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W. WORRINGER
FORMPROBLEME DER GOTIK
FORMPROBLEME
DER GOTIK
VON
DR. WILHELM WORRINGER
MIT 25 TAFELN
ZWEITE AUFLAGE
MUENCHEN 1912
R. PIPER & CO., VERLAG
Von demselben Verfasser erschienen im gleichen Verlag:
ABSTRAKTION UND EINFÜHLUNG. Dritte, um einen
Anhang vermehrte Auflage.
LUKAS CRANACH. Mit 63 Abbildungen. (Klassische
Illustratoren. Dritter Band.)
ALTDEUTSCHE BUCHILLUSTRATION Mit 105 Ab-
bildungen. (Klassische Illustratoren. Neunter Band.)
63/0
DEM ANDENKEN
AN
DR. KURT BERTELS
INHALT
Vorwort. ^^''^
Einleitung ^
Aesthetik und Kunsttheorie 5
Kunstwissenschaft als Menschheitspsychologie lo
Der primitive Mensch 12
Der klassische Mensch iQ
Der orientahsche Mensch 24
Die geheime Gotik der frühen nordischen Ornamentik .... 27
Die unendhche Melodie der nordischen Linie 36
Von der Tierornamentik bis zu Holbein 3^
Transzendentalismus der gotischen Ausdruckswelt 48
Nordische Rehgiosität 54
Der Baugedanke der Klassik • 59
Der Baugedanke der Gotik 67
Schicksale des gotischen Form willens 7}>
Romanischer Stil ^^
Beginnende Emanzipation vom klassischen Baugedanken ... 87
Vollendete Emanzipation in der reinen Gotik 95
Innerer Aufbau der Kathedrale 9^
Aeusserer Aufbau der Kathedrale 108
Psychologie der Scholastik Ii4
Psychologie der Mystik i^S
Individuum und Persönlichkeit 123
VERZEICHNIS DER ABBILDUNGEN
Seite
Ornamentaler Tierkopf, Holzschnitzerei. IV. Jahrh. . . . vor 5
Vogelomament aus einem Codex der Klosterbibliothek
St. Gallen
Altnordisches Bronzebeschläge mit Tierornament ....
Nordische Fibel mit Tierornament
Südgermanisches Bronzebeschläge mit Tierornament . . .
Südgermanisches Schnallenbeschläge mit Tierornament . .
Irische Handschriften-Ornamentik. VIII. Jahrhundert. .
Doppelsäulenkapitäl. Abtei De la Daurade in Toulouse .
Reichverzierte Säule. Abteikirche von Coulombs ....
Quirinkirche zu Neuss
Kathedrale zu Reims
Münster zu Ulm
Fassade der Kathedrale zu Rouen
Portalkrönung. Kathedrale zu Reims .
Strebebogen. Dom zu Cöln
Ruinen der Abtei zu Jumieges
Mittelschiff des Domes zu Cöln
Aus der Lorenzkirche zu Nürnberg
Gewölbe vom Chor der Liebfrauenkirche zu Trier ....
Inneres der Georgskirche zu Dinkelsbühl
Grosser Remter. Schloss zu Marienburg
Tympanonskulpturen. Vezelay
Die Apostel. Dom zu Bamberg
Gesims mit Löwe und Auferstehung. Dom zu Freiberg i. S.
Dachskulpturen. Kathedrale zu Amiens
Der Apostel Petrus. St. Pierre zu Moissac
Apostelkopf von Tilman Riemenschneider
Verkündigung. Kölner Schule
Madonna von Martin Schongauer
5
5
IG
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10
15
20
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90
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100
105
:io
"5
120
125
VORWORT
ZUR ERSTEN AUFLAGE
Die vorliegende stilpsychologische Untersuchung knüpft,
was ihre Grundanschauungen angeht, an die frühere Arbeit
„Abstraktion und Einfühlung" an, die gleichzeitig in dem-
selben Verlag in 3. Auflage erscheint. Wer sich also über
die Voraussetzungen orientieren will, die zu der in den
,, Formproblemen der Gotik" angewandten Methode ge-
führt haben, der sei auf jene grundlegenden Untersuchungen
hingewiesen.
Im übrigen denke ich, dass mein Buch auch ohne diese
Vorarbeit lesbar und verständlich sein wird, zumal ich mich
bemüht habe, jene als Voraussetzung dienenden Grund-
gedanken im Laufe der neuen Darlegungen in konzentrierter
Form zu wiederholen.
Die Abbildungen, die der Verlag in dankenswerter
Weise dem Buche beigegeben hat, erheben in keiner Weise
den Anspruch, exakte wissenschaftliche Belege der Text-
ausführungen zu sein, sie wollen vielmehr in erster Linie als
den Text begleitende Stimmungsakkorde aufgefasst sein.
Das Imponderabile an ihnen hat darum auch die Auswahl
bestimmt.
Damit soll aber nicht gesagt sein, dass sie in wissen-
schaftlicher Hinsicht überflüssig seien: ich hoffe vielmehr,
dass man diese illustrativen Beigaben nach der Lektüre
des Textes mit einem ganz anderen Verstehen würdigen
wird als vorher. Das ist sogar die eigentliche Probe auf mein
Exempel.
Bern, im Herbst 1910.
Der Verfasser.
VORWORT
ZUR ZWEITEN UND DRITTEN AUFLAGE
Die zweite und dritte Auflage bringen den unveränderten
Abdruck der ersten, ohne dass dieser damit ein Vollkommen-
heitszeugnis ausgestellt sein soll. Aber Bücher dieser Art,
die einheitlich konzipiert und durchgeführt sind, lassen
kein nachträgliches Flickwerk zu.
Doch soll es hier im Vorworte wenigstens ergänzend
gesagt sein, dass die Nichtberücksichtigung der orientalischen
resp. byzantinischen Frage für das nordische Mittelalter
nicht etwa eine Ablehnung dieser orientalischen Beein-
flussungstheorien bedeuten soll. Nur die Erwägung, dass es
einer komplizierten und darum ablenkenden Spezialunter-
suchung bedürfe, um dieses historische Problem auch zu
einem stilpsychologischen zu machen, liess mich von dieser
Aufgabe vorläufig abstehen. Dass, ganz allgemein gesprochen,
die notwendigen psychologischen Bedingungen vorliegen, um
dem gotischen Menschen byzantinisches Kunstwollen wahl-
verwandt erscheinen zu lassen, steht eigentlich schon zwischen
den Zeilen meines Buches. Und dass dieses Wahlverwandt-
schaftsgefühl im Kunstwollen das Primäre und die historische
Beeinflussung nur eine äussere Konsequenz davon ist, ergibt
sich ja aus meiner ganzen Auffassung. Darum mag man
sich mit der Feststellung der Resonanzmöglichkeit begnügen
und die Darstellung des genaueren Prozesses der gotisch-
byzantiiüschen Tonbildung einer späteren Spezialunter-
suchung des Verfassers überlassen.
Bern, Mai 1912.
Der Verfasser.
EINLEITUNG
Tjas heisse Bemühen des Historikers, aus dem Material
^-^^ der überlieferten Tatsachen Geist und Seele ver-
gangener Zeiten zu rekonstruieren, bleibt im letzten Grunde
ein Versuch mit untauglichen Mitteln. Denn der Träger
der historischen Erkenntnis bleibt unser Ich in seiner
zeitlichen Bedingtheit und Beschränktheit, ob wir es auch
noch so sehr auf eine scheinbare Objektivität zurückzu-
schrauben versuchen. Uns von unseren eignen zeitlichen
Voraussetzimgen in dem Masse frei zu machen und uns die " J
inneren Voraussetzungen der Vergangenheitsepochen in dem
Masse zu eigen zu machen, dass wir wirklich mit ihrem Geiste *"* ' " -
denken und mit ihrer Seele empfinden, das wird uns nie
gelingen. Wir bleiben vielmehr mit unserem historischen
Auffassungs- und Erkenntnisvermögen eng eingeschlossen
in den Grenzen unserer durch zeitliche Umstände bestimmten - #
inneren Struktur. Und je einsichtsvoller, je feinfühliger ein "^ ' ' ^
Geschichtsforscher ist, um so stärker leidet er in immer sich p*«*»«^ /^,
erneuernden Anfällen lähmender Resignation an der Er- *^l:^\ ;j'c
kenntnis, dass es das upöiov ^^süSos aller Historie ist, dass ^ '
wir die vergangenen Dinge nicht von ihren, sondern von "^ ''^
unseren Voraussetzungen aus auffassen und werten. ' ''" '
Den Vertretern des naiven historischen Realismus sind
diese Zweifel fremd. Sie machen skrupellos die relativen
Voraussetzungen ihrer jeweiligen Menschlichkeit zu abso-
luten Voraussetzungen aller Zeiten und leiten so gleichsam
aus der Beschränktheit ihres historischen Erkenntnisapparates
heraus das Recht auf konsequente Geschichtsfälschung ab.
,,Jene naiven Historiker nennen ,, Objektivität" das Messen
vergangener Meinungen und Taten an den Allerwelts-
meinungen des Augenblicks: hier finden sie den Kanon aller
Wahrheiten; ihre Arbeit ist, die Vergangenheit der zeit-
't "*-
EINLEITUNG
gemässen Trivialität anzupassen. Dagegen nennen sie jede
Geschichtsschreibung „subjektiv", die jene Popularmeinungen
nicht als kanonisch nimmt." (Nietzsche.)
Sobald der Historiker über die blosse Eruierung und
Fixierung der historischen Fakten hinaus zu einer Inter-
pretierung dieser Fakten strebt, kommt er mit blosser
Empirie und Induktion nicht mehr aus. Hier muss er sich
seinen divinatorischen Fähigkeiten überlassen. Sein Arbeits-
prozess ist hier der, aus dem vorliegenden toten historischen
Material auf die immateriellen Voraussetzungen zu schliessen,
denen es seine Entstehung verdankt. Das ist ein Schluss
ins Unbekannte, Unerkennbare hinein, für den es keine
andere Sicherheit gibt als die intuitive.
Wer aber wird sich auf dieses unkontrollierbare Gebiet
wagen, wer wird den Mut haben, das Recht auf Hypothesen,
auf Spekulation zu proklamieren. Jeder, der an der Dürftig-
keit des historischen Realismus gelitten; jeder, der die
Bitterkeit des Entweder-Oder empfunden hat: sich bei einer
Sicherheit zu beruhigen, die sich als die Sicherheit der Ob-
jektivität geriert und die in Wirklichkeit nur durch einseitige
subjektive Vergewaltigung objektiver Tatbestände zu er-
reichen ist, oder unter Aufgabe dieser vorgeblichen Sicherheit
sich verachteter Spekulationen schuldig zu machen, die ihm
wenigstens das gute Gewissen geben, sich aus den Geleisen
der angeborenen relativen Vorstellungen nach Menschen-
möglichkeit entfernt und das Mass seiner zeitlichen Be-
schränktheit bis auf einen untilgbaren Rest herabgeschraubt
zu haben. Er wird unter dem Zwange dieses Entweder-Oder
die bewusste Unsicherheit der intuitiv geleiteten Spekulation
dem unsicheren Bewusstsein der angeblich objektiven Methode
vorziehen.
Hypothesen sind natürlich nicht gleichbedeutend mit
willkürlichen Phantastereien. Vielmehr sind hier mit Hypo-
thesen nur jene grosszügigen Experimente des Erkenntnis-
triebes gemeint, der in das Dunkel von Fakten, die von
unseren Voraussetzungen aus nicht mehr zu verstehen sind,
nur so vorzudringen vermag, dass er vorsichtig ein Liniennetz
der Möglichkeiten konstruiert, dessen gröbste Orientierungs-
punkte durch die direkten Gegenpole unserer Voraussetzungen
geschaffen werden. Da er weiss, dass alle Erkenntnis nur
EINLEITUNG
mittelbar ist — an das zeitlich bedingte Ich gebunden — , so
gibt es für ihn keine andere Möglichkeit, seine historische
Erkenntnisfähigkeit auszuweiten, als dass er sein Ich aus-
weitet. Eine solche Erweiterung der Erkenntnisfläche ist
nun faktisch nicht möglich, sondern nur durch eine ideelle
Hilfskonstruktion, die rein antithetisch angelegt wird. In
den unendlichen Raum der Geschichte hinein bauen wir
von dem festen Standpunkt unseres positiven Ichs aus eine
erweiterte Erkenntnisfläche durch ideelle Verdoppelung
unseres Ichs um seinen Gegensatz. Denn alle Möglichkeiten
der historischen Erfassung liegen immer nur auf dieser
Kugelfläche, die sich zwischen unserem positiven, zeitlich
beschränkten Ich und seinem uns nur durch ideelle Kon-
struktion zugänglichen Gegenpol, dem direkten Kontrast
zu unserem Ich, ausspannt. Die Inanspruchnahme einer
derartigen ideellen Hilfskonstruktion als heuristischen Prin-
zips ist die nächstliegende Ueberwindungsmöglichkeit des
historischen Realismus und seiner anspruchsvollen Kurz-
sichtigkeit. Mögen die Resultate auch nur hypothetischen
Charakter tragen.
Mit diesen Hypothesen kommen wir der absoluten Ob-
jektivität der Historie, deren Erkenntnis uns vorenthalten
ist, näher als der kurzsichtige Realismus. Wir umkreisen jene
absolute Objektivität damit in den grössten Kurven, die
unserem Ich möglich sind, und gewinnen die grösste Blick-
weite, die uns zugänglich ist. Nur solche Hypothesen können
uns die Genugtuung geben, dass sich die Zeiten nicht mehr
allein in dem kleinen Spiegel unseres positiven zeitlich be-
schränkten Ichs spiegeln, sondern in dem grösseren Spiegel,
der um das ganze Jenseits unseres positiven Ichs kon-
struktioneil erweitert ist. Die Verzerrung der historischen
Spiegelung wird durch solche Hypothesen jedenfalls um ein
Beträchtliches reduziert, wenn es sich auch nur um eine
blosse Wahrscheinlichkeitsrechnung handelt.
Diese Hypothesen bedeuten, um es zu wiederholen, keine
Versündigung an der absoluten geschichtlichen Objektivität,
d. h. an der geschichtlichen Wirklichkeit, denn deren Er-
kenntnis ist uns ja verschlossen und die Frage nach ihr ist
mit demselben Rechte eine Grille zu nennen, mit dem Kant
die Frage nach der Existenz und Beschaffenheit des ,,Ding
EINLEITUNG
an sich" als eine blosse Grille kennzeichnete. Die historische
Wahrheit, die wir suchen, ist etwas ganz anderes als die
historische Wirklichkeit. ,,Die Geschichte kann keine Kopie
der Ereignisse, ,,wie sie wirklich waren", sein, sondern
nur eine Umgestaltung der gelebten Wirklichkeit, abhängig
von den konstruktiven Zwecken des Erkennens und von
den apriorischen Kategorien, die diese Erkenntnisart nicht
weniger als die naturwissenschaftliche ihrer Form, d. h.
ihrem Wesen nach zu einem Produkte unserer synthetischen
Energien macht." (Simmel.)
Die Problematik der sogenannten objektiven Geschichts-
betrachtung kommt uns dort am empfindlichsten zum Be-
wusstsein, wo es sich um historische Erscheinungskomplexe
handelt, die vornehmlich von psychischen Kräften geformt
worden sind. Mit anderen Worten: die Geschichte der Re-
ligiosität und der Kunst leiden am stärksten unter der Unzu-
länglichkeit unseres historischen Erkenntnisvermögens. Diesen
Erscheinungen gegenüber wird die Ohnmacht des reinen
Realismus am offenkundigsten. Denn hier unterbinden wir
uns alle Erkenntnismöglichkeiten, wenn wir die Erscheinungen
nur von unseren Voraussetzungen aus zu verstehen und zu
werten versuchen. Hier müssen wir vielmehr bei jedem
Faktum das Vorhandensein psychischer Voraussetzungen
in Rechnung stellen, die nicht die unsrigen sind und denen
wir ohne jede Sicherheit der Bestätigung nur auf dem Wege
vorsichtiger Vermutung nahekommen können. Die angeblich
objektive Geschichtsmethode identifiziert die Voraussetzungen
vergangener Fakten mit ihren eignen Voraussetzungen: es
sind ihr also bekannte und gegebene Grössen — der intu-
itiven Geschichtsforschung dagegen sind sie das eigentliche
Objekt der Forschung und ihre approximative Erkenntnis
das einzige Ziel, das die Arbeit des Forschens lohnt.
Während der historische Realismus uns an Kenntnis
vergangener religiöser und künstlerischer Phänomene nur
eine allerdings sehr tiefgehende Kenntnis ihrer äusseren
Erscheinungsformen gegeben hat, strebt die andere weniger
selbstgenügsame Methode nach einer lebendigen Inter-
pretation dieser Phänomene, und nur zu diesem Zwecke
spannt sie all ihre synthetischen Energien an.
ORNAMENTALER TIERKOPF
Holzschnitzerei aus dem 4. Jahrhundert. Fünen, Dänemark
VOGELORNAMENT AUS DEM CODEX 51 DER KLOSTERBIBLIOTHEK
ZU ST. GALLEN
ALTNORDISCHES BRONCEBE SCHLÄGE MIT TIERORNAMENT
GOTLAND, SCHWEDEN
Nach Sahn, Die altgermanische Tierornamentik, Stockholm 1904
AESTHETIK UND KUNSTTHEORIE
AESTHETIK UND KUNSTTHEORIE
\-i s soll hier der Versuch gewagt werden, ein Verständnis
-*— ' der Gotik auf Grund ihrer eignen — uns allerdings nur
durch hypothetisch gefärbte Konstruktionen zugänglichen —
Voraussetzungen zu erreichen. Nach dem Untergrund innerer
menschheitsgeschichtlicher Beziehungen soll geforscht wer-
den, der uns die formbildenden Energien der Gotik in der
Notwendigkeit ihres Ausdrucks begreiflich macht. Denn
jedes künstlerische Phänomen ist uns so lange verschlossen,
als wir nicht die Notwendigkeit und Gesetzmässigkeit seiner
Bildung erfasst haben.
Wir müssen also den aus menschheitsgeschichtlichen
Notwendigkeiten erwachsenen Formwillen der Gotik fixieren,
jenen gotischen Form willen, der sich am kleinsten gotischen
Gewandzipfel ebenso stark und unzweideutig dokumentiert
wie an der grossen gotischen Kathedrale.
Man darf sich darüber nicht täuschen, dass die formalen
Werte der Gotik bisher ohne psychologische Deutung ge-
blieben sind. Ja, es woirde nicht einmal der entschlossene
Versuch einer positiven Würdigung gemacht. Alle An-
läufe dazu — z. B. von Taine und seinen Jüngern ausgehend
— blieben in seelischen Zergliederungen des gotischen Men-
schen und einer Charakterisierung der allgemeinen kultur-
geschichtlichen Stimmung stecken, ohne dass der Versuch
gemacht wurde, den gesetzmässigen Zusammenhang zwischen
diesen Momenten und der äusseren Erscheinungsform der
Gotik klarzulegen. Und damit beginnt doch erst die eigent-
liche Stilpsychologie, dass die formalen Werte als präziser
Ausdruck der inneren Werte also verständlich gemacht
werden, dass jeder Dualismus von Form und Inhalt ver-
schwindet.
Die Welt der klassischen und der in ihr verankerten
neueren Kunst hat längst eine solche Kodifizierung der Ge-
setzlichkeit ihrer Bildungen gefunden : 'denn was wir wissen-
schaftliche Aesthetik nennen, ist im Grunde nichts anderes als
eine solche stilpsychologische Interpretation des klassischen
Stilphänomens. ) Als Voraussetzung dieses klassischen Kunst-
phänomens wird nämlich jener Schönheitsbegriff angesehen,
AESTHETIK UND KUNSTTHEORIE
um dessen Fixierung und Definition sich die Aesthetik trotz
der Verschiedenheit ihrer Beti achtungsweisen einzig und
allein bemüht. Dadurch aber, dass die Aesthetik ihre Re-
sultate auf den Gesamtkomplex der Kunst ausdehnt und
auch solche Kunsttatsachen verständlich gemacht zu haben
glaubt, denen ganz andere Voraussetzungen innewohnen als
jener Schönheitsbegriff, wird ihr Nutzen zum Schaden, wird
ihre Herrschaft zur unerträglichen Usurpation. Entschiedene
Trennung von Aesthetik und objektiver Kunsttheorie ist
deshalb die vitalste Lebensforderung ernster kunstwissen-
schaftlicher Forschung. Es war Konrad Fiedlers eigentliche
Lebensaufgabe, diese Forderung zu begründen und zu ver-
treten, aber die Gewöhnung an die seit Aristoteles durch
die Jahrhunderte fortwuchernde unberechtigte Identifikation
von Kunstlehre und Aesthetik war stärker als Fiedlers klare
Argumentation. Er sprach ins Leere.
Den Machtanspruch der Aesthetik auf Deutung nicht-
klassischer Kunstkomplexe gilt es also zurückzuweisen. Denn
all unsere historische Kunstforschung und Kunstwertung
wird von dieser Einseitigkeit der Aesthetik gefärbt. Wo wir
künstlerischen Tatsachen gegenüber mit unserer Aesthetik
und unserer ihr parallel gehenden Vorstellung von der Kunst
als eines Drängens zur Darstellung des Lebendig- Schönen
und Natürlichen nicht auskommen, da werten wir nur ne-
gativ, sei es, dass wir alles Fremdartige und Unnatürliche
als das Resultat eines noch nicht zulänglichen Könnens ab-
urteilen oder dass wir uns — wo die erste Interpretations-
möglichkeit ausgeschlossen ist — mit der fragwürdigen Be-
zeichnung ,, Stilisierung" helfen, die mit ihrer positiven
Wortfärbung den Tatbestand der negativen Wertung so
angenehm verschleiert.
Dass die Aesthetik diesen Machtanspruch auf Allgemein-
gültigkeit gewinnen konnte, das ist die Folge eines tief ein-
gewurzelten Irrtums über das Wesen der Kunst überhaupt.
Dieser Irrtum drückt sich in der durch "viele Jahrhunderte
sanktionierten Annahme aus, dass die Geschichte der Kunst
eine Geschichte des künstlerischen Könnens darstelle und
dass das selbstverständliche, gleichbleibende Ziel dieses
Könnens die künstlerische Reproduktion und Wiedergabe
der natürlichen Vorbilder sei. Die wachsende Lebenswahrheit
AESTHETIK UND KUNSTTHEORIE
und Natürlichkeit des Dargestellten wurde auf diese Weise
ohne weiteres als künstlerischer Fortschritt ge wertet. Die
Frage nach dem künstlerischen Wollen wurde nie aufge-
worfen, da dieses Wollen ja festgelegt und undiskutierbar
schien. Nur das Können wurde zum Problem der Wertung,
nie das Wollen.
Man glaubte also wirklich, die Menschheit habe Jahr-
tausende nötig gehabt, um richtig, d. h. naturwahr zeichnen
zu können, glaubte wirklich, dass die künstlerische Pro-
duktion ihre jeweilige Gestaltung nur durch ein Plus oder
Minus von Können erhalte. An der so naheliegenden und
durch zahlreiche kunsthistorische Situationen dem Forscher
geradezu aufgezwungenen Erkenntnis ging man vorüber,
dass dieses Können nur ein sekundäres Moment sei, das
seine eigentliche Bestimmung und Regulierung durch den
höheren und allein massgebenden Faktor des Wollens erhalte, ^^.r^'
Die neuere Kunstforschung aber kann sich, wie gesagt,
dieser Erkenntnis nicht mehr entziehen. Ihr muss als Axiom
gelten, dass man alles konnte, was man wollte und
dass man nur das nicht konnte, was nicht in der Richtung
des Wollens lag. Das Wollen, das vorher undiskutierbar war,
wird ihr also zum eigentlichen Forschungsproblem und das
Können scheidet als Wertkriterium gänzlich aus. Denn die
feinen Unterschiede zwischen Wollen und Können, die in
der Kunstproduktion vergangener Zeiten wirklich vorliegen,
können wir als verschwindend kleine Werte nicht in Rech-
nung ziehen, zumal sie von der grossen Distanz unseres
Standpunktes aus in ihrer Kleinheit nicht mehr zu erkennen
und zu kontrollieren sind. Was wir aber bei rückblickender
Kunstbetrachtung immer als Unterschied von Wollen und
Können auffassen, das ist in Wirklichkeit nur der Unter-
schied, der zwischen unserem Wollen und dem Wollen der ver-
gangenen Epoche besteht, ein Unterschied, den wir durch die
Annahme der Unveränderlichkeit des Wollens übersehen
mussten, dessen Abschätzung und Fixierung nun aber zum
eigentlichen Forschungsgegenstand der stilanalytischen Kunst-
geschichte wird.
Mit solcher Anschauung wird natürlich eine Umwertung
aller Werte auf kunstwissenschaftlichem Gebiete inauguriert,
der sich unabsehbare Möglichkeiten öffnen. Ich sage aus-
8 AESTHETIK UND KUNSTTHEORIE
drücklich „auf kunstwissenschaftlichem Gebiete", denn der
naiven Kunstbetrachtung soll und darf man nicht zumuten,
auf solchen Umwegen gewaltsamer Reflektion ihr impulsives
und unverantwortliches Gefühl für künstlerische Dinge aufs
Spiel zu setzen. Die Kunstwissenschaft aber wird durch
diese Emanzipation von der naivenAnschauung und durch diese
veränderte Stellungnahme gegenüber den Kunsttatsachen
geradezu erst möglich, insofern ihre bisher willkürliche und
subjektiv beschränkte Wertung der kunstgeschichtlichen Tat-
sachen nun erst zu einer annähernd objektiven werden kann.
Bisher war also das klassische Kunstideal als ent-
scheidendes Wertkriterium in den Mittelpunkt der Be-
trachtung gerückt und der Gesamtkomplex der vorliegenden
Kunsttatsachen diesem Gesichtspunkt untergeordnet worden.
Es ist klar, warum die klassische Kunst zu dieser Vorrang-
stellung — die sie, um es zu wiederholen, für die naive Kunst-
betrachtung immer behalten soll und muss — kam. Denn
bei der Annahme eines unveränderlichen, auf die naturwahre
Reproduktion der natürlichen Vorbilder gerichteten Wollens
mussten die verschiedenen klassischen Kunstepochen als
absolute Höhepunkte erscheinen, weil in ihnen jeder Unter-
schied zwischen diesem Wollen und dem Können überwunden
schien. In Wirklichkeit herrscht hier aber ebensowenig eine
für uns sichtbare Differenz zwischen Wollen und Können wie
in den nichtklassischen Kunstepochen, und einen besonderen
Wert erhalten die klassischen Epochen für uns nur dadurch,
dass die Grundstruktur unseres künstlerischen Wollens mit
ihrem künstlerischen Wollen übereinstimmt. Denn nicht
nur mit unserer geistigen Entwicklung, sondern auch mit
unserer künstlerischen Entwicklung sind wir Nachkommen
jener klassischen Menschheit und ihrer Bildungsideale. Wir
werden später sehen bei der näheren Charakterisierung des
klassischen Menschen, die wir vornehmen werden, um Mass-
stäbe für den gotischen Menschen zu gewinnen, in welchen
entscheidenden Grundlinien sich die seelisch-geistige Kon-
stitution des klassischen Menschen mit dem differenzierteren
Entwicklungsprodukt des modernen Menschen noch deckt.
Jedenfalls ist es klar, dass mit dieser Vorrangstellung
der klassischen Kunstepochen auch die von ihnen abstrahierte
Aesthetik zu einer Vorrangstellung kam. Da die ganze
AESTHETIK UND KUNSTTHEORIE
Kunst nur als ein Hindrängen zu klassischen Höhepunkten
hin betrachtet wurde, lag es nahe, die Aesthetik, die in
Wahrheit nur eine stilpsychologische Interpretation der
Werke dieser klassischen Epochen ist, auf den ganzen Kunst-
verlauf auszudehnen. Was auf die Fragestellungen dieser Aes-
thetik nicht antworten konnte, das wurde als unvollkommen,
also negativ ge wertet. Da man die klassischen Epochen
als absolute Höhepunkte wertete, musste auch die Aesthetik
diese absolute Bedeutung erhalten und das Resultat war
die Versubjektivierung der kunsthistorischen Betrachtungs-
methode nach dem modernen einseitigen klassisch-euro-
päischen Schema. Am meisten Htt unter dieser Einseitigkeit
das Verständnis der nichteuropäischen Kunstkomplexe. Auch
sie mass man gewohnheitsmässig nach dem europäischen
Schema, das die Forderung naturwahrer Darstellung in den
Vordergrund stellt. Die positive Würdigung dieser ausser-
europäischen Kunstkomplexe blieb das Vorrecht einiger
wenigen, die sich von dem allgemeinen europäischen Kunst-
vorurteil zu emanzipieren verstanden. Anderseits hat gerade
dieses durch den wachsenden Weltverkehr bedingte stärkere
Eindringen aussereuropäischer Kunst in das europäische
Gesichtsfeld dazu mitgewirkt, die Forderung eines objektiveren
Massstabes für den Kunstverlauf durchzusetzen und eine
Mannigfaltigkeit des WoUens da zu sehen, wo man bisher
nur eine Mannigfaltigkeit des Könnens sah.
Diese erweiterte Erkenntnis hatte natürlich auch ihre
Rückwirkung auf die Wertung des engeren europäischen
Kunstverlaufs und forderte in erster Linie auf zu einer
Rehabilitation jener nichtklassischen Epochen Europas, die
bisher nur eine relative resp. negative Wertung von der
Klassik aus erfahren hatten. Am stärksten verlangte nach
solcher Rehabilitation, d. h. nach solcher positiven Ausdeu-
tung ihrer Formgebung die Gotik, denn der ganze euro-
päische Kunstverlauf der nachantiken Zeit lässt sich ge-
radezu reduzieren auf eine konzentrierte Auseinandersetzung
zwischen Gotik und Klassik.
Was not täte, wäre also, da die bisherige Aesthetik nur
der Klassik gerecht zu werden vermag, eine Aesthetik der
Gotik, wenn man an dieser paradoxen und unzulässigen
Zusammensetzung keinen Anstoss nehmen will. Unzulässig
z
10 KUNSTWISSENSCHAFT ALS
ist diese Zusammensetzung, weil sich bei dem Ausdruck
Aesthetik gleich wieder die Vorstellung des Schönen ein-
schleicht und die Gotik mit Schönheit nichts zu tun hat.
Und es wäre nur ein Zwangsgebot unserer Wortarmut, hinter
der sich in diesem Falle allerdings auch eine sehr empfind-
liche Erkenntnisarmut verbirgt, wenn wir von einer Schönheit
der Gotik sprechen wollten. Diese angebliche Schönheit der
Gotik ist ein modernes Missverständnis. Ihre wirkliche Grösse
hat mit der uns geläufigen Kunstvorstellung, die notwendiger-
weise in dem Begriff ,, schön" gipfeln muss, so wenig zu tun,
dass eine Uebernahme dieses Wortes für gotische Werte nur
Verwirrung stiften kann.
Also schütteln wir von der Gotik auch jede Verquickung
mit dem Ausdruck Aesthetik ab. Erstreben wir nur eine
stilpsychologische Interpretation des gotischen Kunstphä-
nomens, die uns den gesetzmässigen Zusammenhang zwischen
dem Empfinden der Gotik und der äusseren Erscheinungs-
form ihrer Kunst verständlich macht, so haben wir das für
die Gotik erreicht, was die Aesthetik für die Klassik er-
reicht hat.
KUNSTV^ISSENSCHAFT ALS MENSCHHEITS-
PSYCHOLOGIE
Tndem wir die Kunstgeschichte nicht mehr als eine
-^ blosse Geschichte des künstlerischen Könnens, sondern
als eine Geschichte des künstlerischen Wollens auffassen,
gewinnt sie an allgemeiner weltgeschichtlicher 'Bedeu-
tung. Ja, ihr Gegenstand wird dadurch in eine so hohe
Betrachtungssphäre gerückt, dass er den Anschluss gewinnt
an jenes grösste Kapitel der Menschheitsgeschichte, das
die Entwicklung der religiösen und philosophischen Mensch-
heitsbildungen zum Inhalt hat und das uns die eigent-
liche Psychologie der Menschheit offenbart. Denn die Aen-
derungen des Wollens, als deren blossen Niederschlag wir
die Stilvariationen der Kunstgeschichte auffassen, können
nicht willkürlicher, zufälliger Art sein; sie müssen vielmehr
in einem gesetzmässigen Zusammenhang stehen mit den
NORDISCHE FIBEL INIIT TIERORNAMENT
SCHONEN, SCHWEDEN
SÜDGERMANISCHES BRONCEBE SCHLÄGE MIT TIERORNAMENT
TRAUNSTEIN, BAYERN
SÜDGERMANISCHES
SCHNALLENBESCHLÄGE MIT TIERORNAMENT
KANTON WALLIS, SCHWEIZ
Nach Salin, Die altgermanische Tierornamentik, Stockholm 1904
MENSCHHEITSPSYCHOLOGIE II
Aenderungen, die sich in der seelisch-geistigen Konstitution
der Menschheit überhaupt vollziehen, jenen Aenderungen, die
sich klar in der Ent\vicklungsgeschichte der Mythen, der
Religionen, der philosophischen Systeme, der Weltan-
schauungen widerspiegeln. Sobald wie diesen gesetzmässigen
Zusammenhang aufgedeckt haben, tritt die Geschichte des
künstlerischen Wollens als gleichberechtigt an die Seite der
vergleichenden Mythengeschichte, der vergleichenden Re-
ligionsgeschichte, der vergleichenden Philosophiegeschichte,
der vergleichenden Geschichte der Weltanschauungen, tritt
sie als gleichberechtigt an die Seite dieser grossen Anhalts-
punkte für die Psychologie der Menschheit überhaupt. Und
so soll denn auch diese Stilpsychologie der Gotik zu einem
Beitrag zur Geschichte der menschlichen Psyche und ihrer
Aeusserungsformen werden.
Unsere Wissenschaft von der künstlerischen Tätigkeit
des Menschen steht infolge jener Hemmung, die sie durch die
obengeschilderte einseitige klassisch-subjektive Wertung er-
fuhr, noch in den ersten Anfängen. So hat sie vor allen Dingen
noch nicht jene elementare Umwälzung und Erweiterung er-
fahren, die die Wissenschaft von der geistigen Tätigkeit des
Menschen der kantischen Erkenntniskritik verdankt. Der
grossen Akzentverschiebung des Forschens von den Gegen-
ständen des Erkennens auf das Erkennen selbst entspräche
auf kunstwissenschaftlichem Gebiet eine Methode, die alle
Kimsttatsachen nur als Formungen gewisser apriorischer
Kategorien des künstlerischen, oder, besser gesagt, des all-
gemeinen seelischen Empfindens betrachtet und der diese
formbildenden Kategorien der Seele das eigentliche Problem
der Forschung sind. Doch die weitere Ausgestaltung dieser
Methode müsste einen Glaubenssatz anerkennen, der den
Parallelismus mit der kantischen Erkenntniskritik gleich
wieder unterbricht, nämlich den Satz von der Variabilität
dieser seelischen Kategorien. Der Mensch schlechthin kann
für die Kunstgeschichte ebensowenig wie die Kunst schlecht-
hin existieren. Das sind vielmehr ideologische Vorurteile,
die eine Psychologie der Menschheit zur Sterilität verdammen
und die auch die reichen Möglichkeiten kunstwissenschaft-
lichen Erkennens hoffnungslos unterbinden würden. Konstant
ist nur der eigenthche Stoff der Menschheitsgeschichte, die
12 DER PRIMITIVE MENSCH
Summe der menschlichen Energien, unbegrenzt variabel aber
die Zusammensetzung ihrer einzelnen Faktoren und die
daraus resultierenden Erscheinungsformen.
Die Variabihtät jener seelischen Kategorien, die ihren
formalen Ausdruck in der Stilentwicklung gefunden hat,
geht in Wandlungen vor sich, deren Gesetzlichkeit von jenem
Urprozess aller menschheitsgeschichtlichen Entwicklung re-
guliert wird: der wechselvollen, schicksalsreichen Aus-
einandersetzung von Mensch und Aussenwelt. Die ununter-
brochenen Verschiebungen in diesem Verhältnis des Menschen
zu den auf ihn eindrängenden Eindrücken aus der Umwelt
bilden den Ausgangspunkt für jede Psychologie in grösserem
Stil, und kein geschichtliches, kulturelles oder künstlerisches
Phänomen ist unserem Verständnis zugänglich, bevor wir
es nicht in die Linien dieses entscheidenden Gesichtspunktes
gerückt haben.
DER PRIMITIVE MENSCH
T Tm die Stellung des gotischen Menschen gegenüber der
^-^ Aussenwelt und seine daraus resultierende seelisch-
geistige Eigenart und weiterhin die von ihr bestimmten
Formelemente seiner Kunst zu charakterisieren, bedürfen
wir einiger verlässlicher Anhaltspunkte, einiger festen Mass-
stäbe. Da die Gotik in ihrer Zusammensetzung ein äusserst
komphziertes und differenziertes Phänomen ist, können wir
Massstäbe für sie nur dadurch gewinnen, dass wir uns vorher
an einigen Grundtypen der Menschheit über die Wege der
Untersuchung orientieren. ( Grundtypen der Menschheit
nenne ich jene entwicklungsgeschichtlichen Bildungen, in
denen ein bestimmtes und relativ einfaches Verhältnis der
Menschheit zur Aussenwelt eine klare und paradigmatische
Ausprägung erhalten hat. Solche grossen Musterbeispiele
für die Menschheitsgeschichte, die uns das Verständnis der
weniger scharf ausgeprägten oder feiner nuancierten Er-
scheinungen erleichtern, sind der primitive Mensch, der
klassische Mensch und der orientalische Mensch.
DER PRIÄIITIVE MENSCH 13
Der primitive resp. der vor aller Erfahrung, vor aller
Tradition und Geschichte stehende Urmensch, dieses An-
fangsglied der Entwicklung, ist uns nur hypothetisch kon-
struierbar. Und in allerdings geringerem Masse sind auch
der klassische Mensch und der orientahsche Mensch, wie wir
ihn aufstellen, nur irreale Konstruktionen einer grosszügigen
Beweisführung, in dem Sinne, dass weitschichtige und
organisch differenzierte nuancenreiche Erscheinungskomplexe
zu idealen Typen vereinfacht resp. vergewaltigt werden.
Solche Vergewaltigung ist der geschichtlichen Analyse er-
laubt, wofern das Resultat nur als heuristisches Element an-
gesehen wird, d. h. als blosses Mittel zum Zweck, ohne An-
spruch auf Selbst wert.
Von der frühen Menschheit haben wir ein falsches Bild.
Die dichterische Gestaltimgskraft der Menschheit hat den
frühen Menschen zum Paradiesesmenschen, zum Ideal-
menschen umgestaltet, ihn zur Verkörperung eines seelischen
Postulats gemacht, der stärkere Lebenskraft innewohnt als der
ruhigen geschichtlichen Ueberlegung. Wie alle metaphysischen
und dichterischen Schöpfungen der Menschheit nur mächtige
und bewundernswerte Reaktionen des Selbsterhaltungs-
triebes auf das beengende, niederdrückende Gefühl mensch-
licher Unzulänglichkeit sind, so empfing auch das Bild vom
Urmenschen, das Bild vom verlorenen Paradies der Mensch-
heit seine lockenden Farben nur von der aus aller Gebunden-
heit im mächtigen Schwung der Phantasie sich befreienden
menschlichen Sehnsucht. Das Vorstellungsleben der Mensch-
heit ist an eine ganz primitive Gesetzlichkeit gebunden: es
lebt von der Antithese, und so setzt die Phantasie nicht nur
an das Ende, sondern auch an den Anfang der Menschheits-
geschichte einen Glückseligkeitszustand, in dem alles Dunkel
der Wirkhchkeit in leuchtende Helle übersetzt wird und
alles Unzulängliche als schönes Ereignis erscheint.
Unter dem Druck eines dumpfen Schuldbewusstseins
fasst der Mensch seine Entwicklungsgeschichte auf als einen
langsamen Prozess der Entfremdung zwischen sich und der
Aussenwelt, als einen Entfremdungsprozess, der die an-
fängliche Einheit und Vertraulichkeit in immer weiteren
Femen entschwinden lässt. In Wirklichkeit ist der Verlauf
der Entwicklung wohl der umgekehrte, und jener Einheits-
14
DER PRIMITIVE MENSCH
/
und Vertraulichkeitszustand, am Beginn der Entwicklung hat
nur dichterische, keine historische Geltung. Von dem durch
diese dichterische Annahme entstandenen Bilde des Ur-
menschen müssen wir uns emanzipieren und uns das wahre
Bild des Urmenschen mit Ausschluss aller sentimentalen
Elemente nur durch Subtraktion konstruieren. Und dürfen
nicht zurückschrecken vor dem Monstrum, das dann statt des
Paradiesesmenschen übrig bleibt.
Subtrahieren wir von der Summe unseres Vorstellungs-
besitzes die ungeheure Menge ererbter und selbsterlebter
Erfahrungen, reduzieren wir unser geistiges Vermögen auf
die wenigen Grundelemente, von denen der im Laufe der
Jahrtausende ins Unübersehbare wachsende Zins- und Zinses-
zinsertrag ausging, tragen wir den unendlich feinen Wunder-
bau ununterbrochener Entwicklungsübertragungen bis auf
seine Fundamente ab, so bleibt ein Wesen übrig, das hilflos
und zusammenhanglos wie ein verwunschenes Tier der
Aussenwelt gegenübersteht, das nur wechselnde und unzu-
verlässige Augenbilder von der Erscheinungswelt emp-
fängt und erst langsam an der Hand wachsender und sich
festigender Erfahrungen diese Augenbilder zu V o r -
Stellungsbildern umprägt und durch sie sich gleich-
sam schrittweise im Chaos der Erscheinungswelt orientiert.
