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LIBRARY
OF THB
University OF California.
Class
Fichtes Atheismusstreit
die Kantische Philosophie.
Eine Säkularbetrachtung
Dr. Heinrich f^icliert,
, . . hier der Pnntt, der BcukBB und
Wolleo in EiDK vereiuigt, und Harmonie in
mein WKKen bringt,"
Fichtn 1798.
BERLIN,
Verlag von Routhar & Roichard.
leeg.
3:i <f//f
^'^ RS-
GENERAL
Sonderdruck aus den „Kantstudien.''
yo'
Vorbemerkung.
Die folgende Abhandlung ist ursprünglich für die „ Kantstudien **
auf Wunsch des Herrn Herausgebers geschrieben. Der Umstand,
dass ich versucht habe, die vor hundert Jahren heftig umstrittenen
Gedanken mit Problemen unserer Zeit in Verbindung zu setzen, möge
die vorliegende gesonderte Veröffentlichung rechtfertigen.
Für meinen Zweck war es notwendig, Elemente des Pichteschen
Denkens hervorzuheben, die in den üblichen Darstellungen nicht im
Vordergrund stehen oder ganz fehlen, und diese Vermischung histo-
rischer und systematischer Gesichtspunkte kann Bedenken erregen.
Hat doch der Streit darüber, was „Kantisch" sei, vielfach die Frage,
was richtig ist, ungebührlich zurückgedrängt und bisweilen mehr zur
Verwirrung als zur Klärung beigetragen. Da aber nun einmal die
systematischen Erörterungen der Gegenwart vielfach mit der Interpre-
tation der Kantischen Philosophie in Verbindung gebracht werden,
so sollte heute auch Fichtes Meinung gehört werden. Wenn Kant
ein „Lebender'' ist, dann ist es Fichte gewiss, und vielleicht bietet
das Jubiläum des Atheismusstreites keine ganz ungeeignete Gelegen-
heit, um hieran besonders mit Rücksicht auf die Probleme der Religions-
philosophie wieder einmal zu erinnern.
Freiburg i. B., August 1899.
Heinricli Rickert.
U)6090
Inhalt.
I.
Die Oewissheit des Glaubens.
Seite
1. Forbergs Glaube . 2
2. Fichtes Glaube 5
3. Die Überwindung des Intellektualismus 12
IL
Der Gegenstand des Glaubens.
1 . Fichtes Gott als Weltordnung . 18
2. Religion und Metaphysik 24
, , OF THE
UNIVERSITV
OF
I,
m Sommer des Jahres 1799 schied Fichte von der Universität
Jena nach fünfjähriger, angewöhnlich erfolgreicher Wirksamkeit nnd
siedelte nach Berlin über, um dort zunächst als Privatmann zn leben.
Eine Anklage wegen Atheismus war es, die ihn ans dem Lande
Goethes dorthin gehen liess, wo bis vor kurzem Wöllner sein Un-
wesen getrieben hatte. Der „Atheismusstreit", der, wie bekannt,
in Deutschland zu seiner Zeit grosses Aufsehen erregte, ist inter-
essant genug, um jetzt, da hundert Jahre seitdem vergangen sind,
wieder in Erinnerung gebracht zu werden.
Fichtes Aufsatz „Über den Grund unseres Glaubens an eine
göttliche Weltregierung", der ihm die erwähnte Anklage zuzog, ver-
dankt bekanntlich einer äusseren Anregung seine Entstehung.
Von Forberg war ihm für sein „Philosophisches Journal" eine Ab-
handlung ttber die „Entwicklung des BegrijSes der Religion" ge-
schickt worden, der er nach dem Stande seiner damaligen Ansichten
nicht zustimmen konnte. Unterdrücken mochte er die Kundgebung
der fremden Meinung nicht, aber er wollte sie auch nicht ohne
Gegenbemerkung in seine Zeitschrift aufnehmen, und so schrieb er
seine eigenen Gedanken über dasselbe Problem nieder, um sie dann
mit denen von Forberg zusammen zu veröffentlichen.
Doch nicht von dem äusseren Verlauf der Ereignisse will ich
hier erzählen. Was wir davon wissen, hat Fichtes Sohn bereits im
Jahre 1862 nahezu vollständig und übersichtlich zusammengestellt,
und wer an der Hand eines Meisters historischer Reproduktion sich
den Gang der Dinge wieder zu vergegenwärtigen wünscht, findet in
Kuno Fischers Buch über Fichte eine unübertreffliche Darstellung.
Biokert, Atheisznusatreit. 1
2 Heinrich Bickert,
Wohl aber hat der Atheismnsstreit, wie ich glaube, für uns
noch ein anderes als ein historisches Interesse, und zwar besonders
deswegen, weil er im engsten sachlichen Znsammenhange mit der
Kantischen Philosophie steht und somit wie alles, was sich mit
den Grundfragen des Kantischen Denkens berührt, in die Gegenwart
hineinragt. An einige der vor hundert Jahren erörterten Streitpunkte
möchte ich daher hier erinnern, die mit viel behandelten Problemen
unserer Zeit nahezu identisch sind, und zwar will ich ausgehen von
dem Gegensatz, in dem die Ansichten Forbergs uud Fichtes zu ein-
ander stehen, weil ich meine, dass in ihnen die beiden yerschiedenen
Auffassungen des Verhältnisses von Religion und Erkenntnis, von
Glauben und Wissen vertreten werden, zu denen allein man auf
dem Boden der Kantischen Philosophie konsequenterweise kommen
kann. Fichte hat sich immer flir den Interpreten Kants gehalten, und
auch Forberg knüpfte, vrie er später in der „Apologie seines an-
geblichen Atheismus^^ erklärte, an Kant an. Es war seines Erachtens
„ein höchst glücklicher Gedanke des Philosophen von Königsberg,
für den Begriff des religiösen Glaubens an die Gottheit die Be-
nennung eines praktischen Glaubens in Vorschlag zu bringen."*)
Zugleich aber meinte er bemerkt zu haben, dass man Kaut häufig
missverstand, und suchte daher durch eine „Analyse" des Kantischen
Begriffs zu einer unzweideutigen Begründung der Religion zu
kommen.*)
Ich beginne damit, zu zeigen, was Fichte und Forberg unter
dem „praktischen Glauben" Kants, und was sie unter „Weltregierung"
oder „Weltordnung" sich denken, und zwar will ich diese beiden
Begriffe so von einander scheiden, dass wir den zweiten als den
zu betrachten haben, der den Gegenstand des Glaubens oder den
Inhalt der Religion, den ersten dagegen als den, der das Prinzip
der Gewissheit angiebt, auf welches die Religion sich stützt. Die
Auseinanderhaltung dieser beiden Begriffe wird für das Verständnis
des Problems förderlich sein.
I.
Die Oewissheit des Glaubens.
1. Forbergs Glaube.
Man kann in den Darstellungen des Atheismusstreites lesen,
dass bei Forberg Religion und Moral vollständig zusammeafiallen.
*) Forbergs Apologie, S. 95.
«) A. a. 0., S. 118.
Fiohtes Atheismusstreit und die Kantische Philosophie. 3
Sehen wir nur auf den Inhalt oder den Gegenstand seines Glaubens,
so ist das nicht richtig. „Wenn es in der Welt so zugeht", sagt
er nämlich, „dass auf das endliche Gelingen des Guten gerechnet
ist, so giebt es eine moralische Weltregierung", und hiermit geht er
über den von ihm aus Kant entnommenen Moralbegriff hinaus. Mo-
ralisch ist nach Kant nichts anderes als der „gute Wille", und dieser
ist als solcher immanent, d. h. ob er auch Erfolg in der Welt haben
kann, vermag die Moralphilosophie für sich allein nicht zu sagen.
Ja, sie bleibt notwendig beim Willen stehen, denn vom Begriff der
autonomen Moral ist der Begriff eines Erfolges fernzuhalten, und sie
kann daher die Möglichkeit nicht abweisen, dass das Gute niemals
realisiert wird, Forbergs Glaube dagegen, dass auf das endliche
Gelingen des Guten „gerechnet" und dem guten Willen Erfolg ver-
bürgt ist, schliesst den Glauben an etwas ausserhalb des guten
Willens ein, er setzt eine aussermenschliche, transcendente Macht
des Guten voraus und enthält somit nicht nur Moral sondern
Religion.
Wie aber stellen sich uns seine Ansichten dar, wenn wir auch
sein Prmzip der Gewissheit in Betracht ziehen? DIefle- Frage ist
offenbar für die kritische Behandlung der Bdigioo (fie erste.
Forberg will ja die Religion rechtfertigen. Warum ist es unsere
Pflicht, an eine moralische Weltregierung zu glauben? Worauf
stützt sich die Überzeugung, die ein „praktischer Glaube" hat?
Was heisst überhaupt „praktischer Glaube"? Von der Beant-
wortung dieser Fragen ist das endgültige Urteil über Forbergs
Religionsphilosophie abhängig.
Alle unsere Überzeugungen schöpfen wir nach Forberg aus
drei Quellen, aus der Erfahrung, der Spekulation und dem Gewissen.
Die Erfahrung kann uns niemals an eine moralische Welt-
regierung glauben machen. Es lielse sich aus ihr viel eher folgern,
dafs für gewöhnlich ein böser Genius die Oberhand behält. „Würde
eine Verteidigung des Satans wegen Zulassung des Guten wohl
weniger gründlich ausfallen, als die Verteidigungen der Gottheit
wegen Zulassung des Bösen bisher ausgefallen sind?"^) Nein, die
Welt ist, so wie die Erfahrung sie uns darstellt, lasterhaft, und der
Schluls von dem Dasein einer lasterhaften Weit auf das Dasein
eines heiligen Gottes ist nicht zulässig.
Ebenso wenig Gewifsheit aber für uusern Glauben giebt uns
V
1) Phüos. Journal 1798, Bd. VÜI, Heft 1, S. 26.
4 Heinrich Bickert,
die Spekulation. Theoretische Vemnnftgnindsätze, die anf das
Dasein eines moralischen Weltregenten schliefsen lassen, gelten nicht.
Die moralische Weltregierang liegt jenseits aller Erfahrung, und ein
Sein aniser der empirischen Wirklichkeit vermag das theoretische
Denken nicht zn erfassen. Beweise für das Dasein Gottes sind so-
mit überhaupt unmöglich.
