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Full text of "Formprobleme der Gotik"

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W.  WORRINGER 
FORMPROBLEME  DER  GOTIK 


FORMPROBLEME 
DER  GOTIK 


VON 


DR.  WILHELM  WORRINGER 

MIT  25  TAFELN 
ZWEITE  AUFLAGE 


MUENCHEN   1912 
R.  PIPER  &  CO.,  VERLAG 


Von  demselben  Verfasser  erschienen  im  gleichen  Verlag: 

ABSTRAKTION  UND  EINFÜHLUNG.    Dritte,  um  einen 
Anhang  vermehrte  Auflage. 

LUKAS   CRANACH.      Mit   63   Abbildungen.      (Klassische 
Illustratoren.     Dritter  Band.) 

ALTDEUTSCHE   BUCHILLUSTRATION      Mit    105    Ab- 
bildungen.    (Klassische  Illustratoren.     Neunter  Band.) 


63/0 


DEM  ANDENKEN 

AN 

DR.  KURT  BERTELS 


INHALT 

Vorwort.  ^^''^ 

Einleitung ^ 

Aesthetik  und  Kunsttheorie 5 

Kunstwissenschaft  als  Menschheitspsychologie lo 

Der  primitive  Mensch      12 

Der  klassische  Mensch iQ 

Der  orientahsche  Mensch 24 

Die  geheime  Gotik  der  frühen  nordischen  Ornamentik  ....  27 

Die  unendhche  Melodie  der  nordischen  Linie 36 

Von  der  Tierornamentik  bis  zu  Holbein 3^ 

Transzendentalismus  der  gotischen  Ausdruckswelt 48 

Nordische  Rehgiosität 54 

Der  Baugedanke  der  Klassik • 59 

Der  Baugedanke  der  Gotik 67 

Schicksale  des  gotischen  Form  willens 7}> 

Romanischer  Stil ^^ 

Beginnende  Emanzipation  vom  klassischen  Baugedanken  ...  87 

Vollendete  Emanzipation  in  der  reinen  Gotik 95 

Innerer  Aufbau  der  Kathedrale 9^ 

Aeusserer  Aufbau  der  Kathedrale 108 

Psychologie  der  Scholastik Ii4 

Psychologie  der  Mystik i^S 

Individuum  und  Persönlichkeit 123 


VERZEICHNIS  DER  ABBILDUNGEN 

Seite 

Ornamentaler  Tierkopf,  Holzschnitzerei.     IV.   Jahrh.  .    .    .   vor       5 
Vogelomament    aus    einem    Codex    der    Klosterbibliothek 

St.  Gallen 

Altnordisches  Bronzebeschläge  mit  Tierornament     .... 

Nordische  Fibel  mit  Tierornament 

Südgermanisches  Bronzebeschläge  mit  Tierornament  .  .  . 
Südgermanisches  Schnallenbeschläge  mit  Tierornament  .  . 
Irische  Handschriften-Ornamentik.  VIII.  Jahrhundert.  . 
Doppelsäulenkapitäl.  Abtei  De  la  Daurade  in  Toulouse  . 
Reichverzierte  Säule.    Abteikirche  von  Coulombs     .... 

Quirinkirche  zu  Neuss 

Kathedrale  zu  Reims 

Münster  zu  Ulm 

Fassade  der  Kathedrale  zu  Rouen 

Portalkrönung.     Kathedrale  zu  Reims    . 

Strebebogen.     Dom  zu  Cöln 

Ruinen  der  Abtei  zu  Jumieges 

Mittelschiff  des  Domes  zu  Cöln 

Aus  der  Lorenzkirche  zu  Nürnberg 

Gewölbe  vom  Chor  der  Liebfrauenkirche  zu  Trier  .... 

Inneres  der  Georgskirche  zu  Dinkelsbühl 

Grosser  Remter.     Schloss  zu  Marienburg 

Tympanonskulpturen.     Vezelay 

Die  Apostel.     Dom  zu  Bamberg 

Gesims  mit  Löwe  und  Auferstehung.    Dom  zu  Freiberg  i.  S. 

Dachskulpturen.     Kathedrale  zu  Amiens 

Der  Apostel  Petrus.     St.  Pierre  zu  Moissac 

Apostelkopf  von  Tilman  Riemenschneider 

Verkündigung.     Kölner  Schule 

Madonna  von  Martin  Schongauer 


5 
5 

IG 
10 
10 

15 
20 

25 
30 

35 
40 

45 
50 
55 
60 

65 
70 

75 
80 

85 
90 

95 
100 
105 
:io 

"5 

120 

125 


VORWORT 
ZUR  ERSTEN  AUFLAGE 

Die  vorliegende  stilpsychologische  Untersuchung  knüpft, 
was  ihre  Grundanschauungen  angeht,  an  die  frühere  Arbeit 
„Abstraktion  und  Einfühlung"  an,  die  gleichzeitig  in  dem- 
selben Verlag  in  3.  Auflage  erscheint.  Wer  sich  also  über 
die  Voraussetzungen  orientieren  will,  die  zu  der  in  den 
,, Formproblemen  der  Gotik"  angewandten  Methode  ge- 
führt haben,  der  sei  auf  jene  grundlegenden  Untersuchungen 
hingewiesen. 

Im  übrigen  denke  ich,  dass  mein  Buch  auch  ohne  diese 
Vorarbeit  lesbar  und  verständlich  sein  wird,  zumal  ich  mich 
bemüht  habe,  jene  als  Voraussetzung  dienenden  Grund- 
gedanken im  Laufe  der  neuen  Darlegungen  in  konzentrierter 
Form  zu  wiederholen. 

Die  Abbildungen,  die  der  Verlag  in  dankenswerter 
Weise  dem  Buche  beigegeben  hat,  erheben  in  keiner  Weise 
den  Anspruch,  exakte  wissenschaftliche  Belege  der  Text- 
ausführungen zu  sein,  sie  wollen  vielmehr  in  erster  Linie  als 
den  Text  begleitende  Stimmungsakkorde  aufgefasst  sein. 
Das  Imponderabile  an  ihnen  hat  darum  auch  die  Auswahl 
bestimmt. 

Damit  soll  aber  nicht  gesagt  sein,  dass  sie  in  wissen- 
schaftlicher Hinsicht  überflüssig  seien:  ich  hoffe  vielmehr, 
dass  man  diese  illustrativen  Beigaben  nach  der  Lektüre 
des  Textes  mit  einem  ganz  anderen  Verstehen  würdigen 
wird  als  vorher.  Das  ist  sogar  die  eigentliche  Probe  auf  mein 
Exempel. 

Bern,  im  Herbst  1910. 

Der  Verfasser. 


VORWORT 
ZUR  ZWEITEN  UND  DRITTEN  AUFLAGE 

Die  zweite  und  dritte  Auflage  bringen  den  unveränderten 
Abdruck  der  ersten,  ohne  dass  dieser  damit  ein  Vollkommen- 
heitszeugnis ausgestellt  sein  soll.  Aber  Bücher  dieser  Art, 
die  einheitlich  konzipiert  und  durchgeführt  sind,  lassen 
kein  nachträgliches  Flickwerk  zu. 

Doch  soll  es  hier  im  Vorworte  wenigstens  ergänzend 
gesagt  sein,  dass  die  Nichtberücksichtigung  der  orientalischen 
resp.  byzantinischen  Frage  für  das  nordische  Mittelalter 
nicht  etwa  eine  Ablehnung  dieser  orientalischen  Beein- 
flussungstheorien bedeuten  soll.  Nur  die  Erwägung,  dass  es 
einer  komplizierten  und  darum  ablenkenden  Spezialunter- 
suchung bedürfe,  um  dieses  historische  Problem  auch  zu 
einem  stilpsychologischen  zu  machen,  liess  mich  von  dieser 
Aufgabe  vorläufig  abstehen.  Dass,  ganz  allgemein  gesprochen, 
die  notwendigen  psychologischen  Bedingungen  vorliegen,  um 
dem  gotischen  Menschen  byzantinisches  Kunstwollen  wahl- 
verwandt erscheinen  zu  lassen,  steht  eigentlich  schon  zwischen 
den  Zeilen  meines  Buches.  Und  dass  dieses  Wahlverwandt- 
schaftsgefühl  im  Kunstwollen  das  Primäre  und  die  historische 
Beeinflussung  nur  eine  äussere  Konsequenz  davon  ist,  ergibt 
sich  ja  aus  meiner  ganzen  Auffassung.  Darum  mag  man 
sich  mit  der  Feststellung  der  Resonanzmöglichkeit  begnügen 
und  die  Darstellung  des  genaueren  Prozesses  der  gotisch- 
byzantiiüschen  Tonbildung  einer  späteren  Spezialunter- 
suchung des  Verfassers  überlassen. 

Bern,  Mai  1912. 

Der  Verfasser. 


EINLEITUNG 

Tjas  heisse  Bemühen  des  Historikers,  aus  dem  Material 
^-^^  der  überlieferten  Tatsachen  Geist  und  Seele  ver- 
gangener Zeiten  zu  rekonstruieren,  bleibt  im  letzten  Grunde 
ein  Versuch  mit  untauglichen  Mitteln.  Denn  der  Träger 
der  historischen  Erkenntnis  bleibt  unser  Ich  in  seiner 
zeitlichen  Bedingtheit  und  Beschränktheit,  ob  wir  es  auch 
noch  so  sehr  auf  eine  scheinbare  Objektivität  zurückzu- 
schrauben versuchen.  Uns  von  unseren  eignen  zeitlichen 
Voraussetzimgen  in  dem  Masse  frei  zu  machen  und  uns  die  "   J 

inneren  Voraussetzungen  der  Vergangenheitsepochen  in  dem 
Masse  zu  eigen  zu  machen,  dass  wir  wirklich  mit  ihrem  Geiste  *"* '  "  - 
denken  und  mit  ihrer  Seele  empfinden,  das  wird  uns  nie 
gelingen.  Wir  bleiben  vielmehr  mit  unserem  historischen 
Auffassungs-  und  Erkenntnisvermögen  eng  eingeschlossen 
in  den  Grenzen  unserer  durch  zeitliche  Umstände  bestimmten  -     # 

inneren  Struktur.    Und  je  einsichtsvoller,  je  feinfühliger  ein  "^    '  '       ^ 
Geschichtsforscher  ist,  um  so  stärker  leidet  er  in  immer  sich    p*«*»«^  /^, 
erneuernden   Anfällen   lähmender    Resignation   an   der   Er-   *^l:^\    ;j'c 
kenntnis,  dass  es  das  upöiov  ^^süSos   aller  Historie  ist,  dass  ^      ' 
wir  die  vergangenen  Dinge  nicht  von  ihren,  sondern  von      "^  ''^ 
unseren  Voraussetzungen  aus  auffassen  und  werten.  '  ''"  ' 

Den  Vertretern  des  naiven  historischen  Realismus  sind 
diese  Zweifel  fremd.  Sie  machen  skrupellos  die  relativen 
Voraussetzungen  ihrer  jeweiligen  Menschlichkeit  zu  abso- 
luten Voraussetzungen  aller  Zeiten  und  leiten  so  gleichsam 
aus  der  Beschränktheit  ihres  historischen  Erkenntnisapparates 
heraus  das  Recht  auf  konsequente  Geschichtsfälschung  ab. 
,,Jene  naiven  Historiker  nennen  ,, Objektivität"  das  Messen 
vergangener  Meinungen  und  Taten  an  den  Allerwelts- 
meinungen  des  Augenblicks:  hier  finden  sie  den  Kanon  aller 
Wahrheiten;   ihre   Arbeit   ist,    die   Vergangenheit   der   zeit- 


't  "*- 


EINLEITUNG 


gemässen  Trivialität  anzupassen.  Dagegen  nennen  sie  jede 
Geschichtsschreibung  „subjektiv",  die  jene  Popularmeinungen 
nicht  als  kanonisch  nimmt."     (Nietzsche.) 

Sobald  der  Historiker  über  die  blosse  Eruierung  und 
Fixierung  der  historischen  Fakten  hinaus  zu  einer  Inter- 
pretierung dieser  Fakten  strebt,  kommt  er  mit  blosser 
Empirie  und  Induktion  nicht  mehr  aus.  Hier  muss  er  sich 
seinen  divinatorischen  Fähigkeiten  überlassen.  Sein  Arbeits- 
prozess  ist  hier  der,  aus  dem  vorliegenden  toten  historischen 
Material  auf  die  immateriellen  Voraussetzungen  zu  schliessen, 
denen  es  seine  Entstehung  verdankt.  Das  ist  ein  Schluss 
ins  Unbekannte,  Unerkennbare  hinein,  für  den  es  keine 
andere  Sicherheit  gibt  als  die  intuitive. 

Wer  aber  wird  sich  auf  dieses  unkontrollierbare  Gebiet 
wagen,  wer  wird  den  Mut  haben,  das  Recht  auf  Hypothesen, 
auf  Spekulation  zu  proklamieren.  Jeder,  der  an  der  Dürftig- 
keit des  historischen  Realismus  gelitten;  jeder,  der  die 
Bitterkeit  des  Entweder-Oder  empfunden  hat:  sich  bei  einer 
Sicherheit  zu  beruhigen,  die  sich  als  die  Sicherheit  der  Ob- 
jektivität geriert  und  die  in  Wirklichkeit  nur  durch  einseitige 
subjektive  Vergewaltigung  objektiver  Tatbestände  zu  er- 
reichen ist,  oder  unter  Aufgabe  dieser  vorgeblichen  Sicherheit 
sich  verachteter  Spekulationen  schuldig  zu  machen,  die  ihm 
wenigstens  das  gute  Gewissen  geben,  sich  aus  den  Geleisen 
der  angeborenen  relativen  Vorstellungen  nach  Menschen- 
möglichkeit entfernt  und  das  Mass  seiner  zeitlichen  Be- 
schränktheit bis  auf  einen  untilgbaren  Rest  herabgeschraubt 
zu  haben.  Er  wird  unter  dem  Zwange  dieses  Entweder-Oder 
die  bewusste  Unsicherheit  der  intuitiv  geleiteten  Spekulation 
dem  unsicheren  Bewusstsein  der  angeblich  objektiven  Methode 
vorziehen. 

Hypothesen  sind  natürlich  nicht  gleichbedeutend  mit 
willkürlichen  Phantastereien.  Vielmehr  sind  hier  mit  Hypo- 
thesen nur  jene  grosszügigen  Experimente  des  Erkenntnis- 
triebes gemeint,  der  in  das  Dunkel  von  Fakten,  die  von 
unseren  Voraussetzungen  aus  nicht  mehr  zu  verstehen  sind, 
nur  so  vorzudringen  vermag,  dass  er  vorsichtig  ein  Liniennetz 
der  Möglichkeiten  konstruiert,  dessen  gröbste  Orientierungs- 
punkte durch  die  direkten  Gegenpole  unserer  Voraussetzungen 
geschaffen  werden.     Da  er  weiss,  dass  alle  Erkenntnis  nur 


EINLEITUNG 


mittelbar  ist  —  an  das  zeitlich  bedingte  Ich  gebunden  — ,  so 
gibt  es  für  ihn  keine  andere  Möglichkeit,  seine  historische 
Erkenntnisfähigkeit  auszuweiten,  als  dass  er  sein  Ich  aus- 
weitet. Eine  solche  Erweiterung  der  Erkenntnisfläche  ist 
nun  faktisch  nicht  möglich,  sondern  nur  durch  eine  ideelle 
Hilfskonstruktion,  die  rein  antithetisch  angelegt  wird.  In 
den  unendlichen  Raum  der  Geschichte  hinein  bauen  wir 
von  dem  festen  Standpunkt  unseres  positiven  Ichs  aus  eine 
erweiterte  Erkenntnisfläche  durch  ideelle  Verdoppelung 
unseres  Ichs  um  seinen  Gegensatz.  Denn  alle  Möglichkeiten 
der  historischen  Erfassung  liegen  immer  nur  auf  dieser 
Kugelfläche,  die  sich  zwischen  unserem  positiven,  zeitlich 
beschränkten  Ich  und  seinem  uns  nur  durch  ideelle  Kon- 
struktion zugänglichen  Gegenpol,  dem  direkten  Kontrast 
zu  unserem  Ich,  ausspannt.  Die  Inanspruchnahme  einer 
derartigen  ideellen  Hilfskonstruktion  als  heuristischen  Prin- 
zips ist  die  nächstliegende  Ueberwindungsmöglichkeit  des 
historischen  Realismus  und  seiner  anspruchsvollen  Kurz- 
sichtigkeit. Mögen  die  Resultate  auch  nur  hypothetischen 
Charakter  tragen. 

Mit  diesen  Hypothesen  kommen  wir  der  absoluten  Ob- 
jektivität der  Historie,  deren  Erkenntnis  uns  vorenthalten 
ist,  näher  als  der  kurzsichtige  Realismus.  Wir  umkreisen  jene 
absolute  Objektivität  damit  in  den  grössten  Kurven,  die 
unserem  Ich  möglich  sind,  und  gewinnen  die  grösste  Blick- 
weite, die  uns  zugänglich  ist.  Nur  solche  Hypothesen  können 
uns  die  Genugtuung  geben,  dass  sich  die  Zeiten  nicht  mehr 
allein  in  dem  kleinen  Spiegel  unseres  positiven  zeitlich  be- 
schränkten Ichs  spiegeln,  sondern  in  dem  grösseren  Spiegel, 
der  um  das  ganze  Jenseits  unseres  positiven  Ichs  kon- 
struktioneil erweitert  ist.  Die  Verzerrung  der  historischen 
Spiegelung  wird  durch  solche  Hypothesen  jedenfalls  um  ein 
Beträchtliches  reduziert,  wenn  es  sich  auch  nur  um  eine 
blosse  Wahrscheinlichkeitsrechnung  handelt. 

Diese  Hypothesen  bedeuten,  um  es  zu  wiederholen,  keine 
Versündigung  an  der  absoluten  geschichtlichen  Objektivität, 
d.  h.  an  der  geschichtlichen  Wirklichkeit,  denn  deren  Er- 
kenntnis ist  uns  ja  verschlossen  und  die  Frage  nach  ihr  ist 
mit  demselben  Rechte  eine  Grille  zu  nennen,  mit  dem  Kant 
die  Frage  nach  der  Existenz  und  Beschaffenheit  des  ,,Ding 


EINLEITUNG 


an  sich"  als  eine  blosse  Grille  kennzeichnete.  Die  historische 
Wahrheit,  die  wir  suchen,  ist  etwas  ganz  anderes  als  die 
historische  Wirklichkeit.  ,,Die  Geschichte  kann  keine  Kopie 
der  Ereignisse,  ,,wie  sie  wirklich  waren",  sein,  sondern 
nur  eine  Umgestaltung  der  gelebten  Wirklichkeit,  abhängig 
von  den  konstruktiven  Zwecken  des  Erkennens  und  von 
den  apriorischen  Kategorien,  die  diese  Erkenntnisart  nicht 
weniger  als  die  naturwissenschaftliche  ihrer  Form,  d.  h. 
ihrem  Wesen  nach  zu  einem  Produkte  unserer  synthetischen 
Energien  macht."     (Simmel.) 

Die  Problematik  der  sogenannten  objektiven  Geschichts- 
betrachtung kommt  uns  dort  am  empfindlichsten  zum  Be- 
wusstsein,  wo  es  sich  um  historische  Erscheinungskomplexe 
handelt,  die  vornehmlich  von  psychischen  Kräften  geformt 
worden  sind.  Mit  anderen  Worten:  die  Geschichte  der  Re- 
ligiosität und  der  Kunst  leiden  am  stärksten  unter  der  Unzu- 
länglichkeit unseres  historischen  Erkenntnisvermögens.  Diesen 
Erscheinungen  gegenüber  wird  die  Ohnmacht  des  reinen 
Realismus  am  offenkundigsten.  Denn  hier  unterbinden  wir 
uns  alle  Erkenntnismöglichkeiten,  wenn  wir  die  Erscheinungen 
nur  von  unseren  Voraussetzungen  aus  zu  verstehen  und  zu 
werten  versuchen.  Hier  müssen  wir  vielmehr  bei  jedem 
Faktum  das  Vorhandensein  psychischer  Voraussetzungen 
in  Rechnung  stellen,  die  nicht  die  unsrigen  sind  und  denen 
wir  ohne  jede  Sicherheit  der  Bestätigung  nur  auf  dem  Wege 
vorsichtiger  Vermutung  nahekommen  können.  Die  angeblich 
objektive  Geschichtsmethode  identifiziert  die  Voraussetzungen 
vergangener  Fakten  mit  ihren  eignen  Voraussetzungen:  es 
sind  ihr  also  bekannte  und  gegebene  Grössen  —  der  intu- 
itiven Geschichtsforschung  dagegen  sind  sie  das  eigentliche 
Objekt  der  Forschung  und  ihre  approximative  Erkenntnis 
das  einzige  Ziel,  das  die  Arbeit  des  Forschens  lohnt. 

Während  der  historische  Realismus  uns  an  Kenntnis 
vergangener  religiöser  und  künstlerischer  Phänomene  nur 
eine  allerdings  sehr  tiefgehende  Kenntnis  ihrer  äusseren 
Erscheinungsformen  gegeben  hat,  strebt  die  andere  weniger 
selbstgenügsame  Methode  nach  einer  lebendigen  Inter- 
pretation dieser  Phänomene,  und  nur  zu  diesem  Zwecke 
spannt  sie  all  ihre  synthetischen  Energien  an. 


ORNAMENTALER  TIERKOPF 
Holzschnitzerei  aus  dem  4.    Jahrhundert.     Fünen,  Dänemark 


VOGELORNAMENT  AUS  DEM  CODEX  51  DER  KLOSTERBIBLIOTHEK 

ZU  ST.  GALLEN 


ALTNORDISCHES  BRONCEBE SCHLÄGE  MIT  TIERORNAMENT 

GOTLAND,   SCHWEDEN 

Nach   Sahn,  Die  altgermanische  Tierornamentik,   Stockholm   1904 


AESTHETIK  UND  KUNSTTHEORIE 


AESTHETIK  UND  KUNSTTHEORIE 

\-i  s  soll  hier  der  Versuch  gewagt  werden,  ein  Verständnis 
-*— '  der  Gotik  auf  Grund  ihrer  eignen  —  uns  allerdings  nur 
durch  hypothetisch  gefärbte  Konstruktionen  zugänglichen  — 
Voraussetzungen  zu  erreichen.  Nach  dem  Untergrund  innerer 
menschheitsgeschichtlicher  Beziehungen  soll  geforscht  wer- 
den, der  uns  die  formbildenden  Energien  der  Gotik  in  der 
Notwendigkeit  ihres  Ausdrucks  begreiflich  macht.  Denn 
jedes  künstlerische  Phänomen  ist  uns  so  lange  verschlossen, 
als  wir  nicht  die  Notwendigkeit  und  Gesetzmässigkeit  seiner 
Bildung  erfasst  haben. 

Wir  müssen  also  den  aus  menschheitsgeschichtlichen 
Notwendigkeiten  erwachsenen  Formwillen  der  Gotik  fixieren, 
jenen  gotischen  Form  willen,  der  sich  am  kleinsten  gotischen 
Gewandzipfel  ebenso  stark  und  unzweideutig  dokumentiert 
wie  an  der  grossen  gotischen  Kathedrale. 

Man  darf  sich  darüber  nicht  täuschen,  dass  die  formalen 
Werte  der  Gotik  bisher  ohne  psychologische  Deutung  ge- 
blieben sind.  Ja,  es  woirde  nicht  einmal  der  entschlossene 
Versuch  einer  positiven  Würdigung  gemacht.  Alle  An- 
läufe dazu  —  z.  B.  von  Taine  und  seinen  Jüngern  ausgehend 
—  blieben  in  seelischen  Zergliederungen  des  gotischen  Men- 
schen und  einer  Charakterisierung  der  allgemeinen  kultur- 
geschichtlichen Stimmung  stecken,  ohne  dass  der  Versuch 
gemacht  wurde,  den  gesetzmässigen  Zusammenhang  zwischen 
diesen  Momenten  und  der  äusseren  Erscheinungsform  der 
Gotik  klarzulegen.  Und  damit  beginnt  doch  erst  die  eigent- 
liche Stilpsychologie,  dass  die  formalen  Werte  als  präziser 
Ausdruck  der  inneren  Werte  also  verständlich  gemacht 
werden,  dass  jeder  Dualismus  von  Form  und  Inhalt  ver- 
schwindet. 

Die  Welt  der  klassischen  und  der  in  ihr  verankerten 
neueren  Kunst  hat  längst  eine  solche  Kodifizierung  der  Ge- 
setzlichkeit ihrer  Bildungen  gefunden :  'denn  was  wir  wissen- 
schaftliche Aesthetik  nennen,  ist  im  Grunde  nichts  anderes  als 
eine  solche  stilpsychologische  Interpretation  des  klassischen 
Stilphänomens. )  Als  Voraussetzung  dieses  klassischen  Kunst- 
phänomens wird  nämlich  jener  Schönheitsbegriff  angesehen, 


AESTHETIK  UND  KUNSTTHEORIE 


um  dessen  Fixierung  und  Definition  sich  die  Aesthetik  trotz 
der  Verschiedenheit  ihrer  Beti  achtungsweisen  einzig  und 
allein  bemüht.  Dadurch  aber,  dass  die  Aesthetik  ihre  Re- 
sultate auf  den  Gesamtkomplex  der  Kunst  ausdehnt  und 
auch  solche  Kunsttatsachen  verständlich  gemacht  zu  haben 
glaubt,  denen  ganz  andere  Voraussetzungen  innewohnen  als 
jener  Schönheitsbegriff,  wird  ihr  Nutzen  zum  Schaden,  wird 
ihre  Herrschaft  zur  unerträglichen  Usurpation.  Entschiedene 
Trennung  von  Aesthetik  und  objektiver  Kunsttheorie  ist 
deshalb  die  vitalste  Lebensforderung  ernster  kunstwissen- 
schaftlicher Forschung.  Es  war  Konrad  Fiedlers  eigentliche 
Lebensaufgabe,  diese  Forderung  zu  begründen  und  zu  ver- 
treten, aber  die  Gewöhnung  an  die  seit  Aristoteles  durch 
die  Jahrhunderte  fortwuchernde  unberechtigte  Identifikation 
von  Kunstlehre  und  Aesthetik  war  stärker  als  Fiedlers  klare 
Argumentation.     Er  sprach  ins  Leere. 

Den  Machtanspruch  der  Aesthetik  auf  Deutung  nicht- 
klassischer Kunstkomplexe  gilt  es  also  zurückzuweisen.  Denn 
all  unsere  historische  Kunstforschung  und  Kunstwertung 
wird  von  dieser  Einseitigkeit  der  Aesthetik  gefärbt.  Wo  wir 
künstlerischen  Tatsachen  gegenüber  mit  unserer  Aesthetik 
und  unserer  ihr  parallel  gehenden  Vorstellung  von  der  Kunst 
als  eines  Drängens  zur  Darstellung  des  Lebendig- Schönen 
und  Natürlichen  nicht  auskommen,  da  werten  wir  nur  ne- 
gativ, sei  es,  dass  wir  alles  Fremdartige  und  Unnatürliche 
als  das  Resultat  eines  noch  nicht  zulänglichen  Könnens  ab- 
urteilen oder  dass  wir  uns  —  wo  die  erste  Interpretations- 
möglichkeit ausgeschlossen  ist  —  mit  der  fragwürdigen  Be- 
zeichnung ,, Stilisierung"  helfen,  die  mit  ihrer  positiven 
Wortfärbung  den  Tatbestand  der  negativen  Wertung  so 
angenehm  verschleiert. 

Dass  die  Aesthetik  diesen  Machtanspruch  auf  Allgemein- 
gültigkeit gewinnen  konnte,  das  ist  die  Folge  eines  tief  ein- 
gewurzelten Irrtums  über  das  Wesen  der  Kunst  überhaupt. 
Dieser  Irrtum  drückt  sich  in  der  durch  "viele  Jahrhunderte 
sanktionierten  Annahme  aus,  dass  die  Geschichte  der  Kunst 
eine  Geschichte  des  künstlerischen  Könnens  darstelle  und 
dass  das  selbstverständliche,  gleichbleibende  Ziel  dieses 
Könnens  die  künstlerische  Reproduktion  und  Wiedergabe 
der  natürlichen  Vorbilder  sei.  Die  wachsende  Lebenswahrheit 


AESTHETIK  UND  KUNSTTHEORIE 


und  Natürlichkeit  des  Dargestellten  wurde  auf  diese  Weise 
ohne  weiteres  als  künstlerischer  Fortschritt  ge wertet.  Die 
Frage  nach  dem  künstlerischen  Wollen  wurde  nie  aufge- 
worfen, da  dieses  Wollen  ja  festgelegt  und  undiskutierbar 
schien.  Nur  das  Können  wurde  zum  Problem  der  Wertung, 
nie  das  Wollen. 

Man  glaubte  also  wirklich,  die  Menschheit  habe  Jahr- 
tausende nötig  gehabt,  um  richtig,  d.  h.  naturwahr  zeichnen 
zu  können,  glaubte  wirklich,  dass  die  künstlerische  Pro- 
duktion ihre  jeweilige  Gestaltung  nur  durch  ein  Plus  oder 
Minus  von  Können  erhalte.  An  der  so  naheliegenden  und 
durch  zahlreiche  kunsthistorische  Situationen  dem  Forscher 
geradezu  aufgezwungenen  Erkenntnis  ging  man  vorüber, 
dass  dieses  Können  nur  ein  sekundäres  Moment  sei,  das 
seine  eigentliche  Bestimmung  und  Regulierung  durch  den 
höheren  und  allein  massgebenden  Faktor  des  Wollens  erhalte,  ^^.r^' 

Die  neuere  Kunstforschung  aber  kann  sich,  wie  gesagt, 
dieser  Erkenntnis  nicht  mehr  entziehen.  Ihr  muss  als  Axiom 
gelten,  dass  man  alles  konnte,  was  man  wollte  und 
dass  man  nur  das  nicht  konnte,  was  nicht  in  der  Richtung 
des  Wollens  lag.  Das  Wollen,  das  vorher  undiskutierbar  war, 
wird  ihr  also  zum  eigentlichen  Forschungsproblem  und  das 
Können  scheidet  als  Wertkriterium  gänzlich  aus.  Denn  die 
feinen  Unterschiede  zwischen  Wollen  und  Können,  die  in 
der  Kunstproduktion  vergangener  Zeiten  wirklich  vorliegen, 
können  wir  als  verschwindend  kleine  Werte  nicht  in  Rech- 
nung ziehen,  zumal  sie  von  der  grossen  Distanz  unseres 
Standpunktes  aus  in  ihrer  Kleinheit  nicht  mehr  zu  erkennen 
und  zu  kontrollieren  sind.  Was  wir  aber  bei  rückblickender 
Kunstbetrachtung  immer  als  Unterschied  von  Wollen  und 
Können  auffassen,  das  ist  in  Wirklichkeit  nur  der  Unter- 
schied, der  zwischen  unserem  Wollen  und  dem  Wollen  der  ver- 
gangenen Epoche  besteht,  ein  Unterschied,  den  wir  durch  die 
Annahme  der  Unveränderlichkeit  des  Wollens  übersehen 
mussten,  dessen  Abschätzung  und  Fixierung  nun  aber  zum 
eigentlichen  Forschungsgegenstand  der  stilanalytischen  Kunst- 
geschichte wird. 

Mit  solcher  Anschauung  wird  natürlich  eine  Umwertung 
aller  Werte  auf  kunstwissenschaftlichem  Gebiete  inauguriert, 
der  sich  unabsehbare  Möglichkeiten  öffnen.     Ich  sage  aus- 


8  AESTHETIK  UND  KUNSTTHEORIE 

drücklich  „auf  kunstwissenschaftlichem  Gebiete",  denn  der 
naiven  Kunstbetrachtung  soll  und  darf  man  nicht  zumuten, 
auf  solchen  Umwegen  gewaltsamer  Reflektion  ihr  impulsives 
und  unverantwortliches  Gefühl  für  künstlerische  Dinge  aufs 
Spiel  zu  setzen.  Die  Kunstwissenschaft  aber  wird  durch 
diese  Emanzipation  von  der  naivenAnschauung  und  durch  diese 
veränderte  Stellungnahme  gegenüber  den  Kunsttatsachen 
geradezu  erst  möglich,  insofern  ihre  bisher  willkürliche  und 
subjektiv  beschränkte  Wertung  der  kunstgeschichtlichen  Tat- 
sachen nun  erst  zu  einer  annähernd  objektiven  werden  kann. 

Bisher  war  also  das  klassische  Kunstideal  als  ent- 
scheidendes Wertkriterium  in  den  Mittelpunkt  der  Be- 
trachtung gerückt  und  der  Gesamtkomplex  der  vorliegenden 
Kunsttatsachen  diesem  Gesichtspunkt  untergeordnet  worden. 
Es  ist  klar,  warum  die  klassische  Kunst  zu  dieser  Vorrang- 
stellung —  die  sie,  um  es  zu  wiederholen,  für  die  naive  Kunst- 
betrachtung immer  behalten  soll  und  muss  —  kam.  Denn 
bei  der  Annahme  eines  unveränderlichen,  auf  die  naturwahre 
Reproduktion  der  natürlichen  Vorbilder  gerichteten  Wollens 
mussten  die  verschiedenen  klassischen  Kunstepochen  als 
absolute  Höhepunkte  erscheinen,  weil  in  ihnen  jeder  Unter- 
schied zwischen  diesem  Wollen  und  dem  Können  überwunden 
schien.  In  Wirklichkeit  herrscht  hier  aber  ebensowenig  eine 
für  uns  sichtbare  Differenz  zwischen  Wollen  und  Können  wie 
in  den  nichtklassischen  Kunstepochen,  und  einen  besonderen 
Wert  erhalten  die  klassischen  Epochen  für  uns  nur  dadurch, 
dass  die  Grundstruktur  unseres  künstlerischen  Wollens  mit 
ihrem  künstlerischen  Wollen  übereinstimmt.  Denn  nicht 
nur  mit  unserer  geistigen  Entwicklung,  sondern  auch  mit 
unserer  künstlerischen  Entwicklung  sind  wir  Nachkommen 
jener  klassischen  Menschheit  und  ihrer  Bildungsideale.  Wir 
werden  später  sehen  bei  der  näheren  Charakterisierung  des 
klassischen  Menschen,  die  wir  vornehmen  werden,  um  Mass- 
stäbe für  den  gotischen  Menschen  zu  gewinnen,  in  welchen 
entscheidenden  Grundlinien  sich  die  seelisch-geistige  Kon- 
stitution des  klassischen  Menschen  mit  dem  differenzierteren 
Entwicklungsprodukt  des  modernen  Menschen  noch  deckt. 

Jedenfalls  ist  es  klar,  dass  mit  dieser  Vorrangstellung 
der  klassischen  Kunstepochen  auch  die  von  ihnen  abstrahierte 
Aesthetik   zu   einer   Vorrangstellung   kam.      Da   die   ganze 


AESTHETIK  UND  KUNSTTHEORIE 


Kunst  nur  als  ein  Hindrängen  zu  klassischen  Höhepunkten 
hin  betrachtet  wurde,  lag  es  nahe,  die  Aesthetik,  die  in 
Wahrheit  nur  eine  stilpsychologische  Interpretation  der 
Werke  dieser  klassischen  Epochen  ist,  auf  den  ganzen  Kunst- 
verlauf auszudehnen.  Was  auf  die  Fragestellungen  dieser  Aes- 
thetik nicht  antworten  konnte,  das  wurde  als  unvollkommen, 
also  negativ  ge wertet.  Da  man  die  klassischen  Epochen 
als  absolute  Höhepunkte  wertete,  musste  auch  die  Aesthetik 
diese  absolute  Bedeutung  erhalten  und  das  Resultat  war 
die  Versubjektivierung  der  kunsthistorischen  Betrachtungs- 
methode nach  dem  modernen  einseitigen  klassisch-euro- 
päischen Schema.  Am  meisten  Htt  unter  dieser  Einseitigkeit 
das  Verständnis  der  nichteuropäischen  Kunstkomplexe.  Auch 
sie  mass  man  gewohnheitsmässig  nach  dem  europäischen 
Schema,  das  die  Forderung  naturwahrer  Darstellung  in  den 
Vordergrund  stellt.  Die  positive  Würdigung  dieser  ausser- 
europäischen  Kunstkomplexe  blieb  das  Vorrecht  einiger 
wenigen,  die  sich  von  dem  allgemeinen  europäischen  Kunst- 
vorurteil zu  emanzipieren  verstanden.  Anderseits  hat  gerade 
dieses  durch  den  wachsenden  Weltverkehr  bedingte  stärkere 
Eindringen  aussereuropäischer  Kunst  in  das  europäische 
Gesichtsfeld  dazu  mitgewirkt,  die  Forderung  eines  objektiveren 
Massstabes  für  den  Kunstverlauf  durchzusetzen  und  eine 
Mannigfaltigkeit  des  WoUens  da  zu  sehen,  wo  man  bisher 
nur  eine  Mannigfaltigkeit  des  Könnens  sah. 

Diese  erweiterte  Erkenntnis  hatte  natürlich  auch  ihre 
Rückwirkung  auf  die  Wertung  des  engeren  europäischen 
Kunstverlaufs  und  forderte  in  erster  Linie  auf  zu  einer 
Rehabilitation  jener  nichtklassischen  Epochen  Europas,  die 
bisher  nur  eine  relative  resp.  negative  Wertung  von  der 
Klassik  aus  erfahren  hatten.  Am  stärksten  verlangte  nach 
solcher  Rehabilitation,  d.  h.  nach  solcher  positiven  Ausdeu- 
tung ihrer  Formgebung  die  Gotik,  denn  der  ganze  euro- 
päische Kunstverlauf  der  nachantiken  Zeit  lässt  sich  ge- 
radezu reduzieren  auf  eine  konzentrierte  Auseinandersetzung 
zwischen  Gotik  und  Klassik. 

Was  not  täte,  wäre  also,  da  die  bisherige  Aesthetik  nur 
der  Klassik  gerecht  zu  werden  vermag,  eine  Aesthetik  der 
Gotik,  wenn  man  an  dieser  paradoxen  und  unzulässigen 
Zusammensetzung  keinen  Anstoss  nehmen  will.     Unzulässig 


z 


10  KUNSTWISSENSCHAFT  ALS 

ist  diese  Zusammensetzung,  weil  sich  bei  dem  Ausdruck 
Aesthetik  gleich  wieder  die  Vorstellung  des  Schönen  ein- 
schleicht und  die  Gotik  mit  Schönheit  nichts  zu  tun  hat. 
Und  es  wäre  nur  ein  Zwangsgebot  unserer  Wortarmut,  hinter 
der  sich  in  diesem  Falle  allerdings  auch  eine  sehr  empfind- 
liche Erkenntnisarmut  verbirgt,  wenn  wir  von  einer  Schönheit 
der  Gotik  sprechen  wollten.  Diese  angebliche  Schönheit  der 
Gotik  ist  ein  modernes  Missverständnis.  Ihre  wirkliche  Grösse 
hat  mit  der  uns  geläufigen  Kunstvorstellung,  die  notwendiger- 
weise in  dem  Begriff  ,, schön"  gipfeln  muss,  so  wenig  zu  tun, 
dass  eine  Uebernahme  dieses  Wortes  für  gotische  Werte  nur 
Verwirrung  stiften  kann. 

Also  schütteln  wir  von  der  Gotik  auch  jede  Verquickung 
mit  dem  Ausdruck  Aesthetik  ab.  Erstreben  wir  nur  eine 
stilpsychologische  Interpretation  des  gotischen  Kunstphä- 
nomens, die  uns  den  gesetzmässigen  Zusammenhang  zwischen 
dem  Empfinden  der  Gotik  und  der  äusseren  Erscheinungs- 
form ihrer  Kunst  verständlich  macht,  so  haben  wir  das  für 
die  Gotik  erreicht,  was  die  Aesthetik  für  die  Klassik  er- 
reicht hat. 


KUNSTV^ISSENSCHAFT    ALS    MENSCHHEITS- 
PSYCHOLOGIE 

Tndem  wir  die  Kunstgeschichte  nicht  mehr  als  eine 
-^  blosse  Geschichte  des  künstlerischen  Könnens,  sondern 
als  eine  Geschichte  des  künstlerischen  Wollens  auffassen, 
gewinnt  sie  an  allgemeiner  weltgeschichtlicher  'Bedeu- 
tung. Ja,  ihr  Gegenstand  wird  dadurch  in  eine  so  hohe 
Betrachtungssphäre  gerückt,  dass  er  den  Anschluss  gewinnt 
an  jenes  grösste  Kapitel  der  Menschheitsgeschichte,  das 
die  Entwicklung  der  religiösen  und  philosophischen  Mensch- 
heitsbildungen zum  Inhalt  hat  und  das  uns  die  eigent- 
liche Psychologie  der  Menschheit  offenbart.  Denn  die  Aen- 
derungen  des  Wollens,  als  deren  blossen  Niederschlag  wir 
die  Stilvariationen  der  Kunstgeschichte  auffassen,  können 
nicht  willkürlicher,  zufälliger  Art  sein;  sie  müssen  vielmehr 
in   einem   gesetzmässigen   Zusammenhang   stehen   mit   den 


NORDISCHE  FIBEL  INIIT  TIERORNAMENT 
SCHONEN,   SCHWEDEN 


SÜDGERMANISCHES  BRONCEBE SCHLÄGE  MIT   TIERORNAMENT 
TRAUNSTEIN,  BAYERN 


SÜDGERMANISCHES 

SCHNALLENBESCHLÄGE  MIT  TIERORNAMENT 

KANTON  WALLIS,   SCHWEIZ 

Nach   Salin,  Die  altgermanische  Tierornamentik,   Stockholm   1904 


MENSCHHEITSPSYCHOLOGIE  II 

Aenderungen,  die  sich  in  der  seelisch-geistigen  Konstitution 
der  Menschheit  überhaupt  vollziehen,  jenen  Aenderungen,  die 
sich  klar  in  der  Ent\vicklungsgeschichte  der  Mythen,  der 
Religionen,  der  philosophischen  Systeme,  der  Weltan- 
schauungen widerspiegeln.  Sobald  wie  diesen  gesetzmässigen 
Zusammenhang  aufgedeckt  haben,  tritt  die  Geschichte  des 
künstlerischen  Wollens  als  gleichberechtigt  an  die  Seite  der 
vergleichenden  Mythengeschichte,  der  vergleichenden  Re- 
ligionsgeschichte, der  vergleichenden  Philosophiegeschichte, 
der  vergleichenden  Geschichte  der  Weltanschauungen,  tritt 
sie  als  gleichberechtigt  an  die  Seite  dieser  grossen  Anhalts- 
punkte für  die  Psychologie  der  Menschheit  überhaupt.  Und 
so  soll  denn  auch  diese  Stilpsychologie  der  Gotik  zu  einem 
Beitrag  zur  Geschichte  der  menschlichen  Psyche  und  ihrer 
Aeusserungsformen  werden. 

Unsere  Wissenschaft  von  der  künstlerischen  Tätigkeit 
des  Menschen  steht  infolge  jener  Hemmung,  die  sie  durch  die 
obengeschilderte  einseitige  klassisch-subjektive  Wertung  er- 
fuhr, noch  in  den  ersten  Anfängen.  So  hat  sie  vor  allen  Dingen 
noch  nicht  jene  elementare  Umwälzung  und  Erweiterung  er- 
fahren, die  die  Wissenschaft  von  der  geistigen  Tätigkeit  des 
Menschen  der  kantischen  Erkenntniskritik  verdankt.  Der 
grossen  Akzentverschiebung  des  Forschens  von  den  Gegen- 
ständen des  Erkennens  auf  das  Erkennen  selbst  entspräche 
auf  kunstwissenschaftlichem  Gebiet  eine  Methode,  die  alle 
Kimsttatsachen  nur  als  Formungen  gewisser  apriorischer 
Kategorien  des  künstlerischen,  oder,  besser  gesagt,  des  all- 
gemeinen seelischen  Empfindens  betrachtet  und  der  diese 
formbildenden  Kategorien  der  Seele  das  eigentliche  Problem 
der  Forschung  sind.  Doch  die  weitere  Ausgestaltung  dieser 
Methode  müsste  einen  Glaubenssatz  anerkennen,  der  den 
Parallelismus  mit  der  kantischen  Erkenntniskritik  gleich 
wieder  unterbricht,  nämlich  den  Satz  von  der  Variabilität 
dieser  seelischen  Kategorien.  Der  Mensch  schlechthin  kann 
für  die  Kunstgeschichte  ebensowenig  wie  die  Kunst  schlecht- 
hin existieren.  Das  sind  vielmehr  ideologische  Vorurteile, 
die  eine  Psychologie  der  Menschheit  zur  Sterilität  verdammen 
und  die  auch  die  reichen  Möglichkeiten  kunstwissenschaft- 
lichen Erkennens  hoffnungslos  unterbinden  würden.  Konstant 
ist  nur  der  eigenthche  Stoff  der  Menschheitsgeschichte,  die 


12  DER  PRIMITIVE  MENSCH 

Summe  der  menschlichen  Energien,  unbegrenzt  variabel  aber 
die  Zusammensetzung  ihrer  einzelnen  Faktoren  und  die 
daraus  resultierenden  Erscheinungsformen. 

Die  Variabihtät  jener  seelischen  Kategorien,  die  ihren 
formalen  Ausdruck  in  der  Stilentwicklung  gefunden  hat, 
geht  in  Wandlungen  vor  sich,  deren  Gesetzlichkeit  von  jenem 
Urprozess  aller  menschheitsgeschichtlichen  Entwicklung  re- 
guliert wird:  der  wechselvollen,  schicksalsreichen  Aus- 
einandersetzung von  Mensch  und  Aussenwelt.  Die  ununter- 
brochenen Verschiebungen  in  diesem  Verhältnis  des  Menschen 
zu  den  auf  ihn  eindrängenden  Eindrücken  aus  der  Umwelt 
bilden  den  Ausgangspunkt  für  jede  Psychologie  in  grösserem 
Stil,  und  kein  geschichtliches,  kulturelles  oder  künstlerisches 
Phänomen  ist  unserem  Verständnis  zugänglich,  bevor  wir 
es  nicht  in  die  Linien  dieses  entscheidenden  Gesichtspunktes 
gerückt  haben. 


DER  PRIMITIVE  MENSCH 

T  Tm  die  Stellung  des  gotischen  Menschen  gegenüber  der 
^-^  Aussenwelt  und  seine  daraus  resultierende  seelisch- 
geistige Eigenart  und  weiterhin  die  von  ihr  bestimmten 
Formelemente  seiner  Kunst  zu  charakterisieren,  bedürfen 
wir  einiger  verlässlicher  Anhaltspunkte,  einiger  festen  Mass- 
stäbe. Da  die  Gotik  in  ihrer  Zusammensetzung  ein  äusserst 
komphziertes  und  differenziertes  Phänomen  ist,  können  wir 
Massstäbe  für  sie  nur  dadurch  gewinnen,  dass  wir  uns  vorher 
an  einigen  Grundtypen  der  Menschheit  über  die  Wege  der 
Untersuchung  orientieren.  (  Grundtypen  der  Menschheit 
nenne  ich  jene  entwicklungsgeschichtlichen  Bildungen,  in 
denen  ein  bestimmtes  und  relativ  einfaches  Verhältnis  der 
Menschheit  zur  Aussenwelt  eine  klare  und  paradigmatische 
Ausprägung  erhalten  hat.  Solche  grossen  Musterbeispiele 
für  die  Menschheitsgeschichte,  die  uns  das  Verständnis  der 
weniger  scharf  ausgeprägten  oder  feiner  nuancierten  Er- 
scheinungen erleichtern,  sind  der  primitive  Mensch,  der 
klassische  Mensch  und  der  orientalische  Mensch. 


DER  PRIÄIITIVE  MENSCH  13 

Der  primitive  resp.  der  vor  aller  Erfahrung,  vor  aller 
Tradition  und  Geschichte  stehende  Urmensch,  dieses  An- 
fangsglied der  Entwicklung,  ist  uns  nur  hypothetisch  kon- 
struierbar. Und  in  allerdings  geringerem  Masse  sind  auch 
der  klassische  Mensch  und  der  orientahsche  Mensch,  wie  wir 
ihn  aufstellen,  nur  irreale  Konstruktionen  einer  grosszügigen 
Beweisführung,  in  dem  Sinne,  dass  weitschichtige  und 
organisch  differenzierte  nuancenreiche  Erscheinungskomplexe 
zu  idealen  Typen  vereinfacht  resp.  vergewaltigt  werden. 
Solche  Vergewaltigung  ist  der  geschichtlichen  Analyse  er- 
laubt, wofern  das  Resultat  nur  als  heuristisches  Element  an- 
gesehen wird,  d.  h.  als  blosses  Mittel  zum  Zweck,  ohne  An- 
spruch auf  Selbst  wert. 

Von  der  frühen  Menschheit  haben  wir  ein  falsches  Bild. 
Die  dichterische  Gestaltimgskraft  der  Menschheit  hat  den 
frühen  Menschen  zum  Paradiesesmenschen,  zum  Ideal- 
menschen umgestaltet,  ihn  zur  Verkörperung  eines  seelischen 
Postulats  gemacht,  der  stärkere  Lebenskraft  innewohnt  als  der 
ruhigen  geschichtlichen  Ueberlegung.  Wie  alle  metaphysischen 
und  dichterischen  Schöpfungen  der  Menschheit  nur  mächtige 
und  bewundernswerte  Reaktionen  des  Selbsterhaltungs- 
triebes auf  das  beengende,  niederdrückende  Gefühl  mensch- 
licher Unzulänglichkeit  sind,  so  empfing  auch  das  Bild  vom 
Urmenschen,  das  Bild  vom  verlorenen  Paradies  der  Mensch- 
heit seine  lockenden  Farben  nur  von  der  aus  aller  Gebunden- 
heit im  mächtigen  Schwung  der  Phantasie  sich  befreienden 
menschlichen  Sehnsucht.  Das  Vorstellungsleben  der  Mensch- 
heit ist  an  eine  ganz  primitive  Gesetzlichkeit  gebunden:  es 
lebt  von  der  Antithese,  und  so  setzt  die  Phantasie  nicht  nur 
an  das  Ende,  sondern  auch  an  den  Anfang  der  Menschheits- 
geschichte einen  Glückseligkeitszustand,  in  dem  alles  Dunkel 
der  Wirkhchkeit  in  leuchtende  Helle  übersetzt  wird  und 
alles  Unzulängliche  als  schönes  Ereignis  erscheint. 

Unter  dem  Druck  eines  dumpfen  Schuldbewusstseins 
fasst  der  Mensch  seine  Entwicklungsgeschichte  auf  als  einen 
langsamen  Prozess  der  Entfremdung  zwischen  sich  und  der 
Aussenwelt,  als  einen  Entfremdungsprozess,  der  die  an- 
fängliche Einheit  und  Vertraulichkeit  in  immer  weiteren 
Femen  entschwinden  lässt.  In  Wirklichkeit  ist  der  Verlauf 
der  Entwicklung  wohl  der  umgekehrte,  und  jener  Einheits- 


14 


DER  PRIMITIVE  MENSCH 


/ 


und  Vertraulichkeitszustand,  am  Beginn  der  Entwicklung  hat 
nur  dichterische,  keine  historische  Geltung.  Von  dem  durch 
diese  dichterische  Annahme  entstandenen  Bilde  des  Ur- 
menschen müssen  wir  uns  emanzipieren  und  uns  das  wahre 
Bild  des  Urmenschen  mit  Ausschluss  aller  sentimentalen 
Elemente  nur  durch  Subtraktion  konstruieren.  Und  dürfen 
nicht  zurückschrecken  vor  dem  Monstrum,  das  dann  statt  des 
Paradiesesmenschen  übrig  bleibt. 

