'  Baßstellen  zu  erheben.  Aber  gnadenlos  fegt  der  wilde 
Sturm  Über  sie  dahin. 
p.SBeUHs,  Das   vierte  Stück  des  Zyklus,    »Aus   Böhmens 

Aus  Böhmens  HaihundFlur«(Z  oesk^ch  luhüv  a  häjüv),  nähert  sich 
Hain  und  Flor,  j^  Charakter  etwas  der  Dichtung  über  die  Moldau.  Es 
ist  eine  Naturschilderung,  ein  musikalischer  Spazier- 
gang durch  das  gesegnete  Land  an  einem  schönen 
Sommertage.  Die  Komposition,  die  als  frei  variiertes 
Rondo  angelegt  ist,  zeigt  im  allgemeinen,  und  im  be- 
sondren in  der  Umbildung  und  Ausnutzung  der  lei- 
tenden Motive  große  Kunst.  Am  glücklichsten  ist  sie  in 
den  Teilen,  wo  ausgesprochnermaßen  Volksmusik  ange- 
stimmt wird. 

Ober  den  Inhalt  der  ersten  Abschnitte  dieser  sinfo- 
nischen Dichtung  hat  Smetana  selbst  sich  dem  obenge- 
nannten Zelen^  gegenüber  geäußert*).  Damach  soll  der 
Eingang  den  mächtigen  Eindruck  darstellen,  der  den 
Wandrer  beim  Eintritt  in  die  Landschaft  erfaßt  Ohne 
diese  Erklärung  würde  man  die  Musik  dieses  Eingangs 
kaum  im  Sinne  des  Komponisten  verstehen.  Sie  be- 
ginnt*mit: 

*)  Wellek  A.  a.  0.  S.  60. 


J 


549 


MoluTteodarato.  JiftS 

jütl  4  m^hrWf  \f^r^\fj?f  IgifT^'lp^  • 

^O -B----' 

•*  JIJ  f^J  j  J  J  U^  ^®  ^^®  Umdrehungen  eines  großen 
MSJLtf  5-^^       Mühlrads,  von  dem  das  Wasser 

schallend  herabrieselt  Sämtliche 
Streichinstrumente,  die  Kontrabässe  eingeschlossen,  sind 
in  dieser  Sechzehntelbewegung  begriffen,  ebenso  der  ganze 
Chor  der  Holzbläser,  die  Hörner,  Posaunen  und  Trom- 
peten geben  Glanz  und  Strahlen  drein.  Gedacht  bat  der 
Komponist  an  die  berauschende  Wirkung,  dfe  ein  großes 
Landschaftsbild,  von  der  Sonne  beleuchtet,  von  eine^ 
schönen  Punkte  aus  erblickt,  auf  ein  empfängliches  Ge- 
müt üben  kann.  Darum  wühlt  seine  Musik  mit  soviel 
Klang,  so  nachdrücklich  und  mit  der  Beharrlichkeit,  die 
Smetana  bei  Tonmalereien  häufig  liebt,  auf  demselben 
klemen  kreisenden  Motiv.  Während  in  der  ersten  Hälfte 
der  Satz  doch  noch  mit  den  Harmonien  wechselt,  die 
Lichter  vermindert' und  verstärkt  —  einmal  bis  zu  einem 
Nonenakkord  auf  J.  — ,  liegt  in  dem  Schlußteil  der  GmoU- 
Dreiklang  27  Takte  lang  fest,  von  fff  zum  pp  abschwel- 
lend. Als  es  stille  geworden  ist,  erhebt  sich  endlich 
über  diesem  Farben  rausch  ein  Gedanke.  Die  Klarinetten 
haben  ihn  aus  dem  Sechzehntelmotiv  entwickelt  und 
sprechen  in  dem  Augenblick,  wo  das  Bild  entschwindet,  Be- 
hagen und  Dankbarkeit  über  die  genossene  Schönheit  aus: 


Ober  den  an  diesen  kurzen  gemütvollen  Gesang  sich 
mnmittelbar  anschließenden  zweiten  Abschnitt  in  Gdur 
hat  Smetana  bemerkt:  er  gleiche  dem  Spaziergang  eines 
naiven  Dorfmädchens.    Sein  Thema 


560 


löst  den  letzten  Drack,  den  die  pathetische  Pracht  des 
Eingangs  in  der  Seele  des  Hörers  etwa  zurückgelassen 
hat  Zu  der  kindlichen  Fröhlichkeit,  die  mit  ihm  in  der 
Oboe  laut  wird,  tragen  die  Flöten  Elemente  der  Ausge- 
lassenheit hinzu.  Sie  kontrapunktieren  das  hübsche 
Sommerliedchen  mit  Figuren,  die  aus  den  Motiven  des 
ersten  Abschnitts  geformt  sind.  Da  das  Sommerliedchen 
selbst  aus  der  gleichen  Quelle  hervorgegangen  ist,  stehen 
wir  also  an  dieser  btelle  vor  einem  Beweis  von  Stoffbe- 
herrschung und  einheitlicher  Gedankenkraft,  der  dem 
Komponisten  Ehre  genug  macht.  Auch  dieses  zweite 
Bild  versinkt' langsam  und  wird,  wie  es  Smetana  in  die- 
sen sinfonischen  Dichtungen  so  häufig  tut,  durch  eine 
Pause,  also  sehr  schar/  und  mit  deutlichster  Benach- 
richtigung des  Zuhörers  von  dem  folgenden  getrennt. 
Dieser  folgende  dritte  Abschnitt  der  Komposition  ist  ein 
Fugato  über  das  Thema 


Allegro  poeo  vIvd.  J  s  188 


Es  steigt  von  dem  hier  angegebenen  Ende  immer  noch 
höher,  erinnert  damit  an  eine  Stelle  im  Wagners  »Sieg- 
friede, wo  die  Violine  ebenfalls  in  die  letzten  Lagen 
klettert  und  zwar  in  dem  Augenblick,  wo  der  Held  sich 
zur  Ausschau  auf  den  Brünhildenfelsen  begibt.  Smetana 
hat  hier  andre  malerische  Absichten.  Die  Szene  soll  an 
die  Mittagszeit,  an  die  Stunde  erinnern,  wo  die  Sonne  am 
höchsten  steht,  wo  Pan  schläft.  Daher  die  hohen  Klänge, 
das  Glitzern  und  Trillern,  die  wirre  Beweglichkeit,'  mit  der 
ab  und  zu  eine  Totenstille  tauscht  Daß  es  des  Tonsetzers 
Absicht  war,  einzelne  Züge  aus  dem  eigentümlichen  Leben, 
das  die  Natur  um  Sommermittagszeit  führt,  in  das  Bild 
hineinzubringen,  hat  er  selbst  mitgeteilt:  mit  dem  Motiv 


--^     551     «— 

sollte  das  Zwitschern  der  Vögel 
^S  dargestellt   werden.     Aus    dem 

Zwitschermotiv  und  seinen  Um- 
bildungen, aus  dem  Fngatothema  oder  Bruchstücken  von 
ihm  windet  das  Streichorchester  noch  lange  mannig- 
fache und  verschlungne  Gewinde,  während  die  Bläser, 
voran  Klarinetten  und  Hörner,  längst  zu  einem  neuen 
Thema  übergegangen  sind,  das  nach  Form  und  Cha- 
rakter in  den  böhmischen  Choralschatz  passen  würde 
und  unter  dessen  Klängen  man  sich  gut  eine  fromm  da- 
hinschreitende  WaUfahrerschar  denken  kann.  Es  kommt 
erst  in  Fdur,  dann  in  Desdur.  Dazwischen  liegt  eine 
neue  Schicht  des  Fugato,  das  auch  weiterhin  fortspielt, 
während  der  Choral  schweigt,  bis  er  endlich  vom  vollen 
Orchester  in  A  dur  aufgenommen  wird  und  mächtig  und 
glänzend  wie  im  Krönungszug  daherbraust.  Kaum  läßt 
sich  der  Gedanke  abweisen,  daß  Smetana  mit  diesem 
Tonbild  dem  frommen  kirchlichen  Sinn  seiner  Landsleute 
hat  ein  Denkmal  setzen  wollen.  Daß  das  Thema  auch 
im  weitren  Verlauf  der  Komposition  wiederkehrt,  bezeugt 
seine  poetische  Bedeutung.  In  dem  Adur-Satz  jedoch, 
den  es  so  glänzend  beherrscht,  wird  es  jählings  durch 
einen  Ausbruch  unbekümmertster  Lebenslust  unterbrochen : 

^     in^ii.  Er  setzt  einmal, 

Kn^^ST^ü^KU^  zweimal  wie  Verl 


^,___^ schüchtert   wie- 

•^  ■  "*^  ^^^  der  ein;  jedes- 
mal drängt  sich  die  übermütige  Tanzweise  wieder  da- 
zwischen. Sie  behauptet  auch  den  Platz,  und  nun 
entwirft  Smetana  auf  Grund  dieses  Themas  und  in  der 
Form  einer  wuchtigen  und  doch  beweglichen  böhmischen 
Polka  eine  jener  Schilderungen  herzhafter  Weltlust,  die 
er  als  Sohn  seiner  Heimat  stark  liebt  und  mit  größter 
Meisterschaft  beherrscht.  So  verwegen  diese  Tanzszene  un- 
mittelbar in  die  frommen  und  kirchlichen  Klänge  herein- 
bricht, so  schön  und  sinnig  ist  sie    ^  i     /r\   ^r^       

durchgeführt.  In  der  Mitte  steht  ff  i^'S  f  P I  f' B  I  f-Tlt  I 
eine  Idylle,  die  von  dem  Thema  ^    ~ p^^' '-^   .L^zl^' 


-^     552     %^ 

getragen  wird.  Auch  diese  ruhige  Weise  ist  von  dem 
Sechzehnteimotiv  abgeleitet,  das  den  Grandstock  der 
Eingangsmusik  der  Nummer  bildet.  Ebenso  ist  aber  mit 
diesem  Motiv  das  Polkathema  verwandt,  das  während 
der  Idylle  immer  leise  weiterspielt.  Wir  haben  es  hier 
also  mit  demselben  Fall  kunstvoller  Arbeit  zu  tun,  der 
uns  bei  dem  6  dur- Abschnitt  im  ersten  Teil  unsrer  Num- 
mer entgegentrat.  Das  Thema  der  Idylle  wird  nun  die 
Hauptfigur  der  Komposition,  die  Bilder,  die  sich  darum 
entwickeln,  sind  ihre  Hauptsätze.  In  der  Fortsetzung  der 
Tanzszene  kommt  es  zunächst  noch  in  einem  Gdur-Satze 
vom  Polkathema  begleitet,  dann  aber  in  einem  zweiten 
Gdur-Satze  (Piü  mosso)  selbständig  und  im  Charakter 
etwas  verwandelt :  heißblütiger.  Da  unterbricht  der  Wall- 
fahrtsgesang  noch  einmal  leise  und  in  fremder  Tonart 
(Aädur)  ohne  weitren  Einfluß.  Eme  rauschende  Coda  bildet 
den  Schluß  und  gibt  Gefühle  der  Freude  kund.  Ihre  Motive 
nimmt  sie  aus  kurzen  Anklängen  an  das  Eingangsmotiv; 
ganz  zuletzt  kommt  es  in  einer  grandiosen  Umbildung 

Presio.^^^  jafc     ^      ^  i      s*-      ^i 


./27"  •••■11  '      ^— 

noch  einmal  gewissermaßen  in  eine  lapidare  Formel  die 
Eindrücke  des  Tages  zusammenfassend. 
F.  SmetoBa,  Die  fünfte  Nummer  von  Smetanas  böhmischen  Na- 
Tabor.  tionalfantasien,  »Tabor«,  ist  wieder  wie  VySehrad  und 
äärka  ein  musikalisches  Geschichtsgemälde;  es  hängt  als 
solches  eng  mit  dem  folgenden  Stück,  mit  »Blanik«  zu- 
sammen. Beide  sind  sehr  charaktervolle  Kompositionen 
und  kehren  den  Ausdruck  der  trotzigen  Kraft  hervor. 

Jedermann  weiß  von  den  Taboriten,  von  Tabor,  von 
ihrem  Ziska  und  von  ihrem  Trutz-  und  Kampflied,  dem 
Choral:  »Die  Ihr  seid  die  Kämpfer  Gottes«  >Kdoi  jste 
boif  bojovnid«),  der  für  die  Hussitenkriege  eine  ähnliche 
Bedeutung  hat,  wie  für  die  Reformation  Luthers  »Ein' 
feste  Burg  ist  unser  Gott<. 

Smetana  gibt  in  seiner  Komposition  ein  Bild  aus  der 
hussitischen  Bewegung,  und  er  tut  das  in  der  Form  einer 


_^     558     0^- 

Choral bearbeituugj  die  nicht  in  allen  Teilen  gleich  wert- 
voll, doch  nirgends  die  Würde  und  den  künstlerischen 
Ernst  vermissen  läßt  und  an  einzelnen  Stellen  sich  zu 
einer  außerordentlichen  Höhe  des  Ausdrucks  und  der 
Wirkung  erhebt.  Die  Choralbearheitang  hat  nicht  etwa 
die  strenge  Form,  die  wir  von  altern  Orgekneistern  ge- 
winnt sind,  sondern  sie  ist  mehr  als  eine  freie  und  ela- 
stische Fantasie  gehalten,  bei  der  der  Choral  nur  an  wich- 
tigen Punkten  in  seiner  vollen  Gestalt  erscheint,  an  an- 
dren nur  mit  einzelnen  Gliedern  benutzt  wird.  Im  ersten 
Abschnitt  (Lento,  Vs)  Dmoll)  schildert  der  Komponist, 
wie  sich  die  Bewegung  im  Lande  vorbereitet  und-  ent- 
wickelt. Ein  langer  Orgelpunkt  auf  tiefem  2>,  chromatische 
Motive  in  tiefen  Bläsern  deuten  auf  Gären  und  heimliche, 
düstre  Unruhe  in  den  Gemütern,  ß 
Drohend  klingt  dazu  aus  den  Hör-  I4i^fl  J  J  J  J  ^ 
nern  das  Anfangsmotiv  des  Chorals 

und  sein  kraft-  j  lm'  ,  i 'T  ?^  '**'  wandert  durch  das 
vollstes  fana-  ^"^B  J  I  #  J  ^=  ganze  Orchester, 
tisches  Glied:  jB^  wie  ein  Signal  der 

Empörung,  das  von  Ort  zu  Ort  durchs  Land  geht,  die  Geister 
in  Bewegung  zu  setzen,  die  Scharen  zu  sammeln."  Auch 
die  weibliche  Stimme  der  Milde,  des  Grebets,  der  Glaubens- 
zuversicht läßt  sich  dazwischen  hinein  vernehmen: 


Ji  |i  Jj  Ij  I  M  I  I  I  I j^i  y  I  1  I 


Aber  sie  entfacht  nur  den  endlichen  Ausbruch  des  Sturms, 
der  sich  in  Skalen  figuren  äußert,  die  hoheitsvoll  durch 
zwei  Oktaven  schreiten  und  uns  zu  dem  Punkte  führen, 
wo  der  Bund  der  Genossen  auf  Tod  und  Krieg  geschlos- 
sen und  zum  ersten  Mal  das  Trutzlied  angestimmt  wird. 

»  ^,.  ,  I  .w-  -  I       M   II   Es  ist  nur  die  erste  Hälfte 
nfc  r  IptjppH^^.  ^,^^  ^^^^  ^^^  ^^^^  .^  .jj^ 

«r»  «^      «f2:-=       gj^^  Vorder-  und  Nachsatz 


— ♦     554    «^ 

dramatisch  getrennt.  Abermals  kommt  die  weiche  Ge- 
betsmelodie —  die  ständig  in  den  Holzbläsern  liegt  — 
dazwischen,  ihr  folgt  die  Fortsetzung  und  der  Abschluß 
des  Chorals  mit 


Nun  gibt  Smetana  in  einer  Reihe  von  lebhaften 
Sätzen,  die  alle  ein  Molto  vivace  vorgeschrieben  und  als 
thematische  Hauptunterlage  das  aus  dem  dritten  und 
vierten  Takte  des  letzten  Beispiels  bestehende  Motiv  ha- 
ben und  in  ein  Piü  mosso  auslaufen,  das  Bild  eines  im 
Kämpfen  aufgehenden  starken,  gewaltigen  Geschlechts. 
Der  Kampf  wird  in  vielen  Wendungen  vorgeführt:  etwas 
kleinlaut  beginnt  er,  nimmt  aber  bald  den  Charakter  ent- 
schiedner,  rücksichtsloser  Entschlossenheit  an.  In  den 
Bläsern  stehen  gewissermaßen  die  Taten,  in  den  Violinen 
die  Stimmungen:  die  Erregung,  das  Treiben  und  Schüren. 
Der  Kampf  hat  seine  stürmischen  und  hitzigen,  seine  ver- 
wickelten, auch  seine  müden  und  verlegnen  Augenblicke, 
längre  Zeiten  der  Gefahr  und  des  Unterdrücktseins,  wo  die 
Instruihente  nur  auf  Rhythmen  leise  ^^ 
stöhnen  und  stammeln.  Der  Wille  ist  fe^  j  1  J  j  r  j  =. 
nicht  gebrochen,  das  Terzenmotiv: 
hört  nicht  auf  anzufeuern,  und  im  Piü  mosso  kommt  es 
zu  .einem  neuen  und  letzten  Ansturm  von  furchtbarer 
Gewalt  mit  frischen  endlosen  Scharen.  Seinen  Erfolg 
erzählt  das  Lento  maestoso  p/j),  in  dem  der  Choral  als 
heißes  Dankgebet  im  Jnbelrausch  zum  Himmel  klingt 
Ein  schließendes  Piü  animato  fügt  nochmals  drohend  und 
in  finstrer  Kraft  das  Glaubensbekenntnis  daran,  wirft 
einen  Rückblick  auf  das  Vollbrachte,  in  dem  wohl  still 
auch  der  geopferten  Genossen  gedacht  ist.  Dann  sprechen 
die  Führer  aus  dem  Munde  der  Bässe  noch  ein  stolzes 
und  rühmendes,  anfeuerndes  Wort,  und  herrisch,  zuver- 
sichtlich und  begeistert  antworten  die  Scharen. 

In  ihrer  harten,  gedrungenen  Kraft  erinnert  diese 
Komposition  über  den  Taboritenchoral  an  altes  Römer- 


-^     555    «^ 

Yolk  und  Nibelungenlied;  aus  der  gleichzeitigen  Musik 
wäre  ihr  außer  R.  Wagners  »Walkürenritt«  allenfalls  noch 
die  eine  oder  andre  Stelle  aus  R.  Volkmanns  DmoU-Sin- 
fonie  an  die  Seite  zu  stellen.  Unter  den  Dichtem,  die 
mit  Smetana  lebten,  findet  sich  eine  verwandte  Natur 
in  Fr.  Hebbel,  unter  den  bildenden  Künstlern  keine. 

»Blanfk«,  die  letzte,  sechäte  Nummer  des  Zyklus,  F.SmetMii, 
verbindet  die  zweite  Folge  der  vaterländischen  Tondich-  Bianlit. 
tungen  Smetanas  mit  der  ersten  poetisch  und  musika- 
lisch. Es  verschmilzt  schließlch  die  Motive  der  Taboriten 
und  der  alten  böhmischen  Fürstenburg,  und  es  ist  auch 
in  seiner  dichterischen  Bedeutung  das  Gegenbild  zu 
Vysehrad:  es  umschließt  ebenfalls  versunkene  oder  schlum- 
mernde Herrlichkeit  und  Größe,  es  ist  die  Stätte  stolzer 
nationaler  Erinnerungen.  Blanik  heißt  ein  bei  Tabor 
gelegner  Berg,  der  dem  Salzburger  Untersöerg  oder  dem 
Kyffhäuser  der  Deutschen  ungefähr  entspricht.  Hierher 
zogen  sich  einst  die  Helden  der  Hussitenkriege  zurück 
und  warten  der  Zeit,  da  die  Träume  von  der  Wenzela- 
krone  in  Erfüllung  gehen,  wie  Barbarossa  gewartet  hat. 

Smetana  empföngt  uns  in  seiner  Komposition  mit 
einem  Allegro  moderato  («/s,  D  moU),  in  dessen  ersten  Tak- 
ten der  Kampfchoral  in  aller  Herbheit  nochmals  anklingt, 
das  aber  bald  zu  einer  freudigeren  und  heiteren  Schil- 
derung jener  kraftvollen  Hussitenzeit  übergeht.  Es  klingt 
darin  wie  von  flotten  Reilerscharen,  und  das  Taboriten- 
mötiv  tönt,  aller  seiner  Schrecken  entkleidet,  frisch  und 
freundlich  -dazwischen.  Nur  am  Ende,  das  Smetana,  wie 
so  oft,  etwas  lange  hinausschiebt,  wird  der  Ton  etwas 
düster.  Das  Thema,  welches  dieseih  ersten  Teil  von 
>BlanÜL«  zu  Grunde  liegt 

AllegTO  Biodoi&to.  Js  72  ^, 


steht  mit  der  Originalfassung  der  ersten  Strophe  des 
Taboritenchorals  im  Zusammenhang.  Smetana  liebt  es, 
die  einzelnen  Gruppen  in  seinen  Tongemälden  scharf 


556     ♦— 


abzugrenzen  und  zu  sondern.  So  läßt  er  auch  das 
Bildchen,  das  er  hier  von  dem  Lebensabend  der  alten 
Taborhelden  entworfen  hat,  im  Dunkel  verschwinden,  ehe 
er  weiter  geht.    Die        Audanto  no«  troppo.  _sr 

zweite  Szene  beginnt  ji,.,  t  Jf-'^—^^i]  i  ^^M^ 
(Andante non troppo)  w*^"  /.•^Ife»'^  Ifai  — 1 
mit  folgenden  Takten  »  ^^  '  ^  -^  *!^ 
sehnsuchtsvoll  und  elegisch.  Es  ist  als  wenn  ein  Wanderer 
an  den  Berg  herantretend  im  patriotischen  Schmerz  der  alten 
großen  Zeiten  seines  Landes  und  ihrer  Männer  gedächte. 
Schnell  aber  verscheucht  die  Gegenwart  alle  Beklemmung: 
er  findet  am  Berg  ein  Idyll:  Herden  und  Hirten,  die  sich  im 
Tonspiel  ergötzen:  Smetana  läßt  uns  einen  Kanon  hören, 
der  zunächst  zwischen  Oboe  und  Hom,  später  zwischen 
Oboe  und  Klarinette  läuft  und  folgendermaßen  beginnt: 

PiüanegTo.J.76  Seine    immer 

muntrer  wer- 
denden Melo- 
dien  begleiten 

erst  lediglich  Blasinstrumente,  dann  legen  ihnen  die 
Geigen  träumerisch  einen  langen,  leisen  Fdurakkord  unter. 
Aus  diesem  Frieden  reißt  ein  Piü  mosso.  Wir  sind  auf 
den  Abschnitt  in  gewohnter  Weise  allerdings  etwas  vor- 
bereitet worden  durch  em  diminuendo.  Nun  fangen  die 
Geigen  an  zu  tremolieren,  dann  heftige  Figuren  auszu« 
stoßen;  in  Vorhalten,  in  Dissonanzen,  in  fassungslosen 
Rhythmen  spricht  sich  höchste  Aufregung  aus,  und  nach 
dem  gewaltigen  Anlauf  setzt  nun  der  neue  Hauptsatz  mit: 


^^'  '''''''ULuiJu  llJiU  'J 


ein.  Er  gibt  ein  Bild  des  Irrens  und  der  Ratlosig- 
keit, die  auf  Augenblicke  in  Verzweiflung  übergehen 
will.  Schon  bald  erheben  sich  dagegen  Regungen  der 
Zuversicht;    in    Hörnern    und    Klarinetten    hören    wir 


--♦    567    V- 

^  1.  --_     .--^1  -■ 1.^^=^^,— -.     Endlich    dringt    die 

in^^  jj-  J^  1^^  J  J»  J^T-f —  freundliche,  zuver- 
^'  P-^s»-  »— «r=»:-J  sichtliche  Schluß- 
zeile des  Tahoritenchorals  durch,  und  von  seinem  Ende 
wird  ein  Marsch 


jfiiijjiJJJ  JJIJ  JJ  J1I 


abgeleitet  und  mit  ihm  verbunden,  der  die  Erinnerung  zu 
den  alten  Helden  zurückführt,  die  im  Berge  schlummern, 
und  ihr  kräftiges  Wesen,  ähnlich  wie  der  Anfang  der 
Komposition,  das  Allegro  moderato,  aufleben  läßt.  Und 
bald  ist  es  auch,  als  wenn  sie  leibhaftig  wieder  daständen. 
Mit  dem  Grandioso  (D  dur]  kehren  wir  in  den  glänzendsten 
Teil  der  fünften  Nummer  des  Zyklus,  in  das  Tongemälde 
über  «Tabor«,  zurück.  Noch  einmal  wird  die  Stimmung 
wieder  etwas  trübe:  es  tritt  wieder  Dmoll  und  eine  Durch- 
führung des  in  der  Stimmung  etwas  zwiespältigen  Motivs, 


ein.  Wieder  wird  sie  durch  das  Choralthema  überwunden. 
Das  Grandioso  kehrt  zurück  und  führt  zu  einem  Larga- 
mento  maestoso  (D  dur,  s/s)  und  zum  Burgmotiv  aus  Vy- 
sehrad.  So  reichen  sich  Ende  und  Anfang  des  Zyklus 
die  Hand.  Der  Tondichter  schließt  mit  der  begeisterten 
Mahnung  an  seine  Landsleute,  der  großen  Zeiten  ihrer 
Geschichte,  der  Zeiten  von  Vysehrad  und  Tabor  immer 
zu  gedenken. 

Die  vaterländischen  Kompositionen  Smetanas  haben 
für  Anton  Dvofak,  das  reichste  böhmische  Musiktalent, 
den  Weg  gebahnt,  sie  haben  ihm  die  Anregung  zu  seinen 
>Slavischen  Tänzen«  gegeben,  für  seine  »Slavischen  Rhap- 
sodien« auch  die  Form.  Von  der  internationalen  Strömung 
der  gegenwärtigen  Musik,  oder  besser  gesagt,  von  dem 
immer  noch  fortwirkenden  gewaltigen  Geist  des  acht- 
zehnten Jahrhunderts  ergriffen,  ist  Dvofak  jedoch  bald 
von  den  Exakten  zu  den  Philosophen  übergelaufen,  ist 


568- 


unter  die  Sinfoniker  gegangen ^  hat  unter  den  neuen 
Vertretern  der  Beethoyenschen  Methode  sich  heute  einen 
ersten  Platz  errungen  und  dabei  in  seinen  Sinfonien,  so 
gut  es  ging,  immer  noch  f&r  böhmisches  Wesen  und 
böhmische  Alnsik  Zeugnis  abgelegt  und  gewirkt. 
A.DTofakf  Der  ausgesprochen  nationale  Satz  in  seiner  ersten, 

I)  dnr-Sinfonie.  seiner  D  dur-Sinfonie  (op.  60)  ist  das  Scherzo.  Es  unter- 
scheidet sich  in  Form  und  Charakter  kaum  von  den  be- 
kannten und  bedeutenden  »Slavischen  Tänzen«  dieses 
Komponisten  und  soll  wohl  auch  durch  den  überschrie* 
benen  Xitel:  »Furiant«  dieser  Gattung  zugewiesen  wer- 
den. Ein  wildes  Blut  rollt  in  diesem  Satze;  zu  der  Frische, 
mit  welcher  sein  Hauptthema  hereinst&rzt,  gesellt  sich 
auch  ein  querköpfiges  Element,  eine  eigensinnige  Aus- 
gelassenheit, die  in  einem  aus  Beethovens  vierter  Sin- 
fonie bekannten  Wechsel  von  Zweiviertel-  und  Dreiviertel- 
takt und  in  den  dissonierenden  Vorhaltsnoten  deutlich 
zum  Ausdruck  gelangt: 


Prosto. 


^     pj^^       .    ^^-N.  ,.— ^         Der  Hauptsatz  ist  nur 

?*'r  P%  |f  tTf  |f  t*r=^=f=  sehr  kurz,  der  Mittel- 

^  «i«.  satz  dagegen  im  Beet- 

hovenschen  Stile  breit  ausgeführt  und  mit  einem  neuen 

Thema  bereichert.    Es  ist  folgendes: 


••|"iT'  iiTfnriii~"  r  iTiiuirrrr  I 


Das  hier  mit  6]  bezeichnete  Schlußglied  ist  dasjenige, 
welches  in  der  jetzt  beginnenden  Durchführung  beider 
Themen  bevorzugt  wird.  Die  im  Anfangsteile  der  neuen 
Melodie  liegenden  weicheren  Elemente  bleiben  im  Hinter- 
ftrunde.  Das  Trio  dieses  Scherzo  entwickelt  sich  in  seinem 


ersteu  Teile  ziemlich  zögernd:  Sein  Thema  baut  sich  stfick- 
weise  auf  und  schließt  fragend  tmd  unentschieden: 

Ueno  Botso. . 

Oh-.-.  Fl. 


Der  Klang  des  Piccolo  bringt  darin  das  national  slavische 
Element  sehr  drastisch  zur  Geltung.  Von  der  zweiten 
Hälfte  des  ersten  Teils  und  durch  den  anderen  Teil  des 
Trios  regt  sichs  dann  freundlicher:  durch  die  Bläser  und 
die  Celli  streifen  ruhige  Gänge,  die  nach  Melodie  zu 
suchen  scheinen.  Einen  ausgesprochenen  wirklichen  Ge- 
sangton vermeidet  der  Komponist,  der  in  seinem  Scherzo 
weniger  einen  heiteren  Satz,  als  ein  musikalisches  Cha- 
rakterbild geben  wollte:  das  Gemälde  einer  mit  unwirschen 
Elementen  kämpfenden  Fröhlichkeit.  Das  Scherzo  ist  in 
der  Form  der  einfachste  und  übersichtlichste  Satz  der 
Dvo^akschen  Sinfonie.  Die  anderen  Sätze  stellen  in  be- 
treff der  Gedankenentwicklung  und  der  durch  sie  bedingten 
Form  dem  Zuhörer  durchschnittlich  schwere  Aufgaben, 
und  es  scheint  uns  durchaus  nicht  ein  bloßer  Zufall  zu 
sein,  wenn  das  Publikum  dieser  Sinfonie  etwas  kühl 
gegenübersteht.  Namentlich  durch  den  ersten  Satz  und 
durch  das  Finale  geht  ein  unsteter  Zug.  Die  Phantasie 
hat  die  Menge  der  Gesichte  nicht  bewältigt;  die  Ideen 
durchkreuzen  und  verdrängen  einander,  die  Episoden  ver- 
gewaltigen die  Hauptgedanken,  und  die  ganze  Darstellung 
macht  das  Folgen  und  Verstehen  zu  einer  harten  Arbeit. 
Der  erste  Satz  hat  in  seiner  Themen gnippe  nicht  weni- 
ger als  sechs  verschiedene  Ideen,  welche  um  die  Führung 
ringen.     Die         •>  AUogra.  ^,*-^      ^        *i^^ 

wichtigsten      ^|H  J  ir'M  IM    l'   I^Jjll 
davon   smd:  **  =  •=*-  ^ 

Diese  vier  Takte  bilden  die  vordere  Hälfte  des  Haupt- 
thema, dessen  ersten  Abschluß  bereits  bedeutend  hinaus- 
geschoben wird.  Nach  einer  etwas  stürmischen  Unter- 
brechung im  beschleunigten  Tempo  kehrt  das  Thema 
im  glänzenden  Forteklang,  aber  nur  auf  einen  flüchti- 


560 


gen  Augeublick  zurück.  Vor  dem  Eintritt  des  zweiten 
Thema  passieren  wir  noch  eine  Reihe  von  Nebenmo- 
tiven, aus  denen  das  folgende  als  das  für  die  Satzent- 
wicklung wich- 
tigste hervor-: 
zuheben  ist :  "^«^  •  Fist« 
Das  zweite  Thema  (in  Hdur  gestellt)  gelangt  zu  keiner 
Bedeutung,  dagegen  nimmt  der  ihm  folgende  Nachsatz: 


im  Ideenkreise  des  Ällegro  eine  hervorragende  Stellung 
ein.  Der  ganze  Satz  gewährt  das  Bild  einer  um  freund* 
liehe  Ziele  kämpfenden  Stimmung  und  enthält  in  seinen 
heiteren  Partien  eine  Menge  liebenswürdiger  Züge,  blüh- 
ende musikalische  Einfälle  pastoralen  und  idyllischen 
Charakters.  In  ihnen  ist  ein  leichter  Einfluß  Schuberts 
zu  bemerken,  während  für  die  pathetischen  Exkurse,  die 
den  weniger  gelungenen  Teil  des  Satzes  bilden,  Beethoven 
und  noch  mehr  Brahms  augenscheinlich  zum  Muster  ge- 
dient haben. 

Das  Adagio  (Bdur,  s/4)  wird  von  folgendem  Haupt- 
gedanken beherrscht: 

Adario. 


Als  zweites  Thema  folgt  ihm  ein  schwärmerisch  zart« 
lieber  Gesang: 


vioi. 


ir[ii  'fTj\ 


dessen  Einführung  durch  eine 
kurze  selbständige  Episode,  von 
freudigem  Aufschwung  beherrscht,  wunderschön  ver- 
mittelt wird.  Der  ganze  Plan  des  Satzes  ist  noch  leicht 
zu  übersehen:  Nach  dem  Abschluß  des  Seitenthemas 
repetiert  die  Hauptmelodie,  und  die  eben  erwähnte  Epi- 


561 


sode  leitet  zu  einer  kurzen  Durchführung  über.  Letztere 
setzt  mit  leidenschaftlicher  Bewegung  ein,  geht  aber  sehr 
bald  in  den  milden  träumerischen  Ton  über,  der. dem 
ganzen  Adagio  seinen  Charakter  gibt.  Auch  durch  seine 
melodischen  und  modulatorischen  Wendungen  erweist  es 
die  Verwandtschaft  mit  dem  langsamen  Satze  von  Beet- 
hovens Neunter.  Im  Finale  seiner  Sinfonie  steht  Dvohik 
wieder  auf  dem  Boden,  auf  welchem  seine  dichterische 
Kraft  das  Eigenartigste  und  Beste  gibt.  Die  Themen 
dieses  Satzes,  von  denen  wir  als  die  hauptsächlichsten 
folgende  zwei  zitieren: 

Allepo  €«»tt  «pirlto 


FJ» 


•to 


sind  echt  böhmische  Melodien, 
die  uns  an  die  alte  Wiener 
Sinfonie,  an  Wenzel  Müller,  an  lustige  Sonntagnach- 
mittage und  an  vergnügte  Menschen  erinnern.  In  der 
Durchführung  verläßt  Dvofak  die  in  diesen  Weisen  ge- 
gebene Sphäre,  zögert  und  scheint  über  die  Berechtigung 
der  fidelen  Motive  in  Bedenken  zu  geraten.  Dieser  Teil 
enthält  sehr  viele  humoristische  Zöge  von  großer  Wirkung. 
Außerordentlich  drastisch  ist  der  wild^-^    u  ■•         <- 


Einsatz,  mit  welchem  die  Hörner  das  Moti^ 


m 


in  das  pp  des  Orchesters  hineinwerfen.  Jedoch  nimmt 
das  kapriziöse  Element  das  Interesse  des  Zuhörers  etwas 
zu  lange  und  zu  kühn  in  Anspruch.  Der  Satz  schließt 
mit  einem  Presto  über  das  Thema  a). 

Auch  in  der  zweiten  Sinfonie  Dvo^aks  (DmoU,  A.DvolFftk, 
Op.  70)  wird  man  vergeblich  nach  der  unbedingten  Lebens-  Zweite  Sinfonie. 
freude  suchen,  die  seine  Slavischen  Rhapsodien  zu  einer 
Wohltat  für  die  neue  Musik  gemacht  haben.  Sie  ist  ein 
Stimmungsbild,  für  das  die  Oberschrift  »Aus  trüber  Zeit« 
nicht  Übel  passen  würde.  Ohne  im  höhren  Sinn  originell 
zu  sein,  fesselt  das  Werk  durch  eine  klare,  planvolle  An- 
lage, durch  ein  reiches,  bewegliches  Empfindungsleben, 
durch  natürliche,  meistens  aus  dem  Vollen   fließende 


Kreiiscbmar,  FQhrer.    I,  1 


36 


--»    662    ♦— 

musikalische  DurchfQhrang.  lUese  Vorzöge  krönt.Einheit 
and  Strenge  des  Charakters.  Reibst  auf  den  üblichen, 
immer  dankbaren  »glücklichen  Ausgang«  im  Scblnßeais 
hat  Dvorak  diesmal  verzichtet 

Der  erste ^ der  vier  Sätze   (Allegro  maestoso,  C« 
Dmoll)  beginnt  folgendermaßen: 

r       i 

f]  .iMiL    11  Man  kann  diese  von  Cellis  und  Brat- 
r  l'iffrr    I  s^heQ  nnisono  vorgetragne  Melodie  in 
f'  ^V        zwei  Hälften  teilen.    Die  vordere,  in 

gleichen  Achteln  gehalten,  klingt  wie  das  leichte  Miirren 
eines  Unwilligen,  die  zweite,  mit  dem  durch  das  ver- 
längerte Viertel  schwer  akzentuierten  Motiv,  zeigt,  daß 
hier  ein  Gemüt  tiefer  getroffen  worden  ist,  bis  zur  Ver- 
wirrung getroflen.  Das  sagt  uns  der  an  den  Schluß  ge- 
stellte verminderte  Akkord.  Er  kommt  ganz  plötzlich, 
bleibt  aber  für  die  Dauer  einer  achttaktigen  Periode. 
Darüber  wiederholen  die  Klarinetten  von 's  aus  das  lliema. 
Ihr  Schmer- m  j  j  beantwortet  das  zweite  Hom  ge- 
zensmotiv:j'  •  I  'O  wissermaßen  in  vergrößertem 
Echo  mit  fis  fis\e  und  lockt  damit  eine  Reihe  von  Stim- 
mungsäußerungen hervor,  die  den  klagenden  und  vor- 
wurfsvollen Ton  immer  heftiger  hervorkehren,  technisch 
sind  sie  als  Fortsetzungen  des  oben  angeführten  Themas 
zu  betrachten.  Denn  die  neue  und  neueste  Sinfonie  be- 
gnügt sich  nur  ausnahmsweise  mit  solchen  knappen 
Hauptgedanken,  wie  sie  bei  den  Wiener  Klassikern  die 
Regel  bilden;  sondern  sie  arbeitet  am  liebsten  mit  einer 
langen  Themenkette.  Die  erste  dieser  Fortsetzungen  des 
Hauptthemas  knüpft  an  den  Sechzehntelauftakt  der  zweiten 
Hälfte  des  Eingangsthemas  an  und  moduliert  im  aditen 
Takt  nach  A  moU.  Die  zweite  wird  von  demselben  Sech- 
zehntelmotiv alsBaßbejleitetund  set^t  in  der  Hauptstimme 
mit  breiten  Vierteln  a  |  M|f7  7  ein.  Dieses  Viertelmotiv  er- 


— ♦    668  ^^ 

langt  seine  Bedeutung  im  Verlauf  des  Satzes.    Zuerst  von 
der  zweiten  Violine,  Oboe  und  Fagotten  vorgetragen,  wird 

es  zwei  Takte  später  von  der  ersten  Violine  täs'g  dlfe 
aufgenommen  und  schnell  zu  einer  langen  D  moU-Radenz 
geführt,  die  uns  eine  sehr  stürmische  Wendung  erwarten 
läßt.  Das  Natürlichste  würde  Wiederholung  des  oben  auf- 
gezeichneten Themas  im  Tutti  des  Orchesters  und  im  ff 
seid.  Sie  kommt  auch;  aber  erst  22  Takte  später.  Vorher 
bringt  der  Komponist  erst  noch  einen  jener  erweiternden 
und  belebenden  Abstecher,  an  die  namentlich  Liszt  die 
modernen  Sinfoniker  gewöhnt  hat  Er  legt  eine  Aus- 
weichung ins  Gebiet  der  Ruhe  und  des  Seelenfriedens  ein. 
Sie  führt  mit  einer  etwas  beabsichtigten  Gewaltsamkeit 
nach  Esdur  und  vor  eine  sehr  eindringliche  Homstelle, 
die  mit  einer  raschen  Skalenfigur  beginnt  und  dann  in 
die  Rhythmen  des  nachher  folgenden  zweiten  Themas 
des  Satzes  einlenkt  Bei  dem  nach  dieser  Verzögerung 
doppelt  wirksamen  Eintritt  des  Hauptthemas  ist  es  zu 
bedauern,  daß  das  Thema,  weil  nur  den  Holzbläsern  ge- 
geben, von  dem  starken  Begleitungsapparat  übertönt 
wird.  Merkwürdigerweise  ist  der  in  der  Instrumentation 
so  sichere  und  ausgezeichnete  Komponist  hier  in  einen 
Beethovenschen  Fehler  verfallen,  den  intelligenten  Diri- 
genten wohl  stillschweigend  verbessern  dürfen,  wie  es 
Dvofak  beim  Eintritt  der  Reprise  selbst  getan  hat.  Hier 
spielt  das  erste  Hom  das  Thema  mit  Wie  schon  bei 
seinem  ersten  Eintritt  mit  dem  verminderten  Akkord,  so 
nimmt  unser  Hauptthema  jetzt  wieder  ein  seltsames 
Ende.  Noch  viel  verwunderlicher  und  aufregender  als 
dort  bricht  es  in  einer  verzweifelt  wirkenden  Disso- 
nanz ab:  —  fesbeges  —  der  naturgemäß  eine  Reak- 
tion folgen  muß:  Die  Holzbläser,  dann  die  Geigen  mit, 
führen  ein  zwölf  Takte  langes  Oberleitungssätzchen,  auf 
weich  gleitende  Motive  gebaut,  aus:  Nach  seinem  Ende 
hin  spielen  die  Mittelstimmen  kurz  einmal  das  Achtel- 
theroa  (der  Celli  und  Bratschen)  an,  mit  dem  der  Satz 
begann. 

36* 


»^    564    4— 

So  wird  also  das  zweite  HaupttLema  des  Satzes 


sehr  schön  und  gewissermaßen  dramatisch  eingeführt 
Seine  poetische  Aufgabe:  sanft  und  freundlich  zuzu- 
sprechen, erfüllt  es  auf  eigentümliche  Art  In  tiefen  Flöten- 
klang gehüllt,  leise  vom  Tutti  umschwebt,  hat  es  etwas 
6eheimnis7olleS|  wirkt  wie  ein  Bild  im  Zauberspiegel,  wie 
ein  Gast  aus  der  Geisterwelt.  Ganz  besonders  schön  und 
rührend  ist  das  zögernde  Verschwinden  der  Vision:  Volle 
acht  Takte  haftet  die  Melodie  an  dem  verzierten  es,  ehe 
die  Auflösung  ins  d  fällt.  Dieses  Zögern,  Aufhalten  und 
Schwanken  ist  ein  Zug,  der  in  unserm  Satz  immer  wieder- 
kehrt Die  Wirkung  dieses  zweiten  Themas  greift  unge- 
wöhnlich tief  in  den  formellen  Plan  und  in  das  Wesen 
des  ersten  Satzes  ein.  Der  nächste  Abschnitt,  den  es  be- 
herrscht, wiederholt  es  wörtlich  in  den  Violinen,  knüpft 
daran. versuchsweise  und  schnell  wieder  abbrechend  Mo- 
tive der  Aufheiterung  und  des  Aufschwungs.  Er  endet 
aber  in  BmoU,  und  in  seinen  Schluß  mischen  Oboen, 
Klarinetten  und  Hörner  das  Unmutsmotiv,  mit  dem  die 
Sinfonie  begann.  Der  ganze  Schluß  der  Themengruppe 
wird  zu  einer  äußerlich  knappen,  aber  innerlich  bedeu- 
tenden Auseinandersetzung  zwischen  den  beiden  Haupt- 
themen. Das  zweite  scheint,  in  Bdur,  seiner  Tonart, 
fortissimo  vorgetragen,  die  Oberhand  zu  bekommen,  als 
sich  wieder  jenes  sdion  berührte,  dem  Gang  xmsres  Satzes 
wesentliche  Element  des  Schwankens  und  Abbrechens 
geltend  macht  Diesmal  in  der  Form  FfTI  ^^cher  aus 
von  Sequenzen  über  den  Rhythmus  *  ^  ^  '  einem  der 
Nebenmotive  (Motiv  der  Aufheiterung)  des  zweiten  Them^ 
stammt 

Die  sehr  kurz  gehaltne  Durchführung  wendet  den 
Stimmungsprozeß  wieder  zugunsten  des  ersten  Haupt- 
themas. Sie  beginnt  in  Hmoll  mit  einer  achttaktigen 
Periode,  die  die  ersten  zwei  Takte  des  zweiten  Haupt- 


— ^    565    <>— 

themas  uacheinaDder  durch  Geigen,  Gellii  Flöten  und 
Kontrabäaie  führt.  Ihm  folgt  ein  wilder  Aufzug  seines 
Antipoden,  des  ersten  Hauptthemas.  Trotzig  springt  es 
auf  den  verminderten  Septimenakkord  o-c(w-/ft-a  und 
stellt  sich  in  voller  Breite  hin.  Der  Effekt  dieser  Über- 
rumpelung ist  vorerst  Ratlosigkeit  der  Seele.  Nach  dem 
Edur-Schluß,  mit  dem  sich  das  Hauptthema  verabschiedet, 
wird  es  still:  kleine  Brocken  des  Gehörten  flattern  herum. 
Das  wichtigste  an  der  Musik  sind  hier  die  Pausen.  Nur 
leise  ausgehalten  klingt  da  ein  Ton  des  Homs  oder  der 
Bratsche  in  sie  hinein.  Die  Modulation  rückt  plötzlich 
von  S  nach  /-o-o-ea,  die  Stimmung  sammelt  sich.  Über 
eiaem  ppp  der  in  Bmoll  tremolierenden  Streichinstrumente 
stimmen  die  Klarinetten  leise  das  vollständige  erste  Haupt- 
thema an,  Flöten,  Oboen  greifen  mit  ein;  mit  einem 
raschen  crescendo  gelangen  wir  vor  einen  Abschnitt,  in 
dem  das  Motiv  des  Unmuts,  nun  zur  Wut  gesteigert,  aus 
den  Bässen  dröhnt;  es  kommt  in  die  Geigen,  von  Disso- 
nanzen der  Bläser  durchschnitt  j  j  j  j  aus  und  ge- 
ten,  holt  mit  dem  Rhythmus  •  ^  •  •  langt  nach 
DmoU  zum  fff  und  zu  einer  Reprise,  die  mit  der  des 
ersten  Satzes  von  Beethovens  9.  Sinfonie  eine  Gharakter- 
ähnlichkeit  teilt,  wie  sie  gleich  stark  sich  ein  zweites  Mal 
nur  in  dem  D  moll-Konzert  von  Brahms  aufdrängt. 

Die  Wiederholung  der  Themengruppe  verläuft  nach 
den  bekannten  Regeln.  Nur  das  ist  besonders  an  ihr,  daß 
das  Gebiet  des  ersten  Hauptthemas  gekürzt  wird.  Durch 
dieses  einfache  Hilfsmittel  übt  die  Musik  eine  unver- 
gleichlich mächtigere  und  leidenschaftlichere  Wirkung  aus 
als  im  ersten  Teil  des  Satzes.  Die  sehr  ausgeführte  Coda, 
die  höchste  Leistung  im  Ausdruck  gewaltiger  und  großer 
Ideen,  die  bis  dahin  sich  in  DvoHks  Werken  gezeigt  hat, 
markiert  noch  einmal  unumstößlich  hart  und  mitleidslos 
den  Sieg  des  ersten  Hauptthemas  und  seiner  dämonischen 
Elemente.  In  Resignation  verklingt  sie.  Auch  hier  steht 
Dvohik,  der  früher  sich  gern  von  Brahmsschen  Vorbildern 
leiten  ließ,  unter  dem  Einfluß  Beethovens.  Der  Basso 
ostinato  auf  fduf  zeigt  nach  dessen  siebenter  Sinfonie. 


^ 


56tt     v« 


Wie  als  wenn  nach  finstrer  tturmieoher  Nacht  der 
helle  Morgen  anizieht,  heginnt  der  iweite,  langsame 
Satz  (Poco  Adagio,  C»  F  dor)  folgendermaßen 


PoooAitgf0.  Jsse 


Breit  und  feierüch  abschließend^  legt  das  volle  Orchester 
den  F  dar- Akkord  über  das  Ende  dieses  kleinen  Präin- 
dinms,  und  das  eigentliche  erste  Thema  des  Satzes  tritt, 
von     Flöte     ^  ^ ,       ^^      />  ^rz 

Oboe   i^rr'm  ifQ  ^^'J^ir  II 

Jk  diu 


und 

vorgeii-agen, 

ein.  In  Seouenzen  Ciber  das  letzte  Motiv  senkt  es  sich  tiefer 
und  tiefer  und  atmet  dann  noch  einmal  groß  auf,  um 
plötzlich  im  Halbschluß  ^  ^^  j'Tp^^  .  . „das eineklei- 
zu  verlöschen.  Es  ist  ala^^  p  T  j)  I  ^=nA  Szene  der 
flöhe  es  vor  dem  Motiv      7^-*==**  Unruhe  ein- 

leitet, die  uns  die  aufregenden  Augenblicke  des  ersten 
Satzes  in  die  Erinnerung  zurückruft  Das  Hom  sucht 
mit  kühnen  Figuren  zu  beschwichtigen.  Noch  ein- 
mal schlägt  Schrecken  in  kurzen  Motiven  dazwischen, 
dann  aber  behält  das  Hom  mit  der  schönen  Melodie 


das  Wort 


Sie  nimmt  ungefähr  die  Stelle  ein,  die  sonst  das 
zweite  Thema  zu  haben  pflegt.  Aber  wie  Dvoi^ak  sich  im 
allgemeinen  den  Formen  der  Sinfonie  gegenüber  die 
Freiheit  der  Ideen  und  ihrer  Bewegung  wahrt,  so  hat  er 
dieses  zweite  Thema  hier  ungewöhnlicher  Weise  in  die 
Haupttonart  F  dur  gesetzt  und  ihm  auch  nur  einen  ge- 
ringen Einfluß  auf  Gestalt  und  Wesen  des  Satzes  zuge- 
wiesen. Unser  Adagio  hat  gar  keine  Durchführung  in  dem 
Sinne  einer  Auslegung  und  Verarbeitung  bisher  gebrachter 
Themen.  Sondern  nach  dem  Schluß  des  zuletzt  ange- 
führten Gedankens  setzt  ein  ganz  selbständiger  Mittelteil 


567 


ein,  zunächst  in  FmoQ  und  von   r"ns    i  geführt.  Mit 
einem  scharfen  rhythmischen  Motiv  ^*    *^  •'ihm  wech- 


selt ein  Motiv  desS^nens  von  fol* 


und  kommt 


seuemjuony  aes^ennensYonioi*  .  pi«s  i  unaKommi 
gendem  rhythmischen  Charakter  •  J«  3  J  mit  ihm,  oft 
jffli  und.  erschreckend,  in  heftige  Konflikte.  Nach  einer 
solchen  Stelle  —  das  fortissimo  auf  e-fis-ais-eis  mächt  sie 
leicht  kenntlich  —  tritt  die  Reprise,  die  Wiederholung  der 
Themengruppe  ein.  Das  Hauptthema  kommt  jetzt  in  den 
CeUis.  Ihm  folgt  das  erste  Seitenthema,  wie  heim  ersten- 
mal in  den  Violinen,  aher  jetzt  mit  Kontrapunkten,  die 
bald  beschwichtigen,  bald  anfeuern,  in  den  Holzbläsern 
versehen.  Alle  Elemente  der  Aufregung,  die  in  dem  Ab- 
schnitte vorhin  bereits  vorhanden  waren»  erscheinen  ins 
Gespenstische  und  bedrohlich  gewachsen.  Das  Fdur- 
Thema  des  Homs  taucht  jetzt  nur  angedeutet  in  den  Vio- 
linen auf  und  von  Trompeten  und  Hörnern  merkwürdig 
umschmettert.  Ganz  zuletzt  kommt  auch  die  Melodie  des 
kleinen  Präludiums  des  Satzes  und  zwar  in  der  Oboe 
nochmals  zu  Wort 

Der  dritte  Satz,  das  Scherzo  (Vivace,  Vi»  Dmoll) 
zeigt  den  Zusammenhang  mit  dem  ersten  Satz  der  Sin- 
fonie nicht  so  stark  wie  das  Adagio,  aber  immer  noch 
deutlich  genug.  Es  erstrebt  die  an  dieser  Stelle  übliche 
Fröhlichkeit,  aber  es  besitzt  sie  nur  im  geringen  Grade. 
Das  Hauptthema 


Vlvftce.  d» 


X 


orientiert  in  diesem  Falle  genügend 
r  r  '^    ^T  *        über  das  Wesen  des  ganzen  Satzes : 
r   f*f    '   '  Die  Rhythmen  der  Violinen  treiben 

vorwärts,  aber  hinkend,  als  schleiften  Retten  mit 
Die  »schlotternden  Lemuren«  Goethes  treten  vor  das 
geistige  Auge,  und  die  in  den  Mittelstimmen  (Cellis 
und  Fagotts)  dazwischen  schluchzende  Melodie  gießt 
noch  mehr  Wehmut  über  das  an  und  fQr   sich  schon 


— »    568    «^ 

grau  gehaltne  tiildehen.  Mit  dem  achten  Takt,  dem 
Abschluß  der  eiufachen  Periode,  gerät  die  Darstellang 
schon  ins  Stocken.  Wir  stehen  wieder  vor  dem  schwan* 
kenden,  unentschlossnen  Zng,  der  auch  in  den  andren 
Sätzen  als  wesentlich  sich  be-    »       r  i    das   bis 

merkbar  macht.  Mit  einem  Motiv  « *  J  J  J  J-  dahin  in 
der  zweiten  Violine  Begleitangsdienste  verrichtet  hat,  bildet 
der  Komponist  einen  10  Takte  langen  Zwischensatz  nnd 
wiederholt  dann  das  Hanptthema  mit  der  Änderung,  daß 
die  Holzbläser  die  Hauptstimme,  die  Violinen  aber  den 
Kontrapunkt  der  zuerst  in  den  Cellis  gebrachten,  gebundnen 
Melodie  übernehmen.  Nach  _VS2^  #  ♦ 
einem  breiten  .  Abschluß  ^^iT  T^Tf  \äm  z 
tritt  folgendes   Seitenthema  '^  ^  —  "  * 

ein,  aus  dem  ein  neuer,  mit  großem  Tumult  und  Kraft- 
aufwand endender  Zwischensatz  (14  Takte  lang)  gebildet 
wird.  Und  nun  wird  vom  Anfang  des  Satzes  an  wieder- 
holt. Bei  Haydn  und  Mozart,  in  den  meisten  Beethoven- 
schen  Sinfonien  steht  hier  das  bloße  Repetitionszeichen, 
die  Musik  kehrt  wörtlich  wieder.  Bei  Dvoi^ak  ist  die 
Wiederholung  zugleich  Variation.  Die  Instrumentierung 
ist  wesentlich  geändert  nnd  zwar  nach  einem  Muster,  das 
viele  Hörer  angenehm  an  die  Konzertouvertüre  (in  Ä) 
von  Julius  Rietz  oder  an  A.  Rubinsteins  »Lichtertanz« 
aus  »Feramors«  erinnern  wird:  Von  Abschnitt  zu  Abschnitt 
wechseln  die  Streicher  und  die  Bläser  zwischen  Hauptr  und 
Nebenstimme,  lösen  sich  im  Vortrag  des  von  Pausen  durch- 
setzten Themas  und  der  gebundnen  Melodie  ab. 

Diesem  Hauptsatz  steht  ein  Trio  gegenüber,  das  in 

der    Hauptsache    von      g  .  P^  »wo  moBso. t-_p_ 

dem  zuerst  in  der  Oboe     £v'  ufiTif  J  p  [f"  #  J  I  J- 
gebrachten  Gedanken:    "^    ^ 

getragen  wird.  Den  Schluß  der  zwölftaktigcn  Periode,  die 
das  vollständige  Thema  bildet,  machen  die  Violinen  mit 
Ruhe  atmenden,  freundlichen  Wendungen.  Das  Bild  des 
Friedens,  welches  das  Trio  entwerfen  will,  wird  etwas  durch 
einen  Seitensatz  gestört,  aus  dessen  j.«^  .  stechend  her- 
spärlichen Motiven'  der  Rhythmus  ^  «   •  vortritt     Das 


_^     569     ^^ 

gauze  Trio  ist  unter  sämtlichen  Teilen  der  Sinfonie  der- 
jenige, bei  dem  die  Erfindung  den  Komponisten  am  we- 
nigsten unterstützt  hat.  Gleichwohl  erreicht  es  durch  die 
musikalischen  Elemente,  durch  den  Rhythmns  insbesondre, 
doch  die  beabsichtigte  Wirkung,  und  das  Scherzo  als 
Ganzes  ist  der  Satz,  der  in  seiner  eigentümlichen  Blischung 
von  Melancholie  und  Beweglichkeit  auf  viele  Hörer  den 
nachhaltigsten  Eindruck  ausübt. 

Das  Finale  der  Sinfonie  (AUegro,   ({$,  Dmoll)  er- 
innert mit  den  ersten  drei  Noten  seines  Hauptthemas 

Allegro.  dslOO  ->.-^ 

'■J*lA  ^*'  "     t   fr    "    I  H  '^  ^  VV'  f       1  M^  äS    ^ 

Pg  IjflUfTjt  ■  All  «UK  Seitenmotiv,  das  in  trotzigen 
J&  f-  ^■'v..:^  Vierteln  bald  sich  nach  dem  Eingang 
der  Sinfonie  zeigte.  Jedenfalls  weicht  es  dem  gewöhn- 
lichen Schluß  der  in  Moll  einsetzenden  Sinfonien  aufs 
entschiedenste  aus  und  hat  mit  dem  großen  Kreise  der 
sinfonischen  Paradigmen  zu  dem  Motto  >per  aspera  ad 
astrac  nicht  das  geringste  gemein.  Am  nächsten  steht 
die  Dvofaksche  Arbeit  in  diesem  Verzicht  auf  ein  frohes, 
versöhnliches  Finale  der  GmoU-Sinfonie  Draesekes.  Wenn 
man  den  Inhalt  von  Dvofaks  Sinfonie  in  die  Form  einer 
Erzählung  fassen  wollte,  wtbrde  das  Ende  lauten:  »Die 
Lage  unsres  Helden  ist  noch  widriger  und  gefährlicher 
geworden,  als  sie  am  Anfang  der  Geschichte  war;  aber 
auch  seine  innre  Kraft  ist  immer  mehr  gewachsen.  Er 
braucht  sich  nicht  zu  beugen«.  Es  geht  ein  starker  Zug 
von  Trotz  durch  dieses  Finale,  und  in  ihm  liegt  vielleicht 
die  einzige  Spur  für  die  nationale  Abkunft  des  Werkes, 
das  sich  motivischer  Anleihen  aus  der  böhmischen  Volks- 
musik vollständig  enthält.  Das  Bild  von  Kraft  und  Ent- 
schlossenheit,  das  unser  Finale  entrollt,  wird  dadurch 
liebenswürdiger  und  reicher,  daß  ihm  weiche  Wendungen, 
die  wie  Sehnsucht  nach  Ruhe,  wie  Neigung  zur  Ergebung, 
wie  leise  Klagen  erscheinen,  eingemischt  sind.  Jedermann 


^^     ft70    ♦— 

erkennt  eine  solche  wohl  in  den  drei  letzten  Takten  des 
oben  gebrachten  Notenbeispiels,  als  dem  Schluß  des  von 
Gellis  nnd  erstem  Hom  gebrachten  Hauptthemas.  Mit 
diesem  Motiv  der  Ergebung  setzen  die  Violinen  zunächst 
leise  ein  Sätzchen  von  14  Takten  ein,  das  in  seinem 
jähen,  aufgeregten  Abbrechen  uns  wieder  lebhaft  an  den 
Anfang  der  Sinfonie,  nämlich  an  jene  Stelle  zurückver- 
setzt, wo  das  erste  Thema  des  ersten  Satzes  in  den  plötz- 
lichen verminderten  Akkord  auslief.  Derartige  Wendungen 
gehen  durch  die  ganze  Sinfonie  als  Symptome  eines  auf- 
geregten, fieberischen  Seelenzustandes.  Hier  folgt  dem 
Trugschluß  zunächst  eine  Wiederholung  des  Themas  in 
den  Holzbläsern,  die  sich  ins  Unhörbare,  ins  Reich  des 
Schlummers  verlieren  will.  Vergeblicher  Versucht  Mit 
aller  Leidenschaft,  die  ein  modernes  großes  Orchester 
ausdrücken  kann,  nimmt  es  gleich  darauf  das  Hauptthema 
im  stärksten  forte  auf.  Dazwischen  meldet  sich  in  Flöten 
und  Oboen  der  Anfang  eines  Themas 

ji  i^rijjji  MiT^j  I  nTi  I  ij  I  I  I 

das  bald  in  seiner  Vollständigkeit  seinen  Platz  als  Fort- 
setzung und  Steigerung  des  Hauptthemas  einnehmen  wird. 
Es  folgt  ihm  eine  einfache  Periode  mit  Verwandlungen 
des  Hauptthemas  gefüllt  An  sie  knüpft  eine  gleich  kurze 
an,  der  ein  chromatisch  aufsteigendes  Skalenthema  zu- 
grunde liegt  Sie  gibt  sich  ziemlich  wild  und  heroisch 
und  vermittelt  technisch  die  Modulation  nach  Edur.  Sie 
tut  das  aber  sehr  ausdrucksvoll,  dringend  und  auf  das 
zweite  Thema  in  der  Stimmung  vorbereitend.  Dieses 
zweite  Thema  steht  regelrecht  in  A  dur,  der  Oberdominant 
der  Haupttonart  des  Finale  und  bildet  —  ebensa  nach 
bekanntem  Sonatenbrauch  —  einen  innem  Gegensatz 
zum  Hauptthema : 


—♦571     t^ 

Zuerst  bringen  e>  die  Celli,  gleich  darauf  Flöten  und  Oboen 
mit  einem  Abschluß  in  Fisdur.  Ihm  folgt  ein  14  Takte  lau* 
g^9  Nachspiel  Aber  das  aus  dem  Anfang  genommene  Motiv: 
j  r  r-^  j  Und  darauf  zieht  das  Thema  im  vollen 
r  '  ^  ^  I  J«  Glänze  des  Tutti  fortissimo  noch  ein- 
mal vorbei.  Zu  einer  Macht  im  geistigen  Getriebe  wird 
es  nicht;  die  Durchfuhrung  des  in  der  Sonatenform  ge- 
haltnen  Satzes  nimmt  gar  keine  Notiz  von  semer  Exi- 
stenz. Es  bezeichnet  einen  flüchtigen  und  trügerischen 
Augenblick  des  Hoffens.  Unsem  Komponisten  hat  diese 
kurze  Minute  des  Sonnenscheins  in  die  Sphäre  Franz 
Schuberts  geführt,  mit  dem  er  ja  Unverkennbare  Verwandt- 
schaft besitzt  In  dem  Abschnitt,  der  den  Bereich  des 
zweiten  Th^as  abschließt,  spricht  Dvofak  in  Schubert- 
scher Zunge.  Es  sind  Motive  der  großen  Cdur-Sinfonie, 
die  uns  in  den  Anfang  der  Durchführung  hineingeleiten, 
und  auch  die  berühmten  Posaunen  aus  dem  ersten  Satz 
dieses  Monumentalwerkes  klingen  in  Dvo^aks  Finale 
hinein.  Dieser  Zufall  nimmt  aber  dem  Wert  der  Durch- 
führung nichts.  Ihre  bedeutendsten  Teile  liegen  am  An- 
fang und  am  Schluß,  besonders  im  erstem  an  der  Stelle, 
wo  das  Hauptthema  zweimal  staccato,  gewissermaßen 
versuchsweise,  und  ganz  leise  kommt.  Beim  dritten  Mal 
(in  Hmoll)  tritt  es  vollständig  auf.  Die  Geigen  entwickeln 
das  schließende  Ergebungsmotiv  zu  einem  längren  Sätz- 
chen, bei  dem  auch  Dvofak  der  modernen  Unsitte  des 
überflüssigen  Kontrapunktierens  durch  fleißige,  aber  mehr 
störende  als  unterstützende  Bläsermotive  gehuldigt  hat. 
Den  Mittelteil  der  Durchführung  füllen  Variationen  über 
die  Fortsetzung  des  Hauptthemas,  ihr  still  einsetzen- 
des Ende  Umwandlungen  des  Hauptthemas  selbst.  In 
der  Reprise  ist  der  Obergang  zum  zweiten  Thema  be- 
sonders ergreifend.  Den  im  Grunde  doch  pessimisti- 
schen letzten  Ausklang  zu  veredeln,  setzt  Dvofak  die 
schließenden  10  Takte  in  ein  gehaltenes  Tempo:  Molto 
Maestoso. 

Hatte  die  D  dur-Sinfonie  sofort  Dvofaks  großes  Talent, 
die  zweite  seine  Reife  festgestellt,  so  gab  der  Komponist 


--»    572    ^^ 

nun  in  einer  dritten,  vierten  und  fünften  Sinfonie  anch 
diejenigen  Beweise  von  Fleifi  nnd  Frachtbaikeity  die  von 
jedem  Künstler  verlangt  werden,  der  eine  hervorragende 
SteUong  behaupten  will.  Um  den  Umfang  von  DvoMes 
Begabung,  seine  ganze  künstlerische  Bedeutung  zu  beur- 
teüen,  wird  unter  den  vorhandenen  Sinfonien  später  ein- 
mal die  zweite  die  wichtigste  sein.  Er  schien  mit  ihr, 
ähnlich  wie  früher  Gade,  der  Pflege  nationaler  Mudkbe- 
strebungen  abspenstig  zu  werden.  Diese  Erwartung  ist 
jedoch  nicht  eingetroffen,  seine  dritte^und  vierte  Sinfonie 
bringen  wieder  reichlich  böhmische  Musik. 

In  der  Fdur- Sinfonie  ist  das  nationale  Element 
mit  der  Reserve  benutzt,  die  für  die  Sinfonie  notwendig 
ist,  wenn  sie  nicht  zu  einer  bloßen  Ausstellung  von 
lustigen  oder  phantastischen  Genrebildern  herabsinken, 
wenn  sie  auch  ferner  noch  dem  Komponisten  gestatten 
soll,  seine  Persönlichkeit  mit  ihren  Lebenserfahrungen 
und  ihren  Talenten  zu  entfalten.  Die  böhmischen  lläo- 
dien  sind  in  dieser  Sinfonie  nicht  absichtlich  herbeigeholt, 
sondern  sie  sind  im  geeigneten  Augenblick  in  die  Archi- 
tektur der  einzelnen  Sätze  eingestellt  worden,  wenn  sie 
dem  Tonsetzer  zufällig  in  die  Hand  liefen. 
A.DvolFaky  Diese  dritte  Sinfonie  Dvofaks  (Fdur,  op.  76)  zeigt 

Dritte  Sinfonie,  vielerlei  Verwandtschaft  mit  ihrer  Vorgängerin  in  den 
Einwirkungen  Beethovens  und  Schuberts;  Schumann 
bringt  sie  neu  hinzu.  Sie  steht  ihr  an  Einheit,  an  Kunst- 
wert überhaupt  sehr  nahe,  hat  vielleicht  durch  die  frap- 
panten poetischen  Einfälle,  mit  der  sie  die  Formen  be- 
handelt, noch  etwas  vor  ihr  voraus.  Sie  gleicht  ihr  auch 
darin,  daß  sie  als  ein  weitrer  musikalischer  Beitrag  zur 
Biographie  des  Komponisten  erscheint.  Sie  erzählt  von 
seiner  Jugendzeit,  von  Idealen,  von  Herzenserlebnissen, 
^von  wohlbestandenen  Kämpfen,  von  Läuterungen«  Der 
Komponist  sucht  in  diesem  Wcirke  die  Freude: 

»Auf  dem  saatbekrinzten  Hügel, 
An  des  Teiches  klarem  Spiegel. 
Auf  der  An,  im  Bachen trald 
Ist  ihr  liebster  Anfentbalt.« 


— ♦    578    «^ 

Dvofaks  F  dur-Sinfonie  ist  zum  guten  Teil  eine  Pa- 
etorakinfonie.  Besonders  trägt  ihr  erster  Satz  (Allegro 
ma  non  troppo,  ^/^  Fdor)  den  CharaJ[ter  einer  derartigen 
Tondichttmg.  Es  ist  die  Stimmung  eines  Ausmarsches 
am  schönen  Sonntagmorgen,  mit  dem  sein  erstes  Thema 
»  einsetzt:  munter  im  ersten  Teil,  fromm  am  Schluß: 

Allegro  ma  noo  troppo.  J  s  HS 

ij'nini'inirriini 

^'^^^  ^ri  TT^  Jy^^  ^*"^^*^  es  der  Klarinette 
nach  und  fCkhrt  die  Melodie  zu  einem  Cdur*Schluß.  Mit 
ihm  beginnt  ein  Abschnitt  freudiger  Spannung:  Die 
Instrumente  nehmen  einander  Motive  des  Themas  ab, 
bald  dies,  bald  jenes,  bis  sie  sich  in  einer  mächtigen 
Triolenfigur  vereinigen.  Diese  bringt  uns  vor  das  eigent- 
liche Hauptthema  des  Satzes: 

^^wtt/ir^''^^i"-Jrir'^T|f  Tri 

IT  f  P  I  f  Hf  Lp  I  ^    ®^°^  i^^^^  zahlreichen  Tanz- 
j»      ^  ^— -    weisen  kraftvoll  freudigen  Aus- 

drucks, an  denen  die  böhmische  Volksmusik  so  reich  ist. 
Ihre  Wiederholung  gibt  Dvorak,  wie  er  das  liebt,  den  Holz- 
bläsern und  Hörnern  allein  —  die  Streichinstrumente 
machen  nur  mit  einem  ^^m  t  ihre  Anwesenheit  be- 
urwüchsigen  Zuruf:  44d  i^  merkbar  — ,  und  diese 
schließen  in  Amoll  ab. 

In  dieser  Tonart  beginnt  sofort  eine  Durchftthrung. 
Sie  heftet  sich  zunächst  —  acht  Takte  lang  ^  in  launigem 
Eigensinn  ausschließlich  an  den  siebenten  Takt  des  so- 
eben gegebenen  Themas.  Celli  und  Bratschen  haben  sich 
seiner  bemächtigt,  die  Violinen  möchten  es  gerne  zu  sich 
herftberziehen.  Dann  wandelt  sich  die  Szene.  Als  wäre 
der  Wald  dichter  und  der  Schatten  dunkler  geworden, 


-^    674    ♦^ 

tritt  Ruhe,  im  Orchestefr  ein.  Nttr  ein  lange  liegender, 
leiser  Akkord  (Amoll)  tönt  in  Hörnern  und  Fagotten;  über 
ihm  flattert  noch  ein  melodischer  Rest  in  den  ersten 
Geigen.  Jetzt  nehmen  die  Kontrab&sse  pp  das  Motiv  des 
ersten  Taktes  in  Fdur,  die  Violinen  antworten  mit  dem 
bisherigen  Synkopenmotiv.  Wir  denken  uns  hier  nnsren 
Wandrer  ruhend,  rastend  und  trämnend.  Im  Xraum  rückt 
das  Entfernte  aneinander.  So  hier  Anfang  and  Ende  des 
Themas,  des  Gedankens,  den  er  znletzt  im  Kopfe  trug. 
Die  Musik  ergänzt  das  Stimmungsbild  an  dieser  Stelle 
noch  durch  Schilderung  der  äußern  Natur :  In  den  Klari- 
netten schlagen  leise  Triolenterzen  an,  leibhaftig  die* 
selben,  wie  im  ersten  Satz  von  Beethovens  Pastoralsin- 
fonie. Es  flüstert  in  den  Bäumen,  es  zirpt  im  Grase. 
Und  weiter  noch:  Genau  wie  bei  Beethoven  rückt  die  Har- 
monie schroff  von  vier  zu  vier  Takten  von  F  nach  JSr, 
von  da  nach  Des^  um  gewaltige  Oberraschungen  anzu- 
deuten. Vom  letztren  Punkt  ab  dringt  wieder  licht  und 
Glanz  in  die  Landschaft  und  in  die  Seele  des  Schwärmers. 
Wir  gelangen  rasch  nach  Adur  und  vor  das  zweite  Thema: 


tUi(e* 


Es  verhält  sich  zum  Hauptthema  wie  Dank  zum  GenuB- 
Musikalisch  ist  zu  beachten ,  daß  es  an  das  Hauptthema 
durch  den  Synkopenrhythmus  seines  zweiten  Taktes  ge- 
wissermaßen unwillkürlich  anknüpft.  In  seinem  jugend- 
lichen Drang  und  in  dessen  technischem  Ausdruck  trägt 
es  die  Züge  Robert  Schumanns. 

Der  ganze  noch  übrige  Teil  der  Themengruppe  wird 
mit  Phantasien  über  dieses  zweite  Thema  ausgefüllt. 
Eigen  ist  ihm  ein  durchgehender  Triolenrhythmus  als 
Begleitungsfigur,  der  zum  Schluß  melodisch  wird  xind 
motivische  Bedeutung  erhält  Zweimal  werden  die  Varia^ 
tionen  über  das  zweite  Thema  durch  ein  Solo  von  Flute 
und  Klarinette,  das  freundlich  und  behaglich  in  Sech- 
zehntein  die  Skala  hinauf  und  hinab  trällert,  unterbrochen. 


--•    575    ♦^ 

Ihm  folgt  beidemale  ein  ebenfalls  aus  Beethovens  Pasto- 
riüe  bcScamiteB  Frendeschüttehi.  des  ganzen  Orchesters 
auf  eiaem  zw«!  Takte  gehaltenen  Akkord  im  ff.  So  gibt 
der  Komponist  bald  im  Zarten,  bald  im  Starke^  dem 
Qlücke,'dais  er  schildern  will,  reich  aus.  Eignem  erfindend 
und  geschickt  an  Vorhandnes  sich  anlehnend,  immer 
neue  Wendungen. 

"Die  Durchführung  beginnt  geheimnisvoll  beschau- 
lich mit  dem  Triolenmotiv,  das  die  Themengruppe 
schloß.  Ihm  gegenüber,  dem  Vertreter  der  einschläfern- 
den Zaubermächtei  stellen  die  Bässe  mit  dem  gleichmäßig 
klopfenden  .  .1  die  Violinen  mit  einem  in  Akkord- 

Rhythmus  J  y  /)  I  J  noten  abwärtssteigenden  neuen, 
unwesentlichen  Thema  den  weiteren  Tatendrang  und  die 
Lust  ztt  neuem  uud  mehrerem  Genuß  dar.  Diese  Motive 
führen  uns  bald  vor  das  erste  Thema,  mit  dem  die  Sin- 
fonie präludierend  begann.  Die  Flöte  bringt  es  in  Gdur. 
Bbenfalls  in  höchster  Tonregion  wiederholen  die  Violinen 
die  langsamen  Schlußnoten  mit  Modulation  nach  Hdur. 
Und  nun  folgt  eine' lange  Strecke^  in  der  immer  wieder 
in  sehr  Tegelmäßigen  Abschnitten  die  erste  Hälfte  dieses 
Themas  vorüberzieht.  Es  hat  gerade  in  dieser  ersten 
Hälfte  den  Charakter  einfachster  Signale,  besteht  hier 
nur  aus  Akkordnoten,  gewißermaßen  aus  musikalischen 
Naturlauten,  und  schlägt  damit  eigentlich  in  em  Kunst- 
fach, das  die  Russen  und  solche  Männer  der  äußersten 
Linken  in  der  neuesten  Sinfoniekomposition  für  sich  be- 
anspruchen, von  denen  Dvof^k  in  Ansprüchen  und  Zielen 
weit  entfernt  steht.  Wie  sehr  er  aber  im  Betrieb  dieser 
künstlerischen  Spezialität  seinen  Mann  stellt,  beweist  dieser 
Teil  seiner  Durchführung.  Wir  haben  da  eine  mit  siche- 
rer, leichter  Meisterhand  gebildete  Stelle :  ruhig  und  regel- 
mäßig in  gleichen  Abständen  folgen  die  kleinen  Bilder, 
die  sich  gleichen,  denn  sie  sind  alle  lieblich  und  doch 
jedes  anders.  Mühelos  fügen  sie  sich  zum  Ganzen  und 
strebea  den  Höhepunkten  zu:  dap  sind  die  Takte,  wo 
die  Freude  nach  lauten  Tönen  greift.  Besonders  treten 
die  Messinginstrumente  hervor.  Von  ihnen  gebracht,  wirkt 


^^    576    ^^ 

die  Sechzehntelligur  aus  dem  Anfaag  unseres  Themas 
äußerst  wohlgemut  und  frisch;  namentlich  die  Stelle,  wo 
die  Trompete  —  auf  Iho^g  -^  damit  einsetzt,  ist  ein 
hibreißendes  Gembch  von  Stolz  und  Heiterkeit  Die 
Harmonie  rCkckt  nun  von  A-dur  aus  von  zwei  zu  zwei 
Takten  immer  einen  Schritt  weiter  und  gelangt  allmäh- 
lich auf  den  verminderten  Septimenakkord  f'OS'k'd 
als  den  Gipfel  in  der  Entwickelung  romantischer  Geffihle. 
Denn  darin  ist  der  Satz  sehr  modern,  ganz  und  gar  ein 
Produkt  des  19.  Jahrhunderts,  dafi  er  der  »höchsten  Lust« 
auch  einen  Stich  »hoben  Leidsc  beimischt.  Merkwürdig: 
alle  die  Instrumente,  die  von  Natur  beweglich  sind,  die 
Violinen,  die  Holzbläser  bleiben  an  diesem  Punkt  vier 
Takte  lang  auf  einem  Tone  im  fjT  liegen  und  sind  in  der 
Höhe  erstarrt,  und  unten  in  der  Tiefe  tummeln  sieh  die 
schwerfälligen  Bässe  mit  dem  lustigen  raschen  Mottvl 
Es  handelt  sich  hier  aber  um  einen  gewaltigen  Aufschrei 
der  Freude,  gewaltig  und  von  einer  Leidenschaft  ge- 
trieben, die  nach  Ordnung  nicht  fragt  Nach  diesem 
Augenblick  tritt  die  Reaktion  in  ihr  Recht:  Das  zweite 
Thema  erscheint:  die  Oboe  intoniert  es,  die  Klarinette 
nimmt  es  auf  und  fAhrt  es  vollständig  vor.  Damit  ist  es 
aber  auch  abgetan.  Das  Tutti  schiebt  es  demonstrativ 
mit  einem  /jT-Einsatz  des  eigentlichen  Hauptthemas,  der 
kräftigen  slavischen  Tanzmelodie  beiseite,  die  von  den 
Violinen  nach  den  Bässen  wandert.  Wie  keck  der  Ton 
gegen  den  ersten  Eintritt  in  der  Themengruppe  geworden 
ist,  das  läßt  sich  aus  der  Pauke  ersehen.  Die  schwieg 
damals;  jetzt  stimmt'  sie  beim  Synkopentakt  mit  einem 
Sechzehnteltremolo  ein.  Dieser  mit  dem  Synkopentakt 
beginnende  Abschnitt  bleibt  nun  fttr  den  Schluß  der 
Durchfäfarung;  sechsmal  kehrt  er  mit  denselben  Tönen 
von  g  b  aus.  wieder.  Ein  Ruck  von  Es  nach  Dm,  eine 
Perlode  über  dasselbe  Motiv  gebildet  und  im  pp  gehalten, 
dann  der  Quartsextakkord  o-f-a  und  auf  ihm  im  Hom  das 
präludierende  Thema,  mit  dem  die  Sinfonie  beginnt  Die 
Phantasie  klammerte  sich  an  die  letzten  schönen  Bilder 
der  Durchführung  gewaltig  fest.    Nun  ist  die  Trennung 


-^    577    4^ 

doch  geschehen :  unvermerkt  sind  wir  in  die  Reprise  ge- 
langt. Die  Kunst  des  Komponisten  hat  den  Schritt  ^  der 
zum  Rückweg  führte,  zu  dem  entzückendsten  Augenblick 
der  bisherigen  Wanderung  gemacht. 

In  dem  Verlauf  der  Reprise  fordert  die  Erweiterung 
des  Umkreises  des  eigentlichen  Hauptthemas  gesteigerte 
Aufmerksamkeit,  noch  mehr  die  schöne  Kombination,  in 
der  beim  Beginn  der  kurzen,  feurig  einsetzenden  Coda 
die  Einleitungsmelodie  des  Satzes  und  sein  zweites  Thema 
zusammenklingen.  Trompeten,  Violinen,  Flöten,  Klari- 
netten stehen  auf  der  ersten,  Posaunen,  Fagotte,  Celli 
und  Kontrabässe  auf  der  anderen  Seite.  In  Abendrot 
und  zartem  Mondenschein  geht  der  schöne  Tag,  in  den 
ans  die  Tondichtung  versetzt,  zu  Ende. 

Der  zweite  Satz  (Andante  con  moto,  '/g,  Amoll)  ist 
ein  interessanter  Absenker  des  Allegrettos  in  Beethovens 
Adur-Sinfonie.  Die  Ähnlichkeit  hegt  hauptsächlich  in 
dem  ethischen  und  tonalen  Verhältnis  der  beiden  Teile, 
in  welche  die  Komposition  zerfällt  Sie  entwickelt  sich 
um  folgende  zwei  Themen: 

Andante  eon  moto.  m»  s  76 

!iiif£riritrr7|iiij  i  n 

k   i  H  P 

und 

im  poeb«ttliio  ptk  mosso         , 


D«.  D 


Die  zweite  Hälfte  des  ersten,  von  den  Cellis  einge- 
führten Themas  moduliert  nach  Amoil  zurück.  Sein 
Schlußtakt  ist  der  Anfang  der  von  den  Violinen  aafge- 
nommenen  Wiederholung  mit  Schluß  in  D.  Daran  knüpft 
sich  ein  Zwischensatz,  der  das  Sechzehntelmotiv  des 
Einsatzes  durchführt,  und  ihm  folgt  als  Fortsetzung  und 
Abschluß  des  Satzes  die  bisher  gehörte  Musik  mit  den 
Bläsern  (zuerst  Flöte  und  Fagott  gemeinsam  voran)  als 
Hauptstimmen. 

Kretxiehmar,  Fahrer.    I,  1.  87 


-_^     678     *^ 

Zu  den  schönen  Gedanken  und  Erlebnissen  des  ersten 
Satzes  der  Sinfonie  stellt  sich  dieser  erste  Teil  des  An- 
dante in  einen  gewissen  undankbaren  Widerspruch;  als 
Niederschlag  aus  dem  trüben,  an  seelischen  Kämpfen 
reichen  Stimmungskreis  der  zweiten  Sinfonie  ist  der 
ernsten  Zufriedenheit,  die  in  seiner  Melodie  sich  ausspricht, 
ein  kleiner  Satz  von  Schwermut  beigemischt  In  den 
Zwischensätzen,  die  aus  dem  Sechzehntelmotiv  heraus- 
wachsen, ringt  das  Gemüt  nach  Befreiung  von  dem  dunklen 
Rest  und  nach  vollständigem  Licht.  Der  Adur*Satz  bringt 
es.  Eine  Weile  tragen  die  Bläser  allein  den  zwar  nicht 
neuen,  aber  an  dieser  Stelle  wie  ein  Original  wirkenden, 
Himmelsruhe  atmenden  Gesang  vor.  Mit  dem  Eintritt 
von  Hmoll  nehmen  es  die  Violinen  auf,  und  zugleich 
tritt  an  dieser  Stelle  eine  gewisse  Stockung  der  Empfin- 
dnng  ein.  Die  Modulation  gerät  ins  Schwanken,  es  ist, 
als  ob  eine  ungesehene  Macht  den  Weg  versperrte,  es 
bedarf  eines  gewaltsamen  Anlaufs.  Dieser  führt  nach 
Gdur.  Von  da  aus  wiederholt  sich  die  schöne  Szene, 
die  mit  Schumannschem  Material  die  Weihe  Beethoven- 
scher Gebetsmomente  erreicht.  Die  dramatische  Wen- 
dung, die  im  ersten  Teil  dieses  Miftelsatzes  mit  der  Mo- 
dulation nach  Hmoll  begann,  setzt  jetzt  mit  dem  Eintritt 
des  Themas  in  die  Septimenharmonie  g-b^f  ein,  es 
kommt  zu  einer  größeren  Kraftäußerung  und  zu  einem 
verzweifelten  energischen  Abschluß  in  dem  fernen  Edur. 
Ihm  antworten  wie  warnende  Stimmen,  zweimalige  Bläser- 
signale, die  wie  Rezitative  wirken.  Kleinlaut  und  resig- 
niert tritt  der  vermessene  Himmelsstürmer  den  Rückzug 
an  nach  der  heimischen  Sphäre,  in  die  engere  und  be- 
scheidene Beschaulichkeit  des  Hauptsatzes  in  A  moll,  der 
nach  einem  langen  Nonenakkord  auf  E  in  veränderter 
Instrumentation  einsetzt.  Die  Holzbläser  haben  das  erste 
Wort,  die  Celli  erst  das  zweite.  Nachdem  die  Doppel- 
periode harmonisch  genau  wie  im  ersten  Teü  des  Satzes 
verlaufen  ist,  nimmt  die  Musik  einen  neuen,  sehr  erregten 
Charakter  an.  Ein  Trugschluß  nach  Bdur  markiert  den 
Anfang  der  Stelle.    Sie  endet  damit,  daß,  von  den  ersten 


r 


_^    579    ^^ 

Violinen  tumultuarisch  begrüßt,  in  den  Holzbläsern  wie 
ganz  von  fern  das  Thema  des  Mittelteils  des  Adarsatzes 
noch  einmal  erscheint.  Unter  dem  Eindruck  dieser 
IHsion  endet  der  Satz  ohne  innerlich  zur  Ruhe  und 
zum  Abschluß  gekommen  zu  sein.  Am  deutlichsten  geht 
das  aus  dem  unvermittelten  Nebeneinander  von  pp  und  f 
hervor,  in  dem  sich  der  Anfang  des  Amoll-Themas  verab- 
schiedet. Es  wäre  denkbar,  daß  der  Satz  und  namentlich 
sein  Schluß  auf  abergläubische  und  hysterische  Zuhörer 
beängstigend  wirkt. 

Dvorak  tragt  dem  ganz  ungewöhnlichen  Ausgang 
seines  langsamen  Satzes  noch  dadurch  Rechnung,  daß  er 
dem  dritten  Satz  (Allegio  scherzando,  </s,  Bdur)  eine 
Einleitung  vorausschickt,  die  an  die  Rezitative  erinnert, 
mit  dem  das  Finale  von  Beethovens  Neunter  beginnt. 
Nur  eine  ganz  kurze  Pause,  die  Zeit  läßt  einmal  auf- 
atmen ,  soll  dem  Andante  folgen.  p««  j  das  in 
Dann  setzt  sofort  das  Achtelmotiv  j(  ^  *•  I  ^  Amoll 
schloß,  auf  dem  Dominantseptakkord  f-dhoes  wieder 
ein.  Es  veranschaulicht  wohl  das  Klopfen  des  erregten 
Herzens.  Und  nun  beginnen  die  Celli  eindringlich  zur 
Ruhe  und  Besonnenheit  zu  ermahnen.  Das  Tutti  gibt 
den  Widerhall  der  Worte  erst  einsilbig,  immer  noch 
zagend  und  erschreckt,  schließlich,  als  das  Cello  auf  es 
schließt,  gefaßter^  in  einem  längeren  Sätzchen  von  vier 
leisen  Takten.  '  Da  schließt  sich  an  die  Fermate,  die  hier 
einem  Fragezeichen  gleicht,  ganz  unwillkürlich  ein  hüb- 
scher —  wohl  böhmischer  —  Walzer,  von  dessen  Liebens- 
würdigkeit der  Anfang 

AIIegroscIierzaQdo.  Js76  _ 


■  jJ  I  J^  J  J  J  J  I  p=^  eine  genügende  Probe  gibt 


Diese  humoristische  Überrumpelung  führt  glücklich 
über  eine  gespannte  und  peinliche  Situation  hinweg.  Ge- 
wiß bieten  die  Formen  der  Beethovenschen  Sinfonie  häufig 

37* 


,      — .    580    ♦— 

Gelegenheit  zu  sinnreicher  Modifikation  und  poetischer  Be- 
lebung. Aber  erst  in  neuester  Zeit  bemtUien  sich  die  Kom- 
ponisten merkbarer,  sie  zu  benützen,  insbesondere  die  aus- 
ländischen. Das  hier  von  Dvorak  gegebene  Beispiel  ist 
eins  der  auffälligsten  und  wirksamsten.  Die  Weiterfühmng 
des  Themas  ist  zunächst  ganz  unregelmäßig.  Die  Flöten 
und  Klarinetten  nehmen  es  den  Violinen  ab.  Es  moduliert 
nach  Dmoll  und  geht  mit  den  Bläsern  nach  Bdur  zurück. 
Sofort  nach  diesem  Bdur-Schluß  nimmt  aber  die  froh  ge- 
mütliche Tanzweise  einen  schwankenden  Charakter  an: 
der  ganze  Mittelteil  des  Hauptsatzes  verläuft  stockend: 
durch  Generalpausen,  verlegene  Wiederholungen  ver- 
sprengter Motive  unterbrochen,  in  Fugensätzen  die  offene 
Ratlosigkeit  verkündend.  Das  Seitenthema,  das  sonst 
üblicher  Weise  dem  Hauptthema  Gesellschaft  leistet^ 
bleibt  aus.  Es  senken  sich  über  die  Szene  die  Schatten 
des  Abends  und  der  Bangigkeit.  Der  lange  Abschnitt 
endet  mit  einem  gewaltsamen,  plötzlichen  Obergang  der 
Harmonie  von  Dmoll  nach  Bdur,  der  Nuancierung  von 
p  zum  ff.  Noch  einmal  eine  irrende  und  suchende 
Geigenfigur  und  dann:  Wiederholung  des  ersten  Teils  des 
Hauptsatzes  im  ff,  demonstrativ  mit  Kraft  und  Glanz 
angetan.  Nach  acht  Takten  aber  schon  beginnt  das 
Abschiednehmen,  das  Schließen  und  yerklingen.  Dann 
ein  kurzer  Obergang  im  pp,  merkwürdig  durch  die  Ent- 
schiedenheit, mit  der  er  in  fremde  Tonart  (nach  Desdur) 
führt,  und  in  dieser:  das  Trio  auf  Grund  folgenden  Themas 


m 


Es  iät  dieses  Trio  eine  neue  Idylle,  ein  verschwiegenes 
Plätzchen,  das  sich  von  dem  Festplan  des  Hauptsatzes 
abzweigt,  in  Park  und  Bäumen  gelegen,  für  die  Zwie- 
sprache von  Liebenden  geschaffen.  Die  Musik  ist  in 
diesem  Satz  der  Ausdruck  intimster  Schwärmerei,  freudig 
ruhiger  und  inniger  Gefühle.  Es  verläuft  in  drei  Ab- 
teilungen.   In  der  ersten  spielen  Bläser  und  Geiger  nur 


V      tk 


^ 


581 


^ — 


zart  um  Rhythmen,  wie  das  Schumann  gern  tut.  In  der 
zweiten  (mit  dem  Septimenakkord  dea-f-cu-ees  setzt  sie 
ein)  erweitert  sich  das  Motiv  durch  Anfügung  des  Rhythmus 
>-*m  I  zum  Gesapg.  Mit  dem  Eintritt  in  Adar  nnd 
Vr  *  i  *  ins  forte  des  vollen  Orchesters  nimmt  er  einen 
Hymnenton  an,  der  uns  ganz  an  die  korrespondierende 
Stelle  in  Schuberts  großer  Cdur-Sinfonie  versetzt.  Sehr 
schön  ist  es,  ,wie  diese  Abteilung  mit  dem  neuen  Achtel- 
motiv von  dieser  Stelle  des  glühenden  Ausdrucks  zurück- 
lenkt in  den  Ton  stiller  Seligkeit.  Die  dritte  Abteilung 
markiert  mit  ihrem  ersten  Schmerzensakkord:  des^f-as-ees-d 
den  Augenblick  des  Abschieds,  der  Trennung,  die  der  Kom- 
ponist in  neuen  Tönen  der  Innigkeit  schildert.  Nach  dem 
letzten  leisen  Klopfen  des  Desdur-Rhythmus  setzt  sofort 
laut  und  mitleidlos  der  übermäßige  Dreiklang  desrf-a  ein 
und  treibt  zurück  in  die  ländliche  Tanzszene. 

Das  Finale  (Allegro  molto,  C,  Fdur}  setzt  in  Amoll 
ein,  so  wie  der  zweite  Satz  der  Sinfonie,  das  Andante. 
Ebenfalls  ähnlich  wie  in  diesem  Andante  hören  wir  zu- 
erst nur  Baßinstrumente.  Es  sind  diesmal  Celli  und  Kontra- 
bässe, die  —  natürlich  in  tiefer  Lage  —  die  ersten  3  Takte 
des  Themas 

AlKgrj»  .moito«  J^s  186  . 


!}?£  "  te      I?      vortragen.   Eine  Wendung  in  schwer 
'    '     '     '     I  '    I  akzentuierten    Vierteln    führt    nach 

Pub  0    A    H         E         fi  «mrtii    ii«%/l  ;«  i^^AoA»  nPA*!«»»  fmu  <!«« 


G  moll,  und  in  dieser  Tonart  fällt  das 
Tutti  ff  ein,  und  erst  über  diesen  Umweg  gelangen  wir 
zu  der  Lesart,  in  dei*hier  das  Thema  angeführt  ist.  Auch 
sie  bedeutet  noch  nicht  die  endgültige  Form  für  den  Haupt- 
gedanken des  Satzes.  Dem  Komponisten  war  eben  daran 
gelegen,  auch  hier  Schema  und  Schablone  zu  vermeiden 
und  uns  das  thematische  Material,  mit  dem  er  arbeitet, 
in  seiner  Entstehung  und  als  ein  Produkt  einer  Stimmungs- 
krise zu  zeigen.'  Aus  diesem  Grunde  beginnt  er  lüit  den 
Baßrezitativen,  mit  Unmut  und  Empörung,  mit  den  horten, 


— e     582     <i— 

an  Beethoven  erinnernden  Unisonostreichen  des  gesamten 

Orchesters  auf  den  Oktaven  von  w  und  7,  die  dem  oben 
gegebnen  AmoUeinsatz  des  Tutti  vorausgehen.  Er  bildet 
eine  Szene  der  Verwirrung  und  Verzweifelnng,  die  ihren 
Charakter  am  bedrohlichsten  in  einem  hinabstürzenden 
Achtelunisono  äußert  Seinem  ff  folgt  ein  piano,  der 
Eile  ein  Zögern,  und  nun  kommt  eine  merkwürdige  Stelle, 
die  jedermann  an  Schubert  und  an  das  Hom  im  Andante 
seiner  großen  C  dur-Sinfonie  erinnern  wird.  Auch  hier  bei 
Dvoi^ak  liegt  die  Vorstellung  einer  Wundererscheinung, 
eines  »deus  ex  machin  a«  zu  Grunde,  der  die  wilden  Wogen 
sänftigt  und  bändigt.  Die  musikalische  Gestalt,  die  der 
Komponist  dieser  Vision  gibt,  ist  die  einer  liegenden  Stimme, 
die  zehn  Takte  lang  —  nach  jedem  Ton  eine  kurze  Pause  — 
immer  wieder  g  angibt.  Die  Bässe  steigen  drunter  von 
e  bis  ins  große  G  und  stützen  eine  Modulation,  die  von 
e'g-b'dea  aus  tastend  und  seltsam  schließlich  nach  chcis^-g 
gelangt.  Danach  pin  Sammeln  und  Ausholen  in  den  Stim- 
men, und  nun  erst  der  eigentliche,  der  formal  richtige 
und  notwendige  Anfang  des  Satzes:  das  oben  angegebene 
Thema  in  Fdur,  natürlich  mit  einigen  Änderungen  in 
den  Motiven:  vom  zweiten  Takt  ab  in  Achteln,  bei  der 
Wiederkehr  —  die  sehr  spannend  eingeleitet  wird  durch 
ein  mächtiges  Signal  auf  bh  —  in  Vierteln.  So  schließt 
die  Themengruppe,  die  düster  und  schwer  begann,  trium- 
phierend, freudig  kraftvoll.  Aber  dieser  Siegeston  wird 
schnell  abgedämpft,  der  Platz  für  das  zweite  Thema 

ClarlDette  ^^*WJ    i-'TN 


^ 


M^IpM^I^      Ji,pn^,l,p 


elft 


zurecht  gemacht. 

Dieses  führt  uns  in  die  Sphäre  des  Adur-Satzes  im 
Andante  zurück,  wenn  das  auch  technisch  noch  nicht  so 
gleich  zu  ersehen  ist.  Den  freien  Wiederholungen  der  hier 
mitgeteilten  Periode  folgt  zunächst  ein  sehr  einfacher  Nach- 
gesang aus  Akkordnoten 


583 


tt^rtuiTf  K'fTri  j|i  \K  ■'■II 

diesem  aber  die  auf  dem  Nonenakkord  ruhende  Musik, 
mit  der  in  jenem  Andante  die  Vision  des  Adur-Themas 
verschwand.  Ganz  natürlich  also,  daß  diese  Stelle,  als 
sie  geendet  —  zunächst  einen  Alarm  erregt 

Die  Durchführung  des  Satzes  beginnt  damit.  Das 
Hauptthema  tritt  in  Cmoll  auf.  Bald  tritt  das  Motiv  mit 
den  punktierten  Achteln  —  siehe  den  zweiten  und  dritten 
Takt  des  Haaptthemas  »  in  den  Vordergrund.  £s  fügt 
sich  —  beim  Eintritt  nach  Asdur  — zu  einem  Sätzchen, 
das  an  Wiener  Tanzweisen  köstlich  erinnert.  Jener  oben 
angegebene  Nachgesang  des  zweiten  Themas  und  die  weh- 
mütige Abschiedsmusik  aus  dem  Andante  treten  an  seine 
Stelle.  Wiederum  großer  Aufruhr,  als  sie  geschlossen,  das 
hupfende  Motiv  sucht  sich  vergeblich  durch  den  drama- 
tischen Lärm  des  vollen  Orchesters  durchzukämpfen.  Die 
HOrner  schleudern  ein  Machtwort  drein,  und  durch  die  er- 
zwungene Stille  zieht  langsam  (tempo  Andante),  von  Oboe, 
dann  von  Klarinette  geblasen,  der  Anfang  des  Hauptthemas 
dahin.  Im  Trauergewand  nimmt  der  Dichter  den  letzten 
Abschied  von  seinem  schönsten  Ideal,  von  der  Erinnerung 
an  jene  Himmelsgestalten  des  Andante.  Die  Reprise  be- 
ginnt mit  einer  geistreichen  Variation.  Ein  einfaches  ge- 
stoßenes Achtelmotiv,  mit  dem  von  Tonart  zu  Tonart 
rüstig  fortgeschritten  wird,  ist  das  neue  Element  Dann 
kommt  das  Hauptthema  wieder  wie  im  ersten  Teil  des 
Finale,  endlich  in  der  Haupttonart:  F  dur.  Die  Gruppe  des 
zweiten  Themas  ist  einigermaßen  erweitert,  sie  schließt 
wieder  mit  Nachgesang  und  mit  der  aus  dem  Andante 
entnommenen  Trennungsmusik.  Aber  diesmal  bricht  kein 
Tumult  aus,  sondern  es  schließt  sich  das  fromme  Ende  des 
Einleitungsthemas  des  ersten  Satzes  an.  Immer  freudiger 
wird  nun  der  Ton,  in  dem  das  Hauptthema  (in  F)  wieder  auf- 
genommen wird,  immer  pastoraler,  und  in  den  zwölf  letzten 
Takten  stehen  wir  vor  dem  Anfang  der  Sinfonie.  Glänzend 
intoniert  die  Posaune  das  erste  Thema  des  ersten  Satzes. 


— •     584    ♦- 

A.  »vorak,  Dvofaks  vierte  Sinfonie  (Qdur,  op.88j  ist  in  Eng- 

Viert«  Sinfonie,  land  ergchienen  utid  Vielleicht  schon  aus  diesem  Grunde 
weniger  bekannt  geworden.  Es  stehen  ihrer  Einbürgerung 
und  Verbreitung  jedoch  auch  innere  Schwierigkeiten  gegen- 
über Sie  ist  den  Begriften  nach,  an  die  die  europäische 
Musikwelt  seit  Haydn  und  Beethoven  gewöhnt  ist,  kaum 
noch  eine  Sinfonie  zu  nennen,  dafür  ist  sie  viel  zu  wenig 
durchgearbeitet  und  in  der  ganzen  Anlage  zu  sehr  auf 
lose  Erfindung  begründet.  Sie  neigt  zu  dem  Wesen  der 
Smetanaschen  Tondichtungen  und  dem  vonD  v,oraks  eignen 
slavischen  Rhapsodien.  Die  wahre  Freude  an  dem  Werk 
bleibt  den  Landsleuten  des  Komponisten  vorbehalten,  die 
in  dieser  und  jener  an  sich  nur  bescheidnen  Melodie  ein 
Stück  teuerster  Kultur  erleben. 

Der  erste  Satz  (Allegro  con  brio,  C»  Gdur)  wird  von 
einer  elegischen  Weise  in  GmoÜ  eingeleitet,  die  durch  den 
voUstän(£g  Schubertschen  Schluß  mit  der  Auflösung  nach 
Dur  am  meisten  fes- 
selt. In  der  Mitte  drängt  J  JJlJ.  /]|JJJJ|J. 
sich  ein  Marschmotiv  ^ 

hervor.   Dieser  Einleitung,  die  sich  hauptsächlich  auf  Cello 
und  Hörn  stützt,  folgt  die  Flöte  mit  einem  Thema  in  Gdor 


das  unter  den  zahlreichen  Ideen,  die  dem  Komponisten 
während  dieses  Satzes  durch  den  Kopf  ziehen,  die  erste 
Stelle  einnimmt.  Nächst  ihm  gelangt  das  Marschmotiv 
zur  größten  Bedeutung.  Nachdem  das  zweite  Thema  mit 
seinem  Gefolge  vorbei  ist,  kehrt  die  Einleitung  in  Moll 
wieder.  Diese  Stelle  ist  die  bemerkenswerteste  im  Satze. 
Ihr  folgen  Durchführung  und  Reprise  ohne  nennenswerte 
Beweise  von  Inspiration  oder  künstlerischer  Energie« 

Der  zweite  Satz  [Adagio,  s/49  Cmoll)  ist  der  originellste 
der  Sinfonie  und  einer  der  eigensten  überhaupt,  die  wir 
auf  diesem  Gebiete  haben.  Feierliche  Kirchenmusik,  Sere- 
naden, von  fern  her  kecke  Marschklänge  —  ganz  dis- 


--♦    586    %^ 

parale  Elemente  schließen  sich  da  höchst  glttcklich  zn- 
sammen. 

Der  dritte  Satz  (Allegretto  graziosoi  s/g,  GmoU)  hat 
zum  Hanpttheroa  eine  Melodie  von  sehr  breitem  Wurf  und 
einem  Charakter,  der  sich  ganz  für  den  Hausschatz  der 
älteren  Romantik  eignen  würde.  Als  Seitenthema  folgt 
ihr  eine  chromatisch  beginnende  Weise,  die  in  einem  etwas 
halsstarrigen  Kanon  durchgeführt  wird.  Der  beste  Teil  des 
Satzes  ist  das  Trio  in  Gdur.  Seine  Melodie  hat  Kinder- 
augen. Das  Finale  (Allegro  roa  non  troppo,  ^y^,  Gdur) 
wird  von  einem  sehr  anspruchsvollen  Trompetensolo  ein- 
geleitet, das  uns  wohl  zu  einem  Nationalfest  ruft.  Volks* 
spiele  in ,  Gestalt  von  Variationen  über  eine  Paraphrase 
des  Hauptthemas  vom  1.  Satze  —  siehe  das  erste  Noten- 
beispiel —  füllen  es  zum  größten  Teil  aus. 

Eduard  Hanslick  faßt  in  seinem  Buche:  »Fünf  Jahre 
Musik«  einige  Kammerkompositionen  Dvofaks  als  des  Kom- 
ponisten »Amerikanische  Musik«  zusammen.  Das  Haupt- 
stück dieser  Abteilung  zu  sein,  darf  Dvofaks  neueste,  seine  a.  Drorak, 
fünfte  Sinfonie  (EmoU,  op.  96)  beanspruchen.  Sie  führt  Ftt»'*«  Sinfonie 
oflen  den  Titel  »Aus  der  Neuen  Welt«.  Ein  Programm 
will  diese  Bemerkung  wohl  kaum  bieten,  dio  Sinfonie  malt 
und  schildert  nur  sehr  bescheiden.  Sie  sollte  den  Freunden 
Dvofaks  ein  Lebenszeichen  bringen,  die  Fragen  nach  sei- 
nem Tun  und  Ergehen  nach  echter  Künstlerart  nicht  mit 
Reden  und  Worten,  sondern  mit  einem  Stück  seines  besten 
Lebens  beantwortenr  Da  kann  sich  jeder  überzeugen,  ob 
er  noch  der  Alte  im  fremden  Lande  geblieben.  Spärlich 
und  nicht  gerade  imposant  kommen  einige  neue  Ein- 
drücke zum  Vorschein,  die  die  New  Yorker  Zeit  in  Seele 
und  Phantasie  verursacht  hat;  mächtiger  schlägt  aus  dem 
originellen  Künstlerbrief  die  Sehnsucht  nach  der  alten  Hei- 
mat, die  Liebe,  die  ihn  an  der  Väter  Sitte  bindet,  hervor. 

Einen  äußerlich  greifbaren  Niederschlag  des  Amerika- 
nischen Aufenthalts  bietet  die  Sinfonie  in  einer  handvoll 
aus  der  Volksmusik  der  Neger  oder  der  Indianer  stammen- 
den Originalmelodien,  die  ih  den  einzelnen  Sätzen  des 
Werkes  verstreut  und  versteckt  sind.  Der  amerikanische 


._*    586    «^ 

Neger  hängt  mit  der  Musik  fast  ausschließlich  durch  den 
Rhythmus  zusammen;  bei  weitem  höher  stehen  die  In- 
dianerweisen. Ihnen  begegnen  wir  deshalb  auch  häufiger 
in  Instrumentalkompositionen  der  jungen  amerikanischen 
Schule;  auch  Heinrich  Zöllner  hat  in  einem  seiner  Chöre, 
dem  »Indianischen  Liebesgesang«,  eine  sehr  hübsche 
Probe  davon  gebracht.  Daß  ein  Vertreter  nationaler 
Elemente  in  der  Kunstmusik,  wie  Dvofak,  Volksweisen 
überall,  wo  er  sie  findet,  teilnehmend  und  liebevoll  be- 
handelt, versteht  sich  ohne  weitres.  Wenn  wir  trotzdem 
sehen,  daß  aus  dem  amerikanischen  Material  in  dieser 
Sinfonie  nicht  viel  geworden  ist,  so  führt  diese  Tatsache 
zu  der  Vermutung:  daß  die  Natur  dieses  Materials  dem 
Wesen  der  Sinfonie  zu  fremd  gegenübersteht. 