Danach also bleibt das Gewissen als Quelle unserer religiösen
Überzeugung allein übrig. Forberg drückt dies so aus, dals er die
Religion „die Frucht eines moralisch guten Herzens^' nennt und
erklärt, sie entstehe „einzig und allein aus dem Wunsch des guten
Herzens, dals das Gute in der Welt die Oberhand über das Böse
erhalten möge",*) Inwiefern aber kann ein Wunsch Prinzip der
Gewifsheit sein? Ist er nicht rein individuell? Nein, denn es „ist
kein Mensch so böse, dals er im Ernste wünschen könnte, das
Böse möchte das Gute am Ende ganz von dem Erdboden ver-
drängen". In jedem Herzen also ist Beligion. Aber auch hiermit
ist doch immer nur die empirisch allgemeine Thatsache, nicht die
Notwendigkeit der Religion gezeigt. Wie wird der Glaube zur
Pflicht? Jeder der nach Wahrheit strebt, sagt Forberg, wünscht,
dafs nur noch wahre Urteile in der Welt gefällt werden, und
wäre dies Ziel erreicht, so gäbe es ein „goldenes Zeitalter fiir
die Köpfe". Diesem Gedanken geht parallel die Idee einer
allgemeinen Übereinstimmung im Guten, die dem Wunsche ent-
springt, dals es nur gute Menschen geben möge, und die Er-
reichung dieses Zieles würde „ein goldenes Zeitalter für die Herzen"
bedeuten. Nun sind zwar beide Ideale niemals zu verwirklichen,
aber trotzdem haben wir uns so zu verhalten, als ob wir sie er-
reichen könnten, und ebenso wie die Arbeit an der Realisierung
der Wahrheit nur einen Sinn hat, wenn wir glauben, dem Richtigen
uns zu nähern, ist es, so wahr wir moralische Wesen sind,
unsere Pflicht zu glauben, dals auch das Gute sich immer mehr
verwirklichen lasse.
Auf den ersten Blick scheint diese Trennung von Kopf und
Herz die bekannte Ansieht zu enthalten, dals nicht nur der Intellekt
unsere Weltanschauung forme, sondern dafs auch der Wille dabei
mafsgebend sei^ und dafs 2»^eiofa das Recht des Willens zur Leitung
unserer Überzeugungen begründet werden könne. Ist dies aber
wirklich Forbergs Meinung? Will er sagen, wir dürften und sollten
1) A. a. 0., S. 27.
Fichtes Atheismusstreit und die Eantisohe Philosophie. 5
Sätze für wahr halten, die sich theoretisch weder begründen noch
Mriderlegen lassen, weil der praktische Glaube sie fordert? Sehen
wir etwas genauer zu, so finden wir Forberg von dieser Ansicht
weit entfernt, ja sie scheint ihm gerade das Mifsverständnis zu
sein, dem die Lehre Kants bisher ausgesetzt war, und das er be-
seitigen will.^) „Es ist nicht Pflicht, zu glauben, dafs eine
moralische Weltregierung .... existiert, sondern es ist blofs und
allein dies Pflicht, zu handeln, als ob man es glaubte. In
den Augenblicken des Nachdenkens oder Disputierens kann man es
halten wie man will'^^)
In voller Deutlichkeit zeigen die „verfänglichen Fragen*' am
Schlüsse von Forbergs Abhandlung uns seine Meinung. Ob Gott sei,
erklärt er dort für völlig ungewifs, und sagt, man könne keinem
Menschen zumuten, an Gott zu glauben, denn bei dieser Frage-
stellung sei Glaube im Sinne einer besondern Art des Fürwahr-
haltens genommen. Religion aber ist lediglich Maxime des Willens,
und alles für wahr Gehaltene an ihr ist Aberglaube. Nur beim
Handeln wäre Irreligion Gewissenlosigkeit. Durch diese Scheidung
des Glaubens im Sinne des Fürwahrhaltens von der Religion wird
der Satz verständlich: ein Atheist kann Religion haben. Er soll
bedeuten: auch wer nicht an Gott glaubt, aber immer so handelt
als ob er glaubte, der ist religiös.
Forberg weifs selbst, dafs diese Begriffsbestimmung der Religion
einen neuen BegriflF mit einem alten Worte verbindet, und wir werden
jetzt sagen können, dafs sein Standpunkt doch ein rein moralischer
ist. Der Glaube an eine moralische Weltregierung ist gewils
religiös, aber nur wenn Glaube eine Art des Fürwahrhaltens be-
deutet. Da jedoch Forbergs Wunsch des Herzens gerade nicht die
Grundlage eines Fttrwahrhaltens bilden soll, so ist sein Glaube,
den er für den „in sein gehöriges Licht gestellten^' Kantischen
Glauben hält, gar kein Glaube, sondern ein Imperativ, und daher
sein „Glaube" an eine moralische Weltregierung nicht Religion.
2. Fichtes Glaube.
Wie verhält sich nun Fichte zu Forbergs Lehre? In vielen
1) Vergl. Forbergs Apologie, S. 176. „Es war die Tendenz der ganzen
Abhandlung .... den Kantischen bei weitem nicht immer gehörig gefafsten
Begriff in sein gehöriges licht zu stellen".
2) Philos. Jonmal, a. a. 0., S. 88. In der „Apologie" S. 176 f. beruft
sich Forberg für diese Ansicht ausdrücklich auf einen Satz von Kant, in dem
auch 17 on einem „uns so zu verhalten, als ob" gesprochen wird.
Q Heinrioh Bickert,
Bücksichten, erklärt er, stimme sie mit seiner eigenen Überzeugung
überein, in anderer Hinsicht dagegen sagt er, dass sie seiner Mei-
nung nicht sowohl entgegen sei, als nur dieselbe nicht erreiche.
Wir haben das so zu verstehen, dass Fichte mit Forberg im wesent-
lichen übereinstimmt in Bezug auf den Inhalt oder den Gegenstand
des Glaubens, dass ihm dagegen das Forbergsche Prinzip der Gewiss-
heit durchaus nicht genügt. Darauf allein kann sich das so viel-
fach missverstandene „Nichterreichen" beziehen.
Wir verfolgen nun das Verhältnis der beiden Ansichten im
einzelnen. Fichte setzt wie Forberg die Gottheit der moralischen
Weltordnung gleich und geht damit über das rein Moralische hinaus
zum Beligiöseu. In seinen späteren Streitschriften hat er den Unter-
schied von Moral und Beligion ausführlich dargelegt. Unter morali-
schen Gesichtspunkten kommt es auf „das blosse Wollen als innere
Bestimmung meiner Gesinnung" an, und „wenn du bloss und lediglich
Wille wärest, ... so möchtest du etwa sittlich wollen, und damit
wäre alles zu Ende . . . Nun bist du zugleich Erkenntnis . . .
und wenn du nun . . . dein Wollen betrachtest, so wird es dir
als vernunftwidrig erscheinen, wenn es dir als zwecklos und folgen-
los erscheint, und zugleich wird das Gebot dieses Wollens dir als ver-
nunftwidrig erscheinen."^) Wir müssen daher, so wahr wir sittlich
wollen, annehmen, „dassjede wahrhaft gute Handlung gelingt, jede böse
sicher misslingt." Es giebt demnach nicht nur guten Willen, sondern
einen Weltplan, ohne den „kein Haar fällt von seinem Haupte, und
in seiner Wirkungssphäre kein Sperling vom Dache."^) Das ist ge-
wiss mehr als Moral, das ist Beligion,
Auch in Bezug auf das Prinzip der Gewissheit, das der Glaube
besitzt, geht Fichte mit Forberg in einer Hinsicht durchaus zu-
sammen: Beweise für den Glauben giebt es nicht, ja, jeder Ver-
such eines Beweises muss uns sogar von Gott wegführen. Wir
können die Sinnenwelt vom Standpunkte der Naturwissenschaft oder
vom transcendentalen Gesichtspunkt aus betrachten, in beiden Fällen
findet der Gottesbegriflf keinen Platz. Naturwissenschaftlich ange-
sehen ist die Welt so, wie sie ist, eben weil sie so ist, d. h. Sein
und Welt fallen zusammen, sie sind in sich selbst begründet und
in sich selbst vollendet, und es giebt da nur immanente Gesetze.
Die Erklärung der Welt aus Zwecken einer Intelligenz ist vom
Standpunkte der Naturwissenschaft „totaler Unsinn." Ebensowenig
1) Vergl. „Aus einem Privatsohreiben.'* S. W., V., S. 392 f.
2) Über den Grund unseres Glaubens u. s. w. S. W., V., S. 186.
Fichtes Atheismusstreit and die Kantisohe Philosophie. 7
aber erreichen wir durch die transcendentale Betrachtung der Sinnen-
welt. Die Natur besteht dann zwar nicht mehr als absolutes Sein
sondern ist eine Auffassung des Intellekts. Aber, auch so angesehen,
ist die Welt etwas in sich geschlossenes, und so lange wir auf rein
theoretischem Boden bleiben, giebt es keinen Weg von der Sinnen-
welt zu Gott. Die Philosophen, welche meinten, einen solchen Weg
zu kennen, haben nicht das Sein rein gedacht, sondern eine morali-
sche Weltordnung unvermerkt schon vorausgesetzt, d. h. sie haben,
wie wir sagen können, den Begrifl der Natur, der, damit Natur-
wissenschaft möglich ist, als völlig indifferent gegen Gut oder Böse
gedacht werden muss, verfälscht.
Der einzige Ausgangspunkt, um zur Religion zu kommen, ist
also auch für Fichte das Gewissen, der autonome, sich selbst das
Gesetz gebende Eantische gute Wille. Ich soll, das ist absolut ge-
wiss, und mit dem Sollen ist mir als einem vernünftigen Wesien
auch die Möglichkeit des Könnens und damit eine moralische Welt-
ordnung gegeben. Wie die Wirklichkeit die Möglichkeit einschliesst,
so mein Pflichtbewusstsein das Göttliche. Der Grund für den religi-
ösen Glauben ruht demnach auf dem Willen. „Ich kann nur darum
nicht weiter gehen, weil ich weiter gehen nicht wollen kann."
Auch Fichtes Gewissheitsprinzip scheint also noch mit dem
Forbergs verwandt. Sobald wir nun aber einen Schritt weiter sehen,
scheiden sich die Wege der beiden Denker prinzipiell, und wir
kommen zur Entwicklung der Fichte ganz eigentümlichen Ge-
danken. Sein Glaube ist nämlich durchaus nicht nur für den han-
delnden Menschen notwendig. Er ist aber auch nicht etwa „eine
Überlegung und Erwägung von Gründen für und wider, ein freier
Entschluss etwas anzunehmen, dessen Gegenteil man wohl auch für
möglich hält,^^ „eine Ergänzung oder Ersetzung der unzureichenden
Überzeugungsgründe durch die Hoffnung", denn „für wahr zu halten,
was das Herz wünscht," sagt Fichte, „ist Wahn und Traum, so
fromm auch etwa geträumt werden möge". Der auf dem Willen
beruhende Glaube ist vielmehr ein absolut notwendiges, im
Wesen der Vernunft begründetes Fürwahrhalten, fllr das
Fichte nicht nur volle Gewissheit in Anspruch nimmt, sondern das
er für das Gewisseste erklärt, das es überhaupt giebt. Beweisen
will er zwar die Annahme einer moralischen Weltordnung nicht,
aber nur deswegen lehnt er alle Beweise dafür ab, weil er in
seinem Glauben eine viel grössere Gewissheit besitzt, als irgend ein
Beweis sie ihm geben könnte.
S Heinrich Sickert,
Und wie kam Fichte zu dieser Überzeugung? Er hat die Ge-
dankenreihen, die hierfür ausschlaggebend sind, in seiner Abhand-
lung über den Grund unseres Glaubens an eine göttliche Welt-
regierung nur angedeutet, an anderer Stelle aber das hier Gesagte
ausfUhrlich begründet, und weil es sich dabei um den Punkt handelt,
auf den alles ankommt, so müssen wir die ausführliche Begründung
mit heranziehen. Sie findet sich in seinem „System der Sittenlehre"
vom Jahre 1798.^) „Handle schlechthin gemäss deiner Überzeugung
von deiner Pflicht", in diesem Satz hat er das „formale Gesetz der
Sitten" gefunden. „Wenn denn nun aber meine Überzeugung irrig
ist, könnte jemand sagen, so habe ich meine Pflicht nicht gethan."
