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Full text of "Florence Nightingale"

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THE  LIBRARY 

OF 

THE  UNIVERSITY 

OF  CALIFORNIA 

LOS  ANGELES 


GIFT  OF 

DR.  AND  URS.  ELMER  BELT 


FLORENCE 
NIGHTINGALE 


FLORENCE 

NIGHTINGALE 

VON 

LAURA  ORVIETO 


,Ich  bin  Deine  Magd 
und  Du  bist  mein  Herr*. 


VERLAG   OPRECHT   Z  O  RIC  H  /  N  E  W-YOR  K 


Berechtigte  Übersetzung  aus  dem  Italienischen 
von  Lola  Lorme,  Florenz 


Alle  Rechte  in  deutscher  Sprache  vorbehalten 
Copyright  1943  by  Europa  Verlag  A.  G.  Zürich 
Umschlag:  Rob.  S.  Gessner.  Druck-'  Heliographia  S.  A.  Lausanne 
Printed  in  Switzerland 


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Aus  der  Jugendzeit 

Vier  Uhr  morgens.  Es  ist  noch  dunkel.  Nicht  einmal  ein  heller 
Schimmer  zeigt  sich  am  Horizont  und  die  Sterne  glänzen  klar. 
Florence  erhebt  sich  von  ihrem  Lager,  weil  sie  während  des 
Schlummers  eine  Stimme  zu  vernehmen  gemeint  hatte  : 

«  Nicht  schlafen  !  Dich  erwartet  das  Leben,  dich  erwartet  die 
Arbeit! » 

Welche  Lust,  aufzustehen,  jung  zu  sein,  fähig  etwas  Tüchtiges 
zu  leisten  !  Florence  springt  aus  dem  Bett  und  gleich  ist  jede 
Spur  von  Schläfrigkeit  verschwunden.  Sie  zündet  die  Lampe  an 
und  denkt  an  den  Tag,  der  vor  ihr  liegt. 

Das  Haus  ist  ganz  still.  Doch  dort  auf  dem  Tische  liegen  die 
unbeendeten  Aufgaben,  sie  mahnen  wie  das  Läutwerk  einer 
Weckeruhr.  Rasch  hat  sie  sich  angezogen  und  sitzt  schon  vor 
ihrem  Schreibtisch.  Sie  sieht  ihre  Hefte  durch. 

«  Die  Lateinaufgabe  ist  für  heute.  Doch  auf  morgen  muss  ich 
den  «  Phaedon  »  übersetzen.  Ja,  ich  erinnere  mich  genau  an  die 
Stelle.  Fangen  wir  mit  Latein  an.  » 

Aus  den  musterhaft  geordneten  Schubladen  entnimmt  das 
junge  Mädchen  Lehrbuch,  Hefte  und  Wörterbuch.  Nun  widmet 
sie  sich  aufmerksam  und  intensiv  der  Arbeit,  vom  roten  Licht  der 
Lampe  beleuchtet,  das  ihrem  Haare  goldene  Reflexe  entlockt. 

Alles  um  sie  her  ist  in  Schweigen  versunken.  Für  Florence 
existiert  jetzt  gar  nichts  ausserhalb  des  lateinischen  Textes  der 
«  Zweiten  Tuskulanischen  Disputation  »,  die  sie  zu  übersetzen  hat  : 

«  Ihr  habt  mir  immerhin  genug  gewährt,  als  Ihr  mir  die  Ant- 
wort gegeben  habt,  Unehre  schiene  Euch  ein  grösseres  Übel  als 
Schmerz. » 

Die  Aufgabe  ist  schwer.  Doch  es  ist  nicht  Florencens  Art,  sich 
von  Schwierigkeiten  abschrecken  zu  lassen.  Bei  den  schwersten 

1 


Stellen  liest  sie  den  Urtext  noch  einmal  durch,  überprüft  die 
Übersetzung,  schlägt  im  Wörterbuche  nach,  sucht  Subjekt  und 
Verb,  konzentriert  ihre  volle  Aufmerksamkeit,  konstruiert  mühe- 
voll die  Zeitform  von  neuem  und  schreibt  den  ganzen  Satz  erst 
nieder,  wenn  sie  ihn  verstanden  und  richtig  übersetzt  hat. 

Die  Dunkelheit  ist  nicht  mehr  so  tief.  Das  rote  Licht  der 
Lampe  kämpft  gegen  die  Tageshelle.  Die  Kanadareben  vor  dem 
Fenster  heben  sich  schattenhaft  vom  Himmel  ab,  der  in  weissem 
Schimmer  aufglänzt.  Schnell  wird  das  zarte  Dämmern  vom  Mor- 
genrot überwunden.  In  ihre  Arbeit  versunken,  merkt  die  kleine 
Studentin  kaum,  dass  es  schon  Tag  ist.  Sie  liest,  denkt  nach  und 
schreibt. 

Endlich  ein  langer,  tiefer  Seufzer.  Sie  ist  fertig,  blickt  um 
sich,  löscht  die  Lampe  aus  und  sieht  zum  Himmel  empor.  Ihr 
feines  Antlitz  mit  den  regelmässigen  Zügen  ist  rosig  und  heiter. 
Nochmals  durchliest  sie  ihre  Übersetzung  und  kopiert  die  Arbeit. 
Dann  schliesst  sie  Bücher  und  Hefte  und  legt  sie  sorgfältig,  ohne 
jede  Hast,  an  ihren  Platz.  Während  sie  das  tut,  lauscht  sie  dem 
Rauschen  ihres  geliebten  Flusses  Derwent,  der  im  Hintergrund 
des  Parkes  dahinfliesst  und  ihr  von  Gottes  Grösse  und  Güte 
erzählt. 

Der  Fluss  ruft  sie.  Ja,  der  Fluss  ruft  sie  wirklich  und  be- 
gleitet mit  seinem  Rauschen  ihre  Träume,  ihre  Zweifel  und  ihr 
Sinnen, 

Warum  ist  so  viel  Leid  auf  der  Welt  ?  Warum  existieren  so 
viele  armselige  Geschöpfe,  so  viele  Unglückliche,  so  viele  Kranke  ? 
Warum  denken  die  Menschen,  die  Gesundheit,  Kraft  und  Reichtum 
besitzen,  nicht  an  jene,  die  leiden  ?  Warum  gibt  es  Menschen, 
die  immer  nur  entbehren  und  andere,  die  nur  geniessen  und  sich 
des  Genusses  erfreuen  ?  Und  warum  hat  uns  Gott  das  wunderbare 
Ding  gegeben,  das  «  Leben  »  heisst  ? 

Wahrlich  ein  wunderbares  Geschenk  —  gebrauchen  wir  es 
aber  auch  nach  seinem  Willen  ?  Warum  gibt  es  so  wenige,  die 


Gott  ihr  Leben  weihen.  Warum  ersehnen  alle  bloss  Reichtum 
und  irdische  Güter  ? 

Reichtum  erscheint  Florence  geradezu  als  Hindernis,  wenn 
man  ein  höheres  Leben  erstreben  möchte.  In  dem  schönen  Hause, 
in  dem  grossen  Park  ihrer  Eltern,  fühlt  sie  sich,  die  doch  Vater 
und  Mutter  zärtlich  liebt,  fast  wie  eine  Fremde. 

Von  Zeit  zu  Zeit  vernimmt  sie  eine  Stimme,  die  sie  mahnt, 
dass  Gott  sie  zu  seinem  Dienste  bestimmt  hat.  Aber  zu  welchem 
Dienste  und  auf  welche  Art  ?  Sind  die  lateinischen  und  griechi- 
schen Aufgaben,  das  Studium  der  Mathematik  und  Geschichte 
auch  Wege  Gottes  ?  Florence  weiss  es  nicht.  Eines  ist  ihr  aber 
bewusst  :  wenn  sie  sich  mit  Ernst  und  Aufmerksamkeit  diesen 
Aufgaben  und  Studien  hingibt,  so  findet  ihre  Seele  Frieden  und 
ihr  unruhiger  Geist  besänftigt  sich.  Der  Wege  Gottes  gibt  es  so 
viele  und  welcher  Mensch  darf  sich  vermessen,  sie  alle  zu  kennen  ? 


Die  alte  Peggy 

Florence  schreitet  sinnend  durch  den  Park,  fast  ohne  zu  wissen, 
wohin  der  Weg  sie  führt.  Da  zuckt  sie  zusammen,  denn  sie  hat 
ein  wohlbekanntes  Wiehern  gehört.  Ein  Mal,  dann  noch  ein 
zweites  Mal  wiederholt  sich  das  Wiehern,  das  so  freundlich  klingt 
wie  ein  Gruss.  Deutlich  erkennt  sie  die  Stimmen  der  beiden 
Pferde  ;  sie  sind  ganz  verschieden  voneinander.  Die  alte  Peggy, 
eine  ausgediente  Stute,  die  man  hatte  töten  wollen,  weil  sie  zu 
nichts  mehr  taugte  —  nur  auf  die  inständige  Bitte  des  jungen 
Mädchens  hatte  man  das  gute  Tier  am  Leben  gelassen  —  und 
Dear,  ihr  weisses  Füllen.  Beide  grüssen  die  junge  Herrin. 

Sie  tritt  in  den  Stall  und  geht  zuerst  zur  alten  Peggy,  die  ihr 
so  anhänglich  ist. 

«  Willst  Du  ein  Stückchen  Zucker,  Peggy  ?  —  Sie  führen  sie 
heute  in  die  Sonne  hinaus,  Robert.  Nicht  wahr  ?  » 


Robert,  der  Stallbursche  striegelt  behutsam  das  feine,  weisse 
Fell  von  Dear,  dass  es  ordentlich  leuchtet.  Das  junge  Mädchen 
liebkost  die  zarten  Nüstern  ihres  Füllens  und  klopft  ihm  liebevoll 
die  glänzenden  Flanken.  Dear  erwidert  ihre  Liebkosungen  auf 
seine  Art.  Augen,  Nüstern  und  Schweif,  ja  der  ganze  junge  Leib 
des  Tieres  zeigen  an,  wie  sehr  sich  das  Füllen  der  lieben  Nähe 
freut. 

«  Gelt,  Du  willst  wissen,  ob  ich  heute  ausreite  ?  Ja,  aber  zuerst 
müssen  wir  Peggy  ins  Freie  führen. » 

Peggy  wird  nun  auf  die  grosse  Wiese  gebracht,  um  dort  zu 
grasen.   Ihr  alter  Körper  geniesst  die  Sonnenwärme. 

Jetzt  schwingt  sich  Florence  in  den  Sattel,  zu  einem  flotten 
Galopp  in  der  Sonne.  Die  frische  Morgenluft  bläst  ihr  ins  Gesicht, 
wie  die  kräftige  Liebkosung  eines  gigantischen  Freundes.  Die 
tauschimmernden  grünen  Wiesen  fliegen  vorüber  und  die  blühen- 
den Bäume  gleichen  leuchtenden  Opferkerzen,  die  die  Erde  zum 
Himmel  emporreicht.  Der  eilig  dahinfliessende  Derwent  raunt 
seine  geheimnisvolle  Sprache  weiter.  Die  ganze  Natur  atmet  Gott 
und  singt  sein  Lob. 

Haben  sich  heute  Rogers  Ziegen  alle  verlaufen  ?  Wie  ist  das 
geschehen  ?  Ah,  dort  unten  steht  ja  Roger  und  plagt  sich,  die 
Ausreisser  wieder  einzufangen.  Aber  es  will  ihm  nicht  recht 
gelingen.  Ist  denn  der  Hund  nicht  da  ?  «  Cap,  wo  bist  Du  ?  " 
Florence  hat  den  Hund  des  Hirten  so  gem.  Das  Tier  ist  brav 
und  hält  die  ganze  Herde  zusammen.  Er  lief  ihr  sonst  mit  freudigem 
Gebell  wedelnd  entgegen  und  beutelte  lustig  die  Ohren,  wenn  er 
sie  von  weitem  erblickte.  Doch  heute  ist  Cap  nicht  da  ?  Warum 
nur  ? 

Florence  fragt  den  Hirten  Roger  nach  seinem  Hund.  Aber 
Roger  ist  selbst  so  bekümmert,  dass  er  nur  ganz  mechanisch 
seine  verlaufenen  Ziegen  zusammentreibt.  Ach,  seinem  Hund 
geht  es  ja  so  schlecht.  Ein  böser  Junge  hat  ihn  mit  Steinen  beworfen 
und  am  Bein  getroffen.  Cap  kann  nicht  auf  den  Füssen  stehen. 


jammert  fortwährend  und  das  verwundete  Bein  ist  ganz  geschwollen 
und  blutunterlaufen.  «  Er  wird  nicht  mehr  gesund,  nein,  er  kann 
nicht  mehr  gesund  werden.  » 

«  Wenn  ich  heute  abend  nach  Hause  komme,  werde  ich  ihn 
töten.  Besser  man  bringt  ihn  gleich  um,  als  dass  man  ihn  so 
jammern  hört.  » 

«  Umbringen,  Roger  !  Nein,  der  arme  Cap  !  Ich  will  nicht, 
dass  er  stirbt  und  bin  überzeugt,  dass  man  ihn  kurieren  kann. 
Nicht  wahr.  Hochwürden  ?  » 

Florence  wendet  sich  mit  dieser  Frage  an  den  Reverend 
J.  Giffard,  der  sie  auf  ihrem  Spaziergang  begleitet.  Sie  ist  seiner 
Hilfe  gewiss.  So  gehen  sie  miteinander  zur  Hütte,  wo  der  arme 
Hund  zusammengekauert  am  Boden  liegt  und  unaufhörlich  seme 
herzzerreissende  Klage  ausstösst,  während  seine  klugen  Augen 
mit  dem  sprechenden  Blick  um  Hilfe  flehen.  Nein,  nein,  man 
darf  ihn  nicht  sterben  lassen  ! 

Nur  bei  den  Puppen  ihrer  Schwester  Parthenope  hat  Florence 
bisher  als  Pflegerin  geamtet.  Das  waren  freilich  kleine  Patientinnen, 
die  nicht  einmal  klagten,  wenn  ihnen,  was  manchmal  vorkam, 
alle  beiden  Beine  gebrochen  waren.  Einen  wirklichen,  lebendigen 
gebrochenen  Fuss  hatte  Florence  noch  nie  zu  Gesicht  bekommen. 
Dennoch  ist  sie  fest  davon  überzeugt,  dass  Cap  gesund  werden 
müsse. 

« Nicht  wahr,  er  wird  ganz  gesund »,  wiederholt  sie  fort- 
während, schon  um  sich  selbst  zu  beruhigen.  Sie  zwingt  sich, 
das  entsetzlich  geschwollene  Bein  genau  anzusehen  :  Welch  furcht- 
barer Anblick  !  Sie  will  es  aber  um  jeden  Preis  heilen.  So  versucht 
sie  ihren  Begleiter  zu  bestimmen,  alles  zu  tun,  um  Cap  zu  retten. 
Reverend  Giffard  untersucht  sachgemäss  den  gebrochenen  Fuss 
und  die  eiternde  Wunde.  Er  hat  wenig  Hoffnung,  Cap  helfen  zu 
können  ;  aber  wie  kann  man  es  übers  Herz  bringen,  für  den  armen 
Hund  nicht  sein  möglichstes  zu  tun,  wenn  man  die  Betrübnis 
des  bittenden  Mädchens  vor  Augen  hat  ?  Florence  und  der  hoch- 
würdige Herr  teilen  sich  in  die  Arbeit :  er  als  Arzt  und  sie  als 


Pflegerin.  Das  Bein  muss  unbeweglich  gemacht,  die  Wunde 
gereinigt,  die  Geschwulst  durch  Umschläge  zum  Schwinden 
gebracht  werden.  Diese  heissen  Umschläge  sind  stündlich  zu 
erneuern. 

Der  Reverend  beginnt  die  Behandlung  und  Florence  soll  sie 
fortsetzen.  Dann  geht  er  fort  und  die  freiwillige  Pflegerin  bleibt. 
Nun  stöhnt  und  winselt  der  Hund  nicht  mehr  so  jammervoll 
und  unaufhörlich.  Cap  sieht  Florence  dankbar  an.  Auch  die 
Wunde  ist  nicht  mehr  so  schrecklich,  wie  am  Anfang,  und  das 
Bein  gleicht  fast  wieder  einem  normalen  Hundebein. 

Wie  spät  es  geworden  ist  !  Aber  es  ist  doch  unmöglich,  Cap 
allein  zu  lassen,  um  sich  nach  Hause  zum  Mittagessen  zu  begeben. 

«  Johnnie,  bitte,  gehen  Sie  in  die  Villa  hinüber  und  sagen 
Sie  Mama,  dass  ich  hier  bin.  Erklären  Sie  ihr  genau,  warum  ich 
noch  nicht  zurückkommen  kann.  Sagen  Sie  ihr,  dass  ich  hier  zu 
Mittag  esse  ! » 

Trockenes  Brot,  Ziegenkäse  und  eine  gute  Tasse  Milch  bilden 
das  Mittagessen  von  Florence.  Aber  Cap  hat  aufgehört  zu  jammern. 
Gegen  Abend  findet  sich  der  hochvmrdige  Herr  wieder  em  und 
hat  seine  helle  Freude  an  der  Besserung  seines  Patienten.  Später 
kommt  Roger  und  ist  ganz  selig.  Sein  Hund  ist  wieder  auferstanden. 
Ja,  Roger  glaubt,  Cap  könne  sich  schon  auf  seinen  vier  Beinen 
halten  !  Dazu  ist  es  noch  zu  früh.  Es  werden  noch  Tage  vergehen, 
ehe  das  gute  Tier  sich  wird  bewegen  können.  Aber  endlich  wird 
es  auch  so  weit  sein. 

Nun  ist  es  wirklich  soweit.  Florence  kann  sich  der  Weide 
nicht  nähern,  ohne  dass  Cap  seine  Retterin  begrüsst  und  ihr  für 
die  Güte  dankt,  die  sie  ihm  erwiesen.  Er  freut  sich  des  Lebens 
und  ist  glücklich,  Rogers  Ziegen  bewachen  zu  dürfen.  Ja,  er  hat 
seine  Aufgabe. 


Reise  in  der  Postkutsche 

Schauplatz  der  Handlung  ist  nicht  mehr  England  mit  seinen 
grünen  Weiden  und  den  grauen  Nebeln,  das  Land,  das  den  Herzen 
der  beiden  Schwestern  so  teuer  ist.  Sie  sind  auf  Reisen.  Die 
kleine,  in  Florenz  geborene  und  nach  dieser  Stadt  benannte 
Engländerin  Florence  und  ihre  jüngere  Schwester,  die  in  Neapel 
zur  Welt  kam  und  davon  ihren  Namen  Parthenope  herleitet. 
Beide  fahren  sie  nun  durch  ihr  Geburtsland.  Sie  können  sich 
nicht  mehr  an  Italien  erinnern,  weil  sie  im  zartesten  Kindesalter 
nach  ihrer  Heimat  England  gebracht  wurden. 

Nach  Neapel  sind  sie  auf  dieser  Fahrt  überhaupt  nicht  ge- 
kommen, wohl  aber  nach  Florenz.  Was  waren  das  doch  für 
köstliche  Reisen  !  Wenn  man  in  der  alten  Postkutsche  die  Land- 
schaft sich  allmählich  vor  dem  entzückten  Auge  ausbreiten  sieht, 
mit  den  Dörfern,  die  wie  trauliche  Nester  der  Menschenkinder 
im  grünen  Hag  versteckt  sind,  mit  den  hochragenden  Glocken- 
türmen, die  in  der  Feme  auftauchen  und  immer  höher  in  den 
Himmel  wachsen,  wenn  man  näher  kommt.  Die  besinnliche  und 
umständliche  Zeremonie  der  Abreise,  der  Wechsel  der  Pferde 
und  der  dadurch  bedingte  gemütliche  Aufenthalt.  Und  erst  die 
Ankunft  bei  anbrechender  Dunkelheit,  die  schwankenden  Lichter 
der  Laternen  im  Hofe  der  Herbergen,  in  denen  man  die  Nacht 
verbringen  soll.  Und  man  hat  so  viel  Zeit,  um  zu  träumen  ! 
Umso  weniger  Zeit  hat  man  aber  zum  Niederschreiben  der  Ein- 
drücke, zum  Erzählen,  was  man  gesehen,  empfunden  und  be- 
wundert hat. 

Denn  Florence  interessiert  sich  für  alles.  Für  die  Landschaft 
ebenso  wie  für  die  Bebauung  des  Bodens,  für  die  Kunstwerke, 
die  Gesetzgebung,  die  sozialen  und  humanitären  Einrichtungen 


des  Volkes,  in  dessen  Land  man  sich  befindet.  Ganz  besonderes 
Gewicht  legt  sie  dabei  auf  die  Wohltätigkeitsanstalten. 

Sie  nimmt  von  allem  Notiz,  mit  derselben  Genauigkeit  und 
Aufmerksamkeit,  mit  der  sie  früher  die  lateinischen  und  griechi- 
schen Klassiker  übersetzt  hat.  So  macht  sie  sich  die  vielfältigsten 
Erkenntnisse  zu  eigen  :  die  allgemeinen  Richtlinien  eines  Vortrags 
und  die  Berichterstattung  über  einen  Gesellschaftsabend,  die 
politischen  Ereignisse  und  die  Aufführung  italienischer  Werke 
gewinnen  in  ihrer  Schilderung  neue  Seiten.  Wie  viele  Vergnügun- 
gen gibt  es  doch  !  Jedes  Fest  bringt  Einladungen  zu  neuen  Festen 
mit  sich.  Konzerte,  Bälle,  Picknicks  und  Aufführungen  von  Schau- 
spielen und  Opern  folgen  einander  wie  eine  Kette  von  Tönen 
und  Farben. 

Wie  erhaben  ist  der  italienische  Gesang !  Kann  man  sich 
köstlichere  Abende  denken,  als  die,  an  denen  man  Rubini  oder 
die  Grisi,  die  Malibran  und  Tamburini  singen  hört  ?  Auf  der 
weiten  Reise  kommt  man  von  Florenz  nach  Genua  und  bis  nach 
Paris  :  überall  ein  einziges  Fest,  ein  Aufglänzen  zahlloser  Lichter, 
ein  ewiges  Hin  und  Her  von  vornehmen,  eleganten,  heiteren  und 
geistreichen  Leuten,  in  deren  Mitte  Florence  und  Parthenope 
sich  anerkannt,  gefeiert  und  willkommen  fühlen. 

Wer  denkt  noch  der  geheimnisvollen  Stimmen,  welche  sich 
im  Rauschen  des  Derwent  vernehmen  Hessen  ?  Tanz,  Musik  und 
Gesang  lösen  einander  in  froher  Harmonie  ab.  Es  bleibt  keine 
Zeit,  an  andere  Dinge  zu  denken.  Die  Mahnungen,  die  aus  fernen 
Tiefen  aufgestiegen  sind,  um  die  Seele  von  Florence  zu  beun- 
ruhigen, sie  werden  von  dem  fröhlichen  Treiben  festlicher  Gesellig- 
keit übertönt. 

In  den  Prunksälen  lächeln  liebenswürdige  Kavaliere  während 
des  schwebenden  Tanzes.  In  den  Opern  von  Rossini  und  Donizetti 
trillern  und  glänzen  die  berühmtesten  Sänger.  Florence  ist  trunken 
von  Musik,  taucht  in  die  Wellen  der  zauberhaften  Töne,  die  sie 
begeistern. 

Trunken  von  Musik...  doch  unter  Tönen,  Tänzen  und  Ge- 

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sängen  kann  man  auch  krank  sein  und  sterben !...  In  Florenz,  der 
Stadt,  in  der  sie  geboren  ist,  und  deren  Namen  « so  süss  wie 
Maienduft'»  sie  trägt,  just  in  dem  Hause,  das  sie  gastlich  aufge- 
nommen hat.  Hegt  ein  junges  englisches  Mädchen  an  schwerer 
Krankheit  darnieder.  Wie  furchtbar :  gezwungen  zu  sein,  in 
Schmerzen  schweigend  in  fremden  Betten  krank  zu  liegen  ! 

Florence  vergisst  darüber  Musik  und  Tanz.  Sie  sitzt  in  dem 
halbdunklen  Zimmer  neben  der  jungen  Kranken,  die  sie  nur 
ganz  flüchtig  kennt.  Freudig  bringt  sie  ihr  das  Opfer  ihrer  glück- 
lichsten Lebenszeit,  weil  sie  keinen  grösseren  Wunsch  hegt  als 
den,   das  Mädchen  möge  gesunden. 

Galante  Kavaliere  und  anmutige  Damen  tanzen  in  den  weiten 
Sälen  an  den  Ufern  des  Arno.  Im  Theater  der  Pergola  bringt 
die  Grisi  wunderbare  Modulationen  zustande,  versprüht  die 
Triller  und  die  girrenden  Kehllaute  ihrer  goldenen  Stimme. 

Doch  nicht  für  Florence,  die  an  einem  Krankenlager  wacht. 


In  Lea  Hurst 

Inzwischen  ist  der  Bau  des  Landhauses,  das  die  ganze  Familie 
in  England  aufnehmen  soll,  vollendet  worden.  Durch  eine  Erbschaft 
von  Seiten  alter  reicher  Verwandten,  ist  der  Besitz  der  Nightingales 
noch  mehr  angewachsen.  Nachdem  sie  die  Schönheiten  Italiens, 
den  mondänen  Glanz  von  Paris  hinter  sich  gelassen,  betritt  die 
neue  Herrschaft  voll  Bewunderung  ihr  Haus.  Um  wie  viel  grossar- 
tiger und  schöner  ist  dieses  Gebäude  als  das  alte  !  Ein  weiträumiger, 
edler  Bau  mit  emer  Flucht  von  eleganten  Salons  im  Erdgeschoss, 
sowie  zahlreichen  Gastzimmern  im  obersten  Stockwerk.  Ein 
prächtiger  Wohnsitz,  in  dem  man  alle  Freuden  geniessen  kann, 
welche  Reichtum  und  Bildung  vereint  zu  bieten  wissen. 

Auf  der  grünen  Wiese  liegen  unzählige  farbige  Kissen.  In 
diesen  Kissen  ruhen  die  beiden  Schwestern.  Bücher,  Hefte  und 
Mappen  sind  um  sie  verstreut.  Nachtigallen  singen,  der  heisse 


Hauch  des  Juni  weht  ermattend.  Parthenope  ist  sehr  glücklich. 
Es  scheint  ihr,  als  lebe  sie  in  einem  irdischen  Paradies  im  Geiste 
Dante's.  Rhododendron,  Rosen  und  Azaleen  stehen  im  Bluste  ; 
Düfte,  Farben  und  Klänge  wiegen  das  junge  Mädchen  in  holde 
Gedanken,  und  sie  dünkt  sich  eine  Waldfee,  eine  Nymphe, 
geschaffen  für  Glück  und  für  reinstes  Licht,  in  das  sie  tief  auf- 
atmend eintaucht.  Der  Schöpfer  hat  all  diese  göttlichen  Dinge 
werden  lassen  :  die  Blumen,  des  Himmels  Azur,  singende  Vögel 
und  grüne  Wiesen,  als  wahren  Segen  für  die  Menschheit. 

Wie  schade,  dass  man  nur  zu  zweit  sich  dieser  Wunder  erfreuen 
soll !  Es  müssten  Menschen  kommen,  um  sie  mitzugeniessen  ! 
Wen  soll  man  einladen  ?  Florence  ist  auch  von  Bewunderung 
hingerissen.  Ja,  alles  ist  Glanz  und  Schönheit.  Alles  spricht  von 
der  Grösse  und  von  der  Güte  Gottes.  Der  unablässig  tönende 
Gesang  der  Vögel  scheint  ein  Engelschor,  der  die  Menschen 
auf  erhabenere  Gedanken  hinweist,  ein  lebendiger  Chor,  der 
vom  Himmel  herabsteigt,  um  die  Erde  zu  beseligen. 

Aber  wer  hört,  wer  versteht  auf  Erden  diesen  Chor  ?  Die 
Menschen  sind  entweder  vom  Reichtum  oder  von  Armut  bedrückt. 
Sie  haben  Augen  und  sehen  nicht ;  sie  haben  Ohren  und  hören 
nicht.  Das  Weinen  der  leidenden  Menschheit  vermischt  sich 
für  Florence  mit  den  göttlichen  Himmelsliedem  und  verschmilzt 
mit  ihnen  zu  untrennbarer  Einheit. 

Parthenope  vernimmt  das  Weinen  nicht  und  unterbricht  das 
Schweigen. 

« Florence,  ich  bitte  Hilaria,  gleich  zu  uns  zu  kommen  ! 
Glaubst  Du,  dass  die  Tante  sie  fortlässt  ?  Hier  in  Embley  scheint 
mir  alles  viel  zu  schön  und  es  dünkt  mich  krasser  Egoismus, 
dass  wir  beide  ganz  allein  diese  Herrlichkeit  geniessen.  Meinst  Du 
nicht  auch,  wir  würden  zusammen  mit  unserer  kleinen  blonden 
Kusine  noch  viel  glücklicher  sein  ?  Welcher  Frieden  und  welche 
Harmonie  !  Glaubst  Du,  dass  Hilaria  kommen  wird  ?  » 

«  Es  ist  sehr  schön  »,  antwortet  Florence.  Ihre  Stimme  klingt 
so  seltsam  ernst,  und  wenn  Parthenope  imstande  wäre,  klarer  zu 

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verstehen,  würde  sie  in  dem  Klang  das  Echo  einer  fernen  und 
leidvollen  Klage  hören  :  des  Weinens  der  schmerzbedrückten 
Menschheit.  Nein,  für  Florence  ist  kein  Frieden  gekommen.  Und 
auch  die  Freude  nicht. 

« Frieden,  Freude  ?  Wünsche  ich  mir  denn  diese  Freude 
Parthenope's  ?  Sie  freut  sich,  weil  sie  nicht  sieht,  sie  findet  Frieden, 
weil  sie  nicht  hört.  Sie  kann  das  Leid  der  anderen  vergessen. 
Nein,  diesen  Frieden  begehre  ich  nicht »,  denkt  Florence. 

«  Florence,  warum  bist  Du  traurig  ?  Warum  willst  Du  un- 
g'ücklich  sein  ?  Du  besitzest  alles,  was  man  sich  auf  Erden  nur 
wünschen  kann,  und  Du  marterst  Dich  selbst  ?  Was  fehlt  Dir  ?  » 
forscht  die  Schwester  besorgt. 

Parthenope  kennt  Florence.  Parthenope  weiss,  dass  Florence 
nicht  glücklich  ist,  wenn  sie  still  vor  sich  hinsinnt  und  träumt 
und  so  weit  entfernt  von  ihr  ist,  wo  sie  ihr  doch  zur  Seite  sitzt, 

« Nichts,  Liebling.  Es  sind  Wolken,  die  vorüberziehen.  Es 
fehlt  mir  ja  wirklich  nichts,  gar  nichts. » 


Ungeduld 

Frohes  Leben  durchpulst  die  grosse  Villa,  die  von  so  vielen 
Gästen  erfüllt  ist,  von  Onkeln,  Tanten,  Vettern  und  Freunden  ! 
Blaue  und  schwarze  Augen,  blondes  und  braunes  Haar,  silberhelle 
Stimmen,  Kindergeplauder  und  Lieder  der  Jugend.  Der  Lieb- 
lingsvetter William  und  die  liebste  der  Basen,  Hilaria,  dann 
Sven,  Frederick,  Marie,  John,  Richard,  Juliet,  Louise  und 
Gerard  —  und  viele  andere  noch.  Sie  gehen  in  fröhlicher 
Gemeinschaft  spazieren,  sie  finden  sich  zum  Picknick  auf  einem 
lauschigen  Plätzchen  im  Walde  ein.  Chöre  und  Einzelgesang, 
Tanz  und  muntere  Geselligkeit  unterhalten  und  zerstreuen  sie. 
Es  gibt  nur  wenige  Stunden  der  Einsamkeit  und  unsomehr  der 
heiteren  Zusammenkünfte.  Freudig  erregte  Knaben  und  Mädchen 

11 


dringen  in  das  stille  Wohnzimmer  von  Florence  ein,  die  wie  der 
Barbier  von  Sevilla  auf  allen  Seiten  und  von  allen  Leuten  gerufen 
wird.  Florence  hier  und  Florence  dort,  Florence,  Florence,  so  tönt 
es  überall.  Es  gibt  keinen  Ausflug,  keine  Unterhaltung,  bei  denen 
man  sich  nicht  an  Florence  wenden  vnirde,  die  ein  Organisations- 
talent hat,  wie  niemand  anderer  und  auch  imstande  ist,  alles  aus 
eigener  Initiative  durchzuführen.  Sie  ist  bei  allen  Unternehmun- 
gen von  gross  und  klein  einfach  unentbehrlich. 

Eben  soll  etwas  Grossartiges  unternommen  werden  :  die 
Aufführung  von  Shakespeare's  «  Kaufmann  von  Venedig ». 

Wie  merkwürdig  steht  es  mit  Florence  !  Sie  kann  nicht  das 
geringste  beginnen,  ohne  sich  der  Sache  voll  hinzugeben  und 
ehrlich  danach  zu  streben,  dass  sie  auch  gelinge.  Für  den  «  Kauf- 
mann von  Venedig »  übernimmt  sie  die  Verteilung  der  Rollen 
und  deren  Einstudierung.  Sie  beschwichtigt  die  Ungeduldigen, 
schlichtet  die  kleinen  Streitigkeiten,  beruhigt  die  Rivalen,  über- 
redet die  Darsteller  von  Nebenrollen,  sich  zufrieden  zu  geben, 
leitet  die  Proben,  fordert  Ordnung,  Pünktlichkeit,  Disziplin  und 
führt  sie  auch  durch. 

Wer  hat  sie  gelehrt,  zu  befehlen  ?  Niemand.  Und  doch  gehor- 
chen ihr  alle.  So  wird  der  «  Kaufmann  von  Venedig  »  tatsächlich 
ein  Erfolg.  Sogar  dem  guten  Antonio  gelingt  es,  während  der 
pathetischsten  Stelle  seiner  Rolle  ernst  zu  bleiben.  Florence 
wird  von  den  Darstellern  wie  von  den  Zuschauem  mit  Beifall 
überschüttet. 

Aber  in  dem  entferntesten  Zimmer  des  Hauses,  wo  sie  sich 
aufhält,  um  den  alten  Vater  ihrer  Mutter  zu  pflegen,  der  von 
Paralyse  bedroht  ist,  hört  man  das  Lachen  und  den  Lärm  nicht. 
Täglich,  stündlich  müht  man  sich  hier,  den  Zerstörungskampf  der 
Krankheit  aufzuhalten.  Hier  führen  Geist  und  Seele  ein  gestei- 
gertes Leben. 

«  Ich  bin  sehr  zufrieden,  so  wie  jetzt  im  unmittelbaren  Schatten 
des  Todes  zu  schreiten  ;  in  seiner  Ruhe  und  seinem  Schweigen 
liegt  etwas,  was  mit  der  Plage  und  der  Ungleichheit  der  Menschen 

12 


versöhnt.  Gott  lässt  unsere  Flügel  in  die  Gewässer  jener  Schatten 
tauchen.  Seit  langer  Zeit  habe  ich  mich  nicht  mehr  so  glücklich 
gefühlt,  seit  langer  Zeit  empfand  ich  so  tiefe  Dankbarkeit  gegen 
Gott  nicht  mehr  ». 

Zwei  geräumige  Landhäuser  dienen  zum  Aufenthalt  während 
des  grössten  Teiles  des  Jahres.  Die  « Season  »  wird  in  London 
verbracht. 

Florence  findet  das  zu  viel.  Sie  gedenkt  der  Worte  des  Evan- 
geliums :  «  Eher  kommt  ein  Kamel  durch  ein  Nadelöhr,  als  dass 
ein  Reicher  Eingang  im  Reiche  Gottes  findet.  » 

Florence  macht  sich  die  Zerstreuungen  ihres  Lebens  zum 
Vorwurf.  Florence  unterhält  sich  und  quält  sich,  weil  sie  sich 
unterhält.  Sie  wünscht  etwas  Ernstes  zu  beginnen,  eine  wirkliche 
Arbeit  zu  vollbnngen,  ein  klar  vorgezeichnetes  Ziel  zu  haben. 
Eis  gibt  so  viel  Verlassene,  Einsame,  Elende  und  sie  muss  mit  denen 
leben,  die  alles  Notwendige  und  soviel  Überfluss  besitzen.  Sie 
muss  denen  das  Dasein  leichter  und  heiterer  gestalten,  für  die  es 
doch  ohnehin  so  leicht  und  heiter  ist.  Für  sie  soll  sie  sorgen  ? 
Menschen,  die  ihr  teuer  sind,  die  ihr  durch  die  Bande  des  Blutes 
und  des  Geistes  nahestehen,  aber  überhäuft  sind  von  allen  erdenk- 
lichen Gütern  und  in  der  Lage,  immer  und  auf  jede  Weise 
geniessen  zu  können  ! 

*  Ich  bete  und  kämpfe  und  finde  den  Weg 
doch  nicht» 

Florence  fragt  sich,  ob  nicht  alle  viel  glücklicher  wären,  wenn 
es  so  grosse  Reichtümer  einzelner  überhaupt  nicht  gäbe.  Sind  die 
materiellen  Güter  nicht  am  Ende  ein  Unding,  welches  uns  am 
Aufstieg  hindert  ?  Florence,  die  sich  so  reich  weiss,  ist  davon 
überzeugt  und  schreibt  es  ihrer  Freundin  Mary. 

« Bis  zu  den  Augen  stecke  ich  in  wirtschaftlichen  Dingen. 
Es  gefällt  mir  ja  recht  gut,  die  Hausfrau  zu  spielen.   In  dieser 

13 


Welt  überfeinerter  Erziehung  und  geringer  Tätigkeit  bedeutet 
solche  Arbeit  zumindest  die  praktische  Anwendung  unserer 
Theorien.  Trotz  alledem,  inmitten  meiner  unzähligen  Listen  der 
Garderobe,  der  Küche,  der  Lebensmittel,  kann  ich  nicht  umhin 
mich  zu  fragen,  ob  vernünftige  Leute  so  viel  Dinge  notwendig 
haben  !  Ob  eine  Unzahl  von  Glaswaren,  Wäsche,  Küchengeschirr 
wirklich  nötig  ist,  um  den  Menschen  zu  einem  Tier  zu  machen, 
das  den  Weg  des  Fortschritts  wandelt  1  Ob  es  schliesslich  ein 
gutes  System  der  Nationalökonomie  ist,  Bedürfnisse  zu  erfinden, 
um  die  Möglichkeit  zu  schaffen,  den  Menschen  Arbeit  geben  zu 
können  !  ?  » 

Florence  ist  weder  mit  sich  noch  mit  den  andern  zufrieden. 
Sie  ist  davon  überzeugt,  etwas  Besseres  leisten  zu  können,  lebte 
sie  nicht  in  einer  so  luxuriösen  Umgebung.  Sie  fühlt  einen 
Arbeitseifer  und  sie  ist  gezwungen,  ein  so  bequemes  Dasein  zu 
führen.  Ja  manchmal  muss  sie  sogar  dasitzen  und  müssig  sein, 
nur  um  anderen  Freude  zu  machen. 

Jemanden  gut  vorlesen  hören,  ist  ja  zuweilen  sehr  angenehm. 
Muss  man  aber  alle  Vormittage  damit  verbringen,  zuzuhören, 
wie  man  die  «  Times  »  vorliest  ?  Parthenope  kann  dabei  wenigstens 
malen,  während  sie  zuhört.  Florence  hört  auch  zu  und  arbeitet 
dabei  anscheinend  ruhig  und  heiter.  Innerlich  aber  fiebern  alle 
ihre  lahmgelegten  Energien. 

Für  das  bequeme  Leben  ist  Florence  nicht  geschaffen.  Lesen 
hören  ist  wahrhaftig  eine  armselige  Arbeit.  Arbeit  ?  Es  ist  als 
läge  man  auf  dem  Rücken,  mit  gebundenen  Händen  und  jemand 
versuchte  uns  einen  Trank  einzuflössen,  der  uns  als  Nahrung 
zu  dienen  hätte.  Was  für  ein  Leben  ! 

Wann  immer  sie  kann,  entschlüpft  Florence  aus  ihrem  Hause. 
Sie  geht  mit  der  Mutter  ins  Dorf,  um  Kranke  zu  besuchen.  Der 
Unterschied  ist,  dass  die  Mutter  nur  kurze  Besuche  macht,  sie  aber 
umso  längere. 

«  Wo  ist  das  Fräulein  ?  Suchen  Sie  sie  im  Dorf  bei  der  Nancy, 
der  es  heute  schlechter  geht.  Sie  ist  sicher  bei  ihr  geblieben.  Sagen 

14 


Sie  ihr,  sie  möge  sich  beeilen  und  zu  rechter  Zeit  zum  Essen 
kommen  und  nicht  vergessen,  dass  Gäste  emgeladen  sind  ! » 

Arme  Florence  !  Nancy  hat  sie  ja  so  nötig  und  sie  soll  nach 
Hause  zurück  und  die  Gäste  empfangen,  die  alle  so  angenehm, 
h  flieh,  geistvoll,  so  elegant  und  lustig  sind.  Sie  möchte  doch  so 
unendlich  gern  etwas  viel  Schwereres  vollbringen  :  ein  grosses, 
ernstes,  zusammenhängendes  Werk. 

Sie  möchte  so  gerne  ihren  eigenen  Weg  finden  !  Wer  hilft  ihr, 
ihn  zu  suchen  ?  Wenn  man  den  Drang  nach  höherem  hat  und 
nicht  fähig  ist,  dafür  zu  leben  —  welch  unseliges  Los  ! 

«  Ich  bete  und  kämpfe  und  finde  den  Weg  doch  nicht.  Inmitten 
der  Ärmsten,  Unglücklichsten,  Siechsten  des  Landes,  in  den 
niedrigen,  schwarzen  Hütten,  ja  nur  dort  finde  ich  ein  wenig 
Frieden.  Ja,  das  ist  es,  den  Leuten  helfen,  die  mein  Kommen 
als  einen  Trost  erwarten,  zu  diesen  täglich  wiederkehren,  ihnen 
Freundin  sein  und  sie  lehren...  » 

«  Aber  der  Herbst  ist  bald  zu  Ende.  Ich  muss  Embley  verlassen 
und  alle  Kranken,  die  ich  zu  pflegen  begonnen  hatte.  Ich  muss  sie 
verlassen  —  manche  von  ihnen  werde  ich  wohl  nie  mehr  wieder- 
sehen und  man  hätte  doch  noch  so  viel  für  sie  tun  können.  Es  ist 
schrecklich.  Wenn  ich  nur  bleiben  könnte  !  » 

Nein,  es  ist  unmöglich.  Sie  muss  nach  London  mit.  In  kurzer 
Zeit  beginnt  ja  die  «  Season  »  und  es  ist  «  dringend  »,  sich  dafür 
vorzubereiten.  Neue  Kleider  für  den  Tag  und  den  Abend,  weiche, 
warme  Mäntel,  helle  Stöckelschuhe,  Gazeschleier  und  Haar- 
schmuck... 


Englische  Krankenhäuser 

«  Wenn  ich  den  Entschluss  fassen  würde,  mich  zur  Pflegerin 
auszubilden  und  mein  Leben  den  Kranken  zu  widmen,  würde 
Ihnen  das  gar  so  schrecklich  scheinen  ?  »  —  Florence  ist  bleich 
und  beklommen.  Welche  Qual  hat  es  für  sie  bedeutet,  diese  Frage 


15 


zu  stellen,  ihren  innersten  Wunsch  zum  Ausdruck  zu  bringen, 
selbst  dem  guten  Doktor  Howe  gegenüber,  den  sie  bewundert 
und  der  ihr  und  ihrer  Familie  so  zugetan  ist. 

Die  Antwort  lässt  auf  sich  warten.  —  Doktor  Howe  forscht  genau 
in  dem  Antlitz  von  Florence,  fixiert  sie  mit  seinen  durchdringenden 
Augen,  als  wol'te  er  auf  dem  Grunde  der  Seele  seiner  jungen 
Freundin  lesen.  Sie  fühlt  einen  wahren  Aufruhr  im  innersten 
Herzen.  Florence  dünkt  sich  beinahe  eine  Schuldige  vor  ihrem 
Richter !  Aber  seine  Antwort,  ach,  diese  Antwort  ist  wie  ein 
Balsam,  der  den  Tumult  beruhigt  ! 

«  Es  würde  mir  in  keiner  Weise  als  etwas  Schreckliches  erschei- 
nen. Ich  glaube  sogar,  dass  es  ein  grosses  Glück  wäre.  » 

Florence  fühlt  tiefsten  Frieden  in  ihre  Seele  einziehen.  Sie 
hat  diese  Worte  niemals  vergessen  und  auch  nicht  die  Wohltat, 
die  sie  ihr  bedeutet  haben. 

Florence  hat  einen  Plan.  Sie  sagt  niemandem  das  geringste 
davon,  aber  sie  entwickelt  ihn  in  ihrem  Herzen  mit  wahrer  Leiden- 
schaft. Hilaria  hat  ihr  doch  gesagt,  dass  man  die  versteckten 
Schätze  nur  langsam,  unentwegt  und  in  tiefem  Schweigen  aus- 
graben muss,  wenn  man  sie  entdecken  will.  Florence  gräbt  langsam, 
schweigend  und  unentwegt. 

Sie  hat  im  Dorfe  eine  Frau  sterben  sehen,  weil  niemand  in 
ihrer  Umgebung  imstande  war,  ihr  beizustehen.  Sie  war  ver- 
zweifelt, der  Unglücklichen  nicht  helfen  zu  können.  Sie  will  es 
lernen.  Um  es  zu  lernen,  will  sie  in  ein  Krankenhaus  gehen. 

Das  Krankenhaus  !  Keines  der  jungen  Mädchen,  die  sie  kennt, 
hat  je  den  Fuss  über  die  Schwelle  eines  Krankenhauses  gesetzt. 
Das  Spital  ist  ein  düsterer,  geheimnisvoller  und  entsetzlicher 
Ort,  wo  man  sich  alle  Krankheiten  holen  kann,  wo  alle  leiden  und 
jammern  und  sich  betrinken,  wo  nur  Frauen  aus  den  untersten 
sozialen  Schichten  eintreten,  um  zu  arbeiten.  Florence  hat 
immer  von  den  Krankenpflegerinnen  in  den  Spitälern  als  von 
gemeinen  Geschöpfen  sprechen  gehört,  denen  man  sich  nicht 
nähern  dürfe.  Eine  ihrer  Schützlinge,  die  Beschäftigung  suchte, 

16 


hatte  ihr  einmal  gesagt :  «  Man  hat  mir  gestern  einen  Posten  als 
SäugHngsschwester  angeboten,  aber  Sie  begreifen  ja,  Fräulein, 
dass  ich  in  eine  solche  Umgebung  nicht  gehen  kann...  » 

Haus  des  Elends,  Haus  der  Schmerzen  !  Gerade  deshalb  will 
ja  Florence  in  ein  Spital  !  Es  liegt  ihr  nichts  daran,  in  einem 
bequemen  und  schönen  Hause  zu  leben,  sich  aller  Güter  zu 
erfreuen,  die  einem  der  Reichtum  zu  geben  vermag,  elegant  und 
in  Gesellschaft  gefeiert  zu  sein.  Hier,  wo  sie  lebt,  ist  alles  so  leicht, 
alles  lächelt.  Gegen  wen  soll  man  kämpfen  und  wem  dienen  ? 

Aber  dort  besteht  wirklich  Elend,  dort  ist  es  möglich,  einen 
Kampf  zu  führen.  Was  kann  Florence  zu  Hause  noch  lernen,  als 
ein  wenig  Weltlichkeit,  ein  wenig  Literatur  und  Politik  ?  Alles 
sehr  interessante  und  schöne  Dinge,  aber  Florencens  Herz  schlägt 
nicht  für  sie.  Und  sie  schreibt  Doktor  Richard  Fowler,  der  ein 
so  treuer  Freund  ihres  Hauses  ist,  ihr  Näheres  über  die  Spitalfrage 
mitzuteilen.  Dabei  denkt  sie  :  «  Wenn  die  anständigen  Frauen  sich 
mehr  mit  der  Hilfstätigkeit  beschäftigen  und  in  Spitäler  eintreten 
würden,  so  müsste  sich  die  Atmosphäre  darin  bald  verändern. 
Man  könnte  einen  Orden  von  Schwestern  ohne  bindendes  Gelübde 
für  die  Frauen  von  höherer  Bildung  gründen.  »  Man  könnte...  Aber 
keiner  unterstützt  sie,  alle  sind  gegen  sie,  ja  die  Mutter  ist  ausser 
sich,  dass  ihre  Tochter  an  eine  solch  grauenhafte  Sache  nur  zu 
denken  wagte,  geschweige  denn,  so  etwas  vorschlagen  konnte. 
Sie  erklärt  und  betont,  dass  sie  nie,  nie  ihre  Zustimmung  geben 
würde.  Das  einzige  versöhnende  Moment  bei  dieser  tollen  Idee 
sei,  dass  Florence  keine  Ahnung  hätte.  Keine  Ahnung  davon,  was 
Spitäler  in  Wirklichkeit  wären  ;  sie  hätte  nicht  die  entfernteste 
Vorstellung  von  der  Verderbtheit,  die  dort  herrsche.  Die  abscheuer- 
regendsten physischen  Übel  seien  nichts  im  Vergleich  zu  den 
moralischen  Misständen.  Florence  ist  niedergeschlagen  und  bleibt 
doch  fest,  sie  versucht  einen  neuen,  letzten  Weg, 

« Fragen  wir  Frau  Fowler.  Sie  ist  Deine  Freundin  und  die 
Frau  eines  Spitalarztes.  Sie  geht  immer  dorthin  und  wird  uns 
etwas  Genaues  sagen  können.  » 

17 


Aber  nicht  einmal  Frau  Fowler  hat  ihr  etwas  Günstiges  zu 
berichten. 

«  Es  ist  eine  zu  schwere  Aufgabe.  Ich  kann  darum  die  Ver- 
antwortung nicht  übernehmen,  ein  Mädchen  in  ein  Spital  ein- 
treten zu  lassen.  Ich  gehe  gewiss  regelmässig  hin,  aber  ich  bin 
jetzt  schon  eine  ältere  Frau  und  Florence  ist  noch  so  jung.  » 

So  jung  !  Florence  wünscht  so  sehr,  nicht  mehr  jung  zu  sein. 
Ja,  sie  möchte  am  liebsten  nicht  mehr  leben.  Alles  scheint  in 
ihr  wie  abgestorben.  Bleich  und  unbeweglich  hört  sie  ihr  Urteil 
an,  ohne  ein  Wort  zu  reden,  ohne  Tränen.  Aber  wie  sie  allein  ist 
und  niemand  sie  sehen  kann,  bricht  sie  in  verzweifeltes  Schluch- 
zen aus. 

Sie  wird  niemals  etwas  Rechtes  vollbringen  können,  nie,  nie. 
Ihr  Dasein  wird  immer  unnütz,  leer  und  iwec'  los  sein,  Asche  und 
Staub,  schlimmer  als  nichts.  «  Gott,  Gott,  warum  hast  Du  mich 
so  hart  gestraft  ?  »  Warum  sind  alle  so  grausam,  warum  will  niemand 
verstehen  ?  Was  will  Florence  denn  anderes,  als  ihr  Leben  Gott 
darbringen,  den  elendesten  seiner  Kinder  dienen  ?  Warum  ge- 
stattet Gott,  dass  sie  dieses  Leben  der  Lüge,  der  Eitelkeit  und 
des  Betruges  fortsetzt  ? 

Sie  ist  ohne  Zuversicht,  verzweifelt,  von  den  Menschen,  die 
sie  am  innigsten  liebt,  durch  eine  tiefe  Kluft  getrennt.  Florence 
schluchzt  noch  immer  trostlos,  in  ihrem  kleinen  Zimmer,  ganz 
allein.  Ach,  sie  ist  ja  so  allein,  allein,  allein  !  Ihr  Leben  ist  eine  Ruine 
und  alles  Licht  in  ihrer  Seele  ist  ausgelöscht. 


Kämpfe 

«Quäle  Dich  nicht,  liebe  Florence.  Sei  nicht  ungeduldig. 
Der  Tag  wird  kommen,  da  Du  alles  ausführen  kannst,  was  Du 
an  guten  Vorsätzen  und  Ideen  in  Dir  trägst.  Lehne  Dich  nicht 
gegen  den  göttlichen  Willen  auf  !  Man  muss  warten  können.  Auch 
das  ist  eine  Tugend.  Das  bescheidenste  Werk  ist  ein  Opfer  vor 

18 


Gott,  wenn  es  im  Geist  der  Liebe  vollbracht  wird.  Begnüge  Dich 
inzwischen  nur  das  zu  tun,  was  Gott  Dir  zu  leisten  gewährt.  Je 
femer  Gott  Dir  scheint,  desto  näher  ist  er  Dir  vielleicht.  Die  Wege 
Gottes  sind  unbekannt,  Florence.  » 

So  liebevoll  besänftigt  Anna  Nicholson  das  verzagte  Wesen. 
Anna  Nicholson  kennt  die  Möglichkeiten  zu  trösten  und  zu  seg- 
nen. Sie  bleibt  ihr  immer  nahe,  verlässt  sie  nie.  Wenn  Florence 
ihre  Stimme  hört  oder  einen  ihrer  Briefe  liest,  scheint  sie  sich  aus 
der  Starre  des  Todes  zur  Lebenswärme  zurückzufinden.  Und 
sie  denkt  bei  sich,  dass  Anna  Nicholson  ihr  sicherlich  von  Gott 
gesandt  worden  sei.  Gott  hat  sie  diese  Seele  erkennen  lassen,  die 
immer  zu  verstehen,  zu  lieben  imstande  ist,  die  stets  das  Wort 
des  Friedens  für  ihren  gequälten  unruhvollen  Geist  zu  sagen 
weiss.  Eben  lesen  Florence  und  Anna  gemeinsam  die  Botschaft 
des  Apostel  Paulus  an  die  Korinther  : 

«  Darum  werden  wir  nicht  müde  ;  sondern,  ob  unser  äusser- 
licher  Mensch  verdirbt,  so  wird  doch  der  innerliche  von  Tag  zu 
Tag  erneuert. 

«  Denn  unsere  Trübsal,  die  zeitlich  und  leicht  ist,  schafft  eine 
ewige  und  über  alle  Massen  wichtige  Herrlichkeit,  uns,  die  wir 
nicht  sehen  auf  das  Sichtbare,  sondern  auf  das  Unsichtbare.  Denn 
was  sichtbar  ist,  das  ist  zeitlich  ;  was  aber  unsichtbar  ist,  das 
ist  ewig.  » 

Die  unsichtbare  Welt  !  Diese  ist  es,  die  Florence  ruft,  jetzt 
da  der  schönere,  wünschenswertere  und  erwünschte  Weg  ihr  viel- 
leicht für  immer  verschlossen  ist ;  jetzt,  da  die  sichtbare  Welt 
ihr  völlig  feindlich  gegenüberzustehen  scheint.  Ja  gewiss,  Florence 
hebt  die  unsichtbare  Welt,  die  sie  lebendig  um  sich  fühlt,  belebt 
von  Geistern  der  Liebe,  die  sich  den  in  Liebe  erglühenden  See'en 
kundtun.  Ja  gewiss,  Florence  empfindet  mit  den  Aposteln  und 
den  Heiligen,  dass  die  Religion  nichts  ist,  wenn  sie  nicht  in  uns 
lebt.  Florence  erstrebt  mit  allen  ihren  Kräften,  die  Religion  Jesu 
Christi  zu  dem  Besitztum  ihrer  Seele  zu  machen,  alles  nur  um 
der  Liebe  Gottes  willen  zu  tun.  Arbeiten,  arbeiten  !  Der  Wunsch 

19 


zu  wirken,  so  und  nicht  anders  zu  wirken,  kehrt  unaufhörlich 
wieder.  Florence  ist  nicht  für  das  beschauliche  Leben  geschaffen. 
Ihre  Religiosität  will  in  Leistungen  ihren  Ausdruck  finden.  Sie 
muss  durch  ihre  Werke  beten. 

Der  Wunsch  Florence  Nightingales,  ihr  Leben  der  Kranken- 
pflege in  Spitälern  zu  widmen,  ist  für  niemanden  ein  Geheimnis 
geblieben.  Die  Freunde  wissen  es,  sprechen  davon,  urteilen  darüber 
und  billigen  es  nicht.  Die  Freunde  sind  der  Meinung,  dass  man 
die  Gegengründe  in  jeder  Weise  diesem  eigensinnigen  und  eigen- 
artigen Köpfchen  einprägen  müsse.  «Man  muss  sie  überzeugen, 
dass  ihre  Idee  nicht  zu  verwirklichen  ist,  eine  Utopie,  exaltierter 
und  lebensfremder  Phantasie  entsprungen.  Florence,  die  einer 
der  angesehensten  englischen  Familien  angehört,  die  mit  der  vor- 
nehmsten Gesellschaft  verkehrt  und  sogar  zu  den  Hofbällen 
eingeladen  wird,  sollte  mit  den  gemeinsten  und  verrufensten 
Frauen  von  London  zusammentreffen,  die  den  niedrigsten  sozialen 
Schichten  entstammen  —  in  einer  Umgebung  von  unglaublicher 
körperlicher  und  sittlicher  Verderbnis  ?  !  » 

Wäre  Florence  Katholikin  gewesen,  dann  hätte  sie  sich  vielleicht 
entschlossen,  den  Schleier  zu  nehmen.  Denn  nur  die  katholischen 
Ordensschwestern  jener  Zeit  pflegten  die  Kranken  aus  innerer 
Berufung  und  ohne  den  Antrieb,  dadurch  ihr  Brot  zu  verdienen. 

Aber  Florence  war  nicht  katholisch  und  die  Nonnenorden 
konnten  sie  nicht  recht  überzeugen.  Die  Idee  gefiel  ihr  wenig, 
durch  ein  Gelübde  gezwungen  zu  sein,  dem  Weg  zu  folgen,  den 
man  für  den  rechten  hält.  Es  schien  ihr,  die  Hingabe  an  eine 
Sache  müsste  an  sich  stärker  sein,  als  jedes  Gelübde.  Da  sie  nun 
verhindert  war,  praktisch  den  Weg  zu  beschreiten,  den  ihre  Seele 
schon  längst  durcheilte,  wappnete  sich  Florence  ohne  Zaudern 
für  solches  Ringen  und  für  solchen  Kampf.  Ihre  Bibliothek  wurde 
täglich  reicher  an  medizinischen  und  chirurgischen  Werken.  In 
ihrer  Korrespondenz  kehrte  das  Thema  der  Spitäler,  Kliniken 
und  der  Krankenhilfe  immer  wieder.  Sie  erbat  und  erhielt  Berichte 
über  die  Spitalseinrichtungen  in  England,  Frankreich  und  Deutsch- 

20 


land.  Unklare  und  spärliche  Berichte  über  das  wenige,  das  dazumal 
auf  diesem  Gebiet  in  der  Welt  geleistet  wurde  —  Berichte,  die 
einander  widersprachen  und  immer  entmutigend  waren. 

«  Ein  junges  Mädchen,  das  in  Paris  Medizin  studieren  wollte, 
musste  sich  das  Haar  abschneiden  und  Männerkleider  anziehen, 
weil  es  das  einzige  Mittel  war,  um  ruhig  inmitten  der  Studenten 
arbeiten  zu  können.  » 

«Alle  Laienschwestem  sind  dem  Trunk  ergeben  und  wenn 
sie  betrunken  sind,  kann  man  sich  denken,  wie  es  in  einem  Kran- 
kensaal aussieht.  » 

«  Keine  Frau,  die  Selbstachtung  besitzt,  würde  sich  herbei- 
lassen, die  gemeinen  und  obszönen  Vorfälle  mit  anzusehen  und 
zu  hören,  die  in  einem  Spital  etwas  Alltägliches  sind.» 


«  Du  weisst  ja,  Florence,  wie  glücklich  ich  wäre.  Dich  gewähren 
zu  lassen.  Aber  es  ist  unmöglich.  Du  kannst  Dir  nicht  vorstellen, 
welchen  Gefahren  Du  ausgesetzt  wärest.  Aber  ich  weiss  es  und 
habe  die  Pflicht,  Dich  davor  zu  bewahren.  Wärest  Du  an  meiner 
Stelle,  so  würdest  Du  dasselbe  tun.  » 

Florence  ist  völlig  davon  überzeugt,  dass  ihr  Vater  sie  liebt 
und  dass  er  tut,  was  er  für  ihr  Wohl  geeignet  glaubt.  Sie  muss 
auch  zugeben,  dass  er  von  seinem  Standpunkt  aus  recht  hat. 
Wenn  aber  die  Einrichtungen  für  die  armen  Kranken  so  entsetzlich 
sind,  wenn  das  Krankenhaus  ein  Milieu  vorstellt,  das  sogar  für 
eine  gesunde,  energische  Frau  wie  sie,  im  Schutz  von  massgebenden 
Persönlichkeiten,  als  gefährlich  angesehen  wird,  wäre  es  doch 
umso  notwendiger,  sich  damit  zu  beschäftigen,  sich  mit  eigenen 
Augen  von  dem  Stande  der  Dinge  zu  überzeugen,  frische  Luft 
und  gesunde  Anschauungen  hineinzutragen  ?  Ist  es  nicht  dringend, 
da  Wandel  zu  schaffen  ?  Wollen  wir  warten,  bis  die  schwärende 
Wunde  brandig  wird  ? 