Nicht als eine wachsende Entfremdung nach einem Zustand
anfänglicher inniger Vertrautheit dürfen wir den seelischen
und geistigen Entwicklungsprozess der Menschheit auffassen,
sondern als ein langsames Abflauen des Fremdheitsbewusst-
seins, als ein langsames Vertraulichwerden durch Reduktion
aller neuen Gesichtseindrücke auf frühere Erfahrungen. Am
Anfang der Entwicklung steht jedenfalls ein absoluter, durch
keine Erfahrung gemilderter Dualismus von Mensch und Um-
welt. Von der Willkür und Zusammenhanglosigkeit der Erschei-
nungen verwirrt, lebt der primitive Mensch in einem dumpfen
geistigen Furcht Verhältnis zur Aussenwelt, das erst langsam
durch die wachsende geistige Auseinandersetzung mit ihr
gelockert wurde, das aber trotz dieser Lockerung nie ganz
verschwand, denn der Bodensatz dieser frühsten und tiefsten
Erlebnisse verblieb dem Menschen als dumpfe Erinnerung,
als Instinkt. Denn so nennen wir die geheime Unter-
strömung unseres Wesens, die wir als die letzte Instanz unseres
IRISCHE HANDSCHRIFTEX-ORXAMEXTIK. VIII. JAIIRII.
AUS EINEM EVANGELIAR IN ST. GALLEN
DER PRIMITIVE MENSCH 15
Empfindens, als die grosse irrationelle Unterschicht unter dem
Oberflächentrug der Sinne und des Intellekts in uns spüren und
zu der wir in den Stunden der grössten und schmerzlichsten
Einsicht hinabsteigen, so wie Faust zu den Müttern hinabstieg.
Und dieses Instinktes wesentlicherlnhalt ist das Wissen von der
Beschränktheit menschlicher Erkenntnis, das Wissen von der
aller intellektuellen Erkenntnis spottenden Unergründlichkeit
der Erscheinungswelt. In diesen Tiefen unseres seelischen
Bewusstseins schlummert noch das Gefühl des unüberbrück-
baren Dualismus des Seins, vor dem aller Trugbau der Erfah-
rungen und aller anthropozentrischer Wahn in nichts zerfällt.
Aus dem Furchtverhältnis, in dem der Mensch zur Er-
scheinungswelt steht, muss ihm als stärkstes geistiges und
seelisches Bedürfnis entspringen der Drang nach Notwendig-
keitswerten, die ihn von dem chaotischen Wirrwarr der
geistigen und der Gesichtseindrücke erlösen. Die unüber-
sehbare Relativität der Erscheinungswelt muss er also in
unwandelbare absolute Werte umzuprägen suchen. Aus
diesem Bedürfnis heraus entstehen Sprache und Kunst, ent-
steht vor allem auch die Religiosität des primitiven Menschen.
Dem absoluten Dualismus von Mensch und Welt entspricht
natürlich auch ein absoluter Dualismus von Gott und Welt.
Die Vorstellung einer Immanenz Gottes in der Welt kann in
dieser scheuen, von unbekannten Mächten bestürmten Seele
noch keinen Platz finden. Die Gottheit wird als etwas absolut
Ueberweltliches aufgefasst, als eine dunkle Macht hinter den
Dingen, die man auf alle Weise beschwören und sich günstig
stimmen, vor der man sich vor allen Dingen auf jede erdenk-
liche Weise sichern und schützen muss. Unter dem Druck
dieser starken metaphysischen Verängstigung überlädt der
primitive Mensch sein ganzes Tun und Handeln mit reli-
giösen Beziehungen. Bei jedem Schritt klammert er sich
gleichsam an religiöse Schutzmassregeln fest, sucht sich und
alles, was ihm lieb und wertvoll ist, durch geheime Be-
schwörung taub zu machen, um es auf diese Weise der Willkür
der göttlichen Mächte — denn so personifiziert er das unzu-
verlässige, jedes Ruhe- und Sicherheitsgefühl ihm vorent-
haltende Chaos der Gesichtseindrücke — zu entreissen.
Ein Ausfluss dieses geheimen Beschwörungsdienstes ist
auch seine Kunst, indem auch sie die Willkür der Erschei-
l6 DER PRIMITIVE MENSCH
nungswelt durch anschauliche Notwendigkeitswerte zurückzu-
dämmen sucht. Der primitive Mensch schafft sich in freier see-
hscher Tätigkeit Symbole des Notwendigen in geometrischen
oder stereometrischen Gebilden. Vom Leben verwirrt und ge-
ängstigt, sucht er das Leblose, weil aus ihm die Unruhe des
Werdens eliminiert und eine dauernde Festigkeit geschaffen
ist. Künstlerisch schaffen heisst für ihn, dem Leben und
seiner Willkür ausweichen, heisst ein festes Jenseits der Er-
scheinung anschaulich zu fixieren, in dem ihre Willkür und
Wandelbarkeit überwunden ist. Von der starren Linie in
ihrer lebensfremden abstrakten Wesenheit geht er aus. Ihren
ausdruckslosen, d. h. von jeder Lebensvorstellung freien
Selbstwert empfindet er dunkel als den Teil einer allem
Lebendigen übergeordneten anorganischen Gesetzmässigkeit.
Sie schafft ihm, der von der Willkür des Lebendigen und
deshalb Wechselnden gequält ist, Beruhigung und Be-
friedigung, weil sie der einzige ihm erreichbare anschau-
liche Ausdruck des Unlebendigen, des Absoluten ist. Er
geht den weiteren geometrischen Möglichkeiten der Linie
nach, schafft Dreiecke, Quadrate, Kreise, reiht Gleichheiten
aneinander, entdeckt den Gewinn der Regelmässigkeit, kurz,
schafft eine primitive Ornamentik, die ihm nicht blosse
Schmuckfreude und Spiel, sondern eine Tafel symbolischer
Notwendigkeitswerte und deshalb Beschwichtigung starker
seelischer Notzustände ist. Die Beschwörungskraft, die nach
seiner ganz folgerichtigen Auffassung diesen klaren, bleiben-
den, notwendigen Liniensymbolen innewohnt, nutzt er
dadurch aus, dass er alles, was ihm wert ist, mit diesen be-
schwörenden Zeichen bedeckt; ja in erster Linie sich selbst
sucht er durch ornamentale Tätowierung tabu zu machen.
Die primitive Ornamentik ist Beschwörung des von der
fortschreitenden geistigen Orientierung noch nicht gemil-
derten Grauens vor der zusammenhanglosen Umwelt, und es
ist klar, dass der fortschreitenden geistigen Orientierung ein
Abflauen dieses starren abstrakten Charakters der Kunst,
dieses Beschwörungscharakters der Kunst parallel läuft. Da
mit den klassischen Epochen die Höhe dieses geistigen
Orientierungsvermögens erklommen, da mit ihnen aus dem
Chaos ein Kosmos geworden ist, so ist es weiterhin klar,
dass die Kunst auf dieser Stufe der menschheitsgeschicht-
DER PRIMITIVE MENSCH 17
liehen Entwicklung von dem Beschwörungscharakter gänzlich
entbunden ist und sich nun rückhaltlos dem Leben und seiner
organischen Fülle zuwenden kann. Der Transzenden-
talismus der Kunst, der direkte religiöse Charakter ihrer
Werte hat damit ein Ende erreicht. Sie wird zu einer idealen
Steigerung des Lebens, wo sie vorher Beschwörung und
Negation des Lebens war.
Doch wir wollen der Analyse des klassischen Welt- und
Kunstempfindens nicht vorgreifen und zvun primitiven
Menschen und seiner Kunst zurückkehren. Nachdem er sich
mit seiner linearen geometrischen Ornamentik gleichsam
eine Basis von Notwendigkeitswerten geschaffen hat, sucht
er die ihn quälende Willkür der Erscheinungswelt noch
weiterhin einzudämmen, indem er die einzelnen Gegenstände
und Eindrücke der Aussen weit, die für ihn besonderen Sinn
und Wert haben, und die für ihn im Wechselspiel unzuver-
lässiger Gesichtseindrücke fluktuieren und entrinnen, für
seine Anschauung zu fixieren sucht. Auch von ihnen sucht
er sich Notwendigkeitssymbole zu schaffen. An die Analogie
der Sprachbildung braucht nur erinnert zu werden.
Er reisst also die einzelnen Gegenstände der Aussenwelt,
deren er durch anschauliche Fixierung habhaft zu werden
sucht, aus dem ununterbrochenen Fluss des Geschehens
heraus, befreit sie von ihrem störenden Nebeneinander, von
ihrem Verlorensein im Räume, reduziert ihre wechselnden
Erscheinungsweisen auf die entscheidenden und wieder-
kehrenden Merkmale, übersetzt diese Merkmale in seine
abstrakte Liniensprache, assimiliert sie seiner Ornamentik
und macht sie auf diese Weise absolut und notwendig. Er
schafft sich künstlerische, d. h. anschauliche Gegenbilder zu
den Vorstellungsbildem seines Geistes, die er in seinen Sprach-
formen niedergelegt hat und die ja auch langsam geformte
Reduktionen und Verarbeitungen sinnlicher Wahrnehmung
sind und der FüUe der Erscheinungen gegenüber denselben
stenographischen, abstrakten und notwendigen Charakter
haben.
Die künstlerische Reduktion der Aussenwelterschei-
nungen ist für den primitiven Menschen also an der un-
körperhchen ausdruckslosen Linie und in weiterer Verfolgung
ihrer Tendenz an die Fläche gebunden. Denn die Fläche ist
l8 DER PRIMITIVE MENSCH
das gegebene Korrelat der Linie, und nur in der Fläche liegen
die Möglichkeiten für die geschlossene anschauliche Fixierung
eines Vorstellungsbildes. Die dritte Dimension, die Tiefen-
dimension, macht die eigenthche Körperlichkeit des Gegen-
standes aus. Sie ist es, die der einheitlichen, geschlossenen
Erfassung und Fixierung des Gegenstandes den stärksten
Widerstand entgegensetzt. Denn sie bezieht ihn in den
Raum und damit in den grenzenlosen Relativismus der Er-
scheinungswelt ein. Unterdrückung der körperlichen Räum-
lichkeit durch Uebersetzung der Tiefendimensionen in
Flächendimensionen musste also das nächste Ziel jenes
Dranges sein, der das Relative und im Ramn Fluktuierende
der Erscheinungswelt in absolute und bleibende Formen
umzuprägen suchte. Nur in der Flächendarstellung besass
der Mensch der frühsten Entwicklung ein Notwendigkeits-
symbol für das ihm durch die Dreidimensionalität der Wirk-
hchkeit vorenthaltene absolute, d. h. von aller Zufälligkeit
der Wahrnehmung und aller räumlichen Verquickung mit
anderen Erscheinungen gereinigte Formbild des einzelnen
Aussenweltobjektes.
Nur wo der primitive Mensch in der Fläche zeichnete
oder ritzte, war er künstlerisch tätig. Wenn er daneben in
Ton oder anderem Material plastisch modellierte, so war das
nur ein Ausfluss spielerischen Nachahmungstriebes, der nicht
in die Geschichte der Kunst, sondern in die Geschichte
/ manueller Geschicklichkeit hineingehört. Nachahmungs-
trieb und künstlerischer Schaffenstrieb, die hier in ihrem
Wesen ganz getrennt sind, laufen erst in einer viel späteren
Periode der Entwicklung zusammen, nämlich zu der Zeit,
als die Kunst, von keiner Transzendenz mehr gehemmt, sich
ganz dem Natürlichen zuwandte. Und so nah dem Natür-
lichen das Wirkliche steht — ohne mit ihm identisch zu
sein — , so nah traten sich da auch Nachahmungstrieb und
Kunsttrieb, und die Gefahr der Verwechslung war fast un-
vermeidlich.
Trotz der alleinigen Eignung der Flächendarstellung für
die oben analysierte Kunstabsicht des primitiven Menschen
war die plastische Darstellung nicht ganz der künstlerischen
Verwendung unzugänglich. Wo er dem Ewigkeitscharakter
des steinernen Materials zuliebe sich plastisch betätigte, da
DER KLASSISCHE MENSCH 19
suchte er durch möglichst vereinfachende unzweideutige De-
monstration des Flächenzusammenhangs, durch möglichste
Wahrung der kubischen Geschlossenheit — durch geringe
Licht- und Schattenwirkungen, d, h. durch eine alle räum-
lichen, unfassbaren, zufälligen Momente ausschliessende
Modellierung — die Unklarheit, die das kubische Gebilde
der einheitlichen Wahrnehmung bietet, zu überwinden. An-
näherung an die abstrakten kubischen Elementarformen war
das Resultat dieser jeder Lebensannäherung ausweichenden
Stilabsicht. So rückte die künstlerische Darstellung des
Organisch-Lebendigen auch innerhalb der Plastik wieder in
das höhere Bereich einer abstrakten toten Gesetzmässigkeit,
wurde statt Abbild eines Bedingten das Symbol eines Unbe-
dingten, Notwendigen. Doch es kann für diese höchste und
komplizierteste Aufgabe des künstlerischen Abstrciktions-
triebes der primitive Mensch kaum als Beispiel herangeholt
werden, erst die orientalische Kunst, vor allem die ägyptische,
brachte hier die grossen Entscheidungen. Doch davon später.
DER KLASSISCHE MENSCH
Tjie Auseinandersetzung zwischen Mensch und Aussen-
^-^ weit spielt sich natürUch einzig im Menschen ab und
ist nichts anderes, als die sich in ihm vollziehende Aus-
einandersetzung von Instinkt und Verstand. Beim Menschen
der frühsten Entwicklung ist der Instinkt noch alles, der
Verstand nichts. Auf Grund seines wachsenden Erfahrungs-
und Vorstellungsbesitzes aber orientiert sich der Mensch
immer umfassender im Weltbilde und allmählich löst sich
das Chaos der Sinneneindrücke in eine Ordnung sinnvollen
Geschehens auf. Das Chaos wird zum Kosmos. Mit dieser
wachsenden geistigen Eroberung des Weltbildes schwindet
naturgemäss das Gefühl für die aller Erkenntnis spottende
Relativität der Erscheinungswelt, die Furcht des Instinkts
wird durch äussere Erkenntnis beschwichtigt und flaut
langsam ab, und während das menschliche Selbstbewusstsein
sich immer mehr anthropozentrischem Hochmut nähert, ver-
20 DER KLASSISCHE MENSCH
kümmert das Organ für den tiefen, unüberbrückbaren
Dualismus des Seins. Das Leben wird schöner, freudiger,
aber es verliert an Tiefe, Grösse und Dynamik. Denn der
Mensch hat in wachsender Erkenntnissicherheit sich zum
Mass aller Dinge gemacht, hat die Welt seiner kleinen Mensch-
lichkeit assimiliert.
Er empfindet die Welt nicht mehr als ein ihm Fremdes,
Unzugängliches, Mystisch- Grosses, sondern als die lebendige
Ergänzung seines eignen Ichs, er sieht in ihr, wie Goethe
sagt, die antwortenden Gegenbilder der eignen Empfindungen.
Die dumpfe instinktive Erkenntniskritik des primitiven Men-
schen weicht einem freudigen, selbstbewussten Erkenntnis-
glauben, und aus dem starren Furchtverhältnis der Frühzeit
wird nun ein inniges Vertraulichkeitsverhältnis zwischen
Mensch und Welt, das mannigfache bisher gehemmte Kräfte
der Seele freimacht und besonders der Kunst eine ganz
andere Funktion gibt.
An diesem Punkte des Gleichgewichts zwischen Instinkt
und Verstand steht der klassische Mensch, dessen klarstes
Paradigma der griechische Mensch ist, wie er sich über die
wirklichen Tatsachen vielleicht hinaus als Ideal in unserer
Vorstellung gebildet hat. Er ist das monumentale Muster-
'i^ beispiel für das zweite entscheidende Stadium in dem grossen
Auseinandersetzungsprozess von Mensch und Aussenwelt,
der die Weltgeschichte ausmacht.
\> Mit dem klassischen Menschen erlischt der absolute
Dualismus von Mensch und Aussenwelt, erlischt infolgedessen
auch der absolute Transzendentalismus von Religion und
Kunst. Das Göttliche wird seiner Jenseitigkeit entkleidet,
es wird verweltlicht, wird ins Diesseits einbezogen. Für den
klassischen Menschen ist das Göttliche nicht mehr ein Ausser-
weltliches, nicht mehr eine transzendentale Vorstellung,
sondern ihm ist es in der Welt enthalten, durch die Welt
verkörpert.
Mit diesem Glauben des Menschen an die unmittelbare
göttliche Immanenz in allem Geschaffenen, dieser Voraus-
setzung eines weltfreudigen Pantheismus, ist der Anthro-
pomorphisierungsprozess der Welt auf seinen Höhepunkt
gelangt. Denn e r ist es, der sich hinter dieser VergöttUchung
der Welt verbirgt. Die nun erreichte ideelle Einheit von Gott
■i
~\
DER KLASSISCHE MENSCH 21
und Welt ist nur ein anderer Name für die Einheit von
Mensch und Welt, d. h. für die restlos durchgeführte geistig-
sinnliche Eroberung des Weltbildes, die allen ursprünglichen
Dualismus verwischt.
Die Notwendigkeit und Gesetzmässigkeit, die der pri-
mitive, der werdende Mensch nur hinter den Dingen, nur
in einem Jenseits der Erscheinung, nur in der Negation des
Lebendigen suchen konnte, sie sucht der klassische Mensch
in der Welt selbst, und da Mensch und Welt nun eins, nun
ganz aneinander assimiliert sind, findet er diese Gesetz-
mässigkeit in sich selbst imd projiziert sie entschlossen auf
die Welt. Er schafft also jene Notwendigkeit und Gesetz-
mässigkeit, deren der Mensch bedarf, um sich in der Welt
sicher zu fühlen, immittelbar aus sich heraus. Das heisst
mit anderen Worten: es findet ein allmählicher Ersetzungs-
prozess der Rehgion durch die Wissenschaft resp. die Philo-
sophie statt. Denn Wissenschaft und Philosophie sind dem
klassischen Menschen identisch.
Was die Religion an souveräner Bedeutung und Kraft
verhert, das gewinnt sie an Schönheit. Sie wird, da sie
durch die Wissenschaft ersetzt ist, mehr zu einer Luxus-
funktion der seehschen Tätigkeit ohne unmittelbaren Not-
wendigkeitscharakter. Sie teilt dieses Schicksal, wie wir
später sehen werden, mit der Kunst, die durch ganz dieselben
Gründe eine Charaktermilderung erfährt.
Beim klassischen Menschen herrscht zwischen Religion
und Wissenschaft ein schönes Ergänzungs Verhältnis. Die
Götterwelt ist gleichsam ein sinnliches Korrelat zu den
geistigen Erkenntnissen. Jene dumpfe unfassbare Mystik der
primitiven Rehgiosität ist von der Wissenschaft zwar ver-
trieben worden, aber mit der klaren Plastik der griechischen
Götterwelt, wie sie sich aus dem Nebel unklarer mystischer
Vorstellungen langsam und sicher herausgebildet hatte, ver-
trägt sich die Wissenschaft nicht nur, sondern sie ergänzt sich,
wie gesagt, direkt mit ihr. Die klare Plastik der griechischen
Götterwelt ist ohne jene durch sinnlich-geistige Einsicht
errungene Sicherheit undenkbar. Sie ergänzen sich so, wie
sich Begriff und Anschauung ergänzen. Denn der Anthro-
pomorphisierung, wie sie auf dem Gebiete geistig-sinnlicher
Erkenntnis mit der Wissenschaft sich durchsetzt, ent-
22 DER KLASSISCHE MENSCH
spricht auf religiösem Gebiete jener Schaffensdrang, der sich
die Götter in menschlichen Formen bildet, der sie zu ideal ge-
steigerten Menschen macht, die nur graduell, nicht generell
vom Menschlichen unterschieden sind. Die Religion befriedigt
allmählich nur das anschauliche Bedürfnis, nicht mehr das
unmittelbare geistige Erkenntnisbedürfnis. Sie verliert also
ihren geistigen, unanschaulichen, übersinnlichen Charakter.
Und dieser religiösen Entwicklung läuft nun, wie schon
gesagt, die künstlerische Entwicklung streng parallel. Auch
die Kunst verliert ihre transzendentale übersinnliche Fär-
bung, sie wird gleich der griechischen Götterwelt zur ideali-
sierten Natürlichkeit.
Für den primitiven, geistig noch unentwickelten und
deshalb dem Chaos der Umwelt gegenüber unsicheren und
scheuen Menschen war künstlerisch Schaffen — so sahen
wir — gleichbedeutend gewesen mit dem Drang, eine über
alle wechselnde, in der Willkür des Lebens befangene, Er-
scheinung erhabene jenseitige Welt anschaulicher Werte zu
konstituieren, eine Welt absoluter und beständiger Werte.
Darum hatte er das Lebendige, Willkürliche der ewig fluk-
tuierenden Gesichtseindrücke umgeprägt in anschauliche
Notwendigkeitssymbole abstrakter Art. Nicht vom Genuss
der unmittelbaren sinnlichen Anschauung des Objekts ging
er bei seinem künstlerischen Wollen aus, sondern er schuf
gerade, um die Anschauungsqual zu überwinden, um statt
zufälliger Anschauungsbilder feste Vorstellungsbilder zu ge-
winnen. Die Kunst trug deshalb einen sachlichen, beinahe
wissenschaftlichen Charakter, sie war das Produkt eines
unmittelbaren Selbsterhaltungstriebes, nicht das freie Luxus-
produkt einer von allen elementaren Weltängsten geheilten
Menschheit.
Zu diesem schönen, feierlichen Luxusprodukt wurde sie
in den klassischen Perioden der Menschheitsentwicklung. Der
klassische Mensch kannte nicht mehr das Leiden an der
Relativität und Unklarheit der Erscheinungs weit, kannte nicht
mehr die Anschauungsqual des primitiven Menschen. Die
ordnende und vermittelnde Tätigkeit seines Geistes hatte die
Willkür der Erscheinungs weit genugsam eingedämmt, um
seiner Lebensfreude freien Spielraum zu gewinnen. Die
schaffenden Kräfte seiner Seele, von der unmittelbaren Not
DER KLASSISCHE MENSCH 23
der geistigen Selbsterhaltung entbunden, wurden frei für ein
wirklichkeitsfreudigeres Tun, wurden frei für die Kunst in
unserem Sinne, in dem Kunst und Wissenschaft absolute Ge-
gensätze sind. Wie aus der Weltfurcht Weltfrömmigkeit im
Goetheschen Sinne wurde, so wurde aus einem strengen
Abstraktionsdrang ein lebendiger Einfühlungsdrang. Mit
vollen Sinnen gibt sich der klassische Mensch der sinnlichen
Erscheinungswelt hin, um sie nach seinem Bude umzu-
prägen. Nichts Totes gibt es mehr für ihn, alles beseelt er
mit seinem Leben. Künstlerisch Schaffen heisst für ihn,
den ideellen Verschmelzungsprozess seines eignen Lebens-
gefühls mit der lebendigen Umwelt anschaulich festzuhalten ;
dem Zufall der Erscheinung weicht er nicht mehr aus, sondern
er läutert ihn nur im Sinne einer organisch-milden Gesetz-
mässigkeit, läutert ihn, mit anderen Worten, durch die
immanente Kontrapunktik seines eignen, ihm zu freudigem
Bewusstsein gelangten Lebensgefühls. Jede künstlerische
Darstellung wird nun gleichsam zu einer Apotheose dieses
bewusst gewordenen elementaren Lebensgefühls.
Das Gefühl für die Schönheit des Lebendigen, für den
beglückenden Rhythmus des Organischen ist erwacht. Die
Ornamentik, die vorher Gesetzmässigkeit war, ohne einen
anderen Ausdruck als den der Notwendigkeit, unmittelbar
also ohne Ausdruck, sie wird nun zur lebendigen Kräfte-
bewegung, zu einem idealen, von allem Zweck befreiten
Spiel organischer Tendenzen. Sie geht ganz auf in Ausdruck,
und dieser Ausdruck ist das Leben, das der Mensch aus
seinem eignen Vitalgefühl heraus der an sich toten und
bedeutungslosen Form leiht. Die Einfühlung öffnet dem
klassischen Menschen den Genuss der Anschauung, die dem
geistig noch unentwickelten, in der ersten harten, notdürftigen
Auseinandersetzung mit den Dingen der Umwelt befindhchen
Menschen noch vorenthalten war.
So wird auf dieser klassischen Stufe der Menschheits-
entwicklung das Kunstschaffen zur idealen Veranschau-
lichung bewusst gewordener und geläuterter Vitalität; sie
wird zum objektivierten Selbstgenuss. Von allen dualistischen
Erinnerungen befreit, feiert der Mensch in der Kunst wie
in der Religion die Erfüllung eines beglückenden seelischen
Gleichgewichtszustandes.
24 DER ORIENTALISCHE MENSCH
DER ORIENTALISCHE MENSCH
T-^ür den Kreis okzidentaler Kultur bedeutet der klas-
sische Mensch mit seiner wohltemperierten Seelen-
stimmung einen Höhepunkt. In ihm ist die ideale Höhe
okzidentaler Möglichkeiten festgelegt. Aber wir dürfen
Europa nicht mit der Welt verwechseln, dürfen uns nicht
in europäischem Selbstbewusstsein den Blick trüben
lassen für das unser beschränktes Vorstellungsvermögen
fast übersteigende Phänomen orientalischer Menschheits-
bildung.
Denn angesichts des orientalischen Menschen, dieses
dritten grossen Musterbeispiels der Menschheitsentwicklung,
wird uns ein ganz neuer, unser voreiliges europäisches Urteil
regulierender Massstab für die Wertung menschlicher Ent-
wicklung aufgedrängt. Wir müssen erkennen, dass unsere
europäische Kultur nur eine Kultur des Geistes und der
Sinne ist und dass es neben dieser an die Fiktion des Fort-
schritts gebundenen geistigen und sinnlichen Kultur noch
eine andere gibt, die sich von tieferen Erkenntnissen als
den intellektuellen nährt, vor allem von der einen wert-
vollsten Erkenntnis des Instinkts, dass jene intellektuellen
Erkenntnisse eitel und nichtig, nur Oberflächenbetrug sind.
Des Orientalen Kultur baut sich wieder auf dem Instinkt
auf und der Ring der Entwicklung ist geschlossen. Der
Orientale steht dem Urmenschen wieder näher als der klas-
sische Mensch und doch ist eine ganze Ringweite, eine ganze
Welt von Entwicklung zwischen ihnen. Den Schieier der
Maya, vor dem der Urmensch in dumpfem Schrecken stand,
ihn hat der Orientale durchschaut und dem unerbittlichen
Dualismus alles Siens ins Auge geschaut. Sein tief im Instinkt
verwurzeltes Wissen um die Problematik der Erscheinung und
um die unergründliche Rätselhaftigkeit des Seins lässt nun
den naiven Glauben an Diesseitswerte, in dem der klassische
Mensch sich glücklich gefühlt hatte, nicht mehr aufkommen.
Jene glückliche Verquickung sinnlichen Empfindens mit
geistigen Erkenntnissen, die bei dem klassischen Menschen
ABTEIKIRCHE VON COULOMBS
DETAIL EINER REICHVERZIERTEN SÄULE
DER ORIENTALISCHE MENSCH 25
gleichzeitig zu einer Versinnlichung resp. Vermenschlichung
wie zu einer RationaUsierung des Weltbildes geführt hatte,
war bei dem orientalischen Menschen bei der absoluten
Vorherrschaft des instinktiven Wissens über das äussere
Erkenntniswissen unmöglich. Das Reich der orientalischen
Seele blieb vom Fortschritt geistiger Erkenntnis völlig un-
berührt. Sie bestanden nicht miteinander, sondern nur
nebeneinander; ohne jede Gleichwertigkeit, ohne Kom-
mensurabilität. Das geistige Erkennen konnte noch so weit
fortschreiten: weil ihm der seelische Ankergrund fehlte,
konnte es nie in griechischer Weise zum produktiven
Kulturelement werden. Alle produktiven, kulturschaffenden
Kräfte waren vielmehr an die Instinkterkenntnis ge-
bunden.
Durch diese Erkenntnis des Instinkts steht der orien-
talische Mensch dem primitiven Menschen \vieder nahe. In
ihm lebt dieselbe Weltfurcht, dasselbe Erlösungsbedürfiüs
wie in dem Anfangsglied der Entwicklung. Nur ist dies
alles bei ihm kein Vorläufiges, vor der wachsenden geistigen
Erkenntnis Zurückweichendes wie beim primitiven Menschen,
sondern eine festkonstituierte, über alle Entwicklung er-
habene Erscheinung, die nicht vor dem Erkennen, sondern
über dem Erkennen steht. Wenn im Gegensatz zum
klassischen europäischen Menschen und seiner anthro-
pozentrischen Denkart das menschliche Selbstbewusstsein
des Orientalen so klein und seine metaphysische Unter-
würfigkeit so gross ist, so kommt es nur daher, dass sein
Weltgefühl so gross ist.
Der Dualismus des Orientalen steht über dem Erkennen.
Er wird von diesem Duahsmus nicht mehr verwirrt und
gequält, sondern er empfindet ihn als ein erhabenes Schicksal
und schweigend und wunschlos beugt er sich vor dem grossen
unentschleierbaren Geheimnis des Seins. Seine Furcht ist
zu Verehrung geläutert, seine Resignation ist zur Religion
geworden. Ihm ist das Leben keine wirre und quälende
Sinnlosigkeit, sondern es ist ihm heihg, weil es in Tiefen
wurzelt, die dem Menschen unzugänglich sind und die ihn
seine eigne Nichtigkeit empfinden lassen. Denn das Gefühl
seiner Nichtigkeit erhebt ihn, weil das Leben dadurch seine
Grösse erhält.
26 DER ORIENTALISCHE MENSCH
Das dualistisch gebundene Weltempfinden des Orientalen
spiegelt sich klar wider in der streng transzendentalen
Färbung seiner Religion und seiner Kunst. Das Leben, die
Erscheinungswelt, die Wirklichkeit, kurz alles, was der
klassische Mensch in seiner glücklich-naiven Weltfrömmigkeit
positiv wertete, wird durch die tiefergehende Welterkenntnis
des Orients wieder bewusst relativiert und einer höheren
Wertung unterstellt, die sich an einer hinter allem Diesseits
liegenden höheren Wirklichkeit orientiert. Diese Vorstellung
eines Jenseits gibt der orientahschen Metaphysik eine der
reifen klassischen Welt unbekannte dynamische Spannung.
Und wie eine Antwort auf diese seelische Spannung bildet
sich mit Naturnotwendigkeit der Erlösungsgedanke aus, in
dem die orientaHsche Mystik gipfelt und der im Christentum
schliesslich die uns vertrauteste Prägung erhalten hat.
Die orientahsche Kunst ist die gleiche Antwort auf die
gleiche Spannung. Auch sie trägt absoluten Erlösungs-
charakter, und ihre scharf ausgeprägte transzendental-
abstrakte Färbung trennt sie von aller Klassik. Keine
freudige Bejahung sinnfälliger Lebendigkeit spricht aus ihr,
sie gehört vielmehr ganz dem andern Reiche an, das über
die Vergänglichkeit und die Zufälligkeit des Lebendigen
hinaus nach einer von allen Sinnentäuschungen, von allem
Anschauungstrug gereinigten höheren Welt strebt, in der
Notwendigkeit und Dauer herrscht und der die grosse Ruhe
orientalischer Instinkt erkenntnis ihre Weihe gibt.
Wie die Kunst des Urmenschen ist auch die Kunst des
Orients streng abstrakt und gebunden an die starre aus-
druckslose Linie und ihr Korrelat, die Fläche. Doch in dem
Reichtum ihrer Bildungen und der Konsequenz ihrer Lösungen
geht sie weit über die primitive Kunst hinaus. Aus der
elementaren Schöpfung ist ein kompliziertes, kunstvolles
Gebilde geworden, aus der Primitivität ist Kultur geworden,
und die höhere reifere Qualität des Weltgefühls dokumentiert
sich in unverkennbarer Weise trotz der äusseren Gleichheit
der Ausdrucksmittel. Wir pflegen den grossen Unterschied
zwischen primitiver imd orientalischer Kunst nicht richtig
zu würdigen, weil imser europäisches Auge für die Nuancen
abstrakter Kunst nicht geschärft ist und wir immer nur das
Gemeinsame, nämlich nur die Unlebendigkeit, die Ent-
DIE GEHEIME GOTIK 27
femung von der Natur sehen. In Wirklichkeit Hegt aber
derselbe Unterschied vor wie zwischen dem dumpfen
Fetischismus des primitiven und der tiefsinnigen Mystik
des orientalischen Menschen.
DIE GEHEIME GOTIK DER FRÜHEN NOR-
DISCHEN ORNAMENTIK
^u^achdem wir so drei Haupttypen der Menschheits-
entwicklung, d. h. drei Hauptstadien im Auseinander-
setzungsprozess von Mensch und Aussenwelt in ihren ent-
scheidenden Linien kurz skizziert haben, wollen wir uns von
diesen elementaren Orientierungspunkten aus unserem eigent-
lichen Problem, der Gotik, nähern.
Es sei gleich gesagt, dass sich der stilpsychologische
Begriff der Gotik, wie ihn unsere Untersuchung heraus-
arbeiten will, keineswegs mit der historischen Gotik deckt.
Jene engere Gotik, die der Schulbegriff fixiert, fassen wir
vielmehr nur als die Endresultate einer spezifisch nordischen
Entwicklung auf, die schon in der Hallstadt- und La-Tene-
Periode, ja in ihren letzten Wurzeln noch früher einsetzt.
Nord- und Mitteleuropa ist vornehmlich der Schauplatz
dieser Entwicklung, deren Ausgangspunkt vielleicht das ger-
manische Skandinavien ist.
Mit anderen Worten gesagt: der Stilpsychologe, dem
einmal angesichts der reifen historischen Gotik der Grund-
charakter des gotischen Formwillens aufgegangen ist, er sieht
diesen Formwillen auch da gleichsam unterirdisch tätig,
wo er durch mächtigere äussere Umstände gehemmt und an
freier Entfaltung gehindert eine fremde Verkleidung an-
nimmt; er erkennt, dass dieser gotische Formwille nicht
äusserlich, aber innerlich die romanische Kunst, die Mero-
wingerkunst, die Völker wanderungskunst, kurz den ganzen
nord- und mitteleuropäischen Kunst verlauf beherrscht.
Es ist das eigentliche Ziel unserer Untersuchung, den
Berechtigungsbeweis für diese weitere Ausdehnung des Stil-
begriffs Gotik zu erbringen. Vorläufig mag diese Behauptung,
28 DIE GEHEIME GOTIK DER
die wir uns zu begründen anschicken, als blosse These voran-
geschickt sein.
Wir wiederholen also, dass nach unserer Anschauung
die Kunst des ganzen Okzidents, soweit sie nicht unmittelbar
Anteil hatte an der antiken Mittelmeerkultur, ihrem innersten
Charakter nach gotisch war und es bis zur Renaissance, dieser
grossen Peripetie der nordischen Entwicklung, blieb; d. h.
der in ihr immanente, äusserlich oft kaum erkennbare Form-
wille ist derselbe, der in der reifen historischen Gotik seine
klare, ungetrübte, monumentale Ausgestaltung erhält. Wir
werden später sehen, wie selbst die von ganz anderen seelischen
Voraussetzungen ausgehende italienische Renaissance, als sie
auf den Norden übergriff und zum europäischen Stil wurde,
den gotischen Formwillen nicht ganz zu ersticken vermochte :
das nordische Barock ist in gewissem Sinne das Wiederauf-
flackern des unterdrückten gotischen Formwillens unter einer
fremden Hülle. So geht also der stilpsychologische Begriff
der Gothik auch nach der Gegenwart zu über den Schulbegriff
Gotik hinaus.
Die Basis, auf der sich der gotische Formwille entwickelt,
ist der geometrische Stil, wie er als Stil des primitiven Men-
schen über die ganze Erde verbreitet ist, um die Zeit aber, wo
der Norden in die geschichtliche Entwicklung eingreift,
speziell als Gemeingut aller arischen Völker erscheint. Ehe
wir die Entwicklung dieses primitiven geometrischen Stiles
zum gotischen Stile andeuten, möchten wir, um die welt-
geschichtliche Situation zu kennzeichnen, daran erinnern,
dass schon mit der dorischen Wanderung dieser arische
Gemeinstil zusammenstösst mit dem orientalisch gefärbten
Stil der frühen Mittelmeervölker, und dass er den Anstoss
zur spezifisch griechischen Entwicklung gibt. Zuerst ist
der Konflikt zwischen den beiden heterogenen Stilgedanken
ein ganz krasser : Mykenestil und Dipylonstil. Dann klingt er
gemildert nach in dem Charakterunterschied zwischen dori-
schem und ionischem Stil. Schliesslich findet die Versöhnung
im reifen klassischen Stil statt, kurz dieser erste Ausläufer
des arischen Stilgutes mündet ganz in die Mittelmeerkultur
ein und scheidet deshalb für unsere Betrachtung vorerst aus.
Uns interessiert nur das Konglomerat junger, noch
unentwickelter Völkermassen in Nord- und Mitteleuropa,
FRÜHEN NORDISCHEN ORNAMENTIK 29
das noch nicht in Berührung mit der hohen, vom Orient ab-
hängigen Mittelmeerkultur gekommen war, und in dem sich von
der Basis des allgemein arischen, geometrischen Stiles aus die
grosse Zukunftsmacht des Mittelalters, die Gotik, entwickelte.
In diesem Völkerkonglomerat Nord- und Mitteleuropas,
diesem eigentlichen Nährboden des gotischen Phänomens,
wollen wir nicht ein einzelnes Volk zum Träger der Ent-
wicklung machen; wenn wir trotzdem im folgenden meist
von der germanischen Entwicklung reden, so geschieht es
nicht, weil wir Rassenromantik im Chamberlainschen Sinn
treiben wollen, sondern mehr aus Bequemlichkeit und aus
dem Bewusstsein heraus, dass in diesem nordischen Völker-
chaos vorerst die Rassenunterschiede noch so sehr zurück-
treten hinter der Gemeinsamkeit der Lebensbedingungen
und hinter der Gemeinsamkeit der seehschen Entwicklungs-
stufe, dass die Heranziehung eines einzelnen Volkes als pars
pro toto gerechtfertigt ist. Anderseits deckt sich allerdings
diese spezielle Heranziehung der Germanen mit unserer
Ansicht, dass die Disposition zur Gotik nur da eintritt, wo
germanisches Blut sich mit dem Blute der anderen euro-
päischen Rassen mischt. Die Germanen sind also nicht die
alleinigen Träger der Gotik und ihre alleinigen Schöpfer;
Kelten und Romanen haben denselben wichtigen Anteil an
der gotischen Entwicklung. Wohl aber sind die Germanen
die conditio sine qua non der Gotik.
Wir werden also im Gegensatz zu der berechtigten Ge-
nauigkeit der Detailforschung im grossen Rahmen unseres
Darstellungszweckes weniger peinHch auf die Unterscheidung
der einzelnen Träger der nordischen Gesamtentwicklung zu
achten brauchen.
Die Kunst dieses nordischen Völkerkonglomerats ist zu
der Zeit, wo es gleichsam auf das Stichwort des römischen
Reichsunterganges wartet, um als Vordergrundakteur in die
weltgeschichtliche Entwicklung einzutreten, blosse Orna-
mentik, Und zwar trägt diese Ornamentik anfänglich einen
rein abstrakten Charakter. Jeder Versuch der direkten
Naturnachahmung fehlt. Von der frühgermanischen Orna-
mentik sagt Haupt, der autoritative Geschichtschreiber
germanischer Kunst: ,,Es gibt in ihrer Kunst keine Dar-
stellung des Natürhchen, weder des Menschen, noch des
\
30 DIE GEHEIME GOTIK DER
Tieres, noch des Baumes. Alles ist Flächenverzierung ge-
worden. Deshalb können wir von einer eigentlich bildenden
Kunst im heutigen Sinne in bezug auf jene Stämme nicht
sprechen ; sie existiert eben nicht als Versuch der Nachbildung
von irgend etwas vor Augen Stehendem." Sie ist also ein
rein geometrisches Linienspiel, ohne dass wir mit dem Wort
Linienspiel dieser Art Kunstübung den Charakter des Spie-
lerischen anhängen wollen. Vielmehr ist es nach unseren
Ausführungen über die Ornamentik des primitiven Menschen
klar, dass auch dieser frühnordischen Ornamentik ein starker
metaphysischer Gehalt innewohnt.
In den frühsten Zeiten unterscheidet sie sich nicht
wesentlich von dem primitiven geometrischen Stil, den wir
das Gemeingut aller arischen Völker nannten. Allmählich
aber entwickelt sich auf der Grundlage dieser elementaren
arischen Liniengrammatik eine besondere Liniensprache, die
sich deutlich als eigenes germanisches Idiom kennzeichnet.
Es ist die in der Terminologie der kunstmaterialistischen
Theorie als Bandverschlingungs- oder Flechtornamentik be-
zeichnete Linienphantastik. Ueberall, wo durch die Stürme
der Völkerwanderung Germanen hinzerstreut wurden, finden
wir in ihren Gräbern diese eigenartige und ganz unverkenn-
bare Ornamentik. In England, in Spanien, in Nordafrika,
in Süditalien, in Griechenland und Armenien.
Lamprecht schildert diese Art von Ornamentik mit
folgenden Worten: ,,Es sind gewisse einfache Motive, durch
deren Verflechtung und Durchdringung der Charakter dieser
Ornamentik bestimmt ist. Anfänglich nur der Punkt, die
Linie, das Band, später dann schon die Bogenlinie, der Kreis,
die Spirale, das Zickzack und eine s-förmige Verzierung
wurden angewendet. Wahrlich kein grosser Reichtum an
Motiven. Aber welche Mannigfaltigkeit wird erzielt durch
die Art ihrer Verwendung. Bald erscheinen sie parallelisiert,
bald verklammert, bald vergittert, bald verknotet, bald
verflochten, bald wohl gar in gegenseitiger Verknotung und
Verflechtung durcheinandergewürfelt. So entstehen phan-
tastisch wirre Muster, deren Rätsel zum Nachgrübeln reizen,
deren Gerinnsel sich zu meiden, zu suchen scheint, deren
Bestandteile gleichsam empfindungsbegabt in lebendig-
leidenschaftlicher Bewegung Sinn und Auge fesseln."