Der  erste  Satz  beginnt  ih  einer  langsamen  Einleitung 
(Adagio,  Vsj  EmoU)  mit  nachdenklichen,  durch  Synkopen- 
rhythmus  gezeichneten  Motiven,  die  leise  von  den  Cellis 
zu  den  Flöten  ziehen.  Plötzlich  setzt  das  Streichorchester, 
an  das  Synkopenmotiv  anknüpfend,  unisono  im  f[  ein, 
die  Pauke  dröhnt,  scharf  fahren  die  Bläser  auf,  die  Har- 
monie ist  von  Emoll  nach  Bdur  gesprungen.  Es  muß 
etwas  Bedeutendes  vorgefallen,  eine  große  Wendung  ein- 
getreten, ein  wichtiger  Entschfuß  gefaßt  sein.  In  der 
neuen  Tonart  treten  neue  Motive  auf:  die  Bedenklichkeit 
(in  den  Holzbläsern)  wird  vom  Wagemut  (Celli,  Bratschen, 
Hörner)  vertrieben.  Die  aufsteigenden  Töne  dieses  zweiten 
Motivs  künden  das  Hauptthema  des  Allegros  (S/4,  Emoll) 
an.  das  nach  wenigen  Takten  eintritt.  Seine  vollständige 
Gestalt 

Allegro  msHo.  J  =  186 


Corno. 


ruht  in  der  ersten  Hälfte  auf  dem  Klang  des  zweiten 
Homs,  in  der  zweiten  auf  Klarinetten  und  Fagotten, 
spricht  in  jener  großes  Sehnen  und  Erwarten,  in  dieser 
etwas  stürmisch  Behagen  und  Befriedigung  aas.  Die 
nächste  Wiederholung,  an  der  Spitze  die  Oboe,  führt  nach 


-^     587     %^ 

Gdur  und  sofort  mit  Trugschluß  uach  Hdur.  Von  da  an 
setzt  es  mit  der  ersten  Hälfte  allein  sa  neuen  Sätzen  an; 
die  Stimmung  schwingt  sich  auf,  und  es  kommt  zu.  einer 
neuen  Wiederholung  des  Hauptthemas  in  seiner  Original- 
tonart  im  fff.  Im  Triumphe  zieht  es  vor&her,  gefolgt 
von  einer  Kette  froher  Gefühle  üher  das  leitende  Motiv 
der  zweiten  Tbemenhälfte  gebildet.'  Ehe  man  es  erwartet, 
wird  abgebrochen;  der  freudige  Ton  wird  schwächer, 
zögert  und  schwankt.  Wir  stehen  vor  einem  psycho- 
logischen Vorgang,  wie  ihn  jeder  jeden  Tag  erlebt:  Eine 
Fülle  innerer  Gefühle  schwindet  plötzlich  vor  einem  Ein- 
druck, der  das  äußere  Auge  getroffen  hat.  Die  kleine 
Barbarenmelodie 

Fl.o.Ob.  >-v_^-5 

-^  i    r       ;      r    r    r        t 

C5roo.  -^^  •^' 

ist  in  Sicht  gekommen.  Alles  was  DvoiPak  bisher  gegeben 
hat,  konnte  in  Europa  heimisch  sein;  diese  Tanzweise 
führt  uns  zum  ersten  Mal  in  die  neue  Welt,  wenigstens 
auf  einen  der  Kultur  entrückten  Boden.  Das  sagt  uns  vor 
allem  das  f  an  Stelle  des  fis.  Wo  der  Leitton  aufhört, 
da  beginnt  das  Naturvolk  oder  das  Altertum.  Der  fremd- 
artige Charakter  der  Weise  wird  aber  durch  Nebenum- 
stände noch  unterstützt.  Da  ist  das  Hom,  das  die  ganze 
Zeit  T  in  Vierteln  gibt  Auch  in  den  Violinen  zittert 
und  schillert  dieses  d.  Als  das  amerikanische  Thema  zum 
ersten  Male  erscheint,  da  hat  der  Komponist  noch  nicht 
die  Absicht,  sich  ihm  gefangen  zu  geben.  Die  Flöten 
und  Oboen  bringen  es  als  Kontrapunkt,  als  Begleitstimme; 
die  geistige  Führung  liegt,  wenn  auch  nur  leise,  noch  in 
der  Klarinette.  Aber  schon  nach  8  Takten  ist  das  anders. 
Da  kommt  die  Melodie  der  Wilden  ih  die  zweite  Violine 
und  bringt  ihren  ganzen  aus  der  Heimat  gewohnten 
Musikapparat  mit:  die  liegenden  Stimmen  und  die  Quinten- 
bässe. Und  nun  ist  auch  die  Phantasie  des  Tondichters 
auf  eine  weite  Strecke  ganz  von  diesen  drolligen  Mo- 


-^    588    «^ 

tiven  in  Beschlag  genommen.  Er  sucht  sich  ihrer  mit 
einer  ernsten  Baß  weise  zu  erwehren,  aber  drüber  spielen 
die  Sechzehntel  weiter  und  in  den  Holzbläsern  kommen 
gar  neue  Motive  dazu,  die  mit  Pralltrillem  und  kecken 
Rhythmen  des  Abendländ^ers  zu  spotten  trachten.  Die 
lustige  Weise  war  nur  ein  Vorläufer;  in  das  eigentliche 
amerikanische  Musikwasser  kommen  wir  erst  mit  dem 
zweitön  Thema,  das  die  Flöte  in  Gdur  bringt 


p 

Mit  ihm  schließt  auch  der  ganze  erste  Teil  des  Satzes, 
die  Themengruppe  sofort  ab. 

Die  Durchführung  beginnt,  indem  sie  an  das  Ende 
des  zweiten  Themas  anknüpft,  auf  dem  übermäßigen  Drei- 
klang g-h'düj  der  12  Takte  lang  immer  leiser  gehalten 
wird:  Der  Dichter,  von  den  neuen  Eindrücken  überwältigt 
und  verwirrt,  schlummert  ein.  Wie  im  Traum  tritt  nun 
in  seiner  Seele  das  entlegenste  zusammen:  der  Anfang  des 
zweiten  Themas  und  der  Schluß  des  ersten.  Dann  kommt 
dieses  zweite  Thema  —  jetzt  in  Adur  und  Amol!  —  in 
einer  närrischen  Verkürzung  und  zerrissen,  die  erste  Hälfte 
in  den  Cellis,  die  zweite  in  den  Holzbläsern,  unaufhürlich 
nach  vom.  Die  Kombination  von  erstem  und  zweitem 
Thema  kehrt  wieder.  Dann  stellt  sich  der  Anfang  des 
Hauptthemas  mit  ein,  und  sobald  es  sich  gezeigt,  ist  der 
Traumcharakter  fQr  eine  Weile  preisgegeben.  Jedes  der 
aus  seinem  Zusammenhang  gerissenen  Elemente  sucht 
sich  durchzusetzen  und  mit  Gewalt  zu  behaupten.  Das 
gibt  eine  Art  Rüpelszene  mit  großem  Lärm.  Erst  am 
Schluß  der  im  ganzen  knappen  Durchführung,  wo  das 
Hauptthema  entschieden  die  Oberhand  gewinnt,  tritt 
wieder  Ruhe  und  Klarheit  ein. 

Die  Reprise  verläuft  regelmäßig  bis  auf  den  un- 
wesentlichen Umstand,  daß  das  zweite  Thema  in  Asdur 
steht.  In  der  Coda  läßt  Dvofak  zweites  und  Hauptthema 
gleichzeitig  spielen:  jenlBS  in  den  Trompeten,  dieses  in  der 
Altposaune.  Der  ganze  Schluß  ist  in  Farbe  und  Harmonie- 


^^     689    4^ 

baltung  sehr  glänzend  und  rühmt  den  Freunden  in  der 
Heimat  die  »Neue  Welt«  im  Superlativ. 

Der  zweite  Satz  (Largo,  C,  Des  dar)  ist  wohl  der- 
jenige, der  bei  den  meisten  Zuhörern  der  Sinfonie  einen 
dauernden  Platz  in  ihrer  Erinnerung  erobert  Er  ist  von 
der  eigentümlichen,  ruhigen  und  träumerischen  Schönheit, 
durch  die  uns  zuweilen  Bilder  der  Wüste,  der  Steppe, 
der  Pußta  so  mächtig  ergreifen.  Die  Stille  und  die  Größe 
der  Sehiläche  und  der  unbestimmte  Glanz  der  drüber 
liegt,  wirken  gemeinsam,  Phantasie  und  Sinne,  zu  nähren 
und  noch  mehr  zu  reizen. '  In  der  Musik  finden  wir  die 
Seitenstücke  zu  dem  Satze  Dvo^aks  am  nächsten  bei 
'Borodin  und  Rimsky-KorssakofT.  Es  handelt  sich  um  einen 
neuen  Ton,  dem  sich  von  den  älteren  nur  Liszt'in  seinen 
Ungarischen  Rhapsodien  nähert.  Dvofak  hat  vielleicht 
Eindrücke  der  Prärie  in  sein  Largo  gemischt. 

Der  Satz  beginnt  »wie  Orgelton  und  Glockenklangc 
mit  feierlichem,  breitem  Akkordenvorspiel  der  Messing- 
bläser. Darauf  setzt  das  englische  Hörn  zu  folgendem 
Gesang  an: 

jA  jjv  niii  riiii "  I  u^^p 


Des  ',  De»..   F Ges.  Aa. Des 

Das  ist  die  Stimme  des  Gottesfriedens,  der  heiteren 
Andacht,  der  kindlichen  Unschuld,  erhebend  und  lieblich 
zugleich.  Der  Satz  wird  unter  Mitwirkung  von  Klarinetten, 
dann  Fagotten  zu  einem  bescheidenen  Lied  von  16  Takten 
erweitert.  Da  kehren  die  einleitenden  Akkorde,  jetzt  in 
den  Holzbläsern,  zum  Abschluß  wieder.  Darauf  nehmen 
die  VioUnen  das  Thema  zu  einem  kleinen  Satz,  der  dem 
Mittelteil  des  dreiteiligen  Liedes  ungefähr  gleicht^  das 
Schlußwort  bat  das  englische  Hörn.  Ihm  nach  gibt,  wie 
im  fernsten  Echo,  das  Hom  con  sordino  die  Motive  des 
ersten  Taktes  noch  einmaL  Dieser  bis  hierher  reichende 
erste  Teil  des  Largo  ist  in  Desdur  geblieben.  Der  zweite 
setzt  in  Cismoll  ein.  Sein  thematisches  Material  besteht 
aus  mehreren  Stücken. 


590 


Das  erste  Stack  wird  vom  folgenden  Thema  gebildet: 


V.a  iiuco  piu  moBSü 


Es  bringt  von  außen  her,  ähnlich  wie  die 

GmoU-Melodie  des  ersten  Satzes  der  Sin- 

B—       eis      fonie,  Bewegutig  in  die  bis  dahin  feierlich 

ruhige  Szene.    Als  zweites  Stück  folgt  ihr  ein  langsamer 

Gesang  in  den  Klarinetten 

Od  poco  ffleoo  «losao. 


Ersichtlich  ziehen  Schatten  durch  ihn.  GUch  das  Desdur- 
Thema  einem  .Dankgebet,  so  dieses  einer  Bitte  um  Schutz 
vor  Gefahren.  Ziehen  wir  aber  die  Erregung  mit  in'Be- 
tracht,  die  sich  in  den  Rhythmen  der  begleitenden  Streich- 
instrumente ausspricht,  femer  den  leisen  Ton,  in  dem 
der  Satz  gehalten  ist,  drittens  den  deutlichen  nationalen 
Anklang  in  der  Melodie,  so  dürfen  wir  den  Abschnitt 
wohl  auch  auf  Heimatserinnerungen  des  Komponisten 
deuten.  Das  eine  schließt  in  diesem  Fall  das  andere 
nicht  aus.  Wa^  der  Poesie  versagt  ist,  verschiedene 
Vorstellungen  und  Empfindungen  miteinander  in  der 
gleichen  Sekunde  zur  Anschauung  zu  bringen,  —  die 
Musik  kann  es. 

Die  von  diesen  beiden  thematischen  Stücken  gebil- 
dete Gruppe  wird,  und  zwar  in  derselben  Tonart,  wieder- 
holt. Der  Hauplunterschied  ist,  daß  jetzt  die  Violinen 
führen.  Zu  dem  Triolenthema  bringen  die  Holzbläser 
nachahmende  und  verstärkende  Kontrapunkte.  Wie  das 
bei  Wallfahrten  häufig  vorkommt,  daß  sich  an  die  reli- 
giösen Zeremonien  ein  bunter  Jahrmarkt  anschließt,  so 
folgt  jetzt  dem  CismoII-Teil  ein  dritter  Abschnitt  unseres 
Largo  in  Cisdur,  dessen  Charakter  durch  das  ihm  zu 
Grunde  liegende  Thema 


591 


p 

genügend  gekennzeichnet  wird.  Es  läuft  erst  durch  die 
oberen  Holzbläser,  dann  nimmt  es  das  Streichorchester 
auf  und  treibts  mit  ihm  zu  einer  wilden,  bacchantischen 
Lustigkeit,  die  sich  mit  der  Schnelligkeit  entwickelt,  in 
der  nur  Naturvölker  ihre  Empfindungen  wechseln.  Die 
Trompeten  setzen  das  Töpfelchen  auf  das  i  des  tollen 
Spuks.  '  Sie  sind  es  aber  auch ,  die  schon  im  nächsten 
Augenblick  der  aus  Rand  und  Band  geratnen  Gesellschaft 
der  Instrumente  wieder  den  ernsten  Zweck  der  Versamm- 
lung zu  Gemüte  führen.  In  einem  unerwarteten  Adur 
(unmittelbar  auf  die  Cisdur- Akkorde)  bringen  sie  deo 
Anfang  des  Hauptthemas  des  Largos,  des  Desdur-Themas. 
Es  folgt,  in  seiner  Originalgestalt  und  vom  englischen 
Hörn  gesungen,  diesem  Appell  auf  dem  Fuße.  Als  es 
die  Geigen  aufnehmen,  macht  sich  —  in  drei  Fermaten  — 
ein  wundersames  Stocken  bemerkbar.  Der  Satz  verklingt 
poetisch,  als  wenn  sich  Nacht  übers  Land  breitet.  Ganz 
nahe  am  Schlüsse  hören  wir  auch  noch  einmal  die  feier- 
sich  langsamen  Bläserakkorde. 

Das  Scherzo  der  Sinfonie  (Mblto  vivace,  s/4,  E  moll)  ent- 
faltet in  seinem  Hauptsatz  einen  harten  Humor.  Diese  Härte 
beruht  weniger  auf  dem  melodischen  Thema  des  Satzes 

•*  .     .        J    o^  als  auf  der 

MLoIto  vivace- d«=  80  p.    i.   ., 


TP  Komponist 

gibt.  Mit  einigen  erschreckenden  Schlägen  meldet  es 
sich  in  den  einleitenden  Takten,  läßt  seine  ersten  Achtel, 
befremdend,  zttgcfllos  durch  die  Streichinstrumente  sausen, 
erscheint  dann  endlich  vollständig,  aber  auf  einem  gänz- 
lich unbefriedigenden  Akkord,  (auf  der  Dissonanz  h-d^e-g), 
so  wie  es^  die  russischen  Melodien  zu  tun  pflegen.  Als 
es  zum  zweiten  Male  seinen  Weg  sucht,  stellt  sich  ihm 
die  Klarinette  rechthaberisch  und  ungeberdig  entgegen. 
Dann  hat  sich  wieder  das  Tutti  des  Streichorchesters  in 


^^    592     *^ 

einem  übermäßigen  Dreiklapg  Terützt,  und  als  es  endlich 
in  die  richtige  Harmonie  gekommen  ist  und  im  ff  die 
Unglilcksmelodie  durchdrückt,  stellen  wieder  die  HÖmer 
mit  ganz  querköpfigen  Tönen  alles  Erreichte  in  Frage 
und  ünden  leider  bei  den  sämtlichen  Holzbläsern  Unter- 
stützung. Nur  die  Bässe  führen  unter  diesen  Umständen 
die  Absicht  mit  dem  Scherzothema  durch.  Aber  nach- 
dem der  Form  soweit  genügt  ist,  läßt  man  es  allgemein 
fallen.  Ganz  wider  allen  Brauch  tritt  schon  jetzt  das 
Trio  ein,  ein  etwas  langsam  gehaltener  Satz  in  Edur 
mit  folgendem  Hauptthemä 


^JjJ-JJlJJU^ 


Seine  beiden  ersten  Noten  erklären  uns,  warum  der 
Satz  bisher  so  wunderlich  verlaufen,  warum  der  Scherz 
in  einen  Streit  ausgeartet  ist.  Der  zweite  Satz,  das  schöne 
Largo,  beherrsclite  noch  die  Phantasie,  und  was  hier  in 
diesem  Trio  in  den  Holzbläsern,  später  im  Cello  gespielt 
wird,  ist  ein  Anklang,  ein  Nachklang  seines  Desdur- 
Themäs,  der  Melodie  des  englischen  Homs.  Doch  lange 
dauert  der  Frieden  dieses  Trios  nicht.  Das  Thema  des 
Hauptsatzes  setzt  wieder  ein  im  dreifachen  p  und  in 
Edur.  Aber  bald  wird  das  Wetter  schlecht:  ein  ver- 
zweifelt vorwärts  schiebender  Übergangs-  und  Modn- 
lationssatz,  bei  dem  die  Trompete  eine  sehr  wichtige 
Rolle  spielt,  bringt  uns  wie  im  Flug  wieder  nach  Emoll 
und  gleich  an  die  Stelle,  wo  die  Hörner  das  ff  des  Haupt- 
themas so  heftig  bestritten.  Sie  haben  jetzt  auch  die 
Bässe  auf  ihrer  Seite,  und  es  kommt  zu  einem  schnellen 
Schluß,  oder  vielmehr  einem  Abbrechen.  Es  ist  still 
geworden.  In  den  Bläsern  hören  wir  wie  einen  Wehruf 
wiederholt:  oA,  die  Geigen  intonieren  dazu  wie  stumpf 
und  mechanisch  das  Quintmotiv,  mit  dem  das  Thema 
des  Hauptsatzes  beginnt.  ,Da  werfen  die  Celli  und  nach 
ihnen  die  Bratschen  in  die  allgemeine  Ratlosigkeit  das 


— <^    593    ♦— 

Haaptthema  des  ersten  Satzes  der  Sinfonie  hinein,  auf 
das  vor  dem  letzten  Sturm,  wohl  unbemerkt,  die  Bässe 
schon  einmal  angespielt  haben.  Jetzt  tut  es  seine  Wir- 
kung. Es  beginnt  ein  friedliches  Spiel  um  folgende  ein- 
fache Tanzweise 


iioUo'v\ymt^7o'Z  90 


die  uns  wieder  in  die  deutsche  Volksmusik,  wieder  in  die 
Nähe  von  Dvofaks  großem  Ahnherrn  Fraiiz  Schubert 
föhrt  Dem  Gdur-Satz,  mit  dem  dieses  neue  Thema  be- 
ginnt, folgt  eine  Fortsetzung  in  6  mit  weiteren  hübschen 
Motiven  als  zweiter  Teil,  und  dann  kommt  der  Gdur-Satz 
wieder.  Es  handelt  sich  also  in  der  Komposition  unseres 
Scherzos  um  die  Einschiebung  eines  dreiteiligen  lied- 
satzes  an  die  Stelle  einer  etwaigen  Durchführung.  Durch 
diese  Einschiebung,  weiter  durch  die  Vorschiebung  des 
Trios,  durch  die  Aufnahme  von  Themen  aus  dem  zweiten 
und  ersten  Satz  hat  aber  Dvofak  seinem  Scherzo  einen 
ganz  außerordentlich  individuellen  Charakter  gegeben. 
Das  hergebrachte  Formenschema  ist  zwar  benutzt  worden, 
aber  die  Formen  haben  eine  ganz  unerwartete  Bedeutung 
und  Stellung  erhalten.  Der  eigentliche  geistige  Haupt- 
satz ist  der  Cdur-Sats  geworden,  den  wir  eben  ver- 
lassen haben.  Dvofak  hat  seine  wiederholt  gerühmte 
Kunst  der  poetischen  und  dramatischen  Belebung  Beet- 
hovenscher Formen  wiederum  glänzend  bewiesen.  Man 
kann  nur  wünschen,  daß  dieser  Beweis  auch  als  Muster 
dienen  möge! 

Die  Coda  des  Satzes  ist  vorzugsweise  dem  Haupt- 
thema aus  dem  ersten  Satz  der  Sinfonie  gewidmet;  ganz 
am  Schlüsse  spielt  die  Trompete  noch  einmal  auf  den 
eingeschobenen  Cdur-Satz  an  und  bekräftigt  damit  die 
Wichtigkeit,  die  er  in  dem  nun  beendeten  Satz  ge- 
habt hat. 

Das  Finale  der  Sinfonie  (Allegro  con  fuoco,  C»  Emoll) 
beginnt  in  einem  ähnlichen  Balladenton  wie  der  Schluß- 

Kretisch  mar,  Ftibrer.    I,  1.  *       88 


/ 


594 


satz  von  Gades  Gmoll*  Sinfonie.  Auch  thematisch  fühlt 
man  sich  an  dieses  Werk  erinnert,  wenn  das  Hanptthema 
wie  folgt  einsetzt: 

Alltgro  eon  faoco.  i z  182 
•i^aonier  n.  Tro  mpetei»' 

r  Lri  f  '    r  '  I  ^   ^  ^^'  ^^'^  Charakter  der  indiani- 
'      "  sehen  Kriegsmelodien,  wie  sie  etwa 

Baker  mitteilt*),  geht  es  mit  großem  Schwang  hinaas. 
Es  könnte 'ein  Kunpflied  der  Puritaner  ans  den  Unab- 
hängigkeitskämpfen sein.  Nachdem  das  volle  Orchester 
die  Melodie  abgeschlossen  hat,  findet  ihr  Siegesmnt 
einen  weiteren,  nidit  mehr  feierlichen,  sondern  kräftig 
weltlichen  Ausdruck  im  folgenden  Thema,  das  seine 
fremdländische  Abstammung  durch  dreitaktiges  Metram 
kundgibt 


^Mr^iiiirrixiiiiir 


Zum  zweiten  Male  in  der  Haupttonart,  Emoll,  gebracht, 
verliert  es  sich  auffällig  schnell.  Die  Harmonie  sitzt  auf 
dem  verminderten  Septakkord  0*9-0-^-6  fest;  zu  den  vielen 
alarmierenden  Elementen ,  die  an  der  Stelle  zusammen- 
kommen, steuert  auch  das  Schlagzeug  bei  Wie  geister- 
haft tritt  als  zweites  Thema  des  Finale  der  Gesang  der 
Klarinette  ein 


Er  bedeutet  Heimweh,  Sehnsucht  nach  Vaterland  und 
Freunden,  den  Entschluß  zur  Rückkehr  in  die  alte  Welt. 

*)  Th.  Baker:    Über    die  Mosik   der  nordtmeriktniseheD 
WUden.    Leipzig  1882. 


-^    595    4^^ 

Wenn  wir  es  aus  dem  Thema  selbst  nicht  verstehen 
sollten,  aus  dem  schmerzlichen  Einsatz,  so  sagt  es  uns 
das  Motiv,  das  im  6.  Takt  begleitend  einsetzt.  Das  stammt 
aus  Dvoi^aks  letzter  Sinfonie,  aus  seiner  vierten,  seiner 
böhmischen  Sinfonie.  Diesem  elegischen  Thema  der 
Klarinette,  das  die  Violinen  bald  aufnehmen,  schickt 
DvoiFak  einen  fröhlichen  Nachfolger  hinterdrein 


Sein  letzter  Takt  trägt  in  übermütiger  Färbung  langhin 
die  Fortsetzung,  bis  ihn  zuletzt  der  Fagott,  mit* dem  Cello 
vereint,  leise  aufnimmt  und  das  Motiv  ins  Humoristische 
wendet.  Ein  wenig  klingt  es  ja  auch  an  den  Mittelteil 
des  Cdursatzes  im  Scherzo  an. 

In  der  Durchführung  wechselt  zunächst  dieses  Motiv 
der  Heimkehr  —  wie  wirs  wohl  nennen  dürfen  —  mit 
Bruchstücken  der  amerikanischen  Themen  des  Finale. 
Dann  setzt  in  Fdur  die  schöne  Hauptmelodie  des  zweiten 
Satzes  der  Sinfonie,  des  Largo  ein,  tritt  glänzend  und 
glänzender  heraus.  Daneben  stellt  sich  dann  der  Anfang 
vom  Hauptthema  das  Finale,  plötzlich  tritt   das  Horn^ 

Siema  herein,  mit  dem  die  Sinfonie  begann:  das  Motiv 
er  Erwartung.  Jetzt  gilt  es  wohl  der  Heimreise.  Noch 
eine  Weile  streiten  sich  im  Gemüte  des  Komponisten  und 
in  der  Durchführung  alte  und  neue  Welt.  Dann  erscheint 
im  Meno  mosso  das  Hauptthema  des  Finale  piano  von 
der  Oboe  in  tiefer  Lage  und  vom  Hom  geblasen,  bald 
darauf  das  zweite  Thema,  das  Thema  des  Heimwehs  in 
Edur.  Der  Abschied  ist  genommen,  der  Entschluß  zur 
Rückkehr  gefaßt,  und  entschlossen,  freudig  wird  er  aus- 
geführt. 

Zwei  nachgelassene  Sinfonien   des  Komponisten,     A.DToiFak, 
die  eine  in  Es  aus  dem  Jahre  1872,  die  andere  in  D m oll,  Zwei nachgeias. 
1874  komponiert,   sind   unbeachtet   geblieben.     In   der»«°f  fj"'*»«*»«" 
Esdur-Sinfonie  ist  das  Adagio  sehr  bedeutend.  Gleichfalls  "**  ^i""*"* 
ziemlich  unbekannt  geblieben  ist  auch  Dvofaks  Sere- 

^38* 


-^    596    «^ 

nade  fflr  Blasinstrameute,  ein  durch  die  liebenswürdige 
Mischung  von  individuellen  und  nationalen  Zttgen  eigenes 
und  fessehides  Werk, 
zdoiko  Flbldi,  Unter  den  weitern  böhmischen  Beiträgen  zu  Sinfonie 
Sinfonie  in  JSb.^j^^  Suite  erregen  die  Arbeiten  von  Zdenko  Fibich 
deshalb  das  Interesse,  weil  dieser  Komponist  durch  Ouver» 
türen  und  ähnliche  einsätzige  Werke  ein  starkes,  in  der 
Erfindung  hervorragendes  Talent  bewiesen  hat  Von 
seinen  drei  Sinfonien  ist  die  zweite  (in  Es  dur)  in  Deutsch- 
land bekannt  geworden,  hat  sich  jedoch  nur  wenig  ver- 
breitet. Das  liegt  wesentlich  an  ihrem  ersten  Satz.  Die- 
ser setzt  mit  einem  breiten  Thema  ein: 

Allegro  moderato. 
^   ,  gdyner. a^ VloL 


HolrbÜBef. 


'^^^'\l^^f}\  if  Ti  Uli  I  j  I  ' 


p 

das  den  Ton  einer  erhabnen  Naturode  ans<vhlägt,  an 
Wagners  Vorspiel  zum  Rheingold  und  an  ähnliche  Ton- 
oder  Wortdichtungen  erinnert,  die  auf  langgeschwungnen 
schönen  Wegen  zu  einem  mächtigen,  unvergeßlichen 
Höhepunkt  führen.  Wir  sind  in  einer  Stimmung  wie  in 
der  Morgendämmerung.  Der  Sonnenaufgang  kommt  aber 
nicht  in  dem  Satze.  Es  fehlt  ihm  eine  große,  klare  Bnt- 
Wickelung,  sogar  in  der  äußren  Gliederung  bleibt  er  etwas 
verwischt  —  hat  nur  präludierenden  Charakter  und  ist 
für  seine  Natur  zu  lang.  Daß  die  Absichten  des  Kom- 
ponisten weit  gingen,  ist  daraus  zu  ersehen,  daß  er  nicht 
bloß  das  erste  Thema  des  Satzes,  sondern  auch  das  an 
und  für  sich  nicht  bedeutende,  vom  folgenden  Anfang  aus 

>^-^p     .^py.      sequenzenmäßig   weiter   ge- 

*^jit\f\\  fii  ff  r  I  T'  r  I  führte  zweite  Thema  iu  die 
^  '     ^  späteren    Sätze   hineinzieht. 

Diese  enthalten  sehr  viel  Frische,  Kraft,  Poesie  und  Kunst 
und  lassen  es  bedauern,  daß  der  Anfangssatz  der  Sinfonie 


597 

nicht  besser  gelangen  ist.  Das  nationale  Element  tritt  bei 
Fibioh  in  diesem  Werke  gänzlich  in  den  Hintergrund;  nnr 
das  Scherzo  enthält  in  dem  CmoU- Abschnitt  einen  Teil,  der 
auf  Volksmusik  zurückgeführt  werden  kann.  Deutlicher 
verrät  seine  Sinfotiie  die  Einflüsse  Beethovens,  Mendels- 
sohns und  Wagners.  Das  im  Entwurf  hervorragende  Adagio 
der  Sinfonie,  das  durch  Einfügung  eines  mit  der  »Götter- 
dämmerung« verwandten  Marschmotivs  aus  dem  Elegi- 
schen ins  Großdramatische  wächst,  stellt  diese  drei  Meister 
dicht  zusammen. 

Unter  den  jüngeren  Komponisten,  die  in  den  Fuß- 
stapfen Smetanas  und  Dvohdks  für  die  Existenz  und  Be- 
deutung der  böhmischen  Schule  in  die  Schranken  ge- 
treten  sind,  haben  die  verhältnismäßig  größten  Erfolge 
J.  Suk  und  0.  Nedbal  gehabt,  jener  mit  seiner  Sin- j.gmk, 
fonie  Asrael  und  einer  Märchensuite,  dieser  mit  seiner  A«  »•**»!. 
Suite  mignonne.  Auch  V.  Noväk  gehört  mit  seinen  sinfo-  T.  HoT&k. 
nischen  Dichtungen  unter  die  Führer  der  Schule. 

Den  künstlerischen  Zielen  nach  gebührt  unter  den  J.  Sik, 
Werken  dieser  Tonsetzer  der  erste  Platz  dem  Asrael  ^"»^  (^p- 2'> 
von  J.  Suk.  Diese  Sinfonie  gehört  allerdings  schon 
dem  Stoff  nach  nicht  ins  Bereich  freundlicher  und  ein- 
nehmender Kunst,  denn  sie  schildert  in  ihren  fünf  Sätzen, 
von  denen  die  ersten  drei  den  ersten,  die  beiden  letzten 
den  zweiten  Teil  der  Komposition  bilden,  nur  trübe  Schick- 
sale, ihre  Töne  sind  deshalb  fast  ausschließUch  auf  den 
Ausdruck  von  Trauer,  Klage  und  Sehnsucht  gerichtet, 
Tristanstimmungen  durchziehen  selbst  ihr  Scherzo.  Dazu 
macht  es  der  Komponist  dem  Hörer  auch  noch  durch 
seinen  Stil  schwer.  Auch  bei  Suk  zeigt  es  sich  wieder, 
daß  die  nationalen  Schulen  ein  besonders  fruchtbarer 
Boden  für  grammatische  Kühnheiten  und  Extreme  sind : 
er  neigt  weit  über  den  Bedarf  hinaus  zur  Ghromatik,  zu 
Dissonanzen  und  sekundären  Kontrapunkten  und  zu  all 
dem  Luxus  und  Ballast  demonstrativ  modemer  Opern- 
und  Instrumentalmusik,  den  man  einfach  als  »falschen 
Wagner«  bezeichnen  darf.  Aber  eine  beachtenswerte 
Leistung,  mit  der  auch  die  deutschen  Musikfreunde  sich 


-^    598     0^ 

vertraut  machen  sollten,  ist  dieser  Asrael  immerhin.  Was 
ihn  auszeichnet,  ist  das  Talent  in  der  thematischen  Er- 
6ndang  und  der  feste  Charakter  in  der  DnrchfQhrang  der 
poetischen  Aufgaben. 

Stärker  als  in  anderen  Ländern  hat  sich  der  Kultus 
nationaler  Musik  in  Rußland  entwickelt  Es  ist  erst 
durch  die  nationale  Bewegung  an  die  Pflege  der  höhren 
Instrumentalmusik  herangeführt  worden  und  hat  sich 
wunderbar  schnell,  obwohl  ihm  Orchester,  Konzerte  und 
eine  Menge  der  wichtigsten  Vorbedingungen  zu  fehlen 
schienen,  in  ihr  eine  heivorragende  Stellung  errungen, 
die  sich  eine  Zeit  lang  sogar  zur  Führerschaft  anzu- 
lassen schien.  An  Fruchtbarkeit  steht  die  russische 
Schule  obenan  und  ihre  Orchesterkomposition  weist  dem 
volkstümlichen  Element  einen  so  breiten  Raum  zu,  daß 
selbst  diejenigen  Komponisten,  deren  Bildung  eine  ent- 
schieden westliche  und  internationale  ist,  sich  jener 
nationalen  Strömung  nicht  entziehen  können.  Der  all- 
gemeine europäische  Musikschatz  ist  durch  die  Russen 
stark  mit  Temperament  bereichert  worden;  weniger  mit 
Ideen.  Denn  die  Mehrzahl  ihrer  Tonsetzer  bewegt  sich 
in  den  nationalen  Extremen  von  Weichheit  und  Ausge-. 
lassenheit  Für  Kontrapunkt  und  Instrumentation  brin- 
gen sie  eine  außerordentliche  Bildung  und  Begabung  mit, 
die  ihrer  Musikschule  große  Ehre  macht.  Ihre  Leiden- 
schaft für  das  aus  den  Volkstänzen  der  Heimat  gewohnte 
naturalistische  Variieren  muß  jedoch  auf  die  Dauer  die 
Form  der  Sinfonie  zerstören  und  bedroht  folglich  auch 
den  Geist  dieser  Gattung  wie  kein  zweites  unter  den 
neuen  Elementen.  Das  patriotische  Streben  der  jungen 
russischen  Tonsetzer  wird  durch  den  Reichtum  an  heimi- 
schen Weisen  begünstigt,  über  welche  das  vielstämmige 
Riesenreich  verfügt.  Augenscheinlich  sind  es  die  der 
Kultur  ferner  stehenden  Völkerschaften,  zu  deren  musi- 
kalischen Schätzen  sich  die  Schule  besonders  hingezogen 
fühlt.  An  Gedankengehalt  bieten  die  Weisen  dieser  Na- 
turvölker durchschnittlich  wenig:  zum  kleineren  Teil  sind 
es  langsame,  auch  innerlich  wenig  bewegte  Melodien, 


->^    599    ♦^ 

aus  denen  die  Melancholie  und  die  Unendlichkeitsstim- 
vmong  der  Steppe  spricht,  zum  weit  größren  abet  kurze 
Tanzweisen,  welche  sich  durch  fortgesetzte  Wiederholun- 
gen desselben  Motivs  weiter  fristen.  2Sie  halten  in  Bezug 
auf  melodischen  Wert  keinen  Vergleich  aus  mit  dem, 
was  d&e  Ungarn  und  Böhmen  auf  £esem  Gebiete  aufzu- 
weisen haben,  und  selbst  die  Melodien  der  Skandinavier 
sind  ihnen  an  Reichtum  der  Phantasie,  an  Freiheit  und 
Mannigfaltigkeit  der  Form  überlegen.  In.  dieser  Bezie- 
hung bieten  die  russischen  Allegrothemen  der  künstle- 
rischen Behandlung  große  Schwierigkeiten.  Aber  diese 
Nomadenmusik  hat  andere  Seiten,  von  welchen  aus  sie 
auf  die  kunstmäßige  Komposition  sehr  belebend  einwirkt. 
Sie  neigt  zu  dramatischen  Formen  und  bietet  im  rein 
.Klanglichen  die  erstaunUchsten  Originalerscheinungen. 
Das  Tonleben  jener  russischen  Stämme,  welche  an  den 
Ufern  der  Wolga,  an  den  Küsten  des  Schwarzen  Meeres 
und  in  den  Tälern  des  Kaukasus  dem  Krieger-  und  Hir- 
tenberuf obliegen,  nährt  sich  von  den  Klängen  der  Natur; 
ihre  Harmonien  bilden  sie  nach  dem  Vermögen  der  am 
liebsten  glissando  ansprechenden  Balalaika  und  nach  der 
Gnade  von  Instrumenten,  welche  der  sanglustige  Reiters- 
mann zu  Pferde  handhaben  kann,  ihre  Akkorde  werden 
nicht  von  gebuchten  Künstlergesetzen  geregelt,  sondern 
vom  Zufall,  von  der  praktischen  Bequemlichkeit  und  dem 
Streben,  sich  Gehör  zu  schaffen,  ihre  Rhythmen  und 
Metren  wechseln  wie  die  Launen  des  Naturmenschen. 
Von  daher  kommt  in  den  Orchesterwerken  der  jungrus- 
sischen Schule  der  bukolische  Grundton,  die  häufige 
Verwendung  einfacher  und  doppelter  liegender  Stimmen,  ^ 
von  daher  kommen  die  elementaren  Ausbrüche  unge- 
zügelter Lust,  von  daher  der  Eifer  und  auch  das  Glück, 
mit  welchem  diese  Tonsetzer  ungewohnten  instrumen- 
talen und  harmonischen  Kombinationen  nachgehen,  die 
naive  Freude  an  dem  Wechsel  der  Klangfarben,  das  Be- 
hagen, mit  welchem  sie  lange  Strecken  ein  unbedeuten- 
des Motiv  von  einem  Instrumente  zum  andern  wandern 
lassen.     Von   der  künstlerischen  Seite,  in  Bezug  auf 


— •    600    ^^ 

Phantasie  und  Form  geprüft,  sind  diese  nationalrussischen 
Orchesterkompositionen  im  Durchschnitt  erfreulich,  teil- 
weise im  höchsten  Qrad  fesselnd  —  immer  dabei  voraus- 
gesetzt, daß  hinter  dieser  russischen  Musik  noch  mehr 
als  hinter  der  russischen  Literatur  eine  von  der  unsren 
wesentlich  verschiedne  Welt  steht.     Wie  jede  in   der 
Bildung  begriffene  Schule,  hat  auch  die  jungrussische 
barocke  und  unreife  Werke  auf  ihrem  Kpnto  stehen:  un- 
geheuerliche Versuche,  Stoffe  aus  der  russischen  Sage  und 
Geschichte  musikalisch  zu  bewältigen.    Aber  die  Mehr- 
zahl der  Komponisten  hält  sich  ungefähr  an  den  Typus, 
M. eiisks. welchen  M.  Glinka,  der  Vater  jener  Schule,  in  seiner 
Kamarinskaja,  die  Europa  zuerst  mit  russischer  Instru- 
mentalmusik bekannt  machte,  aufgestellt  hat:  die  Stim- 
mung naiv,  heiter,  drollig,  ausgelassen,  von  grotesker* 
oder  träumerischer  Poesie,  die  Form  besonders  gern  durch 
wörtliches  Wiederholen  und  leichtes  Variieren  entwickelt. 
Wie  Glinka  selbst,  haben  auch  seine  nächsten  Nachfolger 
A.  Darvomljskjr.Dargomijsky  und  A.  Serow  sich  nur  der  Variation  und 
1. Serow.      den  kleineren  Formen  gewidmet.    Die  erste  Russische 
S  i  nf  0  nie  hat,  wie  bereits  erwähnt,  1866  der  heute  als  ein« 
N.  Bimtky •  geschworener  Programmusiker  bekan n te  Rimsky-Kors- 
Keniftkow.sakow,   damals   noch  Marinekadett,    auf  einer  Welt- 
umsegelung komponiert*).   Europa  erfuhr  von  dem  ernst- 
lichen  russischen  Wettbewerb    in  Sinfonie    und   Suite 
r.Tiehalkowiiiiy.  Überzeugenderes  erst  durch  die  Arbeiten  Peter  T  schal - 

kowskys.  Dm  wird  die  Geschichte,  trotz  des  kuriosen 
Widerspruchs  seiner  Landsleute,  als  den  Hauptvertreter 
der  russischen  Schule  ansprechen,  nicht  bloß  auf  Grund 
der  Menge  von  urrussischen  Themen  und  Motiven,  die 
er  in  allen  seinen  Werken  von  der  Cdur-Serenade  bis 
zur  Sinfonie  pathötique  verwendet  hat,  sondern  auch 
wegen  der  Unentschiedenheit  seines  künstlerischen  Cha- 
rakters, wegen  des  Schwankens  zwischen  Tonsprache  und 
Tonspiel,  das  er  mit  vielen  seiner  Landsleute  gemein  hat 

*)  0.  y.  Riesemann:    Russiflche  Sinfonien  (Die  Mnsik, 
J&lirgang  1906/7). 


— •    601     ♦— 

und  das  bis  in  seine  letzten  und  reifsten  Arbeiten 
geblieben  ist.  Aber  auch  unter  die  Meister  der  Ton* 
kunst  wird  ihn  die  Zukunft  stellen,  denn  ist  er  auch  nicht 
bis  zur  höchsten  Vollendung  gelangt,  so  muß  man  doch  • 
die.Entwickelung  bewundern,  die  sich  in  seinen  letzten 
drei  Sinfonien  zeigt,  Werken,  die  nach  der  Biographie,  dfe 
Modeste  Tschaikowsky  dem  verewigten  Bruder  gewidmet 
hat,  Niederschläge  von  schweren,  unter  den  Begriff  des 
Fatums  fallenden  Lebenserfahrungen  sind. 

Tschaikowskys  erste  hier  in  Betracht  kommenden  Ar-  p.TBeiiaikoiv8i&};. 
beiten  sind:  die  Serenade  für  Streichinstrumente  (op.  48)       Serenade. 
und  zwei  Suiten.    Die  Serenade  enthält  in  ihrem  einlei- 
tenden, ersten  Satze  eine  interessante  Verbindung  von 
alter  (Händelscher)  und  neuer  (Schumannscher]  Musik. 
Ihr  zweiter  Satz,  ein  gut  imitierter  deutscher  Walzer, 
weist  namentlich  in  den  zweistimmigen  Solostellen  der 
Violinen  naiv  liebenswürdige  Züge  auf,  und  ihr  dritter, 
Elegie  betitelt,  zählt  in  seiner  schönen  Abendstimmung 
zu   den  poetisch  hervorragenden  Stücken  der  Gattung. 
Russisch  ist  nur  das  Finale,  eine  Burleske  über  ein  kur- 
zes Tanzthema.    Sie  geht  in  ihren  Scherzen  über  das 
Maß  hinaus  und  streift  die  Trivialität,  ein  Fehler,  in 
welchen  der  durch  Begabung  und  Bildung  ausgezeich- 
nete Komponist   hin   und  wieder  verfällt     Die    erste  P.TschaikowBk}. 
Suite  bringt  das  nationale  Element  viel  entschiedener     ^»te  Saite 
zur  Geltung.   Der  erste  Satz  durch  einige  russische  The-        ^^^'  ^^^' 
men  und  durch  einen  geistigen  Charakterzug  der  ganzen  ^ 
Schule:  die  Hartnäckigkeit  im  Verfolgen  kleiner  Einfälle. 
Bald  naturalistisch,  bald  gelehrt,  versuchen  die  Instru- 
mente, wie  weit  sie  es  mit  dem  aufgesetzten  Motive  wohl 
treiben    können.      Der  Walzer   unterbricht  mit  vielen 
StringendoB  und  Ritardandos  die  behagliche  Gmndstim- 
mung  seines  Hauptthemas.    In  der  Mitte  veranlaßt  das 
Erscheinen  einer  gewöhnlichen  Achtelfignr  einen  wahren 
Tumult.     Spezifisch     russische  Melodien  hat  der  Satz 
nicht,  aber  mehrere  der  reinen  Freude  am  Klingen  von 
Akkord  und  Ton  gewidmete  schöne  Stellen.   Namentlich 
der  Ausgang  des  Ganzen  gehört  in  diese  Kategorie.    Der 


-^    602     ♦>— 

dritte  Satz  ist  eine  echt  russische  Burleske»  welcher  fast 
von  Anfang  bis  zum  Ende  ein  und  das-  na  j-ym  j 
selbe  rhythmische  Motiv  zu  Gnmde  liegt  J  «^J  ••H' 
Mit  wahrem  Fanatismus  feiern  es  die  Instrumente.  Der 
vierte  Satz  ist  eine  gut  gedachte  Träumerei,  in  der  Fomfi 
eines  Altemativs.  Die  beginnende  Melodie  in  AmoU  ist 
national,  der  Gegensatz  in  Adur  freie  und  für  die  Länge 
nicht  recht  ausreichende  Erfindung.  An  Klangeffekten: 
Solis  von  englischem  Hom,  Piccolo,  Harfe,  hohen  Hs^- 

^  monien,  rauschenden  Mischungen  des  Rhythmus  ist  dieser 

Satz  sehr  reich.  Der  letzte  Satz  mischt  ein  russisches 
kurzes  rhythmisch  gleichförmiges  Tanzthema  mit  f^ien 
Stellen,  deren  musikalischer  Qehalt  wesentlich  auf  AkMord- 
und  Instrumentationseffekten  beruht.  Nicht  bloß  dieser 
Satz,  sondern  die  ganze  Suite  entfaltet  nach  dieser  Seite 
hin  eine  unverkennbare  Originalität  und  äußert  eine 
nachhaltige   sinnliche  Wirkung.     Noch  weiter  geht  in 

iMtehAikowiky,  dieser  Richtung  die  sogenannte  >Nußknacker-Suite« 
NwÄnacker-  Tschaikowskys ,  in  der  die  Klangscherze  nicht  ab- 
*  reißen.  U.  a.  ahmt  das  Orchester  in  ihrem  >marche 
miniaturec  eine  Spieldose  nach.  Die  drolligen  Effekte 
dieser  Suite  entstammen  dem  französischen  Mnsikboden 
und  haben  auf  die  jungfranzösische  Schule  stark  surflck- 
gewirkt 

Die  volle  Bedeutung  und  die  Eigentümlichkeit  Tschai- 
kowskys ist  erst  durch  seine  Sinfonien  ganz  klar  gewor- 
den. Wenn  jene  Suiten, '  Skizzen  und  Studien  auf  dem 
Gebiete  der  Stimmungsmalerei  und  der  Schilderung  hei- 
mischen Volkstums  gleichen,  so  sind  seine  Sinfonien 
ausgeführte  Lebensbilder,  die  sich  um  seelische  Gegen- 
sätze fesselnd,  frei,  zuweilen  dramatisch  entwickeln. 
Tschaikowsky  ist  diesen  höheren  Aufgaben  gegenüber  in 
den  meisten  Punkten  der  Alte  geblieben:  ein  Komponist 
ohne  eigentliche  musikalische  Originalität  im  strengeren 
Sinn,  wenig  wählerisch,  zuweilen  gewöhnlich,  niemals 
neu  in  seinen  Ideen,  aber  eine  immer  offne  und  ehrliche, 
häufig  in  ihrer  Wärme  und  Herzlichkeit  große  Natur. 
Was  aber  erst  diese  Sinfonien  an  ihm  zeigten,  das  ist 


-^     603     «^ 

die  außerordentliche  stilistische  Begabung,  die  Fähigkeit, 
.in  dem  alten  Formenbezirk  der  Sinfonie  sich  ganz  un- 
gezwungen zu  bewegen  und  jederzeit  und  nach  jeder  * 
Richtung  auch  ungegangne  Wege  zu  finden,  die  den  ins 
Auge  gefaßten  poetischen  Absichten  gut  entsprechen. 
Die  Anregungen,  die  auf  diesem  Gebiete  Fr.  Liszt  gege- 
ben hat,  sind  von  keinem  zweiten  so  geschickt,  so  frei- 
sinnig und  doch  ohne  alles  herausfordernde  Wesen  auf- 
genommen worden.  Zugleich  versteht  sich  Tschaikowsky 
in  seinen  Sinfonien  auf  die  Nietzschesche  Kunst,  alten 
Gedanken,  auch  wenn  sie  Gemeinplätze  sind,  durch  den 
Ton  des  Vortrags  und  durch  die  Einstellung  auf  den 
gtinst7|;sten  Platz  einen  Schein  von  Eigentümlichkeit  und 
besonderer  Tapferkeit  zu  geben.  Auch  die  Reichhaltig- 
keit und  die  stets  überdachte  Regsamkeit  des  Orchester- 
klangs trägt  zu  der  lebendigen  Wirkung  von  Tschaikows- 
kys  Sinfonien  mit  bei. 

Tschaikowskys  erste  Sinfonien  scheinen  im  Dunkel 
bleiben  zu  sollen;  zuerst  ist  seine  letzte,  die  sechste  (aus 
dem  Nachlaß)  bekannt  geworden  und  hat  rückwirkend 
die  fünfte  und  die  vierte  nach  sich  gezogen.  Von  dieser 
vierten,  der  Manfred-Sinfonie,  ist  bei  den  zur  Programm - 
musik  gehörigen  Werken  geredet  worden.  Auch  die 
fünfte  Sinfonie  könnte  mit  einem  gewissen  Recht  in  P.Tsokaikowiky. 
diese  Abteilung  gestellt  werden.  Denn  auch  sie  führt  Fünfte  ^'o^<) 
ein  Programm,  oder  wie  Haydn  zu  sagen  pflegte,  einen  ^^  ^ 
Charakter  durch  und  bekennt  auch  äußerlich,  daß  ihre 
Sätze  inhaltlich  enger  verbunden  sind;  ja  ihr  ästhetischer 
Wert  ruht  hauptsächlich  darauf,  daß  diese  Musik  den 
Stempel  des  wirklich  Erlebten  und  Empfundenen  trägt. 
Aus  dieser  Eigenschaft  ist  auch  die  Freiheit  und  teil- 
weise neue  Führung  der  Form  entsprungen.  Tschai- 
kowsky Ist  in  der  Weise  originell  geworden,  wie  Goethe 
es  empfohlen  hat. 

Das  Hauptthema  der  Sinfonie,  das  wie  ein  getreuer 
Eckart,  wie  ein  Mentor,  der  seinen  Telemach  begleitet, 
durch  alle  ihre  Sätze  mitgeht,  treffen  wir  schon  an  ihrem 
Eingang.    Der  er«te  Satz  beginnt  mit: 


_^    604    V- 

Aodante.  J  =  80  -"^         ■— s.     ^      « 

•  f   j,  111^ II ig  iraTcfirrJi^Tf^ 
r1^  iTfr  f  nniVi  ip  ii  lO  fi 

wie  mit  einem  Mahnwort,  das  ein  besorgter  Vater  freund* 
lieh  und  ernst  dem  in  die  Welt  ziehenden  begabten,  aber 
leicht  gerichteten  Sohn  zum  Abschied  gibt  Es  klingt 
noch  eine  Weile  in  der  Seele  des  jungen  Wanderers 
fort;  dann  tritt  es  zurück  gegen  neue  und  heitere  Ein- 
drücke, die  mit  dem  ersten  Thema  des  der  Einleitung 
(Andante]  sehr  bald  folgenden  Allegro  erscheinen 

AUifpro  con  >niin^  J)»  104 

flljbJJiJ^IJjJjjljjljlT 

In  seiner  Vollständigkeit  bildet  dieses  Thema  ein 
ganzes  Lied,  dem  sich  ein  lebenslustiger,  nach  allen 
Seiten  gefaßten  Sinn  bekundender  Text  mit  Leichtigkeit 
anpassen  ließ.  An  seinen  Söhluß  heften  sich  einige 
Schößlinge  einer  wilden  Stimmung,  die  den  Charakter 
des  ganzen  Allegro  wesentlich  mit  bestimmen.  Es  ist 
das  keck,  mit  rau-     ^  ^     und  noch  mehr  sind  es 

liem  Humor  hinab«  jl^  ff  \  J>p  die  Figuren,  die  sich  ihm 
schlagende  Motiv:  *^      "'^      •'^     unmittelbar  anschließen 

^  ^  .-<r^  IT      ^^<  ^®  schon  zuerst  übermütig 

AJ=^^Ü^^^r^^^^p  I  p        genug    klingen    und   sich 

später  immer  stärker  über 
Gleichgewicht  und  Ordnung  hinwegsetzeil.  Der  oben  an- 
gegebene Anfang  des  Wanderliedes  wird  nach  russischer 
Art  zunächst  freigebig  wiederholt,  klingt  stärker  und 
stärker  und  steigert  seinen  fröhlichen  Ausdruck  bald  bis 
an  die  Grenze  der  Ausschreitung,  stockt  da  lange  Zeit 
auf  dem  j  j  j  geht  in  einem  f ff  in  die  höheren  Grade 
Rhythmus  •*  •  •  der  Ausgelassenheit  Über,  würzt  sie 
durch  Nachahmungen  zwischen  Hörnern  und  Geigen, 
durch   Gegen bewegun gen    zwischen   letzteren    und    Po- 


-^    605    ^^ 

saunen  und  erreicht  so,  wie  das  Tbchaikowkys  Musik 
gerne  hat,  eine  Stufe  des  unverkennbaren  Naturalismus. 
Hinter  ihr  erhebt  sich  aber  sofort  die  Stimme  der  guten 
Sitte,  der  inneren  Einkehr  in  einem  an  seiner  Stelle  sehr 
schön  Wirkenden  Gedanken,  der  noch  das  für  sich  hat, 
daß  er  zu  dem  lustigen,  munteren  ersten  Thema  in  einem 
formellen  Verwandtschaftsverhältnis,  steht,  daß  er  wie 
das  Bild  der  Schwester  hereintritt: 


IB 


Er  ist  der  Gegensatz  zu 
jenem;  aber  er  ist  nicht 
das  eigentliche  zweite  Thema  des  Allegros  im  Üblichen 
Sinne.  Tschaikowsky  ist  hier  der  Meister  der  Form,  der 
überkommene  Ordnungen  nicht  bricht,  aber  weiterbildet. 
Der  freundliche  Klang  des  neuen  Themas  wird  schwächer, 
stockt  und  verlischt.  Ungestüm  tritt  wieder  die  laute 
Lust  hervor,  zu  der  die  Fröhlichkeit  des  ersten  Themas 
sich  entwickelt  ..  ♦  f>  .  Des  ersten  Themas  stei- 
hatte:  Es  ruft  'ffl*  T  ff  T  ff  IJ  gende  Motive  folgen  im 
herausfordernd  ^  Jif  ^  ^  stürmischen  Schritt.  Die 
Fortsetzung  aber  kommt  anders  als  man  erwartet:  eine 
lebhaft,  aber  edel  schwärmerische  Weise 

f  ijni  nll  '^'^\  iilii 

Sie  zieht  das  vorher  angeführte  Rufmotiv  wieder  an, 
verbindet  sich  mit  ihm  und  verklärt  sein  Ungestüm  zum 
Ausdruck  der  Begeisterung.  So  gleicht  der  Schluß  der 
Themengruppe  gewissermaßen  dem  Jubel,  mit  dem  der 
Jüngling,  seiner  Kraft  und  seines  Glückes  sicher,  die  Zu- 
kunft begrüßt,  die  er  vor  sich  zu  sehen  glaubt. 

Die  Durchführung  führt  schnell  aus  dem  hellen  D  dur 
das  das  Ende  des  vorausgehenden  Abschnitts  beherrschte, 
hinweg.  Das  Rufmotiv  wendet  sich  in  fernere  Tonarten, 
es  klingt  dunkler  und  nimmt  bald  den  Anfang  des  Wandrer- 


--^     606     ^^ 

lieds,  des  Hauptthem«s  des  Allegros,  als  Gesellschafter 
an  seine  Seite.  Der  Weg  wird  etwas  dichter  und  einsam. 
Da  kommt  mit  einem  Male  wie  ein  Oberfall  im  fff  eine 
Reminiszenz  an  die  ausgelassene  Stelle  am  Schlosse  des 
ersten  Themas,  wo  das  volle  Orchester  auf  dem  Rhythmus 
■  ■  I  tobte.  Auch  hier  wird  dieser  Ausbruch  unge- 
••  #  J  zügelter  Empfindung  wieder  durch  das  schwester- 
liche Mittelthema  zurückgewiesen,  jedoch  nicht  endgütig. 
Zwar  versuchen  die  Instrumente  mit  dem  Anfang  des 
Wanderlieds  einen  wohlgeordneten  und  in  Nachahmungen 
kunstvoll  geführten  Gedankenaufbau.  Aber  in  andrer  Form 
schlägt  eine  elementar  erregte,  bacchantische  Empfindung 
immer  wieder  durch,  nämlich  in  Wiederholungen  des  Zu- 
kunftsmoiivs,  das  das  eigentliche  zweite  Thema  eröfiDiete. 
Sie  werden  reichlich  und  mit  äußerster  Kraft  geboten. 
In  ihren  Sturm  braust  gelegentlich  auch  das  Wanderlied 
einmal  hinein.  Im  gapzen  gibt  die  Durchführung  noch 
mehr  als  die  Themengruppe  das  Bild  einer  durch  eine 
Oberfülle  von  Kraft  gefährdeten,  einer  wenig  gebändigten 
Natur.  Sehr  eigentümlich  setzt  der  dritte  Teil  des  Satzes, 
die  sogenannte  Reprise,  nach  dem  schönen,  breiten  dimi- 
nuendo, in  dem  die  Durchführung  zu  Ende  geht,  mit  dem 
Wanderthema  im  Fagott  ein.  Dieses  Instrument  scheint 
hier  den  Philister  zu  verkörpern;  seine  halb  ungeschickte 
Munterkeit  wirkt  wie  ein  Hohn  auf  die  Szene  des  ge- 
waltigen, erschreckenden  Aufschwungs,  die  eben  vorher- 
ging. Dem  wird  nun  ein  ehrbares  Späßchen,  der  Geni- 
alität wird  die  Banalität  gegenüber  gestellt.  KlangUch 
wirkt  der  Eintritt  der  Reprise,  weil  eine  Strecke  lang 
die  Holzbläser  allein  musizieren,  wie  ein  Gespräch  in  der 
Nebenstube.  Im  allgemeinen  verläuft  der  dritte  Teil  des 
ersten  Satzes  ziemlich  gleichlautend  mit  der  Themen- 
gruppe. Das  freundlich,  weiblich  gestimmte  Mittelthema 
tritt  diesmal  ein,  ohne  vorher  vom  Toben  und  Aufschlagen 
harter  Eisenfäuste  geschreckt  zu  sein.  An  die  Gruppe 
des  zweiten  Themas  knüpft  sich  eine  kleine  Episode,  die 
sich  scheinbar  wie  eine  nochmalige  Durchführung  anläßt; 
sie  dient  aber  nur  zur  Pause  vor  einem  letzten  glänzen- 


_^    607    ^^ 

den  Aufzug  des  ersteix  Themas,  das  allmählich  aus  der 
höchsten  Ekstase  in  die  äußerste  Ruhe  zurückkehrt  und 
sich  endlich  ins  GeheimnisToUe,  ins  Unhörbare  verflüch- 
tigt Wie  hier,  so  fällt  auch  an  andren  Schlüssen  des 
Satzes  und  an  den  Obergängen  die  Gelassenheit  und  die 
ruhige  Breite  auf,  mit  der  sie  ausgeführt  sind.  Das  ist  in 
dieser  hastigen  Gegenwart  ein  Zeichen  innerer  Sicherheit 
und'  Gesundheit  des  Komponisten. 

Der  zweite  Satz  der  Sinfonie  (Andante  cantabile,  ^/s, 
D  dur)  steht  zum  ersten  in  einem  Verhältnis  wie  die  Rast, 
wie  die  Idylle  zur  Ausfahrt  Die  schöne  Hornmelodie, 
die  nach  einigen  stillen,  an  Orgelklang  und  Kirche  er- 
innernden Akkorden  einsetzt 


Andaate  cantabile.  J*s  64 


II  1 11,1  LI  LI II 


gehört  zu  jenen  Gesängen,  die  wir  unwillkürlich  auf 
innerstes  Herzensglück,  auf  Jugendzeit  und  Liebe  deuten. 
Sie  paart  die  Zartheit  des  geheimen  Sehnens,  des  ersten 
Ahnens  mit  heißer,  drängender  Leidenschaftlichkeit  und 
ist  in  den  weichen  Vorhalten,  die  den  entscheidenden  Zug 
ihrer  äußereii  Erscheinung  bilden,  ein  Abkömmling  von 
Beethovens  Andante  der  Neunten  Sinfonie,  in  der  Schule 
Schumanns  erzogen  und  weiter  gebildet  Die  Dietrich 
und  Raff  waren  lange  die  Meister  in  solchen  Tongedich- 
ten.  ^  Die  Weiterführung  jener  oben  angegebenen  Periode 
dringt  in  noch  höhere  Wärme-  ptf,  ,1,^  » 
grade  der  Empfindung;  der  A^^^-SJjf  l^t  i^ 
Nachsatz  kehrt  mit  dem  Motiv  "^^^      ^sf* 

zu  einer  beglückten  Verschwiegenheit  und  Selbstbeherr- 
schung zurück.   Sehr  bald  folgt  diesem  Hauptthema,  dem 
Ausdruck  des  Sehnens  und       ^      ot©  J  -  eo 
Begehrens,  eine  Szene,  die  j'flfl  f'"r^   'A_  i-^ 

der  Erfüllung  gleicht  Sie  9'^^J^  ^^'Je>Jfi  ^  P  ^ 
beginnt    wie    ein    Dialog  corÄS*-**r 

Das  Motiv,  das  hier  zur  Zwiesprache  dient,  finden  wir, 
nachdem  das  Hauptthema  des  Satzes  sich  im  Cello  noch 


— »    608    «^ 

t 

einmal  fast  ungestüiu  Jiat  veruehmen  lassen,  erweitert  zu 


ere9cendo 
■^^■s j  I     Das  ist  also  eine  Melodie,  die 


oescnwicnugt  und  zugleich  ver- 
heißt Hier  wirkt  sie  wie  die  Antwort,  die  Erhörnng,  die 
der  Werbung  folgt;  sie  wird  bei  jeder  Wiederholung 
glühender  im  Ausdruck. 

Dem  eigentlichen  Gegensatz  zum  Hauptsatze  begegnen 
wir  in:  ' 

Moderato  con  >niina.  Js  loo 

Aus  diesem  Thema  spricht  der  Zweifel,  die  Sorge  vor 
der  Zukunft  und  dem  Schicksal.  Es  wird  mit  diesen 
trüben  und  kleinlauten  Gedanken  sehr  ernst  genommen, 
Stimme  nach  Stimme  trägt  sie  steigernd  vor.  Als  sie 
eine  fast  drohende  Gestalt  angenommen  haben,  da  er- 
scheint plötzlich  das  Hauptthema  des  ersten  Satzes,  das 
ja,  wie  schon  erwähnt,  das  Leitthema  der  ganzen  Sinfonie 
ist,  das  die  Stelle  des  guten  Geistes  im  Hause  einnimmt. 
Hier  tröstet  es,  ermutigt,  hellt  wundervoll  auf  und  führt 
zu  einer  Wiederholung  der  beiden  Hauptmelodien  des 
Andante  im  glänzenden  und  triumphierenden  Ton,'  einem 
Ton,  der  den  Charakter  des'  Rausches,  des  Selbstver- 
gessens  annehmen  will.  In  diesem  Augenblick  erscheint 
das  Leitthema  der  Sinfonie  wieder:  ernst,  auf  einem 
Septimenakkord,  mit  einem  Anflug  von  Unwillen  und 
Verwunderung,  als  Warner.  Es  geht  in  einen  halb  klagen- 
den Ton  aus,  wie  im  eignen  Bedauern  über  die  unver- 
meidliche Strenge  und  führt  zu  einem  schnellen,  ^anz  in 
Abschiedsstimmung  gehaltenen  Schluß  der  Liebesszene. 

Der  dritte  Satz  (Allegro  moderato,  ^4«  Adur)  sagt 
uns  durch  seine  Oberschrift:  Valse,  was  er  darstellen 
will.  Tschaikowsky  ist  merkwürdiger  Weise  ein  Freund 
der  Walzer,    ohne    für    diese    Gattung    deutscher  Ver- 


— »    609    «^ 

gnügimgen  eine  besondere  Begabung  zu  haben.  Dieser 
Walzer  seiner  fünften  Sinfonie  tritt  merkwürdig  hinkend 
und  stockend  auf,  wie  die  Metren  des  Hauptthemas 

.Allogro  moderato.  Jt  138 


allein  schon  zeigen.  In  dem  dichterischen  Plan  der  Sin- 
fonie hat  diese  Tanzszene  wohl  die  Bestimmung,  eine  Stunde 
der  Verführung  vor  unsre  Phan- 
tasie zu  rufen.  Der  Mittelsatz 
der  Nummer,  der  über  das  Motiv 
entwickelt  wird,  schildert  die  Verwirrung,  die  sich  der 
Seele  des  Jünglings  nähert;  ihren  bedrohlichen  Cha- 
rakter markiert  die  Pauke  mit  aufregenden  Schlägen. 
Dieser  Mittelsatz  hat  die  Bedeutung  des  Trio  im  gewöhn- 
lichen Menuett  und  Scherzo.  Als  der  Hauptsatz  wieder- 
kehrt, zieht  er  die  Motive  des  zweiten  Themas  noch  eine 
Weile  mit  sich.  In  einer  Fdur-S teile,  die  kurz  gehalten 
ist,  aber  sich  durch  den  starken  Klang  und  den  über- 
raschenden Eintritt  geltend  macht,  kommt  Kraft,  Auf* 
Schwung,  Befreiung  und  das  Ende  des  Tonbilds. 

Das  Finale  beginnt  mit  demselben  über  das  Leit- 
thema der  Sinfonie  gebildeten  Andante,  das  ihren  ersten 
Satz  eröffnete.  Doch  steht  es  jetzt  im  hellen  Edur,  klingt 
glänzend  und  feierlich.  Den  feierlichen  Ton  verstärken 
besonders  einige  Takte  in  breiten  Akkorden,  aus  denen 
man  Glockengeläute  zu  hören  glaubt.  Diese  Umbildung 
der  Einleitung  der  Sinfonie  will  sagen ,  daß  das  in  Aus- 
sicht gestellte  Ziel  nahezu  erreicht  ist,  daß  das  für 
die  Zukunft  gegebene  Versprechen  nun  eingelöst  wird. 
Doch  gilt  es  noch  einen  letzten  Kampf,  den  der  Kom- 
ponist in  einem  Allegro  vivace  ((^,  EmoU)  darstellt 
dessen      erste  AU«gro  viv»ea.  J:i2o 

anfängt.      Es    .u^  zu  groß  aus- 

wird mit  sei-  ^'r'ri'rfrif      holenden   Pe- 


ner Umbildung  •'^     ^  rioden  verbun- 

Kretziehmar,  Ffibrer.    I,  1.  39 


— •    610    »^ 
den,  durch 

ff\  f^'f\  iHij  f.  |ili  I  i  I^Ll  I 

schattiert   und    durch  den  ruhigeren  und  friedvolleren 
Gedanken 


ausgelöst,  den  die  Instrumente  zeitweilig  als  Kanon  fest- 
zuhalten suchen.  Als  eigentliches  Gegenthema  im  AUegro 
dient  eine  Weise,  deren  Zusammenhang  mit  dem  zweiten 
Satz  der  Sinfonie,  mit  deren  Hauptthema,  nicht  zu  ver- 
kennen ist: 


[Tir^iiJ  I  ^H]'  fiprj^ete.  Die  Vorhalte  bezeugen 
'  '  r  '  "  UUJ^  ^ig  Verwandtechaft,  und 
die  Meinung  des  Tondichters  ist,  daß  die  Liebe  den 
Kämpfer  leitet  und  stärkt.  Er  schließt  die  um  dieses 
Liebesthema  gebildete  Gruppe  damit,  daß  das  Leitthema 
der  Sinfonie  im  triumphierenden  Ton  einsetzt,  und  knUpft 
daran  einige  freie,  ausgeprägt  heroische  Worte  der  Po- 
saunen und  Trompeten.  Sie  haben  zur  Folge,  daß  die 
Hauptmotive  der  beiden  AUegrothemen  noch  einmal  im 
kräftigsten  und  stolzesten  Ausdruck  durchphantasiert 
werden;  dann  folgt  die  sogenannte  Reprise,  die  Wieder- 
holung des  Thementeils  des  Allegros,  neu  eingeleitet  mit 
der  mutig  ausblickenden  Zeile: 

i*\  II  'r^f^^^'*\*  nn  r'ni 

Nach  dem  rein  musikalischen  Wert  gehört  dieses  Allegro 
im  Schlußsatz  von  Tschaikowskys  fünfter  Sinfonie  zu  den 
Sätzen,  die  uns  vor  der  Überschätzung  dieses  Komponisten 


-^    611    4^ 

behüten  können.  Die  Erfindung  ist  gewöhnlich,  die  Aus* 
führung  lässig  breit  und  bequem  nach  der  russischen 
Methode  des  unbeschränkten  Wiederholens  gehandhabt, 
die  bei  Schilderungen  aus  dem  Volksleben,  aber  nicht 
hier  am  Platz  ist.  Doch  muß  man  auch  hier  wieder  die 
Klarheit  nnd  wohlber^chnete  Wirkung  der  künstlerischen 
Anlage,  des  Formenaufbaus  anerkennen;  die  dichterischen 
Absichten  sind  vortrefflich  und  treten  deutlich  genug  her- 
vor. Der  Endzweck  war,  das  gute  Ende  des  Finales  vor- 
zubereiten nnd  durch  einen  Gegensatz  zu  heben.  Dieses 
Ende  selbst  ist  nichts  anderes  als  der  Anfang  der  Sinfonie, 
das  Andante  in  Eduf  und  als  Maestoso  bezeichnet  Im 
Stile  der  Jubelouvertüre  behandelt,  schließt  es  die  Sin- 
fonie und  erhält  ein  Presto,  in  dem  Themen  aus  dem 
Allegro  noch  einmal  vorüberrauschen  als  Anhang  und 
Krone. 

Seine  sechste  Sinfonie  (Hmoll)  hat  Tschaikowsky p.Tielialkowikj, 
pathetisch  genannt.    Sie  ist  das  im  ersten  Satz;  im  Sechste  Sinfonie 
zweiten  und  dritten  ruhen  Leid  und  Leidenschaften;  der        oiwi*** 
Schlußsatz  stimmt  wider  Vermuten  ein  schweres  Weh- 
klagen an. 

Wie  der  erste  Satz  am  meisten  dem  Programm 
getreu  wird,  so  ist  er  auch  der  Arbeit  nnd  der  Anlage 
nach  der  bedeutendste  und  von  starker  Wirkung  nament- 
lich durch  klare  Gegensätze.  Er  sucht  darzustellen,  wie 
sich  eine  edle  Natur  von  schwerem  Gemütsdruck  durch 
Kämpfen,  durch  Erinnern  und  Hoffen  zu  befreien  sucht, 
und  bedient  sich  dazu  einer  Form,  die  im  wesentlichen 
den  hergebrachten  Verhältnissen  des  Sonatensatzes  ent- 
spricht. Die  Einteilung  in  Themengruppe,  Durchführung 
und  Reprise  ist  beibehalten,  ein  sehr  geschickter  Tempo- 
wechsel gibt  ihr  jedoch  den  Charakter  der  Ursprünglich- 
keit. Der  Satz  beginnt  mit  einem  kurzen  Adagio  in  Trauer- 
klang: Das  Fagott  hält  die  Rede,  und  tiefe  Instnmiente 
umstehen  es  allein;  erst  am  Schluß  j 

hört  man  von  den  Oboen  einen  kur-    ■»ü  ^H^^rj'^*  . 


zen 
Satz 


Seufzer.    Der  Spruch,  der  dem     '^'^"  jTyl  *  i^ 
zugrunde  liegt,  ist  das  Motiv:  W**=    ^=^ 


i 


39* 


612 


Aus  ihm  wird  folgende  Melodie : 
Adagio. 


gestaltet,  sie  wird  wiederholt;  ein  Anhang  von  6  Takten, 
d,en  die  Bratsche  abschließt,  folgt,  und  damit  ist  die  Ein- 
leitung beendet,  eine  Situation  gegeben,  die  nicht  ohne 
Klftrung  bleiben  kann.  Das  AUegro  ül^errammt  sie  und 
wendet  sich  ohne  weiteres  dem  Motiv  zu,  das  den  Gegen- 
stand der  Klagen  in  der  Einleitung  bildete.  Er  formt  aus 
ihm  folgendes  Thema: 

AJlBgTo  non  troppo. 


Die  Bratschen  haben  es  aufgestellt,  Flöten  und  Klarinetten 
übernehmen  es:  es  bleibt  ihm  also  zunächst  der  belegte 
Klang,  der  gedrückte,  traurige  Charakter.  Das  wird  mit 
dem  Augenblick  anders,  wo  es  in  die  Hände  der  Violinen 
kommt.  Die  tragen  es  im  Nu  nach  D  moU,  eilen  mit  ihm 
von  Tonart  zu  Xonart  und  ins  Forte  und  zur  Höhe.  Sie 
gehen  dem  Grund  der  Trauer  in  höchster  Erregung  nach 
und  machen  es  jedem  Hörer  schnell  klar:  warum  der 
Komponist  seine  Sinfonie  pathetisch  genannt  hat.  Wie 
aber  Tschaikowsky  gern  die  schwere  Rüstung  bei  erster 
Gelegenheit  mit  einem  leichteren  Gewand  vertauscht,  so 
gibt  er  auch  jetzt,  eben  in  dem  Augenblick,  wo  seine 
Musik  ernstlich  leidenschaftlich  wurde,  diesen  Ton  zunächst 
wieder  auf.    Mit 


^^e 


rKpi   I -t  i  ■■«r'*^"T""=s^— .  beginnen  dielnstrumen- 

V  JjJ  J  J  rydE/rifirP'*-^"-  eine  Weile  tn 

^"^^  scherzen;  die  Wendung 


613 


^^^I^E 


netten      abge-  .^^ 
kürzt   und   ge-|n^E 


indenVioli- 
yP=  nen,  die  von 
r —  den  Klari- 
dient 


an  der  Hand  ^  .  i  l  t-  l  *  zum  Stur 
derTrompe^aSjiji  ''r  If  I  T  V  '  j  den  Weg 
te,  die  mit"y**^  '  gentliche] 


mildert  wird  in' 
längeren  Tonspiel,  in  dem  die  heiteren,  neckischen  Cirasien 
von  der  Tondichtung  Besitz  nehmen  und  die  Grenzen 
.  leidenschaftlicher  Empfindung  nur  ganz  flüchtig  berühren. 
Beim  >un  poco  animando«  findet  aber  der  Komponist 
an  der  Hand  ^  i     l       {..    l      .     zum  Sturm  ruft, 

zur  ei- 
len Auf- 
gabe des  Allegros  sehr  schnell  zurück  und  entwirft  ein 
kurzes,  aber  gewaltig  wirksames  Bild  einer  Leidenschaft, 
die  den  Gegner  fest  packt  und  nicht  vom  Platze  weicht.  Die 
Harmonie  läßt  nicht  von  ihrem  Baß;  immer  wiederholen 
sich  die  beiden  Töne  e  und  es,  die  Melodieinstrumente 
rütteln  über  zwölf  Takte  immer  nur  an  demselben  Motiv: 
_^p^_^__p^^^  Endlich  bleibt  von  dem  Aufgebot  an 
J  j  j  liü^fe  Kraft,  das  das  ganze  Orchester  in  auf- 


p 


«/  regende  Tätigkeit  gesetzt  hatte,  das 

Cello  allein  übrig  und  wird  ruhiger  und  ruhiger.  Die  Brat- 
schen, die  diesen  Abschnitt  des  -  ersten  Satzes  begannen, 
schließen  ihn  mit  einer  leisen  bangen  Frage:  die  Ant- 
wort kommt  in  einem  Andante,  das  in  dem  ersten  Satze 
dieser  Sinfonie  die  Rolle  des  zweiten  Themas  und  seines 
Kreises  einnimmt.  Die  Wortführer  der  Russischen  Schule 
haben  es  Tschaikowsky  übel  vermerkt,  daß  er  bei  ele- 
gischen Aufgaben  seine  Nationalität  vergißt.  So  spricht 
er  auch  hier,  wo  er  trösten,  erwärmen,  beglücken  will, 
ein  unverfälschtes  musikalisches  Deutsch.  Die  Melodie, 
die  sein  zweites  Thema  bildet,  könnte,  wie  der  Anfang 
j  ^^  '  beweist,  ffanz  gut  in 

; Schumanns   »Para- 
rdiesundPeri«stehen ; 
•fcc.   sie  fängt  so  an  wie 
das  Vorspiel  dieses  Werkes.    Auch  ihr  Mittelsatz  bleibt  in 


614 


Ähnlich  wie 
es  mit  dem 
J^  \ — **     uff^*^     ersten  The- 

ma des  Satzes  geschah,  wird  auch  dieses  zweite  zunächst 
unterbrochen  und  durch  einen  Gedanken  ersetzt,  der  sich 
mit  dem  Programm  an  diesem  Punkte  ebenfalls  verbinden 
und  als  eine  Steigerung  der  von  dem  zweiten  Thema  er- 
öffiieten  freundlichen  Aussichten  deuten  läßt.  Er  gibt  dem 
Komponisten  erwünschte  Gelegenheit,  sich  in  dem  ge- 
liebten Gebiete  anmuÜgen  Tonspiels  zu  ergehen.  Wir 
hören  das  neue  Thema  vielfach  in  nachahmenden  Formen; 
zunächst  führen  Flbte  und. Fagott  das  Gespräch.  Der 
Zusammenhang  mit  dem  Hauptgegenstand  dieses  Teils 
wird  dann  bald  dadurch  hergestellt,  daß  die  Holzbläser 
das  Mittelstück  des  zweiten  Themas  in  der  Form: 

f'»-f  I  iH I    f  iTnxjt^ 


n^'v 


^ 


aufoehmen  und  fleißig  wiederholend  zu  dem  neuen  spie- 
lerischen Seitenthema  in  einen  Gegensatz  bringen.  Sie 
verdrängen  es  und  fQhren  zu  dem  Trostgesang,  der  das 
Andante  eröffnete,  zurück.  Er  kommt  jetzt  im  Glanz  des 
vollen  Orchesters  siegessicher  und  schläfert  Sorgen  und 
Leiden  ein.  Der  Komponist  teilt  das  in  einem  kleinen 
Anhang  mit,  der  von  dem  Einsatz 


Modtrato  ass&l.  J  =  88. 


U'\^S'\^J^ 


^r^^ 


aus  ganz  still  entzückt  verlöscht.  Ganz  zuletzt  stimmt 
die  Klarinette  noch  einmal  die  schöne  Trostmelodie  im 
Adagio  an;  sie  hört  mit  ppTßpp  auf.  Das  ist  so,  daß 
sich  der  Spieler  kaum  selbst  noch  deutlich  hören  darf! 
Generalpause.  Und  darauf  im  ff  ein  Allegro  vivo, 
das  mit  der  Dissonanz  e-es-ga  und  mit  dem  wütenden 
Ausruf: 


— ♦    615    «^ 

hereinstürzt. 

Das  ist  ein  Aufwachen  mit  Entsetzen,  wie  wir  es 
ähnlich  vom  Schlußsätze  der  neunten  Sinfonie  her  kennen; 
nur  stoßen  Himmel  und  Hölle  hier  hei  Tschaikowsky  ganz 
unvermittelt  und  hart  aufeinander. 

Wir  sind  mit  dieser  Stelle  in  den  Durchführungsteil 
des  ersten  Satzes  eingetreten.  Er  hat  zwei  Abschnitte. 
Der  erste,  dem  Anfang  entsprechend,  in  äußerster  Auf- 
regung gehalten,  setzt  zweimal  mit  dem  Hauptthema  des 
AUegro  (von  Dmoll  und  Emoll  aus)  zu  einer  wilden 
Fuge  an,  an  der  sich  jedoch  nur  die  ersten  Violinen 
und  die  Bässe  beteiligen.  Die  zweiten  Violinen  und 
Bratschen  treiben  einander  in  die  Leidenschaft  mit  dem 
Thema: 


jJJ'l'^LlJuj  'LiiJ 


und  in  liegenden  Stimmen  dazwischen.   Als  die  Erregung 
die  Spitze  erreicht  hat,  bringen  die  Trompeten  die  mitt- 
leren Takte  aus  dem  zweiten  Thema  jetzt  in  der  Form: 
J^    -■  ,        ,  und  im  ver- 

Jl  rr  ir  'i  h  f  ^\\'  h*     zweifdisten 

^^\jBS^  '       '      '  Ton.      Der 

Anlauf  endet  erfolglos  und  vergeblich,  die  Posaunen  und 
Tuben  stimmen  ein  Sätzchen  an,  das  einem  Grabgesang 
ähnlich  sieht.  Als  sich  Trompeten  und  Hörner  ihnen  an- 
schließen, wird  das  Feuer  noch  einmal  entfacht  und  es 
kommt  zu  einem  zweiten  leidenschaftlichen  Ausbruch. 
Auch  dieser  zweite  Abschnitt  der  Durchführung  erregt  und 
ergreift,  aber  in  einem  andern  Sinn  als  der  erste:  Dort 
Ringen,  hier  Klagen.  Er  endet  in  Resignation  und  führt  so 
sehr  natürlich  in  den  Trauerten  zurück,  mit  dem  das  Alle- 


^ 


--♦    616    ♦^ 

gro  und  das  erste  Hauptthexna  des  Satzes  begann.  Die 
Reprise  setzt  zunächst  im  engen  Anschluß  an  äak  Ende  der 
Durchführung  in  B  rooU  ein.  Als  sie  die  Haupttonart  er- 
reicht, schlagen  die  Wogen  der  Leidenschaft  schon  wieder 
hoch ;  das  Haupttfaema  wird  Silbe  für  Silbe  in  Nachahmungen 
wiederholt,  es  klingt  gewissermaßen  mit  solcher  Gewalt 
hinaus,  daß  es  die  Wände  widerhallen.  Die  abschwei- 
fende Episode,  die  im  ersten  Teile  dem  Hauptthema 
folgte,  fällt  in  der  Reprise  weg.  Das  zweite  Haupttheroa 
(jetzt  in  H  dur)  gelangt  dadurch  zu  großer  Bedeutung  und 
gibt  dem  Ende  des  Satzes  sein  hoffnungsvolles  Gepräge. 
Ein  kurzer  Anhang  (Andante  mosso]  über  das  Thema 

4^*  ^    f!   iL  '  ^^^^  ^^^^^^  ^^^  ^"^^^  Schluß. 

Im  zweiten  Satz  (Allegro  con  grazia,  V4>  Ddur) 
macht  der  Pathetiker  dem  behaglichen  Epikuräer  Platz. 
Wir  haben  es  hier  mit  einem  ähnlichen  Versuch  zu  tun, 
einen  heiteren  Satz  an  die  Stelle  des  üblichen  Adagio  zu 
bringen,  wie  ihn  Beethoven  in  seiner  achten  Sinfonie 
unternommen  hat.  Die  Wirkung  hat  auch  hier  dem  Kom- 
ponisten recht  gegeben.  Der  Zuhörer  verzichtet  nach  den 
durchle^bten  Stürmen  des  ersten  Satzes  gern  auf  hohe 
Gedanken  und  tie&te  Gefühle  und  freist  sich  über  das 
trauliche  Stilleben,  das  ihm  hier  geboten  wird.  Es  fügt 
zu  seinem  Wert  als  Erholungsstück  noch  den  Reiz  einer 
musikalischen  Seltenheit:  es  führt  den  sonst  im  wesent- 
lichen nur  für  die  Xjelehrten  existierenden  Vi^liythmus 
praktisch  durch  und  löst  diese  Aufgabe  ganz  anmutig. 
Auch  apdere  russische  Sinfoniker  arbeiten  mit  V«*  ^uid 
V4  Takten  gern  und  glücklich,  weil  diese  Rhythmen  in  der 
russischen  Volksmusik  heimisch  sind.  Die  Anlage  der 
kleinen  zierlichen  Komposition  ist  höchst  einfach.  Der 
Hauptsatz  hat  als  erstes  Thema  die  Melodie 


jM  \j  rri|i|  ir/i|  ii 


•/  "Z  ^^^ 


617 


Sie  kommt  viermal  hintereinander.  Darauf  folgt  ein 
Seitensatz  mit  dem  von  der  Hauptmelodie  abgeleiteten 
Thema: 


das  ebenfalls  viermal  durchgespielt  wird. .  Darauf  kehrt 
die  Hauptmelodie  zurück,  und  erst  als  sie  zum  dritten. 
Vorbeizug  ansetzt,  wendet  sie  sich  aus  D  dur  hinweg  und 
läfit  in  den  sittsam  und  artig  gleitenden  Reigen  einige 
kräftigere  Tone  herein: . 


Die  vielen  Wiederholungen  beruhen,  ebenso  wie  der 
.Takt,  auf  Einflüssen  russischer  Volksmusik.  £s  muß 
dem  Komponisten  nachgerühmt  werden,  daß  er  in  der 
Umkleidung  der  einfachen  Figuren  mit  neuen  Klängen 
außerordentlich  erfinderisch  gewesen  ist.  Die  Wieder- 
holungen sind  ebenso  viele  Variationen  in  der  Instru- 
mentierung. Außerdem  liegt  aber  in  der  Einförmigkeit, 
in  dem  Festhalten  an  demselben  Phantasiekreise  in 
diesem  Falle  nicht  bloß  ein  gewisser  Balsam,  der  nach 
dem  ersten  Satz  heilend  wirkt;  es  liegt  darin  auch  die 
Poesie  des  kleinen  Tonbildes.  Denn  es  ist  gedacht  als 
eine  Musik  aus  Väterzeiten,  gewissermaßen  als  ein  alt- 
russischer Menuett ,  als  ein  Stück  friedlichster  und  be- 
freiender Erinnerungen.  Der  Mittelsatz  hat  einen  absicht- 
lichen ländlichen  Beiklang:  Sein  Thema 


'j'MqQiOf^P 


und  die  zu  ihm  gehörenden  Umbildungen  und  Ergänzungen 
ruhen  alle  auf  demselben  Orgelpunkt:  d  im  Baß.    Es  ist 


«18 


als  wenn  die  Leute  aus  dem  Dorf  Besuch  auf  dem  Schlosse 
machten.  Zierlich,  wie  die  ganze  Nummer  gedacht,  ver- 
klingt sie  in  der  zartesten  Weise. 

Der  dritte  Satz  (Allegro  molto  vivace,  ^/^  Gdur) 
hat  die  äußerst  starke  sinnliche  Wirkung  fQr  sich:  Für 
den  Klang  dieser  Komposition  sind  alle  Register  gezogen, 
vom  leisen  Säuseln,  von  den  niedlichsten  Elfenstimmen 
bis  zum  förmlichen  Orchesterorkan;  diQ  Form  entwickelt 
sich  durch  die  immer  größere  Anhäufung  gleicher  Glieder 
und  Bestandteile  nach  dem  Muster  des  Heerwurms  zu 
einem  bedrückenden  Phänomen.  Es  hat  unstreitig  an 
diesem  Satz  ein  gewöhnlicher  Naturalismus  einen  starken 
Anteil;  gleichwohl  ist  er  auch  nicht  ohne  Originalität,  qnd 
diese  liegt  darin,  daß  die  Gattungen  des  Scherzos  und 
des  Marsches  in  ihm  sich  verbinden.  Als  Scherzo  beginnt 
er  mit  einem  Thema: 

^  Allegro  molto  Tjyce.  J  =  ISS 


■  ^t»-—  •« 


rpirn  ■  ^  ■  nn  L..    das   einem  Mückentanz 
v^     ULJ  oder  irgendeinem  Freu- 

denfest flüchtigster  und  heimlichster  Lebewesen  zur  musi- 
kalischen Unterlage  dienen  könnte.  Man  hat  seine  Freude 
ah  diesen  hin-  und  herhuschenden  Tönen  und  merkt 
darüber  lange  nicht,  daß  sich  ihrem  Spiel,  bald  nach- 
dem es  begonnen 
hat,  ein  fremder 
Gast  beigesellt  hat: 
Die  Bässe  fahren,  wie  in  Mendelssohns  Sommemachts- 
traum  mit  langen  Tönen  plump  drollig  dazwischen.  Auch 
BiBrliozsche  Geister  kommen  in  pizzcato-Noten  und  andren 
Instrumentenfeinheiten  aus  der  »Fee  Mab«  zum  Besuch. 
Es  ist  ein  reizendes  Stück  freundlichster  Gespenster- 
musik, für  das  der  Komponist  reiche  und  belebende  Ein- 
fälle jeglicher  Art  zur  Verfügung  zu  haben  scheint.   Wir 


619 


hören  Gemütsklänge,  als  es  zur  ersten  Wiederholung  kommt 
^jl_  I j    py^  wir  hören  immer  neue  Ko- 

m^Wr  f-'  P'^'^yilP   ^'^    boldlaute,  namentlich  von 

^  den  Bläsern  her.  Wir  hören 

aber  auch,  wie  das  flotte  Marschmotiv,  daß  sich  zuerst 

so  unbemerkt  und  klein  hereingestohlen  hatte,  anwächst 

und  sich  nach  vom  drängt.  Die  Violinen  bringen  es  als: 

j*tf  p^v>^vf--""-ir--Elifiiliffi^-j'[r-T^ 

Gleich  darauf  antworten  die  Hörner: 


Es  fängt  an,  anhaltend  mit  seinem  flotten  Rhythmus  durch 
die  Bläser  zu  ziehen,  und  nicht  lange  dauert  es  nun  mehr, 
da'  sind  die  Elfen  auf  die  Seite  gedrängt,,  müssen  ganz 
fliehen,  und  die  Musik  zieht  daher  wie  ein  lustiges  fran- 
zösisches Bataillon:  Ein  unverfälschter  Geschwindmarsch 
ist  in  neuer  Tonart  (E  dur)  eingetreten,  dies  ist  sein  Haupt- 
thema: 

Er  ist  leichtfüßig  und  leichtherzig,  macht  aber  zur 
Abwechselung  auch  grimmige  Geberden,  z.  B.: 

fuh  Ji  M  r'r  r  r  r  r    »»«i  mit  JT^  i ;. 

und  zeigt  sich  -f.ä  t^  .    ■    »i  *  ,    ^  _  -f;-^  Zunächst . 

barsch     und  iiMTii    jJ^^^^mJ    I  JiTgfab  benimmt 

kraftvoll  mit:  If  ^^-^^  er      sich 

aber  im  ganzen  so  maßvoll  wie  es  dem  Trio  im  Scherzo 
geziemt.  Er  zieht  sich  zur  rechten  Zeit  zurück  und  die 
Elfen  kehren  wieder.  Doch  bleibt  es  nicht  dabei,  son- 
dern der  Marsch  drängt  ein  zweites  Mal  auf  den  Haupt- 
platt-und  entwickelt  nun  ein  Beharrungsvermögen,  dessen 


•— ♦    620    ♦^ 

Ungebühriichkeit  sich  weder  mit  der  Berufang  auf  die 
mssieche  Volksmnsik,  noch  mit  dem  Hinweis  auf  die 
glänzenden  Toiletten,  die  das  Orchester  anlegt,  verdecken 
l&fit  Aach  mit  dem  Programm  der  Sinfonie  läßt  sich 
diese  Marschmusik  nicht  in  Verbindung  bringen.  Sie  ist 
nicht  pathetisch  und  auch  nicht  heroisch,  wie  man  be- 
hauptet hat,  sondern  in  ihrem  Grundcharakter  einfach 
gewöhnlich,  ungefähr  von  der  Art,  die  Raff  einhielt,  wenn 
er  reitende  Hexen  schildern  wollte.  An  Raff  erinnert  der 
Satz  tatsächlich,  wie  Tschaikowskys  allgemeine  Verwand- 
schaft mit  diesem  Komponisten  eigentlich  niemandem 
entgehen  kann.  Nur  ist  die  Naturfrische  des  Russen  be- 
deutender, und  mit  ihr  hängt  das  Farbentalent  zusammen, 
von  dem  er  hier  eine  Probe  gegeben  hat,  die  die  meisten 
Konzertbesucher  zu  berauschen  und  zu  übervi^tigen  pflegt. 
Mit  einem  ungeheuer  großen  Gegensatz  der  Stimmung 
setzt  darauf  das  Finale  (Adagio  lamentoso,  3/^  Hmoli) 
ein.  In  den  trauernden  Motiven  des  ersten  Satzes  barg 
sich  Kraft  und  Stre-  /i    .  \ 

ben:   hier  aber  er-     flM..t'y^"i^"^!l?^:  ^"i 
fahren  wir  aus  dem    jj'^ffft  T     C_f    [^   I  (' 
Einsatz  der  Geigen:  /  ==^     "5^=-^ 

daß  es  sich  um  ein  Unglück  handelt,  an  dem  nichts  mehr 
zu  ändern  ist.  So  hat  denn  Tschaikowsky  den  ganzen 
Satz  dem  Charakter  einer  Totenklage,  eines  Requiems 
genähert  und  damit  wieder  einmal  gezeigt,  daß  die  alte 
Spohrsche  Idee  eines  ernsten,  verhaltnen  Schlußsatzes  in 
der  Sinfonie,  die  ja  eigentlich  aus  Beethovens  Pastoral- 
sinfonie stammt,  an  und  fQr  sich  sehr  wirksam  sein 
kann  und  nicht  einmal  einer  tieferen  poetischen  Be- 
gründung bedarf.  Es  mag  Zufall  sein,  daß  Tschai- 
kowsky sich  mit  Spohr  auch  unmittelbar  in  diesem 
Finale  berührt  Denn  der  schöne  elegische  Gesang, 
den  die  Bläser  zum  jrn  ,  ,      , 

Mittelpunkt      des  |^^^^g[  I  J  '  ^  *  t  i  '   J    '*"' 
Satzes      machen:  ^ 

wird  von  den  Geigen  in  einer  Melodie  begleitet,  die  mit 
dem  Hauptthema  im  Finale  der  > Weihe  der  Töne«  nicht 


621    ♦^ 

bloß  den  Charakter,  sondern  aucb  die  Anfangsnoien  ge- 
meinsam hat. 

Der  Typus  der  Sinfonie  mit  langsamem  Schlußsatz  ist 
an  und  für  sich  älter  als  Spohr  und  Beethoven  und  hat 
ein  Jahrhundert  hindurch,  von  Lully  bis  Gluck,  hei  den 
Franzosen  seine  Brauchbarkeit  und  seine  Bedeutung  be- 
währt. 

Tschaikowsky  hat  unbestreitbar  das  Interesse  für 
russische  Musik  weit  und  stark  gesteigert,  das  Verdienst, 
in  ihr  Wesen  tiefer  eingeführt  zu  haben,  kommt  aber 
nicht  ihm,  sondern  es  kommt  dem  ehemaligen  Peters- 
burger Medizinprofessor  Ä.  Borodin,  einem  jener  sChÖp-  l.  Borodla, 
ferischen  Dilettanten  zu,  auf  die  sich  russische  Kunst E« dur-Shifonia. 
von  jeher  stützen  durfte.  Die  Bsdur-Sinfonie,  mit 
welcher  Borodin  zuerst  als  Komponist  hervortrat,  zeichnet 
sich  durch  künstlerische  Reife  und  Abklärung  aus  und 
war  deshalb  besonders  geeignet,  em  Bild  von  dem'  zu 
geben,  was  die  Russen  wollen,  was  sie  leisten  und  was 
ihnen  fehlt.  Diejenigen  Sätze,  welche  den  Nationalcha- 
rakter am  schärfsten  ausprägen,  sind  der  erste  und 
dritte;  der  zweite  ist  nur  zur  Häifle  russisch  und  der  vierte 
ganz  germanisch.  I 

Der  erste  Satz  beginnt  mit  einer  träumerischen  Ein- 
leitung, aus  der  hei  aller  Einfachheit  und  trotz  des  regen  | 
Rhythmus  eine  ungewöhnlich  starke  Schwermut  spricht. 
Die  Bässe  stel-               Adagio  ' 

len  die  Haupt-    ^  ^S>^1.  il  ^TTplT  ^^  '  ^  P  >"  P 'l" 
melodie    auf:  ?       '  i  ^        -      ' 

welche  von  den  Holzbläsern  und  Geigern  mit  aufmun- 
ternden Motiven  beantwortet  wird.  Die  Harmonie  deckt 
die  Formen  des  Gesanges  mehr  zu,  als  sie  dieselben 
hebt.  Da  wendet  sich  die  Phantasie  mit  ^einem  ener- 
gischen Rucke  einer  heiteren  Sphäre  zu;  unvermutet 
stehen  wir  im  Allegro.    In  den  Hörnern  und  Holzbläsern  | 

beginnt  ein  helles,  munteres  Klingen,  das  nur  auf  Rhyth-  \ 

men  gestützt  ist.  Die  anderen  Instrumente  probieren 
dazu  jetzt  .zart,  jetzt  kräftig  brausend,  Motive,  die  zu  dem  ' 

neuen  Tone  passen,  und  endlich  ist  alles  zur  fröhlichen 


^^    622    *^ 

Fahrt  bereit.  Die  ersten  26  Takte  des  AUegro,  welche 
der  Feststellung  von  Tonart  und  Thema  vorhergehen, 
sind  für  das  Wesen  der  russischen  Kunstmusik  charak- 
teristisch: sie  zeigen  uns  ihre*  Liebe  zu  den  Elementar- 
kräften der  Musik,  ihre  Freude  am  bloßen  Rhythmus  und 
am  Akkord,  ihre  Neigung,  ohne  bestimmten  Gedanken- 
pfad, ohne  die  Stütze  fest  erkennbarer  Motive  durch  die 
klangliche  Wildnis  zu  streifen,  den  Punkt,  welcher  sie 
mit  der  Natur  verkniipft  und  von  der  gesitteten  älteren 
Kunst  des  Abendlandes  unterscheidet,  den  Punkt,  in  dem 
ihre  Stärke  und  zugleich  ihre  Schwäche  liegt.  An  dem 
Thema,  welches  Borodin  nach  dem  Abschluß  dieser  tu- 
mnltuarischen  Szene  aufstellt,  ist  wesentlich,  daß  es 
aus  der  Melodie  der  langsamen  Einleitung  und  somit 
von  einem  *  Temperament  stammt ,  in  dem  schlechte 
und  gute  Laune  dicht   ,  AUeyro  molto. 

beieinander  Hegen,  es  m 
hat  folgende  Gestalt:       ^       p 
und    einen  eignen  Charakter  liebenswürdiger  Keckheit, 
der  wohl   an  Turgeniewsche    Figuren    erinnern    kann. 
Auf  gewichtige   Gegenthemen   hat    der  Komponist  fast 
ganz  verzichtet. .    Ein  ein-  , .    4  a    j    t    ,  v^v^ri  a    ■ 
ziges,  das  öfter  erscheint:  ^^  g  ^^  M^    \i  ^^^  i   J  = 
nimmt  seinen  Abschluß  identisch  mit  dem  des  ersten 
Themas.    Die  anderen  —  unter  denen  das  Geigenmotiv 
AI     ^    ^  ,  *_*  ^  I  *^  *  I  *  ^       durch    seinen    festen 
^  ^"''   J  ^^^^^"i'"^"'^^:P     Schritt  bemerkbar  -^ 
/y  treten  nur  episodisch 

auf.  Dem  jugendlichen,  treibenden  Elemente  des  Haupt- 
thema wird  nur  vorübergehend  durch  eine  sentimentale 
Wendung  Halt  geboten.  Alles  ist  in  diesem  Satze  Be- 
wegung und  sprossendes  Leben,  aber  von  einer  großen 
Gleichförmigkeit  der  Gestaltungen.  Denn  diese  ruhen  bis 
auf  wenige  Ausnahmen  alle  auf  der  kurzen  Form  jenes 
mit  a)  bezeichneten  Thema.  Es  herrscht  Poesie  in  dem 
Satze:  aber  es  ist  die  Poesie  der  Steppe,  welche  an  den 
Wechsel  von  Höhen  und  Tälern  gewöhnte,  stille  Plätz- 
chen hebende  Gemüter  zunächst  etwas  befremdet.    Sehr 


623 


anzaerkennen  ist  die  Kunst,  mit  welcher  Borodin  das 
führende  Motiv  immer  wieder  in  neue  Orchesterfarben 
kleidet  und  den  Satz  ohne  Stockungen  immer  leicht  im 
Fluß  erhält.  Besonders  schön  ist  der  Schluß  des  Satzes, 
ein  Andantino  mit  Abschiedsstimmung,  durch  rhythmische 
Verlängerung  der  beiden  Themen  a  und  5  gebildet. 

Der  zweite   Satz,   ein  Scherzo  (Prestissimo,  s/g,  Es 
dur)  hat  zum  Hauptthema  folgende  Melodie : 


Prestisslmo. 


p.  ♦•T"p^.  M  u  .r  .  ^*®  *^*^  ^^  Violinfiguren 
'  I  r  I  '  I  r  ir  '"P  1 1  versteckt  und  auch  wegen 
ihrer  auf  die  Symmetrie  verzichtenden  Periodisierung 
schwer  zu  verfolgen  ist.  Als  Trio  bringt  dieses  Scherzo 
eine  Art  Dudelsackmusik,  in  der  folgende  drollige  Melodie 
durch  die  Instrumente  wandert: 


■^-  ^  ^  ^  ^,  J*^  1^   j— |— I  Das  ist  ein  echtes  Bild  aus  dem 
*  UJ  Lj      ^1*  V'  =^  russischen  Volksleben,  durchaus 


heiter  und  naiv.  Es  wird  mit  viel  Humor  durchgeführt, 
namentlich  das  Fagott  trägt  viel  zu  seinen  heiteren  Ef- 
fekten hei. 

Der  dritte  Satz  (Andante,  ^/ifDäui)  ist  in  Bezug  auf 
nationale  Eigenart  der  vollste  und  berichtet  in  kurzen 
Melodien,  die  auf  fast  unbeweglichen  Harmonien  ruhen, 
voi^  einer  kargen,  fremdartigen  und  phantastischen  Natur 
und  von  einer  tief  melancholischen  Seele.  Er  zerfällt  in 
drei  Abschnitte.  Der  erste  beginnt  mit  einem  breiten 
Gesang 

•>*     AadAnte, 


>         ^   ^  den  die  Celli  anstimmen,  englisch  Hörn 

f  Sj^f\f  J  "■  und  Flöte  fortsetzen.   Er  klingt  eigen- 


tic;  tümlich  melancholisch ft  und  die  Ver- 


-^    624    ♦— 

zierungen,  die  er  enthält,  deuten  auf  orientalisclie -Ab- 
kunft In  der  Harmonie,  die  in  Dissonanzen  still  liegt^ 
herrscht  ein  merkwürdig  dämmernder  Charakter,  •  eine 
Beklommenheit,  der  am  Schlüsse  dieses  Abschnittes  ein 
plötzlicher  starker  Aufschrei  Luft  macht.  Der  zweite  Ab- 
schnitt wird  lebendiger,  die  Violinen  beteiligen  sich  am 
Gesänge,  und  in  den  Bläsern  zunächst  erhebt  sich  ein 
rhythmisches  MotiT,  das  bald  näher,  bald  ferner  zu  klingen 
scheint.  Es  verschwindet  wieder,  .lebt  nur  noch  in  den 
Schlägen  der  Pauken  fort,  tritt  dann  wieder  stärker  auf, 
wächst  bis  zur  Macht  tönender  Glocken  und  erregt  einen 
allgemeinen  Aufschwung.  Das  Tutti  stimmt  —  wir  sind 
in  den  dritten  Abschnitt  eingetreten  —  die  Melodie,  mit 
welcher  der  Satz  begann,  im  Stile  einer  feierlichen  Freu- 
denhymne an,  und  mild  und  sanft  klingt  das  Andante 
aus.  Der  szenische  Charakter  des  Satzes,  der  Unter- 
grund bestimmter  Vorgänge,  wie  Wallfahrt  in  der  Steppe 
und  dergleichen,  ist  nicht  zu  verkennen.  Der  Schluß- 
satz der  Sin-  ^^^^ 
fonie,  zu  des-^j^jg 
senHauptthema' 
Schumann,  zu  dessen  Durchführungsteile  Mendelssohn 
die  Muster  geliefert  hat,  verläßt  den  heimatlichen  Boden 
auffällig. 
A.  Borodliiy  Weil  sie  der  russischen  Nationalität  treuer  bleibt, 

Zweite  Sinfonie.  )||il)eQ  seine  Landsleute  Borodins  zweite  Sinfonie  (HmoU) 
seiner  ersten  vorgezogen;  vielleicht  ist  ihr  auch  deshalb 
die  größere  Liebe  zugefallen,  weil  sie  als  nachgelasspes 
Kind  erst  nach  dem  Tode  ihres  Vaters  (ohne  Opuszahl} 
vor  die  Welt  trat.  Rimsky-Korssakow  und  Glazounow  haben 
sich  der  Waise  als  Redaktoren  und  Herausgeber  an- 
genommen. 

Von  Zwiespältigkeit  ist  jedoch  au(5h  diese  Sinfonie 
nicht  frei,  und  sie .  geht  diesmal  tiefer  hinunter  in  das 
Wesen  des  Kunstwerks.  Waren  in  der  ersten  Sinfonie 
Borodins  die  Sätze  nur  nach  den  Bildungsquellen  des 
Verfassers  verschieden,  so  zeigt  die  zweite  Sinfonie  einen 
Riß  in  ihrer  Seele:   Der  erste  Satz   der  Sinfonie  stellt 


-:^    625  *  ♦^ 

Ideen  nnd  Ziele  auf,  die  später  unbeachtet  bleiben  und 
höchstena  noch  einmal  äußerlich  berührt  werden:  Ein 
Heros  tritt  auf  und  verschwindet  spurlos  in  den  Wäldern,. 
Sie  ahmt  mit  Übertreibungen  etwa  den  verwunderlichen 
Gang  von  Freytags  »Ahnen«  nach,  beginnt  mit  Welt- 
bildern und  Seelenschilderungen  gewaltigen  Charakters 
und  verläuft  dann  ganz  und  gar  in  Dorfgeschichten. 

Der  Anfang  des  ersten  Satzes  (Allegro,  Hmoll)  be- 
ginnt herkulisch  mit  einem  Thema: 


das  mit  dem  ersten  Seiten thema  von  H.  Volkmanns 
DmolN  Sinfonie  innere  und  äußere  ÄhnHchkeit  teilt. 
Auch  der  Gedankengang  beider  Sätze  ist  verwandt:  Fin- 
stre, ernste  Entschlossenheit  soll  milderen  Stimmungen 
weichen.  Bei  Borodin  treten  die  weicheren,  freundlicheren 
Gedanken  aber  wie  seine  andere  Hälfte  an  das  Haupt- 
thema   heran,    suchen    engste    Verbindung    mit    ihm. 

Schon     im  A&Imato  assal.  JstlS. 

£f S^  il'ii.P  MirijLJfi^^ - 

und  damit  Volksmusik.  Das  heroische  Thema  tut  einige 
stolze  Gänge  durch  die  Tonarten,  immer  folgt  ihm  der 
freundliche  Berater  auf  dem  Fuß.  Im  Zögern  und  Drängen 
wird  A  dur  erreicht,  und  da  setzt  das  eigentliche  zweite 
Thema  des  Satzes  in  D  dur,  pastoral  in  seinem  Wesen, 
zuerst  vom  Cello  gebracht,  ein: 

Poco  meno  nosso.  d  :  88. 

ebenfalls  ein  unverkennbares  Zitat  aus  dem  Musikschatz 
des  russischen  Volkes.  Die  Holzbläser  nehmen  die  sehr  le- 
bendig metrisierte  Weise  auf,  Geigen  folgen;  die  Lustigkeit 
wächst,  aber  auch  die  Heftigkeit  des  Widerspruchs.  Die 
Bässe  fuhren  die  Sache  des  Hauptthemas  ganz  entschie- 
den, die  ländlichen  Versuchungen    sind  abgeschlagen, 

EratsBehmtr,  FQbrer.    I,  1.  4Q 


_^  '  626    ♦— 

I 

Mit  einer  gewissen  Feierlichkeit,  in  breiten  Akkorden,  lang 
verklingendem  Ton  schließt  die  Themengrappe. 

Die  Durchführung  wird  im  ersten  Teil  vom  Haupt- 
thema  ausgefüllt.  Nur  hat  es  seinen  Charakter  verloren: 
Eiif  ^/%TBki  hat  sein  Wesen  verwandelt,  ins  Leichtfertige 
und  Wirre  gezogen : 

Anlmato  asi^  1.         ,  . 

'■p   F  f  A  l'f  im  I  *itp^ 


p  creso. 