Florence  martert  sich  mit  solchen  Fragen  ohne  Unterlass. 
Die  Besuche  bei  lieben  Freunden  der  Familie,  Feste,  Konzerte, 

21 


Unterhaltungen  mit  berühmten  und  interessanten  Persönlich- 
keiten können  sie  nur  für  Augenblicke  ihrer  Idee  entrücken.  Sie 
welkt  wie  eine  Blume  ohne  Wasser.  Sie  quält  sich  derart,  dass 
ihre  Gesundheit  darunter  leidet  und  nun  ist  sie  erst  recht  ver- 
zweifelt, sich  nicht  mehr  so  kräftig  zu  fühlen,  wie  früher,  weil  sie 
fürchtet,  dass  die  körperliche  Schwäche  ein  neues  Hindernis 
für  sie  bilden  könnte.  Deshalb  stimmt  sie  mit  wahrer  Begeiste- 
rung dem  Vorschlag  ihrer  Eltern  bei,  einen  Winter  in  Rom  mit 
befreundeten  Familien  zu  verbringen.  So  wird  sie  neue  Kräfte 
und  neue  Energie  gewinnen,  um  ihren  Weg  wieder  aufzunehmen. 


Vater  und  Mutter  vninschen,  dass  der  Aufenthalt  in  Rom 
dazu  dienen  möchte,  ihre  Tochter  von  ihrer  fixen  Idee  abzulenken, 
und  sie  völlig  ihrer  Liebe  zurückzuerobern.  Florence,  die  ja  die 
Eltern  zärtlich  liebt,  macht  ihnen  soviel  Kummer  und  sie  wären 
um  ihretwillen  zu  jedem  Opfer  bereit.  Trotzdem  müssen  sie  ihr 
den  Herzenswunsch  versagen,  sie  verhindern,  ihre  Pläne  auszu- 
führen, in  dieser  Hinsicht  hart  und  grausam  gegen  sie  sein... 


Winter  in  Rom 

Rom,  die  wundersame  Stadt,  Gipfelpunkt  aller  Schönheit 
und  Macht !  Florence  erlebt  Rom,  in  dem  ihr  alles  von  Grösse 
spricht  und  das  ihrem  eigenen  unüberwindlichen  Willen  neue 
Kräfte  leiht.  Die  vollkommensten  Bildwerke  der  Antike,  Jupiter- 
Jovis,  der  Apoll  vom  Belvedere,  sind  sie  nicht  alle  der  Ausdruck 
eines  von  der  Materie  befreiten  Willens  zur  Schönheit  ? 

Der  vmndervolle  Tag  des  15.  Dezember,  der  für  Florence 
glücklichste  aller  Tage  in  Rom,  da  ihr  in  der  Sixtinischen  Kapelle 
Propheten  und  Sybillen  das  wahre  Königreich  Gottes  offenbaren, 
die  Worte  des  Herrn  verkünden,  sie  mahnen,  dass  es  die  Pflicht 

22 


eines  jeglichen  Geschöpfes  ist,  auf  Seine  Befehle  zu  achten,  und 
sich  nicht  vom  Weg  abbringen  zu  lassen,  den  Er  uns  weist ! 
Gesegnete  Tage  der  Selbstbesinnung  im  Kloster  von  Santa  Trinitä 
dei  Monti  bei  den  Damen  vom  Sacre  Coeur  !  Da  Madre  Santa 
Colomba  und  die  übrigen  Schwestern  Florence  das  Geheimnis 
jener  Hingebung  erkennen  lassen,  deren  Fehlen  wohl  das  grösste 
Hindernis  für  allen  geistigen  Fortschritt  der  Menschheit  bedeutet. 
Sie  lehren  sie,  dass  jeder  sich  den  Geist  dieser  Hingabe  zu  eigen 
machen  kann,  wenn  er  fähig  ist,  sich  regelmässig  geistige  Exerzitien, 
strenge   Pflichten  und  Gewissenserforschungen  aufzuerlegen. 

Tage  und  Wochen  vergehen,  während  ein  ganzes  Volk  um 
seine  Freiheit  kämpft,  Pius  IX.  die  Konstitution  gewährt  und 
die  Patrioten  jubeln  !  Auch  Florence  jubelt  mit  der  begeisterten 
Menge,  als  die  Fahne  vorüberzieht,  für  die  ein  jeder  Italiener 
zu  kämpfen,  zu  sterben  oder  zu  siegen  weiss. 

In  Rom  hat  sie  einen  neuen  Freund  gewonnen,  Sidney  Herbert. 
Er  spricht  mit  Florence  von  einem  Plan,  der  sie  ähnlich  erbeben 
lässt  wie  die  griechischen  Statuen,  die  Sybillen  und  Propheten, 
wie  die  Kongregation  der  frommen  Schwestern,  die  alle  dem 
gleichen  Ziele  zuzustreben  scheinen.  Er  will  ein  kleines,  vorbild- 
liches Krankenhaus  und  ein  Rekonvaleszentenheim  für  seine 
Armen  auf  dem  Lande  gründen.  Sidney  Herbert,  dessen  Frau 
und  Florence  treffen  nun  oft  zusammen,  bei  gemeinsamen  Freun- 
den, bei  grossen  Gesellschaften  und  Festen,  in  den  Galerien  und 
Museen.  Aber  es  verbindet  sie  noch  ein  anderes,  festeres  Band  : 
das  noch  nicht  verwirklichte  Krankenhaus,  das  Rekonvaleszenten- 
heim, die  fast  den  Anschein  einer  Utopie  haben.  Nein,  Florence 
wird  sich  niemals  mit  blossen  gesellschaftlichen  Siegen  zufrieden 
geben,  sich  nie  mit  ihrem  Gewissen  einig  fühlen,  wenn  sie  nicht 
den  Weg  einschlägt,  den  Gott  ihr  vorgezeichnet  hat.  Ein  Weg, 
der  steil  zwischen  Elend  und  Leiden  emporführt  und  zu  Höhen 
geleitet,  wo  alles  gewährt  und  nichts  gefordert  wird.  Wo  man 
die  vollkommene  Freude  verspürt,  die  einzige  Freude,  die  Florence 
erstrebt. 

23 


Wieder  in  London 

Traurige  Heimkehr,  denn  Vater,  Mutter  und  Parthenope 
merken  wohl,  dass  Florence  ihnen  noch  mehr  entrückt  ist,  dass 
ihre  Wünsche,  Ziele  und  Gedanken  immer  deutlicher  eigene 
Wege  gehen.  Traurige  Rückkehr  in  das  luxuriöse  Londoner  Haus, 
in  die  heitere,  blumenumrankte  Villa  in  Embley.  Wird  Florence 
denn  keine  Entscheidung  treffen,  die  sie  beglücken  könnte,  ohne 
bei  ihren  Eltern  und  Freunden  unüberwindliche  Ablehnung  zu 
erregen  ?  Sie,  die  im  höchsten  Masse  befähigt  ist,  sich  für  alle 
schönen  und  edlen  Ausdrucksformen  des  Lebens  zu  interessieren, 
die  in  der  Gesellschaft  so  bewundert  und  gefeiert  wird  und  die 
so  begabt  ist,  die  Künste,  die  Literatur,  die  Religionswissenschaft 
und  die  sozialen  Erkenntnisse  zu  erfassen. 

Nein,  sie  kann  nicht  bei  ihrer  Familie  bleiben.  Und  sie  geht 
wieder  auf  Reisen.  Diesmal  schliesst  sie  sich  ihren  Freunden 
Bracebridge  an  und  besucht  mit  ihnen  auf  einer  langen  Fahrt 
Ägypten  und  Griechenland.  Sie  wird  die  Gräber  der  Könige 
sehen,  die  Felsentempel  bewundem,  die  den  alten  Göttern  errichtet 
wurden.  Es  wird  ihr  vergönnt  sein,  sich  für  die  vollkommene 
Harmonie  des  Parthenons,  für  die  unsterbliche  Schönheit  grie- 
chischer Kunst  zu  begeistern.  Trunken  von  Sonne  und  Himmel 
wird  sie  angesichts  des  unermesslich  weiten  Horizontes  und 
seiner  unwandelbaren  Klarheit  das  Hässliche  vergessen,  das  der 
leidenden  Menschheit  anhaftet  und  den  Qualen  entrinnen,  welche 
die  Erdenkinder  in  Staub  verwandeln... 

Nein  !  Die  tiefe  Not  der  Menschen  erscheint  auch  in  der 
strahlenden  Wärme  des  sonnendurchglühten  Ägyptens  und 
zwischen  den  Wunderwerken  aus  griechischem  Marmor.  Eine 
Hütte  am  Weg,  auf  deren  Schwelle  eine  Frau  mit  einem  Knaben, 
in  Lumpen  gehüllt,  vermögen  Florencens  Seele  in  heissem  Mit- 

24 


gefühl  zu  erschüttern.  In  ihrem  Herzen  lebt  unverändert  der 
Wille,  sich  dem  Dienste  des  Herrn  und  der  Sache  der  Leidenden 
und  Geplagten  zu  weihen,  ebenso  heftig  aber  auch  die  Abneigung, 
ja  der  Abscheu  davor,  ein  Leben  des  Genusses  zu  führen. 

Auf  dem  Rückweg  von  Ägypten  nach  England  erlebt  Florence 
einen  gesegneten  Aufenthalt  !  Vierzehn  Tage  glaubt  sie  im  Para- 
dies zu  verbringen  !  Ein  Traum,  der  lange  Jahre  vorausgeahnt 
und  nun  verwirklicht  ist.  Tage,  an  denen  die  eiserne  Pforte,  welche 
sie  von  der  Strasse  des  Lebens  trennte,  sich  der  gequälten  Seele 
zu  öffnen  schien. 

In  Kaiserswerth  am  Rhein  hat  ein  Seelenhirt  eine  Reihe  von 
Anstalten  geschaffen,  in  denen  Diakonissinnen  wirken  und  dienen. 
Um  den  Pastor  haben  sich  Menschen  geschart,  deren  Seelen  nach 
dem  Ideal  dürsten  und  die  wie  die  Damen  vom  Sacre  Coeur  im 
Kloster  von  Trinitä  dei  Monti  das  Geheimnis  der  Hingebung 
kennen.  Ein  Kindergarten,  eine  Besserungsanstalt,  ein  Waisenasyl, 
ein  Krankenhaus  arbeiteten  schon  wundervoll.  Florence  ver- 
bringt die  vierzehn  Tage  in  Kaiserswerth  bei  dem  Pfarrer  und 
seiner  Frau,  studiert  die  Vorschriften  des  Mutterhauses  und  der 
Anstalten,  die  ihm  angegliedert  sind.  In  diesem  stillen  Erden- 
winkel, wo  das  Leben  so  einfach  ist,  dass  es  beinahe  armselig 
erscheint  und  wo  alle  von  morgens  früh  bis  abends  spät  arbei- 
ten, fühlt  sie  sich  vollkommen  glücklich.  Ja,  sie  glaubt  in  ein 
Geschöpf  von  himmlischer  Heiterkeit  verwandelt  zu  sein,  das 
nichts  auf  Erden  jemals  wieder  unsicher  machen  kann. 

Sie  schreibt  die  Eindrücke  ihres  Besuches  nieder  und  ver- 
öffentlicht sie.  Niemand  soll  erfahren,  wer  die  kleine  Schrift 
verfasst  hat,  aber  in  allen  Herzen  soll  der  glühende  Appell  einen 
Nachhall  finden,  der  Aufruf  einer  englischen  Frau  an  alle  englischen 
Frauen.  Und  in  irgend  einem  englischen  Erdenwinkel  werden 
vielleicht  jene,  die  guten  Willens  sind,  einen  Sammelpunkt  finden  ; 
jene,  die  arbeiten  wollen,  um  keines  anderen  Lohnes  willen  als 
um  Gotteslohn... 

«  Hast  Du  die  Korrektur  durchgesehen,  Florence  ?  » 

25 


Es  ist  nicht  die  Rede  von  der  Broschüre  über  die  Wohlfahrts- 
einrichtungen von  Kaiserswerth,  sondern  von  den  Reisebriefen 
aus  Ägypten  und  Griechenland.  Parthenope  hat  sie  so  schön 
gefunden,  dass  sie  sie  Freunden  zu  lesen  gab.  Dann  hat  sie  Florence 
um  die  Erlaubnis  gebeten,  die  Briefe  drucken  zu  lassen.  Parthenope 
empfindet  grenzenlose  Bevsoinderung  für  das  schriftstellerische 
Talent  ihrer  Schv/ester  und  ist  glücklich,  sie  v^ieder  zu  haben, 
noch  glücklicher  darüber,  sie  allen  Ernstes  aufzumuntern,  sich 
mit  Literatur  zu  beschäftigen,  statt  mit  Utopien  über  soziale  Arbeit. 
Um  zu  schreiben  braucht  man  ja  nicht  das  Haus  zu  verlassen,  und 
man  hat  es  nicht  nötig,  mit  Frauen  in  Berührung  zu  kommen, 
die  so  tief  gesunken  sind,  dass  sie  sich  betrinken.  Man  braucht 
auch  nicht  eiternde  Wunden  zu  verbinden...  Parthenope  ist  davon 
überzeugt,  dass  ihre  Schwester  berühmt  w^erden  könnte,  wenn 
sie  sich  dem  Schreiben  widmete.  Dann  wäre  sie  auch  befriedigt 
und  die  bedrückenden  Meinungsverschiedenheiten  in  der  Familie 
hätten  ein  Ende. 

«  Ja,  ich  habe  sie  schon  durchgesehen.  Du  kannst  sie  in  die 
Druckerei  zurückschicken.  » 

« Wie  ausgezeichnet  Du  schreibst,  Florence  !  Niemand  von 
unseren  Bekannten  kann  so  gut  schreiben,  wie  Du.  Keiner  von 
ihnen  geht  bis  auf  den  Grund  der  Dinge  und  entwickelt  aus  den 
Tatsachen  die  Idee,  die  sie  Zustandekommen  Hess.  » 

Während  Parthenope  mit  Florence  spricht,  blättert  sie  in  den 
Korrekturbogen. 

«  Sieh  nur  diesen  Brief  !  Einer  von  denen  aus  Athen,  wo  Du 
von  den  griechischen  Stilen  schreibst.  Was  Du  vom  dorischen, 
jonischen  und  korinthischen  Stil  sagst,  hat  noch  niemand  zum 
Ausdruck  gebracht.  Es  ist  eine  wahre  Sünde,  dass  Du  nur  Briefe 
schreibst.  Wenn  Du  Dich  ernstlich  der  Dichtkunst  widmen 
würdest,  welch  herrliche  Werke  könntest  Du  schaffen  ! » 

Bücher  schreiben  ?  !  Die  Versuchung  ist  sehr  gross.  Ihren 
Gedanken  eine  literarische,  ja  eine  dichterische  Ausdrucksform 
zu  geben,  bedeutet  für  Florence  eine  grosse  Freude.  Sie  weiss, 

26 


dass  alle,  ihr  Vater,  ihre  Mutter,  ihre  Schwester  und  ihre  Freunde 
Vertrauen  in  ihr  Talent  setzen  und  sie  selbst  tut  es  nicht  minder. 

Es  wäre  auch  so  interessant,  zu  schreiben...  so  viel  leichter 
für  sie,  Erfolg  zu  ernten,  leichter  als  für  andere,  denn  ihr  ganzes 
Milieu  ist  künstlerischem  Streben  günstig  gesinnt. 

Ist  das  aber  auch  Arbeit  ?  Ist  es  die  Arbeit,  zu  der  Gott  sie 
erkoren  hat  ? 

Nein,  es  genügt  nicht,  zu  schreiben,  man  muss  handeln.  Muss 
schaffen.  Solange  es  auf  Erden  Elend  gibt,  dessen  Qualen  und 
Leiden  die  menschliche  Brüderlichkeit  zu  lindern  imstande  wäre, 
kann  der  Wunsch  nach  Studium  und  literarischer  Arbeit  für 
Florence  nichts  bedeuten  ;  nichts  als...  eine  Versuchung  !  Ein 
Hindernis,  das  zu  überwinden  ist. 


Entmutigung 

Es  ist  sieben  Uhr  morgens.  Die  Sonne  schickt  ihre  goldenen 
Fäden  durch  die  Ritzen  der  Fensterläden  ins  dunkle  Zimmer.  Im 
Hause  werden  die  ersten  Geräusche  der  täglichen  Geschäftigkeit 
hörbar.  Doch  in  Florencens  Zimmer  bleibt  alles  still. 

Florence  ist  krank,  sehr  krank.  Ihre  Seele  ist  kraftlos  und 
lässt  sie  auf  ihrem  Lager  im  Finstern  hingestreckt  leiden,  während 
draussen  die  Sonne  glänzt.  Wozu  sollte  sie  sich  auch  erheben  ? 
Welche  Arbeit  erwartet  sie  ?  Es  sind  Gäste  da  und  man  sollte  zu 
ihrer  Unterhaltung  beitragen...  Das  kann  sehr  gut  ohne  sie  ge- 
schehen. Soll  sie  dem  Vater  zuhören,  der  aus  den  «  Times  »  vorliest  ? 
Irgend  jemand  wird  wohl  im  Salon  sein  und  zuhören.  Soll  sie  die 
Dienerschaft  überwachen  ?  Das  wird  die  Mutter  allein  zustande- 
bringen. Wozu  braucht  man  überhaupt  ein  so  grosses,  reich  aus- 
gestattetes Haus,  mit  unzähligen  Nippes,  die  staubig  werden  und 
so  viel  Angestellte,  die  sie  abstauben  müssen  ? 

Der  Tag  soll  erst  beginnen  und  schon  erscheint  er  Florence 
von  unerträglicher  Länge.   Endlos  der  heutige  Tag,  endlos  der 

27 


morgige,  endlos  die  Wochen,  die  folgen  werden,  die  Monate,  die 
Jahre...  « Warum  lebe  ich  ?  Warum  soll  ich  aufstehen,  mich 
anziehen,  frühstücken,  zu  Mittag  essen,  Spazierengehen,  mich 
in  Gesellschaft  bis  zehn  Uhr  unterhalten,  um  mich  dann  wieder 
zu  Bett  zu  begeben  ?  Seit  wie  vielen  Jahren  lebe  ich  so  —  wie 
viele  Jahre  soll  ich  weiter  so  vegetieren  ?  Gibt  es  einen  Tod,  der 
schlimmer  ist,  als  dieses  Leben  ?  Und  Gott  weiss,  dass  ich  nichts 
für  mich  begehre  !  Er  weiss,  dass  ich  für  die  anderen  arbeiten  will. 
Nicht  um  meine  Eitelkeit  zu  befriedigen,  nicht  um  Ruhm  zu 
erlangen,  nicht  um  gelobt  zu  werden.  Niemand  braucht  etwas 
davon  zu  wissen,  niemand  soll  von  mir  reden  —  ich  will  nichts 
anderes,  als  für  den  etwas  tun,  der  eine  gütige  Seele  nötig  hat. 
Nur  etwas  tun,  um  nicht  jede  Stunde  die  vergeht,  zu  sterben. » 

Die  Sonne  steht  schon  hoch  und  Florence  liegt  immer  noch 
unbeweglich  auf  ihrem  Lager  und  die  Fenster  in  ihrem  Zimmer 
bleiben  geschlossen. 

«  Kann  ich  eintreten  ?  »  fragt  eine  silberhelle  Stimme. 

Es  ist  Parthenope.  Sie  öffnet  die  Türe,  macht  die  Fenster  auf 
und  erfüllt  das  Gemach  mit  ihrer  Heiterkeit. 

«  Florence,  Faulpelz,  es  ist  ja  schon  spät,  weisst  Du's  denn 
nicht  ?  Hast  Du  vergessen,  dass  wir  Gäste  zum  Lunch  haben 
und  vorher  noch  in  den  Park  müssen,  um  Ginster  zu  pflücken, 
um  den  Tisch  und  das  Zimmer  damit  zu  zieren  ?  Wenn  die  leuch- 
tenden Blüten  eng  aneinander  gereiht  sind,  wird  der  Speisesaal 
erstrahlen  wie  die  Sonne  ! » 

Ginster,  Speisesaal,  Sonne...  in  der  Tat,  Florence  hat  alle 
diese  Dinge  vergessen.  Sie  hat  gar  keine  Lust,  sich  den  ganzen 
Vormittag  zu  bemühen,  um  das  Mahl  fröhlicher  zu  gestalten. 
Die  sonst  so  liebevolle  Florence  kann  und  will  nicht  länger  den 
täglichen  Wünschen  derer  gefällig  sein,  die  ihre  Umgebung  bilden 
und  ein  Recht  zu  haben  glauben,  über  ihr  Leben  auf  ihre  Art 
bestimmen  zu  dürfen.  Sie  versteht  sie  nicht  und  wird  von  ihnen 
nicht  verstanden.  Sie  ist  ebenso  unzufrieden  wie  ihre  Angehörigen 
es  sind.  Seit  Jahren  haben  sie  versucht,  einander  zu  verstehen 

28 


und  es  ist  ihnen  nicht  gelungen.  Florence  erkennt  klarer  als  je 
zuvor,  welcher  Abgrund  sie  von  einander  scheidet.  Wer  hat  recht, 
wer  unrecht  ?  Florence  urteilt  und  verurteilt  nicht,  sie  weiss,  dass 
ihre  Wege  verschieden  sind.  Seit  Jahren  hat  sie  versucht,  sich 
zu  beugen,  sich  ihrer  Art  anzupassen,  und  jeder  Tag,  der  vorüber- 
geht, macht  sie  ungeeigneter,  unfähiger  ihre  Gründe  zu  verstehen, 
die  Ideale  ihrer  Welt-  und  Lebensanschauungen  zu  teilen.  — 
Während  Parthenope  voraus  eilt,  um  goldenen  Ginster  zu  pflücken 
und  über  die  «  Faulheit »  der  Schwester  spottet,  denkt  Florence 
an  die  unerbittliche  und  unwandelbare  Zukunft :  «  Drei  Wochen 
hier  in  Embley  die  Gäste,  dann  vielleicht  vierzehn  Tage  Einsamkeit, 
später  eine  Reise  auf  den  Kontment,  hierauf  wieder  Gäste,  viel- 
leicht ein  paar  Wochen  des  glänzenden  gesellschaftlichen  Lebens 
in  London,  hierauf  wieder  auf  dem  Lande,  wieder  Gäste,  wieder, 
ewig  das  mondäne  Leben...  Inzwischen  vergehen  die  Jahre,  vergeht 
die  Jugend,  vergeht  das  Leben  und  ich  verzehre  mich  macht- 
und  kraftlos,  bin  nicht  imstande,  das  Geringste  zu  leisten...  » 

Unbeweglich  auf  ihrem  Lager,  hört  Florence  die  Stimme  des 
Gärtners,  der  singend  die  Blumen  begiesst,  und  sie  vernimmt 
die  emsige,  heiter-geräuschvolle  Tätigkeit  der  Dienerschaft  unten 
im  Erdgeschoss.  Die  Sonne  dringt  nun  in  vollem  Glanz  durch  die 
geöffneten  Fenster  bis  zu  ihrem  Bett.  Gibt  es  wirklich  die  Sonne 
noch  ?  Gibt  es  grüne  Wiesen  und  goldene  Ginsterbüsche  ? 

Florence  ist  kränk.  Wie  war  doch  das  Aufstehen  am  frühen 
Morgen  heiter,  als  sie  noch  ein  Kind  war  und  eine  Lateinaufgabe 
sie  wachrief.  Wie  freudig  war  das  Erwachen  in  Kaiserswerth,  da 
ein  Tag  voll  Arbeit  und  Pflichten  sie  erwartete. 

Jetzt  gibt  es  nichts,  das  sie  veranlassen  könnte  vom  Lager 
aufzuspringen  !  Viel  später,  da  Florence  sich  endlich  zusammenrafft 
und  erhebt,  fühlt  sie  ihre  ungenützte  Energie  in  tödliche  Müdigkeit 
verwandelt :  eine  Art  Lethargie,  fast  Schlafsucht,  hat  sich  ihrer 
bemächtigt. 

In  dieser  seltsamen  Mutlosigkeit  taucht  eine  sanfte,  mutige 
Frau  auf,  die  ein  starkes  Mitgefühl  für  Florence  hegt. 

29 


Es  ist  Tante  May.  Die  Schwester  ihres  Vaters.  Die  einzige 
unter  allen  ihren  Verwandten,  die  ihr  sagt  :  ich  stehe  zu  Dir,  ich 
begreife  und  schätze  Dich. 

Tante  May  ist  ihre  einzige  Freundin,  die  sie  nicht  als  ein 
wahres  Kreuz  der  Familie  betrachtet,  vielleicht  auch  ihr  Vater. 
Aber  der  Vater  wagt  es  nicht  zu  sagen,  was  er  denkt.  Tante  May 
ist  schon  etwas  mutiger,  manchmal,  ganz  sacht  und  leise,  weil  sie 
gegen  die  Ansicht  aller  allein  steht.  Tante  May  hat  Zivilcourage. 


Die  Werbung 

Was  geschieht  ?  Florence  ist  viel  zu  anmutig,  zu  liebenswürdig 
und  geistvoll,  um  inmitten  von  so  vielen  Vettern  und  Freunden 
nicht  manche  lebhafte  Sympathie  und  Zuneigung  wachzurufen. 
Viele  sehen  sie  bewundernd  an,  manche  denken  daran,  wünschen, 
hoffen,  sie  zur  Lebensgefährtin  zu  gewinnen. 

Obwohl  ihre  Züge  nicht  von  klassischer  Regelmässigkeit  sind, 
ist  Florence  doch  mehr  als  hübsch.  Hochgewachsen  und  schlank, 
mit  ausdrucksvollen,  tiefen  Augen,  einem  wundervoll  geschwun- 
genen Mund,  goldbraunem  Haar,  einer  Haut  wie  zarte,  rosaschim- 
memde  Perlen  und  unsagbarem  Reiz,  der  sie  wie  Zauber  um- 
schwebt. Vettern  und  Freunde  sind  beeindruckt  von  diesem 
Zauber. 

Aber  Florence  ist  so  wenig  glücklich  in  ihrer  Familie.  Sie 
fühlt  sich  als  Fremde,  sie  macht  sich  die  bittersten  Vorwürfe, 
nicht  eine  gute  Tochter  und  liebevolle  Schwester  zu  sein.  Das 
Elternhaus  mit  einem  Manne  verlassen,  der  sie  versteht  und  sie 
lieb  hat,  mit  ihm  gemeinsam  denselben  Weg  zu  gehen,  mit  den- 
selben Ideen,  den  gleichen  Zielen,  so  eins  mit  ihm,  dass  jedes 
nur  will,  was  das  andere  will...  Gibt  es  einen  Mann,  der  sie  so 
liebt  und  den  sie  lieben  könnte  ? 

30 


Ein  Mann  bewirbt  sich  um  Florence  ;  er  bietet  ihr  seine  Liebe, 
seinen  Reichtum,  sein  Leben  an.  Er  kennt  keinen  andern  Wunsch, 
keinen  andern  Traum  als  nur  sie.  Florence  bewundert  die  hohe 
Begabung,  das  Genie  des  jungen  Mannes,  fühlt  sich  von  seiner 
Sympathie  angezogen.  Mit  ihm  zu  sein,  ist  Seligkeit,  ist  hohe 
Freude. 

Der  Liebende  erwartet  in  angstvoller  Spannung  die  Antwort 
der  Angebeteten. 

«  Nein  »,  sagt  Florence.  «  Ich  kann  nicht.  Ich  weiss,  dass  es 
eine  Grausamkeit  gegen  Sie  —  und  gegen  mich  bedeutet.  Ich 
weiss,  dass  Sie  alle  Eigenschaften  besitzen,  um  eine  Frau  glücklich 
zu  machen.  Auch  weiss  ich  genau,  dass  ich  nichts  gegen  Sie  ein- 
tauschen könnte.  Wenn  ich  Sie  zurückweise,  habe  ich  gar  nichts 
mehr.  Wäre  ich  weniger  gequält  und  weniger  die  Quälerin  der 
anderen,  so  würde  ich  mich  entschliessen  und  sagen  :  Ich  gehe 
m  t  Ihnen  !  Aber  —  ich  kann  es  nicht.  Sagen  Sie  nicht,  dass  ich 
unrecht  habe,  Sie  abzuweisen.  Ich  bin  lange  mit  mir  zu  Rate 
gegangen,  ehe  ich  Ihnen  geantwortet  habe.  Aber  in  meiner  Seele 
lebt  etwas  Stärkeres  als  irdische  Liebe.  Was  werde  ich  auf  Erden 
beginnen  ?  Vielleicht  nie  etwas  Rechtes.  Vielleicht  aber  doch 
etwas,  um  dessentwillen  mein  Liebestraum  unerfüllt  bleiben 
muss...  Ich  bin  eine  geistige  Natur,  die  sich  ausleben  möchte 
und  mit  Ihnen  würde  sie  das.  Ich  habe  Sehnsucht  nach  Liebe, 
die  ihr  Recht  an  das  Leben  fordert  und  mit  Ihnen  würde  mir 
ein  Dasein  voll  Glück  und  Seligkeit  beschieden  sein.  Doch 
ich  habe  auch  den  Drang  nach  tätigem  Leben,  den  Sie  nicht 
verstehen,  den  keiner  versteht  und  der  noch  in  mir  steckt,  ohne 
zu  vollem  Ausdruck  zu  kommen.  Es  ist  der  lebendigste  Teil  meiner 
Seele.  Ich  vermag  es  nicht,  ihn  zu  unterdrücken,  will  ich  nicht 
mich  selbst  betrügen.  In  das  heitere,  glückliche  Leben  voll  Reiz 
und  Anmut  einzutreten,  das  Sie  mir  bieten,  würde  den  Verzicht 
auf  jenes  andere  Sein  bedeuten.  Ich  kann  nicht.  Sie  geben  mir  ihr 
ganzes  Selbst  und  ich  müsste  Ihnen  ebenso  mein  ganzes  Ich 
geben.  Ein  Teil  meines  Wesens  ist  aber  für  Sie  ohne  Bedeutung 

31 


und  gerade  den  könnte  ich  Ihnen  niemals  geben.  Darum  wäre 
es  unehrlich  von  mir,  Ihnen  zu  sagen  :  Ich  liebe  Sie  von  ganzer 
Seele.  » 

Aber  der  junge  Mann  versteht  noch  immer  nicht.  Er  glaubt 
die  grosse  Seele  von  Florence  genau  zu  kennen  und  meint,  was 
ihm  noch  darin  unbekannt  ist,  seien  nur  Träume.  Durch  lange 
Jahre  bleibt  er  seinem  Traume  treu  und  lange  Jahre  hindurch 
weiss  sie,  dass  eine  treue  Seele  ihr  nahe  ist. 

Wird  sie  von  der  Unruhe  befreit  werden,  die  sie  martert, 
wird  sie  ein  neues  Leben  beginnen,  Hand  in  Hand  mit  dem 
Freund,  der  zuversichtlich  auf  sie  wartet  ? 

«  Einen  Mann  heiraten,  der  ein  hohes  und  edles  Lebensideal 
besitzt,  und  diesem  mit  ihm  gemeinsam  nachstreben,  ist  der 
Gipfelpunkt  des  Glückes. » 

«  Die  wahre  und  die  höchste  Liebe  ist,  wenn  zwei  Menschen, 
die  einander  lieben,  sich  in  einem  Leben  voll  Arbeit  im  Dienste 
der  Menschheit  und  Gottes  vereinen.  » 

Nein,  Florence  wird  niemals  heiraten,  die  Liebe  ist  ihr  ver- 
schlossen. 

«  Ich  bin  dreissig  Jahre  alt :  das  Alter,  in  dem  Christus  seine 
Sendung  auf  sich  genommen  hat.  Keine  jugendlichen  Scherze 
mehr,  keine  weltlichen  Eitelkeiten,  keine  Liebe,  keine  Heirat. 
Jetzt,  o  Gott,  lass  es  geschehen,  dass  ich  nur  Deinem  Willen 
allein  lebe.  » 


Kaiserswerth 

Wo  sind  die  berühmten  Gäste,  die  mit  auserlesenem  Ge- 
schmack servierten  Diners  ?  Die  musikalischen  Abende,  die 
prächtigen  Ausflüge  in  fröhlicher  Gesellschaft,  wo  sind  sie  ? 

Es  bleibt  nicht  einmal  der  « Luxus »,  lange  im  Bett  aus- 
zuschlafen. Um  fünf  Uhr  läutet  der  Wecker  und  um  fünf  ein 
Viertel  Uhr  wird  gefrühstückt.  Um  elf  Uhr  wird  den  Kranken 


32 


das  Mittagessen  gereicht,  um  zwölf  Uhr  speisen  die  Diakonissinnen 
und  Florence.  Von  zwei  bis  drei  Uhr  ist  Erholungspause,  eine 
Tasse  Tee  dient  als  Erfrischung.  Um  sieben  Uhr  reicht  man 
das  Abendessen.  Die  ganze  übrige  Zeit  ist  Arbeitszeit.  Es  gibt 
nur  Tee-  und  Kaffee-Ersatz,  Zichorie  und  Pfefferminz.  Die 
Speisenfolge  besteht  mittags  und  abends  aus  Suppe,  Gemüse 
und  Brot,  Wasser  dient  als  Tischgetränk,  sonst  nichts.  Ein  ein- 
faches, ja  armseliges  Leben  und  doch  unsagbar  beglückend. 
Mehr  als  je  fühlt  Florence,  dass  Müssiggang  und  Reichtum  für 
die  geistige  Freiheit  nur  Hindemisse  sind. 

In  Kaiserswerth  beginnt  Florence  sich  Kenntnisse  durch 
praktische  Erfahrung  anzueignen.  Die  Kranken  zu  pflegen,  die 
Kinder  zu  erziehen,  die  Armen  in  ihren  Wohnstätten  aufzu- 
suchen und  so  gut  als  möglich  ihre  Lebensverhältnisse  zu  ver- 
bessern, die  Verirrten  wieder  aufzurichten,  das  ist  ihre  Aufgabe. 
Sie  erkennt  ihre  Fähigkeiten  und  Neigungen  zur  Arbeit,  übt  und 
stärkt  sie.  Jeden  Tag  erkennt  sie  deutlicher,  dass  für  ein  Ziel  zu 
leben  und  sich  mühsam  in  der  Richtung  dieses  ersehnten  Zieles 
durchzukämpfen,  die  einzige  wahre  Freude  auf  Erden  ist.  Nun 
ist  sie  glücklich,  wahrhaft  glücklich. 

Doch  das  Glück  ist  nicht  vollkommen.  Der  Gedanke,  die 
Ihrigen  betrübt  zu  haben,  martert  sie. 

«  Ich  könnte  von  früh  bis  spät  selig  sein,  liebe  Mama,  wenn 
ich  hoffen  dürfte.  Dein  Lächeln,  Dein  Verständnis,  Deinen  Segen 
zu  erlangen.  Ich  kann  den  Gedanken  nicht  ertragen.  Dir  Kummer 
bereitet  zu  haben.  Ich  weiss,  dass  Du  mich  liebst,  dass  Du  so 
viel  für  mich  getan  hast  und  alles  für  mich  tun  würdest.  Aber 
Du  ahnst  nicht,  wie  ich  nach  Erfüllung  dürste.  Du  kannst  die 
Quellen  nicht  sehen,  die  allein  mich  laben  können.  » 

Wenn  ihre  Mutter  nur  verstehen  könnte  !  Aber  sie  kann  es 
nicht.  «  Was  wird  die  Welt  dazu  sagen  ?  »  Was  werden  die  Freunde 
über  Florencens  neues  Leben  denken  ?  Die  Mutter  hat  Angst 
vor  Kritik,  vor  übler  Nachrede.  Für  ihre  Töchter  hat  sie  das 
warme,  weiche,  behagliche  Nest  einer  neuen  Familie  ersehnt.  Ja, 

33 


sie  gibt  ihre  Hoffnung  nicht  auf,  dass  Florence  auf  ihrem  Lebens- 
weg noch  einem  Manne  begegnen  könnte,  den  sie  imstande  wäre 
zu  Heben  und  der  ihr  Stütze  und  Führer  würde.  Alle  Freundinnen 
von  Florence,  weniger  schön  und  weniger  intelligent  als  sie,  die 
niemals  so  bewundert  wurden,  sind  schon  verheiratet.  Warum 
ihre  Tochter  nicht  ? 

Doch  Florence  denkt  nicht  mehr  an  Liebe.  Für  sich  und  die 
Frauen,  die  ihr  folgen  werden,  fordert  sie  andere  Wege,  die  edel 
genug,  doch  weniger  leicht  und  bequem  sind.  Wege,  die  den 
jungen  Mädchen  gestatten  sollen,  einer  Lebenslinie  treu  zu  bleiben, 
die  jener  anderen  überlegen  ist,  welche  eine  unvollkommene 
Liebe  gewährt. 

Mit  ihren  von  schwerer  Krankheit  genesenden  Pflegekindern 
macht  sie  lange  Spaziergänge  am  Rheinufer.  Der  breite  Strom 
fliesst  langsam  und  ruhig  dem  Meere  zu.  Sicher  und  majestätisch 
strömt  er  dahin,  wie  die  Gedanken  einer  höheren  Menschheit, 
welche  die  Grenzen  ihres  Horizonts  weitete,  indem  sie  das 
schwerste  Hindernis,  den  Egoismus,  überwand  und  ruhig,  aber 
unüberwindlich  dem  Frieden  Gottes  zustrebt. 

Der  Sommer  geht  zu  Ende  —  für  die  Mutter  und  Parthenope 
die  Kur  in  Karlsbad,  für  Florence  das  Paradies  von  Kaiserswerth. 

«  Was  wird  die  Welt  über  den  Aufenthalt  Fräulein  Nightingale's 
unter  Krankenschwestern  und  Patienten  sagen  ?  Es  ist  besser, 
dass  niemand  davon  erfährt.  Wer  weiss,  ob  nicht  Florence  selbst, 
da  sie  auf  die  Probe  gestellt  wurde,  dieses  entsetzliche,  eintönige 
Leben  quälend  findet,  weder  im  Einklang  mit  ihren  Gewohn- 
heiten,  noch  ihrer  gesellschaftlichen  Stellung  entsprechend  ?...  » 

Die  Mutter  und  Parthenope  hoffen  das  von  ganzem  Herzen, 
während  die  Postkutsche  sie  immer  näher  zur  Nordsee  führt. 

Sie  finden  eine  ruhige,  heitere  Florence,  die  sehr  wenig  von 
ihrem  Aufenthalt  in  Kaiserswerth  berichtet.  Gewiss  hat  sich 
Florence  die  Sache  überlegt !  Sie  ist  endlich  zur  Vernunft  ge- 
kommen, gibt  sich  darüber  Rechenschaft,  dass  das  Leben  der 
Krankenpflegerin  für  ein  empfindliches  und  verwöhntes  Mädchen 

34 


ungeeignet  ist ;  dass  gewisse  Berührungspunkte  mit  einer  ihr 
fremden  Welt  unerträglich  wären... 

Florence  widerspricht  nicht.  Erwiderungen,  blosse  Worte 
scheinen  ihr  jetzt  unnütz,  und  sie  weiss  aus  Erfahrung,  dass 
Worte  nicht  überzeugen. 

Es  braucht  Tatsachen.  Und  dann,  wozu  ohne  Notwendigkeit 
die  Harmonie  der  Familie  stören  ?  Der  Vater  ist  krank  und  hat 
ihre  Pflege  nötig.  Sie  kann  warten,  nun,  da  sie  den  sicheren  Weg 
gefunden  hat.  So  wartet  sie  denn,  umsomehr,  als  sie  fähig  ist, 
mit  aller  Liebe  und  den  erworbenen  Kenntnissen  ihrem  Vater 
Erleichterung  zu  schaffen,  sie  kann  auch  schreiben... 

Schreiben  ?  Florence  hat  mit  einer  Art  Abscheu  die  Ver- 
suchung von  sich  gewiesen,  literarisch  zu  arbeiten.  Schreiben, 
gewiss.  Aber  nur  nichts  Literarisches. 


Gedanken  über  Religion 

«  Guten  Morgen,  Fräulein  !  » 

Die  Buchhändlerin  von  St.  John  empfängt  die  anmutige 
Unbekannte  stets  mit  einem  Ausruf  der  Freude.  Die  junge  Dame 
erkundigt  sich  mit  soviel  Interesse  nach  ihrer  Arbeit,  ihren  per- 
sönlichen Angelegenheiten  und  nach  ihren  Kunden.  Eine  seltsame 
Frau,  diese  Bibliothekarin  von  St.  John  und  ganz  verschieden 
von  anderen  Berufsgenossinnen.  Ihr  Mann  hält  nicht  das  geringste 
von  der  Obrigkeit  und  ebensowenig  von  hergebrachten  Anschauun- 
gen. Sie  ist  ganz  seiner  Ansicht :  Ihr  Gatte  verachtet  auch  alle 
Schriftsteller,  welche  dem  grossen  Publikum  zu  Gefallen  schreiben. 
Er  liebt  neuen  Gedankenflug,  selbst  wenn  er  revolutionär  ist  und 
auch  hienn  ist  die  Buchhändlerin  mit  ihrem  Manne  einig.  Natür- 
lich gehen  ihre  Geschäfte  nicht  gerade  glänzend  und  die  Besucher 
dieser  Leihbibliothek  sind  von  denen  anderer  Unternehmungen 

35 


wesentlich  verschieden.  Es  sind  fast  lauter  ungewöhnliche  Leute  ; 
Studenten  und  intelligente  Handwerker,  Männer  aus  dem  Volk, 
die  sich  mit  herkömmlichen  Meinungen  und  Anschauungen  nicht 
zufrieden  geben. 

Die  unbekannte  Besucherin,  hochgewachsen  und  vornehm,  mit 
ernsten  Augen,  langen  Wimpern,  einem  fein  gezeichneten  Mund, 
nimmt  im  Laden  neben  der  Besitzerin  Platz,  unterhält  sich  mit 
ihr,  die  sich  von  Zeit  zu  Zeit  erhebt,  um  einen  Kunden  zu 
bedienen.  Sie  kauft  fast  immer  ein  Buch.  —  Sie  will  wissen, 
welche  Bücher  am  besten  gehen,  welche  notwendig  wären,  aber 
noch  nicht  geschrieben  sind  und  nach  welchen  das  Volk  Ver- 
langen hat.  Und  sie  entdeckt  etwas  sehr  Bedeutsames  :  Die 
Arbeiter,  die  am  meisten  denken,  glauben  in  religiöser  Beziehung 
am  wenigsten. 

Auf  diese  Weise  befriedigt  der  Protestantismus,  so  wie  er  ist, 
gerade  die  Besten  nicht  ?  Darum  ist  es  sicherlich  notwendig, 
etwas  für  sie  zu  tun. 

Was  soll  man  aber  tun  ?  Florence  weiss  es  nicht.  Aber  sie 
beginnt,  das  Problem  eifrig  zu  studieren.  In  ihrem  Arbeitszimmer 
reihen  sich  Werke  über  Religion  und  Philosophie  in  musterhafter 
Ordnung  neben  den  medizinischen  Büchern. 

Sie  arbeitet  und  schreibt.  Die  Gedanken  sind  ihr  alle  klar 
und  das  Studium  hilft  sie  entwickeln  und  ausreifen. 

«  Die  vollkommene  Güte  —  Gott  —  will,  dass  der  Mensch, 
durch  eigene  Erfahrungen  befähigt,  unaufhörlich  bemüht  sei,  eine 
höhere  und  bessere  Menschheit  hervorzubringen.  » 

Florence  hat  ihre  Betrachtung  über  die  Religion  vollendet. 
Heisst  das  literarisch  arbeiten  ?  Nein.  Was  Florence  schreibt,  ist 
eine  Art  von  Hilfstätigkeit  für  jene,  die  Kälte,  Hunger  und  Ent- 
behrungen leiden. 

Florence  begibt  sich  auf  einige  Tage  zu  Tante  May,  der 
Schwester  ihres  Vaters.  Sie  verehrt  diese  Tante,  die  so  klug  und 
fein  ist,  mit  ihr  sympathisiert,  ihr  Mut  und  Ruhe  einflösst,  und 

36 


endlich  vollständig  für  sie  Partei  genommen  hat  und  ihr  eine 
unschätzbare  Verbündete  geworden  ist. 

«Tante  May,  liebe  Tante  May,  ich  wollte,  alle  verstünden 
mich  so  wie  Du.  Mama  und  Parthenope  sagen  ja  nichts,  aber  im 
Grunde  ihres  Herzens  halten  sie  mich  für  eine  schlechte  Tochter. 
Ach,  ich  möchte,  sie  fühlten,  wie  lieb  ich  sie  habe.  Wenn  ich 
unentwegt  für  die  Gedanken  lebe,  die  sie  betrüben  und  beun- 
ruhigen, so  ist  es,  weil  ich  diese  Ideen  als  eine  höhere  Pflicht 
betrachte,  die  mich  in  ein  anderes  Leben  drängt,  als  jenes  Dasein, 
das  sie  für  mich  erträumen...  Was  sagt  Mama  zu  Dir,  liebe  Tante 
May  ?  » 

« Die  arme  Mama  !  Nach  und  nach  muss  sie  sich  ja  doch 
überzeugen  lassen.  Es  ist  ja  auch  gar  nicht  so  leicht,  Florence, 
Deine  Mutter  zu  sein  !  Das  musst  auch  Du  begreifen ;  Wir 
Mütter  wünschen  allesamt  für  unsere  Kinder  einen  bequemen, 
blumenübersäten  Lebensweg.  Du  wünschest  Dir  Deinen  Weg 
viel  steiler  und  von  Disteln  und  Domen  eingefasst.  Es  ist  ganz 
natürlich,  dass  Deine  Mutter  Dich  davon  abbringen  will  und 
nur  dann  nachgibt,  wenn  sie  überzeugt  ist,  dass  jeder  weitere 
Widerstand  vergebens  wäre.  Ja,  sie  hat  sogar  gemeint,  dass  Du 
in  einigen  Jahren  ganz  nach  Deiner  Anschauung  leben  könntest, 
so,  als  wärest  Du  verheiratet.  Inzwischen  gibt  sie  Dir  jedes  Jahr 
ein  paar  Monate  zu  freier  Verfügung.  Das  ist  doch  schon  sehr 
viel,  nicht  wahr  ?  Wie  sehr  sie  mit  sich  kämpfen  musste,  um  zu 
diesem  Entschluss  zu  gelangen,  das  weiss  ich  allein.  Nur  um 
ihrer  grossen  Liebe  willen,  die  sie  für  Dich  hegt,  hat  sie  sich  über- 
wunden. Es  ist  ja  auch  schwer  für  Deine  Mutter,  Dich  allein 
in  die  weite  Welt  ziehen  zu  lassen,  da  sie  doch  weiss,  dass  es 
einen  Mann  gibt,  der  überglücklich  wäre.  Dein  Gefährte  zu  sein 
und  für  Dich  leben  zu  dürfen. » 

Florence  hat  die  tiefste  Bewunderung  für  Tante  May.  Wie 
reizend  und  verständnisvoll  sie  ist,  wie  klug  und  tapfer !  Leise 
und  langsam  tut  sie  Schritt  für  Schritt,  ohne  jemand  zu  ver- 
letzen, und  doch  aufrecht  und  unbeugsam.  So  erobert  sie  der 

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Nichte  die  Freiheit  des  Handelns,  nachdem  sie  ihr  längst  Gedan- 
kenfreiheit zugesprochen. 

Von  Tante  May  unterstützt,  kann  Florence  nun  zuversichthch 
dem  Kommenden  entgegensehen  und  sich  darauf  vorbereiten. 
Die  Bücher  über  Medizin  werden  in  ihren  Büchergestellen  immer 
zahlreicher  und  ihr  Wissen  wächst.  Jede  Stunde,  die  vergeht, 
ist  eine  Stunde  der  Vorbereitung. 


Bei  den  «  Barmherzigen  Schwestern »  in  Paris 

Paris,  Stadt  der  Träume,  Stadt  der  Vergnügungen  !  —  Flo- 
rence träumt  jetzt  nur  von  Paris.  Ihre  elegante  Freundin  Maria, 
die  in  der  mondän-intellektuellen  Welt  als  Königin  der  Mode 
bekannt  und  beliebt  ist,  lädt  sie  immer  wieder  ein.  Abbe  de 
Genettes,  eine  höchst  einflussreiche  Pariser  Persönlichkeit,  erwirkt, 
dass  die  « Barmherzigen  Schwestern »  die  junge  Engländerin  in 
ihrem  Kloster  aufnehmen  und  dass  sich  ihr  auch  die  Pforten 
der  Spitäler  auftun,  sowie  auch  die  der  bedeutendsten  Wohl- 
fahrtsanstalten. Tante  May  überredet  die  Familie,  Florence 
gewähren  zu  lassen. 

Alles  ist  geordnet.  Florence  packt  ihre  Koffer. 

Ach,  eine  ganze  Schar  von  Gästen  hat  sich  angesagt.  Wird 
Florence  so  kühn  sein,  Mutter  und  Schwester  die  Aufgabe,  die 
Freunde  zu  empfangen,  allein  zu  überlassen  ?  Die  Mutter  würde 
darüber  verzweifeln  und  Parthenope  ganz  bestimmt  einen  ihrer 
hysterischen  Anfälle  bekommen... 

Florence  verzichtet  auf  die  Reise.  Vater  und  Mutter  schliessen 
sie  tiefbewegt  in  die  Arme  und  die  Ruhe  der  Familie  ist  wieder- 
hergestellt. 

Letzte  Hindernisse,  letzte  Versuchungen.  Nach  mannigfachen 
Beratungen  entwerfen  die  Eltern  und  Parthenope  einen  Plan, 
dessen  Gelingen  alle  zufrieden  stellen  könnte  und  Florence  gestatten 

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würde,  ihren  Neigungen  zu  folgen,  ohne  sich  von  ihrer  Familie 
zu  trennen. 

An  der  Brücke  von  Cromford,  in  der  Nachbarschaft  der  Villa 
von  Lea  Hurst,  steht  ein  leeres  Haus.  Man  könnte  darin  ein 
kleines  Krankenhaus  einrichten  und  es  Florence  für  ihre  Armen 
zur  Verfügung  stellen... 

Zu  spät.  Der  Vorschlag,  der  vor  einigen  Jahren  Florencens 
Herz  vor  Freude  hätte  erzittern  lassen,  findet  sie  jetzt  kalt  und 
gleichgültig.  Sie  weiss  jetzt  genau,  welches  Hindernis  für  die 
ernste  Arbeit  das  gesellschaftliche  Leben  bildet,  der  fröhliche 
Empfang  der  zahlreichen  Freunde  in  der  gastfreien  Villa  ihres 
Vaters.  Sie  weiss,  dass  man  nicht  zwei  Herren  dienen  kann.  Ihre 
Leistung  würde  unter  diesen  Verhältnissen  immer  die  einer 
Dilettantin  sein,  die  der  Pflicht  nur  jene  Zeitabschnitte  gönnen 
kann,  welche  ihr  übrig  bleiben.  In  Cromford  wäre  sie  immer 
noch  Miss  Florence  von  Lea  Hurst. 

Nein  !  Jetzt  ersehnt  sie  sich  für  ihre  Arbeit  stärker  als  je  zuvor 
die  gerade,  strenge  Linie  des  berufsmässigen  Schaffens.  Jetzt 
ist  sie  mehr  als  je  entschlossen  das  Leben  der  eleganten  Welt- 
dame endgültig  aufzugeben. 

Zu  spät  ! 

«  Wenn  Du  wüsstest,  wie  es  meinem  Herzen  wohltäte,  würden 
meine  Lieben  mir  einen  Segenswunsch  oder  einen  Gruss  auf 
den  Weg  mitgeben.  Der  Vorschlag  von  Cromford  lässt  mich 
glauben,  dass  sie  geneigt  sind,  es  zu  tun.  Wo  immer  ich  mich 
befinde,  in  Frankreich  oder  in  England,  mein  Herz  ist  bei  Euch...  » 

Noch  einmal  versucht  sie  es  mit  Paris.  Dieses  Mal  fährt  sie 
wirklich.  Sie  kommt  in  der  französischen  Hauptstadt  an  und  lebt 
dort  als  Gast  bei  ihrer  geistreichen  und  entzückenden  Freundin 
Maria,  in  deren  Salon  sich  die  Blüte  der  Pariser  Intelligenz  und 
Eleganz  zu  versammeln  pflegt. 

Des  abends  in  Gesellschaft,  tagsüber  strenge  Arbeit.  Mit 
einem  Passierschein  der  Administration  für  öffentliche  Wohlfahrt 

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versehen,  besucht  Florence  die  Spitäler,  die  Krankenasyle  der 
religiösen  Orden,  die  Wohltätigkeitsanstalten  und  hält  sich  lange 
Zeit  dort  auf.  Sie  studiert  die  Tätigkeitsberichte,  aufklärende 
Broschüren,  Statuten  jeder  Art,  macht  genaue  Aufzeichnungen 
über  dieselben,  vergleicht  sie  mit  den  Resultaten  ihrer  täglichen 
Erfahrungen.  Täglich  sieht  sie  in  Kliniken  und  Operationssälen 
die  berühmtesten  Ärzte  und  Chirurgen  von  Paris  am  Werk.  Sie 
beobachtet,  notiert.  Dann,  als  sie  alles  gesehen  und  soviel  gelernt 
hat,  als  es  ihr  als  Aussenstehende  möglich  war,  begibt  sie  sich 
zur  Äbtissin  der  «  Barmherzigen  Schwestern  ». 

Sie  ist  so  demutvoll  und  glühend  vor  tiefer  Begeisterung, 
dass  ihr  die  ehrwürdige  Mutter  mit  tausend  Freuden  das  Kloster 
auftut,  wo  man  um  Gotteslohn  schafft. 

Für  Florencens  Eintritt  bei  den  Schwestern  wird  alles  verein- 
bart. Vereinbart...  doch  da  wird  sie  plötzlich  nach  England  zurück- 
berufen. Die  hochbetagte  Grossmutter  ist  schwer  erkrankt  und 
liegt  im  Sterben. 

Florence  verlässt  Paris  in  grösster  Hast.  Sie  ist  wieder  in 
England,  bei  ihrer  Familie.  Hart  sind  die  Hindemisse,  doch 
härter  noch  ist  der  Wille,  sie  zu  überwinden. 


Heim  für  kranke  Gouvernanten 

Ein  neuer  Vorschlag :  in  London  hat  sich  ein  Komitee  von 
frommen  und  vornehmen  Damen  gebildet,  um  ein  Heim  für  alte 
kranke  Erzieherinnen  zu  gründen.  Das  Komitee  besteht  aus  der 
Präsidentin,  der  Vizepräsidentin,  der  Schriftführerin,  der  Schatz- 
meisterin, der  Wirtschaftsberaterin  und  den  Vorstandsmitgliedern. 
Alle  diese  Damen  sind  versammelt  und  besprechen  die  Tages- 
ordnung. Es  handelt  sich  um  die  Wahl  der  Leiterin  des  Heimes. 
Ein  Komiteemitglied  nennt  den  Namen  von  Florence  Nightingale. 

«  Fräulein  Nightingale  ?  Ach,  die  ist  viel  zu  jung,  ich  wünsche 
eine  reifere  Frau.  » 

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«  Aber  ich  kenne  sie  sehr  gut.  Sie  hat  einen  gesunden  Menschen- 
verstand und  viel  Energie.  » 

«  Wird  sie  am  Ende  alles  nur  nach  ihrem  Kopf  gestalten  wollen  ? 
Ob  die  Eltern  es  ihr  überhaupt  erlauben  ?  » 

«  Was  die  Eltern  betrifft,  so  kann  man  ja  immerhin  den  Ver- 
such machen.  Wegen  der  Besorgnis  um  die  Kompetenzfrage 
haben  wir  ja  den  Beirat  zur  Überwachung  der  Wirtschaftsführung 
geschaffen.  Überdies  sind  Statuten  und  eine  Hausordnung  vor- 
handen. » 

«  Ich  glaube  wohl,  dass  das  Fräulein  geeignet  wäre.  Dazu 
kommt  noch,  dass  das  Heim  mit  ihrer  Wahl  eine  grosse  Ersparnis 
verzeichnen  könnte,  weil  sie  gewiss  kein  Honorar  für  ihre  Arbeit 
annehmen  wird.  Ja  ich  meine  sogar,  dass  sie  ihren  Beitrag  zu  den 
Ausgaben  spenden  würde.  » 

Aus  allen  diesen  guten  und  stichhaltigen  Gründen  bieten  die 
Damen  des  Komitees  Fräulem  Nightmgale  die  Leitung  des 
Gouvemantenheimes  an. 

Komitee  ?  Florence  verabscheut  Komitees.  Sie  verabscheut 
die  Liste  « freiwilliger »  Spenden  mit  den  grossen  oder  gross- 
sprecherischen  Namen  und  Titeln,  verabscheut  die  Aufsicht  einer 
Präsidentin,  einer  Schriftführerin,  einer  Wirtschaftsberaterin,  die 
nicht  wissen,  was  Arbeit  heisst  und  die  einzig  nur  deshalb  die 
Ehrenstellen  innehaben,  weil  sie  der  vornehmen  Gesellschaft 
angehören. 

Aber  das  wichtigste  ist,  endlich  ans  Werk  zu  gehen.  Wenn 
sich  Arbeit  bietet,  haben  wir  das  Recht  uns  die  sophistische  Frage 
zu  gestatten,  ob  es  auch  wirklich  die  Arbeit  ist,  die  wir  uns  ge- 
wünscht haben  und  ob  die  sie  begleitenden  Umstände  auch  die 
von  uns  gewollten  sind  ?  ! 

Florence  entschliesst  sich  also,  guten  Mutes  die  Damen  und 
Herren  des  Komitees  zu  nehmen,  wie  sie  sind.  Die  Eltern  und 
Parthenope  entschliessen  sich  ihrerseits,  sich  damit  zufrieden- 
zugeben, in  der  Annahme,  dass  dieses  Krankenhaus  «  sui  generis  » 
keine  widerlichen  und  bösen   Krankheiten  beherbergen  würde. 

41 


Ebensowenig  würden  darin  Operationen  nötig  sein,  die  Anstoss 
erregen  könnten  und  auch  keine  Studenten,  die  unter  dem  schüt- 
zenden Mantel  der  « Praxis  »  den  Krankenpflegerinnen  den  Hof 
machen. 

So  wird  Florence  zur  Direktorin  des  Kranken-  und  Erholungs- 
heimes für  Gouvernanten  ernannt. 

Doch  vorher  wünscht  sie  nach  Paris  zurückzukehren,  um  ihre 
Studien  zu  vollenden. 

Sie  reist  auch  wirklich  ab.  Nun  beginnen  die  Besuche  in  den 
Spitälern  von  neuem  und  sie  ist  stets  inmitten  von  Kranken- 
schwestern, Ärzten  und  Chirurgen.  Stösse  von  Statuten,  Berichten 
und  Statistiken  beschäftigen  sie.  Einen  Monat  dauert  der  Aufent- 
halt. Dann... 

Ist  denn  alles  gegen  sie  verschworen  ?  Masern  in  ihrem 
Alter  ?  !  Wie  irgend  ein  törichtes  kleines  Mädel  plötzlich  im 
Kloster  zu  erkranken  !  Sollten  die  recht  behalten,  die  ihr  alle 
ihre  Pläne  ausreden  wollen  ?  Muss  sie  mit  ihrer  unzeitgemässen 
Erkrankung  gerade  die  armen  Schwestern  plagen,  ihre  liebens- 
würdigen Pariser  Freunde,  die  sie  während  ihrer  langsam  fort- 
schreitenden Rekonvaleszenz  so  liebevoll  in  ihrem  Hause  auf- 
nehmen ?  Muss  sie  noch  immer  die  Fieberglut  fühlen,  da  sie 
so  dringend  ihre  volle  Gesundheit  nötig  hätte,  kräftig  sein  und 
sich  kräftig  zeigen  sollte  ! 

Die  Masern  !  Zu  einem  andern  Zeitpunkt  wären  sie  lächerlich 
genug  gewesen,  jetzt  sind  sie  aufreizend,  unerträglich.  Am  Ende 
eine  Mahnung... 

Kaum  kehren  ihr  die  Kräfte  wieder,  so  begibt  sich  Florence 
auf  ihren  Posten. 