Dieser Einwurf führt ihn zu der Untersuchung darüber, worauf denn
überhaupt unsere Überzeugung beruht.
Ich gebe seinen Gedankengang gekürzt, aber durchweg mit seinen
eigenen Worten. Soll pflichtmässiges Verhalten möglich sein, so muss es
ein absolutes Elriterium der Richtigkeit unserer Überzeugung über die
Pflicht geben. Nun ist zufolge des Sittengesetzes ein solches Verhalten
schlechthin möglich, mithin giebt es ein solches Kriterium. Wir
folgern demnach aus dem Vorhandensein des Sittengesetzes
etwas im Erkenntnisvermögen. Wir behaupten eine Beziehung
des Sittengesetzes auf die theoretische Vernunft; ein Primat des
ersteren vor der letzteren. Was aber giebt uns dazu das Recht?
Das Sittengesetz ist kein Erkenntnisvermögen, es kann seinem Wesen
nach die Überzeugung nicht durch sich sßlbst aufstellen, diese muss
durch das Erkenntnisvermögen gefunden und bestimmt sein. Aber:
dann erst autorisiert das Sittengesetz die Überzeugung. Mit
anderen Worten: die theoretischen Vermögen gehen ihren Gang
fort, bis sie auf dasjenige stossen, was gebilligt werden kann, nur
enthalten sie nicht in sich selbst das Kriterium seiner
Richtigkeit, sondern dieses liegt im Praktischen, welches
das erste und höchste im Menschen und sein wahres Wesen ist.
Das gesuchte absolute Kriterium der Richtigkeit unserer Überzeugung
ist sonach ein Gefühl der Wahrheit und Gewissheit. Ob ich zweifle
oder gewiss bin, habe ich nicht durch Argumentation, sondern durch
unmittelbares Gefühl. Nur inwiefern ich ein moralisches Wesen bin,
ist Gewissheit für mich möglich, denn das Kriterium aller theoreti-
schen Wahrheit, ist nicht selbst wieder ein theoretisches, es ist ein
praktisches, bei welchem zu beruhen Pflicht ist. Und zwar ist jenes
S. W. IV, S. Iflf. In den „Rüokerinnerungen" (S. W., V., S. 364.) ver-
weist Fichte selbst auf diese Schrift.
Fiohtes Atheismasstreit und die Eantische Philosophie. 9>
Kriterinm ein allgemeines, das nicht nur für die anmittelbare Er-
kenntnis unserer Pflicht, sondern überhaupt für jede mögliche
Erkenntnis gilt Die einzige feste und letzte Grundlage
aller meiner Erkenntnis ist meine Pflicht. Zwar: das Ge-
wissen giebt nicht das Materiale her, dieses wird allein durch die
Urteilskraft geliefert, und das Gewissen ist keine Urteilskraft. Aber
die Evidenz giebt es her, und diese Art der Evidenz findet lediglich,
beim Bewusstsein der Pflicht statt. ^)
Was Fichte hier sagen will, ist vollkommen klar. Auf unserm
Pflichtbewusstsein beruht nicht nur unser sittliches Leben sondern
in letzter Hinsicht auch die Wissenschaft. Das Erkenntnisvermögen
giebt mir für sie lediglich den Stoflf, die Überzeugung von ihrer
Wahrheit aber liegt in einem Gefühl, das ich anerkennen soll, und
wo diese Billigung — Fichte nennt sie im Gegensatz zu den
„ästhetischen Gefühlen*^ der Lust mit einem sehr charakteristischen
Ausdruck eine „kalte Billigung"^) — nicht vorliegt, da giebt es auch
keine theoretische Überzeugung. Alle Überzeugung ist praktisch.
„Ich soll mich überzeugen." Ohne den Willen zur Überzeugung ist.
nichts für mich wahr und gewiss. Jedes Urteil, das auf Wahrheit.
Ansprach erhebt, setzt also den Willen zur Wahrheit als letzten
Grund der Gewissheit voraus: Ein sittliches Wollen im weitesten
Sinne, ein Wollen, das ein Sollen anerkennt, ist die Basis nicht nur
für den sittlichen sondern auch für den theoretischen, denkenden
Menschen.
Mit Hilfe dieser Lehre vom Primat des Sittengesetzes vor der
theoretischen Vernunft, aus der etwas im Erkenntnisvermögen selbst
gefolgert wird, verstehen wir jetzt, warum Fichte für den religiösen
Glauben die denkbar höchste Gewissheit in Anspruch nehmen und
sein Recht dem Wissen gegenüber ganz ausser Frage stellen konnte.
Er trennte nicht wie Forberg Kopf und Herz, das Fürwahrhalten
and die Religion, denn dadurch war eine Einheit in unserm geistigen.
Leben niemals zu erreichen, sondern er zeigte, dass überall erst das
Herz gebunden sein muss, ehe der Geist gebunden sein kann, und'
fand hier den „Punkt, der Denken und Wollen in Eins vereinigt
und Harmonie in mein Wesen bringt". „Das Element aller Gewiss-
1) Vergl. a. a. 0., S. 165—178.
2) Für die Geschichte der Urteilslehre sind diese Stellen sehr interessant.
Eine Urteilstheorie, die im engsten Zusammenhang mit den hier behandelten
Problemen steht, habe ich in meiner Schrift über den „Gegenstand der Er-
kenntnis" (1892) zu geben versacht.
10 Heinrich Rickert,
heit ist GlaQbe*^ Beruht der Glaube also auch auf dem Willen,
so ist er darum nicht „nur" Glaube, d. h. ein Fürwahrhalten, dem
irgend eine andere Überzeugung durch ihre Gewissheit neben- oder
gar übergeordnet werden könnte, sondern ohne den Glauben würde
„selbst diejenige Gewissheit, welche alles mein Denken begleitet,
und ohne deren tietes Gefühl ich nicht einmal auf das Spekulieren
ausgehen könnte, schlechterdings unerklärbar" sein. „Es giebt keinen
festen Standpunkt als den angezeigten, nicht durch die Logik, sondern
durch die moralische Stimmung begründeten". So ist ,jene Welt-
Ordnung das absolut erste aller objektiven Erkenntnis", d. h. die
religiöse Überzeugung trägt alle Überzeugungen, die wissenschaft-
lichen mit inbegriffen, sie ist mehr als Wissen, gewisser als alles
Wissen.
Das Verhältnis, in dem die Ansichten Fichtes und Forbergs zu-
einander stehen, liegt jetzt klar vor uns. Beide wollen auf dem
Boden der Kantischen Philosophie zur Religion Stellung nehmen,
und zwar so, dass sie die Bedeutung des religiösen Lebens würdigen.
Beide sind darin einig, dass theoretische Beweise für den Glauben
weder auf Grund der Erfahrung noch durch Metaphysik geführt
werden können, denn Religion ist nicht Wissen, und der Glaube
ruht nicht auf unserm Verstand, sondern auf unserm Willen. Beide
endlich bestimmen den Inhalt oder den Gegenstand des religiösen
Glaubens gleich. Es ist die moralische Weltregierung, d. h. die
Welt ist auf den Sieg des Guten über das Böse angelegt. Trotz
alledem ist das Verhältnis der Erkenntnis zur Religion bei dem
einen ein völlig anderes als bei dem anderen, weil sie mit dem
Worte „Glauben" durchaus nicht denselben Sinn verbinden.
Bei Forberg sieht die Sache zunächst so aus, als wolle er durch
seine Trennung von Kopf und Herz neben dem theoretischen Wissen
dem Willen das Recht einräumen, dort die Überzeugungen zu bestimmen,
wo der wissenschaftliche Beweis versagt. Thatsächlich aber hat
<iiese Trennung eine ganz andere Bedeutung. Es werden durch sie
zwei Welten nebeneinandergestellt, die garnichts miteinander zu thun
haben können. Die Welt des Herzens ist lediglich für den handelnden
Menschen da. Wer Überzeugungen sucht, muss sich allein an seinen
Kopf halten. Für die Philosophie, die doch nicht im Handeln,
sondern im Denken und Fürwahrhalten besteht, wird also die
Koordination von Wille und Verstand wieder aufgehoben, und
das Herz dem Kopfe untergeordnet. Der praktische Glaube ist
gar kein Gewissheitsprinzip und hat somit für unsere philosophische
Fiohtes Atheismusstreit und die Kantische Philosophie. H
Weltanschauung auch nicht die geringste Bedeutung. Das ist For-
bergs unzweideutig ausgesprochene Ansicht, und als ob er dem
Leser gar keinen Zweifel darüber lassen wollte, stellt er die letzte
„verfängliche Frage" auf, ob nicht der Begriff eines praktischen
Glaubens „mehr ein spielender als ein ernsthafter philo-
sophischer Begriff" sei. Die Antwort darauf aber überiässt er
„billig dem geneigten Leser selbst, und damit zugleich das Urteil,
ob der Verfasser des gegenwärtigen Aufsatzes am Ende auch wohl
mit ihm nur habe spielen wollen".^) Eine Versöhnung von Wissen
und Glauben wird man in dieser „Religionsphilosophie" nicht erblicken
können.
Fichte lag nichts ferner als in Fragen der Religion „spielende
Begriffe" aufzustellen oder gar mit seinen Lesern zu spielen. Zu-
nächst scheint er ebenfalls die Bedürfnisse des Willens neben den
Entscheidungen des Verstandes zur Geltung bringen zu wollen,
bleibt jedoch dann ebensowenig wie Forberg bei dieser Koordination
stehen, die ja in der That niemals zu einer überbrückung des
Gegensatzes von Religion und Erkenntnis führen kann. Dann aber
bewegt sich sein Denken genau in der entgegengesetzten Richtung
wie das von Forberg. Er zeigt, dafs auch die theoretische Gewils-
heit des Intellekts auf einem Glauben und damit auf einem Willen zum
Glauben beruht. Es giebt also ebenso wie nach Forberg für unsere
Überzeugungen nicht zwei Fundaroente, das Wissen und den
Willen, aber es giebt sie hier deshalb nicht, weil der Wille die Grund-
lage auch für unser Wissen ist. Dadurch kommt dann Einheit in
unsere Weltanschauung, denn dadurch kann der aus unserer
moralischen Bestimmung gewonnene Glaube für die Bildung unserer
Überzeugungen dem „blofsen Wissen", wie man jetzt sagen könnte,
übergeordnet werden. Das Recht des Glaubens vor allem Wissen
ist aulser Frage gestellt, und die Versöhnung von Erkenntnis und
Religion so im Prinzip erreicht.
*) Was Forberg später in seiner Apologie, S. 175 f. vorgebracht hat, um
diese bedenkliche Wendung zu rechtfertigen, ist mehr spitzfindig als über-
zeugend. Im übrigen erklärt er dort ausdrückUoh, er habe sagen woUen, „der
Begriff eines praktischen Glaubens, nach der gewöhnlichen, noch immer viel
zu theoretischen Darstellung, sei ein höchst unphilosophischer Begriff
und eine Hinterthür, um jeden Unsinn, den die theoretische Philosophie mit
Mühe losgeworden, durch die praktische wieder herein zu lassen." Und diese
Ansicht ist bei jeder Koordination von Willen und Verstand in der That die
einzig mögliche.