Subtrahieren  wir  von  der  Summe  unseres  Vorstellungs- 
besitzes die  ungeheure  Menge  ererbter  und  selbsterlebter 
Erfahrungen,  reduzieren  wir  unser  geistiges  Vermögen  auf 
die  wenigen  Grundelemente,  von  denen  der  im  Laufe  der 
Jahrtausende  ins  Unübersehbare  wachsende  Zins-  und  Zinses- 
zinsertrag ausging,  tragen  wir  den  unendlich  feinen  Wunder- 
bau ununterbrochener  Entwicklungsübertragungen  bis  auf 
seine  Fundamente  ab,  so  bleibt  ein  Wesen  übrig,  das  hilflos 
und  zusammenhanglos  wie  ein  verwunschenes  Tier  der 
Aussenwelt  gegenübersteht,  das  nur  wechselnde  und  unzu- 
verlässige Augenbilder  von  der  Erscheinungswelt  emp- 
fängt und  erst  langsam  an  der  Hand  wachsender  und  sich 
festigender  Erfahrungen  diese  Augenbilder  zu  V  o  r  - 
Stellungsbildern  umprägt  und  durch  sie  sich  gleich- 
sam schrittweise  im  Chaos  der  Erscheinungswelt  orientiert. 
Nicht  als  eine  wachsende  Entfremdung  nach  einem  Zustand 
anfänglicher  inniger  Vertrautheit  dürfen  wir  den  seelischen 
und  geistigen  Entwicklungsprozess  der  Menschheit  auffassen, 
sondern  als  ein  langsames  Abflauen  des  Fremdheitsbewusst- 
seins,  als  ein  langsames  Vertraulichwerden  durch  Reduktion 
aller  neuen  Gesichtseindrücke  auf  frühere  Erfahrungen.  Am 
Anfang  der  Entwicklung  steht  jedenfalls  ein  absoluter,  durch 
keine  Erfahrung  gemilderter  Dualismus  von  Mensch  und  Um- 
welt. Von  der  Willkür  und  Zusammenhanglosigkeit  der  Erschei- 
nungen verwirrt,  lebt  der  primitive  Mensch  in  einem  dumpfen 
geistigen  Furcht  Verhältnis  zur  Aussenwelt,  das  erst  langsam 
durch  die  wachsende  geistige  Auseinandersetzung  mit  ihr 
gelockert  wurde,  das  aber  trotz  dieser  Lockerung  nie  ganz 
verschwand,  denn  der  Bodensatz  dieser  frühsten  und  tiefsten 
Erlebnisse  verblieb  dem  Menschen  als  dumpfe  Erinnerung, 
als  Instinkt.  Denn  so  nennen  wir  die  geheime  Unter- 
strömung unseres  Wesens,  die  wir  als  die  letzte  Instanz  unseres 


IRISCHE  HANDSCHRIFTEX-ORXAMEXTIK.     VIII.    JAIIRII. 
AUS  EINEM  EVANGELIAR  IN  ST.   GALLEN 


DER  PRIMITIVE  MENSCH  15 

Empfindens,  als  die  grosse  irrationelle  Unterschicht  unter  dem 
Oberflächentrug  der  Sinne  und  des  Intellekts  in  uns  spüren  und 
zu  der  wir  in  den  Stunden  der  grössten  und  schmerzlichsten 
Einsicht  hinabsteigen,  so  wie  Faust  zu  den  Müttern  hinabstieg. 
Und  dieses  Instinktes  wesentlicherlnhalt  ist  das  Wissen  von  der 
Beschränktheit  menschlicher  Erkenntnis,  das  Wissen  von  der 
aller  intellektuellen  Erkenntnis  spottenden  Unergründlichkeit 
der  Erscheinungswelt.     In  diesen  Tiefen  unseres  seelischen 
Bewusstseins  schlummert  noch  das  Gefühl  des  unüberbrück- 
baren Dualismus  des  Seins,  vor  dem  aller  Trugbau  der  Erfah- 
rungen und  aller  anthropozentrischer  Wahn  in  nichts  zerfällt. 
Aus  dem  Furchtverhältnis,  in  dem  der  Mensch  zur  Er- 
scheinungswelt steht,  muss  ihm  als  stärkstes  geistiges  und 
seelisches  Bedürfnis  entspringen  der  Drang  nach  Notwendig- 
keitswerten,   die   ihn   von   dem   chaotischen   Wirrwarr   der 
geistigen  und  der  Gesichtseindrücke  erlösen.     Die  unüber- 
sehbare Relativität  der  Erscheinungswelt  muss  er  also    in 
unwandelbare    absolute    Werte    umzuprägen   suchen.      Aus 
diesem  Bedürfnis  heraus  entstehen  Sprache  und  Kunst,  ent- 
steht vor  allem  auch  die  Religiosität  des  primitiven  Menschen. 
Dem  absoluten  Dualismus  von  Mensch  und  Welt  entspricht 
natürlich  auch  ein  absoluter  Dualismus  von  Gott  und  Welt. 
Die  Vorstellung  einer  Immanenz  Gottes  in  der  Welt  kann  in 
dieser  scheuen,  von  unbekannten  Mächten  bestürmten  Seele 
noch  keinen  Platz  finden.  Die  Gottheit  wird  als  etwas  absolut 
Ueberweltliches  aufgefasst,  als  eine  dunkle  Macht  hinter  den 
Dingen,  die  man  auf  alle  Weise  beschwören  und  sich  günstig 
stimmen,  vor  der  man  sich  vor  allen  Dingen  auf  jede  erdenk- 
liche Weise  sichern  und  schützen  muss.     Unter  dem  Druck 
dieser  starken  metaphysischen  Verängstigung  überlädt  der 
primitive  Mensch  sein  ganzes  Tun  und  Handeln  mit  reli- 
giösen Beziehungen.     Bei  jedem  Schritt  klammert  er  sich 
gleichsam  an  religiöse  Schutzmassregeln  fest,  sucht  sich  und 
alles,   was  ihm  lieb  und  wertvoll  ist,   durch  geheime   Be- 
schwörung taub  zu  machen,  um  es  auf  diese  Weise  der  Willkür 
der  göttlichen  Mächte  —  denn  so  personifiziert  er  das  unzu- 
verlässige, jedes  Ruhe-  und   Sicherheitsgefühl  ihm  vorent- 
haltende Chaos  der  Gesichtseindrücke  —  zu  entreissen. 

Ein  Ausfluss  dieses  geheimen  Beschwörungsdienstes  ist 
auch  seine  Kunst,  indem  auch  sie  die  Willkür  der  Erschei- 


l6 DER  PRIMITIVE  MENSCH 

nungswelt  durch  anschauliche  Notwendigkeitswerte  zurückzu- 
dämmen  sucht.  Der  primitive  Mensch  schafft  sich  in  freier  see- 
hscher  Tätigkeit  Symbole  des  Notwendigen  in  geometrischen 
oder  stereometrischen  Gebilden.  Vom  Leben  verwirrt  und  ge- 
ängstigt, sucht  er  das  Leblose,  weil  aus  ihm  die  Unruhe  des 
Werdens  eliminiert  und  eine  dauernde  Festigkeit  geschaffen 
ist.  Künstlerisch  schaffen  heisst  für  ihn,  dem  Leben  und 
seiner  Willkür  ausweichen,  heisst  ein  festes  Jenseits  der  Er- 
scheinung anschaulich  zu  fixieren,  in  dem  ihre  Willkür  und 
Wandelbarkeit  überwunden  ist.  Von  der  starren  Linie  in 
ihrer  lebensfremden  abstrakten  Wesenheit  geht  er  aus.  Ihren 
ausdruckslosen,  d.  h.  von  jeder  Lebensvorstellung  freien 
Selbstwert  empfindet  er  dunkel  als  den  Teil  einer  allem 
Lebendigen  übergeordneten  anorganischen  Gesetzmässigkeit. 
Sie  schafft  ihm,  der  von  der  Willkür  des  Lebendigen  und 
deshalb  Wechselnden  gequält  ist,  Beruhigung  und  Be- 
friedigung, weil  sie  der  einzige  ihm  erreichbare  anschau- 
liche Ausdruck  des  Unlebendigen,  des  Absoluten  ist.  Er 
geht  den  weiteren  geometrischen  Möglichkeiten  der  Linie 
nach,  schafft  Dreiecke,  Quadrate,  Kreise,  reiht  Gleichheiten 
aneinander,  entdeckt  den  Gewinn  der  Regelmässigkeit,  kurz, 
schafft  eine  primitive  Ornamentik,  die  ihm  nicht  blosse 
Schmuckfreude  und  Spiel,  sondern  eine  Tafel  symbolischer 
Notwendigkeitswerte  und  deshalb  Beschwichtigung  starker 
seelischer  Notzustände  ist.  Die  Beschwörungskraft,  die  nach 
seiner  ganz  folgerichtigen  Auffassung  diesen  klaren,  bleiben- 
den, notwendigen  Liniensymbolen  innewohnt,  nutzt  er 
dadurch  aus,  dass  er  alles,  was  ihm  wert  ist,  mit  diesen  be- 
schwörenden Zeichen  bedeckt;  ja  in  erster  Linie  sich  selbst 
sucht  er  durch  ornamentale  Tätowierung  tabu  zu  machen. 
Die  primitive  Ornamentik  ist  Beschwörung  des  von  der 
fortschreitenden  geistigen  Orientierung  noch  nicht  gemil- 
derten Grauens  vor  der  zusammenhanglosen  Umwelt,  und  es 
ist  klar,  dass  der  fortschreitenden  geistigen  Orientierung  ein 
Abflauen  dieses  starren  abstrakten  Charakters  der  Kunst, 
dieses  Beschwörungscharakters  der  Kunst  parallel  läuft.  Da 
mit  den  klassischen  Epochen  die  Höhe  dieses  geistigen 
Orientierungsvermögens  erklommen,  da  mit  ihnen  aus  dem 
Chaos  ein  Kosmos  geworden  ist,  so  ist  es  weiterhin  klar, 
dass  die  Kunst  auf  dieser  Stufe  der  menschheitsgeschicht- 


DER  PRIMITIVE  MENSCH  17 

liehen  Entwicklung  von  dem  Beschwörungscharakter  gänzlich 
entbunden  ist  und  sich  nun  rückhaltlos  dem  Leben  und  seiner 
organischen  Fülle  zuwenden  kann.  Der  Transzenden- 
talismus der  Kunst,  der  direkte  religiöse  Charakter  ihrer 
Werte  hat  damit  ein  Ende  erreicht.  Sie  wird  zu  einer  idealen 
Steigerung  des  Lebens,  wo  sie  vorher  Beschwörung  und 
Negation  des  Lebens  war. 

Doch  wir  wollen  der  Analyse  des  klassischen  Welt-  und 
Kunstempfindens  nicht  vorgreifen  und  zvun  primitiven 
Menschen  und  seiner  Kunst  zurückkehren.  Nachdem  er  sich 
mit  seiner  linearen  geometrischen  Ornamentik  gleichsam 
eine  Basis  von  Notwendigkeitswerten  geschaffen  hat,  sucht 
er  die  ihn  quälende  Willkür  der  Erscheinungswelt  noch 
weiterhin  einzudämmen,  indem  er  die  einzelnen  Gegenstände 
und  Eindrücke  der  Aussen  weit,  die  für  ihn  besonderen  Sinn 
und  Wert  haben,  und  die  für  ihn  im  Wechselspiel  unzuver- 
lässiger Gesichtseindrücke  fluktuieren  und  entrinnen,  für 
seine  Anschauung  zu  fixieren  sucht.  Auch  von  ihnen  sucht 
er  sich  Notwendigkeitssymbole  zu  schaffen.  An  die  Analogie 
der  Sprachbildung  braucht  nur  erinnert  zu  werden. 

Er  reisst  also  die  einzelnen  Gegenstände  der  Aussenwelt, 
deren  er  durch  anschauliche  Fixierung  habhaft  zu  werden 
sucht,  aus  dem  ununterbrochenen  Fluss  des  Geschehens 
heraus,  befreit  sie  von  ihrem  störenden  Nebeneinander,  von 
ihrem  Verlorensein  im  Räume,  reduziert  ihre  wechselnden 
Erscheinungsweisen  auf  die  entscheidenden  und  wieder- 
kehrenden Merkmale,  übersetzt  diese  Merkmale  in  seine 
abstrakte  Liniensprache,  assimiliert  sie  seiner  Ornamentik 
und  macht  sie  auf  diese  Weise  absolut  und  notwendig.  Er 
schafft  sich  künstlerische,  d.  h.  anschauliche  Gegenbilder  zu 
den  Vorstellungsbildem  seines  Geistes,  die  er  in  seinen  Sprach- 
formen niedergelegt  hat  und  die  ja  auch  langsam  geformte 
Reduktionen  und  Verarbeitungen  sinnlicher  Wahrnehmung 
sind  und  der  FüUe  der  Erscheinungen  gegenüber  denselben 
stenographischen,  abstrakten  und  notwendigen  Charakter 
haben. 

Die  künstlerische  Reduktion  der  Aussenwelterschei- 
nungen  ist  für  den  primitiven  Menschen  also  an  der  un- 
körperhchen  ausdruckslosen  Linie  und  in  weiterer  Verfolgung 
ihrer  Tendenz  an  die  Fläche  gebunden.    Denn  die  Fläche  ist 


l8 DER  PRIMITIVE  MENSCH 

das  gegebene  Korrelat  der  Linie,  und  nur  in  der  Fläche  liegen 
die  Möglichkeiten  für  die  geschlossene  anschauliche  Fixierung 
eines  Vorstellungsbildes.  Die  dritte  Dimension,  die  Tiefen- 
dimension, macht  die  eigenthche  Körperlichkeit  des  Gegen- 
standes aus.  Sie  ist  es,  die  der  einheitlichen,  geschlossenen 
Erfassung  und  Fixierung  des  Gegenstandes  den  stärksten 
Widerstand  entgegensetzt.  Denn  sie  bezieht  ihn  in  den 
Raum  und  damit  in  den  grenzenlosen  Relativismus  der  Er- 
scheinungswelt ein.  Unterdrückung  der  körperlichen  Räum- 
lichkeit durch  Uebersetzung  der  Tiefendimensionen  in 
Flächendimensionen  musste  also  das  nächste  Ziel  jenes 
Dranges  sein,  der  das  Relative  und  im  Ramn  Fluktuierende 
der  Erscheinungswelt  in  absolute  und  bleibende  Formen 
umzuprägen  suchte.  Nur  in  der  Flächendarstellung  besass 
der  Mensch  der  frühsten  Entwicklung  ein  Notwendigkeits- 
symbol für  das  ihm  durch  die  Dreidimensionalität  der  Wirk- 
hchkeit  vorenthaltene  absolute,  d.  h.  von  aller  Zufälligkeit 
der  Wahrnehmung  und  aller  räumlichen  Verquickung  mit 
anderen  Erscheinungen  gereinigte  Formbild  des  einzelnen 
Aussenweltobjektes. 

Nur  wo  der  primitive  Mensch  in  der  Fläche  zeichnete 
oder  ritzte,  war  er  künstlerisch  tätig.  Wenn  er  daneben  in 
Ton  oder  anderem  Material  plastisch  modellierte,  so  war  das 
nur  ein  Ausfluss  spielerischen  Nachahmungstriebes,  der  nicht 
in  die  Geschichte  der  Kunst,  sondern  in  die  Geschichte 
/  manueller  Geschicklichkeit  hineingehört.  Nachahmungs- 
trieb und  künstlerischer  Schaffenstrieb,  die  hier  in  ihrem 
Wesen  ganz  getrennt  sind,  laufen  erst  in  einer  viel  späteren 
Periode  der  Entwicklung  zusammen,  nämlich  zu  der  Zeit, 
als  die  Kunst,  von  keiner  Transzendenz  mehr  gehemmt,  sich 
ganz  dem  Natürlichen  zuwandte.  Und  so  nah  dem  Natür- 
lichen das  Wirkliche  steht  —  ohne  mit  ihm  identisch  zu 
sein  — ,  so  nah  traten  sich  da  auch  Nachahmungstrieb  und 
Kunsttrieb,  und  die  Gefahr  der  Verwechslung  war  fast  un- 
vermeidlich. 

Trotz  der  alleinigen  Eignung  der  Flächendarstellung  für 
die  oben  analysierte  Kunstabsicht  des  primitiven  Menschen 
war  die  plastische  Darstellung  nicht  ganz  der  künstlerischen 
Verwendung  unzugänglich.  Wo  er  dem  Ewigkeitscharakter 
des  steinernen  Materials  zuliebe  sich  plastisch  betätigte,  da 


DER  KLASSISCHE  MENSCH  19 

suchte  er  durch  möglichst  vereinfachende  unzweideutige  De- 
monstration des  Flächenzusammenhangs,  durch  möglichste 
Wahrung  der  kubischen  Geschlossenheit  —  durch  geringe 
Licht-  und  Schattenwirkungen,  d,  h.  durch  eine  alle  räum- 
lichen, unfassbaren,  zufälligen  Momente  ausschliessende 
Modellierung  —  die  Unklarheit,  die  das  kubische  Gebilde 
der  einheitlichen  Wahrnehmung  bietet,  zu  überwinden.  An- 
näherung an  die  abstrakten  kubischen  Elementarformen  war 
das  Resultat  dieser  jeder  Lebensannäherung  ausweichenden 
Stilabsicht.  So  rückte  die  künstlerische  Darstellung  des 
Organisch-Lebendigen  auch  innerhalb  der  Plastik  wieder  in 
das  höhere  Bereich  einer  abstrakten  toten  Gesetzmässigkeit, 
wurde  statt  Abbild  eines  Bedingten  das  Symbol  eines  Unbe- 
dingten, Notwendigen.  Doch  es  kann  für  diese  höchste  und 
komplizierteste  Aufgabe  des  künstlerischen  Abstrciktions- 
triebes  der  primitive  Mensch  kaum  als  Beispiel  herangeholt 
werden,  erst  die  orientalische  Kunst,  vor  allem  die  ägyptische, 
brachte  hier  die  grossen  Entscheidungen.  Doch  davon  später. 


DER  KLASSISCHE  MENSCH 

Tjie  Auseinandersetzung  zwischen  Mensch  und  Aussen- 
^-^  weit  spielt  sich  natürUch  einzig  im  Menschen  ab  und 
ist  nichts  anderes,  als  die  sich  in  ihm  vollziehende  Aus- 
einandersetzung von  Instinkt  und  Verstand.  Beim  Menschen 
der  frühsten  Entwicklung  ist  der  Instinkt  noch  alles,  der 
Verstand  nichts.  Auf  Grund  seines  wachsenden  Erfahrungs- 
und Vorstellungsbesitzes  aber  orientiert  sich  der  Mensch 
immer  umfassender  im  Weltbilde  und  allmählich  löst  sich 
das  Chaos  der  Sinneneindrücke  in  eine  Ordnung  sinnvollen 
Geschehens  auf.  Das  Chaos  wird  zum  Kosmos.  Mit  dieser 
wachsenden  geistigen  Eroberung  des  Weltbildes  schwindet 
naturgemäss  das  Gefühl  für  die  aller  Erkenntnis  spottende 
Relativität  der  Erscheinungswelt,  die  Furcht  des  Instinkts 
wird  durch  äussere  Erkenntnis  beschwichtigt  und  flaut 
langsam  ab,  und  während  das  menschliche  Selbstbewusstsein 
sich  immer  mehr  anthropozentrischem  Hochmut  nähert,  ver- 


20  DER  KLASSISCHE  MENSCH 

kümmert  das  Organ  für  den  tiefen,  unüberbrückbaren 
Dualismus  des  Seins.  Das  Leben  wird  schöner,  freudiger, 
aber  es  verliert  an  Tiefe,  Grösse  und  Dynamik.  Denn  der 
Mensch  hat  in  wachsender  Erkenntnissicherheit  sich  zum 
Mass  aller  Dinge  gemacht,  hat  die  Welt  seiner  kleinen  Mensch- 
lichkeit assimiliert. 

Er  empfindet  die  Welt  nicht  mehr  als  ein  ihm  Fremdes, 
Unzugängliches,  Mystisch- Grosses,  sondern  als  die  lebendige 
Ergänzung  seines  eignen  Ichs,  er  sieht  in  ihr,  wie  Goethe 
sagt,  die  antwortenden  Gegenbilder  der  eignen  Empfindungen. 
Die  dumpfe  instinktive  Erkenntniskritik  des  primitiven  Men- 
schen weicht  einem  freudigen,  selbstbewussten  Erkenntnis- 
glauben, und  aus  dem  starren  Furchtverhältnis  der  Frühzeit 
wird  nun  ein  inniges  Vertraulichkeitsverhältnis  zwischen 
Mensch  und  Welt,  das  mannigfache  bisher  gehemmte  Kräfte 
der  Seele  freimacht  und  besonders  der  Kunst  eine  ganz 
andere  Funktion  gibt. 

An  diesem  Punkte  des  Gleichgewichts  zwischen  Instinkt 
und  Verstand  steht  der  klassische  Mensch,  dessen  klarstes 
Paradigma  der  griechische  Mensch  ist,  wie  er  sich  über  die 
wirklichen  Tatsachen  vielleicht  hinaus  als  Ideal  in  unserer 
Vorstellung  gebildet  hat.  Er  ist  das  monumentale  Muster- 
'i^  beispiel  für  das  zweite  entscheidende  Stadium  in  dem  grossen 
Auseinandersetzungsprozess  von  Mensch  und  Aussenwelt, 
der  die  Weltgeschichte  ausmacht. 
\>  Mit   dem   klassischen   Menschen   erlischt   der   absolute 

Dualismus  von  Mensch  und  Aussenwelt,  erlischt  infolgedessen 
auch  der  absolute  Transzendentalismus  von  Religion  und 
Kunst.  Das  Göttliche  wird  seiner  Jenseitigkeit  entkleidet, 
es  wird  verweltlicht,  wird  ins  Diesseits  einbezogen.  Für  den 
klassischen  Menschen  ist  das  Göttliche  nicht  mehr  ein  Ausser- 
weltliches,  nicht  mehr  eine  transzendentale  Vorstellung, 
sondern  ihm  ist  es  in  der  Welt  enthalten,  durch  die  Welt 
verkörpert. 

Mit  diesem  Glauben  des  Menschen  an  die  unmittelbare 
göttliche  Immanenz  in  allem  Geschaffenen,  dieser  Voraus- 
setzung eines  weltfreudigen  Pantheismus,  ist  der  Anthro- 
pomorphisierungsprozess  der  Welt  auf  seinen  Höhepunkt 
gelangt.  Denn  e  r  ist  es,  der  sich  hinter  dieser  VergöttUchung 
der  Welt  verbirgt.  Die  nun  erreichte  ideelle  Einheit  von  Gott 


■i 


~\ 


DER  KLASSISCHE  MENSCH  21 

und  Welt  ist  nur  ein  anderer  Name  für  die  Einheit  von 
Mensch  und  Welt,  d.  h.  für  die  restlos  durchgeführte  geistig- 
sinnliche Eroberung  des  Weltbildes,  die  allen  ursprünglichen 
Dualismus  verwischt. 

Die  Notwendigkeit  und  Gesetzmässigkeit,  die  der  pri- 
mitive, der  werdende  Mensch  nur  hinter  den  Dingen,  nur 
in  einem  Jenseits  der  Erscheinung,  nur  in  der  Negation  des 
Lebendigen  suchen  konnte,  sie  sucht  der  klassische  Mensch 
in  der  Welt  selbst,  und  da  Mensch  und  Welt  nun  eins,  nun 
ganz  aneinander  assimiliert  sind,  findet  er  diese  Gesetz- 
mässigkeit in  sich  selbst  imd  projiziert  sie  entschlossen  auf 
die  Welt.  Er  schafft  also  jene  Notwendigkeit  und  Gesetz- 
mässigkeit, deren  der  Mensch  bedarf,  um  sich  in  der  Welt 
sicher  zu  fühlen,  immittelbar  aus  sich  heraus.  Das  heisst 
mit  anderen  Worten:  es  findet  ein  allmählicher  Ersetzungs- 
prozess  der  Rehgion  durch  die  Wissenschaft  resp.  die  Philo- 
sophie statt.  Denn  Wissenschaft  und  Philosophie  sind  dem 
klassischen  Menschen  identisch. 

Was  die  Religion  an  souveräner  Bedeutung  und  Kraft 
verhert,  das  gewinnt  sie  an  Schönheit.  Sie  wird,  da  sie 
durch  die  Wissenschaft  ersetzt  ist,  mehr  zu  einer  Luxus- 
funktion der  seehschen  Tätigkeit  ohne  unmittelbaren  Not- 
wendigkeitscharakter. Sie  teilt  dieses  Schicksal,  wie  wir 
später  sehen  werden,  mit  der  Kunst,  die  durch  ganz  dieselben 
Gründe  eine  Charaktermilderung  erfährt. 

Beim  klassischen  Menschen  herrscht  zwischen  Religion 
und  Wissenschaft  ein  schönes  Ergänzungs Verhältnis.  Die 
Götterwelt  ist  gleichsam  ein  sinnliches  Korrelat  zu  den 
geistigen  Erkenntnissen.  Jene  dumpfe  unfassbare  Mystik  der 
primitiven  Rehgiosität  ist  von  der  Wissenschaft  zwar  ver- 
trieben worden,  aber  mit  der  klaren  Plastik  der  griechischen 
Götterwelt,  wie  sie  sich  aus  dem  Nebel  unklarer  mystischer 
Vorstellungen  langsam  und  sicher  herausgebildet  hatte,  ver- 
trägt sich  die  Wissenschaft  nicht  nur,  sondern  sie  ergänzt  sich, 
wie  gesagt,  direkt  mit  ihr.  Die  klare  Plastik  der  griechischen 
Götterwelt  ist  ohne  jene  durch  sinnlich-geistige  Einsicht 
errungene  Sicherheit  undenkbar.  Sie  ergänzen  sich  so,  wie 
sich  Begriff  und  Anschauung  ergänzen.  Denn  der  Anthro- 
pomorphisierung,  wie  sie  auf  dem  Gebiete  geistig-sinnlicher 
Erkenntnis    mit    der    Wissenschaft    sich    durchsetzt,    ent- 


22  DER  KLASSISCHE  MENSCH 

spricht  auf  religiösem  Gebiete  jener  Schaffensdrang,  der  sich 
die  Götter  in  menschlichen  Formen  bildet,  der  sie  zu  ideal  ge- 
steigerten Menschen  macht,  die  nur  graduell,  nicht  generell 
vom  Menschlichen  unterschieden  sind.  Die  Religion  befriedigt 
allmählich  nur  das  anschauliche  Bedürfnis,  nicht  mehr  das 
unmittelbare  geistige  Erkenntnisbedürfnis.  Sie  verliert  also 
ihren  geistigen,  unanschaulichen,  übersinnlichen  Charakter. 

Und  dieser  religiösen  Entwicklung  läuft  nun,  wie  schon 
gesagt,  die  künstlerische  Entwicklung  streng  parallel.  Auch 
die  Kunst  verliert  ihre  transzendentale  übersinnliche  Fär- 
bung, sie  wird  gleich  der  griechischen  Götterwelt  zur  ideali- 
sierten Natürlichkeit. 

Für  den  primitiven,  geistig  noch  unentwickelten  und 
deshalb  dem  Chaos  der  Umwelt  gegenüber  unsicheren  und 
scheuen  Menschen  war  künstlerisch  Schaffen  —  so  sahen 
wir  —  gleichbedeutend  gewesen  mit  dem  Drang,  eine  über 
alle  wechselnde,  in  der  Willkür  des  Lebens  befangene,  Er- 
scheinung erhabene  jenseitige  Welt  anschaulicher  Werte  zu 
konstituieren,  eine  Welt  absoluter  und  beständiger  Werte. 
Darum  hatte  er  das  Lebendige,  Willkürliche  der  ewig  fluk- 
tuierenden Gesichtseindrücke  umgeprägt  in  anschauliche 
Notwendigkeitssymbole  abstrakter  Art.  Nicht  vom  Genuss 
der  unmittelbaren  sinnlichen  Anschauung  des  Objekts  ging 
er  bei  seinem  künstlerischen  Wollen  aus,  sondern  er  schuf 
gerade,  um  die  Anschauungsqual  zu  überwinden,  um  statt 
zufälliger  Anschauungsbilder  feste  Vorstellungsbilder  zu  ge- 
winnen. Die  Kunst  trug  deshalb  einen  sachlichen,  beinahe 
wissenschaftlichen  Charakter,  sie  war  das  Produkt  eines 
unmittelbaren  Selbsterhaltungstriebes,  nicht  das  freie  Luxus- 
produkt einer  von  allen  elementaren  Weltängsten  geheilten 
Menschheit. 

Zu  diesem  schönen,  feierlichen  Luxusprodukt  wurde  sie 
in  den  klassischen  Perioden  der  Menschheitsentwicklung.  Der 
klassische  Mensch  kannte  nicht  mehr  das  Leiden  an  der 
Relativität  und  Unklarheit  der Erscheinungs weit,  kannte  nicht 
mehr  die  Anschauungsqual  des  primitiven  Menschen.  Die 
ordnende  und  vermittelnde  Tätigkeit  seines  Geistes  hatte  die 
Willkür  der  Erscheinungs  weit  genugsam  eingedämmt,  um 
seiner  Lebensfreude  freien  Spielraum  zu  gewinnen.  Die 
schaffenden  Kräfte  seiner  Seele,  von  der  unmittelbaren  Not 


DER  KLASSISCHE  MENSCH 23 

der  geistigen  Selbsterhaltung  entbunden,  wurden  frei  für  ein 
wirklichkeitsfreudigeres  Tun,  wurden  frei  für  die  Kunst  in 
unserem  Sinne,  in  dem  Kunst  und  Wissenschaft  absolute  Ge- 
gensätze sind.  Wie  aus  der  Weltfurcht  Weltfrömmigkeit  im 
Goetheschen  Sinne  wurde,  so  wurde  aus  einem  strengen 
Abstraktionsdrang  ein  lebendiger  Einfühlungsdrang.  Mit 
vollen  Sinnen  gibt  sich  der  klassische  Mensch  der  sinnlichen 
Erscheinungswelt  hin,  um  sie  nach  seinem  Bude  umzu- 
prägen. Nichts  Totes  gibt  es  mehr  für  ihn,  alles  beseelt  er 
mit  seinem  Leben.  Künstlerisch  Schaffen  heisst  für  ihn, 
den  ideellen  Verschmelzungsprozess  seines  eignen  Lebens- 
gefühls mit  der  lebendigen  Umwelt  anschaulich  festzuhalten ; 
dem  Zufall  der  Erscheinung  weicht  er  nicht  mehr  aus,  sondern 
er  läutert  ihn  nur  im  Sinne  einer  organisch-milden  Gesetz- 
mässigkeit, läutert  ihn,  mit  anderen  Worten,  durch  die 
immanente  Kontrapunktik  seines  eignen,  ihm  zu  freudigem 
Bewusstsein  gelangten  Lebensgefühls.  Jede  künstlerische 
Darstellung  wird  nun  gleichsam  zu  einer  Apotheose  dieses 
bewusst  gewordenen  elementaren  Lebensgefühls. 

Das  Gefühl  für  die  Schönheit  des  Lebendigen,  für  den 
beglückenden  Rhythmus  des  Organischen  ist  erwacht.  Die 
Ornamentik,  die  vorher  Gesetzmässigkeit  war,  ohne  einen 
anderen  Ausdruck  als  den  der  Notwendigkeit,  unmittelbar 
also  ohne  Ausdruck,  sie  wird  nun  zur  lebendigen  Kräfte- 
bewegung, zu  einem  idealen,  von  allem  Zweck  befreiten 
Spiel  organischer  Tendenzen.  Sie  geht  ganz  auf  in  Ausdruck, 
und  dieser  Ausdruck  ist  das  Leben,  das  der  Mensch  aus 
seinem  eignen  Vitalgefühl  heraus  der  an  sich  toten  und 
bedeutungslosen  Form  leiht.  Die  Einfühlung  öffnet  dem 
klassischen  Menschen  den  Genuss  der  Anschauung,  die  dem 
geistig  noch  unentwickelten,  in  der  ersten  harten,  notdürftigen 
Auseinandersetzung  mit  den  Dingen  der  Umwelt  befindhchen 
Menschen  noch  vorenthalten  war. 

So  wird  auf  dieser  klassischen  Stufe  der  Menschheits- 
entwicklung das  Kunstschaffen  zur  idealen  Veranschau- 
lichung bewusst  gewordener  und  geläuterter  Vitalität;  sie 
wird  zum  objektivierten  Selbstgenuss.  Von  allen  dualistischen 
Erinnerungen  befreit,  feiert  der  Mensch  in  der  Kunst  wie 
in  der  Religion  die  Erfüllung  eines  beglückenden  seelischen 
Gleichgewichtszustandes. 


24  DER  ORIENTALISCHE  MENSCH 


DER  ORIENTALISCHE  MENSCH 

T-^ür  den  Kreis  okzidentaler  Kultur  bedeutet  der  klas- 
sische  Mensch  mit  seiner  wohltemperierten  Seelen- 
stimmung einen  Höhepunkt.  In  ihm  ist  die  ideale  Höhe 
okzidentaler  Möglichkeiten  festgelegt.  Aber  wir  dürfen 
Europa  nicht  mit  der  Welt  verwechseln,  dürfen  uns  nicht 
in  europäischem  Selbstbewusstsein  den  Blick  trüben 
lassen  für  das  unser  beschränktes  Vorstellungsvermögen 
fast  übersteigende  Phänomen  orientalischer  Menschheits- 
bildung. 

Denn  angesichts  des  orientalischen  Menschen,  dieses 
dritten  grossen  Musterbeispiels  der  Menschheitsentwicklung, 
wird  uns  ein  ganz  neuer,  unser  voreiliges  europäisches  Urteil 
regulierender  Massstab  für  die  Wertung  menschlicher  Ent- 
wicklung aufgedrängt.  Wir  müssen  erkennen,  dass  unsere 
europäische  Kultur  nur  eine  Kultur  des  Geistes  und  der 
Sinne  ist  und  dass  es  neben  dieser  an  die  Fiktion  des  Fort- 
schritts gebundenen  geistigen  und  sinnlichen  Kultur  noch 
eine  andere  gibt,  die  sich  von  tieferen  Erkenntnissen  als 
den  intellektuellen  nährt,  vor  allem  von  der  einen  wert- 
vollsten Erkenntnis  des  Instinkts,  dass  jene  intellektuellen 
Erkenntnisse  eitel  und  nichtig,  nur  Oberflächenbetrug  sind. 
Des  Orientalen  Kultur  baut  sich  wieder  auf  dem  Instinkt 
auf  und  der  Ring  der  Entwicklung  ist  geschlossen.  Der 
Orientale  steht  dem  Urmenschen  wieder  näher  als  der  klas- 
sische Mensch  und  doch  ist  eine  ganze  Ringweite,  eine  ganze 
Welt  von  Entwicklung  zwischen  ihnen.  Den  Schieier  der 
Maya,  vor  dem  der  Urmensch  in  dumpfem  Schrecken  stand, 
ihn  hat  der  Orientale  durchschaut  und  dem  unerbittlichen 
Dualismus  alles  Siens  ins  Auge  geschaut.  Sein  tief  im  Instinkt 
verwurzeltes  Wissen  um  die  Problematik  der  Erscheinung  und 
um  die  unergründliche  Rätselhaftigkeit  des  Seins  lässt  nun 
den  naiven  Glauben  an  Diesseitswerte,  in  dem  der  klassische 
Mensch  sich  glücklich  gefühlt  hatte,  nicht  mehr  aufkommen. 
Jene  glückliche  Verquickung  sinnlichen  Empfindens  mit 
geistigen  Erkenntnissen,  die  bei  dem  klassischen  Menschen 


ABTEIKIRCHE  VON  COULOMBS 
DETAIL  EINER  REICHVERZIERTEN  SÄULE 


DER  ORIENTALISCHE  MENSCH  25 

gleichzeitig  zu  einer  Versinnlichung  resp.  Vermenschlichung 
wie  zu  einer  RationaUsierung  des  Weltbildes  geführt  hatte, 
war  bei  dem  orientalischen  Menschen  bei  der  absoluten 
Vorherrschaft  des  instinktiven  Wissens  über  das  äussere 
Erkenntniswissen  unmöglich.  Das  Reich  der  orientalischen 
Seele  blieb  vom  Fortschritt  geistiger  Erkenntnis  völlig  un- 
berührt. Sie  bestanden  nicht  miteinander,  sondern  nur 
nebeneinander;  ohne  jede  Gleichwertigkeit,  ohne  Kom- 
mensurabilität.  Das  geistige  Erkennen  konnte  noch  so  weit 
fortschreiten:  weil  ihm  der  seelische  Ankergrund  fehlte, 
konnte  es  nie  in  griechischer  Weise  zum  produktiven 
Kulturelement  werden.  Alle  produktiven,  kulturschaffenden 
Kräfte  waren  vielmehr  an  die  Instinkterkenntnis  ge- 
bunden. 

Durch  diese  Erkenntnis  des  Instinkts  steht  der  orien- 
talische Mensch  dem  primitiven  Menschen  \vieder  nahe.  In 
ihm  lebt  dieselbe  Weltfurcht,  dasselbe  Erlösungsbedürfiüs 
wie  in  dem  Anfangsglied  der  Entwicklung.  Nur  ist  dies 
alles  bei  ihm  kein  Vorläufiges,  vor  der  wachsenden  geistigen 
Erkenntnis  Zurückweichendes  wie  beim  primitiven  Menschen, 
sondern  eine  festkonstituierte,  über  alle  Entwicklung  er- 
habene Erscheinung,  die  nicht  vor  dem  Erkennen,  sondern 
über  dem  Erkennen  steht.  Wenn  im  Gegensatz  zum 
klassischen  europäischen  Menschen  und  seiner  anthro- 
pozentrischen Denkart  das  menschliche  Selbstbewusstsein 
des  Orientalen  so  klein  und  seine  metaphysische  Unter- 
würfigkeit so  gross  ist,  so  kommt  es  nur  daher,  dass  sein 
Weltgefühl  so  gross  ist. 

Der  Dualismus  des  Orientalen  steht  über  dem  Erkennen. 
Er  wird  von  diesem  Duahsmus  nicht  mehr  verwirrt  und 
gequält,  sondern  er  empfindet  ihn  als  ein  erhabenes  Schicksal 
und  schweigend  und  wunschlos  beugt  er  sich  vor  dem  grossen 
unentschleierbaren  Geheimnis  des  Seins.  Seine  Furcht  ist 
zu  Verehrung  geläutert,  seine  Resignation  ist  zur  Religion 
geworden.  Ihm  ist  das  Leben  keine  wirre  und  quälende 
Sinnlosigkeit,  sondern  es  ist  ihm  heihg,  weil  es  in  Tiefen 
wurzelt,  die  dem  Menschen  unzugänglich  sind  und  die  ihn 
seine  eigne  Nichtigkeit  empfinden  lassen.  Denn  das  Gefühl 
seiner  Nichtigkeit  erhebt  ihn,  weil  das  Leben  dadurch  seine 
Grösse  erhält. 


26  DER  ORIENTALISCHE  MENSCH 

Das  dualistisch  gebundene  Weltempfinden  des  Orientalen 
spiegelt  sich  klar  wider  in  der  streng  transzendentalen 
Färbung  seiner  Religion  und  seiner  Kunst.  Das  Leben,  die 
Erscheinungswelt,  die  Wirklichkeit,  kurz  alles,  was  der 
klassische  Mensch  in  seiner  glücklich-naiven  Weltfrömmigkeit 
positiv  wertete,  wird  durch  die  tiefergehende  Welterkenntnis 
des  Orients  wieder  bewusst  relativiert  und  einer  höheren 
Wertung  unterstellt,  die  sich  an  einer  hinter  allem  Diesseits 
liegenden  höheren  Wirklichkeit  orientiert.  Diese  Vorstellung 
eines  Jenseits  gibt  der  orientahschen  Metaphysik  eine  der 
reifen  klassischen  Welt  unbekannte  dynamische  Spannung. 
Und  wie  eine  Antwort  auf  diese  seelische  Spannung  bildet 
sich  mit  Naturnotwendigkeit  der  Erlösungsgedanke  aus,  in 
dem  die  orientaHsche  Mystik  gipfelt  und  der  im  Christentum 
schliesslich  die  uns  vertrauteste  Prägung  erhalten  hat. 

Die  orientahsche  Kunst  ist  die  gleiche  Antwort  auf  die 
gleiche  Spannung.  Auch  sie  trägt  absoluten  Erlösungs- 
charakter, und  ihre  scharf  ausgeprägte  transzendental- 
abstrakte  Färbung  trennt  sie  von  aller  Klassik.  Keine 
freudige  Bejahung  sinnfälliger  Lebendigkeit  spricht  aus  ihr, 
sie  gehört  vielmehr  ganz  dem  andern  Reiche  an,  das  über 
die  Vergänglichkeit  und  die  Zufälligkeit  des  Lebendigen 
hinaus  nach  einer  von  allen  Sinnentäuschungen,  von  allem 
Anschauungstrug  gereinigten  höheren  Welt  strebt,  in  der 
Notwendigkeit  und  Dauer  herrscht  und  der  die  grosse  Ruhe 
orientalischer  Instinkt erkenntnis  ihre  Weihe  gibt. 

Wie  die  Kunst  des  Urmenschen  ist  auch  die  Kunst  des 
Orients  streng  abstrakt  und  gebunden  an  die  starre  aus- 
druckslose Linie  und  ihr  Korrelat,  die  Fläche.  Doch  in  dem 
Reichtum  ihrer  Bildungen  und  der  Konsequenz  ihrer  Lösungen 
geht  sie  weit  über  die  primitive  Kunst  hinaus.  Aus  der 
elementaren  Schöpfung  ist  ein  kompliziertes,  kunstvolles 
Gebilde  geworden,  aus  der  Primitivität  ist  Kultur  geworden, 
und  die  höhere  reifere  Qualität  des  Weltgefühls  dokumentiert 
sich  in  unverkennbarer  Weise  trotz  der  äusseren  Gleichheit 
der  Ausdrucksmittel.  Wir  pflegen  den  grossen  Unterschied 
zwischen  primitiver  imd  orientalischer  Kunst  nicht  richtig 
zu  würdigen,  weil  imser  europäisches  Auge  für  die  Nuancen 
abstrakter  Kunst  nicht  geschärft  ist  und  wir  immer  nur  das 
Gemeinsame,    nämlich    nur    die    Unlebendigkeit,    die    Ent- 


DIE  GEHEIME  GOTIK  27 

femung  von  der  Natur  sehen.  In  Wirklichkeit  Hegt  aber 
derselbe  Unterschied  vor  wie  zwischen  dem  dumpfen 
Fetischismus  des  primitiven  und  der  tiefsinnigen  Mystik 
des  orientalischen  Menschen. 


DIE   GEHEIME   GOTIK   DER   FRÜHEN   NOR- 
DISCHEN ORNAMENTIK 

^u^achdem  wir  so  drei  Haupttypen  der  Menschheits- 
entwicklung,  d.  h.  drei  Hauptstadien  im  Auseinander- 
setzungsprozess  von  Mensch  und  Aussenwelt  in  ihren  ent- 
scheidenden Linien  kurz  skizziert  haben,  wollen  wir  uns  von 
diesen  elementaren  Orientierungspunkten  aus  unserem  eigent- 
lichen Problem,  der  Gotik,  nähern. 

Es  sei  gleich  gesagt,  dass  sich  der  stilpsychologische 
Begriff  der  Gotik,  wie  ihn  unsere  Untersuchung  heraus- 
arbeiten will,  keineswegs  mit  der  historischen  Gotik  deckt. 
Jene  engere  Gotik,  die  der  Schulbegriff  fixiert,  fassen  wir 
vielmehr  nur  als  die  Endresultate  einer  spezifisch  nordischen 
Entwicklung  auf,  die  schon  in  der  Hallstadt-  und  La-Tene- 
Periode,  ja  in  ihren  letzten  Wurzeln  noch  früher  einsetzt. 
Nord-  und  Mitteleuropa  ist  vornehmlich  der  Schauplatz 
dieser  Entwicklung,  deren  Ausgangspunkt  vielleicht  das  ger- 
manische Skandinavien  ist. 

Mit  anderen  Worten  gesagt:  der  Stilpsychologe,  dem 
einmal  angesichts  der  reifen  historischen  Gotik  der  Grund- 
charakter des  gotischen  Formwillens  aufgegangen  ist,  er  sieht 
diesen  Formwillen  auch  da  gleichsam  unterirdisch  tätig, 
wo  er  durch  mächtigere  äussere  Umstände  gehemmt  und  an 
freier  Entfaltung  gehindert  eine  fremde  Verkleidung  an- 
nimmt; er  erkennt,  dass  dieser  gotische  Formwille  nicht 
äusserlich,  aber  innerlich  die  romanische  Kunst,  die  Mero- 
wingerkunst,  die  Völker wanderungskunst,  kurz  den  ganzen 
nord-  und  mitteleuropäischen  Kunst  verlauf  beherrscht. 

Es  ist  das  eigentliche  Ziel  unserer  Untersuchung,  den 
Berechtigungsbeweis  für  diese  weitere  Ausdehnung  des  Stil- 
begriffs Gotik  zu  erbringen.  Vorläufig  mag  diese  Behauptung, 


28  DIE  GEHEIME  GOTIK  DER 

die  wir  uns  zu  begründen  anschicken,  als  blosse  These  voran- 
geschickt sein. 

Wir  wiederholen  also,  dass  nach  unserer  Anschauung 
die  Kunst  des  ganzen  Okzidents,  soweit  sie  nicht  unmittelbar 
Anteil  hatte  an  der  antiken  Mittelmeerkultur,  ihrem  innersten 
Charakter  nach  gotisch  war  und  es  bis  zur  Renaissance,  dieser 
grossen  Peripetie  der  nordischen  Entwicklung,  blieb;  d.  h. 
der  in  ihr  immanente,  äusserlich  oft  kaum  erkennbare  Form- 
wille ist  derselbe,  der  in  der  reifen  historischen  Gotik  seine 
klare,  ungetrübte,  monumentale  Ausgestaltung  erhält.  Wir 
werden  später  sehen,  wie  selbst  die  von  ganz  anderen  seelischen 
Voraussetzungen  ausgehende  italienische  Renaissance,  als  sie 
auf  den  Norden  übergriff  und  zum  europäischen  Stil  wurde, 
den  gotischen  Formwillen  nicht  ganz  zu  ersticken  vermochte : 
das  nordische  Barock  ist  in  gewissem  Sinne  das  Wiederauf- 
flackern des  unterdrückten  gotischen  Formwillens  unter  einer 
fremden  Hülle.  So  geht  also  der  stilpsychologische  Begriff 
der  Gothik  auch  nach  der  Gegenwart  zu  über  den  Schulbegriff 
Gotik  hinaus. 

Die  Basis,  auf  der  sich  der  gotische  Formwille  entwickelt, 
ist  der  geometrische  Stil,  wie  er  als  Stil  des  primitiven  Men- 
schen über  die  ganze  Erde  verbreitet  ist,  um  die  Zeit  aber,  wo 
der  Norden  in  die  geschichtliche  Entwicklung  eingreift, 
speziell  als  Gemeingut  aller  arischen  Völker  erscheint.  Ehe 
wir  die  Entwicklung  dieses  primitiven  geometrischen  Stiles 
zum  gotischen  Stile  andeuten,  möchten  wir,  um  die  welt- 
geschichtliche Situation  zu  kennzeichnen,  daran  erinnern, 
dass  schon  mit  der  dorischen  Wanderung  dieser  arische 
Gemeinstil  zusammenstösst  mit  dem  orientalisch  gefärbten 
Stil  der  frühen  Mittelmeervölker,  und  dass  er  den  Anstoss 
zur  spezifisch  griechischen  Entwicklung  gibt.  Zuerst  ist 
der  Konflikt  zwischen  den  beiden  heterogenen  Stilgedanken 
ein  ganz  krasser :  Mykenestil  und  Dipylonstil.  Dann  klingt  er 
gemildert  nach  in  dem  Charakterunterschied  zwischen  dori- 
schem und  ionischem  Stil.  Schliesslich  findet  die  Versöhnung 
im  reifen  klassischen  Stil  statt,  kurz  dieser  erste  Ausläufer 
des  arischen  Stilgutes  mündet  ganz  in  die  Mittelmeerkultur 
ein  und  scheidet  deshalb  für  unsere  Betrachtung  vorerst  aus. 

Uns  interessiert  nur  das  Konglomerat  junger,  noch 
unentwickelter   Völkermassen   in   Nord-   und   Mitteleuropa, 


FRÜHEN  NORDISCHEN  ORNAMENTIK 29 

das  noch  nicht  in  Berührung  mit  der  hohen,  vom  Orient  ab- 
hängigen Mittelmeerkultur  gekommen  war,  und  in  dem  sich  von 
der  Basis  des  allgemein  arischen,  geometrischen  Stiles  aus  die 
grosse  Zukunftsmacht  des  Mittelalters,  die  Gotik,  entwickelte. 

In  diesem  Völkerkonglomerat  Nord-  und  Mitteleuropas, 
diesem  eigentlichen  Nährboden  des  gotischen  Phänomens, 
wollen  wir  nicht  ein  einzelnes  Volk  zum  Träger  der  Ent- 
wicklung machen;  wenn  wir  trotzdem  im  folgenden  meist 
von  der  germanischen  Entwicklung  reden,  so  geschieht  es 
nicht,  weil  wir  Rassenromantik  im  Chamberlainschen  Sinn 
treiben  wollen,  sondern  mehr  aus  Bequemlichkeit  und  aus 
dem  Bewusstsein  heraus,  dass  in  diesem  nordischen  Völker- 
chaos vorerst  die  Rassenunterschiede  noch  so  sehr  zurück- 
treten hinter  der  Gemeinsamkeit  der  Lebensbedingungen 
und  hinter  der  Gemeinsamkeit  der  seehschen  Entwicklungs- 
stufe, dass  die  Heranziehung  eines  einzelnen  Volkes  als  pars 
pro  toto  gerechtfertigt  ist.  Anderseits  deckt  sich  allerdings 
diese  spezielle  Heranziehung  der  Germanen  mit  unserer 
Ansicht,  dass  die  Disposition  zur  Gotik  nur  da  eintritt,  wo 
germanisches  Blut  sich  mit  dem  Blute  der  anderen  euro- 
päischen Rassen  mischt.  Die  Germanen  sind  also  nicht  die 
alleinigen  Träger  der  Gotik  und  ihre  alleinigen  Schöpfer; 
Kelten  und  Romanen  haben  denselben  wichtigen  Anteil  an 
der  gotischen  Entwicklung.  Wohl  aber  sind  die  Germanen 
die  conditio  sine  qua  non  der  Gotik. 

Wir  werden  also  im  Gegensatz  zu  der  berechtigten  Ge- 
nauigkeit der  Detailforschung  im  grossen  Rahmen  unseres 
Darstellungszweckes  weniger  peinHch  auf  die  Unterscheidung 
der  einzelnen  Träger  der  nordischen  Gesamtentwicklung  zu 
achten  brauchen. 

Die  Kunst  dieses  nordischen  Völkerkonglomerats  ist  zu 
der  Zeit,  wo  es  gleichsam  auf  das  Stichwort  des  römischen 
Reichsunterganges  wartet,  um  als  Vordergrundakteur  in  die 
weltgeschichtliche  Entwicklung  einzutreten,  blosse  Orna- 
mentik, Und  zwar  trägt  diese  Ornamentik  anfänglich  einen 
rein  abstrakten  Charakter.  Jeder  Versuch  der  direkten 
Naturnachahmung  fehlt.  Von  der  frühgermanischen  Orna- 
mentik sagt  Haupt,  der  autoritative  Geschichtschreiber 
germanischer  Kunst:  ,,Es  gibt  in  ihrer  Kunst  keine  Dar- 
stellung des   Natürhchen,   weder  des   Menschen,   noch   des 


\ 


30  DIE  GEHEIME  GOTIK  DER 

Tieres,  noch  des  Baumes.  Alles  ist  Flächenverzierung  ge- 
worden. Deshalb  können  wir  von  einer  eigentlich  bildenden 
Kunst  im  heutigen  Sinne  in  bezug  auf  jene  Stämme  nicht 
sprechen ;  sie  existiert  eben  nicht  als  Versuch  der  Nachbildung 
von  irgend  etwas  vor  Augen  Stehendem."  Sie  ist  also  ein 
rein  geometrisches  Linienspiel,  ohne  dass  wir  mit  dem  Wort 
Linienspiel  dieser  Art  Kunstübung  den  Charakter  des  Spie- 
lerischen anhängen  wollen.  Vielmehr  ist  es  nach  unseren 
Ausführungen  über  die  Ornamentik  des  primitiven  Menschen 
klar,  dass  auch  dieser  frühnordischen  Ornamentik  ein  starker 
metaphysischer  Gehalt  innewohnt. 

In  den  frühsten  Zeiten  unterscheidet  sie  sich  nicht 
wesentlich  von  dem  primitiven  geometrischen  Stil,  den  wir 
das  Gemeingut  aller  arischen  Völker  nannten.  Allmählich 
aber  entwickelt  sich  auf  der  Grundlage  dieser  elementaren 
arischen  Liniengrammatik  eine  besondere  Liniensprache,  die 
sich  deutlich  als  eigenes  germanisches  Idiom  kennzeichnet. 
Es  ist  die  in  der  Terminologie  der  kunstmaterialistischen 
Theorie  als  Bandverschlingungs-  oder  Flechtornamentik  be- 
zeichnete Linienphantastik.  Ueberall,  wo  durch  die  Stürme 
der  Völkerwanderung  Germanen  hinzerstreut  wurden,  finden 
wir  in  ihren  Gräbern  diese  eigenartige  und  ganz  unverkenn- 
bare Ornamentik.  In  England,  in  Spanien,  in  Nordafrika, 
in  Süditalien,  in  Griechenland  und  Armenien. 

Lamprecht  schildert  diese  Art  von  Ornamentik  mit 
folgenden  Worten:  ,,Es  sind  gewisse  einfache  Motive,  durch 
deren  Verflechtung  und  Durchdringung  der  Charakter  dieser 
Ornamentik  bestimmt  ist.  Anfänglich  nur  der  Punkt,  die 
Linie,  das  Band,  später  dann  schon  die  Bogenlinie,  der  Kreis, 
die  Spirale,  das  Zickzack  und  eine  s-förmige  Verzierung 
wurden  angewendet.  Wahrlich  kein  grosser  Reichtum  an 
Motiven.  Aber  welche  Mannigfaltigkeit  wird  erzielt  durch 
die  Art  ihrer  Verwendung.  Bald  erscheinen  sie  parallelisiert, 
bald  verklammert,  bald  vergittert,  bald  verknotet,  bald 
verflochten,  bald  wohl  gar  in  gegenseitiger  Verknotung  und 
Verflechtung  durcheinandergewürfelt.  So  entstehen  phan- 
tastisch wirre  Muster,  deren  Rätsel  zum  Nachgrübeln  reizen, 
deren  Gerinnsel  sich  zu  meiden,  zu  suchen  scheint,  deren 
Bestandteile  gleichsam  empfindungsbegabt  in  lebendig- 
leidenschaftlicher Bewegung  Sinn  und  Auge  fesseln." 


QUIRINKIRCHE  ZU  NEUSS 
Originalaufnahme  der  Kgl.  Preussischen  Mcssbildanstalt  zu  Berlin. 