Das  «  Heim  für  kranke  Gouvernanten »,  das  Florence  zu  leiten 
hat,  wird  von  einem  Aufsichtsrat,  von  einem  Damenkomitee  und 
von  einem  Herrenkomitee  überwacht.  Zuviel  der  Ehren  ! 

42 


In  dem  Gebäude,  welches  die  «  kranken  Damen  »  —  englisch 
« sick  gentlewomen »  —  aufnehmen  soll,  gibt  es  weder  Betten, 
noch  Sessel,  noch  Tische.  Es  ist  überhaupt  noch  gar  nichts  vor- 
handen und  in  zehn  Tagen  sollen  die  Damen  eintreffen.  Es  ist 
notwendig,  alles  herbeizuschaffen. 

Eine  ganze  Schar  von  Tischlern,  Schlossern,  Maurern,  Malern 
und  Tapezierern  sind  an  der  Arbeit.  Es  heisst  in  die  Stadt  eilen, 
um  Stühle,  Lehnsessel,  Kommoden,  Bettdecken,  Leintücher 
einzukaufen.  Endlose  Debatten  mit  der  Wirtschaftsberaterin,  die 
bei  allem  und  jedem  sparen  will. 

« Die  Betten  sind  schon  da !  Wo  sollen  wir  sie  abladen, 
Fräulein  ?  » 

«  In  den  zwei  Zimmern,  wo  die  Maler  gerade  den  letzten 
Anstrich  gemacht  haben.  So,  nur  alles  in  die  beiden  Zimmer ! » 

Wo  sind  die  Decken  ?  Die  Schränke  sind  auch  noch  nicht 
zusammengestellt.  In  der  Garderobe  ist  Platz  für  alles.  Florence 
lässt  ein  Leintuch  auf  den  Boden  breiten,  darauf  werden  die 
Decken  geschichtet  und  zuoberst  wieder  ein  schützendes  Tuch. 

«  Fräulein,  auf  dem  Fussboden  des  Zimmers  Nummer  4  haben 
die  Arbeiter  ein  Brett  zu  legen  vergessen.  Soll  man  den  Bau- 
meister rufen  lassen  ?  » 

«  Bitte,  Fräulein,  die  Fensterläden  sind  schon  trocken,  wollen 
Sie  nicht  nachsehen  kommen,  ob  sie  so  richtig  sind  ?  » 

Florence  kommt  und  geht,  inspiziert  alles,  stimmt  zu  oder 
schlägt  Änderungen  vor.  Inmitten  dieses  wahren  Chaos  ist  sie 
geschäftig  und  heiter.  Lächelnd  erscheint  eine  Dame  in  all  dieser 
Verwirrung.  Es  ist  die  Schriftführerin.  Höchst  elegant  in  graue 
Seide  gekleidet,  mit  einem  grauen  Hütchen,  das  ihr  frisches 
rosiges  Gesicht  entzückend  einrahmt  und  zwei  grossen  Brillant- 
boutons  in  den  zarten  Ohrläppchen. 

«  Wie  steht  es  mit  der  Arbeit  ?  Sind  wir  noch  sehr  im  Rück- 
stand ?  Ich  habe  wirklich  Angst !  » 

Florence  muss  mit  freundlichem  Lächeln  die  Tischler  sich 
selbst  überlassen,  die  noch  nicht  begriffen  haben,  wie  der  grösste 

43 


Schrank  zusammenzufügen  ist.  Sie  muss  der  liebenswürdigen 
Besucherin  die  Honneurs  machen  und  glücklicherweise  zeigt  sich 
diese  von  allem  befriedigt,  ohne  das  geringste  begriffen  zu  haben, 
genau  so  wie  sie  sich  früher  ohne  eine  Ahnung  von  der  Sache  zu 
haben,   unzufrieden  über  Florencens  Verfügungen  äusserte. 

«  Werden  wir  nächsten  Montag  fertig  sein  können  ?  Es  scheint 
wirklich  ganz  unmöglich  !  !  » 

Aber  selbst  das  Unmögliche  wird  für  Florence  möglich,  und 
wie  durch  Zauber  werden  nach  ihren  präzisen  und  sachgemässen 
Befehlen  die  Betten  in  den  Krankensälen  aufgestellt,  daneben 
die  Nachtkästchen.  Die  Leintücher  sind  schon  bereit. 

«  Sind  die  Matratzen  schon  da  ?  » 

«  Noch  nicht. » 

«  Pauline,  nehmen  Sie  einen  Wagen  und  fahren  Sie  ins  Geschäft. 
Sagen  Sie,  man  möge  Ihnen  sofort  die  Matratzen  mitgeben,  die 
fertig  sind.  Es  macht  nichts,  wenn  es  noch  nicht  alle  sind.  Halt, 
die  Tapezierer  müssen  doch  im  Salon  schon  fertig  sein.  Sagen 
Sie  ihnen,  dass  sie  nicht  fortgehen  und  mich  erwarten  sollen. 
Ich  sehe  selbst  nach  den  Matratzen.  » 

Die  Arbeiter  sind  noch  immer  dabei,  die  letzten  Einzelheiten 
zu  vollenden.  Das  Dienstpersonal  kehrt  die  Räume  noch  einmal 
gründlich,  bevor  das  Haus  eröffnet  wird.  Die  Betten  werden 
gemacht.  Auf  den  Nachtkästchen  glänzen  Wasserflasche  und 
Wasserglas  blitzblank.  Alles  atmet  Licht,  blendendes  Weiss  und 
leuchtende  Sauberkeit. 

Die  ersten  kranken  Erzieherinnen  halten  ihren  Einzug  in 
Begleitung  der  Damen  vom  Komitee.  Die  Ordnung  ist  voll- 
kommen und  man  fühlt  die  Disziplin,  die  sie  aufrecht  erhält. 
Ohne  sich  über  die  Gründe  Rechenschaft  zu  geben,  hat  das  Damen- 
komitee ebenso  wie  das  Herrenkomitee  den  Eindruck,  dass  der 
Anfang  sehr  gut  vor  sich  geht. 

«  Aber,  Fräulein,  glauben  Sie  wirklich,  dass  wir  auch  Katho- 
likinnen aufnehmen  müssen  ?  » 

44 


« Gewiss,  gnädige  Frau.  Täten  wir  es  nicht,  so  würde  das 
Heim  einen  konfessionellen  Anstrich  bekommen.  Und  Sie  werden 
doch  nicht  gleich  zu  Beginn  einem  armen  kranken  Wesen  die  Tür 
vor  der  Nase  zuschlagen  wollen,  bloss  weil  es  keine  Protestantin  ist  ?» 

Florence  siegt.  Sie  siegt  immer.  Sie  siegt  bei  den  Damen  und 
Herren  des  Komitees,  den  Krankenpflegerinnen  und  Patientinnen. 
Sie  erlangt  die  Erlaubnis,  die  Diät  der  Kranken  zu  ändern,  sie 
hygienischer  zu  gestalten.  Sie  setzt  es  durch,  dass  die  geheilten 
Schützlinge  das  Heim  verlassen,  um  neuen  Patientinnen  Platz 
zu  machen.  Sie  darf  einen  alten  Pfarrer  mit  der  geistlichen  Beratung 
des  Heimes  betrauen,  statt  den  vom  Aufsichtsrat  in  Vorschlag 
gebrachten  jungen  Geistlichen  zu  wählen. 

Im  Hause  ist  Florence  unermüdlich  und  allgegenwärtig.  Alle 
sehen  sie  überall  auftauchen  und  stets  im  richtigen  Augenblick. 
Vom  Keller  eilt  sie  in  den  Operationssaal,  von  der  Apotheke  in 
die  Garderobe.  In  den  Krankensälen  wacht  sie  über  alle  und 
alles,  tröstet,  beruhigt,  eifert  an.  Sie  ist  bereitwillig  im  Lob, 
zögert  aber  nicht  mit  Tadel,  wo  er  nötig  erscheint  und  zeigt 
sich  dann  sehr  streng.  Sie  ist  bereit,  die  bescheidensten  Dienste 
auszuführen,  aber  auch  die  ernsteste  und  schwerste  Verant- 
wortung auf  sich  zu  nehmen.  Was  andere  nicht  tun  wollen  oder 
können,  das  macht  das  Fräulein.  Ihr  Eifer  steckt  an,  ihre  Energie 
weckt  die  noch  schlummernden  Kräfte  und  Fähigkeiten  ihrer 
Mitarbeiter.  Eine  Atmosphäre  des  Vertrauens,  des  Wohlbefindens, 
der  Heiterkeit  verbreitet  sich  in  ihrer  ganzen  Umgebung.  Die 
Kranken  fühlen  sich  sicher  und  beschützt,  die  Untergebenen 
richtig  geleitet  von  einer  Vorgesetzten,  die  es  versteht,  ihre  Ver- 
dienste anzuerkennen  und  die  geringste  Nachlässigkeit  zu  ent- 
decken. Wenn  die  Patientinnen  mit  Bedauern  das  Haus  verlassen, 
nehmen  sie  eine  schöne  Erinnerung  mit  sich.  Sie  haben  sich 
auf  einer  Insel  des  Friedens  aufgehalten  und  kehren  oft  in  Ge- 
danken dahin  zurück,  schreiben  in  unwandelbarer  Dankbarkeit 
Briefe  an  die  Frau,  welche  die  Seele  dieser  Insel  ist  und  die  sie 
«  geliebte  Mutter»  nennen  oder  gute,  treue,  einzigartige  Freundin... 

45 


Unsere  Sendung 

Wie  schön  ist  der  Neujahrstag  1854,  schön  und  ernst  für 
Florence. 

« Unsere  Sendung  ist  eine  ungemein  schwierige,  Sie  wissen 
das  ja,  meine  Liebe.  Wenn  sie  auch  hohe  Freuden  mit  sich  bringt, 
so  sind  die  Enttäuschungen  oft  so  gross,  dass  wir  unsere  volle 
Kraft  und  unseren  ganzen  Glauben  nötig  haben...  » 

« Aber  ich  habe  es  nie  bereut  und  keinen  Augenblick  daran 
gedacht,  einen  Blick  zurück  zu  tun.  So  beginne  ich  das  Neue 
Jahr  mit  dem  aufrichtigen  Gefühl,  noch  niemals  einen  so  glück- 
lichen Neujahrstag  erlebt  zu  haben.  » 

Die  Ärzte  und  Komiteedamen,  Gläubige  und  Ungläubige, 
kommen  nicht  aus  dem  Staunen  heraus.  Im  Gouvernanten-Heim 
betrinken  sich  die  Krankenpflegerinnen  nicht,  empfangen  in  den 
Krankensälen  nie  ihre  Freunde  und  stehlen  nicht.  Die  ärztlichen 
Vorschriften  werden  pünktlich  und  mit  unverkennbarer  Intelligenz 
durchgeführt.  Während  der  Visite  erklärt  die  Oberschwester,  die 
den  Arzt  auf  seinem  Rundgang  begleitet,  den  Zustand  der  Pati- 
entinnen und  was  seit  dem  letzten  Arztbesuch  an  ihnen  beobachtet 
worden  ist,  mit  solcher  Klarheit,  dass  der  Oberarzt  eine  wert- 
volle Stütze  in  ihr  erkennt.  Er  fühlt,  dass  eine  Pflegeschwester 
wie  Fräulein  Nightingale  eine  unschätzbare  Mitarbeiterin  ist. 
Er  wünschte,  in  jedem  Krankenhaus  eine  solche  Frau  vorzufinden... 
Warum  sollte  Fräulein  Nightingale  keine  Pflegerinnenschule  grün- 
den ?  Welche  Voraussetzung  für  die  Volksgesundheit  wären 
Frauen,  die  imstande  sind,  Spitäler  derart  zu  leiten.  Kranke  auf 
solche  Weise   zu  pflegen  ! 

Monate  vergehen.  Ein  Missionar  schreibt  an  Florence  aus 
Paris  und  bittet  sie,  ihm  zwei  Krankenschwestern  zur  Verfügung 

46 


zu  stellen,  die  ihr  in  Wesen  und  Bildung  entsprächen.  Beim  besten 
Willen  kann  sie  seinen  Wunsch  nicht  erfüllen  :  es  gibt  keine  solchen 
Pflegerinnen. 


Eine  kurze  Ruhe-  und  Erholungspause.  Nach  einem  vollen 
Arbeitsjahr  fühlt  Florence,  dass  sie  ein  wenig  ausruhen  muss. 
Sie  hat  das  Recht  darauf  und  geniesst  den  Urlaub.  Die  Villa 
mit  ihren  Wiesen  und  Wäldern  ist  so  ganz  anders,  voll  Heiterkeit 
und  Helligkeit  !  Ein  starkes  Gefühl  der  Freude  überkommt  sie, 
tiefer  Frieden  erfüllt  die  Natur  und  ihr  Herz... 

Wieder  eine  Unterbrechung.  Eine  Cholera-Epidemie,  die  in 
London  ausgebrochen  ist,  fordert  die  Dienste  der  besten  Pflege- 
schwester in  England.  Sie  bleibt  nicht  im  eigenen  sauberen 
Krankenhaus  bei  ihren  aristokratischen  Patientinnen,  die  alle 
aus  vornehmen  Häusern  kommen.  Sie  begibt  sich  in  die  Frauen- 
Abteilung  eines  Cholera-Spitals,  wo  unaufhörlich,  Tag  und  Nacht, 
aus  den  am  dichtesten  bevölkerten,  schmutzigsten  Elendsvierteln 
die  armen,  verwahrlosten,  von  der  Seuche  befallenen  Frauen 
eingeliefert  werden.  Tag  und  Nacht  nimmt  Florence  zu  Hunderten 
die  Frauen  auf,  hilft  sie  entkleiden,  betten  und  pflegen. 

Die  Epidemie  flaut  ab,  verschwindet,  wie  sie  gekommen.  Und 
Florence  kehrt  zu  ihren  Gouvernanten  zurück. 

Im  Spital  des  Königlichen  Kollegiums,  das  neu  erbaut  und 
eingerichtet  ist,  braucht  man  eine  Oberschwester. 

Neue  Horizonte  öffnen  sich  für  Florence. 

Jetzt  ist  vielleicht  der  so  erwünschte  Augenblick  gekommen, 
da  sie  eine  wirkliche  und  praktische  Schule  gründen  könnte  ? 
Vermöchte  sie  endlich  zum  Wohle  der  Menschheit  das  Niveau 
der  gesamten  Krankenhilfe  und  Krankenpflege  zu  heben,  diese 
den  Händen  der  niedrigen  und  entwürdigten  Klassen  zu  ent- 
ziehen, welche  ihnen  die  Kennzeichen  der  Trunksucht  und  des 

47 


Lasters  aufgeprägt  haben.  Es  würde  darauf  ankommen,  die  Töchter 
der  Bauern  heranzuziehen,  um  aus  ihnen  tüchtige  Krankenpflegerin- 
nen zu  machen,  die  an  Leib  und  Seele  gesund  sind  und  die  in  das 
heiHge  Bereich  der  Leiden  die  kraftvolle  Reinheit  von  Menschen- 
kindern tragen  würden  ;  die  unter  Bäumen  und  inmitten  von 
Feldern  aufgewachsen  waren,  weit  entfernt  vom  Pesthauch  der 
Städte,  weit  entfernt  von  hoffnungsloser  Sittenverderbnis. 


Unten  in  der  Krim 

«  Da  ist  die  Zeitung,  Fräulein  !  » 

Florence  nimmt  die  «  Times »  und  entfaltet  sie  ungeduldig. 
Noch  nie  hat  sie  die  Zeitung  mit  so  viel  Beklommenheit  durch- 
blättert. Es  gab  freilich  kaum  eine  englische  Frau,  die  ohne 
Besorgnis  diese  Seiten  aufgeschlagen  hätte,  auf  denen  die  Nach- 
richten von  den  fernen  Kämpfen  verzeichnet  stehen...  Unten  in 
der  Krim  wichen  die  englischen  Soldaten  keinen  Zoll  vor  dem 
Feinde,  sie  hielten  das  Panier  des  Vaterlandes  hoch.  So  ist  denn 
auch  das  Herz  der  Frau  mit  ihnen. 

Das  Herz  und  das  Mitleid  —  es  kommen  so  merkwürdige 
Nachrichten  aus  dem  Osten.  Nachrichten  voll  Jammer,  Ver- 
lassenheit und  Mangel  an  Voraussicht. 

In  dem  stillen  Wohnzimmer  des  Heimes  für  erkrankte  Er- 
zieherinnen liest  Florence  die  « Times  ».  Und  da  steht  es  :  «  Es 
ist  noch  nicht  das  schlimmste,  dass  die  Soldaten  vergebens  wochen- 
lang warten  müssen,  ohne  dass  ein  Arzt  ihre  Wunden  untersucht ; 
es  ist  noch  nicht  das  schlimmste,  dass  sie  unter  fürchterlichen 
Qualen  sterben,  von  einem  Ort  zum  andern  auf  primitiven  Fahr- 
zeugen geschleppt,  ohne  dass  sich  jemand  um  sie  kümmert,  ohne 
dass  der  so  sehr  ersehnte  Arzt  bei  seiner  Runde  in  dem  schmutzigen 
Krankensaal  imstande  wäre,  sich  bei  ihrer  menschenunwürdigen 
Lagerstatt  aufzuhalten.  Das  schlimmste  ist :  wenn  sie  im  Lazarett 

48 


mit  der  Erwartung  angekommen  sind,  dass  etwas  zu  ihrer  Pflege 
vorbereitet  wäre,  das  allemötigste  Material,  das  sich  im  primi- 
tivsten Krankenzimmer  eines  Armenspitals  vorfindet,  hier  vollstän- 
dig fehlt  und  dass  die  Verwundeten  nur  deshalb  zugrunde  gehen, 
weil  die  Ärzte  des  englischen  Heeres  nicht  daran  gedacht  haben, 
dass  man  zum  Verbinden  von  Wundjen  Leinen  und  Muli  braucht. 
Die  Franzosen  sind  uns  in  dieser  Hinsicht  weit  überlegen.  Ihre 
sanitäre  Organisation  ist  vortrefflich  und  ihren  zahlreichen  Chi- 
rurgen mangelt  niemals  die  Unterstützung  der  « Barmherzigen 
Schwestern »,  welche  die  Expedition  begleiten.  Diese  frommen 
Frauen  sind  ausgezeichnete  Krankenpflegerinnen.  Will  also  wirklich 
keine  englische  Frau  sich  auf  die  Fahrt  begeben,  um  ihre  leidenden 
Brüder  zu  pflegen,  will  sie  sie  sterben  lassen,  weil  sie  solcher 
Pflege  entbehren  ?  » 

Florence  weiss  wirklich  nicht  mehr,  ob  sie  diese  Worte  in  der 
Zeitung  gelesen  hat  oder  ob  sie  ihrem  Herzen  eingegraben  sind. 
Sie  weiss  nur  das  eine,  dass  sie  nach  Konstantinopel  reisen  wird. 
—  Wie  ?  Wann  ? 

Sie  sammelt  sich,  um  nachzudenken,  sobald  die  Ergriffenheit 
und  der  stürmische  Entschluss  des  ersten  Augenblicks  etwas 
abgeklungen  sind. 

Soll  sie  allein  gehen  ?  Besser  wäre  es  mit  einer  anderen  Pflege  rin 
gemeinsam,  aber  wenn  es  notwendig  ist,  auch  ganz  allein.  Wen 
kann  sie  denn  bitten,  mitzukommen  ? 

Florence  lässt  im  Geiste  die  Gestalten  der  Pflegerinnen  die  sie 
kennt  an  sich  vorüberziehen.  Ein  Name  drängt  sich  ihr  auf,  eine 
Erscheinung:  Joan.  Rasch  entschlossen  schreibt  sie  ein  paar  Zeilen, 
läutet  dem  Diener. 

« Nehmen  Sie  einen  Wagen  und  bringen  Sie  diesen  Brief 
dem  Fräulein,  das  mit  Ihnen  herkommen  soll. » 

Es  ist  die  Stunde  der  Abendvisite.  Florence  begleitet  den 
Arzt  wie  gewöhnlich,  berichtet  ihm  ruhig,  was  während  seiner 
Abwesenheit   im  Krankenhaus  vorgefallen  ist.  Übrigens  ist  jetzt 

49 


nur  eine  einzige  schwerkranke  Patientin  vorhanden.  Die  anderen 
Kranken  fühlen  sich  recht  wohl  und  die  Visite  geht  rasch  vor 
sich.  Kaum  hat  sich  der  Arzt  verabschiedet,  kommt  auch  schon 
der  Diener  zu  Florence. 

«  Das  Fräulein  ist  schon  da.  Sie  wartet  im  Vorsaal.  Aber  oben 
im  Salon  ist  Lady  Mary  Forester.  Ich  habe  ihr  gesagt,  dass  Sie 
mit  dem  Herrn  Primarius  in  den  Krankenzimmern  sind.  Sie 
meinte,  ich  sollte  Sie  ja  nicht  stören,  denn  sie  könne  schon  warten.  » 

Lady  Mary  Forester  !  Florence  kennt  sie  kaum.  Im  Geiste 
sieht  sie  blitzhaft  die  hochgewachsene  elegante  Gestalt  vor  sich, 
die  hellblonden  Haare,  die  feinen,  regelmässigen  Züge,  das 
lächelnde  Antlitz  der  schönen  und  gefeierten  Frau. 

«  Sie  haben  mich  gerufen,  Fräulein  ?  » 

«  Ja,  liebe  Joan.  Ich  kenne  Ihren  Ernst  und  Ihren  Mut  genau. 
Darum  mache  ich  Ihnen  einen  Vorschlag.  Man  braucht  tüchtige 
Krankenpflegerinnen  für  unsere  Soldaten  unten  in  der  Krim. 
Sie  sterben,  ohne  dass  jemand  ihre  Qualen  hndert.  Wenn  ich  die 
Erlaubnis  bekomme,  zu  reisen,  möchten  Sie  mich  begleiten  ? 
Überlegen  Sie  sich  das  bis  morgen.  Die  Sache  ist  höchst  dringend.  » 

«  Ich  brauche  nichts  zu  überlegen,  Fräulein.  Ich  entscheide 
mich  sofort.  Wenn  Sie  mich  haben  wollen,  komme  ich  mit.  Umso 
eher,  als  ich  ja  keine  Familienpflichten  habe.  Sie  wissen  ja,  da 
unten  steht  der  jüngere  Sohn  meiner  Schwester,  mein  Patenkind. 
Sagen  Sie  mir  nur,  was  ich  zu  tun  habe.  » 

Da  erinnert  sich  Florence,  dass  Lady  Mary  oben  noch  immer 
wartet. 

«  Bleiben  Sie  hier,  Joan.  Ich  komme  gleich  zurück.  Ich  weiss 
ja  selbst  noch  nicht,  was  wir  tun  müssen.  Sie  sind  ja  jetzt  frei, 
nicht  wahr  ?  » 

« Glücklicherweise  bin  ich  frei  !  Meine  letzte  Patientin  hat 
mich  gestern  verabschiedet.  Anfragen  habe  ich  ja  genug,  aber 
ich  habe  mich  noch  nirgends  verpflichtet.  » 

Im  Salon  geht  Lady  Mary  auf  und  ab,  sie  scheint  etwas  nervös 
und  erregt. 

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«  Fräulein  Nightingale,  haben  Sie  die  « Times  »  gelesen  ?  » 

«  Ja,  Lady  Mary.  » 

« Dann  wissen  Sie,  warum  ich  gekommen  bin.  Ich  würde 
sofort  abreisen,  wenn  ich  wüsste,  dass  ich  von  irgendwelchem 
Nutzen  sein  könnte.  Aber  ich  weiss,  dass  ich's  nicht  bin.  Ich 
tauge  zu  nichts.  Sie  aber... 

«  Ich  reise,  Lady  Mary  ! »  Die  Stimme  von  Florence  klingt 
ruhig  und  sicher. 

« Sie  reisen  ?  Haben  Sie  sich  schon  entschlossen  ?  Wann 
reisen  Sie  ?  Mit  wem  ?  Wohin  ?  » 

«  Ich  weiss  noch  gar  nichts,  Lady  Mary.  Nur  eines,  dass  ich 
reise.  Wenn  Sie  mir  helfen  wollen,  tun  Sie  es  !  Ich  nehme  eine 
Krankenpflegerin  mit,  deren  Kosten  ich  bestreiten  werde.  » 

«  Ich  kann  noch  weitere  zwei  Krankenpflegerinnen  aus  meinen 
Mitteln  bestreiten.  Sind  200  Pfund  Sterling  genug  ?  Sagen  Sie 
mir,  wieviel  Sie  brauchen.  » 

«  Ich  glaube,  der  Betrag  wird  ausreichen.  Genau  kann  ich 
es  nicht  sagen.  Aber  es  ist  ein  Erlaubnisschein  der  Sanitären 
Verwaltung  nötig.  Wer  ist  der  Chef  des  Sanitätsdepartements  für 
das  Heer  ?  » 

Florence  hat  rasch  ihre  Pläne  organisiert.  Lady  Mary  ist  ihr 
bei  deren  Ausführung  behilflich.  Die  Abreise,  die  schon  beschlos- 
sene Sache  war,  ist  in  wenigen  Tagen  möglich  geworden.  Sie 
schreibt  an  ihre  alte  Bekannte  und  liebe  Freundin,  Lady  Elisa- 
beth Herbert,  Gemahlin  des  Staatssekretärs  im  Kriegsministerium  : 

«  Liebste  ! 

Heute  früh  kam  ich  zu  Ihnen  und  hoffte  Sie  oder  Ihren  Gemahl 
anzutreffen.  Leider  war  niemand  zu  Hause. 

Wir  haben  eine  kleine  Expedition  von  Krankenpflegerinnen 
nach  Skutari  organisiert  und  man  hat  mich  ersucht,  die  Leitung 
zu  übernehmen. 

Für  meine  Verpflegung  und  die  einer  weiteren  Kranken- 
pflegerin sorge  ich  selbst.   Lady  Mary  Forester  hat  200  Pfund 

51 


Sterling  gespendet,  um  noch  drei  Krankenpflegerinnen  mitnehmen 
zu  können.  Wir  werden  für  die  Spesen  von  Wohnung  und  Ver- 
pflegung aufkommen  und  der  Regierung  keine  Ausgaben  machen. 

Doktor  Andrew  Smith  vom  Sanitätsdepartement  des  Heeres, 
mit  dem  ich  gesprochen  habe,  hat  mir  die  Erlaubnis  zur  Abreise 
erteilt  und  gibt  uns  einen  Empfehlungsbrief  an  den  Chefarzt 
von  Skutari  mit. 

Ich  will  nicht  alles  glauben,  was  in  den  «  Times  »  steht,  aber 
ich  bin  überzeugt,  dass  wir  etwas  Gutes  für  unsere  armen  ver- 
wundeten Jungens  tun  können. 

Nun  zu  dem  Geschäftlichen : 

1.  Wenn  die  Damen  vom  Komitee  nicht  begreifen  wollen, 
dass  die  Sache  eine  Pflicht  ist,  und  mir  ihr  Einverständnis  ver- 
weigern —  eine  gewöhnliche  Zustimmung  genügt  mir  nicht  — 
kann  ich  meinem  Ehrbegriff  gemäss  meine  Verpflichtung  nicht 
willkürlich  lösen.  Ich  schreibe  an  Sie,  um  dies  den  Damen 
begreiflich  zu  machen. 

2.  Was  denkt  Ihr  Gatte  über  diesen  Plan  ?  Glaubt  er,  dass 
die  Behörden  irgendwie  Schwierigkeiten  machen  werden  ?  Wird 
er  uns  Ratschläge  und  Empfehlungsbriefe  geben  ?  Meint  er,  deiss 
es  nützlich  wäre,  Verbandsmaterial  und  Medikamente  oder  andere 
Erfordernisse  für  die  Lazarette  mitzunehmen  ?  Doktor  Smith 
meint,  es  sei  nichts  dergleichen  nötig. 

Wir  reisen  Dienstag,  wenn  es  möglich  ist,  um  in  Marseille  das 
Schiff  zu  erreichen,  das  am  21.  nach  Konstantinopel  in  See  geht. 
Dort  will  ich  zunächst  meine  Pflegerinnen  zurücklassen,  damit 
ich  das  Sanitätskorps  von  Skutari  mit  dieser  neuen  Methode 
eines  weiblichen  Bombardements  nicht  zu  sehr  erschrecke.  Ich 
will  den  Bosporus  in  Begleitung  eines  Mitgliedes  der  englischen 
Botschaft  überqueren,  die  Beglaubigungsschreiben  überreichen, 
die  uns  Dr.  Smith  ausgestellt  hat,  und  uns  dem  Sanitätskorps 
zur  Verfügung  stellen.  Wenn  Sie  oder  jemand  anderer  vom  Komitee 
an  Lady  Stratford  schreiben  und  ihr  Auskunft  über  mich  geben 
wollten :   « Das   ist   keine   Dame,   sondern  eine   richtige    Spital- 

52 


pflegerin  und  in  ihrer  Arbeit  praktisch  erfahren  !  »  —  Mein  Onkel 
ist  heute  früh  zu  meinen  Eltern  gegangen,  um  ihre  Zustimmung 
ni  bekommen.  —  Wäre  es  ratsam,  dass  ich  um  die  Protektion  des 
Herzogs  von  Newcastle  ersuchte  ? 

Ich  grüsse  Sie,  Liebste,  in  höchster  Eile. 

Stets  die  Ihre, 

Florence  NiGHTINGALE. » 

In  höchster  Eile  —  aber  ohne  das  Geringste  zu  vergessen  ! 
Florence  hat  tatsächlich  an  alles  gedacht,  für  sich  und  ihre  Kranken- 
pflegerinnen. 

Und  jetzt  heisst  es  warten.  Warten  auf  die  Antwort  von  Lady 
Herbert,  die  ihr  die  Erlaubnis  des  Komitees  vom  Heim  für  Gou- 
vernanten bringen  soll,  sowie  auf  den  Bericht  ihres  Onkels,  den 
sie  die  Zustimmung  ihrer  Eltern  zu  erwirken,  gebeten  hat.  Und 
warten  endlich  auf  die  Lösung  der  vielen  Formalitäten,  deren 
Überwindung  schliesslich  über  Erfolg  oder  Misserfolg  ihres  Unter- 
nehmens bestimmen  wird. 


Ein  Brief  von  Sidney  Herbert 

In  den  Krankensälen  geht  inzwischen  das  Leben  unverändert 
weiter.  Florence  assistiert  bei  der  Operation  der  kleinen  blonden 
Gouvernante  und  hilft  mit,  sie  nach  vollzogenem  Eingriff  in  das 
vorgewärmte  Bett  zu  legen.  Sie  spricht  der  dicken  alten  Kinder- 
frau, die  vor  dem  Tode  Angst  hat,  neuen  Mut  zu. 

Sie  beschafft  neue  Vorräte  für  die  Küche,  gibt  dem  behan- 
delnden Arzt  Auskunft  und  den  Krankenpflegerinnen  ihre  Auf- 
träge. Niemand  merkt,  dass  « das  Fräulein »  an  etwas  anderes 
denkt.  Aber  sie  weiss  es  und  fühlt  es,  besonders,  als  ein  Brief 
von  Sidney  Herbert  eintrifft,  nur  wenige  Stunden  nachdem  ihr 
Brief  an  ihn  abgegangen  ist... 

53 


Es  kann  also  keine  Antwort  darauf  sein.  Die  Briefe  haben  sich 
gekreuzt. 

Ein  langer  Brief.  Florence  ist  in  ihrem  Wohnzimmer  allein, 
während  sie  ihn  liest  und  das  Herz  pocht  ihr  dabei  zum  Zerspringen. 

Liebes  Fräulein  Nightingale  ! 

Aus  den  Zeitungen  werden  Sie  entnommen  haben,  dass  in 
den  Lazaretten  von  Skutari  ein  grosser  Mangel  an  Kranken- 
pflegerinnen sich  geltend  macht.  Dem  beklagenswerten  Mangel 
an  Ärzten,  Verbandsstoffen,  Bettwäsche  usw.,  wenn  sie  tatsächlich 
bestanden  haben,  dürfte  schon  früher  abgeholfen  worden  sein, 
weil  die  Anzahl  der  Regimentsärzte,  die  mit  dem  Heer  abgegangen 
sind,  1  :  95,  das  heisst  ein  Regimentsarzt  für  je  95  Mann  beträgt, 
fast  das  doppelte  also,  wie  wir  es  früher  hatten.  Dreissig  Chirurgen 
sind  überdies  vor  drei  Wochen  abgereist,  die  natürlich  schon  in 
Konstantinopel  angelangt  sind.  Weitere  Ärzte  sind  letzten  Dienstag 
abgereist,  und  nächste  Woche  sollen  ihnen  andere  folgen. 

Was  das  Sanitätsmaterial  betrifft,  so  haben  wir  davon  unge- 
heure Quantitäten  abgesandt.  Ganze  Tonnen  Verbandsmaterial, 
15  000  Paar  Bettücher,  Medikamente,  Wein  und  Mehl  im  Ver- 
hältnis zum  Bedarf.  Bedauerlich  ist  nur,  dass  all  diese  so  dringend 
notwendigen  Dinge  nicht  mit  dem  Heer  in  die  Krim  weiterexpediert 
worden  sind,  sondern  immer  noch  im  Hafen  von  Varna  liegen. 
In  vier  Tagereisen  kann  man  vielleicht  das  gesamte  Material  in 
die  Hand  bekommen  und  inzwischen  müssen  eben  neue  Vorräte 
expediert  werden. 

Aber  der  Mangel  an  Krankenpflegerinnen  ist  unleugbar,  weil 
es  nur  Männern  gestattet  wurde,  die  Soldaten  in  den  Militärlaza- 
retten zu  pflegen. 

Es  wäre  unmöglich,  eine  grosse  Anzahl  von  Pflegerinnen  mit 
dem  vorrückenden  Heer  mitzuführen.  Da  aber  in  Skutari  ein 
Spital  vorhanden  ist,  sehe  ich  nicht  ein,  warum  es  Frauen  ver- 
wehrt bleiben  sollte,  in  dieses  einzutreten.  Ich  bin  davon  über- 
zeugt, dass  ihre  Anwesenheit  äusserst  wohltätig  sein  würde,  da 

54 


die  Krankenpfleger  der  Militärspitäler  sehr  roh  und  der  grösste 
Teil  dazu  noch  höchst  unwissend  sind. 

Ich  bekomme  fortwährend  Angebote  von  sehr  vielen  Frauen, 
die  an  den  Kriegsschauplatz  abgehen  wollen,  aber  es  sind  grössten- 
teils solche,  die  keine  blasse  Ahnung  davon  haben,  was  ein  Kriegs- 
lazarett ist  und  wie  das  Leben  in  einem  solchen  aussieht.  Frauen, 
die  im  Ernstfall  völlig  unnütz  wären,  ja  beinahe  mit  Sicherheit 
zur  Last  fallen  würden.  Keine  von  ihnen  dürfte  vermutlich  die 
Notwendigkeit  der  bedingungslosen  Unterwerfung  gegenüber  den 
Disziplinarvorschriften  begreifen,  Disziplin,  die  in  einem  Militär- 
spital erste  Bedingung  ist.  Lady  Mary  Forester,  die  Tochter 
von  Lord  Rhodes,  hat  dem  Chef  des  Sanitäts-Departements, 
Doktor  Smith,  Vorschläge  unterbreitet.  Ich  weiss  nicht  recht, 
ob  sie  selbst  hinunterzureisen  beabsichtigt  oder  Krankenpflege- 
rinnen schicken  will.  Reverend  Hume,  der  frühere  Kaplan  des 
Allgemeinen  Krankenhauses  von  Birmingham,  hat  sich  angeboten, 
mit  seinen  zwei  Töchtern  und  zwölf  Krankenpflegerinnen  als 
Feldkaplan  zum  Heer  zu  gehen.  Er  war  schon  sieben  Jahre  in  der 
Armee  tätig,  hat  Spitalpraxis  und  sein  Brief  ist  das  Schreiben 
eines  ernsten  Mannes.  Ich  glaube  wohl,  dass  diese  beiden  Angebote 
zu  praktischen  Ergebnissen  führen  könnten.  Aber  vermutlich 
ahnt  Herr  Hume  nicht,  wie  schwierig  es  ist,  Krankenpflegerinnen 
ausfindig  zu  machen,  die  zu  etwas  taugen.  Selbst  wenn  Lady 
Mary  Forester  ihrerseits  Anmeldungen  von  wirklichen  Kranken- 
pflegerinnen entgegengenommen  hat,  so  wird  sie  doch  nicht 
fähig  sein,  dieselben  zu  leiten. 

Ich  kenne  nur  eine  Person  in  England.die  imsta  nde  wäre, 
eine  derartige  Expedition  zu  organisieren  und  zu  leiten!  Mehr 
als  einmal  war  ich  im  Begriff,  Sie  zu  bitten,  die  Leitung  zu 
übernehmen,  falls  ein  solcher  Versuch  gemacht  würde. 

Die  Wahl  der  Krankenpflegerinnen  wird  ungeheuer  schwierig 
sein  :  niemand  weiss  das  besser  als  Sie.  Es  ist  an  sich  schon  sehr 
schwer,  Frauen  zu  finden,  die  fähig  sind,  eine  solche  Mission  zu 
übernehmen,  die  ebensoviele  Mühen  als  grauenvolle  Erlebnisse 

55 


mit  sich  bringen  dürfte.  Noch  schwieriger  dürfte  es  sein,  diese 
Frauen  zu  beherrschen,  Ihnen  die  nötige  Disziplin  beizubringen 
und  sie  auch  aufrecht  zu  erhalten.  Nicht  weniger  heikel  ist  es, 
mit  den  Sanitäts-  und  Militärbehörden  zu  verhandeln,  ohne  ihre 
Empfindlichkeiten  zu  verletzen.  Deshalb  wäre  es  so  wichtig,  dass 
die  Expedition  von  jemandem  geleitet  würde,  der,  wie  Sie,  Er- 
fahrung und  administratives  Talent  besitzt.  Viele  enthusiastische 
und  sentimentale  Frauen  würden,  wenn  sie  die  Erlaubnis  erhielten, 
die  Spitäler  von  Skutari  zu  betreten,  nach  wenigen  Tagen  von 
den  Offizieren  an  die  Luft  gesetzt  werden,  weil  diese  sich  in  ihrer 
Arbeit  gestört  und  ihre  Autorität  bedroht  fühlten. 

Meine  Frage  an  Sie  ist  ganz  einfach  die  folgende  :  Wollen  Sie 
die  Expedition  leiten  ?  Natürlich  würden  Sie  unbeschränkte 
Autorität  über  die  Krankenpflegerinnen  erhalten.  Ich  meine  sogar, 
dass  ich  Ihnen  die  volle  Mitarbeit  des  Sanitätskorps  zusichern 
könnte,  und  Sie  würden  von  der  Regierung  alle  Unterlagen  erhal- 
ten, die  Ihnen  zum  Erfolg  notwendig  erscheinen.  Über  diesen 
Punkt  sind  Einzelheiten  für  einen  Brief  zu  weitschweifend,  und 
ich  behalte  mir  diese  vor,  bis  wir  uns  sehen,  denn  ich  bin  mir 
dessen  vollkommen  bewusst :  welche  Entscheidung  Sie  auch 
treffen  sollten,  werden  Sie  mir  doch  jeden  Rat  und  jede  Hilfe 
gewähren  die  Ihnen  möglich  sind. 

Ich  dränge  Sie  in  keiner  Weise.  Nur  Sie  allein  vermögen  zu 
urteilen,  welche  die  dringlichste  und  höchste  Ihrer  Pflichten  ist. 
Aber  ich  will  Ihnen  auch  nicht  verhehlen,  dass  von  Ihrem  Ent- 
schluss  der  Erfolg  oder  das  Scheitern  dieses  Planes  abhängen, 
Ihre  persönlichen  Qualitäten,  die  Spitalpraxis  und  administrative 
Eignung,  die  Sie  besitzen,  nicht  minder  der  Rang  und  die  gesell- 
schaftliche Stellung  Ihrer  Familie  gewähren  Ihnen  für  diese 
Tätigkeit  Vorteile,  die  niemand  anderer  aufweist. 

Wenn  die  Sache  gelingt,  werden  wir  nicht  nur  denen,  die 
unsere  Unterstützung  verdienen,  einen  grossen  Dienst  erweisen, 
sondern  wir  werden  auch  ein  Vorurteil  besiegen,  und  einen  Präze- 
denzfall schaffen,  der  sich  als  dauerhaften  Vorteil  erweisen  wird. 

56 


Ich  will  Sie  im  Hinblick  auf  Ihre  Antwort  nicht  zu  sehr  be- 
einflussen. Ist  sie  ein  « Ja »,  so  bin  ich  überzeugt,  dass  unsere 
Freunde  Bracebridge  Sie  begleiten  werden  und  dass  Ihnen  alle 
Hilfe  zuteil  wird,  die  einzig  und  allein  deren  Gesellschaft  und 
Sympathie  Ihnen  gewähren  kann.  Ich  habe  einen  so  ausführlichen 
und  langen  Brief  geschrieben,  weil  die  Sache  mir  nahegeht.  Meine 
Frau  schreibt  an  Frau  Bracebridge.  Morgen  abend  bin  ich  wieder 
in  der  Stadt.  Kann  ich  zwischen  drei  und  fünf  Uhr  zu  Ihnen 
kommen  ?  Wollen  Sie  mir  diesbezüglich  eine  Karte  ins  Kriegs- 
ministerium schreiben  ? 

Es  ist  da  noch  ein  Punkt,  auf  den  hinzuweisen  ich  vielleicht 
nicht  das  Recht  habe,  aber  ich  weiss,  dass  Sie  es  mir  verzeihen. 
Wenn  Sie  geneigt  wären,  diese  grosse  Mission  zu  übernehmen, 
glauben  Sie,  dass  Herr  und  Frau  Nightingale  ihre  Zustimmung 
erteilen  würden  ?  Die  Arbeit  wäre  so  patriotisch  und  die  Auffor- 
derung einer  Regierung,  welche  die  Nation  repräsentiert,  kommt 
in  einem  so  bedeutungsvollen  Augenblick,  dass  ich  an  ihrer  Ein- 
willigung nicht  zweifle... 

Da  die  Autorisation  ja  unmittelbar  von  der  Regierung  ausgeht, 
würden  Ihnen  alle  Instanzen  höchste  Achtung  entgegenbringen 
in  einer  Arbeit,  wo  die  offizielle  Stellung  soviel  bedeutet.  Sie 
würden  Gegenstand  grösster  Rücksichtnahme  und  aller  Auf- 
merksamkeit sein.  Auch  können  Sie  überzeugt  sein,  dass  Ihre 
Befehle  sowohl  während  der  Überfahrt  als  dort  unten  aufs  voll- 
kommenste befolgt  würden. 

Ich  weiss,  dass  Ihnen  diese  Dinge  gleichgültig  sind,  insoweit 
sie  nicht  ein  Mittel  bedeuten,  um  die  Arbeit  zu  erleichtem.  Aber 
darüber  hinaus,  dass  sie  eine  gewisse  Bedeutung  an  sich  besitzen, 
sind  sie  auch  für  jene  nicht  bedeutungslos,  die  das  Recht  haben, 
sich  um    Ihres   persönlichen  Wohles  willen  Sorgen  zu   machen. 

Ich  weiss,  dass  Ihr  Entschluss  wohlüberlegt  sein  wird.  Gott 
gebe,  dass  er  so  ausfallen  möge,  wie  ich  es  mir  wünsche ! 

Liebes  Fräulein  Nightingale,  ich  verbleibe  in  diesem  Sinn 
stets  der  Ihre,  Sidney  Herbert. 

57 


Im  Wohnzimmer  des  Erzieherinnen-Heimes  hest  Florence 
den  Brief  und  ihr  Herz  pocht,  dass  sie  kaum  atmen  kann.  Der 
Augenblick  für  die  wahre,  grosse  Arbeit  ist  da,  wirkHcher,  gewaltiger, 
als  sie  jemals  geträumt,  mit  der  weiten  Perspektive  unermesslicher 
Wohltat,  mit  einer  Verantwortung  von  so  ungemeiner  Tragweite, 
dass  sie  sich  fast  ängstigt. 

Aber  Florence  kennt  keine  Angst.  Von  klein  auf  hat  sie  gelernt, 
zu  kämpfen.  Sie  hat  auch  gelernt,  die  Menschen  zu  überzeugen 
und  sich  selbst  zu  überwinden.  Ist  die  Aufgabe  ernst,  umso  grösser 
wird  ihr  Wille  sein,  umso  glühender  ihr  Eifer ! 

In  dem  stillen  Gemach  sitzt  eine  Frau  voll  Energie  und  Selbst- 
beherrschung, die  sich  zum  Appell  gemeldet  hat,  noch  ehe  sie 
gerufen  ward.  Vielleicht  war  es  der  Ruf,  der  ehemals  im  Grunde 
ihres  Herzens  vernehmlich  vmrde,  der  sie  hiess,  jenen  Weg  zu 
gehen,  der  den  andern  als  Weg  in  die  Verdammnis  erschienen 
war... 


Acht  Tage  intensiver  Arbeit.  Es  heisst  die  Krankenpflege- 
rinnen auswählen,  für  ihre  Ausrüstung  sorgen,  die  notwendigen 
Abmachungen  mit  dem  Sanitäts-Departement  und  dem  Mini- 
sterium treten,  die  Stellung  der  Pflegerinnen  regeln,  die  Arbeits- 
weise, den  Reiseweg,  die  nötige  Protektion  vorbereiten. 

Zuerst  die  Wahl  der  Pflegerinnen,  schwer  genug  ! 

«  Ich  wünschte,  dass  die  Leute,  die  sich  über  die  von  uns 
getroffene  Wahl  beklagen  wollten,  Kenntnis  davon  hätten,  wie 
die  Frauen  beschaffen  waren,  die  wir  zurückgewiesen  !  Das  waren 
tatsächlich  Frauen,  mit  denen  unterm  gleichen  Dach  zu  leben 
man  sich  geschämt  hätte.  Nur  eine  einzige  unter  ihnen  konnte  einen 
stichhaltigen  Grund  nennen,  um  dessentwillen  sie  die  Reise  mit- 
machen wollte.  Für  die  übrigen  bildete  der  Erwerb  den  einzigen 
Anziehungspunkt.  » 

Nun  sind  die  Krankenpflegerinnen  reisefertig.  Zehn  katho- 
lische  Ordensschwestern,   acht   anglikanische   Schwestern,    sechs 

58 


Lalenschwestem  vom  St.  John's  Hospital  und  vierzehn  von 
anderen  Krankenhäusern. 

Florence  ist  mit  ihnen  tief  bewegt  und  doch  ruhig  und  heiter, 
alle  haben  sich  im  Hause  von  Sidney  Herbert  zusammengefunden. 
Der  Staatssekretär  spricht  zu  ihnen  : 

«  Sie  machen  sich  zu  einer  langen  Reise  und  zu  einer  heiligen 
Pflicht  auf.  Gehören  Sie  auch  verschiedenen  Konfessionen  an,  so 
einigt  Sie  eine  höhere  Religion.  Jeder  Soldat  ist  einzig  um  seiner 
Leiden  willen  Ihr  Bruder  in  Gott.  Wenn  eine  unter  Ihnen  ihrer 
eigenen  Kräfte  nicht  sicher  wäre,  so  ist  es  noch  Zeit  für  sie, 
zurückzutreten.  Diejenige  aber,  die  auf  die  Reise  geht,  muss  sich  da- 
rüber Rechenschaft  ablegen,  dass  sie  sich  voll  und  ganz  der  Sache 
hingibt,  dass  sie  sich  zur  strengsten  Disziplin  und  zum  unbe- 
dingten Gehorsam  gegenüber  der  Oberschwester  verpflichtet, 
dass  sie  sich  Entbehrungen  unterwerfen  und  anstrengende  Arbeit 
leisten  muss.  Taten  der  Barmherzigkeit,  Taten  der  Liebe,  Taten 
des  unbezwinglichen  Mutes  —  das  ist  Ihre  Sendung  !» 

« Bereut  keine  ihren  Entschluss  ?  Bleibt  niemand  zurück  ?  » 

«  Niemand.» 

«  So  reisen  Sie  denn  und  der  Segen  Gottes  sei  mit   Ihnen  !  » 

Die  achtunddreissig  Krankenpflegerinnen  unter  der  Führung 
von  Florence  reisen  ab. 

Es  begeben  sich  auf  diese  lange  Seereise  die  ersten  freiwilligen 
Krankenpflegerinnen,  die  nicht  aus  religiöser  Pflicht,  sondern  aus 
reiner  schwesterlicher  Liebe  über  die  Schranken  jeder  konfessio- 
nellen Bindung  hinweg  sich  entschlossen  haben,  ihr  Leben  denen 
zu  weihen,  die  leiden  und  sterben. 

Florence  leitet  sie.  Sie  hat  drei  Briefe  mit,  die  ihrem  Frauen- 
herzen über  alles  wertvoll  und  teuer  sind.  Einer  der  Briefe  ent- 
hält den  Segen  ihrer  Mutter.  Der  zweite  Brief  ist  von  dem  Pfarrer, 
der  sie  von  jeher  verstanden  und  sie  in  ihren  geheimen  inneren 
Kämpfen  ermutigt  hat.  Den  dritten  Brief  hat  ihr  der  Mann  ge- 
schrieben,  den  sie  nicht  zum  Gefährten  ihres  Lebens  gewählt 

59 


hat  und  der  mit  seinem  grossmütigen  Herzen  doch  stets  ihrer 
gedenkt  und  ihr  in  ernster  Stunde  seinen  Gruss  und  seine  Segens- 
wünsche sendet. 

« Gott  segne  Sie,  liebe  Freundin,  wo  immer  Sie  seien.  >• 


Überfahrt 

Begeisterung  des  Volkes,  des  ganzen  Landes  —  Schwierig- 
keiten bei  der  Ankunft,  Unterkunft  zu  finden.  —  Abmachungen 
mit  Behörden  aller  Art,  Unterredungen  mit  Journalisten,  Konsuln, 
Lieferanten.  Es  gilt  die  Harmonie  unter  den  Krankenpflegerinnen 
zu  sichern  :  es  sind  ja  Frauen,  die  aus  ganz  verschiedenem  Milieu 
stammen.  Ein  grosser  Teil  der  Laienschwestem  hat  die  schlech- 
testen Manieren.  Die  Ordensschwestern  sind  kultivierter,  aber 
alle  sind  etwas  erregt  und  unsicher.  Es  gilt  sie  in  Bezug  auf  Mahl- 
zeiten und  Zuweisung  der  Zimmer  zufriedenzustellen,  sie  so 
zu  behandeln,  dass  weder  die  persönliche  noch  die  allgemeine 
Empfindlichkeit  verletzt  wird.  Es  gibt  wenig  Zeit  zum  Schlaf; 
es  ist  nötig,  immer  Ruhe  zu  bewahren,  zu  lächeln,  sich  optimistisch 
zu  zeigen  und  Mut  einzuflössen. 

Florence  vermag  alle  diese  Bedingungen  zu  erfüllen,  umsomehr, 
als  die  anderen  weniger  dazu  imstande  sind !  Die  mit  ihr  eng  befreun- 
dete Familie  Bracebridge,  die  sie  begleitet  hat,  kann  sie  nur  bewun- 
dem. Die  Pflegerinnen  sind  von  ihrer  Liebenswürdigkeit  und  ihrer 
Begabung  tief  gerührt,  sie  müssen  ihre  Überlegenheit  uneinge- 
schränkt anerkennen. 

«  Niemand  hat  sich  jemals  um  unser  Wohlergehen  bekümmert, 
auf  uns  Rücksicht  genommen,  uns  auf  solche  Art  behandelt. 
Wir  hatten  nie  gedacht,  dass  das  Fräulein  sich  mit  uns  so  einge- 
hend beschäftigen  würde.  » 

Die  verrohten  Laienschwestern  fühlen  in  ihrem  Herzen  neue, 
liebevolle  Empfindungen  sich  regen  und  allmählich  erwacht  tiefe 

60 


Ergebenheit  zu  der  Frau,  die  sie  mit  so  milder  Hand  zu  führen 
weiss. 

Die  finanziellen  Unterstützungen  treffen  ein.  Horence  kann 
nicht  nur  auf  die  von  der  Regierung  bewilligten  Fonds,  sondern 
auch  auf  viele  fortgesetzte  und  reichliche  Spenden  von  Privaten 
rechnen. 

Für  den  Fall,  dass  eine  zweite  Expedition  abgehen  sollte  — 
wenn  weitere  Pflegerinnen  unten  benötigt  würden  —  bieten  sich 
Frauen  aller  Kreise  und  Schichten  an,  und  viele  Damen  beginnen 
die  Krankenhäuser  zu  besuchen,  um  bereit  zu  sein  für  den  Fall, 
dass  man  sie  rufen  sollte. 

Auf  der  Überfahrt  nach  Konstantinopel  überprüft  Florence 
die  Schwierigkeiten,  die  sie  und  ihre  38  Pflegerinnen  schon  bei 
der  Ankunft  erwarten  werden,  sie  macht  sich  zum  voraus  ein 
Bild  von  den  Hindernissen,  die  sie  vorzufinden  fast  sicher  ist. 
Das  Unternehmen  an  sich  ist  ja  gewaltig,  und  noch  gewaltiger 
ist  dessen  Bedeutung  und  Einfluss,  den  es  ausüben  kann,  nicht 
so  sehr  auf  das  Problem  der  Krankenpflege  als  auf  die  künftige 
Erschliessung  neuer  Wege  für  die  Frauen. 

Die  Militärbehörden  werden  sich  sicherlich  feindselig  zeigen. 
Aus  Tradition  und  von  Natur  frauenfeindlich,  fordern  diese 
militärischen  Instanzen  den  blinden  und  nicht  immer  vernunft- 
gemässen  Gehorsam.  Jede  Veränderung  bedeutet  für  sie  etwas 
Unbekanntes,  das  fernzuhalten  ist,  eine  Störung  der  bestehenden 
Ordnung,  die  vermieden  werden  muss.  Besonders  zu  fürchten  und 
geradezu  verheerend  ist  natürlich  der  weibliche  Einfluss... 

Von  einer  noch  tiefer  eingewurzelten  Feindseligkeit  sind  die 
Sanitätsbehörden.  Die  Zulassung  der  Frauen  in  die  Spitäler 
bedeutet  für  sie  nicht  nur  eine  Hemmung  der  Arbeit  und  der 
Disziplin,  sondern  wird  ihnen  auch  als  mögliche  Kontrolle  ihrer 
eigenen  Tätigkeit  erscheinen :  ein  unausgesprochener  Vorwurf 
für  sie,  die  nicht  imstande  gewesen  sind,  allein  fertig  zu  werden. 
Sie  werden  alle  möglichen  und  unmöglichen  Hindemisse  kon- 
struieren, angefangen  mit  dem  Widerspruchsgeist. 

61 


Von  allen  Seiten  also  Misstrauen  ?  Wie  dasselbe  besiegen  ? 

Wäre  es  klug,  sich  der  Vorrechte  zu  bedienen,  welche  den 
Pflegerinnen  in  England  bewilligt  worden  sind  ?  Gilt  es  sich  mit 
Eifer,  Schwung  und  Willenskraft  die  Position  zu  erringen  ?  Sollte 
man  die  Hindemisse  überrennen,  sie  mit  einem  Schlag  niederwerfen  ? 

Nein.  Florence  sieht  die  Gefahren  eines  solchen  Vorgehens 
deutlich.  Es  wird  nötig  sein,  sich  den  Gewohnheiten  anzupassen, 
der  Bürokratie,  der  Langsamkeit,  mit  der  die  Militärbehörden 
arbeiten.  Man  wird  sich  mit  Geduld  wappnen  müssen.  Die 
strengste  und  einschneidendste  Disziplin  ist  zu  befolgen.  So 
wird  man  ein  Stück  des  militärischen  Mechanismus  im  Geiste 
der  militärischen  Disziplin. 

Einzig  auf  diesem  Weg  lässt  sich  die  gute  Sache  gewinnen. 

Und  inzwischen  offenbaren  sich  schon  auf  dem  Dampfer  die 
ersten  Symptome  jener  anderen  Schwierigkeit,  die  so  mühevoll 
zu  überwinden  ist,  weil  sie  rein  innerlich  in  ihrem  Wesen  und 
seit  Jahrhunderten  mit  der  menschlichen  Seele  verwurzelt  er- 
scheint :  die  religiöse  Unduldsamkeit. 

Jede  einzelne  der  Krankenpflegerinnen  die  Florence  über  das 
Meer  zu  den  tausenden  verwundeter  Brüder  geleitet,  glaubt 
für  sich  die  Wahrheit  zu  kennen.  Jede  einzelne  glaubt,  dass  ihre 
Religion  der  einzige  Weg  zum  Heile  ist.  Und  auf  diesen  Weg 
will  sie  die  Brüder  führen,  die  ihrer  Auffassung  nach  auf  Irrwegen 
wandeln.  Und  sie  will,  dass  ihre  Wahrheit  auch  die  Wahrheit 
jedes  einzelnen  werde,  in  dessen  Nähe  sie  kommt. 

Doch  Florence  lebt  und  wirkt  im  Geiste  einer  höheren  Religion, 
der  Religion  der  Liebe,  welche  die  Menschen  vereint,  statt  sie 
zu  trennen,  und  in  deren  Bereich  die  Nächstenliebe  höher  steht, 
als  jede  Konfession.  Ihre  Religion  hat  keinen  Namen,  aber  sie 
vermag  alle  anderen  aufzunehmen  und  zu  verstehen. 

Welche  ihrer  Gefährtinnen  aber  lebt  wie  sie,  in  jener  Religion 
ohne  Namen  ? 


62 


Militär-Spitäler 

Die  Krankenpflegerinnen  gehen  an  Land,  Sie  werden  mit 
grösster  Höflichkeit  vom  Chef  des  Sanitäts-Departements  empfan- 
gen. Dann  geleitet  man  sie  bis  zu  ihrem  Bestimmungsort.  Sie 
erhalten  ihre  Wohnung  im  Militärspital,  einem  ungeheuren,  vier- 
eckigen Gebäude  mit  vier  Türmen. 

Das  Lazarett  ist  überfüllt,  man  weiss  nicht  wohin  mit  den 
Verwundeten,  und  es  ist  kein  Platz  da  für  die  Krankenpflegerinnen. 
Sie  müssen,  so  gut  es  geht,  in  einigen  kleinen,  finstem  Zimmern 
untergebracht  werden,  wo  man  auf  keinen  Fall  Patienten  pflegen 
könnte. 

Die  Offiziere  sind  den  Neuangekommenen  gegenüber  voll 
Höflichkeit  und  Feindseligkeit.  Höflich  sind  sie  ja  nur  zum  Schein, 
feindselig  aber  auf  Schritt  und  Tritt.  Obstruktion  und  passive 
Resistenz  sind  an  der  Tagesordnung. 

Das  Spital  wimmelt  von  Verwundeten,  von  Ratten,  Ungeziefer 
und  schmutziger  Wäsche.  In  manchen  Krankensälen  ist  der 
Gestank  so  arg,  dass  beim  blossen  Offnen  der  Türe  der  Eintretende 
sich  von  einem  wahren  Pesthauch  zurückgeworfen  fühlt. 

Natürlich  besuchen  die  Ärzte  gerade  diese  Krankenzimmer 
so  selten  als  möglich,  halten  sich  darin  nur  so  lange  als  unbedingt 
notwendig  auf,  und  manchmal  nicht  einmal  so  lange... 

Die  Bettücher  kommen  von  der  Wäsche  fast  noch  schmutziger 
zurück,  als  sie  vorher  gewesen  sind,  und  es  ist  so  viel  Ungeziefer 
darin,  dass  sie,  wie  der  Volksmund  sagt,  « von  selber  gehen 
könnten  ». 

Im  ganzen  Spital  hat  man  bei  einem  Krankenbestand  von 
1000  Patienten  in  einem  Monat  sechs  Hemden  gewaschen. 

Ohne  den  Mut  zu  verlieren,  sieht  sich  Florence  erst  einmal 
um.  Sie  beobachtet,  was  getan  und  was  nicht  getan  wird. 

63 


Waschen  zum  Beispiel,  gehört  zu  dem,  was  man  nicht  tut. 
Alles  wird  in  kaltem  Wasser  gewaschen  —  es  gibt  kein  heisses 
und  auch  keine  Möglichkeit,  es  zu  beschaffen. 

Es  sind  keine  Besen,  keine  Bürsten,  keine  Aufwaschlappen  da, 
um  den  Boden  zu  reinigen. 

Man  muss  die  Soldaten  sterben  lassen,  welche  durch  die 
erlittenen  Entbehrungen  und  die  Wunden  so  erschöpft  sind, 
dass  sie  eine  reichliche,  kräftigende  Kost  benötigten ;  denn  die 
Küchen  liegen  alle  in  einem  Seitenflügel  des  Gebäudes,  wodurch  es 
unmöglich  wird,  in  den  entlegenen  Krankensälen  warme  Speisen 
zu  bekommen.  Um  alle  Rationen  zu  verteilen,  sind  mehrere 
Stunden  notwendig  und  Gott  weiss  es,  in  welchem  Zustand  die 
Speisen  bei  den  letzten  Soldaten  ankommen. 