12 Heinrich Eiokert,
3. Die Überwindung des Intellektualismus.
Auch die Philosophie der Gegenwart sncht diese Versöhnung
und ist ebenfalls vielfach geneigt, sie auf dem Boden der Kantischen
Philosophie zu finden. Aber in den meisten Fällen denkt sie nicht
daran, sich dabei Fichte anzuschliefsen. Ebensowenig jedoch zieht
sie die Konsequenzen Forbergs, sondern meint, dem Willen ein
Becht auf die Bildung unserer Überzeugungen einräumen zu dürfen,
auch wenn der Verstand als solcher vom Willen unabhängig ist.
Sie unterscheidet also wie Forberg Kopf und Herz, aber sie bleibt
bei dieser Koordination stehen, und kommt so zu der von Forberg
zurückgewiesenen Ansicht, dafs nach Kant der Wunsch des Herzens
dort als genügender Grund für eine Überzeugung gelten könne, wo
das Wissen nach theoretischen Gründen nicht zu entscheiden vermag,
und weil bei den letzten Fragen der Weltanschauung die theoretischen
Gründe in den meisten Fällen zu einer definitiven Stellungnahme
nicht ausreichen sollen, so glaubt sie zur Bildung ihrer Ansichten
besonders über die Probleme der Keligionsphilosophie den Willen oder
den praktischen Glauben anrufen zu dürfen.^)
Die Berechtigung dazu sucht diese Denkrichtung zunächst durch
den Nachweis zu stützen, dafs in dem historischen Verlauf der
Philosophie thatsächlich die verschiedenen Weltanschauungen nicht
allein durch den Intellekt sondern auch durch den Willen ihrer
Schöpfer bestimmt gewesen, und dafs auch heute durchaus nicht
nur theoretische Überlegungen sondern vor allem Ideale unsere
Grundüberzeugungen formen. Diese faktische Beeinflussung des
Urteils durch Wünsche des Herzens aber werde, so meint sie
ferner, nicht nur fortdauern, sondern sei auch ganz in der Ordnung,
„Der Wille bestimmt das Leben, das ist sein ürrecht; also (!) wird
er auch ein Recht haben, auf die Gedanken einen Einfluls zu üben.
1) Es liegt nicht in meiner Absicht, auf diese Theorien näher einzugehen
und sie in jeder Hinsicht zu würdigen. Als ihre Vertreter nenne ich Paulsen
in Deutschland und James in Amerika. Paulsen erklärt ausdrücklich, in
dieser Frage mit Kant übereinzustimmen. James liegt solche Beziehung wohl
ferner, aber er wird von Paulsen in eine Keihe nioht nur mit Kant, sondern
auch mit Fichte (!) gesteUt Um meine Auseinandersetzung an faktisch vorliegende
Aussprüche anzuknüpfen, habe ich mich im folgenden ausdrücklich auf einige
Sätze von Paulsen und James bezogen, und ich möchte nur noch bemerken,
dafs ich l«digUch deswegen so entschieden gegen Paulsen SteUnng nehme, weU
ich die Bedbutung seiner Ansichten wegen des grofsen pädagogischen Ge-
schickes, mit denen er sie vertritt, und wegen des erhebUohen Einflusses, den
sie ausüben, wohl zu schätzen weifs.
Fichtes Atheismusstreit nnd die Kantisohe Philosophie. 13
Nicht zwar aaf die Feststellung der Thatsachen im einzelnen: hier
soll sich der Verstand allein nach den Thatsachen selbst richten;
wohl aber anf die Anffassnng nnd Dentnng der Wirklichkeit im
ganzen". (Paulsen.) Oder: wir sollen dort nicht verzichten, nns
Meinungen zu bilden, wo wir nichts mehr wissen können. Das wäre
eine falsche Scheu vor dem Irrtum, die unberechtigterweise mit
dem Streben nach Wahrheit identifiziert wird. Wir entgehen da-
durch zwar der Gefahr, getäuscht zu werden, aber wir verlieren auch
sicher die Möglichkeit, etwas zu glauben, das vielleicht wahr sein
könnte, und das zu glauben wir ein Interesse haben. „Eine Denk-
regel, die mich vollständig verhinderte, gewisse Arten von Wahrheit?
wenn diese Arten von Wahrheit wirklich beständen (!), anzuerkennen,
wäre eine vernunftwidrige Regel". (James.)
Ob solche Ansichten der Kantischen Philosophie auch nur ver-
wandt sind, kann ich hier nicht entscheiden.^) Was die thatsäeh-
liche Beeinflussung des Intellekts durch den Willen betrifft, so hätte
Kant vielleicht die Vermengung dieser quaestio facti mit der quaestio
juris im Interesse einer kritischen Behandlung des Religionsproblems
nicht gewünscht. Und sollte er wirklich unter dem Primat der
praktischen Vernunft eine berechtigte Beeinflussung unserer Über-
zeugungen durch Wünsche des „Herzens" verstanden haben? Er war
doch sonst garnicht geneigt, in der Philosophie irgend etwas gelten
zu lassen, das seine Dignität nicht durch strenge Ableitung seiner
Notwendigkeit ans dem Wesen der Vernunft erwiesen hatte, und so
hätte er möglicherweise bei der „Ersetzung der unzureichenden Über-
zeugungsgründe durch die Hoffnung" mit Fichte von „Wahn und
Traum" geredet. Entspricht der Primat des Willens, wie er heute
vertreten wird, nicht mehr den Ansichten Schopenhauers als denen
Kants, und müssen wir nicht in allen ethischen und religiösen Fragen
das Verhältnis dieser beiden Denker zu einander als das des ent-
schiedensten Gegensatzes bezeichnen? Ja, dürfen wir auch nur
Schopenhauer diese moderne Ansicht zumuten, und liegt sie nicht
mehr auf dem Wege zu Nietzsches Ideal des Philosophen als des „Be-
fehlenden und Gesetzgebers", wonach e» dann auch in der Philo-
^) Seitdem man angefangen hat, als entscheidend für die Anffassong von
Kants Ansichten über einige der wichtigsten Fragen Notizen nnd EoMeghefte
anzusehen, die Kant nicht hat drucken lassen, und die seinen gedruckten
Werken gradezu widersprechen, wird man wohl überhaupt darauf verzichten
müssen, in diesen Fragen einen Satz mit Sicherheit alB den Ausdruck von Kants
Meinung zu bezeichnen.
14 Heinrich Riokert,
Sophie mehr auf die Stärke des Willens als anf die Stärke des In-
tellekts ankommen würde? Vor allem sehe ich nicht recht ein, wie
man glauben kann, in irgend einer „praktischen'^ Frage mit Kant
übereinzustimmen, wenn man sich nicbt seinen Moralbegriff, den
Angelpunkt seines ganzen Systems, in voller Strenge zu eigen ge-
macht hat, und von dem „kategorischen Imperativ" wollen doch
gerade die Vertreter der hier in Frage kommenden Ansichten meist
nicht viel wissen.
Aber es kommt hier nicht darauf an, was Kant gedacht hat,
sondern allein darauf, wie seine Gedanken aufzufassen oder weiter-
zubilden sind, falls sie die Grundlage für eine Versöhnung von
Wissen und Glauben bilden sollen, und da scheint es mir, so
lange wir in der Philosophie an einem Streben nach Allgemein-
gültigkeit festhalten, zweifellos, dafs, auch wenn die angedeuteten
Lehren „Kantisch" sein sollten, sie sich gegenüber der strengen
Konsequenz Forbergs und Fichtes als ganz verfehlt herausstellen
müssen.
Bei jeder Koordination von Wissen und Glauben wird der
Intellekt für sich als vom Willen vollkommen frei und nur als that-
sächlich von ihm beeinflusst gedacht, denn in der Einzelforschung
soll er ja ganz allein herrschen. Dann aber bleibt der Wille ein
dem Intellekt innerlich fremdes Element, und für den wissenschaft-
lichen Menschen bedeutet sein Einfluss notwendig eine Trübung, die,
wenn sie dauert oder gar dauern soll, nur den Erfolg haben kann,
dass in der Philosophie im Gegensatz zu allen andern Wissenschaften
nicht nur thatsächlich individuelle Neigungen und Wünsche mit ein-
ander kämpfen, sondern dass auch nicht der geringste Fortschritt
auf dem Wege zu einer allgemein gültigen Weltanschauung jemals
zu erhoffen ist. Wer diese Überzeugung hegt, muss es aufgeben,
Philosophie als etwas zu treiben, das mit Wissenschaft auch nur die
geringste Verwandtschaft hat, und mit ihm hat es die Wissenschaft
dann nicht weiter zu thun. Wer aber in der Philosophie nach All-
gemeingültigkeit strebt, kann in der thatsächlichen Beeinflussung des
Kopfes durch das Herz nur die dringende Aufforderung erblicken,
diese Trübung seines Intellekts durch seinen Willen zu verhindern und
insbesondere in der ßeligionsphilosophie allen Wünschen den Weg
zum Denken sorgfältig abzuschneiden, weil hier, wo das Denken
versagt^ und die Wünsche am heftigsten fordern, die Gefahr des
Irrtums am grössten ist. Es ist also gar nicht einzusehen, wie man auf
dem Boden einer Koordination von Kopf und Herz dem Wissenschaft-
OF
Fiohtes AtheTymülBtiüIi and die Eantische Philosophie. 15.
liehen Menschen es verwehren will, alg höchstes, wenn auch viel-
leicht nie erreichbares Ideal die Entscheidung aller, auch der letzten
philosophischen Fragen durch einen vom Willen völlig unbeein-
flussten Intellekt aufzustellen, ein Ideal, das uns dann bei allen durch
den Intellekt nicht zu entscheidenden Fragen die Urteilsenthaltnng
zur unabweisbaren Pflicht macht. Wo das Denken aufhört, hat der
Philosoph als Philosoph nichts mehr zu sagen, und wenn dies den
Problemen der Eeligionsphilosophie gegenüber der Fall sein sollte, so
behielte Forberg Recht mit seiner Behauptung, dass die Frage, ob
Gott sei, abgewiesen werden müsse, als ein Produkt spekulativer
Neugierde. Der Kantische Begriff des praktischen Glaubens wäre
dann in der That mehr ein spielender als ein ernsthafter philo-
sophischer Begriff. Selbstverständlich liegt den modernen Vertretern
dieses Glaubens die Absiebt, mit ihren Lesern zu spielen, ganz fem,
aber dem plus an Ernst, das sie Forberg gegenüber besitzen, steht
ein erhebliches minus an Eonsequenz gegenüber.