Man  treibt  mit  ihm  entwürdigendes  Spiel,  zwingt  es,  den  > 
lächerlichen  Aufmarsch  zu  wiederholen,  die  Geigen  machen 
seine  Schritte  spottend  nach.  Bald  treten  dann  auch  das 
Freudenthema,  das  Arm  in  Arm  mit  dem  Hauptthema  in 
die  Sinfonie  herein  schritt,  und  das  eigentliche  zweite  Thema 
im  Triumph  ff  auf.  Doch  kämpft  sich  endlich  das  Haupt- 
thema im  letzten  Teil  der  Durchführung,  von  den  Trom- 
peten, Posaunen,  Hörnern  und  den  Holzbläsern  aus,  all- 
mählich wieder  nach  oben.  Eine  bedeutende  Entwickelung 
zeigt  diese  Durchführung  zwar  absichtlich  nicht,  jedoch 
ist  sie  in  den  Absichten  klar.  Die  Reprise  bringt  die 
Themengruppe  verkürzt  wieder  und  mit  stärkerer  Be- 
tonung des  Hanptthemas,  das  als  Sieger  das  letzte  Wort 
breit  und  donnernd  spricht  Die  Gegensätze  des  Anfangs- 
teiles haben  sich  in  Plänkeleien  verflüchtigt,  deren  Dar- 
stellung den  Komponisten  zu  Verkürzungen  und  andren 
interessanten  Umbildungen  der  ursprünglichen  Themen 
veranlaßt  hat. 

Der  zweite  Satz,  ein  Scherzo  in  Fdur,  dessen 
Hauptsatz  im  Prestissimo  (^  =  106)  verläuft,  ist  einfach, 
knapp  und  doch  auch  originell.  Seine  Originalität  liegt 
in  dem  grotesken  Humor  des  Hauptthemas,  der  Spaße 
treibt,  wie  die,  mit  denen  man  Kinder  erst  schreckt  und 
dann  ergötzt  Er  setzt  auf  einen  freien  Nonenakkord 
fürchterlich  ein  wie  das  Finale  der  Neunten  Sinfonie; 
dann  regt  es  sich  erwartungsvoll  in  den  Hörnern,  aus 
der  Tiefe  tappt  ein  Marsch  heran,  als  kämen  Gespenster. 
Mit  dem  Eintritt  der  Holzbläser  löst  sich  die  doppelte 
Spannung  in  eitel  Anmut,  Zierlichkeit  und  gute  Laune: 


627 


Preftiasino 


rrr  tttt  tttt 
iiii  ^2^j,  ^^^^  iJiJ 


In  der  Fortsetzung  finden  sich  herumspringende  Modu- 
lationen, versprengte  und  verirrte  Solostimmen.  Als  dann 
Asdur  erreicht  ist,  kommt  die  phantastische  Bewegung 
zum  Stehen  und  bahnt  einer  Gemütlichkeit  die  Gasse, 
wie  sie  Schumann  in  seinen  jüngren  Jahren  liebte:  In 
Synkopen  schiebt  sich  das  Thema 


^    yA8      

r  ^~i  I  i  fc'^JJ  ^^T  ^^^^^^  ^^^S®  ^i°*  Beide  Gruppen 
^""^  -^  des  Satzes  kehren  wieder,  das 
Seiten thema,  diesmal  in  der  Haupttonart,  dient  zum  Ab- 
schluß des  ganzen  Hauptsatzes  und  vermittelt  mit  ro* 
mantischen,  abendlichen  Abschiedsklängen  den  Obergang 
zum  Trio. 

Dieses  Trio,  ein  Allegretto  (%,  Ddur),  gleicht  einem 
Stück  Erzählung  aus  dem  Orient.  Es  hat  den  bukolischen 
Charakter,  den  die  russische  Volksmusik  liebt  Wie  es 
Hirtenweisen  tun,  gleitet  seine  Hauptmelodie  von  Instru- 
ment zu  Instrument  über  wiegende  Harmonien  und  einen 
Orgelpunkt,  den  der  Komponist  wunderbar  poetisch  be- 
lebt hat.  Er  klingt,  in  einzelne  GlÖckchentöne  zerlegt, 
aus  der  Harfe  her,  Hörner  und  Triangel  fallen  mit  ein. 
So  ist  der  Anfang  dieses  Teils 

AU«ffr«tto.  Je  TB 


40* 


,  — ♦    628    ♦— 

Er  geht  dann  aber  ausschweifend  sofort  nach  Desdur  und 
—  irren  wir  nicht  —  begegnet  da  einer  leisen  Warnung 
vom  Hanptthenfa  dei  ersten  Satzes  in  einem  Pizzicato- 
Motiv  der  Kontrabässe.  Es  wird  infolgedessen  etwas  dunkel 
ViheT  der  anmutig  unschuldigen  Pastoralmelodie.  Doch 
bald  kommt  Ddur  und  voller  Sonnenschein  zurftck.  Wir 
bedauern,  daß  nicht  länger  Weilens  ist.  Mit  einer  ge- 
wissen Rücksichtslosigkeit  bricht  der  Komponist  ab  und 
kehrt  zum  Scherzo  zurück.  Es  verläuft  so,  wie  wir 
es  aus  dem  ersten  Teil  kennen;  nur  wird  dem  Seiten- 
thema^  als  es  zum  zweiten  Male  erschienen  ist,  der 
ganze  Schluß  übertragen  —  ein  schwärmerisches  Ver- 
klingeh ! 

Der  dritte  Satz  (Andante,  C*  Des dur)  bietet  uns  ein 
Stückchen  Kunst,  wie  es  zurzeit  nur  in  der  russischen 
Musik  zu  finden  ist,  und  wie  es  von  russischen  Musikern 
wieder  nur  Borodin  in  der  Gewalt  hat.  Nur  einer  von 
den  Lebenden  hat  sich  ihm  auf  diesem  Gebiet  einmal  be- 
trächtlich genähert.  Das  ist  Dvofak  im  langsamen  Satz 
seiner  letzten  Sinfonie,  »Aus  der  Neuen  Welt«.  Etwas  von 
der  Schwermut,  der  Traumkunst  und  Resignation,  die  in 
dieser  Musik  liegt,  ist  den  Slaven  allen  als  Erbe  aus  der 
gemeinsamen  Heimat  zuteil  geworden.  Es  spielt  aber 
auch  in  diese  ethnographisch  und  allgemein  menschlich 
gleich  stark  fesselnde  Musik  der  Orient'  stark  hinein  mit 
seinen  schillernden  und  verschleierten  Farben,  mit  der 
verlassnen,  versteckten  Schönheit  und  der  Unendlich- 
keitsstimmung, die  wir  auf  Möckelschen  Bildern  finden, 
und  auch  mit  seiner  heißen  und  doch  züchtigen  Sinn- 
licbkeii  Ein  Teil  des  Phantasie-  und  Gemütsgehalts 
dieser  Musik  kommt  aber  auf  eigenste  russische  Rech- 
nung, auf  Puschkinsche  Landschaft  und  orthodoxe  Reli- 
giosität. Sicher  ist,  daß  wenn  einst  Herdersche  Geister 
die  Summe  russischer  Poesie  und  Kunst  ziehen,  derartige 
Sätze  wie  dieser  Borodinsche  die  Hauptwerke  bilden 
werden. 

Wenn  wir  unter  den  dichterischen  Elementen,  diaeich 
hier  zu  einem  Ganzen  gruppieren,  nach  dem  bestimmendea 


629 


fragen,  so  wird  kaum  eine  Meinungsverschiedenheit  darüber 
bestehen,  daß  das  religiöse  überwiegt.  Wir  haben  es  mit 
einer  Art  Abendandacht  zu  tun:  draußen  in  der  weiten 
Natur,  unter  freiem  Himmel  empfiehlt  sich,  zur  Nacht- 
ruhe gerüstet,  die  Karawane  dem  Schutze  Gottes.  Gleich 
die  vier  präludierenden  Takte  (Harfe  und  Klarinette)  haben 
einen  feierlichen  Charakter.  Dann  setzt  das  Hörn  ein 
mit  einer  Melodie: 


m  oanißHl« 
Dei >    fi Gas  Des. 

aus  der  Dank  und  Frieden  nach  des  Tages  Mühen  klingen. 
Die  Klarinette  nimmt  sie  auf.  Wir  erwarten  sie  nun  auch 
im  vollen  Chor  zu  hören.  Doch  dieser  natürliche  Ver- 
lauf wird  dramatisch  hinausgeschoben.  Die  Geigen  tre- 
molieren:  ein  beängstigender  Zwi-  ^.Ll,  ,  ^.  . — 
schenfall.  Das  Hörn  ruft  das  An-  gl'' r  t»  1  ^  l|,J  1 
fangsmotiv   im   warnenden   Ton:  p^^^'^zs^^ 

wie  aus  der  Ferne,  die  Bässe  nehmen  es. ernst  und  ent- 
schieden auf.  Als  würden  Wachen  und  Vorposten  abge- 
hörty  melden  sich  aus  allen  .  .  J^tü 
Richtungen    Stimmen   mit 

dem  beruhigenden  Thema  

das  nun  auch  im  Tutti  beschwichtigend  wirkt.  In 
breiten,  wie  Orgel  und  Kirchenmusik  klingenden  Akkor- 
den schließt  dieser  erste  „..      -     .    i    on. 

*v     1.    -iA     j        Ol  Pill  aauMio.  J  3  80l      , 

Abschnitt   des  Satzes   m  >ctI    ^    V»- 

Cdur.    Der  nächste  setzt       ^fi^ji  \^I  i     l^J  li  '^ 

mit    einem    Thema    ein:  '^ 

das  die  Stimmung  wieder  in  das  tägliche  Geleise  führen 

will.     Es  begegnet  in  den  Begleitstimmen  bereits  einer 

Reibung   in    Ge-     _  ^  das    als  bas- 

stalt  eines  chro-  i^ijiJ  J  [^J  I  J  l  J  ;^  so ostinato die 
matischen  Motivs  ><j^     w  uw^  -  ij^^yj^j^^jg  ^^ 

herrscht,  bald  in  der  Mitte,  bald  in  der  Höhe  durch- 
klingt. Der  Gedanke  an  die  Gefahr  wacht  noch  und  lebt 
auch  noch  einmal  in  seiner  ursprünglichen  Form  auf  und 


--t    630    ♦— 

wird  ^P  ßa.  .  L  -  1  ^  ^  ■  I  I  ■<  1  _^^""  '^'*' 
ihr,  sogar  yfejjjl^  i  Jj.  |  ij  I  J  |J  gjjl  j  |ger  der  all- 
erweitert: ^  ^  ^^"^  ^^  »^ "Jl>-  gemeinen 
Empfindung,  die  am  Schluß  mit  dem  chromatischen  Motiv 
(in  Adur  jf  und  fff)  wieder  zum  Vertrauen  und  Gefühl 
der  Sicherheit  und  zu  einer  lauten  Anrufung  der  götl- 
liehen  Gnade  zurückkehrt.  Nach  einigen  in  stiller  Samm- 
lung überleitenden  Takten^  in  denen  zuletzt  wieder  die 
Wächterstimmen  erscheinen,  ist  die  Episode,  die  am  Anfang 
die  Fortsetzung  derDesdur-Melodie  unterbrach,  zu  Ende, 
und  der  Chor  fällt  in  sie  ein  und  der  Satz  geht  mit  leichten 
Anspielungen  auf  den  kritischen  Augenblick  zu  Ende.  Das 
Präludium  rundet  die  Szene  als  Nachspiel  schönstens  ab. 
Das  Finale  (AUegro,  8/4,  Hdur)  setzt  sehr  überraschend 
ein :  Die  zweiten  Geigen  halten  dea-as  von  dem  langsamen 
Satz  herüber  in  den  neuen  als  etS'gis;  drunter  setzen  die 
Bässe  mit  fia  ein.  Wir  haben  also  wieder  eine  der  humo- 
ristischen Dissonanzen,  mit  denen  die  neurussische  Musik 
die  ganze  abendländische  Harmonielehre  aus  dem  Sattel 
zu  werfen  droht.  Auf  diesem  Akkorde  probieren  alle  In- 
strumente erst  den  Rhythmus,  in  den  Violinen  huschen 
flüchtige  Motive  durch,  dann  stürmen  Figuren  durchs 
ganze  Streichorchester,  wilde  Triller  setzen  in  den  Bläsern 
ein.  Die  lustige  Spannung  dauert  17  Takte;  dann  erst 
kommen  wir  zur  Klarheit,  zum  Hauptthema  des  Finale: 

AU^rD,J.i«6  ^«  }^  echt  rus- 

3^  :a>^      sisch,  naturfrisch 

IS  ^  L^^  und  ausgelassen, 
-  i-    i^^      ^^^ . ^ j^^ Form 

durchaus  nationale  Tanzmusik  mit  gemischtem  Rhyth- 
mus (S/4  und  V«)-  Als  das  Tutti  damit  durch  ist,  macht 
es  den  Platz  für  Solokünste  frei  Das  Cello  schwingt  sich 
mit  dem  Thema  hin  und  her,  während  die  Oboe  eine 

Gegenfi-      |j  , ^^  die   im 

gur  dazu  JkWvf  B  p  p  jjJjMH  Q  fj^  Verlauf 
aufstellt:  ^  ioie«        *-  ^       des  Sat- 

zes mehrmals  unsre  Aufmerksamkeit  in  Anspruch  nimmt 
Das  eigentliche  zweite  Thema  bringt  die  Klarinette; 


631 


I 


^ 


^fß^      Durch  die  Begleitung  wird  es  als 

^  f  yp       f  '  ®^^  Abkömmling  des  DudelsÄcks,  als 
^    ^        '       echte  Bauernmusik  gekennzeichnet. 


Der  Komponist  legt  ihm  die  verschiedensten  und  sehr  rei- 
zende Frisuren  an  durch  Instmmentierungs-  und  Harmo- 
niekünste, er  weiß  es  sogar  majestätisch  zu  kleiden.  Die 
seltsamste  Verwandelung,  die  im  Finale  vorkommt,  erfährt 
aber  das  oben  angegebene  Oboenthema,  das  beim  Eingang 
der  Durchftlhmng  von  den  Posaunen  im  breiten  s/s  Takt 
und  lento  als  Bußprediger,  wie  Wallensteins  Kapuziner 
auftritt,  natürlich  nur  um  einen  Sturm  von  Heiterkeit  zu 
erregen.  In  vieler  Beziehung,  in  der  innren  Freiheit  und 
Lebendigkeit  sowohl  wie  in  gleichen  motivischen  Bil- 
dungen erinnert  dieses  Finale  an  den  ersten  Satz  von 
Borodins  Es  dur-Sinfonie  und  darf  mit  ihr  als  ein  Haupt« 
beispiel  fröhlicher  russischer  Sinfonik  betrachtet  werden.       < 

Giazounow  hat  aus  dem  Nachlaß  Borodins  noch  ein    a.  Bor«4U, 
Bruchstück  einer  AmoU-Sinfonie  veröffentlicht,  das  aus^"*^^  Sinfonie 
zwei  Sätzen,  einem  Moderato  und  einem  Scherzo,  be- 
steht.  Beide  sind  im  wesentlichen  Variationsarbeiten  viel- 
leicht aus  einer  frühern  Zeit,  in  der  der  Komponist  sich 
noch  vollständig  unter    dem  Einfluß   Glinkas   bewegte. 
Wenn  sie  in  Deutschland  unbenutzt  geblieben  sind,  so 
liegt  das  in  ihrer  Schwierigkeit.    Diese  besteht  bei  dem 
Moderato   in    den    grellen   Gegensätzen   der  Stimmung, 
zwischen   denen   es   humoristisch   schwankt,    bei   dem 
Scherzo  im  Rhythmus,  einem  kaum  verständlichen  ^/^  Takt. 
Wahrscheinlich  darf  auch  die  vielgespielte  >Steppen-    ABorodln, 
Skizze  aus  Mittelasien c   als  Bruchstück  einer  un-  sieppemkizxe 
vollendet  gebliebenen  Sinfonie  Borodins  aufgefaßt  wer- 
den.   Sie  ist  ein  Seitenstück  zu  den  langsamen  Sätzen 
der  beiden  Sinfonien,  eigen  durch  die  unendlich  lange 
liegende  Stimme  in  den  Violinen,  die  auf  den  schil- 
lernden und  geheimnisvollen  Charakter  der  Landschaft 
anspielt. 


aas  Mittelasien. 


iT^ 


--♦    632    ♦— 

Auf  Seite  Borodins,  aber  qualitativ  unter  ihm  stehen 

|l.  B*Ukirew.von  den  älteren  russischen .  Musikern  Balakirew,  Hns- 

M.]imHorgikl.s(Hrgski  und  der  schon  mehrfach  erwähnte  Rimsky- 

Koniakow  Korssakow.  Eine  weitere  Nachfolge,  welche  die  russische 

'Sinfonie  im  bukolischen  Gebiete  würde  festgelegt  haben, 

blieb  aus,  und  es  trat  ein  Schisma  ein,  das  die  russische 

Schule  in  eine  Petersburger  und  in  eine  Moskauer  Partei 

gespalten  hat.    Zur  ersteren,  die  am  nationalen  Banner 

einigermaßen  festhält  und  mit  allem  Eifer  den  Kolorismus 

A.  uuionnow.PP^S^  Zahlen  Alexander  Glazounow,  Arensky,  der 

A.  Areatkyiin  Deutschland  nur  durch  seine  Kammermusiken  bekannt 

M. iwAB«w. geworden  ist/ und  Michael  Iwanow,  in  gemessener 

J. Wiktol. Distanz  folgen  Wihtol,   Ljadow,   Ljapunow,  Mali- 

A.  l«jadow.schewsky,  Tscherepnin  u.  a.    Die  Häupter  der  von 

if  M'iii?"k^'^®^^®^  Tanejew  gegründeten  Moskauer  Partei,  die  dem 

N.TiielienpBiBi^^^^^^^^P^^^^P  keinen  Wert  beimißt  und  die  russische 

8.  TftB^eir.  Arbeit  vom  großen  und  internationalen  Gesichtspunkt  be- 

8.  BaehMudmoir.stimmt  haben  will,  sind  Rachmauinow,  A.  Scriabine. 

^•^^^»*^lhr  Gefolge  besteht  aus  G.  Conus,  S.  Wassilenko, 

8.  WMsiieBko!^*  Catoire,  R.  Gli6re,  A.  Goe decke  u.  a. 

G.€atoire.        Unter  den  Sinfonikern  der  Petersburger  Sektion  ge- 
*•  ®^*J*' nießt  zur  Zeit  Alexander  Glazounow,    ein  ansge- 
•  «••*•«»••  sprochener  Eklektiker,  der  Tolstoischen  Bußgedanken  und 
den  kleinen  Amüsements  des  Salons  mit  gleicher  Sym- 
pathie gegenübersteht,  aber  über  ein  großes  technisches 
Können  verfügt,  das  weiteste  Ansehen. 

Außerhalb  der  russischen  Musikstädte  ist  Glazounow 
erst  mit  seiner  vierten  und  fünften  Sinfonie  bekannt  ge- 
geworden,  allmählich  sind  ihnen  dann  die  Vorgängerinnen 
gefolgt,  und  gegenwärtig  ist  er  im  internationalen  Re- 
pertoire mit  acht  Sinfonien  vertreten. 
A.  eusoinow,        Die  erste  Sinfonie  (Edur),  Rimsky-Korssakow,  dem 
Erste  Sinfonie  Lehrer  des  Komponisten,  gewidmet,  ist  durchweg  ein  Be- 
(Op.5).        kenntms  der  Lebenslust.    Der  erste  Satz  (Allegro,  ^'/g, 
Edur)  gleicht  vollständig  einer  Tanzszene  in  der  gebilde- 
ten Gesellschaft;  beherrscht  wird  sie  von  dem  Thema 


^f  ^rf^y»  r  --^-     -  '  jr^.-_  •  J  ^*^  zunächst  also  gar  nichts 
jr-    ^ ~^j:f^ -^^-^T^p  Nationales,  wird  aber  bald 


^^    633     »^ 

durch  Nebengedanken,  durch  Rhythmen  Wechsel,  durch 
Musettenbässe  und  durch  den  Überschwang  im  Wieder- 
holen russisch  gefärbt.  Die  Arbeit  verrät  in  der  kurz- 
atmigen Periodisierung,  durch  das  Figurenmaterial  bei 
den  Obergängen  und  durch  deren  Umständlichkeit  noch 
einen  Anfänger. 

Der  zweite  Satz,  das  Scherzo  (Allegro,  ^41  Gctur)  ist 
ein  Perpetuum  ^    .        __r_  .,        /^8,s  äußerst  ge- 

mobile über Aj^f ^^^yj^  I Pp p  /J^wandt  durch- 
das     Thema:        "*■  ^  ^geführt     wird. 

Das  Trio  hebt  sich  scharf  dagegen  ab  und  verwendet  ein 
polnisches  Thema: 


Auch  der  langsame,  der  dritte  Satz  (Adagio,  2/4, 
E  moll)  bleibt  in  dem  freundlichen  Grundton  der  Sinfonie 
und  berührt  ernstere  Stimmungen  nur,  um  mit  ihnen 
liebenswürdig  zu  tändeln;  einige  schrillere  Lichter  ver- 
danken ihre  Wirkung  der  .originellen  Anwendung  des 
übermäßigen  Dreiklangs,  und  musikgeschichtliches  Inter- 
esse erregt  der  Satz  durch  eine  Anlehnung  an  Wagners 
Meistersingervorspiel. 

Mit  dem  Finale  (AUegro,  ^4»  Edur)  hat  Glazou- 
now  dem  Vater  der  höheren  russischen  Instrumental- 
musik, M.  Glinka,  eine  Huldigung  gebracht.  £s  ist 
ein  frischer  und  abwechselungsreicber  Variationszyklus, 
zu  dem  den  HauptstofiF  abermals  ein  polnisches  Thema: 


P**\fTf\{Tl    \nP\ff  I  geliefert  hat. 


Die  zweite  Sinfonie  Glazounows  (Fismoll)  ist,  wie  die  A.  GiABomaoir« 
Cmoll-Sinfonie  von  St.  Sa^ns,  dem  Andenken  Franz  Liszts  2*'«*«  Sinfonie 
gewidmet.    Deshalb  beginnt  ihr  erster  Satz  mit  einem       (Op.  16). 
Andante  maestoso,  das  über  das  einfache  Orpheus-Thema: 

UM  t . einenTrau- 

JThJ    J  J   U   J  ]  J  J  I  J  JJ  .^^  emarsch 

^  entwickelt 

Diese  wehmütige  Weise  wird  bald  zu  einem  AUegro: 


-^    634    %^ 

g^^jAUegro     umgebildet    und 

^Varrrrrr   PpfPirfjt^etc.  dient    in   dieser 
•^  u-fc-i-i  Gestalt  dem  Aus- 

druck eines  wilden  Schmerzes,  der  gelegentlich  ins  Toben 
und  ins  Anstößige  gerät,  aber  auch  von  milden  Klagen 
ergreifend  schattiert  wird. 

Die  Melodie  des  Trauermarsches  durchzieht  auch 
den  zweiten  Satz  (Andante,  Ddur,  V«)»  ^^^  ^^  der  Haupt- 
sache freundlichen  Bildern  der  Erinnerung  gewidmet  ist, 
russisch  pastorale  Töne  anschlägt  und  Lieblingsmotive 
deis  heimgegangenen  Meisters  hinein  verwebt. 

Der  dritte  Satz  (Allegro  vivace,  Hmoll,3/^  setzt  diesen 
Erinnerungsdienst  fort,  aber  in  einem  leidenschaftlich 
erregten  Ton,  der  oft,  wie  in  Gedanken  an  ungerechte 
Gegner,  entrüstet  wird  und  mit  zahlreichen  Akzenten  des 
Schmerzes  gemischt  ist. 

Das    Finale    beginnt    mit    einer    ernsten    Intrade 

und     führt,      zwi-      ^^^Allegio.        

sehen    einem    The-     ft Vj  _h  J    i    I    t  n  pTI  n  i     I 
ma  heroischer  Kraft     g"  -^i«*  J  *    liJJJiiJ^^ 

und  einem  ^.^.^.^^  ^.^   ^ 

wechselad,  in  einer  Erregung,  die  sich  durch  beständige 
Änderungen  von  Tonart  und  Taktart  äußert,  zu  einem 
triumphierenden  Schluß. 
A.  eiueiBow,        Die   dritte   Sinfonie,  (Ddur),    Peter   Tschaikowsky 
Dritte  Sinfonie  gewidmet,  ist  diejenige,  in  der  das  russisch -nationale 
(Op.  33).       Element  fast  ganz  zurücktritt,  und  die  zugleich  durch  die 
Natur  ihrer  Themen  und  deren  Entwicklung  es  dem  Zu- 
hörer ziemlich  schwer  macht. 

Insbesondere    gilt   das  vom   ersten  Satz   (Allegro, 

Ddur,  3/4),  der  von  seinem  nachdenklichen  Hauptthema 

^      ^^  ^^..^  gar  nicht  loskom- 

V  '  •       in  KRhAr.  umstAnn. 


in  zäher,  umständ- 
licher, für  die  Fachmusiker  teilweise  nicht  uninteressanter 
Arbeit   mit  ihm  im  engen   Kreise  dreht.    Doch   fallen 


^-^    635    ♦— 

Lichtblicke  in  den  Nebel,  und  nach  der  endlichen  Auf- 
hellung schließt  der  Satz  wirklich  schön. 

Der  zweite  Satz  (Vivace,  Fdur,  «/le  Vs)«  Scherzo  fiber- 
schrieben, ist  ein  Bravourstück  phantastischer  Ballett- 
musik,  das  unter  der  Flagge  einer  Elfen-  und  Gnomen- 
jagd oder  unter  einer  ähnlichen  Oberschrift  passieren 
könnte.  Es  ist  eine  tolle,  nur  durch  wenige  Stutzpunkte 
unterbrochene  Gaukelei  um  flüchtige  und  nichtige  Motive, 
die  aber  einem  virtuosen  Orchester  und  allen  seinen 
Instrumenten  Gelegenheit  gibt,  zu  spannen  und  Ehre 
einzulegen. 

Der  dritte  Satz  (Andante,  Edur,  3/4)  gehört  zu  jener 
Art  von  Lyrik,  iie  durch  unaufhörliches  Präludieren  die 
Geduld  auf  Proben  stellt.  Den  gedanklichen  Kern  bringt 
ein  zuerst  in  Asdur  auftretendes  Intermezzo  mit  einer 
vom  englischen  Hörn  gespielten  Melodie,  deren  sehn- 
süchtige und  schwärmerische  Wendungen  die  Kenner 
der  modernen  Oper  und  ihrer  Liebesszenen  ziemlich  be- 
kannt anmuten.  Die  emsig  sinnige  Arbeit  und  der 
blühende  Klang  des  Orchesters  gehen  jedoch  über  das 
Gewohnte  hinaus. 

Das  Finale  (Allegro  moderato,  Ddur,  2/2)  setzt  auf 
dem  Thema: 


pVfn\üljU^\U^  U'i^m-^ 


mit  großer,  aber  voreiliger  Freude  ein.  Es  bleiben  lange 
Strecken  des  Mühens,  der  Unentschlossen heit  und  immer 
erneuter  Ansätze  zu  überwinden,  bis  die  Anfangstakte 
des  Satzes  endlich  aus  dem  Munde  der  Trompeten  und 
Posaunen  im   sicheren   und  ernsten  Ton    des  Besitzes 

^^ _+__^____  erklingen.  Mit ei- 

<iR''«'^f     |["    r  If    f    If    J     l  "    r  ner  Kombination 
"^    ff  dieses  Hauptthe- 

mas und  seiner  bedeutendsten  Helfershelfer  schließt  das 
Finale  >grandioso«  und  rauschend  ab. 

Die  vierte  Sinfonie  (op.  48}  hat  die  üblichen  vieri.  eiaioiatw, 
Sätze,,  da  aber  das  Adagio  mit  dem  Finale  zusammen- Vierte  Sinfonie 
gezogen  ist,  erscheinen  äußerlich  nur  drei.  u^^v* 


636' 


Sie  beginnt  mit  einem  Andante  in  £smoll  über  ein 
vom  Englischen  Hörn  vorgetragenes  Thema,  das  sich 
auf  Grand  folgenden  Anfangs 

,        Anflant».  J*sS8.  ^^„^  .  --^-^^ 

etwas  bequem  entwickelt.  Als  es  -auf  der  Dominaute 
schließt,  stellt  sich  ihm  ein  Gedanke  entgegen,  der  die 
freundlichen,  friedevollen  Zukunftsbilder  dieses  Themas 
mit  leisen  Zweifeln  und  Fragen  beanstandet.  Den  Reden 
und  Gegenreden  wird  ein  rasches  Ende  bereitet  durch 
das  Allegro,  das  ohne  alle  Vermittelung  die  Durtonart 
durchzwingt.  Als  erstem  Hauptthema  begegnen  wir  in 
ihm  einer  Melodie,  die  sich  abermals  etwas  breit,  unterm 
Anteil  verschiedener  Instramentor  entwickelt: 

AUBgXD  modenAo.  Js92.  ^^    _   .   _     ^— ,^ 


•M 


Sie  spricht  Worte  der  Hoffnung  aus,  in  Reimen,  die  der 
Komponist  fertig  vorgefunden  hat,  und  kommt  in  der 
Fortsetzung  in  einigen  Eifer,  den  sofort  mit  Tönen  der 
Ruhe  ein  Seitengedanke  zu  beschwichtigen  unternimmt: 
j  ^^  Das  Hauptthema  kehrt 

"^  wieder,  verklingt  aber, 

als  schliefen  alle  Sorgen 
ein,  und  an  seine  Stelle 
tritt  ganz  scherzenden  Tons  das  Thema  der  Einleitung, 
bei  der  Yerwandelung,  die  es  nach  Borodinschem  Muster 
aus  Moli  nach  Dur  und  in  ein  fröhlich,  flottes  Tempo 
geführt  hat,  kaum  wiederzuerkennen: 


— ♦    637    ♦^ 

Damit  sind  wir  ins  Volkstümliche  und  in  die  ländlichen 
Kreise  nnd  ihre  Freuden  eingetreten.  Die  Melodie  be- 
herrscht diesen  Abschnitt  eine  Zeitlang,  wörtlich  und 
übertragen.  Unter  ihren  Variationen  ist  eine  im  rnhigen 
Tempo  für  Hom  hervorzuheben.  Dann 'führen  ausge- 
lassenere Szenen  nach  dem  ersten  T^ema  des  AUegro 
zurück,  und  der  Schluß  der  Themengruppe  erhält  als  An- 
hang noch  einige  kurze  fröhliche  Motive.  Statt  der  er- 
warteten Durchführung  folgt  aber  eine  Wiederholung 
dieses  ersten  Teils,  eben  der  Themengruppe,  mit  etwas 
verändertem  Modulationsgang  und  auch  mit  verändertem 
Charakter.  Es  wird  etwas  länger  bei  dem  ersten  Thema 
verweilt,  es  erhält  einen  sorgenvollen  Ausdruck,  der  sich 
laut  leidenschaftlich  und  wieder  still  seufzend  äußert 
Diese  Stelle  führt  nach  der  Einleitung  zurück:  dem  An- 
dante mit  dem  Pastoralthema  in  Esmoll.  Die  Freude, 
die  vorhin  durch  seine  Umbildung  in  die  Gestalt  eines 
scherzenden  Dur -Themas  in  das  Allegro  hineinkam,  war 
verfrüht.  Noch  ists  nur  Zeit  zu  hoffen.  Dies  spricht  ein 
letztes  kurzes  Zurückgreifen  auf  das  Hauptthema  des 
Allegro  aus.  Die  im  ersten  Sinfoniesatz  üblichen  Wege 
des  Sonatenschemas  hat  Glazounow  zum  großen  Teil  um- 
gangen und  doch  einerverständliche  Darstellung  seelischer 
Vorgänge  geboten,  ein  Bild  vom  Kampfe  edler  Triebe  mit 
den  Versuchungen  der  Alltäglichkeit. 

Die  anderen  Sätze  führen  dieses  Bild  weiter:  der  Schau- 
platz wechselt,  es  wechseln  die  Charaktere.  Das  Scherzo 
beginnt  mit  Quin-         AUtgro  rirao«.  J.x  is«. 
ten,  die  ungeduldig  6     £    fi   £  fi         £ 

erregt  in  den  Fa-  'ji^li  ft  F     P    f  f  1      |  ^^  «». 
gotten    repetieren: 

Das  sagt  Tanz  an,  und  bald  stimmen  auch  die  Klarinetten 
einen  Reigen  an,  dessen  Melodie: 

jfi' '  r^'Trf  in  r  ir  Qi  i  i 

—    V 


--♦    638    ^^ 

|n  ihrer  Mischung  von  Lustigkeit  und  Demut  an-Rubin- 
steins  >6räute  von  Kaschmir«  erinnert.  In  der  Durch- 
fährung  dieses  Themas  tritt  im  ganzen  sein  lustiger, 
munterer  Charakter  mehr  hervor.  Er  steigert  sreh  bei 
dem  ersten  Tutti  zu  Kraft  und  Ausgelassenheit: 


;^it£« 


|^^^  I  f  1 1  ui  u  i, 


an  anderen  Stellen  wird 

der  Nachdruck  auf  die 

beweglichen   Elemente     -.  - 

des     Themas    gelegt:  ^ 

Der  Hauptsatz  zerfällt  in  zwei  klar  geschiedene  Teile:  der 

erste  bringt  die  angegebenen  Themen  vorwiegend  in  6, 

der  zweite  in  F.    Als  in  diesem  zweiten  Teile  die  ans 

dem  Eingang  des  Scherzos  bekannten  Baßquinten  wieder 

erklingen,  kommt  ein  neues  Thema: 

in  den  Hörnern,  das  aber  am  Schluß  die  freundlichen 
Lockrufe  des  alten  Ilauptthemas  aufnimmt,  während  die 
Violinen  mit: 


■f.r;grrrr|>  i'i  rt  rrriT|T  \'r 


dazu  kontrapunktieren.  Es  ist,  als  wollte  der  Komponist 
eine  andere  Seite  ländlicher  Freuden,  die  Jagd  und  ihr 
aufregendes  Treiben  im  Schattenriß  wenigstens  vorf&hren. 
Da  kommt  aber  sehr  bald  das  Trio  mit  seiner  fast  in  die 
Farben  der  Aeolsharfe  gekleideten  Musik,  deren  Eintritt 
man  zu  den  schönsten  Stellen  der  Sinfonie  rechnen  muß. 
Die  Melodie,  die  an  ihrer  Spitze  steht  und  zuerst  von 
der  Klarinette  gebracht  wird:  ' 


1 


639 


Poco  neno  mosso.  TranqniUa.  o«=  60. 


j^H"  -'-"^r^'l^i  n  I  'T|  iiTi  1 1  I 


ist  zwar  an  und  für  sich  einfach^  aber  in  ihrem  Gegen- 
satz zum  Wesen  der  vorangehenden  Szenen  wirkt  sie 
wie  aus  höherer  Welt  gekommen.  Das  bunte  Treiben* 
des,  Tages  und  seiner  Lust  liegt  weit  hinter  dem  Hörer. 
Er  denkt  an  den  Sternenhimmel  und  an  die  ewigen 
Fragen  vom  Menschlichen  und  Göttlichen.  ItR  dritten 
Teil  des  Scherzos,  am  Schluß  der  Reprise  klingt  die 
Himmelsmelodie  des  Trios  noch  einmal  an. 

Auch  der  dritte  Satz  knüpft  mit  seinem  ein- 
leitenden Andante  an  die  Stimmung  des  Trios  an. 
Es  leuchten  über  dieser  Einleitung  in  den  tremo- 
lierenden       Violinen  AnäM^ejU^B^ 

durch  die  Bläser  zieht: 

versucht  wenigstens  die  Töne  des  Friedens  wiederzufinden, 

die  in  jener  Abendszene  klangen.  Der 

Versuch  stößt  auf  zu  große  Erregung,' 

die  in  dem  plötzlichen  Fortetakt  über: 

gewissermaßen  elementargewaltig  hervorbricht.    Ihr  folgt 

auch  bald  eine  jener  langen,  dem  russischen  Sinfoniker 

eigenen  Übergangsstellen,  in  denen  auf  liegendem  Baß 

kleine  Motive  in  die  Höhe  dringen  und  wie  Wässerchen 

zu  Wässerchen  kommend  zum  Strom  anschwellen,  der 

dan  Damm  durchbricht.   Dieser  Wandel  in  der  Stimmung 

tritt  bereits  im  Andante  ein,  den  stürmischen  Charakter 

nimmt  sie   mit  den   ersten  Tönen   des  Allegro  an.    Da 

setzen  die  Trompeten  ein: 

Piü  mosso.  Allegro  moderato.  Ja  138. 

j'ii'iMru'  'I  u''uIj  i'^iulr*^' 


640 


nnd  alarmieren  das  ganze  Orchester  so,  daß  es  ins 
Zittern  gerät.  Der  ganze  erste  Teil  des  AUegro  äußert 
wirklich  seine  Energie  und  seine  Freude  vorzugs- 
weise rhythmisch,  was  sein  Hauptthema  melodisch 
bietet^     das    erscheint         . 

noch  nicht  geklärt:  ^""l-  JJ  J  I  J  J  .ij  J,  J  J 
die  Violinen  schwingen  ^  »^*  Uf  p  ♦  *  b^  ^ 
sich    mit    dem    Motiv  «^ 

im  Kreise  und  in  die  Höhe,  in  den  Klarinetten  scheint 
die  meiste  Bestimmtheit  zu  herrschen: 

j'^'i  \trr  II  \tt\f\\l\,n\:^rrfß  \f 

Das  freudig  verworrene  Treiben  endigt  feierlich  mit  einem 
Desdur-Akkord,  und  diese  Stelle  führt  edlere  Geister  her- 
bei.   Zuerst  hören  wir 

ein  Thema  in  dem  ganz  fremden  Edur.  Wie  sie  ein- 
geleitet war,  so  schließt  diese  Episode  auch  wieder  feier- 
lich^ geheimnisvoll  mit  langen  Klängen,  lange  liegenden 
Akkorden  (As,  Ges),  und  nun  folgt  ein  zweites  Thema 
friedlicher  Natur,  von  der  Oboe  eingeführt: 


Es  beendet  die  Themengruppe  des  in  Sonatenform  ge- 
haltenen Satzes.  Sein  Einfluß  äußert  sich  in  der  Durch- 
führung dadurch,  daß  zunächst  die  wilden  Motive  des 
AUegros  ganz  verwandelt  erscheinen.  Das  erste  kurze 
Violinenthema  z.  B.  kommt  in  den  Posaunen  als: 

y.  92. 

"iL  'i  -I   ','.1^   '  N    il  "'    '"- 


641 


Bald  erwacht  ihre  eigentliche  Natur,  sie  ringen  und 
kämpfen  gegen  die  edleren  Hegungen,  die  mit  ihnen  den 
Weg  wiederholt  kreuzen.  Überraschend  erscheint  am 
Ende  dieser  Durchführung  das  Hornthema  aus  dem 
Scherzo  gewissermaßen  als  Bundesgenosse  für  die  Geister 
der  äußeren  Fröhlichkeit;  den  milderen  Mächten  kommt 
Hilfe  durch  die  schöne  elegische  Melodie,  die  den  ersten 
Satz  der  Sinfonie  eröffnete.  Dann  folgt  bald  die  Reprise, 
die  die  edleren  Themen  in  größerer  Bedeutung  zeigte 
außerordentlich  kunstvolle  Arbeit  enthält  und  freudig 
rauschend  schließt. 

Glazouuows  fünfte  Sinfonie  (Bdur,  Op.  öö)  ist  einA.  eUsoanow, 
Werk  der  Heiterkeit  und  Kraft,  das  sich  ohne  diePönfteSinfonia 
modernen  Hebel  der  Leidenschaft  und  Romantik  ent- 
wickelt, aber  Phantasie  und  Gemüt  des  Hörers  festzu- 
halten und  zu  beschäftigen  vermag.  Denn  es  verrät 
überall  Geist  und  eine  adlige  Natur.  Der  Verlauf  und 
Charakter  der  beiden  letzten  Sätze  scheint  die  Sinfonie 
der  Programmusik  zuzuweisen.  Doch  hat  der  Komponist 
nicht  verraten,  was  ihm  vorschwebte  —  vielleicht  ein 
besonderer  Lebenslauf  — ,  da  anorganische  Einzelheiten, 
die  im  Zusammenhang  unerklärlich  wären,  nicht  darin 
vorkommen.  In  der  Form  zeigt  die  Komposition  ver- 
schwindend geringen  russischen  Einfluß,  in  der  Stimmung 
äußert  er  sich  in  wohltuendster  Art  als  Naturfrische  und 
Lebenslust. 

Der  erste  Satz  beginnt  mit  einer  Einleitung  über 
das  Thema: 


Moderato  maostoso.  J  =  92. 


Sie  führt  zu  einem  Allegro,  das  an  diesem  kräftig  fröh- 
lichen Grundgedanken  festhält  Nur  im  anderen  Rhyth« 
mus  tritt  er  hier  auf  und  etwas  erweitert: 


Kretxschmar,  Ftthrsr.    I,  1. 


41 


642 


-frfrrfjrr^h 


Gegensätze  im  Sinne  eines  Widersprudto  oder  einer  Ablei- 
tung treten  ihm  nicht  in  den  Weg^  mar  Versuche,  den  frohen 
Mut,  der  aus  ihm  spricht,  nech  zu  steigern.  Darunter  fällt 
durch  seine  Entschiedtfoheit  der  folgende  am  meisten  auf: 

Auch    das 


■v-L£rfinif?i  n  n  j  i^^Sl 


vif  madesSat- 

zes  bedeutet  Zustimmung,  Fremde  —  nur  im  zarteren  Ton: 


^^ 


Weiter  bemerken  wir  noch  Motive  des  Scherzes,  Motive 
aufwallenden  Frohsinns.  Alle  diese  gro0en  und  kleinen 
Einfälle  werden  variiert,  umgebildet  und  in  einem  leben- 
digen Spiel  zusammengebracht,  das  Humor  und  Witz 
beherrschen.  Die  Durchführung,  die  nur  kurz  gehalten 
ist,  stellt  sich  auf  einige  Augenblicke  grimmig.  Die  Re- 
prise, in  der  das  zweite  Thema  geheimnisvoll  spannend 
vorbereitet  wird,  schiebt  den  Schluß  geflissentlich  und 
fesselnd  weit  hinaus. 

Das  Scherzo  schlägt  mit  seinem  Hauptthema: 

Moderato.  ^  =  06. 


die  flüchtigen  Töne  heimlicher  Beweglichkeit  an,  mit  denen 
wir  seit  Mendelssohn  den  Begriff  von  Elfenmnsik  verbinden. 
Das  Stück  gleicht  einer  Stunde  aus  der  Kinderzeit,  wo  abends 
Märchen  erzählt  werden  von  schönen  Feen  und  kleinen 
Geistern  der  Luft»   Dann  poltert  ein  grober  Riese  herein : 


643 


^^  _^ ^ der,   nach   den  tol- 

y^'j&f    f^  I  •["  C^C^i*T"j=^    len  Dissonanzen  zu 
-^   "^^v  '^^    ^""^   *^         schließen^die  diesem 

Abschnitte  eigen  sind,  alles  auf  den  Kopf  zu  stellen 
scheint.  Nach  diesem  Zwischenfall  kehrt  der  Hauptsatz 
wieder.  Der  Mittelteil,  der  die  Stelle  des  Trios  einnimmt, 
führt  mit  ein^r  hübschen  Volksmelodie  hinaus  ins  Freie: 

FochiMinomexi 


leno  inoBSo. 


ifiHf  irtirtfii^irrfm 


wo  sich  Tänze  und  Spiele  und  gemütliche  Zwiesprache 

^ji  . in  zum  Teil  sehr  eigen- 

JyH  f  I  J  I  /  J  j  I  J^  j  [tümlich sch5nemKlang 
^^  ^entwickeln.  Vor  dem 
Schluß  wird  dieses  Trio  nochmals  kurz  angespielt. 

Der  langsame  Satz  der  Sinfonie,  ihr  dritter,  wird 
mit  einigen  Takten  eingeleitet,  in  denen  die  Akkorde  wie 
schwere,  trübe  Wolken  langsam  hinziehen  und  schleichen. 
Dann  aber  treten  wie  Wandrer,  die  vom  inneren  Glück 
erfüllt,  nicht  auf  Himmel  und  auf  Wetter  achten,  die 
Gesangsthemen  ein,  schwärmerischen  Tons,  wie  ein  Lieb- 
haber in  seiner  Sehnsucht  das  erste: 

.  ,     Andante.  J^=  tgO.     *       ^        i-  ^-^         ^^.^^^^ 

J^  ""^  CT9S0. 

■  fi  |*n  rF>  I  r^'V-  reinster     wärmster     Zart- 

rjj^^  t^'"^    II     P  lichkeit    voll    das    andere: 

^  ,  Con_moto.  '^__^r^  fi  ^**     zweite 

ftn-  '(* M^Tj  I  r '  I*   P  I  r    P  w^?r  I  T^ insbesondere 
^       dotct  ^         *    ^    M  ■  I      breitet    ^^ 

aus,  steigert  seinen  schönen  warmen  Ton,  wird  hervor- 
gejubelt und  gelispelt  und  bildet  die  Grundlage  für  die 
Stimmung  des  Satzes.    Doch  besteht  eben  dieser  Satz 

41* 


644 


nicht  ausschließlich  aus  Stimmungsschilderuog  und  ver- 
läuft nicht  ungetrübt.  Die  Einleitung  war  eine  Wamnng. 
Mitten  in  den  schönsten  Augenblick  der  Komposition  fällt 
ein  brutales  Stück  Dramatik,  ein  vielerlei  Deutung  frei- 
stehendes Ereignis,  das  aus  allen  Himmeln  reißt:  Posaunen 
und  Trompeten  sind  di^  Ver-  . 

treter  der  Schicksalswendung   -  '■««>  mosao.  J^  s  »2. 
und  dies  das  musikalische  Mo-  rr    »     ■  *-rrr: 
liv,  das  sie  veranschaulicht:      ' 

Das  Finale  der  Sinfonie  hat  einen  militärischen 
Charakter.  Sein  Hauptthema  ist  folgendes  und  sein 
wichtigster  Teil  der  Berliozsche  Schluß: 


Jt 


Ailegro  maestoso,  oz  126. 


if  üT/if  J-r  LTirr  f  ri 


3Z 


Es  wird  ergänzt  durch  das  leichtherzigere: 


p'  fl^,\  f'-T^lj 


Unter  den  wesentlichen  Motiven  des  Satzes  darf  besonders 
der  wiederholte  Anklang  an  die  rauhe  Trompetenstelle  des 
dritten  Satzes  nicht  übersehen  werdend  Allem  Anschein 
nach  gibt  der  Satz  das  Bild  ein^s  wirklichen  Kampfes. 
Es  kommen  neue  Hilfstruppen,  originell  in  den  Bässen 
angemeldet 


es    gibt    Augenblicke     der    Niedergeschlagenheit,    der 

Klage,  der  Trauer  und 

auch  des  Trostes, 

aus  dem  letzten 

roa  sich  entwickeln: 

Dieses  zeigt  in  weiteren  Umbildungen  seine  immer  größere 


iieruna 

ir-^.  p'\f^  |L)i  W  f  |t  i 


eto. 


-^    645 

Wichtigkeit  und  seinen  Zusammenhang  mit  Volksmusik. 
Es  wird  allmählich  zu  einer  Kriegs-  und  Siegeshymne, 
die  am  Schlüsse  auch  dem  ersten  Hauptthema  des  Finale 
eine  glänzende  Rückkehr  vorbereitet. 

Die  sechste  Sinfonie  (C moll)  gleicht  der  zweiten  darin,  A.  GUso«now, 
daß  ihr  erster  Satz  mit  tiefer  Trauer  empfängt.  Eine  gram-  ^•*^'"?;,^i!,'°'*'^ 
volle  Melodie  steigt  Adagio,,  ^    ^^„^      ^ ^ 

in  der  Einleitung  von  »tilr  u  ,P%7p  1  r  f  I  frf!  I  r^^^- 
den    Bässen     aus:   "'-*  p     U-'  '  '.'    »— t^-^-^ 

in  die  Höhe  und  wird  bald,  in  Viervierteltakt  umgewandelt: 
Allegro.    ^^.^^  das   Hauptthema   eines 

^y^iK  J'^TrrrB  I  r  ^  p  •  J   '    von    leidenschaftlichem 
^     y^y>P  '^■^P  Schmerz  bewegten  Alle, 

gros.  Ihm  tritt 
in  dem  zwei- 
ten    Thema:  "^      doice 

die  Stimme  des  Trostes  entgegen  und  wird  in  dem  über- 
haupt sehr  kunstreichen  Satze  mehrmals  mit  ihm  kom- 
biniert, ohne  aber  über  die  trüb  erregte  Stimmung  Herr- 
schaft zu  gewinnen. 

Der  zweite  Satz   sucht   die  Heilung   auf  breiterer 

Basis   und   stimmt   zunächst   feierlich   eine  Liedweise: 

Andante.  an,  die  möglicher- 

i<^y  >   ,0  li^fi  J    I  Jl   n  I  I     I     I  weise  russisch   ist, 

&   *f   U^U-^^^'   if  'Li^  jedenfalls   aber   in 


jedenfalls 

die  Sphäre  kindlicher  Zufriedenheit  gehört.  Das  Thema 
wird  in  sieben  Variationen  entwickelt,  die  auf  der  Skala 
der  Fröhlichkeit  ^sich  immer  weiter  aufwärts  bewegen, 
dann  vom  Scherzino  ab  über  ein  Fugato  und  ein  Not- 
turno tiefer  in  die  Gemütsruhe  einlenken.  Das  den 
Zyklus  krönende  und  seinen  reichsten '  und  interessan- 
testen Teil  bildende  Finale  stellt  den  Sieg  der  Lebens- 
freude fest. 

Der  dritte  Satz  (Allegretto,  Esdur,  s/g),  Intermezzo 
betitelt,  fährt  in  dem  neuen  Tone  fort:  Den  Hauptsatz 
beherrscht   die    zuerst  jT?* 

von  der  Klarinette  ge-  J  l'^i^  T  tfM  Lff  |  tj^p  |  f^p  j 
brachte  heitere  Melodie:  ■^-     ^*  ^  '  ^^  =^^^=F 


.^    646    ^^ 

die  Stelle  des  Trio  —  vom  H  dur  ab  —  nimxät  ein  grazi- 
öser Walzer  ein. 

Das  Finale  (Gdur)  beginnt  zwar  mit  dem  Thema 

,  Andante  maestoso, ^mst  und  SOgar  et- 

-n  .     ■   1     ■    .    ■    ■    I   I      ■    iete   was  drohend,  führt 
-^JM>J'J_J,j  i  J    y    J     '''•  es    aber    bald    ins 


*/*  Allegro  und  in  den 

entschiedenen  Ton  einer  kräftigen  Heiterkeit  über.    Mit 

Hilfe  des  zwei-   jf     ^     i    i    _    i    i  ^     .1    ?=q   und 

ten       Themas:  g       \    ^^    f  i    \^     i  A  ^     \  seiner 

Fortsetzung  wird  sie  bis  zur  Ausgelassenheit  gesteigert 

Glazounow  zeigt  sich  in  diesem  Satze  als  Meister  des 

Humors,   zugleich  auch  in  seinem  höchsten  Glanz  als 

Satztechniker:  Ein  Kanon  reiht  sich  an  den  andern,  und 

die  Kunst  der  rhythmischen  Umbildungen  der  Themen 

erscheint  nahezu  als  unerschöpflich. 

i.GUiouBov,  Die  siebente  Sinfonie  (Fdur),  die  —  ein  seltener 

Siebente  Sinfonie  paU  —  der  Autor  seinem  Verleger  gewidmet  hat,  macht 

(Op.  77).        ^Qg  ^^  einer  Art  Glaubenswechsel  Glazounows  bekannt. 

Er  nähert  sich  hier  Borodin  und  bekennt  sich  stärker 

und  entschiedener  als  jemals  vorher  zur  russischen  Musik. 

Namentlich  der  erste  Satz  (Allegro  moderato,  Fdur, 
s/4)  ist  reich  an  kurzen,  munteren  russischen  Volks- 
melodien.    An    ihrer    Spitze    steht    das    Hauptthema: 

und  was  es  verspricht,  das 
f^  ^  I  ^=  kommt:  ein  Pastoralgemälde. 
^  ^      Von  dem  der  sechsten  Sinfonie 

Beethovens  unterscheidet  es  sich  durch  den  Verzicht  auf 
den  sinnigen,  im  besten  Sinne  sentimentalen  Zug  der 
Fröhlichkeit,  das  Hauptthema  wie  seine  Gefährten  ge- 
hören zur  Klasse  des  Wildfangs.  Beethoven  entwickelt 
auch  geistreicher,  mannigfaltiger  und  überraschender. 
Die  Überraschungsmittel,  die  scharfen  Modulationen,  hat 
sich  Glazounow  angeeignet. 

Der  zweite  Satz  (Andante,  Dmoll,  s/4)  fängt  sehr 
ernst  an,  fast  wie  eine  Warnung,  wohl,  weil  er  uns 
vor  ein  Naturbild  führt,  in  dem,  wie  in  den  lang- 
samen  Sätzen   Borodihs,    die   Melancholie    haust.     In 


--♦    647    •-- 

der    Mitte,     von    einer    Episode    in    Dur    aus,    dich- 
tet sich   die  ^  .,.~>^      .     ^  /^TT^        - — >.  ,  ^ 
Stimmung znj^ajT^  iJ.^'J-Jl/jJ  r   IpYl^J 
einer  Klage:       Klar.             ^■' — ^ 

Der  dritte  Satz  (Allegro  giocoso,  Bdur,  2/4)  heitert 
mit  dem  Spiel  um  eine  flatternde  Sechzehntel figur,  die 
an  die  gefiederten  Bewohner  der  Luft  erinnert,  energisch 
auf.  In  die  kecken  Tändeleien  iiischen  sich  zahlreiche 
Kantilenen  verschiedenen,  vom  Neckischen  bis  zum  Ele- 
gischen weisenden  Charakters. 

Das  Finale  (Allegro  maestoso,  Dmoll,  2/2)  stimmt  so- 
gleich beim  f  i  ■  ,  ,  1  1  i  J  j  |  J  I  „  1  ^V^hnen- 
Einsatz  mit:  ^'  i  J  J  ■  I  y  "^  i  J  y  1  "  I  ton  an 
und  erweist  sich  als  eine  Huldigung  ans  Vaterland.  Ihre 
schönste  Stelle  kommt  nach  dem  Ende  zu,  wo  das  Haupt- 
thema     des  g  wiederkehrt. 

ersten  Satzes  ^^  t'^  \f    ^    If*   T  T  \f        Mit  der  ihm 


in  der  Form:  ^  eiguenBreite 

und  Menge  der  Übergänge  streift  der  Komponist  in  diesem 
Finale -das  Maßlose. 

Die  achte  Sinfonie  (Esdur,  op.  83)  ist  in  ihrem  ersten  A.  eusouon» 
Satz  (Allegro  moderato,  V4t  Esdur]  ein  Bild  reinen  Glücks,  Achte  Sinfonie. 
im  Hauptthema,  dessen  Ausdrucksstützen  Vorhalte  nach 
oben  sind,  mit  einem  maßvollen  Zusatz  von  Überschwang 
und  Schwärmerei,  im  zweiten  Thema  im  Ton  des  ruhigen 
und  sicheren  Besitzes.  Da  der  musikalische  Reiz  dem- 
nach im  ersten  Thema  liegt,  wird  es  auch  in  der  Ent- 
wicklung stark  bevorzugt,  lange  Abschnitte  hindurch  er- 
scheint die  Komposition  ^  ^^  ^^  ^^^  beiderGla- 
wie  eine  Phantasie  über  (Lvii  h  if  p  F  f  T  j  zounow  die 
seine  ersten  vier  Noten  Gelegenheit 
ergriffen  hat,  in  Nachahmungen,  Umkehrungen,  Verkür- 
zungen und  Verlängerungen  der  Rhythmen  seine  kontra- 
punktische Meisterschaft  zu  erproben.  Es  läßt  sich  nicht 
verkennen,  daß  der  Vortrag  dabei  etwas  umständlich 
'  geraten  ist  und  daß  den  Permutationen  der  Motive  Ori- 
ginalität abgeht. 

Der  zweite  Salz  (Mesto,  3/2,  Esmoll)  führt  uns  über- 


^^    648     #— 

raschend  Vor  tiefste  Trauer,  vor  einen  schweren  nnd 
frischen  Verlust,  dem  die  Seele  des  Leidtragenden  fas> 
sungslos  gegenüber  steht.  Das  Entsetzen  spricht  den 
ganzen  Satz  hindurch  mit  den  Rhythmen  des  Trauer- 
'    marsches  in  Wagners  »Götterdämmerung«. 

Der  dritte  Satz  (Allegro,  s/4,  Gdur)  steht  noch  ganz 
im  Bann  des  zweiten,  stellenweise  gleicht  er  einem  Toten- 
tanz, und  durchweg  bleibt  er  spukhaft  und  gespenstisch. 
Durch  diese  Eigentümlichkeit  ist  er  der  ^wertvollste  Satz 
der  Sinfonie. 

Das  Finale  [Moderato  sostenuto  ed  Allegro  mode- 
•  rato,  V4)  Esdur),  das  die  Stimmung  wieder  ins  Gleich- 
gewicht zurückführt,  besteht  musikalisch  aus  lauter  Re- 
gungen der  Kraft,  Über  die  nur  durch  die  auch  in  der 
Mitte  des  Satzes  wiederkehrende  langsame  Einleitung  ein 
Schatten  fällt.  Zur  vollen  Wirkung  fehlt  es  diesem.  Finale 
an  einem  plastischen  Thema. 
A.  ouzobhow,  Erwähnenswert  ist  auch  eine  Programmsuite  (op.  79) 
Aus  dorn  Mittel- Qiazounows,  die  unter  dem  Titel  »Aus  dem  Mittel- 
'*  altere  vier  Bilder  vorführt,  die  untereinander  •  keinen 
weiteren  Zusammenhang  als  den  gemeinsamen  archa- 
istischen Ton  haben.  Das  erste  (Allegro,  E  raoll,  0/4)  will 
ein  Schloß  und  darin  ein  Liebespaar  zeigen.  Woran 
man  in  der  Musik  das  Schloß  erkennen  soll,  bleibt  das 
Geheimnis  des  Autors,  das  Liebespaar  läßt  sich  schon 
eher  an  dem  Edur  und  an  der  weichen  Melodie  fest- 
stellen. Der  zweite  Satz,  Scherzo  überschrieben  (Allegro 
assai,  V4i  AmoU),  beginnt  mit  Anstreichen  der  leeren 
Quinte  ä*— ^,  deutet  also  auf  Geigenspiel  und  wahrschein- 
lich auf  Tanz.  Der  Geiger  soll  der  Tod  sein,  der  bei 
einem  Jahrmarkt  aufspielt.  Dafür  klingt  auch  die  Musik 
stellenweise  grausam  genug.  Im  dritten  Satz  (Andantino, 
s/4,  Amoll)  wird  ein  Troubadour,  der  ein  Ständchen  bringt, 
ziemlich  glaubhaft  vorgestellt.  Es  hätte  der  obligaten 
Harfe  kaum  bedurft,  die  Echtheit  liegt  in  der  Rhythmik 
der  Melodien,  in  deren  Vortrag  Bläser  und  Geiger  ab- 
wechseln. Das  Finale  (Allegro,  V41  Edur)  ist  ein  Marsch 
mit  rezitativischen   und  andren  Episoden.    Der  Marsch 


_^    649    »^ 

soll  an  die  ausziehenden  Kreuzritter,  die  Episoden,  unter 
denen  ein  Choral  die  Hauptrolle  hat,  sollen  an  anfeuernde 
FQhrer,  an  predigende  Mönche  und  eintreffende  Prozes- 
sionen erinnern. 

Zuweilen  liest  man  von  deutschen  Aufführungen  einer  c«  Cui, 
Suite  miniature  von  Gösar  Cui,  dem  Sprecher  der  Suite  mJniature. 
Neurussen.  Das  ist  ein  halbes  Dutzend  einfachster  Stücke 
in  Lied-  und  Tanzfonnen ,  die  an  Schumanns  Kinder- 
szenen, an  Bizets  jeux  d^enfants  erinnern.  Die  russische 
Herkunft  verraten  sie  in  keiner  Zeile,  sondern  gehören 
nach  Geist  und  Form  zu  den  besten  Früchten  der  französi- 
schen Schule  und  verdienen  wegen  der  liebenswürdigen 
Phantasie  und  der  feinen  Züge  in  der  Gestaltung  weiteste 
Verbreitung. 

Immerhin  ist  dieser  französische  Zug  in  Guis  kleiner 
Suite  ein  Merkmal,  das  in  verschiedener  Form  auch  bei 
den  russischen  Sinfonikern  wiederkehrt.  Von  Rimsky- 
Korssakow  bis  auf  Glazounow  gehen  sie  alle,  bewußt  oder 
unbewußt,  von  Berlioz  aus,  von  seinen  Programmen  oder 
von  seinei)  Bravourstückchen  poetischer  Ballettmusik,  und 
behnudeln  das  Kolorit  und  die  Einlage  einer  oder  meh- 
rerer Unterhaltungsnummem  als  eine  Hauptaufgabe  der 
Sinfoniekomposition. 

Dagegen  erhob  sich  von  Moskau  her,  dem  Sitz  des 
Altrussentums,  eine  Opposition,  und  es  bildete  sich  von 
dem  dortigen  Konservatorium  aus,  wie  schon  erwähnt, 
eine  Moskauer  Schule,  deren  Häupter  A.  Scriabine  und 
S.  R  ach  man  in  ow  sind.  Sie  faßt  die  Sinfonie  als  Ge- 
mälde seelischer  Zustände  auf  und  verlangt  eine,  mit 
Verwerfung  aller  Zugeständnisse  an  Herkommen  und 
Publtkumsgeschmack,  charakterstreng  und  mit  gleich- 
mäßiger Hingabe  und  Gründlichkeit  durchgeführte  Arbeit. 
Das  ist  im  Grunde  das  alte  Ideal  der  Wiener  Klassiker 
und  derjenigen  deutschen  Sinfoniker,  die  noch  auf  Beet- 
hovenschem  Boden  stehen.  Doch  unterscheiden  sich  die 
Moskauer  von  Brahms,  Draeseke  und  Genossen  dadurch, 
daß  sie  auf  die  von  Haydn  eingeführte  thematische  Arbeit 
im  Sinne  der  prinzipiellen  Ausnützung  kleinster,  gelegent- 


-^    650    ♦— 

lieh  unwesentlicher  Satzteile  keinen  Wert  legen.  Statt 
dessen  bringen  sie,  wie  es  Liszt  angebahnt  hat,  die  The- 
men im  vollen  Umfang  wieder,  aber  in  immer  neuer 
Beleuchtung  und  in  äußerlicher  und  innerer  Umgestaltung. 
Unter  die  verwerflichen  Zugeständnisse  rechnen  sie  auch 
die  Verwendung  russischer  Volksmusik,  gleichviel  ob  in 
der  charaktervollen  Weise  Borodins  oder  in  der  mehr 
spielerischen  Tschaikowskys.  Russisches  Wesen  kommt 
dabei  noch  vollauf  genug  zur  Geltung,  es  äußert  sich 
aber  nur  geistig  in  der  Stimmung  und  Tendenz  der 
Themen  selbst  und  noch  mehr  in  ihrer  Entwicklung.  In 
der  Stellung  zum  Programm  läßt  die  Schule  Freiheit 
A.  SeriabUe,  Von  Scriabines  Sinfonien  hat  die  zweite  (Cmoll)d6n 
Zweite  Sinfonie  größten  Erfolg  gehabt  und  sich  auch  im  Ausland  die 
(Op.29).  Anerkennung  erworben,  die  einem  bedeutenden  und 
eignen  Werke  gebührt.  Der  Komponist  zeigt  in  ihr,  wie 
ein  von  Trauer  und  Schmerz  ergriffnes  Gemüt  zur  Läu- 
terung gelangt,  und  enthüllt  sich  dabei  als  eine  außer- 
ordentlich  weiche  und  zum  Oberschwang  der  Gefühle 
geneigte  Künsllernatur  modernster  Art  0er  (hundriß  der 
Sinfonie  ist  fünfsätzig,  da  aber  der  erste  eng  mit  dem  zweiten 
und  der  vierte  ebenso  mit  dem  fünften  Satz  zusammen- 
hängt, besteht  sie  tatsächlich  nur  aus  drei  Nummern. 
Der  erste  Satz  (Andante,  Gmoll,  C)  ist  eine  kurze 

Phantasie  Andantfl.  . ^      ,.    ^     Ihr     dnm- 

über  das -%yt^,y^\^^^  1?[p'  pp  ffj\  ^^ pfer  Ton 
Thema:  iSuj»  *    ^  macht  nur 

vorübergehend  einer  hellem  und  erregteren  Episode  in 
C  dur  Platz,  die  einem  Rückblick  oder  Ausblick  auf  freu- 
digere Tage  gleicht  und  zu  einem  Obergang  nach  Es  dur 
veranlaßt  Der  zweite  Satz  (Allegro,  Es  dur,  o/g)  bringt 
die  angekündigte  Tonart,  aber  in  seinem  Hauptthema: 

Es    Ces  Es     Ces  Es  CesuesCesCesEs  Ces    Es     As 

keine  Beruhigung,  sondern  einen  Aufruhr  trüber  Gefühle, 
der  schon  in  den  Rhythmen  des  vierten  Taktes  einen 


--♦    651    ^ 

erschreckenden  Charakter  zeigt.  Das  Thema  gibt  im 
Kiemen  ein  Bild  des  ganzen  Satzes,  nach  seinem  Wesen 
sowohl,  wie  nach  seinen  Mitteln.  Er  wühlt  bis  zum 
Äußersten  in  Schmerz  und  Qualen,  und  der  Dissonanzen, 
namentlich  der  Vorhalte,  weicher  und  unbarmherziger,  ja 
bis  zur  Brutalität  harter,  ist  kein  Ende.  Man  lechzt 
stellenweise  nach  einem  reinen  Dreiklang  und  steht  einer 
Orgie  der  Sentimentalität  gegenüber,  die  Wagners  >Tri- 
stan«  überbietet  und  die  eine  wahre  Sehnsucht  nach  dem 
weinerlichen  Spohr  erwecken  kann.  Unter  Aristoteles 
wäre  derartige  Musik  konfisziert  worden,  denn  sie  ist  un- 
gesund und  wirkt  auf  die  Dauer  demoralisierend.  Auch 
das  zweite  Thema: 


j¥tD.h|.qp.ij  jii^j  ßfHry  pir'iiJ  ffri?rjrj.i»,i.j-.].  i 


Cei B 1_   B »8  As 

befreit  nicht  aus  diesem  Engpaß  des  Grams  und  der  Dis- 
sonanzen. 

Wo  wir  Licht  zu  sehen  glauben,  da  klingt  alsbald  das 
Hauptthema  des  ersten  Satzesr  die  Trauerbotschaft,  mit 
verwilderten  Zügen  wieder  herein,  und  so  oft  das  freund- 
lichere Es  dur  sich  durchzusetzen  scheint,  immer  und  bis 
ans  Ende  wird  es  von  dämonischen  Akkorden  nochmals 
bestritten.  So  ist  dieser  erste  Satz  der  Sinfonie  ein  un- 
erhört grausames  Stück  Kunst,  aber  die  Zähigkeit  und 
die  modulatorische  Virtuosität,  mit  welcher  äer  Kompo- 
nist seine  Absicht  verwirklicht,  zwingt  zum  Respekt,  und 
schließlich  geht  der  Zuhörer  auch  nicht  ganz  leer  an 
schönen,  einfach  herzlichen  Stellen  aus. 

Der  dritte  Satz  (Andante,  Edur,  0/3)  der  Sinfonie, 
der  eigentlich  ihr  zweiter  ist,  läßt  sich  wie  eine  Idylle  an, 
wir  hören  in  der  Flöte  sogar  anheimelndes  Vogelgezwit- 
scher. Er  bleibt  auch  bei  durchaus  freundlich  schwärme- 
rischen Melodien,  die  von  Liebe,  Jugend  und  Glück 
träumen  und  sagen,  er  entzückt  oft;  aber  auch  er  hält 
an  einem  Ton  des  Oberschwanges,  der  harmonischen 
Oberreizung  und  Kompliziertheit  fest,  der  sich  mit  aus 
dem  allzustarken  Einfluß  erklärt,  den  Wagners  Stil  auf 


_^     652    ♦— 

Scriabine  ausgeübt  hat  Der  vierte  Satz  (Tempestoso, 
Fmoll,  ^/g)  stellt  sich  zu  dem  vorausgegaagenen  An- 
dante im  scharfen  Gegensatz  und  gibt  ein  keckes  und 
aufregendes  BUd  äußrer  und  innrer  Stürme.  Soweit  er 
aus  Naturmalerei  besteht,  darf  er  als  ein  Seitenstück  zu 
dem  »Walkürenritt«  bezeichnet  werden,  und  ,teilt  zwar 
nicht  dessen  Pathos,  aber  die  Energie,  mit  der  eine  ein- 
fache, Wind  und  Wetter  abgelauschte,  erst  leicht  stoßende, 
dann  wütend  heulende  Figur  festgehalten  und  in  ihren 
wechselnden  Launen  durchgeführt  wird.  In  der  Mitte 
unterbricht  den  Sturm  eine  bittende  und  klagende  Melodie, 
die  noch  rührender  wirken  würde,  wenn  der  Komponist 
sich  hätte  von  seinen  unvermeidlichen  Vorhalten  trennen 
können.  Sie  bereitet  die  innerlichste  und  schönste  Stelle 
des  Satzes  vor,  die  Wiederkehr  des  Hauptthemas  des 
ersten  Satzes  und  seiner  freundlichen  Episode  in  Gdur. 
Diese  leitet  jetzt  in  das  Finale,  den  fünften  Satz  (Mae- 
stoso, Gdur,  G)  über.  Ihn  beherrscht  ebendasselbe  Haupt- 
thema, aber  in  heroischer  Gestalt: 

^  Maestoso.     >  ^ 

F"ii  I  ii'  II h  ' )  i'p\v->ijr  1^"*  r   "'■ 

C gi       C E     A 

Wohl  tauchen  noch  Reminiszenzen  an  Kampf  und 
Schmerzen  auf,  aber  der,  auch  von  dem  an  und  für  sich 
unbedeutenderen,  zweiten  Thema  unterstrichne  Grundton 
ist  der  des  Friedens,  der  Resignation,  der  ruhigen  Kraft. 
Nur  die  allerletzten  Takte  nehmen  eine  triumphierende 
Miene  an. 
A.ScriftblBs,  Die  noch  wenig  bekannte  dritte  Sinfonie  des  Kom- 

Dritte Sinfonie  ponisten,  sein  Opus  43,  führt  ein  Programm,  >Le  divin 
^^"''  po^me,  in  drei  Sätzen  (Lüttes,  Volupt6s,  Jeu  divin)  durch, 
die  ohne  Pause  aneinanderschließen.  Die  Entwicklung 
ihrer  Musik  bewegt  sich  völlig  in  den  schärfsten  Kon- 
trasten, sie  ist  aber  im  Stil  weit  einfacher  als  ihre  Vor- 
gängerin und  zeigt  sehr  erfreulich,  daß  der  Künstler  auch 
mit  normaler  Harmonie  Bedeutendes  zu  sagen  weiß. 

Trotzdem  ist  sie  von  der  deutschen  Kritik  als  über- 
künstlich,  überlang  und  bar  aller  Proportionen  abgelehnt 


_^    653    «^ 

undmitnocli  größter  Härte  als  der  zweiten  Sinfouie  des  Korn* 
ponisten  Redseligkeit  und  Trivialität  vorgeworfen  worden. 

Den  Hauptbeweis,  daß  moderne  Alltkren  nicht  zum 
Wesen  der  Moskauer  Schule  gehören,  bieten  die  Werke 
Sergei  Rachmaninows,  bei  denen  .der  Zusammenhang 
mit  den  Klassikern  der  Gattung  klar  zutage  tritt.  Seine 
persönliche  Bedeutung  liegt  in  der  Stärke  der  musikali- 
schen Naturkraft  und  wird  am  deutlichsten  in  der  E  moll-  8.B»ehniaBiBow, 
Sinfonie  offepbar,  die  im  Verein  mit  einem  Klavierkonzert  Emoii-Sinfonic. 
zuerst  seinen  Namen  über  die  heimatlichen  Grenzen  ge- 
tragen hat  In  der  Kunst,  mit  den  Elementarwirkungeh 
der  Musik,  mit  Ausklingen  und  Anschwellen  zu  fesseln, 
steht  er  auf  gleicher  Höhe  wie  A.  Brückner,  in  der  Er- 
findung seiner  Grundideen  ist  ihm  das  Glück  nicht  immer 
treu,'  auch  ihre  Entwicklung  scheint  von  der  Gunst  des 
Augenblicks  abhängig,  bleibt  aber  immer  logisch. 

Der  erste  Satz  dieser  Sinfonie  hat  eine  langsame 
Einleitung,  die  mit  Motiven  schlichter  Art  —  unter  ihnen 
eine  Achtelfigur,  die  wichtig  wird  —  den  Übergang  von 
träumerischem  Sinnen  zu  einer  regen  Tätigkeit  der  Phan- 
tasie vorführt.  Sie  beginnt  ruhig  und  schließt  noch 
ruhiger,  dazwischen  aber  üegt  ein  Stück  Begeisterung, 
das  einmal  in  die  kühne  Akkordfolge  Hdur-Bdur  aus- 
bricht; es  ist  als  ob  ein  alter  Mann  sich  entschlossen 
hätte,  aus  seinen  Erinnerungen  mitzuteilen.  Im  Allegro 
moderato  (E  moll,  &,)  kommt  die  Erzählung,  und  zwar  zu- 
nächst in  einer  Art  Bardenton,  die  an  den  jungen  Gade 
erinnert.  Vier  Takte  wird  nur  präludiert,  dann  set^  das 
Hauptthema 


an  die  Einleitung  anknüpfend,  balladenmäßig  ein,  wird 
variiert  wiederholt  und  dann. mit  Triolenmotiven  ergänzt, 
die  einen  ritterlichen  Gharaktisr  haben  und  anzudeuten 
scheinen,  daß  es  sich  um  Heldengestalten  und  ihre  Aus- 
fahrt handelt.  Mit.  dem  zweiten  Thema  (in  Gdur) 
meldet  sich  das  Glück  in  origineller  Art:  Oben  in  Oboen 


i 


-^    654    ^^' 

und  Klarinette  knappeste  Naturiaute,  die  den  Gesang  im 
Herzen  nur  markieren,  unten  in  den  Geigen  ein  leiaes» 
fröhliches  Schwärmen.  Erst  bei  der  Wiederholung  wird 
ans  dieser  Skizze  eine  ausgebildete,  warm  drängende 
Melodie,  und  wie  in  stiller  Seligkeit  schließt  die  Themen- 
gruppe. Die  Durch fQlirung  ist  die  Stätte  von  Widerständen 
und  Schwierigkeiten,  deren  Darstellung  in  der  •  ersten 
Hälfte  matt  ist  und  erst  dem  Ende  zu  etwas  in  Schwung 
gerät  In  der  Reprise  zeichnet  sich  die  zum  zweiten 
Thema  gehörige  Gruppe  (eine  Episode  in  Edur)  ganz 
außerordentlich  aus  und  zeigt  den  ganzen  Reichtum  des 
Komponisten,  seine  Zartheit  und  sein  Feuer,  in  immer 
gleich  schönem  und  natürlichem  Fluß.  Auch  über  den 
zweiten  Satz  (AUegro  molto,  Amol!,  (^)  liegt  eine  Art  Pa- 
tina  Schon  die   ^  Allegro. 

Harmonie  des  ^<»|  j  J  J  |  ,J.  J  |  J.  J  | .]  i  |  ^ 
Hauptthemas:  J^ 

das  ebenfalls  akkordisch  präludiert  wird,  versetzt  mit  dem 
alten  Kirchenton  in  alte  Zeiten.  Sein  harter,  reckenhafter 
Humor  macht  zunächst  auf  einen  Augenblick  einer  from- 
men Weise  Platz,  dann  kommt  an  Stelle  des  üblichen 
Trio  —  denn  der  Satz  ist  das  Scherzo  der  Sinfonie  — 
ein  wild  phantastischer  Teil,  den  ein  ruheloses  Achtel- 
motiv von  Anfang  bis  Ende  durchsaust  Die  firomme 
Weise  gibt  nach  der  Reprise  des  Hauptthemas  dem  Ende 
des  Satzes  das  Gepräge. 

Um  den  erzählenden  Charakter  festzustellen,  beginnt 
auch  der  dritte  Satz  (Adagio,  Adur,  G)  mit  einigen  Tak- 
ten Präludium.    Dann  setzt  die  Klarinette  mit: 

Adagio» 


^  poeo  riL  dim. 

einer  jener  Melodien  ein,  die  zwar  nicht  russisch,  aber 
entschieden  volkstümlich  und  für  Rachmaninow  bezeich- 
nend und  von  biographischer  Bedeutung  sind.  Aus  die- 
sem Hauptthema  spricht  schlicht  sinnige  Zufriedenheit, 
der  Satz,  der  sich  aus  ihm  entwickelt,  hat  nichts  von 
dem  Dberschwang  modemer  Adagios,  er  malt  traulich  und 


— t    6B6    ^>^ 

Jean-Paülisch  ein  Glück  in  der  Beschränkung.  Nur  ein- 
mal —  nach  dem  überraschenden  Gdur-Schluß  —  kommt, 
von  kurzen,  suchenden  Dialogen  eingeleitet  und  durch- 
brochen, eine  Stelle,  wo  sich  die  sonst  gut  bürgerliche 
Szene  dramatisch  belebt  Und  die  Wogen  höher  ausschla- 
gen. Sie  ist,  ähnlich  wie  der  Mittelteil  des  vorausge- 
gangnen  Scherzos  als  Vision  gemeint,  aber  in  dem  schön 
friedlichen  Schluß  des  Satzes  klingt  ihr  Sechzehntelmotiv 
nochmals  hinein.  Legt  man  der  Sinfonie  das  Programm 
einer  Ausfahrt  unter,  so  führt  dieses  Adagio  in  die  ver- 
lassene Heimat. 

Wie  die  vorigen  Sätze  ist  das  Finale  (AUegro  vivace, 
Edur,  (^}  ebenfalls  mit  einer  kurzen  Einleitung  versehen. 
Es  sind  einige,  später  oft  wiederkehrende  Takte  stürmi- 
schen Jubels,  die  den  Grundzug  des  Satzes  feststellen. 
Das  Hauptthema  tritt  zuerst  in  erregter  Gestalt 


|Vi<imiyrrfi 


xr 

auf,  später,  kommt  es  in  der  breitren   und  faßlicheren 
Variante : 


Seine  erste  Entwicklung  gleicht  einem  Triumphzug  in 
vollstem  Glanz  und  strotzender  Kraft,  bis  eine  plötzliche 
Modulation  nach  Gis  moU  eine  Stockung  hervorruft. 
Man  hört  aus  der  Feme  einen  Militärmarsch  von  unver- 
kennbar primitivem  Charakter.  Dieser  Zwischenfall,  der 
die   Heimkehr   der  Sieger  bedroht,    wird   erledigt   und 

das  Resultat  mit,^,^,,,^^  ^ .    ,    .  ,        ,    t   , 

dem  zweiten  The-^^l^^  Tf^f  ^  ^  J.'^  T  J  ^^=^ 
ma  des  Satzes:  ^^^^— ^ 

ausgesprochen.  Es  führt  auf  einen  kurzen  Augenblick 
den  Anfang  des  Adagio  zurück:  Die  Heimat  lockt  mäch- 
tig und  nahe.  Man  bricht  vom  neuen  auf,  das  Haupt- 
thema erfährt  eine  neue  Durchführung,  aber  unter  dem 
Zeichen  der  Vorsicht,  bis  dann  die  Reprise  einsetzt   Sie 


^^    656    <^^ 

erhält  eine  sehr  schöne  Nuance  durch  den  Zutritt  des 
Hauptthemas  des  zweiten  Satzes,  das  Thema  der  Helden« 
lust;  und  klingt  in  hellster  Freude  aus.  Der  poetisch 
sinnig  entworfne  Satz  bietet  dennoch  dem  Zuhörer 
durch  seine  Länge  und  durch  einige  schwächer  erfundne 
Stellen  einige  Schwierigkeit 

Erfreulicherweise  zeigt  sich  unter  denjenigen  russi- 
schen Tonsetzem,  deren  Sinfonien  fOr  die  Öffentlichkeit 
und  für  das  Ausland  noch  in  zweiter  Linie  stehen,  ein 
starker  Anhang  Rachmaninows.  Der  hervorragendste  Ver- 
treter der  von  ihm  eingeschlagenen  Richtung  auf  Klarheit, 
^\.  ZoiotArew,  Einfachheit  und  die  Ziele  der  Klassiker  ist  W.  Zolotarew, 
lia  moiusinfonie.  (Jen  wir  Seltsamer  Weise  zuweilen  auch  unter  den  Vertretern 
der  Petersburger  Partei  verzeichnet  finden.  Seine  FismoU- 
Sinfonie  (op.  8)  nähert  sich  im  Andante  fast  der  Schlicht- 
heit Haydns,   ohne  jedoch  die  moderne  Zeit  und  ihre 
Erregbarkeit  zu  verleugnen.    Oberall,  beim  leidenschaft- 
lichen Ringen,  ebenso  wie  beim  weichen  Sinnan  und 
Sehnen  nimmt  der  Komponist  durch  die  ernste,  innerliche 
Wärme  de»  Vortrags  ein. 
H*.  KaUffttl,  Nahe  steht  ihm  Wassili  Kalafati,  dessen  Amoll- 

A  iiion-sinfoni«.  Sinfonie  (op.  12}  mit  dem  Rachmanninowschen  Haupt- 
werk die  Verknüpfung  getrennter  Sätze  gemeinsam  hat 
Stellenweise  versetzt  uns  die  Sinfonie  Kalafatis  in  die 
Mendelssohnsche  Zeit,  seine  Selbständigkeit  spricht  außer 
aus  der  immer  soliden,  oft  zu  sehr  ins  Kleine  gehen- 
den Arbeit  namentlich  aus  dem  knorrigen  Scherzo.  Auch 
K.  MiyuartU,  Emil  Mlynarskis  F dur-Sinfonie  (op.  14)  gehört  teil- 
F  dur-Siofonie.  weise  mit  auf  das  Konto  des  Moskauer  Meisters,  dem 
Meinarski  in  der  Kunst  des  poetischen  Verklingens 
sioniger  Motive  folgt  Zum  größren  Teil  repräsen- 
tiert der  Komponist  den  Naturalismus  unter  den  russi- 
schen Musikern  von  seiner  Schattenseite,  nämlich  die 
übermäßige  Betonung  von  Präliminarien  und  Neben- 
sachen. Um  im  Scherzo  der  Sinfonie  nach  der  Haupt- 
tonart,  nach  HmoU,  zu  kommen,  braucht  er,  von  As  be- 
ginnend, zehn  Partiturseiten,  ohne  damit  irgend  etwas 
Wichtiges  zu  bieten.    Der  gleiche  Eindruck  des  Gesuchten 


-^     657 

begegnet  uns  noch  mehrmals;  ^amentücb  die-  Melodik 
geberdet  sich  gern,  als  wären  ihr  die  Halbtöne  nicht 
fein  genug. 

Wenn  Meinarski  im  Adagio  rassisch  nationale  Mo- 
tive verwendet,  steht  er  mit  dieser  Ausnahme  unter  den 
Moskauern  nicht  allein;  auch  bei  ihnen  finden  sich  An- 
hänger Öorodins,  in  der  russischen  Musik  überhaupt  aber 
haben  seine  Prinzipien  noch  einen  ebenso  breiten  wie 
festen   Boden.     Einer   ihrer   begabtesten   Vertreter    ist 
Wassili  Kalinnikow,  besonders  in  seiner  ersten,  einer  )r.  KUlnnlkow, 
Gmoll-Sinfonie.     Seine  zweite,  die  Adur-Sinfonie,  baut     Sinfonien  in 
zwar  ihre  vier  Sätze  über  ein  Lied  des  Komponisten,  das®"**^"  ""*  ^^"'• 
ganz  den  russischen  Typus  zeigt,  läßt  aber  des  weitren 
die  nationalen  hinter  die  individuellen  Züge  zurücktreten. 
Unter  ihnen  ragt  ein  dezenter  und  dem  Anschein  nach 
an  Glinka  geschulter  Humor  besonders  hervor. 

Noch  unbedingter  gibt  sich  der  zuweilen  den  Mos-     >•  Ciliar«, 
kauern  eingereihte  R.  Gliöre  als  Borodinianer.    Wenig- ^ ^"'"S^"'®'**«- 
stens  in  seiner  Esdur-Sinfonie  (op.  8);  ihr  zweiter  Satz, 
ein  ebenso  natürlich   erfundner,  wie  durchgeführter  an- 
mutig naiver  s/4  Takt  hat  bedeutenderen  eignen  Wert. 

Unter  den  jüngeren  Vertretern  der  russischen  Schule,  8.  stojontky, 
die  eine  freie  Stellung  behaupten,  verdient  Sig.  Sto-l^™oiiSmfonie. 
jowsky,  ein  gebürtiger  Pole,  als  ein  großes  und  vor- 
nehmes Talent  hervorgehoben  zu  werden  und  zwar  auf 
Grund  seiner  Dmoll- Sinfonie  (op.  21),  die  in  ihren  vier 
Sätzen  eine  Persönlichkeit  zeigt  und  in  allen  eine  aus 
der  Tiefe  geschöpfte  und  wirklich  innerlich  erlebte  Musik 
bringt.  Besonders  prägen  sich  die  schönen  langen  Melo- 
dien und  die  faßlichen,  wie  Geberden  wirkenden  Rhythmen 
der  Leidenschaft  im  ersten  Satze  ein,  ähnhch  auch  der 
'finstre  Charakter  des  Scherzo  und  die  kleinen  Brocken 
Trost,  die  sich  von  ihm  so  scharf  und  wohltuend  ab- 
heben. Aus  dem  äußren  Stil  der  Sinfonie  treten  die 
zahhreichen  Bläsersoli  hervor. 

Der  Sinfonie  ist  eine  dreisätzige  Suite  in  Esdur  (op.  9),  g.  stojowdky, 
vorausgegangen,  die  im  ersten  Satz  Variationen  über  ein  Huite  in  £&. 
russisches  Thema  mit  leichter  Anlehnung  an  die  Haydn- 

Kreixiclimar,  Ffihrer     T,  I.  42 


-^    658    ^— 

yariationen  von  Brahms  entwickelt,  in  den  weitren  Sätzen 
kühn  und  dramatisch  polnische  Melodien  verarbeitet 
H. stelBiberg»  Auch  eine  D dur-Sinfonie  (op.  3],  von  Maximilian  Stein- 
D  dnr^Sinfonie.  b  e  rg  verdient  hier  noch  wegen  ihres  engen  Anschlusses 
an  Glazounow  Erw&hnung.  Der  Schüler  kommt  dem 
Meister  in  der  eifrigen  und  geschickten  Pflege  kleiner 
Satzkünste  ziemlich  nahe  und  übertrifft  ihn  in 'der  Ge- 
nügsamkeit der  thematischen  Erfindung  und  der  Ideen^ 
richtung.  Das  eigne,  elegische  Talent  Steinbergs  kommt 
am  deutlichsten  beim  zweiten  Thema  des  ersten  Satzes 
zum  Vorschein. 

Noch  darf  unter  den  beachtenswerten  russischen  Sin- 
i\  Biamemfeld«  fonikern  F.  Blumen  fei  d  angeführt  werden.  Der  Reich- 
tum an  tücbtig  gebildeten,  von  Einseitigkeit  freien  Durch* 
Schnittstalenten,  sichert  der  russischen  eine  bedeutende 
Weiterentwickelung  und  das  Primat  unter  den  nationalen 
Schulen. 


•  •  «•  ^  •  •  •  • 


V. 

Die  moderne  Suite  und  die  neueste  Ent- 
wiclcelung  in  der  Iclassischen  Sinfonie. 


|ie  Werke  der  Nationalen  und  der  Programmusiker 
bilden  einen  wichtigen  Teil  in  der  sinfonifichen 
Produktion  der  letzten  Jahrzehnte,  jedoch  reprä- 
sentieren sie  nicht  die  H&uptströmung.  Diese  hält  viel- 
mehr immer  noch  an  den  Traditionen  fest,  welche  in  den 
Werken  Beethovens  und  der  Romantiker  niedergelegt 
sind.  Ja,  mitten  in  der  bewegtesten  Zeit  des  Streites, 
welcher  sich  um  den  Wert  und  die  Berechtigung  der  neuen 
Programmusik  erhob,  um  das  Jahr  1860,  lebte  plötzlich 
eine  Kunstgattung  wieder  auf,  deren  Blütezeit  nodi  hinter 
den  Tagen  der  Wiener  Klassiker  zurückliegt  Es  ist 
die  schon  im  vorhergehenden  Kapitel  wiederholt  be- 
rührte Suite. 

Die  Wiedereinführung  der  Suite  entsprach  dem  prak- 
tischen Bedürfnisse  nach  einer  einfachen  musikalischen 
Naturkost,  dem  Verlangen  nach  größeren  Orchesterkom- 
positionen, welche  sich,  wie  die  Sinfonie,  in  großen 
Formen  bewegen,  den  Geist  aber  mit  schwerer  Gedanken- 
arbeit und  den .  Strapazen  unserer  hohen  Kultur  ver- 
schonen sollten.  Daß  man.  mit  dieser  humanen  Mission 
gerade  die  alte  Suite  betraute,  war  eine  weitere  Wirkung 

42* 


-^    660    ♦^ 

jenes  hiitorischeo  Siones,  welcher  seit  dem  Yorfehen 
Mendelssohns  die  Mosikwelt  stärker  sn  durchdringen  be- 
gann und  welcher  in  den  Gesamtansgaben  imd  Einsel- 
ansgaben Yon  Weri^en  Uterer  Meister,  in  d»  Grflndong 
nnd  Tätigkeit  der  Tonkünstlenrereine  immer  mehr  Aus- 
druck und  zugleich  Förderang  fiand.  Es  war  ein  Jahr- 
sehnt  lang  der  Hauptfehler  der  modernen  Suite,  daß  man 
ihr  das  historische  Studium  und  die  Abhängigkeit  von 
alten  Mustern  zu  deutlich  ansah.  Die  alte  deutsche  Or- 
chestersuite bildete  den  Sammelplatz,  auf  welchem  sich 
die  charakteristischen  Tanz-  und  Liedweisen  aller  Nationen 
zusammenfanden.  Davon  ausgehend,  hätten  die  moder- 
nen Suitenkomponisten  sich  in  erster  Linie  danach  um- 
sehen mikssen,  was  das  19.  Jahrhundert  an  kflnstlerisch 
verwendbaren  Elementen  der  Volksmusik  bietet  Und 
daß  es  solche  bietet,  hatte  Chopin  bewiesen.  Statt  dessen 
kopierte  aber  die  Mehrzahl  die  Sarabanden,  Giguen,  Cou- 
ranten,  Allemanden  der  Bachschen  Klaviersuite,  trug 
aus  der  neueren  Zeit  ein  Scherzo,  wenn  es  hoch  kam, 
einen  Marsch  herbei  und  vervollständigte  das  Ganze  mit 
Variationen  und  Fugen.  Der  oft  mißverstandene  kontra- 
punktliche Stil  der  Alten  wurde  ersichtlich  höher  ange- 
schlagen als  das  volkstümliche  Prinzip  ihrer  Suite. 

Das  Verdienst,  als  der  erste  nach  hundert  Jahren 
wieder  Suiten  geschrieben  zu  haben,  hat  Joachim  Raff 
ffir  sich  in  Anspruch  genommen*.  Der  Hauptanteil  an 
der  Neubelebung  und  Einf&hrung  der  alten  Kunstfonn 
muß  j edoch  FranzLachner  zugeschrieben  werden.  In 
der  Sinfonieperiode  der  dreißiger  Jahre  von  den  Preis- 
richtern, nicht  aber  vom  Publikum  ausgezeichnet,  fand 
dieser  Tunsetzer  noch  spät  in  der  Suite  einen  Wirkungs- 
kreis, auf  welchem  er  viele  Freude  bereitet  und  seinem 
Namen  ein  bleibendes  Andenken  erworben  hat  Auch 
Lachner  gehört  der  kontrapunktischen  Richtung  der  mo- 
deraen  Suite  an.  Aber  die  wirklich  volkstümliche  Natur 
seines  Talents  äußert  sich  bei  ihm  auch,  gerade  wie  bei 


*)  Siehe  M.  Uauptmaun,  Briefe  an  F.  Heuser  II,  249. 


■ 

den  Alten,  in  der  strengen  Form.  Seine  Fugen  sind 
frisch  und  kräftig,  frei  und  effektvoll.  Lachner  hat  sogar 
für  die  moderne  Weiterbildung  dieses  ebenso  schwierigen 
als  interessanten  Stils  wertvolle  Fingerzeige  und  An- 
regungen gegeben.  Lachner  spricht  echten  Suitenton: 
auch  wo  er  gelehrt  wird,  bleibt  er  klar  und  verständlich; 
wenn  es  nicht  anders  geht,  ist  er  lieber  trivial  als  ge- 
kfinstelt,  und  der  Undeutlichkeit  geht  er  so  sehr  aus  dein 
Wege,  daß  er  sich  darüber  oft  ins  Redselige  und  Breite 
verliert.  Eine  besondere  Spezialität  in  seinen  Saiten 
bilden  die  Märsche.  Sie  zeichnen  sich  aus  durch  eine 
einfach  kernige  Rhythmik  und  durch  eindringliche  Me- 
lodien, welche  gelegentlich  mit  aparten,  blühenden  Fi« 
guren  gewürzt  sind.  Oft  sind  diese  Märsche  gar -nicht 
deklariert  und  segeln  unter  der  Flagge  von  Ouvertüren 
und  Intermezzos.  Aber  auch  an  traulichen  Idyllen  sind 
die  Lachnerschen  Suiten ' reich.  Eine,  im  besten  Sinne 
des  Wortes,  gute  bürgerliche  Poesie  beherrscht  die  Mehr- 
zahl seiner  Menuetts  und  Andantes.  Die  Sprache,  welche 
er  in  ihnen  vorzugsweise  spricht,  erscheint  aus  den 
Idiomen  der  alten  Wiener  Schule,  speziell  dem  F.  Schuberts, 
dann  denen  Spohrs  und  Mendelssonns  als  ein  neues  Viertes 
hervorgegangen. 

Unter  den  sieben  Suiten  Lachners  ragt  die  erste  p.  Laehmer, 
(Dmoll)  durch  Wert  und  Popularität  hervor.  Ihr  erster  Suite  Nr.  i 
Satz  besonders,  ein  »Präludiumt,  in  welchem  das  Thema/         Op.113). 

Alleg^TO  non  tro] 

mit  Kraft  und  Kunst  durchgeführt  wird,  ist  einer  der 
effektvollsten  Sätze  in  der  neueren  Suitenliteratur:  natur- 
frisch und  mit  manchem  kecken  Harmoniesprung  dahin- 
fließend, originell  und  individuell  in  seiner  Mischung 
von  Derbheit  und  Anmut,  nur  leider  zu  breit  und  un- 
gleich ausgeführt.  Der  zweite  Satz,  das  künstlerische 
Hauptstück  der  ganzen  Suite,  ein  Menuett,  ist  eins 
der    liebenswürdigsten    Rokokobilder    in    romantischer 


'j 


662 


Färbung.     Der  Hauptsatz   tänzelt   auf  folgender  Melo- 
die hin: 


AUei 


troypo 


Das  Trio  hat  dieselbe  Grazie,  aber  mehr  Ghorcharakter, 
als  ob  Massen  anträten.  Sein  Thema  wird  von  einer  Art 
von  Basso  ostinato  gravitätisch  begleitet: 


•(•. 


Der  dritte  Satz  besteht 
aus  einem  Zyklus  von  Va- 
riationen, welchen  folgen- 
des Thema  zu  Grunde  liegt: 


AUerro  Bio<l«nfto. 

•5«^    TL 


■■1,1,   r^f■f^r■^vr^rl^lll^f■rpüu]lu 


fycdu 


II I  ^r^-|i  i^rifrrmTrrrir-^g^ 

Die  Bratschen  begleiten  es  in  der  oberen  Oktave.  Die 
Variationen  —  23  an  der  Zahl  —  sind  vorwiegend  im 
älteren  Stil  gehalten  und  entfernen  sich  niemals  weit 
vom  Thema,  welches  in  andere  Tempi  und  Taktarten  ge- 
setzt, mit  wechselnden  Figuren  umkleidet,  aber  einschnei- 
denderen Umbildungen  nicht  unterzogen  wird.  Einzelne 
üben  trotzdem  die  tiefere  Wirkung  von  Charakterstücken 
aus,  andere  sind  als  virtuoses  Spielwerk  zu  betrachten, 
ein  dritter  Teil  ist  gänzlich  veraltet  und  wertlos.  Den 
Zyklus  beschließt  ein  Marsch,  welcher  über  den  Verband 
der  Suite,  zu  welcher  er  gehört,  und  aus  den  Konzert- 
sälen hinaus  in  die  Volkskapellen  gedrungen  ist.  Sein 
direkt  an  Ä.  Eberls  Ddur- Sinfonie  erinnerndes  Thema, 
welches  zuerst  wie  aus  weiter  Ferne  hörbar  wird,  genügt 
allein,  um  diese  Popularität  zu  erklären: 


663 


Luise  von  Kobell 
hat  in  ihren  Erin- 
nerungen erzählt, 
wie  die  hübsche  Sechzehntelfigur,  die  dem  Thema  seine 
Eigentümlichkeit  gibt,  von  einer  Vogelstimme  stammt, 
die  Lachner  einen  Sommer  lang  auf  seinen  Münchner 
Morgenspaziergängen  begrüßte.  Das  Finale  der  Suite, 
ihr  vierter  Satz,  besteht  aus  einem  wehmütigen  Andante 
als  Einleitung  und  einer  sehr  steitbaren  Fuge  über  folgen- 
des Thema: 


CvalraMM«  Cdll  fkf. 

Die  zweite  Suite  Lachners  (Emoll)  hat  unter  ihren  F.LMimer« 
fünf  Sätzen  zwei  Fugen,  welche  beide  durch  eigentümliche  8^^«  ^'*  ^ 
Anlage  interessieren.   Die  eine  in  der  Gigue  durch  die  ein-^^"'*^  ^-  *^*^ 
gelegten  homophonen  Partien  und  die  dramatisch  schwung- 
vollen Steigerungen  am  Schluße,  die  andere  im  ersten 
Satze  durch  die  poetische  Verbindung,  welche  sie  mit  der 
melancholischen  Introduktion  eingeht:  In  dem  Moment,  wo 
der  Satz  abschließen  könnte,  ^^^  ^  ^,  ^      ^ 

taucht  das  leidenschaftliche  ^^^^^^f^L£st/ 1  ^  f  ■ 
Anfangsmotiv  der  Einleitung  t  ui^»== 
auf,  setzt  sich  als  zweites  Thema  fest,  und  die  Fuge 
wird  zur  Doppelfuge.  Der  Menuett  dieser  Suite,  dessen 
Trio  ein  graziöser  Kanon  zwischen  Violine  und  Bratsche 
ist,  nähert  sich  dem  Charakter  der  Mazurka,  das  Interr 
mezzo,  namentlich  im  Mittelsatze,  dem  Marsch. 

Die  dritte  Suite  Lachners  (Fmoll)  beginnt  mit  einem  F.LMhaer, 
>Präludium«  im  müden  Ton.     Ihr  zweiter  Satz,  Inter-   Saite  Nr. s 
mezzo,  überdeckt   eine  tiefe  elegische  Stimmung,  aus  (^"^^^i^'-^^^^ 
welcher  zuweilen  pathetische  Klagen  hervorbrechen,  mit 
einem  leicht  tändelnden  Motiv.     Die  Sarabande  bildet 
eine  ähnliche  Verbindung  von  gefühlvoll  weichem  Gesang 
mit  behaglichen  Tanzmotiven.  Zwischen  den  beiden  Sätzen 


-^    664     «-^ 

'  steht  wieder  ein  längerer  Vaiiationszyklus,  desBeu  Thema 
mit  dem  AUegretto  von  Beethovens  siebenter  Sinfonie 
in  naher  Verwandtschaft  steht.  Auch  dieser  Satz  klingt 
mild  aus.  Unter  seinen  energischeren  Partien  ragt  die- 
jenige Variation  hervor,  in  welcher  die  Holzbläser  uni- 
sono sich  auf  der  chromatischen  Skala  tummeln.  In  den 
Schlußsätzen  der  Suite,  einer  Courante  mit  einem  Schu- 
mannschen  Violinthema  mit  sehr  hübschen  Klangeffek- 
ten und  einer  modernisierten,  ballettmäßigen  Gavotte 
wirft  die  Komposition  alles  Trfibe  ab  und  wendet  sich 
kräftigen  Geistes  dem  Frohsinn  zu. 
F.LAehner,  In  der  vierten  Suite  Lachners  (Esdur)  ist  das  kon- 
Suite  Nr.  4  trapunktische  Element  wieder  stärker  vertreten.  Det  erste 
(E«dürOp.  i2«).s^l2,  Ouvertür.e  benannt,  fugiert  am  Schlüsse,  der  fünfte, 
eine  sehr  kräftig  einsetzende,  modernisierte  Gigue,  durch- 
aus, und  beide  Male  ist  die  Fugenform  wieder  in  inter- 
essanter, freier  Weise  mit  einfach  melodischen,  anmutigen 
Episoden  durchzogen.  Der  erste  Satz  ist  nur  dem  Namen 
nach  eine  Ouvertüre,  nach  dem  Charakter  ein  Marsch 
mit  außerordentlich  populärem  Thema.  Er  gleicht  einem 
Festzug,  der  von  Jungfrauen,  eröffnet  und  von  Militär 
geschlossen  wird.  Zwischen  ^en  beiden  Gruppen  bildet 
ein  energisch  frohes  Thema,  dessen  Heimat  in  Webers 
Euryanthe  liegt,  den  Übergang.  Der  wirkungsvollste  Satz 
der  Suite  ist  das  Scherzo  pastorale  mit  einem  reizenden 
Gellosolo  im  Trio. 
F.  Lftchner,  Die  fünfte  Suite  Lachners  (Cmoll)  weicht  von  den 

Suite  Nr.  5  vorausgehenden  wohltuend  durch  die  Knappheit  der  Sätze 
(Cmoll,  Op.  136).  ab.  Ihre  hervorragendsten  Partien  sind  der  Mittelsatz 
des  Andante,  ein  sehr  klar  wirkender  Kanon  zwischen 
Solovioline  und  Bratsche,  und  das  Trio  im  Scherzo,  ein 
edler  Gesang,  auf  welchem  Schuberts  Geist  ruht  Im 
Finale,  welches  in  der  Form  des  Sonatensatzes  gehalten 
ist,  taucht  als  zweites  Thema  eine  bekannte  Oberon- 
gestalt  auf. 
F.  Laehner,  ^^^  poetische  Plan  von  Lachners  sechster  Suite 

Suite  Nr.  6   (Cdur)  steht  mit  dem  deutschen  Kriege  von  1870—71  im 
(Cdur.Op.  100).  Zusammenhang.    Schon  die  Gavotte,  welche  hereinfährt 


— ^  •  665 

wie  »Zielen  aus  dem  Busch«,  erinnert  an  soldatische 
Elemente.  Das  Finale  ist  einer  der  bedeutendsten  pa- 
triotischen Tribute )  welche  die  Musik  jener  Zeit  dar- 
gebracht hat.  Es  vereinigt  die  Tranerfeier  mit  Sieges- 
jubel und  Dank.  Klagende  Rezitative  im  Spohrschen 
Stile  leiten  ^e  mild  und  resigniert  gehaltene  Paraphrase 
des  Heldenchorals  >Ein^  feste  Bürge  ein.  So  wie  die  Be- 
gleitmannschaft vom  Grabe  des  Kameraden  mit  fröhlichem 
Spiele  wegzieht,  folgt  dann  auch  hier  der  Trauerzeremonie 
ein  demonstrativ  munterer  und  energischer,  kurz  und 
keck  rhythmisierter  Marsch,  eine  der  flottesten  Kom- 
positionen, welche  Lachner  in  dieser  seiner  Spezial- 
gattung  geschrieben  hat. 

Die  siebente  und  letzte  Suite  Lachners,  »Ballsuite«  F.LA€h>«r, 
genannt,  macht  mit  der  Modernisierung  der  Gattung  Ernst.  ^^^  ^'*  '• 
Sie  besteht,  mit  Ausnahme  des  Intermezzo  und  der  Intro-  'f^!^* 
duktion,  aus  lauter  Tanzsätzen,  die  heute  noch  praktisch       '' 
leben:  Polonaise,  Mazurka,  Walzer,  Dreher,  Lance.  Leider 
ist  die  vortreffliche  Absicht  von  der  musikalischen  Er- 
findung wenig  unterstützt  worden.   Mit  erfreulicherem  Ge- 
lingen hat  einen  ähnlichen  Versuch  J.  Herbeck  in  seinen  j.  Htrbeek. 
> Tanzmomenten«  durchgeführt. 

Die  Lachnerschen  Suiten  waren  in  dem  Jahrzehnt 
ihrer  Entstehung  sehr  beliebt  und  haben  die  meisten 
Werke  der  Gattung,  welche  mit  ihnen  gleichzeitig  her- 
vortraten, bis  heute  an  Lebenskraft  übertroffen.  Wenn 
sie  jetzt  anfangen  zu  altern  und  aus  den  Konzertsälen 
zu  schwinden,  so  bleibt  ihnen  noch  lange  die  Sympathie 
der  Freunde  des  vierhändigen  Klavierspiels  gewiß. 

Unter  denjenigen  Suiten  Bachscher  Richtung,  welche 
mit  den  ersten  Arbeiten  Lachners  bedeutend  konkurrierten, 
sind  die  Cdur-Suite  von  J.  Raff  und  die  Amoll-      j.Bair, 
Suite  H.  Essers  (die  zweite  dieses  Komponisten)  her-  Suite  (Cdar). 
vorzuheben.   Es  sind  in  erster  Linie  Dokumente  für  den  «  J'^!"''iiv 
merkwürdigen  Begriff  von  der  Kunst  der  alten  Meister,    ^  *  ^  """  ' 
wie  er  um  die  Mitte  des  19.  Jahrhunderts  noch  bei  selbst 
bedeutenden  Musikern  festsaß.    Auch  in  den  Charakter- 
etüden des  trefflichen  Moscheies  regnet  es  eitel  »Figural- 


_^    666    «.— 

musik«,  wenn  die  Alten  geschildert  werden  sollen.  Raff 
kontrapanktiert  steif,  gleichförmig  und  so  rahelos  und 
hastig,  daß  einem  der  Atem  aasgeht.  Esser  jagt  barocke 
Passagen  mit  unablässigen  Sequenzen  und  Imitationen 
im  Kreise  herum.  In  Raffs  Suite  werden  erst  die  letzten 
Sätze,  das  Adagietto,  Scherzo  und  Finale,  welche  aus 
Mendelssohnschen  und  Schumannschen  Quellen  schöpfen, 
natürlicher,  freier  und  phantasievoller.  Esser  hat  außer 
dem  Überfluß  an  Vorhalten  und  archaistischen  Disso- 
nanzen aus  der  alten  Suite  doch  auch  etwas  von  ihrer 
Kraft  (in  der  Introduzione)  und  von  ihrer  Grazie  (AUe- 
gretto)  in  seine  Kopie  gebracht, 
w«  Bftrglel,  Auch  die  mit  den  genannten  Werken  ziemlich  gleich- 
Suite.  altrige  Gdur-Suite  von  W.  Bargiel  bildet  alte  Formen 
nach:  Courante,  AUemande,  Sarabande,  Air  und  Gigue. 
Aber  der  Komponist  erfüllt  sie  frisch  zu  mit  modernem, 
zum  Teil  Schumannschem  Geiste.  Dadurch  wird  diese 
Suite  zu  einer  der  interessantesten  Erscheinungen  in  der 
Gattung.  Sie  fiberragt  die  Sinfonie  Bargiels  an  Natfir- 
lichkeit  der  Haltung,  an  Beweglichkeit  der  Phantasie  und 
verdient  ins  Repertoire  wieder  aufgenommen  zu  werden. 
j.O.ciriMn,  Die  kontrapunktische  Tendenz  der  modernen  Suite 

Saite  in  Kanon- gipfelt  in  den  beiden  Suiten  Julius  Otto  Grimms.  Es 
N  [''(Cd  ^^^^  Suiten  in  der  Form  des  Kanons  durchgeführt  Die 
erste  (Gdur),  für  Streichorchester,  bewegt  sich  in  knappen 
Bahnen.  Ihrem  ersten  Satze,  welcher  den  festlichen  Ton 
der  Mozartschen  Jugendsinfonien  anschlägt,  liegt  das 
Schema  der  Sonatine  zu  Grunde.  Das  Andante  hat  drei- 
teilige Liedform,  der  dritte  Satz  ist  ein  Menuett  ein- 
fachster Fassung  ohne  Seitensätze,  das  Finale  ein  Bfinia- 
turrondo.  Der  Kanon  liegt  immer  sehr  offen  oben  auf: 
die  Stimmen  folgen  einander  in  der  Oktav  und  in  kurzen 
Abständen  ohne  Künstelei.  Nur  im  letzten  Satze  wählt 
Grimm  für  den  zarten  Mittelsatz  (in  As)  die  Distanz  acht- 
taktiger  Perioden.  Trotz  der  Fesseln  in  der  Schreibart 
äußert  die  Komposition  eine  schöne  geistige  und  sinn- 
liche Wirkung.  Ein  besonderer  Reiz  des  Klanges  liegt 
über  dem  Andante,  welches  vom  Solocjuartett  allein  vor- 


-^    667     <^ 

getragen  wird,  und' über  dem  warm,  gemütlich  und  innig 
einsetzenden  Trio  des  MenuiBtt. 