Diese  Unzulänglichkeiten,  diese  verheerenden  Misstände  müs- 
sen ja  auch  den  Regimentsärzten  in  die  Augen  fallen  ;  wie  könnte 
man  sie  denn  übersehen  ?  Aber  sie  erheben  dagegen  keinen  Ein- 
spruch. Ihrer  Meinung  nach  sind  das  zwangsläufige  Erscheinungen 
des  Krieges. 

Ist  es  denn  etwas  neues,  dass  es  im  Kriege  Verwundete  gibt, 
dass  man  leidet,  dass  man  stirbt  ? 

Welcher  Mensch  vermöchte  jemals  ein  Heilmittel  gegen  solche 
Leiden  zu  finden  ? 

Und  dennoch  erhebt  Florence  Einspruch  dagegen,  weil  ihre 
ganze  Seele  rebelliert  und  erzittert.  Der  Krieg  ist  etwas  Furcht- 
bares. Der  Krieg  bringt  unzählige  grauenvolle  Leiden  mit  sich, 
denen  niemand  je  wird  ausweichen  können.  Doch  hier,  wo  man 
so  viel  für  diese  armen  Menschen  tun  könnte,  jenen  Leben 
einzuhauchen  vermöchte,  in  denen  noch  Leben  ist,  andern  die 
Qualen  zu  mindern,  um  Leib  und  Seele  zu  erheben  —  warum 
geschieht  hier  nicht  das  geringste  ? 

Florence  bittet  und  erhält  vom  englischen  Botschafter  Bettücher 
und  Hemden  zur  sofortigen  Verteilung,  bis  die  Sendungen  der 
Regierung  eingetroffen  sind. 

Sie  verlangt  zweihundert  Aufreibbürsten  und  Aufwaschlappen. 

64 


Dann  fordert  sie  amerikanische  Öfen  um  besondere  Speisen  für 
die  Schwerkranken  so  schnell  als  möglich  zubereiten  zu  können. 
Sie  mietet  ein  türkisches  Haus,  verschafft  sich  vom  Genie-Korps 
grosse  Kessel,  ruft  mehrere  Engländerinnen  zu  sich,  die  sich 
auch  in  Skutari  befinden,  Soldatenfrauen,  gute  Wäscherinnen, 
und  errichtet  eine  Wäscherei,  damit  sie  die  Verwundeten  mit  reiner 
Wäsche  versorgen  kann. 

All  das  vollzieht  sich  in  wenigen  Wochen,  in  grösster  Ruhe. 
Und  noch  mehr :  alles  geschieht,  ohne  dass  es  sie  auch  nur  einen 
Augenblick  von  dem  Verhalten  ablenkt,  das  sie  sich  vorgenommen 
hat:  vollkommenste  Subordination,  Ihre  Krankenpflegerinnen  arbei- 
ten tatsächlich  nur  in  den  Krankensälen,  in  welche  die  Primärärzte 
sie  gewiesen  haben  und  in  der  Pflege  halten  sie  sich  auch  strikte 
an  die  empfangenen  Instruktionen  :  und  es  gibt  ja  so  ungeheuer 
viel  Arbeit  für  sie  ! 

« Aus  Balaklava  kommen  5 1 0  Verwundete.  Bereiten  Sie  sich 
auf  deren  Unterbringung  vor.  » 

Auf  deren  Unterbringung  ?  Es  ist  ja  nichts  bereit,  nicht  ein- 
mal eine  Matratze  ! 

Aber  in  der  Zeit  von  ein  Uhr  mittags  bis  neun  Uhr  abends 
ist  es  gelungen  die  Matratzen  zu  füllen,  zu  nähen  und  in  den 
rasch  freigemachten  Sälen  auf  den  Boden  zu  legen.  Nun  werden 
die  angekommenen  Verwundeten  gewaschen,  zu  Bett  gebracht 
und  frisch  verbunden. 

Blutungen,  Amputationen,  Tote  und  Sterbende  —  Rotlauf, 
Gangrän,  Dysenterie,  Typhus-  und  Cholera-Epidemien.  4000 
Betten,  und  der  Raum,  um  sich  zwischen  den  Betten  zu  bewegen, 
ist  namenlos  eng.  Es  ist  ein  Leben  zwischen  Blut  und  Ratten, 
zwischen  Schmutz  und  Infektion,  ein  Grauen,  das  schlimmer  ist, 
als  der  Tod. 

Florence  sieht  und  beobachtet.  Ihre  inneren  Kräfte  steigern 
sich  ins  Gigantische.  Sie  ist  tätig,  ordnet  an  und  es  wird  ihr  ge- 
horcht ;  sie  führt  durch,  was  sie  will,  was  sie  muss. 

65 


«  Das  kann  man  nicht  machen  »,  sagen  die  Ärzte. 

«  Das  muss  man  machen  »,  antwortet  Florence  mit  ihrer  ruhigen, 
sanften  Stimme. 

Dieser  Stimme  kann  niemand  widerstehen.  Florence  gehorcht 
ja  immer,  aber  dort  wo  keiner  mehr  befehlen  will,  ist  sie  es,  die 
Befehle  erteilt.  Und  sie  ist  es  auch,  die  die  schlimmsten  Schäden 
der  militärischen  Organisation  entdeckt  und  ihre  Behebung 
erwirkt.  Sie  hat  solche  Schäden  sofort  aufgezeigt,  ebenso  wie  sie 
die  Ratten  auf  den  Balken  der  Krankensäle  huschen  sah,  das 
Ungeziefer  in  allen  Fugen  entdeckte. 

Der  ärgste  dieser  Schäden  ist  die  Furcht  vor  der  Verantwortung. 
Von  dieser  Angst  beherrscht,  werden  die  Menschen  zu  Automaten. 
Sie  führen  nur  Befehle  aus,  die  man  ihnen  aufs  deutlichste  erklärt 
hat.  Sie  sehen  das  Übel,  ohne  ihm  abzuhelfen,  weil  sie  überzeugt 
sind,  dass  eine  Reklamation  oder  eine  Handlung  aus  eigener 
Initiative  sie  Gott  weiss  wohin  versetzen  oder  schweren  Strafen 
aussetzen  könnte,  wenn  sie  ihrem  unmittelbaren  Vorgesetzten 
missfallen  sollten.  Es  genügte  ihnen  darum  « gedeckt »  zu  sein, 
wie  der  militärische  Ausdruck  lautet. 

Florence  nimmt  die  Verantwortung  auf  sich,  die  niemand 
anderer  übernehmen  will.  Die  Ärzte  schauen  zu,  ohne  sich  zu 
rühren  und  ohne  ihr  zu  helfen.  Sie  sehen  das  Besenregiment  in 
das  Spital  eindringen,  die  Hilfsküchen  ankommen,  reine  Wäsche 
auftauchen.  Die  Intelligentesten  fangen  an  zu  begreifen  und  sich 
weniger  feindselig  zu  zeigen.  Es  ist  schon  ein  gewisser  Fortschritt 
in  das  Wirken  des  Spitals  gekommen.  Und  nun  bemerkt  mancher 
Primärarzt,  dass  seine  Krankensäle  ganz  verändert  sind,  dass  es 
den  Verwundeten  besser  geht  und  dass  weniger  von  ihnen  sterben. 

Aber  es  fehlt  noch  sehr  viel,  ungemein  viel.  Es  fehlt  noch  fast 
alles. 


66 


Oberschwester  Florence  Nightingale 

In  den  « Times »  mehren  sich  die  Namen  über  freiwillige 
Gaben,  Der  Korrespondent  in  Konstantinopel,  der  in  seinen 
Briefen  die  Tatsachen  enthüllte,  erweckte  in  England  auch  den 
Impuls  zu  spenden  und  richtet  jetzt  an  den  englischen  Botschafter 
die  Frage,  was  die  Militärspitäler  benötigten. 

«  Sie  benötigen  nicht  das  geringste  »,  antwortet  Lord  Stratford, 
der  englische  Botschafter.  «  Die  Regierung  hat  für  alles  gesorgt. 
Vielleicht  könnte  man  die  gesammelten  Gelder  zur  Errichtung 
einer  anglikanischen  Kirche  verwenden.  » 

«  Nichts  ?  »  Mr.  Macdonald,  der  Korrespondent  der  «  Times  » 
ist  geradezu  entsetzt.  Wozu  hat  er  sich  soviel  Mühe  gegeben, 
um  Geld  zusammenzubringen  ?  Um  eine  Kirche  zu  bauen  ? 
Was  werden  die  Leser  der  «  Times  »  dazu  sagen  ? 

Doch  bevor  ein  Entschluss  gefasst  wird,  hält  Mr.  Macdonald 
es  für  ratsam,  Florence  Nightingale  zu  befragen.  Florence  —  nein, 
Florence  kann  freilich  nicht  dazu  raten,  eine  Kirche  zu  bauen... 
Sie  führt  den  Korrespondenten  der  «  Times  »  in  das  Spital  und 
zeigt  ihm,  was  dort  noch  mangelt.  Sie  lässt  ihn  selbst  entdecken, 
dass  Socken,  Hemden,  Löffel,  Gabeln,  Pfannen,  Tische,  Hand- 
tücher, Seife,  Besen,  Scheren,  Kissen,  Badewannen,  Bettücher, 
Töpfe,  Hosen  und  Insektenpulver  fehlen.  Alles.  Mr.  Macdonald 
fühlt  sich  getröstet  und  wird  alle  diese  Dinge  anschaffen,  und 
auch  noch  viele  andere,  die  er  dann  der  Oberschwester  übergibt. 
So  ist  Florence  mit  einem  Schlag  Besitzerin  eines  grossen  Material- 
Magazins  geworden,  zu  dem  alle  ihre  Zuflucht  nehmen.  Wenn 
man  die  benötigten  Sachen  nicht  von  der  Regierung  bekommen 
kann,  so  erhält  man  sie  sofort  von  Fräulein  Nightingale.  Freilich 

67 


wird  da  nichts  ohne  einen  regelrechten  Gutschein  ausgegeben 
und  überdies  ist  die  Anforderung  des  Abteilungsvorstandes  vor- 
zuweisen. In  diesem  babylonischen  Turm  der  Krankenschwestern, 
dem  Generaldepot  der  Frau  Direktor,  herrscht  mustergültige 
Ordnung.  Es  ist  wahrhaftig  ein  babylonischer  Turm,  in  dem 
ausser  den  genannten  Gegenständen  auch  noch  Tee,  Zucker, 
Tapioca,  Reis,  Gelatine,  Fleischextrakt  und  Zitronen  vorrätig 
sind  und  wo  alle  kommen  und  gehen  :  Laienpflegerinnen,  Ordens- 
schwestern, Infanterie-Offiziere,  türkische,  griechische,  französi- 
sche, italienische  Ordonnanzen,  jeder  seine  eigene  Sprache  spre- 
chend, jeder  mit  einer  Mitteilung  an  die  Oberschwester. 

Florence  bleibt  inmitten  dieses  fortwährenden  Kommens  und 
Gehens  ruhig,  bestimmt  und  fest ;  freundlich  hört  sie  jeden  an, 
einen  nach  dem  andern.  Sie  hilft  allen  Übeln  ab,  verhindert  gar 
manche,  sieht  viele  voraus  und  sorgt  vor. 

Es  sind  27  000  Hemden  angekommen  und  die  Ärzte  fordern 
sie  für  ihre  Patienten.  Aber  der  Magaziner  kann  die  Pakete  nicht 
ohne  schriftliche  Erlaubnis  der  höchsten  Instanz  öffnen.  Auf  diese 
Erlaubnis  muss  drei  Wochen  gewartet  werden  und  die  Soldaten 
hätten  während  dieser  Zeit  eben  ohne  Hemden  bleiben  müssen. 
In  solcher  Not  hilft  das  Magazin  der  Oberpflegerin  aus.  Die  Ober- 
schwester erhält,  kauft  und  verteilt.  Dank  der  vorsorgenden,  uner- 
müdlichen Tatkraft  und  Hilfe  der  englischen  Freunde,  im  beson- 
deren des  Korrespondenten  der  « Times »,  Mr.  Macdonald,  der 
ihr  Freund  und  Bewunderer  geworden  und  bereit  ist,  auszuführen, 
was  sie  von  ihm  verlangt,  wird  ihr  Magazin  immer  wieder  neu 
aufgefüllt.  Es  beliefert  ständig  die  englischen  Militärspitäler  und 
in  dringenden  Fällen  manchmal  sogar  noch  die  französischen, 
preussischen  und  italienischen. 

« Es  muss  für  neue  Verwundete  Platz  geschaffen  werden, 
Fräulein.  Auf  höheren  Befehl.  » 

«  Sollen  noch  mehr  hinein  als  bisher  ?  Wohin  sollen  wir  sie 
betten  ?  » 

68 


«  Ich  weiss  nicht,  Fräulein.  Die  Order  ist  ganz  klar  :  mindestens 
500  neue  Betten.   In  kurzer  Frist  findet  eine  Schlacht  statt.  » 

«  Was  ist  mit  den  Sälen  im  Hintertrakt,  die  noch  leer  sind, 
meine  ich  ?  Warum  richten  wir  sie  nicht  als  Krankenzimmer 
ein  ?  » 

«  Gewiss,  das  wäre  vortrefflich.  Aber  Sie  wissen  ja,  in  welchem 
Zustande  sie  sich  befinden.  Der  Kalk  fällt  von  den  Wänden,  es 
fehlen  Ziegel  im  Dach  und  Fenster  sind  überhaupt  keine  da. 
Die  Kosten  für  die  Instandsetzung  wären  zu  hoch.  Und  man 
müsste  ja  erst  die  Erlaubnis  haben,  sie  einzurichten... 

Florence  besteht  nicht  darauf.  Sie  weiss,  dass  niemand  die 
Aufgabe  übernehmen  wird,  das  Spital  zu  erweitem.  Die  Verwun- 
deten würden  auf  das  primitivste  untergebracht  —  Gott  weiss  wo. 
Sie  denkt  an  die  armen  gebrochenen  Beine,  an  die  armen  schmerz- 
durchzuckten Leiber.  Im  Geiste  sieht  sie  jene  fünfhundert 
Schmerzgepeinigten,  die  ankommen  werden  und  hoffen,  am  Ende 
ihrer  Leidenswege  angelangt  zu  sein  —  und  von  denen  niemand 
weiss,  wohin  sie  gebettet  werden  sollen... 

Sie  trifft  einen  jener  Entschlüsse,  die  ihr  selbst  ganz  selbst- 
verständlich erscheinen,  die  sie  aber  in  den  Augen  der  Soldaten 
und  Offiziere  als  ein  Ausnahmegeschöpf  erscheinen  lassen,  wun- 
derbar und  irgendwie  Furcht  erweckend. 

« Die  Instandsetzung  der  verfallenen  Säle  wird  durchgeführt 
werden.  Es  wird  schon  jemand  da  sein,  der  die  Kosten  trägt.  Wir 
haben  Ende  November.  Bis  Anfang  Dezember  müssen  die  ver- 
wahrlosten Räume  zu  verwendbaren  Krankensälen  umgewandelt 
sein.  » 

Doktor  Mac  Grigor,  von  dem  Eifer  der  Oberschwester  an- 
gesteckt, übernimmt  es,  sie  bei  den  nötigen  Schritten  zu  unter- 
stützen. Er  und  Florence  tragen  den  Fall  Lady  Stratford,  der 
Gemahlin  des  englischen  Botschafters  vor.  Die  Dringlichkeit  wird 
anerkannt  :  die  Arbeiten  können  beginnen. 

Ein  Streik  bricht  aus.  Die  125  Arbeiter,  die  der  Chefingenieur 
geschickt  hat,  weigern  sich,  die  Arbeit  fortzusetzen. 

69 


Florence  will  nun  von  niemandem  mehr  etwas  verlangen.  Sie 
will  die  kostbare  Zeit  nicht  verlieren.  Es  gelingt  ihr,  sich  zwei- 
hundert neue  Arbeiter  zu  verschaffen  und  die  Arbeiten  weiter- 
führen zu  lassen. 

Lady  Stratford  lehnt  jede  Verantwortung  ab.  Florence  soll 
selber  die  Kosten  tragen. 

Am  19.  Dezember  kommen  fünfhundert  Verwundete  an. 
Florence  und  Doktor  Mac  Grigor  empfangen  sie  in  den  neuen 
Krankensälen,  die  vollkommen  eingerichtet  sind.  Das  Magazin 
der  Oberschwester  hat  für  alles  vorgesorgt :  von  den  Betten  bis 
zu  den  Gabeln,  von  den  Hemden  bis  zur  Seife. 

Als  der  Minister  über  das  Geschehene  informiert  wird,  erklärt 
er  sein  Einverständnis  und  begleicht  die  Kosten.  Die  Oberschwester 
gilt  immer  mehr  als  allmächtiges,  ja  übermenschliches  Wesen. 
Keine  Militärbehörde  hätte  jemals  gewagt,  hätte  jemals  durch- 
gesetzt, was  Florence,  die  Frau,  allein  gewagt  und  vollbracht  hat. 

Um  Florence  Nightingale  entsteht  ein  Kranz  von  Legenden. 
Hat  man  sie  nicht  zur  gleichen  Zeit  an  zwei  verschiedenen  Orten 
erblickt  ?  Ist  es  nicht  sie  gewesen,  durch  deren  Willen  ein  Schiff 
unbeschädigt  in  den  Hafen  gelangt  ist,  als  man  es  schon  verloren 
glaubte  —  weil  es  ja  mit  Geschenken  für  die  Soldaten  beladen 
war  ?...  Warum  kommen  alle  Dinge  an,  die  an  sie  gesandt  werden 
und  was  an  die  anderen  geschickt  wird,  nicht  ?  Warum  weiss 
sie  immer  alles  und  kann  alles  ?  Ja,  sogar  die  Toten  macht  sie 
wieder  lebendig.  Wahrhaftig,  das  tut  sie  !  Der  Soldat  John  war 
bestimmt  schon  tot,  ganz  starr  und  kalt  und  hat  nicht  mehr  geatmet. 
Sie  hat  ihn  wieder  ins  Leben  zurück  gerufen.  —  So  redet  man  von 
Florence  Nightingale. 

Wenn  die  Königin  Viktoria  Berichte  über  ihre  Soldaten  in 
den  Militärspitälern  haben  will,  wendet  sie  sich  an  die  Ober- 
schwester.   Ihr  schickt  sie  die  Geschenke,  die  zu  verteilen  sind. 

Auf  Anregung  und  Mahnung  von  Fräulein  Nightingale  kommt 
unmittelbar  an  ihre  Adresse  Material  aller  Art,  kommen  Tischler 

70 


und  Arbeiter  für  das  Spital,  trifft  endlich  sogar  ein  Koch  ein. 
Alexander  Soyer,  der  berühmte  Soyer,  früherer  Küchenchef  des 
Reform-Club,  hat  aus  den  «  Times  »  erfahren,  was  es  in  Skutari 
noch  zu  tun  gibt.  Er  fährt  als  Freiwilliger  auf  eigene  Kosten  hin, 
hat  eine  Unterredung  mit  der  Oberschwester,  übernimmt  mit 
seinen  geschickten  Händen  die  Organisation  der  Spitalküchen 
und  gestaltet  aus  dem  Chaos  ein  wahres  Meisterwerk. 

Nachdem  Alexander  Soyer  angekommen  ist  und  seine  Aufgabe 
übernommen  hat,  trifft  auch  eine  Regierungskommission  ein.  Ja, 
die  Oberschwester  übt  eine  unerbittliche  Macht  aus  —  sie  hat 
auch  das  durchgesetzt ! 

An  der  Spitze  der  Kommission  steht  Dr.  John  Sutherland, 
der,  mit  exekutiver  Vollmacht  ausgestattet,  damit  betraut  ist,  die 
Lage  genau  zu  untersuchen. 

Jetzt  wird  es  nicht  mehr  notwendig  sein,  sich  in  England  die 
Erlaubnisscheine  zu  beschaffen,  was  zumindest  einen  Zeitverlust 
von  einem  Monat  bedeutet  und  rasche  EntSchliessungen  verun- 
möglicht,  denn  gewöhnlich  treffen  die  Scheine  erst  ein,  wenn  die 
Notwendigkeit  zu  handeln  vorüber  und  die  Gelegenheit  einzu- 
greifen verpasst  ist. 

Doktor  Sutherland  und  seine  beiden  Begleiter  besuchen 
Spitäler,  Kasernen,  Magazine.  Sie  geben  sich  Rechenschaft  darüber, 
was  getan  worden  ist  und  was  zu  tun  noch  übrig  bleibt. 

Es  erwachen  in  ihnen  Hochachtung,  Bewunderung  und  Vereh- 
rung für  Florence  Nightingale.  Ihre  Überraschung  ist  gross.  Sie 
hat  nicht  nur  die  Einrichtungen  des  Krankenhauses  verbessert, 
sondern  auch  sonst  überall  deutliche  Spuren  ihres  wohltätigen 
Wirkens  hinterlassen.  Sie  hat  Sichtbares  und  Verborgenes  erfasst, 
hat  die  offensichtlichen  Schäden  behoben  und  die  unsichtbaren 
Übel  gerade  durch  die  Klarheit  ihres  Vorgehens  bekämpft.  Durch 
ihr  Verdienst  sind  die  Spitäler  in  völliger  Umwandlung  begriffen. 
Ihr  ist  es  zu  danken,  dass  alle  Soldaten  besser  ausgerüstet  und 
wärmer  gekleidet  sind,  nicht  mehr  erfroren  und  halbnackt  aus 
dem  Schützengraben  kommen.    Ihr  ist  es  zu  danken,  dass  die 

71 


Toten,  die  für  das  Vaterland  gefallen  sind,  in  der  Erde  eines 
englischen  Friedhofes  bestattet  werden,  gleichsam  in  einem  Stück 
Vaterland,  das  in  die  ferne  Türkei  gezaubert  wurde. 

Unbeugsam  im  Gehorchen,  hartnäckig  in  ihrem  Ziel,  eine 
straffere  Organisation  und  bessere  Lebensverhältnisse  für  die 
gesunden  und  kranken  Soldaten  zu  fordern  und  zu  erlangen, 
bleibt  Florence  zärtlich,  liebevoll  und  hingebend  in  ihrer  Tätigkeit 
als  Pflegerin  und  als  mütterliche  Beschützerin. 


Die  Dame  mit  der  Lampe 

Fünf  Soldaten  die  man  als  verzweifelte  Fälle  betrachtet,  sind 
in  ein  separates  Krankenzimmer  gebracht  worden.  Sie  sind  so 
blutleer,  dass  man  sie  schon  für  tot  halten  könnte,  und  man  denkt 
nicht  einmal  daran,  sie  zu  operieren  zumal  der  Arzt  von  Arbeit 
überlastet  ist. 

Florence  will  sich  nicht  damit  abfinden  und  sie  sterben  lassen. 
Sie  verlangt,  dass  man  die  fünf  Todeskandidaten  ihr  anvertraue. 

Von  einer  treuen  Gefährtin  unterstützt,  pflegt  Florence  die 
fünf  Todwunden,  verhindert,  dass  die  eisige  Kälte  über  ihre 
Körper  völlig  Macht  gewinnt,  hält  sie  warm,  belebt  sie,  flösst 
ihnen  in  kurzen  Zwischenräumen  Nahrung  ein. 

Am  nächsten  Morgen  hat  sich  ihr  Befinden  so  sehr  gebessert, 
dass  ein  chirurgischer  Eingriff  möglich  erscheint  und  die  fünf 
Soldaten  gerettet  werden  können. 

«  Geduld,  Mut,  mein  Junge  !  Du  wirst  noch  Schmerzen  haben, 
aber  dann  kommen  gute  Tage.  Wenn  du  dich  nicht  operieren 
lässt,  so  wirst  du  viel  mehr  zu  leiden  haben,  glaube  mir  das  ! » 

Der  bleiche  Soldat  blickt  Florence  mit  jammervollem  Aus- 
druck an.  In  ihren  Augen  sieht  er  aber  eine  so  ungemeine  Kraft 
des  Mitgefühls,  dass  er  schon  dadurch  allein  überzeugt  wird. 

72 


«  Ja,  Fräulein,  ich  will  tun,  was  sie  mir  raten...  wenn  Sie  nur 
bei  mir  bleiben.  » 

«Wenn  Sie  nur  bei  mir  bleiben...»  Das  ist  der  Wunsch  aller 
Verwundeten,  aller  Kranken.  Sie  leiden  weniger,  wenn  sie  dieses 
holde  Antlitz  sehen,  diese  Augen  voll  Verständnis  und  Mitgefühl. 
Die  Oberschwester  begleitet  die  Soldaten  in  den  Operationssaal, 
ist  Zeugin  ihrer  Qualen,  leidet  mit  Ihnen,  tröstet  sie.  Stunde  um 
Stunde. 

Dann  kehrt  sie  in  die  Krankenzimmer  zurück,  um  bei  den 
ernstesten  Fällen  zu  wachen,  bei  denen,  die  verzagen  und  verzwei- 
feln wollen.  Immer  gelingt  es  ihr,  selbst  der  traurigsten  Lage  eine 
gute  Seite  abzugewinnen,  die  komische  und  heitere  Wendung 
der  Dinge  hervorzukehren.  Wenn  die  Soldaten  sie  sehen,  fühlen 
sie  sich  wie  neugeboren.  Alle,  denen  etwas  Gutes,  etwas  Lustiges, 
etwas  Hoffnungsvolles  in  den  Sinn  kommt,  erzählen  es  ihr. 
Die  Atmosphäre  wandelt  sich  wie  durch  Zauberei. 

Bevor  sie  gekommen  ist,  hörte  man  im  Spital  nichts  anderes 
als  Schelten  und  Fluchen,  aber  jetzt  ist  es  hier  still,  wie  in  einer 
Kirche. 

Es  ist  tiefe  Nacht.  Florence  hat  ihre  Korrespondenzen  erledigt. 
Briefe  aller  Art,  die  an  Ministerien  aber  auch  an  die  armseligsten 
Hütten  gerichtet  sind.  Die  einen  um  neue  Vorräte  zu  fordern 
und  Vorschläge  zu  weiteren  Reformen  zu  machen,  die  andern 
um  fernen  Soldaten-Müttern  und  -Frauen  Auskünfte  auf  ihre 
bangen  Nachfragen  zu  erteilen.  Ach,  es  sind  auch  viele  Briefe 
dabei,  welche  den  Familien  die  letzten  Grüsse  ihrer  Lieben 
bringen...  Alles  ist  ruhig  und  still.  Die  Pflegerinnen  die  für  einen 
regelmässigen  Nachtdienst  nicht  zahlreich  genug  sind,  schlafen. 
Auch  die  Verwundeten  schlummern,   ruhen  oder  stöhnen  leise. 

Florence  entzündet  eine  kleine  Laterne  und  betritt  die  Kran- 
kensäle. 

Wie  sie  leicht  und  schweigend  vorüberschwebt,  erschemt  sie  wie 
ein  wandelndes  Flämmchen.  Die  Soldaten  erblicken  dieses  Licht 

73 


von  weitem  und  sie  fühlen  sich  nicht  mehr  einsam  und  allein. 
Das  winzige  Licht  wirft  einen  riesigen  Schatten  und  dieser  Schatten 
breitet  sich  aus  wie  ein  Segen,  Wenn  der  Schatten  auf  die  Betten 
fällt,  geschieht  es,  dass  einer  der  Soldaten  ihn  küsst,  wie  ein 
Heiligenbild, 

Jetzt  steht  das  wandelnde  Licht  still.  Ein  leises  Klagen,  das 
aus  dem  Bett  eines  der  Schwerkranken  gedrungen  war,  Hess  die 
Erscheinung  auf  ihrem  Wege  einhalten. 

Die  Lampe  wird  auf  den  Boden  gestellt :  die  Pflegerin  neigt 
sich  über  den  Patienten.  —  Dann  hebt  sie  ihre  Lampe  wieder 
auf,  setzt  ihren  Weg  fort.  Bald  ist  der  riesige  Schatten  in  der 
Feme  verschwunden,  doch  es  bleiben  Segen  und  Friede  in  den 
Herzen  zurück. 


Meinungsverschiedenheiten,  Angriffe  drüben  in  der  Heimat 
und  im  Ausland.  Viele  der  Pflegerinnen  sind  katholisch.  Manche 
der  Ordensschwestern  machen  religiöse  Propaganda.  Die  Prote- 
stantinnen wehren  sich  dagegen.  Sie  klagen  die  Oberschwester  an, 
mit  den  Katholiken  zu  sympathisieren.  Das  sind  Erbärmlichkeiten, 
die  Florence  nicht  berühren,  aber  sie  gleichwohl  erregen,  weil  die 
ohnehin  nicht  leichte  Arbeit  dadurch  noch  erschwert  wird  und 
der  Same  der  Zwietracht  fruchtbaren  Boden  findet.  Es  wird 
nötig,  mehrere  Pflegerinnen  heimzuschicken. 

«  Man  berichtet  mir,  dass  in  den  «  Times  »  ein  Religionskrieg 
gegen  mich  Unglückliche  entfesselt  worden  ist  und  dass  Frau 
Herbert  mich  grossmütig  verteidigt  hat.  Was  ich  verbrochen 
haben  mag,  um  auf  diese  Weise  in  die  Öffentlichkeit  gezerrt  zu 
werden,  weiss  ich  nicht.  Aber  ich  bin  sehr  zufrieden,  dass  mein 
Gott  weder  der  Gott  der  Hochkirche  noch  der  der  Niederen 
Kirche,  dass  er  weder  römisch  noch  anglikanisch  oder  unitarisch 
ist.  Er  ist  auch  kein  Russe,  wenn  seine  Macht  im  Augenblick 
auch  gegen  uns  gerichtet  erscheint.  » 

Die  Belagerung  von  Sebastopol  war  in  der  Tat  sehr  hart  für 

74 


die  armen  englischen  Truppen,  die  schon  einen  eisigen  Winter 
in  den  Schützengräben  hatten  verbringen  müssen.  Aber  die  ersten 
Anzeichen  des  Frühhngs  sind  da :  Knospen  an  Bäumen  und 
Sträuchem  und  weniger  Verwundetentransporte  für  die  Spitäler. 
Die  Krankensäle  leeren  sich.  In  dem  grossen  Lazarett  befinden 
sich  kaum  1 1 00  Soldaten  und  fast  alle  sind  im  Begriff,  das  Bett 
zu  verlassen.  Es  gibt  jetzt  nur  wenig  Arbeit.  Was  an  Verbesserun- 
gen geleistet  werden  konnte,  ist  getan.  Für  den  Augenblick  ist 
nichts  Neues  zu  unternehmen. 

Florence  fühlt  deutlich,  dass  sie  anderwärts  von  grösserem 
Nutzen  sein  könnte. 

Die  Lazarette  in  der  Krim,  die  bei  Beginn  der  Kampfhand- 
lungen überfüllt  sein  würden,  leiden  grossen  Mangel  an  Hilfs- 
küchen und  Wäschereien. 

Wenn  auch  eine  Anzahl  von  Pflegerinnen  dort  das  sanfte 
Licht  der  tätigen  Barmherzigkeit  entzündet  hat,  so  ist  der  gesamte 
Krankendienst  doch  noch  sehr  mangelhaft,  muss  dringend  ver- 
stärkt und  besser  organisiert  werden. 

Sobald  Florence  eine  neue  Arbeitsmöglichkeit  auftauchen  sieht, 
denkt  sie  nicht  mehr  an  Ruhe.  Ihre  Liebe  gilt  nicht  allein  ihrem 
Spital  und  ihren  Soldaten,  sondern  allen  Soldaten,  allen  Spitälern. 
Sie  überträgt  ihrer  Freundin  Bracebridge,  der  treuen  Selma,  die 
in  Skutari  zurückbleibt,  ihren  Posten.  Und  sie  reist  ab.  Sie  reist 
in  Gesellschaft  von  Alexander  Soyer,  dem  berühmten  Koch. 

Als  sie  auf  ihrem  galoppierenden  Pferd  in  Balaklava  erscheint, 
klingt  ihr  frenetischer  Jubel  entgegen.  Ihr  Besuch  an  der  Front 
gleicht  einem  Triumphzug  und  führt  sie  in  unmittelbare  Nähe 
von  Sebastopol,  wo  die  feindlichen  Kugeln  so  oft  herüberfliegen 
und  einschlagen,  wo  die  Soldaten  sie  kennen,  sie  verehren,  während 
andere  von  ihr  soviel  sprechen  gehört  haben.  Sie  begrüssen  sie 
mit  dreifachem  «Hurra!».  Worte  können  die  gegenwärtige  Hilfs- 
bereitschaft nicht  ausdrücken.  Die  Oberschwester  ist  für  die  Solda- 
ten, die  Soldaten  sind  für  die  Oberschwester  zu  jedem  Opfer  bereit. 

75 


Die  Arbeit  beginnt.  Es  werden  Baracken  für  den  Spitaldienst 
und  für  die  Küchen  errichtet.  Für  die  neuen  Pflegerinnen  werden 
Abmachungen  getroffen,  es  wird  den  an  Infektionen  Erkrankten 
Hilfe  geleistet.  Denn  es  herrscht  eine  wirkhche  Epidemie  an 
Fiebererkrankungen.  Wer  fürchtet  sich  hier  vor  Infektionen  und 
Mühsal  ?  Florence  gewiss  nicht.  Weder  jetzt  noch  überhaupt 
jemals  ! 


Fieber 

Und  dann  kommt  der  furchtbare  Anfall. 

In  einer  Baracke,  die  unmittelbar  hinter  dem  Absonderungshaus 
der  verwundeten  Soldaten  gelegen  ist,  deliriert  die  Oberschwester, 
vom  glühenden  Fieber  erfasst,  schon  hart  am  Tod. 

«  Ich  habe  aus  eigenem  Antrieb  meine  Pflicht  vollbracht.  Ich 
habe  mein  Geschick  mit  dem  der  toten  Helden  geteilt.  » 

In  den  Spitälern  drehen  die  Soldaten  ihre  Köpfe  zur  Wand 
und  weinen.  Das  Vaterland  weint,  weil  die  tapferste  und  beste 
seiner  Frauen  ihm  entrissen  werden  soll.  —  Doch  sie  übersteht 
die  Krise.  Am  24.  Mai  kann  Lord  Raglan,  der  Generalissimus 
des  Heeres  nach  dem  angstvoll  harrenden  England  eine  beruhigende 
Kabeldepesche  senden  :  «  Fräulein  Nightingale  ist  ausser  Gefahr  !  » 
Von  der  Königin  Viktoria  bis  zur  einfachsten  Frau  aus  dem  Volk 
beten  alle  in  England  und  danken  dem  lieben  Herrgott. 

Ein  Reiter  hält  vor  der  Baracke.  Er  steigt  vom  Pferd,  bindet 
es  an  den  nächsten  Baum  und  bittet,  zu  Florence  Nightingale 
geführt  zu  werden. 

« Wer  sind  Sie  ?  »  fragt  Frau  Roberts,  die  Pflegerin. 

«  Ich  bin  ein  einfacher  Soldat,  aber  ich  komme  von  weit  her, 
um   Ihre  Patientin  zu  sehen,  die  mich  gut  kennt.  » 

Im  Inneren  der  Baracke  hört  ihn  Florence  sprechen  :  sie  erinnert 
sich  dieser  Stimme. 

76 


«  Lassen  Sie  ihn  nicht  herein,  Frau  Roberts  !  Ich  habe  eine 
ansteckende  Krankheit,  Lord  Raglan  !  » 

Der  Oberkommandierende  tritt  ein.  Weder  Florence,  noch  er 
haben  das  Fürchten  gelernt. 

Florence  erholt  sich.  Das  Fieber  verlässt  sie,  aber  sie  ist  so 
schwach,  dass  ihre  Worte  nur  ein  Gestammel  sind.  Ihre  Ernährung 
ist  ungemein  schwierig  geworden.  Sie  muss  nach  Skutari  gebracht 
werden.  Die  Yacht  einer  befreundeten  Familie  fährt  sie  übers 
Meer.  Doch  sobald  sie  auf  dem  Festland  sind,  tragen  sie  die 
Soldaten.  In  tiefem  Schweigen  geht  es  dahin.  Die  so  glücklich 
sind,  die  Tragbahre  auf  die  Schultern  heben  zu  dürfen,  tun  das 
mit  heiliger  Scheu.  Die  anderen  folgen  in  langem  Zug  und  beten 
still. 

Florence  fällt  es  nicht  ein,  dem  Rate  der  Ärzte  zu  folgen  und 
in  die  Heimat  zurückzukehren.  Solange  im  Orient  noch  englische 
Verwundete  und  Kranke  sind,  wird  sie  im  Orient  bleiben.  Sie 
weiss  genau,  was  die  Soldaten  denken,  auch  wenn  sie  es  nicht 
aussprechen. 

«  Wie  werden  wir  uns  je  von  ihr  trennen  können  ?  Was  werden 
wir  ohne  sie  anfangen  ?  Alle  unsere  Hoffnungen  ruhen  in  ihr  ! » 

In  England  besingen  Dichter,  Studenten,  Komponisten  und 
Improvisatoren  Florence  Nightingale.  In  den  Schaufenstern  aller 
Läden  sind  ihre  Photographien  und  die  Bilder  ihres  Geburtshauses 
ausgestellt.  Kinder,  Bälle,  Strassen  und  Schiffe  werden  nach 
ihr  benannt.  Das  Pferd  « Florence  Nightingale »  gewinnt  einen 
Preis  beim  Derby.  Das  Volk  auf  der  Strasse  stimmt  ihr  zu  Ehren 
Lieder  an  : 

«Voran,  Jungens,  voran,  das  Herz  nur  hochgemut. 

Wir  haben  ja  die  Blume  und  die  Liebe  —  das  ist  gut ! » 


77 


Meine  Soldaten 

Fem  vom  Strassenlärm  hört  Florence  während  ihrer  Rekon- 
valeszenz das  Echo  solcher  Gesänge.  Seit  ihrer  frühesten  Jugend 
hat  sie  gesellschaftliche  Triumphe  als  Hindemisse  für  richtige 
und  tüchtige  Arbeit  betrachtet.  Und  jetzt,  da  die  richtige  Arbeit 
den  Beweis  dafür  erbracht  hat,  scheint  ihr  der  Ruhm  mehr  als 
je  eine  leere  und  gefährliche  Sache. 

«  Die  Eitelkeit  und  die  Frivolität,  die  der  Lärm  hervorgerufen, 
der  sich  über  die  Sache  erhoben  hat,  haben  uns  sehr  viel  Kummer 
bereitet.  Sie  haben  einem  Werk,  das  so  vielversprechend  war, 
ungemein  geschadet.  Unsere  alte  Gmppe,  die  begonnen  hat, 
bescheiden  und  in  der  Stille,  unter  Schwierigkeiten  und  Kämpfen 
aller  Art  zu  arbeiten,  ist  die  beste  gewesen.» 

Aber  vielleicht  ist  ihr  der  Brief  ihrer  Mutter,  die  stolz  ist, 
eine  solche  Tochter  zu  besitzen,  doch  wertvoll  ? 

Der  Brief  wurde  am  Abend  des  29.  November  geschrieben, 
nachdem  die  öffentliche  Versammlung  stattgefunden  hatte,  in 
welcher  der  Dank  des  englischen  Volkes  für  die  Dienste  Fräulein 
Nightingales  in  den  Spitälem  des  Orients  zum  Ausdmck  gebracht 
worden  war. 

Der  Saal  war  überfüllt,  alles  bebte  vor  Erregung.  Auf  dem 
Ehrenplatz  vertrat  die  Herzogin  von  Cambridge  die  Königin. 
Hochgemute  Worte  von  bedeutenden  Männern,  begeisterter  Jubel 
des  hingerissenen  Volkes. 

Die  Mutter  schreibt  der  Tochter : 

«  Ich  weiss,  dass  Dich  Dein  Ruhm  gleichgültiger  lässt,  als 
uns.  Aber  es  wird  Dir  vielleicht  Vergnügen  machen,  dass  das 
heutige  Ereignis  für  uns  eine  Freude  war.  Etwas  Ahnliches  hat 
sich  noch  nie  zugetragen.  Aber  es  wird  sich  hoffentlich  in  der 

78 


Zukunft  wiederholen,  weil  andere  Frauen  Deinem  Beispiele 
folgen  werden.  Und  die  Herzen  der  künftigen  Mütter  werden 
sich  darüber  freuen.  » 

Ja,  Florence  ist  ihrem  Ruhme  gegenüber  vollkommen  gleich- 
gültig. Etwas  viel  Erhabeneres  lässt  ihr  Herz  stürmisch  klopfen. 
Sie  will  die  Arbeit  um  der  Arbeit  willen,  das  Gute  um  des  Guten 
willen,  und  will  sich  selbst  um  der  andern  willen  vergessen. 
Was  ist  Ruhm  ? 

Sie  antwortet  den  Eltern  in  voller  Aufrichtigkeit : 

« Wenn  mein  Streben,  das  zu  vollbringen,  was  ich  für  Gott 
und  für  die  Menschen  zu  leisten  vermag.  Euch  eine  Freude 
bedeutet,  so  bin  ich  auch  zufrieden.  Für  meine  Arbeit  ist  dieser 
Ruhm  wertlos,  doch  wenn  er  für  Euch  mehr  bedeutet,  so  soll 
mich  dies  freuen.  Ich  werde  meinen  Namen  jetzt  lieben,  weil 
es  Euch  Freude  macht,  dass  er  bekannt  ist  und  Sympathien 
weckt :  Das  wird  vielleicht  eine  Belohnung  für  das  sein,  was 
Ihr  für  mich  getan  habt.  Das  Leben  ist  doch  schön.  » 

Aber  die  öffentliche  Versammlung  hat  nicht  allein  Applaus 
und  Begeisterung  eingetragen.  Unter  dem  Namen  « Florence 
Nightingale  »  ist  ein  Fonds  gestiftet  worden,  aus  dessen  Mitteln 
ein  Pflegerinnenheim  gegründet  werden  soll,  um  Krankenpflege- 
rinnen auszubilden,  sie  zu  unterrichten  und  zu  beschützen. 

Das  gefällt  und  erfreut  Florence.  Es  ist  die  Verwirklichung 
ihres  längst  gehegten  Planes.  Es  ist  das  Ziel  aller  ihrer  Bemü- 
hungen. Hier  liegt  die  Möglichkeit,  ihre  Ideen  in  der  Zukunft 
ausführen  zu  können. 

Aber  wie  ist  es  möglich,  jetzt  daran  zu  denken,  da  die  Leiden 
so  vieler  um  sie  sind,  da  sich  der  Jammer  stets  erneut,  dem  sich 
all  ihre  wiedererwachte  Energie  widmen  muss  ?  Die  lieben 
Menschen  in  England  sind  ihr  ja  so  herzlich  gut.  Gewiss.  Doch 
sie  verstehen  leider  noch  immer  so  wenig  von  der  Sache.  In 
diesem  Augenblick  wollen  sie  einen  Plan  für  die  Zukunft  von 
ihr... 

Eines  muss  man  ihnen  freilich  jetzt  schon  sagen  ; 

79 


«Sie  verlangen  ein  Projelct  von  mir.  Die  Leute  glauben,  ich 
hätte  nichts  anderes  zu  tun,  als  hier  zu  bleiben  und  Pläne  zu 
machen  !  Wenn  es  dem  Publikum  wirklich  gerecht  erscheint, 
meine  Dienste  und  meine  Erfahrungen  anzuerkennen,  ist  es  auch 
notwendig,  dass  sie  mir  in  meinem  Wirken  volle  Freiheit  lassen. » 

Freiheit  und  jetzt  keinerlei  Pläne  ! 

Jetzt  muss  sie  an  die  Soldaten  denken. 

Sie  hat  mit  ihnen  gelebt,  kennt  ihren  Wert,  liebt  sie.  Kein 
Applaus  des  Publikums,  keine  Ehrung  der  Regierenden  ist  ihr 
so  kostbar,  wie  die  Sympathie  ihrer  lieben,  leidenden,  unendlich 
dankbaren  Soldaten.  —  Nicht  einmal  der  Brief  der  Königin,  den 
das  Ordenskreuz  von  St.  Georg  in  rotem  Email  begleitet,  über 
dem  die  Krone  in  Diamanten  eingelegt  ist  ! 

Nein,  nein,  alle  diese  Dinge  zählen  nicht. 

Die  Liebe  ihrer  Soldaten,  das  Gute,  das  sie  ihnen  erweisen 
kann,  das  ist  alles. 

Ihre  Soldaten  !  Die  so  verkannten  und  so  niedrig  eingeschätzten 
englischen  Soldaten.  Wenn  Florence  mit  den  Offizieren  von 
Massnahmen  spricht,  die  zu  treffen  wären,  um  den  Alkohol- 
missbrauch zu  verhindern,  sehen  sie  diese  Herren  mitleidig  an. 
Auch  wenn  sie  davon  redet,  Lehrer  kommen  zu  lassen,  die  den 
Soldaten  viel  nützliche  Dinge  beibringen  könnten,  sagen  sie  ihr 
mit  etwas  verächtlicher  Ruhe  :  « Sie  verwöhnen  diese  Bestien». 

Ausdrücke  wie  man  sie  im  militärischen  Leben  von  anno 
dazumal  aussprechen  konnte.  Je  weniger  Intelligenz  em  Mensch 
besass,  um  so  besser  taugte  er  zum  Soldaten.  Die  Offiziere  nannten 
sie  « Bestien »,  diese  Soldaten,  die  Florence  so  gut  kannte, 
deren  Heldentum  aus  Geduld,  Begeisterung  und  Standhaftigkeit 
bestand.  Sie  waren  jeder  Grossmut  fähig  und  sahen  sich  jeder 
Erniedrigung  preisgegeben  !  Sinnlichkeit,  Trunksucht,  Verschwen- 
dung und  Schmutz  herrschten,  während  die  Offiziere  gleich- 
gültig und  apathisch  zusahen.  Mancher  Rekonvaleszent  war  wieder 
alkoholisiert  ins  Spital  zurückgekommen,  so  betrunken,  dass  er 

80 


daran  starb.  Florence  weiss,  welcher  hohen  Tugenden  der  arme 
Junge  fähig  war,  der  nun  in  einem  der  Krankensäle  an  Alkohol- 
vergiftung zugrundeging. 

Nein,  nein,  so  dürfen  die  Dinge  nicht  weitergehen. 

Florence  eröffnet  einen  Lesesaal  für  die  Rekonvaleszenten. 
Es  ist  nicht  leicht,  Vertrauen  und  Mut  zu  bewahren  in  einer 
Umgebung  voll  Unglauben  und  Skepsis.  Unmittelbar  darauf 
gründet  sie  eine  Art  Bank  und  ist  darin  gleichzeitig  Kassierin 
und  Direktorin.  Während  vier  Nachmittagen  im  Monat  nimmt 
sie  hier  das  Geld  entgegen,  das  die  Soldaten  nach  Hause  schicken 
wollen.  Dann  eröffnet  sie  ein  Kaffeehaus,  das  sich  von  der  Kantine 
der  Soldaten  wesentlich  unterscheidet. 

Das  Unwahrscheinliche  wird  wahr.  In  sechs  Monaten  schicken 
die  Soldaten  tausend  Pfund  Sterling  heim.  Sie  besuchen  das  neue 
Kaffeehaus  und  sind  immer  zahlreicher  im  Lesesaal  zu  treffen. 

« Gebt  den  Soldaten  die  Möglichkeit,  Geld  heimzuschicken, 
so  werden  sie  es  tun.  Gebt  ihnen  Schulen  und  Vorträge,  und 
sie  werden  sie  besuchen.  Gebt  ihnen  Bücher,  Spiele  und  Zer- 
streuung, und  sie  werden  sich  nicht  mehr  betrinken.  Gebt  ihnen 
Leiden  und  sie  werden  sie  ertragen.  Gebt  ihnen  Arbeit  und  sie 
werden  arbeiten. » 

So  denkt  Florence,  die  Freundin  der  Soldaten. 

So  schreibt  sie  an  ihre  Schwester,  die  ihr  jetzt  zur  wertvollen 
Mitarbeiterin  geworden  ist  und  ihr  Kiste  um  Kiste  unschätzbarer 
Dinge  schickt :  Hefte,  Federn,  Tinte,  Bücher  mit  Illustrationen, 
Druckschriften,  Zeitungen,  den  Vorläufer  des  Films,  die  «  Latema 
magica »,   Schachspiele,   Spielbälle,   Landkarten. 

Schulen,  Banken,  Erholungsheime  für  die  Soldaten...  In 
Skutari  hat  man  von  allem  ein  wenig.  Aber  in  der  Krim  ist  noch 
nichts  davon  vorhanden. 

Wie  lange  wird  der  Krieg  noch  dauern  ?  Im  Frühling  wird 
wiederum  die  Offensive  gegen  Sebastopol  beginnen,  und  es  fehlt 
noch  so  unendlich  viel  in  den  Spitälern.  Kriegsfrühling,  Frühling 
der  Sorge,  der  Kümmernis  und  der  Arbeit. 

81 


Wie  viele  Tote  !  Das  infektiöse  Fieber  hat  nicht  allein  unter 
den  Soldaten,  sondern  auch  unter  den  Ärzten  und  Pflegerinnen 
Opfer  gefordert.  Auch  der  Generalissimus  Lord  Raglan,  der 
einst  die  erkrankte  Florence  mit  so  freundschaftlicher  Liebens- 
würdigkeit besucht  hat,  ist  vom  Fieber  niedergeworfen  worden. 
Florence  verhundertfacht  ihre  Energie  :  die  Notwendigkeit  zu 
handeln  lässt  sie  vergessen,  dass  ihre  Kräfte  noch  nicht  wieder- 
gekehrt sind. 

Nun  ist  sie  in  der  Krim,  Sie  hat  diesmal  nicht  zu  befürchten, 
dass  sie  aus  einem  Hinterhalt  von  dem  bösen  Fieber  überfallen 
wird,  aus  dem  Boden  spriesst  das  erste  Grün  und  die  ersten  weissen 
Blumen.  Doch  in  den  Herzen  der  Menschen  regt  sich  nur  Zwie- 
tracht, Hass  und  Grausamkeit. 

Ist  es  möglich,  dass  die  begeisterten  Kundgebungen  in  der 
Heimat  auch  den  Neid  auf  dem  Felde  der  Arbeit  aufkeimen 
Hessen  ?  Man  hat  in  England  zu  viel  Wesens  vom  Guten  gemacht, 
das  die  Oberschwester  vollbrachte  ;  man  hat  ihr  Werk  allzusehr 
hervorgehoben  gegenüber  der  Tätigkeit  der  Ärzte,  als  dass  nicht 
rings  um  die  Gefeierte  eine  Atmosphäre  der  Feindseligkeit  ent- 
standen wäre.  Der  Grossteil  der  Sanitätsoffiziere,  angefangen 
beim  Generalinspektor  Dr.  Hall  bis  hinunter  zum  letzten  Unter- 
leutnant beargwöhnt  sie,  misstrauisch  und  feindselig. 

Ja,  das  ist  die  bitterste  Zeit. 

Kleinliche,  niederträchtige  Verfolgungen  jeden  Tag  und  zu 
jeder  Stunde.  Die  Arbeit  wird  bei  jedem  Schritt  erschwert,  und 
alles  geschieht  aus  dem  Hinterhalt.  Manchmal  wagen  die  Gegner 
den  offenen  Kampf.  Traurige  Zeit  anstrengender  Plage  mit 
wundem  Herzen. 

Aber  die  Soldaten  müssen  gepflegt  werden,  man  muss  ihnen 
helfen  —  nur  das  allein  zählt  für  Florence  ! 

Letzter  harter  Kriegsfrühling,  in  dem  sie  nicht  die  Feinde 
auf  dem  Schlachtfelde  zu  bekämpfen  hat,  sondern  die  Vorurteile, 
die   Lässigkeit,   die   Gewohnheiten,   das   Misstrauen,   den   bösen 

82 


Willen  :  alles  Gegner,  die  nicht  weniger  gewaltig,  nicht  weniger 
verbissen  sind. 

«  Warum  wünscht  Fräulein  Nightingale  so  viele  Neuerungen  ? 
Wir  stehen  nicht  das  erste  Mal  im  Feld  !  Es  ist  immer  so  gemacht 
worden  und  es  ist  nicht  notwendig,  soviel  Änderungen  durch- 
zuführen ! » 

So  raisonnieren  die  Sanitätsbeamten,  während  Florence  fort- 
während Tag  und  Nacht,  Stunde  für  Stunde  die  Zeugin  von 
Leiden  wird,  die  man  leicht  hätte  vermeiden  können. 

«  Warum  will  sie  immer  kommandieren  ?  Angenommen,  die 
Pflegerinnen  wären  wirklich  nützliche  Elemente  in  der  Kranken- 
pflege, so  sollte  sie  sich  damit  zufriedengeben,  dass  ihre  Zöglinge 
der  militärischen  Autorität  unterstellt  sind.  Was  braucht  sie  dann 
noch  weiter  einzugreifen  ?  » 

Florence  weiss  aber  genau,  dass  sie  die  Pflegerinnen  der  engli- 
schen Militärautorität  nicht  anvertrauen  darf.  Sie  weiss,  wenn 
sie  nicht  unaufhörliche  Wachsamkeit  über  ihre  Schützlinge  übte, 
diese  aus  eigenem  oder  fremdem  Verschulden  vom  erreichten 
Stand  herabgleiten  würden.  Sie  weiss  auch,  dass  die  Pflegerinnen, 
die  in  der  Krim  arbeiten,  einzig  und  allein  ihr  anvertraut  worden 
sind  und  dass  nur  sie  für  dieselben  die  Verantwortung  trägt. 
Darum  gibt  sie  nicht  nach. 

Tag  für  Tag  reitet  oder  fährt  sie  in  einer  primitiven,  schad- 
haften Kalesche  auf  den  steilen  Strassen  der  Krim.  Wenn  sie  weder 
Pferd  noch  Wagen  haben  kann,  um  zum  Spital  zu  gelangen,  so 
macht  sie  die  endlosen  Wege  zu  Fuss,  ohne  je  auszuruhen.  Tag 
für  Tag  unsagbare  Arbeit  der  Vorsorge  für  die  Spitäler,  die  der 
Feuerlinie  am  nächsten  liegen,  für  jene,  die  in  der  weiten  Land- 
schaft verstreut  sind,  für  Lazarette,  die  nicht  mehr  sind  als  Barak- 
ken, Zelte,  über  vier  Pfählen  errichtet,  eine  halb  verfallene  Kaserne 
—  während  immer  noch  mehr  Verwundete  eintreffen,  die  zusam- 
mengepfercht, mit  offenen,  blutenden  Wunden  in  andere  Spitäler 
weiter  transportiert  werden... 

83 


Tag  für  Tag  geopfert  einer  Arbeit,  die  der  heilige  Franziskus 
von  Assisi  gesegnet  haben  würde. 

Zwölf  Stunden  des  Harrens  auf  der  Schwelle  eines  Lazaretts. 
Es  schneit.  Doch  niemand  öffnet  die  Tür,  so  dringend  die  Frau 
auch  pocht  und  fleht,  um  Gottes  willen  zu  helfen. 

Zehn  Tage  vergehen,  und  den  Pflegerinnen  wird  keine  Speise 
gereicht.  Man  ignoriert  ihre  Anwesenheit. 

Florence  stellt  ihre  eigenen  Lebensmittelvorräte  zur  Ver- 
fügung. Tage  und  Nächte  vergehen,  in  denen  die  Intensität  der 
Arbeit  nur  von  ihrer  Bitterkeit  übertroffen  wird  und  von  der 
Freundlichkeit  und  dem  Gleichmut,  mit  dem  Florence  sie 
hinnimmt. 

Wenn  die  Soldaten  den  Hufschlag  ihres  Pferdes  oder  das 
Räderrollen  ihrer  Kalesche  vernehmen,  wenn  sie  wissen,  dass  sie 
im  Spital  ist,  dann  glüht  ein  Strahl  der  Freude,  der  Hoffnung 
und  der  Ruhe  in  ihren  Herzen  auf. 


Frieden 

Frieden  ! 

Er  ist  da.  Endlich,  endlich  ! 

Der  Friede,  die  Freude,  die  Befreiung  von  dem  entsetzlichen 
Alpdruck,  dem  höllischen  Streiten  in  Blut  und  Tod  !  Rückkehr  ins 
Leben,  Heimkehr  der  Soldaten  ins  Vaterland  ! 

Nicht  mehr  die  schmerzverzerrten,  blutenden,  stöhnenden, 
verstümmelten,  verzweifelten,  sterbenden,  todbleichen  Jungens 
kommen  sehen  und  nicht  mehr  in  die  unnatürlich  erweiterten 
Augen  schauen  zu  müssen,  die  fragen  «  warum  ?  »,  die  um  Barm- 
herzigkeit flehen,  die  beschwören,  ihnen  nicht  so  viel  Pein  zuzu- 
fügen !  Nicht  mehr  das  wunde  Fleisch  sehen  zu  müssen,  diese 
verrenkten  und  zuckenden  Leiber.  Nicht  mehr  bei  der  Abfahrt 
von  Männern  zugegen  sein  zu  müssen,  die  verstümmelt  nach 
Hause  zurückkehren,  die  ihre  Jugend  verloren  haben  ! 

84 


Die  Pflicht  der  Soldaten  ist  vollbracht :  sie  verlassen  den  Boden 
des  Orients. 

Aber  Florence  bleibt.  Solange  die  Spitäler  noch  in  Betrieb 
sind,  solange  noch  eine  einzige  Pflegerin  der  Heimat  fem  ist, 
wird  auch  Florence  nicht  zurückkehren. 

Endlich  ist  alles  abgeschlossen.  Die  letzte  Pflegerin  ist  fort. 
Aus  Florencens  Seele  erhebt  sich  ein  inbrünstiges  Gebet,  ein 
Hymnus  des  Dankes  an  Gott.  Ihr  Herz  ist  übervoll,  ihre  Dank- 
barkeit namenlos.  Der  Herr  hat  das  Feuer  gesehen,  das  in  ihr 
glühte.  Der  Herr  hat  ihr  gewährt,  Seine  Magd  zu  sein. 

In  Skutari  am  Meeresstrand  steht  ein  blendend  weisses,  hohes 
Kreuz.  Es  ist  die  Opfergabe  von  Florence  Nightingale,  die  sie 
dem  Allmächtigen  dargebracht  hat,  und  sein  weisses  Leuchten 
beschützt  die  englischen  Soldaten,  die  fern  der  Heimat  für  England 
gefallen  sind. 

Mit  Ungeduld  erwartet  England  die  Frau,  die  zum  Segen 
der  Soldaten  geworden  ist.  Es  jubelt  ihr  entgegen  und  fordert 
für  sie  Ehren  und  Triumph, 

Ehren,   Musik,   Festlichkeiten,   Triumph  ?   Für  wen  ? 

Wer  darf  hier  von  Opfern  sprechen  ? 

Es  ist  ja  kein  Opfer,  wenn  man  den  Gesetzen  seiner  edlen 
Natur   nachlebt !   Nein,    Florence   hat   sich   keineswegs   geopfert. 

Ist  denn  ihre  Mission  schon  vollbracht  ?  Ach  nein  !  Ihre 
Mission  hat  erst  begonnen,  die  Mission,  der  zuliebe  sie  von  klein 
auf  so  harte  Kämpfe  geführt... 

Es  beginnt  erst  der  schwierigste  Teil  ihres  Werkes. 

Still.  Jubelt  ihr  nicht  zu  !  Die  Frau,  die  ihr  im  Triumph 
durch  die  Strassen  tragen  wollt,  ist  fem  von  Gedanken  an  Ehren 
und  Ruhm.  Sie  hat  Ruhe  nötig  —  denn  sie  ist  müde  ! 

Man  will,  dass  sie  auf  einem  Kriegsschiff  in  die  Heimat  zurück- 
kehre, will  sie  mit  flatternden  Fahnen  und  klingenden  Fanfaren 
im  Hafen  empfangen. 

85 


Nein.  Das  will  und  kann  sie  nicht  annehmen.  Sie  braucht 
vollständige  Einsamkeit,  um  sich  von  diesen  ersten  schweren 
Mühen  zu  erholen. 

Und  in  aller  Stille  kommt  sie  an,  ohne  irgend  jemand  zu 
benachrichtigen.  Nur  Tante  May,  die  ihr  in  den  Orient  nach- 
gereist ist,  als  ihre  Freunde  Bracebridge  nach  England  zurück- 
kehrten, nur  sie  allein  ist  ihre  Gefährtin  gewesen,  die  sie  in  trüben 
Stunden  aufgerichtet  hat.  Nach  einem  kurzen  Erholungsaufenthalt 
bei  den  Schwestern  von  Bermondsey  —  ein  Aufenthalt  der 
Sammlung,  Erhebung  und  frommer  Meditation  —  kommt  sie 
zu  Hause  an. 