Nur wenn sich zeigen lässt, dass der Intellekt nicht neben
dem Willen steht, sondern überall selbst auf Willen und Glauben
beruht, weil er sonst nie zur Wahrheit als einem Werte führen
könnte, der, um für uns zu gelten, von uns gewollt und gebilligt
sein muss, verschwindet auch für den wissenschaftlichen Menschen
das Ideal eines in jeder Hinsicht vom Willen freien Verstandes.*)
Dann ist die Geltung und Anerkennung eines absoluten Sollens die
Grundlage auch des rein theoretischen Wissens, und durch eine
Einsicht in das Wesen des Denkens selbst ist ein
Weg zur Versöhnung von Wissen und Glauben angebahnt. Die
Eeligion kann dann als Glaube an ein in der Welt objektiv
wirkendes Prinzip des Guten als notwendig abgeleitet werden,
weil das absolut notwendige Sollen und Wollen, das die Möglich-
keit seiner Realisierung mit eben der^ Notwendigkeit fordert, die
es selbst besitzt, als Basis jeder Gewissheit auch für den theo-
retischen MensQheq gilt. Das aber ist der Standpunkt Fichtes,
und deswegen kann es nur bei seiner Auffassung oder Weiter-
bildung Kants, noy bei seinem Primat des Willens vor dem
Denken Kantische, d. h. kritisch begründete und positiv gerichtete
Religionsphilosophie geben.
Man spricht heute viel von einer „Überwindung des Intellek-
1) In der Logik stehen unter den Lebenden Sigwart und Windelband
dieser Lehre vom Primat des Wülens vor der theoretischen Vernunft am
nächsten.
16 Heinrich Bickert,
tnaUsniiis'S dnrch die Kantiscbe Philosophie, und in der That hat dieses
Wort einen guten Sinn. Aber man moss aach ganz genau angeben,
was man damit meint, wenn die Überwindung" lies Intellektualismas
nieht zu einer Übermüdung des Intellekts in der Wissenschaft
werden soll. Man kann unter Intellektualismus erstens die Ansieht
yerstehen, dass der Mensch im Grunde nur ein denkendes Wesen
sei und sein solle, und dass daher seine Gefühls- und Willens-
welt auf allen Gebieten seiner Bethätiguug in den Hintergrund zu
treten habe. Als höchstes Ideal für den Menschen ergiebt sieh
daraus die Aufgabe, sich in eine rein wissenschaftliche Betrachtung
der Welt zu versenken und überhaupt nichts gelten zu lassen,
das vor dem Intellekt nicht Stand hält Solche Tendenzen
waren in der griechischen Philosophie yorherrschend, wir finden
sie bei den grossen Rationalisten der neueren Zeit und in
der Aufklärungsphilosophie. Sie werden zweifellos der vollen
Menschennatur nicht gerecht, und sie za „überwinden" ist gevidss
auch eine Aufgabe, zu deren begrifflicher Lösung Kant bisher
bei weitem das Meiste gethan hat. Aber darum, welche fioUe
der Intellekt und welche KoUe Wille und Gefühl im Gesamtleben
des Menschen zu spielen haben, handelt es sich hier gar nicht.
Was in Frage kommt, ist nur die Bildung einer wissenschaftlich
begründeten Weltanschauung durch die Philosophie, und dass für
sie der Intellekt allein massgebend sein soll, kann sehr gut neben
der Meinung bestehen, dass es im Leben noch auf andere Dinge
als auf die Wissenschaft ankommt. Bei aller Anerkennung für das
nichtwissenschaftliche Leben wird man die Alleinherrschaft des
Intellekts in der Philosophie ernstlich niemals in Frage stellen dürfen,
denn es ist gar nicht einzusehen, wo man die Grenze setzen will,
wenn hier dem Verstände irgend ein Recht entzogen ist, und deshalb
kann bei dieser Überwindung des Intellektualismus ein Zwiespalt
zwischen Glauben und Erkennen unvermindert fortdauern.
Zweitens kann man noch in einem ganz anderen Sinne von
Überwindung des Intellektualismus sprechen, und damit kommen wir
erst zu dem Problem, das Fichte beschäftigt hat. Aber dabei
handelt es sich vollends nicht um die Überwindung des Intellektes
in der Wissenschaft, sondern um die Überwindung einer falschen
wissenschaftlichen Auffassung des Intellekts. Die bisherige Philo-
sophie, so kann man sagen, hat Wollen und Denken in ein Ver-
hältnis zu einander gebracht, so als ob das logische Denken mit
dem Willen gamichts zu thun hätte, ja ihm seinem innersten Wesen
A
Fichtes Atheismusstreit und die Eantische Philosophie. 17
escs nach entgegengesetzt sei. Das war wieder eine spezifisch griechische
•eo. Aaffassnng, und durch sie entstand ein Zwiespalt in unserer Welt-
uns anschauung, besonders seitdem die Willens- und Gefühlswelt in
laft ihrer Bedeutung sich entwickelt hatte und mit den griechischen
'bt Begriffen nicht mehr in einer einheitlichen wissenschaftlichen Welt-
»fl anschauung untergebracht werden konnte. Auf der einen Seite war
f- der Mensch ein absolut indifferenter Beschauer der Dinge.
! Auf der andern Seite war er Wille, setzte Werte und nahm zu
ihnen Stellung, und dadurch erschien die „^fwp/a" dem überall
wertenden Leben notwendig feindlich. Die überbrückung dieses
Oegensatzes kann man nun ebenfalls eine Überwindung des
I Intellektualismus nennen, aber nur, wenn man unter Intellekt jenes
indifferente Schauen versteht, und die Überwindung kann darin
allein bestehen, dass auf rein logischem Wege die tief gehende
Verwandtschaft des nach Wahrheit strebenden Denkens mit dem auf
das Gute gerichteten Willen aufgezeigt wird, eine Verwandtschaft,
die, wie Fichte es eingesehen hatte, darauf beruht, dass ein Wollen
and Werten das innerste Wesen auch des nach wissenschaftlicher
Überzeugung strebenden Denkens bildet.
£ine Philosophie, welche hiervon ausgeht, könnte man vielleicht
auch als „Voluntarismus" bezeichnen, weil sie den Willen als letzte
Basis auch jeder theoretischen Erkenntnis erwiesen hat, aber sie
bleibt von dem, was heute gewöhnlich Voluntarismus genannt wird,
durch eine Welt getrennt. Sie räumt, so sehr sie die Bedeutung
4es Willens für das sittliche, religiöse, künstlerische, staatliche
Leben anerkennt, ihm in dem Prozess der Bildung unserer Welt-
anschauung neben dem Intellekt nicht das geringste Recht ein,
sondern hält an der Alleinherrschaft des Intellekts auf philosophi-
schem Gebiete streng fest, aber aus dem aller auf Allgemein-
gültigkeit Anspruch erhebenden Thätigkeit und mithin * auch dem
Streben nach wissenschaftlicher Wahrheit übergeordneten Sollen und
Wollen folgert sie, um mit Fichte zu reden, „etwas im Erkenntnis-
vermögen". Sie bildet mit anderen Worten den Begriff des Intellekts
1
1 um, d. h. sie erkennt den wertenden Willen im Intellekt selbst an,
und sie vermag dadurch, aber auch nur dadurch, für den Glauben
an eine transcendente Weltordnung die denkbar höchste Gewissheit
in Anspruch zu nehmen.
Was schliesslich ihr Verhältnis zu Kant betrifft, so findet sie
diese Ansicht bei ihm vielleicht nirgends so ausdrücklich formuliert
wie bei Fichte, aber sie wird sich die Überzeugung nicht nehmen
Biokert, Atheismusstreit. 2
18 Heinrich Rickert,
lassen, dass diese in dem grössten Jünger Kants zum Durchbrnch
gekommene Wahrheit doch zu den tiefsten Wirkungen der Kantischen
Philosophie selbst zu rechnen ist, und dass jedenfalls nur durch
eine Auffassung und Weiterbildung Kants in diesem Sinne auf
Kantischem Boden Einheit in unsere wissenschaftliche Weltanschauung
gebracht werden kann. Sollte es nicht gestattet sein, Kant so
fortzubilden, so würde man den konsequenten Kantianer nur in —
Forberg erblicken dürfen, und von einer Überwindung des Intellek-
tualismus in der zweiten Bedeutung des Wortes durch Kant, d. h,
von einer wissenschaftlichen Versöhnung des Glaubens mit dem
Wissen durch die Kantische Philosophie dürfte dann nicht gesprochen
werden.
IL
Der Gegenstand des Glaubens.
1. Fichtes Gott als Weltordnung.
Soviel über das Prinzip der Gewissheit, das Fichte aufgestellt
hat. Was ist nun von dem Inhalt oder dem Gegenstande seines
Glaubens, d. h. von seiner Gleichsetzung der übersinnlichen „Ordnung"
mit der Gottheit zu halten? Bisher haben wir diesen Gegenstand
der Religion nur insofern berücksichtigt, als nötig war, um zu zeigen,
dass wir durch ihn über das Sittliche, d. h. den immanenten guten
Willen hinaus ins Transcendente geführt werden. Jetzt müssen wir
die Ordnung, um den Atheismusstreit ganz zu verstehen, noch etwas
genauer kennen lernen. Da Fichte für seinen Glauben die denkbar
höchste Gewissheit in Anspruch nahm, so wäre die Beschuldigung
des Atheismus total unverständlich, wenn es nicht in seinem Gottes-
begriff etwas gäbe, wodurch er Anstoss erregte. Und so ist es in
der That Erst mit dem Begriff der Ordnung als der Gottheit
kommen wir eigentlich zum „Atheismus".
Zunächst deute ich kurz den Fichteschen Gedankengang an.
Gott als lebendige und wirkende moralische Weltordnung ist absolut
gewiss, aber ebenso sicher ist es, dass wir einen andern Gott nicht
zu fassen vermögen. Die Ordnung ist zwar nichts Fertiges, Geord-
netes — denn dann fiele die Gottheit mit der Welt zusammen, und
es gäbe keinen Gott — sondern Gott ist das die Welt Ordnende
und insofern von ihr Verschiedene. Aber es besteht andererseits auch
kein Grund, über die Ordnung hinaus einen Ordner anzunehmen.
Fichtes Atheismusstreit und die Kantisohe Philosophie. 19
Der „ordo ordinans"^) selbst ist Gott, nicht etwa eine Persönlichkeit,
welche ordnet. Gott als besonderes Wesen denken, heisst ihn in
Sinnlichkeit nnd Beschränkung herabziehen, denn alle besonderen
Wesen sind endliche Dinge.
In seinen Streitschriften hat Fichte diese Gedanken weiter aus-
geführt. Es ist bekannt, wie er den Spiess dort umkehrt und seine
Ankläger Götzendiener und Atheisten nennt, weil sie an Gott als
ein besonderes Wesen glauben. Das Wichtige liegt in seinem Be-
streben, an der Unmittelbarkeit des Glaubens festzuhalten und alle
Ausgestaltung des Gottesbegriffes durch „Erräsonniren*' zu vermeiden
Unmittelbar ist allein die Beziehung der Gottheit auf unser sittliches
Bewusstsein. Der Begriff eines besonderen Wesens ist immer erst
hieraus erschlossen. Gott als besonderes Sein denken heisst, das
Produkt eines Syllogismus zu einer Kealität machen und aus ihm
dann das, was das Ursprüngliche und Unmittelbare ist, ableiten
wollen. Fichtes Gedanken spitzen sich schliesslich notwendig dahin
zu: Gott als das Übersinnliche hat überhaupt kein „Sein'* in der ge-
wöhnlichen Bedeutung des Wortes.