Grimms  zweite  Saite  (Gdur)  erregt  und  befriedigt  J.  o. 
höhere  Ansprüche.  Irren  wir  nicht,  so  war  sie  vor  der  Saite  In  Kanon- 
Drucklegung  als  Sinfonie  betitelt.  Sie  ist  für  volles  Or-  ^^  9  (Odur) 
ehester  geschrieben:  ihre  Sätze  haben  breite  Formen  mit 
ausgeführten  Durchführungspartien,  und  ihre  Gedanken 
durchstreifen  große  Kreise  und  berühren  entgeg^gesetzte 
Regionen.  Der  Zuhörer  vergißt  über  dem  Gang  der  Leiden- 
schaften die  kleinen  Reize  des  Kanons,  den  der  Kompo- 
nist selbst  häufig  auf  die  Nebenplätze  der  Dichtung,  in 
die  Begleitungsmotive  und  in  den  Figurenteil,  zurückver- 
wiesen hat.  Obgleich  der  Kanon  hier  bescheidener  auf- 
tritt, als  in  der  kleinen  ersten  Suite,  ist  er  mit  noch 
größerer  Kunst,  mannigfaltiger,  freier  und  praktischer 
gehandhabt.  Letzteres  dadurch,  daß  die  Melodien  kürzer 
und  schärfer  gegliedert  sind.  Auch  hier  wiegt  der  Kanon 
in  der  Oktave  und  mit  schnell  folgenden  Stimmen  vor; 
aber  es  sind,  wie  im  langsamen  Satie  der  Kanon  in  der 
Umkehrung,  auch  seltenere  Arten  verwendet.  Auf  Mo- 
mente schweigt  die  kanonische  Kunst,  und  vor  dem  Einerlei 
bewahrt  ein  häufiger  Wechsel  in  der  Besetzung  der  führen- 
den Stimmen.  Den  größten  poetischen  Wert  hat  unter 
den  vier  Sätzen  der  Gdur-Suite  das  Adagio,  eine  ernste 

Betrachtung  ,  Molto  Adagt«  e  caatabfl». 

über  das  Bach-  ir  Vi  n^ry^H  H^ 

sehe    Thema:  ^^^?^^^^^  

Eine  dritte  Suite  Grimms,  die  in  Gm  oll  steht  und  j.o.  Orlm», 
als  seine  bedeutendste  Arbeit  gelten  darf,  kam  anfangs  Soite  in  Kanon- 
der  neunziger  Jahre  heraus.   Doch  ist  sie  wenig  bekannt        'o"°> 
geworden  und  wird  mit  ihrer  soliden  Art  der  pikanten      '^  ^^^^^^' 
Richtung  gegenüber,   die  mittlerweile  in  der  Suite  zur       '* 
Herrschaft  gekommen  ist,  auch  einen  schweren  Stand 
behalten. 

Einen  Nachfolger  auf  seinen  kanonischen  Pfaden  fand  g.  ^Adagiohn, 
Grimm  in  S.  Ja  das  söhn,  welcher  in  seiner  ersten  Sere- Drei  Serenaden, 
nade  (Gdur)  den  Kanon  als  die  Form  für  leichte  Gedanken 
und  kleine  Scherze  benutzt.   In  seiner  zweiten  Serenade 


668     ^- 

(D  dar)  hat  derselbe  Komponist  auf  den  Kanon  verzichteti 
in  seiner  dritten  (A  dar)  ihn  auf  einen  heitern  Satz  (Inter- 
mezzo) beschränkt,  dafür  aber  in  beiden  Werken  eine 
Vertiefung  des  Inhalts  angestrebt, 
est. SaeBs,  Von  bemerkenswerten  ausländischen  Suiten  ge- 
SQit«  atgtfrieime.  hÖrt  ZU  dieser  archaisierenden  Abteilung  das  op.  00  von 
C.  St.  SaSns.  Das  »Pr61ude<  ist  ein  Kanon  mit  wechseln- 
den Instrumenten,  der  in  seiner  Stimmung  etwas  an  den 
ersten  Satz  vom  G  molI-Konzert  des  Komponisten  erinnert. 
Der  zweite  Satz,  Sarabande,  bringt  sehr  anmutige  Varia- 
tionen über  ein  Thema,  das  dem  von  Händeis  »Lascia 
ch'  io  piango«  nachgebildet  ist.  In  der  charaktervollen 
»Gavotte«  zeichnet  sich  das  Trio  durch  die  liegende 
Stimme  der  Violinen  romantisch  aus.  Der  Schlußsatz, 
eine  »Romanze«,  verläßt  wider  allen  Suitenbrauch  die 
gemeinsame  Tonart  (D)  und  steht  in  G. 

Die  kontrapunktische  Gruppe  der  modernen  Suiten- 
komponisten ist  allmählich  durch  eine  andere  Richtung 
verdrängt  worden,  welche  ihren  Ausgang  yon  den  Diver- 
tissements Mozarts,  von  den  Gartenmusiken  des  18.  Jahr- 
hunderts nahm  und  den  Nachdruck  auf  den  idyllischen 
und  einfachen  Charakter  der  Gattung  legte.  Der  nach 
Zeit  und  Rang  erste  Repräsentant  dieser  zweiten  Gruppe 
der  modernen  Suite  ist  Johannes  Brahma.  Leider 
hat  er  nur  zwei  Serenaden  geschrieben.  Sie  stammen  je- 
doch aus  der  besten  Zeit  des  Komponisten  und  sind  mit 
den  »Mageionenromanzen«  nicht  bloß  gleichaltrig,  son- 
dern auch  innerlich  verwandt.  Der  jugendlich  schwär- 
merische Ton,  der  sie  auszeichnet,  stellt  sie  unter  die 
schönsten  und  liebenswürdigsten  Äußerungen  des  neuesten 
Serenadengeistes,  die  Natürlichkeit  der  thematischen  Er- 
findung weist  sie  unter  die  Hauptwerke  des  Komponisten. 
Eine  gewisse  Unreife  verraten  sie  in  der  allzu  breiten 
j.  BrAhitti  Ausführung  einzelner  Sätze-  Die  erste  Serenade  (Ddur, 
Serenade  in  op.  11),  welche  im  Jahre  1862  erschien,  besteht  aus 
Ddur.  sechs  Sätzen.  Sie  beginnt  mit  einem  großen  AUegro  in 
breiter  Sonatenform,  in  welchem  der  pastorale  Ton 
vorherrscht.     Das    Hörn,    ein   Lieblingsinstrument   des 


669 


Komponisten,  stellt  als  Hauptthema  eine  naiv  fröhliche 
Melodie 


Jülefro  molto. 


i 


<i'^'jNJjJijj.jjijjjjij.j)jjiigii: 

hin,  welche  von  primitiven  Harmonien  begleitet  und  in 
ungenierten  Modulationen  weiter  geführt  wird.  Das  ainnige 
zweite  Thema  tijtt  in  einer  Fassung  auf,  die  Brahms 
original  zugehört 


j»M/r. 


Celli  und  Bratschen  nehmen  die  zarte  Schwärmerei  so- 
fort auf  und  geben  ihr  im  Verein  mit  den  Holzbläsern 
den  intimsten  Abschluß.  Ein  kurzer  Nachgesang,  aus 
welchem  das  reinste  Glück  des  Herzens  spricht,  geht  in 
ein  freudig  hüpfendes  Seitenthema 


über,  welches  das  Material  für  den  Anfang  der  Durch- 
führung liefert.  Letztere  selbst  trägt  in  einzelnen  ge- 
künstelten und  gewaltsamen  Stellen  die  Merkmale  der 
Entwickelungszeit  des  Komponisten.  Eigentümlich  schön 
ist  der  Eingang  in  die  Reprise  des  Satzes.  Dureh  ein 
der  D  dur-Hannonie  eingeschobenes  C  rückt  das  kecke 
Hornthema  hier  in  ein  überraschendes  und  das  Ende  der 
Szene  kündendes  Dämmerlicht.  Der  Schluß  des  Satzes 
ist  außerordentlich  subtil:  ein  zartes  Solo  der  Flöte,  zu 
welchem  Bratschen  und  Klarinetten  dezent  die  Harmonie 
hinzufügen. 

Der  zweite  Satz  (Scherzo,  Dmoll,  3/4)  hat  in  seinem 
Hauptthema: 


670 


Allegro  Bon  trepp 


Ähnlichkeit   mit    dem   in 

Brahms'  zweitem  Klavier- 

«••  konzert.  Die  Stimmnng 
zeigt  auf  ein  pochendes  Herz  und  wird  erst  vom  Seiten- 
satze ab  ruhig-freudig.  Ihr  thematischer  Ausdruck  zeigt 
von  da  ab  Wiener  Einflüsse,  der  Seitensatz  Schubertschen : 


Haydn-Mozartschen. 

Der  Wert  des  Adagio  (B  dur,  V4)  '^^^  besonders  auf 
dem  Hauptthema,  welches  eine  der  herrlichsten  melodi- 
schen Erfindungen  von  Brahms  bildet: 

AdAgio  HOB  iroppo. 


Noch  schöner  fast  ist  der  konzertierende  Nachsatz: 

J3 


j  Ihm  folgt  eine  Episode 
mit  folgender  Melodie: 


671 


ÄuchihreBe- 
gleitang  mit 
murmelndeD 

Zweinnddreißigstelfiguren  erinnert  an  die  »Szene  am 
Bach€  in  Beethovens  Pastoralsinfonie.  Das  Adagio  zer- 
splittert sich  von  da  ab  einigermaßen  und  verweist  die 
Aufmerksamkeit  vorwiegend  auf  feine  Details. 

Den  vierten  Satz  bilden  zwei  zusammengehörige 
Menuette  (G  dur  der  erste ,  G  moll  das  Alternativ), 
welche  den  Originalcharakter  der  alten  Serenade  aufs 
drastischste  wiedergeben.  Namentlich  der  Gdur*Satz  ist 
ein  originelles,  kostbar  drolliges  Genrebild,  zu  welchem 
die  moderne  Suitenliteratur  vielleicht  nur  in  dem  Wäl- 
zer von  Volkmanns  F  dur -Serenade  ein  nahestehen- 
des Seitenstück  aufzuweisen  hat.  noder&td. 
Nur  die  beiden  Klarinetten  und  ein  ^  f  j.  JXl  |^j  J  p| 
Fagott  spielen  es;  Jene  geben  die  F  >  *  j^  ^#  *  i  ^  '\^ 
Anmut  und  Liebenswürdigkeit  in  ^ 
das  letztere  bringt         ^   ^   ^    „,■,     _.  in       mit  welchem 

es  die  Melo- 


•*••   die  begleitet, 


in  dem  komi- 
schen Murkybaß 
das  Kostüm  der  alten  Zeit  hinzu. 

Ein  als  fünfter  Satz  folgendes  Scherzo  (Allegro,  8/4} 
beschwört  in  seinem  Hauptthema: 

AlUrro. 


den  Vergleich  mit  Beethovens  zweiter  Sinfonie  (Trio  im 
Scherzo)  etwas  zu  keck  herauf  und  wird  bei  Aufführungen 
am  besten  gestrichen. 

Ein  Rondo  beschließt  als  sechster  Satz  die  Serenade. 
Sein  Hauptthema: 


welches  einen  deutlichen  Anflug  Schumannschen  Wesens 
hat,  paßt  sehr  gut  zum  Bilde  einer  fröhlich  nach  Hause 


672 


siehenden  Gesellschaft.  Unter  den  Nebenthemen  des  Satzes 
hat  das  folgende: 


für  die  Entwickelang  and  Durchföhrang  hervorragende 
Bedeutung. 
i.  Bmlmig,  Die  zweite  Serenade  von  Brahms  (Adar,  op.  16),  nur 

3erenado  Nr.  2  wenig  jünger  als  die  in  Ddur,  verhält  sich  zur  letzteren 
(Adur).  ^^  ^j^  Schwester  zum  Bruder.  Sie  ist  noch  zarter,  heim- 
licher, inniger  und  tiefer;  zu  gelegener  Zeit  kehrt  sie  aber 
auch  den  Wildfang  noch  stärker  heraus.  Über  ihrem  Klang 
liegt  ein  mattes  Kolorit:  wie  im  ersten  Satze  vom  »Deut- 
schen Requiemc  und  dem  des  Cherubinischen  (CmoU), 
wie  in  Möhuls  Uthal  sind  die  Violinen  weggelassen  und 
die  Bratschen  führen  das  Streichorchester.  An  formeller 
Reife  steht  die  Adur>Serenade  über  der  ersten,  an  äußerer 
Wirkung  unter  ihr. 

Der  erste  Satz(Allegro  moderato,  (^,  Adur)  hat  zum 
Hauptthema  eine  jener  unscheinbaren,  für  Brahms  be- 
zeichnenden Melodien,  deren  seelischer  Gehalt  sich  erst 
bei  näherem  Eindringen  erschließt: 

Allef  ro  uoderato. 
cur. 


Das  zweite  Thema,  welches  der  glücklichen  Stimmung 
einen  lebhaften,  aber  immer  noch  reservierten  Ausdruck 
gibt,  hat  Wiener  Lokalton:. 


F*- 


fi' 


fi-     fi  - 


rtr\''^,ffXD%i\^y 


-^    673    ♦— 

Unter  den  Seitengedanken,  welche  zwischen  den  beiden 
Themen  auftreten,  ist  der  ^ 

folgende  W     TT      I    |   |,    |    mT  1 1   |ltlVI  I J 
führnngvon  Wichtigkeit:  *r  '  '^  '     '   '  '      * 

Er  geht  in  eine     ^  ^       ^^  ^  an  die  Mage- 

Episode  über,  Ä  m^  m  \f  ^  m'\T  f  ä  \T  T  lone - Ronian- 
deren    Motiv :  ^'^ '     '         ^  "        '  zen  des  Kom- 

ponisten erinnert. 

Der  zweite  Satz,  Scherzo  (Vivace,  3/4,  Cdur)  vertritt 
mit  dem  Finale  die  energi-       vivace. 

sehe  Heiterkeit  in  der  Sere-    

nade.  Sein  Hauptthema  ^' f 
von  den  Bläsern  frisch  herausgeschmettert,  beherrscht 
den  Satz  aliein.  Wie  in  ihm  und  in  der  Mehrzahl  der 
Themen  der  A  dur-Serenade,  tritt  auch  in  dem  sanften 
Trio  die  Melodie  Arm  in  Arm  mit  einer  Parallelstimme  auf: 

^j'jjj'jii'jjj'^j.^'jjjijiiir'i 

Das  ganze  Scherzo  hält  sich  in  knappen  Dimensionen. 
Der  dritte  Satz :  Adagio  (i^/g,  A  moll),  hat  als  erstes  Thema 

^  Adagio.  ^  ^ 

foWndPa.  ^^  I  I    J.lj  I  j,^    .  I  ,    ^.J    Jy,l    r\    ^    Es 

wird  von  nachstehen- 
der Baßfigur  begleitet 
Sie  schließt  sich  den  Modulationen  der  Melodie  in  Trans- 
positionen an  und  bleibt  ihr  immer  zur  Seite,  wodurch 
der  Hauptteil  des  Adagios  sich  der  Form  des  alten 
Passacaglio,  den  Brahms  ja  bekanntlich  auch  sonst, 
zuletzt  noch  in  seiner  vierten  Sinfonie  verwendet  hat, 
nähert.  Der  Charakter  des  Satzes  ist  ruhig,  sehnend, 
sinnend  und  träumerisch.  Die  erregten  Momente  dOstrer 
Leidenschaft  in  ihm  jt  iJ^^J^  j—-  zum  Ausdruck  und 
kommen  mit  dem  hef-  y  jäi  =  gehen  schnell  vor- 
tig  einsetzenden  Motiv    jyT  über.     Brahms   ent- 

flieht ihnen  durch  einen  Sprung  in  das  ganz  entlegne 
Asdur.   Hier  setzen  zunächst  die  Hörner  mit  einer  freund- 

Kretztehmar,  Fftlirer.    T,  1.  43 


674 


lieh  schwärmerischen  Melodie  ein,  die  in  den  Stimmungs- 
kreis  zurückführt,  in  dem  die  Serenade  begann.  Dann 
folgt  ihr  in  den  Holzbläsern  das  eigentliche  zweite  Thema: 


|iMi-^>f^fK'Tf-rT"ni|iT^'^'^fi^ 


Mit  der  ihm  zagehörigen  Gruppe  bildet  es  nur  ein  aus- 
drucksvolles Intermezzo.  Weder  die  Durchführung  noch 
die  Reprise  wissen  von  ihm. 

Der  vierte  Satz:  »Quasi  Menuettoc  (Ddur,  ^4)»  ^^ 
durch  das  zögernde  Element,  welches  seine  freundliche 
Stimmung  und  seinen  schlichten  Melodiehau  beherrscht: 

Hauptsatz. 

^iiiHT.i  jij  I  j  Uli  if  iij  I  I  iiiijTi 


Qn  ii  ii  "I H" 


Trio.  Ok 


cte. 


eigentümlich  charakterisiert. 

Der  Schlußsatz:  >Rondo<  (Allegro,  ^/^  Adur),  erhält 
durch  die  Hauptthemen 

.^-^    AUegro. 


(fhj\if\t\»fr\fifVfi^vtiiß^^^ 


sein  fröhliches  Gepräge.  Die  liebenswürdige  Schüchtern- 
heit, welche  in  den  Gesichtszügen  dieser  Serenade  einen 
hervortretenden  Teil  bildet,  blickt  noch  einmal  aus  dem 
kleinen,  dem  zweiten  Thema  vorhergehenden  Seitensatze, 
in  welchem  sich  Klarinetten  und  Fagotte,  anfangs  in 


675 


kanonischem  Stile, 
über    das    Motiv: 


unterhalten. 


Der  von  Brahms  aufgestellten  Ideenrichtung  folgt 
auch  Robert  Volkmann  in  seinen  drei  Serenaden  fQr 
Streichorchester,  hält  sich  aber  in  knappen  Formen.  Das 
Schema  der  ersten  und  der  dritten  Serenade  gleicht  dem 
der  kleineren  sinfonischen  Dichtungen  Liszts,  die  zweite 
bildet  eine  Suite  von  vier  selbständigen  und  getrennten, 
aber  kurzen  Sätzen.  Die  Serenaden  von  Brahms  können 
eine  Sinfonie  ersetzen,  die  von  Volkmann  eignen  sich 
sehr  gut  zu  Zwischennummern  im  Konzert  und  sind  als 
solche  auch  außerordentlich  beliebt.  Dem  Inhalt  nach 
gehören  sie  zu  den  gelungensten  und  gehaltreichsten 
Leistungen  der  neueren  musikalischen  Genremalerei.  Die 
poetisch  bedeutendste  unter  ihnen  ist  die  dritte  (Dmoll)  J-  Tolk«iiii«, 
mit  dem  Solocello.  Der  Solist  hat  in  dieser  Sere-  foJJJii  o«  ^)* 
nade  eine  ähnliche  Rolle  wie  der  Solobratschist  in  ^  >  p*  • 
Berlioz'  Haroldsinfonie.  Das  Cello  personifiziert  einen 
Melancholikus ,  der  in  allen  .  Xitrgbetto,  non  tl^ppo^ 
Lagen  immer  wieder  auf 
sein  Leibthema  zurückkommt: 

Ob  der  Chor  zustimmt  oder  widerspricht,  der  Cellist  bleibt 
bei  diesem  Motiv;  wird  jener  heiter  und  ausgelassen,  so 
sieht  er  einsilbig  zu,  und  das  Freundlichste,  was  sich 
ihm  abgewinnen  läßt,  ist  eine  elegisch  klagende  Melodie : 

Andante«8preMlTo.-^  a        '^  -s  "^^*        welcher 

Aiirr  crrr  ir  r  rr/r  irrrpifr^^  dieiebendigge- 

*^"  tjf  -<==*•  haltene    Kom- 

position auch  einen  rührenden  und  versöhnenden  Ab- 
schluß erhält. 

Die  beliebteste  unter  den  Serenaden  Volkmanns  ist  >•  TolksaBa, 
die  zweite  in  Fdur  und  zwar  wegen  ihrer  zweiten  Num-  ^^T***!*  ?«  ^ 
mer,  einem  Walzer  über  folgendes  Hauptthema:  ^    "*  '' 

Allafretto  moderato 


m 


Es  ist  eigentlich  kein  Walzer,  sondern  ein  Walzerchen, 
ersichtlich  für  alte  Leute  gedacht  —  ein  Kabinettstück 

43^ 


-^    676  ^e^ 

liebenswürdig  altfränkischer  Musik.  Von  den  beiden  Tei- 
len, aus  welchen  der  6rste  Satz  der  Serenade  besteht: 
AUegro  moderato  (Fdur,  3/^  undMoUo  vivace  (Dmoll)  s/4}, 
ist  der  zweite  der  originellere:  Mit  imposanter  Konse- 
quenz und  doch  reich  an  Abwechselung  un4  effektvollen 
Steigerungen  ist  er  auf  folgendes  spröde  Motiv  gebaut: 
.^   ^  ^   Besonders  schön  ist  der  Ein- 

i  L  u    rrm  '^- — "•  r  fn  ^^  i^^  seines  Mittelsatzes  in  Ddur. 

fr        ,    ^^  UäLi  ^    '  Oie  Serenade  schließt  mit  einem 

Geschwindmarsch.  Die  dreitak- 

tige  Konstruk-  Allegto  moderato.  _ 

die  Akzentuierung  in  ihm  und  in  dem  ganzen  Satze  ver- 
raten die  ungarische  Atmosphäre,  welche  alle  drei  Sere- 
naden Yolkmanns  mehr  oder  weniger  durchweht,  be- 
sonders deutlich. 
K.  YoikMftiAi,  Die  erste  Serenade  Volkmanns  (Cdur)  wird  Von  dem- 

Serenade  Nr.  1  selben  kräftigen  Maestoso  alla  Marcia,  welches  sie  eröffnet, 
(Cdiir,0p.62|.    ^^^Y^  beschlossen.    Die  Mitte  der  Komposition  nimmt  ein 
längeres  AUegro  vivo  ein,  welches  auf  Grund  des  Thema: 
Ano^Tivo.  •     ^  ^        ^.^    .  eine    Reihe 

kecker,  trot- 
l^""*""       ^  .-=— »-*j  ziger  Gänge 

tut.  Die  schönsten  Partien  der  Serenade  bilden  die 
beiden  langsamen  Sätze,  welche  dieses  AUegro  vivo 
einrahmen.  Der  erste  Satz  ist  sehr  kurz  in  der  Weise 
der  überleitenden  Largi  Händeis,  der  zweite  hat  die 
dreiteiligeLiedform,  ^„,^^^  ^^^^^^^^^ 

zum  Hauptthema 
folgende  edel  sen- 
timentale Melodie:  i. 

Kurz  vor  seinem  Tode  hat  auch  Niels  Gade  den 

neuen  Suitenschatz  mit  mehreren  liebenswürdigen  Arbei- 

N.  Oade,     ten  bereichert.    Die  erste  davon  sind  die  »Novelletten« 

Novellettcn.  für  Streichorchester  (op.  ö3).    Von  den  vier  Sätzen  dieser 

kleinen  Suite,   die  sich  auch  als  Sinfonietta  vorführen 

ließe,  sind  der  erste,  der  zweite  und  vierte  einer  feinen, 


— ♦    677    ♦^ 

gebildeten  Fröhlichkeit  gewidmet.  Hie  und  da  mischt 
sich  in  das  geistige  Geplänkel  launiger  Reden  ein  recht 
wehmütiger  Ton,  wie  ein  Rückblick  auf  Jugend  und  auf 
Mendelssohn.  Der  dritte  Satz,  ein  Andante,  spricht  in 
den  kurzen  sinnigen  Fragesätzen  des  Vaters  der  Novel- 
lette:  R.  Schumanns.  Besondere  Bewunderung  verdient 
noch  der  Stil  des  reizenden  und  anheimelnden  Kunst- 
werkchens, der  —  ohne  gerade  mit  Schulweisheit  zu 
prunken  —  die  Stimmen  unter  einander  in  die  interes-  * 

santesten  Verbindungen  bringt  und  jeder  einzelnen  Frei- 
heit und  eigne  Bedeutung  sichert 

Die  zweite  dieser  Gadeschen  Suiten:  >Ein  Som-  if*tiade, 
mertag  auf  dem  Lande«  (op.  65),  besteht  aus  fönf^^P^^T"*^?^ 
Sätzen:  1.  Früh,  2.  Stürmisch,  3.  Waldeinsamkeit, 
4.  Humoreske,  6.  libends,  Lustiges  Volksleben  —  die  die 
versprochnen  Tonmalereien  in  der  gelassenen  Weise  der 
alten  romantischen  Schule  ausführen.  Die  »Waldein- 
samkeit« und  der  Schlußsatz  sind  die  besten  Stücke, 
jene  durch  ihren  warmen  Ton,  dieser  durch  die  sinnige 
Andeutung  der  Abendstimmung.  Die  Nummern,  welche 
Kraft  und  Frische  verlangen,  bleiben  hinter  den  berech- 
tigten Erwartungen. 

Mit  einer  dritten  Orchestersuite :  Holbergiana  (op.  N.  o»de, 
61),  hat  Gade  eine  Aufgabe  durchgeführt,  die  auch  Edv.  holbergiana. 
Grieg  bei  der  gleichen  Gelegenheit  —  Holbergs  zweihun- 
dertstem Geburtstag  —  in  ähnlicher  Weise  gelöst  hat.  ^ 
Auch  diese  Komposition  ist  etwas  umständlich  und  red- 
selig und  läßt  die  Knappheit  und  Gewichtigkeit  vermissen, 
die  der  Suite  in  der  alten  guten  Zeit  zu  eigen  war.  Aber 
sie  steht  über  dem  Sommertag  Gades  durch  die  Anschau- 
lichkeit und  den  Gehalt  der  Thematik.  Der  Plan  des 
Komponisten  war  wohl  der,  die  verschiednen  Seiten  von 
Holbergs  künstlerischem  Charakter  musikalisch  aufleben 
zu  lassen.  Der  erste  Satz  (Moderato,  Tempo  di  Minuetto, 
3/4,  Gdur)  zeichnet  uns  erst  in  weichen,  sanften  Weisen, 
die  aus  Dittersdorf  und  aus  Naumann  genommen  sein 
könnten,  den  humanen  Philosophen,  den  Verfasser  der 
»Moralischen  Episteln«.    Die  Durchführung  beginnt  ani- 


678    ^-^ 

mato  und  in  Moll,  scharfen  erregten  Tons.  Da  kommt 
wohl  der  Satyriker,  der  rücksichtslose  Feind  alles  Un- 
rechtes zu  Wort.  Der  zweite  Satz  (Allegro  scherzando, 
s/4,  EmoU)  bezieht  sich  auf  den  Schöpfer  der  dänischen 
Komödie.  Ein  ausgelassenes,  in  seinen  Rhythmen  sprü- 
hendes, in  den  Intervallen  keckes  Thema  wird  fagiert  — 
ein  Bild  von  dem  flotten  Treiben  der  Holbergschen  Last- 
spiele und  ihren  fröhlichen  Verwickelungen.  Eine  alte 
Melodie  aus  dem  18.  Jahrhundert,  die  in  der  Mitte  des 
Satzes  (mit  Edur)  eintritt,  bezeichnet  das  volkstfimliche 
Wesen  von  Holbergs  Kunst.  Von  andrer  Seite  her  knüpft 
auch  der  dritte  Satz  (Andantino,  8/4,  DmoU)  an  diesen 
Punkt  an:  er  ist  eine  Instrumentalballade  die,  ähnlich 
wie  dies  in  Gades  CmoU-Sinfonie  geschieht,  von  alter 
nordischer  Zeit,  von  Leiden  und  Freuden  eines  ernsten 
kräftigen  Geschlechts  erzählt.  Mit  dem  zweiten  Satz  der 
Suite  teilt  dieser  dritte  die  Fülle  und  Echtheit  der  Stim- 
mung, er  übertrifft  ihn  aber  in  der  Freiheit  und  Mannig- 
faltigkeit von  Form  und  Ausdruck.  Die  Erregtheit  des 
Erzählens  äußert  sich  in  Rezitativen  und  dramatischen 
Wendungen.  D^e  Suite  schließt  mit  einem  Allegro  festivo, 
das  an  die  Entr^es  der  alten  französischen  Oper  erin- 
nert, an  Festaufzüge  mit  wechselndem  Personal  und 
Ballettvorstellungen.  Halb  und  halb  schlägt  dieser  Schluß- 
satz auch  den  Ton  wehmütiger,  pietätvoller  Erinnerung 
an.  Nach  der  Wiederaufnahme  des  Hauptsatzes  (Gdur, 
Vi)  gereift  er  auf  die  zweite,  die  Komödiennummer  der 
Suite  zurück,  und  ganz  am  Ende  fallen  wie  im  Kaiser- 
marsch R.  Wagners  Singstimmen  ein.  Sie  rufen  »Vivat 
Holberg  !€ 

Unter  der  großen  Zahl  weiterer  Tousetzer,  welche 
sich  an  Brahms  und  Volkmann  angeschlossen  haben  — 
R.  Fuchs,  A.  Klughardt,  J.  Brüll,  H.  Reinhold,  V.  Stau- 
ford, A.  Birdetc.  —  nimmt  nur  Robert  Fuchs  einen 
festen  und  der  Stellung  jener  Vorbilder  naheliegenden 
Platz  im  Repertoire  ein.  Seine  drei  Serenaden  für  Streich- 
orchester, oft  gespielt  und  gern  gehört,  sind  das  Produkt 
einer  harmonischen  Künstlernatur  und  jener  feinen  Bü- 


--t     679 

dang,  welche  auch  bekannte  und  gewöhnliche  Ideen  mit 
neuem  Interesse  zu  umgeben  vermag.  Ein  besonderes 
Talent  zeigt  Fuchs  in  seinen  Serenaden  als  Kolorist  Mit 
den  einfachsten  Mitteln,  Verdoppelung  von  Mittelstimmen, 
Teilung  der  einzelnen  Instrumente,  entwickelt  erin  seinem 
Streichorchester  ein  Leben,  eine  Abwechslung,  einen  Reiz 
im  Klang,  welcher  die  Wirkung  der  einfachen  Serenaden- 
gedanken wesentlich  erhöht 

Die  erste  Serenade  von  R.  Fuchs  (Ddur)  zeigt  viel      B.F«öhB, 
durchdachte  Detailarbeit  und  Hinneigung  zu  den  kleine-  ^^'^j!?^  ^'*  * 
ren  Künsten  der  Kontrapunktik.    Die  Themen  lieben  das        (^°u'>* 
interessante  Halbdunkel  der  Mittel-  Andante, 

stimmen,  emzelne  Motive,  welche, 
wie  das  die  Serenade  eröffnende: 
platt  anfangen,  werden  durch  Nachahmungen  und  Um- 
bildungen veredelt.  Durch  Innigkeit  der  Empfindung 
zeichnet  sich  unter  den  Sätzen  der  Serenade  der  Gesdur- 
Teil  des  Allegro  scherzando  aus.  Der  breiteste  ist  der 
Schlußsatz  (D  moll,  ^/g).  Sein  Durchführungsteil  verlangt 
Aufmerksamkeit  auf  das  Motiv: 


iJ  ij/j  JtJ"j??p 


welches  vom  Hintergrunde  aus  längere  Zeit  neckisch 
drohend  den  Satz  beherrscht.  Das  zweite  Thema  dieses 
Finale  läßt  von  Ferne  den  traulichen  Wiener  Walzerton 
hören. 

Die  zweite  Serenade  von  R.  Fuchs  (Cdur)  ist  leb-      B.F«olif, 
hafter  als  die  erste  und  neigt  dem  Volkston  mehr  zu  als  Serenade  Nr.  2 
jene.    Am  kecksten  kommt  er  im  folgenden  Thema  des        (Cdar). 
Finale  zum  Ausdruck: 

(f^^^^llr_p^^l^p^n^^M  |ii^i , 


•tc 

Das  Larghetto  dieser  Serenade  besteht  aus  Thema 
und  vier  Variationen,  welche,  zwischen  Dur  und  Moll 
wechselnd,  vorwiegend  figurativ  gehalten  sind« 


--•     680    A^- 

B.Faehi,  In  die  dritte  Serenade  (Emoll)  klingen,  wie  bei 

Serenade  Nr.  8  Volkmann,  Ungarische  Elemente  herein.    Ihr  schönster 
(EmoU).      g^^2  ist  das  zarte  AUegretto  graziöse  mit  dem  in  der 
Bratsche  versteckten  Thema. 
[.  Hoeskowski)        ^nen  schnell  vorübergegangnen  größeren  Erfolg  in 
Suite.        ^Qf  Soite   hat  in   der  Fuchsschen  Generation  M.  Mps- 
zkowski  mit  zwei  Arbeiten  errungen,  die,  von  einem 
virtuosen  Orchester  vorgetragen,  dem  Ohr  manches  Aparte 
und  Erstaunliche  bieten,  hie  und  da  auch  geistige  Be- 
deutung erstreben.  Geschichtlich  sind  sie  bemerkenswert 
als  Beispiele  fQr  das  Eindringen  modern  französischen 
Ballettgeistes  in  die  deutsche  Komposition  und  haben  er- 
sichtlich mit  ihren  pikanten  Reizen  in  der  neuesten  Or- 
chestersuite etwas  Schule  gemacht. 

Unter  den  zeitlich  folgenden  Beiträgen  zur  Suite  ver- 
dienen die  Serenade  von  F.  Draeseke  und  die  sinfonische 
Suite  von  E.  N.  v.  Reznicek  besondere  Hervorhebung, 
jene,  weil  sie  den  richtigen  alten  Snitenton  so  vorzüglich 
trifft,  diese,  weil  sie  ihn  gänzlich  verfehlt. 
F.Draeieke,  Die  Serenade  von  Felix  Draeseke  (Op.  49,  Ddur) 
Seronade.  jg^  gj^e  ^^j  liebenswürdigsten  Orchesterkompositionen  der 
.neueren  Zeit.  Sie  ist  ersichtlich  in  glücklichen  Tagen 
entstanden  und  zeigt  uns  den  charaktervollen  und  kunst- 
gewaltigen Tonsetzer,  der  wegen  seiner  schwierigen  Kon- 
trapunkte und  wegen  seiner  Herbheit  zuweilen  gefürchtet 
wird,  als  einen  Idyllendichter  von  reinster  Naivität  und 
köstlichstem  Humor.  Einigermaßen  archaisiert  auch  diese 
Serenade,  ungefähr  so,  wie  es  Vautier  und  Fritz  Kaul- 
bach auf  ihren  Bildern  aus  alter  Zeit  gern  tun,  so  wie 
es  auch  Brahms  in  seiner  D  dur-Serenade  gehalten  hat. 
Mit  diesem  Werke  berührt  sich  Draesekes  Serenade  viel- 
fach in  der  Stimmung.  Denn  beiden  hat  das  gleiche  Vor- 
bild vorgeschwebt:  Mozarts  Divertimenti,  beide  Kompo- 
nisten haben  sich  in  die  entschwundne  Poesie  des  18.  Jahr- 
hunderts mit  seinen  Gartenmusiken,  mit  seiner  engen 
Verbindung  zwischen  Leben  und  Kunst  zurückversetzt. 
Draeseke  ist  bis  in  die  Instrumentierung  hinein  dem  Ton 
der  alten  Serenade  gerecht  geworden:   er  arbeitet  mit 


681 


einem  sogenannten  kleinen  Orchester,  das  die  Streich- 
instnunente,  Flöten,  Oboen,  Klarinetten,  Fagotten  und 
2  Hörner,  umfaßt.  Die  zwei  Trompeten  and  Pauken,  die 
noch  hinzukommen,  wirken  mehr  drollig  als  prankhaft. 
Auch  in  der  Zahl  und  Art  der  Sätze  würde  die  Sere- 
nade von  Draeseke  den  alten  Bedingungen  praktischer 
Verwendung  durchaus  entsprechen.  Sie  hat  fünf  Sätze, 
die  einfach  und  knapp  gehalten  sind;  nur  das  Finale 
greift  weiter  aus. 

Eine  richtige  Serenade  verlangt  ein  Stück  für  den 
Aufzug  der  Gratulanten.  So  eröffnet  denn  Draeseke  die 
seinige  mit  einem  Marsch,  der  folgendermaßen  wohlge- 
mut und  freundlich  anfängt: 


Allegretto  Jeg^ero 


\\  I  cliii/ ' 


I    Tl|  II  Till 


Das  in  den  letzten  Takten  dieses  Beispiels  angegebne 
Achtelmotiv,  der  Ausdruck  einer  gewissen  Vorfreude,  trägt 
nicht  bloß  die  weitre  Entwickelung  der  ersten  Klausel, 
sondern  liegt  auch  der  ersten  Hälfte  des  Nebensatzes  zu 
Grunde.  Erst  in  dessen  Mitte  setzen  wieder  hüpfende  und 
springende  Marschmotive  ein.  Das  sehr  kurze  Trio  (in 
G  dur)  knüpft  ebenfalls  an  die  erwartungsvolle  Stimmung 
jenes  Achtehnotivs  an  und  geht  in  seiner  zweiten  Klausel 
an  die  Erzählung  stillen  Glücks.  Der  Marschsatz  wird 
dann  mit  erweitertem  Schluß  wiederholt. 

Dem  Aufmarseh  folgt  logisch  als  nächster,  zweiter 
Satz  ein  >Ständchen«  (Andantino,  ^/g,  Fismoll).  Der 
Liebhaber  spricht  durch  die  Stimme  eines  Solocellos  zu- 
erst seine  Verehrung  aus: 

And&ntino- 

f>  Motto  e$pr. 


682 


Diesem  ersten  Thema  folgt  ein  Seitentbema,  in  dem  die 
Rede  flüssiger,  herzhafter  und  heitrer  wird: 


Das  eigentliche  zweite  Thema, 
1       im  Charakter  gemütlich  und  zu- 


traulich, wird  von  den  Bratschen  eingeführt: 

ift: 


etcft 


Vespr, 


Oberhaupt  folgt  in  diesem  zweiten  Teile  das  Soloinstm- 
ment  dem  Chor,  eine  Abwechselung,  durch  die  die  Form 
dieses  Ständchens  sehr  hübsch  belebt  wird.  Die  Rück- 
kehr zum  ersten  Thema  und  zur  Haupttonart  vermittelt 
das  oben  angeführte  Seitenthema  mit  dem  Sechzebntel- 
motiv.  Ehe  ein  Thema  überhaupt  einsetzt,  hören  wir 
immer  acht  Takte,  die  ganz  lose  präludieren,  Tonart  und 
Rhythmus  festsetzen ;  nur  die  erste  Violine  tritt  ein  wenig 
melodisch  daraus  hervor.  Am  Schluß  dieses  Präludiums 
gleicht  der  Klang  dieses  Orchesters  dem  einer  Gitarre. 
In  seiner  Harmonie  tritt  ein  dissonanter  Akkord  stark 
hervor,  den  der  Komponist  im  zweiten  Teil  des  Sätzchens 
überraschend  im  Thema  erklingen  läßt.  Eigentümlich 
ist  auch  das  Ende  des  Sätzchens,  es  macht  den  Eindruck 
einer  eingetretenen  Störung,  als  sei  der  Künstler,  der  die 
Huldigung  bringt,  aus  dem  Text  geworfen. 

Denkt  man  hier  schon  an  Berlioz'  Romeo,  so  noch 
viel  mehr  in  dem  folgenden,  dritten  Satz  der  Serenade 
(Andante,  ^/g,  Adur],  der  als  Liebesszene  betitelt  ist, 
und  wie  aus  der  Verwandtschaft  in  der  Harmonie  schon 
vermutet  werden  kann,  wohl  als  Fortsetzung  des  Ständ- 
chens aufgefaßt  werden  kann.  Wir  verstehen  jetzt  den 
kleinen  Aufruhr  am  Schluß  der  vorhergehenden  Nummer: 
die  Geliebte,  der  das  Ständchen  galt,  ist  gekommen.  Auch 
in  diesem  Satze  kann  von  einer  Berührung  Draesekes 
mit  Berlioz  gesprochen  werden;  sie  äußert  sich  in  einer 


683 


gewissen  Gemeinsamkeit  von  Ton  und  Stimmung,  einer 
außerordentlichen  Zartheit  und  Zurückhaltung  im  Aus- 
druck des  warmen  Gefühls.  Es  ist  eine  Liebesszene,  bei 
der  glühende  Sinnlichkeit  ganz  ausgeschlossen  ist,  sie 
hat  einen  Zug  von  Rührung  und  Frömmigkeit;  man  kann 
an  eine  Liebe  denken,  die  durch  schwere  Hindernisse 
.gegangen,  die  alt  geworden  ist  Die  Form,  die  Draeseke 
hier  wie  im  vorhergehenden  Satz  für  seine  Darstellung 
gewählt  hat,  ist  ungefähr  die  der  Sonatine.  Die  zwei 
Themen 


Andftnte. 


r   7 


und 


Oello. 


folgen  unmit- 
telbar aufein- 
ander.     Das 

erste  trägt  den  Charakter  edelster  Heimlichkeit,  das  zweite, 
mit  dem  der  Vortrag  Dialogformen  annimmt,  zeigt,  wie 

sich  die  Herzen  öffnen.    Ihm  J^^^ *     ^ 

folgt  ein  sehr  zärtlicher  Nach-  -i  M  Cmilrf  f—^^f  ] 
satz,  der  sich  auf  das  Motiv:    ff.       i^"»  n«      .    ■      i 

stützt  und  namentlich  in  der  Quart,  mit  der  es  schließt, 
Träger  freundlicher  und  starker  Hoffnung  wird.  Die  ganze 
Themenreihe  wird  zweimal  vorübergeführt,  das  zweite 
Mal  mit  Veränderungen  und  Erweiterungen.  Dann  folgt 
ein  freier  Schluß,  der,  durch  Rezitative  in  Klarinette  und 


684 


CeHo  eingeleitet,  dramatisch  verläuft  und  sow<^  in 
Wärme  wie  in  Innigkeit  des  Ausdrucks  die  Krone  des 
ganzen  Tonbildes  bedeutet 

Mit  dem  folgenden  Satze,  einer  Polonaise' (AUe- 
gretto  con  brio,  V4i  Ddur),  wird  aus  der  Gartenmusik  ein 
Gartenfest  mit  großer  Gesellschaft.  Diese  Polonaise  ent- 
faltet Prunk  und  VirtuosiUt  (Klarinette).  Das  Trio  (Gdur, 
un  poco  meno  mosso)  ist  als  eine  Szene  abseits  gedacht, 
in  der  zwei  Liebende  in  innigen  Tönen  Zwiesprache 
halten.  Der  Lärm  des  Festes  klingt  in  versprengten 
Rhythmen  herüber,  die  die  Homer,  die  Celli,  auch  ein- 
mal die  Klarinetten  in  die  Ruhepunkte  des  Gesangs  hin- 
einwerfen. 

Das  Finale  (Prestissimo,  d  Ddur]  ist  ein  Sonaten- 
satz.   Sein  erstes  Thema: 

^J, 

i>  -    -    - :   : 

aus  dem  Freude  und  Befriedigung  im  langen  Zuge  strömt, 
setzt  nach  einer  kleinen  Einleitung  ein,  in  der  das  Viertel- 
motiv seines  Anfangs  zu  einem  Ausbruch  des  Humors 
verarbeitet  wird,  der  durch  die  Trugschlüsse  einen  kecken, 
übermütigen   Zug  erhält.     Mehrfach    begegnen  uns  im 
Satze  solche  freie  Wendungen  guter  Laune,  am  über- 
raschendsten bei  dem  B  dur-Einsatze  des  zweiten  Themas 
in  der  Durchführung.   Dieses  zweite  Thema  selbst  ist  in 
der  Stimmung  mit  dem  ersten  verwandt,  nur  äußert  er 
sie  ruhiger. 
E.N.T.BesBieeky        Auch  an  der  Suite  von  E.  N.  von  Reznicek,  der 
Sinfonische     durch  die  Oper  »Donna  Diana<  zuerst  bekannt  wurde, 
Suite.         |g^  ernstlich  nur  die  mißverständliche  und  irreleitende 
Benennung  zu  beanstanden.    Denn  die  Suite  war  jeder- 


686 


zeit  ausgesprochenste  Gesellschaftsmusik;  hier  aher  stehen 
wir  vor  ganz  und  gar  subjektiver  Kunst.  Der  Komponist 
scheint  diesen  Sachverhalt  gefühlt  zu  haben,  als  er  seine 
Arbeit  als  sinfonische  Suite  bezeidinete.  Die  drei 
Sätze,  aus  denen  sie  besteht,  sind  wohl  ein  Niederschlag 
von  tief  greifenden  persönlichen  Erlebnissen  und  Schick- 
salen ihreß  Verfassers;  ein  Zug  leidenschaftlicher  Er- 
regung geht  durch  das  Ganze,  der  alle  diejenigen  Zuhörer, 
die  gewöhnt  sind,  in  der  Suite  von  allem  Pathos  und  allen 
sedischen  Strapazen  loszukommen,  befremden  muß.  Die 
kleine  Enttäuschung  wird  hofifentlich  immer  schnell  über- 
wunden. Denn  Rezniceks  Musik  ist  ;swar  nicht  thema- 
tisch originell,  sie  zeichnet  sich  aber  aus  durch  Klarheit 
und  Knappheit,  durch  eine  unmittelbare,  dramatische  und 
lebenswahre  Empfindung.  Dazu  kommt  noch  eine  sehr 
farbenscharfe,  wirksame  Instrumentierung.  Die  Suite 
Rezniceks  steht  in  dem  neuen  Zuwachs  zur  Gattung  wie 
eine  Traueresche  in  einer  Lindenallee,  sie  ist  aber  nicht 
bloß  merkwürdig,  sondern  auch  wertvoll  und  der  später 
erschienenen  »Tragischen  Sinfonie«  des  Komponisten  vor- 
zuziehen. Indessen  hebt  sich  auch  diese  mit  dem  düstren, 
im  7/4  l'&kt  gehaltnen  Thema  des  Schlußsatzes  weit  über 
die  Mittelmäßigkeit. 

Der  erste  der  drei  Sätze  (C»  Emoll),  Ouvertüre  be- 
nannt, entwickelt  sich  um  zwei  Themen,  deren  Anfänge: 

genügend    er- 
kennenlassen, 
I  ^   — ~i        wie     deutlich 

^rg  ^  j-  ^^^^  <Je'  Kompo- 
nist deuGegen- 
sat^  zwischen 
dem  Sturm  der 
Gefühle  und 
der  Sehnsucht 


Sehr  rtsch  and  mit  Faaer. 


jp  eon  moito  §spFt9at9n$ 


nach  Frieden  gestalte^  hat.  Das  zweite  muß,  wenn  es 
die  höchsten  Wirkungen  ausüben  soll,  immer  plötzlich 
eintreten;  die  Kunst  des  Komponisten  hat  sich  in  den 
Obergängen  zu  zeigen,  die  aus  ihm  nach  der  Aufregung 


^ 


686 


des  Hauptthemas  zurückführen.  Sie  haben  überall  den 
Schein  großer  Natürlichkeit.  Der  Aufbau  des  ganzen 
Satzes  vollzieht  sich  im  bekannten  Sonatenschema,  die 
Durchführung  ist  kurz  gehalten,  der  Schluß  versichert: 
daß  für  weitre  Anfechtungen  und  Prüfungen  noch  ein 
großer  Vorrat  von  männlicher  Kraft  vorhanden  ist 

Der  zweite  Satz  (Adagio,  V4«  Fdnr)  tut  einen  Schritt 
weiter  nach  der  Richtung,  aus  der  das  zweite  Thema  des 
ersten  Satzes  entgegenleuchtete.  Er  wendet  sich  der  Hoff- 
nung schon  mit  dem  ersten  Thema: 

*  \0  ''  in!   f  ly  il'l   I  Ulf  I 


zu.  Noch  entschiedner,  mit 
mächtigem  Schwung,  ge- 
schieht das  aber  im  zweiten 


Thema,  das  sich  vom  folgenden  Anfang  aus: 


zu  einer  zwölftaktigen,  schön  modulierenden,  auf  energi- 
sche Bässe  gestützten,  in  den  Geigen  hochsteigendenMelodie 
entwickelt.  Im  Hauptthema  fällt  die  Dissonanz  sehr  auf, 
die  beim  ersten  Eintritt  im  zweiten  und  vierten  Takt  ange- 
schlagen wird.  Bei  der  Weiterführung  des  Themas  wird  sie 
zwar  vermieden,  aber  es  bleibt  an  ihrer  Stelle  immer  ein 
fremder  Ton,  mit  dem  entlegne,  vereinzelte  Stimmen  in 
hohen  Lagen  einsetzen.  Die  Erinnerung  an  Leid  und  Un- 
glück, die  in  diesen  seltsamen  Akkorden  stechend  mitgeht, 
lebt  in  dem  Adagio  auch  noch  in  einer  andren  Form  leise 
auf:  in  einem  chromatisch  klagenden  Motiv,  das  (in  Fagott 
und  Bratschen,  dann  auch  in  den  Geigen  und  Oboen) 
aa  4(  ^       s  die     kurze 

net.     Bald   lassen   sich  auch    die   punktierten.,   heftigen 


687 


Rhythmen  vernehmen,  die  die  Haiuptträger  des  Unfiriedens 
waren,  der  die  Ouvertüre  beherrschte.  Die  Wiederholung 
bringt  das  Hauptthema  in  einer  Ächtelvariation ;  eine  längere 
Coda  zeigt  nochmals  auf  den  ganzen  Umfang  seines  be- 
ruhigenden und  verheißenden  Inhalts. 

Den  dritten,  den  Schlußsatz  seiner  sinfonischen 
Suite  (Sehr  rasch,  3/4,  EmoU),  hat  der  Komponist  Scherzo 
finale  betitelt  Es  sind  aber  ausschließlich  bittre  Scherze, 
zu  denen  sich  der  Komponist  versteht,  und  der  Humor, 
der  hier  waltet,  ist  der  sogenannte  Galgenhumor.  In 
seinem  pessimistischen,  zuweilen  dämonischen  Charakter, 
in  s^nem  trostlosen,  verzweifi^ten  Ausgang  hat  dieses 
Finale  wenig  Seitenstücke;  als  Suitensatz  ist  es  völlig 
unerhört'  Auch  formell  bietet  es  dem  Zuhörer  Schwierig- 
keiten.   Eine  der  ersten  bereitet  schon  das  Hauptthema: 


Sehr  rssCh  und  «rr«gt. 


1    (Hörner  gestopft.) 

-j- — I  dessen  verzwickter  Rhyth- 
i^r.  -9  -9  |j5.        ^\\ji  ni'is  sich  nur  widerwiUig  in 

^  Bewegung  setzt  Es  zieht 
ein  Gefolge  von  allerhand  elenden  Stimmungen  nach  sich, 
die  sich  'in  winselnden  und  sich  krümmenden  Motiven 
äußern,  es  tritt  in  Bettlergestalt  auf  und  im  Ton  der  Em- 
pörung. Unter  den  Nebenthemen,  die  in  seiner  Gruppe 
auftreten,  tritt  klagen^  ein  schwankender  Gesang  hervor, 
der  zuerst  in  Oboe  und  Bratsche  erscheint: 


Ihm  folgt  dann  das  eigentliche  zweite  Thema  des  Satzes, 
zwar  in  gehaltener  Stimmung,  aber  voll  Resignation  und 
Leiden: 


Violloen  811I  O 


-^    688    4^ 

_  ^    ,        '   -^     _  ^_    Es  wird  sofort  mit  dem 

'"J^Ji  I  J  i|J  O   I  r  f  r  I    r     Hauptthema     kombi- 
^  /etcniert;    neben    dieser 

Kombination  gelangt  noch  das  aus  einer  zufälligen  melodi- 
schen Wendung  iii^__^__^_^4___^^  diesem  Ab- 
hervortregange-  fei'li  ^^^  I  'J^^^J=lschrirttzuwesent- 
ne  Klagemotiv  :^  "^^^-  =^-  lieber  Bedeutung. 
Der  erste  Teil  des  Satzes  schließt  mit  einer  kurzen 
leidenschaftlichen  Wiederholung  des  Hauptthemas  allein, 
die  sich  aus  dem  lauten  Ton  außerordenttich  schnell  in 
die  Stille  und  ins  Gespensterhafte  verUert  Die  Durch- 
führung poltert  mit  den  Rhythmen  des  Hexensabbaths 
herein  und  widmet  sich  dann  bald  der  Durchführung  einer 
Doppelfuge,  die  zum  eirsten  Thema  das  Hauptthema  des 
Finale  hat  und  mit  ihm  folgenden  Kontrapunkt  verbindet: 

f^^i  I  i^;^j  n  I  fTrTPii  I  n  iip 

l.«  c.  Wolf,  Ein  bemerkenswerter  Altersgenosse  der  Suite  Rez- 
Serenade.  niceks  ist  die  nur  zweisätzige  Serenade  (op.  7)  von 
Leopold  Carl  Wolf.  Äußerlich  zpichnet  sie  sich  durch 
ein  konzertierendes  Klavier  aus,  innerlich  durch  die 
seelische  Hingabe  an  Tanz  und  Reigen  und  deren  noble 
Behandlung.  Der  größeren  Verbreitung  des  liebenswürdigen 
Werkes  hat  wohl  der  hinkende  Rhythmus  des  Hauptthemas 
des  ersten  Satzes  im  Wege  gestanden. 
W.  BrftMBfelf»  Unter  den  im  letzten  Jahrzehnt  neu  veröfTentlichten 
Sfrtnade.  deutschen  Suiten  ist  die  Serenade  für  kleines  Or- 
chester (op.  20)  von  dem  Münchner  Walter  Braunfels 
schnell  die  meist  gespielte  geworden.  Sie  entwickelt  ge- 
wohnte Stimmungen  froher  und  beschaulicher  Natur  mit 
gewohnten,  einfachen  Motiven,  aber  mit  einer  Freiheit 
des  Vortrags,  die  das  Interesse  in  ganz  ungewöhnlichem 
Grade  fesselt  und  den  Zuhörer  mit  dem  freudigen  Gefühl 
erfüllt,  eine  frische,  durchaus  selbständige  Individualität 


689 


vor  sich  zu  haben.  Das  bei  aller  Liebenswürdigkeit  etwas 
revolutionäre  Wesen  des  Komponisten  spricht  schon  aus 
dem  Notenbild  der  Partitur,  aus  dem  zuweilen  verwegen 
bunten  Wechsel  des  Taktes,  des  Tempos,  der  Harmonie, 
aus  den  vielen  kecken,  immer  aber  natürlichen  und  ge- 
schickten Kontrapunkten,  mit  denen  er  den  Hauptthemen 
seiner  Sätze  ins  Gesicht  zu  schlagen  hebt.  Am  schönsten 
zeigt  sich  die  außerordentliche  Gestaltungskraft  des  Künst- 
lers, der  seine  tüchtige  Schule  auch  durch  gelegentliche 
Fugen  und  Kanons  beweist,  in  der  organischen  Verbin- 
dung getrennter  Sätze:  Der  ifreundliche  Weckruf,  mit  dem 
der  erste  beginnt,  beherrscht  auch  den  zweiten  Satz  und 
kehrt  im  Finale  wieder. 

An  Zahl  der  Aufführungen  kommt  der  Braunfelsschen 
Arbeit  Max  Regers  Serenade  in  Gdur  (op.  95)  am  näch- 
sten. Sie  gehört  unter  die  besten  Arbeiten  des  frucht- 
baren und  noch  immer  umstrittenen  Komponisten  und 
fällt  besonders  dadurch  stark  ins  Gewicht,  daß  sie  seinen 
poetischen  Beruf  rühmlich  und  unwiderleglich  bescheinigt. 
In  dieser  Beziehung  ragt  unter  den  vier  Sätzen  der  Kom- 
position der  erste  am  hoch-  AUegro  moderato^ 
sten  hervor,  weil  er  in  seinem  = 
Hauptthema  von  dem  Anfang 
aus  eine  ganz  eigentümlich  schöne  Serenadenstimmung 
feststellt  und  entwickelt.  Dieser  aus  sittigem,  dankbarem 
Herzen  quellende  Ton  des  stillen  Glücks  fesselt  in  seiner 
Schlichtheit  und  Liebenswürdigkeit  ohne  weiteres,  erwärmt 
und  erfreut,  so  oft  er  in  dem  breit  ausgeführten  Satze 
wiederkehrt,  und  bestimmt  dessen  Gesamteindruck.  Schon 
im  achten  Takte  wirds  lustiger,  die  Freude  spricht  er- 
regter in  bewegten  und  wechselnden  Motiven,  sie  wandelt 
sidi  in  kräftigen,  auf  Dissonanzen  gestellten  Gängen  zu 
einer  Art  Kampfeslust,  die  Gedanken  richten  sich  auf 
Gegner  und  Widerstände,  es  kommt  zu  einer  zweifelnden 
Frage.    Da  lenkt  das  zweite  Thema: 

r  f  r  if'^  etc. 


D_Gi8    1) 


H      E— A      E—     A—       D 


M.  Beger, 

Serenade. 


Kretzschmar,  F&lirer.    I,  1. 


44 


f 


-^    690    <►— 

zu  der  glückliclieii  Ausgangsslimmung  zurück  und  ganz 
folgerichtig  beginnt  die  sofort  anschließende  Durchführung 
mit  dem  JBauptthema  und  der  ihm  zugehorenden  Gruppe. 
Bald  kommt  in  dieser  Durchführung  eine  sehr  frappante 
Stelle:  Im  AugenbUck  der  derbsten  Fröhlichkeit  bricht 
das  YoUe  Orchester  auf  einen  Trugschluß  ab,  aus  un- 
heimlicher Stille  heraus  klingen  kurze  Klagen,  denen  das 
Hauptthema  in  ganz  veränderter,  in  trauernder  Gestalt 
folgt  Ein  Fugato  über  eins  <>  #  ^^g_  _  . 
der  herzhalten  Zwischen-  g*  T^LT  f  f  f  f  I  [1*^1*  fj 
themen  der  ThemenraruDne:     *•  y:::^"^^— i^st: 


themen  der  Themengruppe: 
hilft  über  die  Krisis  hinweg,  das  Hauptthema  kehrt  in 
verkürzten  Rhythmen,  in  streitbarer  Form  wieder  und  ver- 
einigt sich  dann  mit  dem  zweiten  Thema. 

Wie  sich  aus  diesen  Proben  ergibt,  hat  auch  dieser 
erste  Satz  der  Regerschen  Serenade  etwas  viel  kunstvolle 
Arbeit,  er  ist  auch  in  der  Qualität  der  Einfälle  und  den 
aus  ihnen  gebildeten  Abschnitten  nicht  gleich  gut,  aber 
doch  wird  die  sorglose  Freude  am  Handwerk  immer  wieder 
von  einer  höheren  Dichterkraft  gezügelt.  Sie  hat  auch 
die  Disposition  des  Orchesters  bestimmt:  die  Streicher 
sind  in  zwei  Chöre  geteilt,  der  zweite  spielt  mit  Sordinen, 
der  erste  ohne  Dämpfer.  Der  zweite  ists,  der  in  den 
beiden  Schlußtakten  des  ersten  Satzes  das  Hauptthema 
zum  letzenmal  intoniert  Als  der  schönste  Gedanke  und 
als  Seele  der  ganzen  Serenade  kehrt  es  auch  im  zweiten 
Satz  (vivace  a  Burlesca]  und  es  kehrt  im  vierten,  dem 
Finale  wieder.  An  Wert  steht  dem  ersten  Satz  der  dritte, 
ein  einfach  gesangreiches  Andante  semplice  (Adur,  3/4)  am 
.  nächsten. 

Eine   gleich   der  Serenade   von   Braunfels   aus   der 

Münchner  Schule  stammende,  sehr  erfreuliche  Arbeit  liegt 

i.Bmt-      in  Anton  Beer-Walbrunns  »Deutscher  Suite«   (op.  22) 

Wftlbraam,    in  Dmoll  vor.    Der  Titel  deckt  keine  Bflder  spezifisch 

Dentache  Suite. ^^^^^jjj^jj  Lebens,  bedeutet  aber  wohl  eme  Absage  an 

neue,  ausländische  Musikmoden  und  Extravaganzen.    Es 

ist  eine  Suite  nach  dei^  alten  guten  Mustern  der  Zeit  von 

Brahms   und  Volkraann,   und  der  Komponist  sucht  das 


— ♦    691     <^~ 

Deutschtum  in  einer  freundlichen  und  gesitteten  Phau« 
tasie  auf  der  einen,  in  der  Einfachheit  und  der  Klarheit 
der  Tonsprache  auf  der  andern  Seite.  Die  vier  Sätze 
bestehen  aus  einem  »Vorspiel«,  in  dem  sich  erregtere, 
sehnende  Motive  mit  kurzen  ruhigen  Kantilenen  ausein- 
andersetzen, einer  »Elegie«,  die  den  Sieg  still  froher 
HofE^ung  über  leichte  Melancholie  schildert,  einem  »Lied« , 
das  ohne  Worte  Glück  und  Zufriedenheit  in  der  Form  von 
Thema  und  Variationen  feiert,  und  einem  »Reigenc,  der 
das  Ganze  im  Tone  bewegterer  Freude  und  heiteren  Spiels 
abschheßt.  Es  sind  für  Jedermann  verständliche  und  an- 
heimelnde Tonbilder,  Dichtungen  Geibelschen  Schlages, 
durchweg  natürlich,  liebenswürdig  anmutig  und  meister- 
haft knapp. 

Für  den  Humor  in  der  Grattung  ist  kürzlich  unter  B.  ScUm» 
verdientem  Beifall  Bernhard  S  ekles  mit  einer  Smte  (op.  21)  Kleine  Suiu. 
eingetreten,  die  »dem  Andenken  E.  T.  A.  Hofifmanns  gewid- 
met« ist  und  in  vier  Sätzen  Charakterbilder  nach  dem 
Creschmack  dieses  verwegensten  und  kuriosesten  Kämpen 
deutscher  Romantik  vorführt.    Beim  ersten  Satz  (Scher- 
zando)  scheint  dem  Komponisten  eine  der  bei  HofEmann 
häufigen  Jongleurfiguren  vorgeschwebt  zu  haben,  die  auf 
Schritt  und  Tritt  iiberraschen  und  als  Repräsentanten 
einer  verkehrten  Logik  stets  anders  handeln  und  denken, 
als  erwartet  wird.    Der  musi->j-^j,  „-^  ^\^^  f  ^  ,i.pr»n  _  E=^ 
kaiische  Schlüssel  des  Satzes  g^  H^  P'l  I  I  II   =tfc=^'=^ 
liegt  gleich  im  Eingangsmotiv:  dZZZZZZZZ 

Der  Widerspruch  dieses  es  gegen  den  DmoU-Akkord  setzt 
sich  bis  in  die  letzten  Takte  fort,  wo  endlich  die  Lösung: 
-P  L*^  A  ihr  fr  *  •  erfolgt.  In  diesem  Suchen  nach  dem 
9 '  P  I  'II  1^  richtigen  Ton  berührt  sich  der  Satz 
mit  dem  Zauberlehrling  von  P.  Dukas.  Der  Weg  nach  dem 
Ende  ist  wesentlich  mit  Ketten  von  Nonenakkorden  und 
andren  Harmoniespäßen  gepflastert,  es  liegt  aber  auch  in 
der  tändelnden,  schwankenden,  rückgratlosen  Melodiebü- 
düng  viel  Witz. 

Der  Kern  des  zweiten  Satzes  ist  der  Ausdruck  der 
Beschränktheit   im   Thema   des   Menuetts.     Es   zeichnet 

44* 


^^    692    <i^ 

einen  offenbaren  Dummkopf,  der  bläht  sich  nun  des  wei- 
tem auf  und  bringt  es  wirklich  bis  zu  einem  Schein  voii 
Gravität  und  Größe.  Das  Intermezzo  macht  mit  einem 
Gecken  bekannt,  der  mit  seinem  Gefühl  kokettiert  Der 
Gegenstand  des  Finales  endlich  ist  die  sprechende  Puppe 
Hoftmanns,  die  durch  die  Ofifenbachsche  Operette  welt- 
bekannt gewordene  Olympia. 
E.  T.  DoiiHiBjly  Auch  die  in  FismoU  beginnende,  in  Adur  schließende 
Suite.  Suite  (op.  19)  von  Ernst  von  Dohnänyi  gibt  dem  Hörer, 
wenigstens  im  zweiten  und  dritten  äatz  mancherlei  zu 
raten,  jener,  das  Scherzo,  durch  den  verdrießlichen  und 
unwilligen  Humor  des  Hauptsatzes,  der  durch  den  zurück- 
haltenden und  scheuen  Charakter  der  freundlichen  Ab- 
stecher sehr  originell  und  schön  kontrastiert  wird,  dieser, 
eine  serenadenhaft  präludierte  Romanze,  durch  seine  har- 
monisch merkwürdig  schillernde,  hell  und  dunkel  blitz- 
schnell wechselnde  Romantik.  In  beiden  Fällen  kommen 
fremdländische,  außerdeutsche  Musik-  und  Kulturelemente 
fesselnd  zur  Geltung.  Das  Hauptstück  der  Suite  ist  ihr 
erster  Satz,  der  sechs  Variationen  über  ein  eignes  Thema 
des  Komponisten  bringt,  eigen  auch  durch  seine  Kon- 
struktion: der  Vordersatz  hat  fünf,  der  Nachsatz  vier 
Takte.  Die  Entwicklung  folgt  dem  Prinzip  des  Kontrastes, 
der  Preis  unter  den  einzelnen  Variationen,  die  sich  all^ 
durch  Klarheit  des  Charakters  auszeichnen,  würde  bei 
einer  etwaigen  Abstimmung  wahrscheinlich  der  ritterlichen 
zweiten  mit  den  energischen  Hörnern  zufallen.  Bei  aller 
Einheitlichkeit  ist  der  Satz  dennoch  stilistisch  sehr  mannig- 
faltig, die  erste  Variation  z.  6.  überrascht  durch  BläsersoU 
'  Lachnerschen  Andenkens,  aber  in  anderer  und  höherer 
Tendenz.  Daß  wir  es  in  dem  Komponisten  mit  einem 
Talent  ersten  Ranges  zu  tun  haben,  geht  besonders  aus 
der  großen  Menge  musikalischer  Elementareffekte,  voran 
die  rhythmischen,  hervor.  An  den  Ständchencharakter, 
der  vom  Anfang  der  Suite  immer  wieder  einmal  durch 
bloßen  Akkord  und  Rhythmus  markiert  wird,  erinnert 
namentlich  der  Schlußsatz:  sein  Hauptthema  ist  eine. 
Marschweise,  die  bedächtig  beginnt  und  plötzlich  nrkräftig 


_^    693    ^—     . 

dreiüschlägt,  ihr  Gegensatz  eine  Melodie  mit  ausgeprägt 
Bralimsschen  Zug. 

In  einer  andern  Beziehung  knüpft  auch  die  Adur-  H«i[Artoaa, 
Suite  (op.  16j  von  Henri  Marteau,  der  ja  doch  wohl  Suite, 
der  deutschen  Musik  zugezählt  werden  darf,  an  frühere 
Perioden,  nämlich  an  die  Zeit  an,  wo  Fischer,  Schmierer, 
Fux  u.  a.  in  die  Orchestersuite  Solospiel  einführten.  Durch 
die  vier  Sätze  marschiert  eine  Solovioline  an  der  Spitze 
der  Instrumente  und  bestimmt  mit  ihren  virtuosen  Künsten 
den  Charakter  der  Komposition  so  sehr,  daß  sie  richtiger, 
ähnhch  wie  Lalos  »Symphonie  espagnole«,  in  der  Rubrik 
des  Konzerts  gebucht  wird. 

Eine  wirkliche  Suite,  die  wenigstens  teilweise  vom  K. Kuyper, 
Geist  der  alten  Zeit  berührt  ist,  hegt  dagegen  in  der  Serenade. 
Serenade  (in  D,  op.  8)  von  Elisabeth  Kuyper  vor. 
Ihre  beiden  ersten  Sätze,  Marsch  und  Pastorale,  sind  Volks- 
musik bester  Art:  so  einfach  und  doch  gewählt  wie  die 
Lieder  Uhlands  und  Mörikes  und  dabei  musterhaft  in 
der  Kunst,  mit  schlichtesten  Mitteln,  besonders  gern  mit 
Änderung  der  Instrumentierung,  zu  überraschen  und  Zw 
erfreuen.  Ihre  Form  ist  die  des  dreiteiligen  Lieds  mit 
bescheidenen  Erweiterungen  der  Teile.  Mit  dem  dritten 
Satz  wird  die  Musik  moderner  und  greift  nach  Form, 
Temperament  und  Phantasie  ins  Große;  ein  kecker,  süd- 
licher, direkt  an  Rossini  erinnernder  Zug  macht  sich  gel- 
tend. Er  charakterisiert  auch  das  außerordentlich  flotte 
Finale,  dem  einleitend  ein  originelles  Andante  vorausgeht, 
eine  Art  Liebesdialog,  in  dem  die  rezitativisch  sprechende 
Solovioline  das  männUche,  ein  sehr  schöner,  weicher 
Bläsersatz  das  weibhche  Element  vertritt.  Man  muß  diese 
Serenade  unter  die  hebenswürdigsten  neueren  Beiträge 
zur  Gattung  rechnen. 

Obwohl  sie  nur  ein  Bruchstück  ist,  darf  am  Schluß  B.  StravS, 
dieser  Übersicht  die  viel  gespielte  Serenade  für  Bläser  Serenade, 
von  Richard  Strauß  nicht  fehlen.    Sie  beschränkt  sich 
auf  ein  Andante,  das  aber  so  reizend  ist,  daß  der  Wunsch 
nach  den  fehlenden  Sätzen  sehr  lebhaft  wird.    Die  Kom- 
position  fallt  in   die  frühe  Jugendzeit  von  Strauß,   und 


— ^    694    ^»^ 

wäre  sie  bei  der  ersten  (Münchner)  Aufführung  als  ein 
unbekanntes  Werk  Mozarts  ausgegeben  worden,  so  würden 
nur  wenige  Verdacht  geschöpft  haben.  Gleichwohl  merkt 
man  in  ihr  schon  den  geborenen  Meister  des  Kolorismus. 


Wenn  die  unbetitelte  oder  absolute  Sinfonie  die  lebens- 
gefährliche Krise,  in  die  sie  um  die  Mitte  des  neunzehnten 
Jahrhunderts  unter  dem  Ansturm  von  Programmsinfonien 
und  sinfonischen  Dichtungen  geraten  war,  vorläufig  wieder 
überstanden  hat,  so  verdankt  sie  das  vor  allem  dem  Ein- 
greifen von  Brahms  und  Brückner,  die  den  Beweis 
erbrachten,  daß  die  Formen  Beethovens  doch  noch  nicht 
abgetan  seien.    Aber  es  muß  auch  der  Männer  gedacht 
werden,  die  vor  ihnen,  in  der  schlimmen  Zeit  das  klas- 
sische Terrain  so  gut  als  möglich  zu  behaupten  suchten. 
Zum  Teil  kamen  sie  noch  aus  der  Mendelssohnschen  Schule. 
Mendelssohn  nahm  die  Geister  seiner  Zeitgenossen  mit 
einer  Kraft  in  Beschlag,  der  sich  selbst  ältere  Tonsetzer  nicht 
K.  G.  Bditlgtr  entziehen  konnten.  Reissigers  Es dur-Sinfonie (1839) bietet 
hierfür  den  Beleg.   Aber  die  Sinfoniker,  wdche  sich  seiner 
Richtung  ganz  lüngaben,  hatten  nur  einen  kurz  dauernden 
Erfolg.  Nach  einem  Jahrzehnt  schon  schwanden  die  Sinfonien 
Wilh.Taibert.von  Taubert,  die  Es  dur- Sinfonie  von  Rietz,  Hillers 
K4.Hfets.Einoll- Sinfonie  (mit  dem  Motto:  »Es  muß  doch  Frühling 
^'^l^^y* werden«),  ebenso  wie  die  von  W.  MarkuU,  J.  Netzer, 
J« Heiser! 0.  Nicolai,   Th.  Täglichsbeck,   von   E.  Naumann, 
o.BIeeUi.R.  Radecke,  J.  Rosenhain,  A.  Walter,  vollständig  vom 
^'^HMiluun!  R^P^'toire,  und  von  den  spätem  Nachzüglern  der  Schule, 
K.  Bftieeke!  ^^^^^^  Reihe  bis  auf  G.  Si  Satos  reicht,  haben  die  Sinfonien 
J.  Beeeebata.  Von  Hol,  J.  Zellner  (»Melusine«),  weitere  Beachtung  Über- 
1.  Walter,  haupt  nicht  mehr  gefunden.  Auch  diejenigen  Werke,  welcher 
B.  Hely  ZellBer.  joi^  Ujj^y  geistigen  Basis  tiefer  in  Schumann  hinabüiuchen, 

sind  schneller  bei  Seite  gelegt  worden,  als  sie  es  ver- 
dienten.   Wir  nennen   die  bereits  erwähnte  Sinfonie  in 
W.BergleLGdur    von   W.  Bargiel    und    die    Adur-Sinfonie    von 
C.  Belaeeke.  C.  Rein  ecke,  welche  in  ihren  letzten  beiden  Sätzen  wirk- 
lich originelle  Erfindungen  des  Humors  und  der  Anmut 


695    >— 

bietet  Eine  zweite  Sinfonie  Reineckes,  in  C  moll,  die  i.  J. 
1874  erschienen  ist,  interessiert  vomehmlicli  darum,  weil 
sie,  ähnlich  wie  die  Arbeiten  Berlioz'  oder  Aberts  >Golam- 
bus«,  in  den  alten  Formen  Programmtendenzen  verfolgt. 
Ihre  Sätze  geben  Bflder  ans  dem  Leben  Hakon  Jarls  wieder, 
den  der  Komponist  auch  zum  Gegenstand  einer  Kan- 
tate f&r  Männerchor  gewählt  hat.  Eine  dritte  Sinfonie  CBctaMke, 
Reineckes  (Gmoll,  op.  227)  steht  der  Scl>umannschen  Dritt«  Sinfonie. 
Schule,  mit  der  schon  die  zweite  kaum  noch  Nennens- 
wertes gemein  hat,  ganz  fem.  Indem  der  Komponist  das 
für  die  Musik  und  für  die  lyrischen  Künste  immer  wieder 
neue  Bild  belohnten  Kampfes  in  der  Spiegelung  vorführt, 
die  es  in  seiner  maßvollen,  harmonisch  abgeklärten  Natur 
erfährt,  tritt  er  uns  kräftiger  als  je  entgegen.  Volkmann, 
Spohr  und  Gade  sind  die  verwandten  Künstler,  mit  denen 
er  sich  der  Reihe  nach  hier  berührt. 

Im  gleichen  Grad,  wie  der  geistige  Einfluß  Mendels- 
sohns und  Schumanns  verblaßt,  wädist  die  Einwirkung 
Beethovens.  Neben  ihm  in  zweiter  Linie  tritt  das  Vorbild 
Schuberts  stärker  hervor.  Seine  Cdur-Sinfonie,  mit  ihrem 
Finale  namentlich,  und  Beethovens  neunte  Sinfonie  sind 
diejenigen  Werke,  durch  welche  die  klassische  Periode  in 
die  Sinfonieliteratur  des  Bismarckschen  Zeitalters  am 
mächtigsten  hineinklingt. 

Unter  den  namhaften  hier  in  Betracht  kommenden  1*  Bablntteln, 
Sinfonikern  gebührt  nach  der  Andennität  der  Vortritt:  8infbnl«Hr.i 
Anton  Rubinstein.     Seine   erste  Sinfonie  (Fdur),   im  <^*"' ^'•^•J- 
Jahre  1864  veröffentlicht,  heute  nur  wenig  gekannt,  fölU 
noch  in  die  Blütezeit  der  Mendels sohnschen  Schule  und 
trägt  in  ihren  ersten  beiden  Sätzen  die  Spuren  derselben. 
Ihre  letzten  Sätze  sind  selbständig  und  lassen  die  Ver- 
gessenheit bedauern,  welche  sich  über  das  ganze  Werk 
gebreitet  hat   Von  den  sechs  Sinfonien  des  Komponisten 
sind  zwei  eine  Zeit  lang  Gemeingut  der  musikalischen  Welt 
geworden:  die  Sinfonie   »Ozean«   und  die   »dramatische 
Sinfonie«  (Nr.  4). 

Obgleich  die  Ozeansinfonie  Franz  Liszt  gewidmet  ist, 
steht  sie  doch  mit  der  Programmusik  nicht  im  engeren 


^^    696    ^^ 

Zusammenhang.    Dir  Stil  ist  der  Beethovensdie  und  ihr 
Titel  gibt  der  Phantasie  nur  einen  leichten  Anhalt.    Daß 
Rubinstein  unter  die  größten  musikalischen  Erfindematuren 
der  neueren  Zeit  gehört,  beweist  der  erste  Satz  dieser 
A. BMblitieii»  Ozeansinfonie:  ein  geniales,  reiches  Tonstück,  von  mäch- 
iäinfonie  »Oceanc.  i^jgQ].  S^jj^jQijQg  getragen,  im  großen  Zuge  entworfen,  mit 
(0p*42}.        glücklichen,    eigen tümhch   anschauUchen   Musikgedanken 
ausgestattet,  aber  etwas  ungleich  durchgeführt.   Sucht  man 
nach  den  näheren  poetischen  Beziehungen  des  Satzes  zum 
Titel,  so  stellt  sich  am  ungezwungensten  das  Bild  der  Aus- 
fahrt ein.    Dazu  stimmt  das  erste*  Thema: 


Xoderato  MSai  >  i 


fST^i  hi     ^^  ^^  ^^^  erwartungsvoll  leise  aufflattert 
-jf^  ]    '  =:^  und  dann  in  der  prangenden  Pracht  des 
*£    t  '  vollen  Orchesters  vorüberzieht.   Seinen  Ab- 


f 


■> 


Schluß  erhält  es  in  einer  breit  ausgreifenden, 
vom  warmen,  innigen  Gefühl  durch  wogten  Gesangsmelodie 

weldie  in  der 
Durchfuhrung 
yvioi.  •  •  -  •        ♦ — >-  -      '  große  Bedeu- 

tung hat.  Zu  der  stillen  Majestät  des  Ozeans  passen  die 
lang  und  ruhig  dahinklingenden  Dreiklangsharmonien,  an 
denen  die  Bewegung  des  Satzes  so  häufig  Halt  macht. 
Den  drohenden  undbeängsti-    ^       .    _  .  ^">i  wel-' 

genden  Charakter  des  Meeres  m  j^J»  J1  j  J  N  ■■  ^^^  ^^' 
deutet  das  Trompetenmotiv  ^_^.i3??  #  mentiidi 
dort  an  der  Stelle,  wo  das  hegende  g  mit  den  Harmonien 
des  Chors  in  Dissonanzen  lange  wechselt,  zu  sehr  un- 
heimUcher  Wirkung  gelangt.  Das  zweite  Thema  des  Satzes : 


*  J  1^  ^-JH  ^^^  ^  anmutiger  Form  ernst  beschaulichen 


Gedanken   Raum.     Die  Durchfi^hrung   der 


~*    697     ^- 

vielseitigen  Ideen  zeichnet  sich  durch  Ruhe  und  Vor- 
nehmheit aus.  \ 

In  dem  zweiten  Satze  der  Sinfonie:  Adagio  (EmoU,  C) 
liat  folgende,  merklich  Mendelssohnierende  Melodie 

die  Führung.  Das  zweite  Tliema,  seinem  Charakter  nadi 
noch  tiefer  fragend,  fangt  mit  einer  aus  Schumanns 
C  dur  -  Sinfo- 
nie bekannten 

Wendung  an:    "  '  '  «*e^ 

In  den  Streichinstrumenten  erhalten  durchgeführte  leichte 
Begleitungsfiguren  die  Gedanken,  an  das  Spiel  der  Wellen 
wach.  Die  Ausführung  der  Ideen  ist  knapp;  die  poetische 
Hauptstelle  des  Satzes  liegt  kurz  vor  der  Reprise:  da,  wo 
das  Hörn  seinen  Ruf  in  die  Stille  hinaus  erschallen  läßt, 
wo  die  Pauke  zu  dem  Solo  der  Klarinette  ausdrucksvoll 
wirbelt. 

Der  dritte  Satz  (Allegro,  2/4»  Gdur)  könnte  eine  lustige  See- 
mannsszene    be-       ^  ^ 

STbSS^^i  u  lujj  'I I'  ^  in  I  ri  i'ir 


themabeginnt  derlr 
fröhlich   animiert:  co-»'*»«- 

und  erweckt  bei  den  anderen  Instrumenten  in  einer  Reihe 
wilder  Triller  ein  verstärktes  Echo  seiner  Stimmung.  Im 
zweiten  Thema  wird  der  Humor  etwas  breit  und  quer- 
köpfig. Das  an  und  für  sich  treffliche  Material  des  Satzes 
ist  in  der  Verarbeitung  ziemlich  zersplittert  worden. 

Das  Finale  beginnt  frohbewegt,   als   wenn   es  heim- 
wärts ginge. 

Das  Haupt-       AUegro  con  fnoco.         .  ,    .  ^^^  den   Se- 
thema       wiegt  ff  *  JJ'J  1  j!f'T-l  U*  ^'^    I  quenzen    die- 


sich  lange  auf  ^  ser Motive  und 

schheßt  dann      ^     ^ 

kräftig   be- ^iffftririfiri^^f^^,,. 


-^    698 
Im  zweiten  Thema: 


*-y 


(Op.  95). 


i  "i'j.  jirTT/  11  I 

wird  aas  der  Freude  Dankbarkeit,  un4  diese  nimmt  in 
einem  Choral,  der  schon  in  der  langsamen  Einleitung  des 
Satzes^  auftritt,  den  rein  feierlichen  Charakter  an.  Groß 
und  erhaben  gedacht  ist  das  Finale  der  Ozeansinfonie  — 
aber  matter  erfunden  und  bequem  gearbeitet 

Später  hat  Rubinstein  den  vier  Sätzen  seiner  Ozean- 
sinfonie noch  einen  filnften  und  sechsten  hinzugefügt: 
ein  Adagio  in  Ddur,  welches  als  zweite  Nummer  der 
neuen  Ausgabe  an  die  Gedanken  des  zweiten  Themas  des 
ersten  Satzes  leicht  anknüpft,  und  als  vorletzte  Nummer 
ein  phantastisch  belebtes,  von  innigem  Gresangston  durch- 
zogenes Scherzo  in  Fdur. 
A.BBbiMielB,  Die  »Sinfonie  dramatique«  (Nr.  4,  DmoU)  ist  Rubin- 
^»Sinfonio^  steins  bedeutendste  Leistung  auf  dem  Gebiete  der  hohem 
^^^^^*  Orchesterkomposition.  Nach  der  natürlichen  Größe  von 
Empfindung  und  Phantasie,  nach  der  Stärke  der  ange- 
borenen Dichterkraft,  nach  Einfachheit  und  Bestimmtheit 
des  Ausdrucks  gemessen,  würde  sie  eine  der  hervor- 
ragendsten Erscheinungen  der  ganzen  sinfonischen  Lite- 
ratur bilden,  wenn  der  Komponist  mehr  Strenge  und  Selbst- 
kritik geübt  hätte. 

Ihr  erster  Satz  namentlich  ergreift  und  erschüttert  wie 
wenige  Tonstücke.  Dem  Inhalte  nach  tragischer  Natur, 
zeigt  er  manche,  auch  technisch  erkennbare,  Berührungs- 
punkte mit  den  Eingangssätzen  der  Faustsinfonie  von  Liszt 
und  Beethovens  Neunter;  mit  der  letzteren  in  der  Menge 
gewaltiger  Trugschlüsse  und  in  den  einschneidenden  Wir- 
kungen des  verminderten  Septimenakkords.  Die  Form  ist 
eigentümlich,  aber  einheitlich  und  klar  disponiert  Eine 
Hauptstütze  des  ganzen  Organismus  bildet  die  murrende 
und  suchende  Figur,  Lento^ 
mit  welcher  die  Bäss< 
die  Einleitung  beginnen : 
Sie  geht  im  Laufe  des- Satzes  viele  Verwandlungen  ein. 


699 


erscheint  bald  in  breiten,  bald  in  flüchtig  dahineilenden 
Rhythmen,  stellt  sich  jetzt  an  die  Spitze  des  Orchesters 
und  verbirgt  sich  dann  in  der  Mitte  oder  in  der  Tiefe. 
Aber  immer  ist  sie  da,  reguliert  den  dämonischen  Puls 
der  Tondichtung  mit  ihrem  Schlage  und  durchklingt  den 
ganzen  Satz  wie  Windesbrausen  und  Glockengeläute.  Den 
regelmäßigen  Begleiter  dieser  Hauptfigur  bildet  von  der 
Einleitung  ab  das  leiden-  -j^a^p^i^Jjy]  |  welches  sicli 
schalllich  zuckende  Motiv:  ^  1  ■*  ■*  '"''*'  I  mit  schmerz- 
hafter Dissonanz  häufig  in  die  Klagen  der  Instrumente 
hineinbohrt  Der  Expositionsteil  des  Allegro  zerfallt  in 
fünf  Szenen. 

Die  erste  breitet  in  einem  langen  Zuge  das  Haupt- 
thema, ein  getreues  Abbild  leidenschaftlicher  Verwirrung, 


hin: 


AlUf^ro  moderato. 


ijij^iiTrrriiri^''<'rirri 


Seine  Aufregung  bricht  sich  an  einer  Gruppe,  in  welcher 
die  Musik  nicht  in  zusammenhängenden  Gedanken,  son- 
dern in  Inteijektionen  und  Naturtönen  spricht:  in  üema- 
tisch  herausgestoßenen  Trillern,  im  kurzen  schweren  Auf- 
schrei der  Bläser  und  in  scharfen  Dissonanzen,  welche  in 
ihrer  Art  und  in  ihrer  Einführung  an  diejenigen  erinnern, 
wMche  im  ersten  Satze  von  Beethovens  Eroica  der  Emoll- 
Episode  vorangehen.  Und  nun  beginnt  die  dritte  Szene. 
Von  einem  milden  und  beschwichtigenden  Gesang  der 
Klarinette  präludiert,  tritt  das  zweite  Thema  ein,  eine  der 
schönsten  musikalischen  Darstellungen  vom  Zustande  eines 
Herzens,  in  welchem  die  Hoffnung  mit  der  Furcht  kämpft: 


«99 


»VF»g, 


700 


Iq  jedem  Takt  ein  anderer  schöner  Zug:  Wie  die  Violinen 
Trost  zosprecheuy  wie  das  Hom  absetzt  und  ansetzt,  höher 
und  höher  geht,  zuletzt  im  langen  Gang  sich  ausspricht, 
selbst  in  der  kleinen  Dissonanz  des  a  im  ersten  Takte  — 
in  allem  liegt  eine  Wärme,  Anschaulichkeit,  Unmittelbarkeit, 
eine  Naturwahrheit,  wie  sie  nur  die  genialsten  Künstler 
ab  und  zu  erreichen.  Die  Szene  wird  hauptsächlich  auf 
Grund  der  beiden  eingehakten  Takte  weitergeführt  und 
endigt  mit  einer  Wendung,  welche  der  eigentümlichen 
Schönheit  des  ganzen  Bildes  würdig  ist:  Kurz  und  über- 
raschend modulieren  die  Blaser  in  sanften  Akkorden  von 
B-  nach  Ddur  und  halten  die  neue  Harmonie  leise  mit 
einer  langen  Fermate  wie  eine  freundUche  Vision  fest  Als 
sollte  der  Traum  nicht  gestört  werden,  bringen  darauf  die 
tiefen  Streich-       .  ^v^  ^_  gehen     aber 

instmmente       »J'  f  P  p   [1^  tf  ^  »f    ,   ;    bald  mit  ihm 
pp  das  Motiv         ^f'  wieder     ins 

Stürmische  und  zur  fünften  Szene  des  ExpositionsteiLs 

über,       deren     m       ^   ..■ i    _     ^ 

Thenia  h«mi-  jff  f^P  |  f  I  |  I  l'  1 1 'l  f  PI"  ' 
scher  Natur  ist:       ^ 

Die  Durchfuhrung  beginnt  als  wörtliche  Wiederholung 
der  ersten  Szenen,  setzt  aber  dann  die  Schilderung  des 
Konflikts  zwischen  Mut  und  Zweifel  mit  selbständigen, 
neuen  thematischen  Ideen  fort  und  nimmt  im  Schluß- 
teil einen  trüben  und  hocherregten  Charakter  an.  Mit 
harten  Dissonanzen  und  chromatischen  Passagen,  welche 
in  lisztscher  Weise  stilisiert  sind,  wird  der  Obergang  zur 
Reprise  bewerkstelligt,  welche  den  Inhalt  des  Expositions- 
teÜs  in  gesteigertem  Ausdruck,  das  Hauptthema  noch 
wilder  und  das  zweite  Thema  noch  rührender,  vorüber- 
führt. 


701 


Der    zweite    Satz,    ein     Presto    (Dm oll)    in    drei 
Teilen,  beginnt  Preito.  »     g 

mit  einem  klei-   jfi  »  38    I  I J  1   I   i     '     '  1  I   l'l  I   I    '     ' 
nen    Schreck:   «     ü^iii^'  'iü;ii^' 

Erst  nach  diesen  durch  die  Generalpausen  mächtig  ver- 
stärkten Alarmsignalen  setzt  das  stürmische  Hauptthema, 
in  seiner  Konstruktion  auf  folgendes  kurze  Modell  gestützt: 
Fretto.  ein.    Durch  das  ganze  Stück 

bleibt  ein  herber,  harter  Zug 
vorherrschend.  Die  freund- 
lichen Seitenpartien,  welche  in  mannigfiachen  Nebenthemen 
betreten  werden,  wie  in  den  ballett-  und  tanzartigen  Weisen: 


ur  r:=,x==s==r=:^r-r=r-  — :.s-=r=rj::-:r'=r=r^:-^=r=-s:^= 


vr 


»p 


■■  i    I   rjf  mT" 


■  f-^|»T,.l 


'+-*■ 


1    ''    ^ 


führen  immer  wieder 
-..^=)  in  den  Hauptweg  zu- 
^'^  '  rück,  und  selbst  in 
dem  Allegretto,  welches  in  dem  Satze  die  Stelle  des 
Trio  vertritt  -y^gy  »<>»*'<»??<>•  vio^.  — ,    verdrängen 

—  der  An-  jt  J  LX^f  *^  ^  f  ^  '  J  *■  J  i  ^  ^^  überwiegen- 
fang lautet :  ^^^^^^^^^^^?T^  den  alarmieren- 
den Elemente  die  Versuche  zum  freundlichen  Gesang. 
Mit  dem  Finale  der  Sinfonie  hat  dieser  zweite  Satz  die 
reiche  Verwendung  von  Motiven  aus  der  slavischen  Volks- 
musik gemeinsam. 

Das  Adagio  (Fdur,  Va)  ^^^  Sinfonie  ist  einer  der 
schönsten  melodiereichsten  Sätze  der  neueren  Instru- 
mentalmusik, von  einer  Milde  in  Charakter  und  Stim- 
mung, die  seine  Betrachtung  zum  reinsten  Genuß  macht. 
Seine  Hauptmelodie: 


702 


in  welcher  die  Beethoyenschen  Ele- 
mente reich  vertreten  sind,  wird 
durch  ein  Seitenthema  abgelöst  nnd 

ergänzt,   dessen   Ausdruck    und  Abschluß    eigentümlich 

schön  ist: 


Auf  diese  Hauptgruppe  folgt  eine  Szene,  die,  melo- 
disch auf  Bagatellen  beruhend,  über  kurze  Motive  schwärmt 
und  in  entlegene  Harmonien  träumt.  In  der  Süßigkeit  der 
Stimmung,  in  der  ungezwungenen  Innigkeit  des  Tons  er- 
innert sie  an  eine  Liebesszene.  Über  dem  Ende  des  Satzes, 
wo  die  Bässe  und  Celli  choralartige  Weisen  anstimmen, 
liegt  religiöse  Weihe. 

Nach  einer  langsamen  Einleitung  beginnt  das  Finale 
mit  einem  Thema,  das  in  seiner  stürmischen  Natur  und 
in  seinen  AJiefroconfMco.  wörtlich  mit  einem  sehr 
Anfangs»  A;  ^T7**^>J  j  ^j  bekannten  Gedanken  aus 
noten:  «^  /  ""i"^  Beethovens  Kreuzersonate 
übereinstimmt.  Das  Finale  ist  lebendig  froh  gedacht,  aber 
ziemlich  breit  und  mit  Einmischung  sdtsamer  Ein&lle 
ausgeführt.  Das  beste  an  dem  nur  schwachen  Satz  ist 
das  zweite  Thema: 

1 1  ^  iiüM]  iL[riji^i'j_i'iLTji'  I 

A.  KibUiteiB,  Die  nächste,  die  fünfte  Sinfonie  Rubinsteins  (Gmoll, 
Fünfte  Sinfonie,  op.  107)  unterscheidet  sich  von  allen  ihren  Geschwistern 
äußerlich  dadurch,  daß  sie,  was  die  dramatische  Sinfonie 
in  den  Schlußsätzen  tut,  durchs  ganze  Werk  und  noch 
reichlicher  als  ihre  Vorgängerin  slavische  Melodien  ver- 
wendet. Von  Freunden  des  Komponisten  ist  sie  deshalb 
zuweUen  Rubinsteins  >Russische  Sinfoniec  genannt  wor- 
den.   Eine   patriotische   Tendenz   spricht  vielleicht  auch 


^^     703     «— 

daraus,  daß  sie  dem  Andenken  der  Großfürstin  Helene 
Paolowna  gewidmet  ist,  die  unter  den  Gliedern  des  Herrscher- 
hauses sich  als  Fördererin  der  musikalischen  Entwicke- 
lang im  Zarenreich  hervortat  Die  jungrussische  Schule 
hat  bekanntlich  durch  einen  ihrer  Führer,  G^sar  Gut*}, 
an  Rubinstein  und  Tschaikowsky  scharfe  Absagen  ge- 
richtet und  damit  sichtlich  beide  Künstler  veranlaJBt,  sich 
den  national  russischen  Musikbestrebungen  enger  und 
eifriger  anzuschließen.  Rubinstein  hat  von  seiner  Be- 
kehrung in  dieser  Gmoll-Sinfonie  das  ausfuhrlichste  und 
eifrigste  Zeugnis  abgelegt.  Seine  Gegner  wird  er  dadurch 
nicht  gewonnen  haben.  • 

Als  Abbild  russischer  Musik  wählt  diese  Gmoll-Sin- 
fonie ihre  Themen  zu  einseitig;  das  träumerische  Element 
namentlich  fehlt.  Für  die  Aufgabe,  wie'  sie  sich  Rubin- 
stein hier  und  in  seinen  letzten  Ihstrumentalkompo- 
sitionen  überhaupt  gestellt  hat,  konnte  ihm  die  Volks- 
musik nur  wenig  nützen.  Sie  verlangt  Naturgemälde, 
Rubinstein  ging  aber  auf  Lebensbüder  und  Selbstbekennt- 
nisse aus.  Von  diesem  Gesichtspunkte  aus  ist  auch  seine 
Gmoll-Sinfonie  aufzufassen.  Sie  erscheint  dann  als  eine 
Art  Seitenstück,  als  eine  Fortsetzung  seiner  Sinfonie  dra- 
matique,  als  ein  betrübender  Beweis,  daß  das  Los  dieses 
gewaltig  musikalisch  und  menschlich  gewaltig  beanlagten 
Künstlers  unglücklich  war.  Doch  ist  nicht  zu  verkennen, 
daß  die  dramatische  Sinfonie  in  der  Erfindung  und  Aus- 
führung —  bis  auf  den  letzten  Satz  —  weit  höher  steht, 
gewählter  und  gedrungner  ausgefallen  ist,  als  ihre  Nach- 
folgerin. Namentlich  dem  ersten  Satz  dieser  fünften 
Sinfonie  hat  beim  Entwurf,  bei  der  Aufstellung  der 
Themen  und  bei  der  Disposition  des  Formplans  die 
Gründhchkeit  und  die  Bedachtsamkeit  empfindlich  gefehlt, 
die  zur  Darstellung  der  Idee  die  geeignetsten  Mittel  her- 
beizieht. 

Dieser  erste  Satz  (Moderato  assai,  C  GmoU)  beginnt 
mit  dem  Hauptthema 

*)  C€saT  Gut:  La  Muslque  en  Russie.     Paris  1880. 


-^    704 

Modcrato  asaal. 


/''  n  1 1 1 1 1  T|  7i  nm  iT'i  i 

ernst.  Ihm  folgt  eine  aufgeregte  Episode,  die  uns  in  der 
Art  der  Sinfonien  Karl  Maria  von  Webers  in  die  Ballett- 
und  Opernsphäre  wirft.  Sie  würde  verständlich,  wenn 
sie  mit  der  Rückkehr  nach  dem  Hauptthema  schlösse  und 
sich  zu  ihm  in  einen  durchgeführten  Gegensatz  stellte. 
Diese  logisch  notwendige  Wendung  hat  dem  Komponisten 
auch  vorgeschwebt,  doch  begnügt  er  sich,  sie  mit  ein  paar 
gehaltnen  Noten,  die  allerdings  Rubinsteins  starke  Musik- 
natur wieder  glänzend  veranschaulichen,  anzudeuten,  und 
geht  nach  ihnen  zu  dem  zweiten  Thema 


^k''ii  i>  i>  r  r  u*  cg^  I  r^^ 


über.  Es  hat  den  bukolisch  russischen  Charakter  ausge- 
prägt, während  das  erste  die  nationale  Abkunft  durch  den 
Verzicht  auf  den  Leitton  merken  läßt.  Die  Themengruppe 
wird,  nachdem  das  zwdte  Thema  in  sehr  überraschender, 
hübscher  Weise  in  D  dur  wiederholt  worden  ist,  durch  eine 
handvoU  weiterer  Motive  vervollständigt,  von  denen  keines 
eine  größre  eigne  Bedeutung  hat  und  keins  mit  dem  an- 
dren in  Zusammenhang  steht.  Der  Komponist  phantasiert 
mit  einer  Ungeniertheit,  als  säße  er  am  Klavier  und  am 
ihn  herum  lauter  gute  Freunde,  die  Wert  darauf  legen,  in 
die  Seele  des  großen  Mannes  auch  zur  unpassendsten 
Stunde  einen  BUck  werfen  zu  dürfen. 

Die  Durchführung  beginnt  mit  dem  Hauptthema  in 
Flöten,  Klarinetten  und  Fagotten,  setzt  es  dann  in  die 
Bässe,  in  die  zweiten  Geigen,  verUert  bald  Willen  und  Ziel, 
wühlt  in  der  Verlegenheit  über  ein  Viertelmotiv  a  gis  a 
gü  a  und  kehrt  unverrichteter  Sache  nach  dem  Anfang 
zurück.  Sein  glänzender  kraftvoller  Eintritt  bildet  eine 
der  wirksamsten  Stellen  des  Satzes.    Die  Reprise  weicht 


705 


▼on  der  Themengruppe  zunächst  dadurch  ab,  daß  sie  das 
zweite,  heitre  Thema  dem  nachdenklichen,  die  Schwermut 
streifenden  Hauptthema  nrnnittelbar  folgen  läßt.  Erst  an 
dritter  Stelle  kommt  die  erregte  Episode,  die  im  ersten 
Teile  jene  beiden  Gedanken  auseinanderhielt.  Ihr  folgt  ein 
ganz  leiser,  langsamer,  choralartiger  Abschnitt  So  gelingt 
es  durch  Zutaten,  Umstellungen  und  Änderungen  dem 
^Komponisten  doch  noch  einigermaßen,  die  dem  Satz  zu 
Grunde  liegende  Absicht  der  Darstellung  einer  gährenden 
Stimmung  wenigstens  am  Ende  etwas  klarer  und  begreif- 
licher zu  verwirklichen. 

Der  zweite  Satz  (Allegro  non  troppo,  -/i,  Bdur)  bringt, 
wie  Beethovens  neunte  Sinfonie  das  Scherzo.  Den  lang- 
samen Satz  hat  Rubinstein  an  die  dritte  Stelle  gerückt, 
weü  der  Inhalt  seines  ersten  Satzes  eine  aufheiternde  Fort- 
setzung verlangt.  Dem  Hauptsätze  dieser  zweiten  Nummer 
hegt  wieder  ein  russisches  Thema  zugrunde: 


Ailegro  non  troppo 


das  von  der  Klarinette  zuerst  eingeführt,  von  den  übrigen 
Instrumenten  zu  einer  breiteren  Szene  des  Spielens  und 
Tändeins  ausgeführt  wird.  Auch  hier  werden  wir  wieder 
an  die  neunte  Sinfonie  erinnert:  Die  fröhlichen  Klänge 
unterbricht  immer  wieder  ein  Augenblick  des  Sehnens, 
Zweifeins,  Klagens  und  Schwankens.  Ansätze  zu  einem 
Seitenthema  tauchen  auf^  der  bedeutendste  eine  Synkopen- 
bildung;  keiner  behauptet  sich.  Das  Trio  verdankt  seine 
ganz  ungewöhnliche  Gestalt  dieser  scherzowidrigen  Stim- 
mung. Es  ist  eine  Fuge  in  Es  moU,  ihr  Thema  dem  Haupt- 
thema des  ersten  Satzes  etwas  verwandt. 

Der  dritte  Satz  (Andante,  %  Esdur)  hat  ungefähr  den 
Ideengang:  Von  ferne  tritt  das  Glück  in  Sicht  und  ruft  in 
der  Seele  des  Dichters  Erregung  hervor,  die  sich  in  Hofifen 
und  in  Zweifeln  teüt.  Das  Bild  des  Glücks  erscheint  m 
einer  langen,  anmutigen  und  naiven  Melodie,  mit  der  der 
Satz  beginnt.    Sie  ist  in  Vertretung  auch  andern  Instru- 


Krettachmar,  Führer.    1,  1. 


45 


..^     706    ^^ 

incnten,  in  erster  Linie  aber  dem  Hörn  übertragen,  und 
für  gute  Hornisten  wird  dieses  Andante  der  Rubinsteinschen 
Gmoll-Sinfonie  ein  Lieblings-  und  Glanzstack  sein;  In 
dem  Augenblick  des  größten  Aufschwungs  hat  allerdings 
dem  Komponisten  der  Umfang  des  Homs  (in  ¥)  nicht  ge- 
nügt, die  Trompete  muß  aushelfend  eintreten.  Die  Er- 
regung ruht  auf  einem  Motiv  in  Sechzehnteltriolen,  das 
den  Violinen  gegeben  ist.  Es  fuhrt  nach  dem  Abschnitt 
seines  ersten  Auftretens  zu  einer  Wiederholung  der  Glücks- 
melodie in  Oboe  und  Hom.  Ihm  folgt  ein  neuer  Abschnitt 
der  Erregung,  der  in  einem  kurzen  folgenden  Sätzchen  in 
EsmoU  seine  Spitze  findet.  Darauf  setzt  die  Flöte  mit 
dem  Hauptthema  ein,  nach  ihm  noch  einmal  der  Ab- 
schnitt über  das  Triolenmotiv;  die  Hauptmelodie  klingt 
mit  dem  Anfang  an  und  das  Ende  ist  da.  Es  ist  —  ge- 
mäß dem  verschwiegner!  Programm  der  Sinfonie  —  ein 
Ende  in  Ungewißheit!  Das  Andante  ist  vielleicht  der- 
jenige Satz  des  Werkes,  der  die  Seele  des  Zuhörers  am 
lebhaftesten  und  nachhaltigsten  in  Tätigkeit  setzt.  Die 
Ursache  liegt  zum  großen  Teil  an  dem  dramatischen  Cha- 
rakter der  Übergänge,  die  zwischen  den  Hauptteilen  ver- 
mitteln, an  der  aufregenden  Art,  in  der  die  Leidenschaft  in 
die  Idylle  hereinbricht.  Man  merkt  an  diesem  Stück  ganz 
besonders,  wie  in  der  Gegenwart  die  Oper  den  Weg  zur 
Herrschaft  über  die  gesamte  Musik  angetreten  hat! 

Der  Schlußsatz  (Allegro  vivace,  ^4»  Gmoll,  Gdur)  hat 
die  Anlage  des  Sonatensatzes.  Sein  Hauptthema  ist  eine 
von  jenen  russischen  Tanzweisen,  die  in  der  bestandigen 
Wiederholung  eines  kurzen  Motivs  den  Stempel  der  Kind- 
lichkeit und  des  Naturvolks  tragen.  In  seiner  Mollharmonie 
hat  die  Lebendigkeit  dieses  Themas  etwas  Gedrücktes  und 
Gewaltsames,  erscheint  an  dieser  Stelle  als  Vertreter  eines 
> Galgenhumors«.  Rubinstein  stellt  ihm  (in  der  Oboe  zu- 
nächst und  in  B  dur)  eine  nach  freundlichem  Ausweg,  nach 
Ruhe  und  Glück  suchende  Melodie  entgegen,  die  deutsch 
sein  könnte,  eher  durch  die  Zahl  und  Art  der  Repetitionen 
russifiziert  worden  ist.  Zwischen  diesen  beiden  Themen 
liegen  noch  zwei  selbständige  Motive,  Träger  der  heiß- 


_4    707    0^ 

blutigen  und  warmen  Empfindung,  die  Rubinsteins  Musik 
immer  wieder  auszeichnet.  Die  Themengruppe  wird  wieder- 
holt, und  diese  Wiederholung  hat  der  Komponist  mit  Rück- 
sicht auf  einige  kleine  Varianten  ausschreiben  lassen.  Die 
Durchführung,  mit  der  Gdur  einsetzt,  versucht  zunächst 
einen  Ausgleich,  eine  Versöhnung  der  im  ersten  Teil  ent- 
haltnen  Gefuhlselemente,  indem  sie  die  beiden  Haupt- 
themen miteinander  verwebt;  das  zweite  liegt  in  den 
untern  Instrumenten,  das  erste  kommt  als  Kontrapunkt 
in  den  obem.  Generalpausen  und  fortwährendes  Ab- 
brechen zeigen,  wie  vergeblich  der  Versuch  bleibt.  Da 
taucht  aus  dem  ersten  Satz  der  Sinfonie  pp  das  wühlende 
chromatische  Viertelmotiv  wieder  auf  und  setzt  sich  fest. 
Damit  nimmt  Fortsetzung  und  Schluß  der  Durchiuhrung 
einen  verzweifelten  Charakter  an,  und  auch  die  Reprise, 
mit  der  Gmoll  zurückkehrt,  spricht  nur  von  Pessimismus 
und  Resignation. 