FRÜHEN  NORDISCHEN  ORNAMENTIK  31 

Eine  lineare  Phantastik  liegt  hier  vor,  deren  Grund- 
charakter wir  analysieren  müssen.  Träger  des  künstlerischen 
Willens  ist,  wie  in  der  Ornamentik  des  primitiven  Menschen, 
die  abstrakte  geometrische  Linie,  der  kein  organischer  Aus- 
druck, d.  h.  keine  organische  Interpretationsmöglichkeit 
innewohnt.  Während  sie  nun  im  organischen  Sinne  aus- 
drucks  los  ist,  ist  sie  trotzdem  von  äusserster  Lebendigkeit. 
Die  Worte  Lamprechts  bezeugen  ausdrücklich  den  Eindruck 
leidenschaftlicher  Bewegtheit  und  Lebendigkeit,  bezeugen 
ausdrücklich  den  Eindruck  einer  suchenden,  rastlosen  Un- 
ruhe in  diesem  Linien  Wirrwarr.  Da  der  Linie  jede  organische 
Klangfarbe  fehlt,  so  muss  ihr  Lebensausdruck  ein  vom 
organischen  Leben  unterschiedener  Ausdruck  sein.  Es  gilt, 
diesen  überorganischen  Ausdruckscharakter  in  seiner  Eigen- 
art zu  verstehen. 

Wir  sehen,  dass  die  nordische  Ornamentik  trotz  ihres 
abstrakten    Liniencharakters    Lebendigkeitseindrücke    aus- 
löst, die  unser  an  die  Einfühlung  gebundenes  Vitalgefühl 
unmittelbar   nur   der    organischen    Welt    zuerkennen 
möchte.     So  scheint  diese  Ornamentik  also  den  abstrakten 
Charakter  der  primitiven  geometrischen  und  den  lebendigen 
Charakter  der  klassischen  organisch  gefärbten  Ornamentik 
zu  vereinigen.     Dem  ist  aber  nicht  so.     Sie  kann  in  keiner 
Weise  den  Anspruch  erheben,  eine  Synthese,  eine  Vereinigung 
dieser  elementaren  Gegensätze  darzustellen,  ihr  kommt  viel- 
mehr nur  das  Prädikat  einer  Zwittererscheinung  zu.     Nicht 
um  eine  harmonische  Durchdringung  zweier  entgegengesetzter 
Tendenzen  handelt  es  sich  hier,  sondern  um  eine  unreinliche 
und  gewissermassen  unheimliche  Verquickung  derselben,  um 
die  Inanspruchnahme  unseres  an  organischen  Rhythmus  ge- 
bundenen Einfühlungsvermögens  für  eine  ihm  fremde,  ab- 
strakte   Welt.       Unser   organisch    temperiertes   Vitalgefühl 
scheut  zurück  vor  dieser  sinnlosen  Ausdruckswucht  wie  vor 
einer  Ausschweifung.     Wenn  es  aber  endlich,  dem  Zwang 
gehorchend,  seine  Kräfte  in  diese  an  sich  toten  Linien  ein- 
strömen lässt,  fühlt  es  sich  in  einer  unerhörten  Weise  fort- 
gerissen und  zu  einem  Bewegungstaumel  gesteigert,  der  alle 
Möglichkeiten  organischer  Bewegung  weit  hinter  sich  lässt. 
Das  Bewegungspathos,   das  in  dieser  lebendig  gewordenen 
Geometrie  —  ein  Vorspiel  zur  lebendig  gewordenen  Mathe- 


32  DIE  GEHEIME  GOTIK  DER 

matik  der  gotischen  Architektur  —  steckt,  vergewaltigt 
unser  Empfinden  zu  einer  ihm  unnatürhchen  Kraftleistung. 
Nachdem  einmal  die  natürlichen  Grenzen  organischer  Bewegt- 
heit durchbrochen  sind,  gibt  es  kein  Halten  mehr;  immer 
wieder  wird  die  Linie  gebrochen,  immer  wieder  in  ihrer 
natürlichen  Bewegungstendenz  gehemmt,  immer  wieder  ge- 
waltsam von  einem  ruhigen  Auslaufen  zurückgehalten,  immer 
wieder  zu  neuen  Ausdruckskomplikationen  abgelenkt,  so  dass 
sie,  durch  all  diese  Hemmungen  gesteigert,  ihr  Aeusserstes  an 
Ausdruckskraft  hergibt,  bis  sie  schhesshch,  all  der  Möglich- 
keiten natürlicher  Beruhigung  beraubt,  in  wirren  Zuckungen 
verendet  oder  unbefriedigt  im  Leeren  abbricht  oder  sinnlos 
in  sich  selbst  verläuft. 

Angesichts  der  klassischen  Ornamentik  in  ihrer  orga- 
nischen Klarheit  und  Mässigung  haben  wir  das  Gefühl,  als 
ob  sie  zwanglos  aus  unserem  Vitalgefühl  herausquille.  Sie 
hat  keinen  anderen  Ausdruck  als  den,  den  wir  ihr  geben. 
Der  Ausdruck  der  nordischen  Ornamentik  ist  dagegen  nicht 
unmittelbar  von  uns  abhängig,  wir  begegnen  vielmehr  einem 
Leben,  das  unabhängig  von  uns  zu  sein  scheint,  das  mit 
Forderungen  an  uns  herantritt  und  uns  zu  einer  Bewegtheit 
zwingt,  der  wir  uns  nur  widerwillig  unterwerfen.  Kurz: 
die  nordische  Linie  lebt  nicht  von  einem  Eindruck,  den  wir 
ihr  willig  geben,  sondern  sie  scheint  einen  Eigenaus- 
druck zu  haben,  der  stärker  ist  als  unser  Leben. 

Diesen,  im  streng  psychologischen  Sinne  natürlich  nur 
scheinbaren  Eigenausdruck  der  nordischen  resp.  gotischen 
Linie  müssen  wir  näher  zu  erfassen  suchen.  Wir  wollen 
an  banale  Erfahrungen  des  täglichen  Lebens  anknüpfen. 
Wenn  wir  einen  Bleistift  zur  Hand  nehmen  und  Linien- 
kritzeleien auf  dem  Papier  machen,  so  können  wir  uns  schon 
des  Unterschiedes  zwischen  dem  von  uns  abhängigen  Aus- 
druck und  dem  anscheinend  von  uns  unabhängigen  Eigen- 
ausdruck der  Linie  bewusst  werden. 

Wenn  wir  die  Linie  in  schönen  runden  Kurven  führen, 
so  begleiten  wir  die  Bewegungen  unseres  Handgelenks  un- 
willkürlich mit  unserem  inneren  Gefühl.  Wir  fühlen  mit 
einem  gewissen  Glücksgefühl,  wie  die  Linie  gleichsam  aus 
dem  selbsttätigen  Spiel  des  Handgelenks  herauswächst. 
Die  Bewegung,  die  wir  ausführen,  ist  von  einer  hemmungs- 


FRÜHEN  NORDISCHEN  ORNAMENTIK  33 

losen  Leichtigkeit;  der  einmal  angefangene  Bewegungs- 
impuls setzt  sich  mühelos  fort.  Dieses  Glücksgefühl,  diese 
Freiheit  der  Entstehung  übertragen  wir  nun  unwillkürlich 
auf  die  Linie  selbst,  und  was  wir  bei  ihrer  Führung  gefühlt 
haben,  schreiben  wir  ihr  als  Ausdruck  zu.  In  diesem  Falle 
also  sehen  wir  in  der  Linie  den  Ausdruck  einer  organischen 
Schönheit,  weil  eben  die  Führung  der  Linie  unserem  orga- 
nischen Gefühle  entsprechend  war.  Begegnen  wir  einer 
solchen  Linie  in  einer  anderen  Darstellung,  so  ist  unser  Ein-  - 
druck  derselbe,  als  ob  wir  sie  selbst  gezeichnet  hätten.  Denn 
sobald  wir  überhaupt  eine  Linie  in  unser  Bewusstsein  auf- 
nehmen, fühlen  wir  innerlich  unwillkürlich  den  Vorgang 
ihrer  Entstehung  nach. 

Neben  dieser  organischen  Ausdrucksfähigkeit  der  Linie, 
wie  wir  sie  in  der  ganzen  klassischen  Ornamentik  erleben, 
gibt  es  aber  noch  eine  andere,  und  die  ist  es,  die  für  unser 
gotisches  Problem  in  Betracht  kommt.  Wieder  knüpfen  wir 
an  die  banalen  Erfahrungen  spielerischer  Linienkritzelei  an. 
Wenn  wir  von  einer  starken  inneren  Erregung  erfüllt  sind, 
die  wir  nicht  anders  als  auf  dem  Papier  äussern  dürfen, 
dann  werden  die  Linienkritzeleien  ganz  anders  ausfallen. 
Der  Wille  unseres  Handgelenks  wird  gar  nicht  gefragt  werden, 
sondern  der  Bleistift  wird  wild  und  heftig  über  das  Papier 
fahren  und  statt  der  schönen,  runden,  organisch  temperierten 
Kurven  wird  eine  starre,  eckige,  immer  wieder  unterbrochene, 
zackige  Linie  von  stärkster  Ausdruckswucht  entstehen.  Nichl 
das  Handgelenk  ist  es,  das  selbsttätig  die  Linie  schafft, 
sondern  unser  heftiger  Ausdruckswille,  der  dem  Handgelenk 
herrisch  seine  Bewegung  vorschreibt.  Der  einmal  einsetzende 
Bewegungsimpuls  darf  nicht,  wie  es  in  seiner  natürlichen 
Tendenz  liegt,  in  sich  auslaufen,  sondern  er  wird  immer 
wieder  durch  einen  neuen  Bewegungsimpuls  übertönt.  Wenn 
wir  eine  solche  Erregungslinie  in  unser  Bewusstsein  auf- 
nehmen, so  fühlen  wir  auch  bei  ihr  unwillkürlich  den  Vor- 
gang ihrer  Entstehung  nach.  Dieses  Nachfühlen  ist  nun  aber 
nicht  von  irgendeinem  Wohlgefühl  begleitet,  sondern  es  ist, 
als  ob  ein  fremder,  herrischer  Wille  uns  zwinge.  All  die  Unter- 
drückungsvorgänge der  natürlichen  Bewegungstendenz  teilen 
sich  uns  mit.  Wir  fühlen  an  jedem  Brechungspunkte,  an 
jeder    Richtungs Veränderung,    wie    die    plötzlich    in    ihrem 

3 


34  DIE  GEHEIME  GOTIK  DER 

natürlichen  Lauf  gehemmten  Kräfte  sich  stauen,  wie  sie 
dann  nach  diesem  Moment  der  Stauung  mit  einer  durch  die 
Hemmung  vermehrten  Wucht  in  die  neue  Bewegungstendenz 
übergehen.  Und  je  öfter  die  Brechungen  sich  wiederholen, 
je  mehr  Hemmungen  eingeschaltet  werden,  um  so  mächtiger 
werden  die  Brandungen  an  den  einzelnen  Bruchstellen, 
um  so  wuchtiger  wird  jedesmal  das  Einströmen  in  die  neue 
Richtung,  um  so  gewaltiger  und  mitreissender  wird,  mit 
andern  Worten,  der  Ausdruck  der  Linie.  Denn  auch  hier 
schreiben  wir  die  bei  der  Apperzeption  der  Linie  nachge- 
fühlten Entstehungsvorgänge  ihr  als  Ausdruck  zu.  Und  da 
die  Linie  uns  ihren  Ausdruck  aufzudrängen  scheint,  empfinden 
wir  ihn  als  etwas  Selbständiges,  von  uns  Unabhängiges  und 
sprechen  deshalb  von  einem  Eigenausdruck  der  Linie. 

Das  Wesentliche  dieses  Eigenausdrucks  der  Linie  ist, 
dass  er  nicht  sinnlich-organische  Werte  repräsentiert,  sondern 
Werte  unsinnhcher,  d.  h.  geistiger  Art.  Nicht  organische 
Willenstätigkeit  spricht  sich  in  ihm  aus,  sondern  eine 
psychisch-geistige  Willenstätigkeit,  die  noch  fern  von  aller 
Verbindung  und  Versöhnung  mit  organischen  Empfindungs- 
komplexen ist. 

Mit  diesen  Ausführungen  wollen  wir  nun  nicht  sagen, 
dass  die  nordische  Ornamentik,  jenes  „gleichsam  ur weltliche 
und  finster  chaotische  Liniengewirr"  (Semper),  mit  den 
Linienkritzeleien  eines  psychisch  oder  geistig  erregten 
Menschen  auf  einer  Stufe  stehe,  dass  es  dieses  Phänomen 
täglicher  Erfahrung  nur  im  grossen  Massstabe  widerspiegele. 
Das  wäre  ein  Vergleich  zwischen  ganz  inkommensurablen 
Tatbeständen.  Aber  Fingerzeige  werden  uns  durch  diesen 
Vergleich  doch  gegeben.  Wie  jene  Linienkritzeleien  nur  als 
Auslösung  eines  inneren  seelischen  Drucks  erscheinen,  so 
wirft  das  Aufgeregte,  Zuckende,  Fiebernde  des  nordischen 
Lineaments  auch  unzweideutig  ein  Schlaglicht  auf  das  unter 
einem  starken  Druck  stehende  Innenleben  der  nordischen 
Menschheit.  Den  Ausdruck  eines  seelischen  Unbefriedigt- 
seins dürfen  wir  immerhin  schon  durch  diesen  Vergleich  in 
der  nordischen  Ornamentik  konstatieren.  Was  aber  im 
individuellen  alltäglichen  Leben  als  spielerische  Linien- 
kritzelei erscheint,  das  ist  als  Kunstausdruck  einer  ganzen 
Rasse  etwas  anderes:  es  ist  hier  das  Verlangen,  aufzugehen 


KATHEDRALE   7X   RELMS 


FRÜHEN  NORDISCHEN  ORNAMENTIK  35 

in  einer  unnatürlichen  gesteigerten  Bewegtheit  unsinnUcher 
geistiger  Art  —  man  denke  hier  schon  an  das  lab5a-inthische 
scholastische  Denken  — ,  um  in  dieser  Steigerung  loszukommen 
vom  unmittelbaren  Gefühl  der  Wirklichkeitsgebundenheit 
und  —  das  sei  vorausgeschickt  —  dieses  Verlangen  nach 
einer  über  alle  Sinne  erhabenen  unsinnlichen  oder,  um  das 
rechte  Wort  zu  nennen,  übersinnlichen  Bewegtheit,  das 
diese  bis  zum  äussersten  Ausdruck  aufgepeitschte  Orna- 
mentik schuf,  war  es  auch,  das  das  brünstige  Exi^elsior 
der  gotischen  Kathedrale,  diesen  versteinerten  Transzenden- 
talismus, entstehen  Hess. 

So  wie  die  gotische  Architektur  das  Bild  einer  voll- 
ständigen Entmaterialisation  des  Steins  darbietet  und  voll 
geistigen  an  Stein  und  Sinne  ungebundenen  Ausdrucks  ist, 
so  bietet  die  frühnordische  Ornamentik  das  Bild  einer  voll- 
ständigen Entgeometrisierung  der  Linie  zugunsten  desselben 
geistigen  Ausdrucksbedürfnisses. 

Die  Lime  der  primitiven  Ornamentik  ist  geometrisch, 
ist  tot  und  ausdruckslos.  Ihre  künstlerische  Bedeutung  be- 
ruht einzig  und  allein  auf  dieser  Abwesenheit  alles  Lebens, 
beruht  einzig  und  allein  auf  ihrem  durch  und  durch  ab- 
strakten Charakter.  Mit  der  Milderung  des  anfänglichen 
Dualismus  zwischen  Mensch  und  Welt,  d.  h.  mit  der  geistigen 
Entwicklung  des  Menschen,  wird  der  abstrakte  geometrische 
Charakter  der  Linie  allmählich  abgeschwächt.  Diese  Ab- 
schwächung,  diese  Ueberleitung  der  starren  Ausdrucks- 
losigkeit  zur  Ausdrucksfülle  kann  sich  in  zwei  verschiedenen 
Richtungen  bewegen :  an  Stelle  des  toten  geometrischen  Seins 
kann  eine  organische,  den  Sinnen  gefällige  Lebendigkeit  treten 
—  das  ist  der  Fall  der  klassischen  Ornamentik  —  oder  eine 
geistige,  über  die  Sinne  weit  hinausgehende  Lebendigkeit 
treten  —  das  ist  der  Fall  der  frühnordischen  Ornamentik, 
deren  gotischen  Charakter  wir  hiermit  schon  festgestellt 
haben.  Und  es  ist  klar,  dass  die  organisch  determinierte 
Linie  die  Schönheit  des  Ausdrucks  enthält,  während  der 
gotischen  Linie  die  Macht  des  Ausdrucks  vorbehalten  ist. 
Dieser  Unterschied  zwischen  Ausdrucksschönheit  und  Aus- 
drucksmacht lässt  sich  ohne  weiteres  auf  den  ganzen  Cha- 
rakter der  beiden  Stilphänomene  klassischer  und  gotischer 
Kunst  übertragen. 


36  DIE  UNENDLICHE  MELODIE 


DIE  UNENDLICHE  MELODIE  DER  NOR- 
DISCHEN LINIE 


D 


|ie  Antithese  von  klassischer  und  nordisch-gotischer 
Ornamentik  bedarf  weiterer  eingehender  Betrachtung. 
Der  fundamental  verschiedene  Charakter  dieser  beiden 
Kunstäusserungen  soll  auch  im  einzelnen  sichtbar  gemacht 
werden.  Das  erste,  was  bei  der  Vergleichung  der  beiden  Orna- 
mentstile auffällt,  ist,  dass  der  nordischen  Ornamentik  der 
^  aller  klassischen  Ornamentik  so  ureigne  Begriff  der  Symmetrie 
/  fehlt.  Statt  Symmetrie  herrscht  hier  Wiederholung.  Auch 
in  der  klassischen  Ornamentik  spielt  allerdings  das  Moment 
der  Wiederholung  des  einzelnen  Motivs  eine  Rolle ;  aber  diese 
Wiederholung  ist  von  einer  ganz  anderen  Art.  Die  klassische 
Ornamentik  neigt  im  allgemeinen  dazu,  das  einmal  ange- 
schlagene Motiv  im  Gegensinne,  wie  im  Spiegelbilde  zu 
wiederholen,  wodurch  der  durch  die  Wiederholung  produ- 
zierte Charakter  ununterbrochener  Steigerung  wieder  para- 
lysiert wird.  Durch  diese  Wiederholung  im  Gegensinn 
tritt  eine  Beruhigung,  eine  Geschlossenheit  des  Rhythmus 
ein;  die  Aneinanderreihung  trägt  einen  die  Sjnnmetrie 
nie  verletzenden  ruhigen  Additionscharakter.  Das  organisch 
geleitete  Empfinden  des  klassischen  Menschen  gibt  der 
durch  die  Wiederholung  entstehenden  Bewegung,  die  über 
organisches  Mass  hinauszugehen  droht,  die  mechanisch  zu 
werden  droht,  durch  Fermatenbildung  immer  wieder  Be- 
ruhigungsakzente. Sie  legt  der  forteilenden  mechanischen 
Bewegtheit  durch  diese  vom  organischen  Gefühl  geforderten 
Wiederholung  im  Gegensinne  gleichsam  Zügel  an. 

Bei  der  nordischen  Ornamentik  trägt  dagegen  die  Wieder- 
holung nicht  diesen  ruhigen  Additionscharakter,  sondern 
sie  trägt  sozusagen  Multiplikationscharakter.  Jede  Da- 
zwischenkunft  eines  nach  organischer  Mässigung  und  Be- 
ruhigung verlangenden  Gefühls  fehlt  hier.  Eine  sich  ständig 
steigernde  Bewegtheit  ohne  Fermaten  und  Akzente  ent- 
steht und  die  Wiederholung  hat  nur  den  einen  Sinn,  dem 
einzelnen  Motiv  die  Unendlichkeitspotenz  zu  geben.  Die 
unendliche    Melodie    der    Linie    schwebt    dem    nordischen 


DER  NORDISCHEN  LINIE  37 

Menschen  in  seiner  Ornamentik  vor;  jene  unendliche  Linie, 
die  nicht  erfreut,  sondern  betäubt  und  uns  ziu:  willenlosen 
Hingabe  zwingt.  Wenn  wir  nach  der  Betrachtung  nordischer 
Ornamentik  die  Augen  schliessen,  bleibt  nur  der  nach- 
klingende Eindruck  einer  körperlosen  unendlichen  Bewegtheit. 

Lamprecht  spricht  von  dem  Rätselhaften  dieser  nor- 
dischen Bandverschlingungsornamentik,  dem  man  nach- 
grübeln möchte.  Aber  sie  ist  mehr  als  rätselhaft;  sie  ist 
labyrinthisch.  Sie  scheint  keinen  Anfang  und  kein  Ende 
zu  haben,  vor  allem  auch  keinen  Mittelpunkt;  all  diese 
Orientierungsmöglichkeiten  für  das  organisch  eingestellte 
Gefühl  fehlen.  Wir  finden  keinen  Punkt,  wo  wir  einsetzen, 
keinen  Punkt,  wo  wir  haltmachen  könnten.  Jeder  Punkt 
ist  innerhalb  dieser  unendhchen  Bewegtheit  gleichwertig, 
und  aUe  zusammen  sind  sie  gegenüber  der  durch  sie  repro- 
duzierten Bewegtheit  wertlos. 

Wir  sagten  schon,  dass  die  unendliche  Bewegtheit  der 
nordischen  Ornamentik  dieselbe  ist,  die  die  gotische  Archi- 
tektur später  den  toten  Steinmassen  abgewinnt,  und  diese 
Gleichstellung  wird  durch  die  Feststellung  eines  Unterschiedes 
nur  noch  bestätigt,  nur  noch  verdeutlicht.  Denn  während 
der  Unendlichkeitseindruck  der  Linie  nur  dadurch  erreicht 
werden  konnte,  dass  sie  in  \\'ahrheit  kein  sichtbares  Ende 
nahm,  d.  h.  dass  sie  in  sich  selbst  sinnlos  verhef,  kam  in 
der  Architektur  der  Unendlichkeitseindruck  der  Bewegung- 
durch  die  einseitige  Vertikalakzentuierung  zustande. 

Gegenüber  dieser  von  allen  Seiten  heranströmenden  und 
sich  nach  oben  hin  verflüchtigenden  Bewegung  kommt  der 
wirkliche  Abschluss  dieser  Bewegung  mit  der  äussersten 
Turmspitze  gar  nicht  in  Betracht:  die  Bewegung  klingt 
im  Unendlichen  weiter.  Die  Vertikalakzentuierung  pro- 
duziert hier  mittelbar  das  Unendlichkeitssymbol,  was  in 
der  Ornamentik  unmittelbar  durch  das  In-sich-selbst-Ver- 
laufen  der  Linie  gegeben  \vird. 

Wir  haben  also  neben  der  vorherrschend  asjonmetrischen 
Eigenart  der  nordischen  Ornamentik  auch  ihre  vorherrschend 
azentrische  Art  festgestellt.  Doch  diese  Feststellung  trifft 
nur  den  allgemeinen  Charakter,  im  einzelnen  gibt  es  Aus- 
nahmen. So  gibt  es  eine  Anzahl  omamentaler  Motive  im 
Norden,   die   zweifellos   zentrischen   Charakter  haben,   aber 


y 


38  VON  DER  TIERORNAMENTIK 

auch  hier  können  wir  gegenüber  ähnlichen  klassischen  Orna- 
menten einen  einschneidenden  Unterschied  konstatieren. 
Statt  des  gleichmässigen  und  allseitig  geometrischen  Sterns 
z.  B.  oder  der  Rosette  oder  ähnlicher  ruhender  Gestalten, 
findet  sich  im  Norden  das  sich  drehende  Rad,  die  Turbine 
oder  das  sogenannte  Sonnenrad,  alles  Muster,  die  eine 
heftige  Bewegung  ausdrücken.  Und  zwar  geht  die  Bewegung 
nicht  in  radialer,  sondern  in  peripheraler  Richtung.  Es  ist 
eine  Bewegung,  die  nicht  aufgehalten  und  gehemmt  werden 
kann.  ,, Während  das  antike  Ornament  sich  in  seiner  nach 
der  Mitte  zusammen  oder  von  der  Mitte  nach  den  Seiten 
laufenden  entgegengesetzten  —  negativen  und  positiven  — 
Bewegung  in  sich  selbst  aufhebt  und  sich  so  zur  absoluten 
Ruhe  bringt,  geht  das  nordische  Ornament  von  einem 
Punkte  anfangend  immer  weiter,  immer  in  gleichem  Sinne 
vorwärts,  bis  sein  Lauf  die  ganze  Fläche  besclrrieben  und 
naturgemäss  in  sich  zurückläuft."  (Haupt.)  Der  Unter- 
schied zwischen  der  radialen  Bewegung  des  antiken  und  der 
peripheralen  Bewegung  des  nordischen  Ornaments  ist  also 
ein  ganz  ähnlicher  wie  der  zwischen  der  Wiederholung  im 
gleichen  und  der  Wiederholung  im  Gegensinn.  Hier  die 
ruhige  gemässigte  organische  Bewegung,  dort  die  sich  ununter- 
brochen steigernde  mechanische  Bewegung.  Und  wir  sahen, 
wie  gerade  bei  anscheinender  Verwandtschaft  in  den  Bil- 
dungsgesetzen von  klassischer  und  nordischer  Ornamentik 
sich  die  Unterschiedlichkeit  bei  näherem  Zusehen  nur  um 
so  sichtbarer  herausstellte. 


VON  DER  TIERORNAMENTIK  BIS  ZU  HOLBEIN 

"^  ^  ^enn  der  organische  Duktus  der  klassischen  Ornamentik 
^  ^  im  Laufe  der  Entwicklung  allmählich  seine  allgemeine 
Haltung  aufgibt  und  sich  dem  Besonderen  zuwendet,  d.  h. 
wenn  er  besonders  prägnante  Verkörperungen  organischer 
Gesetzlichkeit  aus  der  Natur  als  ornamentale  Motive  in  sich 
aufnimmt,  so  ist  das  ein  ganz  natürlicher,  ungezwungener 
Vorgang.     Statt  das  latente  Gesetz  der  Naturbildungen  zu 


BIS  ZU  HOLBEIN  39 


reproduzieren,  reproduziert  der  klassische  Künstler  nun  diese 
Naturbildungen  selbst,  und  zwar  nicht  in  naturalistischer 
Abschrift,  sondern  mit  voller  Wahrung  des  idealen  Cha- 
rakters. Er  gibt  nur  ideale  Abrisse  von  ihnen,  die  genügen, 
um  das  Gesetz  der  organischen  Bildung  anschaulich  zu 
machen.  In  solch  pragmatischer  Reinheit,  wie  er  sie  wünschte, 
gab  sich  ihm  das  organische  Bildungsgesetz  nur  in  der  vege- 
tabilen  Welt  zu  erkennen;  hier  fand  er  gleichsam  eine 
Grammatik  der  organischen  Bildungsgesetze  und  es  war  klar, 
dass  er,  der  bisher  gleichsam  nur  in  Zeichen,  d.  h.  nur  in 
organisch  geschwungenen,  organisch  rhythmisierten  Linien- 
motiven redete,  sich  nun  auf  der  Grundlage  dieser  natürlichen 
Grammatik  direkter,  geschmeidiger,  lebendiger,  differenzierter 
auszudrücken  lernte.  Kurz:  die  Pflanzenmotive  der  klas- 
sischen Ornamentik  sind  eine  natürliche  Blüte  ihrer  orga- 
nischen Grundlage. 

Ein  anderes  ist  es  mit  den  Tiermotiven  der  nordischen 
Ornamentik.  Sie  wachsen  nicht  selbstverständlich  und 
zwanglos  aus  der  Natur  des  nordischen  Lineaments  heraus, 
sondern  sie  gehören  einer  ganz  anderen  Welt  an  und  wirken 
in  Verbindung  mit  diesem  Lineament  für  unser  Gefühl 
ganz  widersinnig  und  rätselhaft.  /  Jeder  Vergleich  zwischen 
dem  Wesen  der  klassischen  Pflanzenornamentik  und  dem 
Wesen  nordischer  Tierornamentik  verbietet  sich.  Ihre  Genesis, 
ihr  Sinn  und  ihr  Zweck  sind  fundamental  verschiedene  und 
ohne  jede  KommensurabiHtät.\  Wir  brauchen  die  nordische 
Tieromamentik  nur  etwas  näher  anzuschauen,  um  ihrer  mit 
klassischen  Werten  unvergleichbaren  Eigenart  bewusst  zu 
werden. 

Wir  hatten  im  Eingang  dieser  ornamentalen  Unter- 
suchungen festgestellt,  dass  die  nordische  Ornamentik  rein 
abstrakten  Charakter  trüge  und  dass  sie  keine  Darstellung 
natürhcher  Vorbilder  enthalte.  Diese  Feststellung  wird 
durch  die  Existenz  dieser  Tierornamentik  im  wesentlichen 
kaum  eingeschränkt.  Denn  diese  Tierornamentik_ist  nicht 
das  Resultat  direkter  Naturbeobachtung,  sondern  es  sind 
phantastische  Gebilde,  die  mehr  oder  weniger  willkürlich 
aus  der  Linearphantastik  herauswachsen  und  ohne  sie  keine 
Existenz  haben.  Es  ist  ein  Spielen  mit  Naturerinnerungen 
innerhalb  dieser  abstrakten  Linienkunst  ohne  jede  der  Natur- 


40  VON  DER  TIERORNAMENTIK 

beobachtung  eigne  Absicht  der  Deutlichkeit.  Haupt  sagt: 
„Die  Tierwelt  wird  in  das  Flechtwerk  einbezogen,  doch  nicht 
etwa  im  Sinne  einer  Nachbildung  der  Natur,  sondern  nur 
zur  blossen  Flächenverzierung.  Das  Tier  zeigt  einen  Kopf, 
einen  oder  ein  Paar  Füsse  und  sein  Leib  wird  hin  und  her 
gewunden,  wie  der  einer  Schlange;  oftmals  aus  mehreren 
gleichen  Tieren  zusammen  zu  einem  verschlungenen  Flecht- 
knäuel geballt,  bedeckt  dann  das  Muster  wie  ein  Teppich  das 
vorhandene  Feld,  und  meist  kann  nur  ein  geübter  Blick 
herausfinden,  dass  hier  überhaupt  Tierbilder  vorhanden  oder 
gemeint  sind.  Das  unbefangene  Auge  sieht  das  Ganze  als 
ein  reines  Flechtwerk.  Wo  dann  aber  an  Spitzen  und  Enden 
wirkliche  Körperteile  einmal  auftreten,  da  sind  sie  wieder 
durch  Linien,  Kerbschnitte  u.  dgl.  m.  so  stark  zerschnitten 
und  geschmückt  und  bedeckt,  dass  man  sie  kaum  als  das, 
was  sie  ursprünglich  waren,  erkennt." 

Diese  Tierornamentik  mag  demnach  so  entstanden  sein, 
dass  bei  gewissen,  rein  linearen  Bildungen  die  ferne  Er- 
innerung an  tierische  Bildungen  auftauchte  und  man  aus 
bestimmten  Gründen,  auf  die  wir  unten  zurückkommen,  dieser 
Erinnerung  nachging,  dadurch,  dass  man  diese  Aehnlichkeit 
weiter  bemerkbar  und  deutlich  machte,  etwa  dadurch,  dass 
man  mit  einigen  Punkten  Augen  andeutete  oder  dergleichen. 
Dies  alles,  ohne  dem  rein  abstrakten  linearen  Charakter  der 
Ornamentik  etwas  zu  vergeben.  Dass  dabei  nicht  die  Er- 
innerung an  ein  bestimmtes  Tier,  sondern  nur  eine  allgemeine 
Erinnerung  an  tierisches  Wesen  tätig  war,  beweist  die  Tat- 
sache, dass  man  ohne  Bedenken  von  den  verschiedensten 
Tieren  entlehnte  Motive  vereinigte.  Erst  die  spätere  Natura- 
lisierung machte  diese  Gebilde  dann  zu  den  bekannten  Fabel- 
tieren, wie  sie  mit  Vorliebe,  aber  ohne  Verständnis,  von  der 
späteren  Ornamentik  aufgenommen  wurden.  Ursprünghch  sind 
diese  Gebilde  nur  Ausgeburten  einer  linearen  Phantasie ; 
ausserhalb  dieser  Linienphantastik  haben  sie  kein  Dasein, 
auch  nicht  im  Vorstellungsleben  des  nordischen  Menschen. 

Wir  sagten,  dass  sich  mit  diesen  fabelhaften  Tiergebilden 
verzerrte  Naturerinnerungen  in  das  abstrakte  Linienspiel 
einschhchen.  Das  ist  nun  nicht  ganz  präzis  gesagt.  Denn 
es  handelt  sich  hier  nicht  um  Naturerinnerungen,  sondern 
um  Wirklichkeitserinnerungen.     Dieser  Unterschied  ist  für 


•*r>95f 


MÜNSTER  ZU  ULM 


BIS  ZU  HOLBEIN  41 


das  ganze  gotische  Problem  von  einschneidender  Bedeutung. 
Denn  das  Wirkhche  ist  mit  dem  Natürhchen  keineswegs 
identisch.  Man  kann  die  Wirklichkeit  sehr  scharf  erfassen, 
ohne  dadurch  der  Natur  näher  zu  kommen.  Vielmehr  er- 
kennen war  das  Natürliche  innerhalb  des  Wirklichen  erst, 
wenn  die  Vorstellung  des  Organischen  in  uns  lebendig  ge- 
worden und  wir  damit  zum  aktiven,  erkennenden  Schauen 
befähigt  worden  sind.  Dann  erst  löst  sich  für  uns  das  Chaos 
des  Wirklichen  in  den  Kosmos  des  Natürlichen  auf.  Die 
Vorstellung  des  organischen  Gesetzes  aber  kann  nur  da 
lebendig  werden,  wo  ein  ideales  Identitätsverhältnis  zwischen 
Mensch  und  Welt,  wie  in  den  klassischen  Epochen,  erreicht 
ist.  Aus  diesem  Verhältnis  ergibt  sich  die  Läuterung  des 
Weltbildes  von  selbst,  denn  die  Einfühlung,  dieses  Resultat 
des  Identitätsbewusstseins,  sie  ist  es,  die  uns  all  die  un- 
artikuherten  Laute  der  Wirklichkeit  zu  festen,  organisch 
klaren  Wortbildern  formt. 

Der  nordische  Mensch  war  noch  weit  von  jenem  idealen 
Identitätsverhältnis  zur  Welt  entfernt.  Die, Welt  des  Natür- 
lichen war  ihm  darum  noch  verschlossen.  'Um  so  intensiver 
aber  drängte  sich  ihm  die  Wirklichkeit  auf;  weil  er  sie  mit 
naiven,  durch  keine  Erkenntnis  des  Natürlichen  kultivierten 
Bhcken  betrachtete,  gab  sie  sich  ihm  in  aller  Schärfe  mit 
all  ihren  tausend  Einzelheiten  und  Zufälligkeiten.  Durch 
diese  Schärfe  der  Wirklichkeitserfassung  sondert  sich  die 
nordische  Kunst  von  der  klassischen,  die  der  Willkür  der 
Wirklichkeit  ausweichend  sich  ganz  auf  dem  Natürlichen  und 
seiner  geheimen  Gesetzmässigkeit  aufbaut  und  deren  or- 
ganisch rhythmisierte  Liniensprache  deshalb  zwanglos  über- 
gehen konnte  in  eine  direkte  Darstellung  des  Natürlichen. 

Die  nordische  Kunst  dagegen  erwächst  aus  der  Ver- 
bindung einer  abstrakten  Liniensprache  mit  der  Wiedergabe 
der  Wirklichkeit.  Das  erste  Stadium  der  Verbindung  liegt 
eben  in  der  nordischen  Tierornamentik  vor.  Der  Eigenaus- 
druck der  Linie  und  ihr  geistiges  unsinnhches  Ausdrucks- 
wesen wurde  durch  diese  Einschaltung  von  Wirklichkeits- 
motiven keineswegs  geschwächt,  denn  in  dieser  Wirklichkeit 
war  das  Natürliche,  das  Organische  noch  ganz  verhüllt,  und 
nur  die  Zulassung  solcher  organischer  Ausdruckswerte 
hätte  den  abstrakten  Charakter  des  Lineaments  geschwächt. 


42  VON  DER  TIERORNAMENTIK 

Mit  Wirklichkeitswerten  dagegen  liess  sich  dieser  abstrakte 
Liniencharakter  wohl  verquicken,  ja  diese  Wirklichkeits- 
motive konnten  sogar,  wie  wir  sahen,  unwillkürlich  aus  dieser 
abstrakten  Linearphantastik  herauswachsen.  Denn  das 
Charakteristische  der  Wirklichkeitseindrücke  prägt  sich  uns 
in  einer  linearen  Reduktion  ein,  deren  einzelne  Linien  einen 
summarischen  Ausdrucks  wert  enthalten,  der  weit  über  die 
Funktion  der  Linie  als  blosse  Konturangabe  hinausgeht.  Am 
klarsten  wird  dieses  Ineinanderübergehen  von  charakte- 
ristischer Wirklichkeitslinie  und  selbständiger,  nur  ihrem 
Eigenausdruck  nachgehender  Linie  in  der  Karikatur.  Hier 
droht  die  summarische  Ausdruckswucht  der  einzelnen  Linie 
in  jedem  Augenblick  umzuschlagen  in  ein  bloss  arabesken- 
haftes  Liniendasein.  Während  beim  Entwicklungsbeginn 
umgekehrt  das  rein  abstrakte  Linienspiel  leicht  Wirklichkeits- 
charakter anzunehmen  neigte. 

Doch  gilt  dieser  Zufälligkeitscharakter  der  Entstehung 
von  Wirklichkeitsandeutungen  nur  für  die  Anfangsstadien 
der  nordischen  Ornamententwicklung.  ;'  Im  Fortgang  der 
Entwicklung  mit  dem  wachsenden  Selbstbewusstsein  des 
künstlerischen  Könnens  trat  auch  an  den  nordischen  Men- 
schen, wie  an  jeden  Menschen  fortgeschrittener  Entwick- 
lung, die  Forderung  heran,  sich  der  Erscheinungen  der 
Aussenwelt  künstlerisch  zu  bemächtigen,  d.  h.  sie  aus  dem 
grossen  fluktuierenden  Erscheinungszusammenhang  heraus- 
zunehmen und  anschaulich  zu  fixieren.  Der  Weg  dieser 
künstlerischen  Fixierung  ist  in  allen  Menschheitsepochen  der- 
selbe: Uebersetzung  der  darzustellenden  Aussenwelt objekte 
in  die  Sprachelemente  des  jeweiligen  Formwillens.  Diese 
Sprachelemente  des  Formwillens  müssen  festgelegt  sein,  ehe 
an  die  künstlerische  Beherrschung  der  Aussenweltobjekte 
herangegangen  wird.  Sie  sind  das  Apriori  der  künstlerischen 
Gestaltung.  Den  Schauplatz  dieser  Festlegung  des  apriori- 
schen Form  willens  kennen  wir:  es  ist  die  Ornamentik.  Sie 
fixiert  den  apriorischen  Formwillen  in  paradigmatischer 
Reinheit,  d.  h.  sie  ist  der  genaue  Ausdruck  des  Verhältnisses, 
in  dem  die  betreffende  Menschheit  zur  Welt  steht.  Erst 
nachdem  auf  diese  Weise  die  Grammatik  der  künstlerischen 
Sprache  festgelegt  worden  ist,  kann  der  Mensch  daran  gehen, 
die  Aussenweltobjekte  in  diese  Sprache  zu  übersetzen. 


BIS  ZU  HOLBEIN 


43 


Der  apriorische  Formwille  des  primitiven  Menschen  wird 
repräsentiert  durch  die  ausdruckslose  geometrische  Linie, 
diesen  absoluten  Wert,  der  den  direkten  Gegenpol  alles 
Lebens  darstellt.  Dadurch  ist  einer  künstlerischen  Aus- 
einandersetzung mit  der  Aussenwelt  der  Weg  vorgeschrieben : 
er  übersetzt  die  Objekte  in  diese  Sprache  einer  toten  Geo- 
metrie; er  geometrisiert  sie  und  überwindet  dadurch  ihren 
Lebendigkeitsausdruck.  In  dieser  restlosen  Ueberwindung 
alles  Lebensausdrucks  besteht  für  ihn  das  Ziel  der  Kunst, 
wie  es  durch  sein  absolut  dualistisches  Verhältnis  zur  Welt 
bedingt  ist. 

Der  Formwille  des  klassischen  Menschen  dokumentiert 
sich  in  der  organisch-rhythmischen  Linie  seiner  Ornamentik: 
mit  diesem  ornamentalen  Sprachgefühl  geht  er  an  die  Aussen- 
weltobjekte  heran:  künstlerisch  darstellen  heisst  für  ihn,  den 
organischen  Ausdrucks  wert  der  Objekte  klar  zu  reprodu- 
zieren, heisst  für  ihn,  den  Ausdruckswert  seiner  ornamentalen 
Sprache  auf  die  darzustellenden  Objekte  zu  übertragen. 

Nun  haben  wir  durch  die  Analyse  der  nordischen 
Ornamentik  auch  das  Wesen  des  gotischen  Formwillens 
kennen  gelernt ;  wir  sahen  in  dieser  Linienphantastik  mit  ihrer 
aller  organischen  Mässigung  baren,  fieberhaft  gesteigerten 
Bewegtheit  das  intensive  Verlangen,  eine  Welt  unsinnlicher 
resp.  übersinnlicher  geistiger  Ausdruckskomplexe  zu  schaffen, 
in  der  aufzugehen  dem  an  ein  chaotisches  Wirklichkeitsbild 
gebundenen  nordischen  Menschen  ein  befreiender  Rausch- 
genuss  gewesen  sein  muss.  Seine  künstlerische  Auseinander- 
setzung mit  der  Welt  konnte  demnach  auch  nur  das  Ziel 
haben,  die  Aussenweltobjekte  seiner  spezifischen  Linien- 
sprache zu  assimilieren,  d.  h.  sie  einzuschalten  in  diese  von 
höchster  Ausdruckswucht  gespannte  und  gesteigerte  Be- 
wegtheit. Was  ihm  die  Aussenwelt  bot,  waren  nur  wirre 
Wirklichkeitseindrücke.  Diese  Wirklichkeitseindrücke  er- 
fasste  er  scharf  und  mit  allen  Einzelheiten;  aber  die  blosse 
sachliche  Nachahmung  derselben  hätte  für  ihn  noch  nicht 
Kunst  bedeutet,  denn  sie  hätte  den  einzelnen  Wirklichkeits- 
eindruck nicht  von  dem  allgemeinen,  fluktuierenden  Er- 
scheinungszusammenhang befreit ;  erst  die  Verbindung  dieser 
Wirklichkeitseindrücke  mit  jenen  gesteigerten  geistigen  Aus- 
dnickskomplexen  machte  aus  der  sachlichen  Nachahmung 


44  VON  DER  TIERORNAMENTIK 

Kunst.  Lamprecht  interpretiert  diesen  Sachverhalt,  von 
anderen  Gesichtspunkten  ausgehend,  wie  folgt:  ,,Es  ist  eine 
Zeit,  in  der  die  künstlerische  Anschauung  noch  über  kein 
anderes  Ausdrucksmittel  verfügt,  als  über  die  Ornamentik. 
Nicht  als  ob  das  germanische  Auge  die  Tierwelt  in  ihren 
unendlich  vielgestalteten  Formen  und  wechselnden  Be- 
wegungen nicht  ebensowohl  hätte  erfassen  können  wie  unser 
Auge.  Man  sah  damals  bestimmt :  nicht  ornamental,  d.  h. 
roh.  Aber  wenn  das  Auge  ästhetische  Auffassungen  ver- 
mittelte, wenn  es  dem  Künstler  zur  künstlerischen  Repro- 
duktion der  Natur  verhelfen  sollte,  dann  zeigte  sich  sein 
Aufnahmevermögen,  seine  Fassungsgabe  so  begrenzt,  dass 
nur  die  ornamentale  Wiedergabe  als  wirklich  ästhetische  Ver- 
y^'    gegen wärtigung  der  natürlichen  Formen  empfunden  ward." 

So  kommt  es  denn  zu  der  spezifischen  Doppelwirkung 
resp.  Zwitterwirkung  der  ganzen  gotischen  Kunst:  auf  der 
einen  Seite  schärfste  unmittelbare  Wirklichkeitserfassung, 
auf  der  anderen  Seite  ein  überwirkliches  phantastisches 
Linienspiel,  das  keinem  Objekt  gehorcht  und  nur  von  seinem 
Eigenausdruck  lebt.  Die  ganze  Entwicklung  der  gotischen 
Darstellungskunst  wird  durch  dieses  Gegen-  und  Ineinander- 
spiel  bestimmt.  Die  Stufen  dieser  künstlerischen  Aus- 
einandersetzung des  nordischen  Menschen  mit  der  Wirk- 
lichkeit —  es  handelt  sich  immer  nur  um  die  Wirklichkeit; 
erst  mit  der  Renaissance  tritt  die  Natur  in  den  Gesichts- 
und Erkenntniskreis  des  nordischen  Menschen:  sie  stellt 
darum  auch  die  Peripetie  der  eigentlich  nordischen  Ent- 
wicklung dar  —  sind  kurz  skizziert  folgende:  Zuerst  abso- 
luter Dualismus  von  Mensch  und  Wirklichkeit;  die  Wirk- 
lichkeitsmomente werden  ganz  und  gar  in  das  überwirkliche 
Linienspiel  hineingezogen;  sie  verschwinden  gänzlich  darin. 
y^  Die  D3niamik  des  künstlerischen  Wollens  ist  hier  am  stärksten, 
die  Wirklichkeitsüberwindung  am  konsequentesten.  Es  ist 
die  Stufe  der  Tierornamentik. 

Langsam  flaut  im  Verlauf  der  geistigen  Entwick- 
lung der  anfänglich  strenge  Dualismus  zwischen  Mensch 
und  Wirklichkeit  ab:  das  Wirkliche  kommt  nun  auch 
in  der  Kunst  stärker  gegenüber  den  Unwirklichkeits- 
momenten  auf,  wenn  letztere  auch  noch  immer  überwiegen. 
Indem  sich  die  Wirklichkeitswerte  höheren  Anspruch  ver- 


FASSADE  DER  KATHEDRALE  ZU  ROUEN 


BIS  ZU  HOLBEIN  45 


schaffen,  wird  ihre  Verquickung  mit  jenen  wirklichkeits- 
fremden geistigen  Ausdruckselementen  um  so  auffallender, 
und  der  Zwittercharakter  der  Gotik  ist  demgemäss  auf  dieser 
Stufe  am  stärksten.  Diese  Stufe  wird  repräsentiert  einerseits 
durch  die  gotische  Kathedralstatuarik,  anderseits  durch  die 
gotische  Gewandbehandlung. 

In  der  gotischen  Kathedralstatuarik  ist  der  Zusammen- 
hang mit  der  frühen  Tieromamentik  ein  relativ  enger.    Wie 
hier   die   tierischen   Gebilde   ganz   aufgehen   in   einer   selb- 
ständigen linearen  Bewegtheit,  so  gehen  dort  die   Statuen 
ganz  auf  in  einer  selbständigen  architekturalen  Bewegtheit 
von  äusserster  Ausdruckswucht.    Einen  geistigen  Ausdruck, 
wie  ihn  der  Gotiker  verlangte,  erreichten  diese  Gebilde  nur 
dadurch,  dass  sie  angegliedert  wurden  an  eine  von  ihnen 
unabhängige  geistige  Ausdrucks  weit.     Aus  dem  Zusammen- 
hang herausgenommen  sind,   die   ornamentalen  Tiergebilde 
wie  die  Kathedralstatuen  tot,  sinnlos  und  ausdruckslos;  ihre 
geistige  Ausdruckskraft,  d.  h.  ihren  gotischen  Kunstwert  er- 
halten sie  nur  durch  das  Aufgehen  in  das  abstrakte  Lineament 
resp.  in  die  abstrakte  Konstruktion,  die  ihren  Ausdruckswert 
auf  sie  übergehen  lassen.     Der  Unterschied  zwischen  Tier- 
omamentik und  Kathedralstatuarik  ist  für  den  Stilpsycho- 
logen nur  ein  qualitativer,  wie  er  durch  die  fortgeschrittene 
Entwicklung   selbstverständlich   ist:    aus   vagen  Tierandeu- 
tungen sind  Statuen  mit  scharf  ausgeprägten  Physiognomien 
geworden,  aus  dem  wirren  Lineament  raffinierte  Konstruktion. 
Die  gotische  Gewandbehandlung  zeigt  uns  die  Stufe,  wo 
die  WirkHchkeitsfaktoren  den  Elementen  der  Unwirkhchkeit 
die  Wage  halten;    beide  sind  nun  geichwertig  ausgebildet, 
stehen  sich  aber  unvermittelt,  unversöhnt,  in  unverhüllter 
Zwitterhaftigkeit    gegenüber.       Denn    das    Gegenspiel    von 
Körper  und  Gewand,  das  für  die  mittlere  gotische  Kunst  so 
charakteristisch  ist,  ist  kein  anderes  als  das  Gegenspiel  von 
Wirkhchkeit    und    Unwirkhchkeit    resp.    Ueber Wirklichkeit. 
Allerdings  kann  man  eigentlich  nur  von  einem  Gegenspiel 
von  Gesicht  und  Gewand  sprechen,  denn  der  Körper  kommt 
in  diesen  Darstellungen  dem  Gewände  gegenüber  gar  lücht 
auf,  und  die  ganze  Schärfe  der  Wirklichkeitserfassung  hat 
sich   auf   den   Naturalismus   der    Gesichtsbehandlung   kon- 
zentriert.   Und  mit  diesem  grossartigen,  wirkUchkeitstreuen 


46  VON  DER  TIERORNAAIENTIK 

Naturalismus  kontrastiert  nun,  ihm  das  Gegengewicht  gebend, 
der  Gewandkomplex,  den  der  gotische  Künstler  zu  einem 
Schauplatz  der  UnwirkHchkeit,  zu  einem  kunstvollen  Chaos 
heftig  bewegter  Linien  mit  einer  an  dieser  Stelle  unheim- 
lichen selbständigen  Lebendigkeit  und  Ausdruckskraft  machte. 
Was  hier  unversöhnt  und  für  unser  modernes  Auge 
sinnlos  nebeneinandersteht,  das  gelangt  auf  der  höchsten 
Stufe  der  nordischen  Entwicklung  zu  einer  idealen  Ver- 
söhnung. Nämlich  in  der  zeichnerischen  Linienkunst  eines 
Holbein  und  Dürer.  Hier  sind  Naturalismus  und  geistiges 
Ausdruckswesen  keine  Gegensätze  mehr,  hier  sind  sie  nicht 
mehr  in  eine  äusserliche  Verbindung,  sondern  in  eine  innere 
Verbindung  gebracht.  Die  Absicht  der  Vergeistigung  hat 
allerdings  ihre  grosse  Dynamik  verloren,  aber  sie  ist  so  weit 
sublimiert,  so  weit  ins  Innerliche  gewandt,  dass  sie  sich  mit 
dem  geistigen  Ausdruck  identifizieren  kann,  der  aus  der 
Darstellung  resp.  dem  Dargestellten  selbst  herauswächst. 
Der  Wirklichkeit  wird  also  dieses  geistige  Ausdruckswesen 
nicht  mehr  äusserlich  aufgenötigt,  sondern  sie  produziert  es 
selbst.  Und  es  kommt  zu  einer  Verschmelzung  von  Wirklich- 
keitswiedergabe und  abstraktem  Linienspiel,  der  wir,  wie 
gesagt,  die  zeichnerische  Charakterisierungsfähigkeit  Dürers 
und  Holbeins  verdanken,  die  im  Rahmen  der  bildenden 
Kunst  das  Höchste  darstellt,  was  unter  den  künstlerischen 
Voraussetzungen,  wie  sie  für  den  Norden  vorlagen,  überhaupt 
/  zu  erreichen  war  und  das  deshalb  in  seiner  Vollendung  in  der 
ganzen  Kunstgeschichte  ohne  Parallele  ist.  Die  zeichnerische 
Charakterisierungsfähigkeit  ist  ohne  diese  Vorgeschichte  einer 
rein  abstrakten  Linienübung  gar  nicht  denkbar.  Sie  erst 
ermöglichte  es,  dass  der  Eigenausdruck  der  Linie,  ihr  selb- 
ständiges geistiges  Dasein  mit  der  vom  Objekt  abhängigen 
dienenden  Funktion  der  Linie  eine  so  glückliche  Verbindung 
einging,  dass  der  geistige  Ausdruckswert  der  Linie  zugleich 
zum  Interpreten  der  geistigen  Energie  des  Dargestellten  wird. 
Aus  dem  Nebeneinander  von  geistigem  Ausdruck  und 
Wirklichkeitswiedergabe  wird  auf  dieser  Stufe  ein  Mit- 
einander, das  die  höchste  geistige  Charakterisierungs- 
fähigkeit produziert,  die  die  Kunstgeschichte  kennt.  In 
dieser  konzentrierten  Darstellung  geistiger  Energien 
gipfelt  die  Gotik,  gipfelt  die  nordische  abstrakte  Linienkunst, 


BIS  ZU  HOLBEIN  47 


und  man  kann  den  Gegensatz  zwischen  Gotik  und  Klassik 
nicht  besser  betonen,  als  wenn  man  hier  zum  Vergleich 
Michelangelo  heranzieht,  in  dem  gewissermassen  die  klassische,  , 
d.  h.  organisch  gebundene  Ausdruckskunst  ihren  Gipfel  er-  ■^*'|^*^ 
reicht:  die  mächtige  Darstellung  sinnlicher  Energien  steht 
hier  der  mächtigsten  Darstellung  geistiger  Energien  gegenüber. 
So  klingt  der  Gegensatz  von  Klassik  und  Gotik  aus.  Und  nur 
angedeutet  mag  hier  werden,  dass  die  nordische  Kunst,  nach- 
dem sie  durch  die  Aufnahme  unvereinbarer  klassischer  Ele- 
mente, wie  sie  die  europäische  Renaissance  brachte,  um  jede 
sichere  Orientierung  gebracht  worden  war,  das  geistige  Aus- 
druckswesen, das  sie  ihrer  ganzen  Veranlagung  nach  bedurfte, 
und  das  nun  seines  gegebenen  Trägers,  der  abstrakten  Linie, 
beraubt  worden  war,  überhaupt  nicht  mehr  formal  ausdrückte, 
sondern  nur  inhaltlich.  Ja,  der  Unterschied  zwischen  Form 
und  Inhalt,  den  keine  autochthone  Kunst  kennt,  er  wurde 
geradezu  erst  durch  diese  allgemeine  künstlerische  Des- 
orientierung in  die  nordische  Kunst  gebracht.  Die  Neigung 
der  nordischen  Kunst  zu  allegorischem  Beziehungswerk,  zu 
literarischer  Bedeutsamkeit,  sie  ist  der  letzte  Ausläufer  jener 
geistigen  Ausdruckssucht,  die,  ihrer  natürhchen  formalen 
Verkörperungsmöglichkeit  durch  die  Vorherrschaft  einer 
fremden  Formen  weit  beraubt,  nun  so  äusserlich  und  un- 
künstlerisch auf  das  Kunstprodukt  aufgepflanzt  wird.  Die  ^ 
stärksten  nordischen  Maler  nach  der  Renaissance  waren  \  ^'  ^  H«^*'**- 
verkappte  Literaten,  verkappte  Dichter,  und  insofern  haben  .  >  v..  i><v»  a/ 
die  Leute  leider  nicht  ganz  unrecht,  die  das  Wesen  der  -+'^*'=*A«tV 
deutschen  Kunst  mit  dieser  literarischen  Note  untrennbar 
verknüpft  sehen.  Nur  wird  dadurch  die  Katastrophe  der 
nordischen  Renaissance  in  ein  noch  helleres  Licht  gerückt, 
nur  werden  gleichzeitig  Die  dadurch  entschuldigt,  die  sich 
von  einer  Kunst,  die  ihre  ideale  Einheitlichkeit  verloren  hat, 
abwenden  und  da  Anknüpfung  suchen,  wo  der  künstlerische 
Wille  sich  noch  rein  formal  auszudrücken  weiss.  Und  das 
ist  in  dem  modernen  Europa  vielleicht  nur  noch  in  Frank- 
reich der  Fall,  das  zudem  eine  Art  Synthese  zwischen 
nordischer  Geistigkeit  und  südlicher  Sinnlichkeit  in  seiner 
modernen  Kunst  zustande  gebracht  hat. 