Eine Religionsphilosophie, die Gott für absolut gewiss erklärte,
und doch von einem Sein Gottes nichts wissen wollte, war nicht
allen sofort verständlich. Mit Kecht konnte Fichte sagen: „Wer meine
ßeligionslehre verstehen will, der muss das System des trans-
cendentalen Idealismus und den damit unzertrennlich verknüpften
1) Diese Bezeichnung für den Gott Fichtes findet sich zuerst in der An-
fang 1799 erschienenen, sehr verständigen Schrift des Theologieprofessors J.
£. Chr. Schmidt: „Nachricht an das ununterrichtete Publikum den Fichteschen
Atheismus betreffende^ Es heisst dort, Fichte würde die moralische Welt-
ordnung „in der Sprache unserer Vorfahren . , . wohl ordo ordinans (wenn
ich nach der Analogie von natura naturans ein Wort bilden darf
genannt haben^^ Fichte selbst gebraucht das Wort erst später. Zuerst in dem
„Hamburg 1799^' datirten, aber erst 1835 verit^ffentiichten Aufsatz: Zu „Jacobi
an Fichte" (N. W., III, S. 390). Gedruckt findet sich der Ausdruck zum ersten
Mal in dem „Privatschreiben^' aus dem Januar 1800, imd zwar nicht wie bei
Schmidt als Analogon zu natura naturans, sondern als Gegensatz zu ordo ordi-
natus (S. W., V, S. 3b2). — Auf den Begriflf des „Thuns ohne Thäter", der mit
dem des ordo ordinans zusammenhängt, gehe ich im Folgenden absichtlich nicht
ein, ebenso wie ich auch den Begriff des „reinen Ich" unberücksichtigt gelassen
habe. Beide Begriffe spielen im Atheismusstreit keine erhebliche Rolle mehr,
und es kam mir gerade darauf bsi, zu zeigen, dass auch ohne diese viel um-
strittenen und missverstandenen Elemente des Fichteschen Denkens seine
erkenntnistheoretischen Grundlagen, wie sie sich seit 1797 immer klarer ent-
wickeln, darzustellen sind.
o*
20 Heinrich Bickert,
reinen Moralismas genaa kennen and, wie ich glaube, besitzen.^
Seine Gegner aber waren von dieser Kenntnis weit nnd von dem
Besitze noch weiter entfernt. Wir dürfen uns also eigentlich
nicht darüber wundem, dass sie ihn, der Gott das Sein absprach,
einen Atheisten nannten.
Versuchen wir den Gedanken Fichtes aus dem Znsammenhange
seines Systems zu verstehen. Was es ihm so schwer machte, für
seine Religionsphilosophie einen Ausdruck zu finden, der den An-
schein von Paradoxie vermied, — und darum allein handelt es sich
im Grunde — war der Umstand* dass er sich in einem Punkte
zu aller Philosophie vor ihm, die an einem Übersinnlichen festhielt,
in bewusstem Gegensatz befand: er verwarf die Voraussetzung, dass
es zwei verschiedene Arten des Seins gebe. In Kants theoretischer
Philosophie hatte sich die alte Zweiweltentheorie, welche die. Realität
in ein Sein höheren und geringeren Grades, in eine „an sich^
existierende Welt und eine Welt der „Erscheinungen" spaltet, bis
auf einen so kleinen Rest verflüchtigt, dass man darüber streiten
konnte, ob Kant überhaupt noch an ihr festhalte. Aber dieser Best
erhielt in der praktischen Philosophie wieder eine grosse Bedeutung.
Fichte gab dagegen die Seinsspaltung in jeder Hinsicht auf, so dass in
den Zeiten des Atheismusstreites sein Denken, das vorher und nach-
her Wandlungen durchgemacht hat, antimetaphysisch, ja wenn man
will, positivistisch ist, so weit es das bei jemand, der Kants trans-
cendentale Analytik verstanden hatte, nur sein konnte. Er lässt
„nichts flir reell gelten, das sich nicht auf eine innere oder
äussere Wahrnehmung gründet".') Der alte metaphysische
Gegensatz wird durch den erkenntnistheoretischen Gegensatz des
Begrifflichen auf der einen Seite, der unbegreiflichen Welt der Em-
pfindungen auf der andern Seite ersetzt und aufgehoben. „Die
Philosophie, selbst vollendet, kann die Empfindung nicht geben, noch
ersetzen; diese ist das einzige wahre, innere Lebensprinzip. "2) Also:
die unmittelbare Welt der Empfindungen, die früher Erscheinung hiess,
\ 1) Rückerinnerangen u. s. w., aus dem Anfang des Jahres 1799. S. W., V.
S. 840.
2) A. a. 0., S. 843. Wer Fichtes Philosophie nur aus den üblichen kurzen
Darstellungen kennt, wird diese Gedanken mit seiner Vorstellung von ihr nicht
vereinbar finden. Fichte selbst behauptet, immer so gedacht zu haben. Doch
darauf kommt es hier nicht an. Jedenfalls denkt er in den Zeiten des Atheis-
musstreites so, und wenn in der Wissenschaftslehre von 1794 sich andere Mei-
nungen finden, so stellen sie nur eine vorübergehende Phase dar, die er bald
überwunden hat, und die daher hier nicht mehr von Bedeutung ist.
Fiohtes Atheismusstreit und die Kantische Philosophie. 21
ist für Fichte zur wahren Realität geworden, und hat auch den
Charakter der Irrationalität, den bei Kant das Ding an sich besass;
das dagegen, worin man früher die wahre fiealität sah, ist jetzt
zum blossen Begriff oder Gedankending und damit zugleich znm
Rationalen gemacht. Fichte lehrt die Irrationalität der Wirk-
lichkeit.
Wir begreifen, wie schwierig es war, in dieser theoretischen Philo-
sophie einen Gott unterzabringen, den das moralische Bewasstsein
verbürgt hatte. Zur Welt der Begriffe darf die Gottheit nicht ge-
rechnet werden, sie ist unmittelbar und irrational, wie die Sinnen-
und Empfindungswelt. Aber weil sie übersinnlich ist, so kann von
ihr auch nicht gesagt werden, dass sie existiert, denn existieren ist
dasselbe wie sinnlich existieren. Etwas drittes jedoch, das weder
sinnlich existiert noch Begriff ist, scheint ausgeschlossen, und so
sehen wir, ist in der Welt Ficbtes für einen seienden Gott, für ein
reelles Übersinnliches in der That kein Platz. Während bei Kant
die moralische Weltordnung in dem theoretisch leer gelassenen
„Ding an sich" eine Unterkunft finden und so zu einer Welt des
Seienden über der Sinnenwelt sich gestalten konnte, hatte hier die
theoretische Vernunft die Zweiweltentheorie so vollkommen zerstört,
dass die praktische Vernunft auch nicht den geringsten Raum
mehr vorfand, um dorthinein eine übersinnliche durch den Glauben
verbürgte Realität zu retten. Weil die alten Kategorien für das
Denken des Übersinnlichen also im erkenntnistheoretischen Interesse
zertrümmert waren, so musste das Übersinnliche sozusagen in einer
neuen Kategorie gedacht werden, wenn die praktische Philosophie
in Harmonie mit der theoretischen bleiben sollte. Auf diese Einheit
jedoch kam gerade für Fichte alles an. Er hat es selbst empfunden,
dass er bei der Formulierung seiner neuen Gedanken in einen
Konflikt mit dem Sprachgebrauch kam, aber es ist auch wirklich
nur die sprachliche Wendung, die uns stört, wenn wir hören, der
ordo ordinans ist kein Sein^ obgleich der Glaube an ihn das Ge-
wisseste ist, was es giebt. Sobald wir daran festhalten, dass Sein
fttr Fichte ausschliesslich sinnliches Sein ist, erscheint im erkenntnis-
theoretischen Interesse seine paradoxe Formulierung notwendig.
Den engen Zasammenhang zwischen Erkenntnistheorie und Reli*
gionsphilosophie müssen wir stets im Auge behalten, um diese Ge-
danken nicht nur zu verstehen, sondern auch in ihrer Bedeutung zu
würdigen. Für den religiösen Menschen bleibt vielleicht der Satz,
Gott hat kein Sein, immer paradox. Aber wollte Fichte denn Reli-
22 Heinrich Riokert,
gion geben? Im Gegenteil, er wird nicht müde, immer von neaem
hervorzuheben, dass es sich nicht um die Religion selbst, sondern
nur um die Religionsphilosophie handelt, und unter Philosophie
versteht er nichts anderes als „Deduzieren-^ Dieses Deduzieren aber
heisst „nicht irgend etwas neues in die Gemüter der Menschen
bringen." „Für den Unphilosophen — und im Leben sind wir not-
wendig alle Unphilosophen — ist etwas da und bleibt da." „Der
Philosoph aber hat die Verbindlichkeit, dieses Etwas aus dem ge-
samten Systeme unseres Denkens abzuleiten, den Ort desselben in
jenem notwendigen Systeme aufzuzeigen." „An der Religion wird
durch meine Philosophie nichts geändert, und so gewiss durch sie
etwas geändert würde, wäre meine Philosophie falsch". „Ich habe
es mit der Ableitung (Deduktion) jener Religion aus dem Wesen
der Vernunft zu thun, und zwar lediglich in wissenschaftlicher
> Absicht.-' Da nun Religion nicht Wissenschaft ist, so muss alles,
was an der Religion Wissenschaft zu sein vorgiebt, „gänzlich ver-
nichtet werden als ein alle endliche Fassungskraft übersteigendes
Hirngespinst", und es bleibt für die Religionsphilosophie lediglich
,Jener Ort des religiösen Glaubens, jenes Etwas im Systeme des
notwendigen Denkens, an welches der religiöse Glaube sich an-
schliesst." Diese Sätze ^) machen die Absicht und den Sinn der
Untersuchung vollkommen klar.
Wir können das auch so ausdrücken: Fichte will nicht die
Religion beschreiben und noch weniger sie schaffen, sondern lediglich
feststellen, was an ihr auch einer wissenschaftlichen Kritik Stand
hält. Das widerspricht der Ablehnung jedes Beweises für die
Religion nicht. Beweis ist im Sinne des „Erräsonnirens" zu nehmen,
und die Religion selbst kann nicht bewiesen werden. Die Religions-
philosophie aber kann sich doch immer nur an den Intellekt
wenden, denn für ihn allein sind ja, wie Fichte selbst hervorgehoben
hat, 2) ihre Probleme vorhanden. Was aber fllr den Intellekt als not-
wendig abgeleitet werden soll, können nur die intellektualistischen
Elemente des religiösen Lebens sein. Diese unumgängliche Be-
schränkung der Aufgabe müssen wir verstehea Wenn nur das
festzustellen ist, dessen Anerkennung auch die Philosophie sich nicht
zu entziehen vermag, und wenn zu einer übersinnlichen Realität
vorzudringen, der Philosophie überhaupt versagt ist, dann kann
auch der philosophische Gottesbegriff sich nur als der einer
1) Vergl. S. W., V., S. 886—387.
2) vergl. oben S. 10.
Fichtes Atheismnsstreit und die Kantische Philosophie. 28
übersinnlichen Ordnung und nicht als der einer übersinnlichen
Bealität ergeben. So unbefriedigend das im religiösen Interesse sein
mag, so wichtig ist es im Interesse der Wissenschaft, dass über-
haupt irgend etwas Übersinnliches sich als notwendig ableiten läCst.