QUIRINKIRCHE ZU NEUSS
Originalaufnahme der Kgl. Preussischen Mcssbildanstalt zu Berlin.
FRÜHEN NORDISCHEN ORNAMENTIK 31
Eine lineare Phantastik liegt hier vor, deren Grund-
charakter wir analysieren müssen. Träger des künstlerischen
Willens ist, wie in der Ornamentik des primitiven Menschen,
die abstrakte geometrische Linie, der kein organischer Aus-
druck, d. h. keine organische Interpretationsmöglichkeit
innewohnt. Während sie nun im organischen Sinne aus-
drucks los ist, ist sie trotzdem von äusserster Lebendigkeit.
Die Worte Lamprechts bezeugen ausdrücklich den Eindruck
leidenschaftlicher Bewegtheit und Lebendigkeit, bezeugen
ausdrücklich den Eindruck einer suchenden, rastlosen Un-
ruhe in diesem Linien Wirrwarr. Da der Linie jede organische
Klangfarbe fehlt, so muss ihr Lebensausdruck ein vom
organischen Leben unterschiedener Ausdruck sein. Es gilt,
diesen überorganischen Ausdruckscharakter in seiner Eigen-
art zu verstehen.
Wir sehen, dass die nordische Ornamentik trotz ihres
abstrakten Liniencharakters Lebendigkeitseindrücke aus-
löst, die unser an die Einfühlung gebundenes Vitalgefühl
unmittelbar nur der organischen Welt zuerkennen
möchte. So scheint diese Ornamentik also den abstrakten
Charakter der primitiven geometrischen und den lebendigen
Charakter der klassischen organisch gefärbten Ornamentik
zu vereinigen. Dem ist aber nicht so. Sie kann in keiner
Weise den Anspruch erheben, eine Synthese, eine Vereinigung
dieser elementaren Gegensätze darzustellen, ihr kommt viel-
mehr nur das Prädikat einer Zwittererscheinung zu. Nicht
um eine harmonische Durchdringung zweier entgegengesetzter
Tendenzen handelt es sich hier, sondern um eine unreinliche
und gewissermassen unheimliche Verquickung derselben, um
die Inanspruchnahme unseres an organischen Rhythmus ge-
bundenen Einfühlungsvermögens für eine ihm fremde, ab-
strakte Welt. Unser organisch temperiertes Vitalgefühl
scheut zurück vor dieser sinnlosen Ausdruckswucht wie vor
einer Ausschweifung. Wenn es aber endlich, dem Zwang
gehorchend, seine Kräfte in diese an sich toten Linien ein-
strömen lässt, fühlt es sich in einer unerhörten Weise fort-
gerissen und zu einem Bewegungstaumel gesteigert, der alle
Möglichkeiten organischer Bewegung weit hinter sich lässt.
Das Bewegungspathos, das in dieser lebendig gewordenen
Geometrie — ein Vorspiel zur lebendig gewordenen Mathe-
32 DIE GEHEIME GOTIK DER
matik der gotischen Architektur — steckt, vergewaltigt
unser Empfinden zu einer ihm unnatürhchen Kraftleistung.
Nachdem einmal die natürlichen Grenzen organischer Bewegt-
heit durchbrochen sind, gibt es kein Halten mehr; immer
wieder wird die Linie gebrochen, immer wieder in ihrer
natürlichen Bewegungstendenz gehemmt, immer wieder ge-
waltsam von einem ruhigen Auslaufen zurückgehalten, immer
wieder zu neuen Ausdruckskomplikationen abgelenkt, so dass
sie, durch all diese Hemmungen gesteigert, ihr Aeusserstes an
Ausdruckskraft hergibt, bis sie schhesshch, all der Möglich-
keiten natürlicher Beruhigung beraubt, in wirren Zuckungen
verendet oder unbefriedigt im Leeren abbricht oder sinnlos
in sich selbst verläuft.
Angesichts der klassischen Ornamentik in ihrer orga-
nischen Klarheit und Mässigung haben wir das Gefühl, als
ob sie zwanglos aus unserem Vitalgefühl herausquille. Sie
hat keinen anderen Ausdruck als den, den wir ihr geben.
Der Ausdruck der nordischen Ornamentik ist dagegen nicht
unmittelbar von uns abhängig, wir begegnen vielmehr einem
Leben, das unabhängig von uns zu sein scheint, das mit
Forderungen an uns herantritt und uns zu einer Bewegtheit
zwingt, der wir uns nur widerwillig unterwerfen. Kurz:
die nordische Linie lebt nicht von einem Eindruck, den wir
ihr willig geben, sondern sie scheint einen Eigenaus-
druck zu haben, der stärker ist als unser Leben.
Diesen, im streng psychologischen Sinne natürlich nur
scheinbaren Eigenausdruck der nordischen resp. gotischen
Linie müssen wir näher zu erfassen suchen. Wir wollen
an banale Erfahrungen des täglichen Lebens anknüpfen.
Wenn wir einen Bleistift zur Hand nehmen und Linien-
kritzeleien auf dem Papier machen, so können wir uns schon
des Unterschiedes zwischen dem von uns abhängigen Aus-
druck und dem anscheinend von uns unabhängigen Eigen-
ausdruck der Linie bewusst werden.
Wenn wir die Linie in schönen runden Kurven führen,
so begleiten wir die Bewegungen unseres Handgelenks un-
willkürlich mit unserem inneren Gefühl. Wir fühlen mit
einem gewissen Glücksgefühl, wie die Linie gleichsam aus
dem selbsttätigen Spiel des Handgelenks herauswächst.
Die Bewegung, die wir ausführen, ist von einer hemmungs-
FRÜHEN NORDISCHEN ORNAMENTIK 33
losen Leichtigkeit; der einmal angefangene Bewegungs-
impuls setzt sich mühelos fort. Dieses Glücksgefühl, diese
Freiheit der Entstehung übertragen wir nun unwillkürlich
auf die Linie selbst, und was wir bei ihrer Führung gefühlt
haben, schreiben wir ihr als Ausdruck zu. In diesem Falle
also sehen wir in der Linie den Ausdruck einer organischen
Schönheit, weil eben die Führung der Linie unserem orga-
nischen Gefühle entsprechend war. Begegnen wir einer
solchen Linie in einer anderen Darstellung, so ist unser Ein- -
druck derselbe, als ob wir sie selbst gezeichnet hätten. Denn
sobald wir überhaupt eine Linie in unser Bewusstsein auf-
nehmen, fühlen wir innerlich unwillkürlich den Vorgang
ihrer Entstehung nach.
Neben dieser organischen Ausdrucksfähigkeit der Linie,
wie wir sie in der ganzen klassischen Ornamentik erleben,
gibt es aber noch eine andere, und die ist es, die für unser
gotisches Problem in Betracht kommt. Wieder knüpfen wir
an die banalen Erfahrungen spielerischer Linienkritzelei an.
Wenn wir von einer starken inneren Erregung erfüllt sind,
die wir nicht anders als auf dem Papier äussern dürfen,
dann werden die Linienkritzeleien ganz anders ausfallen.
Der Wille unseres Handgelenks wird gar nicht gefragt werden,
sondern der Bleistift wird wild und heftig über das Papier
fahren und statt der schönen, runden, organisch temperierten
Kurven wird eine starre, eckige, immer wieder unterbrochene,
zackige Linie von stärkster Ausdruckswucht entstehen. Nichl
das Handgelenk ist es, das selbsttätig die Linie schafft,
sondern unser heftiger Ausdruckswille, der dem Handgelenk
herrisch seine Bewegung vorschreibt. Der einmal einsetzende
Bewegungsimpuls darf nicht, wie es in seiner natürlichen
Tendenz liegt, in sich auslaufen, sondern er wird immer
wieder durch einen neuen Bewegungsimpuls übertönt. Wenn
wir eine solche Erregungslinie in unser Bewusstsein auf-
nehmen, so fühlen wir auch bei ihr unwillkürlich den Vor-
gang ihrer Entstehung nach. Dieses Nachfühlen ist nun aber
nicht von irgendeinem Wohlgefühl begleitet, sondern es ist,
als ob ein fremder, herrischer Wille uns zwinge. All die Unter-
drückungsvorgänge der natürlichen Bewegungstendenz teilen
sich uns mit. Wir fühlen an jedem Brechungspunkte, an
jeder Richtungs Veränderung, wie die plötzlich in ihrem
3
34 DIE GEHEIME GOTIK DER
natürlichen Lauf gehemmten Kräfte sich stauen, wie sie
dann nach diesem Moment der Stauung mit einer durch die
Hemmung vermehrten Wucht in die neue Bewegungstendenz
übergehen. Und je öfter die Brechungen sich wiederholen,
je mehr Hemmungen eingeschaltet werden, um so mächtiger
werden die Brandungen an den einzelnen Bruchstellen,
um so wuchtiger wird jedesmal das Einströmen in die neue
Richtung, um so gewaltiger und mitreissender wird, mit
andern Worten, der Ausdruck der Linie. Denn auch hier
schreiben wir die bei der Apperzeption der Linie nachge-
fühlten Entstehungsvorgänge ihr als Ausdruck zu. Und da
die Linie uns ihren Ausdruck aufzudrängen scheint, empfinden
wir ihn als etwas Selbständiges, von uns Unabhängiges und
sprechen deshalb von einem Eigenausdruck der Linie.
Das Wesentliche dieses Eigenausdrucks der Linie ist,
dass er nicht sinnlich-organische Werte repräsentiert, sondern
Werte unsinnhcher, d. h. geistiger Art. Nicht organische
Willenstätigkeit spricht sich in ihm aus, sondern eine
psychisch-geistige Willenstätigkeit, die noch fern von aller
Verbindung und Versöhnung mit organischen Empfindungs-
komplexen ist.
Mit diesen Ausführungen wollen wir nun nicht sagen,
dass die nordische Ornamentik, jenes „gleichsam ur weltliche
und finster chaotische Liniengewirr" (Semper), mit den
Linienkritzeleien eines psychisch oder geistig erregten
Menschen auf einer Stufe stehe, dass es dieses Phänomen
täglicher Erfahrung nur im grossen Massstabe widerspiegele.
Das wäre ein Vergleich zwischen ganz inkommensurablen
Tatbeständen. Aber Fingerzeige werden uns durch diesen
Vergleich doch gegeben. Wie jene Linienkritzeleien nur als
Auslösung eines inneren seelischen Drucks erscheinen, so
wirft das Aufgeregte, Zuckende, Fiebernde des nordischen
Lineaments auch unzweideutig ein Schlaglicht auf das unter
einem starken Druck stehende Innenleben der nordischen
Menschheit. Den Ausdruck eines seelischen Unbefriedigt-
seins dürfen wir immerhin schon durch diesen Vergleich in
der nordischen Ornamentik konstatieren. Was aber im
individuellen alltäglichen Leben als spielerische Linien-
kritzelei erscheint, das ist als Kunstausdruck einer ganzen
Rasse etwas anderes: es ist hier das Verlangen, aufzugehen
KATHEDRALE 7X RELMS
FRÜHEN NORDISCHEN ORNAMENTIK 35
in einer unnatürlichen gesteigerten Bewegtheit unsinnUcher
geistiger Art — man denke hier schon an das lab5a-inthische
scholastische Denken — , um in dieser Steigerung loszukommen
vom unmittelbaren Gefühl der Wirklichkeitsgebundenheit
und — das sei vorausgeschickt — dieses Verlangen nach
einer über alle Sinne erhabenen unsinnlichen oder, um das
rechte Wort zu nennen, übersinnlichen Bewegtheit, das
diese bis zum äussersten Ausdruck aufgepeitschte Orna-
mentik schuf, war es auch, das das brünstige Exi^elsior
der gotischen Kathedrale, diesen versteinerten Transzenden-
talismus, entstehen Hess.
So wie die gotische Architektur das Bild einer voll-
ständigen Entmaterialisation des Steins darbietet und voll
geistigen an Stein und Sinne ungebundenen Ausdrucks ist,
so bietet die frühnordische Ornamentik das Bild einer voll-
ständigen Entgeometrisierung der Linie zugunsten desselben
geistigen Ausdrucksbedürfnisses.
Die Lime der primitiven Ornamentik ist geometrisch,
ist tot und ausdruckslos. Ihre künstlerische Bedeutung be-
ruht einzig und allein auf dieser Abwesenheit alles Lebens,
beruht einzig und allein auf ihrem durch und durch ab-
strakten Charakter. Mit der Milderung des anfänglichen
Dualismus zwischen Mensch und Welt, d. h. mit der geistigen
Entwicklung des Menschen, wird der abstrakte geometrische
Charakter der Linie allmählich abgeschwächt. Diese Ab-
schwächung, diese Ueberleitung der starren Ausdrucks-
losigkeit zur Ausdrucksfülle kann sich in zwei verschiedenen
Richtungen bewegen : an Stelle des toten geometrischen Seins
kann eine organische, den Sinnen gefällige Lebendigkeit treten
— das ist der Fall der klassischen Ornamentik — oder eine
geistige, über die Sinne weit hinausgehende Lebendigkeit
treten — das ist der Fall der frühnordischen Ornamentik,
deren gotischen Charakter wir hiermit schon festgestellt
haben. Und es ist klar, dass die organisch determinierte
Linie die Schönheit des Ausdrucks enthält, während der
gotischen Linie die Macht des Ausdrucks vorbehalten ist.
Dieser Unterschied zwischen Ausdrucksschönheit und Aus-
drucksmacht lässt sich ohne weiteres auf den ganzen Cha-
rakter der beiden Stilphänomene klassischer und gotischer
Kunst übertragen.
36 DIE UNENDLICHE MELODIE
DIE UNENDLICHE MELODIE DER NOR-
DISCHEN LINIE
D
|ie Antithese von klassischer und nordisch-gotischer
Ornamentik bedarf weiterer eingehender Betrachtung.
Der fundamental verschiedene Charakter dieser beiden
Kunstäusserungen soll auch im einzelnen sichtbar gemacht
werden. Das erste, was bei der Vergleichung der beiden Orna-
mentstile auffällt, ist, dass der nordischen Ornamentik der
^ aller klassischen Ornamentik so ureigne Begriff der Symmetrie
/ fehlt. Statt Symmetrie herrscht hier Wiederholung. Auch
in der klassischen Ornamentik spielt allerdings das Moment
der Wiederholung des einzelnen Motivs eine Rolle ; aber diese
Wiederholung ist von einer ganz anderen Art. Die klassische
Ornamentik neigt im allgemeinen dazu, das einmal ange-
schlagene Motiv im Gegensinne, wie im Spiegelbilde zu
wiederholen, wodurch der durch die Wiederholung produ-
zierte Charakter ununterbrochener Steigerung wieder para-
lysiert wird. Durch diese Wiederholung im Gegensinn
tritt eine Beruhigung, eine Geschlossenheit des Rhythmus
ein; die Aneinanderreihung trägt einen die Sjnnmetrie
nie verletzenden ruhigen Additionscharakter. Das organisch
geleitete Empfinden des klassischen Menschen gibt der
durch die Wiederholung entstehenden Bewegung, die über
organisches Mass hinauszugehen droht, die mechanisch zu
werden droht, durch Fermatenbildung immer wieder Be-
ruhigungsakzente. Sie legt der forteilenden mechanischen
Bewegtheit durch diese vom organischen Gefühl geforderten
Wiederholung im Gegensinne gleichsam Zügel an.
Bei der nordischen Ornamentik trägt dagegen die Wieder-
holung nicht diesen ruhigen Additionscharakter, sondern
sie trägt sozusagen Multiplikationscharakter. Jede Da-
zwischenkunft eines nach organischer Mässigung und Be-
ruhigung verlangenden Gefühls fehlt hier. Eine sich ständig
steigernde Bewegtheit ohne Fermaten und Akzente ent-
steht und die Wiederholung hat nur den einen Sinn, dem
einzelnen Motiv die Unendlichkeitspotenz zu geben. Die
unendliche Melodie der Linie schwebt dem nordischen
DER NORDISCHEN LINIE 37
Menschen in seiner Ornamentik vor; jene unendliche Linie,
die nicht erfreut, sondern betäubt und uns ziu: willenlosen
Hingabe zwingt. Wenn wir nach der Betrachtung nordischer
Ornamentik die Augen schliessen, bleibt nur der nach-
klingende Eindruck einer körperlosen unendlichen Bewegtheit.
Lamprecht spricht von dem Rätselhaften dieser nor-
dischen Bandverschlingungsornamentik, dem man nach-
grübeln möchte. Aber sie ist mehr als rätselhaft; sie ist
labyrinthisch. Sie scheint keinen Anfang und kein Ende
zu haben, vor allem auch keinen Mittelpunkt; all diese
Orientierungsmöglichkeiten für das organisch eingestellte
Gefühl fehlen. Wir finden keinen Punkt, wo wir einsetzen,
keinen Punkt, wo wir haltmachen könnten. Jeder Punkt
ist innerhalb dieser unendhchen Bewegtheit gleichwertig,
und aUe zusammen sind sie gegenüber der durch sie repro-
duzierten Bewegtheit wertlos.
Wir sagten schon, dass die unendliche Bewegtheit der
nordischen Ornamentik dieselbe ist, die die gotische Archi-
tektur später den toten Steinmassen abgewinnt, und diese
Gleichstellung wird durch die Feststellung eines Unterschiedes
nur noch bestätigt, nur noch verdeutlicht. Denn während
der Unendlichkeitseindruck der Linie nur dadurch erreicht
werden konnte, dass sie in \\'ahrheit kein sichtbares Ende
nahm, d. h. dass sie in sich selbst sinnlos verhef, kam in
der Architektur der Unendlichkeitseindruck der Bewegung-
durch die einseitige Vertikalakzentuierung zustande.
Gegenüber dieser von allen Seiten heranströmenden und
sich nach oben hin verflüchtigenden Bewegung kommt der
wirkliche Abschluss dieser Bewegung mit der äussersten
Turmspitze gar nicht in Betracht: die Bewegung klingt
im Unendlichen weiter. Die Vertikalakzentuierung pro-
duziert hier mittelbar das Unendlichkeitssymbol, was in
der Ornamentik unmittelbar durch das In-sich-selbst-Ver-
laufen der Linie gegeben \vird.
Wir haben also neben der vorherrschend asjonmetrischen
Eigenart der nordischen Ornamentik auch ihre vorherrschend
azentrische Art festgestellt. Doch diese Feststellung trifft
nur den allgemeinen Charakter, im einzelnen gibt es Aus-
nahmen. So gibt es eine Anzahl omamentaler Motive im
Norden, die zweifellos zentrischen Charakter haben, aber
y
38 VON DER TIERORNAMENTIK
auch hier können wir gegenüber ähnlichen klassischen Orna-
menten einen einschneidenden Unterschied konstatieren.
Statt des gleichmässigen und allseitig geometrischen Sterns
z. B. oder der Rosette oder ähnlicher ruhender Gestalten,
findet sich im Norden das sich drehende Rad, die Turbine
oder das sogenannte Sonnenrad, alles Muster, die eine
heftige Bewegung ausdrücken. Und zwar geht die Bewegung
nicht in radialer, sondern in peripheraler Richtung. Es ist
eine Bewegung, die nicht aufgehalten und gehemmt werden
kann. ,, Während das antike Ornament sich in seiner nach
der Mitte zusammen oder von der Mitte nach den Seiten
laufenden entgegengesetzten — negativen und positiven —
Bewegung in sich selbst aufhebt und sich so zur absoluten
Ruhe bringt, geht das nordische Ornament von einem
Punkte anfangend immer weiter, immer in gleichem Sinne
vorwärts, bis sein Lauf die ganze Fläche besclrrieben und
naturgemäss in sich zurückläuft." (Haupt.) Der Unter-
schied zwischen der radialen Bewegung des antiken und der
peripheralen Bewegung des nordischen Ornaments ist also
ein ganz ähnlicher wie der zwischen der Wiederholung im
gleichen und der Wiederholung im Gegensinn. Hier die
ruhige gemässigte organische Bewegung, dort die sich ununter-
brochen steigernde mechanische Bewegung. Und wir sahen,
wie gerade bei anscheinender Verwandtschaft in den Bil-
dungsgesetzen von klassischer und nordischer Ornamentik
sich die Unterschiedlichkeit bei näherem Zusehen nur um
so sichtbarer herausstellte.
VON DER TIERORNAMENTIK BIS ZU HOLBEIN
"^ ^ ^enn der organische Duktus der klassischen Ornamentik
^ ^ im Laufe der Entwicklung allmählich seine allgemeine
Haltung aufgibt und sich dem Besonderen zuwendet, d. h.
wenn er besonders prägnante Verkörperungen organischer
Gesetzlichkeit aus der Natur als ornamentale Motive in sich
aufnimmt, so ist das ein ganz natürlicher, ungezwungener
Vorgang. Statt das latente Gesetz der Naturbildungen zu
BIS ZU HOLBEIN 39
reproduzieren, reproduziert der klassische Künstler nun diese
Naturbildungen selbst, und zwar nicht in naturalistischer
Abschrift, sondern mit voller Wahrung des idealen Cha-
rakters. Er gibt nur ideale Abrisse von ihnen, die genügen,
um das Gesetz der organischen Bildung anschaulich zu
machen. In solch pragmatischer Reinheit, wie er sie wünschte,
gab sich ihm das organische Bildungsgesetz nur in der vege-
tabilen Welt zu erkennen; hier fand er gleichsam eine
Grammatik der organischen Bildungsgesetze und es war klar,
dass er, der bisher gleichsam nur in Zeichen, d. h. nur in
organisch geschwungenen, organisch rhythmisierten Linien-
motiven redete, sich nun auf der Grundlage dieser natürlichen
Grammatik direkter, geschmeidiger, lebendiger, differenzierter
auszudrücken lernte. Kurz: die Pflanzenmotive der klas-
sischen Ornamentik sind eine natürliche Blüte ihrer orga-
nischen Grundlage.
Ein anderes ist es mit den Tiermotiven der nordischen
Ornamentik. Sie wachsen nicht selbstverständlich und
zwanglos aus der Natur des nordischen Lineaments heraus,
sondern sie gehören einer ganz anderen Welt an und wirken
in Verbindung mit diesem Lineament für unser Gefühl
ganz widersinnig und rätselhaft. / Jeder Vergleich zwischen
dem Wesen der klassischen Pflanzenornamentik und dem
Wesen nordischer Tierornamentik verbietet sich. Ihre Genesis,
ihr Sinn und ihr Zweck sind fundamental verschiedene und
ohne jede KommensurabiHtät.\ Wir brauchen die nordische
Tieromamentik nur etwas näher anzuschauen, um ihrer mit
klassischen Werten unvergleichbaren Eigenart bewusst zu
werden.
Wir hatten im Eingang dieser ornamentalen Unter-
suchungen festgestellt, dass die nordische Ornamentik rein
abstrakten Charakter trüge und dass sie keine Darstellung
natürhcher Vorbilder enthalte. Diese Feststellung wird
durch die Existenz dieser Tierornamentik im wesentlichen
kaum eingeschränkt. Denn diese Tierornamentik_ist nicht
das Resultat direkter Naturbeobachtung, sondern es sind
phantastische Gebilde, die mehr oder weniger willkürlich
aus der Linearphantastik herauswachsen und ohne sie keine
Existenz haben. Es ist ein Spielen mit Naturerinnerungen
innerhalb dieser abstrakten Linienkunst ohne jede der Natur-
40 VON DER TIERORNAMENTIK
beobachtung eigne Absicht der Deutlichkeit. Haupt sagt:
„Die Tierwelt wird in das Flechtwerk einbezogen, doch nicht
etwa im Sinne einer Nachbildung der Natur, sondern nur
zur blossen Flächenverzierung. Das Tier zeigt einen Kopf,
einen oder ein Paar Füsse und sein Leib wird hin und her
gewunden, wie der einer Schlange; oftmals aus mehreren
gleichen Tieren zusammen zu einem verschlungenen Flecht-
knäuel geballt, bedeckt dann das Muster wie ein Teppich das
vorhandene Feld, und meist kann nur ein geübter Blick
herausfinden, dass hier überhaupt Tierbilder vorhanden oder
gemeint sind. Das unbefangene Auge sieht das Ganze als
ein reines Flechtwerk. Wo dann aber an Spitzen und Enden
wirkliche Körperteile einmal auftreten, da sind sie wieder
durch Linien, Kerbschnitte u. dgl. m. so stark zerschnitten
und geschmückt und bedeckt, dass man sie kaum als das,
was sie ursprünglich waren, erkennt."
Diese Tierornamentik mag demnach so entstanden sein,
dass bei gewissen, rein linearen Bildungen die ferne Er-
innerung an tierische Bildungen auftauchte und man aus
bestimmten Gründen, auf die wir unten zurückkommen, dieser
Erinnerung nachging, dadurch, dass man diese Aehnlichkeit
weiter bemerkbar und deutlich machte, etwa dadurch, dass
man mit einigen Punkten Augen andeutete oder dergleichen.
Dies alles, ohne dem rein abstrakten linearen Charakter der
Ornamentik etwas zu vergeben. Dass dabei nicht die Er-
innerung an ein bestimmtes Tier, sondern nur eine allgemeine
Erinnerung an tierisches Wesen tätig war, beweist die Tat-
sache, dass man ohne Bedenken von den verschiedensten
Tieren entlehnte Motive vereinigte. Erst die spätere Natura-
lisierung machte diese Gebilde dann zu den bekannten Fabel-
tieren, wie sie mit Vorliebe, aber ohne Verständnis, von der
späteren Ornamentik aufgenommen wurden. Ursprünghch sind
diese Gebilde nur Ausgeburten einer linearen Phantasie ;
ausserhalb dieser Linienphantastik haben sie kein Dasein,
auch nicht im Vorstellungsleben des nordischen Menschen.
Wir sagten, dass sich mit diesen fabelhaften Tiergebilden
verzerrte Naturerinnerungen in das abstrakte Linienspiel
einschhchen. Das ist nun nicht ganz präzis gesagt. Denn
es handelt sich hier nicht um Naturerinnerungen, sondern
um Wirklichkeitserinnerungen. Dieser Unterschied ist für
•*r>95f
MÜNSTER ZU ULM
BIS ZU HOLBEIN 41
das ganze gotische Problem von einschneidender Bedeutung.
Denn das Wirkhche ist mit dem Natürhchen keineswegs
identisch. Man kann die Wirklichkeit sehr scharf erfassen,
ohne dadurch der Natur näher zu kommen. Vielmehr er-
kennen war das Natürliche innerhalb des Wirklichen erst,
wenn die Vorstellung des Organischen in uns lebendig ge-
worden und wir damit zum aktiven, erkennenden Schauen
befähigt worden sind. Dann erst löst sich für uns das Chaos
des Wirklichen in den Kosmos des Natürlichen auf. Die
Vorstellung des organischen Gesetzes aber kann nur da
lebendig werden, wo ein ideales Identitätsverhältnis zwischen
Mensch und Welt, wie in den klassischen Epochen, erreicht
ist. Aus diesem Verhältnis ergibt sich die Läuterung des
Weltbildes von selbst, denn die Einfühlung, dieses Resultat
des Identitätsbewusstseins, sie ist es, die uns all die un-
artikuherten Laute der Wirklichkeit zu festen, organisch
klaren Wortbildern formt.
Der nordische Mensch war noch weit von jenem idealen
Identitätsverhältnis zur Welt entfernt. Die, Welt des Natür-
lichen war ihm darum noch verschlossen. 'Um so intensiver
aber drängte sich ihm die Wirklichkeit auf; weil er sie mit
naiven, durch keine Erkenntnis des Natürlichen kultivierten
Bhcken betrachtete, gab sie sich ihm in aller Schärfe mit
all ihren tausend Einzelheiten und Zufälligkeiten. Durch
diese Schärfe der Wirklichkeitserfassung sondert sich die
nordische Kunst von der klassischen, die der Willkür der
Wirklichkeit ausweichend sich ganz auf dem Natürlichen und
seiner geheimen Gesetzmässigkeit aufbaut und deren or-
ganisch rhythmisierte Liniensprache deshalb zwanglos über-
gehen konnte in eine direkte Darstellung des Natürlichen.
Die nordische Kunst dagegen erwächst aus der Ver-
bindung einer abstrakten Liniensprache mit der Wiedergabe
der Wirklichkeit. Das erste Stadium der Verbindung liegt
eben in der nordischen Tierornamentik vor. Der Eigenaus-
druck der Linie und ihr geistiges unsinnhches Ausdrucks-
wesen wurde durch diese Einschaltung von Wirklichkeits-
motiven keineswegs geschwächt, denn in dieser Wirklichkeit
war das Natürliche, das Organische noch ganz verhüllt, und
nur die Zulassung solcher organischer Ausdruckswerte
hätte den abstrakten Charakter des Lineaments geschwächt.
42 VON DER TIERORNAMENTIK
Mit Wirklichkeitswerten dagegen liess sich dieser abstrakte
Liniencharakter wohl verquicken, ja diese Wirklichkeits-
motive konnten sogar, wie wir sahen, unwillkürlich aus dieser
abstrakten Linearphantastik herauswachsen. Denn das
Charakteristische der Wirklichkeitseindrücke prägt sich uns
in einer linearen Reduktion ein, deren einzelne Linien einen
summarischen Ausdrucks wert enthalten, der weit über die
Funktion der Linie als blosse Konturangabe hinausgeht. Am
klarsten wird dieses Ineinanderübergehen von charakte-
ristischer Wirklichkeitslinie und selbständiger, nur ihrem
Eigenausdruck nachgehender Linie in der Karikatur. Hier
droht die summarische Ausdruckswucht der einzelnen Linie
in jedem Augenblick umzuschlagen in ein bloss arabesken-
haftes Liniendasein. Während beim Entwicklungsbeginn
umgekehrt das rein abstrakte Linienspiel leicht Wirklichkeits-
charakter anzunehmen neigte.
Doch gilt dieser Zufälligkeitscharakter der Entstehung
von Wirklichkeitsandeutungen nur für die Anfangsstadien
der nordischen Ornamententwicklung. ;' Im Fortgang der
Entwicklung mit dem wachsenden Selbstbewusstsein des
künstlerischen Könnens trat auch an den nordischen Men-
schen, wie an jeden Menschen fortgeschrittener Entwick-
lung, die Forderung heran, sich der Erscheinungen der
Aussenwelt künstlerisch zu bemächtigen, d. h. sie aus dem
grossen fluktuierenden Erscheinungszusammenhang heraus-
zunehmen und anschaulich zu fixieren. Der Weg dieser
künstlerischen Fixierung ist in allen Menschheitsepochen der-
selbe: Uebersetzung der darzustellenden Aussenwelt objekte
in die Sprachelemente des jeweiligen Formwillens. Diese
Sprachelemente des Formwillens müssen festgelegt sein, ehe
an die künstlerische Beherrschung der Aussenweltobjekte
herangegangen wird. Sie sind das Apriori der künstlerischen
Gestaltung. Den Schauplatz dieser Festlegung des apriori-
schen Form willens kennen wir: es ist die Ornamentik. Sie
fixiert den apriorischen Formwillen in paradigmatischer
Reinheit, d. h. sie ist der genaue Ausdruck des Verhältnisses,
in dem die betreffende Menschheit zur Welt steht. Erst
nachdem auf diese Weise die Grammatik der künstlerischen
Sprache festgelegt worden ist, kann der Mensch daran gehen,
die Aussenweltobjekte in diese Sprache zu übersetzen.
BIS ZU HOLBEIN
43
Der apriorische Formwille des primitiven Menschen wird
repräsentiert durch die ausdruckslose geometrische Linie,
diesen absoluten Wert, der den direkten Gegenpol alles
Lebens darstellt. Dadurch ist einer künstlerischen Aus-
einandersetzung mit der Aussenwelt der Weg vorgeschrieben :
er übersetzt die Objekte in diese Sprache einer toten Geo-
metrie; er geometrisiert sie und überwindet dadurch ihren
Lebendigkeitsausdruck. In dieser restlosen Ueberwindung
alles Lebensausdrucks besteht für ihn das Ziel der Kunst,
wie es durch sein absolut dualistisches Verhältnis zur Welt
bedingt ist.
Der Formwille des klassischen Menschen dokumentiert
sich in der organisch-rhythmischen Linie seiner Ornamentik:
mit diesem ornamentalen Sprachgefühl geht er an die Aussen-
weltobjekte heran: künstlerisch darstellen heisst für ihn, den
organischen Ausdrucks wert der Objekte klar zu reprodu-
zieren, heisst für ihn, den Ausdruckswert seiner ornamentalen
Sprache auf die darzustellenden Objekte zu übertragen.
Nun haben wir durch die Analyse der nordischen
Ornamentik auch das Wesen des gotischen Formwillens
kennen gelernt ; wir sahen in dieser Linienphantastik mit ihrer
aller organischen Mässigung baren, fieberhaft gesteigerten
Bewegtheit das intensive Verlangen, eine Welt unsinnlicher
resp. übersinnlicher geistiger Ausdruckskomplexe zu schaffen,
in der aufzugehen dem an ein chaotisches Wirklichkeitsbild
gebundenen nordischen Menschen ein befreiender Rausch-
genuss gewesen sein muss. Seine künstlerische Auseinander-
setzung mit der Welt konnte demnach auch nur das Ziel
haben, die Aussenweltobjekte seiner spezifischen Linien-
sprache zu assimilieren, d. h. sie einzuschalten in diese von
höchster Ausdruckswucht gespannte und gesteigerte Be-
wegtheit. Was ihm die Aussenwelt bot, waren nur wirre
Wirklichkeitseindrücke. Diese Wirklichkeitseindrücke er-
fasste er scharf und mit allen Einzelheiten; aber die blosse
sachliche Nachahmung derselben hätte für ihn noch nicht
Kunst bedeutet, denn sie hätte den einzelnen Wirklichkeits-
eindruck nicht von dem allgemeinen, fluktuierenden Er-
scheinungszusammenhang befreit ; erst die Verbindung dieser
Wirklichkeitseindrücke mit jenen gesteigerten geistigen Aus-
dnickskomplexen machte aus der sachlichen Nachahmung
44 VON DER TIERORNAMENTIK
Kunst. Lamprecht interpretiert diesen Sachverhalt, von
anderen Gesichtspunkten ausgehend, wie folgt: ,,Es ist eine
Zeit, in der die künstlerische Anschauung noch über kein
anderes Ausdrucksmittel verfügt, als über die Ornamentik.
Nicht als ob das germanische Auge die Tierwelt in ihren
unendlich vielgestalteten Formen und wechselnden Be-
wegungen nicht ebensowohl hätte erfassen können wie unser
Auge. Man sah damals bestimmt : nicht ornamental, d. h.
roh. Aber wenn das Auge ästhetische Auffassungen ver-
mittelte, wenn es dem Künstler zur künstlerischen Repro-
duktion der Natur verhelfen sollte, dann zeigte sich sein
Aufnahmevermögen, seine Fassungsgabe so begrenzt, dass
nur die ornamentale Wiedergabe als wirklich ästhetische Ver-
y^' gegen wärtigung der natürlichen Formen empfunden ward."
So kommt es denn zu der spezifischen Doppelwirkung
resp. Zwitterwirkung der ganzen gotischen Kunst: auf der
einen Seite schärfste unmittelbare Wirklichkeitserfassung,
auf der anderen Seite ein überwirkliches phantastisches
Linienspiel, das keinem Objekt gehorcht und nur von seinem
Eigenausdruck lebt. Die ganze Entwicklung der gotischen
Darstellungskunst wird durch dieses Gegen- und Ineinander-
spiel bestimmt. Die Stufen dieser künstlerischen Aus-
einandersetzung des nordischen Menschen mit der Wirk-
lichkeit — es handelt sich immer nur um die Wirklichkeit;
erst mit der Renaissance tritt die Natur in den Gesichts-
und Erkenntniskreis des nordischen Menschen: sie stellt
darum auch die Peripetie der eigentlich nordischen Ent-
wicklung dar — sind kurz skizziert folgende: Zuerst abso-
luter Dualismus von Mensch und Wirklichkeit; die Wirk-
lichkeitsmomente werden ganz und gar in das überwirkliche
Linienspiel hineingezogen; sie verschwinden gänzlich darin.
y^ Die D3niamik des künstlerischen Wollens ist hier am stärksten,
die Wirklichkeitsüberwindung am konsequentesten. Es ist
die Stufe der Tierornamentik.
Langsam flaut im Verlauf der geistigen Entwick-
lung der anfänglich strenge Dualismus zwischen Mensch
und Wirklichkeit ab: das Wirkliche kommt nun auch
in der Kunst stärker gegenüber den Unwirklichkeits-
momenten auf, wenn letztere auch noch immer überwiegen.
Indem sich die Wirklichkeitswerte höheren Anspruch ver-
FASSADE DER KATHEDRALE ZU ROUEN
BIS ZU HOLBEIN 45
schaffen, wird ihre Verquickung mit jenen wirklichkeits-
fremden geistigen Ausdruckselementen um so auffallender,
und der Zwittercharakter der Gotik ist demgemäss auf dieser
Stufe am stärksten. Diese Stufe wird repräsentiert einerseits
durch die gotische Kathedralstatuarik, anderseits durch die
gotische Gewandbehandlung.
In der gotischen Kathedralstatuarik ist der Zusammen-
hang mit der frühen Tieromamentik ein relativ enger. Wie
hier die tierischen Gebilde ganz aufgehen in einer selb-
ständigen linearen Bewegtheit, so gehen dort die Statuen
ganz auf in einer selbständigen architekturalen Bewegtheit
von äusserster Ausdruckswucht. Einen geistigen Ausdruck,
wie ihn der Gotiker verlangte, erreichten diese Gebilde nur
dadurch, dass sie angegliedert wurden an eine von ihnen
unabhängige geistige Ausdrucks weit. Aus dem Zusammen-
hang herausgenommen sind, die ornamentalen Tiergebilde
wie die Kathedralstatuen tot, sinnlos und ausdruckslos; ihre
geistige Ausdruckskraft, d. h. ihren gotischen Kunstwert er-
halten sie nur durch das Aufgehen in das abstrakte Lineament
resp. in die abstrakte Konstruktion, die ihren Ausdruckswert
auf sie übergehen lassen. Der Unterschied zwischen Tier-
omamentik und Kathedralstatuarik ist für den Stilpsycho-
logen nur ein qualitativer, wie er durch die fortgeschrittene
Entwicklung selbstverständlich ist: aus vagen Tierandeu-
tungen sind Statuen mit scharf ausgeprägten Physiognomien
geworden, aus dem wirren Lineament raffinierte Konstruktion.
Die gotische Gewandbehandlung zeigt uns die Stufe, wo
die WirkHchkeitsfaktoren den Elementen der Unwirkhchkeit
die Wage halten; beide sind nun geichwertig ausgebildet,
stehen sich aber unvermittelt, unversöhnt, in unverhüllter
Zwitterhaftigkeit gegenüber. Denn das Gegenspiel von
Körper und Gewand, das für die mittlere gotische Kunst so
charakteristisch ist, ist kein anderes als das Gegenspiel von
Wirkhchkeit und Unwirkhchkeit resp. Ueber Wirklichkeit.
Allerdings kann man eigentlich nur von einem Gegenspiel
von Gesicht und Gewand sprechen, denn der Körper kommt
in diesen Darstellungen dem Gewände gegenüber gar lücht
auf, und die ganze Schärfe der Wirklichkeitserfassung hat
sich auf den Naturalismus der Gesichtsbehandlung kon-
zentriert. Und mit diesem grossartigen, wirkUchkeitstreuen
46 VON DER TIERORNAAIENTIK
Naturalismus kontrastiert nun, ihm das Gegengewicht gebend,
der Gewandkomplex, den der gotische Künstler zu einem
Schauplatz der UnwirkHchkeit, zu einem kunstvollen Chaos
heftig bewegter Linien mit einer an dieser Stelle unheim-
lichen selbständigen Lebendigkeit und Ausdruckskraft machte.
Was hier unversöhnt und für unser modernes Auge
sinnlos nebeneinandersteht, das gelangt auf der höchsten
Stufe der nordischen Entwicklung zu einer idealen Ver-
söhnung. Nämlich in der zeichnerischen Linienkunst eines
Holbein und Dürer. Hier sind Naturalismus und geistiges
Ausdruckswesen keine Gegensätze mehr, hier sind sie nicht
mehr in eine äusserliche Verbindung, sondern in eine innere
Verbindung gebracht. Die Absicht der Vergeistigung hat
allerdings ihre grosse Dynamik verloren, aber sie ist so weit
sublimiert, so weit ins Innerliche gewandt, dass sie sich mit
dem geistigen Ausdruck identifizieren kann, der aus der
Darstellung resp. dem Dargestellten selbst herauswächst.
Der Wirklichkeit wird also dieses geistige Ausdruckswesen
nicht mehr äusserlich aufgenötigt, sondern sie produziert es
selbst. Und es kommt zu einer Verschmelzung von Wirklich-
keitswiedergabe und abstraktem Linienspiel, der wir, wie
gesagt, die zeichnerische Charakterisierungsfähigkeit Dürers
und Holbeins verdanken, die im Rahmen der bildenden
Kunst das Höchste darstellt, was unter den künstlerischen
Voraussetzungen, wie sie für den Norden vorlagen, überhaupt
/ zu erreichen war und das deshalb in seiner Vollendung in der
ganzen Kunstgeschichte ohne Parallele ist. Die zeichnerische
Charakterisierungsfähigkeit ist ohne diese Vorgeschichte einer
rein abstrakten Linienübung gar nicht denkbar. Sie erst
ermöglichte es, dass der Eigenausdruck der Linie, ihr selb-
ständiges geistiges Dasein mit der vom Objekt abhängigen
dienenden Funktion der Linie eine so glückliche Verbindung
einging, dass der geistige Ausdruckswert der Linie zugleich
zum Interpreten der geistigen Energie des Dargestellten wird.