Während  die  fünfte  Sinfonie   Rubinsteins    Vorzugs-    ▲.  BiUniteln, 
weise  ein  Gemütswerk  ist,  wendet  sich  seine  sechste  ^•°^*«  s*'*'**"*^ 
und  letzte  (Amoll)  hauptsächlich  an   die  Phantasie  des      <ö^lll). 
Hörers.    Sie  entrollt  eine  Reihe  Bilder:  Erinnerungen  des 
Komponisten  aus  fremden  Landen,  Erinnerungen  an  den 
Orient  vor  allem.     Das  macht  sie   der  Suite  verwandt, 
mit  der  sie  auch  den  Mangel  an  thematischer  Entwicke- 
lung  teilt. 

Der  erste  Satz  (Moderato  con  moto,  Cj  Amoll)  setzt 
gleich  sehr  fremdartig  ein.  Schrill  schreit  ein  gis-c  auf; 
die  meisten  werden  es  als  as-c  hören,  so  lange,  bis  —  im 
dritten  Takt  —  e  dazu  kommt.  Eine  kurze  aber  stechende 
Einleitung!  Nun  beginnt  das  ganze  Orchester  wie  eine 
Bardenha^e  mit  dem  Dreiklang  —  A-e-E  —  in  einem 
Marschrhythmus  zu  präludieren.  An  die  Arpeggien  schließen 
sich  kleine  Motive  im  knappen,  festen  Balladen  ton:  es 
wird  von  Heroen  erzählt  und  von  Heldentaten.  Mit  dem 
Fdur  kommen  neue  Motive  und  weichere  Empfindungen 
zu  Worte.  Auf  AugenbUcke  fühlen  wir  uns  an  die  schönen, 
schwärmerischen  HomsteUen  im  ersten  Satze  der  Sinfonie 
dramatique  zurückversetzt.    Dann  nimmt  die  Erzählung 

^5* 


(F\ 


-^     708     t^ 

wieder  die  Richtung  auf  große  Ereignisse;  die  ruhig  in 
einem  ^/q  Takt  G  dur)  ap  uns  vorbeiziehen,  erst  bestimmt 
und  hell  gefärbt,  dann  in  den  Farben  des  Triumphs.  Mit 
diesem  Hymnus  —  g-a-e  ist  beim  zweiten  Mal  sein  Leit- 
motiv —  schließt  die  Themengruppe.  Die  DorchfÜhmng 
beginnt,  als  sollte  repetiert  wenlen,  indem  sie  das  Haupt- 
thema (in  Amoll)  wörtlich  vorfahrt,  schwenkt  aber  sehr 
bald  ab  und  mischt  in  die  Reminiszenzen  der  heroischen 
Bilder  klagende  Töne,  Motive  des  Erinnems,  der  Elegie. 
Die  Reprise  bringt  den  ersten  Teil  mit  umgekehrter  Reihen- 
folge der  Themen. 

Der  zweite  Satz  (Andante,  6/g,  £  dur;  ist  ein  sehr  ein- 
facher Satz,  ohne  Verwicklungen  der  Darstellung  freund- 
licher Ideen  gewidmet  Eigen  ist  er  durch  die  Art,  in 
der  das  hübsche  Hauptthema  (Edur)  vorgetragen  wird, 
nämlich  in  lauter  Einschnitten  und  einzelnen  Absätzen; 
nach  jedem  Motiv,  nach  zwei  Achteln,  nach  fünf  Achteln 
immer  eine  Pause.  Das  gibt  einen  Ton,  wie  Hast,  Stau- 
nen, Atemlosigkeit,  Übermaß  des  Gefühls  und  des  Be- 
hagens. Den  Augenblick  der  Sammlung  kündet  (im  17. 
Takt)  ein  jauchzendes  Motiv,  das  in  seiner  Ursprünglich- 
keit und  Wärme  sich  unter  die  echtesten  Rubinstein- 
erfindungen stellt.  Unter  den  Gegenthemen  der  Nummer, 
die  samt  und  sonders  nicht  ins  Gewicht  fallen,  zeichnet 
sich  das  schließlich  in  Hdur  ausgehende,  dramatisch  ein- 
geführte Solo  der  Oboe  aus. 

Der  dritte  Satz  (Allegro  vivace,  «/4,  C  dur)  der  Sinfonie, 
der  das  Scherzo  vertritt,  ist  einer  der  phantastischsten 
Kompositionen  der  neueren  Sinfonieliteratur,  flatternd 
und  zerstiebend,  nirgends»  festhaltend,  wie  der  sprühende 
Gischt  des  Wasserfalls.  Raum  hat  er  im  Hauptsatz  The- 
men, nur  Motive.  Als  es  endlich  zum  Singen  kommt  — 
Violinen:  a-horh  \  a^g-c  |  — ,  klingt  das  mit  der  liegenden 
Stimme  —  g  in  den  Bratschen  erst,  dann  in  den  Pauken 
—  so  exotisch  als  möglich.  Das  Trio  (Gmollund  Es  dur) 
mischt  Gemütstöne,  Anklänge  und  Anfänge  eines  deut- 
schen Walzers  mit  ganz  fremden  Tönen,  Gedanken  an 
den  Orient! 


709 


Das  Finale  (Moderato  assai,  3/4>  Amol!)  dessen  stock- 
rassische  Hauptthemen 

Moderato  w>l. 

jap)  \r\]  Q\Q\  0  \ 


r  Lf'  N  f  P  i  ''^ 


and 


Allegro. 


.fKriajirijj]iOTia^ljjiJlj^^ 


in  Variationen  ausgeft&hrt  werden,  ist  nach  Form  und 
Geist  zum  großen  Teil  ein  Absenker  von  Glinkas  Kfiima- 
rinskaja,  dem  Ausgangs  werk  der  ganzen  Neurussischen 
Schule.  ' 

Als  der  junge  Rubinstein  mit  seiner  ersten  Sinfonie 
auftrat,  befand  er  sich  in  einer  ziemlich  zahlreichen  Ge- 
sellschaft mitstrebender  Talente:  Leonhard,  Heisted, 
Pape,  Goltermann,  Kufferath,  Pott,  Veit,  Wüerst, 
Ulrich,  Gouvy,  Dietrich.  Von  diesen  vielen  neuen 
Sinfonikern  der  fünfziger  Jahre,  welche  in  der  Mehrzahl 
Mendelssohnsche  Ideen  kleiner  münzten,  haben  sich  nur 
sehr  wenige  für  längere  Zeit  behauptet:  Gouvy  und 
besonders  der  hochbegabte  H.  Ulrich  fanden  mit  meh- 
reren Werken  ehrenvolle  Beachtung,  eine  populäre  und 
bedeutende  Position  errang  nur  Albert  Dietrich  mit 
seiner  zweiten  Sinfonie  in  Dmoll. 

Diese  D  moll-Sinfonie  Dietrichs,  die  vor  vierzig  Jahren 
ein  Liebling  des  Publikums  war,  hat  ihren  Schwerpunkt 
in  der  edel  weichen  Schwärmerei,  in  der  jugendlich  glück- 
lichen Oberschwänglichkeit  des  zweiten  und  dritten  Satzes. 
Sie  lenkt  aber  bereits  im  zweiten  Thema  des  ersten  Satzes 


J.  £.  LeoBhard- 
O.  Helstedt. 

Pape. 
8.  Goltermann. 
H.  F.  Knfferath 

A.  Pott. 
W.  H.  Veit. 

B.  Waent. 
H.  Ulrleh. 
Th.  UomYj, 
A.  Bletrlcli. 


A.  Dietrioli, 

Sinfonie  Dmoll 


'fiju  iiygiiT.jijj.ijij3i^^^gijyh 

in  ihr  Lieblingsgebiet,  in  das  der  herzlichen  Idyllen  ein. 
Die   Themen    des   langsamen    Satzes  (Andante,   Fdur), 


710 


der  zwischen  ^/g-  and  ^/g  Takt  wechselt:  der  trftumenscb 
freundliche  Gesang  des  Hernes   • 


JJ>ir"rj>if  J'-iJi 


'  ji  'j.  i.  'J 


und  die  halbschelmische  Weise 
der  Celli: 


MeUi.  "^  ■  /•*•  cre»c. 

klingen  wie  Volkslieder,  reichen 
^aber  über  deren  Form  in  der 
c<»tr«fcsÄi"^  künstvollen  und  gewählten  An- 
lage und  Durchföhmng  hinaus.  In  ihrem  Geist  geben 
sidi  die  besten  poetischen  deutschen  Elemente  aus  der 
beschaulichen  Bundestagszeit,  wie  wir  sie  aus  den  Bildern 
Ludwig  Richters,  den  Dorfgeschichten  B.  Auerbachs,  den 
Erzählungen  F.  Reuters  kennen,  ein  Stelldichein.  Nur 
Dietrichs  Landsmann,  R.  Volkmann,  hat  ähnliche  Töne, 
ihre  Heimat  ist  die  Altsächsische  Musik  der  Schein,  Al- 
bert und  A.  Krieger. 

Das  Scherzo  beginnt  einfach  kräftig: 


AUepo  6B«r^M. 


VIol. 


In   seinen    Seitensatz 

und  in  sein 
erstes   Trio 

fallen  Strahlen 
;ausSchumann- 
schem   Lichte. 
Das  zweite  Trio  greift  mit  der  herzlich  lieben  Weise: 


711 


f  Braticbao 


vioi.  r 


T    L  j  fg^x  ^11    K  I  I  ^"^  ^^®  Stimmung  des  Adi^gio 

<^J?J  If  Pf  H^/y  I  j'   E  zurück  und  zitiert  dann  auch 
im  weitem  Verlaufe  dessen  Hauptmelodie. 

Das  Finale  der  Sinfonie  ähnelt  im  Hauptthema: 

AUegro. 


<i'|fitftf^fti|||    JJIM,lLlJlllJllJJ  I 


wieder  einem   bekannten   Schumannschen   Typus.     Das 
zweite  Thema: 


P  C«1U  ikBrattcik   ercMC. 


'1^'^^ ^^ 


bringt  noch  einmal  den  eigen  schwärmerischen  Zug 
Dietrichs  zu  warmem,  schönem  Ausdruck.  Die  Ober- 
gangsparUe  zwischen  den  beiden  Themengruppen  ist  dem 
Humor  gewidmet. 

Noch  einige  Zeit  vor  das  Dietrichsche  Werk,  in  das 
Jahr  1863,  fällt  die  Entstehung  einer  andern  berühmten 
D  moll-Sinfonie.    Es  ist  die  von  Robert  Volkmann. 

Volkmanns  D  moll-Sinfonie  ist  die  Schöpfung  eines  B«  TolkmanB, 
männlich  kräftigen  Geistes,  ein  fest  und  gedrungen  hin-  Sinfonie  Nr.  i 
gesteUtes  Werk,  welches  nach  Wesen  und  Stü  der  Beet-  (i>moii,Op.44i. 
hovenschen  Schule  angehört.    Der  erste  Satz  dieser  Sin- 
fonie steht  mit  seinem  trotzigen,  entschlossenen  Zuge  in 
direkter  geistiger  Verwandtschaft  zu  der  gewaltigen  Neun- 
ten.   Ja,  dort  an  der  Stelle,  wo  am  Schlüsse  der  Durch- 
führung die  Bässe  von  den  langen  festgebannten  Har- 
monien sich  trennen  und  ihre  chromatischen  Gänge  an- 
treten,  da  klingen   auch   die   Beethovenschen  Themen 
leibhaftig   an!     Gleichwohl    besitzt   die   Volkmannsche 
Sinfonie,  und  namentlich  ihr  erster  Satz,  geistige  und 
technische  Selbständigkeit  im  hohen  Grade,  eigene  be- 


— ♦    712    ♦— 

deaiende,  in  Ernst  nnd  Frohsinn  immer  treffende,  anfs  Ziel 
schnell  hingehende  Gredanken  nnd  eine  eigene  schlicht  be- 
lebte, anf  jeden  Pnmk  nnd  Reiz  ▼erzichtende  Darstellnng. 
An  der  Spitze  des  ersten  Satzes  steht  das  Thema: 

.  .    Alle; ro  patotico.  Biu«r 

f">jjj]nLjjjjJTij.ij.'ij.i..nf^ 

mit  seinen  drohenden  mid  schweren,  echt  sinfoni- 
schen Gedanken.  Während  es  noch  leise  in  den 
Bässen  fortgrollt ,  erheben  die  Holzbläser  und  Violinen 
ihre      trOsten-  ^»j^     .^"jTT^  lT?  .!->?_ 

den    Stimmen:^'      "^- ^"^ ""^r:^—  -^r;;-r--LIJ-itc 


^^^'Pr  \ 


den  Stimmen: 
nnd  die  erste  Szene  des  Satzes  schließt  mit  einem 
Kompromiß,  der  die  düstere  Stimmnng  in  einen  he- 
roischen 
Entschluß 
überleitet:     «^   j^ 

Es  ist  eine  besondere  und  sehr  bemerkenswerte 
Idee.  Volkmanns,  an  Stelle  des  einen  Themas  eine 
ganze  dreigliedrige  nnd  vollständig  dramatisch  ent- 
wickelte Tbemengmppe  zu  setzen.  Der  Satz  bleibt  vor- 
wiegend streitbarer  Natur.  Die  Momente  der  Ruhe,  wie  sie 

am  entschie-    ^^-J^^rf^fr.T^TrT^M  .  :^r^^  .m- 

densten    das     (j^^  '   I'  ,'    ^  U  '  ^  if  T  IT  f  f  T  1^' 
Fdur- Thema 


W 


ausdrückt,  bilden  nur  Episoden.  Die  Durchführung 
derholt  in  vergrößerten  Verhältnissen  den  Auftritt  zwi- 
schen den  bittenden  Bläsern  und  dem  grollenden  Streich- 
orchester, mit  welchem  der  Satz  begann,  und  die  gewaltig 
eingeleitete  Reprise  nimmt  den  gewöhnlichen  Verlauf. 

Das    Andante    (B'dur,    '/i)    hat    zum    Hauptthema 
eine   hauptsächlich   von  der  Klarinette  getragene  Me- 
lodie, welche  Frieden  suchend  folgendermaßen  beginnt: 
Andante.  Die  vier  Tak- 


713 


▼orangdhen,8ind 
sehr  wichtig: 
Sie    bringen    in 


ein  Motiv,  welches  ftkr 
die  Entwicklung  des 
Satzes    die   treibende 


Kraft  bildet  nnd  den  kleinen  Variationen,  welche  aus 
den  Figuren  des  Hauptthema  abgeleitet  werden,  beständig 
zur  Seite  geht.  Der  im  allgemeinen,  ruhige  Ton  der 
kleinen  Dichtung  wird  am  Ende  der  Durchführung  einmal 
hoch  leidenschaftlich.  Es  ist  eine  außerordentlich  myste- 
riöse Stelle:  die,  wo  nach  den  gewaltigen  Äs  dur- Akkorden 
das  Hörn  zu  den  stillen  Modulationen  der  Violinen  30 
Takte  lang  immer  sein  (7  anschlägt.  Sie  ruft  auch  klang- 
lich das  Bild  aus  Wagners  Walküre  vor  die  Phantasie, 
wo  Siegmund  in  seiner  Seelennot,  einsam  vor  dem  Herde 
in  der  dunklen  Hütte;  nach  »Wälse«  ruft. 

Das   Scherzo    stimmt    einen   rüstig    munteren  Ton 
an.     In    der         Aiiegro  nonjroppo.  und     in 

der  kon- 

Hauptthemas 


^    trapunk- 

tischen  Form  seiner  Entwicklung  leben  noch  einmsüi  Geist 
und  Methode  der  alten  Norddeutschen  Schule  auf.  Das 
lieblich  kosende  Trio,  welches  das  geschäftige  Treiben 
des  Hauptsatzes  mit   ländlerartigem   Tone  unterbricht: 

trägt  die  reizenden  Farben  der  Frühromantik,  in  der 
Volkmann  ebenso  wie  Dietrich  mit  einem  Teil  seines 
Wesens  wurzelt. 

Das  Finale  der  Sinfonie,  ein  Tonstück  freudig  ge- 
hobenen Charakters,  fällt  mit  seinem  Hauptthema: 

ÄUepro  molto. 


und  noch  mehr  mit  dem  Nachsatz  des  zweiten  Thema: 


m  den  Stilkreis  der  Mendelssohn*Schumannschen  Periode 


714 


Das  zweite  Thema  selbst,  eine  rhythmisch  energische 
Bildung 


ist  der  Hauptträger  der  zwischen  Pathos  und  Fröhlich- 
keit hinsteuernden  Gedankenentwickelung.    Es  gibt  viel- 
fache  Veranlassung   zu   polyphonen   Künsten,   zu  ver- 
wickelten Harmonien  und  zu  selteneren  Rlangkombina- 
tionen,  in  welchen  der  Posaunenton  ein  wichtiges  Element 
bildet.     Jedoch  vermag  die  tüchtige  und  geflissentliche 
Arbeit  den  Mangel  an  Inspiration,  an  dem  der  Schluß- 
satz leidet,  nicht  auszugleiciien.    Bas  Finale  wirkt  in- 
.  folgedessen   als  veraltet,  während  die   anderen  Sätze, 
am  meisten  der  erste,  ihre  Lebenskraft  frisch  behauptet 
haben.    Volkmanns  Dmoll- Sinfonie  gehört  noch  heute 
unter  die  meist  gespielten  Werke. 
K.  VoiiuuMii,         Seine  zweite  Sinfonie  (Bdur)  bringt  frohe  und  hei- 
Sinfonie  Nr.  2  tere  Musik  und  ist  in  ihrer  lebenslustigen  Naivität,  in 
(Baiir,op.58).  ihrer  ungekünstelten,  auf  alle  Umschweife  verzichtenden 
Schlichtheit  eins  der  liebenswürdigsten  Meisterwerke  der 
neueren  Sinfonik.   Ihr  erster  Satz  vereinigt  ausgesprochen 
volkstümliche  Züge  im  ersten  Thema 


Mepro  vivace 


Viol. 


Viol. 


mit      spezifisch       ,  .  ,.o.. ,         , 

Schumannschen      jjgr  |>' p  If  p  f  p  I  ]»/)[' pl^'P^g 
im     Seitensatz:     "*    Jr  '^ 
und  im  zweiten  Thema: 


P^^^^^ 


715 


Die  Ausführung  dieser  leitenden  Gedanken  ist  muster- 
haft knapp;  überraschend  schnell  tritt  der  Schluß  ein. 

Der  zweite  Satz:  AUegretto  (Esdur,  Vs)  ^^t  ein  be- 
hagliches Scherzando  mit  folgendem  Hauptthema: 

AUegretto. 

•J'^^  j^'uU  'u  'Llj  Nim  j^  i^ 

Sein   Seitensatz    tändelt   anmutig   auf  dem   Motiv 

hin.  Untdr  den  mancherlei 
Ähnlichkeiten ,  welche  der 
Satz    mit   dem    berühmten 

AUegretto  in  Beethovens  achter    ^  ^     ^'  \i 

Sinfonie  gemeinsam  hat,  tritt  als 

die  nächste  das  folgende  Motiv: 

hervor.   Die  originellste  Idee  im  Stücke  bildet  das  Thema 

des  Mittelsatzes: 


eigentümlich  launisch  weicht  es  in  seinen  Schlüssen  lange 
dem  Grundton  aus. 

Der  dritte  Satz  (Andantino,  Gmoll,  ^Vg)  ist  nicht  viel 
mehr  als  eine  langsame  Einleitung  zum  Finale.  Das 
Thema  beider  Sätze  ist  dasselbe.  Das  Andantino  bringt 
es  in  ruhiger  Bewegung,  in  melancholischer  Färbung  und 
in  der  eigentümlichen  Instrumentierung  der  Steppenmusik: 

Andantino. 


das  Finale  (Bdur,  s/4)  im  raschen  Tempo,  in  humoristi- 
scher Haltung  und  mit  all  deijenigen  Munterkeit,  deren  es 

fähig  ist ,  am  Allegro  vivace. 

Anfang  in  fol- 
gender Form:  ^^j CSr.  ^  410, 

Mit  ihren  beiden  letzten  Sätzen  gehört  Volkmanns 
B dur'Sinfonie  eigentlich  in  das  vorhergehende  Kapitel- 


-^    718    >- 

t^^^.^"^      ^--r^,  _     1  ^i®  ""  f"^®^  "^äc^  Spohrs  dritter 
j    I  p-  ^ni  I   f,  I  y  ^^  Sinfonie  —  vom  Unisono  erst 
^^  .y    ."..  der  Streicher,  dann  der  Bläser 
vorgetragen  wird. 

Der  dritte  Satz:  »Quasi  Fantasia«  betitelt  (Qrave, 
Es  moU,  0),  beginnt  in  ^ehr  schwermütiger  Stimmung  mit 
einer,  Oraye.  ,„^  ansetzen- 

zum  endlichen  Abschluß  lang  streckenden  Melodie.  Alle 
Motive  im  Satze  tragen  den  Charakter  einer  bangen 
Stunde.  In  der  Mitte  taucht  das  beunruhigende  Thema  (0) 
des  ersten  Satzes  der  Sinfonie  wieder  auf.  Ohne  Pause 
geht  dieser  langsame  Satz  in  das  Finale  über,  das,  fthnlich 
wie  in  Mendelssohns  Schottischer  Sinfonie,  halb  program- 
matisch als  »AUegro  guerrieroc  bezeichnet  ist  Im  poeti- 
schen Plan  6hT  Sinfonie  bedeutet  dieses  Finale  die  von  außen 
kommende  Rettung,  die  glückliche  Entscheidung:  Der  mu- 
sikalischen Form  nach  ist  es  eine  ausgeführte  und  ideali- 
sierte Marschkomposition,  in  welcher  ein  flottes  Thema: 
tf.t  .       . .     __    L  ■  ■ —  —  ebenfalls 

g^  *J  ^'AJ^'Jitt^Jr^Uaij^'Jü^IhU  '  wieder  eine 
^'^  1^"**- —  jv  ,-^=^  Variante  des 

Gmoll-Konzerts  —  mit  einem  sentimentalen: 


'    '  r  r  I  fj  f^p  Vf^.  etwas  einförmig  wechselt 

M.  Brveh»  Die  zweite  Sinfonie  von  Bruch  (FmoU)  ist  wenig 

Zweite  und  dritte  bekannt  geworden.    Dem  düster  und  trüb  beginnenden 

(oJ^^mtu    und  froh  endenden  Werke,  welches  nur  aus  drei  Sätzen 
(Dp.  36  ^51).    ^^^^^^^^  ^^^^  ^^^^^^^  ^^  Programm  zugrunde,  welches, 

wie  in  ähnlichen  Fällen  in  der  Regel,  nur  zum  großen 
Schaden  für  die  Wirkung  und  das  Verständnis  der  Kom- 
position verschwiegen  worden  ist  Nicht  an  Ernst  der 
Anlage  und  Arbeit,  wohl  aber  an  Frische  der  musika- 


-^     719    «^ 

listihen  Phantasie  steht  diese  zweite  Sinfonie  Bruchs  hinter 
der  älteren  zurück.  Der  hervorragendste  Satz  ist  der 
mittlere,  in  welchem  intime  Gedanken  ihren  eigenen  Aus- 
druck gefunden  haben. 

Noch  weniger  ins  Konzert  gedrungen  ist  die  dritte, 
die  Edur- Sinfonie  Bruchs. 

Die  nächsten  Komponisten,  welche  nach  Bruch  auf 
dem  Gebiete  der  Sinfonie  weitere  und  andauernde  Be- 
achtung fanden,  sind  Friedrich  Gernsheim,  Felix  Drae- 
seke  und  Hermann  Götz. 

Die  Gmoll-Sinfonie  von   F.  Gernsheim   steht  F. Geriiihtliu, 
auf  klassischem  Boden   und  entnimmt  der  Eroica,  der  Sinfonie  Nr.  i 
Neunten,  dem  Violinkonzert  Beethovens  und  der  großen  (G«oUi^-*^)- 
C  dur-Sinfonie  Schuberts  eine  Reihe  merkbarer  Anregungen. 
Am  selbständigsten  erfindet  der  Komponist  da,  wo  die 
Sinfonie  sich  auf  dem  pathetischen  Gebiete  bewegt.   Das 
in  diese  Kategorie  gehörige  Thema,  welches  an  der  Spitze 
ihres  ersten  Satzes  steht,  ist  unter  die  stattlichsten  Sin- 
foniegedanken der  neueren  Zeit  zu  rechnen: 

AllegTO  moderato. 


In  allen  ihren  Partien  erfreut  diese  Sinfonie  durch 
edle  Richtung,  durch  Geschmack  und  Maßhalten. 

Die  zweite  Sinfonie  Gemsheims  (Esdur)  ist  vor-  f.  eerothein, 
wiegend  idyllischer  Natur.  Ihre  hervorragendsten  Sätze  Sinfonie  Nr.  s 
sind  die  mittleren:  Notturno  (in  As)  und  TaranteUa  (in  C).   (B»to,0p.46) 

Seine  dritte  Sinfonie  (Cmoll,  op.  54)  hat,  wie  gleich  F.  Gerniheln, 
das  Hauptthema  des  ersten   Satzes  beweist,  originelle   Sinfonie  Nr.  8 
Stimmungen,  aber  deren  Stärke  reichte  für  die  großen  ^•^^'^'■••^°*"J 
Formen  des  Sinfoniebaues  nicht  aus.  Die  jüngste,  vierte  f.  Gemiheim 
Sinfonie  des  Komponisten  dagegen  (Bdur,  op.  62)  hat  bei   Sinfonie  Nr  4 
den  Konzertinstituten  Deutschlands  Eingang   gefunden.        (Bdur). 
Diese  neueste  Gernsheimsche  Sinfonie   führt  die  Rolle 
einer  starken  Natur  mit  tiefsinnigen  Ausweichungen,  mit 
Äußerungen  heftiger  und  trotziger  Kraft,  auffahrend  und 
pochend,    mit   Vorliebe    mit    den  Mitteln    musikalischer 


-^     720    ♦— 

Athletik  durch,  die  neuerdings  durch  die  Sinfonien  von 
Brahms  in  Schwang  gekommen  sind.  Arbeit  und  Kunst 
imponieren  durchweg,  in  bezug  auf  Lebenswahrbeit  ge- 
bührt der  Preis  dem  zweiten  Satz  (Andante  sostenato) 
mit  seinem  von  Beethovenschem  Geiste  getränkten  Haupt- 
thema. 
F«Dr»eB6ke.  Die  beiden  ersten  Sinfonien  von  F.  Draeseke  zeigen 
in  ihrem  Autor  einen  Charakterkopf,  welcher  streng  an 
seinen  Ideen  festhält  und  sie  mit  einer  Konsequenz  durch- 
führt, die  oft  geistreich  und  genial,  znweilen  aber  auch 
ermüdend  wirkt.  Die  Elemente  einer  weicheren  Emp- 
findung nnd  einer  schönen  Sinnlicbkeit  sind  in  den 
Werken  des  Komponisten  durch  einzelne  Glanzstellen  ver- 
treten. Daraus  ist  in  der  ^  ^^*^^°'^-*rTT"r  i  i  i  .  m  r 
p.  Draeieke,  ersten  Sinfonie  (Gdur)  ff  g  36  f  üpr  fJ  '  "^  jjy  '  '^  ^  * 
Erste  und  rweite  die  Klarinettenmelodie^  ^ 

(0^*?2°'"25)  ^^^  Ein,leitung,  aus  der  zweiten  (Fdur)  das  zwei- 
''    "■    ''    teThe-         aiiegro  hervorzuheben, 

ma im '  jf  ^  tf  j^ki  1^*  -  ,  1  J  ^l  ^=^dLd=z\tn  allgemeinen 
ersten  '  fr  *  f  ff  '«ff  f  tff  'f  lip  fJ^fSf  aber  herrscht 
Satze:  o ^^o       in   diesen  Sin- 

fonien ein  harter  Zug  vor.  Ihre  Hauptstärke  liegt  in  den 
•humoristischen  Sätzen.  Der  drastischen,  auch  in  den  gro- 
tesken und  burlesken  Exkursen  immer  fein  nnd  witzig  ge- 
haltenen Komik  des  Scherzo  in  der  ersten  nnd  des  Finale 
in  der  zweiten  Sinfonie  Draesekes  haben  wir  aus  der  nen- 

F.  Draeieke,  eren  Literatur  wenig  zur  Seite  zu  stellen.  Die  dritte  Sin- 
Sinfoniatragica  fonie  Draesekes,  seine  Sinfonia  tragica,  ist  mit  großem 

<Cmoii,Op.40).  Recht  bekannter  geworden  als  ihre  Vorgängerinnen.  Sie 
gehört  mit  dem  Requiem,  der  Fismoll-Messe,  dem  »Colmn- 
busc.  der  oratorischen  Ghhstustrilogie  zn  den  bedeutend- 
sten Arbeiten  des  Tonsetzers  und  ist  eins  der  wuchtigsten 
Stücke  in  der  neueren  deutschen  Sinfonik.  Diese  mnß 
auf  Grund  dieser  Leistung  in  Draeseke  nach  dem  Tod 
von  Brahms  und  Brückner  ihre  Spitze  erblicken,  und  so 
dringlich  der  Beachtung  der  ausländischen  Sinfoniekom- 
ponisten das  Wort  zu  reden  ist,  so  ungereimt  erscheint 
es,  wenn  daneben  deutsche  Konzertinstitute  an  dner  ein- 


-^     721     ^^ 

heimischen  Sinfonie  dieser  Art  vorbeigehen.  *  Das  gewal- 
tige Werk  schildert  einen  tragischen  Lebenslauf,  den 
Kampf  einer  zum  Glück  angelegten  Natur  mit  dem  harten 
Schicksal.  Es  begegnet  sich  in  dieser  Tendenz  mit  andren 
C  moll-Sinfonien,  denen  von  Beethoven  und  Brahms;  auch 
an  die  D  moll-Sinfonie  R.  Volkmanns  kann  es  erinnern. 
Es  hat  aber  einen  andren  Ausgang:  dn  Ende  in  Trauer 
und  Wehmut  Populär  ist  diese  Sinfonie  noch  nicht  ge- 
worden, wird  es  auch  in  ihrem  leidenschaftlichen,  in 
scharfen  Gegensätzen  gehaltenen  Wesen  nicht  werden. 
Die  komplizierte  Technik,  der  auf  Kombinationen  und 
strenge  Arbeit  versessne  Stil  des  Komponisten  erschweren 
das  Verständnis  noch  obendrein ;  auch  entbehrt  die  musi- 
kalische Erfindung  des  starken  individuellen  Gepräges, 
der  sinnlichen  Kraft  und  der  Gleichmäßigkeit.  Aber  wem 
nur  einmal  am  SchluB  des  ersten  Satzes,  von  dem  mit 
echtesten  Herzenstönen  einsetzenden  piü  largo  ab,  und 
bei  den  vielsagenden  Fermaten  eme  Ahnung  von  den 
Absichten  des  Komponisten  aufgegangen  ist,  der  muß 
sich  zum  eingehenden  Studium  der  Sinfonie  gedrungen 
fühlen.  Ihr  Hauptwert  liegt  in  der  Konzeption,  in  den 
dichterischen  Ideen,  die  die  Anlage  des  Werks  beherrschen. 
Sie  sprechen  zum  Teil  aus  den  Tönen  und  Themen  selbst, 
zum  Teil  aus  den  architektonischen  Formen  der  Sinfonie. 
Wie  diese  der  durch  beide  Schulen,  die  Beethovensche 
und  die  Lisztsche,  hindurchgegangene  Komponist  be- 
ziehungsreich und  geistvoll  gestaltet  hat,  sieht  man  schon 
daraus,  daß  die  einzelnen  Sätze  durch  gemeinsame  Mo- 
tive verbunden  und  in  einen  engeren  inneren  und  äußeren 
Zusammenhang  gebracht  sind,  als  das  in  der  Regel  bei 
den  neueren  Sinfonien  der  Beethovenschen  Schule  der 
Fall  ist. 

Der  erste  Satz  wird  von  einem  Andante  eingeleitet, 
das  als  selbständiger  Satz  bedeutend  ist,  aber  seinen 
eigentlichen  Wert  darin  hat,  daß  es  den  Hauptsatz,  ein 
AUegro  risoluto  (C,  Cdur),  gewissermaßen  dramatisch, 
als  die  Frucht  eines  Stimmungskampfes  eintreten  läßt. 
Es  setzt  ein  mit  den  Tönen  des  Mißmuts  und  furchtbarer 

Kretzsch  mar,  F&lirer.    I,  1.  46 


-^     722     <^— 

Ahnungen,  mit  Tönen,  die  an  das  Grollen       Andaatt. 
des  Löwen  erinnern.   Zweimal  hören  wir    f      *^^^'\ 
von  stechenden  Dissonanzen  begleitet  das   8^'^   ,     ^  ^ 
ungeheuerlich  sich  dehnende  Intervall:  /==*" 

Dann  erst  löst  sich  die  starre,  chaotische  Empfindung  in 
ein  ernstes  und  schweres  Marschmotiv,  dem  wir  später 
im  zweiten  Satz  der  Sinfonie  noch  näher  treten  werden. 
Damit  ist  das  Gemüt  des  Helden  dieser  Tondichtung  vom 
ärgsten  Druck  befreit.  In  einem  Instrument  nach  dem 
andern  beginnen  die  Töne,  noch  suchend,  doch  melo- 
disch zu  fließen  und  gelangen  über  hemmende  Modu- 
lationen allmählich  hinaus  ins  Helle,  zur  Freiheit,  zur 
Hoffnung,  zum  Träumen  von  Idealen:  Eine  der  schön- 
sten Erfindungen  der  ganzen  Sinfonie  bezeichnet  diese 
Wendung: 


r     r 

Diese  von  Klarinetten  und  Hörnern  vorgetragene  Melodie 
löst  sich  in  lose  Sequenzengänge  auf  und  verzieht  sich. 
Noch  ehe  sie  ganz  das  Feld  geräumt  hat,  tritt  unvermutet 
und  rücksichtlos  ein  y»  ^  ri.  ,  i  ß*  ergreift 
unfreundlicher  Gast  an  V' o  T  T'  fcf  ^  ^=  von  den 
ihren  Platz  das  Motiv        ^  Kontrabäs- 

sen aus  schnell  das  ganze  Streichorchester  und  drängt  zu 
dem  Allegro,  das  als  Hauptteil  des  Satzes  das  Bild  einer 
jungen  kräftigen  Natur  zu  zeichnen  scheint,  mit  der  es  das 
Leben  etwas  hart  meint.  Der  Satz  erinnert  an  das  Dichter- 
wort: »Denn  Mensch  sein  heißt  ein  Kämpfer  seine,  aber  er 
führt  uns  keineswegs  vor  erschütternde  Szenen.  Es  kämpft 
hier  eine  Art  junger  Siegfried,  den  Hindemisse  weniger 
schrecken,  als  erfreuen.  Draeseke  schildert  eine  Jüng- 
lingsgestalt, der  Mut  und  Energie  aus  jeder  Miene  sprechen, 
der  das  Leben  noch  lacht,  die  noch  an  Ideale  glaubt  und 
zu  schwärmen  liebt.  Jenes  Motiv,  das  die  freundlichen 
Träume  des  Andante  störte,  Wird  von  dieser  arglosen 
Natur  mit  Freundesaugen  angesehen,  und  wie  ein  Führer, 


-^     723    ^^ 

der  nach  des  Lebens  Höhen  zeigt,  begrüßt  und  verwendet. 
Oraeseke  stellt  es  an  die  Spitze  des  tatenfrohen  Hanpt- 
themas: 

Allegro  risolnto. 


in  dem  es  gemeinsam  j  K  j  die  Elemente  der  Entschie- 
mit  dem  Rhythmus  #•  •  ^  denheit  und  Festigkeit  ver- 
tritt gegenüber  den  Regungen  des  jugendlichen  Ungestüms 
und  Schwunges«  die  in  den  Achtelgängen  ausgedrückt 
sind.  Eine  Fortsetzung  findet  dieses  Hauptthema  in  einem 
marschartigen  Abschnitt,  der  nach  einigen  sinnenden 
und  sammelnden  Takten  mit  folgendem  Anfang  einsetzt: 

i^^^  ^^^^^        Er  endetf  nachdem  er 

rj^  rrf  iP  f  F  r  if    ff^^     ^®^  Umfang  einer  nor- 
y  ^"^    I'    '    '    '    I  '      "MI  ''     malen  Periode  erreicht 

-^  .  hat,  mit  dem  Rhythmus 

j  11  lenkt  also  wieder  auf  das  Hauptthema  ein,  des- 
'  *  **  ^  sen  freudige  und  lebenskräftige  Geister  sich  mit 
erneutem  Eifer  auf  den  Plan  drängen.  Es  ist  ein 
hitziger  Eifer.  Die  Stimmen  wiederholen  auf  kecker 
Dissonanz  —  e-fis  —  ihre  Töne  in  der  heftigen  Form, 
die  die  Alten  Reperkussion  nannten,  und  starkes  Kraft- 
gefühl strömt  von  allen  Seiten  aus  dieser  Musik.  Sie 
hat  eben  das  entlegene  Hdur  erstürmt,  als  sie  plötzlich 
abbricht  Die  jugendliche  Überschwänglichkeit  neigt  zu 
entschiedenen  Gegensätzen.  So  schlägt  die  Stimmung  hier 
aus  einem  heroischen  Rausch  ohne  weiteres  um  in  eine 
Idylle.  An  die  Stelle  der  Tatenlust  treten  die  Gedanken 
an  die  intimen,  zarten  Lebensfreuden,  an  die  friedlichen 
Bilder  von  Liebesglück  und  vom  Behagen  am  heimischen 
Herd,  im  Kreise  der  Familie.  Das  sind  die  Ideen,  aus 
denen  das  zweite  Thema  des  Satzes  entsprungen  ist. 
Draeseke  stellt  allerdings  nicht  ein  einfaches  zweites 
Thema  hin,  sondern  er  gibt,  die  moderne  Art  fast  über- 

46* 


Th 


724 


bietend,  eine  ganze  Rette  freundlicher  Gedanken ,.  deren 
Mehrzahl  allerdings  der  Marschrhythmus  noch  etwas  fest 
in  den  Qliedem  steckt  Den  Anfang  macht  ein  von  Melan- 
cholie leise  gestreifter  Wechselgesang  zwischen  Klarinetten 
und  Streichinstrumenten,  dem  folgende  Periode 


AüefiTo  risolnto. 
uUrlnetteo. 


VitiUnaa. 


!f'"/i?'ÜVJ'»CJTin'U'JiJ''Jff3i 


p9^r,     jf. 


ffitff  f  rr  r  'r  rUrr-rf  "r  r  '  ' 

zuGrunde liegt.  Aufmunternd.  .          ^         ^  ^  und  nun 

unterbricht   ihn    das   Tutti  ft  l"  r  f  P  I  1'  f*  [tritt  ein 

mit  kräftigem  Zwischenruf  ^'^^^  '  ganzun- 
getrübtes  Zukunftsbild  vor  die  Phantasie: 


^^m 


das  mit  heimlicher  Freude 
^^'  beginnt  und  mit  unver- 
hohlenem Jubel  sdiließt. 
Gerade  dieses  Stück  aus  dem  Kreise  des  zweiten  The- 
mas hat  der  Komponist  für  den  Durchführungsteil 
des  Satzes  besonders  bevorzugt  Die  Kette  schließt 
mit  einem  dritten  Gredanken,  der  innig  in  den  Hörnern 
einsetzt: 


i\{ii}\i 


—  die  Pauke  begleitet 
mit  einem  leise  bebenden 
B.  —  und  über  das  Motiv 
zu  einem  Ende  im  triumphierenden  Ton  gelangt.  Aus  diesem 


--♦     725 

* 

Ende  sind  die 

Schlußtakle  

der  Melodie :   *'  / 

für  den  weiteren  Verlauf  des  Satzes  wichtig. 

Draeseke  läßt  aber  diesen  ersten  Teil,  die  sogenannte 
Themagruppe,  nicht  stolz  und  glänzend,  sondern  leise 
ausklingen.  Das  ist  nicht  bloß  poetisch  und  schön,  sondern 
in  diesem  Falle  vor  allem  logisch.  Denn  es  handelte  sich 
um  Zukunftsbilder,  die  wie  im  Traum  und  wie  in  weiter 
Ferne  gesehen  waren.  Die  Homer  sind  eben  bei  dem 
letzten  Seufzer,  da  treten  die  Celli  mit  dem  Motiv  der 
Unruhe  dazwischen,  das  seiner  Zeit  aus  dem  Andante 
ins  ÄUegro  hinüberdrängte.  Jetzt  leitet  es  die  Durch- 
führung des  Satzes  ein.  Sie  verläuft  als  Auseinander- 
setzung zwischen  den  friedlosen  und  den  friedfertigen 
Elementen  der  Themen.  Jene  sind  vorwiegend  durch  das 
eben  erwähnte  Motiv  der  Unruhe  aus  dem  Hauptthema 
vertreten,  diese  durch  das  erste  und  das  dritte  Glied  aus 
der  Gruppe  des  zweiten  Themas.  Eine  besonders  hervor- 
tretende Stelle  in  der  Durchfährung  bildet  das  piü  largo, 
bei  dem  die  schöne  Melodie  aus  dem  Andante,  die  Melo- 
die des  Ideals,  und  aucH  hier  wieder  im  visionären  Ton 
erscheint  Nach  dieser  Stelle  geht  die  Durchführung  über 
einige  Mut  und  Kraft  aussprechende  Perioden,  die  aus 
dem  zweiten  Glied  des  zweiten  Themas  —  das  ursprüng- 
lich in  E  dur  einsetzte  —  gebildet  sind,  bald  zu  Ende  und 
in  die  Reprise  über.  In  dieser  Wiederholung  der  Themen- 
gruppe übergeht  Draeseke  das  eigentliche  Hauptthema 
und  bringt  an  erster  Stelle  dessen  marschartige  Fort- 
setzung. Sie  tritt  fff  auf  und  wird  noch  dadurch  zu 
höherer  Bedeutung  gehoben,  daß  Draeseke  die  Schlüsse 
ihrer  zweitaktigen  Abschnitte  durch  Fermaten  verlängert. 
Es  gibt  Fälle,  wo  die  Pausen  vernehmlicher  sprechen 
als  die  Töne,  und  diese  Draesekeschen  Fermaten  gehören 
in  erster  Linie  zu  diesen  Fällen.  Sie  lassen  den  Zuhörer 
gewissermaßen  einen  Blick  auf  die  Fülle  von  Kraft  und 
Ernst  werfen,  die  in  der  Seele  der  Jünglingsgestalt  auf- 
gespeichert ist,  die  sich  der  Komponist  als  Helden  dieses 


--*     726     «-— 

s 

Sinfoniesatzes  gedacht  hat.  Sicher  spricht  aber  auch 
eine  gewisse  Bangigkeit  ans  diesen  Fermaten,  eine  Ahnung 
tragischen  Geschicks.  Wie  das  erste  Thema  abgekürzt, 
so  wird  die  Gruppe  des  zweiten  Themas  in  der  Reprise 
zusammengedrängt  Dafür  hat  ihr  Draeseke  eine  breite 
Coda  zugefügt,  in  der  neue  Weisen  des  ßtolzes,  des  freu- 
digen Mutes,  der  aufschäumenden  Kraft  neben  die  aus 
dem  Unruhemotiv  des  Hauptthemas  gebildeten  Sätze 
treten.  Bemerkenswert  ist  darin  eine  Stelle,  in  der  der 
modulationslustige  Komponist  sich  auf  einen  vermesanen 
Äugenblick  nach  Gesdur  wendet 

Im  zweiten  Satz  der  Sinfonie  (Grave,  s/s,  Amoll) 
entspricht  der  bedeutenden  Stimmung  auch  eine  bedeu- 
tende und  ziemlich  in  allen  Teilen  auf  gleicher  Höhe 
bleibende  Erfindung.  Er  gibt  dem  Schmerz  über  einen 
unersetzlichen  Verlust  gewaltigen  Ausdruck  und  klagt 
über  das  erste  Eingreifen  tragischer  Umstände  in  einen 
hoffnungsvollen  Lebenslauf  in  männlichen  Tönen,  die 
im  Grefühlsgehalt  und  in  ergreifender  Wirkung  den  Segen 
Händeis,  Beethovens  und  Wagners  zusammenfassen. 

Die  Komposition  ist  als  Trauermarsch  gedacht  Ihr 
Hauptthema,  das  die  Form  der  alten  Sarabande  hat,  setzt 
—  von  zwei  zu  zwei  Takten  durch  das  erste  Motiv  in 
den  Posaunen  unterbrochen  —  gedämpften  Tones  folgen- 
dermaßen .ein: 

OraT«. 

Pos.  ,  Holzbläser. i      i  a 

irr   in:     ^     ^  {»f  f 


^^y     727     ^- 

Wenn  man  den  fünften  Takt  dieses  Trauergesangs  schllrfer 
ansieht,  erhält  man  anch  Auskunft  darüber:  wer  ins 
Grrab  gesenkt  worden  ist.  Denn  da  stehen  wir  vor  der 
schönen  Melodie ,  die  im  Andante  des  ersten  Satzes  das 
Ideal  des  jungen  Helden,  die  die  Gestalt  bezeichnete, 
die  als  Lohn  des  Strebens  und  Ringens  vor  seiner  Seele 
schwebte.  Bald  bricht  der  Schmerz  über  den  Verlust 
scharf  und  leidenschaftlich  in  WagnerschenZungen  hervor: 


die  Posaunen  decken  Grabesklang  darüber.  Crewaltig 
wirkt  darauf  der  Einsatz  des  Marschthemas,  in  einer 
Wendung,  die  an  Händeis  »Saul«  und  »Samson«  erinnert. 
Es  kommt  in  Cdur  und  im  mächtigen  fff  des  gesammten 
Streichorchesters,  von  Posaunen,  Tuba  und  Trompete 
unterstützt,  von  einem  Aufschrei  der  Holzbläser  beant- 
wortet Zarte  Zwischenspiele,  aus  dem  erwähnten  Ideal- 
motiy  gebildet,  suchen  nach  Trost;  ein  kurzer  Mittel- 
satz, der  die  Stelle  des  sonst  üblichen  Trios  einnimmt, 
bringt  ihn  auf  Grund  folgenden  Themas*: 

Uü  pochettlno  pl^  mosso: 

m 


das  von  der  Klarinette  aus  wörtlich  und  variiert  durch 
eine  Reihe  Instrumente  wandert.  Es  ist  teuren  Erinne- 
rungen gewidmet  und  befreit  von  dem  harten  Druck 
einer  um  Fassung  kämpfenden  Stimmung.  Doch  geht  es 
bald  in  einen  erregteren  Ton  über  und  führt  80  zur 
Wiederholung  des  Hauptsatzes.  Die  Erinnerung  an  ver- 
lorenes Glück  pflegt  den  Schmerz  über  den  Verlust  zu 
steigern.  Diesem  Naturgesetz  Rechnung  tragend,  wieder- 
holt Draeseke  nicht  einfach,  sondern  führt  mit  dem 
Marschthema  die  Motive  der  heftigen  leidenschaftlichen 
Aufregung  zusammen.  Die  Stelle  packt  mit  physischer 
Gewalt.     Die   Stimmung  wird   auf   Augenblicke  wieder 


728 


ruhiger,  schildert  aber  dann  in  neuen  Formen  den  Auf- 
ruhr schmerzlicher  6ef|ihle. 

Um  den  dritten  Satz,  das  Scherzo  (AUegro,  9/4, 
Gdur)  mit  der  Auffassung  in  Einklang  zu  bringen,  daß  die 
Sinfonia  tragica  einen  Lebenslauf  vorführen  will,  muß  man 
sich  eine  Überschrift:  »Nach  Jahren«,  denken.  Der  furcht- 
bare Schlag,  von  dessen  unmittelbaren  Folgen  das  Grave 
berichtete,  ist  überwunden,  aber  er  hat  Spuren  gelassen.  Von 
einer  Persönlichkeit,  die  über  eine  Kraftfülle  verfügt,  wie  sie 
der  erste  Satz  enthält,  erwarten  wir  einen  freieren  Humor, 
als  ihn  dieses  Scherzo  bietet  Seine  Fröhlichkeit  ist  etwas 
belegt,  behilft  sich  mit  den  kleinen  Künsten  der  Kaprice, 
hat  Schatten  und  vollständig  trübe  Stellen.  In  dem  Trio 
kommt  die  Wehmut  ganz  offen  zur  Herrschaft.  Die  Form 
des  Ganzen  ist  sehr  einfach:  ein  Hauptsatz  in  zwei  Teilen, 
Mittelsatz  (Trio)  und  Wiederholung  des  Hauptsatzes. 

Das  erste  Thema  des  Hauptsatzes 

AUegro  molto  vivace. 
Uaiinetten. 


erinnert  in  der  melodischen  Richtung  etwas  ,an  den  Me- 
nuett von  Beethovens  erster  Sinfonie,  unterscheidet  sieb 
aber  von  ihm  durch  ein  stilleres  Temperament  Seine 
Fortsetzung  erfolgt  in  sinnverwandten,  metrisch  launi- 
schen Bildungen.  Das  zweite  Thema,  das  ihm  nach  einer 
kurzen  Stimmungskrisis  folgt: 

Cello.  ^  -^^^^ 

rTi  I  iiii;^»M  iif]  fTTT^ 


--♦     729     <^— 

'  gehört  zu  den  besten  Erfindungen  in  der  Sinfonie.  In 
seiner  Mischnatur,  halb  fröhlich,  halb  klagend,  ist  es  ein 
echt  romantischer  Gedanke  und  bringt  den  Widerstreit 
d^r  Gefühle,  der  schon  im  Hauptthema  leise  zu  vernehmen 
ist,  zu  gesteigertem  Ausdruck.  Die  Violinen  wiederholen 
das  Thema,  schließen  aber  nicht,  sondern  brechen  ab. 
Die  Pauke  setzt  mit  einem  leisen  Wirbel  auf  g  ein ;  nur 
ein  eis  in  den  Kontrabässen  klingt  dazu.  Erst  allmählich 
gesellen  sich  die  übrigen  Instrumente  hinzu,  füllen  den 
verminderten  Akkord  und  versuchen  zaghaft  wieder  die 
Melodie  aufzunehmen.  Die  Stelle  macht  sich  sehr  be- 
merklich. Was  sie  bedeutet,  ist  dem  veranlagten  Hörer 
nicht  zweifelhaft:  eine  Erinnerung  an  das  Ereignis,'  das 
das  Gluck  dieses  Lebens  gebrochen  hat.  Die  Musik  kommt 
wieder  in  Fluä  und  rafft  sich  energisch  auf;  es  bleibt  ihr 
aber  ein  schwerer,  harter  Ton. 

Wir  haben  in  diesem  ersten  Teil  des  Hauptsatzes 
seine  Themengruppe.  Der  zweite  Teil  bringt  eine  Durch- 
führung über  die  Motive  des  Hauptthemas  und  in  ihr  den 
Versuch,  zu  reiner,  großer  Freude  durchzudringen.  Den 
Fehlschlag  bezeichnen  Paukensoli.  Dann  setzt  die  Wieder- 
holung des  ersten  Teils  ein  und  verläuft  bis  auf  einige 
unwesentliche  Änderungen  und  Erweiterungen  in  ge- 
wohnter Weise. 

Das  Trio  (Des  dur)  leitet  Draeseke  mit  einigen  Des  dur- 
Akkorden  ein,  die  uns  den  Sarabandenrhythmus  des 
Grave  ins  Gedächtnis  zurückrufen,  der  auch  im  weitren 
noch  in  andren  Formen  aus  der  Begleitung  erklingt. 
Dann  stimmen  die  Klarinetten  das  Thema  an 

Flu  poohflttlnopiä  lento 


^\\K  \j\u\r\ '  'I  ri'_i|fMrji 


«f 


Gegensätze  stellt  der  Komponist  dieser  aus  Schubertschem 
Geiste  geborenen  Melodie  nicht  zur  Seite.  Sie  entwickelt 
sich  ähnlich  breit  wie   das   entsprechende  Thema  von 


-^     730     •.- 

Schuberts  großer  C  dur-Sinfonie ,  wird  wiederholt  in  die 
Bässe  gelegt  und  erfährt  mit  einfachen  Mitteln  Verwan- 
deluDgen,  dUe  ihren  ursprünglich  wehmütigen  Beiklang  in 
reine  Freude  kehren.  Eine  der  glänzendsten  Stellen  dieser 
Art,  eine  wahrhaft  große  Wendung  treffen  wir  bei  der 
Rückkehr  nach  Desdur,  wo  die  Homer  und  Posaunen 
das  Thema  nehmen.  Mit  einem  stillen  Cmoll  wird  aber 
aus  diesem  Rausch  glücklicher  Erinnerungen  schnell  in 
die  Resignation,  in  den  Ton  gebrochenen  Seelenzustands 
zurückgelenkt  und  das  Trio  geschlossen.  Den  dritten 
Teil  des  Scherzo  bildet  die  wörüiche  Wiederholung  seines 
Hauptsatzes. 

Wir  hätten  in  diesem  Trio  die  Wiederkehr  der  schönen 
Melodie  aus  dem  Andante  des  ersten  Satzes  natürlich 
gefunden.  Draeseke  hat  in  Tornehmer  Zurückhaltung 
davon  abgesehen,  allzu  deutlich  zu  werden,  und  sich 
diese  Reminiszenz  für  den  Eingang  des  Finale  (Allegro 
con  brio,  o/b)  Cmoll)  aufgespart.  Aus  diesem  Grunde 
glauben  wir,  daß  zwischen  dem  Scherzo  und  dem  Schluß- 
satz die  sonst  übliclie  Pause  auf  das  kürzeste  Maß  zu* 
sammengedrängt  werden  muß.  Das  betreffende  Thema, 
das  Thema  des  Ideals,  tritt  hier  ins  Finale  unter  ähnlichen 
Verhältnissen  hinein,  wie  in  die  Einleitung  der  Sinfonie, 
nämlich  als  ein  Sonnenblick,  der  dunkles  Gewölk  durch- 
bricht. Dieses  Gewölk  ist  beim  Beginn  des  Satzes  noch  im 
Begriffsich  zu  si^mmeln:  es  zieht  in  unruhigen  Motiven  und 
Gängen  herauf  und  in  Dissonanzen,  die  einen  beklomme- 
nen und  ratlosen  Seelenzustand  ausdrücken.    Unheimlich 

polternd      set-  AUegro  con  brlo. 


zen 


mit  der  Figur  p 

ein,  die  durchs  ganze  Finale  hindurch  die  Rolle  des 
Sturmkünders  durchführt  Im  ganzen  ist  dieses  Finale 
der  Sinfonia  tragica  eine  der  fürs  Verständnis  schwie- 
rigsten Instrumentalkompositionen,  die  es  gibt  Die 
Schwierigkeiten  liegen  einmal  in  dem  Aufbau,  der  keinem 
der  gewohnten  Modelle,  etwa  dem  der  Sonate  öder  dem 
des  Rondo  folgt,  sondern  seine  Oberfracht  von  Themen 


^^     731     ^ 

ohne  Rücksicht  auf  Übersichtlichkeit  so  ausladet,  wie  es 
die  leider  verschwiegnen  dichterischen  Absiebten  mit  sich 
brachten.  Zum  andern  liegen  sie  in  dem  eigentümlichen 
Stil  Draesekes,  der  dem  Hauptgedanken  in  der  Regel 
wenigstens  einen  Nebengedanken,  meistens  aber  mehrere, 
beizufügen  pflegt.  Was  der  Komponist  mit  seinem  Schluß- 
satz will,  ergibt  sich  aus  dem  Vorhergehenden.  £r  zeigte 
uns  im  ersten  Satz  eine  kräftige  Natur,  der  ein  schwie- 
riges Leben  zugefallen  ist,  im  Grave  den  Schlag,  der  ihre 
schönsten  Hoffnungen  vernichtete,  im  Scherzo  das  einst 
kühne  und  frische  Wesen  gedämpft.  Nun  kommt  das 
Ende,  —  ein  schwerer  Lebensabend  und  der  Tod  mit 
seiner  Ruhe.  Diesen  letzten  Teil  seiner  dichterischen 
Aufgabe,  seines  in  dem  Titel  der  Sinfonie  angedeuteten 
Programms,  hat  Draeseke  im  wesentlichen  als  einen 
Kampf  zwischen  den  lebenswilligen  und  lebensmüden 
Seelenkräften  dargestellt.  Die  musikalischen  Hauptver- 
treter dieser  beiden  Parteien  sind  das  weit  gegliederte 
Thema  der  Mühsal  und  Rastlosigkeit,  das  am  Schluß  der 
Vorrede,  in  dem  Augenblick  einsetzt,  wo  die  Melodie  des 
Ideals  (aus  dem  Andante  des  ersten  Satzes)  verschwindet. 
Es  besteht  aus  zwei  Teilen.  -  Den  ersten,  der  schauerlich 
vom  Baßklang  signalisiert  wird 


Allegro  conbrio. 
Vlollno 


I^Clf' 


rr^rm  Hl  I  im  i  ni7.jji     i 


hat  der  Komponist  nachträglich  für  eine  im  Gespen- 
sterton gebaltne  Fortsetzung  des  Scherzos  erklärt*). 
Die  Bässe  treten  mit  unheimlichem  Achtelmotiv  da- 
zwischen.. Dann  fahren  die  Geigen  emsig  und  doch 
müde  fort: 


*)  Leipziger  Tageblatt  vom  19.  Dezember  1907. 


732 


Wieder  treibt  das  Achtelmotiv  der  Bässe  an,  dann  kommt 
der  oben  in  O  gebrachte  Abschnitt  noch  einmal  in  Cmoll 
und  damit  schließt  das  ganze  Thema.  Seine  Natur  ist 
Hasten  und  Bilen,  Ringen  und  Sorgen;  es  entrollt  ein 
Stück  Lemurenleben,  ein  Mühen  und  Plagen  mit  bestem 
Willen,  aber  Unsegen  darüber.  Manchmal  klingts  daraus 
wie  aus  Bürgers  Lenore  oder  wie  in  der  Sii^onie  fan- 
tastique.  Der  Dämon  reitet  immer  nebenher,  wir  hören 
ihn  aus  den  Solostellen  der  Kontrabässe,  wir  hören  ihn 
aus  der  Pauke,  die  das  ganze  Thema  mit  leisem  Grollen 
begleitet.  Nebenbei  bemerkt  —  wird  sich  keine  zweite 
Orchesterkomposition  finden  lassen,  in  der  der  Pauker 
so  viel  zu  tun  hat  wie  in  diesem  Finale,  über  dem  von 
A  bis  Z  ein  Gewitter  steht 

Das  zweite  Hauptthema  des  Schlußsatzes,  aus  dem 
die  Stimme  der  Todessehnsucht,  der  Bitte  um  Ruhe,  der 
Hofifnung  auf  Frieden  spricht,  wartet,  bis  das  erste  oben 
angeführte  Thema  nach  einem  Abschnitt,  wo  die  Harmo- 
nien unter  einer  liegenden  Stimme  sich  aufrührerisch 
bäumen,  wiederholt  und  zu  einem  lauten,  empörten  Ende 
—  wiederum  liegende  Stimme  /j  darunter  wilde  Disso- 
nanzbildung —  geführt  worden  ist.  Dann  thtt  es  in 
Esdur  ein  und  tröstet  in  Zungen,  die  wie  bekannt  an- 
muten: 


p  moäo  egpr. 


G?  i^"N^  iiTTT^i  i'i|  TH^^ 


Hiermit  ist  der  Zuhörer  von  der  Hauptsache  des  Finale 
unterrichtet.    Die  weitem  Gedanken,  die  der  Komponist 


-^     733     «^ 

aufstellt,  können  als  Nebenthemen  b'etcachtet  werden. 
Die  mit  dem  findendes  Esdorthemas  schließende  Abtei- 
lung des  Finale  entspricht  der  Themengmppe  des  Sona- 
tensatzes; Durchführung  und  Reprise  kann  Draeseke  nicht 
brauchen.  Denn  er  entwickelt  kein  Stimmungsbild,  son- 
dern er  gibt  eine  Erzählung  in  Tönen.  Einzig  das  erin- 
nert an  den  Brauch  der  Durchführung,  daß  er  das  erste 
Hauptthema  —  es  mag  der  Kürze  halber  und  mit  der 
Bitte,  nicht  mißzuverstehen,  das  Lemurenthema  genannt 
werden  —  auch  weiter  Terwendet  und  zwar  sowohl  als 
Hauptgegenstand  des  Tongemäldes,  als  auch  als  Staffage. 
Nachdem  das  Es dur- Thema  verklungen  ist,  setzt 
das  Hauptthema      .       Baase. -— -j      ^-.^     ^ — ^ 

regsam  ein, jetzt  JUkh/B  JM  J  J  J  Jl^  I  O  T'  I  f  - 
in     der    Form:  V      ^^  ^-«= 

Spöttisch  antwor- ' J  Ji  1^  i  1  M  I  ~  ^^^  °^^^  einem 
ten  die  Hörner:  y*^  ^'  r  '  i.f  4  *  "  energischen  Ruck 
rafft  sich  der  Held  der  Tondichtung  zu  alter  Energie  und 
Kraft  auf,  in  einer  Größe,  vor  der  man  sich  fürchten 
kann,  und  zwingt  dem  Thema  einen  heiteren  Charakter 
ab,  der  musikalisch  am  deutlichsten  auf  Grund  folgender 
Umbildung  zum  Ausdruck  kommt: 


^^'^.  P  LLf  m   |i  jj  1 1    |i  i  i  r  i  f  f 

Die  Szene  bleibt  dem  Scherz  zwar  nicht  unbestritten; 
verminderte  Septimenakkorde,  harte  und  trübe  Klänge 
drängen  sich  dazwischen.  Aber  in  der  Hauptsache  scheint 
es  doch,  als  wolle  sich  dieses  Leben  noch  zum  guten 
wenden:  Es  erfolgt  eine  Wiederholung  der  ganzen  Gruppe 
des  ersten  Hauptthemas,  aber  jetzt  nicht  im  Lemurenton, 
sondern  im  stolzen  Klang  f  und  /f,  wie  die  Äußerung 
eines  Riesen,  der  nicht  zu  vernichten  ist.  Diese  Wieder- 
holung .endet  mit  einem  neuen  Thema^  dem  ersten  be- 
deutenderen Nebenthema  des  Satzes: 


iiTi  'iTpii  i| 


.^     734     <j^ 

das  vielleicht  mit  Absicht  an  Schomanns  G  dur-Sinfonie 
erinnert.  Aus  ihm  hören  wir,  daß  es  mit  der  Kraft,  die 
sich  eben  noch  geäußert  hat,  doch  nicht  so  sicher 
steht,  denn  es  hat  einen  klagenden  Beiton  und  bringt 
uns  das  tragische  Geschick,  zu  dem  hier  ein  edler 
Mensch  verurteilt  ist,  wieder  ins  Bewußtsein,  Draeseke 
führt  es  sehr  kunstvoll,  in  rhythmischen  Verschiebungen, 
Nachahmungen,  Verkürzungen  und  andren  Formen, 
die  vielleicht  etwas  zu  gelehrt  sind,  durch  und  läßt  es 
mit  klagen- 


mu Klagen-       jfl.L  Lj?-^        ..  i     i  .  i    .     t  .    .    . 

den    Wen-      JilHi^r  f  tf  iM  ||J|,J  J  hJl^S    enden. 

düngen :  »y  '  '    ■ 


dung< 

Das  letzte,  ganz  beiläufig  gefundne  melodische  Motiv 
macht  er  sofort,  seinen  Charakter  ins  Heitre  zwingend, 
zum  Träger  eines  zweiten  Nebenthemas 


i  r^\i  r^  \ni  I  Jii  das  die  dritte  Abtei- 
^  ""^^^^^  lung  des  Finales  vor- 
wiegend beherrscht.  Es  wird  in  ihr  in  anderer  Form  der 
Versuch  wieder  aufgenommen,  des  Lebens  Härte  und 
Tragik  mit  Scherz  und  Anmut  zu  besiegen  oder  doch 
zu  vergessen.  Ganz  wohl  wirds  dem  Zuhörer  nicht 
dabei,  denn  die  dämonischen  Rhythmen  des  ersten 
Hauptthemas  wühlen  in  den  begleitenden  Instrumenten 
immer  weiter.  Zuweilen  nehmen  sie  allerdings  den 
scherzenden  Charakter  wieder  an,  den  wir  aus  der 
zweiten  Abteilung  des  Satzes  schon  kennen,  und  schließ- 
lich will  es  zu  einem  großen  Freuden aufschwung  kom- 
men, den  ei-  ^.^  ^-v  .-r^ 
n.da,ch.e.^,^^fee^.-^         |ff         [f    f        | 

mawendung 

markiert.  Aber  kaum  angestimmt,  wird  er  unterbrochen. 
Ähnlich  wie  wir  es  im  Scherzo  erleben,  setzt  von  Bässen 
und  Pauke  aus  ein  verminderter  Septimen akkord  ein 
ifis-a-c-es),  an  den  sich  bald  ein  furchtbares  Reiben  der 


--^    735     <fc^ 

Stimmen  über  einen  Orgelpunkt  (auf  fis)  anschließt.  Da- 
mit ist  das  tragische  Schicksal  entschieden.  Weinend 
und  zerbrochen  sucht  sich  wiederholt  das  (frühere)  Es  dur- 
Thema,  das  Thema  der  Sehnsucht  nach  Frieden  und 
Ruhe,  durch  die  Massen  zu  zwingen.  Vergeblich.  Es  geht 
entschieden  zu  Ende.  Und  da  kommt  nun  die  vielleicht 
ergreifendste  Stelle  der  ganzen  Sinfonie:  Angesichts  des 
Todes  wirft  der  Held  einen  Rückblick  auf  sein  unglück- 
liches Leben :  alle  Themen  aus  den  vorhergegangetien  drei 
Sätzen  der  Sinfonie  ziehen  auf,  ziehen  wiederholt  vor- 
über, am  meisten  bevorzugt  die  Themen  des  Grave,  die 
mit  dem  Hauptereignis  in  diesem  Schicksal  verknüpft 
waren.  Ein  langer  Orgelpunkt  auf  g,  eine  grausame 
Stelle  im  Klang  und  im  Sinn,  bezeichnet  wphl  die  ktzte 
Not.  Dann  setzt  die  Einleitung  der  Sinfonie  nochmals 
ein,  wie  um  zu  sagen :  die  schlimmen  Ahnungen  haben 
sich  erfüllt.  Als  dann  aber  die  Melodie  des  Ideals  (An- 
dante) eintritt,  bleibt  Draeseke  in  ihrem  Ton  und  gibt  mit 
einigen  weichen,  sphärisch  verklingenden  Takten  der 
Sinfonie  ein  Ende  in  Verklärung,  ähnlich  wie  das  neuer- 
dings auch  Brahms  und  Tschaikowsky  getan  haben. 

Größrer  Popularität  erfreut  sich  die  Sinfonie  (Fdur)       a.  Gqu, 
von   Hermann    Götz,    dem   Komponisten    »Der   Wider-      Sinfonie 
spenstigen  Zähmung€.    Sie  verdankt  diese  ihrem  zweiten   (Fdnr,  Op.oi 
Satze,  »Intermezzo«,  einem  der  reizendsten  Genrebilder« 
der  modernen  Musik.    Die  Nummer  wirkt  ebenso  durch 
ihren  fröhlichen,  populären  und  doch  noblen  Inhalt,  wie 
durch  die  originelle  Anlage.    Das  Hörn  beginnt  mit: 

^)  AUeg^retto.  ,      ^^  -^ 


Die  Holzbläser  antwor-  b)    ±1       *-v^  welches 

ten  ebenso  naiv  ^i^.ZjSZ^AST\^-^^  ^  ^\tj  ■'  die  Vio- 
einem  munteren  Thema  ^"^  -r^dn^^'  i-^^    j.^^^ 

aufnehmen  und  weiterführen.  Nach  einer  lustigen  Ka- 
denz der  Flöte  setzt  der  Seitensatz  in  gedämpfterer 
Stimmung  ein: 


736 


^\JTT\h 


Celli,  zweite  Violinen  und  Fagotte  legen  eine  sentimental 
sinnende  Melodie  darunter. 

Der  Gedanke  und  seine  Durchführung  erinnern  eine 
Weile  an  das  Scherzo  der  Schumannschen  Cdur- Sin- 
fonie, bis  die  Trompete  mit  dem  Hornthema  des  Ein- 
gangs den  eignen  Phantasiekreis  des  Komponisten  wieder 
feststellt  Das  kindlich  heitere  Treiben  gelangt  in  einer, 
die  Stelle  des  Trio  vertretenden  Episode  über  folgendes 
Thema: 


TJn  poco  meno  moto 


auf  einen  Augenblick  zur  Ruhe. 

J  Jj*  iJ^I2  I  ij.^  =  ^on  diesem  Mittelpunkte  aus 
**    "^  ''  bewegt  sich  dann  der  Satz  in 

freien,  vorwiegen  d  durch  ruhigere  Gegenmelodien  veränder- 
ten Wiederholungen  der  ersten  Gruppen  dem  Ende  za  Das 
Adagio  (FmoU,  8/4)  steht  mit  dem  Intermezzo  in  näherer 
Verbindung.  Das  Thema  d  des  letzteren  bfldet  den  Mittel- 
satz. Haupt-  ^  Adagio, 
thema  ist  eine 
ernste  Melodie 

auf  deren  Grund  der  erste  und  dritte  Teil  des  Satzes 
in  einfacher  Sprache  eine  Reihe  von  Betrachtungen 
ausführen.  Ihr  tief  schwermütiger  Ton  .macht  erst 
in  der  Coda  (in  Fdur)  einer  hoffnungsvolleren  Stim- 
mung Platz. 

Von  den  beiden  Ecksätzen  der  Sinfonie  ist  der 
erste  der  hervorragendere.  Sein  Hauptthema  ist  durch- 
aus romantisch,  in  seiner  Stimmung  zwischen  ainnig 
behaglichem  Genießen,  jugendlich  stürmischem  Ober- 
schwang und  leichten  Anwandlungen  von  Melancholie 
geteilt: 


737 


AUc(:ro  moderato 


Das  zwei- 
te, freundlich 
schwärmend:  ' 


weist  auf  die  Meistersinger  R.  Wagners,  der  von  jetzt  ab 
für  die  Sinfonie  aller  Länder  ungeheuer  wichtig  wird, 
hin.  Ober  der  Verbindung  der  beiden  Ideen  liegt  gleich- 
mäßig der  Ton  Hebenswürdiger  Anmut;  doch  bricht  an 
einigen  Stellen  auch  der  Jubel  kräfUg  durch. 

Besonders  hervorzuheben  ist  der  Schluß  der  Durch- 
führung, an  dem  aus  zarten  Träumen  sich  die  Phantasie 
überraschend  energisch  zum  Hauptthema  ztu'ückwendet. 

Der  Schlußsatz  der  Sinfonie  erstrebt  kräftigen  und 
feurigen  Ausdruck.  Hierzu  dient  die  rauschende  Violin- 
figur, welche  das  Hauptthema  eröffnet: 

Alierro  eon  fuoe»   ^ 


und  das  resolute  The- 
ma   des   Seitensatzes: 


li^i  'ILi^'liiiiTuililiJ 


Der  Gegenpart    ist  durch   eine   Melodie  vertreten, 
welche    nur    durch    kunst- 
volle Schlüsse  zu  einem  stär- 
keren Gehalt  erhoben  wird: 

Lange  erwartet,  trat  zu  der  Zeit,  wo  die  Götzsche 
Arbeit  erschien,  am  Ende  des  Jahres  1876,  endlich  auch 
Johannes  Brahms  in  die  Reihe  der  Sinfoniker  ein. 


y 


Kreteteliinir,  F&hrer.    T,  1. 


47 


-^    738    ^^ 

Aus  den  Kreisen  ^er  Romantiker  hervorgegangen, 
▼ertritt  Brahms  das  bleibende  Prinzip  der  romantischen 
Richtung:  das  Prinzip  der  gemischten  Stimmungen  und 
der  raschen  Bewegung  des  Empfindnngslebens.  Aber 
alle  die  früheren  Vertreter  der  musikalischen  Romantik 
übertrifft  Brahms  durch  seine,  in  wunderbar  zielbewußter 
und  energischer  Entwickelung  erworbene  Vielseitigkeit 
und  durch  die  Objektivität,  die  Strenge  und  Mannig- 
faltigkeit des  Stils.  Brahms  ist  unter  allen  Sinfonikern 
des  19.  Jahrhunderts  der  bedeutendste  Beethovenianer, 
soweit  es  sich  um  Form  und  Stil  handelt.  Kein  zweiter 
hat  so  wie  Brahms  Beethoven  in  der  Logik  und  Ökonomie 
des  Satzbaues,  in  der  durchweg  gediegenen  Entwickelung 
des  thematischen  und  motivischen  Materials,  in  dem  Ver- 
zicht auf  das  Konventionelle  erreicht.  Er  ist  der  Groß- 
meister der  sinfonischen  Arbeit!  Seine  Werke,  natur- 
gemäß die  Sinfonien  voran,  sind  deshalb  auch  nicht 
durchweg  leicht  zu  genießen.  Schwer  ist  vor  allem  seine 
erste  Sinfonie. 
j.BrAhas,  Diese  erste  Sinfonie  (Cmoll)  war,  gerade  so  wie  bei 

Sinfonie  Nr.  1  Beethoven,  die  Frucht  langer  Arbeit  Sie  soll  nach  Kal- 
(Cmoii,Op.68.  beck*)  Vorgängerinnen  gehabt  haben  und  im  ersten  Ent- 
wurf bis  auf  das  Jahr  1855  zurückgehen.  Sicher  ist,  daß 
Frau  Schumann  und  Albert  Dietrich  1862  den  ersten  Satz 
kennen  lernten  *%  aber  die  Ausführung  des  ganzen  Werkes 
läßt  noch  fast  fünfzehn  Jahre  auf  sich  warten.  Es  nähert 
sich  im  Charakter  und  im  Gange  der  Ideen  der  Beet- 
hovenschen  Fünften.  Auch  die  Cmoll- Sinfonie  von 
Brahms  führt  von  Kämpfen  und  schweren  Stunden  zur 
Klärung  und  zur  freudevollen  Freiheit  der  Seele. 

Der  erste  Satz  beginnt  mit  einer  langsamen  Einleitung 
(Un  poco  sostenuto,  C  moll,  ^ls\  welche  das  Bild  des  folgen- 
den großen  Allegro  in  kurzen  Strichen  vorauszeichnet  Sie 
braust  leidenschaftlich  auf  —  schöpft  Atem  und  hofft 

*)  Max  Kalbeck:  Johannes  Brahms  IIT,  1910. 
**)  Briefe  von  und  an  Joseph  Joachim,  1912  (11,  22).  Albert 
Dietrich:  Joh.  Brahms  (1898),  8.  42. 


— »    739 

wie  dieses  —  auch  die  thematischen  Motive  des  Ällegro 
klingen  in  ihr  schon  an.  Unter  ihnen  ist  das  chromatische 
Thema,  mit  welchem  die  Violinen  sich  unter  den  dröhnen- 
den   Strichen    der   Kontrabässe    in   die   Höhe    quälen: 

ÜB  poco  sostenuto.  ^ ^^-»^ 

jt'^ftr^VriTrf>f'C£''l^  Pr"!^!^^    d«« enUcheidende. 

Es  steht  nicht  bloß  an  der  Spitze  der  Sinfonie,  son- 
dern es  trägt  als  eine  verbesserte  Art  »id^e  fixet  fast 
ihren  gesamten  Grundriß.  Auch  seiner  zweiten  und  dritten 
Sinfonie  hat  Brahms  solche  kurze  Generalmotive  zu 
Grunde  gelegt,  an  ihnen  eine  unvergleichliche  Meister- 
schaft in  der  Variationskunst  erprobt  und  damit  der  Sin- 
fonik  ein  neues  Mittel  für  Einheitlichkeit  und  Zusammen- 
hang der  Fol'm  gewonnen.  Das  hier  angeführte  chroma- 
tische Generalmotiv  bietet  für  den  größten  Teil  der^ersten 
Sinfonie  den  technischen  und  geistigen  Stützpunkt.  Noch 
in  ihren  zweiten  und  dritten  Satz  ragt  es  leibhaftig  hinein; 
der  erste  Satz  aber  ist  Aller ro  bildet  es  hier 

vollständig  auf  ihm  /i^  a  -'.^>.j|,,-Ty-^ft^^  di®  Ober- 
fundiert. In  der  Formf  fr  "-  H  T  I  T  T  I  T  stimme ,  bald 
den  Baß,  fungiert  in  seinem  kontrapunktischen  Gewebe 
als  heimlicher  Gantus  firmus  und  wirkt  als  treuer,  leiten- 
der Geist  in  guten  wie  in  bösen  Stunden.  Es  gibt  die 
Alarmsignale  und  ruft  beschwichtigend  den  Sturm  der 
Leidenschaft  zur  Ruhe.    Das  erste  Thema  des  AUegro 


.nrß/pn^,,t^^riffV?  f  I 


Alle^ro    ^^ 


ist  ihm  gegenüber  nur  ein  sekundäres 
Ulli;  kontrapunktisches  Kunstprodukt,  hat  aber 
^  1*^    die    dämonischen    Szenen    des    Satzes, 


welche  mit  großer  Energie,  Kraft  und  Schärfe,  aber  ver- 
hältnismäßig knapp  dargestellt  sind,  zu  tragen.  Ein- 
dringlicher, für  den  Gesamteindruck  des  AUegro  bedeu- 
tender, wirken  die  Partien,  in  welchen  der  verzweifelte 
Ton  der  Kampfesstimmung  leiser  wird  und  den  milderen 

47* 


-_^    740    4»— 

Regungen  Platz  macht  Wunderbar  schön  ist  naitaent- 
lieh  der  Obergang  zum  zweiten  Thema:  der  allmähliche 
Eintritt  der  ruhigeren  Bewegung,  das  Hervortreten  klagen^ 
der  Motive,  der  sehnsuchtsvolle  Ton,  in  welchem  das  er- 
wähnte chromatische  Thema  an  die  Spitze  der  bittenden 
Stimmen  tritt  Dieser  Partie  ist  der  Stempel  der  Natur- 
Wahrheit  aufgedrückt  Das  zweite  Thema,  dessen  erste 
Periode  zur  Orien-  .  <*-j 
tiernng  über  das 
Ganze  dienen  mag 
stammt  seelisch  und  technisch  ebenfalls  von  dem  chro- 
matischen Hauptmotiv  der  Sinfonie;  unwillkürlich  erinnert 
es  aber  auch  an  R.  Schumanns  Manfred -Ouvertüre  und 
ist  eine  Hauptstütze  für  die  Ansicht  Kalbecks,  daß  Brahms 
sich  mit  seiner  CmolUSinfonie  aus  einer  peinlichen  Man- 
frediscben  Situation  befreit  habe.  Ein  reizender  Dialog, 
von  Hom  und  Klarinette  fast  nur  in  den  einfachsten 
Naturlauten  geführt,  fugt  sich  dem  zweiten 
Thema  an;  leider  ist  er  nur  von  kurzer  •  *J'^^L  T,^^ 
Dauer.    Mit  einem  unwirschen  Rhythmus:  r 

ans  welchem   sich  das  V  j.V»  herausbildet,  rufen 

für  die  Entwickelung  des  IE  fc'^Tfj^=  die  Bratschen  den 
Satzes  wichtige  Motiv  "^  "9  '-  Chor  der  Instru- 
mente zur  Kampflust  und  in  die  leidenschaftliche  Aktion 
zurück.  Brahms  beschließt  sie  mit  einem  Anhang,  der, 
lediglich  aus  einem  Zweiachtelrhythmus  entwickelt,  einen 
Zustand  fassungsloser,  atemloser  Aufregung  veranschau- 
licht. In  der  Durchführung  treten  die  beiden  großen  Piano- 
stellen besonders  hervor:  In  der  plötzlichen  Totenstille, 
welche  sie  verbreiten,  in  dem  leisen,  halb  verborgenen 
Walten  ernster  Gedanken,  haben  sie  etwas  Übersinnliches. 
Der  ersten  folgt  eine  Szene  von  Kraft  und  Frömmigkeit 
Die  alten  Motive  des  Trotzes 
schließen  sich  wie  zum 
Choralgesang  zusammen : 
Die  zweite  lenkt  in  eine  Periode  über,  welche  den  auf- 
geregten Ton  der  Einleitung  verstärkt  und  gesteigert 
wieder  anschlägt  und  mit  dem  erschreckendsten  Aus- 


741 


druck  innerer  Empörung  in  die  Reprise  überleitet.  Es 
ist  diese  Periode  einer  der  gewaltigsten  Versuche  im 
pathetischen  Stil  und  zugleich  ein  Meisterstück  in  der 
Kunst,  Übergänge  zu  machen.  Die  Krone  bildet  der. 
lange  Orgelpunkt  auf  g  mit  der  plötzlichen  Ausweichung 
am  Schluß.  Die  Reprise  nimmt  den  gewöhnlichen  Ver- 
lauf. Als  sie  aber  am  Schlüsse  der  ersten  Themengruppe 
die  dämonischen  Mächte  des  Satzes  auf  einen  neuen, 
höheren  und  unerhörten  Punkt  geführt  hat,  bricht  die 
Musik  wie  in  natürlicher  Erschöpfung  ab.  Das  chroma« 
tische  Thema  wird*,  zu  rührenden  Klagemelodien  er- 
weitert, und  wehmutsvoll  elegisch  klingt  der  Satz  im 
Sostenuto  aus. 

Der  zweite  Satz,  der  wie  der  entsprechende  des 
BeethoTcnschen  G  moll-Konzerts  nach  Edur  rückt  (An- 
dante sostenuto,  E  dur,  8/4),  steht  noch  unter  dem  beklem- 
menden Einfluß  des  ersten.  Soweit  er  auch  dem  voraus- 
gehenden Allegro  in  der  Tonart  und  in  seinen  Trost  und 
Frieden  suchenden  Absichten  ausweicht  — .'einige  von 
dessen  furchtbaren  Elementen  erreichen  ihn  doch.  Sie 
äußern  sich  in  den  heftigen  Crescendos,  in  den  schroffen 
Modulationen  einzelner  Themen;  ja  der  erste  Satz  schickt 
in  das  erste  Thema  unsers  Andante 


Andante  sosteooio. 


iÄÄg 


den  chromatischen  Dä- 
mon in  den  Schluß  der 
zweiten      Themengruppo 

lieh    wieder-   A  ^  p  ^  t  *r  r  ff  r'^Pf  ^f^  hinein. 

In  einzelnen  Partien  klingt  der  Ton  kindlicher  Zu- 
versicht außerordentlich  rührend  durch,  so  im  Nach- 


.noch  freundlicher  be- 


satz  des  er^.^  ^, ,  ?'^  rir%  r^i^ -^^^^  freundlicher  be- 
sten Themas:  gaT  IJJv    Ujn'  lebt  in  dem  Sechzehn- 


742 


telspiel,  welches  Oboe  und  Klarinette  als  zweites  Thema 
bringen.  Der  Schloß,  des  Andante,  wo  Hörn  und  die  Solo- 
violine mit  dem  zuletzt  zitierten  tröstlichen  Thema  kon- 
zertieren, wirkt  wie  eine  wahre  Musica  sacra. 

Der  dritte  Satz  der  Sinfonie  (Un  poco  Allegretto, 
Asdur,  V4)  ^^i^  ^^^  ^^^  Charakter  des  an  dieser  Stelle 
gebräuchlichen  Scherzo  weit  ab.  Es  ist  im  strengen  Zu- 
sammenhang mit  dem  Geist  des  ersten  Satzes  gedacht: 
seine  Heiterkeit  infolgedessen  eine  ged&mpfte,  wie  in 
einer  fröhlichen  Stunde,  die  als  die  erste  auf  eine  Reihe 
trauriger  Tage  folgt.  In  seinem  zweiten  Thema  namentlich 

Allegretto^  _      ♦    Ob.  _ 

i 


«11  nun  SQ^         ist  die  Betrübnis  merkbar,  und  in  die 

Fortestelle  mischt  sich  ein  Akzent  des 
Schmerzes.  Der  Grundton  des  Satzes 
ist  kindlich  herzlich.  So  äußert  ihn  das  Hauptthema,  das 
im  Anfang  mit  den  langen  Noten  auf  Bedenken  hinweist, 
namentlich  in  der  zweiten  Hälfte: 

Clar. 


^m 


noch  mehr  das  Trio:  ein  graziöses  Wechselspiel  zwischen 
Holzbläsern  und  Geigen  über  das  Thema: 


In  dem  zarten  Glöckchenton  der  Bläser  liegt  viel 
Naturklang  und  dasselbe  ursprüngliche  Instrumentations- 
talent, das  sich  im  zweiten  Thema  des  Andante,  in  dem 
Dialog  der  Holzbläser  bemerkbar  machte  und  das  sich 
bei  Brahms  häufig  in  Bildungen  von  größter  Einfachheit 
äußert.   Der  Schluß  des  Satzes,  still  und  halb  unerwartet, 


743 


steht  mit  dem  dezenten  Charakter  der  Komposition  im 
vollen  Einklang.  Bedeutungsvoll,  Vorbote  nener  Stürme, 
blickt  aber  in  ihn  das  chromatische  Leitmotiv  der  Sin* 
fonie  hinein. 

Das  Finale  (Adagio,  Cmoll  —  Andante  —  Ailegro, 
C  dar,  (^],  die  aas  echter  Inspiration  gebome  Krone  der 
Sinfonie  und  ein  Gipfelpunkt  moderner  Tonkunst  über- 
haupt, beginnt  mit  einem  Rückfall  in  die  leidenschaftlich 
trübe  Stimmung  des  ersten  Satzes  der  Sinfonie.  Schwer- 
mütig und  im  Innersten  an  das  fatale  Chromä  gekettet, 
setzt  das  einleitende  Adagio  ein: 

Adafflo. 


I 


Die  Violinen  suchen  energisch  und  desperat,  in  einem 
durch  das  pizzicato  und  stringendo  sehr  scharf  charak- 
terisierten Satz,  welcher  auch  an  den  kritischen  Punk- 
ten des  Ailegro  wiederkehrt,  von  dem  melancholi- 
schen Wege  abzulenken.  Vergeblich!  Die  Phantasie  irrt 
aufgeregt  im  dunklen  Kreise; 
über  das  an  die  Einleitung  des 
ersten  Satzes  anknüpfende  Motiv 


trete. 


gerät  das  Orchester  in  eine  helle  Empörung,  die  sich  zum 
Teil  rezitativisch  und  in  neuen  Zungen  äußert.  Die  Pauke 
wirbelt  fürchterlich.  Da  erscheint  wie  ein  friedlicher 
Himmelsbote  das  Hörn  mit  folgender,  ebenso  von  Schu- 
berts Geist,  wie  von  der  Erinnerung  ans  Alphorn  berühr- 
ter Melodie: 

Pill  Andante. 


Wir  sind  im  Andante,  dem  zweiten  Teile  der  Einleitung. 
Die  Stimmung  sänftigt  sich,  erhebt  sich  und  bereitet  den 
kräftig  freudigen  Hymnus  vor,  mit  welchem  der  Haupt- 
satz des  Fina-         Ailegro  non  troppo. 

Die  lange,  volkstümliche  und  absichtlich  an  Beethovens 


^^     744     ^— 

Freudcuhymne  der  Neunten  erinnernde  Melodie,  welche 
sich  aus  dieser  ersten  Periode  gestaltet,  bildet  den  Hanpt- 
träger  der  Darstellung  im  Satze.  Unter  den  anderen  Ge- 
danken, welche  ihr  zur  Seite  treten,  ist  der  wichtigste 
der  schwankende: 

fc^-rs  -r*     ^  Zu  vorübergehender  Be- 

■T  Vt'^tf}^fii\^.^\  »f^li^  deutung  kommen  noch  die 

-  I '    kT  ^'0»^»^    ^^^^^  energisch  heiteren  Motive : 


und    das   melancholische : 


jiVn^  fijTTTi  ii|1v^i^' iT  ff' M 


t»  Obo« 


Y  f^?'  i|-7>  ^^p 


Der  Satz  baut  aus  diesem  Material  ein  großartiges, 
dramatisch  schwungvolles  Bild  einer  Siegesstimmung, 
welche  über  alle  Hindernisse  hinwegschreitend  bis  zum 
dithyrambischen  Jubel  anwächst.  In  seinen  heitern  und 
seinen  ernsten  Momenten  wirkt  dieses  Finale  gleicher 
Weise  anschaulich,  lebendig  und  so  mächtig,  wie  es  seit 
Beethoven,  vielleicht  mit  Ausnahme  Schuberts,  keinem 
Sinfoniker  gelungen  ist.  Die  gewaltigsten  und  ergreifend- 
sten Stellen  des  Allegro  sind  wohl  die,  wo  die  Pizzicato- 
Partie  und  die  Hornmelodie  des  Andante  wiederkehrt 
J. BrakMiy  Mit  seiner  zweiten  Sinfonie  (Ddur,  verdfifentlicht 

Sinfonie  Nr.  8  Ende  1877)  ließ  Brahms  dem  pathetischen  Bild  des  Lebens* 
(DdurOp.73).  Kampfes,  das  die  erste  entrollt,  den  Kontrast  edlen  Le- 
bensgenusses folgen.   Er  spricht  hier  so  vornehmlich  als 
warmherziger  und  feiner  Naturfreund,  daß  man  diese 
zweite  Sinfonie    als    seine  Pastoralsinfonie    bezeichnen 


_^    745    V- 

kann.  Ihren  Schauplatic  legen  die  biographischen  Quellen 
teils  an  den  Wörther  See,  teils  nach  Baden-Baden.  Doch 
sind  ihre  Pastoralmotive  und  ihre  anakreon tische  Ideen 
mit  geisterhaften  Klängen  außerordentlich  romantisch 
zusammengedrängt.  In  der  musikalischen  Faktur  steht 
sie  im  ersten  Satz  etwas  hinter  der  ersten  Sinfonie  zu- 
rück, ist  bequemer  entworfen  und  läßt  mehrmals  die 
Punkte  erkennen,  wo  durch  Zusätze  und  Einschiebungen 
nachgeholfen  worden  ist.  Andrerseits  ist  sie  wieder  reich 
an  formellen  Glanzpunkten,  und  ihr  Grundton  einer  vor- 
nehmen, zuweilen  träumerisch  und  östreichisch  gefärbten 
Heiterkeit  schlägt  jede  Kritik  nieder.  Ähnlich  werden  die 
schweren  und  schwermütigen  Teile  ihres  Adagio  durch 
die  seelische  Anmut  und  den  friedvollen  Sinn,  der  sie 
beherrscht,  erleichtert. 

Der  erste  Satz  dieser  Sinfonie  (Allegro  non  troppo, 
D  dur,  3/^  gleicht  einer  freundlichen  Landschaft,  in  wel- 
che die  untergehende  Sonne  erhabene  und  ernste  Lichter 
hineinwirft.  An  selbständigen  musikalischen  Ideen  über- 
steigt er  den  Bedarf  des  Schemas  bei  weitem,  und  ein- 
zelne dieser  zahlreichen  Seitengedanken  fesseln  die  Er- 
innerung mit  voller  Stärke  an  sich.  Das  Hauptthema 
des  Satzes  besteht  aus  einem  liebenswürdig  traulichen, 
gemütvollen  Dialog  zwischen  Hörn  und  Holzbläsern: 

AUegro  noB  troppo  ^ .  Uoisbl.  ,         , 

y'H»rfr'r"'r   ir    i^rMJfrFifrir  if' 

CoBtra».     *  '  *  ö « 

der  die  Kenner  des  Meisters  an  die  Serenaden  seiner 
Jugendzeit  erinnert.  Wenn  der  holde  Gesang  zuerst  ein- 
setzt, schenkt  ihm  der  Zuhörer  kaum  vor  dem  zweiten 
Takte  Aufmerksamkeit,  die  drei  einleitenden  Noten  des 
Kontrabasses  erscheinen  ihm  bedeutungslos.  Sie  sind 
aber  nicht  bloß  für  den  ersten  Satz  wichtig,  sondern  sie 
spielen  in  der  zweiten  Sinfonie  eine  ähnliche  Rolle  wie 
in  der  ersten  das  chromatische  Motiv:  o  eis  d^  sie  sind 
das  in  meisterhafter  Variation  durch  alle  Sätze  geführte 
Generalmotiv  der  zweiten  Sinfonie.   Zunächst  entwickeln 


f^ 


746 


aas  ihnen  die  Violinen  nach  langem  Schweigen  das  Nach- 
spiel, das  die  Bläserszene  endet  Diese  ist  als  die  Ein- 
leitung, als  der  Prolog  des  Satzes  gedacht  und  hat  des- 
halb einen  scharf  markierten  Schluß  erhalten.  Am  be- 
deutendsten treten  aus  ihm  die  tiefen,  dumpfen  Einsätze 
der  Posaunen  hervor,  hier  wie  in  der  weitren  Folge  vom 
Dreinotenmotiv  gekreuzt  und  umschmeichelt  Im  ver- 
längerten Rhythmus,  in  drei  halben:  a  gü  a  (Oboen), 
bildet  es  das  letzte  Wort  des  Vorspiels  mit  einer  Wirkung, 
als  sei  gebetet  worden. 

Der  Satz  fängt  nun  gewissermaßen  vom  frischen  an: 

die   Vio-  ^  -^^^    fi^^^^T**>i.  ^^  ^*®  Spitze, 

linen tre-^  j  f'^pfripp    •rrif  ifff  ir=bald   bringen 

'die  Oboen  ein 


ten    mit 
neckisches 
Zwischen*  gj^ 


Auch  diese  beiden  The- 

men  sind  von  dem  Motto 

L-T  _»p    der  Kontrabässe  abge- 


sätzchen:  

leitet  Eine  Achtelfigur  fts'ä  a  (dem  zweiten  Takt  des 
Hauptthemas  entnommen)  will  eben  den  scherzenden 
Ton  steigern,  da  weist  der  Komponist  die  Tändelei  ener- 
gisch ruhig  ab  und  schreitet  mit  dem  Mendelssohnisch 
anklingenden  zweiten  Thema 

I  jTr  CU^" r'r  W  rT|f  rT|fT|  h  , 

zur  innren  Sammlung. 

.  Bald  aber  gährt  es  wieder  in  der  Brust  des  Tondichters, 
es  kommt  zu  der  für  Brahms  kennzeichnenden  Mischung 
von  grauem  und  ungradem  Rhythmus,  aus  dem  Frieden  und 
'den  Schlummergedanken  wendet  er  sich  zu  streitbarer 
Kraft  und  drohend«.  Jinergie  mit  den  auf  den  Oktavsprung 
des  Horns  (im  Hauptthema)  gestützten  neuen  Themen: 

und 


t7^-^r?r^^f'f  f  ifj^f  f  if  i;^fi 


— ^    747    ^>- 

Brahms  holt  sich  aber  ans  dem  scheinbar  nur  idyllischen 
Hauptthema  noch  weitre  Stützen  fflr  die  kräftigen  Gänge, 
in  die  er  jetzt  eingelenkt  hat.  Das  Terzenmotiv  des  Homs 
kommt  in  langen  und  wuchtigen  Viertelketten  der  Bässe, 
die  Violinen  umflattern  es  mit  kleinen  Sechzehntelgängen. 
Dann  wird  aus  dem  Schluß  der  Hommelodie  der  Gang 
fis  e  d  selbständig  in  Sequenzen  verarbeitet,  die  außer- 
ordentlich rüstig  klingen  und  diesen  Eindruck  durch 
Nachahmungen  zwischen  Bässen  und  Violinen  verdoppeln. 
Die  Stelle  ist  unter  den  Bildern  gesunder  Kraft,  an  denen 
die  Sinfonie  reich  ist,  eins  der  mächtigsten.  Doch  schließt 
Brahms  die  Themengruppe  nicht  mit  ihr,  sondern  kehrt 
überraschend  zum  zweiten  Thema  zurück.  Mit  neuen 
Ornamenten,  Flötentrillem  über  a  gü  a  deutet  es  gleich 
vom  Einsatz  ab  auf  das  Hauptthema  hin  und  leitet  bald 
zu  ihm  zurück. 

Die  Durchführung  beginnt  sehr  freundlich  mit  dem 
Hauptthema  in  Fdur,  also  in  die  Färbung  der  Ferne 
gewendet.  Vom  zweiten  Einsatz  ab  treten  erregte  Bil- 
dungen über  den  dritten  Takt  der  Hommelodie  in  den 
Vordergrund,  der  Charakter  der  thematischen  Ableitungen 
wird  zusehends  streitbarer,  Streicher  und  Bläser  stellen 
sich  gegeneinander,  in  den  Posaunen  kommt  das  Drei- 
notenmotiv in  unheimlichen  Engführungen,  in  den  Har- 
monien wühlt  es,  im  Rhythmus  wechselt  Ruhe  und  Be- 
stürzung fieberhaft,  dicht  aneinander  stellen  die  Geigen 
in  den  hohen  Saiten  eine  Achtel-  und  eine  Viertelform 
des  Dreinotenmotivs.  Da  kommt  endlich  die  Stimmungs- 
krisis mit  einem  leidenschaftlichen  Aufschrei  sämtlicher 
Bläser  auf  dem  immer,  bald  langsam,  bald  schnell  wieder- 
holten h  d  (dem  Einsatzmotiv  der  Hommelodie)  zur  Lö- 
sung. Ihr  folgen  Augenblicke  der  Resignation,  das  muntre 
Thema,  das  am  Schlüsse  der  Einleitung  die  Violinen 
einsetzten,  kommt  mehrmals  in  Moll,  dann  entfacht  sich 
über  einem  Orgelpunkt  (auf  A)  der  Sturm  der  Gefühle 
vom  neuen,  die  empörten  Leidenschaften  nehmen  wilde 
Formen  an.  Da  zwingt  Brahms  mit  gewaltiger  Willens- 
macht und  mit  einem   einzigen  kurzen  Griff  die  ent- 


748    ^ 


faBselten  Elemente  ins  natürliche  Gehege  mit  energischen, 
immer  wiederholten  Intonationen  des  Terzenmotivs  zu- 
rück, aber  jetzt  nicht  in  Mollform,  sondern  mit  fa.  Mit  der 
Dartonart  ist  auch  fester  Boden  gewonnen,  und  bald  be- 
ginnt der  dritte  Teil  des  Satzes,  die  Reprise.  Er  ist  der 
schönste  des  ganzen  Satzes  geworden,  durch  die  Coda, 
die  ihm  Brahms  anfügte.  DasHornsolo,  das  sie  träume- 
risch zögernd  und  suchend  beginnt  und  dann  mit  rezita- 
tivischer  Freiheit  und  Macht  in  Tönen  tiefster  Klage, 
edelster  Resignation  endet,  ist  eme  Erfindung  von  un- 
mittelbarer Eingebung.  Die  Violinen  bleiben  noch  eine 
Weile  mit  wärmstem  Ausdruck  in  diesem  Kreise,  dann 
aber  repetieren  sie  mit  den  Holzbläsern,  immer  in  An- 
lehnung an  das  Motto  der  Kontrabässe,  die  einen  den 
andren  einhelfend)  pizzicato  die  Streicher,  staccato  die 
Bläser,  nochmals  in  Kürze  alles  das  Freundlichste  und 
Anmutigste,  was  ihnen  auf  der  vorhergegangnen  langen 
Wanderung  begegnet  ist.  Dieser  Schluß,  der  den  Bin- 
druck des  Satzes  krönt,  gehört  zu  den  schönsten  Ton- 
bildem,  mit  denen  Brahms  die  Musik  bereichert  hat 

Der  zweite  Satz  der  Sinfonie  (Adagio  non  troppo, 
H  dur,  (^)  stellt  mit  seinem  Anfang 


M 


den  im  ersten  ungelöst  gebliebenen  Rest 
jfj^Pf^l^'  E  pessimistischer  Elemente  gesteigert  und 

"*        t  ■ '  ^.    vAradiürflK  in    r^An  VnrHArirriin<)      THa  Va. 


~^  verschärft  in  den  Vordergrund.  Die  Me- 
lodie ist  in  ihrem  weiten  freien  Wurf  außerordentlich 
schön,  in  dem  Suchen  nach  einem  Ausweg  aus  dem 
Trübsinn,  in  dem  Kampf  gegen  Verwirrung  und  Fassungs- 
losigkeit außerordentlich  charakteristisch.  Ihren  schwer- 
mütigen Bücken  begegnet  endlich  ein  freundliches  Bild, 
welches  die  Phantasie  in  die  Jugendzeit,  in  die  glücklichen 
Tage  von  Spiel  und  anmutigem  Tanz  zurückführen  will: 


/»  ^Ic« 


749 


Ein  dritter  Teil,  geföhrt  von  dem  Thema: 


P99vy 


das  uns  den  freundlichen  Einsatz  der  Holzbläser  im  ersten 
Satz  in 'düstrer,  diabolischer  Umbildung  zeigt,  steigert  die 
trübe  Stimmung  bis  zu  einem  leidenschaftlichen  Grade, 
und  es  kommt  zu  höchst  erregten  Ausbrüchen  des  Pessi- 
mismus, bis  hereinklingende  Grabestöne  (Posaunen)  zur 
Besonnenheit,  zur  Resignation  und  zum  ersten  Thema 
zurückrufen,  das  nun,  nach  den  wilden  und  schrecklichen 
Momenten  der  Durchführung,  trotz  seines  Ernstes  und 
seiner  Schwermut  wie  ein  BaJsam  wirkt.  In  die  Reprise 
spielen  kosende  Triolen  hinein,  aber  gleichwohl  spricht 
immer  in  kurzen  Wendungen  und  mühsam  unterdrückt 
ein  tiefer  Schmerz  mit.  Das  zweite  Thema  mit  seinem 
lieblichen  ^Vs  Takt  kehrt  nicht  wieder. 

Der  dritte  Satz  der  Sinfonie,  der  als  Allegretto  gra- 
zioso  bezeichnet  ist,  aber  sich  aus  verschiednen  gegen- 
sätzlichen Tempis  zusammensetzt,  ist  schnell  der  belieb- 
teste, ist  ihr  da  capo-Satz  geworden.  Er  gehört  genau 
wie  der  Menuett  in  der  D  dur-Serenade  von  Brahms,  wie 
der  Walzer  in  Volkmanns  F  dur-Serenade  zu  den  besten 
Nachbildungen  alten  Stils  und  trifft,  namentlich  im  Haupt- 
satz mit  der  spärlichen  Bläserbesetzung,  um  die  das  Cello 
drollig  gravitätisch  und  gleichmäßig  herumpendelt,  den 
naiven  herzigen  Ton  der  alten  Suitenmusik  schlagend, 
ohne  die  Zeit  seiner  Entstehung  ganz  zu  verleugnen.  Das 
Hauptthema  des  Satzes 


Allegretto  ^mtos^ 


j      ■  I      —  das  mit  einer  Umkehrung  des  bekannten 
^  J  J  I J  1^  Dreinotenmotivs  beginnt,  endet  mit  roman- 


tischen Ausweichungen,  die  an  Franz  Schubert  erinnern. 

Die  schlicht  anmutige  Melodie  ist  mit  einer  gleichen 

Einfachheit  harmonisiert  und  instrumentiert.    Der  Seiten- 


750 


satz,   im    wesentlichen  lediglich  eine   rhythmische  Um- 
bildung je-        ,-  Presto.^  wird   noch   durdi   ein 

nes  Haupt-      ^m^  rr'rf  ip|*f  fl  ^^^^     wuchtiges     Ne- 

themas:                   f  bonlhema      verstärkt: 


In  ihm,  wie  in  dem  die  Stelle  des  Trio' vertretenden 
3/»  Takte 

Presto. 


P  Viol. 


ist  der  Humor  in  die  Formen  der  ungarischen*  Musik  ge- 
kleidet 

Das  Finale  der  Sinfonie  [Allegro  con  spirito,  D  dur,  (t) 
erinnert  an  die  schillernden  Farben  der  Gherubinisdien 
Romantik,  sein  Geist  ist  der  lustige,  lebensprühende  der 
Haydnschen  Sinfonie.  Im  Stil  dieses  Meisters  setzt  auch 
das  phantastische  flotte  Ilauptthema  —  an  der  Spitze  das 
Dreinotenmotiv  — 

Alleg^To  con  spirito _^  ^„««^.^^ 

^    im  spannenden  piano  ein,  dem 

y==|^-  nach  einem  frappanten  Über- 
■^^"^      gang    das   rauschende   Forte 
folgt.    Das  erste  Seitenthema  ist  folgendes: 


$ 


* 


!^ 


i 


T'i-f-T 


i 


i 


I 


f    ^  *  *  ?   r 

Die  behagliche  Wirkung  des  zweiten  Themas: 


BCt 


-if^iijliJJi'ii:^-W'ijJi'i£r^''iC' 

^^_^         erhält  in    einer  Reihe  von   Seitengedanken, 
y  p^p  1^  patriarchalisch  kräftig  die  einen,  in  losen  Ach- 
■^      i»    telfiguren  tändelnd  die  anderen,  nachdrQck- 


— ♦    751    *— 

liehe  Uuterstützung.  Die  traulich  schwärmerische  Episode 
derDurchfüh-         risir» 

che  sich  über  fr»^'  '  ^+^  '  '|j£rri£Ir  '^'^ '  ' 

das    Thema:  vi©l 

entwickelt,  soll  dem  »Waldweben  und  den  Waldesschatten 
in  den  Taunusgründen«  gelten*;.  Also  eine  weitere  kon- 
kurrierende Landschaft! 

Auch  dieses  Thema  fängt  wieder  mit  dem  General- 
motiv der  Sinfonie  an. 

Der  Reprise  folgt  eine  Coda,  die  tnit  dem  zweiten 
Thema  in  Moll  tief  unten  in  den  Posaunen  einsetzt  Es 
dunkelt  nochmals  stark.  '  Schnell  weidet  aber  der  Kom- 
ponist die  Motive  ins  Helle  und  schließt  stürmisch  freudig. 
An  Tiefe  der  Wirkung  bleibt  jedoch  dieser  Schluß  hinter 
der  Coda  des  ersten  Satzes  zurück. 

Die  dritte  Sinfonie  Von  Brahms  (Fdur),  welche  bei     J. BrAhai, 
ihrer  ersten  Wiener  Aufführung  (2.  Dezember  1883)  von  Sinfonf«  Nr.  3 
Hans  Richter  nicht  übel  als  die  heroische  Sinfonie  des      ^^^'  ^*-) 
Meisters  begrüßt  wurde,  zeichnet  das  Bild  einer  Kraftnatur, 
die  trübe  Gedanken  und  sinnliche  Lockungen  gleich  ent- 
schieden abwehrt.    In   der  Darstellung  dieses  Vorwurfs 
verfährt  sie  aber  insofern  ungewöhnlich,  als  die  Stelle  der 
Konflikte  am  Ende  der  Komposition  liegt. 

Im  Stil  unterscheidet  sie  sich  von  ihren  Vorgänge- 
rinnen durch  Schärfe  und  äußerste  Klarheit  der  Gliederung 
und  dadurch,  daß  sie  sich  von  der  Beethovenschen  Methode 
der  Satzdisposition  entfernt,  indem  sie  den  Schwerpunkt 
der  Komposition  aus  der  Durchführungspartie  in  die  The- 
mengruppe, aus  der  Ausarbeitung  und  kunstvollen  Weiter- 
führung in  das  Gebiet  der  ersten  Erfindung  zurücklegt 

Den  ersten  Satz  leitet  ein  kurzes  Präludium  von  zwei 
Takten  ein,  des-  Aiierro  cob  brio  ^^  diese  dritte  Sin- 
sen  knappes  me-  jg  ^  JJ.|U--J-'|f  '  ^onie  innnerlich  und 
lodisches    Motiv  C    *  J^^-  '".i"-  •  =  äußerlich      ähnlich 

wichtig  ist,  wie  es  für  die  C  moU-Sinfonie  das  chromatische 


♦)  Manc  Spies:  Hermine  Spies,  1905  (S.  94). 


if^ 


752 


Mollo :  C'ßü'dy  für  die  zweite  Sinfonie  das  Motiv  d  eiä  d 
war.  Es  durchzieht  als  das  eigentliche  Heldenmotiv  tn 
teilweise  äußerst  kühnen  und  bedeutenden  Verwand- 
lungen sämtliche  Sätze  der  Sinfonie,  hier  warnend  und 
trotzend,  dort  w^eckend  und  anfeuernd.  Nicht  umsonst 
steht  es  so  herausfordernd,  so  dämonisch  an  der  Spitze 
des  ersten  Satzes,  es  beherrscht  ihn,  und  unter  seinen 
224  Takten  finden  sich  höchstens  60,  in  denen  das  Motto 
nicht  vorkommt.  Allerdings  erscheint  es  in  den  mannig- 
fachsten Verwandlungen:  als  Stimme  des  Triumphes,  des 
Kampfes,  des  Spiels  und  Scherzes,  der  Ruhe  und  des 
Friedens.  Wie  es  den  verschiedensten  Zwecken  des  Aus- 
drucks dient,  läßt  es  sich  ebenso  viele  Umgestaltungen 
gefallen.  Bald  ist  es  Ober-,  bald  Mittel-,  bald  Baßstimme, 
bald  thematisch,  bald  nur  omamental  verwendet. 