In  der  kleinen  Kirche  droben  auf  dem  Hügel  ertönt  die  Glocke 
als  sie  ankommt,  und  am  nächsten  Tage  ist  die  ganze  Familie 
in  der  Kapelle  vereint,  betet  und  dankt  voll  Inbrunst  dem  Herrn. 


Statistik  der  Sterblichkeit 

Wird  Florence  die  4500  Soldaten,  die  sie  sterben  sah,  je 
vergessen  können  ? 

Nicht  alle  haben  ihr  Leben  der  Grösse  des  Vaterlandes  hin- 
gegeben. Viele  wären  noch  frisch  und  gesund,  würden  heute 
mehr  als  je  eine  Quelle  der  Kraft  für  die  Heimat  bedeuten,  wären 
die  Militärspitäler  nicht  so  grauenhaft  verwahrlost  und  mangelhaft 
ausgerüstet  gewesen,  hätte  nicht  eine  völlige  Nichtbeachtung  der 
grundlegendsten  Gesetze  der  Hygiene  vorgeherrscht.  Die  Toten 
—  nicht  die,  welche  ihr  Leben  mit  Freuden  auf  dem  Schlachtfeld 
im  Kampf  für  eine  Idee  dahingaben  —  wohl  aber  jene,  die  von 
Spital  zu  Spital  geschleppt  worden  waren  und  vergebens  um  das 
Leben  baten  und  flehten,  das  ihnen  hätte  erhalten  werden  müssen, 
diese  Toten  geben  ihrer  Pflegerin  keine  Ruhe. 

Florence  will  ihr  Recht  für  sie  durchsetzen.  Hat  sie  doch  den 
Soldaten  unten  in  der  Krim  ihr  eigenes  Leben  dargeboten.  Warum 

86 


vernimmt  man  die  Stimmen  dieser  Soldaten  nicht  —  sie,  die  sie 
überlebt  hat,  muss  ihr  Gelübde  halten.  Immer  wieder  kommt 
die  Frage:  warum  sind  so  viele  Soldaten  gestorben,  ohne  Sinn 
und  Notwendigkeit  ?  Ist  es  unvermeidlich,  muss  die  Organisation 
der  Militärspitäler  in  Kriegszeiten  so  grauenvoll  sein,  wie  Florence 
sie  vorgefunden  ?  Warum  sind  alle  Militärärzte  so  untätig,  fata- 
listisch und  gleichgültig  ? 

Und  es  kommt  die  schwerwiegende  Frage  : 
Was  sind  denn  eigentlich  die  Militärspitäler  im  Frieden  ? 
Jetzt  ist  Florence  mit  einer  Tätigkeit  beschäftigt,  die  niemand 
vor  ihr  in  irgend  einer  Form  auszuüben  versucht  hat,  sie  vergleicht 
die    Statistik    der    Sterblichkeit    der    Zivilbevölkerung    mit    der 
Sterblichkeit  des  Militärs  in  Friedenszeiten. 
Und  dieser  Vergleich  ist  eine  Erkenntnis. 
Zwischen  dem  20.  und  35.   Lebensjahr  ist  die  Sterblichkeit 
der    Zivilbevölkerung    elf    zu    Tausend,    die    des    Militärs    aber 
siebzehn  bis  zwanzig  zu  Tausend. 

Was  ist  der  Grund  dafür  ?  Die  Soldaten  müssten  ja  der 
gesündeste  Teil  der  Bevölkerung  sein,  werden  sie  doch  aus  den 
Kräftigsten  der  Nation  rekrutiert.  Warum  ist  also  der  Prozentsatz 
der  Sterblichkeit  unter  ihnen  so  hoch  ?  Florence  fühlt  intuitiv 
die  Wahrheit. 

In  den  Militärspitälem  bestehen  schon  in  Friedenszeiten 
Mängel  und  Nachteile,  die  während  eines  Krieges  zu  jenen  furcht- 
baren Ergebnissen  führen,  deren  Zeugin  sie  geworden  ist. 

Es  ist  darum  notwendig,  die  Militärspitäler  von  Grund  auf 
umzuwandeln. 

« Wir  hören  voll  Entsetzen,  dass  400  Mann  in  Birkenhead 
umkamen,  weil  die  Bewachung  des  Meeres  keine  ausreichende 
war.  Was  würden  wir  aber  gesagt  haben,  wenn  wir  gewusst  hätten, 
dass  1 1 00  Mann  unseres  Heeres  in  unserem  Lande  aus  Gründen 
die  hätten  vermieden  werden  können,  den  Tod  fanden  ?  » 

Die  Militärspitäler  reformieren  ?  Eine  solche  Kühnheit  in 
einem    bequemen,    gewohnheitsmässigen,    bürokratischen    Milieu 

87 


versuchen  zu  wollen,  wo  jede  Reform  Feindseligkeit,  Misstrauen 
und  hartnäckigen  Widerstand  hervorruft  ? 

Florence  Nightingale,  Du  weisst  noch  nicht,  was  das  englische 
Militärsanitätswesen  bedeutet... 

Doch  sie  weiss  es  wenigstens  in  grossen  Umrissen.  Aber  die 
Toten  mahnen  sie,  damit  sie  die  Lebenden  mahne. 

Es  sind  viele,  die  bereit  sind,  sie  zu  umjubeln.  Doch  nur  wenige 
sind  entschlossen,  ihr  zu  folgen.  Um  die  vielen  kümmert  sie  sich 
wenig  —  nur  die  wenigen  sind  ihre  Freunde. 

Alle  loben  sie  —  was  ist  das  Lob  anderes  als  Eitelkeit  ?  Ihre 
Arbeit  in  der  Krim  hat  ihr  bestätigt,  was  sie  schon  wusste  :  man 
lebt,  um  zu  dienen.  Ihre  Soldaten  mit  ihren  Briefen,  jene  Zu- 
stimmung der  Demütigen  dringt  unmittelbar  in  ihr  Herz.  Alles 
übrige  ist  Schall  und  Rauch.  Was  ist  der  Ruhm,  den  Menschen 
gewinnen  können  ? 

«  Ruhm  hat  die  Farbe  des  Grases, 

das   kommt  und  vergeht,  und  jene   rauben  ihm  die   Farbe, 

für  die  es  aus  der  starren  Erde  sprosst. » 

Aber  es  gilt  ja  das  Leben  der  1100  Soldaten  zu  bewahren, 
die  das  Vaterland  alljährlich  sterben  lässt. 


Florence  macht  während  ihrer  Erholung  keine  völlige  Arbeits- 
pause. Sie  forscht  nach  den  Ursachen  jener  Übel,  die  sie  erkannt 
hat  und  von  denen  die  bitteren  Erfahrungen  in  der  Krim  ihr  ein 
so  deutliches  Bild  hinterlassen  haben.  Sie  studiert  die  in  Frage 
kommenden  Reformen.  Sie  setzt  sich  mit  allen  Menschen,  die  guten 
Willens  sind  und  die  sie  kennt,  in  Verbindung :  Mit  Sidney 
Herbert,  der  sie  in  den  Orient  entsandte,  und  mit  den  anderen 
wenigen  aber  treuen  Freunden,  die  dort  unten  die  militärische 
Organisation  und  ihre  eigene  Seele  klar  erkannt  haben.  Es  sind 

88 


Oberst  Tulloch,  Sir  John  Mac  Neill,  Oberst  Lefroy  und  Dr.  John 
Sutherland.  Dr.  John  Sutherland  gehört  zu  den  bekanntesten 
Ärzten  von  London.  Er  nimmt  an  allen  offiziellen  medizinischen 
Kommissionen  teil.  Er  ist  ein  Ehrenmann  und  Florence  fühlt, 
dass  man  ihm  vertrauen  kann.  Wie  alle  anderen  Freunde,  hat 
er  den  Mut,  die  einzigartige  Pflichttreue  von  Florence  in  der 
Krim  zu  bewundern  ;  ebenso  wie  die  anderen,  ist  er  bereit,  mit 
ihr  und  für  sie  zu  arbeiten,  die  gute  Sache  zu  verteidigen.  Unabläs- 
sige und  stille  Vorbereitungen  in  Lea  Hurst,  ihr  Verlauf  ist  heiter, 
sicher,  ohne  die  Fieberhaftigkeit,  die  ehemals  das  tapfere  Mädchen 
quälte,  als  sie  sich  vor  verschlossenen  Pforten  sah.  Jetzt  sind 
die  Anforderungen  viel  grösser,  die  Aufgabe  viel  schwieriger, 
aber  Florence  sieht  einen  Weg  und  nicht  mehr  eine  Mauer  vor 
sich. 

Ein  Domenweg  !  Wird  es  je  gelingen  die  mächtige  Gegnerschaft 
einer  trägen,  konservativen  Bürokratie  zu  überwmden,  die  sich 
nie  hartnäckiger  zeigt,  als  wenn  es  gilt,  unbequeme  Neuerungen 
zu  sabotieren  ? 

Florence  hält  ihre  Waffen  zum  ehrlichen  Kampf  für  die  Militär- 
reform bereit.  Sie  studiert  und  denkt.  Sie  prüft  Bogen  um  Bogen 
der  Spitalstatistik,  der  sanitären  Rechenschaftsberichte.  Und 
inmitten  ihrer  Arbeit,  in  der  Stille  von  Lea  Hurst,  erreicht  sie 
ein  Brief,  der  so  segensreich  ist,  wie  jener,  den  sie  im  Gouver- 
nantenheim erhielt  und  der  sie  in  die  Krim  schickte.  Vielleicht 
ist  auch  dieser  eine  Hilfe,  ein  Wink  Gottes. 

Der  Brief  ist  von  dem  Freunde  Sir  James  Clarke,  dem  Leibarzt 
der  Königin  Viktoria,  und  bringt  eine  einfache,  warmherzige 
Einladung. 

«  Kommen  Sie  nächsten  Monat  zu  mir  aufs  Land  nach  Birk 
Hall.  Die  frische  Luft  von  Schottland  wird  Ihnen  wohl  tun. 
Und  dann  kommt  ja  auch  der  Hof  bald  nach  Balmoral.  Sie  werden 
ohne  Zweifel  zur  Königin  gerufen  werden  und  ausser  dem  offi- 
ziellen Besuch  in  Balmoral  werden  Sie  ruhige  und  private  Unter- 
redungen in  Birk  Hall  führen  können.  » 

89 


Auge  in  Auge  mit  jenen  sprechen  können,  die  das  Land  regieren ! 

Die  Gelegenheit  haben,  die  Königin  Viktoria,  den  Prinzen 
Albert  und  vielleicht  auch  den  Kriegsminister  Mr.  Panmure  zu 
informieren.    Ihnen  unverblümt  zu  sagen,  wie  die  Dinge  stehen. 

Florence  Nightingale  fühlt  die  volle  Bedeutung  und  den  Ernst 
der  Stunde.  Sie  hat  die  Aufmunterung  der  Freunde  nicht  nötig, 
die  in  diesen  Unterredungen  eine  grosse  Chance  für  das  Gelingen 
ihrer  Pläne  erblicken.  Sie  hat  den  Entschluss  gefasst,  nach  Birk 
Hall  zu  gehen.  Sie  ist  sich  klar,  dass  nun  Sieg  und  Niederlage  in 
ihrer  Hand  liegen  und  dass  sie  mit  ganzer  Seele  wirken  muss. 

Wird  es  ihr  gelingen,  die  Königin  und  den  Prinzgemahl  von 
den  zahllosen  Irrtümern  und  Untaten  zu  überzeugen,  die  Tag 
für  Tag  in  ihrem  Namen  von  den  höchsten  und  treusten  zivilen 
und  militärischen  Würdenträgem  vollbracht  werden  ? 

Wird  es  glücken,  Lord  Panmure  zu  überzeugen  ?  Jenen  Lord 
Panmure,  den  seine  Feinde,  aber  auch  seine  Freunde  den  «  Büffel  » 
nennen,  weil  er  so  langsam,  bärtig  und  störrisch  ist,  so  misstrauisch 
gegen  alles  und  alle  und  ganz  besonders  gegen  die  Frauen,  wenn 
diese  sich  mit  Dingen  beschäftigen,  die  sie  nichts  angehen  ? 

Florence  fährt  nach  Birk  Hall  und  die  Freunde  harren  voll 
Sorge  des  Kommenden. 

In  den  zahlreichen  Unterredungen  in  Birk  Hall  und  Balmoral 
stellt  Florence  den  genauen  Stand  der  Dinge  dar,  überzeugt  die 
Königin  und  den  Prinzgemahl  und  erweckt  in  ihnen  den  Wunsch, 
die  erträumten  Reformen  möchten  zur  Wirklichkeit  werden. 

Inzwischen  werden  die  Freunde  unruhig.  Die  Königin,  den 
Prinzgemahl  zu  überzeugen  und  zu  erobern  ist  verhältnismässig 
leicht  —  aber  den  Kriegsminister  ?  Wem  ist  es  je  gelungen,  seine 
eigenen  Ideen  in  den  harten  Schädel  dieses  intelligenten,  aber 
rückständigen  Eigenbrötlers  eindringen  zu  lassen  ? 

Aber  Florence  hat  weder  Theorien  vorzutragen  noch  die  Lust 
zu  langwierigen  Diskussionen.  Florence  erzählt,  mit  ihrem  Mit- 
gefühl für  die  leidenden  Soldaten,  scharfsichtig  die  Quellen  der 
Schäden  aufdeckend,  die  gewagtesten  Reformen  auf  das  klarste 

90 


darlegend.  Florence  verschwindet  demütig  und  bescheiden  hinter 
dem  Feuerbrand  des   Ideals,  der  sie  belebt. 

Was  verlangt  sie  für  sich  ?  Nichts  1  Für  die  Soldaten  alles  ! 
Für  diese  Soldaten,  ihre  Kinder,  die  Kinder  der  englischen  Frauen, 
bewundemsv^^ert  durch  ihre  Kraft  zu  leiden  und  zu  sterben,  ohne 
zu  klagen.  Und  auch  er,  der  alte  Büffel,  wird  von  solcher  Inbrunst 
und  von  solcher  Demut  besiegt. 

Nein,  niemals  wird  Florence  Nightingale  etwas  für  sich  ver- 
langen. Der  Kriegsminister,  der  es  gewohnt  ist,  sich  jeden  Tag 
gegen  Leute  zu  verteidigen,  die  ihn  aus  persönlichen  Motiven  auf- 
suchen, weiss  und  fühlt  das.  Er  fühlt,  dass  die  Oberschwester 
richtig  gesehen  hat,  dass  die  Übel  tatsächlich  bestehen  und  eme 
Besserung  möglich  ist. 

Er  betraut  Florence  damit,  einen  Rechenschaftsbericht  über 
ihre  Eindrücke  in  der  Krim  abzufassen  und  eine  Darlegung  der 
Militär-Reform  zu  geben,  wie  sie  sie  für  notwendig  hält.  Er  stimmt, 
vorläufig  theoretisch,  der  Ernennung  einer  königlichen  exekutiven 
Kommission  und  der  Gründung  eines  militärischen  Instituts  für 
Medizin  zu. 


Die   Regierungskommission 

Grosser  Jubel  herrscht  in  dem  kleinen  Freundeskreis  als 
Florence  zurückkehrt  und  von  ihren  Unterredungen  und  Aufgaben 
erzählt.  Es  geht  an  ein  eifriges  Suchen  neuer  Anhänger,  um  den 
Kreis  der  Apostel,  der  Mitarbeiter  zu  erweitem. 

Ist  die  Opposition  auch  überwunden  ?  Zählen  Promemorien 
und  Projekte  überhaupt  in  der  Welt  des  Militarismus  ?  Der  eine 
bemüht  sich  darum  und  tausend  andere  lassen  die  Pläne  liegen, 
ohne  sich  darum  zu  kümmern.  Wer  hat  Sehnsucht  nach  Reformen  ? 
Wer  ist  so  töricht,  sich  Mühen  und  unnötige  Anstrengungen 
aufzubürden,  die  er  sich  ersparen  kann  ?  Diese  menschlichen 
Maschinen,  die  heute  so  denken  wie  gestern  und  gestern  wie 

91 


vorgestern,  sollen  in  Bewegung  gesetzt  werden...  Es  ist  notwendig, 
sich  mit  dem  Kriegsminister  über  die  neuen  Persönlichkeiten  zu 
verständigen,  welche  an  der  Regierungskommission  für  die  Refor- 
men teilnehmen  sollen.  Die  Baupläne  für  das  neue  Militärspital 
in  Netley,  dessen  Grundmauern  schon  fertig  sind,  müssen  geän- 
dert werden.  Denn  diese  Pläne  sind  genau,  wie  die  der  bisher 
errichteten  Spitäler,  auf  ein  einziges,  ungeheures  Gebäude  ein- 
gestellt und  nicht,  wie  Fräulein  Nightingale  es  wünscht  —  wie 
überspannt,  sagen  die  Leute  —  in  einzelne  Pavillons  abgeteilt. 
Warum  soll  man  nicht,  wie  dies  bisher  immer  der  Fall  war,  in 
einem  Riesenbauwerk  alle  Patienten  vereinigen  ?  Das  sind  geradezu 
«  wirkliche  Revolutionen  »  —  wer  soll  das  begreifen  ?  Die  Gründe 
dafür  werden  von  so  wenigen  verstanden,  dass  das  neue  Spital 
so  gebaut  wird,  wie  es  die  « Vernünftigen »  wollen,  also  nicht 
in  Pavillonform,  sondern  als  Riesengebäude... 

Darob  allgemeine  Genugtuung.  Das  gute  Fräulein  hat  das 
Spital  verloren... 

Verloren  ?  Das  Spital  von  Netley  ist  das  letzte  englische 
Krankenhaus,  das  nach  altem  System  erbaut  wurde,  und  von  da 
an  werden  die  Patienten  in  Pavillons  untergebracht,  die  rings  um 
das  Mittelgebäude  gruppiert  sind,  in  dem  sich  der  allgemeine 
Dienst  abwickelt.  Auf  diese  Art  werden  alle  Teile  des  Kranken- 
hauses rasch  und  unmittelbar  mit  den  Speisen  und  allem  Nötigen 
versorgt,  können  aber  auch  augenblicklich  voneinander  isoliert 
werden,  wenn  je  eine  Infektionskrankheit,  eine  Epidemie  sich 
entwickeln  sollte. 

Von  November  bis  Mai  —  sechs  Monate  sind  erforderlich,  bis 
es  zur  Ernennung  der  Regierungskommission  kommt.  Diese 
Kommission  wird  allen  zur  Plage  werden,  den  Schlaf  von  so  viel 
bequemen  Funktionären  stören  und  Gott  weiss  wie  viele  extra- 
vagante neue  Systeme  einführen,  die  gewiss  schlechter  sind  als 
die  früheren.  Diese  übereifrigen  jungen  Menschen,  die  es  sich  in 
den  Kopf  setzen,  die  Welt  umzugestalten,  ohne  sich  davon  Rechen- 
schaft abzulegen,  dass  die  Erfahrung  der  grösste  Meister  ist  ! 

92 


Auch  der  «  Büffel  »,  der  damber  nachgedacht  hat,  fühlt  wenig 
Sympathie  für  die  Regierungskommission,  die  wahrscheinHch 
keinen  Hund  hinter  dem  Ofen  hervorlocken  und  einen  Berg  von 
Unannehmlichkeiten  schaffen  wird.  Wenn  er  Zeit  hat  und  sich  wohl 
befindet,  freut  es  ihn,  auf  seinen  Gütern  zu  jagen  —  Sorgen  und 
Kopfzerbrechen  hat  er  im  Überfluss  —  dazu  fesseln  ihn  immer 
häufiger  Gichtanfälle  an  seinen  Lehnstuhl,  ebenso  wie  eine  tüchtige 
Dosis  Apathie,  die  seine  Untergebenen  kennen  und  aus  der  sie  ihren 
Vorteil  ziehen.  All  dies  lässt  ihn  den  «Status  quo»  zurückwünschen. 

Aber  das  gibt  es  nicht !  Hinter  der  Langsamkeit  und  Apathie 
des  Kriegsministers  steht  ein  unbezwinglicher  Arbeitswille,  den 
niemand  sieht,  der  aber  ohne  Unterlass  wacht  und  drängt.  Es 
ist  die  Pflegerin  der  Soldaten  in  der  Krim,  es  ist  das  Versprechen, 
das  sie  ihren  Toten  gegeben  hat.  Kein  englischer  Soldat  wird 
künftig  ohne  Notwendigkeit  geopfert  werden. 

Zwei  Kämpfer  :  Der  eine  ist  der  mächtige  und  massige  Minister, 
der  will  und  doch  nicht  will,  an  der  Spitze  eines  gewaltigen  kom- 
pakten Heeres  von  hohen  und  niederen  Offizieren,  die  insgesamt 
nicht  wollen  ;  der  andere  ist  eine  zarte,  erschöpfte  Frau,  um  die 
sich  eine  kleine  Gruppe  glühender  Anhänger  schart... 

Florence  gedenkt  immer  wieder  der  vergangenen  Kämpfe,  die 
ihren  Charakter  gestählt  und  ihren  Widerstandswillen  gestärkt 
haben.  Gestern  handelte  es  sich  darum,  die  Konvention  und  die 
Vorurteile  zu  überwinden,  welche  einer  Familie  das  Recht  gaben, 
ihrer  persönlichen  Ruhe  das  Interesse  einer  Nation  zu  opfern ! 
Heute  handelt  es  sich  darum,  die  Konventionen,  die  Vorurteile 
zu  besiegen,  die  dem  Kommando  des  englischen  Heeres  das  Recht 
geben,  der  eigenen  schlechten  Organisation  das  Leben  ihrer 
Volksgenossen  zu  opfern. 

Ohne  dem  Kriegsminister  Ruhe  zu  geben,  der  noch  immer 
zögert,  die  Mitglieder  der  königlichen  Kommission  für  die  Refor- 
men zu  ernennen,  Tag  für  Tag  ihre  Getreuen  anfeuernd,  überzeugt 
sie  die  Unsicheren,  gewinnt  sie  für  ihre  Sache  neue  Freunde. 
Florence    schreibt    das    Promemoria,    jenes    Buch,    das    niemals 

93 


veröffentlicht,  dennoch  der  Ausgangspunkt  des  Ministeriums  für 
alle  Reformen  wurde,  die  darauf  abzielten,  den  englischen  Soldaten 
zu  ihrem  Rechte  zu  verhelfen,  einem  Recht,  das  sie  niemals  forder- 
ten, noch  zu  fordern  gedachten. 

Sie  wissen  es  nicht  und  werden  darum  der  Schöpferin  aller 
Reformen  nicht  dankbar  sein.  Aber  es  ist  einzig  ihr  Verdienst, 
wenn  in  Zukunft  die  Spitäler  so  gebaut  werden,  dass  den  Patienten 
überflüssige  Leiden  und  Unzukömmlichkeiten  erspart  bleiben ; 
wenn  die  Pflegerinnen  erkennen,  wie  ungeheuer  wichtig  die 
Kranken-  und  Verwundetenpflege  ist,  und  wenn  die  Ärzte  ge- 
wissenhafter  und    menschlicher   ihrer  Aufgabe   gegenübertreten. 

Bestärkt  durch  ihre  Erfahrung,  durch  die  durchgemachten 
Leiden,  so  viele  leiden  gesehen  zu  haben,  durch  ihre  Hellsichtig- 
keit in  der  Untersuchung  und  der  Zusammenfassung  der  Ursachen 
aller  Übel,  schreibt  Florence  ihr  denkwürdiges  Buch,  das  nur 
wenigen  zu  lesen  vergönnt  sein  wird,  aber  das  zum  Instrument 
wird,  die  Sterblichkeit  im  englischen  Heere  zu  vermindern  und 
dieses  selbst  nach  neuen  Grundsätzen  zu  organisieren.  Es  sind 
830  Seiten  geworden,  die  sich  in  ihrem  klaren  Stil  vortrefflich 
lesen  lassen  und  auf  denen  Tatsachen,  Folgerungen,  Schlüsse  und 
Ziffern  vorherrschen. 

Die  Reformen,  die  von  allen  Gesichtspunkten  aus  studiert 
und  geprüft  sind,  nicht  nur  unter  dem  Gesichtspunkt  der  Spitaler- 
fordemisse,  sondern  auch  unter  jenem  der  Erziehung,  der  Beschäf- 
tigung und  der  Karriere  der  Regimentsärzte,  unter  dem  Gesichts- 
punkt der  Küchenbetriebe  und  der  Diättabellen,  dem  des  Kom- 
missariats, der  Wäschereien,  der  Militärkantinen,  der  Beschäfti- 
gung der  Soldatenfrauen.  In  Aussicht  genommen  war  darin  auch 
das  höchst  notwendige  statistische  Büro,  das  den  Prozentsatz  der 
Sterblichkeit  in  den  verschiedenen  Schichten  der  Zivil-  und 
Militärbevölkerung  zusammenstellt  und  untersucht,  worauf  sich 
die  Verbesserungspläne  der  Zukunft  zu  stützen  haben. 

Endlich  ist  die  Kommission  ernannt  und  sie  beginnt  mit 
ihren  Arbeiten. 

94 


Und  man  muss  zugeben,  dass  die  Offiziere  und  Ministerial- 
beamten  etwas  besorgt  über  die  Sachlage  nachzudenken  beginnen. 

«Doch  wie  viele  königliche  Kommissionen  sind  ernannt  worden, 
haben  getagt  und  wieder  getagt  und  haben  trotzdem  nichts  voll- 
bracht... Wird  das  auch  diesmal  so  sein  ?  Wir  müssen  das  beste 
hoffen...  » 


Die  Arbeit  ruhen  lassen 

Welch  seltsames  Gefühl,  sich  gleichsam  in  einem  leeren  Raum 
zu  wähnen,  wenn  eine  schwere  Müdigkeit  den  ganzen  Körper 
erfasst  und  jeden  Atemzug  erschwert ! 

Florence  will  auf  ihr  Befinden  keine  Rücksicht  nehmen.  Aber 
das  Gefühl  kehrt  jeden  Tag  wieder,  verhindert  sie  am  schla- 
fen, nimmt  ihre  Nerven  in  Anspruch,  die  Knochen,  die  Lunge. 
Das  Herz  pocht  zum  Zerspringen,  es  hämmert  in  den  Schläfen  ; 
Schultern  und  Hals  erstarren  zu  Eis. 

Der  ganze  Köper  zieht  sich  schmerzhaft  zusammen,  tausend 
Nadeln  scheinen  den  Kopf  zu  durchbohren,  den  Rücken,  die 
Seiten.  Jede  Bewegung  wird  namenlose  Pein. 

Die  zarte  Gestalt  wird  völlig  unkörperlich,  die  azurblauen 
Augen  werden  übergross  in  dem  abgezehrten  Antlitz... 

Die  Freunde  sind  voll  Angst. 

«  Florence,  kannst  Du  denn  nicht  ein  wenig  ausruhen  ?  Du 
hast  so  ungemein  viel  gearbeitet.  Alle  ruhen  sich  nach  der  Arbeit 
aus.  Es  ist  notwendig  eine  Pause  zu  machen  —  die  Arbeit  etwas 
liegen  zu  lassen.  » 

Die  Arbeit  liegen  lassen  ?  Wie  wäre  das  möglich  ? 

Die  Arbeit  liegen  lassen,  heisst  aufgeben,  was  sie  unternommen 
hat,  das  Versprechen  brechen,  das  sie  ihren  Toten  gegeben  hat. 
Es  heisst  die  vielen  Mühen  vergebens,  die  bis  heute  errungenen 
Siege  nutzlos  machen. 

95 


Ach,  Florence  weiss  genau,  dass  im  Lager  der  Feinde,  in  den 
Büros  des  Kriegsministeriums  alle  bereit  sind,  zu  vergessen,  zu 
schweigen,  die  Spitäler  und  das  Heer  wie  bisher  weiterexistieren 
zu  lassen,  die  Soldaten  wie  bisher  sterben  zu  lassen  ;  wie  bisher, 
ohne  dass  irgend  jemand  es  merkte  ! 

Das  weiss  Florence  —  wie  könnte  sie  ruhen  und  rasten  ? 

Ihre  Ziffern,  die  furchtbaren  Ziffern,  welche  die  Sterblichkeit 
im  Heere  darlegen  und  aufzeigen,  um  wieviel  grösser  sie  ist,  als 
die  der  Zivilbevölkerung,  diese  Ziffern,  die  sie  nach  so  mühseligem 
Forschen  zusammengestellt  hat,  wem  erscheinen  sie  tränenschwerer 
und  brennender  als  ihr,  wer  trägt  sie  tiefer  in  Seele  und  Körper 
eingegraben,  als  sie  ? 

Sie  sieht  diese  Ziffern  stets  vor  sich  und  vernimmt  das  Röcheln 
der  Sterbenden. 

Vielleicht  ist  auch  sie  dem  Tode  nah  ? 

Kann  sie  aber  rasten,  solange  nicht  auch  die  anderen  die  dro- 
hende Mahnung  der  Ziffern  erkannt  haben  ?... 

Allein,  auf  ihrem  Ruhebett  am  Fenster  scheint  Florence,  die 
bei  geschlossenen  Augenlidern  qualvoll  Atem  holt,  in  ihrer  unsäg- 
lichen Müdigkeit  nur  noch  ein  Schatten,  ihr  Antlitz  ist  totenbleich. 

Eine  seltsame  Krankheit,  die  niemand  recht  erkennt.  Fiebernd 
und  erschöpft,  isst  und  schläft  Florence  überhaupt  nicht  mehr. 
Ihr  Herz  pocht  unerträglich  ;  und  immer  diese  Todeskälte  in 
Schultern  und  Nacken. 

Die  Eltern  sind  verzweifelt,  die  Freunde  beunruhigt.  Das  ist 
ja  kein  lebendes  Wesen  mehr  :  es  ist  eine  glühende  Seele,  in  einem 
Körper,  der  abstirbt. 

Dr.  John  Sutherland,  der  ein  leidenschaftlicher  Verehrer  von 
Florence  geworden  ist,  seit  er  Zeuge  ihrer  wundervollen  Arbeit 
in  der  Krim  war,  ist  jetzt  auch  Mitglied  der  Kommission  für  die 
Reformen.  Auch  er  bittet  sie,  sich  zu  schonen. 

«  Ich  will  Ihr  Leben  und  Ihre  Arbeit.  Sie  aber  wollen  arbeiten 
und  sterben,  und  das  ist  keineswegs  vernünftig.  Von  ganzem 
Herzen  bewundere  ich   Ihren  Heroismus  und   Ihre  Hingebung. 

96 


Aber  ach  I  ich  kann  nicht  vergessen,  dass  all  das  in  einem  schwachen, 
sterbHchen  Leib  eingeschlossen  ist.  Darf  ich  Sie  darum  ermutigen, 
diesen  Leib  zu  zerstören,  in  dem  unnützen  Versuch,  nicht  nur 
die  Menschen,  sondern  auch  die  Zeit  zu  überwinden  ?  Sie  können 
sich  meine  Pein  nicht  vorstellen,  die  ich  empfinde,  wenn  ich  Sie 
dahinschwinden  sehe  ob  einer  Anstrengung,  die  nur  ein  sehr 
kräftiger  Organismus  ertragen  könnte...  » 

Nicht  einmal  Dr.  Sutherland  zuliebe  vermag  Florence  nach- 
zugeben. Alles,  was  der  gute  Arzt  und  treue  Freund  erreichen 
kann  ist,  sich  persönlich  nach  Malvern  zu  seiner  Patientin  zu 
begeben,  um  ihr  bei  ihrer  Arbeit  zu  helfen.  Sie  werden  dann 
gemeinsam  die  in  Vorbereitung  befindlichen  Memoranden  vollen- 
den, ebenso  die  Vorschläge,  welche  sie  mit  Sidney  Herbert  zu 
besprechen  hat,  wenn  dieser  nach  London  zurückkommt. 

Ja,  der  gute  und  ergebene  Sutherland  kommt  nach  Malvern 
und  dann  nach  London,  um  sich  ihr  zu  widmen. 

Von  diesem  Augenblick  an  bis  zum  Ende  seines  Lebens  bleibt 
John  Sutherland  der  treue  Sekretär,  der  intelligente,  unschätzbare 
Mitarbeiter  von  Florence  Nightingale. 

Tante  May  pflegt  die  Kranke.  Sie  kennt  Florence  und  die 
tiefsten  Beweggründe  ihrer  Seele.  Sie  weiss,  dass  Florence  das 
Sterben  nicht  fürchtet,  dass  sie  aber,  wenn  es  möglich  ist,  vor 
ihrem  Tod  das  begonnene  Werk  zu  vollbringen  wünscht.  Sie 
hilft  ihr,  in  den  Arbeitspausen  Ruhe  und  Erholung  zu  finden. 

Florence  spricht  nicht  mehr,  regt  sich  nicht  mehr,  empfängt 
keinen  Menschen,  mit  Ausnahme  ihrer  Arbeitsgenossen. 

Es  sind  Sidney  Herbert,  John  Sutherland,  Dr.  Farr  und  einige 
andere.  Einer  nach  dem  anderen,  manchmal  auch  alle  gemeinsam, 
haben  Unterredungen  mit  den  Mitgliedern  der  königlichen  Kom- 
mission. Ihre  Bemerkungen  und  Diskussionen,  die  Ergebnisse 
der  verschiedenen  Umfragen,  die  Reformvorschläge  und  die  Art, 
sie  auszuführen,  werden  Florence  vorgelegt.  Sie  fügt  hinzu,  berät, 
verbessert,  ändert,  entwickelt  aus  den  Tatsachen  die  Notwendigkeit 
neuer  Anordnungen.  Ihr  Geist  ist  klarer  und  hellsichtiger  denn  je. 

97 


Sie  erinnert  sich  an  vieles  mit  Genauigkeit,  und  wenn  ihr  etwas 
entfallen  ist,  so  weiss  sie,  wo  sie  es  finden  kann. 

So  vergehen  drei,  vier,  fünf  Arbeitsstunden.  Dann  wieder  Stille, 
vollkommene  Apathie,  fast  der  Tod  —  um  am  nächsten  Tag  von 
neuem  zu  beginnen. 

Vielleicht  wird  es  ihr  nicht  mehr  vergönnt  sein,  ihr  Werk  selbst 
zu  vollenden ;  vielleicht  ruft  sie  Gott  zu  einem  anderen  Dienst. 
Ach,  die  armen  Jungens  ! 

Florence  schreibt  dem  treuesten  ihrer  Kameraden,  Sidney 
Herbert,  der  sie  zuallererst  verstanden,  der  sie  in  die  Krim  entsandt 
hat  : 

1)  Ich  weiss,  dass  Sie  die  Art  meines  Todes  nicht  beklagen 
werden.  Aber  ich  weiss  auch,  dass  Sie  so  gütig  sein  werden,  ihn 
als  Tatsache  an  sich  zu  beklagen.  Manchmal  haben  Sie  mir  gesagt, 
dass  Sie  es  fast  bedauern,  mich  an  die  Arbeit  geschickt  zu  haben. 
Ich  gebe  Ihnen  die  Versicherung,  dass  nur  die  Arbeit  mich  auf- 
recht gehalten  hat.  Es  tut  mir  leid,  nicht  weiterleben  zu  dürfen, 
um  die  Pflegerinnenschule  zu  gründen.  Aber  es  ist  nicht  meine 
Schuld,  «  Hier  bin  ich,  mein  Gott,  sende  mich,  wohm  Du  willst », 
war  immer  mein  Glaubenssatz. 

Ich  muss  bereit  sein,  jetzt  wegzugehen,  wie  ich  bereit  war, 
in  den  Orient  zu  fahren.  Sie  wissen,  dass  ich  immer  gedacht  habe, 
Ihre  grosse  Güte  hätte  mich  dorthin  entsendet.  Vielleicht  braucht 
Gott  einen  Sanitätsoffizier  für  seine  Soldaten  in  der  anderen  Welt, 
wo  man  mich  erwartet. 

2)  Ich  hege  jetzt  keine  Befürchtungen  mehr  für  das  Heer. 
Sie  sind  immer  unser  «  Cid  »  gewesen,  der  echte  ritterliche  Mann, 
der  Beschützer  der  Schwachen,  Leidenden  und  vom  Leben  Benach- 
teiligten —  und  sie  werden  auch  jetzt  mehr  als  je  unser  Ritter  sein. 
«  Wir  »  bedeutet  in  meiner  Sprache  die  Soldaten  und  ich. 

3.  Ich  hoffe,  dass  Sie  keine  ritterlichen  Gefühle  dafür  hegen 
werden,  was  man  meinem  Andenken  schuldig  ist.  Das  einzige, 
was  man  mir  schuldig  sein  könnte,  ist  das  Wohl  der  Soldaten. 
Ich  habe,  solange  ich  lebe,  so  gedacht.  Es  ist  nicht  wahrscheinlich, 

98 


dass  ich  jetzt  wo  ich  tot  bin  anders  denke.  Die  Ideen,  die  Sie 
übernommen  haben,  werden  Sie  kräftiger  und  lebendiger  in  sich 
selbst  wiederfinden.  Die  Ideen,  die  Sie  sich  nicht  zu  eigen  gemacht 
haben,  besitzen  keine  Kraft,  woher  sie  auch  kämen. 

4)  Das,  was  man  aber  tun  muss,  ist  ja  von  Ihnen  längst 
gebilligt  worden  :  a)  der  Ärzterat  für  das  Heer,  die  medizinische 
Schule,  der  allgemeine  Plan  für  die  Spitäler,  die  gymnastischen 
Übungen  ;  h)  die  Forderungen  Dr.  Sutherlands  für  sanitäre 
Zwecke  ;  c)  die  Kasernen  in  den  Kolonien,  in  Kanada,  im  Mittel- 
meer und  in  Indien. 

5)  Es  schmerzt  mich,  den  Plan  mit  den  Pflegerinnen  nicht 
ausführen  zu  sollen.  Ich  lasse  ihn  in  einem  bösen  Augenblick 
zurück.  Frau  Shaw-Stewart  ist  die  einzige  Frau,  die  ich  kenne,  die 
imstande  wäre,  die  Pflegerinnen  des  Heeres  zu  leiten. 

Seien  Sie  stets  überzeugt,  dass  ich,  solange  ich  noch  «  Gott 
segne  Sie  »  zu  sagen  imstande  bin, 
verbleiben  werde   Ihre  dankbare 

Florence  Nightmgale. 

Es  ist  getan.  Jetzt  ist  sie  ruhig.  Wenn  sie  tot  ist,  wird  Sidney 
Herbert  den  Brief  lesen  und  die  Arbeit  nicht  liegen  lassen  können. 

Ausgestreckt,  wachsbleich  und  unbeweglich  ruht  Florence, 
nachdem  sie  den  Brief  vollendet  hat. 

Jetzt  empfindet  sie  nur  noch  wenige  Wünsche. 

Den  Wunsch,  ihren  Freunden  ein  paar  Andenken  zu  hinter- 
lassen, den  Wunsch  aus  dem  Kapital  des  Nightingale-Fonds  eine 
Musterkaseme  zu  errichten. 

Und  noch  eine  Bitte  : 

«  Die  Sorge  um  meine  Soldaten  lässt  in  mir  ein  Gefühl  erwa- 
chen, das  ich  nie  zu  empfinden  erwartet  hätte.  Ein  Aberglauben, 
der  mir  töricht  scheint  und  der  mich  trotzdem  wünschen  lässt, 
m  der  Krim  bestattet  zu  werden.  Sinnlos  gewiss,  denn  sie  sind 
nicht  mehr  in  der  Krim  ! » 

99 


Die  furchtbaren  Ziffern 

Der  11.  Mai  1858.  Erster  Sieg. 

Auf  Grund  von  Florence  Nightingales  Statistik  hat  Lord 
Ebrington  im  Unterhaus  eine  Anfrage  betreffend  die  sanitären 
Verhältnisse  in  den  Kasernen  gestellt,  und  als  diese  auf  die  Tages- 
ordnung kommt,  fordert  er,  vom  Beifall  der  Kammer  unterstützt, 
Verbesserungen  und  Reformen. 

In  ihrer  tödlichen  Einsamkeit,  ungev^riss  ob  sie  den  kommenden 
Tag  noch  erleben  wird,  fühlt  die  Freundin  der  Soldaten,  dass 
eine  Broschüre  nötig  ist,  die  auf  den  ersten  Blick  genau  darlegt, 
wie  dringend  die  geforderten  Reformen  sind. 

An  der  Schwelle  des  Todes,  unter  Mitarbeit  ihres  Freundes 
Dr.  Farr,  beginnt  Florence  Nightingale  diese  Arbeit.  Sie  setzt  sie 
Tag  für  Tag  fort.  Und  sie  vollendet  sie. 

Ihr  Titel  lautet  « Die  Sterblichkeit  im  englischen  Heere ». 
Auf  wenigen  Seiten,  durch  gezeichnete  Pläne,  Quadrate,  schraffierte 
und  kolorierte  Kreise  erläutert,  werden  die  furchtbaren  Ziffern 
erklärt,  der  erschreckende  Prozentsatz  von  Sterbefällen  der  ihr 
zum  Alpdruck  geworden  ist,  durch  Florence  errechnet.  Es  sind  die 
Ziffern,  welche  die  Zahl  der  im  Krim-Krieg  verstorbenen  Soldaten 
nennen,  derer,  die  nicht  hätten  sterben  müssen,  wenn  nicht  Ursa- 
chen vorgelegen  hätten,  die  zu  vermeiden  gewesen  wären.  Ferner 
nennt  die  Schrift  die  Anzahl  jener  Soldaten,  die  in  England  sterben, 
gleichfalls  aus  Ursachen,  die  nicht  zu  entschuldigen  sind. 

Wenn  nur  sehr  wenige  das  grosse  Memorandum  mit  seinen 
830  Seiten  gelesen  haben,  das  ja  für  die  Funktionäre  des  Mini- 
steriums bestimmt  war,  müssten  alle  diese  kleine  Schrift  lesen,  die 
anonym  erschienen  ist  und  so  vieles  enthüllt ;  sie  müssten  darüber 
nachdenken,  sich  eine  Meinung  bilden  und  in  kompakter  Masse 

100 


die  Reformen  fordern.  Alle !  Von  der  Königin  bis  zum  Handwerker, 
von  den  obersten  Spitzen  des  Reiches  bis  zum  letzten  Sanitäts- 
unteroffizier, von  den  Ministem  bis  zu  den  Türstehem,  alle  müssen 
diese  Ziffern  kennen,  damit  in  allen  zugleich  mit  dem  Gewissen 
auch  die  Entrüstung  erwache,  die  uns  vorwärts  treibt,  das  Gute 
um  des  Guten  willen  zu  tun. 

Die  kleinen  Hefte  mit  ihren  roten,  grünen  und  gelben  Um- 
schlägen, nennt  Florence  ihre  « Clowns »  und  sie  entsendet  sie 
rings  um  die  Welt,  um  ihre  Mission  zu  vollbringen. 

Nun  sind  die  bunten  «  Clowns  »,  welche  alle  Blicke  auf  sich 
lenken  und  Aufmerksamkeit  erregen,  auf  ihrer  Weltreise  begriffen. 
Sie  dringen  in  alle  Häuser,  erscheinen  im  königlichen  Schloss 
und  in  den  Büros  der  Ministerien.  Ihr  äusseres  buntes  Gewand 
bringt  der  Königin  und  den  Hofleuten  einen  gar  ernsten  Mahnruf  ! 

Darüber  stürzt  das  Ministerium.  Gott  sei  gelobt,  noch  zu 
rechter  Zeit.  Denn  es  ist  nicht  möglich,  dass  ein  anderer  Minister 
so  langsam  ist,  wie  der  «  Büffel  ». 

Aber  die  Arbeit  ist  übermenschlich.  In  den  Spitälern,  in  den 
Kasernen,  in  Küchen  und  Wäschereien  muss  das  ganze  System 
und  fast  immer  auch  die  Baulichkeit  an  sich  von  Grund  auf  um- 
gewandelt werden. 

Florence  wird  indessen  der  Tatsache  inne,  dass  trotz  voll- 
ständiger Erneuerung  des  Ministeriums  dieses  nur  sehr  wenig 
zu  leisten  gedenkt.  Um  durchzudringen,  ist  es  notwendig,  die 
öffentliche  Meinung  anzurufen  und  sie  dazu  zu  bringen,  das  zu 
wollen,  was  geschehen  muss. 

So  gehen  denn  aus  der  Einsamkeit  des  Krankenzimmers  unzäh- 
lige Artikel  und  Briefe  hervor,  an  alle  jene  gerichtet,  die  in  irgend 
einer  Form  die  gute  Sache  zu  unterstützen  vermöchten. 

Eines  ist  erreicht :  Die  Kasernen  werden  mit  Heizung  und 
Ventilation  ausgestattet. 

Noch  eine  Errungenschaft :  die  Wasserleitungen  werden  ein- 
gebaut. Ingenieure  und  Arbeiter  führen  Röhren  durch  die  Kasernen, 
verbessern  die  Kanalisation  und  organisieren  die  Müllabfuhr. 

101 


Statt  verbrannter,  fettiger  Gerichte  kommen  jetzt  aus  den 
gänzlich  erneuerten  Küchen  appetitHche  und  bekömmhche  Speisen. 

Neue  Fenster  werden  eingesetzt.  Die  Soldaten  entdecken 
überrascht,  dass  sie  sich  in  der  Kaserne  mit  etwas  Besserem 
beschäftigen  können,  als  bloss  mit  Trinken  und  Rauchen. 

Florencens  Herz  klopft  heftig.  Aber  es  ist  nicht  Krankheit, 
die  es  diesmal  erregt,  sondern  es  pocht  vor  Freude,  als  ihr  Freund, 
der  hochherzige  und  geniale  Sidney  Herbert,  zum  Kriegsminister 
ernannt  wird. 

Jetzt  sind  die  Regierungskommissionen  wirklich  in  der  Lage, 
die  Zustände  im  Heer  grundlegend  zu  erneuem  und  sie  unter- 
stellen sich  dabei  den  Anordnungen  der  Oberschwester.  Diese 
hat  ihr  Versprechen  gehalten,  jenes  Versprechen,  das  sie  den  toten 
Soldaten  gab. 

Es  entsteht  auch  eine  Kochschule,  in  der  den  Köchen  der 
einzelnen  Regimenter  die  Kunst  gelehrt  wird,  für  eine  grosse 
Anzahl  von  Personen  gut  und  nahrhaft  zu  kochen. 

Auch  das  statistische  Büro  des  englischen  Heeres  wird  ge- 
gründet. 

Fast  gleichzeitig  bildet  sich  die  Sanitätsschule  des  Heeres, 
die  nicht  gestatten  wird,  dass  England  seine  Männer,  seine  Sol- 
daten sterben  lässt,  wenn  es  möglich  ist,  sie  zu  retten. 

Bibliotheken,  Lesesäle,  Gesellschaftsräume  entstehen,  die  Flo- 
rence  zuerst  in  der  Krim  eröffnet  hatte  und  die  in  Italien  sogar 
erst  durch  den  Willen  des  Duce  geschaffen  wurden.  In  der  Krim, 
1855,  als  Florence  sich  an  diese  Gründung  wagte,  hatte  man  ja 
noch  allgemein  geglaubt,  dass  die  Soldaten  ausserhalb  ihres  Dien- 
stes zu  nichts  fähig  seien,  als  sich  zu  betrinken.  Damals  hat  sie  in 
einem  finsteren,  fensterlosen  Raum,  der  mehr  einem  Gefängnis 
als  einem  Bibliotheksaal  glich,  mit  ein  paar  Heften  und  wenigen 
Bänden,  ein  paar  Bogen  Papier  und  Bleistiften  bewiesen,  was 
Feindseligkeit,  Spott  und  sogar  Verachtung  ihr  abstreiten  wollten  : 
dass  der  Soldat  wie  jeder  andere  arbeitende  Mensch  erziehungs- 
und  bildungsfähig  ist. 

102 


Und  die  Soldaten  führten  nun  ein  menschenwürdiges  Dasein. 
Jahr  für  Jahr  ging  der  Prozentsatz  der  Sterbhchkeit  zurück. 

Trotzdem  musste  man  noch  mehr  tun.  Es  galt,  sicher  zu 
sein,  dass  all  diese  Massnahmen  auch  dann  fortgesetzt  würden, 
wenn  Sidney  Herbert  und  sie  nicht  mehr  in  der  Lage  wären, 
Aufsicht  und  Kontrolle  zu  üben,  darüber  zu  wachen,  dass  ihre 
Anordnungen  auch  treulichst  ausgeführt  würden.  Man  musste 
sicher  sein,  dass  all  dies  nicht  durch  die  negative  Kraft  der  Apathie 
nach  und  nach  zu  den  ursprünglichen  Zuständen  zurückkehrte... 
Die  Jahre  vergehen,  die  Reformen  werden  im  Heere  durchgeführt, 
aber  die  Büros  im  Ministerium  bleiben  sich  immer  gleich  :  passiv, 
apathisch,  überlastet  und  andere  belastend,  von  bürokratischen 
Flausen  aller  Art  gehemmt.  Hier  liegt  die  ständige  Gefahr.  Florence 
erkennt  das  deutlicher  als  früher. 

Sie  versucht  ihren  letzten  und  härtesten  Kampf.  Sie  versucht 
just  diese  Büros  des  Ministeriums  zu  reorganisieren. 

Nun  da  Sidney  Herbert  Minister  ist,  scheint  die  Sache  nicht 
undurchführbar.  Sidney  Herbert  wird  hierin  wie  in  allem  und 
jedem  ihre  grosse  Stütze  sein. 


Sidney  Herbert  stirbt 

Aber  eine  schlimme  Nachricht  —  Sidney  Herbert,  der  Schutz- 
geist von  Florence  Nightingale,  der  Vorkämpfer  für  lauterstes 
Streben  zum  Wohle  leidender  Menschen,  der  Mann,  dem  sie, 
vom  Hauch  des  Todes  eisig  angerührt,  die  heilige  Sache  der 
Soldaten  ans  Herz  gelegt  hat,  Sidney  Herbert  geht  jetzt  von  seinem 
Posten  ab. 

Eine  traurige  Unterredung  an  einem  düstem  Dezembertag, 
da  Sidney  Herbert  der  Arbeitsgefährtin  bekennt,  dass  er  nicht 
mehr  der  gleiche  Mann  wie  früher  ist,  dass  ihm  ein  böses  Leiden, 

103 


wie  ein  unsichtbarer  Feind,  die  Kräfte  und  die  Ausdauer  raubt, 
und  dass  es  mit  seiner  alten  Energie  fast  zu  Ende  ist. 

Wahrlich  eine  traurige  Unterredung,  in  der  die  beiden  Freunde 
überlegen,  welcher  Teil  des  Werkes  anderen  Händen  anvertraut 
werden  könnte,  ohne  der  ganzen  Sache  Schaden  zu  bringen.  Sie 
suchen  den  Punkt,  wo  einzugreifen  wäre,  aber  sie  finden  ihn 
nicht,  und  müssen  sich  voll  Schmerz  für  das  entscheiden,  was  am 
wenigsten  gefährlich  scheint :  in  ihrer  Arbeit  fortzufahren,  so 
lange  es  geht. 

Es  ist  ein  tief  trauriger  Brief,  den  Sidney  Herbert  einige  Monate 
später  an  Florence  Nightingale  schreibt. 

Er  sagt  darin,  dass  es  Tage  gebe,  an  denen  « ich  den  Morgen 
damit  verbringe,  auf  dem  Sofa  zu  liegen  und  ein  Paar  Schlucke 
Kognak  zu  mir  nehme,  nur  damit  ich  imstande  bin,  ins  Ministe- 
rium zu  gehen  ;  dort  angekommen  bin  ich  aber  völlig  ohne  Energie  ». 

Und  der  traurigste  Tag  für  Florence  ist  jener,  an  dem  sie 
ihren  Gefährten  im  Streben,  Wollen  und  Wirken  verliert... 

Warum  ist  sie  selbst  von  der  Schwelle  des  Todes  zurück- 
gekehrt in  das  Leben  ? 

Warum  hat  die  Todesstarre,  die  vor  vier  Jahren  ihr  nahes 
Ende  zu  verkünden  schien,  gerade  sie  wieder  erwachen  und  sich 
aufraffen  lassen,  sie  die  schwache,  kranke,  vielleicht  für  immer 
dahinsiechende,  aber  doch  atmende,  lebende  Frau  —  und  statt 
ihrer  wurde  der  grossmütigste,  edelste  der  Menschen  dahin- 
gerafft ? 

«  Niemand  bleibt  von  denen  übrig,  mit  denen  ich  vor  nunmehr 
fünf  Jahren  zu  arbeiten  begonnen  habe.  Und  ich  allein,  elend 
und  trostlos,  überlebe  sie  alle.  Ich  bin  überzeugt,  dass  ich  hätte 
sterben  sollen.  » 

Ihr  Geist  ist  dem  verlorenen  Freunde  zugewandt.  Ihr  Herz 
wird  von  brennender  Reue  verzehrt,  dass  sie  ihn  angeeifert,  ge- 
drängt hat,  den  steilen  Weg  fortzusetzen,  als  seine  Kräfte  schon 
anfingen   zu   ermatten   —   und   Florence   verbringt   Stunde   um 

104 


Stunde  mit  umdüsterter  Seele  in  namenloser  Einsamkeit,  in  einem 
Schmerz,  der  keinen  Trost  findet. 

Was  kann  Gladstone,  der  Finanzminister  von  ihr  wollen  ?  Er 
wünscht  mit  ihr  zu  sprechen. 

«  Sagen  Sie  ihm,  dass  ich  ihn  nicht  empfangen  kann.  Ich  bin 
zu  leidend.  » 

Statt  Gladstone  kommt  ein  Brief  von  ihm.  Nachdem  Florence 
den  Brief  gelesen  hat,  ist  ihr  Geist  wieder  kräftig  und  ihr  Wille 
stark.  Sie  fühlt  keine  Müdigkeit,  keine  Schmerzen  mehr.  So  wird 
es  ihr  also  gewährt  sein,  etwas  für  Sidney  Herbert  zu  tun,  in 
seinem  Namen  von  dem  zu  sprechen,  was  er  gewollt,  von  dem, 
was  er  vollbracht  hat !  Es  wird  ihr  gewährt  sein,  seine  Persönlich- 
keit zu  schildern.  Sie,  die  ihn  kennt,  wird  das  besser  können, 
als  die  Zeitungen,  die  keine  Ahnung  von  ihm  haben,  die  ihn 
falsch  verstanden  haben,  die  ihn  nicht  lieben,  die  ihm  vielleicht 
sogar  feind  sind.  Der  unermüdlich  Schaffende,  der  Freund  der 
Soldaten,  der  nie  etwas  für  sich  gefordert,  alles  für  die  anderen 
verlangte  und  das  Beste  für  das  Wohl  seines  Landes  wollte  und 
gab.  Er,  der  hinter  seinem  Werk  zurücktrat  und  an  ihm  weiter- 
schuf bis  zur  Stunde  seines  Todes  —  nun  lebt  er  durch  Florencens 
Feder  wieder  auf,  wiedererstanden  durch  die  edelste  Freund- 
schaft, durch  die  tiefste  Sympathie,  die  je  zwei  Menschen  vereinen 
konnte,  die  einzig  der  Liebe  zur  Menschheit  und  der  Liebe  zu 
Gott  ihr  Dasein  gewidmet  hatten. 

Gladstone  las  tiefbewegt  diese  Wiedererweckung  der  unver- 
gesslichen  Persönlichkeit  Sidney  Herberts  und  verbreitete  die 
Gedenkschrift  im  ganzen  Lande.  Der  Name  des  Arbeitsgefährten 
von  Florence  Nightingale,  der  Frau,  die  von  ganz  England  verehrt 
ward,  ist  nun  dem  englischen  Volke  bekannt,  wird  von  ihm  ge- 
priesen, gesegnet. 

Jetzt  kann  Florence  nicht  mehr  innehalten.  Es  ist  jetzt  ihr 
Werk,  ihr  und  Sidney  Herberts  gemeinsames  Werk,  das  sie  ver- 

105 


kündet.  Da  sind  die  Direktoren  der  zu  errichtenden  und  der  zu 
erneuernden  Spitäler,  die  von  allen  Teilen  des  Landes  um  ihren 
Rat  kommen.  Die  «  Notizen  über  Spitäler  »,  die  schon  vor  zwei 
Jahren  erschienen  sind,  haben  ihr  den  Ruf  einer  unbestrittenen 
Autorität  auf  diesem  Gebiete  erobert  und  sie  erhält  Briefe  und 
Anfragen  aus  allen  Ländern  der  Erde.  Aus  Belgien,  Deutschland, 
Portugal,  aus  allen  englischen  Städten  schreibt  man  ihr.  Aus 
Madras  sendet  ihr  Major  Horsley,  der  mit  der  Errichtung  des 
Allgemeinen  Krankenhauses  betraut  ist,  die  Baupläne,  nachdem 
er  mit  ihr  in  Briefwechsel  gestanden  hatte. 

In  die  Spitäler  der  ganzen  Welt  dringen  Luft  und  Licht, 
es  werden  eiserne  Betten,  Glasgeräte,  hygienische  Wäsche  ange- 
schafft, alles  Dinge,  die  uns  heute  selbstverständlich  und  unent- 
behrlich erscheinen,  deren  Notwendigkeit  aber  damals  niemand 
erkannt  hat.  In  allen  Spitälern  wird  auch  als  unbestechlicher 
Gradmesser  ihrer  guten  oder  schlechten  Betriebsführung  das 
statistische  Büro  eingerichtet. 

Ja,  die  Statistik  !  Florence  liebt  sie  jetzt,  wie  sie  sie  stets  ge- 
schätzt hat,  als  sie  als  junges  Mädchen  in  Italien,  in  Frankreich 
und  in  der  Schweiz  reiste  und  die  Landessitten  und  die  soziale 
Fürsorge  studierte,  deren  Bedeutung  und  Leistung  sie  sich  gerade 
durch  Ziffern  klar  machte.  Ist  ja  die  Statistik  jene  Wissenschaft, 
die  uns  hilft,  die  göttlichen  Gesetze  zu  erfassen.  Diese  unabänder- 
lichen ewigen  Gesetze,  die  jede  Wirkung  auf  ihre  Ursache  zurück- 
führen —  wie  vermöchten  wir  sie  jemals  zu  erkennen,  wenn  wir 
die  Wirkungen  der  verschiedenen  Ursachen  nicht  studieren  und 
untereinander  vergleichen  würden,  um  dann  jene  Wege  zu  gehen, 
die  von  der  wissenschaftlichen  Erfahrung  als  die  besten  anerkannt 
sind  ? 

Florence,  die  ihre  Kräfte  zum  Teil  wiedergewonnen  hat,  ist 
imstande,  auf  dem  Kongress  für  Statistik  und  Sanitätswesen  her- 
vorzutreten, ja  sogar  eine  Reihe  von  Empfängen  und  Diners  bei 
sich  zu  veranstalten.  Der  Höhepunkt  dieser  Geselligkeit  in  ihrem 
Hause  ist  ein  Festabend.  Die  illustren  Gäste  haben  immer  höhere 

106 


Achtung  für  die  Statistik,  wenn  sie  bei  der  berühmten  InvaHdin 
des  Krieges  empfangen  werden,  die  ja  so  felsenfest  auf  ihre  Ziffern 
baut. 

Während  sie  die  liebenswürdige  Gastlichkeit  geniessen,  sind 
sie  immer  mehr  geneigt,  der  Frau  —  die  man  die  «  Vorsehung 
des  englischen  Heeres  »  nennt  —  darin  beizustimmen,  dass  man 
einen  bedeutsamen  Schritt  auf  dem  Wege  des  Fortschritts  machen 
würde,  wenn  man  die  Spitalleiter  überzeugen  könnte,  ein  gemein- 
sames und  einheitliches  System  für  die  Registrierung  der  Patienten 
2X1  verwenden  und  alljährlich  Rechenschaftsberichte  der  augeübten 
Tätigkeit  herauszugeben. 


Diese  Freude  des  ganzen  Volkes,  diese  Begeisterung  einer 
ganzen  Nation  ! 

Die  leidenschaftlich  verehrte  Frau  lebt  —  sie  hat  ein  Buch 
geschrieben,  das  allen  zugänglich  ist.  Seit  langer  Zeit  hatte  man 
ihre  Stimme  nicht  mehr  vernommen,  da  sie  gänzlich  zurück- 
gezogen lebte,  sie,  die  grosse  Pflegerin  der  Soldaten.  All  ihre  Arbeit 
war  so  einsam  und  schweigsam  und  ihr  Leben  schien  dem  Tode 
nahe... 

Jetzt  hat  sie  ihr  neues  Buch  geschrieben  und  veröffentlicht. 
In  diesem  Buche  erlebt  man  wieder  die  Frau,  die  fern  von  der 
Heimat,  allein  im  Schatten  der  Nacht  sanft  und  still  durch  die 
endlosen  Krankensäle  geschritten  ist,  um  die  Verwundeten  zu 
trösten. 