48  TRANSZENDENTALISMUS 

TRANSZENDENTALISMUS 
DER  GOTISCHEN  AUSDRUCKSWELT 

A  y\  /  ir  sagten,  dass  der  apriorische  FormwiUe  einer  Mensch- 
heitsperiode immer  der  adäquate  Ausdruck  ihres 
Verhältnisses  zur  Umwelt  sei.  So  muss  sich  uns  auch  aus 
dem  Wesen  des  gotischen  Form  willens,  wie  wir  ihn  durch 
die  Analyse  der  nordischen  Ornamentik  in  seiner  rohesten, 
aber  augenfälligsten  Struktur  kennen  gelernt  haben,  das 
Verständnis  erschliessen  für  das  Verhältnis,  in  dem  der 
nordische  Mensch  zur  Aussenwelt  stand. 

Zur  Orientierung  greifen  wir  wieder  zurück  auf  die  grossen 
Musterbeispiele  der  Menschheitsgeschichte,  wie  wir  sie  in 
früheren  Kapiteln  fixiert  haben.  Da  war  der  gesetzmässige 
Zusammenhang  zwischen  Formwille  und  Weltgefühl  ganz 
klar.  So  sahen  wir  beim  primitiven,  geistig  noch  unent- 
wickelten Menschen  einen  absoluten  Dualismus,  ein  durch 
nichts  gemildertes  Furchtverhältnis  zur  Erscheinungswelt, 
das  sich  in  künstlerischer  Beziehung  naturgemäss  äusserte 
in  dem  Bedürfnis,  sich  vor  der  Willkür  der  Erscheinungs- 
welt zu  retten  und  sich  anzuklammern  an  selbstgeschaffene 
Werte  von  Notwendigkeits-  und  Unbedingtkeitscharakter. 
Seine  Kunst  ist  also  verankert  in  einem  Erlösungsbedürfnis; 
das  gibt  ihr  den  transzendentalen  Charakter. 

Denselben  transzendentalen  Charakter  trägt  die  orien- 
talische Kunst,  die  gleichfalls  aus  dem  Erlösungsbedürfnis 
herauswächst.  Der  Unterschied  zwischen  ihnen  ist,  wie  wir 
sahen,  kein  genereller,  sondern  nur  ein  gradueller  in  quali- 
tativer Beziehung,  wie  er  schon  durch  den  Unterschied  von 
Primitivität  und  Kultur  gegeben  ist.  Die  generelle  Gleich- 
heit der  seelischen  Voraussetzungen  zeigt  sich  trotz  aller 
qualitativen  Unterschiede  darin,  dass  bei  beiden  der  Form- 
wille gebunden  ist  an  die  abstrakte,  organisch  ungemilderte 
Linie.  Wo  die  abstrakte  Linie  der  Träger  des  Form willens_ 
ist,  da  ist  die  Kunst  transzendental,  da  ist  sie  durch  Er-_ 
lösungsbedürfnisse  bedingt.  Die  organisch  bestimmte  Linie 
dagegen  zeigt  an,  dass  jedes  Erlösungsbedürfnis  in  grossem 
Sinne  abgeflaut  und  zu  einem  bloss  individuellen  Erlösungs- 
bedürfnis, wie  es  sich  ja  schliesslich  in  jeder  Hinneigung 


DER  GOTISCHEN  AUSDRUCKSWELT  4g 

ZU  Gesetzlichkeit  und  Harmonie  dokumentiert,  gemildert 
ist.  Tm  grossen  Sinne  transzendental  ist  die  Kunst  dann 
nicht  mehr. 


Für  unser  gotisches  Problem  ergibt  sich  daraus,  dass 
dieser  Zustand  der  Abflauung  und  Milderung  noch  nicht 
eingetreten  sein  kann,  denn  da  auch  hier  die  abstrakte, 
organisch  ungemilderte  Linie  Träger  des  Formwillens  ist, 
so  ist  das  Erlösungsbedürfnis  als  psychische  Voraussetzung 
des  gotischen  Kunstphänomens  schon  nachgewiesen.  Ander- 
seits sehen  wir,  dass  dieses  Erlösungsbedürfnis  von  dem 
des  primitiven  und  orientalischen  Menschen  deutlich  ge- 
schieden ist,  denn  während  der  primitive  und  der  orien- 
talische Mensch  im  künstlerischen  Ausdruck  ihrer  Er- 
lösungssucht bis  zur  äussersten  Grenze  gehen  und  sich  von 
der  quälenden  Willkür  der  lebendigen  Erscheinungswelt 
nur  durch  die  Anschauung  toter  ausdrucksloser  Werte 
zu  befreien  vermögen,  sehen  wir  die  gotische  Linie  voller  Aus- 
druck, voller  Lebendigkeit.  Dem  orientaHschen  Fatalismus 
und  Quietismus  steht  hier  eine  suchende,  drängende  Bewegt- 
heit, eine  ruhelose  Aktivität  gegenüber.  Der  Dualismus 
zur  Aussenwelt  kann  also  nicht  in  der  Stärke  vorhanden 
sein,  wie  beim  primitiven  und  orientalischen  Menschen. 
Anderseits  kann  er  durch  Erkenntnis  noch  nicht  so  abge- 
flaut sein,  wie  beim  klassischen  Menschen,  denn  dann  würde 
die  im  organischen  Sinne  geklärte  Linie  die  Ueberwindung 
aller  dualistischen  Beklemmungen  anzeigen. 

Dass  die  gotische  Linie  ihrem  Wesen  nach  abstrakt  und 
gleichzeitig  von  einer  sehr  starken  Lebendigkeit  ist,  das 
sagt  uns,  dass  hier  ein  differenzierter  Zwdschenzustand  vor- 
liegt, in  dem  der  Dualismus  nicht  mehr  stark  genug  ist, 
um  in  der  absoluten  Negation  des  Lebens  die  künstlerische 
Befreiung  zu  suchen,  aber  auch  noch  nicht  so  abgeschwächt, 
um  aus  der  organischen  Gesetzlichkeit  des  Lebens  selbst 
den  Sinn  der  Kunst  abzuleiten.  So  zeigt  der  gotische  Form- 
wille weder  die  Ausdrucksruhe  des  absoluten  Erkenntnis- 
mangels, wie  der  des  primitiven  Menschen.noch  die  Ausdrucks - 
ruhe  der  absoluten  Erkeimtnisresignation,  wie  der  des  orien- 
talischen, noch  die  Ausdrucksruhe  des  gefestigten  Erkenntnis- 
glaubens, wie  sie  sich  in  der  organischen  Harmonie  der 
klassischen  Kunst  dokumentiert.      Sein  eigentliches  Wesen 

4 


50  TRAN  SZENDENTALISMUS 

scheint  vielmehr  ein  unruhiges  Drängen  zu  sein,  das  in 
seinem  Suchen  nach  Beruhigung,  in  seinem  Suchen  nach 
Erlösung  keine  andere  Befriedigung  finden  kann,  als  die  der 
Betäubung,  als  die  des  Rausches.  So  wird  der  Dualismus, 
der  bis  zur  Negation  des  Lebens  nicht  mehr  ausreicht,  der 
schon  angekränkelt  ist  von  Erkenntnissen,  die  ihm  doch 
die  volle  Befriedigung  vorenthalten,  zu  einer  unklaren 
Rauchssucht,  zu  einem  krampfhaften  Verlangen,  aufzu- 
gehen in  einer  übersinnhchen  Verzückung,  zu  einer  Pathetik, 
deren  eigentliches  Wesen  Masslosigkeit  ist. 

So  spiegelt  sich  schon  in  der  nordischen  Ornamentik 
klar  die  gotische  Seele  wider:  es  sind  die  Kurven  ihres 
Empfindens,  die  hier  die  Linie  beschreibt.  Das  Unbefriedigte, 
immer  nach  neuen  Steigerungen  Gierige  und  schliesslich 
sich  im  Unendlichen  verlierende  Drängen,  das  in  diesem 
Linienwirrwarr  lebt,  ist  ihr  Drängen,  ist  ihr  Leben.  Sie  hat 
die  Unschuld  der  Erkenntnislosigkeit  verloren,  hat  sich 
aber  weder  zum  grossartigen  Erkenntnisverzicht  des  Orien- 
talen, noch  zu  dem  Erkenntnisglück  des  klassischen  Menschen 
durchringen  können,  und  so  kann  sie  sich,  aller  klaren  natür- 
lichen Befriedigung  beraubt,  nur  in  einer  krampfhaften, 
unnatürlichen  Befriedigung  ausleben.  Nur  diese  gewalt- 
same Steigerung  reisst  sie  zu  Empfindungssphären  fort,  in 
denen  sie  endlich  das  Gefühl  ihrer  inneren  Disharmonie 
verhert,  in  denen  sie  Erlösung  findet  von  ihrem  unruhigen, 
unklaren  Verhältnis  zum  Weltbilde.  An  der  WirkHchkeit 
leidend,  von  der  Natürlichkeit  ausgeschlossen,  strebt  sie 
einer  Welt  des  Ueberwirklichen,  des  Uebersinnlichen  zu. 
Den  Taumel  des  Empfindens  braucht  sie,  um  sich  über 
sich  selbst  hinauszuheben.  Nur  im  Rausch  spürt  sie  Ewig- 
keitsschauer. Diese  erhabene  Hysterie  ist  es,  die  vor  allem 
das  gotische  Phänomen  kennzeichnet. 

Derselbe  Empfindungskrampf,  der  sich  in  der  pathe- 
tischen Linienphantastik  der  nordischen  Ornamentik  aus- 
spricht, lässt  später  die  unsinnliche,  übersinnliche  Pathetik 
gotischer  Architektur  entstehen.  Von  der  nordischen  Orna- 
mentik aus  führt  ein  gerader  Weg  zur  gotischen  Architektur, 
Der  Formwille,  der  sich  zuerst  nur  auf  dem  freien  materiell 
ungebundenen  Schauplatz  ornamentaler  Tätigkeit  auszu- 
sprechen vermochte,  er  erstarkte  allmählich  so,  dass  es  ihm 


•yf.     f  %..>. 


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PORTALKRÖXUXG  DER  KATHEDRALE  ZU  REIMS.     KRÖNUNG  MARL\S 


DER  GOTISCHEN  AUSDRUCKSWELT  51 

schliesslich  auch  gelang,  den  spröden,  ungefügen  Stoff  der 
Architektur  für  seine  Zwecke  zu  vergewaltigen  und  — 
durch  den  natürlichen  Widerstand  zur  höchsten  Kraft- 
leistung angestachelt  —  hier  sogar  seinen  imposantesten 
Ausdruck  zu  finden. 

Auch  auf  anderen  Gebieten  Hesse  sich  diese  Pathetik 
als  Grundelement  des  nordischen  Formwillens  nachweisen. 
Die  ganz  eigenartigen  Wort-  und  Satzverschränkungen 
der  frühen  nordischen  Dichtung,  ihr  kunstvolles  Chaos 
miteinander  verschlungener  Vorstellungen,  die  durch  den 
Stabreim  bestimmte  ausdrucksvolle  Rhythmik  mit  ihrer 
verschlungenen  Wiederholung  des  Anlauts  (der  Wiederholung 
des  Motivs  in  der  Ornamentik  entsprechend  und  gleich  ihm 
den  Charakter  einer  wirren,  unendlichen  Melodie  produ- 
zierend) :  das  alles  sind  unverkennbare  Analoga  zur  nordischen 
Ornamentik.  Den  Ausdruck  der  Ruhe  und  der  Ausgeglichen- 
heit kennt  die  germanische  Poesie  nicht,  alles  geht  auf  in 
Bewegung.  ,,So  kennt  die  germanische  Dichtung  kein 
beschauliches  Versenken  in  ruhende  Zustände;  ihre  Dichtung 
träumt  kein  tatenloses  Idyll;  ihre  Aufmerksamkeit  fesselt 
nur  bewegtes  Tun  und  stark  flutende  Empfindung.  .  .  . 
Die  Gefühle  des  Pathetischen  vor  allem  müssen  unsere  Alt- 
vordern bewegt  haben,  ist  anders  die  Formgebung  dieser  Dich- 
tung der  getreue  Ausdruck  innerer  Stimmung."  (Lamprecht.) 

Wir  finden  also  das  bestätigt,  was  uns  der  Charakter 
der  nordischen  Ornamentik  schon  verriet.  Wo  die  Steigerung 
des  Pathetischen  herrscht,  da  gilt  es  innere  Dissonanzen  zu 
übertönen;  der  gesunden  Seele  ist  alle  Pathetik  fremd. 
Nur  wo  der  Seele  die  natürlichen  Ventile  versagt  sind,  nur 
da,  wo  sie  ihren  Gleichgewichtspunkt  noch  nicht  gefunden 
hat,  da  enthält  sie  ihren  inneren  Druck  in  solchen  unnatür- 
lichen Steigerungen.  Man  denke  an  die  verstiegene  Pathetik 
der  Pubertätsjahre,  wo  unter  dem  Druck  krisenhafter  innerer 
Auseinandersetzungen  die  geistige  Rauschsucht  sich  so  unge- 
messen dokumentiert.  ,, Soviel  aber  ist  gewiss,  dass  die 
unbestimmten,  sich  weit  ausdehnenden  Gefühle  der  Jugend 
und  ungebildeter  Völker  allein  zum  Erhabenen  ge- 
eignet sind,  das,  wenn  es  durch  äussere  Dinge  in  uns  erregt 
werden  soll,  formlos  oder  zu  unfasslichen  For- 
men gebildet,   uns  mit   einer   Grösse  umgeben  muss,   der 


52  TRANSZENDENTALISMUS 

wir  nicht  gewachsen  sind.  .  .  .  Aber  wie  das  Erhabene 
von  Dämmerung  und  Nacht,  wo  sich  die  Gestalten  vereinigen, 
gar  leicht  erzeugt  wird,  so  wird  es  dagegen  vom  Tage  ver- 
scheucht, der  alles  sondert  und  trennt,  und  so  muss  er  durch 
jede  wachsende  Bildung  vernichtet  werden."  Diese  Goethe- 
schen  Worte  könnten  als  Motto  über  unserer  ganzen  Be- 
trachtung stehen. 

So  sagt  uns  das  omamentale  Paradigma  genug  über 
die  Disharmonie  aus,  die  den  Form  willen  der  Gotik  bestimmte. 
Wo  Einklang  herrscht  zwischen  Mensch  und  Aussenwelt, 
wo  der  innere  Gleichgewichtspunkt  gefunden  ist,  wie  beim 
klassischen  Menschen,  da  gebärdet  sich  auch  der  Wille  zur 
Form  als  ein  Wille  zur  Harmonie,  als  ein  Wille  zur  Aus- 
geglichenheit, als  ein  Wille  zur  organischen  Geschlossenheit. 
Da  beschreibt  er  die  glücklichen  und  beglückenden  Formen, 
die  der  Erkenntnissicherheit  und  dem  aus  ihr  folgernden 
inneren  Daseinsglück  entsprechen.  Von  keiner  Hemmung 
beirrt,  von  keiner  Sucht  nach  Transzendenz  gesteigert,  lebt 
er  sich  in  den  Grenzen  menschlich  organischen  Seins  restlos 
aus.     Ein  Blick  auf  die  griechische  Ornamentik  beweist  es. 

Der  gotischen  Seele  aber  fehlte  dieser  Einklang.  Innen- 
welt und  Aussenwelt  sind  in  ihr  noch  unversöhnt,  und  die 
unversöhnten  Gegensätze  drängen  nach  einer  Auslösung  in 
transzendenten  Sphären,  drängen  nach  einer  Auslösung  in 
seelischen  Steigerungszuständen.  Eine  schliessliche  Aus- 
lösung wird  also  —  und  das  ist  das  Entscheidende  —  noch  für 
möglich  gehalten;  das  Bewusstsein  eines  endgültigen  Dualis- 
mus fehlt  noch.  Die  Gegensätze  gelten  noch  nicht  für  unver- 
söhnlich, sondern  nur  für  noch  unversöhnt.  Und  der  Unter- 
schied zwischen  der  ausdruckslosen  abstrakten  Linie  des 
orientalischen  Menschen  und  der  ausdrucksgesteigerten 
abstrakten  Linie  des  gotischen  Menschen  ist  eben  der  Unter- 
schied zwischen  einem  endgültigen  Dualismus  aus  tiefster 
Welteinsicht  und  einem  vorläufigen  Dualismus  einer  noch 
unentwickelten  Erkenntnisstufe,  ist  der  Unterschied  zwischen 
dem  erhabenen  Quietismus  des  Greisenalters  und  der  ver- 
stiegenen Pathetik  der  Jugend. 

Der  Dualismus  des  gotischen  Menschen  steht  nicht  über 
dem  Erkennen  wie  beim  orientalischen  Menschen,  er  steht 
noch  vor  dem   Erkennen.      Er  ist  ihm  zum  Teil  dumpfe 


DER  GOTISCHEN  AUSDRUCKSWELT  53 

Ahnung,  zum  Teil  bittere  Erfahrungstatsache.  Sein  Leiden 
am  Duahsmus  hat  sich  noch  nicht  zur  Verehrung  geläutert. 
Er  sträubt  sich  noch  gegen  die  duaUstische  Unabwendbarkeit 
und  sucht  sie  in  unnatürlichen  Empfindungssteigerungen  zu 
überwinden.  Das  weder  durch  rationell-sinnliche  Erkenntnis 
im  klassischen  Sinn  überwundene,  noch  in  orientalischer  Weise 
durch  tiefe  metaphysische  Einsicht  gemilderte  und  ver- 
klärte Gefühl  dualistischer  Zerrissenheit  macht  ihn  ruhelos 
und  friedlos.  Es  fühlt  sich  als  Sklave  höherer  Mächte,  die 
er  nur  fürchten  und  nicht  verehren  kann.  Zwischen  der 
aus  Rationalismus  und  naiver  Sinnlichkeit  organisch  empor- 
gewachsenen Weltfrömmigkeit  des  Griechen  und  der  ins 
Religiöse  geläuterten  Weltverneinung  des  Orientalen  steht 
er  mit  seiner  glücklosen  Weltfurcht,  ein  Produkt  irdischer 
Friedlosigkeit  und  metaphysischer  Verängstigung.  Und  da 
ihm  Ruhe  und  Klarheit  vorenthalten  sind,  bleibt  ihm  nichts 
anderes  übrig,  als  seine  Unruhe  und  Unklarheit  bis  zu  dem 
Punkte  zu  steigern,  wo  sie  ihm  Betäubung,  wo  sie  ihm 
Erlösung  bringen. 

Das  Aktivitätsbedürfnis  des  nordischen  Menschen,  dem 
es  versagt  ist,  sich  in  klare  Erkenntnis  der  Wirklichkeit 
umzusetzen  und  das  durch  diesen  Mangel  an  natürlicher 
Auslösung  gesteigert  wird,  entlädt  sich  schliesslich  in  einer 
ungesunden  Phantasietätigkeit.  Der  Wirklichkeit,  die  der 
gotische  Mensch  noch  nicht  durch  klare  Erkenntnis  in  Natür- 
lichkeit umsetzen  konnte,  ihrer  bemächtigt  sich  diese  ge- 
steigerte Phantasietätigkeit  und  wandelt  sie  ins  Gespenstische 
gesteigerter  und  verzerrter  Wirklichkeit.  Ins  Unheim- 
liche, Phantastische  ist  alles  gewandelt.  Hinter  der  Sicht- 
barkeit der  Dinge  lauert  ihr  Zerrbild,  hinter  der  Leblosigkeit 
der  Dinge  ein  unheimliches  gespenstisches  Leben,  und  alles 
Wirkliche  wird  zum  Grotesken.  So  tobt  sich  der  von  seiner 
natürlichen  Befriedigung  zurückgehaltene  Erkenntnisdrang 
in  wilder  Phantastik  aus.  Und  wie  von  dem  wirren  Linien- 
spiel der  nordischen  Ornamentik  eine  unterirdische  Linie  zur 
raffinierten  Konstruktionskunst  der  gotischen  Architektur 
führt,  so  führt  auch  eine  Linie  von  dieser  wirren  Phantastik 
geistiger  Unmündigkeit  zu  der  raffinierten  Konstruktion  der 
Scholastik.  Allen  ist  gemeinsam  der  an  kein  Objekt  ge- 
bundene und  deshalb  sich  im  Unendlichen  verlierende  Be- 


54  NORDISCHE  RELIGIOSITÄT 

wegimgsdrang.  In  der  Ornamentik  und  in  dem  frühen 
Phantasieleben  sehen  wir  nur  Chaos;  in  der  gotischen  Archi- 
tektur und  der  Scholastik  ist  dieses  rohe  Chaos  zu  einem 
kunstvollen,  raffinierten  Chaos  geworden.  Der  Formwille 
bleibt  durch  die  ganze  Entwicklung  hindurch  derselbe;  er 
macht  nur  alle  Stationen  von  äusserster  Primitivität  bis 
zur  äussersten  Kultur  durch. 


NORDISCHE  RELIGIOSITÄT 

^o  wenig  uns  das  religiöse  Empfinden  des  nordischen 
^^  Menschen  vor  der  Rezeption  des  Christentums  bekannt 
ist,  so  sehr  die  Ueberlieferung  hier  versagt,  die  allgemeine 
Struktur  dieses  Empfindens  lässt  sich  doch  andeuten.  Eine 
ins  Religiöse  gewandte  angstvolle  Phantastik  mit  unklarer 
Unterscheidung,  mit  Verquickung  von  Wirklichkeit  und 
Unwirklichkeit  scheint  auch  hier  ausschlaggebend  gewesen 
zu  sein.  So  schiebt  sich  denn  zwischen  der  schönen  klar 
umschriebenen  Plastik  der  klassischen  Götterwelt  und 
dem  ganz  unplastischen,  unpersönlichen  Transzendentalismus 
des  Orients  das  zwitterhafte  Gebilde  nordischer  Götter- 
und  Geisterwelt  ein.  In  dem  Augenblick,  wo  man  diese 
Götter  weit  zu  fassen  glaubt,  verflüchtigt  sie  sich  wieder  zu 
wesenlosen  Schemen,  und  zwischen  dem  Gestalteten  und 
dem  Gestaltlosen  scheint  es  keine  Uebergänge,  keine  Grenzen 
zu  geben.  ,,Die  Gestalten  der  Göttlichen  behalten  etwas 
Unfassbares:  so  oft  sie  personifiziert  wurden,  so  oft  schien 
die  Wirkung  ihrer  Gewalten  der  Anlegung  jedes  menschlichen 
Massstabes  zu  spotten.  Dies  scheint  der  Grund,  warum  die 
germanischen  Götter  formlos  in  ihrer  Gestalt,  schwankend 
in  der  Abgrenzung  ihrer  Berufe  erscheinen.  Der  Regel  nach 
wurden  wenigstens  die  Hauptgötter  unpersönlich  gedacht 
im  geheimnisvollen  Dunkel  von  Wäldern."  (Lamprecht.) 

In  dem  rohen  Eudämonismus  der  allgemeinen  Vor- 
stellungen unterscheidet  sich  die  nordische  Religiosität 
wenig  von  anderen  Naturreligionen.  Aber  hinter  diesem  zuerst 
ins  Auge  fallenden  Eudämonismus  entdeckt  der  suchende 


STREBEBOGEN  AM  DOM  ZU  CÖLN 
Originalaufnahme  der  Kel.  Preussischen  Messbildanstalt  zu  Berlin. 


NORDISCHE  RELIGIOSITÄT  55 


Blick  alsbald  die  gewaltige  Unterschicht  von  Angstvorstel- 
lungen, die,  aus  dualistischer  Beunruhigung  aufkeimend,  die 
nordische  Götterwelt  mit  Gespenster-,  Geister-  und  Spuk- 
wesen durchsetzen.  Ein  phantastischer  Gestaltungsdrang 
ist  hier  tätig,  der  aus  dem  Spiel  der  Eindrücke  das  Spiel 
wilder,  wirrer  Geister  schafft,  die  hier  und  da  Gestalt  ge- 
winnen, um  bei  näherem  Zusehen  sich  wieder  ins  Gestalt- 
lose zu  verflüchtigen.  Gemeinsam  ist  dieser  ganzen  Geister- 
und Gespensterwelt  eine  gewisse  Unstetigkeit,  eine  ruhe- 
lose Bewegtheit.  Der  nordische  Mensch  kennt  nichts  Ruhiges, 
seine  ganze  Gestaltungskraft  konzentriert  sich  auf  die  Vor- 
stellung imgehemmter  massloser  Bewegtheit.  Die  Sturm- 
geister stehen  ihm  am  nächsten. 

Ueber  den  religiösen  Kult  sind  wir  auch  nur  fragmen- 
tarisch unterrichtet.  Von  andächtiger  Verehrung  und  Ver- 
senkung in  die  Gottheit  war  man  weit  entfernt;  der  Kult 
erschöpfte  sich  vielmehr  in  einer  angsterfüllten,  opfer- 
reichen Beschwörung  und  Beschwichtigung  ungewisser  über- 
natürlicher Mächte. 

In  dem  Unterschied  der  nordischen  Geisterwelt  zu  der 
klassischen  Götterwelt  erfassen  wir  die  Eigenart  germanischer 
Rehgiosität  am  besten.  Dort  eine  formlose,  unpersönliche 
Bewegtheit,  eine  heftige  Aktuahtät  gleichsam  abstrakter 
Kräfte,  die  nur  vorübergehend  und  dann  eine  täuschende 
rätselhafte  irritierende  Gestalt  annehmen  (wie  die  heftige 
Aktualität  abstrakter  Linien  in  der  Ornamentik  auch  mit 
Wirkhchkeitsandeutungen  durchsetzt  wird),  hier  dagegen 
ein  in  sich  ruhendes,  körperlich  fassbares  Sein  von  klarer 
täuschungs-  und  rätselfreier  Plastik.  Diesen  Höhepunkt 
organischer  Gestaltungskraft  hat  die  griechische  Menschheit 
auch  nicht  mit  einem  Male  erklommen,  auch  bei  ihr  galt 
es,  alte  duahstische  Beunruhigungen,  teils  Rudimente  roher 
Entwicklungsstufen,  teils  Ansteckungen  aus  orientalischem 
Spiritualismus,  zu  überwinden,  aber  schon  der  Grieche 
Homer  steht  mit  seinem  Götterglauben  in  vollem  Sonnen- 
licht da  und  aller  Nebel-  und  Geisterspuk  ist  verschwunden. 
Die  Entwicklung  von  unklarer  Gespensterfurcht,  von 
düsterem  ungeläutertem  Fatalismus  zu  kosmischer  Auffassung 
des  Weltbildes  und  entsprechend  plastischer  Auffassung 
der   Götterwelt  zeichnet  Erwin  Rohde  in  seiner  ,, Psyche" 


56  NORDISCHE  RELIGIOSITÄT 

wie  folgt:  „Der  Grieche  Homer  fühlt  im  tiefsten  Herzen 
seine  Bedingtheit,  seine  Abhängigkeit  von  Mächten,  die  ausser 
ihm  walten.  Ueber  ihm  walten  Götter  mit  Zauberkraft, 
oft  nach  unweisem  Gutdünken,  aber  die  Vorstellung  einer 
allgemeinen  Weltordnung,  einer  Fügung  der  sich  durch- 
kreuzenden Ereignisse  des  Lebens  der  Einzelnen  und  der 
Gesamtheit  nach  zugemessenem  Teile  ([xuipa)  ist  erwacht, 
die  Willkür  der  einzelnen  Dämonen  ist  beschränkt.  Es 
kündet  sich  der  Glauben  an,  dass  die  Welt  ein  Kosmos  sei, 
eine  Wohlordnung,  wie  sie  die  Staaten  der  Menschen  einzu- 
richten suchen.  Neben  solchen  Vorstellungen  konnte  der 
Glaube  an  wirres  Gespenstertreiben  nicht  mehr  recht  ge- 
deihen. Dieses  Gespenstertreiben  ist  im  Gegensatz  zu 
echtem  Götterwesen  stets  daran  kennthch,  dass  es  ausser- 
halb jeder  zum  Ganzen  sich  zusammenschliessenden  Tätigkeit 
steht,  dass  es  dem  Gelüste  der  Bosheit  des  einzelnen  unsicht- 
baren Mächtigen  allen  Spielraum  lässt.  Das  Irrationelle,  das 
Unerklärliche  ist  das  Element  des  Seelen-  und  Geister- 
glaubens; hierauf  beruht  das  eigentümlich  Schauerliche 
dieses  Gebietes  des  Glaubens  oder  Wahns,  hierauf  beruht 
weiterhin  das  unstät  Schwankende  seiner  Gestaltungen. 
Die  Homerische  Religion  lebt  schon  im  Rationellen,  ihre 
Götter  sind  dem  griechischen  Sinn  völlig  begreiflich,  der 
griechischen  Phantasie  in  Gestalt  und  Gebaren  völlig 
deutlich  und  hell  erkennbar." 

Hier  ist  es  klar  ausgesprochen  —  was  uns  als  wichtiges 
Schlaglicht  für  unser  gotisches  Problem  dienen  kann  — , 
dass  die  schöne  Plastik  griechischer  Götterwelt  eine  ratio- 
nalistische Auffassung  des  Weltbildes  nicht,  wie  man 
meinen  möchte,  ausschliesst,  sondern  sich  mit  ihr  direkt 
ergänzt  als  die  andere  Seite  einer  anthropozentrischen, 
anthropomorphischen  Gestaltungskraft,  die  ihre  Kräfte  aus 
dem  beglückenden  Einheitsgefühl  mit  der  Aussenwelt  schöpft. 

Ein  Rohde  hat  sich  leider  noch  nicht  gefunden,  der  uns 
die  nordische  ,, Psyche"  schriebe.  Wir  tappen,  wie  gesagt, 
hier  fast  gänzlich  im  Dunkeln,  denn  das  Material,  das  uns 
vorliegt,  ist  ganz  dürftig  und  noch  dazu  durch  spätere,  im 
christlichen  Sinne  tendenziöse  Zusätze  entstellt.  Die  spär- 
lichen Nachrichten  über  die  religiösen  Anschauungen  der 
nordischen  Menschheit  bestätigen  uns  aber,  wie  wir  sahen. 


NORDISCHE  RELIGIOSITÄT  57 

das,  was  uns  die  frühe  Kunst  über  die  Zwitterhaftigkeit 
seiner  seelischen  Konstitution  aussagte.  Die  nordische 
Mythologie  reiferer  Zeit  kann  nur  mit  grosser  Vorsicht 
zur  Interpretation  nordischer  Religiosität  herangezogen 
werden,  da  ihr  Zusammenhang  mit  dem  eigentlich  religiösen 
Empfinden  nur  ein  sehr  loser  ist.  Sie  gehört  der  Literatur- 
geschichte enger  an,  als  der  Religionsgeschichte. 

Den  reichsten  Aufschluss  aber  über  die  nordische  Seelen- 
verfassung gewinnen  wir  nicht  durch  direkte  Interpretation, 
sondern  durch  Rückschlüsse,  die  wir  mit  aller  Sicherheit  aus 
späteren,  uns  besser  überlieferten  Entwicklungsstadien  ziehen 
können.  Und  die  Tatsache,  die  nach  dieser  Seite  hin  am 
fruchtbarsten  ist,  ist  die  Rezeption  des  Christentums  durch 
den  Norden.  Ein  Volk  nimmt  auch  durch  Gewalt  keine 
Religion  an,  die  ihm  ganz  und  gar  wesensfremd  ist.  Gewisse 
Vorbedingungen  der  Resonanz  müssen  vorhanden  sein. 
Wo  der  Boden  nicht  irgendwie  vorbereitet  ist,  da  kann 
wohl  starke  und  brutale  Gewalt  eine  äusserliche  oberfläch- 
liche Aufnahme  erreichen,  ein  tieferes  Wurzelfassen  aber 
kann  sie  niemals  erzwingen.  Und  das  Christentum  hat  nicht 
nur  in  der  Oberflächenschicht,  sondern  auch  in  tieferen 
Schichten  nordischer  Empfindung  Wurzel  gefasst,  wenn 
es  auch  nicht  in  alle  Schichten  gelangen  konnte.  Gewisse 
seelische  Voraussetzungen  müssen  also  die  Rezeption  vor- 
bereitet haben.  All  der  mythologische  Polytheismus  hatte 
eine  gewisse  fatalistische,  der  Tendenz  nach  monotheistische 
Anlage  in  der  nordischen  Seelenverfassung  nicht  verschütten 
können.  Ja,  diese  Anlage  ward  immer  stärker  und  führte 
schliesslich  zu  einer  Götterdämmerung,  zum  Sturz  der 
alten  polytheistischen  gespensterhaften  Göttervorstellung; 
an  ihre  Stelle  trat  die  dunkle  unerbittliche  Schicksalsgewalt 
der  Nomen.  Die  Entwicklung  drängte  also  nach  einem 
Monotheismus  hin,  und  da  zudem  das  Christentum  für  die 
noch  nicht  ganz  unterdrückten  polytheistischen  Bedürfnisse 
mit  seinem  Heiligen-  und  Märtyrerkultus  einen  gewissen 
Ersatz  bot,  so  war  die  Austauschung  mythologischer  mit 
christlichen  Vorstellungen  gut  vorbereitet. 

Die  grösste  Ueberzeugungskraft  des  Christentums  lag 
aber  für  den  Norden  in  seiner  systematischen  Ausbildung. 
Das    System   des   Christentums   in   seiner   Vollkommenheit 


58  NORDISCHE  RELIGIOSITÄT 

gewann  den  systemlosen  nordischen   Menschen   mit   seiner 
verworrenen  nebelhaften  Mystik. 

Dem  nordischen  Menschen  fehlte  die  Kraft  zu  dem  selb- 
ständigen Aufbau  einer  festen  Form  für  seine  transzenden- 
talen Bedürfnisse.  Die  seelischen  Kräfte  verzehrten  sich  in 
innerem  Widerstreit  und  gelangten  so  zu  keiner  einheitlichen 
Kraftleistung.  Das  Bedürfnis  zur  Tat  ermüdete  auf  dem 
Umweg  über  die  vielen  Hemmungen,  und  was  übrigblieb, 
war  das  Gefühl  einer  traurigen  Ohnmacht,  das  dann  nach  der 
Betäubung  des  Rausches  verlangte.  Dieses  Schwäche- 
bewusstsein  machte  den  verdienten  Menschen,  solange  er 
noch  nicht  seine  innere  Reife  gefunden  hatte,  widerstands- 
los gegenüber  jedem  fertigen,  ihm  von  aussen  vermittelten 
System,  mochte  es  nun  das  römische  Recht  oder  das  Christen- 
tum sein.  Wenn  nun  gar  wie  im  Christentum  Saiten  seiner 
eigenen  zerrissenen  Natur  widerklangen,  wenn  seinen 
unbestimmten,  nebelhaften,  transzendentalen  Vorstellungen 
hier  ein  wundervoll  ausgebautes  logisches  System  von  ver- 
wandtem transzendentalem  Charakter  gegenübertrat,  da 
musste  dieses  System  überzeugend  wirken  und  jeden  leisen 
Widerspruch  überrumpeln  und  unterdrücken.  Dann  musste 
das  Verlangen,  in  einer  festen  Form  auszuruhen,  alle  Dis- 
krepanz zwischen  der  eignen  und  den  fremden  Vorstellungen 
überwinden :  das  Stoffliche,  Inhaltliche,  Sekundäre  der  eignen 
Vorstellungen  wurde  schneller,  als  man  es  dem  schwerfälligen 
Nordländer  zutrauen  möchte,  den  fremden  Anschauungen 
untergeschoben  und  so  der  neuen  Form  angepasst.  Doch 
blieb  das  System  des  Christentums  immer  nur  ein  Ersatz 
für  die  Form,  die  der  nordische  Mensch  aus  eigner  Kraft 
vorläufig  nicht  schaffen  konnte.  So  konnte  von  einem  voll- 
ständigen restlosen  Aufgehen  im  Christentum  keine  Rede 
sein,  und  wenn  der  Norden,  von  der  fertigen  Form  verführt, 
sich  ihm  unterworfen  hatte,  so  blieben  doch  manche  Teile 
seines  Wesens  von  dieser  nicht  selbstgeschaffenen  Form 
ausgeschlossen.  Für  die  dualistische  Zwitterhaftigkeit  eine 
entsprechende  Form  zu  finden,  die  chaotische  Rauschsucht  zu 
systematisieren,  das  blieb  dem  Entwicklungshöhepunkt  der 
nordischen  Menschheit,  der  reifen  Gotik  vorbehalten.  Die 
christliche  Scholastik,  in  noch  weit  höherem  Grade  die  gotische 
Architektur:    sie    sind    erst    die    eigentlichen    Erfüllungen 


DER  BAUGEDANKE  DER  KLASSIK 


59 


dieses  so  schwer  zu  befriedigenden  nordischen  Formwillens 
und  werden  uns  darum  noch  ausführlich  beschäftigen.  Vor- 
läufig genügt  es  uns,  durch  die  Tatsache  der  Annahme  des 
Christentums  jene  Erkenntnisse  über  das  Wesen  des  nor- 
dischen Menschen  bestätigt  zu  sehen,  zu  denen  wir  auf  dem 
Einzelweg  der  stilpsychologischen  Analyse  seiner  frühsten 
Kunstäusserungen  kamen.  Denn  sie  liess  uns  den  Form- 
willen erkennen,  der  seinem  Verhältnis  zur  Aussenwelt 
adäquat  ist  und  der  deshalb  all  seine  Lebensäusserungen 
bestimmt. 


DER  BAUGEDANKE  DER  KLASSIK 

Jede  Zeit  wirft  sich  mit  besonderer  Wucht  auf  diejenige 
künstlerische  Tätigkeit,  die  ihrem  besonderen  Form- 
willen am  meisten  entgegenkommt;  sie  gibt  der  Kunst- 
äusserung  resp.  der  Technik  den  Vorzug,  deren  besondere 
Ausdrucksmittel  am  meisten  Gewähr  dafür  bieten,  dass  sich 
der  Form  Wille  frei  und  ungehindert  in  ihr  aussprechen  kann. 
Indem  wir  also  den  historischen  Tatbestand  befragen  und 
uns  darüber  orientieren,  welche  Kunstäusserungen  in  den  / 
verschiedenen  Epochen  vorherrschen,  haben  wir  schon  die  / 
wichtigste  und  elementarste  Handhabe  gefunden,  um  den 
Formwillen  der  betreffenden  Epochen  zu  bestimmen.  Es  ist 
uns  dadurch  gleichsam  der  einzig  berechtigte  Standpunkt 
angewiesen,  von  dem  aus  wir  zur  Interpretierung  der  be- 
treffenden Stilerscheinung  schreiten  können.  Wenn  wir  also 
z.  B.  wissen,  dass  in  der  klassischen  Antike  die  Plastik,  und 
zwar  speziell  die  plastische  Darstellung  des  menschhchen 
Schönheitsideals,  dominierte,  so  haben  wir  damit  schon  das 
Leitmotiv,  den  Grundgedanken  der  griechischen  Kunst  ge- 
funden, so  haben  wir  damit  schon  den  Schlüssel  gefunden, 
der  uns  alle  anderen  griechischen  Kunstäusserungen  in  ihrem 
innersten  Wesen  aufschliessen  kann.  Der  griechische  Tempel 
beispielsweise  kann  nicht  aus  sich  selbst  heraus  verstanden 
werden ;  erst  wenn  wir  in  der  griechischen  Plastik  den  Grund- 
gedanken griechischen  Kunstschaffens  in  paradigmatischer 


6o  DER  BAUGEDANKE  DER  KLASSIK 

Reinheit  erkannt  haben,  werden  wir  den  griechischen  Tempel 
verstehen,  werden  wir  nachfühlen  können,  wie  der  Grieche 
mit  rein  statischen,  rein  konstruktiven  Verhältnissen  jene 
Schönheitsgesetze  organischen  Seins  auszudrücken  versuchte 
und  vermochte,  für  die  er  auf  der  Höhe  seiner  Kunst  den 
direktesten  und  klarsten  Ausdruck  in  der  unmittelbaren 
plastischen  Darstellung  des  schönen  Menschen  fand.  Und  in 
ähnlicher  Weise  werden  wir  die  Kunstäusserungen  der  ita- 
lienischen Renaissance  in  ihrem  Werden  erst  dann  verstehen, 
wenn  wir  das  letzte  und  klarste  Wort  über  sie  gehört  und 
verstanden    haben,  das  Raffael  über  sie  gesprochen  hat. 

So  hat  jede  Stilerscheinung  ihren  Höhepunkt,  in  dem 
sich  der  betreffende  Formwille  gleichsam  in  Reinkultur 
dokumentiert.  Wenn  wir  uns  nun  angesichts  der  Gotik 
fragen,  in  welcher  Kunstäusserung  resp.  in  welcher  Kunst- 
technik sie  sich  am  meisten  auslebte,  so  kann  kein  Zweifel 
über  die  Antwort  aufkommen.  Wir  brauchen  nur  das  Wort 
Gotik  auszusprechen,  um  sogleich  die  starke  Ideenassoziation 
von  gotischer  Architektur  in  uns  zu  erwecken.  Diese  not- 
wendige Ideenverbindung  zwischen  Gotik  und  Architektur 
deckt  sich  mit  der  historischen  Tatsache,  dass  die  Stilepoche 
der  Gotik  von  der  Architektur  ganz  beherrscht  wird,  dass 
alle  anderen  Kunstäusserungen  entweder  direkt  von  ihr  ab- 
hängig oder  jedenfalls  ihr  gegenüber  eine  sekundäre  Rolle 
spielen. 

Wenn  wir  von  der  Kunst  der  klassischen  Antike  sprechen, 
so  taucht  bezeichnenderweise  als  erste  Ideenverbindung  die 
antike  Plastik  mit  ihren  Meisternamen  in  uns  auf;  wenn  wir 
von  der  italienischen  Renaissance  sprechen,  so  kommen  uns 
die  Namen  Masaccio,  Lionardo,  Raffael  und  Tizian  zuerst 
auf  die  Lippen;  wenn  wir  aber  von  der  Gotik  sprechen,  dann 
steht  sofort  das  Bild  gotischer  Kathedralen  vor  uns.  Und 
es  entspricht  dem  schon  angedeuteten  inneren  Zusammen- 
hang zwischen  der  Gotik  und  dem  Barock,  dass  auch  bei 
letzterem  als  nächste  Ideenverbindung  sich  die  Architektur 
einstellt. 

Der  Begriff  Gotik  also  ist  von  dem  Bilde  gotischer 
Kathedralen  untrennbar;  all  die  drängenden  Energien  des 
Formwillens  erhalten  in  der  gotischen  Architektur  ihre 
apotheosenhafte  Erfüllung,  ihren  glänzenden  Abschluss.   Und 


RUINEN  DER  ALTEN  ABTEI  ZU  IU:\Ill:GES 


DER  BAUGEDANKE  DER  KLASSIK  6l 

es  mag  hier  schon  gesagt  sein,  dass  der  gotische  Formwille 
sich  in  dieser  seiner  höchsten  Kraftleistung  ausgegeben  und 
totgelaufen  hat ;  nur  so  erklärt  sich  die  Ohnmacht  gegenüber 
der  Invasion  des  fremden  Kunstideals  der  Renaissance. 

Durch  die  absolute  Vorherrschaft  der  Architektur  in 
der  Gotik  finden  wir  also  bestätigt,  was  uns  schon  die  Analyse 
der  nordischen  Ornamentik  über  die  Natur  des  gotischen 
Form\\illens  ausgesagt  hat.  Denn  da  die  Sprache  der  Archi- 
tektur eine  abstrakte  ist,  da  die  Gesetzlichkeiten  ihres  Auf- 
baus von  aller  organischen  Gesetzlichkeit  entfernt,  vielmehr 
abstrakter  mechanischer  Natur  sind,  so  sehen  wir  in  der 
gotischen  Hinneigung  zum  architekturalen  Sich-Ausdrücken 
nur  eine  Parallele  zur  Ornamentik,  die,  wie  wir  sahen,  vom 
Eigenausdruck,  d.  h.  dem  mechanischen  Ausdruckswert  der 
Linie,  also  auch  von  abstrakten  Werten  beherrscht  wird. 

Ornamentik  und  Architektur  spielen  also  in  der  Gotik 
die  ausschlaggebende  Rolle.  Sie  allein  gewähren  durch  die 
Natur  ihrer  Ausdrucksmittel  eine  dem  Formwillen  adäquate 
künstlerische  Manifestation.  Bei  Plastik,  Malerei  und  Zeich- 
nung liegt  schon  eine  gewisse  Gefahr  für  die  reine  Doku- 
mentierung des  Form  willens  vor;  ja,  hier  sind  innere  An- 
knüpfungspunkte für  die  Betätigung  des  klassischen  Form- 
willens vorhanden,  die  es  erklärlich  erscheinen  lassen,  dass 
die  Herrschaft  der  Renaissance  von  hier  aus  Terrain  gewann 
und  den  alten  Formwillen  entrechtete. 

Die  Ausdruckstendenzen,  die  das  Spiel  abstrakter  Linien 
in  der  Ornamentik  so  eigenartig  abwandelten,  sie  müssen 
auch  für  die  gotische  Architektur  massgebend  gewesen  sein. 
Eine  Ll^ntersuchung  über  das  Wesen  der  gotischen  Architektur 
soll  diese  Behauptung  vertreten.  Und  als  Gegenbeispiel 
werden  wir  uns  immer  die  klassische  Architektur  gegenwärtig 
halten,  denn  sie  zeigt  uns  die  Gegenerscheinung,  wie  ein 
Formwille,  der  sich  seiner  Natur  nach  organisch  und  nicht 
abstrakt  ausdrücken  muss,  die  Abstraktheit  der  architektu- 
ralen Ausdrucksmittel  überwindet. 

Denn  die  Welt  des  Architektonischen  ist  weit,  und  so 
eng  die  Gesetze  der  Architektur  sind  und  ihre  Ausdrucks- 
mittel, so  weit  und  unbegrenzt  sind  ihre  Ausdrucksmöglich- 
keiten. Wohl  sind  die  Gesetze  aller  Architektur  dieselben, 
nicht  aber  der  durch  die  Anwendung  dieser  Gesetze  erreichte 


62  DER  BAUGEDANKE  DER  KLASSIK 

Ausdruck  der  Architektur,  In  diesem  Sinne  ist  die  Archi- 
tektur in  ihrem  künstlerischen  Ausdrucksverlangen  ebenso 
unabhängig  wie  die  anderen  besonders  als  ,,frei"  betonten 
Künste.  Und  es  macht  gerade  die  Geschichte  der  Architektur 
aus,  wie  der  relativ  kleine  Vorrat  konstruktiver  Probleme 
unter  dem  Druck  des  wechselnden  Form  willens  zu  immer  neuen 
Ausdrucksbildungen  abgewandelt  wird.  Die  Geschichte  der 
Architektur  ist  keine  Geschichte  technischer  Entwicklungen, 
sondern  eine  Geschichte  wechselnder  Ausdruckszwecke  und 
der  Art  und  Weise,  wie  die  Technik  sich  diesen  veränderten 
Zwecken  durch  immer  neue  und  differenzierte  Kombinationen 
ihrer  Grundelemente  anpasst  und  dienstbar  macht.  Sie  ist 
ebensowenig  eine  Geschichte  der  Technik,  wie  die  Ge- 
schichte der  Philosophie  eine  Geschichte  der  Logik  ist.  Auch 
hier  sehen  wir,  wie  die  Logik,  wie  die  wenigen  Grundprobleme 
des  Denkens  zu  immer  neuen,  dem  betreffenden  £tat  d'äme 
adäquaten  Gedankenbildungen  abgewandelt  werden. 

Um  unseren  Blick  zu  schärfen  für  das  Verständnis  archi- 
tekturaler  Ausdrucksmöglichkeiten,  wollen  wir  von  einer 
Untersuchung  des  klassischen  Baugedankens  ausgehen.  Denn 
er  ist  uns  leichter  zugänglich,  weil  wir,  wie  in  jeder  anderen 
Beziehung,  auch  architektonisch  von  der  durch  die  euro- 
päische Renaissance  aufgefrischten  antik-klassischen  Tra- 
dition abhängig  sind.  Ein  griechischer  Philosoph  ist  uns 
auch  heute  leichter  lesbar,  als  ein  mittelalterlicher  Scholastiker. 

Wenn  wir  das  Bauglied  suchen,  das  der  klassischen 
Architektur  am  eigensten  ist,  so  bietet  sich  uns  ohne  weiteres 
die  Säule  dar.  Was  den  Eindruck  der  Säule  bestimmt,  ist 
ihre  Rundheit.  Diese  Rundheit  ruft  ohne  weiteres  die  Illusion 
organischer  Lebendigkeit  hervor,  einmal  weil  sie  uns  un- 
mittelbar an  die  Rundheit  derjenigen  Naturglieder  erinnert, 
die  eine  ähnliche  tragende  Funktion  ausüben,  vor  allem  an 
den  Baumstamm,  der  die  Krone  trägt,  oder  an  den  Blumen- 
stengel, der  die  Blüte  trägt.  Dann  aber  kommt  die  Rundheit 
an  und  für  sich,  ohne  dass  sie  analoge  Vorstellungen  hervor- 
ruft, unserem  natürlichen  organischen  Gefühl  entgegen.  Wir 
können  keine  Rundung  betrachten,  ohne  innerlich  den 
Bewegungsprozess  nachzufühlen,  der  diese  Rundung  schuf. 
Wir  fühlen  gleichsam  die  von  aller  Gewaltsamkeit  entfernte 
Sicherheit,  mit  der  die  im  Zentrum  resp.  in  der  Achse  der 


DER  BAUGEDANKE  DER  KLASSIK  63 

Säule  konzentrierten  zentripetalen  Kräfte  die  zentrifugalen 
Kräfte  im  Schach  halten  und  beruhigen;  wir  fühlen  das 
Schauspiel  dieses  glücklichen  Ausgleichs,  wir  fühlen  das 
Insichselbstbefriedigtsein  der  Säule,  fühlen  die  ewige  Melodie, 
die  in  dieser  Rundung  schwingt,  fühlen  vor  allem  die  Ruhe, 
die  aus  dieser  fortwährenden  in  sich  geschlossenen  Bewegung 
herauswächst.  So  ist  die  Säule  gleich  dem  Kreis  das  höchste 
Symbol  des  in  sich  geschlossenen  und  vollendeten  organischen 
Lebens. 