Aus dem Nebeneinander von geistigem Ausdruck und
Wirklichkeitswiedergabe wird auf dieser Stufe ein Mit-
einander, das die höchste geistige Charakterisierungs-
fähigkeit produziert, die die Kunstgeschichte kennt. In
dieser konzentrierten Darstellung geistiger Energien
gipfelt die Gotik, gipfelt die nordische abstrakte Linienkunst,
BIS ZU HOLBEIN 47
und man kann den Gegensatz zwischen Gotik und Klassik
nicht besser betonen, als wenn man hier zum Vergleich
Michelangelo heranzieht, in dem gewissermassen die klassische, ,
d. h. organisch gebundene Ausdruckskunst ihren Gipfel er- ■^*'|^*^
reicht: die mächtige Darstellung sinnlicher Energien steht
hier der mächtigsten Darstellung geistiger Energien gegenüber.
So klingt der Gegensatz von Klassik und Gotik aus. Und nur
angedeutet mag hier werden, dass die nordische Kunst, nach-
dem sie durch die Aufnahme unvereinbarer klassischer Ele-
mente, wie sie die europäische Renaissance brachte, um jede
sichere Orientierung gebracht worden war, das geistige Aus-
druckswesen, das sie ihrer ganzen Veranlagung nach bedurfte,
und das nun seines gegebenen Trägers, der abstrakten Linie,
beraubt worden war, überhaupt nicht mehr formal ausdrückte,
sondern nur inhaltlich. Ja, der Unterschied zwischen Form
und Inhalt, den keine autochthone Kunst kennt, er wurde
geradezu erst durch diese allgemeine künstlerische Des-
orientierung in die nordische Kunst gebracht. Die Neigung
der nordischen Kunst zu allegorischem Beziehungswerk, zu
literarischer Bedeutsamkeit, sie ist der letzte Ausläufer jener
geistigen Ausdruckssucht, die, ihrer natürhchen formalen
Verkörperungsmöglichkeit durch die Vorherrschaft einer
fremden Formen weit beraubt, nun so äusserlich und un-
künstlerisch auf das Kunstprodukt aufgepflanzt wird. Die ^
stärksten nordischen Maler nach der Renaissance waren \ ^' ^ H«^*'**-
verkappte Literaten, verkappte Dichter, und insofern haben . > v.. i><v» a/
die Leute leider nicht ganz unrecht, die das Wesen der -+'^*'=*A«tV
deutschen Kunst mit dieser literarischen Note untrennbar
verknüpft sehen. Nur wird dadurch die Katastrophe der
nordischen Renaissance in ein noch helleres Licht gerückt,
nur werden gleichzeitig Die dadurch entschuldigt, die sich
von einer Kunst, die ihre ideale Einheitlichkeit verloren hat,
abwenden und da Anknüpfung suchen, wo der künstlerische
Wille sich noch rein formal auszudrücken weiss. Und das
ist in dem modernen Europa vielleicht nur noch in Frank-
reich der Fall, das zudem eine Art Synthese zwischen
nordischer Geistigkeit und südlicher Sinnlichkeit in seiner
modernen Kunst zustande gebracht hat.
48 TRANSZENDENTALISMUS
TRANSZENDENTALISMUS
DER GOTISCHEN AUSDRUCKSWELT
A y\ / ir sagten, dass der apriorische FormwiUe einer Mensch-
heitsperiode immer der adäquate Ausdruck ihres
Verhältnisses zur Umwelt sei. So muss sich uns auch aus
dem Wesen des gotischen Form willens, wie wir ihn durch
die Analyse der nordischen Ornamentik in seiner rohesten,
aber augenfälligsten Struktur kennen gelernt haben, das
Verständnis erschliessen für das Verhältnis, in dem der
nordische Mensch zur Aussenwelt stand.
Zur Orientierung greifen wir wieder zurück auf die grossen
Musterbeispiele der Menschheitsgeschichte, wie wir sie in
früheren Kapiteln fixiert haben. Da war der gesetzmässige
Zusammenhang zwischen Formwille und Weltgefühl ganz
klar. So sahen wir beim primitiven, geistig noch unent-
wickelten Menschen einen absoluten Dualismus, ein durch
nichts gemildertes Furchtverhältnis zur Erscheinungswelt,
das sich in künstlerischer Beziehung naturgemäss äusserte
in dem Bedürfnis, sich vor der Willkür der Erscheinungs-
welt zu retten und sich anzuklammern an selbstgeschaffene
Werte von Notwendigkeits- und Unbedingtkeitscharakter.
Seine Kunst ist also verankert in einem Erlösungsbedürfnis;
das gibt ihr den transzendentalen Charakter.
Denselben transzendentalen Charakter trägt die orien-
talische Kunst, die gleichfalls aus dem Erlösungsbedürfnis
herauswächst. Der Unterschied zwischen ihnen ist, wie wir
sahen, kein genereller, sondern nur ein gradueller in quali-
tativer Beziehung, wie er schon durch den Unterschied von
Primitivität und Kultur gegeben ist. Die generelle Gleich-
heit der seelischen Voraussetzungen zeigt sich trotz aller
qualitativen Unterschiede darin, dass bei beiden der Form-
wille gebunden ist an die abstrakte, organisch ungemilderte
Linie. Wo die abstrakte Linie der Träger des Form willens_
ist, da ist die Kunst transzendental, da ist sie durch Er-_
lösungsbedürfnisse bedingt. Die organisch bestimmte Linie
dagegen zeigt an, dass jedes Erlösungsbedürfnis in grossem
Sinne abgeflaut und zu einem bloss individuellen Erlösungs-
bedürfnis, wie es sich ja schliesslich in jeder Hinneigung
DER GOTISCHEN AUSDRUCKSWELT 4g
ZU Gesetzlichkeit und Harmonie dokumentiert, gemildert
ist. Tm grossen Sinne transzendental ist die Kunst dann
nicht mehr.
Für unser gotisches Problem ergibt sich daraus, dass
dieser Zustand der Abflauung und Milderung noch nicht
eingetreten sein kann, denn da auch hier die abstrakte,
organisch ungemilderte Linie Träger des Formwillens ist,
so ist das Erlösungsbedürfnis als psychische Voraussetzung
des gotischen Kunstphänomens schon nachgewiesen. Ander-
seits sehen wir, dass dieses Erlösungsbedürfnis von dem
des primitiven und orientalischen Menschen deutlich ge-
schieden ist, denn während der primitive und der orien-
talische Mensch im künstlerischen Ausdruck ihrer Er-
lösungssucht bis zur äussersten Grenze gehen und sich von
der quälenden Willkür der lebendigen Erscheinungswelt
nur durch die Anschauung toter ausdrucksloser Werte
zu befreien vermögen, sehen wir die gotische Linie voller Aus-
druck, voller Lebendigkeit. Dem orientaHschen Fatalismus
und Quietismus steht hier eine suchende, drängende Bewegt-
heit, eine ruhelose Aktivität gegenüber. Der Dualismus
zur Aussenwelt kann also nicht in der Stärke vorhanden
sein, wie beim primitiven und orientalischen Menschen.
Anderseits kann er durch Erkenntnis noch nicht so abge-
flaut sein, wie beim klassischen Menschen, denn dann würde
die im organischen Sinne geklärte Linie die Ueberwindung
aller dualistischen Beklemmungen anzeigen.
Dass die gotische Linie ihrem Wesen nach abstrakt und
gleichzeitig von einer sehr starken Lebendigkeit ist, das
sagt uns, dass hier ein differenzierter Zwdschenzustand vor-
liegt, in dem der Dualismus nicht mehr stark genug ist,
um in der absoluten Negation des Lebens die künstlerische
Befreiung zu suchen, aber auch noch nicht so abgeschwächt,
um aus der organischen Gesetzlichkeit des Lebens selbst
den Sinn der Kunst abzuleiten. So zeigt der gotische Form-
wille weder die Ausdrucksruhe des absoluten Erkenntnis-
mangels, wie der des primitiven Menschen.noch die Ausdrucks -
ruhe der absoluten Erkeimtnisresignation, wie der des orien-
talischen, noch die Ausdrucksruhe des gefestigten Erkenntnis-
glaubens, wie sie sich in der organischen Harmonie der
klassischen Kunst dokumentiert. Sein eigentliches Wesen
4
50 TRAN SZENDENTALISMUS
scheint vielmehr ein unruhiges Drängen zu sein, das in
seinem Suchen nach Beruhigung, in seinem Suchen nach
Erlösung keine andere Befriedigung finden kann, als die der
Betäubung, als die des Rausches. So wird der Dualismus,
der bis zur Negation des Lebens nicht mehr ausreicht, der
schon angekränkelt ist von Erkenntnissen, die ihm doch
die volle Befriedigung vorenthalten, zu einer unklaren
Rauchssucht, zu einem krampfhaften Verlangen, aufzu-
gehen in einer übersinnhchen Verzückung, zu einer Pathetik,
deren eigentliches Wesen Masslosigkeit ist.
So spiegelt sich schon in der nordischen Ornamentik
klar die gotische Seele wider: es sind die Kurven ihres
Empfindens, die hier die Linie beschreibt. Das Unbefriedigte,
immer nach neuen Steigerungen Gierige und schliesslich
sich im Unendlichen verlierende Drängen, das in diesem
Linienwirrwarr lebt, ist ihr Drängen, ist ihr Leben. Sie hat
die Unschuld der Erkenntnislosigkeit verloren, hat sich
aber weder zum grossartigen Erkenntnisverzicht des Orien-
talen, noch zu dem Erkenntnisglück des klassischen Menschen
durchringen können, und so kann sie sich, aller klaren natür-
lichen Befriedigung beraubt, nur in einer krampfhaften,
unnatürlichen Befriedigung ausleben. Nur diese gewalt-
same Steigerung reisst sie zu Empfindungssphären fort, in
denen sie endlich das Gefühl ihrer inneren Disharmonie
verhert, in denen sie Erlösung findet von ihrem unruhigen,
unklaren Verhältnis zum Weltbilde. An der WirkHchkeit
leidend, von der Natürlichkeit ausgeschlossen, strebt sie
einer Welt des Ueberwirklichen, des Uebersinnlichen zu.
Den Taumel des Empfindens braucht sie, um sich über
sich selbst hinauszuheben. Nur im Rausch spürt sie Ewig-
keitsschauer. Diese erhabene Hysterie ist es, die vor allem
das gotische Phänomen kennzeichnet.
Derselbe Empfindungskrampf, der sich in der pathe-
tischen Linienphantastik der nordischen Ornamentik aus-
spricht, lässt später die unsinnliche, übersinnliche Pathetik
gotischer Architektur entstehen. Von der nordischen Orna-
mentik aus führt ein gerader Weg zur gotischen Architektur,
Der Formwille, der sich zuerst nur auf dem freien materiell
ungebundenen Schauplatz ornamentaler Tätigkeit auszu-
sprechen vermochte, er erstarkte allmählich so, dass es ihm
•yf. f %..>.
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PORTALKRÖXUXG DER KATHEDRALE ZU REIMS. KRÖNUNG MARL\S
DER GOTISCHEN AUSDRUCKSWELT 51
schliesslich auch gelang, den spröden, ungefügen Stoff der
Architektur für seine Zwecke zu vergewaltigen und —
durch den natürlichen Widerstand zur höchsten Kraft-
leistung angestachelt — hier sogar seinen imposantesten
Ausdruck zu finden.
Auch auf anderen Gebieten Hesse sich diese Pathetik
als Grundelement des nordischen Formwillens nachweisen.
Die ganz eigenartigen Wort- und Satzverschränkungen
der frühen nordischen Dichtung, ihr kunstvolles Chaos
miteinander verschlungener Vorstellungen, die durch den
Stabreim bestimmte ausdrucksvolle Rhythmik mit ihrer
verschlungenen Wiederholung des Anlauts (der Wiederholung
des Motivs in der Ornamentik entsprechend und gleich ihm
den Charakter einer wirren, unendlichen Melodie produ-
zierend) : das alles sind unverkennbare Analoga zur nordischen
Ornamentik. Den Ausdruck der Ruhe und der Ausgeglichen-
heit kennt die germanische Poesie nicht, alles geht auf in
Bewegung. ,,So kennt die germanische Dichtung kein
beschauliches Versenken in ruhende Zustände; ihre Dichtung
träumt kein tatenloses Idyll; ihre Aufmerksamkeit fesselt
nur bewegtes Tun und stark flutende Empfindung. . . .
Die Gefühle des Pathetischen vor allem müssen unsere Alt-
vordern bewegt haben, ist anders die Formgebung dieser Dich-
tung der getreue Ausdruck innerer Stimmung." (Lamprecht.)
Wir finden also das bestätigt, was uns der Charakter
der nordischen Ornamentik schon verriet. Wo die Steigerung
des Pathetischen herrscht, da gilt es innere Dissonanzen zu
übertönen; der gesunden Seele ist alle Pathetik fremd.
Nur wo der Seele die natürlichen Ventile versagt sind, nur
da, wo sie ihren Gleichgewichtspunkt noch nicht gefunden
hat, da enthält sie ihren inneren Druck in solchen unnatür-
lichen Steigerungen. Man denke an die verstiegene Pathetik
der Pubertätsjahre, wo unter dem Druck krisenhafter innerer
Auseinandersetzungen die geistige Rauschsucht sich so unge-
messen dokumentiert. ,, Soviel aber ist gewiss, dass die
unbestimmten, sich weit ausdehnenden Gefühle der Jugend
und ungebildeter Völker allein zum Erhabenen ge-
eignet sind, das, wenn es durch äussere Dinge in uns erregt
werden soll, formlos oder zu unfasslichen For-
men gebildet, uns mit einer Grösse umgeben muss, der
52 TRANSZENDENTALISMUS
wir nicht gewachsen sind. . . . Aber wie das Erhabene
von Dämmerung und Nacht, wo sich die Gestalten vereinigen,
gar leicht erzeugt wird, so wird es dagegen vom Tage ver-
scheucht, der alles sondert und trennt, und so muss er durch
jede wachsende Bildung vernichtet werden." Diese Goethe-
schen Worte könnten als Motto über unserer ganzen Be-
trachtung stehen.
So sagt uns das omamentale Paradigma genug über
die Disharmonie aus, die den Form willen der Gotik bestimmte.
Wo Einklang herrscht zwischen Mensch und Aussenwelt,
wo der innere Gleichgewichtspunkt gefunden ist, wie beim
klassischen Menschen, da gebärdet sich auch der Wille zur
Form als ein Wille zur Harmonie, als ein Wille zur Aus-
geglichenheit, als ein Wille zur organischen Geschlossenheit.
Da beschreibt er die glücklichen und beglückenden Formen,
die der Erkenntnissicherheit und dem aus ihr folgernden
inneren Daseinsglück entsprechen. Von keiner Hemmung
beirrt, von keiner Sucht nach Transzendenz gesteigert, lebt
er sich in den Grenzen menschlich organischen Seins restlos
aus. Ein Blick auf die griechische Ornamentik beweist es.
Der gotischen Seele aber fehlte dieser Einklang. Innen-
welt und Aussenwelt sind in ihr noch unversöhnt, und die
unversöhnten Gegensätze drängen nach einer Auslösung in
transzendenten Sphären, drängen nach einer Auslösung in
seelischen Steigerungszuständen. Eine schliessliche Aus-
lösung wird also — und das ist das Entscheidende — noch für
möglich gehalten; das Bewusstsein eines endgültigen Dualis-
mus fehlt noch. Die Gegensätze gelten noch nicht für unver-
söhnlich, sondern nur für noch unversöhnt. Und der Unter-
schied zwischen der ausdruckslosen abstrakten Linie des
orientalischen Menschen und der ausdrucksgesteigerten
abstrakten Linie des gotischen Menschen ist eben der Unter-
schied zwischen einem endgültigen Dualismus aus tiefster
Welteinsicht und einem vorläufigen Dualismus einer noch
unentwickelten Erkenntnisstufe, ist der Unterschied zwischen
dem erhabenen Quietismus des Greisenalters und der ver-
stiegenen Pathetik der Jugend.
Der Dualismus des gotischen Menschen steht nicht über
dem Erkennen wie beim orientalischen Menschen, er steht
noch vor dem Erkennen. Er ist ihm zum Teil dumpfe
DER GOTISCHEN AUSDRUCKSWELT 53
Ahnung, zum Teil bittere Erfahrungstatsache. Sein Leiden
am Duahsmus hat sich noch nicht zur Verehrung geläutert.
Er sträubt sich noch gegen die duaUstische Unabwendbarkeit
und sucht sie in unnatürlichen Empfindungssteigerungen zu
überwinden. Das weder durch rationell-sinnliche Erkenntnis
im klassischen Sinn überwundene, noch in orientalischer Weise
durch tiefe metaphysische Einsicht gemilderte und ver-
klärte Gefühl dualistischer Zerrissenheit macht ihn ruhelos
und friedlos. Es fühlt sich als Sklave höherer Mächte, die
er nur fürchten und nicht verehren kann. Zwischen der
aus Rationalismus und naiver Sinnlichkeit organisch empor-
gewachsenen Weltfrömmigkeit des Griechen und der ins
Religiöse geläuterten Weltverneinung des Orientalen steht
er mit seiner glücklosen Weltfurcht, ein Produkt irdischer
Friedlosigkeit und metaphysischer Verängstigung. Und da
ihm Ruhe und Klarheit vorenthalten sind, bleibt ihm nichts
anderes übrig, als seine Unruhe und Unklarheit bis zu dem
Punkte zu steigern, wo sie ihm Betäubung, wo sie ihm
Erlösung bringen.
Das Aktivitätsbedürfnis des nordischen Menschen, dem
es versagt ist, sich in klare Erkenntnis der Wirklichkeit
umzusetzen und das durch diesen Mangel an natürlicher
Auslösung gesteigert wird, entlädt sich schliesslich in einer
ungesunden Phantasietätigkeit. Der Wirklichkeit, die der
gotische Mensch noch nicht durch klare Erkenntnis in Natür-
lichkeit umsetzen konnte, ihrer bemächtigt sich diese ge-
steigerte Phantasietätigkeit und wandelt sie ins Gespenstische
gesteigerter und verzerrter Wirklichkeit. Ins Unheim-
liche, Phantastische ist alles gewandelt. Hinter der Sicht-
barkeit der Dinge lauert ihr Zerrbild, hinter der Leblosigkeit
der Dinge ein unheimliches gespenstisches Leben, und alles
Wirkliche wird zum Grotesken. So tobt sich der von seiner
natürlichen Befriedigung zurückgehaltene Erkenntnisdrang
in wilder Phantastik aus. Und wie von dem wirren Linien-
spiel der nordischen Ornamentik eine unterirdische Linie zur
raffinierten Konstruktionskunst der gotischen Architektur
führt, so führt auch eine Linie von dieser wirren Phantastik
geistiger Unmündigkeit zu der raffinierten Konstruktion der
Scholastik. Allen ist gemeinsam der an kein Objekt ge-
bundene und deshalb sich im Unendlichen verlierende Be-
54 NORDISCHE RELIGIOSITÄT
wegimgsdrang. In der Ornamentik und in dem frühen
Phantasieleben sehen wir nur Chaos; in der gotischen Archi-
tektur und der Scholastik ist dieses rohe Chaos zu einem
kunstvollen, raffinierten Chaos geworden. Der Formwille
bleibt durch die ganze Entwicklung hindurch derselbe; er
macht nur alle Stationen von äusserster Primitivität bis
zur äussersten Kultur durch.
NORDISCHE RELIGIOSITÄT
^o wenig uns das religiöse Empfinden des nordischen
^^ Menschen vor der Rezeption des Christentums bekannt
ist, so sehr die Ueberlieferung hier versagt, die allgemeine
Struktur dieses Empfindens lässt sich doch andeuten. Eine
ins Religiöse gewandte angstvolle Phantastik mit unklarer
Unterscheidung, mit Verquickung von Wirklichkeit und
Unwirklichkeit scheint auch hier ausschlaggebend gewesen
zu sein. So schiebt sich denn zwischen der schönen klar
umschriebenen Plastik der klassischen Götterwelt und
dem ganz unplastischen, unpersönlichen Transzendentalismus
des Orients das zwitterhafte Gebilde nordischer Götter-
und Geisterwelt ein. In dem Augenblick, wo man diese
Götter weit zu fassen glaubt, verflüchtigt sie sich wieder zu
wesenlosen Schemen, und zwischen dem Gestalteten und
dem Gestaltlosen scheint es keine Uebergänge, keine Grenzen
zu geben. ,,Die Gestalten der Göttlichen behalten etwas
Unfassbares: so oft sie personifiziert wurden, so oft schien
die Wirkung ihrer Gewalten der Anlegung jedes menschlichen
Massstabes zu spotten. Dies scheint der Grund, warum die
germanischen Götter formlos in ihrer Gestalt, schwankend
in der Abgrenzung ihrer Berufe erscheinen. Der Regel nach
wurden wenigstens die Hauptgötter unpersönlich gedacht
im geheimnisvollen Dunkel von Wäldern." (Lamprecht.)
In dem rohen Eudämonismus der allgemeinen Vor-
stellungen unterscheidet sich die nordische Religiosität
wenig von anderen Naturreligionen. Aber hinter diesem zuerst
ins Auge fallenden Eudämonismus entdeckt der suchende
STREBEBOGEN AM DOM ZU CÖLN
Originalaufnahme der Kel. Preussischen Messbildanstalt zu Berlin.
NORDISCHE RELIGIOSITÄT 55
Blick alsbald die gewaltige Unterschicht von Angstvorstel-
lungen, die, aus dualistischer Beunruhigung aufkeimend, die
nordische Götterwelt mit Gespenster-, Geister- und Spuk-
wesen durchsetzen. Ein phantastischer Gestaltungsdrang
ist hier tätig, der aus dem Spiel der Eindrücke das Spiel
wilder, wirrer Geister schafft, die hier und da Gestalt ge-
winnen, um bei näherem Zusehen sich wieder ins Gestalt-
lose zu verflüchtigen. Gemeinsam ist dieser ganzen Geister-
und Gespensterwelt eine gewisse Unstetigkeit, eine ruhe-
lose Bewegtheit. Der nordische Mensch kennt nichts Ruhiges,
seine ganze Gestaltungskraft konzentriert sich auf die Vor-
stellung imgehemmter massloser Bewegtheit. Die Sturm-
geister stehen ihm am nächsten.
Ueber den religiösen Kult sind wir auch nur fragmen-
tarisch unterrichtet. Von andächtiger Verehrung und Ver-
senkung in die Gottheit war man weit entfernt; der Kult
erschöpfte sich vielmehr in einer angsterfüllten, opfer-
reichen Beschwörung und Beschwichtigung ungewisser über-
natürlicher Mächte.
In dem Unterschied der nordischen Geisterwelt zu der
klassischen Götterwelt erfassen wir die Eigenart germanischer
Rehgiosität am besten. Dort eine formlose, unpersönliche
Bewegtheit, eine heftige Aktuahtät gleichsam abstrakter
Kräfte, die nur vorübergehend und dann eine täuschende
rätselhafte irritierende Gestalt annehmen (wie die heftige
Aktualität abstrakter Linien in der Ornamentik auch mit
Wirkhchkeitsandeutungen durchsetzt wird), hier dagegen
ein in sich ruhendes, körperlich fassbares Sein von klarer
täuschungs- und rätselfreier Plastik. Diesen Höhepunkt
organischer Gestaltungskraft hat die griechische Menschheit
auch nicht mit einem Male erklommen, auch bei ihr galt
es, alte duahstische Beunruhigungen, teils Rudimente roher
Entwicklungsstufen, teils Ansteckungen aus orientalischem
Spiritualismus, zu überwinden, aber schon der Grieche
Homer steht mit seinem Götterglauben in vollem Sonnen-
licht da und aller Nebel- und Geisterspuk ist verschwunden.
Die Entwicklung von unklarer Gespensterfurcht, von
düsterem ungeläutertem Fatalismus zu kosmischer Auffassung
des Weltbildes und entsprechend plastischer Auffassung
der Götterwelt zeichnet Erwin Rohde in seiner ,, Psyche"
56 NORDISCHE RELIGIOSITÄT
wie folgt: „Der Grieche Homer fühlt im tiefsten Herzen
seine Bedingtheit, seine Abhängigkeit von Mächten, die ausser
ihm walten. Ueber ihm walten Götter mit Zauberkraft,
oft nach unweisem Gutdünken, aber die Vorstellung einer
allgemeinen Weltordnung, einer Fügung der sich durch-
kreuzenden Ereignisse des Lebens der Einzelnen und der
Gesamtheit nach zugemessenem Teile ([xuipa) ist erwacht,
die Willkür der einzelnen Dämonen ist beschränkt. Es
kündet sich der Glauben an, dass die Welt ein Kosmos sei,
eine Wohlordnung, wie sie die Staaten der Menschen einzu-
richten suchen. Neben solchen Vorstellungen konnte der
Glaube an wirres Gespenstertreiben nicht mehr recht ge-
deihen. Dieses Gespenstertreiben ist im Gegensatz zu
echtem Götterwesen stets daran kennthch, dass es ausser-
halb jeder zum Ganzen sich zusammenschliessenden Tätigkeit
steht, dass es dem Gelüste der Bosheit des einzelnen unsicht-
baren Mächtigen allen Spielraum lässt. Das Irrationelle, das
Unerklärliche ist das Element des Seelen- und Geister-
glaubens; hierauf beruht das eigentümlich Schauerliche
dieses Gebietes des Glaubens oder Wahns, hierauf beruht
weiterhin das unstät Schwankende seiner Gestaltungen.
Die Homerische Religion lebt schon im Rationellen, ihre
Götter sind dem griechischen Sinn völlig begreiflich, der
griechischen Phantasie in Gestalt und Gebaren völlig
deutlich und hell erkennbar."
Hier ist es klar ausgesprochen — was uns als wichtiges
Schlaglicht für unser gotisches Problem dienen kann — ,
dass die schöne Plastik griechischer Götterwelt eine ratio-
nalistische Auffassung des Weltbildes nicht, wie man
meinen möchte, ausschliesst, sondern sich mit ihr direkt
ergänzt als die andere Seite einer anthropozentrischen,
anthropomorphischen Gestaltungskraft, die ihre Kräfte aus
dem beglückenden Einheitsgefühl mit der Aussenwelt schöpft.
Ein Rohde hat sich leider noch nicht gefunden, der uns
die nordische ,, Psyche" schriebe. Wir tappen, wie gesagt,
hier fast gänzlich im Dunkeln, denn das Material, das uns
vorliegt, ist ganz dürftig und noch dazu durch spätere, im
christlichen Sinne tendenziöse Zusätze entstellt. Die spär-
lichen Nachrichten über die religiösen Anschauungen der
nordischen Menschheit bestätigen uns aber, wie wir sahen.
NORDISCHE RELIGIOSITÄT 57
das, was uns die frühe Kunst über die Zwitterhaftigkeit
seiner seelischen Konstitution aussagte. Die nordische
Mythologie reiferer Zeit kann nur mit grosser Vorsicht
zur Interpretation nordischer Religiosität herangezogen
werden, da ihr Zusammenhang mit dem eigentlich religiösen
Empfinden nur ein sehr loser ist. Sie gehört der Literatur-
geschichte enger an, als der Religionsgeschichte.
Den reichsten Aufschluss aber über die nordische Seelen-
verfassung gewinnen wir nicht durch direkte Interpretation,
sondern durch Rückschlüsse, die wir mit aller Sicherheit aus
späteren, uns besser überlieferten Entwicklungsstadien ziehen
können. Und die Tatsache, die nach dieser Seite hin am
fruchtbarsten ist, ist die Rezeption des Christentums durch
den Norden. Ein Volk nimmt auch durch Gewalt keine
Religion an, die ihm ganz und gar wesensfremd ist. Gewisse
Vorbedingungen der Resonanz müssen vorhanden sein.
Wo der Boden nicht irgendwie vorbereitet ist, da kann
wohl starke und brutale Gewalt eine äusserliche oberfläch-
liche Aufnahme erreichen, ein tieferes Wurzelfassen aber
kann sie niemals erzwingen. Und das Christentum hat nicht
nur in der Oberflächenschicht, sondern auch in tieferen
Schichten nordischer Empfindung Wurzel gefasst, wenn
es auch nicht in alle Schichten gelangen konnte. Gewisse
seelische Voraussetzungen müssen also die Rezeption vor-
bereitet haben. All der mythologische Polytheismus hatte
eine gewisse fatalistische, der Tendenz nach monotheistische
Anlage in der nordischen Seelenverfassung nicht verschütten
können. Ja, diese Anlage ward immer stärker und führte
schliesslich zu einer Götterdämmerung, zum Sturz der
alten polytheistischen gespensterhaften Göttervorstellung;
an ihre Stelle trat die dunkle unerbittliche Schicksalsgewalt
der Nomen. Die Entwicklung drängte also nach einem
Monotheismus hin, und da zudem das Christentum für die
noch nicht ganz unterdrückten polytheistischen Bedürfnisse
mit seinem Heiligen- und Märtyrerkultus einen gewissen
Ersatz bot, so war die Austauschung mythologischer mit
christlichen Vorstellungen gut vorbereitet.
Die grösste Ueberzeugungskraft des Christentums lag
aber für den Norden in seiner systematischen Ausbildung.
Das System des Christentums in seiner Vollkommenheit
58 NORDISCHE RELIGIOSITÄT
gewann den systemlosen nordischen Menschen mit seiner
verworrenen nebelhaften Mystik.
Dem nordischen Menschen fehlte die Kraft zu dem selb-
ständigen Aufbau einer festen Form für seine transzenden-
talen Bedürfnisse. Die seelischen Kräfte verzehrten sich in
innerem Widerstreit und gelangten so zu keiner einheitlichen
Kraftleistung. Das Bedürfnis zur Tat ermüdete auf dem
Umweg über die vielen Hemmungen, und was übrigblieb,
war das Gefühl einer traurigen Ohnmacht, das dann nach der
Betäubung des Rausches verlangte. Dieses Schwäche-
bewusstsein machte den verdienten Menschen, solange er
noch nicht seine innere Reife gefunden hatte, widerstands-
los gegenüber jedem fertigen, ihm von aussen vermittelten
System, mochte es nun das römische Recht oder das Christen-
tum sein. Wenn nun gar wie im Christentum Saiten seiner
eigenen zerrissenen Natur widerklangen, wenn seinen
unbestimmten, nebelhaften, transzendentalen Vorstellungen
hier ein wundervoll ausgebautes logisches System von ver-
wandtem transzendentalem Charakter gegenübertrat, da
musste dieses System überzeugend wirken und jeden leisen
Widerspruch überrumpeln und unterdrücken. Dann musste
das Verlangen, in einer festen Form auszuruhen, alle Dis-
krepanz zwischen der eignen und den fremden Vorstellungen
überwinden : das Stoffliche, Inhaltliche, Sekundäre der eignen
Vorstellungen wurde schneller, als man es dem schwerfälligen
Nordländer zutrauen möchte, den fremden Anschauungen
untergeschoben und so der neuen Form angepasst. Doch
blieb das System des Christentums immer nur ein Ersatz
für die Form, die der nordische Mensch aus eigner Kraft
vorläufig nicht schaffen konnte. So konnte von einem voll-
ständigen restlosen Aufgehen im Christentum keine Rede
sein, und wenn der Norden, von der fertigen Form verführt,
sich ihm unterworfen hatte, so blieben doch manche Teile
seines Wesens von dieser nicht selbstgeschaffenen Form
ausgeschlossen. Für die dualistische Zwitterhaftigkeit eine
entsprechende Form zu finden, die chaotische Rauschsucht zu
systematisieren, das blieb dem Entwicklungshöhepunkt der
nordischen Menschheit, der reifen Gotik vorbehalten. Die
christliche Scholastik, in noch weit höherem Grade die gotische
Architektur: sie sind erst die eigentlichen Erfüllungen
DER BAUGEDANKE DER KLASSIK
59
dieses so schwer zu befriedigenden nordischen Formwillens
und werden uns darum noch ausführlich beschäftigen. Vor-
läufig genügt es uns, durch die Tatsache der Annahme des
Christentums jene Erkenntnisse über das Wesen des nor-
dischen Menschen bestätigt zu sehen, zu denen wir auf dem
Einzelweg der stilpsychologischen Analyse seiner frühsten
Kunstäusserungen kamen. Denn sie liess uns den Form-
willen erkennen, der seinem Verhältnis zur Aussenwelt
adäquat ist und der deshalb all seine Lebensäusserungen
bestimmt.
DER BAUGEDANKE DER KLASSIK
Jede Zeit wirft sich mit besonderer Wucht auf diejenige
künstlerische Tätigkeit, die ihrem besonderen Form-
willen am meisten entgegenkommt; sie gibt der Kunst-
äusserung resp. der Technik den Vorzug, deren besondere
Ausdrucksmittel am meisten Gewähr dafür bieten, dass sich
der Form Wille frei und ungehindert in ihr aussprechen kann.
Indem wir also den historischen Tatbestand befragen und
uns darüber orientieren, welche Kunstäusserungen in den /
verschiedenen Epochen vorherrschen, haben wir schon die /
wichtigste und elementarste Handhabe gefunden, um den
Formwillen der betreffenden Epochen zu bestimmen. Es ist
uns dadurch gleichsam der einzig berechtigte Standpunkt
angewiesen, von dem aus wir zur Interpretierung der be-
treffenden Stilerscheinung schreiten können. Wenn wir also
z. B. wissen, dass in der klassischen Antike die Plastik, und
zwar speziell die plastische Darstellung des menschhchen
Schönheitsideals, dominierte, so haben wir damit schon das
Leitmotiv, den Grundgedanken der griechischen Kunst ge-
funden, so haben wir damit schon den Schlüssel gefunden,
der uns alle anderen griechischen Kunstäusserungen in ihrem
innersten Wesen aufschliessen kann. Der griechische Tempel
beispielsweise kann nicht aus sich selbst heraus verstanden
werden ; erst wenn wir in der griechischen Plastik den Grund-
gedanken griechischen Kunstschaffens in paradigmatischer
6o DER BAUGEDANKE DER KLASSIK
Reinheit erkannt haben, werden wir den griechischen Tempel
verstehen, werden wir nachfühlen können, wie der Grieche
mit rein statischen, rein konstruktiven Verhältnissen jene
Schönheitsgesetze organischen Seins auszudrücken versuchte
und vermochte, für die er auf der Höhe seiner Kunst den
direktesten und klarsten Ausdruck in der unmittelbaren
plastischen Darstellung des schönen Menschen fand. Und in
ähnlicher Weise werden wir die Kunstäusserungen der ita-
lienischen Renaissance in ihrem Werden erst dann verstehen,
wenn wir das letzte und klarste Wort über sie gehört und
verstanden haben, das Raffael über sie gesprochen hat.
So hat jede Stilerscheinung ihren Höhepunkt, in dem
sich der betreffende Formwille gleichsam in Reinkultur
dokumentiert. Wenn wir uns nun angesichts der Gotik
fragen, in welcher Kunstäusserung resp. in welcher Kunst-
technik sie sich am meisten auslebte, so kann kein Zweifel
über die Antwort aufkommen. Wir brauchen nur das Wort
Gotik auszusprechen, um sogleich die starke Ideenassoziation
von gotischer Architektur in uns zu erwecken. Diese not-
wendige Ideenverbindung zwischen Gotik und Architektur
deckt sich mit der historischen Tatsache, dass die Stilepoche
der Gotik von der Architektur ganz beherrscht wird, dass
alle anderen Kunstäusserungen entweder direkt von ihr ab-
hängig oder jedenfalls ihr gegenüber eine sekundäre Rolle
spielen.
Wenn wir von der Kunst der klassischen Antike sprechen,
so taucht bezeichnenderweise als erste Ideenverbindung die
antike Plastik mit ihren Meisternamen in uns auf; wenn wir
von der italienischen Renaissance sprechen, so kommen uns
die Namen Masaccio, Lionardo, Raffael und Tizian zuerst
auf die Lippen; wenn wir aber von der Gotik sprechen, dann
steht sofort das Bild gotischer Kathedralen vor uns. Und
es entspricht dem schon angedeuteten inneren Zusammen-
hang zwischen der Gotik und dem Barock, dass auch bei
letzterem als nächste Ideenverbindung sich die Architektur
einstellt.
Der Begriff Gotik also ist von dem Bilde gotischer
Kathedralen untrennbar; all die drängenden Energien des
Formwillens erhalten in der gotischen Architektur ihre
apotheosenhafte Erfüllung, ihren glänzenden Abschluss. Und
RUINEN DER ALTEN ABTEI ZU IU:\Ill:GES
DER BAUGEDANKE DER KLASSIK 6l
es mag hier schon gesagt sein, dass der gotische Formwille
sich in dieser seiner höchsten Kraftleistung ausgegeben und
totgelaufen hat ; nur so erklärt sich die Ohnmacht gegenüber
der Invasion des fremden Kunstideals der Renaissance.
Durch die absolute Vorherrschaft der Architektur in
der Gotik finden wir also bestätigt, was uns schon die Analyse
der nordischen Ornamentik über die Natur des gotischen
Form\\illens ausgesagt hat. Denn da die Sprache der Archi-
tektur eine abstrakte ist, da die Gesetzlichkeiten ihres Auf-
baus von aller organischen Gesetzlichkeit entfernt, vielmehr
abstrakter mechanischer Natur sind, so sehen wir in der
gotischen Hinneigung zum architekturalen Sich-Ausdrücken
nur eine Parallele zur Ornamentik, die, wie wir sahen, vom
Eigenausdruck, d. h. dem mechanischen Ausdruckswert der
Linie, also auch von abstrakten Werten beherrscht wird.
Ornamentik und Architektur spielen also in der Gotik
die ausschlaggebende Rolle. Sie allein gewähren durch die
Natur ihrer Ausdrucksmittel eine dem Formwillen adäquate
künstlerische Manifestation. Bei Plastik, Malerei und Zeich-
nung liegt schon eine gewisse Gefahr für die reine Doku-
mentierung des Form willens vor; ja, hier sind innere An-
knüpfungspunkte für die Betätigung des klassischen Form-
willens vorhanden, die es erklärlich erscheinen lassen, dass
die Herrschaft der Renaissance von hier aus Terrain gewann
und den alten Formwillen entrechtete.
Die Ausdruckstendenzen, die das Spiel abstrakter Linien
in der Ornamentik so eigenartig abwandelten, sie müssen
auch für die gotische Architektur massgebend gewesen sein.
Eine Ll^ntersuchung über das Wesen der gotischen Architektur
soll diese Behauptung vertreten. Und als Gegenbeispiel
werden wir uns immer die klassische Architektur gegenwärtig
halten, denn sie zeigt uns die Gegenerscheinung, wie ein
Formwille, der sich seiner Natur nach organisch und nicht
abstrakt ausdrücken muss, die Abstraktheit der architektu-
ralen Ausdrucksmittel überwindet.
Denn die Welt des Architektonischen ist weit, und so
eng die Gesetze der Architektur sind und ihre Ausdrucks-
mittel, so weit und unbegrenzt sind ihre Ausdrucksmöglich-
keiten. Wohl sind die Gesetze aller Architektur dieselben,
nicht aber der durch die Anwendung dieser Gesetze erreichte
62 DER BAUGEDANKE DER KLASSIK
Ausdruck der Architektur, In diesem Sinne ist die Archi-
tektur in ihrem künstlerischen Ausdrucksverlangen ebenso
unabhängig wie die anderen besonders als ,,frei" betonten
Künste. Und es macht gerade die Geschichte der Architektur
aus, wie der relativ kleine Vorrat konstruktiver Probleme
unter dem Druck des wechselnden Form willens zu immer neuen
Ausdrucksbildungen abgewandelt wird. Die Geschichte der
Architektur ist keine Geschichte technischer Entwicklungen,
sondern eine Geschichte wechselnder Ausdruckszwecke und
der Art und Weise, wie die Technik sich diesen veränderten
Zwecken durch immer neue und differenzierte Kombinationen
ihrer Grundelemente anpasst und dienstbar macht. Sie ist
ebensowenig eine Geschichte der Technik, wie die Ge-
schichte der Philosophie eine Geschichte der Logik ist. Auch
hier sehen wir, wie die Logik, wie die wenigen Grundprobleme
des Denkens zu immer neuen, dem betreffenden £tat d'äme
adäquaten Gedankenbildungen abgewandelt werden.
Um unseren Blick zu schärfen für das Verständnis archi-
tekturaler Ausdrucksmöglichkeiten, wollen wir von einer
Untersuchung des klassischen Baugedankens ausgehen. Denn
er ist uns leichter zugänglich, weil wir, wie in jeder anderen
Beziehung, auch architektonisch von der durch die euro-
päische Renaissance aufgefrischten antik-klassischen Tra-
dition abhängig sind. Ein griechischer Philosoph ist uns
auch heute leichter lesbar, als ein mittelalterlicher Scholastiker.
Wenn wir das Bauglied suchen, das der klassischen
Architektur am eigensten ist, so bietet sich uns ohne weiteres
die Säule dar. Was den Eindruck der Säule bestimmt, ist
ihre Rundheit. Diese Rundheit ruft ohne weiteres die Illusion
organischer Lebendigkeit hervor, einmal weil sie uns un-
mittelbar an die Rundheit derjenigen Naturglieder erinnert,
die eine ähnliche tragende Funktion ausüben, vor allem an
den Baumstamm, der die Krone trägt, oder an den Blumen-
stengel, der die Blüte trägt. Dann aber kommt die Rundheit
an und für sich, ohne dass sie analoge Vorstellungen hervor-
ruft, unserem natürlichen organischen Gefühl entgegen. Wir
können keine Rundung betrachten, ohne innerlich den
Bewegungsprozess nachzufühlen, der diese Rundung schuf.
Wir fühlen gleichsam die von aller Gewaltsamkeit entfernte
Sicherheit, mit der die im Zentrum resp. in der Achse der
DER BAUGEDANKE DER KLASSIK 63
Säule konzentrierten zentripetalen Kräfte die zentrifugalen
Kräfte im Schach halten und beruhigen; wir fühlen das
Schauspiel dieses glücklichen Ausgleichs, wir fühlen das
Insichselbstbefriedigtsein der Säule, fühlen die ewige Melodie,
die in dieser Rundung schwingt, fühlen vor allem die Ruhe,
die aus dieser fortwährenden in sich geschlossenen Bewegung
herauswächst. So ist die Säule gleich dem Kreis das höchste
Symbol des in sich geschlossenen und vollendeten organischen
Lebens.