Wer  wünschte  nicht  diese  ihre  Botschaft  im  eigenen  Heim 
zu  besitzen  ?  Welche  Mutter,  Schwester,  Frau,  Freundin  oder 
Tochter  eines  Soldaten  hätte  verzichten  mögen,  diese  Blätter  zu 
lesen,  die  einen  so  schlichten  Titel  tragen,  so  einfach  geschrieben 
sind  und  so  viel  Leid,  so  viel  Hingebung  und  so  viel  Trost 
wachrufen  ? 

Die  «  Notizen  über  Krankenpflege  »  finden  ihren  Weg  über- 
allhin, in  Paläste,  Fabriken,  in  die  Häuser  von  Bauern  und  Arbeitern. 

107 


Man  spricht  von  ihnen,  denkt  an  sie  in  Städten  und  Dörfern,  in 
Tälern  und  im  Bergland. 

Die  Freundin  des  Volkes  ist  es,  die  angebetete  Frau,  die 
leichten  schwebenden  Schrittes,  mit  sanftem  Wort  und  holdem 
Lächeln  eintritt,  wie  in  die  Spitäler  der  Krim,  wo  die  verwundeten 
Soldaten  der  Schlacht  bei  Balaklava  ihren  Schatten  küssten. 
Diesmal  sind  Jahre  vergangen,  lange  Jahre  des  Schweigens,  in 
denen  sie  gearbeitet  hat  —  wieviel,  ist  ihr  selbst  kaum  bewusst 
—  für  ihre  Schützlinge  gearbeitet  hat,  und  nun  sind  die  Soldaten 
schon  glücklich,  wenn  sie  das  Buch  küssen  :  ihre  Worte,  in  denen 
ihr  reiner  edler  Geist  wundersam  ersteht. 

Durch  den  Zauber  ihrer  Worte  öffnen  sich  die  Fenster. 

Die  Fenster  der  Menschenbehausungen  öffnen  sich  und  lassen 
Luft  und  Sonne  herein,  weil  sie  es  sagt  und  immer  wiederholt, 
dass  Luft  und  Sonne  Freunde  sind,  die  man  freudig  einlassen 
und  empfangen  soll.  Aber  auch  die  Fenster  der  Seele,  des  Geistes, 
des  Verstandes  öffnen  sich  und  nehmen  dankbar  ihre  Lehre  ent- 
gegen, dass  alle  Krankenpflege  eine  schwere  und  heikle  Kunst  ist, 
die  geübt  sein  will.  Das  Volk  fängt  an,  für  die  Pflegerinnen  der 
Spitäler  eine  vormals  noch  nie  empfundene  Achtung  zu  hegen,  und 
beginnt  auch  zu  begreifen,  wie  diese  Pflegerinnen  beschaffen  sein 
müssen,  wenn  sie  ihrer  hohen  Aufgabe  genügen  sollen. 

Das  Buch  ist  ein  Triumph. 

Genügt  das  aber  für  Florence  ? 

Die  sanitären  Gesetze  sind  für  sie  göttliche  Gesetze.  Mit 
ihrer  Hilfe  weist  Gott  den  Menschen  den  Weg  zum  Heile  und 
zum  Guten  :  Wenn  sie  andere  Wege  gehen,  werden  sie  sicher 
Leid  erfahren.  Wer  auch  nur  ein  einziges  dieser  ewigen  Gesetze 
zu  entdecken  vermag,  hat  die  Pflicht,  es  den  Brüdern  darzulegen. 


108 


Die  Pflegerinnenschule  wird  eröffnet 

Florence  hat  in  ihrer  Jugend  davon  geträumt,  eine  Pflege- 
rinnenschule zu  gründen.  Sie  hat  auch  davon  geträumt,  dieselbe 
zu  leiten. 

Nun  wird  ihr  Traum  zur  schönen  Wirklichkeit.  In  der  Stille 
des  Krankenzimmers  hat  Florence  den  Plan  dafür  mit  leichter, 
sicherer  Hand  entworfen. 

Übrigens  ist  das  ja  nur  ihre  Pflicht.  Der  Nightingale-Fonds 
wartet  seit  Jahren  darauf,  für  ein  Werk  der  Fürsorge  verwendet 
zu  werden. 

Bis  zur  Stunde  hat  Florence  den  Gedanken  an  diese  Schule 
etwas  beiseitegeschoben,  ohne  ihn  je  ganz  aufzugeben.  Denn  sie 
war  vertieft  in  die  Reformen,  welche  ihr  durch  die  Erfahrungen 
in  der  Krim  als  notwendig  erschienen  waren  ;  ihre  geistige  Ge- 
meinschaft mit  Sidney  Herbert,  der  ihr  ein  tatkräftiger  Ver- 
bündeter und  in  gewissem  Sinne  auch  ihr  Lehrer  ward,  nahm 
sie  völlig  in  Anspruch.  Sein  Einfluss  war  so  nachhaltig,  dass 
Florence  zeitlebens  den  Freund  in  Gedanken  wie  auch  in  ihren 
Briefen  «  meinen  lieben  Lehrer »  genannt  hat. 

Jetzt  kehrt  sie  zu  der   Idee  der  Pflegerinnenschule  zurück. 

Freilich  ist  es  ihr  nicht  vergönnt,  wie  sie  es  erträumt  hatte,  der 
Schule  als  Leiterin  vorzustehen.  Es  wird  ihr  nicht  möglich  sein, 
inmitten  der  Pflegerinnen  zu  leben,  sie  zu  erziehen,  zu  ermuntern, 
sie  mit  ihrer  Leidenschaft  anzufeuern,  ihren  Beruf  zur  lautersten 
Mission  zu  wandeln. 

Aber  in  ihrer  Einsamkeit  erdenkt,  erschafft  sie  sich  ihre 
Pflegerinnen,  die  soviel  Heilvolles  in  die  Welt  tragen  sollen. 

Sie  prüft  die  Spitäler  eines  nach  dem  andern,  um  jenes  aus- 
zuwählen, das  würdig  ist,  Sitz  der  Schule  zu  werden.  Denn  alle 
Krankenhäuser  von  London  wetteifern  um  die  Ehre,  die  Pflege- 

109 


rinnen  der  Nightingale-Schule  aufzunehmen.  Sie  entscheidet  sich 
für  das  Saint  Thomas-Hospital,  dessen  Direktorin  Mrs.  Wardroper 
ihr  als  ein  seltenes  Wesen  erscheint,  von  wundervollem  Tempera- 
ment, die  geborene  Pflegerin. 

Frau  Wardroper  hat  alles  aus  eigener  Erfahrung  erlernt,  zu 
einer  Zeit,  da  niemand  auf  den  Einfall  kam,  Krankenpflege  zu 
unterrichten.  Ihre  Begabung  für  Organisation  und  Administra- 
tion, ihr  Mut,  ihre  Fähigkeit,  ihre  Untergebenen  zu  verstehen 
und  zu  beherrschen,  sind  seltene  Eigenschaften.  Sie  ist  auf- 
richtig, gerecht,  liebenswürdig  und  verständnisvoll.  Ihre  Charak- 
terstärke ist  ausserordentlich.  Sie  weiss,  welchen  Weg  sie  zu 
gehen  hat  und  schreitet  ungehemmt  fort.  Sie  hält  auf  strengste 
Disziplin,  Sie  opfert  alle  eigenen  Mittel  für  das  Spital.  Ihr  Wort 
ist  Gesetz. 

Eine  echte  Edelfrau,  grossherzig,  ehrlich,  grossmütig. 

So  ist  die  Persönlichkeit  beschaffen,  mit  der  Florence  den 
Aufbau  der  neuen  Schule  studiert.  Die  Statuten,  die  Regelung 
der  Disziplin,  die  Gesichtspunkte  zur  Wahl  der  Pflegerinnen,  der 
Stundenplan,  das  Arbeitsprogramm  und  der  Dienst,  selbst  die 
Farbe  und  die  Einzelheiten  der  Uniform,  alles  kommt  zur  Sprache. 

Ihr  vertraut  Florence  beruhigt  ihre  Krankenpflegerinnen  an. 

Die  Schule  ist  eröffnet,  die  Schülerinnen  sind  untergebracht 
und  beginnen  ihre  Lehrzeit. 

Ohne  das  Spital  zu  besuchen,  kennt  Florence  dasselbe  auf 
das  genaueste.  Ohne  die  jungen  Schülerinnen  zu  sehen,  kann  sie 
in  ihren  Herzen  lesen,  hat  Kenntnis  von  ihren  Gefühlen,  von 
ihrer  Begabung,  von  ihren  Fähigkeiten,  von  ihrem  geistigen  Niveau, 
weil  sie  all  das  aus  ihrem  Dienst-Tagebuch  erfährt,  aus  wieder- 
holten Spital-Rapporten,  aus  Unterredungen  mit  der  Direktorin. 
Die  Pflegerinnen  in  ihrer  kastanienbraunen  Tracht,  mit  den  weissen 
Hauben  und  weissen  Schürzen,  die  behend  und  leichtfüssig 
von  Bett  zu  Bett  eilen,  um  die  Speisen  zu  verteilen,  aufmerksam 
und  zu  den  nötigen  Handgriffen  bereit,  bei  einer  Operation 
assistieren,    Reinigungsarbeiten    vornehmen,    Medikamente    ver- 

110  ' 


abreichen,  sie  sind  ihr  lebendig  und  gegenwärtig,  als  existierten 
ihr  Krankensessel,  ihr  gebrechlicher  bresthafter  Körper  nicht, 
und  ihr  befreiter  Geist  schwebt  unsichtbar  durch  das  Kranken- 
haus von  St.  Thomas. 

Unsichtbar  ?  Nein.  Blumen,  Bücher,  Stiche  werden  den 
Elevinnen  häufig  übermittelt ;  es  kommen  Aufträge,  Anfragen, 
Weisungen  und  Ratschläge.  Sie  gibt  Winke  über  interessante 
Themen  von  Vorlesungen  und  Vorträgen.  Vom  Krankenhaus 
gehen  Rapporte  und  Auskünfte  über  die  Führung,  die  Begabung, 
den  Charakter  der  Pflegerinnen  an  sie. 

Es  sind  nur  fünfzehn  Elevinnen  in  der  Schule.  Florence  war 
immer  der  Auffassung,  man  müsse  mit  wenigen  beginnen,  und 
vielleicht  auch  nur  ein  einziges,  aber  dafür  ein  gutes  Samenkorn 
in  das  Erdreich  des  Lebens  ausstreuen, 

Florence  will  aus  diesen  fünfzehn  Aspirantinnen  nicht  Pflege- 
rinnen mit  technischer  Gewandtheit  machen,  sondern  solche,  die 
moralisch  befähigt  sind,  den  Ärmsten  der  Armen,  den  Patienten 
eines  allgemeinen   Krankenhauses  beizustehen  und  sie  zu  trösten. 

Bloss  fünfzehn,  doch  wahrhaft  gute,  hilfreiche  Geschöpfe, 
die  von  einem  hohen  Geist  der  Liebe  erfüllt  sind. 

Denn  der  Laienorden  der  Nightingale-Pflegerinnen,  der  be- 
stimmt ist,  soviel  Gutes  in  die  Welt  hinauszutragen  und  den 
Ausgangspunkt  für  die  Gründung  unzähliger  anderer  Fürsorge- 
Schulen  zu  bilden,  ist  nicht  nur  die  Verwirklichung  des  Jugend- 
traumes von  Florence.  Er  ist  auch  das  Ergebnis  ihrer  religiösen 
Meditationen. 


Meditationen 

Lang  und  tiefgründig  sind  diese  Meditationen  von  Florence 
gewesen.  Sie  hatten  sie  schon  in  ihrer  frühen  Jugend  häufig  in 
Anspruch  genommen,  wenn  ihr  der  Segen  der  Arbeit  hartnäckig 
versagt  wurde.  Am  häufigsten  aber  versenkte  sie  sich  darin  in 


II 


ihrer  Krankeneinsamkeit,  nachdem  ihr  die  Arbeit  wohl  den  Leib, 
nicht  aber  die  Seele  geschwächt  hatte. 

Damals  und  später  hatten  ihre  Gedanken  eindringlich  und 
anhaltend  die  Wege  Gottes  gesucht.  In  der  Grösse  des  Weltalls 
hatte  sie  die  Gesetze  des  Herrn  studiert,  sie  hatte  sie  zu  erforschen 
gesucht,  um  das  zu  begreifen,  was  Er  von  seinen  Geschöpfen 
fordert.  Und  durch  all  die  Meditationen  bis  zur  leidenschaftlichen 
Lektüre  der  Philosophen  und  Heiligen,  war  sie  stets  auf  der  Suche 
nach  jenem  Guten,  das  ihr  sichtbar  wurde  und  wieder  entschwand, 
und  es  schien  ihr  zumindest,  als  verstünde  sie  etwas  davon. 

Sie  hat  ein  Buch  geschrieben,  in  dem  sie  den  halbwegs  kon- 
kreten Teil  ihrer  Gedanken  zusammenfasste,  die  soviel  Zeit  in 
ihrem  Leben  beanspruchten.  Sie  weiss  nicht,  ob  sie  sich  jemals 
dazu  entschliessen  wird,  dieses  Buch  herauszugeben.  Aber  sie 
schickt  Auszüge  daraus  an  ihre  Freunde,  an  ihren  teuren  Vater, 
der  so  wenig  sieht  und  dessen  Herz  doch  so  voll  Liebe  ist. 

«  Da  wir  in  der  ganzen  Welt  die  Anzeichen  des  Weltgesetzes 
sehen,  das  heisst  Ursachen  und  Grundsätze,  die  unaufhörlich  die 
gleichen  Wirkungen  in  moralischen,  geistigen  und  körperlichen 
Phänomen  hervorrufen,  so  müssen  wir  demnach  in  diesen  Welten- 
oder Universalgesetzen  die  Spuren  eines  Wesens  finden,  das 
sie  geschaffen  hat,  und,  was  noch  mehr  bedeutet :  des  Willens 
dieses  schöpferischen  Wesens.  Wenn  wir  uns  nur  auf  die  Ober- 
fläche beschränken,  so  mag  es  uns  manchmal  scheinen,  dass  dieses 
Wesen  von  unerbittlicher  Grausamkeit  wäre...  » 

«  Gehen  wir  aber  weiter,  erweitern  wir  unseren  Horizont,  so 
werden  wir  merken,  dass  der  Plan  dieses  Weltgesetzes  der  einzige 
ist,  durch  den  ein  gutes  Wesen  seine  Geschöpfe  lehren  kann, 
zu  ihrem  Wohl  wie  dem  der  anderen  zu  verstehen,  welcher  Weg 
zur  universellen  Vollkommenheit  führt...  » 

Diesen  unwandelbaren  Gesetzesaufriss  findet  Florence  in  den 
bitteren  Folgen  aller  Schuld  und  aller  Unwissenheit.  Sie  findet 
ihn  durch  die  Statistik,  die  Aufschluss  über  alle  guten  und 
schlechten  Resultate  jedes  menschlichen  Systems  gibt. 

112 


Diese  göttlichen  Gesetze  will  Florence  kennen,  um  sie  zu 
befolgen  und  sie  den  Menschen  zu  weisen.  Nach  dem  Willen 
Gottes  zu  handeln  ist  ihr  einziger  Wunsch. 

Wie  schwer  ist  das  geworden.  Man  muss  ohne  sich  aufzulehnen 
den  Verlust  so  lieber  Freunde  hinnehmen,  wie  von  Sidney  Herbert 
und  Hugh  Clough,  die  ideale  Arbeitsgefährten  gewesen  sind. 
Man  muss  den  Weg  fortsetzen,  der  durch  das  Entschwinden  so 
lieber  Menschen  nur  noch  mühseliger  geworden  ist. 

In  dem  kleinen  Londoner  Haus,  wo  sie  seit  so  vielen  Jahren 
wohnt,  und  das  Sidney  Herbert  fast  täglich  aufsuchte,  um  ihr 
über  die  seit  dem  vorhergegangenen  Tage  geleistete  Arbeit  zu 
berichten  und  sich  über  die  zu  leistende  mit  ihr  zu  beraten, 
kann  Florence  es  nicht  mehr  aushalten.  Das  Haus  birgt  zu  viel 
Erinnerungen  und  es  bleibt  für  sie  ein  Schrein,  den  sie  nicht 
mehr  aufschliessen  wird. 

Wie  eine  gequälte  Seele  sucht  sie  das  Leben  wieder  von  vom 
anzufangen.  Die  Zeit  vergeht,  die  ruhige  Heiterkeit  will  nicht 
zurückkehren. 

Ach,  wie  allein  und  einsam  fühlt  sie  sich  ! 

Nicht  einmal  einer  Zeitung  lässt  sie  den  Zutritt  in  ihre  Ere- 
mitenklause. Denn  wenn  sie  die  Blätter  überfliegt,  könnte  sie  die 
Namen  derer  lesen,  die  nicht  mehr  auf  Erden  sind.  Davor  hat 
sie  Angst. 

Fast  täglich  kommt  Dr.  Sutherland,  Arzt,  Freund,  geduldiger 
Sekretär,  alles  in  einer  Person.  Er,  der  unermüdliche,  leiden- 
schaftliche Hygieniker  und  seine  feingebildete  Frau  finden  immer 
Zeit,  Florence  einige  Stunden  der  Arbeit  und  der  Anspannung 
zu  widmen.  Aber  das  genügt  nicht,  um  die  Leere  in  ihrem  Dasein 
auszufüllen. 

Sie  ist  allein.  Ganz  England  hegt  innigste  Liebe  für  sie  und 
unzählige  ihrer  Verehrer  wären  bereit,  sie  aufzurichten,  zu  trösten, 
ihr  beizustehen,  in  Hingebung  und  Anbetung.  Aber  was  liegt 
Florence  an  der  Ergebenheit  derer,  die  stolz  wären,  sich  für  sie 
opfern  zu  dürfen  ? 

113 


Um  sie  zu  lieben,  wie  sie  geliebt  werden  möchte,  ist  es  nötig, 
sein  eigenes  Ich  zu  vergessen  und  mit  ihr  —  wie  es  Sidney  Herbert 
getan  hat  —  einen  von  den  Wegen  des  Herrn  zu  suchen. 

Sie  ist  allein.  Allein  und  einsam. 

Wer  hat  den  Damm  des  Schweigens  niedergerissen,  den  sie 
zwischen  der  lebendigen  Welt  und  sich  aufgerichtet  hatte  ? 

Die  englische  Regierung,  von  einem  neuen  Kriege  bedroht, 
bereitet  eine  Sendung  von  Material  für  Spitäler  nach  Kanada 
vor.  Die  Mitarbeit  von  Personen,  welche  die  Organisation  von 
Spitälern  kennen  und  die  Fähigkeit  besitzen,  für  das  Voraussehbare 
vorzusorgen,  ist  erforderlich.  Florence  wirft  sich  in  die  Bresche. 
Für  kurze  Zeit.  Dann  verkapselt  sie  sich  wieder  in  ihr  Schweigen, 
in  ihren  Schmerz,  in  ihre  Meditationen  und  ihre  Erinnerungen. 

«  Gott,  warum  hast  Du  das  gewollt  ?  » 

« Alles,  was  Du  tust,  ist  gut.  Die  verlorenen  Freunde  leben 
gewiss  in  einem  schöneren  Frühling  als  es  der  unsere  ist.  Dass 
ich  aber  noch  einen  Frühling  ohne  sie  erleben  muss  !  Glück- 
licherweise kann  auch  mein  Tod  nicht  fern  sein.  Ich  fühle  ihn 
in  jedem  Augenblick  neben  mir.  Mein  Leben  ist  eine  schwache 
Flamme.  Ich  habe  das  vierzigste  Jahr  überschritten.  Aber  warum 
kann  ich  nicht  sterben  ?  » 

«  Ich  fühle  mich  so  froh  am  Ende  eines  Tages,  der  nicht 
wiederkehren  wird,  und  noch  viel  freudiger  am  Ende  einer  Nacht, 
am  freudigsten,  wenn  ein  Monat  zu  Ende  gegangen  ist.  Diese 
unüberwindliche  Schwäche,  diese  unerträglichen  Schmerzen.  Es 
ist  der  Tod,  ja,  der  Tod  ! » 

Nein,  der  Tod  kommt  noch  nicht  zu  Dir.  Er  bleibt  Dir  fem, 
Florence.  Gott  hat  Dir  noch  viel  Arbeit  auferlegt,  ehe  er  Dich 
zu  sich  ruft.  Du  musst  noch  viele  Menschen  retten,  junge  Söhne 
des  alten  Englands.  Sie  vor  bitterem  Tode  retten,  ehe  Dich  ein 
sanftes  Sterben  zur  Ruhe  bringt. 

114 


Sechzig  von  Tausend 

Das  Land  des  Britischen  Imperiums  ist  ein  Traumland,  in 
das  sich  die  englischen  Soldaten  nun  begeben,  um  dahingerafft 
zu  werden. 

Schon  seit  mehreren  Jahren  hat  Florence  im  Laufe  ihrer 
Forschungen  über  den  Prozentsatz  der  Sterblichkeit  unter  der 
zivilen  und  der  militärischen  Bevölkerung  den  Finger  auf  eine 
grauenvolle  Ziffer  deuten  gesehen. 

Von  tausend  Soldaten,  die  nach  Indien  gehen,  sterben  alljähr- 
lich sechzig. 

Das  ist  ein  Mord,  den  das  Vaterland  an  ihnen  begeht  ! 

Florence  hatte  ja  beim  Ministerium  die  Ernennung  einer 
Kommission  durchgesetzt,  die  für  die  Soldaten  in  Indien  die- 
selben Massnahmen  zu  treffen  hatte,  welche  in  England  so  gute 
Früchte  getragen  ;  —  damals  war  Sidney  Herbert  damit  betraut, 
die  Arbeiten  zu  leiten.  Darnach  hatte  Florence  Nightingale  an 
die  militärischen  Formationen  in  Indien  ein  Rundschreiben 
gerichtet,  in  dem  sie  die  genauesten  Auskünfte  über  die  sanitären 
und  hygienischen  Verhältnisse  verlangte,  ebenso  über  die  Sterb- 
lichkeit der  Soldaten.  Und  nun,  da  Sidney  Herbert  nicht  mehr 
lebte,  kamen  aus  allen  Provinzen  Indiens  die  Antworten  auf  die 
Anfrage. 

Diese  Antworten  bildeten  eine  ausführliche  Beschreibung  des 
Lebens  da  unten,  sowohl  der  englischen  wie  der  indischen  Lebens- 
weise und  zeigten  Misstände  auf,  die  man  nicht  vernehmen  konnte, 
ohne  sich  zu  empören,  und  die  die  krasse  Erklärung  für  die  grosse 
Sterblichkeit  unter  den  Soldaten  lieferten.  Es  waren  die  gleichen 
Misstände,  die  in  der  Krim  und  in  der  Heimat  die  Soldaten 
umbrachten  und  die  dann  auch  in  Indien  die  Vaterlands  Ver- 
teidiger töteten. 

115 


Schlechtes  Wasser,  schlechte  oder  gar  keine  Kanahsation, 
Schmutz,  Mangel  an  reiner  Luft,  übermässige  Ansammlung  von 
Menschen  in  den  überfüllten  Kasernen  und  Spitälern,  wo  die 
Soldaten  dem  Alkohol,  dem  Laster  und  dem  Müssiggang  über- 
lassen waren. 

Alles  genau  wie  in  der  Krim. 

Florence  sieht  die  entsetzlich  düsteren  und  schwülen  Kasernen 
wieder  vor  sich,  die  halbberauschten  und  vertierten  Soldaten, 
die  völlige  Unmöglichkeit,  ein  hochgemutes  und  gesundes  Leben 
zu  führen,  auch  für  solche,  welche  dazu  die  besten  Absichten  hatten. 

Alljährlich  60  Mann  von   1000  geopfert... 

Sidney  Herbert  ist  nicht  mehr,  doch  seine  Arbeit  lebt  für 
sie  wieder  auf,  für  sie,  die  am  Leben  ist  und  gegenwärtig.  Es 
ist  ihre  Aufgabe  für  zwei  zu  arbeiten. 


«Randbemerkungen  von  Fräulein  Nightingale» 

Wahrhaftig  eine  namenlos  schwierige  Arbeit.  Es  sind  Berge 
von  Blättern  zu  lesen,  zu  prüfen,  zu  studieren,  um  das  wesentliche 
daraus  zu  ziehen. 

Soviel  verschiedene  Fragen,  die  sich  kreuzen,  sich  ballen, 
noch  ungeklärt  sind  und  sich  verwirren.  Es  scheinen  tausend 
und  lassen  sich  auf  eine  einzige  zurückführen,  die  ihrerseits 
tausend  Lösungsmöglichkeiten  anzeigt. 

Es  ist  dringend,  klar  zu  sehen,  alles  unter  einen  Nenner  zu 
bringen,  zu  vereinfachen,  die  Quellen  aufzudecken,  die  Ursachen 
des  Übels  freizulegen  und  in  Beziehung  zu  ihren  mittelbaren 
und  unmittelbaren  Wirkungen  zu  setzen. 

Immer  neue  Berichte,  weitschweifige  Beschreibungen,  ein- 
gehende Erklärungen  laufen  ein. 

Das  Leben  in  Indien  mit  Myriaden  von  Aberglauben,  mit 
seinen  hundert  Kasten,  seiner  Wildheit,  seinem  Schmutz  ;  das 

116 


quälende,  unwissende,  zermürbende  und  vielfarbige  Leben,  das 
aus  diesen  Blättern  in  das  Zimmer  der  verzagten,  einsamen  Frau 
hereinströmt  und  mit  mächtiger  Stimme  seinen  Ruf  ertönen  lässt. 

2028  Seiten  Berichte  sind  das  Ergebnis  der  Umfrage. 

Und  als  Folgerungen  und  Zusammenfassung  erscheinen  die 
«  Randbemerkungen  von  Fräulein  Nightingale  »,  die  gewiss  Bemer- 
kungen sind,  aber  auch  einfache,  klare,  präzise  Vorschläge. 

Genau,  wahrhaftig  genau  derselbe  Weg  wie  früher,  genau 
wie  in  dem  Feldzug  für  die  Reform  des  englischen  Heeres.  Doch 
um   wieviel   schwieriger  ! 

Jetzt  heisst  es  nicht  eine,  sondern  drei  bürokratische  Maschinen 
in  Bewegung  setzen  :  die  des  Kriegsministeriums,  die  des  Indien- 
amtes und  die  der  indischen  Regierung.  Und  Florence  kann  sich 
nicht  mehr  vom  Bette  erheben,  in  dem  sie  Wochen  und  Wochen 
verbringen  muss.  Nur  Dr.  Sutherland  vermag  es,  sie  wirksam 
zu  unterstützen,  da  doch  Sidney  Herbert,  der  im  Geiste  stets 
gegenwärtige,   dahin   ist. 

Mehr  denn  je  ist  sie  allein  mit  ihrer  Arbeit,  mit  sich  selbst, 
ihren  Erinnerungen  und  mit  Gott. 

Derselbe  Weg,  den  sie  schon  kennt. 

Vielleicht  hat  Gott  sie  nur  deshalb  am  Leben  gelassen  ;  denn 
kein  anderer  hätte  diesen  Weg  gehen  können  als  sie.  Und 
niemand  ausser  ihr  hat  diese  Ziffern  von  Feuer  und  Blut  so 
erschaut  und  gedeutet. 

Jedes   Jahr  sechzig  von  tausend. 

Florence  weiss,  was  ein  englischer  Soldat  ist.  Sie  hat  ihre 
Toten  nicht  vergessen. 

Darum  geht  sie  den  Weg  von  neuem.  Schritt  für  Schritt, 
Hindernis  um  Hindernis  überwindend,  die  vorauszusehenden 
Schwierigkeiten  durch  Vorsorge  abschwächend  und  die  zahllosen 
unerwarteten  Mühen  besiegend. 

Soll  man  die  Berichte  in  Druck  geben,  ein  so  ungeheures 
Buch  ?  Sie   sind  ja  auch  noch   mit   Bildern  versehen.    Daran  ist 

117 


nicht  zu  denken.  Der  Finanzminister  wird  sich  die  Kosten 
dafür  sicher  nicht  aufbürden  wollen. 

Florence  lässt  das  Buch  auf  eigene  Kosten  drucken.  Sie  schickt 
es  dann  als  Resultat  der  Regierungs-Enquete  an  verschiedene 
bedeutende  Presseorgane  und  das  geschieht  so  schnell  und  gleich- 
zeitig, dass  jeder  sich  für  den  ersten  hält,  der  die  wichtige 
Mitteilung  empfangen  hat,  die  so  reich  ist  an  interessantem  und 
sensationellem  Tatbestand.  Alle  schreiben  ausführlich  darüber, 
bringen  es  zu  allgemeiner  Kenntnis.  Die  indische  Frage  wird 
das  Problem  des  Tages  :  man  spricht  davon,  man  debattiert 
darüber  und  man  tritt  leidenschaftlich  dafür  ein.  In  ganz  England 
kann  niemand  diese  Frage  ignorieren.  Alle  fühlen,  dass  ihre 
Lösung  dringend  ist. 

Florence  schickt  das  Buch  auch  an  alle,  die  in  irgendeiner 
Form  der  Sache  nützen  könnten,  an  die  möglichen  Freunde  der 
Reform  und  an  solche,  die  durch  ihre  Stellung  in  der  Lage 
sind,  auf  die  Entwicklung  der  Dinge  in  Indien  Einfluss  zu 
nehmen. 

Sie  studiert  die  Menschen  und  ihre  Einstellung.  Sie  regt  sie 
an,  sie  klärt  sie  auf,  sie  gewinnt  sie  zu  Freunden,  sie  veranlasst 
das  Zusammentreffen  untereinander,  wo  es  ihnen  erwünscht  und 
der  Sache  zuträglich  ist.  Sie  lenkt  sie,  wie  ein  Schachspieler 
seine  Figuren. 

Dieser  Schachspieler  ist  eine  dahinsiechende  Frau,  allein  in 
ihrem  Krankenzimmer.  Aber  Ziel  und  Zweck  dieser  Schachpartie 
sind  eine  ungeheure  Anzahl  von  Menschenleben... 

Florence  bewegt  ihre  Figuren.  Eine  der  mächtigsten  wird  ihr 
allerdings  vom  Tod  entrissen  :  Sie  George  Lewis,  der  Staats- 
sekretär des  Kriegsministeriums.  Wer  wird  sein  Nachfolger  ? 

Unter  den  zwei  zur  Nachfolge  bestimmten  Staatsmännern 
kennt  Florence  den  einen  nur  zu  genau  ;  den  alten,  langsamen 
Lord  Panmure  mit  dem  Spitznamen  «  Büffel  ». 

Der  andere,  der  junge  Lord  De  Grey,  war  Sekretär  von 
Sidney  Herbert,  hat  Verständnis  und  Willenskraft.  Er  wünscht 

118 


seit  langem  die  Reformen  verwirklicht  zu  sehen,  von  deren  Not- 
wendigkeit ihn  Florence  überzeugt  hat. 

Wie  dringend  ist  es,  dass  De  Grey  Erfolg  hat.  Mit  grosser 
Gewandtheit  und  Klugheit  setzt  Florence  die  Ernennung  von 
De  Grey  durch. 

Ein  ungeheures  Schachbrett,  auf  dem  der  Tod  Ernte  hält. 

Lord  Elgin,  Gouverneur  von  Indien,  wird  plötzlich  dahin- 
gerafft. Die  Gedanken  aller  an  der  Indien-Reform  Beteiligten 
richten  sich  auf  die  Person  von  Sir  John  Lawrence,  den  Helden 
der  Kraft  und  der  Barmherzigkeit. 

Auch  das  Wort  von  Florence  ist  zu  seinen  Gunsten  in  die 
Wagschale  gefallen. 

Sir  John  Lawrence,  der  Mann  von  rauher  Redlichkeit,  mit 
tiefem  Mitgefühl  für  das  menschliche  Leid,  voll  ehrlicher  Über- 
zeugung, dass  die  weitgehendsten  sanitären  Reformen  dringend 
sind,   wird  zum  Gouverneur  von    Indien  ernannt. 

Ist  es  die  Hilfe  Gottes  ? 

Vielleicht... 


Um  Indien 

« Oh,  könnte  ich  mich  nur  bewegen  !  Könnte  ich  mich  auf 
meinen  Posten  begeben,  mich  selbst  nach  dem  Rechten  umsehen, 
handeln,  dort  unten  arbeiten.  Nichts.  Gott  will  es  nicht.  Gewiss 
weiss  Er,  dass  ich  in  dieser  Stille  hier  Seine  Stimme  deutlicher 
vernehme...  » 

Florence  Nightingale  wird  nie  nach  Indien  kommen.  Aber  die 
Vizekönige  von    Indien  kommen,  einer  nach  dem  andern  zu  ihr. 

Sir  John  Lawrence  macht  den  Anfang. 

Er  erblickt  ein  wachsbleiches  Antlitz  auf  dem  weissen  Kissen, 
zwei  brennende  Augen,  eine  Seele  von  wundersamer  Lebenskraft  ! 

Es  wird  eine  lange  Zwiesprache,  wie  zwischen  Generälen,  die 
den  Plan  einer  Schlacht  entwerfen. 

119 


Sir  John  reist  nach  Indien  und  Florence  bleibt  zurück.  Könnte 
man  nur  einen,  nur  einen  einzigen  Tag  so  wie  in  vergangenen 
Zeiten  leben,  unter  den  Soldaten,  ihnen  helfend,  sie  anfeuernd, 
tröstend,  erhebend,  noch  einmal  deren  gute  Mutter  sein  ! 

Sie  muss  zu  Hause  bleiben.  Sie  muss  die  anderen  zur  Arbeit 
aneifern,  Pläne,  Projekte,  Hausordnungen  verfassen  und  fort- 
schicken. Sie  muss  nach  London  schreiben,  vor  allem  und  immer 
wieder  nach  Indien,  belehren,  zusammenfassen,  wünschen  und 
erwarten,  dass  die  anderen,  die  auf  dem  umkämpften  Boden 
sich  befinden,  ihre  Aufgaben  vollbringen  und  ihr  über  die  erzielten 
Ergebnisse  berichten. 

« Sich  in  Regierungsangelegenheiten  einmengen  zu  müssen : 
der  Kapitän  meines  Schiffes,  ohne  den  ich  mich  nie  auf  die  hohe 
See  gewagt  hätte,  ist  tot  und  hat  mich,  eine  Frau,  auf  der  Kom- 
mandobrücke zurückgelassen. 

Glaubt  man  denn,  ich  mache  eine  Arbeit,  die  mich  freut, 
unter  Verhältnissen,  die  mir  angenehm  sind  ? 

Ich  bin  überzeugt,  dass  auf  der  ganzen  Welt  kein  Mensch 
existiert,  der  weniger  als  ich  geeignet  wäre,  zu  schreiben  und  eine 
schwierige  Aufgabe  vorwärts  zu  bringen.  Und  doch  tue  ich  seit 
sieben    Jahren   nichts   anderes,   als   regelmässig   schreiben.  » 

In  Indien  kommt  es  rasch  zu  wirklichen  Fortschritten.  Die 
« Anregungen  »,  die  Sir  John  von  Florence  erbeten,  und  die  sie 
gemeinsam  mit  Dr.  Farr  und  Dr.  Sutherland  abgefasst  hat,  werden 
von  den  Kommissionen  für  die  Verbesserung  der  Kasernen  und 
der  Spitäler  angenommen. 

Diese  Sanitätskommissionen,  die  damit  betraut  sind,  in  allen 
Fragen,  die  sich  auf  die  Gesundheitsverhältnisse  des  Heeres 
beziehen,  Ratschläge  und  Unterstützung  zu  gewähren,  über- 
wachen die  allmähliche  Einführung  der  sanitären  Verbesserungen 
in  Kasernen,  Spitälern,  Militärstationen  und  Städten  in  der 
Nachbarschaft  der  militärischen  Garnisonen.  Florence  wird  von 
jeder  ausgeführten  Massnahme  verständigt. 

120 


Und  die  Soldaten  ? 

Und  die  Soldaten  ? 

Wann  hätte  Florence  je  eine  Sache  verlangt,  ohne  sie  durch- 
zusetzen ? 

Sie  ist  stolz  auf  ihre  Soldaten. 

«  Die  Soldaten  haben  angefangen  zu  verstehen,  dass  es  selbst 
während  den  grossen  Hitzeperioden  besser  ist,  zu  arbeiten  als 
immer  nur  zu  trinken  und  zu  schlafen.  Ein  Regiment,  das  in  eine 
Garnison  kam,  in  der  die  Cholera  seit  zwei  Jahren  wütete,  hörte 
von  dem  abmarschierenden  Regiment,  dass  man  dort  nicht  leben 
könne.  Die  neu  Angekommenen  antworteten  :  «  Man  wird  ja  sehen. 
Wir  wollen  keine  Cholera!»  Und  sie  bearbeiteten  mit  so  grossem 
Eifer  den  Boden,  der  ihnen  zugewiesen  war,  dass  sie  bald  daran 
Geschmack  fanden,  das  Gemüse  zu  essen,  das  sie  selbst  ausgesät 
hatten.  Auch  war  es  ihnen  ein  Vergnügen,  dass  ihnen  ein  Kommis- 
sariat das  Gemüse  abkaufte.  All  das  auf  einem  Boden,  den  bisher 
niemand  bebaut  hatte.  So  gelang  es  den  braven  Jungens,  die 
Choleragefahr  mutig  auszutreiben.  » 

Sie  blieben  die  Sieger.  Was  hätten  die  guten  Jungens  nicht 
alles  überwinden  können,  wenn  sie  nur  unter  richtiger  Führung 
gewesen  wären  !  Krankheit,  Müssiggang,  Unwissenheit,  Trunk- 
sucht —  sie  überwanden  alles. 

Und  ihre  unsichtbar  ferne  und  trotzdem  stets  gegenwärtige 
Vorsehung  blieb  immer  nur  sie. 

Ihr  Haus  in  London  wurde  wieder  das  Generalquartier  der 
sanitären  Reform.  Hier  trafen  die  Freunde  zusammen,  denen  die 
Reform  am  Herzen  lag. 

Hier  verfasste  sie  auch  ein  kurzes  Memorandum,  die  Syn- 
these ihrer  langwierigen  Arbeit. 

121 


Es  sind  elf  Seiten  :  «  Wie  man  in  Indien  leben  —  nicht  sterben 
—  kann.  » 

Als  das  Memorandum  auf  dem  Kongress  für  Sozialwissenschaf- 
ten, der  in  Edinburgh  tagt,  zur  Verlesung  kommt,  wird  ihm  eine 
allgemeine  Beifallskundgebung  gezollt,  ganz  ähnlich  derjenigen, 
die  ihr  die  Soldaten  der  Krim  darbrachten  : 

«  Hurra  !  hurra  !  hurra  !  für  Florence  Nightingale  !  » 

Und  ihr  neuer  Jünger  und  Mitarbeiter  in  der  Ferne,  der 
vielleicht  nicht  den  vollen  Eifer  von  Sidney  Herbert  besitzt,  aber 
davon  überzeugt  ist,  dass  man  in  der  gemeinsamen  Arbeit  mit  ihr 
die  Menschen  retten  kann,  der  Gouverneur  von  Indien,  lässt 
nach  und  nach  all  das  ausführen,  was  Florence  für  die  Soldaten 
fordert.  Und  er  vollbringt  es  trotz  aller  Schwierigkeiten,  trotz 
der  Trägheit,  der  Unzufriedenheit  und  der  Opposition  der  Reform- 
gegner. 

«Alles  ist  Ihnen  zu  verdanken,  Ihnen  allein  »,  schreibt  er  ihr,  der 
Kranken,  und  jeder  Brief  von  Florence  an  ihn  erscheint  ihm  wie 
ein  Trompetenstoss,  ein  Aufruf  zur  sanitären  Frage,  eine  schmerz- 
liche Klage,  zu  Hause  bleiben  zu  müssen,  nichts  tun  zu  können, 
während  die   anderen   da   unten   nur   allzuviel   zu  leisten   haben. 

Ihr  Herz  ist  mit  ihnen,  in   Indien. 

Aber  sie  vergisst  dabei  nicht  die  Reform  des  Ministeriums,  wel- 
che zu  vollbringen  Sidney  Herbert  der  Tod  verhindert  hat,  und 
welche  jedem  einzelnen  Beamten  eine  bestimmte,  scharfumrissene 
Aufgabe  zuweisen  soll,  statt  wie  bisher  die  Verantwortlichkeit 
des  einzelnen  unbestimmt  zu  lassen...  Sie  vergisst  nichts  von 
dem,  was  die  Soldaten  betrifft,  und  da  sich  alle  an  sie  wenden, 
so  werden  die  Pläne  der  zu  erbauenden  oder  umzubauenden 
Spitäler  zuerst  ihr  vorgelegt,  ehe  sie  zur  Ausführung  gelangen. 

Täglich  kommt  Dr.  Sutherland,  sobald  seine  Arbeit  im  Amte 
der  Sanitätskommission  für  das  Heer  vollbracht  ist.  Er  stellt 
seine  grossen  ärztlichen  Kenntnisse  und  eine  nimmermüde, 
unvergleichliche  Arbeitsfähigkeit  in  ihre  Dienste.  Nicht  einmal 
ihm  ist  es  jedoch  vergönnt,  die  Kranke  regelmässig  in  ihrem  stillen 

122 


Gemach  zu  sehen.  Oft  wird  der  Meinungsaustausch  nur  schriftHch 
geführt.  Aber  er  gewährt  gegenseitig  genaue  Kenntnis  der  Leistun- 
gen und  der  vodiegenden  Arbeiten  :  Projekte  für  neue  Kasernen, 
Lesesäle,  Spitäler,  Aufstellungen  von  allgemeinen  sanitären 
Weisungen  und  persönlichen  Instruktionen  über  die  schon  fest- 
gestellten Epidemien,  über  die  Speisen  der  Kantine,  die  Vorräte 
für  Spitäler.  All  das  dringt  in  die  Einsamkeit  des  Krankenzimmers, 
um  es  wieder  zu  verlassen,  versehen  mit  dem  Stempel  des  Geistes 
der  Liebe  der  seherischen  Weisheit  einer  wunderbaren  Frau. 

« Gott  hat  mich  zuerst  zur  Arbeit  in  Spitälern  gerufen  — 
damals  dachte  ich  mit  Freuden,  es  wäre  für  mein  ganzes  Leben. 
Später  rief  er  mich  zur  Arbeit  für  das  Heer  und  da  hoffte  ich 
immer,  noch  einmal  ins  Spital  zurückkehren  zu  können.  Ich  hoffte 
das  als  Pflegerin  zu  tun,  würde  ich  jetzt  dahin  zurückkehren  — 
so  wäre  es  als  Patientin...  » 

Vor  ihren  Fenstern  ziehen  die  Soldaten  Englands  vorüber  : 
Die  Veteranen,  mit  Medaillen  und  Ordenskreuzen  geziert.  Das 
Herz  der  Kranken  fliegt  ihnen  zu,  mit  welcher  Liebe,  welcher 
Treue  und  Hingabe  ! 

«  —  Ich  sehe  die  Schlachtfelder  der  Krim  vor  mir,  ich  lausche 
den  Berichten  der  Tapferen,  die  noch  von  heldischem  Schwung 
durchpulst  sind,  ich  lebe  das  herrliche  Leben  von  einst,  als  ich 
nicht  Pläne,  Regeln,  Projekte  auf  der  Bettdecke  liegen  hatte, 
sondern  in  lebendiger  Arbeit  dort  unten  unter  lebendigen  Menschen 
stand.  » 

Ach,  die  vergangene  schöne  Zeit  !  Wie  trocken  ist  diese  Arbeit, 
die  in  der  Ferne  zu  leisten  ist,  mit  Zuhilfenahme  von  vollge- 
schriebenen Bogen  und  Zetteln,  voll  Anregungen,  voll  Ratschläge, 
voll  strategischen  Eingebungen. 


123 


Auf  hoher  Warte 

Ein  Freund  ist  in  ihr  Leben  getreten.  Ein  grosser,  guter  Freund, 
ein  Priester.  Eine  hochgemute  und  bewegte  Seele. 

Reverend  Benjamin   Jowett. 

Ihm  als  ihrem  geistigen  Mentor,  den  Herz  und  Seele  sich  nicht 
gleichgestimmter  wünschen  können,  darf  sie  ihr  Leid  bekennen, 
die  Einsamkeit  ihres  Lebens,  das  ja  in  mancher  Hinsicht  so 
bedrängt  von  Freunden  und  Verehrern  ist,  die  sich  ihr  widmen 
wollen. 

Wer  könnte  ihr  ergebener  und  treuer  sein  im  Wunsche,  ihr 
zu  dienen,  als  ihr  lieber  alter  Sutherland  ?  Ohne  seine  hingebende 
tägliche  Mitarbeit,  die  ja  jetzt  schon  seit  Jahren  besteht,  wäre 
ihre  Arbeit  ganz  unmöglich.  Er  ist  Sekretär  aus  freiem  Willen  und 
in  jeder  Weise  unbezahlbar,  ein  diskreter  und  unersetzlicher 
Arbeitskamerad.  Aber  in  ihm  loht  die  Flamme  nicht  wie  in  ihr, 
wie  sie  in  Sidney  Herbert  entbrannt  war,  die  unauslöschliche 
Flamme,  die  Leidenschaft,  vorwärts  zu  eilen,  vorwärts  für  den 
heiligen  Kreuzzug. 

Der  neue  Freund  von  Florence  versteht  das  gewiss,  schätzt, 
tröstet,  bewomdert  sie.  Aber  er  befindet  sich  nicht  in  einem  fort- 
währenden Zustand  der  Anbetung,  wie  alle  anderen  in  ihrer 
Umgebung.  Er  versteht  es,  ihr  Ratschläge  zu  erteilen,  die  ihr  Ruhe 
und  Heiterkeit  wiedergeben.  Ihm  darf  sie  ihre  Zweifel,  ihr  Ver- 
zagen, ihr  Streben  nach  hoher  Religiosität  gestehen,  ihre  geheime 
Gegnerschaft  im  Hinblick  auf  orthodoxe  Religionstheorien.  Am  Ende 
ihrer  Bekenntnisse,  die  sie  bisher  noch  niemandem  eröffnet  hatte, 
fügt  Florence  noch  eine  beklommene,  schüchterne  Frage  hinzu  : 

«  Nun  da  Sie  alles  von  mir  wissen.  Hochwürden,  können  Sie 
mir  an  Stelle  meines  armen  alten  Pfarrers  das  Heilige  Abend- 
mahl darreichen  ?  » 

124 


«  Ich  freue  mich  von  Herzen,  Ihnen  das  Abendmahl  reichen 
zu  können  und  bin  überzeugt,  dass  nicht  nur  ich,  sondern  viele 
andere  Priester  hier  in  London  Ihnen  dasselbe  gerne  gewähren 
wöirden.  » 

Florence  hört  diese  Worte  des  hochwürdigen  Herrn  und  ihre 
Seele  ist  von  wundersamem  Frieden  erfüllt.  Wenn  Gott  es  ihr 
auch  versagt  hat,  ihren  Dienst  in  den  Spitälern  weiter  zu  versehen, 
so  war  es,  damit  sie  fähiger  würde,  seinem  Willen  zu  genügen. 
Hätte  der  Spitalbetrieb  mit  seinen  fortgesetzten  und  notwendigen 
Anforderungen  ihr  denn  erlaubt,  das  grosse  Unternehmen  der 
sanitären  Militärreformen  zu  planen  und  auszuführen  ?  Wenn 
sie  inmitten  der  Menschen  gelebt  hätte,  wer  weiss,  ob  sie  den 
unwiderstehlichen  Reiz  hätte  bewahren  können,  der  jeden  ge- 
fangen nahm,  der  in  ihr  einsames  Zimmer  trat  ?  Dieser  eigenartige 
Reiz  eines  Wesens,  das  unendlich  fem  vom  Weltgetümmel  war 
und  das  gleichsam  auf  hoher  Warte  stand,  erhaben  über  dem 
Staub  und  dem  Geröll  der  Strasse. 

Gerade  ihre  Krankheit  macht  sie  für  die  ihr  auferlegte  Arbeit 
fähiger.  Nichts  vermag  sie  von  ihrer  hohen  Idee  zu  entfernen  : 
Das  Wohl  der  Soldaten  bleibt  ihr  Ziel.  Nicht  einmal  die  ausser- 
ordentliche Bewunderung  kann  sie  aus  ihrem  magischen  Kreise 
ziehen. 


Giuseppe  Garibaldi 

Alle  wünschen  die  Oberschwester  kennen  zu  lernen  :  von 
der  Königin  von  Holland  bis  zur  einfachen  Arbeiterin. 

Florence  empfängt  die  Königin  von  Holland  nicht.  An  ihrer 
Stelle  erhält  ein  anderer  Zeitgenosse  den  Zutritt  in  ihr  Haus,  ein 
berühmter  Greis,  ein  Führer  des  Volkes. 

Giuseppe  Garibaldi. 

Seit  ihrer  Kindheit  hat  Florencens  Herz  begeistert  für  ihn 
geschlagen.  Damals  war  er  ein  junger,  strahlend  schöner  Con- 

125 


dottiere,  dem  die  Jünglinge  bis  in  den  Tod  und  zum  Martyrium 
folgten.  Heute  ist  er  ein  müder  Greis,  mit  weissem  Haar  und  klaren 
Kinderaugen.  Seine  Seele  ist  von  der  Jugend  seines  Volkes  erfüllt. 
Er  spricht  von  Gerechtigkeit,  von  Güte,  von  hohen  Idealen.  Wie 
er  Italien  an  Italien  zurückgegeben,  so  hätte  er  ihm  auch  eine 
Regierung  wie  die  englische  geben  mögen,  die  es  gegen  die  äusseren 
und  inneren  Feinde  zu  leiten,  zu  stützen  und  zu  verteidigen 
vermöchte. 

Er  hat  mit  eigenen  Augen  Wunder  sich  ereignen  sehen  und  hat 
selbst  Wunder  vollbracht.  Hat  er  Italien  an  Italien  zurückgegeben, 
so  wünscht  er  jetzt  seinem  Lande  auch  die  Italiener  geben  zu  können. 

Aber  die  Frau,  die  seit  langer  Zeit  das  steinharte  Material 
bearbeitet  hat,  eines  Landes,  das  seit  Jahrhunderten  feste  Gestalt 
besitzt,  weiss,  wieviel  Mühe  es  kosten  wird,  für  Italien  die  Italiener 
zu  erziehen. 

Sie  möchte  ihm  so  gerne  sagen  : 

«  General,  in  5  Jahren  haben  Sie  die  Arbeit  von  5  Jahrhun- 
derten vollbracht.  Aber  nicht  einmal  Sie,  mein  General,  können 
im  Handumdrehen  den  Mechanismus  einer  grossen,  mächtigen 
Maschine  aufbauen  und  in  Bewegung  setzen.  Italien  muss  eine 
widerstandsfähige,  herrliche  Maschine  werden,  mit  vollkommenem, 
mächtigem,   unzerstörbarem   Räderwerk.  » 

Sie  sagt  es  nicht.  Sie  blickt  ihn  an,  von  den  herrlichen  blauen 
Augen  bis  in  die  Tiefe  des  Herzens  bewegt,  sie  sieht  mit  Rührung 
das  schneeweisse  Haar,  fühlt  den  Adel  dieses  unsagbar  wehmütigen 
und  grossen  Herzens... 


Ja,  alle  wollen  die  «  Dame  mit  der  Lampe  »  kennen  lernen. 
Gross  und  klein  redet  von  ihr  mit  einer  Verehrung,  die  fast 
Anbetung  ist.  Aber  sie  denkt  an  andere  Dinge... 

Wird  man  in  England  niemals  durchsetzen  können,  dass  ein 
Gesundheitsamt  geschaffen  wird,  das  alles  vorsieht  und  bereithält, 
was  für  die  Volksgesundheit  vonnöten  ist  ? 


126 


Florence  steht  gleichsam  im  Hinterhalt,  bekehrt  die  Anhänger 
der  gegensätzHchsten  poHtischen  Parteien  zu  ihrer  Sache.  Aber 
wieviel  Beharrlichkeit  ist  dazu  nötig,  wieviel  Mühe,  um  auch 
nur  das  geringste  Resultat  zu  erreichen. 

In  England  und  im  Ausland  entsinnt  man  sich  gewiss  der 
Helden  des  Krim-Krieges,  zumal  jetzt,  wo  neuer  Kriegslärm 
in  Europa  vernehmlich  wird.  Es  ist  ein  heisser  Freiheitsdrang 
vorhanden  und  Italien  regt  sich,  um  sein  Joch  abzuschütteln, 
um  die  ersehnte  Unabhängigkeit  zu  erobern. 

Spitäler  werden  eröffnet,  man  beschwört  Florence  Nightin- 
gale  : 

«  Nur  einen  einzigen  Tag  schenken  Sie  uns  Ihre  Gegenwart.  » 

«  Wenn  das  Opfer  meines  Lebens  den  Sieg  Ihrer  Sache  auch 
nur  um  eine  halbe  Stunde  beschleunigen  könnte,  würde  ich 
freudig  mein  Leben  darbieten.  Aber  ich  bin  ein  armer  Krüppel. 
(«  Nazione  »,   Juni    1866.) 

Das  Land,  das  sich  zum  Kampf  bereitete,  um  seine  Freiheit 
zu  ernngen,  weiss  nicht,  dass  Florence  Nightingale  auch  ihren 
eigenen  Krieg  zu  führen  hat,  einen  harten  Kampf  gegen  die 
Unwissenheit  und  die  Finsternis,  um  der  Welt  das  Licht  und 
das  Heil  zu  bringen. 


Agnes  Jones 

Ist  alles  noch  im  Dunkel  ?  Nein.  Hie  und  da  sieht  man  eine 
Flamme  auflodern  und  Lichter  glänzen.  Es  ist  als  würden  in 
der  Nacht  Leuchtkäfer  und  Sterne  sichtbar. 

Florence  hat  Mr.  Rathbone  noch  nie  gesehen  und  von  ihm 
niemals  gehört.  Er  schreibt  ihr  einen  Brief. 

Herr  Rathbone  ist  ein  Philantrop.  Er  wohnt  in  Liverpool 
und  kennt  das  dortige  Armenhaus.  In  diesem  wie  in  allen  Armen- 

127 


häusem  und  Asylen  von  ganz  England  werden  die  Kranken  von 
den  unwissendsten,  den  armseligsten  unter  allen  armseligen 
Frauen  gepflegt.  Es  sind  Geschöpfe,  die  das  Elend  und  das  Laster 
von  Asyl  zu  Asyl  gejagt  hat,  bis  sie  die  letzte  Zuflucht  in  dem 
so  gefürchteten  Armenhause  fanden.  Elend  und  Laster  zwingen 
sie,  darin  zu  verharren  :  schmutzig,  zerlumpt,  widerlich,  unfähig. 

Wie  die  namenlos  unglücklichen  Patienten  von  solchen  Frauen 
in  solchen  Spitälern  gepflegt  werden,  das  weiss  Herr  Rathbone 
genau,  und  er  empfindet  für  die  Unseligen  das  tiefste  Mitgefühl. 
Darüber  schreibt  er  an  Florence  Nightingale.  Man  müsse  sofort 
ein  Experiment  machen,  ohne  die  Entscheidungen  von  Ministerien 
und  Kommissionen  abzuwarten.  Ein  Aufatmen  freudiger  Erleich- 
terung 1  Welche  Wonne  für  die  Seele  der  Frau,  die  nichts  anderes 
will,  als  schaffen  und  die  immer  warten  muss. 

Im  Einverständnis  mit  ihr,  wird  der  Philantrop  von  Liverpool 
von  keiner  Seite  etwas  verlangen.  Alle  Kosten  wird  er  selbst 
decken. 

Nun  bereitet  Florence  ihre  kleine  und  doch  so  bedeutsame 
Expedition  vor.  Es  sind  zwölf  Pflegerinnen  erforderlich.  Aber  es 
ist  noch  wichtiger,  eine  Frau  zu  finden,  die  sie  leitet  und  zügelt. 
Die  Direktorin  ist  hier  alles. 

Florence  schreibt  :  « Fräulein  Agnes  Jones,  können  Sie  zu 
mir  kommen  ?  » 

Florence  Nightingale  kennt  Miss  Jones  seit  langer  Zeit.  Zart 
und  blond,  mit  feinen  vergeistigten  Zügen  und  frischem  rosigem 
Teint  gleicht  Agnes  Jones  einer  Schäferin  auf  einem  Gemälde 
des  18.  Jahrhunderts.  Sie  hat  die  Krankenpflege  erlernt,  als  sie 
hoffte,  sich  in  der  Krim  den  Kriegspflegerinnen  anschliessen  zu 
können.  Später  hat  sie  auf  Anraten  von  Florence  zur  Vervoll- 
kommnung ihrer  Kenntnisse  noch  ein  Jahr  im  St.  Thomas  Hospital 
gearbeitet.  Sie  ist  die  Nichte  des  Gouverneurs  von  Indien,  ist 
jung,  schön,  reich  und  von  feinster  Bildung.  Eine  Kranken- 
pflegerin ersten  Ranges. 

128 


Wird  sie  aber  auch  imstande  sein,  die  unvermeidlichen  Härten 
zu  überwinden,  wenn  sie  sich  einverstanden  erklärt,  nach  Liver- 
pool zu  gehen  ? 

Wie  der  italienische  Condottiere  seinen  Anhängern,  so  hat 
auch  Florence  Nightingale  ihrer  Gefolgschaft  nur  Mühen,  Bürden, 
Plagen  und  vielleicht  den  Tod  zu  bieten  —  wie  die  Freiwilligen 
von  Garibaldi,  so  nehmen  auch  ihre  Freiwilligen  mit  Stolz  und 
Mut  alle  Mühen  und  Plagen  auf  sich  und  sehen  dem  Tode  kühn 
ins  Auge. 

Aber  Garibaldi  stürmt  in  lebensvoller  Kraft  den  anderen 
voran,  ist  der  erste,  Leiden  zu  ertragen  und  jeder  Gefahr  zu 
trotzen  —  sie  aber,  sie... 


Wie  durch  ein  Wunder  fühlt  Agnes  Jones  in  Liverpool  immer 
die  Nähe  von  Florence  Nightingale. 

Wie  ist  es  möglich,  dass  in  Momenten  des  Zweifels,  der 
Schwierigkeit,  der  Unsicherheit  unfehlbar  ein  Brief,  ein  Wort, 
ein  Ratschlag  eintrifft,  der  ihr  Mut  und  Glauben  wiedergibt  ? 
Nicht  nur  geistige  Hilfe,  sondern  auch  technische,  praktische 
Unterstützung. 

In  ihrer  Einsamkeit  hat  Florence  Nightingale  tatsächlich  die 
klare,  deutliche  Vision  all  der  Schrecken,  in  deren  Atmosphäre 
Agnes  Jones  ihre  Tage  und  Nächte  verbringt.  Die  Zusammen- 
pferchung von  Kindern,  Greisen,  Irrsinnigen,  Trunkenbolden 
im  Spital ;  Geschrei,  Gestöhn,  Fluchen,  Seufzer,  Weinen  und 
andere  Grauen  :  eine  wahre  Hölle.  Und  alles  fehlt :  von  den 
Matratzen  bis  zu  den   Desinfektionsmitteln. 

Wenn  Florence  an  Agnes  schreibt,  so  ist  es,  als  sähe  sie  alles. 
In  ihren  Briefen  an  Rathbone  deutet  sie  die  zu  treffenden  Mass- 
nahmen gerade  in  dem  Augenblick  an,  wo  es  geraten  ist,  sie  vor- 
zunehmen. Deshalb  wenden  sich  Miss  Jones  und  Mr.  Rathbone 
an  sie  als  ihre  treueste  Freundin. 

Unter  dem  Einfluss  der  von  ihr  ausgesandten  Pflegerinnen 

129 


sieht   Florence   wie   der  Höllenkreis   allmählich   weniger  düster 
und  grausam  wird,  etwas  Menschliches  zeigt. 

Wie  viele  Schwierigkeiten  sind  noch  für  die  Pflegerinnen  und 
für  die  Direktorin  vorhanden  !  Aber  die  Krankensäle  scheinen 
nicht  mehr  dieselben  zu  sein,  welche  sie  bei  ihrer  Ankunft  vor- 
gefunden und  auch  die  Menschen  im  Krankenhaus  machen  den 
Eindruck,  als  wären  sie  verwandelt. 

Jetzt  ist  es  soweit,  dass  die  Arzte  verlangen,  die  Pflege  der 
Nightingale-Krankenschwestem  möge  von  der  Abteilung  für 
männliche  Patienten  auch  auf  die  Abteilung  der  weiblichen 
Patientinnen  ausgedehnt  werden.  Der  Verwaltungsrat  des  Armen- 
hauses findet  es  höchst  ungerecht,  dass  die  ganze  finanzielle  Last 
für  die  Erhaltung  der  neuen  Krankenpflegerinnen  gänzlich  von 
Herrn  Rathbone  getragen  wird. 