Doch  das  sind  Empfindungen,  wie  sie  die  Säule  als 
Einzelglied,  ganz  abgesehen  von  ihrer  baulichen  Funktion, 
erweckt.  Stärker  werden  diese  Empfindungen  noch,  wenn 
wir  die  Säule  als  Glied  des  baulichen  Organismus  ins  Auge 
fassen.  Die  bauliche  Funktion  der  Säule  ist  selbstverständlich 
die  des  Tragens.  Diese  Funktion  würde  natürlich  ebensogut 
von  einem  rechteckigen  Stützglied  geleistet  werden.  Also 
tektonisch  notwendig  ist  die  runde  Säule  nicht,  wohl  aber 
künstlerisch,  d.  h.  im  Sinne  des  klassischen  Formgedankens. 
Denn  dem  ist  es  darum  zu  tun,  die  Funktion  des  Tragens  auch 
auszudrücken,  anschaulich  zu  machen,  d.  h.  sie 
unserem  organisch  determinierten  Gefühl  unmittelbar  ver- 
ständlich zu  machen.  Der  rechteckige  Pfeiler  wäre  dieser 
organischen  Anschauungskraft  eine  tote  Masse,  an  der  unser 
Lebensgefühl,  unsere  organische  Vorstellungskraft  nirgendwo 
einsetzen  könnte.  Bei  der  runden  Säule  aber  setzt  diese 
Vorstellungskraft  ohne  weiteres  ein  und  erlebt  das  Kräfte- 
schauspiel mit,  das  sich  in  diesem  tragenden  und  stützenden 
Gliede  abspielt.  Schon  das  Ueberge wicht  der  Höhenaus- 
dehnung über  die  Breitenausdehnung  entscheidet.  Wenn  wir 
uns  diesen  Dimensionenunterschied  im  organischen  Sinne 
interpretieren  wollen,  so  werden  wir  sagen,  dass  die  Tätigkeit 
des  Zusammenfassens  der  Tätigkeit  des  Sichaufrichtens  unter- 
geordnet ist.  Wir  fühlen,  wie  die  Säule  sich  zusammenfasst, 
wie  sie  all  ihre  Kräfte  allseitig  nach  der  Achse  hin  kon- 
zentriert, um  nun  mit  aller  Wucht  die  in  der  Achse  zu- 
sammengefasste  vertikale,  sich  aufrichtende  Tätigkeit  zu 
üben,  kurz,  wir  fühlen,  wie  sie  trägt.  Es  lässt  sich  gar  kein 
klarerer,  überzeugenderer,  beruhigenderer  Ausdruck  des 
sicheren  und  zwanglosen  Tragens  denken,  als  der  in  der  Säule 
dargestellte.    Bei  einer  rechteckigen  Stütze  würden  wir  nur 


64  DER  BAUGEDANKE  DER  KLASSIK 

konstatieren  können,  dass  sie  trägt,  denn  davon  überzeugt 
uns  der  Effekt,  hier  aber  fühlen  wir  es,  hier  aber  glauben 
wir  es,  hier  aber  erhält  es  Notwendigkeit  für  uns,  weil  es 
unserer  organischen  Vorstellungskraft  nahegebracht  wor- 
den ist. 

Hinzukommt  die  Unterstreichung  der  Vertikalrichtung 
durch  das  Kannelürensystem.  Man  braucht  sich  nur  vor- 
zustellen, diese  Kannelüren  begleiteten  die  Säule  in  ihrer 
horizontalen  Rundung,  um  einzusehen,  dass  dann  statt  des 
Eindrucks  des  Leicht- Sichauf richtens  der  Eindruck  des  Sich- 
senkenden, des  unter  der  Last  Zusammensinkens  zustande 
käme.  Die  passive  Funktion  des  Lastens  wäre  damit  stärker 
zum  Ausdruck  gebracht  als  die  aktive  Funktion  des  Tragens 
und  damit  der  Ausdruck  der  Freiheit  in  der  Auseinander- 
setzung von  Last  und  Kraft  unterbunden. 

Wir  sehen  also,  wie  der  griechische  Formwille,  der  das 
harmonische  klassische  Einheitsbewusstsein  von  Mensch  und 
Aussenwelt  repräsentiert  und  darum  in  der  Darstellung 
organischen  Lebens  gipfelt,  in  dem  Bestreben  aufgeht,  auch 
alles  Tektonisch-Notwendige  zu  emem  Organisch-Notwen- 
digen zu  machen.  Am  imposantesten  äussert  sich  dieses 
Bestreben  in  der  Gesamtanlage  des  griechischen  Tempels, 
vor  allem  in  dem  Verhältnis  von  Cella  und  Säulenumgang. 
Hier  sehen  wir  ein  drastisches  Beispiel  dafür,  wie  unabhängig 
der  Baugedanke  von  dem  Bauzweck  ist,  wie  weit  er  sich 
über  ihn  erhebt.  Der  praktische  Bauzweck  war  für  den 
Griechen  nur,  dem  Standbild  der  Gottheit  einen  geschlossenen, 
gegen  alle  Witterungseinflüsse  geschützten  Raum  zu  schaffen. 
Doch  dieser  Raumschatfungszweck  konnte  ästhetisch  nicht 
verwertet  werden,  denn  der  Grieche  hatte  kein  künstlerisches 
Verhältnis  zum  Raum.  Das  Wesen  der  Griechen  war  viel- 
mehr Plastik  nicht  in  direktem,  sondern  in  übertragenem 
Sinne  gemeint,  d.  h.  das  ganze  griechische  Denken,  Fühlen 
und  Empfinden  ging  auf  kompakte,  klar  umgrenzte  Körper- 
lichkeit aus,  auf  ein  festes,  geschlossenes,  substantielles  Sein. 
So  hatte  er  die  ganze  Unfassbarkeit  der  Welt  in  klare  Fass- 
lichkeit  umgebildet.  Die  griechischen  Götter,  die  griechischen 
Gedanken,  die  griechische  Kunst:  sie  alle  haben  dieselbe 
unmittelbare  fassliche  Plastik.  Alles  Immaterielle  wird  aus- 
geschaltet  und   das   eigentlich   Immartielle   ist   der   Raum. 


MITTELSCHIFF  DES  DOMES  ZU  CÜLN 
Originalaufnahme  der  Kgl.  Preussischen  Messbildanstalt  zu  Berlin. 


DER  BAUGEDANKE  DER  KLASSIK  65 

Er  ist  etwas  Geistiges,  Unfassbares,  und  erst  als  der  griechische 
Geist  seine  naive  sichere  Plastik  durch  die  Berührung  mit 
dem  Orient  in  hellenistischer  Zeit  verliert,  erst  da  wird  die 
raumunabhängige  Tektonik  der  Griechen  zu  einer  raum- 
schaffenden Architektur. 

Die  Schaffung  der  Cella  konnte  also  den  griechischen 
Form  willen  nicht  befriedigen;  der  Baugedanke  fand  keine 
Unterstützung  durch  den  Bauzweck.  Um  das  Praktisch- 
Erforderliche  zu  einem  Künstlerisch-Erforderlichen  imizu- 
gestalten,  bedurfte  es  eines  grossen  Umwegs.  Man  gab  dem 
vom  praktischen  Zweck  geforderten  Baukern  durch  den 
Säulenumgang  eine  von  jedem  praktischen  Zweck  befreite 
Hülle,  eine  Umkleidung,  die  keinem  anderen  Zwecke  ge- 
horchte als  der  ästhetischen  Zweckmässigkeit,  wie  sie  dem 
griechischen  Gefühl  entsprach.  Der  Baukern  als  solcher  tritt 
ästhetisch  zurück,  was  spricht,  ist  nur  das  tektonische  Aussen- 
gerüst  in  seiner  klar  rhythmisierten,  fasslichen  Plastik.  So 
wird  aus  dem  blossen  Bedürfnisbau  ein  Kunstwerk. 

Der  Grundvorgang  aller  reinen  Tektonik  ist  die  Ausj- 
einandersetzung  des  lastenden  Gebälks  mit  den  tragendem 
Stützen.  Diese  im  Grunde  ganz  harte,  gleichsam  katastrophale 
Auseinandersetzung  wird  nun  durch  die  griechische  Bausinn- 
lichkeit organisch  geklärt  und  gemildert,  wird  im  Säulen- 
und  Architravsystem  zu  einem  in  sich  abgeschlossenen  und 
befriedigenden  Schauspiel  lebendiger  Kräfte  umgewandelt, 
das  wir  mit  innerem  Glücksgefühl  nacherleben.  Die  starre 
Logik  der  Konstruktion  wird  zu  einem  lebendigen  Organis- 
mus umgeschaffen,  aus  der  strengen  Kontrapunktik  der 
lebensfremden  architektonischen  Gesetze  wird  ein  wohllauten- 
der Rhythmus,  der  dem  inneren  Rhythmus  griechischen 
Empfindens  entspricht. 

Die  organische  Milderungstendenz  der  Auseinander- 
setzung von  Last  und  Kraft,  die  auch  immer  eine  Aus- 
einandersetzung vertikaler  und  horizontaler  Tendenzen  ist, 
drückt  sich  schon  in  der  Schöpfung  des  Giebels  aus.  Auch  er 
hat  keine  unmittelbare  praktische  Notwendigkeit,  sondern 
nur  eine  ästhetische.  Seine  ästhetische  Funktion  ist  die,  dass 
er  den  aus  statischen  Gründen  unumgänghchen  harten  Zu- 
sammenstoss  des  horizontalen  und  vertikalen  Systems  zu 
einem  das  organische  Gefühl  befriedigenden  Abschluss  bringt. 

5 


66  DER  BAUGEDANKE  DER  KLASSIK 

Was  das  Giebelfeld  im  grossen  tut,  das  wird  im  kleinen 
von  den  zwischen  dem  lastenden  Gebälk  und  den  tragenden 
Stützen  vermittelnden  Baugliedern  besorgt,  in  erster  Linie 
von  den  Säulenkapitellen.  Das  organisch  disziplinierte  Gefühl 
verlangt  nach  einer  Milderung  des  Zusammenstosses  von  Last 
und  Kraft,  nach  einer  organischen  Vermittlung  des  Mecha- 
nisch-Unvermittelten, und  diese  Vermittlungs-  und  Mil- 
derungstendenz übernimmt  eben  das  Kapitell.  Es  nimmt 
dem  Zusammenstoss  das  Katastrophale,  indem  es  ihn  vor- 
bereitet und  ausklingen  lässt.  Es  würde  uns  in  diesem 
Zusammenhang  zu  weit  führen,  die  Details  des  griechischen 
Säulen-  und  Architravsystems  auf  ihre  organische  Inter- 
pretationskraft hin  zu  untersuchen.  Nur  auf  den  Unterschied 
von  dorischem  und  ionischem  Stil  wollen  wir  noch  deshalb 
hinweisen,  weil  er  uns  auch  ornamental  schon  entgegengetreten 
ist  und  uns  gezeigt  hat,  wie  das  Dorische  im  Griechentum 
die  Verbindung  schafft  zwischen  der  Mittelmeerkultur  und 
dem  Norden.  Da  ist  es  charakteristisch,  dass  die  organische 
Läuterung  konstruktiver  Vorgänge  im  dorischen  Tempel 
noch  nicht  so  weit  gediehen  ist.  Eine  gewisse  männliche 
Schwerfälligkeit,  eine  gewisse  männliche  Scheu  hielt  den 
dorischen  Geist  davor  zurück,  sich  allzusehr  aus  der  kon- 
struktiven Gebundenheit  der  Architektur  zu  befreien.  Er 
verlangte  noch  nach  einer  Erhabenheit,  die  organisch  gar 
nicht  ausdrückbar  ist,  die  nur  in  abstrakter  Sprache  wirksam 
wird.  In  diesem  Hang  nach  einer  übermenschlichen,  über- 
sinnlichen Pathetik  verrät  sich  noch  seine  nordische  Her- 
kunft. ,,Trois  ou  quatre  formes  elementaires  de  la  geometrie 
fönt  tous  les  frais,"  sagt  Taine  lakonisch  vom  dorischen 
Baustil. 

Diese  Pathetik  bringt  es  mit  sich,  dass  im  dorischen  Stil 
die  lastenden  Kräfte  stärker  zum  Ausdruck  kommen,  als  die 
tragenden.  Der  Druck  der  Last  ist  so  stark,  dass  die  ihn 
auffangenden  Säulen  sich  erbreitern  müssen;  sie  schwellen 
nach  unten  hin  mächtig  an  und  leiten  damit  den  Druck,  den 
sie  selbst  nicht  bewältigen  können,  auf  das  allgemeine  Bau- 
fundament ab.  Sie  klingen  also  nicht  in  sich  selbst  aus,  wie 
die  ionischen,  die  deutlich  durch  eine  abschliessende  Basis 
vom  allgemeinen  Fundament  getrennt  sind,  sondern  sie 
klingen  gleichsam  unterirdisch  nach. 


DER  BAUGEDANKE  DER  GOTIK  67 

Die  konstruktive  Befangenheit  des  dorischen  Tempels  und 
die  damit  zusammenhängende  Gedrungenheit  der  allge- 
meinen Proportionen  machen  den  dorischen  Tempel  gewiss 
schwerfällig,  aber  sie  machen  auch  seine  unerreichte  Feier- 
hchkeit  und  majestätische  Unnahbarkeit  aus.  Im  ionischen 
Stil  wird  alles  leichter,  flüssiger,  lebendiger,  geschmeidiger, 
menschhch  näher.  Was  er  an  repräsentativem  Ernst  ein- 
büsst,  gewinnt  er  an  Heiterkeitsausdruck.  Jede  Zurück- 
haltung gegenüber  den  Eigenforderungen  der  Materie,  d.  h. 
den  konstruktiven  Gesetzen,  ist  geschwunden;  der  Stein  ist 
ganz  versinnhcht,  ganz  mit  organischem  Leben  erfüllt,  und  all 
die  Hemmungen,  die  die  Dynamik  und  Grossartigkeit  des 
dorischen  Stils  ausmachen,  sind  gleichsam  spielend  über- 
wunden. Den  dorischen  Tempel  erleben  wir  wie  ein  erhabenes 
Drama,  den  ionischen  wie  ein  beglückendes  Schauspiel  frei 
spielender  Kräfte. 


DER  BAUGEDANKE  DER  GOTIK 

Tjen  besten  Uebergang  zur  Untersuchung  des  gotischen 
Baugedankens  und  seines  von  der  griechischen  Tek- 
tonik gänzhch  verschiedenen  Wesens  finden  wir,  indem  wir 
uns  das  Verhältnis  der  beiden  Bauweisen  zu  ihrem  Material, 
dem  Stein,  veranschauhchen.  Alle  künstlerische  Architektur 
fängt  erst  damit  an,  dass  sie  sich  nicht  begnügt,  den  Stein 
als  blosses  Material  zu  irgendwelchen  praktischen  Zwecken 
zu  benützen  und  ihn  demnach  nur  nach  Massgabe  seiner 
materiellen  Gesetzlichkeit  zu  behandeln,  sondern  versucht, 
dieser  toten  materiellen  Gesetzhchkeit  einen  Ausdruck  ab- 
zugewinnen, der  einem  bestimmten  apriorischen  Kunstwollen 
entspricht.  So  sahen  wir,  dass  die  griechische  Kunst  diese 
tote  Gesetzhchkeit  des  Steins  zu  einem  wundervollen  Aus- 
drucksorganismus verlebendigt  (wie  sie  m  der  Ornamentik 
die  tote  abstrakte  Linie  des  Primitiven  zu  einer  organisch 
gerundeten  und  organisch  rhythmisierten  Linie  verlebendigt). 
Aus  der  starren  unsinnhchen  Logik  der  Konstruktion  macht 
sie  em  sinnlich  empfundenes  und  sinnhch  erfassbares  Spiel 


68  DER  BAUGEDANKE  DER  GOTIK 

lebendiger  Kräfte.  Zwischen  logischer  Gesetzmässigkeit 
und  organischer  Notwendigkeit  ist  hier  eine  Synthese  ge- 
schaffen, die  den  anderen  idealen  klassischen  Synthesen  von 
Begriff  und  Anschauung,  von  Denken  und  Erfahrung,  von 
Verstand  und  Sinnlichkeit  vollkommen  entspricht.  Das 
Ideale  dieser  Synthese  besteht  darin,  dass  keiner  der  die  Syn- 
these bildenden  Faktoren  zu  kurz  kommt,  sie  durchdringen 
sich  vielmehr,  sie  unterstützen  sich,  sie  ergänzen  sich.  Damit 
ist  schon  gesagt,  dass  diese  architekturale  Synthese  nicht 
durch  eine  Vergewaltigung  des  Steins  und  seiner  materiellen 
Gesetzlichkeit  zustande  kommt;  vielmehr  geht  die  kon- 
struktive Gesetzlichkeit  unmerklich  und  ohne  Gewalt- 
samkeit in  die  organische  Gesetzlichkeit  über.  Bei  voller 
Bejahung  des  Steins  und  seiner  materiellen  Gesetzlichkeit 
erreicht  die  klassische  Architektur  also  ihren  lebendigen 
Ausdruckswert. 

Den  Stein  bejahen,  heisst  die  Auseinandersetzung  von 
Last  und  Kraft  architektonisch  auszusprechen.  Denn  das 
Wesen  des  Steins  ist  Schwere,  auf  dem  Gesetz  der  Trägheit 
baut  sich  seine  architektonische  Verwendbarkeit  auf.  Der 
primitive  Baumeister  nutzt  die  Schwere  des  Steins  nur 
praktisch  aus,  der  klassische  Baumeister  aber  nutzt  sie  auch 
künstlerisch  aus;  er  bejaht  sie  ausdrückhch,  indem  er  zum 
künstlerischen  Gedanken  des  Baues  die  Auseinandersetzung 
von  Last  und  Kraft  macht.  Er  bejaht  den  Stein,  indem  er 
seine  konstruktive  Gesetzlichkeit  zu  einer  organisch  leben- 
digen Gesetzlichkeit  macht,  d.  h.  indem  er  ihn  versinnHcht. 
Alles  was  die  griechische  Architektur  an  Ausdruck  erreicht, 
erreicht  sie  mit  dem  Stein,  durch  den  Stein,  alles  was 
die  gotische  Architektur  an  Ausdruck  erreicht,  erreicht  sie 
—  hier  kommt  der  volle  Kontrast  zur  Geltung  —  trotz 
des  Steins.  Ihr  Ausdruck  baut  sich  nicht  auf  der  Materie 
auf,  sondern  kommt  nur  durch  ihre  Verneinung,  nur  durch 
ihre  EntmateriaHsation  zustande. 

Wenn  wir  einen  Blick  auf  die  gotische  Kathedrale  werfen, 
sehen  wir  nur  eine  gleichsam  versteinerte  Vertikalbewegung, 
in  der  jedes  Gesetz  der  Schwere  ausgeschaltet  zu  sein  scheint. 
Wir  sehen  nur  eine  ungeheuer  starke,  der  natürlichen  Schwer- 
kraft des  Steins  entgegengesetzte  Kräftebewegung  nach 
oben.     Keine  Mauer,  keine  Masse  gibt  es,  die  uns  den  Ein- 


DER  BAUGEDANKE  DER  GOTIK  69 

druck  eines  festen  materiellen  Seins  vermittelt,  nur  tausend 
Einzelkräfte  sprechen  zu  uns,  deren  Materialität  uns  kaum 
zum  Bewusstsein  kommt,  sondern  die  nur  als  Träger  emes 
immateriellen  Ausdrucks  wirken,  als  Träger  einer  unge- 
hemmten Höhenbewegung.  Vergebens  suchen  wir  nach 
einer  für  unser  Gefühl  nötigen  Andeutung  des  Verhältnisses 
von  Last  und  Kraft :  eine  Last  scheint  gar  nicht  zu  existieren ; 
wir  sehen  nur  freie  und  ungehinderte  Kräfte,  die  mit  einem 
ungeheuren  Elan  zur  Höhe  streben.  Es  ist  klar,  dass  der 
Stein  hier  seiner  ganzen  materiellen  Schwere  entledigt  ist, 
dass  er  hier  nur  Träger  eines  unsinnlichen,  unkörperlichen 
Ausdrucks,  kurz,  dass  er  hier  entmateriaUsiert  worden  ist. 

Diese  gotische  Entmaterialisation  des  Steins  zugunsten 
eines  rein  geistigen  Ausdruckswesens  entspricht  der  Ent- 
geometrisierung  der  abstrakten  Linie,  wie  wir  sie  zugunsten 
desselben  Ausdruckszweckes  in  der  Ornamentik  konstatierten. 

Der  Gegensatz  von  Materie  ist  Geist.  Den  Stein  ent- 
materialisieren, heisst  ihn  vergeistigen.  Und  damit  haben 
wir  der  Versinnlichungstendenz  der  griechischen  Architektur 
die  Vergeistigungstendenz  der  gotischen  Architektur  klar 
gegenübergestellt . 

Der  griechische  Baumeister  tritt  an  sein  Material,  den 
Stein,  mit  einer  gewissen  Sinnlichkeit  heran,  er  lässt  darum 
die  Materie  als  solche  sprechen.  Der  gotische  Baumeister 
dagegen  tritt  mit  einem  rein  geistigen  Ausdruckswillen  an 
den  Stein  heran,  d.  h.  mit  Konstruktionsabsichten,  die 
künstlerisch  unabhängig  vom  Stein  konzipiert  werden  und 
für  die  der  Stein  niu-  das  äusserliche  und  rechtlose  Mittel  der 
Verwirklichung  bedeutet.  Das  Resultat  ist  ein  abstraktes 
Konstruktionssystem,  in  dem  der  Stein  nur  eine  praktische, 
keine  künstlerische  Rolle  spielt.  Die  mechanischen  Kräfte, 
die  in  der  breiten  Massigkeit  des  Steins  gleichsam  schlummern, 
sie  sind  von  dem  gotischen  Ausdruckswillen  erweckt  worden ; 
sie  sind  selbstherrlich  geworden  und  haben  die  Masse  des 
Steins  so  sehr  aufgezehrt,  dass  an  Stelle  der  sichtbaren 
Festigkeit  der  Materie  eine  nur  berechenbare  Statik  tritt. 
Kurz,  aus  dem  Stein  als  Masse  mit  seiner  Schwerkraft  wird 
ein  nacktes  konstruktives  Gerüst  aus  Stein.  Die  Baukunst, 
die  eine  Maurerkunst  gewesen,  wird  zu  einer  Steinmetzen- 
kunst,   zu    einer    unsinnhchen    Konstruktionskunst.       Der 


70  DER  BAUGEDANKE  DER  GOTIK 

Gegensatz  von  klassischem  Bauorganismus  und  gotischem 
Bausystem  wird  zu  dem  Gegensatz  eines  lebendig  atmenden 
Körpers  und  eines  Skeletts. 

Die  griechische  Architektur  ist  angewandte  Konstruktion, 
die  gotische  ist  Konstruktion  an  sich.  Das  Konstruktive  ist 
dort  nur  Mittel  zum  praktischenZweck,  hier  ist  es  Selbstzweck, 
denn  es  deckt  sich  mit  der  künstlerischen  Ausdrucksabsicht. 
Weil  in  der  abstrakten  Sprache  konstruktiver  Beziehungen 
sich  das  gotische  Ausdrucksverlangen  aussprechen  konnte, 
wird  die  Konstruktion  über  ihren  praktischen  Zweck  weit 
hinaus  um  ihrer  selbst  willen  getrieben.  In  diesem  Sinne  könnte 
man  die  gotische  Architektur  als  eine  gegenstandslose  Kon- 
struktionswut bezeichnen,  denn  sie  hat  kein  direktes  Objekt, 
keinen  direkten  praktischen  Zweck,  nur  dem  künstlerischen 
Ausdrucks  willen  dient  sie.  Und  das  Ziel  dieses  gotischen 
Ausdruckswillens  kennen  wir :  es  ist  das  Verlangen,  aufzugehen 
in  einer  unsinnlichen,  mechanischen  Bewegtheit  stärkster 
Potenz.  Wir  werden  später  bei  der  Betrachtung  der  Scho- 
lastik, dieser  Parallelerscheinung  zur  gotischen  Architektur, 
sehen,  wie  auch  sie  den  gotischen  Ausdruckswillen  getreu 
widerspiegelt.  Auch  hier  ein  Uebermass  konstruktiver  Spitz- 
findigkeit ohne  direktes  Objekt,  nämlich  ohne  Erkenntnis- 
zweck —  denn  die  Erkenntnis  ist  ja  durch  die  geoffenbarte 
Wahrheit  der  Kirche  und  des  Dogmas  schon  festgelegt  — ,  auch 
hier  ein  Uebermass  konstruktiver  Spitzfindigkeit,  das  keinem 
andern  Zwecke  dient,  als  der  Schaffung  einer  sich  ununter- 
brochen steigernden  unendlichen  Bewegtheit,  in  der  sich  der 
Geist  wie  in  einem  Rausche  verliert.  Hier  wie  dort  derselbe 
logische  Wahnsinn,  derselbe  Wahnsinn  mit  Methode,  der- 
selbe rationalistische  Aufwand  zu  einem  irrationellen  Zwecke, 
und  wenn  wir  uns  nun  zurückerinnern  an  das  wirre  Chaos 
nordischer  Ornamentik,  das  gleichsam  das  abstrakte  un- 
körperliche Bild  einer  unendlichen  ziellosen  Bewegtheit  bot, 
so  sehen  wir,  wie  hier  im  ersten  erwachenden  dumpfen  künst- 
lerischen Betätigungsdrang  nur  vorbereitet  wurde,  was  später 
mit  so  hohem  Raffinement  in  Architektur  und  Scholastik  zur 
Vollendung  gebracht  wurde.  Die  Einheitlichkeit  des  Form- 
willens durch  viele  Jahrhunderte  hindurch  tritt  deutlich  zutage. 
Doch  würde  man  in  grossem  Irrtum  sein,  die  Scholastik 
und  die  gotische  Architektur  für  nichts  anderes  als  logische 


AUS  DER  LOREXZKIRCHE  ZU  NÜRNBERG 

-MIT  DER  SPITZE  DES  SAKRAMENTSHAUSES  VON  AD.  KRAFFT 

Aufnahme  von  Dr.  F.   Stoedtner,  Berlin. 


DER  BAU  GEDANKE  DER  GOTIK  71 


Kunststücke  zu  halten.     Das  sind  sie  nur  für  den,  der  den 
ins  Transzendentale  strebenden  Ausdrucks  willen  nicht  sieht, 
der   hinter  diesem  rein    konstruktiven  resp.  rein   logischen 
System  steht  und  der  sich  dieser  konstruktiven  Elemente 
nur  als  Mittel  bedient.    Denn  wenn  wir  vorhin  sagten,  dass 
das  Konstruktive  in  der  gotischen  Architektur  Selbstzweck 
sei,  so  gilt  das  nur  insofern,  als  dieses  Konstruktive  eben 
der    geeignete    Träger    für    den    künstlerischen    Ausdrucks- 
willen ist.     Denn  die  konstruktiven  Vorgänge  werden  uns 
ja  in  der  Gotik  direkt,  bei  blosser  Anschauung  gar  nicht 
verständlich,  sondern  nur  indirekt,  nur  durch  Berechnung 
auf  dem  Reissbrett  gleichsam.    Die  konstruktive  Bedeutung 
des  einzelnen  gotischen  Baugliedes  kommt  uns  bei  der  An- 
schauung kaum  zu  Bewusstsein;  das  einzelne  BaugHed  wirkt 
vielmehr  auf  den  Beschauer  nur  als  mimischer  Träger  eines 
abstrakten  Ausdrucks.    Die  ganze  Summe  logischer  Berech- 
nungen  wird   also   schliesslich  doch  nicht   um   ihrer  selbst 
willen  aufgeboten,  sondern  um  eines  überlogischen  Effektes 
willen.  Das  Ausdrucksresultat  geht  über  die  Mittel,  mit  denen 
es  erreicht  wurde,  weit  hinaus,  und  wir  erleben  innerlich  den 
Anblick  einer  gotischen  Kathedrale  nicht  wie  ein  Schauspiel 
konstruktiver  Vorgänge,  sondern  wie  einen  in  Stein  ausge- 
drückten   Ausbruch    transzendentalen    Verlangens.        Eine 
Bewegung  von  übermenschlicher  Wucht  reisst  uns  mit  sich 
fort  in  den  Rausch  eines  unendlichen  WoUens  und  Begehrens 
hinein;    wir    verlieren    das    Gefühl     unserer     irdischen    Ge- 
bundenheit, war  gehen  auf  in  eine  alles  EndHchkeitsbewusst- 
sein  auslöschende  Unendlichkeitsbewegung. 

Jedes  Volk  schafft  sich  in  seiner  Kunst  ideale  Aus- 
lösungsmöglichkeiten für  sein  Lebensgefühl.  Des  Gotikers 
Lebensgefühl  steht  unter  dem  Druck  einer  duahstischen 
Zerrissenheit  und  Friedlosigkeit.  Um  diesen  Druck  auszu- 
lösen, bedarf  es  höchster  Steigerungszustände,  höchster 
Pathetik.  Der  Gotiker  baut  seine  Dome  ins  Unendliche 
nicht  aus  spielerischer  Freude  an  der  Konstruktion,  sondern 
damit  der  Anblick  dieser  über  allen  menschlichen  Massstab 
weit  hinausgehenden  Vertikalbewegung  in  ihm  jenen  Emp- 
findungstaumel auslöst,  in  dem  allein  es  seine  innere  Dis- 
harmonie betäuben,  in  dem  allein  er  Glücksehgkeit  finden 
kann.      Dem  klassischen  Menschen  genügte  die   Schönheit 


72  DER  BAUGEDANKE  DER  GOTIK 

des  Endlichen  ziir  inneren  Erhebung,  der  duahstisch  zer- 
rissene und  deshalb  transzendental  veranlagte  Gotiker  ver- 
mochte nur  im  Unendlichen  Ewigkeitsschauer  zu  spüren. 
Die  klassische  Architektur  gipfelt  deshalb  in  der  Schönheit 
des  Ausdrucks,  die  gotische  in  der  Macht  des  Ausdrucks ; 
jede  spricht  die  Sprache  organischen  Seins,  diese  die  Sprache 
abstrakter  Werte. 

Die  Nachwelt  hat  in  der  Gotik  nur  die  logischen  Werte 
gesehen,  für  die  überlogischen  hatte  sie  kein  Organ,  es  sei 
denn,  dass  sie  dieses  Ueberlogische  auf  das  Niveau  moderner 
Stimmungsromantik  herabzog,  wobei  dann  über  die  logischen 
Werte  wieder  ganz  hinweggesehen  wurde.  Wenn  wir  von  dieser 
Stimmungasromntik  absehen,  finden  wir,  dass  die  gotische 
Architektur  nur  als  konstruktive  Leistung  gewürdigt  wurde. 
Sie  wurde  insbesondere  diskreditiert  von  ihren  Epigonen,  den 
Vertretern  jener  neudeutschen  Baumeistergotik,  die  im 
19.  Jahrhundert  ihr  Wesen  trieben.  Da  verstand  man  die  Gotik 
nur  dem  Worte,  nicht  dem  Geiste  nach.  Da  man  zu  dem 
transzendentalen  Ausdruckwillen  kein  seelisches  Verhältnis 
mehr  hatte,  schätzte  man  sie  nur  um  ihrer  konstruktiven  und 
dekorativen  Werte  willen  und  schuf  restaurierend  und  neu- 
schaffend jene  trockene,  leblose,  nüchterne  Gotik,  die  nicht 
vom  Geiste,  sondern  von  einer  Rechenmaschine  gezeugt  scheint. 

Ein  gewisses  inneres  Verständnis  der  Gotik  brachte  erst 
wieder  die  moderne  Eisenbaukonstruktionskunst.  Hier 
stand  man  wieder  einem  architekturalen  Gebilde  gegenüber, 
bei  dem  der  künstlerische  Ausdruck  mit  den  Mitteln  der 
Konstruktion  selbst  bestritten  wurde.  Doch  bei  aller 
äusseren  Verwandtschaft  ist  ein  gewaltiger  innererUnterschied 
zu  konstatieren.  Denn  in  dem  modernen  Fall  ist  es  das 
Material  selbst,  das  direkt  zu  einer  solchen  konstruktiven 
Einseitigkeit  aufforderte,  während  die  Gotik  nicht  durch 
das  Material,  sondern  trotz  des  Materials,  trotz  des  Steins 
zu  solchen  konstruktiven  Ideen  kam.  Mit  anderen  Worten: 
hinter  der  künstlerischen  Erscheinung  der  modernen  Eisen- 
konstruktionsbauten steht  nicht  ein  aus  bestimmten  Gründen 
zum  Konstruktiven  neigender  Formwille,  sondern  nur  ein 
neues  Material.  Nur  so  viel  könnte  man  vielleicht  sagen, 
dass  es  ein  atavistisches  Nachklingen  jenes  alten  gotischen 
Form  willens   ist,    das   den    modernen   nordischen    Menschen 


SCHICKSALE  DES  GOTISCHEN  FORMWILLENS 


73 


ZU  einer  künstlerischen  Bejahung  dieses  Materials  antreibt 
und  an  seine  sachgemässe  Verwendung  sogar  die  Hoffnung 
an  einen  neuen  Architekturstil  knüpfen  lässt. 

In  der  Gotik  war  das  Ausdrucksbedürfnis  das  Primäre 
gewesen,  dem  das  Material,  der  Stein,  nicht  entgegenkam, 
sondern  Widerstand  leistete.  Er  setzte  sich  trotz  der  Ge- 
bundenheit an  den  Stein  durch  und  brachte  damit  das  Ent- 
scheidend-Neue in  eine  Architekturentwicklung  hinein,  die 
ja  zum  grössten  Teil  Steinarchitektur  gewesen  und  als  solche 
entweder  organischer  Gliederbau  wie  die  griechische  oder 
strukturloser  Massenbau  wie  die  orientalische  oder  eine 
Vermischung  beider  wie  die  römische  Baukunst  gewesen 
war.  Dass  die  Gotik  nach  all  diesen  die  Steinbautradition 
geradezu  verkörpernden  Bauweisen  ein  absolut  Neues  schuf, 
nämlich  den  struktiven  Gerüstbau,  den  mechanischen 
Gliederbau  —  also  den  vollkommenen  Gegensatz  zum  or- 
ganischen Gliederbau,  das  ist  die  Kraftleistung,  mit  der 
sie  ihr  Höchstes  und  Eigentlichstes  an  Ausdrucksverlangen 
verwirklichte. 


SCHICKSALE  DES  GOTISCHEN 
FORMWILLENS 

[VTachdem  wir  den  allgemeinen  Charakter  des  nordisch- 
gotischen  Formwillens  in  seinen  reinsten  Prägungen, 
in  der  frühen  Ornamentik  und  in  der  reifen  gotischen  Archi- 
tektur kennen  gelernt  haben,  wollen  wir  nun  die  Schicksale 
dieses  Form\villens  untersuchen.  Es  ist  das  grosse  Kapitel 
mittelalterlicher  Kunstentwicklung,  das  wir  damit  berühren, 
ein  Kapitel,  das  durch  die  Einseitigkeit  des  auf  den  modernen 
Historiker  vererbten  Renaissancestandpunkts  nie  ganz  zu 
seinem  Rechte  gekommen  ist. 

In  der  Hauptsache  werden  diese  Schicksale  des  gotischen 
FormwiUens  bestimmt  einerseits  durch  sein  natürliches 
Wachsen  und  Erstarken,  anderseits  durch  seine  Auseinander- 
setzung mit  fremden  Stilerscheinungen,  von  denen,  neben 
vagen  und  weitläufigen  orientalischen  Einflüssen,  in  erster 


74         SCHICKSALE  DES  GOTISCHEN  FORMWILLENS 

Linie  die  römische  Kunst  mit  der  klassischen  Färbung  ihres 
Formwillens  in  Betracht  kommt.  Mit  der  ersten  Einwirkung- 
römischer  Kultur  auf  den  Norden  in  den  frühen  nachclirist- 
lichen  Jahrhunderten  beginnt  das  interessante  Schauspiel 
der  Auseinandersetzung  von  Nord  und  Süd,  von  Gotik  und 
Klassik,  das  mit  seinem  reichen  Inhalt  den  ganzen  Sinn  der 
mittelalterlichen  Kunstentwicklung  ausmacht.  Die  Akte 
dieses  Schauspiels  sind  römische  Provinzialkunst,  Völker- 
wanderungskunst, Merowingerkunst,  Karolingerkunst,  roma- 
nische Kunst  und  gotische  Kunst  (im  engeren  Sinne  des  Schul- 
begriffs). Der  letzte  Akt  zeigt  das  Zusammenbrechen  der 
Gotik  und  den  Untergang  des  nationalen  nordischen  Form- 
gefühls in  dem  europäischen  Gebilde  der  Renaissance.  Den 
Inhalt  dieser  einzelnen  Akte  können  wir  nur  kurz  skizzieren. 
Der  politischen  und  kulturellen  Uebermacht  der  römi- 
schen Eroberer  entsprach  natürlich  auch  ihre  künstlerische 
Uebermacht.  Vor  dieser  in  der  römischen  Provinzialkunst 
ausgedrückten  Uebermacht  weicht  das  heimische  Kunst- 
empfinden anfangs  ganz  zurück.  Es  findet  keine  Möglichkeit, 
irgendwo  einzusetzen  und  sich  zu  betätigen.  Nur  ganz 
allmählich  wagt  es  sich  hervor  und  sucht  sich  gleichsam 
an  unbeobachteten  Stellen  sein  Recht  zu  verschaffen.  Mit 
der  Zeit  aber  entsteht  eine  germanisch-römische  Ornamentik, 
in  der  die  nordischen  Elemente  den  römischen  nahezu  die 
Wage  halten.  Die  alten  linearen  Bildungen  des  Nordens 
tauchen  innerhalb  dieser  fremden  Kunstbildungen  allent- 
halben auf  und  suchen  dem  fremden  Körper  ihre  Seele  aufzu- 
drücken. Ja,  so  stark  fühlt  der  nordische  Formwille  sich  all- 
mählich, dass  er  der  römischen  Kunstinvasion  gegenüber  seine 
Selbständigkeit  zu  behaupten  wagt.  Diese  Selbständigkeit 
zeigt  er  z.  B.  darin,  dass  er  das  charakteristischste  Element 
römischer  Zierkunst,  den  eigentlichen  Träger  des  römisch- 
klassischen Formgefühls,  nämlich  das  ornamentale  Pflanzen- 
motiv, ablehnt.  Dieses  spezifisch  organische  Produkt  findet, von 
wenigen  Ausnahmen  abgesehen,  keinen  Eingang  in  die  frühe 
germanisch-römische  Mischkunst.  Die  Völkerwanderungszeit 
verstärkt  dann  natürlich  den  Mischcharakter  nordischer  Kunst- 
tätigkeit noch.  Die  verschiedensten  Einflüsse  kreuzen  sich, 
alles  ist  in  Gärung,  das  Unvermitteltste  steht  nebeneinander, 
aber  der  Expansionsdrang  des  nordischen  Formgefühls  ist 


GEWÖLBE  VOM  CHOR  DER  LIEBFRAUEXKIRCHE  ZU  TRIEI 
Originalaufnahme  der   Kgl.   Preussischen  Mcssbildanstalt  zu  Berlin. 


SCHICKSALE  DES  GOTISCHEN  FORMWILLENS         75 

innerhalb  dieser  Mischungen  nie  zu  übersehen.  Die  charakter- 
volle Härte  dieser  halbbarbarischen,  halb  römischen  Kunst- 
produkte zeigt,  dass  der  Kampf  nicht  mehr  ein  heimlicher 
Kleinkrieg,  sondern  ein  offener  ist,  in  dem  jeder  seinen  Platz 
behauptet.  Daher  die  kraftvolle  Prächtigkeit  dieses  Stils. 
Die  ]\Iero\vingerzeit  mit  ihren  angelsächsischen,  irischen, 
skandinavischen  und  oberitalienischen  Parallelerscheinungen 
zeigt  dann,  dass  das  nordische  Kunstgefühl  sich  endgültig 
durchgearbeitet  hat.  Sie  bringt  die  eigentliche  Blüte  jener 
mit  Wirklichkeitsmomenten  durchsetzten  Linienphantastik, 
die  wir  in  einem  früheren  Kapitel  eingehend  besprochen  haben, 
weil  sie  die  beste  Grundlage  für  die  Untersuchung  des  ganzen 
Stilphänomens  bietet.  Bereits  in  der  Merowingerzeit  waren 
aber  schon  pflanzliche  Motive  in  die  nordische  Ornamentik 
eingedrungen;  unter  dem  Einfluss  der  karohngischen  Renais- 
sance beginnt  die  alte  heimische  Tieromamentik  sogar  gegen- 
über der  neuen  Pflanzenornamentik  zurückzutreten.  Doch 
handelt  es  sich  hier  um  eine  Bewegung,  der  der  eigentliche 
Mutterboden  fehlt;  die  karolingische  Renaissance  war  ein 
höfisches  Experiment,  das  im  Volksbewusstsein  keinen 
Ankergrund  fand.  Dieses  verfrühte  Experiment  bringt  das 
nordische  Kunstgefühl  in  einen  vorübergehenden  Zustand 
völliger  Desorientierung,  der  erst  am  Ende  des  Zeitraums 
einem  langsam  wachsenden  Sicherheitsgefühl  weicht.  Damit 
ist  auch  der  Beurteilung  dieses  interessanten  Intermezzos 
der  Weg  ge^^^esen.  Wir  können  uns  dem  Urteil  Woermanns 
anschliessen :  ,,Die  karolingisch-ottonische  Kunst  hat,  abge- 
sehen von  einigen  Schöpfungen  auf  dem  Gebiete  der  Bau- 
kunst, von  einigen  Werken  der  Goldschmiedekunst  und  von 
einigen  figurenlosen  Schmuckseiten  der  Buchmalerei,  keine 
Leistungen  hervorgebracht,  an  die  die  Nachwelt  wieder 
anknüpfen  möchte.  Sie  selbst  war  eben  vornehmlich  eine 
Nach  Weltskunst,  deren  Formen-  und  Farbensprache  trotz 
ihres  tiefsinnigen  und  erweiterten  Inhalts  und  trotz 
ihrer  oft  prächtigen  äusserlichen  Gesamtwirkung  doch  nur 
ein  barbarisches  Stammeln  in  den  Lauten  einer  unwieder- 
bringlich verlorenen,  zudem  dem  germanischen  Norden 
volksfremden  Vergangenheit  war.  Die  jugendlichen  Natur- 
laute, die  hier  und  da  halb  unbewusst  durchzudringen  ver- 
suchen, verhallen  lange  ungehört.    Erst  ganz  am  Ende  dieses 


76         SCHICKSALE  DES  GOTISCHEN  FORMWILLENS 

Zeitraums  fangen  sie  an  häufiger  und  deutlicher  zu 
werden." 

Der  folgenden  Phase  des  Entwicklungsprozesses,  dem 
romanischen  Stil,  werden  wir  eingehendere  Aufmerksamkeit 
widmen  müssen,  denn  er  repräsentiert  schon  jenes  zu  voller 
Stärke  und  zu  selbständigem  Kulturbewusstsein  gelangte 
Mittelalter,  in  dem  der  Nordwesten  Europas  die  Zügel  der 
Entwicklung  kraftvoll  an  sich  gerissen  hatte.  Da  wir  der 
architektonischen  Entwicklung  eine  besondere  Betrachtung 
widmen  wollen,  so  sei  hier  nur  konstatiert  dass  der  romanische 
Stil  eine  sehr  durchgreifende  und  glückliche  Modifikation 
der  vom  antiken  Osten  überlieferten  Formen  weit  im  nordischen 
Sinne  ist.  Bei  aller  Abhängigkeit  seiner  Grundstruktur  von 
antiken  Traditionen  trägt  er  doch  einen  ausgesprochenen 
nordischen  Charakter;  der  von  der  kulturellen  Ueberlegen- 
heit  Roms  und  seiner  kirchlichen  Vormachtstellung  dem 
Norden  aufgedrängte  fremde  Kunstkörper  der  Basilika  zeigt 
sich  schon  ganz  von  dem  gotischen  Formwillen  durchsetzt, 
der  bei  der  Aufgabe,  diesen  fremden  Kunstkörper  mit  seinem 
Geist  und  seiner  Seele  zu  durchdringen,  immer  mehr  er- 
starkt, bis  er  schliesslich  im  Kraftrausch  der  grossen  gotischen 
Jahrhunderte  entschlossen  den  fremden  Kunstkörper  ganz 
aufgibt  und  sich  eine  eigene  grossartige  Ausdruckswelt 
schafft,  die  der  antiken  Tradition  ein  völlig  Neues  und 
Unabhängiges  gegenüberstellt.  Das  ist  die  eigentliche 
Gotik,  die  Gotik  im  engeren  Schulsinne,  die  endgültige 
Emanzipation  von  aller  Klassik. 

Und  in  dieser  seiner  höchsten  und  reinsten  Ausbildung 
erobert  das  nordische  Formgefühl  ganz  Europa.  In  der  Aus- 
einandersetzung von  Nord  und  Süd,  diesem  eigentlichen  Inhalt 
der  ganzen  mittelalterhchen  Entwicklung,  hat  der  Norden  kul- 
turell und  künstlerisch  zu  diesem  Zeitpunkt  triumphiert.  Aber 
es  scheint,  als  ob  er  sich  in  dieser  höchsten  Kraftanspannung 
ausgegeben  habe.  Der  nordische  Formwille,  auf  seinem  Höhe- 
punkt angekommen,  hatte  sich  in  sich  selbst  erschöpft;  er  stand 
am  Ende  seiner  Bildungsmöglichkeiten.  Seine  Mission  war 
erfüllt,  und  die  romanische  Menschheit  des  Südens,  die  sich 
inzwischen  von  der  nordischen  Ueberrumpelung  sowohl 
pohtisch  wie  kulturell  erholt  und  ihre  verzettelten  Kräfte 
zu  einer  neuen  Kultur  und  einer  neuen  Kunst  gesammelt 


SCHICKSALE  DES  GOTISCHEN  FORMWILLENS        yy 

hatte,  hatte  gegenüber  dem  Norden,  der  sich  ausgegeben 
hatte,  leichtes  Spieh  Die  Resonanz,  die  das  karoKngische 
Renaissanceexperiment  nicht  gefmiden  hatte,  sie  war  nun, 
wo  die  nordische  Formenergie  erschlafft  ist,  da.  Den  Sieg 
entschied  die  kulturelle  Uebermacht.  Denn  der  mittel- 
alterlichen Kultur,  die  noch  keine  individuelle  Differenzierung 
gekannt  hatte  —  das  Individuum  wagt  sich  erst  dann 
aus  der  Masse  herauszulösen,  wenn  die  dualistischen  Aengste 
überwunden  sind  und  in  dem  Verhältnis  von  Mensch  und 
Welt  ein  Zustand  der  Ausgeglichenheit  und  Sicherheit 
eingetreten  ist  — ,  tritt  nun  eine  neue  Kultur  entgegen,  die 
allen  Reichtum  des  Individuums  freigemacht  und,  von  keiner 
dogmatischen  Befangenheit  mehr  gehemmt,  geistige  Fort- 
schrittswerte geschaffen  hatte,  die  dem  mittelalterlich  ge- 
bundenen nordischen  Menschen  wie  ein  lockendes  Ideal  er- 
scheinen mussten.  Seine  Erlösungssucht,  die,  von  unge- 
heuren Kraftleistungen  erschöpft,  ihre  grosse  Dynamik 
eingebüsst  hatte,  glaubte  nun  in  solch  unmittelbarer  Nähe 
Befriedigung  zu  finden.  Der  nordische  TranszendentaHsmus 
flaute  ab  zu  einem  blossen  Transalpinismus,  zu  einem  kultu- 
rellen Ultramontanismus.  Dieselbe  dualistische  Zerrissenheit, 
die  sich  in  der  grossen  mittelalterlichen  Transzendentalkunst 
betäubt  hatte,  sie  treibt  den  nordischen  Menschen  nun  dem 
fremden  Renaissanceideal  zu.  In  der  erhabenen  Pathetik  der 
Gotik,  in  ihrer  unnatürlichen  krampfartigen  Anspannung,  in 
ihrem  mächtigen  Empfindungsrausch  hatte  er  seine  innere 
Misere,  sein  seelisches  Unbefriedigtsein  zu  übertönen  gesucht, 
aber  die  Kraft  zu  solcher  Anspannung  war  nur  der  kompakten 
Masse  möglich  gewesen.  Nun,  wo  Wirtschaftsentwicklung, 
Weltverkehr,  Städtewesen  und  sonstige  kulturelle  Faktoren 
den  grossen  Massenzusammenhang  auch  im  Norden  auf- 
gelockert hatten,  jetzt  musste  eine  nähere  menschlichere 
Befriedigung  gesucht  werden.  Die  Gotik  war  ihrem  innersten 
Wesen  nach  irrationell,  überrationell,  transzendental  ge- 
wesen: jetzt  tritt  die  verinnerlichte  Rationalität  klassischer 
Harmonie  und  klassischer  Gesetzmässigkeit  als  verführe- 
risches Ideal  an  den  zum  Individuum  gewordenen  nordischen 
Menschen  heran,  jetzt  hofft  er,  der  die  Kraft  nicht  mehr  hat 
zum  idealen  Ueberschwang  transzendentalen  Wollens,  in 
jener  hohen  idealen  ratio,  durch  jene  ihm  so  ferne  und  fast 


78         SCHICKSALE  DES  GOTISCHEN  FORMWILLENS 

unerreichbare  klassische  Harmonie  von  sich  selbst  loszu- 
kommen, sich  von  seiner  inneren  Misere  zu  erlösen.  Eine 
unmittelbare  Befriedigung,  ein  direktes  naives  Glück  ist  ihm 
versagt,  sein  Glück  liegt  immer  —  und  das  ist  die  eigentliche 
durch  alle  Jahrhunderte  gleichbleibende  nordische  Tran- 
szendenz —  in  einem  Jenseits,  in  einem  Uebersichselbst- 
hinaus,  mag  dieses  Uebersichselbsthinaus  nun  in  der  Steige- 
rung des  Rausches  oder  in  dem  Anklammern  an  ein  fremdes 
Ideal  bestehen.  Immer  nur  findet  er  sich  dadurch,  dass 
er  sich  selbst  verliert,  dass  er  über  sich  selbst  hinausgeht. 
In  dieser  Problematik  liegt  seine  Grösse  und  seine  Tragik. 
Man  kann  den  Qualitätsunterschied  zwischen  dem  goti- 
schenTranszendentalismus  und  dem  späteren  nordischenUltra- 
montanismus  (Romanismus)  auch  so  fassen,  dass  man  sagt, 
an  die  Stelle  religiöser  Ideale  seien  mit  der  Renaissance 
blosse  Bildungsideale  getreten.  Jedenfalls  haftet  der  ganzen 
deutschen  Renaissancekultur  das  Odium  an,  ein  Bildungs- 
produkt zu  sein,  dem  die  unmittelbaren  natürlichen  Voraus- 
setzungen fehlen.  Das  gilt  auch  von  der  nachgotischen  Kunst. 
Auch  sie  ist  mehr  Bildungserzeugnis,  als  unmittelbares  Produkt 
echter  ursprünglicher  künstlerischer  Empfindung  und  Ge- 
sinnung. Die  ungesunde  nordische  Bildungssucht,  dieser 
verkappte  und  geschwächte  Transzendentalismus,  unterjocht 
den  nordischen  Formeninstinkt,  und  das  Ergebnis  ist  das 
Zwittergebilde  der  deutschen  Renaissance  oder,  kulturell  ge- 
sprochen, des  deutschen  Humanismus.  Die  Kunst  wird  teils 
literarisch  angehaucht,  teils  versandet  sie  in  äusserlicher 
Dekoration.  Statt  des  unbewussten  starken  Willens  schafft 
nun  ein  bewusster  künstlerischer  Geschmack.  Natürlich  gilt 
diese  Charakteristik  der  deutschen  Renaissance  nur  für 
die  Allgemeinheit,  nur  für  die  grosse  Publikumskunst,  wie 
sie  vor  allen  Dingen  Cranach  inaugurierte.  Bei  den  grossen 
Einzelnen,  bei  Dürer,  Grünewald,  Holbein,  ist  die  Sachlage  eine 
andere.  Sie  alle  hängen  eben,  wenn  man  genauer  zusieht,  noch 
eng  mit  der  Gotik  zusammen.  Grünewalds  Gotik  gebärdet 
sich  als  malerische  Pathetik,  Holbeins  zeichnerische  Charak- 
terisierungsfähigkeit ist  —  wie  wir  in  anderem  Zusammenhang 
schon  sagten  —  die  letzte  grosse  Konzentration  nordischer 
Linearkunst.  Und  Dürer?  Ja,  Albrecht  Dürer  wurde  geradezu 
zum  Märtyrer  dieses  Zusammenpralls  zweier  im  Grunde  unver- 


SCHICKSALE  DES  GOTISCHEN  FORMWILLENS         79 

träglicher  künstlerischer  Ausdruckswelten.  Das  gibt  seinem 
ganzen  Entwicklungsgang  die  grosse  tragische  Note.  Dass  er 
sich  selbst,  sein  nordisches  Menschentum  nicht  aufgeben 
konnte,  dass  er  aus  seiner  disharmonischen  Veranlagung  heraus 
anderseits  mit  allen  Kräften  um  jene  neue  Welt  rang,  deren 
Ausgangspunkt  und  Ziel  Harmonie  und  Schönheit  ist,  das 
war  die  Tragik,  die  ihn  so  gross  und  zum  eigentlichen  Re- 
präsentanten des  Nordens  machte.  Denn  es  ist  die  spezifisch 
nordische  Tragik,  die  sich  unter  immer  neuen  Formen  und 
Verkleidungen  wiederholt  und  als  deren  letzten  Märtyrer, 
um  mit  der  uns  vertrautesten  Gegenwart  zu  exemplifizieren, 
wir  nordischen  Menschen  Hans  von  Marees  mit  seiner  grossen 
fragmentarischen,  problematischen  Kunst  verehren. 