Doch das sind Empfindungen, wie sie die Säule als
Einzelglied, ganz abgesehen von ihrer baulichen Funktion,
erweckt. Stärker werden diese Empfindungen noch, wenn
wir die Säule als Glied des baulichen Organismus ins Auge
fassen. Die bauliche Funktion der Säule ist selbstverständlich
die des Tragens. Diese Funktion würde natürlich ebensogut
von einem rechteckigen Stützglied geleistet werden. Also
tektonisch notwendig ist die runde Säule nicht, wohl aber
künstlerisch, d. h. im Sinne des klassischen Formgedankens.
Denn dem ist es darum zu tun, die Funktion des Tragens auch
auszudrücken, anschaulich zu machen, d. h. sie
unserem organisch determinierten Gefühl unmittelbar ver-
ständlich zu machen. Der rechteckige Pfeiler wäre dieser
organischen Anschauungskraft eine tote Masse, an der unser
Lebensgefühl, unsere organische Vorstellungskraft nirgendwo
einsetzen könnte. Bei der runden Säule aber setzt diese
Vorstellungskraft ohne weiteres ein und erlebt das Kräfte-
schauspiel mit, das sich in diesem tragenden und stützenden
Gliede abspielt. Schon das Ueberge wicht der Höhenaus-
dehnung über die Breitenausdehnung entscheidet. Wenn wir
uns diesen Dimensionenunterschied im organischen Sinne
interpretieren wollen, so werden wir sagen, dass die Tätigkeit
des Zusammenfassens der Tätigkeit des Sichaufrichtens unter-
geordnet ist. Wir fühlen, wie die Säule sich zusammenfasst,
wie sie all ihre Kräfte allseitig nach der Achse hin kon-
zentriert, um nun mit aller Wucht die in der Achse zu-
sammengefasste vertikale, sich aufrichtende Tätigkeit zu
üben, kurz, wir fühlen, wie sie trägt. Es lässt sich gar kein
klarerer, überzeugenderer, beruhigenderer Ausdruck des
sicheren und zwanglosen Tragens denken, als der in der Säule
dargestellte. Bei einer rechteckigen Stütze würden wir nur
64 DER BAUGEDANKE DER KLASSIK
konstatieren können, dass sie trägt, denn davon überzeugt
uns der Effekt, hier aber fühlen wir es, hier aber glauben
wir es, hier aber erhält es Notwendigkeit für uns, weil es
unserer organischen Vorstellungskraft nahegebracht wor-
den ist.
Hinzukommt die Unterstreichung der Vertikalrichtung
durch das Kannelürensystem. Man braucht sich nur vor-
zustellen, diese Kannelüren begleiteten die Säule in ihrer
horizontalen Rundung, um einzusehen, dass dann statt des
Eindrucks des Leicht- Sichauf richtens der Eindruck des Sich-
senkenden, des unter der Last Zusammensinkens zustande
käme. Die passive Funktion des Lastens wäre damit stärker
zum Ausdruck gebracht als die aktive Funktion des Tragens
und damit der Ausdruck der Freiheit in der Auseinander-
setzung von Last und Kraft unterbunden.
Wir sehen also, wie der griechische Formwille, der das
harmonische klassische Einheitsbewusstsein von Mensch und
Aussenwelt repräsentiert und darum in der Darstellung
organischen Lebens gipfelt, in dem Bestreben aufgeht, auch
alles Tektonisch-Notwendige zu emem Organisch-Notwen-
digen zu machen. Am imposantesten äussert sich dieses
Bestreben in der Gesamtanlage des griechischen Tempels,
vor allem in dem Verhältnis von Cella und Säulenumgang.
Hier sehen wir ein drastisches Beispiel dafür, wie unabhängig
der Baugedanke von dem Bauzweck ist, wie weit er sich
über ihn erhebt. Der praktische Bauzweck war für den
Griechen nur, dem Standbild der Gottheit einen geschlossenen,
gegen alle Witterungseinflüsse geschützten Raum zu schaffen.
Doch dieser Raumschatfungszweck konnte ästhetisch nicht
verwertet werden, denn der Grieche hatte kein künstlerisches
Verhältnis zum Raum. Das Wesen der Griechen war viel-
mehr Plastik nicht in direktem, sondern in übertragenem
Sinne gemeint, d. h. das ganze griechische Denken, Fühlen
und Empfinden ging auf kompakte, klar umgrenzte Körper-
lichkeit aus, auf ein festes, geschlossenes, substantielles Sein.
So hatte er die ganze Unfassbarkeit der Welt in klare Fass-
lichkeit umgebildet. Die griechischen Götter, die griechischen
Gedanken, die griechische Kunst: sie alle haben dieselbe
unmittelbare fassliche Plastik. Alles Immaterielle wird aus-
geschaltet und das eigentlich Immartielle ist der Raum.
MITTELSCHIFF DES DOMES ZU CÜLN
Originalaufnahme der Kgl. Preussischen Messbildanstalt zu Berlin.
DER BAUGEDANKE DER KLASSIK 65
Er ist etwas Geistiges, Unfassbares, und erst als der griechische
Geist seine naive sichere Plastik durch die Berührung mit
dem Orient in hellenistischer Zeit verliert, erst da wird die
raumunabhängige Tektonik der Griechen zu einer raum-
schaffenden Architektur.
Die Schaffung der Cella konnte also den griechischen
Form willen nicht befriedigen; der Baugedanke fand keine
Unterstützung durch den Bauzweck. Um das Praktisch-
Erforderliche zu einem Künstlerisch-Erforderlichen imizu-
gestalten, bedurfte es eines grossen Umwegs. Man gab dem
vom praktischen Zweck geforderten Baukern durch den
Säulenumgang eine von jedem praktischen Zweck befreite
Hülle, eine Umkleidung, die keinem anderen Zwecke ge-
horchte als der ästhetischen Zweckmässigkeit, wie sie dem
griechischen Gefühl entsprach. Der Baukern als solcher tritt
ästhetisch zurück, was spricht, ist nur das tektonische Aussen-
gerüst in seiner klar rhythmisierten, fasslichen Plastik. So
wird aus dem blossen Bedürfnisbau ein Kunstwerk.
Der Grundvorgang aller reinen Tektonik ist die Ausj-
einandersetzung des lastenden Gebälks mit den tragendem
Stützen. Diese im Grunde ganz harte, gleichsam katastrophale
Auseinandersetzung wird nun durch die griechische Bausinn-
lichkeit organisch geklärt und gemildert, wird im Säulen-
und Architravsystem zu einem in sich abgeschlossenen und
befriedigenden Schauspiel lebendiger Kräfte umgewandelt,
das wir mit innerem Glücksgefühl nacherleben. Die starre
Logik der Konstruktion wird zu einem lebendigen Organis-
mus umgeschaffen, aus der strengen Kontrapunktik der
lebensfremden architektonischen Gesetze wird ein wohllauten-
der Rhythmus, der dem inneren Rhythmus griechischen
Empfindens entspricht.
Die organische Milderungstendenz der Auseinander-
setzung von Last und Kraft, die auch immer eine Aus-
einandersetzung vertikaler und horizontaler Tendenzen ist,
drückt sich schon in der Schöpfung des Giebels aus. Auch er
hat keine unmittelbare praktische Notwendigkeit, sondern
nur eine ästhetische. Seine ästhetische Funktion ist die, dass
er den aus statischen Gründen unumgänghchen harten Zu-
sammenstoss des horizontalen und vertikalen Systems zu
einem das organische Gefühl befriedigenden Abschluss bringt.
5
66 DER BAUGEDANKE DER KLASSIK
Was das Giebelfeld im grossen tut, das wird im kleinen
von den zwischen dem lastenden Gebälk und den tragenden
Stützen vermittelnden Baugliedern besorgt, in erster Linie
von den Säulenkapitellen. Das organisch disziplinierte Gefühl
verlangt nach einer Milderung des Zusammenstosses von Last
und Kraft, nach einer organischen Vermittlung des Mecha-
nisch-Unvermittelten, und diese Vermittlungs- und Mil-
derungstendenz übernimmt eben das Kapitell. Es nimmt
dem Zusammenstoss das Katastrophale, indem es ihn vor-
bereitet und ausklingen lässt. Es würde uns in diesem
Zusammenhang zu weit führen, die Details des griechischen
Säulen- und Architravsystems auf ihre organische Inter-
pretationskraft hin zu untersuchen. Nur auf den Unterschied
von dorischem und ionischem Stil wollen wir noch deshalb
hinweisen, weil er uns auch ornamental schon entgegengetreten
ist und uns gezeigt hat, wie das Dorische im Griechentum
die Verbindung schafft zwischen der Mittelmeerkultur und
dem Norden. Da ist es charakteristisch, dass die organische
Läuterung konstruktiver Vorgänge im dorischen Tempel
noch nicht so weit gediehen ist. Eine gewisse männliche
Schwerfälligkeit, eine gewisse männliche Scheu hielt den
dorischen Geist davor zurück, sich allzusehr aus der kon-
struktiven Gebundenheit der Architektur zu befreien. Er
verlangte noch nach einer Erhabenheit, die organisch gar
nicht ausdrückbar ist, die nur in abstrakter Sprache wirksam
wird. In diesem Hang nach einer übermenschlichen, über-
sinnlichen Pathetik verrät sich noch seine nordische Her-
kunft. ,,Trois ou quatre formes elementaires de la geometrie
fönt tous les frais," sagt Taine lakonisch vom dorischen
Baustil.
Diese Pathetik bringt es mit sich, dass im dorischen Stil
die lastenden Kräfte stärker zum Ausdruck kommen, als die
tragenden. Der Druck der Last ist so stark, dass die ihn
auffangenden Säulen sich erbreitern müssen; sie schwellen
nach unten hin mächtig an und leiten damit den Druck, den
sie selbst nicht bewältigen können, auf das allgemeine Bau-
fundament ab. Sie klingen also nicht in sich selbst aus, wie
die ionischen, die deutlich durch eine abschliessende Basis
vom allgemeinen Fundament getrennt sind, sondern sie
klingen gleichsam unterirdisch nach.
DER BAUGEDANKE DER GOTIK 67
Die konstruktive Befangenheit des dorischen Tempels und
die damit zusammenhängende Gedrungenheit der allge-
meinen Proportionen machen den dorischen Tempel gewiss
schwerfällig, aber sie machen auch seine unerreichte Feier-
hchkeit und majestätische Unnahbarkeit aus. Im ionischen
Stil wird alles leichter, flüssiger, lebendiger, geschmeidiger,
menschhch näher. Was er an repräsentativem Ernst ein-
büsst, gewinnt er an Heiterkeitsausdruck. Jede Zurück-
haltung gegenüber den Eigenforderungen der Materie, d. h.
den konstruktiven Gesetzen, ist geschwunden; der Stein ist
ganz versinnhcht, ganz mit organischem Leben erfüllt, und all
die Hemmungen, die die Dynamik und Grossartigkeit des
dorischen Stils ausmachen, sind gleichsam spielend über-
wunden. Den dorischen Tempel erleben wir wie ein erhabenes
Drama, den ionischen wie ein beglückendes Schauspiel frei
spielender Kräfte.
DER BAUGEDANKE DER GOTIK
Tjen besten Uebergang zur Untersuchung des gotischen
Baugedankens und seines von der griechischen Tek-
tonik gänzhch verschiedenen Wesens finden wir, indem wir
uns das Verhältnis der beiden Bauweisen zu ihrem Material,
dem Stein, veranschauhchen. Alle künstlerische Architektur
fängt erst damit an, dass sie sich nicht begnügt, den Stein
als blosses Material zu irgendwelchen praktischen Zwecken
zu benützen und ihn demnach nur nach Massgabe seiner
materiellen Gesetzlichkeit zu behandeln, sondern versucht,
dieser toten materiellen Gesetzhchkeit einen Ausdruck ab-
zugewinnen, der einem bestimmten apriorischen Kunstwollen
entspricht. So sahen wir, dass die griechische Kunst diese
tote Gesetzhchkeit des Steins zu einem wundervollen Aus-
drucksorganismus verlebendigt (wie sie m der Ornamentik
die tote abstrakte Linie des Primitiven zu einer organisch
gerundeten und organisch rhythmisierten Linie verlebendigt).
Aus der starren unsinnhchen Logik der Konstruktion macht
sie em sinnlich empfundenes und sinnhch erfassbares Spiel
68 DER BAUGEDANKE DER GOTIK
lebendiger Kräfte. Zwischen logischer Gesetzmässigkeit
und organischer Notwendigkeit ist hier eine Synthese ge-
schaffen, die den anderen idealen klassischen Synthesen von
Begriff und Anschauung, von Denken und Erfahrung, von
Verstand und Sinnlichkeit vollkommen entspricht. Das
Ideale dieser Synthese besteht darin, dass keiner der die Syn-
these bildenden Faktoren zu kurz kommt, sie durchdringen
sich vielmehr, sie unterstützen sich, sie ergänzen sich. Damit
ist schon gesagt, dass diese architekturale Synthese nicht
durch eine Vergewaltigung des Steins und seiner materiellen
Gesetzlichkeit zustande kommt; vielmehr geht die kon-
struktive Gesetzlichkeit unmerklich und ohne Gewalt-
samkeit in die organische Gesetzlichkeit über. Bei voller
Bejahung des Steins und seiner materiellen Gesetzlichkeit
erreicht die klassische Architektur also ihren lebendigen
Ausdruckswert.
Den Stein bejahen, heisst die Auseinandersetzung von
Last und Kraft architektonisch auszusprechen. Denn das
Wesen des Steins ist Schwere, auf dem Gesetz der Trägheit
baut sich seine architektonische Verwendbarkeit auf. Der
primitive Baumeister nutzt die Schwere des Steins nur
praktisch aus, der klassische Baumeister aber nutzt sie auch
künstlerisch aus; er bejaht sie ausdrückhch, indem er zum
künstlerischen Gedanken des Baues die Auseinandersetzung
von Last und Kraft macht. Er bejaht den Stein, indem er
seine konstruktive Gesetzlichkeit zu einer organisch leben-
digen Gesetzlichkeit macht, d. h. indem er ihn versinnHcht.
Alles was die griechische Architektur an Ausdruck erreicht,
erreicht sie mit dem Stein, durch den Stein, alles was
die gotische Architektur an Ausdruck erreicht, erreicht sie
— hier kommt der volle Kontrast zur Geltung — trotz
des Steins. Ihr Ausdruck baut sich nicht auf der Materie
auf, sondern kommt nur durch ihre Verneinung, nur durch
ihre EntmateriaHsation zustande.
Wenn wir einen Blick auf die gotische Kathedrale werfen,
sehen wir nur eine gleichsam versteinerte Vertikalbewegung,
in der jedes Gesetz der Schwere ausgeschaltet zu sein scheint.
Wir sehen nur eine ungeheuer starke, der natürlichen Schwer-
kraft des Steins entgegengesetzte Kräftebewegung nach
oben. Keine Mauer, keine Masse gibt es, die uns den Ein-
DER BAUGEDANKE DER GOTIK 69
druck eines festen materiellen Seins vermittelt, nur tausend
Einzelkräfte sprechen zu uns, deren Materialität uns kaum
zum Bewusstsein kommt, sondern die nur als Träger emes
immateriellen Ausdrucks wirken, als Träger einer unge-
hemmten Höhenbewegung. Vergebens suchen wir nach
einer für unser Gefühl nötigen Andeutung des Verhältnisses
von Last und Kraft : eine Last scheint gar nicht zu existieren ;
wir sehen nur freie und ungehinderte Kräfte, die mit einem
ungeheuren Elan zur Höhe streben. Es ist klar, dass der
Stein hier seiner ganzen materiellen Schwere entledigt ist,
dass er hier nur Träger eines unsinnlichen, unkörperlichen
Ausdrucks, kurz, dass er hier entmateriaUsiert worden ist.
Diese gotische Entmaterialisation des Steins zugunsten
eines rein geistigen Ausdruckswesens entspricht der Ent-
geometrisierung der abstrakten Linie, wie wir sie zugunsten
desselben Ausdruckszweckes in der Ornamentik konstatierten.
Der Gegensatz von Materie ist Geist. Den Stein ent-
materialisieren, heisst ihn vergeistigen. Und damit haben
wir der Versinnlichungstendenz der griechischen Architektur
die Vergeistigungstendenz der gotischen Architektur klar
gegenübergestellt .
Der griechische Baumeister tritt an sein Material, den
Stein, mit einer gewissen Sinnlichkeit heran, er lässt darum
die Materie als solche sprechen. Der gotische Baumeister
dagegen tritt mit einem rein geistigen Ausdruckswillen an
den Stein heran, d. h. mit Konstruktionsabsichten, die
künstlerisch unabhängig vom Stein konzipiert werden und
für die der Stein niu- das äusserliche und rechtlose Mittel der
Verwirklichung bedeutet. Das Resultat ist ein abstraktes
Konstruktionssystem, in dem der Stein nur eine praktische,
keine künstlerische Rolle spielt. Die mechanischen Kräfte,
die in der breiten Massigkeit des Steins gleichsam schlummern,
sie sind von dem gotischen Ausdruckswillen erweckt worden ;
sie sind selbstherrlich geworden und haben die Masse des
Steins so sehr aufgezehrt, dass an Stelle der sichtbaren
Festigkeit der Materie eine nur berechenbare Statik tritt.
Kurz, aus dem Stein als Masse mit seiner Schwerkraft wird
ein nacktes konstruktives Gerüst aus Stein. Die Baukunst,
die eine Maurerkunst gewesen, wird zu einer Steinmetzen-
kunst, zu einer unsinnhchen Konstruktionskunst. Der
70 DER BAUGEDANKE DER GOTIK
Gegensatz von klassischem Bauorganismus und gotischem
Bausystem wird zu dem Gegensatz eines lebendig atmenden
Körpers und eines Skeletts.
Die griechische Architektur ist angewandte Konstruktion,
die gotische ist Konstruktion an sich. Das Konstruktive ist
dort nur Mittel zum praktischenZweck, hier ist es Selbstzweck,
denn es deckt sich mit der künstlerischen Ausdrucksabsicht.
Weil in der abstrakten Sprache konstruktiver Beziehungen
sich das gotische Ausdrucksverlangen aussprechen konnte,
wird die Konstruktion über ihren praktischen Zweck weit
hinaus um ihrer selbst willen getrieben. In diesem Sinne könnte
man die gotische Architektur als eine gegenstandslose Kon-
struktionswut bezeichnen, denn sie hat kein direktes Objekt,
keinen direkten praktischen Zweck, nur dem künstlerischen
Ausdrucks willen dient sie. Und das Ziel dieses gotischen
Ausdruckswillens kennen wir : es ist das Verlangen, aufzugehen
in einer unsinnlichen, mechanischen Bewegtheit stärkster
Potenz. Wir werden später bei der Betrachtung der Scho-
lastik, dieser Parallelerscheinung zur gotischen Architektur,
sehen, wie auch sie den gotischen Ausdruckswillen getreu
widerspiegelt. Auch hier ein Uebermass konstruktiver Spitz-
findigkeit ohne direktes Objekt, nämlich ohne Erkenntnis-
zweck — denn die Erkenntnis ist ja durch die geoffenbarte
Wahrheit der Kirche und des Dogmas schon festgelegt — , auch
hier ein Uebermass konstruktiver Spitzfindigkeit, das keinem
andern Zwecke dient, als der Schaffung einer sich ununter-
brochen steigernden unendlichen Bewegtheit, in der sich der
Geist wie in einem Rausche verliert. Hier wie dort derselbe
logische Wahnsinn, derselbe Wahnsinn mit Methode, der-
selbe rationalistische Aufwand zu einem irrationellen Zwecke,
und wenn wir uns nun zurückerinnern an das wirre Chaos
nordischer Ornamentik, das gleichsam das abstrakte un-
körperliche Bild einer unendlichen ziellosen Bewegtheit bot,
so sehen wir, wie hier im ersten erwachenden dumpfen künst-
lerischen Betätigungsdrang nur vorbereitet wurde, was später
mit so hohem Raffinement in Architektur und Scholastik zur
Vollendung gebracht wurde. Die Einheitlichkeit des Form-
willens durch viele Jahrhunderte hindurch tritt deutlich zutage.
Doch würde man in grossem Irrtum sein, die Scholastik
und die gotische Architektur für nichts anderes als logische
AUS DER LOREXZKIRCHE ZU NÜRNBERG
-MIT DER SPITZE DES SAKRAMENTSHAUSES VON AD. KRAFFT
Aufnahme von Dr. F. Stoedtner, Berlin.
DER BAU GEDANKE DER GOTIK 71
Kunststücke zu halten. Das sind sie nur für den, der den
ins Transzendentale strebenden Ausdrucks willen nicht sieht,
der hinter diesem rein konstruktiven resp. rein logischen
System steht und der sich dieser konstruktiven Elemente
nur als Mittel bedient. Denn wenn wir vorhin sagten, dass
das Konstruktive in der gotischen Architektur Selbstzweck
sei, so gilt das nur insofern, als dieses Konstruktive eben
der geeignete Träger für den künstlerischen Ausdrucks-
willen ist. Denn die konstruktiven Vorgänge werden uns
ja in der Gotik direkt, bei blosser Anschauung gar nicht
verständlich, sondern nur indirekt, nur durch Berechnung
auf dem Reissbrett gleichsam. Die konstruktive Bedeutung
des einzelnen gotischen Baugliedes kommt uns bei der An-
schauung kaum zu Bewusstsein; das einzelne BaugHed wirkt
vielmehr auf den Beschauer nur als mimischer Träger eines
abstrakten Ausdrucks. Die ganze Summe logischer Berech-
nungen wird also schliesslich doch nicht um ihrer selbst
willen aufgeboten, sondern um eines überlogischen Effektes
willen. Das Ausdrucksresultat geht über die Mittel, mit denen
es erreicht wurde, weit hinaus, und wir erleben innerlich den
Anblick einer gotischen Kathedrale nicht wie ein Schauspiel
konstruktiver Vorgänge, sondern wie einen in Stein ausge-
drückten Ausbruch transzendentalen Verlangens. Eine
Bewegung von übermenschlicher Wucht reisst uns mit sich
fort in den Rausch eines unendlichen WoUens und Begehrens
hinein; wir verlieren das Gefühl unserer irdischen Ge-
bundenheit, war gehen auf in eine alles EndHchkeitsbewusst-
sein auslöschende Unendlichkeitsbewegung.
Jedes Volk schafft sich in seiner Kunst ideale Aus-
lösungsmöglichkeiten für sein Lebensgefühl. Des Gotikers
Lebensgefühl steht unter dem Druck einer duahstischen
Zerrissenheit und Friedlosigkeit. Um diesen Druck auszu-
lösen, bedarf es höchster Steigerungszustände, höchster
Pathetik. Der Gotiker baut seine Dome ins Unendliche
nicht aus spielerischer Freude an der Konstruktion, sondern
damit der Anblick dieser über allen menschlichen Massstab
weit hinausgehenden Vertikalbewegung in ihm jenen Emp-
findungstaumel auslöst, in dem allein es seine innere Dis-
harmonie betäuben, in dem allein er Glücksehgkeit finden
kann. Dem klassischen Menschen genügte die Schönheit
72 DER BAUGEDANKE DER GOTIK
des Endlichen ziir inneren Erhebung, der duahstisch zer-
rissene und deshalb transzendental veranlagte Gotiker ver-
mochte nur im Unendlichen Ewigkeitsschauer zu spüren.
Die klassische Architektur gipfelt deshalb in der Schönheit
des Ausdrucks, die gotische in der Macht des Ausdrucks ;
jede spricht die Sprache organischen Seins, diese die Sprache
abstrakter Werte.
Die Nachwelt hat in der Gotik nur die logischen Werte
gesehen, für die überlogischen hatte sie kein Organ, es sei
denn, dass sie dieses Ueberlogische auf das Niveau moderner
Stimmungsromantik herabzog, wobei dann über die logischen
Werte wieder ganz hinweggesehen wurde. Wenn wir von dieser
Stimmungasromntik absehen, finden wir, dass die gotische
Architektur nur als konstruktive Leistung gewürdigt wurde.
Sie wurde insbesondere diskreditiert von ihren Epigonen, den
Vertretern jener neudeutschen Baumeistergotik, die im
19. Jahrhundert ihr Wesen trieben. Da verstand man die Gotik
nur dem Worte, nicht dem Geiste nach. Da man zu dem
transzendentalen Ausdruckwillen kein seelisches Verhältnis
mehr hatte, schätzte man sie nur um ihrer konstruktiven und
dekorativen Werte willen und schuf restaurierend und neu-
schaffend jene trockene, leblose, nüchterne Gotik, die nicht
vom Geiste, sondern von einer Rechenmaschine gezeugt scheint.
Ein gewisses inneres Verständnis der Gotik brachte erst
wieder die moderne Eisenbaukonstruktionskunst. Hier
stand man wieder einem architekturalen Gebilde gegenüber,
bei dem der künstlerische Ausdruck mit den Mitteln der
Konstruktion selbst bestritten wurde. Doch bei aller
äusseren Verwandtschaft ist ein gewaltiger innererUnterschied
zu konstatieren. Denn in dem modernen Fall ist es das
Material selbst, das direkt zu einer solchen konstruktiven
Einseitigkeit aufforderte, während die Gotik nicht durch
das Material, sondern trotz des Materials, trotz des Steins
zu solchen konstruktiven Ideen kam. Mit anderen Worten:
hinter der künstlerischen Erscheinung der modernen Eisen-
konstruktionsbauten steht nicht ein aus bestimmten Gründen
zum Konstruktiven neigender Formwille, sondern nur ein
neues Material. Nur so viel könnte man vielleicht sagen,
dass es ein atavistisches Nachklingen jenes alten gotischen
Form willens ist, das den modernen nordischen Menschen
SCHICKSALE DES GOTISCHEN FORMWILLENS
73
ZU einer künstlerischen Bejahung dieses Materials antreibt
und an seine sachgemässe Verwendung sogar die Hoffnung
an einen neuen Architekturstil knüpfen lässt.
In der Gotik war das Ausdrucksbedürfnis das Primäre
gewesen, dem das Material, der Stein, nicht entgegenkam,
sondern Widerstand leistete. Er setzte sich trotz der Ge-
bundenheit an den Stein durch und brachte damit das Ent-
scheidend-Neue in eine Architekturentwicklung hinein, die
ja zum grössten Teil Steinarchitektur gewesen und als solche
entweder organischer Gliederbau wie die griechische oder
strukturloser Massenbau wie die orientalische oder eine
Vermischung beider wie die römische Baukunst gewesen
war. Dass die Gotik nach all diesen die Steinbautradition
geradezu verkörpernden Bauweisen ein absolut Neues schuf,
nämlich den struktiven Gerüstbau, den mechanischen
Gliederbau — also den vollkommenen Gegensatz zum or-
ganischen Gliederbau, das ist die Kraftleistung, mit der
sie ihr Höchstes und Eigentlichstes an Ausdrucksverlangen
verwirklichte.
SCHICKSALE DES GOTISCHEN
FORMWILLENS
[VTachdem wir den allgemeinen Charakter des nordisch-
gotischen Formwillens in seinen reinsten Prägungen,
in der frühen Ornamentik und in der reifen gotischen Archi-
tektur kennen gelernt haben, wollen wir nun die Schicksale
dieses Form\villens untersuchen. Es ist das grosse Kapitel
mittelalterlicher Kunstentwicklung, das wir damit berühren,
ein Kapitel, das durch die Einseitigkeit des auf den modernen
Historiker vererbten Renaissancestandpunkts nie ganz zu
seinem Rechte gekommen ist.
In der Hauptsache werden diese Schicksale des gotischen
FormwiUens bestimmt einerseits durch sein natürliches
Wachsen und Erstarken, anderseits durch seine Auseinander-
setzung mit fremden Stilerscheinungen, von denen, neben
vagen und weitläufigen orientalischen Einflüssen, in erster
74 SCHICKSALE DES GOTISCHEN FORMWILLENS
Linie die römische Kunst mit der klassischen Färbung ihres
Formwillens in Betracht kommt. Mit der ersten Einwirkung-
römischer Kultur auf den Norden in den frühen nachclirist-
lichen Jahrhunderten beginnt das interessante Schauspiel
der Auseinandersetzung von Nord und Süd, von Gotik und
Klassik, das mit seinem reichen Inhalt den ganzen Sinn der
mittelalterlichen Kunstentwicklung ausmacht. Die Akte
dieses Schauspiels sind römische Provinzialkunst, Völker-
wanderungskunst, Merowingerkunst, Karolingerkunst, roma-
nische Kunst und gotische Kunst (im engeren Sinne des Schul-
begriffs). Der letzte Akt zeigt das Zusammenbrechen der
Gotik und den Untergang des nationalen nordischen Form-
gefühls in dem europäischen Gebilde der Renaissance. Den
Inhalt dieser einzelnen Akte können wir nur kurz skizzieren.
Der politischen und kulturellen Uebermacht der römi-
schen Eroberer entsprach natürlich auch ihre künstlerische
Uebermacht. Vor dieser in der römischen Provinzialkunst
ausgedrückten Uebermacht weicht das heimische Kunst-
empfinden anfangs ganz zurück. Es findet keine Möglichkeit,
irgendwo einzusetzen und sich zu betätigen. Nur ganz
allmählich wagt es sich hervor und sucht sich gleichsam
an unbeobachteten Stellen sein Recht zu verschaffen. Mit
der Zeit aber entsteht eine germanisch-römische Ornamentik,
in der die nordischen Elemente den römischen nahezu die
Wage halten. Die alten linearen Bildungen des Nordens
tauchen innerhalb dieser fremden Kunstbildungen allent-
halben auf und suchen dem fremden Körper ihre Seele aufzu-
drücken. Ja, so stark fühlt der nordische Formwille sich all-
mählich, dass er der römischen Kunstinvasion gegenüber seine
Selbständigkeit zu behaupten wagt. Diese Selbständigkeit
zeigt er z. B. darin, dass er das charakteristischste Element
römischer Zierkunst, den eigentlichen Träger des römisch-
klassischen Formgefühls, nämlich das ornamentale Pflanzen-
motiv, ablehnt. Dieses spezifisch organische Produkt findet, von
wenigen Ausnahmen abgesehen, keinen Eingang in die frühe
germanisch-römische Mischkunst. Die Völkerwanderungszeit
verstärkt dann natürlich den Mischcharakter nordischer Kunst-
tätigkeit noch. Die verschiedensten Einflüsse kreuzen sich,
alles ist in Gärung, das Unvermitteltste steht nebeneinander,
aber der Expansionsdrang des nordischen Formgefühls ist
GEWÖLBE VOM CHOR DER LIEBFRAUEXKIRCHE ZU TRIEI
Originalaufnahme der Kgl. Preussischen Mcssbildanstalt zu Berlin.
SCHICKSALE DES GOTISCHEN FORMWILLENS 75
innerhalb dieser Mischungen nie zu übersehen. Die charakter-
volle Härte dieser halbbarbarischen, halb römischen Kunst-
produkte zeigt, dass der Kampf nicht mehr ein heimlicher
Kleinkrieg, sondern ein offener ist, in dem jeder seinen Platz
behauptet. Daher die kraftvolle Prächtigkeit dieses Stils.
Die ]\Iero\vingerzeit mit ihren angelsächsischen, irischen,
skandinavischen und oberitalienischen Parallelerscheinungen
zeigt dann, dass das nordische Kunstgefühl sich endgültig
durchgearbeitet hat. Sie bringt die eigentliche Blüte jener
mit Wirklichkeitsmomenten durchsetzten Linienphantastik,
die wir in einem früheren Kapitel eingehend besprochen haben,
weil sie die beste Grundlage für die Untersuchung des ganzen
Stilphänomens bietet. Bereits in der Merowingerzeit waren
aber schon pflanzliche Motive in die nordische Ornamentik
eingedrungen; unter dem Einfluss der karohngischen Renais-
sance beginnt die alte heimische Tieromamentik sogar gegen-
über der neuen Pflanzenornamentik zurückzutreten. Doch
handelt es sich hier um eine Bewegung, der der eigentliche
Mutterboden fehlt; die karolingische Renaissance war ein
höfisches Experiment, das im Volksbewusstsein keinen
Ankergrund fand. Dieses verfrühte Experiment bringt das
nordische Kunstgefühl in einen vorübergehenden Zustand
völliger Desorientierung, der erst am Ende des Zeitraums
einem langsam wachsenden Sicherheitsgefühl weicht. Damit
ist auch der Beurteilung dieses interessanten Intermezzos
der Weg ge^^^esen. Wir können uns dem Urteil Woermanns
anschliessen : ,,Die karolingisch-ottonische Kunst hat, abge-
sehen von einigen Schöpfungen auf dem Gebiete der Bau-
kunst, von einigen Werken der Goldschmiedekunst und von
einigen figurenlosen Schmuckseiten der Buchmalerei, keine
Leistungen hervorgebracht, an die die Nachwelt wieder
anknüpfen möchte. Sie selbst war eben vornehmlich eine
Nach Weltskunst, deren Formen- und Farbensprache trotz
ihres tiefsinnigen und erweiterten Inhalts und trotz
ihrer oft prächtigen äusserlichen Gesamtwirkung doch nur
ein barbarisches Stammeln in den Lauten einer unwieder-
bringlich verlorenen, zudem dem germanischen Norden
volksfremden Vergangenheit war. Die jugendlichen Natur-
laute, die hier und da halb unbewusst durchzudringen ver-
suchen, verhallen lange ungehört. Erst ganz am Ende dieses
76 SCHICKSALE DES GOTISCHEN FORMWILLENS
Zeitraums fangen sie an häufiger und deutlicher zu
werden."
Der folgenden Phase des Entwicklungsprozesses, dem
romanischen Stil, werden wir eingehendere Aufmerksamkeit
widmen müssen, denn er repräsentiert schon jenes zu voller
Stärke und zu selbständigem Kulturbewusstsein gelangte
Mittelalter, in dem der Nordwesten Europas die Zügel der
Entwicklung kraftvoll an sich gerissen hatte. Da wir der
architektonischen Entwicklung eine besondere Betrachtung
widmen wollen, so sei hier nur konstatiert dass der romanische
Stil eine sehr durchgreifende und glückliche Modifikation
der vom antiken Osten überlieferten Formen weit im nordischen
Sinne ist. Bei aller Abhängigkeit seiner Grundstruktur von
antiken Traditionen trägt er doch einen ausgesprochenen
nordischen Charakter; der von der kulturellen Ueberlegen-
heit Roms und seiner kirchlichen Vormachtstellung dem
Norden aufgedrängte fremde Kunstkörper der Basilika zeigt
sich schon ganz von dem gotischen Formwillen durchsetzt,
der bei der Aufgabe, diesen fremden Kunstkörper mit seinem
Geist und seiner Seele zu durchdringen, immer mehr er-
starkt, bis er schliesslich im Kraftrausch der grossen gotischen
Jahrhunderte entschlossen den fremden Kunstkörper ganz
aufgibt und sich eine eigene grossartige Ausdruckswelt
schafft, die der antiken Tradition ein völlig Neues und
Unabhängiges gegenüberstellt. Das ist die eigentliche
Gotik, die Gotik im engeren Schulsinne, die endgültige
Emanzipation von aller Klassik.
Und in dieser seiner höchsten und reinsten Ausbildung
erobert das nordische Formgefühl ganz Europa. In der Aus-
einandersetzung von Nord und Süd, diesem eigentlichen Inhalt
der ganzen mittelalterhchen Entwicklung, hat der Norden kul-
turell und künstlerisch zu diesem Zeitpunkt triumphiert. Aber
es scheint, als ob er sich in dieser höchsten Kraftanspannung
ausgegeben habe. Der nordische Formwille, auf seinem Höhe-
punkt angekommen, hatte sich in sich selbst erschöpft; er stand
am Ende seiner Bildungsmöglichkeiten. Seine Mission war
erfüllt, und die romanische Menschheit des Südens, die sich
inzwischen von der nordischen Ueberrumpelung sowohl
pohtisch wie kulturell erholt und ihre verzettelten Kräfte
zu einer neuen Kultur und einer neuen Kunst gesammelt
SCHICKSALE DES GOTISCHEN FORMWILLENS yy
hatte, hatte gegenüber dem Norden, der sich ausgegeben
hatte, leichtes Spieh Die Resonanz, die das karoKngische
Renaissanceexperiment nicht gefmiden hatte, sie war nun,
wo die nordische Formenergie erschlafft ist, da. Den Sieg
entschied die kulturelle Uebermacht. Denn der mittel-
alterlichen Kultur, die noch keine individuelle Differenzierung
gekannt hatte — das Individuum wagt sich erst dann
aus der Masse herauszulösen, wenn die dualistischen Aengste
überwunden sind und in dem Verhältnis von Mensch und
Welt ein Zustand der Ausgeglichenheit und Sicherheit
eingetreten ist — , tritt nun eine neue Kultur entgegen, die
allen Reichtum des Individuums freigemacht und, von keiner
dogmatischen Befangenheit mehr gehemmt, geistige Fort-
schrittswerte geschaffen hatte, die dem mittelalterlich ge-
bundenen nordischen Menschen wie ein lockendes Ideal er-
scheinen mussten. Seine Erlösungssucht, die, von unge-
heuren Kraftleistungen erschöpft, ihre grosse Dynamik
eingebüsst hatte, glaubte nun in solch unmittelbarer Nähe
Befriedigung zu finden. Der nordische TranszendentaHsmus
flaute ab zu einem blossen Transalpinismus, zu einem kultu-
rellen Ultramontanismus. Dieselbe dualistische Zerrissenheit,
die sich in der grossen mittelalterlichen Transzendentalkunst
betäubt hatte, sie treibt den nordischen Menschen nun dem
fremden Renaissanceideal zu. In der erhabenen Pathetik der
Gotik, in ihrer unnatürlichen krampfartigen Anspannung, in
ihrem mächtigen Empfindungsrausch hatte er seine innere
Misere, sein seelisches Unbefriedigtsein zu übertönen gesucht,
aber die Kraft zu solcher Anspannung war nur der kompakten
Masse möglich gewesen. Nun, wo Wirtschaftsentwicklung,
Weltverkehr, Städtewesen und sonstige kulturelle Faktoren
den grossen Massenzusammenhang auch im Norden auf-
gelockert hatten, jetzt musste eine nähere menschlichere
Befriedigung gesucht werden. Die Gotik war ihrem innersten
Wesen nach irrationell, überrationell, transzendental ge-
wesen: jetzt tritt die verinnerlichte Rationalität klassischer
Harmonie und klassischer Gesetzmässigkeit als verführe-
risches Ideal an den zum Individuum gewordenen nordischen
Menschen heran, jetzt hofft er, der die Kraft nicht mehr hat
zum idealen Ueberschwang transzendentalen Wollens, in
jener hohen idealen ratio, durch jene ihm so ferne und fast
78 SCHICKSALE DES GOTISCHEN FORMWILLENS
unerreichbare klassische Harmonie von sich selbst loszu-
kommen, sich von seiner inneren Misere zu erlösen. Eine
unmittelbare Befriedigung, ein direktes naives Glück ist ihm
versagt, sein Glück liegt immer — und das ist die eigentliche
durch alle Jahrhunderte gleichbleibende nordische Tran-
szendenz — in einem Jenseits, in einem Uebersichselbst-
hinaus, mag dieses Uebersichselbsthinaus nun in der Steige-
rung des Rausches oder in dem Anklammern an ein fremdes
Ideal bestehen. Immer nur findet er sich dadurch, dass
er sich selbst verliert, dass er über sich selbst hinausgeht.
In dieser Problematik liegt seine Grösse und seine Tragik.
Man kann den Qualitätsunterschied zwischen dem goti-
schenTranszendentalismus und dem späteren nordischenUltra-
montanismus (Romanismus) auch so fassen, dass man sagt,
an die Stelle religiöser Ideale seien mit der Renaissance
blosse Bildungsideale getreten. Jedenfalls haftet der ganzen
deutschen Renaissancekultur das Odium an, ein Bildungs-
produkt zu sein, dem die unmittelbaren natürlichen Voraus-
setzungen fehlen. Das gilt auch von der nachgotischen Kunst.
Auch sie ist mehr Bildungserzeugnis, als unmittelbares Produkt
echter ursprünglicher künstlerischer Empfindung und Ge-
sinnung. Die ungesunde nordische Bildungssucht, dieser
verkappte und geschwächte Transzendentalismus, unterjocht
den nordischen Formeninstinkt, und das Ergebnis ist das
Zwittergebilde der deutschen Renaissance oder, kulturell ge-
sprochen, des deutschen Humanismus. Die Kunst wird teils
literarisch angehaucht, teils versandet sie in äusserlicher
Dekoration. Statt des unbewussten starken Willens schafft
nun ein bewusster künstlerischer Geschmack. Natürlich gilt
diese Charakteristik der deutschen Renaissance nur für
die Allgemeinheit, nur für die grosse Publikumskunst, wie
sie vor allen Dingen Cranach inaugurierte. Bei den grossen
Einzelnen, bei Dürer, Grünewald, Holbein, ist die Sachlage eine
andere. Sie alle hängen eben, wenn man genauer zusieht, noch
eng mit der Gotik zusammen. Grünewalds Gotik gebärdet
sich als malerische Pathetik, Holbeins zeichnerische Charak-
terisierungsfähigkeit ist — wie wir in anderem Zusammenhang
schon sagten — die letzte grosse Konzentration nordischer
Linearkunst. Und Dürer? Ja, Albrecht Dürer wurde geradezu
zum Märtyrer dieses Zusammenpralls zweier im Grunde unver-
SCHICKSALE DES GOTISCHEN FORMWILLENS 79
träglicher künstlerischer Ausdruckswelten. Das gibt seinem
ganzen Entwicklungsgang die grosse tragische Note. Dass er
sich selbst, sein nordisches Menschentum nicht aufgeben
konnte, dass er aus seiner disharmonischen Veranlagung heraus
anderseits mit allen Kräften um jene neue Welt rang, deren
Ausgangspunkt und Ziel Harmonie und Schönheit ist, das
war die Tragik, die ihn so gross und zum eigentlichen Re-
präsentanten des Nordens machte. Denn es ist die spezifisch
nordische Tragik, die sich unter immer neuen Formen und
Verkleidungen wiederholt und als deren letzten Märtyrer,
um mit der uns vertrautesten Gegenwart zu exemplifizieren,
wir nordischen Menschen Hans von Marees mit seiner grossen
fragmentarischen, problematischen Kunst verehren.