Drei  Jahre  sind  vergangen.  Die  Krankensäle  sind  umgewandelt 
und  nicht  mehr  zu  erkennen.  Die  Patienten  des  Krankenhauses 
sind  menschliche  Wesen  geworden,  die  ihren  Krankenpflegerinnen 
leidenschaftlich  dankbar  sind  und  wie  Kinder  an  ihnen  hängen. 

Aber  die  arme,  kleine,  holde,  unvergessliche  Agnes  Jones  fand 
mitten  in  ihrer  Arbeit  den  Tod,  wie  ein  Soldat  auf  dem  Schlacht- 
feld !  Ein  infektiöses  Fieber  hat  sie  dahingerafft  und  ihre  letzten 
Augenblicke  waren  von  dem  Glücksgefühl  beseligt,  die  Mission 
erfüllt  zu  haben,  die  Gott  und  Florence  Nightingale  ihr  anvertraut 
hatten. 

Wieder  hat  Florence  eine  Freundin  verloren.  In  der  Fülle 
ihrer  Jugendkraft  ward  sie  ihr  entrissen.  Und  wieder  stellt  sich 
Florence  die  Frage,  warum  sie,  die  Kranke,  die  Gesunden  alle 
überleben  muss. 

In  dem  stillen,  sonnendurchfluteten  Zimmer,  das  von  fernen 
lebenden  Freunden  und  von  nahen  toten  Kameraden  geheimnis- 
voll  bevölkert   ist,   das   vergangene,    gegenwärtige  und    künftige 

130 


Leiden  erfüllen,  Mahnungen,  Bitten,  Beschwörungen  aus  allen 
Landern  der  Erde  enthält,  schreibt  Florence.  Ihr  Antlitz  ist  nicht 
traurig.  Je  länger  sie  lebt,  desto  fester  und  heiterer  wird  ihr 
Glaube.  Ihr  Glaube  an  Gott,  an  Seine  Grösse  und  unendliche 
Güte. 

«  Ich  bin  Deine  Magd  und  Du  bist  mein  Herr.  » 

Würde  Er  sie  weiterleben  lassen,  wäre  es  nicht,  um  ihre  Arbeit 
vollenden  zu  können  ? 

Florence  schreibt  von  Agnes  Jones,  von  ihrem  lieben  ent- 
schwundenen Wahlkind. 

« Das,  was  sie  im  Armenasyl  erduldet  hat,  weiss  nur  Gott 
und  ein  oder  zwei  Menschen.  Und  trotzdem  sagte  sie,  dass  sie 
in  ihrem  ganzen  Leben  noch  nie  so  glücklich  war.  Im  vergangenen 
Winter  hatte  sie  die  Verantwortung  für  50  Pflegerinnen  und 
Aspirantinnen,  mehr  als  150  geistig  gestörte  Pfleglinge,  einen 
Krankenstand,  der  von  1290  bis  1350  wechselte,  während  200  bis 
300  Betten  fehlten. 

Dies  alles  musste  sie  versorgen,  ständig  ohne  Vorankündigung 
neue  Eingänge  an  Patienten  empfangen.  Diese  Patienten  zu  bestim- 
men zu  dritt  und  zu  viert  in  je  zwei  Betten  zu  schlafen.  Manchmal 
mussten  sechs  und  sogar  acht  Kinder  in  einem  einzigen  Bett  unter- 
gebracht werden,  und  wenn  man  sie  fragte,  ob  sie  sich  nicht  gegen- 
seitig gestört  hätten,  antworteten  sie  :  «  0  nein,  wir  haben  uns 
so  wohl  gefühlt.  »  —  Arme  Geschöpfe,  sie  konnten  sich  nicht 
erinnern,  überhaupt  jemals  in  einem  Bett  geschlafen  zu  haben. 
Ist  das  nicht  ein  Fall,  der  sich  im  Asyl  immer  wiederholt  ?  Wenn 
jemand  die  tiefsten  Niederungen  des  Lasters  und  des  menschli- 
chen Elends  kennen  lernen  möchte,  die  lebendigen  Massen  von 
Seelen  und  menschlichen  Körpern  förmlich  in  Verwesung  sähe 
und  dann  die  Erkenntnis  gewänne,  wie  es  eine  liebende  Seele, 
vom  Geiste  Gottes  erfüllt,  zuwegebringen  kann,  das  Licht  Gottes 
in   diese   widerliche  Kloake  eindringen  zu  lassen,  Schmerzen  zu 

131 


lindem,  gebrochene  Herzen  zu  heilen,  Sklaven  zu  befreien  —  dann 
möge  er  den  Pfad  suchen  und  den  Schritten  dieser  zarten  Frau 
nachgehen,  die  ihr  Leben  hingab  um  uns  den  Weg  zu  weisen  : 
gesegnet  in  ihrem  Tode  wie  in  ihrem  Leben.  » 

Das  Werk  muss  fortgesetzt  werden,  das  Agnes  Jones  begonnen 
hat.  Das  Krankenhaus  von  Liverpool  muss  ein  so  leuchtendes 
Beispiel  werden,  dass  der  Gedanke  unerträglich  wird,  es  könnten 
noch  Spitäler  bestehen,  wie  früher. 

Aus  der  Feme  gewährt  Florence  den  jungen  Pflegerinnen,  die 
ohne  Fühmng  geblieben  sind,  Trost  und  mütterlichen  Zuspmch. 
Sie  leitet  sie,  sorgt  dafür,  dass  ihre  Arbeit  nicht  unterbrochen 
wird,  bis  eine  neue  Direktorin  gefunden  ist  und  die  Verantwortung 
übemimmt. 


Indien,  Indien  und  nochmals  Indien 

Indien,  Indien  und  nochmals  Indien  !  Das  Land,  das  sie 
nie  gesehen  hat  und  das  ihr  doch  so  teuer  war,  weil  die  Menschen 
dort  in  noch  grösserer  Zahl  litten  und  starben,  als  andemorts. 

Minister,  Gouverneure,  Staatssekretäre  steigen  zu  dem  kleinen 
Haus  hinan,  in  dem  die  Kriegsinvalidin  sich  mühsam  von  ihrem 
Lager  erhebt  und  sie  mit  wunderbarer  heiterer  Ruhe  empfängt. 
Auch  gänzlich  Unbekannte,  die  sich  ihr  nähern,  hören  ihr  wie 
gebannt  zu,  verstehen  sie  und  werden  ihre  Freunde. 

Das  kleine  Haus  birgt  eine  ganze  Sammlung  von  gmndlegenden 
Dokumenten,  welche  auf  die  sanitäre  Reform  des  Heeres,  auf  die 
hygienischen  Reformen  in  Indien  sich  beziehen,  auf  die  Vorteile, 
welche  die  neue  Bauart  und  Betriebsform  der  Spitäler  zu  verzeich- 
nen hat,  auf  die  Reform  der  Krankenpflege  in  Spitälern,  Obdach- 
losenheimen und  Armenasylen  —  und  in  diesem  kleinen  Haus 
lebt  die  Frau,  die  diese  Dokumente  gesammelt  und  geordnet  hat, 
die  sie  mit  Kopf  und  Herz  zur  praktischen  Anwendung  bringt. 

132 


Ja,  in  diesem  kleinen  Haus  verkörpert  eine  einzige  Person  die 
Verwirklichung  des  ersten  Gesundheitsamtes,  das  jemals  auf  der 
Welt  bestanden  hat. 

«  Wenn  ich  aber  tot  bin...  » 

Das  ist  der  quälende  Gedanke,  der  Florence  bedrängt  und 
verfolgt. 

Es  muss  ein  unbedingt  in  jeder  Hinsicht  vollkommenes  Gesund- 
heitsamt gegründet  werden. 

Es  muss  im  Herzen  und  im  Hirn  von  England  bestehen, 
unabhängig  vom  Leben  und  Tod  einzelner  Personen  :  damit  es 
jetzt  und  immerdar  seine  Söhne  in  Nähe  und  Feme  überwache 
und  Vorsorge  für  deren  physische  und  moralische  Gesundheit 
treffe. 

Ein  Amt  oder  richtiger  gesagt,  drei  Ämter,  die  sich  gegenseitig 
unterstützen  und  kontrollieren  : 

Ein  exekutives  Sanitätsdepartement  in    Indien  ; 

Ein  leitendes  Sanitätsdepartement  in  England  ; 

Ein  Zentralamt,  das  die  eingehenden  Jahresberichte  bezüglich 

der  geleisteten  Arbeit  in  Empfang  nimmt  und  vergleicht. 

Sir  Bartle  Frere  hat  seine  Würde  als  Gouverneur  von  Indien 
zurückgelegt  und  kehrt  in  die  Heimat  wieder,  weil  er  in  das  Direk- 
torium für  Indien  berufen  wurde. 

Wieviel  hat  er  Florence  in  ihren  gemeinsamen  Unterredungen  zu 
berichten !  Sie  erfährt  durch  ihn  zahllose  Einzelheiten  des  indischen 
Lebens.  Er  wird  für  sie  und  ihre  Sache  der  mächtigste  Verbündete. 

Die  beiden  sind  dazu  geschaffen,  einander  zu  verstehen. 

Das  geht  soweit,  dass  Sir  Bartle  Frere  der  erste  Chef  des  von 
Florence  geschaffenen  Amtes  wird. 

Es  trägt  den  Namen  «  Büro  der  allgemeinen  zivilen  und  mili- 
tärischen Sanität  für  Indien  »  und  wird  in  Zukunft  eine  der  reinsten 
Freuden,  einen   der  grössten  Siege  der  Reformatorin  bedeuten. 

Einer  der  Siege,  die  in  diesem  langen  und  mühevollen  Leben 
wie  ein  Aufatmen  voll  neuen  Mutes  sind  für  die  Magd  Gottes. 

133 


Aber  es  gibt  auch  viele,  nur  zu  viele  Niederlagen.  Von  diesen 
Niederlagen  erholt  sie  sich  nur  sehr  schwer  und  manchmal  bleibt 
eine  grosse  Verbitterung  zurück.  Ja  manchmal  ist  sie  so  enttäuscht 
und  mutlos,  dass  sie  lange  braucht,  um  von  vorne  zu  beginnen. 

Besiegt  ist  sie  niemals... 


Das  neue  Indienamt 

Die  Arbeit  zur  Schaffung  des  neuen  Amtes  für  zivile  und 
militärische  Sanität  in  Indien  geht  verhältnismässig  rasch  von- 
statten. Es  ist  dringend,  ja  lebenswichtig  seine  Exzellenz  Strafford 
Northcote,  den  Minister  für  Indien  zu  überzeugen.  Alle  not- 
wendigen Dokumente  zu  seiner  Aufklärung  müssen  in  seine 
Hände  gelegt  werden,  um  einerseits  auch  für  ihn  eine  Deckung 
zu  bilden,  andererseits,  um  die  hartnäckige  Opposition  zu  über- 
winden und  die  unzähligen  Gegner  zu  besiegen,  die  sich  gegen 
das  Werk  erheben.  Es  muss  geradezu  ein  in  jedem  Detail  durch- 
gearbeiteter, wirksamer,  strategischer  Plan  vorgezeichnet  werden. 

Zwei,  drei,  zehn  Monate  der  Arbeit  vergehen,  bevor  aus  dem 
erträumten,  ein  wirkliches  Amt  wird. 

Florence  hat  nie  gedacht,  dass  eine  Mühe  zu  gross  sei,  wenn 
sie  etwas  durchführen  wollte. 

Die  erste  Leistung  des  neuen  Amtes  :  ein  Stück  Papier,  das 
Ergebnis  dieser  mühevollen  zehn  Monate  genauester  und  zäher 
Vorbereitung.  Bereitschaft  für  neue  Kämpfe,  für  neue  Anspannung 
aller  Willenskräfte  zur  Erreichung  des  Zieles. 

Die  Verwirklichung  einer  Idee,  die  dem  Land  an  sich  neue 
Kräfte  zuführen  soll. 

Florence  weiss,  was  es  heisst,  eine  Idee  zu  verwirklichen. 
Sie  weiss,  wieviel  Anstrengung  es  braucht,  um  einen  Gedanken 
in  das  Hirn  der  Menschen  eindringen  zu  lassen,  ihn  in  die  Tat 
umzusetzen.  Auch  jetzt,  da  das  Amt  schon  existiert,  weiss  sie, 

134 


dass  ohne  ihre  energische  und  beständige  Wachsamkeit,  weder 
dessen  Arbeit  noch  dessen  Einfluss  von  Dauer  sein  würden. 

Schwer  ist  der  Weg  für  den,  der  die  Idee  des  Guten  unter  den 
Menschen  zum  Siege  führen  will.  Für  ihn  gibt  es  keine  Pause. 

Trotzdem  gönnt  sich  Florence  zu  diesem  Zeitpunkt  nach  so 
vielen  Jahren  ununterbrochenen  Schaffens  einen  Moment  der 
Erholung.  Ihr  treuer  Freund  und  Seelenhirt,  Hochwürden  Ben- 
jamin Jowett  bringt  bei  ihr  zuwege,  was  noch  niemand  durch- 
gesetzt hat. 

« Sie  haben  recht,  Florence  Nightingale.  Ich  fühle  es  auch, 
dass  ich  müde  bin  und  Erholung  brauche.  Aber  ich  werde  mich 
keine  Minute  ausruhen,  wenn  Sie  nicht  mit  dem  Beispiel  voran- 
gehen. » 

Mit  dieser  Kriegslist  gelingt  es  dem  guten  Priester,  Florence 
nach  Lea  Hurst,  in  die  schöne  Besitzung  ihres  Vaters  zu  bringen. 


Erholung  in  Lea  Hurst 

Das  alte  Haus  in  Lea  Hurst,  Zeuge  so  eifrigen  Strebens,  so 
vieler  Kämpfe,  so  tiefer  Verzagtheit.  Es  war  Zeuge  der  gedanken- 
vollen Jugend  des  wunderschönen  Mädchens,  das  der  weltlichen 
Güter  nicht  achtete  und  nur  darauf  bedacht  war,  um  der  Barm- 
herzigkeit Gottes  willen  den  ärmsten  seiner  Geschöpfe  zu  dienen. 
Nun  öffneten  sich  seine  Pforten,  um  die  nicht  mehr  junge  Frau 
aufzunehmen,  die  verblüht  und  müde  heimkehrte,  nach  so  viel 
Plage  und  ungemeinen  Anstrengungen.  Nein,  sie  ist  längst  der 
Jugend  entrückt,  nicht  mehr  imstande,  auf  ihrem  Schimmel  über 
Stock  und  Stein  zu  galoppieren,  über  Wiesen  und  Hügel,  längs 
des  silberschimmernden  Flusses.  Eine  Kranke  kehrt  wieder,  die 
starke  Arme  in  das  Vaterhaus  tragen.  Aber  ihr  Herz  ist  kräftig, 
ihre  Seele  ist  heiter,  der  Geist  ist  frisch  und  lebendig.  Sie  ist 

135 


bereit  wie  immer,  der  Sache  Gottes  zu  dienen  —  genau  wie 
ehemals. 

«  Ich  bin  Deine  Magd  und  Du  bist  mein  Herr.  » 

Eine  alte  Frau  ist  bei  ihr,  die  früher,  im  alten  Hause  ihrem  Weg 
Hindernisse  gemacht  hatte.  Ihre  Mutter.  Nun  fühlt  sie  nur  Stolz 
über  ihre  Tochter  und  demütigt  sich  vor  ihr. 

«  Du  hast  richtig  gesehen.  Hättest  Du  auf  mich  gehört,  hättest 
Du  mir  keinen  Widerstand  geleistet,  so  wäre  nichts  von  Deinem 
grossen  Werk  geschaffen  worden.  Du  hast  den  rechten  Weg  gewählt. » 

« Sprich  nicht  von  der  Vergangenheit,  liebe  Mutter.  Alles 
kam  wie  es  kommen  musste.  In  jenen  Jahren  lernte  ich  wollen, 
was  unmöglich  schien.  » 

Ja,  Hochwürden  Jowett  hat  guten  Rat  gegeben.  Es  ist  so 
schön,  in  das  alte  Haus  zurückzukehren,  zu  den  greisen  Eltern, 
die  sie  lieben,  und  es  ist  schön  bei  ihnen  neue  Kräfte  für  neue 
Wege  zu  sammeln.  Es  ist  schön,  in  Frieden  mit  seinen  Lieben 
zu  sein  und  im  eigenen  Herzen  den  letzten  Rest  einer  insgeheim 
noch  vorhandenen  Vergrämung  besiegt  zu  haben. 

Und  herrlich  ist  es,  am  Ende  des  Erholungsurlaubs,  kurz 
nach  der  Rückkehr  nach  London  von  dem  Chef  « ihres  »  Indien- 
amtes einen  Brief  zu  bekommen  : 

«  Ich  glaube,  dass  Lord  Mayo,  der  Sie  sehr  gerne  sehen  möchte, 
Sie  ersuchen  wird,  ihm  in  der  nächsten  Woche  eine  Unterredung 
zu  gewähren.  Sie  könnten  inzwischen  für  ihn  eine  Übersicht 
zusammenstellen  (wie  Sie  das  schon  vor  mehreren  Wochen  für 
mich  getan  haben,  als  Sie  mir  davon  sprachen,  dass  man  der 
sanitären  Arbeit  in  Indien  die  Richtung  weisen  müsse)  —  den 
Punkten  folgend,  denen  er  in  erster  Linie  seine  Aufmerksamkeit 
zuwenden  sollte.  Lord  Mayo  ist  sehr  sympathisch  und  ist  nicht 
so  anspruchsvoll,  alles  wissen  zu  wollen,  wenn  er  auch  über  manche 
Fragen  auf  dem  Gebiete  der  sanitären  Reform  viel  besser  beschla- 
gen  ist,  als  andere,   die  behaupten,   genau   informiert  zu  sein.  » 

Lord  Mayo  ist  der  neue  Vizekönig  von  Indien  und  bevor 
er  in  das  Land  seiner  Bestimmung  abreist,  wünscht  er  die  Ideen 

136 


der  Frau  kennenzulernen,  die,  insoweit  es  sich  uni  sanitäre  Pro- 
bleme handelt,  ohne  Zweifel  auf  der  ganzen  Welt  die  kompetenteste 
Persönlichkeit  ist. 

Florence  hat  eine  Unterredung  mit  dem  Vizekönig.  Sie  schreibt 
für  ihn  ein  Memorandum,  das  den  Weg,  der  zu  befolgen  ist, 
genau  darlegt,  ebenso  die  dringenden  Fragen,  die  eine  sofortige 
Lösung  erfordern. 


Unermüdlich 

Freund  Jowett  hat  ihr  folgende  Ehrentitel  verliehen  : 

«  Florence  I.  Kaiserin  der  Strassenkehrer  ; 

Königin  der  Krankenpflegerinnen; 

Ehrwürdige  Oberin  der  britischen  Armee; 

Wirtschafterin  des  Vizekönigs  von   Indien.  » 

Aber  Florence  zieht  diesen  Titeln  einen  andern  vor,  und  zwar  : 

«  Magd  für  jede  Schmutzarbeit 

oder 

Treibende  Kraft,  zur  Beseitigung  allen  Unrates.  » 

«  Das  bin  ich  »,  schreibt  sie. 

Kehren,  waschen,  den  Schmutz  forträumen...  Ja,  diese  Tätig- 
keit setzt  nun  in  der  ganzen  englischen  Welt  ein,  weil  die  «  Magd 
für  jede  Schmutzarbeit »  immer  weiter  dringt  und  keine  Ruhe 
lässt. 

Neue  Spitäler,  neue  Gefängnisse  werden  gebaut,  i:m  die  schon 
bestehenden  zu  entlasten.  Man  macht  sich  daran,  die  armseligen 
und  schmutzigen  Polikliniken  in  Indien  zu  verbessern.  Auch  in 
den  Krankenhäusern  für  Frauen  beginnt  man  die  an  bestimmten 
ansteckenden  Übeln  Erkrankten  von  der  allgemeinen  Abteilung 
zu  isolieren.  Auf  die  Abwicklung  der  Pilgerfahrten  und  Jahrmärkte 
wird  besonderes  Augenmerk  gelegt,  denn  diese  Quellen  von 
infektiösen  Krankheiten  und  Epidemien  haben  eine  musterhafte 

137 


Ordnung  nötig.  Ein  allgemeiner  Entwurf  für  Gemeindesteuern 
wird  studiert,  um  aus  ihrem  Ertrag  die  Volksschulen  bestreiten 
zu  können,  zur  Verbesserung  der  Strassen  beizutragen,  ebenso 
zur  Bewässerung,  zum  Bau  neuer  Brunnen  und  zur  Kanali- 
sierung. 

«  Ich  glaube,  dass  die  Steuern  zuerst  sehr  unpopulär  sein 
werden,  weil  die  breite  Masse  hier  gar  keine  Fürsorge  will  und 
ihr  nichts  daran  liegt,  etwas  zu  lernen.  Aber  im  grossen  ganzen 
bin  ich  davon  überzeugt,  dass  es  gut  ist,  sie  gewissermassen  dazu 
zu  zwingen... » 

So  schreibt  einer  ihrer  Jünger  an  Florence  :  Lord  Napier, 
der  Gouverneur  von  Madras. 

Aber  die  « Magd  für  jede  Schmutzarbeit »  gibt  sich  noch 
immer  nicht  zufrieden.  Sie  will  noch  viel  mehr.  Vor  allem  wünscht 
sie,  dass  die  Untersuchungen  über  die  Choleraepidemien  zu  Ende 
geführt  werden,  dass  die  Instruktionen  für  die  Bevölkerung  beim 
ersten  Auftauchen  einer  Infektionskrankheit  ebenso  knapp  als 
klar  und  allgemein  verbreitet  seien. 

« Glauben  Sie  denn,  dass  man  das  Volk  nicht  unterweisen 
kann  ?  Überzeugen  Sie  sich  :  der  Stadtrat  von  Bombay  schreibt 
mir,  dass  die  Massen  der  Eingeborenen  sehr  nachdrücklich  die 
Hilfe  des  Amtes  für  Hygiene  anrufen,  sobald  auch  nur  ein  einziger 
Fall  von  Cholera  oder  schwarzen  Blattern  nachgewiesen  ist.  Früher 
dagegen  war  es  anders  :  wenn  die  eine  Hälfte  der  Bevölkerung 
von  dem  Übel  hinweggerafft  war,  hat  es  die  andere  Hälfte  untätig 
mitangesehen  und  gedacht,  dass  alles  in  bester  Ordnung  sei...  » 

Florence  Nightingale  darf  wirklich  zufrieden  sein. 

Doch  sie  will  immer  noch  mehr.  Dieses  ruhige  Antlitz,  dieser 
so  schwer  bewegliche  Körper,  diese  blitzenden  blauen  Augen 
sind  von  dem  grenzenlosen  Ehrgeiz  erfüllt,  der  kein  Mass,  kerne 
Pause  und  keine  Beschränkung  in  Raum  und  Zeit  zur  Kenntnis 
nehmen  will.  Florence  will  die  Welt  reinigen  und  umwandeln. 

Das  ist  nur  ein  kleiner,  kurzer  Satz,  aber  ein  ungeheuer  grosser 
Inhalt. 

138 


Vorwärts!  Niemals  ermangelt  es  ihr  an  Jüngern.  Sie  drängen 
sich  um  die  Frau,  die  es  zuwegebringt,  in  stiller  Stube  ihren  Idealen 
zu  leben. 

Dr.  Sutherland  empfängt  die  neuen  Schüler,  die  Anhänger, 
teilt  sie  in  zwei  Gruppen,  nachdem  er  sie  studiert,  gleichsam  auf 
Herz  und  Nieren  geprüft  hat  : 

die  erste  Kategorie  braucht  Belehrung  ; 

die  zweite  aber  gehört  zu  der  Gruppe,  der  Florence  Fragen 
stellt,  um  aus  deren  Beantwortung  selbst  Belehrung  zu  schöpfen. 

Florence  hat  seit  langem  darauf  verzichtet,  das  Land  ihrer 
Träume  zu  sehen,  eine  Reise  nach  Indien  zu  machen  und  sich 
selbst  Rechenschaft  vom  Stand  der  Dinge  zu  geben.  Aber  ihr 
heiliger  Wahn  hat  Berge  in  Bewegung  gebracht. 

Nicht  sie  ist  es,  die  nach  Indien  geht.  —  Indien  kommt  zu 
ihr.  Indien,  so  gross  wie  Europa  und  so  alt  wie  die  Welt.  Das 
Indien  des  heiligen  Ganges,  der  von  Schlangen  und  Tigern  be- 
völkerten Dschungeln.  Das  Indien  der  furchtbaren  Pest-  und 
Cholera-Epidemien,  die  die  Menschen  zu  vielen  Tausenden 
niedermähen,  mit  den  zahllosen  Kasten,  die  voneinander  durch 
unüberwindliche  Mauern  getrennt  sind,  von  Millionen  Menschen, 
die  sich  bei  Pilgerfahrten  und  Jahrmärkten  zusammendrängen. 
Dieses  Land  in  seiner  übervölkerten,  hierarchischen  und  vielfar- 
bigen Gesamtheit  beginnt  sich  langsam  in  Bewegung  zu  setzen. 
Vornehme  Parsen  von  uraltem  Adel  steigen  die  Stufen  hinan,  die  zu 
dem  Gemach  führen,  in  welchem  die  unermüdliche  Kämpferin 
ruht.  Sie  kommen,  um  sie  um  Hilfe  und  Rat  zu  bitten,  um  ihre 
eigenen  Kräfte  und  den  Einfluss,  den  sie  auf  ihre  Landsleute 
besitzen,  m  den  Dienst  von  Florence  Nightingale  zu  stellen. 

Die  Bengali-Gesellschaft  für  Sozialwissenschaften,  die  zum 
grössten  Teil  aus  Indem  besteht,  wählt  sie  zu  ihrem  Ehrenmitglied. 

Indien  regt  sich.  Schmutz  und  Unrat  werden  nach  und  nach 
aus  den  Häusern  und  den  Strassen  entfernt. 

Die  Kanalisierung  wird  eingeleitet. 

139 


Brunnen  werden  gereinigt,  vor  schädlichen  und  gefährlichen 
Keimen  geschützt. 

Man  beginnt  überall  Bäume  zu  pflanzen. 

In  den  kleinen  indischen  Hütten  und  Häusern  liest  man  den 
in  Bengali-Dialekt  übersetzten  Aufruf  von  Florence  an  das  indische 
Volk. 

Da  unten  in  den  armseligen  Wohnstätten  des  erträumten  und 
nie  erschauten  Landes  wirken  die  Worte  der  Reformatorin  als 
wären  es  unzählige  Lichter,  um  die  neuen  Wege  zu  erhellen, 
um  gesündere  und  menschenwürdigere  Lebensformen  zu  weisen, 
um  zu  lehren,  dass  Hygiene  nichts  Geringeres  bedeutet  als  Gesund- 
heit, dass  alle  Gesundheit  an  sich  das  Leben  ist,  Geld  und  Gut, 
moralischer  und  materieller  Wohlstand. 

Vollkommen  neue  Ideen  sind  es,  die  von  weither  kommen, 
in  ein  Land,  wo  noch  niemand  daran  gedacht  hat,  dass  man  sich 
unmittelbar  an  die  Bevölkerung  wenden  kann,  und  nicht  nur  an 
Gouverneure  und  die  Obrigkeit. 

Lautere  Ideen,  wie  kristallklares  Wasser,  die  so  einfach  zum 
Ausdruck  gelangen,  wie  von  einer  älteren  Schwester,  die  zu  ihren 
jüngeren  Brüdern  redet,  aber  trotzdem  die  Überlegenheit  eines 
Priesters  besitzt,  dem  das  Heil  der  Menschenkinder  anvertraut  ist. 

Die  neuen  Worte  kommen  von  der  Höhe,  steigen  in  die  Tiefen 
hinab,  dringen  in  die  Seelen  ein,  in  die  Herzen,  finden  ihren 
deutlichsten  Ausdruck  in  den  Werken  selbst  und  befruchten 
das  neue  Indien.  Jahre  und  Jahrzehnte  werden  darüber  noch 
vergehen,  bis  das  ungeheure  Land  umgewandelt  ist.  —  Auch 
heute  ist  das  Werk  noch  nicht  vollendet. 

Denn  Ideen  sind  wie  Blitze  in  ihrem  göttlichen  Entstehen, 
doch  ihre  Verwirklichung  durch  die  Menschen  dauert  lange. 

Florence  ist  sich  dessen  bewusst  und  zögert  trotzdem  nicht, 
jeden  Weg  zu  beschreiten,  der  einen  Fortschritt  in  Aussicht  stellt. 
Alle  Berichte,  die  sie  aus  Indien  bekommt,  liest  und  prüft  sie 
genau,  entnimmt  ihnen  die  lebendige  Essenz,  schreibt  ihr  Urteil, 
ordnet  sie,  erweitert  ihre  überlegene  Erfahrung  und  ihre  Kenntnis 

140 


dessen,  was  sich  täglich  ereignet.  Das  erlaubt  ihr,  dem  Vizekönig 
von  Indien,  den  Gouverneuren,  den  Kommandanten  und  Sanitäts- 
kommissären sowie  Privatpersonen  wertvolle  Ratschläge  zu  geben. 

Das  gestattet  ihr  vor  allem,  zu  diesem  Zeitpunkt  —  es  sind 
zehn  Jahre  vergangen,  seit  sie  das  berühmt  gewordene  « Wie 
man  in  Indien  leben  kann  und  nicht  sterben  muss  »  geschrieben 
hat  —  die  Berichte  über  die  seit  zehn  Jahren  errungenen  Erfolge 
zu  veröffentlichen. 

«  Wie  es  manchen  gelungen  ist,  in  Indien  zu  leben  und  nicht 
zu  sterben  »  bezeichnet  ei-nen  Endpunkt,  der  seinerseits  wieder  zu 
einem  Ausgangspunkt  wird.  Ist  das  nicht  das  Schicksal  einer 
jeden  menschlichen  Errungenschaft  ? 

In  Indien,  in  England,  in  Australien,  in  Deutschland,  überall 
ist  Florence  lebendig  und  gegenwärtig.  Sie  hat  die  Prinzessin 
Viktoria  von  Preussen  in  ihrer  Untersuchung  der  Zustände  in  den 
Spitälern  aufs  tatkräftigste  unterstützt.  Sie  begleitet  im  Geist  die 
Zöglinge  der  Pflegerinnenschule  in  allen  ihren  Unternehmungen. 
Sie  überwacht  und  ändert,  wenn  es  nötig  ist,  die  allgemeinen 
Grundlagen  der  geringfügigsten  Arbeit,  folgt  dieser  bis  in  die 
kleinsten  Einzelheiten  und  bleibt  in  stetigem  und  engstem  Kontakt 
mit  den  Gruppenleiterinnen.  Das  sind  die  Offiziere  ihres  Heeres, 
während  die  Pflegerinnen  die  Soldaten  sind.  Ein  Heer,  das  den 
tiefen,  reinen  Atem  der  Gesundheit  in  die  Welt  zu  bringen  bestimmt 
ist,  eine  neue  Deutung  der  Gesetze  des  Lebens. 

Florence  sieht  fast  keinen  ihrer  Freunde  und  Anhänger.  Immer 
häufiger  geht  der  Meinungsaustausch  zwischen  ihr  und  Dr.  Suther- 
land  nicht  persönlich  vor  sich,  sondern  mit  Zuhilfenahme  kleiner, 
dichtbeschriebener  Papierblättchen.  Nur  dann,  wenn  sich  die 
Pflegerinnen  auf  eine  Missionsreise  begeben,  dürfen  sie,  ehe  sie 
London  verlassen,  Abschied  von  ihrer  geistigen  Mutter,  ihrer 
Herrscherin  nehmen.  Sie  spricht  zu  ihnen  mit  ihrer  sanften 
Stimme,  ruhig  und  wie  von  überirdischer  Freude  bewegt.  Sie 
redet  zu  ihnen  von  dem  göttlichen  Grundzug  des  Lebens,  das 

141 


sie  sich  erwählt  haben,  des  Dienstes,  der  im  höchsten  Sinne 
Erleuchtung  bedeutet,  wenn  die,  die  ihn  vollbringen,  vom  Geiste 
der  Liebe  durchdrungen  und  durchglüht  sind. 

Eine  neue  Erkenntnis  höchster  Glaubensstärke  dringt  in  die 
Seelen  der  jungen  Pflegerinnen,  die  nach  unbekannten  Ländern 
ziehen.  Wie  ein  Segen  ruht  in  ihnen  eine  geheime  seelische  Macht, 
die  ihre  Kräfte  vervielfacht,  ihnen  Schwingen  wachsen  lässt,  um 
zu  siegen,  sie  hoch  über  die  Gefahr  zu  erheben,  das  Böse  mit 
Bösem  zu  vergelten. 

« Glauben  Sie,  dass  mir  je  etwas  gelungen  wäre,  wenn  ich 
jemandem  etwas  nachgetragen  und  mich  aufgelehnt  hätte  ?  Wäre 
solches  der  Befehl  des  Herrn  ?  Man  hat  mich  in  ein  Spital  nicht 
eingelassen,  trotzdem  ich  die  Order  des  Oberkommandierenden 
empfangen  hatte,  dort  zu  arbeiten  —  ich  war  gezwungen,  draussen 
vor  der  Türe,  im  Schnee  bis  zum  Einbruch  der  Nacht  auszuharren. 
Man  hat  mir  zehn  Tage  lang  die  Verpflegung  meiner  Kranken- 
pflegerinnen verweigert,  die  ich  auf  höheren  Befehl  dorthin  gebracht 
hatte.  Und  am  Tage  darauf  stand  ich  doch  auf  bestem  Fusse 
mit  dem  Offizier,  der  mich  auf  solche  Weise  behandelt  hatte. 
Ich  habe  in  voller  Absicht  alle  Dinge  ignoriert,  welche  nicht  von 
Bedeutung  sein  dürfen,  weil  das,  was  wirklich  zählt,  einzig  und 
allein  die  Arbeit  ist.  « 

So  schreibt  Florence  an  eine  ihrer  Pflegerinnen,  die  nicht  so 
viel  ertragen  zu  können  glaubt.  Aber  im  allgemeinen  spricht  und 
schreibt  sie  ihnen  nicht  von  sich,  sondern  von  ihnen  und  dem, 
was  sie  berührt. 

Und  ist  nicht  Florence  Nightingale  an  der  Spitze  aller  frei- 
willigen Pflegerinnen  in  den  Spitälern  von  Deutschland  und 
Frankreich,  während  des  drohenden  neuen  Krieges  ? 

1 870.  Ein  neuer  Krieg  ist  in  Europa  zum  Ausbruch  gekommen. 

Wieder   stürzen    Menschen   aufeinander   los    und   das    Leid 

wird  neuerdings  ins   Unbegrenzte  vervielfacht,  das  Leid,  dessen 

142 


sie  nicht  satt  zu  werden  scheinen  und  das  sie  für  sich  und  für  die 
anderen  jeden  Tag  neu  erschaffen,  für  alle  Geschöpfe  Gottes,  die 
einander  lieben  sollten  und  die  nur  hassen. 

Florencens  Herz  blutet.  Wer  wüsste  es  besser,  als  sie,  was 
das  heisst  :  Krieg... 

Sie  sieht  die  entsetzlichen  Leiden  wieder  vor  sich,  die  sie  in 
der  Krim  zu  erleichtern  suchte.  Sie  hört  das  Schreien  und  Stöhnen, 
die  noch  furchtbarere  Stille  auf  den  Schlachtfeldern,  in  den 
Spitälern  und  Krankensälen.  Ja,  sie  hört  diese  Stille... 

Wieder  möchte  sie  fort,  die  Schmerzen  in  den  Feldlazaretten 
mitleiden  und  sie  zu  mildern  suchen.  Sie  möchte  fort,  statt  das 
Echo  dieses  namenlosen,  grenzenlosen  Leides  zu  hören,  das  von 
überall  auf  sie  einstürmt  und  dem  sie  nicht  abzuhelfen  vermag... 

Ein  neuer  Krieg  ist  draussen  in  der  Welt  zum  Ausbruch  ge- 
kommen... 

Und  in  Genf  glänzt  ein  kleines  Lichtlein  auf,  das  dereinst 
wie  eine  Sonne  erstrahlen  wird... 


Rotes  Kreuz 

Doch  es  lebt  noch  die  Barmherzigkeit,  das  unendliche  Mit- 
gefühl für  die  Kriegsverwundeten,  gleichgültig  welcher  Nation 
sie  angehören.  Alle  kämpfen  für  eine  Idee.  Alle  kämpfen  im 
Frühling  ihrer  Jugend  für  ein  Ideal.  Wer  von  ihnen  in  der 
Schlacht  niedersinkt,  wird  vom  Roten  Kreuz  in  sorgende  Obhut 
genommen. 

An  jenem  schicksalsvollen  Tage  ward  die  internationale  Gesell- 
schaft vom  Roten  Kreuz  gegründet. 

Der  Hass  unterliegt  —  es  siegt  die  Liebe. 

Wer  hat  die  wundersame  Macht  ins  Leben  gerufen  ? 

143 


Ein  Schweizer,  Henry  Dunant,  den  die  Kenntnis  von  Florence 
Nightingale's  Arbeit  in  der  Krim  während  des  Krieges  im  Jahre 
1859  in   Italien  zur  eigenen   Initiative  gedrängt  hat. 

Noch  besass  die  Gesellschaft  vom  Roten  Kreuz  keine  inter- 
nationale Machtvollkommenheit.  Aber  die  englische  «Gesellschaft 
für  Kranken-  und  Verwundeten-Fürsorge  »  entsandte  bereits  ihre 
freiwilligen  Helfer,  um  die  Soldaten  der  kriegführenden  Länder 
zu  pflegen. 

Florence  kann  sich  nicht  wegrühren.  Aber  ihr  Wort  und  ihr 
Geist  eifern  die  besten  englischen  Frauen  zur  Tätigkeit  an,  begei- 
stern sie  dazu,  ihren  Beruf  als  Schwestern  und  Mütter  auszuüben : 
sich  mit  ihm  zu  befassen,  um  ihn  kennen  zu  lernen  und  sich  mit 
Kraft  zu  wappnen. 

«  Die  Frauen,  die  das  Werk  der  Krankenpflege  auf  sich  nehmen, 
dürfen  keine  sentimentalen  Enthusiastinnen  sein  ;  sie  müssen  ihre 
aufrichtige  Liebe  der  harten  Arbeit  weihen.  Wenn  es  eine  Tätigkeit 
gibt,  die  eine  einfache  und  strenge  Notwendigkeit  bedeutet,  so 
ist  es  die  Kranken-  und  Verwundetenpflege  nach  einer  Schlacht, 
der  Dienst  in  den  Kriegsspitälern,  die  Beachtung  und  Durch- 
führung der  hundert  und  tausend  ermüdenden  Handgriffe,  die 
unwichtig  scheinen,  aber  die  Entscheidung  über  Leben  und  Tod 
ihres  Patienten  bringen  können.  » 

Die  englischen  Krankenpflegerinnen  reisen  ab,  den  Namen 
und  das  Beispiel  ihrer  Mutter  in  Herz  und  Sinn.  Sie  begeben  sich 
in  die  Spitäler  von  Frankreich  und  Deutschland.  Von  Frankreich 
und  Deutschland  kommen  hunderte  von  Briefen,  die  Hilfe,  Rat, 
Anregungen,  Nachrichten  verlangen.  Von  dem  kleinen  Hause  in 
London  gehen  die  Antworten,  Ratschläge,  Unterstützung  und 
Nachrichten  in  die  Welt  hinaus.  Der  gute  Dr.  Sutherland  verdoppelt 
seine  Arbeitsstunden,  strengt  seine  Kräfte  an,  damit  dieses  Haus  als 
Brennpunkt  des  Lichtes  und  der  Wärme  erscheine.  Die  tausend 
Botschaften,  die  hinausgesandt  werden  sind  Friedensbringer,  tragen 
Segen  in  leidvolle  Herzen.  Sie  überzeugen,  dass  Wissen,  Verzeihung 
und  Liebe  mächtiger  sind  als  jeder  Hass,  jede  Rache,  jeder  Krieg. 

144 


Florence  fühlt  diese  Wahrheit  zutiefst.  Sie  fühlt  sie  von  Natur 
aus,  von  der  Arbeit,  von  geistiger  Ergriffenheit  her.  Sie  ist  in- 
zwischen den  Philosophen  der  Antike  nähergerückt  und  folgt 
ihrem  alten  Freunde  Jowett  bei  seiner  Platoübersetzung,  kommen- 
tiert seine  Kommentare. 

«  Sind  die  grossen  Wahrheiten,  die  v^ir  im  «  Gorgias  »  finden 
am  Ende  nicht  wahr  ?  » 

1.  «Es  ist  ein  grösseres  Übel,  eine  Ungerechtigkeit  zu  üben, 
als  sie  zu  erdulden!»  —  «Wenn  Ihnen  das  als  Paradox  erscheint, 
warum  erscheint  dann  das  53.  Kapitel  von  Jesaias  nicht  auch  als 
Paradox  ?  Ist  es  nicht  vielmehr  die  erhabenste  aller  Wahrheiten  ?  » 

2.  «  Es  ist  ein  grösseres  Übel  für  unsere  Irrtümer  keine  Strafe 
zu  erleiden,  als  dafür  bestraft  zu  werden.  »  —  «  Ich  verstehe  nicht, 
warum  Sie  auch  das  ein  Paradox  nennen.  Die  erhabensten  Er- 
fahrungen in  unserem  Leben  beweisen  es.  In  den  Familien  sehen 
wir  es  tagtäglich.  Ich  sehe,  wie  das  verzärtelte  Kind  ein  unseliges 
Geschöpf  wird,  das  auch  in  reiferen  Jahren  und  selbst  im  Alter 
die  anderen  unglücklich  macht.  » 

Florence  Nightingale,  die  sich  in  Reglemente,  Berichte,  Spital- 
und  Sanitätsfragen  vertieft,  verzichtet  darum  doch  keineswegs 
auf  den  Umgang  mit  hohen,  lebendigen  Geistern.  Plato,  die  Heilige 
Schrift,  alle  Kundgebungen  erhabener,  göttlicher  und  mensch- 
licher Natur  sind  ihr  bevmsst.  Sie  beraten  sie  und  stehen  ihr  in 
ihren  Plänen  der  hygienischen  Verbesserungen  bei,  und  sie  ver- 
leihen ihr  neue  Sicherheit  bei  den  Vorschriften  und  Hausordnun- 
gen der  Pflegeschwestem,  den  kühnen  Sanitätsreformen,  bei  den 
Aufrufen  an  Völker  und  Fürsten,  in  ihrem  kunstvollen  Gewebe, 
das  Liebe  und  Gesundung  miteinander  verbindet,  und  das  sie 
wie  ein  wundersames  Goldnetz  über  die  leidende  Menschheit 
gleiten  lässt. 


145 

10 


Die  Stimmen 

Sie  ist  53  Jahre  alt.  Eine  Pause,  ein  langes  Atemholen  in  ihrer 
Arbeit. 

Ist  es  die  Arbeit,  die  sich  von  der  Schaffenden  entfernt  oder 
die  Schaffende  von  ihrer  Arbeit  ?  Das  ist  nicht  klar.  Doch  gerade 
zu  diesem  Zeitpunkt  verlässt  der  neue  Vizekönig  von  Indien  Lon- 
don nicht,  ehe  er  sie  aufgesucht  hat.  Als  er  ihr  in  seinem  Brief 
versichert,  dass  er  mit  Freude  bereit  ist,  ihre  Anregungen  und 
ihre  Ratschläge  für  die  Arbeit  entgegenzunehmen,  ist  sie  es,  die 
den  Faden  fallen  lässt. 

Vielleicht  ist  sie  müde  ?  Vielleicht  muss  sie  sich  sammeln,  um 
jene  Stimmen  von  Gott  besser  zu  hören,  denen  sie  ihr  ganzes 
Leben  gelauscht  hat,  auch  mitten  in  angestrengtester  Arbeit. 

Es  sind  die  Stimmen,  denen  Heilige,  Mystiker,  Denker  und 
Philosophen  lauschen.  Von  Plato  zu  Franz  von  Assisi,  von  dem 
Verfasser  der  Imitatio,  von  Thomas  von  Aquin  zur  heiligen 
Katharina  von  Siena. 

In  dem  sonnenerhellten  Zimmer,  in  das  seit  Jahren  nie  mehr 
als  eine  Person  eingelassen  wurde,  lebt  sie  ihr  emsames,  selt- 
sames Arbeitsleben  im  Zusammenhang  mit  der  ganzen  Welt. 
Unermüdlich  das  Gute  mitten  ins  Herz  des  tätigen  Lebens  zu 
tragen  ;  unter  dem  Ameisengewimmel  der  Armsehgen  und 
Bedrängten,  hat  sie  jene  Stimmen  öfter  als  einmal  m  der  Stille 
der  Nacht,  in  oft  wiederkehrenden  Stunden  der  Schlaflosigkeit 
vernommen. 

Die  Stimmen  sagten  ihr,  dass  das  Paradies  räum-  und  zeitlos 
ist  —  dass  es  auch  auf  Erden  bestehen  könne,  für  jeden  von  uns, 
zu  jeder  Stunde,  heute,  in  diesem  Augenblick  Wirklichkeit  wird, 
wenn  wir  guten  Willens  sind. 

146 


Wir  können  es  für  uns,  können  es  für  die  anderen  schaffen, 
wenn  wir  mit  ganzer  Seele  und  in  völligem  Vergessen  um  unser 
Ich  darangehen  und  den  Gesetzen  unseres  Herrn  folgen. 

Pause  in  der  intensiven  Arbeit.  Die  Stimmen  werden  zahl- 
reicher :  nur  in  der  Stille  lassen  sie  sich  vernehmen  und  ihnen 
wendet  sich  die  inbrünstige  Seele  zu,  die  stets  in  Gedanken  und 
Taten  die  Wege  Gottes  gesucht  hat.  Jetzt  auf  der  Schwelle  des  Alters, 
wie  in  ihrer  ersten  Jugend  erbittet  die  glühende  Seele  vom  Herrn 
ein  Wort,  einen  Befehl,  um  Ihm  in  Leben  und  Sterben  zu  dienen. 

«  Ich  bin  Deine  Magd  und  Du  bist  mein  Herr.  » 

Rings  um  sie  verschwinden  die  liebsten  Menschen. 

Der  Vater  geht  dahin,  der  sie  verstanden  hat,  verstanden  hat 
auch  damals  da  sie  als  junges  Mädchen  sich  gegen  das  Joch 
engstirniger  Erzieher  auflehnte,  ohne  noch  die  Kraft  zu  finden, 
sich  von  den  Ketten  zu  befreien. 

Auch  ihre  Freunde  Bracebridge  werden  ihr  entrissen,  sie,  die 
Florence  nach  Italien,  nach  Griechenland,  nach  Ägypten,  in  die 
Krim  begleitet  haben,  die  lieben  Freunde,  die  ihr  mehr  waren 
als  Vater  und  Mutter  und  ohne  deren  Hilfe  sie  die  Mission,  welche 
Gott  in  ihr  Herz  gelegt,  nie  hätte  vollbringen  können. 

In  ihrem  Gemach  allein,  sieht  Florence  die  herrlichen  Kunst- 
werke Italiens  und  Griechenlands  im  Geiste  wieder  :  die  Sixti- 
nische  Kapelle,  den  Parthenon.  Die  Sphinx  erscheint  in  der 
ägyptischen  Ebene  und  sie  hört  die  Mahnung  von  einst. 

«  Nichts  wird  vollbracht  ohne  Anstrengung,  ohne  festen  Willen 
und  harte  Mühe.  » 

«  Jede  grosse  menschliche  Tat  ist  ein  religiöser  Akt.  » 

Sie  erlebt  die  hingebende  Arbeit  in  der  Krim  wieder  von 
neuem,  und  wieder  sieht  sie  die  geliebten  Freunde  um  sich,  bereit, 

147 


ihr  zu  helfen,  sie  zu  unterstützen,  ihr  die  Aufgabe  möglich  und 
weniger  schwierig  zu  machen.  Ihre  Liebe  zu  den  einstigen  Ge- 
fährten erneuert  sich  leidvoll  durch  den  Schmerz,  sie  verloren 
zu  haben. 

Pause.  Die  Seele  erhebt  sich  in  stummem  Aufschrei  zu  den 
göttlichen  Mächten,  den  Lenkern  menschlicher  Geschicke.  Jeder 
grosse  Gedanke  führt  zu  einer  grossen  Tat.  Davon  ist  Florence 
tief  überzeugt.  Hat  sie  doch  alle  Kräfte  des  sie  beherrschenden 
Gedankens  angespannt,  um  würdig  zu  sein,  sich  die  Magd  des 
Herrn  zu  nennen. 

Nun,  da  sie  unter  christlichen  Mystikern  weilt,  die  ihr  soviel 
Trost  und  Erhebung  gewähren,  wünscht  Florence,  dass  alle  Men- 
schen die  Freuden  solcher  Gemeinschaft  erkennen  möchten.  Sie 
sammelt  und  übersetzt  die  Stellen,  die  ihrer  Seele  am  meisten 
Licht  gegeben  haben  und  fasst  sie  in  einem  Buch  zusammen  : 

« Gedanken  frommer  Autoren  des  Mittelalters »,  ausgewählt 
und  frei  übersetzt  von  Florence  Nightingale. 

Florence  gibt  sich  der  Meditation  hin.  Sie  verliert  sich  in  dem 
Ozean  der  Frömmigkeit,  in  der  Liebe  des  Geschöpfes  zum  Schöpfer» 
in  dem  Geiste  der  Demut,  von  dem  ihr  ganzes  Leben  soviel 
Selbstentäusserung  und  soviel  Hingebungsfähigkeit  für  die  anderen 
herleitet.  Mit  Eifer  sucht  sie  sich  in  die  schwerwiegendste  Resigna- 
tion zu  fügen  :  ihre  Tätigkeit  auf  ihre  menschlichen  Möglichkeiten 
zu  beschränken.  Mehr  leisten,  immer  noch  mehr  um  der  Liebe 
Gottes  und  der  Menschen  willen,  ist  ihr  einziges,  tiefstes  Streben. 
Warum  hat  ihr  der  Herr  nicht  Kräfte  gewährt,  die  ihrem  Wollen 
entsprechen  ? 

Traurig  sich  damit  abfinden  zu  müssen,  das  wenige  zu  leisten, 
wenn  wir  so  viel  vor  uns  sehen,  das  zu  bewältigen  wäre,  und  wenn 
unser  ganzes  Sein  nach  Unbegrenztem  drängt  ! 

Aber  das  wenige,  das,  Florence  leistet,  würde  unendlich  viel 
für  andere  bedeuten,  die  nicht  wie  sie,  zur  indirekten  Leistung 

148 


gezwungen,  sondern  frei  sind,  zu  handeln,  sich  zu  bewegen,  Men- 
schen und  Dinge  mit  eigenen  Augen  zu  sehen.  Wer  könnte  be- 
haupten, dass  Florence  nicht  unbegrenzt  ist  in  Tat  und  Leistung  ? 
Gewiss  nicht  die  Pflegerinnen  ihrer  Schule,  von  denen  sie  jede 
einzelne  kennt,  die  sie  modelt  und  vertrauensvoll,  gläubig  und 
heiter  ihrer  Bestimmung  zuführt. 

Nun  kehrt  Florence  Nightingale  mit  gesteigerter  Hingebung 
und  dem  Willen  voller  Verwirklichung  zu  dem  Traum  ihrer 
Jugendzeit  zurück.  Sie  wollte  doch  den  englischen  Frauen  einen 
Weg  bahnen,  der  gleichzeitig  eine  Mission  bedeutet.  Sie  wollte 
mit  der  Hilfe  der  englischen  Frauen  der  Unwissenheit  in  England 
steuern,  dem  Laster,  der  Krankheit  und  der  Armut.  Sie  wollte 
ihren  Gefährtinnen,  ihren  Geschlechtsgenossinnen  die  Möglichkeit 
geben,  einem  starren,  müssigen  und  leichtfertigen  Leben  zu 
entgehen. 

Die  Pflegerinnen  der  Nightingale-Schule  sind  die  Verkör- 
perung dieses  Traumes. 

Alle  kommen  sie,  eine  nach  der  anderen,  ihre  Mutter  zu 
besuchen. 

Sie  sieht  sie  forschend  an,  prüft  sie  auf  Herz  und  Nieren, 
bis  auf  den  Grund  der  Seele.  Es  sind  manche  unter  ihnen,  die 
in  ihrem  früheren  Leben  Befriedigung  finden  könnten  und  viel- 
leicht zurückkehren.  Aber  viele  sind,  die  in  derselben  Glut  erglühen, 
wie  Florence  selbst,  in  denen  sie  sich  zu  neuem  Leben  wiederer- 
standen wähnt,  und  die  sie  ohne  Besorgnis  in  die  Feme  hinaus- 
senden kann,  um  anderen  die  unauslöschliche  Flamme  zu  über- 
tragen. 

Sie  ziehen  dahin,  diese  Zöglinge  von  Florence  Nightingale, 
ziehen  nach  Indien,  nach  Schweden,  nach  Deutschland,  in  die 
Vereinigten  Staaten.  Sie  zerstreuen  sich  in  der  Welt,  nachdem 
sie  eine  genaue  und  weitreichende  technische  Unterweisung 
erhalten  haben,  eine  moralische  Erziehung,  die  es  ihnen  ermöglicht, 
die  volle  Verantwortung  und  die  Grösse  des  von  ihnen  auszu- 
übenden Amtes  zu  empfinden. 

149 


Wo  sind  die  betrunkenen,  gewöhnlichen  Pflegerinnen  von  einst  ? 
Diese  Neuen  haben  nichts  von  jenen  übernommen,  sie  haben  nichts 
mit  ihnen  gemein :  Diese  Neuen  hat  Florence  Nightingale  geschaffen. 

Die  Pflegerinnen  wissen,  dass  ein  ihrer  Sorge  anvertrauter 
Kranker  ihr  Bruder  ist,  dem  Hilfe  dargebracht,  ein  Bruder,  dem 
Trost  gespendet  werden  muss.  Sie  wissen,  dass  Leben  und  Tod 
in  ihre  Hände  gelegt  sind,  und  dass  eine  einzige  Ungenauigkeit, 
ein  Irrtum  unheilvoll  sein  können.  Sie  wissen,  dass  die  Befehle 
der  Vorgesetzten  auf  das  pünktlichste  zu  befolgen  sind,  ohne 
Widerspruch  und  Anmassung. 

Sie  begeben  sich  nach  ihren  oft  sehr  weit  entfernten  Bestim- 
mungsorten und  kehren  nach  langer  Arbeitszeit  ermüdet,  er- 
schöpft zurück.  Sie  erholen  sich  in  einem  friedlichen  Heim  in 
einer  schönen  Landschaft,  geniessen  mit  dem  Frohsinn  der  Jugend 
die  Zeit  der  Ferien.  Eine  angenehme  Zeit,  in  der  Bücher,  Blumen, 
gesunde  und  sorgfältig  zubereitete  Gerichte  die  die  grosse  Einsame 
ihnen  sendet,  niemals  fehlen. 

Der  Kreis  erweitert  sich  :  es  sind  schon  eine  grosse  Zahl 
Pflegerinnen  vorhanden,  deren  Wesen  sehr  verschieden  ist.  Aber 
der  Geist  ist  und  bleibt  einheitlich. 

Den  Geist,  der  die  Pflegerinnen  beseelen  soll,  wie  klar  und 
bis  ins  Kleinste  ausführlich  hat  Florence  ihn  doch  in  ihren  be- 
schwingten Botschaften,  Spiegeln  ihrer  Seele,  dargelegt. 

« Eine  Frau,  die  in  der  Krankenpflege  nichts  anderes  sieht, 
als  die  sentimentale  Seite,  ist  schlimmer  als  unnütz  ;  eine,  die 
daran  denkt,  sich  zu  opfern,  dient  zu  nichts  und  eine,  die  es  unter 
ihrer  Würde  findet,  den  demütigsten  Dienst  der  Krankenpflege 
zu  leisten,  wird  immer  nur  eine  Bürde  sein.  » 

«  Wenn  wir  kein  wirkliches  Gefühl  und  religiösen  Aufschwung 
haben,  so  wird  das  Leben  im  Krankenhause  —  das  erhabenste 
von  allen,  wenn  wir  in  der  dazu  erforderlichen  Geistesverfassung 
sind  —  eine  mechanische  und  gewohnheitsmässige  Arbeit,  voll 
Mühe  und  Plage.  » 

150 


Sendung  gehört  gewiss  dazu,  Berufenheit  und  religiöses  Gefühl. 
Genügt  das  aber  auch  ?  Nein,  es  genügt  nicht.  Eine  grosse  und 
seltene  Tugend  ist  dazu  nötig  :  Demut. 

«  Jene,  die  sich  denkt  :  Jetzt  bin  ich  eine  echte  Pflegerin,  eine 
tüchtige  Pflegerin,  die  alles  gelernt  hat,  was  zu  lernen  war  —  seid 
davon  überzeugt,  was  ich  Euch  sage,  eine  solche  Frau  weiss  nicht, 
was  es  heisst,  eine  Pflegerin  zu  sein  und  wird  es  niemals  erfahren. 
In  ihrem  Leben  macht  sie  schon  Schritte  nach  rückwärts.  » 

Aber  wenn  eine  Frau  vollkommen,  technisch  und  moralisch 
eine  Pflegerin  zu  sein  versteht,  wie  wundersam,  ja  zauberhaft 
ist  dann  ihr  Einfluss. 

«  Die  Krankenhaus-Pflegerinnen  haben  wie  keine  andere  Frau 
die  Kranken,  die  sie  pflegen,  in  ihrer  Macht.  Niemand  hat  über 
Menschen  eine  so  unbegrenzte  Machtvollkommenheit.  Noch  mehr  : 
die  Spitalspflegerin  übt  ihren  Einfluss  über  die  Patienten  aus, 
wenn  diese  äusseren  Eindrücken  gegenüber  besonders  empfänglich 
sind ;  auch  ohne  es  zu  wollen,  prägt  sie  ihnen  ihren  Stempel 
auf.  » 


Die  Zöglinge  der  Schule  von  St.  Thomas 

Feierliche,  festliche  Tage  für  die  Zöglinge  der  Schule  von 
St.  Thomas. 

Sir  Henry  Vemey,  Rorencens  Schwager  und  Präsident  des 
Verwaltungsrates  für  den  Nightingale-Fonds,  verliest  die  neue 
Botschaft  der  Stifterin.  Fast  alljährlich  schickt  sie  ihren  lieben 
geistigen  Töchtern  Worte  des  Zuspruchs,  die  für  sie  Fanfaren- 
klang bedeuten,  der  sie  zusammenruft,  um  gemeinsam  eine  höhere 
Warte  zu  erreichen. 

151 


Stumm  und  unbeweglich  lauschen  die  Pflegerinnen. 

«  Der  grösste  Teil  von  Euch  hier  Anwesenden  wird  in  wenigen 
Jahren  eine  hohe  Verantwortung  auf  sich  nehmen.  Ihr  befindet 
Euch  alle  auf  der  Schwelle  des  tätigen  Lebens.  In  diesem  tätigen 
Leben  wird  Euer  Charakter  auf  die  Probe  gestellt  werden,  sei 
es  im  Gehorchen  oder  Befehlen  oder  in  beidem  zugleich.  Werden 
wir  der  übernommenen  Aufgabe  unfähig  erklärt  werden  ? 

Unfähig  uns  selbst  und  daher  die  anderen  zu  beherrschen  ?  Viel- 
leicht mit  vielen  guten  Eigenschaften  versehen,  doch  durch  Egois- 
mus, Anmassung,  ein  wenig  Indolenz,  ein  wenig  Oberflächlichkeit, 
Eitelkeit,  Reizbarkeit,  durch  die  Gewohnheit,  sich  selbst  zu  leicht 
zu  verzeihen  oder  durch  den  Mangel  an  Entäusserung  zum  Lebens- 
kampf ungeeignet. 

Könnten  wir  uns  doch  vorstellen,  dass  wir  in  dreissig  Jahren 
uns  wieder  hier  versammeln  und  imstande  wären  über  uns  zu 
urteilen,  und  uns  aufrichtig  zu  sagen,  warum  einer  von  uns  der 
Erfolg  beschieden  war  und  einer  anderen  nicht,  warum  das  Leben 
der  einen  wahren  Segen  für  ihre  Patienten  bedeutet  hat  und  eine 
zweite  von  einem  Ziel  zum  anderen  geirrt  ist,  die  eigene  Befriedi- 
gung gesucht  hat  und  nichts  zu  vollbringen  fähig  war... » 

Die  Pflegerinnen  lauschen  und  in  ihren  Herzen  erwacht 
ein  Gelübde  :  Ihrer  würdig  zu  werden.  Sie,  die  fern  ist  und 
einsam,  weilt  ihnen  näher,  als  hätte  sie  heute  ihren  Platz  unter 
den  Spitzen  der  Behörden  und  der  Gesellschaft.  Sie  ist  ihnen 
näher,  als  wenn  sie  in  eigener  Person  die  Worte  vorlesen  würde, 
die  sie  für  ihre  Zöglinge  gedacht  und  niedergeschrieben  hat. 
So  sind  diese  Worte  die  Seele  ihrer  Seele,  das  Wollen  ihres 
Wollens. 