Das  siegreiche  Vordrängen  des  klassischen  Formgefühls 
im  Kielwasser  der  grossen  italienischen  Renaissancebewegung 
liess  dem  gotischen  Form  willen  keine  Zeit,  um  ruhig  in  sich  ab- 
zuflauen. Aber  die  unterdrückten  gotischen  Formenergien,  die 
in  einer  so  grossen  Vergangenheit  verwurzelt  waren,  sie  waren 
unter  der  Oberfläche  doch  noch  zu  lebendig,  um  so  lautlos 
vom  Schauplatz  zn  verschwinden.     Der  beschauliche  wirk- 
lichkeitsfremde Humanismus,  dieses  Privileg  saturierter  Exi- 
stenzen, vermochte  auf  die  Dauer  das  gärend,  ein  voller  Ent- 
wicklung befindliche  Volksbewusstsein  nicht  niederzuhalten. 
Er  wird  durch  jene  grosse  Volksbewegung,  die  zur  Refor- 
mation führt,  korrigiert.     An  die  Stelle  der  Bildungsideale 
treten  wieder  religiöse  Ideale,  der  Humanismus  weicht  der 
Reformation.   Die  Reaktion  auf  das  humanistische  Bildungs- 
ideal mit  seiner  klassisch  heidnischen  Färbung  geht  durch 
ganz   Europa   und  dokumentiert   sich  künstlerisch  in  dem 
Stilphänomen  des  Barocks.     Der  transzendentale  Charakter 
dieses  Stils  zeigt  sich  schon  äusserlich  darin,  dass  die  Kirche, 
insbesondere  die  Jesuiten  die  Verbreiter  und  Träger  dieses 
Stils  sind.    Seine  transzendentale  Pathetik  scheidet  ihn  deut- 
lich von  der  harmonischen  Ruhe  und  Ausgeglichenheit  des 
klassischen  Stils.     Auf  den  transzendentalen  Stil  der  Gotik 
folgt    also   nach   dem    Intermezzo    der   Renaissance   wieder 
ein  transzendentaler  Stil,  das  Barock.     Und  im  nordischen 
Barock  glaubt  man  deutlich  Zusammenhänge  zwischen  ihm 
und  der  Gotik  zu  finden.     Besonders  wenn  man  an  die  Spät- 
gotik zurückdenkt,  die  man  bezeichnenderweise  das  Barock  der 


8o         SCHICKSALE  DES  GOTISCHEN  FORMWILLENS 

Gotik  genannt  hat.  Die  nordischen  Renaissanceformen  be- 
halten nur  kurze  Zeit  ihre  Mässigung.  Schon  sehr  bald  er- 
weitern sie  sich  zu  einem  unruhigen,  drängenden  Schnörkel- 
werk, und  es  scheint,  als  ob  die  alten  unterdrückten  gotischen 
Formenergien  in  dieser  fremden  organischen  Kunstwelt  am 
Werke  seien  und  sie  beunruhigten  und  ausweiteten.  Der 
gotische  pathetische  Willensimpuls  scheint  in  diese  organische 
Ausdruckswelt  hinübergeleitet  zu  sein.  Von  diesem  immer 
mächtigeren  Einströmen  des  nordischen  Willensimpulses 
belebt  und  bewegt,  verlieren  die  Kunstformen  der  deutschen 
Renaissance  allmählich  ganz  jene  harmonische  Prägung,  die 
bei  ihnen  mehr  Charakterlosigkeit,  als  positiver  Willens- 
ausdruck wie  in  der  italienischen  Renaissance  war,  sie  ver- 
lieren jene  harmonische  Glätte,  und  noch  einmal  rauscht 
der  alles  harmonische  Mass  verschmähende  Strom  nordischen 
Kunstwollens  durch  die  Welt.  Wieder  ist  alles  Bewegung, 
alles  drängende  Aktivität,  alles  Pathetik.  Aber  diese  Pathetik 
kann  sich  nur  durch  die  äusserste  Steigerung  und  Anspan- 
nung der  organischen  Werte  ausdrücken,  der  Weg  zurück 
zu  der  höheren  und  hinreissenderen  Pathetik  abstrakter, 
unsinnlicher  Werte  ist  ihr  durch  die  Renaissance  versperrt. 
So  sehen  wir  im  Barock  das  letzte  Aufwallen  nordischen 
Formwillens,  ein  letztes  Drängen,  sich  auch  in  einer  unge- 
eigneten, ihm  wesensfremden  Sprache  auszusprechen.  Und 
langsam  klingt  die  alte  nordische  Linien-  und  Bewegungs- 
kunst dann  aus  im  spielerischen  Schnörkel  werk  des  Rokoko. 
Dem  Bedürfnis,  den  in  diesem  Kapitel  skizzierten  Ent- 
wicklungsgang zum  Schlüsse  noch  einmal  zu  rekapitulieren, 
komme  ich  damit  nach,  dass  ich  einen  Passus  aus  einem 
Akademievortrag  Alexander  Conzes,  des  Berliner  Archäo- 
logen, zitiere:  ,,In  dem  bedeutungslosen  Formenspiel  ihres 
geometrischen  Stils  haben  ungezählte  Generationen  der 
alteuropäischen  Völker  ihr  ästhetisches  Bedürfnis  auf  dem 
Gebiete  der  bildenden  Kunst  befriedigt  gesehen,  bis  sie  nach 
und  nach  durch  den  Einfluss  vom  Süden  her  in  den  Kreis 
einer  aus  den  Ländern  am  Ostwinkel  des  Mittelmeers  stammen- 
den, reicheren  Kunstformenwelt  gezogen  wurden.  Aber  dabei 
verlosch  ihr  eigenartiges  Kunstempfinden  nicht  endgültig 
rasch,  wie  heutzutage  das  der  Wilden  vor  der  viel  mächtiger 
über   sie   kommenden    Berührung   mit    höher   entwickelter 


INNERES  DER  GEORGSKIRCHE  ZU  DINKELSBÜHL  (BAYERN) 
Aufnahme  von  Dr.  F.   Stoedtner,  Berlin. 


ROMANISCHER  STIL  8l 

Kultur.  In  Griechenland  könnte  der  dorische  Stil,  in  welchem, 
wie  Taine  sagt,  „trois  on  quatre  formes  elementaires  de  la 
geometrie  fönt  tous  les  frais",  unter  Nachwirkung  der  Stim- 
mung des  alten  geometrischen  Stils  erwachsen  sein.  Unver- 
kennbar aber  zeigt  sich  im  Norden  Europas  die  Lebens- 
fähigkeit uralter  Weise  gegenüber  dem  Eindringen  griechisch- 
römischer Kunst.  Nach  erstem  Unterliegen  dringt  alt- 
heimische Art,  die  fremden  Formen  umbildend,  im  gotischen 
Stil  zu  einem  verklärten  Ergebnisse  des  Kampfes  der  beiden 
Kunstwelten  hindurch,  und  selbst  im  Rokoko  möchte  man, 
nach  abermaligem  Obsiegen  der  Renaissance,  noch  ein 
letztes  verhallendes  Nachklingen  vermuten.  Dem  Auftreten 
des  gotischen  Stiles  ging  in  verwandter  Weise  in  der  mos- 
lemitischen  Kunst  ein  Hervorbrechen  alter  Unterströmungen 
durch  die  griechisch-römische  Decke  parallel.  So  weit- 
gehende Betrachtungen  wären  aber  nur  bei  einer  Nach- 
weisung der  weltgeschichtlichen  Momente  in  der  allgemeinen 
Kunstgeschichte  voll  auszuführen."  (Sitzungsbericht  der 
Berliner  Akademie  der  Wissenschaften,     ii.  II.  1897.) 


ROMANISCHER  STIL 

T  jie  ganze  Schicksalsgeschichte  des  gotischen  Form  willens 
lässt  sich  reduzieren  auf  zwei  zeitlich  aufeinander- 
folgende Hauptstadien,  denen  sich  alles  andere  unterordnet. 
Das  erste  Hauptstadium  ist  die  ornamentale,  das  zweite  die 
architektonische  Betätigung  des  Formwillens.  Wie  die  Orna- 
mentik für  die  frühnordische  Entwicklung,  so  ist  für  die 
spätere  Entwicklung  die  Architektur  der  eigentliche  Re- 
präsentant des  gotischen  Kunstvermögens.  Das  Ziel  dieser 
Entwicklung  musste,  falls  wirklich  allen  Kunstleistungen  von 
den  ersten  christlichen  Jahrhunderten  bis  zum  hohen  Mittel- 
alter ein  einheitlicher  Formwille  zugrunde  lag,  das  sein,  die 
schwerfälligen  Elementargesetze  der  Architektur  also  zu 
variieren,  differenzieren  und  geschmeidig  zu  machen,  dass 
sie  Ausdruck  des  in  der  freien  Ornamentik  enthaltenen  Form- 
gefühls werden  konnten.  Und  es  ist  in  der  Tat  das  glänzendste 
Kapitel   der   mittelalterUchen    Kunstentwicklung,    das   uns 

6 


82  ROMANISCHER  STIL 

zeigt,  wie  dieses  der  seelischen  Struktur  des  nordischen 
Menschen  entsprechende  Formgefühl,  das  sich  anfänghch 
nur,  von  Zweck  und  Materialforderung  ungehindert,  in  der 
Ornamentik  ausgesprochen  hatte,  sich  allmählich  der  schweren 
ungefügen  Materie  bemächtigt  und  sich  trotz  ihres  materiellen 
Widerstands  zu  seinem  selbstlosen,  gefügen  Ausdrucks- 
instrument macht. 

Ueber  den  heidnischen  Sakralbau  des  Nordens  sind  wir 
nur  mangelhaft  unterrichtet,  und  die  in  vollem  Fluss  befind- 
liche Diskussion  über  die  vorchristliche  nordische  Holz- 
architektur und  ihren  Zusammenhang  mit  dem  christlichen 
Sakralbau  des  Nordens  erlaubt  noch  keine  feste  Entscheidung 
über  diese  Gegenstände.  Einwandfrei  fest  steht  aber  wohl, 
dass  die  frühe  nordische  Architektur  schon  beherrscht  war 
vom  Willen  zur  Senkrechten,  von  der  Tendenz,  stehende, 
nicht  liegende  Bauten  zu  schaffen.  Von  den  beiden  Grund- 
elementen der  Tektonik,  dem  aktiven  Tragen  und  dem 
passiven  Lasten,  deren  Auseinandersetzung  in  der  griechischen 
Architektur  zu  einem  glücklichen  organischen  Ausgleichs- 
verhältnis gekommen  war,  wurde  in  der  nordischen  Archi- 
tektur von  Anbeginn  an  dem  ersteren  der  Vorzug  gegeben; 
der  Ausdruck  der  Aktivität  sollte  der  vorherrschende  sein, 
der  Bau  sollte  als  ein  frei  emporsteigender,  nicht  als  ein 
belasteter  erscheinen. 

Die  eigentliche  mittelalterliche  Architekturentwicklung 
beginnt  aber  erst,  als  durch  die  Uebernahme  des  Christentums 
eine  Auseinandersetzung  mit  dem  in  der  altchristlichen 
Architektur  verkörperten  antiken  Baugedanken  erforderlich 
wurde.  Dadurch  erst  wurde  der  Norden  zum  repräsentativen 
Steinbau  gedrängt,  dadurch  erst  wurde  sein  noch  dumpfes 
und  willkürliches  architektonisches  Formgefühl  vor  die  ent- 
scheidende Probe  gestellt.  Und  diese  Probe  wird  bestanden. 
Die  Anfangsstadien  der  Auseinandersetzung  wollen  wir,  um 
die  knappe  Prägnanz  der  dargestellten  Entwicklungslinie 
nicht  durch  weitschweifige  Ausführlichkeit  in  Frage  zu 
stellen,  übergehen.  Auch  die  karolingischen  Bauten  mögen 
als  ein  von  der  eigentlichen  Entwicklungslinie  etwas  abge- 
legenes und  isoliertes  Experiment  nur  gestreift  werden.  Der 
eigentliche  Sinn  der  Entwicklung  kommt  erst  im  sogenannten 
romanischen  Stil  zum  Ausdruck.    Ihn  wollen  wir  auf  seinen 


ROMANISCHER  STIL  83 

formpsychologischen  Charakter  hin  analysieren,  um  dann  die 
Krönung  der  Entwicklung  im  reifen  gotischen  Stil  verstehen 
zu  lernen. 

Romanischen  Stil  nennen  wir  die  stilistische  Modifikation, 
die  das  importierte  altchristliche  Bauschema  durch  den 
selbständigen  Kunstwillen  des  Nordens  erfährt.  Wenn  wir 
also  die  Einzelheiten  dieser  Modifikation  feststellen,  so  be- 
obachten wir  den  gotischen  Formwillen  gleichsam  bei  der 
Arbeit.  Denn  alles,  was  er  am  fremden  Kunstkörper  der 
Basilika  an  Veränderungen  durchsetzte,  das  sind  Hinweise 
auf  die  spätere,  eigentlich  gotische  Entwicklung,  in  der 
er  sich  von  diesem  fremden  Körper  ganz  emanzipiert  hatte. 

Der  romanische  Stil  der  Architektur  repräsentiert  jenes 
Stadium  in  der  Ausienandersetzung  von  nordischem  und 
antikem  Kunstgefühl,  dem  in  der  ornamentalen  Ent- 
wicklung ungefähr  der  Völkerwanderungsstil  entspricht.  Ihm 
haftet  derselbe  grossartige,  charaktervolle  Ernst,  dieselbe 
schwere  materielle  Prächtigkeit  an,  die  dadurch  entsteht, 
dass  zwei  Kunstwelten  sich  nicht  einander  durchdringen, 
sondern  hart  und  ehrlich  nebeneinander  stehen.  Ihre  beider- 
seitige Stärke  scheint  aufeinander  abgestimmt  zu  sein, 
so  dass  trotz  diesem  spröden  Nebeneinander  dennoch  eine 
gewisse  Einheitlichkeit  des  Eindrucks  zustande  kommt. 
Die  romanische  Architektur  hat  Stil,  weil  die  Auseinander- 
setzung eine  offene  und  ehrliche  ist,  in  der  jedes  Element 
kraftvoll  seinen  Platz  behauptet.  Soweit  es  dem  nor 
dischen  Kunstwollen  möglich  war,  sich  unter  Wahrung  des 
ihm  überlieferten,  von  der  antiken  Tradition  abhängigen 
Basilikaischemas  durchzusetzen,  ist  es  ihm  hier  gelungen. 

Wir  erkannten  den  gotischen  Formwillen  als  das  Streben 
nach  ungehemmter  Aktivität,  nach  einer  Ausdrucksbewegtheit 
immaterieller  Art.  Wenn  wir  nun  einen  romanischen  Dom 
mit  einer  altchristlichen  Basilika  vergleichen,  so  zeigt  uns 
schon  das  äussere  Bild,  was  dieser  nordische  Ausdruckswille 
aus  dem  basilikalen  Schema  gemacht  hat.  Die  alt  christliche 
BasiUka  trägt  einen  einheitlichen  Akzent.  Die  einheitliche 
Langhausbewegung  zum  Altarraum  hin  ist  auch  äusserlich 
ganz  klar  dokumentiert.  Dieses  einfache  Elementarschema 
der  Basilika  erfährt  nun  im  romanischen  Stil  eine  durch- 
greifende   Gliederung,    die    seinen    einheitlichen    Charakter 

6* 


84  ROMANISCHER  STIL 

aufhebt  und  an  die  Stelle  reizloser  Einfachheit  eine  reiche 
Mannigfaltigkeit  setzt.  Statt  des  einen  Akzentes  eine 
/  Vielheit  der  Akzente,  die  eine  gewisse  rhythmische  Gebunden- 
/  heit  haben.  Es  ist,  als  ob  man  einen  sachlichen,  logisch 
aufgebauten  lateinischen  Satz  vergleiche  mit  einem  Vers 
aus  dem  Hildebrandslied  und  seiner  unruhigen,  knorrigen, 
ungemein  ausdrucksvollen  Rhythmik,  seinem  fast  hyper- 
trophischen Reichtum  an  Akzenten,  Dieser  schwerfällige, 
gedrungene  Satzbau,  der  fast  berstet  unter  der  Summe  der 
in  ihn  hineingepressten  Bewegtheit,  er  weist  uns  darauf  hin, 
wie  auch  die  Schwerfälligkeit  und  Gedrungenheit  des  ro- 
manischen Baustils  zu  verstehen  ist.  Bewegung  ist  Aktivität. 
Der  Gliederungstrieb  der  romanischen  Architektur  ist  nichts 
anderes  als  das  gotische  Aktivitätsbedürfnis,  das  das  ruhige, 
äusserlich  ganz  objektive,  ausdrucksarme  Gebilde  der  alt- 
christlichen Basilika  nach  seinem  Geiste  umgestalten  und 
differenzieren  will.  Man  spricht  meist  von  dem  Bedürfnis 
der  romanischen  Architektur  nach  malerischer  Erscheinung 
und  verwechselt  damit  Ursache  und  Wirkung.  Denn  diese 
malerische  Erscheinung  ist  nur  die  sekundäre  Wirkung  jener 
primären  Aktivitätsäusserungen,  die  sich  in  der  Gliederung 
aussprechen.  Denn  indem  dieses  Aktivitätsbedürfnis  die  aus- 
druckslose Einheit  der  Erscheinung  gliedert  und  aus  der  toten 
objektiven  Masse  Einzelkräfte  hervorlockt,  löst  es  die  Ruhe 
in  Bewegtheit  auf  und  setzt  an  die  Stelle  der  Einfachheit 
Mannigfaltigkeit.  Und  das  natürliche  Resultat  dieses  Un- 
ruhig-Bewegten und  Mannigfaltigen  ist  die  malerische  Wir- 
kung. Dieser  malerische  Charakter  bleibt  der  nordischen 
Architektur  nur  so  lange  erhalten,  als  die  nordischen  Form- 
energien sich  noch  auf  der  Grundlage  des  alten  Massenbaus 
entwickeln  müssen.  Hier  entsteht  die  malerische  Wirkung 
nur  durch  das  Gegenspiel  der  toten  Masse  und  der  aus  ihr 
von  der  nordischen  Formenergie  herausgelösten  Gliederung. 
Sobald  diese  Grundlage  wegfällt  und  die  Gliederungen  mit 
ihrem  Aktivitätsausdruck  sich  nicht  mehr  an  dem  Hinter- 
grund toter  Masse  brechen,  nämlich  in  der  eigentlichen 
Gotik,  schwindet  der  Reliefcharakter  des  romanischen  Stils, 
schwindet  mit  anderen  Worten  seine  malerische  Wirkung. 
Die  reine  Gotik  ist  zwar  voller  Aktivität,  aber  ohne  eigent- 
lich malerische  Wirkung.    Womit  deutlich  bewiesen  ist,  dass 


GROSSER  REMTER  IM  SCHLOSS  ZU  MARIENBURG  (WESTPREUSSEN) 
Originalaufnahme  der  Kgl.  Preussischen  Messbildanstalt  zu  Berlin. 


ROMANISCHER  STIL  85 

die  malerische  Wirkung  des  romanischen  Stils  nicht  Selbst- 
zweck ist,  sondern  nur  Folge  eines  mit  dem  römischen  Massen- 
und  Mauerstil  sich  noch  auseinandersetzenden  Aktivitäts- 
bedürfnisses ist.  Die  ungemein  malerische  Wirkung  des 
Völkerwanderungsstils  beruht  auf  den  gleichen  Voraus- 
setzungen. 

Das  Gesagte  gilt  sowohl  für  die  reiche  Grundriss- 
gliederung wie  für  die  Gliederung  der  äusseren  Erscheinung. 
Diese  äussere  Erscheinung  wird  beherrscht  von  einem  Blend- 
arkaden- und  Lisenensystem,  das  die  toten  Mauerwände 
auflöst  in  Leben  und  Bewegung.  Dieses  Leben  spielt  sich 
noch  getrennt  von  der  eigentlichen  Struktur  des  Baues  ab, 
es  ist  ihr  nur  äusserlich  aufgesetzt,  ist  nur  dekoratives  Bei- 
werk. Man  hat  das  Gefühl,  als  ob  diese  Häufung  organischen 
Lebensausdrucks,  wie  sie  sich  in  den  wandbelebenden  Säulen- 
arkaden ausspricht,  eine  Art  Notbehelf  sei  für  das  starke 
nordische  Ausdrucksverlangen,  das  seine  eigentliche  Aus- 
drucksmöglichkeit, nämlich  die  überorganisch  konstruktive 
Sprache,  noch  nicht  gefunden  hat.  Denn  in  konstruktiver 
Hinsicht  war  ja  der  romanische  Stil  noch  gebunden  an  das 
antike  Schema.  So  konnte  der  nordische  Formwille 
sich  nur  neben  dieser  baulichen  Grundstruktur  ausdrücken, 
nicht  mit  ihr,  wie  es  die  Gotik  tat.  Der  Aufwand  an  äusser- 
licher  mittelbarer  Kraftentfaltung,  die  dem  Grundgedanken 
des  Baus  entsprechend  sich  noch  mit  organischen  Ausdrucks- 
mitteln aussprach,  musste  den  Mangel  an  unmittelbarei 
innerer  Kraftentfaltung  ersetzen.  Damit  hängt  auch  die 
Neigung  des  romanischen  Stils  zu  barocker  Ausartung  zu- 
sammen. Denn  als  barock  empfinden  wir  jede  Stilerscheinung, 
die  ein  organisches  Leben  zeigt,  das  unter  einem  allzustarken 
Druck  steht.  Und  dieser  Ueberdruck  entsteht  immer  dann, 
wenn  die  rechten  Ventile  verstopft  sind  und  die  eigentliche 
Auslösung  nicht  vor  sich  gehen  kann,  wenn  die  organischen 
Ausdrucksmöglichkeiten  ein  Leben  bewältigen  müssen,  das 
eigentlich  über  ihre  Kraft  geht  und  nur  von  überorganischen 
Kräften  bewältigt  werden  könnte.  Und  von  überorganischer 
abstrakter  Ausdrucksmöglichkeit  —  der  eigentlich  gotischen 
—  ist  der  romanische  Stil  ebenso  entfernt  wie  das  Barock. 
Nur  dass  in  dem  einen  Falle  infolge  der  Abhängigkeit  von  der 
antiken  Tradition  der  Weg  dazu  noch  versperrt,  im  andern 


86  ROMANISCHER  STIL 

Falle  durch  das  Wiederaufleben  und  die  absoluteVorherrschaft 
dieser  selben  antiken  Tradition  der  Weg  wieder  verschüttet 
war.  Der  romanische  Stil  ist  ebenso  wie  das  Barock  der  Ver- 
such einer  Gotik  mit  untauglichen,  nämlich  nur  organischen 
Mitteln.  Und  immer  mehr  kommt  es  uns  zu  Bewusstsein, 
wie  die  Renaissance  nur  eine  Art  Fremdkörper  ist  in  dieser 
ungeheuren,  sonst  ununterbrochenen  Entwicklung  von  den 
frühsten  nordischen  Anfängen  bis  zum  Barock,  ja  zum 
Rokoko  hin. 

Das  gestreckte  Langhaus  der  Basilika  lässt  den  ganzen 
Bau  äusserlich  als  einen  liegenden  erscheinen.  Bei  der  Tendenz 
des  nordischen  Kunstwollens,  stehende,  frei  emporstrebende 
Bauten  mit  dem  Ausdruck  ungehemmter  Aktivität  zu 
schaffen,  war  es  klar,  dass  man  an  dieser  breit  sich  lagernden 
Basilikenform  Anstoss  nehmen  würde.  Es  galt,  ihr  um  jeden 
Preis  eine  Höhenentwicklung  abzuringen.  Das  Ergebnis 
dieses  Bestrebens  ist  das  romanische  Vielturmsystem,  das 
an  Stelle  der  horizontalen  Akzentuierung  der  Basilika  eine 
schon  ganz  kräftige  Vertikalakzentuierung  setzt.  Auch  hier 
ist  es  noch  ein  Versuch  mit  untaughchen  Mitteln.  Die  Türme 
sind  mehr  oder  weniger  willkürlich  aufgesetzt;  ihre  Höhen- 
kraft wächst  nicht  unmittelbar  aus  der  inneren  Struktur  des 
Baues  heraus,  und  so  können  sie  dann  ohne  diese  konstruktive 
Schnellkraft  den  Eindruck  materieller  Schwere  nicht  über- 
winden. Auch  hier  ist  das  erlösende  Wort  noch  nicht  ge- 
sprochen, und  so  wird  dann  durch  ein  Vielerlei,  durch  eine 
Häufung  der  Effekte  noch  versucht,  was  sich  der  direkten 
VerwirkHchung  noch  versagte.  Nur  von  innen  heraus  konnte 
die  Aenderung  vor  sich  gehen.  Nur  aus  dem  innersten  Herzen 
des  Baues  heraus  konnte  das  Neue  sich  gestalten.  Und 
sobald  das  geschehen  war,  sobald  dieses  entscheidende  Stich- 
wort gefallen  war,  ergab  sich  die  äussere  Gestaltung  des 
Baues  ganz  von  selbst.  Erst  musste  der  Bau  seine  eigentliche 
Seele  gefunden  haben,  um  sich  vom  Körper  zu  emanzipieren 
und  dem  gotischen  Höhentrieb,  diesem  Drängen  nach  einer 
unendlichen  immateriellen  Bewegtheit  die  Zunge  zu  lösen. 

Diese  Emanzipation  vom  Körper,  d.  h.  von  der  ganzen 
sinnhchen  Bauauffassung  der  antiken  Tradition,  setzt  im 
romanischen  Stil  ein  mit  den  ersten  Wölbungs versuchen. 
Mit  den  ersten  Wölbungsversuchen  greift  der  nordische  Bau- 


BEGINNENDE  EMANZIPATION  87 


meister  in  den  innersten  Kern  der  bisher  von  ihm  unange- 
tasteten antiken  Bauform  ein. 

Wir  wollen  diesen  entscheidenden  Vorgang  in  einem  be- 
sonderen Kapitel  behandeln. 


BEGINNENDE  EMANZIPATION 
VOM  KLASSISCHEN  BAUGEDANKEN 

"T^ie  antike  Architektur  hatte  sich,  vom  Orient  angeregt,  in 
-*-^  hellenistischer  Zeit  und  weiter  in  römischer  Zeit  ein- 
gehend mit  dem  Wölbungsproblem  beschäftigt  und  die  römi- 
sche Provinzialkunst  hatte  auch  auf  nordischem  Boden  im- 
posante Beispiele  ihrer  Lösungen  hinterlassen.  Aber  die  nun 
einsetzende  mittelalterliche  Wölbungskunst  hat  künstlerisch 
nichts,  nur  technisch  etwas  mit  dieser  antiken  klassischen 
W^ölbungstradition  zu  tun.  Mit  der  orientalischen  Wölbungs- 
tradition, die  ebenso  wie  die  spätere  nordische  auf  male- 
rische Raumgestaltung  ausging,  wären  die  künstlerischen 
Zusammenhänge  schon  leichter  zu  finden.  Doch  das  würde 
uns  zu  weit  führen.  Um  den  fundamentalen  Unterschied 
zwischen  der  klassischen  und  der  gotisch-nordischen  Wöl- 
bungsidee zu  verstehen,  müssen  wir  uns  klarmachen,  welchen 
künstlerischen  Zwecken  die  klassische  Wölbungskunst  diente. 
Die  Genesis  klassischer  Wölbungskunst  hängt  eng  zusammen 
mit  der  in  hellenistischer  Zeit  einsetzenden  und  in  römischer 
Zeit  zu  ihrem  Höhepunkt  sich  entwickelnden  Innenraum- 
gestaltung. Wir  sahen,  wie  in  griechischei  Zeit  der  Raum 
als  solcher  keine  künstlerische  Rolle  spielte;  die  griechische 
Baukunst  erkannten  \\ir  als  reine  Tektonik  ohne  raum- 
schaffende Absicht.  In  hellenistischer  Zeit  büsst  das  grie- 
chische Empfinden  nun  seine  ganz  auf  substantielles,  fassbares 
Sein  gerichtete  Plastik  ein;  durch  die  Berührung  mit  dem 
Orient  wird  es  mit  unsinnHchen  geistigen  Momenten  durchsetzt 
und  folgerichtig  entwickelt  sich  aus  der  Tektonik  eine  raum- 
schaffende Kunst.  Wir  haben  diese  Zusammenhänge  schon 
an  anderer  Stelle  behandelt.  Aber  selbst  bei  dieser  Raum- 
schaffungsabsicht bheb  die  eigentliche  Antike  klassisch,  d.  h. 
auch  an  den  Raum  tritt  sie  mit  organischen  Gestaltungszielen 


BEGINNENDE  EMANZIPATION 


/ 


heran  und  sucht  ihn  gleichsam  wie  etwas  Organisch- Lebendiges, 
ja  wie  etwas  Körperhches  zu  behandeln.  Mit  anderen  Worten: 
an  die  Stelle  der  Formenklarheit  als  Ideal  der  griechischen 
Tektonik  tritt  die  Raumklarheit  als  Ideal  der  römischen  Archi- 
tektur, an  die  Stelle  der  organischen  Formenbildung  tritt  die 
organische  Raumbildung,  an  die  Stelle  der  Formplastik  tritt 
die  Raumplastik  (wenn  dieser  kühne,  die  Sachlage  aber  richtig 
treffende  Ausdruck  erlaubt  sein  soll).  Die  Raumgrenzen 
sollen  derartige  sein,  als  ob  der  Raum  sie  sich  gleichsam 
selbst  gesetzt  habe,  um  sich  dem  unendlichen  Raum  gegenüber 
zu  mdividualisieren.  Es  soll  der  Eindruck  natürlicher  Raum- 
grenzen entstehen,  innerhalb  deren  der  Raum  ein  selbständiges, 
organisch  gebundenes  Leben  führen  kann.  So  soll  das  Un- 
sinnliche, nämlich  der  Raum,  wieder  versinnlicht,  das  Im- 
materielle wieder  materialisiert,  das  Unfassbare  wieder 
objektiviert  werden.  Diesen  künstlerischen  Zwecken  dient 
die  klassische  Raumkunst,  deren  glänzendste  Leistung  das 
Pantheon  ist.  Hier  ist  die  Wölbung  nur  ein  Mittel  zur 
Verwirklichung  einer  sinnlichen  Raumplastik,  deren  Ideal 
es  ist,  auch  mit  räumlichen  Verhältnissen  den  Eindruck  eines 
harmonischen,  in  sich  ruhigen  und  ausgeglichenen  Lebens 
zu  schaffen.  In  diesem  harmonischen  Raumgebilde  ist 
der  Kampf  von  lastenden  und  tragenden  Kräften  nun  ganz 
verschwunden.  Was  die  griechische  Tektonik  nur  indirekt, 
d.  h.  durch  das  ganze  System  symbolischer  Vermittlungsglieder 
erreichen  konnte,  nämlich  die  Milderung  des  konstruktiv 
unumgänglichen  Zusammenstosses  von  Last  und  Kraft,  das 
erreicht  die  sinnliche  Raumplastik  des  Römers  durch  die 
Wölbungskunst  direkt:  in  weicher  organischer  Rundung 
nimmt  die  Wölbung  alle  tragenden  Kräfte  in  sich  auf  und 
führt  sie  ohne  alle  Gewaltsamkeit  zu  einem  ruhigen,  selbst- 
verständlichen Abschluss  und  Ausgleich.  Es  wäre  schwer 
zu  entscheiden,  ob  ein  solches  architektonisches  Gebilde  wie 
das  Pantheon  von  der  Erde  emporsteige  oder  auf  ihr  laste, 
vielmehr  heben  sich  durch  die  absolut  organische  Raum- 
bildung diese  Eindrücke  von  Tragen  und  Lasten  gegenseitig 
auf:  die  lastenden  und  tragenden  Kräfte  befinden  sich  in 
einem  reinen  Gleichgewichtszustand. 

Wir  sehen  also,  in  der  römischen  Kunst  ist  die  Wölbung 
—  abgesehen  von  ihrer  rein  praktischen  Bedeutung  bei  Nutz- 


VOM  KLASSISCHEN  BAUGEDANKEN  89 

bauten  —  das   Ergebnis  einer  gewissen  sinnlichen  Raum- 
plastik und  damit  trägt  sie  deutlich  klassischen  Charakter. 

Unsere  ganze  Schilderung  des  unsinnlichen  gotischen 
Kunstwollens  weist  uns  schon  den  Weg  zu  der  Erkenntnis 
der  ganz  anderen  künstlerischen  Bedürfnisse,  denen  die  mittel- 
alterliche Wölbungskunst  gerecht  werden  soll.  Sie  ist  nicht 
das  Resultat  irgendwelcher  organischer,  sinnlicher,  plastischer 
Tendenzen,  sie  dient  vielmehr  einem  übersinnlichen  Aus- 
drucksstreben, das  den  Begriff  der  Harmonie  nicht  kennt. 
Nicht  um  einen  Ausgleich  tragender  und  lastender  Kräfte, 
aktiver  und  passiver  Kräfte,  vertikaler  und  horizontaler 
Kräfte  war  es  ihr  zu  tun,  sondern  die  Aktivität,  der  Verti- 
kalismus sollte  allein  den  künstlerischen  Ausdruck  tragen. 
Die  Ueberwindung  der  Last  durch  eine  frei  emporsteigende 
selbstherrliche  Aktivität,  die  Ueberwindung  der  Materie 
durch  einen  immateriellen  Bewegungsausdruck:  das  ist  das 
Ziel,  das  der  mittelalterlichen  Wölbungskunst  vorschwebt, 
das  Ziel,  das  sie  in  der  reifen  Gotik  erreichte.  In  der 
reifen  Gotik  kann  man  kaum  von  einer  lastenden  Decke 
sprechen.  Der  obere  Abschluss  des  Raumes  entsteht  für 
die  Anschauung  und  das  Gefühl  nur  durch  die  Vereinigung 
der  von  allen  Seiten  herandrängenden  unbelasteten  Vertikal- 
kräfte, die  die  Bewegung  gleichsam  im  Unendlichen  aus- 
klingen lässt.  Erst  wenn  wir  uns  dieses  Ziel  vor  Augen  halten, 
wissen  wir  die  ersten  Wölbungsversuche  der  nordischen 
Baukunst  in  ihrer  ganzen  folgenschweren  Bedeutung  zu 
würdigen.  Nun  erst  sehen  wir  hinter  den  technischen  Fort- 
schritten den  nach  Ausdruck  ringenden  Formwillen,  der  sie 
auch  zu  künstlerischen  Fortschritten  macht. 

Wir  lassen  bei  unserer  Betrachtung  die  Frage  der  Ent- 
lehnung von  Bauformen  ganz  beiseite.  Die  Frage  der  Ent- 
lehnung wird  erst  dann  akut,  wenn  die  fremden  Formen  dem 
eignen  Formwillen  entgegenkommen,  und  dann  handelt  es 
sich  eben  nicht  mehr  um  eine  Entlehnung,  sondern  um  eine 
selbständige  Reproduktion.  Dann  dient  die  Kenntnis  des 
Fremden  höchstens  als  Stichwort,  um  den  noch  unent- 
schlossenen und  tastenden  Formwillen  zur  Aussprache  zu 
drängen.  Sie  provoziert  und  beschleunigt  also  nur,  was  in 
der  inneren  Entwicklungslinie  schon  vorgezeichnet  und  zum 
Ausdruck  reif  ist.     So  können  diese  äusseren  Momente  am 


90  BEGINNENDE  EMANZIPATION 

inneren  Gang  der  Entwicklung  nichts  ändern,  und  füglich 
kann  eine  Betrachtung,  die  nur  dieser  inneren  gleichsam 
unterirdischen  Entwicklung  gewidmet  ist,  von  diesen  irre- 
levanten äusseren  Momenten  ganz  absehen.  — 

Mit  der  nächstliegenden  und  technisch  einfachsten  Aus- 
gestaltung des  Wölbeprinzips,  dem  Tonnengewölbe,  begann 
die  Entwicklung.  Mit  ihm  versuchte  man  den  ersten  Angriff 
gegen  die  Decke  und  ihre  Schwerkraft.  Doch  diese  un- 
differenzierte, ausdruckslose,  konstruktiv  unakzentuierte  Art 
des  Wölbens  bot  in  ihrer  organisch  geschlossenen  Form  dem 
abstrakten  Ausdrucksverlangen  des  nordischen  Kunstwollens 
keine  Möglichkeit  einzusetzen  und  sich  zu  betätigen.  Für 
das  unsinnliche  nordische  Kunstempfinden  war  diese  gleich- 
massig  runde  Form,  in  der  die  aktiven  und  die  passiven  Kräfte 
unUnterschieden  waren,  die  also  in  konstruktiver  Beziehung 
unakzentuiert  war,  eine  tote  Masse.  Es  musste  versucht 
werden,  aus  dem  gleichmässigen  Wölbungszusammenhang 
ausgesprochene  Akzente  herauszulösen;  es  musste  versucht 
werden,  der  Wölbungsmasse  einen  struktiven  Aktivitäts- 
ausdruck zu  geben,  wie  er  dem  gotischen  Ausdrucksbedürfnis 
entsprach.  Diesen  künstlerischen  Bedürfnissen  kam  das 
Kreuzgewölbe  mehr  entgegen,  und  so  gelangt  es  im 
romanischen  Stil  zu  einer  Vormachtstellung,  wie  es  sie  zu 
keiner  Zeit  innegehabt  hatte.  Denn  die  ganze  Behandlung 
—  besonders  in  dekorativer  Beziehung  —  des  Kreuzgewölbes 
in  römischer  Zeit  zeigt,  dass  es  hier  nicht  um  seines  struktiv- 
mimischen  Ausdruckslebens,  sondern  nur  um  seiner  grossen 
technischen  Vorzüge  willen  gepflegt  wurde.  Bezeichnend  ist 
auch,  wie  der  Süden  Frankreichs  mit  seiner  ununterbrochenen 
antiken  Tradition  dem  Kreuzgewölbe  keinen  festen  Aufnahme- 
boden geben  wollte,  obwohl  doch  durch  die  imposanten 
römischen  Gewölbebauten  in  diesen  Gegenden  die  beste  An- 
leitung zur  technischen  Vervollkommnung  der  Gewölbe- 
konstruktionen gegeben  war.  Südfrankreich  machte  den 
Schritt  zum  Kreuzgewölbe  nicht,  es  bheb  beim  Tonnen- 
gewölbe und  gab  ihm  eine  monumentale,  technisch  äusserst 
raffinierte  Ausgestaltung.  Es  tat  den  Schritt  zum  Kreuz- 
gewölbe nicht,  weil  es  seinem  noch  antik  gefärbten  Form- 
gefühl widersprach.  Je  mehr  wir  aber  nach  Mittel-  und  Nord- 
frankreich kommen,  je  mehr  das  Germanische  in  der  Völker- 


VfiZELAY.     TYi\ 


[\NONSKULPTUREN 


VOM  KLASSISCHEN  BAUGEDANKEN  91 

mischung  mitspricht,  um  so  stärker  sehen  wir  das  Kreuz- 
gewölbe dommieren,  am  stärksten  schliesslich  in  der  nor- 
mannischen Baukunst.  Wie  sehr  anderseits  das  Kreuz- 
gewölbe dem  klassischen  Formwillen  widerstrebte,  zeigt 
am  besten  der  von  Burckhardt  ausdrücklich  betonte  Wider- 
wille der  Renaissance  gegen  diese  Gewölbeart.  Man  brauchte 
zwar  das  Kreuzgewölbe  noch  fortwährend,  aber  verhehlt. 
Oder  man  nahm  ihm  Mne  in  römischer  Zeit  durch  Kasset- 
tierung  oder  sonstige  Detaildekoration  den  mimisch  über- 
zeugenden Ausdruck  seiner  Struktur. 

Dem  nordischen  Formwillen  aber  kam  das  Kreuzgewölbe 
weit  entgegen.  Denn  im  Gegensatz  zu  der  für  nordisches  Emp- 
finden toten  gleichmässigen  Masse  desTonnengewölbes  ist  hier 
schon  eine  klare  übersichtliche  GHederung  vorhanden.    Der 
Gewölbevorgang  erscheint  hier  schon  als  Aktion.     Ein  ein- 
heithcher  Höhenakzent  kommt  deuthch  im  Schnittpunkt  der 
vier  Gewölbekappen  zum  Ausdruck,  und  diese  Akzentuierung 
des  Scheitelpunktes  gibt  dem  ganzen  Gewölbe  trotz  seiner 
faktischen   Gedrücktheit  schon  die   Illusion  des  Zur-Mitte- 
Emporsteigens.   Vom  Tonnengewölbe,  das  nach  der  Seite  des 
Aktiven  und  Passiven  hin  völlig  undifferenziert  war,  unter- 
scheidet sich   also   das   Kreuzgewölbe   durch  seinen   ausge- 
sprochenen Aktivitätscharakter.      Entscheidend  für  diesen 
Eindruck  sind  besonders  die  Grate,  in  denen  die  Gewölbe- 
kappen zusammenstossen;  sie  geben  dem  Gewölbe  eine  hneare 
Mimik,  wie  sie  dem  nordischen  Kunstwillen  ganz  entsprach. 
Es  ist  verständlich,  dass  die  weitere  gotische  Entwicklung  an 
dieser   Gratbildung  einsetzt.      Der  erste   Schritt  war,  diese 
lineare   Mimik   dadurch   zu   unterstreichen,    dass   man   die 
Gratbögen  mit  Rippen  umzog,  die  anfangs  mit  dem   Ge- 
wölbe  in   keiner   inneren   Verbindung   standen   und   neben 
ihrem      Unterstützungszweck      auch      der     linearen     Aiis- 
drucksverstärkung  dienten.     Auch  die  Römer  hatten  diese 
Rippenverstärkung  schon  geübt,   aber  es  ist   bezeichnend, 
dass  hier  „die  Verstärkung  mehr  während  der  Ausführung 
als  für  das  fertige  Gebäude  von  Belang  war".     (Dehio  und 
Bezold.)     Mit  anderen  Worten:  bei  den  Römern  spielte  die 
Rippenverstärkung  nur  eine  praktische,  keine  künstlerische 
Rolle,  sie  war  nur  Mittel  zum  Zweck.     In  der  romanischen 
Kunst  aber  ist  sie  auch  Selbstzweck  und  Träger  künstlerischer 


92  BEGINNENDE  EMANZIPATION 

Ausdruckszwecke.  Anderseits  zeigt  die  deutsche  Architektur 
viele  Beispiele  —  besonders  in  Westfalen  ist  das  Verfahren 
häufig  — ,  dass  die  Rippen  an  das  fertige  Gewölbe  angefügt 
werden  und  sich  auf  diese  Weise  deutlich  als  blosse  Deko- 
rationsglieder, d.  h.  blosse  mimische  Ausdrucksträger  zu  er- 
kennen geben. 

Der  zweite  grosse  entscheidende  Schritt  in  dieser  Grat- 
entwicklung ist  dann  der,  dass  man  die  innere  Konstitution 
des  Gewölbes  sich  mit  dieser  linearen  Mimik  decken  lässt. 
Es  ist  die  grosse  gotische  Umwälzung  des  Wölbungssystems, 
die  die  Gewölberippen  zu  den  eigentlichen  Trägern  der  Ge- 
wölbekonstruktion macht  und  die  Gewölbekappen  nur  als 
Füllung  in  den  Rahmen  einspannt.  Die  Rippen  werden  zum 
innersten  Gerüst  der  ganzen  Konstruktion:  die  künstlerische 
Bedeutung  der  Rippen  mit  ihrer  konstruktiven  Bedeutung 
wird  eins.  Und  wir  werden  sehen,  wie  sich  dieser  für  das  ganze 
gotische  Problem  entscheidende  Vorgang  immer  wiederholt: 
wie  das  gotische  Ausdrucksverlangen  zuerst  immer  nur 
äusserlich  sich  zu  betätigen  vermag  und  sich  jenseits  der 
Konstruktion  gleichsam  nur  dekorativ  ausspricht,  bis  es  end- 
lich jene  Sprache  findet,  in  der  allein  es  sich  überzeugend  aus- 
drücken kann,  nämlich  die  abstrakte  unsinnliche  Sprache  der 
Konstruktion.  Dann  fallen  alle  Aussprachshemmungen  weg 
und  die  reine  restlose  Erfüllung  des  Ausdrucksvermögens  ist 
gewährleistet. 

Mehr  oder  weniger  bewusst  schwebte  diese  Idee,  das 
Konstruktive  Selbstzweck  sein  zu  lassen,  es  zum  Träger  des 
künstlerischen  Ausdrucks  zu  machen,  dem  nordischen  Bau- 
meister auch  vor,  als  er  den  Pfeiler  als  stützendes  Glied 
heranzog  und  ihn  die  Säule  langsam  verdrängen  liess.  Dieser 
Verdrängungsprozess  ging  nicht  schnell  vor  sich;  zu  stark 
war  die  Suggestionskraft  der  antiken  Tradition,  als  dass  die 
Säule,  diese  eigentliche  Repräsentantin  antiker  Baukunst, 
bald  hätte  absterben  können.  Nur  verschämt  wagt  der  Pfeiler 
anfangs  sich  neben  ihr  zu  behaupten,  bis  es  sich  endlich  zeigt, 
dass  ihm  die  Zukunft  der  Entwicklung  gehört.  Und  besonders 
in  Gegenden,  die  weit  vom  Schauplatz  des  römischen  Ein- 
flusses ablagen  und  deshalb  der  antiken  Nachsuggestion 
weniger  ausgesetzt  waren,  spielt  die  Pfeilerbasilika  bald  eine 
dominierende  Rolle. 


VOM  KLASSISCHEN  BAUGEDANKEN  93 

Es  ist  klar,  warum  das  nordische  Kunstgefühl  der  Säule 
widerstrebte  und  dem  Pfeiler  den  Vorzug  gab.  Die  kon- 
struktive Funktion  des  Stutzens  wird  in  der  Säule  organisch 
veranschaulicht,  für  diese  organische  VeranschauHchung  aber 
fehlte  dem  nordischen  Kunstgefühl  jene  kultivierte  Sinn- 
lichkeit der  Antike.  Der  Pfeiler  dagegen  ist  ein  ganz  objek- 
tives Gebilde,  das  ohne  jeden  Ausdruckswert  die  Funktion 
des  Tragens  ausübt.  Aber  gerade  dieser  sein  objektiv-kon- 
struktiver Charakter  bot  dem  abstrakten  Ausdrucksverlangen 
des  Nordens  eine  ganz  andere  Möglichkeit  des  Einsetzens  als 
die  in  organischer  Ausdrucks  weit  befangene  Säule. 

Die  Tatsache,  dass  der  rechteckige  Pfeiler  schon  in 
frühromanischer  Zeit  auftaucht,  beweist,  dass  er  zuerst  nur 
deshalb  Aufnahme  fand,  weil  seine  Gestaltung  dem  nordischen 
Ausdrucksverlangen  entgegenkam.  Dass  sein  Erscheinen  mit 
den  ersten  Wölbungsabsichten  zusammentreffe,  wie  meist  ge- 
sagt wird,  trifft  nicht  zu.  Wohl  aber  erhält  mit  den  Wölbungs- 
tendenzen die  äusserliche  Vorliebe  für  ihn  eine  innere  tech- 
nische Berechtigung,  d.  h.  seine  bloss  künstlerische  Bedeu- 
tung wird  im  Zusammenhang  mit  den  Ueberwölbungszwecken 
auch  zu  einer  konstruktiven.  Denn  da  der  Gewölbedruck 
bei  den  Kreuzgewölben  kein  gleichmässiger  ist,  sondern  auf 
die  vier  äusseren  Eckpunkte  konzentriert  wird,  so  bedurfte 
es  für  diesen  auf  die  unteren  Ecken  konzentrierten  Ge- 
wölbedruck einer  stärkeren  Unterstützung,  als  sie  die 
schwache  Säule  bieten  konnte.  So  bot  sich  dann  der  Pfeiler 
als  gegebener  Ersatz  für  die  Säule  an. 

Durch  diesen  konstruktiven  Zusammenhang  von  Ge- 
v/ölbe  und  Pfeiler  verhert  der  Pfeiler  aber  schon  leise  seinen 
objektiven  Charakter.  Sein  latenter  Ausdrucksgehalt  wird 
gleichsam  durch  die  in  engem  Zusammenhang  mit  ihm 
stehenden  Gewölbegurten  und  Gewölberippen  erweckt.  Er 
ist  kein  objektives  Stützglied  mehr,  wie  er  es  in  der  flach- 
gedeckten Basilika  war.  Nachdem  er  durch  vorgelagerte 
Säulen,  die  die  Gewölberippen  auffangen,  die  Fühlung  mit 
der  Gewölbedecke  gefunden,  scheint  seine  lebendige  Tat- 
kraft geweckt,  scheint  auch  er  nicht  mehr  zu  tragen,  son- 
dern emporzusteigen.  Als  aktives  Glied  nimmt  er  an  der 
in  Entwicklung  begriffenen  allgemeinen  Vertikalbewegung 
teil  und  der  konstruktive  Zusammenhang  von  Pfeiler-  und 


94  BEGINNENDE  EMANZIPATION 

Gewölbesystem  beginnt  sich  in  einer  klaren  überzeugenden 
Mimik  auszusprechen. 

Dieses  schlichte  Zurückgehen  auf  die  konstruktiven 
Grundelemente  des  Baues  unter  Verzicht  auf  alle  organisch- 
antike Uebersetzungskünste  gibt  dem  Innenaufbau  des 
romanischen  Domes  sein  Gepräge.  Es  zeigt  sich  im  Grossen 
und  im  Kleinen.  Im  Einzelnen  mag  an  die  romanische 
Kapitellgestaltung  erinnert  werden.  Der  Vergleich  eines 
romanischen  Würfelkapitells  in  seiner  klaren  tektonischen 
Form  mit  einem  antiken  Kapitell  zeigt  vielleicht  am  besten 
die  Tendenz  des  romanischen  Baumeisters,  zurückzugehen 
auf  klare  konstruktive  Sachlichkeit.  Es  ist  sein  mehr  nega- 
tiver Prozess,  der  sich  in  alledem  zeigt,  ein  Prozess,  der  nötig 
war,  um  die  Bahn  freizumachen  für  die  künftige  Entwicklung. 
Erst  musste  die  Struktur  in  ihrer  Sachlichkeit  von  all  dem 
sinnlichen  Beiwerk,  mit  dem  sie  der  klassische  Kunstwille 
verquickt  hatte,  gereinigt  werden,  erst  musste  den  kon- 
struktiven Kräften  gleichsam  zum  Sammeln  geblasen  werden, 
ehe  mit  diesen  Kräften  allein  der  grosse  künstlerische  Aus- 
druck des  Mittelalters  erreicht  werden  konnte. 

Wohl  ist  also  die  Struktur  in  der  romanischen  Architektur 
schon  herausgeholt,  aber  sie  ist  noch  nicht  gesteigert  worden, 
das  grosse  gotische  Pathos  hat  noch  nicht  eingesetzt.  Der 
romanische  Stil  ist  eine  Gotik  ohne  Enthusiasmus,  eine 
Gotik,  die  noch  in  materieller  Schwere  befangen  ist,  eine 
Gotik  ohne  letzte  transzendentale  Auslösung.  Man  ist  auf 
die  Logik  zurückgegangen,  aber  noch  ohne  einen  überlogischen 
Zweck  damit  zu  verfolgen.  Dieser  Ernst,  der  zu  einem  guten 
Teil  Schwerfälligkeit  ist,  diese  Sachlichkeit,  die  zu  einem 
gewissen  Teil  Nüchternheit  ist,  diese  gedrängte  und  zurück- 
gehaltene Wucht  der  Erscheinung,  die  feierlich  wirkt,  ohne 
mitzureissen,  prädestinieren  den  romanischen  Stil  zum 
eigentlich  protestantisch-deutschen  Stil,  und  es  ist  darum 
kein  Zufall,  dass  der  moderne  protestantische  Kirchenbau 
mit  Vorliebe  wieder  an  den  romanischen  Stil  anknüpft.  Die 
Halbheit,  die  Zwitterhaftigkeit,  die  dem  Protestantismus 
anhaftet,  dieses  Schwanken  zwischen  rationalistisch-scho- 
lastischen und  metaphysischen  Elementen,  zwischen  strenger 
Gebundenheit  ans  Wort  und  individueller  Freiheit :  all  dieses 
spiegelt  sich  auch  im  romanischen  Stil  wider.  Auch  er  ist  voller 


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VOLLENDETE  EIMANZIPATION  IN  DER  REINEN  GOTIK     95 

innerer  Widersprüche.  So  ist  er  schon  halb  gotischer  Gerüst- 
stil, halb  noch  antiker  Massenstil,  so  zeigt  er  bei  strengster  Ge- 
bundenheit im  Grundriss  auf  der  anderen  Seite  eine  Willkür, 
die  Dehio  zu  der  Feststellung  führt,  dass  die  Symmetrie  in 
ihrer  strengsten  Form  dem  romanischen  Stil  geradezu 
unbehaglich  gewesen  und  von  ihm  deshalb  immer,  gelinder 
oder  entschiedener,  gebrochen  worden  sei.  Bei  keinem  Stil 
hängen  strenge  Gebundenheit  und  Willkür  so  zusammen 
wie  beim  romanischen  Stil,  bei  keiner  ReHgion  liegen  sie  so 
nahe  beieinander  wie  bei  dem  Protestantismus. 