Das siegreiche Vordrängen des klassischen Formgefühls
im Kielwasser der grossen italienischen Renaissancebewegung
liess dem gotischen Form willen keine Zeit, um ruhig in sich ab-
zuflauen. Aber die unterdrückten gotischen Formenergien, die
in einer so grossen Vergangenheit verwurzelt waren, sie waren
unter der Oberfläche doch noch zu lebendig, um so lautlos
vom Schauplatz zn verschwinden. Der beschauliche wirk-
lichkeitsfremde Humanismus, dieses Privileg saturierter Exi-
stenzen, vermochte auf die Dauer das gärend, ein voller Ent-
wicklung befindliche Volksbewusstsein nicht niederzuhalten.
Er wird durch jene grosse Volksbewegung, die zur Refor-
mation führt, korrigiert. An die Stelle der Bildungsideale
treten wieder religiöse Ideale, der Humanismus weicht der
Reformation. Die Reaktion auf das humanistische Bildungs-
ideal mit seiner klassisch heidnischen Färbung geht durch
ganz Europa und dokumentiert sich künstlerisch in dem
Stilphänomen des Barocks. Der transzendentale Charakter
dieses Stils zeigt sich schon äusserlich darin, dass die Kirche,
insbesondere die Jesuiten die Verbreiter und Träger dieses
Stils sind. Seine transzendentale Pathetik scheidet ihn deut-
lich von der harmonischen Ruhe und Ausgeglichenheit des
klassischen Stils. Auf den transzendentalen Stil der Gotik
folgt also nach dem Intermezzo der Renaissance wieder
ein transzendentaler Stil, das Barock. Und im nordischen
Barock glaubt man deutlich Zusammenhänge zwischen ihm
und der Gotik zu finden. Besonders wenn man an die Spät-
gotik zurückdenkt, die man bezeichnenderweise das Barock der
8o SCHICKSALE DES GOTISCHEN FORMWILLENS
Gotik genannt hat. Die nordischen Renaissanceformen be-
halten nur kurze Zeit ihre Mässigung. Schon sehr bald er-
weitern sie sich zu einem unruhigen, drängenden Schnörkel-
werk, und es scheint, als ob die alten unterdrückten gotischen
Formenergien in dieser fremden organischen Kunstwelt am
Werke seien und sie beunruhigten und ausweiteten. Der
gotische pathetische Willensimpuls scheint in diese organische
Ausdruckswelt hinübergeleitet zu sein. Von diesem immer
mächtigeren Einströmen des nordischen Willensimpulses
belebt und bewegt, verlieren die Kunstformen der deutschen
Renaissance allmählich ganz jene harmonische Prägung, die
bei ihnen mehr Charakterlosigkeit, als positiver Willens-
ausdruck wie in der italienischen Renaissance war, sie ver-
lieren jene harmonische Glätte, und noch einmal rauscht
der alles harmonische Mass verschmähende Strom nordischen
Kunstwollens durch die Welt. Wieder ist alles Bewegung,
alles drängende Aktivität, alles Pathetik. Aber diese Pathetik
kann sich nur durch die äusserste Steigerung und Anspan-
nung der organischen Werte ausdrücken, der Weg zurück
zu der höheren und hinreissenderen Pathetik abstrakter,
unsinnlicher Werte ist ihr durch die Renaissance versperrt.
So sehen wir im Barock das letzte Aufwallen nordischen
Formwillens, ein letztes Drängen, sich auch in einer unge-
eigneten, ihm wesensfremden Sprache auszusprechen. Und
langsam klingt die alte nordische Linien- und Bewegungs-
kunst dann aus im spielerischen Schnörkel werk des Rokoko.
Dem Bedürfnis, den in diesem Kapitel skizzierten Ent-
wicklungsgang zum Schlüsse noch einmal zu rekapitulieren,
komme ich damit nach, dass ich einen Passus aus einem
Akademievortrag Alexander Conzes, des Berliner Archäo-
logen, zitiere: ,,In dem bedeutungslosen Formenspiel ihres
geometrischen Stils haben ungezählte Generationen der
alteuropäischen Völker ihr ästhetisches Bedürfnis auf dem
Gebiete der bildenden Kunst befriedigt gesehen, bis sie nach
und nach durch den Einfluss vom Süden her in den Kreis
einer aus den Ländern am Ostwinkel des Mittelmeers stammen-
den, reicheren Kunstformenwelt gezogen wurden. Aber dabei
verlosch ihr eigenartiges Kunstempfinden nicht endgültig
rasch, wie heutzutage das der Wilden vor der viel mächtiger
über sie kommenden Berührung mit höher entwickelter
INNERES DER GEORGSKIRCHE ZU DINKELSBÜHL (BAYERN)
Aufnahme von Dr. F. Stoedtner, Berlin.
ROMANISCHER STIL 8l
Kultur. In Griechenland könnte der dorische Stil, in welchem,
wie Taine sagt, „trois on quatre formes elementaires de la
geometrie fönt tous les frais", unter Nachwirkung der Stim-
mung des alten geometrischen Stils erwachsen sein. Unver-
kennbar aber zeigt sich im Norden Europas die Lebens-
fähigkeit uralter Weise gegenüber dem Eindringen griechisch-
römischer Kunst. Nach erstem Unterliegen dringt alt-
heimische Art, die fremden Formen umbildend, im gotischen
Stil zu einem verklärten Ergebnisse des Kampfes der beiden
Kunstwelten hindurch, und selbst im Rokoko möchte man,
nach abermaligem Obsiegen der Renaissance, noch ein
letztes verhallendes Nachklingen vermuten. Dem Auftreten
des gotischen Stiles ging in verwandter Weise in der mos-
lemitischen Kunst ein Hervorbrechen alter Unterströmungen
durch die griechisch-römische Decke parallel. So weit-
gehende Betrachtungen wären aber nur bei einer Nach-
weisung der weltgeschichtlichen Momente in der allgemeinen
Kunstgeschichte voll auszuführen." (Sitzungsbericht der
Berliner Akademie der Wissenschaften, ii. II. 1897.)
ROMANISCHER STIL
T jie ganze Schicksalsgeschichte des gotischen Form willens
lässt sich reduzieren auf zwei zeitlich aufeinander-
folgende Hauptstadien, denen sich alles andere unterordnet.
Das erste Hauptstadium ist die ornamentale, das zweite die
architektonische Betätigung des Formwillens. Wie die Orna-
mentik für die frühnordische Entwicklung, so ist für die
spätere Entwicklung die Architektur der eigentliche Re-
präsentant des gotischen Kunstvermögens. Das Ziel dieser
Entwicklung musste, falls wirklich allen Kunstleistungen von
den ersten christlichen Jahrhunderten bis zum hohen Mittel-
alter ein einheitlicher Formwille zugrunde lag, das sein, die
schwerfälligen Elementargesetze der Architektur also zu
variieren, differenzieren und geschmeidig zu machen, dass
sie Ausdruck des in der freien Ornamentik enthaltenen Form-
gefühls werden konnten. Und es ist in der Tat das glänzendste
Kapitel der mittelalterUchen Kunstentwicklung, das uns
6
82 ROMANISCHER STIL
zeigt, wie dieses der seelischen Struktur des nordischen
Menschen entsprechende Formgefühl, das sich anfänghch
nur, von Zweck und Materialforderung ungehindert, in der
Ornamentik ausgesprochen hatte, sich allmählich der schweren
ungefügen Materie bemächtigt und sich trotz ihres materiellen
Widerstands zu seinem selbstlosen, gefügen Ausdrucks-
instrument macht.
Ueber den heidnischen Sakralbau des Nordens sind wir
nur mangelhaft unterrichtet, und die in vollem Fluss befind-
liche Diskussion über die vorchristliche nordische Holz-
architektur und ihren Zusammenhang mit dem christlichen
Sakralbau des Nordens erlaubt noch keine feste Entscheidung
über diese Gegenstände. Einwandfrei fest steht aber wohl,
dass die frühe nordische Architektur schon beherrscht war
vom Willen zur Senkrechten, von der Tendenz, stehende,
nicht liegende Bauten zu schaffen. Von den beiden Grund-
elementen der Tektonik, dem aktiven Tragen und dem
passiven Lasten, deren Auseinandersetzung in der griechischen
Architektur zu einem glücklichen organischen Ausgleichs-
verhältnis gekommen war, wurde in der nordischen Archi-
tektur von Anbeginn an dem ersteren der Vorzug gegeben;
der Ausdruck der Aktivität sollte der vorherrschende sein,
der Bau sollte als ein frei emporsteigender, nicht als ein
belasteter erscheinen.
Die eigentliche mittelalterliche Architekturentwicklung
beginnt aber erst, als durch die Uebernahme des Christentums
eine Auseinandersetzung mit dem in der altchristlichen
Architektur verkörperten antiken Baugedanken erforderlich
wurde. Dadurch erst wurde der Norden zum repräsentativen
Steinbau gedrängt, dadurch erst wurde sein noch dumpfes
und willkürliches architektonisches Formgefühl vor die ent-
scheidende Probe gestellt. Und diese Probe wird bestanden.
Die Anfangsstadien der Auseinandersetzung wollen wir, um
die knappe Prägnanz der dargestellten Entwicklungslinie
nicht durch weitschweifige Ausführlichkeit in Frage zu
stellen, übergehen. Auch die karolingischen Bauten mögen
als ein von der eigentlichen Entwicklungslinie etwas abge-
legenes und isoliertes Experiment nur gestreift werden. Der
eigentliche Sinn der Entwicklung kommt erst im sogenannten
romanischen Stil zum Ausdruck. Ihn wollen wir auf seinen
ROMANISCHER STIL 83
formpsychologischen Charakter hin analysieren, um dann die
Krönung der Entwicklung im reifen gotischen Stil verstehen
zu lernen.
Romanischen Stil nennen wir die stilistische Modifikation,
die das importierte altchristliche Bauschema durch den
selbständigen Kunstwillen des Nordens erfährt. Wenn wir
also die Einzelheiten dieser Modifikation feststellen, so be-
obachten wir den gotischen Formwillen gleichsam bei der
Arbeit. Denn alles, was er am fremden Kunstkörper der
Basilika an Veränderungen durchsetzte, das sind Hinweise
auf die spätere, eigentlich gotische Entwicklung, in der
er sich von diesem fremden Körper ganz emanzipiert hatte.
Der romanische Stil der Architektur repräsentiert jenes
Stadium in der Ausienandersetzung von nordischem und
antikem Kunstgefühl, dem in der ornamentalen Ent-
wicklung ungefähr der Völkerwanderungsstil entspricht. Ihm
haftet derselbe grossartige, charaktervolle Ernst, dieselbe
schwere materielle Prächtigkeit an, die dadurch entsteht,
dass zwei Kunstwelten sich nicht einander durchdringen,
sondern hart und ehrlich nebeneinander stehen. Ihre beider-
seitige Stärke scheint aufeinander abgestimmt zu sein,
so dass trotz diesem spröden Nebeneinander dennoch eine
gewisse Einheitlichkeit des Eindrucks zustande kommt.
Die romanische Architektur hat Stil, weil die Auseinander-
setzung eine offene und ehrliche ist, in der jedes Element
kraftvoll seinen Platz behauptet. Soweit es dem nor
dischen Kunstwollen möglich war, sich unter Wahrung des
ihm überlieferten, von der antiken Tradition abhängigen
Basilikaischemas durchzusetzen, ist es ihm hier gelungen.
Wir erkannten den gotischen Formwillen als das Streben
nach ungehemmter Aktivität, nach einer Ausdrucksbewegtheit
immaterieller Art. Wenn wir nun einen romanischen Dom
mit einer altchristlichen Basilika vergleichen, so zeigt uns
schon das äussere Bild, was dieser nordische Ausdruckswille
aus dem basilikalen Schema gemacht hat. Die alt christliche
BasiUka trägt einen einheitlichen Akzent. Die einheitliche
Langhausbewegung zum Altarraum hin ist auch äusserlich
ganz klar dokumentiert. Dieses einfache Elementarschema
der Basilika erfährt nun im romanischen Stil eine durch-
greifende Gliederung, die seinen einheitlichen Charakter
6*
84 ROMANISCHER STIL
aufhebt und an die Stelle reizloser Einfachheit eine reiche
Mannigfaltigkeit setzt. Statt des einen Akzentes eine
/ Vielheit der Akzente, die eine gewisse rhythmische Gebunden-
/ heit haben. Es ist, als ob man einen sachlichen, logisch
aufgebauten lateinischen Satz vergleiche mit einem Vers
aus dem Hildebrandslied und seiner unruhigen, knorrigen,
ungemein ausdrucksvollen Rhythmik, seinem fast hyper-
trophischen Reichtum an Akzenten, Dieser schwerfällige,
gedrungene Satzbau, der fast berstet unter der Summe der
in ihn hineingepressten Bewegtheit, er weist uns darauf hin,
wie auch die Schwerfälligkeit und Gedrungenheit des ro-
manischen Baustils zu verstehen ist. Bewegung ist Aktivität.
Der Gliederungstrieb der romanischen Architektur ist nichts
anderes als das gotische Aktivitätsbedürfnis, das das ruhige,
äusserlich ganz objektive, ausdrucksarme Gebilde der alt-
christlichen Basilika nach seinem Geiste umgestalten und
differenzieren will. Man spricht meist von dem Bedürfnis
der romanischen Architektur nach malerischer Erscheinung
und verwechselt damit Ursache und Wirkung. Denn diese
malerische Erscheinung ist nur die sekundäre Wirkung jener
primären Aktivitätsäusserungen, die sich in der Gliederung
aussprechen. Denn indem dieses Aktivitätsbedürfnis die aus-
druckslose Einheit der Erscheinung gliedert und aus der toten
objektiven Masse Einzelkräfte hervorlockt, löst es die Ruhe
in Bewegtheit auf und setzt an die Stelle der Einfachheit
Mannigfaltigkeit. Und das natürliche Resultat dieses Un-
ruhig-Bewegten und Mannigfaltigen ist die malerische Wir-
kung. Dieser malerische Charakter bleibt der nordischen
Architektur nur so lange erhalten, als die nordischen Form-
energien sich noch auf der Grundlage des alten Massenbaus
entwickeln müssen. Hier entsteht die malerische Wirkung
nur durch das Gegenspiel der toten Masse und der aus ihr
von der nordischen Formenergie herausgelösten Gliederung.
Sobald diese Grundlage wegfällt und die Gliederungen mit
ihrem Aktivitätsausdruck sich nicht mehr an dem Hinter-
grund toter Masse brechen, nämlich in der eigentlichen
Gotik, schwindet der Reliefcharakter des romanischen Stils,
schwindet mit anderen Worten seine malerische Wirkung.
Die reine Gotik ist zwar voller Aktivität, aber ohne eigent-
lich malerische Wirkung. Womit deutlich bewiesen ist, dass
GROSSER REMTER IM SCHLOSS ZU MARIENBURG (WESTPREUSSEN)
Originalaufnahme der Kgl. Preussischen Messbildanstalt zu Berlin.
ROMANISCHER STIL 85
die malerische Wirkung des romanischen Stils nicht Selbst-
zweck ist, sondern nur Folge eines mit dem römischen Massen-
und Mauerstil sich noch auseinandersetzenden Aktivitäts-
bedürfnisses ist. Die ungemein malerische Wirkung des
Völkerwanderungsstils beruht auf den gleichen Voraus-
setzungen.
Das Gesagte gilt sowohl für die reiche Grundriss-
gliederung wie für die Gliederung der äusseren Erscheinung.
Diese äussere Erscheinung wird beherrscht von einem Blend-
arkaden- und Lisenensystem, das die toten Mauerwände
auflöst in Leben und Bewegung. Dieses Leben spielt sich
noch getrennt von der eigentlichen Struktur des Baues ab,
es ist ihr nur äusserlich aufgesetzt, ist nur dekoratives Bei-
werk. Man hat das Gefühl, als ob diese Häufung organischen
Lebensausdrucks, wie sie sich in den wandbelebenden Säulen-
arkaden ausspricht, eine Art Notbehelf sei für das starke
nordische Ausdrucksverlangen, das seine eigentliche Aus-
drucksmöglichkeit, nämlich die überorganisch konstruktive
Sprache, noch nicht gefunden hat. Denn in konstruktiver
Hinsicht war ja der romanische Stil noch gebunden an das
antike Schema. So konnte der nordische Formwille
sich nur neben dieser baulichen Grundstruktur ausdrücken,
nicht mit ihr, wie es die Gotik tat. Der Aufwand an äusser-
licher mittelbarer Kraftentfaltung, die dem Grundgedanken
des Baus entsprechend sich noch mit organischen Ausdrucks-
mitteln aussprach, musste den Mangel an unmittelbarei
innerer Kraftentfaltung ersetzen. Damit hängt auch die
Neigung des romanischen Stils zu barocker Ausartung zu-
sammen. Denn als barock empfinden wir jede Stilerscheinung,
die ein organisches Leben zeigt, das unter einem allzustarken
Druck steht. Und dieser Ueberdruck entsteht immer dann,
wenn die rechten Ventile verstopft sind und die eigentliche
Auslösung nicht vor sich gehen kann, wenn die organischen
Ausdrucksmöglichkeiten ein Leben bewältigen müssen, das
eigentlich über ihre Kraft geht und nur von überorganischen
Kräften bewältigt werden könnte. Und von überorganischer
abstrakter Ausdrucksmöglichkeit — der eigentlich gotischen
— ist der romanische Stil ebenso entfernt wie das Barock.
Nur dass in dem einen Falle infolge der Abhängigkeit von der
antiken Tradition der Weg dazu noch versperrt, im andern
86 ROMANISCHER STIL
Falle durch das Wiederaufleben und die absoluteVorherrschaft
dieser selben antiken Tradition der Weg wieder verschüttet
war. Der romanische Stil ist ebenso wie das Barock der Ver-
such einer Gotik mit untauglichen, nämlich nur organischen
Mitteln. Und immer mehr kommt es uns zu Bewusstsein,
wie die Renaissance nur eine Art Fremdkörper ist in dieser
ungeheuren, sonst ununterbrochenen Entwicklung von den
frühsten nordischen Anfängen bis zum Barock, ja zum
Rokoko hin.
Das gestreckte Langhaus der Basilika lässt den ganzen
Bau äusserlich als einen liegenden erscheinen. Bei der Tendenz
des nordischen Kunstwollens, stehende, frei emporstrebende
Bauten mit dem Ausdruck ungehemmter Aktivität zu
schaffen, war es klar, dass man an dieser breit sich lagernden
Basilikenform Anstoss nehmen würde. Es galt, ihr um jeden
Preis eine Höhenentwicklung abzuringen. Das Ergebnis
dieses Bestrebens ist das romanische Vielturmsystem, das
an Stelle der horizontalen Akzentuierung der Basilika eine
schon ganz kräftige Vertikalakzentuierung setzt. Auch hier
ist es noch ein Versuch mit untaughchen Mitteln. Die Türme
sind mehr oder weniger willkürlich aufgesetzt; ihre Höhen-
kraft wächst nicht unmittelbar aus der inneren Struktur des
Baues heraus, und so können sie dann ohne diese konstruktive
Schnellkraft den Eindruck materieller Schwere nicht über-
winden. Auch hier ist das erlösende Wort noch nicht ge-
sprochen, und so wird dann durch ein Vielerlei, durch eine
Häufung der Effekte noch versucht, was sich der direkten
VerwirkHchung noch versagte. Nur von innen heraus konnte
die Aenderung vor sich gehen. Nur aus dem innersten Herzen
des Baues heraus konnte das Neue sich gestalten. Und
sobald das geschehen war, sobald dieses entscheidende Stich-
wort gefallen war, ergab sich die äussere Gestaltung des
Baues ganz von selbst. Erst musste der Bau seine eigentliche
Seele gefunden haben, um sich vom Körper zu emanzipieren
und dem gotischen Höhentrieb, diesem Drängen nach einer
unendlichen immateriellen Bewegtheit die Zunge zu lösen.
Diese Emanzipation vom Körper, d. h. von der ganzen
sinnhchen Bauauffassung der antiken Tradition, setzt im
romanischen Stil ein mit den ersten Wölbungs versuchen.
Mit den ersten Wölbungsversuchen greift der nordische Bau-
BEGINNENDE EMANZIPATION 87
meister in den innersten Kern der bisher von ihm unange-
tasteten antiken Bauform ein.
Wir wollen diesen entscheidenden Vorgang in einem be-
sonderen Kapitel behandeln.
BEGINNENDE EMANZIPATION
VOM KLASSISCHEN BAUGEDANKEN
"T^ie antike Architektur hatte sich, vom Orient angeregt, in
-*-^ hellenistischer Zeit und weiter in römischer Zeit ein-
gehend mit dem Wölbungsproblem beschäftigt und die römi-
sche Provinzialkunst hatte auch auf nordischem Boden im-
posante Beispiele ihrer Lösungen hinterlassen. Aber die nun
einsetzende mittelalterliche Wölbungskunst hat künstlerisch
nichts, nur technisch etwas mit dieser antiken klassischen
W^ölbungstradition zu tun. Mit der orientalischen Wölbungs-
tradition, die ebenso wie die spätere nordische auf male-
rische Raumgestaltung ausging, wären die künstlerischen
Zusammenhänge schon leichter zu finden. Doch das würde
uns zu weit führen. Um den fundamentalen Unterschied
zwischen der klassischen und der gotisch-nordischen Wöl-
bungsidee zu verstehen, müssen wir uns klarmachen, welchen
künstlerischen Zwecken die klassische Wölbungskunst diente.
Die Genesis klassischer Wölbungskunst hängt eng zusammen
mit der in hellenistischer Zeit einsetzenden und in römischer
Zeit zu ihrem Höhepunkt sich entwickelnden Innenraum-
gestaltung. Wir sahen, wie in griechischei Zeit der Raum
als solcher keine künstlerische Rolle spielte; die griechische
Baukunst erkannten \\ir als reine Tektonik ohne raum-
schaffende Absicht. In hellenistischer Zeit büsst das grie-
chische Empfinden nun seine ganz auf substantielles, fassbares
Sein gerichtete Plastik ein; durch die Berührung mit dem
Orient wird es mit unsinnHchen geistigen Momenten durchsetzt
und folgerichtig entwickelt sich aus der Tektonik eine raum-
schaffende Kunst. Wir haben diese Zusammenhänge schon
an anderer Stelle behandelt. Aber selbst bei dieser Raum-
schaffungsabsicht bheb die eigentliche Antike klassisch, d. h.
auch an den Raum tritt sie mit organischen Gestaltungszielen
BEGINNENDE EMANZIPATION
/
heran und sucht ihn gleichsam wie etwas Organisch- Lebendiges,
ja wie etwas Körperhches zu behandeln. Mit anderen Worten:
an die Stelle der Formenklarheit als Ideal der griechischen
Tektonik tritt die Raumklarheit als Ideal der römischen Archi-
tektur, an die Stelle der organischen Formenbildung tritt die
organische Raumbildung, an die Stelle der Formplastik tritt
die Raumplastik (wenn dieser kühne, die Sachlage aber richtig
treffende Ausdruck erlaubt sein soll). Die Raumgrenzen
sollen derartige sein, als ob der Raum sie sich gleichsam
selbst gesetzt habe, um sich dem unendlichen Raum gegenüber
zu mdividualisieren. Es soll der Eindruck natürlicher Raum-
grenzen entstehen, innerhalb deren der Raum ein selbständiges,
organisch gebundenes Leben führen kann. So soll das Un-
sinnliche, nämlich der Raum, wieder versinnlicht, das Im-
materielle wieder materialisiert, das Unfassbare wieder
objektiviert werden. Diesen künstlerischen Zwecken dient
die klassische Raumkunst, deren glänzendste Leistung das
Pantheon ist. Hier ist die Wölbung nur ein Mittel zur
Verwirklichung einer sinnlichen Raumplastik, deren Ideal
es ist, auch mit räumlichen Verhältnissen den Eindruck eines
harmonischen, in sich ruhigen und ausgeglichenen Lebens
zu schaffen. In diesem harmonischen Raumgebilde ist
der Kampf von lastenden und tragenden Kräften nun ganz
verschwunden. Was die griechische Tektonik nur indirekt,
d. h. durch das ganze System symbolischer Vermittlungsglieder
erreichen konnte, nämlich die Milderung des konstruktiv
unumgänglichen Zusammenstosses von Last und Kraft, das
erreicht die sinnliche Raumplastik des Römers durch die
Wölbungskunst direkt: in weicher organischer Rundung
nimmt die Wölbung alle tragenden Kräfte in sich auf und
führt sie ohne alle Gewaltsamkeit zu einem ruhigen, selbst-
verständlichen Abschluss und Ausgleich. Es wäre schwer
zu entscheiden, ob ein solches architektonisches Gebilde wie
das Pantheon von der Erde emporsteige oder auf ihr laste,
vielmehr heben sich durch die absolut organische Raum-
bildung diese Eindrücke von Tragen und Lasten gegenseitig
auf: die lastenden und tragenden Kräfte befinden sich in
einem reinen Gleichgewichtszustand.
Wir sehen also, in der römischen Kunst ist die Wölbung
— abgesehen von ihrer rein praktischen Bedeutung bei Nutz-
VOM KLASSISCHEN BAUGEDANKEN 89
bauten — das Ergebnis einer gewissen sinnlichen Raum-
plastik und damit trägt sie deutlich klassischen Charakter.
Unsere ganze Schilderung des unsinnlichen gotischen
Kunstwollens weist uns schon den Weg zu der Erkenntnis
der ganz anderen künstlerischen Bedürfnisse, denen die mittel-
alterliche Wölbungskunst gerecht werden soll. Sie ist nicht
das Resultat irgendwelcher organischer, sinnlicher, plastischer
Tendenzen, sie dient vielmehr einem übersinnlichen Aus-
drucksstreben, das den Begriff der Harmonie nicht kennt.
Nicht um einen Ausgleich tragender und lastender Kräfte,
aktiver und passiver Kräfte, vertikaler und horizontaler
Kräfte war es ihr zu tun, sondern die Aktivität, der Verti-
kalismus sollte allein den künstlerischen Ausdruck tragen.
Die Ueberwindung der Last durch eine frei emporsteigende
selbstherrliche Aktivität, die Ueberwindung der Materie
durch einen immateriellen Bewegungsausdruck: das ist das
Ziel, das der mittelalterlichen Wölbungskunst vorschwebt,
das Ziel, das sie in der reifen Gotik erreichte. In der
reifen Gotik kann man kaum von einer lastenden Decke
sprechen. Der obere Abschluss des Raumes entsteht für
die Anschauung und das Gefühl nur durch die Vereinigung
der von allen Seiten herandrängenden unbelasteten Vertikal-
kräfte, die die Bewegung gleichsam im Unendlichen aus-
klingen lässt. Erst wenn wir uns dieses Ziel vor Augen halten,
wissen wir die ersten Wölbungsversuche der nordischen
Baukunst in ihrer ganzen folgenschweren Bedeutung zu
würdigen. Nun erst sehen wir hinter den technischen Fort-
schritten den nach Ausdruck ringenden Formwillen, der sie
auch zu künstlerischen Fortschritten macht.
Wir lassen bei unserer Betrachtung die Frage der Ent-
lehnung von Bauformen ganz beiseite. Die Frage der Ent-
lehnung wird erst dann akut, wenn die fremden Formen dem
eignen Formwillen entgegenkommen, und dann handelt es
sich eben nicht mehr um eine Entlehnung, sondern um eine
selbständige Reproduktion. Dann dient die Kenntnis des
Fremden höchstens als Stichwort, um den noch unent-
schlossenen und tastenden Formwillen zur Aussprache zu
drängen. Sie provoziert und beschleunigt also nur, was in
der inneren Entwicklungslinie schon vorgezeichnet und zum
Ausdruck reif ist. So können diese äusseren Momente am
90 BEGINNENDE EMANZIPATION
inneren Gang der Entwicklung nichts ändern, und füglich
kann eine Betrachtung, die nur dieser inneren gleichsam
unterirdischen Entwicklung gewidmet ist, von diesen irre-
levanten äusseren Momenten ganz absehen. —
Mit der nächstliegenden und technisch einfachsten Aus-
gestaltung des Wölbeprinzips, dem Tonnengewölbe, begann
die Entwicklung. Mit ihm versuchte man den ersten Angriff
gegen die Decke und ihre Schwerkraft. Doch diese un-
differenzierte, ausdruckslose, konstruktiv unakzentuierte Art
des Wölbens bot in ihrer organisch geschlossenen Form dem
abstrakten Ausdrucksverlangen des nordischen Kunstwollens
keine Möglichkeit einzusetzen und sich zu betätigen. Für
das unsinnliche nordische Kunstempfinden war diese gleich-
massig runde Form, in der die aktiven und die passiven Kräfte
unUnterschieden waren, die also in konstruktiver Beziehung
unakzentuiert war, eine tote Masse. Es musste versucht
werden, aus dem gleichmässigen Wölbungszusammenhang
ausgesprochene Akzente herauszulösen; es musste versucht
werden, der Wölbungsmasse einen struktiven Aktivitäts-
ausdruck zu geben, wie er dem gotischen Ausdrucksbedürfnis
entsprach. Diesen künstlerischen Bedürfnissen kam das
Kreuzgewölbe mehr entgegen, und so gelangt es im
romanischen Stil zu einer Vormachtstellung, wie es sie zu
keiner Zeit innegehabt hatte. Denn die ganze Behandlung
— besonders in dekorativer Beziehung — des Kreuzgewölbes
in römischer Zeit zeigt, dass es hier nicht um seines struktiv-
mimischen Ausdruckslebens, sondern nur um seiner grossen
technischen Vorzüge willen gepflegt wurde. Bezeichnend ist
auch, wie der Süden Frankreichs mit seiner ununterbrochenen
antiken Tradition dem Kreuzgewölbe keinen festen Aufnahme-
boden geben wollte, obwohl doch durch die imposanten
römischen Gewölbebauten in diesen Gegenden die beste An-
leitung zur technischen Vervollkommnung der Gewölbe-
konstruktionen gegeben war. Südfrankreich machte den
Schritt zum Kreuzgewölbe nicht, es bheb beim Tonnen-
gewölbe und gab ihm eine monumentale, technisch äusserst
raffinierte Ausgestaltung. Es tat den Schritt zum Kreuz-
gewölbe nicht, weil es seinem noch antik gefärbten Form-
gefühl widersprach. Je mehr wir aber nach Mittel- und Nord-
frankreich kommen, je mehr das Germanische in der Völker-
VfiZELAY. TYi\
[\NONSKULPTUREN
VOM KLASSISCHEN BAUGEDANKEN 91
mischung mitspricht, um so stärker sehen wir das Kreuz-
gewölbe dommieren, am stärksten schliesslich in der nor-
mannischen Baukunst. Wie sehr anderseits das Kreuz-
gewölbe dem klassischen Formwillen widerstrebte, zeigt
am besten der von Burckhardt ausdrücklich betonte Wider-
wille der Renaissance gegen diese Gewölbeart. Man brauchte
zwar das Kreuzgewölbe noch fortwährend, aber verhehlt.
Oder man nahm ihm Mne in römischer Zeit durch Kasset-
tierung oder sonstige Detaildekoration den mimisch über-
zeugenden Ausdruck seiner Struktur.
Dem nordischen Formwillen aber kam das Kreuzgewölbe
weit entgegen. Denn im Gegensatz zu der für nordisches Emp-
finden toten gleichmässigen Masse desTonnengewölbes ist hier
schon eine klare übersichtliche GHederung vorhanden. Der
Gewölbevorgang erscheint hier schon als Aktion. Ein ein-
heithcher Höhenakzent kommt deuthch im Schnittpunkt der
vier Gewölbekappen zum Ausdruck, und diese Akzentuierung
des Scheitelpunktes gibt dem ganzen Gewölbe trotz seiner
faktischen Gedrücktheit schon die Illusion des Zur-Mitte-
Emporsteigens. Vom Tonnengewölbe, das nach der Seite des
Aktiven und Passiven hin völlig undifferenziert war, unter-
scheidet sich also das Kreuzgewölbe durch seinen ausge-
sprochenen Aktivitätscharakter. Entscheidend für diesen
Eindruck sind besonders die Grate, in denen die Gewölbe-
kappen zusammenstossen; sie geben dem Gewölbe eine hneare
Mimik, wie sie dem nordischen Kunstwillen ganz entsprach.
Es ist verständlich, dass die weitere gotische Entwicklung an
dieser Gratbildung einsetzt. Der erste Schritt war, diese
lineare Mimik dadurch zu unterstreichen, dass man die
Gratbögen mit Rippen umzog, die anfangs mit dem Ge-
wölbe in keiner inneren Verbindung standen und neben
ihrem Unterstützungszweck auch der linearen Aiis-
drucksverstärkung dienten. Auch die Römer hatten diese
Rippenverstärkung schon geübt, aber es ist bezeichnend,
dass hier „die Verstärkung mehr während der Ausführung
als für das fertige Gebäude von Belang war". (Dehio und
Bezold.) Mit anderen Worten: bei den Römern spielte die
Rippenverstärkung nur eine praktische, keine künstlerische
Rolle, sie war nur Mittel zum Zweck. In der romanischen
Kunst aber ist sie auch Selbstzweck und Träger künstlerischer
92 BEGINNENDE EMANZIPATION
Ausdruckszwecke. Anderseits zeigt die deutsche Architektur
viele Beispiele — besonders in Westfalen ist das Verfahren
häufig — , dass die Rippen an das fertige Gewölbe angefügt
werden und sich auf diese Weise deutlich als blosse Deko-
rationsglieder, d. h. blosse mimische Ausdrucksträger zu er-
kennen geben.
Der zweite grosse entscheidende Schritt in dieser Grat-
entwicklung ist dann der, dass man die innere Konstitution
des Gewölbes sich mit dieser linearen Mimik decken lässt.
Es ist die grosse gotische Umwälzung des Wölbungssystems,
die die Gewölberippen zu den eigentlichen Trägern der Ge-
wölbekonstruktion macht und die Gewölbekappen nur als
Füllung in den Rahmen einspannt. Die Rippen werden zum
innersten Gerüst der ganzen Konstruktion: die künstlerische
Bedeutung der Rippen mit ihrer konstruktiven Bedeutung
wird eins. Und wir werden sehen, wie sich dieser für das ganze
gotische Problem entscheidende Vorgang immer wiederholt:
wie das gotische Ausdrucksverlangen zuerst immer nur
äusserlich sich zu betätigen vermag und sich jenseits der
Konstruktion gleichsam nur dekorativ ausspricht, bis es end-
lich jene Sprache findet, in der allein es sich überzeugend aus-
drücken kann, nämlich die abstrakte unsinnliche Sprache der
Konstruktion. Dann fallen alle Aussprachshemmungen weg
und die reine restlose Erfüllung des Ausdrucksvermögens ist
gewährleistet.
Mehr oder weniger bewusst schwebte diese Idee, das
Konstruktive Selbstzweck sein zu lassen, es zum Träger des
künstlerischen Ausdrucks zu machen, dem nordischen Bau-
meister auch vor, als er den Pfeiler als stützendes Glied
heranzog und ihn die Säule langsam verdrängen liess. Dieser
Verdrängungsprozess ging nicht schnell vor sich; zu stark
war die Suggestionskraft der antiken Tradition, als dass die
Säule, diese eigentliche Repräsentantin antiker Baukunst,
bald hätte absterben können. Nur verschämt wagt der Pfeiler
anfangs sich neben ihr zu behaupten, bis es sich endlich zeigt,
dass ihm die Zukunft der Entwicklung gehört. Und besonders
in Gegenden, die weit vom Schauplatz des römischen Ein-
flusses ablagen und deshalb der antiken Nachsuggestion
weniger ausgesetzt waren, spielt die Pfeilerbasilika bald eine
dominierende Rolle.
VOM KLASSISCHEN BAUGEDANKEN 93
Es ist klar, warum das nordische Kunstgefühl der Säule
widerstrebte und dem Pfeiler den Vorzug gab. Die kon-
struktive Funktion des Stutzens wird in der Säule organisch
veranschaulicht, für diese organische VeranschauHchung aber
fehlte dem nordischen Kunstgefühl jene kultivierte Sinn-
lichkeit der Antike. Der Pfeiler dagegen ist ein ganz objek-
tives Gebilde, das ohne jeden Ausdruckswert die Funktion
des Tragens ausübt. Aber gerade dieser sein objektiv-kon-
struktiver Charakter bot dem abstrakten Ausdrucksverlangen
des Nordens eine ganz andere Möglichkeit des Einsetzens als
die in organischer Ausdrucks weit befangene Säule.
Die Tatsache, dass der rechteckige Pfeiler schon in
frühromanischer Zeit auftaucht, beweist, dass er zuerst nur
deshalb Aufnahme fand, weil seine Gestaltung dem nordischen
Ausdrucksverlangen entgegenkam. Dass sein Erscheinen mit
den ersten Wölbungsabsichten zusammentreffe, wie meist ge-
sagt wird, trifft nicht zu. Wohl aber erhält mit den Wölbungs-
tendenzen die äusserliche Vorliebe für ihn eine innere tech-
nische Berechtigung, d. h. seine bloss künstlerische Bedeu-
tung wird im Zusammenhang mit den Ueberwölbungszwecken
auch zu einer konstruktiven. Denn da der Gewölbedruck
bei den Kreuzgewölben kein gleichmässiger ist, sondern auf
die vier äusseren Eckpunkte konzentriert wird, so bedurfte
es für diesen auf die unteren Ecken konzentrierten Ge-
wölbedruck einer stärkeren Unterstützung, als sie die
schwache Säule bieten konnte. So bot sich dann der Pfeiler
als gegebener Ersatz für die Säule an.
Durch diesen konstruktiven Zusammenhang von Ge-
v/ölbe und Pfeiler verhert der Pfeiler aber schon leise seinen
objektiven Charakter. Sein latenter Ausdrucksgehalt wird
gleichsam durch die in engem Zusammenhang mit ihm
stehenden Gewölbegurten und Gewölberippen erweckt. Er
ist kein objektives Stützglied mehr, wie er es in der flach-
gedeckten Basilika war. Nachdem er durch vorgelagerte
Säulen, die die Gewölberippen auffangen, die Fühlung mit
der Gewölbedecke gefunden, scheint seine lebendige Tat-
kraft geweckt, scheint auch er nicht mehr zu tragen, son-
dern emporzusteigen. Als aktives Glied nimmt er an der
in Entwicklung begriffenen allgemeinen Vertikalbewegung
teil und der konstruktive Zusammenhang von Pfeiler- und
94 BEGINNENDE EMANZIPATION
Gewölbesystem beginnt sich in einer klaren überzeugenden
Mimik auszusprechen.
Dieses schlichte Zurückgehen auf die konstruktiven
Grundelemente des Baues unter Verzicht auf alle organisch-
antike Uebersetzungskünste gibt dem Innenaufbau des
romanischen Domes sein Gepräge. Es zeigt sich im Grossen
und im Kleinen. Im Einzelnen mag an die romanische
Kapitellgestaltung erinnert werden. Der Vergleich eines
romanischen Würfelkapitells in seiner klaren tektonischen
Form mit einem antiken Kapitell zeigt vielleicht am besten
die Tendenz des romanischen Baumeisters, zurückzugehen
auf klare konstruktive Sachlichkeit. Es ist sein mehr nega-
tiver Prozess, der sich in alledem zeigt, ein Prozess, der nötig
war, um die Bahn freizumachen für die künftige Entwicklung.
Erst musste die Struktur in ihrer Sachlichkeit von all dem
sinnlichen Beiwerk, mit dem sie der klassische Kunstwille
verquickt hatte, gereinigt werden, erst musste den kon-
struktiven Kräften gleichsam zum Sammeln geblasen werden,
ehe mit diesen Kräften allein der grosse künstlerische Aus-
druck des Mittelalters erreicht werden konnte.
Wohl ist also die Struktur in der romanischen Architektur
schon herausgeholt, aber sie ist noch nicht gesteigert worden,
das grosse gotische Pathos hat noch nicht eingesetzt. Der
romanische Stil ist eine Gotik ohne Enthusiasmus, eine
Gotik, die noch in materieller Schwere befangen ist, eine
Gotik ohne letzte transzendentale Auslösung. Man ist auf
die Logik zurückgegangen, aber noch ohne einen überlogischen
Zweck damit zu verfolgen. Dieser Ernst, der zu einem guten
Teil Schwerfälligkeit ist, diese Sachlichkeit, die zu einem
gewissen Teil Nüchternheit ist, diese gedrängte und zurück-
gehaltene Wucht der Erscheinung, die feierlich wirkt, ohne
mitzureissen, prädestinieren den romanischen Stil zum
eigentlich protestantisch-deutschen Stil, und es ist darum
kein Zufall, dass der moderne protestantische Kirchenbau
mit Vorliebe wieder an den romanischen Stil anknüpft. Die
Halbheit, die Zwitterhaftigkeit, die dem Protestantismus
anhaftet, dieses Schwanken zwischen rationalistisch-scho-
lastischen und metaphysischen Elementen, zwischen strenger
Gebundenheit ans Wort und individueller Freiheit : all dieses
spiegelt sich auch im romanischen Stil wider. Auch er ist voller
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VOLLENDETE EIMANZIPATION IN DER REINEN GOTIK 95
innerer Widersprüche. So ist er schon halb gotischer Gerüst-
stil, halb noch antiker Massenstil, so zeigt er bei strengster Ge-
bundenheit im Grundriss auf der anderen Seite eine Willkür,
die Dehio zu der Feststellung führt, dass die Symmetrie in
ihrer strengsten Form dem romanischen Stil geradezu
unbehaglich gewesen und von ihm deshalb immer, gelinder
oder entschiedener, gebrochen worden sei. Bei keinem Stil
hängen strenge Gebundenheit und Willkür so zusammen
wie beim romanischen Stil, bei keiner ReHgion liegen sie so
nahe beieinander wie bei dem Protestantismus.