Für  sie,  in  ihrem  Geiste  wirkend,  ist  Agnes  Jones  in  die  Bresche 
gesprungen,  ohne  Pause,  ohne  Ruhe  bis  in  den  Tod. 

«  Wir  sind  Soldaten  und  wollen,  dass  unser  General  mit  uns 
zufrieden  sei.  » 

152 


Auf  ihren  Wegen  wandelnd  pflegte  Anna  Hill  unermüdlich 
und  von  allen  gesegnet  die  Kranken  ihres  Spitals,  niemals  daran 
denkend  oder  sich  dessen  erinnernd,  was  sie  geleistet  hatte,  sondern 
ihren  Geist  auf  das  gerichtet,  was  noch  zu  leisten  blieb. 

Die  ihrer  Aufgabe  bewussten  jungen  Mädchen  werden  die 
Pflegerinnenschule  des  St.  Thomas-Spitals  verlassen.  In  ihrem 
Herzen  widerhallt  das  Echo  jener  Stimme.  Und  Florence  wird 
unbeweglich  zurückbleiben,  wie  ein  Symbol,  wie  ein  Pol,  dem 
alle  sich  zuwenden  müssen  und  den  alle  Stimmen  erreichen. 


Das  hungernde  Indien 

Ja,  alle  Stimmen,  auch  die  Stimme  des  hungernden  Indiens. 

Die  Einsame  konnte  ihre  Gedanken  nicht  mehr  von  den 
Gestalten  befreien,  die  sie  im  Wachen  und  Träumen  verfolgten  : 
indische  Kinder,  die  zu  hunderttausenden  dahinstarben,  Bilder 
von  der  Hungersnot,  von  entsetzlichstem   Jammer. 

Sie  sieht  sie  körperlich  vor  sich,  diese  Bilder.  Sie  hört  die 
Klagen,  die  bis  zu  ihr  dringen,  über  Berge  und  Meere. 

Was  tun  ? 

Jahr  für  Jahr  hat  sie  gearbeitet,  damit  dieses  Volk  ein  gesundes 
Leben  führen  könne.  Jetzt  quält  sie  die  Vorstellung  unsagbar, 
dass  die  Menschen  dort  in  Massen  hinsterben,  aus  Mangel  an 
Nahrung. 

Sie  weiss,  dass   eines   zu  vermeiden  wäre  :   die   Hungersnot. 

« Hätten  wir  ihnen  rechtzeitig  Wasser  gegeben,  so  wären 
wir  jetzt  nicht  gezwungen,  ein  Stück  Brot  für  sie  zu  suchen,  ohne 
es  zu  finden.  » 

Ihnen  Wasser  geben.  Wer  könnte  das  ?  Wer  will  das  bezahlen? 
Wer  versteht  denn,  dass  Wasser  an  sich  Brot  bedeutet  ?  Wer 
kennt  den  Wert  des  bewässerten  Bodens  ?  Die  Masse  sicherlich 
nicht,  die  unwissend  stirbt. 

153 


Florence  sieht  klarer  denn  je,  dass  alle  Fragen  des  Menschen- 
lebens, der  Fürsorge  wie  der  Existenz,  der  Produktion  und  des 
Elends,  des  Überflusses  und  der  Hungersnot  nur  Fragen  der 
Erziehung  sind, 

Erziehung  ist  notwendig.  Es  ist  notwendig,  dass  die  Massen 
es  verstehen,  den  von  ihnen  mit  eigener  Kraft  bearbeiteten  Boden 
zum  Ertrag  zu  bringen.  Es  ist  notwendig,  dass  sie  Arbeitswillen 
besitzen,  dass  sie  der  Hungersnot  genau  so  wirksam  entgegen- 
arbeiten, wie  der  Cholera.  Es  ist  notwendig,  dass  sie  ungeheure 
Flächen  unbebauten  Landes  bearbeiten   und  fruchtbar   machen. 

Ist  das  möglich  ?  Auf  welche  Art  ?  Wie  kann  man  es  anpacken, 
da  doch  unter  denen,  welche  diese  Fragen  erforschen,  viele  von 
ganz  entgegengesetzter  Meinung  sind  und  verschiedene  Gesichts- 
punkte vertreten  ?  Hat  Florence  Nightingale  sich  wieder  einmal 
zu  wuchtige  und  zu  weitläufige  Probleme  aufgebürdet,  die  ein 
schwacher  Mensch  nicht  zu  enträtseln  vermag  ?  Probleme,  die 
Jahre  unablässigen  Studiums  und  mühevoller  Arbeit,  vielleicht 
Dezennien,  vielleicht  Jahrhunderte  erfordern,  ehe  sie  gelöst  sind. 

Vielleicht.  Doch  Florence  Nightingale  ist  daran  gewöhnt, 
durch  ihre  Arbeit  auch  solche  Unternehmungen  siegen  zu  sehen, 
die  man  für  undurchführbar  erklärt  hatte.  Und  sie  wendet  sich 
neuerlich  an  ihre  grosse  Freundin,  die  Statistik. 

Mit  beklommenem  Herzen  (das  Indienamt  meldet  eine  Million 
zweihundertfünfzigtausend  Tote,  aber  Florence  weiss,  dass  es 
noch  viel  mehr  sind)  schreibt  sie  an  ihre  unzähligen  Vertrauten, 
Offiziere  und  Beamten,  an  die  Zivil-  und  Militärbehörden,  die 
über  ganz  Indien  verstreut  sind. 

Soviel  Zahlen,  soviel  Schmerz  ! 

Sind  die  Zahlen  so  trocken,  die  Statistik  eine  strenge  Wissen- 
schaft ? 

Für  sie  sind  sie  das  nicht,  weil  sie  in  den  Zahlen  die  Menschen 
erkennt,  die  leben  und  sterben.  Männer,  Frauen,  zu  Skeletten 
abgemagerte  Kinder,  die  irgendwelche  von  der  Sonnenglut 
versengten  Grashalme  saugen  und  mit  ihren  grossen,  glänzenden 

154 


schwarzen  Augen,  die  tief  in  den  Höhlen  liegen,  vergebens  um 
ein  Stück  Brot  bitten,  um  die  Martern  des  Hungers  zu  lindem, 

Zahlen,  Zahlen  und  wieder  Zahlen.  Es  sind  nun  schon  vier 
Millionen  Tote,  nur  die  Landstriche,  in  denen  der  Boden  durch 
das  Wasser  fruchtbar  gemacht  wurde,  sind  von  der  Hungersnot 
verschont  geblieben. 

Zahlen,  Zahlen,  Zahlen,  mehr  als  vier  Millionen  Tote  und 
die  Finanzleute  verhandeln  über  die  Möglichkeiten,  Geld  zu 
beschaffen,  und  die  Ingenieure  über  die  besten  Methoden,  den 
Boden  zu  bewässern. 

«  Es  ist  die  Pflicht  der  Regierung,  die  Bewässerung  auf  jede 
Weise  zu  fördern  :  mit  grossen  wie  mit  kleinen  Arbeiten,  indem 
sie  Brunnen,  Zisternen,  grosse  und  kleine  Kanäle  bauen  lässt, 
indem  das  Privatkapital  ermutigt  wird,  Anleihen  und  Bürgschaften 
zu  gewähren.  » 

«  Die  Inder  »,  ein  Artikel,  der  im  «  Neunzehnten  Jahrhundert  », 
der  Zeitschrift  für  ernste  Leser,  erscheint,  bedeutet  einen  Alarmruf. 
Er  beunruhigt  das  bürokratische  Gewissen,  begeistert  einen  alten 
Apostel  der  Wasserversorgung,  Sir  Arthur  Cotton. 

«  Wenn  50  Jahre  harter  und  wenig  geachteter  Arbeit  mir  keine 
andere  Belohnung,  als  den  Ihres  Briefes  gewährt  hätten,  würde 
ich  mich  schon  sehr  geehrt  fühlen.  Aber  Ihre  Anteilnahme  an 
diesem  grossen  Problem  wird  das  Zünglein  an  der  Wage  sein», 
schreibt  ihr  Sir  Cotton. 

Staatssekretäre,  Vizekönige,  Gouverneure,  bekannte  und  un- 
bekannte Persönlichkeiten  wachen  auf,  regen  sich.  Ja,  aber  das 
geht  alles  so  langsam,  verglichen  mit  der  Ungeduld  der  grossen 
Einsamen,  die  im  Geiste  schon  ein  Indien  sieht,  wie  es  noch 
nicht  existiert  und  wie  es  doch  werden  kann  und  muss  !  Sie  will 
für  das  ihr  so  teure  Land,  das  so  sehr  gelitten  hat  und  noch 
leidet,  all  das  Gute  verwirklicht  sehen,  das  die  Menschen  ihm 

155 


nur  mühsam,  unendlich  langsam  und  in  angestrengtester  Arbeit 
erringen. 

Die  Gedanken  haben  Flügel,  doch  die  Materie  hat  bleierne 
Füsse.  Wenn  eine  Wahrheit  dem  Geiste  eines  Menschen  erkennbar 
geworden  ist,  so  scheint  es,  als  hätte  sich  ein  Funke  in  der  Finsternis 
entzündet.  Doch  ehe  nicht  viele  solcher  Funken  sich  zeigen, 
wird  das  Licht  noch  nicht  leuchten. 

«  Könnte  ich  nur  etwas  für  Indien  tun  !  »  ruft  Florence  Nightin- 
gale  in  ihrer  Verzweiflung.  Es  scheint  ihr,  dass  alle  die  für  das 
unglückliche  Land  ertragenen  schweren  Mühen  vergebens  seien. 
Alles  kommt  ihr  unnütz  vor  :  die  Artikel,  die  in  den  Zeitungen 
veröffentlicht  wurden  und  das  niemals  veröffentlichte  Buch  — 
das  Referat  der  Regierung,  das  die  sanitäre  Frage  aufgeworfen 
und  in  Gang  gebracht  hatte,  die  Briefe  an  die  Machthaber  und  die 
Aufrufe  an  das  Volk  —  war  das  alles  unnütz  ? 

Die  Arbeit  ist  niemals  unnütz  und  ein  Funke  nach  dem 
anderen  ist  erglommen,  bis  es  Licht  ward. 

Die  Jahre  vergehen  und  Florence  wird  sterben.  Ihr  Freund, 
der  sie  in  der  Indien-Frage  so  tatkräftig  unterstützte,  Lord 
Lawrence,  ist  schon  dahin.  Doch  immer  neue  Fackeln  flammen  em- 
por, um  mehr  Licht  für  eine  schönere  Zukunft  zu  schenken.  Die 
indische  Frage  wird  ihren  Weg  machen,  mit  der  Zeit  wird  sie 
ihre  Lösung  finden. 


Allein 

Allein  ! 

Und  doch  lebt  in  ihrer  Nähe,  nur  wenige  Häuser  entfernt, 
ihre  Schwester  Parthenope  mit  ihrem  Gatten  Sir  Henry  Vemey. 
Diese  beiden  sind  ja  auch  in  gewissem  Sinn  ihre  Schüler  und  ihr 
sehr  ans  Herz  gewachsen.  Und  in  London,  in  England,  in  der 
ganzen  Welt  leben  unzählige  ihrer  Freunde,  die  sie  bewundem 

156 


und  lieben,  für  die  eine  Stunde  in  ihrer  Gesellschaft  eine  Freude 
ohne  gleichen  bedeutet. 

Trotzdem  verzichtet  Florence  nicht  auf  ihre  Einsamkeit,  die 
sie  davor  bewahrt,  ihre  Kräfte  an  die  vielen  Kleinigkeiten  des 
täglichen  Lebens  zu  verschwenden.  Gerade  weil  sie  so  viele 
Freunde  hat,  muss  sie  sich  davor  hüten,  dass  ihre  Zeit  zu  sehr  in 
Anspruch  genommen  wird.  So  lädt  sie  nur  selten,  einmal  die  und 
das  andere  Mal  jene  ein,  die  sie  zu  sehen  imstande  ist  —  vor  allem 
die  Pflegerinnen. 

Zur  festgesetzten  Stunde  begeben  sich  die  Freunde  in  das 
helle,  mit  duftenden  Blumen  geschmückte  Zimmer,  wo  Florence 
auf  ihrem  Lager  ruht  oder,  an  guten  Tagen,  in  ihrem  Lehnstuhl 
sitzt.  Sie  sehen  eine  alte  Dame  vor  sich,  mit  freundlichem, 
klugen  Antlitz,  klaren  durchdringenden  Augen,  kleinem  Mund, 
der  von  Festigkeit  und  Entschlossenheit  zeugt,  hoher,  feinumris- 
sener  Stirne  und  zarten,  weissen  Händen. 

Sie  beginnt  zu  sprechen  ;  in  dem  stillen  Gemach  scheinen 
die  Gedanken  zu  vibrieren,  und  die  Besucher  fühlen  sich  in  eine 
höhere  Atmosphäre  versetzt.  Nichts  ist  mehr  grau,  banal,  kon- 
ventionell. Menschen  und  Dinge  —  die  kranken  Kinder  und 
die  siechen  Greise,  das  ferne  Indien  mit  seinen  wilden  Auf- 
ständen, die  Tatsachen  des  täglichen  Lebens,  die  Wünsche  und 
das  Streben  des  Gastes,  die  politische  Situation  —  alles  erscheint 
in  neuem  Lichte,  im  Lichte  der  Liebe,  in  einem  von  Liebe 
erfüllten  geistigen  Licht. 

Wie  in  ein  Heiligtum  sind  Besucher  und  Besucherinnen 
lautlos  eingetreten.  Wie  nach  einem  tiefen,  religiösen  Erlebnis 
entfernen  sie  sich  wieder  still,  im  Herzen  auf  lange,  vielleicht 
auf  immer,   das   Gedenken   dieser  Stunde   bewahrend. 

Das  Fenster  ist  offen.  Florence  blickt  in  den  Garten  hinaus. 
Auf  dem  riesigen  Baum  haben  sich  unzählige  grosse  und  kleine 
Vögel  versammelt,  deren  Gefieder  in  allen  Farben  des  Regen- 
bogens  schillern. 

157 


Temperance,  die  treue  Kammerzofe  tritt  ins  Zimmer  und 
bringt  das  Vogelfutter,  das  sie  auf  dem  Fensterbrette  ausstreut. 
Da  kommen  auch  schon  die  gefiederten  Gottesgeschöpfe  herbei 
und  drängen  sich  auf  dem  Fensterbrett.  Die  alte  Dame  sieht 
liebevoll  zu :  noch  immer  schreibt  sie  ihre  täglichen  Beobachtungen 
mit  derselben  Aufmerksamkeit  nieder,  wie  sie  einst  als  kleines 
Mädchen  ihre  Lateinaufgabe  gemacht  hat.  «  Vögel »  ist  ein  Brief 
betitelt,  der  im  «  Bulletin  der  Gesellschaft  zum  Schutz  der  ge- 
flügelten Freunde  »  abgedruckt  wird  und  von  der  Fütterung  der 
kleinen  Gäste  am  Fenster  berichtet. 


Sie  kehrt  nach  Lea  Hurst  zurück.  Die  Mutter  steht  nun  im 
Greisenalter,  und  ihre  Tochter  ist  ja  auch  schon  eine  alte  Frau. 
Aber  die  Mutter  ist  ungemein  liebevoll  gegen  ihre  Florence  und 
so  glücklich,  sie  bei  sich  zu  haben.  Die  Tochter  ist  viel  ruhiger 
geworden,  kann  sich  vielen  Freunden  ihrer  Mutter  und  dem 
Haus  widmen.  In  voller  Ungestörtheit  vermag  sie  hier  Gutes 
und  Nützliches  für  die  Familien  der  Umgebung  zu  schaffen  : 
Mütterversammlungen,  Gründung  von  Bibliotheken,  Kranken- 
fürsorge für  die  Armen.  Die  grosse  Aufgabe  ihres  Lebens,  die  ihr 
soviel  Pein,  Sorge,  namenlose  Unruhe  gebracht  hat,  ist  nun  voll- 
bracht. Vielleicht  hat  sie  das  Recht  erworben,  sich  auszuruhen, 
einen  ruhigen  Überblick  ihres  Lebens  zu  gewinnen. 

Gewiss  ist  ihre  grosse  Seele  von  der  Arbeit  innig  befriedigt, 
von  der  Erholungspause  erquickt. 


Auf  ihre  eigene  Weise 

Neujahrstag  1879.  Unter  den  vielen  Briefen  ist  auch  einer 
von  Freund  Jowett.  Einer  von  seinen  warmen,  herzlichen  Briefen, 
ein  Schreiben,  das  so  wie  der  Händedruck  eines  Menschen  ist, 
der  versteht  und  erkennt. 

158 


«  Ich  kann  für  Sie  nur  eines  wünschen  :  dass  Sie  fortfahren 
zu  leben,  wie  Sie  bis  jetzt  gelebt  haben,  auf  Ihre  eigene  Weise. 
Das  menschliche  Elend  lindernd  und  das  Wort  für  jene  ergreifend, 
die  nicht  imstande  sind,  sich  vernehmlich  zu  machen.  Dadurch 
werden  Sie  etwas  weniger  leiden,  wenn  nicht,  wie  ich  beinahe 
fürchte,  gerade  diese  Ihre  Leiden  eine  notwendige  Voraussetzung 
für  den  Weg  wären,  den  Sie  sich  gewählt  haben.  Vor  25  Jahren, 
als  Sie  aus  der  Krim  zurückkehrten,  da  waren  Sie  von  einer 
Atmosphäre  grosser  Romantik  umgeben,  und  ich  glaube  wohl, 
dass  Sie  damals  hätten  Herzogin  werden  können,  wenn  Sie  nur 
gewollt  hätten  !  Jetzt  arbeiten  Sie  in  der  Stille.  Und  keiner  hat 
davon  eine  Ahnung,  wieviele  Menschenleben  täglich  von  Ihren 
Krankenpflegerinnen  gerettet  werden,  wieviele  Soldaten  dem 
Leben  wiedergeschenkt  worden  sind,  die  ohne  Sie  als  Opfer  der 
Luft  und  des  Wassers  zugrunde  gegangen  wären,  wieviele  ein- 
geborene Inder  —  sicherlich  hunderttausende  von  Menschen  — 
der  gegenwärtigen  wie  der  künftigen  Generationen  zwischen 
sich  und  der  Hungersnot,  zwischen  sich  und  dem  grauenvollen 
Elend  plötzlich  einen  Schutzwall  aufgerichtet  sahen  :  dank  Ihnen 
allein.  Dank  einer  kranken  Frau,  die  nur  selten  ihr  Bett  zu  verlassen 
imstande  ist...  Aber  ich  weiss  es  und  denke  daran  und  will,  dass 
auch  Sie  dessen  eingedenk  wären,  damit  Sie  dessen  gewiss  sind, 
dass   Ihr  Leben  ein  Segen  gewesen  ist  und  bleiben  wird...  » 

Florence  liest  den  Brief  und  eine  Woge  tiefer  Gemütsruhe, 
der  Dankbarkeit,  der  Demut  erfüllt  ihr  Herz. 

Sie  blickt  zum  Himmel  empor,  vernimmt  die  Stimmen  von 
ehedem,  die  sie  so  oft  gerufen,  und  sie  dankt  Gott.  Ihre  Seele 
ist  von  Gott  erfüllt. 

Sie  gedenkt  auch  ihres  lieben  Arbeitsgefährten  Sidney  Herbert. 
Vor  achtzehn  Jahren  hat  er  das  Leben  verlassen,  jetzt  ist  er  bei 
Gott  in  der  ewigen  Gewissheit.  Mit  ihm  sind  andere  Freunde 
dahingegangen.  Viele,  so  viele. 

Florence  hofft,  sie  bald  wiederzusehen,  bald,  im  grossen  Licht 
der  Erkenntnis. 

159 


Die  Wurzeln  des  irdischen  Lebens  lösen  sich  eine  nach  der 
anderen.  Auch  die  Hebe  Mutter  —  ist  es  nicht  einer  der  schönsten 
Siege  von  Florence  gewesen,  auch  sie  ihren  Idealen  erobert  zu 
haben  —  schlummert  ein. 

Florence  ist  ihr  zur  Seite.  Sie  spricht  ihr  die  liebsten  Psalmen 
und  Gebete  vor.  Sie  sieht  sie  lächeln,  als  wollte  sie  sagen  :  «  Ich 
sterbe  und  alles  ist  gut.  »  Sie  sieht  sie  die  Hände  falten  und  die 
Augen  schliessen  :  sie  fühlt,  dass  sie  zu  einer  grösseren  Liebe 
dahingegangen  ist. 

Sechzig  Lebensjahre.  Ein  langer  Weg  und  schwere  Mühen. 

Jetzt  kann  Florence  den  Wunsch  erfüllt  sehen,  den  sie  so  viele 
Jahre  vergebens  gehegt  hat :  endlich  kann  sie  ihr  Krankenhaus 
betreten.  Endlich  kann  sie  ihre  Krankenpflegerinnen  an  der 
Arbeit  sehen. 

Eine  jede  von  ihnen  steht  zitternd  auf  ihrem  Posten,  einfach 
und  jugendlich,  hold  in  ihrer  weissen  Tracht.  Manche  von  ihnen 
würgt  es  in  der  Kehle  vor  tiefer  Rührung. 

Seit  zwanzig  Jahren  besteht  die  Pflegerinnenschule  mit  ihrem 
Schulspital  und  niemals  hatte  die  Unsichtbare,  Vielgeliebte  und 
stets  Gegenwärtige  die  Schwelle  betreten.  Jetzt  tritt  sie  ein.  Jetzt 
sieht  sie  sie  in  ihrem  Hause  versammelt,  ihre  Töchter,  die  Ge- 
schöpfe ihres  Herzens.  Sie,  die  sie  erträumt  und  gewollt  hat, 
um  den  Menschen  Frieden  und  Gesundheit  zu  bringen.  Wie 
müde  und  ernst  ist  die  Träumerin.  Aber  die  jungen  Schwestern 
sind  leichtfüssig  und  flink  an  den  weissen  Betten  des  Kranken- 
hauses, das  ein  Juwel  der  Ordnung  und  blitzblanker  Reinlich- 
keit ist. 

Sie  sieht  im  Geiste  die  Spitäler  des  Ostens  aus  jenen  Tagen 
wieder,  von  Ungeziefer,  Ratten,  Mäusen  und  wer  weiss  was  noch 
allem  bevölkert.  Die  Kranken  beschmutzt,  verlaust,  kraftlos,  halb 
verdurstet  und  verhungert,  sich  selbst  überlassen.  Ein  Licht  der 
Liebe  leuchtet  in  ihren  Augen  :  ihre  Töchter  werden  es  nie 
vergessen. 

160 


Sie  haben  es  auch  nicht  vergessen,  als  sie  1 882  den  Ruf 
erhielten,  die  Kämpfer  in  den  Feldzug  von  Ägypten  an  den  Kriegs- 
schauplatz zu  begleiten.  Die  von  Florence  sorglich  ausgewählten 
und  gewissenhaft  vorbereiteten  Pflegerinnen  könnten  es  ja  gar 
nicht  vergessen.  Denn  sie  hilft  ihnen  durch  ihre  Briefe,  Ratschläge 
und  Liebesgaben.  Auch  ihre  Soldaten  vergessen  sie  nicht  :  sie 
schicken  ihr  aus  Ägypten  eine  Arbeit,  die  sie  während  ihrer  Rekon- 
valeszenz im  Spital  angefertigt  haben.  Nach  Abschluss  des  Feld- 
zuges sieht  sie  die  Soldaten  vorüberziehen,  die  Uniform  mit- 
genommen, abgemagert,  welk,  aber  willensstark,  schweigend, 
sauber  und  ihrer  Manneswürde  bewusst. 

Sie  sieht  sie  vorüberziehen  und  ihre  Augen  füllen  sich  mit 
Tränen.  Ist  auch  wirklich  alles  für  diese  Söhne,  diese  Kinder 
des  Vaterlandes  getan  worden  ? 

Nein,  nicht  alles  ist  für  sie  getan  worden. 

Und  Florence  ist  wieder  am  Werk,  wie  in  ihren  schönen 
Kampfzeiten  neben  Sidney  Herbert.  Wieder  hat  sie  zu  kämpfen, 
den  guten  Krieg  der  Soldatenfürsorge.  Den  guten  Krieg,  der  nie 
aufgegeben  werden  darf,  den  die  edelsten  der  Geister  täglich 
notwendig  und  gegenwärtig  fühlen. 

«  Ich  bin  nicht  gekommen,  den  Frieden  zu  bringen,  sondern 
das  Schwert.  » 

Diese  Worte  Christi  erlebt  sie  heute,  stärker  denn  je. 

Vorwärts,  vorwärts  !  Die  Mängel  sind  stets  dieselben,  wenn 
auch  in  geringerem  Grade  als  während  des  Krim-Krieges.  Un- 
vollständige Ausrüstung,  unvollkommene  Organisation  der  Küchen, 
Lücken  in  der  Erziehung  und  der  Bildung  bei  denen,  die  mit 
der  Pflege  und  Fürsorge  betraut  sind. 

Florence  setzt  ihre  alten,  gesunden  Kräfte,  ihre  volle  Energie 
für  die  Reorganisation,  für  die  stufenweise  Verbesserung  ein. 

Auch  das  königliche  Ehrenzeichen  vom  Roten  Kreuz,  das 
ihr  die  Regierung  verleiht,  wird  ihr  nur  Mittel  zum  Zweck. 

Als  die  grosse  Pflegerin  zu  Hof  geladen  wird,  um  das  Kreuz 
entgegenzunehmen,    « für    ihre    besonderen    Verdienste    um    die 

161 

n 


Pflege  der  kranken  und  verwundeten  Soldaten  und  Matrosen  », 
denkt  Florence,  dass  dieses  königliche  Rote  Kreuz  auch  zu  etwas 
dienen  könnte.  Da  sie  nicht  imstande  ist,  zu  Hof  zu  gehen,  erbittet 
sie  sich  die  Gunst,  an  die  Königin  schreiben  zu  dürfen. 

Briefe  von  so  leuchtender  Klarheit  und  Überzeugungskraft, 
von  selbstloser  Liebe  für  ihre  Soldaten  und  Matrosen  erfüllt. 

Die  Königin  wird  jetzt  mehr  als  e  zuvor,  Schülerin  von  Flo- 
rence, eine  Mitarbeiterin  ihrer  guten  Sache... 


Wer  ist  jetzt  der  neue  Vizekönig  von   Indien  ? 

Lord  Ripon.  Auch  er  ein  alter  Schüler,  der  in  den  vergangenen 
Tagen  als  untergeordnete  Hilfskraft  mit  Sidney  Herbert  und 
Florence  gearbeitet  und  deren  Ziele  und  Bestrebungen  zu  den 
seinen  gemacht  hat. 

Von  dem  gleichen  Geiste  bewegt,  der  in  ihrer  Seele  glüht, 
schreitet  er  mutig  und  aufrecht  auf  ihrer  Bahn,  ein  eifriger  Kämpfer 
gegen  alle  jene  —  und  es  sind  deren  Legion  !  —  die  ein  elendes  und 
unwissendes  Indien  wollen,  um  es  besser  beherrschen  zu  können... 

Er  schafft  eine  Kommission  zur  Erziehung  der  Inder,  ein 
Amt,  das  die  Agrarfragen  und  die  verschiedenen  Systeme  der 
Bodenbebauung  studiert.  Er  wird  zum  Verteidiger  eines  Gesetzes, 
das  eine  Horde  von  Feinden  gegen  ihn  anstürmen  lässt. 

Es  ist  ein  sehr  einfaches  Gesetz,  das  Florence  als  nichts  anderes, 
denn  ein  Akt  reinster  Gerechtigkeit  erscheint.  Aber  fast  niemand 
denkt  wie  sie  und  wie  Lord  Ripon. 

Ein  einfaches  Gesetz,  das  Florence  mit  grösster  Klarheit  in 
einem  Briefe  an  die  Königin  Viktoria  darlegt  und  sie  überzeugt. 
Lord  Ripon  will  nichts  anderes,  als  dass  indische  Richter  von 
gleichem  Rang  und  mit  denselben  Titeln  wie  die  englischen 
Richter  nicht  nur  für  die  Eingeborenen,  sondern  auch  den  Euro- 
päern gegenüber  ihre  richterliche  Gewalt  ausüben  sollten. 

Die  Europäer  !  Sie  sind  alle  in  Aufruhr  !  Sie  kämpfen  in  geschlos- 
sener Masse,  Mann  an  Mann,  mit  allen  Mitteln  bis  zum  äussersten. 

162 


Aber  das  Gesetz  wird  von  einem  gewaltigen  Kämpfer  ver- 
teidigt, der  an  harte  Siege  gewöhnt  ist.  So  dringt  es  auch  tatsächlich 
durch,  mit  der  Änderung,  dass  die  Europäer,  über  die  ein  ein- 
geborener Inder  Recht  gesprochen  hat,  gegebenenfalls  an  eine 
Jury  appellieren  können. 

Das  Gesetz  ist  nur  nach  ungemein  schweren  Kämpfen 
durchgegangen,  nach  Kämpfen,  die  einen  der  Streiter  erschöpft 
haben.  Lord  Ripon  fühlt  sich  der  Lage  nicht  mehr  gewachsen, 
verzichtet  auf  das  Amt  des  Gouverneurs  und  verlässt    Indien. 

Wer  wird  sein  Nachfolger  ?  Ein  Freund  —  ein  Feind  ? 

Ein  anderer  Jünger.  Er  sucht  Florence  Nightingale  in  ihrem 
entlegenen  Gemach  auf.  Er  will  sich  von  ihr  Informationen  über 
die  Lage,  die  Verhältnisse  in  Indien  holen,  über  die  notwendigsten 
Reformen  auf  dem  Gebiet  des  Ackerbaues,  der  Güterverwaltung, 
der  sanitären  Einrichtungen. 

«  Davon  weiss  ich  so  gut  wie  gar  nichts.  Geben  Sie  mir  Instruk- 
tionen und  ich  werde  Ihnen  gehorchen.  Verschaffen  Sie  mir  die 
dringendsten  Memoranden.  Ich  werde  sie  während  der  Seereise 
studieren.  » 

Sehr  viel  Studienmaterial  hat  der  neue  Vizekönig  von  Indien 
während  der  langen  Überfahrt  durchzuarbeiten  ! 

Und  eine  grosse  Anzahl  von  Krankenschwestern  geht  nach 
Ägypten  ab,  um  die  Soldaten  zu  pflegen. 

Es  sind  durchwegs  Nightingale-Pflegerinnen,  jede  einzelne 
trägt  em  Lächeln,  einen  Gruss,  ein  Andenken  mit  sich  fort,  in 
die  Florence  ihre  ganze  Seele  gelegt  hat.  Es  ist,  als  ginge  sie  wieder 
nach  dem  Orient,  wo  die  Soldaten  voll  Bangen  die  Worte,  die 
Stimme,  die  Pflege  und  Fürsorge  der  englischen  Frau  erflehen... 


163 


Vor  der  Abreise 

Das  Dampfschiff  wird  um  1 1  Uhr  in  See  stechen.  Doch  in 
dem  stillen  Gemach  sind  zwei  Frauen  allein  am  Frühstückstisch. 

Eine  alte  Dame  mit  weissem  Haar,  mit  durchdringenden 
blauen  Augen  in  dem  energischen  und  friedvollen  Antlitz  ruht 
in  ihrem  Lehnstuhl  von  weissen  Kissen  gestützt.  Neben  ihr  eine 
junge,  schlanke  Krankenschwester  im  dunklen  Reisekleid. 

In  den  wenigen  Tagen  der  Vorbereitung  ist  die  Arbeit  von 
grösster  Intensität  gewesen.  Jetzt  in  der  Ruhepause  dieses  letzten 
Besuches  bei  Florence  Nightingale  fühlt  Schwester  Philippa  nur 
den  tiefen  Frieden,  die  starke  Woge  beschützender  und  sorgender 
Liebe,  den  grenzenlosen  Willen  zum  Guten... 

«  Nehmen  Sie  doch  noch  eine  Schnitte  Brot  und  Honig,  liebe 
Schwester  !  Das  ist  ein  echtes  englisches  Frühstück,  und  es  freut 
mich,  zu  wissen,  dass  Sie  ihr  nächstes  Frühstück  hier  bei  mir 
redlich  verdient  haben  werden,  wenn  Sie  nach  England  zurück- 
kehren. » 

Schwester  Philippa  ist  sehr  nachdenklich  geworden. 

« Am  Ende  kehre  ich  nicht  mehr  zurück  und  werde  kein 
Frühstück  mehr  bekommen  »,  sagt  sie  halb  lächelnd,  halb  nach- 
denklich. 

«  Mein  liebes  Kind,  glauben  Sie  mir,  Sie  werden  sich's  verdient 
haben.  » 

Schwester  Philippa  hört  auf  die  tiefe  Bedeutung  der  so  ruhig 
ausgesprochenen  Worte. 

Ja  ihre  Reise,  ihre  Arbeit  werden  gut  ausfallen,  was  auch 
geschehe.  Die  lieben  Worte  werden  ihr  unvergessen  sein,  wie  die 
Blumen,  die  sie  in  ihrer  Schiffskabine  findet  mit  den  guten 
Wünschen  von  Ihr,  die  zurückbleibt. 

164 


Wer  bleibt  zurück  ?  Nur  der  Körper  ! 

Herz,  Geist  und  Seele  von  Florence  Nightingale  sind  ja  dort 
unten. 

«  Liebes  Fräulein  Williams  ! 

Wie  wünschte  ich  Ihnen  bei  der  Pflege  Ihrer  armen  Typhus- 
kranken helfen  zu  können  !  Die  schlimme  Unvorsichtigkeit  der 
Infanteristen  ist  mir  nur  zu  gut  bekannt.  Aber  die  blosse  Tatsache, 
dass  sie  selber  wissen,  ihre  Gedankenlosigkeit  werde  von  Ihnen 
als  ein  Verbrechen  angesehen,  gibt  den  Dingen  ein  besseres 
Gesicht.  Könnte  ich  doch  wieder  eine  Magd  des  Herrn  werden, 
wie  Sie  es  sind  !  Mit  Gott  !  Und  der  Herr  segne  Sie  !  » 

Wenn  Schwester  Sibille  ihr  schreibt  und  ihr  von  ihrem  Nacht- 
dienst berichtet,  ist  es,  als  poche  Florence  Nightingale's  Herz 
in  jenen  Krankensälen,  die  in  der  Stille  der  Nacht  so  feierlich 
und  unermesslich  weit  erscheinen.  Sie  sieht  sie  vor  sich,  von 
kleinen  Flämmchen  matt  erhellt,  mit  den  riesigen  Schatten  an  den 
Wänden.  Sie  tritt  an  die  Betten,  weilt  bei  den  Rekonvaleszenten, 
die  kaum  den  Typhus  überstanden  haben,  diese  grossen,  hungrigen 
Kinder,  die  gierig  den  Mund  aufsperren,  gleich  aus  dem  Nest 
gefallenen  Sperlingen,  wenn  sie  mit  den  Suppentellern  in  der 
Hand  zu  ihnen  kommt. 


Immerdar  Deine  Magd... 

Briefe  und  wieder  Briefe  treffen  ein  und  werden  beantwortet. 
Ein  ständiger,  starker  und  inniger  Kontakt  ist  zwischen  ihr  und 
den  Pflegerinnen. 

Weihnachten  1885.  Florence  ist  Gott  zugewandt,  fast  mehr 
als  sonst,  wenn  das  noch  möglich  ist,  sie  ist  in  Ihn  versunken  und 
spricht  in  stiller,  frommer  Ergebenheit  zu  Ihm. 

165 


«  Bis  zum  Ende  gewähre  es  der  armen,  alten  Frau,  sich  Dir  zu 
weihen,  o  Herr  !  Die  als  junges  Mädchen  nichts  war  als  Deine 
Magd,  wird  immerdar  Deine  Magd  bleiben. » 

Es  ist  eine  Zeit  der  Freude  für  England  gekommen.  Fünfzig 
Jahre  sind  vergangen,  seit  Viktoria,  Königin  von  England  und 
Kaiserin  von  Indien,  den  Thron  bestiegen  hat.  An  den  Festlich- 
keiten des  Jubiläums  nimmt  die  ganze  englische  Welt  teil,  und  die 
englischen  Frauen  stiften  für  ihre  Königin  einen  National-Fonds. 

Und  die  Königin,  stets  die  getreue  Schülerin  von  Florence 
Nightingale,  bestimmt  diesen  National-Fonds  für  die  Pflege 
mittelloser  Kranken  durch  beruflich  ausgebildete,  tüchtige  Pflege- 
rinnen. Das  alte  Schulspital  von  St.  Thomas  muss  einer  grösseren, 
vollkommeneren  Spitalschule  weichen,  die  zu  diesem  Zwecke 
aus  den  reichen  Mitteln  des  National-Fonds  errichtet  wird. 

Das  frühe  Streben  von  Florence  erfährt  in  ihrem  Alter  volle 
Verwirklichung. 

«  Wir  sind  jetzt  Mode  :  Vorsicht  !  Wir  dürfen  vom  Wege  nicht 
abirren  ! » 

«  Könige  schenken  uns  ihr  Lächeln  :  Vorsicht !  » 

Wer  hätte  es  dem  jungen  Mädchen  Florence  prophezeien 
wollen,  dass  sie  einen  ihrer  Kämpfe,  und  zwar  den  grimmigsten 
von  allen,  gegen  den  Verband  der  englischen  Pflegerinnen  zu 
führen  haben  würde  ? 

Stand  die  Schöpferin  gegen  ihre  Schöpfung  ? 

Nein.  Der  Verband  der  englischen  Pflegerinnen  ist  nicht 
jene  Gemeinschaft  von  Frauen,  wie  sie  Florence  Nightingale 
erträumt  hatte.  Es  sind  nicht  mehr  Arbeiterinnen,  die  nur  danach 
streben,  dem  Herrn  zu  dienen,  den  Übeln  vorzubeugen  und  sie 
zu  heilen,  die  Leidenden  aufzurichten.  Es  sind  nur  Berufsange- 
hörige :  Frauen  also,  die  in  der  Krankenpflege  nichts  anderes 
erblicken,  als  den  Beruf,  nicht  die  Sendung  und  Berufung, 

166 


Die  so  humane  Idee  von  Florence  wird  2x1  einer  sehr  materiellen 
Angelegenheit.  Und  der  Verband  der  englischen  Pflegerinnen, 
an  dessen  Spitze  die  königliche  Prinzessin  Christine  als  Präsidentin 
steht,  erscheint  der  Ersten  Pflegerin  etwas  unendlich  Wesensfremdes. 
Die  Ziele  dieses  Verbandes  sind  den  Zielen  entgegengesetzt,  für 
die  Florence  ihr  Leben  dargebracht  hat  :  Ziele  von  rein  beruflicher 
Prägung,  einzig  darauf  gerichtet,  die  Lage  der  Pflegerinnen  durch 
ausschliesslich  materielle  Forderungen  zu  verbessern. 

In  der  Stille  der  Nacht,  in  den  schlaflosen  Nächten,  während 
welchen  das  Empfinden  vertieft  und  vermannigfacht  wird,  quält 
sich  Florence  mit  Vorwürfen  und  Selbstanklagen. 

« Die  Schuld  ist  mein.  Ich  habe  es  nicht  verstanden,  den 
Pflegerinnen  mein  Ideal  einzuprägen.  Ich  habe  Prinzessin  Christine 
nicht  im  richtigen  Moment  gerufen.  Ich  bin  eine  schlechte  Magd 
und  tauge  zu  nichts.  » 

Florence  Nightingale,  weisst  Du  denn  nicht,  dass  es  keinem 
auf  der  Welt  gelingt  zu  verhindern,  dass  ein  menschliches  Ideal  er- 
niedrigt und  erdenhaft  wird,  sobald  es,  von  der  Menge  anerkannt  und 
aufgenommen,  selbst  irdischer  Bestandteil,  Leben  geworden  ist  ? 

Harter,  langer  Kampf.  Im  Jahre  1888  hat  er  begonnen  und 
ist  bis  zum  heutigen  Tage  noch  nicht  zu  seinem  Abschluss  und 
zur  Lösung  gelangt.  Noch  heute  gibt  es  in  England  Meinungsver- 
schiedenheiten darüber,  ob  es  vmnschenswert  wäre,  wenn  die 
Pflegerinnen  nach  abgelegter  Prüfung  öffentlich  anerkannt  würden, 
wie  es  der  Pflegerinnenverband  fordert,  oder  ob  sie  durch  ihre 
Leistungen  sich  ihren  Weg  bahnen  sollen,  wie  es  Florence  sich 
vorgestellt  hat.  Nach  deren  Meinung  bildet  der  Charakter,  der 
in  einer  Prüfung  nicht  festzustellen  ist,  weit  mehr  als  das  tech- 
nische Geschick  die  Voraussetzung  für  eine  gute  Pflegerin.  Nach 
ihrer  Meinung  wird  eine  wahrhaft  berufene  Pflegerin  immer 
ihren  ansteigenden  Weg  fortsetzen,  ohne  jemals  stillezustehen, 
und  gerade  die  öffentliche  Anerkennung  als  Folgeerscheinung 
des  Examens  könnte  die  Gefahr  des  Stillstandes  mit  sich  bringen. 

167 


Pflege  für  Kranke  und  Gesunde 

«  Pflege  für  Kranke  und  Gesunde.  »  —  Die  Schrift,  die  Flo- 
rence  Nightingale  dem  Frauenkongress  in  Chicago  zugesandt  hat, 
ist  heute  und  wird  für  lange  Zeit  —  vielleicht  für  immer  —  eines 
der  klassischen  Werke  bilden,  die  von  den  notwendigen  Vorbe- 
dingungen für  eine  gute  Pflegerinnenschule  handeln  und  die 
Gefahren  aufzeigen,  welche  eine  solche  Schule  schädigen  könnten. 

«  Der  Beruf,  wie  sie  es  nennen  —  die  Berufung,  wie  wir  es 
nennen.  » 

Weil  für  die  Schöpferin  und  Gestalterin  der  Krankenpfle- 
gerinnenschule die  Pflege  der  Kranken  von  einem  warmen,  leben- 
digen Geist  religiösen  Glaubens  nicht  zu  lösen  ist,  muss  sie  so 
urteilen.  Nicht  ein  Beruf,  nicht  das  Mittel  zum  Zweck,  eines 
höheren  oder  germgeren  Verdienstes  sind  für  sie  ausschlaggebend, 
sondern  allein  jener  religiöse  Geist,  der  sich  nicht  gewinnen  lässt, 
wenn  man  nicht  gute  Werke  übt. 

Für  diese  Frauen,  einzig  für  diese,  hat  Florence  ihre  Kämpfe 
durchgerungen  und  nur  sie  sind  ihre  Pflegerinnen. 

Der  6.  August  1887. 

Ein  Brief  des  Höchstkommandierenden  meldet,  dass  die 
indische  Regierung  die  Verwendung  von  Pflegerinnen  in  den 
Militärspitälem  zulässt. 

Er  hat  einen  Kameradschaftsbund  zur  Unterhaltung  in  den 
Mussestunden  in  jedem  englischen  Regiment,  jeder  Batterie 
gegründet. 

Er  hat  femer  die  Schliessung  der  Kantinen  angeordnet. 

Endlich  hat  er  einen  militärischen  Verband  für  Massigkeit 
im  Alkoholgenuss  gebildet. 

Er  lässt  für  die  Soldaten  Kaffeestuben  eröffnen. 

168 


Er  hat  die  Gründung  eines  Sanitätsamtes  in  jeder  indischen 
Provinz  vorgesehen.  Diese  Ämter  haben  den  lokalen  Behörden 
und  der  Regierung  nicht  allein  die  zu  ergreifenden  hygienischen 
Massnahmen  aufzuzeigen,  sondern  sie  werden  mit  exekutiver 
Gewalt  ausgestattet  sein. 

Das  sind  alles  Kämpfe,  die  siegreich  bestanden  sind. 


Und  Florence  beginnt  von  neuem 

Ist  nun  Florence  endlich  mit  sich  und  ihrem  Leben  zufrieden  ? 

Noch  immer  nicht. 

Kann  man  vom  Volke  einen  stufenweisen,  sicheren  Fortschritt 
fordern  und  erwarten,  wenn  man  es  nicht  gelehrt  hat,  sich  selbst 
an  dem  Entstehen,  an  der  Entwicklung  zu  beteiligen,  mit  den 
Reformatoren  gemeinsam  zu  arbeiten  ?  ! 

Florence  Nightingale  erlangt  die  immer  stärker  werdende 
Gewissheit  von  der  Notwendigkeit,  nach  den  Reformatoren  auch 
die  grosse  Masse  zu  überzeugen. 

Und  Florence  Nightingale,  alt  und  müde,  wie  sie  ist,  die 
ihre  treuen  Freunde,  die  Arbeitskameraden  einen  nach  dem 
andern  hinsinken,  verschwinden  sieht,  beginnt  von  neuem,  beginnt 
immer  von  vom. 

Erziehen,  unterrichten,  lehren.  Es  ist  notwendig,  die  Kinder 
in  den  Volksschulen  zu  erziehen.  Es  ist  notwendig,  leicht  fassliche 
und  gesunde  Broschüren  für  Männer  und  Frauen,  für  die  auf- 
wachsende Jugend  allgemein  zu  verbreiten.  Es  ist  notwendig, 
das  indische  Volk  zu  erziehen,  die  Gebote  der  Reinlichkeit,  der 
Hygiene  und  Moral  zu  beachten. 

Das  indische  Volk  —  aber  wie  steht  es  mit  dem  englischen  ? 

169 


Nun  da  Parthenope  tot  ist  und  Florence  sich  auf  die  Güter 
ihres  alten  Schwagers  begibt,  um  diesem  die  Einsamkeit  tragen 
zu  helfen,  erfährt  sie,  dass  auch  das  englische  Volk  von  Rein- 
lichkeit, von  Hygiene  und  Moral  viel  zu  wenig  weiss. 

Sie  organisiert  eine  Reihe  von  Unterrichtsstunden,  von  Vor- 
trägen, von  Leseabenden  für  die  gebildeteren  Frauen,  damit  diese 
ihrerseits  imstande  sind,  weiter  zu  verbreiten,  was  sie  gelernt 
haben ;  dass  sie  ihr  neues  Wissen  bei  ihren  Besuchen  bei  den 
Müttern  aus  dem  Volk  praktisch  anwenden  können. 

Es  ist  nichts  als  ein  kleines  Experiment  :  klein  wie  alle  früher 
versuchten  und  schliesslich  geglückten  Experimente.  Dazu  ist 
es  das  letzte  Experiment  ihres  Lebens.  Sie  wird  bei  den  Ergeb- 
nissen nicht  mehr  anwesend  sein,  bei  dem  Resultat,  das  dieser 
Versuch  vielleicht  mit  der  Zeit  zu  bieten  vermag.  Die  Bahn 
ihres  irdischen  Daseins  neigt  sich  dem  Ende  zu. 

Sie  hat  das  63.  Jahr  vollendet.  Florence  Nightingale  wendet 
den  Blick  rückwärts,  um  ihr  Leben  zu  betrachten. 

«  Vor  neununddreissig  Jahren  bin  ich  in  Skutari  angekommen. 
Es  ist  mir  unermesslicher  Segen  gewährt  worden.  Die  glühendsten 
Wünsche  meines  Herzens  wurden  mir  erfüllt. 

Und  wie  viele  Schwierigkeiten  und  Enttäuschungen,  wie  viele  ! 

Ich  komme  jetzt  zu  Dir  !  Ich  lenke  den  Schritt  heim  !  Schon 
habe  ich  den  Fuss  auf  die  Schwelle  gesetzt. » 

Und  wieder  sind  drei  Freunde  heimgegangen. 

Benjamin  Jowett,  der  liebe,  ehrwürdige  geistliche  Berater,  der 
—  man  weiss  es  nicht  —  sie  vielleicht  auch  lehren  wird,  den  Weg 
ins  Jenseits  zu  wandeln  —  er  ist  dahin. 

Und  der  alte,  liebenswürdige,  ritterliche  Schwager  Henry 
Vemey.  Auch  Vetter  William  noch  unvergessen  aus  der  Jugend- 
zeit. Sie  hat  ihn  so  geliebt,  wie  eine  junge  Mutter  ihren  Knaben. 
Er  ist  alt  geworden  und  ist  fort,  wie  alle  anderen. 

Solange  Florence  auf  Erden  ist,  wird  sie  nie  darauf  verzichten 

170 


zu  arbeiten,  so  schwer  die  Jahre  auch  auf  ihr  lasten  und  trotzdem 
die  Sehkraft  und  das  Gedächtnis  stetig  abnehmen. 

Vorwärts  !  Vorwärts  ! 

Die  Jahre  vergehen. 

Diese  Pflegerinnen  !  Alle  wollen  heiraten.  In  Buenos  Aires  ist 
in  einem  Jahre  von  allen  Pflegerinnen  nur  eine  zurückgeblieben. 
Das  Krankenhaus  will  neue  Krankenschwestern  anstellen.  Aber 
Florence  ist  verärgert.  Sie  will  keine  neuen  Pflegerinnen  mehr 
hinschicken,  nie  wieder. 

Ach  —  sie  wurden  viel  zu  schnell  reme  Berufspflegerinnen, 
diese  verwünschten  Mädchen.  Gewiss  will  Florence,  dass  sie 
energisch,  tätig  und  organisatorisch  gewandt  seien.  Aber  sie  will 
auch,  wie  sie  es  stets  gewollt,  dass  sie  echte  Mütterlichkeit  besitzen, 
dass  sie  im  wahren  Sinne  des  Wortes  Schwestern,  Frauen  seien. 

«  Ein  armes,  kleines  Krankenschwesterchen  weint  verzweifelt, 
den  Kopf  in  die  Schürze  versteckt,  weil  ein  bresthaftes  Kind 
gestorben  ist.  Das  Kind  hat  seiner  Pflegerin  nichts  als  Mühe 
und  Sorgen  bereitet,  diese  Schwester  ist  ein  Engel  !  Aber  die 
im  Beruf  erstarrte  Pflegerin,  die  seelenruhig  durch  die  Kranken- 
zimmer schreitet  und  aufnotiert,  wie  viele  Kinder  seit  ihrem 
letzten  Rundgang  gestorben  sind,  die  ist  auf  keinen  Fall  ein 
Engel.  » 

Florence  Nightingale,  unverbesserliche,  greise  Träumerin. 
Nicht  einmal  die  75  Jahre  ihres  Lebens  haben  sie  zähmen 
können  !  Sie  hat  immer  noch  Mut  und  Lust,  neue  Versuche  zu 
wagen.  Die  Enttäuschung,  die  ihr  der  indische  Grosskhan  schafft 
wird  nicht  die  letzte  sein. 

« Ein  sehr  interessanter  Mann,  aber  es  ist  unmöglich,  ihn 
Hygiene  zu  lehren.    Ich  habe  bis  jetzt  auch  nie  begriffen,  wie 

171 


schwer  es  für  einen  Orientalen  ist,  sich  mit  materiellen  Dingen 
zu  befassen.  Ich  erklärte  ihm,  so  gut  ich  es  vermochte,  die  Verän- 
derungen, die  während  meines  Lebens  sowohl  in  den  Städten,  wie 
auf  dem  Lande  vor  sich  gegangen  sind. 

«  Glauben  Sie,  dass  Sie  etwas  verbessert  haben  ?  »  fragte  er 
mich. 

« Verbessert  zu  haben »  bedeutet  für  ihn,  einen  stärkeren, 
gefestigteren  Glauben  an  Gott  zu  erlangen.  Für  ihn  ist  die 
Hygiene  voll  Unwirklichkeit  und  Aberglauben,  Religion  dagegen 
und  Geistigkeit,  das  sind  die  einzigen  Realitäten. » 


Ausklang 

In  London  findet  die  Ausstellung  der  viktorianischen  Epoche 
statt.  Es  ist  eine  grosse  Ausstellung  mit  zahlreichen  Abteilungen 
und  eine  der  bedeutendsten  und  wichtigsten  davon  ist  der  Kranken- 
pflege und  Fürsorgetätigkeit  gewidmet. 

Die  Gedanken  der  englischen  Frauen  wenden  sich  Florence 
Nightingale  zu.  Sie  bitten  sie  um  Photographien,  Autogramme, 
Reliquien  und  Andenken  des  Krim-Krieges. 

Florence  Nightingale  zählt  77  Jahre.  Doch  sie  ist  jünger  als 
die  jüngsten.  Sie  will  sich  nicht  als  Idol  vergöttern  lassen.  Sie 
will  nicht,  dass  Wert  auf  das  Irdische  gelegt  werde. 

«  0,  welche  Torheit  und  Kleinlichkeit  der  Leute  !  Reliquien, 
Andenken  aus  dem  Krim-Krieg  !  Wie  sind  sie  beschaffen  ?  In 
erster  Linie  sind  es  die  furchtbaren  Lehren,  die  wir  aus  seinen 
Irrtümern  und  aus  der  Unwissenheit  haben  ziehen  müssen.  Es 
sind  femer  die  Hygiene  und  die  Pflegerinnen.  Das  sind  die  Erin- 
nerungen, die  Andenken  des  Krim-Krieges.  Und  ich  werde  weder 
mein  dummes  Porträt  —  ich  besitze  übrigens  gar  keines  —  noch 
irgend  etwas  anderes  als  «  Reliquie  der  Krim  »  herausgeben.  Es 
ist  zu  lächerlich  !  » 

172 


Vielleicht  ist  es  lächerlich.  Aber  die  Leute  haben  von 
jeher  die  Notwendigkeit  empfunden,  etwas  zu  verehren,  anzu- 
beten, sie  haben  immer  eine  Verkörperung  des  Idols  nötig,  eine 
Materialisation,  der  sie  ihre  eigenen  Gedanken  leichter  zuwenden 
können.  Und  in  der  Ausstellung  tritt  ein  alter  Soldat  von  Balaklava 
zu  der  Kalesche,  die  dort  zu  sehen  ist,  und  küsst  sie  inbrünstig. 
Es  ist  die  alte,  unförmige  Kalesche,  welche  die  Oberschwester  in 
der  Krim  von  einem  Spital  zum  andern  geführt  hat. 

Hat  Florence  dem  alten  Soldaten  wohl  verziehen  ? 

Ich  weiss  es  nicht.  Aber  den  anderen  Leuten,  die  an  jenem 
Tage  ihre  marmorne  Büste  mit  Blumen  schmückten,  hat  sie  gewiss 
niemals  verzeihen  können. 

Ihre  Gedanken  erheben  ihren  Flug  zu  Gott,  ihrem  einzigen 
Herrn.    Ihm  bringt  sie  ihren  Dank  dar. 

«  Wie  armselig  waren  meine  Möglichkeiten,  etwas  in  der  Krim 
zu  leisten.  Doch  war  dort  der  Ursprung,  aus  dem  Er  die  Pflege- 
rinnen hat  werden  lassen.  » 

Die  Pflegerinnen  sind  Florencens  Ideal  bis  zu  ihrem  Todestag. 

Es  sind  Engel. 

«  Nicht  die  sind  Engel,  die  herumgehen  und  Blumen  streuen. 
Auch  ein  launenhafter  Knabe  bringt  das  zuwege  und  selbst  solche, 
die  noch  Schlimmeres  sind.  Engel  sind  jene,  die  als  Pflegerinnen, 
als  Schwerarbeiter  und  Strassenkehrer  eine  widerwärtige  Arbeit 
vollbringen,  die  Folgen  der  Krankheiten  und  die  Hindemisse  der 
Wiedergenesung  forträumen,  die  Kübel  mit  Schmutzwasser 
ausleeren,  die  Kranken  waschen  und  anderes  mehr  —  alles  Dinge, 
für  die  sie  nicht  einmal  einen  Dank  erhalten.  Ja  das  sind  Engel.» 

Leben,  intensivstes  Leben.  Nicht  mondäner  Lärm  und  nicht 
äussere  Ehrungen.  Doch  arbeiten,  handeln,  wirken,  für  das  Wohl 
der  Menschheit,  im  Dienste  Gottes  ! 

Im  Dienste  Gottes,  in  Ihm  und  für  Ihn.  So  ist  es  im  Leben 
gewesen  und  so  wird  es  im  Tode  sein. 

173 


Jetzt  ruht  Florence  Nightingale  sich  aus. 

1907,  als  sie  eben  ihr  87,  Jahr  vollendet  hat,  verleiht  ihr  der 
König  den  Orden  für  hohe  Verdienste,  « in  Anerkennung  der 
unzähligen  Dienste,  die  sie  dem  Vaterlande  und  der  Menschheit 
geleistet    hat.  » 

1908  bei  Vollendung  ihres  88.  Jahres  ernennt  sie  die  Stadt 
London  zur  Ehrenbürgerin. 

Und  ihre  nahen  und  fernen  Freunde,  die  auf  der  ganzen  Erde 
verstreut  sind,  und  die  tausende  von  amerikanischen  Pflegerin- 
nenschulen und  die  Rotkreuz-Schwestem  aller  europäischen, 
asiatischen  und  amerikanischen  Länder  ;  die  Pflegerinnen  Englands 
und  der  Dominions,  alle  guten  Frauen  und  alle  Einrichtungen 
zum  Wohle  der  Menschen  in  der  ganzen  Welt  senden  ihr  ehr- 
furchtsvolle Grüsse. 

Florenz,  die  Stadt,  die  sie  zur  Welt  kommen  sah,  ist  stolz 
darauf,  ihr  die  florentinischen  Bürgerrechte  zuerkennen  zu  dürfen. 

Aber  sie  bleibt  fem.  Nur  der  Körper  ist  noch  gegenwärtig, 
der  Geist   ist  abwesend. 

In  ihrem  Herzen  sind  die  Toten  lebendig  und  sie  ruft  sie 
herbei :  Leben  und  Tod  sind  für  sie  eins   geworden. 

Vielleicht  weilt  sie  selbst  schon  bei   Gott. 

«  Herr,  wie  glücklich  wären  wir,  vermöchten  wir  alle  uns  Dir 
ganz  und  gar  hinzugeben.  Unser  Ich  verlassen  und  in  Dir  ruhen.  » 


In  Ihm  ruht  sie  und  Er  hat  ihr  ein  sanftes  Ende  gewährt : 
Er  hat  sie  hinüberschlummem  lassen  in  Seinen  Schlaf,  der  das 
Erwachen  ist. 

Denn  sie  hat  Ihm  treu  gedient.  Denn  sie  hat  in  ihrem  ganzen 
Leben  ihren  Herrn  niemals   vergessen. 


174 


I  nhaltsverzeichnis 

Aus  der  Jugendzeit 1 

Die  alte  Peggy 3 

Reise  in  der  Postkutsche 7 

In  Lea  Hurst 9 

Ungeduld n 

«  Ich  bete  und  kämpfe  und  finde  den  Weg  doch  nicht »    .  13 

Enghsche  Krankenhäuser 15 

Kämpfe 18 

Winter  in  Rom 22 

Wieder  in  London 24 

Entmutigung 27 

Die  Werbung 30 

Kaiserswerth 32 

Gedanken  über  Religion 35 

Bei  den  «  Barmherzigen  Schwestern  »     in  Paris 38 

Heim  für  kranke  Gouvernanten 40 

Unsere  Sendung 46 

Unten  in  der  Krim .  48 

Ein  Brief  von  Sidney  Herbert 53 

Überfahrt 60 

Militär-Spitäler 63 

Oberschwester  Florence  Nightingale 67 

Die  Dame  mit  der  Lampe 72 

Fieber 76 

Meine  Soldaten 78 

Frieden 84 

Statistik  der  Sterblichkeit 86 

Die  Regierungskommission 91 

Die  Arbeit  ruhen  lassen 95 

175 


Die  furchtbaren  Ziffern 100 

Sidney  Herbert  stirbt 103 

Die  Pflegerinnenschule  wird  eröffnet 109 

Meditationen III 

Sechzig  von  tausend 115 

«  Randbemerkungen  von  Fräulein  Nightingale  » 116 

Um  Indien 119 

Und  die  Soldaten  ? 121 

Auf  hoher  Warte 124 

Giuseppe  Garibaldi 125 

Agnes  Jones 127 

Indien,   Indien  und  nochmals  Indien 132 

Das  neue   Indien-Amt 134 

Erholung  in  Lea  Hurst 135 

Unermüdlich 137 

Rotes  Kreuz 143 

Die  Stimmen 146 

Die  Zöglinge  der  Schule  von  St.  Thomas 151 

Das  hungernde  Indien 153 

Allein 156 

Auf  ihre  eigene  Weise 158 

Vor  der  Abreise 164 

Immerdar  Deine  Magd 165 

Pflege  für  Kranke  und  Gesunde 168 

Und  Florence  beginnt  von  neuem 169 

Ausklang 172 


176