Vielleicht kann man das Eigentümliche der Fichteschen Ge-
danken und die Bedeutung, die sie trotz ihrer Paradoxie haben,
auch so angeben: Kant begriff das Wesen der Wissenschaft, ohne
dabei die Voraussetzung zu machen, dafs nach einer Welt von
Dingen an sich unsere Urteile sich zu richten hätten. Der
Gegenstand der Erkenntnis hört also auf, eine absolute Bealität zu
sein. Er wird vielmehr zu einer ,^egel" der Vorstellungsverknüpfung,
und diese Begel genügt vollkommen, um dem Erkennen die Objek-
tivität zu geben, die früher von Dingen an sich abhängig gemacht
wurde. Ganz analog verfährt Fichtes Beligionsphilosophie. Der
Gegenstand des Glaubens ist für ihn ebenso wenig ein absolutes
Sein, wie der Gegenstand der Erkenntnis es Air Kant ist. Wie bei
Kant die Bealität durch eine Begel, so wird sie bei Fichte durch
die Ordnung ersetzt, ein Begriff, der mit dem der Begel auch das
gemeinsam hat, dass er aus der Kategorie des Seins in die des \
SoUens führt. Ebenso wie die Begel dem Erkennen, so soll die
Ordnung dem Glauben den ,,Gegenstand" und die „Objektivität" ver-
leihen.
Selbstverständlich ist dieser Vergleich nicht in jeder Hinsicht
durchzuführen, aber noch eines haben die beiden Theorien gemeinsam.
Für den Mann der empirischen Wissenschaft wird die Erkenntnis-
theorie Kants vielleicht immer etwas Paradoxes behalten, weil es
ihm auf den Inhalt des Erkennens ankommt, und er daher die
Objektivität nicht von einer Begel, sondern von dem seienden Stoff
herleiten will. Ebenso ist dem religiösen Menschen die inhaltliche
Ausgestaltung des Gegenstandes seines Glaubens die Hauptsache,
und mit einer Ordnung als Gegenstand weifis er nichts anzufangen.
Aber wie sich schliefslich doch die transcendentale Erkenntnistheorie
nicht nur mit der empirischen Wissenschaft verträgt, sondern, richtig
verstanden, sie begründet, so wird sich auch die transcendentale
Beligionstheorie zum religiösen Leben verhalten. Man mufs nur so
wenig, wie man von der Erkenntnistheorie verlangt, dals sie den ,
Inhalt der Wissenschaft geben soll, von der Religionsphilosophie
den Inhalt des religiösen Lebens fordern.
Gewifs hat Fichte das letzte Wort über Beligion im Atheismus-
streite noch nicht gesprochen. Seine eigenen Gedanken erhielten
24 Heinrich Rickert,
ja wenige Jahre später eine Gestalt, die viele als gleichbedeutend
mit einem prinzipiellen Verlassen des hier angegebenen Standpunktes
betrachten, und in der sie jedenfalls über die Beschränkung, die er
sich hier auferlegt hat, weit hinausgehen. Das hebt jedoch den Wert
seines früheren Standpunktes nicht auf. Nicht das letzte, wohl aber
das erste Wort über Beligion, das die Philosophie zu sagen hat,
ist hier gesagt, und dieses Wort sollen wir stehen lassen: Der
Glaube an eine übersinnliche Weltordnung ist das Gewisseste, was
es giebt; das religiöse Leben hat im System der Philosophie seineu
absolut sicheren „Ort**. Was weiter über die Ordnung zu sagen
sein wird und gesagt worden ist, kann nicht eine Verwerfung^
sondern lediglich eine Ergänzung dieser Gedanken sein.
2. Beligion und Metaphysik.
Worin aber ist die Ergänzung zu suchen? Eine erschöpfende
Antwort auf diese Frage liegt mir hier natürlich fern, aber wieder
legt der Zusammenhang mit Ansichten der Gegenwart wenigstens
eine Andeutung nahe.
Viele werden heute noch den Abschluss der Religionsphilosophie in
einer Metaphysik erblicken, und wenn sie hierunter eine Wissenschaft
im strengen Sinne des Wortes verstehen und sie zu geben imstande
sind, so haben sie Recht. Aber eine solche Metaphysik kommt hier
für uns nicht in Frage. Wir bleiben bei dem Verhältnis Fichtes zu
Kant, und dass Kant Metaphysik, d. h. Erkenntnis des Übersinnlichen
im strengen Sinne als Wissenschaft hat gelten lassen, wird wohl
niemand behaupten. Trotzdem ist heute die Meinung verbreitet, dass
gerade auf dem Boden des Kantischen Denkens die Religionsphilo*
Sophie viel mehr geben könne, als Fichte im Atheismusstreit gegeben
hat, und wir wollen daher die bereits früher behandelte Auffassung
Kants jetzt auch in Bezug auf den Gegenstand des religiösen Glaubens
mit dem Standpunkt Fichtes vergleichen.
Kant, so hören wir, hat nicht nur sein Leben lang an einer
Metaphysik festgehalten, sondern ist darin auch heute noch vorbildlich.
Der „blosse" Glaube soll uns zu einer übersinnlichen Realität führen,
und diese auch im einzelnen soweit bestimmen können, dass dadurch
eine Versöhnung von Wissen und Religion erreicht wird. Man bean-
sprucht für den Willen also nicht nur das Recht, den Glauben an
ein über alle Sinnen- und Verstandeswelt hinausweisendes Göttliches
zu begründen, sondern auch eine positive Metaphysik des Übersinn«
liehen auf ihn zu bauen.
Fichtes Atheismusstreit und die Eantisohe Philosophie. 25:
Aneh hier fragen wir weniger nach Kants Meinung, als da-
nach, welche Elemente seines Denkens wir hervorh eben > müssen, nm
seine Philosophie in frachtbarer Weise weiterzubilden. Vergleichen
wir nun Fichtes Gedanken mit der modernen Kantinterpretation, die
Kopf und Herz koordinieren und den Intellekt durch den Willen über-
winden will, so finden wir die Bollen eigentümlich vertauscht. Die
Denker, die für ihren Glauben eingestandener massen nur ein sehr
ungewisses Gewissheitsprinzip besitzen, meinen doch damit ein Bild
der übersinnlichen Bealität entwerfen zu können. Fichte dagegen,,
der sich ein Prinzip absoluter höchster Gewissheit fllr das Übersinn-
liche erarbeitet hat, macht mit äusserster Vorsicht bei der unmittel-
bar gewissen übersinnlichen Weltordnung Halt. Er hat gezeigt, dass>
eine zwingende Notwendigkeit uns über uns hinaus zum Übersinn*
liehen weist. Über dies übersinnliche dagegen zu grübeln und e^
auszustaffieren mit Prädikaten, die doch immer nur der Sinnenwelt
entnommen sind, erscheint ihm ganz wertlos.
Wer hier mehr geleistet hat, das bedarf keiner langen Er-
örterung. Eine Metaphysik, die auf Wünschen des Herzens beruht^
mag interessant sein, wenn sie der Ausdruck einer grossen Persön-
lichkeit ist, wird sie aber direkt als Aufgabe der Philosophie be-
zeichnet, so kann das nur zu unerträglichen Halbheiten führen und
Zweifel gegen den Wert philosophischer Bemühungen überhaupt her-
vorrufen. Das Hypothetische und Ungewisse, das ihr notwendig an.-
haltet, macht diese Metaphysik wertlos für den religiösen Menschen^
denn dem ist es nie um „blossen^^ Glauben, sondern um Glauben ^
als absolute Gewissheit zu thun.*) Wie aber ein wissenschaftlicher
Mensch sich mit ihr zufrieden geben kann, ist erst recht nicht zu.
begreifen, da er vollends nicht auf blossen Glauben, sondern
allein auf Wissen ausgehen darf. Gerade für eine Philosophie, die
gegen den Naturalismus ankämpfen will, kommt es viel mehr auf die
absolute Gewissheit irgend eines Übersinnlichen überhaupt, als auf
die hypothetische Ausgestaltung seines Inhaltes an. Ist der Naturalisn\us
nur einmal im Prinzip so durchbrochen, dass über seine Unhalt-
barkeit auch nicht der geringste theoretische Zweifel mehr besteht,
so ist damit die Hauptsache gethan, und in der Überwindung des
Naturalismus, die auf der Fichteschen, d. h. wissenschaftlichen Über-
windung des Intellektualismus beruht, werden wir daher eine Leistung
1) Dass alles Hypothetische auch nicht „die Spur einer Ähnlichkeit mit. ,
dem, was der retigiöse Mensch Glauben heisst^^ besitzt, hat Theobald Ziegler
in seiner Rektoratsrede über „Glauben und Wissen" vortreftlioh dargelegt.
;26 Heinrioh Rickert,
erblicken müssen, die für die Religionsphilosophie viel bedentender
ist, als alle Metaphysik des Übersinnlichen, die auf dem in der
Wissenschaft total unbrauchbaren Grunde von Wünschen des Herzens
beruht.
Aber, wie bereits gesagt, das religiöse Gefühl wird sich ver-
mutlich gegen einen Gott, der nicht „sein" soll, immer sträuben, es
wrird mit dem Inbegriff der höchsten Werte, die es kennt, auch den
Begriff der Realität verbinden wollen, und das ist zweifellos sein
gutes Recht. Wir werden daher sagen müssen, dass Fichtes Denken
in der That doch der Ergänzung bedarf Die Religionsphilosophie hat
«ich bei ihm zu einer Erkenntnislehre der Religion gestaltet, und so
sicher die Religion nicht nur aus intellektuellen Elementen besteht,
sondern ihren Schwerpunkt im Gefühls- und Willensleben hat, ebenso
sicher ist durch diese Religionsphilosophie der Begriff der Religion
nicht erschöpfend dargestellt. Das hat Fichte besonders in der
Appellation nicht genügend berücksichtigt, wenn er den Glauben an
Gott als eine Realität Götzendienst nennt.*) Auch wenn die Religions-
philosophie nur den „Ort^^ anzugeben vermag fOr das religiöse
Leben, und eine weitere Ausgestaltung des Gottesbegriffes ihr versagt
ist, so hat doch das nichtwissenschaftliche religiöse Leben selbst
unzweifelhaft das Becht, sich an diesem philosophischen „Orte^^ unge-
hindert und frei zu entfalten, und die Philosophie kann ihm keine
Vorschriften darüber machen, wie es dies thun soll. Sie vermag
mit ihren Begrifien, die eben Begriffe bleiben, für sich allein nichts
zu bieten, womit der lebendige Mensch leben kann, und muss daher
anerkennen, dass, wenn aus der Religionsphilosophie Beügion werden
soll, ein Überschreiten ihrer Grenzen geradezu notwendig ist. So
^ird ihr schliesslich die Bolle eines Wächters nach zwei Seiten hin
zufallen. Sie wird nicht nur jede Religion, die als Wissenschaft
Aufbitt, zurückweisen, sondern auch das alogische religiöse Leben
vor dem Übereifer jener Intellektualisten schützen, die überall nur
Schwärmerei erblicken, wo ein wissenschaftlicher Beweis oder un-
mittelbare logische Evidenz den Überzeugungen fehlt, und sie wird
so verstehen lehren, dass Religion zwar nicht Wissenschaft, aber
Auch nicht Schwärmerei ist, sondern eine ganz eigene Art des Lebens,
die ihre eigenen Rechte hat
Aber müssen wir dann nicht noch weiter gehen? Wenn die
Philosophie zugiebt, dass sie nicht alles begreifen kann und z. B.