Der deutsch-nationale Charakter des romanischen Stils
unterscheidet ihn deutlich von der internationalen, uni-
versalen Gotik. Der romanische Stil ist der Stil der stark
und wenig gemischten germanischen Länder; in der Nor-
mandie, in Burgund, in der Lombardei und schliesslich im
eigentlichen Deutschland ist er am festesten verankert.
Seine Blüte ist eng verbunden mit den grossen Tagen deut-
scher Kaiserherrschaft. Mit dem Untergang dieser Kaiser-
macht endet auch seine Glanzzeit.
VOLLENDETE EMANZIPATION IN DER
REINEN GOTIK
^A/ ir sahen, wie im romanischen Stil die nordisch-gotischen
Formenergien schon selbständig geworden sind, wie
sie charaktervoll neben der antiken Tradition ihren Platz
behaupten. Wir sahen aber auch, wie sie bei diesem Neben-
einander stehen bheben, wie ihnen die Kraft zur letzten
Konsequenz, zur völligen Emanzipation von der antiken
Tradition fehlte. Zu dieser grossen und entscheidenden Tat
war ein Enthusiasmus, ein Elan des Wollens nötig, wie ihn
die Völker vorwiegend germanischen Charakters in ihrer
Schwerfälligkeit nicht aufbrachten. Ihr dumpfes chaotisches
Drängen blieb traditionell, blieb materiell gebunden, ihnen
fehlte der grosse entscheidende Ruck, um sich von dieser
Gebundenheit zu befreien, und so bietet denn der romanische
Stil nur das Bild unterdrückter, gebundener, zurückgehaltener
Kraft dar.
96 VOLLENDETE EMANZIPATION
Der Anstoss zur Befreiung dieser Kraft musste von aussen
kommen. Es ist der romanische Westen Europas, dem diese
Funktion zufällt. Er gibt dem unentschlossenen nordischen
Kunstwollen die grosse Initiative, die es zur völligen Be-
freiung führt. Der germanische Norden in seiner Schwer-
fälligkeit war immer unfähig, das Unklarempfundene und
Ersehnte selbständig zu formulieren, immer ist es der von
romanischen Elementen dominierte Westen Europas, der
das Gesetz der nordischen Trägheit durchbricht und in
einer grossen Aufwallung seiner Energien das Wort aus-
spricht, das dem germanischen Norden gleichsam auf der
Zunge gelegen hat.
Da wo die germanischen und romanischen Elemente
am innigsten sich durchdringen, im Herzen Frankreichs, da
geschieht die befreiende Tat, da wird das Stichwort aus-
gesprochen, mit dem die eigentliche Gotik einsetzt. Der
romanische Enthusiasmus, der aufs höchste angespannt
werden kann, ohne dabei seine Klarheit zu verlieren, er findet
die klare Formulierung für das unklare nordische Wollen,
mit anderen Worten: er schafft das gotische System.
Trotzdem kann man Frankreich nicht das eigentliche
Heimatland der Gotik nennen: nicht die Gotik entstand in
Frankreich, nur das gotische System. Denn die romanischen
Elemente des Landes, die Frankreich zu dieser Kraft der
Initiative und zu dieser Kraft der klaren Formulierung be-
fähigten, sie waren es anderseits auch, die den Zusammenhang
mit der antiken Tradition und ihrem organisch gefärbten
Kunstwillen wachhielten. Nachdem der erste Enthusiasmus
erloschen, nachdem die romanischen Elemente auf den vom
germanischen Norden ausgehenden Reiz zur klaren Formu-
lierung des gotischen Gedankengangs mit einer grossen Kraft-
anstrengung, mit einer gewaltigen für die ganze Gotik ent-
scheidenden Leistung geantwortet hatten, ist ihre Mission
sozusagen erfüllt, und es stellt sich eine Selbstbesinnung ein,
während der das von der grossen mittelalterlichen Aufgabe
vorübergehend gänzlich zurückgedrängte klassische Kunst-
empfinden sich wieder zum Worte meldet. Für die gotische
Einseitigkeit war in diesem Lande glücklichster Rassen-
mischung eben auf die Dauer keine Heimat. Die romanische
Freude an dekorativer Geschlossenheit, an sinnlicher Klar-
IN DER REINEN GOTIK 97
heit und organischer Harmonie hielt das germanische Be-
dürfnis nach Uebertreibung, nach Exzessivität zu sehr nieder.
So kommt es, dass auch über den schönsten und reifsten
gotischen Bauten Frankreichs doch ein unverkennbarer \
Hauch organisch abgeklärten Renaissanceempfindens Hegt. •
Nie kommt es zu einem völligen Vertikalismus, immer halten
horizontale Akzentuierungen das Gegengewicht. So kann man
wohl sagen, dass Frankreich die schönsten lebendigsten goti-
schen Bauten geschaffen hat, aber nicht die reinsten. Das
Land der gotischen Reinkultur ist der germanische Norden.
Insofern zeigt sich die Berechtigung der im Anfang unserer
Untersuchungen aufgestellten Behauptung, dass die eigent-
liche architektonische Erfüllung des nordischen Formwillens
in der deutschen Gotik vorliege. Zwar ist auch die englische
Baukunst einseitig gotisch gefärbt; zwar pflegt England,
das in sich zu fest konstituiert und abgeschlossen war, um
durch die Renaissance in seinem eigenen Kunstwollen so
desorientiert zu werden wie Deutschland, die Gotik noch
bis auf den heutigen Tag als nationalen Stil. Aber es fehlt
dieser englischen Gotik doch der unmittelbare Elan der
deutschen Gotik, ihr starkes an Hemmungen sich brechendes
und sich steigerndes Pathos. Die englische Gotik ist reser-
vierter, fast möchte man sagen phlegmatischer und läuft
deshalb leicht Gefahr, frostig und steril zu erscheinen.
Vor allem ist sie äusserlicher, spielerischer als die deutsche
Gotik. Was bei dieser als innere Notwendigkeit wirkt, wirkt
bei der englischen Gotik wie mehr oder weniger willkürliche
Dekoration.
Trotz der imbestreitbaren Tatsache, dass die Gotik in
den germanisch gefärbten Ländern am festesten verankert
war und sich dort am längsten gehalten hat, darf man Dehio
wohl recht geben, wenn er sagt, dass die Gotik an keine
nationale Bedingtheit unmittelbar gebunden, sondern eine
übernationale Zeiterscheinung gewesen sei, die eben jenes
hohe Mittelalter charakterisiert, in dem die nationalen
Unterschiede unter der Glut eines die ganze europäische
Menschheit erfassenden religiösen und kirchlichen Einheits-
bewusstseins zusammenschmolzen.
98 INNERER AUFBAU DER KATHEDRALE
INNERER AUFBAU DER KATHEDRALE
Tst es nicht etwas dem von der Kirche gekämpften
,, -^ Kampf gegen den natürlichen Menschen Verwandtes,
wenn die Gotik den Stein zu Bildungen nötigt, in denen es
seine Schwere, seine Brüchigkeit, sein natürliches Lagerungs-
bestreben scheinbar vergessen, scheinbar ein höheres lebendiges
Wesen angenommen hat? Ist es nicht ein sehr absichtlicher
Widerspruch gegen die gemeine Erfahrung, ein Verlangen
nach wundergleichen Wirkungen, das dem Scharfsinn der
Baumeister zum Ziel setzt, alles das, was dem inneren Auf-
bau Halt gibt, für das Auge verschwinden zu machen?
Ohne Frage, diese ganze, für den ästhetischen Eindruck
entscheidende Seite der Gotik hat mit dem angebhch sie
beherrschenden Streben nach konstruktiver Wahrheit nichts
zu tun. Wer den reichlichen Tropfen Mystik, der dem Kalkül
ihrer Meister zugemischt war, nicht herauszufühlen vermag,
der wird auch das, was diese als Künstler, d. h. als echte
Söhne und legitime Sprecher ihrer Zeit, zu sagen hatten,
nicht verstehen."
Diese Sätze Dehios stellen wir dem Kapitel über die
eigenthche Gotik voraus, weil sie den wahren Charakter
aller technischen Fortschritte der Gotik so treffend kenn-
zeichnen, weil sie uns von vornherein darauf hinweisen,
wie der ganze Aufwand an logischem Scharfsinn, den die
gotischen Konstrukteure aufbringen, im letzten Grunde nur
überlogischen Zwecken dient.
Der logischen und psychologischen Interpretation des
gotischen Systems, wie sie neben Dehio von vielen anderen
versucht worden ist, ist kaum etwas Neues hinzuzufügen.
Ueber dieses Thema ist schon so viel Geistreiches und Tief-
durchdachtes gesagt worden, dass der Gefahr des unbewussten
Plagiats kaum zu entgehen ist. Auch geht es uns bei unseren
Untersuchungen ja weniger um diesen Höhepunkt der Gotik,
als um jene heimliche Gotik, die sich in der ganzen Kette
der vorgotischen Stile schon äussert und deren Zusammen-
hang mit der engeren Gotik wir in erster Linie aufzeigen
wollten. So dürfen wir uns also kurz fassen.
INNERER AUFBAU DER KATHEDRALE 99
Der romanische Stil war, wie wir sahen, noch Massenstil,
d. h. die natürliche Schwerkraft des Steins, seine materielle
Wesenheit war noch die Grundlage sowohl der Konstruktion
wie des ästhetischen Eindrucks. Da dieser Stil sich unter
der Nachsuggestion jener antiken Bauempfindung gebildet
hatte, die der Materie ein organisches Ausdrucksleben abge-
wonnen hatte, so war vor allem ein gewisser Entorganisie-
rungsprozess der Materie nötig, um ihn dem nordischen
Formwillen anzupassen. Was im romanischen Stil nach dieser
EntOrganisierung bleibt, das ist die Materie als solche, die
Materie, die entsinnlicht, aber noch nicht vergeistigt ist.
Aeusserliche Ansätze zur Vergeistigung, d. h. zur Gliederung
der Materie, zur Auslösung aktiver Lebenskräfte aus ihr,
setzen im romanischen Stil schon ein, sie bleiben aber, wie
gesagt, im Aeusserlichen stecken, sie verbinden sich noch nicht
mit der inneren Konstruktion. Den ersten Schritt zu dieser
inneren Vergeistigung konstatierten wir am Rippensystem des
Kreuzgewölbes. Es ist der erste Schritt in die eigentliche Gotik
hinein, als diese Rippen ihren Charakter als blosse mimische
Ausdrucksverstärkung aufgeben, um die statische Führung
des Gewölbes zu übernehmen und also gleichzeitig Aus-
drucks- und Funktionsträger zu werden.
Die hier beginnende Entwicklung wird aber erst zu folge-
schwererem und durchgreifenderem Ergebnis gebracht durch
die Einführung des Spitzbogens.
Es ist interessant, dass eine Form, die, rein äusserlich
genommen, mit ihrem starken einheitlich nach der Höhe
akzentuierten Aktivitätsausdruck gleichsam ein kurzes lineares
Schema des mittelalterlichen Transzendenzstrebens und
damit des gotischen Ausdrucksverlangens ist und die deshalb
manchmal wohl nur aus dekorativen äusseren Gründen
Aufnahme in das Bausystem fand, sehr bald eine kon-
struktionelle Verwendbarkeit offenbarte, die dem kon-
struktiv noch gehemmten gotischen Formwillen mit einem
Schlage freie Bahn machte. Nur weil die dekorative Be-
deutung des Spitzbogens sich so mit seiner konstruktiven
deckt, gelangte er zum Ruf des massgebenden gotischen
Stilkriteriums. .Wobei man allerdings die unvergleichlich
wichtigere innere Bedeutung meist über der aufdringlicheren
äusseren Bedeutung übersah. Die konstruktionellen Vorteile
7*
100 INNERER AUFBAU DER KATHEDRALE
des Spitzbogens waren natürlich auch vorher längst bekannt :
der Spitzbogen ist so alt wie die Kunst des Wölbens über-
haupt. Insofern kann man also nicht von einer Erfindung
der Gotik sprechen, Wohl aber hat sie allein ihn und seine
konstruktive Bedeutung zum Element eines ganzen mit
äusserster Konsequenz durchgeführten Systems gemacht.
Solange man an dem Rundbogen festhielt, war es tech-
nisch schwierig gewesen, andere als quadratische Grund-
risskompartimente zu überwölben. Denn nur bei gleicher
Spannweite der Pfeilerabstände ergaben sich gleiche Scheitel-
höhen. So ward man zu jener quadratischen Bindung des
Grundrisses genötigt, die zwar dem romanischen Bau eine
sehr ernste und feierliche Erscheinung gibt, anderseits aber
der durch Seitenschiffe und Mittelschiff durchgehenden
vertikalen Streckung, wie sie der nordische Bauwille ersehnte,
Fesseln anlegte. Denn neben einem Hauptschiffsquadrat
konnten immer nur zwei kleine Seitenschiffsquadrate an-
geordnet werden. Ein inniger Zusammenhang der Neben-
schiffwölbung mit der Hauptschiffwölbung wurde dadurch
unerreichbar. Die Rhythmik von Hauptschiff und Seiten-
schiffen war eine ungleiche. Wo das Hauptschiff einen grossen
Schritt machte, machten die Seitenschiffe zwei kleine.
Sie liefen also nur nebeneinander her, nicht miteinander.
Die Gemeinschaftlichkeit lag nur in der Vorwärtsbewegung,
nicht in der Höhenbewegung. Und da die Höhenentwicklung
nun das eigentliche Ziel des nordischen Bauwillens war, so ist
es klar, wie sehr er an dieser quadratischen Gebundenheit
litt, die eben die einheitliche Höhenentwicklung des Baus
zurückhielt.
Die altchristliche Basilika hatte ihr Ziel im Altar. Mit
energischem Linienzwang leitete sie die ganze Aufmerksamkeit
auf diesen Endpunkt der Bewegung, den Altar, hin. Auch
die gotische Kathedrale kennt einen Linienzwang. Aber
sein Ziel ist ein anderes. Es ist jene irreale Linie in ver-
schwindender Höhe, nach der alle ihre Kräfte, all ihre Bewegt-
heit orientiert sind. Die Basilika hatte ein bestimmtes Ziel,
die gotische Kathedrale ein unbestimmtes. Ihre Bewegung
y^ verklingt im Unendlichen. Da nun bei beiden Baurichtungen
die Bedingungen des Kults im allgemeinen und damit auch die
praktischen Raumbedürfnisse dieselben blieben, so konnte
GESIMS MIT LÖWE UND AUFERSTEHUNG
a:\i do:m zu freiberg i. s.
Aufnahme von Dr. F. Stoedtner, Berlin.
INNERER AUFBAU DER KATHEDRALE loi
die Höhenentwicklung der Gotik sich nur neben, nur trotz
dieser vom Kult geforderten Längsentwicklung des Baues
entwickeln. Die Längsentwicklung des Baues blieb also
durch die oblonge Grundrissgestaltung des Ganzen erhalten.
Während nun das gebundene romanische System mit seinen
rhythmisch ausdruckslosen, in der Richtungsangabe unent-
schiedenen Quadraten dieser Längsentwicklung des Ganzen
noch keine gleichwertige Höhenentwicklung entgegensetzen
konnte, war es dem gotischen System durch den Spitzbogen
und seine konstruktive Ausnutzung möglich, dieses grosse
Oblongum des Gesamtgrundrisses, dem gegenüber die roma-
nischen Jochquadrate trotz aller Ueberwölbungen ohnmächtig
waren, aufzulösen in ein System ebenfalls oblonger Kom-
partimente, deren Langseiten aber durchschnittlich nicht die-
selbe Richtung wie die Langseite des Gesamtgrundrisses
hatten, sondern die entgegengesetzte. So wirkten sie also
derart, dass sie die einseitige Längsentwicklung des Baues
paralysierten und eine gleichwertige Breitentwicklung an
seine Stelle setzten, die im Zusammenhang mit den schon
erreichten Wölbungszielen zu einer einheitlichen Höhen-
entwicklung führte. Die oblonge Gestaltung des Gesamt-
grundrisses kommt dieser Höhenentwicklung jetzt sogar
zustatten. Denn durch sie erhält der ganze Bau den Cha-
rakter eines aus relativ engen seitlichen Grenzen sich mit
doppelter Dynamik entwickelnden Höhenstrebens.
Diese Möglichkeit einer durch den ganzen Bau durch-
gehenden, Mittelschiff und Seitenschiffe gleichmässig erfassen-
den Höhenstreckung — der sogenannten gotischen Travee
— ergibt sich, wie gesagt, erst durch den Spitzbogen und
seine konstruktiven Konsequenzen, Denn erst durch den
modulationsfähigen Spitzbogen war es möglich, auch bei
ungleichen Pfeilerabständen — also über oblongen Grund-
risskompartimenten — gleiche Scheitelhöhen zu erreichen.
Das schwerfällige Verhältnis i : 2 der Ge wölbe joche des
Mittelschiffs zu denen des Seitenschiffs verschwindet; Mittel-
schiff und Seitenschiffe erhalten dieselbe Anzahl von innig
miteinander in Verbindung stehenden Gewölben; sie laufen
nicht mehr nebeneinander einem in der Längsausdehnung
gesetzten Ziele zu, sondern sie erheben sich miteinander
der Höhe zu.
102 INNERER AUFBAU DER KATHEDRALE
Der Hauptakzent des ganzen Baues ruht nun also auf dem
Mittelschiff und seiner himmelanstrebenden Bewegung. Alles
andere ordnet sich ihr unter, alles andere ist von ihr abhängig.
Die Seitenschiffe, die im romanischen System noch als eigen-
willige, gleichwertige Raumabschnitte fungierten, erhalten
ihren ästhetischen Sinn jetzt nur durch die im Mittelschiff
gegebene Bewegung, der sie gleichsam nur als Auftakte dienen.
Wenn dieser Auftakt durch Einführung zweier weiterer
Seitenschiffe noch verstärkt wird, so entspricht das nur
dem echt gotischen Bedürfnis nach Häufung der Einzel-
effekte zui Verstärkung des Gesamteindrucks. Durch
reichere Ausgestaltung des Vorspiels wird dem Hauptsatz
des Bauganzen, der Mittelschiffbewegung, keine Kraft ent-
zogen, vielmehr wirken seine grossen starken Linien nach
der sjmkopenartigen Verzögerung, wie sie durch die Seiten-
schiffe gegeben wird, nur noch um so stärker und wuchtiger.
Durch die Einführung des Spitzbogens in den Gewölbe-
aufbau gelangt der im romanischen Stil schon einsetzende
Entmaterialisationsprozess des Baukörpers zu seinem Ab-
schluss. Der romanische Stil hatte nur eine äussere Trennung
der statisch wirkenden und raumabschliessenden Elemente
erreicht, der gotische negiert die nur raumabschliessenden
nun gänzlich und baut das Bauganze einzig und allein aus
den statisch wirkenden Baugliedern auf. Schon in roma-
nischer Zeit hatte sich diese Bewegung in der Verstärkung
der Gewölberippen geäussert, in der Trennung von statisch
führendem Rippenwerk und funktionslos eingebauter Ge-
wölbekappe. Der Gewölbedruck wurde auf die vier Eck-
pfeiler konzentriert, über denen sich die Wölbung auf-
baute, und die Wand zwischen den Pfeilern dadurch ent-
lastet. Es war der erste Schritt auf dem Wege, an dessen
Ende die völlige Auflösung der Wand stand. Schon war
sie zu einem guten Teil gleich den Gewölbekappen funktions-
lose Füllung geworden. Der starke Seitendruck aber, den
die noch im Halbkreis geführten Bogen auf die Pfeiler
ausübten, nötigte vorläufig noch zu einer massiven Bildung
derselben, die dem romanischen Stil kein endgültiges Hinaus-
gehen über den Wandcharakter erlaubte und deshalb von
dem gotischen Formwillen als etwas zu Ueberwindendes
betrachtet wurde. Erst die Einführung des Spitzbogens
INNERER AUFBAU DER KATHEDRALE 103
im Gewölbebau gab dem gotischen Baumeister die Mög-
lichkeit, sein Streben durchzusetzen nach einem sehnen-
straffen geschmeidigen Gliederbau, von dem alles über-
flüssige Fleisch, alle überflüssige Masse entfernt worden
war. Denn der viel geringere Seitendruck der Spitzbogen-
wölbung erlaubte eine höhere und schlankere Bildung der
stützenden Pfeiler und ermöglichte so erst jene durchgehende
Lockerung des statischen Aufbaus, jenen Ausdruck schlanker,
geschmeidiger und unbeschwerter Aktivität, wie er dem
gotischen Ausdrucksbedürfnis entsprach. Es ist wie eine
grosse Selbstbesinnung, die nun — mit der Einführung des
Spitzbogens — durch den Bau geht. Das Stichwort scheint
ausgesprochen zu sein, das sein zurückgehaltenes Tätigkeits-
bedürfnis seinen pathetischen Ausdrucksdrang zum Worte
kommen lässt. Der ganze Bau reckt sich in dem freudigen
Bewusstsein, nun von aller Schwere der Materie, von aller
irdischen Gebundenheit befreit zu sein. Die Pfeiler werden
hoch, schlank und geschmeidig; die Wölbung verliert sich
in schwindelnden Höhen. Und doch dient dieser weit in
die Höhe entrückten Wölbung alles. Der ganze Bau scheint
nur um ihretwillen zu existieren. Die Wölbung beginnt
gleichsam schon in Fusshöhe des Baues. Alle die vom
Boden aufsteigenden und die Pfeiler wie lebendige Kräfte
umzüngelnden grossen und kleinen Dienste wirken in
konstruktiver und ästhetischer Hinsicht nur als Aufbau
der Wölbung. In geschmeidiger Kraft schnellen sie vom
Boden empor, um allmählich in einer sanften Bewegung
auszukhngen. Ein Schlussstein in der Scheitelhöhe des
Gewölbes, dem trotz seiner faktischen Schwere, wie sie
seiner konstruktiven Funktion als Widerlager entsprach,
jeder ästhetische Eindruck der Schwere fehlt und der eher
wie ein blütenhaft-leichter und selbstverständlicher Ab-
schluss erscheint, fasst die von beiden Seiten herandrängende
Bewegung einheitlich zusammen.
Bei der Schilderung dieses gotischen Innenaufbaus hat
sich unsere Terminologie unwillkürlich verändert. Sie hat
eine ganz andere sinnlichere Klangfarbe angenommen.
Wir sprechen nun von geschmeidigen lebendigen Kräften,
sprechen von straf fen Sehnen, von blütenhaften Abschlüssen:
wird durch solche der Vorstellung des Organischen ent-
104 INNERER AUFBAU DER KATHEDRALE
nommene Epitheta nicht das Abstrakte, Ueberorganische,
Mechanische gotischer Bewegtheit, wie wir es als Grundlage
des nordischen Kunstwollens erkannten, in Frage gestellt?
Wir müssen auf diese Frage eingehen, denn die Antwort
zeigt uns, dass das nordische Kunstwollen nur auf aus-
drucksstarke Bewegtheit ausging und dass ihm
jene abstrakte mechanische Bewegtheit nur deshalb lieber
war, weil sie eben an Ausdrucksstärke der organischen Bewegt-
heit, die immer an organische Harmonie gebunden und
deshalb mehr der Schönheit als der Macht des Ausdrucks
dient, weit überlegen ist. (So wie eine mechanisch regulierte
Marionette ausdrucksstärker als ein lebendig agierender
Mensch ist.) Sie zeigt uns anderseits, dass das gotische
Kunstwollen, wo ihm durch äussere Umstände die abstrakten
Ausdrucksmittel vorenthalten waren, die organischen Aus-
drucksmittel bis zu dem Grade steigert, dass sie der Be-
wegungswucht mechanischen Ausdrucks nahekommen.
In diesem Falle befindet der Gotiker sich bei dem
Innenaufbau seiner Kathedralen.
Der Gotiker ist nicht reiner Tektoniker wie der Grieche.
Er ist vielmehr, den grossen in hellenistischer Zeit einsetzenden
Vergeistigungsprozess des Empfindens fortsetzend und ab-
schliessend, Innenraumgestalter. Der Raum ist nicht mehr
ein blosses Akzidens eines rein tektonischen Prozesses,
sondern er ist das Primäre, er ist der direkte Ausgangspunkt
der baukünstlerischen Konzeption. Es handelte sich für
den Gotiker nun darum, diesem Raum ein Ausdrucksleben
abzugewinnen, das den ideellen Zielen seines Kunstschaffens
entsprach.
Der Raum ist nun etwas an und für sich Geistiges und Un-
f assbares. Er entzieht sich also in dieser seiner Wesenheit
jeder ausdrucksschaffenden Formkraft. Denn einem Etwas,
das wir nicht fassen können, können wir auch keinen Aus-
druck geben. Fassen können wir den Raum nur, wenn wir
ihm seinen abstrakten Charakter nehmen, wenn wir ihn
unserer Vorstellung als etwas Körperliches substituieren,
kurz, wenn wir aus dem Raumerlebnis ein Sinnenerlebnis,
wenn wir aus dem abstrakten Raum den realen, atmo-
sphärischen Raum machen. Der abstrakte Raum hat kein
Leben und keine Schaffenskraft kann ihm einen Ausdruck
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INNERER AUFBAU DER KATHEDRALE 105
abgewinnen, der atmosphärische Raum dagegen hat ein
inneres Leben, das unmittelbar auf unsere Sinne wirkt und
das damit unserer Gestaltungskraft eine Handhabe bietet.
Das Vergeistigungsdrängen des Gotikers sieht sich also
hier bei der Raumgestaltung vor eine organisch-sinnliche Aus-
druckssphäre gestellt. Seine eigenthche Sphäre, das U n -
sinnliche, ist ihm versperrt: so bleibt ihm nur der Aus-
weg, das SinnHche ins Ueb er sinnliche überzuleiten. Dem
sinnlichen Raumerlebnis musste eine übersinnhche Wirkung
abgewonnen werden, d. h. die sinnlichen Ausdrucksmittel
mussten in einer Weise gesteigert werden, dass ein über-
sinnhcher Eindruck zustande kam. Hier stellt sich die innere
Verbindung der Gotik mit dem Barock wieder ein. Denn in
der sinnlichen Pathetik des Barock tobte sich eben dieser
selbe gotisch-mittelalterliche Formwille aus, nachdem ihm
nämlich durch die Renaissance sein eigentliches Ausdrucks-
mittel das Abstrakte, Ueberorganische genommen war. So
haftet dem Barock derselbe Charakter des Sinnlich-Ueber-
sinnlichen an wie der gotischen Raumwirkung.
Diese spezifische Note gotischen Raumschaffens und
Ramnempfindens wird uns besonders klar, wenn wir an die
gesunde klare Raumplastik der römischen Baukunst
zurückdenken, wie sie sich beispielsweise im Pantheon
ausdrückt. Hier fehlt jedes Pathos. Die Klarheit des Raum-
gebildes hält jede übersinnliche mystische Empfindung fern.
Der römische, klassisch gefärbte Formwille wollte dem
Raum nur ein organisch selbständiges, in sich harmonisch
geschlossenes und beruhigtes Leben geben.
Wer in das Pantheon hineintritt, der fühlt sich von
seiner individuellen Isoliertheit befreit; stumme feierliche
Raummusik führt ihn zu einer wohltuenden, erlösenden,
sinnlichen Sammlung; er schwingt mit in dem unsagbar
beglückenden Rhythmus räumlichen Lebens; er fühlt sich
sinnlich geklärt. Und was will der klassische Mensch anderes
in all seiner Kunst als dieses erhabene Glück ideeller sinn-
licher Klärung.
Wer aber in eine gotische Kathedrale hineintritt, dem
widerfährt etwas anderes als eine sinnliche Klärung.
Dem widerfährt eine Sinnenberauschung. Nicht
jene direkte grobe Sinnenberauschung, die das Barock bringt.
I06 INNERER AUFBAU DER KATHEDRALE
sondern eine mystische Sinnenberauschung, die nicht von
dieser Welt ist.
Der gotische Raum ist ungezügelte Aktivität. Er
stimmt nicht feierlich und ruhig, sondern er überwältigt.
Er nimmt den Eintretenden nicht mit weichen Gebärden
auf, sondern er reisst ihn gewaltsam mit sich fort, wirkt als
ein mystischer Zwang, dem willenlos sich zu unterwerfen
der belasteten Seele eine Wonne dünkt.
Diese Betäubung durch das Fortissimo der Raummusik
entsprach eben ganz der gotischen Religiosität und ihrem
Erlösungsdrang. Wir sind hier weit von aller klassischen
Welt entfernt. Der klassische Mensch bedurfte, um religiös
und feierlich gestimmt zu werden, nur der Raum klarheit.
Seine religiöse und künstlerische Beglückung war eng gebunden
an Harmonie und Ausgeglichenheit. Er bheb ein Plastiker
auch als Raumgestalter. Den gotischen Menschen dagegen
vermochte nur die Raumpathetik religiös zu stimmen. Nur
diese Pathetik hob ihn über seine irdische Gebundenheit
und seine innere Misere hinweg; nur in dieser Rausch-
steigerung, die bis zur Selbst Vernichtung ging, vermochte er
Ewigkeitsschauer zu spüren. So nötigt ihn sein innerer
Dualismus auch als Raumgestalter zur Transzendenz, zur
Mystik. Wo der klassische Mensch nur sinnlich gesammelt
werden will, da will er sich sinnlich verlieren, will er durch
Selbstaufgabe des Uebersinnlichen habhaft werden.
Für die latenten Forderungen des atmosphärischen
Raumes nach wohltuender rhythmischer Begrenzung hat
der Gotiker kein Ohr. Seinem krankhaft gespannten Aus-
drucksbedürfnis zuliebe vergewaltigt er vielmehr das atmo-
sphärische Leben. Er tritt ihm aktiv gegenüber, wo der Klas-
siker nur auf eshorchte und ihm als ein Verstehender diente.
Er sperrt es ein, gibt ihm Hemmungen über Hemmungen
und trotzt ihm gewaltsam einen ganz bestimmten, zur höch-
sten Wucht gesteigerten Bewegungsrhythmus ab, dessen Ziel
die unendhche Höhe ist. Von allen Seiten zurückgeworfen,
an tausend Widerständen zerschellend, führt das atmo-
sphärische Leben innerhalb des Raumganzen ein heftig
bewegtes friedloses Sein, bis es schliesshch mit fast hörbarem
Getöse an der Gewölbedecke brandet. Dort bildet sich
gleichsam ein Luftwirbel, der unwiderstehlich nach oben
INNERER AUFBAU DER KATHEDRALE 107
zieht: man betritt, sofern man überhaupt raumempfindlich
ist, die grossen gotischen Kathedralen nie, ohne einen Raum-
schwindel zu spüren. Es ist dasselbe Schwindelgefühl, das
das chaotische Liniengewirr frühnordischer Ornamentik
auslöst. Plus 9a change, plus 9a reste la m^me chose.
Durch das sinnliche Raumerlebnis war die organisch
runde Gestaltung der den Raum gliedernden Bauteile be-
stimmt. Alles Harte, Eckige, mit dem atmosphärischen
Raumleben Unausgesöhnte musste vermieden werden. Die
sinnliche Auffassung des Raumes übertrug sich auf seine
Gliederungen. Die Dienste und Rippen, die dem Sinnen-
erlebnis den Weg leiten, sind vollrund oder halbrund ge-
bildet; sie haben organischen Ausdruckswert wie das Raum-
leben, dem sie dienen. Aber auch hier tritt bald der Ueber-
gang vom SinnKchen zum UebersinnUchen ein, d. h. die
Bauglieder verheren immer mehr ihren körperhch materiellen
Gehalt und werden zu abstrakten Ausdrucksträgern. Dieser
Prozess vollzieht sich durch eine bewusste Umgestaltung
der Profile. Der erste Schritt ist die birnförmige Bildung
derselben. Durch diese birnförmige Zuspitzung wird innerhalb
des voll körperlichen Seins ein schon mehr linear abstrakter
Ausdruck dominierend. Die vollständige Eliminierung körper-
licher Ausdrucksanalogien bringt dann der zweite Schritt : die
Aussenflächen der Profile schwingen sich nach innen, so
dass nur ein von beiden Seiten mit dichtem Schattenwerk
eingefasster schmaler Steg übrigbleibt, der an Stelle der
körperlich fassbaren Funktion endgültig ein rein geistiges
unf assbares Ausdrucks wesen setzt. So endigt auch hier die
künstlerische Gestaltung bei einer unsinnlichen Mimik, die,
von allen konstruktiven Zwecken befreit, nur um ihrer
selbst wiUen da zu sein scheint, einer Mimik, die keine
körperlichen Kräfte, sondern geistige Energien ausdrückt.
Wir sehen also, wie auch hier, wo durch die unumgängHche
sinnliche Raumauffassung einerseits und durch die un-
umgänglichen statischen Bedingungen anderseits eine
organisch runde und körperlich feste Bildung der Bau-
glieder nicht zu vermeiden war, das geistige Ausdrucks-
bedürfnis der Gotik sich seinen Weg schafft und in
einem raffinierten Entmaterialisationsprozess die Materie
vergeistigt.
I08 ÄUSSERER AUFBAU DER KATHEDRALE
ÄUSSERER AUFBAU DER KATHEDRALE
Tjie gotische Kathedrale ist die stärkste und umfassendste
^~^^ Repräsentation mittelalteriichen Empfindens. Mystik
und Scholastik, diese beiden grossen mittelalterlichen Lebens-
mächte, die im allgemeinen als unverträgliche Gegensätze
erscheinen, sind hier innig vereint, wachsen hier unmittelbar
auseinander heraus. Wie der Innenraum ganz Mystik ist,
so ist der Aussenbau ganz Scholastik. Es ist derselbe Tran-
szendentalismus der Bewegung, der sie vereint, derselbe
Transzendentalismus, der sich nur verschiedener Ausdrucks-
mittel bedient: in dem einen Falle organisch-sinnlicher, in
dem anderen Falle abstrakt-mechanischer. Die Mystik des
Innenraums ist nur eine verinnerlichte, ins Organisch- Sinn-
liche geleitete Scholastik.
Gottfried Semper in seiner klassischen Befangenheit
prägte als Erster das Wort von der „steinernen Scholastik"
und glaubte damit die Gotik zu diskreditieren. Aber dieses
sachlich zutreffende Urteil über die Gotik kann nur dem eine
Verurteilung bedeuten, der das grosse mittelalterliche Phä-
nomen der Scholastik aus der Enge seines modern einseitigen
Gesichtsfeldes heraus nicht zu überblicken vermag. Wir
wollen diese moderne Einseitigkeit des Urteils über die
Scholastik zu durchbrechen und statt modern relativer Wer-
tung eine positive Ausdeutung zu geben versuchen. Vor-
läufig wollen wir zusehen, wie diese scholastische Veran-
lagung des nordischen Menschen sich architektonisch äussert.
In der antiken Architektur, soweit sie sich überhaupt
mit raumkünstlerischen Problemen beschäftigte, und in allen
von ihr abhängigen Stilen, vor allem also in der romanischen
Architektur dokumentierte sich der Aussenbau als äusseres
Komplement der inneren Raumbegrenzung. Nun sahen wir,
dass im gotischen Stil die eigenthchen Raumgrenzen,
nämhch die festen Mauerwände, aufgelöst wurden und
die konstruktiven und ästhetischen Funktionen übergingen
auf die statischen Einzelkräfte des Aufbaus. Diese funda-
mentale Veränderung der Bauauffassung musste ihre natür-
liche Rückwirkung auf die Aussenbaugestaltung ausüben.
Auch hier musste die feste geschlossene Mauer verdrängt
ÄUSSERER AUFBAU DER KATHEDRALE 109
werden, auch hier musste der Emanzipationsprozess der
Einzelkräfte sich durchsetzen.
Wir sahen, wie im romanischen Stil der GHederungs-
prozess der ausdruckslosen Mauerwand im Lisenen- und
Arkadenwerk schon einsetzte. Aber die aktiven Kräfte, die
nun die Wand belebten und ihr einen Ausdruck abgewannen,
hatten nur dekorativen Wert, denn sie standen mit der
inneren Konstruktion noch in keinem unimttelbaren sicht-
baren Zusammenhang. Aeussere Kräfte sprachen, nicht die
immanenten Aktivitätskräfte des Baues selbst. Die Sprache
der Konstruktion war noch nicht gefunden und nur ihr war
die volle AusdrucksmögHchkeit des gotischen Ausdrucks-
wollens vorbehalten. Das Stichwort, um die immanenten
Aktivitätskräfte auch am Aussenbau zu erwecken und selb-
ständig zu machen, gab die Innenraumgestaltung, wie wir
sie im Verfolg der Wölbungstendenzen werden sahen. Durch
die Entlastung der Wände als Träger der Gewölbe und durch
die Konzentration des Drucks auf einzelne besonders
akzentuierte Stellen hatte sich von selbst eine Verstrebungs-
notwendigkeit eingestellt, wie sie auch in anderen Archi-
tekturen bei ähnlicher Situation auftrat und gelöst wurde.
Das gotische Strebesystem ist konstruktiv nichts Neues,
doch neu ist, dass es sichtbar gemacht wurde, anstatt wie
sonst in der Ummauerung des Ganzen versteckt zu werden.
In dieser Sichtbarmachung erst liegt die ästhetische Be-
jahung einer konstruktiven Notwendigkeit, d. h. das gotische
Ausdrucksverlangen hatte in diesen konstruktiven Not-
wendigkeiten gleichzeitig ästhetische Ausdrucksmöglichkeiten
entdeckt und damit das entscheidende Prinzip der Aussen-
baugestaltung gefunden.
Auch hier ist es die Einführung des Spitzbogens, die das
noch zögernde und tastende Wollen zur Entscheidung drängt
und die konsequente Durchführung des Systems herbeiführt.
Denn erst mit der Einführung des Spitzbogens erhielt die
Mittelschiffüberwölbung ihre volle Höhe und die Mittelschitf-
pfeiler dementsprechend ihre äusserste Schlankheit, die trotz
der verhältnismässigen Leichtigkeit der Last die Gefahr des
Einknickens mit sich brachte. Die hieraus sich ergebende
Notwendigkeit, an bestimmten Punkten Stützmöglichkeiten
zu schaffen und zwar in einer Höhe, wo die niedrigen Seiten-
HO ÄUSSERER AUFBAU DER KATHEDRALE
schiffe, wie sie durch die gotische Betonung des Mittelschiffes
verlangt wurden, nicht mehr zur Aufnahme der Stützglieder
herangezogen werden konnten, führte zu einer frei in der Luft
über die Seitenschiffe hinwegragenden Verstrebung, d. h.
zu einer ganz ausgesprochenen Sichtbarmachung der statischen
Einzelkräfte, die die Struktur des ganzen Baues ausmachen.
Mit einer grossen energischen Geste überträgt der Strebe-
bogen den Gewölbeschub des Mittelschiffs auf die massiven
Strebepfeiler der Seitenschiffe. Um diesen die Widerstands-
festigkeit gegen den seitlich auf sie zukommenden Druck der
Last zu erleichtern, werden sie von oben her durch Fialen
belastet. Der konstruktive Sinn dieses Verstrebungssystemes
lässt sich also nur dann begreifen, wenn man es in der Rich-
tung von oben nach unten hin verfolgt. Für den ästhetischen
Eindruck aber ist der umgekehrte Weg massgebend, der Weg
von unten nach oben. Wir sehen, wie aus den Kraftreservoirs
der Strebepfeiler die himmelstrebenden Energien sich los-
lösen, um in mächtiger mechanischer Kraftentfaltung das
Ziel der Höhe zu erreichen. Diese Bewegung von den Strebe-
pfeilern aus über die Strebebögen zur Mittelschiffüberhöhung
ist von einer zwingenden mimischen Kraft. Alle Mittel werden
aufgeboten, um den Betrachter zu dieser ästhetischen Auf-
fassung des Verstrebungssystems zu zwingen, die der kon-
struktiven entgegengesetzt ist. So wirken die Fialen nicht
als eine Belastung der Strebepfeiler, sondern als ein frei-
gewordener Kraftüberschuss derselben an Höhendrang, der
ungeduldig schon zur Höhe schiesst, ehe das eigentliche Ziel
der Höhenentwicklung erreicht ist. Durch dieses gleichsam
vergebliche Sichaufbäumen der Kraft in den Fialen erhält
dann die nach dieser Verzögerung sicher durchgreifende,
zielbewusste Bewegung des Strebebogens eine noch wuchtigere
und überzeugendere Ausdruckskraft.
Während rein konstruktiv die Sache so liegt, dass die
Geheimnisse der freien elastischen, konstruktiv unbegreif-
lichen Bildung des gotischen Innenraums sich dem Heraus-
tretenden in einem mühsamen Stützen- und Krückenwerk
verraten, auf die der Bau sich lehnen muss, um seine Raum-
künste aufzuführen, während also in konstruktiver Hinsicht
der Aussenbau wie eine ernüchternde Demaskierung der
verblüffenden Innenraumgestaltung wirkt, ist der ästhetische
^\
-.-*
^.A
ST. PIERRE ZU MOISSAC. PETRUS
ÄUSSERER AUFBAU DER KATHEDRALE III
Eindruck, wie er mit allen Mitteln dem Betrachter suggeriert
wird, der, dass die Höhenbewegung des Innenraums von
diesen Aussenbaugliedern nur wiederholt wird. Die unfass-
bar erhythmische Bewegung des Raumes scheint nach aussen
hin versteinert zu sein. Die höhenstrebenden Kräfte, die
im Innern noch nicht zur Ruhe gekommen sind, sie
scheinen nach aussen zu drängen, um, von aller Begrenzt-
heit und Beengtheit befreit, sich im Unendlichen zu ver-
heren. In immer erneuten Anläufen umwuchern sie den
Kern des Innenraums, um über ihn hinweg ins Unendliche zu
streben.
Eine Art äussere Travee ist erreicht. Eine einheitUche,
Seitenschiffe und IMittelschiff zusammenfassende Streckung
des Baues nach einem idealen Höhepunkt wird jetzt auch
im Aussenbau sichtbar. Dieselbe transzendentale Aus-
drucksbewegung, die im Innern mit weichen geschmei-
digen Linien spricht, spricht hier mit einer harten, me-
chanisch ungeheuer ausdrucksvollen Bewegtheit, die aber-
tausend Kräfte zu demselben Ziel vereint.