Das  Hauptthema  des  ersten  Satzes,  das  kampfeslustig 
bald  aus  Dur,  bald  aus  Moll  blitzt  und  im  raschen  Wechsel 
von  Ruhe  und  knapper  Bewegung,  in  seinen  großen 
Schritten  und  seinem  langen  Gang  eine  ungewöhnliche 
Energie  vorspiegelt: 


Allerro  eon  brio. 


pottionato 


ftiin5i>^j[^ii'77iiuii";;ffV 

ist  im  Grunde,  genau  so  wie  an  der  entsprechenden  Stelle 
der  ersten  Sinfonie,  nur  ein  Kontrapunkt  zu  dem  Grund- 
und  Generalmotiv  der  Sinfonie. 

Das  im  unmittelbaren  Anschluß  folgende  Seitenthema: 


^RirfrfffffYffj^ 


gehört  zu  jenen  zahlreichen  Episoden  des  Satzes,  die  mit 
zarten  Regungen  die  kräftigen  herkulischen  Elemente  der 


-^     753 


Komposition  emzuschlummeTn  suchen.  Aber  vergeblich: 
es  folgen  ihnen  immer  nur  kühnere  Äußerungen  des 
starken  Muts.  Die  verführerischste  in  dieser  Gruppe  von 
Dalilagestalten  ist  das  zweite  Thema:  • 


J»  cur. 

das  seinen  Gegensatz  zum  Haupt- 
thema noch  durch  Kolorit  und 
Tonart  sehr  interessant,  exotisch 
dämpft:  Adur,  Klarinetten  ton,  eine  fast  verwirrende  Rhyth- 
mik und  eine  Begleitung  wie  in  orientalischer  Volksmusik. 
Schon  im  Nachsatz  verwandelt  sich  das  Thema,  aus  e  fis 
g%8  wird  eis  his  eUy  aus  dem  sinnlichen  Träumen  und 
Schwelgen  rafft  sich  die  Stimmung  zur  Kraft  und  Ent- 
schiedenheitauf, und  es  kommt  nun  zu  einem  kleinen  Kampf 
zwischen  den  härteren  und  den  weichen  Regungen,  bei 
der  die  ersteren  am  Schluß  der  Themengruppe  siegen.  An 
ihn  und  an  die  kurzen,  aus  dem  Motto  entwickelten  Ton- 
gänge —  W'If  I  "a  u.  a.  —  die  wie  Schwertstreiche  klingen, 
knüpft  die  Durchführung  an  und  entwickelt  aus  ihnen  in 
Kürze  mit  kecken  Modulationen  ein  Bild  überschäumender 
Jugendkraft.  Ganz  unversehens  tritt  da  das  zweite  Thema 
herein,  aber  es  ist  hier  ganz  anders  gemeint  als  in  der 
Themengruppe:  es  kommt  in  Cellis  und  Bratschen  tief  unten, 
es  kommt  in  Moll  grollend,  grimmig  abweisend,  hoch  erregt, 
mit  Zusätzen,  die  es  verzerren  und  verhöhnen,  es  wird 
mit  einem  schließlich  komischen  Eifer  abgelehnt  und  zurück- 
gewiesen. Sein  Nachsatz  dagegen,  das  eis  his  \  eis,  findet 
eine  gute  Statt  und  beschwichtigt  die  Aufregung.  Nachdem 
es  sich  mit  g  fis\g  nach  Dur  gewendet  hat,  wird  es  auf 
einmal  ruhig  und  still,  und  das  Hom  kommt  mit  dem  Motto 
in  der  Gestalt  gh\g^  auf  jeder  Note  einen  vollen  Takt  ver- 
weilend, das  Motiv  zur  Melodie  erweiternd.  Die  Stelle 
wirkt  wie  ein  Mondaufgang  nach  Sturm  und  ist  für  die 
besondere  Kunst,  die  Brahms  im  Glätten  der  Wogen  be- 
sitzt, eine  der  bedeutendsten  Proben.  In  dem  gleichen 
Ton  geht  es  nun  weiter,  auch  das  Hauptthema  kommt 


Kr«issclim Ar,  Fahrer.    1,1. 


48 


7^ 


jetzt  ganz  in  Sanftmut  gehüllt  und  im  Charakter  des 
Einschlommerns  und  Träumens.  Die  Musik  will  in  eine 
höhere  Art  von  Notturno  übergehen.  Da  kommt  aber  das 
Motto  wieder:  laut,  von  energischen  Akzenten  der  Streicher 
gehoben,  setzt  es  in  den  Bläsern  ein  wie  ein  »Halt,  zu  früh!« 
Mit  dieser  Wendung  ist  die  Durchführung  zu  Ende  und 
die  Reprise  innerlich  begründet.  Sie  verläuft  größtenteils 
als  wörtliche  Wiederholung,  in  der  Coda  aber  wird  das 
Hauptthema  auf  ein  erhöhtes  Podium  gestellt  und  spricht 
seine  Kraft  jauchzend  aus.  Dann  aber  lenkt  Brahms  aber- 
mals und  wiedenim  bezaubernd  schön  zur  Ruhe  hinüber. 
Ganz  wie  im  ersten  Satz  von  Beethovens  Achter  wird  mit 
einem  letzten  leisen  Zitat  des  Anfangs  des  Hauptthemas 
geschlossen. 

Das  Andante  der  Sinfonie  (C  dur,  (^}  ist  eine  schlichte, 
fromm  gestimmte  Dichtung,  eine  Komposition,  welche  in 
ihrem  dnfachen  Ausdruck  seelischen  Friedens,  in  ihrer  in 
sich  geschlossenen,  einheitlichen  und  leidenschaftslosen 
Haltung  kaum  einem  Seitenstück  in  der  neueren  Sinfonie 
seit  Beethoven  begegnet.  Der  Held  ruht  hier  und  träumt 
von  der  Kinderzeit  und  vom  besseren  Leben  über  den 
Sternen.  Der  größte  Teil  des  Satzes  stützt  sich  auf  das 
Thema: 


Andante. 


^ciäF: 


f    f 

Brattehen 


welches  in  einer  Reihe  freier  Variationen  durchgeführt  wird, 
die  an  seinem  Charakter  wenig  ändern,  aber  im  Kolorit 
den  herrlichsten  Wechsel  bieten.  Nur  auf  einen  Moment 
tritt  ein  klagender  Ton  ein  mit 


Diese  als  Ahnung  gedachte  Melodie,  welche  formell  die 
Stelle  des  zweiten  Thema  einnimmt,  wird  aber  hier  nicht 
weiter  benutzt,  sondern  sie  kommt  erst  im  Finale  der 


-^    755 

Sinfonie  zur  Geltung.  Nur  ilir  Nachsatz,  der  in  ein  mysti- 
sches Spiel  mit  weichen  Dissonanzen  ausläuft,  kehrt  am 
Ende  des  Satzes  noch  einmal  zurück.  Das  dreinotige 
Heldenmotiv  bringen  versteckt,  aber  bedeutungsvoll  erst 
die  Bratschen,  später  die  Posaunen. 

Vom  dritten  Satze  an  (Poco  Allegretto,  Cmoll,  »/g) 
wird  der  Charakter  der  Sinfonie  trüber.  Sein  Hauptthema, 
welches  ein  wenig  zu  der  Weise  Spohrs  hinneigt 

Poco  AUegretto.  '"'T^  '7^        '->> 

zi\u^\t^r\j\\  mQr^'''irrjiLB'iLiir 

C«Ui     """^  ^^*"  "*^  ^^^^ 

gibt  das  Bild  eines  anmutigen  Reigens  wie  aus  dem 
Spiegel  einer  schönen  Vergangenheit,  und  die  Stelle  des 
Hauptsatzes,  wo  die  Mu-    n  flO»V  ^®'  ^^^^  ^®^*®* 

sik  ihren  höchsten  Reiz  ffii  "  I  ü  LTjf  sie  ein  — ,  ist 
entfeitet  —   das   Motiv   '^^  in    der    Farbe 

der  Erinnerung  und  des  Traumes  gehalten.  An  der 
Stelle  des  Trio  steht  ein  Mittelsatz  in  As)j  welchen  die 

;rBiru:s''?r  ^^^^^^ 

Resignation     füllen  '^  'Ip  ▼» 

Er  sdiließt  mit  einer  Wendung,  die,  an  eine  Stelle  im  An- 
dante von  Beethovens  Fünfter  erinnernd,  Klage  und  Hoff- 
nung sehr  herzbewegend  mischt.  Überall  haust  auch  in 
diesem  AUegretto  das  Motto  der  Sinfonie,  mit  seiner  kleinen 
Terz  beginnt  das  Hauptthema,  in  der  Form  es  g  eil  J  durch- 
zieht es  die  Begleitungsstimme. 

Daß  dieser  dritte  Satz  nicht  ein  feuriges  Scherzo  ge- 
worden ist,  hat,  ähnlich  wie  in  der  ersten  Sinfonie  von 
Brahms,  seinen  Grund  in  dem  poetischen  Generalplan  der 
Sinfonie.  Er  soll  den  Übergang  zu  dem  leidenschaftlich 
und  oft  finster  erregten  Finale  (Allegro,  EmoU,  C/)  ver- 
mitteln. Letzteres  bildet  den  Schwerpunkt  des  Werices. 
Das  heroische  Element  der  Sinfonie  hat  hier  die  Probe 
gegen  harte  und  unfreundliche  Gegner  zu  bestehen.  Düster 
phantastisch  beginnt  der  Satz:  huschende  Figuren,  dann 
ein  Anhalten  und  gänzlicher  Stillstand  der  rhythmischen 
Bewegung : 

48* 


756 


',  _   Allegro. 


Noch  beklommener  und  Tinheimliclier  wird  der  Ton 
mit  dem  Eintritt  der  Posaunen  und  dem  verschleierten 
Thema,  das  aus  dem  -■-/  .h  t  i  {^^i  .  i  ■  t  ._!_ 
zweiten  Satze  der  ^>  ^^^^""j^H  JA  ih^tj^i  - 
Sinfonie     stammt:  ^r     f   TT  f    r   f  f    f 


Gleich  darauf  bricht  der  gespannte  Bogen  und  die 
Situation  nimmt  einen  ausgesprochenen  Kampfescharakter 
an.  Wild  und  trotzig  fahren  die  Violinen  herein  mit  dem 
ebenso  wie  das  Hauptthema  aus  dem  Motto  entwickelten 


■f  nr  ,^.f  ^f  f.f  ^^  f,f  ff  f  , 


die  Celli  singen  siegesfreudig: 


•ifl* 


In  der  DurchHihrung  dieser  Konfliktsperiode  finden 
sich  mehrere  Kulminationspunkte  —  einer  der  höchsten 
ist  da,  wo  das  Thema  b  im  stärksten  Klange  den  fana- 
tischen Figuren  der  Violinen  entgegengestellt  wird.  Ein 
merkwürdig  bedeutungsvoller  Einspruch  des  Fagotts  be- 
schwichtigt die  brandenden  Wogen.  Die  Komposition  lenkt 
in  ein  sostenuto  über,  dem  die  Schönheit  des  Regenbogen- 
himmels eigen  ist.  Die  düsteren  Themen  a  und  b  strahlen 
jetzt  Ruhe  und  Frieden  aus,  und  wie  eine  verklärte  Er- 
scheinung zeigt  sich  an  der  Ausgangsschwelle  der  Sinfonie 
noch  einmal  das  heroische  Thema  ihres  ersten  Satzes 


--»     757     *^ 

.  Die  vierte  Sinfonie  [op. 98),  die  im  Jahre  188Ö  vollendet,  J.  Braluii, 
aber  erst  zwei  Jahre  später,  nach  den  Aufführungen  in  Sin^nieNr.« 
Meiningen  und  Wien  veröffentlicht  wurde,  hebt  sich  von  <E™®*'>' 
ihren  Schwestern  scharf  ah  durch  zwei  eigene  Züge.  Erstens 
ist  sie  die  schwermütigste,  zweitens  die  an  altertümlichen 
Wendungen  reichste.  Die  Schwermut,  die  nur  in  wenigen 
Werken  von  Brahms  ganz  fehlt,  ist  hier  Grundstimmung, 
das  archaistische  Element  aber,  das  in  den  vorhergehenden 
Sinfonien  sich  im  Ersatz  des  Scherzos  durch  Ländler- 
undMenueltformen,  sonst  nur  beiläufig  äußert,  durchdrängt 
die  vierte  Sinfonie  bis  tief  in  die  Natur  ihrer  Sprache  und 
Grammatik  hinein.  Ähnlich  wie  es  Freytag  und  Scheffel 
getan  haben,  weckt  hier  Brahms  Töne  und  Wendungen 
vergangener  Jalirhunderte  wieder  auf.  Dieser  Umstand 
liat  tiefere  Bedeutung  und  ist  der  Schlüssel  zum  Ver- 
ständnis des  Werkes.  Die  Sinfonie  gehört  dem  Kreis  sub- 
jektiver Tondichtungen,  in  dem  sich  mit  der  Beethoven- 
schen  Schule  auch  die  drei  ersten  Sinfonien  von  Brahms 
bewegen,  nur  halb  an,  zum  andern  Teil  ist  sie  Programm- 
musik in  der  Art  von  Mendelssohns  AmoU-Sinfonie  oder 
wie  Gadcs  erste  Sinfonie.  Letzterer  nähert  sie  sich  un- 
iiiiltelbar,  sie  teilt  mit  ihr  den  Balladenton  der  wichtigsten 
Themen,  sie  erzählt  zuweilen  begeistert  und  lebendig  auf- 
flammend, vorherrschend  aber  wehmütig  und  ergriffen 
von  alten  Zeiten  und  von  dahingesunkenen  Geschlechtem. 
Sie  ist  ein  großes  Herbstbild,  ein  geschichtlich  stilisiertes 
Lied  von  der  Vergänglichkeit,  eine  Komposition  über  das 
Thema  der  menschlidien  Nichtigkeit,  das  Brahms  zu  be- 
trachten so  wenig  müde  wurde  wie  vordem  Sebastian  Bach. 
Den  Vortrag  teUt  Bralims  in  Bilder  und  Betrachtungen, 
aber  in  episch  freier  Mischung. 

Der  erste  Satz  ;Allegro  non  troppo,  ([>,  EmoU)  setzt 
ohne  weiteres  mit  dem  Hauptthema: 

^1^   l'l?*  i^ll    llT    I     I 


\^f^  lll  llL'^L" 


758 


m 


^ir(i^((rj^Hfj^pijyiiiiii^li  iifTi'"i|ii 


ein.  Es  ist  eine  sehr  lange  Melodie,  die  ungeföhr  an  >0 
wüßt  ich  doch  den  Weg  zurück«  erinnert,  und  deren  be- 
wölkter Horizont  sich  zuweilen  etwas  aufhellt,  um  dann 
einen  noch  trüberen  Charakter,  oft  einen  schmerzlichen 
Akzent  anzunehmen.  Sie  wird  sofort  wiederholt,  aber  mit 
bewegteren  Rhythmen  und  durch  Begleitungsfiguren  be- 
lebt. Die  Phantasie  erwacht  und  schaut  staunend  in  der 
Zeiten  Tiefe.  Das  bedeutendste  Gesicht,  das  sie  von  da 
holt,  ist  das  Thema: 

BllMr 


r        /v  viöi. 


Es  wird  sofort  von  den  CeUis  in  einer  Melodie  begrüßt, 
die  zu  den  innigsten  und  schönsten  der  ganzen  Sinfonie 
gehört,  und  kehrt  nach  ihr  wieder,  um  fortan  die  Themen- 
gruppe zu  beherrschen.  Bald  kräftig  und  gebietend,  bald 
kosend  und  zärtlich,  neckisch  und  heimlich,  bald  fem, 
bald  nah,  bald  eilig,  bald  sich  ruhig  ausbreitend,  —  kommt 
es  auch  im  weitem  Verlauf  des  Satzes  häufig  wieder  und 
kommt  stets  willkommen,  bringt  Freude  mit  und  gibt  dem 
Gang  des  SMzes  einen  dramatischen  Schwung.  Es  ist  das 
Ritterthema  der  Sinfonie,  das  Thema  der  alten  Zeit,  und 
durchzieht  deshalb  mit  dem  Übergang  vom  ersten  zum 
zweiten  Takt  als  Generalmotiv  —  in  etwas  schwierig  er- 
kennbaren Umbildungen  —  auch  den  zweiten  und  dritten 
Satz.  Auch  hier,  wie  im  Eingangssatz  der  dritten  Sinfonie, 
ist  der  Durchführungsteil  sehr  knapp  gehalten  und  be- 
sdieidet  sich  im  wesentlichen  damit,  die  elegischen  Ele- 
mente der  Dichtung  etwas  stärker  auszusprechen.  Trotz 
dieser  Kürze  ist  aber  der  Eindruck  der  Durchführung  sehr 
groß.  Das  macht  die  Gewalt  des  Ausdracks  in  ihrem 
Schlußabschnitt,  der  in  Jammerlauten,  die  dem  neunten 
Takt  des  Hauptthemas  abgewonnen  sind,  eine  Seele  zeigt, 
die  aus  der  Betri^bnis  keinen  Ausweg  weiß.  Sehr  lebens- 
wahr knüpft  dann  die  Reprise  an:  die  vier  ersten  Noten 


— *     759    «>- 

des  Ilauptthemas  singen  jetzt  in  breiten  Tönen  dahin,  der 
Tränenstrom  fließt,  das  Herz  spricht  sich  aus. 

Der  zweite  Satz  (Andante  moderato,  £  dur,  <}/g)  ist  eine 
Art  Romanze  mit  folgendem  Hauptthema: 

Andante  moderato. 


^  Es  wird  von  einem  kurzen  Hornsatz 
eingeleitet,  der  mit  fundgy  mit  e  und  d 
die  phrygische  Tonart  feststellt  und  damit  keinen  Zweifel 
darüber  läßt,  daß  die  Phantasie  sich  in  weite  Vergangen- 
heit versetzen  soll.  Es  sind  im  wesentlichen  die  RitterbÜder 
des  ersten  Satzes,  die  noch  einmal  kurz  zusammengedrängt 
und  im  Ton  des  Berichts  an  uns  vorüberzi^en.  In  der  Mitte 
des  Satzes,  da  wo  dieTriolen  einsetzen,  streift  aber  die  Musik 
den  neutralen  Erzählerton  ab,  zeigt  freudigen  Anteil,  Be- 
geisterung und  bricht  in  herzenswarmes  Wehklagen  aus. 
Der  dritte  Satz  (Presto  giocoso,  Cdur,  2/4)  ist  von  dem 
anmutigen  beschaulichen  Ländlerton,  den  Brahms  in  den 
früheren  Sinfonien  an  dieser  Stelle  eingeführt  hat,  weit 
entfernt,  er  birgt  im  Tempo  der  Beethovenschen  Scherzi 
einen  dämonischen  Charakter.  Der  Komponist  hat  in 
diesem  Satze  den  Widerspruch,  um  den  sich  seine  vierte 
Sinfonie  bewegt,  die  Frage :  sollen  wir  um  die  Vergangen- 
heit trauern  oder  uns  ihrer  Schönheit  freuen,  mit  der  Ab- 
sicht aufgenommen,  im  letztem  Sinn  2u  entscheiden,  er 
will  Bilder  geben,  die  von  Kraft  und  Leben  schäumen, 
aber  alle  Augenblicke  überfallen  ihn  auch  hier  kurz 
und  erschreckend  Näniengedanken ,  die  Heiterkeit  dieses 
Allegro  giocoso  wird  immer  meder  von  schauerlichen 
Regungen  gestreift.     Sie  fallen  gleich  ins  Hauptthema: 

mit  dem  dumpfen, 
Schlußak- 


m^^  aus  den  Klavier- 
balladen des  op.  10,  einem  der  bedeutendsten  Jugend- 
werke ■  von  Bralims  stammt.  Sein  stürmisches  Wesen 
bringt  die  Ritterbilder  des    ersten  Satzes  wieder  in  Er- 


__^    760    *^ 

innerang,  und  nach  einigen  Versuchen  in  Ruhe  und  Frie- 
den       einzu-  Preslo. ' 

lenken,  steht 

mit  dem  zwei-  ^  .         _ 

ten     Thema:  "  gr»rio»  p 

ein  direkter  Sproßhng  jenes  Ritterthemas  vor  uns;  der 
Mollschluß  taucht  ihn  entschieden  in  die  Farben  des  Alter- 
tums und  der  Klage.  Die  Fortsetzung  wird  gar  von  den 
Motiven  des  Hauptthemas  des  ersten  Satzes  begleitet. 

Mit  den  beiden  hier  gegebenen  Notenbeispielen  ist  das 
thematische  Material  des  Satzes  erschöpft,  es  wird  nun 
variiert  und  wiederholt,  aber  außerordentlich  frei  und  mit 
immer  neuem  Ertrag  fQr  die  Darstellung  des  Stimmungs- 
gegensatzes.  Die  Musik  jauchzt,  sie  schreit  schmerzUch 
auf,  stöhnt,  sinnt  Uebevoll  vor  sich  hin  und  versinkt  in 
Brüten  und  Schweigen.  Aber  nirgends  ist  NaturaUsmus 
und  Willkür  da,  immer  streng  gebundne  Kunst;  kein  Takt, 
der  nicht  thematisch  begründet  wäre. 

Der  Schlußsatz  (Allegro  energico  e  passionato,  ^/4, 
Emoll)  ist  eine  sogenannte  Ciaconna,  ein  Gewinde  von 
Variationen  über  einen  immer  ganz  oder  ziemhch  unver- 
ändert bleibenden  und  knappen  Gantus  firmus.  Brahms 
ist  der  Großmeister  der  Variationskunst,  soweit  sie  ge- 
schichtlich überbUckt  werden  kann,  sein  Glanzstück  in 
dieser  Kunst  hat  er  in  diesem  letzten  Sinfoniesatz,  den  er 
geschrieben,  niedergelegt,  und  er,  der  Bescheidne,  war  selbst 
auf  diesen  Satz  stolz.  Er  zeichnet  sich  als  Variations- 
arbeit durch  en  Verzicht  auf  alle  Zwischensätze  aus: 
dreißigmal  kehrt  der  Cantus  firmus  wieder,  und  immer 
knüpft  sich  an  den  Endton  sofort  wieder  der  Aniangston. 
Darüber  hinaus  aber  hat  Brahms  seine  Variationen  in  die 
Form  des  Sonatensatzes  gezwängt,  und  ^ttens  endlich 
hat  er  alle  diese  Kunstücke  der  poetischen  Grundidee  der 
Sinfonie  vollständig  untergeordnet  Auch  die  Hörer,  die 
von  Variation  und  Sonate  nichts  merken  soUten,  sind  von 
dem  tiefernsten  Ton  ergriüen,  mit  dem  dieses  Finale  die 
Phantasien  und  Betrachtungen  über  Menschenlos  und  Ver- 
gänglichkeit abschließt. 


761 


Das  Thema  der  Ciaconna: 


wird  zuerst  feierlich  Tom  Bläserchor  vorgetragen  und  kehrt 
sofort  als  erste  Variation  im  zagenden  Ton,  fragend  und 
beklommen,  von  Pausen  durchbrochen,  unter  Paukenwirbel 
wieder.  Dann  setzen  (2.  Variation)  die  Holzbläser,  die  Oboen 
voran,  mit  folgender  ernst  sinnenden  Weise 


Allegro 


cretc. 


mm  vrvmv.  ^ 

ein.  Es  ist  als  das  Haupttliema  des  Sonatensatzes  zu  be- 
trachten, kehrt  mehrmals  im  Satz  wieder,  wird  jedoch 
nicht  in  der  üblichen  Weise  des  Durchführungsschemas 
ausgenutzt.  Die  nächsten  Variationen  führen  aus  der  feier- 
liclien  in  eine  erregtere  Stimmung  hinüber,  mit  der  sie- 
benten beginnt  eine  Gruppe  heftiger  Affekte,  die  erst  bei 
der  zehnten  und  elften  dem  Ton  der  Ruhe  und  zugleich 
der  Klage  weichen.  Die  Spitze  der  düsteren  Ideengruppe 
bildet  ein  langes  Flötensolo,  welches,  melodisch  und  rhytJi- 
misch  naturgetreu,  das  Bild  eines  haltlosen  Seelenzu- 
standes  entwirft  Nach  ihm  tritt  eine  überraschende  Wen- 
dung ein:  die  Harmonie  wechselt  plötzlich  nach  Edur,  die 
Rhythmik  wird  breit  und  ruhig,  Klarinette  und  Oboe  be- 
ginnen trostvoll  und  fromm  zu  singen: 


die  Posaunen  sprechen  in  der  folgenden   (14.)  Vaiiation 
feierlich  erhabene  Requiemgedanken  aus: 

■M<l|Jipl?|f1^   "iff  iflff      li/f    ifl 

in  deren  Sarabanden- 
rhythmus die  übrigen 
Bläser  einstimmen. 


ifjjji/i^'^/i^!^ 


-^     762    *— 

Die  Komposition  lenkt  in  das  Gebiet,  wo  Leid  und 
Freude  schweigen  und  das  Menschliche  sich  vor  dem  beugt, 
was  ewig  ist.  Brahms  hätte  hier  in  einen  ähnlichen  ver- 
söhnenden und  schönen  Schluß  einlenken  können,  wie  er 
ihn  der  Fdur-Sinfonie  gegeben  hat,  er  hat  es  aber  vorge- 
zogen, der  pessimistischen  Aufüassung,  die  das  Werk  be- 
herrscht, treu  zu  bleiben.  Nach  einem  Trugschluß  auf 
leisen  Tönen,  nach  spannender  Pause,  setzt  das  (üaconnen- 
thema  wieder  ein,  wie  am  Anfang  des  Satzes,  und  es  be- 
ginnt die  in  der  Sonate  übliche  Reprise.  Die  Variationen 
17—30  bilden  sie.  ^£s  ist  aber  wiederum  keine  wörtliche 
Wiederholung,  sondern  eine  leideoschaitlich  gesteigerte; 
stellenweise  klingt  es  wie  Verzweiflung,  wie  ein  gigan- 
tisches Reißen  und  Rütteln  an  Ketten.  Die  27.  Variation 
ist  mit  den  dröhnenden  Hörnern,  den  Triolen  und  den 
Generalpausen,  bei  denen  der  Atem  der  mitgehenden  Hörer 
stockt,  der  Höhepunkt  dämonischer  Stimmung.  Nach  ihr 
wirds  milder,  ruhiger,  resigniert,  ja  auch  hofi&Lungsvoll. 
In  der  29.  Variation  kommt  im  Kanon  zwischen  Violinen 
und  Bässen  und  in  merkwürdiger  Umbildung  auch  das 
Hauptthema  des  ersten  Satzes.  Mit  einem  Piü  AÜegro 
geht  gleich  drauf  der  Satz  feierlich  zu  Ende,  der  Cantus 
lirmus  tritt  noch  einmal  hervor,  ihm  zur  Seite  erscheinen 
ergebungsvolle,  aber  auch  harte  und  trotzige  Kontrapunkte, 
die  wie  im  »deutschen  Requiem«  zu  fragen  scheinen: 
>Tod,  wo  ist  dein  Stachel,  Hölle,  wo  ist  dein  Sieg?« 

Eine  eigentliche  Schule  von  Brahms,  die  des  Meisters 

Methode  aufnimmt  und  weiterführt,  hat  sich  bisher  nicht 

gebildet.    Wohl  aber  finden  sich  Komponisten,  die  von 

ihm  stofflich  berührt  sind  und  in  seinen  Ideenkreis  ein- 

H.T«  Herzoff«B<  lenken.     Die   Reihe   eröffnet   H.  von   Herzogenberg. 

^*'9»        Durcli  sein  »Deutsches  Liederspiel«  und  durch  eine  Reihe 

^'"  0°' «!i™°"  ^^^^  ^^  außerordentüch  Uebenswürdiges,  für  naive  und 
^  ^  '*  volkstümliche  Musik  besonders  begabtes  Talent  bewährt, 
hat  sich  dieser  Tonsetzer  als  Sinfoniker  mit  einer  großen 
C  moll-Sinfonie  eingeführt  Der  erste  Satz  dieser  und  der 
C  moll-Sinfonie  von  Brahms  haben  in  Idee  und  Ausdruck 
eine  große  Ähnlichkeit.    Selbständiger  sind  die  bailaden- 


.^^     763    ♦^ 

artige  Einleitung,  welche  in  der  Weise  Gades  den  nor- 
dischen Ton  anschlägt,  und  das  Scherzo.  In  ihm,  das 
auch  auf  jene  Einleitung  poetisch  sinnvoll  zurückgreift, 
sind  der  Hauptsatz  und  das  Trio  in  einer  ganz  neuen  Art 
verbunden:  Die  beiden  Teile  wechseln  gleich  von  Anfang 
ab,  Klausel  für  Klausel  im  malerischen  Kontrast.  Das 
Adagio,  in  der  Anlage  dem  von  Brahms  zweiter  Sinfonie 
entsprechend,  darf  sich  eines  tief  melodischen  Zuges 
rühmen;  der  wie  ein  fremdes  Bild  eingerückte  Mittelsatz 
zeigt  den  Komponisten  von  seiner  Glanzseite  als  volks- 
tümUchen  Spielmann. 

Die  zweite  Sinfonie  v.  Herzogenbergs  (Bdur,  op. 70,  ii.f.Hertor«»- 
teilt  mit  der  ersten  die  Vorzüge  einer  durch  und  durch  #  *!'*{»  j 
edlen  Kunstrichtung.  Sie  übertrifft  sie  aber  an  originalem  *°  ®"  *  ^^' 
Farbensinn,  in  der  Freiheit  und  Leichtigkeit  der  Kontra- 
punktik und  an  Selbständigkeit  der  Erfindung.  Die  freund- 
liche Natur  ihres  pastoralen  und  idyllischen  Stimmungs- 
kreises, ihre  oft  köstliche  Thematik  würden  dieser  zweiten 
Sinfonie  des  Komponisten  eine  größere  Verbreitung  sichern, 
ihr  dritter  Satz,  in  der  ein  artiger,  sanfter  Humor  sich  ori- 
ginell durch  die  Pauke  äußert,  ist  sogar  eine  Perle  des 
neuen  Serenadenstils,  eines  R.  Volkmann  würdig.  Leid^ 
aber  fließt  auch  hier  der  Strom  der  Töne  zu  ungleich  im 
Wert  und  viel  zu  breit.  Wie  die  Sinfonien  v.  Herzogenbergs 
veranlassen  auch  die  seines  Schülers,  des  PrinzenHein-  ?.'*"^*'*J' 
rieh  XXIV.  aus  dem  Hause  Reuß  j.  L.,  zu  dem  Bedenken, 
daß  hier  ein  geborner  Serenadenmeister  einen  Teil  seiner 
Kraft  auf  einem  ungünstigen  Gebiet  verbraucht  hat  Zwar 
vermeidet  Prinz  Reuß,  dessen  Kunstbildung  sichtlich  in 
Schumann,  zu  einem  kleineren  Teil  auch  in  Mendelssohn 
wurzelt,  anders  als  sein  Lehrer,  jede  Konkurrenz  mit  Brahms, 
aber  die  Abschnitte,  wo  er  überleitet,  entwickelt,  durchführt, 
lassen,  obwohl  sich  auch  hier  von  opus  zu  opus  ein  statt- 
licher, zwischen  der  vierten  und  sechsten  ein  geradezu  frap- 
panter Fortschritt  zeigt,  kernen  Zweifel  darüber,  daß  mehr 
die  Pflicht  als  die  Neigung  gewaltet  hat.  Jedenfalls  sind 
sie  weniger  frisch  und  unmittelbar  als  die  Expositionsteile. 
In  ihnen  verkehrt  man  mit  einem  außerordentlich  erfreu- 


rieh XXIY. 


—fr     764    ♦— 

liehen  iondichterischen  Talent,  reich  an  Humanität  und 
humaner  Musik  und  eigen  durch  eine  vollendete  Natür- 
lichkeit. Sie  äußert  sich  in  zahlreichen  Themen  und  Me- 
lodien von  ausgeprägter  Jugendlichkeit,  aber  auch  durch 
bemerkenswerte  Selbständigkeit  in  der  Behandlung  der 
Form,  deren  Einerlei  der  Komponist  oft  Überraschend  frei, . 
besonders  durch  neue  Tempi,  belebt.  Sicherlich  verdienen 
es  die  Sinfonien  des  Prinzen  gespielt  zu  werden,  denn 
dadurch,  daß  sie  nichts  Besondres  sein  und  sagen  wollen, 
sind  sie  originell  geworden.  Daß  man  allerdings  in  dieser 
Selbstbescheidenheit  auch  2u  weit  gehen  kann,  zeigen  die 
beiden  Sinfonien  (Cdur,  op.  26,  und  Eduf^  op.  28)  von 
J.  H.  FriBs«  J.  H.  Franz.  Hinter  beiden  steht  eine  wirkliche  Be- 
gabung, tüchtiges  Können  und  eine  Individualität;  aber 
diese  vorteile  werden  durch  die  allzugroße  Sorglosigkeit 
aufs  Spiel  gesetzt,  mit  der  die  thematische  Erfindung 
Sprüche  feinster  und  eigener  Bildung  in  die  Gesellschaft 
ganz  gewöhnlicher  Knittelverse  bringt. 

In  die  Schule  von  Brahms  gehört  weiter  der  bereits 

unter  den  Vertretern  des  Programms  erwähnte  Schweizer 

Haas  Hniier,  llansHuber  mit  seinen  unbetitelten  Sinfonien,  von  denen 

A  dui^Sinfonie.  ji^  in  Adur  (Nr.  6)  jüngst  die  Presse  verlassen  hat.   Selb- 
ständig, frisch  und  gehsdtvoU  ist  Huber  in  den  Mittelsätzen, 
w.  Beryar,    Noch  tiefer  in  Brahms  untergetaucht  ist  Wilh  elmBerger, 

H  moU-SinfoDie.  namentlich  in  seiner  zweiten  Sinfonie  (Hmoll,  op.  80}, 
deren  erster  Satz  von  den  empörten  Geistern  ausgeht,  die 
im  DmoU-Konzert  des  Meisters  hausen.  Sie  weiden  mit 
den  schmeichelnden  Triolen  verscheucht,  die  den  Brahms 
der  Wiener  Zeit  kennzeichnen.  Eigen  bleibt  Berger  die 
Wärme,  mit  der  er  sich  seinen  Themen  hingibt,  und  die 
schöne,  gediegene  Arbeit.  Sie  gipfelt  in  den  Nachahmun- 
gen beim  zweiten  Thema.  Beim  zweiten  Sat2,  in  dem 
der  Verzweiflung  gewehrt  und  Trost  gesucht  wird,  teilt 
sich  der  Einfluß  von  Brahms  mit  dem  von  Mendelssohn 
und  mit  eigenen,  einfach  herzlichen  Erfindungen  Ber- 
gers; stärker  und  in  lobenswerter  Weise  tritt  er  wieder 
im  dritten  hervor,  wo  der  Komponist  das  übliche  stür- 
mische Scherzo  durch   ein  ruhigeres  Intermezzo  ersetzt 


■^-^    766    «^ 

In  ihm  zeichnet  sich  der  das  Trio  vertretende  Mittelteil 
durch  den  herzbewegenden  Charakter  der  Klage  aus.  Die 
Streitbarkeit  des  Finale  hat  wieder  Züge  von  Brahms. 

Auch  die  C moll-Sinfonie  (op.  62)  von  Felix  Woyrsch  F.  Wojneh, 
zeigt  Wesens-  und  Ideenverwandtschaft  mit  dem  Sdi5pfer  ^  moil-Sinfonie. 
des  deutschen  Requiems.  Der  trotzige  und  energische 
Brahms  ist  es»  an  den  uns  der  erste  Satz  dieser  Sinfonie 
mit  kleinen  Rhythmen  und  Motiven  des  Hauptthemas  er- 
innert. Woyrsch  gibt  den  Anregungen  eine  eigene  Form, 
er  stellt  ihnen  schon  im  zweiten  Thema  auch  eine  eigene 
Idee  entgegen,  die  in  der  Farbe  des  Traums,  der  Erinne- 
rung und  im  Ton  des  Volksliedes  der  Erregung  Halt  ge- 
bietet Ganz  ähnlich  verhält  es  sich  mit  dem  zweiten 
Satz.  In  sein  Hauptthema  mischen  sich  leichte  Spuren 
des  Adagios  aus  Brahms  erster  Sinfonie,  ihnen  tritt  das 
Gegenthema  in  volkstümlicher  Kleidung  entgegen.  Im 
dritten  Satz  bringt  Woyrsch,  so  wie  es  auch  Berger  tut, 
an  Stelle  des  Scherzo  ein  ruhiges  Intermezzo.  Am'  deut- 
lichsten wird  die  Individualität  und  Bedeutung  des  Kom- 
ponisten, seine  Neigung  zu  Gegensätzen,  seine  kraftvolle 
Natur,  sein  hitzig  erregbares  Temperament,  die  volkstüm- 
liche Richtung  seiner  besten  und  eigensten  Einfälle  durch 
das  Finale.  Das  Trompetenmotiv,  mit  dem  es  einsetzt, 
beleuchtet  noch  einmal  einen  der  größten  Vorzüge  des 
Sinfonikers  Woyrsch,  seine  Begabung  für  plastische  und 
prägnante  Themen. 

Weiter  darf  für  die  Schule  von  Brahms  der  Berner  Friu  Bnia, 
Kapellmeister  Fritz  Brun  mit  seiner  zweiten  Sinfonie ^ ^"'•Sin'onio 
(Bdur)  in  Anspruch  genommen  werden.  Ihr  erster  Satz 
ist  in  seiner  romantischen  Mischung  von  pastoral  ana- 
kreontischen  mit  pathetisch  leidenschaftlichen  Ideen  ein 
Seitenstück  zu  dem  entsprechenden  der  D  dur-Sinfonie 
von  Brahms,  ihr  zweiter  erinnert  an  dessen  dämonisdic 
Scherzi  in  der  D  dur-Serenade  und  dem  B  dur-Konzert. 
Ganz  eigen  und  schön  sind  die  Schlußsätze  dieser  Sin- 
fonie, der  dritte  (Adagio)  durch  seinen  szenischen  Charakter 
(einem  schwermütigen  Träumer  wird  auf  einmal  durch  ein 
weich  klagendes  und  lösendes  Lied  geholfen],  der  vierte 


_^    766    «^ 

« 

dadurch,  daß  er  den  Frohsinn  ungesucht  in  den  Ton  alter 
Zeit  kleidet.  Solche  unschuldig  vergängliche  Weisen  hat 
man  seit  langem  nicht  mehr  gehört. 
E.  r«  D^kuiajly  Der  wohl  bedeutendste  und  zweifellos  den  Durchschnitt 
Dmoll-Sinfonie  weit  Überragende  Beitrag  zur  Schule  von  Brahms  ist 
(Op.9).  ^Q  Dmoll-Sinfonie  von  Ernst  von  Dohnänyi, 
die  zwar  fünf  Sätze  aufzählt,  aber,  da  dem  vierten  Satze, 
einem  kantabilen  Intermezzo,  selbständige  Bedeutung  nicht 
zufallt,  zum  gewöhnten  viersätzigen  Typus  der  Klassiker 
und  Romantiker  gehört.  Der  erste,  einigermaßen  auch 
der  letzte  Satz,  ein  großer,  kühner,  bilderreicher  Varia- 
tionenzyklus, sind  die  Stellen,  wo  sich  der  Autor  in  der 
Anlage  kleinerer  und  größerer  Teile,  auch  mit  einzelnen 
Ideen  als  Schüler  von  Brahms  bekennt,  aber  ohne  Ein- 
seitigkeit und  mit  zahlreichen  Belegen  eines  selbständigen, 
starken  Talentes  und  einer  breiten,  besonders  auch  ans 
Chopin  getränkten  Bildung.  Ganz  besonders  erfreuen 
diese  Sätze  durch  die  Klarheit  und  Einfachheit  der  The- 
matik, nicht  minder  auch  durch  die  Sicherheit  und  die 
Größe  des  Horizontes,  mit  welcher  die  in  Kraft  und  Milde 
immer  edlen  und  jugendfrisch  empfundenen  Grundgedanken 
entwickelt  sind.  Das  sind  Vorzüge,  durch  die  sich  der 
Komponist  von  der  Mehrzahl  der  modernsten  Sinfoniker 
unterscheidet,  auch  darin  steht  er  abseits,  daß  er  dem 
Kolorit,  zuweilen  wohl  zum  Nachteil,  minderen  Wert  bei- 
mißt. Auf  einem  ganz  eignen  Boden  bewegt  sich  Dohndnyi 
in  den  Mittelsätzen,  dem  Adagio  und  dem  Scherzo.  Letz- 
teres ist  im  Hauptsatz  von  einer  Phantastik,  die  bald 
heimlich  lockt  und  spannt,  bald  droht  und  erschreckt,  der 
Seitensatz  bringt  fröhliche  Volksmusik,  das  Trio  schlägt, 
nach  der  Weise  von  Beethovens  Erster,  gar  feierliche  Töne 
an.  Das  Adagio,  das  ideell  leicht  an  das  zweite  Thema 
der  ersten  Satzes  anknüpft,  ist  dadurch  merkwürdig,  daß 
es  in  der  zweiten  Hälfte  sich  ganz  in  freie,  scheinbar 
völlig  ungezwungene,  regellose  Naturmusik  auflöst.  Die 
Bläser  spielen  einander  die  schönsten  Motive  des  Satzes 
in  schwärmerischen  Umbildungen  und  überschwenglichen 
Wiederholungen  zu,  es  ist  ein  elementares  Phantasferen 


--♦    767    %^ 

und  Konzertieren,  das  mit  unbeschreiblich  poetischem  Reiz 
aus  aller  Kultur  hinausführt  in  eine  Welt  der  unbeschränk- 
testen Freiheit  und  Weite.  So  ist  Zigeunermusik  wohl 
noch  nie  idealisiert  worden,  der  Abschnitt  hat  wenigstens 
in  der  bekannten  Sinfonieliteratur  nicht  seines  gleichen, 
er  ist  aber  enorm  schwer.  Vielleicht  veranlaßt  dieses  Werk 
des  aus  Ungarn  stammenden  Komponisten  die  deutschen 
Dirigenten  sich  auch  mit  E.  von  Mihalovich,  Major, 
Siki6s  und  anderen  ungarischen  Sinfonikern  zu  befassen. 

Jahrzehntelang  wenig  bemerkt,  haben  seit  Anfang  der    A.  Brsokaery 
achtziger  Jahre  die  Kompositionen  des  Wiener  Tonsetzers  Siebente  Sinfoni« 
Anton  Brückner  die  Beachtung  der  Musikwelt  auf  sich         ^       '' 
gezogen  und  sind  von  Parteigängern  des  Komponisten  als 
die  eigentlichen  instrumentalen  Offenbarungen  modernen 
Geistes  ausgegeben   worden.    Brückners  erste  Bekannt- 
schaft außen  im  Reiche  zu  vermitteln,  üel  seiner  siebenten, 
seiner  Edur-Sinfonie  zu.    Sie  ist  wie  die  andren  ohne 
Opuszahl  erschienen  und  firüher  als  manche  der  altem 
in  Druck  gekommen.   Das  Werk  hat  Gedanken  von  großem 
sinfonischen  Charakter :  das  Hauptthema  des  ersten  Satzes 
AUerro  moJ»rt<o.  ^ ,..  

-  i^jii  ^    'if  '\r«'fj^^^^ 


'^'  r  I  f  ^  ^  ^  .1  ^~  ^^^  '^och  mehr  das  des  Adagio 

Behr  feierlich. 


Behr  feierlich. 
ff    cwtc. 

I  JIT  I III  iilT  "mi  I 

legen  dafür  Zeugnis  ab.  Aber  es  zeigt  auch  Brückners 
Schattenseiten  sehr  stark:  seine  Geringschätzung  gegen 
Logik  und  Zusammenhang,  seine  Natur  als  nachgebomer 
Jean-Paulianer,  der  mit  »Hundstagsposken,  Extrablättchen 
und  Blumenstücken«  kein  Maß  hält  und  alle  seine  Einfälle 
ungesiebt  zu  Papier  bringt.  Ohne  alle  Vermittelung,  ohne 
jeglichen  Obergang  stehen   im   ersten   Satze   pathetische 


--^    768    ^^ 

Themen  und  Wiener  Tanz  weisen  nebeneinander,  im  letzten 
Choralmelodien  und  infernale  Figuren.  Den  Entwurf  der 
Hauptsätze  scheint  der  Zufall  der  täglichen  Arbeitslaune 
bestimmt  zu  haben.  Trotzdem  hat  die  Sinfonie  ihre  po- 
sitiven Seiten.  Einmal  eine  kunsthistorische:  sie  zeigt 
zum  ersten  Male  den  Einfluß  Wagners,  dem  wir  bei  Raff, 
Hofmann,  Sgambati,  Goetz  und  Draeseke  nur  in  kleineren 
Zügen  begegneten,  in  breitesten  Spuren.  Das  Scherzo  ist 
fast  nur  eine  Umschreibung  des  Walkürenrittes.  Zweitens 
aber  entwickelt  der  Komponist  ein  Talent  der  Nachdichtung, 
das  in  seiner  Art  zu  eigner  Bedeutung  gelangt.  Am  im- 
posantesten im  Adagio.  Auch  hier  sieht  man  die  Quellen 
durch:  Götterdämmerung  und  Neunte  Sinfonie.  Aber  die 
Wagnerschen  Motive  sind  mit  einem  Schwung  und  einer 
Begeisterung  ausgeführt  und  erweitert,  welche  überwältigt 
Die  große  Stelle  dieses  Satzes,  wo  die  Trompete  über  dem 
Glanz  des  vollen  Orchesters  mit  ihrem  0  förtleuchtet,  ge- 
hört zu  den  großartigsten  Tonkombinalionen  der  neueren 
Literatur. 

Es  w^ar  ein  Mißgriff,  Brückner,  auf  den  Zauber  ihres 
Adagios  hin,  mit  dieser  siebenten  Sinfonie  einzuführen. 
Denn  die  Mängel  der  Bildung  und  des  Geschmacks  über- 
wiegen in  ihr  die  wertvollen  Eigentümlichkeiten.  Brückner 
ist  gleichwohl,  was  nur  von  wenigen  der  zeitgenössischen 
Sinfoniekomponisten  gesagt  werden  kann,  eine  Natur,  er 
ist  ein  Künstler,  dessen  Werke  eine  klare  und  höchst  be- 
friedigende Auskunft  über  den  Menschen  geben.  Zwei 
Züge  sind  es,  die  aus  allen  seinen  Sinfonien,  aus  den 
schwächren  nur  weniger  klar,  hervortreten  und  die  Indi- 
vidualität Brückners  in  erster  Linie  bestimmen:  Eine  herz- 
liche naive  Freude  an  der  Natur  und  zweitens  eine  aus- 
geprägte kirchliche  Religiosität. 

Es  wäre  schlimm,  wenn  die  Freude  an  der  Natur 
Musikern  fremd  wäre;  sie  muß  das  menschliche  Gemein- 
gut der  Großen  und  der  Kleinen  bleiben.  Aber  die  Meister 
unterscheiden  sich  in  der  Entschiedenheit,  mit  der  sie  ihr 
Ausdruck  geben.  Darin  steht  z.  B.  R.  Wagner  an  der  Spitze 
aller  neueren  Opemkomponisten  und  reicht  direkt  Händel 


-^    769    ♦^ 

die  Hand,  darin  übertreffen  die  Deutschen  von  jeher  die. 
Italiener,  und  werden  merkwürdiger  Weise  wieder,  zu 
Zeiten  wenigstens,  von  den  Franzosen  übertroffen.  Schu- 
mann ist  auf  diesem  Gebiete  ergiebiger  als  Mendelssohn, 
Beethoven,  der  Komponist  von  Pastoralsinfonien  und  Pasto- 
ralsonaten, reicher  als  Mozart  und  auch  als.  Haydn.  Im 
allgemeinen  sind  in  diesem  Punkt  die  östreichisdien  und 
süddeutsclxen  Sinfoniker  stärker  als  die  norddeutschen; 
in  neuerer  Zeit  haben  dann  wieder  die  skandinavischen 
und  namentlich  die  russischen  Sinfoniekomponisten  auf 
diesem  Felde  alle  Vorgänger  überholt.  Bleibt  man  im 
deutschen  Kulturgebiet,  so  hat  unter  den  Östreichem  als 
Schildrer  von  Volkstum  und  Landschaft  Franz  Schubert 
den  unbedingten  Preis.  Aber  ihm  wird  man  in  Zukunft 
als  den  Nächsten  Anton  Brückner  an.  die  Seite  zu  stellen 
haben.  Bei  keinem  Zweiten  ist  das  östreichertum  in 
seiner  liebenswürdigsten  Art  so  voll  in  die  Musik  über- 
gegangen wie  bei  ihm,  bei  keinem  andren  die  Lust  an 
Heimat,  an  Volkstum,  an  der  Pracht  und  an  den  Heim- 
lichkeiten schöner  Natur  allzeit  so  rege  wie  bei  Brückner. 
In  dem  schwärmerischen  Behagen,  mit  dem  er  sich  ihren 
Reizen  in  jedem  Augenblick  hinzugeben  bereit  ist,  zeigt 
er  seine  Kinderseele;  daß  er  einen  Blick  in  den  grünen 
Wald  sich  nie  versagen,  daß  er  nie  an  dem  Bild  eines 
Tanzes  unter  der  Linde  vorbeigehen  kann,  ist  eine  starke 
Quelle  der  romantischen  Fehler  in  seinen  Sinfonien. 

Ähnlich  verhält  es  sich  mit  dem  Ausdruck  religiösen 
Gefühls  bei  Brückner  und  bei  andren.  Es  wird  in  der 
ganzen  Reihe  der  hervorragenden  Sinfoniekomponisten  — 
auch  wenn  wir  von  den  Adagios  absehen  —  bei  keinem 
fehlen;  aber  es  äußert  sich  verschieden  nach  den  Per- 
sonen und  mehr  noch  nach  den  Zeiten.  Es  bildet  von 
Haydn  bis  Beethoven  ein  crescendo,  bei  Mozart  hat  es 
eine  pessimistische,  bei  Beethoven  eine  philosophisch  er- 
habene Färbung.  Bei  Schubert  setzen  die  Abschwächungen 
der  religiösen  Empfindung,  ihre  Umbildung  in  die  Formen 
von  Wehmut,  Sehnsucht,  Melancholie  und  Weltschmerz 
ein,  die  wir  bis  auf  Brahms  bei  allen  bedeutenderen  Sin- 

Kretiscbaar,  Ffthrer.    1,1.  49 


--^     770    «^ 

fonikeirn  verfolgen  können.  Meistens  handelt  es  sich  da- 
bei um  den  Zusammenhang  der  Instrumentalmusik  mit 
der  allgemeinen  geistigen  Entwickelung  unsers  Jahr- 
hunderts, um  die  Teilnahme  an  den  Kämpfen  gegen  Ober- 
flächlichkeit, Alltäglichkeit  und  Frivolität  der  sittlichen 
Anschauungen,  Teilnahme  an  den  bunten  Bestrebungen, 
^  die  Menschheit  durch  Glauben  und  Aberglauben,  durch 
Philosophie  und  Kunst  innerlich  zu  stützen  und  nach 
einem  höheren  Dasein  zu  lenken,  um  Berührungen  mit 
Kant  und  Fichte,  mit  Schopenhauer  und  Nietzsche,  mit 
Cornelius,  mit  Böcklin  und  Thoma,  mit  Parsifal  und  Zara- 
thustra.  Ganz  anders  bei  Brückner.  Aus  seinen  Sin- 
fonien spricht  die  Religiosität  in  ganz  bestimmter,  posi- 
tiver Form:  sie  legt  fortwährend  ein  offnes,  freudiges, 
christliches  und  kirchliches  Bekenntnis  ab.  Die  vielen 
Choräle  in  seinen  Sinfonien  sind  dessen  Zeugnis,  sie  er- 
schöpfen aber  den  Reichtum  und  die  Festigkeit  seiner 
Gottesfurcht  keineswegs.  Ihre  Spuren  gehen  vielmehr 
durch  die  Hälfte  aller  seiner  Themen  und  Melodien;  in 
seinen  Sinfonien  treten  kirchliche  Anklänge  in  einer 
Stärke  hervor,  wie  sie  in  Sinfonien  nur  noch  einmal  vor- 
kommen :  bei  Mozart  in  seiner  Knabenzeit.  Brückner  war 
Schulmeister  und  Organist,  ehe  er  zur  höhren  Kunst  kam. 
Das  ist  mit  andern,  z.  B.  J.  Raff,  ähnlich  gewesen.  Es  ehrt 
ihn  und  bekundet  die  Wahrhaftigkeit  seiner  Natur,  daß  er  in 
den  neuen  Kreisen  doch  bei  seiner  alten  Gedankenwelt  blieb. 
Unabhängig  von  den  Schwächen  und  Vorzügen,  bei 
denen  Brückners  Menschentum  und  Allgemeinbildung  in 
Frage  kommt,  bleibt  aber  die  Bedeutung,  die  er  für  die 
neuere  Sinfonik  durch  die  Prägnanz  seiner  Themen  hat. 
Sie  sind  in  ihrer  Kürze,  Bestimmtheit  und  innren  Fülle 
Muster,  sie  bilden  die  Seite,  mit  der  er  an  Beethoven  und 
die  Klassiker  heranreicht,  mit  ihr  ergänzt  er  zum  Teil 
auch  Brahms.  Was  dieser  für  die  Arbeit  in  der  Sinfonie, 
das  gilt  Brückner  für  die  sinfonischen  Gedanken. 
A.  Braokner,  Von  einer  gradlinigen,  steigenden  Entwickelung  ist  bei 
DretCmoii-Sin- Brückner  noch  weniger  die  Rede  als  bei  Franz  Schubert, 
fonien.       \j^   g^w^^  seinen  Sinfonien  liegen  Schlacken  und  Gold- 


771 


korner  beisammen.  Aber  alle  bieten  etwas  Interessantes, 
Züge,  die  musikalisch  oder  psychologisch  fesseln.  Seine 
eiste  und  zweite  Sinfonie  stehen  beide  in  CmoU,  und 
auch  iseine  achte  ist  eine  CmolUSinfonie  geworden.  Hätte 
ein  Weltkundiger  so  etwas  Unpraktisches  getan?  So  sind 
denn  die  ersten  beiden  CmoU-Sinfonien  außerhalb  Wiens 
unbekannt  geblieben,  obwohl  sie  schöne  Stellen  enthalten, 
namentlich  wirkliehe  naturwüchsige  Sinfonie-  und  Or- 
chesterthemen, z.  B.  die  zweite  in 


^  T  r  i   ||»t<,'  und 

lg  sduiaD. 


erßso. 


Beide  zeigen  den  Einfluß  von  Wagner,  Schubert  und  Beet- 
hoven. Die  dritte  Gmoll-Sinfonie,  Brückners  achte  Sin- 
fonie, ist  in  neuer  Zeit  häufiger  aufgeführt  worden.  Sie 
imponiert  durch  die  kolossalen  Intentionen  ihres  Finale, 
das  die  Hauptthemen  der  drei  vorhergegangenen  Sätze 
kontrapunktisch  zusammenfaßt.  Aber  auch  Rudolf  Louis, 
der  vortrefiTliche  Biograph  des  Komponisten,  erklärt,  daß 
Brückner  sich  hier  Unmögliches  zugemutet  habe.  Seine 
bedeutenden  großen  Züge  entfaltet  Brückner  am  glück- 
lichsten in  der  dritten,  vierten  und  fünften  Sinfonie,  die 
auch  in  den  letzten  Jahren  sich  in  den  Konzertsälen  häu- 
figer und  häufiger  eingefunden  haben. 

Die  dritte  Sinfonie  (Dmoll)  ist  im  Jahre  1873  ent-  A. Braekner, 
standen  und  eine  der  wenigen,  die  schnell  einen  Verleger  i>ritte  sinfoni«. 
gefunden  haben.  Richard  Wagner  nahm  die  Widmung  an 
*mdi  soll,  wie  Th.  Helm  erzählt*),  wiederholt  ernstlich  eine 

*)  Th.  Helm:  A.  Brückner  im  Musik.  Wochenblatt  1886,  S.  3&. 

49* 


^ 


—^     772     ♦^ 

Auffühmag  beabsichtigt  haben.  Was  zunächst  jeden 
Musiker  für  die  Sinfonie  einnehmen  muB,  ist  ihre  voll- 
etidete  Orchestematur.  Alle  Instrumente  haben  ihr  eignes 
Leben  und  äußern  es,  wenn  nicht  immer  mit  bedeuten- 
den selbständigen  Themen  und  Motiven,  so  doch  in  eignen 
besonderen  Rhythmen.  Alles  klingt  schön,  neu,  immer 
interessant.  Nach  dieser  Seite  bezeichnet  Brückner  einen 
Fortschritt  in  der  Geschichte  der  Sinfonie,  den  niemand 
bestreiten  kann,  und  verhält  sich  dem  Durchschnitt  der 
Beethovenianer  gegenüber  ähnlich,  wie  in  der  Malerei  die 
Pilotyschüle  zu  der  Methode  -von  Cornelius.  Nach  ihrem 
Ideengehalt  betrachtet,  bietet  uns  Brückners  Dmoll-Sin- 
fonie  Einblick  in  das  Innere  einer  Natur,  in  der  sich 
Lebensernst  und  Lebensfreude  gleichmäßig  mischen;  &(ie 
scheint  die  Stimmungen  von  Beethovens  Neunter  und 
Beethovens  Pastorale  zu  vereinen.  Der  Komponist  hat 
in  diesem  Unternehmen  einen  Vorgänger,  und  es  ist  wohl 
nicht  Zufall  und  von  ungefähr,  sondern  bewußte  Absicht, 
daß  er  in  seine  Dichtung  die  Grestalt  Franz  Schuberts 
leibhaftig  hineintreten  läßt.  Daß  Schubert  die  weit  stär- 
kere Individualität  war  und  durch  die  Zeitläufte  allein 
schon  glücklicher  gestellt  war,  kann  dabei  niemandem 
entgehen.  Aber  wir  haben  nach  ihm  in  der  Sinfonie  das 
beschauliche,  sanguinische,  des  Daseins  in  der  schönen,  mit 
landschaftlichen  Reizen  und  liebenswürdigem  Menschen- 
tum übervoll  gesegneten  Heimat  frohe  Östreichertum 
bei  keinem  Zweiten  so  staik  und  deutlich  ausgeprägt,  als 
bei  Brückner  nnd  in  dieser  DmoU-Sinfonie.  Dem  Lebens- 
ernst  gibt  der  ans  dem  Kirchendienst  hervorgegangne 
Komponist  gern  durch  Choräle  und  choralartige  Themen 
Ausdruck. 

Der  erste  Satz  (Mäßig  bewegt,  iky  DmoU)  empfängt 
uns  mit  einem  der  in  der  neueren  Musik  und  von  Brückner 
ganz  besonders  geliebten  Orgelpunkte  —  hier  auf  0.  Im 
Streichorchester  ein  ziemliches  Rauschen  wie  von  freund- 
lichen Wässern,  ähnlich  wie  der  Anfang  von  Schuberts 
Hmoll-Sinfonie,  aber  jedes  Instrument  seinen  Rhythmus 
für  sich!    Dann  setzt  im  fünften  Takt  die  Trompete  ein. 


773 


die  sich  in  der  Zeit  der  Klassiker  ihre  heutigen  Ehren 
nicht  hätte  träumen  lassen.  Doch  ist  die  Tatsache  keines- 
wegs zum  Beweismaterial  ffir  die  Hypochonder  geeignet, 
welche  nnsre  neuere  Musik  roher  und  roher  werden 
sehen.  Unsre  talentvollen  Komponisten  gehrauchen  die 
Trompete  keineswegs  hloß  ffir  starke  Effekte,  sondern 
ganz  so  vielseitig  wie  dies  in  der  alten  Suite,  in  der  ita- 
lienischen Oper  des  17.  Jahrhunderts,  im  Oratorium  noch 
bei  Händel  geschieht.  So  beginnt  Brückner  mit  ihr  hier 
leise,  im  Ton  einer  heroischen  Ahnung  das  Hauptthema 
seines  ersten  Satzes: 


.  \ 


Dieses  Thema  zieht  sich  lang  hin.   Zunächst  wird  es  vom 
Hörn  folgendermaßen 


fortgesetzt.  Die  zwei  letzten  Takte  dieser  Fortsetzung 
werden  zunächst  von  den  Holzbläsern  für  Nachahmungen 
und  Wiederholungen  aufgegriffen  und  dienen  dem  vollen 
Chor  des  Orchesters  als  Anhalt  zur  Sammlung  und  zu 
einem  gewaltigen  innren  und  äußren  Crescendo.  Dann 
erst  kommt  im  Unisono  aller  Instrumente  der  dritte  Teil, 
der  Schluß  des  Hauptthemas: 


j^^frf  iiirTtfi^fnfDi.t  I-  j^ 


I 


i 


creac* 


tlL  ^N.^  ^^  bringt  den  höchsten  Aufschwung 

'^  kräftigen  Wollens   und    dicht  da- 

neben in  den  Zungen  von  Schubertschen  Entreaktes 
das  Verftagen  aller  Hoffnungen,  somit  die  Gegensätze 
des  Satzes  im  schroffen  Widerspruch.  An  der  Trioie 
hält  sich  die  Phantasie  des  Komponisten  fest,  als  wäre 
mit    ihr    der  Ausweg    nach   dem   Licht,    nach   einem 


-^     774    <^~^ 

sichren  Blick  in  die  Zukunft  zu  finden,  und  gelangt  so 
bald  an  eine  Wiederholung  des  vollständigen  Haupt- 
themas von  Äf  der  Dominante,  aus.  Der  Schluß 
dieser  Wiederholung  verläuft  in  ein  ppp  und  in  roman- 
tische Dissonanzen,  als  schliefen  alle  Sorgen  ein.  Der 
Dichter  überläßt  die  Entscheidung  über  schwierige  und 
Ungewisse  Fragen  der  Zeit  und  dem  Schicksal.  Das 
zweite  Thema 


setzt  ein  und  führt  uns  ohne  weitres  in  eine  Szene  des  Be- 
hagens und  der  beweglichen  SchwärmereL  Mehr  noch  als 
das  Thema  selbst,  das  zuerst  als  Wechselgesang  zwischen 
Bratsche  und  Hörn  auftritt,  führt  uns  sein  Begleitungsmotiv 
.^j^  vor  ländliche  Bilder. 

ff    P^^^  '    -J-      ^    I  -  r  J  r    "  der  jenes  wichtigen 

-  Zwischenmotivs,  das 

im  ersten  Satz  von  Beethovens  sechster  Sinfonie  zum  zwei- 
ten Thema  hinüberleitet  Bei  Brückner  sagen  die  Kontra- 
punkte immer  etwas ;  der  hier  erfundne  erweist  sich  aber  als 
ganz  besonders  gehaltvoll  und  ergiebig.  Ja,  er  wird  nicht 
bloß  die  Veranlassung  zu  einer  hübschen  Episode,  sondern 
er  trägt  einen  Hauptteil  von  dem  Glaubensbekenntnis  und 
der  Weltanschauung,  die  in  diesem  Satze  niedergelegt 
sind.  Alle  die  zahlreichen  Partien,  die  darin  aus  dieser 
muntern  Figur  entwickelt  sind,  vertrügen  als  Oberschrift 
das  schöne  Wort  Hölderlins:  »Ja,  wunderschön  ist  Gottes 
Erde  und  wert,  auf  ihr  ein  Mensch  zu  sein!«  Das  singt  in 
urzufriednen  Melodien,  das  regt  sich  und  hüpft  in  fröhlichen 
Rhythmen,  das  wiegt  sich  wonnig  träumerisch  aufweichen 
Akkorden,  das  ist  ein  Schwelgen  in  seliger  Sonntagsstim- 
mung. Zuweilen  ^  Zuletzt  findet  es  einen 
bricht  das  Ent-  'jf^ffi  rrr  doppelten  Ausdruck 
zücken  laut  und  -fr/Ly*  '  '  >  [  von  kräftiger  Zuver- 
wuchtig  durch:,  v**^  sieht  in  der  Melodie: 


% 


775 

die  uuter  den 


^^T    p    |^p['    I  »[     \h\'    (    hw..  Nebenthemen 
.  p  desSatzesBe- 

deutung  hat  und  von  Frömmigkeit  in  dem  Choral: 


D   10         C 

mit  dem  die  Trompete,  die  bekanntlich  angefangen  hatte, 
die  Themengruppe  schließt.  Zu  verkennen  ist  nicht,  daß 
in  der  zweiten  Hälfte  des  um  das  Pastoralmotiv  gebildeten 
Teils  das  Beharrungsvermögen  des  Zuhörers  auf  eine  Ge- 
duldprobe gestellt  wird.  Je  nachdem  das  Orchester  besser 
oder  schlechter  ist,  wird  sie  erleichtert  oder  erschwert 
werden. 

Sofort  nachdem  die  Trompete  mit  ihrem  (unbedeuten- 
den) Choral  fertig  ist,  geht  es  aus  C  dur  mit  drei  knappen 
Oberleitungstakten  in  die  Durchführung. 

Sie  beginnt,  nach  einer  kursen  Intonation  des  Haupt- 
themas, mit  einem  Satze  suchenden  Charakters,  dem  das 
dem  Choral  vorhergehende  Nebenthema,  das  vorhin  als 
Ausdruck  der  Zuversicht  bezeichnet  wurde,  zu  Grunde 
liegt.  Er  endet  still  und  ergebuDgsvoll  in  G  dur.  Danach 
setzt  schön  und  scharf  in  der  Wirkung  A  dur  ein,  und  in 
schnellen  Modulationen  ziehen  Umbildungen  und  Bruch- 
sttkcke  aus  dem  ersten  Teil  des  Hauptthemas  in  Flöte 
und  Hörn  vorbei,  geheimnisvoll,  aber  farbenprächtig.  Der 
zweite  Teil  der  Durchführung  verbindet  den  Anfang  und 
den  Schluß  des  Hauptthemas  erst  in  einer  Periode  in  Fmoll, 
dann  in  einer  zweiten  in  Gmoll.  Von  deren  Schluß  ab  (As  dur) 
verschwindet  der  Anfang  des  Themas,  die  Motive  des  kräfti- 
gen Wollensaus  I  f-^  II  m  k  I  lä  K 
seinem  Schluß:«'-  J  J  I  J,  J.  J3  J»  und  4-  is  fi 
behaupten  das  Feld  und  führen  scheinbar  zur  Reprise:  In 
D  moll  setzt  das  Trompetenthema  fff  im  vpUen  Orchester 
ein.  Es  ist  aber  erst  der  dritte  Teil  der  Durchführung, 
den  Brückner  hier  bringt.  Er  gjbt  das  Hauptthema  — 
wohl  angeregt  durch  eine  ähnliche  Stelle  in  Beethovens 
Neunter  —  noch  einmal  im  Leuchten  der  Wetter,  im 


776 


Donner  und  Blitz,  in  glänzendster  Machtentfaltang  seines 
ersten,  des  heroischen  Teils.  Dieser  wird  wiederholt,  mit 
Dissonanzen  schattiert,  nochmals  wiederholt  und  bricht 
in  Edur  tobend  plötzlich  ab.  Generalpanse,  Paokensolo, 
das  im  pp  endet!  Und  nun  erst  melden  sich  wie  schQch- 
tem  die  beiden  andern  Teile  des  Hauptthemas  —  mehr 
um  der  Form  zu  gentigen  als  zu  innerer  Wirkung.  Dieser 
letzte,  dritte  Teü  der  Durchführung  hat  alles  entschieden, 
es  war  ein  Seherblick,  weit  hinaus  in  die  Zukunft  geworfen, 
der  ein  Ende  ip  Herrlichkeit  gesichert  zeigt  Ganz  leise  geht 
die  Durchführung  zu  Ende  und  ebenso  setzt  die  Reprise  ein. 
Der  zweite  Satz  (Adagio,  quasi  Andante,  ^j  Esdur) 
deutet  mit  dem  Anfang  seines  Hauptthemas: 

Adagio. 


fast  in  der  Sprache  der  Klassiker  die  Sehnsucht  nach 
Ruhe  und  höherem  Frieden  an.  Schon  nach  Abschluß 
der  ersten  8  taktigen  Periode  setzen  aber  die  in  der  zweiten 
Hälfte  dieses  Beispiels  enthaltnen  Keime  der  Friedlösig- 
keit  zu  einer  Bewegung 
an,  die  zu  einem  Aufruhr: 

der  Gefühle  führt,  den  die  -    _  p        |      ^  '  f 

stumme  resignierte  Klage:  r  1 

wie  ein  stilles  Gebet  endet 

Wie  ein  Bild  aus  einer  besseren  Zukunft  stellt 
nun  der  Dichter  dieser  Gegenwart  einen  formell  scharf 
verschiednen   Satz    gegenüber,    dessen    erstes  Thema: 


AQd»nte  quasi  Allagretto.  lautet  Um  das,  waS 

jjEüL.  I     I    I  I  ]   ■■^^i    A=T  es  noch  an  Zweifeln 
J   I  i  jJ^J  '  "^  J  '  i   '  ■  zurückläßt,  vöUig  zu 


£ 


*^  ^— «==^      -c beseitigen,     gesellt 

sich  ihr  noch  eine  zweite  Weise  hinzu,  die  ebenfiüls  im 
visionären  Ton  eine  Art  Siegesmarsch  anstimmt 


--♦     777     «^ 

Ihr  geÜDgl  es,  die  Stimmung  zum  Teil  aufzuhellen:  Froh 
fließen  die  Sechzehntelfiguren  in  einer  Gruppe  der  In- 
strumente dahin,  andere,  die  Hörner  z.  B.,  bleiben  aber 
bei  bangen  Fragen.  Das  führt  dazu,  daß  die  verheißungs- 
vollen Rhythmen  des  letzten  Themas  J  j  «  in  starkem 
Ton  bekräftigt  und  wiederholt,  daß  die  freundlichen  Zu- 
kunftsvisionen der  schönen  Dreivierteltaktmelodie  in  großer 
Breite  ausgeführt  werden.  Bei  dieser  Ausführung  ist  auch 
die  Mannigfaltigkeit  und  der  Reichtum  der  Farbenreize, 
die  von  zarten  Lohengrinklängen  schnell  zu  einem  wahren 
Rausch  Schönen  Orchestertons  anschwellen,  nicht  zu  ver- 
gessen. Überhaupt  ist  die  Einwirkung  Wagners  in  diesem 
Satze  unverkennbar.  Sie  äußert  sich  nicht  bloß  im  Ko- 
lorit, sondern  auch  in  Harmonie  und  Melodie. 

Nach  dem  Abschluß  der  Trostszene  wird  der  Haupt- 
satz wiederholt  und  erfährt  dabei  prächtige  Steigerungen, 
aus  denen  die  Stimme  der  Trompete  sich  besonders  ein- 
dringlich und  ausschlaggebend  hervorhebt.  Der  ganze 
Satz  zeigt  Brückner  von  seiner  gewaltigsten  Seite  und 
als  eine  fürs  Drama  geborne  Natur. 

Der  dritte  Satz  (Scherzo,  ziemlich  schnell,  ^4»  Dmell) 
ist  durch  eine  gewisse  Unfertigkeit  originell,  durch  eine 
Laune,  die  sich  begnügt,  mit  Elementarmitteln  zu  wirken. 
Wir  hören  vorwiegend  rhythmiscl^e  Motive,  die  nur  lose 
zu  Themen  entwickelt  sind  und,  wenn  das,  keine  Ent- 
wickelung  durchgehen. 

Im  Eftuptsatze  schildert  der  Komponist  humoristisch 
eine  Art  großen  Sturm,  zienjich  »chneii.  rührt  sich 
der  wie  von  der  Feme  ^b  f  TU  J  J  J  J  |  zunächst, 
einsetzt.    Nur  das  Motiv    ^     vp  gg    getzt 

sich  als  liegende  Stimme  fest.  Unter  ihr  steigen  Figuren 
stufenweise  die  ganze  Oktav  crescendo  und  drohend  in  die 
Höhe.    Dann  bricht  ff  das  Thema 

Zlemlleb  admell. 


los.    Es  bildet  mit  Wiederholungen  und  Ableitungen  den 


-<^     778     <^- 

Inhalt  des  Hauptsatzes.  Einmal  bricht  es  in  eiue  der  bei 
Brückner  häufigen  plötzlichen  Generalpausen  ab,  und  da 
erscheint  denn  —  die  einzige  im  ganzen  Scherzo  —  eine 
fertige  und  durchgeführte  singende  Melodie. 

f  fj  inir^iiirifrT |f?i  i^Tiiiii 

^     PP  crege. 

Durch   sie ,   die  bald  ^       ^-r^^.   .l^^^  beigesellt, 

verstärkend  ein  Satz-  '^i*!  r"|»  i  y^^p|>=|wird  der  Sei- 
chen über  das  Motiv  ^  ■  ^  ^tensatz  im  ei- 
gentlichen Scherzo  zu  einer  hübschen  Wiener  Tanzidylle. 
Auch  das  Trio  sucht  die  Kunst  darin,  die  Musik  in 
eine  Szene  von  Naturlauten,  hier  freundliche  und  zarte, 
aufzulösen.  Eine  Art  Thema,  meistens  von  der  Bratsche 
•>.  angestimmt,  wird  von 

y^^  ''^X  ■  *         'g^  ^     ,      Z.  ^^  kosender,  zirpender 
^'  ^  nnd  trülemder  Mo- 

tive umkreist,  so  daß  die  Wirkung  des  Ganzen  an  ein 
Vogelkonzert,  an  eine  schöne  Stunde  bei  Weiher  und  Wald 
nach  Sonnenuntergang  erinnert.  Das  ganze  Stück  (Trio 
und  Scherzo)  ist  darnach  wie  ein  Gegensatz  vom  Lärmen 
der  Stadt  oder  der  Bahn  und  der  Sülle  ländlich«:  Einsam- 
keit gedacht 

Das  Finale  (Allegro,  i^,  Dmoll]  wird  mit  einer 
Achtelfigur  der  Geigen  eingeleitet,  die  zwar  wesentlich 
zu  Begleitungszwecken  dient,  aber  für  den  Charakter  des 
Satzes  nicht  unbedeutend  ist.  Sie  verkündet  Wirren  und 
Aufruhr  im  Gemüt,  und  dagegen  erhebt  sich  in  stolzer 
Kraft  breit  und  majestätisch  das  den  Bläsern  übertragene 
Hauptthema 


^  TI  Ai    ^^    rr  ff   fF 

H.  J  '^  I  -■■■'"•^^  ^  gehört  wieder  zu  den  thema- 

"  P  1  '  f;  ^  '"'  P  [^  tischen   Erfindungen   Brückners, 

'.  r.  »    r    .       r     .in  denen  auf  Melodie  und  schöne 


— -^     779    <^~  '  > 

Fomi  2ugttusten  der  charaktervollen  Wirkung  verzichtet 
wird.  Darin  zeigt  er  sich  als  ein  Schüler  Liszts  und 
der  Neudeutschen.  Zweimal  zieht  dieses  Zyklopenthema 
vorhei.  Dann  verlaufen  sidi  die  wilden  Gänge  im 
Streichorchester.   An  ihre  Stelle  tritt  ein  anmutiges  Motiv 

das  aher  doch  nur  ein 
nehensächlicher  Kontra- 
punkt ist.  Die  Haupt- 
sache kommt  in  den 
Hörnern,  nämlich  ein  Choralgesang: 

LaogfiAm . 


Lan 


der  sich  breit  hin  entfaltet.  Als  er  endlich  still  verklingt, 
setzt  wieder  Sturm  ein,  diesmal  von  dem  harten  Motiv 

^^^     j  getragen.     An    diesen   Abschnitt 

■iJik  /r^  _  1*  -*^  B  knüpft  sofort  die  Durchführung  an. 
yn^  U  r  r  ir  rr'U  sie  Weibt  bei  dem  Viertelmoüv 

•^  und  bekämpft  es  mit  den  herri- 

scheU)  stolzen  Motiven  des  Hauptthemas  und  steüt  das 
Bild  einer  Seele  hin,  die  der  Anfechtung  spottet  Dieser 
Durchführungsteil  ist  nur  kurz  und  schließt  (in  F)  mit 
Klängen  des  Friedens,  die  uns  aus  dem  Eingang  von  Schu- 
berts Cdur-Sinfonie  geläufig  sind. 

Die  Reprise  bringt  die  dem  Hauptthema  zugehörige 
Gruppe  erweitert  und  im  Ausdruck  der  Energie  durch 
Verkürzung  der  Rhythmen,  durch  Nachahmungen,  und 
Engführungen  gesteigert.  Die  Folge  ist,  daß  des  zweiten 
Themas,  des  Choralgesangs,  ruhiges  und  frommes  Wesen 
sich  noch  klarer  und  schöner  als  im  ersten  Teü  des  Satzes 
geltend  macht.  Die  Komposition  erhält  damit  einen  aus- 
geprägt christlichen  Zug,  und  die  Idee  des  Komponisten 
tritt  klar  vor  das  Gemüt  des  Hörers:  »Wer  in  des  Lebens 
Wirren  auf  die  doppelte  Stütze  der  eignen  Kraft  und  des 
Glaubens  bauen  kann,  der  siegt«.  Und  diesen  Sieg  spricht 
das  Finale  dann  noch  einmal  mit  schöner  poetischer  Be- 
ziehung und  die  ganze  .Sinfonie  abrundend  dadurch  aus, 


_^     780    «^ 

daß  das  Heroentliema  des  ersten  Satzes  und  zwar  in  Ddur 
^  daa  Schlußwort  erhält. 

A.BrmekHer,  Seine  vierte  Sinfonie  (Esdur)  hat  Brackner  die  ro- 
Vierte  Sinfonie,  njjuj^^^  genannt  Die  Romantik,  die  er  meint,  ist  die 
des  Waldes.  Das  Werk  ist  eine  Waldsinfonie,  aher  aus 
einem  viel  tieferen  Geiste  als  die  bekannte  von  Raff,  die 
eine  galante  französische  Romantik  entwickelt.  Die  Bruck- 
ners^e  Sinfonie  hat  durchaus  deutschen  Charakter:  ex 
sehnt  sich  nach  dem  Wald,  seiner  Heimlichkeit,  seinem 
tiefen  Frieden  in  Klängen,  die  an  Steffen  HeUers  trauliche 
Klavierszenen  »Im  Walde«  erinnenu  Mehr  noch,  Brückner 
hält  im  Wald,  wie  das  altgermanische  Heidentum,  seinen 
Gottesdienst,  er  geht  durch  die  Reihen  <ler  cshabnen 
Stämme  mit  den  Versen  des  Dichters  im  Kopf:  »Du  hast 
deine  Säulen  dir  auj^baut  und  deine  Tempd  gegr&ndet«. 
Ihm  ist  im  Sinne  jener  alten  Zeiten,  wo  wir  Deutschen 
noch  ein  Waldvolk  waren,  der  Wald  das  herrlichste  Gottes- 
haus, der  schönste  Dom,  den  der  Herr  der  Welten  sich 
selbst  gebaut  Der  Wald  stimmt  den  Komponisten  einst 
religiös,  und  ein  feierlich  erhabener  Grundton,  wie  ihn 
ähnlich  Bruch  in  seiner  Esdur-Sinfonie  leise  und  flüchtig 
einmal  anschlägt,  wie  er  aber  sonst  nur  in  den  lang- 
samen Sätzen  aufzutreten  pflegt,  durchzieht  die  ganze 
Sinfonie.  Ihre  vom  Familientypus  abweichende  geistige 
Haltung  wird  der  eine  Grund  sein,  der  ihre  Verbrdtung 
erschwert  Ein  anderer  liegt  darin,  daß  sie  für  die  reich- 
lichen Naturschüderungen,  die  sie  enthält,  ein  ganz  aus- 
gezeichnetes Orchester  und  ziemlich  genauen  Vortrag 
verlangt;  ein  dritter  in  der  Übermäßigen  Breite  einzelner 
Teüe. 

Besonders  ist  es  der  erste  Satz  (Ruhig  bewegt,  <t, 
Es  dur),  der  durch  tief  religiöse,  ins  Ewige  sich  versenkenoe 
Stimmung  ergreift  Sein  Anfang  und  die  um  das  Hauptthema 

,  gebildete 

^  ^    Rahig  bewegt,  d  r  7g         ^        .  Gruppe 

^        P  im  Hörer 

Schauer  der  Andacht,  umweht  ihn  mit  Kirchenluft    Ad 


-^    781     ^^ 

Liturgie  erinnert  auch  der  Vortrag:  das  Hörn,  das  be- 
ginnt, gleicht  dem  liturgen,  der  kleine  Chor  der  Holz- 
bläser, der  die  Melodie  ihm  nachsingt,  der  respondierenden 
Gemeinde.  Fürden  romantischen  Charakter,  den  Brückner 
seiner  Sinfonie  geben  wollte,  ist  dieses  Hauptthema  des 
ersten  Satzes  das  wichtigste  Stück;  und  das  ceSf  mit  dem 
der  zweite  Abschnitt  einsetzt,  der  Hauptträger  des  roman- 
tischen, geheimnisvollen  Elements.  Aus  der  ehrfürchtigen 
Stimmung  wird  nach  dem  feierHchen  Eingang  bald  eine 
froh  erwartungsvolle;  sie  ist  vertreten  durch  das  Motiv: 
^^^,^~,^  das  als  eine  Ergänzung  ge- 

^  ,      i^^  ^t-    t      S"^       wissermaßen  mit  zum  er- 
•JLVy   r  r  r   r    r   I  r    ^  sten  Thema  gehört.     Der 

^  Anfang  mit  dem  feierlich 

breiten  Ton  spricht  die  Gottesfurcht,  das  neue  Motiv  die 
Natur&eude  des  Komponisten  aus.  So  haben  wir  in  den 
beiden  Teilen  des  ersten  Themas  die  beiden  Hauptstücke 
der  menschlichen  Grundlage  vor  uns,  aus  der  Brückners 
Kunstwerke  ihren  Ursprung  ziehen.  Mit  dem  Motiv  der 
Naturfreude  bildet  Brückner  die  nächsten  Zeilen  seiner 
Dichtung.  Sie  nehmen  bald  den  Charakter  eines  begei- 
sterten Hymnus  an.  Der  Dichter  wird  von  einem  Jubel 
über  die  Schönheit  der  Schöpfung  fortgerissen ;  stürmisch 
drängt  die  Harmonie  in  gewaltigen  Modulationen  fort  und 
setzt  sich  dann  auf  einmal,  wie  geblendet,  auf  demFdur- 
Akkord  fest,  alle  Kraft  der  Empfindung  in  einem  Guß  aus- 
schüttend. Brückner  hebt  die  Klangkontraste.  So  folgt 
auch  hier  dem  Rauschen  des  vollen  Instrumentenchors 
der  stille  Klang  der  beiden  Homer,  die  einige  Takte  allein 
das  F  halten.  Es  wird  durch  die  Bässe,  die  des  darunter  an- 
schlagen, zur  Terz  und  die  ^  l  _^  ~^^ 
Bratsche  setzt  mit  äam  ^  >'\ß    i  J  [^ J    I  J    l    J   I  |^=il 


zweiten  Thema,  wie  folgt  jS 
ein.  B  dur  wäre  die  normale  Tonart  gewesen,  Brückner  hat 
Des  gewählt.  Die  Ausweichung  in  eine  entiegenere  Har- 
monie ist  in  diesem  Falle  ein  lifittel  romantischer  Wirkung, 
Brückner  bevorzugt  aber  auch  im  allgemeinen  das  Gebiet 
der  Unterdominant,  sehr  zum  Vorteil. des  warmen  Charak- 


-^     782     «^ 

tcrs  seiner  Musik.  Der  Ton  innig  dankbaren  Genießens,  den 
der  Anfang  dieses  zwei-   ^,^{^^^       ^  die  zuerst 

ten  Themas  anschlägt,  jC  ^'^    LT  f  T    \    pUTals  beglei- 
geht  mit  den  Motiven  ^  tende  ein- 

treten, dann  selbständig  werden,  in  einen  heitern  über  und 
läuft  in  dem  2"       l  ^°  ^^°  ^^^' 

Schlußglied    j  lrh.  '     P  T  f  T  I*  [^^=#=11  druck  leben- 
des Themas:  ff "  '"  ^  i   U    i  I   :»»=■  ^g^    g^t. 

Zackens  über.  Das  äußert  sich  zuerst  laut,  jau<^zt  in  die 
Welt  hinaus;  dann  wieder  heimlich  wie  im  tiefsten  Innern. 
Es  ist  ein  ungemein  wandelbares  Motiv,  das  bald  den 
innigen  Elementen  des  zweiten  Themas  die  Hand  reicht, 
bald  wieder  aus  dem  ersten  Thema  die  belebenden  Töne 
der  Naturfreude  herbeiholt.  Die  letztren  füllen  auf  längre 
Zeit  die  Szene  mit  Spielen  verschiedener  Art,  wie  Kinder, 
die  vor  Lust  jetzt  jauchzen,  dann  in  stiller  Anmut  ihre 
Kreise  ziehen.  Von  einem  stürmischen  Ausbruch  der 
Freude,  in  dem  zuletzt  sämtliche  Messinginstrumente  mit 
dem  Des  dur-Akkord  i  b  i  i  j  j  J  ^^ben ,  lenkt 
auf  dem  Rhythmus  •••  •*•  •  I  •  •  •  Brückner  noch 
einmal  unvermutet  in  die  ruhigere  Region  des  zweiten 
Themas  ein,  jetzt  in  dem  normalen  6  dur;  im  pp  und  in 
Bruchstücken  verklingt  es.  Der  Dichter  schließt  das  Auge, 
die  Bilder  schwimmen  in  seiner  Seele  ineinander.  Sie  ruht; 
unbestimmt  und  dämmernd  streifen  Empfindungen  und 
Ahnungen  durch  die  Brust.  Das  drückt  die  Musik  mit 
abwärts  ziehenden  chromatischen  Gängen  aus,  die  leiser 
Pauken  Wirbel  begleitet;  die  feierlichen  Motive  des  Haupt- 
themas und  die  lustig  erregten  des  zweiten  laufen  durdh- 
oinander.  So  schließt  die  Themengruppe  des  ersten  Satzes. 
Die  Durchführung  beginnt  im  Traumeston  mit  dem 
feierlichen  Anfangsmotiv  des  ersten  Hauptthemas,  das 
durch  kühne  Dissonanzen  merkwürdig  romantisch  gefärbt 
wird,  z.  B. : 

VioJ.  ^  ^  ^ 


-^     783    ^^ 

Sie  wendet  sieh  dann  zu  breiten  Bildungen  Über  das 
Motiv  der  Naturfreude,  die  sich  von  denen  in  der  Themen- 
gruppe durch  einen  durchschnittlich  emstren  Ton  unter- 
scheiden. Der  christlich  religiöse  Zug,  der  die  Sinfonien 
Brückners  unter  hunderten  kenntlich  macht,  gewinnt 
auch  hier  wieder  die  Herrschaft  über  seine  Phantasie. 
Der  Abschnitt  endet  in  einigen  Strophen  Choralmusik,  in 
der  die  Trompeten  die  Stimmführer  sind.  Als  sie  leise 
ausgeklungen,  setzt  das  zweite  Thema  des  Satzes  (von 
Gdur)  ein,  jedoch  mit  verlängerten  Rhythmen  und  da- 
durch ebenfalls  in  die  kirchüche,  fromme  Empfindung 
iibertragen. 

Von  diesem  Punkte  vollzieht  sich  der  Obergang  in  die 
Reprise  ganz  natürlich,  wie  von  selbst.  Sie  verläuft  ohne 
bemerkenswerte  Überraschungen  und  hinterläßt  wohl  bei 
den  meisten  Zuhörern  den  Wunsch  nach  Kürzung,  nament- 
lich in  der  allerletzten  ^chlußpartie. 

Den  zweiten  Satz  (Andante,  C,  Cmoll)  zu  verstehen, 
muß  man  bis  in  seine  Mitte  vorgehen.  Denn  zunächst 
fragt  man  sich  erstaunt:  wie  kommt  ein  Trauermarsch  in 
eine  Waldsinfonie?  Die  erklärenden  Worte  stehen  unter 
andren  in  Schumanns  »Der  Rose  Pilgerfahrtt,  in  dem 
schönen  vom  Hornquartett  begleiteten  Männerchor:  »Bist 
du  im  Wald  gewandelt,  usw.«  Brückner  hat  hier  an  den 
Wald,  an  die  Natur  als  Trösterin  im  Leid  gedacht:  So 
malt  er  uns  denn  eine  Szene  des  schwersten  Leids :  ein 
Begräbnis.    Die  Celli  singen  eine  klagende  Melodie, 

Andante.  J  s  66  ^  ^^^^ 

|ji  ■■  ^fTTTlTTf  I  f  j  I  r  t/r  r  1 1  « 

einfach,  als  ob  sie  aus  dem  Volkslied  stammte,  und 
doch  ein  wenig  mit  Chopinscher  Stimmung  getränkt, 
wie  denn  Brückner  bei  aller  Schlichtheit  im  Grunde 
seines  Gemüts  doch  Im- 
mer und  überall  modern 
bleibt^  Die  Begleitung,  ein 
Schubertsches  Marschmotiv:  VP 


J '  Ml^l 


--^     784     ♦— 

zeigt  uns  Ort  und  Veranlassung  der  Klage,  erklärt  und 
malt  die  Situation.    Die  Szenerie  wird  bald  noch  mehr 
verdeutlicht :      Choralge-  ^Jn  „. .    ■    i  .    i    i    >    ■  -H4Hi 
sang, Trauerchöre,  die  fol-  g^''*VQZlJ>^    '^lijLÜ^ 
gendermaßen    einsetzen:  pcrwc. 

unterbrechen  auf  längere  Strecken  den  Marschrhythmus. 
Dann  beginnt  der  Marsch  vom  neuen.  Vom  neuen  auch 
erhebt  sich  die  klagende  Stimme,  aber  viel  gedämpfter, 
sie  ist  in  der  Mitte  des  Streichorchesters,  in  der  Bratsche, 
gleichsam  versteckt 

i;nd  windet  sich,  halb  unterdrückt,  suchend  und  zu* 
gleich  fließend  dahin,  bis  der  Marsch  (in  Gdur  und 
ppp)  wieder  schweigt.  In  diesem  Augenblick  lassen  sich 
wie  von  fem  und  von  hoch  oben  Motive  vernehmen 
*pf  ^        die  schon  am  Anfang  des  Andante, 

aber  da  ziemlich  .unbemerkt  auf- 
tauchten. Wirkt  diese  Fl&tenstelie 
nicht,  als  riefen  Vogelstimmen  aus  dem  Wald  und  hin  zu 
ihm?  Nachträglich  wirds  uns  klar,  daß  schon  von  An- 
fang an,  immer  in  den  Marsch  hinein,  kur^e  Naturtöne 
erklangen.  Das  Hom  wars,  manchmal  auch  die  Trompete, 
die  ganz  heimlich,  bald  mit  einem  einzelnen  p^  . 
Ton,  bald  mit  einem  Motiv,  am  häufigsten  mit  ••  3  J 
lockten.  Als  die  Bratsche  sang,  gaben  sie  sogar  deren 
Wendung  wie  im  Echo  wieder,  zuweilen  hörten  wir  auch 
den  Quintenruf,  der  im  ersten  wie  im  zweiten  Satz 
thematisch  so  viel  bedeutet. 

Nach  dieser  entscheidenden  Stelle,  mit  der  der  erste 
Teil  des  Andante  schließt,  wandelt  sich  der  Charakter  der 
Musik.  Die  Bässe  sinnen  jenem  Flötenmotiv  nach  und 
während  sie  es  wiederholen  und  weiterführen,  erfinden  die 
Violinen  neue  Melodien,  die  trostreich  klingen: 


^h  j  I  j'7T  !■  I  iTi.'iLSj  I  f  ^ 


...^     786     #^ 

Dann  uimmt  das  Hörn,  nach  ihm  nehmen  die  Holz- 
bläser das  klagende  Hauptthema  wieder  auf;  ab^r  der 
Marsch,  der  dazu  gehört,  klingt  nur  noch  eine  Weüe  aus 
den  Bässen  an,  dann  verliert  er  sich  ganz  aus  der  Er* 
innerung,  und  Instrument  nach  Instrument  tragen  die 
freudigen  und  lebenskräftigen  Elemente,  die  die  Melodie 
enthält,  in  immer  hellres  licht.  Es  vollzieht  sich  ein 
großer  Aufschwung  der  Stimmung.  Freilich  ist  die  Rück- 
kehr zum  Trauerton  jetzt  noch  unvermeidlich.  Der  Mittel- 
teil des  Andante  verklingt  leiser  und  leiser,  verschwindet 
wie  eine  Vision,  und  sein  dritter  Teil,  die  Reprise,  setzt  ein. 

Jedoch  bleiben  jetzt  die  Anklänge  an  den  Trauer« 
chor  weg,  und  sehr  bald  kommen  die  Flötenmotive  wie- 
der: schon  vor  dem  Einsatz  des  Bratschen abschnittes. 
Nach  ihm  setzt  das  Hauptthema  wieder  ein,  aber  mit 
Kontrapunkten  umspielt,  die  den  starren  Trauerton  weit 
wegweisen.  Mehr  und  mehr  klingt  es  verklärt  und  geht 
in  einen  Triumphgesang  über,  der  mit  allem  Glanz  des 
Brucknerschen  Orchesters  den  Sieg  über  alles  Leid  ver- 
kündet und  weit  Über  Grab  und  Leichenzug  hinausweist 
auf  Himmel  und  ewiges  Leben.  Dieser  Schluß  des  An- 
dante ist  seine  Glanzpartie,  poetisch  ergreifend  gedacht 
und  musikalisch  kühn  und  genial  ausgeführt.  Der  Ober- 
gang nach  Cdur  und  die  Rückkehr  nach  dieser  Tonart 
—  von  Ces  aus  —  ragen  besonders  hervor. 

Der  dritte  Satz  der  Sinfonie,  ihr  Scherzo  (bewegt, 
2/4,  Bdur),  wirft  auf  den  Waldcha^akter  der  Komposition 
ein  für  jedermann  genügendes  Licht.  Schon  im  dritten 
Takt  empfangen  uns  die  Hörner  mit  Jagdsignalen.  Der 
Komponist  hat  ihnen  in  dem  Satze  soviel  Platz  einge- 
räumt, wie  das  vor  ihm  in  einer  Sinfonie  noch  nicht 
vorgekommen  ist  Darin  spricht  sich  sowohl  Brückners 
künstlerische  Naivität  aus,  wie  seine  große  Liebe  zu 
solchen  Schilderungen  aus  der  äußern  Natur,  die  musi- 
kalisch zu  fassen  und  zu  bezwingen  sind.  Drittens  aber 
spricht  aus  den  breitern  Bildern,  die  Brückner  aus  den 
einfachen  Jagdmotiven  entwickelt  hat,  auch  eine  ganz 
eminente   Begabung.     Vielleicht    stimmen   die   meisten 

Kr«isaebiB»r,  Fftbrtr.    I,  1.  £0 


-^    786    ♦^  _ 

Höret  und  KennM  dieses  Salzes- darin  Qberein,  daß  seine 
großen  Gruppen —  namentlich  die  des  Uauptsalzes  — 
zu  oft  wiederholt  werden.  Aber  innerhalb  dieser  einzel- 
nen großen  Gruppen  möchte  man  nichts  gekürzt  und 
gestrichen  wissen.  Das  sind  Meisterstückchen,  unüber- 
trefflich  lebendig,  farbenreich  und  wirklich  romantisch. 
Was  ist  das  für  ein  interessantes  Konzertieren  zwischen 
Hörnern  und  Trompeten,  und  wie  hat  Brückner  es  Ter* 
standen,  durch  Harmonien,  namentlich  durch  den 'Ge- 
brauch von  Dissonanzen,  diese  Brocken  aus  der  gewöhn- 
lichen Gewerbe-  und  Bedientenmusik  zu  künstlerischer 
Bedeutung  zu  bringen,  aus  ihnen  Bilder  von  packender 
Naturtreue  zu  gestalten!  Die  Muster  aus  Berlioz*  »Re- 
quiem« und  aus  Wagners  »Tristan«  haben  hier  ebenbür- 
tige und  selbständige  Leistungen  erzeugt. 

Neben  dieser  Naturmusik,  aus  den  Jagdsignalen 
gezogen,  verschwindet  der  melodische  Gehalt  des 
Scherzos  bis  auf  ein  Minimum,  das  sich  auf  das  Motiv 

^Hil>J^  t  J}  7   I  J)  "T  t'  p  I  f,Jr  f  r  I  ^=8    mehr   auf 

M'  das    einer 

weicheren      <a.L     — '  ^       ' — ^    .      t  '^m   ■    i    ■ 

Stimmung     ^^'»bJ  bJ   1  J   I  J     1   \  IXlikH   \J    t 

gewidmete  ^p       ^  ?      ^i?        ^ "^^ 

stützt.Wenigstens  wasim  Hauptsatz  des  Scherzos  den  ersten 
Teil  betrifift.  Sein  zweiter  Teil  beginnt  mit  einer  Durchfüh- 
rung der  im  ersten  aufgestellten  Motive,  bei  der  der  Ausdruck 
innrer  tiefrer  Gefühle  vor  der  Jagdinst  den  Vortritt  erhält 
In  einem  noch  schärferen  Gegensatz  zu  der.  Schilde- 
rung des  aufgeregten  l^Taidmannslebens  tritt,  wie  zu  er- 
warten, das  Trio.  Es  klingt  auf  Augenblicke  wie  ein  Tänz- 
chen und  wirkt  auf  Grund  seiner  gemächlichen,  auf  niedere 
Volksschichten  und  ihre  Freuden  weisenden  Hauptmelodie 

juiTTinnjni'  j^i'"i"i  I- 

"       'i     {  >   J  \  i\   J  »  J  t 

O««       Oes  Get  Gea         Ges      Ges  Om^   q«. 

sehr  drollig,  stellenweise  burlesk. 


r-^    787    ♦^ 

Das  Finale  (Mäßig  bewegt^/ (];,  Esdnr)  beginnt 
wie  in  Nebel  und  D&inmropg  mit  einer  Stimmung^  die 
noch  im  Klären  begriffen  ist.  Wir  hören  über  ver- 
worrenem Rauschen  des  Streichorchesters  ernste  Motive: 

M"   .  K--«.     J  -o       ^^  H^^^  ^^^  Klarinette.    Eine 
jMaflgig  bewegt  ^^^72       ^^.j^  werden  sie  durch  Reminis- 


'  %>  '  L—  '  =  '  zenzen  aus  der  Jagdmusik  des 
^"^  ^  Scherzos  vertrieben,  und  erst  nach 
einem  langen,  mächtig  gährenden  crescendo  schließen 
sie  sich  zu  folgendem  Hauptthema: 

des  Satzes  zusammen.  Niemandem  wird  es  entgehen, 
wie  sich  diese  stolze  Weise  wieder  der  feierlichen  Stim- 
mung des  ersten  Satzes  nähert  und  infolgedessen  auch 
niemanden  überraschen,  wenn  das  Hauptthema  dieses 
ersten  Satzes  schon  bald,  hier  im  Finale,  vor  uns  hin- 
iritt.  Es  muß  sich  aber  den  Zulaß  gewissermaßen  er- 
kämpfen und  erzwingen  und  kommt  durch  eine  Krisis 
geschritten,  in  der  drohende  und  freudige  Töne  in  er- 
schreckender Wildheit  zusammentreffen.  Namentlich  eine 
rhythmische  Formel  (Ächtelseztolen)  ist's,  die  darin  so 
erschreckend  wirkt.  Wer  bisher  noch  ungewiß  war,  dem 
muß  durch  sie  klar  werden,  daß  der  Komponist  in  die- 
sem Finale  an  die  Schrecken  des  Waldes,  an  den  Wald 
m  Nacht  und  Sturm,  an  seinen  düstern,  gespenstischen 
Charakter  gedacht  hat.  Dem  Hauptthema  des  ersten 
Satzes  folgt  auf  dem  Fuß  ein  Zitat,  oder  besser  ge- 
sagt ein  Anklang  an  das  Andante  und  seine  charakte- 
ristische Macschbewe-  j 
gung  der  Bässe.  Die  ,  i  '!S— ^  ^  *^>>^ 
Klagemelodie  hat  eine  Tfcriiyr  IT  fjf  fr  1^ 
Umwandlung  erlitten.  ^  P 
Ihr  nach  kommt  so- 
fort eine  freundliche 
Melodie: 

60* 


--♦    788     •^ 

die  als  zweites  Thema. im  Satz  gelten  kann.  Sie  führ l 
ZA  einem  Abschnitt  anmutiger  Tr^nmereien,  die  aus  der 
Gegenwart  in  ferne  Zeiten,  vielleicht  der  Kindheit  eilen,  hin. 
Sie  setzen  sich  schließ-       ,  das  wieder 

lieh  am  das  spieleri-  £)t%  \fL  r^  ^  j  einmal  ans 
sehe,  tändelnde  Motiv  '^  '^'"*— -^  '  '  einer  Be- 
gleitangsstelle  hereinkam,  fest  Als  das  zweite  Thema  zum 
zweiten  Mal  (in  der  Klarinette)  eingesetzt  hat,  kommt  bald 
eine  rauhere  Antwort.  , 

Das    auf   die    vorhin      '*  '       "    ''^ 

erwähnten  Achtelsex-    17 -v 

tolen  gebaute  Thema 

beherrscht  jetzt  auf  einige  Zeit  beängstigend  die  Szene. 
Dann  tritt  aber  das  zweite  Thema  wieder  beruhigend  ein 
und  schließt  den  Teil  des  Finales,  der  ungefähr  der 
Durchfährung  entspricht. 

Das  Finale  seiner  Romantischen  Sinfonie  gehört  im 
allgemeinen  zu  Brückners  schwierigsten  Sinfoniesätzen. 
Die  Themen  sind  nicht  io  einfach  geformt  und  nicht  so 
bestimmt  im  Ausdruck,  wie  er  sie  sonst  gewöhnlich  gibt; 
zum  Teil  erhalten  sie  ihre  Bedeutung  erst  durch  den  erst 
bei  längrer  Vertrautheit  zu  Tage  tretenden  Zusammenhang 
mit  Melodien  aus  dem  ersten  Satz.  So  soll  z.  B.  das  zweite 
so  wichtige  Thema  des  Finale  auf  das  Sextehmotiv  im 
Hauptthema  des  ersten  Satzes  auf  das  geheimnisvolle 
_  _    ^  bezogen  werden.  Besonders 

bii  ^1  j     ^^  <»    1  wird   das  Verständnis  des 
==^=9'°=93=i===^  Satzes  aber  durch  die  große 

Anzahl  der  in  ihr  aufgestellten  Themen  und  Motive  er- 
schwert Diese  Menge  der  Ideen  ist  hier  nicht  ein  Zeichen 
von  Fruchtbarkeit  und  Reichtum,  sondern  sie  ist  die 
Schwäche  der  Komposition,  die  Folge  ungenügender 
Durchdringung  und  Beherrschung  des  Stoffes. 

Alle  diese  Schwierigkeiten  des  Finale  sind  in  seiner 
Reprise  noch  dadurch  wesentlich  gesteigert,  daß  die 
Themen  hier  bis  zur  Unkenntlichkeit  umgebildet  und 
auch  an  ganz  andere  Plätze  gestellt  werden,  als  sie  in 
der  Themengruppe  des  Salzes  inne  hatten.     Auch  die 


789 


Breite  einzelner  Teile  stört.  Nur  in  eingehender  Beschäf- 
tigung' mit  dem  Satz  lernt  man  deshalb  seine  Reprise 
begreifen.  Eiäen  Fingerzeig  bietet  der  Umstand,  daß  das 
oft  erwähnte  zweite  Thema  in  ihr  die  geistige  Ftthmng 
übernimmt.  Sie  hat  bedeutende  sinnliche  Wirkungen: 
eme  der  gewaltigsten  da,  wo  das  umgebildete  Hanptthema 
so  unvermutet  hinter  einem  Trugschlüsse  verschwindet. 
Das  ist  zugleich  ein  Beispiel  für  Brückners  Kunst  der 
schnellen  Stimmungsübergänge.  Vor  seiner  Phantasie 
wechseln  hier  majestätische  Bilder  aus  der  Natur  mit 
wunderbaren,  überirdischen  Erscheinungen.  Vor  ihnen 
wird  seine  Tonsprache  magisch  und  mystisch,  der  Glanz 
des  vollen  Orchesters  macht  der  Leere  Platz,  der  warme 
Tonstrom  einem  Tasten  und  Stammeln  zerstückter  Mo- 
tive. Zugleich  tritt  an  dieser  Stelle  auch  der  Einfluß  sehr 
deutlich  hervor,  den  Wagners  Werke  auf  Brückner  aus« 
zuüben  pflegen.  Hier  hören  wir  das  Verwandlungsmotiv 
aus  dem  »Ring  des  Nibelungen,«,  und  mit  den  Klängen  des 
»Feuerzauber«  geht  seine  Romantische  Sinfonie  zu  Ende. 

Die  fünfte  Sinfonie  Brückners  (Bdur)  ist  ein  freund-  A.  Braekner. 
liebes  Kunstwerk,  das  in  vier  großen,  flott  entworfnen '^i^^«  Sinfonie, 
und  durchgeführten  Bildern  den  uralten  Gegensatz  zwi- 
schen froher  Kraft  und  Bedenklichkeit  behandelt. 

In  der  Einleitung  zum  ersten  Satz  (Adagio,  Bdur, 
^  und  Allegro,  ik)  begegnet  sie  sich  mit  Beethovens 
Bdur-Sinfonie  una  teilt  mit  ihr  die  Dämmerungsstimmung 
und  deren  Entwickelung  um  ein  tastendes  Achtelmotiv. 
Ganz  unversehens  und  sehr  bald  wird  diese  Ruhe  durch 
ein  fif  unterbrochen,  in  dem  das  volle  Orchester  nach- 
drücklichst den  Ges  dur-,  dann  den  B  dur-Dreiklang  into- 
niert, um  beidemale  eine  Ghoralzeile  folgen  zu  lassen. 
Von  da  ab  wird  die  Stimmung  bewegter,  kräftiger  und , 
drängt  hinüber  ins  Allegro.  Wie  aus  dem  Dunkel,  stück- 
weise und  in  der  Harmonie  romantisch  schillernd,  tritt 
aus  ihm  das  Haupthema  mächtig  und  bedrohlich  herrisch 
hervor.  Das  Gegenthema  kommt  mit  einer  Wiederholung 
der  Einleitung  in  der  Fonn  nachdenklichen,  innerlich 
stark  bewegten  Gesanges,  und  fortan  bleibt  der  häufige 


-^    790 

Wechsel  zwischen  ÄUegro  und  Adagio  das  formelle 
Hauptmerkmal  des  Satzes.  Zu  den  beiden  leitenden 
Themen  treten  noch,  zahlreiche  Nebenmotive  antreiben- 
den, z6gemden,  vermittelnden  Charakters,  und  aus  ihnen 
entwickelt  sich  eine  Reihe  bald  ritterlich  kampflustiger, 
bald  heimlicher  und  kirchlich  frommer  Szenen,  die  in 
den  Obergängen,  in  dem  Einerlei  der  Periodisierung  und 
in  der  vorwiegend  bequemen  Arbelt  zum  Teil  Improvi- 
sationen gleichen,  aber  durch  die  den  Themen  eigne 
musikalische  Natnrkraft  und  durch  die  lebensvollen  Har- 
monien, in  die  sie  immer  neu  eingekleidet  werden,  er- 
frischen und  fesseln.  In  einem  von  dem  Eingangsmotiv 
des  Hauptthemas  getragnen  Jubel  endet  der  Satz. 