Der  deutsch-nationale  Charakter  des  romanischen  Stils 
unterscheidet  ihn  deutlich  von  der  internationalen,  uni- 
versalen Gotik.  Der  romanische  Stil  ist  der  Stil  der  stark 
und  wenig  gemischten  germanischen  Länder;  in  der  Nor- 
mandie,  in  Burgund,  in  der  Lombardei  und  schliesslich  im 
eigentlichen  Deutschland  ist  er  am  festesten  verankert. 
Seine  Blüte  ist  eng  verbunden  mit  den  grossen  Tagen  deut- 
scher Kaiserherrschaft.  Mit  dem  Untergang  dieser  Kaiser- 
macht endet  auch  seine  Glanzzeit. 


VOLLENDETE  EMANZIPATION  IN  DER 
REINEN  GOTIK 

^A/ ir  sahen,  wie  im  romanischen  Stil  die  nordisch-gotischen 
Formenergien  schon  selbständig  geworden  sind,  wie 
sie  charaktervoll  neben  der  antiken  Tradition  ihren  Platz 
behaupten.  Wir  sahen  aber  auch,  wie  sie  bei  diesem  Neben- 
einander stehen  bheben,  wie  ihnen  die  Kraft  zur  letzten 
Konsequenz,  zur  völligen  Emanzipation  von  der  antiken 
Tradition  fehlte.  Zu  dieser  grossen  und  entscheidenden  Tat 
war  ein  Enthusiasmus,  ein  Elan  des  Wollens  nötig,  wie  ihn 
die  Völker  vorwiegend  germanischen  Charakters  in  ihrer 
Schwerfälligkeit  nicht  aufbrachten.  Ihr  dumpfes  chaotisches 
Drängen  blieb  traditionell,  blieb  materiell  gebunden,  ihnen 
fehlte  der  grosse  entscheidende  Ruck,  um  sich  von  dieser 
Gebundenheit  zu  befreien,  und  so  bietet  denn  der  romanische 
Stil  nur  das  Bild  unterdrückter,  gebundener,  zurückgehaltener 
Kraft  dar. 


96  VOLLENDETE  EMANZIPATION 

Der  Anstoss  zur  Befreiung  dieser  Kraft  musste  von  aussen 
kommen.  Es  ist  der  romanische  Westen  Europas,  dem  diese 
Funktion  zufällt.  Er  gibt  dem  unentschlossenen  nordischen 
Kunstwollen  die  grosse  Initiative,  die  es  zur  völligen  Be- 
freiung führt.  Der  germanische  Norden  in  seiner  Schwer- 
fälligkeit war  immer  unfähig,  das  Unklarempfundene  und 
Ersehnte  selbständig  zu  formulieren,  immer  ist  es  der  von 
romanischen  Elementen  dominierte  Westen  Europas,  der 
das  Gesetz  der  nordischen  Trägheit  durchbricht  und  in 
einer  grossen  Aufwallung  seiner  Energien  das  Wort  aus- 
spricht, das  dem  germanischen  Norden  gleichsam  auf  der 
Zunge  gelegen  hat. 

Da  wo  die  germanischen  und  romanischen  Elemente 
am  innigsten  sich  durchdringen,  im  Herzen  Frankreichs,  da 
geschieht  die  befreiende  Tat,  da  wird  das  Stichwort  aus- 
gesprochen, mit  dem  die  eigentliche  Gotik  einsetzt.  Der 
romanische  Enthusiasmus,  der  aufs  höchste  angespannt 
werden  kann,  ohne  dabei  seine  Klarheit  zu  verlieren,  er  findet 
die  klare  Formulierung  für  das  unklare  nordische  Wollen, 
mit  anderen  Worten:  er  schafft  das  gotische  System. 

Trotzdem  kann  man  Frankreich  nicht  das  eigentliche 
Heimatland  der  Gotik  nennen:  nicht  die  Gotik  entstand  in 
Frankreich,  nur  das  gotische  System.  Denn  die  romanischen 
Elemente  des  Landes,  die  Frankreich  zu  dieser  Kraft  der 
Initiative  und  zu  dieser  Kraft  der  klaren  Formulierung  be- 
fähigten, sie  waren  es  anderseits  auch,  die  den  Zusammenhang 
mit  der  antiken  Tradition  und  ihrem  organisch  gefärbten 
Kunstwillen  wachhielten.  Nachdem  der  erste  Enthusiasmus 
erloschen,  nachdem  die  romanischen  Elemente  auf  den  vom 
germanischen  Norden  ausgehenden  Reiz  zur  klaren  Formu- 
lierung des  gotischen  Gedankengangs  mit  einer  grossen  Kraft- 
anstrengung, mit  einer  gewaltigen  für  die  ganze  Gotik  ent- 
scheidenden Leistung  geantwortet  hatten,  ist  ihre  Mission 
sozusagen  erfüllt,  und  es  stellt  sich  eine  Selbstbesinnung  ein, 
während  der  das  von  der  grossen  mittelalterlichen  Aufgabe 
vorübergehend  gänzlich  zurückgedrängte  klassische  Kunst- 
empfinden sich  wieder  zum  Worte  meldet.  Für  die  gotische 
Einseitigkeit  war  in  diesem  Lande  glücklichster  Rassen- 
mischung eben  auf  die  Dauer  keine  Heimat.  Die  romanische 
Freude  an  dekorativer  Geschlossenheit,  an  sinnlicher  Klar- 


IN  DER  REINEN  GOTIK  97 


heit  und  organischer  Harmonie  hielt  das  germanische  Be- 
dürfnis nach  Uebertreibung,  nach  Exzessivität  zu  sehr  nieder. 
So  kommt  es,  dass  auch  über  den  schönsten  und  reifsten 
gotischen  Bauten  Frankreichs  doch  ein  unverkennbarer  \ 
Hauch  organisch  abgeklärten  Renaissanceempfindens  Hegt.  • 
Nie  kommt  es  zu  einem  völligen  Vertikalismus,  immer  halten 
horizontale  Akzentuierungen  das  Gegengewicht.  So  kann  man 
wohl  sagen,  dass  Frankreich  die  schönsten  lebendigsten  goti- 
schen Bauten  geschaffen  hat,  aber  nicht  die  reinsten.  Das 
Land  der  gotischen  Reinkultur  ist  der  germanische  Norden. 
Insofern  zeigt  sich  die  Berechtigung  der  im  Anfang  unserer 
Untersuchungen  aufgestellten  Behauptung,  dass  die  eigent- 
liche architektonische  Erfüllung  des  nordischen  Formwillens 
in  der  deutschen  Gotik  vorliege.  Zwar  ist  auch  die  englische 
Baukunst  einseitig  gotisch  gefärbt;  zwar  pflegt  England, 
das  in  sich  zu  fest  konstituiert  und  abgeschlossen  war,  um 
durch  die  Renaissance  in  seinem  eigenen  Kunstwollen  so 
desorientiert  zu  werden  wie  Deutschland,  die  Gotik  noch 
bis  auf  den  heutigen  Tag  als  nationalen  Stil.  Aber  es  fehlt 
dieser  englischen  Gotik  doch  der  unmittelbare  Elan  der 
deutschen  Gotik,  ihr  starkes  an  Hemmungen  sich  brechendes 
und  sich  steigerndes  Pathos.  Die  englische  Gotik  ist  reser- 
vierter, fast  möchte  man  sagen  phlegmatischer  und  läuft 
deshalb  leicht  Gefahr,  frostig  und  steril  zu  erscheinen. 
Vor  allem  ist  sie  äusserlicher,  spielerischer  als  die  deutsche 
Gotik.  Was  bei  dieser  als  innere  Notwendigkeit  wirkt,  wirkt 
bei  der  englischen  Gotik  wie  mehr  oder  weniger  willkürliche 
Dekoration. 

Trotz  der  imbestreitbaren  Tatsache,  dass  die  Gotik  in 
den  germanisch  gefärbten  Ländern  am  festesten  verankert 
war  und  sich  dort  am  längsten  gehalten  hat,  darf  man  Dehio 
wohl  recht  geben,  wenn  er  sagt,  dass  die  Gotik  an  keine 
nationale  Bedingtheit  unmittelbar  gebunden,  sondern  eine 
übernationale  Zeiterscheinung  gewesen  sei,  die  eben  jenes 
hohe  Mittelalter  charakterisiert,  in  dem  die  nationalen 
Unterschiede  unter  der  Glut  eines  die  ganze  europäische 
Menschheit  erfassenden  religiösen  und  kirchlichen  Einheits- 
bewusstseins  zusammenschmolzen. 


98  INNERER  AUFBAU  DER  KATHEDRALE 


INNERER  AUFBAU  DER  KATHEDRALE 

Tst  es  nicht  etwas  dem  von  der  Kirche  gekämpften 
,,  -^  Kampf  gegen  den  natürlichen  Menschen  Verwandtes, 
wenn  die  Gotik  den  Stein  zu  Bildungen  nötigt,  in  denen  es 
seine  Schwere,  seine  Brüchigkeit,  sein  natürliches  Lagerungs- 
bestreben scheinbar  vergessen,  scheinbar  ein  höheres  lebendiges 
Wesen  angenommen  hat?  Ist  es  nicht  ein  sehr  absichtlicher 
Widerspruch  gegen  die  gemeine  Erfahrung,  ein  Verlangen 
nach  wundergleichen  Wirkungen,  das  dem  Scharfsinn  der 
Baumeister  zum  Ziel  setzt,  alles  das,  was  dem  inneren  Auf- 
bau Halt  gibt,  für  das  Auge  verschwinden  zu  machen? 
Ohne  Frage,  diese  ganze,  für  den  ästhetischen  Eindruck 
entscheidende  Seite  der  Gotik  hat  mit  dem  angebhch  sie 
beherrschenden  Streben  nach  konstruktiver  Wahrheit  nichts 
zu  tun.  Wer  den  reichlichen  Tropfen  Mystik,  der  dem  Kalkül 
ihrer  Meister  zugemischt  war,  nicht  herauszufühlen  vermag, 
der  wird  auch  das,  was  diese  als  Künstler,  d.  h.  als  echte 
Söhne  und  legitime  Sprecher  ihrer  Zeit,  zu  sagen  hatten, 
nicht  verstehen." 

Diese  Sätze  Dehios  stellen  wir  dem  Kapitel  über  die 
eigenthche  Gotik  voraus,  weil  sie  den  wahren  Charakter 
aller  technischen  Fortschritte  der  Gotik  so  treffend  kenn- 
zeichnen, weil  sie  uns  von  vornherein  darauf  hinweisen, 
wie  der  ganze  Aufwand  an  logischem  Scharfsinn,  den  die 
gotischen  Konstrukteure  aufbringen,  im  letzten  Grunde  nur 
überlogischen  Zwecken  dient. 

Der  logischen  und  psychologischen  Interpretation  des 
gotischen  Systems,  wie  sie  neben  Dehio  von  vielen  anderen 
versucht  worden  ist,  ist  kaum  etwas  Neues  hinzuzufügen. 
Ueber  dieses  Thema  ist  schon  so  viel  Geistreiches  und  Tief- 
durchdachtes gesagt  worden,  dass  der  Gefahr  des  unbewussten 
Plagiats  kaum  zu  entgehen  ist.  Auch  geht  es  uns  bei  unseren 
Untersuchungen  ja  weniger  um  diesen  Höhepunkt  der  Gotik, 
als  um  jene  heimliche  Gotik,  die  sich  in  der  ganzen  Kette 
der  vorgotischen  Stile  schon  äussert  und  deren  Zusammen- 
hang mit  der  engeren  Gotik  wir  in  erster  Linie  aufzeigen 
wollten.    So  dürfen  wir  uns  also  kurz  fassen. 


INNERER  AUFBAU  DER  KATHEDRALE       99 

Der  romanische  Stil  war,  wie  wir  sahen,  noch  Massenstil, 
d.  h.  die  natürliche  Schwerkraft  des  Steins,  seine  materielle 
Wesenheit  war  noch  die  Grundlage  sowohl  der  Konstruktion 
wie  des  ästhetischen  Eindrucks.  Da  dieser  Stil  sich  unter 
der  Nachsuggestion  jener  antiken  Bauempfindung  gebildet 
hatte,  die  der  Materie  ein  organisches  Ausdrucksleben  abge- 
wonnen hatte,  so  war  vor  allem  ein  gewisser  Entorganisie- 
rungsprozess  der  Materie  nötig,  um  ihn  dem  nordischen 
Formwillen  anzupassen.  Was  im  romanischen  Stil  nach  dieser 
EntOrganisierung  bleibt,  das  ist  die  Materie  als  solche,  die 
Materie,  die  entsinnlicht,  aber  noch  nicht  vergeistigt  ist. 
Aeusserliche  Ansätze  zur  Vergeistigung,  d.  h.  zur  Gliederung 
der  Materie,  zur  Auslösung  aktiver  Lebenskräfte  aus  ihr, 
setzen  im  romanischen  Stil  schon  ein,  sie  bleiben  aber,  wie 
gesagt,  im  Aeusserlichen  stecken,  sie  verbinden  sich  noch  nicht 
mit  der  inneren  Konstruktion.  Den  ersten  Schritt  zu  dieser 
inneren  Vergeistigung  konstatierten  wir  am  Rippensystem  des 
Kreuzgewölbes.  Es  ist  der  erste  Schritt  in  die  eigentliche  Gotik 
hinein,  als  diese  Rippen  ihren  Charakter  als  blosse  mimische 
Ausdrucksverstärkung  aufgeben,  um  die  statische  Führung 
des  Gewölbes  zu  übernehmen  und  also  gleichzeitig  Aus- 
drucks- und  Funktionsträger  zu  werden. 

Die  hier  beginnende  Entwicklung  wird  aber  erst  zu  folge- 
schwererem und  durchgreifenderem  Ergebnis  gebracht  durch 
die  Einführung  des  Spitzbogens. 

Es  ist  interessant,  dass  eine  Form,  die,  rein  äusserlich 
genommen,  mit  ihrem  starken  einheitlich  nach  der  Höhe 
akzentuierten  Aktivitätsausdruck  gleichsam  ein  kurzes  lineares 
Schema  des  mittelalterlichen  Transzendenzstrebens  und 
damit  des  gotischen  Ausdrucksverlangens  ist  und  die  deshalb 
manchmal  wohl  nur  aus  dekorativen  äusseren  Gründen 
Aufnahme  in  das  Bausystem  fand,  sehr  bald  eine  kon- 
struktionelle  Verwendbarkeit  offenbarte,  die  dem  kon- 
struktiv noch  gehemmten  gotischen  Formwillen  mit  einem 
Schlage  freie  Bahn  machte.  Nur  weil  die  dekorative  Be- 
deutung des  Spitzbogens  sich  so  mit  seiner  konstruktiven 
deckt,  gelangte  er  zum  Ruf  des  massgebenden  gotischen 
Stilkriteriums.  .Wobei  man  allerdings  die  unvergleichlich 
wichtigere  innere  Bedeutung  meist  über  der  aufdringlicheren 
äusseren  Bedeutung  übersah.    Die  konstruktionellen  Vorteile 

7* 


100      INNERER  AUFBAU  DER  KATHEDRALE 

des  Spitzbogens  waren  natürlich  auch  vorher  längst  bekannt : 
der  Spitzbogen  ist  so  alt  wie  die  Kunst  des  Wölbens  über- 
haupt. Insofern  kann  man  also  nicht  von  einer  Erfindung 
der  Gotik  sprechen,  Wohl  aber  hat  sie  allein  ihn  und  seine 
konstruktive  Bedeutung  zum  Element  eines  ganzen  mit 
äusserster  Konsequenz  durchgeführten  Systems  gemacht. 

Solange  man  an  dem  Rundbogen  festhielt,  war  es  tech- 
nisch schwierig  gewesen,  andere  als  quadratische  Grund- 
risskompartimente  zu  überwölben.  Denn  nur  bei  gleicher 
Spannweite  der  Pfeilerabstände  ergaben  sich  gleiche  Scheitel- 
höhen. So  ward  man  zu  jener  quadratischen  Bindung  des 
Grundrisses  genötigt,  die  zwar  dem  romanischen  Bau  eine 
sehr  ernste  und  feierliche  Erscheinung  gibt,  anderseits  aber 
der  durch  Seitenschiffe  und  Mittelschiff  durchgehenden 
vertikalen  Streckung,  wie  sie  der  nordische  Bauwille  ersehnte, 
Fesseln  anlegte.  Denn  neben  einem  Hauptschiffsquadrat 
konnten  immer  nur  zwei  kleine  Seitenschiffsquadrate  an- 
geordnet werden.  Ein  inniger  Zusammenhang  der  Neben- 
schiffwölbung  mit  der  Hauptschiffwölbung  wurde  dadurch 
unerreichbar.  Die  Rhythmik  von  Hauptschiff  und  Seiten- 
schiffen war  eine  ungleiche.  Wo  das  Hauptschiff  einen  grossen 
Schritt  machte,  machten  die  Seitenschiffe  zwei  kleine. 
Sie  liefen  also  nur  nebeneinander  her,  nicht  miteinander. 
Die  Gemeinschaftlichkeit  lag  nur  in  der  Vorwärtsbewegung, 
nicht  in  der  Höhenbewegung.  Und  da  die  Höhenentwicklung 
nun  das  eigentliche  Ziel  des  nordischen  Bauwillens  war,  so  ist 
es  klar,  wie  sehr  er  an  dieser  quadratischen  Gebundenheit 
litt,  die  eben  die  einheitliche  Höhenentwicklung  des  Baus 
zurückhielt. 

Die  altchristliche  Basilika  hatte  ihr  Ziel  im  Altar.  Mit 
energischem  Linienzwang  leitete  sie  die  ganze  Aufmerksamkeit 
auf  diesen  Endpunkt  der  Bewegung,  den  Altar,  hin.  Auch 
die  gotische  Kathedrale  kennt  einen  Linienzwang.  Aber 
sein  Ziel  ist  ein  anderes.  Es  ist  jene  irreale  Linie  in  ver- 
schwindender Höhe,  nach  der  alle  ihre  Kräfte,  all  ihre  Bewegt- 
heit orientiert  sind.  Die  Basilika  hatte  ein  bestimmtes  Ziel, 
die  gotische  Kathedrale  ein  unbestimmtes.  Ihre  Bewegung 
y^  verklingt  im  Unendlichen.  Da  nun  bei  beiden  Baurichtungen 
die  Bedingungen  des  Kults  im  allgemeinen  und  damit  auch  die 
praktischen  Raumbedürfnisse  dieselben  blieben,  so  konnte 


GESIMS  MIT  LÖWE  UND  AUFERSTEHUNG 

a:\i  do:m  zu  freiberg  i.  s. 

Aufnahme  von   Dr.   F.    Stoedtner,   Berlin. 


INNERER  AUFBAU  DER  KATHEDRALE  loi 

die  Höhenentwicklung  der  Gotik  sich  nur  neben,  nur  trotz 
dieser  vom  Kult  geforderten  Längsentwicklung  des  Baues 
entwickeln.  Die  Längsentwicklung  des  Baues  blieb  also 
durch  die  oblonge  Grundrissgestaltung  des  Ganzen  erhalten. 
Während  nun  das  gebundene  romanische  System  mit  seinen 
rhythmisch  ausdruckslosen,  in  der  Richtungsangabe  unent- 
schiedenen Quadraten  dieser  Längsentwicklung  des  Ganzen 
noch  keine  gleichwertige  Höhenentwicklung  entgegensetzen 
konnte,  war  es  dem  gotischen  System  durch  den  Spitzbogen 
und  seine  konstruktive  Ausnutzung  möglich,  dieses  grosse 
Oblongum  des  Gesamtgrundrisses,  dem  gegenüber  die  roma- 
nischen Jochquadrate  trotz  aller  Ueberwölbungen  ohnmächtig 
waren,  aufzulösen  in  ein  System  ebenfalls  oblonger  Kom- 
partimente,  deren  Langseiten  aber  durchschnittlich  nicht  die- 
selbe Richtung  wie  die  Langseite  des  Gesamtgrundrisses 
hatten,  sondern  die  entgegengesetzte.  So  wirkten  sie  also 
derart,  dass  sie  die  einseitige  Längsentwicklung  des  Baues 
paralysierten  und  eine  gleichwertige  Breitentwicklung  an 
seine  Stelle  setzten,  die  im  Zusammenhang  mit  den  schon 
erreichten  Wölbungszielen  zu  einer  einheitlichen  Höhen- 
entwicklung führte.  Die  oblonge  Gestaltung  des  Gesamt- 
grundrisses kommt  dieser  Höhenentwicklung  jetzt  sogar 
zustatten.  Denn  durch  sie  erhält  der  ganze  Bau  den  Cha- 
rakter eines  aus  relativ  engen  seitlichen  Grenzen  sich  mit 
doppelter  Dynamik  entwickelnden  Höhenstrebens. 

Diese  Möglichkeit  einer  durch  den  ganzen  Bau  durch- 
gehenden, Mittelschiff  und  Seitenschiffe  gleichmässig  erfassen- 
den Höhenstreckung  —  der  sogenannten  gotischen  Travee 
—  ergibt  sich,  wie  gesagt,  erst  durch  den  Spitzbogen  und 
seine  konstruktiven  Konsequenzen,  Denn  erst  durch  den 
modulationsfähigen  Spitzbogen  war  es  möglich,  auch  bei 
ungleichen  Pfeilerabständen  —  also  über  oblongen  Grund- 
risskompartimenten  —  gleiche  Scheitelhöhen  zu  erreichen. 
Das  schwerfällige  Verhältnis  i  :  2  der  Ge wölbe joche  des 
Mittelschiffs  zu  denen  des  Seitenschiffs  verschwindet;  Mittel- 
schiff und  Seitenschiffe  erhalten  dieselbe  Anzahl  von  innig 
miteinander  in  Verbindung  stehenden  Gewölben;  sie  laufen 
nicht  mehr  nebeneinander  einem  in  der  Längsausdehnung 
gesetzten  Ziele  zu,  sondern  sie  erheben  sich  miteinander 
der  Höhe  zu. 


102      INNERER  AUFBAU  DER  KATHEDRALE 

Der  Hauptakzent  des  ganzen  Baues  ruht  nun  also  auf  dem 
Mittelschiff  und  seiner  himmelanstrebenden  Bewegung.  Alles 
andere  ordnet  sich  ihr  unter,  alles  andere  ist  von  ihr  abhängig. 
Die  Seitenschiffe,  die  im  romanischen  System  noch  als  eigen- 
willige, gleichwertige  Raumabschnitte  fungierten,  erhalten 
ihren  ästhetischen  Sinn  jetzt  nur  durch  die  im  Mittelschiff 
gegebene  Bewegung,  der  sie  gleichsam  nur  als  Auftakte  dienen. 
Wenn  dieser  Auftakt  durch  Einführung  zweier  weiterer 
Seitenschiffe  noch  verstärkt  wird,  so  entspricht  das  nur 
dem  echt  gotischen  Bedürfnis  nach  Häufung  der  Einzel- 
effekte zui  Verstärkung  des  Gesamteindrucks.  Durch 
reichere  Ausgestaltung  des  Vorspiels  wird  dem  Hauptsatz 
des  Bauganzen,  der  Mittelschiffbewegung,  keine  Kraft  ent- 
zogen, vielmehr  wirken  seine  grossen  starken  Linien  nach 
der  sjmkopenartigen  Verzögerung,  wie  sie  durch  die  Seiten- 
schiffe gegeben  wird,  nur  noch  um  so  stärker  und  wuchtiger. 

Durch  die  Einführung  des  Spitzbogens  in  den  Gewölbe- 
aufbau gelangt  der  im  romanischen  Stil  schon  einsetzende 
Entmaterialisationsprozess  des  Baukörpers  zu  seinem  Ab- 
schluss.  Der  romanische  Stil  hatte  nur  eine  äussere  Trennung 
der  statisch  wirkenden  und  raumabschliessenden  Elemente 
erreicht,  der  gotische  negiert  die  nur  raumabschliessenden 
nun  gänzlich  und  baut  das  Bauganze  einzig  und  allein  aus 
den  statisch  wirkenden  Baugliedern  auf.  Schon  in  roma- 
nischer Zeit  hatte  sich  diese  Bewegung  in  der  Verstärkung 
der  Gewölberippen  geäussert,  in  der  Trennung  von  statisch 
führendem  Rippenwerk  und  funktionslos  eingebauter  Ge- 
wölbekappe. Der  Gewölbedruck  wurde  auf  die  vier  Eck- 
pfeiler konzentriert,  über  denen  sich  die  Wölbung  auf- 
baute, und  die  Wand  zwischen  den  Pfeilern  dadurch  ent- 
lastet. Es  war  der  erste  Schritt  auf  dem  Wege,  an  dessen 
Ende  die  völlige  Auflösung  der  Wand  stand.  Schon  war 
sie  zu  einem  guten  Teil  gleich  den  Gewölbekappen  funktions- 
lose Füllung  geworden.  Der  starke  Seitendruck  aber,  den 
die  noch  im  Halbkreis  geführten  Bogen  auf  die  Pfeiler 
ausübten,  nötigte  vorläufig  noch  zu  einer  massiven  Bildung 
derselben,  die  dem  romanischen  Stil  kein  endgültiges  Hinaus- 
gehen über  den  Wandcharakter  erlaubte  und  deshalb  von 
dem  gotischen  Formwillen  als  etwas  zu  Ueberwindendes 
betrachtet   wurde.      Erst   die   Einführung  des   Spitzbogens 


INNERER  AUFBAU  DER  KATHEDRALE      103 

im  Gewölbebau  gab  dem  gotischen  Baumeister  die  Mög- 
lichkeit, sein  Streben  durchzusetzen  nach  einem  sehnen- 
straffen geschmeidigen  Gliederbau,  von  dem  alles  über- 
flüssige Fleisch,  alle  überflüssige  Masse  entfernt  worden 
war.  Denn  der  viel  geringere  Seitendruck  der  Spitzbogen- 
wölbung erlaubte  eine  höhere  und  schlankere  Bildung  der 
stützenden  Pfeiler  und  ermöglichte  so  erst  jene  durchgehende 
Lockerung  des  statischen  Aufbaus,  jenen  Ausdruck  schlanker, 
geschmeidiger  und  unbeschwerter  Aktivität,  wie  er  dem 
gotischen  Ausdrucksbedürfnis  entsprach.  Es  ist  wie  eine 
grosse  Selbstbesinnung,  die  nun  —  mit  der  Einführung  des 
Spitzbogens  —  durch  den  Bau  geht.  Das  Stichwort  scheint 
ausgesprochen  zu  sein,  das  sein  zurückgehaltenes  Tätigkeits- 
bedürfnis seinen  pathetischen  Ausdrucksdrang  zum  Worte 
kommen  lässt.  Der  ganze  Bau  reckt  sich  in  dem  freudigen 
Bewusstsein,  nun  von  aller  Schwere  der  Materie,  von  aller 
irdischen  Gebundenheit  befreit  zu  sein.  Die  Pfeiler  werden 
hoch,  schlank  und  geschmeidig;  die  Wölbung  verliert  sich 
in  schwindelnden  Höhen.  Und  doch  dient  dieser  weit  in 
die  Höhe  entrückten  Wölbung  alles.  Der  ganze  Bau  scheint 
nur  um  ihretwillen  zu  existieren.  Die  Wölbung  beginnt 
gleichsam  schon  in  Fusshöhe  des  Baues.  Alle  die  vom 
Boden  aufsteigenden  und  die  Pfeiler  wie  lebendige  Kräfte 
umzüngelnden  grossen  und  kleinen  Dienste  wirken  in 
konstruktiver  und  ästhetischer  Hinsicht  nur  als  Aufbau 
der  Wölbung.  In  geschmeidiger  Kraft  schnellen  sie  vom 
Boden  empor,  um  allmählich  in  einer  sanften  Bewegung 
auszukhngen.  Ein  Schlussstein  in  der  Scheitelhöhe  des 
Gewölbes,  dem  trotz  seiner  faktischen  Schwere,  wie  sie 
seiner  konstruktiven  Funktion  als  Widerlager  entsprach, 
jeder  ästhetische  Eindruck  der  Schwere  fehlt  und  der  eher 
wie  ein  blütenhaft-leichter  und  selbstverständlicher  Ab- 
schluss  erscheint,  fasst  die  von  beiden  Seiten  herandrängende 
Bewegung  einheitlich  zusammen. 

Bei  der  Schilderung  dieses  gotischen  Innenaufbaus  hat 
sich  unsere  Terminologie  unwillkürlich  verändert.  Sie  hat 
eine  ganz  andere  sinnlichere  Klangfarbe  angenommen. 
Wir  sprechen  nun  von  geschmeidigen  lebendigen  Kräften, 
sprechen  von  straf fen  Sehnen,  von  blütenhaften  Abschlüssen: 
wird  durch    solche  der  Vorstellung   des    Organischen    ent- 


104  INNERER  AUFBAU  DER  KATHEDRALE 

nommene  Epitheta  nicht  das  Abstrakte,  Ueberorganische, 
Mechanische  gotischer  Bewegtheit,  wie  wir  es  als  Grundlage 
des  nordischen  Kunstwollens  erkannten,  in  Frage  gestellt? 
Wir  müssen  auf  diese  Frage  eingehen,  denn  die  Antwort 
zeigt  uns,  dass  das  nordische  Kunstwollen  nur  auf  aus- 
drucksstarke Bewegtheit  ausging  und  dass  ihm 
jene  abstrakte  mechanische  Bewegtheit  nur  deshalb  lieber 
war,  weil  sie  eben  an  Ausdrucksstärke  der  organischen  Bewegt- 
heit, die  immer  an  organische  Harmonie  gebunden  und 
deshalb  mehr  der  Schönheit  als  der  Macht  des  Ausdrucks 
dient,  weit  überlegen  ist.  (So  wie  eine  mechanisch  regulierte 
Marionette  ausdrucksstärker  als  ein  lebendig  agierender 
Mensch  ist.)  Sie  zeigt  uns  anderseits,  dass  das  gotische 
Kunstwollen,  wo  ihm  durch  äussere  Umstände  die  abstrakten 
Ausdrucksmittel  vorenthalten  waren,  die  organischen  Aus- 
drucksmittel bis  zu  dem  Grade  steigert,  dass  sie  der  Be- 
wegungswucht mechanischen  Ausdrucks  nahekommen. 

In  diesem  Falle  befindet  der  Gotiker  sich  bei  dem 
Innenaufbau  seiner  Kathedralen. 

Der  Gotiker  ist  nicht  reiner  Tektoniker  wie  der  Grieche. 
Er  ist  vielmehr,  den  grossen  in  hellenistischer  Zeit  einsetzenden 
Vergeistigungsprozess  des  Empfindens  fortsetzend  und  ab- 
schliessend, Innenraumgestalter.  Der  Raum  ist  nicht  mehr 
ein  blosses  Akzidens  eines  rein  tektonischen  Prozesses, 
sondern  er  ist  das  Primäre,  er  ist  der  direkte  Ausgangspunkt 
der  baukünstlerischen  Konzeption.  Es  handelte  sich  für 
den  Gotiker  nun  darum,  diesem  Raum  ein  Ausdrucksleben 
abzugewinnen,  das  den  ideellen  Zielen  seines  Kunstschaffens 
entsprach. 

Der  Raum  ist  nun  etwas  an  und  für  sich  Geistiges  und  Un- 
f assbares.  Er  entzieht  sich  also  in  dieser  seiner  Wesenheit 
jeder  ausdrucksschaffenden  Formkraft.  Denn  einem  Etwas, 
das  wir  nicht  fassen  können,  können  wir  auch  keinen  Aus- 
druck geben.  Fassen  können  wir  den  Raum  nur,  wenn  wir 
ihm  seinen  abstrakten  Charakter  nehmen,  wenn  wir  ihn 
unserer  Vorstellung  als  etwas  Körperliches  substituieren, 
kurz,  wenn  wir  aus  dem  Raumerlebnis  ein  Sinnenerlebnis, 
wenn  wir  aus  dem  abstrakten  Raum  den  realen,  atmo- 
sphärischen Raum  machen.  Der  abstrakte  Raum  hat  kein 
Leben  und  keine  Schaffenskraft  kann  ihm  einen  Ausdruck 


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INNERER  AUFBAU  DER  KATHEDRALE      105 

abgewinnen,  der  atmosphärische  Raum  dagegen  hat  ein 
inneres  Leben,  das  unmittelbar  auf  unsere  Sinne  wirkt  und 
das  damit  unserer  Gestaltungskraft  eine  Handhabe  bietet. 

Das  Vergeistigungsdrängen  des  Gotikers  sieht  sich  also 
hier  bei  der  Raumgestaltung  vor  eine  organisch-sinnliche  Aus- 
druckssphäre gestellt.  Seine  eigenthche  Sphäre,  das  U  n  - 
sinnliche,  ist  ihm  versperrt:  so  bleibt  ihm  nur  der  Aus- 
weg, das  SinnHche  ins  Ueb  er  sinnliche  überzuleiten.  Dem 
sinnlichen  Raumerlebnis  musste  eine  übersinnhche  Wirkung 
abgewonnen  werden,  d.  h.  die  sinnlichen  Ausdrucksmittel 
mussten  in  einer  Weise  gesteigert  werden,  dass  ein  über- 
sinnhcher  Eindruck  zustande  kam.  Hier  stellt  sich  die  innere 
Verbindung  der  Gotik  mit  dem  Barock  wieder  ein.  Denn  in 
der  sinnlichen  Pathetik  des  Barock  tobte  sich  eben  dieser 
selbe  gotisch-mittelalterliche  Formwille  aus,  nachdem  ihm 
nämlich  durch  die  Renaissance  sein  eigentliches  Ausdrucks- 
mittel das  Abstrakte,  Ueberorganische  genommen  war.  So 
haftet  dem  Barock  derselbe  Charakter  des  Sinnlich-Ueber- 
sinnlichen  an  wie  der  gotischen  Raumwirkung. 

Diese  spezifische  Note  gotischen  Raumschaffens  und 
Ramnempfindens  wird  uns  besonders  klar,  wenn  wir  an  die 
gesunde  klare  Raumplastik  der  römischen  Baukunst 
zurückdenken,  wie  sie  sich  beispielsweise  im  Pantheon 
ausdrückt.  Hier  fehlt  jedes  Pathos.  Die  Klarheit  des  Raum- 
gebildes hält  jede  übersinnliche  mystische  Empfindung  fern. 
Der  römische,  klassisch  gefärbte  Formwille  wollte  dem 
Raum  nur  ein  organisch  selbständiges,  in  sich  harmonisch 
geschlossenes  und  beruhigtes  Leben  geben. 

Wer  in  das  Pantheon  hineintritt,  der  fühlt  sich  von 
seiner  individuellen  Isoliertheit  befreit;  stumme  feierliche 
Raummusik  führt  ihn  zu  einer  wohltuenden,  erlösenden, 
sinnlichen  Sammlung;  er  schwingt  mit  in  dem  unsagbar 
beglückenden  Rhythmus  räumlichen  Lebens;  er  fühlt  sich 
sinnlich  geklärt.  Und  was  will  der  klassische  Mensch  anderes 
in  all  seiner  Kunst  als  dieses  erhabene  Glück  ideeller  sinn- 
licher Klärung. 

Wer  aber  in  eine  gotische  Kathedrale  hineintritt,  dem 
widerfährt  etwas  anderes  als  eine  sinnliche  Klärung. 
Dem  widerfährt  eine  Sinnenberauschung.  Nicht 
jene  direkte  grobe  Sinnenberauschung,  die  das  Barock  bringt. 


I06      INNERER  AUFBAU  DER  KATHEDRALE 

sondern  eine  mystische   Sinnenberauschung,  die  nicht  von 
dieser  Welt  ist. 

Der  gotische  Raum  ist  ungezügelte  Aktivität.  Er 
stimmt  nicht  feierlich  und  ruhig,  sondern  er  überwältigt. 
Er  nimmt  den  Eintretenden  nicht  mit  weichen  Gebärden 
auf,  sondern  er  reisst  ihn  gewaltsam  mit  sich  fort,  wirkt  als 
ein  mystischer  Zwang,  dem  willenlos  sich  zu  unterwerfen 
der  belasteten  Seele  eine  Wonne  dünkt. 

Diese  Betäubung  durch  das  Fortissimo  der  Raummusik 
entsprach  eben  ganz  der  gotischen  Religiosität  und  ihrem 
Erlösungsdrang.  Wir  sind  hier  weit  von  aller  klassischen 
Welt  entfernt.  Der  klassische  Mensch  bedurfte,  um  religiös 
und  feierlich  gestimmt  zu  werden,  nur  der  Raum  klarheit. 
Seine  religiöse  und  künstlerische  Beglückung  war  eng  gebunden 
an  Harmonie  und  Ausgeglichenheit.  Er  bheb  ein  Plastiker 
auch  als  Raumgestalter.  Den  gotischen  Menschen  dagegen 
vermochte  nur  die  Raumpathetik  religiös  zu  stimmen.  Nur 
diese  Pathetik  hob  ihn  über  seine  irdische  Gebundenheit 
und  seine  innere  Misere  hinweg;  nur  in  dieser  Rausch- 
steigerung, die  bis  zur  Selbst  Vernichtung  ging,  vermochte  er 
Ewigkeitsschauer  zu  spüren.  So  nötigt  ihn  sein  innerer 
Dualismus  auch  als  Raumgestalter  zur  Transzendenz,  zur 
Mystik.  Wo  der  klassische  Mensch  nur  sinnlich  gesammelt 
werden  will,  da  will  er  sich  sinnlich  verlieren,  will  er  durch 
Selbstaufgabe  des  Uebersinnlichen  habhaft  werden. 

Für  die  latenten  Forderungen  des  atmosphärischen 
Raumes  nach  wohltuender  rhythmischer  Begrenzung  hat 
der  Gotiker  kein  Ohr.  Seinem  krankhaft  gespannten  Aus- 
drucksbedürfnis zuliebe  vergewaltigt  er  vielmehr  das  atmo- 
sphärische Leben.  Er  tritt  ihm  aktiv  gegenüber,  wo  der  Klas- 
siker nur  auf  eshorchte  und  ihm  als  ein  Verstehender  diente. 
Er  sperrt  es  ein,  gibt  ihm  Hemmungen  über  Hemmungen 
und  trotzt  ihm  gewaltsam  einen  ganz  bestimmten,  zur  höch- 
sten Wucht  gesteigerten  Bewegungsrhythmus  ab,  dessen  Ziel 
die  unendhche  Höhe  ist.  Von  allen  Seiten  zurückgeworfen, 
an  tausend  Widerständen  zerschellend,  führt  das  atmo- 
sphärische Leben  innerhalb  des  Raumganzen  ein  heftig 
bewegtes  friedloses  Sein,  bis  es  schliesshch  mit  fast  hörbarem 
Getöse  an  der  Gewölbedecke  brandet.  Dort  bildet  sich 
gleichsam   ein   Luftwirbel,    der   unwiderstehlich    nach   oben 


INNERER  AUFBAU  DER  KATHEDRALE  107 

zieht:  man  betritt,  sofern  man  überhaupt  raumempfindlich 
ist,  die  grossen  gotischen  Kathedralen  nie,  ohne  einen  Raum- 
schwindel zu  spüren.  Es  ist  dasselbe  Schwindelgefühl,  das 
das  chaotische  Liniengewirr  frühnordischer  Ornamentik 
auslöst.    Plus  9a  change,  plus  9a  reste  la  m^me  chose. 

Durch  das  sinnliche  Raumerlebnis  war  die  organisch 
runde  Gestaltung  der  den  Raum  gliedernden  Bauteile  be- 
stimmt. Alles  Harte,  Eckige,  mit  dem  atmosphärischen 
Raumleben  Unausgesöhnte  musste  vermieden  werden.  Die 
sinnliche  Auffassung  des  Raumes  übertrug  sich  auf  seine 
Gliederungen.  Die  Dienste  und  Rippen,  die  dem  Sinnen- 
erlebnis den  Weg  leiten,  sind  vollrund  oder  halbrund  ge- 
bildet; sie  haben  organischen  Ausdruckswert  wie  das  Raum- 
leben, dem  sie  dienen.  Aber  auch  hier  tritt  bald  der  Ueber- 
gang  vom  SinnKchen  zum  UebersinnUchen  ein,  d.  h.  die 
Bauglieder  verheren  immer  mehr  ihren  körperhch  materiellen 
Gehalt  und  werden  zu  abstrakten  Ausdrucksträgern.  Dieser 
Prozess  vollzieht  sich  durch  eine  bewusste  Umgestaltung 
der  Profile.  Der  erste  Schritt  ist  die  birnförmige  Bildung 
derselben.  Durch  diese  birnförmige  Zuspitzung  wird  innerhalb 
des  voll  körperlichen  Seins  ein  schon  mehr  linear  abstrakter 
Ausdruck  dominierend.  Die  vollständige  Eliminierung  körper- 
licher Ausdrucksanalogien  bringt  dann  der  zweite  Schritt :  die 
Aussenflächen  der  Profile  schwingen  sich  nach  innen,  so 
dass  nur  ein  von  beiden  Seiten  mit  dichtem  Schattenwerk 
eingefasster  schmaler  Steg  übrigbleibt,  der  an  Stelle  der 
körperlich  fassbaren  Funktion  endgültig  ein  rein  geistiges 
unf assbares  Ausdrucks wesen  setzt.  So  endigt  auch  hier  die 
künstlerische  Gestaltung  bei  einer  unsinnlichen  Mimik,  die, 
von  allen  konstruktiven  Zwecken  befreit,  nur  um  ihrer 
selbst  wiUen  da  zu  sein  scheint,  einer  Mimik,  die  keine 
körperlichen  Kräfte,  sondern  geistige  Energien  ausdrückt. 
Wir  sehen  also,  wie  auch  hier,  wo  durch  die  unumgängHche 
sinnliche  Raumauffassung  einerseits  und  durch  die  un- 
umgänglichen statischen  Bedingungen  anderseits  eine 
organisch  runde  und  körperlich  feste  Bildung  der  Bau- 
glieder nicht  zu  vermeiden  war,  das  geistige  Ausdrucks- 
bedürfnis der  Gotik  sich  seinen  Weg  schafft  und  in 
einem  raffinierten  Entmaterialisationsprozess  die  Materie 
vergeistigt. 


I08  ÄUSSERER  AUFBAU  DER  KATHEDRALE 


ÄUSSERER  AUFBAU  DER  KATHEDRALE 

Tjie  gotische  Kathedrale  ist  die  stärkste  und  umfassendste 
^~^^  Repräsentation  mittelalteriichen  Empfindens.  Mystik 
und  Scholastik,  diese  beiden  grossen  mittelalterlichen  Lebens- 
mächte, die  im  allgemeinen  als  unverträgliche  Gegensätze 
erscheinen,  sind  hier  innig  vereint,  wachsen  hier  unmittelbar 
auseinander  heraus.  Wie  der  Innenraum  ganz  Mystik  ist, 
so  ist  der  Aussenbau  ganz  Scholastik.  Es  ist  derselbe  Tran- 
szendentalismus der  Bewegung,  der  sie  vereint,  derselbe 
Transzendentalismus,  der  sich  nur  verschiedener  Ausdrucks- 
mittel bedient:  in  dem  einen  Falle  organisch-sinnlicher,  in 
dem  anderen  Falle  abstrakt-mechanischer.  Die  Mystik  des 
Innenraums  ist  nur  eine  verinnerlichte,  ins  Organisch- Sinn- 
liche geleitete  Scholastik. 

Gottfried  Semper  in  seiner  klassischen  Befangenheit 
prägte  als  Erster  das  Wort  von  der  „steinernen  Scholastik" 
und  glaubte  damit  die  Gotik  zu  diskreditieren.  Aber  dieses 
sachlich  zutreffende  Urteil  über  die  Gotik  kann  nur  dem  eine 
Verurteilung  bedeuten,  der  das  grosse  mittelalterliche  Phä- 
nomen der  Scholastik  aus  der  Enge  seines  modern  einseitigen 
Gesichtsfeldes  heraus  nicht  zu  überblicken  vermag.  Wir 
wollen  diese  moderne  Einseitigkeit  des  Urteils  über  die 
Scholastik  zu  durchbrechen  und  statt  modern  relativer  Wer- 
tung eine  positive  Ausdeutung  zu  geben  versuchen.  Vor- 
läufig wollen  wir  zusehen,  wie  diese  scholastische  Veran- 
lagung des  nordischen  Menschen  sich  architektonisch  äussert. 

In  der  antiken  Architektur,  soweit  sie  sich  überhaupt 
mit  raumkünstlerischen  Problemen  beschäftigte,  und  in  allen 
von  ihr  abhängigen  Stilen,  vor  allem  also  in  der  romanischen 
Architektur  dokumentierte  sich  der  Aussenbau  als  äusseres 
Komplement  der  inneren  Raumbegrenzung.  Nun  sahen  wir, 
dass  im  gotischen  Stil  die  eigenthchen  Raumgrenzen, 
nämhch  die  festen  Mauerwände,  aufgelöst  wurden  und 
die  konstruktiven  und  ästhetischen  Funktionen  übergingen 
auf  die  statischen  Einzelkräfte  des  Aufbaus.  Diese  funda- 
mentale Veränderung  der  Bauauffassung  musste  ihre  natür- 
liche Rückwirkung  auf  die  Aussenbaugestaltung  ausüben. 
Auch  hier  musste  die  feste  geschlossene  Mauer  verdrängt 


ÄUSSERER  AUFBAU  DER  KATHEDRALE  109 

werden,    auch   hier    musste    der   Emanzipationsprozess    der 
Einzelkräfte  sich  durchsetzen. 

Wir  sahen,  wie  im  romanischen  Stil  der  GHederungs- 
prozess  der  ausdruckslosen  Mauerwand  im  Lisenen-  und 
Arkadenwerk  schon  einsetzte.  Aber  die  aktiven  Kräfte,  die 
nun  die  Wand  belebten  und  ihr  einen  Ausdruck  abgewannen, 
hatten  nur  dekorativen  Wert,  denn  sie  standen  mit  der 
inneren  Konstruktion  noch  in  keinem  unimttelbaren  sicht- 
baren Zusammenhang.  Aeussere  Kräfte  sprachen,  nicht  die 
immanenten  Aktivitätskräfte  des  Baues  selbst.  Die  Sprache 
der  Konstruktion  war  noch  nicht  gefunden  und  nur  ihr  war 
die  volle  AusdrucksmögHchkeit  des  gotischen  Ausdrucks- 
wollens  vorbehalten.  Das  Stichwort,  um  die  immanenten 
Aktivitätskräfte  auch  am  Aussenbau  zu  erwecken  und  selb- 
ständig zu  machen,  gab  die  Innenraumgestaltung,  wie  wir 
sie  im  Verfolg  der  Wölbungstendenzen  werden  sahen.  Durch 
die  Entlastung  der  Wände  als  Träger  der  Gewölbe  und  durch 
die  Konzentration  des  Drucks  auf  einzelne  besonders 
akzentuierte  Stellen  hatte  sich  von  selbst  eine  Verstrebungs- 
notwendigkeit eingestellt,  wie  sie  auch  in  anderen  Archi- 
tekturen bei  ähnlicher  Situation  auftrat  und  gelöst  wurde. 
Das  gotische  Strebesystem  ist  konstruktiv  nichts  Neues, 
doch  neu  ist,  dass  es  sichtbar  gemacht  wurde,  anstatt  wie 
sonst  in  der  Ummauerung  des  Ganzen  versteckt  zu  werden. 
In  dieser  Sichtbarmachung  erst  liegt  die  ästhetische  Be- 
jahung einer  konstruktiven  Notwendigkeit,  d.  h.  das  gotische 
Ausdrucksverlangen  hatte  in  diesen  konstruktiven  Not- 
wendigkeiten gleichzeitig  ästhetische  Ausdrucksmöglichkeiten 
entdeckt  und  damit  das  entscheidende  Prinzip  der  Aussen- 
baugestaltung  gefunden. 

Auch  hier  ist  es  die  Einführung  des  Spitzbogens,  die  das 
noch  zögernde  und  tastende  Wollen  zur  Entscheidung  drängt 
und  die  konsequente  Durchführung  des  Systems  herbeiführt. 
Denn  erst  mit  der  Einführung  des  Spitzbogens  erhielt  die 
Mittelschiffüberwölbung  ihre  volle  Höhe  und  die  Mittelschitf- 
pfeiler  dementsprechend  ihre  äusserste  Schlankheit,  die  trotz 
der  verhältnismässigen  Leichtigkeit  der  Last  die  Gefahr  des 
Einknickens  mit  sich  brachte.  Die  hieraus  sich  ergebende 
Notwendigkeit,  an  bestimmten  Punkten  Stützmöglichkeiten 
zu  schaffen  und  zwar  in  einer  Höhe,  wo  die  niedrigen  Seiten- 


HO  ÄUSSERER  AUFBAU  DER  KATHEDRALE 

schiffe,  wie  sie  durch  die  gotische  Betonung  des  Mittelschiffes 
verlangt  wurden,  nicht  mehr  zur  Aufnahme  der  Stützglieder 
herangezogen  werden  konnten,  führte  zu  einer  frei  in  der  Luft 
über  die  Seitenschiffe  hinwegragenden  Verstrebung,  d.  h. 
zu  einer  ganz  ausgesprochenen  Sichtbarmachung  der  statischen 
Einzelkräfte,  die  die  Struktur  des  ganzen  Baues  ausmachen. 

Mit  einer  grossen  energischen  Geste  überträgt  der  Strebe- 
bogen den  Gewölbeschub  des  Mittelschiffs  auf  die  massiven 
Strebepfeiler  der  Seitenschiffe.  Um  diesen  die  Widerstands- 
festigkeit gegen  den  seitlich  auf  sie  zukommenden  Druck  der 
Last  zu  erleichtern,  werden  sie  von  oben  her  durch  Fialen 
belastet.  Der  konstruktive  Sinn  dieses  Verstrebungssystemes 
lässt  sich  also  nur  dann  begreifen,  wenn  man  es  in  der  Rich- 
tung von  oben  nach  unten  hin  verfolgt.  Für  den  ästhetischen 
Eindruck  aber  ist  der  umgekehrte  Weg  massgebend,  der  Weg 
von  unten  nach  oben.  Wir  sehen,  wie  aus  den  Kraftreservoirs 
der  Strebepfeiler  die  himmelstrebenden  Energien  sich  los- 
lösen, um  in  mächtiger  mechanischer  Kraftentfaltung  das 
Ziel  der  Höhe  zu  erreichen.  Diese  Bewegung  von  den  Strebe- 
pfeilern aus  über  die  Strebebögen  zur  Mittelschiffüberhöhung 
ist  von  einer  zwingenden  mimischen  Kraft.  Alle  Mittel  werden 
aufgeboten,  um  den  Betrachter  zu  dieser  ästhetischen  Auf- 
fassung des  Verstrebungssystems  zu  zwingen,  die  der  kon- 
struktiven entgegengesetzt  ist.  So  wirken  die  Fialen  nicht 
als  eine  Belastung  der  Strebepfeiler,  sondern  als  ein  frei- 
gewordener Kraftüberschuss  derselben  an  Höhendrang,  der 
ungeduldig  schon  zur  Höhe  schiesst,  ehe  das  eigentliche  Ziel 
der  Höhenentwicklung  erreicht  ist.  Durch  dieses  gleichsam 
vergebliche  Sichaufbäumen  der  Kraft  in  den  Fialen  erhält 
dann  die  nach  dieser  Verzögerung  sicher  durchgreifende, 
zielbewusste  Bewegung  des  Strebebogens  eine  noch  wuchtigere 
und  überzeugendere  Ausdruckskraft. 

Während  rein  konstruktiv  die  Sache  so  liegt,  dass  die 
Geheimnisse  der  freien  elastischen,  konstruktiv  unbegreif- 
lichen Bildung  des  gotischen  Innenraums  sich  dem  Heraus- 
tretenden in  einem  mühsamen  Stützen-  und  Krückenwerk 
verraten,  auf  die  der  Bau  sich  lehnen  muss,  um  seine  Raum- 
künste aufzuführen,  während  also  in  konstruktiver  Hinsicht 
der  Aussenbau  wie  eine  ernüchternde  Demaskierung  der 
verblüffenden  Innenraumgestaltung  wirkt,  ist  der  ästhetische 


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ST.   PIERRE  ZU  MOISSAC.     PETRUS 


ÄUSSERER  AUFBAU  DER  KATHEDRALE  III 

Eindruck,  wie  er  mit  allen  Mitteln  dem  Betrachter  suggeriert 
wird,  der,  dass  die  Höhenbewegung  des  Innenraums  von 
diesen  Aussenbaugliedern  nur  wiederholt  wird.  Die  unfass- 
bar  erhythmische  Bewegung  des  Raumes  scheint  nach  aussen 
hin  versteinert  zu  sein.  Die  höhenstrebenden  Kräfte,  die 
im  Innern  noch  nicht  zur  Ruhe  gekommen  sind,  sie 
scheinen  nach  aussen  zu  drängen,  um,  von  aller  Begrenzt- 
heit und  Beengtheit  befreit,  sich  im  Unendlichen  zu  ver- 
heren.  In  immer  erneuten  Anläufen  umwuchern  sie  den 
Kern  des  Innenraums,  um  über  ihn  hinweg  ins  Unendliche  zu 
streben. 

Eine  Art  äussere  Travee  ist  erreicht.  Eine  einheitUche, 
Seitenschiffe  und  IMittelschiff  zusammenfassende  Streckung 
des  Baues  nach  einem  idealen  Höhepunkt  wird  jetzt  auch 
im  Aussenbau  sichtbar.  Dieselbe  transzendentale  Aus- 
drucksbewegung, die  im  Innern  mit  weichen  geschmei- 
digen Linien  spricht,  spricht  hier  mit  einer  harten,  me- 
chanisch ungeheuer  ausdrucksvollen  Bewegtheit,  die  aber- 
tausend Kräfte  zu  demselben  Ziel  vereint. 