Wir sahen, wie in der Innenraumgestaltung die Höhen-
entwicklung noch gebunden war an dem alten, durch den
Kult bedingten Basihkenschema, das seinen Sinn im Altar-
raum hat. Für den idealen Bewegungsdrang des Gotikers
war diese präzis akzentuierte Bewegung auf den Altar hin
zu enge. Er sucht dieser Längsbewegung durch eine Höhen-
entwicklung entgegenzuarbeiten, die ihm den Weg zum Un-
begrenzten öffnet. Wie Bremsen legen sich die Traveen an
die Längsbewegung an, um ihre Kräfte nach der Höhe hin
abzuleiten. Aber all dieser Höhenentwicklung im Innen-
raum fehlt doch die letzte Zusammenfassung. Sie war nur
Gegenbewegung, nicht Ueberwindung. Sie konnte sich nicht
selbstherrhch den entscheidenden Akzent geben, denn dieser
Akzent war ihr durch den Kult vorgeschrieben. Vom Altar
konnte und durfte der Innenraum nicht loskommen.
Für diese Gebundenheit im Innern entschädigte sich
nun der gotische Baumeister am Aussenbau. Hier
konnte er den gotischen FormwiUen, von allen Kultrück-
sichten entbunden, sprechen lassen. Und das Ergebnis ist
die Ausgestaltung der Turmpartie als Hauptakzent des
ganzen Aussenbaus. Die Emanzipation vom alten Basilika-
112 ÄUSSERER AUFBAU DER KATHEDRALE
Schema und seiner Bewegung auf den Alter hin ist hier
zugunsten einer idealen Höhenentwicklung gänzlich durch-
geführt. Eine Bewegung in direktem Gegensinn ist hier
ausgedrückt. Denn das Langhaus wirkt äusserlich nur als
Vorbereitung, nur als Auftakt zur grossen siegreichen Turm-
bewegung. All die Kraftanstrengungen, die im Strebebogen-
system des Langhauses ausgedrückt sind, sie geben der
leichten, selbstverständlichen Höhenentwicklung des Turm-
systems erst die letzte Dynamik. Alles was an Einzelkräften
an dem Aussenbau tätig ist und sich abmüht, wird gleichsam
gesammelt und zusammengefasst, um in dem idealen, durch
keinen Zweck bedingten Baugebilde der Türme seine erlösende
Aussprache zu finden. Wie eine apotheosenhafte Verklärung
des gotischen Transzendentalismus, so schhesst die Turm-
partie den ganzen Bau ab, und es ist kein Stein an ihr, der
nicht dem Ganzen dient. Nirgend ist das gotische ,, Sich-
berauschen an logischem Formalismus" reiner ausgedrückt
als hier, nirgend aber auch die überlogische transzendentale
Wirkung dieser logischen Multiplikationsarbeit monumentaler
und überzeugender ausgeprägt. Ein klassisch befangener
Beurteiler mag für diese überlogische Wirkung kein Organ
haben; er sieht nur die Mittel und vermisst den Zweck. Er
sieht nur den Aufwand an logischem Scharfsinn und begreift
das überlogische Warum dieses Aufwandes nicht; kurz: ihm
kann diese steinerne Scholastik nur als ein Wahnsinn mit
Methode erscheinen. Wer aber den gotischen Formwillen er-
kannt hat, wer ihn von dem chaotischen Wirrwarr der frühen
Ornamentik her bis zu diesem kunstvollen Chaos steinerner
Kraftentfaltung verfolgt hat, dem zerbrechen vor der Grösse
dieses Ausdrucks die klassischen Massstäbe in der Hand und
er begreift ahnungsvoll die gewaltige, von Extremen zer-
rissene und darum übernatürlicher Kraftanstrengungen fähige
Empfindungswelt des Mittelalters; und so lange er unter
dem überwältigenden Eindruck dieser erhabenen Hysterie der
Gotik steht, ist er fast geneigt, ungerecht zu werden gegen
den Gesundungsprozess der Renaissance, der das aufgewühlte
gotische Empfindungsleben zu einer normalen — fast möchte
man sagen bürgerlichen — Temperatur abdämpfte und an
die Stelle pathetischer Grösse das Ideal der Schönheit und
abgeklärten Ruhe setzte.
ÄUSSERER AUFBAU DER KATHEDRALE 113
Wir sprachen von der architektonischen Multiphkations-
arbeit, die sich in dem Aufbau des Turmsystems offenbart.
Es ist derselbe Multiphkationscharakter, den wir bei der
frühen Ornamentik konstatierten. Auch da sahen wir, dass
das einzelne Motiv mit sich selbst multipliziert wird im
Gegensatz zu dem Additionscharakter, den die klassische
Ornamentik zeigt. Und auch hier in der Architektur ist
der Nenner dieses Multiplikationsprozesses der Unendlich-
keitsnenner, der als Endergebnis des logischen Prozesses
eine chaotische Verwirrung herbeiführt.
Aber nicht nur in der Unendlichkeit des Grossen, auch
in der Unendlichkeit des Kleinen sucht sich der Gotiker zu
verlieren. Die Unendlichkeit der Bewegung, die sich makro-
kosmisch in dem architektonischen Gesamtbild äussert,
äussert sich mikrokosmisch in jedem kleinsten Bauteil.
Jeder Einzelteil ist eine Welt für sich voll verwirrender
Bewegtheit und Unendlichkeit, eine Welt, die im kleinen
aber mit denselben Mitteln den Ausdruck des Ganzen wieder-
holt, zu derselben widerstandslosen Hingabe zwingt und
denselben Betäubungseffekt herbeiführt. Eine Fialenkrönung
ist eine Kathedrale im kleinen, und wer sich in das kunst-
volle Chaos eines Masswerks versenkt, der kann hier im
Kleinen dieselbe Berauschung an logischem Formalismus
erfahren wie am Ganzen des Bausystems. Die Einheitlichkeit
des Formwillens und seine restlose Durchführung ist ekla-
tant.
Wir möchten diese Untersuchungen über die gotische
Architektur, die gewiss nicht erschöpfend sind, nicht
schliessen, ohne einen bestimmten Punkt klargestellt zu
haben. Wir haben es absichtlich vermieden, irgendein
bestimmtes Bauwerk der gotischen Epoche als Beispiel und
Beleg heranzuziehen ; ebensowenig sind wir auf die einzelnen
Perioden der engeren Gotik näher eingegangen. Eine rein
stilpsychologische Untersuchung kann vielmehr nur den
Idealtypus im Auge haben, wie er vielleicht niemals
Realität gewonnen hat, wie er aber allen realen Bestre-
bungen als immanentes Ziel vorschwebt. Nicht um dieses
oder jenes gotische Architekturmonument also handelt es
sich hier, sondern um die Idee der Gotik, wie wir sie
durch die Erkenntnis des charakteristischen gotischen Form-
114 PSYCHOLOGIE DER SCHOLASTIK
willens aus der Variationen- und nuancenreichen Fülle
seiner Verwirklichungen heraus zu destillieren suchten.
PSYCHOLOGIE DER SCHOLASTIK
Tjie Scholastik ist auf religiösem Gebiete das, was auf
-*-^ künstlerischem Gebiete die gotische Architektur ist.
Sie ist ein ebenso sprechendes Dokument der erhabenen
Hysterie des Mittelalters und sie ist in gleicher Weise dadurch
vetkannt worden, dass man einen falschen Massstab an sie
anlegte. Die Missverständnisse über die Scholastik sind die
gleichen wie die über die gotische Architektur.
Auch in ihr sah man einen Aufwand an logischem
Scharfsinn, dessen inneren überlogischen Zweck man nicht
begriff. So hielt man sich nur an dem äusseren Zweck
scholastischer Denkarbeit, nämlich an der Absicht, dem
System der kirchlichen Dogmen eine Rechtfertigung vor
der Vernunft zu geben. Im Tone des Vorwurfs konstatierte
man, dass die Scholastik nicht darauf ausgegangen sei, eine
noch nicht erkannte Wahrheit zu finden, sondern sich damit
begnügt habe, die schon vorhandene Wahrheit, wie sie
in dem theologisch-philosophischen System der Kirche —
das innerlich auf der göttlichen Offenbarung, äusserlich auf
der Autorität des Aristoteles beruht — enthalten sei,
durch Vernunftgründe zu stützen un4 als vernünftig zu
beweisen. Nur eine Magd der Theologie sei die Scholastik
gewesen. Der ganze Aufwand an logischem Scharfsinn sei
also nur durch die Kompliziertheit der Aufgabe bedingt,
die eben darin bestand, Offenbarungs- und Glaubens-
tatsachen, die sich der direkten verstandesgemässen Er-
klärung und Rechtfertigung entziehen, dennoch dem Ver-
stände nahezubringen. Das habe zu der logischen Spitz-
findigkeit, zu der gewundenen sophistischen Dialektik der
Scholastik geführt. Man sah in der scholastischen Denk-
arbeit nur die Begriffsspaltereien und logischen Kniffe
eines Advokaten, der durch alle logischen Scheinkünste einen
verlorenen Prozess retten will.
APOSTELKOPF VON ÜLAiAN Kiii.MKN SCHNEIDER
IN ST. JAKOB ZU ROTHENBURG o. T.
Aufnahme von Dr. F. Stoedtner, Berlin.
PSYCHOLOGIE DER SCHOLASTIK 115
Wer dagegen jene geheime Scholastik erkannt hat,
wie sie sich lange vor der eigentlichen historischen Scholastik
und ohne jeden Zusammenhang mit der christlichen Heils-
lehre in dem eigentümlich gewundenen, unruhigen und kom-
plizierten Gang des nordischen Denkens überhaupt verrät:
wer beispielsweise den Zusammenhang z%vischen den Rätsel-
fragen ,, dieser Lieblingsform germanischen Zwiegesprächs"
(Lamprecht) und ihrer gewundenen, jede Klarheit, jeden
direkten Weg vermeidenden Bewegtheit mit der ge\vundenen
Dialektik der Scholastik erkannt hat, der uird zu einer
Auffassung der Scholastik genötigt, die von ihren äusseren
theologischen Zwecken ganz absieht und nur den Charakter
des Denkens ins Auge fasst. Wie in diesen Rätselfragen
und ihrer Beantwortung der Aufwand an Logik und Scharf-
sinn in gar keinem Verhältnis zu dem Anlass und zu dem
Ergebnis steht, so kommt auch bei der eigentlichen Scho-
lastik der direkte theologische Zweck kaum in Betracht
gegenüber der Freude an einer gewissen gewundenen ver-
schnörkelten Bewegung des Denkens als solcher. Man
könnte also, analog dem künstlerischen Formwillen, von
einem geistigen Formwillen sprechen, d. h. von dem Willen
zu einer bestimmten Form des Denkens, der ganz unabhängig
von der speziellen Aufgabe existiert. Das Objekt des
Denkens käme hier also gegenüber dem bestimmten Be-
wegungsdrang des Geistes kaum in Betracht. Wie den nordi-
schen Menschen eine künstlerische Konstruktions- und Bau-
wut erfasst hatte, die weit über alle praktischen Bedürfnisse
hinausging, so hatte ihn auch eine geistige Konstruktions-
wut erfasst, die dasselbe Bedürfnis verrät, aufzugehen in
einer selbstgeschaffenen Bewegtheit abstrakter, d. h. logi-
scher resp. mechanischer Art. Der nordische Intellekt hatte
nicht m erster Linie einen Erkenntnisdrang, sondern einen
Bewegungsdrang. Diesen Bewegungsdrang betätigte er an-
fänglich ohne direkten Zweck; es ist die gleichsam ornamen-
tale Stufe des Denkens, wie sie sich in den obenerwähnten
Rätselfragen und in tausend anderen Gestalten äussert. Wie
nun in der Kunst dem rein ornamentalen Formdrang des
Nordens durch die Entwicklung der Architektur eine direkte
Aufgabe aufgenötigt wnirde, und zwar eine Aufgabe, die nicht
aus ihm selbst heraus wuchs, sondern ihm von aussen her
Il6 PSYCHOLOGIE DER SCHOLASTIK
vorgesetzt wurde, nämlich die Verarbeitung des antiken
Basilikaischemas, so wurde auch in geistiger Beziehung
das rein spielerische ornamentale Denken durch die Re-
zeption des Christentums und seine Folgen vor eine ihm
von aussen her vorgesetzte Aufgabe gestellt, in deren Lösung
es seine höchste Leistungsfähigkeit offenbarte. Und ebenso
wie die gotische Kathedrale über ihren unmittelbaren Zweck,
die Raumschaffung, weit hinauswächst und in der Turm-
anlage des Aussenbaus ein Monument schafft, das nahe-
zu dieselbe Stufe einer idealen Zwecklosigkeit erreicht
hat wie sie in der Ornamentik vorlag, so überwuchert auch
das scholastische Denken den unmittelbaren Anlass seiner
Betätigung weit und wird zu einer selbstherrlichen Offen-
barung einer vom Zweck entbundenen abstrakten Denk-
bewegung.
Man darf also nicht sagen, dass der Scholastiker durch in-
tellektuelle Erkenntnis dem Göttlichen nahekommen wollte.
Vielmehr durch die Art seines Denkens, durch diesen cha-
otischen und in seiner Logik doch so kunstvollen Wirrwarr der
Denkbewegung wollte er des Göttlichen teilhaftig werden.
Der abstrakte Bewegungs Vorgang des Denkens, nicht das
Ergebnis des Denkens erzeugte in ihm jenes geistige Rausch-
gefühl, das ihm Betäubung und Erlösung brachte, ähnhch
dem abstrakten Bewegungsvorgang der Linie, wie er ihn
in der Ornamentik anschaulich machte, ähnlich dem ab-
strakten Bewegungsvorgang steinerner Energien, wie er
ihn in der Architektur anschauhch machte. Es ist ein
bestimmter Formwille, der all diese Aeusserungen beherrscht
und sie trotz ihrer stofflichen Verschiedenheit zu gleichen
Erscheinungsresultaten zusammenbindet. Es ist dasselbe
Sichberauschen an logischem Formalismus, derselbe Auf-
wand an rationalen Mitteln zu einem überrationellen Zwecke,
derselbe Wahnsinn mit Methode, dieselbe kunstvolle Chaotik.
Und dieser Gleichheit der Resultate muss eine Gemein-
samkeit der Voraussetzung entsprechen. Diese gemeinsame
Voraussetzung ist eben der gotische Transzendentalismus,
der, einem ungeläuterten und ungeklärten Dualismus ent-
springend, nur in hysterischen Affektzuständen, in krampf-
artigen Steigerungen, in pathetischen Ueberspannungen Be-
friedigung und Erlösung finden kann.
PSYCHOLOGIE DER SCHOLASTIK 117
Wir sehen also, dass in der mittelalterlichen Philosophie
in derselben Weise alles gebunden ist an den abstrakten
Bewegungs Vorgang des Denkens wie in der mittelalterlichen
Malerei alles gebunden ist an die abstrakte Linie und ihren
Eigenausdruck. Wie in der mittelalterlichen Malerei alles
Dargestellte aufgeht im höheren Leben der Darstellungs-
mittel, so geht auch in der scholastischen Philosophie jeder
direkte Erkenntniszweck auf in dem höheren Leben der
Erkenntnismittel und ihrer selbstherrlichen Bewegtheit.
Es war eine Katastrophe, die das ganze mittelalterliche
Denken desorientierte und aus dem Geleise hob, als durch
die Renaissance das Denken, das bisher Selbstzweck gewesen
war, zum blossen Mittel zum Zweck, nämlich zur Erkenntnis
einer ausser ihm liegenden wissenschaftlichen Wahrheit
degradiert wurde, als der Erkenntnis zweck alles und der
Erkenntnis Vorgang nichts wurde. Da verlor das Denken
seine abstrakte Selbstherrlichkeit und \vurde dienend; es
wurde zum Sklaven der Wahrheit. Vorher hatte es sich gleich-
sam objektlos betätigt und seine Wonne nur in seiner eigenen
Bewegtheit gefunden, denn durch den Glauben an die
geoffenbarte göttliche Wahrheit war ihm ja jeder wirkliche,
dem Unbekannten zugewandte Erkenntnisdrang erspart
geblieben, nun aber ward ihm ein wirkliches Objekt, die
Wahrheit, vorgesetzt, nun aber ward es aufgefordert, sich
seiner Selbstherrlichkeit zu begeben und all seine Gesetze
einzig und allein vom Objekt zu empfangen. Kurz, es wurde
zur blossen geistigen Nachzeichnung des Wahren, nämlich
der objektiven Tatbestände verurteilt: gleich der Linie in
der Malerei, die einst auch nur von ihrem Eigenausdruck
gelebt hatte und nun unter denselben Umständen auch ihr
selbstherrliches Arabeskendasein verlor, um zur begrenzenden
Kontur, zur Wiedergabe der natürlichen Formenwelt, zur
blossen Dienerin am Objekt zu werden. Wie der neue
Renaissancebegriff der wissenschaftlichen Wahrheit an da-
Experiment, so ist der neue Renaissancebegriff der künsts
lerischen Wahrheit an das anatomische Studium gebunden.
Die objektive Wahrheit ist hier wie dort zum Ideal ge-
worden, und das heisst, dass die feste Verankerung im Dies-
seits gefunden worden ist ; damit ist der TranszendentaHsmus
im künstlerischen und geistigen Schaffen zu Ende. Die
Il8 PSYCHOLOGIE DER MYSTIK
Renaissance bringt den grossen Gesundungsprozess, den
grossen Verbürgerlichungsprozess des Empfindens, der mit
allen mittelalterlichen Anormalitäten aufräumt und an die
Stelle der Macht des Uebernatürlichen die Schönheit des
Natürlichen setzt.
PSYCHOLOGIE DER MYSTIK
A^/ ie Mystik und Scholastik in der gotischen Kathedrale
untrennbar verbunden sind, wie sie hier unmittelbar
auseinander herauswachsen, so sind sie auch in der Wirklich-
keit des geschichtlichen Lebens ganz eng miteinander ver-
bunden und verwachsen. Was sie vereint, was sie zu Phä-
nomenen gleicher Qualität macht, das ist ihr transzendentaler
Charakter. Was sie voneinander scheidet, das ist die Ver-
schiedenheit ihrer Ausdrucksmittel, die natürlich nicht will-
kürlich ist, sondern ihre inneren Gründe hat, die von wich-
tigen Aenderungen im Empfindungsleben der nordischen
Menschheit bedingt sind und uns darum in diesem Zusammen-
hang beschäftigen müssen.
Wie wir den Innenraum gotischer Dome als ein vom Sinn-
lichen ausgehendes übersinnliches Erlebnis empfinden, das
seiner ganzen Natur nach im Gegensatz steht zu der abstrakten
Ausdruckswelt der gotischen Aussenarchitektur und den
Mitteln, mit denen sie auf uns einwirkt, so empfinden wir
auch den Unterschied der Mystik von der Scholastik als
bedingt durch die sinnHchere Färbung der Mystik gegenüber
der abstrakten unsinnlichen Natur der Scholastik. Statt der
intellektuellen Exaltation, in der das religiöse Empfinden der
Scholastik seine Heilsgewissheit sucht, sehen wir mit der
Mystik die Verzückung des Gefühls massgebend werden für
das religiöse Erlebnis. Die geistige Verzückung wird zu einer
seelischen Verzückung. Das seelische Erlebnis aber ist gleich
dem räumlichen Erlebnis etwas von allem Geistigen und
Abstrakten Geschiedenes, etwas, das unmittelbar von unseren
Sinnen gespeist wird. Denn was wir seelisch nennen, das ist
nur die Steigerung und Verfeinerung des sinnlichen Emp-
PSYCHOLOGIE DER MYSTIK 119
findens bis in die Sphäre des Uebersinnlichen hinein. Wenn
es also nun nicht mehr der Geist ist, der sich zu Gott empor-
schwingt, wie in der Scholastik, sondern die Seele, so besagt
das, dass im religiösen Leben ein Zuwachs an Sinnlichkeit
eingetreten ist und dieser Zuwachs an Sinnlichkeit des Emp-
findens ist, infolge der ganzen Art der unsere Untersuchungen
beherrschenden Fragestellung ein ungemein wichtiges Phä-
nomen, dem wir entscheidende Aufschlüsse entnehmen
können.
Denn wo überall wir im inneren Entwicklungsprozess
der Menschheit ein Wachsen an Sinnlichkeit des Empfindens
spüren, da wissen wir, dass in dem anfänglich streng duali-
sierten Verhältnis von Mensch und Aussenwelt eine Mil-
derung so weit eingetreten ist, dass der einzelne Mensch sich
von der Masse zu trennen und allein der Aussenwelt gegen-
überzutreten wagt. Denn die Abstraktheit des Empfindens ist
nichts anderes als das Resultat der Massengebundenheit. Die
zusammenhängende, individuell noch undifferenzierte Masse
empfindet mit Notwendigkeit abstrakt, denn ihr Zusammen-
halten, ihre Scheu vor der Lockerung des Zusammenhangs
besagt eben, dass sie noch so sehr unter dem Druck einer
duahstischen Verängstigung und infolgedessen auch unter
dem Druck eines Erlösungsdranges steht, dass nur der über-
menschliche Notwendigkeitscharakter abstrakter Werte ihr
Ruhe und Befriedigung bringen kann. Massenempfinden und
abstraktes Empfinden sind eben nur zwei Worte für dieselbe
Sache. Und dieselbe Tautologie ist es, wenn man sagt, dass
mit dem Erwachen des individuellen Bewusstseins sich die
Abstraktheit des Empfindens lockerte und ins Sinnliche
umschlug. Denn das Abstrakte ist eben das Unpersönliche,
Ueberpersönliche und als solches Ausdruck der undifferen-
zierten Masse, während das sinnliche Empfinden untrennbar
an den Individualisierungsprozess der Menschheit gebunden
ist und nur von Einzelpersönlichkeiten getragen werden kann.
Der aus der Masse losgelöste Mensch empfindet mit Not-
wendigkeit sinnlich und natürlich, weil seine Loslösung von
der Masse eben sagt, dass der Dualismus bis zu einem gewissen
Grade geschwunden und ein gewisses Einheitsgefühl von
Mensch und Aussenwelt eingetreten ist. Wohl kann auch die
Masse sinnlich empfinden, aber nur die aus Einzelpersönlich-
120 PSYCHOLOGIE DER MYSTIK
keiten zusammengesetzte Masse, nicht aber die individuell
noch undifferenzierte Masse, wie sie im Mittelalter Träger
des Empfindens war.
Es muss also erst das dualistische Furchtverhältnis von
Mensch und Aussen weit sich gelockert haben, es muss erst
das instinktive Bewusstsein von der Unergründlichkeit des
Daseins abgeflaut sein, ehe der Mensch es wagen kann,
diesem Dasein, d. h. der unendlichen Erscheinungswelt allein
gegenüberzutreten. Das wachsende Persönlichkeitsgefühl
bedeutet den Untergang des grossen Weltgefühls. So sehen
wir, dass der Orient an dem europäischen Individualisierungs-
prozess nie teilgenommen hat. Sein Weltgefühl, d. h. sein
Wissen um den Trug der Erscheinungswelt und die Uner-
gründlichkeit des Daseins, ist zu fest in seinem Instinkt ver-
ankert. Sein Empfinden und seine Kunst bleiben darum
abstrakt. In der Entwicklung der nordischen Menschheit
aber, die nur dualistisch befangen, nicht dualistisch geläutert
war, kommt es im Verfolg wachsender äusserer Erkenntnis-
sicherheit zu einer merkbaren Milderung des Dualismus und
infolgedessen zu einem gewissen Individualisierungsprozess,
dessen unreinen halben Charakter wir allerdings nicht ver-
kennen dürfen, der aber jedenfalls bestimmend ist für den
Zuwachs an sinnlichem Empfinden, wie wir ihn in der Mystik
konstatieren können. Wir sehen, dass in ihr das persönliche
seelische Erlebnis zum Träger der göttlichen Erkenntnis wird
und das zeigt uns eben an, dass in dem Verhältnis des nor-
dischen Menschen zur Welt eine Temperaturveränderung vor
sich gegangen ist, dass es an Wärme und Vertraulichkeit
gewonnen hat. Es ist etwas ganz Neues und Ungeheures
irmerhalb der mittelalterlichen Auffassung, dass das Göttliche
nun nicht mehr in unsinnlichen Abstraktionen jenseits alles
Irdischen und Menschlichen in einem Reiche übernatürlicher
Notwendigkeiten gesucht wird, sondern im Brennpunkt des
eignen Ichs, im Spiegel der inneren Kontemplation, im Rausch
der seelischen Verzückung, Es ist ein ganz neues mensch-
liches Selbstbewusstsein, ein ganz neuer menschlicher Stolz,
der das arme menschliche Ich für würdig erachtet, zum
Gefäss Gottes zu werden. So ist die Mystik nichts anderes
als der Glaube an die Göttlichkeit der menschlichen Seele,
denn nur weil die Seele selbst göttlich ist, kann sie Gott
VERKÜNDIGUNG. KÖLNER SCHULE
PSYCHOLOGIE DER MYSTIK I2I
schauen. „Die Seele als Mikrotheos, als Gott im kleinen,
das ist die Lösung aller Rätsel des Mystizismus." (Windel-
band.) Wie fern ist solche selbststolze Anschauung allem
orientaHschen Transzendentahsmus, wie fern ist ihm der
Glaube; das Menschliche, Bedingte, Zufällige könnte sich
so weit ausweiten, um des Göttlichen, des Unbedingten, des
Absoluten teilhaftig zu werden. Der Orientale weiss, dass
er in seiner Endlichkeit niemals Gott schauen kann. Sein
Gott lebt nur im Jenseits des Menschlichen. Der Mystiker
aber, darüber täuscht keine Selbstverneinung hinweg, er
glaubt des Jenseits doch schon im Diesseits teilhaftig werden
zu können. Indem er das grosse Jenseits, das Jenseits, das
hinter allem MenschHchen und Lebendigen liegt, zu einem
persönlichen Jenseits herabschraubt, d. h. zu einem Jen-
seits, das durch blosse Selbstverneinung erreichbar ist, indem
er also von der Weltvemeinung zur Selbstverneinung herab-
geht, nähert er sich, ohne dass er sich dessen bewusst ist,
der Diesseitswelt und ihrer sinnlichen Sphäre. Eine Lockerung
des transzendentalen Gefühls ist eingetreten, die sich allent-
halben im Wesen der Mystik äussert. Das Prinzip der gött-
lichen Transzendenz flaut allmählich ab zur Vorstellung der
göttlichen Immanenz. Die Mystik ist so erdennah geworden,
dass sie das Göttliche nicht mehr ausserhalb der Welt,
sondern in der Welt, d. h. in der menschlichen Seele und
allem, was ihr zugänglieh ist, enthalten glaubt. Auf dem
Wege innerlicher Verzückung und Versenkung glaubt sie
seiner teilhaftig werden zu können.
Mit dieser Auffassung der Göttlichkeit der menschlichen
Seele strömt eine warme Welle zarter Sinnlichkeit in die
starre nordische Welt. Denn nicht nur das Göttliche, sondern
auch das Natürliche wird nun in den Erkenntniskreis
seelischen Empfindungslebens einbezogen. Indem die Mystik
den Menschen zum Gefäss des Göttlichen macht, indem
sie Gott und die Welt in dem gleichen Spiegel der mensch-
lichen Seele sich widerspiegeln lässt, leitet sie einen Be-
seHgungsprozess, einen Vergöttlichungsprozess oder, um den
rechten Namen zu nennen, einen Vermenschlichungsprozess des
Ausserweltlichen und Natürlichen ein, der sich konsequenter-
weise zu jenem idealistischenPantheismus entwickelt, derBaum
und Tiere, kurz, alles Geschaffene als seine Brüder anspricht.
122 PSYCHOLOGIE DER MYSTIK
Die Gewissheit, in sich selbst Gott schauen zu können,
führt zu einem SeelenfrühHng, und dieser Seelenfrühling
wirkt zurück auf die ganze Daseins weit, die sich in der Seele
spiegelt. Es ist ein feiner, subtiler, ins Seelische gewandter
Anthropomorphismus, der sich hier ausspricht. Da es hier
nicht die klaren Sinne sind, in denen sich die Daseinswelt
spiegelt, sondern die Seele, dies übersinnliche Element, so ist
der Versinnlichungsprozess der Daseins weit, wie ihn die
Mystik herbeiführt, nicht so klarer sinnlicher Natur wie der der
Antike nnd der Renaissance; vielmehr könnte man hier eher
von einem Verseligungsprozess sprechen als von einem Ver-
sinnlichungsprozess. Aber bei der engen Beziehung des sinn-
lichen und seelischen Empfindens ist es klar, dass dieses neue
mysticshe Empfinden doch eine Brücke hinüberschlug zu
dem geläuterten sinnlichen Empfinden, wie es die Renaissance
zum europäischen Ideal machte.
Mit der Mystik also setzt das sinnliehe Element in der
Gotik ein, wenn es auch anfänglich so zart und subtil ist, dciss
es sich nur als Uebersinnlichkeit darstellt. Dieses Sinnlich-
Uebersinnliche der fortgeschrittenen Gotik lässt sich am
besten als das lyrische Element der Gotik bezeichnen,
Der Seelenfrühling wird zu einem Sinnenfrühling, die Ich-
seligkeit zu einer Naturseligkeit, und eine Welt lyrischer
Ueberschwenglichkeit erwacht. Es ist das intimste, deli-
kateste Schauspiel, das uns die Entwicklung der Gotik bietet,
zu beobachten, wie sich dieses neue lyrische Element der
Gotik mit dem alten starren naturfernen Formwillen ihrer
eigentlichen Konstitution auseinandersetzt und die starre
Welt abstrakter Formen allmählich mit Blüten- und Knospen-
werk überzieht. Erst ist es ein schüchternes Umspielen der
alten starren Formen, dann ein innigeres Umschmeicheln und
schliesslich ein völliges Ueberwuchern derselben mit einem
liebenswürdigen, lyrisch gefärbten Naturalismus. Die Kapi-
telle werden zu Blütenwundern, an üppigem Krabben- und
Rankenwerk ist kein Ende mehr und das einst so schematisch
geometrisch geordnete Masswerk wird zu einer Wunderwelt
von Knospen und Blüten. Ein blühendes Chaos entsteht nun
innerhalb des harten linearen Chaotik. So geht auch die Orna-
mentik den Weg von der abstrakten Scholastik ihrer Frühperi-
ode zur sinnhch-übersinnlichen Mystik der gotischen Spätzeit.
INDIVIDUUM UND PERSÖNLICHKEIT 123
Auch die bildenden Künste im engeren Sinne nehmen
teil an dieser lyrischen Naturseligkeit, an dieser Ueberflutung
der Daseinswelt mit den warmen Wellen seelischer Mit-
empfindung. Nicht die grobe Tatsachenwelt ist es, der sich
der Mystiker in seiner liebenden Inbrunst hingibt, sondern
eine seelisch verklärte Welt, eine Welt, die ganz eingetaucht
ist in zarte lyrische Empfindsamkeit. Alle Starrheit schmilzt,
alles Harte wird weich, jede Linie wird durchströmt von
seelischer Empfindung. Auf den starren Gesichtern der
Statuen erblüht ein Lächeln, das ganz von innen heraus
kommt und wie der Nachglanz innerer Seligkeit wirkt. Alles
wird ins Lyrische, Innerliche, Seelische gewandt. Die Natur,
die von der Scholastik nur als harte Wirklichkeit gekannt
und deshalb verneint worden war, sie wird nun zum Garten
Gottes, sie blüht auf und wird aus harter Wirklichkeit zu
zarter Idylle. Das harte, starre Lineament der charakte-
ristischen Zeichnung wird weich. Aus eckiger Knittrigkeit
wird rhythmisch weiche Kalligraphie. Die geistig ausdrucks-
vollen Linien werden zu seelisch ausdrucksvollen Linien, die
geistige Energie des Linienausdrucks flaut ab zu kalligra-
phischer Innigkeit. Was an Grösse verloren geht, wird an
Schönheit gewonnen.
INDIVIDUUM UND PERSÖNLICHKEIT
V-^ s bedürfte einer besonderen Darstellung, die in alle
"^^ Einzelheiten und Intimitäten eindringt, um dieses
reizvolle und wechselreiche Gegenspielen, Ineinanderspielen
von scholastischem und mystischem, von überpersönlich-
abstraktem und persönlich-natürlichem Empfinden in der
gotischen Kunst anschaulich zu machen. Hier, wo uns nur
die grossen Entwicklungslinien beschäftigen, müssen die An-
deutungen des vorigen Kapitels genügen. In diesem Kapitel
aber müssen wir noch die Stellung der Mystik zur Renais-
sance ins Auge fassen.
Wir sahen, dass der Zuwachs an Sinnlichkeit des Emp-
findens, wie er mit der Mystik eintritt, zusammenhängt mit
124 INDIVIDUUM UND PERSÖNLICHKEIT
dem Individualisierungsprozess der nordischen Menschheit.
Sowohl in der Religion wie in der Kunst sahen wir, wie das
einzelne Ich zum Träger der Empfindung wird und die
Masse als Träger des Empfindens ablöst. Nun ist mittel-
alterliches Empfinden identisch mit abstraktem, d. h. Massen-
empfinden, und dementsprechend scheint es, dass mit der
Mystik neuzeitliche Entwicklungsvorgänge vorbereitet werden.
Darüber kann auch kein Zweifel sein: es ist die Geschichte
des modernen Empfindens, es ist die Geschichte der neuen
Kunst, die mit der Mystik einsetzt.
Wer demnach Renaissanceluft in der Mystik wittert,
der täuscht sich nicht, nur darf er nie vergessen, dass die
Mystik ein nordisches Produkt und die Renaissance ein
südliches Produkt ist. Nur darf er über dem Gemeinsamen
das Unterschiedliche nicht übersehen. Die Mystik führt
zum Protestantismus, die südliche Renaissance zur euro-
päischen Klassik.
Es ist eben der elementare Unterschied zwischen nor-
discher Menschheit und südlicher Menschheit, der zwei im
Ausgangspunkt gleiche Bewegungen zu ganz anderen Zielen
führt. Der gleiche Ausgangspunkt beider Bewegungen
ist das Uebergehen der Empfindung und der Erkenntnis
von der Masse auf das einzelne Ich. Damit stossen wir
auf Burckhardts lapidares Wort von der Entdeckung des
Individuums in der Renaissance. Eine gewisse Korrektur
an diesem Wort wird uns den richtigen Weg weisen und
uns den Unterschied zwischen der nordischen und südlichen
Entwicklung verständlich machen.
Die Korrektur, die Burckhardts Schlagwort heraus-
fordert, ist die Ersetzung des Wortes Individuum durch
Persönlichkeit. Denn die Persönlichkeit ist es, die in der
südlichen Renaissance, die Burckhardt im Auge hatte, ent-
deckt wurde, der Begriff des Individuums dagegen gehört
der nordischen Welt an, er charakterisiert geradezu das
innerste Wesen der nordischen Mystik.
Denn das Wort Individuum hat eine negative Färbung,
die es für die Bezeichnung des südlichen Phänomens ganz
ungeeignet macht. Durch seine etymologische Genesis
provoziert es mit Notwendigkeit die Vorstellung der mecha-
nischen Aufteilung einer Masse bis zu ihren kleinsten
MADONNA VON MARTIN SCHONGAUER (KUPFERSTICH)
INDIVIDUUM UND PERSÖNLICHKEIT 125
unteilbaren Bestandteilen, Dieser mechanische Aufteilungs-
prozess, der die einzelnen getrennten Teile der Zusammen-
hanglosigkeit überantwortet, gibt kein Bild ab für den
Entwicklungsvorgang, der sich in der südlichen Renaissance
abspielt. Denn hier ist es keine Masse, die mechanisch in
unzählige zusammenhanglose Einzelteile aufgeteilt wird,
sondern hier ist es ein grosser Volksorganismus, der sich all-
mählich seiner Einzelteile bewusst wird und seine geschlossene
Massigkeit zu tausend feinen Einzelorganen entwickelt,
zu Einzelorganen, von denen jedes nur in kleinerer subtilerer
Weise jenes Leben lebt, das den ganzen Organismus zu-
sammenhält. Also kein mechanischer Aufteilungsprozess,
sondern ein organischer Differenzierungsprozess, bei dem
der organische Zusammenhalt trotz aller Differenzierung
gewährleistet ist. Für diesen ganz positiven Entwicklungs-
vorgang passt die negative Färbung des Wortes Individuum
ganz und gar nicht, wohl aber das Wort Persönlichkeit,
wie wir es gemeinhin brauchen.
Um so mehr passt die negative Färbung des Wortes
für den nordischen Individualisierungsprozess, wie er mit
der Mystik einsetzt. Hier ist es in der Tat mehr der Zer-
setzungsprozess, der Zerbröcklungsprozess einer geschlossenen
Masse in unzählige eigenwillige Einzelteile, die sich von-
einander entfernen und jedes konzentrischen organischen
Zusammenhangs entbehren. Der nordische Mensch fühlt auch
das Negative dieses Individualisierungsprozesses, d. h. er
wird sich seiner individuellen Verlassenheit gleich bewusst;
denn durch Verneinung dieses Ichs, zu dem er gelangt ist,
sucht er sich von einer individuellen Verlassenheit zu erlösen.
Die südliche Renaissancebewegung mit ihrem erwachenden
Persönlichkeitsbewusstsein führt zur Selbstbehauptung, zur
Selbst bejahung. Selbst Verherrlichung, der nordische In-
dividualisierungsprozess dagegen führte zur Selbstverneinung,
zur Selbstverachtung. Das individuelle Sein wird hier als
etwas Negatives, ja geradezu als etwas Sündhaftes
empfunden. Der Individualismus der Mystik predigt:
Vernichte deine Individualität. Oder wie es in der
Mystikersprache heisst: ,,Dein Wesen stampfe nieder.
Wer in sich beharrt, kann Gott nicht erkennen." Das
ist eben der eigentümliche Zwiespalt der Mystik: aus dem
126 INDIVIDUUM UND PERSÖNLICHKEIT
Individualismus entsprungen, richtet sie ihre Predigt gleich
gegen den eignen Ursprung; während der Renaissancemensch
sich auf sein Ich besinnt und sich seiner Persönlichkeit be-
wusst wird, um innerlich ganz frei und selbständig zu werden
und in klarer Selbstbehauptung die Welt zu empfangen als
sein Eigen, besinnt der nordische Mensch sich nur auf sein
Ich, um es gleich wieder in brünstigem Gottsuchertum
aufzugeben. Er ist eben nur ein Individuum, keine Persön-
lichkeit geworden. So bleibt auch die Mystik transzen-
dental wie die Scholastik und das Rauschelement, das
Erlösungsbedürfnis spielt in beiden dieselbe Rolle; der
Individualisierungsprozess lässt die dualistische Zerrissenheit
nicht verschwinden; sie nimmt durch ihn nur andere
Formen an.
Wenn wir also auch die Mystik als eine gewisse Parallel-
bewegung zur südlichen Renaissancebewegung anerkennen,
so dürfen wir doch diesen transzendentalen Charakter nicht
verkennen, der sie von aller klassischen Gesundheit und
Diesseitigkeit des Empfindens trennt und sie zu einem rein
gotischen Produkt macht. Denn Gotik nannten wir die
grosse unvereinbare Gegensatzerscheinung zur Klassik, die
nicht an eine einzelne Stilperiode gebunden ist, sondern
durch all die Jahrhunderte hindurchgehend in immer neuen
Verkleidungen sich offenbart und nicht nur eine Zeit-
erscheinung, sondern im tiefsten Grunde eine zeitlose
Rassenerscheinung ist, die in der innersten Konstritution
der nordischen Menschheit verwurzelt ist und deshalb auch
durch die nivellierende europäische Renaissance nicht ent-
wurzelt werden konnte.
Allerdings dürfen wir Rasse nicht im engen Sinne
der Rassenreinheit verstehen; vielmehr muss das Wort
Rasse hier all die Völker zusammenfassen, in deren Rassen-
mischung die Germanen eine entscheidende Rolle gespielt
haben. Und das trifft für den grössten Teil Europas zu.
Soweit er mit germanischen Bestandteilen durchsetzt ist,
zeigt er einen Rassenzusammenhang im grösseren Sinne,
der trotz des Rassenunterschiedes im gemeinen Sinne sich
unverkennbar wirksam macht und der in historischen Er-
scheinungen wie der Gotik gleichsam für alle Zeiten fest-
gelegt und dokumentiert worden ist. Denn die Germanen,
INDIVIDUUM UND PERSÖNLICHKEIT 127
SO sahen wir, sie sind die conditio sine qua non der Gotik. Sie
tragen in selbstsichere Völker den Keim sinnlicher Unsicher-
heit und seehschen Zwiespalts hinein, aus dem das transzen-
dentale Pathos der Gotik dann so mächtig emporschiesst.
Die geheime Gotik vor der eigentlichen Gotik aufzu-
decken, das war der eigenthche Zweck dieser skizzierenden
Betrachtungen. Einer neuen Arbeit bedürfte es, um auch
die geheime Gotik nach der eigentHchen Gotik bis hinauf
in unsere Zeit hinein festzustellen. Im Barock ist der gotische
Charakter ja trotz der imgotischen Ausdrucksmittel noch
ganz offenkundig. Um die späteren Erscheinungsarten der
geheimen Gotik aufzudecken, dazu bedürfte es viel feinerer
und geschmeidigerer Werkzeuge als wir sie uns für diese
Untersuchung schaffen mussten. Denn naturgemäss werden
die Verkleidungsprozesse dieser geheimen Gotik immer
differenzierter und raffinierter, und wer weiss, ob sich nicht
bei einer solchen neuen, bis zu den innersten Zellgeheimnissen
der Stilerscheinungen vordringenden Untersuchung zuletzt
sogar manche nordische Klassik neuerer Zeit auch nur als
eine verkleidete Gotik entpuppt.
K. B. Hofbuchdruckerei Gebrüder Reichel in Augsburg.
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Worringer, Wilhelm
Formprobleme der Gotik