1) Das Wichtige in diesen Gedunken ist übrigens der AntieudSmonismiis,
auf den ich hier nicht ehigehen kann.
Fichtes Atheismusstreit und die Eantische Philosophie. 27
nicht zu erklären vermag, wie mit dem guten Willen die geforderte
Möglichkeit einer Eealisierung des obiektiv Guten denn nun eigent-
lich in Wirklichkeit zusammenhängt, muss sie dann nicht auf einen
Abschluss unserer Überzeugungen durch das religiöse Leben als auf
eine notwendige Aufgabe hinweisen, damit so die von der Wissen-
schaft niemals auszufüllende Kluft überbrückt wird? Bringt man
nun aber solche religiösen Überzeugungen auf einen erkenntnisartigen
Ausdruck, was sich schwer vermeiden lässt, so nehmen sie doch
notwendig die Form einer Metaphysik an, und wird einer solchen
religiösen Metaphysik, so lange sie daran festhält, dass sie nicht
Philosophie sondern Keligion ist, nicht schliesslich auch die Philo-
sophie sich unterordnen und somit dem Willen und dem Gefühl
auch in dem Sinne sein Recht einräumen, in dem sein Einfluss auf
unsere Überzeugungen als Thatsache nachgewiesen werden kann?
Die Philosophie bliebe dann auf die Aufzeigung der Lücken in unserem
Wissen beschränkt. Sie ginge für sich nirgends zu Annahmen über^
zu deren Anerkennung sie den Intellekt nicht zwingen kann, und
behauptete daher niemals eine übersinnliche Realität, aber wenn das
religiöse Leben der Vorstellung solcher Realität in Form einer Meta-
physik zu bedürfen erklärt, kann sie dagegen etwas sagen?
Das sind schwierige Fragen, die sich nicht mit einem Wort er-
ledigen lassen, aber darauf wird man doch vielleicht hinweisen
dürfen, dals wohl die Zeiten im wesentlichen vorüber sind, in
denen das religiöse Fühlen geneigt war, nach Formen zu suchen,
die sich notwendig als Metaphysik darstellen, und dafs wir es
auch wünschen müssen, es würde recht wenig solche religiöse
Metaphysik getrieben. Metaphysische Überzeugungen nehmen, sobald
der Mensch sie in urteilen ausspricht, immer die Form auch einer
wissenschaftlichen Metaphysik an, und dadurch gerät dann die
Religion so leicht in jene gefährliche Verwandtschafl; mit den Theorien,
die ein wissenschaftliches Verständnis der Welt anstreben. Eine
Trennung der Religion von jeder Metaphysik liegt also entschieden
im religiösen Interesse, weil die Religion in jeder Form, die auch
nur äufserlich das Gepräge einer Wissenschaft trägt, immer den
schärfsten Widerspruch der theoretischen Menschen erregen wird,
die in der wissenschaftlichen Erkenntnis des Übersinnlichen nicht nur
eine unlösbare Aufgabe, sondern sogar in dem Bedürfnis nach ihrer
Lösung das Produkt einer falschen Fragestellung erblicken. Damit
aber kämen wir im wesentlichen doch wieder dem Standpunkt
Fichtes im Atheismusstreit recht nahe.
28 Heinrich Riokert,
Eine andere Überlegung mnfs uns ebenfalls von der religiösen
Metaphysik entfernen. Die Hauptsache bei aller Religion ist doch
schliefslich, dafs wir zu der übersinnlichen Weltordnung, zu der die
Philosophie mit zwingender Notwendigkeit uns führt, auch in ein
persönliches Verhältnis zu kommen vermögen. Eine Keligion aber,
die ihren Inhalt sich durch Aufbau einer Metaphysik verschafft, giebt
diese Möglichkeit nie, denn alle Metaphysik besteht in allgemeinen
Begriffen, und zum Allgemeinen können wir ein persönliches Ver-
hältnis nicht gewinnen. Der allgemeine Rahmen der Metaphysik
wird daher immer erst gefüllt sein müssen durch die Überlieferungen
einer historischen Religion, und wenn wir diese haben, ist dann
eine Religionsmetaphysik nicht vielleicht ganz überflüssig? Unser
Denken, das nach logischer Gewilsheit strebt, befriedigt sie nicht,
unser religiöses Fühlen aber bringt sie wegen ihrer formalen Verwandt-
schaft mit der wissenschaftlichen Philosophie leicht in Vervvirrung,
als sei der religiöse Glaube so hypothetisch, wie seine Metaphysik es
vom wissenschaftlichen Standpunkt aus ist. Es scheint also, als würde
das religiöse Fühlen, das in seinem Reich sich frei weils und diese
Freiheit auf wissenschaftliche Beweise stützen kann, sich am besten
halten an eine besondere historische Gestaltung, an das Leben eines
grofsen Menschen, eines „religiösen Genies'*, das einmal in seiner
Persönlichkeit eine vorbildliche Ausprägung gefunden hat für sein
konkretes Verhältnis zu Gott. Geben wir den Versuch auf, die
Gottheit unter irgend einen wissenschaftlichen oder religiösen Allge-
meinbegriff zu bringen, so fassen wir um so sicherer im Geschicht-
lichen, d. h. im Indiviiluellen und Besonderen ihr „lebendiges
Kleid^^ und haben an ihm die Realität, deren wir als religiöse
Menschen bedürfen.
Auch Gedanken dieser Art liegen schlieislich Fichte nicht so absolut
ferne, wie man nach dem etwas geringschätzigen Tone, in dem er oft
vom „Historischen^^ spricht, vielleicht glauben sollte, und damit will ich
nicht nur auf die Thatsache hinweisen, dals er selbst sein Leben lang
fest auf dem Boden des positiven historischen Christentums ge-
standen hat, sondern ich meine damit gewisse nicht genug beobachtete
Elemente in seiner Philosophie. Unter diesen habe ich jedoch wieder-
um nicht so sehr die grolsartige Ausgestaltung des Entwicklungs-
gedankens im Auge, die Fichte zu den ersten Vertretern einer geschicht-
lichen Weltanschauung macht, als vielmehr einige Ansätze zur Be-
stimmung des Historischen in seiner allgemeinsten, einfachsten und
oft übersehenen Bedeutung. Für das Problem der Religionsphilosophie
Fichtes Atheismusstreit und die Kantische Philosophie. 29
&eilich hat er diese Ansätze nicht ausgeführt. Da brachte sein
Bedürfnis nach Yerlebendigang seines Gottesbegriffes ihn sogar
dazu, die im Atheismnsstreit so sorgfältig gezogenen Grenzen zwischen
Eeligion und Spekulation wieder zu verwischen. Aber auf die Be-
deutung, die das Bestimmte und Besondere, und das ist das Histo-
rische in seiner umfassendsten Gestalt, für das sittliche Leben besitzt,
weist er auch ihi Atheismusstreite hin. „Dem Menschen im wirk-
lichen Leben kann das Pflichtgebot nie überhaupt, sondern immer
nur in konkreter Willensbestimmung erscheinend^, heisst es in den
Rückerinnerungen, ^) und in der Schrift über den Grund unseres
Glaubens an eine göttliche Weltregierung wird die Bedeutung der
„Schranken"^, d. h. der irrationalen unmittelbaren Empfindungswelt
oder der empirischen Wirklichkeit dahin angegeben, dals sie die
,bestimmte Stelle in der moralischen Ordnung der Dinge'^ seien.
Setzen wir das Historische im weitesten Sinne diesen „Schranken",
d. h. der irrationalen Welt des Bestimmten und Besonderen gleich,
so wird das Geschichtliche „die fortwährende Deutung des Pflicht-
gebotes, der lebendige Ausdruck dessen, was du sollst, da du ja
sollst^*.
Hier scheint mir der entscheidende Punkt für die Würdigung
des Geschichtlichen getroffen, und von hier führt dann ein direkter
Weg zu jener Anerkennung des Historischen als des Einmaligen,
Lrationalen in seiner Bedeutung gegenüber dem Allgemeinen und
Begrifflichen, die in späteren Schriften Fichtes immer klarer hervor-
tritt, besonders wenn er in den „Reden an die deutsche Nation" ein
Volk in seinen nationalen, also historischen Eigentümlichkeiten be-
greift als stehend „unter einem gewissen besonderen Gesetze der
Entwicklung des Göttlichen", wenn er an der Nation das „Mehr der
Bildlichkeit" zu schätzen weiss, „das mit dem Mehr der unbildlichen
Ursprünglichkeit in der Erscheinung unmittelbar verschmilzt", oder
endlich erklärt: „die geistige Natur vermochte das Wesen der Mensch-
heit nur in höchst mannigfaltigen Abstufungen an Einzelnen, und an
der Einzelheit im Grofsen und Ganzen, an Völkern, darzustellen."^)
Wir können danach den bekannten Satz Fichtes auch so betonen: „Die
Welt ist das versinnlichte Material unserer Pflicht", und jedenfalls
sehen wir, dass mit den Grundprinzipien der Fichteschen Philosophie
auch der Gedanke einer historischen Religion als der in ihrer Be-
1) S. W., V., S. 862.
2) S. W., Bd. Vn, S. 881, 882 u. 467.
30 Heinrieh Riekert, Fiehtes Atheismusstreit eto.
Sonderheit notwendigen Ausgestaltang des onfässbaren göttlichen
Lebens durchaus nicht unvereinbar ist.
Dies möge genügen, um zu zeigen, inwiefern Fichte gerade
durch seine im Atheismusstreit entwickelten Gedanken ftlr uns heute
noch mehr als ein bloss historisches Interesse hat. Vieles, was die
Wissenschaftslehre von 1794 ungeniefsbar und vieldeutig macht^ hat
er in diesen Zeiten überwunden. Das gewaltsame Konstruieren
tritt in den Hintergrund, zu keiner andern Zeit steht er dem von
aller „Verliebtheit" in die Metaphysik befreiten „Kjiticismus" Kants
so nahe. Und anderseits sind die Schriften aus diesen Jahren noch
frei von den neuen Elementen, die später hervortreten und zu
«inem restlosen Aufgehen in den Kriticismus nicht gebracht worden
sind. Die spätere Zeit ist reich in der Anwendung seiner Ideen
auf die Probleme der Geschichte, des Staates, der Gesellschaft, der
Nationalität; die erkenntnistheoretischen und die damit unmittelbar
zusammenhängenden religionsphilosophischen Sätze, d. h. die tiefsten
Grundlagen seines Denkens werden nirgends klarer entwickelt. Wer
Fiehtes theoretische Philosophie auf ihrem Höhepunkt kennen lernen
will, wird sich daher vor allem an seine Schriften aus den letzten
Jahren des vorigen Jahrhunderts halten müssen^ und kennen sollte
eine Zeit, die sich so viel mit Kant beschäftigt, diesen grössten
aller „Kantianer*' doch jedenfalls.
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