Ihm  folgt  als  zweiter  ein  Adagio  (DmoU,  4/4),  das 
die  Gegensätze  des  verausgegangnen  Allegro  beide  ge- 
mildert und  in  umgekehrier  Reihenfolge  bringt  An  erster 
Stelle  steht  jetzt  als  Bitte  eine  sehr  einfache  und  rüh- 
rende Melodie,  an  zweiter  eine  Verheißung,  die  sich 
thematisch  sehr  breit  und  reich  entwickelt  und  erst  im 
Verlauf  der  Durchführung  und  da  nur  vorübergehend 
eine  gedrängtere  und  feste  Gestalt  annimmt  Das  Haupt- 
material für  die  Entwickelung  des  Satzes  liefert  der 
dritte  Takt  des  Hauptthemas.  Dem  für  den  ersten  Satz 
charakteristischen  Wechsel  des  Tempos  entspricht  im 
Adagio  die  Kombination  verschiedner  Rhythmen:  Die 
Oboenmelodie  wird  von  Geigenfiguren  im  6/^  Takt  beglei- 
tet, und  an  ihnen  halten  auch  die  Bässe  fest  So  ist 
dem  Satz  auf  einfache  Art  ein  Element  der  Unruhe  ein- 
verleibt, das  selbst  der  friedliche  Ausgang  nicht  vergessen 
macht 

Es  bildet  auch  das  Band  zwischen  Adagio  und  dem 
dritten  Satz,  einem  Scherzo  (Molto  vivace,  DmoU,  '/i)- 
Ja,  eins  unter  dessen  Durchföhrungsmotiven  entpuppt 
sich  als  eine  Umbildung  aus  dem  ersten  Thema  des 
Adagio.  Der  Satz  ist  von  den  ersten  Takten  und  vom 
Anfangsthema  ab  sehr  reich  an  kurzen  M^odien,  die  alle 
aus  dem  Trüben  heraus  wollen  und  den  Ton  der  Freude 
bald  in  volkstümlich  heitrer,  bald  in  trotzig  fmstrer  Form 


-^    791     ^^ 

anschlagen.  Das  übliche  TriOi  das  ziemlich  lange  auf 
sich  warten  läßt,  setzt  zwar- sehr  schlicht  beruhigend  ein, 
aber  das  Hörn  schiebt  ihm  mit  einem  Ges  eine  Harmonie 
unter,  die  andi  seinen  Frieden  trüb  beleuchtet. 

Der  vierte  Satz,  xlas  Finale  der  Sinfonie,  markiert 
den  Charakter  der  Unentschlossenheit  und  des  Schwan- 
kens nochmals  aufs  schärfste  dadurch,  daß  es  im  Ein- 
gang auf  Themen  des  ersten  Satzes  und  des  Adagios 
zurückgreift.  Dann  aber  sammelt  es  alle  Energie  in 
einem  gebieterisch  willenskräftigen  Thema,  das  sofort  in 
Fugeiiform  ausgeführt  wird  und  sich  später  gegen  eine 
Reihe  zarterer  Regungen  majestätisch  durchsetzt.  Bald 
nach  dieser  Stelle  kommt  die  Entscheidung  durch  ein 
leicht  an  die  Oboenmelodie  des  Adagio  anknüpfendes 
kirchlich  feierliches  Thema,  das,  zunächst  ebenfalls  fu- 
giert,  die  Herrschaft  über  die  Partitur  behält,  alles,  zu- 
letzt auch  das  Hauptthema,  unter  seine  Fittiche  nimmt 
und  die  Sinfonie  in  einem  betäubenden  Festesrausch  mit 
flatternden  Fahnen  und  Volksjubel  zu  Ende  führt./ 

Die    sechste  Sinfonie  (Adur)  wird   auch  von  den     A.Bra«kuer, 
begeistertsten    Anhängern   Brückners    in   zweite    Reihe  Sechst©  sinfonki. 
gestellt,    weil    sie    thematisch    ungleich    und   weniger 
glücklich     ist     als     die     Mehrzalil     der     andren.      Im 

ersten  Sa^Z  Maestoso. 

ist  diu  ernste  V  V  II  p  H"    .1    F^^^^ 


pC^ 


Hauptthema: 

vom    besten    sinfonischen    Schlag,    aber    das    zweite: 
^j        ,   .         _  . setzt     zwar 


* 


rTI^'l^'  J  Jl"»  ■*   r   ''T    r    I  ^^3~IT~8chön      an 


versagt  aber 

schon  im  zweiten  Takt.  Auch  im  Adagio  ist  die  Erfindung 
nicht  Brucknerisch.  Origineller  wirkt  das  Scherzo  durch 
seine  dramatische  Erregtheit,  und  das  Finale  rührt  gerade- 
zu durch  den  müden  Ton  seines  Hauptthemas.  Es  ver- 
rät damit  die  Nähe  Von  Brückners  neunter  Sinfonie.  An 
äußrer  Wirkung  fehlt  es  auch  dieser  sechsten  Sinfonie 
nicht,,  au  subtileii  und  überwältigenden  Klangphantasien 
ist  sie  ebenso  reich  als  die  andren; 


— *    792    «^ 

XiBraekBWy  Abgeschlossen  bat  Brückner  seine   markante  sinfo- 

tfeante  Sinfonie,  nische  Arbeit  mit  dem  Torso  einer  neunten  Sinfonie 

(DmoU),  die,  von  Ferdinand  Löwe  aus  den!  Kachlasse 
herausgegeben,  des  vierten  Satzes,  des  Finale  entbehrt 
Sie  begegnet  sich  mit  Beethovens^  Neunter  nicht  bloß  in 
der  Wahl  der  Tonart  und  als  Schlußwort,  sondern  viel- 
fach auch  in  der  Stimmung.  Noch  mehr  ab  ihre  klas- 
sisch monumentale  Vorgängerin  ist  sie  ein  Werk  der 
Schwermut.  Feierlich  düster  setzt  der  erste  Satz 
(Dmoll,  di)  ein,  mit  dem  Beethove-  ji  |  spannend, 
nischen  knisternden  Erwartuugsmotiv  •  1  v  bricht  in 
gewaltige  Klagen  aus,  wühlt  fragend  und  bittend,  stimmt 

dann  eine  schöne,   AH.it  _  .  _     .       ^ir.  .!„  a i 

breite,  helle  Melodie  fr  l  f^jj^]  \'^^)A  \'  f^f  iV  tm 
der  Hoffnung   an :  P^    ?<      '"*'~~^      '^ 

umklammert  sie  bald  sanft,  bald  stürmisch,  sucht  die  Dä- 
monen der  Furcht  durch  geliebte  kirchliche  Weisen  zu  ban- 
nen —  umsonst!  Das  eherne  Gesetz  menschtichen  Loses, 
vom  Haupt- 
thema aus- 
gesprochen: ^  ^ 
tritt  ihm  immer  wieder  bis  zum  Schlüsse  entgegen. 

Der  zweite  Satz  (bewegt,  lebhaft,  DmoU,  'Z«)  ist  das 
vielleicht  grausamste  und  unheimlichste  Scherzo,  das  die 
sinfonische  Literatur  aufzuweisen  hat  Die  Themen  sind, 
auch  im  Trio,  nur  Figuren,  die  im  verminderten  Sept- 
akkord  spukhaft,  fahl,  gehetzt  und  entsetzt  hinauf  und 
hinabjagen;  als  Kern  der  Musik  trägt  die  Erinnerung 
die  mörderisch  dröhnenden  Rhythmen  der  HÖrner,  Trom- 
peten und  Posaunen  heim. 

Der  dritte  Satz  (Adagio,  Edur,  C/j  empfängt  den 
Hörer  mit  dem  Eingangsmotiv  von  Wagners  Faustouver^ 
türe  und  mit  der  Chromatik  und  der  großen  Sehnsucht  der 
Tristanmusik;  verzweifelte  Klagen  wechseln  mit  Grabes- 
ruhe. Nur  auf  kurze  Zeit  lichtet  sichs  etwas  in  einem  schön 
melodischen  Asdur-Satze,  der  als  Alternativ  wiederkehrt 
Wie  in  Brückners  Fmoll-Messe  birgt  sich  auch  in  diesem 
Adagio  viel  Todesfurcht,  doch  klingt  es  versöhnend  aus. 


--^     793     «^ 

Daß  die  deutsche  Masik  in  der  Sinfonie  mit  einer 
Schule  Brückners  zu  rechnen  habe,  wnrde  aus  einer  Ver- 
mutung durch  die  Gmoll-Sinf  onie  von  Gustav  Mahler    6.  M»Uer, 
2ur  Tatsache.    Sie  ist  die  zweite  Sinfonie  des  Kompo-E"^5J**^^**« 
nisten;  seine  erste  (in  Ddur),  die  durch  eine  Aufführung  ^°^' 

auf  dem  Weimarischen  Tonkünstler  feste  des  Allgemeinen 
Deutschen  Musikvereins  (i.  J.  1894)  zuerst  weiter  bekannt 
wurde,  ist  romantisch  pastoralen  Charakters  und  war 
früher  unter  dem  Gesamttitel  »Titan«  mit  folgendem 
Programm  versehen:  >I.  Teil.  Aus  den  Tagen  der  Jugend, 
Tugend-,  Frucht-  und  Dornenstücke.  II.  Teil.  Commedia 
umana.«  Der  erste  Satz  dieses  zweiten  Teils,  der  bei  der 
Weimarischen  Aufföhrung  als  »des  Jägers  Leichenbe- 
gängnisse bezeichnet  war,  ist  in  seiner  Mischung  von 
tollem  Scherz  und  Ernst  der  eigenste,  die  erste  Visiten- 
karte des  ironischen  Mahlers.  Die  CmoU- Sinfonie  ist 
durchaus  ernst  und  pathetisch,  sie  bekennt  sich  zu 
Brückner,  aber  nicht  bloß  in  der  Richtung  der  Ideen, 
sondern  sie  stellt  diese  zum  Teil  mit  Brucknerschen 
Mitteln,  z.  B.  mit  häufiger  Anlehnung  an  Choralweisen, 
dar,  und  sie  steht  drittens,  und  zwar  noch  mehr  als 
Brückners  eigene  Werke,  unter  dem  starken  Einfluß 
Richard  Wagners.  An  keiner  früheren  Sinfonie  kann 
man  so  wie  an  dieser .  Mahlerschen  merken ,  wie  die  ! 
neuere  Musik  immer  mehr  von  dem  Geist  und  auch  von 
der  Sprache  des  Bayreuther  Meisters  aufnimmt.  Seine 
Macht  ist  schon  jetzt  der,  die  Schiller  in  der  ersten  • 
Hälfte  des  19.  Jahrhunderts  auf  die  deutsche  Dichtung 
ausübte,  mindestens  gleich. 

In  mancherlei  Äußerlichkeiten  macht  die  CmoU-Sin- 
fonie  Mahlers  den  Eindruck  eines  außerordentlich  schwie- 
rigen Werks.  Sie  mischt,  scheinbar  ohne  einen  Anhalt 
dafür  zu  geben,  wie  Berlioz'  »Romeo  und  Julie«,  Instru- 
mentalmusik mit  Solo-  und  mit  Chorgesang,  sie  hat 
sechs  Sätze.  Von  allen  diesen  Schwierigkeiten  bleiben 
nur  die,  welche  ihr  unerhörte  Blechmassen  verbrauchen- 
des Orchester  und  die  technische  Natur  des  Werkes  der 
Aufführung  bietet.   Zu  verstehen  ist  sie  ziemlich  einfach, 


794    ♦^ 

wenn  man  nur  darüber  klar  ist,  daß  sie  nicht  eine  Zu- 
sammenstellung von  allgemeinen  Stimmungsbildern  geben 
will,  sondern  daß  sie  zu  jener  ungeheuren  großen  Klasse 
von  Programmsinfonien  gehört,  deren  Komponisten  eine 
Angabe  über  das  Programm  für  unnötig  erachtet  haben. 
Ihr  Inhalt  berührt  sich  einigermaßen  mit  dem  von  Drae- 
sekes  Cmoll-Sinfonie.  Sie  schildert  das  Ende  eines  edlen 
Menschen,  der  einen  schweren  Verlust  nicht  verwinden 

I  kann.    Die  Beziehungen  zu  Draeseke  sind  rein^^zufällig; 

'  wesentlichere  dagegen  bestehen  zwischen  Mahlerß  Kom- 
position und  der  Sinfonie  fantastique  von  Berlioz.  Auch 
Mahler  neigt,  wenn  auch  durch  bessern  Geschmack  ge- 
zügelt  und  gehalten,  ein  wenig  mit  seinem  Programm 
zur  Schauerromantik;  noch  mehr  gleicht  er  ihm  in  dem 
Streben  nach  neuen  Orchesterwirkungen.  Sogar  eine 
Besenrute  nimmt  daran  Teil.  Sie  sind  im  ganzen 
edler  als  die  der  Sinfonie  fantastique  und  beruhen  im 
wesentlichen  auf  einer  Übertragung  der  von  Wagner 
für  den  »Ring  des  Nibelungen«  ersonnenen  Farben  in  den 

I  Konzertsaal.  Mahlers  Cmoll-Sinfonie  bildete  für  ihre  Ent- 

I  stehungszeit  den  Superlativ  dessen,  was  die  neue  Zeit  in 

•  der  Kunst  der  Klänge  und  Klangmischungen  erreicht  und 

•  vor  sich  gebracht  hat.    In  der  Menge  imposanter,  mäch- 
'  tiger  Töne  hat  sie  in  der  früheren  Sinfonieliteratur  nicht 

ihresgleichen.  Sie  ist  aber  auch  ein  durch  hohe  und  edle 
Ideen  hervorragendes  Werk. 

Der  erste  Satz  (Allegro  maestoso,  C/,  CmoU)  beginnt 
mit  Motiven  des  Schwankens  und  der  Aufregung,  des 
empörten  Gemüts,  als  wenn  sich  einer  sträubt,  eine  furcht- 
bare Nachricht  zu  glauben.  Des  weiteren  entrollen  ihre 
Bilder  den  ungeheuren  Schmerz  einer  großen  Seele  und 
Begräbnisszenen.  Die  Phantasie  sucht  sich  dem  Ein- 
druck des  Verlustes  durch  Flucht  in  ferne,  holde  Zeiten 
zu  entwinden.  —  Die  Form,  in  der  dieser  Inhalt  darge- 
stellt wird,  entspricht  in  den  großen  Zügen  dem  Aufbau 
des  Sonatensatzes.  Schwierigkeiten  verursacht  vielleicht 
das  Verständnis  des  ersten  Themas  dadurch^  daß  sein 
Kontrapunkt    als   ein    selbständiger  Ideenteil  vorausge- 


— ^    795    «^ 

schickt  wird.  Das  zweite  Thema  tritt  ungewöhnlich  bald 
ein  und  ist  in  mehrere  Gruppen  jterteilt. 

Der  zweite  Satz  (Andante  con  moto,  ^/^  AsdurJ  zeigt 
den  Helden  des  Tongedichts  bemüht,  sich  in  des  Lebens 
Behagen  und  in  seiner  AUtägtichkeit  wieder  zurecht  zu 
finden.  Erregung  klingt  bafd  leise  durch  diese  Versuche 
durch,  bald  bricht  sie  leidenschaftlich  aus  und  wirft  die- 
selben Töne  der  Verzweiflung  in  das  Bild,  die  im  ersten 
Satz  so  erschütternd  wirkten. 

Der  Hauptsatz  dieses  Andante  hat  ein  Thema,  das 
dem  Walzer  der  Volkmannschen  Fdur-Serenade  wohl  ab- 
sichtlich nachgebildet  ist  Ein  Kontrapunkt  der  Celli 
sucht  die  Tanzweise  zu  heben,  ein  festliegender  Baß  zieht 
sie  ins  Wunderliche  und  Lächerliche. 

Der  dritte  Satz  (ebenfalls  ein  ruhiger  3/4  Takt,  in 
Cmoll)  führt  die  Versuche  vom  Schmerz  loszukommen, 
einen  gewaltsamen  Schritt  weiter.  Um  zu  vergessen, 
verliert  sich  der  Trauernde  ins  Triviale,  begibt  sich 
mit  den  besten  Teilen  seines  Wesens  in  unwürdige 
Gefahren.  Umsonst!  Durch  alle  Lagen,  auch  durch 
die  Stunden  neuer  Hoffnungen,  dringt  der  alte  Schmerz 
wieder  durch.  Die  Wunden  der  Seele  bluten  nur  .hef- 
tiger. 

An  neuen,  überraschenden  Mitteln  der  musikalischen 
Karikatur  durch  Klang  und  Melodik  ist  dieser  Satz  sehr 
reich.  Seine  gebrochene  Schlußstimmung  führt  höchst 
natürlich  hinüber  zum 

Vierten  Satz ,  einem  feierlichen  OTakt  ^in  Des  dur, 
der  ein  Altsolo  einführt  und  ihm  ein  »Urlicht«  betiteltes 
Gedicht  aus  »Des  Knaben  Wunderhorn«  überträgt.  Wer 
dem  zweiten  und  dritten  Satz  mit  dem  richtigen  inner- 
lichen Anteil  gefolgt  ist,  wird  nicht  befremdet  sein,  wenn 
hier  die  sinfonischen  Traditionen  plötzlich  durchbrochen 
werden.  Der  Verlauf  ließ  für  den  Helden  nichts  übrig 
als  die  Sehnsucht  nach  dem  eignen  Tode,  und  diese 
spricht  das  Altsolo  —  für  viele  Zuhörer  vielleicht  über- 
tlüasigerweise  —  ergreifend  schön ,  in  der  Tonspraehe 
alter  Zeilen  aus. 


--*    796    «^ 

Ans  diesem  VerhAitnfs  folgt,  daß  der  zweite,  dritte 
uüd  vierte  Satz  eng  zusammengehören  und  dafi  vielleicht 
ihre  äußere  Trennung  besser  unterblieben  wäre. 

Der  fünfte  Satz,  kurz  gegliedert,  zerrissen,  im 
Tempo  immer  wechselnd,  f&hrt  die  irreleitende  Oberschrift': 
>lm  Tempo -des  Scherzos«,  die  wohl  nur  für  den  ersten, 
entsetzlich  wild  hereinfahrenden  Abschnitt  (S/g  Takt)  gelten 
soll.  Jedenfalls  darf  niemand  den  Charakter  des  gewöhn- 
lichen Scherzos  erwarten.  Der  Komponist  schildert  hier 
ein  Gemüt  unter  den  Eindrücken,  die  der  Entschluß  zum 
Sterben  hervorruft.  Er  gibt  uns  Choräle  und  fromme, 
feierliche  Gedanken  der  Ergebung,  des  Hoffens  auf  Gott 
und  Jenseits,  der  Liebenswürdigkeit  im  schrofifen  Wechsel 
mit  dem  Ausdruck  der  Klage,  des  Entsetzens,  des  Todes- 
grauens mit  phantastischen  Bildern  geistiger  Umnachtung. 
Sie  treten  ganz  besonders  hervor  in  einem  kurzen  Ab- 
schnitt, den  Hörner  —  die  Stelle  hat  die  Oberschrift: 
»Der  Rufer  in  der  Wüste«  —  mit  Signalen  einleiten.  .In 
der  Mitte  der  Komposition  regt  sich  in  einem  kräftigen 
Marschsatz  (F  dur)  noch  einmal  die  Lebenslust  Als  alles 
zu  Ende  ist  und  Stille  eintritt,  spielen  Mittelstimmen  leise 
auf  das  zweite  Thema  des  ersten  Satzes  an. 

Der  Schlußsatz  knüpft  ebenfalls  an  die  sanften  be- 
freienden Ideen  dieses  Themas  in  seinem  Hauptinhalt  an. 
Den  Anfang  macht  ein  romantisches  Konzert  zwischen 
Trompeten,  Hörnern,  die  aus  der  Feme  spielen,  mit  der 
Soloflöte  und  der  großen  Trommel  des  Orchesters.  Es 
hat  wohl  zu  der  Oberschrift  des  Satzes  »Der  große  Appell« 
Veranlassung  gegeben  und  will  das  Auferstehen  der  Natur 
im  Frühling  zugleich  mit  der  Auferstehung  der  Toten  vor 
die  Phantasie  führen,  Bilder  eines  Michelangelo  und  eines 
modernen  Idyllenmalers  in  einen  Rahmen  drängen.  Bald 
darnach  tritt  der  Gesangchor  ein  und  singt:  »Auferstehn, 
ja  auferstehn«.  Der  zwischen  Solisten  und  Chor  verteilte 
Text  erklärt  auch  das  weitere. 

Wenn  sich  diese  früher  lange  ignorierte  C  moU-Sin- 
fonie  Mahlers  mittlerweile  in  den  Konzertsälen  (als  »Auf- 
erstehungssinfonie«)  eingebürgert  hat,  und  wenn  aucli 


.^    797    4>-- 

seine  weiteren  Sinfonien  bis  zur  achten  -^  die  nettnie  ist 
augenblicklich  noch  nicht  yeröffentUcht  —  in  der  Statistik 
der  AuüQhmngen  in  der  vordersten  Reihe  der  Novitäten 
stehen,  so  ist  das  'die  Folge  der  raschen  und  kaum  zu 
ahnenden  Entwicklung,  welche  der  Komponist  nach  jenem  . 
Werke  genommen  hat.  Er  ist  sehr  bald  ein  Krösus  der 
Orchestertechnik  und  darüber  hinaus  ein  Sinfoniker  von 
ganz  eigener  geistiger  Bedeutung  geworden.  Es  wird 
allerdings  noch  einige  Zeit  kosten,  bis  seine  Sinfonien 
nach  dieser  letzten  Seite  hin  voll  verstanden  werden,  und 
eine  unbedingt  beglückende,  zur  Liebe  zwingende  Wirkung 
wird  ihnen  für  immer  versagt  bleiben.  Aber  als  Seelen- 
bekenntnis, als  eine  für  viele  sprechende  Stimme  aus  der 
Zeit  des  Komponisten,  haben  sie  schon  jetzt  ihren  ge- 
schichtlichen Wert. 

Mahler  begnügt  sich  nicht  damit,  erlebte  oder  ge- 
träumte Freuden  und  Leiden  in  Tonbilder  zu  fassen,  nicht 
mit  der  Wiedergabe  von  seelischen  und  sinnlichen  Ein- 
drücken, die  der  Aufnahme  und  Verwertung  in  jedermanns 
Phantasie  und  Gemüt  sicher  sind,  sondern  er  will  vor 
allem  eine  Weltanschauung  predigen.   Das  tun  die  großen 
Meister  auch,   aber  implizite  und  unwillkürlich ; .  Mahler  | 
dagegen  geht  von  der  bestimmten  Absicht  aus,  seine  An-  ! 
schauungen  vom  Leben  und  vom  Menschentum,  vom  \ 
Wert  irdischen  Treibens  und  Wähnens  zum  Ausdruck  zu  ; 
bringen.    Er  ist  ein  sinfonierender  Philosoph  und  als  , 
solcher,  weit  über  Wagner  hinaus,  Vertreter  jenes  mo- 
dernen, unerbittlichen  Pessimismus,  als  dessen  literarische 
Haupiapostel  Schopenhauer  und  Nietzsche  allgemein  be- 
kannt sind.    Von  letztevem  unterscheidet  ihn  noch  ein 
starker   Rest  von  Humanität,   der  Glaube   an   die   be» 
seligende  Macht  wahrer  Liebe,  an  den  Trost  und  die  auf- 
richtende Kraft  festen  Wollens  und  Ringens.    Aber  die  , 
kleinen  Ergötzlichkeiten  der  Menschheit,  ihre  Menuetts 
und  Scherzos,  auch  ihre  frommen  und  kirchlichen  Siche- 
rungsmittel haßt  er  wie  Einer  und  geht  in  ihrer  Ver- 
spottung gelegentlich  bis  zu  einem  Punkt,  der  die  Krimi-  ' 
nalität  streift 


-^    798    ^j— 

0aTiiit  erledigt   sich  einfach   die   oft   aafgeworfene 
I  Frage:  warum  Mahler  seinen  Sinfonien  keine  Prograsüae 
\  beigegeben  habe,  und  damit  erklärt  sich  auch  die  Menge 
/  oft  abstoßender  parodistischer  Züge,  *  die  in  den  Mahler« 
)  sehen  Sinfonien  anch  dem  Ahnungslosesten  auffallen  und 
1  die  so  viele  seiner  Zuhörer  zur  Zeit  noch  verwirren. 
Mahler  gehört  zu  den  im  tiefsten  Grunde  unglücklichen 
Naturen,  an  denen  die  Geschichte  der' Künstler  und  der 
hervorragenden  Geister  nicht  eben  arm  ist;  seine  Sin- 
fonien bezeugen  aber  unabweislich,  daß  er  auch  zu  jenen 
edlen  Naturen  zu  zählen  ist,  die  in  der  Resignation  ihren 
Halt  gefunden  haben. 

Rein  musikalisch  imponiert  Mahler  am  stärksten 
I  durch  die  Beherrschung  des  Kolorits.  Diese  von  den 
I  Neueren  nahezu  zur  Hauptsache  gemachte  Nebenkunst 
.'  meistert  er  nicht  bloß  in  ihren  bekannten  Wirkungen 
und  Wundern  und  in  der  ganzen  Skala  vom  Subtilsten 
bis  zum  Gewaltigsten  vollständig  virtuos,  sondern  er  liebt 
es  hier  auch,'  vom  Glück  bald  getragen,  bald  verlassen, 
stärk  zu  experimentieren.  Unter  den  von  ihm  in  der 
Sinfonie  neu  versuchten  Instrumenten  fehlen  nur  noch 
die  Hupe  und  die  Dampfpfeife;  Orgelton  und  Glocken* 
klang,  beide  schon  früher  versucht,  werden  ihm  vielleicht 
das  bleibende  Bürgerrecht  in  der  Sinfonie  zu  danken 
haben.  Auch  als  Kontrapunktiker  leistet  Mahler  Außer- 
gewöhnliches. Regelrechten  Fugen  und  Variationen  ist 
er  abhold,  gelegentlichen  kleinen  Kanons  geneigt,  die 
Hauptkraft  aber  wendet  er  der  Umbildung  von  lliemen 
und  Motiven,  der  Kombination  getrennter  Ideen  und 
der  reichen  Einkleidung  der  Hauptgedanken  durch  selb- 
ständige, in  interessanten,  auch  harten  Dissonanzen  schil- 
lernde Begleitungsmotive  zu.  Im  letzteren  Punkt  folgt 
er  dem  zuerst  von  Wagner  gegebenen  Muster  mft  einem 
gewissen  Überschwang;  das  Mahlersohe  Orchester  fesselt 
durch  innere  Lebendigkeit,  zuweilen  aber  ist  es  überladen. 
Als  Erfinder  ist  Mahler  vielseitig  und  immer  chiirakter- 
voll,  aber  nicht  eigentiich  universell  und  originell;  nament^ 
lieh   da,  wo  die  Themen  Größe  und   Aufschwung  aus- 


799 


drücken  sollen,  wo  ihr  Wesen  auf  der  Tagesseite  mensch« 
lihen  Dlchieus  und  Fühleus  Hegt,  bleibt  er  nicht  selten 
trocken,  kommt  über  Marschweisen  nicht  hinaus  and 
verfügt  nur  über  eine  spärliche  Zahl  rhythmischer  Und 
melodischer  Grundformen. 

Die  dritte  Sinfonie  Mahlers  (Dmoll)  verläuft  in  zwei     e.  HaUer, 
Abteilungen,  von  denen  die  erste  aus  dem  ersten  Satz,  Dritte  Sinfonie 
die  zweite  ans  den   folgenden   fünf  Nummern  besteht. 
Jene  bietet  das  Bild  einer  großartigen  Kraftentfaltnng, 
diese  stellt  ihm  Tändeleien  entgegen,  über  die  erst  am 
Ende  wieder  ein  starker  und  ernster  Geist  siegt. 

Der  erste  Satz  (Kräftig,  entschieden,  D moB,  V^  ^^^ 
ginnt  mit  folgendem  Hauptthema: 


Seine  ersten  Takte  stellen  mit  dem  Zitat  aus  dem  be- 
kannten Studentenlied  »Ich  hab^  mich  ergeben  usw.«  eine 
frohgemute,  patriotische  Stimmung  fest,  die  aber  be* 
reits  in  der  zweiten  Hälfte  in  Unruhe  und  ins  Schwan- 
ken gerät.  Mahler  läßt  die  einfache  Melodie  von  acht 
Hörnern  im  unisono  blasen.  Schubert  kommt  bei  einem 
ähnlichen  Zweck  im  Anfang  seiner  großen  Cdur-Sin- 
fonie  allerdings  sehr  gut  mit  zwei  aus,  trotzdem  ist  das 
Mahlersche  Massenaufgebot  keine  bloße  Marotte  oder 
Äußerlichkeit,  sondern  der  Komponist  braucht  eine 
Flotte  mit  tausend  Masten,  damit  der  schnell  eintretende 
Schiffbruch  um  so  kläglicher  wirkt.  Schon  bei  der 
letzten  Note  des  Themas  weicht  der  glänzende  Klang 
einem  doppelten  und  dreifachen  Piano,  die  Stimmung 
ist  gebrochen,  die  *>ti  >  T -^  \  ■-,  1  F^  ^^®  klagen 
Bässe  fragen  leise:  -^ ^  ■     -JJ.^'  Jj'  '^--^  laut  und  wild: 

-? •   '*'    iT    P    r  o^^o-n    ^^^    ^*®   Trompc- 

r     '     I  T    I      '\    te   gibt    mit  grel- 
Jjy  ler  Dissonanz    in: 

einer  Verzweiflung,  einem 

aus 
lange  kein 


'h  nütfCtfl 


ifl    i      ^llil  T      1        I        ®*°®^ Verzweiflung,  emei 

"^  Btr  ^"^  I    I  JLJjil    I  M    Unfrieden  Ausdruck,  ai 

'  «^     f      ^^^^^^^s>^  T    dem  sich  sehr  lanee  kei 


1^ 


.-^    800    4^- 

Ausweg  bieten  will.  Es  braucht  nach  jenem  Trom|>etensehrei 
76  Takte  des  Suchens  und  Versuchens  mit  neuen,  und  alten 
Motiven,  in  den  Hörnern  zumal,  bis  sich  die  erschreckten 
Geister  wie  im  Schlummer,  den  nur  eine  einsame  Pauke 
leise  durchklingt,  be>  q  ^  ^^  i,j  ^J 
ruhigen.  In  Bruckner4Bp^  f  i  \  j  n 
scher  Art  folgt  jetzt  mit^ 
ein  Choral,  der  wie  aus  der  Höhe  erklingt  und  von  der 
Oboe  mit  pastoralen  Motiven  begrüJBt  und  begleitet  wird. 
Mit  ihm  beginnt  die  Gruppe  des  zweiten  Themas,  die  im 
Gegensatz  zu  dem  heroischen  Anlauf,  mit  dem  das  erste 
einsetzte,  auf  eine  ergebungsvolle  Stimmung  hinlenkt 
Der  Weg  dahin  ist  aber  nicht  leicht;  zunächst,  ehe  der 
Vs  Takt  einsetzt,  kommt  eine  Stelle,  wo  aus  der  Schwer- 
mut volle  Gebrochenheit  geworden  ist,  wo  die  Musik 
allein  mittelst  des  Schlagzeugs  gespenstische  und  un- 
heimliche Lebenszeichen  gibt.  Die  Rolle  des  Aufhellens 
und  Aufmunterns  übernimmt  da  das  Osterinstrument, 
die  Posaune,  und  ruft  in  langen,  energischen  Rezitativen 
zum  Choral  zurück,  der  zuerst  aus  den  tiefen  Instrumen- 
ten in  geisterhafter  Färbung  ertönt,  dann  aber  in  Flöten 
und  Violinen  aufsteigt.  Daß  ihm  aber  die  Herrschaft 
noch  lange  nicht  sicher  ist,  sagt  die  plötzliche  Wieder- 
kehr der  Trompetendissonanz,  es  sagts  auch  der  verhüllte 
Klang,  in  dem  er  intoniert  wird,  und  drittens  der  selt- 
same Abschluß  der  ganzen  Themengruppe  in  einen  un- 
vermittelten Übergang  nach  Cdur,  mit  einem  schrillen 
Einsatz  der  Klarinetten.  Dieses  Klarinettensignal  bringt 
die  Wendung  im  Satz,  es  kündet  einen  Oberfall:  neuste 
Feinde  sind  in  das  von  Parteiungen  verwirrte  Land  ein- 
gebrochen. Der  Warnung,  dem  Hilferuf  wird  in  der  nun 
folgenden  Durchführung  entsprochen,  die  uns  in  einem 
breiten  und  bunten  Bild  den  Heldenmut  und  die  Vater- 
landsliebe am  Werke  zeigt  Formell  wird  die  Schilderttng 
von  einem  feurigen  Marsch  getragen,  der  von  Cdur  aus 
die  verschiedensten  Tonarten  durchläuft  und  sich  in  er- 
staunlicher Wandlungsfähigkeit  allen  Phasen  eines  Kriegs- 
ganges und  seiner  Entscheidungskämpfe  anpaßt   Selbst- 


— ♦    801     «^ 

I 

verständlich  kommt  hier  der  Anfang  des  Häuptthemas 
zu  seiner  Geltung,  es  lenkt  und  leitet  die  ganze  Entwick- 
lung des  großartigen  Tongemäldes,  hier  herrisch  und  an- 
feuernd, dort  in  wunderschönen,  warmen,  edlen,  elegischen 
Umbildungen,  zum  Schluß  nach  vielen  kritischen  Augen- 
blicken und  nach  vielen  Wehrufen  triumphierend.  Der 
ganze  Durchführungsteil,  der  ungefähr  die  Hälfte  des 
ersten  Satzes  einnimmt,  ist  ein  glänzendes  Zeugnis  des 
Könnens  Mahlers,  seiner  kombinatorischen  Begabung, 
aber  auch  der  Macht  seiner  Phantasie  und  seines  Ge- 
fühls. Der  Marsch  verschwindet  schließlich  wie  ein  Stück 
Spuk,  und  es  beginnt  die  Reprise.  Sie  unterscheidet 
sich  —  von  den  hergebrachten  Modulationsänderungen 
abgesehen  —  durchaus  logisch  von  der  Themengruppe 
dadurch,  daß  sie  die  d6m  Hauptthema  folgende  Partie 
des  Zweifeins,  Schwankens  und  der  Unentschlossenheit 
überschlägt.  Der  Marsch  schließt  den  Satz  und  zwar 
mit  höchster  Kraft  in  Fdur. 

Der  zweite  Satz  (Tempo  di  Menuetto,  sehr  mäßig, 
A  dur,  3/4)  zeigt  uns  den  Komponisten,  ähnlich  wie  der 
Walzer  in  der  Cmoll-Sinfonie,  als  ein  ausgezeichnetes 
Snitentalent,  aber  eigentümlicherweise  als  eines,  das 
sich  auf  diesem  heimischen  Boden  nicht  wohlfühlt.  Das 
lassen  im  Hauptsatze  schon  verschiedene  Abschweifungen, 
noch  mehr  läßt  es  im  Alternativ  der  unstete  Wechsel  von 
Tempo )  Takt  und  Motivmaterial  merken.  Stellenweise 
spricht  sich  der  Unwille,  den  der  Komponist  gegen  das  sinfo- 
nische Herkommen  hegt,  in  einer  gesuchten  Schalheit  aus. 

Der  dritte  Satz  (Comodo,  Scherzando,  Cmoll,  ^4^ 
zeigt  uns  Mahler  noch  entschiedener  auf  dem  Weg 
zu  einem  Offenbach  der  Sinfonie.  Wie  schon  das 
erste  Thema  jPlK  1:  T  T  f  Tf  1  r  r  »  •  *  trivial  sein  will, 
(der  Oboe):  ^^''*  '-'  *  ^  iU  F  ^^'^^  so  geht  die  Er- 
iindung  durchweg  auf  eine  grimmige  Verspottung  des 
ganzen  Genres  aus.  Für  den  Zuhörer  bleibt  viel  Witz 
im  einzelnen  zu  genießen,  am  Schluß  kommt  sogar  mit 
dem  Konzert  zweier  Posthörner  eine  idyllische  Episode, 
um  deren  Poesie  an  dieser  Stelle  es  eigentlich  schade  ist. 

KretcNchmar,  Führer.    T,  t.  51 


— ♦    802    #^ 

Der  Tierte  Satz  (Misterioso,  sehr  laagsam,  Ddnr, 
s/t)  knüpft  in  der  kurzen  Emleitong  an  die  Yeriegenheits- 
rtelle  am  Schlosse  des  Häuptthemas  Tom  ersten  Satz  an 
und  bringt  dann  Aber  Worte  yon  Nietzsche  ein  Altaolo, 
das  an  eine  getragene,  halb  tiefsinnige  Melodie  einige 
seltsame,  altTlterische  Schnörkel  kn&pft,  so  daß  man 
nicht  recht  weiß,  ob  man  das  StQckchen  für  Bmst  oder 
Scherz  rechnen  soll. 

Beim  ffinften  Satz  (Lustig,  Fdar,  V4)  besteht  da* 
gegen  gar  kein  Zweifel,  daß  Mahler  parodieren  will.  Der 
Knabenchor,  der  uns  hier  von  einer  Begegnung  erzfthli, 
die  zwischen  Jesus  und  Petrus  im  Himmel  stattfindet, 
tot  dies  in  einem  so  kecken,  unwürdigen  Ton,  daß  es 
nicht  noch  des  Gestammels  auf  »bamm,  bimmc  bedurfte, 
um  über  die  gradezu  frech  antikirchliche  Tendenz  des 
Satzes  aufzuklären.  Hier  hört  der  Spaß  auf^  und  en  kommt 
an  Mahler  ein  peinliches  Stflck  Shylock  zum  Vorschein. 
*  Der  sechste  und  letzte  Satz  (Langsam,  Ddur,  C) 
gelangt  von  einem  Anfang,  der  die  Stimmung  in  etwas 
konventionellen  Melodien  zur  Ruhe  sammelt,  über  Strecken 
leidenschaftlicher  Erregung  zu  einem  Frieden  in  Kraft  und 
Glanz,  mit  Themen  und  Motiven,  die  an  schönste  Stellen 
des  ersten  Satzes  anknüpfen  und  damit  die  Sinfonie  zu 
einem  versöhnenden,  harmonischen  Abschluß  bringen. 
O.HftkUr,.-'  Das  Äußerste,  was  in  sinfonischer  Form  an  Parodie, 
Viert«  SinfonU  an  Hohn  und  Spott  möglich  scheint,  bietet  Mahlers 
vierte  Sinfonie  (Gdur).  Ihr  Objekt  ist  der  gebildete 
Philister,  dessen  Wesen  und  Treiben  der  Komponist  in 
vier  Bildern  vorführt. 

Der  erste  Satz  (Bedllchtig,  Gdur,  Vi)  ^^i^ 
gleich  mit  einer  Karikatur  an,  nämlich  harmonisch 
verkehrt,   statt   in   Gdur  in   Hmoll  und   mit   Motiven 

lichkeit:       ^       PWoiin  '  >0b.   ^  «to, 

die     bald    von      0 1  _  .f<rT">-       _ 1  .^jT^ 

einer      billigen  h)  A"!  f  EJ  II   f  ^i(f'rrpff  MPf  T    te. 
Sentimentalität:      ^io\.p^>=:z  pp^     ^^ 


--^    803    4^ 

abgelöst    wird.      Bereits     mit    dem    zweiten    Thema: 

^)  j*»^"  jlJ  J  l  JWJJjjUi  •«<»'  Ineiersche  !toch' 
Celli  ^—^  -^— ^  ^^==*"         masch  von  täp- 

pischer Lustigkeit  und  erkünstelter  Empfindsamkeit  bei  der 
▼oHständigen  Lächerlichkeit  angelangt.  Mahler  gewinnt 
aber  seinen  Themen  immer  neue  lustige  Seiten  ab,  teils 
durch  witzige  Instrumentierung,  teils  durch  Widersprüche 
in  der  Gedanken entwickelung:  .da  wird  der  phrasenhafte 
Doppelschlag  (von  b)  plötzlich  von  3  Oboen  unisono 
und  im  fff  herausgestoßen,  die  Kontrabässe  und  Kontra- 
fagotte stöhnen  ihn  inbrünstigst  in  die  Leere,  andre  In- 
strumente wieder  konzertieren  um  ihn.  In  der  Satzfüh- 
rung werden  nichtige  Motive  plötzlich  mit  Kantilenen 
kontrapunktiert,  die  sich  wohltuend  innig  anlassen,  aber 
schnell  wie  Seifenblasen  zerplatzen,  oder  es  spannen 
uns  große  Steigerungen  und  münden  in  Trivialitäten  aus. 
Die  Hauptstelle  dieser  Art  kommt  in  der  Durchführung, 

wo  aus  einem  kurzen, -p      l        p        m  i  -  ^C  T  r- 
aber   pompösen  Orgel-^p  J^  I  p  I   J"    |^  I  Cir^J  ^     *^' 
punkt  der  Gassenhauer:       *^ 

entspringt.  Trotz  ihrer  Länge  bleibt  die  Komposition  bis 
zum  Ende  amüsant. 

Der  folgende,  zweite  Satz  (Ohne  Hast,  Cmoll,  s/g) 
nimmt  sich  die  Karikatur  philisterhafter  Gemütlichkeit 
zum  Ziel,  ihr  Merkmal  ist  ungeschickte  Beweglichkeit 
im  engen  Kreise.    Das  will  das  Thema  des  Hauptsatzes 

das  nach  ei- 

_    ner  kurzen 

»V-^^  p-=:jr    P  =-  Homeinlei- 

tang  von  einer  falsch  gestimmten  Solovioline  gebracht 
wird,  mit  seiner  vertrackten  Melodik  sagen.  Harmonie 
und  Kontrapunkte  greifen  in  gleichem  Charakter  ein,  und 
ihm  entsprechen  endlich  auch  die  zahlreichen  reinen  und 
variierten  Wiederholungen,  die  das  Thema  erfährt,  und  die 
umständlichen  Anläufe,  die  zu  ihrem  Eintritt  unternommen 
werden.  An  einer  Stelle,  bei  der  plötzlichen  Wendung  aus 
C  moll  in  G  dur,  hört  man  in  den  Flöten  unverkennbares 

61* 


^ 


804 


Gelächter.  Das  herkömmliche  Trio  des  Satzes  steht  in 
D  dur,  ist  sehr  kurz  and  hat  in  den  Violinen  eine  ein- 
fache anheimelnde  Gesangmelodie,  deren  Wirkung  aber 
durch  eine  geschwätzige  Klarinette  absichtlich  verdor- 
ben wird. 

Im  d  r  i  t  te  n  Satz  (Ruhevoll,  G  dur,  C)  nimmt  der  Kompo* 

nist  anfangs  eineMaske  vor  und  empfängt  uns  miteiner  nicht 

gerade  neuen,  aber  sehr  bewährten  Weise  elegischer  Natur: 

^^^-^■^     xtn"  ±  ^t    .  aus  der  sich  eine 

5g(r_| M       M        AI  I    J    I  rJ!  Art   friedevollen 

ccüi  pp  •^  ^-^    etc.  Abendliedes  ent- 

wickelt. Den  weitren  Verlauf  nimmt  aber  wieder  der  Schalk 
in  die  Hand.  Es  beginnen  Variationen  über  das  Thema,  und 
es  ist  auf  eine  Verspottung  der  landläufigen  Variationen- 
form abgesehen,  die  durch  reiche  Benutzung  abgebrauchter 
oder  übertreibender  und  lächerlicher  Wendungen,  durch 
unsinnig  schroffen  Tempowechsel,  durch  unmotivierte 
Entstellungen  des  Themas  von  Abschnitt  zu  Abschnitt 
deutlicher  wird.  Auch  der  ganz  unbestimmte,  fast  hüif- 
lose  Schluß  des  Satzes  auf  der  Dominante  gehört  mit  ins 
Bereich  der  Karikatur. 

Bis  hierher  waren  die  von  Mahier  aus  dem  Seelen- 
leben des  Philisters  entnommenen  Parodien  alle  drollig, 
und  auch  die  groteskeren  trug  ein  noch  immer  liebens- 
würdiger Humor.  Es  ist  darum  bedauerlich,  daß  er  mit 
.dem  schließenden  vierten  Satz  (Sehr  langsam,  G  dur,  V4\ 
der  wieder  ein  Gesangsatz  (für  einen  Solosopran)  ist,  die 
Wirkung  des  heitren  Werkes  aufs  Spiel  setzt  Der  aus 
»des  Knaben  Wunderhorn«  entnommene  Text  dieses 
Schlußsatzes  gehört  zu  den  mehreren  der  Sammlung,  in 
denen  die  Naivität  sich  der  Lächerlichkeit  nähert.  Mahler 
gibt  ihm  folgende  Melodie: 


Wir  grüßen  die    himm 


1  i  .sehen  Freiideii,dnijii 

wendet  ihn  also  äugen- 
ische  mei.dcn     scheinHch  ins  Kindische. 


_^    805    «— 

Daß  er  damit  nur  den  fromm  tuenden  Philister,  nicht 
die  Frömmigkeit  und  den  Paradiesesglauben  überhaupt 
verspotten  will,  ist  an  und  für  sich  klar  und  wird  noch 
dadurch  bestätigt,  daß  die  Nachspiele  der  Verse  aus  dem 
t&ppischen,  leitenden  Philistermotiv  gebildet  sind,  mit  dem 
die  Sinfonie  in  ihrem  ersten  Takte  einsetzte.  Aber  es 
ist  doch  fraglich,  ob  dieser  Unterschied  überall  verstanden 
und  anerkannt  wird,  und  es  bleibt  deshalb  kaum  viel 
dagegen  einzuwenden,  wenn  vorsichtige  Dirigenten  auf 
diesen  Schlußsatz  verzichten. 

Den  Höhepunkt  Mahlerscher  Kunst  bildet .  seine  ti.  MaUer, 
fünfte  Sinfonie,  die  in  Cismoll  beginnt  und  in  D  dur ^önfio Sinfonie 
endet.  Ein  durchaus  ernstes  Werk  und  frei  von  den 
parodistischen  Absichten  ihrer  Vorgängerinnen,  führt  sie 
in  fünf  Sätzen  das  Bild  einer  trauernden  Seele  vorüber, 
die  sich  aus  Schmerz  und  Verzweiflung  heraus  wieder 
ins  Leben  zu  finden  sucht. 

Der  erste  Satz  (Im  gemessnen  Schritt,  Cismoll,  ^/j], 
der  in  der  Form  eines  Trauermarsches  gehalten  ist,  wech« 
seit  zwischen  wilder  Erregung  und  einer  mit  den  Tränen 
kämpfenden  Müdigkeit,  die  oft  genug  der  vollen  Gebrochen- 
heit nahe  ist.  Erstre  wird  von  den  punktierten  Rhythmen 
eines  Themas  getragen,  mit  dem  die  Trompete  den  Säte 
beginnt: 


jjTj"'jijij  ui^j> 


^  \y        letztre  von   folgender  Geigenmelodie  i 


Mit  den  Wiederholungen  und  Verwandlungen  dieser  bei- 
den   Themen  schildert   der  Komponist  in  verschiediier 


806 


Weise  den  Übergang  vom  Aofrulir  zur  Ruhe,  von  der 
Stille  zum  Tumult  der  Gefühle.  Schon  scheint  in  die 
Seele  das  Gleichgewicht  zurückzukehren,  da  beginnt  in 
allen  Baßinstrumenten  Glockengel&ute  (B  F),  und  anfis 
neue  hat  die  leidenschaftliche  Fassungslosigkeit  die  Ober- 
hand und  behält  sie  trotz  der  schön  zusprechenden  Trost« 
melodien,  denen  wir  u.  a.  in 

,i>c ..  „_  ^ . 

etc. 


molto  erme.  J^ 


<f 


und  in 


begegnen,  bis  ans  Ende  des  Satzes.  Erst  da  fließt  die 
Klage  weich  und  rührend  und  leise  stirbt  die  Musik,  nicht 
ohne  bis  zum  letzten  Takt  mit  unerwarteten  Wendungen 
zu  überraschen.  Eine  solche  ist  das  A  dnr  bei  den  letzten 
Intonationen  des  Triolensignals  mitten  zwischen  Fismoll 
und  CismolL 

Der  zweite  Satz  (Stürmisch  bewegt,  AmoU,  ^)  ist 
eine  im  Charakter  gesteigerte  Variante  des  ersten.  Der 
Schmerz  nähert  sich  hier  mit  energisch  trotzigen  Achtel- 
gängen und  heftig  rhythmisierten  Motiven  der  Wut; 
Klage  und  Trost  finden  im  Gegensatz  dazu  schOne, 
warme,  herzliche  TOne  der  Innigkeit  Eine  Hauptrolle 
spielt  im  Beschwichtigungsdienst  das  Cello.  Es  gießt 
zuerst   mit  einer  ernsten,   sanften  Melodie  in  Fmoll 

I—  _«"^^'^T>i      n      ^^  *^^  ^^^  Brandung, 
yiy  J«  [fl         Ir    V\x\  ^  als  die  Desperation  wie- 

^  der  wild  aufochreit,  er- 

hebt es  mit  einem  nur  von  leisem  Paukenwirbel  be- 
gleiteten Monolog  dagegen  einen  Einspruch,  der  die  eben 
zitierte  schöne  Melodie  an  die  Spitze  und  das  empörte 
Gemüt  etwas  zur  Ruhe  bringt  Unter  den  Episoden, 
welche  zu  dieser  Wendung  führen,  ist  namentlich  ein 
Kanon  zwischen  den  Holzbläsern  und  den  Cellis  her- 
vorzuheben,  der   aufrichtend   folgendermaßen   anhebt: 


-^    807    ^^ 

a±r"^  3  ^  ,    j^  ♦  Das  Nonen- 

_->L-",  .  =^  r  r  r    r  \        — *^"   mit 

^  ~"  dem     diese 

Melodie  einsetzt,  ist  vom  Anfang  des  Satzes  an  eine 
Hauptstimme  für  den  fortnagenden  Seelenschmerz  und 
hat  das  letzte  Wort  im  Satze,  der  mit  einem  dumpfen 
Paukenschlag  ausklingt 

Wer  die  Entwickelnng  und  das  Gesamtergebnis  dieses 
zweiten  Satzes  nachzufühlen  vermocht  hat,  wird  der 
Lustigkeit,  mit  der  der  dritte  Satz  (Scherzo,  Ddur,  Vi) 

Themas:      Höpimr/  ^^  -r         JjT  eto. 

anhebt,  nicht  trauen,  und  tatsächlich  nimmt  sie  schon  bald 
einen  gedrückten  Charakter  an,  der  in  dem  neuen  Thema 

9  $ft    ^1  flt>  "lir  iit^^'^^nn  ■ ..  •         I    ■  i.  einem  Milch- 

9  "  ti^^  W^tX^^'^^  ^^^bruder      der 
y     n-ccULJ     -«=1         jjp  «tc- Hauptmelodie 

des  zweiten  Satzes  der  vierten  Sinfonie,  seinen  deutlich- 
sten Ausdruck  findet  In  dieser  Richtung  entwickelt  sich 
die  Stimmung  weiter,  der  heitre  Ton  wird  nur  mit  Un- 
behagen festgehalten,  es  kommen  Momente  des  Er- 
schreckens und  der  Wildheit,  aus  denen  plötzliches  Be- 
sinnen zu  einer  ganz  ähnlichen  ärmlichen  Fröhlichkeit 
überleitet,  wie  sie  jedermann  aus  dem  Danse  macabre  von 
St.  Saöns  kennt.  Zum  Schluß  wird  sie  gewaltsam  zu 
einer  erkünstelten  Ausgelassenheit  aufgepeitsclit. 

Einen  bessren  JVeg  zur  Heilung  des  tief  getrolTnen 
Gemütes  schlägt  der  vierte  Satz  (Adagietto,  Fdur,  Vi) 
ein,  indem  er  sich  der  Erinnerung  an  den  geliebten  Toten 
hingibt  In  edlen  Melodien  lebt  sein  Bild  auf,  es  liegt  aber 
im  Charakter  des  Satzes,  daß  sie  in  etwas  unruhiger  Be- 
leuchtung gehalten  sind. 

Im  fünften  und  letzten  Satz  (Rondo  Finale,  AUegro, 
Ddur,  (^)  empfangen  uns  pastorale  Weisen:  der  Trau- 
ernde versucht  es  mit  der  Sänftigung,  die  im  Land- 
leben und  im  Verkehr  mit  der  Natur  liegt  Dann  kommt 
ein  Thema: 


r 


8U8 


c.n'i"  '  'TnjijiijnTniiiufirrii^^'^r' 


das  an  rüstiges,  geschäftiges  Arbeiten  deiikeu  läßt,  und 
von  dem  aus  Anläufe  zur  Doppelfuge  und  Verbindungen 
mit  zahlreichen  Nebenthemen  erfolgen.  Am  besten  schließt 
es  sich  mit  dem  ihm  in  Kraft  verwandten  eigentlichen 
Rondothema     Q  tu      i     .    ■  i       .    ,  .  i  .  zusammen 

des  Finale:  %^"'^  J  MJ^^«««-  «„d  setzt 
mit  ihm  vereint  auch  eine  lebenslustige  Frölilichkeit  durch, 
die  sich,  allerdings  durch  geisterhafte  Klänge,  durcli  herein- 
fahrende Trugschlüsse  und  Dissonanzen  häufig  erschreckend 
unterbrochen,  äußerlich  bis  ans  Ende  behauptet  Redites 
Zutrauen  kann  man  ihr  nicht  abgewinnen,  und  so  ist  der 
Satz,  in  seinen  Wegen  sehr  verschlungen  und  schwer 
übersichtlich,  auch  im  Sdilußcindruck  der  pessimistischen 
Auffassung  des  Problems  getreu,  etwas  unbefriedigend. 
Q.  Hahler,   ;  Noch  stärker  kommt  der  weltfeindliche  Zug  des  Koni - 

Sochate  Sinfonie,  ponisteu  in  seiner  sechsten  Sinfonie  (Amoll)  zum  Aus- 
druck. Ihr  erster  Satz  (AUegro  encrgico,  Amoll,  Vi)  l>rin?t 
nach  einer  kurzen,  durch  einen  brutalen,  auf  Frohn  und 
Peitsche  deutenden  Rhytlnnus  cliarakterisiertcn  Einleitung 
ein  Ilauptthema  mit  folgendem  Anfang: 

Es  klingt  nach  hartem  Los  und  scliwcrem  Mühen.  Dun 
tritt  nach  einem  ersten  Überblick  über  die  in  ihm  ent- 
haltenen Elemente  der  Energie  und  der  Empörung  ein 
zweites  Thema: 

Cm 


imff^M^i^^m 


entgegen,  das  sich  mit  aller  Gewalt  Träumen  von  Frieden 
und  Glück  zuwendet.  Zwischen  beiden  steht,  leise  into- 
niert, ein  Choral,  der  uudi  im  weiteren  Verkiuf  des  öfteren 
die  Vennitlclung  zwischen   den   konträren  Ideen  und  Zu- 


809 


ständen  der  Themengruppe  übernimmt.  Zum  gleichen 
Zweck  dient  noch  eine  Reihe  sekundärer  Motive  und  Hilfs- 
,kräfte;  am  meisten  tritt  unter  ihnen  das  Geläute  von 
Ilerdenglocken  hervor,  die  Mahlers  Klangbegierde  dem  Sinfo- 
nieorchester einverleibt  hat.  Umspielt  werden  sie  regel- 
mäßig von  in  höchster  Höhe  vibrierenden  und  glitzernden 
(ieigenmelodien  friedlicher  Natur.  Es  kommt  zu  einem 
Triumphe  des  zweiten  Themas,  das  in  verlängerten  Rhyth- 
men und  in  Adur  den  Satz  abschließt,  jedoch  ohne 
die  Kampfesrvistung  abzulegen.  Das  harte  Kommando- 
inoliv  der  K  S  N  K  ist  jetzt  1  1  I  |  |  l  1  | 
Einleitung     J  f  W  f  J  f  J  mit:        JJJ#JJJJ 

ins  Toben  geraten. 

Der  zweite  Satz,  der  nochmals  die  AmoU-Touait 
bringt,  nennt  sich  Scherzo,  er  hat  aber  keine  Spur  von 
Heiterkeit,  sondern  er  wiederholt  nur  die  Kämpfe  des 
ersten  in  gesteigerter  Heftigkeit  und  Wucht.  Aus  dem 
früher  immer  noch  gemessenen  Rhythmus  ist  jetzt  ein 
liastiger,  ein  3/g-Takt  geworden,  aus  allen  Äußerungen  des 
Hauptthemas  und  seiner  Gruppen  spricht  nackte  Bnitalität. 
Das  Alternativ: 


etc. 

(fhoe.f    =*  P  "*==       p  ff  2»-=; 

ist  als  volkstümlicher  Gemeinplatz  ein  BeschwichtigungH- 
versuch  mit  unzureichenden  Mitteln  und  reizt  nur  die 
den  Satz  beherrschenden  Geister  zu  immer  größrerWüd- 
Ireit.  Sie  artet  mehrmals  zu  einem  Wirrwarr  aus,  bei 
dem,  Tonarten,  Rhythmen,  Stärkegrade  eingeschlossen, 
alles  gegeneinander  kämpft.  An  kleinen  Scherzen  ist 
trotzdem  in  dem  Satze  bis  zu  dem  einschlafenden  Schluß 
kein  Mangel.  Noch  ganz  zuletzt  appelliert  das  allein  da- 
hinpolternde  Kontrafagott  an  die  I^achlust  der  Hörer. 

Der  dritte   Satz  (Andante  moderato,  Esdur,  ^/J  ist 
sehr  reich  an  schönen  Melodien  der  Sehnsucht  und  der 
still  oder  laut  entzückten  Schwärmerei.     Aber,  wne  das 
gleich  vom  Anfang  an  die  zahlreichen  überi^^^^^^^^  BteV- 
klänge,  später  die  fortwährenden  Müdu\ni:^jv\ev\  auOieulew, 


•-♦    810    ♦— 

haust  auch  in  ihm  ein  Gefühl  der  Unsichedieit  und  Un- 
ruhe. 

Das  Finale  (AUegro  energico,  Ämoll,  Vi)  beginnt  mit 
einer  langsamen  Anleitung,  die  von  C  moU  aus  suchend,  aber 
rasch  nach  AmoU  und  da  in  die  Sphäre  und  die  Rhythmen 
des  ersten  Satzes  >,  ■     r-   r-  i  r^^  _  i  O  _      i  I     .  -i 
gelangt,  bald  aber  in  ^H»  f    [    If     f  T  ItT  F  T  ' 'U  ^1 
einen  müden  Ton:  ^^sotij^ 

gerät  und  sich  nur  mühsam  und  hin  und  her  tastend 
weiterschleppt  Da  setzt  endlich  mit  dem  Allegro  energico 
ein  seltsames,  aber  kräftiges  Thema  ein: 


ji'rii  ||ii|^iir''r^-i^.t<.. 


Dem  starken  UnMeden,  der  in  ihm  wohnt,  tritt  das 
zweite  Thema: 

Hörn     f^"^'    *<r  Oboe         ^==^  ^ 

visionsartig,  im  plötzlichen  Ddur  eingeführt,  mit  einer 
Anweisung  auf  die  Zukunft  entgegen.    Sie  wird  indessen 

nidit  eingelöst,  sondern,  nachdem  Szenen  des  Aufruhrs 
und  der  Beruhigung,  Schreckensmomente  mit  Herden- 
glockenidyllen gewediselt  haben,  auch  lange  in  Adur  ge- 
spielt worden  ist,  kommt  ein  Sdiluß  in  Resignation.  Im 
drittletzten  Takt  schlägt  die  Pauke,  fast  roh,  das  Kommando- 
motiv des  ersten  Satzes  an;  ein  leiser  AmoU-Akkord  der 
Trompeten  bildet  den  letzten  Hauch  der  Sinfonie.  Dieses 
Finale  ist  wegen  des  stark  gehäuften  thematischen  und 
motivischen  Materials,  was  darinnen  verbraucht  wird,  für 
den  Zuhörer  schwer,  und  es  ist  im  Charakter  besonders 
hart:  auf  ganze  Perioden  kommt  kaum  ein  Dreiklang. 
e.  Hakler,  Die  siebente  Sinfonie,  die  in  HmoU  beginnt  und  in 

Siebente  Sinfonie.  C  dur  endet,  ist  Mahlers  letzter  Hymnus  auf  die  furcht- 
lose Kraft.    Sie  führt  den  ersten  Satz  nach  langsamer. 


-^    811    4— 

schwül  wirkender  Einleitung  im  Allegro  con  fuoco  (Emoll,  i^) 
mit  dem  Thema: 


ein.  Es  bildet 
auch  den  Schluß 
der  fönfBätzigen 
Sinfonie  und  bringt  die  in  lärmender  Lustigkeit  und 
verzweifeltem  Galgenhumor  stürmenden  Szenen  des 
Finale  zu  einem  würdigen  Ende.  Die  drei  Mittelsätze 
des  Werks  bestehen  aus  zwei  Nachtmusiken,  zwischen 
ihnen  steht  als  der  dritte  Satz  eine  Art  Scherzo  (Allegro, 
Dmoll,  ^/i),  das  ganz  in  Totentanzstimmung  und  schatten- 
haft dahinhuscht  Die  beiden  Nachtmusiken  nahem  sich 
in  ihrer  parodistischen  Tendenz  wieder  der  vierten  Sin- 
fonie, sie  verspotten  den  Philister  bei  seinen  Liebesständ- 
chen. Die  erste  dieser  Nachtmusiken  (Allegro  moderato, 
Cdur,  */4)  hat  ein  akustisches  Kabinettsstückchen  in  einem, 
gleich  nach  dem  das  Stück  beginnenden,  pastoralen  Dialog 
der  Hörner  einsetzenden,  zehn  Takte  langen  Sätzchen,  das 
in  einem  Wirbel  von  Trillem,  Akkordsignalen  und  weitereu 
Naturlauten  mit  be^ckender  Wirkung  die  nächtliche  Sze- 
nerie mit  leuchtendem  Himmel  und  Sternschnuppen  schil- 
dert und  das  später  nochmals  kommt.  Dagegen  treten 
die  mehrfachen  Ständchenmelodien  des  Satzes  sehr  zu- 
rück, sie  sind  von  vornherein  absichüich  trocken  und  un- 
beholfen- g^alten  und  arten  schließlich  in  einen  ganz 
gewöhnlichen  Marsch  aus.  Noch  härter  geht  Mahler  mit 
dem  Liebhaber  in  der  zweiten  Nachtmusik  (Andante  amo- 
roso,  Fdur,  s/4)  um.  Sie  ist  eine  Sammlung  mehr  oder 
minder  schmaditender  Phrasen,  ihre  Trivialität  kulminiert 
in  den  vier  Takten  der  Einleitung. 

Zur  größten  Berühmtheit  ist  Mahlers  achte  Sinfonie,  -  6.  Makler, 
die  sogenannte  »Sinfonie  der  Tausend«   gelangt.    Diese  Acht«  Sinfonie 
enorme  Besetzung  der  Sinfonie  ist  keine  unentbehrliche 
Bedingung,  sie  wirkt,  soweit  sie  Wert  hat,  auch  mit  150 
und  200  Köpfen,  aber  sie  ist  keine  Sinfonie,  sondern  eine 
^antäte.    Map  kann  darüber  unterhandeln    ^  ^^  nichl 


--♦    812    ♦^ 

musikalische  Koiupositioneu  jeglicher  Art  nach  dem  Brauch 
des  17.  Jahrhunderts  mit  dem  Generaltiiei  Sinfonie  belegen 
wollen,  aber  so  lange  dieses  Übereinkommen  nicht  rechts- 
kraftig geworden  ist,  bleibt  es  eine  sinnlose  Umkehrung 
niehrhundertjähiiger  Begriffe,  wenn  man  ein  Werk,  an 
dem  das  Orchester  seinen  selbständigen  Anteil  auf  eine 
Reihe  bescheidner  Nachspiele  und  ein  einziges  läng^es 
Vorspiel  beschrankt,  mir  nichts,  dir  nichts  für  eipe  Sin- 
fonie ausgibt  Mit  gleichem  oder  größerem  Recht  könnte 
dann  Beethovens  Neunte  als  Kantate  angesprochen  wer- 
den. Wohl  ist  das  eine  Äußerlichkeit,  aber  eine,  die 
darauf  hindeutet,  daß  ihr  Urheber  in  Ge£ahr  war,  das  Nor- 
male und  Natürliche  mit  dem  Gesuchten  und  Bizarren  zu 
vertauschen.  Auch  die  Zusammenkoppelung  des  alten 
Kirchenhymnus:  »veni  creator,  etc.c  mit  Goethes  >Faust« 
zum  Text  der  Kantate  oder  Sinfonie  hat  etwas  Gewalt- 
sames; daneben  allerdings  auch  etwas  Hellsichtiges  und 
Großes.  Denn  es  besteht  zwischen  den  beiden  Dichtungen 
ein  innres  Band,  der  Preis  der  göttlichen  Liebe  bildet  es, 
und  das  erkannt  zu  haben,  gereicht  Mahler  zur  Ehre. 

Was  nun  die  musikalische  Behandlung  dieses  Tex- 
tes betrifft,  so  hat  sie  unleugbar  ihre  großen  Stellen, 
ist  aber  im  ganzen  sehr  ungleich.  Da  gehört  dexm  so- 
fort der  Eingang  des  Werks  zu  den  zweifelhaften  Ein- 
fallen. Denn  das  in  einer  Menge  teils  sinnreicher, 
teils  nur  kunstreicher  Umbildungen  durch  das  ganze 
Werk,  audi  im  zweiten  Teile,  verwendete  Haupttliema: 

Allef*:ro  impetuoso  ist  zwar 

igT^  >*  IP    p   ^   li'     ^   tJliir  r   llp'flp  "^  mische 
V«.  ni,  ve.  ni,cre  .  a.tor      spiritus         Explosi- 

on heißer  Inbrunst  gedacht,  hat  aber  in  seinem,  durch  deu 
Taktwechsel  nur  schleclit  verdeckten  Marschrhythrous  einen 
starken  Rest  von  Prosa,  der  auf  die  bereits  erwähnten 
Schranken  von  Mahlers  Erfindung  zurückgeführt  werden 
muß.  Immerhin  ist  es  in  dem  ersten  Abschnitt  bis  zu  den 
Worten:  >qui  tu  creasti  pectora  superna  gratia«  das  Beste, 
was  der  Komponist  zu  bieten  hat.  Tiefer  eindrucksvoll  wird 


-^     813    4^ 

die  Musik  erst  wieder,  als  nach  Orgolklang  und  Glockcn- 
läuten  bei  >Infirini  noslri  corporis  virtute«  Stille  ein- 
tritt, und  ein  Abschnitt,  dem  Größe  nicht  abgesprochen 
werden  kann,  entwickelt  sich  in  dem  Vers:  >Lumen  ac- 
rende  sensibus«  mit  dem  unisono-Einsatz  aller  Stimmen, 
den  Knabenchor  an  der  Spitze.  Bedeutungsvoll  treten  aus 
ihm  die  Worte:  »infunde  amorem  sensibus«  hervor  und 
ein  Orgelpunkt  auf  B,  der  28  Takte  dauert,  bringt  die 
erste  Hälfte  des  Hymnus  zum  imposanten  Abschluß;  an 
seinem  Ende  dominiert  das  Hauptthema.  Von  »Qui  Para- 
rlitus  diceris«  ab  beginnt  ein  langer,  schöner  Nachgesang 
milden  Charakters,  bei  reichem  T>ebcn  besänftigend  und 
beseligend.  Auch  ihn  krönt  das  Hauptthema.  Damit  ist 
der  eigentliche  Hymnus  zu  Ende,  und  ein  Orchester- 
zwischenspiel leitet  zu  der  üblichen  Coda  aller  Hymnen 
und  Psalmen,  zum  »Gloria  Palri  etc.«  über,  das  eben- 
falls zu  dem  Hauptthema  zurückkehrt. 

Diejenige  Stelle,  an  welcher  die  Komposition  einen 
wirklich  sinfonischen  Charakter  annimmt,  ist  die  Einlei- 
tung des  zweiten  Teils,  ein  Orchestersatz  (Poco  Adagio, 
Esmoll,  C)  in  welchem  164  Takte  lang  die  Kontrabässe, 

meist  gemeinsam   mit   Aen  _-i_ 

Cellis,  Bratschen  und  zweiten  V  \)'\,\\f  |  J  i  ^  J  J  ]  I  ^^ 
Geigen,  das  Pizzicato-Moliv  "^ 

durchführen,  in  den  Bläsern  wird  spärlich  gesungen,  die 
ersten  Violinen  aber  halten  fiast  die  ganze  Zeit  an  einer 
liegenden  Stimme,  dem  drei  gestrichenen  ^,  fest.  Nur 
im  Mittelteile  wird  dieser  Gespensterton  einige  Perioden 
hindurch  aufgegeben,  um  erregterer  Klage  Raum  zu  geben. 
Das  Stück  erinnert  an  das  »Libera  etc«  in  Berlioz'  Requiem, 
mit  dem  es    q   i^^  ^  begegnet,  übertrifft  aber  die- 

sich  auch  in  -fe  fhK^  p  ^  p  p  -J  ses  Muster  noch  an  Fremd- 
dem    Motiv  artigkeit  und  in  dem  Stärke- 

grade, in  welchem  es  Gefühle  der  Öde,  des  Druckes,  der 
Verlassenheit  und  des  Irrens  erregt.  Es  ist  eine  unver- 
gleichlich unbarmherzige  Art  von  Musik,  ein  Bravourstück 
nächtiger  Kunst  Nach  ihm  beginnt  Mahlers  Konkurrenz 
mit  R.  Schumann.    Denn  er  hat  sich  die  o\c\cV^^tv  Szetxen 


--♦    814    ♦^ 

aus  Goethes  »Faust«  ausgewählt,  die  den  dritten  Teil  des 
Schumannschen  Faustoratoriums  bilden.  Daß  der  Jüngere 
den  Alteren  verdrängen  werde,  ist  nicht  zu  erwarten,  weil 
Schumann  den  melodischen  Reiz,  die  bessere  Vokalitfit 
und  die  Einfachheit  des  Stils  voraus  hat,  vor  allem  aber 
den  verklärten,  zarten  Ton  dieser  Himmelsszenen  glück- 
licher trifft  und  festhält.  Mahlers  Faustmusik  ist  reicher 
an  Kombination  als  an  Inspiration,  sie  erfreut  hie  und  da, 
z.  B.  bei  dem  kanonischen  Terzett  der  »drei  Marien«, 
durch  Proben  wohl  angebrachter  Kunst,  aber  sie  verdirbt 
auch  viel  durch  ein  Übermaß  von  Arbeit.  Bedeutend 
wird  sie  gegen  den  Schluß  hin,  ungefähr  von  den  Worten 
der  Mater  gloriosa  ab:  »Komm,  hebe  dich  zu  hehren 
Sphären«,  meisterlich  mit  dem  Einsatz  des  Doktor  Marianus 
»Blicket  auf  etc.«.  Der  Chor,  der  erst  leise  mit  einstimmt 
und  dann  das  Thema  selbständig  weiterführt,  hebt  diesen 
Abschnitt  über  die  Erwartungen,  die  sein  An&ng  erregte. 
Ebenbürtig  schließt  sich  der  Ausgangschor  »Alles  Vergäng- 
liche ist  nur  ein  Gleichnis  etc.«  an,  der  von  äußerster 
Zartheit  aus  in  schlichten,  natürlichen  Weisen  zu  glänzen- 
dem Klang  anwächst  und  mit  der  Verbindung  der  Themen 
von  »Neige,  neige  etc«  und  »Veni  sancte  spirifns«  das  Ganze 
noch  einmal  zusammendrängt  und  gewaltig  abschließt. 
OaniUo 'Hörn,  Ein  zweiter  Bmcknerschüler,  Gamillo  Hörn,  hat 
F  moll-SInfonie.  sich  unlängst  mit  einer  Fmoll-Sinfonie  (Op.  40)  einge- 
führt, die  sich  mit  dem  Hauptthema  des  ersten  Satzes 
Kräftig  bewegt  ,- ,    mit  den  Nibelungen- 

iji' Uli  NjiTiiii   :tZ  ^^ 


ner,  die  es  einlei- 
ten  und  auch  in  der  Neigung,  längerer  Sätze  durch 
Sequenzen  und  Nachahmungen  kleinerer  Motive  zu  ent- 
wickeln —  so  hier  den  eingeklammerten  TeU  des  Themas  — 
zu  dem  Lehrer  bekennt,  neben  ihm  aber  sehr  freiherzig 
noch  andern  Meistern  und  VorbUdem  huldigt  und  uns  in 
dem  Autor  eine  Natur  vorführt,  die  nach  Eklektik  und 
Ausführlichkeit  der  Rede  starke  Verwandtschaft  mit  Joachim 
Raff  aufweist.  Stärker  als  Brückner  hat  auf  Hom  R  Schu- 
mann eingewirkt,  mit  diesem  in  gleichem  Maße  R.  Wagner 


--♦    815    ^^ 

als  Komponist  der  Meistersinger,  aus  denen  seine  Phan- 
tasie  die  freundlich  frohen  Farben  ähnlich  reich  und  un- 
ablässig schöpft,  wie  das  zuerst  bei  Hermann  Götz  zu 
bemerken  war.  Im  Adagio  gibt  auch  Gounod,  dessen 
zarte  Empfindung  Hörn  im  allgemeinen  sehr  sympathisch 
zu  sein  scheint,  mit  einer  bekannten  Faustselle  eine  Gast- 
rolle. Haben  wir  es  somit  bei  dieser  Sinfonie  im  Allge- 
meinen mit  Erfindungen  aus  zweiter  Hand  zu  tun,  so 
erfreut  sie  doch  durch  geschickte,  fleißige  Arbeit  und  durch 
die  logische  Entwickelung  eines  klaren  Plans.  Es  geht 
auch  durch  .alle  Sätze  wenigstens  ein  Lebenszeichen  von 
Indiyiduahtät  und  eignem  Stil:  der  Komponist  bleibt 
häufiger  als  andere  bei  seiner  Wanderung  stehen  und 
schöpft  Atem,  und  darüber  hinaus  beweist  er  auch  durch 
einen  ganzen  Satz,  daß  er  ein  Gebiet  hat,  auf  dem  er 
eigen  ist  und  sehr  erfreulich  überraschen  kann.  Das  ist 
das  allerdings  etwas  lange  und  eigentlich  mit  zwei  Trios 
ausgestattete  Scherzo.  In  ihm  begegnen  wir,  wiederum 
ähnhch  wie  bei  H.  Götz,  ganz  frischer  Volksmusik,  die  an 
den  EichendoriTschen  Taugenichts  und  an  andere  Natur- 
burschen erinnert,  und  der  ein  maßvoller  slavischer  Ein- 
schlag ganz  gut  steht.  Auch  das  Hauptthema  des  letzten  i 
Satzes,  das  den  endgültigen  Sieg  der  Freude  feiert,  be- 
kundet eine  ähnliche  Quelle. 

Zahlreicher  als  die  Schüler  von  Brahms  und  Brückner 
sind  diejenigen  deutschen  Sinfoniker,  die  sich  keiner  be^ 
stimmten  Schule  zuweisen  lassen.  Soweit  sie  sich  im 
Repertoire  behauptet  haben,  verdienen. da  unter  den  älteren 
R.Fuchs,  A.  Klughardt,  F.  Thieriot,  E.  Rudorflf  Er- 
wähnung. 

RobertFuchs,  der  als  Komponist  anmutiger  Sere-     R.F«ohi, 
naden  eine  feste  Stellung  in  der  neuern  Musik  einnimmt,  Sinfonie  In  C 
hat  mit  seinem  op.  37  bewiesen,  daß  er  auch  für  die  Sin-  ; 

fonie  wohl  berufen  ist   Freilich  kann  diese  C  dur-Sinfonie 
nicht  als   das  Meisterstück  ersten  Ranges  gelten,   als  ; 

welches  es  der  Überschwang  von  Freunden  tind  Lands- 
leuten  hingestellt  hat.  Ihre  zweite  Hälfte  ^^^  jedenfalls 
wertvoller  als  die  erste,  in  der  aus  Stitt^K^^tvf^  ^^^  Yotm 


-^    816    ^^ 

noch  fremde,  nicht  völlig  bewältigte  Elemente  aaftaachen. 
Der  erste  Satz  gleicht  einem  Bild,  das  sicli  ein  muntrer, 
frischer  JQngling  von  der  Zukunft  macht.  Sein  Hanpt- 
thema  zeigt  den  Mut,  die  Kraft  und  auch  die  Sorgen.  In 
der  Ferne  hellt  es  sich  auf:  ein  reizendes,  schlichtes 
zweites  Thema,  das  wie  Kindergesang  klingt,  verkörpert 
freundliche  Erinnerungen  und  trauliche  Hoffnungen.  In 
der  Entwickelung  dieser  Ideen  reizen  und  erfreuen  in 
erster  Linie  die  sinnigen  musikalischen  Details,  die  Modu- 
lationen, ObergJIngc  und  Zwischengedanken,  in  denen 
sich  der  feine,  vornehme,  gedankenvolle  Künstler  zeigt. 
Die  Phantasie  war  aber  der  Aufgabe  nicht  ganz  ge- 
wachsen. Fuchs  hilft  sich  deshalb  sehr  oft  mit  lau- 
nischer und  theatralischer  Aufregung.  Merkwürdiger- 
weise klingt  auch  das  Orchester  in  den  zarten  Abschnitten 
etwas  stumpf. 

Der  zweite  Satz,  ein  Presto  in  Amoll  ;2'4  Takt), 
Intermezzo  betitelt,  führt  in  einem  halb  nordischen, 
halb  Mendelssohn  sehen  Ton  vor  eine  Reihe  toller  Aben- 
teuer, vor  Irrgänge  des  Herzens,  die  in  phantastischer 
Beleuchtung  jetzt  weit  in  der  Ferne  der  Erinnerung  liegen. 
Mit  dem  dritten  Satz,  einem  Grazioso  im  V^Takt,  finden 
wir  den  Serenadenmeister  wieder.  Das  ist  der  liebens- 
würdige, unwiderstehliche  Ländlerton  der  Wiener  Schule, 
den  Fuchs  so  natürlich  durch  Wendungen  ins  leicht 
Leidenschaftliche,  in  einen  höheren  Empfindungskreis  zu 
heben  weiß.  Das  Finale  hat  den  östreichischen  Heimats- 
klang noch  viel  stärker.  Es  erinnert  im  Hauptthema  direkt 
an  Schuberts  zweite  Bdur- Sinfonie.  Mit  ihm  berührt 
sich  Fuchs  hier  auch  in  tiefsinnigen  mystischen  Klängen, 
die  in  die  heitre  Welt  geisterhaft  hineinfallen.  Der  Schluß 
der  Durchführung  zeigt  sie  namentlich;  der  Satz,  der 
bis  dahin  die  Sonatenform  eingehalten  hitt,  nähert  sich 
von  jetzt  ab  dem  Rondo.  Er  ist  somit  in  architektonischer 
Beziehung  der  originellste  der  Sinfonie,  bietet  aber  auch 
im  allgemeinen  die  glänzendsten  Belege  für  die  Begabung 
des  Komponisten.  Nicht  am  wenigsten  sprechen  sie  aus 
dem  Geschick,  mit  dem  er  gewöhnliche  Ideen,  wie  sie  in 


-^    817    *^ 

■ 

der  Natur  des  zweiten  Themas  liegen,  dnrch  die  Stellung, 
die  er  ihnen  gibt,  zu  heben  weiß. 

August  Klughardts  beste  Begabung  fttr  Instru-  A.  Kl««li»rdt, 
mentalkomposition  weist  ihn  auf  die  Programmusik.  Trotz-  ^'****  Sinfonie, 
dem  und  trotz  des  starken  Herzenstons ,  der  aus  ihnen 
klingt,  haben  seine  ersten  beiden  Sinfonien  nicht  im  ent- 
ferntesten dei^  äußeren  Erfolg  gehabt,  den  seine  dritte, 
die  Ddur- Sinfonie  (op.  37),  gefunden  hat.  Dieses  Werk 
der  Lebensfreude,  dem  sich  eine  Zeit  lang  wohl  alle 
deutsche  Konzertsäle  erschlossen,  hat  eine  deutliche 
Familienverwandtschaft  mit  den  Suiten  Franz  Lachners. 
Seine  Musik  ist  munter,  flott,  anmutig  und  kräftig,  liebt 
Tonspiel  und  Konzertieren,  steht  den  Instrumenten  gut 
und  gleicht  der  Lachnerschen  auch  in  der  Hinneigung 
zu  Franz  Schubert.  Für  die  letztere  Beziehung  gibt 
namentlich  ihr  erster  Satz  unwidersprechliche  Belege; 
seine  beiden  Hauptthemen  sind  Nachklänge  aus  des  Wiener 
Meisters  großer  Cdur-Sinfonie.  Der  langsame,  der  zweite 
Satz,  der  dichterisch  vollste  der  Sinfonie,  beginnt  mit 
einem  breiten  Gesang,  in  dem  die  Seele  für  Glück  und 
Frieden  zu  danken  scheint,  und  flüstert  dann  schwärme- 
risch bewegt  von  zarten  Geheimnissen.  Der  dritte  Satz 
gleicht  einer  lustigen  Ballade,  in  der  von  alten  Zeiten, 
von  Rittern  und  Recken  kräftige  Streiche,  Turniere  und 
Minnefahrten,  Schwanke  und  Abenteuer  elrzählt  werden. 

Das  Finale  ist  ganz  der  Heiterkeit  gewidmet,  gibt 
Proben  eines  eigensinnigen  Humors  und  nähert  sich  in 
dem  köstlich  tändelnden  zweiten  Thema  und  in  seiner 
Umgebung  (6/4  Takt)  einer  höheren  musikalischen  Origi- 
nalität. 

Die  vierte  Sinfonie  Klughardts  (Cm oll,  op.  67)  ist  A.  Klifliftrdt, 
eine  der  beachtenswertesten  und  fesselndsten  Stimmungs-  Vierte  Sinfonie. 
Sinfonien,  die  wir  in  der  neuesten  Zeit  erhalten  haben. 
Der  Löwenanteil  ihres  seelischen  Inhalts  und  der  künst- 
lerischen Ausführung  fällt  auf  den  ersten  Satz,  der,  in 
ähnlicher  Weise,  wie  das  in  dem  Doppelkonz^^t;  und  in 
anderen  Werken  von  Brahms  der  Fall  ist  ^^®  übrigen 
fast  in  den  Schatten  stellt.    Er  entrollt  ei^  ^^^^  ^^^^ 

KretsBchroar,  Fttbrer.    I,  1-  5^ 


^^    818    4— 

märnng  und  nach  Freiheit  lingeDder  GrefShle,  ein  Bild, 
in  dem  harte  Kämpfe  und  frenndliche  Hofifnimgen  ein- 
ander gegenüberstehen.  Die  größte  musikalische  Macht 
offenbart  der  Komponist  in  der  zweiten  Hälfte  der  Dnrch- 
f&hmng,  wo  ihm  erschfittemde  und  rührende  Töne  gleich 
treffend  im  ersten  Augenblick  kommen.  Der  vollen  Wir- 
kung des  Satzes  steht  die  verwickelte  uqd  in  Beiwerk 
verhüllte  Natur  des  Hauptthemas  etwas  entgegen.  Einer 
der  schönsten  Momente  bildet  das  mutige»  aufhellende 
Homthema. 

Der  zweite  Satz  hat  eine  Choralweise  zur  Grund- 
lage. In  ihren  Frieden  bricht  ein  Mittelsatz  hinein, 
wild  und  dämonisch,  doch  erfolglos.  Die  Freiheit  der 
Erfindung  und  des  Entwurfs,  die  ein  Kennzeichen  dieses 
ganzen  Andantes  ist,  äußert  «ich  am  schönsten  am 
Schluß  dieser  dramatischen  Episode  mit  dem  Eintritt  des 
Cellothemas. 

Der  dritte  Satz  (Presto)  ist  ein  Scherzo  nach  dem 
Muster  Beethovens  und  mit  ungesuchten  Anklängen  an 
ihn.  Aus  dem  von  Hörnern  eingeleiteten  Trio  spricht  die 
vorzügliche  Begabung  für  edle  volkstümliche  Weisen,  die 
Klughardts  Opern  auszeichnet. 

Dasselbe  Marschnersche  Talent  äußert  sich  in  dem 
Marschsatz,  der  den  Hauptteil  des  Finales  ausmacht; 
in. höhere  Kreise  hebt  ihn  eine  kunstvolle,  hier  und  da 
mit  der  von  Klughardt  gern  aufgesuchten  Fugen  form 
arbeitende  Behandlung.  Die  dämonischen  Geister  der 
Dichtung  sprechen  noch  einmal  herrisch  aus  der  lang- 
samen Einleitung  des  Satzes,  die  in  seinen  Verlauf  noch 
einigemal  übergreift  und  die  als  der  bedeutendste  Ab- 
schnitt des  Finales  gelten  muß. 
F.  TUeriot,  Von  den  sinfonischen  Arbeiten  Ferdinand  Thie- 
Sinfonietta  riottf  ist  die  verbreiteste  seine  Sinfonietta  (öp.  65).  Diese 
^^^'  Komposition  ist  ein  Beitrag  zur  romantischen  Musik  der' 
sich  durch  einfache,  natürliche  Erfindung,  durch  liebens- 
würdige, anmutige  Stimmung  und  namentlich  durch  eine 
ganz  unübertrefHiche  Klarheit  des  Vortrags  und  der  Form 
ungewöhnlich  auszeichnet.    Die  sinnige,  vornehme  Ro- 


--^    819    ♦^ 

manze,  die  mit  allerlei  Humoreti  gesegnete  Tarantella 
erklären  sich  selbst,  auch  der  fiingangssatz,  ein  Allegro 
moderato,  das  sich  wie  za  einem  schönen  Spaziergang 
anschickt  und  im  Verlauf  seinen  schlichten  Themen  viel 
Schwung  und  auch  geheimnisvolle  Klänge  abgewinnt. 

Ernst  Rudorff,  der  den  deutschen  Orchestern  von 
den  schönen  B  dur-Variationen  und  von  den  Ouvertüren 
zu  Kinkels  »Otto  der  Schütze  und  Tiecks  »Blondem  Ek- 
bert«  hätte  sympathisch  sein  müssen,  ist  erst  mit  seiner 
d  r  i  tten  Sinfonie  (HmoU,  op.  50)  wieder  von  den  Konzert-  Bniit  Bidorir, 
instituten  berücksichtigt  worden.  Sie  bringt  eine  überall,  ^™®*^^*°'®"**- 
auch  in  den  leidenschaftlichen  Stellen  vornehme,  wahr  .  . 

und  warm  empfundene  und  erlebte  und  in  jedem  Takte 
gediegene  und  gehaltvolle  Musik,  die,  fernab  von  jeder 
sentimentalen  Wendung,  vielfach  rührt  und  ergreift.  Ihr 
dritter  Satz  schließt  sich  insofern  an  Brahms  an,  alis  er 
an  die  Stelle  eines  sprühenden  Scherzos,  so  wie  es  schon 
andere  getan,  ein  ruhigeres  und  intimeres  Allegretto  setzt. 
Die  Selbständigkeit  des  Komponisten  ist  auch  hier  ge- 
wahrt ,  am  deutlichsten  durch  eine  ganz  phantastisch 
flattei»de  AIlegro-Episode.  Noch  handgreiflicher  and  von 
fortreißender  Wirkung  ist  die  Originalität  des  Kompo- 
nisten im  Finale.  Dieses  gibt  der  Freude  von  Anfang 
an  in  einer  auffallend  scharfen  Rhythmik  Ausdruck  und 
nimmt  mit  dem  Eintritt  des  zweiten  Themas  vollständig 
den  Charakter  einer  heiteren  Militärszene  an. 

Auch  die  Sinfonien  von  Richard  Metzdorff  und 
Philipp  Rufer  verdienen  im  Anschluß  hieran  erwähnt 
zu  werden;   beide   stehen   in  Fdur,  unterscheiden  sich 
aber  bedeutend  im  Punkt  der  Selbständigkeit  Die  Metz-uckard  Meu- 
dorffs,  opus  16,  zeigt  in  Adagio  und  Scherzo  eine  natür-       'orf, 
liehe,  für  Lieder  und  kleine  Charakterstücke  ausreichende '' ^"'•^*"'^"'* 
Begabung,  in  den  Ecksätzen  aber,  den  ausschlaggebenden 
Teilen  der  Sinfonie  also,  arbeitet  der  Komponist  so  skla- 
visch nach  Schnmannschen  Vorlagen,  daß  ihn  von  der 
unmittelbaren  Entlehnung  nur  noch  ein  kleiner  Streifen 
trennt  Der  erste  Satz  seiner  Sinfonie  [op.  28j  sichert  Rufer  puiipp  Riftr, 
einen  hervorragenden  Platz  für  die  Schilderung   flotter  F  dur-sinfonie. 

62* 


e 


^^    820    ^^ 

Fröhlichkeit  und  lastigen  Volkslebens;  mit  zahlreichen 
Stellen  ungesncht  drastischer  Komik  -—  die  erste  kommt 
schon  mit  dem  ersten  Solo  der  Holzbläser  und  ihrem 
Achtelmotiv  —  versetzt  er  in  die  Sphäre  der  altnieder- 
ländischen Kirmesmaler  und  läßt  keinen  Zweifel,  daß 
dem  Komponisten  in  der  Suite  wohl  Lorbeem  blühen 
mußten.  Daß  er  aber  über  dieses  Spezialgebiet  hinans 
den  Aufgaben  der  Sinfonie  gerecht  zu  werden  vermag, 
belegen  die  übrigen  Sätze,  der  letzte  steht  durch  gesunde 

Kraft  dem  ersten  am  nächsten. 

Zu  diesen  allmätiiich  in  die  ältere  Reihe  eingetretenen 

Sinfonikern  gehört  endlich  noch  der  als  Liederkomponist 
fteiBkold Becker, weit  bekannte  Reinhold. Becker  mit  einer  Cdur-Sin- 
C  dur-sinfonie.  f^^ig  (op.  140).  Sie  hat  einen  sehr  bedeutenden  ersten 
Satz,  in  dem  Faustische  Stimmungen  energisch  und  mit 
einer  an  Liszt  erinnernden  Freiheit  des  Geistes  beschwich- 
tigt werden.  Er  endet  so  freudig,  daß  der  Zuhörer  auf 
weitere  Sätze  gar  nicht  gefaßt  ist,  doch  vermag  der  zweite, 
der  im  wesentlichen  den  Stimmungsprozeß  des  ersten 
nur  variiert,  ebenso  zu  fesseln  wie  der  dritte  mit  seiner 
bewölkten  Heiterkeit  Das  Finale  ist  matt  und  gefährdet 
den  Eindruck  der  Sinfonie,  die  im  übrigen  schon  wegen 
ihrer  Knappheit  und  wegen  des  dramatischen  Lebens, 
das  sie  durch  die  reiche  Verwendung  von  Solis'  erhält, 
des  Interesses  ziemlich  sicher  ist. 

Unter   den   neuesten    deutschen    Komponisten,    die 
mehrere  Sinfonien  veröffentlicht  haben,  steht  im  Reper- 
toire, auch  dem  der  französischen  Goncertes,  Felix  von 
Weing artner  mit  seinen  drei  Sinfonien  obenan.   Diese 
•  Auszeichnung  läßt  sich  innerlich  damit  begründen,  daß 
gleich  die*  erste  Sinfonie  dem  Komponisten  ein  starkes,  an- 
gebomes  Talent  für  anmutige  und  muntre  Tonbilder  beschei- 
nigte; die  beiden  folgenden  zeigten,  daß  er  auch  höheren 
Aufgäben  gewachsen,  und  daß  das  technische  Können  des 
Komponisten  im  steten  Fortschritt  begriffen  ist 
Felix  T.  WeiB-        In  jener  G  dur-Sinfonie,  mit  der  Weingartner  sich  ein- 
fftrtner,      führte,  ist  der  erste  Satz  (Allegro  moderato,  Gdur,  ^4) 
^^"■^*"i?"*^  am  wenigsten  geraten.    Er  verspricht  mit  dem  hübschen 


-^    821 

Hauptthema  freundlich  belebte  PastoralszeneD.  Das  zweite 
Thema  stört  sie  durch  Regungen  eines  Tiefsinns,  dessen 
natürliche  St&rke  nicht  ausreicht,  Teilnahme  zu  erzwingen. 
Die  folgenden  Sätze  machen  das  wieder  gut.  Der  zweite 
(Allegretto  alla  Marcia,  E  moll,  ^4)  beginnt  mit  einem  etwas 
ernsten  Marsch,  das  Alternativ  stimmt  ein  helles  E  dur  an 
und  zeigt  den  Komponisten  zum  ersten  Mal  in  seiner 
Kunst,  breite,  warme  Melodien  an  die  rechte  Stelle  zu 
setzen;  die  Durchführung  schließt  überraschend  mit  einem 
neuen  Einfall,  einem  heiter  gestimmten  und  glänzend  in- 
strumentierten Marsch.  Der  dritte  Satz  (Vivace  scherzoso, 
Bdur,  s/s)  bringt  in  seinem  Hauptthema: 

{''iTii  üK  f  ir  nijiJ'i  rrifff  it^ 

den  Humor  der  Mendelssohnschen  Zeit  zu  Ehren,  eine  in 
der  Unterstimme  nachsetzende,  hastige  Sechzehntelfigur 
färbt  ihn  phantastisch.  Nachdem  diese  Vorlage  sehr  tem- 
peramentvoll und  abwechslungsreich  zu  einer  langen  Szene 
absonderHcher  Fröhlichkeit  durchgeführt  worden  ist,  hält 
das  Trio  (As  dur,  s/4)  Einkehr  ins  Innere  mit  einer  den 
Cellis  und  Bratschen  gegebenen  Melodie,  welche  die  inter- 
essante Figur  von  Schumanns  Estrella  vor  die  Phantasie 
entbietet  Das  Finale  (Allegro  vivo,  Gdur,  */*)  gibt  mit 
außerordentlicher  Frische  Bilder  der  Freude  zum  besten. 
Der  Obermut,  den  es  birgt,  äußert  sich  sogleich  darin, 
daß  die  flüchtigen  Glieder  des  Hauptthemas  kaum  zu 
fassen  sind,  das  zweite  Thema  ist  ungemein  drollig  und 
weist  unverkennbar  auf  volkstümliche  Quellen,  denen 
Weingartner  überhaupt  gern  nachgeht  Und  so  wie  er 
begonnen,  geht  der  Satz  mit  Scherz  und  Witz  weiter  und 
endet  liebenswürdig  ausgelassen;  ein  erfreulicher  Beitrag 
zur  heitren  Kunst  unsrer  Tage. 

Mit  den  spätren  Sinfonien  hat  der  Komponist  sich 
auf  das  Gebiet  emstrer  Seelenmalerei  begeben  und  auch 
hier,  wenn  auch  nicht  bis  zum  letzten  Hest  befriedigend, 
Beweise  einer  bedeutenden  Künstlerschaf^  eib^^^^^ 


822 


Felix  T.  Wein-        Die  z Weite  Sinfonie  (Es dar)  geht  in  ihrem  ersten 
»•'^•Jf»      Satz  (Allegro  mosso,  Esdur,  i^)  von  einem  seltsamen  Zu- 
?0p  »>       stand  der  Verwirrung  aus,  dessen  Schildenmg  der  lang 
^  '      samen  Einleitung  tiberwiesen  ist    Sie  sucht  nach  der 

Tonart,  sie  sucht  nach  Motiven,  kommt  aber  nicht  fiber 
Brocken  hinaus  und  gewinnt  erst  Halt,  als  die  Trom- 
pete   das    durch    Wagners       ^ 
»Rheingöld«      zu     frischer      A  ^%  >  J      f "  Jj  ^    ^ 
Geltung   gelangte   Ursignal:       *^  ^ 

intoniert  Es  wird  sofort  mitten  in  einem  As  dur -Akkord 
wiederholt  und  leitet  schnell  zu  dem  AUegro  hinüber,  das 
auf  einem  Thema  des  Aufschwungs  und  des  Strebens 


AUegro 


und  einem  anderen,  sehr  volksttlmlich  gemeinten,  steht, 
das  von  dem  Anfang: 


f  \f'ff\fff\f''ff  i'*»- 


aus,  zunächst  in  visionärer  Färbung,  auf  Gemütsruhe  und 
Seelenfrieden  hinweist  In  der  Durchführung  des  aus 
diesen  Ideen  entspringenden  Prozesses  wird  in  ansdin-* 
Uchem  Maße  Tiefe  und  Leidenschaft  entwickelt;  die  origi- 
nellste und  größte  Stelle  des  Satzes-  ist  der  lange  Orgel- 
punkt auf  C7,  welcher  die  Wiederkehr  des  Lento  und  die 
darauf  folgende  Reprise  vorbereitet 

Der  zweite  Satz  (Allegro  giocoso,  Cdur,  >/«}  ist  in 
seiner  derben  Fröhlichkeit  sehr  nahe  mit  dem  Scherzo 
von  Bruchs  Es  dur- Sinfonie  verwandt  Noch  mehr  als 
der  Hauptsatz  arbeitet  das  Trio  (Gdur)  mit  Dudelsack- 
musik,  seine  drollig  behagliche  Melodie  wird,  ähnlich  wie 
der  entsprechende  Abschnitt  der  ersten  Sinfonie,  von 
Bratschen  und  englischem  Hörn  vorgetragen.  Später  kom- 
biniert der  Komponist  die  Themen  des  Hauptsatzes  und 
des  Trios  und  steigert  die  Lustigkeit  nodi  durch  Auf- 


823 


stellang  eines  neuen  dritten,  'sehr  grotesken  Themas.  Viel 
Kunst  und  viel  Effekt! 

Der  dritte  Satz  (Adagio,  Asdur,  Vs)  kehrt  den  Ernst, 
mit  dem  die  Sinfonie  anfing,  ins  Fromme  und  zwar  auf 
Grund  eines  Themas,  das  in  einer  Beeth'ovenschen  Sonate 
stdien  könnte.  Daß  dieser  Anlehnungsstil  beabsichtigt 
ist,  ergibt  die  Fortsetzung,  denn  auch  der  ganze  Aufbau 
und  Verlauf  des  Satzes  schließt  sich  an  ein  berühmtes 
Beethovensches  Muster,  an  das  Adagio  der  Neunten  Sin- 
fonie an.  Dem  Asdur -Teil  folgt  ein,  meistens  von  den 
Bläsern  allein  vorgetragener,  zweiter  Teil  (in  Es),  der  dem 
ersten  stimmungs verwandt  ist  und  doch  mit  ihm  ähnlich 
kontrastiert,  wie  die  Erfüllung  mit  der  Bitte.  Die  beiden 
Teile  alterieren  dann,  genau  dem  Modelle  folgend,  in 
Variationen. 

Das  Finale  beginnt  wieder  mit  einem  Lento,  in  dem 
das  Hauptthema  des  ersten  Satzes  angespielt  wird.  Dann 
setzt  das  Allegro  risoluto  (Esdur,  ^4)  ii^  Form  einer  Doppel- 
fuge über  sehr  bestimmt  an  Kraft  und  Fröhlichkeit  mah- 
nende Themen  ein.  Es  wird  aber  kein  rechter  Ernst  mit 
der  Fuge,  sondern  sie  schweift  beständig  ab,  erst  zu  dem 
Hauptthema  des  ersten  Satzes,  dann  zu  dem  Nibelungen- 
motiv. Ein  herzhaft  fideles  zweites  Thema  scheint  den 
Reminiszenzen  ein  Ende  zu  machen,  aber  nein:  jetzt  * 
kommt  auch  das  Hauptthema  des  Scherzo,  ihm  folgen  die 
Melodien  des  Adagio,  und  wie  im  Guckkasten  zieht  die 
ganze  Themensippe  der  Sinfonie  vorüber.  Entschieden 
hat  der  Komponist  an  diese  Aufgabe  viel  Kunst  und  Geist 
verwendet  und  mit  ihrer  Lösung  dem  Zuhörer  auch  zwei- 
fellos Vergnügen  bereitet,  aber  er  entwürdigt  damit  sein 
Finale  zum  Potpourri  und  erweckt  Zweifel  an  dem  Ernst 
seiner  ganzen  Sinfoniearbeit. 

In  seiner  dritten  Sinfonie  (Edur)   gibt  sich  Wein-  Felix  ▼.  Wein- 
gartner  moderner  als  in  den  vorhergegangenen.    Die  Be-  w/^^UjV'  • 
Setzung  mit  sechs  Hörnern,  Orgel  (auch  Heckelphon  und    •  (0^49)^"'^         '\ 
Celesta)  zeigt  das  äußerlich,  in  der  Tonsprache  abet  geizt  ' 

diese  Sinfonie  darnach,  in  bezug  auf  die  i^^genbUckllch  so 
beliebte  Heißblütigkeit   auf  der  Höhe   ^^    ^XeVveti.    KÄet 


--♦    824    o~ 

Allüren  entkleidet,  zeigt  indessen  die  Erfindung  des  Wenks, 
im  Vergleich  mit  dem  ersten  Satz  der  zweiten  Sinloiiie, 
einen  Rückgang  im  pathetischen  Vermögen  des  Kompo- 
nisten.   Wenigstens  ist  er  hierin  unverläßlich  geworden. 

Das  beweist  namentlich  der  erste  Satz  (AUegro  oon 
brio,  Edur,  s/s).  Gewiß  hat  er  sehr  schöne  SteQen,  aber 
an  seiner  vielmals  stockenden,  immer  wieder  anlaufenden 
Entwickelung  straft  es  sich  bis  zum  Ende,  daß  das  Haupt- 
thema, das  seine,  ein  großes,  edles  Streben  zum  Aus- 
druck bringende  Stimmung  tragen  soll,  nicht  in  der  Seele 
des  Komponisten  zur  Reife  gekommen,  sondern  im  Grunde 
nur  dem  Fdur-Stück  von  Beethovens  Rasumowsky-Quar- 
tetten  entnommen  ist 

Der  zweite  Satz  (Allegro  vivo,  scherzando,  Asdur,  '/«S 
den  einige  verwegne  Zweivierteltakte  einleiten,  ist  im 
Hauptthema  und  seinem  Gebiete  durch  eine  eigne  Mischung 
von  Wildheit  und  Behaglichkeit  originell.  Letztre  über- 
nimmt im  Trio  (Meno  mosso,  Fdur)  die  volle  Herrschaft, 
und  da  zeigt  sich  sehr  hübsch  eine  neue  Seite  an  dem 
Sinfoniker  Weingar tner:  sein  Östreichertum,  seine  geistige 
Verwandtschaft  mit  Schubert,  Brückner  und  vor  allem  mit 
Johann  Strauß,  den  er  ebenso  unverhohlen  und  glüddich 
kopiert  wie  er  das  früher  mit  Beethoven  getan  hat  Das 
bedeutendste  Stück  der  E dur-Sinfonie  ist  ihr  dritter 
Satz  (Adagio  ma  non  troppo,  Desdur,  V4)*  Tiefernst  be- 
ginnt ihn  der  Posaunenchor,  besorgten  Tons  wird  er  fort- 
gesetzt, da  bringt  das  zweite  Thema  (Adur)  die  Beruhi- 
gung. Der  ganze  Satz  ist  schön  und  reich  an  einlkcli 
edler  Melodik. 

Das  Finale  setzt  mit  einem  Allegro  moderato,  dem 
sich  abermals,  wie  der  Einleitung  der  zweiten  Sinfonie, 
eine  bestimmte  Tonart  nicht  zuweisen  läßt,  im  Vierviertel- 
takt wild  und  entsetzt  ein.  Bald  macht  es  dem  Haupl- 
tempo  (Allegro  vivace,  Edur,  s/s)  Platz,  das  die  Aufregung 
zunächst  mit  einem  Thema: 


'^■' 81  r  ir',ju.i  j  n  ir  r  in  ir  m 

^Kontrabaß«) 


825 


dämpft,  hinter  dem  wir  gleich  eine  Fuge  erwarten.  Sie 
kommt  auch  richtig,  gelangt  aber  nur  bis  zur  zweiten 
Stimme,  die  das  Cello  hat.  An  der  Stelle  der  nun  fäl- 
ligen Bratschen  kommen  die  Holzbläser  \md  mit  ihnen 
sdielmische  und  schalkische  Geister.  Ihnen  üb^ant- 
wortet  der  Komponist  im  weiteren  mehr  und  mehr 
den  Satz.  Zunächst  stimmt  er  im  Sinne  des  zweiten 
Themas  wieder  eine  Wiener  Ländlerweise  von  der  be- 
haglich traulichen  Art  an,  die  auch  Brahms  ans  Herz 
gewachsen  war.  Weingartner  spielt  aber  nicht  bloß 
auf  den  Wiener  Ton  an,  sondern  er  vertieft  sich  bis 
über  die  Ohren  in  die  unverfälschte  flotte  Praterlustig- 
keit.  Dem  Gipfel 
des  Vergnügens 
begegnen  wir  bei 
Da  lag  auch  der  Gedanke  nicht  mehr  weit,  in  emen  regel- 
rechten Wiener  Walzer  zu  fiedlen.  Und  wirklich:  er  kommt, 
aber  doch  noch  überraschend,  nämlich  auf  Grund  des  oben 
mitgeteilteji  Fugenthemas.  Der  Spaß  ist  zweifellos  reizend, 
aber  bedauerlich  bleibt  es,  daß  der  Komponist  von  seinem 
Witz  nicht  wieder  loskommt  und  bis  zum  letzten  Takte 
forlwalzert.  Das  hatte  die  Sinfonie  nicht  verdient.  Doch 
ist  ihr  im  Grunde  nur  dasselbe  geschehen,  wie  dem  Finale 
der  zweiten,  und  beide  Fälle  zeigen,  ebenso  wie  die  Ex- 
zesse Mahlers,  daß  es  vielen  Musikern  in  unsrer  rea- 
listischen Zeit  schwer  fiUlt,  den  idealen  Charakter  der  Sin- 
fonie rein  zu  erhalten. 

Wenn  sich  Hugo  Kann,  der  seiner  Sinfonie  »An  das  Higt  iMt, 
Vaterland«  und  seiner  sinfonischen  Dichtungen  HiawathaC«on-SinfoBie 
und  Minnehaha  wegen  in  Amerika  schon  vor  Jahrzehnten 
gefeiert  worden  ist,  die  allgemeine  Aufmerksamkeit  deut- 
scher Kreise  endlich  mit  seiner  zweiten,  der  Cmoll*Sin- 
fonie  (Op.  86)  erschlossen  hat,  so  ist  das  ein  wohlver- 
dienter Erfolg.  Denn  sie  ist  eine  der  charaktervollsten 
und  klarsten  Arbeiten  der  neueren  Zeit  und  kommt  i^qs 
einem  reichen  und  durch  ungewöhnliche  Feinheit  persön- 
lich geprägten  Empfindungsleben,  das  sich  auch,  teilweise 
wenigstens,  einen  Stil  für  sich  geschaffen  hat.    Ihr  dich- 


826 

ierisches  Problem  ist  der  tausend  und  abertausendmal 
schon  behandelte  Kampf  ums  Qiück,  es  findet  aber  —  für 
unsre  Zeit  symptomatisch  —  eine  trübe,  tragische  Lö- 
sung, ähnlich  wie  das  noch  zuletzt  in  den  Sinfonien  von 
AlfrÄi,  Suk,  Sibelius  der  Fall  war.  Nach  Inhalt  und  Stil 
ist  der  erste  Satz  der  bedeutendste.  Hier  setzt  sich  die 
Sehnsucht  nach  Sonnenschein  und  Lebensfreude  mit 
einer  tiefsinnigen  Beklommenheit  in  eigner  Weise  ausein- 
ander, nämlich  so,  daß  die  Elemente  des  Glücks  nie 
den  Platz  überzeugend  behaupten.  So 
oft  sie  sich  anschicken,  einen  Sieg  zu 
feiern,  kommt  das  Signal  des  Fatums 
Die  Erfindung  Kauns  ist  unverkennbar  von  Wagner  be- 
einflußt, besonders  die  Motive  des  Feuerzaubers  und  der 
Tarnkappe  haben  eingewirkt,  aber  der  Komponist  hat  auf 
dem  Wagnerschen  Grund  sich  ein  eignes  System  für 
Harmonik  und  Stimmführung  ausgebildet,  das  gern  seltne 
Nonenakkorde  verwendet  und  verkettet,  das  mit  wühlen- 
den Durchgängen  begleitet,  nach  freien  Wechselnoten 
und  in  Berlioz'  Art  nach  fremden,  am  liebsten  querstän- 
dischen Akkordfolgen  fahndet.  In  dieser  reichen  Verwen- 
dung unwesentlicher  Dissonanzen  unterscheidet  sich  aber 
Kann  von  andren  Modernen  dadurch,  daß  er  dieses  und 
die  verwandten  Ausdrucksmittel  nicht  maniermäßig 
verschwendet  und  mißbraucht;  sie  sind  vielmehr  Überall 
eine  romantische  Würze  der  Hauptideen,  und  er  ge- 
winnt ihnen  Farben  von  einer  Zartheit,  Tiefe  und 
Wärme  ab,  die  diesen  Sinfoniesatz  in  Herz  und  Ge- 
dächtnis eingraben. 