Wir  sahen,  wie  in  der  Innenraumgestaltung  die  Höhen- 
entwicklung noch  gebunden  war  an  dem  alten,  durch  den 
Kult  bedingten  Basihkenschema,  das  seinen  Sinn  im  Altar- 
raum hat.  Für  den  idealen  Bewegungsdrang  des  Gotikers 
war  diese  präzis  akzentuierte  Bewegung  auf  den  Altar  hin 
zu  enge.  Er  sucht  dieser  Längsbewegung  durch  eine  Höhen- 
entwicklung entgegenzuarbeiten,  die  ihm  den  Weg  zum  Un- 
begrenzten öffnet.  Wie  Bremsen  legen  sich  die  Traveen  an 
die  Längsbewegung  an,  um  ihre  Kräfte  nach  der  Höhe  hin 
abzuleiten.  Aber  all  dieser  Höhenentwicklung  im  Innen- 
raum fehlt  doch  die  letzte  Zusammenfassung.  Sie  war  nur 
Gegenbewegung,  nicht  Ueberwindung.  Sie  konnte  sich  nicht 
selbstherrhch  den  entscheidenden  Akzent  geben,  denn  dieser 
Akzent  war  ihr  durch  den  Kult  vorgeschrieben.  Vom  Altar 
konnte  und  durfte  der  Innenraum  nicht  loskommen. 

Für  diese  Gebundenheit  im  Innern  entschädigte  sich 
nun  der  gotische  Baumeister  am  Aussenbau.  Hier 
konnte  er  den  gotischen  FormwiUen,  von  allen  Kultrück- 
sichten entbunden,  sprechen  lassen.  Und  das  Ergebnis  ist 
die  Ausgestaltung  der  Turmpartie  als  Hauptakzent  des 
ganzen  Aussenbaus.    Die  Emanzipation  vom  alten  Basilika- 


112  ÄUSSERER  AUFBAU  DER  KATHEDRALE 

Schema  und  seiner  Bewegung  auf  den  Alter  hin  ist  hier 
zugunsten  einer  idealen  Höhenentwicklung  gänzlich  durch- 
geführt. Eine  Bewegung  in  direktem  Gegensinn  ist  hier 
ausgedrückt.  Denn  das  Langhaus  wirkt  äusserlich  nur  als 
Vorbereitung,  nur  als  Auftakt  zur  grossen  siegreichen  Turm- 
bewegung. All  die  Kraftanstrengungen,  die  im  Strebebogen- 
system des  Langhauses  ausgedrückt  sind,  sie  geben  der 
leichten,  selbstverständlichen  Höhenentwicklung  des  Turm- 
systems erst  die  letzte  Dynamik.  Alles  was  an  Einzelkräften 
an  dem  Aussenbau  tätig  ist  und  sich  abmüht,  wird  gleichsam 
gesammelt  und  zusammengefasst,  um  in  dem  idealen,  durch 
keinen  Zweck  bedingten  Baugebilde  der  Türme  seine  erlösende 
Aussprache  zu  finden.  Wie  eine  apotheosenhafte  Verklärung 
des  gotischen  Transzendentalismus,  so  schhesst  die  Turm- 
partie den  ganzen  Bau  ab,  und  es  ist  kein  Stein  an  ihr,  der 
nicht  dem  Ganzen  dient.  Nirgend  ist  das  gotische  ,, Sich- 
berauschen an  logischem  Formalismus"  reiner  ausgedrückt 
als  hier,  nirgend  aber  auch  die  überlogische  transzendentale 
Wirkung  dieser  logischen  Multiplikationsarbeit  monumentaler 
und  überzeugender  ausgeprägt.  Ein  klassisch  befangener 
Beurteiler  mag  für  diese  überlogische  Wirkung  kein  Organ 
haben;  er  sieht  nur  die  Mittel  und  vermisst  den  Zweck.  Er 
sieht  nur  den  Aufwand  an  logischem  Scharfsinn  und  begreift 
das  überlogische  Warum  dieses  Aufwandes  nicht;  kurz:  ihm 
kann  diese  steinerne  Scholastik  nur  als  ein  Wahnsinn  mit 
Methode  erscheinen.  Wer  aber  den  gotischen  Formwillen  er- 
kannt hat,  wer  ihn  von  dem  chaotischen  Wirrwarr  der  frühen 
Ornamentik  her  bis  zu  diesem  kunstvollen  Chaos  steinerner 
Kraftentfaltung  verfolgt  hat,  dem  zerbrechen  vor  der  Grösse 
dieses  Ausdrucks  die  klassischen  Massstäbe  in  der  Hand  und 
er  begreift  ahnungsvoll  die  gewaltige,  von  Extremen  zer- 
rissene und  darum  übernatürlicher  Kraftanstrengungen  fähige 
Empfindungswelt  des  Mittelalters;  und  so  lange  er  unter 
dem  überwältigenden  Eindruck  dieser  erhabenen  Hysterie  der 
Gotik  steht,  ist  er  fast  geneigt,  ungerecht  zu  werden  gegen 
den  Gesundungsprozess  der  Renaissance,  der  das  aufgewühlte 
gotische  Empfindungsleben  zu  einer  normalen  —  fast  möchte 
man  sagen  bürgerlichen  —  Temperatur  abdämpfte  und  an 
die  Stelle  pathetischer  Grösse  das  Ideal  der  Schönheit  und 
abgeklärten  Ruhe  setzte. 


ÄUSSERER  AUFBAU  DER  KATHEDRALE  113 

Wir  sprachen  von  der  architektonischen  Multiphkations- 
arbeit,  die  sich  in  dem  Aufbau  des  Turmsystems  offenbart. 
Es  ist  derselbe  Multiphkationscharakter,  den  wir  bei  der 
frühen  Ornamentik  konstatierten.  Auch  da  sahen  wir,  dass 
das  einzelne  Motiv  mit  sich  selbst  multipliziert  wird  im 
Gegensatz  zu  dem  Additionscharakter,  den  die  klassische 
Ornamentik  zeigt.  Und  auch  hier  in  der  Architektur  ist 
der  Nenner  dieses  Multiplikationsprozesses  der  Unendlich- 
keitsnenner, der  als  Endergebnis  des  logischen  Prozesses 
eine  chaotische  Verwirrung  herbeiführt. 

Aber  nicht  nur  in  der  Unendlichkeit  des  Grossen,  auch 
in  der  Unendlichkeit  des  Kleinen  sucht  sich  der  Gotiker  zu 
verlieren.  Die  Unendlichkeit  der  Bewegung,  die  sich  makro- 
kosmisch in  dem  architektonischen  Gesamtbild  äussert, 
äussert  sich  mikrokosmisch  in  jedem  kleinsten  Bauteil. 
Jeder  Einzelteil  ist  eine  Welt  für  sich  voll  verwirrender 
Bewegtheit  und  Unendlichkeit,  eine  Welt,  die  im  kleinen 
aber  mit  denselben  Mitteln  den  Ausdruck  des  Ganzen  wieder- 
holt, zu  derselben  widerstandslosen  Hingabe  zwingt  und 
denselben  Betäubungseffekt  herbeiführt.  Eine  Fialenkrönung 
ist  eine  Kathedrale  im  kleinen,  und  wer  sich  in  das  kunst- 
volle Chaos  eines  Masswerks  versenkt,  der  kann  hier  im 
Kleinen  dieselbe  Berauschung  an  logischem  Formalismus 
erfahren  wie  am  Ganzen  des  Bausystems.  Die  Einheitlichkeit 
des  Formwillens  und  seine  restlose  Durchführung  ist  ekla- 
tant. 

Wir  möchten  diese  Untersuchungen  über  die  gotische 
Architektur,  die  gewiss  nicht  erschöpfend  sind,  nicht 
schliessen,  ohne  einen  bestimmten  Punkt  klargestellt  zu 
haben.  Wir  haben  es  absichtlich  vermieden,  irgendein 
bestimmtes  Bauwerk  der  gotischen  Epoche  als  Beispiel  und 
Beleg  heranzuziehen ;  ebensowenig  sind  wir  auf  die  einzelnen 
Perioden  der  engeren  Gotik  näher  eingegangen.  Eine  rein 
stilpsychologische  Untersuchung  kann  vielmehr  nur  den 
Idealtypus  im  Auge  haben,  wie  er  vielleicht  niemals 
Realität  gewonnen  hat,  wie  er  aber  allen  realen  Bestre- 
bungen als  immanentes  Ziel  vorschwebt.  Nicht  um  dieses 
oder  jenes  gotische  Architekturmonument  also  handelt  es 
sich  hier,  sondern  um  die  Idee  der  Gotik,  wie  wir  sie 
durch  die  Erkenntnis  des  charakteristischen  gotischen  Form- 


114  PSYCHOLOGIE  DER  SCHOLASTIK 

willens    aus    der    Variationen-    und    nuancenreichen    Fülle 
seiner  Verwirklichungen  heraus  zu  destillieren  suchten. 


PSYCHOLOGIE  DER  SCHOLASTIK 

Tjie  Scholastik  ist  auf  religiösem  Gebiete  das,  was  auf 
-*-^  künstlerischem  Gebiete  die  gotische  Architektur  ist. 
Sie  ist  ein  ebenso  sprechendes  Dokument  der  erhabenen 
Hysterie  des  Mittelalters  und  sie  ist  in  gleicher  Weise  dadurch 
vetkannt  worden,  dass  man  einen  falschen  Massstab  an  sie 
anlegte.  Die  Missverständnisse  über  die  Scholastik  sind  die 
gleichen  wie  die  über  die  gotische  Architektur. 

Auch  in  ihr  sah  man  einen  Aufwand  an  logischem 
Scharfsinn,  dessen  inneren  überlogischen  Zweck  man  nicht 
begriff.  So  hielt  man  sich  nur  an  dem  äusseren  Zweck 
scholastischer  Denkarbeit,  nämlich  an  der  Absicht,  dem 
System  der  kirchlichen  Dogmen  eine  Rechtfertigung  vor 
der  Vernunft  zu  geben.  Im  Tone  des  Vorwurfs  konstatierte 
man,  dass  die  Scholastik  nicht  darauf  ausgegangen  sei,  eine 
noch  nicht  erkannte  Wahrheit  zu  finden,  sondern  sich  damit 
begnügt  habe,  die  schon  vorhandene  Wahrheit,  wie  sie 
in  dem  theologisch-philosophischen  System  der  Kirche  — 
das  innerlich  auf  der  göttlichen  Offenbarung,  äusserlich  auf 
der  Autorität  des  Aristoteles  beruht  —  enthalten  sei, 
durch  Vernunftgründe  zu  stützen  un4  als  vernünftig  zu 
beweisen.  Nur  eine  Magd  der  Theologie  sei  die  Scholastik 
gewesen.  Der  ganze  Aufwand  an  logischem  Scharfsinn  sei 
also  nur  durch  die  Kompliziertheit  der  Aufgabe  bedingt, 
die  eben  darin  bestand,  Offenbarungs-  und  Glaubens- 
tatsachen, die  sich  der  direkten  verstandesgemässen  Er- 
klärung und  Rechtfertigung  entziehen,  dennoch  dem  Ver- 
stände nahezubringen.  Das  habe  zu  der  logischen  Spitz- 
findigkeit, zu  der  gewundenen  sophistischen  Dialektik  der 
Scholastik  geführt.  Man  sah  in  der  scholastischen  Denk- 
arbeit nur  die  Begriffsspaltereien  und  logischen  Kniffe 
eines  Advokaten,  der  durch  alle  logischen  Scheinkünste  einen 
verlorenen  Prozess  retten  will. 


APOSTELKOPF  VON  ÜLAiAN    Kiii.MKN  SCHNEIDER 

IN  ST.   JAKOB  ZU  ROTHENBURG  o.  T. 

Aufnahme  von  Dr.   F.    Stoedtner,   Berlin. 


PSYCHOLOGIE  DER  SCHOLASTIK  115 

Wer    dagegen    jene    geheime    Scholastik    erkannt    hat, 
wie  sie  sich  lange  vor  der  eigentlichen  historischen  Scholastik 
und  ohne  jeden  Zusammenhang  mit  der  christlichen  Heils- 
lehre in  dem  eigentümlich  gewundenen,  unruhigen  und  kom- 
plizierten Gang  des  nordischen  Denkens  überhaupt  verrät: 
wer  beispielsweise  den  Zusammenhang  z%vischen  den  Rätsel- 
fragen ,, dieser  Lieblingsform  germanischen  Zwiegesprächs" 
(Lamprecht)    und   ihrer   gewundenen,    jede    Klarheit,   jeden 
direkten  Weg  vermeidenden  Bewegtheit  mit  der  ge\vundenen 
Dialektik   der    Scholastik   erkannt   hat,    der   uird  zu   einer 
Auffassung  der  Scholastik  genötigt,  die  von  ihren  äusseren 
theologischen  Zwecken  ganz  absieht  und  nur  den  Charakter 
des  Denkens  ins  Auge  fasst.      Wie  in  diesen  Rätselfragen 
und  ihrer  Beantwortung  der  Aufwand  an  Logik  und  Scharf- 
sinn in  gar  keinem  Verhältnis  zu  dem  Anlass  und  zu  dem 
Ergebnis  steht,  so  kommt  auch  bei  der  eigentlichen  Scho- 
lastik  der   direkte    theologische   Zweck   kaum   in   Betracht 
gegenüber  der  Freude  an  einer  gewissen  gewundenen  ver- 
schnörkelten   Bewegung    des    Denkens    als    solcher.       Man 
könnte   also,    analog   dem   künstlerischen    Formwillen,    von 
einem  geistigen  Formwillen  sprechen,  d.  h.  von  dem  Willen 
zu  einer  bestimmten  Form  des  Denkens,  der  ganz  unabhängig 
von   der     speziellen    Aufgabe    existiert.       Das    Objekt     des 
Denkens  käme   hier   also   gegenüber   dem   bestimmten   Be- 
wegungsdrang des  Geistes  kaum  in  Betracht.   Wie  den  nordi- 
schen Menschen  eine  künstlerische  Konstruktions-  und  Bau- 
wut erfasst  hatte,  die  weit  über  alle  praktischen  Bedürfnisse 
hinausging,  so  hatte  ihn  auch  eine  geistige  Konstruktions- 
wut erfasst,   die  dasselbe  Bedürfnis  verrät,   aufzugehen  in 
einer  selbstgeschaffenen  Bewegtheit  abstrakter,  d.  h.   logi- 
scher resp.  mechanischer  Art.    Der  nordische  Intellekt  hatte 
nicht  m  erster  Linie  einen  Erkenntnisdrang,  sondern  einen 
Bewegungsdrang.     Diesen  Bewegungsdrang  betätigte  er  an- 
fänglich ohne  direkten  Zweck;  es  ist  die  gleichsam  ornamen- 
tale Stufe  des  Denkens,  wie  sie  sich  in  den  obenerwähnten 
Rätselfragen  und  in  tausend  anderen  Gestalten  äussert.    Wie 
nun  in  der  Kunst  dem  rein  ornamentalen  Formdrang  des 
Nordens  durch  die  Entwicklung  der  Architektur  eine  direkte 
Aufgabe  aufgenötigt  wnirde,  und  zwar  eine  Aufgabe,  die  nicht 
aus  ihm  selbst  heraus  wuchs,  sondern  ihm  von  aussen  her 


Il6  PSYCHOLOGIE  DER  SCHOLASTIK 

vorgesetzt  wurde,  nämlich  die  Verarbeitung  des  antiken 
Basilikaischemas,  so  wurde  auch  in  geistiger  Beziehung 
das  rein  spielerische  ornamentale  Denken  durch  die  Re- 
zeption des  Christentums  und  seine  Folgen  vor  eine  ihm 
von  aussen  her  vorgesetzte  Aufgabe  gestellt,  in  deren  Lösung 
es  seine  höchste  Leistungsfähigkeit  offenbarte.  Und  ebenso 
wie  die  gotische  Kathedrale  über  ihren  unmittelbaren  Zweck, 
die  Raumschaffung,  weit  hinauswächst  und  in  der  Turm- 
anlage des  Aussenbaus  ein  Monument  schafft,  das  nahe- 
zu dieselbe  Stufe  einer  idealen  Zwecklosigkeit  erreicht 
hat  wie  sie  in  der  Ornamentik  vorlag,  so  überwuchert  auch 
das  scholastische  Denken  den  unmittelbaren  Anlass  seiner 
Betätigung  weit  und  wird  zu  einer  selbstherrlichen  Offen- 
barung einer  vom  Zweck  entbundenen  abstrakten  Denk- 
bewegung. 

Man  darf  also  nicht  sagen,  dass  der  Scholastiker  durch  in- 
tellektuelle Erkenntnis  dem  Göttlichen  nahekommen  wollte. 
Vielmehr  durch  die  Art  seines  Denkens,  durch  diesen  cha- 
otischen und  in  seiner  Logik  doch  so  kunstvollen  Wirrwarr  der 
Denkbewegung  wollte  er  des  Göttlichen  teilhaftig  werden. 
Der  abstrakte  Bewegungs Vorgang  des  Denkens,  nicht  das 
Ergebnis  des  Denkens  erzeugte  in  ihm  jenes  geistige  Rausch- 
gefühl, das  ihm  Betäubung  und  Erlösung  brachte,  ähnhch 
dem  abstrakten  Bewegungsvorgang  der  Linie,  wie  er  ihn 
in  der  Ornamentik  anschaulich  machte,  ähnlich  dem  ab- 
strakten Bewegungsvorgang  steinerner  Energien,  wie  er 
ihn  in  der  Architektur  anschauhch  machte.  Es  ist  ein 
bestimmter  Formwille,  der  all  diese  Aeusserungen  beherrscht 
und  sie  trotz  ihrer  stofflichen  Verschiedenheit  zu  gleichen 
Erscheinungsresultaten  zusammenbindet.  Es  ist  dasselbe 
Sichberauschen  an  logischem  Formalismus,  derselbe  Auf- 
wand an  rationalen  Mitteln  zu  einem  überrationellen  Zwecke, 
derselbe  Wahnsinn  mit  Methode,  dieselbe  kunstvolle  Chaotik. 
Und  dieser  Gleichheit  der  Resultate  muss  eine  Gemein- 
samkeit der  Voraussetzung  entsprechen.  Diese  gemeinsame 
Voraussetzung  ist  eben  der  gotische  Transzendentalismus, 
der,  einem  ungeläuterten  und  ungeklärten  Dualismus  ent- 
springend, nur  in  hysterischen  Affektzuständen,  in  krampf- 
artigen Steigerungen,  in  pathetischen  Ueberspannungen  Be- 
friedigung und  Erlösung  finden  kann. 


PSYCHOLOGIE  DER  SCHOLASTIK  117 

Wir  sehen  also,  dass  in  der  mittelalterlichen  Philosophie 
in  derselben  Weise  alles  gebunden  ist  an  den  abstrakten 
Bewegungs Vorgang  des  Denkens  wie  in  der  mittelalterlichen 
Malerei  alles  gebunden  ist  an  die  abstrakte  Linie  und  ihren 
Eigenausdruck.  Wie  in  der  mittelalterlichen  Malerei  alles 
Dargestellte  aufgeht  im  höheren  Leben  der  Darstellungs- 
mittel, so  geht  auch  in  der  scholastischen  Philosophie  jeder 
direkte  Erkenntniszweck  auf  in  dem  höheren  Leben  der 
Erkenntnismittel  und  ihrer  selbstherrlichen  Bewegtheit. 
Es  war  eine  Katastrophe,  die  das  ganze  mittelalterliche 
Denken  desorientierte  und  aus  dem  Geleise  hob,  als  durch 
die  Renaissance  das  Denken,  das  bisher  Selbstzweck  gewesen 
war,  zum  blossen  Mittel  zum  Zweck,  nämlich  zur  Erkenntnis 
einer  ausser  ihm  liegenden  wissenschaftlichen  Wahrheit 
degradiert  wurde,  als  der  Erkenntnis  zweck  alles  und  der 
Erkenntnis  Vorgang  nichts  wurde.  Da  verlor  das  Denken 
seine  abstrakte  Selbstherrlichkeit  und  \vurde  dienend;  es 
wurde  zum  Sklaven  der  Wahrheit.  Vorher  hatte  es  sich  gleich- 
sam objektlos  betätigt  und  seine  Wonne  nur  in  seiner  eigenen 
Bewegtheit  gefunden,  denn  durch  den  Glauben  an  die 
geoffenbarte  göttliche  Wahrheit  war  ihm  ja  jeder  wirkliche, 
dem  Unbekannten  zugewandte  Erkenntnisdrang  erspart 
geblieben,  nun  aber  ward  ihm  ein  wirkliches  Objekt,  die 
Wahrheit,  vorgesetzt,  nun  aber  ward  es  aufgefordert,  sich 
seiner  Selbstherrlichkeit  zu  begeben  und  all  seine  Gesetze 
einzig  und  allein  vom  Objekt  zu  empfangen.  Kurz,  es  wurde 
zur  blossen  geistigen  Nachzeichnung  des  Wahren,  nämlich 
der  objektiven  Tatbestände  verurteilt:  gleich  der  Linie  in 
der  Malerei,  die  einst  auch  nur  von  ihrem  Eigenausdruck 
gelebt  hatte  und  nun  unter  denselben  Umständen  auch  ihr 
selbstherrliches  Arabeskendasein  verlor,  um  zur  begrenzenden 
Kontur,  zur  Wiedergabe  der  natürlichen  Formenwelt,  zur 
blossen  Dienerin  am  Objekt  zu  werden.  Wie  der  neue 
Renaissancebegriff  der  wissenschaftlichen  Wahrheit  an  da- 
Experiment,  so  ist  der  neue  Renaissancebegriff  der  künsts 
lerischen  Wahrheit  an  das  anatomische  Studium  gebunden. 
Die  objektive  Wahrheit  ist  hier  wie  dort  zum  Ideal  ge- 
worden, und  das  heisst,  dass  die  feste  Verankerung  im  Dies- 
seits gefunden  worden  ist ;  damit  ist  der  TranszendentaHsmus 
im   künstlerischen  und  geistigen   Schaffen  zu   Ende.      Die 


Il8  PSYCHOLOGIE  DER  MYSTIK 

Renaissance  bringt  den  grossen  Gesundungsprozess,  den 
grossen  Verbürgerlichungsprozess  des  Empfindens,  der  mit 
allen  mittelalterlichen  Anormalitäten  aufräumt  und  an  die 
Stelle  der  Macht  des  Uebernatürlichen  die  Schönheit  des 
Natürlichen  setzt. 


PSYCHOLOGIE  DER  MYSTIK 

A^/ ie  Mystik  und  Scholastik  in  der  gotischen  Kathedrale 
untrennbar  verbunden  sind,  wie  sie  hier  unmittelbar 
auseinander  herauswachsen,  so  sind  sie  auch  in  der  Wirklich- 
keit des  geschichtlichen  Lebens  ganz  eng  miteinander  ver- 
bunden und  verwachsen.  Was  sie  vereint,  was  sie  zu  Phä- 
nomenen gleicher  Qualität  macht,  das  ist  ihr  transzendentaler 
Charakter.  Was  sie  voneinander  scheidet,  das  ist  die  Ver- 
schiedenheit ihrer  Ausdrucksmittel,  die  natürlich  nicht  will- 
kürlich ist,  sondern  ihre  inneren  Gründe  hat,  die  von  wich- 
tigen Aenderungen  im  Empfindungsleben  der  nordischen 
Menschheit  bedingt  sind  und  uns  darum  in  diesem  Zusammen- 
hang beschäftigen  müssen. 

Wie  wir  den  Innenraum  gotischer  Dome  als  ein  vom  Sinn- 
lichen ausgehendes  übersinnliches  Erlebnis  empfinden,  das 
seiner  ganzen  Natur  nach  im  Gegensatz  steht  zu  der  abstrakten 
Ausdruckswelt  der  gotischen  Aussenarchitektur  und  den 
Mitteln,  mit  denen  sie  auf  uns  einwirkt,  so  empfinden  wir 
auch  den  Unterschied  der  Mystik  von  der  Scholastik  als 
bedingt  durch  die  sinnHchere  Färbung  der  Mystik  gegenüber 
der  abstrakten  unsinnlichen  Natur  der  Scholastik.  Statt  der 
intellektuellen  Exaltation,  in  der  das  religiöse  Empfinden  der 
Scholastik  seine  Heilsgewissheit  sucht,  sehen  wir  mit  der 
Mystik  die  Verzückung  des  Gefühls  massgebend  werden  für 
das  religiöse  Erlebnis.  Die  geistige  Verzückung  wird  zu  einer 
seelischen  Verzückung.  Das  seelische  Erlebnis  aber  ist  gleich 
dem  räumlichen  Erlebnis  etwas  von  allem  Geistigen  und 
Abstrakten  Geschiedenes,  etwas,  das  unmittelbar  von  unseren 
Sinnen  gespeist  wird.  Denn  was  wir  seelisch  nennen,  das  ist 
nur  die  Steigerung  und  Verfeinerung  des  sinnlichen  Emp- 


PSYCHOLOGIE  DER  MYSTIK  119 

findens  bis  in  die  Sphäre  des  Uebersinnlichen  hinein.  Wenn 
es  also  nun  nicht  mehr  der  Geist  ist,  der  sich  zu  Gott  empor- 
schwingt, wie  in  der  Scholastik,  sondern  die  Seele,  so  besagt 
das,  dass  im  religiösen  Leben  ein  Zuwachs  an  Sinnlichkeit 
eingetreten  ist  und  dieser  Zuwachs  an  Sinnlichkeit  des  Emp- 
findens ist,  infolge  der  ganzen  Art  der  unsere  Untersuchungen 
beherrschenden  Fragestellung  ein  ungemein  wichtiges  Phä- 
nomen, dem  wir  entscheidende  Aufschlüsse  entnehmen 
können. 

Denn  wo  überall  wir  im  inneren  Entwicklungsprozess 
der  Menschheit  ein  Wachsen  an  Sinnlichkeit  des  Empfindens 
spüren,  da  wissen  wir,  dass  in  dem  anfänglich  streng  duali- 
sierten  Verhältnis  von  Mensch  und  Aussenwelt  eine  Mil- 
derung so  weit  eingetreten  ist,  dass  der  einzelne  Mensch  sich 
von  der  Masse  zu  trennen  und  allein  der  Aussenwelt  gegen- 
überzutreten wagt.  Denn  die  Abstraktheit  des  Empfindens  ist 
nichts  anderes  als  das  Resultat  der  Massengebundenheit.  Die 
zusammenhängende,  individuell  noch  undifferenzierte  Masse 
empfindet  mit  Notwendigkeit  abstrakt,  denn  ihr  Zusammen- 
halten, ihre  Scheu  vor  der  Lockerung  des  Zusammenhangs 
besagt  eben,  dass  sie  noch  so  sehr  unter  dem  Druck  einer 
duahstischen  Verängstigung  und  infolgedessen  auch  unter 
dem  Druck  eines  Erlösungsdranges  steht,  dass  nur  der  über- 
menschliche Notwendigkeitscharakter  abstrakter  Werte  ihr 
Ruhe  und  Befriedigung  bringen  kann.  Massenempfinden  und 
abstraktes  Empfinden  sind  eben  nur  zwei  Worte  für  dieselbe 
Sache.  Und  dieselbe  Tautologie  ist  es,  wenn  man  sagt,  dass 
mit  dem  Erwachen  des  individuellen  Bewusstseins  sich  die 
Abstraktheit  des  Empfindens  lockerte  und  ins  Sinnliche 
umschlug.  Denn  das  Abstrakte  ist  eben  das  Unpersönliche, 
Ueberpersönliche  und  als  solches  Ausdruck  der  undifferen- 
zierten Masse,  während  das  sinnliche  Empfinden  untrennbar 
an  den  Individualisierungsprozess  der  Menschheit  gebunden 
ist  und  nur  von  Einzelpersönlichkeiten  getragen  werden  kann. 
Der  aus  der  Masse  losgelöste  Mensch  empfindet  mit  Not- 
wendigkeit sinnlich  und  natürlich,  weil  seine  Loslösung  von 
der  Masse  eben  sagt,  dass  der  Dualismus  bis  zu  einem  gewissen 
Grade  geschwunden  und  ein  gewisses  Einheitsgefühl  von 
Mensch  und  Aussenwelt  eingetreten  ist.  Wohl  kann  auch  die 
Masse  sinnlich  empfinden,  aber  nur  die  aus  Einzelpersönlich- 


120  PSYCHOLOGIE  DER  MYSTIK 


keiten  zusammengesetzte  Masse,  nicht  aber  die  individuell 
noch  undifferenzierte  Masse,  wie  sie  im  Mittelalter  Träger 
des  Empfindens  war. 

Es  muss  also  erst  das  dualistische  Furchtverhältnis  von 
Mensch  und  Aussen  weit  sich  gelockert  haben,  es  muss  erst 
das  instinktive  Bewusstsein  von  der  Unergründlichkeit  des 
Daseins  abgeflaut  sein,  ehe  der  Mensch  es  wagen  kann, 
diesem  Dasein,  d.  h.  der  unendlichen  Erscheinungswelt  allein 
gegenüberzutreten.  Das  wachsende  Persönlichkeitsgefühl 
bedeutet  den  Untergang  des  grossen  Weltgefühls.  So  sehen 
wir,  dass  der  Orient  an  dem  europäischen  Individualisierungs- 
prozess  nie  teilgenommen  hat.  Sein  Weltgefühl,  d.  h.  sein 
Wissen  um  den  Trug  der  Erscheinungswelt  und  die  Uner- 
gründlichkeit des  Daseins,  ist  zu  fest  in  seinem  Instinkt  ver- 
ankert. Sein  Empfinden  und  seine  Kunst  bleiben  darum 
abstrakt.  In  der  Entwicklung  der  nordischen  Menschheit 
aber,  die  nur  dualistisch  befangen,  nicht  dualistisch  geläutert 
war,  kommt  es  im  Verfolg  wachsender  äusserer  Erkenntnis- 
sicherheit zu  einer  merkbaren  Milderung  des  Dualismus  und 
infolgedessen  zu  einem  gewissen  Individualisierungsprozess, 
dessen  unreinen  halben  Charakter  wir  allerdings  nicht  ver- 
kennen dürfen,  der  aber  jedenfalls  bestimmend  ist  für  den 
Zuwachs  an  sinnlichem  Empfinden,  wie  wir  ihn  in  der  Mystik 
konstatieren  können.  Wir  sehen,  dass  in  ihr  das  persönliche 
seelische  Erlebnis  zum  Träger  der  göttlichen  Erkenntnis  wird 
und  das  zeigt  uns  eben  an,  dass  in  dem  Verhältnis  des  nor- 
dischen Menschen  zur  Welt  eine  Temperaturveränderung  vor 
sich  gegangen  ist,  dass  es  an  Wärme  und  Vertraulichkeit 
gewonnen  hat.  Es  ist  etwas  ganz  Neues  und  Ungeheures 
irmerhalb  der  mittelalterlichen  Auffassung,  dass  das  Göttliche 
nun  nicht  mehr  in  unsinnlichen  Abstraktionen  jenseits  alles 
Irdischen  und  Menschlichen  in  einem  Reiche  übernatürlicher 
Notwendigkeiten  gesucht  wird,  sondern  im  Brennpunkt  des 
eignen  Ichs,  im  Spiegel  der  inneren  Kontemplation,  im  Rausch 
der  seelischen  Verzückung,  Es  ist  ein  ganz  neues  mensch- 
liches Selbstbewusstsein,  ein  ganz  neuer  menschlicher  Stolz, 
der  das  arme  menschliche  Ich  für  würdig  erachtet,  zum 
Gefäss  Gottes  zu  werden.  So  ist  die  Mystik  nichts  anderes 
als  der  Glaube  an  die  Göttlichkeit  der  menschlichen  Seele, 
denn  nur  weil  die  Seele  selbst  göttlich  ist,  kann  sie  Gott 


VERKÜNDIGUNG.      KÖLNER  SCHULE 


PSYCHOLOGIE  DER  MYSTIK  I2I 

schauen.  „Die  Seele  als  Mikrotheos,  als  Gott  im  kleinen, 
das  ist  die  Lösung  aller  Rätsel  des  Mystizismus."  (Windel- 
band.) Wie  fern  ist  solche  selbststolze  Anschauung  allem 
orientaHschen  Transzendentahsmus,  wie  fern  ist  ihm  der 
Glaube;  das  Menschliche,  Bedingte,  Zufällige  könnte  sich 
so  weit  ausweiten,  um  des  Göttlichen,  des  Unbedingten,  des 
Absoluten  teilhaftig  zu  werden.  Der  Orientale  weiss,  dass 
er  in  seiner  Endlichkeit  niemals  Gott  schauen  kann.  Sein 
Gott  lebt  nur  im  Jenseits  des  Menschlichen.  Der  Mystiker 
aber,  darüber  täuscht  keine  Selbstverneinung  hinweg,  er 
glaubt  des  Jenseits  doch  schon  im  Diesseits  teilhaftig  werden 
zu  können.  Indem  er  das  grosse  Jenseits,  das  Jenseits,  das 
hinter  allem  MenschHchen  und  Lebendigen  liegt,  zu  einem 
persönlichen  Jenseits  herabschraubt,  d.  h.  zu  einem  Jen- 
seits, das  durch  blosse  Selbstverneinung  erreichbar  ist,  indem 
er  also  von  der  Weltvemeinung  zur  Selbstverneinung  herab- 
geht, nähert  er  sich,  ohne  dass  er  sich  dessen  bewusst  ist, 
der  Diesseitswelt  und  ihrer  sinnlichen  Sphäre.  Eine  Lockerung 
des  transzendentalen  Gefühls  ist  eingetreten,  die  sich  allent- 
halben im  Wesen  der  Mystik  äussert.  Das  Prinzip  der  gött- 
lichen Transzendenz  flaut  allmählich  ab  zur  Vorstellung  der 
göttlichen  Immanenz.  Die  Mystik  ist  so  erdennah  geworden, 
dass  sie  das  Göttliche  nicht  mehr  ausserhalb  der  Welt, 
sondern  in  der  Welt,  d.  h.  in  der  menschlichen  Seele  und 
allem,  was  ihr  zugänglieh  ist,  enthalten  glaubt.  Auf  dem 
Wege  innerlicher  Verzückung  und  Versenkung  glaubt  sie 
seiner  teilhaftig  werden  zu  können. 

Mit  dieser  Auffassung  der  Göttlichkeit  der  menschlichen 
Seele  strömt  eine  warme  Welle  zarter  Sinnlichkeit  in  die 
starre  nordische  Welt.  Denn  nicht  nur  das  Göttliche,  sondern 
auch  das  Natürliche  wird  nun  in  den  Erkenntniskreis 
seelischen  Empfindungslebens  einbezogen.  Indem  die  Mystik 
den  Menschen  zum  Gefäss  des  Göttlichen  macht,  indem 
sie  Gott  und  die  Welt  in  dem  gleichen  Spiegel  der  mensch- 
lichen Seele  sich  widerspiegeln  lässt,  leitet  sie  einen  Be- 
seHgungsprozess,  einen  Vergöttlichungsprozess  oder,  um  den 
rechten  Namen  zu  nennen,  einen  Vermenschlichungsprozess  des 
Ausserweltlichen  und  Natürlichen  ein,  der  sich  konsequenter- 
weise zu  jenem  idealistischenPantheismus  entwickelt, derBaum 
und  Tiere,  kurz,  alles  Geschaffene  als  seine  Brüder  anspricht. 


122  PSYCHOLOGIE  DER  MYSTIK 

Die  Gewissheit,  in  sich  selbst  Gott  schauen  zu  können, 
führt  zu  einem  SeelenfrühHng,  und  dieser  Seelenfrühling 
wirkt  zurück  auf  die  ganze  Daseins  weit,  die  sich  in  der  Seele 
spiegelt.  Es  ist  ein  feiner,  subtiler,  ins  Seelische  gewandter 
Anthropomorphismus,  der  sich  hier  ausspricht.  Da  es  hier 
nicht  die  klaren  Sinne  sind,  in  denen  sich  die  Daseinswelt 
spiegelt,  sondern  die  Seele,  dies  übersinnliche  Element,  so  ist 
der  Versinnlichungsprozess  der  Daseins  weit,  wie  ihn  die 
Mystik  herbeiführt,  nicht  so  klarer  sinnlicher  Natur  wie  der  der 
Antike  nnd  der  Renaissance;  vielmehr  könnte  man  hier  eher 
von  einem  Verseligungsprozess  sprechen  als  von  einem  Ver- 
sinnlichungsprozess. Aber  bei  der  engen  Beziehung  des  sinn- 
lichen und  seelischen  Empfindens  ist  es  klar,  dass  dieses  neue 
mysticshe  Empfinden  doch  eine  Brücke  hinüberschlug  zu 
dem  geläuterten  sinnlichen  Empfinden,  wie  es  die  Renaissance 
zum  europäischen  Ideal  machte. 

Mit  der  Mystik  also  setzt  das  sinnliehe  Element  in  der 
Gotik  ein,  wenn  es  auch  anfänglich  so  zart  und  subtil  ist,  dciss 
es  sich  nur  als  Uebersinnlichkeit  darstellt.  Dieses  Sinnlich- 
Uebersinnliche  der  fortgeschrittenen  Gotik  lässt  sich  am 
besten  als  das  lyrische  Element  der  Gotik  bezeichnen, 
Der  Seelenfrühling  wird  zu  einem  Sinnenfrühling,  die  Ich- 
seligkeit zu  einer  Naturseligkeit,  und  eine  Welt  lyrischer 
Ueberschwenglichkeit  erwacht.  Es  ist  das  intimste,  deli- 
kateste Schauspiel,  das  uns  die  Entwicklung  der  Gotik  bietet, 
zu  beobachten,  wie  sich  dieses  neue  lyrische  Element  der 
Gotik  mit  dem  alten  starren  naturfernen  Formwillen  ihrer 
eigentlichen  Konstitution  auseinandersetzt  und  die  starre 
Welt  abstrakter  Formen  allmählich  mit  Blüten-  und  Knospen- 
werk überzieht.  Erst  ist  es  ein  schüchternes  Umspielen  der 
alten  starren  Formen,  dann  ein  innigeres  Umschmeicheln  und 
schliesslich  ein  völliges  Ueberwuchern  derselben  mit  einem 
liebenswürdigen,  lyrisch  gefärbten  Naturalismus.  Die  Kapi- 
telle werden  zu  Blütenwundern,  an  üppigem  Krabben-  und 
Rankenwerk  ist  kein  Ende  mehr  und  das  einst  so  schematisch 
geometrisch  geordnete  Masswerk  wird  zu  einer  Wunderwelt 
von  Knospen  und  Blüten.  Ein  blühendes  Chaos  entsteht  nun 
innerhalb  des  harten  linearen  Chaotik.  So  geht  auch  die  Orna- 
mentik den  Weg  von  der  abstrakten  Scholastik  ihrer  Frühperi- 
ode zur  sinnhch-übersinnlichen  Mystik  der  gotischen  Spätzeit. 


INDIVIDUUM  UND  PERSÖNLICHKEIT  123 

Auch  die  bildenden  Künste  im  engeren  Sinne  nehmen 
teil  an  dieser  lyrischen  Naturseligkeit,  an  dieser  Ueberflutung 
der  Daseinswelt  mit  den  warmen  Wellen  seelischer  Mit- 
empfindung. Nicht  die  grobe  Tatsachenwelt  ist  es,  der  sich 
der  Mystiker  in  seiner  liebenden  Inbrunst  hingibt,  sondern 
eine  seelisch  verklärte  Welt,  eine  Welt,  die  ganz  eingetaucht 
ist  in  zarte  lyrische  Empfindsamkeit.  Alle  Starrheit  schmilzt, 
alles  Harte  wird  weich,  jede  Linie  wird  durchströmt  von 
seelischer  Empfindung.  Auf  den  starren  Gesichtern  der 
Statuen  erblüht  ein  Lächeln,  das  ganz  von  innen  heraus 
kommt  und  wie  der  Nachglanz  innerer  Seligkeit  wirkt.  Alles 
wird  ins  Lyrische,  Innerliche,  Seelische  gewandt.  Die  Natur, 
die  von  der  Scholastik  nur  als  harte  Wirklichkeit  gekannt 
und  deshalb  verneint  worden  war,  sie  wird  nun  zum  Garten 
Gottes,  sie  blüht  auf  und  wird  aus  harter  Wirklichkeit  zu 
zarter  Idylle.  Das  harte,  starre  Lineament  der  charakte- 
ristischen Zeichnung  wird  weich.  Aus  eckiger  Knittrigkeit 
wird  rhythmisch  weiche  Kalligraphie.  Die  geistig  ausdrucks- 
vollen Linien  werden  zu  seelisch  ausdrucksvollen  Linien,  die 
geistige  Energie  des  Linienausdrucks  flaut  ab  zu  kalligra- 
phischer Innigkeit.  Was  an  Grösse  verloren  geht,  wird  an 
Schönheit  gewonnen. 


INDIVIDUUM  UND  PERSÖNLICHKEIT 

V-^  s  bedürfte  einer  besonderen  Darstellung,  die  in  alle 
"^^  Einzelheiten  und  Intimitäten  eindringt,  um  dieses 
reizvolle  und  wechselreiche  Gegenspielen,  Ineinanderspielen 
von  scholastischem  und  mystischem,  von  überpersönlich- 
abstraktem  und  persönlich-natürlichem  Empfinden  in  der 
gotischen  Kunst  anschaulich  zu  machen.  Hier,  wo  uns  nur 
die  grossen  Entwicklungslinien  beschäftigen,  müssen  die  An- 
deutungen des  vorigen  Kapitels  genügen.  In  diesem  Kapitel 
aber  müssen  wir  noch  die  Stellung  der  Mystik  zur  Renais- 
sance ins  Auge  fassen. 

Wir  sahen,  dass  der  Zuwachs  an  Sinnlichkeit  des  Emp- 
findens, wie  er  mit  der  Mystik  eintritt,  zusammenhängt  mit 


124  INDIVIDUUM  UND  PERSÖNLICHKEIT 

dem  Individualisierungsprozess  der  nordischen  Menschheit. 
Sowohl  in  der  Religion  wie  in  der  Kunst  sahen  wir,  wie  das 
einzelne  Ich  zum  Träger  der  Empfindung  wird  und  die 
Masse  als  Träger  des  Empfindens  ablöst.  Nun  ist  mittel- 
alterliches Empfinden  identisch  mit  abstraktem,  d.  h.  Massen- 
empfinden, und  dementsprechend  scheint  es,  dass  mit  der 
Mystik  neuzeitliche  Entwicklungsvorgänge  vorbereitet  werden. 
Darüber  kann  auch  kein  Zweifel  sein:  es  ist  die  Geschichte 
des  modernen  Empfindens,  es  ist  die  Geschichte  der  neuen 
Kunst,  die  mit  der  Mystik  einsetzt. 

Wer  demnach  Renaissanceluft  in  der  Mystik  wittert, 
der  täuscht  sich  nicht,  nur  darf  er  nie  vergessen,  dass  die 
Mystik  ein  nordisches  Produkt  und  die  Renaissance  ein 
südliches  Produkt  ist.  Nur  darf  er  über  dem  Gemeinsamen 
das  Unterschiedliche  nicht  übersehen.  Die  Mystik  führt 
zum  Protestantismus,  die  südliche  Renaissance  zur  euro- 
päischen Klassik. 

Es  ist  eben  der  elementare  Unterschied  zwischen  nor- 
discher Menschheit  und  südlicher  Menschheit,  der  zwei  im 
Ausgangspunkt  gleiche  Bewegungen  zu  ganz  anderen  Zielen 
führt.  Der  gleiche  Ausgangspunkt  beider  Bewegungen 
ist  das  Uebergehen  der  Empfindung  und  der  Erkenntnis 
von  der  Masse  auf  das  einzelne  Ich.  Damit  stossen  wir 
auf  Burckhardts  lapidares  Wort  von  der  Entdeckung  des 
Individuums  in  der  Renaissance.  Eine  gewisse  Korrektur 
an  diesem  Wort  wird  uns  den  richtigen  Weg  weisen  und 
uns  den  Unterschied  zwischen  der  nordischen  und  südlichen 
Entwicklung  verständlich  machen. 

Die  Korrektur,  die  Burckhardts  Schlagwort  heraus- 
fordert, ist  die  Ersetzung  des  Wortes  Individuum  durch 
Persönlichkeit.  Denn  die  Persönlichkeit  ist  es,  die  in  der 
südlichen  Renaissance,  die  Burckhardt  im  Auge  hatte,  ent- 
deckt wurde,  der  Begriff  des  Individuums  dagegen  gehört 
der  nordischen  Welt  an,  er  charakterisiert  geradezu  das 
innerste  Wesen  der  nordischen  Mystik. 

Denn  das  Wort  Individuum  hat  eine  negative  Färbung, 
die  es  für  die  Bezeichnung  des  südlichen  Phänomens  ganz 
ungeeignet  macht.  Durch  seine  etymologische  Genesis 
provoziert  es  mit  Notwendigkeit  die  Vorstellung  der  mecha- 
nischen  Aufteilung   einer   Masse     bis    zu    ihren    kleinsten 


MADONNA  VON  MARTIN  SCHONGAUER  (KUPFERSTICH) 


INDIVIDUUM  UND  PERSÖNLICHKEIT  125 

unteilbaren  Bestandteilen,  Dieser  mechanische  Aufteilungs- 
prozess,  der  die  einzelnen  getrennten  Teile  der  Zusammen- 
hanglosigkeit  überantwortet,  gibt  kein  Bild  ab  für  den 
Entwicklungsvorgang,  der  sich  in  der  südlichen  Renaissance 
abspielt.  Denn  hier  ist  es  keine  Masse,  die  mechanisch  in 
unzählige  zusammenhanglose  Einzelteile  aufgeteilt  wird, 
sondern  hier  ist  es  ein  grosser  Volksorganismus,  der  sich  all- 
mählich seiner  Einzelteile  bewusst  wird  und  seine  geschlossene 
Massigkeit  zu  tausend  feinen  Einzelorganen  entwickelt, 
zu  Einzelorganen,  von  denen  jedes  nur  in  kleinerer  subtilerer 
Weise  jenes  Leben  lebt,  das  den  ganzen  Organismus  zu- 
sammenhält. Also  kein  mechanischer  Aufteilungsprozess, 
sondern  ein  organischer  Differenzierungsprozess,  bei  dem 
der  organische  Zusammenhalt  trotz  aller  Differenzierung 
gewährleistet  ist.  Für  diesen  ganz  positiven  Entwicklungs- 
vorgang passt  die  negative  Färbung  des  Wortes  Individuum 
ganz  und  gar  nicht,  wohl  aber  das  Wort  Persönlichkeit, 
wie  wir  es  gemeinhin  brauchen. 

Um  so  mehr  passt  die  negative  Färbung  des  Wortes 
für  den  nordischen  Individualisierungsprozess,  wie  er  mit 
der  Mystik  einsetzt.  Hier  ist  es  in  der  Tat  mehr  der  Zer- 
setzungsprozess,  der  Zerbröcklungsprozess  einer  geschlossenen 
Masse  in  unzählige  eigenwillige  Einzelteile,  die  sich  von- 
einander entfernen  und  jedes  konzentrischen  organischen 
Zusammenhangs  entbehren.  Der  nordische  Mensch  fühlt  auch 
das  Negative  dieses  Individualisierungsprozesses,  d.  h.  er 
wird  sich  seiner  individuellen  Verlassenheit  gleich  bewusst; 
denn  durch  Verneinung  dieses  Ichs,  zu  dem  er  gelangt  ist, 
sucht  er  sich  von  einer  individuellen  Verlassenheit  zu  erlösen. 
Die  südliche  Renaissancebewegung  mit  ihrem  erwachenden 
Persönlichkeitsbewusstsein  führt  zur  Selbstbehauptung,  zur 
Selbst  bejahung.  Selbst  Verherrlichung,  der  nordische  In- 
dividualisierungsprozess dagegen  führte  zur  Selbstverneinung, 
zur  Selbstverachtung.  Das  individuelle  Sein  wird  hier  als 
etwas  Negatives,  ja  geradezu  als  etwas  Sündhaftes 
empfunden.  Der  Individualismus  der  Mystik  predigt: 
Vernichte  deine  Individualität.  Oder  wie  es  in  der 
Mystikersprache  heisst:  ,,Dein  Wesen  stampfe  nieder. 
Wer  in  sich  beharrt,  kann  Gott  nicht  erkennen."  Das 
ist  eben  der  eigentümliche  Zwiespalt  der  Mystik:  aus  dem 


126  INDIVIDUUM  UND  PERSÖNLICHKEIT 

Individualismus  entsprungen,  richtet  sie  ihre  Predigt  gleich 
gegen  den  eignen  Ursprung;  während  der  Renaissancemensch 
sich  auf  sein  Ich  besinnt  und  sich  seiner  Persönlichkeit  be- 
wusst  wird,  um  innerlich  ganz  frei  und  selbständig  zu  werden 
und  in  klarer  Selbstbehauptung  die  Welt  zu  empfangen  als 
sein  Eigen,  besinnt  der  nordische  Mensch  sich  nur  auf  sein 
Ich,  um  es  gleich  wieder  in  brünstigem  Gottsuchertum 
aufzugeben.  Er  ist  eben  nur  ein  Individuum,  keine  Persön- 
lichkeit geworden.  So  bleibt  auch  die  Mystik  transzen- 
dental wie  die  Scholastik  und  das  Rauschelement,  das 
Erlösungsbedürfnis  spielt  in  beiden  dieselbe  Rolle;  der 
Individualisierungsprozess  lässt  die  dualistische  Zerrissenheit 
nicht  verschwinden;  sie  nimmt  durch  ihn  nur  andere 
Formen  an. 

Wenn  wir  also  auch  die  Mystik  als  eine  gewisse  Parallel- 
bewegung zur  südlichen  Renaissancebewegung  anerkennen, 
so  dürfen  wir  doch  diesen  transzendentalen  Charakter  nicht 
verkennen,  der  sie  von  aller  klassischen  Gesundheit  und 
Diesseitigkeit  des  Empfindens  trennt  und  sie  zu  einem  rein 
gotischen  Produkt  macht.  Denn  Gotik  nannten  wir  die 
grosse  unvereinbare  Gegensatzerscheinung  zur  Klassik,  die 
nicht  an  eine  einzelne  Stilperiode  gebunden  ist,  sondern 
durch  all  die  Jahrhunderte  hindurchgehend  in  immer  neuen 
Verkleidungen  sich  offenbart  und  nicht  nur  eine  Zeit- 
erscheinung, sondern  im  tiefsten  Grunde  eine  zeitlose 
Rassenerscheinung  ist,  die  in  der  innersten  Konstritution 
der  nordischen  Menschheit  verwurzelt  ist  und  deshalb  auch 
durch  die  nivellierende  europäische  Renaissance  nicht  ent- 
wurzelt werden  konnte. 

Allerdings  dürfen  wir  Rasse  nicht  im  engen  Sinne 
der  Rassenreinheit  verstehen;  vielmehr  muss  das  Wort 
Rasse  hier  all  die  Völker  zusammenfassen,  in  deren  Rassen- 
mischung die  Germanen  eine  entscheidende  Rolle  gespielt 
haben.  Und  das  trifft  für  den  grössten  Teil  Europas  zu. 
Soweit  er  mit  germanischen  Bestandteilen  durchsetzt  ist, 
zeigt  er  einen  Rassenzusammenhang  im  grösseren  Sinne, 
der  trotz  des  Rassenunterschiedes  im  gemeinen  Sinne  sich 
unverkennbar  wirksam  macht  und  der  in  historischen  Er- 
scheinungen wie  der  Gotik  gleichsam  für  alle  Zeiten  fest- 
gelegt und  dokumentiert  worden  ist.     Denn  die  Germanen, 


INDIVIDUUM  UND  PERSÖNLICHKEIT  127 

SO  sahen  wir,  sie  sind  die  conditio  sine  qua  non  der  Gotik.  Sie 
tragen  in  selbstsichere  Völker  den  Keim  sinnlicher  Unsicher- 
heit und  seehschen  Zwiespalts  hinein,  aus  dem  das  transzen- 
dentale Pathos  der  Gotik  dann  so  mächtig  emporschiesst. 
Die  geheime  Gotik  vor  der  eigentlichen  Gotik  aufzu- 
decken, das  war  der  eigenthche  Zweck  dieser  skizzierenden 
Betrachtungen.  Einer  neuen  Arbeit  bedürfte  es,  um  auch 
die  geheime  Gotik  nach  der  eigentHchen  Gotik  bis  hinauf 
in  unsere  Zeit  hinein  festzustellen.  Im  Barock  ist  der  gotische 
Charakter  ja  trotz  der  imgotischen  Ausdrucksmittel  noch 
ganz  offenkundig.  Um  die  späteren  Erscheinungsarten  der 
geheimen  Gotik  aufzudecken,  dazu  bedürfte  es  viel  feinerer 
und  geschmeidigerer  Werkzeuge  als  wir  sie  uns  für  diese 
Untersuchung  schaffen  mussten.  Denn  naturgemäss  werden 
die  Verkleidungsprozesse  dieser  geheimen  Gotik  immer 
differenzierter  und  raffinierter,  und  wer  weiss,  ob  sich  nicht 
bei  einer  solchen  neuen,  bis  zu  den  innersten  Zellgeheimnissen 
der  Stilerscheinungen  vordringenden  Untersuchung  zuletzt 
sogar  manche  nordische  Klassik  neuerer  Zeit  auch  nur  als 
eine  verkleidete  Gotik  entpuppt. 


K.  B.  Hofbuchdruckerei  Gebrüder  Reichel  in  Augsburg. 


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Worringer,  Wilhelm 

Formprobleme  der  Gotik