Das  Adagio  strebt  aus  der  Erregung,  die  sich  in 
der  Unruhe  der  Modulationen  äußert,  mit  Gebet  und 
Erinnerung  hinauszukommen.  In  der  Gestaltung  der 
Themen  und  Melodien  wechselt  Pathos  mit  Schlichtheit, 
Spräche  und  Stil  schwanken  etwas  zwischen  neuer  und 
alter  Zeit;  letztre  ist  durch  zahlreiche  Bachsche  Vor- 
halte vertreten.  Das  Scherzo  hat  den  grimmen  Humor 
des  Hagen  in  Wagners  >Ring«,  sein  Tonspiel  durch- 
zieht  es   wie   WafTenklang.     Das   Finale   beginnt   mit: 


827 


! 

t 


also  mit  den  plampen  und 
^^'brutalenMarschrhythmeD , 
di^  eine  Spezialität  Mahlers  sind.  Kann  steigt  indessen 
nicht  ganz  in  diese  prosaische  Sphäre  herab,  sondern  er 
gibt  dem  Satz  den  Charakter  eines  Trauermarsches, 
dessen  Melodien  in  die  Klage  erregte  Motive  aus  dem  vor- 
hergegangenen Scherzo  mischen.  Möglicherweise  hat  ihm 
die  Form  eines  militärischen  Begräbnisses  vorgeschwebt. 
Logisch  ist  dieser  Ausgang  der  Sinfonie  ohne  Zweifel, 
aber  eben  so  sicher  kann  man  sich  ihn  schöner  und 
ihrem  Anfang  würdiger  angepaßt  denken. 

Bedeutend  zahlreicher  ist  die  Gruppe  der  deutschen 
Komponisten,  die  bisher  nur  eine  Sinfonie  geschrieben  oder 
veröttentlicht  haben.  An  ihrer  Spitze  stehen  nach  Zahl 
der  Aufführungen  Eduard  Sträßer,  Max  Reger  und  Fritz 

Volbach.    in    zweiter  Reihe:    Georg    Göbler,    Ferdinand 
Hummel,  Paul  Juon,  Georg  Schumann. 

Daß  die  G  dur-Sinfonie  (Op.  26)  Ewald  St r äße rs  Ewald  striier, 
sich  so  schnell  und  weit  verbreitet  hat,  verdankt  sie  der  ^  ^*'"  ^*"'®"*®- 
großen  Dosis  Originalität,  welche  namentlich  die  beiden 
Schlußsätze  auszeichnet.  Die  Sinfonie  ist  das  Produkt 
eines  ausgesprochnen  Romantikers,  der  keine  Empfin- 
dung, keinen  Satz  aussprechen  kann,  ohne  auch  den 
Gegensatz  mit  zu  berühren  und  konträre  Stimmungen 
hereinschillern  zu  lassen.  Aber  er  bewegt  sich  auf  diesem 
Boden  mit  einer  ähnlichen  Frische  wie  Hermann  Götz, 
au  dessen  F  dur-Sinfonie  Sträßers  erster  Satz  lebhaft  er- 
innert. Sträßer  ist  aber  das  stärkere  Temperament  und 
in  der  Formbehandlung  selbständiger.  Hier  in  der  Frei- 
heit des  Vortrags,  in  der  Unmittelbarkeit,  mit  der  die 
Themen  vor  unsren  Augen  entstehen  und  Gestalt  ge- 
winnen, erinnert  der  Komponist  an  Robert  Volkmann 
und  seine  D  moll-Sinfonie.  In  voller  Deutlichkeit  zeigt 
sich  die  dramatische  Individualität  Sträßers  zuerst  im 
zweiten  Satz,  im  Andante,  an  der  Stelle,  wo  nach  der 
rezitativischen  Einführung  des  zweiten  Themas  die  Er- 
regung in  ruhige  Klage  verwandelt  und  in  Fugenform 
ausgeführt  wird,  dann  wieder  in  leiden8cb«i^U\cYie  0\ul 


\ 


828    ♦— 

ger&t,  als  müßte  dos  Glück  erzwungen  werden.  Und  da 
grade  wird  kurz  abgebrochen,  und  rührend  seM  das 
Hanptthema  des  Satzes  mit  seiner  Resignation  wid  Er- 
gebung wieder  ein.  Der  eigentümlichste  Satz  ist  der 
dritte,  ein  Scherzo,  das  sich  über  den  Charakter  der 
Gattung  ganz  hinwegsetzt.  Nur  die  Figuren  und  Rhyth- 
men der  Geiger  halten  an  der  üblichen  Raachheit  und 
Lebendigkeit  fest,  der  Kern,  der  in  den  Themen  der  Hör- 
ner und  Trompeten  liegt,  ist  herb,  ernst  und  trotzig.  Das 
Trio  kost  und  schwärmt  nicht,  sondern  schlägt  eine  Art 
Marschweise  an.  Die  ganze  Sinfonie  ist  schwer  m  spielen, 
am  meisten  das  Finale,  das  sich  inhaltlich  mit  dem  von 
Beethovens  Achter  berührt  und  voll  harter  Humoie  ist 
Auf  weitre  Sinfonien  des  Komponisten  darf  man  froße 
Hoffnungen  setzen.* 
MftK  Kefer,  Die  Sinfonietta  (Adur,  Op.  90)  von  Max  Reger 
sinfonietta.  },gt  wesentlich  der  Name  des  Komponisten  flott  ge- 
macht, aus  eigner  Macht  sich  Freunde  zu  erwerben,  ver- 
mag sie  nicht;  sie  überschwemmt  mit  Tönen  ohne 
Musik.  Durch  seine  Serenade  und  duich  die  Variationen 
über  das  Thema  des  alten  Hiller  hat  Reger  genügend 
bewiesen,  daß  auch  die  Orchesterkomposition  auf  ihn 
Hoffnungen  setzen  darf;  wenn  sie  durch  die  Sinfonietta 
eine  Enttäuschung  erfahren,  so  liegt  das  allem  Ansehein 
nach  daran,  daß  der  Komponist  ohne  ausreichende 
Sammlung  zu  Werke  gegangen  ist  und  sich  zu  sicher 
auf  die  Macht  seiner  kontrapunktischen  Fertigkeit  ver- 
lassen hat.  Das  hat  sich  namentlich  am  ersten  Satze 
gerächt.  Ihm  fehlt  der  geistige  Fond  in  einem  Grade, 
der  bei  namhaften  Komponisten  gradezu  unerhört  ist. 
Die  Ursache  liegt  weniger  an  dem  Mangel  eines  sinfo- 
nischen Gedankens,  als  daran,  daß  das  kleine  heitre 
Motiv,  das  Reger  an  die  Spitze  des  Satzes  stellt,  nicht 
genügend  festgehalten  wird. 

Es  ist  an  und  für  sich  nicht  schlechter  und  nicht 
besser,  als  eine  Menge  thematischer  Einfälle,  aus  denen 
Borodin  und  andre  Vertreter  nationaler  Schulen  große 
und  hübsche  Sätze  entwickelt  haben.    Aber  Reger  treibt 


829 


sofort  Allotria  mit  Nebenmotiven  und  kleinsten  Künsten 
und  seheint  darüber  den  Ausgang  der  Komposition  nahezu 
vergessen  zu  haben  und  zu  einem  Plan  kaum  gekommen 
zu  sein.  Ein  formeller  Gegengedanke  ist  zwar  da,  aber 
aus  Mangel  an  Plastik  geht  er  ziemlich  spurlos  vorüber, 
und  auch  die  sehr  guten  Stellen  humoristischer  Natur, 
die  der  Satz  ohne  Zweifel  hat,  bleiben  ohne  Eindruck. 

Die  weitren  drei  Sätze  sind  dem  ersten  an  Menge 
treulicher,  zuweilen  eminent  volkstümlicher  Gedanken 
und  im  maßvollen  Charakter  der  kontrapunktischen  Aus- 
stattung überlegen,  aber  auch  in  ihnen  verdirbt  sich  der 
Komponist  alles  durch  modulatorischen  Schwulst. 

Die  Sinfonie  (Hmoll,  Op.  33)  Fritz  Volbachs,  der  Priuv*lkMb, 
bisher  hauptsächlich  durch  kleinere  Werke  für  Chor  oder  ^  «on-sinfonie 
Orchester  nekannt  geworden  ist,  verdankt  ihren  Erfolg 
weniger  den  musikalischen,  als  den  künstlerischen  Fähig- 
keiten des  Verfassers.  Sie  ist  nach  jener  Seite  durchaus 
tüchtig,  auch  durch  die  Einwirkungen  alter  Musik  von 
besonderem  Interesse,  indessen  angesichts  der  offenbaren 
Berührungen  mit  Händel,  mit  Mendelssohn  und  andren 
neueren  Größen  nicht  originell  zu  nennen.  Aber  die  Sin- 
fonie zeichnet  sich  durch  Einheitlichkeit,  Planmäßigkeit 
und  dadurch  aus,  daß  sie  bei  vollständiger  Klarheit  und 
Obersicht  doch  besondre  Bilder  bietet.  Sie  gleicht  in 
dieser  Beziehung  bis  zu  einem  gewissen  Grade  den  Werken 
Heinrich  von  Kleists,  das  Eigne  ihres  Inhalts  aber  besteht 
in  der  Darstellung  eines  trotzigen,  wetterharten  Charak- 
ters, etwa  einer  geschichtlichen  Figur  vom  Schlage  Oliver- 
Cromwells.  Die  Darstellung,  die  in  den  gewöhnten  Formen 
der  viersätzigen  Sinfonie  verläuft,  ist  knapp  und  hält 
konsequent  die  Hauptzüge  des  Vorwurfs  fest.  Dieser 
Konsequenz  fügt  sich  die  theiAatische  Erfindung,  ihr  ent- 
springen auch  einzelne  Abweichungen  vom  regelrechten 
Satzsystem.  Gleich  der  erste  Satz  zeigt  eine  solche,  in- 
dem er  zu  dem  Hauptthema: 

Lebhaft 

jk a n     ■■       .,.  wi..iTi> — k— 

eto. 


830 


J:Lt  j'iirrpirrr  irf^^sa.:^: 


der  obren,  sondern  in  der  unUren  Dominant  anfstellt. 
Dadnrcb  bleibt  er  h&rter  und  für  die  alsbald  erfolgende 
Fortsetzung  in  Form  einer  streitbaren  Acbtälkette  gdejg- 
neten  Die  in  der  Durchführung  veranschauliehten  Pläne 
und  Taten  des  Helden  der  Sinfonie  stützen  sich  fast 
ausschließlich    ri|   H^n  ^  Hl    f-  ^^^   weitrer 

auf  die  Motive  •  •  »  -jJ-^  •.  ^^^  •**  *^'  bedeutungs- 
voller Charakterzug  tritt  in  der  häufigen  Einfügung  von 
Fermaten  und  in  feierlichen,  choralartigen  Episoden  des 

Posaunenchors  hinzu. 

Daß  die  Ereignisse  und  Gestalten,  die  in  Yolbachs 
Sinfonie  die  Phantasie  beschäftigen,  in  alten  Zeiten 
zu  suchen  sind,  geht  besonders  aus  ihrem  Scherzo 
bestimmt  hervor.  Sein  an  deh  Fliegenden  Holländer 
R.  Wagners  presto  ä 

könnte  der  Rhythmik  und  auch  dem  Tone  nach  ganz  gut  aus 
einem  Mensuralkodex  stammen  und  leistet  der  Einheitlich- 
keit der  Sinfonie  einen  vorzüglichen  Dienst.  Gegen  sein  kampf- 
gerüstetes Wesen  können  die  anmutigen  Regungen  fried- 
lichen Lebensglücks,  die  sich  ihm  entgegen  drängen,  nicht 
aufkommen;  die  letzten  Takte  des  Satzes  betonen  seine 
herrische  Natur  nochmals  ganz  unbarmher^g;  es  wird  nicht 
geschlossen,  sondern  mit  wildem  Ungestüm  abgebrochen. 

Die  gesangreichen  Melodien  des  Adagios  bedeuten 
Bitten,  Gebete  und  Äußerungen  schwacher  und  zögernder 
Hoffnung.  Mehr  als  in  den  ausgeführten  Themen,  des 
Satzes,  liegt  sein  geistiger  Kern  in  dem  kurzen  Motiv 
Adagio  mit  dem  ein-  und  wiederholt  über- 
Vfjj^*  ']|iJ   I  J.    geleitet,  auch  der  Schluß  bestritten. 

wird.  Es  ist  aus  >Asas  Tod«  in  Griegs 
erster  Peer-Gynt-Suite  sehr  bekannt,  tut  aber  auch  hier 
seine  Schuldigkeit 

Der  religiöse  Unterton,  der  die  ganze  Sinfonie  durch- 
zieht, kommt  im  Finale  deutlich   zum  Vorschein.     Mit 


$ 


-^   B51    ^^ 

einem  Posaun ensätz,  der  eine  liturgisc^he  Intonation  des 
»Halleligalic  spielt,  wird  es  eröffnet,  mit  einer  vom  gaiizen 
Orchester  träumerisch  entzückt  eingesetzten,  in  ernste, 
glänzendste  Festklänge  ausmündenden  Paraphrase  dieses 
Halleligah  geschlossen. 

Daß  die  ohne  Opuszahl  veröfTentlichte  D  moU-Sinfonie  Georg  0<klert 
Georg  Göhlers  eine  Jugendarbeit,  vielleicht  eine  Frucht  ^™®""S»"'<*"»* 
erster  Versuche  ist,  ergibt  sich  aus  d^m  Wertunterschied, 
der  zwischen  den  Stellen  der  Erfindung,  der  InspirsEtion 
und  denen  der  Arbeit  oder  der  dichterischen  Kraft  besteht. 
Die  Übergänge  und  die  ihnen  verwandten  Abschnitte, 
welche  der  Komponist  im  Augenblick,  wo  eine  Idee  sich 
an  den  Hauptpunkten  zu  Tönen  klärt,  noch  auf  sich  be- 
ruhen läßt,  machen  sich  zum  Teil  als  Nachguß  bemerklich 
und  sind  mit  den  Hauptträgern  der  Sätze  nicht  zum 
Ganzen  verschmolzen.  Doch  gilt  das  durchaus  nicht  für 
alle ;  den  schwächeren  Stellen  stehen  hier  gleichviel  meister- 
lich gelungene,  durch  Geist  und  Frische  ausgezeichnete 
gegenüber,  und  in  der  Hauptsache  zeigt  diese  Sinfonie 
ein  so  starkes  und  selbständiges  Talent,  daß  die  ver- 
hältnismäßig beträchtliche  Zahl  von  Aufführungen,  die  sie 
erfahren  hat,  ganz  natürlich  ist. 

Da  von  den  fünf  Sätzen  der  erste  in  den  zweiten 
übergeht,  und  der  dritte,  vierte,  fünfte  einander  ebenfaUs 
ohne  Unterbrechung  folgen,  haben  wir  es  mit  einer  Sinfonie 
zu  tun,  die  einen  Lebensbericht  in  zwei  Hauptbüdem 
gibt.  Diese  können  vielleicht  als  Jugend  und  Reife  über- 
schrieben werden.  Der  erste  teilt  $ich  in  tatenfrohes 
Stürmen  (Allegro  risoluto)  und  blindes  Genießen  (Tempo  di 
Valse);  der  zweite  wendet  sich  von  Enttäuschung  und 
Entsetzen  (Vivace  fürioso)  über  ernstes  Besinnen  (Adagio) 
zu  neuer  edler  Lebensfreude  (Allegro  appassionato  e  trion- 
fiante).  Dieser  schlichte  und  ungesudite  Inhalt  ist  mit 
ebenso  natürlicher  und  einfacher  Musik  und  in  einem 
Stil  wiedergegeben,  der  allen  rhetorischen  Aufputz  ver- 
schmäht Eine  wirkliche  innere  Originalität,  &e  keiner 
äußeren  Nachhilfe  bedarf,  spricht  deutlich  genug  aus  der 
thematischen  Erfindung  und  aus  der  zuweilen  ^uf^eudWciheu 


— »    832    4— 

Keckheit  der  Gedanken  selbst  oder  dertorm,  die  sie  sich 
gewählt  haben.  Das  Höchste  leistet  nach  dieser  letzten 
Beziehung  der  Walzer,  der  melodisch  nur  ßben  noch 
skizziert  ist  und  stellenweise  dem  Rhytlimus  die  ganze 
Schilderung  überläßt.  Auch  ist  sein  sinnberauschender 
Klang  ein  bedeutendes  Zeugnis  für  die  angeborene  In- 
strumentationsbegabung des  Komponisten. 
F.  HiMM«!,  IMe D  dur-Sinfonie  (Op.  105)  von  Ferdinand  Hummel 

D  dar-Sinfonie.  hat  unter  den  neueren  Werken  ihre  eigne  Marke  durch  die 
Entschiedenheit,  mit  welcher  sie  einen  freundlichen,  häteren 
Grundton  durchführt  Ihre  Anakreontik  steht  zwar,  wenn 
wir  an  Rufer,  Weingartner  oder  an  die  zweite  Sinfonie 
von  Brahms  denken,  in  unsrer  wesentlich  pessimistischen 
Zeit  nicht  vereinzelt,  aber  sie  ruht  bei  Hummel  auf  einem 
echten  und  breiten  Naturgrund.  Das  zeigt  sich  darin, 
daß  seine  von  der  Form  geforderten  Ideen  der  Ab- 
wechselung mehr  auf  Steigerung  der  Lebensfrende  als 
auf  Kontraste  hinauslaufen.  Wirklich  melancholischen 
Kreuzungen  gestattet  er  nur  in  den  Durchführungen 
vorübergehend  Zutritt,  und  so,  daß  ein  ernstliches  Ringen 
und  Kämpfen  unterbleibt.  Die  gewohnte  motivische  Ent- 
Wickelung  wird  auch  hier  durch  fertige  Themen  und 
Melodien  ersetzt.  Alles  in  dieser  Sinfonie  ist  bequem 
und  angenehm  feU^lich,  am  '  meisten  das  im  Hauptsatz 
Mendelssobnisch  gefärbte  Scherzo  und  das  im  schlichten 
Yolksliedstil  beginnende  Adagio. 
v.i•^mf  Paul  Juons  A dur-Sinfonie  (Op.  23)  beginnt  außer- 

A  dur-Sinfonie.  ordentlicher  Weise  und  ähnlich  wie  Goldmarks  »Länäiche 
Hochzeit«  nicht  mit  einem  Sonatensatz,  sondern  mit 
Variationen,  als  eine  Art  freier  PassacagUa  oder  Giaconne. 
Das  entschieden  nordisch  klingende  Tl^ema  ist  ein  zwei- 
teiliges Lied  von  gemischter  Stimmung;  es  fängt  firöhlich 
beschaulich  an,  läßt  aber  am  Ende  beider  Hälften  einen 
Verdruß,  einen  Zweifel  merken.  Die  Variationen  führen 
nun  die  seelischen  Qualitäten,  die  sich  in  dieser  Skizze 
bergen,  breit  und  deutlich  vor.  Zunächst  stehen  finstere 
Entschlossenheit,  Kraft  und  Erregbarkeit  an  der  Spitze, 
dann   kommen    mit   einem  Adagio   und  einem  Andante 


--^    838    ^^ 

innige  Regungen  ei|ies  warmen  Gemütes,  mit  einer  Art 
langsamen  Walzers  freundliche  Humore  zum  Wort,  den 
Schluß  bildet  aber -eine  äußerst  trotzige,  gelegentlich  wÜde 
Fuge.  Der  Satz  zählt  unter  die  gehaltvollsten  I^eistungeiL 
moderner  Variationenkunst  und  hat  seinen  Hauptwert 
darin,  daß  er  ebenso  logisch  wie  natürlich  ein  rei<^es 
Giaiakterbild  entwickelt. 

Das  Scherzo  und  der  langsame  Satz  —  dieser  als 
Romanze  bezeichnet  —  passen  sich  dem  Plane  der 
Passacaglia  folgerichtig  darin  an,  daß  sie  die  hellen  gegen 
die  düsteren  Elemente  zurücktreten  lassen.     Das  Finale  : 

hM  Sonatenform  mit  dem  Thema  der  Variationen  des  ! 

ersten  Satzes  als  Hauptthema.    Dieses  tritt  jetzt  mit  dem  i 

Aufgebot  äußerster  Energie  und  Kraft  auf,  bald  stürmisch 
und  bedrohlich,  bald  in  stolzer  Ruhe,  einmal  auch  —  ein  \ 

Rezitativ  der  Klarinette  kündigt  die  Stelle  an  ^  demütig,  I 

bittend,  in  Triolen  schmeichelnd.      Der  Ausgang  bleibt  i 

hart  und  unbeugsam.     Das  Finale  ist  in  bezug  auf  un-  1 

mittelbare  Inspiration  der  bedeutendste  Satz  der  Sinfonie  i 

und  hat  meisterliche  Stellen  ersten  Ranges.  ( 

Daß  die  F moll-Sinfonie  (Op.  42)  Georg  Schumanns  ti.  Sehvni an o,  ^ 

sich  wenig  verbreitet  hat,  kommt  von  der  unverkennbaren  ^  «noll-Sinfonie.         ; 
Ungleichheit  des  Werkes,  von   dem  geföhrlichen  Natur- 
geschenk einer  leichten  Feder.    Sie  hat  einen  Satz,  der 
des   ungeteilten   allgemeinen  Beifalls  sicher  ist  in  ihrem  ! 

Scherzo  mit  dem  unwillig  drängenden  Hauptthema  und 
dem  köstlich  einfach  und  volkstümlich  zusprechenden 
Trio.  Der  stammt  von  dem  ausgezeichneten  Humoristen, 
der  die  Serenade  der  zurückgewiesenen  Liebhaber,  der 
die  Variationen  über  das  lustige  Thema  geschrieben  hat. 
Auch  sonst  ist  an  der  Sinfonie  vieles  zu  loben,  vor  allem 
der  kla];e  Plan,  nach  dem  sich  die  Sätze  folgern,  und  nach 
dem  das  Ganze  sich  durch  die  thematische  Einheitlichkeit, 
die  zwischen  erstem  Allegro  und  Finale  besteht,  abrundet 
Auch  die  starke  dramatische  Begabung,  die  im  Anfang  des 
Ruthoratoriums  des  Komponisten,  die  im  Mittelsatz  seines 
hundertsten  Psalms  so  selbständig  hervortritt^  findet  man 
in  einzelnen  Durchführungsabschnitten  der  SÜ^^^^^  wieder. 

KretsBcbmar,  Ffihrer.    I,  1.  g^ 


_^    834    ♦>-- 

Forner  zeichnep  sich  die  Hauptthemen  des  ersten  imd 
zweiten  Satzes  ^urch  Charakter ,  jenes  .  durch  leiden- 
schaftliche Melancholie^  diese«;  durch  Innigkeit  aus.  Die 
Schwächen  liegen  in  matter  erfundenen  (jregenthemen 
und  in  allzu  starken  Anklängen  an  Wagner  in  erster^  an 
Brahms  in  zweiter  Linie. 

Es    bleibt    von    der    neuesten    deutschen    Sinfönie- 
komposition  nur  noch  ein  Best  von  Werken  übrig,   die 
bisher   noch   gar  nicht  oder  sehr  wenig  aulgefuhrt  und 
bekannt  geworden  sind.    Da  mag  ganz  kurz  auf  die  Sin- 
H.BehBi.  fonien  von  Hermann  Behm,  Hermann  Bischofl^  Karl 
W-Bi"*»®*^'  Bleyle,  G. Fiteiberg,  Robert  Hermann,  C.A.Lorenz, 
0. Fitelberg!  Emanuel  Moor,  Max  von  Oberleithner,  Emil  Paar 
B. HermanH!  und  Heinrich  Zöllner  hingewiesen  werden.     Die  der 
C.  A.  LoreHs.  beiden  letztgenannten  Komponisten  sind  Arbeiten  lebens- 
*'^J*'*  freudiger  Natur,   im  Stil   zeigen  beide  den   routinierten 
lelthner.     Eklektiker.    Die  Paursche,  den  Pittsburger  Musikfreunden 
E.  Pa«r.  und  ihrem  Sinfonieorchester  gewidmet,  hat  ähnlich  wie 
U. ZdliBer.  Dvofäks  »Aus  der  Neuen  Welt«  Einlagerungen  spezifisch 
amerikanischer  Musikkultur.   Oberleithner,  von  dem  bereits 
zwei  Sinfonien  vorliegen,  scheint  über  die  ihm  gewiesene 
Richtung  noch  nicht  klar  zu  sein,   seine  gelungensten 
Leistungen  liegen   auf  der  Seile  natürlicher  Einfsichheit 
und  Schlichtheit,  sein  Streben  gilt  aber  mehr  dem  großen 
Pathos  und  der  Leidenschaftlichkeit  im  Wagn ersehen  Stil 
Die  Sinfonie  von  Bischofif,  reich  an  guter,  plastischer  and 
eigner  Erfindung,  ist  das  Werk  eines  wirklichen  hervor- 
ragenden Talentes,  bei  der  von  Robert  Hermann  überwiegt 
der  Eindruck  des  Affektierten,  die  von  Bleyle,  deren  Sätze 
ohne  Pause  abgespielt  werden,  ist  frisch,  hie  und  da  auch 
sehr  gewöhnlich  erfunden  und  durchschnittlich  nur  mit 
mäßigem  Glück  entwickelt.    Eine  Kraft,  die  zu  gangbaren 
Bahnen  über  Brahms  und  Brückner  hinaus  fuhren  könnte, 
birgt  sich  auch  in  dieser  Liste  nicht 

Obwohl  der  Aufschwung  in  der  außerdeutscheit 
Orchesterkomposition,  als  er  in  der  ersten  Hälfte  des 
19.  Jahrhunderts  begann,  zunächst  nur  der  Programmusik 
und   der    Pflege   und    Weiterbildung   nationaler,  volks- 


^^    835    <^ 

tumlicher  Musikelemente  ziigule  zu  kommen  schien,  so 
gelangte  doch  im  weiteren  Verl«iuf  auch  bei  ihr  die 
Sinfonie  nach  klassischem  Master^  die  Sinfonie,  welche 
subjektive  Stimmungen  ihrer  Verfasser  in  breiten  Bildern 
entrollt,  auf  den  ersten  Platz.  Die  Russen,  ebenso  die 
Böhmen,  haben  das  nationale  Element  in  dhr  Sinfonie 
allmählich  zurücktreten  lassen;  auch  bei  den  Fran- 
.zosen  spielt  die  mehrsätzige  Programmsinfonie  eine 
untergeordnete  Rolle.  Der  Schatz  ihrer  klassischen  Sin- 
fonien ist  dagegen  in  der  letzten  Zeit  um  einige  bedeu- 
tende Stücke  vermehrt  worden. 

Als  erstes  derselben  nennen  wir  die  Dm  oll- Sinfonie     c.  Franok, 
von  G^sarFranck.   Franck  ist  zwar  in  Lüttich  geboren,  D  moll-Sinfonie. 
aber  einer  jener  Belgier,  die  ohne  Abzug  der  französi-  l 

sehen  Schule  zugewiesen  werden  können.    In  Paris  hat  | 

er  gelebt  und  gelitten.    Erst  nach  seinem  Tode  suchte  ; 

man  das  Unrecht  wieder  gut  zu  machen,  das  die  blinde 
Mitwelt    seinem   hervorragenden   Talente  zugefügt  hat.  f 

Namentlich  seinem  letzten  Oratorium,  »Die  Seligkeiten«,  ' 

ist   dieser  Umschwung   zugute   gekommen;    im  Gefolge  '  I 

dieses  Werkes  erschien  dann  hie  und  da  wohl  auch  eine 
oder  die  andere  seiner  interessanten  sinfonischen  Dich- 
tungen. Die  bedeutendste  seinerlnstrumentalkompositionen 
ist  aber  seine  D moll-Sinfonie,  die,  ebenfalls  aus  dem 
Nachlaß  und  ohne  Opuszahl  veröffentlicht,  den  Anspruch 
erheben  darf,  allgemein  gekannt  zu  sein. 

Dem  Inhalt  nach  ist  sie  offenbar  ein  Stück  Selbst- 
biographie, eine  jener  gegen  ein  hartes  Schicksal  gerich- 
teten Klagen,  wie  wir  sie  in  der  neuen  Sinfonieliteratur 
ziemlich  häufig  haben.  Dieser  Charakter  allein  würde 
seiner  Zeit  für  einen  französischen  Mißerfolg  genügt  haben. 
Erschwerend  kain  aber  hinzu  ^  daß  Francks  Stil  von 
nationalen  Rücksichten  keine  Notiz  nahm  und  Wagner- 
sche  und  Lisztsche  Ausdrucksmittel  anwandte,  an  die^ 
sich  selbst  Berlioz  nicht  gewagt  hätte.  Die  Franzosen 
waren  damals  den  Harmonien  gegenüber  noch  sehr  kon- 
servativ und  empfindlich.  Franck  aber  fügt  die  Nonen- 
akkorde  kettenweise  hintereinander,  wqtid  et  ^^  gestimml 

53* 


-^     836    ^>- 

ist,  und  drückt  seinen  Zuhörern  die  schönsten  Quinten- 
parallelen  förmlich  ins  Ohr,  wenn  sie  ihm  für  einen 
poetischen  Zweck  am  Platz  erscheinen.  Er  nimmt  als 
Poet  and  Gharakterkopf  wieder  Berliozsche  Tendenzen 
auf,  aber  mit  weit  reicherem  Können.  So  ist  er  der 
Vater  der  neueren  französischen  Instrumentalkomposition 
geworden,  das  Motto  ihrer  Führer  Debussy  und  Dokas: 
Emanzipation  von  der  Grammatik,  geht  auf  Franck  za- 
rück.  Für  Frankreich  bedeutet  er  eine  geschichtliche 
Größe,  für  die  Hyperpatrioten  sogar  eine  Kombination 
von  Beethoven  und  Wagner*). 

Die  Sinfonie  Francks  ist  nur  dreisätzig.  Ihr  erster 
Satz  richtet  Fragen  an  den  Himmel,  die  in  dem  einfach 
gehaltvollen  Hauptthema  der  Einleitung 


rfwr.' 

zr  .  r  ä^L   i    -     1  ^^  entschiedensten  zum  Ausdruck 
[    f  l    Lj   \    '^    I  kommen.  Auf  diese  Töne  gestützt, 

^  bittet  der  Tondichter  demütig  und 
vertrauensvoll,  blickt  schwermütig  umher,  klagt  stürmiscb 
und  verzweifelt.  Die  schönsten  Stellen  sind  die,  wo  er, 
von  den  freundlichen  Hoffnungen,  die  im  zweiten  Thema 
auftreten,  den  Blick  abwendend,  Worte  der  Ergebung 
stammelt.  Wie  er  diese  einfachen  Motive  mit  dem  freund- 
lichen Gesicht  so  in  die  Pausen  hineinsprechen  läßt,  immer 
leiser  —  das  ist  tief  rührend  und  außerordentlich  poetisch! 
Sieht  man  die  Musik  Francks  auf  Originalität  und  auf 
Quellen  hin  an,  so  findet  sich  unter  den  letzten  Mendels- 
sohn mit  den  heftigen  Rhythmen  der  Erregung,  Wagner 
mit  der  Tristanchromatik  vertreten.  Die  Anlehnung  an 
Wagner  ist  aber  nicht  bloß  äußerlich.  Kein  andrer  Kom- 
.  ponist  weiß  uns  mit  kleinsten  und  intimsten  Intervallen 
besser  in   den  Zustand  einer  Seele  zu   versetzen,   die 


*)  Vincent  d'Indy :  G(^8ar  Franck.    (Lob  mattree  de  la  mn- 
fliqne.)     1907. 


— ♦     837     0^ 

supht  und  versucht  und  immer  wieder  nach  einem  Aus- 
weg sucht. 

Der  zweite  Satz  ist  ein  AUegretto,  wie  wir  keius 
daneben  haben.  Trotz  seines  Dreivierteltakts  hat  es  in 
dem  Begleitungsapparat  —  in  Harmonien  und  Rhythmen 
—  den  Charakter  eines  Trauermarschs.  Dazu  klingen 
aber  Melodien,  als  wenn  der  Komponist  bei  den  Er* 
innerungen  seiner  Kindheit  weilte  und  das  Bild  der 
Mutter  fände,  die  am  Abend  ihren  Kleinen  Schlummer- 
lieder sang. 

Der  Schlußsatz  versucht  munter  und  kräftig  zu 
werden.  Aber  schon  sein  erstes  Thema  fällt  leicht  auf 
das  Fragemotiv  des  ersten  Satzes  zurück.  Des  weitem 
geht  er  fast  ganz  in  Reminiszenzen  an  diesen  und  an 
das  Allegretto  auf.  Am  Schluß  hin  sagt  uns  Grabgeläut 
in  den  Bässen:  was  geworden  ist.  Einige  Takte  im 
feierlich  freudigen  Ton  der  Apotheose  bilden  das  kurze 
Ende. 

Während  Aufführungen  dieser  Franckschen  Sinfonie, 
in  Deutschland  wenigstens,  immer  noch  selten  sind,  haben 
die  Sinfonien  von  GamilleSt.  Safins  sich  einen  festen 
Platz  erobert.  Auf  länger  behaupten  werden  ihn  aller- 
dings nur  seine  zweite  und  dritte  Sinfonie.  Denn  die 
erste  (Esdur,  op.  2)  hat  mehr  biographisches  Interesse  0. 8t.s»«Bf, 
als  eignen  Gehalt.  Indes  ist  die  Form  mit  einer  an-  Sinfonie  in  Es. 
gebomen  Sicherheit  und  mit  einem  starken  Sinn  für  scharfe^ 
Wirkungen  behandelt.  Reminiszenzen  aus  Klassikern 
mischen  sich  ungezwungen  mit  eignen  Vorstellungen. 
Unter  ihnen  machen  sich  Marschbilder  und  militärische 
Phantasien  besonders  bemerklieb.  Das  Adagio  erhebt  sich 
wie  ein  nachkomponierter  Teil  über  den  kindlichen  Ton 
des  Ganzen  und  bleibt  —  vielleicht  grade  aus  diesem 
Grunde  —  dessen  am  wenigsten  befriedigender  Teil.  Es 
geht  ohne  Pause  in  das  Finale  über,  in  dem  der  Kompo- 
nist seine  Fertigkeit  im  Fugieren  bloßlegt. 

Der  zweiten  Sinfonie  von  St.  Sa^ns  (Amol],  op.  65),  c. 8t.Ba€H, 
die  in  der  Schweiz  viel  Freunde  zu  haben  scheint,  wird  Zweite  Sinfonie, 
man  überall  das  Interesse  entgegenbringen,  auf  das  die 


--*    838    0^ 

neuen  Kleider  alier  Bekannter  zu  rechnen  haben.  Denn 
wirklich  originell  sind  an  der  ganzen  Sinfonie  wohl  nur 
zwei  Stellen^  die  Einleitung  des  ersten  Satzes  und  die 
feierlichen  Episoden,  mit  dem  im  Scherzo  das  Getflmmel 
der  Geigen  von  den  Bläsern  unterbrochen  wird. 

Die  eben  erwähnte  Einleitung  des  ersten  Satzes  ist 
ein  Allegro  marcato  im  6/4  Takt,  eigentümlich  durch  die  Un- 
gezwungenheit und  Natürlichkeit,  mit  der  es  die  Unfertig- 
keit  der  Stimmung  offen  darlegt  und  die  Phantasie  vor  aller 
Welt  Toilette  machen  läßt.  Das  Orchester  klingt  grade,  als 
wenn  ein  Pianist  die  Tasten  des  Klaviers  probiert  und 
nach  einem  Einfall  sucht,  hie  und  da  unterbricht  er  die 
Figuren  und  Modulationsstudien  durch  eine  dramatische 
Phrase,  und  lenkt  , 

endlich  nach  einem       Aiiegomoderaio.  J...eo 

festeren  melodi-j  i  jj  1  M  T  T  T  Mr  I  f"  f  I 
sehen    Gedanken:  ^ 

Der  Hauptteil  des  Satzes  (Allegro  appassionato,  (^, 
Amoll}  bestätigt  wieder  einmal  die  Beobachtung,  daß 
Mendelssohns  Geist  in  der  neuen  französischen  Instru- 
mentalmusik noch  frischer  lebt  als  in  Deutschland.  Das 
Hauptthema 


Allegro  M)pas8looato.  J  s  88 


belegt  das  für  sich  allein,  ebenso  wie  die  Ausführung,  die 
immer  geschickt  und  unterhaltend  bleibt.  Größre  Wirkungen 
liegen  nicht  in  sei- 

das  zweite  Thema         "^^  *  *^ 

ist  aus  derselben  Familie  wie  das  erste.  Ein  großer  Vor- 
zug des  ununterbrochen  fließenden  und  funkelnden  Satzes 
ist  seine  Knappheit. 

Noch  mehr  charakterisiert  diese  Eigenschaft  das 
Adagio  der  Sinfonie.  Es  hat  nur  79  Takte.  Das  Thema 
seines  Hauptsatzes 


— ♦     839 

Adagio.  J  «60 


erinnert  an  Beethovensche  Sonaten  und  an  Weihnachts- 
mnsiken.  Man  würde  es  gern  öfter  als  nnr  zweimal  hören. 
Von  den  zwei  Seitensätzen  (beide  in  Gismoll),  die  sich 
mit  ihm  ablösen  und  ebenfalls  durchaus  volksmäßig  schlicht 
gehalten  sind,  kehrt  der  zweite  im  Finale  wieder. 

Das  Scherzo  (Presto,  ^4»  Amollj  gibt  sich  in  seinem 
Hauptsatze  auf  Grund  des  Themas 

Seb«rso.  Presto.  J«  =  1^0. 


ScMrso.  Presto.  0«  =  11 


beetbo venisch,  variiert  aber  diesen  Familienzug  mit  einer 
tiefsinnigen  Falte,  die  durch  die  schon  erwähnten  feier- 
lichen Akkorde  der  Bläser  —  später  werden  sie  auch  vom 
Streichorchester  gegeben  —  variiert  wird.  Der  das  Haupt- 
thema variierende  Seitensatz  wird  durch  eine  Reminiszenz 
an  den  ersten  Satz  der  Sinfonie  eingeleitet  und  in  seinem 
Wesen       durch  ^^  bestimmt.     Das 

daskontrapunk-  A^  ^  aj  j  I  ^^^^^  Trio  hebt  sich 
tierende    Motiv  *  sehr     bestimmt 

vom  Hauptsatz  ab  und  gewinnt  durch  sein  reizend  liebens- 
würdiges Thema 

0''prri\fjjiriiiiii|iMiTi, iT|i 

schon  allein  zur  Genüge.  Die  Rückkehr  zum  Hauptsatz 
wird  scheinbar  begonnen  und  zwar  sehr  sinnig:  die  Trio- 
melodie erscheint  in  Bmchstücken  und  ganz  in  Pausen 
verloren.  Der  Hauptsatz  selbst  kommt  aber  nkht)  son- 
dern der  Komponist  bricht  rasch  und  verblüffend- al>. 


_^    840    <^ 

Das  Finale  (Prestissimo»  %  Adur)  ist  ein  an  Ver- 
wandlangen sehr  reiches,  fantastisch  flottes  Rondo.  Seinem 
Hauptthema,  das  flatternd  nnd  beweglich  anfängt: 

Prestissimo.  JsSOO 


j¥ii,Mji.i.iijiii]J7^irj7(>rjiniii   I 

•^  Gl8      E  A  Öls    •  J*^       B 


nxxd  stürmisch  kräftig  schließt,  treten  Nebenthemen  mannig- 
fachsten Charakters,  die  zeitweise  sehr  kunstvoll  zusammen- 
gebracht werden,  zur  Seite.  Die  wichtigsten  von  ihnen  sind: 


|¥j-ri|TLjj  iTuj.a 


und 

est.  SaSnt,  Mit  der  dritten  Sinfonie  von  CL  St.  Safins  (Gmoll, 

Dritte  Sinfonie,  op.  78)  ist  die  deutsche  Musikwelt  zuerst  durch  Franz 
Wüllner  bekannt  geworden.  Das  Werk  ist  in  der  äußren 
Gestalt  nach  mehr  als  einer  Richtung  ungewöhnlich.  Zu 
dem  an  und  für  sich  sehr  großen  Orchester  Berliozscher 
Abkunft  zieht  es,  wie  das  die  neueren  Franzosen  häufig 
tun,  noch  Klavier  heran  und  außerdem  Orgel.  Die  Orgel 
ist  in  der  Sinfonie  keine  neue  Erscheinung.  Wir  haben 
Sinfonien  für  Orchester  und  Orgel  von  dem  Dresdner 
August  Fischer,  von  dem  Pariser  Guilmant,  von  dem 
Weimaraner  E.  W.  Degner.  Doch  sind  das  im  Grunde 
Orgelkonzerte  wie  die  Händeischen,  nur  neuer  und 
modemer.  Bei  St.  Sa6ns  dagegen  handelt  sichs  nicht 
um  eine  konzertierende  Verwendung  der  »Königin  der 
Instrumente  €,  sondern  nur  darum,  die  Höhepunkte  der 
Tondichtung  mit  dem  verklärenden,  gewissermaßen  über- 
irdischen Klang  der  Orgel  noch  mehr  hervorzuheben. 
Dazu  hat  F.  Liszt  mit  dem  Schluß  der  »Fanstsinfonie« 
die  Anregung  gegeben,  und  seinem  Andenken  ist  die 
CmoU-Sinfonie  des  Komponisten  gewidmet. 


841 


Außerdem  ist  der  Aufbau  der  Sinfonie  ungewöhn- 
lich. Sie  besteht  nur  aus  zwei  Abteilungen,  doeh  findet 
man  in  ihnen  die  gewohnten  Sätze  heraus. 

An  die  Spitze         ^,.,,,  ^  /rw     2«  is*  der 


Adagio. 


Jlusdruck 


:emer  un- 


seines  ersten  Sat«.d,L  „   ' 

zes  stellt  St.  Sagns'JPEB^      „^ 

das  kurze  Thema:  ^       ^==:=^       "^^^ '^gewissen, 

in  Sorgen  befangnen  Stimmung,  es  ist  der  ernste  Blick 
auf  eine  noch  fern:e,  dunkel  drohende  Wolke.  Das 
Allegro  moderato  (CmMl,  o/g),  das  der  kurzen  Einleitung 
folgt,  beginnt  mit  dem  Motiv 


Allegro  moder&tö.  JU  79 


das  für  den  größten  Teil  des  Satzes  den  Begleitungsdienst 
übernimmt,  den  vorherrschenden  Gemütszustand  veran- 
schaulicht Es  zeigt  in  Schubertscher  Art  das  zitternde 
Herz,  zunächst  unbestimmt,  ob  die  Unruhe  auf  Freude, 
oder  auf  Leid  deutet.  Bald  gibt  der  auf  die  Einleitung 
zurückweisende  Gesang  der  Bläser 


die  Gewißheit,  daß  es  sich  um  Klage  handelt.  Sie  wird 
unterbrochen  durch  einen  selbständigen  Satz  Über  die 
zitternden  Motive,  dann  aber  vom  englischen  Hörn  fol- 
gendermaßen weitergeführt: 


\itTt  g  irirn  mn   ll     "«{f   ««  einem  leiden- 
r    ^^-j_-'       11    K  v>^   II     schaftlichen    Abgesang: 


— •    842 


•tc 


geschlossen,  der  in  seinea  besten  Wendungen  gleieh- 
mäßig  an  Spohr  und  Liszt  erinnert  Die  Stimme  des 
Trostes  tritt  mit  dem  anmutig  ruhigen  Desdur-Thema 


f'^  \J>i^h\i 


Des 


DeTTC 


ein.  Sehr  wirksam  hat  ihm  St.  SaSns  einige  vorbe- 
reitende Motive  vorausgeschickt,  denen  es  folgt  wie 
die  volle  Sonne  dem  Morgenschimmer.  Der  Ab- 
schluß (in  Fdur)  wirkt  glänzend;  poetisch  hat  ihn 
aber  der  Komponist  schließlich  ins  Stille  und  Ergebne 
gewendet,  um  die  Durchführung  psychologisch  zu  be- 
gründen. 

Sie  beginnt  mit  einem  stockenden  und  zagenden  Be- 
gleitungsmotiv, Über  das  sich  bald  das  aus  der  Einleitung 
bekannte  Motiv  der  Sorge  erhebt.  Ihm  reicht  das  erste 
Thema  mit  seinem  Endteil  die  Hand.  In  die  wachsende 
Erregung  spielen  Trompeten  und  Posaunen  zwei  kurze, 
aber  wichtige  Melodiezeilen  hinein.  Sie  weisen  in  ihrem 
frommen  choralartigen  Charakter  auf  die  Lösung  der 
Schwierigkeiten,  mit  denen  die  Seele  des  Tondichters 
augenblicklich  kämpft,  hin,  die  später  wirklich  eintritt. 
Die  Reprise  ist  heftiger  als  die  Themengruppe  gehalten 
und  läuft  in  das  Einleitungsthema,  in  die  töne  der  Sorge 
aus.  Da  setzt  die  Orgel  weich  und  leise  ein,  der  Himmel 
spricht: 


843 


Poco'Adaglo.  d  s60 


Dm.    Bb 


Aa-Oes.    F____      p«>«  Es As Des 

So  endet  die  erste  Abteilung  der  Sinfonie  mit  einem 
großen,  erbebenden  Eindruck.  Es  kann  niemandem  ent- 
gehen,  daß  dieser  dem  Allegro  angefügte,  in  frommer 
Harmonie  gegebne  Des dur- Satz  nichts  ist  als  das  Adagio 
der  Sinfonie,  das  in  der  Regel  als  ein  selbständiger  zwei- 
ter Satz  erscheint.  In  der  Zusammenziehung  der  beiden 
Sätze  liegt  hier  die  Originalität  und  das  Gltlck  der  Kom- 
position. 

Man  würde  nacji  diesem  Adagio  nichts  weiter  hören 
wollen,  wenn  nicht  einige  Takte  mit  übermäßigen  Drei- 
klängen ihren  vollen  Frieden  störten  und  auf  eine  Wie- 
derkehr schlimmer  Stunden  gefaßt  machten. 

Sie  brechen  in  dem  Allegro  moderato,  das  den  zw^ei- 
ten  Satz  der  Sinfonie  beginnt,  grausam  genug  herein.  Das 
Hauptthema  dieses  Allegro  moderato 

Allegro  moderato.  S-s  80 


jjjji3  JJjJ^gg^ 


ist  eine* Umbildung  der  leitenden  Ideen  des  ersten  Satzes, 
eine  Umbildung  teilweise  in  der  karikierenden  Art  ge- 
halten, für  die  Berlioz  zuerst  in  seiner  Sinfonie  fantas- 
tique  das  Muster  gegeben  und  die  dann  Liszt  in  seinen 
Mephistobildern  weiter  entwickelt  hat.  Diese  Wendung 
zur  Verhöhnung  des  Teuersten  und  Ernstesten  schlägt 
bald  in  offenbare  Frivolität  um.  Es  beginnt  ein  Presto 
mit  folgendem  Hauptthema 


-^    844    «^ 

Presto.  J.S  186       .  .  I        -         -_  _ 

l'i'iiiiU  IJJLÜ'l'f^'N'Lli"' 

das  mit  das  Tollste  enthält,  was  die  neuere  Orchester* 
mnsik  an  phantastischen  Leistungen  aufzuweisen  hat  Hier 
fängt  auch  das  Klavier  an  mitzuwirken  und  zwar  mit  be- 
absichtigtem prosaischen  Effekt.  Die  Hetze  und  das  Gewirr 
dieser  Presto-Episode,  in  der  wir,  wiederum  vorzüglich  ein- 
gestellt, das  übliche  Scherzo  der  Sinfonie  vor  uns  haben, 
wird  durch  einen  gemütvollen  Abschnitt  unterbrochen,  der 
in  seiner  Wirkung  sich  mit  einem  ähnlichen  im  Gmoll- 
Konzert  des  Komponisten  begegnet.    Das  l'hema  lautet: 


Es  wird  in  seinem  huma- 
^^^  nen  Wesen  noch  da- 
durch gehoben,  daß  ihm 
eine  sehr  zänkische  Stelle  -J^  f  f^  r  f  M  ^^  Grun- 
vorhergeht,  der  das  Motiv  ^  ^  \  fj  I  de  liegt 
Das  Allegro  mod^rato  kehrt  dann  wieder,  und  auch 
das  halb  schreckende,  halb  erheiternde  Presto  kehrt 
wieder.  Es  hat  aber  kaum  eingesetzt,  da  stimmen  die 
Bässe,  Bratschen  und  Posaunen  leise  einen  Gesang  an: 

der  von  dem 
Adagio     des 

ersten  Teils  der  Sinfonie  stammt  Er  wirkt,  von  den 
andern  Instrumenten  aufgenommen,  wie  Gretchens  Bild 
auf  die  Mephistomusik  in  Liszts  »Faust«:  reinigend  und 
verklärend.  Es  wird  ganz  still  im  Orchester.  Auf  ein* 
mal  setzt  die  Orgel  mächtig  mit  einem  Cdurakkord  ein« 
Immer  von  diesem  feierlichen  Orgelklang  unterbrochen, 
präludieren     mmhoio.  J.  7e     ^  ^    dem 

die  Qrche-Trn-^  ^  >  ^  ^  r  P  r  j'H^-a^J-^  Schluß- 
sterinstru-  ^^  P  f  f  fj  |  I  ■t-r..L  f  11- -H  teü  der 
mente    mit        y  Sinfonie. 


-^    846     ♦^ 

einem   mächtigen,   als   die  Apotheose  Liszts  gemeinten 

Hymnus.    Er  klingt  an  dessen   »heilige  Elisabeth«  an: 

:        r^-T-i  ^^^  schließt  mit 

i  V  V  ^  ■di  ■  '  ^  I    "'  fl      Sätzen,    die   auf 
ff**    I.  1  ^  F  p  :!  .y.  „  J   ^.  M      das  von  Brahms 

»    f  '  »    •    r  geliebte      Motiv: 


rf'M  j;:j;^Li/jiJl|Jjjli 


gebaut,  teils  dem  dithyrambischen  Ton  Beethovens  zu- 
streben, teils  in  freien  auflösenden  Kadenzen  eine  Maje- 
stät und  Größe  der  Freude  aussprechen,  für  die  in  Sinfo- 
niefinales wenig,  in  früheren  Kompositionen  von  St  Saäns 
gar  keine  Vorbilder  vorhanden  sind. 

Kurz  vor  die  dritte  Sinfonie  von  Sa6ns,  in  das  Jahr  1885,     Ch.  Goanod, 
fällt  eine  »Petite  Symphoniec  von  Charles  Gounod,  auf  P«"^« Symphonie 
die  jüngst  in  Deutschland  verdientermaßen  hingewiesen 
worden  ist.  Sie  ist  aber  kein  Orchesterwerk,  sondern  eine  an 
und  für  sich  sehr  liebenswürdige  und  gehaltvolle,  Mozar- 
tisch wirkende  Kammermusik  für  neun  Blasinstrumente. 

Die  Kunst  spricht  nicht  nur  das  Innere  eines  Volkes 
am  offensten  aus  und  bucht  es,  sie«  vermehrt  auch  seine 
geistigen  Güter.  So  zeigt  sich  uns  in  dieser  letzten  Sin- 
fonie von  St.  SaSns,  wie  die  französische  Kunst  mit  der 
gesteigerten  Pflege  dieser  Gattung  an  Tiefe  gewonnen  . 
hat.  Am  weitesten  geht  aber  in  der  Umwandelung  na- 
tionaler Art  und  in  der  Annäherung  an  deutsches  Wesen 
unter  den  heutigen  französischen  Komponisten  Charles 
Marie  Widor.  Dieser  Musiker,  den  die  Pariser  als  gründ- 
lichen Kenner  und  eifrigen  Vertreter  Bachscher  Musik 
schätzen,  ist  durch  seine  produktive  Begabung  nicht  min- 
der bedeutend,  und  auch  für  Deutschland  werden  seine 
Sinfonien  durch  ihre  Ideen  von  Interesse,  durch  die  ge- 
wandte und  anmutige  Art,  in  der  schwierige  und  durch- 
dringende Arbeit  in  ihnen  vorgelegt  wird,  von  Nutzen 
sein.  Es  sind  ihrer  zwei.  Die  erste  (in  Fmoll,  op.  16)  ch.  H.  Widor, 
zeigt  das  Bild  ihres  Schöpfers  am  reinsten  im  ersten^r^te  Sinfoni«. 


846 


Salz,  der  zu  der  Richtung  neigt,  die  bei  uns  Volkmann 
und  Draeseke  vertreten.  Die  Themen  lassen  nicht  ahnen, 
was  der  Satz  enthält.  Das  erste,  in  einer  fast  irrefüh- 
renden Art  entwickelt  und  auseinandergezogen,  fährt  in 
eine  noch  in  Bildung  begriffne,  nach  Gestaltung  suchende 
ernste  Stimmung  hinein:  Seine  beiden  Teile 

,      Allegro  con  moto.  da  170  ^ 


und 


tffWMU 


f^ 


stehen  im   Verhält- 


J    If'  r    iff    Ulp  r  ^ ^is  wie  Baum  und 
«t/^  ^^P  Frucht.  Beim  zweiten 


m 


3: 


Viel. 


j  ii|,ui » ii|o^r-ir''rr''fTfrrri''r*r'i^^ 


sind  ebenfalls  die  Fühler,  die  nachher  ausgestreckt  wer- 
den^ fast  bedeutender  als  dieses  Thema  selbst.  Aber  die 
Kraft,  die  auf  diesen  Grundlagen  aus  der  Musik  sich  er- 
hebt, ist  bedeutend  genug.    Das  Andante  ist  iin  Anfang 

AndaQte. 


^U  I  j  I 


Beethovenscher    Abkunft,    in    der    Fortsetzung    äußert 

R.  Wagner    sei-      ^,(  ^ ^^-r-r" 

nen  Einfluß.  Das     ^y^T-f  I  T  ,*^ 

zweite      Thema  P 

dient  der  Stimmung  zum  Ausruhen. 

Das  Scherzo  wird  durch  kleine,  zur  Besonnenheit 
und  zum  Aufhalten       Presto. 
mahnendeWendun-  ^^j^f  j^    ,  y  j 
gen  viel  originftlfar^^^atT  H      IT    * 

Anfang 


als     sein 


A   •     - 


_-^     847     *^ 

verspricht.  Das  Trio,  im  scharfen  harmonischen  Gegen- 
jsatz  — -Adur  gegen  Amoll  —  eingeführt,  tändelt  aller* 
liebst,  freundliche  Gedanken  mehr  andeutend  als  aus* 
sprechend.  Das  Finale,  eine  flott,  frisch  und  im 
unverfälschten  Französisch  gehaltene  Ballettszene,  unter- 
hält sehr  hübsch,  erscheint  aber  im  Wesen  zu  leicht. 

Widors   zweite    Sinfonie   (Adur,    op.  54)   ist  das  Cli,M.widor, 
Lebenszeichen  einer  heitern  kräftigen  Seele.    Sie  stürmt  ^^®**«  Sinfonie, 
jugendlich   übermütig  namentlich  in   den  ersten  Sätzen 
dahin,   manchmal  in  burschikosen  Wendungen,   die  an 
Schumann  erinnern. 

Eir  innerstes  Wesen  offenbart  sie  mit  den  ersten  Tönen, 
mit  dem  Hauptthema  des  ersten  Satzes 

Allegro  vivace.  J  =  160  _         _        _        _ 

yrg^r  ij.i>^f  ip  r  II I  iH^^'Ti^ti  I 

ihm  folgen  auf  dem  Fuße  einige  feierlich  geheimnisvolle 
Takte,  die  uns  mit  romantischen  Regungen,  dem  Sinn  für 
des  Lebens  Rätsel  bekannt  machen.  Sie  schließen  ganz 
merkwürdig.  In  jdas^Gis,  das  die  Bässe  aushalten,  singt 
die  Oboe  ein  e"  |  ö^  |  a  hinein.  Das  ist  ein  Spielen  mitjdem 
Feuer,  zu  dem  auch  die  andern  Sätze  viel  neigen.  Alle  Span- 
nung, die  die  Kühnheit  im  ersten  Satze  erregt,  löst  sich  immer 
wieder  behaglich  durch  die  Weisen  des  zweiten  Themas: 

die     Tanzge- 


/i.  M  #■#•   -^^^^  ' — "^ ^         aie     lanzge- 

^Yl    f  if  Pf-l-FlKnr-hn*  r    Irr  I  danken  nicht 


*i^*iP      ^^  1       '  ^  J — L       fernstehen. 

Der  zweite  Satz  ist  em  Scherzo  ausnahmsweise  im 
Viervierteltakt.    Sein  Hauptthema 

Mode rato.  Js  104 

J-    I      I       I     I   J      ri    n  J     I    J    J-  J     J^etO. 


ein  Stück  burlesker  Kunst.  Im  Innern  des  Satzes  herrschen 
Dämonen,  die  durch  W^alkürenklänge  sich  und  den  Ein- 
fluß Wagners  verraten.    Das  zweite  Them:i 


1 


848 


sehnt  sich  nach  dem  ersten  Satz  zurücL 

Der  dritte  Satz  gibt  sich  mit  dem  leitenden  Thema 

Aodame.  Jr68 


als  Ballade  zu  erkennen.  Aus  dem  ruhigen  Anfeng  gerät 
sie  in  wild  dramatische  Erzählung  aufregender  Begeben- 
heiten, denen  sich  das*  zweite  Thema 

TraoquiUameote 

m 


mild  beschwichtigend  entgegenstellt. 

Das  Finale  beginnt  in  sehr  schwankender  Stimmung  • 
leicht  und  kokett  scherzenden  Motiven  tritt  ein  Gedanke 
entgegen 

.Moderato. 


der  an  die  geheimnisvollen  Takte  erinnert,  die  am  An- 
fang der  Sinfonie  dem  ersten  Auftreten  des  Hauptthemas 
folgten.  Schließlich  festigt  sich  die  Stimmung  und  spricht 
sich  mit  dem  Thema 


AUegro  con  brio.  J=.  120 


heroisch  aus.    Unter  den  Gedanken,  die  es  ergänzen,  ist 


der  folgende  ^ V  J  ij^  f^f 


849    «^ 

der    wichtigste.         ,      -;^ -— >^ 

In  «ner  mUdeni  jft^^^^p  f  T  f  f  1^  '  °^ 
Lesart  lautet  er  ^      \ 

Auch  die  beiden  Serenaden  Widors  sind  gedie- 
gene Arbeiten,  in  Deutschland  aber  noch  nicht  beachtet 
worden. 

Um  diese  Führer  schart  sich  nun  eine  Reihe  wei- 
terer französischer  Komponisten,  die  die  Sinfonie  in  klas- 
sischer  Form,    daneben    die   unbenannte   Suite   fleißig 
pflegen,  an  ihrer  Spitze  Ghausson,  im  großen  Abstand ■•  <^k>«">oB. 
Magnard,    Florent    Schmitt,     Boöllmann,    Ber-^«  ■»»«*»«. 
nard,  Dubois,  Jonciöres,  Jaspar,  Bazin.    Mit  Aus- J|  Jj^JJ**^^ 
nähme  einzelner  Sätze  werden  sich  die  Arbeiten  dieser  g*  £^„|^4, 
Männer  außerhalb  der  heimatlichen  Grenzen  kaum  irgend-  Th.  Dnboli 
wo  einbürgern  können,  weil  ihnen  der  Stempel  des  mar-  *•  Joael^ret. 
kanten  Talents  ebenso  fehlt,  wie  der  der  Nationalität  Jj^[^"*"' 
Auch  die  gute  Schule  und  die  neue  Zeit  lassen  sie  ver- 
missen: die  Muster,  die  über  ihnen  geleuchtet  haben,  sind 
in  dem  Romantikerkreis  zweiter  Güte,  für  den  Hummel 
und  Moscheles   das   Zentrum  waren,   zu   suchen.     Das 
schließt  natürlich  einzelne  Stellen  poetischer  Hingebung 
nicht   aus.     Besonders   sind   solche   der   F  dur-Sinfonie 
L.  BoSllmanns  nachzurühmen.    Als  bemerkenswerte  Graste; 
tauchen  in  dieser  Sinfonikerzunft  auch  Lalo,  Dukas  £,  i,|^|^, 
und  Debussy  [Trois  Nocturiies)  auf,  auch  weitere  Lands- p.  DnkM« 
leute  C^sar  Francks  haben   sidi  ihr  zugesellt.     Am  be-  C*-  i>«b«i«i- 
kann  testen  ist  yon  den  letzteren  Jan  Blockx  mit  seiner  j^^  uookx. 
stark    aus    Wagner   schöpfenden   sinfonischen   Trilogie: 
> Allerseelen,  Kirmes  und  Ostern«   geworden.    Das  den 
Belgiern  benachbarte  Holland  beteiligt  sich  nach  wie 
vor  an   der  Sinfoniekomposition   nur  spärlich  und  hat 
den  Verhulst,  Hol,  D.  de  Lange  nur  in  D.  Schäfer  und  d.  gekifer. 
B.  Z  weers  ansehnlichere  Nachfolger  gegeben.  Von  Zweers'  b.  Zween. 
drei  Sinfonien  ist  besonders  die  dritte,  »An  mein  Vater- 
land«, beachtenswert.    Sie  besingt  Wälder,  See  und  Land- 
schaft etwas  umständlich,  aber  mit  eigenen  Weisen,  und 
könnte   durch  letzten   Umstand  der  Ausgangspunkt  für 
eine  holländische  Schule  werden. 

KrstzBcbmar,  Führer.    I,  1.  54 


-^    850    «^ 

hl  Kngland.  das  seit  der  Zeit  Bennets  nie  aafge- 
hört  hat,  sich  fleißig  zu  beteiligen,  ist  im  letzten  Men- 
schenalter durch  den  bedeutenden  Zuwachs  an  vorzüg- 
lichen Orchestern  der  Eifer  für  die  sinfonische  Arbeit 
machtig  gewachsen,  und  die  Institute  des  Kontinents,  die 
mit  der  Zeil  Schritt  zu  halten  suchen,  haben  audi  die  sin- 
Ai.  HAekensie.fonischen  Dichtungen  Äl.  Mackenzies,  Edw.  Mac  Do- 
Rdw.  Mfto  Dow«ll.^  gji  g  ^jj^  jj^ygp  Genossen  gelegentlich  vorführen   müssen 

Von   größeren,  mebrsätzigen   Sinfonien    englischer  Her- 
kunft ist  allerdings   nur  die  früher  erwähnte  skandina- 
Fr. Goirra.vische   Sinfonie   Fr.   Gowens,  und  zwar  wegen  ihrer 
Mittelsätze,  internationales  Repertoirewerk  geworden,  aber 
auch  in  dieser  Gattung  sind  zahlreiche  tüditige  Vertreter 
am  Werk,  zum  Teil  mit  interessanten  formellen  Export- 
H.  parry.^^^^^*    S<^  ^^^  Hubert  Parry  den  Lisztschen  Versuch, 
die  Musik  einer  sinfonischen  Dichtung,  also  eines  Satzes, 
durch  Umbildungen  desselben  Themas  zu  bestreiten,  im 
großen  Stil  aufgenommen  und  durch  die  vier  Sätze  der 
klassischen  Sinfonie  durchgeführt.   Neben  Parry  sind  die 
fjn^^i^^i^  Hauptvertreter  der  Sinfonie  in  England  zur  Zeit  Ban- 
H. Hftdleyitock,  Hadley,  Street,  Stanford  und  Edgar  Elgar. 
E.  BtrMt.Der  große  Erfolg  des  >Traum  des  Gerontius«   hat  das 

^"  ^8*81^'^^®'*^*^^  veranlaßt,  sich  auch  mit  den  Sinfonien  Elgars 
'^''bekannt  zu  machen.  Die  erste  (Asdur,  op.  65)  hat  als 
eine  klare,  kräftige  Tondichtung  und  besonders  wegen 
ihres  stark  volkstümlichen  Einschlags  —  das  Merkmal 
guter  englischer  Kunst  jeder  Art  und  von  jeher  —  all- 
gemein erfreut,  die  zweite  (Esdur,  op.  63)  wegen  des 
Mangels  an  thematischer  Lebenskraft  kalt  gelassen. 

Die  englische  hat  überraschend  schnell  auch  eine 
amerikanische  Sinfoniekomposition  nach  sich  gezogen, 
mit  der  wahrscheinlich  bald  ernstlich  wird  gerechnet 
werden  müssen.  Ist  doch  die  geistige  und  kulturelle 
Disposition  der  Neuen  Welt  entschieden  urwüchsig  und 
eigen,  die  Mittel  aber,  eine  junge  Kunst  durch  Schule  und 
Ausführungsapparate  zu  fördern,  stehen  ihr  in  beneidens- 
werter Leichtigkeit  zur  Verfügung.  Als  Tater  dieser 
L.  BoBTln.  amerikanischen    Sinfonik   kann   Ludwig   Bon  vi  n    be- 


— ♦    851    ^^ 

trachtet  werden^  ein  Eingewanderter,  dessen  Gmoll-Sinfonie 

einen  annehmbaren  enropäischen  Mittelschlag  vertritt,  als 

Hauptvertreter  ist  nnter  den  bis  jetzt  aufgetretenen  Be* 

Werbern  Gustav  Strube  mit  seiner  HmoU-Sinfonie  zu  e.  Btrmbe. 

bezeichnen.    Der  erste  Takt  dieses  Werks,  der  ganz  un- 

gesncht  einen  fesselnden  exotischen  Ton  anschlägt,  macht 

es  klar,  daß  wir  in  diesem  Komponisten  einen  Pfadfinder 

vom  Schlage  eines  Sibelius  und  einen  Künstler  vor  uns 

sehen,  der  an  Bedeutung  mit  der  Zeit  einem  Bret  Hart 

gleich  kommen  kann.    Neben  ihm  tritt  A.  Stock  in  den  a.  Stoek.   ' 

Vordergrund. 

In  Italien,  wo  die  Oper  so  unselig  lange  das  gesamte 
musikalische  Interesse  aller  Stände  in  Beschlag  genommen 
hatte  und  wo  die  Erinnerung  an  die  große  Instrumental- 
zeit des  Landes  in  Todesschlaf  versunken  schien ,  ist  im 
letzten  Viertel  des  neunzehnten  Jahrhunderts  eine  wich- 
tige Wandlung  eingetreten.    Das  Interesse  fflr  Orchester- 
aufführungen ist  erwacht  und  wird  von  den  Kommunen 
gefördert,  namentlich  aber  beherrscht  der  Respekt  vor 
Beethoven   und   das   Bestreben,    sich   seine  Werke  zu 
eigen   zu  machen,    die  meisten  großen  Konservatorien 
des  Landes.     Als   die  ersten  Früchte  dieser  Bewegung 
kamen  nach  Deutschland  die  Sinfonien  von  S  g  a^  b  a  t  i  B.  SgsmbAtt. 
und  Martucci,  die  eine  zu  sehr,  die  andere  zu  wenig  ®' ••'*■••*• 
italienisch.    Mittlerweile  ist  aber  die  Produktion  sehr  ge- 
wachsen, Italien  stellt  in  Enrico  Bossi  und  dessen £•  Boui. 
Sohn  Renzo  B.;  in  A.  Franchetti,  A.  Scontrino*' J*"**   ^^, 
L.Perosi,G.Pacini,Mancinelli,Zanella,  Allano,j[;j^™*^*^^^ 
Amorosio,  Caetani,  Wolf-Ferrari,  in  den  schon  ge- l!  p«r«ii. 
nannten  Sinigaglia  undMarinuzzi  eine  bereits  statt- 8. PmIoI. 
liehe  Reihe  von  Kräften  für  Sinfonie  und  Suite.    Nicht  J- ■*»«i»«l»- 
immer  bieten  diese  Werke  das,  was  man  aus  dem  Sonnen- p]  fUIÜit' 
lande  erwartet,  und  durchschnittlich  enthalten  sie  mehr  \  imoroilo. 
Arbeit  und  mehr  Weltschmerz,  als  nötig  ist.    Aber  sie B. €aetMl. 
haben  meistens  doch  ihren  Wert  in  der  Plastik  der  Themen  *•  J"  |^'''*,7*''' 
und  in  der  lebendigen  und  produktiven  Freude  am  Klang  ^\  UMtSSrntU 
In  erstrer  Beziehung  muß  vor  allem  auf  Pacinis  Dante- 
Sinfonie  verwiesen  werden,  nach  der  anderen  Richtung 

64* 


852 


ragt  die  Hrooll«Suite  Caetanis,  die  auf«  natürlichst«  mit 
konzertierenden  Elementen  wirkt,  hervor.  ' 

Wir  haben  xms  mit  der  allgemeinen,  internationalen 
Beteiligung  an  der  Sinfoniekomposition  wieder  den  gün- 
stigen Verhältnissen  der  alten,  der  Yorhaydnschen  Zeit 
genähert  Möge  der  Zukunft  dieses  wichtigen  Stücks  musi- 
kalischer Kunst  auch  nach  anderen  Beziehungen  eine 
glückliche  Entwicklung  bestimmt  seinl 


••••••••• 


NAMENVERZEICHNIS. 


Abert  403,  695. 

Agricola,  M.  17. 

Alayrac,  d'  368. 

Albano  21. 

Albert  710. 

Alberti  88. 

Alfano  851. 

Alfv6n,   Hugo   524  (2.  Sinf.), 

826. 
Allegri  21. 
Ambrosio  851. 
Andr^  C.  252,  302. 
Arensky  632. 
Astorga  94. 
Auber.  601. 
Aubert,  M.  86. 
Aufschnaiter,  A.  57. 
Aulin,  Tor  524,  525  (Meister 

Oluf). 

Bach,  Chr.  109. 

Bach,  Fr.  105. 

Bach,  J.  8.  5,  8,  26,  28  f.,  44, 
48,  58,  61,  62  (1.  und  2. 
Suite),  64  (3.  Suite),  65 
(4,  Suite),  69,  72,  78,  85 
(Sinfonie  Fdur),  97,  109, 
191,  214,  284,  288,  299, 
330,  360,  660,  665,  667, 
757,  826,  845. 


Bach,  K.  Ph.  Em.  105,  106 
(Sinlonie),  109,  114,  123, 
127  f.,  156,  169,  284. 

Balakirew  632. 

Banchieri  22,  26,  72. 

Bantock  850. 

Bargiel,  W.  666  (Suite  Cdur), 
694. 

Bassani  21,  26. 

Bateman  33. 

Bäwerl  (Peurl),  P.  35. 

Bazin,  F.  849. 

Beck,  F.  102. 

Becker,  Reinhold  820  (Sinf. 
Cdur). 

Beer-Walbrunn,  A.  690  (Deut- 
sche Suite). 

Beethoven,  L.  van  27  f.,  71, 
77f.,  90f.,.94f.,  116,  122, 
147  ff.,  154,  159,  162,  168, 
190  (l.Sinf.  Cdur  u.  Jenaer 
Sinf.),  195  (2.  Sinf.  Ddur), 
199  (Eroica),  208  (4.  Sinf. 
Bdur),  211(5.  Sinf.  CmoU), 
220  (Pastoralsinfonie),  228 
(7.Sinf.Adur),  234(8.  Sinf. 
Pdur),  239  (9.  Sinf.  D  moll), 
251  ff.,  261,  265  f.,  271  ff., 
276,  279,  282  ff.,  291  f., 
294  ff.,    300,    302  ff.,    307, 


854 


814,816,  819  IT.,  825,  829, 
381,  888  f.,  337,  841, 343  f., 
354,  359  f.,  365,  372,  877, 
884  f.,  890,  899,  404,  406, 
486,  500,  505,  522,  524, 
584  f.,  541,  548,  558,  561, 
568,  565,  568,  572,  574f., 
577  ff.,  582,  584,  593,  597, 
607,  616,  620 f.,  646,  649, 
659,664,671,694ff.,698f., 
702,  705,  711,  715,  717, 
719  ff.,  726,  728,  735,  738, 
741,  743  f.,  751,  754,  757, 
759,  766,  769  ff.,  789,  792, 
812,  818,  823  f.,  828,836, 
889,  845,  851. 

Behm,  H.  884. 

Bellini  800,  881. 

Benda,  Fr.  105,  581. 

Benda,  Gh.  105,  141. 

Bendix,  V.  501  ( A  moll-Sinf .). 

Bennet,  6t.  884. 

Berger,  W.  764  (2.  Sinfonie 
Hmoll). 

Bergonzi  29. 

BerUoz,  H.  121,  194,  247  f., 
296,  300,  884,  336  f.,  338 
(Sinf.  fant.),  350  (Harold  in 
Italien),  860  (Lelio,  Bomeo 
Q.  JuUe),  885,  887,  889, 
893,  397,  400,  412,  431, 
438  f.,  456,  465,  466,  468, 
477,  488,  487,  489,  492, 
495,  520,  618,  644,  649, 
675,  682,  695,  786,  793  f., 
818,  826,  835,836,840,843. 

Bernard  849. 

Berwald,  Fr.  521  (Sinf.  sin- 
gnliöre). 

Biber,  Fr.  46. 

Bird,  A.  678. 

Biachoff,  H.  884. 


Bixet,  a.  444,  446  (L'Ar- 
Usienne  I),  449  (L*ArUsi- 
enne  II),  458  (Roma),  457 
(Jenz  d'enfants). 

Bleyle,  K.  834. 

Blockz,  J.  849. 

Blumenfeld,  F.  495,  658. 

Blyma  252. 

Boccherini,  L.  266  (Sinf.  Ddnr, 
Cdnr). 

Boellmann  849. 

Bohner  221. 

Boieldiea  291,  449,  501. 

Bonvin,  L.  850. 

Borodin,  A.  589,  621  (1.  Sinf. 
Es  dar),  624^.  Sinf.  Hmoll), 
631  (3.  Sinf.  A  moll,  Steppen- 
skixse),  686,  646,  650,  657, 
828. 

Bossi,  E.  851. 

Bossi,  B.  851. 

Brade,  W.  32  f. 

Brahma,  Job.  41,  71,  114, 
276,  411,  426,  505,  526, 
560,  565,  649,  658,  668 
(1.  Serenade),  672  (2.  Sere- 
nade), 678,  680,  690,  693  f^ 
720  f.,  735,  737, 738(l.Sin£. 
OmoU),  744  (2.  Sinf.  D  dor), 
751  (3.  Sinf.  Pdur),  757 
(4.  Sinf.  E  moU),  763  f.,  769  f., 
815,  817,  819,  825,  832, 
834,  845. 

Brandl  252. 

Braune  252. 

Braunfela,  W.  688  (SerenadeX 
690. 

Bruch,  Max  462,  467  (Suite 
nach  msa.  Volkslied  em),  716 
(1.  Sinf.  Eadur),  718  (2.  n. 
3.  Sinf.  P  moll,  E  dar),  780, 
822. 


855 


Brückner,  A.  653,  694,  720, 
767  (7.  Slnf.  Edur),  770 
1.,  2.,  8.  Sinf.),  780  (4.  ro- 
mant.  Sinf.  Es  dar),  789  (5. 
Sinf.  Bdor),  791  (6.  Sinf. 
Adnr),  792  (9.  Sinf.  DmoU), 
814,  824,  884. 

BrftlVJ.  678. 

Bromel,  Anton  17. 

Bmn,  Fr.  765  (Sinf.  Bdur). 

Bnigmüller,  N.  334. 

Bnsoni,  F.  430  (Geharnischte 
Snite),  431  (Tnrandot-Snite). 

Buxtehude  28,  288. 
Buzzola  29. 

Caccini,  Qt.  73. 

Caetani,  B.  851,  852. 

Caldara,  A.  86  ff.,  89,  90,  92, 

,     100. 

Oambert  78. 

Camerloher  109. 

Cannabich,  Chr.,  26,  102,  300. 

Castello,  D.  29. 

Oatoire,  G.  632. 

CavaUi  73  (Sinfonien),  75,  87. 

Cesti  75,  87. 

Oharpentier,  G.  412,  463  (Im- 
pressions d^Italle),  467. 

Chansson  849. 

Cherabini,  L.  78,  152,  263 
(Sinf.  Ddur),  284,  291,  328, 
672,  750. 

Chopin,  Fr.  501,  660,  766, 
783. 

Clementi,  M.  271  (Sinfonie 
Bdnr). 

Conus,  Gh.  632. 

Corelli  8,  85  f.,  89,  110,  266. 

Couperin*  52. 

Oowen,  F.  519  (Skand.  Sin- 
fonie), 850. 


Cul,  C.  649  (Suite  miniature^ 

703. 
Cserny,  C,  214,  240,  273. 

Dargomijsky  600. 

David,  F.  384. 

Debnssy,  Cl.  443*  (La  Her), 
511,  529,  836,  849. 

Degner,  E.  W.  840. 

DeUbes,  L.  444  (Sylvia-Suite) 

Deller,  F.  60. 

Demantius  42. 

DiabelU  262. 

Dietrich,  A.  607,  709  (Sin- 
fonie Amoll),  713,  738. 

Dittersdorf,  0.  t.  84,  93,  117, 
119,  121,  219,  253  f.,  255 
(Combattimento),  257  (Sin- 
fonie), 268,  270,  275,  335, 
677. 

Dohnänyi,  £.  v.  692  (Suite), 
766  (Sinfonie  Dmoll). 

Dotzauer  273. 

Draeseke,  F.  569,  649,  680 
(Serenade),  719,  720  (1.,  2., 
3.  Sinf.  Gdur,  Fdur,  Tra- 
gische), 768,  794,  846. 

Dttbois  849. 

Dukas,  P.  691,  836,  849. 

Dumanoir,  Gt.  57. 

Dossek,  Fr.  531. 

DvoHk,  A.  512,  526,  535, 
557,  558  (Sinf.  Ddur),  561 
(Sinf.  Dmoll),  572  (Sinf. 
Fdur),  584  (Sinf.  Gdur), 
585  (Sinf.  EmoU  »Aus  der 
neuen  Weite),  595  (Nachgel. 
Sinf.,  Bläserserenade),  597, 
628,  634. 

Bberi,  A.  199,  272  (Sinf. 
Ddur),  288,  292,  662. 


-^    856 


Ebner  44. 

Eiclmer,  £.  102. 

Elgar,  E.  850  (Sinf.  Asdur, 

Es  dar). 
Enna,  A.  501. 
Erlebach,  Ph.  50. 
Ertelius,  F.  S.  29. 
Esser,  H.  665  (Suite  Amoll). 

Facins,  F.  526. 

Fasch,  Fr.  69  (Snite  Bdnr). 

Fattorini,  G.  29. 

Fesca,  F.  E.  316. 

Fibich,  Zd.  596  (Sinf.  Esdur). 

Field,  J.  501. 

Filte,  A.  101. 

Fiore  29. 

Fischer,  A.  840. 

Fischer,  K.  55  ff.,  67,  698. 

Fiteiberg,  Gh.  834. 

Fontana  21. 

Förster,  Chr.  69. 

Franchetti,  A.  851. 

Franck,  C.  439,  835  (Sinf. 
Dmoll),  849. 

Franck,  M.  34,  39  ff.,  42,  44. 

Fran2,  J.  H.  764. 

Friedemann,  0.  462. 

Friedrich  d.  Gr.,  79,  86, 
103. 

Frigel,  P.  521. 

Frobergcr44,  52,  117,  335. 

Fnchs,  Bob.  678,  679  (1.  und 
2.  Serenade  Ddur,  Gdur), 
680  (3.  Seronade  Emoll), 
815  (Sinfonie  in  C). 

Fnx,  J.  67,  68  (Bdnr -Suite 
»DerSchmied«),  87,  90,  693. 

Gabridi,  A.  22. 
Gabrieli,  G.  22  (Sinf.  sacrae), 
26  (Cansoue),  33,  71  ff.,  87. 


Gade,  N.  W.  296,  334,  408, 
496  (Sinf.  CmoU),  500  (Sinf. 
Bdur),  502,  521  f.,  526,  572, 
594,  653,  676  (NoreUetteo), 
677  (Sommertag  anf  dem 
Lande,  Holber^ana),  695, 
757,  763. 

Gähring  334. 

Galimberti  84. 

Gallus  8.  HandL  ' 

Galuppi  86,  169,  398. 

Gaßmann,  F.  96. 

Gemsheim,  F.  719  (1.  Siuf. 
GmoU),  720  (8.  n.  3.  Sinf. 
Esdur,  Bdur). 

GUson,  P.  439  (La  Mer),  511. 

Giuliani,  F.  29. 

Glas,  Louis  501. 

Glasounow,  A.  624,  631,  63ä 
(1.  Sinf.  Edur),  633  (2.  Sinf.« 
Fis  moll),  634  (3.  Sinf.  D  dar), 
635  (4.  Sinf.  Esdur),  641 
(5.  Sinf.  Bdur),  645  (6.  Sinf. 
Gmoll),  646  (7.  Sinf.  FdurX 
647  (8.  Sinf.  Esdur),  648 
(Aus  dem  Mittelalter),  649, 
658. 

Gmre,  R.  632,  657  (Sinf. 
Esdur). 

Glinka,  M.  246,  453,  600, 
631,  633,  709,  716. 

Gluck,  Chr.  W.  v.  52,  59  f.. 
75,  79,  86,  94,  114,  118. 
127,  169,  265,  336,  386. 
492,  621. 

Godard,  B.  469  (Seines  poe- 
tiquei9)i 

Goedecke,  A.  632. 

Göhler,  G.  827,  831  (Sinf. 
Dmoll). 

Goldmark,  C.  400,  409  (Uuül. 
Hochseit),  411  (8.  Sinf.),  83:>. 


-« 


857     ♦-- 


GoltermauD,  G.  709^ 
Gossec,  F.  J.  268,  495. 
Gottwald  109. 
Gots,  H.  423,  719,  735  (Sinf. 

Fdnr),  768,  815,  827,  830. 
Goimod,  Ch.  815,  845  (Petite 

Symphonie). 
Gouvy,  Th.  709. 
Grairn,  G.  108,  104,  105. 
Graun,  H.    79,   88,   86,   108, 

105. 
Graupner  97. 
GrÄt^  868. 
Grieg,  Edv.  426,  502  f.,   505 

(Aus   Holl)ei:gs  Zeit;   Peer 

Gynt  I),  509  (Peer  Gynt  II), 

520,  522,  525,  677,  830. 
Grimm,   J.  0.   666   (1.  Suite 

Odur),  667  (2.  u.  8.  Suite 

Gdur,  Gmollj. 
Groh,  J.  42. 
Guglielmi  169. 
Guilmant  840. 
GyrowetE  84,  158,  262. 

Haarklou,  J.  520. 

Hadley  850. 

Hägg,  A.  524. 

Hall6n,  A.  524. 

HallstrOm,  I.  524. 

Hamerik,  Asger  462,  501. 

Händel,  G.  Fr.  5,  44,  46,  52, 
58, 60  (Feuermusik,  Wasser- 
musik), 74  f.,  78,  79,  89, 
94,  97f.,  110,  113f.,  148, 
265  f.,  299,  357,  360,  412, 
486,  601,  668,  676,  726  f., 
768,  773,  829,  840. 

Handl  (Gallus),  Jac.  26. 

ffarrer,  G.  105. 

Martmanu,  Emil  501. 

Hartmann,  P.  E.  496. 


Hasse,  Ad.  26,  30,  82  f.,  86, 
89,  103,  128. 

Haßler,  H.  L.  8,  13,  34. 

Hausegger,  S.  Yon  384,  428 
(Barbarossa),  429  (Katnr- 
sinfonie). 

Hausmann  (Haufimann),  Y.  34, 
35,  39,  40,  42,  46  ff.,  50, 
56,  58,  69  f.,  112. 

Haydn,  Jos.  8,  30,  60,  71, 
77,  89 f.,  93 f.,  100,  105, 
109  f.,  118  (Le  matin,  lemidi, 
le  soir),  119  (Mit  dem  Hom- 
Signal,  Weihnachtssinf.,  Ab- 
schiedssinf.),  122  (Maria 
Theresia),  125  (Schulmei- 
ster), 181  (La  poule),  184 
(L'ours),  187  (La  reine),  189 
(La  chasse),  144  (Oxford),147 
(Sinf.  Nr.  13,  Gdur),  151 
(Sinf.  1),  155  (Sinf.  2),  157 
(Sinf.  6),  159  (Militär-Sinf.), 
161  (Sinf.  12),  163  (Sinf.  3 
u.  4),  164  (Sinf.  5,  14),  165 
(Sinf.  9),  167  (Sinf.  8  u.  7), 
169,  172,  174f.,  182f., 
188,  190,  192,  198,  194f., 
198,  215  f.,  228,  237,  241, 
252  f.,  256  f.,  259,  261  f., 
272 f.,  284,  288,  294,  296, 
299,  304,  307,  319,  884, 
839,  841  f.,  352,  885,  891, 
428,  443,  447,  495,  516, 
523,  532  f.,  535,  568,  584, 
603,  649,  656,  670,  750, 
769. 

Haydn,  Mich.  71,  267  (Sinf. 
Cdnr). 

Uebenstreit,  Pantaleon  68,  70. 

Heinrich  XXIV.,  Prina  zu  Rpuß 
763. 

Heller,  Stephen  380,  780. 


858 


HeUtedt  384,  709. 
Henriqnes,  F.  501. 
Herbdck,  J.  665. 
Hermann,  B.  884. 
Herzogenberg,  H.  von  762  (1. 

Sinf.  CmoU),  768  (2.  Sinf. 

Bdnr). 
Hesse,  A.  834. 
Heyse,  P.  501. 
ffiller,  F.  V.  346,  694. 
Hiller,  J.  A.  48,  86,  105. 
^ofbleister  262. 
Hofhaimer,  P.  17. 
Hofmann,  Heinr.  407  (Frithjof), 

426,  768. 
Hol  694,  849. 
Holter,  I.  520. 
Holzbaaer,  I.  96, 102. 

Hom,  C.  814  (Sinf.  Fmoll). 

Hnber,  H.  384,  426  (Tell- 
Sinf.),  427  (Böcklin-Sinf.), 
428  (Heroische  8inf.),  764 
(A  dur-Sinf .). 

Hummel,  F.  827,  832  ^Sinf. 
Ddur),  849. 

Httmperdinck,  E.  431  (Dom- 
röschen-Snite),  462,  467 
(Maurische  Bhapsodie). 

Indy,  V.  d'  431  fWallenstein). 
Isaac,  H.  17  (3-  u.  4  st.  Sfttze) 

20. 
Iwanow,  M.  632. 

Jacoby  462. 

Jadassohn,  S.  667  (Serenade). 
Jämefelt  530. 
Jaspar  849. 
Jomelli,  N.  82,  86. 
Jonciöres  849. 

Juon,  P.  827,  832  (Sinf. 
A  dur). 


KajanuB,  B.  526. 

Ealafati,  W.  656  (Sinf.  AmoU). 

Eallnnikow,  W.  657  (Sinfonie 
G-moU,  Adnr). 

Ealliwoda,  W.  iS86  (Sinfonie 
Fmoll),  287  (2.-6.  Sinf.), 
582. 

Kftmpf,  E.  462. 

Eastner,  G^.  468. 

Eann,  H.  825  (Sinf.  OmoU). 

Eeiser,  B.  434. 

Eimbeiger  105,  284. 

Eittl,  J.  Fr.  532  (Jagdsinl)'. 

Ejemlf,  H.  462. 

Elose,  Fr.  468. 

Elotse  221. 

Elughardt,  A.  403  (Leonore), 
678, 815, 817  (3.  n.  4.  Sinf.). 

Enecht,  J.  H.  221. 

Eoch,  Fr.  426  (Von  der  Nord- 
see). 

Eozeluch,  L.  531. 

Eradenthaller,  H.  48  f. 

Eramm  462. 

Kraus,  J.  521. 

Krieger,  Ph.  66,  710. 

Krommer,  Fr.  262. 

Kufferath  709. 

Ellffner  252. 

Euhnau  56,  117,  255,  335. 

Kuntzen  496. 

Kusser,  J.  S.  50. 

Kuyper,  £.  693  (Serenade 
in  D). 

Lachner,  Fr.  273,  409,  496, 
660,  661  (1.  Snite  DmoU), 
663  (2.  u.  3.  Suite  Emoll, 
Fmoll),  664  (4.,  5.  u.  6. 
Snite  Es  dur,  CmoU,  Cdur), 
665  (Ballsuite). 

Lalo,  E.  462,  693,  849. 


859 


Lanoiani,  P.  462. 

Lange,  D.  de  849. 

Lange-Maller,  P.  £.  463,  501. 

Lawea,  W.  44. 

Legrenzi  91. 

Lenz  246. 

Leo  L.  30,  80,  82  ff! 

Leonhard  834,  709. 

Leopold,  I.  Kaiser  28. 

Lie,  8.  520. 

Lindblad  521. 

Liest,  Fr.  76,  291,  335,  350, 
858,  365,  384,  385  f.,  387 
(Faust-Sinf.),  394  (Dante- 
Sinf .),  405, 409,  412  f.,  422, 
428,  430  f.,  443,  483,  495, 
534,  535,  538,  563,  589, 
603,  633,  650,  675,  695, 
698,  700,  721,  779,  835, 
840,  842  f. 

Ljadow  632. 

Ljapunow  632. 

LocatelÜ  84. 

Lorenz,  0.  A.  884. 

Louis  Ferdinand  200. 

Löwe,  0.  431. 

Lührss  334. 

Lnigini,  A.  462. 

Lully  8,  49  f.,  57  f.,  78,  79, 
444,  621. 

Luzzo  74. 

Mackenzie,  AI.  850. 

Mac  Dowell,  Edw.  850. 

Magnard  849. 

Mahler,  G.  384,  793  (1.  n. 
2.  Sinf.),  799  (3.  Sinf.),  802 
(4.  Sinf.),  805  (5.  Sinf.),  808 
(6.  Sinf.),  810  (7.  Sinf.),  811 
(8.  Sinf.),  825,  827. 

Major  767. 

Maliscliewsky,  W.  632. 


Mailing,  0.  501  f. 

Mancineüi,  L.  851. 

Marcello,  B.  83. 

Maröojial,  H.  462. 

Marini  21. 

Marinnzzi,  a.  466  (Sizil.  Snite), 
851. 

Markall,  W.  334,  694. 

Marpnig  105. 

Martean,  H.  693  (Suite  A  dur). 

Martuzzl  851. 

Maschek,  P.  242. 

Maschek,  V.  531. 

Maschera,  Fl.  20  ff.,  27. 

Massaini,  T.  25. 

Massenet,  J.  462,  469  (Seines 
pittoresques). 

Maurer  273. 

Max  Joseph  y.  Bayern  86. 

Mayr,  B.  56 

Mayr,  S.  337. 

Mazuel  57. 

M6hul,  E.  264,  265  (Sinf. 
amoU),  289, 495,  532,  672. 

Melante  s.  Telemann,  G-.  P. 

Mendelssohn  Bartholdy,  F.  65, 
69,  121,  212,  240,  251, 
265,  285,  290,  291,  296, 
298,  304,  306  (Schottische 
Sinf.),  311  (Ital.  Sinf.),  814 
(Lobgesang),  315  (Befor- 
mations-Sinf.),  316  (1.  Sinf. 
Gmoll),  317,  323,  328,  333, 
350,  854,  368,  408,  453, 
476,  487,  496,  498,  501  f., 
512,  522,  533,  542  f.,  597, 
618,  624,  656,  660  f.,  666, 
677,  694  f.,  697,  713,  718, 
746,  757,  763,  764,  769, 
816, 821, 829,832, 836, 838. 

Mercadantc  300,  337. 

Mcmla,  T.  21,  22. 


860 


Meisdorf,  B.  819  (Sinf.  Fdar). 

Heyerbeer  800, 887,  868,  S84, 
891,  463. 

Mezzaferrata  21. 

Mielck  580. 

Mihalovich  767. 

Minoja  83. 

Mlynarsky,  Emil  656  (Sinf. 
F  dur). 

MOhring  834. 

Moliqne  834. 

MoUer  42. 

Mono,  a.  M.  92  ff.,  103. 

Monte  21. 

Monteverdl  25,  59,  72  (Siu- 
fonien). 

Moor,  £.  834. 

Moralt  273. 

Morley,  J.  16. 

Morley,  Th.,  32. 

MoBcheles  665,  849. 

MoszkowBki,  M.  407,  462,  480 
(Suite). 

Moeart,  L.  71,  170. 

Mozart,  W.  A.  48,  60,  71,  84, 
95  f.,  99,  102,  122  f.,  137  f., 
142,  145,  148,  155,  166, 
167,  168  f.,  170  (1.  Sinf. 
Es  dur),  172  (Pariser  Sinf. 
Nr.  31),  178  (8.  Sinf.  D  dar, 
Salzburger  Sinf.  0  dur),  174 
(Sinf.  Nr.  33  Bdur),  176 
(Sinf.  Nr.  35  Ddur),  177 
(Linzer  Sinf.),  179  (Sinf. 
Nr.  38  Ddur),  182  (Sinf. 
Nr.  39  Es  dur,  Schwanen- 
gesang), 184  (Sinf.  Nr.  40 
Gmoll),  187  (Sinf.  Nr.  41 
Jupiter),  190  f.,  195  f.,  199, 
201,  211,  217  f..  250,  252  f., 
256  f.,  261,  266  f.,  270  f., 
275,  285,  288,  291  f.,  299, 


306,  334,  451,  523,  531, 
585,  568,  666,  668,  670, 
680,  694,  769  f.,  845. 

Mnffat,  a.  84,  50  ff.,  56,  57, 
59  f.,  62,  67,  70,  78,  117, 
255. 

Malier,  ^.  143,  834,  561. 

M&lichhaiisen,  Baron  ▼.  86. 

Mussorgski  682. 

Mysliweczek  109,  117,  581. 

Naumann,  J.  ö.  272,  677. 
Naumann,  £.  694. 
Nedbal,  A.  597. 
Neri  21,  22. 
Nemda,  Ot.  105. 
Neakomm,  8.  278. 
Ketzer,  J.  694. 
Nichelmann,  Chr.  105. 
Nicodö,  J.  L.  384,  407. 
Nicolai,  0.  457,  694. 
Nielsen,  C.    501,   502    (Vier 

Temperamente). 
Nielsen,  L.  501. 
Normann,  L.  521. 
NoTäk,  V.  597. 

Oberleithner,  M.  t.  834. 

Obrecht,  Jac.  17. 

Offenbach  692. 

Olsen,  0.  520. 

Onslow,  0.  291  (Sinf.  Adur). 

Facini  300,  337. 

Pacini,  G.  851. 

Paganini  3501,  853,  362. 

Paisiello  292. 

Pantaleon,   siebe  Hebenitreit 

Pape  834,  709. 

Parry,  H.  850. 

Paur,  E.  834. 


861 


Peiüis,  V.  462. 
Percz,  D.  82,  83. 
Pergolesi,  G.  B.  81,  87, 
Perosi,  L.  851. 
Petersen-Bergep,  W.  524. 
Pczel,  Joh.  30  (Hora  decima), 

46  f. 
Pcurl  (Bäwerl),  P.  35  ff.,  42  f., 

46  f.,  68. 
Pfeiffer,  J.  69. 
Phalesius,  P.  31. 
Piccini  83,  169,  292. 
Picchi,  G.  29. 
Pichel  117. 
Pittricli  462. 
Pleyel  121,  190,  262, 
Porpora  83» 
Pott  709. 

Prätorius,  Mich.  2,  39. . 
Proch,  H.  292, 

Quaiitz  84. 

Rachmauinow ,  S.    632,   649, 

653  (Sinf.  EmoU). 
Radecke,  B.  694. 
Raff,  J.    76,    141,    397    (Im 

Walde),  400  (Lenore),  424, 

438,   495,   607,  620,   660, 

665  (Suite  C  dup),  768,  770, 

780,  814. 
Rameau,  J.  Ph.  53,  58  f.,  75, 

79,  94,  255,  263,  265,  336, 

384,  451. 
Ravel,  M.  462. 
Reger,  M.  689  (Serenade),  827, 

828  (Sinfonletta). 
Beicha  273,  531. 
Reiche,   Gotffr.  29   (24  neue 

Qnattricinia). 
Reincken,  A.  49  f. 
Reinecke,  C.  694,  695  (8.  Sinf. 

G  moU). 


Reinhold,  H.  678. 

Rciüsiger  694. 

Reuß,  Prin«  Heinrich  763  f. 

Rentier,  G.  v.  89. 

Reznicek,  £.  N.  v.  680,  684 

(Sinf.  Suite). 
Rheinberger,  Jos.  403  (Wallen- 

stein),  432,  717. 
Richter,  Fr.  X.  100  f. 
Ries,  F.  273  f. 
Rietsch,    H.    480     (Taufcrer 

Suite). 
Rietz,  J.  568,  694. 
Rimsky-Eorssakoff,   N.    462, 

471     (Scheherazade),     476 

(Antar),  589,  600,  624,  632, 

649. 
Rodewald,  J.  105. 
Rolle,  H.  105. 
Romberg,  A.  285  (Sinf.  in  D), 

288. 
Romberg,    B.    285     (Trauer- 

Sinf.). 
Rosenhain,  J.  334,  694. 
Rosenmüller,   J.    44 ff.,   48  f., 

51,  56. 
Rosetti  109,   117,   190,   254, 

262. 
Rossini   98,    146,    246,    274, 

300,  344,  693. 
Rubensohn,  A.  521. 
Rubinstein,  A.  568,  638,  695 

(1.  Sinf.  Fdur),  696  (Ocean- 

Sinf.),     698    (Sinf.  drama- 

tique),  702  (5.  Sinf.  Gmoll), 

707  (6.  Sinf.  Amoll). 
Rudolph,  J.  60. 
Rudorff,   E.   815,   819    (Sinf. 

Hmoll).' 
Rue,  P.  de  la  17,  20. 
Bftfer,  Ph.  81 8  (Sinf.  P  dur),  832. 
Ruzek  462. 


862 


Saint-Sa^ns,  C.  458  (Suite  ul- 
görienne),  683,  668  (Suite 
op.  49),  694,  807,  887  (1.  u. 
2.  Sinf.  Es  dar,  DmoU),  840 
(8.  Sinf.  0  moU). 

Sammartini  101,  127. 

Samuel,  A.  384. 

Sartorio  75,  87. 

Scarlatti,  A.  76  f.,  79,  87,  89  f., 
94,  107. 

Scb&fer,  D.  849. 

Schaflfrath,  Chr.  105. 

Schale  F.  105. 

Scharwenka,  Ph.  422  (Traum 
u.  Wirklichkeit). 

Scharwenka,  X.  422. 

Scheiffelhnt,  J.  48  f. 

Schein,  H.  11,  43  f.,  68,  710. 

SchiOler,  A.  501. 

Schjeldemp,  G.  520. 

SchlOger,  M.  88. 

Schmeling  462. 

Schmicorer,  siehe  Schmierer. 

Schmierer,  J.  A.  57,  67,  693. 

Schmitt,  F.  849. 

Schneider,  Fr.  30,  285,  286. 

Schop,  J.  46. 

Schubert,  Fr.  89,  251,  273, 
274  (7.  Sinf.  Cdur),  281 
(Sinf.  H  moU),  283  (6.  Sinf. 
Odnr),  283  (1.  u.  3.  Sinf.), 
284  (4.  Trag.  Sinf.),  288, 
292,  805,  324,  403,  410, 
505,522,560,  571  f.,  581  f., 
584,  593,  661,  664,  670, 
695,  719,  729  f.,  743  f., 
749,  769,  770,  771  f.,  779, 
783,  799,  816  f.,  824,841. 

Schumann,  Clara  738. 

8ohumann,Georg  430  (Serenade 
F  dur),  431  (Turandot-Suite), 
827,  833  (Sinf.  Fmoll). 


Schumann,  Bob.  30,  44,  65, 
104,  121,  221,  233,  265, 
274,  276,  281,  285  f.,  296, 
304,  307,  316,  317  (Sinf. 
Bdur),  323  (Sinf.  DmoU), 
327  (Ouyertüre,  Soheno, 
Finale),  828  (Sinf.  Cdur), 
331  (Sinf.  Es  dur),  333,  388, 
340,  350,  361  f.,  380,  388, 
399  f.,  407,  439,  486,  500, 
505,  522,  528,  533,  572, 
574,  578,  581,  601,  607, 
613,  624,  627,  649,  664, 
666,  671,  677,  694  f.,  697, 
710f.,  713  f.,  734,736,738, 
740,763,769,783,813f.,821 . 

Schütz,  H.  25,  28,  113. 

Schwanberger  109. 

Scontrino,  A.  851. 

Scriabine,  A.  632,  649,  6M), 
(2.  Sinf.  CmoU),  652  (Le 
divln  poöme). 

Sekles,  B.  691  (Snite). 

Selmer,  J.  520. 

Senfl,  L.  17. 

Serow,  A.  600. 

Sgambati  768,  851. 

Sibelius,  J.  526  (Eardi&- 
Suite),  527  (1.  Sinf.  Emoll), 
529  (2.,  3.  u.  4.  Sinf.). 

Siklos  767. 

Simpson,  Th.  32  if. 

Sinding,  Chr.  513  (Sinf. 
DmoU),   518  (Sinf.  Ddnr). 

Sinigaglia,  L.  465  (Piemonte), 
851. 

Smetana,  F.  430,  534,  536 
(Mein  Vaterland  I  YiSehnd), 
§41  (II.  Vlteva),  546  (IH. 
Särka),  548  (lY.  Aus  Böh- 
mens Hain  und  Flur),  552 
(V.  Tabor),  555  (VI.  Blanlk), 


863 


Sodermanu,  A.  521. 

Spohr,  L.  88,  102,  194,  214, 
219,  239,  261,  273,  291 
(Sinf.  Esdur),  292  (Sinf. 
DmoU  n.  3.  Sinf.  Omoll),> 
294  (5.  Sinf.  GmoU),  296 
(Weihe  der  Töne),  299 
(8.  Sinf.  Gdur  u.  Histor. 
Sinf.),  300  (Doppcl-Sinf.), 
304,  306,  334,  388,  423, 
533,  620  f.,  651,  661,665, 
695,  718,  755,  842. 

Stade  42. 

Stamitz,  J.  99  f.,  101,  103, 
263,  532. 

Stamitz,  K.  102,  117. 

Stanford,  V.   245,   678,  850. 

Starzer,  J.  96. 

SteiFanl,  A.  50. 

Steinberg,  M.  658  (Sinf.  D  dar). 

Stenhammar,  W.  524. 

Sterke!  271. 

Stock,  A.  851. 

Stojowsky,  S.  657  (Sinf. 
Bmoll,  Suite  Esdnr). 

Strftfier,  E.  827  (Sinf.  Qt  dnr). 

Stranß,  J.  41,  824. 

Stranß,  B.  411  (Aus  Italien), 
693  (Serenade). 

Street  850. 

Stmbe,  a.  851  (Sinf.  H  moll). 

Snk,  J.  597  (Asraßl),  826. 

Sflfimayer  253. 

Svendscn,  J.  S.  441,  502,  503 
(Sinf.  Ddnr),  504  (Sinf. 
B  dnr). 

Tfiglichflbeck,  Th.   334,   694. 
Tanejew,  S.  632. 
Tartini  84. 
Tanbert,  W.  694. 
Telemann,  P.  0.  68,  66. 


TeUier,  M.  462. 

Terradellas  82. 

Tessarini  117. 

Thieriot.  F.  815,-818  (Sin- 
fonietta). 

Tinel,  E.  439. 

Toeschi,  J.  102. 

Tomaachek,  W.  J.  289,  531 
(Sinf.  Esdur). 

Torem  85. 

Traetta  82. 

Tschaikowsky,  P.  76.  471,  482 
(Manfred),  600,  601  (Sere- 
nade, 1.  Suite),  602  (Nuß- 
knacker-Suite), 603  (5.  Sinf.), 
611  (Sinf.  PatWtique),  634, 
650,  703,  716,  735. 

Tscherepnin  632. 

Tuma,  Fr.  70,  531. 

Tunder,  Fr.  28. 

Ulrich,  H.  709. 

Vanhali  190,  262. 

Veit  709. 

Verhulst  849. 

Vinci,  L.  da  80,  81,  87,  91, 
101. 

Vitali  21,  22. 

Vivaldi  85  f. 

Vogler,  Abt  221,  284  (Siuf. 
Cdur),  496. 

Volbach,  Fr.  827,  829  (Sinf. 
HmoU),  846. 

Volkmann,  B.  486,  555,  625, 
671,  675  (2.  u.  3.  Serenade 
Fdur,  DmoU),  676  (1.  Sere- 
nade Cdur),  678,  680,690, 

695,  710  ''^^  (^-  ^^'^^• 
Dmom  7t4  (2.  Sinf.  B  dnr), 
721,  7\L  I^X  1^5,  ft27, 
846.      *^i 


Atr 


864 


Waelrant  72. 

Wagenseil,  Ciir.  91  f. 

Wagner,  J.  0.  306. 

Wagner,  B.  23,  39,  59,  73, 
204,  241,  302  (Sinf .  C  dar), 
315,  360,  371,  394,  396, 
399,  402,  408,  4li,  415, 
432,  433,  437,  443,  468, 
486,  493,  501,  510,  513, 
518  f.,  533,  550,555,  596  f., 
633,  648,  651,  678,  713, 
7261,  737,  768,  771,  777, 
786,789,  792  ff.,  797  f. ,814, 
822,826,  830, 884  ff.,  846  f., 
849. 

Walter,  A.  694. 

Walther,  Johann  16. 

Wassilenko,  S.  632,  658. 

Weber,  K.  M.  v.  104,  158, 
191,  219,  252,  266,  283, 
290  (Sinf.  C  dur),  295,  305, 
313,  328,  368,  408,  496, 
501,  545,  664,  704. 

Wegelius,  M.  526. 

Weingartner,  F.  v.  820  (1.  Sinf. 
G  dur),  822  (2.  Sinf.  Es  dur), 
823  (3.  Sinf.  E  dur),  832. 

Weyse  252,  496. 


Widmann,  E.  34^ 
Widor,  Ch.  M.  845  (1.  Sinf. 
F  moU),  847  (2.  Sinf.  A  dnr). 
Wihtol  632. 
Wilms  271.  273. 
Winding,  A.  501  f. 
Winter.  P.  v.  241. 
Witt  271. 

Wolf,  H.  462,  466  (Serenade). 
Wolf,  L.  C.  688  (Serenade). 
Wolf-Ferrari  851. 
Wölfl  271. 

Woyrsch.  F.  765  (Sinf.  Cmoll). 
Wranitsky  262. 
Wllerst  709. 

Zach  109. 

Zachow  28. 

Zanella  851. 

Zelenka,  J.  D.  66  (Trompeten- 
Suite  F  dur),  78,  531  f. 

Zellner,  J.  '694. 

Zollner,  H.  586,  834. 

ZodiacuB  55. 

Zolotarev,  W.  656  (Sinf. 
Fis  moll). 

Zweers,  B.  849  (An  mein 
Vaterland). 


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